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Full text of "Zeitschrift für Sozialforschung 1. Jg"

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Zeitschrift 
fur Sozialforschung 

Herausgegeben von 
Max Horkheimer 

Jahrgang 1 
1932 

Mit einer Einleitung von 
Alfred Schmidt 



Deutscher Taschenbuch Verlag 



Photomechanischer Nachdruck 
mit Genehmigung des Herausgebers 



Marz 1980 

Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, Munchen 
) 1970 Kosel- Verlag GmbH & Co., Munchen 
Umschlaggestaltung : Celestino Piatti 

Gesamtherstellung : C. H. Beck'sche Buchdruckerei, Nordlingen 
Printed in Germany • isbn 3-423-05975-3 



Zeitschrift fur Sozialforschung 
Jahrgang 1 



Die » Zeitschrift fur Sozialforschung« war fast ein Jahrzehnt lang das 
Sprachrohr des Frankfurter Instituts fur Sozialforschung, das nach 
1933, wie fast alle seine Mitarbeiter und Freunde, gezwungen war, 
in der Emigration weiterzuarbeiten - einer der Griinde fur die bis 
heute fuhrende Stellung der amerikanischen Sozialwissenschaften. 

Die Zeitschrift ist das lebendige Dokument einer maBgebenden 
Entwicklung sozial- und kulturwissenschaftlichen Denkens und 
Forschens in unserem Jahrhundert. Mit den meisten ihrer Autoren 
wurde sie zum Ausgangspunkt der in den sechziger und siebziger 
Jahren wekhin tonangebenden Frankfurter Schule der Kritischen 
Theorie. Viele der in ihr erstmals erschienenen Arbeiten sind spater 
einzeln oder in anderem Zusammenhang wieder veroffentlichtworden 
und gehoren seitdem zur wissenschaftlichen Standardliteratur. 

Die oft sehr umfangreichen Beitrage gelten nicht - wie der Titel 
vielleicht vermuten laBt - in erster Linie der empirischen Sozial- 
forschung, sondern vor allem der Sozialphilosophie, der Soziologie, 
der politischen Theorie, der Politokonomie, der Kunst- undLiteratur- 
soziologie und der philosophischen und sozialen Anthropologic 



DIE »ZEITSCHRIFT FOR SOZIALFORSCHUNG« 
GESCHICHTE UND GEGENWARTIGE BEDEUTUNG 

VON ALFRED SCHMIDT 

I 
Die 1932-1941 von Max Horkheimer im Auftrag des Instituts fur Sozial- 
forsdiung herausgegebene Zeitschrifl: gehort zu den groflen Dokumenten euro- 
paischen Geistes in diesem Jahrhundert. In ihr verbanden sidi in einmaliger 
Weise intellektuelle Unabhangigkeit, kritische Analyse und humanistischer Pro- 
test. Im bewufiten Gegensatz zu akademisch weithin iiblichen Organen ver- 
korperte die Zeitschrifl fiir Sozialforscbnng ein einheitliches Programm, ohne 
dafi deshalb die individuellen Neigungen und Interessen der Mitarbeiter oder 
gar die Wissenschaftlichkeit des Anspruchs im mindesten geschmalert worden 
waren. Der Kreis junger Gelehrter um Horkheimer, der wahrend der neun Jahre 
spiritus rector des Unternehmens blieb, entwickelte Kategorien einer Gesamt- 
konzeption der Gesellschaft, die als Kritische Theorie der Frankfurter Schule 
weltbekannt werden sollte. Wer sich unabhangig vom parteipolitisch-ideologi- 
schen Fur und Wider mit der Lehre von Marx und Engels beschaftigen will, ist 
gerade in der gegenwartigen Situation, in der eine ganze Reihe von Marxismen 
miteinander konkurrieren, auf ein sorgfaltiges Studium der Zeitschrifl; verwiesen. 
Insofern dient der Reprint tiber alles Archivarische hinaus einem eminent sach- 
lichen Zweck. Dieser wird freilich nur in dem Mafie erreicht, wie sich der heutige 
Leser vor Dogmatisierungen hiitet und es versteht, blofi Zeitbedingtes von Ein- 
sichten zu unterscheiden, welche die allgemeinen Strukturen der burgerlichen 
Epoche und Geschichte betrerTen und daher uniiberholt sind. Der Leser wird 
ferner gut daran tun, sich zu vergegenwartigen, wie sehr das Schicksal der Zeit- 
schrifl: und ihrer Autoren, insbesondere Horkheimers, mit dem des Frankfurter 
Instituts verbunden war. Seine Geschichte, die weitgehend mit der geistigen Bio- 
graphie Horkheimers zusammenfallt, ist noch ungeschrieben. Die folgenden Be- 
merkungen konnen sie nicht ersetzen; sie skizzieren einige fur das angemessene 
Verstandnis der Zeitschrifl wichtige Tatsachen. 

Nach dem unerwarteten Tod von Kurt Albert Gerlach, des aufierordentlichen 
Professors an der Technischen Hochschule Aachen, der als Direktor des neu er- 
richteten Instituts fiir Sozialforschung vorgesehen war, wurde der heute nahezu 
vergessene Carl Griinberg auf das Direktorat berufen. Seit 1909 war er Ordina- 
rius fiir politische Okonomie in Wien; 1924 verliefi er die Stadt, um die Leitung 
des Instituts in Frankfurt zu iibernehmen. Diese Funktion konnte er infolge 
schwerer Krankheit nur bis 1927 ausiiben; er starb 1940 in Frankfurt 1 . Griinberg 
war ursprunglich Jurist und lange praktisch als soldier tatig. Spater wandte er 

1 Zu Person und Lebenswerk Grunbergs cf. die kenntnisreiche Einleitung Giinther Nennings zum 
Ncudrudt {Graz 1966) des von Griinberg herausgegebenen Archivs fur die Geschichte des Soiia- 
lismus und der Arbeiterbewegung, I, Leipzig 1911. 



6* ALFRED SCHMIDT 

sich wirtschafts-, sozial- und dogmengeschichtlichen Studien zu. Er war ein un- 
gemein beschlagener Historiker im Sinn der Historisdien Sdiule der National- 
okonomie. Das 1911 in seiner vormarxistischen Phase von ihm gegrtindete 
Archiv sollte die damals in alien gesellschaftstheoretischen Bereichen anerkannte 
historische Methode audi auf die nodi vernachlassigte »Entwicklungsgeschichte 
der sozial wissenschaftlidien und volkswirtschaftlichen Gedankenreihen« 8 an wen- 
den und insbesondere die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung 
pflegen. Dabei hob Griinberg im Vorwort zum ersten Band hervor, wie wenig 
ihm daran lag, im Archiv eine bestimmte Weltansicht, wissenschaftliche Richtung 
oder Parteimeinung zu bevorzugen. Er war damals nodi davon iiberzeugt, jede 
»Einheitlichkeit in den Ansdiauungen der Mitarbeiter untereinander und mit 
dem Herausgeber« beeintrachtige »das erkenntniskritische und synthetische 
Ziel« 3 seines Unternehmens. 

In diesem Betradit sollte sich Griinbergs Position andern. Als das Frankfurter 
Institut am 22. Juli 1924 eingeweiht wurde, erklarte er in seiner Festrede, ihm 
»erschiene . . . eine Teilung der Leitung uberhaupt oder erst recht mit welt- 
anschauungsmaflig und methodisdi anders Geriditeten« vollig ausgeschlossen, 
weil in dem neuen, primar auf Forschung abgestellten Institut »von vornherein 
Einheitlichkeit in der Problemstellung und Problembewaltigung beabsiditigt« 4 
sei. Griinberg liefi, als er sein Amt antrat, nidit den geringsten Zweifel daran, 
dafi er sich als Marxist verstand - freilich nicht im parteipolitischen, sondern 
im wissenschaftlidien Sinne. Der Begriff Marxismus diente ihm »zur Bezeidinung 
eines in sich geschlossenen okonomischen Systems, einer bestimmten Weltanschau- 
ung und einer fest umrissenen Forschungsmethode« 5 . Wenn Griinberg hier (in der 
laxen Redeweise der II. Internationale) von »Weltanschauung« sprach, so driickte 
sich darin kein philosophischer Ehrgeiz aus. Bestenfalls ein heute naiv wirkender 
Optimismus hinsichtlich des kiinftigen Geschichtsverlaufs - die Gewifiheit, dafi 
sich die Gesellschaft »mitten im Ubergang vom Kapitalismus zum Sozialismus « 6 
befinde. 

Unter marxistischer Forsdiungsmethode verstand Griinberg den - positivistisch 
verkurzten - historisdien Materialismus, den er als »Haupttragpfeiler des wis- 
senschaftlichen Sozialismus« 7 ansah. Nachdriicklich bestritt er jeden sadilichen 
Zusammenhang von Marxismus und Philosophic, einschliefilich iibrigens der 
materialistischen. So heifit es in seiner Festrede, dafi die von Marx und Engels 
begriindete Geschichtstheorie »ein philosophisches System, eine Metaphysik 
weder ist noch sein will und dafi sie insbesondere mit dem Materialismus nidits 



2 Ibid., Vorwort Griinbergs, S. II. 
« Ibid., S. III. 

4 Carl Griinberg, Festrede, gehalten zur Einweihung des Instituts fiir Sozialforsdiung, Frank- 
furter Universitatsreden, XX, Frankfurt am Main 1924, S. 8. 

5 Ibid., S. 10. 
« Ibid., S. 9. 
7 Ibid. 



DIE »ZEITSCHRIFT FUR SOZIALFORSCHUNG« 7* 

zu tun hat. Man pflegt sie allerdings nur zu oft mit diesem zu verwechseln oder 
zusammenzuwerfen . . . Aber der philosophische und der historische Materialis- 
mus haben begrifflich nichts miteinander zu tun« 8 . Und Griinberg beruft sich 
auf den Austromarxisten Max Adler und erklart, der materialistischen Ge- 
sdiiditsauffassung gehe es nicht darum, »ewige Kategorien zu ergriibeln oder das 
Ding an sich zu erfassen, noch das Verhaltnis zwischen Geistes- und Aufienwelt 
zu begriinden« 9 . Die Marxsche Lehre reduziert sich derart auf eine erkenntnis- 
theoretisch naive, tatsachenglaubige »Kausalforschung«. Ihr Objekt ist »die 
gegebene konkrete Welt in ihrem Werden und Wandel«> das »gesellschaftliche 
Leben in seiner unaufhorlichen, stets erneuten Umwalzung ist Gegenstand ihrer 
Betrachtung, und die letzten erfafibaren Ursachen dieses Umwalzungsprozesses, 
die Gesetze, nach denen er ablauft, sind Gegenstand ihres Forschens« 10 . Kein 
Zufall, dafi in Griinbergs Festrede weder der Name Hegels noch der Begriff der 
Dialektik auftaucht. Der widerspruchsvolle Gang der Geschichte verflacht bei 
ihm zur blofien Evolution »von minder Vollkommenem zu Vollkommenerem« n . 
Entsprechend simplifiziert stellen sich ihm »samtliche Lebensaufierungen der Ge- 
sellschaft . . . als Reflexe des Wirtschaftslebens in dessen jeweiliger Gestaltung« 12 
dar. 

Bei alien - traditionsbedingten - positivistischen Schranken seines Marx-Ver- 
standnisses gehort Griinberg zu den wenigen Gelehrten, welche damals die Auf- 
nahme und Diskussion der Marxschen Theorie im akademischen Bereich ein- 
leiteten und forderten. Er war der erste Kathedermarxist an einer deutschspra- 
chigen Universitat. 

Davon, dafi Griinbergs wissenschaflliche Intentionen und Verfahrensweise die 
spatere Arbeit des Instituts spezifisch beeinflufit hatten, kann keine Rede sein. 
Die Zeitschrift fur Sozialforschung knupfte zwar thematisch in manchem an das 
Archiv an, erweiterte aber ihm gegeniiber ihren Aufgabenkreis erheblich. Gleich- 
wohl bleibt eines zu bedenken. Die ganze Atmosphare des Instituts unter Griin- 
berg, der Vorrang handfest empirischer, konkret-historischer Interessen, der Urn- 
stand schliefilich, dafi es fiir Griinberg, wie fiir die altere Generation marxisti- 
scher Gelehrter insgesamt, selbstverstandlich war, die Kritik der politischen Dko- 



8 Ibid., S. 10. 

9 Ibid. — Soweit Griinberg sidi bemiihte, den wissensdiaftssysteraatischen Status der Marxsdien 
Lehre zu bestimmen, war Max Adler sein Gewahrsmann, der mit den (in der Tat fragwiirdigen) 
»weltansdiaulidien« Interpretationen der alten Sozialdemokratie jedes - wie immer gebrochene - 
Verhaltnis von Marx zum philosophischen Materialismus Ieugnete, das Autoren der II. Inter- 
nationale wie Plechanow, Mehring und Dietzgen noch gesehen hatten (und dessen Diskussion 
von Horkheimer auf vollig neue Grundlagcn gestellt wurde). Nicht zuletzt bestritt Adler den 
erkenntnistheoretischen Gehalt der Dialektik (cf. etwa seine Schrift Marxistische Probleme, Stutt- 
gart 1919, S. 37 f.). Griinberg folgte seinen Vorstellungen freiHch nur im Negativen; Adlers Ver- 
such, den Marxismus transzendentalphilosophisch zu begriinden, blieb ihm als Historiker fremd. 
io Ibid. 

11 Ibid, 
l* Ibid. 



8* ALFRED SCHMIDT 

nomie ins Zentrum der Gesellschaftslehre zu riicken und nicht irgendeine von 
aufien aufgenommene Philosophic - all das stiftete einen gewissen Traditions- 
zusammenhang und trug mit dazu bei, dafi die Frankfurter Theoretiker von 
vornherein vor der leeren Tiefe sich philosophisch gebender Marx-Interpretatlo- 
nen bewahrt blieben, wie sie seit den friihen dreifliger Jahren allenthalben auf- 
kamen. Gemeinsam war ihnen die Tendenz, die Marxschen Jugendschriften, 
namentlich die neu entdeckten Pariser Manuskripte, gegen die nach 1850 ent- 
standenen Texte auszuspielen. Dabei wurde die fiir den jungen Marx kenn- 
zeichnende Problematik der »Selbstentfremdung des Menschen« nicht als eine 
noch abstrakte Vorstufe zur Analyse der Warenproduktion begriffen, sondern 
zum eigentlichen Gehalt seiner Theorie stilisiert. Diese verwandelte sidi so wie- 
der in eine Philosophic neben anderen. Der entscheidende Schritt von Marx iiber 
Feuerbachs Anthropologismus hinaus und die damit einhergehende Wiederauf- 
nahme Hegels blieben nicht selten unbeachtet; Marx avancierte zum Anthropolo- 
gen, Daseinsanalytiker oder Existentialisten. Demgegenuber war Griinbergs 
Marx-Interpretation paradoxerweise deshalb angemessener, weil sie »unphiloso- 
phisch« war. Sie hatte es mit der materialen Geschichte selbst zu tun, nicht mit den , 
diirren Bestimmungen Heideggerscher »Geschichtlichkeit«. Ewige Strukturen und 
Wesensgesetze der menschlichen Realitat bestreitet nach ihm der Marxsche Mate- 
rialismus; seine »Resultate beanspruchen keine Geltung in Zeit und Raum 
schlechthin, sondern nur relative, jeweils geschichtlich bedingte Bedeutung« 13 . 
Ein Gedanke, der freilich erst in der historischen Dialektik Horkheimers und 
seiner Mitarbeiter zu seinem vollen Recht gelangen sollte. 

II 

Wenden wir uns jetzt den gedanklichen Voraussetzungen des in der Zeitschrifl 
fiir Sozialforschung entwickelten Konzepts zu. Sie sind in nuce enthalten in 
Horkheimers Antrittsvorlesung vom 24. Januar 1931, als er - Nachfolger 
Griinbergs - den Lehrstuhl fiir Sozialphilosophie und die Leitung des Instituts 
fiir Sozialforschung ubernahm. Das Thema seiner Vorlesung lautete: Die gegen- 
wartige Lage der Sozialphilosophie und die Aufgaben eines Instituts fiir Sozial- 
forschung. Schon hierin lag ein neuer Akzent. Hatte Griinberg, der spezifisch 
philosophischem Denken einigermafien fremd gegeniiberstand, sich sieben Jahre 
vorher vom Kontakt mit der Philosophic bestenfalls eine »Befruchtung« histo- 
rischer Studien versprochen 14 , so mufite jene fiir den Fachphilosophen Horkhei- 
mer von Anbeginn eine positivere Rolle spielen. Horkheimer gehort zu den be- 
deutendsten Begriindern einer »philosophisch« gerichteten Marx-Interpretation, 
die freilich von den damals herrschenden Tendenzen recht verschieden war. So 
verwarf er alle (seit Bernstein und dem Revisionisms insgesamt ublichen) Ver- 
suche, die Marxsche Lehre in einer ihr auSerlichen Weise mit neukantianischen, 

« Ibid., S. 11. 
14 Ibid., cf. S. 16. 



DIE »ZEITSCHRIFT FUR SOZIALFORSCHUNG« 9* 

positivistisch-pragmatistischen oder, spater, existentialphilosophisdien Motiven zu 
amalgamieren. Fur ihn war eine wirklich produktive, weiterfiihrende Aneignung 
des dialektischen Materialismus notwendig verbunden mit einer genauen Analyse 
der historischen wie sachlidien Bedeutung Hegels fur Marx. Dieser hatte noch 
1858 die Dialektik »unbedingt das letzte Wort aller Philosophie« genannt, zu- 
gleich aber darauf verwiesen, wie erforderlidi es sei, »sie von dem mystischen 
Schein, den sie bei Hegel hat, zu befreien« 15 . Unter diesem doppelten Aspekt ver- 
fuhr Horkheimer bei seiner Hegel-Lektiire. Sie hatte wenig gemein mit den aka- 
demisch verbreiteten Bestrebungen einer sogenannten Hegel-Renaissance, wie sie 
vor dem Ersten Weltkrieg begann und haufig genug darauf hinauslief, Jiegels 
Philosophic, sei es neukantianisch, sei es im Sinne eines lebensphilosophischen 
Irrationalismus und wilhelminischen Konservatismus zu verfalschen. In beiden 
Fallen wurde die dialektische Methode eliminiert 18 . 

Eher schon ist Horkheimers Hinwendung zu Hegel als dem Philosophen der 
Moderne par excellence zusammenzubringen mit dem, was Merleau-Ponty den 
spezifisch »westlichen« Marxismus genannt hat 17 . Darunter versteht er die Ver- 
suche von Lukacs und Korsch, im Rekurs auf Hegel die philosophischen Gehalte 
einer materialistischen Dialektik herauszuarbeiten - in ebenso entschiedenem 
Gegensatz zur sowjetischen wie zur sozialdemokratischen Orthodoxie der zwan- 
ziger Jahre. Zu erinnern ist hier an Lukacs' beruhmtes Buch Geschichte und Klas- 
senbewufitsein von 1923, das die Marxschen Kategorien des Warenfetischismus 
und der VerdingHchung erstmals grundsatzlich auf die erkenntnistheoretische 
Problematik anwandte. Lukacs* Einflufl wird deutlich in den Arbeiten Adornos, 
Blochs und Benjamins. Zu erinnern ist ferner an Korschs scharfe Polemik gegen 
die sozialdarwinistischen Entstellungen der Marxschen Lehre in Kautskys 1927 
erschienenem Werk Die materialistische Geschichtsauffassung, in der Schrift glei- 
chen Titels von 1928 sowie an Marxismus und Philosophic, eine bedeutende 
Arbeit, die 1923 in Gninbergs Archiv erschien und 1930 in erweiterter Form 
veroff entlicht wurde. Das Verdienst der friihen Arbeiten von Lukacs und Korsch 
bestand darin, daft sie qualitativ neue Mafistabe setzten, indem sie endgiiltig mit 
den doktrinaren Traditionen der II. Internationale brachen, die im spateren 
Kautskyanismus ebenso fortwirkten wie in dem nach Lenins Tode in Rufiland 
kodifizierten »Marxismus-Leninismus«. Beide Orthodoxien griff en Lukacs und 
Korsch heftig an, beide mit denselben objektivistischen Argumenten, die das Ver- 

" Marx an Lassalle, Brief vom 31. 5. 1358, in: Marx/Engels, Werke, Band 29, Berlin 1963, S. 561. 

16 Cf. zum Neuhegelianismus Wilhelm Windelband, Die Emeuerung des Hegelianismus, Sit- 
zungsbericht der Heidelberger Akademie der wissensdiaften, Heidelberg 1910; sowie die zusam- 
menfassende Darstellung von Heinrich Levy, Die Hegel-Renaissance, Charlottenburg 1927. An 
kritiscier Literatur ist zu nennen: G. Lukacs, Die Zerstorung der Verrtunft, Berlin 1954, S. 432 
bis 460; ferner das aus dem Horkheimerschen Institut hervorgegangene Buch Herbert Marcuses, 
Reason and Revolution, New York 1941, deutsch Vernunfl und Revolution, Neuwied/Berlin 1962, 
cf. besonders S. 354-368. 

17 Cf. sein gescheites Buch Les Aventttres de la Dialectique, Paris 1955, deutsch Die Abenteuer 
der Dialektik, Frankfurt am Main 1968, vor allem die Kapitel II und III. 



10* ALFRED SCHMIDT 

fahren der Naturwissenschaften vergotzten. Und dodi machten diese Angriffe, 
worauf Adorno nachdriicklidi hingewiesen hat 18 , bei all ihrer Beschranktheit 
deutlich, dafi es dem »westlichen« Marxismus der zwanziger Jahre nur um den 
hohen Preis eines Riickfalls in den Hegelsdien (bei Lukdcs selbst Fichteschen) 
Idealismus gelungen war, die philosophische Seite in Marx zu reaktivieren; an- 
statt kritisdi ebenso iiber den erkenntnistheoretisch primitiven Abbild-Realismus 
hinauszugehen wie iiber die spekulative Identitat von Subjekt und Objekt, er- 
setzten Lukacs und Korsch einfach jenen durdi diese. Wohl hatten sie den Zu- 
sammenhang von Dkonomie und Dialektik, von Theorie und politischer Aktion 
im Marxsdien Werk beleuchtet, der von friiheren, rein wirtschaftswissenschaft- 
lichen Interpreten entweder iibergangen oder nicht mehr verstanden worden 
war. Aber sie waren ihren - zumal kommunistischen - Gegnern naher, als 
ihnen bewufit wurde. Korsch und mehr noch Lukacs driickten nur in gebildeterer 
Sprache aus, was anderswo politisch geschah: die Theologisierung und ethische 
Glorifikation der Partei und ihrer Rolle. Der von ihnen entwickelte, reichlich 
»apokalyptische« GeschichtsbegrirT (Lukacs bezeichnet das organisierte Proleta- 
riat geradezu als Subjekt-Objekt des welthistorischen Prozesses) stattete die 
Partei mit der - hochst fragwiirdigen - Tugend aus, den einzelnen Arbeitern 
gegeniiber als »Objektivation ihres eigensten, ihnen selbst noch nicht klaren 
Willens« lfi aufzutreten. - Die Stalinsche Ara sollte dariiber belehren, wie sehr 
die Rede von der objektiven Vernunft der (bei Lukdcs noch als moralische In- 
stanz verstandenen) Partei zum Feigenblatt tyrannischer Willkiir, schkchter 
Subjektivitat werden kann. 

Horkheimers Essays in der Zeitschrift setzen das geistige Klima der qualitativ 
neuen Fragestellungen und Ergebnisse des »westlichen« Marxismus voraus. 
Gleichwohl weist ihre Konzeption eine im Grundsatzlichen von Korsch und 
Lukacs drastisch abweichende Tendenz auf. Dadurch dafi Horkheimer (wie 
nahezu alle Mitarbeiter des Instituts) parteipolitisch unabhangig blieb, konnte er 
sich dem Dogmatismus eines welthistorischen Totalwissens entziehen, in dessen 
Namen alle Mittel gerechtfertigt sind. Indem Horkheimer die Moglichkeit von 
Geschichtsphilosophie von vornherein zuriickhaltender beurteilte als jene Auto- 
ren, verfiel er nicht der Suggestion des in den zwanziger Jahren marxistisch neu- 
entdeckten Hegel. In diesem - wichtigen - Punkt steht sein Denken der Marx- 
schen Position naher. Fur Marx war die »aus der kritischen Erkenntnis der ge- 
schichtlichen Bewegung« zu schopfende »Wissenschaft« 20 sehr verschieden vom 
»Universalschlussel einer allgemeinen geschichtsphilosophischen Theorie« 21 , die 

18 Cf. seine Negative Dialektik, Frankfurt am Main 1966, S. 189. 

19 Lukacs, Geschicbte und KlassenbewtifStsein, Berlin-Halensee 1923, S. 54. - Cf. audi S. 55, wo 
Lukacs sich erbittert gegen den Vorwurf wehrt, diese Konzeption habe etwas mit >religiosem 
Glauben« zu tun. 

20 Marx an J. B. Schweitzer, Brief vom 24. 1. 1865, in: Marx/Engels, Ausgew'dhlte Briefe, Berlin 
1953, S. 184. 

21 Marx an die Redaktion der Otjetscbestwennyje Sapiski (Vaterlandische Blatter), November 
1877, in: ibid., S. 371. 



DIE »2EITSCHRIFT FUR SOZIALFORSCHUNG« H* 

im Gang der Ereignisse einen hoheren Zweck nachzuweisen sucht, der sidi nach 
und nach verwirklicht. Marx leugnete nicht, was bei Hegel die objektive Logik 
der Weltgeschichte heifit. Aber er weigerte sich, ihre Opfer in einen Heilsplan 
einzubeziehen und so mit einer metaphysischen Weihe zu versehen. 
Ein Gedanke, der von Horkheimer aufgenommen und naher ausgefuhrt wurde. 
So sdirieb er 1930 in seiner Kritik der Mannheimschen Wissenssoziologie iiber 
die Marxsche Lehre: »Ihre Leistung sollte wesentlich in der einheitlichen Erkla- 
rung der gesellschaftlichen Bewegungen aus den durch die wirtschaftliche Ent- 
wicklung bedingten Klassenverhaltnissen bestehen. Nicht die Erkenntnis einer 
>Totalitat< oder eine totale und absolute Wahrheit, sondern die Veranderung 
bestimmter gesellschaftlicher Zustande war die Absicht seiner Wissenschaft. Im 
Zusammenhang damit wird auch die Philosophic kritisiert, aber nicht eine neue 
Metaphysik an die Stelle der alten gesetzu 22 . Suchte Hegels Spekulation den 
bisherigen Geschichtsverlauf zu rechtfertigen, so kommt es der materialistischen 
Theorie, wie Horkheimer in seinem ebenfalls 1930 erschienenen Buch iiber die 
Anfdnge der burgerlichen Geschichtsphilosopbie entwickelt, darauf an, ihn wis- 
senschaftlich zu erklaren, was freilich grofitenteils noch nicht geschehen ist. Dieser 
Verzicht auf sinngebende Metaphysik (immanente Teleologie) gilt ebensosehr 
fiir die Zukunfl: »Dafi die Geschichte eine bessere Gesellschaft aus einer weniger 
guten verwirklicht hat, dafi sie eine noch bessere in ihrem Verlaufe verwirklichen 
kann, ist eine Tatsache; aber eine andere Tatsache ist es, dafi der Weg der Ge- 
schichte iiber das Leiden und Elend der Individuen fuhrt. Zwischen diesen beiden 
Tatsachen gibt es eine Reihe von erklarenden Zusammenhangen, aber keinen 
rechtfertigenden Sinn« 28 . 

Die radikal aufklarerische Entzauberung dessen, was in der Hegelschen (wie in 
jeder positiven) Philosophic der Weltgeschichte Fortschritt zu hoheren Stufen 
heifit, macht audi vor dem Begriff der Geschichte selbst als einer einheitlichen 
Struktur nicht halt: »Die vollstandig gelungene Erklarung, die durchgefiihrte 
Erkenntnis der Notwendigkeit eines geschichtlichen Ereignisses, kann fiir uns, die 
wir handeln, zum Mittel werden, Vernunft in die Geschichte hineinzubringen; 
aber die Geschichte hat keine Vernunft, >an sich< betrachtet, ist keine wie immer 
geartete >Wesenheit<, weder >Geist<, dem wir uns beugen miifiten, noch >Macht<, 
sondern eine begriffliche Zusammenfassung von Ereignissen, die sich aus dem ge- 
sellschaftlichen Lebensprozefi der Menschen ergeben... Die pantheistische Ver- 
selbstandigung der Geschichte zu einem einheitlichen substanziellen Wesen ist 
nichts als dogmatische Metaphysik« 24 . 

Von diesen grundlegenden Erwagungen hat auszugehen, wer sich das Verhaltnis 
Horkheimers zu Hegel (wie zur Philosophic uberhaupt) und zum Marxschen 

22 Horkheimer, Ein netter Ideologiebegrifft, in: Archiv fiir die Geschichte des Sozialismus und 
der Arheiterbewegung. XV. Jahrgang, 1930. Zitiert nadi: Kurt Lenk, Ideohgie, Neuwied/Berlin 
1961, S. 236. 

23 Horkheimer, Anfdnge der burgerlichen Geschichtsphilosopbie » Stuttgart 1930, S. 92. 
» Ibid., S. 94. 



12* ALFRED SCHMIDT 

Materialismus verdeutlichen will. Was diesen betrifft, so wird er von Horkheimer 
nicht nur inhaltlich als gesellsdiaftlidie Theorie akzeptiert, sondern zugleich in 
seinen von Marx so nicht formulierten antimetaphysischen, ja nihilistischen Kon- 
sequenzen dargelegt, und zwar ohne alien Zynismus. Es gibt keine »hohere«, die 
materielle, raum-zeitliche Wirklichkeit uberwolbende Sphare noch ein absolut 
Fundamentals, das jene Wirklichkeit als Einheitsprinzip triige. - Dieses der 
Horkheimerschen Marx-Interpretation eigentiimliche Moment ist festzuhalten; 
es ist konstitutiv fur den Geist, in dem die Aufsatze der Zeitschrift verfafk 
sind. 

Kehren wir nunmehr zuriick zu Horkheimers schon erwahnter Antrittsvorlesung 
von 1931. Verglichen mit Griinbergs Festrede, mit seinem leidenschaftlichen Be- 
kenntnis zu dem, was er unter Marxismus verstand, nimmt sie sich auf den 
ersten Blick harmloser, akademischer aus. Horkheimers »asopische« Sprache darf 
jedoch nicht dariiber hinwegtauschen, dafi er in der Sache selbst - begrifflich 
wie politisch - weit radikaler war als Griinberg. - Horkheimer versucht zu- 
nachst zu umschreiben, was angesichts der Schwierigkeit, wissenschaftliche Be- 
reiche scharf voneinander abzuheben, unter »Sozialphilosophie« zu verstehen sei. 
Diese zielt, wie er dartut, darauf ab, das kollektive Schicksal der Menschen phi- 
losophisch zu deuten; sie »hat sich daher um solche Phanomene zu bekiimmern, 
die nur im Zusammenhang mit dem gesellschaftlichen Leben der Menschen ver- 
standen werden konnen: um Staat, Recht, Wirtschaft, Religion, kurz um die 
gesamte materielle und geistige Kultur der Menschheit iiberhaupt« 25 . 
Ein umfassender BegrifT von Sozialphilosophie, der - woran Horkheimer im 
weiteren erinnert - im klassischen deutschen Idealismus von Kant bis Hegel 
»zur entscheidenden philosophischen Aufgabe« 28 wurde. Hegel, in dessen Werk 
das spekulative Denken kulminiert, befreite die Frage nach dem Wesen des Indi- 
viduums als eines kulturschopferischen Subjekts dadurch von den Schranken blo- 
£er Introspektion, dafi er sie »an die Arbeit der Geschichte* 27 , das heifit ans Stu- 
dium konkreter Inhalte, verwies. Hegels Idealismus wurde so wesentlich Sozial- 
philosophie: Theorie des »kollektiven Ganzen, in dem wir leben«, und gleichzei- 
tig »Erkenntnis des Sinnes unseres eigenen Seins nach seinem wahren Wert und 
Gehalt« 28 . 

Aus der offenkundigen Unmoglichkeit nun, an der hegelianischen Geschichts- 
konstruktion in ihrer vorliegenden Form festzuhalten, ergab sich fur Horkhei- 
mer die Problematik eines sozialphilosophischen Neuansatzes. - Hegels be- 
riihmte »Vernunftansicht der Weltgeschichte« (wie sie im einleitenden Band sei- 
ner geschichtsphilosophischen Vorlesungen umrissen wird) war am Modell einer 
liberalistischen Wirtschaft entwickelt: die Harmonie des Ganzen sollte notwen- 

25 Horkheimer, Die gegenwdrtige Lage der Sozialphilosophie und die Attfgaben eines Instituts 

fiir Sozialforschung, Frankfurter Universitatsreden, XXXVII, Frankfurt am Main 1931, S. 3. 

*« Ibid. 

27 Ibid., S. 4. 

2 » Ibid., S. 4 f. 



DIE »ZEITSCHRIFT FUR SOZIALFORSCHUNG« 13* 

dig hervorgehen aus dem Interessenkonflikt der Individuen und Gruppen, dem 
Machtstreben sich aneinander abarbeitender, zu Staaten organisierter Volker. 
Dabei verlauft die Weltgeschichte Hegel zufolge so, dafi sich ihr immanentes 
Prinzip, der Vernunftzweck der Freiheit, unabhangig vom - bewufiten - ge- 
schichtlichen Treiben der Individuen und ihren partikularen, endlichen Zweckeri 
durchsetzt; die derart iiberlisteten » Individuen verschwinden vor dem allgemei- 
nen Substanziellen, und dieses bildet sich seine Individuen selbst, die es zu seinem 
Zwecke notig hat« 29 . Diese Geschichtsphilosophie miindet ein in die problema- 
tische Lehre, »daE der Staat die weltliche Verwirklichung« 30 objektiver Freiheit 
ist, deren Gesetze »die Unterwerfung des zufalligen Willens« der einzelnen er- 
heischen: »Wenn das Objektive an sich verniinftig ist, so mufi die Einsicht dieser 
Vernunft entsprechend sein, und dann ist auch das wesentliche Moment der sub- 
jektiven Freiheit vorhanden« 81 . - Die Objektivitat der Vernunft aber bleibt 
undiskutiert; sie ist theologisch verbiirgt. 

Hegel - an dieser Stelle nimmt Horkheimer ein wichtiges Motiv sozialistischer 
Kritik auf - mystifiziert die objektive Tendenz des historischen Prozesses, die 
sich blind aus der Unbeherrschtheit der gesellschaftlichen Verhaltnisse ergibt, 
zum Walten einer hoheren Vorsehung. Sie zu erfassen ist dem philosophischen 
Betrachter vorbehalten, der sich iiber blofie Empirie erhoben hat und den »objek- 
tiven Inhalt des Weltgeistes als den seinigen« 32 anerkennt. Philosophic will die 
»verschmahte Wirklichkeit rechtfertigen« 33 . Sie trostet die Individuen nicht, son- 
dern versohnt sie mit dem Weltlauf; »sie verklart das Wirkliche, das unrecht 
scheint, zu dem Verniinftigen, zeigt es als solches auf, das in der Idee selbst be- 
griindet ist und womit die Vernunft befriedigt werden soil. Denn in der Vernunft 
ist das G6ttliche« 34 . 

Die Kategorien, mit denen Hegel das vergangene Grauen glorifiziert, gelten - 
was Horkheimer unterstreicht - auch fur die Gegenwart. Als »System der Be- 
diirfnisse« ist die biirgerliche Gesellschaft gekennzeichnet durch »ein Wimmeln 
von Willkiir«, das jedoch »aus sich allgemeine Bestimmungen« erzeugt, »und 
dieses anscheinend Zerstreute und Gedankenlose wird« - wie Hegel mit den 
klassischen Dkonomen sagt - »von einer Notwendigkeit gehalten, die von selbst 
eintritt« 35 . Aufgabe der Staatsokonomie ist es, diese Notwendigkeit in Gestalt 
objektiver Gesetze aufzuspiiren, die sich in » einer Masse von Zufalligkeiten« 36 
geltend machen. Hegels Interpretation jener Wissenschaft ist insofern wiederum 
eine den Weltzustand »verklarende<c, als sie zwar ihre historische Gewordenheit, 

29 Hegel, Die Vernunft in der Geschichte, Berlin 1930, S. 37. 

80 Hegel, Vorlesungen iiber die Philosopbie der Welt geschichte, Band IV, Hamburg 1968, 

S. 937 f. 

31 Ibid., S. 938. 

3 2 Ibid. 

33 Hegel, Die Vernunft in der Geschichte, 1. c, S. 55. 

34 Ibid. 

35 Hegel, Philosophic des Rechts, Stuttgart-Bad Cannstatt 1964, § 189, Zusatz. 

36 Ibid. 



14* ALFRED SCHMIDT 

nicht aber die Verganglichkeit ihrer Prinzipien ausspricht. Im Entdecken von 
Gesetzen erblickt Hegel vielmehr »das Versohnende«, das »in der Sadie liegende 
und sich betatigende Scheinen der Verniinftigkeit zu erkennen« 87 . Seine Philoso- 
phic gliedert damit die okonomische Sphare in die zeitlose Logik des Weltprozes- 
ses ein. 

Horkheimers Hegel-Interpretation ist zentriert urn den Gedanken, dafi die »ver- 
klarende« Rolle, welche Hegel der Philosophic zuspricht, gerade mit seiner un- 
verlierbaren, obschon idealistisch formulierten Einsidit zusammenhangt, dafi sich 
das Wesen des Menschen nicht aus der Innerlichkeit und dem persdnlichen 
Schicksal der einzelnen ergibt, sondern aus der Analyse des kollektiven, ge- 
schichtlichen Lebens der Volker. Spekulatives Denken sollte dem »endlichen Ein- 
zelwesen« zum »begrirTlichen Bewufltsein seiner Freiheit im Staat« 38 verhelfen, 
dessen es infolge der gesellschaftlichen Antagonismen dringend bedarf. Auf diese 
vermittelnde Funktion, damit auf Philosophic schlechthin, glaubte die euro- 
paische Gesellschaft etwa seit 1850 verzichten zu konnen. Sie trat ins Zeitalter 
des Positivismus ein, der okonomisch vom »unmittelbaren Glauben an die pra- 
stabilierte Harmonie der Einzelinteressen« 39 erfiillt war und sich im iibrigen an 
den kontinuierlichen Fortschritt von Wissenschaft, Technik und Industrie hielt. 
Die Metaphysik des objektiven Geistes schien unwiederbringlich dahin. 
Je mehr freilich die Hoffnungen der nachidealistischen Periode in der gesell- 
schaftlichen Praxis unerfullt blieben, desto haufiger kam es in den ersten Jahr- 
zehnten unseres Jahrhunderts zu bemiihten, aber schwachlichen Versuchen, 
Sozialphilosophie (vornehmlich als Moral- und Rechtsphilosophie) auf idealisti- 
scher Grundlage zu restaurieren, Durchweg antipositivistisch gesonnen, liefen sie, 
wie Horkheimer zeigt, darauf hinaus, »uber dem Boden der festzustellenden tat- 
sachlichen Begebenheiten ein hoheres eigengesetzliches Seins-, zum mindesten ein 
Geltungs- oder Sollensreich aufzuweisen, an dem die verganglichen Menschen 
Anteil haben, das selbst aber nicht auf natiirliche Begebnisse zuriickzufuhren 
ist« 40 . Diese Versuche wollten dem Individuum »den Blick in eine iiberpersonale 
Sphare . . . offnen, die wesenhafter, sinnerfiillter, substantieller ist als sein Da- 
sein« 41 . Mit Hegels Idealismus, hinter dessen konkreter Inhaltlichkeit sie weit 
zuriickblieben, hatten sie lediglich das Moment der »Verklarung« gemein. 

37 Ibid. — Die material istische Theorie hiitet sich demgegenviber von Anbeginn, die GesetzmaiSig- 
keit der okonomischen Vorgange zu deren metaphysischer » Verniinftigkeit* zu verklaren. So 
schrieb Engels in seiner genialen Skizze von 1844 (deren Titel Umrisse zu einer Kritik der 
Nationalokonomie die Marxsche Lehre programmatisch vorwegnahm) vom »Gesetz der Kon- 
kurrenz*, es sei >ein reines Naturgesetz, kein Gesetz des Geistes*, und zwar ein - vergangliches - 
Naturgesetz, »das auf der Bewufitlosigkeit der Beteiligten beruht*. In: Marx/Engels, Werke^ 
Band 1, Berlin 1957, S. 514; 515. 

38 Horkheimer, Die ge gen-war tige Lage der Sozialphilosophie und die Aufgaben eines Instituts 
fiir Sozialforschung, 1. c, S. 6. 

39 Ibid. 

« Ibid., S. 8. 
41 Ibid. 



DIE »2EITSCHRIFT FUR SOZIALFORSCHUNG« 15* 

Horkheimers Position ergibt sich daraus, dafl er den fundamentalen Mangel der 
gegen den Positivismus ankampfenden sozialphilosophischen Riditungen be- 
zeichnet. Er besteht, kurz gesagt, in deren Naivitat, einerseits die wissenschaft- 
lich konstatierbaren »Tatsachlichkeiten« unbezweifelt hinzunehmen, andererseits 
aber zu versuchen, »ihnen mehr oder minder konstruktiv, . . . >philosophierend< 
Ideen, Wesenheiten, selbstandige Spharen des objektiven Geistes, Sinneinheiten, 
Volksgeister als ebenso ursprungliche, ja als >echtere< Seinsbestande« 42 gegen- 
iiberzustellen. Dafi es im Positivismus eine ganze Reihe unbeweisbarer meta- 
physisciier Pramissen gibt, ist den neueren Philosophen Anlafi genug, ihn darin 
noch zu iibertreffen. Es entsteht so ein schlechter Relativismus, der »keinen 
sacfalich begriindeten Vorzug« 4S dieser Theorie gegenuber jener gestattet. Die 
Sozialphilosophen spredien vom Lebensprozefi der Mensdien, den sie zu unter- 
suchen haben, nur »weltanschaulich, thesenhaft, bekenntnishaft« und machen 
»zwischen den Soziallehren von Auguste Comte, Karl Marx, Max Weber und 
Max Sdieler eher den Unterschied von Glaubensakten als von wahren, falschen 
oder vorerst noch problematischen Theorien« 44 . 

Uber diesen unbefriedigenden Zustand sucht Horkheimer vermittels einer Dia- 
lektik hinauszugelangen, welche die grofie Hegel-Kritik des 19. Jahrhunderts in 
sich aufgenommen und fortgebildet hat. An die Stelle starrer Dualismen, ge- 
trennter Spharen tritt bei ihm der lebendige Begriff, der Differenz und Identitat 
von Besonderem und Allgemeinem in sich enthalt. Material e Soziologie und 
Sozialphilosophie lassen sich nicht abgelost voneinander betreiben. Die Frage 
nach den konkreten Formen menschlicher Vergesellschaftung schliefit allemal die 
nach Realitatsgrad und Wert der zu betrachtenden Strukturen ein. Umgekehrt 
bedarf die begrifHiche Arbeit des Philosophen der in grundlichen Einzelunter- 
suchungen gesichteten Materialien. »Das Verhaltnis zwischen philosophischen 
und . . . einzelwissenschaftlichen Disziplinen«, auf das Horkheimer wegen seiner 
Wichtigkeit immer wieder zuriickgekommen ist, »darf nicht in dem Sinne gefafit 
werden, als ob die Philosophic die entscheidenden Probleme behandle und dabei 
von Erfahrungswissenschaft unangreifbare Theorien, eigene Wirklichkeits- 
begriffe, die Totalitat umspannende Systeme konstruiere, wahrend ... die Tat- 
sachenforschung ihre langen, langweiligen, sich in tausend Einzelfragen auf- 
splitternden Einzelerhebungen anstelle, um schliefSlich im Chaos des Spezialisten- 
tums zu enden« 45 . 

Statt dessen kommt es Horkheimer darauf an, da£ sich philosophische Theorie 
und einzelwissenschaflliche Praxis unentwegt dialektisch durchdringen und ent- 
falten. Die Philosophic ist kein von aufien an die empirischen Befunde heran- 
getragener, fertiger Katalog von Kategorien, welcher der Dialektik des Er- 
kenntnisprozesses (wie der Geschichte) entzogen bleibt. Als theoretische, aufs 

42 Ibid., S. 9. 
« Ibid. 
« Ibid. 
« Ibid,, S. 10. 



16* ALFRED SCHMIDT 

objektive »Wesen« der Erscheinungen abzielende Intention fordert sie die spe- 
ziellen Untersudiungen und ist dabei »weltofTen genug, um sich selbst von dem 
Fortgang der konkreten Studien beeindrucken und verandern zu lassen« 46 . 
Erwagungen, nach denen es sich von selbst versteht, da£ Horkheimer wenig 
Neigung verspiirte, den deklarativen Bekundungen und leeren Konstruktionen 
der Sozialphilosophie seiner Zeit weitere hinzuzufugen. Vielmehr schlagt er als 
konkretes Programm vor, »auf Grund aktueller philosophischer Fragestellungen 
Untersudiungen zu organisieren, zu denen Philosophen, Soziologen, National- 
okonomen, Historiker, Psychologen in dauernder Arbeitsgemeinschaft sich ver- 
einigen und . . . ihre aufs Grofie zielenden philosophischen Fragen an Hand der 
feinsten wissenschaftlichen Methoden . . . verfolgen« 47 . Dadurch werden jene 
Fragen nicht dogmatisch beantwortet, »sondern . . . selbst dialektisch einbezogen 
in den empirisch wissenschaftlichen Prozefi, das heifk die Antwort auf sie liegt in 
dem Fortschritt der sachlichen Erkenntnis, von dem ihre Gestalt selbst mit- 
betroffen wird« 48 . 

Was es bedeutet, philosophiegeschichtlich uberkommene Grundfragen im wissen- 
schaftlichen ErkenntnisprozeS zu prazisieren und auf neue Weise anzugehen, 
erlautert Horkheimer instruktiv am alten, stets wieder erorterten Problem, wie 
sich individuelle Existenz und allgemeine Vernunft, sinnliche Realitat und Idee, 
Leben und Geist zueinander verhalten. Modern formuliert, handelt es sich hier 
»um die Frage nach dem Zusammenhang zwischen dem wirtschaftlichen Leben 
der Gesellschaft, der psychischen Entwicklung der Individuen und den Verande- 
rungen auf den Kulturgebieten im engeren Sinn« 49 . Ob man nun das Thema, wie 
Schelers »Soziologie des Wissens«, metaphysisch diskutiert oder, grob verein- 
f achend, eine der geschichtlich aufgetretenen Thesen vortragt und alle anderen 
bestreitet - Horkheimer erwahnt, wozu ein schlecht verstandener Spinoza, 
Hegel oder Marx unter Umstanden herhalten miissen - 50 : in jedem Fall wird 
em komplexer Gegenstand gerade dadurch verfehlt, dafi er »rein« philosophisch 
behandelt werden soil. Eine fragwiirdige »Scheidung von Geist und Realitat« in 
undialektischer Weise verabsolutierend, setzt jede abstrakte Antwort die 
»durchgangige Entsprechung zwischen den ideellen und materiellen Verlaufen« 
voraus und vernachlassigt oder iibersieht die »komplizierende Rolle der psychi- 
schen Zwischenglieder« 51 . . . 

Wirklich fruchtbare Forschungen auf diesem Gebiet, die audi bestimmte Um- 
fragemethoden nicht versdimahen, lassen sich demgegeniiber, wie Horkheimer 
erlautert, nur dann einleken, wenn man die Frage nach dem Verhaltnis der 
okonomischen Strukturen zu den kulturellen raumlich, zeitlich, psychologisch 

« Ibid. 

« Ibid., S. 11. 
« Ibid. 

« Ibid., S. 13. 
so Cf. ibid. 
5i Ibid. 



DIE »ZEITSCHRIFT FUR SOZIALFORSCHUNG« 17* 

und soziologisch eingrenzt, wodurch sie folgende Form annimmt: »Welche Zu- 
sammenhange lassen sich bei einer bestimmten gesellsdiaftlidien Gruppe, in einer 
bestimmten Zeitspanne, in bestimmten Landern nachweisen zwischen der Rolle 
dieser Gruppe im Wirtschaftsprozefi, der Veranderung in der psychischen Struk- 
tur ihrer einzelnen Mitglieder und den auf sie als Gesamtheit im Ganzen der 
Gesellschaft wirkenden und von ihr hervorgebrachten Gedanken und Einrich- 
tungen?« 52 

Das Institut hat denn audi, wie gerade aus der Zeitschrift hervorgeht, eine Reihe 
wichtiger Studien durchgefiihrt, in denen die okonomische Geschiditsauffassung 
- um sie handelt es sich bei der erorterten Frage - nicht abstrakt verkundet, 
sondern am Stoff" selbst erprobt wird. Auf die Notwendigkeit, so zu verfahren, 
haben bereits Marx und Engels mit grofitem Nachdruck hinweisen miissen. 
Jener betont, dafi die »materialistische Basis« seiner Lehre »ernstes objektives 
Studium erheischt, wenn man auf ihr operieren will« 58 ; und dieser beklagt, dafi 
der historische Materialismus seinen »fatalen Freunden« nicht selten »als Vor- 
wand dient, Gesdiichte nicht zu studieren^ 54 ; dafi »die materialistisdbe Methode 
in ihr Gegenteil umschlagt, wenn sie nicht als Leitfaden beim historischen Stu- 
dium behandelt wird, sondern als fertige Schablone, wonach man sich die histo- 
rischen Tatsachen zurechtschneidet« 55 . 

Prinzipien, die in Horkheimers - wissenschaftlich uniiblichem - Gedanken, 
einen empirisch orientierten Forschungsapparat in den Dienst umfassender 
sozialphilosophischer Uberlegungen zu stellen, voll berucksichtigt wurden. Sein 
1931 entwickeltes Programm sah vor, »eine Diktatur der planvollen Arbeit 
iiber das Nebeneinander von philosophischer Konstruktion und Empirie in der 
Geseilschaftslehre zu errichten« 5B . Tatsachenforschung und theoretisches Denken 
sollten einander gleichermafien bereichern - verbunden in einer (nie blofi ge- 
gebenen, sondern stets aufs neue herzustellenden) dialektischen Einheit. Als Phi- 
losoph, keineswegs aber um die Anspruche der Empirie zu schmalern, wurde 
Horkheimer zum Leiter des Frankfurter Instituts. 



Ill 

Die Zeitschrift ftir Sozialforscbung diente neben den Buchpublikationen des 
Instituts der Verwirklidiung des erorterten Programms. Horkheimer gelang es, 
einen Kreis befahigter Menschen um sich zu versammeln, die ihr leidenschaft- 

52 Ibid., S. 14. 

55 Marx an F. A. Sorge, Brief vom 27. 11. 1877, in: Marx/Engels, Ausgewablte Briefe, 1. c, S.365. 
54 Engels an C. Schmidt, Brief vom 5. 8. 1890, in: ibid., S. 500 (Hervorhebung von Engels). - 
Auf diese »fatalen Freunde* bezieht sich ubrigens der vielzitierte, gern miftbrauchte Satz von 
Marx: »Tout ce que je sais, c'est que je ne suis pas marxiste«. 

65 Engels an P. Ernst, Brief vom 5. 6. 1890, in: ibid., S. 498. 

56 Horkheimer, Die gegenwdrtige Lage der Sozialphilosopbie und die Aufgaben eines Instituts 
fur Sozialforscbung, 1. c, S. 12. 



18* ALFRED SCHMIDT 

lidbes Interesse an gesellschaftlichen Themen iiber den Wunsch stellten, akade- 
misdi Karriere zu machen. Ihr Ziel war die gemeinsame Arbeit an einer kriti- 
schen Theorie der Gesellsdiaft ihrer Zeit. Horkheimer hat es 1932 in seinem Vor- 
wort zum ersten Heft der Zeitschrift klar umrissen 57 . Terminologisch bemerkens- 
wert ist hier zunachst der Ubergang von der »Sozialphilosophie« zur 
»Sozialforschung«. Deren Begriff bezeichnet keine Spezialdisziplin, sondern 
»Untersuchungen auf den verschiedensten Sachgebieten und Abstraktions- 
ebenen«, die dazu bestimmt sind, die Einsicht ins soziale Ganze voranzubringen. 
Wiederum betont Horkheimer, wie wichtig es ist, »bei unbedingter empirischer 
Strenge« im einzelnen ein »theoretisches Zentralproblem« 58 im Auge zu behalten. 
Die so verstandene Sozialforschung ist gleich weit entfernt von »blofier Tat- 
sachenbeschreibung« und »empiriefremder Konstruktion«. Erkenntnistheoretisch 
setzt sie voraus, dafi »unter der chaotischen Oberflache der Ereignisse eine dem 
Begriff zugangliche Struktur wirkender Machte zu erkennen sei. Geschichte gilt 
in der Sozialforschung nicht als Erscheinung blofier Willkiir, sondern als von 
Gesetzen beherrschte Dynamik, ihre Erkenntnis ist daher Wissenschaft« 59 . 
Verweilen wir etwas bei dem hier eingefuhrten Begriff von »Wissenschaft«, der 
wahrend der letzten Jahre in den Diskussionen zwischen der Frankfurter und 
der positivistischen Soziologie eine erhebliche Rolle spielte und von positivisti- 
scher Seite heftig bekampft wurde. Er geht zurtick auf Hegels Kant-Kritik, 
namentlich auf die in der Groflen Logik entwickelte und in der Philosophie der 
Weltgeschichte vorausgesetzte Lehre von der Erkennbarkeit des Dinges an sich. 
Zur philosophischen Betrachtung des historischen Prozesses gehort es nach Hegel, 
dafi von einer klassifizierenden »Sammlung von Kenntnissen« zu »verniinf tiger 
Einsicht« fortgeschritten wird; denn »das Wahre liegt nicht auf der sinnlichen 
Oberflache; bei allem, insbesondere was wissenschaftlich sein soil, darf die Ver- 
nunfl nicht schlafen und mufi Nachdenken angewendet werden« ao . Es bedarf des 
konkreten Begriffs, der »die Oberflache durchdringt und sich durch die Mannig- 
faltigkeit des bunten Gewiihls der Begebenheiten hindurchringt« 61 . 
Marx und Engels schliefien sich, zumal in ihren reifen Arbeiten, als radikale Geg- 
ner des (zu ihrer Zeit vornehmlich neukantianischen und positivistischen) Pha- 
nomenalismus der Hegelschen Lehre von der Objektivitat des Begriffs an. Ihre 
Kritik der politischen Okonomie beruht auf der Dialektik von Wesen und Er- 
scheinung, wobei diese Kategorien, materialistisch gewendet, keinem logischen 
Reich zeitloser Geltung mehr angehoren, sondern sich geschichtlich als Momente 
eines wissenschaftlich analysierbaren Objekts, der biirgerlichen Gesellschafl, aus- 
einanderlegen. Erscheinende und wesentliche Wirklichkeit, Zirkulations- und 
Produktionsprozefi des Kapitals, »laufen bestandig ineinander, durchdringen 

57 Zeitschrift fiir Sozialforschung, Jahrgang I, 1932, Doppelheft l/2, S. I. 

«8 Ibid. 

5» Ibid. 

60 Hegel, Die Vernunft in der Geschichte, 1. c, S. 6; 7. 

ei Ibid., S. 8. 



DIE »ZEITSCHRIFT FUR S02IALF0RSCHUNG« 19* 

sich, und verfalschen dadurch bestandig ihre charakteristischen Unterscheidungs- 
merkmale« 62 . An ihnen festzuhalten bleibt gleichwohl das Geschaft der Wissen- 
schaft. Dafi die gesellschaftlichen Spharen durcheinander vermittelt sind, besei- 
tigt - sosehr sie verhiillt wird - die »begriindende« Rolle der unmittelbaren 
Produktion des Lebens nidit. Der Erkenntnisprozefi hat, wie die Autoren stets 
betonen, das »Unsichtbare und , . . zu erforschende Wesentliche« von der sinnlich' 
sich darbietenden » Oberflache « 63 zu unterscheiden, die »Ersdieinungsform von 
dem, was darin erscheint« M : das Wesen als immanentes Gesetz der Erscheinungen. 
Der flache Empirismus der »Vulgarokonomie« bleibt demgegenuber im strengen 
Sinn ideologisch befangen; er halt sich an den »substanzlosen Sdiein« der gesell- 
schaftlichen Sachverhalte und beschrankt sich im iibrigen darauf, »die banalen 
und selbstgefalligen Vorstellungen der biirgerlichen Produktionsagenten von 
ihrer eigenen besten Welt zu systematisieren, pedantisieren und als ewige Wahr- 
heiten zu proklamieren« 65 . Da die Vulgarokonomen den inneren Zusammenhang 
nicht begreifen, verf alien sie in jene Objektivitat, »die nicht weiter sieht als ihre 
Nase und eben deshalb die bornierteste Subjektivitat ist« 66 . 

Engels vor allem hat diese im okonomischen Kontext gewonnenen Einsichten auf 
das Geschichtsstudium insgesamt angewandt. Er geht davon aus, dafi Natur- 
und Sozialgeschichte sich insofern unterscheiden, als es sich bei jener um »lauter 
blinde Agenzien« handelt, »die aufeinander einwirken und in deren Wechsel- 
spiel das allgemeine Gesetz zur Geltung kommt« 67 , wahrend in der Geschichte 
der Gesellschajft (ganz wie die Aufklarer und Hegel sie beschneben haben) 
»lauter mit Bewufitsein begabte, mit Oberlegung oder Leidenschaft handelnde, 
auf bestimmte Zwecke hinarbeitende Menschen« 68 wirken. Unbeschadet dieses 
qualitativen Unterschieds wird auch »der Lauf der Geschichte durch innere all- 
gemeine Gesetze beherrscht . . . Denn auch hier herrscht auf der Oberflache, trotz 

62 Marx, Das Kapital, Band III, Berlin 1953, S. 64. 

«» Ibid., S. 63. 

64 Marx, Das Kapital, Band I, Berlin 1955, S. 596. - Dafi es hier um eine sachliche Bedeutung 

Hegelsdier Dialektik fiir die Marxsche Lehre geht, nicht um deren gelegentliches »Kokettieren« 

mit philosophisdier Terminologie, lieUe sich anhand der Texte vielfach belegen. Genannt seien 

nur folgende Stellen aus Band I des Kapitals: S, 69; 321; 331; 565ft.; aus Band III: 

S. 194; 216; 344; 369; 870. 

05 Ibid., S. 87. — Die Intention der strengen Ideologicnlehre als Theorie der — objektiv ver- 

mittelten — »Phanomenalitat« des gesellschafHichen Alltagsbewufitseins wird besonders deutlich 

in der Marxschen Analyse der »verkehrten Welt« der Konkurrenz: »Die fertige Gestalt der 

okonomischen Verhaltnisse, wie sie sich auf der Oberflache zeigt, in ihrer realen Existenz, und 

daher auch in den Vorstellungen, worin die Trager und Agenten dieser Verhaltnisse sich xiber 

dieselhen klar zu werden suchen, sind sehr verschieden von, und in der Tat verkehrt, gegensatz- 

Hch zu ihrer innern, wesentlichen, aber verhiillten Kerngestalt und dem ihr entsprechenden 

BegrifF*. In: Das Kapital, Band III, 1. c, S. 235. 

68 Engels an E. Bernstein, Brief vom 25. 1. 1882, in: Marx/Engels, Attsgewahlte Brief e, 1. c, 

S. 418. 

67 Engels, Ludwig Fetterbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophic, in: Marx/ 
Engels, Ausgewdhlte Schrijten in zwei Banden, Band II, Berlin 1966, S. 358. 

68 Ibid., S. 358 f. 



20* ALFRED SCHMIDT 

der bewuftt gewollten Ziele aller einzelnen, im ganzen und grofien scheinbar der 
Zufall . . . Wo aber auf der Oberflache der Zufall sein Spiel treibt, da wird er 
stets durch innere verborgene Gesetze beherrscht« 69 , die ihrerseits der - zu kriti- 
sierenden - Tatsache entspringen, dafl die Geschichte von den Menschen »bis jetzt 
nidit mit Gesamtwillen nach einem Gesamtplan« 70 gemadit wurde. Die blinde 
dkonomische Notwendigkeit setzt sidi in der unendlichen Summe von Zufallen 
durch; die vielen bewufken Einzelwillen stofien aufeinander und durchkreuzen 
sich und bewirken so einen Zustand, »der ganz dem in der bewufklosen Natur 
herrschenden analog ist« 71 . Aus diesem objektiven Grunde - nicht weil sie die 
an sich bestehende Differenz von Natur und Gesellschaft einebnen wollen - 
betrachten Marx und Engels »die bisherige Geschichte nach Art eines (nicht 
geisteswissenschaftlich zu >verstehenden<, sondern zu >erklarenden<, A. S.) 
Naturprozesses«, als »wesentlich denselben Bewegungsgesetzen unterworfen« 72 . 
So viel zu den Quellen des von Horkheimer im Vorwort zur ersten Nummer der 
Zeitschrift eingefiihrten Begrifrs »wissenschaftlicher« Sozialforschung. - Diese 
ist nicht autark, sondern bedarf der verschiedensten Fachwissenschaften, um die 
»Vorgange des Gesellschaftslebens nach dem Stand der jeweiis moglichen Einsicht 
zu begreifen« 73 . Dabei ist Horkheimer sich dariiber im klaren, dafi die auszuwer- 
tenden Resultate von Sonderdisziplinen haufig vorlaufigen und hypothetischen 
Charakter haben. Hieraus ergibt sich die unaufhebbare Distanz der Sozialfor- 
schung zu jeder auf Letztbegriindung und Abschlufihaftigkeit ihrer Urteile be- 
stehenden Philosophic Dem widerspricht keineswegs, dafi die Zeitschrift nicht 
wenige Aufsatze enthalt, die sich intensiv mit philosophischen Fragen beschafti- 
gen; »denn nicht die Zugehorigkeit zu einem bestimmten Fach, sondern die Wich- 
tigkeit fiir die Thebrie der Gesellschaft ist bei der Wahl ihrer Gegenstande be- 
stimmend« 74 . 

Sozialforschung im hier diskutierten Sinn und Soziologie als Einzelwissenschaft 
sind fiir Horkheimer deshalb nicht identisch, weil jene »ihre Forschungsgegen- 
stande auch auf nichtsoziologischen Gebieten findet« 75 . In dem Mafie freilich, 
wie Fachsoziologie sich nicht im Beschreiben von Tatsachen erschopft, sondern 
wirklich »auf das Problem der Gesellschaft abzielt« 78 , werden ihre Fragen auch 
in der Zeitschrift behandelt, schon um die allgemein-theoretischen Abhandlungen 
stofTlich zu erganzen. 

«» Ibid., S. 359. 

70 Engels an H. Starkenburg, Brief vom 25, 1. 1894, in: Marx/Engels, Ausgewdhlte Briefe, I. c., 
S. 560. 

71 Engels, Ludwig Fetterbacb und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophic, 1. c, S. 359. 

72 Engels an J. Bloch, Brief vom 21 722. 9. 1890, in: Marx/Engels, Ausgewdhlte Briefe, I.e., 
S. 503. 

73 Zeitschrift fiir Sozialforschung, Jahrgang I, 1932, Doppelheft 1/2, S. I. 
™ Ibid., S. II. 

75 Ibid. - Davon zeugen die sich mit Kunst und schoner Literatur abgebenden Studien der Zeit- 
schrift. 
™ Ibid. 



DIE »2EITSCHRIFT FUR SOZIALFORSCHUNG« 21* 

Was das theoretisch entscheidende Verhaltnis der Sozialforschung zur Wirklich- 
keit als Geschidite anbelangt, so erwahnt Horkheimer wiederum die (vom Marx- 
schen Materialismus und seinen Gegnern, Max Weber etwa) angeregte »Frage 
des Zusammenhangs zwisdien den einzelnen Kulturgebieten, ihrer Abhangigkeit 
voneinander, der Gesetzmafiigkeit ihrer Veranderung« 77 . Eine Frage, die dann in 
der Zeitschrift unter verschiedensten Gesichtspunkten angegangen wurde, nicht 
zuletzt vermittels einer »den Bediirfnissen der Geschidite entgegenkommenden 
SozialpsychoIogie« 78 , wie sie Dilthey 1894 in seinen Ideen iiber eine beschrei- 
bende und zergliedernde Psycbologie gefordert und Freud ein gutes Stuck voran- 
gebracht hatte. Die kritischen Analysen der Zeitschrift zur » Anthropologic des 
biirgerlichen Zeitalters« versudien, Geschidite und Psychologie zu verbinden. 
Was Horkheimer und seinen Mitarbeitern vorschwebte, war eine »Theorie des 
historischen Verlaufs der gegenwartigen Epodie« 79 , die - auf verschiedenen 
Gebieten erarbeitet - im Ganzen der Zeitschrift, nicht nur in einzelnen, sie aus- 
driicklich thematisierenden Beitragen enthalten sein sollte. Dazu bedurfte es 
audi, »sowohl zum Verstandnis der Gegenwart als audi zur Priifung und Aus- 
bildung der theoretisdien Hilfsmittek 80 , konkreter Geschichtsstudien, die jedodi 
so angelegt sein muftten, dafi sie ein aktuelles, kein bloft archivarisches Inter- 
esse befriedigten. Ebenso wichtig waren prognostische Unter suchungen iiber die 
Zukunft der bestehenden Gesellsdiaft, und zwar anhand des Studiums »der in 
ihr auf planmafiige Regelung der Wirtschaft hintreibenden Tendenzen« 8i . 
Am Schlufi seines programmatischen Vorworts kommt Horkheimer nochmals auf 
das Verhaltnis der Sozialforschung zur begrirTlich-konstruktiven Arbeit zu spre- 
chen. Letztere spielt in ihr eine erhebliche Rolle. Da sie aber »auf die gegenwar- 
tige menschliche Wirklichkeit abzielt«, nicht »auf moglichst grofie Allgemeinheit 
und iibergreifende Schau« 82 , setzen sich ihre Kategorien unentwegt dem Korrek- 
tiv der Empirie aus. Das unterscheidet den Horkheimerschen Ansatz ebenso von 
den - irrationalistischen - Metaphysiken der spatbiirgerlichen Zeit wie vom 
»weltanschaulichen« Dogmatismus einer sich »marxistisch-leninistisch« nennen- 
den Orthodoxie. Deren Hauptmerkmal ist es, dafi sie - gestiitzt vor allem auf 
naturphilosophische Fragmente des spaten Engels - die Dialektik zu einem (je 
nach den politischen Zeitlauften anders ausfallenden) Katalog allgemeinster 
Seins- und damit Denkgesetze versteinern lafk. Ihnen soil zwar jeglicher Wandel 
im Universum unterliegen, sie selbst aber bleiben ihm entzogen. Die objektive 
Welt wird so zum Inbegriff blofier Anwendungsfalle. Wie der Hegel des ab- 
gerundeten Systems betrachten die Sowjetideologen »alles, was uns umgibt, 
... als ein Beispiel des Dialektischen« 83 . Sie iibersehen, daft gerade dann, wenn 

" Ibid. 
78 ibid, 

7» Ibid., S. III. 

80 Ibid. 

8 1 Ibid. 

82 Ibid. 

83 Hegel, System der Philosophic, I, § 81, Zusatz 1. 



22* ALFRED SCHMIDT 

Natur nick zum Produkt des Geistes herabgesetzt werden soil, darauf verzichtet 
werden mufi, ihrem von menschlicher Praxis isolierten »An-sich« eine dialek- 
tische Struktur zuzuschreiben. Die materielle Welt ist, wie schon der junge Marx 
wuflte, allemal »die Welt des Menschen* 84 , etwas bereits Angeeignetes. Und in 
den Pariser Manuskripten heifit es: »Auch die Natur, abstrakt genommen, fur 
sich, in der Trennung vom Menschen fixiert, ist fur den Menschen nichts« 85 . Die 
Dialektik gehort der menschlichen Wirklichkeit an, der aufiermensdilichen nur 
in dem Mafie, wie sie geschichtlich verandert, »humanisiert« ist. 
Indem Horkheimers Konzeption sich amateurhafter Synthesen enthalt, ist sie 
denkbar ungeeignet, weltanschaulichen Religionsersatz zu bieten. Wissenschaft- 
lichen Kriterien verpflichtet, hat sie »die Selbstandigkeit ihres Erkenntnis- 
anspruchs gegeniiber alien weltanschaulichen und politischen Richtungen zu be- 
haupten« 86 . Das bedeutet fiir Horkheimer freilich nicht, daft die Gelehrten frei 
von gesdiichtlich-gesellschaftlichen Bedingungen ihrer Tatigkeit nachgehen, nodi 
dafi Erkenntnis sich in selbstgeniigsamer Kontemplation erschopft. Die histo- 
rische Praxis durchdringt sie auf alien ihren Stufen und zeichnet ihr bestimmte 
Schritte vor. Dennoch mussen »die Ergebnisse der Forschung . . . theoretischen 
Kriterien « geniigen, »wenn sie sich in der Wirklichkeit bewahren sollen« 87 . Wohl 
hat Marx den Schein voraussetzungsiosen Denkens aufgelost und gezeigt, dafi 
audi die Wissenschaft als Produktivkrafl und Produktionsmittel in den sozialen 
Lebensprozefi eingeht. Daraus aber zu folgern, seine Theorie habe etwas mit dem 
Pragmatismus gemein, ware verfehlt. Horkheimer hebt, iibrigens in bester Tra- 
dition, die Bedeutung der Idee objektiver Wahrheit fiir die materialistische Dia- 
lektik hervor: »Soweit die Fruchtbarkeit einer Erkenntnis bei ihrem Wahrheits- 
anspruch eine Rolle spielt«, ist darunter »eine der Wissenschaft immanente 
Fruchtbarkeit und keine Obereinstimmung mit aufieren Riicksichten zu ver- 
stehen. Die Priifung der Wahrheit eines Urteils ist etwas anderes als die Priifung 
seiner Lebenswichtigkeit. In keinem Fall haben gesellschaftliche Interessen uber 
die Wahrheit zu entscheiden, sondern es gelten Kriterien, die sich . . . mit dem 
theoretischen Fortschritt entwickelt haben . . . Wenn audi die Wissenschaft in die 
gesdiichtlidie Dynamik einbezogen ist, darf sie darum doch nicht des ihr eigen- 
tumlichen Charakters entkleidet und utilitaristisch mifiverstanden werden« 88 . - 

84 Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, in: Marx/Engels, Werke, Band 1, Berlin 
1957, S. 378. 

85 Marx/Engels, Werke, Erganzungsband, Erster Teil, Berlin 1968, S. 587. 

86 Zeitschrifi fiir Sozialforschung, Jahrgang I, 1932, Doppelheft 1/2, S. III. 

8 7 Ibid. 

88 Horkheimer, Bemerkungen uber Wissenschaft und Krise, in: ibid., S. 1. — Horkheimer befindet 
sich hier in vollem Einklang mit Marx, einem wahrlich politischen Denker, dem gleichwohl nichts 
mehr zuwider war als irgendwelche Versuche, die Erkenntnis einem angestrebten EfFekt unter- 
zuordnen. »Einen Menschen«, schreibt er in den Theorien Uber den Mehrwert gegen Malthus, 
»dcr die Wissenschaft einem nicht aus ihr selbst (wie irrtumlich sie immer sein mag), sondern von 
atifien, ihr fremden, aufierlichen Interessen entlehnten Standpunkt zu akkommodieren sucht, 
nenne ich >gemein<«. In Marx/Engels, Werke, Band 26.2, Berlin 1967, S. 112 (Hervorhebungen 
von. Marx); cf. audi S. 113. 



DIE » ZEITSCHRIFT FUR SOZIALFORSCHUNG« 23* 

Auf diese schon in Horkheimers urspriinglicher Konzeption enthaltene entschie- 
dene Absage an alle Versuche, die Theorie leichtfertig zu instrumentalisieren, 
war hier insofern naher einzugehen, als sich Vertreter des studentischen Aktio- 
nismus in jiingster Zeit immer wieder auf seine friihen Arbeiten berufen haben. 
Verfolgen wir nun - anhand der spateren programmatischen Aufierungen Hork- 
heimers - in groben Ziigen die Geschichte der Zeitschrift. Im Jahre 1932 er- 
schien das Doppelheft 1/2 sowie Heft 3 im Leipziger Verlag C. L. Hirschfeld. 
1933 konnte aus den bekannten Griinden nur nodi Heft 1 in Deutsdiland er- 
sdieinen. Heft 2 wurde in Paris gedruckt von den Presses Universitaires de 
France und verlegt von der Librairie Felix Alcan, die auch die sonstigen 
Schriften des Instituts iibernahm. Die Redaktion der Zeitschrift befand sich in 
dessen Genfer Zweigstelle. Horkheimer war glucklich, dafi die Zeitschrift, ab- 
gesehen von wenigen Ausnahmen, deutsch weitergefiihrt werden konnte. Er und 
seine Mitarbeiter liefien sich davon leiten, dafi deutsche Sprache und Kultur bei 
ihnen besser aufgehoben waren als bei den neuen Machthabern in Deutschland. 
Auch nachdem die meisten Beitrage in New York entstanden und das Institut 
der Columbia University angegliedert war, blieb die Zeitschrift in Paris. Als der 
Krieg 1939 ausbrach, nahm Horkheimer zunachst an, damit sei ihre weitere 
Publikation in Frankreich gefahrdet. Er schrieb diesbeziiglich dem Verlag, der 
ihm mitteilte, Jean Giraudoux, der Kultusminister, betrachte es als Ehre, dafi die 
Zeitschrift weiterhin erscheine. Erst nachdem Hitlers Truppen Paris eingenom- 
men hatten, wurden in New York noch vier Nummern in englischer Sprache 
veroffentlicht. 

In Horkheimers Vorwort vom November 1933 zum ersten in Paris publizierten 
Heft heifit es, auch unter den neuen Bedingungen werde das Institut sich bernu- 
hen, die »Theorie der Gesamtgesellschaft und ihre Hilfswissenschaften zu for- 
dern«, wobei die Theorie, das »begreifende Denken« - hierin lag ein neuer 
Akzent -, als »Faktor der Verbesserung der Wirklichkeit« 89 zu gelten habe. - 
Ausfuhrlicher aufierte sich der Herausgeber im Februar 1937 in seinem Vorwort 
zum sechsten Jahrgang der Zeitschrift fiber die seitherigen Erfahrungen und 
kiinftigen Absichten. Horkheimer wies zunachst darauf hin, dafi die Zeitschrift 
mittlerweile zu einem der verschwindend wenigen wissenschaftlichen Organe 
geworden war, »die im Ausland deutsche geisteswissenschafthche Traditionen in 
deutscher Sprache « 90 fortsetzten. Damit hatte sich zwar die Verantwortung des 
Unternehmens erhoht, aber der ursprungliche Plan, die Zeitschrift alien wert- 
vollen geisteswissenschaftlichen Studien zur Verfugung zu stellen, die anderswo 
nicht mehr veroffenthcht werden konnten, mufite infolge Platzmangels auf- 
gegeben werden. Daher der Entschlufi des Instituts, »auch insofern eine philoso- 
phische Tradition fortzusetzen, als neben der wissenschaftlichen Zulanglichkeit 
vor allem Denkart und Richtung des Interesses bei der Auswahl der Aufsatze 



1 Zeitschrift fiir Sozialforschung, Jahrgang II, 1933, Heft 2, S. 161. 
' Ibid., Jahrgang VI, 1937, Heft 1, S. 1. 



24* ALFRED SCHMIDT 

entscheiden« 91 sollten. Ihre Aufgabe war es, gegen den wissenschaftlich verbram- 
ten »Verzicht auf verniinftige Entscheidung«, gegen die modischen Relativismen 
»bestimmte Gedanken durchzuhalten« 92 . Die tragenden Artikel sollten fortan, 
bewufiter noch als zuvor, »eine gemeinsame philosophische Ansicht« 93 der Mit- 
arbeiter entwickeln, aber wohlgemerkt nicht in abstracto, sondern auf deren je- 
weiligen Forschungsgebieten 94 . 

Die begriffsfeindliche Sachlichkeit des Positivismus lenkt von der gesamtgesell- 
schafllichen Problematik ab und stiftet zugleich »eine Scheinsicherheit, indem sie 
die Fachwissenschaft in ihrer gegebenen Gestalt als die einzig berechtigte Er- 
kenntnis verklart und Ideen, die dariiber hinausgehen, als sinnlos hinstellt« 95 . 
Aus dem seither Diskutierten diirfte erhellen, wie diese iiber die empirisch er- 
mittelten Tatbestande »hinausgehenden« Ideen beschaffen sind. Horkheimer 
denkt nicht daran, der blanken Negation von Sinn, wie sie dem positivistischen 
Verfahren innewohnt, ebenso abstrakt einen wissenschaftlicher Analyse schlecht- 
hin entzogenen »Sinn« entgegenzusetzen. Hohere »Werte« und »Seinsregionen«, 
gegen den Intellekt gerichtete metaphysische Kategorien wie »Seele«, »Leben«, 
»Personlichkeit« und »Freiheit«, welche die raum-zeitlich bedingte Menschen- 
und Stoffwelt als ein Minderes hinter sich lassen, werden von Horkheimers 
Konzeption nicht weniger verworfen als von der positivistischen Schule, aber - 
und darin liegt der entscheidende Unterschied - »nicht unter dem Gesichts- 
punkt, ob die Fachwissenschaft gerade Verwendung fur sie hat, sondern im 
Zusammenhang einer auf die Praxis bezogenen Geschichtstheorie« 96 . Diese hat in 
eingehenden Analysen den historisch notwendigen Verfall aller die sinnliche 
Wirklichkeit mystifizierenden Metaphysik und die Aussichtslosigkeit ihrer 
Restauration ebenso niichtern auszusprechen, wie es ihre Aufgabe ist, aus den 
gegebenen Verhaltnissen die objektiven Bedingungen der Moglichkeit einer 



» Ibid. 
»2 Ibid. 

93 Ibid. 

»* Audi dieser wichtige Gedanke Horkheimers, daran sei wenigstens erinnert, steht in der Tra- 
dition von Marx und Engels. Deren Deutsche Ideologie iiberfuhrt den spekulariven Idealismus 
in eine Wissenschaft, welche »die Darstellung« der neuentdeckten Wirklichkeit des »praktischen 
Entwicklungsprozesses der Mensdien* zum Inhalt hat. Mit dieser »DarsteIlung der Wirklichkeit* 
verliert »die selbstlndige Philosophic . . . ihr Existenzmedium«. In: Marx/Engels, Werke, Band 3, 
Berlin 1962, S. 27. — Engels hat spater die Frage nadi dem Status der Philosophic nodi einmal 
aufgeworfen, insbesondere im Hinblick auf ihr Verhaltnis zu den Einzelwissenschaften. Der 
»moderne Materialismus*, heifit es in der Schrift Die Entwicklung des Sozialismus von der 
Utopie zur Wissenschaft, ist als ^positive Wissenschaft von Natur und Gesdiidite . . . wesentlich 
dialektisdi und braudit keine iiber den andern Wissenschaften stehende Philosophic mehr. Sobald 
an jede einzelne Wissensohaft die Forderung herantritt, iiber ihre Stellung im Gesamtzusammen- 
hang der Dinge und der Kenntnis von den Dingen sich klarzuwerden, ist jede besondre Wissen- 
schaft vom Gesaratzusammenhang Uberflussig*. In: Marx/Engels, Attsgewahlte Schriften in zwei 
Bdnden, Band II, I. c, S. 119; 120. 

»5 Zeitschrift fur Sozialforschung, Jahrgang VI, 1937, Heft 1, S. 1 f. 
w Ibid., S. 2. 



DIE »ZEITSCHRIFT FUR S0ZIALF0RSCHUNG« 25* 

humaneren Gesellschaft abzuleiten, in der die grofie Philosophic von Kant bis 
Hegel mit ihrer Idee der Menschheit verwirklicht wird. 

Zu den Schwierigkeiten eines angemessenen Verstandnisses der Intentionen 
Horkheimers gehort es, die angedeutete doppelte Frontstellung gegen Metaphy- 
sik und Positivismus richtig zu erfassen. Von einer - heute zuweilen behaupte- 
ten - Wissenschaftsfeindlichkeit des Horkheimerschen Entwurfs kann keine 
Rede sein. Die Kritik am Positivismus hat die Frankfurter Sozialforschung nie 
daran gehindert, seine »fachlichen Leistungen anzuerkennen und zu fordern« 97 . 
Fur wie notwendig Horkheimer audi »angesichts der intellektuellen Ratlosig- 
keit« unserer Zeit »die unbeirrte Verfolgung bestimmter Ideen auf den ver- 
schiedenen Gebieten der Gesellschaftstheorie« hielt - stets war ihm klar, dafi 
»jede Art philosophischen Denkens einer fortwahrenden Beobaditung der ein- 
zelwissenschaftlichen Arbeit « 98 bedarf. Deren Tediniken und Ergebnisse sind 
jedoch nicht zu verabsolutieren. Sie bilden lediglich die unerlafiliche Basis einer 
Theorie, welche in ihrem Anspruch auf Wissenschaftlichkeit die Einzeldisziplinen 
nicht etwa unterbietet, sondern ubertrifft. Der dialektische Gedanke enthalt ein 
(durch anderweitig aufbereitetes Material) vielfach »vermitteltes Wissen«; denn 
er hat »den Weg des Hinausgehens iiber das Sein oder vielmehr des Hinein- 
gehens in dasselbe zu machen« 89 . Hegel schon unterscheidet den »Gang der Ent- 
stehung der Wissensdiaft« von ihrem »Gang in sich« 100 , und Marx halt ganz in 
seinem Sinn »Analyse« und »Darstellung« des Gegenstands der Erkenntnis aus- 
einander: »Die Analyse« ist »die notwendige Voraussetzung der genetischen 
Darstellung, des Begreifens des wirklichen Gestaltungsprozesses in seinen ver- 
schiedenen Phasen« 101 . 

Dementsprechend schreibt Horkheimer, dafi die »Erkenntnis der Geschichte« 
ohne »analytisdies Wissen« nicht auskommt, dafi jedoch »die Lei stung, bei der es 
eine Rolle spielen soil, . . . keineswegs mit ihm zusammen(fallt)« 102 . Das wirkliche 
Geschehen, seine Unabgeschlossenheit, die es beherrschenden Tendenzen werden 
vom >>Produkt der Analyse«, von den (im Hegelschen Sinn) »abstrakten Be- 
griffe(n) und Regeln«, nicht adaquat bestimmt: »Die Einzelwissenschaften Iiefern 
nur die Elemente zur theoretischen Konstruktion des geschichtlichen Ablaufs, 
und diese bleiben in der Darstellung nicht, was sie in den Einzelwissenschaften 
waren, sondern erhalten neue Bedeutungsfunktionen, von welchen vorher noch 
keine Rede war« 103 . Die formate ist so in der dialektischen Logik aufgehoben, 

»7 Ibid. 
98 Ibid. 

09 Hegel, Wissenscbaft der Logik, Zweiter Teil, Leipzig 1951, S. 4. 

100 Hegel, Vorlesungen iiber die Geschichte der Philosophic, in: Sdmtlidoe Werke, Band 19, S. 284. 

101 Marx, Theorien iiber den Mehrwert, in: Marx/Engels, Werke, Band 26.3, Berlin 1968, S. 491. 
— Cf. hierzu audi die Marxsche Untersdieidung von »Forschungs-« und »Darstellungsweise« im 
Nachwort zur zweiten Auflage von Band I des Kapitals. 

102 Horkheimer, Zum Rationalismusstreit in der gegenwdrtigen Philosophic, in: Zeitschrift fiir 
Sozialforschung, Jahrgang III, 1934, Heft 1, S. 22 f. 

*«* Ibid., S. 22. 



26* ALFRED SCHMIDT 

die Horkheimer als »InbegrirT aller intellektuellen Mittel« bezeidinet, »um die 
vom trennenden Verstand gewonnenen abstrakten Momente fiir das BilH des 
lebendigen Gegenstands fruchtbar zu machen« 104 . 

Es geniigt freilich nicht, was Horkheimer die gedankliche »Rekonstruktion von 
Tendenzen der GesamtgeselischafW 05 nennt, blofi hinsichtlich seines Verhaltnis- 
ses zu den Weisen analytischen Wissens zu charakterisieren. Die gesellschaftliche 
Realitat geht in die Theorie nicht nur in einzelwissenschaftlich gleichsam filtrier- 
ter Form ein. Jene ist ebensosehr ein Ganzes von Einsichten, das »aus einer be- 
stimmten Praxis, aus bestimmten Zielsetzungen herruhrt« 106 . Der Materialismus 
erstreckt sich auch auf seine eigene Konstruktion. Diese ist ein geschichtlich ent- 
sprungenes, vergangliches Produkt, das »Menschen in der Auseinandersetzung 
mit ihrer gesellschaft lichen und natiirlichen Umwelt entwerfen« 107 . - Die fort- 
wahrende Reflexion auf ihre eigene Bedingtheit gehort zu den Wesensziigen der 
Horkheimerschen Theorie. Bei aller objektiven Blickrichtung bekennt sie ein, dafi 
sie von leibhaftigen Menschen und deren Verlangen nach einer gliicklicheren 
Welt entscheidend mitbestimmt wird. In der Parteilichkeit fiir die objektive 
Moglichkeit eines Besseren besteht ihr »aktive(r) Humanismus« 108 . Horkheimer 
hat sich des Ausdrucks selten nur bedient. In seinen Essays geht es nicht um ein 
iiberzeitlich-affirmatives »Menschenbild«, sondern darum, eine »klare Stellung 
zu den geschichtlichen Problemen der Epoche« 109 zu gewinnen. Als »blofies Be- 
kenntnis zu sich selbst«, als leeres Sollen kann es keinen wirklichen Humanismus 
geben. Gegenwartig besteht er »in der Kritik der Lebensformen . . . und in der 
Anstrengung, sie in verminftigem Sinne zu verandern« 110 . 



IV 

Im abschliefienden Teil sei der mit der Zeitschrift weniger vertraute oder gar 
neue Leser auf die fur den heutigen Stand der Diskussion wesentlichsten Pro- 
blemkomplexe hingewiesen, die vom Horkheimerschen Kreis im Laufe der Jahre 

104 Ibid., S. 20; cf. audi S. 24. — Horkheimer fiihrt hier die Hegel-Rezeption und -Kritik des 
reifen Marx weiter, wie sie in der (erkenntnistheoretisch) bedeutenden Einleitung zur Kritik der 
politischen Okonomie von 1857/58 vorliegt. Das zentrale Problem dieses Textes ist die Methode 
des »Aufsteigens vom Abstrakten zum Konkreten«. Cf. Marx/Engels, Werke, Band 13, Berlin 
1964, S. 615 ff. 

105 Horkheimer, Zum Rationalismusstreit in der gegenwartigen Philosophic in: ibid., Jahrgang 
III, 1934, Heft 1, S. 23. 

106 Horkheimer, Materialismus und Moral, in: Zeitschrift fiir Sozialforschung, Jahrgang II, 
1933, Heft 2, S. 195. 

107 Horkheimer, Zum Rationalismusstreit in der gegenwartigen Philosophic, in: ibid., Jahr- 
gang III, 1934, Heft 1, S, 26. 

108 Horkheimer, Montaigne und die Funktion der Skepsis, in: ibid., Jahrgang VII, 1938, Dop- 
p.elheft 1/2, S. 49. 

109 Ibid, 
no Ibid. 



DIE »ZEITSCHRIFT FUR SOZIALFORSCHUNG« 27* 

behandelt wurden. Die Auswahl der Autoren erfolgt dabei unter dem Gesichts- 
punkt, den Leser paradigmatisch in das fiir den theoretischen Gehalt der Zeit- 
schrift insgesamt Verbindlidie einzufuhren. Der Verfasser kann selbstverstand- 
lidi in eine materiale Erorterung der einzelnen Themen nicht wirklich eintreten, 
sondern mufi sicli damit begniigen, gewisse Kernpunkte zu bezeidinen. 
Dafi die Physiognomie der Zeitschrift von den philosophisch gerichteten Arbeiten 
Horkheimers gepragt ist, bedarf nach dem hier Entwickelten keiner weiteren 
Frage. Ihre Bedeiitung besteht nicht allein darin, dafi sie den kategorialen Rah- 
men des Unternehmens abstecken und dessen theoretisch-praktische Ziele konzi- 
pieren. Horkheimer hat vielmehr die Problematik modernen Philosophierens 
inhaltlich vorangebracht. Seine eigenen Denkmotive entfalten sich stets am kon- 
kreten Material gegnerisdier Positionen. So ergibt sich sein Entwurf einer mate- 
rialistischen, sozialpsychologisch angereicherten Theorie des historisch-gesell- 
schaftlichen Prozesses nicht zuletzt aus der eingehenden Kritik der geisteswissen- 
schaftlichen Methode Diltheys, der Jaspersschen Weltanschauungspsychologie, 
der Daseinsanalytik Heideggers und der philosophischen Anthropologic Schelers. 
Die wichtigsten Studien hierzu sind: Geschichte und Psychologie (1932), Bemer- 
kungen 2ur philosophischen Anthropologic (1935), Egoismus und Freiheits- 
hewegung (1936), eine Arbeit iibrigens, die zum Besten zahlt, was Horkheimer 
je geschrieben hat, schliefilich The Relation between Psychology and Sociology in 
the Work of Wilhelm Dilthey (1939). 

Was die Interpretation des (in der fachphilosophischen Literatur zumeist ganz- 
lich mifiverstandenen) Materialismus betrifft, so sei an die grundlegenden Texte 
Materialismus und Metaphysik und Materialismus und Moral aus dem Jahre 
1933 erinnert, in denen Horkheimer dartut, dafi der Marxsche Materialismus 
keine definitive, gar positive »Weltanschauung« anstrebt, sondern einen gesell- 
schaftlichen Zustand, in dem seine Kategorien ungiiltig werden, weil es den 
solidarischen Menschen gelungen ist, ihre Geschichte bewufit zu gestalten und so 
die Macht der - bislang undurchschauten - okonomischen Determination ihres 
Lebens zu brechen. Der gleichwohl verbleibende (im engeren Sinn) »metaphy- 
sische« Materialismus geht fiir Horkheimer, der hierin der Aufklarung und 
Schopenhauer 111 folgt, aus der naturhaften Bedurftigkeit und unentrinnbaren 
Endlichkeit der menschlichen Gattung hervor. - Ein Tatbestand, der aller Uto- 
pie spottet und sich in Horkheimers Denken als Moment von Demut und 
Trauer durchhalt. 
Ferner seien die fiir die heutige philosophische, zumal erkenntnistheoretische Dis- 

111 Horkheimer hat sich hinsichtlich seines — oft ubcrschcnen — Vcrhaltnisses zu Schopenhauer 
unlangst folgendermaiien ausgesprochen: »Der metaphysische Pessimismus, implizites Moment 
jedes genuinen materialistischen Denkens, war seit je mir vertraut. Meine erste Bekanntschaft mit 
Philosophic verdankt sioh dem Werk Schopenhauers; die Beziehung zur Lehre von Hegel und 
Marx, der Wille zum Vcrstandnis wie zur Veranderung sozialer Realitat haben, trotz dem 
politischen Gegensatz, meine Erfahrung seiner Philosophic nicht ausgeloscht*. In: Kritische 
Theorie, herausgegeben von Alfred Schmidt, Band I, Frankfurt am Main 1968, S. XIIL 



28* ALFRED SCHMIDT 

kussion um Marx und den Marxismus 112 , aber audi fur die methodologischen 
Auseinandersetzungen in der deutschen Soziologie wichtigen Texte wenigstens 
erwahnt: Wissenschaft und Krise (1932), Zum Rationalismusstreit in der gegen- 
wartigen Philosophic (1934), Zum Problem der Wahrheit (1935), die gegen den 
logischen Positivismus geriditete Studie Der ] neueste Angriff auf die Metaphysik 
(1937) sowie die beriihmt gewordene programmatisdie Arbeit Traditionelle 
und kritische Theorie aus dem selben Jahr, in welcher die qualitative Differenz 
der Marxsdien Kritik der politischen Dkonomie von der auf Descartes* Dis- 
cours de la Methode zuruckgehenden Erkenntnisart eindringlich dargetan 
wird. 

Hinzuweisen ist schliefilich nodi auf einen hodist aktuellen Aspekt der Hork- 
heimerschen Essays (der wegen ihres, traditionell gesprochen, »systematischen« 
Ansprudis leicht iibergangen wird). Darauf namlich, daft sie - man denke nur 
an die Arbeiten iiber Jaspers' Nietzsche, liber Bergson und Montaigne - nach 
Methodik und Darstellungsweise beachtliche Ansatze zu einer marxistischen 
Geschichtssdireibung der Philosophic enthalten. Oberaus behutsam bedient sich 
Horkheimer des (von ihm und seinen Freunden gewissermafien wiederentdeck- 
ten) authentischen Ideologiebegriffs, der in seiner »wissenssoziologischen« Umbil- 
dung bei Mannheim und Scheler ebenso entscharft und verwassert wurde wie im 
offiziellen kommunistischen Sprachgebrauch, der vor einem Terminus wie 
»marxistische Ideologie« nicht zuriickschreckt. 

Die philosophischen Beitrage Horkheimers wurden (wie die der anderen Autoren 
des Kreises) im Institut vor ihrem Erscheinen ausfuhrlich diskutiert. Einen er- 
heblichen Anteil daran hatte Herbert Marcuse, dem die prazise Formulierung 
wichtiger Kategorien der kritisdien Gesellsdiaftstheorie zu verdanken ist. Unter 
dem EinfluS des Instituts loste sich Marcuse von seinen phanomenologisch-fun- 
damentalontologischen Anfangen und wandte sich dem Marxismus zu, den er 
zunachst noch hatte mit Heidegger verbinden wollen 113 . Marcuse zahlte schon 
friih zu den Mitarbeitern der Zeitschrift. 1934 erschien eine ideologiekritische 
Analyse des unter Hitler verkiindeten »heroisch-volkischen Realismus« unter 
dem Titel Der Kampf gegen den Liberalismus in der totalitaren Staatsauffas- 
sung> 1936 eine Studie Zum Begriff des Wesens, welche diese von den Okonomen 
der Zeitschrift (etwa Grossmann) benutzte Kategorie historisch-systematisch er- 
ortert, 1937 Vher den affirmativen Charakter der Kultur sowie der (Horkhei- 
mers programmatisdie Arbeit erganzende) Aufsatz Philosophic und kritische 

112 Cf. zu Horkheimers Beitrag zu einer materialistischen Erkenntnistheorie den Aufsatz des 
Verfassers 2ur Idee der kritischen Theorie^ der auch das Verhaltnis von analytischer und dialek- 
tischer Vernunft beruhrt. In: Horkheimer, Kritische Theorie, Band II, Frankfurt am Main 1968, 
S. 333 ff. 

113 Cf. dazu meinen Aufsatz ExistentiaUOntologie und historischer Materialismus bei Herbert 
Marcuse, in; Antworten auf Herbert Marcuse, herausgegeben von Jiirgen Habermas, Frankfurt 
am Main 1968, S. 17 fF. 



DIE »2EITSCHRIFT FUR SOZIALFORSCHUNG« 29* 

Theories 1938 Zur Kritik des Hedonismus y ein Aufsatz, worin Marcuse gegen- 
iiber den (seit der Antike verbreiteten) Vorstellungen privaten Wohlergehens 
und subjektiver Zufriedenheit die Idee der »Objektivitat des Glucks« verficht, 
und 1941 Some Social Implications of Modern Technology. 
Hier sei lediglich auf den im Anschlufi an Horkheimers Uberlegungen entstan- 
denen Essay Philosophic und kritische Theorie kurz eingegangen. Marcuse halt 
sich an die vom jungen Marx ausgesprochene These, dafi die Kritik des Bestehen- 
den anheben miisse mit dessen fortgeschrittenster Gestalt. Diese aber bestand 
im Deutschland der vierziger Jahre des vorigen Jahrhunderts in der spekulativen 
Philosophic Dafi sich Marx und Engels intensiv mit ihr abgaben, bedeutet daher 
fur Marcuse nicht, dafi sie sich selbst als Philosophen verstanden und ihren 
neuen, »gegenstandliche Tatigkeit« pointierenden Materialismus »als ein philo- 
sophisches System gegen andere philosophische Systeme« li4 stellen wollten. An 
Hegels Dialektik ankniipfend, vermieden sie es, unter dem anderswo langst 
erreichten »Niveau der Geschichte« 115 zu bleiben. Nachdem einmal, schreibt Mar- 
cuse, die »6konomischen Verhaltnisse als fiir das Ganze der bestehenden Welt 
verantwortlich« erkannt und als gesellschaftlicher »Gesamtzusammenhang der 
Wirklichkeit« 116 erfafit waren, bedurfte es der Philosophic als einer von den Rea- 
lien der Geschichte abgelosten Wissenschaft dieses »Gesamtzusammenhangs<c nicht 
mehr, den sie unterm Titel eines »eigentlichen Seins« erforscht hatte, dessen 
»letzte und allgemeinste Griinde« 117 sie aufzudecken beabsichtigte. Im deutschen 
Idealismus nun - und das ist der fiir Marcuse entscheidende Aspekt der »Auf- 
hebung« des Hegelschen Systems in der kritisch-revolutionaren Theorie - wird 
jenes »eigentliche Sein«, die »Substanz« der Wirklichkeit, auf den Begriff der - 
mit Freiheit und Subjektivitat identischen - Vernunft gebracht. Vernunft war 
die einzige Kategorie philosophischen Denkens, die wahrend der Jahrhunderte 
auf das empirische »Schicksal der Menschheit« bezogen blieb. Die durch Marx 
und Engels bewirkte Revolution in der Philosophic besteht Marcuse zufolge 
wesentlich darin, dafi sie die Probleme der Vernunft, welche seither zugleich die 
der condition humaine und ihrer welthistorisch nodi unverwirklichten Moglich- 
keiten gewesen waren, auf einen materiellen Boden stellten, Sie zeigten, daft die 
Philosophic Fragen aufwirft, denen mit ihren eigenen, rein begrifTlichen Mitteln 
nicht beizukommen ist: es bedarf »umwalzender Praxis «, die sich an einer quali- 
tativ neuen Art theoretischer Besinnung orientiert. 

Das ehedem philosophische Interesse, sich die konkrete Totalitat der Welt an- 
zueignen, erscheint in veranderter Gestalt in den okonomischen Kategorien der 
Marxschen Theorie. Diese beansprucht, die gesamte Menschen- und Giiterwelt 

114 Marcuse, Philosophic und kritische Theorie, in: Zeitschrift fiir Sozialforscbung, Jahrgang VI, 
1937, Heft 3, S. 632. 

115 Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung, in: Marx/Engels, Werke, 
Band 1, Berlin 1957, S. 380; cf. audi S. 379. 

116 Marcuse, Philosophic und kritische Theorie, in: ibid., S. 631. 
i" Ibid., S. 632. 



30* ALFRED SCHMIDT 

aus dem gesellschaftlichen Sein der Epoche abzuleiten. Damit wird jedodi, 
worauf Marcuse nachdriicklich verweist, die eigentiimliche Gebrochenheit des 
marxistischen Verhaltnisses zur Philosophie keineswegs beseitigt. Der dialek- 
tische Materialismus leistet mehr als die nationalokonomische oder soziologische 
Fachwissenschaft; er kritisiert »das Ganze des gesellschaftlichen Seins« unter dem 
Aspekt der Notwendigkeit, reale Humanitat herzustellen. Diese geht hinaus 
iiber eine lediglidi »neu geregelte Wirtschaftsform« 118 , iiber alle blofi sozialtech- 
nischen Mafinahmen. Humanitat meint »das Entscheidende, wodurch die Gesell- 
schaft erst verniinftig wird: die Unterordnung der Wirtsdiaft unter die Bediirf- 
nisse der Individuen ... In der verniinftigen Wirklichkeit soil . . . nidit mehr der 
Arbeitsprozefi schon iiber das allgemeine Dasein der Mensdien entscheiden, son- 
dern die allgemeinen Bediirfnisse iiber den Arbeitsprozefi« 119 . Der Materialismus, 
soweit er okonomischer Determinismus ist, zielt, mit anderen Worten, auf einen 
Zustand ab, in dem er aufhort, den mensdilichen Lebensprozefi richtig zu erkla- 
ren. Soweit er, als »metaphysischer« Materialismus, unaufhebbar ist, griindet er 
im appetitus naturalis, dem unausrottbaren Gliicksverlangen aller Kreatur. 
Horkheimer gegeniiber (der sich freilich nie zum Sprecher asketisdier Ideale 
gemacht hat) betont Marcuse starker die positive, »hedonistische« Seite der sinn- 
lich-leiblichen Existenz des Mensdien. Von ihr aus beurteilt Marcuse Mafinah- 
men, die vorgeben, den Sozialismus zu verwirklichen. So hebt er, anspielend 
wohl auf das sowjetrussische Experiment der zwanziger und dreifiiger Jahre, 
nachdriicklich hervor, wie wichtig es ist, Mittel und Zwecke nicht zu verwechseln: 
»Nicht dafi der ArbeitsprozejS planvoll geregelt ist, sondern welches Interesse die 
Regelung bestimmt, ob in diesem Interesse die Freiheit und das Gliick der Massen 
aufbewahrt sind, wird wichtig. Die Vernachlassigung dieses Elements nimmt der 
Theorie etwas Wesentliches: sie eliminiert aus dem Bilde der befreiten Mensch- 
heit die Idee des Gliicks, durch das sie sich von aller bisherigen Menschheit unter- 
scheiden soil. Ohne die Freiheit und das Gliick in den gesellschaftlichen Bezie- 
hungen der Mensdien bleibt audi die grofite Steigerung der Produktion und die 
AbsdiafTung des individuellen Eigentums an den Produktionsmitteln noch der 
alten Ungerechtigkeit verhaftet« i20 . 

Dieses emphatische Interesse an einem menschenwurdigeren Zustand verbindet 
die sozialistische Theorie mit dem philosophischen Erbe. Deshalb rechtfertigt 
Marcuse die haufige Diskussion philosophischer GrundbegrifTe in der Zeitschrifl 
fiir Sozialforschung, indem er den burgerlichen Vorwurf entkraftet, es werde in 
jenen Aufsatzen »wissenssoziologisch« oder »soziologistisch« mit der Philosophie 
umgesprungen : »Niemals handelte es sich . . . nur urn eine soziologische Analyse, 
um die Zuordnung philosophischer Lehrmeinungen zu gesellschaftlichen Stand- 
orten. Niemals wurde audi versucht, bestimmte philosophisdie Inhalte in gesell- 
sdiaftliche Sachverhalte aufzulosen. Sofern die Philosophie mehr als Ideologic 

"s Ibid., S. 638. 

"» Ibid. 
120 Ibid. 



DIE »ZEITSCHRIFT FUR SOZIALFORSCHUNG« 31* 

ist, mufl jeder derartige Versuch scheitern. Die Auseinandersetzung der kritischen 
Theorie mit der Philosophic ist an dem Wahrheitsgehalt der philosophischen 
Probleme und Begriffe interessiert : sie setzt voraus, dafl Wahrheit wirklich in 
ihnen enthalten ist. Das Geschaft der Wissenssoziologie dagegen betrifft immer 
nur die Unwahrheiten, nicht die Wahrheiten der bisherigen Philosophie« 121 . 
Freilich ist Marcuse sich daniber im klaren, da£ die Philosophic in ihrer vor- 
liegenden Form nicht in die Theorie der Gesellschaft eingegangen ist (oder kiinf- 
tig eingehen kann); denn was in ihr »an Wahrheit steckt, war unter Abstraktion 
von dem konkreten Status des Menschen gewonnen und ist nur in soldier Ab- 
straktheit wahr« 122 . Das Philosophische wirkt nur vermittels seiner bestimmten 
Negation in der Marxschen Theorie fort; es ist aufbewahrt im kritischen Impuls 
ihrer okonomischen und politischen Begriffe. Dafi die Theorie den gesellschaft- 
lichen Prozeft als konkrete Totalitat zu begreifen sucht, bedeutet nicht, dafi es 
angeht, » unter Berufung hierauf die okonomischen Begriffe wieder in philoso- 
phische aufzulosen« 123 . Das namlich hiefie vergessen, dafl der Marxismus ein oko- 
nomisches, kein philosophisches System ist: das der gegebenen Produktions- 
verhaltnisse 124 . Alle fur die theoretische Konstruktion bedeutsamen philosophi- 
schen Sachverhalte, darauf lauft Marcuses Marx-Interpretation hinaus, sind 
streng aus dem okonomischen Kontext zu entwickeln. 

Wenden wir uns jetzt den - im engeren Sinn - psychologischen Beitragen der 
Zeitschrift zu. Die meisten stammen von Fromm, der sich eingehend mit der sei- 
nerzeit vielerorterten, noch heute nicht befriedigend gelosten Frage beschaftigte, 
ob und gegebenenfalls wie historischer Materialismus und Psychoanalyse mit- 
einander vereinbar seien. Die damalige Leistung Fromms ist um so hoher zu 
veranschlagen, als die parteikommunistischen Diskussionen der Freudschen Lehre 
(wie ubrigens noch heute) ein sehr mafiiges, oft primitiv-polemisches Niveau auf- 
wiesen. Pawlows Reflexologie, die russische Version des Behaviorismus, war 
schon um 1930 so gut wie sakrosankt 125 . Sie wurde auSerlich mit dem obendrein 

121 Ibid., S. 640. 

122 ibid. 

123 Ibid., S. 631. 

124 Ein Gedanke, der besonders von Adorno aufgenommen und fortgebildet wurde. 

125 Heftig umstritten war in der sowjetischen Literatur Wilhelm Reich, insbesondere sein Auf- 
satz Dialektiscber Materialismus und Psychoanalyse, der in der Zeitschrift Unter dem Banner 
des Marxismus, III, 1929, erschienen war. Die Polemik gegen Reich charakterisierte die ganze 
Art der offiziellen Beschaftigung mit Freud und seinen linken Schiilern. Ihnen wurden biirger- 
Hcher Individualismus, mangelnde Dialektik, Biologismus und ahnliche, politisch ausgemiinzte 
Sunden vorgeworfen. Letztlich glaubte man - und hierin Hegt eine wichtige theoretische DifTe- 
renz zwischen der Frankfurter Schule und dem Sowjetmarxismus — , Gescfaichtsforschung ohne 
Psychologie treiben zu konnen. Cf. hierzu vor allem die beiden (gegen Reich gerichteten) Auf- 
satze von Sapir, Freudismus, Soziologie, Psychologie, in: Unter dem Banner des Marxismtts, III, 
1929, und IV, 1930. Neu abgedruckt im Sammelband Antiautoritare Erziehung, IV, Berlin o. J., 
S. 53 ff. — Cf. zum Gesamtkomplex ferner die instruktive Arbeit von Siegfried Bernfeld, Die 
kommunistische Diskussion um die Psychoanalyse und Reich s AViderlegung der Todestrieb- 



32* ALFRED SCHMIDT 

groben Basis-Oberbau-Schema verbunden, wie es Plechanow in seinem fur die 
Entwicklung der russischen Sozialdemokratie einfluflreichen Buch Grund- 
probleme des Marxismus (1908) aufgestellt hatte. Plechanow sudite die zwischen 
dem (selbst durch Bewufitsein vermittelten) gesellschaftlichen Sein und den For- 
men des gesellschaftlichen BewuStseins vermittelnden Instanzen aufzuspiiren und 
gelangte dabei zu der These, dafi »alle Ideologien in der Psychologie der betref- 
fenden Epoche ihre gemeinsame Wurzel haben« 126 . Die gesellschaftliche Psycholo- 
gie wiederum - Plechanow versteht sie rationalistisch - ist »teils unmittelbar 
durch die Okonomie, teils durch die ganze darauf sich erhebende sozialpolitische 
Ordnung« 127 determiniert; ihre Eigenschaften spiegeln sich in den Ideologien 
wider. Bei Plechanow, so viel diirfte hieraus hervorgehen, wird das anstehende 
Problem kaum bezeichnet, geschweige denn gelost. 

Fromms Arbeiten in der Zeitschrift gehen entschieden weiter. Zu nennen sind 
die uberaus lesenswerten (manche Motive des spateren Marcuse vorwegnehmen- 
den) Arbeiten: Vber Methode und Aufgabe einer analytischen Sozialpsycbologie 
(1932), Die psychoanalytische Cbarakterologie und ihre Bedeutung fiir die 
Sozialpsycbologie (1932), Die gesellschaftliche Bedingtheit der psychoanalyti- 
schen Therapie (1935) und Zum Gefiihl der Obnmacht (1937). - Hier sei knapp 
auf den zuerst genannten Aufsatz eingegangen, der die wesentlichen Uberlegun- 
gen Fromms zur Freudschen Theorie programmatisch vorfuhrt. Deren ursprung- 
liches Konzept bleibt fiir Fromm verbindlich; er lafit die »metapsychologischen« 
Spekulationen des spaten Freud, insbesondere dessen Annahme eines Todestrie- 
bes, auf sich beruhen und geht davon aus, dafi die »menschliche Seelentatigkeit 
sich in Anpassung an Lebensvorgange und Lebensnotwendigkeiten entwickelt und 
dafi die Triebe als solche gerade dem biologischen Todestrieb entgegengesetzt 
sind« 128 . 

Fromm bezeichnet die Psychoanalyse als eine »naturwissenschaftliche, materia- 
listische Psychologie «, weil sie nachgewiesen hat, da£ das menschliche Verhalten 
Regungen und Bediirfnissen gehorcht, »die von den physiologisch verankerten, 
selbst nicht unmittelbar beobachtbaren >Trieben< gespeist werden« 12fl . Materia- 
listisch an der Freudschen Lehre ist fiir Fromm ferner, dafi sie gezeigt hat, einen 
wie schmalen Sektor des Psychischen das bewufite Seelenleben bildet, das - 
modern gesprochen - eine zerbrechliche Oberflachenstruktur ist, getragen von 
der Tiefenstruktur des Unbewufiten, das sich in privaten und kollektiven Ideolo- 
gien (»Rationalisierungen«) verkleidet, die »Ausdruck bestimmter, trieblich ver- 
ankerter Wiinsche und Bediirfnisse« 130 sind. Dariiber hinaus ist die Psychoanalyse 

hypothese<, in: Internationale Zeitschrift fiir Psychoanalyse, XVIII. Band, Heft 1, 1932. Neu 
abgedruckt im Sammelband Antiautorit'dre Erziehung, III, Berlin 1968, S. 126 ff. 

126 plechanow, Grundprobleme des Marxismus, Berlin 1958, S. 85. 

127 Ibid., S. 84. 

128 Fromm, Vber Methode und Aufgabe einer analytischen Sozialpsychologie, in: Zeitschrift fiir 
Sozialforschung, Jahrgang I, 1932, Doppelheft l/2, S. 28, Fufinote 2. 

129 Ibid., S. 28. 

130 Ibid. - Freilich ist die Bezeichnung der Psychoanalyse als »materialistisch« mit grofieren 



DIE »ZEITSCHRIFT FUR SOZlALFORSCHUNG« 33* 

fiir Fromm insofern eine primar historische Methode, als sie die Triebstruktur 
eines Menschen primar aus seinem Lebensschicksal abzuleiten lehrt, genauer aus 
dem Einfluft, den dieses auf die »mitgebrachte Konstitution« m ausiibt. Gegen- 
iiber den Selbsterhaltungstrieben haben die Sexualtriebe »infolge ihrer Auf- 
schiebbarkeit, Verdrangbarkeit, Sublimierbarkeit und Verwandelbarkeit einen 
viel elastischeren und geschmeidigeren Charakter« 132 , das heifit, sie konnen sich 
den wechselnden Anforderungen der gesellschaftlichen Realitat weitgehend an- 
passen. Die »aktive und passive Anpassung biologischer Tatbestande, der Triebe, 
an soziale« berechtigt, wie Fromm ausfiihrt, dazu, »vom Problem des Indivi- 
duums zu dem der Gesellschaft, von der Personalpsychologie zur Sozialpsycho- 
logie vorzustofien« 133 . 

Dafi dabei Schwierigkeiten auftauchen, die vermieden werden, wenn sich die 
Analyse auf den individuellen Bereidi beschrankt, besagt nichts gegen die Rich- 
tigkeit dieses aus der »Ausgangsposition« 134 Freuds selbst sich ergebenden Schrit- 
tes; denn die Gesellschaft ist, wie die kollektiven Gebilde iiberhaupt, keine iiber- 
individuelle Entitat. Bei aller Eigendynamik des Sozialen gehen dessen Struktu- 
ren, wie entfremdet sie auch den Individuen entgegentreten mogen, allemal aus 
dem Wechselspiel individueller Akte hervor. Wie Individuum und Gesellschaft 
sich ineinander spiegeln, so auch Psychologie und Soziologie. Diejenige Soziolo- 
gie nun, welche durch psychoanalytische Methoden am wirksamsten bereichert 
werden kann, ist fiir Fromm der historische Materialismus. Freud hat, entgegen 
den Behauptungen mancher Kritiker, das Individuum stets in seiner sozialen 
Bedingtheit und Verflochtenheit gesehen. Die einer Menschen gruppe gemein- 
samen »Lebensschicksale« liegen keineswegs »im Bereich des Zufalligen und Per- 
sonlichen, sondern . . . sind identisch mit der sozialokonomischen Situation dieser 
Gruppe« 135 . Analytische Sozialpsychologie trelben heiEt daher fiir Fromm, »die 
Triebstruktur, die libidinose, zum grofien Teil unbewufite Haltung einer Gruppe 
aus ihrer sozialokonomischen Struktur heraus zu verstehen« 136 , die freilich vom 
heranwachsenden Kind nie unmittelbar als solche, sondern im Medium der Fa- 
milie und ihrer Konflikte erlebt wird. Hieraus ergibt sich fiir Fromm f olgendes 
methodologische Programm : »Die sozialpsychologischen Erscheinungen sind auf- 

Sdiwierigkeiten belastet, als es hier den Anschein hat. Wenn Materialismus bedeutet, dafi Gei- 
stiges (oder Psychisches) aus einem ihm Transzendenten, »Materiellen«, erklart wird, dann ist 
Freud kein Materialist; denn seine Lehre vom Unbewufiten liefert eine »innerpsydiisdie« Erkla- 
rung psyciiistiier Phanomene; sie sdireibt dem Unbewufiten eine Eigengesetzlichkeit (der Inter- 
pretation unterliegende Symbolsprache) zu. Demgegeniiber bleibt es blofle Versicherung, wenn 
Freud (worauf Fromm hier anspielt) die Triebe zugleich als etwas somatisch Gebundenes defi- 
niert. Das Verhaltnis beider Aspekte des Unbewufiten : Eigengesetzlichkeit und physiologisdie 
Funktionalitat, bleibt erkenntniskritisch ungeklart. 

131 Ibid., S. 29; cf. audi S. 31. 

132 Ibid., S. 30. 
« s Ibid., S. 31. 
134 Ibid. 

»* Ibid., S. 34. 
»M Ibid. 



34* ALFRED SCHMIDT 

zufassen als Prozesse der aktiven und passiven Anpassung des Triebapparates an 
die sozialokonomische Situation. Der Triebapparat selbst 1st ... biologisch 
gegeben, aber weitgehend modifizierbar; den okonomischen Bedingungen 
kommt die Rolle als primar formenden Faktoren zu. Die Familie ist das wesent- 
lichste Medium, durch das die okonomische Situation ihren formenden Einflufi 
auf die Psyche des einzelnen ausubt. Die Sozialpsychologie hat die gemein- 
samen - sozial relevanten - seelischen Haltungen und Ideologien - und ins- 
besondere deren unbewuike Wurzeln - aus der Einwirkung der okonomisdien 
Bedingungen auf die libidinosen Strebungen zu erklaren« 137 . 
Man sieht: Fromm geht die von alteren Marxisten wie Plechanow aufgewor- 
fene Frage nach den psychischen, zwischen Sein und Bewufksein vermittelnden 
GHedern in weit konkreterer Weise an. Wichtig ist fur ihn, dafi die Vereinbarkeit 
von Freud und Marx in eben dem Ma£e zunimmt, wie einerseits klar bleibt, 
daft der historische Materialismus von Hause aus keine psychologische Theorie 
und schon gar keine »6konomistische Psychologies* 138 ist; und andererseits die 
Psychoanalyse nicht rein biologisch verstanden wird, sondern als Studium der 
»Anpassung biologischer Faktoren ... an soziale« 13e . Dabei ist das psycholo- 
gistische Mifiverstandnis Marxens womoglich noch verbreiteter und folgen- 
reicher als das biologistische Freuds. Interpreten wie Russell oder Scheler erblik- 
ken im marxistischen Materialismus eine primitive Lehre vom Kampf um Fut- 
terplatze, welche den - isolierten - Trieb der Selbsterhaltung an die erste 
Stelle riiclst, de Man deutet ihn als »Bestimmung des gesellschaftlichen Verhal- 
tens durch den Erwerbstrieb« 140 . Dieser aber gehort zu offenkundig dem libe- 
ralistischen und - in seiner brutal-kriegerischen Form - imperialistischen Zeit- 
alter an, als dafi er von Marx und Engels unbesehen als allgemein-menschlicher 
Zug hatte angenommen werden konnen. Fromm zeigt, dafi der historische 
Materialismus nur in dem ganz abstrakten Sinn psychologische Voraussetzun- 
gen hat, daE er von Menschen und den sie motivierenden Bediirfnissen ausgeht, 
die sich im Verlauf der Geschichte vermannigfachen und so die materielle Pro- 
duktion anspornen. Nur insofern beeinfluftt Dkonomisches das psychologische 
Moment im historlschen Materialismus. Wenn dieser die Geschichte aus okono- 
mischen Ursachen zu erklaren sucht, so ist damit - was Fromm unterstreicht - 
»nicht Okonomie als subjektives psychologisches Motiv, sondern als objektive 
Bedingung der menschlichen Lebenstatigkek gemeint« 141 . 

Ausgehend von dem gegen Feuerbach gerichteten Abschnitt der Deutschen Ideo- 
logic sowie dem im ersten Band des Kapitals entwickelten Arbeitsbegriff, zeigt 
Fromm, daf$ durch diesen objektiven Charakter des historischen Materialismus 
die Tatsache der mensdihchen Aktivitat nicht sowohl ignoriert als vielmehr 

"7 ibid., S. 39 f. 
13 » Ibid., S. 40. 

139 Ibid., S. 41. 

140 Zitiert von Fromm, ibid., S. 41. 

141 Ibid., S. 44, 



DIE »ZEITSCHRIFT FUR SOZIALFORSCHUNG« 35* 

bestatigt wird. Die von den Menschen jeweils vorgefundenen - natiirlichen und 
historisch veranderten - Umstande schreiben ihnen eine bestimmte Lebens- und 
damit Denkweise vor, und der geschichtliche Prozefi insgesamt scellt sich dar als 
» Prozefi der aktiven und passiven Anpassung des Menschen « 142 an objektive 
Gegebenheiten. Zu ihnen zahlt audi der Mensdi als tatiges Subjekt, auch er »ist 
ein Naturgegenstand, ein Ding, wenn auch lebendiges, selbstbewufites Ding« 143 . 
Fromm erinnert hier an die beriihmte Stelle im Kapital, wo Marx zweckmafiige 
Arbeit als einen Prozefi kennzeichnet, »worin der Mensdi seinen StofTwechsel 
mit der Natur durdi seine eigne Tat vermittelt, regelt und kontrolliert« und 
dabei »dem NaturstofT selbst als eine Naturmadit« 144 gegeniibertritt. Wichtig 
hieran ist fiir Fromm dieses nach der subjektiven wie objektiven Seite unausrott- 
bare Naturmoment, an das alle Geschichte gebunden bleibt. Objektiv liefert die 
Natur das Material, an dem allein mensdiliche Arbeit sich vergegenstandlichen 
kann, subjektiv liefert sie die anatomisdi-physiologische und psychisdie Be- 
schaffenheit des Menschen, die (im weitesten Sinn) zu seiner »Leiblidikeit« 145 
gehorenden Krafte. Wohl hat Marx mit grofitem Nachdruck darauf bestanden, 
daft der Mensdi seine eigene wie die aufiere Natur im historisch-gesellsdiaft- 
lidien Prozefi betrachtlich umgestaltet; dafi es falsch ware, namentlich der 
menschlichen Natur dogmatisch irgendwelche konstanten Qualitaten zu- 
zuspredien. Aber er hutet sich zugleidi, die Naturbasis in reine Prozessualitat 
aufzulosen, das Vermittelte in die gesdiichtlidi wandelbaren Bedingungen seiner 
Vermittlung. Nur so ist zu verstehen, dafi die Kritik der politischen Dkonomie 
»die mensdiliche Natur im allgemeinen« und die »in jeder Epodie historisch 
modifizierte Menschennatur« 146 auseinanderhalt. Zwar ist dieser Unterschied ein 
dialektisdi-relativer, aber er bleibt wahrend des gesamten Geschichtsverlaufs 
vorhanden; die historische Dialektik setzt, anders gesagt, die matenalistische 
Erkenntnistheorie nicht aufier Kraft. 

Hiervon geht Fromms Versuch aus, die Marxsdie Lehre urn Freudsche Einsich- 
ten zu bereichern. Die Psychoanalyse kann, wie er naher ausfiihrt, »der umfas- 
senderen Erkenntnis eines der im gesellschaftlidien Prozefi wirksamen Faktoren, 
der BescharTenheit des Menschen selbst, seiner >Natur<« H7 , dienen. »Sie reiht den 
Triebapparat des Menschen in die . . . natiirlidien Bedingungen ein, die selber 
modifizieren, aber in deren Natur auch die Grenzen der Modifizierbarkeit lie- 
gen « 148 . Der mensdiliche Triebapparat bildet eine der unabdingbaren Voraus- 
setzungen des gesellschaftlichen Unterbaus. Freilich nicht in seiner »biologisdien 

*« Ibid. 

143 Marx, Das Kapital, Band I, 1. c, S. 211. 

144 Ibid., S. 185. 
*« Ibid. 

148 Ibid., S. 640, Fufinote 63. 

147 Fromm, Vber Mctbode und Aufgabe einer analytischen Sozialpsychologie, I. c, S. 45. 

148 Ibid. — Fromm denkt hier wtederum ans Kapital, wo Marx haufig darauf zu spredien 
kommt, dafi die korperliche Organisation der Individuen und das durch sie vermittelte Ver- 
haltnis zur aufiermenschlichen Natur sowie deren BescharTenheit selbst dem menschlichen Willen 



36* ALFRED SCHMIDT 

>Urform< « 149 ,, sondern in stets sdion historisch vermittelter Gestalt: »Die 
menschlidie Psyche bzw. deren Wurzeln, die libidinosen Krafte, gehoren mit 
zum Unterbau, sie sind aber nicht . . . >der Unterbau<, wie eine psychologistische 
Interpretation meint, und >die< menschlidie Psyche ist . . . immer nur die durch 
den gesellschaftlichen Prozefi modifizierte Psyche« 150 . Erst Freud hat nach Fromm 
eine »Wissenschaft von den seelischen Eigenschaften des Menschen« entwicltelt, 
»die fiir den historischen Materialismus brauchbar ist« 151 . 

Fromm denkt hier an die Problematik der bekannten Marxschen These, dafi 
»das Ideelle nichts andres als das im Menschenkopf umgesetzte Materielle« 152 sei. 
Ohne psychologische Finessen kamen die Marxisten bei der Diskussion der Frage 
nach dem Wie dieser »Umsetzung« und »Obersetzung« nur in den Fallen aus, 
wo es sich um Ideologien handelte, die eindeutig zweckrational Klassenposi- 
tionen abstiitzten, oder wo es darum ging, in einem ersten Schritt »richtige 
Zuordnungen zwischen okonomischem Unterbau und ideologischem Uberbau 
vorzunehmen« 153 . Dafi es damit sein Bewenden nicht haben kann, wurde immer 
wieder ausgesprochen. So in den Engelsschen Altersbriefen, die konzedieren, wie 
sehr es zunachst darauf ankam, das neue Erklarungsprinzip der Geschichte 
gegen den Idealismus durchzusetzen, wobei freilich nicht selten die formelle 
gegeniiber der inhaltlichen Seite vernachlassigt wurde. 

Hier nun liegt fiir Fromm die Aufgabe einer marxistischen, politisch wirksamen 
Sozialpsychologie. Sie hat nachzuweisen, dafi »die Produkte von bestimmten 
Wiinschen, Triebregungen, Interessen, Bediirfnissen . . . , selber zum grofien Teil 
nicht bewufit, als >Rationalisierung< in Form der Ideologic auftreten« 154 . Jene 
seelischen Tatbestande griinden zwar im Biologischen, aber sie sind, wie Fromm 
betont, nach Umfang und Inhalt okonomisch-gesellschaftlich bedingt. Eine ana- 
lytische Sozialpsychologie hat die Menschen als Produzenten ihrer ideologischen 
Formen zu untersuchen und dabei »die Eigenart« des »Produktionsprozesses der 
Ideologien, die Art des Zusammenwirkens >natiirlicher< und gesellschaftlicher 
Faktoren in ihm« 155 , darzustellen und zu erklaren. 

Es ist interessant zu verfolgen, wie Fromm versucht, die Marxsche Analyse des 
Arbeitsprozesses (wenn audi nicht in seiner spezifisch kapitalistischen Gestalt) fiir 
sein Programm nutzbar zu machen: »Die Psychoanalyse kann . . . zeigen, wie 

Schranken auferlegen, wie audi die wirtschaftliche Ausbeutbarkeit des menschlichen Organismus 
trotz dessen Elastizitat physisch begrenzt ist. 

149 Ibid. - Von einer solchen Urform ist audi bei Marx hinsiditlidi der inensdilidien Arbeit 
keine Rede. Das Kapital geht aus von der - ideell vorweggenommenen — »Formveranderung des 
Natiirlichen« (einsdiliefilidi des Menschen), nicht von »ersten tierartig instinktmafiigen Formen 
der Arbeit« (I.e., S. 186; 185). 

150 Fromm, Vber Methode und Aufgabe einer analytiscben Sozialpsychologie, 1. c, S. 45 f. 
w Ibid., S. 46. 

152 Marx, Das Kapital, Band I, 1. c, S. 18. 

153 Fromm, Vber Methode und Aufgabe einer analytischen Sozialpsychologie , 1. c, S. 46. 

154 Ibid. 

155 Ibid. 



DIE »ZEITSCHRIFT FUR S02IALF0RSCHUNG« 37* 

sich . . . iiber das Triebleben die okonomische Situation in Ideologic umsetzt. 
Dabei ist ganz besonders zu betonen, dafi dieser >StofFwechsel< zwischen Trieb- 
welt und Umwelt dazu fuhrt, dafi sich der Mensdi . . . verandert, genau so wie 
die >Arbeit< die aufiermenschliche Natur verandert. Die Richtung dieser Ver- 
anderung . . . liegt vor allem in dem . . . Wadistum der Idi-Organisation und 
dem . . . der Sublimierungsfahigkeit« 15e . Fromm betrachtet das Entstehen von 
Ideologien als eine der Ebenen und »Situationen des Stoffwechsels zwischen 
Mensdi und Natur « 157 , wie Marx ihn im Kapital geschildert hat. Freilich fiigt 
Fromm dem hinzu, wie sehr das Spezifische dieser Auseinandersetzung, dieses 
Arbeitsprozesses, darin besteht, daft es der Mensch mit seiner eigenen, nicht mit 
der aufieren »Natur« zu tun hat. 

Die Rolle der menschlichen Triebsphare im gesdiichtlichen Prozefi, darauf sei 
abschliefiend noch hingewiesen, ist gerade dann nicht zu unterschatzen, wenn es 
darum geht, theoretisch vor den versteinerten Verhaltnissen nicht zu kapitulie- 
ren. Da weder »die Geschichte« handelt noch ihre »objektiven Gesetze«, sondern 
stets nur leibhaftige Individuen, und zwar keineswegs (wie bereits Hegel 
wuike) unmittelbar rational, ist es erforderlich, die Wirkungsweise des » mensch- 
lichen Triebapparats, seiner libidinosen Krafte« 158 zu studieren; denn in ihrem 
Medium setzen sich die weltgeschichtlichen, okonomisch-sozialen Notwendigkei- 
ten durch. - Fromms Uberlegungen sind (wie die des friihen Reich) geeignet, 
einer angemesseneren Theorie der Gesellschaft und ihrer Geschichte den Weg zu 
bahnen. 

Einen relativ breiten Raum nehmen in der Zeitschrift kunstsoziologische und 
asthetische Reflexionen ein. Hervorzuheben sind die noch immer wichtigen 
Arbeiten Leo Lowenthals zu einer ideologiekritischen Literaturgeschichte sowie 
zu einzelnen Dichtern: Zur gesellschafllichen Lage der Literatur (1932); Conrad 
Ferdinand Meyers beroische Geschichtsauffassung (1933); die fiir das Verstand- 
nis des imperialistischen Zeitalters wichtige Studie Die Auffassung Dostojewskis 
im Vorkriegsdeutschland (1934); Das Individuum in der individualistischen 
Gesellschaft; Bemerkungen Uber Ibsen (1936); schliefilich Knut Hamsun: Zur 
Vorgeschicbte der autoritaren Ideologic (1937), einer der scharfsinnigsten Texte 
der Zeitschrift, auf den wegen seiner prinzipiellen theoretischen Bedeutung kurz 
einzugehen ist. - Lowenthal diskutiert anhand von Hamsuns Romanen die 
Rolle der Natur in der nachliberalistischen, den Faschismus vorbereitenden 
Ideologic Erschien Natur wahrend der Ara des Kapitalismus freier Konkur- 
renz den Menschen primar als anzueignendes Material, als Mittel, Gliick und 
Wohlergehen zu steigern, so wird sie jetzt zum Refugium vor den komplizier- 
ten Apparaturen, welche das Leben der Menschen bedrohen. Mit dem schwin- 
denden Vertrauen in die Macht individueller Venxunft geht ein Irrationalismus 

"• Ibid., S. 46 f. 

157 Ibid., S. 47; cf. audi S. 54. 

158 Ibid., S. 49. 



38* ALFRED SCHMIDT 

einher, der den einzelnen in die umfassende, bergende Totalitat naturhaft- 
ungebrochenen »Lebens« einbezieht. Lowenthals Artikel weist nach, dafi Ham- 
suns Natur-Metaphysik die ungestillten Sehnsiichte der an die durchschnittliche 
klein- und mittelbiirgerliche Existenz gefesselten Massen reflektiert, wobei sich 
der reaktionare Charakter seines eskapistlsdien Ideals darin offenbart, dafi es 
den herrsdienden Zustand oberflachlich bekampft, in Wahrheit jedodi billigt und 
feiert. Hinter Hamsuns Traum von einem unmittelbaren Zugang zur Natur 
steht einmal der Wunsch nach einem umhegten Bezirk stillen Gliicks, den Har- 
ten gesellschaftlicher Realitat entzogen, zum anderen der Kultus des Uber- 
machtigen, Gewaltsamen und Heroischen, in dem sich die real von den Menschen 
erfahrene Ohnmacht in Unterwurfigkeit gegeniiber vermeintlich kosmischen 
Machten transponiert. - Lowenthals Arbeit ist ein Muster konkreter Ideologie- 
kritik. 

2u erwahnen sind ferner die bedeutenden Aufsatze Adornos iiber musik- 
soziologische Themen, welche die subtile Kenntnis der musikalisch-immanenten, 
vor allem kompositionstechnischen Fragen mit gesellschaftlichen, audi philoso- 
phischen Einsichten verbinden, die zu jener Zeit erstaunlich waren. Dafi Adorno 
selbst manche dieser friihen Texte, etwa die Jazz-Arbeit, spater (als allzu 
»abstrakt«) kritisiert hat 159 , schmalert ihre sachliche Bedeutung nicht. Griind- 
licher Lektiire seien empfohlen: 2«r gesellschaftlichen Lage der Musik (1932), 
Obex Jazz (unter dem Pseudonym Hektor Rottweiler, 1936), Oher den Fetisch- 
charakter in der Musik und die Regression des Horens (1938), die Fragmente 
iiber Wagner (eine Vorform des spateren Buches, 1939) und, gemeinsam mit 
George Simpson, On Popular Music (1940/41). Letztere Studie ist sehr beacht- 
lich. Sie entwickelt - gemafi der von Paul F. Lazarsfeld verwendeten Unter- 
scheidung von » administrative « und »critical research« 160 - einige Kategorien, 
welche, scharfer gefafit, ins Kapitel iiber »Kulturindustrie« in der Dialektik der 
Aufklarung eingehen sollten. 

Adornos Beitrage erweisen sich - was fur Kenner schon aus dem Titel der wich- 
tigen Arbeit von 1^38 hervorgeht - als beeinflufit durch Lukics. Dessen be- 
riihmte Essays in Geschichte und Klassenbewujltsein hatten eindringlich dar- 
gestellt, dafi der Marxschen Warenanalyse (in der Schrift Zur Kritik der poli- 
tischen Okonomie sowie im ersten und dritten Band des Kapitals) eine ge- 

159 Cf. seine Vorrede zu den Moments musicaux, Frankfurt am Main 1964, S. 9; ferner seinen 
Aufsatz Wissenschaftliche Erfahrungen in Amzrika, in: Sticbworte, Frankfurt am Main 1969, 
S. 115 f. 

100 Cf. dazu den prinzipiellen (von Horkheimers Unterscheidung von »traditioneller« und 
»kritischer« Theorie inspirierten) Aufsatz Lazarsfelds, Remarks on Administrative and Critical 
Communications Research, in: Studies in Philosophy and Social Science, Vol. IX, 1941, No. 1, 
S. 2 ff. - Lazarsfeld, der damals das Princeton Radio Research Project leitete, wurde als hervor- 
ragender Kenner amerikanischer Forschungstechniken fur die spatere Arbeit des Instituts als An- 
reger und Diskussionspartner wichtig, wie er andererseits Kategorien der Frankfurter Richtung 
bei seinen empirischen Studien anzuwenden suchte. 



DIE »2EITSCHRIFT FUR SOZIALFORSCHUNG« 39* 

schichtsphilosophische Dignitat zukommt. Fiir Lukacs gibt es »kein Problem die- 
ser Entwicklungsstufe der Menschheit..., dessen Losung nicht in der Losung des 
Ratsels der Warenstmktur gesucht werden mufite« 161 . Die dabei erforderliche 
»Weite und Tiefe« des Denkansatzes mufi an die der Marxschen Analyse heran- 
reichen, in der »das Warenproblem nicht blofi als Einzelproblem, audi nichr bloft 
als Zentralproblem der einzelwissenschaftlich gefafiten Dkonomie, sondern als 
zentrales, strukturelles Problem der kapitalistischen Gesellschaft in alien ihren 
Lebensauflerungen erscheint«; denn nur so »kann in der Struktur des Waren- 
verhaltnisses das Urbild aller Gegenstandlichkeitsformen und aller ihnen ent- 
sprechenden Formen der Subjektivitat in der burgerlichen Gesellschaft aufgefun- 
den werden « 162 . 

Die Marxsche Dkonomie, daran sei lediglich erinnert, analysiert die spezifisch 
biirgerliche Gesellschaft als eine, worin die menschliche Arbeitskraft und die 
Arbeitsprodukte in Form von Waren auftreten. Solange keine abstrakt- 
kapitalistischen, sondern »personliche Abhangigkeitsverhaltnisse die gegebene 
gesellschaftliche Grundlage bilden, brauchen Arbeiten und Produkte nicht eine 
von ihrer Realitat verschiedene phantastische Gestalt anzunehmen . . . Die 
Naturalform der Arbeit, ihre Besonderheit, und nicht, wie auf Grundlage der 
Warenproduktion, ihre Allgemeinheit, ist hier ihre unmittelbar gesellschaftliche 
Form« 163 . Obwohl die vorbiirger lichen Gesellschaften ihrem Organisations- 
prinzip nach »irrationaler« sind als die auf der Produktion von Tauschwerten 
beruhende Ordnung, erscheinen sie den Individuen gegeniiber als » verniinf tiger «, 
weil durchsichtiger. Auch in ihrer Negativitat. Umgekehrt ist der biirgerliche 
Zustand, wenngleich im Prinzip rationaler, in seiner alltaglichen, steinernen 
Unmittelbarkeit fiir das Bewufksein handelnder Menschen, ohne welche es ihn 
gar nicht gabe, so gut wie undurchdringlich. Das ist zuruckzufuhren auf die 
Warenform, die jene eigentiimliche »Verkehrung« bewirkt, »worin den Tragern 
der Warenwelt ihre eigne gesellschaftliche Arbeit erscheint« 164 . Sie besteht darin, 
dafi »ein gesellschaftliches Produktionsverhaltnis die Form eines Gegenstandes 
annimmt, so dafi das Verhaltnis der Personen in ihrer Arbeit sich vielmehr als 
ein Verhaltnis darstellt, worin Dinge sich zueinander und zu den Personen ver- 
halten« 165 . Die eingeschliffenen Gewohnheiten taglichen Lebens befestigen das - 
objektiv - Verriickte im Bewufksein der Menschen als unwandelbaren Normal- 
und Naturzustand. 

Dafi Ware, Geld und Kapital historische Erzeugnisse gesellschaftlicher Arbeit 
sind, bleibt freilich nicht nur den unmittelbar am Produktionsprozeft Beteiligten 
verborgen, sondern ebenso den modernen Okonomen. Auch sie lassen sich nahezu 

161 Lukacs, Geschichte und Klassenbewufitsein, Berlin-Halensee 1923, S. 94 (Hervorhebung von 

Lukdcs). 

192 Ibid. 

163 Marx, Das Kapital, Band I, 1. c, S. 83. 

184 Marx, Zur Kritik der politischen Okonomie, in: Marx/Engels, Werke, Band 13, Berlin 1964, S. 128. 

"S Ibid., S. 22. 



40* ALFRED SCHMIDT 

ausnahmslos mystifizieren. Lafit sick an den Waren immer nodi ablesen, daft ihr 
» Verhaltnis ... als Tauschwerte vielmehr Verhaltnis der Personen zu ihrer 
wechselseitigen produktiven Tatigkeit ist«, so »verschwindet dieser Sdiein der 
Einfadiheit« der mit der Ware gesetzten Problematik beim Ubergang zu entfal- 
teteren dkonomischen Kategorien. Dem Geld (Gold und Silber) lafit sidi nicht 
ohne weiteres ansehen, »dafi es ein gesellschaftliches Produktionsverhaltnis dar- 
stellt, aber in Form eines Naturdings mit bestimmten Eigenschaflen« 168 . Voll- 
ends schwierig wird die Analyse des Kapitals, das keine Sache ist, »sondern ein 
durch Sachen vermitteltes gesellschaftliches Verhaltnis zwischen Personen « 167 . Der 
grobe, blofie Oberflachen-Phanomene registrierende Empirismus verwechselt 
die - spezifisch gesellschaftlidien - Bestimmungen, welche die jenes Verhaltnis 
vermittelnden Sachen in gerade dieser Funktion erhalten, mit deren immanen- 
ten Naturqualitaten. TrerTend sdiildert Marx die Verlegenheit des ungebildeten 
Bewufitseins. Die Okonomen, denen es an Dialektik gebridit, sind iiberaus ver- 
dutzt, »wenn bald als gesellschaftliches Verhaltnis erscheint, was sie eben plump 
als Ding festzuhalten meinten, und dann wieder als Ding sie neckt, was sie 
kaum als gesellschaftliches Verhaltnis fixiert hatten« 168 . 

Das Philosophische an dieser Theorie vom »gegenstandlichen Schein der gesell- 
schaftlichen Charaktere der Arbeit* 169 hat seit Lukacs die Marx-Interpreten 
immer wieder beeindruckt, so Bloch und Benjamin, vor allem aber Adorno. Was 
Marx in den Friihschriften unter Hegelschen Kategorien wie »Entaufierung«, 
»Entfremdung« und »Selbstentfremdung« des Menschen behandelt, wird hier 
auf seinen wissenschaftlichen BegrifF gebracht. Marx durchschaut den »Mystizis- 
mus der Warenwelt« 170 , welche in ihrer fertig vorliegenden Form - als 
System - »den gesellschaftlidien Charakter der Privatarbeiten und daher die 
gesellschaftlidien Verhaltnisse der Privatarbeiter sachlich verschleiert, statt sie 
zu ofFenbaren« 171 . 

Indem der dialektisdie Materialismus die abstrakte Unmittelbarkeit der alltag- 
lichen Lebenstatsachen durchdringt, und zwar so, daft sie in ihrer gesdiichtlichen 
Gewordenheit und damit Relativitat erfahrbar werden, enthiillt er zugleich, daft 
diese Tatsadien »einer Gesellschaftsform angehoren, worin der Produktions- 
prozeft die Menschen, der Mensch nodi nicht den Produktionsprozeft be- 
meistert« 172 . Das aber ist auf den vorkapitalistisch-naturalwirtschaftlichen Stufen 

>« Ibid. 

167 Marx, Das Kapital, Band I, 1. c, S. 806 (Hervorhebung von Marx). - Cf. dazu audi Das 
Kapital, Band III, 1. c, S. 867, wo Marx schreibt: »Aber das Kapital ist kein Ding, sondern ein 
bestimmtes, gesellschaftliches, einer bestimmten historischen Gesellschaftsformation angchonges 
Produktionsverhaltnis, das sich an einem Ding darstellt und diesem Ding einen spezifischen 
gesellschaftlidien Charakter gibt«. 

168 Marx, Zur Kritik der politischen Okonomie, in: Marx/Engels, Werke, Band 13, 1. c, S. 22. 

169 Marx, Das Kapital, Band I, 1. c, S. 80. 
"0 Ibid., S. 82. 

171 Ibid., S. 81. 
"2 Ibid., S. 87. 



DIE »2EITSCHRIFT FUR SOZlALFORSCHUNG« 41* 

der sozialen Entwicklung der Fall. Hier koinzidieren noch Schein und Sein 
(weshalb es, strenggenommen, keine »feudalen IdeoIogien« gibt - hochstens 
»feudalistische« in spatbiirgerlicher Zeit); die der Fronarbeit entspringenden 
»gesellschaftlichen Verhaltnisse der Personen . . . erscheinen ... als ihre eignen 
personlichen Verhaltnisse, und sind nicht verkleidet in gesellschafHiche Verhalt- 
nisse der Sachen, der Arbeitsprodukte« 173 . 

Letzteres kennzeichnet die biirgerlidie Gesellschaft. In ihr tritt das Produkt den 
Produzenten fremd, feindlich und schicksalhaft gegeniiber: »Ihre eigne gesell- 
schafcliche Bewegung besitzt fiir sie die Form einer Bewegung von Sachen, unter 
deren Kontrolle sie stehen, statt sie zu kontrollieren« 174 . Marx fafk demgegen- 
iiber einen »Verein freier Menschen« 175 ins Auge, der die Zwange blofier Natur- 
geschichte endgiiltig hinter sich gebracht hat. In ihm hort das »gesellschaftliche 
Verhaltnis der Menschen« auf, »fur sie die phantasmagorische Form eines Ver- 
haltnisses von Dingen« 176 anzunehmen. Der materielle Lebensprozeft steht hier 
»als Produkt frei vergesellschafteter Menschen unter deren bewufker planma- 
fiiger Kontrolle«; die gemeinsam zu verrichtende Arbeit ist nicht langer entfrem- 
det; sie geschieht auf der humanisierten Basis »durchsichtig verniinf tiger Bezie- 
hungen« der Individuen »zueinander und zur Natur« 177 . 

Solange freilich der kapitalistische Weltzustand fortbesteht, bleiben die 
Menschen einem gnadenlosen »Triebwerk« 178 ausgeliefert; sie treten sich nur 
unter der abstrakten Bestimmtheit gegeniiber, private Produzenten, Waren- 
besitzer zu sein; und da jeder seine Ware moglichst teuer verkaufen will, also 
subjektive Willkur waken lafit, stellt sich gesellschaftliche Objektivitat, der 
^sachliche Zusammenhang ihrer Zusammenhanglosigkeit« 179 , gewaltsam her: hin- 
ter ihrem Rucken, als »zweite Natur« (Hegel). Die Totalitat des gesellschaft- 
lichen Prozesses stellt sich Marx zufolge dar als »objektiver Zusammenhang, 
der . . . zwar aus dem Aufeinanderwirken der bewufiten Individuen hervorgeht, 
aber weder in ihrem Bewufitsein liegt, noch als Ganzes unter sie subsumiert 
wird« 180 . Die damit gesetzte Moglichkeit von Kollisionen und Krisen ist kein 
vermeidbarer Schonheitsfehler, sondern gehort wesentlich zu » einer Produktions- 
weise, worin sich die Regel nur als blindwirkendes Durchschnittsgesetz der 
Regellosigkeit durchsetzen kann« 181 . 

Auf die Marxsche Okonomie und ihre Problematik des Warenfetischismus und 
der Verdinglichung war hier zu rekurrieren, weil sie fiir die Beitrage Adornos 

173 Ibid., S. 83. 

" 4 Ibid., S. 80. 

"5 Ibid., S. 84. 

"8 Ibid., S. 76. 

"7 Ibid., S. 85. 

I" Marx, Das Kapital, Band III, I. c, S. 936. 

179 Marx, Grundrisse der Kritik der politiscben Okonomie, Berlin 1953, S. 79. 

i 80 Ibid., S. 111. - Cf. zur dialektisdien Problematik von Subjektivismus und Verdinglichung 

audi Das Kapital, Band I, 1. c, S. 99; 118 f., sowie Band III, 1. c, S. 881; 937. 

isi Marx, Das Kapital, Band I, I. c, S. 107; cf. auch S. 117. 



42* ALFRED SCHMIDT 

von kaum zu iiberschatzender Wichtigkeit ist. Lukacs, so sagten wir, begriff als 
erster die universelle Fruchtbarkeit der von Marx warenanalytisch entwickelten 
Kategorien. Sein 1923 erschienenes Buch setzte die Ergebnisse der okonormschen 
Kritik voraus und verfolgte intensiv die philosophischen Aufgaben, die sich »aus 
dem Fetischcharakter der Ware, als Gegenstandlichkeitsform einerseits und aus 
dem ihr zugeordneten Subjektsverhalten andererseits ergeben; deren Verstand- 
nis uns erst einen klaren Blick in die Ideologienprobleme des Kapitalismus . . . 
ermoglicht« 182 , 

Adornos Verdienst nun liegt darin, dafi er - Lukacs* Intentionen weiter- 
treibend - in scharfsinnigen Untersuchungen die Kategorie des Waren- 
fetischismus und die ihr entsprechende des »verdinglichten Bewufitseins« in die 
Diskussion des gesellschaftlichen Wesens von Musik einfiihrt. Das geschieht 
besonders instruktiv in der Abhandlung von 1938 Vber den Fetischcharakter in 
der Musik und die Regression des Horens. Adorno selbst hat sich spater zu dieser 
Arbeit und seinen damaligen Motiven geaufiert. Es handeite sich hier um einen 
»ersten Niederschlag der amerikanischen Erfahrungen des Autors, als er den 
musikalischen Teil des Princeton Radio Research Project leitete . . . An den 
musiksoziologischen Tatbestanden, auf die der Autor damals stiefi, gingen ihm 
erstmals Einsichten iiber anthropologische Veranderungen auf, die weit iiber das 
begrenzte Sachgebiet hinausreichen« 183 . 

Erortern wir kurz, wie sich Adorno der diffizilen Aufgabe entledigte, die 
Transposition des von Marx am okonomischen Bereich dargestellten Phanomens 
der Verdinglichung ins Asthetische konkret nachzuweisen. Eine primitive - vul- 
garmarxistisch ubliche - Abbildlehre schied dabei aus, weil sie im vorhinein die 
verfestigten Strukturen sanktioniert. Ebenso der Versuch, die Problematik durch 
eine idealistische Marx-Interpretation zu iiberspielen. »Der Fetischcharakter der 
Ware«, schreibt Adorno in einem Brief an Benjamin, »ist keine Tatsache des 
Bewufkseins, sondern dialektisch in dem eminenten Sinne, dafi er Bewufksein 
produziert« 184 , und zwar ein notwendig falsches. Adornos Ansatz ist, mit 
anderen Worten, der streng Marxsche. 

Marx zeigt, dafi in einer Gesellschaft, deren Einheit dadurch gestiftet wird, dafi 
die Arbeitsprodukte allgemein unter der Warenform auftreten, »das blofi 
atomistische Verhalten der Menschen in ihrem gesellschaftlichen Produktions- 
prozefi« einerseits und »die von ihrer Kontrolle und ihrem bewufiten individuel- 
len Tun unabhangige, sachliche Gestalt ihrer eignen Produktionsverhaltnisse« 185 

182 Lukics, Geschichte und Klassenbewxjitsein, 1. c, S. 95. 

183 Adorno, Dtssonanzen, Gottingen 1956, S. 6. — In seinera Aufsatz iiber Wissenschaftliche 
Erfahrungen in Amerika (in: Stichworte, Frankfurt am Main 1969, S. 117) unterstreicht Adorno, 
wie sehr es ihm darauf ankam, mit der Arbeit iiber den Fetisch&arakter die »frisdien musika- 
Usch-soziologisdien Beobachtungen« begrifflidi zu durdidringen und »etwas wie ein > frame of 
reference^ ein Bezugssystem, fur die durchzufiihrenden Einzeluntersuchungen (zu). entwerfen*. 

184 Benjamin, Briefe, Band 2, herausgegeben und mit Anmerkungen versehen von Gershom 
Scholem und Theodor W. Adorno, Frankfurt am Main 1966, S. 672. 

185 Marx, Das Kapital, Band I, 1. c, S. 99 (Hervorhebungen von Marx). 



DIE »2EITSCHRIFT FUR SOZIALFORSCHUNG« 43* 

andererseits komplementar sind. Individueller Willkiir, bloflem Zufall hier ent- 
spricht Zwang, objektive Notwendigkeit dort. 

Lukacs verweist auf den wichtigen Umstand, dafi mit der einheitlichen Struktur 
kapitalistisdi gefiihrter Wirtschaft zum ersten Male in der Gesdiichte eine ein- 
heitlidie, fiir alle Mitglieder der Gesellsdiaft formell gleiche, namlich verding- 
lidite, Bewufitseinsstruktur einhergeht 180 . Daran konnen auch - betrachtliche - 
Differenzen ihrer materiellen Lebenslage nichts andern. Alle sind im Kapitalis- 
mus (trotz zunehmender Organisation, ja vermoge ihrer) einem blinden, 
undurchschauten »Schidksal« unterworfen. Das erzeugt in ihnen ein Bewufksein 
der Ohnmacht; sie sehen sich objektiven Machten ausgeliefert - einer Dynamik, 
die ganz unabhangig von ihrem Zutun zu waken sdieint. Die »Bewuf$tseinspro- 
bleme der Lohnarbeit« 1S7 strukturieren daher, wie Lukics nachgewiesen hat, muta- 
tis mutandis audi die nicht-proletarischer Schichten. Es entsteht eine ideologische 
(aber eben deshalb gesamtgesellschaftlich verbindliche) Perceptions weise. Wie sidi 
den Individuen ihr eigener SozialprozelS iiberhaupt darstellt: als Komplex ding- 
hafter, aufierlicher »Tatsachen«, so audi ihre menschlidien Qualitaten, die sie als 
von ihnen ablosbare, vergegenstandlichte Funktionen auf dem Markt feilbieten. 
Der angedeutete Sachverhalt griindet im Kapitalverhaltnis. Die mit ihm gesetzte 
Trennung der lebendigen Arbeit »von alien Arbeitsmitteln und Arbeitsgegen- 
standen, von ihrer ganzen Objektivitat«, bedeutet, dafi sie auf ihre »rein subjek- 
tive Existenz« reduziert wird. Sie verarmt so, wie Marx in Hegels Sprache sagt, 
als »sich auf sich beziehende Negativitat« zum »Nichtgegenstandlidien« schlecht- 
hin, das - mit der »unmittelbaren Leiblichkeit« des Arbeiters zusammenfal- 
lend - das »Nichtgegenstandliche selbst in objektiver Form« 188 ist: fetischisier- 
ter Tauschwert. 

Diese (zugleich scheinhafte und reale) Trennung der Arbeitskraft von der Person 
des Arbeiters, der sie dem Kapitalisten verkauft, wiederholt sich - in freilich 
vermittelterer Weise - im Bereich des Oberbaus. Hierauf kommt Luk£cs bei 
seiner gescheiten Analyse der modernen Biirokratie zu sprechen, die fiir ihn nur 
ein Aspekt fachlicher Borniertheit ist, die das Ganze aus den Augen verliert: 
»Der spezialistische >Virtuose<, der Verkaufer seiner objektivierten und versach- 
lichten geistigen Fahigkeiten, wird . . . nicht nur Zuschauer dem gesellschafl;- 
lichen Geschehen gegeniiber . . ., sondern gerat auch in eine kontemplative 
Attitude zu dem Funktionieren seiner eigenen, objektivierten und versachlich- 
ten Fahigkeiten. Am groteskesten zeigt sich diese Struktur im Journalismus, wo 
gerade die Subjektivitat selbst, das Wissen, das Temperament, die Ausdrucks- 
fahigkeit zu einem abstrakten, sowohl von der Personlichkeit des >Besitzers< wie 
von dem materiell-konkreten Wesen der behandelten Gegenstande unabhangi- 
gen und eigengesetzlich in Gang gebrachten Mechanismus wird« 189 . 

180 Cf. Geschicbte und Klassenbewujitsein, 1. c, S. 111. 
»87 Ibid. 

188 Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Okonomie, I.e., S. 203. 

189 Lukacs, Geschichte und Klassenbewufltsein, I.e., S. 111. 



44* ALFRED SCHMIDT 

Dafi sich das verdinglichte Bewufitsein nidit nur auf den kapitalistischen 
Gesamtprozefi und die menschlichen Qualitaten erstreckt, sondern (wie Lukacs 
am Ende des Zitats bemerkt) ebensosehr auf die Dinge - handle es sich um 
Artefakte oder Naturgegenstande -, ist ein wichtiger, schon vom jungen Marx 
(in der Heiligen Familie) erorterter Tatbestand. Voll erfafit wird er im Kapital: 
in der Theorie vom Doppelcharakter der Ware und der in ihr verkorperten 
Arbeit. Indem sich das Produkt abstrakt-gesellschaftlicher Arbeit, die »gespen- 
stige Gegenstandlichkeit« 190 der Wertform (oder des Tauschwerts) der Waren, 
gewaltsam durchsetzt gegeniiber dem, was sie dariiber hinaus sind: Produkt 
konkret-individueller, Gebrauchswerte erzeugender Arbeit, stirbt die Beziehung 
der Menschen zu letzteren ab. Lebendiges wird verdrangt durch Totes, Qualita- 
tives durch abstrakte Quantitat, angeeignete Natur durch gesellschaftliche Funk- 
tion; der allseitig herrschende Tauschwert lafit die konkrete Erfahrbarkeit des 
»unmittelbaren Dingcharakter(s)« 19i der Dinge verkummern. 
Hieran schliefien sich Adornos musikasthetische und -soziologische Erwagungen 
in der genannten Studie an. Diese verfahrt insofern materialistisch, als sie den 
radikalen Wandel des musikalischen Bewufitseins im gegenwartigen Stadium der 
Gesellschaft nicht psychologisch bei den Horern untersucht, sondern vom ver- 
anderten Stand der gesellschaftlichen Bedingungen musikalischer Produktion 
ausgeht und die Reaktionsweisen der Menschen auf diesem Hintergrund inter- 
pretiert. Dabei weist Adorno stringent nach, dafi die iiber den Verfall des 
Musiklebens vorgebrachten Klagen jenem selbst bereits angehoren. Das gilt 
insbesondere fiir den langst iiberholten Begriff des Geschmacks: »Er bezeichnet 
eine Verhaltensweise der asthetischen Subjektivitat, in welcher diese mit den 
asthetischen Konventionen falsch sich versohnt. Deren Anspriiche erscheinen 
nicht langer verdinglicht und aufierlich, sondern als gleichsam aus dem Wesen 
des Kunstwerks selbst hervorgehend, wahrend doch die zu friihe Versohnung 
den bestimmenden Antagonismus zwischen Konvention und Subjektivitat 
nicht aufhebt. Von ihrer Einheit ist nicht einmal der Schein mehr iibrig geblie- 
ben. Die verantwortliche Kunst richtet sich an Kriterien aus, die der Erkennt- 
nis nahekommen: des Stimmigen und Unstimmigen, des Richtigen und Fal- 
schen« 192 . 

Die eilfertige Rede vom verfallenden Geschmack des Publikums verfehlt Adorno 
zufolge schon deshalb, was heute geschieht, weil sie die Moglichkeit einer 
Aktivitat der Massen unterstellt, die nicht vorhanden sein kann. Die ideologie- 
suchtigen Konsumenten drangen sich geradezu danach, »musikalisch parieren zu 
diirfen wie anderwarts« 19S . Keiner verlangt mehr, dafi Konvention durch ihre 
»subjektive Aneignung« gerechtfertigt werde; »die Existenz des Subjekts selbst, 

190 Marx, Das Kapital, Band I, 1. c, S. 42, 

191 Lukacs, Geschichte und Klassenbewufitsein, I. c, S. 104. 

192 Adorno, Vber den Fetischcharakter in der Musik und die Regression des Horens, in: Zeit- 
sthrifl fiir Sozialforschung, Jahrgang VII, 1938. Heft 3, S. 321. 

193 Ibid. 



DIE »ZEITSCHRIFT FUR SOZlALFORSCHUNG« 45* 

das solchen Geschmack bewahren konnte, ist so fragwiirdig geworden wie am 
Gegenpol das Recht zur Freiheit einer Wahl, zu der es empirisch ohnehin nicht 
mehr kommt« 194 . Das wird deutlich an den schabigen Produkten der Schlager- 
industrie. Adorno zeigt, dafi sie von den Menschen (was immer diese rationalisie- 
rend vorbringen mogen) gar nicht danach beurteilt werden, ob sie »Gefallen« 
oder »Mif5f alien « erregen. Objektiv setzt die Bekanntheit eines marktgangigen 
Sdilagers »sich anstelle des ihm zugesprochenen Wertes: ihn mogen, heifk fast 
geradeswegs ihn wiedererkennen. Das wertende Verhalten ist fur den zur 
Fiktion geworden, der sich von standardisierten Musikwaren umzingelt findet. 
Er kann sich weder der Obermacht entziehen noch zwischen dem Prasentierten 
entscheiden, wo alles einander so vollkommen gleicht, dafi die Vorliebe . . . blofi 
am biographischen Detail haftet oder an der Situation, in der zugehort wird« lfl5 . 
Wohl ist zu konzedieren, dafi die sogenannte leichte, von vornherein fiir den 
Massenkonsum vorgesehene Musik niemals nach den Kategorien autonomer 
Kunst (die heute freilich auch fiir die Rezeption ernster Musik kaum mehr gel- 
ten) aufgenommen wurde. Aber sie geniigt nicht einmal mehr den armseligen 
Mafistaben ihrer Agenten. Die »Unterhaltung, den Reiz, den Genufi, den sie 
verspricht«, gewahrt sie nur, »um ihn zugleich zu verweigern« 196 . Weit davon 
entfernt, noch irgendweh zu unterhalten, entspricht die Unterhaltungsmusik, 
was Adorno unterstreicht, recht genau den jungsten anthropologischen Verande- 
rungen: »dem Verstummen der Menschen, dem Absterben der Sprache als Aus- 
druck, der Unfahigkeit, sich uberhaupt noch mitzuteilen . . . Sie bewohnt die 
Liicken des Schweigens, die sich zwischen den von Angst, Betrieb und einspruchs- 
loser Fiigsamkeit verformten Menschen bilden« 197 . 

Diesem subjektiven Befund korrespondiert auf seiten der musikalischen Gebilde 
ein gesellschaftlich wichtiger Umstand. Die von Kulturkonservativen am heu- 
tigen » musikalischen Massenzustand als einem von >Degeneration< « 198 geriigten 
Momente, die in Wahrheit einmal solche des innerasthetischen wie sozialen 
Fortschritts waren, haben sich mittlerweile ins Gegenteil verkehrt. - Wenn kon- 
servative Kritik am heutigen Musikleben das Vorherrschen angeblich verweich- 
lichender Sinnenreize, von Oberflachlichkeit und »Personenkult« beanstandet, 
dann entgeht ihr, dafi diese Momente nicht an sich verwerflich sind, sondern in 
ihrer jetzigen Funktion. Zunachst wirkten sie, wie gesagt, fortschrittlich: »Die 
verbotenen Reize bilden Fermente des Genusses, der sich potenziert, indem er 
sich selber ins Auge sieht; sinnliche Buntheit und differenzierendes Bewufksein 
verschranken sich in ihnen. Die Praponderanz der Person iiber den kollektiven 
Zwang in der Musik indiziert das Moment der subjektiven Freiheit . . ., und als 
Oberflachlichkeit stellt sich jene Profanitat dar, welche sie aus ihrer magischen 

is* Ibid., S. 321 f. 
195 Ibid., S. 322. 

198 Ibid. 
1" Ibid. 

i e8 Ibid., S. 323. 



46* ALFRED SCHMIDT 

Beklemmung lost. So sind die beklagten Momente in die ... abendlandische 
Musik eingegangen . . . Freilich . . . eingegangen und in ihr aufgehoben; nicht 
aber ist die grofie Musik in ihnen aufgegangen« 199 . Ihr Spezifikum war es viel- 
mehr, jene Momente dem Formgesetz zu unterwerfen und eben dadurch ihrem - 
utopischen - Versprechen treu zu bleiben. Ihre Grofie bestand, Kantisch ge- 
sprochen, darin, die Mannigfaltigkeit von Reiz und Ausdruck zur Einheit zu 
bringen: »Nicht blofi konserviert die musikalische Synthesis die Einheit des 
Scheins und behiitet sie davor, in rebellisdie Augenblicke von Lust zu zerfallen. 
Sondern in soldier Einheit, in der Relation der partikularen Elemente zu einem 
sidi produzierenden Ganzen, wird auch das Bild eines gesellschaftlichen Zu- 
stands festgehalten, in dem allein jene partikularen Elemente von Gluck mehr 
waren als gerade Sdiein« 200 . 

Der Umschlag nun, von dem oben gesprodien wurde, tritt - wie Adorno dar- 
tut - im kapitalistischen Zeitalter ein. In dem Mafie, wie jene vormals progres- 
siven Elemente sich der synthetischen Einheit, dem Formgesetz, entziehen und 
losgelassen, fur sidi (im Hegelschen Sinne: abstrakt) auftreten, werden sie riick- 
schrittlidi; sie horeh auf, »produktive Impulse« 201 zu sein, die gegen starre 
asthetisdie Traditionen ankampfen und das Individuum in seinem Widerstand 
gegen den Weltlauf bestarken. Kritik verkehrt sich in Kapitulation, immanente 
Utopie in Realitatsgerechtigkeit: »Reiz, Subjektivitat und Profanitat, die alten 
Widersacher der dinghaften Entfremdung, verfallen gerade dieser. Die iiberlie- 
ferten antimythoiogisdien Fermente der Musik verschworen sidi . . . gegen die 
Freiheit . . . Die Trager der Opposition gegen das autoritare Schema werden zu 
Zeugen der Autoritat . . . marktmafiigen Erfolgs. Die Lust . . . der bunten Ober- 
flache wird zum Vorwand, den Horer vom Denken des Ganzen zu entbinden, 
dessen Ansprudi im editen Horen enthalten ist, und der Horer wird ... in den 
akzeptierenden Kaufer verwandelt« 202 . 

In dem Mafie, wie die musikalische Dialektik stillgelegt wird, wie die »Partial- 
momente« dem »vorgedachten Ganzen« gegeniiber nicht mehr kritisch auftre- 
ten, bringen sie audi jene Kritik zum Schweigen, »welche die gelungene 
asthetisdie Totalitat an der briichigen der Gesellschaft iibt« 203 . AufSerstande, die 
ihnen geopferte synthetische Einheit von sidi aus neu herzustellen, werden die 
»isolierten Reizmomente« unvereinbar mit der »immanenten Konstitution des 
Kunstwerks« 204 , das so seinen Aspekt von Erkenntnis einbiifk. Ihrer kritischen 
(und eben dadurch konstitutiven) Funktion als Momente eines werdenden 
Sinnzusammenhangs entledigt, sanktionieren die sinnlich-lustbetonten Elemente 
der Musik den verdinglichten Zustand; sie stumpfen ab und liefern nur noch 

"» Ibid., S. 323; 324. 
2 30 Ibid., S. 324. 
20i Ibid. 

202 Ibid., S. 324. 

203 ibid. 

204 Ibid. 



DIE »2EITSCHRIFT FUR SOZIALFOKSCHUNG« 47* 

»Schablonen des Anerkannten«. Ihr progressiver Zug schwindet dahin: »Dienst- 
bar dem Erfolg, . . . verschworen (sie) sich zum Einverstandnis mit allem, was 
der isolierte Augenblick einem isolierten einzelnen zu bieten vermag, der langst 
keiner mehr ist« 205 . 

Angesichts dieser veranderten Situation macht Adorno darauf aufmerksam, 
welche neue Rolle das Asketische in der Musik iibernehmen muf$. Sein Begriff ist 
iiberaus dialektisch. Einzig in der Askese ist heute aufbewahrt, worauf deren 
Gegenteil einmai hinauswollte : »Die Verfiihrungskraft des Reizes iiberlebt blofi 
dort, wo die Krafte der Versagung am starksten sind: in der Dissonanz, die 
dem Trug der bestehenden Harmonie den Glauben verweigert . . . Schlug ehedem 
Askese den asthetischen Anspruch auf Lust reaktionar nieder, so ist sie heute zum 
Siegel der progressiven Kunst geworden. Die antagonistische Gesellschaft, die 
verneint und bis in die innersten Zellen ihrer Glucksfeindschaft freigelegt wer- 
den muE, ist darstellbar allein in kompositorischer Askese. Kunst verzeichnet 
negativ eben jene Glucksmoglichkeit, welcher die blofl partielle positive Vor- 
wegnahme des Gliicks heute verderblidi entgegensteht. Darum ist alle >leichte< 
und angenehme Kunst scheinhaft und verlogen geworden: was in Genufikate- 
gorien asthetisch auftritt, kann nicht mehr genossen werden . . .« 206 . 
Das aber kennzeichnet die neue Stufe des Bewufkseins der Horermassen durch 
»Genufifeindsdiafl im Genufi« 207 . Jene reagieren auf Musik ahnlich wie auf 
Sport und Reklame, wobei der Unterschied von unterhaltender und ernster 
Musik immer belangloser wird. Auszugehen ist hierbei von dem, was Adorno 
den »Funktionswedisel« der »Macht des Banalen« 208 nennt. Diese stand ein- 
mai, vor allem als Element des Melodiosen, gegen das Bildungsmonopol der 
Herrschenden. Dadurch aber, dafi sie sich nunmehr »ubers Gesellschaftsganze 
erstreckt«, wird die Differenz von hoher und niederer Musik hinfallig; die »aus- 
einanderklaffenden Spharen miissen zusammengedacht werden«, wobei ihre 
Einheit freilich nicht die eines Kontinuums, sondern die »des ungelosten Wider- 
spruchs« ist. Keineswegs kann populare Musik als Vorstufe der hoheren gelten 
oder diese ihre »verlorene kollektive Kraft von der unteren ausborgen« 20(> . Im 
unschlichtbaren Bruch reflektieren sich die radikalen Veranderungen des Ganzen. 
Die sich dem Banalen ernstlich entziehende Produktion wird kaum noch absetz- 
bar, wahrend die »Standardisierung der Erfolge« 210 im volkstumlichen Bereich 
dazu fiihrt, dafi pures »Mitmachen« verdrangt, was friiher Erfolg hiefi. Der zu- 
nehmenden Unverstandlichkeit strenger Musik entspricht unvermittelt die Un- 
entrinnbarkeit und Zuganglichkeit der leichten. Fiir das Individuum bleibt da- 
zwischen kein Spielraum mehr. 

2 °5 Ibid., S. 325. 

2 °° Ibid. 

207 Ibid. 

2( >8 Ibid.. S. 326. 

209 Ibid. 

21 ° Ibid., S. 327. 



48* ALFRED SCHMIDT 

Erwagungen, die zu Adornos Begriff des »musikalischen Fetischismus« 211 tiber- 
leiten. - Der erorterte Konflikt zwischen popularer und hoherer Musik wieder- 
holt sich in deren Bereich, und zwar in dem Mafte, wie sidi die wirklich fort- 
geschrittene Produktion dem Massenkonsum entzieht und die verbleibende 
ernste Musik sidi ihm anbequemt: um den Preis ihres Erkenntnisgehalts. Sie 
»verfallt dem Waren-H6ren« 212 . Daft iiberhaupt nodi von Unterschieden hin- 
sichtlich der Rezeption von offizieller »klassischer« und unterhaltender Musik 
gesprochen wird, griindet nicht sowohl in der Sache als darin, daft die Musik- 
Waren verkauflich sein mussen; »dem Jazzenthusiasten mufi ebenso versichert 
werden, daft seine Idole nicht zu hoch fiir ihn seien, wie dem Besucher der Phil- 
harmoniker sein Niveau bestatigt« 213 . Der Eifer, mit dem Unterschiede betont 
werden, die real vollig unerheblich geworden sind, dient rein kommerziellen 
Zwecken. 

Adornos Analyse, das hoben wir bereits hervor, geht davon aus, daft die 
»Anwendung der Warenkategorie auf Musik « 214 keine vage Analogie ist. Sie 
mufi vielmehr streng im Sinn Marxscher Okonomie verstanden werden; denn 
das Musikleben wird liickenlos dem Diktat der Warenform und dem ihr verhaf- 
teten Fetischcharakter unterworfen. Das aufiert sidi drastisch an den Reaktions- 
weisen der Horer. Diese »sdieinen sidi«, wie Adorno entwickelt, »aus der Bezie- 
hung zum Vollzug der Musik zu losen und unmittelbar dem akkumulierten Er- 
folg zu gelten, der seinerseits nicht entfernt durch vergangene Spontaneitaten 
des Horens zureichend begriffen werden kann, sondern auf das Kommando der 
Verleger, Tonfilmmagnaten und Rundfunkherrn zuriickdatiert« 215 . Solche 
Warenfetische sind neben dem geradezu religios verehrten Erfolg »an sidi« die 
Stars, ihre gefeierten Namen, die »sensuellen Reizmomente des Einfalls, der 
Stimme, des Instruments« 216 , schliefilich jene Werke, die ein » Pantheon von 
best-sellers« 217 bevolkern. Was in dieses nicht hineingelangt, verschwindet aus 
den Programmer Das gilt nicht nur fiir »das mittlere Gut . . ., das die musik- 
wissenschaftlichen Branchevertreter den Horern aufsdiwatzen mochten« 218 - 
audi die offiziell geduldeten Klassiker unterliegen einer Selektion, die der 
Qualitat ihrer Werke aufterlich ist; sie erfolgt »nach ihrer >Wirksamkeit< 
im Sinne eben der Erfolgskategorien, welche die leichte Musik determinieren 
oder dem Crackdirigenten gestatten, programmgemafi zu faszinieren« 219 . 
Den Reizmomenten, die fetischisiert, weil aus alien sinnverleihenden, auf ein 
Ganzes abzielenden Strukturen herausgelost, zur schlecht-abstrakten Unmittel- 

211 Ibid., S. 230. 

212 Ibid., S. 327. 

213 Ibid. 

214 Ibid., S. 330. 

215 Ibid., S. 327. 
218 Ibid., S. 329. 
2" ibid., S. 327. 
218 Ibid., S. 328. 
2i» Ibid. 



DIE »2EITSCHRIFT FUR SOZIALFORSCHUNG« 49* 

barkeit erstarren, sind Verhaltensweisen der Horer zugeordnet, deren Beziehun- 
gen zur Musik, wie die auf dem Markt iiberhaupt, nur solche Beziehungsloser 
sein konnen. Ihre »blinden und irrationalen Emotionen« 220 gehorchen reflekto- 
risch dem isolierten Auftreten jener Reizmomente. »Nahe«, sdireibt Adorno, ist 
den Horern »nur nodi das vollendet Fremde und fremd, wie durch einen dichten 
Schleier vom Bewufksein der Massen geschieden, was fur die Stummen zu reden 
versucht« 221 - die fortgeschrittene, antikulinarische Musik. 

Der eigentumliche Warencharakter der Musik widersetzt sich jeder unvermittelt 
psychologischen Erklarung musiksoziologischer Phanomene. Er besteht darin, 
dafi » >Werte< konsumiert werden und AfTekte auf sich ziehen, ohne dafi ihre 
spezifischen Qualitaten vom Bewufitsein des Konsumenten iiberhaupt nodi er- 
reicht wiirden« 222 . Hinzu kommt - was nicht zu unterschlagen ist - die sehr 
handfeste Tatsadie, dafi der Tausch sogenannter »Kulturguter« letztlidi »ter- 
miniert in materiellen Dingen: Opern- und Konzertkarten, Klavierfassungen 
der Schlager, Grammophonplatten, Radioapparaten und . . . den Gegenstanden, 
zu deren Anpreisung die musikalischen Exekutionen beitragen. Musik, mit all 
den Attributen des Atherischen und Sublimen, die ihr freigebig gespendet wer- 
den, dient wesentlich nur nodi der Reklame von Waren, die man erwerben mufi, 
um Musik horen zu konnen« 223 . 

In dieser fatalen Verkehrung von Mittel und Zweck wiederholt sich, abgewan- 
delt, nur der fiir die burgerlidie Wirtschaftsweise typische Sadiverhalt, dafi sie 
die Gebrauchswerte der Waren: das Primare, weil mit den Qualitaten der 
Menschen und der Dingwelt Verbundene, einem Sekundaren, dem - rein ge- 
sellschaftlichen - Tauschwert unterordnet. Dadurch werden die Gebrauchs- 
werte, obwohl sie den »ston c lichen Inhalt des Reichtums« 224 bilden, zur blofien 
Staffage einer menschenfeindlidien Abstraktion herabgesetzt, die freilich von 
den Menschen selbst, unbewufit, tagtaglich vollzogen wird. 

Adorno interpretiert, was bei Marx Fetischcharakter der Ware heifit, als »die 
Veneration des Selbstgemachten« 225 , das in Gestalt des Tauschwerts sich den 
Individuen entfremdet, und fiihrt dabei die bekannte Stelle des Kapitals an: 
»Das Geheimnisvolle der Warenform besteht . . . einfach darin, dafi sie den 
Menschen die gesellschaftlichen Charaktere ihrer eignen Arbeit als gegenstand- 
liche Charaktere der Arbeitsprodukte selbst . . . zuriickspiegelt, daher auch das 
gesellschaftliche Verhaltnis der Produzenten zur Gesamtarbeit als ein aufier 
ihnen existierendes gesellschaftliches Verhaltnis von Gegenstanden« 226 . Was 
Marx hier das »Geheimnis« des Warenfetischismus nennt, ist fiir Adorno zu- 



22 <> Ibid., S. 330. 
* 21 Ibid. 

222 Ibid. 

223 Ibid. 

224 Marx, Das Kapital, Band I, 1. c„ S. 42. 

225 Adorno, 1. c, S. 330. 

228 Marx, Das Kapital, Band I, I. c„ S. 77. 



50* ALFRED SCHMIDT 

gleich das Geheimnis des allmachtigen Erfolges: »Er ist die blofie Reflexion 
dessen, was man auf dem Markt fiir das Produkt zahlt: recht eigentlidi betet 
der Konsument das Geld an, das er selber fiir die Karte zum Toscaninikonzert 
ausgegeben hat. Buchstablich hat er den Erfolg >gemacht<, den er verdinglicht 
und als objektives Kriterium akzeptiert, ohne darin sich wiederzuerkennen. 
Aber >gemacht< hat er ihn nicht dadurch, dafi ihm das Konzert gefiel, sondern 
dadurch, dafi er die Karte kaufle« 227 . 

Allerdings (und dieser wesentliche Punkt ist nicht zu vernachlassigen) lafk sich 
Adornos musikalische Warenanalytik davon leiten, dafi der Tauschwert sich in 
der kulturellen Sphare in besonderer Weise durchsetzt. Diese namlich erscheint, 
von der Warenwelt aus betrachtet, gerade als »der Macht des Tausches« ent- 
riickt, als eine geheiligte Sphare der »Unmittelbarkeit zu den Giitern, und dieser 
Schein ist es wiederum, dem die Kulturgiiter« - schon der Name ist verrate- 
risch - »ihren Tauschwert allein verdanken« 228 . Es bedarf jedoch keiner 
Frage, dafi audi die kulturellen Erzeugnisse ganz wie die materiellen der 
Warenwelt angehoren; sie werden fiir den Markt hergestellt und sind ihm in 
jeder Hinsicht untertan. Adorno bringt jenen Schein mit dieser Realitat dialek- 
tisch zusammen. Der Schein verhiillt nicht blofi das Wesen, »sondern geht aus 
dem Wesen selber zwangvoll hervor« 229 . Dafi sich der Uberbau dem Unterbau 
gegemiber verselbstandigt, ist dessen eigene Funktion. Der Schein der Unmit- 
telbarkeit ist ebenso nichtig wie objektiv seiend, weil durch den Tauschwert 
vermittelt. Das biirgerliche Bewufitsein sucht den Widerspruch so zu schlichten, 
dafi es »den Schein von Lust und Unmittelbarkeit« 230 auf den Tauschwert uber- 
tragt. Hiervon geht Adornos Theorie aus. Der »reine Gebrauchswert« der kul- 
turellen Waren, dessen Illusion just die vollig dem Wertgesetz ausgelieferte Ge- 
sellschaft verhaftet bleibt, wird » durch den reinen Tauschwert substituiert, der 
gerade als Tauschwert die Funktion des Gebrauchswerts triigend ubernimmt. In 
diesem Quid pro quo konstituiert sich der spezifische Fetischcharakter der 
Musik: die Affekte, die auf den Tauschwert gehen, stiften den Schein des 
Unmittelbaren, und die Beziehungslosigkeit zum Objekt dementiert ihn zu- 
gleich« ; sie »griindet in der Abstraktheit des Tauschwerts« 2ai . 
Im zweiten Teil seiner Studie diskutiert Adorno unterm Titel der »Regression 
des H6rens« das der fetischisierten Musik angemessene Bewufitsein des breiten 
Publikums. Hier freilich - in einem derivativen Bereich - kommen psycho- 
logische Kategorien ins Spiel. Nicht nur geht den Menschen die (stets schon sel- 
tene) »Fahigkeit zur bewufiten Erkenntnis von Musik« 232 verloren - sie leug- 
nen, dafi sie iiberhaupt moglich ist. Ihre Horweise wird von Adorno beschrieben 

227 Adorno, I.e., S. 331. 

22S Ibid. 

22 9 Ibid., S. 333. 

230 Ibid., S. 331. 

231 Ibid. 

232 Ibid., S. 339. 



DIE »2EITSCHRIFT FUR S02IALF0RSCHUNG« 51* 

als ein Fluktuieren »zwisciien breitem Vergessen und jahem, sogleich wieder 
untertauchendem Wiedererkennen; sie horen atomistisch und dissoziieren das 
Gehorte, entwickeln aber eben an der Dissoziation gewisse Fahigkeiten, die in 
traditionell-asthetischen BegrifFen weniger zu fassen sind als in solchen von 
Fufiballspielen und Chauffieren« 238 . Regressiv sind jedodi nidit nur der Verlust 
des differenzierten Horvermogens und der verdriickte, ressentimenthafte Hafi 
der Horer schon gegen die Moglichkeit einer menschlicheren Musik, regressiv ist 
audi die Rolle, welche die konsumierte, massenhaft verbreitete Musik in ihrem 
psychischen Haushalt spielt: »Sie werden ... in ihrer neurotisdien Dummheit 
konfirmiert, ganz gleichgiiltig, wie ihre musikalischen Fahigkeiten zur spezifisdi 
musikalischen Kultur friiherer gesellschaftlidier Phasen sidi verhalten, ganz 
gieidigiiltig audi, ob die Individuen selber musikalische Ruckschritte madien oder 
nicht« 234 . 

Davon, dafi die Regression keine des »Geschmacks« ist, war bereits die Rede. 
Ebenso verfehlt ware es anzunehmen, die gegenwartigen Individuen fielen auf 
ein verlassenes Stadium ihrer Entwicklung zuriick: »Regression des Horens heifit 
nichts anderes als: das Horen Regredierter« 235 . Obwohl ein sozialpathologisches 
Phanomen, tragt es dazu bei, den herrschenden Zustand zu festigen und einen 
Ausbruch aus der »infantilen Gesamtverfassung« 238 zu unterbinden. — Histo- 
risch gehort das regressive Horen einer Gesellschaft an, worin der Druck von 
Reklameerzeugnissen so unertraglich geworden ist, dafi »dem Bewufitsein vor 
der Obermadit des annoncierten StofFes nichts . . . tibrigbleibt als zu kapitulie- 
ren und seinen Seelenfrieden sich zu erkaufen, indem man die oktroyierte Ware 
budistablich zur eigenen Sadie madit« 287 . Das geschieht durch blanke »Iden- 
tifikation der Horer mit den Fetischen«, vermittels derer der Fetischcharakter in 
der Musik »seine eigene Verdeckung« 238 produziert. - Die durch das Verges- 
sen und plotzliche Wiedererkennen eingeleitete und sich durchsetzende »perzep- 
tive Verhaltensweise ... ist die Dekonzentration« 239 , welche es unmoglich macht, 
ein Ganzes aufzunehmen. Die erorterte Abspaltung der Teile vom Ganzen und 
alien iiber ihr unmittelbares, punktuelles Dasein hinausreichenden Momenten 
fiihrt dazu, dafi sich das musikalische Interesse auf den »sensuellen Reiz« ver- 
lagert, »der von Kulturrettern so mifiverstanden wird« 240 . Er ist nichts weniger 
als anarchisch. Anzunehmen, es setze sich hier, wie in der burgerlichen Auf- 
stiegsperiode, die »Genufifunktion« gegeniiber der »disziplinierenden« durch, 
ware falsch; denn die »apperzipierten Reize« verbleiben »widerstandslos im 
starren Schema, und wer sich ihnen verschreibt, wird am letzten gegen es auf- 



233 


Ibid. 














234 


Ibid., 


, s. 


340; 


cf. 


zur 


»Dummheit des Horens* 


audi S. 344 f . 


235 


Ibid. 














236 
237 
236 


Ibid., 
Ibid. 
Ibid., 


s. 
s. 


341. 
342. 










239 
240 


Ibid. 
Ibid., 


s. 


343. 











52* ALFRED SCHMIDT 

mucken«. Sie halten sich zudem, borniert, wie sie sind, »im Umkreis einer im- 
pressionistisch aufgeweichten Tonalitat« 241 . Gerade die atomistisch Horenden 
wehren sich am ehesten gegen ungewohnte neue Farben und Klange, ihr Inter- 
esse am isolierten Reiz bleibt musikalisch folgenlos. Soweit sie iiberhaupt nodi 
gewillt und imstande sind, den vorgezeichneten Rahmen zu verlassen, stiirzen 
sie sich in eine - von Adorno typologisch beschriebene - Pseudoaktivitat 242 , 
welche den »passiven Zustand des Zwangskonsumenten« 248 nicht beseitigt und 
die Regression allemal bestatigt. 

Adornos Arbeiten in der Zeitschrift, von denen hier die iiber den Fetischcharak- 
ter wegen ihrer Nahe zur Marxschen Dkonomie eingehender behandelt wurde, 
sind durchweg als Beitrage zum dialektischen Problem der »Vermittlung« von 
Uberbau und Basis zu verstehen, das fiir Adorno »das eigentliche Problem einer 
materialistischen Kulturgeschichte« 244 ist. Welche geschichtsphilosophischen und 
-methodischen Uberlegungen ihn bei dieser Frage bestimmen, geht am deutlich- 
sten wohl hervor aus seinem ersten Aufsatz in Horkheimers Organ: Zur gesell- 
schaftlichen Lage der Musik 245 . Auf ihn sei deshalb noch kurz verwiesen. 
Adornos Ausgangspunkt ist die These, dafi - im Sinne der marxistisch gedeu- 
teten Logik Hegels - die antagonistische Gesellschaft, das negative »Wesen«, 
in vielfach gebrochener Weise in den Strukturen der Musik »erscheint«. Deren 
Situation ist dadurch gekennzeichnet, dafi sie »in den bestimmtesten Linien die 
Widerspriiche und Briiche ab(zeichnet), welche die . . . Gesellschaft durchfur- 
chen«, und dabei »zugleich durch den tiefsten Bruch von eben der Gesellschaft 
abgetrennt (ist), die sie selber samt ihren Briichen produziert, ohne doch mehr als 
Abhub und Triimmer der Musik aufnehmen zu konnen« 246 . Die uberaus schroffe 
Trennung von Gesellschaft und Musik ist doppelten Wesens. Einmal verhilft sie 
der Musik dazu, sich als Kunst zu konstituieren, zum anderen entzieht sie diese 
den Menschen. In dem Mafle, wie der kapitalistische Verwertungsprozefi sich 
alle musikalische Produktion und Konsumption einverleibt, »wird die Entfrem- 
dung zwischen der Musik und den Menschen vollkommen* 247 . Soweit sich jene 
nicht den Gesetzen der Warenproduktion iiberlafit, ist ihr der gesellschaftliche 
Boden tendenziell entzogen; sie lauft Gefahr, hohl und unverbindlich zu wer- 
den. Wohl ist die Musik, wie Adorno im einzelnen ausfuhrt, »unter der Uber- 
macht des monopolkapitalistischen Musikbetriebes zum BewuStsein ihrer eige- 

2" Ibid. 

*« Cf. ibid., S. 346 ff. 
24 » Ibid., S. 346. 

244 Adorno, Rezension von: Alfred Kleinberg, Die europaische Kultur der Neuzeit, in: Zeit- 
schrift fiir Sozialforschung, Jahrgang I, 1932, Doppelheft l/2, S. 212. 

245 Adorno hat gerade dieser Arbeit fiir seine spatere Entwiddung eine gewisse Schlusselposition 
zuerkannt. Cf. dazu den Aufsatz WissenschaftUche Erfahmngen in Amerika, in: Stichworte, 
1. c, S. 114. 

246 Adorno, Zur gesellschafilichen Lage der Musik, in: Zeitschrift jiir Sozialforschung, Jahr- 
gang I, 1932, Doppelheft 1/2, S. 103. 

«* Ibid. 



DIE »ZEITSCHRIFT FUR SOZIALFORSCHUNG« 53* 

nen Verdinglichung, der Entfremdung von den Menschen« 248 , vorgestofien. 
Dadurdi aber, dafi ihr die aufiermusikalischen, materiell-gesellschaftlichen Ur- 
sachen ihres prekaren Zustands unbekannt blieben, verfiel sie dem ideologi- 
schen Trug, ihre Isolierung »sei isoliert, namlich blofi von der Musik aus korri- 
gierbar« 249 . 

Fur Adorno indessen beginnt jede ernsthafte Diskussion der gesellschaftlichen 
Lage von Musik mit der Einsicht, dafi deren »Gesellschafts-Fremdheit . . . selber 
gesellschaftliches Faktum, selber gesellschaftlidi produziert ist. Und darum audi 
korrigierbar nidit innermusikalisch, sondern blofi gesellschaftlidi: durch Verande- 
rung der Gesellschaft« 250 . Insofern gehen denn audi die Angriffe eines begriff- 
lidi stumpfen musikalisch-kulturpolitisdien Reformismus auf die wirklidi avan- 
cierte Kunst an der Sadie vorbei. Sie stehen im Zeichen von Vorwiirfen wie 
»Individualismus, Artistentum, tedinische Esoterik« und behaupten sidi nodi 
heme. Was die Frage angeht, ob (und, gegebenenfalls, was) Musik zur gesell- 
schaftlichen Veranderung beisteuern kann, so ist Adorno sehr vorsichtig. Fest 
steht ihm zunachst nur, da£ sie sich alien Gemeinschafts-Ideologien versagen 
mufi, jedem (die historische Dialektik mifiachtenden) Versuch, »von sich aus eine 
Unmittelbarkeit herzustellen . . ., die gesellschaftlidi nicht blofi heute verwehrt, 
sondern schlechter dings nicht wiederherstellbar nodi selbst wunschbar ist; und 
damit zur Verhullung der Lage beitragt« 251 . 

Hodist fraglich, ob die Musik, sofern sie uberhaupt in den sozialen Prozefi ein- 
greift, dies qua Kunst bewerkstelligt. Fiir Adorno gibt es 1932 angesichts der - 
objektiv vermittelten - Ungewifiheiten nur ein asthetisch vertretbares Pro- 
gramm, woran er audi spater, prinzipiell zumindest, festgehalten hat: »Musik 
(vermag) nichts anderes als in ihrer eigenen Struktur die gesellschaftlichen 
Antinomien darzustellen ... Sie wird um so besser sein, je tiefer sie ... die 
Madit jener Widerspriidie und die Notwendigkeit ihrer gesellschaftlichen Uber- 
windung auszuformen vermag; je reiner sie, in den Antinomien ihrer eigenen 
Formensprache, die Not des . . . Zustands ausspricht . . . Ihr frommt es nicht, in 
ratlosem Entsetzen auf die Gesellschaft hinzustarren: sie erfiillt ihre gesellschaft- 
liche Funktion genauer, wenn sie in ihrem eigenen Material und nach ihren 
eigenen Formgesetzen die gesellschaftlichen Probleme« darstellt, »welche sie bis 
in die innersten Zellen ihrer Technik in sidi enthalt« 252 . 

Damit ist jeder plakativ-»realistischen« Kunst-Konzeption eine entschiedene 
Absage erteilt. Adornos materialistische Asthetik betont die dialektisch-span- 
nungsvolle Einheit des spezifisch artistischen und des gesellschaftlichen »Wesens« 
der Kunst. Je unbeirrter sich diese ihrer immanenten Logik anvertraut, das 

2« Ibid., S. 104. 

2 « Ibid. 
25 ° Ibid. 

251 ibid, - Cf. dazu auch Adornos Bemerkungen iiber den »Objektivismus« und »FoIklorismus« 
auf S. 108. 

252 Ibid., S. 105. 



54* 



ALFRED SCHMIDT 



heifit: alle von aufien kommenden politischen Parolen auf sich beruhen lafit, 
desto mehr ofifenbart sie von den ebenso destruktiven wie zukunftstrachtigen 
Tendenzen des Zeitalters; wobei sie Ietztere nicht etwa propagiert, sondern 
negativ ausdriickt: »in den Chiffren des Leidens« 253 . - Kritische Kunst bildet 
die (sie tragende und zugleich als gesellschaftlich-historisdi bearbeitetes Natur- 
material in sie einwandernde) empirisdie Realitat nicht oberflachlich-aufierlich 
ab; vielmehr reflektiert sie, monadologisch, das ihr Transzendente in sich selbst, 
in der gegenstandlichen Immanenz ihrer Werke. 

Eine griindlichere Diskussion dieser - sicher immer nodi aktuellen - Erwagun- 
gen iiberschritte den Rahmen des Essays. Nur noch so viel: Adorno sieht die 
»Aufgabe der Musik als Kunst « durchaus analog zu der »der gesellschaftlichen 
Theorie« 254 . Wie diese steht sie in einem komplexen, ja aporetischen Verhaltnis 
zur kapitalistischen Gesellschaft. An ihr hat die Musik ihre geschichtliche Sub- 
stanz, deren Negativitat sie, mit Hegel gesprochen, auszuhalten trachtet. Adorno 
bezeichnet die im Verhaltnis von Musik und Gesellschaft enthaltenen Schwierig- 
keiten folgendermafien: »Wollte man die immanente Entfaltung der Musik 
absolut setzen, als blofie Spiegelung des gesellschaftlichen Prozesses, so wiirde 
man . . . den Fetischcharakter . . . sanktionieren, der ihre Not und das . . . von 
ihr darzustellende Grundproblem ist. Dafi sie andererseits nicht nach der beste- 
henden Gesellschaft gemessen werden darf, . . . steht klar. Dafi sie vollends 
nicht, . . . fern von den tatsachlichen gesellschaftlichen Verhaltnissen, als 
>geistiges< Phanomen genommen werden sollte, das . . , Wunsche der gesellschaft- 
lichen Veranderung unabhangig von deren empirischen Verwirklichung im 
Bilde vorwegnehmen kann, ist die Voraussetzung jeder historisch-materiali- 
stischen und nicht blofi >geistesgeschichtlichen< Methode« 255 . Haben derart Musik 
und kritische Theorie in ihrem Verhaltnis zum soziaien Ganzen mit den nam- 
lichen Aporien zu kampfen, so verhalten sich beide diesen gegeniiber analog: 
namlich erkennend. Aus den genannten Verlegenheiten ergibt sich fiir Adorno 
gerade kein irrationalistisches Abdanken der Musik. Von ihr - und das ver- 
bindet seine Asthetik mit der Hegelschen - fordert er, was, cum grano salis, 
»Erkenntnischarakter« genannt werden kann: »In ihrem Material mufi sie die 
Probleme rein ausformen, die das Material ... ihr stellt; die Losungen, die sie 
dabei findet, stehen Theorien gleich: in ihnen sind gesellschaftliche Postulate ent- 
halten« 256 . Dafi deren Beziehung zur Praxis hochst indirekt ist und dafi sie sich 
keineswegs auf Anhieb verwirklichen lassen, konzediert Adorno. Aber sie ent- 
scheiden letztlich dariiber, in weldier Weise Musik auf die gesellschaftliche 
Wirklichkeit einwirkt. 

In diesem Zusammenhang wendet sich Adorno energisch gegen die kurzatmige 
(noch immer zu horende) These, den Massen unverstandliche Musik sei 

2 «« Ibid. 

W4 Ibid. 

«5 Ibid. 

256 Ibid. 



DIE »ZEITSCHRIFT FUR SOZlALFORSCHUNG« 55* 

»esoterisch-privat, also reaktionar« 257 . Er zeigt, dafi dieser romantischen Vor- 
stellung musikalisdier Unmittelbarkeit zugleich die - audi politisdi fehl- 
gehende - Ansicht zugrunde liegt, »das empirische Bewufitsein der gegenwar- 
tigen Gesellschaft, das in Enge und Unerhelltheit . . . von der Klassenherrsdiaft 
gefordert wird, konne als positives Mafi einer nicht mehr entfremdeten, sondern 
dem freien Menschen zugehorigen Musik gelten« 258 . Die gesellsdiaftliche Erkennt- 
nis muE sich, kontrar, dagegen. sperren, daft ein selbst der Kritik bedurftiges 
Bewufitsein ihr Grenzen aufnotigt. Auch das des Proletariats ist durch die Klas- 
senverhaltnisse verunstaltet. Wie die Theorie, muft audi die Musik das unmit- 
telbare Bewufitsein der Massen transzendieren. Dialektisch verhalt sie sich zur 
bestehenden Praxis, »indem sie in sich selber« - dem erreiditen Stand der 
Theorie gemafi — »alle die Elemente ausbildet, deren objektive Intention die 
Oberwindung der Klassenherrsdiaft ist« - audi wenn dies »gesellschaftlich 
isoliert und zellenhaft wahrend der Klassenherrsdiaft sich vollzieht« 259 . 
Adorno denkt hier vornehmlich an Schonberg und seine Sdiule. Der heftige, 
ihrer Produktion entgegengebradite Widerstand indiziert, wie er schreibt, »dafi 
die dialektische Funktion dieser Musik in der Praxis . . . bereits fiihlbar wird« 260 . 
Gerade der »esoterische Schonberg« gehort keiner »spezialisierten und gesell- 
schaftlich irrelevanten Musikgeschichte als Geistesgeschichte« 261 an, sondern dem 
kritisdi begriftenen Prozefi der realen Gesellschaft; und zwar deshalb, weil er 
sich kompromifiios der Logik der Sache hingibt. Jede »subjektiv-expressive Er- 
rungenschaft« Schonbergs ist, wie Adorno biindig dartut, »eine Auflosung ob- 
jektiv-materialer Widerspriidie«, eine »prazise Antwort . . . auf Fragen, welche 
das Material in Gestalt der materialeigenen Probleme an ihn richtet« 262 . Eine 
Projektion der »materialen Dialektik« Schonbergs auf die der Gesellschaft ist 
daher fur Adorno insofern gerechtfertigt, als Schonberg »in Gestalt der 
materialen Probleme, die er ubernahm und weitertrieb, die Probleme der Ge- 
sellschaft vorfand, die das Material produzierte und in ihm ihre Widerspruche 
als technische Probleme aufstellte« 263 . — Ein instruktiver Essay, der die ent- 
scheidenden Kategorien von Adornos Geschichtsphilosophie der Neuen Musik 
teils vorwegnimmt, teils bereits entfaltet. 

Unsere - notwendig skizzenhafte - Charakteristik der asthetischen und kunst- 
soziologischen Studien in der Zeitschrift bliebe allzu unvollstandig, wollten wir 
darauf verzichten, Walter Benjamins zu gedenken. Das Horkheimersche Institut 
bot ihm nicht nur die Moglichkeit, von seinem Pariser Exil aus zu publizieren, 

257 Ibid., S, 106. 

258 Ibid. 
*5» Ibid. 

26 Ibid., S. 107. 

261 Ibid., S. 111. 

262 Ibid. 

263 Ibid.; cf. zur »dialektisdien Erkenntnisfunktion« der Neuen Musik auch S. 106 unten. 



56* ALFRED SCHMIDT 

es unterstiitzte ihn audi finanziell wahrend einer anhaltend akuten Notlage. - 
Von Benjamin enthalt die Zeitschrift folgende Beitrage: Zum gegenwartigen 
Standort des franzosiscben Schriftstellers (1934), Probleme der Sprachsoziologie 
(ein Sammelreferat, 1935), die vieldiskutierte, zunachst franzosisdi gedruckte 
Arbeit uber den geschiditlichen Verlust der »Aura« des Kunstwerks unter dem 
Titel Uoeuvre d'art a Vepoque de sa reproduction mecanisee (1936), die - fur 
das Marx-Verstandnis Benjamins nicht unwiditige - Gelegenheitsarbeit Eduard 
Fuchs, der Sammler und der Historiker (1937), schliefilich den weithin bekannten 
Essay Uber einige Motive bei Baudelaire (1939). 

Hier sei lediglich auf die Texte von 1936 und 1937 knapp eingegangen. Der 
erstere, spater deutsch unter dem Titel Das Kunstwerk im Zeitalter seiner tech- 
nischen Reproduzierbarkeit veroffentlidit, wurde fiir die geistige Entwicklung 
seines Autors widitig. Benjamin war sidier, »als Erster einige Fundamentalsatze 
der materialistisdien Kunsttheorie gefunden« zu haben, und setzte sie in einer 
ebenso kleinen wie gehaltvollen »programmatischen Schrift<c 264 auseinander. 
Diese war, nicht zuletzt unter dem Einflufi Brechts und des sowjetischen Doku- 
mentarfilms entstanden 265 , gegen die faschistische Massenkunst gerichtet, spradi 
ihren Thesen einigen »Kampfwert« 268 zu und wollte »die neu in die Kunst- 
theorie eingefuhrten BegrifTe . . . zur Formulierung revolutionarer Forderungen 
in der Kunstpolitik« 267 benutzen. Die faschistisch betriebene »Asthetisierung der 
Politik« sollte mit der marxistischen »Politisienmg der Kunst« 268 beantwortet 
werden. 

Ausgangspunkt der Reflexionen Benjamins ist die Einsicht in die Untauglichkeit 
biirgerlich iiberlieferter Kategorien wie Schopfertum, Genialitat, Personlichkeit, 
Ewigkeitswert und Geheimnis, weil sie, umstandslos verwandt, »zur Verarbei- 
tung des Tatsachenmaterials in faschistischem Sinn« 269 fiihren. Benjamin da- 
gegen mochte zeigen, dafi in dem mit der technischen Reproduzierbarkeit der 
Kunstwerke gesetzten Verfall ihrer »Aura« sich audi andere Moglidikeiten ab- 
zeidinen, die es zu retten gilt. Insbesondere durch den Film, der die Reproduk- 
tion eines auf Reproduzierbarkeit angelegten Kunstwerks leistet, sieht Benjamin 
das »VerhaItnis der Masse zur Kunst« 270 qualitativ verandert. Gerade er for- 

264 Benjamin an Werner Kraft, Brief vom 28.10.1935, in: Benjamin, Briefe, Band 2, I.e., 
S. 699. - Im Brief vom 24. 10. 1935 an Kitty Marx-Steinschneider spricht er hinsichtlich seines 
Aufsatzes von »Fixierungen einiger eingreifender Oberlegungen zur Kunsttheorie «, in: ibid., 
S. 697. 

265 Cf. dazu Helmut Lethen, Zur materialistischen Kunsttheorie Benjamins, in: alternative, 
10. Jahrgang, Heft 56/57, Berlin 1967, S. 226 f. und 231 f. 

266 Zitiert nach der (erweiterten) deutsdien Fassung, in: Benjamin, Schriften, herausgegeben von 
Theodor W. Adorno und Gretel Adorno unter Mitwirkung von Friedridi Podszus, Frankfurt am 
Main 1955, S. 367. 

2 «7 Ibid. 

268 Ibid., S. 397. 

*™ Ibid. 

*™ Ibid., S. 387. 



DIE »ZEITSCHRIFT FUR SOZlALFORSCHUNG« 57* 

dert, selbst unter der Herrschaft des Filmkapitals, »eine revolutionare Kritik der 
iiberkommenen Vorstellungen von Kunst« 271 . Die naive »Lust am Sdiauen und 
Erleben« geht, was Benjamin besonders unterstreicht, in der »simultanen Kol- 
lektivrezeption« der Filmtheaterbesudier »eine unmittelbare und innige Verbin- 
dung mit der Haltung des fadimannischen Beurteilers« 272 ein. Verlangte die tra- 
ditionelle Kunst vom Betrachter Konzentration und Sammlung, so bietet sidi der 
Film dem Bedurfnis nach Zerstreuung an, bei dessen Befriedigung die Massen 
das Kunstwerk in sidi »versenken« 273 . Der kollektiv vollzogenen Rezeption 
schreibt Benjamin im Gegensatz zur privaten, abgekapselten die mobilisierende 
Kraft zu, Kunst aus ritualer in riditige politische Praxis zu uberfuhren. 
Fraglos heikle, zu optimistische Gedankengange, die in der Analyse bedeutsamer 
waren als in den aus ihr gezogenen praktischen Konsequenzen. Sie mufiten sidi 
von vornherein sdiarfster Kritik aussetzen. Die drastisdien Erfahrungen mit 
dem manipulierten politischen Film in den totalitaren Staaten dieses Jahrhun- 
derts, seine dubiose Rolle im System spatkapitalistischer Kulturindustrie 274 , ganz 
zu sdiweigen von der Massenwirksamkeit heutiger Medien, alien voran des 
Fernsehens, haben dariiber belehrt, wie triigerisch Benjamins (und Brechts) Hoff- 
nungen waren, der spatbiirgerlidie Verfall von Kunst, das Verschwinden der 
Autonomic des Werkes, der Kultwerte, des schonen Scheins werde sidi im Sinn - 
fortschrittlicher - Politik »umfunktionieren« lassen. Benjamin iiberschatzte den 
Spielraum moglidier Neutralitat der tedinischen Produktivkrafte gegeniiber der 
Weise, sidi ihrer im vorgegebenen Rahmen der Produktionsverhaltnisse zu be- 
dienen. Was die modernen Kollektiva angeht, deren Willen, in die Geschichte 
aufzubredien, Benjamin ebenfalls iiberbewertet hat, so fiihlen sie sidi, zumin- 
dest in den fortgeschrittenen Industrielandern des heutigen Westens, im total ent- 
fremdeten Zustand bestatigt. Ihn »geniefien« sie inzwisdien, nicht seine pro- 
gressive Kritik, wie Benjamin (mit Brecht) annahm. Davon, dafi die eine Welt 
transportabler Spiegelbilder 275 des Bestehenden herstellenden (und insofern 
a priori ideologisdi wirkenden) Apparaturen eine Art Selbstkontrolle der 
Massen auslosen oder wenigstens ermoglichen, an weldie die »organisierende 
Funktion« 276 revolutionarer Kunstwerke einfadi anzukniipfen vermodite, kann 
keine Rede sein. 

271 Ibid., S. 383. 

272 Ibid., S. 387. 

2" Cf. ibid., S. 393 f. 

274 Adornos hier erorterte Abhandlung uber den Fetischcharakter verstand sich als »eine Art 
kritischer Replik* auf Benjamins kurz vorher in der Zeitsdirift veroffentHchte Arbeit. »Die Proble- 
matik der kulturindustriellen Produktion und der thr zugeordneten Verhaltensweisen*, sdireibt 
Adorno, »wurde darin unterstridien, wahrend Benjamin eben jene problematische Sphare . . . alku 
ungebrochen zu >retten< trachtete«. In: Wissenschafiltcbe Erfahrungen in Amerika, 1. c, S. 117. 

275 Cf. Benjamin, Das Kunstwerk im Zettalter seiner technischen RepToduzierbarkeit^ 1. c, 
S. 382. 

278 Piet Grudiot, Konstmktive Sabotage. Walter Benjamin und der burgerliche Intellektuelle, 
in: alternative, 1. c, S. 209. 



58* ALFRED SCHMIDT 

Gleidrwohl bietet Benjamins Arbeit, namentlich in ihren fur die Erkenntnis- 
theorie des dialektischen Materialismus wesentlichen, noch nicht rezipierten 
Aspekten 277 , grundlegendes Material fur die Diskussion einer marxistischeri 
Asthetik. 

Wenn hier die Benjaminsche Arbeit iiber Fuchs noch gestreift wird, so weniger 
wegen ihres Gegenstandes. Fuchs' Versuch, in seinen beruhmten archivarischen 
Biichern historisch-materialistisch zu verfahren, ist iiber die bescheidenen Ergeb- 
nisse der Kautsky und Mehring schwerlich hinausgelangt. Bemerkenswert ist die 
Arbeit durch eingestreute Reflexionen iiber den Begriff der Geschichte, die (zum 
Teil wortlich) in den Geschichtsphilosophischen Thesen wiederkehren. Benjamins 
Beschaftigung mit diesem Thema beginnt friih und richtet sich von vornherein 
mehr aufs Materiale als aufs Formale und Definitorische. So bemangelt er, dafi es 
sich bei Kants kleinen Schriften »weniger um die Geschichte als um gewisse 
geschichtliche Konstellationen von ethischem Interesse« 278 handelt. Auf gleicher 
Linie liegt Adornos Hinweis, dafi Benjamin »den existential-ontologischen 
Geschichtsbegrifl« Heideggers als »blofies Destillat verwarf, aus dem der StofF 
der historischen Dialektik verdampft« 279 . Mit ihm jedoch mufi ein Denken sich 
abgeben, das einen »kunftigen, von Magie befreiten Weltzustand« 280 anvisiert. 
Es ist in jiingster Zeit wiederholt dariiber diskutiert worden, mit welchem Recht 
Benjamin als Marxist bezeichnet werden konne. Er selbst hat sich unmifiver- 
standlich dazu geaufiert. In einem Brief an Max Rychner versucht er, die 
marxistischen Gedankengange seiner spateren Arbeiten aus der Sache selbst, nicht 
aus angeeigneter Gesinnung, zu begriinden: »Nicht weil ich >Bekenner< der 
materialistischen >Weltanschauung< ware; sondern weil ich bestrebt bin, die 
Richtung meines Denkens auf diejenigen Gegenstande zu lenken, in denen je- 
weils die Wahrheit am dichtesten vorkommt. Und das sind heute nicht die 
>ewigen Ideen<, nicht die >zeitlosen Werte< «. Im weiteren bittet er Rychner, 
in ihm keinen »Vertreter des dialektischen Materialismus als eines Dogmas, son- 
dern einen Forscher zu sehen, dem die Haltung des Materialisten wissenschaft- 
lich und menschlich in alien uns bewegenden Dingen fruchtbarer scheint als die 
idealistische« 281 , 

Benjamin fesselt an der Marxschen Theorie der neue, allem blofien »Historis- 
mus« sich widersetzende Zugang zur Geschichte, wie er auch der judisch-mysti- 

277 Zu denken ware dabei an Benjamins Ansatze zu einer historischen Theorie der menschlichen 
Suineswahrnehmung und Wahrnehmungswelt. Cf. etwa 1. c, S. 372; 388 f.; 390; 394. 

278 In einem (vermutlich vom 23. 12. 1917 datierenden) Brief an Scholem. In: Benjamin, Brief e, 
Band 1, I.e., S. 161. 

279 Adorno, Prismen, Frankfurt am Main 1955, S. 286. 

280 Benjamin an Werner Kraft, Brief vom 28. 10. 1935, in: Benjamin, Briefe, Band 2, 1. c, S. 698. 

281 Brief vom 7.3.1931, in: 'Benjamin, Briefe, Band 2, I.e., S. 523; 524 (Hervorhebung von 
Benjamin). - Diese sehr bedachten Aufierungen decken sich weitgehend mit der von Horkheimers 
Kreis entwickelten Konzeption; sie zeigen, auf welche Schwierigkeiten die (inzwischen nicht mehr 
seltenen) Bemiihungen stofien miissen, Benjamins Denken in den Dienst parteikommunistischer 
Ideologic zu stellen. 



DIE »ZEITSCHRIFT FUR SOZIALFORSCHUNG« 59* 

schen Tradition nicht fremd ist. Ihr wufite sich der Freund Scholems und Blochs 
verbunden. - Die Arbeit iiber Fudis nun belegt an einem Brief des spaten 
Engels zur >>geschichtliche(n) Lage . . . des historischen Materialismus selbst« 282 
einen zentralen Impuls des Benjaminsdien Geschichtsdenkens. Bei Engels heifk 
es: »Es ist dieser Sdiein einer selbstandigen Geschichte der Staatsverfassungen, 
der Reditssysteme, der ideologischen Vorstellungen auf jedem Sondergebiet, der 
die meisten Leute vor allem blendet. Wenn Luther und Calvin die offizielle 
katholische Religion, wenn Hegel den Fichte und Kant, Rousseau indirekt mit 
seinem republikanisdien >Contrat social< den konstitutionellen Montesquieu 
>uberwindet<, so ist das ein Vorgang, der innerhalb der Theologie, der Phi- 
losophic, der Staatswissenschaft bleibt, eine Etappe in der Geschichte dieser Denk- 
gebiete darstellt und gar nicht aus dem Denkgebiet hinauskommt. Und seitdem 
die biirgerliche Illusion von der Ewigkeit und Letztinstanzlichkeit der kapita- 
listischen Produktion dazu gekommen, gilt ja sogar die Oberwindung der Mer- 
kantilisten durch die Physiokraten und A. Smith flir emen blofien Sieg des 
Gedankens; nicht fiir den Gedankenreflex veranderter okonomischer Tatsachen, 
sondern fiir die endlich errungene richtige Einsicht in stets und iiberall beste- 
hende tatsachliche Bedingungen« 283 . 

Benjamin konstatiert zunachst, dafi damit das »geistesgeschichtliche« Dogma 
einer reinen Immanenz ideeller Ablaufe zertriimmert ist; es geht nicht langer 
an, einzelne Kultursektoren abgelost von ihrer sozialen Wirkungsgeschichte zu 
behandeln, die ihrerseits vermittelt ist durch den jeweiligen Lebensprozeft der 
Gesellschaft. »Aber«, fiigt Benjamin dem sogleich hinzu, »die Sprengkraft dieser 
Gedanken ... reicht tiefer«; sie problematisiert aufs empfindlichste »die Ge- 
schlossenheit« der aufierokonomischen »Gebiete und ihrer Gebilde« 284 . Auf die 
Kunst angewandt, bedeutet strenger Materialismus, dafi ihr - bislang einheit- 
lich gedachter - Begriff briichig wird. Die Kunstwerke verlieren ihren 
ontologischen Status. Ihre Analyse schliefit fiir den historischen Dialektiker das 
genaue Studium ihrer Vor- und Nachgeschichte ein - »eine Nachgeschichte, 
kraft deren audi ihre Vorgeschichte als in standigem Wandel begriffen erkenn- 
bar wird« 285 . Beide wandern in die innerste Struktur der Werke ein; sie beleh- 
ren den dialektisch Forschenden dariiber, »wie ihre Funktion ihren Schopfer zu 
iiberdauern, seine Intentionen hinter sich zu lassen vermag; wie die Aufnahme 
durch seine Zeitgenossen ein Bestandteil der Wirkung ist, die das Kunstwerk 
heute auf uns selber hat, und wie die letztere auf der Begegnung nicht allein nut 
ihm, sondern mit der Geschichte beruht, die es bis auf unsere Tage hat kommen 
lassen « 286 . 

282 Benjamin, Edttard Fucks, der Sammler und der Htstoriker, in: Zeitschrift fur Sozialfor- 
schung, Jahrgang VI, 1937, Heft 2, S. 346. 

283 Engels an Mehring, Brief vom 14. 7. 1893, in: Marx/Engels, Ausgewdhlte Brief e s 1. c, S. 550. 

284 Benjamin, Eduard Fuchs, der Sammler und der Htstoriker, 1. c, S. 347. 
** Ibid. 

28 « Ibid. 



60* ALFRED SCHMIDT 

Am Anfang jeder wirklich dialektischen Untersuchung der Geschichte steht fiir 
Benjamin die »Beunruhigung« dariiber, dafi sie dem Betrachter zumutet, »die ge- 
lassene, kontemplative Haltung dem Gegenstand gegeniiber aufzugeben, um der 
kritischen Konstellation sich bewuik zu werden, in der gerade dieses Fragment 
der Vergangenheit mit gerade dieser Gegenwart sich befindet« 287 . - Es geht hier, 
wohlgemerkt, um ein Metaphysisches, nicht nur darum, in die Soziologie von 
Kunstwerken (wie dies Lowenthal in der Zeitschrift recht eindrucksvoll unter- 
nommen hat) deren Wirkungsgeschichte aufzunehmen. Wenn es in einem - 
von Benjamin erwahnten - Satz Gottfried Kellers heifit, die Wahrheit werde 
uns nicht davonlaufen, so ist der theoretische Ort markiert, an dem das 
»Geschichtsbild des Historismus . . . vom historischen Materialismus durchschla- 
gen wird. Denn es ist ein unwiederbringliches Bild der Vergangenheit, das mit 
jeder Gegenwart zu verschwinden droht, welche sich nicht als in ihm gemeint 
erkannte« 288 . Eine solche Gegenwart ist die ganze spatburgerliche Phase: eine 
Nachwelt, die sich ihrer grofien Vergangenheit schamt, deren Dokumente sie 
entweder verfalscht oder beseitigt. Der historische Materialist indessen fafk 
»geschichtliches Verstehen ... als ein Nachleben des Verstandenen auf, dessen 
Pulse bis in die Gegenwart spurbar sind« 28& . Ihm kommt Zukunft als unverwirk- 
lichte Moglichkeit auch aus der Vergangenheit entgegen. 

Wer Geschichte dialektisch darstellt, gibt auf, was Nietzsche »antiquarische 
Historie« genannt hat; er entschlagt sich aller fiir den Historismus charakte- 
ristischer Beschaulichkeit, des behaglichen Abschilderns der Fakten; er gibt das 
»epische Element der Geschichte« preis, ihre einleuchtende Linearitat, und zwar 
zugunsten einer »Konstruktion, deren Ort nicht die leere Zeit, sondern die be- 
stimmte Epoche, das bestimmte Leben, das bestimmte Werk bildet«. Benjamin 
rekurriert mit diesem Begriff der »Konstruktion« (der ganz wie der ihm ver- 
wandte der »Darstellung« bei Marx romantischer Philosophic entstammt) auf 
sein bedeutendes Buch iiber den Ursprung des deutschen Trauerspiels und notiert 
dabei, es sei deren Aufgabe, »das in der geschichtlichen Erfahrung ursprunglich 
uns Betreffende gegen die zusammengestoppelten Befunde des Tatsachlichen« 
abzuheben. Das bewerkstelligt sie so, dafi sie aus der »dinghaften >geschicht- 
lichen Kontinuitat< « die zu untersuchende »Epoche« herausbricht, aus ihr wie- 
derum »das Leben« und das »Werk aus dem Lebenswerk«. Zugleich stellt die 
Konstruktion den - nunmehr begriffenen - Zusammenhang wieder her; sie 
erreicht, »dafi im Werke das Lebenswerk, im Lebenswerk die Epoche und in der 
Epoche der Geschichtsverlauf aufbewahrt und aufgehoben ist« 2M . 

287 ibid. 

288 Ibid. 

28» Ibid., S. 348. 

290 Ibid. - Die von Benjamin als Beleg fiir seinen Konstruktion sbegriff aus dem Trauerspiel- 
Buch angefiihrte Stelle lautet: »Im nackten ofFenkundigen Bestand des Faktischen gibt das Ur- 
spriinglidie sich niemals zu erkennen, und einzig einer Doppeleinsicht steht seine Rhythmik 
offen. Sie...betrifft dessen Vor- und Nachgeschichte«. In: Benjamin, Schriften, Band 1, I.e., 
S. 162. - Cf. zum »Ursprung« als »historischer Kategorie« auch S. 161. 



DIE »ZEITSCHRIFT FUR SOZIALFORSCHUNG« 61* 

Im Gegensatz zum Historismus (wie zu seiner eigenen, platt-evolutionistischen 
Verfallsform) ist es dem historischen Materialismus nicht urn »das ewige Bild der 
Vergangenheit« zu tun, sondern darum, »eine jeweilige Erfahrung mit ihr« zu 
formulieren, »die einzig dasteht«. An die Stelle des blofien »Es-war-einmal des 
Historismus « tritt kritisdi »ein Bewufttsein der Gegenwart, welches das Kon- 
tinuum der Geschichte aufsprengt« 291 , um diese aus ihrer Verstricktheit in Natur 
zu erlosen. 

Das philosophisch Wahre ist fiir Benjamin, der sich audi in diesem Punkt mit 
Nietzsche beruhrt, nidit im zeitlos Allgemeinen aufzufinden, sondern nur im 
Spezifischen, Konkret-Geschichtlichen, worin der Theoretiker sich versenken 
muf5. Den Gedanken, daf5 »einzig das Geschichtliche die Gestalt des Absoluten 
abgebe«, hat Adorno geradezu als »Kanon« 292 der Benjaminschen Methode be- 
zeidmet. Diese besteht nicht darin, feststehende Begriffe durch historisches 
Material zu illustrieren. Vielmehr gilt Benjamins » desperate Anstrengung, aus 
dem Gefangnis des Kulturkonformismus auszubrechen, . . . Konstellationen des 
Geschichtlichen, die nicht auswechselbare Beispiele fiir Ideen bleiben, jedoch in 
ihrer Einzigkeit die Ideen als selber geschichtliche konstituieren« 293 . - Benja- 
mins Erwagungen zum Begriff der Geschichte diirften gerade heute auf das 
Interesse all derer stofien, die sich mit dem kargen Bescheid strukturalistischer 
Ideologen nicht abfinden wollen, daft die Menschheit dem Immer-Gleichen aus- 
geliefert bleibe. 

Last not least ist andeutungsweise auf die Beitrage der Zeitschrift zur poli- 
tischen Dkonomie und ihrer Kritik sowie zu volkswirtschaftlichen Einzelfragen 
einzugehen. Fiir sie gilt in besonderem Mafie, was eingangs zum Gesamtinhalt 
der Bande zu sagen war: das rein faktische Material ist grofienteils veraltet, und 
der Leser hat sich davor zu hiiten, damals begriindete Interpretationen unmit- 
telbar auf die Gegenwart zu iibertragen. Gleichwohl ist die systematische 
Bedeutung der okonomischen Studien fiir das die Zeitschrift tragende Konzept 
nicht gering zu veranschlagen. Sie bilden ein wesentliches Korrektiv der phi- 
losophisch-kulturwissenschaftlich orientierten Aufsatze; aus ihnen geht der (in 
heutigen Diskussionen oft genug stiefmiitterlich behandelte) okonomische Inhalt 
der von Horkheimer und seinen Freunden entworfenen Geschichtstheorie her- 
vor. 

Erortern wir kurz die Hauptgegenstande der Diskussion. - Auf wirtschafts- 
und sozialgeschichtlichem Gebiet sind die umfassenden und kenntnisreichen 
Arbeiten Wittfogels iiber China zu nennen, welche die gerade in der Gegen- 
wart methodisch wichtige Problematik der (von Marx unzulanglich bestimmten) 
»asiatischen Gesellschaftsformation« behandeln: The Foundations and Stages of 
Chinese Economic History (1935), der Bericht fiber eine grofiere Untersuchung 

201 Benjamin, Eduard Fuchs, der Sammler und der Historiker, 1. c, S. 348. 
292 Adorno, Prismen, I. c, S. 286. 
S" Ibid., S. 287. 



62* ALFRED SCHMIDT 

der sozialokonomischen Struktur Chinas (1938) und The Society of Prehistoric 
China (1939). - Ferner werden Fragen des sozialen Strukturwandels, der 
technologischen Arbeitslosigkeit, der marxistischen Krisentheorie und der Plan- 
wirtschaft diskutiert - Themen, die von den damaligen historischen Umstanden 
nahe genug gelegt wurden. Die namhaftesten Dkonomen der Zeitschrift waren 
Pollock und Grossmann, beide ausgewiesen durch beachtliche Publikationen des 
Instituts. Dieser hatte ein Buch liber Das Akkumulations- und Zusammen- 
bruchsgesetz des kapitalistischen Systems vorgelegt, jener die erste zusammen- 
fassende Darstellung iiber Die planwirtschaftlichen Versuche in der Sowjetunion 
(1917-1927) in deutscher Spradie. Anders als Grossmann argumentierte Pol- 
lock hinsichtlich der (damals von nicht wenigen vertretenen) These, der Kapi- 
talismus werde bald untergehen, weit vorsichtiger. Er nahm - wie sidi zeigen 
sollte, zu Redit - an, dafi es dem biirgerlichen Staatsapparat gelingen werde, 
audi um den Preis interventionistisdier, ja totalitarer Mafinahmen, die wirt- 
schaftlichen Schwierigkeiten zu meistern. Obwohl ihm 1932 in Westeuropa alle 
okonomisdien Voraussetzungen gegeben sdiienen, eine funktionsfahige Plan- 
wirtschaft zu verwirk lichen, betrachtete er deren politisdie Aussiditen als gering. 
Ihrn kam es darauf an, »alle Moglichkeiten einer solchen Wirtschaft zu iiberprii- 
fen und eine geschlossene Theorie aufzubauen, die einer kunftigen Wirtschafts- 
politik als Orientierungsmittel dienen konnte« 294 . - Von Pollock enthalt die 
Zeitschrift folgende Aufsatze: Die gegenwartige Lage des Kapitalismus und die 
Aussiditen einer planwirtschaftlichen Neuordnung (1932), Autarkic und Plan- 
wirtscbafi (gemeinsam mit Mandelbaum, unter dem Pseudonym Kurt Baumann, 
1933), die instruktive Arbeit Bemerkungen zur Wirtschaftskrise (1933), schliefl- 
lich die Studien zur Theorie des autoritaren Staates aus den Jahren 1940/41 
State Capitalism und Is National Socialism a New Order? - Von Grossmann 
seien genannt: Die Wert-Preis-Trans formation hei Marx und das Krisen- 
problem (1932), eine sich mit der wissensdiaftslogisch-erkenntnistheoretisdien 
Struktur des Kapitals beschaftigende, nodi immer lesenswerte Arbeit, sowie sein 
Diskussionsbeitrag Die gesellschaftlichen Grundlagen der mechanistischen Phi- 
losophic und die Manufaktur (1935) zu Borkenaus Buch Der Vhergang vom 
feudalen zum burgerlichen Weltbild, das ebenfalls aus der Arbeit des Instituts 
hervorgegangen war. 

Nicht zu vergessen sind die zahlreidien Beitrage, Literaturiiberblicke und Sam- 
mehrezensionen, in denen das internationale Schrifttum iiber neoliberale Theorie 
und die verschiedenen Spielarten von Planwirtschaft ebenso ausfuhrlich wie 
kritisch erortert wird. Zu nennen ware unter anderem der Bericht von Meyer 
iiber Engliscbe Liter atur zur Planwirtschaft (1933), der von Mandelbaum iiber 
Neue Literatur zur Planwirtschaft (1935), die sehr lesenswerte Gemeinsdiafts- 
arbeit von Mandelbaum und Meyer Zur Theorie der Planwirtschaft (1934), 
sdiliefilich der Meyersdie Aufsatz iiber Krisenpolitik und Planwirtschaft (1935). 

294 Pollock, Die gegenwartige Lage des Kapitalismus und die Attssichten einer planwirtschaft- 
lichen Neuordnung, in: Zeitschrift fur Sozialforschung, Jahrgang I, 1932, Doppelheft 1/2, S. 27. 



DIE »2EITSCHRIFT FUR SOZlALFORSCHUNG« 63* 

Der Leser ist gut beraten, sich den Besprechungsteil der Zeitschrift genauer 
anzusehen; nicht wenige Rezensionen haben den Rang kleiner Essays. Er enthalt 
nicht nur eine ausgezeidinete Obersicht uber die gesamte sozialwissenschaftliche 
und philosophische Diskussion der dreifiiger Jahre, sondern audi Quellen von 
hohem zeitgeschichtlich-politologischem Interesse. Unbeschadet ihrer wissen- 
schaftlichen Unerheblichkeit wurde in der Zeitschrift die fiir die Selbstinterpreta- 
tion des nationalsozialistischen Staates mafigebliche Literatur kritisch be- 
sprochen. Zur umfassenderen Analyse des Nationalsozialismus waren die Arbei- 
ten von Landsberg, Kirchheimer und Neumann heranzuziehen. Ebensowenig 
fehlt es an zusammenfassenden Berichten iiber die theoretischen Diskussionen in 
Sowjetrufiland wahrend jener Jahre. 



Dafi die in der Zeitschrift entwickelten Kategorien und Theoreme nicht unmittel- 
bar auf die gegenwartige Situation angewandt werden konnen, wurde betont. 
Imponierend bleibt bei alien heute erforderlichen Modifikationen und Korrek- 
turen die grofiartige Geschlossenheit, mit der hier eine kleine Gruppe streitbarer 
Intellektueller eine aus der besten europaischen Tradition hervorgegangene 
Theorie auf ihren Spezialgebieten anwandte, so dafi fiir den Leser ein Doku- 
ment von enzyklopadischem Reichtum entstand, das seinesgleichen sucht. Wem 
immer es heute um kritische Besinnung und Humanitat zu tun, ist, wird zu der 
Zeitschrift greifen. 



Zeitschrift fur 
Sozialforschung 



Herausgegeben vom 

Institut fur Sozialforschung Frankfurt a. M. 

Jahrgang i / 1932 




VERLAG VON C. L HIRSCHFELD / LEIPZIG 



Copyright 1932 by C. L. Hirschfeld Verlag, Leipzig 



INHALT DES I. JAHRGANGS 
I. Aufsatze. 

Seite 

Vorwort I 

FRANZ BORKENAU 

Zur Soziologic des mcchanistischen Weltbildes, 311 

ERICH FROMM 

ffber Methode und Aufgabe einer analytisehen Sozialpsychologie. 28 

ERICH FROMM 

Die psychoanalytische Charakterologic und ihre Bedeutung fiir 

die Sozialpsychologie 253 

HENRYK GROSSMANN 

Die Wert-Preis-Transformation bei Marx und das Krisen problem. 55 

JULIAN QUMPERZ 

Zur Soziologie des amerikanischen Parteiensystems. ..... 278 

MAX HORKHEIMER 

Bemerkungen uber Wissenschaft und Krise 1 

MAX HORKHEIMER 

Geschichte und Psychologic 125 

LEO LOWENTHAL 

Zur gesellschaftlichen Lage der Literatur. 85 

FRIEDRICH POLLOCK 

Die gegenwartige Lage des Kapitalismus und die Aussichten 

einer planwirtschaftlichen Neuordnung 8 

ANDRIES STERNHEIM 

Zum Problem der Freizeitgestaltung 336 

THEODOR WIESENGRUXD-ADORNO 

Zur gesellschaftlichen Lage der Musik 103, 356 



Inhalt des I. Jahrgangs 

Seiie 

II. Sammelbesprechungen. 

GERHARD MEYER 

Neucre Literatur iiber Planwirtschaft 379 



III. Besprechiingen. 



Philosophic: 

Baeumler (Hrsg.) s. u.: Handbuch der Philosophic 

Bounce ase, J., Philosophic do rimperialisme et science <Iu droit 

(Tazerout) 408 

Colin. Jonas, Wertwissenschaft. 2 Bde. (Sternberger) 400 

Groce, Benedetto. Tre saggi filosofici (Drci philosophisohe Essays) 

(Lerda-Olberg) . . . '." 407 

Dunkmann, Karl (Hrsg.) s. u.: Lehrbuch der Soziologie und Sozial- 

philosophic 
Frank, Philipp, Das Kausalgesetz und seine Grenzen (Korttch) . . 404 

Gogarten. Eriedrich, Politischo Ethik (Speier) . . . 404 

Gouhier, Henri, La vie d' August e Comte (Kojevnikojj ) 152 

Handbuoh der Philosophic 1 , hrsg. von Baeumler und Schroter. Abt. ill: 

Mensch und Charakter (Steinrath) 14H 

Jaspers, Karl, Philosophic. 3 Bde. (v. Aster) 401 

— Die geistige .Situation der Zoit (Strzelewicz) 140 

Lehrbueh der Soziologie und Sozialphilosophie. hrsg. vou Karl Dunk- 
mann (IVcstermann) 140 

Marck, Siegfried, Die Dialcktik in tier Philosophic der Gegenwart 

(Meyer) 151 

Ma reuse, Herbert. Hegels Ontologieimd die Gnmdlegungeiner Philo- 
sophic der Geschichtliehkeit (Wiesencjrvnd-Adorno) 401* 

Mehring. Franz, Zur Gesehichte der Philosophie. Gesammelte 

Schriften und Aufsiitze, hrsg. von August Thalheimer (Meyer) 411 
Nitzschkc, Heinz, Die Gesohichtsphilosophic Lorcnz von Steins 

(Neumann) 410 

Sauerland, Kurt. Dei* diulektisehe Materialismus ( W estermann ) . 152 
Schaxel, Julius, Das Wcltbild der Gegenwart und seine gesellsehatl - 

lichen Grundlagen (Korsch) 405 

Spann. Othmar, Gesohichtsphilosophie (tilernberyer) 403 

Spengler, Oswald . Der Mensch und die Technik ( Wiesengriwd- 

Adorno) 149 

Suranyi -Un ger T Theo, Gcschichte <ler Wirtschaftsphilosophie 

(Meyer) 411 

Tischleder, Peter s. u.: Weber, Heinrich, Handbuch der Sozialethik 
Weber, Heinrich und Peter Tischleder. Handbuch dor Sozial- 

ethik. Bd. I (Mert(ws) 408 

AUgemcine Soziologie: 

Alexander. Werner, Kainpf um Marx (Moldcnhan.cr) 417 

American Sociological Society s. u.: Organization of Research in the 
American Sociological Society 

Bogardus, Emory S., (Contemporary Sociology (Lorke) 420 

Brookings-Institution s. u.: Essays on Research in the Social Sciences 
Davy, Georges, Sociologies d'hier et d'aujourd'hui (Szende) . . 164 
Duncan. Hannibal Gerald. Backgrounds for Sociology (Lorke) . 422 
Duprat, G. L. (Hrsg.) s. u.: Griinder der Soziologie 
Endt, Piet, Sosiologie (Ster/iheim) 422 



Inhalt des I. Jahrgangs 

Seite 
Engels, Fried rich s. u,: Marx, Karl, Die heilige Familie 

— s. u.: Marx, Karl, Die deutsche Ideologie 

Essays on Research in the Social Sciences, hrsg. von der Brookings- 

Institution (Lorke) 162 

Eubank, Earle E., The Concepts of Sociology (Lorke) 420 

Fischer, Hugo, Karl Marx unci sein Verhaltnis zu Staat und Wirt- 

schaft (Moldenhauer) 417 

Freyer, Hans, Einleitung in die Soziologie (Winter) 157 

— Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft (Winter) 157 

Criinder der Soziologie. Eine Vortragsreihe unter Mitwirkung von 

G. L. Duprat u. a. (Borkenau) 412 

Handworterbuch der Soziologie, hrsg. von A. Vierkandt (O'ollub) . . 153 
Heider, Werner, Die Geschiehtslehre von Karl Marx (Milko) . . 161 
Kroner, Richard, Kulturphilosophische Grundlegung der Politik 

(Haselberg) 414 

Lenin, W. J., Uber den historischeii Materialismus (Korsch) , . , , 423 
Lubienski, Zbigniew, Die Grundlagen des ethisch-politischen 

Systems von Hobbes (Borkenau) 419 

Maclver, R. M., Society. Its Structure and Changes (Lorke) , . 420 
Marcuse, Herbert, Neue Quellen zur Grundlegung des historischen 

Materialismus. In: Die Gesellschaft, 9. Jg., Nr. 8 (W ester mann) 416 
Karl Marx/Friedrich Engels, Die heilige Famine und Schriften von 

Marx von Anfang 1844 bis Anfang 1845. Marx-Engels-Gesamt- 

ausgabe, I. Abt., Bd. 3 ( Westermann) 160 

— - Die deutsche Ideologie. Mmx-Engels-Gesamtausgabe, I. Abt., Bd. 5 

(Borkenau) . 416 

Marx, Karl, Der historische Materialismus. Die Friihschriften, hrsg. 

von S. Landshut und J. P. Mayer ( Westermann) 160 

Neurath, Otto, Empirische Soziologie (v. Aster) 159 

Organization of Research in the American Sociological Society (Lorke) 422 

Rice, Stuart A., Methods in Social Science (Lorke) 420 

RoB, E. A., Backgrounds of Sociology (Lorke) 16*3 

Schiitz, Alfred, Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt (Borkenau) 415 
Sorokin, Pitirim, Soziologische Theorien im 19. und 20. Jahrhundert 

(Salomon) 413 

Soziologie von heute. Ein Symposion der Zeitschrift fiir Volkerpsycho- 

logie und Soziologie, hrsg. von Richard Thurnwald (Winter) . 156 
Spahr, Earl and R. John Swenson, Methods and Status of Scientific 

Research (Lorke) 164 

Steinmetz, S. R., Inleiding tot de Sosiologie (Einleitung in die 

Soziologie) (Sternheim) 165 

Swenson, R. John s. u.: Spahr, Earl, Methods and Status of Scientific 

Research 
Thurnwald, Richard, Die menschliche Gesellschaft in ihren ethno- 

soziologischen Grundlagen. Bd. II (Vatter) 412 

— (Hrsg.) s. u-: Soziologie von heute 

Tonnies, Ferdinand, Einfiihrung in die Soziologie (Streller) . . 160 

Turgeon, Charles, Critique de la conception materialiste de I'histoire 

(Szende) 164 

Verhandlungen des siebenten deutschen Soziologentages vom 28, Sep- 
tember bis 1. Oktober 1930 in Berlin (Szende) 154 

Vierkandt, A. (Hrsg.) s. u.: Handworterbuch der Soziologie 

Psychologie : 

Behrendt, Richard, Politischer Aktivismus (Borkenau) 174 

Breysig, Kurt, Die Geschichte der Seele im Werdegang der Mensch- 

heit (v. Aster) ' 166 

Bumke, G. (Hrsg.) s. u.: Handworterbuch der psychischen Hygiene und 

der psychiatrischen Fiirsorge 



Inhalt des I. Jahrgangs 

Seite 

Dorer, Maria, Historische Grundlagen der Psychoanalyse (Fromm) 427 
Eulenburg, Franz, Phantasie und Wille des wirtschaftenden 

Menschen ( Drey f up) 171 

Fenichel, Otto, Hysterien und Zwangsneurosen (Landaiter) . . . 427 

— Perversionen, Psychosen, Charakterstorungen (Landauer) .... 427 

Folsom, J. K., Social Psychology (Liebmann) 170 

Franzen-Hellersberg, Lisbeth, Die jugendliche Arbeiterin. Ihre 

Arbeitsweise und Lebensform (Mennicke) 175 

Freud, Sigmund, Uber libidinose Typen. In: Internationale Zeit- 

schrift fxir Psychoanalyse. Bd. 17 (Landauer) . . < 168 

Fromm, Erich, Die Entwicklung des Christusdogmas (Borkenau) . 174 

Sir Galahad, Mutter und Amazonen (Fromm) 427 

Halbwachs, M., Les causes du suicide (Koyri) 173 

Handworterbuch der psychischen Hygiene und der psychiatrischen 

Fiirsorge, hrsg. von G. Bumke u. a. (Landauer) 168 

Jungs t, Hildegard, Die jugendliche Fabrikarbeiterin (Mennicke). 175 

Jung, C. G., Seelenprobleme der Gegenwart (Landauer) 167 

Kelchner, Mathilde, Schuld und Siihne im Urteil jugendlicher 

Arbeiterinnen (Mennicke) 175 

Kraus, Siegfried, Bedurfnis und Befriedigung (Westermann) . . . 429 

Kunkel, Fritz, Charakter, Liebe und Ehe (Fromm- Reichmann ) . . 426 

— Grundziige der politischen Charakterkunde (Fuchs) 177 

Lange-Eichbaum, W., Das Genieproblem (Landauer) 425 

Messer, August, Sozialethik (Landauer) 424 

Murphy, Gardener and Louis Barclay Murphy, Experimental 

Social Psychology (Lewin) 169 

Privat, Edmond, Le choc des patriotismes (Qrunberg) 179 

Rada,Margarete, Das reif ende Proletariermadchen (Mennicke) ... 175 
Romer, G. A., Die wissenschaftliche ErschlieCung der Innenwelt 

einer Personlichkeit (Landauer) 169 

Urbschat, Fritz, Das Seelenleben des kaufmannisch-tatigen Jugend- 

lichen (Wei&) 429 

Vergin, Fedor, Das unbewufite Europa (Fromm) 172 

Young, Kimball, Social Attitudes (Lorke) 171 

— Social Psychology (Liebmann) 428 

— Source Book of Social Psychology (Liebmann) 428 

Geschlchte: 

Serve, Helmut, Griechische Geschichte. I. Halfte (Mackauer) . . 436 

Bott, Alan, Our Fathers (Carls) 434 

Guerri, Domenico, La corrente populare nel Rinascimente (Die 

volkstumliche Strdxnung in der Renaissance) (Olberg) .... 437 
Hasebrock, Johann, Griechische Wirtschafts- und Gesellschaftsge- 

schichte bis zur Perserzeit (Mackauer) 436 

Hassinger, Hugo, Geographische Grundlagen der Geschichte 

(Mackauer) 439 

Heller, Otto, Der Untergang dea Judentums (Fromm) 438 

MacGee, John Edwin, A Crusade for Humanity (Rosenhaupt) . 433 
Karl Marx/Friedrich Engels, Briefwechsel. Marx-Engels-Gesamt- 

ausgabe. III. Abt., Bd. 4 (Oollub) 431 

Mehring, Franz, Zur deutschen Geschichte. Gesammelte Schriften 

und Aufsatze, hrsg. von Eduard Fuohs (Doppler) 430 

International Migrations. Vol. I: Statistics, Vol. II: Interpretations . . . 

ed. by Walter F. Willcox. . v 433 

Spiegel, Kathe, Kulturgeschichtliche Grundlagen der amerikanischen 

Revolution (Harnack) . * • 435 

Steinhausen, Georg, Deutsche Geistes- und Kulturgeschichte von 

1870 bis zur Gegenwart (Mackauer) 430 

Vogt, Joseph, Rdmische Geschichte. I. Halfte (Mackauer) . . 436 



Inhalt des I. Jahrgangs 

Seite 
Willcox, Walter F. (Hrsg.) s. u.: International Migrations 
Wittfogel, Karl August, Die naturlichen Grundlagen der Wirt- 
schaftsgeschichte. In: Archiv fur Sozialwissenschaft und Sozial- 
politik, Bd. 67, H. 4—6 (Petersen) 439 

Wolf, Julius, Romische Geschichte. II. Halfte (Mackauer) . . . 436 
Young, Pauline V., The Pilgrims of Russian Town (Lorke) . . . 432 

Soziale Beuegung und Sozialpolitik: 

Allgemeiner Freier Angestelltenbund s. u.: Was verbrauchen die An- 
gestellten ? 
Mein Arbeitstag ■ — Mein Wochenende. 150 Berichte von Textil- 

arbeiterinnen, hrsg. vom Text ilarbeiter verband (Speier) .... 191 
Lea aspects sociaux de la rationalisation. Bureau International du 

Travail, Etudes et Documents, Serie B, No. 18 (Stemheim) . 194 
Becker, August, Geschichte des religiosen und atheistischen Friih- 

sozialismus (Moldenhauer) 443 

Bernier,WilheIm, Die Lebenshaltung, Lohn- und Arbeitsverhaltnisse 

von 145 deutschen Landarbeit erf ami lien (Speier) 191 

Binyon, Gilbert Cli ve, The Christian Socialist Movement in England 

(Moldenhauer) 443 

Bloch, Kurt, tJber den Standort der Sozialpolitik (Croner) . . . 444 

Bougie, C.» Socialismes francais (Walter) . . . 440 

Brauer, Theodor, Sozialpolitik und Sozialreform (Streller). . . . 200 

— (Hrsg.) s. u. : Sozialrechtliches Jahrbuch 

Brentano, Lujo, Mein Leben im Kampf um die soziale Entwicklung 

Deutschlands (Neumark) 183 

Briigel, Fritz und Benedikt Kautsky, Der deutsche Sozialismus 

von Ludwig Gall bis Karl Marx ( Walter) 180 

Calkina, Clinch, Some Folks Won't Work (Weinberg) 198 

Case Studies of Unemployment. Compiled by the Unemployment 

Committee of the National Federation of Settlements (Weinberg) 198 
Deutscher Baugewerksbund s. u.: Die Lebenshaltung der Bauarbeiter 
D.H.V. (Deutschnationaler Handlungsgehilfen- Verband) s. u. : Die 

Gehaltslage der Kaufmannsgehilfen 
Director, Aaron s. u. : Douglas, Paul H., The Problem of Unemploy- 
ment 
Douglas, Paul H. and Aaron Director, The Problem of Unemploy- 
ment (Weinberg) 196 

Dubois, Florence, A Guide to Statistics of Social Welfare in New 

York City (Weinberg) 447 

Eibel, Hermann, Karl Meyer-Brodnitz und Ludwig Preller, 

Praxis des Arbeitsschutzes und der Gewerbehygiene (Croner) 202 
Employment Regularization in the United States of America. American 

Section International Chamber of Commerce (Weinberg) ... 197 
Ermers, Max, Victor Adler. Aufstieg und GroBe einer sozialistischen 

Partei (Walter) 442 

Fallada, Hans, Bauern, Bonzen und Bomben (Jaeger) 190 

Die Gehaltlage der Kaufmannsgehilfen. Eine Fragebogenerhebung des 

D.H.V. (Speier) 191 

Gewerkschaftsbund der Angestellten s. u.: Die wirtschaftliche und 

soziale Lage der Angestellten. 
Goitein, Irma, Probleme der Gesellschaft und des Staates bei Moses 

Hefi (Moldenhauer) 181 

Harnack, Arvid, Die vormarxistische Arbeiterbewegung in den 

Vereinigten Staaten (Walter) 184 

Heller, Fritz,^ Sozialpolitik und Reichsarbeitsgericht (Croner) . . 444 
Sozialrechtliches Jahrbuch, hrsg. von Theodor Brauer u. a. (Merterw) 445 
International Chamber of Commerce s. u. : Employment Regularization 

in the United States of America. 



Inhalt des I. Jahrgangs 

Seite 
Internationale Arbeitskonferenz. 16. Tagung. Bericht des Direktors 

(Albert Thomas) (Stemheim) 194 

Internationales Arbeitsamt s. u. : Les aspects sociaux de la rationali- 
sation. 
Internationales Arbeitsamt s. u.: Probleme der Arbeitslosigkeit im 

Jahre 1931. 
Internationales Arbeitsamt s. u. : Studien iiber die Beziehungen zwischen 
Arbeitgebern und Arbeitnehmern. 

Karsthans, Die Bauern marschieren (Jaeger) 190 

Kautsky, Benedikt s. u.: Briigel, Fritz, Der deutsche Sozialismus. 
Kuczynski, Jurgen und Marguerite, Die Lage des deutschen 

Industriearbeiters (WeifiJ 193 

Die wirtschaftliche und soziale Lage der Angestellten. Ergebnisse und 
Erkenntnisse aus der grofien sozialen Erhebung des Gewerk- 

schaftsbunds der Angestellten (Speier) 191 

Die Lebenshaltung der Bauarbeiter nach Wirtschaftsrechnungen aus 

dem Jahre 1929 (Speier) , 191 

Die Lebenshaltung des Landarbeiters. Die Wirtschaftsrechnungen von 
130 Landarbeiterfamilieri. Eine Erhebung des Reichsverbandes 

* landlicher Arbeitnehmer (Speier) 191 

Louis, Paul, Les idees essentielles du socialisme (Grunberg) .... 180 
Luetgebrune, Walt., NeupreuBens Bauernkrieg (Jaeger) .... 190 

Markham, S. F., A History of Socialism (Walter) 440 

Meyer, Hakon, Den politiske arbeiderbevegelse i Norge (Die politische 

Arbeiterbewegung in Norwegen) (Lange) 189 

Meyer-Brodnitz, Karl s. u.: Eibel, Hermann, Praxis des Arbeits- 
schutzes und der Gewerbehygiene. 

Mielcke, Karl, Deutscher Friihsozialismus (Moldenhauer) 181 

National Federation of Settlements s. u. : Case Studies of Unemploy- 
ment. 
Pipkin, CharlesW., Social Politics and Modern Democracies (Feinberg) 201 
Posse, Ernst H. t Der Marxismus in Frankreich 1871—1905 (Korsck) 186 
Preller, Ludwig s. u.: Eibel, Hermann, Praxis des Arbeitsschutzes 

und der Gewerbehygiene. 
Probleme der Arbeitslosigkeit im Jahre 1931. Reihe C, Nr. 16 der 

Studien und Ber ichte des Internationalen Arbeitsamts (Stemheim) 1 94 
Reichsverband landlicher Arbeitnehmer s. u.: Die Lebenshaltung des 
Landarbeiters. 

Richter, Lutz, Sozialversicherungsrecht (Croner) 202 

Rosenberg, Arthur, Geschichte des Bolschewismus von Marx bis zur 

Gegenwart (Walter) 441 

Rosen stock, Eugen, Arbeitsdienst — Heeresdienst ? (Blum) . . . . 446 
— und Carl Dietrich von Trotha, Das Arbeitslager (Menniche) . 446 
Saposs, David J., The Labour Movement in Post-War France (Har- 

nack) 188 

Schwarz, Georg, Kohlenpott (Dreyfufl) 194 

Stenbok-Fermor, Alexander, Deutschland von unten (Dreyfufi) 194 
Studien iiber die Beziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeit- 
nehmern. Internationales Arbeitsamt. Reihe A, No. 33 und 35 

(Stemheim) 443 

Suhr, Susanne, Die weiblichen Angestellten. Eine Umfrage des 

Zentralverbandes der Angestellten (Speier) . 191 

Textilarbeiterverband s. u. : Mein Arbeitstag — Mein Wochenende. 
Thomas, Albert s. u.: Internationale. Arbeitskonferenz. 16. Tagung. 

Bericht des Direktors. 
Tonnies, Georg Ove, Die Auflehnung der Nordmark-Bauern (Jaeger) 190 
Trotha, Carl Dietrich von s. u.: Rosenstock, Eugen, Das Arbeitslager 
Was verbrauchen die Angestellten? Ergebnisse der dreijahrigen 
Haushaltungsstatistik des Allgemeinen Freien Angestellten- 
bundes (Speier) . 191 



Inhalt des I. Jahrgangs 

Seite 
Westphalen, F. A., Die theoretischen Grundlagen der Sozialpolitik 

(Croner) , 444 

Weber, Adolf, Reden und Aufsatze (Burchardt) 199 

Wirz, PaulJ., Der revolutionare Syndikalismus in Frankreich ( Walter) 187 
Zen tralver band der Angestellten s. u.: Suhr, Susanne, Die weiblichen 

Angestellten. 

Spezielle Soziologie: 

Adamic, Louis, Dynamite. The Story of Class Violence in America 

(Hering) 219 

Ah r ens, Hermann, Untersuchungen zur Soziologie der Familie in 

systematischer Absicht (Pollock) 44S 

Arbeiten zur biologischen Grundlegung der Soziologie. Forscliuntren zur 
Volkerpsychologie und Soziologie. Bd. X, 1. u. 2. Halbbd. 

(Schaxel) 233 

Arnheim, Rudolf, Film als Kunst (Dvcyfufi) 227 

Aron, R. etA. Dandieu, Decadence de la nation franca ise (Tazerout) 461 
Ausschufl zur Untersuchung der Erzeugungs- und Absatzbedingungen 

der deutschen Industrie s. u.: Das deutsche Handwerk. 
Baumer, Gertrud, Die Frau im neuen Lebensraum (Streller) . . . 224 
Baum, Marie und Alix Wcsterkamp, Rhythmus des Familien- 

lebens (Streller) 224 

Becker, Heinrich (Hrsg.) s. u.: Handworterbuch des deutschen 

Volksbildungswesens. 
Beveridge, Sir William u. a., Changes in Family Life (Pollock) . 448 

Chase, Stuart, A New Deal (Pollock) '. . 458 

Dandieu, A. s. u.: Aron, R., Decadence de la nation franc a ise. 
Demokratie und Partei, hrsg. von Peter Richard Rohden (Seumann) 453 
Dinse, Robert, Das Freizeitleben der Groflstadtjugend (Speier) . . 462 

Dreiser, Theodore, Tragic America (Pollock) 458 

Ehrenburg, II j a, Die Traumfabrik (Dreyfufi) 227 

Festschrift fur Carl Griinberg zum 70. Geburtstag (Mandclbaum) . . 235 
Die soziale Frage und der Katholizismus, hrsg. von der Sektion fur 
Sozial- und Wirtschaftswissenschaft der G orresgesellscha ft 

(Mertens) 456 

Frank, Elisabeth, Fam i 1 ien verba It nisse ge.schiedener und ehe- 

verlassener Frauen (Pollock) 448 

Frazer, James George, Mensch, Gott und Unsterblichkeit (Leser) 231 

Freyer, Hans, Revolution von rechts (Burchardt) 215 

Fu lop -Miller, Rene, Die Phantasiemaschine (Dreyfufi) 227 

Geek, L. H. A., Die sozialen Betriebsverhaltnisse im Wandel der 

Zeit (Speier) 217 

Gegenwartsfragen aus tier allgemeinen Staatslehre und der Ver- 
fassungstheorie, hrsg. von Hans Gmelin und Otto Koellreuter 

(Haselberg) 207 

Geiger, Theodor, Die soziale Schichtung des deutschen Volkes 

(Flaskdmper) 447 

Das Gesicht der Demokratie, hrsg. von Edmund Schultz (Freund) 462 
Getzeny, Heinrich, Kapitalismus und Sozialismus im Lichte 
der neueren, insbesondere der katholischen Gesellschafts- 

lehre (Mertens) 457 

Glaeser, Ernst (Hrsg.) s. u.: Der Staat ohne Arbeitslose. 

Glotz, G., La cite grecque (Koyri) 210 

Gmelin, Hans (Hrsg.) s. u.: Gegenwartsfragen aus der allgemeinen 

Staatslehre. 
Gorres-Gesellschaft, Sektion fiir Sozial- und Wirtschaftswissen- 
schaft s. u. : Die soziale Frage und der Katholizismus. 
Groethuysen, Bern hard, Dialektik der Demokratie (Neumann) . 453 



Inhalt des I. Jahrgaugs 

Seite 
Grunberg, Carl s. u.: Festschrift fiir Carl Grunberg zum 70. Ge- 

burtstag. 
Das deutsche Handwerk. Bericht der 8. Arbeitsgruppe des III. Unter- 
ausschusses des Ausschusses zur Untersuchung der Erzeugungs- 
und Absatzbedingungen der deutschen Wirtschaft (Grunberg) . 223 
Handwdrterbuch des deutschen Volksbildungswesens, hrsg. von 

Heinrich Becker u. a. (Neumann) 464 

H an sen-Blancke, Dora, Die hauswirtschaf tliche tmd Mutter- 

schaftsleistung der Fabrikarbeiterin (Pollock) 448 

Heinrich, Walter, Das Standewesen mit besonderer Beriicksichtigung 

der Selbstverwaltung der Wirtschaft (Salomon) ....... 454 

Hermens, S. A., Demokratie und Kapitalismus (Lowenthal) .... 454 

20 Jahre Weltgeschichte in 700 Bildern mit einer EinLeitung von 

Friedrich Sieburg (Freund) . 462 

Johann, A. E., Amerika (Pollock) 458 

Jost, Walter, Das Sozialleben des industriellen Betriebs (Speier) . . 455 
Junger, Ernst, Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt (Speier) . . . 456 
Kahle, Margarete, Beziehungen weiblicher Fursorgezbglinge zur 

Familie (Streller) 224 

Kahn-Freund, Otto, Das soziale Ideal des Reichsarbeitsgerichts 

(Lorch) . 217 

Kleinberg, Alfred, Die europaische Kultur der Neuzeit (Wiesen- 

grund-Adorno) 211 

Konfessionen und Ehe. In: Religiose Besinnung, Jg. 4, H, 1 (Streller) 224 
Labriola, Arturo, Al di la del capitalismo e del socialismo (Jenseits 

von Kapitalismus und Sozialismus (Olberg) 220 

Le H6naff, Armand, Le pouvoir politique et les forces sociales 

(Griinberg) 209 

Loser, Paul, Entstehung und Verbreitung des Pfluges (Honigsheim) 232 

Li chtenberger, J. P., Divorce (Freudenthal ) 451 

Lindquist, Ruth, The Family in the Present Social Order (Streller) 224 
Lot, F., La fin du monde antique et les debuts du moyen-age (Koyri) 211 
Liidy, Elisabeth, Erwerbstatige Mutter in vaterlosen Familien 

(Pollock) 448 

Malinowski, Bronislav, Das Geschlechtsleben der Wilden in Nord- 

westmelanesien (Reich) 232 

Martens-Edelmann, Agnes, Die Zusammensetzung des Familien- 

einkommens (Streller) 224 

Martin, Alfred von, Soziologie der Renaissance (Salomon) .... 213 
Matthes, Karl, Die Rationalisierung der Wirtschaftsprozesse in 
ihren Auswirkungen auf den in der Wirtschaft tatigen Mensohen 

(Speier) 455 

Mehmke, R L., Der Unternehmer und seine Sendung (Dreyfufi) . . 221 
Meuter, Hanna, Heimlosigkeit und Familienleben (Pollock) .... 448 
Mitgau, Hermann, Familienforschung und Sozialwissenschaft 

(Streller) 224 

Mourik-Broekman, M. C. van, Erotiek en Huwelijksleven (Erotik 

und Ehe) (Stemheim) 452 

Miiller, Franz s. u.: Schwer, Wilhelm, Der deutsche Katholizismus. 

Neumann, Sigmund, Die deutschen Parteien (Speier) 452 

Niemeyer, Annemarie, Zur Struktur der Familie (Streller) . . . 224 

Petzet, Wolfgang, Verbotene Filme (Dreyfwfi) 227 

Reich Gottes — Marxismus — Nationalsozialismus, hrsg. von. Georg 

Wunsch (Mertens) 216 

Renier, J. G., The English: Are They Human? (Gerth) 460 

Rohden, Peter Richard (Hrsg.) s. u. : Demokratie und Partei. 
Rosenstock, Eugen, Die europaischen Revolutionen (Heider) . . 214 

Ruppin, Arthur, Soziologie der Juden (Mayer) . 461 

Salomon, Gottfried, Allgemeine Staatslehre (Szende) 205 



Inhalt des I. Jahrgangs 

Seite 

Schaidnagl, Ventur, Heimlose Manner (Pollock) 448 

Schaxel, Julius, Das biologische Individiuim. In: Erkenntnis, 

Bd. 1, H. 6 (Feinberg) 234 

Schmitt, Carl, Der Begriff des Politischen (Speier) 203 

— Der Huter der Verfassung (Korsch) 204 

Schultz, Edmund (Hrsg.) s. u.: Das Gesicht der Demokratie. 
Schwer, Wilhelm und Franz Miiller, Der deutsche Katholizismus 

im Zeitalter des KapitaKsmus (Mertens) 457 

Slotemaker de Bruine, J. R., Vakbeweging en Wereldbeschouving 

(Gewerkschaftsbewegung und Weltanschauung) (Sternkeim) . 218 
Der Staat ohne Arbeitslose, hrsg. von Ernst Glaeser und F. C. Weiskopf 

(Freund) 462 

Thurnwald, Richard, Die menschliehe Gesellschaft in ihren ethno- 

soziologischen Grundlagen. Bd. I (Vatter) 229 

Tyler, Ralph W. s. u.: Waples, Douglas, What People Want to 

Read about. 
Wagner, Hermann, Der jugendliche Industriearbeiter und die 

Industriefamilie (Streller) 224 

Waples, Douglas and Ralph W. Tyler, What People Want to Read 

about (Waas) 228 

Westerkamp, Alix s. u.: Baum, Marie, Rhythmusdes Familienlebens. 

Wildenhayn, F., Die Auflosung der Familie (Streller) 224 

Winthuis, J., Einfiihrung in die Vorstellnngswelt primitiver Volker 

(Leser) 230 

Wunsch, Georg (Hrsg.) s. u. : Reich Gottes — Marxismus — National- 

sozialismus. 
Young, Donald, The Modern American Family. In: The Annals of the 

American Academy of Political and Social Science. Vol. 160, 

March (Pollock) 448 

Ziegler, Heinz O., Die moderne Nation (Salomon) 206 

Okonomie: 

Allgemeiner Freier Angestelltenbund s. u.: Material fur ein Wirtschafts- 

programm der Freien Gewerkschaften. 
American Academy of Political and Social Science s. u.; National and 

World Planning. 
American Economic Association s. u.: Papers and Proceedings of the 

forty-fourth Annual Meeting of the American Economic Asso- 
ciation. 

Beard, Charles A., America Faces the Future (Meyer) 382 

Braeutigam, Harald, Wirtschaftssystem des Nationalsozialismus 

(Meyer) * 389 

Dobretsberger, Josef, Freie oder gebundene Wirtschaft (Meyer) . 400 
Donham,WallaceBrett, Business Looks at the Unforeseen (Meyer) 3 84 
Economie dirigee. In: Notre temps, 6. annee, 3. serie, No. 154/155 

(Meyer) 386 

Eschraann, Ernst Wilhelm, Ubergang zur Gesamtwirtschaft. In: 

Die Tat, 23. Jg., Heft 6 (Meyer) 390 

A Four-Year Presidential Plan 1932 — 36. Prepared by the League for 

Independant Political Action. In : The Nation, Vol. 134, No. 3476, 

Sect. 2 (Meyer) 383 

Fried, Ferdinand, Der Umbau der Wirtschaft. In: Die Tat, 24. Jg., 

H. 6 (Meyer) 390 

.Frieder, Otto, Der Weg zur sozialistischen PI an wirtschaft (Meyer) . 391 
Gottl-Ottilienfeld, Friedrich von, Der Mythos der Planwirtschaft 

(Meyer) 399 

Ha an, Hugo, American Planning in the Words of its Promoters 

(Meyer) 381 



Inhalt des I. Jahrgangs 

Spite 
Halm, Georg (Hrsg.) s. u.: Pohle, Ludwig, Kapitalismus und Sozialis- 

mus. 
Hansen, Alvin Harvey, Economic Stabilization in an Unbalanced 

World (Meyer) . 384 

Heimann, Eduard, Sozialistische Wirtschafts- und Arbeitsordnung 

(Meyer) 395 

Hermberg, Paul, Planwirtschaft. In: Die Arbeit, 9. Jg., Heft 4, 6, 8, 

10 (Meyer) 398 

Hoffmann, Walther, Stadicn und Typen der Industrialisierung 

(Mandelbaum) 242 

Statistisches Jahrbuch fiir das Deutsche Reich 1931 (Neumark) . . . 249 
International Industrial Relations Association s. u.: World Social 

Economic Planning. 
Internationale Arbeitskonferenz, 16. Tagung. Bericht des Direktors 

(Albert Thomas,) (Meyer J 385 

Der internationale Kapitalismus und die Krise. Festschrift fur Julius 

Wolf zum 20. April 1932 (Mandelbaum) 240 

Klein, Georg, System eines idealistischen Sozialismus (Meyer) . , . 369 

Korsch, Karl s. u.: Marx, Karl, Das KapitaL 

Laidler, Harry W., Concentration of Control in American Industry 

(Adler) ". 244 

Landauer, Carl, Planwirtschaft und Verkehrswirtschaft (Meyer) . 394 
Laurat, Lucien, Economie planeecontre economie enchainee (Meyer) 387 
League of Independant Political Action s. u.: A Four-Year Presidential 

Plan 1932—36. 
Lederer, Emil, Aufrifi dor okonomischen Theorie (Burchardt) . . 23<> 

— Technischer Fortschritt und Arbeitslosigkeit (Mandelbaum) . . . 237 

— Die Giiterverteilung als Problem des Sozialismus. In: Die Giiter- 

verteilung in der Gesamtwirtschaft. Drei Vortrago . . . (Meyer) 392 

— Planwirtschaft (Meyer) 391 

Leichter, Otto, Kapitalismus und Sozialismus in der Wirtschafts - 

politik. In: Festschrift fiir Carl Griinberg zum 70. Ceburtstag 
(Meyer) 392 

— Die Sprengung des Kapitalismus (Meyer) 392 

Long-Range Planning for the Regularization of Industry, In: The New 

Republic, Vol. 69, No. 893, Part 2 (Meyer) 382 

Lorwin, Lewis, The Problem of Economic Planning. (Materia lien des 

World Social Economic Congress) (Meyer) 381 

Man, Hendrik de, Reflexions sur reconomie dirigce (Meyer), . . 387 
Marx, Karl, Das Kapital, hrsg. von Karl Korsch (Westermann) . 241 
Material fiir ein Wirtschaftsprogramm der freien Gewerkschaften. 

2. Afabundesausschufi-Sitzung (Meyer) 393 

Mendelsohn, Kurt, Kapitalistischcs Wirtschaftschaos oder sozia- 
listische Planwirtschaft ? (Meyer) 391 

Millner, Frederic, Economic Evolution in England (Burchardt) . . . 248 
Mises, Ludwig, Die Gemeinwirtschaft. 2. umgearb. Aufl. (Meyer) . 399 

— (Hrsg.) s. u.: Probleme der Wertlehre. 

Mitchell, Wesley C, Der Konjunkturzyklus (Burchardt) .... 239 
Morandi,Rodolfo, Storia della grande industria in Italia (Geschichte 

der Grofiindustrie in Italien) (Treves) 249 

National Progressive Conference s. u. : Long- Range Planning for the 

Regularization of Industry. 
National and World Planning, ed. by E. M. Patterson. In: The Annals 

of the American Academy of Political and Social Science. 

Vol. 162 (Meyer) 383 

Papers and Proceedings of the Forty-fourth Annual Meeting of the 

American Economic Association. In: The American Economic 

Review, Vol. 22, No. 1, Suppl. (Meyer) 383 

Patterson, E. M. (Hrsg.) s. u.: National and World Planning. 



Inhalt des I. Jahrgangs 

Seite 

I' erson, H. S., Scientific Management as a Philosophy and Technique of 
Progressive Industrial Stabilization. (Materialien des World 
Social Economic Congress) (Meyer) 381 

Pohle, Ludwig, Kapitalismus und Sozialismus. 4., vollig neugest. u. 
wesentl. erw. Aufl., a. d. Nachl. hrsg., bearb. u. erg. von Georg 
Halm (Meyer) 399 

Pollock, Friedrich, Die gegenwiirtige Lage des Kapitalismus und die 
Aussichten einer planwirtschaftlichen Neuordnung. In: Zeit- 
schrift fur Sozialforschung, Jg. 1, Heft 1/2 (Meyer) .... 397 

— Sozialismus und Landwirtschaft. In: Festschrift fiir Carl Griinberg 

zum 70. Geburtstag (Meyer) 397 

Probleme der Wertlehre, hrsg. von Ludwig Mises und Arthur Spiethoff. 

Schriften des Vereins fiir Sozialpolitik, 183, 1 (Mandelbaum) . 239 

Resultats et possibility de l'economie dirigee. In: Journal de Com- 
merce, 14. Jahrgang, Nr. 2229 (Meyer) 386 

Ritschl,Hans, Gemeinwirtschaft und kapitalist ische Marktwirtschaft 

(Neiimark) 247 

Schiff, Walter, Die Planwirtschaft und ihre okonomisclien Haupt- 

probleme (Meyer) 396 

Schriften des Vereins fiir Sozialpolitik, 183, 1 s. u.: Probleme der Wert- 
lehre. 

Schroder. Paul, Die Uborwindung der Wirtschaftskrise durch den 

Plankapitalismus (Meyer) 388 

Slichter, Sumner H M The Limitations of Planning (Meyer) . . . 384 

Sombart, Werner, Die Zukunft des Kapitalismus (Meyer) , . . 388 

Soule, George, A Planned Society (Meyer) 380 

The New Survey of London Life and Labour, Vol. 1. 2 ( Klingendcr ) . 243 

Thomas, Albert s. u.: Internationale Arbeitskonferenz. Bericht des 
Direktors. 

Tisch, Klare, Wirtschaftsrechnung und Verteilung im zentralistiseh 

organisierten sozialistisohen Gemeinwesen (Meyer) 398 

Umbau der Wirtschaft. Die Forderungen der Gewerkschaften (Meyer) 393 

Ungern- Sternberg, Roderich von, Die Planting als Ordnungsprin- 

zip der deutsehen Indus triewirtschaft (Meyer) 388 

Wachter, Planung, Fiihrung, Ordnung (Meyer) 388 

Wagemann, Ernst, Struktur und Rhythmus der Welt wirtschaft 

(Ritzmann) '- 237 

When We Choose to Plan. In: Survev Graphic. Vol. 20, No. 6 (Meyer) 383 

Wibaut, F. M., Do Redding (Die Rettung) (Meyer) 386 

Wolf, Julius s. u.: Der internationale Kapitalismus und die Kri-se. 

Wood, Louis Aubrey. Union Management Cooperation on the 

Railroads (Chudleigh) 246 

World Planning. Supplement to the Week-end Review, August 22nd, 

1932 (Meyer) 385 

World Social Economic Planning. International Industrial Relations 

Institute (Meyer) 385 

Belletrlstik: 

Britton, Lionel, Hunger and Love (Asch) 250 

Ehrhardt, Justus. StraBcn ohne Ende (Seine) 251 

Frank, Leonhard, Von drei Millionen Drei (Carte) 252 

Regor, Erik, Union der festen Hand (Carls) . 252 



Verzeichnis der rezensierten Autoren. 



Adamic, Louis 219 

Ahrens, Hermann 448 

Alexander, Werner 417 

Allgemeiner Deutscher Gewerkschaftsbund 

393 
Allgemeiner Freier Angestelltenbund 191, 

393 
American Academy of Political and Social 

Science 383 
American Economic Association 383 
American Sociological Society 422 
Arnheim, Rudolf 227 
Aron, R. 461 
Ausschuss zur Untersuchung der Erzeu- 

gungs- und Absatzbedingungen der 

deutschen Industrie 223 

Baumer, Gertrud 224 
Baeumler (Hrsg.) 148 
Baum, Marie 224 
Beard, Charles A. 382 
Becker, August 443 
Becker, Heinrich (Hrsg.) 464 
Behrendt, Richard 174 
Bernier, Wilhelm 191 
Berve, Helmut 436 
Beveridge, Sir William 448 
Binyon, Gilbert Clive 443 
Bloch, Kui-t 444 
Bogardus, Emory S. 420 
Bonnecase, J. 408 
Bott, Alan 434 
Bougie, C. 440 
Brae uti gam, Harald 389 
Brauer, Theodor 200 
- (Hrsg.) 445 
Brentano, Lujo 183 
Breysig, Kurt 166 
Britton, Lionel 250 
Brookings-Institution 163 
Briigel, Fritz 180 
Bumke, G. (Hrsg.) 166 
Bureau International du Travail s. Inter- 
nationales Arbeitsamt 

Calkins, Clinch 198 
Chase, Stuart 458 
Conn, Jonas 406 
Croce, Benedetto 407 

Dandieu, A. 461 

Davy, Georges 164 

Deutsche Gesellschaft fur 8ozioiogie 154 

Deutscher Baugewerksbund 191 

DHV. (Deutschnationaler Haudlungsge- 

hilfenverband) 191 
Director, Aaron 196 
Dinse, Robert 462 



Dobretsberger, Josef 400 
Donham, Wallace Brett 384 
Dorer, Maria 427 
Douglas, Paul H. 196 
Dreiser, Theodore 448 
Dubois, Florence 447 
Duncan, Hannibal Gerald 422 
Dunkmann, Karl (Hrsg.) 146 
Duprat, G. L. 412 

Ehrenburg, Ilja 227 

Ehrhardt, Justus 251 

Eibel, Hermann 202 

Endt, Piet 422 

Engels, Friedrich 160, 416, 431 

Ermers, Max 442 

Escbmann, Ernst Wilhelm 390 

Eubank, Earle E. 420 

Eulenburg, Franz 171 

Fallada, Hans 190 

Fenichel, Otto 427 

Fischer, Hugo 417 

Folsom, J. K. 170 

Frank, Elisabeth 448 

Frank, Leonhard 252 

Frank, Philipp 404 

Franzen-HeUersberg, Lisbeth 175 

Frazer, James George 231 

Freud, Sigmund 168 

Freyer, Hans 157, 215 

Fried, Ferdinand 390 

Frieder, Otto 391 

Fromm, Erich 174 

Ftilop-Miller, Rene 227 

Sir Galahad 427 

Geek, L. H. A. 217 

Geiger, Theodor 447 

Getzeny, Heinrich 457 

Gewerkschaftsbund der Angestellten 191 

Glaeser, Ernst (Hrsg.) 462 

Glotz, G. 210 

Gmelin, Hans (Hrsg.) 207 

Gogarten, Friedrich 404 

Goitein, Irma 181 

Gorresgesellschaft, Sektion fur Sozial- 

und Wirtschaftswissenschaften 456 
Gottl-Ottilienfeld, Friedrich von 399 
Gouhier, Henry 152 
Groethuysen, Bernhard 453 
Grunberg, Carl (Festschrift) 235 
Guerri, Domenico 437 

Haan, Hugo 381 
Halbwachs, M. 173 
Halm, Georg (Hrsg.) 399 
Hansen, Alvin Harvey 384 
Hansen-Blancke, Dora 448 



Verzeichnis der rezensierten Autoren 



Harnack, Arvid 184 
Hasebrock, Johann 436 
Hassinger, Hugo 439 
Heider, Werner 161 
Heimann, Eduard 395 
Heinrich, Walter 454 
Heller, Fritz 444 
Heller, Otto 438 
Hermberg, Paul 398 
Hermens, F. A. 454 
Hoffmann, Walther 242 

International Chamber of Commerce 197 
International Industrial Relations Asso- 
ciation 385 
Internationales Arbeitsamt 194, 385, 443 

Jaspers 146, 401 
Johann, A. E. 458 
Jost, Walter 455 
Journal de Commerce 386 
Jiinger, Ernst 456 
Jiingst, Hildegard 175 
Jung, C. G. 167 

Kahle, Margarete 224 
Kahn-Freund, Otto 217 
Karsthans 190 
Kautsky, Benedikt 180 
Kelchner, Mathilde 175 
Klein, Georg 396 
Kleinberg, Alfred 211 
Korsch, Karl 241 
Kraus, Siegfried 429 
Kroner, Richard 414 
Kuczynski, Jiirgen 193 
— Marguerite 193 
Kunkel, Fritz 177, 426 

Labriola, Arturo 226 
Laidler, Harry W. 244 
Landauer, Carl 394 
Lange-Eichbaum, W. 425 
Laurat, Lucien 387 

League of Independant Political Action 383 
Lederer, Emil 236, 237, 391, 392 
Le Henaff, Armand 209 
Leichter, Otto 392 
Lenin, W. J. 423 
Leser, Paul 232 
Lichtenberger, J. P. 451 
Lindquist, Ruth 224 

London 8chool of Economics and Politi- 
cal Science 234 
Lorwin, Lewis 381 
Lot, F. 211 
Louis. Paul 180 
Lubienski, Zbigniew 419 
Ludy, Elisabeth 448 
Luetgebrune, Walt. 190 

McGee, John Edwin 433 
Maclver, R. M. 420 
Malinowski, Bronislaw 232 
Man, Hendrik de 387 
Marck, Siegfried 151 
Marcuse, Herbert 409, 416 
Markham, S. F. 440 
Martens-Ed elmann, Agnes 224 
Martin, Alfred von 213 



Marx, Karl 160, 241, 416, 431 
Matthes, Karl 455 
Mehmke, R. L. 221 
Mehring, Franz 411, 430 
Mendelsohn, Kurt 391 
Messer, August 424 
Meuter, Hanna 448 
Meyer, Hakon 189 
Meyer-Brodnitz, Karl 202 
Mielcke, Karl 181 
Millner, Frederic 248 
Mises, Ludwig 399 

— (Hrsg.) 239 
Mitchell, Wesley C. 239 
Mitgau, Hermann 224 
Morandi, Rodolfo 249 

Mourik Broekman, M. C. van 452 
Miiller, Franz 457 
Murphy, Gardener 169 

— Louis Barclay 169 

National Federation of Settlements 198 
National Progressive Conference 382 
Neumann, Sigmund 452 
Neurath, Otto 159 
The New Republic 382 
Niemeyer, Annemarie 224 
Nitzschke, Heinz 410 
Notre temps 386 

Patterson j E. M. (Hrsg.) 383 
Person, H. 8. 381 
Petzet, Wolfgang 227 
Pipkin, Charles W. 201 
Pohle, Ludwig 399 
Pollock, Friedrich 397 
Posse, Ernst H. 186 
Preller, Ludwig 202 
Privat, Edmond 179 

Kada, Margarete 175 

Reger, Erik 252 

Refigiose Besinnung 224 

Reicnsverband landKcher Arbeitnehmer 191 

Renier, J. G. 460 

Rice, Stuart A. 420 

Richter, Lutz 202 

Ritschl, Hans 248 

Romer, G. A. 169 

Rohden, Peter Richard (Hrsg.) 453 

Rosenberg, Arthur 441 

Rosenstock, Eugen 214. 446 

Ross, E. A. 163 

Ruppin, Arthur 461 

Salomon, Gottfried 205 
Sappos, David J. 188 
Sauerland, Kurt 152 
Schaidnagl, Ventur 448 
Schaxel, Julius 234, 405 
Schiff. Walter 396 
Schmitt, Carl 203, 204 
Schroder, Paul 388 
Schutz, Alfred 415 
Schultz, Edmund (Hrsg.) 462 
Schwarz, Georg 194 
Schwer, Wilhelm 457 
Sieburg, Friedrich 462 
Stichter, 8umner H, 384 
Slotemaker de Bruine, J. R. 218 



Verzeichnis der rezensierten Autoren 



Sombart, Werner 388 
Sorokin, Pitirim 413 
Sonle, George 380 
Spahr, Earl 164 
Spann, Othmar 403 
Spengler. Oswald 149 
8piegel. Kathe 435 
Statistisches Reichsamt 249 
Steinhausen. Georg 430 
Steinmetz, S. R. 165 
Stenbok-Fermor, Alexander 194 
Sulir, 8usanne 191 
Suranyi-Unfrer, Theo 411 
Survey Graphic 383 
Swenson, R. John 164 

Textilarbeiter-Verband 191 
Thomas, Albert 194, 385 
Thurnwald. Richard 229. 412 
— (Hrsg.) 156, 233 
Tisch, Klare 398 
Tischleder. Peter 408 
Tonnies, Ferdinand 160 
Tonnies, Georg Ove 190 
Trotha, Carl Dietrich von 446 
Turgeon, Charles 164 
Tyler, Ralph W. 228 

Ungern-Sternberg, Rod^rich von 388 
Urbschat, Fritz 429 



Vergin. Fedor 172 
Verein fiir Sozialpolitik 239 ' 
Vierkandt, A. (Hrsg.) 153 
Vogt, Joseph 436 

Wachter 388 
Wagemann, Ernst 237 
Wagner, Hermann 224 
Waples, Douglas 228 
Westphalen, F. A. 444 
Weber, Adolf 199 
Weber, Heinrich 408 
Week-End Review 385 
Westerkamp, Alix 224 
Wibaut, F. M. 386 
Wildenhavn. F. 224 
Willcox 433 
Winthuis, J. 230 
Wirz, Paul J. 187 
Wittfogel, Karl August 439 
Wolf, Julius (Festschrift) 240 

— Julius 436 

Wood, Louis Aubrey 246 
Wunsch, Georg (Hrsg.) 216 

Young, Donald 448 

— Kimball 171, 428 

— Pauline V. 432 

Zentralverband der Angestellten 224 
Ziegler, Heinz O. 205 



Zeltschrift 

fttr 

Sozialforschung 

Herausgegeben vom 

INSTITUT FUR SOZIALFORSCHUNG FRANKFURT/M. 



Jahrgang I 1932 DoppelheH 1/2 

VERLAG VON C L. HIRSCHFELD / LEIPZIG 



INHALT. 
I. Aufsatze. 

Seite 

Vorwort I 

MAX HORKHEIMER 

Bemerkungcn iiber Wissenschaft und Krise 1 

FRIEDRICH POLLOCK 

Die gegenwartige Lage des Eapitalismus und die Aussichten 

einer planwirtschaftlichen Neuordnung. . . 8 

ERICH FROMM 

tlber Methode und Aufgabe einer analytischen Sozialpsychologie. 28 

HENRYK GROSSMAN N 

Die Wert-Preis-Transformation bei Marx und das Krisenproblem. 55 

LEO LdWENTHAL 

Zur geseUschaf tlichen Lage der Literatur 85 

THEODOR WIESENGRUND-ADORNO 

Zur gesellschaftlichen Lage der Musik 103 

MAX HORKHEIMER 

Geschichte und Psychologie 125 



II. Besprechungen. 

Philosophic: 

Karl Jaspers, Die geistige Situation der Zeit (Strzelewicz) . . . 146 
Lehrbuch der Soziologie und Sozialphilosophie, hrsg. v. Karl Dunk- 

mann (Westermann) . . - 146 

Handbuch der Philosophie, hrsg. v. Baeumler und Schroter, Abt. Ill: 

Mensch und Charakter (Steinrath) ,. 143 

Oswald Spengler, Der Mensch und die Technik. Beitrag zu eindx 

Philosophie des Lebens (Wiesengrund-Adorno) 149 

SiegfriedMarck, Die Dialektik in d. Philosophie d. Gegenwart (Meyer) 151 

Kurt Sauerland, Der dialektische Materialismus (Westermann) . . 152 

Henry Gouhier, La vie d'Auguste Comte (Kojevnikoff) 152 

Allgemeine Soziologie: 

Handworterbuch der Soziologie, hrsg. v. A. Vierkandt u. a. (Gollub) . 153 
Verhandlungen des Siebenten deutschen Soziologentages vom 28. Sept. 

bis 1. Okt. 1930 in Berlin (Szende) . 154 

Soziologie von heute. Ein Symposion der Zeitschrift fiir Volkerpsycho- 

logie und Soziologie, hrsg. v. Richard Thurnwald (Winter) . . 156 

Fortsetzunff des Inhaltsverzeichnisses atti Schluss des lleftes. 



Vorwort. 

Das Wort ,, Sozialforschung" beansprucht nicht, auf der Land- 
karte der Wissenschaften, die heute ohnehin sehr fragwiirdig er- 
scheint, neue Grenzlinien einzuzeichnen. Die Untersuchungen auf 
den verschiedensten Sachgebieten und Abstraktionsebenen, die es 
bier bedeutet, werden durch die Absicht zusammengehalten, daB sie 
die Theorie der gegenwartigen Gesellschaft als ganzer fGrdern sollen. 
Dieses vereinigende Prinzip, nach dem die Einzeluntersuchungeii bei 
unbedingter empirischer Strenge doch imHinblick auf ein theoretisches 
Zentralproblem zu fiihren sind, unterscheidet die Sozialforschung, 
der die Zeitschrift dienen mochte, ebenso von blofier Tatsachen- 
beschreibung wie von empiriefremder Konstruktion. Es erstrebt Er- 
kenntnis des gesamtgesellscbaftlichen Verlaufs und setzt daher voraus, 
daB unter der chaotischen Oberflache der Ereignisse eine dem Be- 
griff zugangliche Struktur wirkender Machte zu erkennen sei. Ge- 
schichte gilt in der Sozialforschung nicht als die Erscheinung blofier 
Willkiir, sondern als von Gesetzen beherrschte Dynamik, ihre Er- 
kenntnis ist daher Wissenschaft. Diese hangt freilich in besonderer 
Weise von der Entwicklung anderer Disziplinen ab. Um ihr Ziel, 
die Vorgange des Gesellschaftslebens nach dem Stand der jeweils 
mCglichen Einsicht zu begreifen, erreichen zu kOnnen, muB die Sozial- 
forschung eine Reihe von Fachwissenschaften auf ihr Problem zu 
konzentrieren und fur ihre Zwecke auszuwerten trachten. 

Die Zeitschrift versucht, an der Erfullung dieser Aufgabe mit- 
zuwirken. Sie zieht die Faktoren, die fur das Zusammenleben der 
Menschen in der Gegenwart bestimmend sind, seien sie okonomischer, 
psychischer, sozialer Natur, in ihren Arbeitskreis. Indem sie dabei 
an die vorlaufigen Ergebnisse der Einzeldisziplinen ankniipft, unter- 
scheidet sie sich von der philosophischen Betrachtung unter anderem 
dadurch, daB sie auch Gedanken fur ihre Zwecke fruchtbar zu machen 
sucht, die logisch gesehen noch unaufgehellte Probleme in sich ent- 
halten mogen; sie ist prinzipiell von der UnabschlieBbarkeit der 



II Vorwort 

Erkenntnis iiberzeugt. Doch fallt die Behandlung sogenannter welt- 
anschaulicher undphilosophischerFragendamitkeineswegs aus ihrem 
Bereich, denn nicht die Zugehorigkeit zu einem bestimmten Each, 
sondern die Wichtigkeit fur die Theorie der Gesellschaft ist bei der 
Wahl ihrer Gegenstande bestimmend-. 

Mit der Soziologie als Fachwissenschaft fallt die Sozialforschung 
deshalb nicht zusammen, weil sie zwar wie diese auf das Problem 
der Gesellschaft abzielt, aber ihre Forschungsgegenstande auch auf 
nichtsoziologischen Gebieten findet. Doch entspricht das, was die 
Soziologen im Interesse ihrer Wissenschaft auf Okonomischem, 
psychologischem, historischem Gebiet selbst geleistet oder angeregt 
haben, durchaus dem hier gemeinten Begriff. Bei der Verwandt- 
schaft zwischen der Soziologie und den Bestrebungen der Zeit- 
schrift werden auch im engeren Sinn soziologische Probleme in den 
Aufsatzen angeschnitten. Die AuBerung der Zustimmung oder des 
Gegensatzes zu den soziologischen Theorien der Gegenwart muB 
jedoch — besonders in den ersten Heften — auch dort hinter 
den sachlichen Erorterungen zurucktreten, wo die groBte Achtung 
vor der Leistung anderer besteht. 

Unter den Teilproblemen der Sozialforschung steht die Frage des 
Zusammenhangs zwischen den einzelnen Kulturgebieten, ihrer Ab- 
hangigkeit voneinander, derGesetzmaBigkeit ihrer Veranderungvoran. 
Eine der wichtigsten Aufgaben zur Losung dieser Frage ist die Aus- 
bildung einer den Bedurfnissen der Geschichte entgegenkommenden 
Sozialpsychologie. Sie zu fordern, wird eine der besonderen Auf- 
gaben der Zeitschrift sein. Zu den allgemeineren theoretischen Ab- 
handlungen iiber philosophische, psychologische, okonomische, sozio- 
logische Probleme treten Einzeluntersuchungen iiber konkrete Fragen 
der gegenwartigen Gesellschaft und Wirtschaft. Soweit diese Studien 
sich von bloBen Beschreibungen dadurch unterscheiden, daB sie die 
behandelten Phanomene in ihren geschichtlichen Zusammenhangen 
zu begreifen suchen, werden sie haufig hypothetischen Charakter 
haben. Dies gilt besonders fur die rorlaufigen Ergebnisse der im 
Institut fur Sozialforschung gefiihrten Untersuchungen, die in dieser 
Zeitschrift mitgeteilt werden sollen. Manches wird sich einmal als 
falsch erweisen, aber die Aussicht auf kiinftige Korrektur darf den 
Versuch nicht verhindem, die Hilfsmittel der verschiedenen Wissen- 
schaften auf das Problem der gegenwartigen Gesellschaft und ihrer 
Widerspriiche anzuwenden und so die fur das Funktionieren und 
die Veranderung des Gesellschaftslebens wichtigen Vorgange in einer 



Vorwort III 

der gegenwartig erreichten Erkenntnis entsprechenden Weise zu be- 
greifen. 

Wenn die Zeitschrift vornehmlich auf eine Theorie des historischen 
Verlaufs der gegenwartigen Epoche eingestellt ist, bedarf sie doch, 
sowobl zum Verstandnis der Gegenwart als auch zur Priifung 
und Ausbildung der theoretischen Hilfsmittel, historischer Unter- 
suchungen, die sicb auf die verschiedensten Epochen erstrecken 
mogen; freilich haben sie den Zusammenhang mit der aktuellen 
Problematik zu wahren. Ebenso werden Forschungen tiber die zu- 
kiinftige Richtung des geschicbtlichen Verlaufs, soweit sie mit der 
Problematik der Gegenwart in Zusammenhang stehen, nicht fehlen 
durfen. So ist z. B. eine Erkenntnis der gegenwartigen Gesell- 
schaft ohne das Studium der in ihr auf planmaBige Regelung der 
Wirtschaft hintreibenden Tendenzen unmoglich, und es werden die 
damit zusammenhangenden Probleme, die in der okonomischen, 
soziologischen und kulturgeschichtlichen Literatur heute eine wichtige 
Rolle spielen, besonders gepflegt werden mussen. 

Die Sozialforschung unterscheidet sich von alien auf moglichst 
groBe Allgemeinheit und iibergreifende Schau geriehteten geistigen 
Unternehmungen dadurch, daB sie auf die gegenwartige mensch- 
liche Wirklichkeit abzielt. Sie wird dabei zusammenfassender Be- 
griffsbildungen und theoretischer Voraussetzungen aller Art nicht 
entraten kOnnen, aber im Gegensatz zu breiten Stromungen der 
gegenwartigen Metaphysik schlieBen ihre Kategorien die weitere 
Aufhellung und berechtigten Widerspruch durch die empirische 
Forschung nicht aus. So wenig iibergreifende begriffUche Zusammen- 
f assungen bei der wissenschaf tlichen Arbeit zu entbehren sind, durfen 
sie diese doch nirgends abschlieBend vorwegnehmen und sich an die 
Stelle der zu losenden Probleme setzen. 

Die Verpflichtung auf wissenschaftliche Kriterien trennt die 
Sozialforschung methodisch auch von der Politik. Sie hat die 
Selbstandigkeit ihres Erkenntnisanspruchs gegeniiber alien weltan- 
schauUchen und politischen Rucksichten zu behaupten. Dies be- 
deutet nicht, daB sie irgendeinen wissenschaftlichen Schritt frei von 
historischer Bedingtheit wahnte, noch daB ihr die Erkenntnis als 
sich selbst geniigend und konsequenzlos erschiene. Aber wie sehr 
die Geschichte auch in alle Theorie hereinspielen mag, so werden 
doch die Ergebnisse der Forschung vor theoretischen Kriterien 
standhalten miissen, wenn sie sich in der Wirklichkeit bewahren 
gollen. 



IV Vorwort 

Das Institut fur Soziaiforschung schuldet dem Verlag C. L. Hirsch- 
feld besonderen Dank. Indem er das Erscheinen der Zeitschrift trotz 
der schwierigen Verhaltnisse heute ermOglicht, hat er neben der 
Fttrderung ihrer neuen Ziele auch daftir gesorgt, dafi manche Auf- 
gaben des Griinbergschen Archivs weiter erfullt werden kOnnen. Die 
Zeitschrift darf sich in mehr als einer Hinsicht als seine Fort- 
setzung fuhlen. 

Frankfurt a. M., im Juni 1932. 



Max Horkheimer 

o. Professor an der Universitdt Frankfurt a. M. 
und Direktor des Institute fur Soziaiforschung, 



Bemerkungen iiber Wissensdiaft und Krise 1 ). 

Von 
Max Horkheimer (Frankfurt a. M.). 

1. Die Wissenschaft wird in der Theorie der Geselischaft zu 
den menschlichen Produktivkraften gezahlt. Als Bedingung der 
durchschnittlichen Beweglichkeit des Denkens, die sich in den 
letzten Jahrhunderten mit ihr entwickelt hat, ferner in Gestalt der 
einfachen Erkenntnisse iiber Natur und Menschenwelt, die in den 
fortgeschrittenen Landern selbst die Angehorigen der unteren so- 
zialen Schichten mitbekommen, nicht zuletzt als Bestandteil des 
geistigen Vermogens der Forscher, deren Entdeckungen die Form 
des gesellschaftlichen Lebens entscheidend mitbestimmen, ermoglicht 
sie das moderne Industriesystem. Insofern sie als ein Mittel zur 
Hervorbringung gesellschaftlicher Werte, d. h. als Produktions- 
methoden formuliert vorliegt, stellt sie auch ein Produktionsmittel dar. 

2. DaB die Wissenschaft als Produktivkraft und Produktionsmittel 
im LebensprozeB der Geselischaft eine Rolle spielt, berechtigt keines- 
wegs eine pragmatistische Erkenntnistheorie. Soweit die Fruchtbar- 
keit einer Erkenntnis bei ihrem Wahrheitsanspruch eine Rolle spielt, 
ist eine der Wissenschaft immanente Fruchtbarkeit und keine Uber- 
einstimmung mit auBeren Riicksichten zu verstehen. Die Priifung 
der Wahrheit eines Urteils ist etwas anderes als die Priifung seiner 
Lebenswichtigkeit. In keinem Fall haben gesellschaftliche Interessen 
iiber die Wahrheit zu entscheiden, sondern es gelten Kriterien, die 
sich im Zusammenhang mit dem theoretischen Fortschritt ent- 
wickelt haben. Zwar verandert sich die Wissenschaft selbst im 
geschichtlichen ProzeB, aber niemals ist der Hinweis auf diese 
Veranderung ein Argument fiir die Anwendung anderer Wahrheits- 
kriterien als derjenigen, die dem Stand der Erkenntnis auf der er- 
reichten Entwicklungsstufe angemessen sind. Wenn auch die Wissen- 
schaft in die geschichtliche Dynamik einbezogen ist, darf sie darum 
doch nicht des ihr eigentumlichen Charakters entkleidet und utili- 
taristisch miBverstanden werden. Freilich fuhren die Griinde, welche 



1 ) Der fiir dieses Heft vorgesehene Auf satz von Max Horkheimer 
iiber Wissenschaft und Geselischaft konnte krankheitshalber nicht recht- 
zeitig abgeschlossen werden. An seiner Stelle erscheinen diese Bemerkungen 
und der Vortrag iiber Geschichte und Psychologie. 



2 Max Horkheimer 

die Ablehnung der pragmatistischen Erkenntnistheorie und des 
Relativismus tiberhaupt bedingen, keineswegs zur positivistischen 
Trennung von Theorie und Praxis. Einerseits sind weder Rich- 
tung und Methoden der Theorie, noch ihr Gegenstand, die Wirklich- 
keitselbst,von den Menschen unabhangig, andererseits ist dieWissen- 
schaft ein Faktor des geschicht lichen Prozesses. Die Trennung von 
Theorie und Praxis ist selbst ein historisches Phanomen. 

3. In der allgemeinen Wirtschaftskrise erscheint die Wissen- 
schaft als eines der zahlreichen Elemente des gesellschaftlichen 
Reichtums, der seine Bestimmung nicht erfullt. Er iibertrifft heute 
bei weitem den Besitzstand fruherer Epochen. Es sind auf der Erde 
mehr Rohstoffe, mehr Maschinen, mehr geschuite Arbeitskrafte und 
bessere Produktionsmethoden vorhanden als jemals, aber sie kommen 
den Menschen nicht entsprechend zugute. Die Gesellschaft erweist 
sich in ihrer heutigen Form auBerstande, von den Kraften, die sich 
in ihr entwickelt haben, und von dem Reichtum, der in ihrem Rahmen 
hervorgebracht worden ist, wirklich Gebrauch zu machen. Die wissen- 
schaftlichen Erkenntnisse teilen das Schicksal der Produktivkrafte 
und Produktionsmittel anderer Art : das MaB ihrer Anwendung steht 
in furchtbarem MiBverhaltnis zu ihrer hohen Entwicklungsstufe und 
zu den wirklichen Bediirfnissen der Menschen; dadurch wird auch 
ihre weitere quantitative und qualitative Entf altung gehemmt. Wie der 
Verlauf fruherer Krisen zeigt, wird sich das wirtschaftliche Gleich- 
gewicht erst auf dem Weg der in ungeheurem Umfang stattfindenden 
Vernichtung menschlicher und sachlicher Werte wiederherstellen. 

4. Zur Verschleierung der Ursachen der gegenwartigen Krise ge- 
hort es, gerade diejenigen Krafte fur sie verantwortlich zu machen, 
die auf eine bessere Gestaltung der menschlichen Verhaltnisse hin- 
treiben, vor allem das rationale, wissenschaftliche Denken selbst. 
Es wird versucht, seine Steigerung und Kultivierung beim einzelnen 
hinter die Ausbildung des „Seelischen" zurucktreten zu lassen und 
den kritisehen Vcrstand, soweit er nicht beruflich in der Industrie 
benotigt wird, als entscheidende Instanz zu diskreditieren. Durch 
die Lehre, daB der Verstand nur ein fur die Zwecke des taglichenLebens 
brauchbares Instrument sei, aber vor den groBen Problemen zu ver- 
stummen und substantielleren Machten der Seele das Feld zu raumen 
habe, wird von einer theoretischen Beschaftigung mit der Gesell- 
schaft als ganzer abgelenkt. Ein Teil des Kampfes der modernen 
Metaphysik gegen den Scientivismus ist ein Reflex dieser breiteren 
gesellschaftlichen Stromungen. 



Bemerkungen iiber Wissenschaf t und Krise 3 

5. Tatsachlich weist die Wissenschaf t der Vorkriegsjahrzehnte eine 
Reihe von Mangeln auf , aber sie liegen nicht in der tlbertreibung, 
sondern in der durch die zunehmende Verfestigung der gesellschaft- 
lichen Verhaltnisse bedingten Verengenmg ihrer Rationalitat. Die 
Aufgabe, unbekummert um auBerwissenschaftliche Rticksichten Tat- 
sachen zu verzeichnen und die zwischen ihnen obwaltenden Regel- 
maBigkeiten festzustellen, war urspriinglich als ein Teilziel des biirger- 
lichen Emanzipationsprozesses in kritischer Auseinandersetzung mit 
scholastischen Hindernissen der Forschung formuliert worden. Aber 
in der zweiten Halfte des 19. Jahrhunderts hatte diese Definition 
bereits ihren fortschrittlichen Sinn verloren und erwies sich im Gegen- 
teil als Beschrankung des Wissenschaftsbetriebes auf eine um die 
Unterscheidung des Gleichgiiltigen vom Wesentlichen unbekummerte 
Aufzeichnung, Klassifikation und Verallgeineinerung von Er- 
scheinungen. In dem MaB, als an die Stelle des Interesses fur eine 
bessere Gesellschaft, von dem die Aufklarung noch beherrscht ge- 
wesen war, das Bestreben trat, die Ewigkeit der gegenwartigen zu 
begriinden, kam ein hemmendes und desorganisierendes Moment in 
die Wissenschaft. Fanden ihre Ergebnisse, wenigstens zum Teil, 
in der Industrie niitzHche Verwertung, so versagte sie gerade vor 
dem Problem des gesellschaftlichen Gesamtprozesses, das durch die 
sich verscharfenden Krisen und die damit zusammenhangenden 
gesellschaftlichen Kampfe bereits vor dem Kriege die Realitat be- 
herrschte. Der am Sein und nicht am Werden orientierten Methode 
entsprach es, die gegebene Gesellschaftsform ala einen Mechanismus 
von sich wiederholenden gleichen Ablaufen anzusehen, der zwar auf 
kiirzere oder langere Zeit gestOrt sein mOge, jedenfalls aber keine 
andere wissenschaftliche Verhaltungsweise erfordere als etwa die 
Erklarung einer komplizierten Maschine. Aber die gesellschaftliche 
Wirklichkeit, d. h. die Entwicklung der sich geschichtlich verhaltenden 
Menschen, enthalt eine Struktur, deren Erfassung die theoretische 
Abbildung radikal umgestaltender, alle kulturellen Verhaltnisse um- 
walzender Verlaufe erfordert und die keineswegs durch die auf Regi- 
strierung von wiederholt Vorhandenem eingestellte Verfahrungsweise 
der alteren Naturwissenschaft zu bewaltigen ist. Die Absperrung 
der Wissenschaft gegen eine angemessene Behandlung der Probleme, 
die mit dem GesellschaftsprozeB zusammenhangen, hat eine metho- 
dische und inhaltliche Verflachung verursacht, die nicht bloB in 
der Vernachlassigung der dynamischen Beziehungen zwischen den 
einzelnen Gegenstandsgebieten zum Ausdruck kommt, sondern sich 



4 Max Horkheiraer 

auf die verschiedenste Weise in dem Betrieb der Disziplinen fiihlbar 
raacht. Mit dieser Absperrung hangt es zusammen, daB eine Reihe 
von ungeklarten, starren und fetischhaften Begriffen weiter eine Rolle 
spielen konnen, wahrend sie durch Einbeziehung in die Dynamik 
des Geschehens zu erhellen waren. Beispiele dafiir sind: der Begriff 
des BewuBtseins an sich als des angeblichen Erzeugers der Wissen- 
schaft, ferner die Person und ihre aus sich selbst die Welt setzende 
Vernunft, das ewige, alles Geschehen beherrsohende Naturgesetz, 
das sich gleichbleibende Verhaltnis von Subjekt und Objekt, der 
starre Unterschied zwischen Geist und Natur, Seele und Leib und 
andere kategoriale Bildungen mehr. Die Wurzel dieser Mangel aber 
liegt keineswegs in der Wissenschaft selbst, sondern in den gesell- 
schaftlichen Bedingungen, die ihre Entwicklung hemmen und mit 
den der Wissenschaft immanenten rationalen Elementen in Konflikt 
geraten sind. 

6. Etwa seit der Jahrhundertwende wird innerhalb der Wissen- 
schaft und Philosophie auf die Mangelhaftigkeit und Unangemessen- 
heit der rein mechanistischen Methoden hingewiesen. Diese Kritik 
hat zu prinzipiellen Diskussionen gefuhrt, die wichtige Grundlagen 
der Forschung betreffen, so daB heute auch von einer inneren Krise 
der Wissenschaft gesprochen werden kann. Diese tritt zu der auBeren 
Unzufriedenheit mit ihr als einem der vielen Produktionsmittel, das 
die an es gekniipf ten Erwartungen zur Linderung der allgemeinen Not 
nicht hat erfullen konnen, hinzu. Wenn besonders die neuere Physik 
die Mangel der traditionellen Betrachtungsweise innerhalb ihres 
eigenen Fachs weitgehend iiberwunden und ihre erkenntnistheore- 
tischen Grundlagen einer Revision unterzogen hat, so ist es das Ver- 
dienst der Nachkriegsmetaphysik, besonders Max Schelers, die 
Wissenschaft als ganzes auf eine Reihe von Gegenstanden erst wieder 
hingewiesen und an manchen Stellen einer weniger durch konven- 
tionelle Blickverengung gehemmten Betrachtungsweise Bahn ge- 
brochen zu haben. Vor allem haben die Beschreibung wichtiger 
psychischer Phanomene, ferner die Darstellung gesellschaftlicher 
Charaktertypen und die Begriindung einer Soziologie des Wissens 
befruchtend gewirkt. Doch abgesehen davon, daB die metaphysischen 
Versuche als die konkrete Realitat fast immer „das Leben", also 
selbst noch eine mythische Wesenheit und nicht die wirkliche lebendige 
Gesellschaft in ihrer geschichtlichen Entwicklung hinstellten, ver- 
hielten sie sich gegemiber der Wissenschaft schliefilich nicht weiter- 
treibend, sondern einfach negativ. Anstatt daB sie die der Wissen- 



Bemerkungen iiber Wissenschaft und Krise 5 

schaft durch ihre klaseenmaBige Verengerung gezogenen Grenzen 
aufgewiesen und schlieBlich durchbrochen hatten, identifizierten sie 
die in mancher Hinsicht ungenugende Wissenschaft der vorange- 
gangenen Epoche mit der Rationalitat iiberhaupt, negierten das 
urteilende Denken selbst und uberlieBen sich sowohl willkurlich aus- 
gesuchten Gegenstanden als auch einer von der Wissenschaft be- 
freiten Methodik. Es entstand eine philosophische Anthropologic, 
die im Gefiihl ihrer Unabhangigkeit einzelne Ziige am Menschen ver- 
absolutierte, und dem kritischen Verstand wurde die dem Zwang 
wissenschaftlicher Kriterien sich iiberhebende, ihres genialen Blickes 
gewisse Intuition entgegengestellt. Damit lenkt diese Metaphysik 
von den Ursachen der gesellschaftlichen Krise ab und entwertet sogar 
die Mittel zu ihrer Erforschung. Eine besondere Verwirrung richtet 
sie an, indem sie den isolierten, abstrakt gefaBten Menschen hypo- 
stasiert und damit die Bedeutung des theoretischen Begreifens der 
gesellschaftlichen Vorgange bagatellisiert. 

7. Nicht bloB die Metaphysik, sondern auch die von ihr kriti- 
sierte Wissenschaft selbst, insofern sie eine die Aufdeckung der wirk- 
hchen Krisenursachen hemmende Gestalt bewahrt, ist ideologisch. 
Dies bedeutet keineswegs, daB es ihren Tragern selbst nicht um die 
reine Wahrheit zu tun ware. Alle Verhaltungsweisen der Menschen, 
welche die wahre Natur der auf Gegensatze aufgebauten Gesellschaft 
verhiillen, sind ideologisch, und die Feststellung, ob philosophische, 
moralische, religiose Glaubensakte, wissenschaftliche Theorien, Rechts- 
satze, kulturelle Institutionen diese Funktion ausiiben, betrifft 
keineswegs den Charakter ihrer Urheber, sondern die objektive Rolle, 
die jene Akte in der Gesellschaft spielen. An sich richtige Ansichten, 
theoretische und asthetische Werke von unbestreitbar hoher Quali- 
tat konnen in bestimmten Zusammenhangen ideologisch wirken, und 
manche Illusionen sind dagegen keine Ideologic Der ideologische 
Schein entsteht bei den Mitgliedern einer Gesellschaft notwendig auf 
Grund ihrer Stellung im Wirtschaftsleben ; erst wenn die Verhaltnisse 
so weit fortgeschritten sind, die Interessengegensatze eine solche 
Scharfe erreicht haben, daB auch ein durchschnittliches Auge den 
Schein durchdringen kann, pflegt sich ein eigener ideologischer 
Apparat mit selbstbewuBten Tendenzen auszubilden. Mit der Ge- 
fahrdung einer bestehenden Gesellschaft durch die ihr immanenten 
Spannungen wachsen die auf Erhaltung der Ideologie gerichteten 
Energien und werden schlieBlich die Mittel verscharft, sie gewaltsam 
zu stiitzen. Je mehr das romische Imperium von sprengenden Ten- 



6 Max Horkheimer 

r denzen bedroht war, um so brutaler versuchten die Kaiser den alten 
Staatskult zu erneuern und damit das untergrabene Gef iihl der Einheit 
herzustellen. Die Epochen, die auf die Christenverfolgungen und den 
Untergang des Reiches folgten, sind von anderen furchtbaren Bei- 
spielen des sich regelmaBig wiederholenden Verlaufes voll. Inner- 
halb der Wissenschaft einer solchen Periode pfiegt das ideologische 
Moment weniger darin zu erscheinen, daB sie falsche Urteile enthalt, 
als in ihrer mangelnden Klarheit, ihrer Ratlosigkeit, ihrer ver- 
hiillenden Sprache, ihren Problemstellungen, ihren Methoden, der 
Richtung ihrer Untersuchungen und vor allem in dem, wovor sie 
die Augen verschlieBt. 

8. In der Gegenwart bietet der Wissenschaftsbetrieb ein Abbild 
der widerspruchsvollen Wirtschaft dar. Diese ist weitgehend mono- 
polistisch beherrscht und doch im WeltmaBstab desorganisiert und 
chaotisch, reicher als je und doch unfahig, das Elend zu beheben. 
Auch in der Wissenschaft erscheint ein doppelter Widerspruch. 
Erstens gilt es als Prinzip, daB jeder ihrer Schritte einen Erkenntnis- 
grund habe, aber der wichtigste Schritt, namlich die Aufgabenstellung 
selbst, entbehrt der theoretischen Begriindung und scheint der Willkiir 
preisgegeben zu sein, Zweitens ist es der Wissenschaft um die Er- 
kenntnis umfassender Zusammenhange zu tun, den umfassenden 
Zusammenhang aber, von dem ihr eigenes Dasein und die Richtung 
ihrer Arbeit abhangt, namlich die Gesellschaft, vermag sie in ihrem 
wirklichen Leben nicht zu begreifen. Beide Momente sind eng ver- 
kniipf t . In der Erhellung des gesamtgesellschaf thchen Lebens - 
prozesses ist die Aufdeckung des Gesetzes, das in der scheinbaren 
Willkurlichkeit der wissenschaftlichen wie der anderen Unterneh- 
mungen sich durchsetzt, mit enthalten, denn auch die Wissenschaft 
wird dem Umfang und der Linie ihrer Arbeiten nach nicht bloB durch 
die ihr eigenen Tendenzen, sondern letzten Endes durch die gesell- 
schaftlichen Lebensnotwendigkeiten bestimmt. Die Verzettelung und 
Verschwendung von geistigen Energien, die den Gang der Wissen- 
schaft im letzten Jahrhundert trotz dieser GesetzmaBigkeit kenn- 
zeichnen und immer wieder von den Philosophen dieser Epoche kriti- 
siert wurden, kOnnen freilich ebensowenig wie die ideologische Funk- 
tion der Wissenschaft durch bloBe theoretische Einsicht iiberwunden 
werden, sondern einzig durch die Veranderung ihrer realenBedingungen 
in der geschichtlichen Praxis. 

9. Die Lehre vom Zusammenhang der kulturellen Unordnung mit 
den akonomischen Verhaltnissen und den aus ihnen sich ergebenden 



Bemerkungen iiber Wissenschaft und Krise 7 

Interessengegensatzen besagt nichts iiber den Realitatsgrad oder das 
Rangverhaltnis der materiellen und geistigen Giiter. Sie steht freilich 
zur idealistischen Ansicht, daB die Welt als Erzeugnis und Ausdruck 
eines absoluten Geistes zu betrachten sei, in Widerspruch, weil sie 
den Geist iiberhaupt nicht als ein vom historischen Dasein AblOsbares 
nnd Selbstandiges betrachtet. Wenn aber der Idealismus nicht in 
dieser fragwiirdigen Metaphysik, sondern vielmehr in dem Bestreben 
gesehen wird, die geistigen Anlagen der Menschen wirklich zur Ent- 
faltung zu bringen, dann entspricht die materialistische Theorie der 
Unselbstandigkeit des Ideellen besser diesem Begriff der klassischen 
deutschen Philosophie als ein groBer Teil der modernen Metaphysik ; 
denn der Versuch, die gesellschaftlichen Ursachen der Verkummerung 
und Vernichtung menscblicben Lebens zu erkennen und die Wirt- 
schaft wirklich den Menschen unterzuordnen, ist jenem Streben an- 
gemessener als die dogmatische Behauptung einer vom Lauf der 
Geschichte unabhangigen Prioritat des Geistigen. 

10. Soweit mit Recht von einer Krise der Wissenschaft gesprochen 
wird, ist sie von der allgemeinen Krise nicht zu trennen. Die geschicht- 
liche Entwicklung hat eine Fesselung der Wissenschaft als Produktiv- 
kraft mit sich gebracht, die sich in ihren Teilen, dem Inhalt und der 
Form, dem Stoff wie der Methode nach, auswirkt. AuBerdem wird 
die Wissenschaft als Produktionsmittel nicht entsprechend an- 
gewandt. Das Begreifen der Krise der Wissenschaft hangt von der 
richtigen Theorie der gegenwartigen gesellschaftlichen Situation ab, 
denn die Wissenschaft, als eine gesellschaftliche Funktion, spiegelt in 
der Gegenwart die Widerspruche der Gesellschaft wider. 



Die gegenwartige Lage des Kapitalismus und die Aus- 
sichten einer planwirtschaftlichen Neuordnung 1 ). 

Von 
Friedrich Pollock (Frankfurt a. M.). 

I. 

„Die industrielle Produktion hat sich seit ihrem Hochststand von 
Mitte 1929 urn etwa 46% vermindert. Bis zum Ende 1931 war sie auf 
den Stand von Ende der neunziger Jahre zuriickgef alien. Um die ganze 
Schwere dieses Riickschlags ermessen zu konnen, muB man sich ver- 
gegenwartigen, daB die Bevolkerung des Deutschen Reiches jetzt um 
mehr als ein Fiinftel groBer ist als damals. 

Die Zerruttung der Kapitalmarkte hat die Investitionstatigkeit so 
gut wie vollig lahmgelegt. Neuinvestitionen werden kaum noch in 
Angriff genommen. Ersatzinvestitionen unterbleiben mehr und mehr . . . 

Der Arbeitsmarkt bietet das Bild schwerster Erschutterung. Die 
Zahl der Erwerbslosen, gegenwartig iiber 6 Millionen, bedeutet, daB 
beinahe 30% der Arbeiter und Angestellten zum Feiern gezwungen 
sind. Nur wenig mehr als zwei Fiinftel der vorhandenen Arbeitsplatze 
in der Industrie sind besetzt . . . Das Volkseinkommen (im Jahre 1929 
ca. 76 Milliarden RM.) ist fiir das Jahr 1930 auf 60—70, fur das Jahr 

1931 auf rund 50 — 60 Milliarden RM. zu veranschlagen. Das Jahr 

1932 wird mit Sicherheit noch niedrigere Zahlen ergeben. 

Die Konkurse haben mit schatzungsweise 18800 im Jahre 1931 
den hochsten jemals zu verzeichnenden Stand erreicht." 

Wie ein Heeresbericht aus einem verlorenen Krieg lesen sich diese 
Satze, mit denen das Institut fiir Konjunkturforschung die Schwere 
der deutschen Wirtschaftskrise zu Anfang des Jahres 1932 zu beschreiben 
versucht 2 ). Ahnliche Meldungen liegen fiir die meisten anderen kapi- 
talistischen Staaten vor, und wenn es zu Beginn des Jahres 1931 noch 
so scheinen konnte, als ob einzelne besonders bevorzugte Lander von 
der Wirtschaftskrise verschont bleiben w T iirden, so zeigt es sich heute, 
daB auch die bisher widerstandsfahigsten Volkswirtschaften, vor allem 



x ) Die Arbeit wurde im Februar 1932 abgeschlossen, das seithererschienene 
Material konnte nur ausnahmweise beriicksichtigt werden. 

2 ) Wochenbericht des Inst. f. Konjunkturforschung vom 17. Februar 
1932. 



Die gegenwartige Lage des Kapitalismus usw. 9 

Frankreieh, mehr und mehr von den zerstOrenden Kraften der Krise 
angef alien werden. Das allgemeine MiBtrauen gegen alle Wahrungen 
und alle Unternehmungen fiihrt zum Verzicht auf eine noch so niedere 
Verzinsung, der in der privaten Goldhortung zum Ausdruck kommt. 
Begreiflich wird dieses Verhalten, wenn man von den Kapitalzer- 
storungen erfahrt, die seit dem Zusammenbruch der New-Yorker Borse 
im Herbst 1929 erfolgt sind und von denen die Borsenindices em un- 
gefahres Bild geben 1 ). 

Erganzt und vertieft wird dieses Bild durch einen Blick auf die 
Entwicklung der internationalen Rohstoffpreise. Gegeniiber dem Stand 
von 1926 sind sie selten weniger als um die Halfte, haufig auf ein Drittel 
(Weizen, Zucker, Erdol, Kaffee, Blei, Zink, Rohseide usw.), vereinzelt 
sogar noch tiefer gesunken (z. B. Kautschuk von einem Durchschnitts- 
preis von 4436RM. je t im Jahre 1926 auf 643 RM.), wahrend die sicht- 
baren Vorrate sich vervielfacht haben und vorlaufig einen weiteren 
Druck auf die Preise ausiiben. 

Je mehr man auf die Einzelheiten der krisenhaften Erscheinungen 
eingeht, um so mehr haufen sich die Beispiele fur die Schwere der Zer- 
stdrungen, die sie in der ganzen kapitalistischen Welt anrichten. Die 
Menschheit, die in ihrer Geschichte keinen Abschnitt kannte, in dem sie 
absolut und pro Kopf gerechnet so reich an Produktionsmitteln und 
hochqualifizierten Arbeitskraften war wie heute, verarmt auf doppelte 
Weise: durch die ungeheure Brachlegung der sachlichen und person- 
lichen Produktivkrafte und durch die Vernichtung eines Teiles des 
Geschaffenen. Eine einfache Uberlegung gibt eine Vorstellung davon, 
was den darbenden Menschen durch die Arbeitslosigkeit des Jahres 
1931 an wirtschaftlichen Werten, die nut den vorhandenen Produk- 
tionsmitteln hatten hergestellt werden konnen, entgangeh ist. Legt 
man im Durchschnitt des Jahres 1931 fur samtliche Industriestaaten 
eine Arbeitslosigkeit von 20 Millionen zugrunde (wobei Kurzarbeiter 
mit einem entsprechenden Schliissel in Vollarbeitslose umzurechnen 
waren) und nimmt man als rohen Durchschnitt ein Jahreseinkommen 
pro Arbeiter von 2000 RM. an, dann ergibt sich ein Einkommens- 



2 ) 


Aktienindex 








Vereinigt 
Datum 


s Staaten 
1926=100 


Deuts 
Datum 


chland 
1924/26=100 


Hoehster Stand 

Bisheriger tiefster Stand 


Sept. 1929 
Marz 1932 


257 
56 


Mai 1927 
April 1932 


203 
46,5 



10 Friedrich Pollock 

ausfall von 40 Milliarden RM. und ein Ausfall an technisch moglicher 
Neuproduktion, dessen Hohe" diese 40 Milliarden Mark weit iibersteigt. 

Der schreiende Widerspruch zwischen der Verarmung immer groBerer 
Schichten, dem Fehlen der Mittel selbst fur die dringendsten Kultur- 
aufgaben auf der einen Seite und den durch die Umwalzung in den land- 
wirtschaftlichen Produktionsmethoden und die sprunghaften Fort- 
schritte in der Produktivitat der industriellen Arbeit gegebenen tech- 
nischen Moglichkeiten auf der anderen zwingen breiteste Schichten 
zum Nachdenken liber die ZweckmaBigkeit der kapitalistischen Wirt- 
schaftsordnung. Immer kleiner wird die Zahl derer, die verlangen, 
daB die Wirtschaftsfuhrung „uberall da, wo verwaltungsmaBige Er- 
ledigung der Geschafte nicht ausreicht, wieder auf die Grundlage der 
individualistischen Weltanschauung zuriickgebracht werden" solle, 
und die meinen, daB man nur „dem freien Spiel der Krafte, das das 
Wesen der kapitalistischen Ordnung ausmacht, wieder mehr Raum 
geben" miiBte, um der Krise Herr zu werden 1 ). Statt dessen ertont 
selbst aus Kreisen, die man fruher zu den zuverlassigsten Anhangern 
des liberalistischen Systems gezahlt hat, der Ruf, daB das Ende des 
Kapitalismus gekommen sei und daB nur eine planwirtschaftliche Neu- 
ordnung die heutigen Schwierigkeiten bewaltigen und die wirtschaft- 
lichen Krafte aus den zerst6renden, lebensfeindlichen Machten von heute 
zu Dienern der Menschen machen konnte. 

Es ist die Aufgabe der nachstehenden Seiten, auf einige zur Beurteilung 
dieser Streitfrage wichtige Gesichtspunkte hinzuweisen. 

II. 

Nur von den Vertretern einer „exogenen" Krisentheorie durfte ernst- 
haft bestritten werden, daB die heutige Weltwirtschaftskrise zu einem 
guten Teil auf dieselben Ursachen zuruckzuf iihren ist wie ihre nationalen 
und internationalen Vorganger seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts. 
Strittig ist aber, welche Faktoren verscharfend auf den Krisenablauf 
einwirken und die Uberwindung des Tiefpunktes immer wieder ver- 
zogern. Grob schematisch lassen sich diese zusatzlichen Storungs- 
faktoren in drei Gruppen einteilen: politische Storungsmomente, 
einmalige wirtschaftliche Storungsursachen und solche ^strukturelle" 
Veranderungen, die den normalen Gang des kapitalistischen Auto- 
matismus behindern. 



x ) Bericht der Darmstadter und Nationalbank iiber das Geschaftsjahr 
1930, S. 12. 



Die gegenwartige Lage des Kapitaliamus usw. 1 1 

Die beiden ersten Gruppen stehen teilweise in engem Zusammenhang. 
Die Erscheinungen, urn die es sich hier handelt, sind so oft beschrieben 
worden, daB wir nur an zwei besonders wichtige Tatsachen erinnern. 
Die Storungen der internationalen Arbeitsteilung durch die Folgen 
des Krieges und die allgemeine durch die Friedensvertrage und Repara- 
tionen geschaffene politische Unruhe haben das heute enger als je 
verflochtene internationale Kreditsystem aufs schwerste erschiittert. 

Besonders krisenverscharfend muBte weiterhin das Zusammen- 
treffen einer schweren Agrarkrise mit der Industriekrise wirken, weil 
erfahrungsgemaB in den fruheren Krisen das relativ konstante Ein- 
kommen der landwirtschaftlichen Bevolkerung der Nachfrage nach 
Industriewaren einen gewissen Halt geboten und zusammen mit den 
iibrigen festen Geldeinkommen bei der Aufnahme der aufgestauten 
Vorrate zu den gesunkenen Krisenpreisen eine groBe Rolle gespielt 
hatte. Dieser den Absturz bremsende Faktor fiel durch das sprunghafte 
Tempo in der Umwalzung der landwirtschaftlichen Produktionstechnik 
aus. 

Fur unsere Fragestellung ist eine dritte Gruppe von Storungsfaktoren 
besonders wichtig, weil diese als dauernd wirksam angesehen werden 
mussen und das Funktionieren des Marktmechanismus dauernd be- 
drohen. Hierher gehort in erster Linie die Verschiebung des wirt- 
schaftlichen Schwergewichtes zu den GroBbetrieben und den Riesen- 
unternehmungen in der Industrie, im Handel und im Bankwesen. Seit 
Marx sind viele Versuche gemacht worden, die Zwangslaufigkeit dieses 
Prozesses zu erklaren, aber ob man nun ein bestimmtes Gesetz der 
Konzentration und Zentralisation annimmt oder die wachsende Be- 
deutung der „fixen Kosten" als Ursache bezeichnet, die Tatsache dieser 
Entwicklung selbst kann heute ernsthaft nicht mehr in Frage. gestellt 
werden. GewiB gibt es in der nordamerikanischen Industrie noch etwa 
30000 Unternehmungen mit einem investierten Gesamtkapital von 
rund 600 Milliarden RM., aber iiber 44% dieses Kapitals entfielen 
schon 1927 auf etwa 200 Unternehmungen 1 ). Jede neue statistische 
Veroffentlichung iiber die Entwicklung der Betriebs- und Unter- 
nehmungsgroBen, jede Ubersicht iiber die Vorgange auf dem Gebiete 
der Kartell-, Konzern- und Trustbildung redet eine ahnhche Sprache. 



x ) H. K. Simon, Amerikas Industriesystem, Deutscher Volkswirt vom 
20. 11. 1931, S. 251. Vgl. auch H. W. Laidler, Concentration of Control in 
American Industry, New York 1931. — In Deutschland gab es am 31. X>ez. 
1930 10970 Aktiengesellschaften mit einem Nominalkapital von insgesamt 
24,1 Milliarden RM., von dem iiber die Halfte (12,5 Milliarden RM.) auf 
189 Gesellschaftenentfiel(Stat. Jahrbuch f. d. Deutsche Reich, 1931, S.36H.). 



12 Friedrich Pollock 

Das Wachstum der wirtschaftlichen Einheiten verleiht ihren Leitern zu- 
nehmencle wirtschaftliche und politische Macht. Es entsteht dann jene 
viel diskutierte „Erstarrung" der Wirtschaft, in der die Preise vieler 
wichtiger Waren nicht mehr durch das ,,freie Spiel der Krafte" zustande 
kommen, sondern durch monopolistische Bindungen. Diese gebundenen 
Preise werden dadurch ermoglicht, daB unter dem politischen Einf luB der 
groBen Wirtschaft smachte eine Zollpolitik durchgesetzt wird, die die 
auslandische Konkurrenz vom Inlandsmarkt fernhalt oder den groBen 
Verbanden gestattet, mit der auslandischen Konkurrenz die Markte 
aufzuteilen. 

Ebenso wie durch diese Eingriffe in die freie Preisbildung ein fur die 
Struktur des liberalistischen Wirtschaftssystemes entscheidendes Gebiet 
eine durchgreifende Veranderung erfahrt, wird durch die Einschrankung 
der freien tTnternehmertatigkeit und der Unternehmerverantwortung 
das alte System grundlich verandert. Es ist wiederum das Wachstum 
der wirtschaftlichen Einheiten, das diese Veranderungen verursacht. 
Solange die GroBe der Einzelunternehmung im Verhaltnis zur ganzen 
Wirtschaft noch bescheiden war, konnte man vom Staat nicht erwarten, 
daB er den Zusammenbruch eines erfolglosen Unternehmens verhinderte. 
Die Folgen fur die iibrige Wirtschaft waren im einzelnen Fall zu er- 
tragen, die Zahl der durch den Bankrott brotlos Gewordenen blieb 
in relativ maBigen Grenzen. Hente sind viele Unternehmungen in der 
Industrie und im Bankwesen so riesenhaft angewachsen, daB keine 
Staatsgew r alt, moge sie sich noch so liberalistisch gebarden, ihren Unter- 
gang untatig mit ansehen kann. Von einer bestimmten GroBe des 
Kapitals an darf das Unternehmen zwar den Gewinn noch fur sich allein 
beanspruchen, das Risiko aber auf die Masse der Steuerzahler abwalzen, 
da sein Zusammenbruch die schwersten Folgen f iir den gesamten W T irt- 
schaftskOrper und damit auch fiir die politische Situation haben muBte 1 ). 
Der Ein wand, daB auch fruher der Staat schon gelegentHch eingegriffen 
habe, urn Unternehmungen zu stiitzen, trifft insofern nicht zu, als der- 
artige MaBnahmen im vergangenen Jahrhundert noch eine Ausnahme 
waren, wahrend heute z. B. jede gefahrdete GroBbank mit staatlicher 
Hilfe gehalten werden muB. Wenn in der letzten Zeit immer haufiger 
davon gesprochen wird, daB der Arbeitslosenunterstiitzung neuer- 
dings eine ..Erfolglosenunterstiitzung" gegentiberstehe und daB diese 

1 ) Ein drastisches Beispiel hierfiir ist die Reorganisierung der deutschen 
Grofibanken unter Auf wen dung vieler hunderter von Millionen offentlicher 
Mitt el, nachdem noch wenige Monate vor der Juli-Krise von 1931 die Leiter 
der zuerst zusammengebrochenen Grofibank in dem oben zitierten Jahres- 
bericht gegen staatliche Eingriffe protestiert hatten. 



Die gegenwartige Lage des Kapitalismus usw. 13 

Phase der kapitalistischen Entwicklung als „garantierter a Kapitalis- 
mus gekennzeichnet werden miisse, so ist damit eine wichtige struk- 
turelle und den Marktautomatismus bedrohende Veranderung charak- 
terisiert. 

Die Eingriffe des Staates in den freien Arbeitsvertrag, die damit 
zusammenhangenden sozialpolitischen MaBnahmen, die staatliche An- 
erkennung der Gewerkschaften stimmen mit den urspriinglichen Ge- 
danken des Liberalismus ebensowenig iiberein wie die Bindungen 
anderer Warenpreise, die allerdings eine vOllig verschiedene wirtschaft- 
liche und soziale Bedeutung haben. Die Behauptung, daB heute nur 
an die Stelle der „niinosen" Konkurrenz die ,,geregelte" Konkurrenz 
getreten sei, gibt gerade das zu, was sie leugnen mOchte, denn die 
Konkurrenz kann als Regulator nur insofern wirksam sein, als sie 
„ruinos ( * ist. Allerdings ist die zunehmende Staatstatigkeit keine zu- 
f allige Eigentiimlichkeit des Nachkriegskapitalismus , sondern wird 
voraussichtlich auch weiterhin fiir das kapitalistische System best immend 
sein. In der Krise wird der Druck auf die Staatsgewalt, in den Wirt- 
schaftsprozeB einzugreifen, naturgemaB noch bedeutend verstarkt. da 
die Krafte der Selbststeuerung ebenso wie die normalen Mittel der 
liberalistischen Wirtschaftspolitik nicht ausreichen. 

Der konsequente Liberalismus laBt nur ein Mittel zur Konjunktur- 
regulierung zu, namlich die Diskontpolitik der Zentralnotenbank. 
Aber dieses Mittel kann nur solange wirksam sein, als freie Konkurrenz 
der Kapitalien und Unternehmungen besteht. In der heutigen ..ge- 
bundenen" Wirtschaft ist es ,,ein viel zu femes Instrument, mit dem 
man den groBen und schlagartig auftretenden Storungen gar nicht 
entgegenzuwirken vermag" *). 

Analoge Storungen wie beim binnenwirtschaftlichen Automatismus 
lassen sich auch bei den internationalen Wirtschaft sbeziehungen nach- 
weisen. Man konnte es eine tragische Situation nennen, daB gerade zu 
der Zeitj in der die Nachrichten- und Verkehrstechnik eine vollentfaltete 
Weltwirtschaft iiberhaupt erst moglich machen, starkste Krafte auf 
AbschlieBung der einzelnen Wirtschaftsgebiete voneinander und Be- 
schrankung des internationalen Warenaustausches auf das unbedingt 
Notwendige hinwirken. Unter dem ironischen Schlagwort ..Schutz- 
zoll per Kasse — Freihandel auf Termin" ist kxirzlich eine Gegeniiber- 
stellung der wohlmeinenden Vorschlage zur Erleichterung der inter- 
nationalen Arbeitsteilung und der zur gleichen Zeit in Kraft getretenen 



2 ) E. Lederer, Planwirtschaft, Tubingen 1932, S. 23. 



14 Friedrich Pollock 

protektionistischen MaBnahmen veroffentlicht worden 1 ). Es findet sich 
darin der resignierte Hinweis, daB das positive Ergebnis aller bisherigen 
freihandlerischen Arbeiten des Volkerbundes in einem Abkommen liber 
die Ausfuhr von Hauten tmd Fellen bestehe. Wahrend aber dieser 
Feststellung auch im Fruhjahr 1932 nichts hinzuzufugen ist, muBte 
die lange Liste der protektionistischen MaBnahmen, die im Oktober 
1931abgeschlossen wurde, durch eine fast ebenso lange Liste der seither 
in Kraft getretenen oder geplanten Zolle, Einfuhrverbote, Kontin- 
gentierungen erganzt werden. Sicher ist dieser anwachsende Protek- 
tionismus nicht allein durch die Wirtschaftskrise verursacht; er ist 
erst moglich geworden durch den Wegfall der Voraussetzungen einer 
internationalen Arbeitsteilung, auf denen die Freihandelslehre beruhte. 
Somit rechtfertigt sich der schon von List ausgesprochene Verdacht, 
daB es sich bei dieser Lehre urn eine Ideologie handelt, mit der die 
industriell f ortgeschrittensten oder vorwiegend handeltreibenden Staaten 
ihre Interessen verbramt haben. Der Nexus: wachsende GrbBe der 
Wirtschaftseinheiten — wachsende wirtschaftliche und politische Macht 
— Benutzung dieser Macht zur Bindung der Preise im Innern und Ab- 
schluBgegendieauslandischeKonkurrenz — Unvermeidbarkeitder Staats- 
hilfe, wenn wichtige Teile der Wirtschaft bedroht sind 2 ), schwacht oder 
vernichtet die Selbststeuerung der kapitalistischen Wirtschaft, fiihrt 
zu Fehlinvestitionen groBten Stils, verscharft die Disproportionalitaten 
zwischen den einzelnen Wirtschaftszweigen und zwingt zu einem immer 
heftigeren Kampf auf dem f ortwahrend weiter zusammenschrumpf enden 
Weltmarkt 3 ). 

III. 

Wenn die Wirtschaftskrise als eine durch einmalige und dauernde 
Faktoren verscharfte ,,normale" kapitalistische Krise angesehen werden 



1 ) Nachkriegskapitalismus, Eine XJntersuchung der Handelsredaktion der 
Frankfurter Zeitung, Frankfurt 1931, S. 30f. 

2 ) In diesem Zusammenhang ist auch auf den landwirtschaft lichen Pro- 
tektionismus hinzuweisen. Die Kosten der Stiitzungsaktionen des nord- 
amerikanischen Farm -Boards oder der brasilianischen Kaffeevalorisationen 
sind bekannt. Der Preis, den die deutschen Konsumenten fiir die Erhaltung 
des deutschen Getreidebaues zu zahlen haben, wurde neuerdings auf 30. 
bis 35% des Nettowertes der Getreideproduktion, d. h. auf 3 — 4 Milliarden 
RM. pro Jahr berechnet. Vgl. F. Dessauer, Landwirtschaftliche und indu- 
strielle Subventionen in „Der deutsche Volkswirt" vom 13. 11. 1931. 

3 ) Da hier der Raum zu naheren Ausfiihrungen uber diese Zusammen- 
■hange fehlt, verweisen wir auf die nachstehenden Arbeiten, mit denen wir 

in diesem Punkt weitgehend ubereinstimmen : A. Lowe, Lohnabbau als Mittel 
der Kriseniiberwindung; A. Lowe, Der Sinn der Weltwirtschaftskrise, Neue 
Blatter fiir den Sozialismus, Jahrgang I, Heft 5 bzw. Jahrgang II, Heft 2; 
E. Lederer, Wege aus der Krise, Tubingen 1931. 



Die gegenwartige Lage des Kapitalismus usw. 15 

muB, dann erhebt sich die Frage, ob nach einer allmahlichen Bereini- 
gung der Krisenursachen der alte Automatismus des kapitalistischen 
Systems nicht doch wieder hergestellt werden kann. Auch heute fehlt 
es nicht an Stimmen, die behaupten, daB die gegenwartige Unordnung 
daher riihre., daB dieser „wenn auch nicht ideale, so doch bewunderungs- 
wurdige Mechanismus der Marktwirtschaft durch die tappischen und 
unintelligenten Eingriffe aufierer und innerer Politik nach dem Kriege" 
gestort worden sei, und daB es nur darauf ankomme, dieses System zu 
reinigen, das „in einer ungemein sinnvollen, wenn auch von den wenigsten 
voll verstandenen Weise die automatische Anpassung der arbeits- 
teiligen Produktion an den Bedarf durch den Regulator der Preise 
und die Lenkung der Produktionskrafte auf die ertragreichsten Gebiete 
durch den Regulator des Zinses" bewirke 1 ). Gegeniiber dieser harmo- 
nisierenden Darstellung des „Vorkriegskapitalismus" kann nicht nach- 
drucklich genug gesagt werden, daB der kapitalistische Automatismus 
zwar GroBartiges geleistet hat, daB er sich dazu aber der barbarischen 
Mittel eines erbarmungslosen Vernichtungskampfes bediente, dessen 
Kosten - — nicht die privatwirtschaftlich ausgewiesenen allein, sondern 
die Kosten fur die gesamte Gesellschaft • — bisher nie berechnet worden 
sind. Keine noch so beschonigende Terminologie, welche die Zer- 
storungen dieses groben Automatismus als ,,Friktionen" bagatellisiert, 
kann die Tatsache aus der Welt schaffen, daB das kapitalistische System 
seit seinem Bestehen in mehr oder weniger gleichmaBigen Abstanden 
immer wieder aus dem Gleichgewicht geraten ist und daB die not- 
wendigen Proportionalitaten jeweils durch die massenhafte Vernichtung 
von Werten und Menschenleben hergestellt werden muBten. Sicher hat 
es viele Jahrzehnte keinen besseren Weg als diesen Automatismus 
gegeben, die Produktivkrafte der menschlichen Gesellschaft zu ent- 
wickeln, ebenso wie jahrhundertelang eine Seuchenbekampfung 
nicht anders moglich war als durch Isolierung der Kranken, die 
man ihrem Schicksal uberlieB, aber diese Einsicht sollte das Ur- 
teil iiber den barbarischen Charakter derartiger Methoden nicht 
trxiben. 

Uberdies ist es zumindest fraglich, ob der Marktmechanismus in den 
letzten 50 Jahren wirklich eine „optimale Anpassung der Erzeugungs- 
krafte an die Bedarf swiinsche" geleistet hat. Uberlegt man in welchem 
Umfang der Produktionsapparat in diesem letzten Jahrhundert faktisch 
ausgeniitzt worden ist, so wird sich im Konjunkturdurchschnitt 



x ) Nachkriegskapitalismus, 1. c. S. 7. 



16 Friedrich Pollock 

vermutlich eine nicht unbetrachtliche Nichtausnutzung der Kapazitat 
ergeben. Zwar leistet der Automatismus eine trendmaBige Anpassung 
der Produktion an die zahlungsfahige Nachfrage. Es handelt sich 
aber darum, eine gleichmaSigere und bessere Versorgung des faktischen 
Bedarfes zu ermoglichen. 

IV. 

Ohne Zweifel laBt sich begriinden, daB diese Krise mit kapitalistischen 
Mitteln uberwunden werden kann und daB der „monopolistische" 
Kapitalismus auf zunachst unabsehbare Zeit weiter zu existieren ver- 
mag. Allerdings ist das nur noch beschrankt funktionierende alte 
System weiterhin mit solchen Spannungen geladen, daB verhaltnis- 
maBig geringfugige Anlasse zu einer Katastrophe fiihren konnen, deren 
vernichtende Wirkungen heute noch nicht annahernd iibersehbar 
sind. 

Die Elemente zur Uberwindung der aktuellen Wirtschaftskrise sind 
bereits in weitem Umfang vorhanden. Das Kapital hat, wenn man von 
den Landern absieht, die eine besondere politisch bedingte Kreditkrise 
durchzumachen hatten, in groBem Umfang Geldf orm angenommen, der 
ProzeB der „Dekapitalisierung" ist in vollem Gang, die Rohstoffe haben 
teilweise einen nicht fur moglich gehaltenen Preissturz erlitten, die An- 
passung der Bodenwerte an die gesunkenen Rohstoffpreise setzt sich 
allmahlich durch, die Vorrate an Fertigfabrikaten sind in alien Landern 
zusammengeschmolzen, kurz ; es scheint nur noch der „Ankurbelung" 
zu bediirfen, um den WirtschaftsprozeB aus seiner heutigen Lahmung 
zu l6sen. Hemmend wirken allerdings in hOchstem MaB die politische 
Unsicherheit auf der ganzen Welt, der damit in engem Zusammenhang 
stehende bedenkliche Zustand der offentlichen Finanzen und der inter- 
national Zoll- und Wahrungskrieg. Auch wenn in den nachsten Jahren 
die verscharfenden Faktoren noch das Ubergewicht behalten sollten 
und trotz aller Ankurbelungsversuche die Vernichtung wirtschafthcher 
Werte weiterginge, bliebe die theoretische Moglichkeit einer allmah- 
lichen Uberwindung der Krise bestehen. Es spricht allerdings vieles 
dafur, daB in diesem gebundenen Kapitalismus die Depressionen 
langer, die Auf schwungsphasen kurzer und heftiger und die Krisen ver- 
nichtender sein werden als in den Zeiten der ,,freien Konkurrenz", 
aber sein ,,automatischer" Zusammenbruch ist nicht zu er- 
warten. Ein unabweisbarer Zwang, ihn durch ein anderes Wirt- 
schaftssystem zu ersetzen, besteht rein wirtschaftlich nicht. 



Die gegenwartige Lage des Kapitalismus usw. 17 

Je geringer die Zahl derjenigen wird, die an der Aufrechterhaltung 
des gegenwartigen Wirtschaftsystems objektiv interessiert sind 1 ), um 
so dringender wird die Frage nach der Moglichkeit, dieses System durch 
ein besseres zu ersetzen. Wir sehen eine solche Moglichkeit nur in der 
Richtung auf die Ersetzung der ,,partiellen" durch eine „totale" Or- 
ganisation und fragen deshalb hier nach den Aussichten einer planwirt- 
schaftlichen Neuordnung. 



Die offenkundigen Schwierigkeiten des kapitalistischen Systems 
ebenso wie das Ausbleiben des von fast alien Sachverstandigen prophe- 
zeiten Zusammenbruchs der russischen planwirtschafthchen Versuche 
sind die Hauptgriinde, warum heute uberall von Planwirtschaft ge- 
sprochen wird. In den Landern, in denen das kapitalistische System 
noch am festesten gegrundet erscheint, in den Vereinigten Staaten und 
in Frankreich, werden Zehnjahresplane und Funfjahresplane zur Ent- 
wicklung der Wirtschaft diskutiert. Die nordamerikanischen und eng- 
lischen okonomischen Zeitschriften sind voll von Erorterungen liber 
planwirtschaf tliche Probleme ; in Amsterdam fand im August des vorigen 
Jahres ein insbesondere von amerikanischer Seite zahlreich besuchter 
KongreB statt, auf dem die Moglichkeiten einer Planwirtschaft auf 
kapitalistischer Grundlage in sehr ernsthafter Weise diskutiert wurden ; 
gelegentlich des Kongresses der britischen Gewerkschaften sprach man 
sich im September 1931 uber die Moglichkeit einer natiqnalen britischen 
Planwirtschaft aus. Berichte uber die Schicksale des russischen Funf- 
jahresplans erscheinen in alien Sprachen der Welt, Aber mit wenigen 
Ausnahmen hat die Erorterung planwirtschafthcher Probleme bisher 
eher verwirrend als erklarend gewirkt, und nur in wenigen Fallen ist 



1 ) Anhaltspunkte dafur, wie klein diese Schicht in Deutschland bereits 
geworden ist, geben die Zahlen der Einkommens- und Vermogensstatistik. 
Sie sind von F. Fried in seinem Buche uber: ,,Das Ende des Kapitalismus" 
in popularer Weise zusammengestellt (S. 50ff .). Nach der letzten Einkommens- 
steuerstatistik aus dem Jahre 1928 bezogen 89,4% der Erwerbstatigen, bei 
denen hier die mithelfenden Familienangehorigen nicht beriicksichtigt sind, 
ein Einkommen bis 250 RM. monatlich und 57,2% ein Einkommen bis 
100 KM. Fried hat berechnet, dafi es unter den 32V 2 Millionen Erwerbs- 
tatigen rund 100000 gibt, ,,die wirklich ohne Sorgen, auskommlich und gut 
leben konnen". Vermogensteuerpflichtig waren in Deutschland im Jahr 1928 
insgesamt 2,76 Millionen Personen. Von den deklarierten Vermogen im 
Gesamtbetrag von 77,37 Milliarden RM. entfallen 29,11 Milliarden = rund 
37,6% auf Vermogen iiber 100000 RM. Diese sind im Besitz von 3,8% der 
Verm o gens teuerpflichtigen, namlich 104,955 Personen ( Statistisches Jahr- 
buch fur das Deutsche Reich, 1931, S. 533 und 514f). 



18 Friedrich Pollock 

es zu einer scharferen Herausarbeitung der mit einer Planwirtschaft 
zusammenhangenden Problematik gekommen 1 ). 

Es ist das Verdienst Lorwins, dadurch eine gewisse Ordnung in das 
Sprachgewirr der planwirtschaftlichen Diskussion gebracht zu habeii, 
daB er vier verschiedene Typen pknwirtschaftlicher Systeme begriff- 
lich trennte. In teilweiser TJbereinstimmung mit ihm verstehen wir 
unter Planwirtschaft ein Wirtscbaftsystem, in dem Produktion und 
Distribution zentral durch gesellschaftliche Planung reguliert werden, 
und unterscheiden zwei Haupttypen: kapitalistische Planwirtscbaft 
auf Grundlage des Privateigentums an den Produktionsmitteln und 
damit im sozialen Rahmen einer Klassengesellschaft und sozialistische 
Planwirtscbaft mit den Merkmalen des gesellschaftlichen Eigentums 
an den Produktionsmitteln und des sozialen Raums einer klassenlosen 
Gesellschaft. In ein Schema, dessen Extreme durch diese beiden Haupt- 
typen charakterisiert sind, lassen sich prinzipiell alle bisherigen plan- 
wirtschaftlichen Vorschlage einordnen. Am einen Ende findet sich das 
Generalkartell Hilferdings, in dem samtliche Unternehmungen zu- 
sammengeschlossen sind, aber prinzipiell das Privateigentum an den 
Produktionsmitteln erhalten bleibt bei scharfer Scheidung zwischen 
einer relativ kleinen herrschenden Klasse und der groBen Masse der 
Besitzlosen. Dann folgen die Entwurfe, in denen der Staat als grdBter 
Kapitalist auftritt, ohne daB das Privateigentum an den Produktions- 
mitteln prinzipiell aufgegeben ware. Bei der Beurteilung dieser Formen 
entscheidet die Beantwortung der Frage, welche Klasse im Besitze der 
Staatsmacht ist, daruber, ob sie mehr zum kapitalistischen oder zum 
sozialistischen Typ zu zahlen sind 2 ). Von den Mischformen, wie sie 
den wirtschaftsdemokratischen Forderungen vorschweben und in denen 
offentliches, genossenschaftliches und privates Eigentum an den Pro- 
duktionsmitteln nebeneinander bestehen, fuhren dann theoretisch viele 
Ubergange zu dem sozialistischen Typ der Planwirtschaft 3 ). , So ver- 

*) Wir verweisen vor allem auf die Publikationen von Heimann, Lan- 
dauer, Lederer und Lorwin. 

2 ) Solche planwirtschaftlichen Vorschlage wie etwa die des Tat-Kreises, 
in denen mit einem vollig ungeklarten Staatsbegriff operiert wird, lassen 
sich allerdings in unser Schema nur sehr schwer einreihen, da lediglich Ver- 
mutungen daruber moglich sind, was fur ein Gebilde dieser Staat ist, der 
in der geforderten „Gesamtwirtschaft" die wirtschaftlichen „Komraando- 
hohen" besetzt halt. Viele Anzeichen lassen allerdings darauf schlieJBen, 
daB als herrschende Klasse die kleinen Eigentumer unterstellt werden, 
womit sich die Charakterisierung als kapitalistische Planwirtschaft ergeben 
wurde. Vgl. E. W. Eschmann, Ubergang zur Gesamtwirtschaft, in: Die Tat, 
Septemberheft 1931. 

8 ) Es mufi hier daran erinnert werden, dai3 es ebensowenig eine allgemein 
anerkannte Theorie der Planwirtschaft gibt wie eine allgemein oder aucb 



Die gegenwartige Lage des Kapitalismus usw. 19 

schieden alle diese Typen in bezug auf das Wirtschaftsziel, ihren gesell- 
schaftlichen Inhalt, die Differenzierung der Einkommen und damit auch 
die Bestimmung der Richtung der Produktion sein mogen, dies eine 
haben sie alle gemeinsam, daB an die Stelle der „SelbststeueTung" 
der Wirtschaft mit ihrer grundsatzlich immer zu spat eintretenden 
Korrektur wirtschaftlicher Fehlhandlungen ein Plan treten soil, dem 
im Idealfall alle Einzelheiten des wirtschaftlichen Geschehens derart 
einzuordnen sind, daB mit den vorhandenen Mitteln ein Optimum an 
Leistung erreicht wird. Das „ingenieurmaBige" Denken soil vom Einzel- 
betrieb auf die Gesamtwirtschaft iibertragen und der Wirkungsgrad 
der gesellschaftlichen Zusammenarbeit auf eine bisher nicht erreichte 
Stufe gehoben werden. Es bleibt zunachst eine offene Frage, ob die 
verschiedenen Typen dasselbe wirtschaftliche Resultat erzielen konnen. 
Zuerst muB eine Klarung dariiber herbeigefuhrt werden, von welchen 
dkonomischen Voraussetzungen der Erfolg einer planwirtschaftlichen 
Neuordnung abhangt. 

VI. 

Es gehort zu den Grundanschauungen der Marxschen dkonomischen 
Theorie, daB ein neues Wirtschaftssystem erst dann durchgesetzt 
werden kann, wenn seine Okonomischen und gesellschaftlichen Voraus- 
setzungen wenigstens in ihren Elementen unter der Oberflache des 
fruheren Systems vorgebildet und die Produktionsverhaltnisse zur 
Fessel der Produktivkrafte geworden sind. 

Ebenso wie die Beseitigung der alten Bindungen im Frankreich des 
ausgehenden 18. Jahrhunderts nur deswegen eine schnelle wirtschaft- 
liche Entwicklung im Gefolge hatte, weil unter den Tnimmern der iiber- 
lebten feudalen Wirtschaft die technischen, okonomischen und gesell- 
schaftlichen Voraussetzungen fur das System des Laissez-faire bereits 
vorhanden waren, ist auch nur dann mit einer Entfesselung der vor- 
handenen Produktivkrafte durch eine planwirtschaftliche Neuordnung 



nur von der Mehrheit der Fachvertreter angenommene Theorie der kapita- 
listischen Marktwirtschaft. Uber diese Schwierigkeit hinaus befindet sich 
die planwirtschaftliche Theorie in der mifilichen Lage, daB sie nicht zu einer 
Schulenbildung gekommen ist und daB in bezug auf ihre positiven The sen 
es kaum Autoren gibt, die in den wesent lichen Punkten miteinander einig 
waren. Soweit im nachstehenden bestimrate Thesen vertreten sind, betrachtet 
der Verfasser sie lediglich als einen Beitrag zu einer in den ersten Ansatzen 
bef indlichen theoretischen Klarung. Der Charakter dieses Aufsatzes als eines 
raumlich eng begrenzten Diskussionsbeitrages bringt es mit sich, daB viele 
Behauptungen aufgestellt werden, deren Begriindung hier nicht gegeben 
werden kann. Spatere Artikel sollen versuchen, die vorliegende grobe 
Skizze zu erganzen und zu korrigieren. 



20 Friedrich Pollock 

zu rechnen, wenn deren Voraussetzungen schon gegeben sindL Ganz 
allgemein lassen sich ihre okonomischen Bedingungen — von den poli- 
tischen wird zunachst abgesehen — auf die Formel bringen, daB das 
Schwergewicht der industriellen Produktion bei der groBbetrieblichen 
Massenfabrikation liegt und der ZentralisationsprozeB eine gewisse 
Stufe erreicht hat, daB die technischen und organisatorischen Mittel 
zur Bewaltigung der Aufgaben einer zentralen Wirtschaftsleitung be- 
kannt sind und daB eine erhebliche Produktivitatsreserve vorhanden ist, 
welche durch die Anwendung der planwirtschaftlichen Methoden aus- 
genlitzt werden kann. Es laBt sich leieht zeigen, daB alle diese okono- 
mischen Voraussetzungen in den groBen Industriestaaten ebenso wie 
in der Weltwirtschaft in weitem Umfang vorhanden sind. 

Gerade diejenige Entwicklung, die sich fur den ,,normalen Ablauf des 
Marktmechanismus" als verhangnisvoll erweist, schafft eine der wichtig- 
sten Voraussetzungen ftir die Moglichkeit einer planmaBigen Leitung 
des Wirtschaftsprozesses. In vieler Hinsicht erleichtern die Konzen- 
trations- und Zentralisationsprozesse eine zentrale Wirtschaftsleitung. 
Die technischen Erfordernisse der Massenproduktion bewirken eine 
standige wachsende NivelUerung des Bedarfs, eine Verminderung der 
hergestellten Typen und vereinfachen damit ungemein die Bedarfs- 
erfassung. In den GroBbetrieben und den Zentralbiiros der Riesen- 
unternehmungen werden die Methoden zur statistischen und organi- 
satorischen Bewaltigung sachlich und raumlich ausgedehnter wirt- 
schaftlicher Vorgange ausgebildet. Endlich verringern sich zahlreiche 
Schwierigkeiten einer zentralen Wirtschaftsleitung in dem MaBe, wie 
die Zahl der zu regulierenden Betriebe kleiner wird. Die Durchfuhrung 
eines Wirtschaftsplanes fiir ein groBes Wirtschaftsgebiet erfordert 
gewaltige technische Mittel, gleichgiiltig wie weit die Dezentralisierung 
in der Ausfiihrung des Planes auch durchgefuhrt sein mag, Diese Mittel 
stehen im modernen Kapitalismus bereit. Die Verbesserung des Nach- 
richtenverkehrs, die Entwicklung der statistischen Methoden und der 
technischen Mittel zu ihrer Anwendung, die noch vor einem Jahrzehnt 
nicht fiir moglich gehaltene Maschinisierung der Buchhaltung erlauben 
es, von einer zentralen Stelle aus wirtschaftliche Vorgange groBten 
Umfangs ohne Zeitverlust zu registrieren und iibersichtlich zusammen- 
zufassen. 

Die Technik der Produktion und Distribution hat heute schon auf 
weiten Gebieten den Charakter des Individuellen verloren und wird 
mit dem Vordringen der wissenschaftlichen Betriebsfuhrung unifor- 
miert und in Lehrsatze gefafit, die mit Hilfe einer jedem Durchschnitts- 



Die gegenwartige Lage des Kapitalismus usw. 21 

menschen zuganglichen Ausbildung iiberall angewendet werden konnen. 
Einzelne Untemehmerfunktionen werden durch fortschreitende Spe- 
zialisierung erlernbar, andere von besonderen Einrichtungen uber- 
nommen. Der technische Fortschritt ist in der Regel nicht mehr zu- 
falligen Entdeckungen iiberlassen, sondern wird planmaBig in den La- 
boratorien der groBen Unternehmungen vorbereitet. 

Die Probleme der organisatorischen Bewaltigung groBer planwirt- 
schaftlicher Aufgaben sind im Rahmen der kapitalistischen GroBstaaten 
langst praktisch in Angriff genommen worden. Bahnbrechend wirkte 
hier die Kriegswirtschaft, deren aufierordentliche Leistungen, insbeson- 
dere in England und den Vereinigten Staaten, dank der Gegenpro- 
paganda starker wirtschaftlicher Interessengruppen kaum Beachtung 
finden konnten. Aber auch die heutige kapitalistische Praxis bietet zahl- 
reiche Beispiele dafur, wie groBe planwirtschaftliche Aufgaben von den 
Regierungen iibernommen werden miissen. Die protektionistische 
Zollpolitik, die in manchen Staaten bis hart an die Grenzen eines AuBen- 
handelsmonopols geht, die Organisation der Kohlen- und Elektrizi- 
tatswirtschaft etwa in Deutschland und GroBbritannien, sowie die 
MaBnahmen auf dem Gebiete der Kreditwirtschaft in den Vereinigten 
Staaten, die ihre vorlaufige Kronung in der Griindung der mit einer 
Verfiigungsgewalt iiber 2 Milliarden Dollar ausgestatteten Reconstruc- 
tion Finance Corporation gefunden haben, sind besonders charakteri- 
stische Belege wenn nicht fur den Erfolg, so doch fiir den Zwang zur 
Vornahme regulierender Eingriffe. In welchem Umfang die dritte der 
von uns genannten Voraussetzungen, das Vorhandensein unausgenutzter 
Produktivitatsreserven gegeben ist, zeigt jede Untersuchung iiber das 
Verhaltnis von Produktionskapazitat und wirklicher Produktion im 
Durchschnitt eines Konjunkturzyklus. Auf alien Gebieten der Produk- 
tion und der Verteilung laBt sich der Tatbestand einer Fesselung der 
Produktivkrafte durch die Produktionsverhaltnisse nachweisen. In 
diesem Zusammenhang waren auch die Produktionszweige zu nennen, 
an deren planmaBige Regulierung bereits im kapitalistischen System 
gegangen werden muB, weil die Mittel der Konkurrenz ganz offenbar 
die Ausnutzung der vorhandenen technischen Moglichkeiten verhindern 
(Elektrizitatswirtschaft, Eisenbahnen usw.). 

In wie hohem MaBe die okonomischen Voraussetzungen fiir eine plan- 
wirtschaftliche Ordnung der Gesamtwirtschaft bereits im SchoBe des 
heutigen Wirtschaftssystems entwickelt sind, ergibt sich indirekt auch 
daraus, daB selbst die unentwegtesten Anhanger der freien Wirtschaft 
in kritischen Situationen den Staat zu Hilfe rufen. Sie geben damit zu, 



22 Friedrich Pollock 

daB der Marktmechanismus gerade bei den entscheidenden Aufgaben 
versagt und durch staatliche Eingriffe erganzt werden mufi. 

vn. 

Die Gegner einer planwirtschaftlichen Neuordnung haben bis heute 
ein sehr wichtiges Argument auf ihrer Seite. Das schlechte Funktio- 
nieren des Marktautomatismus und das Vorhandensein wichtiger 
okonomischer Voraussetzungen fur eine Planwirtschaft beweisen noch 
nicht, daB diese mehr leistet als das bisherige System. Ein Beweis 
hierfur ist letzten Endes ebenso nur durch die Praxis zu erbringen, wie 
die Verkunder des Laissez-faire-Prinzips in der zweiten Halfte des 
18. Jahrhunderts erst durch die Erfolge des von ihnen geforderten 
Systems ihre theoretischen Satze verifizieren konnten. Bis dahin 
miissen sich auch die Vertreter des Plangedankens darauf be- 
schranken, die gegnerischen Argumente auf ihre Tragfahigkeit 
moglichst sorgfaltig zu prufen und eine in sich widerspruchs- 
freie, dem heutigen Stand der sozialokonomischen Wissenschaft 
angemessene systematische Theorie einer planwirtschaftlichen Ord- 
nung aufzustellen. Beide Aufgaben bieten so groBe Schwierig- 
keiten, daB sie nur durch kollektive Arbeit bewaltigt werden kOnnen. 
Hier beschranken vnr uns darauf, einen summarischen Uberblick 
liber die wichtigsten Streitfragen zu geben und die eigene Stellung 
nur anzudeuten. 

Gegen eine Planwirtschaft wird in erster Linie das Bedenken er- 
hoben, sie sei weniger produktiv als die heutige Marktwirtschaft, da 
sie den Markt zerstOre, ohne seine Funktionen ersetzen zu kotmen. Vor 
allem sei es ihr unmOgHch, ihre Kosten zu berechnen, und unter solchen 
Umstanden sei „es immer noch besser, sich zuweilen etwas zu verrechnen, 
als iiberhaupt nicht zu rechnen" 1 ). Wahrend die Marktwirtschaft in 
den letzten 100 Jahren trotz groBer Reibungsverluste die Bediirfnisse 
einer rasch wachsenden BevOlkerung immer besser befriedigte, miisse 
sich eine Planwirtschaft darauf beschranken, den status quo aufrecht 
zu erhalten, da sie weder Bedarfsverschiebungen noch Veranderungen 
der Technik auf Okonomisch brauchbare Weise erfassen kOnne. Auf 
dreierlei Weise begegneten planwirtschaftliche Theoretiker diesem 
Einwand: Marktorganisation und Planwirtschaft seien gar keine unver- 
einbaren Gegensatze, im Gegenteil, erst eine Planwirtschaft konne die 
Vorteile der Kostenermittlung durch die Marktpreisbildung voll aus- 



x ) Nachkriegskapitalismua 1. c. 19. 



Die gegenwarfcige Lage des Kapitalismus usw. 23 

nutzen 1 ). Der zweite Gegeneinwand lautete, daB die Ermittlung der 
Kosten auch ohne das indirekte Mittel des Tauschverkehrs moglich sei. 
„Wie der Tauschverkehr die richtigen Preise nur durch Erproben 
ermittelt, so kann auch eine strenge Planwirtsehaft nach Projek- 
tierung im grofien fur die Einzelbestimmung der Preise einzelne Giiter- 
teile von einer Produktion in die andere wirklich verschieben und tastend 
versuchen, wie sie auf Grund des hoheren Nutzens der neuen Kombina- 
tion die BedeutungsgroBe des betreffenden Gutes erhohen kann*' 2 ). 
Von anderen Theoretikern wird sogar der Beweis angeboten, daft eine 
„naturalwirtschaftliche" Rechnung, die auch. nicht mehr mit fiktiven 
Preisen arbeitet, der Kostenermittlung des Marktes iiberlegen sei 3 ). 
Endlich kann man mit 0. Bauer einwenden: „Die kapitalistische 
Gesellschaft ist gesellschaftlicher Rationalitat nicht fahig. Sie senkt 
den Kostenaufwand des einzelnen Unternehmers ohne Riicksicht darauf , 
ob die Senkung seiner Kosten durch Mehraufwand an gesellschaftlichen 
Kosten liberwogen wird. . . Erst in einer sozialistischen Gesellschaft, 
in der die Gesellschaft selbst iiber die Produktionsmittel verfiigt und die 
Produktion leitet, wird jede wirtschaftliche EntschlieBung von rech- 
nungsmaBigem Vergleich des gesellschaftlichen Ertrages und des ge- 
sellschaftlichen Aufwandes abhangig" 4 ). 

Auch wir halten die Moglichkeit, das Verhaltnis von Kosten und 
Ertrag auf andere Weise als durch den Austausch festzustellen, bereits 
auf Grund der heutigen Erfahrungen fur gegeben, wenn auch die dazu 
notwendigen Methoden noch sehr viel weiter ausgebildet sein miissen, 
bis das denkbare Optimum der wirtschaftlichen Erfolgsberechnung 
erreicht wird. 

Ein zweiter Einwand besagt, daB in einer Planwirtsehaft die ent- 
scheidende Triebkraft des Profitstrebens und der freien- Konkurrenz, 
die zur Aktivierung aller wirtschaftlichen Krafte fuhrte, wegfiele und 
die Ergiebigkeit der Wirtschaft schnell nachlieBe. Dieser Einwand 
scheint uns auf einer unhaltbaren Psychologie zu beruhen. 

Ferner wird behauptet, daB in einer Planwirtsehaft der Anreiz zur 
Kapitalbildung fehle und das vorhandene Kapital unsachgemaB ver- 
teilt werde. Gerade hier kSnnte aber die Kapitalbildung der Willkur 
der einzelnen Wirtschaftssubjekte entzogen und den gesellschaftlichen 

x ) Vor allem E. Heimann, dessen Schrift „Sozialistische Wirtschafts- und 
Arbeitsordnung", Potsdam 1932, sich eingehend mit dieser Frage beschaftigt, 

2 ) Landauer, 1. c. S. 120. 

3 ) O. Neurath, Wirtschaftsplan und Naturalrechnung. Berlin 1925, 
vor allem S. 53ff. 

4 ) O. Bauer, Kapitalismus und Sozialismus nach dem Weltkrieg, 1. Bd. 
Rationalisierung-Fehlrationalisierung, Wien 1931, S. 181. 



24 Friedrich Pollock 

Organen ubertragen werden, denen dann auch die zweckinaBige Anlage 
der Kapitalien lage. Fehlinvestitionen wiirden rascher bemerkt, 
und die Mittel zu ihrer Korrektur waren bedeutend wirksamer 
ais heute 1 ). Die Gefahr, daB die technisehen Fortschritte in einer 
Planwirtschaft nachlassen, ist dadurch ausgeschaltet, daB die Erfinder- 
tatigkeit in den technisch-wissenschaftlichen Anstalten der Unter- 
nehmnngen und des Staates bereits heute weitgehend rationalisiert 
ist und fast von einer fortlaufenden Produktion von Erfindungen ge- 
sprochen werden kann. Eine Planwirtschaft wird darauf sehen miissen, 
bei der Umsetzung neuer technischer Verfahren in die Praxis Tempo 
und AusmaB der Umstellung zu regulieren, und wird dadurch die groBen 
Storungen und Verluste, die notwendig bei profitorientierter Techni- 
sierung entstehen, vermeiden. 

Eine weitere Gruppe von Streitfragen betrifft die organisatorischen 
Grundsatze einer Planwirtschaft. Die groBte Schwierigkeit laBt sich 
auf das Problem zuriickfuhren, wie die Prinzipien der Zentralisation 
und Dezentralisation am zweckmaBigsten miteinander vereinigt werden 
konnen. Denn die Forderung nach einer zentralen Leitung der gesamten 
Wirtschaftsprozesse. kann nicht so verstanden werden, daB von einer 
Zentrale aus jeder einzelne Betrieb in alien Einzelheiten seiner Geschafts- 
fuhrung bevormundet wird. Wo die Grenzen der zentralistischen 
Fiihrung liegen, laBt sich nicht ein fur allemal sagen, da dies offenbar 
bei einem verschiedenen Grad der Technik, der Vereinheitlichung des 
Produktions- imd Verteilungsprozesses, der Differenzierung in der 
Vorbildung der Ausfiihrenden ganz verschieden ist. 

Im engsten Zusammenhang mit diesem Problem stent der bereits 
oben genannte Vorschlag, sozusagen die gute Seite der Marktprozesse 
in den Dienst der Planwirtschaft zu stellen. Dadurch wxirde scheinbar 
der zentralen Tatigkeit eine klare Grenze gezogen und gleichzeitig die 
Losung eines anderen schwierigen Problems, namlich die rasche An- 
passung der Produktion an die Wunsche der uber ihr Einkommen frei 
verf iigenden Konsumenten gesichert. Nach alien bisherigen Erfahrungen 
rmiBte die Uberfuhrung des heutigen Systems in eine Planwirtschaft 
zunachst an die Markteinrichtungen ankniipfen, denn die vielen vor- 
handenen Ansatze fur eine marktlose Wirtschaft bediirfen einer Modi- 
fizierung, gegenseitiger Abstimmung und Erganzung, ehe sich mit ihrer 
Hilfe die Marktfunktionen vorteilhaft ersetzen lassen. Unsere Bedenken 
riphten sich nicht gegen die Beibehaltung der Marktorganisation in 

2 ) Vgl. Landauer, 1. c. S. 121 — 130, der uns auf diesen Seiten Entscheidende& 
zu dieser Frage gesagt zu haben scheint. 



Die gegenwartige Lage des Kapitalismus usw. 25 

einer tjbergangswirtschaft, sondern gegen die Auffassung, daB grund- 
satzlich nur der Markt die Rechnungen ermOglichen kOnne, an denen 
sich eine rationale Wirtschaftspolitik orientieren miifite. Es ist typisch 
fur alle ernsthaften Versuche, den Marktmechanismus in das Gebaude 
einer Pianwirtschaft einzubeziehen, daB das Prinzip der freien Preis- 
bildung regelmaBig durchbrochen wird zugunsten ..sozialer" Preise 
(Lorwin) oder solcher „diktierter" Preise, die etwa einer von der Gesell- 
schaft bzw. ihren Planorganen beschlossenen Kapitalbildung dienen 
sollen (Heimann). Eine weitere Einschrankung crfahrt in den meisten 
dieser Systeme die freie Preisbildung durch die Kreditpolitik, die in 
einer Pianwirtschaft dieKapitalien nicht notwendig zum Ort der hochsten 
Rentabilitat leiten muB. Vielmehr miissen die Planorgane ,,aktiv ent- 
scheiden, ob einem Produktionszweig das Kapital zugeleitet werden 
soil, das er von sich aus zinsbringend verwenden wiirde. Es wird ihm 
zugeleitet werden, nur, falls der Uberblick tiber die Verschiebung des 
Arbeitsbedarfs im Gesamtrahmen der Volkswirtschaft keine Gefahr 
daraus erwarten laBt" 1 ) und falls nicht eine andere Verteilung des 
Kapitals im Rahmen des Gesamtplans vorgesehen ist. Ob eine solche 
marktmaBige Ordnung der Pianwirtschaft moglich ist, bedarf einer aus- 
giebigen Diskussion. Jedenfalls aber konnen keine Bedenken gegen die 
Verwendung von Preisen im Sinne bloBer Verrechnungsmittel erhoben 
werden. Die arbeitsteilig verbundenen Betriebe miissen miteinander 
abrechnen, und soweit den Konsumenten ihr Einkommen nicht in 
Naturalien zugewiesen wird, braucht man ein Mittel zur Verrechnung 
dieser Einkommen. 

Je nach der Auffassung uber den zu verwirklichenden Typus von 
Pianwirtschaft ergibt sich eine abweichende Stellung zu den Problemen 
der Konsumfreiheit und der Frage, in welchem MaBe die Konsumenten 
bei der Aufstellung des Wirtschaftsplanes iiber Richtung und Umfang 
des Konsums und damit der Produktion mitzubestimmen haben. Hier 
begegnen uns neben vielen ungelosten Fragen eine Anzahl von Schein- 
problemen, so z. B. die Behauptung, daB ein Wirtschaftsplan jede 
Konsumfreiheit ausschlieBe. Eine Konsumfreiheit, jedenfalls im ab- 
soluten Sinne, hat es aber fiir die iiberwiegende Mehrzahl der Menschen 
me gegeben und ist nur bei einem vorlaufig nicht realisierbaren Reich - 
turn der Gesellschaft denkbar. Durch eine beschrankte Konsum- 
freiheit waren aber erhebliche Storungen des Planes nicht zu 
befurchten, da die Bedarf sgewohnheiten bei mittleren Einkommen s- 
lagen relativ starr sind und diese Konstanz durch gesellschaftliche 

!) Heimann, 1. c. S. 39. 



26 Friedrich Pollock 

Beeinflussung und das Zusammendriicken der Einkommenspyramide 
sich noch verstarkte. 

Halt man sich den verschiedenen Grad kapitalistischer Entwicklung 
und Reife in den einzelnen Landern vor Augen, so erhebt sich die Frage, 
ob eine Planwirtschaft in einem einzelnen Lande oder nur international 
moglich sei und ob innerhalb einer Volkswirtschaft Teilplane in die 
Marktwirtschaft eingebaut werden konnen. Lederer hat kiirzlich nach- 
zuweisen versucht, daB freie Wirtschaft und Planwirtschaft „nur prin- 
zipielle Gegensatze seien, die sich in der Wirklichkeit nicht ausschlieBen", 
kommt aber dann zu dem Ergebnis, daB die Vorteile einer Planwirtschaft 
sich nur dann voll auswirken konnen, wenn alle Wirtschaftszweige in 
einen Gesamtplan einbezogen werden 1 ). 

Auch wir sind der Meinung, daB ein Teilplan qualitativ etwas ganz 
anderes darstellt als ein Gesamtplan und daB erst dann von einer Plan- 
wirtschaft gesprochen werden kann, wenn zumindest alle entscheidenden 
Wirtschaftszweige planmaBig reguliert werden. Dagegen durfte ein 
planwirtschaftliches System auch im Rahmen nur einer Volkswirtschaft 
prinzipiell moglich sein, soweit es ihr gelingt,-die Schwierigkeiten, die 
dem Plan aus der Abhangigkeit von der Belieferung durch das Ausland 
entstehen konnen, zu uberwinden. Die von der okonomischen Seite 
her drohenden Gef ahren spielen hier wahrscheinlich eine viel geringere 
Rolle als diejenigen von der politischen. Durch die Verfugungsgewalt 
uber ein relativ autarkes Gebiet wird allerdings die Planarbeit auBer- 
ordenthch erleichtert. 

Aus der Fulle der planwirtschaftlichen Probleme greifen wir noch 
die eine Frage heraus, ob eine Planwirtschaft mit dem Privateigentum 
an den Produktionsmitteln vereinbar ist. Wird unter Eigentum aus- 
schlieBliche Verfugungsgewalt verstanden, so ist nicht einzusehen, wie ein 
Plan durchfuhrbar sein sollte, wenn die einzelnen Eigentumer derProduk- 
tionsmittel die Wahl hatten, seine Anweisungen in dem Umfang zu be- 
folgen, wie esihnenzusagt. Dagegen wurden okonomisch keine Schwie- 
rigkeiten bestehen, das Privateigentum nominell beizubehalten, wenn die 
Verfugungsgewalt an die Planorgane abgetreten ware. Es ware dann 
zu dem geworden, was es in sehr vielen Fallen heute schon ist, namlich 
zu einem mehr oder weniger sicheren Anspruch auf den Bezug einer Rente . 

VIII. 
Wenn auch der gegenwartige Stand der planwirtschaftlichen Theorie 
es nicht eriaubt, ein bis in die Einzelheiten ausgefuhrtes Bild einer 
l ) E. Lederer, Planwirtschaft, 1. c. S. 9ff., 39ff. 



Die gegenwartige Lage des Kapitalismus usw. 27 

Planwirtschaft zu zeichnen, so erscheinen uns doch alle Okonomischen 
Voraussetzungen zu ihrer Verwirklichung gegeben zu sein 1 ). Eine ganz 
andere Frage aber ist es, ob die ebenso wichtigen gesellschaftlichen und 
insbesondere die politischen Tatbestande in absehbarer Zeit eine plan- 
wirtschaftliche Neuordnung gestatten. 

Eine kapitalistische Planwirtschaft kann von den Eigentiimem 
der Produktionsmittel schon allein aus dem Grande nicht geduldet 
werden, weil sie, wie oben bereits angedeutet, ihrer Okonomischen 
Eunktion entkleidet und zu bloBen Rentenbeziehern degradiert werden 
miiBten. In keiner Geseilschaftsordnung hat sich aber bisher der bloBe 
Bezug von Renten auf Kosten der Gesellschaft ohne sichtbare Gegen- 
leistung auf die Dauer aufrecht erhalten lassen. 

Die Aussichten fur die Verwirklichung einer sozialistischen 
Planwirtschaft sind trotz aller okonomischer MOglichkeiten solange 
gering, wie der Einf luB der an einer solchen Wirtschaftsform durch ihre 
Klassenlage interessierten Schichten fur eine Umwalzung nicht ausreicht. 
Wichtig aber bleibt, die auf eine Planwirtschaft hindrangenden Ten- 
denzen zu verfolgen, alle Mdglichkeiten einer solchen Wirtschaft zu 
iiberpriifen und eine geschlossene Theorie aufzubauen, die einer kiinftigen 
Wirtschaftspolitik als Orientierungsmittel dienen konnte. 



x ) Es wird bei manchen Befremden hervorrufen, dafi wir unter den Argu- 
menten fur die Moglichkeit einer Planwirtschaft das sowjetrussische Wirt- 
schaftssystem nicht angefiihrt haben. Wir sind nun allerdings der tJber- 
zeugung, daI3 die Theorie und Praxis der Planwirtschaft aus den russischen 
Versuchen sehr viel zu lernen hat, miissen aber im gegenwartigen Stadium 
dem russischen Experiment die Beweiskraft dafiir absprechen, ob diese Art 
der Planwirtschaft okonomisch — und nur unter diesem Gesichtspunkt 
haben wir das Problem bisher erortert — dem privatkapitalistischen System 
iiberlegen ist. Die Bedingungen, unter denen seit 1917 die Wirtschafts- 
politik in der Sowjetunion stent, sind in negativem und positive m Sinn so 
einzigartige, dafi sich heute kaum schon Aussagen dariiber machen lassen, 
was von den Erfolgen oder MiBerfolgen aus den Eigenarten der russischen 
Situation und was aus den Besonderheiten der planwirtschaftlichen Me- 
thoden zu erklaren ist. 



Uber Methode und Aufgabe einer analytischen 
Sozialpsychologie. 

Von 
Erich Fromm (Berlin). 

Die Psychoanalyse ist eine naturwissenschaftliche, materialistische 
Psychologic Sie hat als Motor menschlichen Verhaltens Triebregungen 
und Bediirfnisse nachgewiesen, die von den physiologisch verankerten, 
selbst nicht unmittelbar beobachtbaren ,,Trieben" gespeist werden. 
Sie hat aufgezeigt, dafi die bewuBte Seelentatigkeit nur einen relativ 
kleinen Sektor des Seelenlebens ausmacht, daB viele entscheidende 
Antriebe seelischen Verhaltens dem Menschen nicht bewuBt sind. Sie 
hat insbesondere private und kollektive Ideologien als Ausdruck be- 
stimmter, trieblich verankerter Wiinsche und Bediirfnisse entlarvt 
und auch in den ,,moralischen" und ideellen Motiven verhiillte und 
rationalisierte AuBerungen von Trieben entdeckt 1 ). 

Freud hat zunachst, ganz entsprechend der popularen Einteilung 
der Triebe in Hunger und Liebe, zwei Gruppen von Trieben ange- 
nommen, die als Motoren des menschlichen Seelenlebens wirksam 
sind: die Selbsterhaltungstriebe und die Sexualtriebe 2 ). Die den 
Sexualtrieben innewohnende Energie hat er als Libido bezeichnet, 
seelische Vorgange, die von dieser Energie gespeist sind, als libidinose. 



*) Das „tjber-lch" als Instanz pflichtgemafien Handelns verdankt nach 
Freud seine Entstehung den Geiiihlsbeziehungen zwischen Kind und EI tern, 
hat also seine Basis durchaus in den Trieben. 

2 ) Unter dem Eindruck der Tatsache der libidinosen Beimengungen zu 
den Selbsterhaltungstrieben und der besonderen Bedeutung der destruk- 
tiven Tendenzen hat Freud seine urspriingliche Annahme dahin modi- 
fiziert, daB er nun den lebenserhaltenden (erotischen) Trieben Zerstorungs- 
triebe (Todestrieb) gegemiberstellt. So bedeutsam gewiC Freuds Argumen- 
tation fur diese Modifikation seines urspriinglichen Standpunkts ist, so 
tragt sie doch einen bei weitem spekulativeren und weniger empirischen 
Charakter als seine urspriingliche Position. Sie scheint uns auf einer von 
Freud sonst vermiedenen Vermischung biologischer Tatsachen und psycho- 
logischer Tendenzen zu beruhen. Sie steht auch im Gegensatz zu einer 
urspriinglichen Position Freuds, zur Auffassung der Triebe als primar 
wiinschend, begehrend, den Lebenstendenzen dienend und sich ihnen an- 
passend. "Uns scheint eine Konsequenz der Gesamtauffassung von Freud zu 
sein, daB die menschliche Seelentatigkeit sich in Anpassung an Lebensvor- 
gange und Lebensnotwendigkeiten entwickelt und dafi die Triebe als solche 
gerade dem biologischen Todesprinzip entgegengesetzt sind. Die Diskussion 
iiber die Annahme von Todestrieben ist innerhalb der analytischen Wissen- 
schaft noch im Gange; wir gehen bei unserer Darstellung der psychoana- 
lytischen Theorie von der urspriinglichen Position Freuds aus. 



XJber Methode und Aufgabe einer analytischen Sozialpsychologie 29 

Unter Sexualtrieben hat Freud in berechtigter Erweiterung der ub- 
lichen Verwendung dieses Begriffes alle, analog den genital en Im- 
pulsen, korperlich bedingten und an Korperstellen (,,erogerien Zonen") 
haftenden Spannungen, die nach lustbringender Abfuhr verlangen, 
verstanden. 

Als Hauptprinzip der Seelentatigkeit nimmt Freud das „Lust- 
prinzip" an, die Tendenz zu maximaler, lustbringender Abfuhr der 
Triebspannungen. Dieses Lustprinzip wird durch das „Realitats- 
prinzip" modifiziert, das unter dem EinfluB der Beobachtung der 
Realitat Verzicht oder Auf schub von Lust zugunsten der Vermeidung 
groBerer Unlust oder der Gewinnung kiinf tiger groBerer Lust fordert. 

Die Eigenart der spezifischen Triebstruktur eines Menschen sieht 
Freud durch zwei Faktoren bedingt: die mitgebrachte Konstitution 
und das Lebensschicksal, vor allem das Schicksal seiner fruhen Kind- 
heit. Er geht davon aus, daB mitgebrachte Konstitution und Erleben 
eine ,,Erganzungsreihe" bilden und daB die spezifisch analytische 
Aufgabe die Erforschung des Einflusses des Erlebens auf die gegebene 
Triebkonstitution ist. Die analytische Methode ist also eine exquisit 
historische: sie fordert Verstandnis der Triebstruktur aus 
demLebensschicksal. Diese Methode hat ihre Giiltigkeit sowohl 
fur das Seelenleben des Gesunden wie das des Kranken, der neu- 
rotischen Personlichkeit. Das, was den neurotischen Menschen vom 
,,normalen" unterscheidet, ist die Tatsache, daB bei diesem sich die 
Triebstruktur optimal seinen realen Lebensnotwendigkeiten angepafit 
hat, wahrend bei jenem die Triebentwicklung auf gewisse Hindernisse 
gestoBen ist, die eine geniigende Anpassung der Triebe an die Realitat 
verhinderten. 

Um die Tatsache der Anpassung und Modifizierbarkeit der Sexual- 
triebe an die Realitat ganz verstandlich machen zu konnen, ist es 
notwendig, auf gewisse Eigenschaften der Sexualtriebe hinzuweisen, 
Eigenschaften, die sie gerade von den Selbsterhaltungstrieben unter- 
scheiden. 

Die Sexualtriebe sind im Gegensatz zu den Selbsterhaltungs- 
trieben aufschiebbar, wahrend jene imperativischer Natur sind, 
d. h. eine langere Nichtbefriedigung den Tod herbeifiihrt, bzw, see- 
lisch absolut unertraglich ist. Diese Tatsache bewirkt, daB die Selbst- 
erhaltungstriebe ein Primat vor den Sexualtrieben haben ; nicht in dem 
Sinn, daB sie an sich eine groBere Rolle spielen, aber so, daB im Falle 
des Konflikts sie die dringlicheren sind, daB sie sich, soiange sie noch 
unbefriedigt sind, als die starkeren erweisen. 



30 Erich Fromm 

Damit ist eng verkniipft, daB die Regungen der Sexualtriebe ver- 
drangbar sind, wahrend die sich aus den Selbsterhaltungstrieben 
ergebenden Wiinsche nicht aus dem BewuBtsein entfernt werden und 
im UnbewuBten deponiert bleiben konnen. Ein weiterer wichtiger 
Unterschied zwischen beiden Triebgruppen ist die Tatsache, daB die 
Sexualtriebe sublimierbar sind, d. h. daB an die Stelle der direkten 
Befriedigung eines sexuellen Wunsches eine vom ursprtinglichen 
Sexualziel entfernte. mit Leistungen des Ich amalgamierte Befriedi- 
gung treten kann. Die Selbsterhaltungstriebe sind solcher Subli- 
mierung nicht fahig. 

Von besonderer Wichtigkeit ist ferner die Tatsache, dafi die Be- 
friedigung der Selbsterhaltungsimpulse immer wirklicher Mittel 
bedarf, daB aber die Befriedigung der Sexualtriebe oft in Phantasien, 
ohne Aufwendung realer Mittel, vor sich gehen kann. Konkret ge- 
sprochen heiBt das : den Hunger der Menschen kann man nur mit Brot 
befriedigen, aber etwa ihre Wiinsche, geliebt zu werden, mit einer 
Phantasie von einem gutigen, liebenden Gott oder ihre sadistischen 
Tendenzen mit blutigen Volksschauspielen. 

Wesentlich ist endlich, daB die verschiedenen AuBerungsformen der 
Sexualtriebe — wiederum im Gegensatz zu den Selbsterhaltungs- 
trieben — in hohem Grade untereinander vertauschbar und ver- 
schiebbar sind. Bei Nichtbefriedigung einer Triebregung kann diese 
durch eine andere ersetzt werden, deren Befriedigung — aus innern 
oder auBern Grlinden — moglich ist. Diese Verwandelbarkeit und 
Vertauschbarkeit innerhalb der Sexualtriebe ist einer der Schliissel 
zum Verstandnis des neurotischen wie des gesunden Seelenlebens und 
ein Kernstiick der psychoanalytischen Theorie. Sie ist aber auch eine 
gesellschaftliche Tatsache von hochster Bedeutung. Sie erlaubt es, 
daB gerade diejenigen Befriedigungen den Massen geboten und von 
ihnen akzeptiert werden, die aus sozialen Griinden zur Verfiigung 
stehen bzw. der herrschenden Klasse erwiinscht sind 1 ). 

Zusammenfassend ergibt sich also, daB die Sexualtriebe infolge 
ihrer Aufschiebbarkeit, Verdrangbarkeit, Sublimierbarkeit und Ver- 
wandelbarkeit einen viel elastischeren und geschmeidigeren Charakter 
haben als die Selbsterhaltungstriebe. Sie lehnen sich diesen an, folgen 

J ) Eine besondere Rolle spielt die Aufpeitschun^ und Befriedigung sa- 
distischer Impulse, die dann stattzuhaben pflegt, wenn andere Triebbefriedi- 
gungen positiver Natur aus sozialokonomischen Griinden ausgeschlosflcn 
sind. Der Sadismus ist das grofie Triebreservoir, auf das man zuriick- 
zugreifen pflegt, wenn man der Masse keine anderen — und gewohnlicb 
kostspieligeren — Befriedigungen zu bieten hat und mit dessen Hilfe man, 
gleichzeitig seine Gegner vernichtet. 



Uber Methode und Aufgabe einer analytischen Sozialpsychologie 31 

ihren Spuren 1 ). Die Tatsache der grOBeren Geschmeidigkeit und 
Wandlungsfahigkeit der Sexualtriebe bedeutet aber nicht, daB sie auf 
die Dauer unbefriedigt bleiben konnen. Es gibt nicht nur ein phy- 
sisches, sondern auch ein psychisches Existenzminimum, d. h. 
ein notwendiges MindestmaB der Befriedigung der Sexualtriebe. 
Die hier charakterisierten Unterschiede zwischen Selbsterhaltungs- 
und Sexualtrieben bedeuten vielmehr nur, daB sich die Sexualtriebe 
in hohem MaBe den Befriedigungsmoglichkeiten, d. h. den realen 
Lebensumstanden anpassen konnen. Sie entwickeln sich schon im 
Sinne dieser Anpassung, und nur bei neurotischen Individuen 
liegen Storungen der Anpassungsfahigkeit vor. Die Psychoanalyse 
hat gerade diese Modifizierbarkeit der Sexualtriebe aufgezeigt, sie 
hat gelehrt, die individuelle Triebstruktur aus dem Lebensschicksal 
bzw. aus der Beeinflussung der mitgebrachten Triebanlage durch das 
Lebensschicksal zu verstehen. Die aktive und passive An- 
passung biologischer Tatbestande, der Triebe, an soziale 
ist die Kernauffassung der Psychoanalyse, und jede personalpsycho- 
logische tJntersuchung geht von dieser Grundauffassung aus. 

Freud hat sich ursprunglich — und auch spaterhin vorwiegend — ■ 
mit der Psychologie des Individuums beschaftigt. Nachdem aber 
einmal in den Trieben die Motive menschlichen Verhaltens, im Un- 
bewuBten die geheime Quelle der Ideologien und Verhaltungsweisenent- 
deckt waren, konnte es nicht ausbleiben, daB die analytischen Autoren 
den Versuch machten, vom Problem des Individuums zu dem der Ge- 
sellschaf t, von der Personalpsychologie zur Sozialpsychologie 
vorzustoBen. Es muBte der Versuch unternommen werden, mit den 
Mitteln der Psychoanalyse den geheimen Sinn und Grund der im 
gesellschaftlichen Leben so augenfalligen irrationalen Verhaltungs-- 
weisen, wie sie sich in der Religion und in Volksbrauchen, aber auch 
in der Politik und Erziehung auBern, zu finden. GewiB muBten damit 
Schwierigkeiten entstehen, die vermieden wurden, solange man sich 
auf das Gebiet der Personalpsychologie beschrankte. 

Aber diese Schwierigkeiten andern nichtsdaran, daB dieFragestellung 
eine vollig korrekte, legitime wissenschafthcheKonsequenz aus der Aus- 
gangsposition der Psychoanalyse darstellt. Wenn sie im Triebleben, im 
UnbewuBten, den Schlussel zum Verstandnis menschlichen Verhaltens 
gefunden hat, so muB sie auch berechtigt undimstande sein, Wesent- 
liches iiber die Hintergriinde gesellschaftlichen Verhaltens auszusagen. 

l ) vgl. Freud, Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. Ges. Sch. V Leipzig, 
Wien, Zurich 1924. 



32 Erich Fromm 

Denn auch die ,,Gesellschaft" besteht aus einzelnen lebendigen Indi- 
viduen, die keinen anderen psychologischen Gesetzen unterliegen 
kOnnen als denen, die die Psychoanalyse im Individuum entdeckt hat. 
Es scheint uns deshalb auch unrichtig zu sein, wena man, wie 
W. Reich das tut, der Psychoanalyse das Gebiet der Personal- 
psychologie reserviert und ihre Verwendbarkeit fiir gesellschaft- 
liche Erscheinungen wie Politik, KlassenbewuBtsein etc. grundsatzlich 
bestreitet 1 ). Die Tatsache, daB eine Erscheinung in der Gesellschafts- 
lehre behandelt wird, heiBt keineswegs,* daB sie nicht Objekt der 
Psychoanalyse sein kann (so wenig wie es richtig ist, daB ein Gegen- 
stand, den man unter physikalischen Gesichtspunkten untersucht, 
nicht auch unter chemischen untersucht werden dtirfe). Es bedeutet 
nur, daB sie nur, insoweit — aber auch ganz insoweit — bei der Er- 
scheinung psychische Tatsachen eine Rolle spielen, Objekt der Psycho- 
logie ist und speziell der Sozialpsychologie, die die gesellschaftlichen 
Hintergrlinde und Funktionen der psychischen Erscheinung fest- 
zustellen hat. Die These, die Psychologie habe es nur mit dem 
einzelnen, die Soziologie mit ,,der" Gesellschaft zu tun, ist 
falsch. Denn so sehr es die Psychologie immer mit dem vergesell- 
schafteten Individuum zu tun hat, so sehr hat es die Soziologie 
mit einer Vielheit von einzelnen zu tun, deren seelische Struktur 
und Mechanismen von der Soziologie berucksichtigt werden 
mxissen. Es wird spater davon die Rede sein, welche Rolle 
psychische Tatbestande gerade bei gesellschaftlichen Erscheinungen 
spielen und daB gerade hier der methodische Ort einer analytischen 
Sozialpsychologie ist. 

Die Soziologie, mit der die Psychoanalyse die meisten Beriihrungs- 
punkte, aber auch die meisten Gegensatze zu haben scheint, ist der 
historische Materialismus. 

*) „Der eigentliche Gegenstand der Psychoanalyse ist das Seelenleben 
des vergesellschafteten Menschen. Das der Masse kommt fiir sie riur insofern 
in Betracht, als individuelle Phanomene in der Masse in Erscheinung 
treten (etwa das Problem des Fiihrers), ferner, soweit sie Erscheinungen der 
,Massenseele', wie Angst, Panik, Gehorsam usw. aus ihren Erfahrungen am 
einzelnen erklaren kann. Aber es scheint, als ob ihr das Phanomen des 
Klassenbewufitseins kaum zuganglich ware, und Probleme wie das der 
Massenbewegung, der Politik, des Streiks, die der Gesellschaftslehre an- 
gehoren, konnen nicht Objekte ihrer Methode sein." (Dialektischer Mate- 
rialismus und Psychoanalyse. Unter dem Banner des Marxismus III, 5 
S. 737.) Wir betonen, der prinzipiellen Bedeutung dieses methodologischen 
Problems wegen, diese Differenz zu dem von Reich vertretenen Standpunkt, 
den er, wie seine letzten Arbeiten zeigen, in fruchtbarer Weise modifiziert 
zu haben scheint. Wir kommen spater noch auf die mannigfachen Uberein- 
stimmungen mit seinen , ausgezeichneten empirischen sozialpsychologischen 
Untersuchungen zuruck. 



tJber Methode und Aufgabe einer analytischen Sozialpsychologie 33 

Die meisten Beruhrungspunkte — derm sie sind beide materia - 
listische Wissenschaften. Sie gehen nicht von ,,Ideen", sondern vom 
irdischen Leben, von Bedtirfnissen aus. Sie beriihren sich im be- 
sonderen in ihrer gemeinsamen Einschatzung des BewuBtseins, das 
ihnen weniger Motor menschlichen Verhaltens als Spiegelbild anderer 
geheimer Krafte zu sein scheint. Aber hier, bei der Frage nach dem 
Wesen dieser eigentlichen, das BewuBtsein bestimmenden Faktoren 
scbeint ein unversohnlicher Gegensatz zu bestehen. Der historische 
Materialismus sieht im BewuBtsein einen Ausdxuck des gesellschaft- 
lichen Seins, die Psychoanalyse einen des UnbewuBten, der Triebe. 
Es entsteht die unabweisbare Frage, ob diese beiden Thesen in einem 
Widerspruch zueinander stehen und, wenn nicht, in welcher Weise 
sie sich zueinander verhalten und endlich, ob und warum eine Be- 
nutzung psychoanalytischer Methoden fur den historischen Materialis- 
mus eine Bereicherung darstellt, 

Bevor wir uns der Diskussion dieser Fragen selbst zuwenden, er- 
scheint es notig zu erortern, welche Voraussetzungen denn die Psycho- 
analyse zu einer Verwendung furgesellschaftlicheProbleme mitbringt 1 ). 

Freud hat niemals den isolierten, aus dem sozialen Zusammen- 
hang gelosten Menschen als Objekt der Psychologie angenommen. 
,,Die Individualpsychologie ist zwar auf den einzelnen Menschen ein- 
gestellt und verfolgt, auf welchen Wegen derselbe die Befriedigung 
seiner Triebregungen zu erreichen sucht, allein sie kommt dabei nur 
selten, unter bestimmten Ausnahmebedingungen, in die Lage, von 
den Beziehungen dieses einzelnen zu den anderen Individuen abzu- 
sehen. Im Seelenleben des einzelnen kommt ganz regelmaBig der 
andere als Vorbild, als Objekt, als Heifer und als Gegner in Betracht, 
und die Individualpsychologie ist dabei von Anfang an auch gleich- 
zeitig Sozialpsychologie in diesem erweiterten, aber durchaus be- 
Techtigten Sinne" 2 ). 

Freud hat aber auch grundlich mit der Illusion einer Sozial- 
psychologie aufgeraumt, deren Objekt eine Gruppe als solche, ,,die" 
Oesellschaft oder sonst ein soziales Gebilde mit einer entsprechenden 
„Massenseele" oder ,,Gesellschaftsseele" ist. Er geht vielmehr immer 
von der Tatsache aus, daB jede Gruppe nur aus Individuen besteht 



x ) Vgl. zum Methodologischen die ausfuhrlichen Ausfiihriingen in Froram, 
Die Entwicklxing des Christusdogmas, Wien 1931; ferner Bernf eld, Sozialis- 
mus und Psychoanalyse mit Diskussionsbemerkungen von E. Simmel und 
B. Lantos (Der sozialistische Arzt, II, 2/3, 1926); W. Reich, Dialekfcischer 
Material is mus und Psychoanalyse (Unter dem Banner des Marxismus III, 5). 

2 ) Freud, Massenpsychologie und Ich-Analyse. Ges. Schr. VI, S. 261. 



34 Erich Fromm 

und nur Individuen als solche Subjekt psychischer Eigenschaften 
sind 1 ). Ebensowenig hat Freud einen ,, sozialen Trieb" angenommen. 
Das, was man als solchen bezeichnet, ist fur ihn „kein ursprunglicher 
und unzerlegbarer" Trieb; er sieht „die Anfange seiner Bildung in 
einem engeren Kreis, wie etwa in der Familie". Es ergibt sich als 
Konsequenz seiner Anschauungen, daB die sozialen Eigenschaften 
dem Einflufi bestimmter Umweltverhaltnisse, gewisser Lebens- 
bedingungen auf die Triebstruktur ihre Entstehung, ihre Verstarkung 
wie ihre Abschwachung verdanken. 

Ist so fur Freud immer nur der vergesellschaftete Mensch, der 
Mensch in seiner sozialen Verflochtenheit, Objekt der Psychologie, so 
spielen auch fur ihn, worauf wir schon oben hingewiesen haben, 
Umwelt und Lebensbedingungen des Menschen die entscheidende 
Rolle fiir seine seelische Entwicklung wie fur deren theoretisches Ver- 
standnis. Freud hat wohl die biologisch-physiologische Bedingtheit 
der Triebe erkannt, er hat aber gerade nachgewiesen, in welchem 
MaBe diese Triebe modifizierbar sind und daB der modifizierende 
Faktor die Umwelt, die gesellschaftliche Realitat ist. 

Die Psychoanalyse scheint so alle Voraussetzungen mitzubringen, 
die ihre Methode auch brauchbar fur sozialpsychologische Unter- 
suchungen machen und alle Konflikte mit der Soziologie ausschalten. 
Sie fragt nach den den Mitgliedern einer Gruppe gemeinsamen see- 
lischen Zugen, und sie versucht, diese gemeinsamen seelischen Hal- 
tungen aus gemeinsamen Lebensschicksalen zu erklaren. Diese Lebens- 
schicksale liegen aber nicht — jegroBerdie Gruppe ist, um so weniger — 
im Bereich des Zufalligen und Pers6nlichen, sondern sie sind identisch 
mit der sozialokonomischen Situation eben dieser Gruppe. Ana- 
lytische Sozialpsychologie heiBt also: die Triebstruktur, 
die libidinose, zum groBen Teil unbewuBte Haltung einer 
Gruppe aus ihrer sozialokonomischen Struktur heraus zu 
verstehen. 

Hier scheint aber ein Einwand am Platze zu sein. Die Psycho- 
analyse erklart die Triebentwicklung gerade aus dem Lebensschicksal 
der ersten Kindheitsjahre, also einer Periode, wo der Mensch noch 
kaum mit „der Gesellschaft" zu tun hat, sondern fast ausschlieBlich 
im Kreis der Familie lebt. Wie sollen also, nach psychoanalytischer 
Auffassung, die sozialokonomischen Verhaltnisse eine solche Bedeutung 



1 ) Vgl. zu dieser Frage die klarenden Bemerkungen von Georg Simmel: 
tJber das Wesen der Sozialpsychologie. Archiv f. Sozialwissenschaft und 
Sozialpolitik XXVI, 1908, S. 287f. 



Uber Methode und Aufgabe einer analytischen Sozialpsychologie 35 

gewinnen konnen ? Es handelt sich urn ein Scheinproblem. Allerdings 
gehen die ersten entscheidenden Einflusse auf das heranwachsende 
Kind von der Familie aus, aber die gesamte Struktur der Familie, 
alle typischen Gefiihlsbeziehungen innerhalb ihrer, alle durch sie ver- 
tretenen Erziehungsideale sind ihrerseits selbst bedingt vom gesell- 
schaftlichen und klassenmaBigen Hintergrund der Familie, von der 
sozialen Struktur, aus der sie erwachst. (Die Gefiihlsbeziehungen etwa 
zwischen Vater und Sohn sind vollig andere in einer Familie der burger- 
lichen, vaterrechtlichen Gesellschaft als in der ,, Familie" einer mutter - 
rechtlichen Gesellschaft.) Die Familie ist das Medium, durch das die 
Gesellschaft bzw. die Klasse die ihr entsprechende, fur sie spezifische 
Struktur dem Kind und damit dem Erwachsenen aufpragt; die 
Familie ist die psychologische Agentur der Gesellschaft. 

Die bisherigen psychoanalytischen Arbeiten, die eine Anwendung 
der Psychoanalyse auf gesellschaftliche Probleme versuchen, ent- 
sprechen nun den Anforderungen, die an eine analytische Sozial- 
psychologie zu stellen sind, zum uberwiegenden Teil nicht 1 ). Der Fehler 
beginnt bei der Einschatzung der Funktion der Familie. Man sah 
zwar, daB der einzelne nur als vergesellschaftetes Wesen zu ver- 
stehen ist, man entdeckte, daB es die Beziehungen des Kindes zu den 
verschiedenen Mitgliedern der Familie sind, die seine Triebentwicklung 
so entscheidend bestimmen, aber man ubersah fast vollkommen, daB 
die Familie ihrerseits in ihrer ganzen psychologischen und sozialen 
Struktur, mit den fur sie spezifischen Erziehungszielen und af fektiven 
Einstellungen, das Produkt einer bestimmten gesellschaftlichen und, 
im engeren Sinn, einer bestimmten Klassenstruktur ist, daB sie tat- 
sachlich nur die psychologische Agentur der Gesellschaft und Klasse 
ist, aus der sie erwachst. Man hatte den Ansatzpunkt gefunden, aus 
dem die psychologische Einwirkung der Gesellschaft auf das Kind zu 



*) Aueh wenn man von wissenschaftlich wertlosen Versuchen absieht 
(wie etwa dem oberflachlichen Schriftchen des einmal als Psychoanalytiker 
aufgetretenen A. Kolnai uber Psychoanalyse und Soziologie oder dem nur 
mit den allerdiirftigsten Kenntnissen ausgestatteten Verginschen Buch uber 
„ Psychoanalyse der europaischen Politik"), gilt diese Kritik jenen Autoren 
wie Reik, Roheim u. a. m., die sozialpsychologische Themen behandelt 
haben. Eine Ausnahme macht neben S. Bernfeld, der besonders auf die 
soziale Bedingtheit aller padagogischen Bemuhungen, hingewiesen hat 
(Sysiphos oder iiber die Grenzen der Erziehung), vor allem W. Reich, dessen 
Einschatzung der Rolle der Familie weitgehend mit der hier entwickelten 
Ansicht iibereinstimmt. Reich hat insbesondere das wichtige Problem der 
gesellschaftlichen Bedingtheit und der gesellschaftlichen Funktionen der 
Sexualmoral ausf uhrlich untersucht. Vgl. sein ,,Geschlechtsreife, Enthalt- 
samkeit, Ehemoral" und die soeben erschienene Schrift ,;Einbruch der 
Sexualmoral'*. 



36 Erich Fromm 

verstehen war, aber man merkte es nicht. Wie war das moglich ? 
Die psychoanalytischen Forscher hatten hier mir ein Vorurteil, das 
sie mit alien andern biirgerlichen — auch den fortschrittlichen — 
Forschern teilen : die Verabsolutierung der biirgerlich- kapitalistischen 
Gesellsohaft und den mehr oder weniger deutlich bewuBten Glauben, 
dafl sie die ,,normale" Gesellsohaft und ihre und die in ihr vorzu- 
findenden psychischen Tatbestande die fur ,,die" Gesellsohaft iiber- 
haupt typischen seien. 

Es gab aber noch einen besonderen Grund, der den analytischen 
Autoren diesen Fehler besonders nahelegte. Das Objekt ihrer Unter- 
suchungen waren ja in erster Linie kranke und gesunde Angehorige 
der modernen biirgerlichen Gesellsohaft, vorwiegend sogar der biirger- 
lichen Klasse 1 ), bei denen also der die Familienstruktur bedingende 
Hintergrund gleich bzw. konstant war. Was das Lebensschicksal ent- 
schied und unterschied, waren also die auf dieser allgemeinen Grund- 
lage basierenden individuellen, personlichen und, vom gesellschaft- 
lichen Standpunkt aus gesehen, zufalligen Ereignisse. Die sich aus der 
Tatsache einer autoritaren, auf Klassenherrschaft und Klassen- 
unterordnung, auf Erwerb nach zweckrationalen Methoden usw. 
organisierten Gesellsohaft ergebenden psychischen Ziige waren alien 
Untersuchungsobjekten gemeinsam; was sie unterschied, war die 
Tatsache, ob einer einen iiberstrengen Vater, den er als Kind uber- 
maBig fiirchtete, ein anderer eine etwas altere Schwester, der seine 
ganze Liebe gait, oder ein Dritter eine Mutter hatte, die ihn so stark 
an sich band, daB er diese libidinOse Bindung nie mehr aufgeben 
konnte. GewiB waren diese personlichen Schicksale fur die indivi- 
duelle, personliche Entwicklung von hochster Wichtigkeit, und mit 
der Beseitigung der aus diesen Schicksalen erwachsenden seelischen 
Schwierigkeiten hatte die Analyse als Therapie vollauf ihre Schuldig- 
keit getan, d. h. sie hatte den Patienten zu einem an die bestehende 

2 ) Es sind psychologisch zwar am Individuum zu unterscheiden die fiir 
die Gesamtgesellschaft typischen Ziige von den fiir seine Klasse typischen, 
aber da die psychische Struktur der Gesamtgesellschaft sich den einzelnen 
Klassen in gewissen grundlegenden Ziigen weitgehend aufpragt, sind die 
spezifischen Ziige der Klasse bei aller Gewichtigkeit nur von sekundarer 
Bedeutung gegenuber denen der Gesamtgesellschaft. Gerade der Wider- 
spruch zwischen der — mindestens erstrebten — relativen Einheitlichkeit 
der psychischen Struktur der verschiedenen Klassen und der Gegensatzlich- 
keit ihrer okonomischen Interessen ist eines der Charakteristika der Klassen- 
gesellschaft, verdeckt durch Ideologien. Je starker allerdings eine Gesell- 
sohaft okonomisch, sozial und psychologisch zerfallt, je mehr die bindende 
und pragende Kraft der Gesamtgesellschaft bzw. der in ihr herrschenden 
Klasse schwindet, desto groBer werden auch die Differenzen der psychischen 
Struktur der verschiedenen Klassen. 



tlber Methode und Aufgabe einer analytisehen Sozialpsychologie 37 

gesellschaftliche Realitat angepaBten Menschen gemacht. Weiter 
ging ihr therapeutisches Ziel nicht — und brauchte es nicht zu 
gehen; weiter ging aber auch das theoretische Verstandnis nicht. 
Mehr war fur das wesentliche Arbeitsgebiet der Analyse, die Personal- 
psychologie, nicht nGtig, denn die Vernachlassigung der die Familien- 
struktur bedingenden gesellschaftlichen Struktur fur die Personal- 
psychologie machte eine praktisch irrelevante Fehlerquelle aus. 

Ganz anders lag en die Dinge, wenn man von personalpsycholo- 
gischen zu sozialpsychologischen Untersuchungen uberging. Was dort 
eine praktisch irrelevante Vernachlassigung war, muBte hier zu einer 
fur die gesamte Arbeit von vornherein verhangnisvollen Fehlerquelle 
werden. 

Nachdem man einmal die Struktur der burgerlichen Gesellschaft 
und ihrer vaterrechtlichen Familie als die „normale" empfand, nach- 
dem man in der personalpsychologischen Arbeit gelernt hatte, die 
individuellen Differenzen gerade aus den an sich zufalligen Traumen 
zu verstehen, begann man in entsprechender Weise auch die ver- 
schiedenen sozialpsychologischen Erscheinungen unter dem gleichen 
Gesichtspunkt des Traumas, also des sozial Zufalligen, zu betrachten. 
Man kam auf diesem Wege notwendigerweise dazu, die eigentliche 
analytische Methode aufzugeben. Da man sich um die Verschiedenheit 
des „Lebensschicksals", d. h. also der okonomisch-sozialen Situation 
anderer Gesellschaftsformationen nicht bekiimmerte, infolgedessen 
auch nicht versuchte, ihre psychische Struktur aus ihrer sozialen zu 
verstehen, muBte man, anstatt zu analysieren, analogisieren, d. h. 
man behandelte die Menschheit oder eine bestimmte Gesellschaft wie 
ein Individuum, iibertrug die spezif ischen Mechanismen, die man beim 
heutigen Menschen vorgefunden hatte, auf alle m6glichen*Gesellschafts- 
formationen und „erklarte" dann deren psychische Struktur aus der 
Analogie mit gewissen Erscheinungen vor allem krankhafter Art, die 
sich typischerweise beim Menschen der eigenen Gesellschaft vorf anden. 

Man ubersah bei diesem Analogisieren einen Gesichtspunkt, der 
geradezu zu den Fundamenten der analytisehen Personalpsychologie 
gehort: die Tatsache, daB die Neurose, sei es das neurotische Sym- 
ptom, sei es der neurotische Charakterzug, das Resultat einer man- 
gelnden AngepaBtheit der Triebstruktur eines ,,anormalen" In- 
dividuums an die ihm gegebene Realitat ist; daB aber bei Massen, 
also „Gesunden", gerade die Fahigkeit zur Anpassung vorliegt, d. h. 
also schon aus diesem Grunde massenpsychologische Erscheinungen 
grundsatzlich nicht in Analogie an neurotische verstanden werden 



38 Erich Fromm 

konnen, sondern nur als Resultat der Anpassung der Triebstruktur an 
die gesellschaftliche Realitat, nur haufig an eine von der bestehenden 
mehr odef weniger stark abweichende. 

Das markanteste Beispiel dieses Vorgehens ist wohl die Ver- 
absolutierung des ,,Oedipuskomplexes" (des aus der Rivalitat urn die 
Mutter entspringenden Hasses gegen den Vater) zu einem allgemein- 
menschlichen Mecharusmus, obwohl vergleichende soziologische und 
volkerpsychologische Untersuchungen mit Wahrscheinlichkeit zeigen, 
daB diese spezifische Gefuhlseinstellung eben nur ganz fur die Familie 
der vaterrechtlichen Gesellschaft typisch ist und keinen so allge- 
meinmenschlichen Charakter tragt. Die Verabsolutierung des Oedipus- 
komplexes fiihrte Freud dazu, die Entwicklung der gesamten Mensch- 
heit auf diesen Mechanismus des Vaterhasses und der daraus resul- 
tierenden Reaktionen zu basieren 1 ), ohne dafi dem materiellen Lebens- 
prozeB der untersuchten Gruppe Beachtung geschenkt wurde. 

Wenn der geniale Blick Freuds auch bei einem soziologisch 
falschen Ausgangspunkt immer noch Fruchtbares und Bedeutsames 
entdeckte 2 ),so muBte bei den andern analytischenAutoren diese Fehler- 

x ) vgl. sein „Totem und Tabu"! 

-) In der „Zukunft einer Illusion" (1927) weicht Freud von dlesem die 
gesellschaftliche Realitat und ihre Veranderungen vernachlassigenden Stand - 
punkt ab und kommt unter Wiirdigung der Bedeutung der okonomischen 
Bedingungen von der personalpsychologischen Fragestellung, wie Keligion 
(personal-) psychologisch moglich ist (namlich als Wiederholung der in- 
fantilen Einstellung zura Vater) zur sozialpsychologischen Fragestellung, 
warum Religion sozial moglich und notig ist. Er findet die Antwort, daB 
Religion notig war, solange die Menschen durch ihre Ohnmacht gegeniiber 
der Natur, also durch den geringen Grad der Entwicklung der Produktiv- 
krafte der religiosen Illusionen bedurften, dafi sie aber mit dem Wachstum 
der Technik, aber auch mit dem damit verkniipften ,,Erwachsenwerden" des 
Menschen zu einer uberfliissigen und schadlichen Illusion wird. Wenn gewifi 
auch in dieser Schrift nicht alle gesellschaftlich relevanten Funktionen der 
Religion beriihrt werden, besonders auch nicht das Problem des Zusammen- 
hanges bestimmter Religionsformen mit bestimmten gesellschaftlichen Kon- 
stellationeh, so ist diese Schrift Freuds doch diejenige, die methodisch und 
inhaltlich einer materialistischen Sozialpsychologie am nachsten steht. (Es 
sei zum Inhaltlichen nur an den Satz erinnert: ,,Es braucht nicht gesagt zu 
werden, daB eine Kultur, welche eine so groBe Zahl von Teilnehmern un- 
befriedigt lafit und zur Auflehnung treibt, weder Aussicht hat, sich dauernd 
zu erhalten, noch es verdient.") (Freuds Buch beriihrt sich mit dem Stand- 
punkt des jungen Marx, der ihm geradezu als Motto dienen konnte: „Die Auf- 
hebung der Religion als des illusorischen Gliicks des Volkes ist die Forderung 
seines wirklichen Gliicks. Die Forderung, die Illusionen iiber seinen Zustand 
aufzugeben, ist die Forderung, einen Zustand aufzugeben, der der Illusionen 
bedarf . Die Kritik der Religion ist also im Keim die Kritik des Jammertals, 
dessen Heiligenschein die Religion ist." [Zur Kritik der Hegelschen Rechts- 
philosophie. Lit. NachlaB 1923 Bd. 1 S. 385]) In seiner nachsten sozial- 
psychologische Probleme behandelnden Arbeit iiber ,,Das Unbehagen in der 
Kultur" setzt Freud aber diese Linie weder methodisch noch inhaltlich fort. Sie 
ist vielmehr geradezu als ein Gegensatz zur„Zukunft einer Illusion" anzusehen. 



tjber Methode und Aufgabe einer analytischen Sozialpsychologie 39 

quelle zu einem die Analyse in den Augen der Soziologie und speziell 
der marxistischen Gesellschaftswissenschaft geradezu kompromittie- 
renden Ergebnis fiihren. 

Es war aber falsch, die Psychoanalyse als solche dafur zu be- 
lasten. Im Gegenteil, gerade die klassische Methode der psj'cho- 
analytischen Personalpsychologie brauchte nur konsequent auf die 
Sozialpsychologie angewandt zu werden, urn zu vollig einwandfreien 
Resultaten zu fiihren. Der Fehler lag nicht an der psychoanalytischen 
Methode, sondern daran, daB die psychoanalytischen Autoren auf- 
horten, sie in konsequenter und korrekter Weise anzuwenden, wenn 
sie statt iiber Individuen iiber Gesellschaften, Gruppen, Klassen, 
kurz uber soziale Phanomene Untersuchungen anstellten. 

Eine erganzende Bemerkung ist hier am Platze. 

Wir haben in den Mittelpunkt unserer Darstellung die Modifizier- 
barkeit des Triebapparates durch die Einwirkung auBerer, d. h. also 
letzten Endes sozialer Faktoren geriickt. Es darf aber nicht iibersehen 
werden, daB der Triebapparat, quantitativ wie qualitativ, gewisse 
physiologisch und biologisch bedingte Grenzen seiner Modifizierbarkeit 
besitzt und daB er nur innerhalb dieser Grenzen der Beeinflussung 
durch die sozialen Faktoren unterliegt. Infolge der Starke der in 
ihm aufgespeicherten Energiemengen stellt aber der Triebapparat 
selbst eine hochst aktive Kraft dar, der ihrerseits die Tendenz inne- 
wohnt, die Lebensbedingungen im Sinne der Triebziele zu verandern 1 ). 
Im Wechselspiel des Aufeinanderwirkens der psychischen Antriebe 
und der okonomischen Bedingungen kommt letzteren ein Primat zu. 
Nicht in dem Sinn, daB sie das ,,starkere' ; Motiv darstellten — diese 
Fragestellung betrafe ein Scheinproblem, weil es sich gar nicht urn 
quantitativ vergleichbare ., Motive" gleicher Ebene handelt — , ein 
Primat aber in dem Sinne, daB die Befriedigung eines groBen Teils 
der Bedurfnisse, speziell aber der dringlichsten, der Selbsterhaltungs- 
bediirfnisse, an die materielle Produktion gebunden ist und daB die 
Modifizierbarkeit der okonomischen auBermenschlichen Realitat weit 
geringer ist als die des menschlichen Triebapparates. speziell als die der 
Sexualtriebe. 

Die konsequente Anwendung der Methode der analytischen Per- 
sonalpsychologie auf soziale Phanomene ergibt folgende sozial- 
psychologische Methode: Die sozialpsychologischen Erschei- 
nungen sind aufzufassen als Prozesse der aktiven und 

x ) Vgl. die spater angefiihrte AuBerung von Marx im ,,Kapital" iiber die 
Bedtirfnissteigerung als eine Quelle der wirtschaftlichen Entwicklung! 



40 Erich Fro mm 

passiven Anpassung des Triebapparates an die sozial- 
okonomische Situation. Der Triebapparat selbst ist — in 
gewissen Grundlagen — biologisch gegeben, aber weit- 
gehend modifizierbar; den Okonomischen Bedingungen 
kommt die Rolle als primar formenden Faktoren zu. Die 
Familie ist das wesentlichste Medium, durch das dieokono- 
mische Situation ihren formenden Einflufi auf die Psyche 
des einzelnen ausiibt. Die Sozialpsychologie hat die ge- 
meinsamen — sozial relevanten ■ — seelischen Haltungen 
und Ideologien — und insbesondere deren unbewuBte 
Wurzeln — aus der Einwirkung der Okonomischen Bedin- 
gungen auf dielibidinosen Strebungen zuerklaren. 

Seheint soweit die Methode der Sozialpsychologie in einem guten 
Einklang sowohl mit der Methode der Freudschen Personalpsychologie 
wie auch mit den Anforderungen der materialistischen Geschichts- 
auffassung zu stehen, so ergeben sich neue Schwierigkeiten, wenn diese 
analytische Methode mit einer falschen, sehr verbreiteten Inter- 
pretation der marxistischen Theorie konfrontiert wird: der Auf- 
f assung des historischen Materialismus als psychologischer Theorie und 
speziell als okonomistischer Psychologic 

Wenn es wirklich so ist, wie Bertrand Russell meint 1 ), daB Marx 
im „Geldmachen", Freud in der Liebe das entscheidende Motiv 
menschlichen Handelns sahe, dann waren beide Wissenschaften 
allerdings so unvereinbar, wie Russell es glaubt. Aber wenn die von 
Russell zitierte Eintagsfliege wirklich theoretisch denken konnte, 
wiirde sie statt der ihr in den Mund gelegten Antwort erklaren, daB 

*) In einem 1927 im jiidischen „ Forward" veroffentlichten Aufsatz: 
„Warum ist die Psychoanalyse popular ?" (zitiert bei Kautsky, Der histo- 
rische Materialismus, Bd. I S. 340/1) schreibt Russell: „Selbstverstandlich 
ist sie (die Psychoanalyse) ganz unvereinbar mit dem Marxismus. Denn Marx 
legt den Nachdruck auf das okonomische Motiv, das hochstens im Zusammen- 
hang mit der Selbsterhaltung steht, die Psychoanalyse betont dagegen das 
biologische Motiv, das mit der Selbsterhaltung durch Fortpflanzung zu- 
sammenhangt. Unzweifelhaft sind beide Gesichtspunkte einseitig, beide 
Motive spielen eine Rolle." Russell spricht dann von der Eintagsfliege, die 
im Larvenstadium nur Organe zum Fressen, nicht aber zum Lieben hat, 
wahrend sie als vollentwickeltes Insekt (Imago) im Gegenteil nur iiber Organe 
zur Fortpflanzung, nicht aber zur Emahrung verfiigt. Diese braucht sie nicht, 
da sie in diesem Stadium nur einige Stunden am Leben bleibt. Was wiirde 
geschehen, konnte die Eintagsfliege theoretisch denken ? „Als Larve wiirde 
sie ein Marxist sein, als Imago ein Freudianer." Russell fiigt hinzu, Marx, 
„der Bucherwurm des britischen Museums" sei der richtige Reprasentant 
der Larvenphilosophie. Russell selbst fuhlte sich von Freud mehr angezogen, 
denn „er sei fur die Freuden der Liebe nicht unempfanglich, verstehe sich 
dagegen nicht aufs Geldmachen, also nicht auf die orthodoxe Okonomie, 
die von ausgetrockneten alteren Herren geschaffen wurde*\ 



t)ber Met h ode und Aufgabe einer analytischen Sozialpsychologie 41 

Russell sowohl die Psychoanalyse als auch den Marxismus ganz und 
gar falsch versteht, daB die Psychoanalyse gerade die Anpassung 
biologischer Faktoren, der Triebe, an soziale untersucht und der 
Marxismus wiederum uberhaupt keine psychologische Theorie ist. 

Russell ist nicht der einzige, der beide Theorien so miB versteht, 
er befindet sich dabei in Gesellschaft einer Reihe von Theoretikern 
und verbreiteter Anschauungen. 

Besonders deutlich und drastisch wird diese Auffassung der materia- 
listischen Geschichtsauffassung als einer okonomistischen Psycho- 
logie von Hendrik de Man vertreten. Er sagt 1 ): 

„Marx selber hat bekanntlich seine Motivlehre niemals formuliert. Er 
hat sogar niemals umschrieben, was unter Klasse zu verstehen sei; der Tod 
hat sein letztes Werk unterbrochen, als er dabei war, sich diesem Gegenstand 
zuzuwenden. Uber die Grundanschauungen, von denen er ausging, besteht 
jedoch kein Zweifel ; diese bestatigen sich auch ohne Definition als stillschwei- 
gendeVoraussetzung durch die steteAnwendung sowohl bei seiner wissenschaft- 
lichen wie bei seiner politischen Tatigkeit. Jeder okonomische Lehrsatz 
und jede politisch-strategische Meinung Marxens beruht auf der Voraus- 
setzung, daB die menschlichen Willensmotive, wodurch sich der gesellschaft- 
liche Fortschritt vollzieht, in erster Linie vora wirtschaftlichen Interesse 
diktiert seien. Denselben Gedanken wiirde die Sprache der heutigen Sozial- 
psychologie als Bestimmung des gesellschaftlichen Verhaltens durch den 
Erwerbstrieb, d. h. den Trieb zur Aneignung von sachlichen Werten aus- 
drucken. 

Wenn Marx selber diese oder ahnliche Formeln fiir uberfliissig gehalten 
hat, so erklart sich das einfach daraus, daB ihr Inhalt der gesamten National- 
okonomie seiner Zeit als selbstverstandlich gait." 

Was Hendrik de Man fiir eine ,,stillschweigende Voraussetzung des 
Marxismus" halt, stillschweigend, weil es alien zeitgenossischen (lies 
biirgerlichen) Nationalokonomen eine selbstverstandliche Vorstellung 
war, ist ganz und gar nicht die Auffassung von Marx, der ja auch in 
manchen andern Punkten die Auffassung der Theoretiker ,,seiner 
Zeit" nicht geteilt hat. 

Auch Bernstein ist, wenn auch weniger ausdrucklich, nicht weit 
von dieser psychologistischen Interpretation entfernt, wenn er eine 
Art Ehrenrettung des historischen Materialismus durch folgende Be- 
merkung vornehmen will 2 ) : 

,, Okonomische Geschichtsauffassung braucht nicht zu heiBen, daB bloB 
okonomische Krafte, bloB okonomische Motive anerkannt werden, sondern 
nur, daB die Okonomie die immer wieder entscheidende Kraft, den 
Angelpunkt der groBen Bewegungen in der Geschichte bildet (Sperrungen 
E. F,)." 



x ) Zur Psychologie des Sozialismus, 1927, S. 28 L 

2 ) Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozial- 
demokratie, Stuttgart 1899, S. 13. 



42 Erich Fromm 

Hinter diesen verschwommenen Formulierungen verbirgt sich die 
Auffassung des Marxismus als okonomistischer Psychologie, die von 
Bernstein im idealistischen Sinn gereinigt und verbessert wird 1 ). 

Der Gedanke, daB der ,,Erwerbstrieb a das wesentliche oder einzige 
Motiv des menschlichenHandelns sei, ist ein Gedanke des Liberalismus. 
Er wuTde von burgerlicher Seite einerseits als psychologisches Ar- 
gument gegen die VerwirklichungsmOglichkeit des Sozialismus ver- 
wendet 2 ), andererseits aber wurde der Marxismus von seinen klein- 
biirgerlichen Anhangern im Sinne dieser okonomistischen Psychologie 
interpretiert. In Wirklichkeit ist der historische Materialismus weit 
davon entfernt, eine psychologische Theorie zu sein. Er hat nur einige, 
ganz wenige psychologische Voraussetzungen. 

Zunachst die, daB es die Menschen sind, die ihre Geschichte 
machen, weiterhin die, dafi es die Bediirfnisse sind, die das Handeln 
und Fiihlen der Menschen motivieren (Hunger und Liebe) und weiter- 
hin, daB diese Bediirfnisse im Laufe der gesellschaftlichen Entwicklung 
steigen und dieses SteigenderBedurfnisse eine Bedingung fur die 
steigende wirtschaftliche Tatigkeit darstellt 3 ). 

Der okonomische Faktor spielt im Zusammenhang mit der Psycho- 
logie im historischen Materialismus nur insofern eine Rolle, als die 
menschlichen Bediirfnisse — und zunachst die nach Selbsterhaltung 
— zum groBen Teil ihre Befriedigung durch Produktion von Giitern 
finden, also in den Bedurfnissen der Hebel und Anreiz zur Produktion 
zu suchen ist. Marx und Engels haben wohl betont, daB unter den 
Bedurfnissen die nach Selbsterhaltung alien anderen voranstehen, sie 
haben sich im einzelnen aber iiber die Qualitat der verschiedenen 
Triebe und Bediirfnisse nicht geauBert. Ganz gewiB aber haben sie 
nie den ,,Erwerbstrieb", also das Bediirfnis, das auf den Erwerb an 



x ) Kautsky lehnt gleich zu Beginn seines Buches ,,Der historische Mate- 
rialismus" die psychologistische Interpretation sehr entschieden ab, erganzt 
aber den historischen Materialismus durch eine rein idealistische Psycho- 
logie, durch die Annahme etnes urspriinglichen ,,sozialen Triebes". Vgl. 
unten S. 48. 

2 ) Wie ja iiberhaupt ein profier Teil der gegen den historischen Materialis- 
mus gerichteten Angriffe in Wirklichkeit nicht diesen, sondern seine von 
„Freunden" oder Gegnern hineingeschmuggelten spezifisch biirgerlichen Bei- 
mengungen trifft. 

3 ) „Wie der Wilde mit der Natur ringen muB, um seine Bediirfnisse zu 
befriedigen, um sein Leben zu erhalten und zu reproduzieren, so mufi es der 
Zivilisierte, und er muB es in alien Gesellschaftsformen und unter alien 
moglichen Produktionsweisen. Mit seiner Entwicklung erweitert sich dies 
Reich der Naturnotwendigkeit, weil (gesperrt E. F.) die Bediirfnisse; aber 
zugleich erweitern sich die Produktivkrafte, die diese befriedigen/' (Marx, 
Kapital, Hamburg 1922, III, 2, S. 355.) 



t^ber Methode und Aufgabe einer analytischen Sozialpsychologie 43 

sich, den Erwerb als Selbstzweck geht, fur das einzige oder auch 
nur wesentlichste Bedurfnis gehalten. Es ist nur eine naive Verabr 
solutierung eines psychischen Zuges, der in der kapitalistischen Gesell- 
schaft eine unerhorte Starke erlangt hat, wenn man ihn in dieser 
Starke und Auspragung fiir einen allgemein-menschlichen deklariert. 
Marx und Engels ist am allerwenigsten eine solche Verklarung biirger- 
lich-kapitalistischer Zuge zu allgemein-menschlichen zuzumuten. Sie 
wuBten sehr wohl, welche Stelle der Psychologie innerhalb der Sozio- 
logie zukommt, sie waren aber keine Psychologen und wollten auch 
keine sein, indem sie iiber diese allgemeinen Hinweise hinaus nahere 
Aussagen iiber Inhalt und Mechanismen der menschlichen Triebwelt 
machten. Es stand ihnen auch abgesehen von gewissen und sicherlich 
nicht zu unterschatzenden Ansatzen in der Literatur der franzosischen 
Aufklarung (vor allem Helvetius) keine wissenschaftliche materiali- 
stische Psychologie zur Verfugung. Erst die Psychoanalyse hat diese 
Psychologie geliefert und gezeigt, daB der „Erwerbstrieb" zwar eine 
wichtige, aber neben andern (genitalen, sadistischen, narzistischen 
u. a. m.) Bediirfnissen keineswegs eine tiberragende Rolle im Seelen- 
haushalt des Menschen spielt. Insbesondere kann sie aufzeigen, daB 
zu einem grofien Teil der ,,Erwerbstrieb u gar nicht als tiefste Ursache 
das Bedurfnis zu erwerben oder zu besitzen hat, sondern dafi er selbst 
nur ein Ausdruck narzistischer Bediirfnisse ist, des Wunsches, bei sich 
selbst und bei andern Anerkennung zu finden. Es ist klar, daB in 
einer Gesellschaft, die dem Besitzenden, Reichen das HochstmaB an 
Anerkennung und Bewunderung zollt, die narzistischen Bediirfnisse 
der Mitglieder dieser Gesellschaft zu einer auBerordentlichen Inten- 
sivierung des Besitzwunsches fiihren miissen, wahrend in einer Ge- 
sellschaft, in der Besitz nicht die Basis des gesellschaftlichen Ansehens 
ist, sondern etwa fiir die Gesamtheit wichtige Leistungen, die gleichen 
narzistischen Impulse sich nicht als ,,Erwerbstrieb" auBern, sondern 
als ,,Trieb" zur sozial wichtigen Leistung. Da die narzistischen Be- 
diirfnisse zu den elementarsten und machtigsten seelischen Stre- 
bungen gehoren, ist es besonders wichtig zu erkcnnen, daB die Ziele 
und damit die konkreten Inhalte der narzistischen Strebungen von 
der bestimmten Struktur einer Gesellschaft abhangen und dafi des- 
halb der ,,Erwerbstrieb <( zu einem groBen Teil nur der besonderen 
Hochschatzung des Besitzes in der biirgerlichen Gesellscliaft seine 
imponierende Rolle verdankt. 

Wenn also in der materialistischen Geschichtsauffassung von 
okonomischen Ursachen gesprochen wird, so ist — abgesehen von der 



44 Erich Fromm 

eben angefiihrten Bedeutung — nicht Okonomie als subjektives 
psychologisches Motiv, sondern als objektive Bedingung der 
menschlichen Lebenstatigkeit gemeint. Alles menschliche Agieren, die 
Befriedigung aller Bediirfnisse hangt ab von der Eigenart der vorge- 
fundenen naturlichen okonomischen Bedingungen, und diese Be- 
dingungen sind es, die das Wie des Lebens der Menschen vorschreiben. 
Das BewuBtsein der Menschen ist fur Marx nur zu verstehen aus 
ihrem gesellschaftlichen Sein, aus ihrem irdischen, realen, eben durch 
den Stand der Produktivkrafte bedingten Leben. 

„Die Produktion der Ideen, Vorstellungen, des Bewufltseins ist zunachst 
unmittelbar verflochten in die materielle Tatigkeit und den materiellen Ver- 
kehr der Menschen, Sprache des wirklichen Lebens. Das Vorstellen, Denken, 
der geistige Verkehr der Menschen erscheinen hier noch als direkter AusfluS 
ihres materiellen Verhaltens. Von der geistigen Produktion, wie sie in der 
Sprache der Politik, der Gesetze, der Moral, der Religion, Metaphysik usw. 
cines Volkes sich darstellt, gilt dasselbe. Die Menschen sind die Produ- 
zent-en ihrer Vorstellungen, Ideen usw., aber die wirklichen, wirkenden 
Menschen, wie sie bedingt sind durch eine bestimmte Entwicklung ihrer 
Produktivkrafte und des denselben entsprechenden Verkehrs bis zu seinen 
weitesten Formationen hinauf. Das BewuBtsein kann nie etwas anderes 
.sein als das bewuflte Sein, und das Sein der Menschen ist ihr wirklicher 
Lebensprozefl. Wenn in der ganzen Ideologic die Menschen und ihre Ver- 
nal tnisse wie in einer camera obscura auf den Kopf gestellt erscheinen, so 
geht dieses Phanomen ebensbsehr aus ihrem historischen Lebensprozefl 
hervor, wie die Umdrehung der Gegenstande auf der Netzhaut aus ihrem 
unmittelbar physischen." 1 ) 

Der historische Materialismus faBt den geschichtlichen ProzeB als 
ProzeB deraktivenundpassivenAnpassung desMenschen an die ihnum- 
gebenden naturlichen Bedingungen auf. „Die Arbeit ist zunachst ein 
ProzeB zwischen Mensch und Natur, ein ProzeB, worin der Mensch 
seinen Stoffwechsel mit der Natur durch seine eigene Tat vermittelt, 
regelt und kontrolliert. Er tritt dem Naturstoff selbst als eine Natur- 
macht gegenuber." 2 ) Der Mensch und die Natur sind die beiden aufein- 
ander ein wirkenden, sich wechselseitig verandernden und bedingenden 
Pole. Immer bleibt der historische ProzeB an die Gegebenheiten der 
naturlichen Bedingungen auBerhalb desMenschen wie seiner eigenenBe- 
schaffenheit gebunden. ObwohlMarx gerade davon ausging, in welchem 
ungeheuren AusmaB der Mensch die Natur und sich selbst im gesell- 
schaftlichen ProzeB verandert, hat er immer wieder betont, daB alle 
Veranderungen an die naturlichen Bedingungen gebunden sind. Dies 
unterscheidet gerade seinen Standpunkt von gewissen idealistischen, 



1 ) Marx und Engels, Teil I der „Deutschen Ideologic". Marx-Engels 
Archiv, Bd. I, S. 239. 

2 ) Marx, Kapital S. 140. 



tjber Methode und Aufgabe einer analytischen Sozialpsychologie 45 

dem menschlichen Willen unbeschrankte Macht zutrauenden Posi- 
tionen 1 ). 

Marx und Engels sagen in der „Deutschen Ideologic" 2 ): 
„Die Voraussetzungen, mit denen wir beginnen, sind keine willkurlichen, 
keine Dogmen, es sind wirkliche Voraussetzungen, von denen man nur in 
der Einbildung abstrahieren kann. Es sind die wirklichen Individuen, ihre 
Aktion und ihre materiellen Lebensbedingungen, sowohl die vorgefundenen 
wie die durch ihre eigene Aktion erzeugten. Diese Voraussetzungen sind 
also auf rein empirischem Wege konstatierbar. 

Die erste Voraussetzung aller Menschengeschichte ist natiirlich die 
Existenz lebendiger menschlieher Individuen. Der erste zu konstatierende 
Tatbestand ist also die korperliche Organisation dieser Individuen und ihr 
dadurch gegebenes Verhaltnis zur ubrigen Natur. Wir konnen hier natiir- 
lich weder auf die physische Beschaffenheit der Menschen selbst noch auf 
die von den Menschen vorgefundenen Naturbedingungen, diegeologischen, oro- 
hydrographischen, klimatischen und anderen Verhaltnisse eingehen. Alle 
Geschichtsschreibung mufi von diesen natiirlichen Grundlagen und ihrer 
Modifikation im Laufe der Geschicjite durch die Aktion der Menschen aus- 
gehen." 

Wie stellt sich nun, nach Beseitigung der grObsten MiBverstand- 
nisse, das Verhaltnis zwischen Psychoanalyse und historischem 
Materialismus dar ? 

Die Psychoanalyse kann die Gesamtauffassung des historischen 
Materialismus an einer ganz bestimmten Stelle bereichern, nam- 
lich in der umfassenderen Kenntnis eines der im gesell- 
schaftlichen ProzeB wirksamen Faktoren, der Beschaffen- 
heit des Menschen selbst, seiner ,, Natur". Sie reiht den Trieb- 
apparat des Menschen in die Reihe der natiirlichen Bedingungen ein, 
die selber modifizieren, aber in deren Natur auch die Grenzen der 
Modifizierbarkeit liegen. Der Triebapparat des Menschen ist eine 
der ,, natiirlichen" Bedingungen, die zum Unterbau des gesellschaft- 
lichen Prozesses gehoren. Aber nicht der Triebapparat ,,im all- 
gemeinen", in seiner biologischen ,,Urform". Als solcher erscheint 
er in Wirklichkeit niemals, sondern immer schon in einer bestimmten, 
eben durch den gesellschaftlichen ProzeB veranderten Form. Die 
menschliche Psyche bzw. deren Wurzeln, die libidinosen Krafte, ge- 
horen mit zum Unterbau, sie sind aber nicht etwa „der" Unterbau, 
wie eine psychologistische Interpretation meint, und,, die" menschliche 
Psyche ist auch immer nur die durch den gesellschaftlichen ProzeB 



J ) Vgl. zu dieser Frage die das Naturmoment besonders klar liervor- 
hebende Arbeit von Bucharin, Die Theorie des historischen Materialismus, 
1922, und die dieses Problem speziell behandelnde und kliirende Arbeit 
von K. A. Wittfogel, Geopolitik, geographischer Materialismus und Marxis- 
mus. (Unter dem Banner des Marxismus III, 1, 4, 5.) 

2 ) a. a. O. S. 237f. 



46 Erich Fromm 

modifizierte Psyche. Der historische Materialismus verlangt eine 
Psychologie, d. h. eine Wissenschaft von den seelischen Eigenschaften 
des Menschen. Erst die Psychoanalyse hat eine Psychologie geliefert, 
die fur den historischen Materialismus brauchbar ist. 

Diese Erganzung ist besonders aus folgendem Grunde wichtig. 
Marx und Engels konstatierten die Abhangigkeit alien ideologischen 
Geschehens vom okonomischen Unterbau, sahen im Geistigen „das in 
den Menschenkopf umgesetzte Materielle". GewiB konnte in vielen 
Fallen der historische Materialismus auch ohne alle psychologischen 
Voraussetzungen richtige Antworten geben. Aber doch nur entweder 
da, wo die Ideologic einen mehr oder weniger zweckrationalen Cha- 
rakter mit Bezug auf gewisse Klassenziele tragt oder da, wo es sich 
darum handelt, richtige Zuordnungen zwischen okonomischem Unter- 
bau und ideologischem Uberbau vorzunehmen, ohne doch zu erklaren, 
wie der Weg von der Okonomie zum menschlichen Kopf oder Herz 
geht 1 ). Aber liber das Wie der Umsetzung des Materiellen in den 
Menschenkopf konnten und wollten — mangels einer brauchbaren 
Psychologie — Marx und Engels keine Antwort geben. Die Psycho- 
analyse kann zeigen, daB die Ideologien die Produkte von bestimmten 
Wimschen, Triebregungen, Interessen, Bediirfnissen sind, die, selber 
zum grofien Teil nicht bewuBt, als „Rationalisierung" in Form der 
Ideologic auftreten; daB aber diese Triebregungen selbst zwar einer- 
seits auf der Basis biologisch bedingter Triebe erwachsen, aber weit- 
gehend ihrer Quantitat und ihrem Inhalt nach von der sozial-okono- 
mischen Situation des Individuums bzw. seiner Klasse gepragt sind. 
Wenn, wie Marx sagt, die Menschen die Produzenten ihrer Ideologic 
sind, so kann eben gerade die analytische Sozialpsychologie die Eigen- 
art dieses Produktionsprozesses der Ideologien, die Art des Zusammen- 
wirkens „naturlicher" und gesellschaftlicher Eaktoren in ihm be- 
schreiben und erklaren. Die Psychoanalyse kann also zeigen ? 
wie sich auf dera Wege iiber das Triebleben die okono- 
mische Situation in Ideologie umsetzt. Dabei ist ganz 
besonders zu betonen, daB dieser ^Stoffwechsel" zwischen Triebwelt 
und Umwelt dazu fuhrt, daB sich der Mensch als solcher verandert, 



l ) Zur Frage nach dem Wesen des ideologischen Uberbaus vgl. auch 
Engels' Brief an Mehring (v. 14. Juli 1893, zitiert nach Duncker, Uber histo- 
rischen Materialismus, Berlin 1930): ,,Namlich wir alle haben zunachst das 
Hauptgewicht auf die Ableitung der politischen, rechtlichen und sonstigen 
ideologischen Vorstellungen und (lurch diese Vorstellungen vermittelter 
Handlungen aus den okonomischen Grundtatsachengelegt und legen miissen. 
Dabei haben wir dann die formelle Seite iiber der inhaltlichen vernachlassigt :. 
die Art und Weise, wie diese Vorstellungen zustande komraen." 



tJber Methode und Aufgabe einer analytischen Sozialpsychologie 47 

genau so wie die „ Arbeit" die auBermenschliche Natur verandert. 
Die Richtung dieser Veranderung des Menschen kann hier nur an- 
gedeutet werden. Sie liegt vor allem in dem von Freud verschiedent- 
lich betonten Wachstum der I ch- Organisation und dem damit ver- 
bundenen Wachstum der Sublimierungsfahigkeit 1 ). Die Psycho- 
analyse erlaubt uns also, die Ideologiebildung als eine Art ,,Arbeits- 
prozeB", als eine der Situationen des Stoffwechsels zwischen Mensch 
und Natur anzusehen, wobei die Besonderheit darin liegt, daB die 
„ Natur " in diesem Fall innerhalb und nicht aufierhalb des Menschen 
liegt. 

Die Psychoanalyse kann gleichzeitig liber die Wirkungsweise der 
Ideologien oder Ideen auf die Gesellschaft AufschluB geben. Sie kann 
aufzeigen, daB die Wirkung einer ,,Idee" wesentlich auf ihrem un- 
bewufiten und an bestimmte Triebtendenzen appellierenden Gehalt 
beruht, d. h. daB es Art und Starke des libidinosen Resonanzbodens 
der Gesellschaft oder einer Klasse ist, die uber die soziale Wirkung 
der Ideologien mitbestimmt. 

Wenn so klar zu sein scheint, daB die psychoanalytische Sozial- 
psychologie in einem ganz bestimmten Punkt ihren Platz innerhalb 
des historischen Materialismus hat, so ist noch auf einige Punkte hin- 
zuweisen, in denen sie ganz unmittelbar gewisse Schwierigkeiten zu 
beseitigen imstande ist. 

Zunachst einmal kann der historische Materialismus gewissen Ein- 
wanden klarer entgegnen. Wenn darauf hingewiesen wurde, welche 
Rolle in der Geschichte ideelle Momente, wie Freiheitswille, Liebe zur 
Gruppe, der man angehort, usw, spielen, so konnte man vom Stand- 
punkt des historischen Materialismus aus wohl diese Fragestellung als 
eine psychologische ablehnen und sich darauf beschranken, die ob- 
jektive okonomische Bedingtheit der historischen Ereignisse nach- 
zuweisen. Man war aber nicht imstande, eine klare Antwort darauf 
zu geben, welcher Art und Herkunft denn nun wirklich diese — als 
psychische Antriebe doch offenbar sehr wirksamen — menschlichen 
Krafte sind und wie man sie im gesellschaftlichen ProzeB einzuordnen 
hat. Die Psychoanalyse kann aufzeigen, daB diese scheinbar ideellen 
Motive in Wirklichkeit nichts anderes als der rationalisierte Ausdruck 
von triebhaften, libidinosen Bedurfnissen sind und daB Inhalt und 
Umfang der jeweils herrschenden Bediirfnisse wiederum nur aus dem 

1 ) Dafi damit allerdings auch ein Wachstum des Uber-Ichs und der Ver- 
drangungen verkniipft sein soli, erscheint uns ein innerer Widerspruch. 
Wachstum des Ichs und der Sublimierungsmoglichkeiten heifit ja gerade 
Bewaltigung der Triebe auf anderem Weg als dem der Verdrangung. 



48 Erich Fromm 

EinfluB der sozialftkonomischen Situation auf die gegebene Trieb- 
struktur der die Ideologie bzw. das dahinterstehende Bedurfnis 
produzierenden Gruppe zu verstehen sind. Es ist also der Psycho- 
analyse moglich, auch die sublimsten ideellen Beweggrunde auf ihren 
irdischen libidinosen Kern zu reduzieren, ohne dabei gezwungen zu 
sein, die okonomischen Bediirfnisse als die allein wichtigen anzusehen. 

Der Mangel an einer dem historischen Materialismus adaquaten 
Psychologie fuhrte dazu, daB gewisse Vertreter des historischen 
Materialismus an dieser S telle eine private, rein idealistische Psycho- 
logie aufstellten. Ein typisches Beispiel — typischer noch als offen 
idealistische Autoren wie Bernstein — ist Kautsky. Er nimmt an, 
daB es einen dem Menschen eingeborenen ,, sozialen Trieb" gibt. Das 
Verhaltnis zwischen diesem sozialen Trieb und den sozialen Verhalt- 
nissen beschreibt er f olgendermaBen : „Je nach der Starke und 
Schwache seiner sozialen Triebe wird der Mensch mehr zum BOsen 
oder Guten neigen. Doch hangt dies nicht minder von seinen Lebens- 
bedingungen in der Gesellschaft ab" 1 ). Es ist klar, daB dieser ein- 
geborene soziale Trieb nichts anderes ist als das dem Menschen ein- 
geborene moralische Prinzip und daB sich der kautskysche Stand- 
punkt nur in der Ausdrucksweise von einer idealistischen Ethik 
unterscheidet 2 ). 

Diejenigen marxistischen Autoren aber, die nicht die Wendung zu 
einer idealistischen Psychologie und Ethik gemacht haben, schenken 
der Psychologie iiberhaupt wenig Beachtung 3 ). Nun ist es gewiB 



i) a. a. O., S. 262. 

2 ) Die gleiche Position vertritt Kautsky, wenn er der Annahme, der histo- 
rische Materialismus sei eine okonomistische Psychologie, folgendermaBen 
entgegnet: „Wiirde die materialist ische Geschichtsauffassung wirklich be- 
haupten, dafi die Menschen nur von okonomischen Motiven oder von mafce- 
riellen Interessen bewegt werden, dann wiirde es sich nicht lohnen, dafi wir 
Uhs ausfiihrlich mit ihr beschaftigen. Dann ware sie nur eine Vergroberung 
jener sehr alt en Anschauung, die im Egoismus oder im Streben nach Lust 
das einzige Motiv menschlichen Handelns erblickt. Dann hatten auch Marx 
und Engels ihre Theorie durch ihre eigene Praxis schlagend widerlegt, denn 
es hat nie zwei Menschen gegeben, die selbstloser waren und weniger durch 
materielle Motive bewegt wurden, als meine beiden Meister*' (a. a. O., S. 6). 
Hier enthullt sich klar die idealistische Position Kautskys. Er bemerkt 
keineswegs, daB okonomische Motive und Streben nach Lust 
zwei ganz verscniedene Dinge sind und daC auch die wertvollen 
j^ersonlichen QUalitaten nicht jenseits des von Bediirfnissen der 
verschiedensten Art erfiillten und auf ihre Befriedigung be- 
dachten seelischen Apparates stehen. 

3 ) Bucharin hat in seiner „Theorie des historischen Materialismus'* dem 
Problem der Psychologie ein besonderes Kapitel gewidmet. Er erklart 
darin vollkommen richtig, dafi die Psychologie einer Klasse nicht identisch 
ist mit ihrem „Interesse", worunter er ihre realen, okonomischen Inter- 
essen versteht; daB aber immer die Psychologie der Klasse aus ihrer oko- 



tlber Methode und Aufgabe einer analytischen Sozialpsychologie 49 

richtig, worauf oben schon hinge wiesen wurde. daB der gesellschaftliche 
ProzeB auch ohne Psychologie aus der Kenntnis der okonomischen und 
von ihnen abhangigen sozialen Krafte verstanden werden kann. Da 
ja aber nicht die gesellschaftlichen Gesetze es sind, welche handeln, 
sondern lebendige Menschen, d. h. da die okonomischen und sozialen 
Notwendigkeiten sich durch das Medium nicht nur des ruenschlichen 
rationalen Denkens, sondern vor allem des menschlichen Trieb- 
apparates, seiner libidinosen Krafte, durchsetzen, ergibt sich folgendes : 
einmal ist die menschliche Triebwelt eine Naturkraft, die gleich andern 
(also etwa Bodenfruchtbarkeit, Bewasserung usw.) unmittelbar zum 
Unterbau des gesellschaftlichen Prozesses gehort und einen wichtigen 
naturalen, sich unter dem EinfluB des gesellschaftlichen Prozesses 
veranderndenFaktordarstellt, dessen Kenntnis also zum vollstandigen 
Verstandnis des gesellschaftlichen Prozesses notwendig ist; weiter- 
hin, daB die Produktion und Wirkungsweise der Ideologien nur 
aus der Kenntnis des Funktionierens des Triebapparates richtig 
verstanden werden kann; endlich, daB beim Auftreffen der oko- 
nomisch bedingenden Faktoren auf dieses Medium, die Triebwelt, 
gleichsam gewisse Brechungen entstehen , d . h . daB dure h die 
Eigenart der Triebstruktur sich faktisch der soziale ProzeB, vor 
allem im Tempo, anders — rascher oder langsamer — voll- 
zieht, als dies bei theoretischer Vernachlassigung des psychischen 
Faktors zu erwarten ist. Es ergibt sich also aus der Verwendung der 
Psychoanalyse innerhalb des historischen Materialismus eine Ver- 
feinerung der Methode, eine Erweiterung der Kenntnis der im gesell- 
schaftlichen ProzeB wirksamen Krafte, eine noch groBere Sicherheit 
sowohl im Verstandnis historischer Ablaufe als in der Prognose kiinf- 



nomisch- sozialen Rolle verstanden werden muC. Er erwahnt als Beispiel 
Situationen, wo eine Verzweiflungsstimmung die Massen oder Gruppen nach 
einer groflen Niederlage im Klassenkampf erfafit. ,,Dann ist ein Zusammen* 
hang mit dem Klasseninteresse nachweisbar, aber dieser Zusammenhang 
ist eigentumlicher Art: der Kampf wurde von verborgenen Triebfedern 
derlnteressen (gesperrt E. F.) gefiihrt, aber nun ist die Armee der Kampf er 
geschlagen; auf diesem Boden entsteht die Zersetzung, die Verzweiflung. es 
beginnt das Hoffen auf ein Wunder, das Predigen der Menschenflueht, die 
Blicke richten sich gen Himmel." Bucharin fahrt dann fort ; ,,\Vir sehen also, 
daB bei der Betrachtung der Klassenpsychologie wir es mit einer wiederum 
sehr komplizierten Erscheinung zu tun haben, die sich keineswegs auf das 
nackte Interesse allein zuriickf iihren laflt, die aber stets durch jenes konkrete 
Milieu zu erklaren ist, in das die betreffende Klasse geraten ist." Er spricht 
dann weiterhin auch von den ideologischen Prozessen als von einer besonderen 
Art der gesellschaftlichen Arbeit. Aber da ihm eine entsprechende Psychologie 
nicht zur Verfiigung steht, kommt er nicht weiter als eben bis zu dieser 
Feststellung, kann es ihm nicht gelingen, die Art dieses Arbeitsprozesses 
zu verstehen. 



50 Erich Fromm 

tigen gesellschaftlichen Geschehens und speziell das vollkommene Ver- 
standnis der Produktion der Ideologien. 

Der Grad der Fruchtbarkeit einer psychoanalytischen Sozial- 
psychologie hangt natiirlich ab von dem Grad der Bedeutung, den die 
libidinosen Krafte im gesellschaftlichen ProzeB haben. Eine auch nur 
einigermaBen vollstandige Untersuchung miiBte weit uber den Rahmen 
dieses Aufsatzes hinausfuhren. Wir begmigen uns deshalb an dieser 
Stelle mit einigen andeutenden grundsatzlichen Bemerkungen. 

Wenn man fragt, durch welche Krafte eine bestimmte Gesellschaft 
in ihrer Stabilitat gehalten, durch welche andererseits diese Stabilitat 
erschuttert wird, so sieht man, daB es zwar die okonomischen Be- 
dingungen, die gesellschaftlichen Widerspriiche sind, die liber Stabili- 
tat oder Zerfall einer Gesellschaft entscheiden, daB aber der Faktor, 
der auf der Basis dieser Bedingungen ein iiberaus wichtiges Element 
in der gesellschaftlichen Struktur darstellt, die in den Menschen wirk- 
samen libidinosen Tendenzen sind. Gehen wir zunachst von einer 
relativ stabilen gesellschaftlichen Konstellation aus. Was halt die 
Menschen zusammen, was macht gewisse Solidaritatsgefuhle, was 
gewisse Einstellungen der Unter- und Uberordnung mOglich ? GewiB, 
es ist der auBere Machtapparat (also Polizei, Justiz, Militar usw.), der 
die Gesellschaft nicht aus den Fugen gehen laBt. GewiB, es sind die 
zweckrationalen, egoistischen Interessen, die zur Formierung und 
Stabilitat beitragen. Aber weder der auBere Machtapparat noch die 
rationalen Interessen wurden ausreichen, urn das Funktionieren der 
Gesellschaft zu garantieren, wenn nicht die libidinosen Strebungen 
der Menschen hinzukamen. Es sind die libidindsen Krafte der 
Menschen, die gleichsam den Kitt formieren, ohne den die Gesell- 
schaft nicht zusammenhielte, und die zur Produktion der groBen ge- 
sellschaftlichen Ideologien in alien kulturellen Spharen beitragen. 

Verdeutlichen wir dies an einer besonders wichtigen gesellschaft- 
lichen Konstellation, am Verhaltnis der Klassen zueinander. In der 
uns bekannten Geschichte herrscht eine Minoritat iiber die Majoritat 
der Gesellschaft. Diese Klassenherrschaft war nicht der Erfolg von 
List und Betrug, wie es etwa die Aufklarung darstellt, sondern sie 
war notwendig und bedingt von der Okonomischen Gesamtsituation 
der Gesellschaft, vom Stand der Produktivkrafte. So erscheint etwa 
Necker „dasVolk durch Eigentumsgesetze verdammt, immer nur das 
Allernotwendigste fiir seine Arbeit zu bekommen". Die Gesetze 
werden als SchutzmaBregeln der Besitzenden gegen die Besitzlosen 
angesehen. Sie seien, so schreibt Linguet, gewissermaBen „eine Ver- 



tlber Methode und Aufgabe einer analytischen Sozialpsychologie 51 

schworung gegen den zahlreichsten Teil des Menschengeschlechts, 
gegen den dieser nirgends und auf keine Art Hilfe finden konne'' 1 ). 

Die Aufklarung hat das Abhangigkeitsverhaltnis beschrieben und 
kritisiert, wenn sie auch seine okonomische Bedingtheit nicht er- 
kannte. In der Tat entspricht die Feststellung der Herrschaft einer 
Minoritat dem geschichtlichen Verlauf . Welches sind aber die Fak- 
toren, die diesem Abhangigkeitsverhaltnis Bestand verleihen ? 

Es sind wohl in erster Reihe die Mittel physischen Zwangs, und es 
sind bestimmte Gruppen, die mit der Handhabung dieser Mittel be- 
auftragt sind, aber daneben gibt es noch einen anderen wichtigen 
Faktor: die libidinosen Bindungen, Angst, Liebe, Vertrauen, die die 
Seelen der Majoritat in ihrem Verhaltnis zur herrschenden Klasse 
erfiillen. Diese seelische Einstellung ist aber keine willkurliche, zu- 
fallige, sie ist der Ausdruck der libidinosen Anpassung der Menschen 
an die okonomisch notwendigen Lebensbedingungen. Da und so- 
lange diese die Herrschaft einer Minoritat iiber eine Majoritat not- 
wendig machen, paBt sich auch die Libido dieser okonomischen 
Struktur an und wird damit selbst zu einem das Klassenverhaltnis 
stabilisierenden Moment. 

tjber der Anerkennung der okonomischen Bedingtheit der libi- 
dinosen Struktur darf aber die Sozialpsychologie nicht vergessen, die 
psychologische Basis dieser Struktur zu untersuchen; d. h. es ist 
nicht nur zu erforschen, warum diese libidinose Struktur notwendig 
ist, sondern auch wie sie psychologisch moglich ist, durch welche 
Mechanismen sie funktioniert. Bei der Untersuchung dieser Wurzeln 
der libidinosen Bindung der Majoritat an die herrschende Minori- 
tat wird etwa die Sozialpsychologie feststellen, daB diese Bindung 
eine Wiederholung bzw. eine Fortsetzung der seelischen Haltung 
ist, die diese erwachsenen Menschen als Kinder zu ihren Eltern, 
speziell zu ihrem Vater gehabt haben (innerhalb der biirgerlichen 
Familie) 2 ). Es handelt sich urn eine Mischung von Bewunderung, 
Angst, Glauben an die Kraft, Klugheit und guten Absichten des 
Vaters, d. h, affektiv bedingte Uberschatzung seiner intellektuellen 
und moralischen Qualitaten, wie wir sie beim Kind im Verhaltnis zum 
Vater wie beim Erwachsenen innerhalb der patriarchalischen Klassen- 
gesellschaft im Verhaltnis zum Angehorigen der herrschenden Klasse 
finden. Hiermit eng verkniipft sind gewisse moralische Prinzipien, 

x ) Zitiert nach Griinberg in den „Verhandlungen des Vereins fur Sozial- 
politik" in Stuttgart 1924, S. 31. 

2 )Es darf aber nicht vergessen werden, daB dieses bestimmte Vater -Kind - 
Verhaltnis seinerseits selbst gesellschaftlich bedingt ist. 



52 Erich Fromm 

die es den Armen vorziehen lassen zu leiden, als ,,Unrecht" zu tun, 
die ihn glauben lassen, der Sinn seines Lebens sei Gehorsam und 
Pflichterfullung im Dienste der Machtigen usf. Auch diese flir die 
soziale Stabilitat so iiberaus wichtigen ethischen Vorstellungen sind 
das Produkt bestimmter affektiver, emotionaler Beziehungen zu 
denjenigen, die diese Vorstellungen inaugurieren und vertreten. 

Selbstverstandlich wird es nicht dem Zufall iiberlassen, ob solche 
Vorstellungen entstehen oder nicht . Vielmehr dient ein ganz wesentlicher 
Teil des Kulturapparates dazu, die sozial geforderte Haltung syste- 
matise]! und planmaBig zu schaffen. Die Darstellung der Rolle, die 
das gesamte Erziehungswesen oder auch z. B die Strafjustiz hierbei 
spielen, ist eine wichtige Aufgabe der Sozialpsychologie 1 ). 

Wir haben die libidinosen Beziehungen zwischen der herrschenden 
Minoritat und der beherrschten Majoritat herausgegriffen, weil dieses 
Verhaltnis der soziale wie psychische Kern jeder Klassengesell- 
schaft ist. Aber auch alle andern Beziehungen innerhalb der Gesell- 
schaft tragen ihr besonderes libidinOses Geprage. Etwa die Be- 
ziehungen der Angehorigen der gleichen Klasse weisen eine andere psy- 
chische Farbung innerhalb des Kleinburgertums als innerhalb des 
Proletariats auf , die libidin6se Beziehung zum politischen Fiihrer ist 
psychologisch anders strukturiert beim seine Klasse zwar fuhrenden, 
aber sich mit ihr identifizierenden und ihren Wunschen dienenden, 
proletarischen und anders bei dem der Masse als starker Mann, 
als machtiger, vergroBerter pater familias gegenuberstehenden, kom- 
mandierenden Fiihrer 2 ). 



1 ) Vgl, Fromm, Zur Psychologie des Verbrechers und der strafenden Ge- 
sellschaft. Imago, XVII, 12. — Der Kulturapparat dient auch nicht nur 
dazu, die libidinosen Krafte (speziell die praegenitalen und die Partial- 
triebe) der Menschen in bestimmte, gesellschaftlich erwiinschte Richtungen 
zu lenken, sondern auch, die libidinosen Krafte so weit zu schwachen, dafi 
sie nicht zu einer Gefahr fur die gesellschaftliche Stabilitat werden. In 
dieser Abdampfung der libidinosen Krafte, bzw. ihrer Zuriicklenkung auf das 
praegenitale Gebiet, ist auch ein Grund der Sexualmoral gewisser Gesell- 
schaften zu finden. 

2 ) Freud hat in seiner „Massenpsychologie und Ich-Analyse tc gerade auf 
die libidinosen Momente des Verhaltnisses zum Fiihrer hingewiesen. Er hat 
aber „den Fiihrer" abstrakt genommen, wie er „die Masse 4 ' abstrakt nimmt, 
d. h. ohne Riicksicht auf ihre konkrete Situation. Dadurch bekommt auch 
die Darstellung der psychischen Vorgange eine Allgemeinheit, die der Wirk- 
lichkeit nicht entspricht, bzw. es wird ein bestimmter Typ der Beziehung 
zum Fiihrer zum allgemeinen gestempelt. Auch wird iiberhaupt das ent- 
scheidende Problem ^der Sozialpsychologie, das Verhaltnis der Klassen, durch 
ein sekundares, das Verhaltnis Masse-Fiihrer ersetzt. Es bleibt aber be- 
merkenswert, d&Q Freud in dieser Arbeit die die Masse herabsetzenden 
Tendenzen der biirgerlichen Sozialpsychologen feststellt und seinerseits 
nicht teilt. 



Tiber Methode und Aufgabe einer analytischen Sozialpsychologie 53 

Entsprechend der Mannigfaltigkeit der moglichen libidinosen Be- 
ziehungen herrschen auch tatsachlich die allerverschiedensten Arten 
gefiihlsmaBiger Bindungen innerhalb der Gesellschaft. Ihre Be- 
schreibung und Erklarung ist an dieser Stelle auch nur andeutungs- 
weise ganz unmoglich. Es ist dies eine Hauptaufgabe einer analy- 
tischen Sozialpsychologie. Nur soviel mu6 gesagt werden, daB jede 
Gesellschaft, so, wie sie eine bestimmte okonomische und eine soziale, 
politische und geistige Struktur hat, auch eine ihr ganz spezifische 
libidindse Struktur hat. Die libidinOse Struktur ist das Produkt 
der Einwirkung der sozial-okonomischen Bedingungen auf die Trieb- 
tendenzen, und sie ist ihrerseits ein wichtiges bestimmendes Moment 
ftir die Gefuhlsbildung innerhalb der verschiedenen Schichten der 
Gesellschaft wie auch fur die Beschaffenheit des ,,ideologischen 
Uberbaus". Die libidinose Struktur einer Gesellschaft ist das 
Medium, in dem sich die Einwirkung der Okonomie auf die eigent- 
lich menschlichen, seelisch-geistigen Erscheinungen vollzieht. 

Selbstverstandlich bleibt die libidindse Struktur einer Gesellschaft 
so wenig konstant wie ihre okonomische und soziale. Sie hat aber eine 
relative Konstanz, solange die Gesellschaftsstruktur in einem ge- 
wissen Gleichgewicht ist, d. h. also in den relativ konsolidierten 
Phasen der gesellschaftlichen Entwicklung. Mit dem Wachsen der 
objektiven Widerspriiche innerhalb der Gesellschaft, mit der be- 
ginnenden starkeren Zersetzung einer bestimmten Gesellschaftsform 
treten auch gewisse Veranderungen in der libidinosen Struktur der 
Gesellschaft ein ; traditionelle, die Stabilitat der Gesellschaft erhaltende 
Bindungen verschwinden, traditionelle Gefiihlshaltungen andern sich. 
Libidinose Krafte werden zu neuen Verwendungen frei und verandern 
damit ihre soziale Funktion. Sie tragen nun nicht mehr dazu bei, die 
Gesellschaft zu erhalten, sondern sie fuhren zum Aufbau neuer Ge- 
sellschaftsformationen, sie horen gleichsam auf, Kitt zu sein und 
werden Sprengstoff. 

Kehren wir noch einmal zu der am Eingang diskutierten Frage- 
stellung zuruck, dem Verhaltnis der Triebe zu den Lebensschicksalen, 
also den aufieren Lebensbedingungen des Menschen! Wir hatten ge- 
sehen, daft die analytische Personalpsychologie die Triebentwicklung 
als Produkt der aktiven und passiven Anpassung der Triebstruktur 
an die Lebensbedingungen ansieht. Das Verhaltnis zwischen der 
libidinosen Struktur der Gesellschaft und ihren okonomischen Be- 
dingungen ist prinzipiell genau das gleiche. Es handelt sich um 
einen Prozefi der aktiven und passiven Anpassung der libidinosen 



54 Erich Fromm, t)ber Methode u. Aufgabe einer analyt. Sozialpsychologie 

Struktur der Gesellschaft an die Okonomischen Bedingungen. Die 
Menschen, eben getrieben von ihren libidinosen Impulsen, verandern 
ihrerseits die okonomischen Bedingungen, die veranderten okono- 
mischen Bedingungen bewirken, daB neue libidinose Strebungen und 
Befriedigungen entstehen usf . Entscheidend ist, daB alle diese Ver- 
anderungen in letzter Instanz auf die okonomischen Bedingungen 
zuruckgehen, daB sich die Triebregungen und Bedurfnisse im Sinne 
der okonomischen Bedingungen, d. h. des jeweils Moglichen bzw. 
Notwendigen verandern und anpassen. 

Innerhalb der Auffassung des historischen Materiaiismus findet 
die analytische Psychologie eindeutig ihren Platz. Sie untersucht 
einen der im Verhaltnis Gesellschaft — Natur wirksamen naturlichen 
Faktoren, die menschliche Triebwelt, die aktive und passive Rolle, 
die sie innerhalb des gesellschaftlichen Prozesses spielt. Sie untersucht 
damit zugleich einen entscheidenden zwischen der okonomischen 
Basis und der Ideologiebildung vermittelnden Faktor. Die analy- 
tische Sozialpsychologie ermoglicht dadurch das voile Verstandnis 
des ideologischen Uberbaus aus dem zwischen Gesellschaft und Natur 
sich abspielenden ProzeB. 

Kurz zusammengefafit ist das Ergebnis dieser Untersuchung iiber 
Methode und Aufgabe einer psychoanalytischen Sozialpsychologie: 

Die Methode ist die der klassischen Freudschen Psychoanalyse, 
d. h. auf sozialePhanomene ubertragen: Verstandnis dergemeinsamen, 
sozial relevanten seelischen Haltungen aus dem ProzeB der aktiven 
und passiven Anpassung desTriebapparates an die sozial-Okonomischen 
Lebensbedingungen der Gesellschaft. 

Die Aufgabe einer psychoanalytischen Sozialpsychologie liegt 
zunachst in der Herausarbeitung der sozial wichtigen libidinosen 
Strebungen, mit anderen Worten in der Darstellung der libidinosen 
Struktur der Gesellschaft. Ferner hat die Sozialpsychologie die 
Entstehung dieser libidinosen Struktur und ihre Funktion im gesell- 
schaftlichen ProzeB zu erklaren. Die Theorie, wie die Ideologien 
aus dem Zusammenwirken von seelischem Triebapparat und sozial- 
okonomischen Bedingungen entstehen, wird dabei ein besonders 
wichtiges Stuck sein. 



Die Wert-Preis-Transformation bei Marx und das 
Krisenproblem. 

Von 
Henryk Grossmann (Frankfurt a. M.). 

I. Die konkrete Wirklichkeit als Objekt und Ziel der 
Marxschen Erkenntnis. 

Die Aufgabe aller Wissenschaft besteht in der Erforschung und 
dem Verstandnis der konkret gegebenen Totalitat der Phanomene, 
ihres Zusammenhanges und ihrer Veranderungen. Die Schwierigkeit 
dieser Aufgabe liegt darin, daB die Phanomene nicht unmittelbar 
mit dem Wesen der Dinge zusammenf alien. Die Erforschung des 
VVesens bildet die Voraussetzung fur die Erkenntnis der Erscheinungs- 
welt. Allein wenn Marx im Gegensatz zur Vulgarokonomie das 
,,verborgene Wesen" und den ,,inneren Zusammenhang" der oko- 
nomischen Realitat erkennen will (Marx, Kapital III 2, S. 352 1 )), so 
besagt das nicht, dafi ihn die konkreten Erscheinungen nicht inter- 
essieren. Im Gegenteil! Unmittelbar sind dem BewuBtsein nur die 
Erscheinungen gegeben, woraus sich — schon rein methodologisch — 
ergibt, daB man nur durch die Analyse der Erscheinungen zu ihrem 
verborgenen wesentlichen „Kern" gelangen kann (vgl. Marx, 
Kapital, III 1, S. 17, 22). 

Aber die konkreten Erscheinungen sind fur Marx nicht nur 
deshalb wichtig, weil sie Ausgangspunkt und Mittel fur die Erkenntnis 
der ,,wirklichen Bewegung" sind, sondern sie selbst sind es, die Marx 
letzten Endes in ihrem Zusammenhang erkennen und verstehen will. 
Denn keinesfalls will er sich — unter Ausschaltung der Phanomene 
■ — lediglich auf die Erforschung des ,,Wesens" beschranken. Vielmehr 
hat das erkannte Wesentliche die Funktion, uns zu befahigen, die 
konkreten Erscheinungen zu begreifen. Deshalb ist Marx beimiht, 
,,das Gesetz der Phanomene", das sie beherrscht, also ,,das Gesetz 
ihrer Veranderungen" zu finden. (Nachwort zur 2. Ausg. d. ,, Kapital".) 

Unverstandlich und ,, prima facie abgeschmackt" sind nach Marx 
nur die Phanomene an sich, ohne Zusammenhang mit dem ,,ver- 

2 ) Im folgenden werden der I. und der III. Band des Marxschen ,, Kapital" 
nach der dritten, der II. Band nach der ersten Auflage, ,,Theorien iiber den 
Mehrwert'* als „Mehrwert" zitiert. 



56 Henryk Grossraann 

borgenen Wesen" der Dinge. Aber es ware ein verhangnisvoller 
Fehler der okonomischen Wissenschaft, wenn sie — in den umge- 
kehrten Irrtum der Vulgarokonomie verfallend — nun in der Analyse 
bei dem gefundenen ,,verborgenen Wesen" der Dinge verbliebe, ohne 
von ihm her den Riickweg zur konkreten Erscheinung, urn 
deren Erklarung es sich doch handelt, zu finden, d. h. ohne die 
vielen Vermittlungen zwischen Wesen und Erscheinungsform 
zu rekonstruieren ! Deshalb sieht auch Marx in diesem Wege vom 
Abstrakten zum Konkreten ,,offenbar die wissenschaftlich richtige 
Methode". Hier ,,fuhren die abstrakten Bestimmungen zur Re- 
produktion des Konkreten im Wege des Denkens", weil „die 
Methode, vom Abstrakten zum Konkreten aufzusteigen, nur die 
Art fur das Denken ist, sich das Konkrete anzueignen, es als 
einKonkretesgeistigzureproduzieren". (Einltg. z. Kritik d. Polit. 
Okonomie, S. XXXVI). 

An einem konkreten Beispiel zeigt Marx, daB es nicht geniigt, die 
in der industriellen Produktion geschaffenen Werte auf das allgemeine 
Gesetz, d. h. darauf zuruckzufiihren, ,,daB die Werte der Waren be- 
stimmt sind durch die in ihnen enthaltene Arbeitszeit". Denn die 
empirischen Vorgange in der Zirkulationssphare, z. B. der praktisch 
sichtbare EinfluB des Kaufmannskapitals auf die Warenpreise, zeigt 
..Phanomene, die ohne sehr weitlaufige Analyse der Mittel- 
glieder eine rein willkurliche Bestimmung der Preise voraus- 
zusetzen scheinen", so daB der Schein entsteht, „als ob der Zirku- 
lationsprozeB als solcher die Preise der Waren bestimme, unabhangig 
(innerhalb gewisser Grenzen) vom ProduktionsprozeB", also von der 
Arbeitszeit. Um also das Illusorische dieses Scheins nachzuweisen 
und den , } inneren Zusammenhang" zwischen dem Phanomen und 
dem ..wirklichen Vorgang" herzustellen — was ,,ein sehr verwickeltes 
Ding iind eine sehr ausfuhrliche Arbeit ist" — , ,,ist es ein Werk der 
Wissenschaft, die sichtbare, bloB erscheinende Bewegung auf die 
inner e wirkliche Bewegung zu reduzieren" (Kapital, III 1 ? 
S. 297), ,,ganz wie die scheinbare Bewegung der Himmelskorper 
nur dem verstandlich, der ihre wirkliche, aber sinnlich nicht wahr- 
nehmbare Bewegung kennt" (Kapital, I, S. 314). 

Das entscheidend wichtige „Werk der Wissenschaft" ist also, die 
,,Vermittlungen", die „Mittelglieder" zu finden, die von dem Wesen 
zum konkreten Phanomen fiihren, da ohne diese Mittelglieder die 
Theorie, d. h. das „Wesen" der Dinge im Widerspruch zur kon- 
kreten Wirklichkeit stunde. Mit Recht verspottet Marx solche 



Die Wert-Preis-Transformation bei Marx und das Krisenproblem 57 

„Theoretiker", die sich in wirklichkeitsfremden Konstruktionen ver- 
lieren. Nur „der Vulgus hat daher geschlossen, dafl die theoretischen 
Wahrheiten Abstraktionen sind, die den wirklichen Ver- 
haltnissen widersprechen" (Mehrwert, II 1, S. 166). 

Diesem methodologischen Grundgedanken Marxens entspricht. 
auch, wie ich dies bereits gezeigt habe 1 ), der Aufbau des Marxschen 
,,Kapital" und das darin angewandte „Armaherungsverfahren", das 
seinen pragnantesten Ausdruck in der Konstruktion des Marxschen 
Reproduktionsschemas gefunden hat. Unter Anwendung zahlreicher 
vereinfachender Annahmen wird dort zunachst die „Reise" vom Kon- 
kreten zum Abstrakten unternommen. Es wird von der gegebenen 
Erscheinungswelt, von den konkreten Teilformen, in denen der Mehr- 
wert in der Zirkulationssphare auftritt (Unternehmergewinn, Zins, 
Handelsprofit usw.), abgesehen und die ganze Analyse des I. und 
II. Bandes des ,, Kapital" auf den Wert und Mehrwert als 
Ganzes, auf ihre Schopfung und ihre GrOJBen variation im Produk- 
tions- und AkkumulationsprozeB konzentriert. Dabei wird der ,,dem 
ZirkulationsprozeB angehorige Schein" (K. I, S. 600) ausgeschaltet. 
Bestand die Aufgabe der Analyse im I. und II. Band des ,, Kapital" 
darin, die SchOpfung des Mehrwerts als das Wesen des okono- 
mischen Gesamtprozesses zu erforschen, so gait es nachher — und 
das bildet, wie dies Marx ausdrucklich betont, gerade die Aufgabe 
und den Inhalt des III. Bandes — , den „inneren Zusammenhang" 
zwischen dem aufgedeckten „Wesen" und seiner Erscheinungsf orm : 
den empirisch gegebenen Formen des Mehrwerts, herzustellen, d. h. 
,,die konkreten Formen aufzufinden und darzustellen, 
welche aus dem BewegungsprozeB des Kapitals als Ganzes 
betrachtet hervorwachsen. In ihrer wirklichen Bewegung treten 
sich die Kapitale in solchen konkreten Formen gegeniiber" 
(Kapital, III 1, S. 1). 

Hier, im III. Bande werden daher die fruher gemachten verein- 
fachenden Voraussetzungen (z. B. der Verkauf der Waren zu ihren 
Werten, die Ausschaltung der Zirkulationssphare und der Konkurrenz, 
die Behandlung des Mehrwerts in seiner Totalitat und unter Aus- 
schaltung der Teilformen, in die er sich spaltet usw.) fallen gelassen 



*) H. Grossmann, Das Akkumulations- und Zusammenbruchsgesetz des 
kapitalistischen Systems, Leipzig 1929, S. Vlff. — „Die Anderung des ur- 
spriinglichen Aufbauplans des Marxschen , Kapital' und ihre Ursachen" 
(Arch. f. d. Gesch. d. Sozialismus, Jahrg. XIV, 1929). — ,,Die Goldproduk- 
tion im Reproduktionsscherna v. Marx und Rosa Luxemburg", Festschrift 
fur C. Grunberg, Leipzig 1932, S. 152. 



58 Henryk Grossmann 

und nachtraglich, in dieser zweiten Etappe des Annaherungs- 
verfahrens, schrittweise die bisher vernachlassigten Vermittlungen 
beriicksichtigt und die konkreten Profitformen, wie sie in der 
empirischen Wirklichkeit sichtbar sind (Grundrente, Zins, Handels- 
profit usw.), behandelt. Erst dadurch wird der Kreis der Marxschen 
Analyse geschlossen und der Nachweis erbracht, daB die Arbeitswert- 
theorie keine wirklichkeitsfremde Konstruktion ist, daB sie vielmehr 
tatsachlich das „Gesetz der Phanomene", d. h. die Grundlage bildet, 
die uns befahigt, die reale Welt der Erscheinungen zu erklaren. 
Mit nicht mifizuverstekender Klarheit wird dieser methodologische 
Grundgedanke formuliert, wenn Marx sagt: ,,Wir hatten es in Buch I 
und II nur mit denWerten derWaren zu tun" . . . „ Jetzt", d.h. im 
III. Buch, .,hat sich der Produktionspreis als eine verwandelte 
Form des Werts entwickelt." (Kapital, III 1, S. 142). — „Die Ge- 
staltungen des Kapitals, wie wir sie in diesem (dritten) Buch ent- 
wickeln, nahern sich also schrittweise der Form, worin sie 
aufderOberflache der Gesellschaf t, in der Aktion der verschiedenen 
Ka pit ale aufeinander, der Konkurrenz, und im gewohnlichen Be- 
wuBtsein der Produktionsagenten selbst auftreten." 

II. Der Widerspruch zwischen dem Wertschema und der 

Wirklichkeit. 

Bildet somit, wie gezeigt wurde, die Reproduktion der konkreten 
Wirklichkeit im Wege des Denkens das Ziel der Marxschen Erkenntnis, 
dann ist auch die Funktion des Marxschen Reproduktionsschemas 
innerhalb der Marxschen Forschungsmethode klar zu erkennen: es 
beansprucht nicht, fur sich allein ein Abbild der konkreten 
kapitalistischen Wirklichkeit zu sein, es ist nur ein Glied im 
Marxschen Annaherungsverfahren, das, zusammen mit den verein- 
fachenden Annahmen, die dem Schema zugrunde liegen, und den 
nachtraglichen Modifikationen im Sinne einer progressiven Kon- 
kretisierung ein unzertrennlichos Ganzes bildet. Dabei verliert jeder 
dieser drei Teile fur sich allein, ohne die beiden anderen, fur die Er- 
kenntnis der Wahrheit jeden Sinn und kann nur ein vorlaufiges Er- 
kenntnisstadium, die erste Etappe im Annaherungsverfahren an 
die konkrete Wirklichkeit, bedeuten. 

Ist man sich iiber diesen Charakter des Marxschen Reproduktions- 
schemas im klaren, weiB man, daB es nur ein Hilfsmittel unseres 
Denkens und keine Wiedergabe konkreter Vorgange ist* dann kann 
man auch iiber den Charakter der einzelnen Elemente, aus welchen das 



Die Wert-Preis-Transformation bei Marx und das Krisenproblem 59 

Schema aufgebaut ist — Werte, Mehrwerte, verschiedene Profitraten 
in den einzelnen Produktionsspharen — keinen Zweifel haben. Wie 
ich an anderer Stelle gezeigt habe, ist der Mehrwert eine realeGroBe. 
(Das Akkumulations- und Zusammenbruchsgesetz, S. 196.) Dies 
gilt jedoch nur fiir die Gesamtgesellschaft, fur welche die Werte 
und Preise, daher auch Mehrwert und Profit, quantitativ identische 
GroBen sind. Anders verhalt sich die Sache inbezugaufdieein- 
zelnen Produktionsspharen. Innerhalb dieser haben wir in der 
kapitalistischen Wirklichkeit nicht Werte, sondern die von ihnen 
quantitativ divergierenden Produktionspreise, wir haben nicht Mehr- 
wertgroBen, sondern ProfitgroBen. Kurz, die im Reproduktions- 
schema vorkommenden Werte und Mehrwerte sind, quantitativ be- 
trachtet, keine Wirklichkeitskategorien, sie sind nicht unmittelbar 
in der Welt der kapitalistischen Wirklichkeit gegeben, sind vielmehr 
aus methodologischen Gninden der Vereinfachung freigewahlte An- 
nahmen, die zunachst der Wirklichkeit widersprechen. Nehmen wir 
zunachst die Werte. Ist es noch nOtig, daran zu erinnern, daB bei 
Marx der Verkauf der Waren zu ihren Werten nur den Charakter 
einer theoretischen vorlaufigen Annahme hat, daB aber Marx nie 
und nirgends behauptet, daB diese Annahme der Wirklichkeit ent- 
spricht ? So wird doch im I. Band des „Kapital" ausdrucklich gesagt : 
„Wir unterstellen hier also . . ., daB der Kapitalist, der die Waren 
produziert, sie zu ihrem Wert verkauf t" (Kapital, I, S. 579) — ,,Wir 
unterstellen, daB die Waren zu ihrem Wert verkauf t werden" 
(Kapital, I, S. 530). — Auch im II. Band wird der theoretische 
Charakter dieser Voraussetzung betont, indem Marx sagt: „Im 
I. Buch . . . wurde unterstellt, daB der Kapitalist . . . das Produkt 
zu seinem Wert verkauf t" (Kapital, II, S. 343). Aber nirgends wird 
behauptet, daB diese Annahme der Wirklichkeit entspricht, vielmehr 
wird das Gegenteil gesagt, daB man sich durch diese Annahme von 
der Wirklichkeit entfernt und prima facie mit ihr in einen offenbaren 
Widerspruch gerat. Mit ungewohnlicher Klarheit konstatiert 
namlich Marx bereits im I. Band des „Kapitar ( , daB der Verkauf der 
Waren zu ihren Werten nur fiir den von ihm angenommenen theo- 
retischen ,, Normal verlauf" gilt, „sofern" und ,,wenn" das Phanomen 
„rein" vor sich geht : ,Jn seiner r einen Form bedingt der Zirkulations- 
prozeB den Warenaustausch von Aquivalenten. Jedoch gehen die 
Dinge in der Wirklichkeit nicht rein zu" (Kapital, I, S. 136). 
— Hier wird also der ,,reine" Vorgang der Wirklichkeit gegenuber- 
gestellt. Nur im ersteren, nicht aber in der letzteren werden die Waren 



60 Henryk Grossmann 

zu ihren Werten ausgetauscht. In einem Brief an Kugelmann vom 
11. Juli 1868 geiBelt Marx dann mit dem ihm eigentumlichen Sarkas- 
mus die in der biirgerlichen Okonomie oft vorkommende Verwechs- 
lung der theoretischen Annahme mit der Erfahrung. „Der Vulgar- 
Okonom hat nicht die geringste Ahnung davon, daB die wirklichen 
taglichen Austauschverhaltnisse und die WertgroBen nicht un- 
mittelbar identisch sind." 

An unzahligen anderen Stellen in alien Banden des „Kapital" und 
in den ,,Theorien iiber den Mehrwert" wiederholt Marx immer wieder, 
daB die Waren in der Wirklichkeit nicht zu ihren Werten, sondern zu 
Produktionspreisen verkauft werden, wobei ,,die Produktions- 
preise der meisten Waren von ihren Werten . . . abweichen 
mussen" (Mehrwert, III, S. 92). Eben deshalb polemisiert er gegen 
die Ricardosche Behauptung, daB die Waren zu ihren Werten ver- 
kauft werden: ,,Das ist die erste falsche Voraussetzung . . . Die 
Waren tauschen sich nur ausnahmsweise aus zu ihren Werten' 6 
(Mehrwert, II 1, S. 191). Und A. Smith gegeniiber wird gesagt: — 
,,Wie ich spater nachweisen werde, selbst der Durchschnittspreis der 
Waren ist stets von ihrem Werte verschieden" (Mehrwert, I, 
S. 162). 

Was hier vom Wert gesagt wurde, gilt auch vom Mehrwert. Im 
Reproduktionsschema haben wir zwar Mehrwerte, nicht aber in der 
Wirklichkeit. Denn Mehrwert ist das ,,Unsichtbare", wahrend in der 
Realitat des Kapitalismus nur verschiedene Profitformen wie 
Unternehmergewinn, Zins, Handelsprofit, Grundrente vorkommen. 
Die in jeder Produktionssphare des Schemas dargestellten Mehrwerte 
sind daher nur vorlaufige Annahmen, die der Wirklichkeit nicht ent- 
sprechen. Dasselbe gilt endlich in bezug auf die im Schema sichtbaren 
Profitraten. In einem auf Werten aufgebauten Reproduktions- 
schema, also unter Annahme, daB die Waren zu ihren Werten ver- 
kauft werden, mussen in jeder Abteilung des Schemas verschiedene 
Profitraten bestehen, wahrend doch die Erfahrung eines kon- 
kurrenzbedingten kapitalistischen Systems zeigt, daB in der Wirklich- 
keit eineTendenz zur Ausgleichung der verschiedenen Profit- 
raten in den einzelnen Spharen zu einer allgemeinen, d. h. Durch- 
schnittsprofitrate herrscht, was schon im Begriff des Produk- 
tionspreises eingeschlossen ist: „Dasein und Begriff des Produktions- 
preises und der allgemeinen Prof itrate, die er einschlieBt, beruhen 
darauf, daB die einzelnen Waren nicht zu ihren Werten ver- 
kauft werden" (Kapital, III, 2, S. 293), wie umgekehrt „die bloBe 



Die Wert-Preis-Transformation bei Marx und das Krisenproblem 61 

Existenz einer allgemeinen Profitrate von den Werten unterschiedene 
Produktionspreise bedingt" (Mehrwert, II 1, S. 17). — 

So ergibt es sich, daB das Reproduktionsschema, indem es nur 
Werte, Mehrwerte und in den einzelnen Spharen verschiedene Profit- 
raten aufweist, zunachst im Widerspruch zur konkreten Wirk- 
lichkeit steht. Der theoretische, vorlaufige Charakter des Re- 
produktionsschemas und speziell der Annahme, daB die Waren sich 
zu ihren Werten austauschen, ist somit klar. Die wirklichen Vor- 
gange spielen sich ganz anders als im Reproduktionsschema ab. Und 
zwar handelt es sich dabei nicht etwa um zufallige, voriibergehende 
Abweichungen von den im Schema dargestellten Vorgangen, die so- 
mit von der Wissenschaft vernachlassigt werden durfen, sondern der 
wirkliche Ablauf der Reproduktion ist wesentlich ein anderer, 
als das Schema zeigt. Die Abweichungen der Preise von den 
Werten, wie sie in der Wirklichkeit vorkommen, sind keine bloB 
voriibergehenden Schwankungen, wie dies z. B. bei den Markt- 
preisen der Fall ist, sondern die faktisch eintretende Verwandlung der 
Werte in Produktionspreise „schafft dauernd Abweichungen von 
den Werten*' (Mehrwert, II 1, S. 164). Im Schema werden in den 
einzelnen Spharen die von ihnen produzierten Mehrwerte realisiert. 
Ganz anders in der Wirklichkeit. Auf die Dauer werden nicht die 
Mehrwerte, sondern der von ihnen dauernd abweichende Durch- 
schnittsprofit realisiert. ,,So streben alle Kapitale, welches immer 
der von ihnen selbst erzeugte Mehrwert, an Stelle dieses Mehrwertes 
den Durchschnittsprofit durch die Preise ihrer Waren zu rea- 
lisieren" (Kapital, III 1, S. 152). 

„Es scheint also — sagt daher Marx — daB die Werttheorie hier 
unvereinbar ist mit der wirklichen Bewegung, unvereinbar mit den 
tatsachlichen Erscheinungen der Produktion, und daB daher 
uberhaupt darauf verzichtet werden muB, die letzteren zu begreifen" 
(Kapital, III 1, S. 132). 

III. Die Produktionspreise und die allgemeine Profitrate 
als „Regulatoren" der kapitalistischen Produktion. 
Fur das Verstandnis des kapitalistischen Mechanismus geniigt es 
indessen nicht, sich auf die Feststellung zu beschranken, daB das 
Wertschema des Reproduktionsprozesses und die darin enthaltenen 
Kategorien des Mehrwertes sowie der besonderen Profitraten in den 
einzelnen Produktionsspharen der konkreten Realitat nicht ent- 
sprechen. Wir mussen weiter fragen: Welche Kategorien sind dann 



62 Henry k Gross mann 

fur die kapitalistische Wirklichkeit maBgebend und fur die „wirkliche 
Bewegung" des kapitalistischen Mechanismus entscheidend wichtig? 
Die Marxsche Antwort auf diese Frage — und sie bildet den Inhalt 
des III. Bandes des „Kapital u — ist bekannt. Nicht die theoretisch 
angenommenen Werte, sondern die erfahrungsgemaB gegebenen Pro- 
duktionspreise bilden das objektive Gravitationszentrum, um 
welches die taglichen Marktpreise oszillieren. Fur die konkreten 
Kapitalbewegungen sind nicht die im Schema theoretisch ange- 
nommenen verschiedenen Profitraten, sondern die erfahrungs- 
maBig gegebene allgemeine Durchschnittsprofitrate entscheidend 
wichtig. 

..Andererseits — sagt Marx — unterliegt es keinem Zweifel, daB 
in der Wirklichkeit (von unwesentlichen, zufalligen und sich aus- 
gleichenden Unterschieden abgesehen) die Verschiedenheit der 
durchschnittlichen Profitraten fiir die verschiedenen Industriezweige 
nicht existiert und nicht existieren konnte, ohne das ganze 
System der kapitalistischen Produktion aufzuheben" (Ka- 
pital, III 1, S. 132). Von dieser allgemeinen Profitrate sagt Marx, 
sie ..sei die treibende Macht in der kapitalistischen Produktion" 
(Kapital, III 1, S. 241). Dieser ,,Durchschnittsprofit ist . . . wie 
es in der kapitalistischen Produktionsweise der Fall ist, als Regulator 
der Produktion liberhaupt" zu betrachten (Kapital, III 2, S. 316), er ist 
das ,,regelnde Gesetz . . . der kapitalistischen Gesellschaft". (Kapital, 
III 2, S. 355.) Aus demselben Grunde ist fiir Marx „das Grundgesetz 
der kapitalistischen Konkurrenz das Gesetz, welches die allgemeine 
Profitrate und die durchsie bestimmten sog. Produktionspreise 
regelt" (Kapital, III 1, S. 12). Von der Ausgleichung endlich meint 
Marx, daf$ ,,die Bewegung dieser Ausgleichung (die Grundlage 
ist, H. G.), worauf die ganze kapitalistische Produktion 
beruht !i (Kapital, III 1, S. 422). Denn nicht die Werte, sondern die 
Produktionspreise ,,sind die wirklich regulierenden Durch- 
schnitts-Marktpreise", d. h. sie bilden die Basis, um welche die wirk- 
lichen Marktpreise oszillieren: „Die Marktpreise steigen iiber und 
fallen unter diese regulierenden Produktionspreise" (Kapital, 
III 2, S. 396), ,,da nicht die Werte, sondern die von ihnen ver- 
schiedenen Produktionspreise in j eder Produktionssphare die 
regulierenden Durchschnittspreise bilden" (Kapital, III 2, 
S. 409; vgl. Kapital, III 2, S. 181, 187, 364, 381, 396 u. ofters). 

;; Regulierende Durchschnittspreise" heiBt aber nichts anderes, als 
daB auf die Dauer eben der Produktionspreis und nicht der Wert die 



Die Wert-Preis-Transformation bei Marx und das Krisenproblem 63 

BedingungderReproduktion bildet, wie dies Marx ausdriicklich 
feststellt: „Es ist tatsachlich dasselbe, was . . . Ricardo price of 
production, cost of production, die Physiokraten prix necessaire 
nennen, . . . weil er auf die Dauer Bedingung der Zufuhr, 
der Reproduktion der Ware jeder besonderen Produktions- 
sphare ist" (Kapital, III 1, S. 178). 

Noch mebr aber ! Die praktische Wichtigkeit und Bedeutung der 
allgemeinen Profitrate wird noch klarer hervortreten, wenn wir er- 
wagen, dafi auf ihr die Gemeinsamkeit der dkonomischen 
Klasseninteressen der Unternehmer beruht. Wurden sich nam- 
lich die Waren zu ihren Werten austauschen, dann ware jeder Unter- 
nehmer nur an der Exploitation der von ihm selbst beschaftigten 
Arbeiter interessiert und sein Gewinn mit deni von ..seinen" Arbeitem 
produzierten Mehrwert identisch. Erst die Venvandlung des Mehr- 
werts in den Durchschnittsprofit bewirkt, ); daB jeder einzelne Kapi- 
talist, wie die Gesamtheit aller Kapita listen, ... in der Exploitation 
der Gesamtarbeiterklasse durch das Gesamtkapital und in dem Grad 
dieser Exploitation nicht nur aus allgemeiner Klassensympathie, 
sondern direkt 5konomisch beteiligt ist, weil . . . die Durch- 
schnittsprofitrate abhangt von dem Exploitationsgrad der Gesamt- 
arbeit durch das Gesamtkapital" (Kapital, III 1, S. 177). 

Halt man sich an das Wertschema, wo der Verkauf der Waren 
zu ihren Werten stattfindet, daher auch in den einzelnen Spharen 
verschiedene Profitraten bestehen, so bleibt die Konkurrenz und 
ihr Ergebnis — die Tatsache der regulierenden Produktionspreise — 
unberiicksichtigt 1 ), und dieDurchschnittsprofitrate. also die ..treibende 
Macht" — „worauf die ganze kapitalistische PrQduktion beruht" — 
geht verloren! 

1 ) Der Einwand Sternbergs gegen meine Wert auf fassung, dai3 sie „die 
Bedeutung der Konkurrenz im Kapitalismus iibersehe" (,.Die Umw&lzung 
der Wissenschaft", Berlin 1930, S. 12), stellt die Tatsachen auf den Kopf. 
Nicht ich habe die Konkurrenz iibersehen, vielmehr blieb sie in der ganzen 
bisherigen 30jahrigen Diskussion iiber das Akkumulations- und Krisen- 
problem unberiicksichtigt. Herr Sternberg spricht zwar von der Xot- 
wendigkeit, die Konkurrenz zu beriicksichtigen, tut es aber ebensowenig 
wie die anderen Autoren von Tugan-Baranowsky bis Bucharin, da sie alle 
mit einem Schema operieren, das nur Werte kennt. Im Begriff des Wertes 
ist aber auch die Verschiedenheit der Profitraten in den einzelnen 
Spharen, daher auch die Ausschaltung der Konkurrenz, eingeschlossen, da 
,,erst die Konkurrenz der Kapitale in den verschiedenen Spharen den 
Produktionspreis hervorbringt, der die Profitraten zwischen den verschiedenen 
Spharen egalisiert" (Kapital, III 1, S. 156). Wo man die Krisen a Is pri- 
mar partielle, aus der Disproportionalitat der einzelnen Spharen sich er- 
gebende behandelt ■ — wie in den Arbeiten der genannten Autoren — , ist 
die Beriicksichtigung der Konkurrenz, d. h. der Tendenz zur Ausgleichung 



64 Henryk Grossmann 

Weil aber ein solches Wertschema uns nichts liber die Produktions- 
preise und den Durchschnittsprofit als Ganzes sagt und sagen kann, 
so kann es selbstverstandlich ebensowenig auch die einzelnen Teil- 
formendesProfits,die aus der Spaltung des Mehrwerts entstehen , 
erklaren; es ist also ungeeignet ,,die konkreten Formen . . . dar- 
zustellen, welche aus dem BewegungsprozeB des Kapitals, als Ganzes 
betraehtet, hervorwachsen". Die Existenz aller dieser Profitformen 
ist mit dem Wertschema unvereinbar, daher auch vom Standpunkt 
der ihm zugrundeliegenden Werttheorie zunachst nicht erklarbar. 

Das Wertschema umfaBt namlich blofl das produktive, an der 
Produktion von Wert und Mehrwert beteiligte, nicht aber das in der 
Zirkulationssphare fungierende Geld- und Kaufmannskapital. 
Wenn also die industriellen Produzenten die Waren zu ihren 
Werten, d. h. zu „Wertpreisen", die mit den Werten quantitativ 
identisch sind (Kapital, III 1, S. 153), verkaufen (wie dies im Wert- 
schema geschieht), so ist die Existenz des Handelsprofits, also 
der Profit des Kaufmannskapitals, das an der Produktion gar 
nicht beteiligt ist, ein unlosbares Ratsel. „Prima facie erscheint der 
reine, unabhangige Handelsprofit unmOglich, solange Produkte zu 
ihren Werten verkauft werden." (Kapital, III 1, S. 313). „Die aus 
der Betrachtung des industriellen Kapitals unmittelbar abgeleiteten 
Satze iiber Wertbildung, Profit usw. passen nicht direkt aufdas 
Kaufmannskapital" (Kapital III 1, S. 308). Solange wir also 
innerhalb der Wert betrachtung verbleiben, solange ist zugleich ein 
grofier und wichtiger Teil der Phanomene der kapitalistischen Wirk- 

der Profitraten, unbedingt notwendig. Anders ist es in meinem Buche, 
wo es urn die Erklarung der primar allgemeinen, saint liche Spharen zu- 
gleich erfassenden t^berakkumulationskrisen geht. Fur die Gesamtgesell- 
schaft „verliert die Unterscheidung der Werte von den Produktionspreisen 
jede Bedeutung" (vgl. mein „Akkumulationsgesetz", S. 107 und 211), da 
hier beide GroBen identisch sind. 

Ebenso unrichtig ist der weitere Ein wand, daB die Wirkung der Konkurrenz 
schon im Werte selbst enthalten ware, weil die Konkurrenz den Wert, d. h. 
die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit, bestimme. Diese Auffassung ist 
mit den wesent lichen Grundlagen der Marxschen Wertlehre absolut unver- 
einbar. Tatsachlich ist die Funktion der Konkurrenz fur den Wert nicht 
konstitutiv, sondern blofi deklaratorisch. Sie bestimmt nicht die gesellschaft- 
lich notwendige Arbeitszeit, stellt sie vielmehr nur nachtraglich fest. Die 
Konkurrenz spielt sich namlich auf dem Markt, also innerhalb der Zirkula- 
tionssphare, ab. Der Wert aber wird in der Produktion geschaffen, geht 
also aller Konkurrenz voraus. „Der Wert der Waren" — sagt Marx — „ist 
in ihren Preisen dargestellt, bevor sie in die Zirkulation t re ten, also Vor- 
aussetzung und nicht Resultat derselben'- (Kapital, I, S. 133. Ahnlich 
„Zur Kritik'% S. 49). Bereits die Physiokraten Quesnay und Mercier de 
la Riviere wufiten, dafl die Waren den Tauschwert besitzen, bevor sie 
zum Austausch auf den Markt kommen (vgl. Marx, Kapital, I, S. 133 und 
Aug. Oncken, Gesch. d. Nationalokon., Leipzig 1902, S. 370). 



Die Wert-Preis-Transformation bei Marx und das Krisenproblem 65 

lichkeit — der Profit des Kaufmannskapitals — speziell auch in 
seiner internationalen Gestalt, d. h. die Erscheinungen des Welt- 
marktes und des Welthandels unerklarfear. 

Indes auch die Verwandlung der Werte (der Wertpreise) des 
Schemas in Produktionspreise und die Ausgleichung der verschiedenen 
Profitraten in den einzelnen Spharen des Schemas zur allgemeinen 
Profitrate wiirden zur Erklarung der Existenz des Handelsgewinns 
noch keinesfalls ausreichen. Denn wir hatten damit bloB die pro- 
duktiven, d. h. an der Schopfung des Mehrwerts beteiligten Kapitale 
bei der Bildung der allgemeinen Profitrate und der Umwandlung der 
Wertpreise in Produktionspreise beriicksichtigt. Ein solches Aus- 
gleichsverfahren ware somit bloB ,,die erste Betrachtung" der all- 
gemeinen Profitrate, keinesfalls aber ihre ,,f ertige Gestalt' 1 (Kapital, 
III 1, S. 322). Immer noch bliebe das an der Schopfung des Mehr- 
werts unbeteiligte Handelskapital unberiicksichtigt. Um die Existenz 
des Handelsprofits zu erklaren, ware daher eine weitere Stufe im 
Annaherungsverfahren erforderlich, namlich die, daB das erste Aus- 
gleichungsverfahren der pro duktiven Kapitale allein nachher durch 
,,die Teilnahme des Handelskapitals an dieser Ausgleichung/*' 
also durch eine Ausgleichung zweiten Grades ,,erganzt'' wird (ebenda). 
Erst dadurch wird die „f ertige Gestalt" der Durchschnittsprofitrate 
erreicht, nachdem die Produktionspreise nunmehr eine ,,ein- 
schrankende Bestimmung" erfahren haben (Kapital, III 1, S. 269) und 
weiter in ,,merkantile Preise" (Kapital, III 1, S. 298) modifiziert 
werden, wodurch auch der ursprimgliche Durchschnittsprofit ,,sich 
jetzt innerhalb engerer Grenzen" als vorher darstellt (Kapital, III 1, 
S. 322). Wir sehen: will man die konkrete, empirisch gegebene Form 
des Handelsprofits verstehen, so muB vorher das Wertschema eine 
Reihe von Wandlungen im Annaherungsverfahren durchmachen. 
Unter den Voraussetzungen des Wertschemas, d. h. ohne Auffindung 
dieser Zwischenstufen, die von den ,,Wertpreisen" iiber die , , Pro- 
duktionspreise" zu der Erscheinung der ,,merkantilen Preise" fiihren, 
ware die Existenz des Handelsprofits weder moglich noch begreifbar. 

Und nicht nur dies allein! Es kommt der weitere Umstand hinzu, 
daB der im Wertschema dargestellte Verlauf des Akkumulations- 
prozesses durch die Existenz des Handelsprofits, d. h. durch die 
Umwandlung der Werte in Produktions- resp. merkantile Preise, 
stark modifiziert wird. 

Denn es ist ohne weiteres klar, daB jener Teil des im Wertschema 
dargestellten Mehrwerts, der dem Handelskapital als Profit zufallt 



66 Henryk Grossmann 

und innerhalb der Zirkulationssphare akkumuliert wird (Geschafts- 
gebaude der Handelsunternehmungen, Buroeinrichtungen, Be- 
triebskapital usw.) einen „Abzug vom Profit des industrieUen Ka- 
pitals" (Kapital, III 1, S. 270) bedeutet und „pro tanto den Umfang, 
worin das vorgeschossene Kapital produktiv fungiert, vermindert" 
(Kapital, II, jS. 109). Fur die Zukunft scheidet dieser Teil des Mehr- 
werts aus der im Wertschema dargestellten Akkumulation des pro- 
duktiven Kapitals aus und ist an der Schopfung des Mehrwerts 
nicht mehr beteiligt, nimmt jedoch teil an der Verteilung des 
Profits. Durch beide Tatsachen : durch die Verminderung der Aktiv- 
seite und die VergrOBerung der Passivseite wird das Tempo der 
Akkumulation des industriellen Kapitals pro tanto verlangsamt. 
„Je groBer das Kaufmannskapital im Verhaltnis zum industriellen 
Kapital, desto kleiner die Kate des industriellen Profits" (Kapital, 
III 1, S. 270). Zugleich ist es klar, daB durch die Tatsache des 
Handelsprofits ein Teil des Mehrwerts — vom Standpunkt R. Luxem- 
burgs ein Teil des „unabsetzbaren Mehrwertrestes" — aus der Pro- 
duktionssphare in die Zirkulationssphare verschoben wird. Die Um- 
rechnung der Wertpreise in Produktionspreise resp. in merkantile 
Preise hat somit eine Stoning aller im Wertschema errechneten 
Proportionalitaten zur Folge! 

Was hier vom Handelskapital gesagt wurde, gilt wortlich und aus 
denselben Griinden auch fur das Geld- und Bankkapital. Auch 
dieses Kapital fungiert ausschlieBlich in der Zirkulationssphare, ist 
zwar an der Verteilung, nicht aber an der Produktion von Mehrwert 
beteiligt. Werden die Waren zu ihren Werten verkauft, d. h. behalten 
die Industriellen den ganzen Mehrwert, den sie sich zunachst an- 
eigneten, dann „ware bei dieser Annahme (das) . . . Bankkapital 
unmoglich", weil es keinen Profit machte 1 ). 

SchlieBlich ist auf Basis des Wertschemas nicht bloB die Existenz 
des Geldzinses unmoglich, sondern auch die Bewegung des Zinsf uBes 
nicht verstandlich. „DerZinsfuB verhalt sich zur Profitrate ahnlich wie 
der Marktpreis der Ware zu ihrem Wert. Soweit der Zinsf uB durch 
die Profitrate bestimmt ist, ist es stets durch dieallgemeine Profit- 
rate, nicht durch die spezifischen Profitraten, die in besonderen 
Industriezweigen herrschen mogen" . . . „Die allgemeine Profitrate 
erscheint daher in der Tat als empirisches, gegebenes Faktum 
wieder in der Durchschnittszinsrate" (Kapital, III 1, S. 350). 

x ) Brief von Engels 15. X. 1888 anNikolaion (Die Brief e von K. Marx und 
Fr. Engels an Danielson, Leipzig 1929, S. 45). 



Die Wert-Preis -Transformation bei Marx und das Krisenproblem 67 

„In diesem Sinn", heiBt es an anderer Stelle, „kann man sagen, daB 
der Zins reguliert wird . . . durch die ailgemeine Profitrate" (Kapital, 
III 1, S. 344). In einem Wertschema mit seinen verschiedenen Pro- 
fitraten in den einzelnen Spharen und mit seinem Gesamtmehrwert 
sind weder die Existenz des ZinfuBes noch dessen Bewegungen er- 
klarbar, daher auch das Bank- und Finanzkapital, also diejenige 
konkrete Form des Kapitals unmoglich, der gerade Hilferding fur 
die neueste Entwicklung des Kapitalismus eine entscheidend wichtige 
Bedeutung zuerkennt. 

Und dasselbe gilt von der Grundrente in ihrer modernen, kapi- 
talistischen Form, die „nur in einer Gesellschaft existiert, deren 
Basis die kapitalistische Produktionsweise ist" (Mehrwert, III, 
S. 454). Aus einem Wertschema, d. h. unter der Annahme, daB 
samtliche Waren zu ihren Werten verkauft werden, ist die Existenz 
der Grundrente nicht erklarbar 1 ). 

Aus der bisherigen Darstellung ergibt sich zur Geniige, daB fur die 
Erkenntnis des konkreten Ablaufs des kapitalistischen Produktions- 
prozesses unmittelbar nicht die im Reproduktionsschema dargestellten 
Kategorien: Wert, Mehrwert und die verschiedenen Profitraten von 
entscheidender Bedeutung sind, sondern die darin nicht erfaBten 
Kategorien: Produktionspreise, Profit und seine Teil- 
formen, schlieBlich die ailgemeine Durchschnittsprofitrate. 
Diesen Kategorien muB somit das Primat fur die unmittelbare Er- 
kenntnis der konkreten kapitalistischen Produktion zuerkannt werden, 
weileben der Durchschnittsprof it der ,, Regulator" und die ,,treibende 
Macht" dieser Produktion ist, und weil auf der Ausgleichsbewe- 
gung verschiedener Profitraten ,,die ganze kapitalistische Bewegung 
beruht". 



l ) Denn die absolute Rente ist bloC ein ,,tJberprofit", d. h. ein 
„UberschuB iiber den Durchschnittsprof it" (Mehrwert, III, S. 450, Mehrwert, 
II 2, S. 4, Kapital, III 2, S, 174, 316). „So bildet der UberschuB dieses 
Wertes (der Agrikulturprodukte) iiber den Produktionspreis die absolute 
Rente. Aber damit dieser UbersehuB des Wertes iiber den Produktions- 
preis (gemessen) werden konne, muB der Produktionspreis das Prius sein, also 
der Agrikultur von der Industrie als Gesetz aufgezwangt werden'* (Mehrwert, 
III, S. 114). — „Die Rente ist . . . absolut nicht zu erklaren, wenn derindu- 
strielle Profit nicht den landwirtschaftlichen regulierte" (1. c S. 113). „Um 
iiberhaupt von einem UbersehuB iiber den Durchschnittsprofit sprechen zu 
konnen, muB dieser Durchschnittsprofit selbst als MaBstab und wie es in 
der kapitalistischen Produktionsweise der Fall ist, als Regulator der Pro- 
duktion iiberhaupt hergestellt sein" (Kapital, III 2, S. 316). Aus dem Wert- 
schema, in dem dieser Regulator nicht besteht, ist daher die Existenz der ab- 
soluten Grundrente unerklarbar. 



68 Henryk Grossmann 

Vergegenwartigt man sich diesen Sachverhalt, dann ist es klar, 
daB ein Wertschema, in dem alle diese realen Kategorien fehlen, auf 
denen die wirkliche kapitalistische Bewegung beruht, uns wohl die 
geschichtlichen Entwicklungstendenzen, also „das allgemeine Ge- 
setz der kapitalistischen Aldnimulation", wie es Marx bereits im 
I. Bande des „Kapital" darstellt, zu erkennen erlaubt, aber un- 
moglich imstande ist, die konkreten Bewegungsformen des 
Kapitals im Wege des Denkens zu reproduzieren. Eben deshalb sind 
die aus einem Wertschema gezogenen SchluBfolgerungen uber die 
Proportionalitat oder Disproportionalitat der einzelnen Produktions- 
spharen nicht beweiskraftig und zumindest verfruht. 

IV. Das Wertschema als ein historischer und theoretischer 
Ausgangspunkt. 
Legt man den erfahrungsmafiig gegebenen Kategorien Produk- 
tionspreis, Durchschnittsprofit und allgemeine Profitrate die Rolle 
des Regulators, der treibenden Macht der kapitalistischen Produktion 
bei, so drangt sich die Frage auf : welche Funktion erf iillen dann die 
Werte ? Ist ein auf Werten aufgebautes Reproduktionsschema nicht 
bedeutungslos, nachdem es doch kein adaquates Abbild der kapita- 
listischen Warenproduktion darstellt und keine unmittelbare Wirk- 
lichkeitsgeltung besitzt? Eine solche Folgerung ware verfehlt. Die 
Werte behalten trotz der Realitat der Produktionspreise ihre zentrale 
Bedeutung fiir den Kapitalismus, und zwar, wie Marx betont, in 
doppelter Hinsicht: 

1. Sie sind einmal das historische Prius, gultig fur die Epoche der 
einfachen, d. h. vor kapitalistischen Warenproduktion der selb- 
standigen Produzenten — Handwerker, Bauern — ,,solange die in 
jedem Produktionszweig festgesetzten Produktionsmittel nur mit 
Schwierigkeit aus der einen Sphare in die andere iibertragbar sind" 
(Kapital, III 1, S. 156), d. h. solange fur die Kapitalwanderungen 
reehtliche oder faktische Hindernisse bestehen, welche die Bildung 
der allgemeinen Profitrate verhindern (Kapital, III 1, S. 292). Nur 
in dieser Periode der einfachen Warenproduktion ist der Austausch 
der Waren zu ihren (Markt-)Werten keine bloB theoretische An- 
nahme, sondern ein tats achlic her Vorgang in dem Sinne, daB die 
taglichen Schwankungen der Marktpreise sich um die Werte als 
Gravitationszentrum drehen (Kapital, III 1, S. 157). 

2. In der kapitalistischen Warenproduktion dagegen modi- 
f iziert sich die bisherige Funktion der Werte im Austausch : die Waren 



Die Wert-Preis -Transformation bei Marx und das Krisenproblem 39 

tauschen sich nun au Produktionspreisen aus, die von den Werten 
quantitativ verschieden sind, wobei die Werte nur noch die Funktion 
des theoretischen Prius ftir die Ableitung der Produktionspreise 
erfiillen. Die Produktionspreise sind der Regulator des Pro- 
duktionsumfangs im Kapitalismus, sie entscheiden liber die Kapital- 
wanderungen, d. h. uber die bestandige Zufuhr und Entziehung von 
Kapital in den einzelnen Produktionsspharen, also iiber die Ver- 
teilung des gesellschaftlichen Gesamtkapitals, sie und nicht die Werte 
sind daher auch fur die Proportionality oder Dispropor- 
tionalitat dieser Verteilung verantwortlich. Wahrend jedoch 
die burgerliche Okonomie die Produktionspreise als Tatsache hin- 
nimmt, ohne weiter ihre Entstehung zu prufen, weist Marx nach, daB 
die Produktionspreise selbst aus den Werten abgeleitet werden miissen, 
daB ohne eine solche Ableitung ,,die allgemeine Profitrate (und daher 
auch der Produktionspreis der Ware) eine sinn- und begrifflose Vor- 
stellung bbebe" (Kapital, III 1, S. 136 undMehrwert, II 1, S. 36/37). 
Urn vom Durchschnittsprofit sprechen zu kdnnen, mufi man die Kom- 
ponenten kennen, aus welchen der Durchschnitt berechnet wird. 
„Ohne diese ist der Durchschnittsprofit Durchschnitt von nichts, 
bloBes Hirngespinst. Nur noch in diesem Sinne beherrscht das 
Wertgesetz (die) Bewegung der Warenpreise im Kapitalismus" 
(Kapital, III 1, S. 156, Mehrwert, III, S. 91/92). Das hindert aber 
nicht, daB in den einzelnen Produktionsspharen nicht die 
Werte, sondern die Produktionspreise das Zentrum bilden, 
um welches die taglichen Marktpreise oszillieren 1 ) und „wozu sie sich 
in bestimmten Perioden ausgleichen" (Kapital, III 1, S. 158), daB 
ferner die Produktionspreise und nicht dieWerte die Produktion, 
ihren Umfang und die Kapitalverteilung regulieren, also gerade die- 
jenigen Momente bestimmen, die ftir das Verstandnis der Krisen — 
soweit sie auf die Disproportionalitat der Kapitalverteilung zuriick- 
zufiihren sind — von ausschlaggebender Bedeutung sind 2 ). 



*) Es ist somit unrichtig, wenn K. Diehl, scheinbar Marx entgegen- 
kommend, zwar die Inkongruenz der Preise und der Werte einzelner 
Waren innerhalb der Marxschen Theorie als berechtigt und notwendig an- 
erkennt, dann aber behauptet: „Fiir die durchschnitt lichen Markt- 
preise nimmt Marx entschieden den Arbeitswert als das Gravitations - 
zentrum an." (K. Diehl, tjber das Verhaltnis von Wert und Preis im oko- 
nomischen System von K. Marx, Jena 1898, S. 6 und ebenso noch in der 
3. Ausgabe von „Sozialwissenschaftl. Erlauterungen zu D. Ricardos Grund- 
gesetzen d. Volkswirtschaft, 1921, Bd. I. 96.) 

2 ) „Der ganze kapitalistische Produktionsprozefi ist reguliert durch die 
Preise der Produkte. Aber die regulierenden Produktionspreise sind 
selbst wieder reguliert durch die Ausgleichung der Profitrate und die ihr 



70 Henryk Grossmann 

Wir sehen, der Verkauf der Waren zu ihren Werten gilt nicht fur 
die kapitalistische Wirklichkeit. ,,Der Austausch von Waren zu ihren 
Werten . . ." sagt Marx, ,,erfordert also eine viel niedrigere Stuf e 
als der Austausch zu Produktionspreisen, wozu eine bestimmte 
Hohe kapitalistischer Entwicklung notig ist" (Kapital, III 1, 
S. 156). Die Ausgleichung verschiedener Profitraten einzeiner In- 
dustriespharen (daher auch die Herausbildung der Produktions- 
preise) gelingt dem Kapital urn so mehr, ,,je hdher die kapita- 
listische Entwicklung in einer gegebenen nationalen Gesell - 
schaft ist" (Kapital, III 1, S. 176 und III 1, S. 159). 

Aus dem Gesagten ergibt sich, daB die Beweisfiihrung R. Luxem- 
burgs und ihrer Anhanger, aber ebenso auch Hilferdings und 
Otto Bauers von vornherein verfehlt sein muBte, da sie es unter- 
nahmen, die KrisengesetzmaBigkeit des Kapitalismus an einem 
Schema zu demonstrieren (oder zu negieren), das nur den Verkauf 
.von Waren zu ihren Werten kennt, also nach Marx Ausdruck einer 
,,niedrigeren Stufe" der Entwicklung, namlich der vorkapita- 
listischen Warenproduktion, ist. Damit ignorierten sie das fur den 
entwickelten Kapitalismus maBgebende Produktionspreisschema, 
also gerade alle jene Momente, wie Produktionspreise und Durch- 
schnittsprofit, die fur die Proportionality oder Disproportionalitat 
der Kapitalverteilung im entwickelten Kapitalismus entscheidend 
sind. Die wirklichen, den ganzen Mechanismus regulierenden Kate- 
gorien werden vernachlassigt ; berucksichtigt werden dagegen Kate- 
gorien, die unwirklich sind (Verschiedenheit der Profitraten) und 
die — wenn sie verwirklicht waren — „das ganze System der kapita- 
listischen Produktion aufheben" miiBten! 

Das Unzureichende eines solchen Verfahrens ist klar. Soil der 
friiher geschilderte Gegensatz zwischen der Werttheorie und den 
„tatsachlichen Erscheinungen der Produktion", zwischen dem Wert- 
schema und der kapitalistischen Wirklichkeit beseitigt werden, dann 
darf man in der Analyse des kapitalistischen Reproduktionsprozesses 
nicht bei dem Wertschema mit seinen verschiedenen Profitraten 
stehen bleiben, dann muB man es tatsachlich nur als ein ,,theoretisches 
Prius t( betrachten, d. h. die Werttheorie, also auch das Wertschema 
nur als den Ausgangspunkt einer Analyse nehmen, von dem aus 
mit Hilfe einer Reihe von Mittelgliedern die Brucke zu finden ist, 

entsprechende Verteilung des Kapitals in den verschiedenen gesell- 
echaftlichen Produktionsspharen. Der Profit erscheint hier also als Haupt- 
faktor, nicht der Verteilung der Produkte, sondern ihrer Produktion 
selbst" {Kapital, III 2, S. 419). 



Die Wert-Preis-Transformation bei Marx und das Krisenproblem 71 

die zu den tatsachlichen Erscheinungen, zu den Produktionspreisen 
und zur allgemeinen Profitrate, fiihrt. Kurz, das Wertschema muB 
in einer mehrstufigen und schrittweisen Annaherung in ein Pro- 
duktionspreisschema verwandelt werden. „Es ist klar, daB die 
Darstellung, Verwirklichung, Herstellung der allgemeinen Profitrate 
die Verwandlung der Werte in von ihnen verschiedene 
Produktionspreise ernotigt" (Mehrwert, II 1. S. 161). 

Wohl beginnt Marx im II. Band des ,.Kapital" seine Analyse 
der Krisenproblematik an einem Wertschema. Aber seine Beweis- 
fiihrung auf dieser von der Wirklichkeit entfernten und zunachst mit 
ihr im Widerspruch sich befindenden Abstraktionsstufe ist nicht und 
kann nicht definitiv sein. Sie hat einen bloB vorlaufigen Charakter 
und wird durch die Lehre des III. Bandes des ,,Kapital", durch die 
Lehre von der Transformation der Werte in Produktionspreise, ver- 
vollstandigt. Das Wertschema bildet in der Marxschen Analyse 
lediglich die Keimform, die erste Etappe im Annaherungsverfahren, 
die erst durch eine Reihe von Metamorphosen zur Preisform heran- 
reifen muB ! 

Das Marxsche Wertschema beschrankt die Analyse lediglich auf 
die Wert- und Mehrwertschopfung als Ganzes, d. h. in der Form, 
wie sie aus dem ProduktionsprozeB hervorgehen, wobei zunachst 
von der Konkurrenz und von den Einflussen der Zirkulations- 
sphare auf die Verteilung dieses Mehrwerts abgesehen wird. 
Nachtraglich mussen jedoch die ausgeschiedenen Elemente beriick- 
sichtigt werden und daher die Analyse der Schopfung des Mehrwerts 
im ProduktionsprozeB durch die Analyse seiner vermittels der Kon- 
kurrenz erfolgenden Verteilung im ZirkulationsprozeB er- 
ganzt werden. 

Aus dem Gesagten ergibt sich fur die Krisenproblematik — ■ soweit 
sie die gegenseitigen Abhangigkeits- und Proportionalitatsverhalt- 
nisse der einzelnen Produktionsspharen betrifft — der folgcnde 
SchluB, der zugleich auch den einzuschlagenden Forschungsweg 
anzeigt. 

Soil die Analyse der KrisengesetzmaBigkeit fur die kapita- 
listische Realitat beweiskraftig sein, dann darf sie sich unmoglich 
auf das Wertschema, auf die erste Etappe im Annaherungsver- 
fahren, beschranken, sondern muB vielmehr fur alle seine Etappen 
erf olgen und auch an einem Produktionspreisschema nach- 
gewiesen werden. 



72 Henryk Grossmann 

V. Die Krisenproblematik und die Lehren des III. Bandes 
des Marxschen ,,Kapital". 

Das soeben formulierte Forschungsprogramm steht indes in 
eklatantem Gegensatz zur tatsachlichen Geschichte der Krisen- 
problematik im marxistischen Lager. „In der politischen Okonomie" 
— sagt Marx — „ist die gedankenlose Tradition machtiger als in 
jeder anderen Wissenschaft" (Mehrwert, III, S. 387). Wir werden 
sehen, daB dies nicht bloB fur die biirgerliche Okonomie allein, sondern 
ebenso auch von der politischen Okonomie mancher Marx-Epigonen 
gilt. Zunachst wurde die Bedeutung der im II. Band des „Kapital" 
entwickelten Reproduktionsschemata fiir die Krisenproblematik 
iiberhaupt nicht erkannt. In einer 1886 in der „Neuen Zeit" 
erschienenen Besprechung des II. Bandes des „Kapital" fiihrt 
K. Kautsky die Griinde an, warum nach seiner Meinung 
dieser Band fiir die Arbeiterklasse geringeres Interesse habe 
als der erste. Fiir sie sei nur die Produktion des Mehrwerts 
in der Fabrik von Wichtigkeit. Die weitere Frage, wie dieser 
Mehrwert realisiert wird, interessiere mehr die Kapitalisten als 
die Arbeiterklasse. Und dasselbe Urteil, zum Teil sogar mit den- 
selben Worten, wiederholt kritiklos 10 Jahre- spater (1895) Ed. 
Bernstein, anlaBlich des Erscheinens des III. ,,Kapital" -Bandes 
in einem TJberblick liber das ganze nun zum AbschluB gelangte 
Marxsche Hauptwerk. Die Praktiker der Bewegung haben oft nur 
den ersten Band gelesen, die weiteren Bande durch Jahrzehnte 
iiberhaupt nicht in der Hand gehabt. ,,Da Du im Loch Kapital II 
und III ochsen willst", schreibt F. Engels noch am 16. III. 1895 
an Viktor Adler nach Wien, „so will ich Dir zur Erleichterung 
einige Winke geben." Mit Recht spricht daher Hi If erding von den 
bis zum Erscheinen des Buches von Tugan-Baranowsky, 1901, 
..unbeachteten Analysen des II. Bandes" (Finanzkapital, Wien, 
1910, S. 303) und fiigt dann hinzu: ,,Es ist das Verdienst Tugan- 
Baranowskys, auf die Bedeutung dieser Untersuchungen fiir das 
Krisenproblem in seinen bekannten ,,Studien ..." hingewiesen zu 
haben. Merkwiirdig ist nur, daB es erst eines solchen Hinweises be- 
durfte" (ebda, S. 304). 

Mit der Wendung, die seit dem Erscheinen des Tuganschen 
Buches eintrat, fiel man in das entgegengesetzte Extrem. 
Wurde bis dahin die Bedeutung des Reproduktionsschemas fiir das 
Krisenproblem iiberhaupt nicht gesehen, so beginnt man es nun 



Die Wert-Preis-Transformation bei Marx und das Krisenproblem 73 

— wie ich an anderer Stelle gezeigt habe 1 ) — , in iiber- 
schwenglichster Weise zu verherrlichen, man schreibt ihm eine 
,,objektive, gesellschaftliche Existenz" zu und erblickt in ihm ein 
exaktes Abbild des kapitalistischen Reproduktions- 
prozesses, so daB aus den Verhaltnissen des Reproduktions- 
schemas unmittelbar SchluBfolgerungen iiber die Vorgange in 
der kapitalistischen Wirklichkeit gezogen werden! So sagt z. B. 
Rosa Luxemburg: ,,Wir haben uns zu fragen, welche Bedeutung 
das analysierte Schema des Reproduktionsprozesses fur die Wirk- 
lichkeit hat" (Akkumulation des Kapitals., S. 76). Ihre Ant- 
wort geht dahin, daB die exakten Proportionen des Marxschen 
Schemas die , , allgemeine absolute Grundlage der gesellschaf t- 
lichen Reproduktion" bilden, und zwar sowohl fur die kapitalistische, 
als auch fiir die sozialistische, iiberhaupt jede planmaBige Produk- 
tion! (1. c. S. 56, 75, 103.) In einer planmaBig geleiteten 
sozialistischen Wirtschaft wiirde die Produktion exakt den Schema- 
verhaltnissen entsprechen. ,,In der kapitalistischen Wirtschaft", 
sagt Rosa Luxemburg weiter, ,,fehlt jede planmaBige Organisation 
des Gesamtprozesses. Deshalb (! H. G.) geht in ihr auch nichts 
so glatt nach der mathematischen Formel, wie es im Schema 
aussieht. Der Kreislauf der Reproduktion verlauft vielmehr unter 
standigen Abweichungen von den Verhaltnissen des Schemas" 
(1. c. S. 76). — „Bei all diesen Abweichungen jedoch stellt das 
Schema jenen gesellschaftlich notwendigen Durchschnitt 
dar, um den sich jene Bewegungen vollziehen und dem sie 
immer wie der zustreben, nachdem sie sich von ihm entfernt 
haben" (1. c. S. 77). 

Nicht anders verhalt sich die Sache bei Otto Bauer. Auch bei 
ihm stellt schon das Wertschema jenen ausgeglichenen Gleich- 
gewichtszustand zwischen Kapitalakkumulation und Bevolkerung 
dar, um welchen der Kreislauf der wirklichen Reproduktion oszilliert. 
Die Wirklichkeit zeigt zwar standige zyklische Abweichungen vom 
Gleichgewichtszustand des Wertschemas, indem der Produktions- 
apparat im Verhaltnis zum Bevolkerungswachstum eine Uber- 
akkumulation oder Unterakkumulation aufweist. Zugleich aber be- 
steht in der kapitalistischen Produktions weise eine Tendenz, welche 
— wenn auch „durch Vermittlung groBer Krisen" — ,,selbsttatig 
Uberakkumulation und Unterakkumulation aufhebt, die Akkumu- 



l ) Die Goldproduktion im Reproduktionsschema von Marx und Rosa 
Luxemburg. 1. c. S. 153ff. 



74 Henry k Grossmann 

lation des Kapitals immer wieder dem Wachstum der BevGlkerung 
anpaBt" (Neue Zeit, 1913, Bd. I, S. 872), d. h., daB die wirkliche 
Bewegung jenem theoretisch errechneten Gleichgewichts- 
zustand, welcher durch das Wertschema reprasentiert 
wird, zustrebt. 

Im frappanten Gegensatz zu der oben entwickelten Lehre Marxens 
von der regulierenden Funktion des Durchschnittsprofits und der 
Produktionspreise, im Gegensatz zur Lehre, daB nicht Werte, sondern 
erst ihre verwandelte Form, die Produktionspreise, das Gra- 
vitationszentrum fur die Schwankungen der Marktpreise bilden, 
schreiben R. Luxemburg und 0. Bauer diese Funktion den Werten 
zu. Die Verhaltnisse des Wertschemas sind bei beiden nicht nur 
die erste Etappe im Annaherungsverfahren wie bei Marx, sondern 
sie spiegeln unmittelbar die Wirklichkeit wider. 

Aus dieser Divergenz in der Auffassung des Wertschemas bei Marx 
einerseits und R. Luxemburg und 0. Bauer andererseits ergeben 
sich auch die weiteren Konsequenzen fiir die Analyse der Krisen- 
problematik. Das im II. Band des ,,Kapital" entwickelte Repro- 
duktionsschema mit seinen Werten und verschiedenen — mangels 
Konkurrenz nicht ausgeglichenen — Profitraten entspricht nicht der 
Wirklichkeit. Soil die Werttheorie den wirklichen Erscheinungen 
nicht widersprechen, sondern sie erklaren, dann miissen die Werte — 
im Einklang mit der Marxschen Lehre des III. Bandes des „Kapital" 
— mit Hilfe der Konkurrenz in konkretere Produktionspreise um- 
gewandelt, d. h. ,,eine Masse von Mittelgliedern" entwickelt werden, 
die zur allgemeinen Profitrate, schlieBlich zu den empirisch gegebenen 
Profitformen (Zins, Grundrente, Handelsgewinn) fuhren. Indem 
R. Luxemburg und 0. Bauer der methodologischen, vorlaufigen 
Marxschen Annahme, daB die Waren zu ihren Werten verkauft 
werden, Wirklichkeitsgeltung zuerkennen, daher das Wertschema als 
Widerspiegelung der Wirklichkeit betrachten, schalten sie da mit 
von vornherein aus dem Kreis ihrer Problematik die Not- 
wendigkeit der Umwandlung der Werte in Produktions- 
preise und weiter in merkantile Preise aus. Sie verzichten auf 
die Methode der fortschreitenden Konkretisierung der im 
Schema dargestellten Verhaltnisse, auf die Methode zunehmender 
Genauigkeit des Reproduktionsschemas. Man braucht sich 
nicht erst stufenweise der Erfassung der Wirklichkeit zu nahern, 
nachdem doch, nach R. Luxemburg und O. Bauer, das Schema bereits 
die Wirklichkeit widerspiegelt ! 



Die Wert-Preis -Transformation bei Marx und das Krisenproblem 75 

Es ist somit nur die logische Konsequenz dieses verhangnisvollen 
Fehlers, daB fur R. Luxemburg und 0. Bauer nicht nur das Problem 
der Wert-Preis-Transformation, sondern auch das damit verkniipfte 
Problem der allgemeinen Profitrate, sowie das Problem der 
Verwandlung des Mehrwerts in seine besonderen Profitformen 
(Handelsgewinn, Zins usw.), also die ganze Lehre des III. Bandes 
des Marxschen ,,Kapital" nicht existiert! Sie bleiben inner- 
halb der „Keimform" des Wertschemas, bei der von der Wirklichkeit 
entfemten Abstraktionsstufe, stehen, ohne die ,jMetamorphosen'\ 
d. h. den Weg, der zur Annaherung an die konkrete kapitalistische 
Wirklichkeit fuhrt, zu betreten. DaB infolge dieser fatalen Verkennung 
der Marxschen Methodik der Zusammenhang des Problems der Wert- 
Preis-Transformation mit dem Krisenproblem nicht gesehen und nicht 
behandelt wird, ist nach dem Gesagten selbstverstandlich. 

Worin besteht nun dieser Zusammenhang und die spezifische 
Funktion der Preisrechnung ? Um dies zu zeigen, wenden wir uns 
an die Problemstellung, wie sie sich bei R. Luxemburg vorfindet. 
Durch ihre kritische Analyse des Marxschen Reproduktionsschemas 
gelangte sie namlich zum Ergebnis, daB innerhalb eines solchen 
Schemas — soweit in dessen beiden Abteilungen verschiedene orga- 
nische Zusammensetzung des Kapitals besteht — ein restloser Absatz 
der Waren, somit ein Gleichgewicht, nicht moglich sei, weil ,,mit 
jedem Jahre . . . ein wachsender UberschuB an Konsumtions- 
mitteln entstehen muB" (1. c, S. 306). ,, Dieser unabsetzbare 
Mehrwertrest in der Abteilung II wird durch die Beriicksichti- 
gung der steigenden Produktivitat der Arbeit noch verstarkt, weil 
diese . . . auf einen viel starkeren UberschuB unabsetzbarer Kon- 
sumtionsmittel hinweist, als dies aus der Wertsumme dieses Uber- 
schusses hervorgeht" (1. c, S. 308). 

Unterstellen wir einmal, R. Luxemburg ware dieser Nachweis ge- 
lungen. Was hatte sie damit bewiesen ? Lediglich den Umstand, daB 
der ,, unabsetzbare Rest" in der Abteilung II innerhalb des Wert- 
schemas entsteht, d. h. unter der Voraussetzung, daB die Waren zu 
ihren Werten ausgetauscht werden. Aber wir wissen, daB diese Vor- 
aussetzung der Wirklichkeit nicht entspricht. Im Wertschema, das 
der Analyse R. Luxemburgs zugrunde liegt, sind in den einzelnen 
Produktionsabteilungen verschiedene Profitraten, die mangels 
der Konkurrenz nicht zur Durchschnittsrate ausgeglichen werden. 
Auch dies widerspricht der Wirklichkeit, wo infolge der Konkurrenz 
eine Tendenz zur Ausgleichung verschiedener Profitraten zur all- 



76 Henryk Grossmann 

gemeinen Profitrate besteht. Welche Beweiskraft fur die Wirklichkeit 
haben somit die Schlufifolgerungen R. Luxemburgs — der Nachweis 
ernes unabsetzbaren Konsumtionsrestes — , die aus einem Schema 
abgeleitet werden, dem keine Wirklichkeitsgeltuhg zukommt ? Da 
infolge der Konkurrenz die Umwandlung der Werte in 
Produktionspreise und dadurch eine Neuverteilung des 
Mehrwerts unter die einzelnen Industriezweige im Schema 
stattfindet, wodurchnotwendigerweiseaucheineAnderung 
der bisherigen Proportionalitatsverhaltnisse der einzelnen 
Spharen des Schemas erfolgt, so ist es durchaus moglich und 
wahrscheinlich, daB ein ,,Konsumtionsrest" im Wertschema nach- 
her im Pr oduk t i on spreis schema verschwindet und umgekehrt, 
daB ein urspningliches Gleichgewicht des Wertschemas sich nachher im 
Produktionspreisschema in eine Disproportionalitat verwandelt. Die 
Mangelhaftigkeit der Beweisfuhrung, die sich lediglich auf die Analyse 
des Wertschemas beschrankt und mit Werten und verschiedenen 
Profitraten, statt mit Produktionspreisen und der allgemeinen Profit- 
rate operiert, ist evident. Sagt doch R. Luxemburg selbst: „Das 
gesellschaftliche Gesamtkapital mit seinem Gegenstiick, dem gesell- 
schaftlichen Gesamtmehrwert, sind also nicht bloB reale GroBen von 
objektiver Evidenz, sondern ihr Verhaltnis, der Durchschnitts- 
profit, leitet und lenkt — vermittels des Mechanismus des 
Wertgesetzes — den ganzen Austausch, namlich die quanti- 
tativen Austauschverhaltnisse der einzelnen Waren unabhangig 
von ihren besonderen Wertverhaltnissen." Die Durchschnitts- 
profitrate ist namlich die leitende Macht, „die tatsachlich jedes 
Privatkapital nur als Teil des gesellschaftlichen Gesamtkapitals be- 
handelt, ihm den Profit als einen ihm nach GroBe zukommenden Teil 
des in der Gesellschaft herausgepreBten Gesamtmehrwertes ohne 
Riicksicht auf das von ihm tatsachlich erzielte Quantum zu- 
weist" (1. c, S. 50). 

Nach dieser Darstellung R. Luxemburgs lenkt der Durchschnitts- 
profit den ganzen Warenaustausch. Trotzdem pnift sie die Frage, 
ob ein restloser Austausch moglich ist, an einem Schema, das keinen 
Durchschnittsprofit kennt. Kann man sich einen groBeren Wider- 
spruch vorstellen ? Wenn weiter, wie R. Luxemburg feststellt, die 
Austauschverhaltnisse einzelner Waren in der konkreten Wirklichkeit 
,, unabhangig von ihren besonderen Wertverhaltnissen' 4 stattfinden, 
wenn jedes Kapital nicht das von ihm selbst erzeugte Quantum 
Mehrwert realisiert, sondern bloB den zu seiner GroBe pro- 



Die Wert-Preis-Transformation bei Marx und das Krisenproblem 77 

portionalen Durchschnittsprofit erhalt, so gibt doch R. Luxem- 
burg damit indirekt zu, daB ihre Theorie von der Notwendigkeit der 
Realisierung des Mehrwerts falsch ist, so gibt sie indirekt zu, daB 
die Waren sich nicht zu ihren Werten, sondern zu Pre is en, 
namlich zu Produktionspreisen, austauschen, die von den Werten 
dauernd abweichen, da es nach Marx ,,die Durchschnittsrate des 
Profits ist, die allein die Produktionspreise herstellt" (Mehrwert II 1, 
S. 78). Sind ja im Marxschen System gleicher Durchschnittsprofit 
und von den Werten abweichende Produktionspreise korrelative 
Begriffe! Es istdaher ein offenbarer logischer Widerspruch, wenn 
R. Luxemburg aus ihrer eigenen Feststellung des empirischen Faktums 
des Durchschnittsprofits und seiner zentralen leitenden Rolle fur den 
weiteren Gang ihrer Analyse keine Konsequenzen zieht, daB sie 
zwar die Existenz der Durchschnittsprofitrate anerkennt, gleichwohl 
aber an der Vorstellung festhalt, daB die Waren zu ihren Werten 
verkauft werden! Die oben angefuhrte Stelle ihres Buches ist auch 
die einzige, wo sie vom Durchschnittsprofit und in verhiillter Weise 
von den Produktionspreisen spricht. Nirgends aber wird diese Er- 
kenntnis fiir die Analyse des Krisenproblems verwertet. 

R. Luxemburg hatte offenbar selbst das Gefiihl, daB das Wert- 
schema eine wirklichkeitsferne Konstruktion ist, wenn sie in ihrer 
,,Antikritik" vom III. Bande des „Kapitar f und dessen Verhaltnis 
zur Wertlehre des I. Bandes sagt: „Denn hier steht im Mittelpunkt 
als eine der wichtigsten Entdeckungen der Marxschen okono- 
mischen Theorie die Lehre von dem Durchschnittsprofit. Dies gibt 
der W 7 erttheorie des ersten Bandes erst realen Sinn." (S. 38.) 

Sie stellt somit selbst fest, daB nicht die Wertlehre des I. Bandes, 
sondern erst die ^Produktionspreise" und der Durchschnittsprofit des 
III. Bandes einen „ realen Sinn" haben. Aber in ihrem Buche iiber 
die ,,Akkumulation" und in ihrer ,,Antikritik" werden die Produk- 
tionspreise nicht einmal erwahnt und es wird an der falschen Voraus- 
setzung festgehalten, daB der Austausch der Waren zwischen I (v + m) 
und lie zu ihren Werten keine bloB methodologische Annahme, 
sondern in der kapitalistischen Wirklichkeit ein tatsachlicher Vor- 
gang ist! So sagt sie z. B., daB der Lebensmittelbedarf fiir die Ab- 
teilung I des Schemas, durch das variable Kapital und den Mehrwert 
dieser Abteilung ausgedriickt, aus dem Produkt der Abteilung II ,,doch 
nur im Austausch gegen die gleiche Wertmenge des Produkts I 
erhaltlich" ist. (Akkumulation, S. 100, 311.) Noch in ihrem letzten 
posthum erschienenen Werke behauptet sie: „Alle Waren tauschen 



78 Henryk Grossmann 

sich gegeneinander nach ihrem Wert" (Einfiihrung in die National- 
okonomie, Berlin 1925, S. 239) x ). Diese in sich widerspruchsvolle 
Stellungnahme R. Luxemburgs, durch welche sie in die schlimmsten 
Irrtumer des Vulgarsozialismus verfallt, ist kein Zufall. Sie 
entspringt aus ihrer falschen Vorstellung von der ein fur allemal 
durch die Naturgestalt des Mehrwerts bereits gegebenen Funk- 
tionsbestimmung desselben, entweder als Produktionsmittel innerhalb 
der Abteilung I oder als Konsumtionsmittel innerhalb der Abteilung II 
zu wirken. Aus dieser funktionellen Vorausbestimmung ergibt sich 
fur R. Luxemburg , daB irgendwelche Verschiebungen des Mehr- 
werts (oder eines Teiles desselben) aus der Abteilung II in die Ab- 
teilung I unmoglich ist. Eine solche Ubertragung des Mehrwerts 
scheitert nach R. Luxemburg noch aus einem zweiten Grund, 
namlich an der Gleichwertigkeit der Austauschverhaltnisse 
zwischen beiden Abteilungen (Die Akkumulation, S. 311). 

Mit dieser Behauptung gelangt R. Luxemburg notwendig zur 
Negation des ganzen Inhalts des III. Bandes des ,,Kapital" und 
speziell der dort entwickelten Lehre von den Produktionspreisen 
und von der Herausbildung einer gleichen Profitrate. Ihr Wort- 
zugestandnis, daB im Mittelpunkt des III. Bandes die Lehre von dem 
Durchschnittsprofit, „eine der wichtigsten Entdeckungen der Marx- 
schen Theorie", stent, kann den wahren Sachverhalt, daB sie die Lehre 
vom Durchschnittsprofit preisgegeben hat, nicht verschleiern ; viel- 
mehr wird diese Preisgabe noch dadurch unterstrichen, daB R. Luxem- 
burg den einzigen Weg , auf welchem sich ein gleicher Durchschnitts- 
profit herausbilden kann, als unmoglich bezeichnet. Vergegenwartigen 
wir uns den Sachverhalt an dem Marxschen Schema der einfachen 
Reproduktion : 

I 4000c + lOOOv + 1000m = 6000 Profitrate = 20% 
II 2000c + lOOOv + 1000m = 4000 Profitrate = 33% 

Wir sehen, halt man an dem Wertschema, an dem Austausch von 
Aquivalenten fest, also daran, daB lOOOv + 1000m der Abteilung I 
sich gleichwertig gegen 2000c der Abteilung II austauschen, dann 
fa lit die Marxsche Lehre von den Produktionspreisen unter den Tisch, 
dann mussen in beiden Abteilungen verschiedene Profitraten be- 
stehen. Die Profitrate der Abteilung I betragt 20%, die der Abteilung II 



l ) Ahnlich sagt aueh E. Heimann : ,,Auf dem Markte tauschen sich Waren- 
mengen gleichen Wertes." (Mehrwert und Gemeinwirtschaft, Berlin 1922, 
S. 10.) 



Die Wert-Preis-Transformation bei Marx und das Krisenproblem 79 

33%. Wie kann sich in den beiden Abteilungen des Marxschen Sche- 
mas eine gleiche Profitrate — im gegebenen Fall eine Profitrate 
von 25% — herausbilden ? Es erscheint der Himveis fast banal, daB 
dies nur im Wege der Herausbildung von Produktionspreisen moglich 
ist, also durch den Umstand, daB die an die Abteilung II abzutretenden 
Waren der Abteilung I iiber ihren Werten, dagegen die Waren der 
Abteilung II, soweit sie an Abteilung I gelangen, unter ihren Werten 
verkauft werden. Nur dadurch, daB die Abteilung I fur ihre (v -f m) 
= 2000 Werteinheiten von der Abteilung II mehr bekommt, nam- 
lich 2250 Werteinheiten, kann in beiden Abteilungen die gleiche 
Profitrate entstehen. Auf diese Weise wird ein Teil des Mehrwerts 
der Abteilung II in die Abteilung I im Wege des Austausches 
iibertragen. Nur dadurch kann in der Abteilung I ein gegeniiber 
dem ursprtinglich erzielten Mehrwert (= 1000m) groBerer Profit, 
(namlich 1250) erworben werden, was bei dem ausgelegten Kapital 
von 5000C eine Profitrate von 25% ausmacht. In der Abteilung II 
bleibt statt des urspriinglichen Mehrwerts (= 1000m) bloB ein Profit 
von 750, was beim vorgeschossenen Kapital von 3000C eine Profit- 
rate von gleichfalls 25% ergibt. 

DaB durch die Tendenz zur Nivellierung der Profitraten. durch die 
Tatsache der Ubertragung eines Teiles des Mehrwertes aus der Ab- 
teilung II in die Abteilung I die Lehre R. Luxemburgs vom ,,unab- 
setzbaren Konsumtionsrest" in der Abteilung II in ihren Grundlagen 
erschuttert wird, ist nach dem Gesagten ohne weiteres klar, und ihre 
,,unerschutterliche Position* * (Sternberg) erweist sich als eine Seifen- 
blase, die bei der Beriihrung mit der Wirklichkeit sofort platzt. Wollte 
R. Luxemburg ihren Gedanken vom unabsetzbaren Konsumt ions- 
rest tatsachlich beweisen, dann hatte sie diesen Nachweis nicht bloB 
auf der Basis des Wertschemas, sondern weiter auch innerhalb des 
Produktionspreisschemas fuhren und zeigen miissen, daB ein solcher 
unabsetzbarer Rest sich auch nach Herausbildung der Durchschnitts- 
profitrate notwendig ergeben muB 1 ). Einen solchen Nachweis hat sie 
aber nicht gefiihrt und nicht einmal zu fuhren versucht. 



1 ) In dem bekannten Reproduktionsschema Otto Bauers werden im 
ersten Produktionsjahr in jeder Abteilung aus dem Mehrwert lOOOU c und 
2500 v fur Akkumulationszwecke bereitgestellt. Die faktische Akkumulation 
ist eine andere. Sie betragt namlich in der Abt. I mehr, und zwar 14 666 c und 
3 667 v, dagegen in der Abt. II weniger, und zwar bloB 5 33-4 c und 1 333 v. 
Das besagt, daB Bauer einen Teil des zur Akkumulation inAbt. II bestimmten 
Mehrwerts in die Abt. I verschoben hat, ohne jedoch irgendeinen wissen- 
schaftlich plausiblen Grund zur Rechtfertigung einer solchen Verschiebung 
angeben zu konnen. Der Rettungsversuch Helene Bauers, ihr Hinweis, daB 



80 Henryk Grossmann 

Die Tendenz zur Nivellierung der Profitrate in verschiedenen 
Produktionszweigen ist eine durch die Erfahrung bestatigte Beob- 
achtung, die wahrend eines ganzen Jahrhunderts von Theoretikern 
verschiedener wissenschaftlicher Richtungen gleichermaBen anerkannt 
wurde. Als Tatsache wurde sie bereits von Ricardo und Malthus 
gesehen. Auch Marx spricht von ihr als von einem ,,empirisch ge- 
gebenen Faktum" (Kapital, III 1, S. 350), als von einer „praktischen 
Tatsache (( (ebenda, S. 149). ,,Die Beobachtung der Konkurrenz 
— der Phanomene der Produktion — zeigt, daB Kapitalien von 
gleicher GroBe im Durchschnitt gleich viel Profit liefern" (Mehr- 
wert III, 73). Diese Nivellierungstendenz ist auch von neueren 
Theoretikern, z. B. von Bohm-Bawerk und anderen, fiir den kon- 
kurrenzbedingten Kapitalismus nicht bestritten worden 1 ). 

Nur in der Art der Erklarung dieser Tatsache schieden sich die 
Richtungen und an der Schwierigkeit dieser Erklarung scheiterte 
speziell die nachricardosche Schule, weil sie es nicht verstand, die 
Tatsache der gleichen Profitrate mit der Theorie des Arbeits- 
wertes in Einklang zu bringen. Hier war der Punkt, wo die historische 



eine solche Verschiebung im Kreditwege erfolge, mufi als eine naive Aus- 
flucht betrachtet werden. Die Verschiebungen im Kreditwege — mogen sie 
in der Wirklichkeit einegrofie Rolle spielen — sind bei der theoretischen 
Analyse des Reproduktionsprozesses unzuliissig. Gehort ja doch zu den 
vielen vereinfachenden Voraussetzungen des Marxschen Reproduktions- 
schemas auch die methodologische Annahme, daB vom Kredit abstrahiert 
wird. DieAufgabe desSchemas besteht doch gerade darin, die Austausch- 
beziehungen zwischen seinen beiden Abteilungen aufzuzeigen und zu priifen, 
ob ein restloser Absatz moglich sei. Nachdem man bei der Problem- 
losung in Schwierigkeiten geraten ist, ist es unzulassig, die urspriinglich ge- 
machten Voraussetzungen nachtraglich zu andern. So konnte Fr. Sternberg 
einen allzu leichten Triumph iiber Bauer davontragen. Bildete indes f iir O. Bauer 
die Verschiebung eines Teils des Mehrwerts aus II nach I eine nicht zu er- 
klarende Schwierigkeit, an der er gestolpert ist, so ist sie vom Standpunkt 
der im Text vertretenen Auffassung nicht nur zulassig und gerechtfertigt, 
sondern notwendig. Man iibersah in der bisherigen Diskussion den Umstand, 
daB in den Abteilungen des Bauerschen Schemas verschiedene Profit- 
raten bestehen. (In Abt. Ip = 29,4%, in Abt. lip = 38,4%.) Soil eine 
gleiche, d. h. eine Durchschnittsprofitrate von 33,3% hergestellt werden, 
dann miissen aus Abt. II nicht bloB (wie bei O. Bauer) 5833, namlich 4666 c 
und 1167 v, sondern sogar 6667 aus Abt. II in Abt. I ubertragen werden. 
Und diese "frbertragung erfolgt im Wege des Austausches! Allerdings 
eines ungleiehen Austausches, bei dem die Waren beider Abteilungen nicht 
zu ihren Werten, sondern zu Produktionspreisen ausgetauscht werden. 
1 ) So spricht Bohm-Bawerk von der ,,als Erfahrungstatsache un- 
zweifelhaft feststehenden Annahme, daB eine Nivellierung der Kapital- 
gewinne stattfindet". (Kapital und Kapitalzins, 3. Aufl. 1914, I. S. 537.) — 
Ebenso S. Budge: „Die Erfahrung lehrt, daB die Profitraten . . . dahin 
tendieren, sich auszugleichen, daB sie mithin in dem f ingierten Gleichgewichts- 
zustand des Wirtschaftsgetriebes, der ,,Statik" der Wirtschaft ausgeglichen 
sind.'* (Der Kapitalprofit, Jena 1920, S. 6.) 



Die Wert-Preis -Transformation bei Marx und das Krisenproblem 81 

Grofitat Marxens eiiisetzte. Er hat es verstanden, durch seine Lehre 
von der Divergenz zwischen den Produktionspreisen und den Werten 
die Tatsache der gleichen Profitrate, die prima facie dem Arbeits- 
wertgesetz widerspricht, aus diesem Wertgesetz zu erklaren. Indem 
R. Luxemburg aller Erfahrung zum Trotz die Moglichkeit der Uber- 
tragung eines Teiles des Mehrwerts aus Abteilung II in Abteiiung I, 
also die Moglichkeit der Bildung der Produktionspreise, negiert und 
daran festhalt, daB der Austausch der Waren in den einzelnen Spharen 
zu ihren Werten erfolgt, vermag sie nicht vom Boden der Arbeits- 
wertlehre aus die Durchschnittsprofitrate zu erklaren; obwohl sie 
starr an der Wertlehre festhalt, gibt sie hier tatsachlich die Grund- 
lage des Marxschen theoretischen Systems preis. Denn unter 
der Voraussetzung, daB die Waren zwischen den verschiedenen Pro- 
duktionsspharen sich gleichwertig austauschen, ist die Tatsache der 
gleichen Profitrate nicht zu erklaren. Statt also jene falsche Voraus- 
setzung vom „gleichwertigen Austausch* c zwischen beiden Schema- 
abteilungen, sowie ferner von der Unmoglichkeit der Mehrwertuber- 
tragung aus Abteilung II in Abteilung I fallen zu lassen, um die Tat- 
sachen erklaren zu kOnnen, opfert R. Luxemburg eher die Tatsachen 
und zieht es vor, an jener falschen Voraussetzung vom „gleich- 
wertigen" Warenaustausch f estzuhalten ! Mit einem Federstrich wird 
so die ganze Marxsche Lehre vom gleichen Durchschnittsprofit, nach 
R. Luxemburg selbst „eine der wichtigsten.Entdeckungen der Marx- 
schen Okonomischen Theorie", einfach aus der Welt geschafft. 

VI. Statt Fortentwicklung iiber Marx hinaus — Ruckent- 
wicklung zu Ricardo zuriick. 
Was wir oben von der Aufrollung der Krisenproblematik durch 
R. Luxemburg gesagt haben, das gilt wOrtlich in bezug auf alle 
marxistischen Theoretiker, die sich mit dem Krisen- und Akkumu- 
lationsproblem beschaftigt haben. Wie seltsam das auch klingen mag, 
es ist dennoch eine Tatsache, daB in der ganzen bisherigen, mit dem 
Buche Tugan-Baranowskys 1901 eroffneten, nunmehr 30jahrigen 
Diskussion iiber die Moglichkeit eines storungslosen Verlaufs des 
kapitalistischen Produktionsprozesses das eigentliche Problem — die 
Krisenproblematik auf alien Stufen des Annaherungsverfahrens nach- 
zuweisen — von niemandem auch nur gestellt wurde. Ob es sich um 
die Neo-Harmoniker Kautsky, Hilferding und Otto Bauer oder um 
Rosa Luxemburg und ihre Anhanger, oder endlich um Bucharin und 
andere Theoretiker des Kommunismus handelt — sie alle haben das 



82 Henryk Grossmann 

Problem nur an seiner Schwelle, an Hand des Wertschemas, das Werte, 
Mehrwerte und verschiedene Profitraten kennt, behandelt, statt ihre 
Analyse und SchluBfolgerungen weiter auch auf Grundlage eines 
Produktionspreisschemas zu erharten, eines Schemas also ? 
das die regulierenden Kategorien der Produktionspreise, der Kon- 
kurrenz und der allgemeinen Profitrate zeigt. Ganz unabhangig 
da von, ob man sieh fur die Notwendigkeit und Zwangslaufigkeit der 
Krisen im Kapitalismus ausspricht oder, wie die Neo-Harmoniker es 
tun, die Moglichkeit eines krisenlosen Verlaufs behauptet, ist es klar,. 
daB die aus einem Wertschema gezogenen SchluBfolgerungen voreilig 
und nicht beweiskraftig sind. Wie konnte uns denn auch die Analyse 
eines Wertschemas iiber die Notwendigkeit der Proportionality oder 
der Disproportionalitat des Warenaustausches im Kapitalismus be- 
lehren, wenn die im Wertschema so muhsam errechneten Propor- 
tionalitatsverhaltnisse nachher durch die Tendenz zur Ausgleichung 
der Profitraten und die dadurch bewirkte Neuverteilung des Mehrwerts 
notwendig umgeworfen werden! Keiner von den genannten Theo- 
retikern hat die Bedeutung und die Tragweite der Umwandlung der 
Werte in die Produktionspreise fur die Krisenproblematik erkannt 
und auch nur mit einem einzigen Worte erwahnt, geschweige denn 
behandelt 1 ). 

Die burgerliche Okonomie hat die „praktische Tatsache" (Kapital, 
III 1, S. 149) der gleichen Profitrate seit Ricardo und Malthus ge- 

x ) Dies gilt auch von J. J.Rubin, der in seinem Buch ,,Skizzen zur Marx- 
schen Werttheorie" (4. Auf I. Moskau 1929, russisch) zwar feststellt: „Die 
Theorie des Arbeitswertes und der Produktionspreise reprasentieren nicht 
Theorien fiir zwei verschiedene Wirtschaftstypen, sondern die Theorie ein- 
und derselben kapitalistischen Wirt sch aft auf zwei Stufenwissenschaft- 
licher Abstraktion" (S. 217); dennoch behandelt er aber weder ein- 
gehender die Frage der Umwandlung der Werte in Produktionspreise,. 
noch die sich daraus fiir die Krisenproblematik ergebenden Konse- 
quenzen, obwohl nach R. die Produktionspreise eine konkretere Ab- 
straktionsstufe als die Werte zu reprasentieren scheinen. — Dasselbe 
gilt auch von zahlreichen anderen Autoren wie K. Diehl (tTber das Ver* 
haltnis von Wert und Preis im okonomischen System von Karl Marx, 
Jena 1898), Tugan-Baranowsky (Theoretische Grundlagen des Marxis- 
mus, Leipzig 1905, bes. S. 174 if.), v. Bortkiewicz (,,Wertrechnung und 
Preisrechnung", Archiv f. Sozialwiss. 1907 und „Zur Berichtigung der grund- 
legenden theoretischen Konstruktion von Marx im III. Band des ^Kapital" 
in Conrads Jahrb. fiir Nationalok., 1907) und in neuester Zeit Hans Zeisl 
(„Ein Einwarid gegen die Marxsche Wertlehre", Der Kampf, Wien 1930) 
und Emil Walter („ Liquidation der Arbeitswertlehre ?", ebenda). Sie alle 
stellen zwar das Problem der Wert- und Preisrechnung in das Zentrum ihres 
Inter esses. Aber sie behandeln es ausschliefilich unter dem Gesichtspunkte,, 
inwieweit die Marxsche Ableitung der Produktionspreise aus den Werten 
richtig und mit den Grundlagen der Marxschen Wertlehre vereinbar ist. 
Keiner dieser Autoren hat jedoch die Bedeutung der Wert-Preis-Trans- 
formation fiir die Krisenproblematik erkannt. 



Die Wert-Preis-Transformation bei Marx und das Krisenproblem 83 

sehen. - Aber weder die Klassiker noch die nachricardosche Schule 
haben es verstanden, diese Tatsache in Ubereinstimmung mit der 
Wertlehre zu bringen und sind in eine theoretische Sackgasse geraten, 
indem sie gezwungen waren, entweder die Theorie ztigunsten der 
Tatsachen, oder die Tatsachen zugunsten der Theorie preiszugeben 1 ). 
An diesem Widerspruch zwischen der Theorie und den Tatsachen, an 
der Unmoglichkeit, aus dem abstrakten Arbeitswertgesetz die all- 
gemeine Profitrate ableiten zu k6nnen, ist die nachricardosche Schule 
schlieBlich zugrunde gegangen, und mit Recht gab Marx in seinem 
Epitaph als Auflosungsursache der Schule an: ,,Bildung der 
allgemeinen Profitrate . . . Unverstandenes Verhaltnis 
zwischen Wert und Produktionspreis" (Mehrwert, III, S. 280). 
Speziell gegen Ricardo erhebt er den Vorwurf, daB dieser in Uber- 
einstimmung mit der Wirklichkeit zwar eine allgemeine Profitrate 
,,unterstellt", ohne indes zu „untersuchen, inwieweit ihre Existenz 
iiberhaupt der Bestimmung der Werte durch die Arbeitszeit ent- 
spricht", wahrend doch faktisch ,,sie ihr prima facie widerspricht, 
ihre Existenz also erst durch eine Masse Mittelglieder zu 
entwickeln ist" (Mehrwert, II 1, S. 14), Deshalb betont Marx die 
„wissenschaftliche Unzulanglichkeit" der Methode Ricardos, die 
ihn „zu irrigen Resultaten fiihrt" und darin besteht, daB Ricardo, 
,,von der Bestimmung der WertgrOBen der Waren durch die Arbeits- 
zeit ausgeht" und dann untersucht, ob die tibrigen okonomischen 
Verhaltnisse und Kategorien den Werten entsprechen oder wider - 
sprechen. Die Unzulanglichkeit dieser Methode liege also darin, „da8 
sie notwendige Mittelglieder iiberspringt und in unmittel- 
barer Weise die Kongruenz der okonomischen Kategorien unter- 
einander nachzuweisen sucht" (Mehrwert, II 1, S. 2). 

Indem Marx diese ^Mittelglieder" rekonstruiert hat und durch 
seine Lehre von der Bildung der allgemeinen Profitrate sowie von der 
Verwandlung der Werte in Produktionspreise resp. merkantile Preise 
die Arbeitswertlehre in Einklang mit den Tatsachen gebracht hat, hat 
er die dkonomische Theorie tiber den Punkt fortentwickelt, an dem 
die nachricardosche Schule zugrunde gegangen ist. 



1 ) Nach Marx bestand diese ,,Verwirrung der Theoretiker" darin, „daQ 
. . . die bisherige Okonomie entweder gewaltsam von den Unterschieden 
zwischen Mehrwert und Profit, Mehrwertsrate und Profitrate abstrahierte, 
ura die Wertbestimmung als Grundlage festhalten zu konnen, oder aber 
mit dieser Wertbestimmung alien Grund und Bod en wissenschaft lichen Ver- 
haltens aufgab, urn an jenen in der Erseheinung auffalligen Unterschieden 
festzuhalten" (Kapital, III 1, S. 147). 



84 Henryk Grossmann, Die Wert -Preis- Transformation bei Marx usw. 

Und gerade dieses spezif ische Ergebnis der theoretischen Forschung 
Marxens verschwindet aus der ganzen bisherigen Diskussion uber das 
Krisen- und Akkumulationsproblem. Es existiert fiir R. Luxem- 
burg ebensowenig wie fiir Otto Bauer, Hilf erding oder Bucharin. 
Sie alle bleiben in ihrer Analyse in der von der Wirklichkeit entf ernten 
Sphare des Wertsehemas stecken, ohne sich darum zu kummern, daB 
dieses Schema nur die erste Annaherung an die Wirklichkeit, nicht 
aber diese Wirklichkeit selbst darstellt. Sie ubersehen, daB dieses 
Schema ohne die weiteren „Mittelglieder" kein geeignetes Mittel fiir 
die Erforschung der entwickelten kapitalistischen Produktions- 
weise und jener konkreten Forrnen ist, in welchen die Kapitale 
,,in ihrer wirklichen Bewegung" sich gegeniibertreten. Denn wie 
Engels richtig im Vorwort zum II. Bande des ,,Kapital" sagt, „sind 
die Untersuchungen dieses Buch II . . . nur Vordersatze zum In- 
halt des Buch III, das die SchluBergebnisse der Marxschen 
Darstellung des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses auf kapita- 
listischer Grundlage entwickelt" (Kapital, II, S. XXIII). Die im 
II. Bande des „Kapital" gegebene Darstellung des Reproduktions- 
prozesses auf Basis der Wertschemata enthalt somit nur die Vorder- 
satze einer Beweisfuhrung, deren SchluBsatze erst im III. Bande 
des ,, Kapital", in der Lehre von der Umwandlung der Wertschemata 
in Produktionspreisschemata folgen. Erst durch diese Lehre wird 
die Marxsche Gedankenkette geschlossen und das Annaherungs- 
verfahren, in dem es durch alle Stufen hindurch bei der konkreten 
Wirklichkeit angelangt ist, beendet. Es ist allerdings eine sonderbare 
Manier der bisherigen Marxdiskussion, sich nicht an die Totalitat 
der Marxschen Beweisfuhrung auf alien ihren Stufen, sondern bloB 
an die aus dieser geschlossenen Gedankenkette herausgerissenen 
„Vordersatze", d. h. an die Wertschemata zu halten. Anstatt, wie die 
genannten Theoretiker meinen, Marx fortzuentwickeln, kehren sie 
alle zu jenem Punkte zuriick: ,,unverstandenes Verhaltnis zwischen 
Wert und Produktionspreis", an dem die nachricardosche Schule 
urn 1850 stehen geblieben und schlieBhch gescheitert ist. 



Zur gesellschaftlichen Lage der Literatur. 

Von 
Leo Lowenthal (Frankfurt a. M.) 

I. 

Den Schwierigkeiten, die jeder geschichtlichen Bemiiliung ent- 
stehen, ist die Literaturgeschichte in ganz besonderer Weise aus- 
gesetzt. Sie wird nicht nur von alien prinzipiellen Diskussionen iiber 
den begrifflichen Sinn und die materiale Struktur des Geschichtlichen 
mitgetroffen, sondern ihr Gegenstand unterliegt der Kompetenz be- 
sonders vieler wissenschaftlicher Disziplinen. Von den eigentlichen 
Hilfswissenschaften der Geschichte, welche quellenmaBige Sicherheit 
zu gewahren haben, ganz zu schweigen, treten mit Anspriichen mannig- 
faltiger Art Philosophic, Asthetik, Psychologie, Padagogik, Philologie, 
ja sogar Statistik auf. In merkwiirdigem Gegensatz zu dieser grund- 
satzlichen Situation steht im allgemeinen die tagliche Praxis. Es 
bedarf nicht vieler Worte, um auf das AusmaB hinzuweisen, in dem 
die Literatur zum wissenschaftlichen Strandgut wird. Alle moglichen 
Instanzen, vom „naiven Leser (t bis zum angeblich dazu be- 
rufenen Lehrer wagen in jeder nur denkbaren Beliebigkeit die Deutung 
des literarischen Werks. Die relativ groBe Kenntnis einer Sprache 
und die Entbehrlichkeit einer gelehrten Fachterminologie erscheinen 
haufig als zulangliche Voraussetzungen, Literaturgeschichte treiben 
zu diirfen. Aber auch die eigentliche akademische Literaturwissen- 
schaft scheint keineswegs der Lage ihres Objekts Kechnung zu 
tragen. Die Tatsache, daB literaturgeschichtliche Arbeit nicht von 
vornherein eine einheitliche Bemiihung, sondern eine zu organisierende 
wissenschaftliche Aufgabe darstellt, hat nicht etwa dazu gefiihrt, daB 
ihre Forschungsmethoden sich folgerichtig aus der Komplexitat ihres 
Gegenstandes entwickelt hatten. Damit sollen nicht alle einzelwissen- 
schaftlichen Unternehmungen der modernen Literaturgeschichte ge- 
troffen werden, sondern hier, wo das Problem prinzipiell zum Gegen- 
stand gemacht wird, werden auch nur die Prinzipien der Wissenschaft, 
so wie sie heute vorliegen, beriicksichtigt. 

Fast alle Gelehrten, die zu dem vor kurzem erschienenen 
Sammelband „Philosophie der Literaturwissenschaft" 1 ) beigetragen 



2 ) Herausgegeben von Emil Ermatinger, Berlin 1930. 



85 Leo Lowenthal 

haben, sind sich daruber einig, daB der „szientifische" Weg fur die 
Literaturgeschichte nur in die Irre fiihre. Nicht nur, daB sie — und 
dies mit Recht — sich einig waren tiber die irrationalen Momente am 
Dichtwerk selbst, sie halten die rationale Methode diesem Gegenstand 
nicht fur angemessen. Als ,,historischer Pragmatismus" 1 ), als ,,histo- 
risierender Psychologismus" 2 ), als ,,positivistische Methode" 3 ) ver- 
fallt die im 19. Jahrhundert begriindete Literaturwissenschaft einem 
richtenden Urteil. GewiB entbehren Hettners oder Scherers Werke 
absoluter Giiltigkeit, ja in dieser Wissenschaftler Intention selber 
hatte nichts weniger als das gelegen, aber alle Bemiihungen urn Lite- 
ratur, die einen wissenschaftlichen Charakter aufweisen sollen, sind 
darauf angewiesen, an diejenigen positivistischen Methoden kritisch 
anzuschlieBen, die in den historischen Wissenschaften des 19. Jahr- 
hunderts entdeckt worden sind und deren sie zunachst selbst nicht 
entraten kOnnen. 

Isolierung und Simplifizierung des literarhistorischen Gegenstands 
vollziehen sich freilich in einem hochst sublimen ProzeB. Dichtung und 
Dichter werden aus den Verflechtungen des Geschichtlichen herausge- 
nommen und zu einer wie immer gearteten Einheitlichkeit konstruiert, 
von der der Strom der Marmigfaltigkeit abflieBt ; sie gewinnen eine 
Wurde, deren sich sonstige Erscheinungen nicht riihmen dtirfen. ,,In 
der Literaturgeschichte sind Taten und Tater gegeben, in der Welt- 
geschichte nur mehr oder minder verfalschte Berichte uber meist 
unreelle Geschafte von selten personifizierbaren Firmen 4 )." Diese 
Weihe kann eine historische Erscheinung nur dadurch gewinnen, 
daB sie als Erscheinung des Geistes, jedenfalls als ein Sondergebiet 
eigenen Rechts, gefaBt wird 5 ). Nur dann sind ja die positivistischen 
Methoden prinzipiell unzulanglich, wenn ihr Gegenstand nicht mehr 
ein solcher der inner- und auBermenschlichen Natur und ihrer verander- 
lichen Bedingungen ist, sondern als in einem Sein hoherer Artung 
ruhend gedacht wird. Mit der Sicherheit eines philosophischen Instinkts 

1 ) Herbert Cysarz, Das Periodenprinzip in der Literaturwissenschaft, 
a. a. O., S. 110. 

2 ) D. H. Sarnetzki, Literaturwissenschaft, Dichtung, Kritik des Tages, 
a, a. O. S. 454. 

, 3 ) passim. 

4 ) Cysarz, a. a. O. 

5 ) Naiv wird das neuerdings ausgedriickt bei Werner ZiegenfuB, Art. 
Kunst im Handworterbuch der Soziologie, 1931, S. 311: ,,Wollen wir hier 
Kunst uberhaupt als Kunst, Dichtung als Dichtung, und nicht beides nur 
als sekundare Begleiterscheinungen letzthin nur korperlicher Vorgange 
ansehen, dann mufi fur das primitive Schaffen ebenso wie fur. die hochsten 
Leistungen aller Kunst das Seelisch-Geistige in seiner urspriinglichen Wirk- 
Iichkeit anerkarmt werden. 4 * 



Zur gesellschaftlichen Lage der Literatur 87 

wird daher der vonDilthey eingefiihrte, den geschichtlichen Zusammen- 
hangen verpflichtende Strukturbegriff fiir das Dichtwerk wieder auf- 
zugeben versucht und zum Begriff des Organischen zunickgekehrt, 
der ,,klar, eindeutig und bestimmt das Geistige als die durch Sinn- 
einheit bedingte Individualitat des geschichtlichen Lebens kenn- 
zeichnet" 1 ). Belastete Ausdriicke wie „Werk", ,,Gestalt", „Gehalt" 
zielen alle auf eine letztlich metaphysisch begriindete und ableitbare, 
jenseits aller Mannigfaltigkeit sich bewegende Einheit der Dichtung 
und des Dichters ab. Diese radikale Entfremdung der Dichtung 
gegeniiber der geschichtlichen Realitat findet ihren hochsten Ausdruck, 
wenn Begriffe wie ,,Klassik" und ,,Romantik" nicht nur der Geschichte 
zugeordnet, sondern zugleich metaphysisch verklart werden. „Auch 
diese beiden Grundbegriffe der Vollendung und Unendlichkeit sind, 
wie der oberste Begriff der Ewigkeit, sowohl aus der historischen und 
psychologischen Erfahrung wie aus der philosophischen Erkenntnis 
abzuleiten 2 )." 

Ihre sachliche Legitimierung glaubt diese geschlossene irrationali- 
stische Front der Literaturwissenschaft darin zu finden, daft die 
,,naturwissenschaftliche Methode" ihren Gegenstand zerstiicke, zer- 
setze und, wenn es sich urn Auspragungen der ; ,dichterischen Lebens- 
seele handele, an ihrem „Geheimnis a vorbeigehe 3 ). Der Sinn dieser 
tjberlegungen ist schwer verstandlich. Denn inwiefern eine rationale 
Erfassung dem Gegenstand selber ein Leid antun soil, beclarf noch 
bis heute des Experiments in der Praxis. Wer ein Phanomen analysiert, 
kann es sich doch stets in seiner Ganzheit vor Augen halten, in- 
dent er das BewuBtsein dessen, was er in der Analyse unternimmt, 
nicht verliert. Freilich ergeben die in der Analyse gewonnenen Ele- 
mente als Summe nur ein Mosaik und nicht das Ganze. Aber wo in 
aller Welt verlangt wissenschaftliche Analyse solche stiickhafte 
Summation ? Und sind denn selbst die naturwissenschaftlichen Me- 
thoden allein und dauernd atomistischer Art ? Sie sind es ebensowenig, 
wie es die literaturwissenschaftlichen Methoden dort zu sein ha ben, 
wo es fiir ihre spezifischen Aufgaben ungeeignet ist. Auf der Fahrt 
ins Ungewisse der Metaphysik hat die Literaturwissenschaft auch den 
Begriff des Gesetzes mitgenommen. Aber anstatt daB das Gesetz die 
Bedeutung einer in den Sachen erkannten Ordnung behielte. wird es 
bereits bei seiner Einfuhrung mit einem neuen und vagen Inhalt vor- 

3 ) Emil Ermatinger, Das Gesetz in der Literaturwissenschaft, a. a. O., 
S. 352. 

2 ) Fritz Strich, Deutsche Klassih und Romantik, Miinchen 1924. fi. 7. 
-) Sarnetzki, a, a. O. 



88 Leo Lowenthal 

belastet. An Stelle der zu erforschenden und darzustellenden Ord- 
nung tritt eine vorgegebene „Sinneinheit", und als Hauptprobleme 
der Literaturwissenschaft, die vor der Untersuchung als in bestimmter 
Weise gesetzlich strukturiert vorausgesetzt werden, erscheinen unter 
anderem die ,,dichterische Personlichkeit" und das ,,dichterische 
Werk" 1 ). ,,Personlichkeit" und ,,Werk" aber gehOren zu denjenigen 
begrifflichen Konstruktionen, die in ihrer Undurchsichtigkeit und der 
prinzipiell abschlu'Bhaften Art ihrer Konstruktion die Wissenschaft 
eben dort von ihren Bemtihungen bereits abhalten, wo sie einzusetzen 
hatten, 

Soweit es sich der Literaturwissenschaft um die Abwehr einer Ein- 
stellung handelt, die in der Durchfuhrung geschichtlicher, psycho- 
logischer und philologischer Einzelanalysen mit der wissenschaftlichen 
Darstellung von Dichter und Dichtung fertig zu sein glaubt, kann man 
ihr nur zustimmen. Doch gerade wenn es auf genaue Bestimmung 
des Kunstwerks und um ihretwillen um das Verstandnis seiner 
qualitativen Beschaffenheit geht, wenn es sich also um Fragen des 
Wertes und der Echtheit handelt, Fragen, die doch den irrationa- 
listischen StrOmmungen so sehr am Herzen gelegen sind, dann ent- 
hullen deren Methoden ihre Unzulanglichkeit am deutlichsten; denn 
unabhangig von der Entscheidung, ob und in welchem MaBe die 
technischen Gesetzmafiigkeiten rational entstanden sind oder nicht : 
ihre Prinzipien sind nur in rationaler Analyse mit der ihr eigen- 
tumlichen Exaktheit aufzudecken. Aber die Literaturwissenschaft 
hat ihre Abwehrtendenzen so auf die Spitze getrieben, daB sie 
nun selber in eine Situation gebracht ist, die ihr offenbar iiber- 
haupt keinen Ausweg mehr laBt. Die metaphysische Verzauberung 
ihrer Gegenstande hindert sie an der sauberen Betrachtung ihrer 
wissenschaftlichen Aufgaben. Diese sind gewiB nicht allein histo- 
rischer Art, es gibt ein sehr wichtiges literaturwissenschaftliches 
Problem, das wir mit dem Diltheyschen Ausdruck des ,,Verstehens" 
vorlaufig kennzeichnen wollen. Mit alien analytischen und synthe- 
tischen Methoden gilt es, das in Inhalt und Form Gestaltete auf- 
zugreifen, in seiner schlichten und in seiner tiefer gemeinten Bedeutung 
zu erfassen, gilt es ferner, die Relation zwischen dem Schopfer und 
seinem Gebilde aufzudecken. Freilich werden solche Aufgaben sich 
nur erfullen lassen, wenn man sich dessen bewuBt ist, daB die Mittel 
einer formalen Poetik in keiner Weise ausreichen. Ohne eine — im 
groBen und ganzen noch zu leistende — Psychologie der Kunst, ohne 

x ) Emil Ermatinger, a. a. O., S. 363 f. 



Zur gesellschaftlichen Lage der Literatur 89 

eine wirkliche Klarung der Rolle des Ordnungssinns und ahnlicher 
Faktoren beim Schaffenden und beim Publikum 1 ), ohne das Studium 
der unbewuBten Regungen, die an dem psycholpgischen Dreieck 
von Dichter, Dichtung und Aufnehmendem beteiligt sind, gibt es 
keine poetische Asthetik. Das Bundnis mit einer Psychologie, die das 
,,grofie Kunstwerk" in mystischen Zusammenhang mit dem Volk 
stellt, die die „personliche Biographie des Dichters . . . interessant 
und notwendig, aber hinsichtlich des Dichters unwesentlich" 2 ) findet, 
kann freilich die Literaturwissenschaft nur kompromittieren. 

II. 

Fur die gekennzeichneten herrschenden Stromungen ist es charak- 
teristisch, daB sie mit einer Psychologie sympathisieren, die in 
gleicher Weise wie sie selbst zu einer isolierenden Betrachtungs- 
weise der Phanomene tendiert, ja die es gleichfalls sich angelegen sein 
laBt, ihren Gegenstanden eine geistige Wurde zu verleihen, die sie 
selbst unter Preisgabe wissenschaftlicher Methodik zu erkaufen 
trachtet. Denn der gleiche Psychologe, der von der Belanglosigkeit 
der personlichen Biographie der Dichter spricht, bemerkt zugleich 
von ihnen: ,,Sie erkennen, als die ersten ihrer Zeit, die geheimnis- 
vollen Strdmungen, die sich unter Tage begeben, und driicken sie nach 
individueller Fahigkeit in mehr oder weniger sprechenden S3 7 mbolen 
aus 3 )." Es bedarf keines weitlaufigen Nachweises, daB eine Unter- 
suchung iiber die Beziehung zwischen UnbewuBtem, dichterischem 
Symbol und dem individuellen psychischen Faktor dieses Symbols 
sich mit der Belangloserklarung der ,, personlichen Biographie'* nicht 
vereinbaren laBt. 

Wichtige Hinweise zu kunstpsychologischen Theorien vermag die 
Psychoanalyse zu geben. Sie hat Untersuchungen iiber zentrale 



1 ) Einer der wichtigsten Hinweise auf eine psych ologisch -material ist ische 
Asthetik findet sich bei Nietzsche: „Manche der asthetischen Wertschat- 
zungen sind fundamentaler, als die moralischen, z. B. das Wohlgefallen am 
Geordneten, Ubersichtlichen, Begrenzten, an der Wiederholung, — es sind 
die Wohlgefuhle aller organischen Wesen im Verhaltnis zur Gefahrlichkeit 
ihrer Lage, oder zur Schwierigkeit ihrer Ernahrung. Das Bekannte tut wohl, 
der Anblick von etwas, dessen man sich leicht zu bemachtigen hof ft. tut wohl 
usw. Die logischen, ' arithmetischen und geometrisehen Wohlgefuhle bilden 
den Grundstock der asthetischen Wertschatzungen : gewisse Lebensbedin- 
gungen werden als so wichtig gefuhlt und der Widerspruch der Wirklichkeit 
gegen dieselbe so haufig und grofl, daB Lust entsteht beim Wahrnehmen 
sole her Formen." (Werke, 11. Band: Aus dem Nachlafl 1883/88, S. 3.) 

2 ) C. C. Jung, Psychologia und Dichtung, a. a. O., S. 330. 

3 ) C. G. Jung, zitiert nach Walter Muschg, Psychoanalyse und Literatur- 
wissenschaft, Berlin 1930, S. 7. 



90 Leo Lowenthal 

Probleme der Literaturwissenschaft zur Diskussion gestellt, besonders 

iiber die seelischen Bedingungen, unter denen das groBe Kunstwerk 

entsteht, so iiber den Aufbau der dichterischen Phantasie, und vor 

ailem auch iiber das bisher immer wieder in den Hintergrund ge- 

drangte Problem des Zusammenhangs von Werk und Aufnahme 1 ). 

Gewifi sind diese Arbeiten noch ganz im Anfang — hat ja doch audi 

die Literaturforschung kaum etwas zu ihrer Forderung unter- 

nommen — , gewifi sind eine Reihe von Hypothesen noch nicht ge- 

schliffen und fein genug, noch schematisch und erganzungsbediirftig. 

Aber auf die Hilfe der wissenschaftHchen Psychologie beim Studium 

des Kunstwerks zu verzichten heifit nicht, sich vor „barbarischen 

Einbriichen von Eroberern" zu schutzen, sondern sich selbst der 

Barbarei auszusetzen 2 ). 

Zu dem Verdammungsurteil gegen den ,,historisierenden Psycho- 

logismus", welcher^am Geheimnis der „eigentlichen dichterischen 

Lebensseele" 3 ) vorbeigehe, gesellt sich das gegen die historische Me- 

thode, besonders aber gegen jede kausal und gesetzesgerichtete Ge- 

schichtstheorie, kurzum gegen das, was als der ,,positivistische 

Materialismus" 4 ) von der modernen Literaturforschung aufs strengste 

verpOnt ist. Freilich stent's hier genau wie bei der Psychologie: vor 

„Ubergriffen" schreckt man seinerseits nicht zuriick. Beliebiger wohl- 

lautender historischer Kategorien hat sich die moderne Literatur- 

geschichte stets bedient, ja sie sogar selbst mit erzeugt: da werden 

Kategorien wie „Volkstum, Gesellschaft, Menschentum" 5 ) auf- 

gegriffen, es wird von dem ProzeC des ,,pluralistischen, steigemden" 

und des „vergeistigenden, artikulierenden Erlebens" 6 ) gesprochen. 

Man erfahrt von n Wesens"- und ,,Schicksalsverbanden", von „Voll- 

endung und Unendlichkeit" als „Grundbegriffen" der „historischen 

Erfahrung" 7 ), die Redeweise von „Zeitaltern des Homer, Perikles, 

*) Vgl. an erster Stelle die wichtige Schrift von Hanns Sachs, Gemein- 
same Tagtraume (bes. den ersten Teil), Leipzig-Wien-Ziirich 1924. 

2 ) Vgl. Muschg a. a. O., S, 15. Ubrigens bemiiht sich gerade Muschg 
um die Verwertung psych oanalytischer Methoden und Erkenntnisse. Vj?i. 
sein Buch: Gotthelf, Die Geheimnisse des Erzahlers, Miinchen 1931; daruber 
G. H. Graber in: Imago Bd. XVIII, Heft 2, 1932. 

3 ) Sarnetzki, a. a. O. Was alles an Argumentation gestattet ist, mag 
folgender — polemisch gemeinte — Satz verraten: „ Psychoanalyse grabt 
nach innen und sucht triebhafte Naturmachte der Seele, sie analysiert; eine 
soziologische Betrachtung bemiiht sich, Ziele zu erkennen, von denen aus 
allein das Menschliche gedeutet werden kann, sie komponiert" (ZiegenfufS, 
a. a. O., S. 312. 

4 ) Sarnetzki, a. a. O. 

5) Ziegenfuft, a. a. O., S. 337. 

6 ) Cysarz, Erfahrung und Idee, Wien u. Leipzig 1922, S. 6i". 

7 ) Strich a. a. O. 



Zur gesellschaftlichen Lage der Literatur 91 

Augustus, Dante, Goethe" 1 ) wird gerechtfertigt, — aber Verachtung 
und Zorn sind einer Geschichts- und Gesellschaftswissenschaft 
sicher, wenn sie im AnschluB an die positivistischen und materiali- 
stischen Methoden der historischen Forschung, deren Grund im 
19. Jahrhundert gelegt worden ist, die Geschichte der Dichtung als 
soziales Phanomen zu erfassen trachtet. Offen wird es ausgesprochen, 
daB es urn die „Preisgabe des beschreibenden Standpunkts der positi- 
vistischen Methode und die Besinnung auf den metaphysischen 
Charakter der Geisteswissenschaften" 2 ) gehe. Wir werden noch sehen, 
daB eine Preisgabe urn so leidenschaftlicher da gefordert wird, wo an 
die Stelle der historischen Deskription die materialistische gesell- 
schaftliche Theorie selber tritt. Selbst die Grenze zwischen Wissen- 
schaft und Demagogie wird verwischt, wenn es sich um die isolierende 
Verklarung der Kunstbetrachtung handelt : , ,Dem historischen 
Pragmatismus ergibt sich vielleicht, daB gutenteils die Syphilis den 
Minnesang und seine polygame Konvention begraben hat oder die 
Wiederaufrichtung der deutschen Nachkriegswahrung den . . . . Ex- 
pressionismus. Die Wesenssicht aber des Minnesangs und des Ex- 
pressionismus bleiben unmittelbar von solchen Erkenntnissen un- 
abhangig. Die Frage lautet hier eben : was ist er, nicht aber : warum 
ist er. Dieses Warum erdffnete bloB einen Regressus in infinitum: 
warum ist am Ende des Mittelalters die Lues eingeschleppt, warum 
ist Anfang 24 die Reichsmark eingefuhrt worden und so fort bis zum 
Ei der Leda 3 )." Dies ist eine Karrikatur jeder echten wissenschaft- 
lichen Fragestellung. Keineswegs verlangt jede kausale Frage einen 
unendlichen RegreB, sondern wenn sie prazis formuliert ist, so ist sie 
prinzipiell auch prazis beantwortbar, unbeschadet darum, daB mit 
dieser Ant wort irgendwelche anderen neuen wissenschaftlichen Pro- 
bleme aufgeworfen werden: die Untersuchung der Ursachen, aus denen 
Goethe nach Weimar ging, erfordert nicht eine Geschichte der deutschen 
Stadtegriindung ! 

Vergegenwartigt man sich die in Umrissen beschriebene Lage der 
Literaturwissenschaft, ihr schiefes Verhaltnis zur Psychologic, Ge- 
schichte und Gesellschaftsforschung, die Willkiir in der Auswahl 
ihrer Kategorien, die kiinstliche Isolierung und wissenschaftliche 
Entfremdung ihres Objekts, dann wird man mit Recht der Forderung 
eines modernen Literarhistorikers zustimmen, der, unbefriedigt von 

x ) Friedrich Gundolf, Shakespeare, Sein Wesen und Werk, Berlin 1928, 
Bd. I, S. 10. 

2 ) Ermatinger, a. a. O., S. 352. 

3 ) Csysarz, Das Periodenprinzip, S. 110. 



92 Leo Lowenthal 

der ^Metaphysizierung", die in seinem Fach eingerissen ist, Ruck- 
kehr zur strengen Wissenschaftlichkeit, leidenschaftliche Ergeben- 
heit an den Stoff, intensive Pflege des reinen Wissens, kurz: 
neue „Hochschatzung des Wissens und der Gelehrsamkeit" 1 ) fordert. 
Wenn freilieh Schultz gleichzeitig in bezug auf Konstraktion, Er- 
forschung von Strukturzusammenhangen, tibergreifende Theorien- 
bildung sich enthalten mochte 2 ), so laBt sich das zwar aus dem Ge- 
sagten gut begreifen, doch ist es nicht notwendig. In der Tat ist der 
Entwurf einer Literaturgeschichte moglich, die ausgestattet mit dem 
Wissensrustzeug philologischer und literarischer Forschung es wagen 
darf, das Dichtwerk geschichtlich so zu erklaren, daB sie weder in 
bloBer positivistischer Beschreibung stecken bleibt, noch sich zur ein- 
samen und verlassenen Hohe metaphysischer Spekulation entfernt. 

III. 

Es laBt sich naturlich eine Einsteilung denken, die solches Entwurfes 
nicht bedarf, wenn man namlich die „bewuBte Emanzipation der 
Literaturwissenschaft von der Welthistorie" 3 ), ja iiberhaupt von 
jedem geschichtlichen und gesellschaftlichen Zusammenhang fordert. 
Nur verzichtet man damit auf jeden Erkenntnisanspruch und macht 
aus der Beschaftigung mit der Dichtung selbst wieder Dichtung. Es 
bleibt dann iibrigens bare Willkiir, eine solche unverpflichtende, 
nicht auf kontrollierbare Erkenntnis ausgerichtete Haltung nicht auf 
alle Erfahrungsgegenstande anzuwenden und die Wissenschaft iiber- 
haupt zu vertreiben. Sich mit der Geschichte der Dichtung beschaf- 
tigen heiBt die Dichtung geschichtlich erklaren. Ihre Erklarungs- 
moglichkeit setzt eine entfaltete Theorie der Geschichte und der 
Gesellschaft voraus. Dabei soil nicht gemeint sein, daB man sich mit 
irgendwelchen allgemeinen Zusammenhangen zwischen Poesie und 
Gesellschaft abzugeben habe, auch nicht, daB ganz allgemein von 
gesellschaftlichen Bedingungen zu sprechen sei, deren es bediirfe, damit 
es iiberhaupt so etwas wie Dichtung gebe 4 ), sondern die geschichtliche 

1 ) Franz Schultz, Das Schicksal der deutschen Literaturgeschichte, 
Frankfurt a. M. 1928, S. 138. 

2 ) a. a. O., S. 141 ff. 

3 ) Cysarz, a. a. O. 

4 ) Etwa wie bei ZiegenfuB, a. a. 0., S. 310: „Damit ist aber keineswegs 
gesagt, daB in den wirtschaftlichen Beweggrunden zugleich die bestimmenden 
und richtunggebenden Motive fur die Eigentiimlichkeit der besonderen 
Formen liegen, die diese autonome Kunst sich gibt. Auch in grofler wirt- 
schaftlicher Abhangigkeit des Kiinstlers entspringen die formenden Not- 
wendigkeiten seines Schaffens, vorausgesetzt, er schafft wirklich Kunst und 
nicht Kitsch und Mache, aus ganz eigener Selbstbestimmung, und nur die 



Zur gesellschaftlichen Lage der Literatur 93 

Erklarung der Dichtung hat die Aufgabe zu untersuchen, was von be- 
stimmten gesellschaftlichen Strukturen in der einzelnen Dichtung zum 
Ausdruck kommt und welche Funktion die einzelne Dichtung in der 
Gesellschaft ausiibt. Die Menschen stehen zum Zweck der Erhaltung 
undErweiterung ihres Lebens in bestimmtenProduktionsverhaltnissen. 
Diese stellen sich gesellschaftlich als die miteinander ringenden 
Klassen dar, und die Entwicklung ihrer Beziehungen bildet die reale 
Grundlage fur die verschiedenen Spharen der Kultur. Von der je- 
weiligen Struktur der Produktion, d. h.,von der Okonomie hangt nicht 
nur die Gestaltung der Eigentums- und Staatsverhaltnisse, sondern zu- 
gleich die der gesamten menschlichen Lebensf ormen in jedergeschicht- 
lichen Epoche ab. Jede „Geistes"- und „Verstehens"wissenschaft r die 
sich auf die Autonomic oder mindestens auf die autonome Deutbar- 
keit gesellschaftlicher Uberbaugebilde beruft, vergewaltigt das 
Wissenschaftsgebiet der menschlichen Vergesellschaftung. Literatur- 
geschichte als blofie Geistesgeschichte vermag prinzipiell keinerlei 
bindende Aussagen zu machen, wenn auch in der Praxis Begabung und 
Einfuhlungskraft des Literarhistorikers Wertvolles geleistet haben. 
Eine echte erklarende Literaturgeschichte aber muB mater ialistisch 
sein. Das heiBt, sie muB die okonomischen Grundstrukturen, wie 
sie sich in der Dichtung darstellen, und die Wirkungen untersuchen, 
die innerhalb der durch die Okonomie bedingten Gesellschaft das 
materialistisch interpretierte Kunstwerk ausiibt. 

Solange eine solche Forderung bloB erhoben wird, wird sie freilich 
dogmatisch klingen, ebenso wie die von ihr vorausgesetzte Gesell- 
schaftstheorie diesem Vorwurf ausgesetzt ist, wenn sie nicht im ein- 
zelnen ihre Fragestellungen prazisiert 1 ). Auf dem Spezialgebiet der 
Okonomie und der politischen Geschichte ist dies bereits in breitem 
MaBe geschehen, aber auch in der Literaturgeschichte finden sich An- 



Mdglichkeit, dafi sie sich iiberhaupt verwirklichen konnen, hangt vom Wirt- 
schaftlichen ab. DieFragen der wirtschaf tlichen Selbsterhaltung desKiinstlers 
und der wirtschaf tlichen Verwertung der Kunst und Literatur gehoren 
zur Wirtschaftssoziologie." Also: Ressortfragen statt wissenschaftlicher 
Prinzipienfragen ! 

2 ) Darura muten auch oft die geisteswissenschaftlich orientierten Arbeiten 
so dogmatisch und willktirlich an, weil sie ins unzuganglich Allgemeinste 
verschwimmen. Vgl. z. B. Strich, a. a. O., S. 401: „Es verstand sich natiir- 
lich von selbst, dafi diese Betrachtung in der Geschichte der Dichtung auf 
das ganze Menschentum und all seinen, nicht nur formalen, Ausdruck er- 
weitert werden mu(3te. Es wird sich noch zeigen, dafi auch Musik und Reli- 
gion und jegliches Kultursystem sich so erfassen lafit und dafi die grund- 
begriffliche Durchdringung derganzen Geschichtswissenschaft die Geschichte 
des Geistes erst als das of fenbar machen wird, was sie wirklich ist : die stili - 
stische Verwandlung des geistigen Willens zur Verewigung." 



94 Leo Lowenthal 

satze vor.~ Hinzuweisen ist vor allem auf die literaturgeschichtlichen 
Aufsatze von Franz Mehring 1 ), der — oft in einer vereinfachten und 
popularen, oft auch in einer nur politisch fundierten Weise — zum 
ersten Male die Anwendung der materialistischen Gesellschaftstheorie 
auf die Liter atur versucht hat. Freilich ist wie an den oben erwahnten 
psychologischen Einzeluntersuchungen auch an den materialistischen 
Arbeiten Mehrings und ihm verwandter Autoren dieLiteraturgeschichte 
vorbei zur Tagesordnung oder zum Tagesgeschimpf iibergegangen ; 
so hat sie noch in jiingster Zeit einen Anwalt gefunden, fur den „solche 
Denkweise . . . nicht nur unsoziologisch oder der wissenschaftlichen 
Soziologie entgegengesetzt" ist, sondern dem sie,, wie eine Schmarotzer- 
j}flanze" vorkommt, die ,,einemBaum seine gesunden Saf te entzieht" 2 ). 
Die materialistische Geschichtserklarung vermag nicht in der 
gleichen simplifizierenden und isolierenden Art und Weise vorzugehen, 
die wir an der ihr entgegengesetzten Haltung festgestellt haben. Es 
hieBe jene Theorie schlecht verstehen, wollte man ihr den Glauben an 
eine unmittelbare Ableitung der G^samtkultur aus der Wirtschaft 
zuschieben, ja wollte man nur von ihr behaupten, sie versuche die 
Grundzuge kultureller und psychischer Gebilde aus einer bestimmten 
okonomisch erklarten Struktur abzulesen. Es kommt ihr vielmehr 
darauf an, zu zeigen, in wie vermittelter Weise sich die grundlegenden 
Lebensverhaltnisse der Menschen in alien ihren Formen, also auch in 
der Literatur, ausdriicken. Damit gewinnt die Psychologie ihren ganz 
bestimmten Ort in der Literaturwissenschaft : sie ist eine, nicht die 
einzige, Hilfswissenschaft der Vermittlungen, indem sie aufzeigt, 
welches die psychischen Vorgange sind, durch die in den Kulturlei- 
stungen des Kunstwerks sich die Strukturen des gesellschaftlichen 
Unterbaus reproduzieren. Da sich diese Basis der Gesellschaft als das 
Verhaltnis von herrschenden und beherrschten Klassen in der bis- 
herigen Geschichte und als der ^Stoffwechsel" von Gesellschaft und 
Natur darstellt, so wird auch in der Literatur wie bei alien historischen 
Phanomenen dieses Verhaltnis durchscheinen. In der gesellschaft- 
lichen Erklarung des tJberbaus — nicht etwa in der gesellschaftlichen 



2 ) Jetzt gesammelt: in Schriften und Aufsatze 1. u. 2. Bd.: Zur Literatur- 
geschichte, Berlin 1929, ferner auch sein Buch ,,Die Lessinglegende*' 9. Aufl. 
Berlin 1926. 

2 ) ZiegenfuB a. a. 0., S. 330f. — Wie legitimiert Z. zu solcher Kritik ist, 
belegt er selbst, indem er als — einzigen — Kronzeugen fur diese ,, Denk- 
weise" Alfred Kleinbergs Buch uber ,,Die deutsche Dichtung" zitiert — ein 
Werk, das den auBerst zweideutigen, jedenfalls nicht materialistischen 
TJntertitel tragt : ,, . . . in ihren sozialen, zeit- und geistesgeschichtlichen 
Bedingungen" ! 



Zur gesellschaftlichen Lage der Literatur 95 

Theorie schlechthin — nimmt darum der Begriff der Ideologic eine 
entscheidende Stelle ein. Denn die Ideologic ist ein Bewufitseinsinhalt, 
der die Funktion hat, die gesellschaftlichen Gegensatze zu vertuschen 
und an Stelle der Erkenntnis der sozialen Antagonismen den Schein 
der Harmonie zu setzen. Die Aufgabe der Literaturgeschichte ist zu 
einem groBen Teil Ideologienforschung. 

Den Vorwurf, noch unentwickelte Methoden und einen zu rohen 
Begriff sapparat zu besitzen, kann die materialistische Geschichts- 
theorie ruhig hinnehmen. Sie darf demgegenuber darauf verweisen, 
daB sie immerhin diese Unvollkommenheit dem wissenschaftlichen 
Fortschritt zur Diskussion stellt und iiberhaupt alle ihre vermeintlichen 
Ergebnisse so formuliert, daB sie der Kontrolle des Wissenschaf tiers 
wie der moglichen Veranderung durch neue Erfahrungen ausgesetzt 
sind und nicht sich zu Gebilden verfluchtigen, die vielleicht verzaubern 
und die Erkenntnis bestechen, aber nicht sich an ihr zu bewahren ver- 
mogen. Diese Theorie darf sich weiterhin sagen lassen, daB sie letzten 
Endes Glaubenssache ware; sie ist es in dem Sinn, in dem jede wissen- 
schaftliche Hypothese nicht abgeschlossen und ein fur allemal ge- 
sichert, sondern stets durch neue Erfahrung zu bestatigen oder ab- 
zuandern ist. Sie hat aber gegen die bio Be Verkiindung der reinen 
Geisteswissenschaft den Vorteil moglicher Verifikation innerhalb 
der organisierten Wissenschaf t. 

IV. 

Die folgenden Beispiele machen weder den Anspruch, den ganzen 
Umfang ihrer Begrundung aufzuweisen, noch den, nicht weiter einer 
Verfeinerung und gegliederteren Ordnung geoffnet zu sein 1 ). Zum Teil 
werden sie als langst bekannte Einsichten anmuten, zum Teil auch 
einen thesenhaften Charakter zu tragen scheinen ; doch ist das erste — 
entgegen dem in mancher modernen Diskussion angeschlagenen Ton 
— ■ keine Widerlegung einer Erkenntnis und das andere die notwendige 
Folge einer im Prinzip geklarten, in ihren Methoden noch undurch- 
gebildeten neuen wissenschaftlichen Arbeitsweise. 

Fragen der Form, des Motivs wie des Stoffs haben in gleicher 
Weise sich der materialistischen Betrachtungsweise zu eroffnen. Das 



*) Besondere wissenschaftliche Neigungen haben mich veranlafit, Dar- 
stellungsart und Forschungsmethoden einer materialistischen Literatur- 
geschichte zunachst an der erzahlenden europaischen Dichtung zu ver- 
suchen. Die grundsatzliche Absicht dieses Aufsatzes und die Notwendigkeit 
der Raumbeschrankung zwingen zu einer ^villkurlichen und unvollstandigen 
Auswahl erreichter Resultate. 



96 Leo Lowenthal 

soil etwa bei dem Problem der Romanenzyklopadie, wie es bei Balzac 
und Zola auftritt, angedeutet werden. Beide beabsichtigen mit ihren 
groBen Zyklen die gesamte Gesellschaft ihrer Zeit mit allem lebenden 
und toten Inventar, Berufen wie Staatsformen, Leidenschaften wie 
Wohnungseinrichtungen, darzustellen. Dieser Absicht liegt die Vor- 
stellung von der prinzipiellen Moglichkeit, die Welt in Gedanken zu 
besitzen und durch ihre gedankliche Aneignung sie beherrschen zu 
konnen, also der biirgerliche Rationalismus, zugrunde. Vermittelt 
sich bei Balzac aus bestimmten psychologischen Griinden damit die 
merkantilistische Wirtschaftsweise, die Vorstellung von der Beherrsch- 
barkeit der Okonomie durch ihre obrigkeitliche Regelung, so steckt 
bei Zola eine kritische Haltung zu der kapitalistischen Produktions- 
weise dahinter, die sich von der Analyse der durch sie bestimmten Ge- 
sellschaft die Moglichkeit der Behebung ihrer Mangel verspricht. Die 
Breite des Romanwerks weist ebensosehr auf den Ort des Verfassers 
in einer in der Herrschaft begriffenen Klasse, wie auf den bestimmten 
Standpunkt hin, den der Dichter zu der okonomischen Struktur 
seiner Zeit einnimmt. 

Diese gesellschaftliche Bedeutung lafit sich auch an anderen, mehr 
in Einzelheiten gehenden Fragen aufweisen. So kann ein gleiches 
Formmittel in verschiedenen Zusammenhangen einen durchaus ver- 
schiedenen sozialen Sinn haben. Beispiele daftir sind etwa das Hervor- 
treten des Dialogs und damit die Beschrankung der erzahlenden oder 
kommentierenden Zwischenreden und der Kunstgriff der Rahmener- 
zahlung. Fur das erste wahlen wir Gutzkows, Spielhagens und die 
impressionistische Erzahlungsweise aus. Gutzkow fiihrt wahrscheinlich 
zum ersten Male in der deutschen Literatur das moderne Gesprach 
der burgerlichen Gesellschaft ein. Die Geschichte des Dialogs in der 
Erzahlung zeigt die Entwicklung aus einer starren und gesicherten 
Tradition zur „zwanglosen" offenen Gesprachstechnik der Gegenwart. 
Das Gesprach ist in der Realitat der MaBstab der psychologischen Kennt- 
nisse, iiber welche die frei miteinander konkurrierenden Subjekte in der 
kapitalistischen Gesellschaft, wenigstens in ihrererstenliberalenEpoche, 
verfugen. Der Wendigere, der die bessere Kenntnis von der Reaktions- 
weise des Gesprachspartners besitzt, hat, soweit es sich nicht um grobe, 
eineDiskussion nicht zulassendeMachtverhaltnisse handelt, die groBere 
Okonomische Siegeschance. Was sich in der ihrer objektiven Situation 
fast unbewuBten jungdeutschen Dichtung nur indirekt erschlieBen 
laBt, gibt sich bei Spielhagen mit einer gewissen Theorie belastet. 
Die epische Zwischenerzahlung wird auf ein Minimum reduziert, so 



Zur gesellschaftlichen Lage der Literatur 97 

daB der Eindruck entsteht, der Dichter halte sich im Arrangement der 
Begebenheit an die Forderungen der Realitat und verzichte auf die 
Willkiir personlicher Kombinationen von Handlung, Begebenheit, 
Zufall und auf die Interpretation des objektiven.Geschehens. Man 
wird finden, daB der impressionistische Roman mit dem alteren Fon- 
tane und mit Sudermann angefangen bis zu Arthur Schnitzler in 
seinen letzten Novellen ebenfalls im Zeichen des kommentarlosen 
Dialogs steht. Aber dieser ,,Verzicht auf die Vorrechte des deutenden 
und erganzendenErzahlers" 1 ) hat bei Spielhagen einen ganz anderen 
Sinn als beim deutschen Impressionismus. Der Spielhagenschen 
Technik liegt die Uberzeugung zugrunde, daB in den Gesprachen der 
Menschen die Sachen selber deutlich werden, daB in der Aussprache 
fur den nachdenkenden Leser eine Theorie iiber die Beziehungen der 
Menschen zwischen sich und innerhalb der Gesellschaft entsteht. Als 
burgerlicher Idealist glaubt er an die Macht des objektiven Geistes, 
der in den ausgesprochenen Gedanken der Menschen gerinnt, so daB 
dieWechselrede bereits keinenZweifel andensachlichenUberzeugungen 
des Dichters of fen laBt. Hingegen spricht sich in der asketischen 
Kommentarlosigkeit des Impressionismus die Kritik des liberalen 
Biirgertums an sich selber seit Beginn des 20. Jahrhunderts aus; aus 
dem Unvermogen, soziale Theorien zu bilden, aus der Halt- und Rat- 
losigkeit des in seinen Positionen bedrangt und unsicher gewordenen 
mittleren Biirgertums erwachst in der Tat ein Verzicht auf Vorrechte, 
namlich auf die des subjektiven Geistes, der an die Moglichkeit ver- 
tretbarer Allgemeinerkenntnis glaubt. Spiegelt sich in der tastenden 
Dialogisierung Gutzkows das wirtschaftliche Tasten eines in den ersten 
Anfangen befindlichen liberalen Biirgertums in Deutschland, so wird 
in der Spielhagenschen Technik sein okonomischer Sieg verklart und 
in der des Impressionismus seine Krise ideologisch vertuscht oder 
in einer gewissen Ratlosigkeit eingestanden. 

Andere Klassenverhaltnisse enthiillen sich, wenn man die Funktion 
der Rahmenerzahlung bei Storm und Meyer vergleicht. Dieses Gestal- 
tungsprinzip hat bei beiden Dichtern eine entgegengesetzte Bedeutung. 
Storm gewinnt mit ihm die Haltung der Resignation, des verzichtenden 
Rtickblicks. Er ist der miide kleinburgerliche Rentner, dem eine 
Welt zerf alien ist, in der er etwas zu bedeuten hat. Die Zeit ist ab- 
gelaufen; der einzige Lebenshalt, den die Gegenwart noch zu bieten 
vermag, ist die Ruckerinnerung. Ihre verklarende Funktion verrat 

x ) Oskar Walzel, Die Deutsche Literatur von Goethes Tod bis zur Gegen- 
wart. Berlin 1918. S. 664. 



98 Leo Lowenthal 

auch die Bildertechnik Storms, durch die das Gedachtnis nur Bruch- 
stiicke noch wiederzugeben vermag, solche namlich, die sich nicht 
unmittelbar auf die triibe Gegenwart beziehen und der psychischen 
Verdrangung darum nicht anheimf alien miissen. Bei Meyer hingegen 
dient die Rahmenerzahlung im genauen Wortsinn als prachtiger 
Rahmen eines herrlichen Gemaldes, erfiillt sie also gleichsam zwei 
Funktionen. Einmal weist sie auf die Wiirdigkeit dessen hin, was sie 
umschlieBt, zum andern hebt sie aus dem indifferenten Vielerlei der 
Erscheinungen das jeweils Singulare, auf das es ankommt, heraus. 
Was in Storms Welt das Zeichen des Bescheidenen, Kleinen und Ab- 
sterbenden ist, wird bei Meyer zum Symbol der lebendigsten Wirklich- 
keit. Wo die Kleinburgerseele Storms in sich hineinweint, treibt 
Meyer wuchtig in die Welt seine Gestalten hinaus, die feudalen 
Wunschtraumen des herrschenden Biirgertums um 1870 zu geniigen 
vermOgen. 

Im AnschluB daran, zugleich als letztes Beispiel fur die Analyse 
von Formproblemen, ein kurzer Hinweis auf die Verwendung der 
bildmaBigen Schilderung bei Meyer. Fiir den Asthetiker Lessing war 
die Schilderung in der Poesie verpont ; bei Meyer ist sie ein beliebtes 
Kunstmittel. Fiir Lessing kommt es auf den Fortschritt der Menschen 
in der Zeit an, auf die von ihm optimistisch bewertete Entwicklung 
des Menschengeschlechts. Fiir ihn geht das Wesentliche in der Zeit 
und ihrem ProgreB vor. Er ist der Vorkampfer der aufsteigenden 
burgerlichen Gesellschaft, die in den Spannungsgegensatzen des 
Dramas mit einer LOsung bereit stent, welche sie fiir den Antago- 
nismus in der Gesellschaft zu haben glaubt. Meyer ist der Erbe 
dieser dramatischen Auseinandersetzung, soweit die Sieger durch - 
gehalten haben und zu GroBbiirgern wurden. Wo Lessing Drama- 
tiker ist, darf Meyer Plastiker sein. Wo der eine die Welt 
dynamisieren muB, darf der andere das Rad anhalten. Wo dem einen 
die Kunst ein Mittel ist, das Allgemeine und fiir alle Menschen Ver- 
bindliche als iiberlegen dem historisch einzelnen und Zufalligen auf- 
zuweisen, ist sie fiir den anderen die MOglichkeit, eben das Besondere 
und GroBartige als allein wirklichkeitswurdig hervorzuheben. Das 
an Zeit und Raum nicht fixierte Bild verewigt den groBen Moment der 
groBen Gestalt. Auch hier verrat sich eine im Interesse der herr- 
schenden Schicht des Biirgertums ideologische Einstellung. Sein 
AngehOriger kann im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts die Welt 
einzig als Chance der PersOnlichkeit sehen, er enthebt sich kleinlicher 
Sorgen des Alltags nicht nur fiir sich, sondern in seinem BewuBtsein 



Zur gesellschaftlichen Lage der Literatur 99 

auch fur die Masse und ist standig von groBen Geschaften, groBen 
Gestalten und groBen Idealen umwittert und bestatigt. 

Ein Motiv, das ebenfalls derVerklarungOkonomischerKommando- 
hohen dient, finden wir etwa in Stendhals Einstellung zur Langeweile. 
Langeweile ist so gut wie der Tod fur ,,the happy few", die allein be- 
rechtigt sind, seine Biicher zu lesen und fur die allein er zu schreiben 
wtinscht : fur Menschen, die in weitem Abstand von den Konsequenzen 
einer kleinen okonomischen Existenz ihrem Gliick in eigengesetzlicher 
Moral zu leben berechtigt sind. Wie Stendhal der Romancier der 
Burgeraristokratie Napoleons ist, so singt Gustav Freytag dem libe- 
ralen Biirgertum Deutschlands urn die Mitte des Jahrhunderts sein 
Hohelied. Er verklart es, indem er von vornherein sich den Zugang 
zu den Erkenntnissen der Widerspriiche in der biirgerlichen Gesell- 
schaft versperrt. Offenkundig liegen diese ja in der Arbeit, ihrer Ver- 
teilung, ihrer Organisation, ihrer Entlohnung. Indem man grundsatz- 
lich das Motiv der Arbeit aufgreift und undifferenziert es auf den 
ebenfalls undifferenzierten Begriff ,,Volk" anwendet, hat man die 
Gesellschaftsordnung im wortlichsten Sinn ,,ubersehen", namlich das, 
was sie als Gesellschaft konkurrierender Gruppen kennzeichnet. Der 
Ideologe steht bei Gustav Freytag also bereits am Anfang, wenn er 
als Motto zu seinem Hauptwerk ,,Soll und Haben" die Worte von 
Julian Schmidt wahlt : „Der Roman soil das deutsche Volk da suchen, 
wo es in seiner Tiichtigkeit zu finden ist, namlich bei seiner Arbeit. " 

SchlieBlich soil noch die Analyse des Todesmotivs, das zu wieder- 
holten Malen in Morikes „Maler Nolten" und in Meyers „Jurg Je- 
natsch" anklingt, angedeutet werden. Gestaltet MOrike in Leben und 
Dichtung das Schicksal des Biedermeiers, d. h. der noch unrevolu- 
tionaren, aber zur Herrschaft bestimmten biirgerlichen Klasse, emp- 
findet er — auch am eigenen Leibe — immer wieder das Todesurteil 
aufstrebender burgerlicher Existenzen im Zeitalter der Reaktion, 
ist so der Tod in seiner Erzahlung durch die Niederlage des Burger- 
turns seiner Generation zu deuten und die Verganglichkeit in ideolo- 
gischer Verklarung dieses Schicksals der Schliissel zum Leben, so 
wird umgekehrt in der Erzahlung Meyers der Tod zu einem besonders 
hoch gesteigerten Augenblick aus der Fulle des Lebens. Lucretia 
tOtet Jurg Jenatsch; wir diirfen vermuten, daB diese Tat auch der 
Beginn ihrer physischen Vernichtung ist. Aber dieser sinngemaBe 
Doppelmord ist der Ausdruck heroischen Lebens; nur diese beiden 
sind einander ebenbtirtig, nur diese in Schicksal und Charakter Art- 
verwandten haben ein Anrecht, sich wechselweise zu beseitigen. Die 



100 Leo Lowenthal 

Solidaritat der internationalen f uhrenden Minderheit bewahrt sich 
hier bis zum Tode. 

Auch bei der materialistischen Analyse der Stof f wahl sei zunachst 
auf Freytag und Meyer hinge wiesen. Beide haben historische Romane 
und Erzahlungen geschrieben. So wie das Gesamtwerk Freytags 
als das Schulbuch des mittleren national-liberalen Burgertums be- 
zeichnet werden darf, das die Tugenden und Gefahren seiner Ange- 
horigen aufweist, so ist auch die Historie nicht ein Buch der Ver- 
zauberung, sondern ein padagogisches Organ. Zur Warnung oder 
Nachahmung enthalt sie die Geschichte von Menschen und Gruppen, 
aus denen in spateren Generationen tiichtige Burger werden konnten 
oder die das ungewisse Schicksal des Adels oder gar das verachtungs- 
wiirdiger anderer Gesellschaftsklassen auf sich nehmen muBten. 
Spricht sich in dieser Haltung zur Geschichte die Okonomische Posi- 
tion eines mit zaher Tiichtigkeit um gesicherte Existenz kampfenden 
Burgertums aus, so diirfen wir in der auswahlenden Art, in der Meyer 
mit der Geschichte verfahrt, einen ,,groBburgerlichen Historismus" 
erblicken. Wo Geschichte nur je und je durch einzelne Erscheinungen 
konstituiert wird, tritt nicht nur die Uberfulle der historischen Pha- 
nomene in ein belangloses Halbdunkel zuriick, sondern verliert die 
Kette der Ereignisse als solche jeden Sinn. Es gibt kein Kontinuum 
von Geschehen, welches einen deutbaren Charakter, sei es im Sinne 
der Kausalitat oder selbst einer theologischen oder sonst welchen 
Teleologie, hatte. Die Veranderungen als solche haben keinerlei Ge- 
wicht, im Strome des historischen Lebens der Menschen geht nichts 
Entscheidendes vor. Der „Historiker" i n diesem eingeschrankten 
Sinne gerat in eine Zuschauerhaltung, in der er das Singulare als ein 
groBartiges Schauspiel genieBt. Die Kategorie des Spiels geht in die 
reale Geschichte sowohl wie in die Geschichtsforschung derart ein, 
daB das Gewimmel derMannigfaltigkeit zum Fundus einesMarionetten- 
theaters der Heroen wird und deren Leben selbst zum spielerischen 
GenuB des Deutenden. In der hier in Rede stehenden Epoche des 
GroBburgertums ist der ihr konforme Historiker wesentlich Asthet. 

Ein anderes Beispiel ist das Problem der Politik. Bei Gottfried Keller 
finden wir eine geradezu kuhne MiBachtung der wirtschaftlichen 
Differenzierung der Menschen, dagegen eine auBerordentliche Be- 
deutung der politischen Sphare, sei es, daB sie gelegentlich in der 
Karrikierung der Bierbank oder in den weisen Gesprachen der „Auf- 
rechten" iiber offentUche Angelegenheiten getroffen wird. In dieser 
Uberschatzung des rein Politischen enthullt sich, wenn auch in der 



Zur gesellsch aft lichen Lage der Literatur 101 

Sprache der Verklarung, das Schicksal des gerade noch eben wirt- 
schaftlich gesicherten Schweizer Kleinbiirgertums, das Keller dar- 
stellt. Politik als ein isoliertes Phanomen zu nehmen, in der Politik 
eine Sphare zu sehen, neben der es im gesellschaftlichen Geschehen 
auch andere gibt wie Kunst oder Wirtschaft oder Recht, die 
Politik als eine befriedigende Kampfstatte zu betreten, auf der 
offentliche Angelegenheiten sich regeln lasseri, ja aus der uberhaupt 
ira Grunde die offentlichen Angelegenheiten bestehen — alle diese 
trugerischen Vorstellungen entstehen in solchen Schichten, deren 
Situation in der Tat im wirtschaftlichen Kampf zwar nicht verzweifelt, 
aber ohne Chancen erscheint. Soweit in der Politik die Vorstellung 
von dem Ausgleich der miteinander ringenden Krafte, das Sich- 
Einigen auf einem goldenen Mittelweg, ja letzten Endes die har- 
monische Verschmelzung und Versohnung der einander nicht recht 
kennenden, an verschiedenen Enden stehenden Menschen auftritt, 
ist diese Vorstellung gerade haufig von gesellschaftlichen Mittel- 
schichten produziert. Denn diese finden eine ideologische Verbramung 
ihrer Gesamtsituation in dem Glauben, daB die „Mitte" in der Ge- 
sellschaft eine besondere Mission habe. Auch Stendhal verwendet 
politische Stoffe, aber er bedarf bei ihnen, sei es bewuBt oder unbewuBt, 
nicht der gleichen ideologischen Kunstgriffe, da er dem Lebensgefiihl 
der franzosischen GroBbourgeoisie seiner Zeit ein aufgeklartes Be- 
wuBtsein verschafft. Fur ihn sind die politischen Geschafte nur ein 
Teil oder ein Ausdruck groBer okonomischer Auseinandersetzungen, 
und die Regierungen sind ihm nichts anderes als geschaftliche Kon- 
trahenten, die man in ganz bestimmter Weise zu behandeln hat. 

Angedeutet, wenn auch nicht ausgefuhrt sei, da es sich hierbei nicht 
mehr in erster Linie um eine Frage der kiinstlerischen Gestaltung 
handelt, daB die materialistische Literaturbetrachtung einen wichtigen 
Fingerzeig immer durch das Studium des BewuBtseins hat, das dem 
Dichter von den Aufgaben und der Stellung seines Berufs im Ganzen 
der burgerlichen Gesellschaft eignet. An diesem BewuBtsein erhellt 
jedesmal in einer sehr genauen Weise die psychologische Beschaffenheit 
des Schriftstellers, und damit eroffnet es die Moglichkeit des Studiums 
der vermittelnden Zwischenglieder zwischen der gesellschaftlichen 
Struktur und dem Werk durch die Psyche des Dichters hindurch. Die 
rasende Verliebtheit in die kunstlerische Position bei Balzac, die hoch- 
miitige Isolierung Flauberts, die gelassene Haltung Stendhals und 
Meyers zu poetischen Aufgaben, die bereite Einordnung des Dichters 
und Schriftstellers in die biirgerliche Ordnung durch Freytag sind 



102 Leo Lowenthal, Zur gesellschaftlichen Lage der Literatur 

ebensoviele Hinweise auf die bestimmten Formungen, Veranderungen 
und Verdeckungen, die in den ausgefuhrten Werken dieser Dichter 
die okonomische Struktur ihrer Tage gefunden hat. 

SchlieBlich bleibt es geschichtsphilosophisch interessant, daB eine 
fur die Forschung so unendlich wichtige und zentrale Aufgabe wie das 
Studium der Wirkung dichterischer Werke fast iiberhaupt nicht in 
Angriff genommen worden ist, obwohl in Zeitschriften und Zeitungen, 
Briefen und Erinnerungen ein unendliches Material bereitliegt, urn 
iiber die Aufnalime der Dichtungen in bestimmten gesellschaftlichen 
Gfuppen und Individuen sich zu unterrichten. Diese Aufgabe bleibt 
der materialistischen Literaturgeschichte vorbehalten, die unbe- 
ktimmert um die bisherige angstliche Behiitung der Poesie deren Stu- 
dium breit zu organisieren hat, ohne dabei fiirchten zu miissen, in 
bloBer Philologie und Datensammlung stecken zu bleiben, da die ihr 
zugrunde liegende gesellschaftliche Theorie ihr die Arbeitsrichtung 
vorzuschreiben vermag. 



Zur gesellschaftlichen Lage der Musik. 

Von 
Theodor Wiesengrund-Adorno (Frankfurt a. M.). 

1. — UmriB. — Produktion. 

Wann immer heute Musik erklingt, zeichnet sie in den bestimm- 
testen Linien die Widerspriiche und Briiche ab, welche die gegen- 
wartige Gesellschaft durchfurchen und ist zugleich durch den tiefsten 
Bruch von eben der Gesellschaft abgetrennt, die sie selber samt 
ihren Briichen produziert, ohne doch mehr als Abhub und Trummer 
der Musik aufnehmen zu konnen. Die Rolle der Musik im gesell- 
schaftlichen ProzeB ist ausschlieBend die der Ware ; ihr Wert der des 
Marktes. Sie dient nicht mehr dem unmittelbaren Bediirfnis und 
Gebrauch, sondern fiigt sich mit alien anderen Gtitern dem Zwang des 
Tausches um abstrakteEinheiten und ordnet mit ihrem Gebrauchswert, 
wo immer er ubrig sein mag, dem Tauschzwang sich unter. Die 
Inseln eines vorkapitalistischen ,,Musizierens", wie sie das 19. Jahr- 
hundert noch dulden konnte, sind uberspiilt ; die Technik von Radio 
und Tonfilm, machtigen Monopolen zugehorig und in unbeschrankter 
Verfugung iiber den gesamten kapitalistischen Propagandaapparat, 
hat selbst von der innersten Zelle musikalischer Ubung, dem haus- 
lichen Musizieren, Besitz ergriffen, deren Moglichkeit bereits im 
19. Jahrhundert, gleich dem biirgerlichen Privatleben insgesamt, nur 
die Ruckseite eines gesellschaftlichen Korpers bildete, dessen Vorder- 
seite die privatkapitalistische Produktion ausmacht. Die Dialektik 
der kapitalistischen Entwicklung hat auch diese letzte Unmittel- 
barkeit — selber eine bloB scheinhafte, in welcher die Balance zwischen 
der individuellen Produktion und dem gesellschaftlichen Verstandnis 
stets bedroht und seit dem ,. Tristan" gestort war — ganzlich auf- 
gehoben. Indem der kapitalistische ProzeB die musikalische Produktion 
und Konsumtion restlos in sich hineinzieht, wird die Entfremdung 
zwischen der Musik und den Menschen vollkommen. Wohl hatte die 
Objektivierung und Rationalisierung der Musik, ihre Abl6sung von der 
bloBen Unmittelbarkeit des Gebrauchs, sie als Kunst erst gepragt : an 
Stelle ephemeren Erklingens ihr dieDauer verliehen; dieMacht weit- 
reichender Triebsublimierung, verbindlicher Aussprache des Humanen 
ihr geschenkt. Nunaber verfallt die rationalisierte Musik den gleichen 



104 Theodor Wiesengrund-Adorno 

Gefahren wie die rationalisierte Gesellschaft, in der das Klassen- 
interesse der Rationalisierung Einhalt gebietet, sobald sie wider die 
Klassenverhaltnisse selber sich kehren konnte; das nun die Men- 
schen in einem Stande der Rationalisierung belaBt, der, wenn 
ihm die MOglichkeit dialektischer Weiterentfaltung versperrt ist, 
zwischen seinen unaufgelosten Widerspnichen die Menschen zer- 
reibt. Die gleiche Macht der Verdinglichung, die die Musik als Kunst 
konstituierte und die nie in bloBe Unmittelbarkeit sich riickver- 
wandeln lieBe, wollte man nicht die Kunst auf ein vor-arbeitsteiliges 
Stadium zuriickverweisen — die gleiche Macht der Verdinglichung 
hat heute den Menschen die Musik genommen und ihnen bloB deren 
Schein gelassen; die Musik aber, soweit sie sich nicht dem Gebot der 
Warenproduktion unterwirft, ihres gesellschaftlichen Haftes beraubt, 
in den luftleeren Raum verbannt und ihre Gehalte ausgehohlt. Davon 
hat jede Betrachtung der gesellschaftlichen Lage der Musik auszu- 
gehen, die nicht den Tauschungen verfallen will, die heute — guten 
Teiles der Verhullung des tatsachlichen Zustandes, auch der ver- 
mittelnden Apologie der okonomisch eingeschuchterten Musik zu- 
liebe — die Diskussion beherrschen. Diese Tauschungen riihren 
daher, daB die Musik selber unter der Ubermacht des monopol- 
kapitalistischen Musikbetriebes zum BewuBtsein ihrer eigenen Ver- 
dinglichung, der Entfremdung von den Menschen gelangte; in einer 
Unkenntnis des gesellschaftlichen Prozesses indessen, die ebenfalls 
gesellschaftlich produziert und erhalten wird, die Schuld daran nicht 
der Gesellschaft sondern sich selber zuschreibt und sich in der Illusion 
halt, die Isolierung der Musik sei isoliert, namlich bloB von der Musik 
aus korrigierbar. Statt dessen gilt es hart einzusehen, daB die Gesell- 
schafts-Fremdheit der Musik, all das, wofur ein eilfertiger und rational 
unerhellter musikalischer Reformismus SchimpfwOrter wie Individua- 
lismus, Artistentum, technische Esoterik verwendet, selber gesell- 
schaftliches Faktum, selber gesellschaftlich produziert ist. Und darum 
auch korrigierbar nicht innermusikalisch, sondern bloB gesellschaftlich : 
durch Veranderung der Gesellschaft. Es steht dahin, was zu solcher 
Veranderung dialektisch Musik etwa beitragen mag ; gering aber wird 
ihr Beitrag sein, wenn sie von sich aus eine Unmittelbarkeit herzu- 
stellen trachtet, die gesellschaftlich nicht bloB heute verwehrt, 
sondern schlechterdings nicht wiederherstellbar noch selbst wixnsch- 
bar ist ; und damit zur Verhullung der Lage beitragt. Es ist weiter die 
Frage, wie weit Musik, soweit sie etwa selber in den gesellschaftlichen 
ProzeB eingreifen sollte, in der Lage sein wird, als Kunst einzu- 



Zur gesellschaftlichen Lage der Musik 105 

greifen. Wie immer jedoch es damit sich verhalte: heute und hier 
vermag Musik nichts anderes als in ihrer eigenen Struktur die gesell- 
schaftlichen Antinomien darzustellen, die auch an ihrer Isolation 
Schuld tragen. Sie wird urn so besser sein, je tiefer sie in ihrer Gestalt 
die Macht jener Widerspriiche und die Notwendigkeit ihrer gesell- 
schaftlichen Uberwindung auszuformen vermag ; je reiner sie, in den 
Antinomien ihrer eigenen Formensprache, die Not des gesellschaft- 
lichen Zustandes ausspricht und in der Chiff ernschrift des Leidens zur 
Veranderung aufruft. Ihr frommt es nicht, in ratlosem Entsetzen 
auf die Gesellschaft hinzustarren : sie erfullt ihre gesellschaftliche 
Funktion genauer, wenn sie in ihrem eigenen Material und nach ihren 
eigenen Formgesetzen die gesellschaftlichen Probleme zur Darstellung 
bringt, welche sie bis in die innersten Zellen ihrer Technik in sich 
enthalt. Die Aufgabe der Musik als Kunst tritt damit in gewisse 
Analogie zu der der gesellschaftlichen Theorie. Wollte man die 
immanente Entfaltung der Musik absolut setzen, als bloBe Spiegelung 
des gesellschaftlichen Prozesses, so wiirde man damit eben den 
Fetischcharakter der Musik sanktionieren, der ihre Not und das heute 
gerade von ihr darzustellende Grundproblem ist. DaB sie andererseits 
nicht nach der bestehenden Gesellschaft gemessen werden darf, die 
sie produziert und zugleich von sich fernhalt, steht klar. DaB sie 
vollends nicht, abstrakt und fern von den tatsachlichen gesellschaft- 
lichen Verhaltnissen, als „geistiges" Phanomen genommen werden 
sollte, das irgend welche Wunsche der gesellschaftlichen Veranderung 
unabhangig von deren empirischer VerwirkUchung im Bilde vorweg- 
nehmen kann, ist die Voraussetzung jeder historisch-materialistischen 
und nicht bloB ,,geistesgeschichtlichen" Methode. Damit ist die 
Relation von gegenwartiger Musik und Gesellschaft nach alien 
Pvichtungen hin gleich problematisch. Ihre Aporien teilt sie mit der 
gesellschaftlichen Theorie; zugleich aber auch die Verhaltensweisen, 
in der diese den Aporien gegeniibertritt oder gegeniibertreten sollte. 
Von Musik, die heute ihr Lebensrecht bewahren will, ist in gewissem 
Sinne Erkenntnischarakter zu fordern. In ihrem Material muB 
sie die Probleme rein ausformen, die das Material — selber nie reines 
Naturmaterial, sondern gesellschaftlich-geschichtlich produziert — 
ihr stellt; die LOsungen, die sie dabei findet, stehen Theorien gleich: 
in ihnen sind gesellschaftliche Postulate enthalten, deren Verhaltnis 
zur Praxis zwar auBerst vermittelt und schwierig sein mag und die 
keinesfalls umstandslos sich mogen realisieren lassen, uber die aber 
in letzter Instanz entscheidet, ob und wie sie in die gesellschaftliche 



106 Theodor Wiesengrund-Adorno 

Wirklichkeit einzugehen vermogen. Der KurzschluB: diese Musik 
ist unverstandlich, also esoterisch-privat, also reaktionar, mufi 
abgewiesen werden: ihm liegt mit einer romantischen Vorstellung 
primitiver musikalischer Unmittelbarkeit zugleich die Meinung 
zugrunde, das empirische BewuBtsein der gegenwartigen Gesellschaft, 
das in Enge und Unerhelltheit, ja bis zur neurotischen Dummheit von 
der Klassenherrschaft zu deren Erhaltung gefordert wird, konne als 
positives MaB einer nicht mehr entfremdeten, sondern dem freien 
Menschen zugehdrigen Musik gelten. So wenig die Politik von diesem 
BewuBtseinsstand abstrahieren darf, mit dem die gesellschaftliche 
Dialektik zentral rechnen muB, so wenig darf sich dafur die Erkenntnis 
von einem BewuBtsein Grenzen setzen lassen, das von der Klassen- 
herrschaft produziert ist und auch als KlassenbewuBtsein des Prole- 
tariats die Male der Verstummelung durch den Klassenmechanismus 
weiter tragt. Wie die Theorie iiber dies gegenwartige BewuBtsein 
der Massen hinausgreift, muB auch Musik dariiber hinausgreifen. Wie 
aber die Theorie dialektisch zur Praxis steht, an welche sie nicht bloB 
Forderungen richtet, sondern von der sie auch Forderungen liber- 
nimmt, so wird auch eine Musik, die das SelbstbewuBtsein ihrer 
gesellschaftlichen Funktion erlangt hat, dialektisch zur Praxis stehen, 
Nicht indem sie heute und hier, Ware gerade im Schein der Unmittel- 
barkeit, sich dem ,,Gebrauch" fugt; wohl aber indem sie in sich 
selber, in Ubereinstimmung mit dem Stande der gesellschaftlichen 
Theorie, alle die Elemente ausbildet, deren objektive Intention die 
Uberwindung der Klassenherrschaft ist, auch wofern deren Ausbildung 
gesellschaftlich isoliert und zellenhaft wahrend der Klassenherrschaft 
sich vollzieht. Wenn die fortgeschrittenste kompositorische Produk- 
tion der Gegenwart, lediglich unterm Zwang der immanenten Ent- 
faltung ihrer Probleme, biirgerliche Grundkategorien wie die schop- 
f erische Personlichkeit und ihren Seelenausdruck, die Welt der privaten 
Gefuhle und die verklarte Innerlichkeit auBer Aktion setzte und an 
ihre Stelle h6chst rationale und durchsichtige Konstruktionsprinzipien 
riickte, so ist diese Musik, gebunden an den burgerlichen Produktions- 
vorgang, zwar gewiB nicht als ^klassenlose" und eigentliche Zukunfts- 
musik anzuschauen, wohl aber als die, welche ihre dialektische Er- 
kenntnisf unktion am genauesten erf ullt . Der ungemein hef tige 
Widerstand, dem in der gegenwartigen Gesellschaft gerade solche 
Musik begegnet und der den gegen alle, sei's noch so sehr literarisch- 
politisch akzentuierte, Gebrauchs- und Gemeinschaftsmusik iiber- 
trifft — dieser Widerstand scheint immerhin darauf hinzudeuten, 



Zur gesellschaftlichen Lage der Musik 107 

daB die dialektische Funktion dieser Musik in der Praxis, ob auch bloB 
negativ, als ,,Destruktion", bereits fiihlbar wird. 

Unterm gesellschaftlichen Aspekt lafit sich die gegenwartige 
Musikiibung, Produktion und Konsumtion, drastisch aufteilen in 
solche, die den Warencharakter umstandslos anerkennt und, unter Ver- 
zicht auf jeden dialektischen Eingriff , nach den Erfordernissen des 
Marktes sich richtet und in solche, die sich prinzipiell nicht nach dem 
Markt richtet. Anders gewandt: in der Entfremdung von Gesellschaft 
und Musik stellt die erste Gruppe — ■ passiv und undialektisch — sich 
auf die Seite der Gesellschaft, die zweite auf die der Musik. Die her- 
kommliche, in der biirgerlichen Musikkultur sanktionierte Scheidung 
von „leichter" und „ernster" Musik fallt mit dieser scheinbar zu- 
sammen. Freilich nur scheinbar. Denn ein groBer Teil der vorgeblich 
„ernsten" Musik richtet sich wie die Komponisten leichter Musik 
nach den Erfordernissen des Marktes, ware es auch unterm Schutz 
okonomisch undurchsichtiger „Mode ( ', oder kalkuliert wenigstens die 
Markterfordernisse der Produktion ein; die Verhullung der Markt - 
funktion solcher Musik durch den Begriff der Personlichkeit, der 
Schlichtheit, des Lebens dient nur dazu, sie zu verklaren und damit 
ihren Markt wert mittelbar zu steigern. Andererseits enthalt gerade die 
„leichte" Musik, von der gegenwartigen Gesellschaft geduldet, ver- 
achtet und benutzt gleich der Prostitution, mit der sie als ..leicht- 
geschurzt" nicht umsonst verglichen wird, Element e, die wohl Trieb- 
befriedigungen der heutigen Gesellschaft darstellen, deren offiziellen 
Anspnichen aber widerstreiten und damit in gewissem Sinne die 
Gesellschaft transzendieren, der sie dienen. In der Scheidung von 
leichter und ernster Musik spiegelt die Entfremdung von Menschen 
und Musik sich nur verzerrt, namlich so, wie sie dem Burgertum 
selbst sich darstellt. Sie will die ,,ernste" Musik von der Entfremdung 
ausnehmen, die doch Strawinskijs Psalmensymphonie mit dem letzten 
Schlager von Robert Stolz teilt, und dafiir die Last der Entfremdung 
unter dem Titel ,, Kitsch'* allein jener Musik auf burden, die als exakte 
Reaktion auf Triebkonstellationen der Gesellschaft als einzige dieser 
angemessen ist, aber gerade durch ihre Angemessenheit die Gesellschaft 
desavouiert. Darum ist die Scheidung leichter und ernster Musik durch 
jene andere zu ersetzen, die die beiden Halften der musikalischen Welt- 
kugelgleichermaBen imZeichen der Entfremdung sieht: Halften eines 
Ganzen, das freilich durch deren Addition niemals rekonstruier bar ware. 

Die musikalische Produktion im engeren Sinne, die sich nicht 
umstandslos dem Marktgesetz unterwirft, also die .,ernste" unter 



108 Theodor Wiesengrund-Adorno 

AusschluB der quantitativ freilich tiberwiegenden, die verkappt 
ebenfaUs dem Markt dient, ist die, welche die Entfremdung gestaltet. 
Grob laBt sich schematisieren : ihr erster Typ ist einer, der ohne 
BewuBtsein des gesellschaftlichen Ortes oder gleichgultig dagegen, 
bloB immanent seine Probleme und Losungen auskristallisiert und 
gewissermaBen fensterlos wie die Leibnizsche Monade zwar nicht eine 
prastabilierte Harmonie, wohl aber eine historisch produzierte Disso- 
nanz, namlich die gesellschaftlichen Antinomien „vorstellt". Dieser 
erste Typ, als „moderne" Musik der allein ernstlich chokierende, 
wird wesentlich von Arnold Schonberg und seiner Schule vertreten. 
— Dem zweiten Typ rechnet Musik zu, die die Tatsache der Ent- 
fremdung, als ihre eigene Isolierung und als „lndividualismus" ? 
erkennt und ins BewuBtsein hebt, aber in sich selbst, formimmanent 
und bloB asthetisch, also ohne Riicksicht auf die tatsachliche Gesell- 
schaft, aufzuheben trachtet; meist durch einen Riickgriff auf ver- 
gangene Stilformen, die sie der Entfremdung enthoben meint, ohne 
zu sehen, daB sie in vollig veranderter Gesellschaft und vollig ver- 
andertem Musikmaterial nicht wiederherstellbar sind. Insofern diese 
Musik, ohne sich auf eine gesellschaftliche Dialektik einzulassen, im 
Bilde eine nichtexistente „objektive" Gesellschaft oder, naeh ihrer 
Intention, , , Gemeinschaf t ( ' zitieren mochte, mag sieObjektivismus 
heiBen. Zum Objektivismus zahlt in den hochkapitalistisch-indu- 
striellen Landern der Neoklassizismus, in den unentwickelteren 
agrarischen der Folklorismus. Der wirksamste Autor des Objekti- 
vismus, nacheinander iibrigens, aufschluBreicher Weise, seiner beiden 
Hauptrichtungen, ist Igor Strawinskij. — Der dritte Typ ist eine 
Zwischenform. Mit dem Objektivimus geht er von der Erkenntnis der 
Entfremdung aus. Zugleich aber erkennt er, gesellschaftlich erhellter 
als jener, dessen Ldsungen als Schein. Er verzichtet auf die positive 
Losung und begniigt sich, die gesellschaftlichen Briiche durch briichige, 
sich selbst als scheinhaft setzende Faktur hervortreten zu lassen, ohne 
sie mehr durch asthetische TotaHtat zu iiberwolben. Er bedient sich 
dabei der Formsprache teils der burgerhchen Musikkultur des 19. Jahr- 
hunderts, teils der heutigen Konsummusik, urn sie zu enthiillen. Mit 
der Sprengung der asthetischen Formimmanenz transzendiert dieser 
Typ zum Literarischen. Weitreichende sachhche Ubereinstimmungen 
mit den franzosischen Surrealisten berechtigen dazu, beim dritten 
Typ von surrealistischer Musik zu sprechen. Sie ist ausgegangen 
vom mittleren Strawinskij, dem der Histoire du soldat zumal. Am 
konsequentesten ist sie von Kurt Weill in den gemeinsam mit Brecht 



Zur gesellschaffclichen Lage der Musik 109 

produzierten Werken, besonders der ,,Dreigroschenoper" und „Maha- 
gonny" ausgebildet worden. — Der vierte Typ ist der solcher Musik, 
die die Entfremdung von sich aus und real zu durchbrechen trachtet, 
sei es auch auf Kosten der immanenten Gestalt. Er wird gemeinhin 
mit dem Namen „Gebrauchsmusik" belegt. Doch zeigt gerade die 
charakteristische Gebrauchsmusik, wie sie zumal von Rundfunk- und 
Theaterbestellungen hervorgerufen wird, bereits zu deutliche Ab- 
hangigkeiten vom Markt, als da8 sie hier zur Diskussion stiinde. 
Statt ihrer erheischen Aufmerksamkeit Bestrebungen wie etwa die 
einer vom Neoklassizismus ausgehenden ,,Gemeinschaftsmusik", die 
Hindemith vertritt, und die proletarischen Chorwerke von Hanns 
Eisler. 

Arnold Schonberg, als intellektualistisch, destruktiv, abstrakt 
und esoterisch verfehmt, trifft mit jedem neuen Werk auf Widerstande, 
die denen gegen die Psychoanalyse nicht unahnlich sind. In der Tat 
zeigt er, nicht zwar dem konkreten Gehalt seiner heute von alien 
psych ologisch en Bezug abgelosten Musik, wohl aber der gesellschaft- 
lichen Struktur nach weitreichende Ubereinstimmungen mit Freud. 
Gleich ihm und gleich Karl Kraus, zu dessen sprachkritischer 
Bemuhung seine Reinigung des musikalischen Materials das Seiten- 
stiick abgibt, rechnet der Wiener Schonberg zu jenen dialektischen 
Erscheinungen des biirgerlichen Individualismus — das Wort ganz 
allgemein genommen — , die ohne Riicksicht auf eine vorgedachte 
gesellschaftliche Totalitat in ihren angeblich ,,spezialisierten :i 
Problemkreisen arbeiten, in ihnen aber Losungen gewinnen, die sich 
unvermerkt wider die Voraussetzungen des Individualismus kehren 
und umschlagen; Losungen, wie sie einem gesellschaftlich orientierten 
biirgerlichen Reformismus prinzipiell versagt sind, der seine auf die 
Totalitat abzielende Einsicht, die cloch nicht den Grund erreicht, 
mit „vermittelnden" und damit verhiillenden Losungen bezahlen mufi. 
Wenn Freud, urn zu den objektiven Symbolen und schlieBlich der 
objektiven Dialektik des BewuBtseins der Menschen in der Geschichte 
zu gelangen, die Analyse des individuellen BewuBtseins und Unbe- 
wuBtseins durchfiihren muBte; wenn Kraus, um in der Sphare des 
,,Uberbaus (t die Konzeption des Sozialismus gleichsam zum zweiten 
Mai zu vollbringen, nichts anderes tat, als das burgerliche Leben mit 
seiner eigenen Norm des richtigen individuellen zu konfrontieren und 
mit den Individuen deren Norm enthiillte : dann hat, nach dem gleichen 
Schema, Schonberg die Ausdrucksmusik des privaten biirgerlichen 
Individuums, lediglich ihre eigenen Konsequenzen verfolgend, zur 



110 Theodor Wiesengrund-Adorno 

Aufhebung gebracht und eine andere Musik an ihre Stelle gesetzt, der 
zwar unmittelbare gesellschaftliche Funktionen nicht zukommen, ja 
die die letzte Kommunikation mit der Horerschaft durchschnitten 
hat, die aber einmal an immanent-musikalischer Qualitat, dann an 
dialektischer Aufklarung des Materials alle andere Musik der Zeit 
hinter sich zurueklaBt und eine so vollkommene rationale Durch- 
konstruktion darbietet, daB sie mit der gegenwartigen gesellschaft- 
lichen Verfassung schlechterdings unvereinbar ist, die denn auch in 
all ihren kritischen Reprasentanten unbewuBt sich zur Wehr setzt 
und dieNatur wider denAngriff desBewuBtseins zuHilfe ruft, den sie 
bei Schonberg erfuhr. Mit ihm bat, zum ersten Male vielleicht in 
der Geschichte der Musik, BewuBtsein das musikalische Natur- 
material ergriffen und beherrscht es. Der Durchbruch des BewuBtseins 
aber ist bei ihm nicht idealistisch : nicht als Produzieren von Musik aus 
bloBem Geist zu verstehen. Vielmehr darf in strengem Sinn von 
Dialektik die Rede sein. Denn die Bewegung, die Schonberg vollzogen 
hat, geht au-s von Fragestellungen, wie sie im Material selbst gelegen 
sind, und die Produktivkraft, die sie in Bewegung bringt, ist eine 
Triebrealitat, namlich der Drang zu unverstellter und ungehemmter 
Expression des Psychischen und gerade des UnbewuBten, wie sie in 
Schonbergs mittlerer Phase, der der „Erwartung", der ,,Glucklichen 
Hand" und der Kleinen Klavierstiicke, sein Werk in unmittelbare Be- 
ziehung zur Psychoanalyse setzt. Das objektive Problem aber, das diesem 
Drang gegeniiber Hegt, ist dies: wie vermag das technisch durchgebil- 
detste Material — das also, das Schonberg von Wagner und andererseits 
von Brahms empfing — der radikalen Expression des Psychischen 
sich zu unterwerfen ? Das vermag es nur, indem es sich von Grund 
auf verandert: namlich alle die vorgegebenen Bindungen aufgibt, die 
— Spiegelungen eines ,,Einverstandnisses" der biirgerlichen Gesell- 
schaft mit der Psyche des Individuums, welches nun von dessen 
Leiden aufgektindigt wird — der Freiziigigkeit des individuellen 
Ausdrucks im Wege stehen. Es sind das die uberkornmenen musi- 
kalischen Symmetrieverhaltnisse in jedem Betracht, die auf einer 
wie immer gearteten Technik der Wiederholung basieren, und ihre 
Kritik ereignet sich, abermals in Ubereinstimmung mit Karl Kraus, 
aber auch etwa den architektonischen Absichten von Adolf Loos, 
als Kxitik jeglichen Ornaments. Bei der Verschranktheit aller 
musikalischen Elemente bleibt diese Kxitik nicht etwa bei der musi- 
kalischen Architektur, deren Symmetric und Ornamentik sie 
negiert, stehen; sie geht ebenso auf das harmonisehe Korrelat der 



Zur gesellschaftlichen Lage der Musik 111 

tektonischen S3'mmetrieverhaltnisse, die Tonalitat, die zugleich 
von der Dissonanz als dem Trager des radikalen Ausdrucksprinzips 
getroffen wird; mit dem Zerfall des tonalen Schemas emanzipiert 
sich der bislang akkordisch eingeengte Kontrapunkt und erzeugt 
jene Form von Polyphonie, die unter dem Namen der ,,Linearitat" 
bekannt ist; schlieBlich wird auch der totale, homogene Klang, wie 
er von der Substanz des orchestralen Streichertuttis getragen war, 
angegriffen. Es ist nun die eigentlich zentrale und in der iib- 
lichen Betrachtungsweise niemals recht gewiirdigte Leistung Schon- 
bergs, daB er schon von den fruhsten Werken, etwa den Liedern op. 6 
an die expressive Kritik des vorgegebenen Materials und seiner 
Formen niemals ,,expressionistisch", durch selbstherrlich.es und riick- 
sichtsloses Einlegen subjektiver Intentionen ins heterogene Material 
vollzog, sondern daB jede Geste, mit der er ins materiale Gefuge 
eingreift, zugleich die prazise Antwort ist auf Fragen, welche das 
Material in Gestalt der materialeigenen Probleme an ihn richtet. 
Jede subjektiv-expressive Errungenschaft Schonbergs ist zugleich 
eine Auflosung objektiv-materialer Widerspriiche, wie sie sowohl in 
der chromatischen Sequenztechnik Wagners wie der diatonischen 
Variationstechnik Brahmsens fortbestanden. Wenn der esoterische 
Schonberg nicht einer spezialisierten und gesellschaftlich irrelevanten 
Musikgeschichte als Geistesgeschichte vorbehalten ist, sondern in 
seiner materialen Dialektik auf die gesellschaftliche projiziert werden 
darf, so rechtfertigt sich das damit, daB er in Gestalt der materialen 
Probleme, die er iibernahm und weitertrieb, die Probleme der Gesell- 
schaft vorfand, die das Material produzierte und in ihm ihre Wider- 
spriiche als technische Probleme aufstellte. DaB Schonbergs Losungen 
der technischen Probleme trotz ihrer Isoliertheit gesellschaftlich 
belangvoll sind, erweist sich daran, daB er, trotz und vermoge seiner 
eigenen expressiven Urspriinge, in ihnen alien an Stelle der 
privaten Zufalhgkeit, die man recht wohl als eine Art anarchischer 
Musikproduktion bezeichnen kOnnte, eine objektive GesetzmaBigkeit 
riickte, die dem Material nicht von auBen aufgezwungen, sondern 
aus ihm selber herausgeholt ist und es in geschichtlichem ProzeB 
rationaler Durchsichtigkeit annahert. Das ist der Sinn des Um- 
schlages, der technologist als „Zwolftonkomposition" figuriert. Im 
gleichen Augenblick, da das gesamte musikalische Material der 
Macht der Expression unterworfen ist, erlischt die Expression — 
als ob sie nur am Widerstand des subjekt-fremden, selber ,,entfrem- 
deten" Materials sich entziindete. Die subjektive Kritik der orna- 



112 Theodor Wiesengrund-Adorno 

mentalen und Wiederholungsmomente zeitigt eine objektive, nicht- 
expressive Struktur, die an Stelle von Symmetric und Wiederholung 
den AusschluB der Wiederholung in der Zelle, namlich die Verwendung 
aller zwolf Tone des Chromas vor der Wiederholung eines Tones 
daraus setzt und zugleich den ,,freien", zufalligen, konstruktiv un- 
gebundenen Einsatz irgendeines Tones verwehrt. Entsprechend 
tritt fur die expressiv gebundene leittonige Harmonik eine komplemen- 
tare ein. Der auBersten Strenge des immanenten Geftiges ist zuge- 
ordnet radikale Freiheit von alien dinglichen, von auBen der Musik 
gesetzten Normen, so daB sie wenigstens in sich selber die Entfremdung 
als eine von subjektiver Formung und objektivem Material aufgehoben 
hat und dem zustrebt, wofiir Alois Haba den sch5nen Ausdruck 
„Musikstil der Freiheit" fand. Freilich tiberwindet sie die Ent- 
fremdung nach innen nur durch deren Vollendung nach auBen. 
Und es ware romantische Verklarung der Meisterschaft, auch der 
Schonbergs, der groBten der gegenwartigen Musik, Verkennung der 
heute unaufloslichen Aporien der Musik, wollte man annehmen, 
deren immanente Be waltigung sei tatsachlich bruchlos mOglich . 
Denn mit der Textwahi zu seiner letzten Oper „Von heute auf morgen", 
einer Verherrlichung der burgerlichen Ehe gegeniiber der Ldbertinage, 
die ,,Liebe <e und „Mode" bedenkenlos kontrastiert, unterstellt immer- 
hin Schonberg selber seine eigene Musik einer burgerlichen Privat- 
sphare, die sie ihrer objektiven Beschaffenheit nach angreift. Ge- 
wisse klassizistische Neigungen in der groBen Formarchitektur, wie 
sie sich beim letzten Schonberg verfolgen lassen, mogen in die gleiche 
Richtung weisen. Vor allem aber : es ist die Frage, ob das Ideal des 
geschlossenen, in sich ruhenden Kunstwerkes, das Schonberg von 
der Klassik ubernahm und treu festhalt, mit den Mitteln, die er 
auskristallisierte, noch vereinbar ist und ob es, als Totalitat und 
Kosmos, sich uberhaupt noch halten laBt. Mag immer in der tiefsten 
Schicht SchOnbergs Werk diesem Ideal entgegen sein — das Moment 
der Scheinlosigkeit zeugt dafiir, das schon in seinem Kampf gegen 
die Ornamentik sich aussprach und mehr noch in der Nuchternheit 
seiner heutigen musikalischen Diktion, auch der der Texte — ; mag 
selbst seinem Werk als dessen Geheimnis Kunstfeindschaft inne- 
wohnen: dem expliziten Anspruch nach will es mit historisch durch- 
rationalisierten Mitteln das Beethovensche, autonome, sich selbst 
genugende und symbolkraftige Kunstwerk noch einmal herbei- 
S&Wingen, und die Moglichkeit solcher Rekonstruktion ist, wie die der 
Krausschen Rekonstruktion einer reinen Sprache, zu bezweifeln. 



Zur gesellschaft lichen Lage der Musik 113 

Hier, freilich nur hier und nicht in der Unpopularitat seines Werkes 
st6Bt die gesellschaftliche Einsicht auf seine Grenze; auf die Grenze 
nicht sowohl seiner Begabung als vielmehr die der Funktion von 
Begabung iiberhaupt. Sie laBt sich musikalisch nicht mehr iiber- 
schreiten. An ihr hat Alban Berg, Schonbergs Schiiler, sich ange- 
siedelt. Kompositionstechnisch stellt sein Werk gewissermaBen die 
riickwartige Verbindungslinie zwischen dem vorgeschobenen Schon- 
bergschen ceuvre und der vorangegangenen Generation: Wagner, 
Mahler, in mancher Hinsicht auch Debussy dar. Diese Linie ist aber 
vom Schonbergschen Niveau aus gezogen: dessen technische Er- 
rungenschaf ten : extreme Variation und Durchkonstruktion, auch 
das Zwolftonverfahren sind auf das altere, chromatisch-leittonige 
Material angewandt, ohne es, wie es im Werke Schonbergs geschieht, 
,,aufzuheben": die expressive Funktion wird erhalten. Bleibt nun 
Berg damit mehr als Schonberg der burgerlich-individualistischen 
Musik — in den herkommlichen Kategorien der Stilkritik: der neu- 
deutschen Schule — verhaftet, so entringt er sich ihr in anderer 
Richtung ebenso vollkommen wie Schonberg. Seine Dialektik tragt 
sich zu im Bereich des musikalischen Ausdrucks, der nicht, wie die 
Anwalte einer leer-kollektivistischen Neusachlichkeit ohne UnterlaB 
proklamieren, ohne weiteres als „individualistisch" verworfen werden 
kann. Die Frage nach dem Ausdruck laBt sich statt dessen nur konkret, 
nur nach dem Substrat des Ausdrucks, dem Ausgedriickten, und 
nach der Bundigkeit des Ausdrucks selber beantworten. Wird diese 
Frage im Bereich der burgerlich-individualistischen Ausdrucksmusik 
ernstlich gestellt, so zeigt sich, daB diese Ausdrucksmusik nicht nur als 
Musik, sondern ebenso auch als Ausdruck fragwurdig ist: daB, ahnlich 
wie in einem groBen Teil der ,,psychologischen" Romanliteratur des 
19. Jahrhunderts, gar nicht die psychische Realitat des Bezugs- 
subjekts, sondern eine fiktive, stilisierte und in vielem Betracht 
gefalschte ausgedriickt ward. Auf diesen Sachverhalt deutet in der 
Musik die Verschrankung des psychologischen Ausdrucks- mit 
dem Stilbegriff der Bomantik hin. Gelingt es nun der Musik, das 
fiktive psychologische Substrat, also vorweg das heroisch-erotische 
Menschenbild Wagners zu durchstoBen und ins reale Substrat einzu- 
dringen, so andert sich die Funktion der Musik dem burgerlichen 
Individuum gegeniiber. Sie will es dann nicht mehr verklaren und 
als Norm statuieren, sondern seine Not und sein Leiden aufdecken, 
die von der Konvention, der musikalischen nicht anders als der 
psychologischen, verborgen werden; indem sie die Not — oder die 



114 Theodor Wiesengrund-Adorno 

Gemeinheit — des Individuums ausspricht, ohne es in seiner Iso- 
lierung zu belassen, sondern indem sie es zugleich objektiviert, kehrt 
sie sich schlieBlich gegen die Ordnung der Dinge, in der sie zwar als 
Musik entspringt wie das ausgedriickte Individuum als Individuum, 
die aber in ihr zum BewuBtsein ihrer selbst und ihrer Verzweiflung 
gelangt. Sobald solche Musik, ihrerseits inhaltlich der Psychoanalyse 
verwandt genug und nicht umsonst in den Regionen von Traum und 
Wahnsinn beheimatet, die konventionelle Ausdruckspsychologie tilgt, 
kehrt sie sich zugleich auch gegen die konventionelle Formensprache 
der Musik, die jener Psychologie entspricht, zerfallt deren Ober- 
flachenzusammenhange und baut aus den Partikeln des musikalischen 
Ausdrucks musikalisch-immanent eine neue Sprache, die trotz des 
ganzlich verschiedenen Weges mit der konstruktiven SchOnbergs kon- 
vergiert. Diese Dialektik tragt im Werke Bergs sich zu, und sie 
allein laBt seine Komposition von Biichners Trauerspiel ,, Wozzeck" 
in ihrer Tragweite verstehen. Wenn eine Parallele zur bildenden 
Kunst erlaubt ist : Berg verhalt sich zur Ausdrucksmusik des spateren 
19. und beginnenden 20. Jahrhunderts wie die Portrats Kokoschkas 
zu denen der Impressionisten. Die wahrhafte Darstellung der individu- 
ellen Psyche, der burgerlichen und der vom Biirgertum produzierten 
proletarischen, schlagt mit dem Wozzeck in die gesellschaftskritische 
Intention urn, ohne freilich den Rahmen der asthetischen Immanenz 
zu sprengen. Dabei ist es das tiefe Paradoxon Bergs, in dem die 
gesellschaftliche Antinomik werk-immanent sich abzeichnet, daB 
diese kritische Wendung gerade im Bezug auf ein vergangenes und 
von seiner Kritik nun transparent gemachtes Material moglich wird. 
So stellt es in einem der bedeutendsten Teile des Wozzeck, der groBen 
Wirtshausszene sich dar, und hier uberschneidet sich sein Verfahren 
mit dem surrealistischen. Dieser Bezug ist es zugleich, der bislang 
Bergs Werk, zumindest das dramatische, vor der vollkommenen 
Isolierung behiitet hat und ihm beim burgerlichen Publikum eine 
gewisse Resonanz schuf , die, mag sie immer im MiBverstandnis des 
Wozzeck als des letzten ,,Musikdramas (t Wagnerischer Provenienz 
griinden, durch die Kanale des MiBverstehens ins herrschende Be- 
wuBtsein einiges von dem einsickern lieB, was als dunkler und ge- 
fahrlicher Strom im Wozzeck aus den Hohlen des UnbewuBten ent- 
springt. — Es ist in diesem Zusammenhang schlieBlich in Kiirze des 
dritten Reprasentanten der SchOnbergschule zu gedenken, dessen 
gesellschaftliche Interpretation, so fraglos die auBerordentliche 
musikalische Qualitat steht, einstweilen noch die grofite Schwierigkeit 



Zur gesellschaftlichen Lage der Musik 115 

bereitet und hier nicht einmal versucht werden darf : Anton Web erns. 
Einsamkeit und Entfremdung der Gesellschaft gegeniiber, bei Schon- 
berg durch die Formstruktur des Werkes bedingt, werden ihm the- 
matisch und zum Inhalt: die Aussage des Unaussagbaren, also der 
vollkommenen Entfremdung ist mit jedem Laut seiner Musik gemeint. 
Wollte man den fur die Schonberg- Schule konstitutiven Grundbegriff 
der immanenten Dialektik auf Webern anwenden: man mtiBte, mit 
einem Untertitel Kierkegaards, der Webern nahe genug liegt, von 
,,dialektischer Lyrik" reden. Denn hier wird die auBerste individuelle 
Differenzierung, eine Auflosung des vorgegebenen Materials, die 
musikalisch noch iiber Schonberg und expressiv noch uber Berg 
hinausgeht, zu keinem anderen Zweck geiibt als dem : eine Art Natur- 
sprache der Musik, den reinen Laut freizumachen, wie er dem Ruck- 
griff auf ein Naturmaterial, also die Tonalitat und die ,,naturlichen" 
Obertonverhaltnisse, unweigerlich sich versagte. Das Bild der Natur 
in geschichtlicher Dialektik zu produzieren : das ist die Absicht seiner 
Musik und das Ratsel, das sie aufgibt ; das, als Ratsel, zu jeder positiven 
Natur-Romantik als Antwort ganzlich kontrar steht. Es wird erst 
spater sich dechiffrieren. 

Zur Meisterschaft Sch6nbergs und seiner Schule setzt die genaue 
Antithesis die Virtuositat Strawinskijs und seines Gefolges; zur 
Scheinlosigkeit das Spiel; zur gebundenen Dialektik, deren Substrat 
umschlagend sich verwandelt, der verfiihrerisch-beliebige Wechsel der 
Masken, deren Trager dafiir identisch, aber nichtig bleibt. Die Musik 
des Objektivismus ist gesellschaftlich um soviel durchsichtiger denn 
die der Schonberg-Schule, als sie sich technologisch weniger dicht in 
sich verschlieBt. Darum hat die gesellschaftliche Interpretation des Ob- 
jekti vismusgerade von dessen technischer Verf ahrungs weise auszugehen . 
Technisch wird in jeglicher objektivistischen Musik der Versuch ge- 
macht, die Entfremdung der Musik von innen her, also ohne Ausblick 
auf die gesellschaftliche Realitat zu korrigieren: nicht aber durch 
Weiterverf olgung ihrer immanenten Dialektik, die als individualistisch- 
iiberdifferenziert — Strawinskij hat, absurd genug, Schonberg einmal 
mit Oscar Wilde verglichen — , intellektualistisch-abstrakt und natur- 
entfremdet gescholten wird. Sondern die musikimmanente Korrektur 
der Entfremdung wird erhofft von einem Riickgriff auf altere, durch- 
wegs vorburgerliche Musikformen, in denen man einen urtumlichen 
Naturstand der Musik, man konnte sagen: eine musikalische Anthro- 
pologie behaupten mochte, der, zugehdrig dem Wesen Mensch und 
seiner leibhaften Konstitution — daher die Neigung alles Objektivis- 



116 Theodor Wiesengrund-Adorno 

mus zu Tanzformen und im Tanz entspringender Rhythmik —, dem 
geschichtlichen Wechsel enthoben und jederzeit zuganglich sein soil. 
Vom stilhistorisch pragnanten Begriff der Romantik, mit einer 
extremen Formel: dem ,,Legendenton" Schumanns unterscheidet der 
Objektivismus sich dadurch, dafi er nicht sowohl einen vergangenen 
musikalischen Zustand als positiv dem negativen gegenwartigen 
gegentiberstellt und sehnsiichtig ihn wiederherzustellen trachtet, als 
vielmehr im Vergangenen das Bild eines' schlechterdings Giiltigen 
konstruiert, das heut und hier wie jederzeit zu realisieren sei. Darum 
hat der Objektivismus in seinen theoretischen AuBerungen gerade die 
Romantik aufs heftigste befehdet. Das besagt aber praktisch-musi- 
kalisch nichts anderes, als daB der Ruckgriff des Objektivismus auf 
seine historischen Modelle, sei es nun echte und falsche bauerliche 
Volksmusik, mittelalterliche Polyphonie oder der ,,vorklassische" 
Konzertatstil, nicht einfach auf Wiedereinsetzung jener Modelle 
abzielt: nur in Ausnahmefallen hat der Objektivismus, als Stilkopie, 
um solche Wiedereinsetzung sich bemuht. In der Breite seiner Pro- 
duktion aber strebt der Objektivismus, als „neue Sachlichkeit" seine 
Arriviertheit und ZeitgemaBheit geflissentlich betonend, die alten 
und vermeintlich ewigen Modelle gerade auf das aktuelle Material 
anzuwenden : das gleiche harmonisch-f reiziigige , zur Polyphonie 
pradisponierte, vom Ausdruckszwang emanzipierte Material, wie es 
aus der Dialektik der Schonbergschule hervorgeht und undialektisch 
vom Objektivismus ubernommen wird. Die vor-arbeitsteilige, statisch- 
naturhafte Formung eines hochst differenzierten, in sich alle Merkmale 
der Arbeitsteilung aufweisenden Materials: das ist das Ideal des 
musikalischen Objektivismus. 

Damit drangen unabweislich aktuelle gesellschaftliche Analo- 
gien sich auf. Die standisch-korporative Gliederung eines hoch- 
industriellen Wirtschaf tszusammenhanges : sie scheint in der ob- 
jektivistischen Musik konform abgebildet, und wie im Faszismus 
uber den „Organismus" der Gesellschaft eine „Fuhrerelite", in Wahr- 
heit namlich die MonopolkapitaUsten gebieten, so gebietet uber den 
vorgeblich musikalischen Organismus in Freiheit der souverane 
Komponist ; wann eine Dissonanz einzuf iihren, wann ein Vorhalt auf- 
zulOsen sei, daruber entscheidet weder ein vorgesetztes Schema, das 
ja durchs aktuelle Material auBer Kraft gesetzt ist, noch die Immanenz 
des Gefiiges, deren rationale ZwangsmaBigkeit gerade im Namen der 
Natur verneint wird, sondern einzig das Belieben, namlich der „Ge- 
schmack'* des Komponisten. So verlockend nun aber die Analogie ist 



Zur gesellschaftlichen Lage der Musik 117 

und so viel sie vom wahren Sachverhalt erschlieBt: Erkenntnis darf 
sich ihr nicht ohne Widerstand tiberlassen. Zwar ist bei dem russischen 
Emigranten Strawinskij selber oder gar einem kunstpolitisch ambi- 
tionierten Neoklassizisten wie Casella der Zusammenhang mit dem 
Faszismus aufier Frage. Jedoch die gesellschaftliche Interpretation 
von Musik hat es nicht mit dem individuellen BewuBtsein der Autoren 
sondern mit der Funktion ihres oeuvres zu tun. Und da ergeben sich 
Schwierigkeiten. Zunachst miiBten fur die Beziehung Objektivismus- 
Faszismus, soil sie real verstanden werden, die Vermittlungskategorien 
gefunden und die Vermittlung expliziert werden. Der Vermittlungs- 
mechanismus ist aber noch unbekannt. Er konnte sich am ehesten 
erschliefien einer Analyse des Sachverhalts der Mode, die — wie es im 
Fall Strawinskij s etwa seine allgemein gelaufigen Abhangigkeiten 
dartun — wesentliche Formelemente des Neoklassizismus nicht in 
immanent-technischen Fragestellungen sich auspragen lieB, sondern 
sie zunachst von auBen hereinwarf, bis sie dann in die technische 
Immanenz des Kunstwerkes libergefiihrt wurden. Die Mode selbst 
aber weist einsichtig auf geseUschaftlich-Gkonomische Tatsachen 
zurux$kr~i[ndessen es ist damit nicht sowohl eine LOsung des Ver- 
mittluhgsptoblems fur die Musik angegeben als vielmehr nur der 
Ort des Problems genauer bezeichnet. Weiter jedoch ergeben sich 
fur die gesellschaftliche Interpretation des Objektivismus auf den 
Faszismus inhaltliche Schwierigkeiten. Und zwar durch den gleichen 
Sachverhalt der Entfremdung, dessen immanent-asthetische Be- 
seitigung oder Verdeckung der Objektivismus sich zur Aufgabe gestellt 
hat. Gesetzt namlich, er ware in der Tat der Intention und objektiven 
Struktur nach die Musik der fortgeschrittensten monopolkapi- 
talistischen Schicht : sie vermochte ihn trotzdem nicht zu konsumieren 
und nicht zu verstehen. Indem der Objektivismus die Entfremdung 
nur im Bilde zu beseitigen trachtet, laBt er sie in der Realitat un- 
verandert bestehen. Die technische Spezialisierung der Musik ist 
so weit gediehen, daB das Publikum eine Musik selbst dann nicht 
mehr adaquat zu begreifen vermag, wenn sie objektiv seine eigene 
Ideologic ist. Dazu kommt, daB ideologische Machte anderer Art 
wie der Begriff der „Bildung" als einer Akkumulation von geistigem 
Gut aus der Vergangenheit auf das Publikum auch musikalisch weit 
starker wirken als die unmittelbare Ausformung seiner Gesellschafts- 
ideale in der Musik; allzufremd ist es bereits der Musik geworden, 
um solcher Ausformung noch zentralen Wert beizumessen. Mag immer 
die Musik Strawinskij s groBburgerliche Ideologien unvergleichlich 



118 Theodor Wiesengrund-Adorno 

viel genauer widerspiegeln als etwa die von Richard StrauB als des 
groBbiirgerlichen Komponisten der letzten Generation: das GroB- 
biirgertum wird trotzdem Strawinskij als „Destrukteur" bearg- 
wohnen und an seiner Statt lieber Richard StrauB und noch lieber 
Beethovens Siebente Synphonie hOren. So kompliziert Entfremdung 
die gesellschaftliche Gleichung. Sie kommt aber auch immanent- 
iisthetisch zutage — und hier mag der wahre Ursprung des MiBtrauens 
der GroBburger gegen „ihre" Musik zu suchen sein. Dem Belieben 
namlich, mit dem der Komponist uber sein Material zu schalten 
vermag, ohne daB es objektiv verbindlich vorgeformt ware, ohne dafi 
aber auch die innere Gefligtheit des musikaiischen Gebildes selber 
liber musikalisches Recht und Unrecht eindeutig richtete — diesem 
schlechten Beheben entspricht die Unstimmigkeit des Gebildes bei 
sich selber, in dem der Widerspruch zwischen der beschworenen 
Formintention und dem tatsachlichen Materialstand unaufgelost 
bleibt. 

Am gerechtesten wird ihrn noch ein Kompositionsverfahren, 
das, wie etwa der bedeutende ungarische Komponist und Volks- 
liedforscher Bela Bart ok, auf die Fiktion von Formobjektivitat 
verzichtet und statt dessen auf ein vor-objektives,wahrhaft archaisches 
Material zuruckgreift, das aber gerade in seiner partikularen Aufge- 
lostheit dem aktuellen uberaus nahesteht, so daB ein radikaler Folk- 
lorismus in der rationalen Durchkonstruktion von partikularem 
Material der Schcmbergschule sich erstaunlich angleicht. Bar- 
tok aber ist im Raume des Ob j ektivismus durchaus singular ; 
schon bei seinem friiheren Mitarbeiter Kodaly ist die echte Folklore 
zu einem romantischen Wunschbild ungeteilt-volkischen Lebens 
verfalscht, das durch den Kontrast urtiimelnder Melodik und sinnlich- 
weicher, spatimpressionistischer Harmonik sich selber denunziert. 
Vor solcher Demaskierung ist Strawinskij s Maskenspiel durch den 
genauesten und vorsichtigsten Kunstverstand geschiitzt. Es ist 
seine groBe und gefahrliche, auch fur inn selbst gefahrliche Leistung, 
daB seine Musik das Wissen urn ihre zwangsmaBige Antinomik nutzt, 
indem sie sich als Spiel gibt ; niemals aber blank als Spiel, niemals als 
of f enes Kunstgewerbe : sondern sich in einer steten Schwebe zwischen 
Spiel und Ernst wie zwischen den Stilen halt, die es fast unmoglich 
macht, sie beim Namen zu rufen und in der die Ironie jede Durch- 
schaubarkeit der objektivistischen Ideologie verhindert, der Hinter- 
grund einer Verzweiflung aber, der jeder Ausdruck erlaubt ist, weil 
ihr keiner eindeutig zukommt, das Maskenspiel von der Tiefe 



Zur gesellschaftlichen Lage der Musik 119 

seines dusteren Hintergrundes abhebt. Dies Schwanken, darin jeden 
Augenblick das Spiel Ernst werden, ins satanische Gelachter um- 
schlagen kann und mit der Moglichkeit nichtentfremdeter Musik die 
Gesellschaft verhOhnt: dies ist es, was die Aufnahme Strawinskijs 
als des Modekomponisten, dessen Pretention gleichzeitig seine Musik 
erhebt, unmoglich macht. Gerade die artistische Sicherheit, mit der 
er die Unmoglichkeit einer positiv-asthetischen Losung der gesell- 
schaftlich bedingten Antinomien anerkennt, damit aber die gesell- 
schaftliche Antinomik selber, macht ihn dem GroBburgertum suspekt 
und provozierte bei seinen besten und exponiertesten Stiicken, wie 
der Histoire du soldat, Widerspruch. Strawinskijs Uberlegenheit im 
Metier gegentiber alien anderen objektivistischen Autoren gefahrdet 
die ungebrochene ideologische Positivitat seines Stiles, wie sie die 
Gesellschaft von ihm verlangte : so wird auch bei ihm die artistische 
Folgerichtigkeit gesellschaftlich-dialektisch. Den Verdacht der 
herrschendenMachte gegen groBstadtische ,,Atelier"-Kunst, decadence 
und Zersetzung scheint er erst mit der gewalttatigen Theologie der 
Psalmensymphonie abgewehrt zu haben. 

Es ist die wesentliche gesellschaftliche Funktion Hindemiths, 
den Objektivismus Strawinskijs durch die Naivitat zu entgiften, mit 
der er ihn ubernimmt. Sein Objektivismus gibt sich ungebrochen- 
ernst; die artifizielle Sicherheit wird zur handwerkerlichen Biederkeit, 
wobei die Idee des Handwerkers als eines ,,Musikanten" wieder dem 
Ideal eines nicht-arbeitsteiligen Produktionsstandes entspricht, der 
in der Musik die Differenz von Produktion und Reproduktion nicht 
kenne; die satanische Ironie zum ,,gesunden Humor", dessen Ge- 
sundheit auf den unreflektierten Naturstand 4 des Objektivismus 
deutet, den das Grinsen der Strawinskijschen Masken verstorte, 
wahrend der Humor, gegenuber der aggressiven, sei's avantgar- 
distischen, sei's snobistischen Ironie, seine prinzipielle Versohnlichkeit 
mit den gesellschaftlichen Verhaltnissen einbekennt. Die Stra- 
winskijsche Verzweiflung aber, eine sehr geschichtliche Verzweiflung, 
die in der „ Histoire du soldat (< bis zur Grenze der Schizophrenie ge- 
trieben ist, als Ausdruck einer Subjektivitat, welche nur noch von 
Fetzen und Gespenstern der vergangenen objektiven Musiksprache 
erreicht wird — diese Verzweiflung moderiert sich bei Hindemith 
zu einer bloB naturhaften, ungelOsten, aber auch undialektischen 
Schwermut, die auf den Tod als einen ewigen Sachverhalt blickt gleich 
manchen Intentionen der zeitgenossischen Philosophic, als „existen- 
tiell" den konkreten gesellschaftlichen Widerspriichen ausweicht und 



120 Theodor .Wiesengrund-Adorno 

damit dem anthropoogisch-auBergeschichtlichen Ideal des Objektivis- 
mus wiUig sich einordnet. Strawinskij hat die gesellschaftlichen 
Widerspniche in die kunstlerische Antinomik aufgenommen und 
gestaltet; Hindemith verdeckt sie, und dafur gerat ihm die blinde 
Gestalt widerspruchsvoll. Der scharfere technische Blick, der die 
Oberflache liickenlos ineinandergeschlossener Bewegungen und un- 
trtiglich instrunientensicherer Klangfaktur zu durchdringen vermag, 
wird allerorten der Bnichigkeit des Hindemithschen Verf ahrens inne : 
der Differehzen zwischen zufalligem Motivmaterial und behaupteter 
Formgesetzlichkeit ; zwischen der prinzipiellen Unwiederholbarkeit 
der Elemente und den Wiederholungsfofmen, die sie auBerlich zu- 
sammenf assen ; zwischen der Terrassenarchitektur im groBen und 
der Wahllosigkeit, mit welcher die Terrassen im einzeliien angelegt sind 
und angelegt sein miissen, eben weil die ,,objektive" Architektur nicht, 
als eine vorgegebene, die einzelnen Produktionsmomente apriorisch 
umfangt, sondern ihnen von der kompositorischen Willkur auf- 
geklebt wird, f alsche Fassade im Zeichen der neuen Sachlichkeit. 
Zuf allig bleibt hier, wie bei Strawinskij und gewiB der Schar der 
Grefolgsleute, der Gehalt des Objektivismus ; zufaliig, das will sagen, 
auswechselbar nach dem wechselnden ideologischen Bedurfnis und 
nicht eindeutig vorgezeichnet von einer gesellschaftlichen Verfassung, 
die an keiner Stelle der ordo ist, fur den die Musik zeugen mOchte,. 
sondern eine Klassenordnung, die die Musik im Zeichen ihrer Mensch- 
lichkeit verdecken soil. Bald wird bloBe Formobjektivitat ohne alien 
Gehalt, in ihrer Leere, als Gehalt ausgegeben, Objektivitat um der 
Objektivitat willen wie haufig bei Strawinskij, und dabei die dunkle 
Leere als irrationale Naturmacht gepriesen; bald wird sie, wie bei 
Hindemith, als Beleg einer Gemeinschaft angefuhrt, wie sie zwar als 
kleinburgerlicher Protest gegen die kapitalistischen Mechanisierungs- 
formen sich ausbilden und als Jugendbewegung auch auf die Pro- 
duktion einwirken mag, dem kapitalistischen ProduktionsprozeB aber 
lediglich ausweicht. Bald soil die Musik tonendes Spiel sein, das die 
Menschen entspannt oder ihre Gemeinschaft stiftet, bald soil sie als 
kultischer oder existentieller Ernst ihnen begegnen, wie in jenem 
Augenblick, als die Kritik von dem damals noch aggressiveren Hinde- 
mith „Vertiefung" verlangte, welchem Verlangen er mit der Kompo* 
sition des Rilkeschen Marienlebens entsprach. Die Gehalte des musi- 
kalischen Objektivismus sind so divergent wie die Interessen der herr- 
schenden Machte der Gesellschaft, und vollends eine Differenz wie 
die von GroB- und Kleinburgertum — die Begriffe so vag gebraucht, 



Zur gesellschaftlichen Lage der Musik 121 

wie es der Stand der gesesllchaftlichen Erkenntnis einstweilen noch 
vorschreibt — spiegelt in den objektivistischen Produktionen sich 
deutlich wieder; die Frage nach der ,,Vermittlurig" ware auch hier 
zu stellen. Gemeinsam ist den objektivistischen Musiken nur eines: 
die Intention der Ablenkung vom gesellschaftlichen Zustand. 
Den einzelnen will sie glauben machen, er sei nicht einsam, sondern 
mit den anderen in einer Verbundenheit, die die Musik ihm vorfuhrt, 
ohne ihre gesellschaftliche Funktion zu bestimmen; die Gesamtheit 
will sie, durch ihre bloBe Transformation ins tOnende Medium, als 
eine sinnvolle, das individuelle Schicksal positiv erfullende vor- 
stellen. Grund und Sinn aber des Verbundenseins sind auswechselbar. 
Soweit die Intention der Ablenkung real gemeint und nicht bloB 
Spiegelung von Wiinschen im isoliert-asthetischen Bereich ist, darf 
sie als miBlungen gelten. Das Kleinburgertum, um welches mit 
Singgemeinden und Spielgruppen, „Musikantengilden" und Arbeits- 
kollektiven der Objektivismus intensiv warb, hat fur den Absatz vOllig 
versagt. Die Not der kapitalistischen Krise hat die vom Objektivismus 
oder seinen Popularisatoren gemeinten Schichten auf andere, hand- 
lichereldeologien verwiesen als die inhaltlich recht unbestimmten und 
kompliziert geschalteten des Objektivismus. Sie werden kaum Neigung 
spuren, den ,,esoterischen" SchGnberg vom „musikantischen" Hinde- 
mith zu unterscheiden, beide mitsamt der Jazzmusik als kultur- 
bolschewistisch ablehnen und sich ihrerseits an die auferstandenen 
Militarmarsche halten. 

Es ist damit bereits das Wesentliche vorweggenommen zur gesell- 
schaftlichen Problematik derjenigen Typen, die die Tatsache der 
Entfremdung nicht mehr im asthetischen Bilde meistern, sondern 
real liberwinden wollen durch Einrechnung des tatsachlichen gesell- 
schaftlichen BewuBtseinsstandes ins kompositorische Verfahren: 
durch Verwandlung des musikalischen terminus a quo in einen 
gesellschaftlichen terminus ad quern. Zu solchem Verfahren tendiert 
auf seinen niedrigeren Stufen merkbar bereits der Objektivismus; 
sprunglos verwandelt sich ihm die Forderung nach asthetisch- 
immanent gemeinschaftsmaBiger Musik in die nach asthetisch ge- 
hobener Gebrauchsmusik. Wenn solchem Verfahren und dem 
schlechten Ideal des Gehobenen gegeniiber Kurt Weill als Re- 
prasentant des musikalischen Surrealismus sich weit iiberlegen 
zeigt, so ruhrt das daher, daB er, in besserer Kenntnis des gesell- 
sehaftlichen Zustandes, nicht sowohl die positive Veranderung der 
Gesellschaft durch Musik als moglich annimmt als vielmehr ihre 



1 22 Theodor Wiesengrund-Adorno 

Enthiillung. Er prasentiert nicht den Menschen eine primitivierte 
Kunstmusik zum Gebrauch, er halt ihnen ihre eigene Gebrauchs- 
musik im Zerrspiegel seines kiinstlerischen Verfahrens vor und zeigt 
sie als Ware. Nicht umsonst steht der Stil der Dreigroschenoper und 
von „Mahagonny" der „Histoire du soldat" naher als Hindemith: 
ein Stil der Montage, welche die ,,organisehe" Oberflachengestalt 
des Neoklassizismus aufhebt und Trtimmer und Bruchstiicke an- 
einander riickt oder die Falschheit und Scheinhaftigkeit, die heute 
an der Harmonik des 19. Jahrhunderts zutage kommt, real aus- 
komponiert durch Zusatz falscher Tone. Der Chok, mit welchem 
Weills Kompositionsverfahren die gewohnten kompositorischen Mattel, 
iiberbelichtet, als Gespenster prasentiert, wird zum Schrecken liber 
die Gesellschaft, aus der sie entspringen und zugleich zur Negation 
der MOglichkeit einer positiven Gemeinschaftsmusik, die im Gelachter 
der teuflischen Vulgar- als der wahren Gebrauchsmusik zusammen- 
bricht. Mit den Mitteln vergangenen Scheines bekennt das gegen- 
wartige kompositorische Verfahren sich selbst als scheinhaft, und 
im grellen Schein wird die Chif fernschrift eines gesellschaf tlichen 
Zustandes lesbar, der nicht nur jede Beschwichtigung im asthetischen 
Bilde verwehrt und samt seinen Widerspriichen darin wiederkehrt, 
sondern den Menschen so nah auf den Leib riickte, dafi er nicht einmal 
Frage und Versuch des autonomen Kunstwerkes mehr zulafit. Be- 
wundernswert, welche qualitative Fiille von Ergebnissen Weill mit 
Brecht aus dieser Konstellation entwickelte, welche Neuerungen 
des Operntheaters im Blitzlicht von Momenten angelegt sind, 
die zugleich dialektisch sich gegen die Moglichkeit des Operntheaters 
iiberhaupt kehren. Fraglos ist Weills Musik heute die einzige von 
echter gesellschaftlich-polemischer Schlagkraft, solange sie auf der 
Spitze ihre Negativitat sich halt ; sie hat sich auch als solche erkannt 
und eingeordnet. Ihre Problematik riihrt daher, daB sich auf dieser 
Spitze nicht verbleiben laBt; daB der Musiker Weill den Bindungen 
einer Arbeitsweise auszuweichen trachten muB, die von der Musik aus 
notwendig „literarisch" erscheint wie die Bilder der Surrealisten. 
Das PublikumsmiBverstandnis, das die Songs der Dreigroschenoper, 
die doch sich selbst und dem Publikum f eind sind, friedlich als Schlager 
konsumierte, mag als Mittel dialektischer Kommunikation legitimiert 
sein. Der weitere Gang der Dinge aber laBt Zweideutigkeit als Gefahr 
erkennen: der vordem enthullte Schein spielt in falsche Positivitat, 
die Destruktion in Gemeinschaftskunst im Rahmen des Bestehenden 
hiniiber, und hinter der hohnischen Primitivitat wird, herbeigelockt 



Zur gesellschaftlichen Lag© der Musik 123 

von ihrer Schmerzlichkeit, der naturglaubige Primitivismus eines 
Riickgriffs nun nicht mehr auf alte Polyphonie, wbhl aber auf Han- 
delsche Homophonie sichtbar. Doch steht gerade der Experimentator 
Weill jeglichem Glauben ans unbewuBt Organische so grundlich fern, 
daB sich damit rechnen laBt, er werde der Gefahr des Ungefahrlichen 
nicht erliegen. 

Ihr ist die Gemeinschafts- und Gebrauchsmusik im weitesten 
Umfang verfallen. Indem ihre Aktivitat an der falschen Stelle, bei 
der Musik anstatt bei der Gesellschaft, ansetzt, versaumt sie beide. 
Denn das menschliche Miteinander, von dem sie ausgeht, ist in der 
kapitalistischen Gesellschaft fiktiv und wo es etwa real sein mag, ohn- 
machtig gegenuber dem kapitalistischen ProduktionsprozeB ; die 
Fiktion von ,,Gemeinschaft" in der Musik verbirgt ihn, ohne ihn zu 
verandern. Zugleich ist die Gemeinschaftsmusik innermusikalisch 
reaktionar: in gleicher Richtung wie der Objektivismus, nur weit 
grOber lehnt sie die dialektische Weiterbewegung des musikalischen 
Materials als ,,intellektuell u oder ,,individualistisch" ab und zielt auf 
einen schlechten, statischen Naturbegriff in der Restitution der 
Unmittelbarkeit : den ,,Musikanten". Anstatt die — gewiB berechtigte 
— Kritik am Individualismus dialektisch zu iiben und ihn mit der 
Korrektur seiner immanenten Widerspruche zu korrigieren, aber als 
notwendige Stufe der Befreiung der Musik fur die Menschen anzu- 
erkennen, wird hier allenthalben auf erne primitive, vorindivi- 
dualistische Stufe rekurriert, ohne daB auch nur noch die neoklassi- 
zistische Frage nach der Umformung des Materials mehr gestellt ware. 
Der grundende Irrtum liegt in der Auffassung der Funktion von 
Musik dem PubUkum gegenuber. Dessen BewuBtsein wird verab- 
solutiert: in der kleinbiirgerUchen Gemeinschaftsmusik als ,,Natur", 
in der klassenbewuBt-proletarischen, wie etwa Eisler sie vertritt, als 
proletarisches KlassenbewuBtsein, das bereits heute und hier positiv 
genommen wird. Dabei ist verkannt, daB eben die Forderungen, 
nach denen hier die Produktion sich richten soil, Singbarkeit, Ein- 
fachheit, kollektive Wirksamkeit als solche, notwendig gekniipft sind 
an einen BewuBtseinsstand, der durch die Klassenherrschaft derart 
gedruckt und gefesselt ist — keiner hat das extremer formuliert als 
Marx — , daB er, soil sich die Produktion einseitig an ihm orientieren, 
zur Fessel der musikalischen Produktivkraft wird. Die immanent- 
asthetischen Resultate der burgerlichen Geschichte, auch der der 
letzten fiinfzig Jahre, kOnnen mcht einfach von der proletarischen 
Kunsttheorie und -praxis beiseite geschoben werden, will sie nicht 



124 Theodor Wiesengrand-Adorno, Zur gesellschaftlichen Lage der Musik 

einen von der Klassenherrschaft produzierten Zustand in der Kunst 
verewigen, dessen Abschaffung in der Gesellschaft das unverriickbare 
Ziel des proletarischen Klassenkampfes ist. Dabei wird die Fugsamkeit 
der Gemeinschaftsmusik gegenuber dem gegenwartigen BewuBtsein 
von diesem selber Liigen gestraft, weil es den Tonfilmschlager vom 
kleinen Gardeoffizier immer noch lieber gebraucht als eine popular 
gedachte Gemeinschaftsmusik zur Verherrlichung des Proletariats. 
Der agitatorische Wert und damit das politische Recht proletarischer 
Gemeinschaftsmusik wie etwa der Eislerschen ChOre steht auBer 
Frage, und nur utopisch-idealistisches Denken konnte an ihrer Statt 
eine innerlich der Funktion des Proletariats angemessene, ihm selber 
aber unverstandliche Musik furs Proletariat fordern. Sobald aber diese 
Musik aus der Front der unmittelbaren Aktion heraustritt, reflektiert 
und sich als Kunstform setzt, ist unverkennbar, daB die produzierten 
Gebilde gegenuber der f ortgeschrittenen burgerlichen Produktion nicht 
standhalten und sich als fragwiirdige Mischung aus Abfallen inner - 
biirgerlich iiberholter Stilf ormen, selbst der kleinburgerlichen Manner- 
chorliteratur, und aus Abfallen der f ortgeschrittenen „neuen" Musik 
darstellen, die durch die Mischung urn die Scharfe des Angriffs wie 
um die Bundigkeit jeder technischen Formulierung gebracht werden. 
Denkbar ware an Stelle solcher Zwischenlosungen, daB man etwa in 
Umlauf befindlichen Melodien der burgerlichen Vulgarmusik neue 
Texte unterlegte, um sie auf diese Art dialektisch ^umzufunktio- 
nieren". Immerhin verdient es Aufmerksamkeit, daB in der Figur des 
bislang konsequentesten proletarischen Komponisten,Eisler, die SchOn- 
bergschule, aus der er hervorging, mit Bestrebungen sich beruhrt, die 
scheinbar ihr kontrar entgegengesetzt sind. Damit diese Beruhrung 
fruchtbar wiirde, miiBte der Gebrauch seine Dialektik finden: es 
miiBte die Musik sich nicht passiv-einseitig nach dem Stand des 
VerbraucherbewuBtseins, auch des proletarischen, richten, sondern 
mit ihrer Gestalt selber aktiv ins BewuBtsein eingreifen. 

Ein zweiter Teil folgt. 



Geschichte und Psychologic 

Von 
Max Horkheimer (Frankfurt a. M.). 

Vortrag, gehaUen in der Kant-Gesellschaft Frankfurt a. H. 

Das Verhaltnis von Geschichte und Psychologie ist im Laufe der 
letzten Jahrzehnte viel erortert worden. Sie erwarten von mir aber 
weder einen Bericht tiber die in der Literatur gefiihrten, zuin Teil 
beruhmten Diskussionen noch eine systematische Entwicklung der 
verschiedenen Aspekte, die das Problem heute darbietet, sondern die 
Kennzeichnung der Rolle, die der Psychologie im Rahmen einer dem 
Stand der Sozialwissenschaften angemessenen Geschichtstheorie zu- 
kommt. Zu diesem Zweck muB der Geschichtsbegriff erklart werden, 
von dem hier Gebrauch gemacht wird. In der Philosophic erschwert 
namlich die Geltung mehrerer Bedeutungen von Geschichte, die 
heterogenen geistigen Absichten zugeordnet sind, auch die Ver- 
standigung liber jede Einzelfrage. 

Vor allem werden zwei logisch verschiedene Geschichtsbegriffe 
einander entgegengesetzt. Der erste stammt aus den sich auf Kant 
berufenden Systemen, die in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahr- 
hunderts als Reaktion gegen materialistische Tendenzen in Wissen- 
schaft und Gesellschaft entstanden sind. Die Gemeinsamkeit ihrer 
Lehre lag darin, den Sinn von Natur, Kunst, Geschichte nicht aus 
unmittelbarer Vertiefung in diese Gebiete selbst, sondern aus einer 
Analyse der ihnen entsprechenden Erkenntnis zu gewinnen. Aus der 
Grundansicht dieser Philosophie, daB die Welt einen subjektiven 
Ursprung habe, ergab es sich, die Eigentumlichkeiten der Seins- 
bereiche auf verschiedene Funktionsweisen des erkennenden Subjekts 
zuruckzufuhren. Das, was ihrem Wesen nach die Natur ist, sollte 
aus der systematischen Ableitung der konstitutiven Methoden der 
Naturwissenschaft einleuchtend gemacht werden, und ebenso wollte 
man aus einer Darlegung der historischen Methoden erklaren, was 
Geschichte sei. Der Geschichtsbegriff dieser Philosophie ist daher 
jeweils am Faktum der Geschichtswissenschaft orientiert; prinzipiell 
kann sie sich zur Geschichtsschreibung auch in einer Zeit, in der diese 
mit ihren Methoden und Auffassungsweisen hinter dem allgemeinen 



126 Max Horkheimer 

Stand der Erkenntnis zuriickbleibt, nicht eigentlich kritisch, sondern 
nur apologetisch verhalten. 

Die Philosophie, die dem anderen Geschichtsbegriff zugrunde liegt, 
bewahrt keine solche Bescheidenheit gegeniiber den vorhandenen 
Wissenschaften. Sieist ein Teil des gegenwartigen Bestrebens, dieEnt- 
scheidung uber die sogenannten weltanschaulichen Fragen von wissen- 
schaftlichen Kriterien unabhangig zu machen und cLie Philosophie 
iiberhaupt jenseits der empirischen Forschung aufzubauen. Im 
Gegensatz zur erwahnten erkenntnistheoretischen Ansicht sollen jetzt 
die verschiedenen Seinsgebiete keineswegs mehr aus den Wissen- 
schaften, sondern aus ihrer einheitlichen Wurzel, dem ursprunglichen 
Sein, zu dem unsere Zeit einen neuen Zugang zu finden beansprucht, 
verstandlich gemacht werden. Besonders aus der phanomenologischen 
Schule, deren Wesenslehre urspriinglich vollig unhistorisch war, ist 
ein neuer Begriff von Geschichtlichkeit hervorgegangen. Hatte noch 
Scheler, der besonders in den letzten Lebensjahren die undialektische 
Wesenslehre der Phanomenologie mit dem Faktum der umwalzenden 
Geschichte in Einklang zu bringen versuchte, darunter wesentlich 
die soziale und politische Geschichte verstanden, so bedeutet bei 
Heidegger die Geschichtlichkeit eine Geschehensweise im Seinsgrund, 
den die Philosophie im Menschen zu entdecken hat. Erst aus dieser 
ursprunglichen Geschehensweise soil die Geschichte als Thema der 
Historie Sinn gewinnen. Bei fundamentalen ErOrterungen scheint es 
daher heute angemessen zu sein, von dieser Bedeutung auszugehen. 

Fur das hier zu behandelnde Thema ist es aber nicht weniger 
problematisch, den Begriff der inneren Geschichtlichkeit zugrunde 
zu legen als den Geschichtsbegriff der traditionellen Wissenschaft. 
Weil die Existenzphilosophie nach phanomenologischer Tradition 
sich von den Ergebnissen der Forschung auf den verschiedenen Ge- 
bieten unabhangig zu machen sucht; weil sie entschlossen ist, ganz 
von vorne anzufangen, und den Sinn von Sein ohne Hinblick auf den 
Stand der gegenwartigen Forschung neu zu bestimmen trachtet, er- 
scheint ihr Entwurf fur unsere Problematik noch zu eng. Nach der 
Auffassung, daB die Geschichte erst aus der inneren Geschichtlichkeit 
des Daseins begriffen werden soil, muBte die Verflochtenheit des 
Daseins in den realen GeschichtsprozeB bloB als auBerliche und schein- 
hafte gelten. Es macht aber die Beschaftigung mit der auBeren Ge- 
schichte ebensowohl das jeweilige Dasein verstandlich, wie die Ana- 
lyse der jeweiligen Existenzen das Verstandnis der Geschichte bedingt. 
Das Dasein ist in die auBere Geschichte unlOslich verflochten, und 



Geschichte und Psychologie 127 

seine Analyse wird daher keinen Grund entdecken konnen, der als 
solcher zwar in sich bewegt, jedoch unabhangig von jeder auBeren 
Bestimmung ware. Die wirkliche Geschichte mit ihren vielfaltigen, 
die Individuen iibergreifenden Strukturen ist dann nicht, wie es der 
Existenzphilosophie entsprache, bloB ein Abgeleitetes, Sekundares, 
Objektiviertes. Damit verwandelt sich die Lehre vom Sein im Men- 
schen ebensowohl wie jede Art philosophischer Anthropologic aus 
einer trotz allem statischen Ontologie in die Psychologie der in einer 
bestimmten Geschichtsepoche lebenden Menschen. 

Die Schwierigkeiten, denen die Anwendung der erwahnten Ge- 
schichtsbegriffe begegnet, werden in diesem Zusammenhang noch 
durch ihr negatives Verhaltnis zur Psychologie vermehrt. Auf die 
Tendenz der gegenwartigen Phanomenologie, die Aufgaben der 
Psychologie einer von wissenschaftlichen Kriterien unabhangigen 
Ontologie zu ubertragen, habe ich soeben hingewiesen. Die Stellung 
des Kantianismus zu unserer Frage hat sich seit Fichtes Behauptung, 
daB die Psychologie „nichts ist" 1 ), wenig geandert. Der Geschichts- 
theoretiker des Neukantianismus, Rickert, halt die Hoffnungen, ,,die 
man auf eine Forderung der Geschichtswissenschaft durch die Psycho- 
logie oder gar durch den Psychologismus setzt", fur Zeugnisse eines 
Denkens, „dem das logische Wesen der Geschichte vollig fremd ge- 
bliebenist" 2 ). Ich mochte daher statt von der Geschichtsauffassung 
der gegenwartigen Philosophic von einer Ihnen alien bekannten Ge- 
schichtsphilosophie, namhch der Hegelschen, ausgehen. Nach einer 
Andeutung ihres Verhaltnisses zur Psychologie soil dann die Rolle der 
Psychologie in der Okonomischen Geschichtsauffassung mit einiger 
Ausfiihrlichkeit bestimmt werden. Ich hoffe, daB die Er6rterung des 
Problems auf der Grundlage dieser Theorie auch denjenigen unter 
Ihnen eine gewisse Anregung zubieten vermag, denen die historischen 
Fragen unter dem Aspekt einer subjektivistischen Philosophie er- 
scheinen. 

Die philosophische Betrachtung hat es mit der Erkenntnis der 
einheitlichen dynamischen Struktur in der verwirrenden Vielfaltigkeit 
des Geschehens zu tun. Diese Aufgabe ist im Sinne Hegels unmoglich 
ohne die aus der dialektischen Logik hervorgehende genaue Kenntnis 
der Idee und ihrer Momente zu lOsen, denn philosophische Geschichts- 
betrachtung ist nichts anderes als die Anwendung der "Uberzeugung 



x ) J. G. Fichte, Werke, hrsg. v. F. Medicus, Leipzig, 3.Bd. S. 589. 
2 ) H. Rickert, Die Grenzen der naturwissenschaft lichen Begriffsbildung, 
Tubingen 1913, 2. Aufl., S. 487. 



128 Max llorkheimer 

von der Macht der Idee, sich in der Wirklichkeit durchzusetzen und 
zu entfalten, auf die Menschenwelt. Dabei empfangt der Geschichts- 
philosoph nicht bloB das Rohmaterial, sondern schon weitgehend 
geformte Bestandteile seiner geschichtlichen Konstruktion von der 
empirischen Historic Wie nach Hegel der Naturforscher dem 
Naturphilosophen nicht eine bloBe Aufzahlung der Tatsachen liefert, 
sondern ihm durch die theoretische Formulierung seines Wissens weit- 
gehend entgegenkommt und vorarbeitet, so bietet die Historie der 
Geschichtsphilosophie auBer der Kenntnis der wirklichen Ereignisse 
auch so wesentliche kategoriale Bestimmungen wie die ursachlichen 
Zusammenhange, die Perioden, die Einteilung der geschichtlich 
handelnden Menschen in Rassen, Stamme, Nationen dar. Aber den 
lebendigen Sinn gewinnen die Perioden erst, indem wir sie als Epochen 
der sich entfaltenden Idee begreifen; erst indem sich die weltge- 
schichtliche Nation als Tragerin eines jeweils neuen, eigenen und der 
Idee mehr adaquaten Prinzips erweist, wird sie aus einem Ordnungs- 
begriff zu einer sinnvollen Realitat, wird ihr Geist, der Volksgeist, 
aus einer Zusammenfassung von Eigentiimlichkeiten zur metaphy- 
sischen Macht und der Kampf der Nationen aus beklagenswerten 
Handeln mit zufalligem Ausgang zu dem in den Gegensatzen sich 
verwirklichenden Weltgericht. 

Hegel nimmt dieses Zusammenspiel von empirischer Historie und 
Geschichtsphilosophie ganz ernst. Er will nicht etwa die em'pirische 
Geschichte von einem ihr auBerlichen Gesichtspunkt aus nachtraglich 
deuten oder sie an einem ihr fremden MaBstab messen, sein Vernunft- 
begriff ist vielmehr so wenig abstrakt, daB z. B. der Sinn des Moments 
der Freiheit, so wie es xn der Logik auftritt, erst durch die biirger- 
liche Freiheit im Staat, die der Historiker feststellt, vollstandig zu 
bestimmen ist. Erst wenn man weiB, daB es sich in der Logik um die- 
selbe Freiheit handelt, die in den orientalischen T^annendynastien 
bloB bei einem einzigen und bei den Griechen bloB bei einigen ver- 
wirklicht war und die daher zur Sklaverei in Widerspruch steht, ver- 
mag man die Freiheit zu begreifen. Das Hegelsche System ist wirklich 
ein Kreis; die abstraktesten Gedanken der Logik sind nach ihm nur 
vollendet, insofern die Zeit vollendet ist, d. h. insofern alles 
wesentliche, was die Zukunft enthalten mag, bereits in der Wesens- 
bestimmung der Gegenwart vorweggenommen ist. Das Ende des 
Glaubens an die Gegenwart und der Wille zu ihrer radikalen Ver- 
anderung muBte daher notwendig das Hegelsche System, dem 
die Geschlossenheit wenigstens in seiner spateren Gestalt wesentlich 



Geschichte und Psychologie 129 

zu eigen war, als System aufheben, und zwar in einem neuen, mit 
seinen eigenen Prinzipien nicht zu vereinbarenden Sinn. 

Damit ist auch die Bedeutung der Psychologie fur die Erkenntnis 
der Geschichte verandert worden. Bei Hegel sind ja die Triebe und 
Leidenschaften der Menschen wie bei irgendeinem franzosischen Auf- 
klarer der unmittelbare Motor der Geschichte. Die Menschen werden 
durch ihre Interessen zum Handeln bestimmt, und ebensowenig wie 
die Masse haben die.groBen Manner „das BewuBtsein der Idee iiber- 
haupt" 1 ). Es kommt ihnen vielmehr auf ihre eigenen politischen und 
sonstigen Zwecke an, sie werden durch ihre Triebe bestimmt. Aber 
der psychischen Struktur solcher Menschen nachzugehen, ist nach 
Hegel im Gegensatz zur Aufklarung unwichtig, ja subaltern, denn 
die eigentliche Macht, die sich in der Geschichte durchsetzt, ist grund- 
satzlich weder aus der Einzelpsyche noch aus der Massenpsyche zu 
verstehen. Hegel lehrt, daB die Heroen „aus einer Quelle" schopfen, 
„deren Inhalt verborgen und nicht zu einem gegenwartigen Dasein 
gediehen ist, aus dem inneren Geiste, der noch unterirdisch ist, der 
an die AuBenwelt wie an die Schale pocht und sie sprengt, weil er ein 
anderer Kern als der Kern dieser Schale ist" 2 ). Er meint damit nicht 
etwa das UnbewuBte der modernen Psychologie, sondern die Idee 
selbst, d. h. jenes nicht durch Psychologie, sondern durch Philosophic 
zu begreifende immanente Telos der Geschichte, durch das es ge- 
schieht, daB die Resultate jeweils nicht bloBe Resultanten sind, sondern 
Zeugnis ablegen von der Macht der Vernunft und daB Geschichts- 
erkenntnis nicht bloBe Feststellung und moglichst umfassende Er- 
klarung von Geschehnissen, sondern Gotteserkenntnis ist. 

Nach dem Zusammenbruch des Hegelschen Systems tritt die 
liberalistische Weltansicht wieder teilweise die Herrschaft an. Sie ver- 
warf zugleich mit dem Glauben an die Macht einer in der Geschichte 
wirkenden Idee die Ansicht von den ubergreifenden dynamischen 
Strukturen in der Geschichte und stellte die ihre Interessen ver- 
folgenden Individuen als letzte selbstandige Einheiten im ge- 
schichtlichen Gange auf. Die sinngemaBe Geschichtsauffassung des 
Liberalismus ist ihrem Wesen nach psychologisch. Die Individuen 
mit den in ihrer Natur fest begriindeten ewigen Trieben sind nicht 
mehr bloB die unmittelbaren Akteure der Geschichte, sondern auch 
die letzten Instanzen fur die Theorie des Geschehens in der gesell- 



x ) Vorlesungen iiber die Philosophie der Geschichte ( Jubilaumsausgabe, 
Stuttgart 1928, Bd. 11. S. 60). I 
2 ) A. a. O. 



130 Max Horkheimer 

schaftlichen Wirklichkeit. Das Problem, wie trotz dieser chaotischen 
Grundlage die Gesellschaft als Ganzes leben kann oder vielmehr wie 
ihr Leben durch diese Grundlage in steigendem Mafi beeintrachtigt 
wird, hat freilich der Liberalismus nicht zu losen vermocht. Der 
Zukunftsglaube des 18. Jahrhunderts, daB die Triebe der Individuen 
nach Abschaffung der feudalistischen Schranken zur Einheit der 
Kultur zusammenstimmen mussen, hat sich im Liberalismus des 
19. Jahrhunderts in das Dogma der Inter essenharmonie verwandelt. 

Andererseits haben Marx und Engels die Dialektik in einem mate- 
rialistischen Sinn ubernommen. Sie hielten dabei an der Uberzeu- 
gung Hegels von der Existenz uberindividueller dynamischer Struk- 
turen und Tendenzen in der geschichtlichen Entwicklung fest, ver- 
warfen aber den Glauben an eine in der Geschichte wirkende selb- 
standige geistige Macht. Es liegt nach ihnen der Geschichte nichts 
zugrunde, und es kommt in der Geschichte nichts zum Ausdruck, 
was als durchgehender Sinn, als einheitliche Macht, als be- 
wegende Vernunft, als immanentes Telos gedeutet werden durfte. Das 
Vertrauen auf die Existenz eines solchen Kerns ist nach ihrer Ansicht 
vielmehr ein ZubehOr der verkehrten idealistischen Philosophic Das 
Denken, daher auch die Begriffe und Ideen sind Funktionsweisen 
der Menschen und keine selbstandige Macht. In der Geschichte gibt 
es keinen durchgehenden, zu sich selbst kommenden Gedanken, denn 
es gibt keinen von den Menschen unabhangigen Geist. Die Menschen 
mit ihrem BewuBtsein sind bei all ihrem Wissen, ihrer Erinnerung, 
ihrer Tradition und ihrer Spontaneitat, ihrer Kultur und ihrem Geist 
verganglich ; es existiert nichts, was nicht entsteht und vergeht. 

Aber Marx gelangt dabei keineswegs zu einer psychologistischen 
Geschichtstheorie. Die geschichtlich handelnden Menschen werden 
nach ihm nirgends bloB aus ihrem Innern, sei es aus ihrer Natur oder 
aus einem in ihnen selbst zu entdeckenden Seinsgrund, verstandlich, 
sie sind vielmehr eingespannt in geschichtliche Bildungen, die ihre 
eigene Dynamik haben. Methodologisch ist Marx hierbei Hegel ge- 
folgt. Dieser hatte eigene Strukturprinzipien jeder groBen geschicht- 
lichen Epoche behauptet : die Grundsatze der Verfassungen der Vttlker 
wechseln nach einer inneren GesetzmaBigkeit, die Nationen stehen 
in den Kampfen der Weltgeschichte gegeneinander und erleiden ihr 
Schicksal, ohne daB der Grund in der Psyche einzelner oder gar einer 
Mehrheit von Individuen zu entdecken ware. Wahrend jedoch die 
Artikulation dieser Dialektik bei Hegel aus der Logik des absoluten 
Geistes, aus der Metaphysik, einsichtig wird, liefert nach Marx keine 



Geschichte und Psychologie 131 

der Geschichte logisch vorgeordnete Einsicht den Schliissel zu ihrem 
Verstandnis. Vielmehr ergibt sich die richtige Theorie aus der Be- 
trachtung der jeweils unter bestimmten Bedingungen lebenden und 
mit Hilfe bestimmter Werkzeuge ihr Leben erhaltenden Menschen. 
Weder ist die in der Geschichte zu entdeckende GesetzmaBigkeit eine 
Konstruktion a priori, noch eine Registrierung von Tatsachen durch 
ein als unabhangig gedachtes Erkenntnissubjekt, sondern sie wird 
von dem selbst in die geschichtliche Praxis einbezogenen Denken als 
Spiegelung der dynamischen Struktur der Geschichte produziert. 

Die Okonomische oder materialistische Geschichtsauffassung, die in 
dieser Einstellung begriindet worden ist, erweist sich so gleichzeitig als 
Gegensatz wie als Fortsetzung der Hegelschen Philosophie . In dieser stellt 
sich die Geschichte wesentlich als Kampf der welthistorischen Reiche 
um die Herrschaft dar. Dabei ist es den Individuen ebenso wie den 
Volkernund Staaten um ihreMacht und nicht um den Geist zu tun. Der 
Ausgang der Kampf e entbehrt aber trotz dieser BewuBtlosigkeit nicht 
des geistigen Sinnes. Die Weltgeschichte wird von Hegel deshalb als 
Weltgericht angesprochen, weil nach ihm stets das Volk die Herrschaft 
antritt, dessen innere Verfassung eine konkretere Gestalt der Freiheit 
darstellt als die des unterliegenden. Das MaB der Entfaltung der 
Staaten „zum Bild und zur Wirklichkeit der Vernunft" 1 ) entscheidet 
tiber ihren Sieg. Aber daB dieser der Logik des absoluten Geistes ent- 
sprechende Stufengang in den kriegerischen Aktionen sich tatsachlich 
durchsetzt, daB mit anderen Worten das Volk, dessen Staat eine 
adaquatere Darstellung der Idee und ihrer Momente bildet, auch die 
bessere Strategic, die uberlegenen Waff en besitzen muB, wird bei 
Hegel nicht mehr erklart, sondern erscheint als welthistorischer Zu- 
fall, als eine der prastabilierten Harmonien, die notwendig zur idea- 
listischen Philosophie gehoren. Soweit die wissenschaftliche Er- 
forschung der vermittelnden Bedingungsreihen an Stelle der bloB 
behaupteten Parallelitat erkannte historische Zusammenhange zu 
setzen vermag, wird der Mythos von der List der Vernunft und damit 
auch das metaphysische Hauptstiick dieser Geschichtsphilosophie 
uberflussig. Wir erfahren dann die wirkhchen Ursachen, warum 
differenziertere Staats- und Gesellschaftsformen an die Stelle von 
unentwickelteren getreten sind, d. h. nach Hegel die Ursachen des 
Fortschritts im BewuBtsein der Freiheit. Die Erkenntnis der realen 
Zusammenhange entthront den Geist als autonom die Geschichte ge- 
staltende Macht und setzt die Dialektik zwischen den verschieden- 
l ) Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 360. 



132 Max Horkheimer 

artigen in der Auseiandersetzung mit der Natur wachsenden mensch- 
lichen Kraften und veralteten Gesellschaftsformen als Motor der 
Geschichte ein. 

Die okonomische Geschichtsauffassung vollzieht diese Wendung 
von der Metaphysik zur wissenschaftlichen Theorie. Nach ihr 
zwingt die Erhaltung und Erneuerung des gesellschaftlichen Lebens 
den Menschen jeweils eine bestimmte soziale Gruppenordnung auL 
Diese, die nicht bloB die politischen und rechtlichen Institutionen, 
sondern die hoheren Ordnungen der Kultur bedingt, wird 
den Menschen vorgezeichnet durch die verschiedenen Funktionen, 
die im Rahmen des Wirtschaftsprozesses, so wie er in einer 
bestimmten Periode den menschlichen Fahigkeiten entspricht, 
ausgefiihrt werden mussen. DaB z. B. im alten Rom die Gesellschaft 
in Freie und Sklaven, im Mittelalter in Grundherren und Leibeigene, 
im Industriesystem in Unternehmer und Arbeiter geteilt ist, ebenso 
die Differenzierung dieser Verhaltnisse im Innern der Staaten, 
ferner auch die Spaltung in Nationen und die Gegensatze zwi- 
schen nationalen Machtgruppen — all dieses ist weder aus 
dem guten oder bosen Wilien, noch aus einem einheitlichen 
geistigen Prinzip zu erklaren, sondern aus den Erfordernissen des 
materiellen Lebensprozesses auf seinen verschiedenen Gestaltungs- 
stufen. Je nachdem auf Grund des Entwicklungsgrades der Menschen 
die Technik ihrer Werkzeuge und ihrer Zusammenarbeit geartet ist, 
d. h. je nach der Weise des Produktionsprozesses bilden sich auch die 
Abhangigkeitsverhaltnisse und der dazugehorige juristische und poli- 
tische Apparat. Wird durch das Wachstum der produktiven mensch- 
lichen Fahigkeiten eine neue Produktionsweise moglich, welche die 
Allgemeinheit besser versorgen kOnnte als die alte, so verhindertdas Be- 
stehender gegebenen sozialenStruktur mit den ihr entsprechenden Insti- 
tutionen und festgewordenen menschlichen Dispositionen zunachst ihre 
Ausbreitung als herrschende* Daraus ergeben sich die gesellschaftlichen 
Spannungen, welche in den geschichtlichen Kampfen zum Ausdruck 
kommen und gleichsam das Grundthema der Weltgeschichte bilden. 

Wenn der Gegensatz zwischen den wachsenden menschlichen 
Kraften und der gesellschaftlichen Struktur, der sich in diesem 
Zusammenhang als Motor der Geschichte erweist, als universales Kon- 
stmktionsschema an die Stelle konkreter Untersuchungen tritt oder 
zu einer mit Notwendigkeit die Zukunf t gestaltenden Macht erhoben 
wird, so kann sich die soeben angedeutete Geschichtsauffassung in eine 
abschlieBende dogmatische Metaphysik verwandeln. Gilt sie jedoch 



Geschichte und Psychologie 133 

als die richtige Theorie des uns bekannten geschichtlichen Verlaufs, 
die freilich der erkenntnistheoretischen Problematik der Theorie 
iiberhaupt untersteht, so bildet sie eine der gegenwartigen Erkenntnis 
entsprechende Formulierung der historischen Erfahrung. Versuchen 
wir ihr Verhaltnis zur Psychologie zu bestimmen, so zeigt sich zu- 
nachst, daB sie, im Gegensatz zur liberalistischen Ansicht, nicht 
psychologisch ist. Diese muBte sinngemaB die Geschichte aus dem 
Zusammenspiel der als isoliert gedachten Individuen und ihren im 
wesentlichen konstanten psychischen Kraften, ihren Interessen, er- 
klaren. Gliedert sich die Geschichte aber nach den verschiedenen 
Weisen, in denen sich der LebensprozeB der menschlichen Gesellschaft 
vollzieht, so sind nicht psychologische, sondern Okonomische Kate- 
gorien historisch grundlegend. Die Psychologie wird aus der Grund- 
wissenschaft zur freilich unentbehrlichen Hilfswissenschaft der Ge- 
schichte. Durch diese Funktionsanderung wird auch ihr Inhalt be- 
troffen. Ihr Gegenstand verliert im Rahmen dieser Theorie die Ein- 
heitlichkeit. Sie hat es nicht mehr mit dem Menschen iiberhaupt zu 
tun, sondern in jeder Epoche sind die gesamten in den Individuen 
entfaltbaren seelischeh Krafte, die Strebungen, welche ihren manuellen 
und geistigen Leistungen zugrunde liegen, ferner die den gesell- 
schaftlichen und individuellen LebensprozeB bereichernden seelischen 
Faktoren zu unterscheiden von den durch die jeweilige gesellschaft- 
liche Gesamtstruktur determinierten und relativ statischen psychischen 
Verfassungen der Individuen, Gruppen, Klassen, Rassen, Nationen, 
kurzum von ihren Charakteren. 

Ist der Gegenstand der Psychologie solchermaBen in die Geschichte 
verflochten, so laBt sich doch andererseits die Rolle der Individuen 
nicht in bloBe Funktionen der okonomischen Verhaltnisse auflOsen. 
Die Theorie verneint weder die Bedeutung weltgeschichtlicher Per- 
sonen noch diejenige der psychischen Verfassung bei den Ange- 
hdrigen der verschiedenen sozialen Gruppen. Die Erkenntnis, daB die 
AblOsung unterlegener Produktionsweisen durch differenziertere, den 
Bedurfnissen der Allgemeinheit besser angepaBte, gleichsamdas Gerippe 
der uns interessierenden Greschichte darstellt, ist der zusammenfassende 
Ausdruck fur die menschliche Aktivitat. Auch die in ihm enthaltene Be- 
hauptung, daB von der Art, wie sich der LebensprozeB einer Gesell- 
schaft, d. h. ihre Auseinandersetzung mit der Natur vollzieht, die Kultur 
abhange, ja, daB jeder Teil dieser Kultur den Index jener grund- 
legenden Verhaltnisse an sich trage und daB sich mit der wirtschaft- 
lichen Tatigkeit der Menschen auch ihr BewuBtsein verandere, leugnet 



134 Max Horkheimer 

keineswegs die menschliche Initiative, sondern versucht Einsicht in 
die Formen* und Bedingungen ihrer geschichtlichen Wirksamkeit zu 
gebeii. Die menschliche Aktivitat muB freilich jeweils an die Lebens- 
notwendigkeiten anknupfen, die von den vorhergegangenen Gene- 
rationen gestaltet worden sind, aber sowohl die auf Erhaltung als auch 
die auf Veranderung der vorhandenen Verhaltnisse gerichteten mensch- 
lichen Energien haben ihre eigentumliche Beschaffenheit, die von 
der Psychologie zu erforschen ist. Vor allem dadurch unterscheiden 
sich ja die Begriffe der dkonomischen Geschichtstheorie grundsatzlich 
von den metaphysischen, daB sie zwar die geschichtliche Dynamik 
in ihrer moglichst bestimmten Form zu spiegeln versuchen, aber keine 
abschlieBende Sicht der Totalitat zu geben beanspruchen, sondern 
im Gegenteil die Instruktionen zu weiteren Untersuchungen enthalten,. 
deren Ergebnis auf sie selbst zuriickwirkt. 

Dies gilt besonders fur die Psychologie. Die in der Theorie be- 
hauptete Bestimmung des geschichtlichen Handelns von Menschen 
und Menschengruppen durch den okonomischen ProzeB kann im 
einzelnen erst verstandlich werden durch die wissenschaftliche Auf- 
hellung der ihnen auf einer bestimmten historischen Stufe jeweils 
eigenen Reaktionsweisen. Soweit noch nicht erkannt ist, wie struktu- 
relle Veranderungen des wirtschaftlichen Lebens durch die psychische 
Verfassung, die bei den Mitgliedern der verschiedenen sozialen Gruppen 
in einem gegebenen Augenblick vorhanden ist, sich in Veranderungen 
ihrer gesamten LebensauBerungen umsetzen, enthalt die Lehre von 
der Abhangigkeit dieser von jenen dogmatische Elemente, die ihren 
hypothetischen Wert fiir die Erklarung der Gegenwart aufs starkste 
beeintrachtigen. Die Aufdeckung der psychischen Vermittlungen 
zwischen der okonomischen und der sonstigen kultarellen Entwick- 
lung wird zwar die Aussage bestehen lassen, daB auf radikale oko- 
nomische Veranderungen radikale kulturelle gefolgt sind, aber sie 
kann unter Umstanden nicht bloB zu einer Kritik der Auffassung von 
den funktionalen Verhaltnissen zwischen beiden Keihen, sondern 
auch zur Bestarkung der Vermutung fuhren, daB sich die Folge- 
ordnung in der Zukunft einmal andern oder umkehren wird. 
Dann muBte sich auch das Rangverhaltnis von Okonomik und 
Psychologie in Beziehung auf die Geschichte verandern, und 
es zeigt sich somit, daB die Auffassung, von der hier die Rede 
ist, ebensosehr die Ordnung der Wissenschaften und damit ihre 
eigenen Thesen in die Geschichte einbezieht wie die menschlichen 
Triebe selbst. 



Geschichte und Psychologie 135 

Der reale Sachverhalt freilich ) der gegenwartig das Verhaltnis 
der beiden Wissenschaften bestimmt, spiegelt sich auch in der 
aktuellen Gestalt der Psychologie. DaB die Menschen okonomische 
Verhaltnisse, iiber die ihre Krafte und Bedurfnisse hinausgewachsen 
sind, aufrecht erhalten, anstatt sie durch eine h6here und rationalere 
Organisationsform zu ersetzen, ist nur moglich, weil das Handeln 
numerisch bedeutender sozialer Schichten nicht durch die Erkenntnis, 
sondern durch eine das BewuBtsein verfalschende Triebmotorik be- 
stimmt ist. Keineswegs bloB ideologische Machenschaften bilden die 
Wurzel dieses historisch besonders wichtigen Moments — eine solche 
Deutung entsprache der rationalistischen Anthropologic der Auf- 
klarung und ihrer historischen Situation — , sondern die psychische 
Gesamtstruktur dieser Gruppen, d. h. der Charakter ihrer Mitglieder 
wird im Zusammenhang mit ihrer Rolle im Okonomischen Prozefi 
fortwahrend erneuert. Die Psychologie wird daher zu diesen tiefer- 
liegenden psychischen Faktoren, mittels deren die Okonomie die 
Menschen bestimmt, vorzustoBen haben, sie wird weitgehend Psycho- 
logie des UnbewuBten sein. In dieser durch die gegebenen gesell- 
schaftlichen Verhaltnisse bedingten Gestalt ist sie keineswegs auf 
das Handeln der ver schiedenen gesellschaf tlichen Sch chten in 
gleicher Weise anzuwenden. Je mehr das geschichtliche Handeln 
von Menschen und Menschengruppen durch Erkenntnis motiviert 
ist, um so weniger braucht der Historiker auf psychologische Er- 
klarungen zuriickzugreifen. Hegels Verachtung der psychologischen 
Deutung der Heroen kommt hier zu ihrem Recht. Je weniger das 
Handeln aber der Einsicht in die Wirklichkeit entspringt, ja dieser 
Einsicht widerspricht, um so mehr ist es notwendig, die irrationalen, 
zwangsmafiig die Menschen bestimmenden Machte psychologisch 
aufzudecken. 

Die Bedeutung der Psychologie als Hilfswissenschaft der Ge- 
schichte ist darin begriindet, daB sowohl jede Form der Gesellschaft, 
die auf der Erde herrschend gewesen ist, einen bestimmten Ent- 
wicklungsgrad der menschlichen Krafte voraussetzt und daher psy- 
chisch mitbedingt ist, als auch vor allem das Funktionieren einer 
schon bestehenden und auch die Aufrechterhaltung bereits ver- 
sagender Organisationsformen unter anderem auf psychischen Fak- 
toren beruht. Bei der Analyse einer bestimmten Geschichtsepoche 
kommt es besonders darauf an, die psychischen Krafte und Dis- 
positionen, den Charakter und die Wandlungsfahigkeit der Ange- 
hOrigen der verschiedenen sozialen Gruppen zu erkennen. Doch wird 



136 Max Horkheimer 

die Psychologie darum keineswegs zur Massenpsychologie, sondern 
gewinnt ihre Einsichten aus der Erforschung von Individuen. ,,Die 
Grundlage der Sozialpsychologie bleibt immer die Individual- 
psyche" 1 ). Es gibt weder eine Massenseele noch ein MassenbewuBt- 
sein. Der Begriff der Masse im vulgaren Sinn scheint aus der Beob- 
achtung von Menschenansammlungen bei aufregenden Ereignissen 
gebildet zu sein. Mogen die Menschen als Teile solcher zufalliger 
Gruppen auf eine charakteristisehe Weise reagieren, so ist das Ver- 
standnis hierfur in der Psyche der sie bildenden einzelnen Glieder zu 
suchen, die bei jedem freilich durch das Schicksal seiner Gruppe in der 
Gesellschaft bestimmt ist. An die Stelle der Massenpsychologie tritt 
eine differenzierte Gruppenpsychologie, d. h. die Erforschung der- 
jenigen Triebmechanismen, die den Angehorigen der wichtigen 
Gruppen des Produktionsprozesses gemeinsam sind. Sie wird vor 
allem zu untersuchen haben, inwiefern die Funktion des Individuums 
imProduktionsprozeB durch sein Schicksal in einer bestimmt gearteten 
Familie, durch die Wirkung der gesellschaftlichen Bildungsmachte 
an dieser Stelle des gesellschaftlichen Raums, aber auch durch die Art 
und Weise seiner eigenen Arbeit in der Wirtschaft fur die Ausge- 
staltung seiner Charakter- und BewuBtseinsformen bestimmend ist. 
Es ware zu erforschen, wie die psychischen Mechanismen zustande- 
kommen, durch die es mSglich ist, daB Spannungen zwischen den 
gesellschaftlichen Klassen, die auf Grand der Okonomischen Lage zu 
Konflikten drangen, latent bleiben kOnnen. Wenn in manchen Dar- 
stellungen der Psychologie bei ahnlichen Gegenstanden viel von Fiihrer 
und Masse gesprochen wird, so ist zu bedenken, daB das bedeutsame 
Verhaltnis in der Geschichte weniger die Gefolgschaft einer un- 
organisierten Masse zu einem einzelnen Fuhrer als das Vertrauen der 
gesellschaftlichen Gruppen in die Stabilitat und Notwendigkeit der 
gegebenen Hierarchie und der herrschenden gesellschaftlichen Machte 
darstellt. Die Psychologie hat beobachtet, daB ,,alle Vervollstan- 
digungen der gesellschaftlichen Organisation, sei es unter demo- 
kratischer oder aristokratischer Form, zur Wirkung haben, einen iiber- 
legten, zusammenhangenden, individuellen Zweck reiner, weniger 
verandert und tiefer, auf sichereren und kurzeren Wegen in das Gehirn 
der GeseUschaftsmitglieder zu bringen <( , und daB der Fuhrer eines 
Aufstands mangels einer so vervollkommneten Organisation niemals, 
der General dagegen fast immer vollstandig iiber seine Leute ver- 

x ) E. Bernheim, Lehrbuch der historischen Methode und der Geschichts- 
phUosophie, 5. u. 6. AufL, Leipzig 1908, S. 677. 



Geschichte und Psychologie 137 

fiigen kann 1 ). Aber dieser ganze Fragenkomplex, der das Verhaltnis 
von Fiihrer und Masse als ein Spezialproblem enthalt, bedarf noch 
der psychologischen Vertiefung 2 ). Der Begriff der ^habitude", dem 
die franzOsische Forschung bei der Behandlung sozialpsychologischer 
Fragen eine wichtige Funktion zuweist, bezeichnet vortrefflich das 
Resultat des Bildungsprozesses : die Starke der zum sozial gef orderten 
Handeln treibenden psychischen Dispositionen. Aber es gilt, tiefer 
zu dringen und dieEntstehung dieses Resultats, seine Reproduktion und 
fortwahrende Anpassung an den sich verandernden gesellschaftlichen 
ProzeB zu begreifen. Dies ist nur auf Grund von Erfahrungen moglich, 
die in der Analyse von Einzelpersonen zu gewinnen sind 3 ). 

Unter den methodologischen Richtlinien einer fur die Historie 
fruchtbaren Psychologie wird u. a. die Anpassungsfahigkeit der Mit- 
glieder einer sozialen Gruppe an ihre okonomische Lage besonders 
wichtig sein. Die jeweiligen psychischen Mechanismen, die diese An- 
passung fortlaufend ermOglichen, sind freilich selbst im Laufe der 
Geschichte entstanden, aber wir haben sie etwa bei der Erklarung 
bestimmter historischer Ereignisse der Gegenwart als gegeben vor- 
auszusetzen, sie bilden dann einen Teil der Psychologie der gegen- 
wartigen Epoche. Hierher gehOrt z. B. die Fahigkeit der Menschen, 
die Welt so zusehen, daB die Befriedigung der Interessen, die sich 
aus der okonomischen Situation der eigenen Gruppe ergeben, mit dem 
Wesen der Dinge in Einklang steht, daB sie in einer objektiven 
Moral begrundet ist. Das muB sich keineswegs so rational 
abspielen, daB verdreht und gelogen wiirde. Kraft ihres psy- 
chischen Apparates pflegen die Menschen vielmehr die Welt schon 
so zur Kenntnis zu nehmen, daB ihr Handeln ihrem Wissen ent- 
sprechen kann. Kant hat bei der Erorterung des ^Schematismus", 
dessenLeistungwesentlichin der aUgemeinen Preformation unsererEin- 
driicke vorihrer Aufnahme ins empirische BewuBtsein besteht, von einer 
verborgenen Kunst in den Tiefen der menschlichen Seele gesprochen, 
,,deren wahre Handgriffe wir der Natur schwerlich jemals abraten 
und sie unverdeckt vor Augen legen werden" 4 ). Jene besonderePrafor- 
mation dagegen, die den Einklang des Weltbildes mit dem Okonomisch 

2 ) G. Tarde, L'Opinion et la foule, Paris 1922, S. 172. 

2 ) Einen wichtigen Schritt iiber die herrschenden Theorien der Massen- 
psychologie hinaus (Le Bon, Mc Dougall) hat Freud in seinem Buch iiber 
„Massenpsychologie und Ich -Analyse" getan. 

3 ) Die Begriindung einer Sozialpsychologie auf psychoanalytischer 
Grundlage wird in den Arbeiten von E. Fromm versucht. Vgl. seinen Beitrag 
zu diesem Heft. 

*) Kritik der reinen Vernunft, 2. Ausg. S. 180/1. 



138 Max Horkheimer 

geforderten Handeln zur Folge hat, wird von der Psychologie zu 
erklaren sein, und es ist sogar nicht unmoglich, daB dabei auch etwas 
iiber den von Kant gemeinten Schematismus ausgemacht wird. Denn 
seine Funktion, die Welt so ins BewuBtsein zu bringen, daB sie nachher 
in den Kategorien der mathematisch-mechanischen Naturwissenschaft 
aufgeht, erscheint — ganz unabhangig von der Entscheidung iiber 
diese selbst — als ein geschichtlich bedingter psychischer Effekt. 

Zu dem Mifitrauen, das mariche Historiker der Psychologie ent- 
gegenbringen, hat mit Recht die Festlegung einiger psychologischer 
Systeme auf einen rationalistischen Utilitarismus beigetragen. Danach 
sollen die Menschen ausschlieBlich auf Grund von Erwagungen iiber 
ihren materieilen Nutzen handeln. Solche psychologischen Vor- 
stellungen haben — freilich im Sinn von Arbeitshypothesen, aber doch 
in ausschlaggebender Weise — die liberalistische Nationalokonomie be- 
stimmt. GewiB spielt dasPrivatinteresse in der Gesellschaft bestimmter 
Epochen eine kaumzuiiberschatzendeRolle. Aber das, was dieser psy- 
chologischen Abstraktion an den wirklich handelnden Menschen ent- 
spricht, der wirtschaftliche Egoismus, ist selbst ebenso wie der gesell- 
schafthche Zustand, zu dessen Erklarung das Prinzip herbeigezogen 
wird, geschichtlich bedingt und radikal veranderlich. Wenn in der 
Auseinandersetzung iiber die Moglichkeit einer nicht individua- 
listischen Wirtschaftsordnung Argumente eine Rolle zu spielen 
pflegen, denen die Lehre von der egoistischen Menschennatur zu- 
grunde liegt, so sind sowohl die Anhanger als die Gegner der okono- 
mischen Theorie im Unrecht, sofern sie ihre Argumente auf die all- 
gemeine Gultigkeit eines so problematischen Prinzips stutzen. Die 
moderne Psychologie hat langst erkannt, daB es verkehrt ware, die 
Selbsterhaltungstriebe im Menschen als die naturlichen zu behaupten 
und dort, wo individuelle und gesellschaftliche Taten offensichtlich 
nicht auf sie zuruckzufuhren sind, sogenannte ,,zentrale" Faktoren 
einzufuhren. Der Mensch und wahrscheinlich auch die Tiere sind 
keineswegs psychisch so individualistisch organisiert, daB alle ihre 
urspriinglichen Triebregungen sich notwendig auf unmittelbare Lust 
an materieilen Befriedigungen bezOgen. Die Menschen vermogen 
z. B. in der Solidaritat mit Gleichgesinnten ein Gliick zu erleben, das 
sie Leiden und Tod in den Kauf nehmen laBt. Kriege und Revolutiohen 
bieten das sichtbarste Beispiel daf iir . Nichtegoistische Tr iebregungenhat 
es zu alien Zeiten gegeben, sie sind auch faktisch von keiner ernsthaften 
Psychologie geleugnet, sondern hochstens durch problematische Erkla- 
rungen auf individualistische Motive zuruckzufuhren versucht worden. 



Geschichte und Psychologie 139 

Gegeniiber jener Gkonomistischen Entstellung der Lehre vom Men- 
schen durch psychologische und philosophische StrOmungen haben 
manche Soziologen versucht, eigeneTrieblehren aufzustellen. Aber diese 
pf legen im Gegensatz zur utilitaristischen Psychologie , die alles axis einem 
Punkte erklart, groBe Tafeln von Instinkten und Trieben, die alle 
gleichermaBen als angeboren angesehen werden, zu enthalten und die 
spezifisch psychologischen Funktionsverhaltnisse zu vernachlassigen 1 ). 

Jedenfalls entspringen die Handlungen der Menschen nicht bloB 
ihrem physischen Selbsterhaltungsstreben, auch nicht bloB dem un- 
mittelbaren Geschlechtstrieb, sondern z. B. auch den Bedurfnissen nach 
Betatiguhg der aggressiven Krafte, ferner nach Anerkennung und Be- 
statigung der eigenen Person, nach Geborgenheit in einer Kollektivitat 
und anderen Triebregungen mehr. Die moderne Psychologie (Freud) 
hat gezeigt, wie sich solche Anspriiche vom Hunger dadurch unter- 
scheiden, daB dieser eine direktere und stetigere Befriedigung 
verlangt, wahrend jene weitgehend aufschiebbar, modellierbar und 
der Phantasiebefriedigung zuganglich sind. Aber zwischen beiden 
Arten von Triebregungen, den unaufschiebbaren und den^plastischen", 
bestehen Zusammenhange, die im geschichtlichen Gange von groBer 
Wichtigkeit sind. Die mangelnde Befriedigung der unmittelbar phy- 
sischen Bedurfnisse kann trotz ihrer grftBeren Dringlichkeit teilweise 
und eine Zeitlang wenigstens durch die Lust auf anderen Gebieten 
ersetzt werden. Die circenses aller Art sind in vielen historischeri 
Situationen weitgehend an die Stelle des panis getreten, und das 
Studium der psychologischen Mechanismen, die dies ermoglichen, ist 
nebst ihrer sachkundigen Anwendung auf den zu erklarenden kon- 
kreten historischen Verlauf eine dringende Aufgabe, welche die 
Psychologie im Rahmen der Geschichtsforschung zu erfullen hat. 

Das okonomistische Prinzip k6nnte bei dieser Leistung nur Schaden 
stiften. Es kOnnte etwa dazu verfuhren, die Teilnahme der unteren 
gesellschaftlichen Schichten an Aktionen der Allgemeinheit, von denen 
sie keine unmittelbare Hebung ihrer wirtschaf tlichen Lage zu erwarten 
haben, z. B. an Kriegen, auf theoretischen Umwegen doch auf mate- 



2 ) Im allgemeinen enthalt die soziologische Literatur — selbst wenn sie, 
wie die Durkheimschule, die Soziologie von der Psychologie radikal getrennt 
wiasen will — tiefere psychologische Erkenntnisse als die traditionelle Schul- 
psychologie. L. v. Wiese z. B. wendet sich gegen eine Belastung seiner 
Wissenschaft mit spezifisch psychologischen Aufgaben, wobei er freilich als 
Oegenstand der Psychologie zu Unrecht bloB BewuBtseinsvorgange angibt. 
Aber seine Arbeiten legen selbst von einem differenzierteren Wissen um 
psychische Vorgange Zeugnis ab, als es bei denen, welche die Soziologie der 
Psychologie unterordnen, vorhanden zu sein pflegt. 



140 Max Horkheimer 

rielle Zielsetzungen zuriickzufuhren. Dabei verkennte man aber die 
groBe psychische Bedeutung, welche die Zugehorigkeit zu einer ge- 
achteten und machtigen kollektiven Einheit fur die Menschen hat, 
wenn sie durch die Erziehung auf personliche Geltung, Aufstieg, ge- 
sicherte Existenz hingewiesen sind und die Verwirklichung dieser 
Wertordnung ihnen als Individuen kraft ihrer gesellschaftlichen 
Lage unmoglich gemacht ist. Eine erfreuliche und die Selbstachtung 
hebende Arbeit laBt physische Entbehrungen leichter ertragen, und 
schon das einfache BewuBtsein des Erfolges kann weitgehend die 
Unlust an schlechter Nahrung wettmachen. Ist diese Kompensation 
der druckenden materiellen Existenz den Menschen verwehrt, so 
wird die Moglichkeit, sich in der Phantasie mit einer iiberindividuellen 
Einheit zu identifizieren, die sich Achtung verschafft und Erfolg hat, 
urn so lebenswichtiger. Wenn wir von der Psychologie lernen, daB die 
Befriedigung der hier zugrunde liegenden Bediirfnisse eine psychische 
Realitat ist, die an Intensitat nicht hinter den materiellen Geniissen 
zuriickzustehen braucht, so wird fiir das Verstandnis einer Reihe 
weltgeschichtlicher Phanomene schon viel gewonnen sein. 

Ich gebe ein weiteres Beispiel fiir die Rolle der Psychologie im 
Rahmen der Geschichtstheorie. Die differenzierten Vorgange und 
Konflikte im BewuBtsein fein organisierter Individuen, die Phanomene 
ihres Gewissens sind insofern ein Produkt der okonomischen Arbeits- 
teilung, als die fiir den Bestand der Gesellschaft notwendigen groben 
Verrichtungen ihnen abgenommen werden. Obwohl ihr Leben, so wie 
sie es fiihren, davon abhangt, daB es Gefangnisse und Schlachthauser 
gibt und eine ganze Reihe von Arbeiten ausgefiihrt werden, deren 
Verrichtung unter den gegebenen Verhaltnissen ohne Brutalitat iiber- 
haupt nicht zu denken ist, konnen sie doch infolge ihrer gesellschaft- 
lichen Entfernung von den groben Formen des Lebensprozesses diese 
Vorgange aus ihrem BewuBtsein verdrangen. Ihr seelischer Apparat 
vermag infolgedessen so fein zu reagieren, daB ein unbedeutender 
moralischer Konflikt in ihrem eigenen Leben die grOBten Erschiitte- 
rungen zur Folge haben kann. Sowohl ihr Verdrangungsmechanismus 
als auch ihre bewuBten Reaktionen und Schwierigkeiten werden von 
der Psychologie zu erfassen sein, die Bedingung ihrer Existenz ist 
dagegen okonomisch. Das Okonomische erscheint als das Umfassende 
und Primare, aber die Erkenntnis der Bedingtheit im einzelnen, die 
Durchforschung der vermittelnden Hergange selbst und daher auch 
das Begreifen des Resultats hangen von der psychologischen Ar- 
beit ab. 



Geschichte und Psychologic 141 

Mit der Ablehnung einer Psychologie, die auf okonomistische Vor- 
urteile festgelegt ist, soil aber nicht davon abgelenkt werden, daB die 
wirtschaftliche Situation der Menschen bis in die feinsten Veraste- 
lungen ihres Seelenlebens hinein wirksam ist. Nicht bloB der Inhalt, 
sondern auch die Starke der Ausschlage des psychischen Apparats 
sind okonomisch bedingt. Es gibt Verhaltnisse, die es mit sich bringen, 
daB die geringste Schikane oder eine unbedeutende erfreuliche Ab- 
wechslung Gemiitsbewegungen von einer fur die AuBenstehenden 
kaum verstandlichen Starke auslosen. Die Reduktion auf einen 
kleinen Lebenskreis bedingt eine entsprechende Verteilung der Liebe 
und Lust, die auf den Charakter zuriickwirkt und ihn qualitativ be- 
einfluBt. Giinstigere Situationen im ProduktionsprozeB, z. B. die 
Leitung groBer Industrien, gewahren dagegen einen solchen Uber- 
blick, daB Gentisse und Betriibnisse, die fur andere Menschen groBe 
Schwankungen ihres Lebens bedeuten, belanglos werden. Welt- 
anschauliche und moralische Vorstellungen, die von denen, fur welche 
die gesellschaftlichen Zusammenhange nicht sichtbar sind, starr fest- 
gehalten werden und die ihr Leben bestimmen, werden von hohen 
dkonomischen Positionen aus in ihren Bedingungen und Schwan- 
kungen uberschaut, so daB sich ihr starrer Charakter aufldst. Selbst 
wenn wir voraussetzen, daB die angeborenen psychischen Unter- 
schiede auBerst groB sind, so wird doch die Struktur der Grundinter- 
essen, die jedem durch sein Schicksal von Kindheit an aufgepragt 
wird, der Horizont, der jedem durch seine Funktion in der Gesellschaft 
vorgezeichnet ist, in den seltensten Fallen eine ungebrochene Ent- 
faltung jener ursprtinglichen Unterschiede zulassen. Die Chance 
dieser Entfaltung selbst ist vielmehr je nach der sozialen Schicht, der 
ein Mensch angehdrt, verschieden. Vor allem konnen sich Intelligenz 
und eine Reihe sonstiger Tiichtigkeiten desto leichter entwickeln, je 
weniger Hemmungen von Anfang an durch die Lebenssituation ge- 
setzt sind. Die Gegenwart ist mehr noch als durch das bewuBte 
okonomische Motiv durch die unerkannte Wirkung der okonomischen 
Verhaltnisse auf die gesamte Gestaltung des Lebens gekennzeichnet. 

Das Verdienst, die Beziehungen zwischen Psychologie und Ge- 
schichte wirksam zum Gegenstand philosophischer Erorterungen ge- 
macht zu haben, gebuhrt Dilthey. Zu diesem Problem ist er im Laufe 
seiner Arbeit immer wieder zurtickgekehrt. Er hat eine den Bediirf- 
nissen der Geisteswissenschaften entgegenkommende, die Mangel der 
Schulpsychologie uberwindende neue Psychologie gefordert. Die Ent- 
wicklung der einzelnen Geisteswissenschaften ist nach ihm an die 



142 Max Horkheimer 

Ausbildung der Psychologie gebunden ; ohne den seelischen Zusammen- 
hang, in dem ihre Gegenstande gegrundet sind, bilden die Geistes- 
wissenschaften „ein Aggregat, ein Biindel, aber kein System 1 ). " 
„Es ist so", schreibt er, „und keine Absperrung der Facher kann es 
hindern: Wie die Systeme der Kultur: Wirtschaft, Recht, Religion,. 
Kunst und Wissenschaft, wie die auBere Organisation der Gesellschaft 
in den Verbanden der Familie, der Gemeinden, der Kirche, des Staates, 
aus dem lebendigen Zusammenhang der Menschenseele hervor- 
gegangen sind, so konnen sie schlieBlich nur aus diesem verstanden 
werden. Psychische Tatsachen bilden ihren wichtigsten Bestandteil, 
ohne psychische Analyse kdnnen sie also nicht eingesehen werden" 2 ). 
Aber wenn die Psychologie bei Dilthey als Hilfswissenschaft fur die 
Geschichte fungiert, so gilt ihm die Geschichte selbst wesentlich als 
ein Mittel zur Erkenntnis des Menschen. Es steht ihm fest, daB in den 
groBen Kulturperioden der Geschichte das einheitliche Menschen- 
wesen sich nach seinen verschiedenen Seiten, die ursprunglich in 
jedem Menschen angelegt sind, entfalte, die reprasentativen PersOn- 
lichkeiten jeder Epoche sind ihm nur die besten Ausdrucksformen 
fur je eine dieser verschiedenen Seiten. ,,Menschenrassen, Nationen, 
gesellschaftliche Klassen, Berufsformen, geschichtliche Stufen, Indi- 
vidualitaten : alle diese sind . . . Abgrenzungen der individuellen 
Unterschiede innerhalb der gleichformigen Menschennatur" 3 ), die 
sich in jeder Epoche auf besondere Weise offenbart. 

So sehr die Diltheysche Forschung einer den Bediirfnissen der Ge- 
schichtsforschung entgegenkommenden Psychologie berechtigt ist, 
so wenig richtig muB es erscheinen, daB den Kultursystemen 
einer Epoche ein einheitlicher seelischer Zusammenhang zugrunde 
liege und daB gar dieser seelische und durchgehend verstandliche 
Zusammenhang eine Seite des totalen Menschenwesens darstelle, das 
sich erst in der Gesamtentwicklung der Geschichte voll zur Entfaltung 
bringe. Diese Einheit der Kultursysteme in einer Epoche und der 
Epochen untereinander muBte wesentlich eine geistige Einheit sein, 
denn sonst konnten ihre AuBerungen nicht als verstandliche, durch 
die Methoden einer verstehenden Psychologie zugangliche AuBerungen 
behauptet werden. Die von Dilthey geforderte Psychologie ist ja eine 
Psychologie des Verstehens, und die Geschichte wird daher in seiner 
Philosophic wesentlich zur Geistesgeschichte. Nach dem hier Dar- 

x ) Gesammelte Sehriften (Leipzig und Berlin) V, S. 147f. 

2 ) A. a. O. 

3 ) A. a. O. S. 235. 



Geschichte und Psyohologie 143 

gelegten ist aber weder eine Epoche noch gar die sogenannte Weltge- 
schichte, auch nichtdie Geschichte der einzelnenKulturgebiete aus einer 
solchen Einheit verstandlich zu machen, wenn auch manche Stellen 
etwa der Philosophiegeschichte, vielleicht die Folge der Vorsokratiker, 
sich in einem einheitlichen Gedankenzug darstellen lassen mogen. Mit 
Seelischem und mit Geistigem sind die geschichtlichen Veranderungen 
jeweils gieichsam durchsetzt, die Individuen in ihren Gruppen und 
innerhalb der vielfach bedingten gesellschaftlichen Antagonismen 
sind psychische Wesen, und daher bedarf es auch der Psychologie in 
der Geschichte ; aber es ware weit gefehlt, Geschichte an irgendeiner 
Stelle aus dem einheitlichen Seelenleben einer allgemeinen Menschen- 
natur begreifen zu wollen. 

Das Verstandnis der Geschichte als Geistesgeschichte pflegt auch 
mit dem Glauben verbunden zu sein, der Mensch sei wesentlich 
identisch mit dem, als was er sich selbst ansieht, fiihlt, beurteilt, 
kurz, mit seinem BewuBtsein von sich selbst. Diese Vermengung der 
Aufgabe des Geisteswissenschaf tiers mit der desOkonomen, Soziologen, 
Psychologen, Physiologen usf . geht auf eine idealistische Tradition zu- 
rtick, bildet aber eine Verengerung des geschichtlichen Horizonts, die 
mit dem Stande der gegenwartigen Erkenntnis schwer zu vereinbaren 
ist. Was fur die Individuen gilt, gilt auch fur die Menschheit im all- 
gemeinen: wenn man wissen will, was sie sind, darf man nicht dem 
glauben, was sie von sich halten. 

Mit diesen Ausfiihrungen habe ich Ihnen nicht mehr als einige 
Gesichtspunkte zur Frage nach dem logischen Ort der Psychologie 
in einer Geschichtstheorie, die der gegenwartigen Situation entspricht, 
geben konnen. Trotz der Orientierung an der okonomischen Auf- 
fassung konnte diese Ansicht keineswegs auch nur einigermaBen voll- 
standig umrissen werden. Die Frage, inwiefern die psychologische 
Arbeit in ihren Einzelheiten uberhaupt fur die Geschichtsforschung 
etwas bedeutet, ist jedoch nicht unwichtig, weil die psychologischen 
Probleme von manchen Soziologen und Geschichtsforschern aus 
prinzipiellen Grtinden vernachlassigt werden, und vor allem, weil als 
Folge davon in vielen geschichtUchen Darstellungen eine primitive 
Psychologie unkontrolliert eine Rolle spielen darf. Auch erhalt 
die Psychologie in der Gegenwart noch eine besondere Bedeu- 
tung, die freilich fluchtig sein mag. Mit der Beschleunigung der 
Okonomischen Entwicklung kdnnen namlich die Anderungen der 
menschlichen Reaktionsweisen, die unmittelbar durch die Wirtschaft 
bedingt sind, d. h. die unmittelbar aus dem wirtschaftlichen Leben 



144 Max Horkheimer, Geschichte und Psychologie 

sich ergebenden Gewohnheiten, Moden, moralischen und asthetischen 
Vorstellungen so rasch wechseln, daB ihnen gar keine Zeit mehr 
bleibt, sich zu verfestigen und richtige Eigenschaften der Menschen 
zu werden. Dann gewinnen die relativ ewigen Momente in der psy- 
chischen Struktur an Gewicht und dementsprechend auch die all- 
gemeine Psychologie an Erkenntniswert. In stabileren Perioden 
scheint die bloBe Unterscheidung gesellschaftlicher Gharaktertypen 
auszureichen, jetzt tendiert die Psychologie dazu, die wichtigste Quelle 
zu werden, aus der liber die Seinsweise des Menschen etwas zu er- 
fahren ist. Schon deshalb wird die Psyche in kritischen Momenten 
mehr als sonst zu einem ausschlaggebenden Moment, well dariiber, 
ob und in welchem Sinn die zur abgelaufenen Geschichtsperiode ge- 
horende moralische Verfassung von den Mitgliedern der verschiedenen 
gesellschaftlichen Klassen bewahrt oder verandert wird, nicht ohne 
weiteres selbst wieder okonomische Faktoren entscheiden. 

Weder die Bedeutung eines Problems noch diejenige einer Theorie 
ist unabhangig vom Stand der Geschichte und von der Rolle, die 
ein Mensch in ihr spielt. Dies gilt auch fur ihre okonomische Auf- 
fassung: es mag Existenzen geben, denen die Geschichte andere Seiten 
zukehrt oder fur die sie iiberhaupt keine Strukturiertheit zu haben 
scheint. Es ist dann schwer, in diesen Fragen Einverstandnis zu 
erzielen und zwar keineswegs bloB wegen der Verschiedenheit der 
materiellen Interessen, sondern auch weil die theoretischen unter 
scheinbarer Parallelitat in verschiedene Richtungen ftihren. Aber 
dies betrifft die Schwierigkeit der Verstandigung, nicht die Einheit 
der Wahrheit. Bei aller Verschiedenheit der Interessen ist auch das 
subjektive Moment in der Erkenntnis der Menschen nicht ihre Will- 
kur, sondern der Anteil ihrer Fahigkeiten, ihrer Erziehung, ihrer Ar- 
beit, kurz, ihrer eigenen Geschichte, die im Zusammenhang mit der 
Geschichte der Gesellschaft zu begreifen ist. 



Besprechungen. 

Der Besprechungsteil dient der Absicht, ivichtige Erkenntmisse aus ver- 
schiedenen Wissensgebieten fur die Erfassung gesellschaftlicher Vorgange 
zu verwerten. Es ist seine Aufgabe, auf die in Betracht Jcommenden 
wichtigen neuen Arbeiten, moglichst aus alien Sprachgebieten, dutch kurze 
Berichte ilber Inhalt und Grundeinstellung des Verf assets hinzuiveisen; 
besonderes Gewicht ivitd datanf gelegt, daft die Schtiften moglichst inner- 
halb Jcurzer Zeit nach ihrem Erscheinen angezeigt werden. Bei sehr wich- 
tigen WerJcen mag dann spalet im Hauptteil eine ausfuhtliche Wilrdigung 
erfolgen, oder sie mbgen auch in einem Sammelreferat ilber ein Einzel- 
gebiet wiedet erscheinen; zundchst abet gilt es, dutch Jcutze Angaben auf 
Biichet und Aufsdtze aufmerJcsam zu machen, gleichgiiltig, 6b diese gut 
oder schlecht erscheinen. 

Es versteht sich t dafi der zur Ausgestaltung des Besprechungsteils not- 
ivendige Apparat erst im Lauf der Zeit ausgebaut werden Jcann. In den 
etsten Heften werden nicht nut ivichtige Schtiften aus den behandelten 
Sachgebieten unerwaknt bleiben, sondetn es werden auch die Erscheinungen 
mancher Lander ihberhaupt fehlen. WirMiche VollstandigJceit aber ist in 
gat Jceiner Gruppe des Besprechungsteils erstrebt Seine Aufgabe ist ledig- 
lichj uber PhilosopMej Soziologie, Psychologie, Geschichte 7 soziale Be- 
wegung, SozialpolitiJc, olconomische Theotie und auch iibet belletristische 
Werke zu bericl\ten 7 soweit die Sozialforschung ein besonderes Interesse 
daran hat. 



146 Besprechungen 

Philosophic 

Jaspers, Karl, Diegeistige Situation der Zeit. De Gruyter, Berlin w. Leip- 
zig 1931. (191 S., RM. 1,80) 

Wenn Jaspers in der Novalisschen Art philosophieren will, „in der univer- 
sale]! Heimatlosigkeit faktisch eine neue andere Heimat" zu gewinnen, so 
lehnt er doch die romantischen Versuche ab, sich in verlassene jjHeimaten" 
zuriickzufinden. „Mit der Technisierung ist ein Weg beschritten, der weiter 
gegangen werden mufi", sagt er an einer S telle, ohne allerdings naher zu 
bestimmen, wie er gegangen werden soil. Der Weg kann keineswegs in 
vertrauendem Befolgen dessen bestehen, was empirische Forschung an das 
bisher Geleistete anfiigt oder was vorfindliche Krafte im ,,Dasein" be- 
wirken. tlber dieses bloJJ vorfindbare „Dasein" will alle Existenzphilosophie 
„hinausgreifen", um in „philosophischer Weltorientierung" und „Existenz- 
erhellung" zum „Beschworen der Transzendenz" in der Metaphysik zu ge- 
langen. ttber die gegenwartige „Massenordnung in Daseinsfiirsorge" muft 
also wohl hinausgegangen werden, wenn auch der Weg der Technisierung- 
weiterbeschritten werden soil. Und hier findet J. im Hinblick auf diese, 
transzendierende Orientierung im Dasein, dafl die „Kampffronten verwirrt" 
sind. 

Aber diese dennoch vorhandenen Kampffronten bleiben so hart wie die 
Tatsachen von jeher, und auf sie hin und an ihnen muB sich eine Philosophie 
entscheiden, die die menschliche Existenz an der geschichtlich orientierten 
Entscheidung aufhangen will. Was und wie diese Kampffronten sind,. 
kann nur der Forschung empirischer Wissenschaften uberlassen bleiben. 
Wahrscheinlich wiirde eine genauere Analyse ergeben/ daB die Jasper ssche 
Philosophie hierbei die Hinweise auf die Befunde widerlegten (Bestimmung 
des Staats, des Sozialismus, des Fascismus, der Psychoanalyse usw.). Aus 
diesem Grunde darf man in diesem Buchlein die Klarung eines aktuellen 
Entscheidungsbegriffes nicht erwarten, wohl aber die interessante beschrei- 
bende Charakterisierung aktueller Erscheinungen. 

W. Strzelewicz (Berlin). 

Lehrbuch der Soziologie nnd Sozlalphilosophie, hrsg. v. Karl Dunkmann* 
T. 1: Gerhard Lehmann, Sozialphilosophie. — T. 2: Karl Dunkmann, 
Soziologie. — T. 3: Soziologie der Kultur. Mit Beitrdgen von Heinz Sauer- 
land und den Obengenannten. Junker u. Diinnhaupt. Berlin 1931. (486 S.; 
br. RM. 22.—, geb. RM. 25.—) 

Bei der engen Beziehung, die in Deutschland stets zwischen Philosophie 
und Soziologie geherrscht hat, war zu erwarten, dafi die jiingste Entwick- 
lung der Philosophie nicht ohne EinfluB auf die Soziologie bleiben werde. 
Die in der Hegelrenaissance und der Existenzialphilosophie angelegten 
sozialphilosophischen Elemente mufiten sich, zusammen mit der umwal- 
zenden Einwirkung des primar sozialtheoretisch orientierten Marxismus, 
zu einem starken Antrieb fiir die sozialphilosophische Selbstbesinnung des 
burger lichen Denkens verdichten. Dafiir zeugt nicht minder die ,, Soziologie 
als Wirklichkeitswissenschaft" von Freyer wie das vorliegende Kollektiv- 



Philosophic 147 

werk, das auf den „ Grundsatzen einer methodologisch verwerteten ,Existenzial- 
dialektik'" basiert. Die aufiere Dreiteilung des Buches in eine Sozialphilo- 
sophie, der die Aufgabe der Sinnerfragung und damit Sinngebung des Gegen- 
stands der Soziologie zugewiesen wird ; in eine Soziologie, die — unter Geltend- 
machung ihres historisch gewordenen Substrats — systematisch ausgegliedert 
ist; und schlieBlich in eine Kultursoziologie, die alle „Gemeinschaftsobjekti- 
vation" (Kunst, Wirtschaft, Recht, Religion, Erziehung) nach ihrem sozialen 
Urgrund erforscht — dieser Aufbau soil der Losung des richtig erfafiten 
Grundproblems des sozialtheoretischen Denkens dienen : der unlosbaren 
Durchdringung und wechselseitigen Bedingtheit von Sozialphilosophie und 
Sozialforschung. A lie in die Berechtigung einer gesonderten Sozialphilo- 
sophie ist m. E. weder aus der vorausgesetzten Konzeption der ,,metaphy- 
sischen Erkenntnis" als der „begleitenden Beziehung metaphysischer Ge- 
staltung (Poiesis) und reiner, d. h. sachlieher Erkenntnis" (S. 11) abzuleiten, 
noch aus den fruchtbaren Ergebnissen, zu denen der dialektisch-existenzielle 
Ansatz der sozialphilosophischen Betrachtung verhilft. 

Dank jenem Ansatz wird das philosophierende Bewufltsein von vorn- 
herein als „gespaltenes, mit sich selbst zerfallenes" gefafit und der Grund 
der Sozialphilosophie in die „Zerrissenheit des sozialen BewuBtsein" (S. 18) 
gelegt. Vom gleichen Ausgangspunkt her gelingt es, bei der Bestimmung 
des Verhaltnisses von Erkenntnistheorie und Sozialphilosophie ihr dialek- 
tisches Ineinander sichtbar zu machen: die „Struktur des erkennenden 
BewuBtseins" wird als „soziale Struktur" angesprochen und Erkenntnis 
als „sozialer ProzeB" begriffen (S. 20, 21). Das „Lehrbuch" kann sich daher 
konsequent auf die bedeutsamen Ergebnisse stiitzen, zu denen die Bemuhung 
um eine „soziale Logik" <H. Pichler) gefiihrt hat. Unter Ablehnung der 
„gegenstandlichen" Erkenntnis (S. 60) als dem Sozialen inadaquat wird die 
„zustandliche" (S. 159), d. h. die sich als Selbstbewufitsein des sozialen 
Prozesses verwirklichende Erkenntnis gefordert. Das impliziert, daB die 
sozialphilosophische „verstehende" Erfahrung letzten Endes „politisches 
Handeln" im Sinne „personlicher Entscheidung" (S. Ill) bedeutet. Dem 
entspricht als sozialtheoretisch wertvollstes Resultat ein Begriff des „sozia!en 
Gesetzes", die „anscheinende Paradoxic, daB es soziale Gesetze nur gibt, 
indem sie wirklich und willentlich befolgt werden" (S. 61). 

Neben dem bisher Gesagten gehoren zahlreiche anregende Einzelbemer- 
kungen zu den wissenschaftlich fruchtbaren Leistungen des Lehrbuchs. 
Aller dings verbleibt ein peinlicher Rest von Abstraktheit gerade dort, wo 
das wirkliche Subjekt „existenzial dialektischen" Denkens — die konkrete 
Klasse im historischen Elemente des Klassenkampfes — aufzuzeigen ware. 
Die Hauptfunktionen des Staats werden „Kultur und Wehrmacht"; der 
„lmperialismus . . . erscheint als unentbehrliches Moment in jedem Staat" 
(S. 250),die inneren Antagonismen des Staats verfliichtigen sich zu einer 
„soziologischen Antinomie im Staatsbegriff" (S.249), in der dieMachtordnung 
mit der Kulturordnung kollidiert. Aus der okonomischen Abhangigkeit 
der Lohnarbeiter wird nach D. eine „widerwillige Gefolgschaft" (S. 241), 
die mit ihren „Fuhrern", die man „in der Wirtschaft ganz allgemein ,Wirt- 
schaftsfiihrer', ,Generaldirektoren ( " (S. 241) nennt, nicht harmoniert. 
Als methodische .Grundlage fur diese Begriffsbildung dient eine ausdruck- 



148 Besprechungen 

lich als „platonisch-mittelalterlich" bezeichnete Unterscheidung von tiber- 
geschichtlich Realem und geschichtlich Konkretem, zu der die Realdialektik 
von Julius Bahnsen hinzugenommen wird. 

A. F. Wester mann Frankfurt a. M. 

Seifert, Friedrich, Charakterologie. — Seifert, Friedrich, Psychologie. 
Metaphysikder Seele. — Groethuysen,Bernhard, Philosophische Anthro- 
pologic. In: Handbuch der Philosophie, hrsg. v. Baeumler u. Schroter, 
Abt. III, Mensch und Charahter, B. Oldenbourg. Milnchen- Berlin 1931, 
(899 S.; RM. 42.—) 

Der Rahmen der Zeitschrift verlangt Beschrankung auf die im engeren 
Sinne anthropologischen Beitrage. Als systematische Abhandlung kommt 
vor allem Seifert, Charakterologie, in Betracht. Bemerkenswert ist die 
methodische Ausgangsstellung dieser Arbeit. S. will nicht den Ort einer neuen 
Wissenschaft Charakterologie im bestehenden Wissenschaftsgefiige durch 
Bestimmung ihres Gegenstandsbereichs und ihrer methodischen Besonder- 
heiten festlegen. Charakterologie ist ihm ein Name fur eine Reihe in die 
gleiche Richtung zielender Bewegungen, die mit einer veranderten Ein- 
stellung an die von den Wissenschaften aufgeteilte menschliche Gesamt- 
wirklichkeit herangehen. Der Erlebnishintergrund dieses neuen wissenschaft- 
lichen Wollens ist fur ihn der neue Realismus des 20. Jahrhunderts. Diesen 
„Realismus" grenzt er ab gegen den Naturalismus und den Idealismus. 
Realismus ist hier nicht erkenntnistheoretisch als Anerkennung eines vora 
Bewufitsein unabhangigen Seins gemeint, Realitat nicht als Gegeniiber eines 
zum Bezugskorrelat verfliichtigten Subjekts. Sofern Realitat uberhaupt 
ein Gegeniiber ist, ist sie es in der lebendigen Auseinandersetzung und nicht 
in der vergegenstandlichenden Betrachtung. Zunachst ist sie die zu iiber- 
nehmende, auszuhaltende und zu bewahrende eigene konkrete Wirklichkeit. 
Obwohl die alternativen Begriffspaare des Idealismus: Subjekt-Objekt, 
Allgemeines-Besonderes, Vernunftiges und empirisches Ich die Erfassung 
der menschlichen Wirklichkeit erschwert haben, glaubt der Verf. doch, daB 
in der philosophischen Entwicklung des deutschen Idealismus auch Kate- 
gorien herausgearbeitet worden sind, die dem neuen Verstandnis der mensch- 
lichen Wirklichkeit dienstbar gemacht werden konnen, vor allem die aus 
der Beschaftigung mit der kiinstlerischen, organischen und geschichtlichen 
Wirklichkeit hervorgegangerie Kategorie der Totalitat und der aus der 
Naturspekulation stammende Begriff der Polaritat. 

Der zweite Beitrag von S. iiber die Metaphysik der Seele ist durch die 
systematische Grundhaltung, die im vorigen skizziert wurde, bestimmt. 
Man kann dies an der Gegenuberstellung des aristotelisch-thomistischen 
und des augustinischen Seelenbegriffs ersehen. Fur Aristoteles steht die 
Seele an bestimmter Stelle im hierarchisch gegliederten Formenkosmos, 
sie ist selbst gegliedert, einmal gestaltendes Prinzip der vitalen Funktionen, 
dann als Nous" Prinzip der Wesenserkenntnis. Das eigentlich Personliche 
geht hier ebenso verloren wie bei der idealistischen Aufteilung des Menschen 
in Vemunft und Sinnlichkeit. Demgegeniiber steht Augustin, der Ent- 
decker der menschlichen Gesamtwirklichkeit, des abgrundigen Lebens, des 
cor humanum. Fur ihn ist Seele der Ort unmittelbaren und erschiitternden 



Philosophic 149 

Angesprochenseins vom Unbedingten. S. hebt gegeniiber den iramer wieder 
angefiihrten unter neuplatonischem EinfluB stehenden augustinischen 
Fruhschriften die Bedeutung der spaten Schriften hervor; vor allem sind 
fiir ihn die „Konfessionen" als Aussprechen des Ringens, TJnterliegens und 
Erlebens der Einzelseele Ausdruck einer gegeniiber der griechischen Situation 
vollig veranderten Auffassung von der personlichen Wirklichkeit. 

Die historischen Darlegungen des Verf. bleiben jedoch weitgehend hinter 
dem Programm des neuen „Realismus" zuriick. Allzusehr noch werden 
nebeneinandergereihte Meinungen vorgetragen. S. laBt uns nicht sehen, 
wie diese Meinungen in der Auseinandersetzung geschichtlicher Menschen 
mit den Problemen ihrer Situation erwachsen. Allzuhaufig werden Begriffe, 
die in konkreter historischer Situation deren Erleben und Ringen Ausdruck 
verschaffen, wie ein jederzeit verfiigbarer Kategorienvorrat gebraucht. 
Dieser Mangel drangt sich vor allem da auf , wo der Verf. ungeloste Probleme 
in der Geschichte sieht, zu deren Bewaltigung den betreffenden Denkern 
die begriff lichen Mittel gefehlt hatten. 

Die Groethuysensche Untersuchung ist demgegenuber mehr aus der 
Analyse konkreter historischer Situationen erwachsen. Auf das Inhaltliche 
der sorgfaltig und mit grofiem historischen Verstandnis durchgefuhrten 
Einzelanalysen kann hier leider nicht eingegangen werden. Wir miissen uns 
auf einige Bemerkungen iiber das Methodische beschranken. G. s Beitrag 
will eine Geschichte der menschlichen Selbstbesinnung geben. Diese Selbst 
besinnung tritt in doppelter Form auf. Die erste als Lebensphilosophie be 
zeichnete Form umfafit alle begriff lichen, aber auch kiinstlerischen Aus 
drucksformen, in denen der Mensch, im Lebenszusammenhang verbleibend, 
Lebenserfahrungen ausspricht, Lebensstimmungen und Motivzusammen- 
hange zur Darstellung bringt. Diese dem Leben selbst zugehorige Selbst 
besinnung „gibt die Atmosphere an, in der die geistigen Schopfungen ent 
stehen". Sie bildet die standige, das Erleben selbst mit aufbauende TJnter 
stromung alles expliziten Fragens nach dem, was der Mensch sei. Diese 
letztgenannte Form der Selbstbesinnung stellt sich auCerhalb des eigenen 
Lebenszusammenhanges, um von dort her nach dem Wesen der Seele, des 
BewuCtseins, des Ichs usw. zu fragen. Durch das Mittelglied der deutenden 
Darstellung eigenen Erlebens in alltaglicher Rede, Brief, Tagebuch, Gedicht 
usw. versucht G. die Verbindung zwischen dem kontinuierlichen Gang des 
Erlebens in Zusammenhang und Auseinandersetzung mit der eigenen see- 
lischen und gesellschaftlichen Wirklichkeit und den isolierten Aufgipfelungen 
menschlich-kultureller Leistungen zu gewinnen. Es ist die Methode, die der 
Verf. schon in seinem fruheren Werk iiber die Entstehung der burgerlichen 
Weltanschauung in Frankreich mit so groBem Erfolg verwendet hat. 

Franz Steinrath (Frankfurt a. M.). 

Spengler, Oswald, Der Mensch und die Technik. Beitrag zu einer Philoso- 
phic des Lebens. C. H. Beck. Miinchen 1931. (V u. 88 S., or. BM. 2. — , 
geb. BM. 3.20) 

Die Broschiire, vorgetragen mit jenem polternd generosen Pathos, kraft 
dessen seit Nietzsche kulturphilosophische "Cberlegungen gern den An- 
spruch urtumhcher Schau erheben, stellt in Wahrheit sich dar als Entwurf 



1 50 Besprechungen 

einer anthropologischen Natur dialektik, wie sie seit der Aufklarung bis 
zu Engels stets wieder in Angriff genommen ward. Die Kategorien aber, aus 
denen hier die Dialektik entspringt und die von der Dialektik umschlossen 
werden, sind ebendieNietzscheschen. Idealisten, die die Fragenach der Teehnik 
als untergeistig abweisen, werden wirklichkeitsfremd, Materialisten, die 
dem Nutzen der Teehnik nachfragen, flach gescholten. Legitimes Erkenntnis- 
mittel soil der ,,physiognomische Takt" (S. 6) sein: der Spenglersche Erbe 
des alten Intuitionsbegriffs, in welchem die Lebensphilosophen die Frage 
nach wahr und falsch nun einmal verloschen lassen. Anders als sonst im 
Leben hat es der Takt nicht mit dem Kleinen sondern einzig mit dem Groflen 
zu tun: dem Schicksal, dem man am taktvo listen begegnet, wenn man sich 
ihm fiigt (cf.-S. 13). Der Rhythmus dieses Schicksals hebt an mit dem Satze: 
„Denn der Mensch ist ein Raubtier" (S. 14); Raubtier, . wohlverstanden, 
der Seele nach, denn Spengler ist ja beileibe kein Materialist, aber doch 
Raubtier von Natur und ein fur allemal. Sein Leben ■ — ■ freilich doeh wohl 
nicht blofi das Seelenleben — besteht im Toten (S. 16).. Weil ihm die Frei- 
heit des Totens eignet, darum findet der physiognomische Takt, das Raub- 
tier sei „die hochste Form des freibeweglichen Lebens" (S. 17). Eine Onto- 
logie der Sinnesorgane kommt ihm zuhilfe : die Nase sei blofi das Organ der 
Verteidigung, dem Raubtier und Menschen aber sei das Auge als Organ der 
Angriffs gegeben (cf. S. 19). Die Menschenseele, gelegentlieh von Spengler 
ganz schlicht der „gottliche Funke" geheifien (S. 20), konstituiert sich als 
solche durch die Distanz von der Gattung, wie sie irgendwie bereits im 
spahenden Blick angelegt sein' soil, ohne dafi deutlich wiirde, warum dann 
die Panther nicht auch des Geschenks der Nietzsche- Spenglerschen Einsam- 
keit teilhaftig werden. Teehnik heiflt danach die Lebens taktik des erfinde- 
rischen, gattungsunabhangigen Raubtieres. Sie wird anthropologisch auf 
die Hand zuriickgef iihrt : Hand und Werkzeug — und damit Teehnik — 
sollen im XJrsprung korrespondieren (S. 28). In der naturerzeugten Taktik 
von Hand, Auge, Werkzeug setzt der Mensch sich als Antithesis zur 
Natur: „der Natur wird das Vorrecht des Schopfertums entrissen" (S. 35). 
Damit beginnt fiir Spengler, und nicht umsonst steht an dieser Stelle eine 
asthetische Kategorie an Stelle einer geschichtsphilosophischen, die „Tragodie 
des Menschen, denn die Natur ist starker" (S. 35). Auf der zweiten Stufe 
gelangt das Fur-sich-sein des Menschen zur Darstellung: der zweiten Stufe 
in der Geschichte des geschichtlichen Menschenwesens namlich und nicht 
der Gesellschaf t : Sprechen und XJnternehmen sind, als Antithesis zu Hand 
und Werkzeug, die Signa jener zweiten Stufe. Die Seele bringt es rein aus 
sich heraus zum tlbergang vom organischen zum organisierten Leben und 
damit zum Staat (S. 53). Es folgt die Synthesis als Katastrophe. Freilich 
etwas vag und allgemein : die Teehnik, urspriinglich von Spengler als Taktik, 
als Verhaltensweise angesetzt, wird von ihm verabsolutiert, ohne dafi auch 
blofi die Frage gestellt ware, ob nicht gerade die Verselbstandigung der Teehnik 
gegeniiber ihrem gesellschaftlichen Gebrauch durch eine Veranderung der 
gesellschaftlichen Struktur korrigierbar ware. Die Kritik an der falschen 
Funktion der Teehnik hintertreibt er mit einer technischen Mythologie, 
die die Fetische noch anbetet, nachdem ihr Fetischcharakter erkannt ist: 
„Wieeinst der Mikrokosmos Mensch gegen die Natur, so emport sich jetzt der 



Philosophie 151 

Mikrokosmos Maschine gegen den nordischen Menschen. Der Herr der Welt 
wird zum Sklaven der Maschine" (S. 75). Folgerecht-mythisch spricht 
Spengler von „Frevel und Sturz des faustischen Menschen" (S. 75) und 
prophezeit baldigen Untergang der abendlandischen Technik, die in Ver- 
gessenheit geraten miisse, weil fur die kommenden, nichtfaustischen Seelen 
,,die faustische Technik kein inneres Bedurfnis" (S. 87) sei, obwohl doch 
nach Spenglers eigener Aussage ,,die Japaner . . binnen 30 Jahren technische 
Kenner ersten Ranges" (S. 86) wurden. Den betroffenen Abendlandern bleibt 
nichts tibrig als heroisch-tragische Gesinnung. 

Zur Kritik ist die kurze Anzeige nicht der Ort. Es sollen statt dessen 
einige Satze Spenglers stehen, die fur sich selbst sprechen: „J*etzt aber, seit 
dem 18. Jahrhundert, arbeiten die zahllosen ,Hande' an Dingen, von deren 
tatsachlicher Rolle im Leben, auch im eigenen, sie gar nichts mehr wissen 
und an deren Gelingen sie gar keinen inneren Anteil nehmen" (S. 74). Das 
ist richtig, wenn auch anderwarts scharfer formuliert. Wie aber interpre- 
tiert Spengler die Warenform ? ,,Eine seelische Verodung greift um sich, 
eine trostlose Gleichformigkeit ohne Hohen und Tiefen, die Erbitterung 
weckt" — gegen wen wohl ? — „ gegen das Leben der Begabten, die schopfe- 
risch geboren sind" (S. 74). Die schopferisch Geborenen aber sind ihmheutzu- 
tage die kapitalistischen Unternehmer, die das Schicksal gnadig an ihrenPlatz 
stellte: ,,Die kleine Schar der geborenen Fiihrer, der Unternehmer und Er- 
finder, zwingt die Natur . . ." (S. 72). Es gibt eben „von Natur Befehlende 
und Gehorchende" (S. 50) und bei der Theodizee der Edelmenschen fallt der 
Satz : „Nur Kinder glauben, daB der Konig mit der Krone zu Bett geht, und 
Untermenschen der GroBstadte, Marxisten, Literaten glauben von Wirt- 
schaftsfuhrern etwas Ahnliches" (S. 51). Es wird nicht verraten, welche Art 
von Menschen heute noch kapitalistische Unternehmer fur die naturgewollten, 
begnadeten Fiihrer ansieht. Aber der Satz lafit wenigstens keinen Zweifel, 
welchen zwischenmenschlichen Beziehungsforraen der physiognomische 
Takt hier zugute kommt und welche konkrete Bestatigung die These, der 
Mensch sei ein Raubtier, durch Spenglers Philosophie selber etwa finden mag. 
Theodor Wiesengrund- Adorno (Frankfurt a. M.). 

Marck, Siegfried, Die Dialektik in der Philosophie der Gegenwart. 
1. and 2. Halbbd. I, C. B. Mohr (Paul Siebeck). Tubingen 1929 und 1931. 
(IV %l. 166 und VI u. 174 S.; geb. in einem Band RM. 20. — ; 

Das Werk will einen Querschnitt durch die Philosophie der Gegenwart 
unter dem Gesichtspunkt des Problems der Dialektik geben. Mit dieser Ab- 
sicht greift es bewufit in die auch von anderer Seite als Leitfaden durch die 
Fiille der Probleme und Systeme dargestellte ,,Reproduktion" der Problem- 
geschichte von Kant bis Hegel auf „erweiterter Stufenleiter" ein. Das Ziel 
des Verfassers ist die Rechtfertigung einer „kritischen Dialektik 1 ', die 
gegen die spekulative Dialektik des Neuhegelianismus und den nichtdia- 
lektischenKritizismus der Neukantianer abgegrenzt undalsKonvergenzpunkt 
der Gegenwartsphilosophie aufgewiesen wird. 

Die entscheidende Leistung, die dem Kritizismus die Einbeziehung der 
nachkantischen Motive ermdglicht, ohne daG er den metaphysischen Konse- 
quenzen der nachkantischen Systeme verfallen miiCte, sieht der Verfasser 



1 52 Besprechungen 

in der vor allem durch R. Honigswald erreichten Wendung der Denkpsycho- 
logie zur philosophischen Prinzipienlehre. — Aufier Honigswald werden 
J. Cohn, H. Bauch, P. Hofmann, E. Cassirer und Th. Litt als Vertreter der 
kritischen Dialektik behandelt. 

Im Sinne der oben erwahnten Abgrenzung erfolgt die kritische Auseinander- 
setzung mit H. Rickert, E. Lask, R. Kroner, Kierkegaard, Barth, Gogarten, 
E. Brunner, P. Tillich, G. Lukacs, E. Griesebach, M. Heidegger, G. Simmel, 
P. Natorp, A. Liebert, N. Hartmann, E. Troeltsch, E. Przywara und P. Wust. 

Obwohl im iibrigen der Bezug der philosophischen Probleme auf die 
Probleme der Einzelwissenschaften nicht behandelt wird — so sehr auch die 
kritische Dialektik (kantisch gesprochen) eine kritische Analytik fordert — , so 
darf doch besonders auf die klare Darstellung der Denkpsychologie hin- 
ge wiesen werden, die in den bisher nur zu wenig bekannt gewordenen Werken 
R. Honigswalds eine Fiille grundlegender Einsichten und scharfsinniger 
Untersuchungen fur die Probleme der Geistes- und Sozialwissenschaften 
enthalt. Freilich, die methodologischen Probleme der Soziologie kommen 
entgegen der in der Vorrede zum ersten Halbbd. vom Verfasser geauBerten 
Absicht zu kurz. Franz Meyer (Breslau). 

Saucrland, Kurt, Der dialektische Materialismus, 1. Buck: Schopferiscker 
oder dogmatischer Mater ialismus? Berlin 1932. (320 S.; RM. 4.80) 
Das Buch bildet den ersten Band eines groBeren Werkes, in dem die 
Leninsche Auffassung des dialektischen Mater ialismus den westeuropaischen 
Auffassungen entgegengestellt werden soil. Der vorliegende Band ver- 
sucht einen historischen Abrifi der Entwicklung des dialektischen Materialis- 
mus zu geben, die systematische Darstellung soil erst im 2. Bande folgen. 
Als erste Aufgabe wird die „Wiederherstellung des wahren Marxismus" 
(S. 3) bezeichnet. Die sozialdemokratischen Theorien, einschliefilich der- 
jenigen R. Luxemburgs und K. Liebknechts, werden dabei im wesentlichen 
als MiBverstandnisse betrachtet. Der Verfasser bestimmt die mater ialistische 
Dialektik im Anschlufi an Lenin als „die wissenschaftliche Lehre von 
den Gesetzen der Entwicklung aller materiellen und geistigen Dinge, d. h. 
der Entwicklung alles konkreten Inhalts der Welt und der Erkenntnis 
derselben" (S. 40), und gibt ihr die dreifache Funktion, Weltanschauung, 
Methodologie und Erkenntnis theorie zu sein (S. 42). Die ,,materialistische 
Dialektik** ist nach S. zugleich „die Logik des revolutionaren proletarischen 
Klassenkampfes" (S. 261). 

Die wissenschaftliche Behandlung des Gegenstands entsprache in der Tat 
einem Bedurfnis. Der Wert des Buches wird aber entschieden dadurch 
beeintrachtigt, dafi die Thesen weniger durch logische Beweisfiihrungen als 
durch Berufung auf politische Autoritaten gestutzt werden, deren Be- 
deutung bestimmt nicht auf philosophischem Gebiet zu suchen ist. Ein 
endgiiltiges Urteil wird sich erst nach Erscheinen des zweiten Bandes ab- 
geben lassen. A. F. Westermann (Frankfurt a. M.) 

Gouhier, Henri. La Vie d' August Comte. („ Vies des hommes illustres", 

Nr. 63). Gallimard. Paris 1931. (300 S.) 

Henri Gouhier ist ein junger Philosophiehistoriker, der durch seine aus- 
gezeichneten Arbeiten iiber Malebranche und Descartes bekannt ist. Seine 



AUgemeine Soziologie 153 

Comte-Biographie gehort nicht zu der Gattung der heute so beliebten 
„ biographies romancers", sondern ist ein wissenschaftlich relevantes 
Buch. Allerdings ein Buch, das fur ein breiteres Publikum bestimmt und 
sehr leicht, man mochte sogar sagen spannend, geschrieben ist. Die Lehre 
Comtes ist darin nicht beriicksichtigt worden, aber das Personliche wurde 
stets im Hinblick auf das theoretische Werk behandelt. Der Verf. hat sich 
eine doppelte Aufgabe gestellt: „Ich muJ3 Auguste Comte so wiederfinden, 
wie er sich selbst gesehen hat; es ist mir untersagt, auf das Wissen zu ver- 
zichten, ob er sich so gesehen hat, wie er war** (S. 9). 

Man kann verschiedener Meinung daruber sein, ob G. diese Aufgabe richtig 
gelost hat; aber alles, waser sagt, ist interessant, durchdacht und mit reich- 
lichem und gut gewahltem Z it at material belegt. 

A. W. Kojevnikoff (Vanves [Seine]). 

AUgemeine Soziologie. 

Vierkandt, A., Handwbrterbuch der Soziologie. Hrsg. in Verb, mit 
G. Briefs, F. Fulenburg, F. Oppenheimer, W. Sombart, F. Tonnies, A . Weber, 
L. v. Wiese. Ferd. Enke. Stuttgart 1931. (XII u. 690 S.;geh. RM. 69. — , 
geb. RM. 74.—) 

Die von dem Herausgeber im Vorwort ausgesprochene dreifache Absicht 
dieses Handworterbuches ist: 1. die Kenntnis der Soziologie „in weiteren 
Kreisen zu verbreiten", 2. ,,gleichsam durch einen Akt der Kodifikation" 
den gegenwartigen Stand der Soziologie festzulegen und 3. zur Selbstbesin- 
nung der Soziologie zu dienen und auf ihren Fortschritt hinzuwirken. Ist 
die Durch fiihrung des ersten Punkts durch den hohen Preis erschwert und 
der dritte durch die Zukunft zu beantworten, so wird man feststellen miissen, 
daJ3 dem Herausgeber die ttbersicht iiber das, was heute unter Soziologie 
verstanden und in ihr geleistet wird, in hohem Mafi gelungen ist. 

Mitgearbeitet haben an diesem Werk fast samtliche Soziologen an deutschen 
Universitaten und technischen Hochschulen. In 62 Artikeln von 4 — 30 Seiten 
Umfang behandeln die Autoren die verschiedenen Probleme der Soziologie. 
Eine systematische Inhaltsubersicht teilt das Buch in 5 Abteilungen ein: 
Allgemeines, Gesellschaftssoziologie, allgemeine Kultursoziologie, Soziologie 
der einzelnen Kulturgiiter, einzelne Kulturen und Epochen. Zwar wird der 
Leser keine durchgangige Auffassung iiber das, was Soziologie sei, fest- 
stellen konnen, es sei denn die, daB es sich urn so etwas wie urn die Erfor- 
schung des „Gesellschaftlichen" handele; was aber in diesen Bereich einzu- 
beziehen, was aus ihm auszuschlieBen sei, daruber hat fast jeder Autor seine 
eigene Meinung. Die Soziologie befindet sich im Stadium des Experimen- 
tierens, aber sie ist darum nicht weniger fruchtbar und bietet nicht 
weniger Erkenntnisse als bei starrer Eixieruhg. Man kann den Spielraum 
und die Weite der Soziologie am besten an einer Gegenuberstellung von 
Sombart und Mannheim erlautern. Sombart (Art.Grundformen des mensch- 
lichen Zusammenlebens) anerkennt nur die durch „Geist (t konstituierten 
Gruppen („echte lt Verbande) als legitime Objekte der Soziologie, Mannheim 
(Art. Wissenssoziologie) zieht samtliche Erscheinungen des historisch- 
sozialen Lebens in seine Fragestellung und untersucht sie auf ihre Bezie- 



1 54 Besprechungen 

hung zum realen gesellschaftlichen Sein hin. In diese Spannung ordnen sich 
je nach Gegenstand und Methods die anderen Auffassungen von Soziologie 
ein. Es wiirde den Rahmen dieses Refer ates sprengen, wollte man auf alle 
Aufsatze einzeln eingehen und sie nach ihrem Werte wiirdigen. Es kann nur 
auf einige hingewiesen werden, die uns besonders bemerkenswert und wichtig 
erscheinen. So die Aufsatze von G. Briefs iiber die Sozialstruktur der 
Gegenwart (Betriebssoziologie, Sozialform und Sozialgeist der Gegenwart, 
Proletariat). Klar und einsichtig weist hier der Verf. auf den Prozefi der 
Verdinglichung der menschlichen Beziehungen im modernen Betrieb, auf 
die Klassenspaltung der kapitalistischen Gesellschaft und auf das Phanomen 
der Entproletarisierung des Proletariats, von dem „Verburgerlichung" nur 
ein moglicher Weg ist, hin. Eine wertvolle Erganzung findet die Soziologie 
der Gegenwart in dem temperamentvoll geschriebenen ausgezeichneten Aufsatz 
von A. Meusel iiber Biirgertum, der die mannigfaltige Schichtung und 
GHederung des modernen Biirgertums darstellt. Ferner erwahnt seien die 
klaren formalsoziologischen Artikel von Th. Geiger iiber FUhrung, Gesell- 
schaft, Gemeinschaft und Revolution. Gundlach zeigt in einem aus- 
geschliff enen Aufsatz iiber die Soziologie des Ordens neben vielem Sachlichen 
die Mentalitat der modernen katholischen Soziologie. Bemerkenswert 
erscheint uns auch der Aufsatz von K. Mannheim iiber Wissens - 
soziologie, der im Rahmen der Behandlung des Wissens in seiner Beziehung 
zu den gesellschaftlichen Gruppierungen einen Vorstofi in das Gebiet der 
Erkenntnistheorie unternimmt. An diese Abhandlung wird sich sicher 
noch eine lebhafte Diskussion anschliefien. Daneben bietet das Handworter 
buch eine Fiille von Aufsatzen iiber die Soziologie der Gruppen (Tonnies, 
Vierkandt, Sombart, Oppenheimer, Colm), der zwischenmensch- 
lichen Beziehungen (L. v. Wiese), zwei Aufsatze iiber allgemeine Kultur- 
soziologie (A. Weber, Freyer), mehrere iiber besondere Kulturen: China. 
Aufklarung, Mittelalter, Renaissance (v, Rosthorn, B. v. Wiese, v. Mar- 
tin). Die Soziologie der Politik findet ihre Behandlung durch Michel s, 
Heller, Mitscherlich, v. Beckerath, Grabowsky u. a., die iiber 
Patriotismus, Staat, Volk und Nation, Faschismus, Bolschewismus usw. 
referieren. Religionssoziologie, Padagogische Soziologie, Rechtssoziologie 
werden von Wach, A. Fischer und J. Kraft behandelt. Schering und 
Ziegenfufi berichten iiber die Soziologie der Kunst (Musik, Literatur und 
bildende Kunst). Wie nicht anders zu erwarten ist, sind bei der Beschrankt- 
heit des Raumes nicht alle Probleme im Handworterbuch zu Wort gekommen, 
und nicht alle sind so ausfiihrlich behandelt worden, wie sie es eigentlich 
verdienten. Deshalb sind auch die einzelnen Aufsatze nicht von gleichera 
Wert. Im groBen und ganzen kann jedoch gesagt werden, dafi das Hand- 
worterbuch seinen Zweck, einen tft>erblick iiber den gegenwartigen Stand der 
Soziologie in Deutschland zu geben, erfiillt. W. Gollub (Frankfurt a. M.)- 

VerhandlungendesSiebentendeutschenSoziologentagesvo7n28.Sep- 
tember bis 1. Oktcber 1930 in Berlin. J. C. B. Mohr (Paul Siebeck). 
Tiibingen 1931. (X u. 203 S.; RM. 11.40) 
Durch die Uberlastung der Tagesordnung mit fiinf Fragen wurden dio 

Debatten kurzer, die Auseinandersetzungen weniger ausfiihrlich als auf 



Allgemeine Soziologie 155 

frtiheren Soziologentagen, obzwar hervorgehoben werden rauB, daC trotz 
der Kurze der Zeit wertvolle Vortrage und Diskussionsreden gehalten wurden. 
Nur auf einiges kann im Rahmen einer kurzen Besprechung hingewiesen 
werden. 

Der erste Punkt der Tagesordnung lautete: Presse und offentliche 
Meinung. Brinkmann sieht die geschaftsmaflige Entwieklung des modernen 
Pressewesens und vergleicht sie mit der der anderen monopoloiden Grofi- 
produktionen. Er sieht auch die Gefahren dieser Entwieklung fur offentliche 
Meinung und Kultur, erhofft aber die Hilfe von der Herausbildung einer neuen 
aristokratischen Schicht fiihrender Geister und Organe, die die Presse zu 
ihren idealen Zwecksetzungen zuriickfiihren werde. Von Eckardt arbeitete 
die Verflochtenheit der Presse mit Wirtschaft, Kultur und Staat heraus und 
wies besonders auf die okonomische Fundierung des Zeitungswesens mit alien 
ihren Begleit- und Folgeerscheinungen hin. In der Diskussion bekampfte 
Kapp die Behauptung, dafi die Presse die Partei mache, und zeigte auf grofie 
Schichten hin, die gegen den publizistischen Willen der groBen Presse immun 
sind. 

In der Untergruppe fiir Methodologie wurden iiber die Begriffsbildung 
in der Soziologie zwei Vortrage gehalten. Stoltenbergs, ernes an sich an- 
regenden Soziologen, Vortrag kann schwer gewiirdigt werden, denn er hat 
die Leidenschaft, fiir die ihm wichtig erscheinenden Begriffe sofort aueh 
neue Worte zu schaffen, deren Erfassung viel Zeit und Geduld erfordert. 
Koigen suchte die Aufgabe der Soziologie im wissenschaftlichen Aufbau des 
soziologischen Gegenstandes, in der Auffindung der Begriffe und der Regeln, 
nach denen sich der soziologische Tatbestand aufbaut. Aus der Diskussion: 
Pieper warnte vor der tTberschatzung der Erfahrung. Stepun zeigte, daS 
das Miterleben der russischen Revolution die nachtragliche adaquate Er- 
fassung der franzosischen Revolution erleichterte. Gierlichs warf den 
fruchtbaren Gedanken einer Soziologie des Alltagslebens auf. 

tiber die Soziologie der Kunsb sprach als erster v. Wiese. Unter 
Zugrundelegung seiner Beziehungslehre zerlegte er die Aufgabe in zwei 
Problemkreise : die Kunst als Komplex sozialer Prozesse und die Kunst als 
soziales Gebilde. Nach Rothacker ist die Aufgabe der Kunstsoziologie, die 
soziale Bedingtheit der Entstehung und Wandlung der Lebens-, Kultur- und 
Kunststile darzulegen. Breysig betrachtete das geistige Schaffen als Gegen- 
stand der Gesellschaftslehre, und alle drei Gattungen des geistigen Verhaltens : 
das neuernde Erzeugen, das nachahmende Weitergeben und das hinnehmende 
Empfangen, machte er zum Gegenstand seiner Untersuchungen. Die drei 
Vortrage zeichneten sich durch eine Fiille geistiger Anregungen aus. Dement- 
sprechend war auch die Diskussion bemerkenswert. Schmalenbach wies 
mit Recht darauf hin, dafl nicht nur das Kunstwerk soziologisch wirkt, 
sondern dafi es auch soziologisch erwirkt ist. Honigsheim widmete seine 
Ausfiihrungen der Soziologie des Publikums. 

Vher die Soziographie sprach zuerst Tonnies. Die S. hat die ver- 
borgenen Quellen, die sich der Statistik verschliefien, aufzuspiiren. Der 
soziographische Begriff der Stadt, den er als Beispiel entwickelte, ist sehr 
lehrreich. In der Diskussion warnte Bortkiewicz vor der Gegeniiber- 
stellung von Soziographie und Soziologie. 



156 Besprechungen 

In der Untergruppe fur politische Soziologie wurden „Die deutschen 
Stamme" behandelt. Die einleitenden Worte sprach Eulenburg, der eine 
rassenmafiige Losung des Problems als unwissenschaftlich zuruckwies. 
Hellpach befaBte sich mit der naturforschenden und geisteswissenschaft- 
lichen Seite des Themas und empfahl die strengste Wertungsenthaltsam- 
keit. Nadler hielt tiber die literaturhistorischen Erkenntnismittel des 
Stamme sproblems einen interessanten Vortrag. Aubin sprach von den 
geschiehtlichen Gmndlagen der deutschen Stamme; als entscheidendes 
Merkmal der Stammesbildung betrachtet er das gemeinsame und von 
der Umwelt sondernde Erleben und zeigt, daB ,,reine" Stamme iiber- 
haupt nicht existieren. Aus der Diskussion wollen wir folgendes erwahnen: 
Hertz: Die Losung des Stammesproblems ist bisher nicht gelungen, weil 
dieses eigentlich eine Gleichung mit vielen Unbekannten darstellt, zu deren 
Losung bisher noch nicht genug Gleichungen vorhanden sind. Die natur- 
wissenschaftlichen Erkenntnisversuche leiden an einem Mangel geschichtlicher 
Kenntnisse. Sombart: Der Stamm als eine Angelegenheit der Blutsver- 
wandtschaft und Abkommenschaft ist kein soziologischer Begriff. Volk ist 
diejenige soziologische Gruppe, die eine gemeinsame Tradition hat, Nation 
eine Gruppe, die ein gemeinsames Ziel hat. 

Der Anhang enthalt schriftliche Beitrage zur Soziologie der Kunst von 
Miiller-Freienfels, Hanna Meuter und Alfred Peters. 

Der Berliner Soziologentag stand aui* einem hohen geistigen Niveau, und 
trotz der "Dberfiillung der Tagesordnung war er imstande, eine ersprieBliche 
Arbeit zu leisten. Paul Szende (Wien). 

Soziologie von heute. Ein Symposion der Zeitschrift fiir V blkerpsychologie 

und Soziologie. Hrsg. v. Richard Thurnwald. C. L. Hirschfeld, Leipzig 

1932. (VIII, 158 S.; EM. $.— , geb. RM. 6.50) 

In diesem „Symposion" vereinigt Th. zu dem Thema: Aufgaben und 
Grenzen der Soziologie die programmatischen Ausfiihrungen fiihrender 
Soziologen. Nur einige kommen zu Wort: Freyer, Ginsberg, Maclver, 
W. F. Ogburn, Plenge, Sorokin, Steinmetz, Thurnwald, Tonnies und Walther- 
Die Aussprache dient einem „allgemeinen Gedankenaustausch" und soil 
mehr das Verbindende und Einigende als das Trennende in wichtigen Grund- 
uberzeugungen betonen, damit sich — wie der Herausgeber im Vorwort 
hervorhebt — „mit der Zeit ein fester Wissens- und Methodenkern heraus- 
bildet, ohne den es nicht moglich sein darf, Soziologie zu treiben". Um dieses 
Programms willen und weil hier so ganz verschieden geartete deutsche mit 
amerikanischen Soziologen diskutieren, verdient dieser soziologische „Sanger- 
krieg'*, wie Tonnies die Diskussion humorvoll bezeichnet, Beachtung. 

Gemeinsam fordern die 4 amerikanischen und 6 deutschen Soziologen 
eine Weiterfuhrung der methodologischen Klarung und lehnen den „ Sprung 
in die Empirie" mit guten Griinden ab. Dafi die konkrete Einzelforschung 
mit der Prinzipienbetrachtung engen Konnex behalten oder neu finden 
miisse, sagen auch die amerikanischen Soziologen, von denen besonders 
Maclver interessante Ausfiihrungen iiber die behavioristische Sozialpsycho- 
logie in Amerika macht. Unter Ablehnung „dogmatischer Verengungen" 
begibt man sich gemeinsam auf den Boden methodisch-liberaler Toleranz; 



Allgemeine Soziologie 157 

die verschiedenen soziologischen Schulen kdnnen M in friedlichem Nebenein- 
ander organisch-verbunden existieren", meint Sorokin, und Freyer spricht 
von ihrem M sinnvoIlen Zusammenspiel" und ihrer „sachbedingten Ko- 
operation". So wie eine gewisse Wendung zur methodologischen Theorie in 
den amerikanischen, so ist eine neuartige Betonung der Gegenwart und 
Praxis in den deutschen Beitragen auffallig. 

DaB es trotzdem den „Rednern im Symposion" mit ihren Beitragen weder 
eine gemeinsame Gesprachsbasis zu finden gelungen noch bedeutungsvollere 
theoretischet^bereinstimmungenaufzuzeigengeglucktist, hat seine besonderen 
Griinde. Denn wenn auch die Soziologie durch Differenzierung ihrer Methoden 
und Vermehrung ihrer Forschungsergebnisse weiter fortgeschritten ist, so 
ist sie in Wirklichkeit doch noch weit entfernt von jenem „Konsolidierungs- 
zustand", der eine der notwendigen Vorbedingungen fur jenes oben an- 
gedeutete „ Symposion" ware. Gerade denjenigen, der die Gesellschafts- 
wissenschaften gerne mit dem von Freyer neuentdeckten Begriff das „Selbst- 
bewuBtsein einer Epoche" nennen mochte, wird es nicht wundernehmen, 
wenn eine Zeit wie die Gegenwart auch bewufitseinsmaBig scharfste 
Spaltungen erzeugt. Erich Winter (Frankfurt a. M.). 

Freyer, Hans, Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft. Logiscke 

Qrundlegung des Systems der Soziologie. Teubner. Leipzig und Berlin 1930. 

(310 S. t br. RM. 10.—, geb. RM. 12.—) 
Freyer, Hans, Einleitung indie Soziologie. Quelle & Meyer. Leipzig 1931. 

(149 S., RM. 1.80) 

In seinem bedeutsamen Buch zur Grundlegung eines „Systems der Sozio- 
logie" sucht Freyer die Soziologie als eine Wissenschaft mit eigenem Gegen- 
standsgebiet und besonderen Erkenntnismethoden neu zu konstituieren. 
Zwei Drittel des Buches dienen der kritischen Auseinandersetzung mit der 
deutschen Soziologie. Da die Soziologie „das organische Produkt einer 
bestimmten Kultur und darum in eine andere Kultur nicht einfach uber- 
tragbar ist'* (Zitat F.s aus Walther S. 7) und da die europaische Soziologie 
„durch ihre eigene Geschichte auf ganz bestimmte Problemstellungen ver- 
pf lichtet" sei, will er sich mit der amerikanischen Soziologie nicht auseinander- 
setzen. Gegen die Auf f assungen, die die Soziologie „als Philosophieersatz 
fur die philosophisch unglaubig Gewordenen anpreisen" setzt er die These, 
daC die Soziologie „in aller Strenge des Worts System ist'* und die Aufgabe 
habe, „die gesellschaftliche Wirklichkeit der Gegenwart ins wissenschaft- 
liche BewuBtsein zu heben" (S. 12). 

Die geisteswissenschaftliche Fundierung der Soziologie bei Dilthey, 
Simmel und Spann habe gerade die Eigentiimlichkeit des Gegenstandes 
und der Methode der Soziologie verwischt. Fur die „Logoswissenschaften" 
werde „die gesellschaftliche Wirklichkeit mit ihreri Gegensatzen, Kampfen, 
Entwicklungen und Entscheidungen zu dem Kraftespiel, in dem sich der 
Sinnzusammenhang der Kulturformen verwirklicht" (S. 35). Diese logos- 
wissenschaftliche Soziologie musse scheitern, weil „drei grundlegende Eigen- 
schaften, die einander bedingen . . ., die gesellschaftlichen Gebilde von alien 
Formen des objektiven Geistes unterscheiden" (S. 81). Erstens seien sie 
*,Formen aus Leben"; deshalb auch sei der Soziologie die theoretische Hal- 



158 Besprechungen 

tung des geisteswissenschaftlichen „Verstehens" versagt. Sie seien zweitens 
„der konkreten Zeit eingelagert" ; deshalb miisse die Soziologie „ein System 
des Nacheinander sein" (S. 87). Die dritte Bestimmung sei, d&Q die gesell- 
schaftlichen Gebilde „die existenzielle Situation des Menschen sind" (S. 97). 
Sinn der soziologischen Theorie sei „Vertiefung der eigenen Entscheidung, 
Unterbauung der eigenen Wirklichkeit". , , Nicht souveran soil der Erken- 
nende werden, sondem verantwortlich . . ."; so treteneben die Logoswissen- 
schaften ein zweiter Typus von Geisteswissenschaf ten : „die Ethoswissen- 
schaften" (S. 91). 

Wenn auch „von einem hochsten Blickpunkt aus, philosophisch be- 
trachtet, alles Sein zur Wirklichkeit, der der Mensch existenziell angehort, 
alle Wissenschaft vom Sein zur Wirklichkeitswissenschaft im hier gemeinten 
Sinn'* (S. 201/02) werde, so sei doch in den drei Wissenschaftsgruppen (Natur-, 
Geistes-, Wirklichkeitswissenschaften) ,,ein notwendiges Gliederungsgesetz 
der Erkenntniswelt zu erfassen" (S. 202). „ Wirklichkeitswissenschaften 
(Psychologie, Geschichte, Soziologie) sind zugleich ethische Wissenschaften" 
(S. 206). Dabei beruhe die zentrale Aufgabe der Soziologie in der Analyse 
der Beziehung von Staat und Gesellschaft. 

Im dritten Teil seines Buches will F. seine Methode praktisch durch- 
fiihren. An Phanomenen wie „ Gesellschaft", „Staat und Gesellschaft' % 
,,Klassen" u. a. sucht er die soziologischen Satze zu erharten, daB die eigen- 
tiimlichen soziologischen Strukturbegriffe generalisierbar sind, die gesell- 
schaftliche Wirklichkeit geschichtet ist und in ihr „relativ reine und relativ 
unreine, d. h. verhiillte, getriibte oder iiberschichtete Strukturen'* feststellbar 
sind (S. 224); „fiir jede einzelne Grundstruktur" gebe es ,,typische Formen 
der Einschichtung" anderer Strukturelemente. 

F. versucht die Existenzialphilosophie zur Begrundung seines Systems 
zu verwenden. Die philosophische Kritik seines Werkes miifite sicH gerade 
diesem existenzialphilosophischen Ansatzpunkt F.s zuwenden und sich 
fragen, ob nicht F. schliefilich doch die Soziologie als,,Philosophieersatz", 
zumal einer philosophisch -soziologischen Ethik aufzubauen sucht. Wenn 
F. im Kampf gegen die Logoswissenschaften auf Marx und Hegel zuruck- 
greift und die Dialektik von dort ubernimmt, so steht diesem unbestreit- 
baren Verdienst doch entgegen, daC er sich auf die Philosophie, nicht aber 
auf die politische Okonomie von Marx bezieht. Das Buch F.s, so interessant 
und wichtig die eigenartige Behandlung der Probleme ist, erbringt keinen 
vollgiiltigen Beweis fur die Notwendigkeit eines soziologischen Systems, das 
neben der Okonomie, der Geschichte, Kulturkreisforschung oder iiber ihnen 
zu stehen hatte. Es rechtfertigt keineswegs ein neues System im Rahmen 
der Wissenschaft, sondem stellt lediglich mit Hilfe geistesgeschichtlicher 
und philosophischer Methoden fest, wie stark die begriffliche und sachliche 
Differ enzierung des Denkens bei dem sein muB, der sich mit den Kampf en 
des gesellschaftlichen Lebens theoretisch befaBt. 

In seiner ,,Einleitung" fafit F. die Ergebnisse seines oben besprochenen 
Buches kurz zusammen. Der historische Teil iiber die Geschichte der Soziolo- 
gie ist neu hinzugekommen. Das kleine Buch ist sowohl historisch instruktiv 
wie auch lehrreich fur den Einbruch der Existenzialphilosophie in das Gebiet 
der Soziologie. Erich Winter {Frankfurt a. M.). 



Allgemeine Soziologie 159 

Neurath, Otto, Empirische Soziologie. Der wissenschaftliche Gehalt der 

GescMckte und Nationalokonomie. Jul. Springer. Wien 1931. (151 S.; 

RM. 9.60) 

Neuraths Buch ist eine Programmschrift, eine Schrift iiber Wesen 
und Methode der Soziologie mit scharf polemischer antitheologischer und 
antimetaphysischer Spitze. Es gibt nur eine Wissenschaft mit eine r Methode 
(,,Einheitswissenschaft"), die sich in der Physik als der vorgeschrittensten 
und grundlegendsten aller wissenschaftlichen Disziplinen am reinsten ver- 
korpert („Physikalismus"). Jede Wissenschaft (die es mit der Wirklichkeit 
zu tun hat, von Logik — Mathematik abgesehen) stellt sich dar als Logi- 
sierung empirisch gefundener Da ten, sie faBt diese Beobachtungstatsachen 
daher in ihrem funktionellen Abhangigkeitsverhaltnis und in ihrer raum- 
zeit lichen Ordnung, derart, daB kontrollierbare Voraussagen von Erfahrungs- 
tatsachen moglich werden. Von dieser Grundthese ausgehend lehnt N. die 
prinzipielle Scheidung zwischen natur- und geisteswissenschaftlicher Er- 
kenntnis, die Trennung von „erklarender" und „verstehender t( Wissenschaft, 
die Behauptung von der weltanschaulichen Grundlage oder der Wert- 
beziehung geisteswissenschaftlicher Forschung ab. Er sieht ferner im Ge- 
schichtsmaterialismus, im Marxismus, den „geschlossensten aller bisherigen 
Versuche, eine streng wissenschaftliche, unmetaphysische physikalistische 
Soziologie zu schaffen'*. 

Das kleine Buch ist von erfreulicher Klarheit und Entschiedenheit, und 
vor allem der Forderung, daB die Soziologie nur klare und erfahrungsmaCig 
definierte Begriffe verwenden diirfe, mochte Ref. nachdrucklich zustimmen. 
Es ist heute besonders notwendig zu betonen, daB die Begriffe einer echten 
Wissenschaft termini sein mussen und nicht etwa „ausdruckskraftige Worte 
der Sprache", die ,,die Lebendigkeit in ihr Recht einsetzen wo lien'* — ■ um 
eine bezeichnende Wendung eines modernen philosophischen Werks zu 
zitieren. Der Gefahr des Einbruchs solcher Philosophic und ihrer „ Begriffe" 
in die Soziologie vorzubeugen, ist ein Verdienst, das ich auf alle Falle Neurath 
und seiner Richtung zuerkennen mochte, auch wenn ich ihm im einzelnen 
nicht uberall folgen kann. Vor allem fuhrt ihn das Vorbild der Physik m. M. 
nach zu weit: so wenn er sich den „Behaviorismus" zum Muster nimmt, der 
sich trotz exakter Reiz- und Reaktionsbestimmungen als vollig unfruchtbar 
erwiesen hat, wo es sich darum handelte, grundlegende gesetzmaflige Zu- 
sammenhange zu finden; nie ware man z. B. auf seinen Wegen zu der be- 
deutendsten und durchaus empirischen Schopfung der modernen Psycho- 
logic zur Psychoanalyse Freuds gekommen. Im Grunde begeht der Be- 
haviorismus denselben Fehler wie die metaphysische Soziologie: er geh- 
mit vorgefafitem Programm an die Tatsachen, anstatt sich von ihnen leiten 
zu lassen. Mit Recht betont N. selbst, daB Soziologie soziologisch betrachtete 
Geschichte werden muB — m. a. W. historische Reihenbildung, aus dem 
einmaligen historischen Material herausgearbeitet, die zugleich das Einmalige 
in seinem Zusammenhang und seiner Richtungstendenz erkennen lafit und 
das ,,Typische" seines Ablaufs, das man in andern Fallen wiedererkennt,. 
gleichgultig, ob es sich in einem Gesetz im strengen Sinn formulieren lafit. 
Es ware, scheint mir, giinstig fiir die Soziologie, wenn die Erorterung der 
Programme und Methoden (einer Wissenschaft, die selbst erst in ihren An- 



160 Besprechungen 

fangen steht!) hinter der praktischen Arbeit mehr zurucktrate. In der Natur- 
wissenschaft ist die erkenntnistheoretische Reflexion der Wissenschaft 
gefolgt, nicht ihr vorausgegangen. E. v. Aster (GieBen). 

Tonnies, Ferdinand, Einfiihrung in die Soziologie. Ferd. Enke, Stuttgart 

1931. (327 S.; br. BM. 11,50, geb. BM. 13.—) 

Wer Tonnies ist und wo sein wissenschaftlicher Standort ist, weiB jeder. 
Ea kann sich also nur darum handeln anzugeben, was von dem Gedankengut 
des Forschers gerade in diesera Buch zu finden ist, was nicht. Es fehlt die 
sog. generelle Soziologie, derenHauptbestandteilediephysischeAnthropologie 
in ihrer soziologischen Bedeutung und die Sozialpsychologie sind. T. gibt nur 
den theoretischen Teil der reinen Soziologie ; das Ziel seiner Darstellung sind 
Normalbegriffe und ideelle Typen (dieser Terminus scheint ihm angemessener 
als „Idealtypen" zu sein). Im Mittelpunkt seines Interesses steht auch hier 
der Komplex Gemeinschaft-Gesellschaft; die „Einfuhrung in die Soziologie" 
kann geradezu als Fortsetzung des Buches „Gemeinschaft und Gesellschaft u 
aufgefaBt werden. Das Buch berichtet von der Statik und von der systema- 
tischen Ordnung der sozialen Wesenheiten, nicht von ihrer Dynamik. 

T. halt uberall die Linie des Theoretikers inne; wo er Aussagen iiber das 
„wirkliche Leben" niacht und uber die Veranderungen und Bewegungen, in 
die die sozialen Wesenheiten durch das wirkliche Leben geraten, handelt es 
sich urn sorgfaltig ausgewahlte Beispiele einer Verifizierung des Behaupteten. 
DaB er mit warmem Herzen an den Sorgen unserer Zeit teilnimmt, zeigt 
schon eine Stelle der Vorrede, wo er sagt, dafl er seine Hoffnung nur in die 
Internationalist der nationalen Arbeiterbewegungen setze, wenn er an eine 
bessere Zukunft denke. Justus Stroller (Leipzig). 

Karl Marx / Friedrich Engels, Die heilige Familie und die Schriften 
von Marx von An fang 1844 bis An fang 1845. (Mdrx-Engels Gesamt- 
ausgabe; I. Abteilung, 3. Band.) Marx-EngeU-Verlag GmbH., Berlin 1932. 
(640 S., BM. 18.—) 
Karl Marx, Der historische Mater ialismus. Die Fruhschriften, 2 Bdnde, 
hrsg. von S. Landshut und J. P. Mayer. (Kroners Taschenausgaben) 
Kroner. Leipzig 1932. (414 u. 638 S., je BM. 3.75) 

Der neue Band der Gesamtausgabe ist von V. Adoratskij, dem Nachfolger 
des verdienstvollen und kenntnisreichen D. B. Rjazanov, im Auftrag des 
Marx-Engels Instituts, Moskau, herausgegeben und weist die textwissen- 
schaf tlichen und bibliographischen Vorzuge der vorhergegangenen Bande 
auf . Der vorliegende Band enthalt — wie auch Band I der Landshut- Mayer - 
schen Ausgabe — ein zum ersten Mai veroffentlichtes Manuskript philo- 
sophisch-okonomischen Inhalts aus dem Jahr 1844, das fur die Kenntnis der 
Jugendgeschichte M.s von besonderem Wert ist. Das Jahr 1844 in Paris ist 
fur M. damit bedeutsam geworden, dafl er dort — wie aus den abge- 
<lruckten Exzerptheften hervorgeht — die englische und franzosische 
okonomische und sozialistische Literatur und die franzosische Ar- 
beiterbewegung aus pers6nlicher Anschauung kennenlernt. Das Manu- 
skript enthalt denn auch seine ersten kri tischen Bemerkungen iiber die 
biirgerliche politische Okonomie sowie eine Kritik der utopischen kommu- 
nis tischen und sozialistischen Schriften. Im Zusammenhang mit dem Pro- 



Allgemeine Soziologie 161 

blem der Selbstentfremdung des Menschen findet sich auch eine Auseinander- 
setzung mit Hegel. Jenes Problem hat M. wahrend seiner ganzen Friihzeit 
beschaftigt und nimmt in den Gedankengangen des Manuskripts eine ent- 
scheidende S telle ein. Hier tritt es zum let z ten Male als philosophisch- 
metaphysisches Problem auf, um dann in der materialistischen Geschichts- 
auffassung, wie sie in der „Deutschen Ideologic'* von 1845 — 46 zum era ten 
Mai ausgefiihrt ist, in den okonomisch-soziologischen Begriff der Verding- 
lichung tiberzugehen. Die Frage, inwieweit M. in seiner Grundhaltung immer 
Hegelianer geblieben isti oder ob seine Kritik an Hegel seinen spateren ameta- 
physischen Materialismus zureichend begriindet hat, ist allein auf Grund 
jenes Manuskripts nicht zu entscheiden. 

Deswegen ist auch die ethisierend-idealistische Interpretation, als deren 
Verfechter S. Landshut und J. P. Mayer in der Einleitung zu ihrer Ausgabe 
auftreten, recht problematisch. Sie ist auch unzureichend fundiert, weil sie 
auf den Anteil des Feuerbachschen Humanismus an der Pragung des M.schen 
Begriffs vom Menschen und auf die spatere Entwicklung M.s und die Selbst- 
kritik an seiner hegelianisch-philosophischen Vergangenheit gar nicht ein- 
geht. Die Bemiihungen, M. zum „vielleicht echtesten Hegelianer" 
zu stempeln, wirken umso befremdender, als die Herausgeber M. mangelndes 
Hegelverstandnis vorwerfen. 

Der zweite Band der Landshut -Mayerschen Ausgabe enthalt den voll- 
standigen Abdruck der „Deutschen Ideologie" mit einigen bisher unver- 
offentlichten Bruchstiicken. 

A. F. Westermann (Frankfurt a. M.). 

H eider, Werner, Die Oeschichtslekre von Karl Marx. Cotta. Stutt- 
gart u. Berlin 1931. (VIII u. 201 5.; RM. 9.50) 

Als Ausgangspunkt seiner Betrachtungen nimmt H. die Marxsche mate- 
rialistische Greschichtsauf f assung ; die Darstellung will er, nach Breysigs 
Beispiel, „vom Boden der Geschichtswissenschaft selbst aus" unternehmen, 
und sein Ziel sieht er darin gegeben, „die in zahlreichen Schriften Marx* 
verstreuten Bausteine seiner Geschichtslehre zusammenzutragen und sinn- 
voll ineinander zu fiigen". Im Dienste eben dieses Leitmotivs haben „alle 
Arbeiten Marx* gestanden", und so gilt es, gegen die Wirtschaftstheoretiker 
zu kampfen, die die Bedentung des „Historisch-Philosophischen in Marx* 
Arbeiten zu gering anschlagen und als Quintessenz der Forschungsergeb* 
nisse Marx* die Mehrwert-, Krisentheorie usw." betrachten. 

Das Buch ist in drei Abschnitte geteilt. Im ersten werden „die wissen- 
schaftlichen Grundlagen der Marxschen Geschichtslehre" als die philo- 
sophischen Voraussetzungen und die Methode Marx' aufgezeichnet, im 
zweiten „das System der geschichtlichen Formen und Krafte" — was etwa 
dem Thema Produktivkrafte — Produktionsverhaltnisse entspricht — 
behandelt und im letzten, „Bewegung und Entwicklung", die Gesetze der 
dialektischen Bewegung und die Stufenreihe der Entwicklung angegeben 
und an Hand der Marxschen Erklarungen der einzelnen Stufen seine Ge- 
schichtslehre erlautert. H. versucht erfolgreich, jeglicher Polemik fernzu- 
bleiben, geht deshalb direkt auf keine der vielen friiheren Untersuchungen 
des Problems ein, belegt desto mehr seine Ausfiihrungen mit Marxzitaten, 



162 Besprechungen 

wobei auch die erst neuerdings veroffentlichten Schriften von Marx 

— insbsondere die , , Deutsche Ideologic** — stark herangezogen werden; 
die Darstellung ist sehr lebendig und klar, und das ganze Werk liest sich 
sehr leicht. 

Hier ist kein Platz fiir eine Auseinandersetzung vorhanden, es muB aber 
betont werden, daB die Aufgabe, die der Verf . sich setzt, nicht in der Weise 
bewaltigt werden kann, daB die „verstreutenBausteine Marxscher Geschichts- 
lehre" zusammengetragen werden. Bei einem solchen Vorgehen werden 
die verschiedenartigen Elemente nebeneinandergestellt, die dann eben nur 

— sinnvoll oder uberhaupt r'cht geordnet werden konnen. Warum aber 
„briichige Stellen" in der Marxschen Geschichtslehre entstanden sind und 
auf welche Weise sie ausgefullt werden sollen — diese Fragen sind unbeant- 
wortet geblieben. Dem Leser dringen sie sich desto mehr unaufhorlich auf. 

Michael Milko (Berlin). 



Essays on Research in the Social Sciences. The Brookings Institution. 

Washington 1931. (194 S.) 

Das Brookings Institut lud 1930/31 eine Anzahl bekannter Forscher ein, 
zu dem Problem wissenschaftlicher Forschungsmethoden in den Sozial- 
wissenschaften Stellung zu nehmen. Diese Vortrage liegen nun in Buch- 
form vor. 

Angeregt von dem Erfolg der Natur wissenschaf ten, allerdings mit der 
einschrankenden Erkenntnis, daB die Sozialwissenschaften durch die Be- 
sonderheit ihres Materials kaum gleiche Resultate haben konnen, versucht 
man Arbeit smethoden zu finden, die ebenfalls relativ sichere Schliisse zu- 
lassen. Die grundlegende Frage : was ist Wissenschaf t ? wird allerdings von 
W. F. G. Swann m. E. kaum beantwortet. W. W. Cook, der die Moglich- 
keiten gesellschaftlicher Studien als Wissenschaf t untersucht, verwirft die 
kunstliche Scheidung zwischen Tatsachen- und Werturteilen und gibt eine 
Analyse dessen, was wir unmittelbare Tatsachen nennen, um zu zeigen, daB 
jede gegebene Tatsache im Augenblicke, wo wir sie beschreiben, denjenigen 
Aspekt zeigt, den unser Interesse gerade beleuchtet. Die Naturwissenschaften 
sind deshalb nicht mehr als die Sozialwissenschaften imstande, absolute 
Wahrheiten zu enthiillen. Es sind immer nur der Situation entsprechende 
relative Wahrheiten auffindbar. — Dann f olgen Aufsatze uber die Methoden 
in den einzelnen Wissenschaftsgebieten, die zur Sozialwissenschaft gehoren: 
in der politischen Geschichte (Beard), in der Volkswirtschaft (I. M. Clark), 
im Recht (K. L. Llewellyn), in der Psychologie (M. Bentley) und in der Ge- 
schichte (A. M. Schlesinger). 

Was dieser Abschnitt eigentlich nur zeigt, ist, daB gegenseitige Befruch- 
tung sehr selten stattfindet und daB der Forscher doch zumeist Historiker, 
Volkswirt usw., nicht aber So zial wissenschaf tier ist. 

Fast alle Aufsatze wehren sich gegen eine Dberschatzung der quanti- 
tation Methode. Sie ist ,,eine Phase, nicht etwa ein besonderer Typus des 
Denkens'% durch die sich Wahrheitsfragmente erreichen lassen; Hypo- 
thesen sind notig, um die sich die sonst chaotischen Tatsachen lagern miissen. 
Interessant ist im Gegensatz dazu Ogburns Aufsatz uber die Grundsatze 



Allgemeine Soziologie 163 

der Auswahl von Forschungsproblemen, die nach ihm alle allein der Wissen- 
schaft, also der „Entdeckung neuen dauemden Wissens" dienen sollen; ent- 
scheidend bei der Auswahl soil sein, ob es zuverlassiges Material daruber gibt, 
das sich mit den Methoden, die uns zur Verfiigung stehen, wissenschaftlich 
erforschen lafit. Ein Aufsatz von W. I. Thomas folgt, der das menschliche 
Verhalten nicht durch statistische Methoden, sondern aus der Gesamt- 
situation her studiert sehen will. 

Die gesammelten Aufsatze geben uns, ohne die methodologischen Pro- 
bleme etwa erschopfend zu behandeln, einen guten tlberblick uber die Art, 
wie man sich in den einzelnen Gebieten der Sozialwissenschaft in Amerika 
uber die jedem gemafien Forschungsmethoden klar zu werden versucht. 

Margareta Lorke (Frankfurt a. M.). 



Rofi, E. A., Principles of Sociology, Revised Edition. The Century 
Co. New York 1930. (592 S. $ 4) 

In noch starkerem Matie als die Erstauflage ist diese neue veranderte 
Ausgabe der ,, Principles of Sociology*' (die auch in Deutschland als „Das 
Buch der Gesellschaft", Verlag G. Braun, Karlsruhe 1926, vorliegen) das 
Werk eines Forschers, der die fernsten Lander — Mexiko, Portugiesisch- 
Afrika, Sudafrika, Indien, Java, Siam, Agypten und Palastina — bereist, 
um die lebendigen Probleme unserer heutigen Zeit mit anzuschauen und dar- 
zustellen. Mutig bekennt er sich zu Veranderungen, wie dem Weglassen 
der friiher oft zur Erklarung herangezogenen Instinktpsychologie oder dem 
Hinzufugen friiher wenig beachteter anthropologischer Erkenntnisse. Ein 
System — wenigstens in unserm Sinn, als ein Einordnen der gesamten sozio- 
logischen Phanomene in ein in sich selbst bestandiges Gedankengebaude — 
ist es auch jetzt nicht. Vielmehr geht R. mit reichem Tatsachenmaterial auf 
die sozialen Probleme unserer Zeit ein. Demgemafi ist denn auch eine ver- 
atarkte Betonung auf den Abschnitt „KonfIikt" gelegt worden! 

Wenn R. als einen der Griinde fur die Neuausgabe die in der Forschung ge- 
machten Fortschritte angibt, so will er damit nicht etwa sagen, daC er nun 
die neusten „exakt"-wissenschaftlichen Methoden der neuen Forschungs- 
richtung hatte anwenden wollen. Das hieBe sein gesamtes Lebenswerk in 
Frage stellen. R., der sich, soviel ich weiB, friiher niemals veranlaBt gesehen 
hat, seine Forschungsmethode theoretisch zu rechtfertigen oder uberhaupt 
zum Problem der Methodologie Stellung zu nehmen, sieht sich jetzt gegen- 
iiber der unter dem Banner „exakter" oder „quantitativer" Forschungs- 
methoden immer machtiger heranmarschierenden Front der jiingeren ameri- 
kanischen Soziologen veranlaBt, in seinem Artikel „The Uniqueness of the 
Social Sciences" in „Sociology and Social Research", September- Oktober 
1931, S. 3 — 6, seine eigene Methode zu verteidigen. Dafi auch dieser Artikel 
keine Auseinandersetzung mit den grundsatzlichen Problemen bietet, liegt 
nicht nur an der Beschranktheitdes Raums, sondern auch an R.s Temperament 
und Einstellung, die Lebendiges lebendig anpackt und der jede ausgesponnene 
methodologische Vorfrage als Zeitvergeudung erschiene. 

Margareta Lorke (Frankfurt a. M.) 



164 Besprechungen 

Spahr, Earl, und Rinehart John Swenson, Methods and Status of Scienti* 
fie Research. Harper & Brothers. New York 1930. (XXI u. 553 S.; 
$ 4.-) 

Ein Hilfsbueh fiir amerikanische Studenten, das ihnen sowohl den wissen- 
schaftlichen Geist als Voraussetzung bei Forschungsarbeit analysiert als 
auch die samtlichen technischen Phasen einer Arbeit beschreibt. Es gibt 
wichtige Information uber Bibliotheksbenutzung, nationale und inter- 
nationale Forschungsinstitute, Anlegen ubersichtlicher Kartotheken, An- 
fertigung von Manuskripten und Korrekturlesen und uber Biicherbespre- 
chungen: kurzum uber alles Technische wissenschaftlicher Arbeit, das zu 
wis sen no tig ist und viel Zeit erspart. 

Margaret a Lorke (Frankfurt a. M.). 

Davy, Georges, Sociologues d'hier et d'aujourd'hui. Filix Alcan. 
Paris 1931. (308 S.) 

Die moderne franzosische Soziologie wandelt noch immer in Durkheims 
FuBstapfen; der EinfluB Spencers und sogar der Comtes ist imVerschwinden 
begriffen. Auch Le Play vermag der jetzigeh Generation wenig zu sagen, 
seine Anhanger rekrutieren sich meistens aus reaktionar und klerikal ein- 
gestellten Wissenschaftlern. Von diesem Stand der franzosischen Soziologie 
gibt das vorliegende Buch ein ausfuhrliches Bild. Die Einleitung schildert die 
Entwicklung der franzosischen Soziologie in der ersten Nachkriegszeit. Das 
Buch umfaBt vier Abhandlungen : In der ersten wird das Werk des Soziologen 
Espinas, der von Spencer ausging, aber spater auch Wege der Durkheim- 
Schule einschlug, beschrieben. Das 2.Kapitel bespricht die Lehre Durkheims 
von Familie und Verwandtschaft, im 3. ist eine Parallele zwischen der 
Sozialpsychologie des englischen Gelehrten William McDougall und der 
Soziologie Durkheims gezogen. Im letzten Kapitel wird ausfxihrlich das 
Lebenswerk von Levy-Bruhl, seine Leistung auf dem Gebiete der Psycho - 
logie der primitiven Volker gewiirdigt. Schade, daB die letzte Schrift Levy- 
Bruhls „Das Ubernaturliche und die Natur im Denken der primitiven Volker'* 
spater erschienen ist und daher nicht mehr berucksichtigt werden konnte. 
Das Buch gewahrt eine aufschluBreiche Orientierung. 

Paul Szende (Wien). 

Turgeon, Charles, Critique de la Conception matirialiste de Vhistoire. 
Librairie du Becueil Sirey. Paris 1931. (Ill u. 530 S.) 

Turgeon will beweisen, dafi die materialistische Geschichtsauffassung 
weder neu, noch logisch, noch wissenschaftlich ist. Der Angriff geht auf 
drei Fronten vor sich. Zuerst sucht er zu zeigen, daB die Produktivkrafte 
nicht die einzige Triebkraft in der Geschichte bilden. Gegen den Deter minis - 
mus der materialistischen Geschichtsauffassung operiert er dann mit der 
abstrakten Idee der individuellen Freiheit : nicht die okonomischen Tatsachen, 
sondern Pflichtgef uhl und religioser Glaube bestimmen nach seiner Ansicht 
die menschlichen Handlungen. ,,Die ersten deutschen KanonenschUsse 
durchbrachen diesen internationalistischen Zauber, die materialistischen 



Allgemeine Soziologie 165 

Trugschliisse. Freiwillig, in einem triebhaften Schwung, sind alle franzo- 
sischen Arbeiter zu den Grenzen geeilt, um das Vaterland zu verteidigen, 
als ob sie ihrer Mutter zu Hilfe gelaufen waren". Die Zunahme der 
Religiositat in Frankreich nach dem Kriege beniitzt der Verf . auch als Argu- 
ment gegen die materialistische Geschichtsauffassung. Er verwechselt aber 
zwei Sachen: nicht die Religiositat hat im Frankreich der Nachkriegszeit 
zugenommen, sondern die Macht der Kirche, die sich mit der Schwerindustrie 
und Hochf inanz verbiindet und ihre Krai te den Geldmachten zur Verf ugung 
gestellt hat. Entsprechend seiner klerikalen Einstellung halt es der Verf. 
nicht fur moglich, die letzten Griinde der geschichtlichen Entwicklung zu 
entdecken: „Angesichts dieses vielleicht unergrundlichen "CJnbekannten 
miissen wir ein grofies religioses Stillschweigen bewahren, das sich alien 
Seelen von gutem Glauben, die nicht bar jeder Bescheidenheit und Vorsicht 
sind, auferlegt". Auch ein wissenschaftlicher Standpunkt! 

Paul Szende (Wien). 

Steinmetz, S. R., Inleiding tot de sociologie. (Einleitung in die Sozio- 
logie) Haarlem 1931. (256 S.) 

Diese Einfuhrung in die Soziologie von der Hand des bekannten hol- 
landischen Soziologen hatte m. E. besser mit dem Titel ,, Einfuhrung in 
die Probleme der Soziologie" bezeichnet werden kdnnen. Die Soziologie 
steht nach S. noch erst in ihren Anfangen, man hat zu lange iiber Methode, 
Definition und Begrenzung dieser Wissenschaft diskutiert, statt mit dem 
Studium der vielen noch nicht aufgedeckten gesellschaftlichen Probleme 
anzufangen. Bei jeder Gelegenheit versucht S. deshalb nachzuweisen, welche 
ungelosten Fragen es gibt, und betont die Notwendigkeit, diese griindlich 
und unbefangen zu studieren. 

Die Schrift will gleichzeitig eine Anklage gegen den Dilettantismus auf 
soziologischem Gebiet sein. Um diesen zu bekampfen, sei es zunachst notig, 
den direkten Zusammenhang zwischen dieser Wissenschaft und anderen, 
welche sich mit dem Menschen und der Gesellschaft beschaftigen, festzu- 
stellen. Als wichtige Hilfswissenschaften sollen neben Psychologie und Ge- 
schichte die politische Okonomie, die Ethnographic und Soziographie gelten^ 
deren Bedeutung, auch an der Hand von umfangreichem hollandischem 
Material, in dieser „Einleitung" besonders hervorgehoben wird. 

Von den zur Behandlung gelangten Themen nennen wir besonders „Die 
Gemeinschaft und ihre Seele'*, „Die Macht der ,gro!3en Manner'" und „Die 
Arten der Gruppierungen und ihre Einteilung". Am meisten hat die Behand- 
lung des letztgenannten Themas unsere Aufmerksamkeit erregt, da es hier 
eine Fiille von anregenden Gedanken gibt; zu bedauern ist nur, daB in diesem 
Abschnitt iiber die Bedeutung und das eigene Lebensgesetz der verschie- 
denen sozialen Gruppierungen viel zu wenig gesprochen wird. 

Generell muB festgestellt werden, dafi die Vielheit der Fragen und die 
Anhaufung von Problemen zusammen mit dem aggressiven Charakter der 
Schrift fiir Anf anger nicht direkt ermutigend wirkt. Vielmehr ist diese 
„Emfuhrung" als Meditationsschrift geeignet fiir diejenigen, welche bereits 
mit den verschiedenen soziologischen Richtungen vertraut sind. Die viel- 



1 66 Besprechungen 

fach wiederholte, ubrigens berechtigte Bemerkung, dafi diese Zeit experimen- 
telle soziologische Studien fordere, richtet sich wohl auch mehr an die Fach- 
leute als an diejenigen, denen diese „Einfuhrung" an erster S telle dienen 
soil. Andries Sternheim (Genf). 



Psychologic 

Breysig, Kurt, Die Geachichte der Seele im Werdegang der Menschheit. 
M. & H. Marcus, Breslau 1931. (XXXVII. w. 526 S.; br. RM. 15.—, 
geb. RM. 17.—) 

Breysig will die Weltgeschichte (politische wie Geistesgeschichte) als 
eine Geschichte der menschlichen Seele, ihre einzelnen Perioden als Ausdruck 
verschiedener seelischer Grundverfassungen — nicht eines fiktiven Zeit- 
geistes oder einer Volksseele, sondern der wirklichen handelnden und schaf- 
fenden Menschen — ,,deuten". Die Perioden selbst — Urzeit, Altertum, 
Mittelalter, neuere und neueste Zeit — werden in ihrer Abgrenzung voraus- 
gesetzt, ubrigens zugleich als Allgemeinbegriffe genommen. Auch die Pri- 
mitiven der Gegenwart leben in der Urzeit, von einer neueren und neuesten 
Zeit wird auch bei den alteuropaischen Volkern gesprochen. In friiheren Wer- 
ken hatte B. einen Versuch solcher ,,Weltseelengeschichte" durch die Unter- 
scheidung der beiden alternierenden Perioden eines iiberwiegenden,, Hingabe"- 
und ^Ichbehauptungstriebes*' gemacht, diese Unterscheidung soil nicht 
aufgehoben, sondern erganzt werden durch das vorliegende Buch, das von 
den vier „Seelenkraften" Einbildungskraft, Gefiihl, Wille, Verstand ausgeht. 
Die Urzeit wird bestimmt durch die Vorherrschaft der Einbildungskraft 
(als des Quells der grofien Mythen, aber auch der Sprache und der Ge- 
schlechtsordnungen, in deren minutioser Regelung B. das Walten „frei 
spielender Lust" ( ?) erkennen will) unter starker Anteilnahme des Gefiihls. 
Das Altertum ist durch den Prima t des vom Verstand unterstiitzten Willens 
gekennzeichnet : der Despotismus als Staatsform, ubergewaltige Gotter- 
geatalten zeigen diesen Willenscharakter ebenso wie die Pyramiden der 
Agypter oder der gewaltige Bau der babylonischen Astralreligion. Das Mittel- 
alter zeigt wieder Verwandtschaft mit der Urzeit, nur dafi in ihm das Gefiihl 
herrscht, die Einbildungskraft die unterstiitzende Rolle spielt; die neuere 
Zeit entspricht dem Altertum, nur dafi dem Verstand die uberragende Stellung 
zufallt. Die neueste Zeit — mit dem Hervortreten des Gefiihls in der Rousseau- 
zeit und der Romantik beginnend, dann in den Willensprimat der Diktaturen 
eines Robespierre und Napoleon umschlagend, spater zwischen Imperialismus 
und Demokratismus, kapitalistischem Eroberertum und sozialistischer Heils- 
botschaft, zerflieBender Mystik und zielbestimmter Begriffstechnik, natura- 
listischer Hingabe an den Stoff und Wertung gepragten Stils — zwischen Ge- 
fiihls- und Willensbewegungen in schnellstem Wechsel schwankend, mehr und 
mehr gleichzeitig in sie gespalten, zeigt nicht mehr das Dominieren einer 
Seelenkraft, sondern ein stofiweises Hin und Her. Andererseits weist das 
Ganze der weltgeschichtlichen Entwicklung eine fortschreitende Richtung 
auf in der Seite des starkeren Hervortretens der BewuBtheit alles Gesche- 
hens. 



Psychologie 1 67 

Das Hauptbedenken, das man gegen Breysigs Versuch haben wird, 
ist natiirlich die XJnbestimmtheit jener vier Grundbegriffe, es sind sozusagen 
Begriffe einer naiven Vermogenspsychologie. LaBt sich z. B. der quali- 
tative Unterschied zwischen dem Denken und Fuhlen der Primitiven 
und dem unsrigen auf die einfache Formel von der Herrschaft der „Ein- 
bildungskraft" bringen ? Mir scheint, wir miiBten, wie die Dinge heute la gen, 
erst eine genauere Psychologie der Menschen der verschiedenen Zeiten und 
(besonders je naher wir der Gegenwart kommen) auch der Klassen haben, 
ehe wir eine Geschichte der menschlichen Seele durch die Weltgeschichte 
verfolgen konnen. Damit will ich dem B.schen Buch Wert und Verdienst 
nicht absprechen, es besitzt sie schon durch die historische Sachkenntnis des 
Verfassers und durch seine Fahigkeit, Ahnlichkeiten und Gleichgerichtet- 
heiten in den verschiedenen Seiten gleichzeitiger Tat- und Geistesgeschichte 
zu entdecken, und das Prinzip von der Dominanz und Mischung der Seelen- 
krafte ist natiirlich ein Ordnungsprinzip, das wie jedes an den Tatsachen 
gewonnene Ordnungsprinzip heuristischen Wert hat. E. v. Aster (GieBen). 

Jung, C. G. ? Seelenprobleme der Gegenwart. Raacher. Zurich 1931. 

(435 S. t geb. RM. 11.20) 

Das Buch vereinigt Vortrage und Aufsatze teilweise polemischer Form. 
,,Probleme der modernen Psychotherapie" sind identisch mit Psychoanalyse, 
allerdings in einem weit uber Freud hinaus erweiterten Sinn. Die erste 
Stufe der Psychologie ist die Reinigung: durch die Idee der Siinde entsteht 
das Verdrangte, das von der Gemeinschaft abscheidet und als „kleine ein- 
geschlossene Psyche" seine Schatten auf das BewuBtsein wirft. Da meist 
der Kranke diese nicht erkennen kann, muB der Arzt aufklaren und evtl. 
deuten, namentlich die Ubertragung. Dies kann zerstorerisch sein, denn 
,,selbst unsere reinsten und allerheiligsten Anschauungen ruhen auf tiefen 
dunklen Grundlagen". Es sei ein Irrtum Freuds, zu glauben, daB ,,das Lichte" 
nicht mehr bestehe, weil es von der Schattenseite her erklart ist. Dieser 
,,Relativismus" sei ,,als feme ostliche Wahrheit" eine Erganzung zu ,,unseren 
abendlandischen Illusionen und Beschranktheiten". Die dritte Stufe, die 
Erziehung zum sozialen Menschen, basiere Adler auf der „Psychologie des 
Unterdriickten und sozial Erfolglosen", dessen ;,einzige Leidenschaft das 
Geltungsbediirfnis" sei. Adler wolle den normalen Menschen. Da aber nicht 
jeder ein ,,Durchschnittsmensch" sein konne, sieht fiir ihn J. die ethische 
Forderung: ,,du mufit der sein, als der du wirken willst" und ,,fiihrt so an 
die irrationalen Faktoren der menschlichen Personlichkeit heran". Dieser 
Einleitungsaufsatz zeigt den psychologischen und soziologischen Ort von J. : 
er ist befangen von Ressentiments gegen den als uberlegenen Geist emp- 
fundenen Freud, Aus ihnen heraus stellt er Dinge, die seinLehrer vor 30 Jahren 
als Selbstverstandlichkeiten voraussetzte (z. B. Selbsterforschung des Ana- 
lytikers, ethische und asthetische Wertungen) als neue Funde im groBen 
Gegensatz zu Freud dar. Dabei nimmt die Polemik fiir Verhaltnisse medi- 
zinischer Literatur erstaunlich klare Formen an: J. ist der Verteidiger des 
abendlandischen Ethos gegen die ostliche Skepsis und im Falle Adler noch 
der bodenstandige Schweizer gegeniiber dem Vertreter der sozial Erfolglosen. 
Er ist der Verfechter des archaischen Menschen und seiner dichterischen 



168 Besprechungen 

Phantasien gegenuber dem geistigen. Und so stellt er in seiner „ Psycho - 
logischen Typologie" den Weltabgewandten, der mit dem Abkommling 
seines Unbewufiten zufrieden spielt, dem anderen gegenuber, der der Aufien- 
welt zugekehrt ist, um sie zu verandero. J. bringt so, gerade weil er pole- 
misch und daher sehr offen ist, einen glanzenden Beitrag zur Psychologie 
des Intellektuellen, der zurtick zur Natur, weg vom Sozialen, der Bewunde- 
rung der Personlichkeit — seiner eigenen — lebt. 

Karl Landauer (Frankfurt a. M.). 

Freud, Sigmund, Vber libidinoae Typen. In: Internationale Zeitschrift 
fur Psychoanalyse, XVII. Band. Intern. Psychoanalytischer Verlag. 
Wien 1931. (S. 313—316) 

Es gibt viele Moglichkeiten, die Menschen nach Typen einzuteilen. Die 
ideale Typisierung unterscheidet nach korperlich-seelischen Bildern (wie 
das auch Kretschmer vorschwebt. D. Ref.). Da dies z. Z. noch nicht moglich 
ist, so versucht F. eine Typisierung nach der vorwiegenden Unterbringung 
der Libido in den Provinzen des seelischen Apparates. I. Reine Typen: 
1. Der erotische Typ hat sein Hauptinteresse dem Liebesleben zugewendet* 
Die Personen sind beherrscht von der Angst vor Liebesverlust und abhangig 
von denen, die ihnen die Liebe versagen konnen. Sozial wie kulturell ver- 
treten sie die elementaren Triebanspriiche des Es* 2. Der Zwangstyp ist 
charakterisiert durch die Vorherrschaft des Uberichs. Beherrscht von Ge- 
wissensangst, zeigt er innere Abhangigkeit statt der auBeren, entfaltet ein 
hohes MaJJ von Selbstandigkeit und wird zum eigentlichen, vorwiegend 
konservativen Trager der Kultur. 3. Der narzistische Typ ist negativ charakte- 
risiert durch das Fehlen der Spannung zwischen Ich und Uberich und der 
tfibermacht der erotischen Bedurfnisse. Sein Hauptinteresse gilt der Selbst- 
erhaltung. Hohe Bereitschaft zur Aktivitat. Lieben wird vor dem Geliebt- 
werden bevorzugt. Derartige Menschen imponieren als „Pers6nlichkeiten'V 
ubernehmen oft die Rolle von Fuhrern, geben der Kulturentwicklung neue 
Anregung und schadigen das Bestehende. — Viel haufiger sind II. die Misch- 
typen: 1. Beim erotischen Zwangstyp ist dietTbermacht des Trieblebens durch 
das ttberich eingeschrankt. 2. Der haufigste Typ uberhaupt ist der erotisch- 
narzistische ; er vereinigt Gegensatze, die sich gegenseitig m a 13 i gen. 3. Der 
narzistische Zwangstyp, die kulturell wertvollste Variation, fiigt zur auBeren 
Unabhangigkeit und Beachtung der Gewissenforderungen die Fahigkeit 
zur kraftvollen Betatigung hinzu. — Ein erotisch - zwangshaft - narzi- 
stischer Mischtyp ware die absolute Norm, die ideale Harmonie. In bezug 
auf die Anwendung der Typenlehre fiir das Verstandnis der Neurosen und 
ihre Entstehung aufiert sich Freud sehr vorsichtig, wie uberhaupt dieser 
kleine Aufsatz die ganze Weisheit und Zuruckhaltung des greisen Forschers. 
kund tut. Karl Landauer (Frankfurt a. M.). 

Bumke, 0., 0. Kolb, H. Roemer, E. Kahn, Handworterbuch der Psy- 
chischen Hygiene und der Psychiatrischen Fursorge. De Gruyter.. 
Berlin und Leipzig 1931. (VI u. 400 S„ geh. RM. 23.—, geb. EM. 25.—). 
Es handelt sich um den ersten Versuch einer zusammenfassenden Dar- 

stellung der psychischen Hygiene, einer wissensehaftlichen Bestrebung y 



Psychologic 169 

die in den letzten Jahren hauptsachlich auf amerikanischen AnstoB hin ins 
Leben trat. Bis vor ganz kurzem waxen die einschlagigen Arbeiten an den 
verschiedenartigsten Stellen zu suchen, auch fehlte ein Forum, das 1930 
im Intern. KongreB fiir Psych. Hygiene (Washington) geschaffen wurde. 
Der Neuartigkeit des darzustellenden Gesamtthemas entspricht es, wenn 
nicht ein lehrbuchmaBiger Aufbau sich schon jetzt ermoglichen lieB, vielmehr 
die Einteilung nach Schlagworten im Sinne eines Worterbuches gewahlt 
wurde. Man hat fiir die einzelnen Kapitel bewahrte Autoren gefunden, so fiir 
„Ausbildung der mit Ps. H. befafiten Personenkreise" Sioli, „ Grundsatzliches 
zur Eugenik" Luxemburger, „Fiirsorge fiir Encephalitiker" Stern-Kassel, 
,,Beschaftigungsbehandlung der Geisteskranken" Simon- Giintersloh, „Ent- 
wurf des preufiischen Irrenfiirsorgegesetzes und neues Strafgesetzbuch" 
Schulze-Gottingen, ^Pathopsychologies Schneider- Koln, „Psychotherapie" 
Kretschmer. Man wird demzufolge die verschiedenen sich widersprechenden 
psychiatrischen und soziologischen Anschauungen vertreten finden und sich 
uber sie orientieren konnen. 

Karl Landauer (Frankfurt a. M.). 

Homer, G. A., Die wissenschaftliche Erschliefiung der Innen- 
welt einer Personlichkeit. Emil Birkhauser & Cie. Basel 1930. (32 S.. 
EM. 1.80) 

Diese Arbeit aus dem Stuttgarter „Arztlich-psychologischen Institut" 
versucht mit Erfolg, auch die tieferen Schichten des Menschen experimentell 
zu erfassen. R. benutzt die durch ihn wesentlich ausgebaute Methode von 
Rorschach (Phantasien zu Tintenklecksen), die mit zahlreichen z. T. ge- 
schickt verbesserten Tests verkniipft wird. So kann er zeigen, dafi zu den 
verschiedenen Konstitutionen bestimmte Atemtypen gehoren. Auch bringt 
er Tatsachen bei, die es schwer werden lassen, weiterhin ein Unbewufites 
abzulehnen. Neben diesem theoretisch wichtigen Result at bringt die kluge 
und fleiBige Arbeit dem Eignungspriifer auch reichlich praktische An- 
regung. Karl Landauer (Frankfurt a. M.). 

Murphy, Gardener, and Louis Barclay Murphy, Experimental Social 
Psychology. Harper & Brothers. New York 1931. (709 S.; $ 3.50) 

Die experim en telle Sozialpsychologie besitzt in Amerika seit langerer 
Zeit die Stellung einer anerkannten Disziplin, die in engstem Kontakt zu 
den allgemeinen biologischen Fragen, z. B. zum Instinktproblem (Mac- 
Dougall), sowie zur Kinder- und Tierpsychologie steht. 

Viel statistisches Material iiber die Bedeutung von Anlage und Erziehungs- 
einfluB fiir die individuellen Unterschiede wird beigebracht (Zwillings- 
forschungen; der EinfluB von Sauglingsheim und Kindergarten; die Be- 
dingungen fiir die bessernde Wirkung einer Anstalt auf straff allige Kinder > 
insbesondere die groBe Bedeutung der Stellung des Kindes zur Arbeit usf.). 
Nach Collins ist der Einflufi des Berufs der Eltern auf die Intelligenz der 
Kinder nicht groB (verglichen wird eine ganze Stufenfolge vom sozial ge- 
hobensten Berufe bis zum ungelemten Arbeiter). Trotz einer Fiille von 
XJntersuchungen hat sich kein eindeutiger Intelligenzunterschied* zwischen 
Negern und Wei Ben ergeben, wohl aber besteht ein deutlicher Intelligenz* 



170 Bespreohungen 

unterschied zwischen den Negern auf dem Lande und in der Stadt. Man 
sucht zu ermitteln, ob hier die Stadt selektiv wirkt oder ob eine Anderung 
durch die Umwelt vorliegt. 

Ausfuhrtich werden die Probleme der Nachahmung, der Suggestibility 
und Hypnotisierbarkeit behandelt, die Entwicklung des sozialen Verhaltens 
beim Kinde, des sozialen Kontaktes, die Bedeutung der Sprache. Wichtig 
ist eine Reihe russischer Arbeiten uber Gruppenbildung und Fuhrerschaft 
bei Kindem (Doroschenko); Beziehung von Altersgleichheit und Freund- 
schaft; Zusammenarbeit in der Gruppe; Gruppendenken in Konfliktsitua- 
tionen; die Abhangigkeit der Dauer einer Gruppe von ihrer Grofie; ver- 
schiedene Arten des Zerf alia der Gruppen ; Vergleich der Tendenz zur Gruppen- 
bildung bei Kindern von russischen Arbeitern und russischen Beam ten u. a. m. 

Die Bedeutung der Stellung eines Kindes in der Familie, vor allem in 
der Geschwisterreihe, und die Wirkung der Berufsarbeit der Mutter werden 
untersucht. Amerikanische Arbeiten berichten tiber die Einstellung der 
Mitglieder verschiedener Rassen und Klassen zueinander (dabei konnen 
der ersten Frage 22 Seiten, der zweiten 1 Seite gewidmet werden). 

M u r p h y s Buch gewahrt eine ausgezeichnete Orientierung uber ein 
gegenwartig bereits recht umfangreichea Tatsachenmaterial. Es laBt auch 
erkennen, wo innerhalb der statistischen Tatsachensammlung Tendenzen 
auftreten, iiber die gebrauchliche Problems tellung zu tief eren Fragen vor- 
zustoCen. Kurt Lewin (Berlin). 



Folsom, Joseph K., Social Psychology, Harper & Brothers. New York 1931. 
(XVIII— 701 S. $ 3,50) 

Das vorliegende Buch ist ein Lehrbuch der Sozialpsychologie vom be- 
havioristischen Standpunkt. Es legt besonderen Wert auf den Aufbau der 
Einzelpersdnlichkeit, wobei in getrennten Kapiteln die angeborene und er- 
worbene Organsiation des Verhaltens, Wiinsche und Organisation der Per- 
sonlichkeit, Wunschvereitelung und Wiederherstellen (readjustment) der 
Personlichkeit, individuelle Unterschiede und ihre Messung behandelt 
werden. 

Im zweiten Teil geht der Verfasser zu den Wechselwirkungen (inter- 
actions) zwischen den Personlichkeiten iiber. Ein dritter Teil behandelt die 
Wirkung der Kultur auf das Individuum. 

Die Masse wird im wesentlichen in tJbereinstimmung mit Allport als 
Summe der einzelnen Individuen aufgefafit, und durch diese einseitige 
Haltung fehlt eine Auseinandersetzung mit der Tatsache der verschiedenen 
Gruppentypen, mit der Rolle des einzelnen in einer urspriinglichen Gemein- 
schaft (wie bei den Naturvolkern vor der Beriihrung mit den Kulturvolkern), 
mit der individualistischen Gesellschaftsform u. a. m. (vgl. die Auseinander- 
setzung mit Levy-Bruhl). 

Der Literaturnachweis gibt eine Auswahl solcher Literatur, die in eng- 
liseher Sprache vorliegt, so daB wichtige Werke fehlen (Karl Marx, Wundt, 
JSrismann, Biihler, Kiinkel u. a.). 

S. Liebmann (Berlin). 



Psychologie 171 

Young, Kimball, Social Attitudes. Henry Holt. New York 1931. (382 S.) 
Um den Begriff „ Social Attitudes", den W. 1. Thomas in seinem Buch 
„Der polnische Bauer in Europa und Amerika" zum Verstandnis sozial- 
psychologischer Probleme gebrauchte, gruppieren sich die in diesem Sammel- 
bande vereinigten Aufsatze seiner Freunde und Schiiler. Dieser gemeinsame 
Hintergrund bringt freilich nicht auch eine tft>ereinstimmung aller Ansichten 
mit sich. Far is stellt zuerst einmal den Begriff in seiner Bedeutung fur die 
Soziologie dar. Gegeniiber dem Versuch, das menschliche Verhalten und 
die Institutionen durch exakt zu definierende Instinkte zu erklaren, erklart 
man es nun durch die Erf ahrung und die Betatigung der Gruppe, in der das 
Individuum aufwachst. Hier entwickelt sich die ^Definition einer Situation" 
— hier eine bestimmte Einstellung den Werten (Thomas) oder Dingen (Faris) 
der Umwelt gegeniiber, die sich in Handlungen auswirkt. In den Einstel- 
lungen sind die Erfahrungen und Einsichten einer Personlichkeit zusammen- 
gefaflt und organisiert. Sie sind selbstverstandlich subjektiv, es gibt keine 
festgelegte Beziehung zwischen einem Gegenstand und einer bestimmten 
daraus unabanderlich resultierenden Einstellung. Besonders dem Behavio- 
rismus gegeniiber betont dann Park die richtunggebende Kraft, die die Ein- 
stellungen auf das Verhalten des Organismus haben. Sie wurzeln in der Er- 
fahrung, lassen sich jedoch ebenfalls unter gewissen Umstanden auch dorthin 
iiber tragen, wo die Voraussetzung der Erf ahrung fehlt (Massenstimmungen). 
Bernard weist die Quellen auf, aus denen sich eine Umwandlung der Ein- 
stellung und damit des Verhaltens vor allem in kritischen Zeiten ergibt, in 
denen die alt en Ansichten veranderte Situationen nicht mehr adaquat er- 
klaren. E. F. Young zeigt das dynamische Sichausbalanzieren neuer Ein- 
stellungen, die alte Wertordnungen durchstieBen, um sich dann selbst wieder 
zu organisieren. Wenn in dem Beitrag von Kimball Young das Wort 
,, Attitude" auch kaum vorkommt, so zeigt er uns doch das wichtigste Mittel 
auf, durch das die Atmosphare und die Denkformen, und dadurch die Ein- 
stellungen, bedingt werden : namlich die Sprache der Gruppe, in der wir zur 
Personlichkeit wurden. McKennzie schreibt iiber die kulturellen und rassen- 
mafligen Unterschiede als Basis menschlicher Symbiose, wahrend sich 
Steiner und BurgeC fiir den Wandel der Sitten und der Familientradition, 
die sie als ,» Attitudes" sehen, interessieren. Es schliei3en sich an Unter- 
suchungen von Queen iiber den Stand der Kontroverse um den Begriff 
„ Attitude", von Thrasher und Sutherland iiber die Beeinflussung von 
jugendlichen Delinquenten durch die Gruppen, in denen sie leben, und eine 
Reihe anderer Arbeiten. 

Wenn es den einzelnen Autoren auch nicht gelang, uns ein geschlossenes 
und in sich bestandiges Bild iiber Bedeutung und Funktion der „ Social Atti- 
tudes" zu iibermitteln ( vielleicht lag das nicht einmal in ihremPlan), so weisen 
sie uns doch das gesamte Gebiet auf, in dem der Begriff sozialpsychologisch 
fruchtbar verwendet wird. Margareta Lorke (Frankfurt a. M.). 

Eulenburg, Franz, Phantasie und Wille des wirtschaftenden Menschen. 
J. C. B. Mohr (Paul Siebeck). Tubingen 1931. (47 S. t br. RM. 1.50) 
Die im ,,Weltbild der Gegenwart wichtigen emotionellen Krafte" werden 

in ihrer Bedeutung fiir den wirtschaftenden Menschen untersucht. Wille 



1 72 Besprechungen 

und Phantasie sind nach E.s Meinung treibende Faktoren fiir die in der 
Wirtschaft Tatigen und sollen entscheidenden Einflufi auf ihre Stellung und 
ihr Handeln besitzen. Die Bedeutung dieser beiden Krafte wird fiir die 
verschiedenen „wirtschaftlichen Typen der Gegenwart" dargelegt. Beim 
Bauer und Handworker sind Phantasie und Wille dem mehr statischen 
Charakter dieser Wirtschaftstypen entsprechend begrenzt. Ganz anders 
liegt es beim Handler, dessen Tatigkeit ausschlaggebend von diesen Trieb- 
federnbestimmtwird. Auchder modernelndustriellewirtschaftet mit;,schopfe- 
rischer Phantasie" und ,, starker Willenskraft". Ihre Mitwirkung an der 
Wirtschaftsentwicklung wird, so glaubt E., auch trotz Rationalisierung und 
Mechanisierung im Burobetrieb noch langere Zeit andauern. Phantasie und 
Wille „gehoren zu den wirksamsten Machten der Gegenwart und zu den 
eigentlich gestaltenden Kraften des sozialen Lebens". 

In den mit vitalistischen Kategorien arbeitenden, ausschliefilich psycho- 
logischen Untersuchungen bleiben die okonomischen und sozialen Einfliisse 
auf den in der Wirtschaft tatigen Menschen unbeachtet. So kommt E. bei 
seinen wirklichkeitsfremden Betrachtungen zu Trugschliissen, die den Er- 
kenntnissen okonomischer und soziologischer Forschung widersprechen : 
„Der Lebenskampf ist ein Zeichen gesteigerten Willens"; die Sport- 
bewegung, die eine eindeutige soziale Funktion hat, ist ,,ein starker Aus- 
druck fiir den Lebensdrang" ; ,,das Hochhaus ist der klare Ausdruck 
fiir das willensmafiige Emporstreben". Romantisch glorifiziert der 
Verfasser die Tatigkeit des Handlers als ,,von der Phantasie befliigelt".. 
Die Reklame wird nicht als Hilfsmittel fiir den Absatz der tjberproduktion 
und fiir die Erzeugung kiinstlichen Bedarfes enthiillt, sondern von ihr wird 
ausgesagt, daB sie „intuitive, nervose Einfiihlung in den fremden Menschen 
erfordert". Ebenso ist „die kaufmannische Phantasie dynamisch 
feinfiihlig, feinnervig 1 *. Wie wenig die Betrachtungen des Verfassers 
die realen Vorgange in der Wirtschaft treffen, beweist z. B. die Dar- 
stellung, die er von dem Ausleseprozefi gibt. Er setzt sich iiber alle 6kono- 
mischen und sozialen Vorbedingungen hinweg und behauptet: ,,Die Auswahl 
der speziellen Begabung, die immer zugleich eine solche der Willensenergie 
ist, wird aus den Reihen des geistig unverbrauchten Volkes getroffen. Aus 
ihm erwachsen die Manner, die in schnellem Aufstieg in Fiihrerstellen ein- 
riicken". Die Arbeit stellt sich als romantische Verherrlichung des Unter- 
nehmers dar, der, von „schopferischer, extensiver, musischer Phantasie"" 
befliigelt, seine Aufgabe mit starkster Willenskraft erfulle. 

CarlDreyfuB (Frankfurt a. M.). 

Vergin, Fedor, Das unbewufite Eur op a. Psychoanalyse der europaischen 
Politik. He0, Wien, Leipzig 1931. (342 S.; br. RM. 6.50, geb. RM. 8.50) 
Dieses Buch, das die geheimen, unbewuCten Triebfedern und Hinter- 
griinde der europaischen Politik aufzeigen und sogar ein praktischer Weg- 
weiser fiir die Politik sein will, mutet wie eine Karrikatur einer falschen, 
psychologistischen Soziologie an. Karrikatur deshalb, weil die von dieser 
Methode gemachten Fehler, soziales Geschehen ohne Zusammenhang mit 
seinen wirtschaftlichen Wurzeln als Produkt irgendwelcher an. der rechten 
Stelle auftauchender Triebe zu „erklaren", hier bis zum grotesken Extrem 



Psychologie 173 

tibertrieben werden. Der Autor meint einleitend: „Hinsichtlich der Politik 
mufi jedoch zuerst ernsthaft die Forderung erhoben werden, daB die poli- 
tischen Erscheinungen in ihren iibertriebenen Symptomen als seelisch krank- 
haft erkannt und anerkannt werden". Er gibt dann weiter an: „Von 
Wichtigkeit . . . sind allerdings alle rein materiellen, rein wirtschaftlichen 
XJrsachen. Dies wurde, wenn auch vielfach stillschweigend, in Rechnung 
gestellt". Als Quelle seiner (Mentioning iiber diese Frage gibt der 
Verfasser — Lewinsohn (Moras), ,,Geld in der Politik" an. Er kommt zum 
SchluB, die Weltfinanz sei „dem Seelenleben des einzelnen wie den kollek- 
tiven GroBen ebenso untertan, als ob das Geld nicht existiere". Auf diesem 
Niveau geht es das ganze Buch hindurch weiter. Es sei nur bemerkt, dafi 
der Verfasser auch von der Psychoanalyse nur die oberflachlichsten Kennt- 
nisse zu haben scheint, daB es sich also durchaus nicht etwa um eine psycho - 
analytische Untersuchung handelt. Erich Fromm (Berlin). 

Halbwachs, M., Les causes du suicide. Felix Alcan. Paris 1931. (VII 

u. 520 S.) 

Das Buch M. Halbwachs', zuerst als Zusatz zu der Neuausgabe des klas- 
sischen Werkes Durkheims (Le suicide, 2 ed. Paris 1930) gedacht, ist 
schlieBlich zu einer groBangelegten und vollig selbstandigen Arbeit 
geworden, welche die Durkheimschen Thesen weitgehend niodifiziert und 
auch methodologisch seine Theorien umgestaltet. Und zwar handelt es 
sich nicht nur um die Verwendung der neuesten und feinsten statistischen 
Methoden, mittels deren das reichhaltige Material bearbeitet wird, sondern 
um eine entsprechende Verfeinerung und Vertiefung der psychologisch- 
phanomenologischen Analyse. Nirgends zeigt sich dies deutlicher als in 
der Definition des Selbstmordes selbst, welcher von D. foIgendermaBen 
formuliert wurde: „Man nennt Selbstmord jeden Fall des Todes, welcher 
direkt oder indirekt die Folge eines — positiven oder negativen — Aktes 
ist, der von dem Opfer selbst vollzogen wird und von dem es wuBte, daB 
er dieses Resultat herbeifuhren mtisse." Dieser Begriffsbestimmung, deren 
eigenster Sinn darin liegt, daB sie — bewuBt und absichtlich — auf jegliche 
innere Charakterisierung verzichtet (was D. ermoglicht, alle Arten des selbst- 
gewollten Todes, so z. B. auch das Selbstopfer, als Selbstmord zu bezeichnen), 
wird von H. — fiir den die sozialen Krafte aus auSeren Ursachen zu inneren, 
die Motivationsstrukturen der Seele und deren Aufbau bestimmenden Fak- 
toren geworden sind — eine andere substituiert : „Der Selbstmord ist ein 
Fall des Todes, welcher aus einem, von dem Opfer selbst in der Absicht 
sich zu tdten (von mir gesperrt) vollzogenen Akt resultiert und der kein 
Opfer ist." 

Denn nach H. ist ein Selbstopfer — Ausdruck einer Selbstifidentizierung 
des einzelnen mit der Gemeinschaft — ein von dem Selbstmord, dem Aus- 
druck eines sich von der Gemeinschaft Loslosens, einer Vereinsamung eines 
seine Stelle in der Gesellschaft nicht — oder nicht mehr — findenden Indi- 
viduums, toto coelo verschiedenes Phanomen, welches deshalb auch in der 
Untersuchung von dem ersteren strong geschieden werden muB. DaB in 
beiden Fallen soziale Faktoren wirksam sind, ist fiir H. selbstverstandlich ; 
es sind aber andere Faktoren, die jedesmal am Werke sind; deshalb wird auch 



1 74 Besprechungen 

der Selbstmord von der Gesellschaft auf ganzlich verschiedene Weise be- 
urteilt. Es ist eben nicht dasselbe, ob einer aus dem Leben fluchtet, der Ge- 
sellschaft auf diese Weise absagend, oder sich richtet oder sich totet, um 
seine Ehre usw. zu retten, wodurch er eben die gesellschaftliche Wertskala 
bejaht. Diese Falle unterschiedslos unter eine Rubrik zu bringen, war ein 
Fehler D.s gewesen. 

f , In einer Reihe von Kapiteln werden von H. zunachst die Untersuehungs- 
methoden (Kap. I u. II), dann die statistischen Daten tiber die Haufigkeit 
des Selbstmordes in verschiedenen europaisehen Staaten (Kap. Ill bis 
VII), bei der Land- und Stadtbevolkerung (Kap. VII) behandelt. Kap. VIII 
untersueht den Einflufi der Familie, Kap. IX denjenigen der Religion, wobei 
H. der landlaufigen Behauptung, dafi der Katholizismus eine den Selbstmord 
verhindernde Kraft ist, ziemlich skeptisch gegenubersteht. Kap. XI und XII 
analysieren den EinfluB der Kriege und Krisen, wobei H. den Hauptfaktor 
in der Vereinfachung der sozialen Struktur dieser Perioden oder uragekehrt 
in deren Verkomplizierung sieht. — Endlich wird gegen die psychiatrische 
These von der psychologischen Natur des Selbstmordes die sozialpsycho- 
logische Auffassung verfochten (Kap. XIII, XIV und SchluB). Eine 
Anzahl ubersichtlicher Tabellen erleichtern die Benutzung und erhohen 
den „Gebrauchswert" des ausgezeichneten Buches. 

A. Koyre (Paris). 

Fro mm, Erich, Die Entwicklung des Christusdogmas. Intern, psycho- 

analyt. Verlag. Wien 1931. (72 S.; EM. 3.—) 

Mit dieser Studie Hefert Fromm den ersten Versuch, die Methode einer 
Verkniipfung des Marxismus mit der Freudschen Psychoanalyse an einem 
konkreten Beispiel aufzuzeigen. Er hat glanzend nachgewiesen, dafi aus der 
Psychoanalyse der verschiedenen Fassungen des Christusdogmas das Ver- 
standnis der dem Christentum zugrunde liegenden sozialen Stromungen 
und damit des Christentums selbst uberhaupt erst gewonnen werden kann. 
Die dabei angewandte Methode ist — im grobsten — etwa folgende: Eine 
scheinbare Entfremdung von Ideologic und Wirklichkeit tritt ein, wenn eine 
Klasse keine Aussicht hat, ihre Klassenziele durch Kampf in der Realitat 
durchzusetzen. Dann tritt an S telle der realen Befriedigung die Phantasie- 
befriedigung der mit den realen Kampfobjekten unzertrennlich verbundenen, 
aber inhaltlich realitatsfremden, unbewuBten Triebziele. Diese konnen, da 
unbewuBt, auch in der Phantasie nur in transformierter Gestalt, an Sym- 
bolen, befriedigt werden. Der Sinn solcher symbolischer Massenphantasien 
verschliefit sich dann jedem zweckrationalen Deutungsversuch ; sie sind 
der rocher de bronce der Lehre von der Selbstandigkeit und Eigengesetz- 
lichkeit ideologischer Gebilde, und nur die Psychoanalyse kann ihre Bezie- 
hung zur gesellschaft lichen Realitat aufdecken. — Ein solcher Zwang zur 
Regression lag fur die unterdriickten Massen z. Z. der Entstehung des Christen- 
tums in der Aussicht slosigkeit ihres Kampfes gegen die Kaisermacht. Die 
dem Kampf gegen die Staatsautoritat zugeordnete unbewuBte Triebregung 
war die Rebellion gegen den Vater. Daher tritt zunehmend an Stelle des 
realen Kampfes gegen die Staatsgewalt die Phantasie vom Sturze des Vater- 
symbols, Gottes, teilweise zunachst in Kombination mit passiven, messia- 



Psychologie 175 

nischen Hoffnungen auf einen Fall der Herrschenden. Das Urchristentum 
ist adoptianisch, es lafit den Menschen Jesus zu Gott werden, vernichtet 
dadurch das Herrscherprivileg des Vatergottes. In einer dreihundertjahrigen 
Entwicklung wird das christliche Dogma zum Ausdruck der Interessen der 
Herrschenden, da sich auch die Kirche zu einem Instrument der Herrschenden 
entwickelt. Im nicaanischen Dogma ist endgiiltig festgelegt, dafi Christus 
von Ewigkeit her mit Gott eins war. Gott lafit sich jetzt also zum Menschen 
herab, aber durch diese Herablassung zum menschlichen Leiden ermdglicht 
er es den leidenden Massen immer noch, sich mit ihm — nun unter Wahrung 
der Unterwurfigkeit — zu identifizieren. F. lehnt entschieden die Auf- 
fassung Reiks ab, der eine Selbstentwicklung des Dogmas nach Analogie 
des spontanen Ablaufs von Fallen von Zwangsdenken bei Individuen an- 
nimmt; andererseits aber auch die Kautskys, der zwar die zentrale Rolle 
des Klassenkampfs in der Geschichte des Christentums als erster ausfiihrUch 
nachgewiesen hat, das Dogma aber fur ein blofles, charitative Einrichtungen 
deckendes Firmenschild halt. Fromm beansprucht nicht, mit dem vor- 
liegenden Biichlein die historischen Bedingungen des Christentums allseitig 
zu erfassen. Darum fehlt wohl die Untersuchung der sozialpyschologischen 
Bedingungen des Ubergangs zum Monotheismus und zur spiritualistischen 
Auffassung der Gottheit, die die allgemeinste Voraussetzung der Entstehung 
des Christentums bilden. Franz Borkenau (Wien). 

Jiingst, Hildegard, Die jugendliche Fabrikarbeiterin. Fin Beitrag zur 

Industriepddagogik. Ferdinand Schoningh. Paderbom 1929. (136 S.; 

RM. 8.—) 
Franzen-Hellersberg, Lisbeth. Die jugendliche Arbeiterin. Ihre ArbeiC 

weise und Lebensform. J. C. B. Mohr (Paul Siebeck). Tubingen 1932. 

(XII u. 144 S.; 6r, RM. 6.—, geb. RM. 8.70) 
Rada, Margarete, Das reifende Proletariermddchen. Deutscher Verlag 

fiir Jugend und Volk. Wien- Berlin 1931. (82 S.; RM. 4.~) 
Kelchner, Mathilde, Schuld und Siihne im Urteil jugendlicher Ar- 

beiterinnen. J.A.Barth. Leipzig 1932. (IV u. 147 S.; geb. RM. 8.40) 

Es ist erfreulich, daB diese Arbeiten mit vereinten Kraften einem Problem 
zu Leibe riicken, das bisher in der soziologischen und psychologischen For- 
schung nur wenig Interesse und so gut wie keinerlei Klarung gefunden hat. 
Die friiheren Arbeiten von Rosa Kempf, Erna Barschak und Mathilde 
Kelchner etwa wirken den umfassenden Versuchen von Hildegard Jiingst 
und Lisbeth Franzen-Hellersberg gegeniiber wie erste Ansatze. Auch in 
dieser Reihe bleibt ubrigens die Kelchnersche Arbeit an sachlichem Ge- 
wicht nicht unbetrachtlieh hinter den andern zuriick. Wie schon bei ihrer 
Schrift „Kummer und Trost jugendlicher Arbeiterinnen u (deren wesent- 
lisches Resultat: positive Stellung der jugendlichen Arbeiterin zur Familie — 
durch die Arbeiten von Jiingst, Franzen-Hellersberg und Rada uberein- 
stimmend als falsch erwiesen wird), so zeigt sich auch jetzt wieder, daB eine 
so einlinige Methode, wie sie sie zur Anwendung bringt (Anfertigen von Atu'- 
satzen uber gestellte Themen in Beruisschulklassen und Auswerten dieser 
Aufsatze in vergleichender Betrachtung), einen so hohen Zufallsquotienten 
in sich hat, da!3 die gezogenen SchluBfolgerungen nur mit ailergrofiter Vor- 



176 Besprechungen 

sicht aufgenommen werden konnen. AuBerdem wird hier ganz iibersehen, 
dafi Urteil und Haltung durchaus zweierlei sind. Jedenfalls aber bleibt 
die Arbeit als Materialsammlung ebenso interessant wie wertvoll. 

Auch Margarete Rada benutzt Aufsatze, die sie die Kinder (11 bis 
13jahrige Madchen aus einem Wiener Proletarierviertel) schreiben laBt. Aber 
diese Aufsatze gehen iiber Jahre und behandeln die allerverschiedensten 
Themen, die sieh aus einer sorgfaltigen Beobachtung der Kinder ergeben. 
Dazu werden diese Beobachtungen von Frau Rada als der Lehrerin der 
Kinder aufgezeichnet und auBerdem erganzt durch systematische Haus- 
besuche. Das Ziel aller dieser Beobachtungen und Untersuchungen ist, fest- 
zustellen, was fur das innere und auBere Leben des reifenden Proletarier- 
madchens charakteristisch ist, namentlich in welchen Beziehungen es zu 
seiner Umwelt steht. Das Resultat ist, kurz zusammengefafit, dieses: daB 
das reif ende Proletariermadchen fiir seine innere und aufiere Entwicklung 
von der Familie wenig oder nichts, von der Schule im allgemeinen etwas 
mehr, wirklich viel aber nur hat von einem Verein, wenn es AnschluB an 
inn findet und wenn der Verein eine ideelle oder politische Orientierung hat. 
„Die Idee, fiir die das Madchen sich hier begeistert, wirkt sich in seiner ganzen 
Lebensfuhrung aus, gibt ihm Halt und dem Leben eine gewisse Einheitlich- 
keit." In die padagogische Auswertung dieses Resultates spielen dann aller - 
dings Wertungen hinein, die kritisch zu nehmen sind und die doch auch 
vielieicht fiir den Gang der Untersuchung nicht ganz unmafigeblich waren. 

Die beiden Monographien iiber die jugendliche Arbeiterin sind in ihrem 
Charakter denkbar verschieden, und doch beruhren sie sich in der Methode, 
die sie ausbilden und anwenden, wie auch in den Resultaten. IXnd gerade 
dieser doppelte Umstand macht ihr Studium so aufschluBreich. Die Arbeit 
von Hildegard J tings t ist in ihrem Ansatz begrenzter (ihr wesentliches 
Material schopft sie aus einer mehrmonatigen Mitarbeit in einer Schoko- 
ladenfabrik als Arbeiterin unter Arbeiterinnen und aus einem anonymen 
Mitwohnen zeitweise in einem Arbeiterinnenheim, zeitweise in einer Schlaf- 
stelle), die Atmosphare des Buches ist ausgesprochen jugendlich, die Nei- 
gung zum Optimismus behauptet sich gegen die Angriffe der Realitat. Die 
Untersuchung von Frau Franzen-Heilersberg ist reifer und groBziigiger, 
sie charakterisiert ihre Methode selbst als „kombinierende und relativierende 
Methode der Erkundung" und registriert ihre pessimistischen Beobachtungen 
ohne Abzug auch da, wo sie einer Frau unangenehm sein mussen. Aber auch 
Hildegard Jiingst macht sich (in wirklich gediegenen methodischen tJber- 
legungen) die Fehlerquellen ihres begrenzten Untersuchungsganges klar 
und zieht andere Forschungsmittel heran, die denen von Franzen-Heilers- 
berg ganz ahnlich sind. 

Die entscheidende t3T3erlegenheit der Franzen-Heilersberg schen 
Arbeit ©rweist sich darin, daB sie es zu einer zusammenhangenden Charakte- 
ristik bringt, sowohl hinsichtlich der privaten Existenz der. jugendlichen 
Arbeiterin wie ihrer industriellen oder gewerbiichen Arbeit wie endlich 
charakteristischer AuBerungsformen proletarischer Madchen. Naturlich 
ist dabei auch die Gefahr der Verallgemeinerung gegeben, der gegen iiber 
eine Reihe von Einzelbemerkungen bei Hildegard Jiingst als notwendige 
Einschrankungen empfunden werden mussen. Als die im Zusammenhang 



Psychologie 177 

der modernen soziologischen und psychologischen Forschung durchschla- 
gendate Erkenntnis (auf die eine Arbeit iiber „Gemeinschaftsformen jugend- 
licher Madchen" von Gertrud Herrmann schon hinzielte) erscheint aber bei 
Franzen-Hellersberg die von der „vitalen Existenzform" der jugendlichen 
Arbeiterin. Das Jugenderlebnia der Proletarierin hat positive Inhalte (Freund, 
Sexualverkehr, gemeinsames Sonntagavergniigen zu mehreren Paaren, 
Schwimmen, Tanzen, Kino, Schmuck, schone Kleider usw.) zum Gegen- 
stand. Ihre Vorstellung der Weltordnung ist durch dieses Fruherlebnis fest- 
gelegt. („Dagegen ist die Pubertatszeit kultivierter Madchen ausgefiillt von 
Reflexionen iiber sich und iiber die Welt. Ihnen scheint noch alles unsicher 
und fragwiirdig. Proletarische Madchen aber erfahren einen primitiven, 
letzten Sinn ihrer Existenz durch ihr hochst realistisches Reifeerlebnis.") 
Die drei andern Arbeiten nehmen ihre Maflstabe fiir die Gruppierung und 
Auswertung ihrer Beobachtungen zuletzt doch aus dem Reifeerlebnis des 
„kultivierten" Madchens. Hier zum erstenmal ist die existentiale Eigenform 
der korperlich arbeitenden Frau in voller Klarheit erkannt und ausdruck- 
lich zugestanden. Dafi demgegentiber die padagogisehen Konsequenzen, 
die Hildegard Jiingst aus ihren Feststellungen zieht, fragwiirdig anmuten, 
ist nur selbstverstandlioh. Auch die Arbeit von Franzen-Hellersberg 
ist gewift noch mehr Anfang als Ende, aber eine Haufung von Erkenntnissen 
jedenfalls, mit denen jede sozialpsychologische wie sozialpadagogische 
Arbeit der Zukunft sich wird auseinandersetzen miissen. 

Karl Mennicke (Frankfurt a. M.). 

Kiinkel, Fritz, Orundziige der politiacken Ckarakterkunde. Junker und 

DunnhaupU Berlin 1931. (118 S.; BM. 4.80) 

Aufgabe einer politischen Charakterkunde ist nach K. die Erforschung 
der Wechselwirkung zwischen ich und wir (Individuum und Kollektiv) von 
einem „psychophysisch neutralen" Standpunkte aus. Die Grundlage aller 
politischen Charakterkunde sei in den Satzen von Karl Marx enthalten, dafi 
das BewuBtsein der Menschen vom gesellschaftlichen Sein bestimmt werde 
und daB Umstande und Erziehung, deren Produkt der Mensch sei, eben von 
dem Menschen verandert werden, daB der Erzieher selbst erzogen werden 
miisse. 

In den Mittelpunkt riickt K. die innere Krise des einzelnen und deren 
produktive Losung im Sinne einer Anerkennung der Forderungen der Wirk- 
lichkeit und der Gemeinschaft („Wirhaftigkeit"). Echte Fuhrer sind die- 
jenigen, die in privaten Krisen ihre Ichhaftigkeit uberwunden haben. Bei 
genauer Charakteranalyse zeigt sich, dafl gewisse Mitlaufer des Radikalismus 
an Stelle einer inneren Revolution in die auBere geflohen sind. „Nicht das 
Proletariat stent als vorwarts treibende Kraft dem hemmenden Burgertum 
gegeniiber, sondern die wenigen reifenden Menschen, die es gibt, stehen im 
Burgertum ebenso wie im Proletariat einer hemmenden Masse von Mit- 
laufern gegeniiber." — DieCharakterform, unbewuBt und in der friihen Kind- 
heit erworben, ist das Resultat „ichhafter" Erziehung. Der Erzieher ist aber 
letzten Endes eindeutig von der Gesellschaftsform bestimmt. Im Zeitalter 
des Individualismus und der Privatwirtschaft gibt es nur ichhafte Erzieher. 
Aber die Anderung der Gesellschaft erfolgt bloB auf die ernsthafte Charakter- 



1 78 Besprecbungen 

krise des einzelnen hin, in welche er durch die unerbittliche reale, soziale Not 
getrieben wird. Die Entscheidung aber ist frei, keinehistorischeNotwendigkeit 
und keine Mechanik def Gehirnmolekule kann sie beeinflussen. 

Auf die zugrunde liegende Auffassung vom Menschen kann hier nicht 
eingegangen werden, da dies in eine Kritik der Adlerschen Individualpsycho- 
logie einmunden miiBte. Manchmal sind allzu einfach auf soziale Probleme 
die Gesichtspunkte angewandt, die sich in der Kinderstube bewahren mogen. 
Doch ist die Herkunft K.s aus der psychotherapeutischen Arbeit wohltuend 
fiihlbar ebenso wie das ehrliche Ringen mit den Problemen und Noten der 
Zeit. Das Buch ist ganz im Dienst wirklicher Anwendbarkeit geschrieben; 
es kann einen guten Einblick in die individualpsychologische Gedanken- 
welt speziell. Kiinkelscher Pragung geben. 

S. H. Fuchs (Frankfurt a. M.). 

Behrendt, Richard. Politiscker Aktiviamus. G, L. Hirsckfeld. Leipzig 

1932. (178 S.; RM. 5.80) 

Neurotiker, denen die Einordnung in die Gesellschaft Schwierigkeiten 
macht, erreichen sie, indem sie sich die Umgestaltung derselben zum Ziel 
setzen; Narzisten, denen es unmoglich ist, mit Gleichen zusammenzuleben, 
gelingt ein soziales Dasein, indem sie sich zu Herrschern machen. Mit dem 
Wegfall einer Reihe leidkompensierender Kulturgebilde (Religion usw.), 
mit der zunehmenden Rationalisierung und Technisierung des modernen 
Lebens verfallen ganze gesellschaftliche Gruppen, insbesondere Intellektuelle, 
einer neurotischen Asozialitat und kdnnen den AnschluB an das soziale 
Leben nur auf dem XJmweg iiber revolutionaren politischen Aktivismus 
finden. Diese Tatsachen, die der Schrift von B. zugrunde liegen, sind richtig 
und altbekannt. Ein wahrer Skandal ist es aber, daB er sie fur das Ent- 
scheidende an der Psychoanalyse und Soziologie der politischen Aktivitat 
halt. Diese Behauptung stiitzt B. mit der These, daB alle politischen Inhalte 
blofi akzidentell seien, imWesen sei Politik nichts als Aktivitat um der Aktivi- 
tat willen. Eine Behauptung, die durch nichts als eine Zitatensammlung aus 
Michels, Scheler, Wiese, Treitschke, Taine, Sorokin usw. gestiitzt wird. 
Schlufif olgerung : jede Anderung der Gesellschaft sei nutzlos, da sie ja die 
unbewuBten Triebkrafte der Krankheit „politische Aktivitat" doch nicht 
beseitige. Wie man sieht, lohnt eine Spezialkritik nicht. Nur auf zweierlei 
sei hingewiesen. Das Resultat, politische Aktivitat sei im Wesen nur Neu- 
rose, ergibt sich aus der vorgefaBten Meinung von der Nichtigkeit aller 
spezifisch politischen Inhalte, d. h. die fur die Untersuchung angeblich 
grundlegenden psychoanalytischen Einsichten sind nichts als Aufputz der 
antipolitischen Grundthese, die ohne diese Scheinpsychologie doch allzu 
wenig eindrucksvoll ware. Denn — dies ist das zweite — es ist Scheinpsycho- 
logie, weil der Begriff der neurotischen Asozialitat zu weit ist, um eine kon- 
krete psychologische Typologie des Politikers zu ermoglichen, und weil 
eine solche Typologie iiberhaupt nur mdglich ware, wenn der Gesichtspunkt 
der psychischen Struktur mit dem der Klassengebundenheit und der poli- 
tischen Situationsnotwendigkeiten kombiniert wurde. Selbst psychologisch 
ist B.s Schrift belanglos. Zum Gliick beginnen in letzter Zeit auch autori- 
tative Psychoanalytiker — ich nenne nur O. Fenichel — gegen die scheinbare 



Psychologie 179 

Fundierung falscher Soziologien auf schlecht verarbeitete psychoanalytische 
Lesefriichte zu protestieren. Franz Borkenau (Wien). 

Privat, Edmond, Le choc dea patriotiamea. — Lea aentimenta cotlec- 

tifa et la morale entre nationa. F6lix Alcan. Paria 1931. (179 S.; 

fra. 15.—) 

P. untersucht das Massengefuhl ,, Nationalismus" und seine Bedeutung 
im Zusammenleben der Nationen. Nach ihm sind nicht nur — r bereits hin- 
langlich behandelte — okonomische und politische Faktoren bestimmend 
fur die Haltung der Massen, sondern auch ihre Gefiihle und Religionen. 
Im Nationalismus sieht P. eine solche Religion. Diese stiinde in krassem 
Gegensatz zur Individualmoral : Mord, Raub, Vergewaltigung und Ver- 
leumdung seien oberster pflichtmaBiger Dienst an ihr, Kritik und Besinnung 
aber Sakrileg. Kennzeichen des Nationalismus seien Intoleranz und Feind- 
seligkeit gegen alles Fremde, die sich noch bis in die Sprachbildung aus- 
wirkten. Schule, Presse und Kirche nahrten dieses Massengefuhl. Jede 
grofie Idee bedurfe der Mystik, um die Massen mitzureiBen; die des Natio- 
nalismus seien die schmetternden Hymnen, flatternden Fahnen, die Tradition 
des Heroismus. Notwendig miisse diese Einstellung zum Konflikt nut 
anderen gleichen Nationalismen fiihren, der nur im blutigen Kriege gelost 
werden konne. Nach dieser Darstellung wirft P. die grofle Menschheits- 
frage auf, ob es denn notwendig so sein miisse, ob die Hekatomben, die der 
Nationalismus fordere, nicht zu vermeiden, Toleranz und friedliche Losung 
der Gegensatze im Zusammenleben der Nationen nicht moglich waren. 
Und er bejaht diese Frage. tJber dem engen Nationalismus beginne eine 
neue Massenmoral sich durchzuringen, die im Einklang mit der Einzel- 
moral: „Da sollst nicht toten" die Nationen durch die Menschheit ersetze. 
In der S. d. N., im Esperanto, in Ghandis „non- violence* *-Bewegung und 
in Polens passivem Erdulden roher Mordgewalt 1861 sieht P. erste Keime, 
die er begriifit. Nur die Mystik fehle dieser neuen Religion noch, und daher 
stoBe sie auf Widerstande im Massenempfinden. 

P. steht hart an der Grenze der Psychologie, auf die er sich auch ab und 
zu beruft, ohne aber ihre Methodik oder ihr Aufgabenbereich einzuhalten. 
tJber die Entstehung des Nationalismus sagt er nichts; „Im 20. Jahr- 
hundert ubernimmt Europa von Asien dessen herrschende Religion . . . den 
Nationalismus**. Die moderne Psychologie weiU, daB die Existenz- 
bedingungen Massengefiihle gestalten und beriicksichtigt sie in ihrer Anam- 
nese (cf. Fro mm, „ Psychoanalyse und Politik*', Psychoanalytische Be- 
wegung, III, 5u. Fro mm, „Entwicklung des Christusdogmas'*, Wien 1931). 
Mystik um Religionen aber ist oft nur der Fetisch, hinter dem sich das Inter- 
esse verbirgt. Aufgabeder Psychologie ist es, den Mechanismus zu erklaren, 
in dem die Masse auf die realen Untergriinde ihrer Existenz reagiert. P., 
der im Nationalismus einen gegebenen selbstandigen Faktor erblickt, dessen 
Entstehung er nicht untersucht, ist an dieser Frage vorbeigegangen. So 
gibt er wohl ein scharfes Abbild des Nationalismus, aber keine Analyse, 
obwohl er sieht, daB innerhalb jeder nationahstischen Gruppe „les classes 
opprimees'*, deren Interessen sich nicht mit denen der Gruppe decken, Trager 
seiner neuen internationalen Religion sind . . . genau so bereit zum blutigen, 



180 Besprechungen 

intoleranten Kampf fur ihre Religion wie die Anhanger des Nationalismus 
fur diesen. Verdienstvoll aber ist jeder Pionierversuch, der in das bislang 
noch so ratselhafte Gebiet der Massenpsychologie vordringt, und ein Erfolg 
ist es schon, eine Darstellung gegeben zu haben, auf der die Analyse auf- 
bauen kann. Emil Grtinberg (Frankfurt a. M.) 



Soziale Bewegung und Sozialpolitik. 

Brtigel, Fritz und Benedikt Kautsky, Der deutsche Sozialismus von Lud- 
wig Gall bis Karl Marx. Hep. Wien, Leipzig 1931. (302 S.; br. 
rm. 6.—, geb. 7.50,) 

In der letzten Zeit regt sich das Interesse am deutschen Fruhsozialismus. 
Wahrend aber K. Mielcke in seinem „Deutschen Fruhsozialismus" nur Weit- 
ling und HeB in den Kreis seiner Betrachtungen zieht, versuchen Fritz 
Briigel und Benedikt Kautsky in dem vorliegenden „Lesebuch des 
Sozialismus** „den Entwicklungsgang der sozialistischen Idee in Deutschland 
von Ludwig Gall bis zum ,Kapital* von Karl Marx und dem Allgemeinen 
Deutschen Arbeiterverein von Lassalle, also den Weg von der Utopie bis 
zur wissenschaftlichen und politisch-praktischen Formulierung, an der Hand 
von ausgewahlten wissenschaftlichen und politischen Dokumenten darzu- 
stellen. Einundvierzig Lesestiicke sind in chronologischer Reihenfolge ge- 
ordnet. Neben bekannteren Namen wie Ludwig Gall, Georg Biichner, Weit- 
ling, Rodbertus, Engels, Moses HeB, Lorenz von Stein, Ferdinand Lassalle 
findet man auch weniger bekannte Lesestiicke von Bettina von Arnim und 
vor allem manches aufschluBreiche anonyme Schriftstiick. Es ist klar f 
dafi die Auswahl sich auf typische Stellen beschranken mufite und dafi Karl 
Marx ausgiebig zu Wort kommt. Es ist den beiden Herausgebern damit ge- 
lungen, ein lebendiges Bild des deutschen Fruhsozialismus zu zeichnen, das 
durch die knappe und ubersichtlich geschriebene Einleitung wertvolle Unter- 
malung erfahrt. Emil J. Walter (Zurich). 

Louis, Paul, Les idies essentielles du socialisms. Marcel Rivie're. Paris 
1931. (204 S.;frs. 12.—) 

Der Historiker des franzosischen Sozialismus und der franzosischen 
Arbeiterklasse sucht in seinem neuesten Buche Klarheit iiber die letzte 
Entwicklung des Weltsozialismus zu gewinnen. Ausgehend von der Tat- 
sache, daB die soziaUstischen Parteien zersplittert, ihre revolutionare Kraft 
geschwacht, ihre theoretische Einstellung und Schulung gegen fruhere 
Epochen zuruckgegangen und die Kampfe zwischen den beiden sozialistischen 
Hauptlagern der Kommunisten und der Sozialdemokraten zu einem er- 
bitterten Bruderkrieg ausgeartet sind, stellt er die Frage, ob die marxistischen 
Thesen noch gelten, ob die Gedanken der sozialen, okonomischen Revolu- 
tion und der voriibergehenden Diktatur des Proletariats noch Lebenskraft 
haben. L. gibt zu diesem Zwecke eine planmaBige und klare t^bersicht iiber 
die im Sozialismus widerstreitenden Hauptstromungen und bewertet 
sie an den tatsachlichen Ereignissen. Dabei pruft er die wichtigsten marxi- 



Soziale Bewegung und Sozialpolitik 181 

stischen Thesen, wiegt sie gegen die Theorien def Reformisten ab und kommt 
zur SchluBfolgerung, daB diese Thesen heute noch Geltung haben, daB nur 
durch die soziale- okonomische Revolution eine Anderung der Lage der Ar- 
beiterklasse moglich sei, wahrend die Geschehnisse der letzten Zeit die Sinn- 
losigkeit derTeilnahme an einer biirgerlichenRegierung zeigten, durch die nur 
der zu stiirzende Staat gegen die Revolution verteidigt werde. Die Kommu- 
nisten freilich sind nach L. Marx insofern untreu geworden, als sie den Grund- 
satz der Einigkeit des Proletariats verlassen haben und in sektenhafter Abge- 
schlossenheit in ihren Reihen Gewissensterror tiben. So seien sie AnlaB neuer 
Spaltungen und somit einer neuen Schwachung des Proletariats geworden. 
Die voriibergehend unerlaBIiche Diktatur des Proletariats dauere in RuB- 
land bereits zu lange an und werde in gleicher Form in Westeuropa 
unbedingt einen Sieg der Reaktion bedeuten. Trotz aller Fehler aber sei 
die russische Revolution der kostbarste Besitz der Arbeiterklasse und unter 
alien Umstanden und mit alien Mitteln zu schiitzen : sie bedeute den ersten 
sozialistischen Keil im kapitalistischen System. ,Die Arbeiterklasse aber 
mtisse — und dies ist sein endgiiltiges Ergebnis — wieder geeint werden. 
Nicht eine militante, terrorisierende Minderheit, sondern die Gesamtheit 
des Weltproletariats allein konne die Befreiung herbeifuhren. 

Diese Ideen sind fliissig und leicht dargestellt. Sie ermangeln aber der 
Tiefe und theoretischen Fundierung. L. halt sich an die allgemeinste Form 
der marxistischen Thesen, wie sie im ,,Kommunistischen Manifest" nieder- 
gelegt sind. Er verteidigt die materialistische Geschichtsauffassung, ohne 
sie aber auf seine eigene Fragestellung anzuwenden. Nirgends versucht er 
einen ursachlichen Zusammenhang zwischen den Ereignissen und den von 
ihm besprochenen Thesen und Handlungen der Sozialisten herzustellen. 
Dadurch verliert sein Versuch, die Marxsche Lehre zu verteidigen, wesent- 
lich an Wert. In seiner Polemik bringt er kein neues Argument, sondern 
begniigt sich, die bekannten in allerdings klarer und seharfer Form heraus- 
zuarbeiten. Am wertvollsten ist das Kapitel ,,L'exp6rience social-democrate 
et Texperience communiste", in dem er diese beideii Hauptrichtungen des 
Sozialismus und ihre bisherigen Erfahrungen und Erfolge gegeneinander- 
stellt. Der groBe Wert des Buches liegt aber in der leichten und verstand- 
lichen Darstellung der prinzipiellen Gedanken des Sozialismus, zumal des 
wissenschaftlichen Sozialismus, und der historischen Tatsachen. 

Emil Grim berg (Frankfurt a. M*). 

MIelcke, Karl, Deutacker Friihsoztaliamus. QeselUchaft und Oesckichte 

in den Schriften von W titling und He/3. J. 0, Cottasche Buchhandlung. 

Stuttgart und Berlin 1931, (XII, 199 S.; RM. 9.50) 

Goltein, Irma, Probleme der Oesellschaft und des Staates bei Moses 

Hep. G. L. Hirschfeld. Leipzig 1931. (VI, 181 S.; RM. 8.80) 

Mit Reeht betont Mielcke, daB die Theoretiker des Sozialismus vor 

Marx selbstandige richtige Denkansatze und Sehweisen entwickelt haben. 

Er sucht daher den Anteil von Weitling und HeB, den beiden bedeutenden 

Vertretern des deutschen Fruhsozialismus, am Gesamtbau des Sozialismus 

zu wiirdigen. Xieider bleiben in seiner Arbeit die Beziehungen des deutschen 

Fruhsozialismus zum franzosischen Sozialismus einerseits, zur deutschen 



1 82 Besprechungen 

Philosophie und zum Marxismus andrerseits einer kurzen SchluBbetrachtung 
vorbehalten. Die Formeln, auf die M. die Bestrebungen von WeitHng und 
HeB gemeinsam zu bringen meint: Organisation der Erziehung, Organi- 
sation der Arbeit, Idee des Rechts, eroffnen sehr weitgehende Parallelen ge- 
rade in einer international vergleichenden Betrachtung. Weitling und HeB 
faBten ihre Gedanken nicht zu einem geschlossenen System. Die Schrift 
vonM. gibt daher zuerst eine getrennte Gegeniiberstellung der philosophischen 
Ausgangspunkte, der Gesellschaftsanschauungen und der Geschichtsanschau- 
ungen von Weitling und HeB. Der Verf. ist der Ansicht, Weitlings System 
sei konstruiert, ohne daB die Entwicklungstendenzen der voraufgegangenen 
Zeit gewiirdigt seien, wahrend HeB dagegen wisse, daB der Sozialismus, 
wie er durch die Entwicklung des Geistes gebieterisch gefordert werde, auch 
seine Voraussetzungen in realen Verhaltnissen habe. Dagegen sprechen aber 
u. E. Weitlings Hinweise auf die notwendigen tJbergangslosungen. Weit- 
lings Aufsatze in der ,,Republik der Arbeiter" werden leider, weil ihre Ver- 
offentlichung erst in spatere Zeit nach Erscheinen des „Kommunistischen 
Manifestes" fallt, vom Verf. nicht berucksichtigt. Die Gesellschaftslehre 
Weitlings scheint uns in ihrem historischen Gehalt mit seiner Geschichts- 
auffassung nicht so lose verbuhden. M. selbst hat den soziologischen Ent- 
wicklungsgedanken Weitlings sehr deutlich herausgestellt : die Auflosung 
' der iiberlieferten, in der inneren Harmonie der Menschen garantierten Ord- 
nung, die Vereinzelung des Individuums im Zusammenhang mit der Ent- 
wicklung des Eigentums und die Ausbildung einer neuen Sozialordnung 
auf der Grundlage gemeinsamen Zweckinteresses, die, insoweit in ihr das 
Wissen als Ausdruck des geistig-moralischen Lebens die Menschen zusammen- 
halt und das gesellschaftliche Leben gestaltet, ideeller Natur ist. Ganz 
richtig kennzeichnet der Verfasser Weitlings SteUung zum religiosen Sozialis- 
mus: Glaube ist ihm eine bloBe Vorstufe des Wissens, an der Religion wird 
vor allem die ethische Seite geseheh. Dieser naturrechtlich begriindeten 
Gesellschaftslehre entspricht auch Weitlings Fortschrittsgedanke im Geiste 
der Aufklarung. Die widersprechenden Anklange an Rousseau sind eine 
leicht verstandliche Wendung des Revolutionars zum Mythos. Der Vergleich 
mit Moses HeB wird deshalb so schwer, weil hier fraglos sehr voneinander 
verschiedene Epochen der Gesellschafts- und Staatskritik von HeB unter- 
schieden werden mussen. 

Daa Gemeinsame bleibt, daB der Sozialismus von HeB, wie Irma Goitein 
hervorhebt, immer — welche Wandlungen er auch erfuhr — ethisch fun- 
diert und ethisch orientiert war. Weiter sei hingewiesen auf die auffallend 
ubereinstimmenden Ziige in dem anonym erschienenen Aufsatz in den 
Rheinischen Jahrbuchern, dessen Verfasserschaft Goitein erstmalig HeB zu- 
schreibt. Die Arbeit von Irma Goitein zeigt die Stellung von Moses HeB 
zwischen Idealismus und historischem Materialismus an seinem sozia- 
listischen Entwicklungsgang auf. Die geistesgeschichtlichen Zusammenhange 
werden so in den einzelnen Phasen des Schaffens von HeB sichtbar. Die 
Gesellschafts- und Staatskritik der Straufi, Bauer, Eeuerbach, des Jung- 
hegelianismus kennzeichnet die geistige Situation der Erstlingswerke von 
HeB. Der zunehmende EinfluB von Feuerbach und Fichte findet dann semen 
Niederschlag in einer Radikalisierung des HeBschen Sozialismus. Ein drittes 



Soziaie Bewegung und Sozialpolitik 183 

Stadium bedeutet die Zeit seiner Auseinandersetzung mit Marx, Proudhon, 
Herzen. Besonders wertvoll ist in diesem Zusammenhang die Veroffent- 
lichung bisher ungedruckter Handschriften und Briefe von HeB, sowie der 
Abdruck der seltenen Broschiire von HeB „Roter Katechismus fur da3 
deutsche Volk" und der anonym erschienenen Abhandlung „Kommuni- 
stisches Bekenntnis". Kurt Moldenhauer (Berlin). 

Brentano, Lujo, Mein Leben im Kampf um die soziaie Entwicklung 

Deutschlands. Eugen Diederichs. Jena 1931. (423 S.; br. RM. 14.50, 

geb. 18.—) 

Der Titel dieser Memoiren ist kennzeichnend fur den Menschen und sein 
Werk. Brentano war ein Kampfer sein Leben lang, und wenn die zahlreichen 
Schriften, die er im Laufe von sechs Jahrzehnten veroffentlichte, auch einen 
sehr weiten Kreis theoretischer und praktischer Fragen beriihrten, so stand 
im Zentrum seiner Untersuchungen doch die Problematik der modernen 
wirtschaftlich-sozialen Entwicklung — eine Problematik, die den Ausgangs- 
punkt fiir seine wissenschaftliche Arbeit bildete und zu der er immer wieder 
zuruckkehrte. 

Brentano war Liberaler, aber einer, der sich mehr als dem deutschen 
dem ,,sozialpolitisch" orientierten Liberalismus Englands verbunden fuhlte, 
jenes Landes, dessen okonomische und politische Anschauungen und Ein- 
richtungen fiir seine Ideenwelt schon friihzeitig von entscheidender 
Bedeutung wurden. Sein erstes grofles Werk, die zweibandigen „Arbeiter- 
gilden der Gegenwart" (1871/2) brachte sozusagen die „Entdeckung u 
der englischen Gewerkvereine fiir Deutschland, und am Ende seines 
wissenschaftlichen Sehaffens steht die umfassende „Geschichte der wirt- 
schaftlichen Entwicklung Englands*' (1927 ff .)• Seine Untersuchungen fuhrten 
ihn, den j^iirgerUcheri*', an die Seite der Arbeiterschaft, deren be- 
rechtigte Forderungen er in Wort und Schrift gegen den Interessentenansturm 
zu Zeiten verteidigte, in denen solche Haltung noch nicht oder nicht mehr 
als „zeitgemaB" gait. Wahrheit, Freiheit, Gerechtigkeit und echte Humani- 
tat — das waren die Leitsterne seines Lebens, die Ideale, fiir die er auf wirt- 
schafts- und sozialpolitischem, aber auch auf staats- und hochschulpolitischem 
Gebiete unzahlige Kampf e fiihrte, die sich in dem vorliegenden Erinnerungs- 
werk widerspiegeln. 

Die beriihmte Familie, der Brentano entstammte und deren Geschichte 
er einleitend mit Stolz und Liebe schildert, vermittelte ihm Beziehungen zu 
zahlreichen politisch einfluBreichen Personlichkeiten, von denen mancher 
bemerkenswerte Zug berichtet wird und die sich vielfach seines sachkundigen 
Rats bedienten. Mit seinen englischen Gesinnungsfreunden verband ihn 
ein Treueverhaltnis, das durch den Krieg nur eine voriibergehende Triibung 
erlitt. Nicht zuletzt diese Freundschaft hat es ihm ermoglicht, Deutschland 
wertvolle politische Dienste zu leisten, wenn er auch offizielle politische 
Missionen (so das der Offentlichkeit bisher kaum bekannt gewordene An- 
gebot, als erster Botschafter der Republik nach Washington zu gehen) steta 
abgelehnt hat. 

Man pflegt B. meist zur sog. ,,jungeren historischen Schule" der National- 
okonomie zu zahlen, doch wird man Inhalt und Methode seines Werkes mifc 



1 84 Besprechungen 

einer solchen Klassifikation kaum gerecht. GewiB nimmt das Historische 
einen breiten Raum bei ihm ein, aber es hat die Theorie nicht tiberwuchert, 
und seiner Grundauffassung entsprechend, die im Menschen „Ausgangs- 
und Endpunkt der Volkswirtschaft" sieht, sucht er die okonomisch-sozialen 
Entwicklungen nicht mechanistisch, sondern soziologisch zu erkennen und 
zu deuten. Sorgsamstes Detailstudium hindert inn freilieh, mag es sich nun 
urn Einzelfragen'des Gewerkschafts- oder Wohnungswesens, der Lohntheorie, 
der Agrarreform, des Kartellwesens usw. handeln oder urn zusammenfassende 
geschichtliche Darstellungen wie das Englandbuch oder die antike Wirt- 
schaftsgeschichte, sich in allgemeine Phrasen zu verlieren. Stets hat sein 
strenges wissenschaftliches Gewissen sein leidenschaftliches Kampfer- 
temperament zu zugeln gesucht. 

Seine Lebenserinnerungen geben so das Bild einer machtvollen, ge* 
schlossenen und geradlinigen Persdnlichkeit. Sie sehliefien mit einer Motivie- 
rung seines Austritts aus dem — von ihm selbst mit begrundeten — „Verein 
fiir Sozialpolitik", den er vollzog, weil dieser zu den grofien sozial- und 
handelspolitischen Fragen der Gegenwart nicht jene Stellung einnahm, die 
seine Tradition ihm nahegelegt hatte. Noch die letzte Seite des Buchs zeigt 
in ihren anklagerischen Fragen an die Vereinsleitung den ungebrochenen 
Kampfer fiir wirtschaftliche Vernunft und soziale Gerechtigkeit, ausklingend 
in den Satz: „Ich verstehe diese Politik nicht; will man eine soziale Revo- 
lution?" Fritz Neu mark (Frankfurt a. M.). 



Harnack, Arvid, Die vormarxiatiscke Arbeiterbewegung in den Ver- 

einigten Staaten. Guatav Fischer* Jena 1932. (X u. 167 S.; geb- 

RM. 8.—) 

Der Verfasser der vorliegenden Studie hat in den Jahren 1926 bis 1928- 
dank der Unterstutzung des „Laura Spelman Rockefeller Memorial" vor 
allem in Wisconsin und Washington die Geschichte der amerikanischen. 
Arbeiterbewegung studiert. Die vorliegende Arbeit bildet „den ersten Teil 
einer Geschichte der amerikanischen Arbeiterbewegung". 

Als vormarxistische Periode wird von H. die Periode von 1792 bis. 
1857 bezeichnet. In einem einleitenden Kapitel wird zunachst der okono- 
mische und politische Hintergrund aufgezeigt, auf dem sich die amerika- 
nische Arbeiterbewegung dieser Zeit bewegt. Sich stark an Friedrich Lists. 
Wirtschaftsstufentheorie anlehnend, zeichnet der Verfasser ein anschau- 
liches Bild der geographischen, bevolkerungspolitischen und staatsrecht- 
lichen Grundlagen der amerikanischen Wirtschaft, der wirtschaftlichen Ent- 
wicklung und der Entwicklung der Klassengegensatze zwischen Industrie, 
Grofigrundbesitz und Farmern und innerhalb der Industrie selbst. Von 
grofiem EinfluB auf die Arbeiterbewegung waren die Wirtschaftskrisen, die 
in Amerika ganz besonders scharfe Formen annahmen, so jene von 1819, 
1837 und 1857. Die Leiter der aufstrebenden Industrie des Nordostens 
und die Sklavenbesitzer des Siidens waren die Hauptfaktoren der Politik 
der Vereinigten Staaten. Nach und nach schoben sich zwischen diese beiden 
Klassen die Farmer, welche der Freilandbewegung und der Antisklaven- 
bewegung schlieBlich zum Sieg verhalfen. 



Sbziale Bewegung und Sozialpolitik 185 

Die Arbeiterbewegung stutzte sich in der vormarxistischen Periode vor 
allem auf die Arbeiter der von Verlegern und Kaufleuten abhangigen Bo- 
triebe. Die Fabrikarbeiterschaft wurde damals von der Arbeiterbewegung 
kaum erfafit. „Der freie Mann auf freier Scholle und der selbstandige 
Handwerker war das Ziel." 

Die vormarxistische Periode zerfallt in vier Unterabschnitte. Die erste 
Periode, die der ersten Gewerkschaften, begann 1792 und endete in denKrisen- 
jahren 1814 bis 1819. Die Schuhmacher und die Drucker der Kustenstadte 
suchten durch gewerkschaftlichen Zusammenschlufi ihre Lage zu verbessem. 
DurchMonopolisierung desArbeitsmarktes,Kontrolle desLehrlingswesens und 
auch durch Streiks suchten sie ihr Ziel zu erreichen, erlagen aber bald der 
Gegenwehr der Arbeitgeber und der richterlichen Rechtsprechung. In der 
langdauernden Depressionsperiode nach 1815 mifilangen alle gewerkschaft- 
lichen Versuche. Deshalb versuchten die Arbeiter in den Jahren 1827 bis 

1832 durch die Beeinflussung des Staates ihre Lage zu verbessem. Arbeiter - 
parteien vermochten in einzelnen Staaten vorubergehende Wahlerfolge zu 
erzielen, aber innere Spaltungen lieften die Bewegung bald zusammenbrechen. 
Sie gewann nur indirekten EinfluB auf die Entwicklung, indem der Forde- 
rung auf offentliche Schulen, Abschaffung der Schuldhaft, strengere Uber- 
wachung der Banken, Abschaffung der Miliz und der Fabrikgesetzgebung 
vorgearbeitet wurde. Mit der Besserung der Wirtschaftslage setzt um 

1833 wieder die gewerkschaftliche Bewegung auf verbreiterter Basis ein. 
In New York werden 1833 uber 30 Gewerkschaften gegriindet. Die Zahl 
der Streiks steigt. Es kommt zur Bildung von Ortskartellen, Zentral- 
gewerkschaften und einem Zentralkartell. Aber die Arbeiter der Fabrik- 
industrie werden kaum erfafit. An vielen Orten fuhrten die Kampfe fiir den 
Zehnstundentag zum Erfolg. Die Einzelheiten der Organisation entsprechen 
modernen gewerkschaftlichen Grundsatzen. Aber die schwere Krise des 
Jahres 1837 bedeutete auch fiir diese zweite Periode der Gewerkschafts.- 
bewegung das Ende. Die letzte Periode von 1837 bis 1857 ist die 
der Reformer. Albert Brisbane, der Schiiler Fouriers, regte in den 
Jahren 1843/44 die Griindung zahlreicher „phalansteres" an, die aber in 
der Mehrzahl nach kurzer Frist wieder zusammenbrachen zuf olge des Fehlens 
der Rechtspersonlichkeit, des Kapitalmangels, ungeschickter Leitung oder 
innerer Streitigkeiten. G. H. Evans verfocht die Landreform, das Recht 
des amerikanischen Burgers auf gleichmafiige, unentgeltliche Zuteilung von 
Land und leitete damit einen der heifiesten Kampfe der Geschichte des 
amerikanischen Parlaments ein. Er erlebte den Sieg seiner Idee durch 
die Annahme des Heimstattengesetzes 1862 nicht mehr, da er schon 
1856 verschied. Die Konsumgenossenschaftsidee wurde seit 1842 durch 
die „New England Workingsman Association" intensiv gefordert. Der 
Biirgerkrieg zerstorte aber diese Ansatze zu einer starken Konsumgenossen- 
schaftsbewegung, indem etwa noch bestehende Unternehmungen sich in 
privatwirtschaftliche Gesellschaften umwandelten. Endlich lebte die Be- 
wegung fiir den Zehnstundentag wieder auf und fafite in den Fabriken FuB. 

Weim man auch im einzelnen der vorliegenden Arbeit eine tiefer schiir- 
fende Analyse der sozialen und wirtschaftlichen Verhaltnisse der einzelnen 
Perioden wunschen mochte, ist sie doch ein anregendes Werk, das durch die 



186 Besprechungen 

Skizzierung amerikanischer Verhaltnisse indirekt manches Streiflicht auf 
die Geschichte der europaischen Arbeiterbewegung fallen laJSt. 

Emil J. Walter (Zurich). 

Posse, Ernst H., Der Marxismus in Franhreich 1871 — 1905. Prager. 

Berlin 1930. (82 8.; RM. 3,50) 

Der „Marxismus" wurde in Frankreich im letzten Drittel des 19. Jahr- 
hunderts in der Form des ,,Guesdismus" rezipiert, ganz ebenso wie er in 
der gleichen Periode in Deutschland in der Form des „Kautskyanismus", 
in wieder anderen spezifisch verschiedenen Formen in It alien und in Rufl- 
land rezipiert worden ist. Aber wahrend der kautskyanische deutsche 
Marxismus in deni Lande der ,,demokratischen und revolutionaren Ohn- 
macht" (Jaures) in dieser Periode eine zwar nur ideologische, aber in dieser 
Form auch fast unbestrittene Vormachtstellung innerhalb der sozialistischen 
Gesamtbewegung einnahm, muBte der Guesdistische franzosische Marxis- 
mus unter den ganz anders gearteten gesellschaftlichen und politischen 
Bedingungen der dritten Republik fast vom ersten Augenblick seiner Exi- 
stenz an die praktische Brauchbarkeit seiner theoretischen Prinzipien fur 
die wirkliche Aktion der Arbeiterklasse bewahren und hierbei zugleich noch 
einen unaufhorlichen scharfen Konkurrenzkampf gegeniiber den aus der 
iriiheren Entwicklung iiberlieferten und den aus der lebendigen Entwick- 
lung neu entstehenden Theorien und Taktiken bestehen. P. zeigt, wie in 
diesem jahrzehntelangen Ringen der Guesdismus einerseits seinen anfang- 
Hch absoluten, revolutionar-proletarischen Charakter mehr und mehr 
einbiiBt und am Ende fast am auflersten rechten Fliigel der damaligen 
sozialistischen Gesamtbewegung angelangt ist, wie aber andererseits zu- 
gleich in dieser Periode die von den beiden Alten in London bis zu ihrem 
Tode stets als ,,unsere Partei" bezeichnete Gruppe Guesdes die erfolg- 
reichate Erziehungsarbeit geleistet und der Gesamtbewegung in einer im Guten 
und Bosen noch heute nachwirkenden Weise ihren marxistischen Stempel 
aufgedriickt hat. 

Ist angesichts dieser widerspruchsvollen Entwicklung die herkommliche 
Auffassung begriindet, nach welcher der formelle Sieg der marxistisch- 
guesdistischen Minderheit iiber die reformistische und zentristische Mehr- 
heit des Pariser Einigungskongresses von 1905 einen Sieg des revolutionaren 
proletarischen Klassenstandpunktes in der franzosischen Arbeiterbewegung 
der Vorkriegszeit bedeutet ? Zu dieser Frage hat der Autor in dem hier 
rezensierten Buche nicht mehr klar und eindeutig Stellung genommen. Er 
lafit zwar in seiner Darstellung der Kritik, die seit der Jahrhundertwende 
einerseits vom revolutionaren Syndikalismus (Pelloutier, Lagardelle, Sorel), 
andererseits von der Richtung Jaures am franzosischen Guesdismus und 
deutschen Kautskyanismus geiibt worden ist, deutlich genug erkennen, 
dai3 er diese kritischen Angriffe im einzelnen als begriindet ansieht. Er 
bleibt aber gleichwohl in seiner Gesamtbeurteilung der von ihm behandelten 
geschichtlichen Entwicklungsphase bei dem konventionellen Schema aus- 
driicklich stehen. Insofern besteht zwischen dem formell ausgesprochenen 
und dem wirklichen Resultat seiner Darstellung einunbehebbarer Widerspruch, 
der noch deutlicher hervortrate, wenn der Autor seine Untersuchung 



Soziale Bewegung und Sozialpolitik 187 

nicht von vornherein in zweifacher Hinsicht, zeitlich auf die Entwicklung 
bis 1905, sachlich auf die im engeren Sinne „politische" Bewegung, ein- 
geschrankt hatte. Trotz des ungelosten Restes von Zweideutigkeit in ihrem 
formellen Resultat hat die Schrift von P. durch ihren materiellen Inhalt 
zu der Losung der schwierigen Aufgabe, einen „von der Parteien Gunst und 
Hafi verwirrten*' wichtigen Abschnitt der wirklichen Entwicklungsgeschichte 
des Marxismus kritisch-wissenschaftlich aufzuklaren, einen wesentlichen 
Beitrag geleistet. KarlKorsch (Berlin). 

Wirz, J. Paul, Der revolution are S yndi kalis mus in Frankreich. Girs- 
berger & Go. Zurich 1931. (XI u. 214 S.; schw. frs. 13.75) 
Die vorliegende Arbeit bildet ein weiteres Glied der von Prof. Saitzew 
in den „Zurcher Volkswirtschaftlichen Forschungen" systematisch gefor- 
derten Studien uber den franzosischen Sozialismus. W. beschreibt zunachst 
die Entstehung des revolutionaren Syndikalismus, wobei in interessanter 
Weise die 1895 erfolgte Griindung der „ Confederation Generate du Travail" 
(C. G. T.) in die Entwicklung der franzosischen Arbeiterbewegung eingereiht 
wird. TJnter revolutionarem Syndikalismus definiert der Verf . die Prinzipien, 
welche die Mehrheit der C. G. T. in den Jahren 1902 — 1914 geltend machte: 
1. die Berufsorganisation wird als Zelle der zukiinftigen Gesellschaftsordnung 
betrachtet, 2. die foderalistische Organisation, 3. die Betonung des abso- 
iuten Klassengegensatzes von Arbeit er und Unternehmer, der zur Revolution 
und zum Siege des Proletariates fuhren musse, 4. der Antietatismus, die 
Ablehnung der parlamentarischen Kampfmethoden. 

In einem zweiten „Die Organisation des revolutionaren Syndikalismus" 
uberschriebenen Teil untersucht W. die Organisationsprobleme der C. G. T., 
das Problem der Indus trie verbande, das foderalistische Prinzip in der syndika- 
listischen Organisation, die Abneigung der revolutionaren Minderheit gegen 
eine prozentuale Vertretung im syndikalistischen Kongrefi. Der dritte Teil 
ist dem „ Antietatismus" gewidmet, der vierte Teil der ,, Sozialpolitik des 
revolutionaren Syndikalismus". Einzig auf dem Gebiete der Organisation 
des Arbeitsmarktes hat der Syndikalismus durch Errichtung von Arbeits- 
borsen einige Erfolge erzielt. Der Ausbruch des Weltkrieges vollendete die 
Zersetzung der Prinzipien des revolutionaren Syndikalismus. In der Gegen- 
wart deckt sich das Programm der C. G. T. mit dem Programm der sozia- 
listischen Partei, wahrend der linke abgespaltene Fliigel der franzosischen 
Gewerkschaften der Parole der Kommunisten folgt. 

Die vorstehend gebotene Skizze des Inhaltes der Dissertation von Wirz 
laflt vielleicht mehr erwarten, als die Arbeit wirklich bietet. So breit sie 
angelegt scheint, so krankt sie doch an wesentlichen methodischen Mangeln. 
W. schrieb eine geisteswissenschaftliche Studie, die wohl treffende 
Bemerkungen enthalt, als Ganzes aber nicht befriedigt. Es fehlen 
vor allem Da ten und statistische Angaben. Sogar im Kapitel „Biogra- 
phisches" sucht man vergeblich nach einigen Lebensdaten der bedeu- 
tendsten syndikalistischen Fuhrer. Ebenso sparlich sind die Angaben 
uber die organisatorische Entwicklung des revolutionaren Syndikalismus. 
Wich tiger als eine „ geisteswissenschaftliche'* Untersuchung der Gedanken- 
welt des revolutionaren Syndikalismus ware eine anschauliche Beschreibung 



188 Besprechungen 

seiner soziologischen Grundlagen und eine lebendige Schilderung der 
franzosischen Arbeiterbewegung gewesen. So aber bietet die Schrift bloS 
eine Darstellung der Ideen des revolutionaren Syndikalismus, wie sie sieh 
im Kopfe des Verf. spiegeln. Ob W. Endgiiltiges zu sagen vermochte, laflt 
sich daher nicht entscheiden. 

Emil J. Walter (Zurich). 

Saposs, David J., The Labor Movement in Post- War France. Columbia 

University Press, New York 1931, (508 S., $ 6.—) 

S. ist ein Schiiler des bekannten Historikers der amerikanischen 
Arbeiterbewegung John R. Commons. Zur Zeit unterrichtet er an der 
Schule der American Federation of Labor, am Brookwood College. Aus 
beidem ergibt sich der Blickpunkt, von dem aus das vorliegende Buch ge- 
schrieben ist: S. steht der gegenwartigen Wirtschaftsordnung nicht ab- 
lehnend gegeniiber, er wunscht aber ihre Besserung auf evolutionarem Wege. 
Das Buch basiert auf einer auBerordentlich grundlichen Quellenforschung 
und wird deshalb fiir jeden, der sich mit der Geschichte der Arbeiterbewe- 
gung beschaftigt, von grofiem Werte sein, auch wenn er sich den Urteilen 
seines Verfassers in vielem nicht anschlieBen kann. 

Die Arbeit zerfallt in fiinf Teile. Der erste befafit sich mit der Gewerk- 
schaftsbewegung. Es wird in ihm geschildert, wie schon vor dem Kriege 
syndikalistische Stromungen durch die reformistischen verdrangt wurden, 
wie der Krieg zunachst den vollstandigen Sieg der letzteren bedeutete, 
dann aber doch zur Heranbildung des radikalen Fliigels fiihrte, wie schlieB- 
lich nach dem Kriege die Spaltung eintrat und wie sich danach die Bewegung 
entwickelte. 1927 zahlte die der Zweiten Internationale angeschlossene 
Conf6deration G6n6rale du Travail rund 900000 Mitglieder, die der Dritten 
Internationale zugehorige Confederation G^n^rale du Travail Unit aire immer- 
hin beinah eine halbe Million. Die daneben bestehenden katholischen und 
syndikalistischen Organisationen hatten keine Bedeutung. Teil 2 und 3- 
handeln von der Sozialpolitik des Staates und der Stellung, die die Unter- 
nehmer der Arbeiterfrage gegeniiber einnahmen. Auch in Frankreich brachte 
der Krieg einen gewaltigen Ausbau der vorher diiritigen Sozialgesetzgebung 
mit sich. Sie fand ihre Kronung in dem Sozialversicherungsgesetz vom 
5. April 1928, das die bisherigen Bestimmungen zusammenfafite und er- 
weiterte. Es sieht Zahlungen bei Krankheit, Unf alien, Arbeitsunfahigkeit 
infolge Alters, Todesfallen, Schwangerschaft und Arbeitslosigkeit vor. Die 
meisten der groBen Unternehmer nehraen den Gewerkschaften gegeniiber 
eine of fen feindliche Stellung ein. In Teil 4 wird die Entstehung der Genossen- 
schaftsbewegung dargestellt und ihre Nachkriegssituation eingehend analy- 
siert. Die Konsumgenossenschaften zahlten 1926 rund 2,2 Millionen Mit- 
glieder. Sie haben uberwiegend eine kleinburgerliche Ideologie und neigen 
deshalb politisch der radikalsozialen Partei zu. Bezeichnend fiir die Starke 
der kleinbiirgerlichen Einflusse und der Proudhonschen Tradition ist 
auch die Tatsache, daB die Produktivgenossenschaften eine gewisse 
Bedeutung behielten. 1923 betrug ihr Umsatz 155 Millionen Francs. 
Den AbschluB des Buches (Teil 5) bildet eine Darstellung der politischen 
Arbeiterbewegung. Die Sozialistische Partei erhielt 1928 rund 1,7, die 



Soziale Bewegung und Sozialpolitik 189 

Kommunistische rund 1 Million Stimmen bei einer Gesamtstimmenzahl 
von rund 9 Millionen. A rv id Ha mack (Berlin). 

Meyer, Hakon, Den politiske arbeiderbevegelse i Norge. (Die politieche 

Arbeiterbewegung Norwegens.) Del norske arbeiderpartis forlag. Oslo 1931. 

(176 S.; Kr. 3.—) 

Das Buch ist in erster Linie als Handbuch fur die Studiengemeinschaften 
und Vorlesungskurse der Norwegischen Arbeiterbildungszentrale geschrieben. 
Es beschrankt sich deshalb auf eine tJbersicht des geschichtlichen Entwick- 
lungsganges der politischen Arbeiterbewegung Norwegens. M. macht keinen 
Anspruch auf eingehende wissenschaftliche Erorterungen der eigenartigen 
Entwicklung der norwegischen Arbeiterbewegung wahrend und nach dem 
Kriege. Sein Werk hat jedoch Bedeutung als die einzige vorliegende Dar- 
stellung der ganzen bisherigen Geschichte unserer Bewegung. 

Die ersten Seiten schildern in sehr konzentrierter Form die Periode der 
Vorlaufer, 1848 — 1880. Etwas ausfuhrlicher werden dann die 80er Jahre 
behandelt, die Periode des Durchbruchs des burgerlich-bauerlichen Parla- 
mentarismus und der burgerlichen Kultur, ab'er auch die Zeit der Entste- 
hung der Gewerkschaften und der norwegischen Arbeiterpartei und ihrer 
Emanzipation von burger lich-liberaler Ideologic. Der zweite Teil schildert 
dann die Entwicklung von der propagandistischen Sekte zur praktisch- 
politischen Partei wahrend der Periode der Wahlrechtskampfe der 90er Jahre, 
die Konsolidierung der Partei auf parlamentarischem Gebiete 1903 — 12, 
unter Zuziehung kleinbiirgerlicher und kleinbauerlicher Elemente, und die 
ersten Ansatze einer syndikalistisch beeinfluflten Opposition. Die Entste- 
hung einer neuen oppositionellen Fuhrergeneration 1912 — 15 und der Durch- 
bruch dieser „ neuen Richtung" 1914 — 18 werden dann sehr klar geschildert, 
ohne daC jedoch die Ursachen dieser Entwicklung, die in erster Linie 
in der Eigenart und dem iiberschnellen Tempo der Industrialisierung Nor- 
wegens wahrend dieser Periode zu suchen sind, geniigend hervortreten. Die- 
selbe Kritik der mangelnden Beriicksichtigung wirtschaftlicher Faktoren 
trifft auch die Schilderung der ersten Parteispaltung durch den Austritt 
der bewuBt sozialdemokratischen Elemente nach dem Beitritt der Partei 
zur dritten Internationale 1919 — 20, der weiteren Spaltung als Folge des 
Streites zwischen der halbsyndikalistischen Mehrheit der Arbeiterpartei 
und der Leitung der Internationale 1920 — 23 und der allmahlichen Vor- 
bereitung der Sammlung, die durch das Zusammengehen der Sozialdemo- 
kraten und der Arbeiterpartei 1927 erfolgte. Die letzten Kapitel schildern 
derf politischen Aufschwung der letzten Jahre und die lehrreiche Episode 
der Arbeiterregierung von 1928. 

Als Anhang enthalt das Buch eine kurze t^ersicht der Wahlrechts- 
bestimmungen seit 1814, eine Tabelle iiber die Vertretung der Partei bei 
internationalen Kongressen, die Parteivorsitzenden und Redakteure des 
Hauptorgans, die Stimmenzahlen und die Vertretung bei Wahlen, die Mit- 
gliederbewegung und ein ausfuhrliches Namensregister. 

Wie schon angedeutet, leidet das Buch bei all seiner Klarheit und tJber- 
sichtlichkeit daran, da6 es in engstem Sinne Organisationsgeschichte sein 
will. Die wirtschaftliche Entwicklung, die Verschiebungen der Klassen- 



190 Bespjechungen 

gegensatze und der politisehen Konstellationen der biirgerlichen Welt werden 
nur angedeutet, und auch die parlamentarische Wirksamkeit der Arbeiter- 
partei selbst wird 'kaum in Betracht gezogen. Dadurch entsteht eine ge- 
wisse Einseitigkeit in der Beurteilung der verschiedenen Phasen der Partei- 
entwicklungj die besonders der sozialdemokratischen Periode sowie der rein 
sozialdemokratischen Stromung in der jetzigen Parfcei kaum Gerechtigkeit 
leistet. Halvard M. Lange (Oslo). 

Tonntes, Georg Ove, Die Auflehnung der Nordmark-Bauem. Kusten- 
landverlag. Flensburg 1930. (30 S.; RM. 1.20). — Luetgebrune, Walt., 
Neu- Preufiens Bauernkrieg. Hanseatische Verlagsanstalt. Hamburg 
1931. (213 S.; RM. 3.80). — Karsthans, Die Bauern marschieren. 
Stalling. Oldenburg 1931. (297 S.; RM. 4.80, geb. RM. 5.80). — Fallada, 
Hans, Bauern, Bonzen und Bomben. Rowohlt. Berlin 1931. (565 S.; 
RM. 6.— y geb. RM. 8.50) 

Die durch die verzweifelte Lage der deutschen Bauern entstandene poli- 
tische Umschichtung hat ihren Niederschlag in zahlreichen Broschiiren und 
Buchern gefunden. Die beginnende politische Aktivierung geht in den 
kapitalistischen Landern Europas nach den verschiedensten Richtungen: 
zum Faschismus (Bekampfung der Arbeiterschaft in Osterreich), zur bauer- 
lichen Demokratie (Bundnis mit der Arbeiteraristokratie in Rumanien), zum 
Kampf gegen die Stadt (Bulgarien), im Gegensatz zum Bolschewismus 
(Bundnis mit dem Proletariat in der Sowjet-Union). 

Die kleine Broschvire von Tonnies eroffnet interessante Einblicke in 
die politische Atmosphare der Bauernbewegung. Der Verf . lehnt die Gewalt 
ab, miBtraut den Parteien und polemisiert gegen Stadt und Industrie ; gleich- 
zeitig reiBt er also eine Kluft auf, die er auf der anderen Seite schliefien will. 
Er berichtet von den Leiden der Bauern, die seit Jahrhunderten die Lasttiere 
der Gesellschaft gewesen seien. Heute sei ein „bauerliches Klassenbewufit- 
sein" entstanden. Wahrend T. einerseits den Arbeiter als Bundesgenossen 
fur eine neue Ordnung sucht, betont er immer wieder, daB der Bauer vollig 
allein stehe, und kommt so zu stadtfeindlichen SchluBfolgerungen und stan- 
dischen Gedanken, fiir die er nur eine zentralistische Handhabung verwirft. 
Er fordert „Bauernland" und „Bauernrate", die als berufsstandische Schlich- 
tungsausschiisse wirken und die Steueraufbringung regeln sollen, bekennt 
sich also zur reformistischen Losung. 

Der rechtsradikale, aus zahlreichen Prozessen gegen Nationalsozialisten 
und Landvolkleute bekannte An wait Luetgebrune liefert in seinem Buch 
eine Kampf schrift gegen das „preufiisehe Regierungssystem". Es enthalt 
zahlreiche amtliche Schreiben, Urteile, Gutachten, Gesetzestexte und Ver- 
waltungsentscheidungen und zerfallt in drei Abteilungen: ,, Kampf der 
Einanzbehorden", „Kampf des Verwaltungsapparates", „Kampf durch die 
Justiz". Die Gruppierung und die Auswahl des autentischen Materials 
machen das Buch zwar zu einer Anklageschrift. Durch den Verzicht auf jede 
politische und okonomische Analyse bleibt jedoch das Problem ungelost; so 
kommt L. zu schiefen Behauptungen und primitiven Erklarungen wie der, dafi 
die Notlage der Bauern eine Folge der Reparationszahlungen und der Ver- 
waltungsschikanen sei. 



Soziale Bewegung und Sozialpolitik 191 

Karsthans schildert in Romanform denKrieg von 1525, dessen Tradition 
in der heutigen Landvolkbewegung eine groBe Bolle spielt. Mit deut- 
licher Beziehung auf die heutige Zeit ist dies Buch geschrieben ; das ge- 
schichtliche Beispiel soil warnend und mahnend die Bauern wachriitteln, so 
hofft der Verf . im Vorwort. Die Darstellung der historischen Ereignisse ist 
teilweise zwar sehr dramatisch, packend und eindrucksyoll, aber die Parallele 
zu den aktuellen Vorgangen ist — getriibt durch romantische Vorstellungen 
— vollig irrefuhrend. Hinter dem Pseudonym verbirgt sich Herbert Blank 
von den „Revolutionaren Nationalsozialisten". 

In dem ausgezeichneten Roman von Fallada wird die moderne Land- 
volkbewegung in sehr lebendiger und interessanter Weise geschildert. Es 
handelt sich um einen Schlusselroman, der deutlich als Hintergrund die be- 
kannten Ereignisse in Neumunster erkennen laCt, Der Verfasser bemiiht sich 
um eine naturgetreue Wiedergabe der Vorgange. So ist das Buch als unter- 
richtende Materialsammlung der aktuellen Bauernbewegung zu werten. 
Aber indem F. alien gerecht werden will, kommt es zu einem — standpunkt- 
losen Standpunkt! Hans Jaeger (Berlin). 

Mein Arbeitstag — mein Wochenende. 150 Berichte von Textilarbeite- 
rinnen. Ges. u. hrsg. vom Dt. Textilarbeiterverband, Hauptvor stand , Ar- 
beiterinnensekretariat. Berlin 1930. Verlag Textilpr axis. (230 S.; RM. 2.60) 
— Suhr, Susanne, Die weiblichen Angestellten. Arbeits- und Lebens- 
verhdltnisse. Eine Umfrage des Zentralver bands der Angestellten. Zentral- 
verband der Angestellten. Berlin 1930. (48 S.; RM. 1.40) — Die wirt- 
schaftliche und soziale Lage der Angestellten. Ergebnisse und Er- 
kenntnisse aus der grofien sozialen Erhebung des Gewerkschaftsbunds der 
Angestellten. Vollst. erw. Ausgabe B t Berlin. SiebenStabe- Verlag. Berlin 
1931. (334 S.; RM. 10. — ) — Die Gehaltslage der Kaufmanns- 
gehilfen. Eine Fragebogenerhebung des D. H. V. {Bearb. Werner Deiters). 
Hanseat. Verlagsanstalt. Hamburg 1931. (159 S.; RM. 7.—) — Was 
verbrauchen die Angestellten? Ergebnisse der dreijdhrigen Haus- 
haltungsstatistik des Allgemeinen Freien Angestelltenbundes. Freier Volks- 
verlag. Berlin 1931. (82 S.; RM. 1.75) ■ — Die Lebenshaltung des 
Landarbeiters. Wirtschaftsrechnungen von 130 Landarbeiterfamilien. 
Eine Erhebung des Reichsverbands landlicher Arbeitnehmer, bearb. von 
Max Hofer. Landvolk- Verlag. Berlin 1930. (245 S.; RM. 7.50) — 
Bernier, Wilhelm, Die Lebenshaltung, Lohn- und Arbeitsverhdltnisse von 
145 deutschen Landarbeiterfamilien. Ergebnis einer Erhebung d. dt. 
Landarbeiterverbandes in der Zeit vom 1. Juli 1929 bis 30. Juni 1930. 
Hrsg. vom Vorstand d. Dt. Landarbeiterverbandes, Berlin 1931. (120 S.; 
RM. 4. — ) — Die Lebenshaltung der Bauarbeiter nach Wirt- 
schaftsrechnungen ausdemJahre 1929. Deutscher Baugewerksbund. 
Berlin 1931. (167 S.; geh. RM. 8.—) 

Das Arbeiterinnensekretariat beim Haupt vorstand des freigewerkschaft- 
lichen Deutschen Textilarbeiter-Verbandes hat im Herbst 1928 den Mit- 
gliedern die Preisaufgabe gestellt, anschaulich und wahrhaftig den regel- 
mafiigen Verlauf eines Samstags und Sonntags zu schildera. Von je 1000 
weiblichen Mitgliedern beteiligte sich je eines. Die 150 Antworten („Mein 



192 Besprechungen 

Arbeitstag — mein Wochenende") sind ungewohnlich wertvoll, da 
sie Verhaltnisse und BewuBtseinszustande zu erfassen gestatten, die sonst 
sehr schwer faBbar sind. Das Buch, 150 monotone Anklagen (durchschnitt- 
liche Arbeitszeit in Betrieb und Haushalt: 13 a / 4 Std.), sei jedem Sozial- 
und Bevolkerungspolitiker, jedem Soziologen und Sozialpsychologen nach- 
driicklich empfohlen, auch den Gewerbeaufsichtsbeamten. Arbeits- und 
Lebensverhaltnisse der weiblichen Angestellten hat der freigewerkschaft- 
liche Zentral-Verband der Angestellten durch eine kleine Erhebung (5741 Per- 
sonen) ermittelt („Die weiblichen Angestellten"). Die Ergebnisse sind 
unter folgenden Gesichtspunkten statistisch und textlich dargestellt: Alter, 
Familienstand usw. (92% ledig), Schulzeit und Berufsausbildung (84,1% 
Volksschulbesucher), Stellungswechsel und -dauer (54% traten die erste 
Stellung zwischen dem 14. und 15. Jahr an), Arbeitszeit (fast die Halfte 
machte tubers tunden, davon 46% ohne jedes Entgelt), Einkommen: 
146,24 RM. Durchschnitt, 46% unter 125 KM. brutto. Die sachlich urn- 
fassendste Erhebung iiber „Die wirtschaftliche und soziale Lage der 
Angestellten" hat im Fruhjahr 1929 der freiheitlich-nationale Ge- 
werkschaftsbund der Angestellten durchgeftihrt. Jeder Fragebogen ent- 
hielt iiber 100 Fragen, mehr als 75 Millionen Lochkarten waren zur Verarbei- 
tung notig. Die Enquete erfaBte iiber 120000 mannliche und weibliche An- 
gestellte aller Kategorien. Besonders aufschluBreich fiir den Soziologen sind 
die Ermittlungen iiber die soziale Herkunft in den einzelnenOrtsgroBenklassen, 
die in Verbindung mit der Altersgliederung Ruckschliisse auf die Verande- 
rung der sozialen Aufstiegsvorgange gegeniiber der Vorkriegszeit ermog- 
lichen. „Die Gehaltslage der Kaufmannsgehilfen", eine Fragebogen- 
erhebung des Deutschnationalen Handlungsgehilfen-Verbandes vom 3. 2. 1929, 
ist sachlich enger begrenzt, stutzt sich aber auf iiber 188000 Falle und ist 
in der tabellarischen Darstellung ausfiihrlicher. Besonders wertvoll ist die 
ins einzelne gehende Aufgliederung nach Berufen. Nebenbei sei erwahnt, 
daB ein Vergleich der letztgenannten Arbeiten auch recht interessante 
Einblicke in die soziale Struktur der beideh Verbande zulaBt. Die jiingste 
Haushaltsstatistik von Angestellten hat der Afa-Bund ver6ffentlicht („Was 
verbrauchen die Angestellten ?"), der besondere Bedeutung schon 
deswegen zukommt, weil sie sich iiber 3 Jahre (vom 1. 7. 1928 — 31. 7. 1931) 
erstreckt und daher auch Aufschlusse iiber die Wirkung der Konjunktur 
auf die Haushaltsfiihrung gibt. Leider wurde der letzte Abschnitt, in dem 
Hauahaltsrechnungen erwerbsloser Angestellter ausgewertet werden, aus 
zeitlichen Griinden kiirzer gefaBt als die ubrigen Kapitel. Der christlich- 
nationale Reichsverband landlicher Arbeitnehmer hat an Hand von 130 Wirt- 
schaftsrechnungen ,die Lebenshaltuhg des Landarbeiters' im Jahre 1927 
genau untersucht. Das durchschnittliche Monatseinkommen je Durch - 
schnittsfamilie (4,92 Personen) betrug einschlieBlich der Einnahmen aus 
Naturallohn, Eigenwirtschaft, Mitarbeit von Frau und Kindern 162,56 RM. 
In OstpreuBen, Nordwest- und Ostdeutschland lag es darunter. Nur in 
9 Familien wurde wahrend weniger Wochen dieLohnsteuerfreigrenze erreicht! 
Die spater, in der Zeit vom 1. Juli 1929 bis 30. Juni 1930, durchgefuhrte 
Erhebung des freigewerkschaftlichen Deutschen Landarbeiter-Verbandes 
kommt zu ahnlich traurigen Resultaten. Leider konnen ihre Ergeb- 



Soziale Bewegung und Sozialpolitik 193 

nisse mit denen der vorhergenannten Erhebung nicht verglichen werden 
vor allem wegen der teilweise abweichenden Bewertung von Depu- 
tat- und Eigenwirtschaftserzeugung sowie wegen der differierenden stati- 
stischen Aufbereitung des Materials. Doch zeigen sich weitgehende relative 
tjbereinstimmungen im Grofien, z. B. in bezug auf die starken Unterschiede 
der Einkommenszusammensetzung und Lebenshaltung in den verschiedenen 
Wirtschaftsgebieten und Einkommensstufen. Die Arbeit des D. L. V. ist 
thematisch weiter gefaBt; interessant, wenn auch bei der geringen Teil- 
nehmerzahl nicht unbedingt von typischem Wert, sind die Ermittlungen 
iiber das Verhaltnis von Zeit- und Akkordlohnarbeit. Im iibrigen geht die 
Arbeit des Reichsverbandes starker ins einzelne und ist iibersichtucher 
gruppiert. Beide Erhebungen vermeiden Schwarzmalerei ; sie geben bei 
groBer Vorsicht in der Naturallohnberechnung ein objektives Bild, was um 
so verdienstvoller ist, als die Notlage der Landarbeiterschaft von Arbeit- 
geberseite zuweilen statistischgemildert wird. Zum Schlusse sei auf die Haus- 
haltsstatistik des freigewerkschaftlichen Baugewerksbundes hingewiesen: 
„Die Lebenshaltung der Bauarbeiter nach Wirtschaftsrechnungen aus 
dem Jahre 1929". Sie stiitzt sich auf 896 Falle ( !) und ist methodisch muster- 
haft. Durch die Gliederung nach Berufsgruppen, Ortsgruppenklassen und -ge- 
bieten, durch Untersuchungen, wie Arbeitslosigkeit und FamiliengroBe die 
Lebenshaltung beeinflussen und wie diese sich von der der Eisenbahner und 
Schuhmacher unterscheidet, ergeben sich wichtige neue Aufschlusse iiber 
die Lage dieser Arbeiterschicht. Es ist zu wiinschen, daB der Verband die 
Arbeit fortfuhrt. 

Hans Speier (Berlin). 



Kuczynski, Jiirgen u. Marguerite, Die Lage des deutschen Industrie- 
arbeiters. Internal. Arbeiterverlag . Berlin 1931. (166 S.; RM. 2.50) 

Das kleine Buch versucht, die Lage des deutschen Industriearbeiters 
in der Nachinflationszeit statistisch darzustellen, und fiihrt zu diesem Zweck 
Daten aus den Gebieten des Arbeitsmarkts, der Entwicklung der Lohne sowie 
der Unfallhaufigkeit als Folge der Rationalisierung auf. Nach einem kurzen 
tjberblick iiber die Gesamtsituation werden die einzelnen Industriezweige 
entsprechend untersucht. Bemerkenswert sind die Errechnungen des Real- 
lohns und der relativen Verelendung des deutschen Arbeiters; nur fehlen 
genaue Angaben iiber die Quellen des Materials. Uberdies sind die Unter- 
lagen zu den eigenen Berechnungsmethoden ungenugend erlautert, so daB sie 
nicht hinreichend uberpriift werden konnen. Auch stunden die SchluB- 
folgerungen fiir den Arbeiter selbst, die sich am Ende der Beschreibung der 
Lage in jedemlndustriezweig wiederholen, besser zusammenhangend und aus- 
fiihrlicher am AbschluB der ganzen Arbeit. Kuczynski bringt in knappem 
Rahmen reiches Material ; auf Grund seiner Berechnungen sucht er den Nach- 
weis zu erbringen, daB der Lebenshaltungsindex des Statistischen Reichsamts 
unbrauchbar ist und daB die Reallohne in keinem der Nachinflations jahre — 
mit Ausnahme von 1928 — an die Vorkriegslohne heranreichten. 

Hilde WeiB (Frankfurt a. M.). 



1 94 Besprechungen 

Stenbock-Fermor, Graf Alexander, Deutsckland von unten. Engelhorn. 
Stuttgart 1931. (159 S.; kart. RM. 5.50, geb. RM. 7.50) 

Schwarz, Georg, Koklenpott. Biichergilde Gutenberg. Berlin 1931. (207 S, 
geb. RM. 3.—) 

„t)lberall wohin ich kam, steigendes Elend, steigende Verbitterting, 
steigende Verzweiflung. Eine Welt der Armut und des Hungers und der 
Ausbeutung." So fafit Stenbock die Eindriicke zusammen, die er auf 
einer Beise durch die vom Proletariat dicht besiedelten Gegenden Deutsch- 
lands empfangen hat. Die Reportage berichtet von den Webern des Eulen- 
gebirges, den Glasblasern im Thiirmger Wald, den Spielzeugschnitzern und 
Holzarbeitem imErzgebirge, denHolzfloBern undHeimarbeitern im Franken- 
wald, den Bergleuten in Waldenburg und dem Ruhrgebiet, den Arbeitern 
des Leunawerkes. Im grauenvollsten Elend, in entsetzlicher Not fristen 
Millionen von Menschen ihr Dasein, diese untere Schicht des Proletariats, 
von deren Existenzbedingungen nichts bekannt ist; die Presse schweigt 
hieriiber. Wir erfahren, daB zahllose mehrkopfige Heimarbeiterfamilien 
von 40 Mark im Monat leben miissen, wenn man den langsamen Hungertod 
in uberfullten baufalligen Wohnhohlen so nennen will. Zehn Menschen 
hausen in einem Raum, Erwachsene und Kinder arbeiten funfzehn Stunden 
am Tag, um dann erschopft und hungrig auf dem mit Lumpen bedeckten 
FuBboden den Schlaf zu finden. Der Bericht ist von einer grausamen Objek- 
tivitat. Nackte Tatsachen, niichterne Zahlen werden aufgezeigt, von einer 
groBen Anzahl erschiitternder Photographien belegt, von Zeitungsmel- 
dungen und historischen Darlegungen erganzt. Jeder, der sich mit wirt- 
schaftlichen, sozialpolitischen und soziologischen Fragen beschaftigt, muB 
dieses Buch lesen; es verdient starkere Beachtung als zahlreiche Versuche 
wirklichkeitsfremder Theoretiker. 

Auch die Reportage iiber das Ruhrrevier von Georg Schwarz ist eine 
wertvolle Tatbestandsaufnahme, aus Einzelschilderungen und Illustrationen 
zusammengefugt, die eine genaue Sachkenntnis des Verfassers verraten. Der 
Leser erhalt — in einer allerdings unerfreulichen Ausdrucksform — eine 
anschauliche Vorstellung von diesem Industriegebiet, von seiner historischen 
Entwicklung, den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zustanden, von 
den Organisationen und Vereinen, von den Werken und ihrer Rationali- 
sierung. Allerdings ist dem Verfasser, der sich eindeutig zur Sozialdemo- 
kratie bekennt, die Darstellung der Existenzbedingungen und der Freizeit- 
gestaltung des Proletariats besser gelungen als die Schilderung des Burger- 
turns, dessen Sein und BewuBtsein oft falsche oder oberflachliche Deu- 
tungen finden. 

Carl DreyfuB (Frankfurt a. M.). 

Probleme der Arbeitslosigkeit im Jakre 1931. Internationales Arbeits- 
ami, Reihe C, Nr. 16 der Studien und Berichte. Oenf 1931. (316 S.; 
schw. frs. 7.50) 

Lea Aspects Sociaux de la Rationalisation. Bureau International du 
Travail, Etudes et Documents, Strie B (Conditions 4conomiques). No. 18 
Oenf 1931. (415 S.; schw. frs. 10.—) 



Sozial© Bewegung und Sozialpolitik 195 

Internationale Arbeitskonferenz. 16. Tagung, Qenf 1932, Bericht des 
Direktors. Internationales Arbeitsamt. Genf 1932. (112 S.; RM. 4. — ) 
Das Internationale Arbeit samt hat sich seit seiner Griindung und selbst - 
verstandlich besonders wahrend der letzten Jahre dem Studium der Arbeits- 
losigkeit gewidmet. So erschien im vorigen Jahr das Buch iiber „Probleme 
der Arbeitslosigkeit", das neben einem Auszug aus dem Bericht des 
Direktors eine Reihe von Studien enthalt, welche teils vom I.A.A. selbst, 
teils von Sachverstandigen aus verschiedenen Landern geschrieben wurden. 
Die Beitrage iiber die Frage der Geldwertschwankungen und Arbeitslosigkeit 
sowie iiber Rationalisierung und Beschaftigung wurden vom Amt selbst ge- 
liefert. Aufierdem schrieben Prof. Ansiaux, Briissel, iiber die Storungen des 
Welthandels, Prof. Albert Hahn, Frankfurt a. M., iiber die Ungleichheiten 
der internationalen Kapitalverteilung, Professor Hersch, Genf, iiber das 
Bevolkerungsproblem und Cole, Oxford, iiber die Lohne, alles im Zusammen- 
hang mit dem Problem der Arbeitslosigkeit. 

Der Beitrag des inzwischen verstorbehen Direktors gibt eine allgemeine 
Analyse der Krisenursachen. Wir mochten diesen Bericht vor allem als 
,, document humain" betrachten, denn hier spricht jemand, der das Elend 
der Massen kennt und sich Mtihe gibt, eine Losung herbeizufuhren. Die 
weiteren Studien befassen sich nur mit Teilproblemen. Diese Methode hat 
ihre Vor- und Nachteile: Einige Studien, wie die iiber Bevolkerungsfragen 
und Rationalisierung, stellen gegliickte Versuche dar, die behandelten Themen 
eingehend zu beleuchten; ein Nachteil ist jedoch der Mangel einer einheitlichen 
Auffassung in den verschiedenen Arbeiten und einer gegenseitigen Erganzung. 
Die Arbeit iiber die Geldwertschwankungen ftihrt aus, dafi die Preis- 
schwankungen nicht als eine Ursache der Arbeitslosigkeit bezeichnet werden 
konnen. Die Studie iiber Kapitalverteilung legt den Nachdruck auf die Not- 
wendigkeit der Elastizitat der Lohne, auf die Gef ahren brusker Kapital- 
ausfuhr und den Vertrauensmangel, der die freie Zirkulation des Kapitals 
behindert. Ansiaux stellt fest, in wieweit Import- und Exportbeschrankungen 
nachteilig wirken. Hersch gelangt zu der tJberzeugung, daB die Ursachen 
der Krise nicht in einer tjbervolkerung, sondern teilweise in einer zu geringen 
Bevolkerungszunahme liegen. Die Arbeit iiber Rationalisierung stellt fest, 
dafi diese auf die Dauer fur die ganze Gesellschaft eine gute Auswirkung 
haben mufi, und verteidigt teilweise noch die Kompensationstheorie ; schliefi- 
lich ist Cole der Meinung, dafi die Handhabung der Lohne nie Ursache der 
Arbeitslosigkeit sein kann. Der grofie Wert der Studien liegt in der Auf- 
rollung einer Reihe mit der Arbeitslosigkeit zusammenhangender Probleme. 
Jedoch zeigt sich hier, wie gesagt, die unbedingte Notwendigkeit, alle Klraf te 
zu koordinieren, die gegenseitige Beeinflussung der verschiedenen Faktoren 
zu untersuchen, wobei dann von selbst die tiefer liegenden fundamentalen 
Ursachen der Krise aufgedeckt werden. 

In der bisher nur franzosisch erschienenen zweiten hier besprochenen 
Verdffentlichung des LA.A. wird die Rationalisierung zwar ausschliefilich 
von ihrer sozialen Seite studiert, aber dennoch unter verschiedenen Gesichts- 
punkten : im Zusammenhang mit Ertrag, Arbeitsdauer, Gehalt, Beschaftigung, 
Vorbeugung von Unfallen, Arbeitsmethode, Beziehungen zwischen Arbeit- 



196 Besprechungen 

geber und Arbeitnehmer und Bedeutung der auf genossenschaftlichem 
Prinzip basierten Unternehmungen. 

Die ausgezeiohneten, wenn auch in vielen Fallen auf liickenhaftem Mate- 
rial aufgebauten Studien zeigen, welchen gewaltigen Aufschwung die Ra- 
tionalisierung seit dem Krieg genommen und wie sie, wenn auch eine Fort- 
setzung der bereits vor dem Krieg sich zeigenden Mechanisierung der Wirt- 
schaft, grundlegende Anderungen im Wirtschaf tsleben hervorgerufen hat. 
Wenn die Rationalisierung auch nicht als die Ursache der Krise betrachtet 
wird — der Bericht wagt nicht, sich in positiver Form daruber auszusprechen 
— so zeigt sich doch, daB sie einen stark mitwirkenden Faktor darstellt. 
Festgestellt wird, daB die Rationalisierung immer Arbeitslosigkeit hervor- 
ruft — wenn auch voriibergehend. Da die Ausdehnung der Rationalisierung 
mit den groBen weltwirtschaftlichen St6rungen parallel lauft, ergeben sich 
•daraus Schwierigkeiten, ihre Folgen genau abzugrenzen. Besonders hin- 
gewiesen wird in dem Bericht auf die durch die Rationalisierung entstandene 
-engere Zusammenarbeit zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer auf sozial- 
politischem Gebiet. 

Wenn auch die Weltkrise in dieser Arbeit aufier Betracht gelassen wird, 
so hat das empirisch gesammelte Material doch groBen Wert. Der Gedanke, 
der sich beim Durchlesen dieser Veroffentlichung aufdrangt, ist wohl der, 
daB die planlose Rationalisierung schlieBlich Folge der planlosen Wirtschaft 
ist und daB unter Beibehaltung dieses planlosen Systems die Rationalisierung 
die Krise verscharft, anstatt ihr entgegenzuwirken. 

Es ist eine gute Gewohnheit, daB der jahrlich stattfindenden Arbeits- 
konferenz nicht mehr wie frtiher ein umfangreicher Bericht tiber die ganze 
Tatigkeit des I.A.A. vorgelegt wird, sondern ein kurzer, der die brennenden 
Fragen der Gegenwart behandelt. Der diesjahrige befaBt sich ausschliefllich 
mit dem Problem der Arbeitslosigkeit und der Weltkrise. Auch werden die 
MaBnahmen dargelegt, welche das I.A.A. selbst zur Aufhebung der Krise 
vorgeschlagen hat, und welche von einem ernsten Willen zeugen, alles zu tun, 
was das in seinen Befugnissen immerhin stark begrenzte Amt vermag. 

Ein ganzes Kapitel ist diesmal der organisierten Wirtschaft gewidmet, 
wobei auch viel Material uber den Stand der planwirtschaftlichen Fragen 
gebracht wird. Dies zeigt wieder, daB das I.A.A. von alien neuen Tendenzen 
in der Wirtschaftswissenschaft genau Kenntnis nimmt und daB es bestrebt 
ist, eine vitale Kraft in der heutigen Gesellschaft zu sein. 

DaB es sich bei diesen Bestrebungen mit rein wirtschaftlichen Problemen 
befassen muB, wahrend das Sozialpolitische relativ in den Hintergrund 
gedrangt wird, ist ein neuer Beweis fur die vom I.A.A. vertretene These, daB 
in letzter Instanz auf sozialpoUtischem Gebiet keine bedeutenden Fortschritte 
gemacht werden kdnnen, ohne daB die Wirtschaft gesundet. 

Andries Sternheim (Genf). 

Douglas, Paul H., and Aaron Director, The Problem of Unemployment 
The Macmillan Company. New York 1931. (XIX, 505 S.) 
Dieses Buch, das eine umfassende Analyse des Arbeitslosenproblems 

in der kapitalistischen Wirtschaft anstrebt, steht eowohl seinem sachlichen 



Soziale Bewegung mid Sozialpolitik 197 

Gehalt nach wie auch in seiner sozialpolitischen Intention in Parallele zu 
dem bekannten grundlegenden Werk von Beveridge „Unemployment a 
Problem of Industry'* aus der Vorkriegszeit. Die Arbeitslosigkeit wird auf- 
gefaBt als Friktionserscheinung des in seiner lokalen, beruflichen und zeit- 
lichen Fluktuation gehemmten Arbeitsangebots mit der unstetigen Bewe- 
gung der Industrie. Als die wichtigsten Ursachen der Schwankungen der 
Arbeiternachfrage der Industrie werden jahreszeitliche Einfltisse, technische 
Fortschritte und Konjunkturbewegung hervorgehoben und die ihnen ent- 
sprechenden Formen der Arbeitslosigkeit: Saisonarbeitslosigkeit, techno- 
logische und zyklische Arbeitslosigkeit am amerikanischen Material einer 
quantitativen Analyse unterzogen und mit entsprechenden europaischen 
Zahlen in Vergleich gesetzt. Mit den so gewonnenen Resultaten werden die 
verschiedenen Projekte zur Beseitigung der Arbeitslosigkeit wie etwa Regu- 
larisierung der Beschaftigung in einzelnen "Unternehmungen und ganzen 
Industriezweigen oder Ausschaltung von Konjunktur schwankungen durch 
Dbsierung offentlicher Auftrage oder Kreditpolitik konfrontiert und — eine 
sehr positive Seite des Buches — auf das wirkliche MaB ihrer moglichen 
Wirkung reduziert. Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung werden 
als notwendige sozialpolitische Maflnahmen herausgearbeitet. Die theore- 
tischen Ausftihrungen, zu denen die Verf. bei der Behandlung der techno- 
logischen und zyklischen Arbeitslosigkeit gekommen sind, sind schwach. 
Beispielsweise glauben die Verf. die Unmoglichkeit eines absoluten Arbeiter- 
uberschusses einfach aus der tfoertragung der Kaufkraft der freigesetzten 
Arbeiter auf andere Bevolkerungsschichten beweisen zu konnen. Typisch 
fiir die Art, wie die okonomische Theorie dabei behandelt wird, ist die Fest- 
stellung in einer Anmerkung, daB „Sismondi, Rodbertus und natiirlich Marx 
sowie neuerdings Henry Ford" die Depression daraus erklarten, daB der 
Arbeiter nicht sein voiles Produkt zurtickkaufen konnte, weshalb es sich 
als Vorrat ansammle und schlieBIich die Produktion verstopfe, bis die Lager 
wieder geraumt seien. 

Die zweite Halfte des Buches wird von einer Beschreibung der Arbeits- 
losenversicherung und Arbeitslosenvermittlung in den verschiedenen Landern 
ausgefiillt, wobei entsprechend dem praktischen Zweck des Buches beson- 
deres Gewicht auf die Organisation und Verwaltung gelegt wird. Wahrend 
die Beschreibung der europaischen Institutionen wenig Neues bringt, iBt 
die Schilderung der amerikanischen Verhaltnisse gerade auch in ihren De- 
tails fiir den nichtamerikanischen Leser von groBem Interesse. 

Jakob Feinberg (Frankfurt a. M.)* 

Employment Begularization in the United States of America. 

American Section International Chamber of Commerce. Washington D. C. 

1931. (84 S.) 

Dieses von der Internatibnalen Handelskammer herausgegebene Heft 
sei hier erwahnt, weil es eine interessante Darstellung eines bestimmten 
Zweiges der amerikanischen Arbeitslosenpolitik gibt, namlich der Versuche 
emzelner Unternehmungen und Gruppen von Unternehmern, die Arbeits- 
losigkeit durch VergleichmaBigung des Produktionsumfangs zu reduzieren. 
Es werden eine ganze Reihe von Budgetierungsplanen emzelner ITnter- 



198 Besprechungen 

nehmungen zur Ausschaltung der Saisonbewegungen der Produktion ge- 
schildert. Was hingegen die Beseitigung der zyklischen Arbeitslosigkeit 
angeht, so mufi sich dieser Versuch der Beschreibung der spezifisch indivi- 
dualistisch-amerikanischen Formen der Bekampfung der Arbeitslosigkeit 
im wesentlichen auf die Auffiihrung unzahliger Komitees fiir diesen Zweck 
beschranken. Jakob Feinberg (Frankfurt a. M.). 

Case Studies of Unemployment. Compiled by the Unemployment Commi- 
tee of the National Federation of Settlements. University of Pennsylvania 
Press, Philadelphia 1931. (XLIX, 418 S.) 

Calkins, Clinch, Some Folks Won't Work. Harcourt, Brace and Company. 
New York o. J. (1931). (202 S.) 

Die beiden Bucher sind entstanden aus einer Untersuchung des Arbeits- 
losigkeitsausschusses der National Federation of Settlements. Ihre Bedeu- 
tung liegt erstens in der sozialwissenschaftlich-methodisch wichtigen For- 
schungsweise der Untersuchung, zweitens darin, dafl sie klarer als dies all- 
gemein in der amerikanischen Arbeitslosenliteratur geschieht, ein System 
der Sozialpolitik fordern und begrunden. Die Untersuchung stellt es sich 
zur Aufgabe, die Wirkung der Arbeitslosigkeit auf die Familie als die 
unmittelbar durch den Einkommensausfall getroffene soziale Einheit fest- 
zustellen. In den ,,Case Studies" unterbreiten die Verfasser das Quellen- 
material dieser Untersuchung: die Chronik von 150 Familien im Laufe 
mehrerer Jahre, in denen diese wahrend groflerer oder geringerer Zeit- 
raume und mit wechselnder Haufigkeit von Arbeitslosigkeit betroffen 
wurden. Die Berichte iiber die einzelnen Familien sind von Settlement- 
workers in verschiedenen Stadten auf Grund sehr eingehender personlicher 
Bekanntschaft an Hand von sachkundig ausgearbeiteten Fragebogen ge- 
liefert worden und ergeben eben durch diese Verbindung von wissenschaft- 
licher Methode mit unmittelbarster Nahe der Beobachtung ein weder durch 
Statistik noch durch allgemeine Eirfahrung ersetzbares Urmaterial. 

Die sozialpolitische Gedankenfiihrung der Verf . zeigt grofle Ahnlichkeit 
mit der europaischen, insbesondere englischen Arbeitslosenliteratur des 
Vorkriegsjahrzehnts. Wie diese versuchen die Verfasser, „die Arbeitslosen 
von den ,unemployables l zu Bondern" und nachzuweisen, dafl sie nichfc 
identisch mit der Schicht der Paupers sind, dafl vielmehr die Arbeitslosig- 
keit ein ^Problem der Industrie" ist und dafl ihr Arbeiter von guter 
Qualifikation und industriellem Standard verfallen. Zu diesem Zweck 
schliefien die Verfasser aus den Berichtfallen alle Familien ausdriicklich aus, 
bei deren Arbeitslosigkeit „Streiks, Krankheit, Lebensgewohnheiten oder 
andere personliche Faktoren uberwiegend waren". Der zweite Schritt der 
Argumentation ist die aus den untersuchten Fallen uberzeugend nach- 
gewiesene Tatsache der Unzulanglichkeit aller individuellen „Schutzwalle" 
des Arbeiters gegen die Arbeitslosigkeit und zwaf nicht nur in Zeiten 
der Depression, sondern bereits in der PrOsperitat. (Samtliche Falle sind 
vor dem Eintritt der Krise gesammelt worden, illustrieren also dadurch 
die Verhaltnisse der amerikanischen „Normalarbeitslosigkeit <( , wodurch das 
Buch ein ganz besonderes Interesse gewinnt.) In alien Fallen setzt 



Soziale Bewegung und Sozialpolitik 199 

mit einem gut herausgearbeiteten typischen Verlauf der bei dem relativ 
hoheii Lebensstandard des amerikanischen Arbeiters besonders auffallige 
ProzeB des Abstiegs auf der industriellen und sozialen Stufenleiter ein, an 
dessen Ende der qualifizierte Arbeiter zum Gelegenheitsarbeiter geworden 
ist, der schlieBlich in vielen Fallen in die Schicht des Pauperismus versinkt, 
jedenfalls mit groBter Schwierigkeit nur seinen friiheren sozialen Standard 
wieder erreicht. Auf die sehr inter essante Schilderung dieses Prozesses 
im einzelnen kann hier nur hingewiesen werden. 

Die sozialpolitischen Forderungen der Verfasser ubernehmen im wesent- 
lichen die Prinzipien der europaischen Vorkriegssozialpolitik : Glattung der 
Konjunkturzyklen (hier beruhren sich ihre Gedankengange mit den zahl- 
losen amerikanischen „regularization of employment "-Vorschlagen), Organi- 
sation des Arbeit smarkts (um das ^hunting the job" zu beseitigen) und 
Arbeitslosenversicherung, um „ein Minimum sozialer Vorkehrungen gegen 
die schlimmsten Formen der Not zu schaffen". 

Das Buch von Calkins ist eine propagandistisch populare, sehr tempera- 
mentvolle und gut geschriebene Zusammenfassung der Resultate aus den 
„Case Studies". Das zumTitel gewahlteSchlagwort,, Some Folkswon't Work'*, 
das der Verfasser als eine in Amerika noch vielf ach als ausrefchend erachtete 
Erklarung des Arbeitslosenproblems bezeichnet, charakterisiert die Riick- 
standigkeit der „6ffentlichen Meinung", gegen die das Buch ankampfen will. 

Jakob Feinberg (Frankfurt a. M.). 

Weber, Adolf, Sozialpolitik. Reden und Aufsdtze. Duncker dh Humblot. 
Munchen u. Leipzig 1931, (23S S.; br. RM. 9.—, geb. RM. 11.—) 
Wahrend die ublichen Lehrbiicher der Sozialpolitik die Geschichte der 
sozialpolitischen Organisation und Gesetzgebung in den Vordergrund zu 
rucken pflegen, bemiiht sich diese Sammlung von Essays aus der Hand Adolf 
Webers ausschliefllich um die Klarung der theoretischen Grundfragen der 
„Grenzen und Gefahren der Sozialpolitik' * - — wie es der Titel des letzten 
Abschnitts treffend umschreibt. Drei Problemgruppen stehen dabei im 
Zentrum der Diskussion: 1. die grundsatzhche Gesellschafts- und Wirt- 
schaftsordnung, 2. das Verhaltnis von Staat und Wirtschaft innerhalb 
einer grundsatzlich freien Verkehrswirtschaft und $. das Verhaltnis von 
Arbeitgebern und Arbeitnehmem. Die erste Frage wird von W. klar zu- 
gunsten der freien Verkehrswirtschaft und gegen die Planwirtschaft ent* 
schieden. Die grundsatzlich zu bejahende kapitalistische Verkehrswirtschaft 
biete fur politische Beeinflussung und Regulierung nur wenig Raum. Die 
Wirtschaft habe ihre Eigengesetzlichkeit, die weder durch private Monopol- 
bildungen noch durch staatliche Inter ventionen ungestraft durchbrochen 
werde. Auf die Dauer stelle das freie Spiel der Krafte die im Gesamt- 
interesse hegende beste Versorgung her, und es kdnne nur darauf an- 
kommen, durch Starkung der Anpassungskrafte die unvermeidlichen 
Friktionen zu mildern. Diese Einstellung bedeute nicht die Forderung 
atomisierter Konkurrenz, wie sie der Theorie der Klassiker zugrunde ge- 
legen habe. Die Konkurrenz schreie geradezu nach Organisation der 
Selbsthilfe. Der Hauptfehler der Kartelle und Gewerkschaften bestehe in 
der Behinderung der Elastizitat der Preisbildung und der Anpassungs- 



200 Besprechungen 

prozesse. Politische Preise jeglicher Art fuhrten stets zu unwirtschaftlicher 

tlberteuerung und zu Kapitalfehlleitungen mit nachfolgender Kapitalver- 

nichtung. — Das Verhaltnis von Arbeitgebern und Arbeitnehmem miisse 

mit Verstandnis fur das volkswirtschaftlich Notwendige in Vertrauen 

und Selbstverantwortung gestaltet- werden. Der Klasserikampfgedanke 

sei schroff abzulehnen und an seine S telle der Gedanke der „Mitarbeit" 

zu setzen, der in Arbeitsgemeinschaften von Unternehmern und Arbeitern, 

die beide das gleiche Interesse der Wohlstandssteigerung hatten, verwirk- 

licht werden konnte. — W.s Liberalismus laBt ihn eine Ruckbildung der 

Sozialpolitik fordern, sein Katholizismus hebt um so starker die Bedeutung 

der ethischen und religiosen Motive fiir die Losung der sozialen Frage 

hervor. 

Fritz Burchardt (Frankfurt a. M.). 

Brauer, Theodor, S ozialpolitik und Sozialre form. G.Fischer, Jena 1931* 
(116 S.; RM. 4.50) 

Sozialpolitik ist Handhabung der offentlichen Angelegenheiten im Hin- 
blick auf die gesellschaftlichen Bediirfnisse. Gesellschaft ist die allerall- 
gemeinste Zusammenfassung von Menschen, und die gesellschaftlichen Be- 
diirfnisse gruppieren sich um das Problem der qualitativen Schichtung; 
diese qualitative Schichtung ist die naturgemaBe Organisation der Gesellschaft. 
B. behandelt nur die deutschen Verhaltnisse und nur die staatliche Sozial- 
politik. Er findet, daB in Deutschland eine qualitativ geschichtete Gesell- 
schaft nicht vorhanden ist, weil eine solche Schichtung auf differenzierten 
Leistungen beruhen miifite; tatsachlich beruhe sie aber lediglich auf diffe- 
renziertem Besitz. Dieser Pseudo-,, Gesellschaft" steht ein Staat gegenuber,. 
der sich ausschliefllich von der Staatsrason leiten und der alle Erwagungen 
hinter dem Interesse an der Erhaltung seiner selbst zuriicktreten laBt. Dieser 
Staat treibt keine Sozialpolitik; die Gesellschaft verlangt es auch nicht, da 
sie eben rein mengenmaJBig konstituiert und zur Erhebung von sozialkon- 
stitutiven Forderungen nicht imstande ist. Richtig verstandene Sozialpolitik 
muB Sozialreform sein; Ansatze dazu Hegen in der Berufsberatung vor, in 
Teilen des Koalitions- und Arbeitsrechts. — B. zeigt dann, wie er sich eine 
sozialkonstitutive SozialpoUtik denkt: berufsstandische Gliederung der Ge- 
sellschaft, freiwillige Bildung von Arbeitsgemeinschaften zwischen Gewerk- 
schaften und Arbeitgeberverbanden, Verteilung der Aufgaben des Arbeit- 
nehmerschutzes, der Altersversorgung, der Arbeitsmarktpolitik und der 
Sozialversicherung auf die Berufsgemeinschaften. Dem Staat kommt die 
Aufgabe zu, die Interessenbereiche der Berufsgemeinschaften gegeneinander 
abzugrenzen und Grenzverletzungen zu verhindern. 

B.s Sprache ist einfach und klar. tJber die ungeheuren Schwierigkeiten 
einer berufsstandischen Dezentralisierung der heutigen staatlichen sozial- 
politischen Einrichtungen macht er sich keine Illusionen. Leider geht er an 
zwei Problemen, die zu seinem Thema gehoren, voriiber. Er behauptet, dafl 
die beruflicheTatigkeit dasjenige sei, was auf dieWesenheit des Menschen den 
etarksten Einflufl habe und infolgedessen am besten zum Ausgangspunkt 
von sozialkonstitutiven MaBnahmen gewahlt werde. Er laBt ununtersucht, 
ob nicht die „Arbeitnehmerhaftigkeit" und das „Chefsein tt viel starkere 



Soziale Bewegung und Sozialpolitik 201 

Bildungsfaktoren sind oder, falls sie das seiner Ansicht nach nicht sind, ob 
nicht „Tischlersein'* urid „Arbeitnehmersein" im Falle der Konstituierung 
der Berufsgemeinschaften doch in einenKonflikt miteinander geraten konnen 
bzw. mussen, der die Berufsgemeinschaft gefahrdet. Zweitens kummert 
sich B. nicht um das Phanomen „Betrieb", nicht um das Verhaltnis 
zwischen Berufszugehorigkeit und Betriebszugehorigkeit, nicht um die An- 
satze zur Bildung von Betriebsgemeinschaften (wir meinen hier nicht die 
ktinstlichen ^Werksgemeinschaften"). Im ubrigen sagt B., dafl zunachst das 
„prinzipielle Mifltrauen (d. h. der Arbeitnehmer gegen die Arbeitgeber und 
umgekehrt), diese Teufelsgeburt" uberwunden werden miisse. 

Justus Streller (Leipzig). 

Pipkin, Charles MV. 9 Social Politics and Modern Democracies. Macmillan. 
New York 1931. (Bd. 1, XXXIV u. 377 S. f Bd. 2, VII u. 417 S.) 
Der Gegenstand des Buches ist „die Entwicklung der Sozialgesetzgebung 
und -verwaltung in England und Frankreich", aufgefafitals „die Geschichte 
des Versuchs zweier grofler Staaten, die Probleme eines sich verandernden 
Wirtschaftssystems" zu bewaltigen. Dabei kommt es dem Verfasser darauf 
an, die Herausbildung der modernen Sozialpolitik innerhalb und vermittels 
der parlamentarischen Demokratie zu zeigen, eine Entwicklung, die er als 
,,die Annahme von Vernunft und Grerechtigkeit zum leitenden Prinzip der 
innerstaatlichen Politik" interpretiert. Den grofiten Teil des 1. Bandes 
nimmt eine historische Darstellung der sozialpolitischen Gesetzgebung in 
England sowie der Umformung der Verwaltung zu ihrer Durchfiihrung ein. 
Ausfuhrlich behandelt wird die Zeit von der Jahrhundertwende an bis zur 
Gegenwart als die Periode, in der die Sozialpolitik zu einem geschlossenen 
Kxeis vorbeugender und unterstiitzender MaCnahmen ausgebaut worden ist. 
Der Begriff Sozialpolitik ist weit gefaBt; Fabrikgesetzgebung, Jugendlichen- 
schutz, Wohnungswesen sowie die gesamte Sozialversicherung werden ein- 
bezogen. Den Sinn aller dieser MaBnahmen sieht der Verfasser in der Fixie- 
rung und staatlichen Sicherung eines „national standard of life**. Der histo- 
rischen Darstellung ist neben viel zeitgenossischer Literatur in der Hauptsache 
das Quellenmaterial der Parlamentsberichte zugrundegelegt. Die Wahl der 
Quellen, die dem Buch seinen besonderen Charakter in der sozialpolitischen 
Literatur verleiht, ergibt sich aus der Art, in der der Verfasser den Zu- 
sammenhang der Sozialpolitik des 20. Jahrhunderts mit der parlamenta- 
rischen Staatsform sieht. Er versucht, aus der detaillierten Schilderung der 
parlamentarischen Geschichte jedes einzelnen sozialpolitischen Gesetzes 
den Fortschritt der offentlichen Meinung herauszuarbeiten, die in einer 
Demokratie auf dem Wege tiber die Volksvertretungswahlen die Triebkraft 
der Gesetzgebung sei. Nicht allein versaumt der Verfasser — bis auf ge- 
legentliche Bemerkungen — den Zusammenhang der sozialpolitischen Ge- 
setzgebung mit der Herausbildung und Umformung der Arbeiterklasse im 
19. Jahrhundert aufzuweisen, er unterlaCt es auch, die parlamentarische 
Haltung der verschiedenen Parteien in die jeweilige politische Situation 
einzuordnen. 

Den zweiten Teil des 1. Bandes bildet eine Untersuchung tiber die Rtick- 
wipkung des Parlamentarismus und der Sozialgesetzgebung auf die englische 



202 Besprechungen 

Arbeiterbewegung. Der Verfasser begrundet die Herausbildung der Labour- 
Party aus der Gewerkschaftsbewegung mit der Einsicht der Gewerkschaften 
in die Notwendigkeit einer selbstandigen Vertretung im Parlament zur 
Sicherung ihrer juristischen Stellung und zu kraftigerer Durchsetzung 
staatlicher sozialpolitischer MaBnahmen. Als Resultat des tJbergreifens 
der Gewerkschaften in die politische Sphare stellt der Verfasser die Er- 
weiterung der Ziele der Arbeiterbewegung dar: zu einem Volksprogramm 
der Arbeiterpartei einerseits, zu einer Ausgestaltung des Gewerkschafts- 
programms in der Richtung eines wirtschaftsdemokratischen Ausbaus der 
Stellung der Arbeit er in Staat und Wirtschaft andererseits. Unter dieser 
Perspektive wird der ProzeB des Einbaus der Gewerkschaften in den admini- 
strativen Apparat der Sozialpolitik (einschliefilich des Schlichtungswesens) 
betrachtet, wobei sich der Verfasser aller dings meist auf die Herausstellung 
der Ansatze dieser Entwicklung in den einzelnen Gesetzen beschrankt. 

Der zweite, Frankreich behandelnde Band ist ahnlich aufgebaut ; Raum- 
mangel verbietet eine inhaltliche Besprechung. 

Jakob Feinberg (Frankfurt a. M.). 

Eibel, Meyer-Brodnitz, Preller, Praxis dea Arbeit 8 achutzea und der 
Oewerbehygiene. Mit einem Vorwort von Theodor Leipart. Verlaga- 
gesellachaft dea Allgemeinen Deutschen Oewerkachaftabundea. Berlin 1931. 
(233 S.; RM. 3.50, Org.-Ausgabe RM. 2.60) . 

Das handliche Buch gibt eine ausgezeichnete und klare tft>ersicht tiber 
alle fiir den Betriebsrat wesentlichen Fragen aus der Organisation und dem 
Recht des Arbeitsschutzes, aus dem Gesundheitsschutz des arbeitenden 
Menschen (wobei den Berufskrankheiten besondere Aufmerksamkeit ge- 
widmet ist), dem betrieblichen Arbeitsschutz und schlieBt mit Ratschlagen 
fiir erste Hilfe. Besondere Hervorhebung verdienen die in einer Tasche bei- 
gefiigten Tafeln tiber das geltende Arbeitszeit recht, den besonderen Kinder-, 
Frauen- und Jugendlichenschutz, die Sonntagsarbeit und die Schutzbestim- 
mungen fiir einzelne Gewerbe. Die Arbeit kann als vorbildlich fur die Be- 
handlung komplizierter Fragen des modernen Betriebs- und Arbeitslebens 
fur das Verstandnis der Arbeiterschaft bezeichnet werden. 

Fritz Croner (Berlin). 

Richter, Lutz, iSozialveraicherungsrecht. Enzyklopddie der Rechta- und 
Stoatswiaaenschaft, Bd. XXXI a. Juliua Springer. Berlin 1931. (XII u. 
235 S.; RM. 12.60) 

Richter wendet sich nach Ablehnung der „Versicherungstheorie" und 
der ,,Fursorgetheorie" auchgegen die Auf fassung Kaskels, insbesondere gegen 
dessen Auffassung des Arbeitsrechts (also auch der Sozialversicherung) als 
Sonderrecht des Proletariats. Erbehauptet,dafidie Sozialversicherungsgesetze 
denEintritt des Versicherungaverhaltnisses usw. nicht an „auCerhalb des sach- 
lichen Tatbestands" liegende personliche Merkmale, sondern an „bestimmte 
Tatbestande'*, d. i. die „Arbeiter- Arbeit'* bzw.„Angesteliten-Arbeit (t ,knupfen. 
Diese Auffassung steht nicht nur im Widerspruch zu der eigenen Ableitung 
R.s von der Entstehung und Funktion der Sozialversicherung, sie. 
fuhrt ihn auch in groBte Schwierigkeiten bei dem Versuch, von dieser Basis 



Spezielle Soziologie 203 

aus den Personenkreis der Sozialversicherung abzugrenzen. Da er den 
Sonderrechtscharakter der Sozialversicherung nicht zugeben will, kon- 
struiert er einen Unterschied zwischen dem Proletarier, der als soziologische 
Erscheinung fur die Sozialversicherung nicht relevant sei, und dem „Arbeiter 
in concreto", der den allein entscheidenden Tatbestand des Arbeiterseins 
fiir die Sozialversicherung reprasentiere. Zu welchen Kiinstlichkeiten diese 
Unterscheidung bei den Angestellten fuhrt, wo von der „gesellschaftlichen 
Gesamtstellung als Angestellte" im Gegensatz zum „ Angestellten in con- 
creto" die Rede ist, ist leicht einzusehen. Die Unterscheidung ist aber auch 
unfruchtbar, wenn man sie vom Boden des R. schen Systems zu Ende denkt . 
Nach R. ist der Kreis der Sozialversicherung abgesteckt durch den „Arbeiter 
in concreto", nicht durch den Proletarier, weil rechtserheblich „nur*' die 
personliche Abhangigkeit, nicht auch die wirtschaftliche sei, die zwar „oft", 
aber , , nicht notwendig" dazutrete. R. iibersieht, dafi die sog. „pers6nliche" 
Abhangigkeit nicht existiert ohne wirtschaftliche Abhangigkeit. 
Die „Eigenart" der Arbeit, die zum Ertragen solcher personlichen Abhangig- 
keit zwingt, ist eben, daO sie von Proletariern verrichtet wird. Das Gegen- 
beispiel R. s, die Versicherungspflicht nebenberuflicher Tatigkeit, schlagt — 
ganz abgesehen von seiner zahlenmafiigen Bedeutungslosigkeit — nicht 
durch, da von diesen nebenberuf lichen Tatigkeiten entweder die von R. ge- 
nannten Kennzeichen personlicher Abhangigkeit nicht erfiillt werden oder 
aber auch Yiir sie zugleich der Tatbestand wirtschaftlicher Abhangigkeit 
gegeben ist.\ 

Die Darstellungsmethode des Sozialversicherungsrechts bei R. ist neu- 
artig. Er gliedert nicht nach Sozialversicherungszweigen, also vertikal, 
sondern horizontal jeweils durch die gesamte Sozialversicherung nach den 
einzelnen Rechtsverhaltnissen. Das Buch setzt also eine gute Kenntnis 
der Sozialversicherung voraus. Zur Einfuhrung ist es nicht dienlich. Wohl 
aber kann es gute Dienste bei jeder tJberlegung und Mafinahme leisten, die 
das Ganze der Sozialversicherung angehen, so etwa bei einer Reform der 
Sozialversicherung. Fritz Croner (Berlin). 



Spezielle Soziologie. 

Schmitt, Karl, Der Begriff des Politischen. Duncker & Humblot. 

Munchen 1932. (81 S.; EM. 2.40) 

In der geistreichen Abhandlung des Verf., die unter gleichem Titel be- 
reits in Band 58 des „Archivs fiir Sozialwissenschaft und Sozialpolitik* 4 er- 
schienen ist, wird der Begriff der Politik von der „letzten" Unterscheidung 
aus bestimmt, „auf die alles im spezifischen Sinne politische Handeln zuriick- 
gefiihrt werden" konne: von der Unterscheidung Freund-Feind, Feind im 
Sinne von host is, nicht von inimicus verstanden. Der Verf. betont, daB 
seine Begriff sbestimmung gegenstandsgerecht sei, j ede j uristische oder 
moralische Behandlung dagegen die Klarheit des Gegenstands triiben musse. 
Die Moglichkeit soziologischer Betrachtung beriicksichtigt S. nicht, ob- 
wohl seine Polemik gegen den Liberalismus, der — ohnmachtig zur Totali- 
tatsbetrachtung — die politischen Begriffe nach der wirtschaftlichen und 



204 Besprechungen 

ethischen Seite aufgelost habe, namlich Kampf in Konkurrenz und Dis- 
kussion usw., bestes soziologisches Erbgut ist : Saint- Simon, Comte, Marx u. a, 
haben freilich angegeben, welche konkreten Krafte die Freund-Feind-Grup- 
pierung nun eigentlich bewirken. S. unterlaflt es. Er halt die formale 
Scheidung in Freund und Feind fur eine seinsmaBige, also nicht weiter ab- 
leitbare. Wie die Soziologie in der Polemik gegen das politische Denken 
(Hobbes) entstanden ist, als es eine ausreichende Deutung des offentlichen 
Lebens nicht mehr zu leisten vermochte, so setzt sich heute die Restauration 
der Politik dem soziologischen Denken entgegen. Dabei wird dieses zur 
Chimare, zum Anhangsel des Liberalismus, als seien Smith und W. v. Hum- 
boldt und nicht Mill und Hegel seine Bahnbrecher gewesen. Es ware zu 
wunschen, dafi die Kritik ebenso prazis und energisch geiibt wird, wie Schmitt 
seine Thesen vorgetragen und begriindet hat. 

Hans Speier (Berlin). 

Schmitt, Karl, Der H titer der Verfassung. J. G. B. Mohr. Tubingen 

1931. (VI u. 159 S.; br. RM. 10.50, geb. RM. 12.50) 

Das in politischen Restaurationsperioden, also in der neueren Verfassungs- 
geschichte zuerst in England nach dem Tode Crom wells, in Deutschland 
mit der Weimarer Verfassung, aktuell werdende Problem des „Hiiters der 
Verfassung" wird in dieser gedanken- und materialreichen Untersuchung 
wissenschaftlich, d. h. im Zusammenhang mit der konkreten Verfassungs- 
lage behandelt. S. widerlegt zunachst die Anschauung, wonach fiir den 
heutigen deutschen Staat ebenso wie fiir USA. die Justiz zum Huter der 
Verfassung berufen sein soil. Er pruft dann in eindringlicher Analyse der 
drei nach seiner Meinung aus der konkreten Verfassungslage der Gegen wart 
hervorbrechenden staatsauflosenden Tendenzen des „Pluralismus", der 
,,Polykratie" und des ^Foderalismus" die Frage, warum es im heutigen 
deutschen ,,demokratischen Verfassungsstaat'* iiberhaupt eines besonderen 
,,Huters der Verfassung" bedarf und warum nicht einfach nach der fiir den 
„Gesetzgebungsstaat" des 19. Jahrhunderts selbstverstandlichen Vor- 
stellung das Parlament ,, seiner Natur und seinem Wesen nach in sich selbst 
die eigentliche Garantie der Verfassung enthalt". Nach S. steht und fallt 
diese „parlamentarische u Anschauung mit der liberal -bur gerlichen Gegen - 
iiberstellung von Gesellschaft und Staat. Sie ist heute endgiiltig iiberholt 
einerseits durch die „Entwicklung des Par laments zum Schauplatz eines 
pluralistischen Systems", andererseits durch die iiber alle hemmenden und 
kreuzenden Gegentendenzen hinweg sich siegreich durchsetzende ,,Wendung 
vom nicht-interventionistisch neutralen zum Wirtschafts- und totalen Staat". 
Inf olge dieser beiden letzten Endes aus der okonomischen Entwicklung 
entspringenden Tendenzen steht der Staat heute vor der Alternative, ent- 
weder die (nach S. zu seinem Wesen gehorige) Einheit und Ganzheit vollig 
aufzugeben und sich in ein ,,pluralistisches System", einen bloBen ,,Vertrag 
der sozialen Machtkomplexe", umzuwandeln, mit alien daraus entstehenden 
Konsequenzen, oder aber „zu versuchen, aus der Kraft der Einheit des 
Ganzen heraus die notwendige Entscheidung herbeizufiihren". Als gegen- 
wartig besten Weg zur Durchfiihrung dieses Versuchs proklamiert S. im 
wesentlichen AnschluB an Benjamin Constant die von der Weimarer Ver- 



Spezielle Soziologie 205 

fassung bereits vorgezeichnete und in den letzten 10 Jahren gewohnheits- 
rechtlich weiterentwickelte Ausbildung eines plebiszitaren „pouvoir neutre" 
in Gestalt des „vom ganzen deutschen Volke" gewahlten Reichsprasi- 
denten. 

Die Starke der hiermit in den Grundztigen dargestellten Theorie liegfc 
in ihrer kritischen Analyse der bisher vorherrschenden biirgerlich-liberalen 
Staatsauffassung, die dem tatsachlichen Pluralismus der wirtschaftlichen 
und gesellschaftlichen Interessen einen neutralen, in wirtschaftliche und 
gesellschaftliche Angelegenheiten nicht intervenierenden Staat iiberbauen 
zu konnen vermeinte. S. schildert uberzeugend die dialektische Entwick- 
lung, in der sich dieser liberale Staat und sein Parlament ,,aus dem Schau- 
platz einer einheitbildenden, freien Verhandlung freier Volksvertreter, aus 
dem Trans formator parteiischer Interessen in einen uberparteiischen Willen 
zu einem Schauplatz pluralistischer Aufteilung der organisierten gesellschaft- 
lichen Machte, zu einer „B6rse, an der die verschiedenen Stiicke sozialer 
Macht gehandelt werden", verkehrt hat. In Wirklichkeit aber tritt in dieser 
von S. ausgemalten pluralistischen Auflosung nicht nur der illusionare und 
widerspruchsvolleCharakter der bisherigen parlament arisen -liberalen Staats- 
f orm in Erscheinung, sondern ein viel tiefer liegender, auf der heute ge- 
gebenen okonomischen Grundlage dem ganzen biirgerlichen Staat inne- 
wohnender Konflikt: der Widerspruch zwischen den sich entwickelnden 
Produktivkraften und den jeweilig fixierten Produktionsverhaltnissen und 
der aus diesem Widerspruch entspringende Gegensatz und Kampf der ge- 
sellschaftlichen Klassen. Und gerade dieser Widerspruch wird nicht uber- 
wunden, sondern nur noch einmal und sogar in verscharfter Form aktuali- 
siert in jenem faschistischen ^otalstaat", von dessen endlicher Heran- 
kunft S. heute ganz ebenso unkritisch wie einst die liberalen Bourgeois 
von ihrem „Rechtsstaat" die positive Losung des von ihm behandelten 
Staatsproblems erwartet. Nicht ohne Grund beginnt die wirkliche Geschichte 
des juristischen Problems des „Huters der Verfassung" mit jenen lake- 
damonischen Ephoren, deren Aufgabe nach der von S. zitierten Darstel- 
lung von Busolt-Swoboda darin bestand, „vor allem auch die bestehende 
Ordnung gegen eine Rebellion der unterdriickten Heloten zu sichern". 

Karl Korsch (Berlin). 

Salomon, Gottfried, Allgemeine Staatslekre. Industrieverlag Spdth 
& Linde. Berlin-Wien 1931. (166 S.; br. EM. 4.80, geb. RM. 6.60) 

Das Buch ist eine Zusammenfassung von Vorlesungen an Beamten- 
hochschulen uber die historisch-soziologische Seite des Materials. S. stellt 
sich die Aufgabe, die Entwicklung des Staates, der Staatsgewalt, der Staats- 
verfassungen und der Staatsform historisch-kritisch zu beleuchten und das 
Verhaltnis zwischen Staat und Gesellschaft zu erlautern. Im zweiten Teile 
des Buches gibt er eine ubersichtliche Geschichte der Staatslehren ; endlich 
befaBt er sich mit der Politik als Wissenschaft. 

Es gelingt dem Verf., die Wirklichkeit des Staates in seinem Verhaltnis 
zur Gesellschaft illusionsfrei darzustellen. Nach S. darf eine Soziologie 
des Staates nicht parteilich gebunden sein, weil die Staatslehre als Wissen- 
schaft im Gegensatz zur Parteilehre antidogmatisch ist. Wir wollen jetzt 



206 Besprechungen 

nicht dariiber streiten, ob eine wirklich unparteiische Staatslehre iiberhaupt 
denkbar ist, sondern nur darauf hinweisen, dafi der Verf. schon auf S,2 seines 
Buches feststellt: „Der Staat ist Macht im Verhaltnis der herrschenden 
zur beherrschten Gruppe. Der Kampf urn die Macht ist der Inhalt der 
politischen Geschichte." Diese Feststellung wird gewifl auch durch die 
politischen Kampfe in der Jetztzeit bestatigt. 

S. hat die Gabe, aus dem uniibersehbaren Material geschichtlicher Tat- 
sachen die wichtigsten und kennzeichnendsten auszuwahlen, obzwar alle 
historisch aufgetretenen Staats- und Machtgebilde wie auch die sie be- 
treffenden Theorien in Betracht gezogen worden sind. Als besonders ge- 
lungene Kapitel heben wir das uber die Rechtfertigung und den Zweck des 
Staates und die Staatsformen hervor. Sehr gliicklich ist seine Definition 
der franzosischen Republik: „Frankreich hat ein liberales System erhalten, 
welches die Gleichheit in der Freiheit, die Verallgemeinerung des Eigentums 
und der Bildung und die vollige Freiheit der kapitalistischen Wirtschaft 
entsprechend dem Charakter dieses bourgeoisen Volkes verfassungsmafiig 
festlegt". In der Besprechung der staatsrechtlichen Umwalzungen der 
Nachkriegszeit weist er mit Recht darauf hin, daB es nicht Ideen, sondern vor 
allem materielle Leiden waren, welche die Revolution und die Demokratie, 
den Aufstand und Aufstieg des Volkes bewirkten. 

In der Geschichte der Staatslehren kommt auch die materialistische 
Geschichtsauffassung zur Wurdigung. Paul Szende (Wien). 

Ziegler, Heinz 0., Die mod erne Nation. J. G. B. Mohr (Paul Siebeck). 
Tubingen 1931. (VIII u. 308 S.; br. EM. 14.—, geb. RM. 17.—) 
Die Behandlung politischer Gegenstande wurde in Deutschland in der 
Regel sei es vom Staatsrecht, sei es von der Ideengeschichte her unter- 
nommen. So hat man auch seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts immer 
von neuem versucht, dem Phanomen „Nation" von der Ideen- und Be- 
griffsgeschichte her nahe zu kommen. Verf. weist nach, daB alle Versuche, 
objektivistische oder subjektivistische Definitionen zu geben, notwendig 
scheitern miissen. Besonders eingehend und wichtig bleibt seine Kritik an 
Otto Bauers Theorie von der Nation als historischer Schick salsgemeinschaft. 
Demgegenuber schlagt der Verfasser einen anderen Weg ein, der durch eine 
soziologische Fragestellung gekennzeichnet ist. Alles soziale Zusammen- 
leben wird gebunden und gekittet durch bestimmte Vorstellungen, die den 
Institutionen erst ihre Legitimitat und Wirksamkeit verleihen. Diese soziale 
Verbindlichkeit von Vorstellungen und Ideen gerade innerhalb der poli- 
tischen Sphare ist der eigentliche Gegenstand einer politischen Soziologie. 
Der methodischen Einleitung folgt ein historisch-politisches Kapitel, in 
welchem im wesentlichen auf Grund der Literatur iiber die franzosische 
Revolution der Zusammenhang und der Gegensatz zu dem absoluten Staat 
aufgezeigt wird. Ubernommen wird die Staatseinheit und der Zentralis- 
mus, die Souveranitat der politischen Entscheidungseinheit, neu und be- 
sonders aber ist die Kollektivierung der Souveranitat in der Nation. Im 
folgenden Kapitel werden fiir Deutschland diejenigen ideellen Voraus- 
setzungen aufgezeigt, die fiir die Geltung der modernen Nation vor - 
stellung wichtig geworden sind. Und zwar sieht der Verf. mit Recht 



Spezielle Soziologie 207 

in der deutschen Identitatsphilosophie den wichtigsten Bestandteil fur ein 
neues politisches BewuBtsein. Indem das BewuBtsein von der geschicht- 
lich-sozialen Welt aus einem religios-transzendenten Zusammenhang heraus- 
gerissen und in den GeschichtsprozeB selbst eingelagert wurde, erhalt dieser 
eine Absolutheit, die alles politisch-soziale Geschehen zum Ausdruck eines 
absoluten Geistes macht. In diesem Zusammenhang ist auch die Verabsolu- 
tierung der Nation beheimatet. Die Bedeutung dieses philosophischen 
Denkens fur die deutsche Geschichtswissenschaft und die deutsche Staats- 
philosophie wird durch ausgezeichnete Charakteristiken von Ranke und Stahl 
erhartet. Besonders dankenswert ist das Eingehen auf Dahlmann, dessen 
„Politik" leider immer noch zu den unbekannten Biichern deutscher Staats- 
lehre gehort. Am wichtigsten ist das letzte Kapitel: Nation und Politik. 
Hier fiihrt Z. die soziologische Analyse radikal zu Ende und trennt alle 
liberal-konstitutionelle Entwicklung von dem demokratischen Absolutis- 
mus, der mit der nationalen Souveranitat identisch ist. Die Konsequenz 
der national-demokratischen Legitimitat fiihrt zu einer Reihe politischer 
Krisenerscheinungen, die system atisch entwickelt werden. Der Umbau 
der nationalen Idee wird erf orderlich ; der Zusammenhang zwischen ratio- 
naler Ordnungstechnik des politischen Geschehens und den irrationalen 
Kraften ihrer Mobilisierung wird sowohl innen- wie auBenpolitisch mit 
vollster Deutlichkeit aufgewiesen. Zieglers Buch ist ein bedeutender Bei- 
trag zur politischen Soziologie. Albert Salomon (Koln). 

Gegenwartsfragen aus der allgemeinen Staatslehre und der Ver- 
jassungstheorie. Hrsg. von Hans Omelin und Otto Koellr enter. Fest- 
gabe filr Richard Schmidt zu seinem 70. Qeburtstag. C. L. Hirschfeld. 
Leipzig 1931. (VI, 273 S.; geh. RM. 18.—, geb. RM. 20.—) 
Das Werk enthalt aufier rein staatsrechts-theoretischen Aufsatzen uber 
Reichsreform, Wahlrechtsgrundsatze und Selbstverwaltung Aufsatze, die 
nicht mehr in unmittelbarem Zusammenhange mit der Staatslehre als einer 
juristischen Disziplin stehen. Sie gelten einer Verbindung der Staatslehre 
mit politischen, geopolitischen, historischen und soziologischen Frage- 
stellungen, wie dies der Methode und den Arbeiten Richard Schmidts ent- 
spricht. Da im Rahmen dieser Besprechung nicht darauf eingegangen werden 
kann, ob eine solche Verbindung der Jurispmdenz mit den genannten Dis- 
ziplinen uberhaupt moglich ist, so miissen wir uns hier mit dem Hinweis auf 
einige wichtige Beitrage begnugen. 

Gmelin bezeichnet in seinem Aufsatz uber „Politische Abhangigkeit 
von Staaten untereinander" als neue Auf gabe der allgemeinen Staatslehre 
die Untersuchung neu entstandener und entstehender zwischenstaatlicher 
Abhangigkeiten, eine Aufgabe, die von der Geopolitik bisher nur unter ein- 
seitiger Beriicksichtigung der geographischen Zusammenhange behandelt 
werde. Besonders die juristisch noch nicht erfaBten Abhangigkeitstypen 
sollen untersucht und gleichsam als Modelle und Idealtypen fiir neue 
staatstheoretische Begriffsbildungen benutzt werden. DemgemaB wird eine 
Aufstellung der hauptsachlich vorkommenden zwischenstaathchen Abhangig- 
keitsverhaltnisse gegeben, ferner eine Darstellung der Abstufung dieser 
Abhangigkeit, aber ohne prazise Trennung der realen Momente (geographische, 



208 Besprechungen 

militarische, wirtschaftliche Situationen) von den ideologischen (gemeinsame 
Religion, „Parteisympathien", personliche Beziehungen). Leider geht G. 
kaum iiber diese Aufzahlung heraus, die als solche ebensogut in das Gebiet 
der politischen Soziologie gehort. Einen wertvollen Hinweis fur die Staats- 
theorie i. e. S. gibt er nur mit den Ausfiihrungen uber den geschichtlichen 
und im urspriinglichen Sinne nicht mehr zureichenden Begriff der Sou- 
veranitat. 

Eine ausgezeichnete Darstellung der Geschichte und zukunftigen Per- 
spektiven des politischen Verhaltnisses Asien-Europa ist der Beitrag Gra- 
bowskys „Die Konstruktion des eurasischen Raums". Von besonderem 
Interesse ist schliefilich die Abhandlung Koellreutters iiber „Parteien 
und Verfassung im heutigen Deutschland", die die eingangs erwahnte Ver- 
bindung der allgemeinen Staatslehre mit der „wissenschaftlichen Politik" 
bis zu einem Punkte vortreibt, an dem u. E. die Wissenschaft aufhort und 
der — subjektive — Glaube beginnt. K. betont zunachst gegen Kelsen die 
Notwendigkeit der politischen Methode in der Staatslehre. Er untersucht 
dann mit den Mitteln der „politischen Methode" die Moglichkeiten staat- 
Hcher Willensbildung unter der Parteienkonstellation in Deutschland seit 
1918. Mit dem Anwachsen der Parteien, die die Weimarer Verfassung seit 
ihrem Bestehen bekampfen, d. h. der KPD., der DNVP. und der 
NSDAP., und dem entsprechenden Riickgang der Parteien der Weimarer 
Koalition wurde das Problem einer demokratischen Regierungsbildung 
immer schwieriger; schon vorher war das Problem in Staaten mit einer 
KPD.- Oder NSDAP.-Mehrheit (Sachsen 1923, Thiiringen) aufgetaucht. 
K. versucht nun eine Rechtfertigung des Einmarsches von 1923 in Sachsen 
und des Fehlens einer ahnlichen Reichsexekution etwa gegen Braunschweig 
1931 mit folgender Explikation des Begriffes revolutionar : die deutsche 
Verfassung bildet nur den Rahmen fur die geschichtlich gewordene Einheit 
der Nation. Wer diese Einheit zerstoren will, handelt revolutionar, nicht 
dagegen, wer innerhalb dieser Einheit — u. U. mit Gewalt — die Macht 
erringt; er handelt nur „ illegal". Die Nationalsozialisten konnen demnach 
gar nicht revolutionar handeln, wohl aber die Kommunisten : denn sie wiirden 
im Auf stand die Grundlagen der deutschen Nation zerstoren, Privateigentum, 
Ehe, Religion. Also sind die Kommunisten nicht an die Regierung zu lassen, 
selbst im Falle einer demokratischen Mehrheit fiir sie. 

Die Unhaltbarkeit der juristischen Konstruktion dieses Vorschlags zu 
beweisen, ist nicht unsere Aufgabe. Als Kritik der politischen Methode moge 
folgendes Zitat geniigen: „Das scharfe Wort Erich Kaufmanns, dafi „die 
bloC technische Rechtswissenschaft eine Hure sei, die fiir alle und zu allem 
zu haben ist", enthalt sehr viel Wahrheit. Denn jede Verfassung ist -. . . nur 
das GefaB fiir die pohtische Substanz der Nation . . . Deshalb mufi aber auch 
die Auslegung der einzelnen Verfassungsbestimmungen danach ausgerichtet 
werden . . ., wobei ganz bewufit in jedes Verfassungsrecht ein politisches 
Element hineingetragen wird. Das ist keine Mythologies . . . sondern es 
bedeutet nur die Anerkennung der Tatsache, dafi Volksgeist und Volkswille 
reale GroBen einer bestimmten Seinsstruktur sind." Das bedeutet also 
— abgesehen von der sinnleeren Formulierung der letzten Aussage — realiter, 
dafi in dieser neuesten Richtung der deutschen Staatslehre wieder einmal 



Spezielle Soziologie 209 

,,das alte Gespenst des Volksgeistes" dazu herhalten mufi, eine „uber- 
persbnliche Autoritat" zu konstruieren. 

P. v. Haselberg (Frankfurt a. M.). 

le H6naff, Armand, Le pouvoir politique et les forces sociales. Re- 

cueil Sirey. Paris 1931, (162 S. t frs. 20.—) 

H. untersucht die Entstehung und Entwicklungsgeschichte der politischen 
Macht. Uber ihre Anfange stellt er die Hypo these auf : die Urgruppen waren 
Trager der Macht durch ihre absolute Einheitlichkeit und das Aufgehen des 
Individuums. Allmahlich losen sich daraus der Rat der Alten, begabte 
Krieger, Zauberer und Priester. Die Gesellschaft beginnt sich zu 
Untergruppen zu spezialisieren : Familie, durch die Arbeitsteilung hervor- 
gerufene Gruppierungen, territoriale Gruppen. Die Macht wird dadurch 
komplizierter. Ihre Aufgabe kann es nicht mehr sein, allgemeingiiltige Vor- 
schriften zu erlassen und auch so fort durchzufuhren, denn die Untergruppen 
treten fur ihre divergierenden Interessen ein. Sie mufi jetzt diese verschie- 
denen Interessen gegeneinander abwagen und dem Gemeinwohl nutzbar 
zu machen suchen. Dies fiihrt zur Teilung der Macht : exekutive und legisla- 
tive. Die Exekutive fiihrt aus und hat das Gleichgewicht zur Aufgabe, die 
Legislative vertritt die verschiedenen Interessengruppen, gibt der Exekutiven 
so die Richtlinien an und ubt die Kontrolle aus. Durch die ganze Geschichte 
schildert H. an den verschiedenen Erscheinungsformen der politischen 
Macht diese Entwicklung, die zu einer immer starkeren Betonung des Indi- 
viduums fiihrt, das durch die Spezialisierung zunehmend aus der einst 
homogenen Masse herausgehoben wird. Die Entwicklung fiihrt so zu einer 
immer grofieren Betonung des Individuums in den verschieden gearteten 
Formen des Parlamentarismus und der Demokratie. Nebenher kann als 
dritte Macht noch die Gerichtsbarkeit bestehen, uber die H. nichts weiter 
aussagt. Das treibende Entwicklungsmoment ist der Gegensatz zwischen 
Einzel- und Gesamtinteresse ; die notwendige Ausbalancierung des Gleich- 
gewichts: der Kompromifi. Von diesem Standpunkt urteilt H. auch uber 
den Wohlfahrtsausschufi der franzosischen Revolution, die U.S.S.R. und 
den Faschismus, die durch ihre sich an keine Regeln haltende Machtausiibung 
das Individuum seiner Rechte und vor allem jeder Sicherheit beraubten. 
Es sei eingeflochten, dafi es unmoglich ist, in diesem Zusammenhang die 
drei Machtformen zu beurteilen: es sind revolutionare Ausnahmezustande, 
in denen sich gewaltsam eine Entwicklung vollzieht und die erst in groBem 
zeitlichen Abstand aus ihren Ergebnissen heraus abgeurteilt werden konnen. 
Fiir den italienischen Faschismus und die U.S.S.R. fehlt dieser Abstand 
noch. — H. begriiBt die berufliche Gruppierung, wie etwa der Faschismus 
sie kennt, und in ihr — ■ allerdings ohne ihr grofie Gewalt zu ubertragen — 
erblickt er einen wichtigen Faktor der kiinftigen Formen politischer Macht, 
da sie die sich immer starker zersplitternden Individuen wieder zusammen- 
fasse und die Herstellung des Gleichgewichts-Kompromisses erleichtere. 
H. spricht viel uber die Formen politischer Macht . . . uber die sozialen 
Krafte sagt er nichts: der Widerstreit der Interessen ist ihm erklarendea 
Moment, das daher selbst nicht weiter untersucht zu werden braucht. Ein- 
mal erwahnt er den feudalen Grundbesitz als Machtquelle, da dieser durch 



210 Besprechungen 

Leibeigene militarische Macht gewahre. Aber die Bedeutung des Privat- 
eigentums schlechthin und seine Wandlungen fiihrt er nirgends in die Ana- 
lyse ein. Er zeichnet nur abstrakte Idealtypen verschiedener Regierungs- 
f ormen, die nie existiert haben, nicht aber die lebendigen Krafte, die hinter 
den Formen stehen und sie gestalten, nicht einmal die Wirklichkeit dieser 
Formen. Zu seiner Ausgangsthese — Entstehung der Urmacht — sei noch 
gesagt, dafi sie in seiner Konzeption auf die ungeloste Schwierigkeit stoBt, 
aus einer fiir lange, lange Zeitraume unveranderlich angenommenen Statik 
der absolut homogenen Gruppe plotzlich und ohne ersichtlichen Grund zu 
einer Dynamik zu kommen. Emil Griinberg (Frankfurt a. M.)« 

Glotz, G., La citi grecque. (V Evolution de Vhumaniti, Bd. XIV) La 

Renaissance du lime. Paris 1931. (XXI u. 476 S.) 

Das neue Buch von Glotz ist ein modernes Gegenstiick zu dem klassischen 
Werke Fustel de Coulanges' „La cite antique". Der Titel schon ist bezeich- 
nend : zugleich Anlehnung und Gegensatz. Fustel de Coulanges hat bekannt- 
lich die antike Polis aus einem einzigen, ubermachtig wirksamen Faktor, 
der Familienreligion, abgeleitet. Nach G. ist das eine durchaus unberechtigte 
Vereinfachung, die der komplexen und reichhaltigen soziologischen Struktur 
des griechischen Stadtstaates nicht Rechnung tragt. 

Wenn fiir F. de Coulanges die antike Polis eine vergroBerte Familie war, 
so betont G. demgegenuber, dafi sie sich iiberhaupt nur in einem Kampf 
gegen den Patriarchalismus hat behaupten konnen. In der antiken (grie- 
chischen) Gesellschaft sieht G. drei einander bekampfende Krafte am Werke, 
deren Wechselwirkung und relatives tJbergewicht die jeweilige konkrete 
soziale Struktur bestimmen. Es sind: die Familie, die Stadt, das Individuum. 
In einer ersten Periode „setzt sich die Polis aus einer Anzahl von Familien 
zusammen, die aber eifersiichtig ihr Sonderrecht sowohl dem Ganzen als 
dem einzelnen gegeniiber bewahren und das Individuum in ihrem Kollektiv- 
wesen aufgehen lassen". Dies ist die alteste Form, die aristokratische Ur- 
polis, welche von der Tyrannis — einer sozialrevolutionaren Bildung, die 
ein Werkzeug des Machtwirkens der untersten Klassen war und deren Sinn 
es gewesen, die traditionellen Herrschaftsformen zu brechen — vernichtet 
wurde, um einem neuen Gleichgewicht, der auf einem Biindnis zwischen 
dem Individuum und dem Staate gegen die Familienherrschaft beruhenden 
demokratischen Polis Platz zu machen. „Die Polis unterwirft sich die Fa- 
milien, indem sie das befreite Individuum zu Hilfe ruft." 

Der Analyse der sozialen Struktur der demokratischen — vor allem der 
athenischen — Polis ist der zweite Teil des ausgezeichneten Buches gewidmet, 
der mit groBer Prazision und Klarheit den verwickelten Aufbau der 
atheniensischen Institutionen schildert. Nach G. sind die dem athenien- 
sischen Staate gewidmeten Kritiken — zumindest fiir die Perikleische Zeit — 
teils unberechtigt, teils iibertrieben; das ganze komplizierte Geba-ude hatte 
den Zweck — den es auch eine Zeitlang erf iillte — , ein Gleichgewicht zwischen 
den Rechten des Individuums und des Gemeinwesens zu stiften und zu 
erhalten, ohne das eine dem anderen zu opfern. — Ausgedehnte Kapitel, 
Literaturverzeichnis, Quellennachweise machen aus diesem mit einer muster - 
gultigen Klarheit und Schlichtheit geschriebenen Buche — das sich des 



Spezielle Soziologie 211 

Vergleichs mit dem von F. de Coulanges nicht zu schamen braucht — ein 
hochst wertvolles „ instrument de travail". A. Koyr6 (Paris). 

Lot, F., La fin du monde antique et les ddbuts du moyen-dge. La 

Renaissance du Livre. Paris 1931 

Es gibt fur den soziologisch interessierten Historiker (und auch fur den 
Soziologen) kaum ein reizvolleres Problem als „das Ende der Antike und 
die Entstehung des Mittelalters". DaB es keine Umwalzung, keine Revolution, 
sondern ein stetiger Prozefi gewesen, weiB man geniigend. Um so schwieriger 
ist es, die ineinandergreifenden und sich durchkreuzenden Faktoren und 
Krafte, welche die — trotz der Stetigkeit der Entwicklung und des tlber- 
ganges — vollig neue soziologische Struktur des M. A. geschaffen haben, heraus- 
zuanalysieren, ohne dabei irgendeine Gruppe — seien es die politischen Macht- 
faktoren, seien es die okonomischen oder religiosen Krafte — einseitig hervor- 
zuheben. Es ist die Vielseitigkeit des entworfenen Bildes — oder der Bilder — , 
die das niichterne Buch Lots auszeichnet. Der erste Teil des Werkes schildert 
die allmahliche Verwandlung des Verwaltungs- und Finanzwesens (Biirokratie 
und Fronwirtschaft), die Verfremdung des Heeres, die Parasitierung der 
Stadte und die Verarmung und Proletarisierung des Landes, die Ausbreitung 
der Mysterienreligionen und den Sieg — zugleich aber die Verstaatlichung — - 
des Chris tentums. 

Die alte Werteskala wird allmahlich durch eine neue ersetzt, und die antike 
Welt ist eigentlich in dem Moment schon tot, als sie ihr Prestige veriiert, 
als namentlich die gesellschaftliche Hierarchie sich der Rangordnung des 
kaiserlichen Beamtentums anpaBt und sich dieser letzteren unterwirft. 
Und das Mittelalter ist in dem Momente da, als sich der Kampf zwischen dem 
machtlosen Prestigetrager — dem romischen Kaiser — und dem prestige- 
losen Machttrager — dem barbarischen Heerfiihrer — zugunsten des 
letzteren entscheidet. Oder vielmehr in dem Moment, wo dieser letztere 
geniigend Prestige selbst besitzt, um das Imperium an sich zu reiBen. Dieser 
Prestigekampf wird von L. an trefflichen Beispielen sorgfaltig beleuchtet: 
Wandlung der Tracht (Hosenmode); Wandlung der Waff en; Wandlung der 
Namen, deren Etappen — a) Romanisierung, b) Nichtromanisierung des 
barbarischen Namen und endlich c) die Verbreitung der barbarischen Namen 
inmitten der romanisierten Bevolkerung — die Etappen der Barbarisierung 
des Romischen Imperiums genau nachzeichnen. 

Der zweite Teil des Buches gibt eine kurzgefaBte Geschichte des Fruh- 
mittelalters — einer nach L. vollig trostlosen Zeit. Die romantische Auf- 
fassung einer Neubelebung der Alten Welt hat in L. keinen Freund: 
nach ihm haben die Barbaren der Alten Welt nur den Begriff — und die Tat- 
sache — des Raubkonigtums (Quelle der europaischen Monarchie) gegeben. 

A. Koyr6 (Paris). 

Kleinberg, Alfred, Die europaische Kultur der Neuzeit, B. G. Teubner. Leipzig 

und Berlin 1931. (XII u. 233 S. t brosch. RM. 5.80, geb. RM. 7.20) 

Das kleine Buch deklariert als Programm: „Nicht die groBen, sichtbaren 

Einzelereignisse wie Kriege und andere Volkerkatastrophen, nicht die hervor- 

ragenden Einzelpersonlichkeiten machen das Wesen der Geschichte aus, 



212 Besprechungen 

sondern die unauffalligen, stetig wirkenden Gemeinschaftsbildungen der 
Wirtschaft und der gesellschaftlichen Ordnung und ihr ebenso kollekti- 
vistisch bestimmter Uberbau." Dies Programm mag als Bekennthis zur 
materialistischen Geschichtsauffassung gemeint sein. So wenig aber der 
vorausgesetzte Begriff der „Stetigkeit" durch die Theorie der materiali- 
stischen Dialektik zu legitimieren ware, die gerade die Idee sprungloser 
Entwicklung zentral streitig macht, so wenig nimmt das Buch das eigentliche 
Problem einer materialistischen Kulturgeschichte selber in Angriff : das der 
,,Vermittlung". Die Frage, wie die Produktionsverhaltnisse jeweils den tlber- 
bau konkret bestimmen, ist nicht aufgeworfen. Das Buch bleibt statt dessen 
bei der Konstatierung allgemeiner struktureller Ubereinstimmungen von 
Unterbau und tlberbau stehen ; behauptet wohl gelegentlich die Abhangigkeit 
des tJberbaus vom Unterbau, aber abstrakt und ohne die okonomischen 
Bedingungen fiir das Sosein eines geistigen Phanomens so tief zu analysieren, 
dafi das Phanomen selber verstandlich wiirde. Trotz des materialistischen 
Programmes handelt es sich darum in Wahrheit um immanente Geistes- 
geschichte, die ihre Stilbegriffe — unter denen auch ,,der" mittel alter liche 
Mensch nicht fehlt — freilich nicht auf die Sphare der Kultur und des ob- 
jektiven Geistes beschrankt, sondern auch an den wirtschaftlichen Ver- 
haltnissen demons triert. Modell dieser Strukturen bleibt durchwegs der als 
bewegt gedachte Menschengeist ; zwar nicht ausdriicklich, denn stets 
wird als Fundament die Klassenlage entworfen, aber tatsachlich, indem die 
Abhangigkeit von der Klassenlage wohl behauptet, aber nicht an realen 
Abhangigkeitsverhaltnissen aufgewiesen ist. Die materialistische Erkenntnis 
wird damit um jede Scharfe gebracht; Kleinberg hat mit Dilthey mehr zu 
tun als mit Marx, ohne freilich jemals die Anschauungskraft Diltheys zu 
erreichen. Dem gemafiigten Materialismus der Geschichtsauffassung ent- 
sprechen genau gewisse irrationalistische und intuitionistische Sympathien 
des Autors, die freilich an einer Stelle (S. 208) klug eingeschrankt werden. — 
Es bleibt zu bedenken : da6 man dem Buch mit scharf en method ologischen 
Forderungen vielleicht Unrecht tut, da es sich seiner Grenzen bewufit ist 
und lieber bekannte Zusammenhange human und fafilich darstellen als neue 
fremd und aggressiv konstruieren mochte. Aber wollte man es etwa — mit 
einer Geste, die weder dem Ernst des Gegenstandes noch der Wirkung recht 
ansteht — fiir Volkshochschulen, Padagogien, Arbeiterakademien empfehlen, 
so geriete man in Verlegenheit wegen einer XJnzuverlassigkeit im Detail, 
die der Fragwiirdigkeit der methodischen Grundhaltung merkwiirdig ent- 
spricht. Wo man ernsthaft zugreift, findet man Halbrichtiges und Falsches. 
Ich zitiere aufs Geratewohl: „Das Kernelement dieses Gedankenbaues, die 
ausdehnungslose, rein geistige Krafteinheit der „Monade", die alles Sein 
zusammensetzen und doch ein unbeeinfluCbares, vollig abgeschlossenes 
Individuum sein soil, war willkurlich und phantastisch** (S. 35). Man mag 
gegen Leibniz alle erdenklichen Einwande haben : nur gerade der der Willkur 
ist nicht erlaubt, die Monade ist zugleich in tief stem Zusammenhang mit dem 
Stand der Naturerkenntnis seiner Zeit wie mit seiner eKkenntniskritischen 
Analyse erwachsen: zu schweigen davon, dafi gerade beim Monadenbegriff 
fruchtbarste Einsichten zum Problem der okonomischen „Vermittlung" 
zu gewinnen waren. — Oder: „Einsteins Relativitatstheorie (seit 1905) 



Spezielle Soziologie 213 

setzte der sinnlich-naiven Anschauung ein Ende, dafi Zeit, Raum und Gravi- 
tation etwas Absolutes, fiir alle Gleiches seien, indem sie diese Grofien als 
vom Standort, von Bewegung oder Ruhelage des Beobachters abhangig 
nachwies" (S. 197). Aber solche Erkenntnisse gab es in Gestalt des „Relati- 
vitatsprinzips" langst vor Einstein, dessen sachliche Leistung dariiber ent- 
scheidend hinausgreif t ; mit einem allgemeinen weltanschaulichen Relativis- 
mus hat er vollends nichts zu tun. Von der Anwendung der Riemannschen 
Geometrie auf den empirischen Raum, von der Lehre von der Endlichkeit 
des Raumes ist bei Kleinberg iiberhaupt nicht die Rede, und eine kultur- 
geschichtliche Deutung Einsteins ist darum fur ihn ganzlich unmoglich; 
statt dessen werden ihm Banalitaten zugeschoben. — Grotesk geraten die 
Darstellungen Kleinbergs im Bereich der Kunst. Wenn der Lyriker Georg 
Heym als Walter Heym erscheint (S. 202), so mag man dariiber hinweggehen, 
wenn auch in einem Buch von wissenschaftlichem Anspruch solche Irrtiimer 
nicht unterlaufen durften. Wenn aber „der Englander Aubrey Beardsley, 
der Franzose Toulouse-Lautrec, die Deutschen Kubin und GroB das Leben 
als einen Tummelplatz von Larven, als ekle Fratze und lahmende Grimasse" 
gemeinsam zeichnen sollen (S. 202), so verschlagt einem die Kombination 
bereits den Atem : was hat wohl die ornament ale Perversion Beardsleys mit 
GroB zu tun, der ja nicht das „Leben" als Tummelplatz von Larven, sondern 
die Verdinglichung der Menschen unter der Klassenherrschaft darstellt ? — 
In der Musik wird Bizet als Wagnerianer eingeordnet (S. 180), obwohl doch 
seine Musik so unwagnerisch ist, dafi schon Nietzsche ihn als Gegenpapst 
gegen Bayreuth reklamierte; dafiir aber wird Hugo Wolff, der nun wirklich 
ein Wagnerianer war, gemeinsam mit dem Antiwagnerianer Nietzsche und 
mit van Gogh als „kunstlerischer Vorposten der Epoche" ausgegeben — 
wobei an Stelle sachlicher Gemeinsamkeiten zwischen den dreien, die es ja 
in der Tat nicht gibt, ihre Geisteskrankheit als Verbindendes fungiert. 
Angesichts solcher Leistungen im Detail wird die Frage nach materialistischer 
oder geistesgeschichtlicher Methode gleichgiiltig. 

Theodor Wiesengrund-Adorno, Frankfurt a. M.). 

Martin, Alfred toii, Soziologie der Renaissance. Zur Physiognomik und 
Rhythmik biirgerlicher Kultur. Ferdinand Bnke. Stuttgart 1932. (XII u. 
US S.; br. RM. 5.—, geb. RM. 6.50) 

M. versucht, eine bestimmte historische . Epoche struktursoziologisch 
zu beschreiben, und wahlt als Beispiel im wesentlichen die Florentiner Renais- 
sance. Als soziologisch bedeutsam wird die Verschiebung des gesellschaft- 
lichen Schwerpunktes vom Land in die Stadt und von einem militarischen 
Adel zu einem okonomischen Biirgertum angesehen. In diesem entsteht 
durch seine soziale Lage eine neue Denkweise, aus der die modernen Formen 
eines Leistungswissens und Bildungswissens hervorgehen. Der - Begriff 
der Leistung, sei es als objektives Werk, sei es als subjektive Tiichtigkeit, 
entspringt der Lebensform einer burger lich-kaufmannischen Oberschicht. 
Ihr Ziel ist der Virtuose, der Mann, der bestimmte Fahigkeiten bis zur aufier- 
sten Vollendung entwickelt. Fiir diese burgerliche Aristokratie gibt es 
zwei Wege der sozialen Entwicklung: eine Assimilation an bestehende 
Herrschaftsordnungen und eine eigenstandige Ausformung ihrer gesellschaft- 



214 Besprechungen 

lichen Existenz zu einer besonderen Representation. In dieser Dialektik 
bewegt sich die soziale Entwicklung des Biirgertums der Renaissance. Es 
ubernimmt Lebensformen und Konventionen des politisch entrechteten 
Adels und ftigt zugleich den alten Konventionen eine neue Bildungskon- 
vention hinzu. Die Abschnitte iiber Humanismus enthalten die wichtigsten 
Bemerkungen fiir die historische Grundlegung einer Soziologie der modernen 
Intelligenz. Die Kategorien: ritterlicher Humanismus, bodenstandiger 
Burgerhumanismus und freier Literatenhumanismus bezeichnen drei typische 
Epochen des Heraustretens einer Intelligenzschicht aus einer Welt poli- 
tischer und sozialer Bindung und damit eine Verschiebung des Ethos vom 
Moralisch-Aktivistischen zum Asthetisch-Beschaulichen. Diese erste biirger- 
liche Kultur, in . der die Bildung zur Representation des Besitzes gemacht 
wurde, vermochte ihre politische Form nicht zu finden. M. gibt in der Ana- 
lyse Macchiavellis eine einleuchtende Darstellung der soziologischen Motive, 
die zum Ruf nach der Diktatur und zur Entstehung des absoluten Staates 
fuhrten. In dem Abschnitt iiber Renaissance- Gesellschaft und Kirche wird 
die Anpassung der wirtschaftlichen Ideologie an den Friihkapitalismus auf- 
gezeigt und eine Reihe bemerkenswerter religionssoziologischer Einsichten 
fiir die Struktur der modernen Formen christlicher Frommigkeit heraus- 
gestellt. 

Methodisch ruht die Arbeit auf den Untersuchungen von Max Weber, 
Scheler und Mannheim. Martin, der beste Kenner dieser Geschichtsepoche 
in Deutschland, hat mit diesem soziologischen Versuch eine notwendige 
Aufgabe zur Erganzung der Arbeiten von Burdach und Burckhardt geleistet. 

Albert Salomon (Koln). 



Rosenstock, Eugen, Die europdischen Revolutionen. Diederichs. Jena 

1931. (IV w. 554 S.; br. RM. 15.—, geb. RM. 18.50) 

Die Geschichte Europas in den neun Jahrhunderten, die seit Beginn des 
Kampfes zwischen Papst und Kaiser vergangen sind, kann nach R. nur unter 
dem Aspekt der Revolution begriffen werden. Unter ,-, Revolution" versteht 
R. eine Totalumwalzung, die sich an einem Volk vollzieht und auf die iibrigen 
Volker zuriickwirkt. ,, Jede Revolution ist nur zu 50 v. H. Sozialumwalzung, 
zur anderen Halfte pragt sie die Volker." So lost sich die Geschichte Europas 
in eine Reihe nationaler Revolutionen auf, die indessen nicht nur chrono- 
logische Abfolge, sondern ebenso eine logische Kette ist. Sozial ist die Re- 
volution insofern, als sich die gesamte Nation in einer sozialen Schicht ver- 
korpert. Die Reihenfolge, in welcher die Nationen „ihre" Revolutionen er- 
leben, ist nicht zufallig. Immer das riickstandigste Land macht Revolution, 
und riickstandig wird es dadurch, dafi die vorhergehende Revolution ihm 
schwereren Schaden zugefugt hat als den iibrigen Nationen. So ergibt sich 
fiir R. folgende Reihe: Italienische Papstrevolution — deutsche Fursten- 
re volution (Reformation und Aufkommen Preufien-Osterreichs) — englische 
Gen tryre volution — franzosische Burger re volution — russische Welt re vo- 
lution. In jeder Revolution wird der europaische Mensch ,,reproduziert", 
und zwar erweitert reproduziert (R. wendet den okonomischen Begriff be- 
wufit in biologischem und noch mehr in theologischem Sinne an) ; im Zentrum 



Spezielle Soziologie 215 

stehen Monch oder Edelmann, well nur diese ,,den notigen Abstand vom 
Leben" und damit die Sorge um die „Wiederkehr des Lebens" haben. 

R. erklart, nicht im Gegensatz zur okonomischen Geschichfcsauffassung 
zu stehen. Sie sei fur ihn eine „Selbstverstandlichkeit". Marx allerdings 
habe die Dialektik der Revolution noch nicht durchblicken konnen, 
und der Vulgarmarxismus habe seine Theorie iiberhaupt nicht verstanden. 
(R. beruft sich vor allem auf Lukacs.) Dazu ist zu bemerken, dafi R. zum 
mindesten die historische Analyse, wie Marx sie methodisch ausgebildet hat, 
fremd ist. Bei allem Bemiihen; dialektisch zu sehen, gibt er deshalb statt 
Analyse ,,Deutung". Neben sehr fruchtbaren Gesichtspunkten finden sich 
die grobsten Verzerrungen und Gewaltsamkeiten (man vergleiche z. B. den 
Abschnitt iiber die Papstrevolution), die ungleich schwerer wiegen als eine 
Reihe unrichtiger Angaben (im Kapitel „Die russische Revolution 4 '), welche 
bei einem so ungeheuer weit gefafiten Thema verzeihlich erscheinen. 

Werner Heider (Berlin). 

Freyer, Hans, Revolution von rechts. JEugen Diederichs. Jena 1931. 

(72 S., RM. 2.—) 

,,Die groBartige Dialektik des 19. Jahrhunderts besteht in der Tatsache, 
dafi . . . die Geschichte in ihren zentralen Vorgangen zur gesellschaftlichen 
Bewegung : zum Klassenkampf wird. Der Burger wird Bourgeois, das off ent- 
liche Leben Wirtschaft, der Besitz Kapital, die Besitzlosigkeit Proletariat, 
die Politik Liberalismus. . . . Nicht nur die Arbeit, das Denken, der Staat, 
auch die revolutionare Kraft dieses mannlichen Jahrhunderts wird Okono- 
mie. Revolution wird Klassenkampf. Darum ist das 19. Jahrhundert nur 
materialistisch zu begreifen. Es ist fiir alle Zeiten der Klassizismus der 
Revolution von links." Aber die in ihm angelegte permanente Revolution 
geschieht nicht. In der Gestalt „des Kampfes um den sozialen Forts chritt 
greift der soziale Gedanke den dialektischen Kern des 19. Jahrhunderts 
an". Das Proletariat „kampft nicht mehr negativ, sondem positiv, nicht 
mehr gegen die industrielle Gesellschaft als System, sondem fiir ihre Er- 
neuerung von innen her, also auf ihrem Boden". „Die Arbeiterschaft ist — 
nicht endgiiltig (denn sie kampft noch), aber grundsatzlich — eingeordnet." 
Durch die Liquidation der revolutionaren Energien wird die industrielle 
Gesellschaft zunachst befestigt, aber gerade diese Eingliederung hat eine 
neue revolutionare Kraft erzeugt; „dasjenige, was nicht Gesellschaft, nicht 
Klasse, nicht Interesse, also nicht ausgleichbar, sondern abgrundig revolutio- 
nar ist: das Volk". Dieses Volk hat nichts zu tun mit der Nation des 19. Jahr- 
hunderts, die Bildungs- und Besitzstand ist, sondern ,,ist die Substanz 
unserer selbst". ,, Seine Revolution bricht von unten her in die Ebene der 
industriellen Gesellschaft ein quer durch alle ihre Interessengegensatze 
hindurch. Das Volk nimmt die Arbeits- und Giiterwelt der industriellen 
Gesellschaft in seinen Besitz, aber es iibernimmt keineswegs das Prinzip, 
nach dem sie gebaut ist. Es negiert dieses Prinzip . . ." Sein Weg geht not- 
wendig iiber. die Emanzipation des Staates, der zum Gegenspieler der in- 
dustriellen Gesellschaft und notwendiger Trager des Gegenstofies gegen sie 
wird. Dieses Volk, diese „geheime Umschichtung im Material des Menschen- 
tums", „ist Realitat geworden: nicht fertige Ordnung, . . . aber kraftig sich 



216 Besprechungen 

bildender Kern".. „Eben darum ist die Revolution von rechts der Inhalt 
der Zeit". 

F. sieht und wtinscht eine Revolution von hinten. Aber kampft nicht, 
was sich ,,rechts" formiert, mehr und mehr mit ,,bescheideriem Egoismus" 
auf dem Boden der industriellen Gesellschaft „um den eigenen Platz im 
Geschiebe des Systems" ? Marschieren in Wirklichkeit nicht die „Nationa- 
listen des Geimits" und die „Interessen ten einer banalen Reaktion", und wird 
so nicht „statt Geschichte wiederum ein Schwindel geschehen" ? 

Fritz Burchardt (Frankfurt a. M.). 

Reich Gottes — Marxismus — Nationalsozialismus. Ein Bekenntnis 

religibser Sozialisten. Hrsg. v. Gg. Wiinsch. J. C. B. Mohr. Tubingen 

1931, (V u. 116 S.; geb. RM. 5.50) 

Wahrend die Mehrheit der religiosen Sozialisten einen sog. ,,ethischen 
Sozialismus" in betont antimarxistischer Pragung verfolgt, gelangten einige 
intellektuelle Wortfuhrer zu einer bedingten Anerkennung des Marxismus. 

Wiinsch steigert diese Annaherung zu dem Versuch, den Marxismus in 
eine christliche Theologie einzubauen. „Die Aufgabe des Marxismus in der 
Bewegung des Reiches Gottes" — so lautet das Thema seines Beitrags — 
sieht er darin, dafi der Marxismus als Leitfaden diene, um „die Fiihrung 
Gottes in der profanen Geschichte zu seiriem Reich zu erkennen" ; der 
Marxismus ist sogar der „einzige Leitfaden" dieser Art, so daB jeder glaubige 
Christ genotigt ist, ihn anzuerkennen, wenn er Gottes Willen begreifen und an 
der Verwirklichung des Reiches Gottes in der menschlichen Gesellschaft 
mitarbeiten will. 

Leonhard Ragaz, ehemals Theologieprofessor, Fiihrer der schweize- 
rischen religiosen Sozialisten, vertritt eine' , .religiose Geschichtsdeutung 
von der Art, wie die Bibel Geschichte deutet". Hinter der „irrtumlichen 
Gedankenform des Marxismus" sieht er einen unbewufiten „prophetischen 
Messianismus", dessen Kraft allerdings jetzt ausgestromt sei und ersetzt 
werden musse „durch den wieder lebendig gewordenen bewuflten (Messia- 
nismus) des Reiches Gottes, das in Christus erschienen ist". Der Beitrag 
von Ragaz isthistorisch gehalten; er beschreibt die Geschichte der schwei- 
zerischen Bewegung und setzt sich aufierdem mit der dialektischen Theologie 
auseinander, die von Schiilern Ragaz 1 (Barth, Thurneysen, Brunner u. a.) 
aus der religios-sozialistischen Gedankenwelt entwickelt wurde und spater 
zur Abspaltung fuhrte. 

Pfarrer Heinz Kappes behandelt den „theologischen Kampf der reli- 
giosen Sozialisten gegen das nationals ozialistische Christentum". „Der 
Nationalsozialismus wie der Marxismus drangen nach einer eigenen Theo- 
logie hin (t — so beginnt der Aufsatz. Man mufi einschrankend sagen, dafi 
sich diese Behauptung bestenfalls auf einen religios-sozialistisch interpre- 
tierten, also bereits theologisch verdeuteten Marxismus beziehen kann, 
auf einen „Marxismus", der — wie die Ausfiihrungen von Ragaz zeigen — 
nicht einmal von den religiosen Sozialisten selbst einheitlich vertreten wird. 
Im ubrigen setzt Kappes sich gegen neuheidnische Miflbildungen der christ- 
lichen Lehre durch Arthur Rosenberg zur Wehr und scheut auch vor 
mutigen Angriffen gegen Kirchenbehorden nicht zuruck. Der Aufsatz 



Spezielle Soziologie 217 

klingt in die Vermutung aus, daJ3 eine vollige Faschisierung der Kirch e die 
religiosen Sozialisten veranlassen werde, „auBerhalb der Kirche als eine 
der Form nach profanisierte Bewegung ohne Sektencharakter fiir die Sache 
Christi in der marxistischen Gesamt bewegung" einzustehen. 

Heinrich Mertens (Frankfurt a. M.). 

Kahn-Freund, Otto, Das soziale Ideal des Reichsarbeitsgerichts. 

J. Bensheimer. Mannheim 1931, (X u. 466 S.; RM. 4. — ) 

Die Schrift unternimmt den Versuch, „die Rechtsprechung des Reichs- 
arbeitsgerichts auf das ihr zugrunde liegende Sozialideal zu untersuchen". 
Dieses Sozialideal ist nach Ansicht des Verfassers der Faschismus — nicht der 
Faschismus als politisches System, sondern das soziale System, wie es in den 
arbeitsrechtlichen Gesetzen Italiens seinen Niederschlag gefunden habe. Die 
gesamte Rechtsprechung des obersten Gerichts auf dem Gebiet des indivi- 
duellen und kollektiven Arbeitsrechts wird als Einheit betrachtet, in deren 
Schatten die faschistische Ideologic erkennbar sei. 

Erscheint es schon an sich gewagt, die aufierordentlich uneinheitlichen, 
ja vielfach KompromiBcharakter tragenden Entscheidungen auf einen 
Nenner bringen zu wollen, so diirfte Kahn-Freund dariiber hinaus auch den 
Gesichtskreis der Reichsrichter iiberschatzen, wenn er ihre Rechtsprechung 
auf die von ihm angenommene geschlossene Grundanschauung zuriickfuhrt. 
Reichsgerichtsrat Sonntag beurteilt seine Kollegen wohl richtiger, wenn er 
ihre kleinbiirgerliche Enge als besonderes Merkmal aufzeigt (Vgl. „ Leipzig 
und das Reichsgericht" in „Justiz" 1931, S. 631ff.)- 

LaBt sich m. E. auch nicht aus der Gesamtheit der Entscheidungen ab- 
leiten, daC das Sozialideal des Reichsarbeitsgerichts die faschistische Idee 
verwirkliche, so liegt das hohe Verdienst der Arbeit K.s in der zutreffenden 
kritischen Wiirdigung der Rechtsprechung im einzelnen, die allgemein tief 
enttauscht hat. Mit bemerkenswerter Klarheit werden als Leitgedanken der 
Rechtsprechung die Ideen des Wirtschaftsfriedens, der Betriebsdisziplin und 
der individuellen Fiirsorge herausgearbeitet. Hier stellt die Schrift eine wert- 
volle Erganzung und Vertiefung der schon von Neumann (in „Die politische 
und soziale Bedeutung der arbeitsrechtlichen Rechtsprechung") im Jahre 
1929 anges tell ten Untersuchungen dar. 

Alex Lorch (Frankfurt a. M.). 

Geek, L. H. Ad., Die sozialen Betriebsverhaltnisse im Wandel der 
Zeit. Geschichtliche Einfuhrung in die Betriebssoziologie. Julius Springer. 
Berlin 1931. (VIII u. 173 S.; RM. 7.50) 

Ein Mittelding zwischen Lehrbuch und Abhandlung nennt der Verf. 
seine anregende Arbeit, die als Heft I der Schriftenreihe des Ins ti tuts fiir 
Betriebssoziologie und soziale Betriebslehre an der Technischen Hochschule 
zu Berlin erschienen ist (Herausg. Goetz Briefs und Paul Riebensahm). 
Lehrbuchcharakter tragt sie in der Tat, obwohl man glauben konnte, daB 
dieses lebendige Thema einer lehrbuchmaBigen Darstellung spot ten sollte. 
G. unterscheidet Sach-, Arbeits- und Personalverfassung des Betriebes; 
die Wandlungen der Personalverfassung, den eigentlichen Gegenstand 
seines Buches, versteht er aus dem "CTbergang vom Kleinbetrieb mit Hand- 



218 Besprechungen 

arbeit zum GroBbetrieb mit Maschinen, aus der Veranderung der Unter- 
nehmeranschauungen, aus der Entwicklung der staatlichen Sozialpolitik 
und aus den Einwirkungen der Arbeitnehmer- und Arbeitgeberverbande. 
Die Begriffsbildung ist besonders bei Darstellung der vom Geiste des Liberalis- 
mus durchwirkten Personalverfassungen unzureichend : liberal -okonomisch, 
Hberalistisch-rechtlich, liberal -humanitar, okonomisch -rechtlich sind kaum 
zulassige und jedenfalls keine fruchtbaren Unterscheidungen. Diese Un- 
scharfe scheint mir iibrigens notwendig zu entstehen, wenn man die soziale 
Verfassung des Betriebes nicht von der Verfassung der ganzen Gesellschaft 
aus, sondern fur sich betrachtet. Aber die groBen Verdienste der Arbeit 
liegen in den Quellennachweisen und -zitaten. Nicht nur verschollenes 
Material tiber deutsche Verhaltnisse sondern auch franzosische, englische 
und amerikanische Literatur sind herangezogen. Eine gewisse Bevorzugung 
katholischen und evangelischen und die Vernachlassigung sozialistischen 
Schrifttums werden ausgeglichen durch den deutlichen Willen zur Objektivi- 
tat, der freilich zuweilen, z. B. bei Behandlung der Werkzeitungen, Werk- 
sparkassen usw., schon iiber das Ziel schieCt. 

Hans Speier (Berlin). 

Slotemaker de Bruine, J, R., Vakbeweging en W ereldbeschouwing. 

(Gewerkschaftsbewegung und Weltanschauung). Christelijk Sociale Studien 

III, J. A. Buys. Zeist 1930. (304 S.) 

Diese Arbeit des hollandischen Theologen Dr. J. R. Slotemaker de 
Bruine, dessen friihere Arbeiten schon immer einen sozialen Einschlag 
hatten, befaBt sich mit einem Problem, das nur ausnahmsweise in der sozio- 
logischen Literatur zur Behandlung gelangt : den Zusammenhangen zwischen 
Weltanschauung und Zugehorigkeit zu einer bestimmten Gewerkschafts- 
richtung. S. unternimmt diese schwere Aufgabe. Er beschrankt seine 
Untersuchungen nicht auf ein Land, sondern macht den Versuch, das 
Charakteristische der Gewerkschaftsbewegung in England, Amerika, Deutsch- 
land, Frankreich und Ruflland und der verschiedenartigen intemationalen 
Gruppierungen herauszustellen. 

Vor allem ist nach ihm die Religion fiir die Mentalitat, welche sich bei 
den Arbeitern in bezug auf ihre gewerkschaftlichen Tendenzen offenbart, 
bestimmend. So versucht er vom Standpunkt der Religion eine Erklarung 
der anarchistischen und ,,ordentlichen Gewerkschaftsbewegung" zu geben, 
wobei dann auch die Volksseele, die Ethnologie und die Rasse eine Rolle 
mitspielen. Seine These lautet ungefahr f olgendermaCen : Anarchismus ist 
iiberall vorhanden, wo die romisch-katholische und griechisch-katholische 
Kirche vorherrscht; vor allem also in Siid- und Osteuropa, namentlich in 
Frankreich, Spanien, Portugal und Rufiland (merkwiirdig ist, dafi Italien 
in dieser Beziehung nicht genannt wird, was das Bild ja auch vollig verschoben 
hatte). Die romische Padagogik handhabt die Autoritat fiir alle Lebens- 
erscheinungen auch iiber die Erwachsenen* Sie laBt das Gefiihl der Selb- 
standigkeit nicht durchkommen. Wenn nun die Autoritat ihre Macht und 
ihren EinfluB verliert, entsteht eine Verwirrung unter denjenigen, welche 
sich frei fuhlen, die Freiheit jedoch nicht ertragen konnen. Mit dem Pro- 
testantismus steht es s. E. ganz anders. Er schafft se lbs tan dig e Person lich- 



Spezielle Soziologie 219 

keiten, gebun'den an Gott und frei von menschlichen Autoritatsorganen, 
welche in eigener Verantwortlichkeit erzogen werden. 

S. beschaftigt sich ausfiihrlich mit dem Fehlen eines sozialistischen Ein- 
schlags der britischen Arbeiterbewegung im Gegensatz zu einer Reihe von 
Landern auf dem Kontinent. Der deutsche Prototypus, bei dem die Klassen- 
kampftheorie grofien Anhang findet, wird als Folge der theoretischen Denk- 
art des deutschen Volkes im Gegensatz zu der praktischen Art der Eng- 
lander erklart. 

. Wir konnen nicht gerade behaupten, dafi die Arbeit fur die Wissenschaft 
eine grofie Bereicherung ist, wenn auch der Versuch, die Probleme auf 
diesem Gebiete aufzudecken, gewiirdigt werden kann. Was dieser Arbeit 
besonders fehlt, ist eine klare Begriffsbestimmung. So wirkt die vom Autor 
gewahlte Einteilung der Gewerkschaftsbewegung in einen anarchistischen, 
sozialistischen und christlichen Fliigel schon unklar, besonders wenn man 
weiter feststellen kann, dafi die anarchistische -Richtung von ihm in zwei 
Abschnitte geteilt wird, wovon Frankreich den einen und Rufiland (!) den 
anderen darstellen soli. 

Die vielen Einzelheiten liber die Struktur und die Methode der Arbeiter- 
bewegung in den einzelnen Landern sind nur ein mafiiger Ersatz fiir das 
Fehlen einer tiefgehenderen klaren Analyse iiber das aufierst wichtige Thema. 

Andries Sternheim (Genf). 

Adamlc, Louis, Dynamite, The Story of class violence in America, 
The ViHng Press. New York 1931. (X u. 452 S.; $ 3.50) 
Das Buch von Louis Adamic schildert die Entwicklung und Ausbreitung 
terroristischer Methoden in den Klassenkampfen der Vereinigten Staaten. 
Schon die ersten Arbeitskampfe in der Mitte des 19. Jahrhunderts wurden 
mit ausgiebiger Anwendung von Gewaltmethoden gefiihrt, wie sie auch in 
der Fruhzeit der westeuropaischen Arbeiterbewegung — wenn auch nicht 
im gleichen Ausmafie — zu verzeichnen sind. Wahrend aber in Westeuropa 
vorzuglich durch die Gewerkschaften die Krafte der Arbeiterschaft organ i- 
siert und die Arbeitskampfe in geregelte Bahnen gelenkt wurden, hat sich 
in U.S.A. das Anwendungsgebiet des Terrors immer mehr erweitert, wo bei 
die Methoden dauernd verfeinert wurden. Die terroristischen Akte spielen 
in den Arbeitskampfen der „Unorganisierten" — d. h. fiir Amerika der 
von den Gewerkschaften ausgeschlossenen Arbeiterschichten — eine wichtige 
Rolle. Immer wieder bilden sich bei grofien Arbeitskampfen ad hoc lockere 
Arbeiterorganisationen, die durch bewaffneten Widerstand, Sabotage, 
Dynamitattentate die Streikbewegung unterstiitzen. Auch die in den ersten 
Nachkriegsjahren zeitweilig starke Organisation der „Industrial Workers 
of the World" bediente sich bei ihren Kampfen mit Vorliebe dieser Gewalt- 
methoden. Nicht selten bo ten die von ihr gefiihrten grofien Streikbewegungen 
das Bild eines offenen Burgerkrieges der Streikenden mit den gleichfalls 
bewaffneten Werkspolizisten und Streikbrechern. Der Verf. weist nach, 
dafi die terroristischen Methoden — zum grofiten Entsetzen von Samuel 
Gompers — sogar in die Verbande der American Federation of Labour ein- 
drangen und dort auch in der Gegenwart nicht immer verabscheut werden. 
Die hochste Stufe des Terrors im Klassenkampf stellt die Verbindung mit 



220 Besprechungen 

dem Berufsverbrechertum dar, den ,, gangsters" und „ racketeers", die im 
Auftrage von Arbeiterorganisationen terroristische Attentate ausfuhren 
(wie sie auch von den Unternehmern gegen die Arbeiterorganisationen ein- 
gesetzt werden). 

Leider fehlt in dem Buch, das ein aufschlufireiches und seltenes Material 
zum ersten Male in solcher Vollstandigkeit zusammentragt, eine abschliefiende 
Untersuchung der sozialen und okonomischen Ursachen dieser Zustande. 
Nur aus eingestreuten Bemerkungen erhalt der Leser manchen wertvollen 
Hinweis. Die exklusive Haltung der Gewerkschaften, die eine privilegierte 
Arbeiterschicht geschaffen haben, der hohe Anteil der mit dem Volksleben 
kaum verbundenen Eingewanderten, die Traditionen der Grenzerzeit haben 
die Entstehung des Solidaritatsgefiihls in der Arbeiterklasse bisher ver- 
hindert. Dazu kommt, daJ3 die in den gleichen Traditionen aufgewachsene 
Unternehmerschaft von jeher wenig Bedenken hatte, den Bewegungen der 
Arbeiter die Gewalt entgegenzusetzen und dafi ihr Vorgehen von den Justiz- 
behorden fast stets entschuldigt und beschonigt wurde. 

Fiir den deutschen Leser besonders wichtig ist die Einschatzung der 
Ideologie der American Federation of Labour, die bekanntlich mit der 
„Kaufkrafttheorie der Lohne" und dem Gedanken der „Wirtschaftsdemo- 
kratie" die Wirtschaftsauffassung der deutschen Gewerkschaftsbewegung 
stark befruchtet hat. A. weist nach, dafi diese Ideologie dem Wunsche ent- 
sprang, die privilegierte Arbeiterschicht von der grofien Masse der sozial 
gering geachteten und durch zahlreiche terroristische Bewegungen diskredi- 
tierten Arbeiter zu distanzieren. Es ist zu wunsehen, daB das wichtige 
Buch, das leider etwas unbeholfen geschrieben ist, durch eine tJbersetzung 
auch dem breiten Leserpublikum in Deutschland zuganglicti gemacht wird. 

Franz Hering (Berlin). 

Labriola, Arturo, Al di Id del Capitalismo e del Socialismo (Jenseits 

von Kapitalismus und Sozialismus). Verl. Collana di Studi politici e so- 

ciali. Paris 1931. (344 S.; frs 20.—) 

Der Autor, Dozent am Institut de Hautes Etudes in Briissel, der als junger 
Mann dem aufiersten linkenFlugel der sozialistischen Partei Italiens angehorte, 
dann im letzten Ministerium Giolitti Minister fiir 6f f entliche Arbeiten war und 
jetzt als politischer Fliichtlmg im Ausland lebt, bietet in dem vorliegenden 
Buch mehr eine „boutade" voll polemischer Ausfalle als einen systematisch 
gefiigten Gedankenbau. 

Fiir ihn ist der Sozialismus nicht Gegenpart des Kapitalismus, sondera 
Auf lehnung gegen das Elend : die sozialistischen Ideologien sind alter als der 
Kapitalismus. Es ist ein Fehler des Marxismus, den Sozialismus zum Anti- 
kapitalismus verkummert zu haben. Marx hat nie aufgezeigt, warum die 
vom Kapitalismus freigesetzten Produktivkrafte die privatkapitalistische 
Gesellschaftsordnung sprengen miiCten. Der Kapitalismus hat das Elend 
der Massen nicht gesteigert, sondern vermindert. Es liegt durchaus im Be- 
reich der Moglichkeit, im kapitalistischen Kegime dem Arbeiter den vollen 
Arbeitsertrag zu bezahlen. Krisen sind unvermeidbare Erscheinungen der 
Umschichtung des Marktes und der Produktion, die auch im sozialistischen 
Regime nicht ausbleiben konnen. Ursache des Elends ist die Vergeudung, 



Spezielle Soziologie 22 1 

und diese ist bei Planwirtschaft grofier als bei individueller Initiative: die 
Kosten fiir die tastenden Versuche der einzelnen, aus denen sich die Wirtschaf t 
im privatkapitalistischen Regime gestaltet, fallen auf das Individuum, nicht 
auf die Gesellschaft zuriick. Die juridische Tatsache des Besitzes der 
Produktionsmittel habe keinen wesentlichen Einflufi auf die Produktion. 
„Die tiberfuhrung der Produktionsmittel in Kollektiveigentum andert weder 
die Quote der Ersparnisse ncch deren Umwandlung in Kapital, weder die 
Nachfrage nach Arbeitskraf ten noch das gegenseitige Gleichgewichtsverhaltnis 
der verschiedenen Produkte." L. kommt zu dem Schlufi, daB nicht 
das Ende des Kapitalismus, sondern das Ende des Staates zur Beseitigung 
der Klassen fiihren werde. Der Kampf gegen den Kapitalismus zwinge der 
sozialistischen Bewegung eine falsche Ideologic auf, insof ern der Kapitalismus 
eines der Mittel zur Beseitigung des Elends ist. 

Dem Gedankengang Labriolas liegen verschiedene MiBverstandnisse 
zugrunde. Zunachst die Ansicht, daB der Kampf gegen den Kapitalismus auch 
den technischen und wirtschaftlichen Errungenschaften gelte, die der Kapi- 
talismus gezeitigt hat; dann die Auffassung der Sozialisierung der Produk- 
tionsmittel als einer rein juridischen Sache. tJberhaupt sieht Labriola den 
Sozialismus kleinlich und philistros, um dann zu sagen, daB er kleinlich und 
philistros ist. Es handelt sich da nicht darum, Besitztitel umzuschreiben, 
sondern Sinn und Richtung der Arbeit zu andern, den Tribut an die Not- 
wendigkeit, den der Kapitalismus verringert hat, gerecht zu verteilen. 
Labriola durfte nur deshalb meinen, jenseits von Kapitalismus und Sozialis- 
mus zu stehen, weil er die sozialen Auswirkungen beider uber ihrer Produk- 
tionsformel vergiBt. 

Oda Olberg (Wien). 



Mehmke, R. L., Der Unternehmer und seine Sendung. J. F. Lehmanns 
Verlag. Miinchen 1932. (191 S.; geh. RM. 4.50, geb. RM. 6.—) 
Die historische Einleitung bezeichnet alle Produktivitat und Forderung 
in technischer und kultureller Hinsicht als Unternehmertatigkeit des Men- 
schen; sei er nun Konig oder Furst, Monch oder Ritter, Bauer oder Hand- 
worker. Der Begriff des XJnternehmers (= U) ist also auBerst weit gefafit, 
so dafl die beabsichtigte historische Genese des modernen U unzulanglich 
beschrieben wird. Die Definition des TJ ist auch iiberaus verschwommen und 
vieldeutig. „Der U ist eih Mann, der etwas kann und etwas wagt". Ihn 
leitet „die Freude am Werk und am Wagnis und das Streben, aus totem, 
geringwertigem Material Werte und Hilfsmittel fiir den Fortschritt der 
Menschheit zu schaffen". „Der U ist in erster Linie zum Dienst am Ver- 
braucherberufen". „Er steht zu seiner Arbeit imVerhaltnis wie derLiebende 
zum Gegenstand seiner Liebe". So und ahnlich wird die „ Sendung des U" 
beschrieben, eine Aufgabe also, der je nach Bedarf des Autors in der Ver- 
gangenheit Amenemhet I. von Agypten und Karl der Grofie, heute der 
Kleinbauer oder der selbstandige FUckschuster gerecht werden kann. 
Kein Wunder, dafi bei diesem grofien TJkreis die Zahl der U auf 
der ganzen Welt fast dreimal so groB wie die Zahl derjenigen ist, 
die man als die „Arbeiter" bezeichnet, dafi in Deutschland „rund ein 



222 Besprechungen 

Drittel der 32 Millionen Berufstatigen XJ sind". Die solchen Behauptungen 
zugrundegelegten Zahlen sind willkiirlich oder falsch zusammengestellt, wie 
uberhaupt M. fast uberall auf Quellenangaben und Materialhinweise groB- 
ziigig verzichtet. Um den gewaltsam geformten Ubegriff aufrecht zu erhalten, 
werden die eindeutigsten Daten der Wirtschaftsentwicklung unrichtig be- 
schrieben oder interpretiert. „Der soziale Aufstieg in die wirtschaftliche Ober- 
schicht erfolgt gar nicht so selten auch direkt vom Arbeiterberuf aus." 
Nach den auf Grund der Erhebungen des Statistischen Reichsamtes zu- 
sammengestellten Zahlen (Sozialer Auf- und Abstieg im deutschen Volk, 
Munchen 1930) kommen 85% der wirtschaftlichen Oberschicht (Industrielle, 
Bankiers, Kaufleute) aus ihrer Schicht und nur zusammen 15% aus Mittel- 
schicht und Unterschicht ; leider ist diese Zahl nicht mehr spezifiziert, aber 
es ist ohne weiteres anzunehmen, daB der weitaus groBere Teil dem Klein- 
burger turn entstammt, nur ein verschwindender Prozentsatz dem Proletariat. 
— Werden kleinere Industriefirmen von der iibermachtigen Konkurrenz 
zugrunde gerichtet, dann liegt keine kapi talis tische Entwicklungstendenz vor, 
sondern „sie hatten ihren alten Fortschrittsgeist eingebiiBt. . Der letzte Akt 
des Trauerspiels eines ehemals blvihenden Gewerbes spielt sich ab. Die 
ihrer Sendung untreu werden, sind zuletzt auch noch mit technischer Un- 
fruchtbarkeit geschlagen. Ein Geschlecht neuer Manner, in denen wiederum 
eine Sendung lebendig ist, steigt auf". Ich beschranke mich auf die 
Wiedergabe dieser beiden Bluten okonomischer Erkenntnis, eine Legion 
ahnlicher Behauptungen fullt das Buch. — Kurz sei noch die Stellung des 
Verf. zur Beziehung zwischen XT und Arbeiter gekennzeichnet. Prinzipiell 
sind die Bezeichnungen„Arbeiter" und^Angestellte" vermieden unddurchden 
Sammelbegriff „Mitarbeiter" ersetzt. Diese Mitarbeiter am Werk des U, die 
mit ihm der Sache zu dienen berufen sind, werden keineswegs ausgebeutet, 
sondern sind selbst die Ausbeuter in der Wirtschaft. Wenn sie ihre wirtschaft- 
liche Lage zu verbessern suchen, dann sind sie „nichts anderes als Spekulanten, 
sind ein Interessentenhaufen, der nicht deswegen mehr Recht beanspruchen 
kann, weil er sehr groB ist". „Durchaus falsch ist, wenn es in der 
Offentlichkeit immer wieder so dargestellt wird, als bestiinde in der Gegenwart 
eine unubersteigbare Kluft zwischen dem abhangigen Lohnarbeiter und dem 
selbstandigen U." Die Losung der sozialen Frage soil die oft gepriesene 
Werksgemeinschaft bringen. ,,Die einzelnen Mitglieder des Orchesters 
sollen seinen Zeichen und Worten nicht als stumpfe. Arbeitssklaven folgen, 
sondern sollen als Mitwirkende in voller Arbeitsverbundenheit mit dem Werk 
stehen." 

Uber das Buch ware kein Wort zu verlieren, wenn es nicht eine heute 
uberaus machtige Ideologie darstellte, die man auf Schritt und Tritt an- 
trifft. Sie wird in der auBeren Form einer wissenschaft lichen Theorie dar- 
geboten; iiber solche im Dienste des kapitalistischen U produzierte Wissen- 
schaft laBt sich mit des Verf. eigenen Worten urteilen, mit denen er einen 
Teil der Studenten treffen will; ,,sie bedeutet immer weniger Studierenden 
die ,hohe, die himmlische Gottin*, vielmehr ist sie einer wachsenden Zahl 
die ,tuchtige Kuh' geworden, die den Studierten ,mit Butter ver- 
sorgcn soil"', 

Carl DreyfuB (Frankfurt a. M.). 



Spezielle Soziologie 223 

Das deutscke Handwerk. Bericht der 8. Arbeitsgruppe des III. Unter- 
ausschusses des Aussehusses zur Untersuchung der Erzeugungs- und Ab~ 
satzbedingungen der deutschen Wirtschaft. Mittler & Sohn. Berlin 1931. 
(4 Bde., 1858 S.) 

Der Enqueteausschufi stellt in diesem Bericht die Ergebnisse seiner Unter- 
suchung iiber die Lage des Handwerks in Deutschland zusammen. Der 
II. Band enthalt das Tabellenmaterial der mit den Stichtagen 1. X. 26 und 
— resultatlos ■ — 1. X. 13 im Jahre 1927 durchgefuhrten Erhebung. Band III 
u. IV enthalten besonders eingehende Spezialuntersuchungen 12 wiehtiger 
Handwerkszweige, die durch Sachverstandigeneinvernahrne (Juni/Juli 28) 
besonders vertieft worden sind. In Band I finden sich die Gesamtergebnisse 
und ihre Zusammenfassung und Ausdeutung. Zumal die technische, be- 
triebswirtschaftliche und organisatorische Fortentwicklung des Handwerks 
wird eingehend dargestellt. Die gesammelten Angaben sind umfassend und 
vorziiglich: das erste Mai iiberhaupt ist hier iiber das Handwerk derart 
reiches Material zusammengetragen und dadurch eine genaue Erforschung 
dieses Wirtschaftsteiles ermoglicht worden. Allerdings folgt daraus, dafi 
die Ergebnisse dieser Untersuchung mit friiheren, vpr allem der amtlichen 
Statistik, die nicht auf das Handwerk abgestellt waren, fast unvergleichbar 
sind. Zu einer Analyse der gegenwartigen Situation des Handwerks und 
zu einer darauf basierenden in groBen Ziigen durchgefiihrten Betrachtung 
der Entwicklung und Entwicklungstendenzen bietet der Bericht das voll- 
kommenste Tatsachenmaterial. Die neueste Handwerksliteratur, wie etwa 
der Art. „Handwerk" j n den von Harms herausgegebenen „Struktur- 
wandlungen der deutschen Volkswirtschaft" und der Art. „ Handwerk" 
von G. Albrecht imW.d.V. 4, baut auch bereits auf den Angaben des Be- 
richtes auf. Dabei ubernimmt diese Literatur die Ausdeutung und SchluB- 
f olgerung des Berichtes ohne weitere Nachpriif ung . Dessen endgiiltige 
Folgerungeh jedoch stehen in befremdlichem Gegensatz zu den Angaben in den 
Banden II, III, IV und der Zusammenfassung in Band I. Am besten ge- 
kennzeichnet ist die theoretische Einstellung des Berichtes etwa durch den 
Satz: „. , . viel hilft der unverzagte Glaube des freien Mannes an die ur- 
wiichsige Lebenskraft des deutschen Handwerks" (Bd. I). Der Bericht 
kommt zu dem Ergebnis, daB es dem Handwerk zufriedenstellend gehe, 
dai3 endgiiltig die ,,Niedergangstheorie", die um die Jahrhundertwende 
an sein Verschwinden geglaubt hat, widerlegt sei und dafi es im Gegenteil 
sich standig weiterentwickle und einen wichtigen Platz in der Gesamt- 
wirtschaft einnehme. Seine Bedeutung beruhe auf seiner arbeitsintensiven 
Produktionsweise, die immer noch in der Befriedigung des Bedarfes an 
Qualitatsware fiir den personlichen Geschmack vorherrschend sei, weiter 
auf seiner dezentralisierten Arbeitsart und darauf, da6 es einerseits die 
Industrie mit Facharbeitern versorge, andererseits bei schlechter Konjunktur 
die Arbeitslosen aufsauge und eine vermittelnde Rolle im Gegensatz zwischen 
Arbeitgebern und Arbeitnehmern spiele. Speziell jetzt in der Zeit der ge- 
waltigen Kapitalkonzentration sei es die letzte Aufstiegsmoglichkeit zur 
Selbstandigkeit. Diese Behauptungen werden aber samtlich von dem eigensten 
Material des Berichtes widerlegt. In der tibersicht iiber die einzelnen 
Handwerkszweige (Bd. I, S. 60 — 187) mufi der Bericht fiir fast ausnahmslos- 



224 Besprechungen 

jeden f eststellen : Arbeitslosigkeit und tJbersetzung (1927 war gut© Kon- 
junktur!), Verdrangung durch die GroBindustrie {sei es durch Konkurrenz 
um das gleiche Produkt, sei es durch Surrogierung und Bedarfsverschiebung). 
So erhalt die grofle Zahl der Betriebe, die der Bericht als Beweis fur die 
innere Kraft des Handwerks anfiihrt, erst in Relation gebracht mit der Zahl 
der Beschaftigten, des Umsatzes, der Kapitalbildung und des Einkommens 
ihre wahre Bedeutung: 70,5% aller industriellen Unternehmen sind Hand- 
werksbetriebe, auf die aber nur 29,2% der hier Beschaftigten entf alien; der 
Anteil am Gesamtbinnenumsatz 1928 betragt 7,85%, an dem der Industrie 
18% (Berechnungen des Institutes fur Konjunkturforschung, Berlin.) Der 
Bericht gelangt zwar zu 20% als Anteil am Gesamtumsatz, doch ist diese 
Zahl in keiner Weise nachprufbar erlautert. Nach Angaben des Berichtes 
haben etwa 9/ 10 aller Handwerksselbstandigen ein Einkommen bis zu 
hochstens 3000 RM. jahrlich. Die Kapitalbildung im Handwork ist un- 
zureichend. 

Der Bericht kennt keine Definition seines Untersuchungsobjektes und 
lehnt jeden Versuch zu einer solchen ab. Er ersetzt sie durch den Berufsstand, 
dem aufier den in Handwerksbetrieben Tatigen alle in der Wirtschaft vor- 
wiegend qualifizierte Handarbeit Leistenden zugerechnet werden. So werden 
etwa die MaBschneiderabteilungen groBer Konfektionshauser dem Hand- 
werk zugezahlt, wodurch der auf der Art der Arbeitsleistung aufgebaute 
Berufsstandsbegriff ad absurdum gefuhrt und sein handwerkspolitischer 
Zweck deutlich gemacht wird. 

Die Methode des Berichtes ist unklar und beschrankt sich darauf, 
ohne auf Entwicklungstendenzen Riicksicht zu nehmen, ein Augen- 
blicksbild zu entwerfen, aus diesem aber letztgiiltige Schliisse zu 
ziehen. Die Aussagekraft der Tatsachen wird durch eine ziemlich 
verworrene und unsystematische Anordnung verschleiert, die Zusammen- 
gehoriges auseinanderreiBt und gesondert, ohne Beziehung zu anderen 
Faktoren, „ausdeutet", wie etwa Zahl der Betriebe, Umsatz, Zahl der 
Tatigen usw. 

Jedoch sei noch einmal betont, daB der Bericht eine einzigartige Mate- 
rialsammlung darstellt, die fiir die neuere Zeit erst die Basis zu einer wirk- 
lichen Erforschung des zumindest soziologisch noch uberaus interessanten 
Handwerks gibt. 

Emil Griinberg (Frankfurt a. M.). 



Niemeyer, Annemarie, Zur Struktur der Familie. F. A. Herbig. Berlin 
1931, (175 S.; EM. 7.50). — Baum, Marie, u. Allx Westerkamp, 
Rhythmus des Familienlebens. F.A. Herbig. Berlin 1931. (190 S.; 
geb. RM. 9. — ). — Martens-Edelmann, Agnes, Die Zusammensetzung 
des Familieneinkommens. Verlagsges. R. Miiller. Berlin 1931. 
(76 S.; geb. RM. 3.90). — Wlldenhayn, F., DieAuflosung der Familie. 
A. From. Berlin 1931. (105 S.; geb. RM. 3.20). — Kahle, Margarete, 
Beziehungen weiblicher Filrsorgezoglinge zur Familie. J. A. 
Bartk. Leipzig 1931. (188 S.; geb. RM. 10.—). — Lindquist, Ruth, The 



Spezielle Soziologie ' 225 

Family in the Present Social Order. University of North Carolina 
Press. Chapel Hill 1931. (XIII u. 241 S., $ 2.50). — Wa^ener, Hermann, 
Der jugendliche Industriearbeiter und die Industrie} amilie* 
Miinsterverlag: Munster i. W. 1931. (145 S.; geh. RM. 3. — ). — Konfes- 
8 ion en und Ehe.In: Religiose Besinnung, Heft 1, Jg. I V (1931 — 32) . From- 
manns Verlag. Stuttgart 1931. — Baumer, Gertrud, Die Frau im neuen 
Lebensraum. F. A. Herbig. Berlin 1931. (285 S.; RM. 7.50).~mtg&u, 
Hermann, Familienforschung und Sozialwissenschaft. Degener 
& Co. Leipzig 1931. (32 S.; geh. RM. 2.—, geb. RM. 3.50) 
Die deutsche Akademie fiir soziale und padagogische Frauenarbeit la fit 
unter der Leitung von Alice Salomon und Gertrud Baumer eine Schriften- 
reihe„Forschungen iiber Bestand und Erschiitterung der Familie in der Gegen- 
wart" erscheinen. So gibt Annemarie Niemeyer eine recht brauchbare 
Bestandsaufnahme von allgemeinen statistischen Daten iiber die Familie. 
Systematisch wird unterschieden : 1. Sozialbiologische Familienstatistik : 
Geschlechterstatistik, Ehestatistik bder Familienstatistik im engeren Sinne, 
Statistik der unehelichen Familie; 2. Sozialokonomische Familienstatistik: 
Allgemeine Haushaltungsstatistik, Wohnungsstatistik, Statistik der Haushalt- 
rechnungen. — Marie Baumund Alix Westerkamp untersuchen ,, das von 
einer Familie taglich zu leistende Arbeitspensum** d. h. die von jedem 
Familienmitglied taglich innerhalb und auBerhalb des Hauses zu leistende 
Arbeit; ferner wird dargestellt, welche Tagesstunden diese Arbeiten in An- 
spriich nehmen und in welcher Weise sie den einzelnen belasten. Das be- 
nutzte Material (70 Familien) ist zu klein, als dafi an die Forschungsergeb- 
nisse verallgemeinernde Schlusse gekniipft werden konnten. Erwagt man, 
dafi die Sachkenntnis der Autoren ihnen eine Auswahl von typischen Fa- 
milien ermoglichte, so ist die statistische Behandlung der Materie unan- 
gemessen, ein Fehler, der iibrigens bei A. Westerkamp weniger hervortritt. — 
Zu der in den let z ten Jahren stark angewachsenen Literatur iiber die Ein- 
kommensverhaltnisse verschiedener Familientypen liefert Agnes Martens- 
Edelmann einenBeitrag, in welchem iiber von anderer Seite seit 1925 veran- 
staltete Erhebungen iiber das Einkommen von zusammen 3102 Arbeiter-, 
Angestellten- und Beamtenfamilien referiert wird. Von der Verfasserin 
selbst wurde das Monatseinkommen in 69 minderbemittelten Familien 
unter Beriicksichtigung der regelmafiig von den Haushaltungsmitgliedern 
fiir den Haushalt unentgeltlich geleisteten Arbeit untersucht. Dabei ist — 
wohl erstmalig — nach dem Marktwert derartiger Arbeiten gefragt worden. 
Die sehr interessante Arbeit zeigt, dafi in vielen Fallen das Familieneinkommen 
mehr als doppelt so groB ist wie der Arbeitsverdienst des Mannes, wahrend 
letzterer etwa 75% des Familieneinkommens auszumachen pflegt, wenn 
man dieses nach sonst ublicher Methode berechnet. 

Karl Mennicke (in seinem Vorwort zur Schrift von Wildenhayn) 
halt die Methode der genannten Schriften fiir verfehlt, nicht nur wegen des 
zu eng begrenzten Materials und der zu unbefangenen Benutzung der Selbst- 
zeugnisse der Befragten, sondern weil es versaumt wurde, von der durch 
die Breite des gesellschaftlichen Lebens hin nachweisbaren strukturellen 
Formveranderung des Familienlebens auszugehen und den Einzelbeob- 
achtungen und -erhebungen einen nur erlauternden bzw. differenzierenden 



226 Besprechungen 

Sinn beizulegen. — A. Niemeyer hatte gefunden, daft nur 60 — 80% der 
Volksschiiler zu normalen Vollfamilien gehoren; die „unvollstandige" Fa- 
milie wird nun genauer von Wildenhayn nach der statistischen und nach 
der fursorgepolitischen Seite hin untersucht. Besonders wertvoll ist die 
Darstellung der einzelnen sozialpolitischen Systeme in ihrer spezifischen 
Bedeutung und ihren Substitutionsmoglichkeiten. — Ebenfalls von der 
unvollstandigen Familie geht Margarete Kahle aus, wenn sie untersucht, 
welche Grundhaltungen das jugendliche Madchen in seiner Situation als 
Fiirsorgezogling von sich aus zu seiner Familie einnimmt, wie die Haltung 
der Eltern in dieser Situation zum Madchen ist, wie sich beide gegenseitig 
beeinflussen und welche Beziehungen sich daraus ergeben. Sehr sympathisch 
wirkt die behutsame Art der Auswertung der Protokolle. Das Buch ist eine 
Fundgrube feinster psychologischer Beobachtungen. — Von der sozial- 
padagogischen Seite her behandelt Ruth Lindquist das Familienproblem, 
indem sie 306 Haushaltungen von mittleren nordamerikanischen Ange- 
stellten darauf untersucht, mit welchen Schwierigkeiten materieller und 
seelischer Art sie zu kampfen haben und wie der Unterricht der verschie- 
denen Schulgattungen gestaltet werden mufi, um auch auf diesem Gebiet 
wirksame Hilfe leisten zu konnen. — Beitrage zur Psychologie der Reifezeit 
liefert Hermann Wagener; er macht die Industrie jugend im Reifealter 
und ihr Verhaltnis zu Vater, Mutter, Geschwistern usw. zum Gegenstand 
seiner Forschung. Es kommt ihm dabei auf die padagogischen Einfliisse an, 
die von der Familie zu dem Jugendlichen bestehen, und er gelangt zu 
dem Ergebnis, daft sowohl fur jeden einzelnen Erzieher als auch fur jede 
Erziehungsgemeinschaft der Aufblick nach oben schlechterdings unent- 
behrlich ist. — Mit der Haltung der Konf essionen gegenuber dem Eheproblem 
beschaftigt sich Heft 1, 1931, der Zeitschrift „ReligioseBesinnung". Ge- 
boten wird vor allem eine Kritik der papstlichen Enzyklika „casti connubii" 
vom 31. Dez. 1930 und der sog. Lambeth- Bo tschaft der anglikanischen 
Bischofe vom Sommer 1930, die gleichfalls von Ehe und Geschlechtsleben 
handelt. Dabei die Anpassungsversuche der Gesellschaft an den Entwick- 
lungszustand der modernen Zivilisation, in erster Linie der Technik, als 
Verwilderung der Sitten, Entgeistigung der menschlichen Beziehungen usw. 
zu kennzeichnen und alledem ein hartnackiges „Zuriick!" entgegenzu- 
rufen, scheint nicht auf der Linie der Wiedergewinnung einer groftt- 
moglichen Harmonie der sozialen Beziehungen zu liegen. 

Eine soziologische Betrachtung der Familie stoftt sehr bald auf das 
Problem der Frau. Aus alien bisher zitierten Schriften ergibt sich klar, daft 
das Wohl und Wehe auch der modernen Grofistadtfamilie ganz wesentlich 
von der moralischen Kraft der Frau abhangt. Vorbildlich wird diese Materie 
von Gertrud Baumer dargestellt. Sie findet, dafi die wesentliche Bedeu- 
tung der Familie nicht in ihrer Eigenschaft als Arbeits- und Wirtschafts- 
zelle liegt und also nicht an Wert und Sinn in dem Mafte verliert, als ihre 
wirtschaftlichen Funktionen sich verandert haben, daft vielmehr die bluts- 
verwandten Bindungen den ubrigen durchaus iibergeordnet sind und als 
solche Bestand haben. Baumer muft dabei allerdings die Behauptung auf- 
stellen, daft unsere heutigen wirtschaftlichen Verhaltnisse „soziale Mift- 
bildungen" sind, an die sich anzupassen ein Unding ist. 



Spezielle Soziologie 227 

Anregungen fur eine Methodik der Erforschung des sozialen Auf- und 
Abstieges von Familien bietet Hermann Mitgau, indem er zeigt, dafi dabei 
das sog. Generationsschicksal die entscheidende Rolle spielt und dafi dieser 
Fragenkomplex von der bisher nur genealogisch erfafiten Generation her 
bearbeitet werden mufi. Justus Streller (Leipzig)* 



Efcrenburg, Ilja, Die Traumfabrik. Malik-Verlag. Berlin 1931. (310 S.; 

hart. RM. 3.50, geb. RM. 5.50) 
Petzet, Wolfgang, Verbotene Filme. Sozietats-Verlag. Frankfurt a. M. 

1931. (160 S.; RM. 2.50) 
Fulop - Miller, Rene, Die Phantasie - Maschine. P. Zsolnay, Berlin 1931 

(203 S.; RM. 3.50, geb. RM. 6.—) 
Arnheim, Rudolf, Film als Kunst. Ernst Rowohlt. Berlin 1932. (339 S.; 

br. RM. 7.—, geb. RM. 9.—) 

Der Film ist bis jetzt weder soziologisch noch psychologisch, ja nicht 
einmal asthetisch zusammenfassend untersucht worden. Erst in der letzten 
Zeit widmen sich einige beachtliche Arbeiten der Analyse des Films; aller- 
dings bedient sich keine von ihnen einer wissenschaftlichen Methode. 

Die aufsehlufireichsten Feststellungen enthalt das neueste Werk Ilja 
Ehrenburgs. In dieser Chronik der jungen Filmindustrie wird aufgezeigt, 
von welchen okonomischen und soziologischen Faktoren die Erzeugung 
des heute so wichtigen Konsumtionsgutes „Film" abhangig ist. Am lau- 
fenden Band werden in oder, monotoner Arbeit die Wunschtraume fiir den 
Kinobesucher hergestellt, der vor Not und Hoffnungslosigkeit, vor der 
Erschopfung nach oder, monotoner Arbeit ins Lichtspielhaus entflieht. Die 
Fiknfabrikation verfolgt ebenso wirtschaftliche wie soziale Interessen; ihre 
Produkte bringen grofie Gewinne und dienen dazu, die Masse des vorhan- 
denen und des werdenden Proletariats der herrschenden Klasse gefiigig 
zu machen. Staat und Gesellschaft, Kirche, Armee und Polizei bedienen 
sich dieser machtigen Kampfmittel. „Das ist die Zauberschachtel, die die 
Welt regiert. Das ist eine grofie Erfindung, und das ist Ode, grausame fres- 
sende Ode. Das ist der Film.'* Ehrenburg setzt in der vorliegenden 
Arbeit die Keihe seiner materialistischen Wirtschaftsberichte fort, die er 
mit Beitragen iiber die Autoindustrie und die grofien Trusts begonnen hat. 
Er gibt auch in ihr ein aufschlufireiches, umfassendes Material, gekleidet 
in die ihm eigene fesselnde Ausdrucksform der romanhaften Reportage. 

Eine interessante Erganzung zu Ehrenburgs Werk stellt die Broschure 
Petzets dar, in der iiber die mafilose Willkur der deutschen Filmzensur 
berichtet wird. Das unterbreitete Material und die genaue Analyse des 
Lichtspielgesetzes zeigen das blinde Walten dieses amtlichen Apparats. 
Das wichtigste Ergebnis der Untersuchung : die Filmindustrie stent nur in 
einem scheinbaren Gegensatz zu der Priifstelle, in Wirklichkeit decken 
sich die Intentionen der Produktionsfirmen und des Kontrollorgans mit 
seltenen Ausnahmen in volliger Kongruenz. Die Schrift Petzets ware 
noch wertvoller, wenn sie in der Auswahl des Materials und in seiner 
Interpretation klarer die okonomischen und soziologischen TJrsachen fiir 
die behordliche Tatigkeit enthullte; der Uberale Standpunkt des Verfassers 



228 Besprechungen 

verhindert eine Blofilegung, wie sie die materialistische Methode ermog- 
licht hatte. 

Fur den Soziologen, der psychologische Tatsachen zu verwerten weifi, 
sind viele der Erkenntnisse aus Fiilop-Millers Untersuchung ein brauch- 
bares Material. Eine gewisse Vorsicht ist dabei am Platze, da der Verfasser 
durch den Verzicht auf jede soziologische Fundierung seiner psychologischen 
und zum Teil asthetischen Ausfiihrungen zu manchen falschen Schlufi- 
folgerungen gelangt; er verficht die oft ausgesprochene irrige These, dafi 
allein der Publikumsgeschmack die Filmproduktion bestimme. Auch die 
okonomischen Faktoren fur die Filmerzeugung sind unzulanglich dargestellt ; 
eine schiefe Parallele zwischen Film- und Kleiderkonfektion, die sich durch 
das ganze Buch zieht, verzerrt das Bild dieses Wirtschaftszweiges. Kultur- 
historische Exkurse bis ins Altertum und Mittelalter verschleiem die Unter- 
suchungen iiber den Film, der doch ein typisches Produkt und Ausdrucks- 
mittel des Kapitalismus ist. Die Arbeit enthalt eine Reihe richtiger 
psychologischer Erkenntnisse und Beobachtungen ; den dilettantischen 
Verzicht auf jede wissenschaftliche Methodik verbirgt der Verfasser durch 
ein wissenschaftliches Gewand aus zahllosen Zitaten von Demokrit und 
Aristoteles bis zu Bergson und Graf Key ser ling. 

Arnheims sehr griindliche und umfassende Asthetik des Films kampft 
fiir dessen Anerkennung als Kunstgattung. Wer sich mit der neuen Kunst- 
form des Films soziologisch auseinandersetzen will, wird gut tun, sich aus 
dieser kritischen und apolegetischen Analyse zu unterrichten. Obwohl das 
Schwergewicht der Arbeit auf asthetischem Gebiet liegt, sieht A. sehr wohl 
die Abhangigkeit des Films von den wirtschaftlichen und sozialen Zustanden : 
„wer den Film verbessern will, mufi erst die Gesellschaftsordnung ver- 
bessern". Carl Dreyfufi (Frankfurt a. M.). 

Waples, Douglas, u. Ralph W. Tyler, What people want to read about, 
A study of group interest and a survey of problems in adult reading. Uni- 
versity of Chicago Press. Chicago 1931. (XXX u. 312 S.) 
Das vorliegende Buch gibt Kenhtnis davon, dafi eine Fragestellung, die 
ims in Deutschland in den letzten Jahren lebhaf t beschaftigt hat, neuerdings 
auch in Amerika mit grofiem Nachdruck aufgegriffen worden ist. Es ist 
die Frage, was sich aus dem statistisch und durch andere Beobachtung fafi- 
baren und mefibaren Lesebedurfnis einzelner Gruppen auf einzelnen Ge- 
biet en geistigen Lebens fiir Schliisse ziehen lassen, die dann fiir die prak- 
tische Arbeit des Bibliothekars und Buchhandlers, aber auch fiir die mehr 
theoretische des Soziologen und Sozialpsychologen von grofier Bedeutung 
sein konnen. Man wandte diesseits und jenseits des Ozeans verschiedene 
Methoden an. Wahrend das unter der Leitung von Hofmann stehende Leip- 
ziger Institut fiir Leser- und Schrifttumskunde, fufiend auf der Ausleih- 
statistik von Biichern, ausgeht von dem wirklich gelesenen Buch, geht Waples 
in Amerika von dem Wunsch aus, ein Buch iiber ein bestimmtes Thema zu 
lesen, den er in Fragebogen zu erfassen sucht. Wir konnen und wollen hier 
nicht entscheiden, welcher Weg mehr verspricht; wichtig ist, dafi die Be- 
deutung der Fragestellung durch diese Doppeltheit der Arbeit unterstrichen 
wird, und wichtig ist, dafi die angebahnten Arbeitsbeziehungen beider In- 



Spezielle Soziologie 229 

stitute die Moglichkeit einer gegenseitigen Korrektur und Erganzung in 
Aussicht stellen. 

Trotz der Gleichheit des Ausgangspunktes ist uns Deutschen das Buch 
des Amerikaners zunachst etwas fremd. Man spurt andere soziale Verhalt- 
nisse und andere soziale und soziologische Betrachtungsweisen, wenn unter 
den fiir das Leseinteresse mafigebenden Faktoren zwar Geschlecht, Schul- 
bildung und Beschaftigung genannt, aber die Frage der Klassenzugehorig- 
keit nicht erortert wird. Wir glauben Kalkulationen aus dem ameri- 
kanischen Geschaftsleben vor uns zu haben, wenn wir sehen, wie man 
mit alien Methoden der Mathematik Wahrscheinlichkeitskoefhzienten fiir 
die Wirkung einer Biichergruppe auf eine Lesergruppe errechnet. — Und 
man spurt den entwicklungsfrohen Optimismus des fremden Landes, wenn 
man die hoffnungsvolle Freude des Verf . sieht, mit der er die Moglichkeiten 
der sicheren, berechenbaren Grundlage fiir die Arbeit des Bibliothekars, des 
Verlegers und des Sortimenters auf zuzeigen hoff t. Doch das alles erklart sich 
aus der Situation Amerikas, die unserer nicht gleicht. Man wird die Fort- 
setzung der Arbeiten, die W. ankundigt, mit Spannung zu erwarten haben, 
da sie vor allem die sozialpadagogische Ausdeutung des erarbeiteten Materials 
bringen wird, die hier nur in Anfangen vorhanden ist und vorhanden sein 
kann- Das Buch hat fiir unsere Arbeit seinen Hauptwert in dem Eifer, dem 
Ernst und der Grundlichkeit, mit denen das Problem angegriffen ist. Sie 
werden das Interesse der Cffentlichkeit in Europa an diesen Fragen und 
an den begonnenen Arbeiten — ich nenne das kurzlich erschienene Buch 
von Walter Hofmann: Die Lektiire der Frau — steigern, und das ist not- 
wendig. Denn die Fragestellung ist iiber den engeren Fachkreia weit 
hinaus wichtig. Adolf Waas (Frankfurt a. M.). 

Thurnwald, Richard, DiemenscklicheGesellschaft in ihren ethnosozio- 

logischen Grundlagen. 1. Band: Reprasentative LebensbiMer von 

Naturvblkern. Walter de Gruyter. Berlin und Leipzig 1931. (311 S. [mit 

Tafeln u. Abb.]; brosch. BM. 18.—, geb. RM. 20.—) 

Anlageplan und Zielsetzung der auf 5 Bande berechneten Gesamtver- 

offentlichung, vor allem aber die methodologische Grundlegung, wie sie sich 

aus dem programmatischen Vorwort und der historisch-kritischen Ein- 

leitung des vorhegenden 1. Bandes ergibt, lassen erkennen, dafi dieses Werk 

allein schon durch die gedankliche Durchdringung und die methodische 

Verarbeitung des Stoffes der Volkerkunde und der Soziologie einen starken 

Impuls geben wird und der Behandlung ethnosoziologischer Probleme neue 

Wege weist. In der Volkerkunde durfte der Angriff auf Kulturkreislehre 

und kulturhistorische Richtung der Ethnologie die Auseinandersetzungen 

uber Wesen und Brauchbarkeit ihrer methodologischen Kriterien voraus- 

sichtlich erneut aufleben lassen. 

Den weitaus groBten Teil des 1. Bandes nehmen die „reprasentativen 
Lebensbilder" ein, welche die „GeseIlungstypen*' in ihrem kulturellen Zu- 
sammenhang schildern. Mit diesen knapp formulierten Darstellungen der 
Lebensverhaltnisse zahlreicher Naturvolker will T. dem Leser, insbesondere 
demjenigen, dem das umfangreiche und zersplitterte volkerkundliche Mate- 
rial nicht unmittelbar zuganglich ist, einen geordneten Bestand an Tat- 



2 30 Besprechungen 

sachen vor Augen stellen, so daB er aus ihnen selbst seine Schlusse Ziehen, bzw. 
die des Autors nachpriifen kann. In solchen Lebensbildern glaubt T. auch 
am ehesten reale Normalformen der menschlichen Vergesellschaftung er- 
kennen und Fehlschliisse, wie sie die Verwechslung „gedanklicher Ideal- 
typen" und „realer Extremformen" mit sich bringt, vermeiden zu konnen. 

Die in den Lebensbildern dargestellten Gemeinschaften, Volker oder 
Stamme, gliedern sich nach dem grundlegenden Verhaltnis des Menschen 
zu den Quellen seiner Nahrung in zwei Gruppen: die „ Wildbeuter" und die 
„Pfleger von Pflanzen und Tieren". Die Wildbeuter sind die Jager und 
Sammler der Ethnologie; Thurnwald scheidet sie weiter in Wildbeuter 
des Eises (wie die Eskimo), der Steppe, Wiiste und des Graslandes (wie z. B. 
die Australier), des Waldes (wie die Weddas auf Ceylon) und endlich des 
Wassers, fur die er ein Fischervolk vom Kongo als Beispiel anfuhrt. Aus der 
Gesamtheit der Lebensbilder werden dann unter Ausschaltung regional 
oder historisch bedingter Sonderbildungen die „soziologischen Ergebnisse" 
gezogen. In ahnlicher Weise sind die ,,Pfleger", d. h. die Bodenbauer und 
die Hirten, gegliedert und behandelt ; ihre Lebensverhaltnisse, ihre wirtschaft- 
liche und soziale Struktur sind naturgemafi unvergleichlich komplizierter 
als bei den Wildbeutern. Die Nomenklatur weist manche Sonderbarkeiten 
auf („ungeschichtete Klein viehhirten", „gestaffelte Kamelhirten" u. a.), 
aber man gewohnt sich rasch an sie, da sie fur den, der das Buch liest, 
Wesentliches treffend bezeichnet. 

Die folgenden Bande, in denen die „Einrichtungen und Lebensbrauche 
in den Gesellungen selbst", d. h. Familie, Wirtschaft, Staat und Recht 
dargestellt werden, sollen im nachsten Heft dieser Zeitschrift ausfiihrlicher 
gewiirdigt werden. 

Ernst Vatter (Frankfurt a. M.)- 

Winthuis, J., Einfuhrung in die V orstellungswelt primitiver Volker. 
<7. £. Hirschfeld. Leipzig 1931. (364 S.; RM. 7.—, geb. RM. 8.—) 
J. Winthuis lafit seinen beiden Schriften iiber das Zweigeschlechterwesen 
eine dritte folgen, die die Gedankengange der beiden alteren Arbeiten fort- 
fiihrt und vertieft. Alle drei Arbeiten haben nicht nur unsere Kenntnisse 
iiber Neupommern (wo der Verf. 12 Jahre lang tatig war) betrachtlich be- 
reichert, sondern sie haben auch auf die gesamte Volkerkunde anregend, ja 
aufregend gewirkt. W. bringt zahlreiche Belege dafiir, daB viele Naturvolker 
den Menschen nicht als eingeschlechtig, sondern als doppelgeschlechtig, als 
„Zweigeschlechterwesen" ansehen, daB der Glaube an die Doppelgeschlechtig- 
keit in der Weltanschauung vieler Volker eine groBe Rolle spielt und daB 
manche Gebrauche nur den Zweck haben, dem Menschen die (verloren ge- 
gangene) Doppelgeschlechtigkeit wiederzugeben. Hieruber hinausgehend 
betont W. zunachst die groBe Bedeutung geschlechtlicher Bilder und Vor- 
stellungen fiir das Dehken der Eingeborenen und schlieBlieh die Verschieden- 
heit des „primitiven Denkens" vom „kulturfortschrittlichen Denken'*. Doch 
schrankt er „die tJberzeugung, daB die primitive Denkweise von der euro- 
paischen spezifisch verse hieden ist", an verschiedenen Stellen ein, so wenn 
er schreibt, daB sich bei una „auch in der Oberschicht" gelegentlich primi- 
tives Denken verrate, von dem sich ganz „wohl kein Mensch . . . losmachen" 



Spezielle Soziologie 231 

konne. Auch daB das, was er als ein recht wichtiges Merkmal primitiven 
Denkens ansieht, die vorherrschende Besehaftigung mit geschlechtlichen 
Dingen, ahnlich bei Tins zu finden ist, gibt er selber ausdrucklieh zu, 
ja er erwahnt sogar, daB die gleichen Bilder fiir geschlechtliche Vorgange 
wie in der Siidsee auch bei den Flamen vorkommen. Man muB dera 
hinzufugen, daB auch die Gleichsetzung „alles Langlichen" mit „dem Mann- 
lichen" bei uns ublich ist; „Lanze, Stock, Zeigefinger, Nase" usw. werden in 
Europa genau so geschlechtlich gedeutet wie bei den Gunantuna (vgl. 
Bd. 9 der Beiwerke zum Studium der Anthropophyteia). — Auch in einer 
anderen Beziehung ist W. im allgemeinen vorsichtig: wie schon in dem Titel 
seines Buches, so spricht er auch in dem Werk selber meistens nur von den 
Anschauungen »,primitiver Volker" und nicht etwa in unzulassiger Verall- 
gemeinerung von den Anschauungen der primitiven Volker. Aber gelegent- 
lich gelingt es doch, ihn zu stellen: so fiihrt er (sogar zweimal) zustimmend 
den Satz von H. Naumann an „Die primitiven Volker sind sich ahnlich und 
undifferenziert wie die Kinder". Man wird unbedenklich sagen diirfen, daB 
diese Ansieht falsch ist. 

Zu eingehender Auseinandersetzung mit den W.schen Gedankengangen ist 
hier nicht der Raum. W. hat begeisterte Zustimmung, aber auch entschiedene 
Ablehnung erfahren. Der Kampf um ihn wird hoffentlich zu einer Klarung 
mancher volkerkundlicher Fragen beitragen. 

Paul Leser (Frankfurt a. M.). 

Frazer, James George, Mensch, Oott und Unsterblichkeit. Gedanken 
uber den menschlichen Fortschritt. (Au8 dem Engl, tibers.) C. L. Hirschfeld. 
Leipzig 1932. (XVI u. 364 S.; RM. 6.80, geb. RM. 8.50) 
Dem Nichtvolkerkundler, der sich einen Uberblick uber F.s Ansichten 
verschaffen will, wird dieser Sammelband, der 177 kurze Abschnitte aus 
alteren Arbeiten F.s abdruckt, sehr willkommen sein, besonders dem- 
jenigen, der vor dem riesigen Umfang des F.schen Schaffens zuriick- 
schreckt. Soweit die Abschnitte schwerer zuganglichen Arbeiten F.s 
«ntnommen sind, wird auch der Fachgenosse manche Anregung aus dem 
Band gewinnen. Dagegen erscheint mir der Wert des Buches fiir die 
breite Offentlichkeit, an die sich diese deutsche Ausgabe wendet, etwas 
zweifelhaft. Im Vorwort spricht F, in erstaunlicher Selbsterkenntnis 
davon, daB wohl der Hauptwert seiner Biicher in den von ihm zu- 
sammengetragenen Berichten uber die Zustande bei den sog. Wilden be- 
ruhe. Gerade diese Berichte aber, die ,,schweren Massen von Tatsachen", 
sind in diesem Band zum groBen Teil gestrichen worden, so daB oft nur die 
„allgemeineren Schliisse" iibrig geblieben sind. XJnd unter diesen Ansichten 
von F. sind manche, das wird man bei aller Ehrerbietung vor der Bedeutung 
des Verf. doch sagen mussen, die iiberholt oder schief sind. Es erscheint mir 
wenig angebracht, w^nn Irrtiimer, uber die die deutsche Vdlkerkunde seit 
Jahrzehnten hinaus ist, jetzt als neueste Feststellungen der Wissenschaft ins 
Volk getragen werden. Andererseits sei dankbar anerkannt, daB zahlreiche 
Stellen des Buchs ohne Einschrankung als lehrreich bezeichnet werden 
konnen und sicherlich manchen zu einer naheren Besehaftigung mit der 
Yolkerkunde veranlassen werden. Paul Leser (Frankfurt a. M.). 



232 Besprechungen 

Malinowski, Bronislav, Das Gescklechtsleben der Wilden in Nordwest- 
melanesien. Grethlein £ Co. Leipzig 1930. (XIX u. 442 S. ; geb. RM.24. — ) 
Das vorliegende Werk des englischen Ethnologen ist eine Fortsetzung 
seiner Forschungsberichte iiber die mutterrechtliche Gesellschaft der Tro- 
briander in Nordwestmelanesien. Es behandelt zum ersten Male in der 
etbnologischen Literatur mit eingehender Griindlichkeit nicht nur die auBeren 
Formen des Geschlechtslebens, Ehe und Familie, sondern auch den Cha- 
rakter des Geschlechtserlebens selbst beim Kinde, Jugendlichen und Er- 
wachsenen. Das besonders Wertvolle des Werkes ist darin zu erblicken, daU 
es auf die Fragen der Geschlechtlichkeit im Zusammenhange mit der wirt- 
schaftlichen und sozialen Struktur der trobriandrischen Gesellscbaft ein- 
geht. Ein weiterer Vorzug liegt in der fast vollkommen amoralischen Ein- 
stellung des Autors, die ihn davor bewahrt, im Geschlechtsleben der Wilden 
einen „zugellosen und unmoralischen Lebenswandel" zu erblicken. Neu- 
artig geschildert werden auch die Heiratsriten der Trobriander, die fiir die 
Auffassung des gesamten gesellschaf tlichen Prozesses und seiner Widerspruche- 
sehr aufschluBreich sind. 

Bedeutsam fiir die Beurteilung des Einflusses der sexualfeindlichen 
Moral unserei* Kulturkreise auf die seelische Hygiene ist der Fund M.s, 
dafi patriarchalische Volkerstamme im Gegensatz zu den mutterrechtlichen 
eine strikte Familienmoral und voreheliche Sexualeinschrankung auf- 
weisen, gleichzeitig aber auch nervose Erkrankungen, Perversionen und 
sexuelle Dissozialitat. Das bestatigt nicht nur die Freudsche Lehre von der 
Atiologie der Neurosen, sondern ist auch geeignet, aktuelle Stellungnahmen 
zur Frage der psychischen Hygiene ethnologisch zu fundieren. 

Dieses Standardwerk der Sexualethnologie wird keiner entbehren konnen^ 
der aktuelle oder historische Fragen der Sexualsoziologie behandelt. Es 
kann auch zweif ellos dazu beitragen, eine ganze Reihe sachlich f alscher und 
moralischer Voreingenommenheit entstammender Auffassungen iiber die 
menschliche Sexualitat aus der Welt zu schaffen. 

Wilhelm Reich (Berlin). 

Leser, Paul. Entstehung und Verbreitung des Pfluges. Aschendorfscke 
Verlagsbuchhandlung. Munster i. W. 1931. (XV u. 676 S.; br. RM. 36.80* 
geb. RM. 39.~) 

Das Werk will keine Soziologie der Pflugkultur bieten, sondern eine Unter- 
suchung iiber Entstehung und Verbreitung des Pfluges. Kach einer ungemein 
fleifiigen Ubersicht iiber die Bodenbearbeitungsgerate in den einzelnen 
Landern bringt der zweite Teil eine Greschichte des Pfluges. Dabei ergibt 
sich folgendes Bild: das Ziehen von Handgeraten und die Kenntnis der 
Verwendung von Tieren zum Schleppen von Schlitten waren — und zwar, 
wie das Vorkommen der letztgenannten Erscheinungen in der Arktis zeigt,, 
schon vor der Genesis der Hochkultur — der Erfindung des Wagens und des 
Pfluges vorausgegangen. Dieser ist allenthalben einheitlicher Herkunft, 
kniipft nicht an die Hacke, sondern an den von Menschen gezogenen Zieh- 
spaten an, ist in seinen altesten Formen iiberall durch das gleiche Gerippe 
und durch das Nicht vorhandensein eines Kriimels gekennzeichnet. Dieses. 
Teilstiick kommt erst bei einer jungeren Form vor. Sie hat sich ebenso wie 



Spezielle Soziologie 233 

der vierseitige Pflug, aber parallel zu ihm aus dem geschilderten friihesten 
Typ entwickelt. Das geschah innerhalb der Hochkultur der Mittelmeer- 
lander, aber nicht bei den Indogermanen ; denu schon vorher sind babylo- 
nische und etruskische Exemplare aufweisbar. 

Die Kritik wird, um mit dem Positiven zu beginnen, anerkennen miissen, 
dafi L. der Beweis fiir seine Thesen im allgemeinen gelungen ist; diese Be- 
hauptung muJ3 aber zwei Einschrankungen erleiden: warum mussen nam- 
lich erstens das Ziehen von Handgeraten und die Kenntnis der Verwendung 
von Tieren zum Ziehen von Schlitten beide alter sein als nicht nur die Er- 
findung des Pfluges, sondern auch die Erfindung des Wagens ? Das ware 
doch nur in einem Falle zutreffend, dann namlich, wenn als erstes Tier der 
Ren gezahmt worden ware. Mit diesem Argument arbeiten allerdings etliche 
Kulturkreistheoretiker gern. Es bleibt aber unbewiesene Behauptung. Doch 
beriihrt dieser Einwand diejenigen geschichtlichen Zusammenhange weniger, 
die L. besonders am Herzen liegen. Schwerer wiegt dann schon ein anderes 
Bedenken. Unerwiesen bleibt namlich die These: Der Pflug ist nicht aus 
der Hacke, sondern aus dem Spaten abzuleiten. Sie ist Eduard Hahn gegen- 
iiber aufgestellt. In dieser einen Hinsicht muJB man aber an der Auffassung 
H.s festhalten. Auch dann bleibt der grundlegende Unterschied zwischen 
Hackbau und Pflugbau bestehen. Er ist eben vor allem dadurch gegeben, 
da!3 man bei letzterer Seinsform iiber gezahmte Tiere verfiigt und bei ersterer 
nicht. Das Wahrscheinlichste hat iibrigens L. selbst geahnt. Auf S. 558, 
Anm. 29, sympathisiert er namlich mit der Moglichkeit, die tJbertragung 
der Zugkraft des Tieres auf ein Bodenbereitungs-Gerat sei eine Misch- 
erscheinung. In diesem Zusammenhange ist insbesondere an die Tatsachen 
der Kulturkreisuberlagerungen zu erinnern. Durch Schmidt und Koppers 
einerseits, durch Franz Oppenheimer andererseits, sowie auf dem Wege einer 
Verkniipfung von Elementen aus den beiden letztgenannten Systemen von 
Seiten des Verf. dieser Rezension sind sie herausprapariert worden. Im 
iibrigen vermag das Werk trotz jener zwei Einwande wertvolle Anregungen 
zu erteilen, und zwar auch noch iiber das aufgezahlte Positive hinaus. Nur 
noch auf zweierlei sei abschlieBend hingewiesen: Hier wird an einem neuen 
Beispiel die Moglichkeit einer verschiedenartigen Entwicklung aus der gleichen 
Form heraus gezeigt und dadurch abermals das grundsatzliche Problem: 
Kulturkreistheorie und Evolutionismus aufgerollt. Aber auch noch in einem 
ganz anderen Zusammenhang, der die Wissenschaft unserer Zeit besonders 
stark bewegt, vermag ein Resultat des Buches wichtig zu werden. Denn iiber 
das bislang Bekannte hinaus laBt es die Einheit vorgriechischer Mittelmeer- 
kulturen einschliefilich der Etrusker evident werden. Und so wird man, 
wenn man alles in allem nimmt, sich trotz jener zwei Einwande des Buches 
freuen diirfen. Paul Honigsheim (Koln). 

Arbeiten zur biologiscken Grundlegung der Soziologie. Bd. X (1. und 
2. Halbband) von Thurnwalds Forschungen zur Volkerpsychologie und 
Soziologie. C. L. Hirschfeld. Leipzig 1931. (378 und 218 S.; br. RM. 
28.50) 
Zehn Autoren geben eine Sammlung mehr von Auffassungen als von 

neuen Tatsachen, ein eindringliches Beispiel dafiir, da6 der Eklektizismus 



234 Besprechungen 

zunimmt, je mehr sich die Wissenschaften von der Benutzung mathematischer 
Darstellungsmittel entfemen. Erst recht fehlt die durchgehende Betrach- 
tungsweise, die verwickelte Verhaltnisse aufklaren konnte. Auf mehr oder 
minder gelaufige oder eigens ersonnene Gedankengebilde werden Erfah- 
rungen und Deutungen zuruckzufiihren gesucht. Die Biosoziologie verlangt 
freilich mehr. 

H. Legewie bemiiht sich um die Bedeutung der Tiers oziologie fiir die 
Gesellschaftslehre des Menschen. Im Mittelpunkt seiner Darstellung steht 
der „Zusammenhang Leib-Psyche-Umwelt", mit dem er das Problem „Orga- 
nismus und Umwelt" ausdeutet. Aphoristische Bemerkungen iiber „das 
Tier als geselliges Subjekt" von T. Geiger behandeln die „sozialen Kontakte 
de- Menschen zum Tier". Der inzwischen verstorbene Klassiker der Ameisen- 
voiOgie E. Wasmann vergleicht die Demokratie in den Staaten der Ameisen 
t.iid der Termiten. Der iiberaus verdienstvolle Sachkenner gelangt leider 
zu ganz dilettantischen Folgerungen. E. Schwiedland sieht in „Trieb- 
anlage und Umwelt soziale Gestalter". Zufallige Voraussetzungen und 
schopferische Selbstverwirklichung bestimmen das Werdende. R. Rapaies 
gibt einen popularen „Versuch einer Gesellschaftslehre der Pflanzen", dem 
die viel griindlichere und umfassende Darstellung von W. Zimmermann 
iiber „Pflanzensoziologie" folgt. Wenn auch die neueren Werke von Braun- 
Blanquet und Du Rietz nicht mehr berucksichtigt werden konnten, so 
liegt doch eine gute Einfuhrung in das Gebiet vor. Der philosophische An- 
hang iiber „Wert-Zweck-Ganzheit-Seele (< laflt erfreulicherweise den niich- 
terhen Naturwissenschaftler erkennen. P. Krische faCt sich in seinen ,,Bei- 
tragen zur Soziologie der Pflanzen" sehr kurz. Er betont die „starken ge- 
sellschaftlichen Gemeinschaftskrafte" neben dem erbarmungslosen Kampf 
ums Dasein aller gegen alle in der Natur. J. Schjelderup-Ebbes „Des- 
potie im sozialen Leben der Vdgel" ist eine Spezialarbeit auf Grund eigener 
Naturbeobachtungen. G. Heberer referiert iiber das „Abstammungs- 
problem des Menschen im Lichte neuerer palaontologischer Forschung" 
unter Berucksichtigung der Literatur bis 1926 und einiger spaterer Arbeiten. 
K. F. Wolff erortert kurz die soziologische Bedeutung der kraniologischen 
Polaritatstheorie. Julius Schaxel (Jena). 

Schaxel, Julius, Das biologische Individuum (in: Erkenntnis, I. Bd., 

H. 6). Felix Meiner. Leipzig 1931. (25 S.) 

Sch. bemiiht sich in jahrelanger Arbeit, die Biologie aus ihrem gegen- 
wartigen Zustand, der durch das Nebeneinanderbestehen heterogenster 
Theorien gekennzeichnet ist, herauszuf uhren : er weist die unbewufit aus der 
Forschung der Vergangenheit ubernommenen Denkelemente der heutigen 
Theorien auf, die die Fragestellungen der Forschung vorbestimmen und 
so ihre Losungen beeinflussen. In dem vorliegenden Aufsatz, der aus einer 
geplanten umfassenden Darstellung der modernen Naturwissenschaften 
vom Standpunkt des dialektischen Materialismus einiges empirische Mate- 
rial vorwegnimmt, erbringt Sch. fiir „den zentralen Begriff jeder meta- 
physischen Biologie", den absoluten Begriff des biologischen Individuums 
als des Unteilbaren, Vereinzelten, der jahrhundertelang den Fortschritt 
der Forschung hemmte, den Nachweis einerseits der gesellschaftlichen Be- 



Spezielle Soziologie 235 

dingtheit, anderseits seines Zusammenbrechens mit dem Ende der Epoche, 
der er entstammte : an einigen herausgegriffenen Beispielen wird seine Un- 
haltbarkeit gegenuber den Tatsachen der modernen Forschung, seine Relati- 
vierung von alien Seiten her aufgezeigt. Die historische Auflosung des Indi- 
viduums geschah durch den Darwinismus, der die Organismen als Produkte 
historischer Kumulation erkannte, das absolute Individuum also auf das 
Aggregat der unabhangig voneinander an seiner Spezies verlaufenen histo- 
rischen Veranderungen reduzierte. Die genetische Auflosung des Indivi- 
duums geschieht durch die Vererbungsforschung, die aus dem jeweiligen 
physiologischen Individuum nichts anderes als einen willkiirlichen Ausschnitt 
aus einem Zusammenhang von Relationen macht. Formal auf gelds t \tfird 
der Begriff des Individuums durch die Entwicklungsmechanik, die, im Gegen- 
satz zur zielbstrebigen Auffassung der organischen Form als Verwirklichung 
des gottlichen Bauplans im Sinne der idealistischen Morphologie, die ontoge- 
netische Entwicklung als insukzessiven Akten determiniert erweist, und durch 
das biologische Experiment, das die Teilbarkeit des „Unteilbaren" zeigt. 
Als sozial relativiert erweisen sich die Lebewesen nicht nur in den Bezie- 
hungen der Lebenserhaltung, die durch den Kreislauf des Stoffwechsels 
gegeben sind, sondern auch in alien moglichen Abhangigkeitsverhaltnissen 
der Konkurrenz und Kooperanz, die in dialektischem Prozefi zu den ver- 
schiedensten Graden der Vergesellschaftung in der Natur gefiihrt haben. 

Julia Feinberg (Frankfurt a. M.). 

Festschrift zum 70. Geburtstag von Carl Grunberg. C. L. Hirschfeld. 

Leipzig 1932. (560 S.; br. RM. 27.—, geb. EM. 30.—) 

Die Beitrage zu dieser Festschrift legen Zeugnis fiir die vielseitige Forde- 
rung und Anregung ab, die Griinbergs Forscher- und Lehrtatigkeit einem 
groBen Kreis von Schulern und Freunden gegeben hat. Sie behandeln, 
Griinbergs Interessen folgend, Probleme aus den verschiedensten gesell- 
schaftswissenschaftlichen Gebieten. Zur Geschichte der Arbeiterbewegung 
liegen u. a. Edmond Laskines Aufsatz „Socialisme, mouvement ouvrier et 
politique douaniere", Robert Mich els' Bericht iiber eine von ihm selbst ge- 
tragene syndikalistische Unterstromutig im deutschen Sozialismus (1903 bis 
1907) und Kathe Leichters Studie iiber den Weg vom revolutionaren 
SyndikaUsmus zur Verstaatlichung der Gewerkschaften in Italien und RuB- 
land vor. Untersuchungen zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte haben Max 
Beer, der iiber „ Social Foundations of Pre-Norman England 4 *, und Fedor 
Schneider, der iiber die soziale Lage des freien Handwerks im fruhen Mittel- 
alter schreibt, geliefert. Paul Szendes Beitrag aus der ungarischen Rechtsge- 
schichte ~ er schildert unter dem Titel „Nationales Recht und Klassenrecht" die 
Tatigkeitder sog. Judexkurialkonferenz vom Jahr 1861 — ist durch die Pro- 
blemstellung des historischen Materialismus angeregt. — Fragen der okonomi- 
schen Theorie behandeln die Arbeiten von O. Leichter iiber „Kapitalisraus und 
Sozialismus in der Wirtschaftspolitik" und F. Pollock iiber „ Sozialismus und 
Landwirtschaft", ferner die Aufsatze Stephan Bauers, Henryk GroBmanns 
und Franz Oppenheimers. Bauer verfolgt den Ursprung der Doktrin des 
laisser faire und des wirtschaftlichen Gleichgewichts — er nenntdiese Theoreme 
„Verlegenheitsme.taphern t ' — bis in die Medizin. Grofimann weist die Kritik 



236 Besprechungen 

zurtick, die Rosa Luxemburg an der MarxschenDarstellung der Reproduktion 
des Geldmaterials geubt hat. Oppenheimer stellt bei der Aufklarung der 
gegenseitigen Beziehungen von Stadt und Land das Goltzsche Gesetz in den 
Mittelpunkt. Eine Arbeit von Gerloff unterrichtet iiber die Entwicklungs- 
tendenzen in der Besteuerung der Landwirtschaf t ; herangezogen sind dieVer- 
haltnisse in Deutschland, GroBbritannien, Frankreich, der Tschechoslowakei, 
Italien, Rufiland undKanada. Die Beitrage Krzeczkowskis und Pribrams 
haben sozialpolitische Themata zum Gegenstand. Den Methodenstreit in 
der Nationalokonomie nimmt Louise Sommer zum Ausgangspunkt einer 
geisteswissenschaftlichen Analyse, die zeigt, wie stark der Ursprung der 
Methodenkampfe (nicht nur in der Nationalokonomie) im Gegensatz der 
Weltanschauungen verankert ist. Zu den Fragen der Wissenschaftslehre 
nimmt auch Horkheimers Aufsatz „Hegel und das Problem der Meta- 
physik" Stellung: nach ihm ist die Behauptung der Identitat von Subjekfc 
und Objekt nicht blofi die ausdriickliche systematische Voraussetzung 
Hegels, sondern die implizite aller Metaphysik. Mit ihrer Widerlegung sei 
jegliche Aussage iiber das „ Absolute" getroffen. Nach Fortfall der Subjekt- 
Objekt-These Hegels mufiten die Elemente seiner Philosophie entweder in 
Wissenschaft iibergefuhrt werden oder selbst ebenfalls der Kritik erliegen. — 
Mit geistes- bzw. dogmengeschichtlichen Skizzen zur Interpretation wichtiger 
Bestandteile der Marxschen Gesellschaftslehre sind Max Adler, Rodolfo 
Mondolfo und K. A. Wittfogel an der Festschrift beteiligt. 

Kurt Mandelbaum (Frankfurt a. M.). 



Okonomie 1 ). 

Lederer, Emil, Aufrijil der ohonomischen Theorie. 3. erw. u. vollig urn- 
gearb. Aufh J. C. B. Mohr (Paul Siebeck). Tubingen 1931. (XII u. 
351 S.; 6r. KM. 9.20, geb. RM. 12.—) 

Lederer legt seine „Grundzuge" jetzt in dritter, wesentlich erweiterter 
Fassung als „AufriB der okonomischen Theorie" vor. Schon ein Blick auf 
das Inhaltsverzeichnis zeigt, dafi L. das iibliche Auf bau- und Gliederungs- 
schema der „Einfuhrungen" verlassen hat und semen Gegenstand methodisch- 
theoretisch entwickelt. Allerdings nicht in einer klassifikatorisch-gerad- 
linigen Systematik, sondern in didaktisch fruchtbaren Gegeniiberstellungen 
und Vergleichen. So werden in den beiden Einleitungskapiteln die naturalen 
und sozialen Grundphanomene der Wirtschaft und des Wirtschaftslebens 
dargestellt unter dem Gesichtspunkt ihres Bedeutungswandels in den ver- 
schiedenen Wirtschaftsformen (L. unterscheidet Bedarfsdeckungswirtschaft, 
einfache und entwickelte Verkehrswirtschaft). In einem klaren Katalog 
von korrespondierenden, den einzelnen Wirtschaftsformen zugeordneten 
Grundbegriffen kann L. schliefilich diese fiir das Verstandnis der historischen 
Natur der heutigen Wirtschaftsverfassung wichtige Analyse abschlieBen. 
Der eigentliche Hauptteil des Werkes wird ausgefiillt von einer Gegeniiber- 
stellung der auf der Arbeitswertlehre aufbauenden klassischen und marxi- 



x ) Eine Sammelbesprechung iiber neuere planwirtschaftliche Literatur 
muBte wegen Raummangels fiir das nachste Heft ziu:iickgestellt werden. 



Okonomie 237 

stischen Schule und der auf der Gebrauchswerttheorie basierenden Grenz- 
nutzenschule. Jedes der beiden Systeme wird zunachst fiir sich in seinen 
Grundlagen und Konsequenzen entwickelt, die Schwierigkeiten, die von 
jedem Ansatz her entstehen (z. B. Zins- und Lohnprobleme fiir beide Theorie - 
gruppen, das Zurechnungsproblem speziell fiir die Grenznutzenschule, die 
Bedeutung der Bedarfsordnung und des Monopolpreises besonders fiir die 
klassischeLehre), werden aufgedeckt und dann derVersuch gemacht, Grenzen 
und Leistungsfahigkeit beider Systeme abzuwagen. Vollig undogmatisch 
und mit klaren Argumenten nimmt L. zu jedem einzelnen Problem Stellung 
und zeichnet im Anschlufl an das Zinsproblem die Grundlinien einer dyna- 
misehen Theorie durch eine kurze Analyse der Wirkungen der Bevolke- 
rungsvermehrung und des technischen Fortschritts. 

L.s Schrift gibt durch die Konfrontierung von klassischer und Grenz- 
nutzenlehre einen guten Uberblick iiber den Stand der okonomisch-theo- 
retischen Diskussion, bringt, wenn auch nicht dem „reinen Anf anger", 
so doch dem fortgeschrittenen Studenten eine Fiille von Anregungen und 
vermittelt ein wirkliches Verstandnis der schwierigen theoretischen Zu- 
sammenhange. Kein Paukbueh — aber ein Lehrbuch in jenem guten Sinne, 
dafl es zum selbstandigen Denken geradezu herausfordert. 

Fritz Burchardt (Frankfurt a. M.). 

Lederer, Emil, Technischer Fortsckritt und Arbeitslosigkeit. J. C. B. Mohr 
(Paul Siebeck). Tubingen 1931. (VII u. 126 S.; br. BM. 5.—) 
Lederer untersucht die Wirkungen eines technischen Fortschritts, der 
in einem Teil der Produktion die organische Zusammensetzung des Kapitals 
erhoht, also zu Arbeiterentlassungen fiihrt. Im Ausgangsschema, dem eine 
gleichmaBig wachsende Wirtschaft ohne Produktionsreserven zugrunde 
liegt, ist angenommen, daB der technische Fortschritt durch Ablenkung 
von Kapital aus anderen Verwendungen finanziert wird. Wahrend die 
Kompensationstheorie die Wiederaufsaugung der freigesetzten Arbeiter 
lediglich von einer statischen Angleichung der vorhandenen Produktions- 
elemente abhangig macht, weist L. iiberzeugend nach, da6 die Freisetzung 
erst kompensiert werden kann, wenn zusatzliche Produktionsanlagen ge- 
schaffen sind. Dabei entscheidet der Umfang der Kapitalbildung im Sinne 
der Vermehrung der Arbeitsplatze iiber das AusmaB der Kompensation, 
die jedenfalls nicht im bestehenden Kreislauf erfolgt und bei forciertem Tempo 
des technischen Fortschritts iiberhaupt zweifelhaft wird (strukturelle Ar- 
beitslosigkeit'.). Dieses Kesultat bleibt auch bei Beriicksichtigung des zu- 
satzlichen Kredits und in der Wirtschaft vorhandener Reserven bestehen, 
mit deren Einfuhrung L, in die Gedankengange der Konjunkturlehre ein- 
biegt. Seine Arbeit, die mit der Forderung nach gesellschaftlicher Zugelung 
des technischen Fortschritts schlieBt, bringt die Theorie der Arbeitslosigkeit 
urn ein gutes Stuck vorwarts. Kurt Mandelbauna (Frankfurt a. M.). 

Wagemann, Ernst, Struktur und Rhythmus der Weltwirtschaft. Beimar 
Hobbing. Berlin 1931. (XXVI u. 414 S.; br. BM. 18.—, geb. BM. 20.— ) 
„Die Gesamtheit der verkehrsverbundenen Volkswirtschaften" steht 

in verschiedener „Organisationsform" auf verschiedener „Intensitatsstufe". 



238 Besprechungen 

In funktionaler Wechselwirkung mit der Bevolkerungsdichte und Boden- 
kapazitat sind die Intensitatsstufen vor allem charakterisiert durch Quantitat 
und Qualitat der produzierten Produktionsmittel. Produktivitat, Selbst- 
versorgung, Export -Import-Dependenz und Krisenfestigkeit sind natiir- 
lich aufs starkste durch die jeweilige Stufe bestimmt. Die Organisations - 
formen aber sind nicht wie die Intensitatsstufen das technisch-okonomische, 
sondern das rechtlich-okonomische Fundamentaldatum. Als fiir unsere 
kapitalistische Gegenwart relevant unterscheidet W. idealtypisch freie 
Ertrags- und Bedarfswirtschaft wie gebundene Ertrags- und Bedarfswirt- 
schaft. Real sind diese 4 Typen beispielsweise reprasentiert durch: 1. den 
Hauptteil der agrarischen Marktwirtschaft Europas von 1850 wie der kolo- 
nialen Agrarwirtschaft von 1930, die beide „in der Hauptsache darauf aus 
sind, den Konsum durch den Markttausoh zu erganzen", 2. jene scharf 
kalkulierende liberal -biirgerliche Profitwirtschaft, welche protektionistisch 
immer mehr modifiziert den 3. Typus vorbereitete — die neomerkantilistisch 
von Zollen ummauerte und auch sonst staatlich subventionierte, durch- 
kartellierte und vertrustete Profitwirtschaft mit ihrer zwangslaufigen Wen- 
dung zum reinen „Unternehmerstaat" des Faschismus. Der 4. Typus, 
obgleich wie der 3. gebunden, ist „der starkste Gegenpol des Faschismus": 
der Bolschewismus, der im Prinzip „einen reinen Arbeiterstaat begriindet" 
und als einzige Organisationsform es verstanden hat, „der Krise auszu- 
weichen*'. Diese 4 Organisationsformen ergeben zusammen mit den jeweiligen 
Intensitatsstufen — die keine Entwicklungsstufen zu sein brauchen — 
4 Wirtschaftssysteme, von denen jedes im geographischen Neben- und 
historischen Nacheinander grundverschiedene Wirtschaftsstrukturen auf- 
weist. Und wie zuvor schon in der „Konjunkturlehre" unterscheidet W. 
diese Wirtschaftssysteme oder Kealtypen als Nicht-, Halb-, Neu- und Hoch- 
kapitalismus. 

Die ganze Krisentheorie W.s ist Konjunktur-Strukturtheorie. „Wie 
sehr die unorganische Systemmischung inner halb der Weltwirtschaft und 
schon innerhalb der Volkswirtschaften die Uberwiiidung der Krisen er- 
schwert", diese Feststellung bildet ein Hauptergebnis seiner Betrachtungen. 
,,Die ganze Wucht der krisenhaften Erschutterungen konzentriert sich auf 
den Bezirk der wirklich frei beweglichen Wirtschaftselemente", da „iso- 
lierte Regulierungen einzelner Wirtschaftsvorgange Storungen auf den 
Nachbargebieten keineswegs verhindern, sondern im Gegenteil oft erst 
hervorrufen oder verstarken". Mischsysteme sind am krisenanfalligsten. 
W. fordert eine Lehre der weltwirtschaftlichen Dynamik und erarbeitet 
durch seine Fragestellung, durch sein Tatsachenmaterial, durch den klaren 
tjberblick der Konjunkturlinien bis zum Weltkrieg, die knappe Beschrei- 
bung der Systemumbildung und der Konjunktur nach 1919 ein Stuck rea- 
listischer Okonomie. Es ist schon deshalb eines der wichtigsten okonomischen 
Biicher aus den letzten Jahren. Die Kausalanalyse der gegenwartigen 
Krise aber macht es zu einem besonders interessanten und aktuellen 
Werk. 

Heinrich Ritzmann (Frankfurt a. M.). 



Okonomie 239 

Mitchell, Wesley C, Der Konjunkturzyklus. Problem und Problemstel- 

lung. Nach der vom Verf. durchges. u. erg. Originalausgabe hrsg. v. Fug en 
Altschul. Hans Buske. Leipzig 1931. (XVIII u. 487 S.; br.BM.26.—, 
geb. RM. 28.—) 

Die Herausgabe des Mitchellschen Werkes in deutscher Sprache, das 
in der ersten Auflage vom Jahre 1913 wegweisend fxir eine zugleich theore- 
tische und realistische Konjunkturforschung war und in der der Ubersetzung 
zugrundeliegenden 5. Auflage bedeutend erweitert und vertieft wurde, ist 
ein nicht zu unterschatzendes Verdienst von E. Altschul, dem Leiter des 
Frankfurter Konjunkturinstituts. tlber den Irihalt des Buches selbst, das 
in einem 2. Bande, der die Sachprobleme der Theorie behandelt, foftgesetzt 
werden soil, braucht angesichts seiner internationalen Anerkennung als 
Standardwerk der Konjunkturforschung kaum etwas gesagt zu werden. Es 
enthalt einleitend einen Uberblick iiber die gangigen Konjunkturtheorien 
und eine Darstellung des Zusammenhangs zwischen Wirtschaftsverfassung 
und Konjunkturablauf. Sein Schwergewicht liegt jedoeh in der Analyse 
der Methoden der Konjunkturstatistik, ihrer Durchfuhrung am konkreten 
Material und der Aufdeckung der Grenzen ihrer Anwendung. Den AbschluB 
bildet ein Resume der „ Business Annals'', d. h. eine Untersuchung der 
Konjunkturintensitat und -dauer in verschiedenen historischen Epochen 
fur fast alle Lander. — Die Ubersetzung hat die grofien Schwierigkeiten, 
die durch den z. T. recht knappen Stil und die Vielzahl von terminis technieis 
entstanden, geschickt iiber wunden und vermittelt dem Leser in leicht faB- 
licher Sprache ein klaresBild iiber den Stand der amerikanischen Konjunktur- 
forschung. Zu den Arbeiten von Wagemann, die vornehmlich die deutsche 
Entwicklung beriicksichtigen, diirfte die Altschulsche Ausgabe des Mitchell- 
schen Werkes mit ihren zahlreichen statistischen und graphischen Dar- 
stellungen amerikanischen Materials und ihren umfangreichen Literatur- 
hinweisen eine wertvolle Erganzung bilden. 

Fritz Burchardt (Frankfurt a. M.), 

Probleme der Wertlehre. Hrsg. v. Ludwig Mises und Arthur Spiethoff. 
Erster Teil. Beitrdge von V. Furlan, Friedrich v. Gottl-Ottilienfeld, Wil- 
helm Kromphardt, Robert Liefmann, Ludwig Mises, Oskar Morgenstern, 
Franz Opperiheimer, Othmar Spann, Wilhelm Vleugels, Hans Zeisl. — 
Schriften des Vereins filr Sozialpolitik t 183/1. Duncker & Humblot. Miln- 
chen u. Leipzig 1931. (295 S.) 

Man wird von einem Unternehmen, das um der Klarung der werttheo- 
retischen Standpunkte willen den Vertretern der verschiedenen Lehrmei- 
nungen das Wort gibt, nicht erwarten dtirfen, daB es viele vorwartsweisende 
Gesichtspunkte zutage fordert. Umso mehr sei aus der Reihe der Beitrage 
der Aufsatz von Oskar Morgenstern iiber „Die drei Grundtypen der 
Theorie des subjektiven Wertes" hervorgehoben, weil hier deutlicher als 
es bisher geschehen ist, die fundamentalen tibereinstimmungen zwischen 
der osterreichischen, der Lausanner und der ^angloamerikanischen Variante 
der Grenznutzenlehre herausgearbeitet sind. — Als grundsatzlich liberale 
Theorie wird die Grenznutzenlehre in zwei Aufsatzen von Mises vorgetragen. 



240 Besprechungen 

Seine Darlegungen unterliegen jedoch dem Einwand Hans Zeisls, der mit 
Recht darauf hinweist, dafi die subjektive Theorie iiber die ZweckmaBigkeit 
von Interventionen, die auf „Datenanderungen" abzielen, nichts aussagen 
kann. — Die Arbeitswertlehre kommt in diesem Band nur durch Oppen- 
heimer zur Geltung. Denn auch Zeisl, der in seinem Beitrag iiber „Marxis- 
mus und subjektive Theorie" die tJberlegenheit des Marxschen Stand- 
punktes verficht, beschreibt den Preismechanismus mit den Denkmitteln 
der Grenznutzenlehre ; aber er bestreitet die Fruchtbarkeit der durch die 
moderne Theorie vorgenommenen Einschrankung des Sachgebietes der Wirt- 
schaft auf die Preisgesetze, weil bei solchem Vorgehen alle Prozesse 
unerklart blieben, durch die sich im Gefolge der Wirtschaftshandlungen 
die Struktur der Gesellschaft und damit die Daten der Preisbildung andern. 
■ — Die Aufsatze von Kromphardt und Vleugels befassen sich kritisch 
mit den Gedankengangen, die der Ablehnung der Wertlehre zugrunde liegen. 

Kurt Mandelbaum (Frankfurt a. M.). 

Der Internationale Kapitalismus und die Krise. Festschrift fiir Julius Wolf 

zum 20. April 1932. Ferdinand Enke. Stuttgart 1932. (383 S.; 6r. EM. 

12.—, geb. EM. 14.40) 

Die Autoren, die an dieser Festschrift zum 70. Geburtstag J. Wolfs mit- 
gearbeitet haben, gehen an die okonomischen und zum Teil auch politischen 
Probleme der Gegenwart von verschiedenen Seiten heran. Einige Aufsatze 
haben die Weltwirtschaftskrise unmittelbar zum Gegenstand. Eine Auf- 
klarung iiber ihre Entstehungsgrunde versucht aller dings nur Englis, ohne 
mit seinem Hinweis auf die Geldaufwertung als Krisenursache sehr in die 
Tiefe zu gehen. Ebensowenig kann Mises befriedigen, der unter dem Titel 
,,Die Legende vom Versagen des Kapitalismus" in bekannter Weise gegen 
Interventionismus und Etatismus Anklage erhebt. Eine viel realistischere 
Deutung der staatlichen Eingriffe in die Wirtschaft bietet demgegeniiber der 
Beitrag „Ne laissez pas aller!" von Eul en berg, der die wirtschaft spolitischen 
MaBnahmen des Staates nach ihren verschiedenartigen Aufgaben und Wir- 
kungen differenziert. Eine Reihe von Mitarbeitern macht Vorschlage zur 
tTberwindung oder Linderung der Krise. Dal berg befvirwortet in seinem 
Bericht iiber ^England seit Aufgabe des Goldstandards" eine Nachahmnung 
des englischen Vorbilds. Julius Hirsch empfiehlt zur Teillosung der Arbeits- 
losenfrage die Griindung einer Selbsthilfeorganisation, die in Ausbau bereits 
vorhandener Ansatze (Frankfurter Erwerbslosenkiichen usw.) den Arbeits- 
losen ermoglichen soil, sich gegenseitig bei der Beschaffung der Emahrung, 
bei Ausbesserungsarbeiten an Kleidung, Wohnung usw. zu helfen. Der land- 
wirtschaftlichen Absatzkrise kann nach Laur durch MaCnahmen abgeholfen 
werden, die geeignet sind, die Verwandlung des Getreides in tierische Er- 
zeugnisse und den Verbrauch von Fleisch und Molkereiprodukten zu fordern. 
Elsa Gasser-Pfau setzt sich fiir eine international Aktion zur Liquidierung 
der tJbervorrate ein : die Vorratsiiberschusse an Lebensmitteln sollen zu sehr 
mafiigen Preisen an Arbeitslose verteilt, die Rohstoffvorrate in ahnlicher 
Weise zur Verarbeitung gebracht werden. 

Ein Sonderabschnitt der Festschrift ist den Problemen der einzelnen 
Volkswirtschaften gewidmet. tTber ein Teilgebiet der deutschen Wirtschaft, 



Okonomie 241 

den deutschen Maschinenexport, instruiert Hans Kroner. Die Sonder- 
stellung Fr ankreichs wird unter verschiedenen Aspekten von U n g e r n - 
Sternberg, Gottfried Salomon und Gotz Briefs beleuchtet. Ein Aufsatz 
Cleinows uber „Klassenbildung im Sowjetstaat" berichtet vornehmlich 
tiber das Verkiimmern des Sowjetgedankens und das Erstarken der Biiro- 
kratie. Hermann Levy behandelt den Aufstieg der fernostlichen GroB- 
industrie mid die Konkurrenzverhaltnisse auf diesen Markten. tJber die 
politisehen Spannungen im fernen Osten und den pazifischen Gebieten 
orientieren Otte und Grabowski. 

Eine Erscheinung, die sich in der Mehrzahl der groBen Lander gelt end 
macht, ist der Geburtenriickgang, der — wie Burgdorfer fur Deutschland 
feststellt — entgegen der Annahme der „ Wohlstandstheorie" bei den breiten 
Massen vielfach in noch starkerem MaBe auftritt als bei den Wohlhabenden. 
Als einer voraussichtlichen Folge der zu erwartenden Bevolkerungsst agnation 
vor allem in Europa rechnet Sartorius von Waltershausen mit einem 
quotenweisen Zuriickweichen des westlichen Europa im Welthandel. Den 
EinfluB des Geburtenriickgangs auf die Wanderungsbewegung behandelt 
Ferenczi. Zum SchluB sei bemerkt, daB auch Karl Kautsky, ein alter 
Gegner Julius Wolfs, mit einem Aufsatz iiber „Die Fabel von der Natur- 
notwendigkeit des Krieges" an der Festschrift mitgearbeitet hat; er setzt 
sich mit Rudolf Steinmetz, Sigmund Freud und Oswald Spengler ausein- 
ander. Kurt Mandelbaum (Frankfurt a. M.) 

Marx, Earl, „Das Kapital", Kritik der politisehen Okonomie, 1. Bd., neu 

herausgegeben und mit einem Geleitwort von Karl Korsch. Gustav Kiepen- 

heuer. Berlin 1932. (768 S., geb. RM. 2,85) 

Korsch hat sich die Aufgabe gestellt, eine „zugleich treue und fiir jeder- 
mann lesbare Ausgabe des Marxschen Kapitals" zu besorgen. Die druck- 
technisch einwandfreie, handliche und erstaunlich billige Neuausgabe hat den 
besonderen Vorzug, daB darin alles getan ist, um dem Nichtfachmann die 
Lektiire zu erleichtern: alle fremdsprachlichen Zitate sind iibersetzt, die 
anglizistischen Eigentumlichkeiten des Marxschen Stils ins Deutsche iiber - 
tragen, Stichworte am Kopf jeder Seite erleichtern die Orientierung, FuB- 
noten, die fiir den heutigen Leser belanglos sind, wurden gekiirzt oder ganz 
weggelassen, und am SchluB finden sich ausreichende biographische Notizen 
iiber alle wichtigen Eigennamen, eine Auffuhrung der zitierten Werke und 
ein Fremdworterverzeichnis. Diese bedeutende herausgeberische Leistung 
darf trotz gelegentlicher Irrtiimer als gegliickt gelten, der Herausgeber hat 
die grofie Schwierigkeit, bei allem Bemiihen um Popular isierung eine mog- 
lichst treue Wiedergabe des Originals zu geben, mit Erfolg gelost. 

Die besondere Note dieser Ausgabe liegt darin, daB sie eine Wiedergabe 
der zweiten, noch von M. allein besorgten deutschen Auflage des „Kapitals (t 
von 1872 darstellt. Die spater erschienene franzosische Ausgabe, die von M. 
durchgesehen worden ist und zahlreiche Zusatze und vereinfachte Ausdriicke 
enthalt, ist von K. ,,nur in solchen Fallen beriicksichtigt, wo dadurch der 
streng wissenschaftliche Aufbau und die kiinstlerische Geschlossenheit" der 
vorhergegangenen deutschen Ausgabe nicht gestort wurde. Allerdings 
konnen uns die K.schen Argumente fiir die tJberlegenheit der 2. Auflage des 



242 Besprechungen 

M.schen Werkes gegeniiber den spateren "UTierarbeitungen von Marx und 
Engels bzw. Kautsky und Rjasanov, nicht ganz da von uberzeugen, ob es 
nicht doch richtiger gewesen ware, eine spatere Ausgabe zugrunde zu legen. 
Jedoch sind die Unterschiede der verschiedenen Ausgaben nicht so bedeutend, 
daB durch die Bedenken gegen die Wahl der 2. Auflage der Wert des vor- 
liegenden Buches als popularer Fassung des Werks geschmalert wiirde. 

A. F. Westermann (Frankfurt a. M.). 

Hoffmann, Walther, Stadien und Typen der Industrialisierung. 

Ein Beitrag zur quantitativen Analyse historischer Wirtschaftsprozesse. 

Gustav Fischer. J e na 1931. (VII u. 190 S.; RM. 9.—) 

Hoffmann hat sich zur Aufgabe gesetzt, die Industriewirtschaften der 
wichtigeren und dank ihrem statistischen Material erfafibaren Lander in- 
haltlich nach ihrem Entwicklungsgrad miteinander zu vergleichen und ihr 
Wachstumstempo zu erfassen. Er muB zu diesem Zweck typische Gestal- 
tungen des industriewirtschaftlichen Aufbaus herausarbeiten, die einen 
Vergleich in raumlicher wie zeitlicher Hinsicht ermoglichen. Ein brauch- 
bares Strukturkriterium bietet nach den theoretischen Uberlegungen des 
ersten Teils das GroBenverhaltnis zwischen Konsumgut- und Kapital- 
gutindustrien. Da sich diese Relation im Laufe der Entwicklung derart 
verschiebt, daB die anfangliche Vorherrschaft der Konsumgutindustrien 
kontinuierlich zugunsten der Kapitalgutindustrien zuriickgeht, ist es mog- 
lich, den EntwicklungsprozeB in Stadien zu zerlegen, die durch typische 
GroBenordnungen der beiden Produktionsabteilungen gekennzeichnet sind 
und deren Abfolgecharakter dadurch hervorgehoben werden kann, daB die 
aus dem Material gewonnenen Durchschnittstypen in der Richtung der 
Abnahme der Konsumgutindustrien mit dem Index des 1., 2., 3. . . . Sta- 
diums der Industrialisierung versehen werden. Die auf solche Weise mar- 
kierte Entwicklung ist jeweils von einzelnen Industrien getragen, so daB 
weiterhin die Frage erhoben werden kann, von welcher Art diejenigen Bran- 
chen sind, die den groBten Anted an der Strukturanderung haben. Von 
diesem Gesichtspunkt aus lassen sich Typen der Industriewirtschaft nach 
dem Merkmal der jeweils vorherrschenden Einzelindustrie bilden. 

Infolge der Gegenlaufigkeit der beiden groBen Produktionsabteilungen 
miissen Industrielander gleichen Alters ahnliche Strukturen aufweisen bzw. 
rmissen die einzelnen Volkswirtschaften in jedem Zeitpunkt einen verschie- 
denen Aufbau zeigen, da sie nacheinander zum Industriekapitalismus iiber- 
gegangen sind. Die vergleichende Gegenuberstellung der raumlich getrennten 
Wirtschaftsgebiete macht demnach eine zeitliche Fixierung des Industriali- 
sierungsbeginns erforderlich. H. unterscheidet vier groBe Perioden, die 
ungefahr durch die Jahre 1770—1820, 1820—1860, 1860—1890 und 1890 
bis zur Gegenwart abgegrenzt sind: in jeder dieser Perioden machen andere 
Lander den Ansatz zur Industrialisierung. 

Im Interesse der Uberschaubarkeit der Entwicklungsprozesse war H. 
zur Einfiihrung solcher Zasuren gezwungen. Ihre ZweckmaBigkeit erweist 
sich im Gang der Untersuchung, die bei aller vom Thema geforderten theo- 
retischen Zuspitzung doch immer dem Geschichtlichen gerecht bleibt, weil 
H. bei der Einordnung der einzelnen Industriewirtschaften jeweils die Fak- 



Okonomie 243 

toren beriicksichtigt, deren Wirksamkeit bei der Strukturgestaltung von 
EinfluB war und eventuell zu Abweichungen von den Durchschnittstypen 
gefiihrt hat. KurtMandelbaum (Frankfurt a. M.). 

The New Survey of London Life and Labour. Vol. I: Forty years of 
change. Vol. II: London Industries. King. London 1930 u. 1931. 
(I: XVI u. 438 S., II: VIII u. 492 S.) 

Der vorliegende Band bildet die Einleitung zu einer Buchreihe, in der 
die Ergebnisse der gegenwartigen Enquete iiber die Lebens- und Arbeits- 
verhaltnisse der Londoner Bevblkerung niedergelegt werden sollen. Diese 
Enquete wird unter der Leitung von Sir Hubert Llewellyn Smith von der 
London School of Economics aus unternommen und ist eine Erneuerung 
der groflen Untersuchung, welche Charles Booth in den Jahren 1886 — 1903 
durchfiihrte. B. unternahm seine Arbeit zu einer Zeit> in der die ersten 
sozialen Folgen der Erschiitterung der absoluten Vormachtstellung der eng- 
lischen Industrie wahrend des vorhergehenden Jahrzehnts sich deutlich fuhl- 
bar gemacht hatten und in der es daher notig war, sich zum erstenmal mit 
den groBen sozialen Problemen der Arbeitslosigkeit und der ,,Armut" im 
allgemeinen ernstlich auseinanderzusetzen. Das fast vollige Fehlen jed- 
weden statistischen Materials brachte es mit sich, dafi B. seine Hauptarbeit 
gerade in der Losung des Problems der Zahlen, des Verhaltnisses der 
„armen" Bevblkerung zur Gesamtbevolkerung und der Definition der 
,,Armut" sah. Das Ergebnis war ein auBerst detailliertes Bild der Lon- 
doner Lebensverhaltnisse wahrend der letzten Jahre des 19. Jahrhunderts, 
ein Bild, das jedoch bei aller Warme und Lebendigkeit des beschreibenden 
Details ganz bewufit ein rein statisches war. 

Die neue Untersuchung hat von B. im wesentlichen die Fragestellung 
ubernommen, d. h. sie bewegt sich ausschliefilich im Kahmen einer stati- 
stischen Problemstellung, und sie wird ein wesentlich statisches Bild der 
Verhaltnisse 40 Jahre nach B. geben. Der erste Band nun hat die Aufgabe, 
als Einleitung zu der neuen Serie die Verbindung mit B. herzustellen, und 
befaBt sich daher mit den Veranderungen der statistisch erfafiten Lebens- 
verhaltnisse der Londoner Bevblkerung wahrend der letzten 40 Jahre, die 
besonders unter den folgenden Gesichtspunkten behandelt werden : Lebens- 
kosten; Geld- und Reallbhne und Arbeitszeit; Mieten und XJbervblkerung; 
Gesundheit; Schulwesen; Arbeitslosigkeit und ihre Behandlung; Armenfur- 
sorge; Verbrechen. 

Aus dem Charakter dieses Bandes als Einfuhrung zu dem Gesamtwerk 
ergibt sich die Tatsache, daB die Resultate zunachst als vorlaufige anzu- 
sehen sind, die durch die eigentliche Untersuchung erst ihre Bestatigung 
oder, wo nbtig, Korrektur erhalten werden. Bei der Bewertung der Ergeb- 
nisse selbst ist die zeitliche Begrenzung zu beriicksichtigen. Notwendiger- 
weise muBte bei dem vorliegenden Band das Jahr 1928 in der Hauptsache 
als Endpunkt der statistischen Serien genommen werden, d. h. ein Jahr 
der verhaltnismaBigen Hochkonjunktur, in dem vor allem die Londoner 
Industrien noch nicht von der jetzt sehr tiefgreifenden Krise der englischen 
Wirtschaft erfaBt waren. Es folgt die Notwendigkeit, diesen Faktor in Rech- 



244 Besprechungen 

nung zu ziehen, wenn man aus den dargelegten Verhaltnissen ein Bild der 
heutigen Zustande gewinnen will. 

Der zweite Band enthalt den ersten Teil der industriellen (im Gegensatz 
zur sozialen) Serie der Beschreibungen. Bauindustrie, Metall- und Maschinen- 
industrie, Holz- und Mobelindustrie, Bekleidungsindustrie, Schuhfabrikation 
und -reparatur, Hafenarbeit und endlich private Dienstbotenarbeit fiillen die 
fast 500 Seiten dieses Bandes. Struktur der Industrie, Form und Einflufi so- 
wohl der Arbeitgeber- wie der Arbeitnehmerorganisationen, Einflufi der 
Mechanisierung auf die Arbeitertypen, Lohne und Form der Entlohnung, 
Arbeitslosigkeit usw. werden eingehend beschrieben. 

Das Resultat ist ein uberaus reichhaltiges Mosaik von Details, aus dem 
als grofie Linie im Vergleich zu den Verhaltnissen, die Booth beschrieb, 
der Eindruck eines sehr langsamen Wandels mit zahem Festhalten an traditio- 
nellen Formen und besonders auch an der kleinen Werkeinheit hervortritt. 
Bei 21000 Londoner Arbeitgebern mit 10 oder mehr versicherten Arbeit - 
nehmern war die durchschnittliche Arbeitnehmerzahl im Jahre 1930 66; 
die Halfte dieser Arbeitgeber beschaftigt weniger als 25 Arbeiter, drei Viertel 
weniger als 50, neun Zehntel weniger als 100 — nur 34 Unternehmer in 
Grofi -London beschaftigen je mehr als 2000 versicherte Arbeitnehmer ! 

Dafi dieser Eindruck einer fast an Stagnation grenzenden Langsamkeit 
vorwiegt, mag zu einem gewissen Teil an der vorwiegend statischen Natur 
der Enquete liegen, auf die wir oben hinwiesen, wichtiger aber ist die Tat- 
sache, dafi die Symptome eines radikalen Wandels erst jetzt, seit der voile 
Einflufi der Krise sich durchsetzt, klarer zu Tage treten, wahrend die Haupt- 
arbeit fur diese Beschreibungen vor und wahrend der ersten Periode der 
Krise geleistet wurde. Diese Tatsache erklart auch die recht optimistische 
Charakterisierung des Lohnniveaus in diesem Bande — denn die Haupt- 
of fensive des Unternehmertums in dieser Hinsicht setzte in London erst vor 
kurzem voll ein. 

Im grofien und ganzen steht die — man mochte sagen — akademische Ruhe 
und Distanz der Beschreibung — nur im „Dienstbotenproblem" scheint 
die Warme der personlichen Beziehung gegeben zu sein — in eigentumlichem 
Gegensatz zu der unerhorten Spannung und dem Kampf der Widerspriiche, 
der die Dynamik der wirtschaftlichen Entwicklung ausmacht. 

F. D. Klingender (London). 

Laidler, Harry W., Concentration of Control in American Industry. 

CrowcllCo. New York 1931. (XVI, 501 S.; $ 3.75) 

Der grofie Kampf, der in den Vereinigten Staaten von 1880 bis zum Be- 
ginn des Weltkrieges gegen die immer ubermachtiger werdende Kapital- 
konzentration in Riesentrusts gefiihrt worden war, hatte damals die Aufmerk- 
samkeit der ganzen Welt auf diese Phase der kapitalistischen Entwicklung 
gelenkt. Und die wirklich durchgesetzte Anti-Trustgesetzgebung sowie 
das energische Vorgehen eigens geschaffener Stellen gegen eine Reihe der 
machtigsten dieser Wirtschaftsgiganten, vor allem gegen die Standard Oil 
Company, verleiteten weite Kreise zu dem Glauben, es ware tatsachlich 
moglich, das Gesetz der Konzentration des Kapitals durch gesetzliche Mafi- 
regeln zu vereiteln oder zumindest in seiner Wirksamkeit weitgehend ein- 



Okonomie 245 

zuschranken. Kam diesem Glauben doch die allgemein herrschende libera- 
listische Auffassung von der Notwendigkeit, ja sogar von der segensreichen 
Wirkung der Konkurrenz entgegen, eine Auffassung, die selbst durchaus 
ernst zu nehmende Wissenschaftler veranlaBte, das Gesetz der Konzentration 
entweder ganzlich zu leugnen oder seine Auswirkungen als Entartungs- 
erscheinungen der kapitalistischen Wirtschaft hinzustellen. 

Die Kriegswirtschaft und die protektionistische Wirtschaft der Nach- 
kriegszeit fiihrten jedoch einen Umschwung in der Ansicht der meisten Men- 
schen iiber die Frage des wirtschaf tlichen Liberalismus herbei ; die Zusammen- 
fassung der XJnternehmungen in Riesenkonzerne und Trusts, der „organi- 
sierte" Kapitalismus, wie erbesondersinEuropasichimmer starker entwickelte, 
stieB keineswegs auf eine liberalistische Massenstimmung und dement- 
spreehende Ablehnung, im Gegenteil, man sah in dieser Entwicklung das 
Heil, den Weg in eine bessere Zukunft., Mit Genugtuung, ja sogar mit Stolz 
verfolgte man allenthalben die standig zunehmende Konzentration des 
Kapitals, nirgends waren — zummdest vor der gegenwartigen Krise — An- 
zeichen fiir eine Antitruststimmung vorhanden, wie sie vor dem Krieg in 
den Vereinigten Staaten aufgetreten war. 

Die gegenwartig die Weltwirtschaft verheerende Krise brachte jedoch 
wieder einen Umschwung in der Stimmung der Volker und auch der Wissen- 
scha ft gegeniiber der Kapitalkonzentration ; immer lauter werden die 
Stimmen, die eben diesen „organisierten" Kapitalismus, diese Kapitalkon- 
zentration fiir die Dauer und sogar fiir die Entstehung der Krise mitverant- 
wortlich machen, und es scheint eine Antitruststimmung im Wachsen zu 
sein, die sich aber von der der Vorkriegszeit wesentlich in ihrer Motivierung 
unterscheidet. Denn lag dieser damals das liberalistische Denken zu- 
grunde, so muC heute die Triebfeder dieser Stimmung mehr in staatskapi- 
talistischen oder sozialpolitischen, jedenfalls aber in planwirtschaftlichen Ge- 
dankengangen gesucht werden. 

Angesichts dieser Umstande nimmt es nicht wunder, wenn sich die Wirt- 
schaf tsliteratur der letzten Jahre, die sich mit der Frage der Konzentration 
beschaftigte, mehr mit den europaischenVerhaltnissen befaBte, obwohl doch 
Amerika die Geburtsstatte der Trusts und dadurch auch der Ausgangspunkt 
der Bewegung zu ihrer Bekampfung gewesen war; scheint doch in Europa 
das liberalistische Denken in weit hoherem Grade erschiittert zu sein als in 
Amerika. So muBte es sich ergeben, da£ man iiber die Entwicklung der euro- 
paischen Wirtschaft und ihre Konzentration eigentlich besser unterrichtet 
wurde als iiber die der amerikanischen. 

L a i d I e r unternimmt nun in dem vorliegendem Buche den iiberaus dankens- 
werten Versuch, die Fortschritte, welche die Konzentration des Kapitals in 
den Vereinigten Staaten trotz aller gesetzlichen Hemmungen gemacht hat, 
aufzuzeigen. Mit ungeheurem Fleifi ist hier Material aus alien Zweigen der 
amerikanischen Wirtschaft zusammengetragen ; wir sehen, dafi das Konzen- 
trationsgesetz in der Rohstoff wirtschaft wie in der Kraft- und Verkehrs- 
wirtschaft, in der Fertigwarenindustrie wie in der Land wirtschaf t, im Handel 
wie in der Finanz entweder bereits zu starkster Vereinigung der Kontrolle 
iiber die betreffenden Wirtschaftszweige gefiihrt hat oder doch deutlich in 
dieser Richtung wirkt. 



246 Besprechungen 

Wir sehen aus diesem Buche deutlich, dafl der Kapitalismus in seiner 
Entwicklung durch gesetzliche Einschrankungen nicht aufgehalten werden 
kann, dafl er es verstanden hat, immer wieder Mittel und Wege zu finden, 
um trotz aller gesetzlichen Hindernisse doch zu einem Zusammenschlufi der 
Untemehmungen in den allerverschiedensten Formen zu gelangen. Ungemein 
interessant ist dabei die Feststellung Laidlers, daC hierbei die Frage des 
Besitzes der Untemehmungen nicht mehr die allein ausschlaggebende Rolle 
spielt ; die moderne Finanztechnik ermoglicht es, bereits mit verhaltnismaflig 
geringem Eigenkapital bedeutende Untemehmungen zu kontrollieren. 
Ebenso interessant ist Laidlers Hinweis auf die Bedeutung, die der immer 
haufiger werdenden Personalunion der Aufsiehtsrate in der Frage der Kon- 
zentration der Wirtschaft zukommt. 

Dafl der Sozialist Laidler in dieser Entwicklung eine voile Bestatigung der 
Lehre Marx' von dem Gesetz der Konzentration erblickt, ist selbst vers t and - 
lich, wenngleich er sich — beinahe zu angstlich — davor hutet, iiber die Dar- 
stellung der Tatsachen hinauszugehen und theoretische Betrachtungen iiber 
diese Frage anzustellen. Das Buch bleibt daher eine ganz ausgezeichnete 
und dankenswerte Sammlung von Material iiber Stand und Methoden der 
Kapitalkonzentration in den Vereinigten Staaten, und es bleibt nur zu hoffen, 
dafl Laidler uns nun bald auf der Grundlage dieses Buches ein weiteres 
geben wird, worin er sich audi theoretisch mit diesem Fragenkomplex aus- 
einandersetzt. 

Hans Adler (Berlin). 

Wood, Louis Aubrey, Union Management Cooperation on the Railroads. 
Yale University Press. New Haven 1931. ($ 4. — ) 

Wood beschreibt sorgfaltig und eingehend die vereinten Bemuhungen 
der Angestellten und Direktoren bei der Organisation des Arbeitsprozesses 
auf einigen der nordamerikanischen Eisenbahnen. Die ersten Kapitel 
schildern die rechtlichen Bestimmungen iiber Instandhaltung, die Arbeits- 
technik, die Aufgaben der Arbeiter, der Direktion und der Gewerkschaften. 
Dann folgt ein Bericht iiber den Ursprung und die Entwicklung der Zu- 
sammenarbeit. Zu den wertvolleren Kapiteln des Buches gehoren die iiber 
das jetzige Zusammenarbeiten von Gewerkschaften und Direktion, ins- 
besondere die drei Kapitel X — XII iiber die Vorschlage, die auf den gemein- 
samen Konferenzen behandelt werden: „Der normale Frozen tsatz von un- 
annehmbar befundenen Vorschlagen ist sehr niedrig." 

Das Interesse wird sich hauptsachlich auf den Teil des Buches konzen- 
trieren, der die Resultate behandelt. Die betreffenden Kapitel umfassen das 
Problem der Arbeitsfreude, die allgemeine Angleichung des Beschaftigungs- 
grades und die Teilung der Gewinne. W. erklart, dafl zur Zeit ,,die Gesell- 
schaften lukrativere Gewinne aus der Zusammenarbeit haben als die Leute", 
abermannigfaltige Vorteile scheinen auch den Arbeitern in bezug auf das Leben 
in der Werkstatt und die Sicherheit der Anstellung erwachsen zu sein. Die 
letzten Kapitel beschaftigen sich mit den Fragen des Lehrlingswesens, der 
Methoden der Lohnzahlung und der Ausbreitung der „ Union -Management - 
Cooperation" in anderen Industrien. 



Okonomie 247 

Eine oder zwei Liicken erscheinen in dem Buch. Es diirfte wertvoll sein, 
die Wirkung der Bewegung vom Standpunkt der Gewerkschaften zu be- 
trachten. Auch die Abschatzung und Verteilung der Gewinne bedarf noch 
der vergleichenden Betrachtung ahnlicher Betriebe. Trotz der propa- 
gandistischen Tendenzen des Verf. zugunsten der Bewegung sind alle rele- 
vanten Tatsachen in Betracht gezogen. Sein Buch berichtet zuverlassig iiber 
das Entstehen einer Methode der industriellen Beziehungen, die in Nord- 
amerika wachsenden Anklang findet. 

H. E. Chudleigh (Washington). 

Ritschl, Hans, Oemeinwirtschaft und kapitalistische Marktwirtschaft. 
I. C. B. Mohr. Tubingen 1931. (VIII u. 182 S.; br. RM. 6.—) 

Die neue Schrif t R i t s c h 1 s (mit der ich mich an anderer Stelle ausf uhrlicher 
auseinanderzusetzen gedenke) gilt dem Nachweise des dualistischen Charakters 
unserer heutigen Wirtschaftsordnung. Diese beruht, so lautet die Grundthese, 
,,auf der Herrschaft zweier Systeme, des gemeinwirtschaftlichen Sy- 
stems, das von der Staatswirtschaft getragen wird, und des Systems der 
kapitalistischen Marktwirtschaft, das von der Tauschgesellschaft 
getragen wird". 

Das Buch zerfallt in vier Abschnitte, deren erster einen „lehrgeschicht- 
lichen Uberblick" enthalt und nach einer kritischen Durchleuchtung der 
iiblicherweise behaupteten Unterschiede zwischen Staats- und Privatwirt- 
schaft einige neuere „Versuche der Erfassung der Staatswirtschaft unter dem 
Begriff eines gemeinwirtschaftlichen Systems" behandelt. Den Kern der 
Arbeit stellen die dann folgenden beiden Abschnitte dar, die die „Staats- 
wirtschaft als Gemeinwirtschaft" und die ,,Gemeinwirtschaf t als 
Staatswirtschaft" zu erfassen und zu deuten suchen. Zunachst wird der 
„gemeinwirtschaftliche" Charakter der Staatswirtschaft durch einen ein- 
gehenden Vergleich mit der Marktwirtschaft herausgearbeitet, und zwar 
werden die Wesenseigentiimlichkeiten der beiden Wirtschaftsformen an 
Hand einer Untersuchung der respektiven Arten der Gesellung, der Be- 
diirfnisse, der Gesinnung, der Wirtschaftsfiihrung, der Wirtschaftsstruktur 
und der Technik bestimmt. Der dritte Abschnitt der Arbeit gibt in der Haupt- 
sache einen klaren, systematischen Uberblick uber die ,,staatswirtschaft- 
lichen Gestaltungsf ormen der Gemeinwirtschaft", wobei der Verf. 
gewisse Gedankengange weiterfuhrt, die bereits in seinen fruheren Schriften 
angedeutet waren. Der SchluBteil zieht unter dem Titel: ,,Monistische 
oder dualistische Wirtschaftsordnung?" das Fazit aus den vorher- 
gehenden Untersuchungen. Es werden die Grenzen der beiden Wirtschafts- 
formen aufgewiesen und schlieGlich die „Umrisse einer werdenden neuen 
Ordnung" gezeichnet. Entsprechend seiner Grundanschauung, der gemafi 
ihm u. a. die soziale Frage ,,als eine seelische Frage der Einordnung in das 
entseelte Gefxige des Industrialismus" erscheint, setzt sich R. fiir Werks- 
und Siedlungsgemeinschaften u. dgl. ein — ubrigens in origineller Auffassung 
■ — , wahrend Korporativstaat und -wirtschaft abgelehnt werden. Erwahnt 
sei schlieClich noch, dafi in der „neuen Ordnung" fiir die privaten Monopol- 
unternehmungen eine eigenartige Form von „ Sozialisierung" vorgesehen ist. 



248 Besprechungen 

Eine Kritik dieses Buches, die an dieser Stelle, wie erwahnt, nicht mog- 
lich ist, hatte an erster Stelle an der R.schen Grundthese anzusetzen und zu 
untersuchen, ob der behauptete Dualismus zweier Wirtschaftssysteme uber- 
haupt sinnvoll gedacht werden kann. Des weiteren ware die Methode der 
Untersuchung einer naheren Betrachtung zu unterziehen. Wie mir scheint, 
ist der Verf . nicht der Gefahr entgangen, die Dinge vielfach nicht so zu sehen, 
wie sie sind, sondern wie sie nach R.s idealistischer und idealisierender Auf- 
fassung sein sollten. Besonders deutlich wird das bei den Darlegungen, 
die sich auf der R.schen Theorie des ,,Gemeinsinns" aufbauen, der das in 
der Staatswirtschaft ( = ,,Gemeinschaft" — im Gegensatz zur Marktwirt- 
schaft = „Gesellschaft") herrschende Gesinnungsprinzip darstellen soil. 

Da im iibrigen das neue Buch R.s — ebenso wie seine friiheren Schriften — 
sehr anregend und flussig geschrieben ist, wird es zweifellos auch von den- 
jenigen mit Nutzen gelesen werden, die, wie der Rezensent, der Methode und 
den Ergebnissen des Verf. groBenteils nicht zuzustimmen vermogen. 

Fritz Neumark (Frankfurt a. M.). 

Millner, Frederic, Economic Evolution in England. Macmillan & Co. 
London 1931. (XXII, 451 S.; geb. £ 0. 6. 6) 

Das Buch will eine allgemeinverstandliche zusammenfassende Darstel- 
lung der wirtschaftlichen Entwicklung Englands vom Beginn der Geschichte 
bis zur Gegenwart geben. Da es dem Verf. mehr auf eine Synopse als auf 
eine Bereicherung der Detailkenntnis ankommt, stiitzt er sich im wesent- 
lichen auf sekundare Quellen, deren Hauptwerke am SchluB jedes Kapitels 
angefiihrt werden. Ohne Festlegung auf eine bestimmte Geschichtsauffas- 
sung werden die Hauptlinien der okonomischen Entwicklung fiir vier groBe 
Epochen aufgezeigt — fur die Epoche vor der Eroberung, fiir das Mittel- 
alter, fiir das Zeitalter des Nationalisms und fiir die Moderne. Die Dar- 
stellung jeder Periode beginnt mit einem allgemeinen tJberblick und behandelt 
dann die verschiedenen Wirtschaftszweige. Dabei finden die allgemein- 
politischen Ereignisse, die Wandlungen in den wirtschaftspolitischen An- 
schauungen und die Entwicklung des okonomischen Gedankengutes ent- 
sprechende Beriicksichtigung. Das Schwergewicht des Werkes liegt natur- 
gemaB auf der Wirtschaftsentwicklung seit dem Mittelalter. 

Fiir die Neuzeit erweist sich das gewahlte Gliederungsschema als zu 
weitmaschig und erschwert durch fehlende Unterteilung den tlberblick. 
Auch wichtige Strukturen des englischen Aufstiegs im 19. Jahrhundert 
kommen dadurch nicht geniigend zum Ausdruck: die Stellung Englands 
als Weltbankier und Kapitalgeber, die Industrialisierung der auBereng- 
lischen Lander und ihre Riickwirkungen auf die Industriestruktur Englands, 
Aufbau und Gliederung des englischen Industriekorpers selbst, die wirt- 
schaftliche Bedeutung der Kolonien und andere Ziige englischer Wirtschafts- 
gestaltung treten nicht deutlich genug hervor oder sind gar nicht behandelt. 
Trotzdem wird man das materialreiche und konzentrierte Werk, das sehr 
schlicht und anspruchslos geschrieben ist, dem deutschen Leser als Ein- 
fiihrung in die englische Wirtschaftsgeschichte durchaus empfehlen konnen. 

Fritz Burchardt (Frankfurt a. M.). 



Okonomie 249 

Morandi, Rodolfo, Storia della grande industria in Italia (Geschichte 
der italienischen Grofiindustrie). Laterza. Bari 1931. (300 S.; L. 22. — ) ' 

Morandi hat die Entwicklung der italienischen Industrie skizziert imd 
dabei auch die politischen und gesellschaftlichen Ereignisse beriicksichtigt, 
die mit seinem Thema zusammenhangen. Im ersten Teil, der der Ent- 
stehung der Industrie zu Beginn des 19. Jahrhunderts gilt, schildert M. die 
schadlichen, lange Zeit fiihlbaren Wirkungen, die die auslandische Beherr- 
schung Italiens vor seiner Einigung hervorbrachte. Die Teilung in so viele 
kleine Staaten und damit die zahlreichen Zollgrenzen muBten sich ungiinstig 
auf die industrielle Entwicklung auswirken, vor alien Dingen auf die ersten 
schwachen Anfange der Seidenindustrie in der Lombardei. So war die 
italienische Industrie, verglichen mit der auslandischen um 1870, dem Datum 
der Einigung Italiens, sehr ruckstandig und beschrankt auf das nordliche 
Italien. M. fahrt dann in seiner Priifung fort, indem er die langsamen, aber 
bestandigen Fortschritte nach 1870 feststellt; er gibt ein genaues Entwick- 
lungsbild der verschiedenen Industriezweige bis zur Krise, die nach der 
Zollreform des Jahres 1887 eintrat. Im allgemeinen waren die Schwierig- 
keiten der Industrie bis zum Ende des 19. Jahrhunderts groft und die Lebens- 
bedingungen des Proletariats erschreckend : die Arbeitszeit betrug bei Hunger - 
lohnen bis zu 16 Stunden. Die Seiten, auf denen die Lage der Arbeiter ge- 
schildert wird, besonders die der Frauen und Kinder in den Fabriken des 
Nordens, sind besonders eindrucksvoll. Im zweiten Teil verfolgt M. Schritt 
fur Schritt die Fortschritte der verschiedenen Industrien vor und nach dem 
Kriege, der mit Recht als Ansporn fiir viele Industrien, z. B. die chemische, 
bewertet wird, die im vorausgehenden Jahrzehnt noch sehr unentwickelt 
waren. 

Die Darstellung ist immer klar und unparteiisch und fuBt auf soliden 
Daten. Urteilsfahigkeit und Verzicht auf billige Prophezeiungen zeigen sich 
vor allem bei der Abwagung der unvermeidlichen Konsequenzen der gegen- 
wartigen Krise. Am Ende des Buches hat der Leser ein exaktes Bild der 
Lage der italienischen Industrie, und darum ist das Werk M.s als eine ge- 
naue Einfuhrung in ein gegenwartig stark umstrittenes Gebiet zu empfehlen. 

Paolo Treves (Mailand). 

JStatistisches Jahrbuch fiir das Deutsche Reich 1931. Hrsg. vom Stati- 
stischen Reichsamt. R. Hobbing. Berlin 1931. (XL, 566 u. 190 S., Preis 
geb. RM. 6.80) 

Der vorliegende 50. Jahrgang des „Statistischen Jahrbuches" regt zu 
Vergleichen an: gleichviel ob man an die Ausgestaltung friiherer Bande 
oder an die analogen Veroffentlichungen des Auslands denkt: die Arbeit 
des Reichsamts vermag solche Vergleiche hochst ehrenvoll zu bestehen. 
Dem wachsenden Bediirfnis nach Statistik, besonders auf wirtschaftlich- 
sozialem Gebiet, ist das Jahrbuch stets rechtzeitig gefolgt. 

Der 50. Band bringt wieder in verschiedenen Abschnitten — ■ neben Er- 
ganzungen — Erweiterungen, so fiir die industrielle Produktions-, die Lohn-, 
dieUmsatz- und namentlich die Finanzstatistik. Aber auch die Bevolkerungs- 
statistik ist durch Neuaufnahme von Fruchtbarkeits-, Auf wuchszif fern u. dgl. 



250 Besprechungen 

mehr bereichert worden. Freilich ist auf dem Gebiete des Bevolkerungs- 
wesens dadurch eine bedauerliche Liicke entstanden, daB aus finanziellen 
Griinden eine neue Volks- und Berufszahlung unterblieben ist und infolge- 
dessen detaillierte Zahlen immer noeh nur fur 1925 vorliegen, obwohl sich 
seit diesem Jahre grundlegende Anderungen vollzogen haben, iiber die wir 
gegenwartig nur ziemlich unvollkommen unterrichtet sind. Sehr erwiinscht 
ware auch eine „Neuauflage'* der Wirtschaftsrechnungen, um den EinfluB 
der Konjunkturschwankungen auf die Kdnsumtion besser verfolgen zu 
konnen, als das an Hand von Ziffern iiber den Gesamtverbrauch einzelner, 
vorwiegend agrarischer Artikel jetzt moglich ist. Die besondere Pflege der 
Finanzstatistik (seit 1925), die neben offentlichen Einnahmen, insbesondere 
Steuern, und Ausgaben neuerdings auch die offentlichen Schulden umfaBt, 
hat vielfach iiber die fiskalisch bedeutsamen Fragestellungen hinaus volks- 
wirtschaftlich interessantes Material geliefert, so insbesondere iiber Ein- 
kommens-, Vermogens-, UmsatzgroBe und -zusammensetzung usw. Neu ist 
im vorliegenden Band die Statistik iiber das Volkseinkommen (S. 532/3), die 
wertvolle und z. T. ganz neue Aufschlusse iiber dessen Umfang und sachliche 
sowie regionale Vert ei lung bietet und auch fiir die Vorkriegszeit durchgefuhrt 
ist. — Die internationalen Ubersichten, die schon in den letzten Jahren aus- 
gebaut worden waren, haben eine weitere Ausgestaltung erfahren; sie be- 
treffen u. a. Bevolkerungswesen, Preise, AuBenhandel, gewerbliche Produktion, 
Finanzen, Lohne sowie Geld- und Kreditwesen. Einige graphische Dar- 
stellungen imAnhang erstrecken sich diesmal, wegen des Jubilaumscharakters 
des Bandes, auf langere Zeitraume (3 — 5 Jahrzehnte). 

Der Sozialforscher, der seine Wissenschaft als eine empirische auffafit, 
wird aus dem reichen Inhalt des Jahrbuchs viel Nutzen ziehen, wenngleich 
natiirlich dasselbe in manchen Fallen nur Ausgangspunkt fiir tiefergehende 
statistische Studien sein kann, die durch ein ausfiihrliches Quellenverzeichnis 
ubrigens wesentlich erleichtert werden. 

Fritz Neumark (Frankfurt a. M.). 

Belletristik. 

Britton, Lionel, Hunger and Love. Putnam. London 1931. (XI u. 705 8.; 

7 sh 6d) 

Brittons Buch ist die Geschichte eines ungewohnlich begabten englischen 
Proletarierjungen, der sich unter Entbehrungen ein groBes Wissen aneignet 
und dem der Weg vom Botenjungen im Griinkramladen zum Angestellten 
eines Antiquariats gelingt. Fast hat er den Aufstieg in die „middle class'* er- 
reicht, als der Krieg den innerlich Widerstrebenden zum Soldaten macht, 
der auf den flandrischen Schlachtfeldern schlieBlich den Tod findet. 

Britton kritisiert in der Form des Bildungsromans die kapitalistische 
Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. Seine Kritik richtet sich gegen die 
Verfalschung des Menschlichen, die von der Bourgeoisie zum Zweck der 
Machtgewinnung und Machterhaltung vorgenommen worden und der es 
zu verdanken sei, daB noch immer Hunger und Liebe die Triebkrafte und 
den Hauptinhalt des menschlichen Lebens bildeten.Nicht nur das Geschlechts- 



Belletristik 251 

leben des einzelnen und die wirtschaftliche Existenz der Millionen seien durch 
das biirgerlich-kapitalistische System in Fesseln geschlagen, auch das Geistes- 
leben sei vergif tet und der menschliche Fortschritt gehemmt : reiche Moglich- 
keiten des menschlichen Geistes blieben unausgeniitzt. Alle Wissenschaften, 
alle Kiinste erlagen der bourgeoisen Ideologie, die in der „Idee des Boman- 
tischen" die V^rfalschung der Wirklichkeit auf die Spitze treibe. „ Bour- 
geois influence spreads through the race body like a cancer." „Human and 
^Bourgeois' are mutually exclusive terms". 

B.s Kritik geht nicht nur von okonomischen, soziologischen und 
^thischen Gesichtspunkten aus, sondern von einer besonderen Idee des 
Menschlichen, die in der Gesellschaft einen dem menschlichen Korper 
ahnlichen Organismus sieht. B. fafit die Entwicklung der mensch- 
lichen Rasse als einen organischen ProzeB zum Sozialismus hin. , Nach Uber- 
wiridung des Individualismus werden durch Assoziation und Kooperation 
aller Glieder der menschlichen Gesellschaft die natiirlichen kosmischen 
Energien fiir eine kollektive Entfaltung der Zivilisation, des seiner selbst 
bewuBt werdenden und iiber das Endliche hinausstrebenden menschlichen 
Geistes freigesetzt. 

B.s Gesellschaftskritik bietet in den an sich gut gesehenen Einzel- 
beobachtungen, so vor allem des sozialen Milieus der Angestellten, nicht 
wesentlich Neues. Seine Gedanken iiber die Neuordnung der Gesellschaft, 
die in einer Art organischer Planwirtschaft gipfeln, sind zu sehr als Impres- 
sionen wiedergegeben, urn systematischer Prtifung zuganglich zu sein, am 
besten lieflen sie sich vielleicht als „kosmischer" Sozialismus charakteri- 
sieren. Der Originalitat dieser Ausfuhrungen entspricht die Form des Buches, 
die die Schilderung fast ganz in Selbstgesprache des Helden und Zwie- 
gesprache zwischen Autor und Held auflost und stilistisch vielfach einen 
Stichwort-Expressionismus bevorzugt. Bert a Asch (Berlin). 

J3hrhardt, Justus, Strafien ohne Ende. Agis-Verlag. Berlin-Wien 1931. 

(256 S.; geb. RM. 3.75, hart. RM. 2.85) 

Ehrhardt zeigt in belletristischer Form, wie ein Berliner Prole tarierjunge 
Allmahlich auf Abwege gerat, in eine Fursorgeerziehungsanstalt gebracht 
wird und nun, im Verein mit einem verantwortungsbewuflten Fursorger, ver- 
gebliche Versuche unternimmt, dieser „Maschine" Fiirsorgeerziehung durch 
den Nachweis einer ordentlichen Lebensfiihrung wieder zu entrinnen. Weil 
dies nicht gelingt, gibt der Junge den Kampf auf und schlieCt sich endgiiltig 
<lenen an, welche ohne Hoffnung auf eine andere Gestaltung ihrer Lebensver- 
haltnisse auf jenen Straflen wandern, die immer wieder einmal in eine Er- 
ziehungsanstalt oder ein Gefangnis fiihren. Was dieses Buch bedeutungsvoll 
macht, ist, daB der Verf asser, der seit vielen Jahren in vorderster Front der 
Fursorgeerziehungsarbeit steht, in ,,verdichteter" Form an einem Einzel- 
beispiel zeigt, was in Wirklichkeit das Geschick vieler Tausender ist. Damit 
aber weist er darauf hin, dafi es sich sowohl hinsichtlich der Verwahrlosung 
und ihrer Entstehungsursachen als auch hinsichtlich der Fiirsorgeerziehung 
um gesellschaftliche Probleme handelt, die nur im Zusammenhang mit 
anderen Fragen des gesellschaft lichen Lebens einer befriedigenden Losung 
«ntgegengefiihrt werden konnen. Gerhard Schie (Berlin). 



252 Besprechungen 

Frank, Leonhard, Von drei Millionen Drei. 3. Fischer. Berlin 1932. 
(224 S.; RM. 5.—) 

Eine soziologisch bemerkenswerte Tatsache : das Kollektivschicksal der 
Arbeitslosigkeit, das seit JahrenDeutschland, ja die ganze Welt iiberschattet, 
hat vorher keinem Dichter als Vorwurf zu einer Arbeit gedient. Leonhard 
Frank schrieb den ersten Arbeitslosenroman. Drei aus dem Millionenheer 
der Hungernden erleben die Verwirklichung eines Wunschtraumes. Durch 
einen unglaubhaften Zufall kommen sie in den Besitz von zweitausend Mark, 
die ihnen die ersehnte Auswanderung nach Sudamerika ermoglichen ; driiben 
erleben sie eine kurze marchenhafte Zeit ohne Not und Kummer. Aber die 
Arbeitslosigkeit folgt ihnen iibers Meer, nach Verwicklung in einen Auf- 
stand werden zwei von ihnen — der dritte ist gestorben — wieder nach 
Deutschland abgeschoben. Hier gehen sie mit funf Millionen, an Korper 
und Geist krank, dem Hungertod entgegen, wenn nicht vorher der Selbst- 
mord dem unsaglichen Leid ein Ende bereitet. 

F. schildert erschiitternd den hoffnungslosen Kampf um Arbeit und 
Brot. Und wenn auch der marchenhafte Erwerb des Reisegeldes, die gluck- 
liche Zeit in Sudamerika und die abenteuerliche Heimreise als romantisch- 
bunte Ausschmiickung der grauen Elendsfabel anmuten, so hat doch dieser 
Handlungsablauf einen tief eren Sinn : der aus dem ProduktionsprozeB 
Ausgestofiene findet den Riickweg zur Arbeit endgiiltig verschlossen. 

Ludwig Carls (Berlin). 

Reger, Erik, Union der festen Hand, Ernst JRowohlt. Berlin 19 SI. (587 S.; 
br. RM. 6.50, geb. RM. 8.50) 

„Man lasse sich nicht dadurch tauschen, daB dieses Buch auf dem Titel- 
blatt als Roman bezeichnet wird", so beginnt zwar der Verfasser die ein- 
leitende ^Gebrauchsanweisung'*. Aber durch die trotzdem vorhandene 
Intention, ein romanahnliches Gebilde zu schaffen, wird der Nutzwert der 
Arbeit wesentlich vermindert, obwohl sie immer noch durch die Fulle des 
interessanten Materials fruchtbar und instruktiv ist. Sie umfaBt eine er- 
schopfende Wirtschaftsgeschichte des Ruhrgebietes seit dem Kriege, die Ent- 
wicklung der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung, der Lohn- und Sozial- 
politik des Unternehmerverbandes, die XJmstellung und Ausdehnung der 
Schwerindustrie seit 1918, die Revolution und den Kapp-Putsch. Eine 
objektive okonomisch-soziologische Reportage hatte aber die sehr genauen 
Kenntnisse des Verf assers besser ubermittelt als dieser schon wegen seiner 
Sprache schwer lesbare Roman, der die Berichte in eine langweilige Fabel 
von belanglosen Einzelschicksalen einzwangt. Die Schilderungen der schwer - 
industriellen Unternehmungen, ihrer sozialpolitischen Machtkampfe und 
ihrer hierarchischen Betriebsverhaltnisse, die getreue Wiedergabe von unter- 
nehmerischen Reden und Aufierungen und manches andere Detail machen 
das Buch zu einer fiir den Soziologen wertvollen Sammlung historischen 
Materials. Aber R. verzichtet auf jede Analyse und bleibt der unbeteiligte 
Beobachter, der mit Resignation und Defaitismus schildert, ohne den Mut* 
zu einem eigenen Standpunkt zu finden. Ludwig Carls (Berlin). 



Vor kurzem erschien: 



Festschrift 
fur Carl Griinberg 

z a in 7 0. G e b u r t g t a g 

560 Seiten. C. L. Hirschfeld Verlag, Leipzig 1932. Preis broschiert RM. 27.—, 

Ireinen RM. 30. — , Halbfranzband RM. 33. — . Fur Abonnenten der „Zeitschrift 

fur Sozialforschurig" (Gninbergs Archiv) RM. 3. — billiger. 

Zu Ehren des bedeutenden NationalSkonomen und Historikers des Sozialismus 
haben sich 25 Gelehrte aus Deutschland, Frankreich, Holland, Italien, Osterreich, 
Polen, Schweiz und Ungarn vereinigt, urn durch ihre Beitrage Zeugnis abzulegen 
fur die Internationale Wirksamkeit ihres Lehrers und Freundes und die weite 
Ausdehnung seiner Interesssengebiete. Die Veroffentlichung ist wichtig fiir alle 
Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler, insbesondere Nationalokonomen, Sozio- 
logeri, Sozialpsychologen, Sozialpolitiker, ferner fur Historiker und Philosophen, 
i tir offentliche Bibliotheken, Seminare und Institutsbuchereien des In- u. Auslandes. 

Inhalt: 



Adler, Max, Zur geistesgeschichtlichen 
Entwicklung d. GesellBchaftsbegriffes 

Bauer, Stephan, Der Verfall der meta- 
phorischen Okonomik 

Beer, Max, Social Foundations of Pre- 
Norman England 

Blom, D. ran, Uber das Band zwischen 
historischem Materialism us und Klas- 
senkampflehre und dessen Tragweite 

Bourgin, Georges, Le Communiste De- 
zamy 

Briigel, Fritz, Andreas Freiherr v. Stifft 

Gerloff, Wilhelm, Entwicklungstenden- 
zen in der Besteuerung der Landwirt- 
schaft 

Goldscheid, Rudolf, Die Zukunft der 
Gemeinschaft 

OroBmann, Henryk, Die Goldproduk- 
tion im Reproduktionsschema von 
Marx und Rosa Luxemburg 

Horkhelmer, Max, Hegel und die Me- 
taphysik 

JKrzeczkowski, Konstantin, Daniel De- 
foe und John Vancouver als Vor- 
laufer der Sozial versicherung 

Xasklne, Edmond, Socialisme, mouve- 
ment ouvrier et politique douaniere 

Xeichter, Kathe, Vom revolutionaren 
Syndikalismus zur Verstaatlichung 
der Gewerkschaften 



Lei enter, Otto, Kapitalismus und So- 
zialismus in der Wirtschaftspolitik 
Menzel, Adolf, J. P, Proudhon als So- 

ziologe 
Michels, Robert, Eine syndikalistischge- 

richtete Unterstroraung im deutschen 

Sozialismus (1903—1907) 
Mondolfo, Rodolfo, II concetto mar- 

xistico della „umwalzende Praxis" e 

suoi germi in Bruno e Spinoza 
Oppenheimer, Franz, Stadt und Land in 

ihren gegenseitigen Beziehungen 
Pollock, Friedrich, Sozialismus und 

Landwirtschaft 
Pribram, Karl, Das Problem der Ver- 

antwortlichkeit in der Sozialpolitik 
Szende, Paul, Rationales Recht und 

Klassenrecht. — Beitrage aus der 

ungarischen Rechts- und Wirtschafts- 

geschichte 
Schneider, Fedor, Zur sozialen Lage des 

freien Handwerks im friihen Mittel- 

alter 
Sommer, Louise, Das geisteswissen- 

schaftliche Phanomen des „Methoden- 

streits" 
Wittfogel, K. A., Die Entstehung des 

Staates nach Marx und Engels 
Wittich, Werner, Der Schatz der bosen 

Werke 



C. Tt. Hirschfeld Terlag / Leipzig € 1 



Schriften des Instituts fur Sozialforschung 
an der Universitat Frankfurt a. M. 

Band I: Henry k Grofimann 

Das Akkumulations- nnd Znsammenbrnchsgesetz 

deS kapi talis tischeit Systems (zugleich eine Krisentheorie) 
XVI und 625 Seiten. RM. 18.—, gebunden RM. 19.80 
Vorzugspreis: RM. 16.20, gebunden RM. 18.—. v or zugspreise 
fiir Abnehmer der ganzen Schriftenreihe, sowie Bezieher und Mit 
arbeiter der „Zeitschrift fiir Sozialforschung". 

„Wir mochten behaupten, dass das Buch in mancher Beziehung das beste darstellt, was 
bis jetzt iiber Marx geschrieben wurde. Der Verfasser besitzt nicht nur eine wirklich 
tiefdringende Kenntnis der Marxschen Werke und der in der Nachfolge von Marx er- 
schienenen sozialisuschen Liter atur, sondern erweist sich dariiber hinaus als ein Denker T 
der imstande ist, ein ungeheures Material geistig zu durchdringen und produktiv fort- 
zubilden." Zeitschrift fiir die gesamte Staatsunssenschaft 

Band II: Friedrich Pollock 

Die planwirtsehaftlichen Versnche in der Sowjet- 
union (1917—1927) 

XII und 409 Seiten. RM. 12.15, gebunden RM. 13.50 

Vorzugspreis (s. a. Bd. I): RM. 11.—, gebunden RM. 12.15 

„Pollock hat das erste zusammenfassende, in deutscher Sprache erschienene Buch iiber 
die planwirtsehaftlichen Versuche der Sowjetunion geschrieben. Es ist erstaunlich, wie 
gut dieser erste Versuch der Behandlung eines ebenso interessanten wie komplizierten 
Problems gelungen ist . . .". Finampnlitische Korrespondenz. 

Band III: K. A. Wittfogel 

Wirtschaft nnd &esellschaft Chinas 

Versuch der wissenschaftlichen Analyse einer groBen asiat. Agrar 
gesellschaft 

Band I: Produktivkrafte, Productions- und Zirkulationsprozefl 
XVIII und 768 Seiten mit Textabbildungen. RM. 27.—, gebunden 
RM. 28.80 
Vorzugspreis (s. a. Bd. I): RM. 24.30, gebunden RM. 26.— 

„Als grossangelegter Versuch, zum erstenmal seit Marx wieder eine systeniatisch zu- 
sammenfassende und erschopfende Analyse der okonomischen Grundlagen der alten. 
chmesischen Kultur zu liefern, stellt es eine ebenso willkommene wie innerhalb der 
ziinfti^en, vorwiegend philosophisch-literarisch orientierten Chinaliteratur einsame Neu- 
erscheinung dar . . . Der intransigent orthodoxe Marxismus, dem wie die Fragestellung 
auch die Methode de* Verfassers entspringt, ist aber im ganzen der geistigen Durch- 
arbeitung der Problematik hervorragend zu^ute gekommen, so dass man immer wieder 
davon uberrascht ist, wie ansserordentlich eingehend und zugleich von welchen weiten 
Perspektiven aus jeder Einzelzug erfasst wird." Archiv fiir angewandte Soziologie. 

Weitere Bande in Vorbereitung 

C. JL. Hirschfeld Verlag / Leipzig € 1 



Neuerscheinung! 

Soziologie tod lioiite 

Ein Symposion der Zeitschrift fur Yolkerpsychologie 
und Soziologie 

Mit Beitragen der Professoren: 

Hans Freyer, Leipzig / M. Ginsberg, London /R.M.Mac Iver, 
New York / W. F. Ogburn, Chicago / Johann Plenge, Miinster / 
P. A. S o r o k i n , Harvard / S. R. Steinmetz, Amsterdam / R. T h u r n - 
wald, Berlin-Yale / F. Tonnies, Kiel / A. W a 1 1 h e r , Hamburg 

Herausgegeben von 

Richard Thurnwald 

Professor an der Universitat Berlin, znr Zeit 
Gafltprof. a. d, Harvard -Univ., Cambridge 

VIII und 160 Seiten, steif brosch. RM. 5.—, Leinenband RM. 6.50 

J> e r aus fit hrliche JProspekt liegt die 8 em Heft bei! 



Woher kommt die Welle der politischen Leiden- 
schaft, die nns fiberflutet, und wohin treibt sie? 

Eine Antwort auf diese Fragen gibt 
die Neuerscheinung: 

Politischer Aktivismus 

Ein Yersuch zur Soziologie und Pgychologie der Politik 

Von 
Dr. Richard Berendt 

190 Seiten. Kartoniert RM. 5.80 

Aus dem Inh'alt: Einleitung. / Mensch und Politik. — Ursprung politischer Aktivitat. 
Politischer Aktivismus und „Zweck". / Verge sellschaftungsformen. / Der aktivistische 
Mythos. / Vergangenheit und Zuknnft des aktivistischen ^Triebes". / Namenregister. 

Diese Sehrift setzt sich zum Ziel, Wesen und Auswirkungen jener Haltung 
zu ergrunden, die politische BetStigung in radikaler Form erstrebt und gerade 
der Gegenwart so stark den Stempel aufdruckt. Es werden dafiir die neueren 
Forschungsergebnisse der Soziologie und der Psychoanalyse, sowie mannig- 
faches geschichtliches Material aufgeboten. Grofie Aufmerksamkeit wird dabei 
auch den ZusammenhSngen zwischen wirtschaftlichen Zustanden unjd politischen 
Bewegungen gewidmet. 

€. !■. Hirschfeld Verlag / Leipzig € 1 



Seit Beginn des 8. Jahrgangs (Marz 1932) erscheint die 

Zeitschrift f. Volkerpsychologie u. Soziologie 

zweisprachig — Deutsch und Englisch — unter dem Titel 

SOCIOLOGUS 



A JOURNAL 

OF 

SOCIOLOGY 

AND 

SOCIALPSYCHOLOGY 

In collaboration with: 



ZEITSCHRIFT 

FOR 

vOlkerpsychologie 

UNO 

SOZIOLOGIE 

in Verbindnng mit: 

F. ALVKRDES, Univ. Marburg a. L. / E. BOLTE, Bremen / B. MALINOWSKI, Univ. London / 
W. F. OGBURN, Univ. Chicago / E. SAPIR, Yale-Univ. / E. SCHXJLTZ-EWERTH, Berlin / 
E. SCHWIEDLAND, Techn. Hochsch. nnd Univ. Wien / P. A. 80R0KIN, Harvard-Univ. 
S. E, STEINMETZ, Univ. Amsterdam 
heranagegeben von: edited by: 

RICHARD THURNWALD, Univ. Berlin und Yale-Univ. (New Haven, Conn). 

Scnriftletter: Managing Editor 

W. E. MUHLMANN, Postfach 120, Berlin NW. 7 



SOCIOLOGUS bringt kiinftig regelmafiig auch Originalbeitrage 
in englischer Sprache. Den englischen Abhandlungen wird 
eine kurze Zusammenfassung in deutscher Sprache beige- 
geben und umgekehrt. Der leicht zitierbare Haupttitel 

SOCIOLOGUS bedeutet kein Zurucktreten der VOlkerpsychologie 
gegenuber friiher. Tatsachlich werden die Volkerpsycho- 
logischen Ziele noch mehr unterstrichen und gewinnen durch 
die verstarkte Mitarbeit auslandischer Autoren erhohte prak- 
tische Bedeutung. 

SOCIOLOGUS kostet trotzdem nicht mehr als bisher: Einzelheft 
(durchschnittlich 8 Driickbogen) RM. 5. — , Abonnement 
jahrJich (4 Hefte) RM. 18.-—., 

JDer ausfiihrliche ProdpeTct liegt dies em Heft belt 
Probehefte &ur Ansicht! 



C. Lu Hirschfeld Verlag / Leipzig € 1 



Hans Freyer, Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft — Ders., Ein- 

leitung in die Soziologie (Winter) 157 

Otto Neurath, Empirische Soziologie. Der wissenschaf tliche Gehalt 

der Geschichte und Nationalokonomie (v. Aster) 159 

Ferdinand Tcnnies, Einfuhrung in die Soziologie (Streller) . . . 160 
Marx/Engels Gesamtausgabe I. Abt. 3. Bd.: Die heilige Familie und 
Schriften von Marx von Anfang 1844 bis Anfang 1845. — Karl 
Marx, Der historische Material ismus. Die Fruhschriften, hrsg. 

v. S. Landshut und J. P. Mayer (Westermann) 160 

Werner Heider, Die Geschichtslehre von Karl Marx (Milko) . . . 161 
Essays on Research in the Social Sciences, hrsg. v. d. Brookings Insti- 
tution, Washington (Lorke) 162 

E.A.Ross, Backgrounds of Sociology (Lorke) 163 

Earl Spahr and R. John Swen son, Methods and Status of Scientific 

Research (Lorke) 164 

Georges Davy, Sociologues d'hier et d'aujourd'hui (Szende) . . . 164 
Charles Turgeon, Critique de la Conception materialiste de l'histoire 

(Szende) 164 

S. R. Steinmetz, Inleiding tot de sociologie (Sternheim) 165 

Psychologic: 

Kurt Breysig, Die Geschichte der Seele im Werdegang der Mensch- 

heit (v. Aster) 166 

C. G. Jung, Seelenprobleme der Gegenwart (Landauer) 167 

Sigmund Freud, tiber libidindse Typen (in Intern. Zeitschr. f. Psycho- 
analyse Bd. XVII, 1931) (Landauer) 168 

Handworterbuch der Psychischen Hygiene und der Psychiatrischen Fiir- 

sorge, hrsg. v. G. Bumke u. a. (Landauer) 168 

G. A.Romer, Die wissenschaftliche Erschliefiung der Innenwelt einer 

Personlichkeit (Landauer) 169 

Gardener Murphy and Louis Barclay Murphy, Experimental 

Social Psychology (Lewin) 169 

J. K. Folsom, Social Psychology (Liebmann) 170 

Kimball Young, Social Attitudes (Lorke) 171 

Franz Eulenburg, Phantasie u. Wille des wirtschaftenden Menschen 

(DreyfuP) 171 

Fedor Vergin, Das unbewufite Europa. Psychoanalyse der euro- 

paischen Politik (Fromm) 172 

M. Halbwachs, Les causes du suicide (Koyre) 173 

Erich Fromm, Die Entwicklung des Christusdogmas (Borkenau) . 174 
Hildegard Jtingst, Die jugendliche Fabrikarbeitarin. Ein Beitrag 
zur Industriepadagogik. — Lisbeth Franzen-Hellersberg, 
Die jugendliche Arbeiterin. Ihre Arbeitsweise und Lebensform. — 
Mar g arete Rada, Das reifende Proletariermadchen. — Ma- 
thilde Kelchner, Schuld und Siihne im Urteil jugendlicher 

Arbeiterinnen (Mennicke) 175 

Fritz Kunkel, Grundziige der politischen Charakterkunde (Fuchs) 177 

Richard Behrendt, Politischer Aktivismus (Borkenau) 178 

Edmond Privat, Le choc des patriotismes. Les sentiments collectifs 

et la morale entre nations (Grilnberg) 179 

Soziale Bewegung und Sozialpolitik : 

Fritz Briigel und Benedikt Kautsky, Der deutsche Sozialismus 

von Ludwig Gall bis Karl Marx (Walter) 180 

Paul Louis, Les idees essentielles du socialisme (Grilnberg) . . . 180 
KarlMielcke, Deutscher Friihsozialismus. Gesellschaft u. Geschichte 
in den Schriften von Weitling -und Hefi. — Irma Go it ein, 
Probleme der Gesellschaft und des Staates bei Moses Hefi. Ein 



Beitrag zu dem Thema HeB und Marx mit bisher unveroffent- 
lichtem Quellenmaterial (Moldenhauer) 181 

Lujo Brentano, Mein Leben im Kampf um die soziale Entwicklung 

Deutschlands (Neumark) 183 

Arvid Harnack, Die vormarxistische Arbeiterbewegung in den Ver- 

einigten Staaten (Walter) 184 

Ernst H. Posse, Der Marxismus in Frankreich 1871—1905 (Korsch) 186 

Paul J. Wirz, Der revolutionare Syndikalismus in Frankreich (Walter) 187 

David J. Saposs, The Labor Movement in Post-War Prance (Harnack) 188 

Hakon Meyer, Den politiske arbeiderbevegelse i Norge (Lange) . .189 

Georg Ove Tonnies, Die Auflehnung der Nordmark-Bauern. — 
Walt.Luetgebrune,Neu-PreuBensBauernkrieg.-Karsthans, 
Die Bauern marschieren. — HansFallada, Bauern, Bonzen und 
Bomben (Jaeger) . 190 

Mein Arbeitstag — Mein Wochenende. 150 Berichte von Textilarbeite- 
rinnen, hrsg. v. Te xtilarbe iter ver band. — Susanne Suhr, Die 
weib lichen Angestellten. Eine Umfrage des Zentralverbandes der 
Angestellten. — Die wirtschaftliche und soziale Lage der Ange- 
stellten. Ergebnisse und Erkenntnisse aus der groCen sozialen 
Erhebung des Gewerkschaftsbundes der Angestellten. — Die Ge- 
haltslage der Kaufmannsgehilfen. Eine Fragebogenerhebung des 
D. H. V. — Was verbrauchen die Angestellten ? Ergebnisse der 
dreijahrigen Haushaltungsstatistik des Allgemeinen Freien An- 
gestelltenbundes. — Die Lebenshaltung des Landarbeiters. Wirt- 
schaftsrechnungen von 130 Landarbeiterfamilien. Eine Erhebung 
des Reichsverbands landlicher Arbeitnehmer. — Wilhelm 
Bernier, Die Lebenshaltung, Lohn- und Arbeitsverhaltnisse von 
145 deutschen Landarbeiterfamilien. — Die Lebenshaltung der 
Bauarbeiter nach Wirtschaftsrechnungen aus dem Jahre 1929 
(Speier) 191 

Jtirgen und Marguerite Kuczynski, Die Lage des deuschen In- 

dustriearbeiters (Weifi) . 193 

Alexander Stenbock-Fermor, Deutschland von unten. — Georg 

Schwarz, Kohlenpott (Dreyfufi) 194 

Probleme der Arbeitslosigkeit im Jahre 1931. Reihe C, Nr. 16 der 
Studien u. Berichte des Internationalen Arbeitsamts. — Les aspects 
sociaux de la rationalisation. Bureau Interational du Travail, 
Etudes et Documents, Serie B, No. 18. — Internationale Ar- 
beitskonferenz, 16. Tagung, Genf 1932, Bericht des Directors 
(Stemheim) 194 

Paul H. Douglas and Aaron Director, The Problem of Unemploy- 
ment (Feinberg) ..*... 198 

Employment Regularization in the United States of America. American 

Section International Chamber of Commerce (Feinberg) . . . 197 

Case Studies of Unemployment. Compiled by the Unemployment 
Committee of the National Federation of Settlements. — Clinch 
Calkins, Some Folks Won't Work (Feinberg) 198 

Adolf Weber, Sozialpolitik. Reden und Aufsatze (Burchardt) . , 199 

Theodor Brauer, Sozialpolitik und Sozialreform (StreUer) .... 200 

Charles W. Pipkin, Social Politics and Modern Democracies 

(Feinberg) 201 

Hermann Eibel, Karl Meyer-Brodnitz und Ludwig Preller, 

Praxis des Arbeitsschutzes und der Gewerbehygiene (Croner) . 202 

Lutz Richter, Sozialversicherungsrecht. Enzyklopadie der Rechts- 

und Staatswissenschaft Bd. XXXI (Croner) ........ 202 

Spezielle Soziologie: 

Karl Schmitt, Der Begriff des Politischen (Speier) 203 

Karl Schmitt, Der Hiiter der Verfassung (Korsch) 204 

Gottfried Salomon, Allgemeine Staatslehre (Szende) 205 



Heinz O. Ziegler, Die moderne Nation. Ein Beitrag zur politischen 

Soziologie (Salomon) * . . . . 206 

Gegenwartsfragen aus der allgemeinen Staatslehre und der Verfassungs- 

theorie. Hrsg. v. Hans Gmelin und Otto Koellreuter (Haselberg) 207 

Armand le Henaff, Le pouvoir politique et les forces sociales 

(Grunberg) 209 

G. Glotz, La cit6 grecque (Koyre) 210 

F. Lot, La fin du monde antique et les debuts du moyen-age (Koyre) 211 

AlfredKleinberg, Die europaische Kultur der Neuzeit (Wiesengrund- 

Adomo) 211 

Alfred von Martin, Soziologie der Renaissance (Salomon) .... 213 

Eugen Rosenstock, Die europaischen Revolutionen (Hetder) . .214 

Hans Freyer, Revolution von rechts (Burchardt) 215 

Reich Gottes — Marxismus — Nationalsozialismus, hrsg. v. Georg 

Wiinsch (Mertens) . . . . 216 

Otto Kahn-Freund, Das soziale Ideal des Reichsarbeitsgerichts 

(Lorch) 217 

L. H. A. Geek, Die sozialen Betriebsverhaltnisse im Wandel der Zeit 

(Speier) 2 17 

J. R. Slotemaker de Bruine, Vakbeweging en Wereldbeschouwing 

(Sternheim) 218 

Louis Adamic, Dynamite. The Story of Class Violence in America 

(Hering) . 219 

Arturo Labriola, Al di la del capitalismo e del socialismo (OWerg) 220 

R. L. Mehmke, Der Unternehmer und seine Sendung (Dreyfufi) . .221 

Das deutsche Handwerk. Bericht der 8. Arbeitsgruppe des III. Unter- 
ausschusses des Ausschusses zur Untersuchung der Erzeugungs- 
und Absatzbedingungen der deutschen Wirtschaft (Grunberg) . 223 

Annemarie Niemeyer, Zur Struktur der Familie. — Marie Baum 
und Alix Westerkamp, Rhythmus des Familienlebens. Das 
von einer Familie taglich zu leistende Arbeitspensum. — Agnes 
Martens-Edelmann, Die Zusammensetzung des Familienein- 
kommens. — F. Wildenhayn, Die Auflosung der Familie. — 
Margarete Kahle, Beziehungen weiblicher Fiirsorgezoglinge 
zur Familie. — Ruth Lindquist, The Family in the Present 
Social Order. — Hermann Wagener, Der jugendliche In- 
dustriearbeiter und die Industriefamilie. — Konfessionen und 
Ehe (in: Religiose Besinnung, H. 1, 1931). — Gertrud Baumer, 
Die Frau im neuen Lebensraum. — Hermann Mitgau, Familien- 
forschung und Sozialwissenschaft (Streller) 224 

II j a Ehrenburg, Die Traumfabrik. — Wolfgang Petzet, Verbotene 
Filme. — Rene Fiilop-Miller, Die Phantasie-Maschine. — 
Rudolf Arnheim, Film als Kunst (Dreyfu/3) 227 

Douglas Waples and Ralph W. Tyler, What people want to read 

about (Waas) 228 

Richard Thurnwald, Die menschliche Gesellschaft in ihren ethno- 
soziologischen Grundlagen, I. Band: Reprasentative Lebensbilder 
von Naturvolkern (VaUer) 229 

J. Winthuis, Einfiihruug in die Vorstellungswelt primitiver Volker 

(Leser) 230 

James George Frazer, Mensch, Gott und Unsterblichkeit (Leser) 231 

Bronislav Malinowski, Das Geschlechtsleben der Wilden in Nord- 

westmelanesion (Reich) 232 

Paul Leser, Entstehung und Verbreitung des Pfluges (Honigskeim) 232 

Arbeiten zur biologischen Grundlegung der Soziologie (Forschungen zur 
Volkerpsychologie und Soziologie, Bd. X, 1. u. 2. Halbbd.) 
(Schaxel) 233 

Julius Schaxel, Das biologische Individuum (in: Erkenntnis, Heft 6, 

1931) (Feinberg) . 234 

Festschrift zum 70. Geburtstag von Carl Grunberg (Mandelbaum) . 235 



Okonomle: 

Emil Lederer, AufriB der okonomischen Theorie (Burckardt) . . . 236 
Emil Lederer, Technischer Fortschritt und Arbeitslosigkeit (Mandel- 

baum) - 237 

Ernst Wagemann, Struktur und Rhythmus der Weltwirtschaft 

(Bitzmann) 237 

Wesley C. Mitchell, Der Konjunktur-Zyklus, Problem u. Problem- 

stellung (Burckardt) 239 

Probleme der Wertlehre, hrsg. v. Ludwig Mises und Arthur Spiethoff 

(Schriften des Vereins liir Sozialpolitik, 183, 1) (Mandelbaum) . 239 
Der Internationale Kapitalismus und die Krise. Festschrift fur' Julius 

Wolf zum 20. April 1932 (Mandelbaum) 240 

Karl Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Okonomie, hrsg. v. 

Karl Korsch (Westermann) 241 

Walther Hoffmann, Stadien und Typen der Industrialisierung 

(Mandelbaum) , 242 

The new Survey of London Life and Labour (KUngender) .... 243 
Harry W. Laidler, Concentration of Control in American Industry 

(Adler) .244 

Louis Aubrey Wood, Union Management Cooperation on the Rail- 
roads (Chudleigh) . 246 

HansRitschl, Gemeinwirtschaf t und kapitalistische Marktwirtschaf t 

(Neumark) 247 

Frederic Millner, Economic Evolution in England (Burckardt) . . 248 
Rodolfo Morandi, Storia della grande industria in Italia (Treves) 249 
Statistisches Jahrbuch fur das Deutsche Reich 1931 (Neumark) . . 249 

Belletxistik: 

Lionel Britton, Hunger and Love (Asck) 250 

Justus Ehrhardt, StraBen ohne Ende (Sckie) 251 

Leonhard Frank, Von drei Millionen Drei (Carls) 252 

Erik Reger, Union der festen Hand (Carls) 252 



Alle Sendungen redaktioneller Art (Manuskripte, Rezenslonsexemplare, Tausch- 
exemplare) sind ausschlleOlich zu richten an die Redaktion der Zeitschrlft tttr 
SozlaUorschung, Frankfurt a. M., Ylktoria-AUee 17, alle Sendungen gescMft- 
licher Art nur an den Verlag C. L. Hirschfeld, Leipzig C 1, Hospitalstr. 10. 



Die Zeitschrift erscheint dreimal jahriich: im Marz, Juli und November. 

Der Preis des Jahrgangs — einschliefilich der Einbanddecke, die kostenlos 

geliefert wird — betragt RM. 18.—. Einzelhefte kosten RM. 6.—. 

Verantwortlicher Schrif tleiter : Dr. Leo Lowenthal (Frankfurt a. M.) 



Zeitschrift 

IQr 

Sozialforschung 

Herausgegeben vom 

INSTITUT FUR SOZIALFORSCHUNG FRANKFURT/M. 



Jahrgangl 1932 Heft 3 

VERLAG VON C. L. HIRSCHFELD / LEIPZIG 



INHALT. 
I. Aufsatze. 

Seite 
ERICH FROMM 
Die psychoanalytische Charakterologie und ihre Bedeutung fiir 

die Sozialpsychologie 253 

JULIAN GUMPMRZ 

Zur Soziologie des amerikanischen Parteiensystenis .... 278 

FRANZ BORKENAU 

Zur Soziologie des mechanistischen Weltbildes 311 

ANDRIES STERNHEIM 

Zum Problem der Freizeitgestaltung 336 

THEODOR WIESENGRUND-ADORNO 

Zur gesellschaftlichen Lage der Musik 356 



II. Sammelbesprechungen. 

GERHARD MEYER 

Neuere Literatur iiber Plaimirtschaft 379 

III. Besprechungen. 

Philosophic: 

Karl Jaspers, Philosophic 3 Bde. (v. Aster) 401 

Othmar Spann, Geschichtsphilosophie (Sternberger) 403 

Friedrich Go gar ten, Politische Ethik (Speier) 404 

Philipp Frank, Das Kausalgesetz und seine Grenzen (Korsch) . . 404 
Julius Schaxel, Das Weltbild der Gegenwart und seine gesellschaft- 
lichen Grundlagen (Korsch) 405 

Jonas Conn, Wertwissenschaft. 2 Bde. (Sternberger) 406 

Benedetto Croce, Tre saggi filosofici (Drei philosophische Essays) 

(OJherg) 407 

Heinrich Weber und Peter Tischleder, Handbuch der Sozialethik, 

Bd. I: Wirtschaftsethik (Mertens) 408 

J. Bonnecase, Philosophie de Timperialisme et science du droit 

(Tazerout) 408 

Herbert Marcuse, Hegels Ontologie und die Grundlegung einer 

Theorie der Geschichtlichkeit (Wiesengrund-Adomo) 409 

Heinz Nitzschke, Die Geschichtsphilosophie Lorenz von Steins 

(Neumann) 410 

Theo Suranyi-tfnger, GeachichtederWirtschaftsphilosoirfiiefitfeycr/ 411 

Franz Mehring, Zur Geschichte der Philosophie (Meyer), . . . ^ . 411 

Fortsetzung des Inhaltsverzeichnisses am Schluss des Heftes* 



Die psychoanalytische Charakterologie und ihre 
Bedeutung fur die Sozialpsychologie 1 ). 

Von 
Erich Fromm (Berlin). 

Der Ausgangspunkt der Psychoanalyse war ein therapeutischer : 
seelische Stdrungen wurden erklart aus der Stauung und der dadurch 
hervorgerufenen pathologischen Verwendung der Sexualenergie im 
Symptom, bzw. aus der Abwehr von im BewuBtsein nicht zuge- 
lassenen, mit libidinCsen Impulsen verkniipften Vorstellungen. 
Die Reihe : Libido — Abwehr durch verdrangende Instanz — Symptom 
war der rote Faden der friihen analytischen Untersuchungen. Da- 
mit verbunden war die Tatsache, daB Gegenstand der analytischen 
Untersuchung fast ausschlieBlich Kranke und in der Mehrzahl 
solche mit korperlichen Symptomen waren. Im Verlauf der Ent- 
wicklung der Psychoanalyse trat neben diese Fragestellung die 
nach der Genese und Bedeutung bestimmter psychischer Eigen- 
arten, die sich bei Kranken sowohl wie bei Gesunden finden. Hier 
handelt es sich zwar, genau wie bei der ursprunglichen Fragestellung, 
um die Aufdeckung der triebhaften, libidinosen Wurzeln der psy- 
chischen Einstellung, aber die Reihe wird nicht in der Richtung: 
Verdrangung — Symptom, sondern in der: Sublimierung bzw. Re- 
aktionsbildung — Charakterzug fortgesetzt. Diese Fragestellung muBte 
sich gleich fruchtbar fur das Verstandnis des kranken wie des ge- 



1 ) Nachdem im Heft 1/2 dieser Zeitschrift versucht wurde, Allgemeines 
zur Methode und Aufgabe einer analytischen Sozialpsychologie darzu- 
legen, soil dieser Aufsatz eine Konkretisierung des dort Ausgefuhrten ver- 
suchen und zwar an einem besonders wichtigen Punkt: der analytischen 
Charakterologie. Seine wesentliche Aufgabe ist, fiir den nicht analytisch 
geschulten Leser diesen Teil der analytischen Theorie wenigstens in groBen 
Umrissen darzustellen ; sie inacht es notwendig, sich im wesent lichen auf 
die Darstellung der wichtigsten Ergebnisse der psychoanalytischen Charakter- 
forschung zu beschranken und auf die Erorterung wichtiger Einzelfragen, 
die sich als Fortfuhrung oder als Kritik zu manchen hier vorgetragenen 
Forschungsergebnissen aufdrangen, zu verzichten. Als Illustration folgt 
am SchluB ein Hinweis auf die Moglichkeiten, die eine Anwendung dieser 
psychoanalytischen Kategorien auf das Problem des „Geistes" des Kapi- 
talismus ergeben. 



254 Erich Fromm 

sunden Charakters erweisen und damit in besoiiderem MaB fiir die 
Probleme der Sozialpsychologie wichtig werden. 

Die allgemeine Grundlage der psychoanalytischen Charakterologie 
ist, bestimmte Charakterztige aufzufassen als Sublimierung bzw. 
Reaktionsbildung bestimmter sexueller (im erweiterten, von Freud 
so gebrauchten Sinn) Triebregungen, bzw. als Fortsetzung bestimmter 
in der Kindheit diesen Triebregungen koordinierter Objektbezie- 
hungen. Diese genetische Ableitung der psychischen Erscheinung 
aus libidinSsen Quellen und friihkindlichen Erlebnissen ist das 
spezifisch analytische Prinzip, das die analytische Charakterologie 
mit der Neurosenlehre teilt ; wahrend aber das neurotische Symptom 
(wie auch der neurotische Charakter) das Ergebnis einer nicht ge- 
gliickten Anpassung der Triebe an die gesellschaftliche Realitat dar- 
stellt, handelt es sich bei dem nicht neurotischen Charakterzug um 
eine Verarbeitung libidinoser Regungen auf dem Wege der Reaktions- 
bildung oder Sublimierung in einer relativ stabilen und gesellschaft- 
lich angepaBten Weise. Der Unterschied zwischen dem norinalen und 
dem neurotischen Charakter ist allerdings ein ganz flieBender und 
in erster Linie vom Grad der gesellschaftlichen UnangepaBtheh) 
her zu bestimmen. 

Es kann an dieser Stelle das komplizierte Problem der Reaktions- 
bildung und Sublimierung nur angedeutet werden. Unter Reaktions- 
bildung ist zu verstehen die Aufrichtung einer dem ursprunglichen 
Triebziel entgegengesetzten, dieses abwehrenden und niederhaltenden 
Haltung, die selbst mehr oder weniger den Charakter der Sublimierung 
tragen kann 1 ). Zur Sublimierung sei nur gesagt, daB Freud darunter 
die Ablenkung sexueller Impulse von ihren ursprunglichen sexuellen 
Zielen und ihre Hinwendung auf bzw. ihre Ersetzung durch andere, 
nicht sexuelle, kulturelle Ziele begreift. Dies ist nicht so zu verstehen, 
daB aus Sexualitat auf eine geheimnisvolle, ,,alchimistische" Weise 
Charakter oder Intellekt entsteht, sondern daB sexuelle Energien auf 
andere Stellen des seelischen Apparats gelenkt und dort als Trieb- 
kraft und in einer eigenartigen, noch kaum geklarten Verbindung mit 
Fahigkeiten des Ichpsychische und geistige Qualitaten auf bauen helfen. 
Besonders wichtig ist es, nicht zu ^ergessen, daB Freud das Problem 
der Sublimierung am allerwenigsten mit der Sexualitat im iiblichen 
Sprachgebrauch, d. h. der genitalen Sexualitat in Zusammenhang 



*) Als Beispiel denke man. an eine „tJbergute", die die Funktion hat, 
den verdrangten Sadismus niederzuhalten. Wichtig ist die „Wiederkehr- 
des Verdrangten 1 * in der Reaktionsbildung. 



Die psychoanalytische Charakterologie und ihre Bedeutung usw. 255 

bringt, sondern vorwiegend mit den „pragenitalen" Sexualstrebungen, 
d. h. der oralen und analen Sexualitat und dem Sadismus 1 ). Der Unter- 
schied zwischen Reaktionsbildung und Sublimierung liegt im wesent- 
lichen darin, da6 die Reaktionsbildung immer die Funktion der Ab- 
webr und Niederbaltung eines verdrangten Triebimpulses hat, aus dem 
sie auch ihre Energie bezieht, wahrend die Sublimierung eine direkte 
Verarbeitung, eine ,,Kanalisierung" der Triebregung darstellt. 

Die Theorie der pragenitalen Sexualitat, von Freud zum erstenmal 
ausfuhrlich in den „Drei Abbandlungen zur Sexualtheorie" dar- 
gestellt, geht von der Beobachtung aus, daB, noch bevor beim Kind 
die Genitalien eine entscheidende Rolle spielen, die Mundzone und 
die Afterzone als ,,erogene Zonen" Trager von lustvollen, den genitalen 
Sensationen analogen Sensationen sind, daB sie im Laufe der Ent- 
wickhmg teilweise ihre sexuelle Energie an die Genitalien abgeben, 
zum geringeren Teil diese Energien behalten, teils in ihrer ursprung- 
lichen Form, teils in der Form von Sublimierungen und Reaktions- 
bildungen im Ich. Aufbauend auf diesen Beobachtungen der pra- 
genitalen Sexualitat verOffentlichte Freud 1908 einen kurzen Aufsatz 
iiber „Charakter und Analerotik" (Ges. Schriften, Bd. V, S. 260ff.), 
der die Grundlage der analytischen Charakterforschung bildet. 
Freud ging von der Beobachtung aus, daB man haufig in der Analyse 
einem Typus begegnet, der „durch das Zusammentreffen bestimmter 
Charaktereigenschaften ausgezeichnet ist, wahrend das Verhalten 
einer gewissen Korperfunktion und der an ihr beteiligten Organe in 
der Kindheit dieser Personen die Aufmerksamkeit auf sich zieht" 
(S. 261). Er findet drei Charakterzuge — Ordnungsliebe, Spar- 
samkeit und Eigensinn — bei solchen Individuen, in deren Kind- 
heit die Lust an der Darmentleerung und ihren Produkten eine besonders 
grofie Rolle spielt. Besonders betonte er die in der Neurose wie im 
Mythus, Aberglauben, Traum, Marchen anzutreffende Gleichsetzung 
von Kot und Greld (Geschenk). Auf dieser grundlegenden Arbeit Freuds 
bauten sich eine Reihe Arbeiten anderer psychoanalytischer Autoren 
auf, die die Grundziige einer, freilich noch in vielen Punkten unfertigen 
und hypothetischen, psychoanalytischen Charakterologie lieferten 2 ). 

x ) Aus diesem Grunde ist es ein grobes MiBverstandnis des Freudschen 
Standpunktes, das Problem der Sublimierung im wesentlichen als identisch 
mit dem der genital -sexuellen Abstinenz zusammenfallen zu lassen, wie es 
etwa Scheler (besonders in „Wesen und Formen der Sympathie", Bonn 
1923, S. 238 ff ) tat. 

2 ) Vgl. die instruktiven Ausfuhrungen und die reichen Literaturhinweise 
bei Otto Fenichel, Perversionen, Psychosen, Charakterstorungen. Psycho- 
analytische spezielle Neurosenlehre, Wien 1931. 



256 Erich Fromm 

Bevor wir zur Darstellung der fur den Soziologen wichtigsten 
Ergebnisse dieser Arbeiten kommen, soil auf einen Gesichtspunkt 
hingewiesen werden, der in manchen dieser Arbeiten nicht oder zu 
wenig deutlich hervortritt und dessen Betonung ein besseres Verstand- 
nis dieser Untersuchungen erm5glicht : die Unterscheidung zwischen 
Sexualziel und Sexualobjekt, bzw. zwischen der Organlust und den 
Objektbeziehungen. Freud bringt die Sexualtriebe in einen engen 
Zusammenhang mit den „erogenen Zonen" 1 ) und nimmt an, daB die 
Sexualtriebe durch Reizung an diesen erogenen Zonen hervor- 
gerufen werden. In der ersten Lebensperiode steht die Mundzone 
und die mit ihr verkniipften Funktionen — Saugen und BeiBen — , 
dann, nach der Sauglingsperiode, die Afterzone mit ihren Funktionen 
— Stuhlentleerung bzw. Stuhlzuriickhaltung — und vom 3. bis 
5. Jahr die Genitalzone im Zentrum der Sexualitat (diese erste Bliite 
der genitalen Sexualitat hat Freud als „phallische Phase" bezeichnet, 
weil er annimmt, daB in dieser Zeit f iir beide Geschlechter allein der 
Phallus bzw. die phallisch erlebte Clitoris eine Rolle spielt, mit der 
Tendenz zum Eindringen und Zerstoren. Nach einer „Latenzzeit", 
die etwa bis zur Pubertat dauert, kommt es dann im Zusammenhang 
mit der korperlichen Reifung zur Entwicklung der eigentlichen geni- 
talen Sexualitat, der die pragenitalen Sexualstrebungen unter-, bzw. 
eingeordnet werden, d. h. zur endgultigen Herstellung des „Primats" 
der Genitalitat). Von dieser Organerotik, d. h. also von der an eine 
bestimmte KOrperzone bzw. eine bestimmte mit dieser Zone ver- 
knupfte Funktion gebundenen Organlust sind die Objektbeziehungen 
zu unterscheiden, d. h. die (liebenden oder hassenden) Einstellungen 
zu den dem Menschen gegenubertretenden Mitmenschen, bzw. der 
eigenen Person, mit anderen Worten die Gefuhlseinstellung und 
-haltung zur Umwelt uberhaupt. Auch die Objektbeziehungen haben 
einen typischen Verlauf : nach Freud ist der Saugling vorwiegend 
narzistisch eingestellt, nur auf sich und die Befriedigung seiner 
Bedurfnisse bedacht; in einer zweiten Periode, nach dem Ende der 
Sauglingszeit etwa, mehren sich sadistische, objektfeindliche Ziige, 



x ) Die Annahme einer so zentralen Rolle der erogenen Zonen lag Freud 
abgesehen von eeinen empirischen Beobachtungen auch von seinen theo- 
retiachen Voraussetzungen, einem mechanistisch-physiologischen Stand- 
punkt aus nahe. Sie hat die Entwicklung der analytischen Theorie ent- 
scheidend beeinf luBt ; eine fruchtbare Diskussion mancher psychoanalytischer 
Thesen wiirde bei einer Kritik der zentralen Rolle der erogenen Zonen ein- 
zuaetzen haben. Da wir aber hier Ergebnisse der Analyse darstellen 
wollen, verzichten wir auf eine Ausfiihrung kritischer Gesichtspunkte zu 
diesem uberaus wichtigen Problem. 



Die psychoanalytische Charakterologie und ihre Bedeutung usw. 257 

die auch noch in der phallischen Phase eine wichtige Rolle 
spielen. Erst mit dem Primat der Genitalitat in der Pubertat treten 
objektfreundliche, liebende Ziige eindeutig in den Mittelpunkt. Die 
Objektbeziehungen werden in einen engen Zusammenhang mit den 
erogenen Zonen gebracht. Dieser Zusammenhang ist verstandlich, 
wenn man bedenkt, daB sich spezifische Objektbeziehungen zuerst in 
Verbindung mit bestimmten erogenen Zonen entwickeln und daB 
diese Verbindung durchaus keine zufallige ist. Ohne aber an dieser 
Stelle das Problem diskutieren zu wollen, ob der Zusammenhang 
ein so enger ist, wie es vielfach in der psychoanalytischen Literatur 
dargestellt wird, oder ob und inwieweit nicht die fur eine erogene Zone 
typische Objektbeziehung auch unabhangig von den besonderen Schick- 
salen dieser erogenen Zone sich entwickeln kann, soil Wert darauf gelegt 
werden, prinzipiell zwischen der Organlust und den Objektbeziehungen 
zu unterscheiden ; in der nun folgenden Darstellung sollen, bevor die 
analytischen Befunde iiber die oralen, analen und genitalen Charakter- 
ziige dargestellt werden, die komponierenden Elemente, namlich 
die Sublimierungen und Reaktionsbildungen der Organlust und die 
koordinierten typischen Objektbeziehungen eine getrennte Dar- 
stellung finden. 

Der in der ersten Lebensperiode zentrale Sexualtrieb ist die Oral - 
erotik. Beim Kind findet sich ein starkes Lust- und Befriedigungs- 
gefiihl, das ursprunglich mit dem Saugen (^Wonnesaugen"), spater 
mit dem BeiBen und Kauen, mit dem In-den-Mund-nehmen 
und Verschlingenwollen von Gegenstanden verkniipft ist. Die 
nahere Beobachtung zeigt, dafi es sich hier keineswegs nur um eine 
AuBerung des Hungers handelt, sondern daB das Saugen, BeiBen, Ver- 
schlingenwollen daruber hinaus eine an sich lustvolle Betatigung dar- 
stellt. Ereud nahm schon in seinen ,,Drei Abhandlungen" an, daB 
die Mundzone eine der sog. „erogenen Zonen" sei, die, im AnschluB 
an die Vorgange der Nahrungsaufnahme, am friihesten die Basis 
intensiver libidinOser Bediirfnisspannungen und Befriedigungen dar- 
stellt. Wenn auch die direkten oralerotischen Bedurfnisse und Be- 
friedigungen nach der „Sauglings u zeit abnehmen, so bleiben doch 
mehr oder weniger groBe Reste auch in der spateren Kindheit und 
beim Erwachsenen erhalten. Es sei hier nur an das oft weit iiber die 
Sauglingszeit auftretende Daumenlutschen oder an das Nagelkauen 
erinnert, ferner aber, um von etwas ganz „Normalem" zu sprechen, 
an das Kussen oder an die starken libidinosen, oralerotischen Wurzeln 
des RauchenSv 



258 Erich Fromm 

Insoweit die Oralerotik nicht in ursprunglicher Form erhalten 
bleibt und andererseits doch nicht von anderen sefcuellen Impulsen 
abgelftst wird, tritt sie uns in Reaktionsbildungen oder Sublimierungen 
entgegen. Von den Sublimierungen sei nur eines der wichtigsten 
Beispiele hier genannt : die Verschiebung der kindlichen Saugelust 
auf das geistige Gebiet. An Stelle der Milch tritt das Wissen. Die 
Sprache driickt diesen Zusammenhang aus, wenn sie davon spricht, 
daB man „an den Bnisten der Weisheit schlurft" oder „von der Milch 
der frommen Denkungsart" trinkt. Diese symbolische Gleichsetzung 
von Trinken und geistigem Aufnehmen finden wir in Sprachen und 
Marchen verschiedener Kulturen ebenso wie in den Traumen und 
Einfallen der Patienten in der Analyse. Die Reaktionsbildungen 
konnen ebensowohl in dem urspriinglichen Gebiet bleiben, also etwa 
die Form einer EBhemmung annehmen, wie auch sich auf die Subli- 
mierungen erstrecken und dann etwa als Lern-, Arbeits- oder WiB- 
hemmung auftreten. 

Die in der ersten Lebensperiode des Kindes auftretenden Objekt- 
beziehungen tragen einen recht komplizierten Charakter 1 ). Der Saug- 
ling ist zunachst — und in ganz extremer Weise in den ersten drei 
Lebensmonaten — narzistisch eingestellt ; einUnterschied zwischen Ich 
und AuBenwelt besteht noch kaum. Allmahlich entwickeln sich neben 
der narzistischen Einstellung objektfreundliche, liebende Ztige 2 ). Die 
Einstellung des Sauglings zur Mutter (oder entsprechenden Pflegeperson) 
wird freundlich, liebevoll, Schutz und Iiebe erwartend. Die Mutter ist 
der Garant fur sein Leben, ihre Liebe gibt ihm ein Grefiihl von Lebens- 
sicherheit und Geborgenheit. GewiB ist sie weitgehend Mittel zum 
Zweck der Befriedigung der Bedurf nisse des Kindes, und gewiB tragt 
die liebe des Kindes weitgehend einen verlangehden, nehmenden und 
nicht einen spendenden,fursorgenden Charakter, aber wichtig sind doch 
objektfreundliche, objektzugewandte Ziige in dieser ersten Phase. 

Die Objektbeziehungen des Kindes andern sich allmahlich 3 ). 
Mit dem kfirperlichen Wachstum des Kindes wachsen seine An- 
spriiche, dadurch — wie wohl auch noch durch andere in der Umwelt 

J ) Vgl. Bernfeld, Psychologic des Sauglings. Wien 1925. 

2 ) In der psychoanalytischen Literatur werden vor allem die narzistischen 
Ziige des kleinen Kindes betont, wahrend die objektfreundlichen in der 
Schilderung zurucktreten. Es soil an dieser Stelle nicht naher auf dieses 
schwierige Problem eingegangen werden; es werden hier nur die objekt- 
freundlichen Ziige im Gegensatz zu den dann auftretenden objektfeind- 
lichen, sadistischen besonders betont. 

s ) Es versteht sich, dai3 in der ganzen Entwicklutig nur von einem Zu- 
oder Abnehmen verschiedener Tendenzen die Rede sein kann, nicht von 
einem Sichabldsen von voneinander strong getrennten Strukturtypen. 



Die psychoanalytische Charakterologie und ihre Bedeutung usw. 259 

liegende Faktoren — entstehen und wachsen Versagungen seitens 
der Umwelt, auf die das Kind mit Zorn und Wut reagiert, fiir deren 
Bildung inzwischen auch die organische Entwicklung bessere Be- 
dingungen geschaffen hat. Neben die objektfreundlichen Tendenzen 
und an ihre Stelle treten in wachsendem Mafie objektfeindliche. Das 
Kind, sowohl durch Enttauschungen wiitend als auch sich starker 
fiihlend, wartet nicht mehr vertrauensvoll auf liebende Befriedigung 
seiner vor allem ja noch oralen Wiinsche, es beginnt, sich mit Gewalt 
nehmen zu wollen, was man ihm vorenthalt. Der Mund mit den 
Zahnen wird zu seiner Waffe, er erwirbt eine aggressive, den 
Objekten feindselige, sie angreifen und aussaugen oder verschlingen 
wollende Haltung. An Stelle einer urspriinglichen relativen Harmonie 
mit der Umwelt treten Konflikte und aggressiv-sadistische Impulse 1 ). 

Das Saugen und BeiBen oder Verschlingenwollen, bzw. ihre 
Reaktionsbildungen und Sublimierungen einerseitSj die vertrauens- 
volle, beschenkt- oder geliebtwerdenwollende objektfreundliche 
Haltung und ihre Fortsetzung in aggressiven, rauberischen, objekt- 
feindlichen Tendenzen andererseits sind die Elemente, die die „oralen" 
Charakterziige der Erwachsenen zusammensetzen. 

Abraham macht eine Unterscheidung zwischen den charakterp- 
logischen Konsequenzen einer besonders ungestorten, gliicklichen 
oralen Befriedigung in der Kindheit und einer gestorten, mit viel 
Unlust vermischten (wie etwa plGtzlichem Absetzen von der Brust, 
unzureichender Milchmenge oder, was die koordinierten Objekt- 
beziehungen anlangt, mangelnder Liebe seitens der Pflegepersonen). 
Im ersten Falle haben oft Menschen 

„aus dieser gliicklichen Lebenszeit eine tief in ihnen wurzelnde tfber- 
zeugung mitgebracht, es.miisse ihnen immer gut gehen. So stehen sie dem 
Leben mit einem unerschiitter lichen Optimismus gegeniiber, der ihnen 
oftmals zur tatsachlichen Erreichung praktischer Ziele behilflich ist, Auch 
hier gibt es weniger gunstige Spielarten der Entwicklung. Blanche Personen 
sind von der Erwartung beherrscht, daB stets eine giitige, f Ursorgende Person, 
also eine Vertreterin der Mutter vorhanden sein miisse, von der sie alles zum 
Leben Notwendige empfangen wiirden. Dieser optimistische Schicksalsglaube 
veiurteilt sie zur Untatigkeit. Wir erkennen in ihnen diejenigen wieder, 
die in der Saugeperiode verwohnt wurden. Ihr gesamtes Verhalten im Leben 
lafit die Erwartung erkennen, daB ihnen sozusagen ewig die Mutterbrust 
flieBen werde. Derartige Personen muten sich keinerlei Anstrengungen zu; 
in manchen Fallen verschmahen sie geradezu jeden eigenen Erwerb" 
(Psychoanalytische Studien zur Charakterbildung, Wien 1925, S. 42). 

J ) Die Frage, inwieweit das Verschlingen- und Sich -Bemachtigen- Wollen 
(wie das Produzieren und Zerstoren iiberhaupt) eine ursprungliche, Tendenz 
des Menschen in seinem Verhaltnis zur Umwelt ist, kann an dieser Stelle 
nicht erortert werden. 



260 Erich Fromm 

An diesen Menschen ist haufig eine besonders ausgepragte Frei- 
gebigkeit, eine gewisse seigneurale Haltung zu bemerken. Sie haben 
die uneingeschrankt spendende Mutter als Ideal und bemuhen sich, 
sich diesem Ideal entsprechend zu verhalten. 

Der zweite Typ, der mit starken oralen Versagungen in der friihen 
Kindheit, entwickelt spater haufig Ziige, die in der Richtung des Aus- 
saugens oder Beraubens anderer Personen liegen. Diese Menschen 
tragen gleichsam einen Riissel, mit dem sie sich uberall ansaugen 
wollen, oder wenn entsprechend starke sadistische Beimengungen 
enthalten sind, sind sie wie Raubtiere, die davon leben, Opfer zu 
suchen, die sie ausweiden kdnnen. 

„Im sozialen Verhalten dieser Menschen tritt etwas standig Verlangendes 
hervor, das sich bald mehr in der Form des Bittens, bald mehr in der- 
jenigen des Forderns aufiert. Die Art, in welcher sie Wunsche vorbringen, 
hat etwas beharrlich Saugendes an sich; sie lassen sich ebensowenig durch 
die Sprache der Tatsachen wie durch sachliche Einwande abweisen, sondern 
fahren fort, zu drangen und zu insistieren. Sie neigen dazu, sich an andere 
Personen formlich festzusaugen. Besonders empfindlich sind sie gegen 
jedes Alleinsein, und wenn es nur kurze Zeit wahrt. In ganz besonderem 
Ma6 tritt die Ungeduld bei ihnen hervor. Bei gewissen Personen . . . findet 
sich dem geschilderten Verhalten ein grausamer Zug beigemischt, der ihrer 
Einstellung zu den anderen Menschen etwas Vampyrhaftes verleiht" 
(Abraham, S. 44). 

Zeigen die Personen des ersten Typs eine gewisse Noblesse und 
GroBzugigkeit, zeigen sie sich heiter und umganglich, so sind die 
des zweiten Typus feindselig und bissig, reagieren auf eine Ver- 
weigerung dessen, was sie haben wollen, mit Wut und sind auf alle, die 
es besser haben, von intensivem Neid erfiillt. Fur den Soziologen 
wichtig ist noch die von Abraham vermerkte Tatsache, daB Personen 
mit oraler Charakterbildung leicht dem Neuen zuganglich sind, 
„wahrend zum analen Charakter ein konservatives, alien Neuerungen 
feindliches Verhalten gehort ..." 

Die Analerotik fangt keineswegs erst nach der Oralerotik an, 
eine Rolle zu spielen. Wohl schon von vornherein ist der ungehemmte 
Austritt der Korperprodukte fur das Kind mit einer lustvollen Reizung 
der Afterschleimhaut verbunden. Ebenso sind die Produkte der Ent- 
leerung selbst, ihr Anblick, ihr Geruch, die Beriihrung mit der Ober- 
flache des Rumpfes und endlich das Beriihren mit den Handen eine 
Quelle intensiver Lustempfindungen. Das Kind ist stolz auf den Kot, 
welcher sein erster ,,Besitz", der Ausdruck seiner ersten Produktivitat 
ist. Eine wesentliche Veranderung bringt die etwa gleichzeitig mit 
der Entwohnung des Kindes von saugender Nahrungsaufnahme vor 
sich gehende Erziehung zur korperlichen Reinlichkeit, fiir deren 



Die psychoanalytische Charakterologie und ihre Bedeutung usw. 261 

Gelingen die sich allmahlich ausbildende Funktion der SchlieBmuskeln 
der Blase und des Darms die Voraussetzung bildet. Indem sich das 
Kind den Fordeningen der Erziehung anpaBt und lernt, seinen Stuhl 
zuriickzuhalten bzw. ihn zur rechten Zeit herzugeben, wird die 
Retention des Stuhles und werden die damit verbundenen physio- 
logischen Vorgange zu einer neuen Lustquelle. Gleichzeitig wird die 
urspriingliche Liebe zum Kot teilweise durcli Ekelgefuhle abgewehrt 
bzw. ersetzt ; teilweise wird allerdings durch das Verhalten der Umwelt 
der primitive Stolz auf den Kot bzw. seine piinktliche Entleerung nur 
noch vermehrt. 

Ganz ebenso wie ein Teil der urspriinglichen oralen bleiben auch 
die analen Impulse in einem gewissen Grade bis ins Leben des Er- 
wachsenen hinein erhalten. Diese Tatsache erkennt man leicht 
an der relativ starken aff ektiven Reaktion vieler Menschen der analen 
Beschimpfung oder der analen Zote gegeniiber. Auch das besonders 
unter allerhand Rationalisierungen auftretende liebevolle Interesse 
fur den eigenen Kot laBt die Reste der urspriinglichen Analerotik 
deutlich erkennen. Normalerweise aber geht ein wesentlicher Teil 
der analerotischen Strebungen in Sublimierungen und Reaktions- 
bildungen auf. Diese Fortbildungen der urspriinglichen Analerotik 
liegen in einer doppelten Richtung: einerseits in der charakterolo- 
gischen Fortsetzung der urspriinglichen Funktion, deren Ergebnis 
die Lust bzw. Unfahigkeit am Behalten, Sammeln und Produzieren, 
ferner Ordentlichkeit, Piinktlichkeit, Reinlichkeit, Geiz sind ; anderer- 
seits in der Fortsetzung der urspriinglichen Liebe zum Kot, die sich 
vor allem in der Liebe zum „Besitz" auBert. Eine ganz besondere 
Bedeutung kommt dem in dieser Periode sich ausbildenden Pflicht- 
gefiihl zu. Die anale EntwOhnung ist eng gekniipft an das Problem 
des „Mussens" und „Sollens" bzw. Nichtdiirfens, und die klinische 
Erfahrung zeigt, daB haufig besonders intensive Auspragungen des 
Pflichtgefuhls auf diese friihe Periode zuriickgehen. 

Die der analen Periode zugeordneten Objektbeziehungen stehen 
unter dem Zeichen wachsender Konflikte mit der Umwelt. Sie tritt 
zum erstenmal mit Forderungen an das Kind heran, deren Erfullung 
sie mit Iiebespramien oder Strafen erzwingt. Nicht mehr die Lust 
gewahrende, gutige, spendende Mutter ist es, die dem Kind gegen- 
iibertritt, sondern die Verzichte fordernde, strafende. Das Kind 
reagiert entsprechend. Es verharrt einerseits in seiner narzistischen, 
objektgleichgultigen Einstellung, die durch seine geringer werdende 
korperliche Hilflosigkeit wie durch den wachsenden Stolz auf 



262 Erich Fromm 

seine eigenen Leistungen in gewisser Weise noch gesteigert wird, 
andererseits wird seine objektfeindliche, trotzige, sadistische, die 
Eingriffe in seine Privatsphare bose abwehrende Einstellung erheblich 
verstarkt. 

Die Sublimierungen und Reaktionsbildungen der Analerotik und 
die Fortsetzung der dieser Stufe typischerweise zugeordneten 
Objektbeziehungen setzen die analen Charakterztige zusammen, 
wie sie in ihrem normalen oder pathologischen Vorkommen in 
der psychoanalytischen Literatur geschildert werden. Es seien 
hier nur einige fur die Sozialpsychologie besonders wichtige er- 
wahnt. 

Die ersten charakterologischen Befunde Freuds haben wir schon 

wiedergegeben : eine oft in Pedanterie iibergehende Ordentlichkeit, 

eine an Geiz grenzende Sparsamkeit und einen in Trotz ubergehenden 

Eigensinn. Diesen allgemeinen Ziigen sind von einer Reihe psycho- 

analytischer Autoren, vor allem von Jones und Abraham, viele 

mehr ins Detail gehende hinzugefiigt worden. Abraham weist 

darauf hin, daB es' Uberkompensierungen des urspriinglichen 

Trotzes gibt, 

„unter welchen das trotzige Festhalten am primitiven Selbstbestimmungs- 
recht verborgen liegt, bis es gelegentlich gewaltsam hervorbricht. Ich 
habe hier solche Kinder (und natiirlich auch Erwachsene) im Auge, die sich 
durch besondere Bravheit, Korrektheit, Folgsamkeit hervortun, ihre in 
der Tiefe liegenden rebellischen Antriebe aber damit begriinden, dafi man 
sie von frtih auf unterdruckt habe" (S. 9). 

Mit diesem Stolz eng verbunden ist die zuerst von Sadger hervor- 

gehobene Vorstellung der Einzigartigkeit. („Alles, was nicht Ich 

ist, ist Dreck.") Solche Menschen empfinden nur Freude an einem 

Besitz, wenn niemand anderes etwas Ahnliches hat. Sie haben die 

Neigung, alles im Leben als Eigentum anzusehen und alles „Private" 

vor fremden Eingriffen zu schiitzen. Es handelt sich dabei keines- 

wegs nur um Geld und Besitz, sondern ebenso urn Menschen wie um 

Grefiihle, Erinnerungen, Erlebnisse. Wie stark die dieses Besitzver- 

haltnis zur Privatsphare verankernden libidin6sen Begungen sind, 

erkennt man leicht an der Wut, mit der solche Menschen auf jeden 

Eingriff in ihre Privatsphare, ihre „Freiheit" reagieren. Zu dieser 

Betonung der Privatsphare gehort die von Abraham erwahnte Emp- 

findlichkeit des analen Charakters gegen jeden aufieren Eingriff. 

Niemand hat sich in ,, seine Angelegenheiten" zu mischen. Verwandt 

damit ist auch ein weiterer Zug, auf den Jones aufmerksam gemacht 

hat: das eigensinnige Festhalten an einer selbsterdachten Ordnung, 



Die psychoanalytische Charakterologie und ihre Bedeutung usw. 263 

bzw. die Neigung, anderen eine solche Ordnung aufzuzwingen 1 )* 
Solche Menschen zeigen dann auch haufig eine iiberstarke Lust am 
Rubrizieren, am Aufstellen von Tabellen und Planen. Von besonderer 
Wichtigkeit ist die von Abraham betonte Tatsache, dafl beim analen 
Charakter die unbewuBte Tendenz vorliegt, die Analfunktion als 
wichtigste produktive Tatigkeit und als der genitalen uberlegen anzu- 
sehen. Geldverdienen, Sammeln, das Aufhaufen von Kenntnissen 
(ohne ihre produktive Verarbeitung) sind Ausdruck dieser Ein- 
stellung 2 ). Zu dieser Hochschatzung der analen, sammelnden Pro- 
duktivitat tritt als charakteristisch die Hochschatzung des Ge- 
sammelten, des Besitzes. Abraham sagt dariiber: 
„In ausgepragten Fallen von analer Charakterbildung werden nahezu 
alle Lebensbeziehungen unter den Gesichtspunkt des Habens (Festhaltens) 
und Gebens, also des Besitzes, gestellt. Es ist, als ware der Wahlspruch 
mancher solcher Menschen : wer mir gibt, ist mein Freund ; wer etwas von 
mir verlangt, ist mein Feind" (S. 20 f.)- 

Nicht anders ist es mit den Liebesbeziehungen. Gewohnlich ist beim 
analen Charakter das genitale Bediirfnis und die genitale Bef riedigung 
mehr oder weniger eingeschrankt ; haufig ist diese Einschrankung mit 
moralischen Rationalisierungen oder auch Angsten verkntipft. Soweit 
die Liebe eine Rolle spielt, hat sie typische Ziige. Eine Frau wird nicht 
geliebt, sondern „besessen", und es herrscht dem ^Liebes^objekt 
gegeniiber dieselbe Gefuhlseinstellung wie anderen Gegenstanden des 
Besitzes gegeniiber, also die Tendenz, entweder mOglichst viel oder 
moglichst ausschlieBlich zu besitzen. Die erste Einstellung fuhrt zum 
Typ scheinbar sehr liebesfahiger Menschen, deren Liebe im Grunde 
doch nur eine Art Sammeltrieb ist, und die zweite zum Typ des extrem 
Eifersiichtigen und auf „Treue" Bedachten. Ein besonders schOnes 
Beispiel des ersten Typs bot mir ein Analysand, der ein Buch hatte, 
in dem er die Andenken an jede Begegnung mit einer Frau sammelte, 

x ) „Eine Mutter verfaflt ein schriftliches Frogramm, in welchem sie 
ihrer Tochter den Tag in minutioser Weise einteilt. Fiir den fruhen Morgen 
enthalt es z. B. die Anweisung: 1. Aufstehen, 2. Topfchen, 3. Hande- 
waschen usw. Am Morgen klopft sie von Zeit zu Zeit an die Tur und fragt 
die Tochter: wie weit bist du ? Diese hat dann zu antworten ,9 ( oder ,15* 
usw., so daB die Mutter eine genaue Kontrolle iiber die Einhaltung des 
Planes hat" (Abraham, a. a. O. S. 12). 

2 ) „Solche Personen lieben es, Geld oder Geldeswert zu schenken; 
manche unter ihnen werden Mazene oder Wohltater. Doch bleibt ihre 
Libido den Objekten mehr oder weniger fern, und so ist auch ihre Arbeits- 
leistung nicht im wesentlichen Sinne produktiv. Es fehlt ihnen keineswegs 
an Ausdauer — einera hauf igen Kennzeichen des analen Charakters — , 
aber sie wird zu einem guten Teil in unproduktivem Sinne verwandt, etwa 
an pedantische Einhaltung f estgesetzter Formen verschwendet, so daft in 
ungiinstigen Fallen das sachliche Interesse dem formalen erliegt" (Abraham, 
a. a. O., S. ia). 



264 Erich Fromm 

also gebrauchte Theaterbillette, Programme, aber auch Korrespondenz 
einklebte. Eng verknupft mit dieser Einstellung ist der intensive 
Neid, den man bei vielen Menschen mit analem Charakter findet. 
Sie erschopfen oft ihre Kraft nicht in eignen produktiven Leistungen, 
sondern im Neid auf die Leistung und vor allem dem Besitz anderer. 
Dies fuhrt zur Erwahnung ernes der klinisch wie soziologisch wich- 
tigsten analen Charakterziige : des besonderen Verhaltnisses zum Geld, 
d. h. vor allem der Sparsamkeit und des Geizes. Gerade dies hat eine 
besonders ausgiebige Bestatigung durch die analytischen Erfahrungen 
erhalten und ist ausfuhrlich in der psychoanalytischen Iiteratur 
erortert 1 ). Sparsamkeit und Geiz beziehen sich durchaus nicht nur 
auf Geld oder Geldeswert. Auch Zeit und Kraft werden ganz analog 
behandelt und jede Zeit- und Kraftverschwendtmg wird verab- 
scheut 2 ). Bemerkenswert ist, daB diese analen Tendenzen reichlich 



*) Hier nur einige spezielle Hinweise Abrahams: „Es gibt Falle, in 
welcheri der Zusammenhang zwischen absichtlicher Stuhlverhaltung 
und systematischer Sparsamkeit offen zutage liegt. Ich erwahne hier das 
Beispiel eines reichen Bankiers, der seinen Kindern immer wieder ein- 
scharfte, sie sollten den Darminhalt so lange wie nur moglich bei sich 
behalten, damit die teure Nahrung bis zum auBersten ausgentitzt werde. — 
Sodann ist auf die Tatsache zu verweisen, daB manche Neurotiker ihre 
Sparsamkeit bzw. ihreri Geiz auf gewisse Arten von Ausgaben beschranken, 
in anderen Beziehungen dagegen mit auffalliger Bereitwilligkeit Geld ver- 
ausgaben. So gibt es unter unseren Patienten solche, die jede Ausgabe fur 
„Vergangliches" meiden. Ein Konzert, eine Reise, der Besuch einer Aus- 
stellung sind mit Kosten verbunden, fiir welche man keinen bleibenden 
Besitz eintauscht. Ich kannte jemanden, der den Besuch der Oper aus 
solchem Grunde mied ; er kauf te sich aber Klavierausziige der Opern, 
welche er nicht gehort hatte, weil er auf diese Weise etwas „Bleibendes** 
erhielt. Manche solche Neurotiker vermeiden auch gem die Ausgaben fiir 
das Essen, weil man es ja doch nicht als bleibenden Besitz behalt. Be- 
zeichnenderweise gibt es einen anderen Typus, der bereitwillig Ausgaben 
fiir die Ernahrung macht, die bei ihm ein uberwertiges Interesse darstellt. 
Es handelt sich um Neurotiker, die ihren Korper bestandig sorgsam iiber- 
wachen, ihr Gewicht priifen usw. Ihr Interesse ist der Frage zugewandt, 
was von den eingefiihrten St of fen ihrem Korper als dauernder Besitz bleibt. 
Bei dieser Gruppe ist es evident, daB sie Korperinhalt mit Geld identif iziert. 
— In anderen Fallen finden wir die Sparsamkeit in der gesamten Lebens- 
weise strong durchgef tihrt ; in einzelnen Beziehungen wird sie aber auf die 
Spitze getrieben, ohne daB einepraktisch nennenswerteErsparnis an Material 
erzielt wird. Ich erwahne einen geizigen Sonderling, der im Hause mit offen- 
stehender Hose herumlief , damit die Knopf locher nicht so schnell abge- 
nutzt wiirden. Es ist leicht zu erraten, daB hier noch andere Antriebe mit- 
w irk ten. Doch bleibt es charakteristisch, wie diese sich hinter der anal 
bedingten Spartendenz verbergen konnen ; so sehr wird diese als wichtigstes 
Prinzip anerkannt. Bei manchen Analysanden finden wir eine auf den 
Verbrauch von Klosettpapier spezialisierte Sparsamkeit; hier wirkt die 
Scheu, Reines zu beschmutzen, als deter minierend mit" (S. 22, 23). 

2 ) „Viele Neurotiker sind in bestandiger Sorge vor Zeitverlusten. Nur 
die Zeit, welche sie all ein mit ihrer Arbeit verbringen, erscheint ihnen 
wohl ausgeniitzt. Jede Storung in ihrer Tatigkeit versetzt sie in hdchste 
Reizbarkeit. Sie hassen Untatigkeit, Vergnugungen usw. Es sind die 



Die psychoanalytische Charakterologie und ihre Bedeutung usw, 265 

rationalisiert zu werden pflegen, vor allem natiirlich mit Okonomischen 
Erwagungen, f ernerhin, daB man hauf ig neben besonderer Reinlichkeit, 
Sparsamkeit, Ordentlichkeit, Punktlichkeit Durchbriiche gerade der 
entgegengesetzten, durch diese Reaktionsbildungen abgewehrten 
Ziige findet. Wegen seiner sozialpsychologischen Bedeutung sei endlich 
noch das von Abraham hervorgehobene, fur den analen Charakter 
typische Bedurfnis nach Symmetric und „gerechtem Ausgleich" 
erwahnt. 

Die genitale Sexualitat hat eine fur die Charakterbildung 
prinzipiell andere Bedeutung als die orale und anale. Wahrend diese 
nur in relativ geringem AusmaB auch noch iiber die erste Kindheits- 
periode hinaus in direkter Form weiterbestehen konnen und ihreHaupt- 
verwendung im spateren Leben gerade in den Sublimierungen und 
Reaktionsbildungen finden, ist die genitale Sexualitat in erster Linie 
dazu bestimmt, eine direkte korperliche Abfuhr zu erhalten. So 
einfach es ist, das Sexualziel der genitalen Sexualitat zu beschreiben, 
so schwierig ist etwas iiber die spezifischen genitalen Charakterziige 
auszusagen. Es ist wohl richtig, daB die der genitalen Sexualitat 
zugeordnete Objektbeziehung eine objektfreundliche, relativ ambi- 
valenzfreie ist 1 ) ; es darf allerdings nicht vergessen werden, daB der 
physiologisch normale Sexualakt keineswegs notwendigerweise eine 
entsprechende, d. h. liebende psychische Haltung involviert. Er kann, 
psychologisch gesehen, vorwiegend narzistisch oder sadistisch erlebt 
sein. Fragt man nach den charakterologisch wichtigen Reaktions- 
bildungen und Sublimierungen der genitalen Sexualitat, so scheint 
uns als Reaktionsbildung in erster Linie die Willensbildung wichtig. 
Bei den Sublimierungen halten wir es aber fur nOtig, zwischen 
mannlicher und weiblicher Sexualitat zu unterscheiden. (Wobei 
nicht zu vergessen ist, daB in jedem Individuum mannliche und 
weibliche Sexualstrebungen vorhanden sind. Vgl. Freuds Be- 
merkungen in den Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, Leipzig 
1923, S. 16f. Anmerkung.) Von ihren Sublimierungen ist noch sehr 
wenig bekannt. Vielleicht darf man vermuten, daB die Sublimierung 
der mannlichen Sexualitat vorwiegend in der Richtung des geistigen 



gleicheu Menschen, die zu den von Ferenczi beschriebenen „Sonntags- 
neurosen" neigen, das heiBt keine Unterbrechung ihrer Arbeit vertragen. 
Wie jede neurotisch ubertriebene Tendenz ihr Ziel leicht verfehlt, so ge- 
schieht es auch oftmals dieser. Die Patienten sparen oft Zeit im kleinen 
und verlieren sie im grofien" (Abraham, S. 23). 

1 ) Es erhebt aich hier das zentrale, von der Psychoanalyse bisher wenig 
erdrterte Problem der Psychologie der Liebe. 



266 Erich Fromm 

Eindringens, Zeugens, Ordnens, die der weiblichen Sexualitat in 
der Richtung des Aufnehmens, Bergens, Produzierens und in der 
Richtung der bedingungslosen mtitterlichen Liebe liegt 1 ). 

Die hier skizzenhaft wiedergegebene psychoanalytische Theorie 
der Entwicklung der Sexualitat und der Objektbeziehungen ist ein 
noch rohes und in vieler Beziehung hypothetisches Schema, an dem 
die analytische Forschung noch manche wichtige Punkte zu andern 
und in das sie sehr viele neue einzutragen haben wird. Sie ist aber ein 
Ausgangspunkt, der das Verstandnis der triebhaften Hintergriinde der 
Charakterziige ermoglicht und den Zugang zu einer Erklarung der 
Entwicklung des Charakters eroffnet. 

Diese Entwicklung bedingen zwei Faktoren, die in verschiedener 
Richtung wirksam sind. Einmal ist es die k&rperliche Reifung des 
Individuums : vor allem das Wachstum der genitalen Sexualitat und 
die physiologisch relativ geringer werdende Rolle der oralen und analen 
Zone, aber auch die Reifung der Gesamtpersonlichkeit und die damit 
verknupfte geringere Hilflosigkeit, die eine objektfreundliche, liebende 
Haltung ermoglichen. Der zweite, die Entwicklung vorwartstreibende 
Faktor wirkt von auBen auf das Individuum ein; es sind die gesell- 
schaftlichen, zunachst und am eindrucksvollsten durch die Erziehung 
vermittelten Regeln, die die Verdrangung der pragenitalen Sexual- 
strebungen bis zu einem hohen Grade verlangen und so gleichsam 
der genitalen Sexualitat den Vormarsch erleichtern. 

•Dieser Vormarsch gelingt aber haufig nur unvollkommeri, und die 
pragenitalen Positionen bleiben oft in direkter oder sublimierter 
Form uberdurchschnittlich stark bestehen. Fur ein uberdurchschnitt- 
lich starkes Erhaltenbleiben pragenitaler Strebungen gibt es grund- 
satzlich zwei Ursachen: entweder eine Fixierung, d. h. durch be- 
sonders starke Befriedigungs- oder Versagungserlebnisse in der 
Kindheit blieben die pragenitalen Wiinsche gegen die Entwicklung 
resistent und erhielten sich in besonderer Starke ; oder eine Regression, 
d. h. nachdem die normale Entwicklung beendet ist, fiihrt eine 
besonders starke innere oder auBere Versagung zu einer Abwendung 
von der Liebe, einem Riickzug von der Genitalitat zu jenen alteren 
pragenitalen Organisationsstufen der Libido. In der Wirklichkeit 
w*irken gewOhnlich Fixierung und Regression zusammen, d. h. eine 
gewisse Fixierung stellt eine Disposition dar, die im Falle einer Ver- 

x ) Die hier angeriihrten Problems fuhren zu Fragen* die innerhalb 
der Psychoanalyse teils noch unerortert, teils umstritten sind und deren 
nahere Diskussion wir uns an dieser Stelle versagen miissen. Vgl. Reich, Der 
genitale und der neurotische Charakter. Int. Ztschr. f. Psychoanalyse, 1929. 



Die psychoanalytische Charakterologie und ihre Bedeutung usw. 267 

sagung relativ leicht eine Regression auf die fixierte Triebstufe zur 
Folge hat. 

Die psychoanalytische Charakterologie kann nicht nur durch den 
Nachweis der libidinOsen Grundlagen der Charakterziige deren dyna- 
mische Funktion als Produktivkraft in der Gesellschaft verstehen 
lassen, sie bildet andererseits auch den Ansatzpunkt ftir eine Sozial- 
psychologie, die auf zeigt, daB die fur eine Gesellschaft typischen, durch - 
schnittlichen Charakterziige ihrerseits durch die Eigenart dieser Gresell- 
schaft bedingt sind. Diese soziale Beeinflussung der Charakterentwick- 
lung geht zunachst und vor allem durch das Hauptmedium, durch 
das sich die psychische Formung des einzelnen im Sinne der Gesell- 
schaft vollzieht, vor sich : durch die Familie. In welcher Weise und 
mit welcher Starke bei einem Blind gewisse pragenitale Strebungen 
unterdriickt oder verstarkt werden, in welcher Weise es zu Subli- 
mierungen oder Reaktionsbildungen angeregt wird, hangt wesentlich 
von der Erziehung ab, die ihrerseits der Ausdruck der psychischen 
Struktur der Gesellschaft ist. Aber uber die Kindheit hinaus wirkt 
die Gesellschaft auf die Ausbildung des Charakters ein. Fiir die- 
jenigen Charakterziige, die innerhalb einer bestimmten Wirtschafts- 
und Gesellschaftsstruktur bzw. innerhalb einer bestimmten Klasse 
am brauchbarsten sind, die ein Individuum am meisten innerhalb 
dieser Gesellschaft fordern, besteht etwas, was wir als „soziale 
Pramie" bezeichnen mOchten und was bewirkt, daB sich derCharakter 
der „normalen", d. h. in dieser Gesellschaft als „gesund" geltenden 
Menschen im Sinne der Struktur dieser Gesellschaft anpaBt 1 ). Der 
Charakter entwickelt sich also im Sinne der Anpassung der libidintfsen 
Struktur — zunachst durch das Medium der Familie, dann unmittelbar 
im gesellschaftlichen Leben — an die jeweilige gesellschaftliche 
Struktur. Eine ganz besondere Rolle spielt hierbei die Sexualmoral 
einer Gesellschaft. Es wurde gezeigt, daB die pragenitalen Strebungen 
zum entscheidenden Teil in der genitalen Sexualitat aufgehen. In 
dem MaBe, in dem innerhalb einer Gesellschaft die herrschende Sexual- 
moral die genitale Sexualbefriedigung hemmt, muB eine Verstarkung 
der pragenitalen Strebungen bzw. der aus ihnen formierten Charakter- 



x ) Die Unterscheidung zwischen „normaIen" \md „neurotischen" 
Charakterziigen ist selbst weitgehend von gesellschaftlichen Faktoren 
bedingt und lafit sich eigentlich immer nnr mit Bezug auf eine ganz be- 
stimmte Gesellschaft treffen, wo eine dieser Gesellschaft nicht angepaBte 
Charakterstruktur eben krankhaft ist. Der Charakter eines kapitalistischen 
Kaufmanns des 19. Jahrhunderts ware jedenfalls einer feudalen Gesell- 
schaft recht „krank" erschienen und umgekehrt. 



268 Erich Fromm 

zitge eintreten. Durch die Verscharfung des Verbots genitaler Be- 
friedigung wird das Zuruckstromen der Libido zu den pragenitalen 
Positionen und damit das verstarkte Auftreten oraler und analer 
Charakterzuge im gesellschaftlichen Leben erreicht. 

Da die Charakterzuge in der libidinOsen Struktur verankert sind, 
zeigen sie auch eine relative Stabilitat. Sie bilden sich zwar im Sinne 
der Anpassung an die gegebenen wirtschaftlichen und gesellschaft- 
lichen Verhaltnisse aus, aber sie verschwinden nicht ebenso rasch, 
wie sich diese Verhaltnisse andern. Die libidinose Struktur, aus der 
sie erwachsen, hat eine gewisse Tragheit und Schwerkraft, und es 
bedarf erst wieder eines lang dauernden neuen Anpassungsprozesses 
an neue Okonomische Bedingungen, bis eine entsprechende Ver- 
anderung der libidinOsen Struktur und der aus ihr erwachsenden 
Charakterzuge erf olgt. Hierin liegt ein Grund, warum der ideologische 
Uberbau, der auf den fur eine Gesellschaft typischen Charakterzugen 
basiert, sich langsamer verandert als der ttkonomische Unterbau. 

Die Anwendung der psychoanalytischen Charakterologie auf sozio- 
logische Probleme soil hier an einem konkreten Beispiel versucht 
werden. Jedoch handelt es sich dabei vor allem um einen Hinweis 
auf den zu beschreitenden Weg, nicht aber um die endgiiltige Be- 
antwortung des als Beispiel gewahlten Themas. 

Hierfiir scheint das Problem des ,,Geistes" des Kapitalismus, 
der seelischen Grundlagen der biirgerlichen Gesellschaft, aus zwei 
Griinden besonders geeignet zu sein : einmal weil der Teil der psycho- 
analytischen Charakterologie, der am meisten zum Verstandnis des 
biirgerHchen Geistes heranzuziehen sein wird, die Theorie von den 
analen Charakterzugen, der relativ ausfiihrlfchste und gesichertste 
ist; zum andern weil tiber dieses Problem eine relativ grofie sozio- 
logische Literatur und Kontroverse besteht, die die Heranbringung 
eines neuen Gesichtspunktes, eben des psychoanalytischen, besonders 
empfiehlt. 

Unter „Greist" des Kapitalismus bzw. der biirgerlichen Gesell- 
schaft verstehen wir die Summe der fur die Menschen dieser Gesell- 
schaft typischen Charakterzuge, wobei das entscheidende Gewicht 
auf den durch diese Charakterzuge reprasentierten libidinOsen Stre- 
bungen, d. h. also auf der dynamischen Funktion des Charakters 
liegt. Charakter wird hier von uns allerdings in einem sehr weiten 
Sinn gebraucht, und die Definition, wie sie Sombart 1 ) vom „Geist" 
einer Wirtschaft gibt, wiirde im groBen und ganzen auch von uns 

x ) Der Bourgeois, Miinchen u. Leipzig 1913, S. 2. 



Die psychoanalytische Charakterologie und ihre Bedeutung usw. 269 

verwandt werden ktfnnen. Er nennt den „ Geist" einer Wirtschaft 
„die Gesamtheit seelischer Eigenschaften, die beim Wirtschaften 
in Betracht kommen. Alle AuBerungen des Intellekts, alle Charakter- 
ztige, die bei wirtschaftlichen Strebungen zutage treten, ebenso 
aber auch alle Zielsetzungen, alle Werturteile, alle Grundsatze, von 
denen das Verhalten des wirtschaftenden Menschen bestimmt und 
geregelt wird". Insoweit es sich aber * nicht nur urn den Geist 
der Wirtschaft im engeren Sinn, sondern urn den ,, Geist" der 
Gesellschaft, bzw. einer Klasse handelt, werden wir nicht 
nur die Ziige untersuchen, die „beim Wirtschaften" in Frage 
kommen, sondern nach den typischen seelischen Eigenschaften 
des Individuums dieser Klasse oder Gesellschaft fragen, das ja 
dasselbe ist, ob es wirtschaftet oder nicht. Auch unterscheiden 
wir uns von Sombarts Begriff des „Geistes" dadurch, daB es 
uns nicht auf die ,, Grundsatze, Werturteile" usw. als solche an- 
kommt, sondern auf die Charakterziige, deren rationalisierter Aus- 
druck sie sind. 

Ganz ausscheiden wollen wir den Zusammenhang des burgerlichen 
Geistes mit dem Protestantismus und den protestantischen Sekten. 
Dieses Problem ist so komplex, daB schon seine fliichtige ErOrterung 
hier viel zu weit fuhren wiirde. Ebensowenig kann die Frage 
nach den Okonomischen Ursachen der kapitalistischen Gesell- 
schaft hier beruhrt werden. Einerseits wurde dies ebenfalls den 
Rahmen dieser illustrierenden Ausfiihrungen sprengen, andererseits 
ist die vorubergehende Vernachlassigung methodisch zulassig, wenn 
man nur die Eigenart des „Charakters" einer Gesellschaft beschreiben 
und untersuchen will, wie der Charakter als Ausdruck einer bestimm- 
ten „HbidinOsen Struktur" der Gesellschaft selbst als Produktivkraft 
an deren Entwicklung Anteil hat. Eine ausgefuhrte sozialpsycho- 
logische Untersuchung muBte von der Darstellung der Okonomischen 
Tatsachen ausgehen und zunachst aufzeigen, wie sich die libidinOse 
Struktur gerade diesen Tatsachen anpaBt. Endlich diirfen wir uns 
auch nicht mit der sehr komplizierten und umstrittenen historischen 
Frage beschaftigen, von wann an man eigentlich von einem Kapita- 
lismus und kapitalistisch-burgerlichem Geist sprechen kann. Es soil 
vielmehr davon ausgegangen werden, daB es einen solchen Geist, 
der gewisse einheitliche Ziige tragt, gibt, gleichgiiltig, ob wir 
ihn, wie Sombart meint, am fruhesten schon um die Wende des 
14. Jahrhunderts in Florenz treffen, oder im England des 
17. Jahrhunderts, ob bei Defoe, Benjamin Franklin, Carnegie 



270 Erich Fromm 

oder eihem durchschnittlichen deutschen Kaufmann des 19. Jahr- 
hunderts 1 ). 

Die Eigenart des kapitalistisch-biirgerlichen Geistes laBt sich zu- 
nachst am leichtesten negativ beschreiben, durch das, was er im Ver- 
gleich mit dem vorkapitalistischen Geist, etwa dem des Mittelalters, 
nicht hat : Lebensghick und LebensgenuB ist fiir die biirgerliche Psyche 
nicht mehr selbstverstandlich bejahterZweck, dem dasHandeln und 
speziell das wirtschaftliche dient. Es ist dabei zunachst gleichgultig, 
ob es sich urn den weltlichen LebensgenuB, den die seigneurale Lebens- 
fuhrung der feudalen Klasse gewahrt, handelt oder urn die „Seligkeit", 
die die Kirche der Masse versprach, oder auch um den relativen Ge- 
nuB, den die Masse durch prunkvolle Feste, herrliche Gebaude und 
Bilder und viele Feiertage erhielt. Immer ist Anspruch auf Gliick, 
Seligkeit, GenuB oder wie man es sonst bezeichnet, das selbstverstand- 
liche Recht des Menschen und der selbstverstandliche Zweck wirt- 
schaftlichen wie auBerwirtschaftlichen Verhaltens. 

Der biirgerliche Geist bringt hierin eine entscheidende und gar 
nicht zu ubersehende Anderung: das Gliick h6rt auf, selbstverstand- 
licher Zweck des Lebens zu sein, und etwas anderes nimmt die oberste 
Stelle der Werte ein: die Pflicht. Kraus stellt diesen Punkt als einen 
der wichtigsten Unterschiede zwischen der scholastischen und calvi- 
nistischen Einstellung heraus. „Was Calvins Arbeitsethos vom scho- 
lastischen streng unterscheidet, ist die Ausschaltung der Zweck- 
setzung imd die Betonung eines formalen Berufsgehorsams, dem das 
Material, an dem es sich betatigt, vOllig indifferent ist, der mit 
eherner Disziplin nur eines befiehlt: aus Gresinnungsgehorsam zu 
handeln" (S. 245). Bei aller sonstigen Polemik gegen Max Weber 
erklart Kraus: „Hier hat Weber gewiB recht, wenn er sagt, ,daB die 
Schatzung der Pf lichterfiillung innerhalb der weltlichen Berufe als des 
h6chsten Inhalts, den die sittliche Selbstbetatigung iiberhaupt an- 
nehmen kann' (Weber, Ges. Aufsatze uber Religionssoziologie, 
S. 63 f.), der alten Kirche wie dem Mittelalter unbekannt waren." Die 
Einschatzung der Pflicht (an Stelle von Gliick oder Seligkeit) als 
obersten Wertes zieht sich vom Calvinismus durch das ganze biirger- 
liche Denken, ob nun theologisch oder wie immer rationalisiert. 

r ) Vgl. insbesondere : Sombart, Der Bourgeois, Miinchen 1913; 
Max Weber, Ges. Aufsatze zur Religionssoziologie. Bd. 1. Tubingen 1920; 
Tawney, Religion and the Rise of Capitalism, London 1927; Brentano, 
Die Anf ange des modernen Kapitalismus, Miinchen - 1 916; Troeltsch, Die 
Soziallehren der christlichen Kirche. Ges. Schr. Bd. I, Tubingen 1919; 
Kraus, Scholastik, Puritanismus und Kapitalismus, Miinchen und Leip- 
zig 1930. (Vgl. bei diesem auch die ausfuhrlichen Liter aturangaben.) 



Die psychoanalytische Charakterologie und ihre Bedeutung usw. 271 

Mit dem in den Mittelpunkt Treten des Pflichtbegriffs geht eine 
andere Veranderung einher: man wirtschaftet nicht mehr urn des 
(standesgemaBen) Lebensunterhalts willen, sondern Besitzen und 
Sparen werden, unabhangig von dem GenuB des Erworbenen, zu 
ethischen Forderungen bzw. zu an sich lustvollem Verhalten. In 
der einschlagigen Literatur ist hieriiber soviel Material beigebracht 
worden, daB wir uns hier mit ganz wenigen beispielhaften An- 
deutungen begntigen kOnnen. 

Sombart zitiert als besonders eindrucksvoll fur diese neue Bewer- 
tung des Sparens einige Stellen aus Albertis Eamilienbuchern : 
„Wie vor jedem Todfeind hiite man sich vor iiberflussigen Ausgaben." 
„ Jede Ausgabe, die nicht unbedingt notig ist (molto necessario), kann nur 
aus Verriicktheit gemacht werden (da pozzia)." „Ein so schlechtes Ding 
die Verschwendung ist, so gut, nutzlich und lobenswert ist die Sparsam- 
keit." „Die Sparsamkeit schadet niemand, sie niitzt der Familie." „Heilig 
ist die Sparsamkeit." „WeiBt du, welche Leute mir am besten gefallen ? 
Diejenigen, die fur das N6tigste ihr Geld ausgeben und nicht mehr; den 
"UberfluB heben sie auf; diese nenne ich sparsam, gute Wirte (massai)." 
(L. B. Albert i, I libri della famiglia editi da Givolamo Man gin i, Firenze 1908, 
zit. bei Sombart, a. a. O. S. 140.) 

Alberti predigte aber auch die Okonomie der Krafte: 
„Die echte Maserizia soil sich auf das Haushalten mit drei Din gen, die 
unser sind, erstrecken: 1. unsere Seele, 2. unseren Korper, 3. — vor allem — 
unsere Zeit!" „Um von dem so kostbaren Gute, der Zeit, nichts zu ver- 
lieren, stelle ich mir diese Kegel auf: nie bin ich muBig, ich fliehe den Schlaf 
und lege mich 'erstj nieder, wenn ich vor Ermattung umsinke . . . Ich ver- 
fahre also so : ich fliehe den Schlaf und die Mufie, in dem ich mir etwas 
vornehme. Um alles in guter Ordnung zu vollbringen, was vollbracht 
werden mufl, mache ich mir morgens, wenn ich aufstehe, einen Zeitplan: 
was werde ich heute zu tun haben ? Viele Dinge : ich werde sie aufzahlen, 
denke ich, und jeder weise ich dann ihre Zeit zu: dieses tue ich heute, das 
nachmittags, das heute abend; und auf diese Weise vollbringe ich meine 
Geschafte in guter Ordnung fast ohne Miihe . . . Abends iiberdenke ich 
mir alles, ehe ich mich zur Ruhe lege, was ich getan habe . . . Lieber will 
ich den Schlaf verlieren als die Zeit." (Zit. bei Sombart, a. a. O. S. 142/43). 

Denselben Geist atmet die puritanische Ethik (vgl. Kraus a. a. O. 
S. 259), denselben Geist die Lebensregeln Benjamin Franklins sowohl 
wie des Burgers des 19. Jahrhttnderts. 

Eng verwandt mit dieser Einstellung zum Eigentum ist ein weiterer 
fur den burgerlichen „ Geist" charakteristischer Zug: die Bedeutung 
der Privatsphare. Ganz unabhangig vom Inhalt, der materieller 
wie seelischer Art sein kann, ist die Privatsphare etwas Heiliges, ein 
Eingriff in sie ist eines der elementaren Verbrechen. (Die starken 
Affekte gegen den Sozialismus, deren Ursprung auch bei vielen Be- 
sitzlosen sonst nicht verstandlich ware, kommen zum Teil daher, 
dafi er eine Bedrohung der Privatsphare bedeutet.) 



272 Erich Fromra 

Welches sind die fur den „Geist" des burgerlichen Kapitalismus 
charakteristischen Objektbeziehungen ? 

Am auffalligsten ist die Einschrankung des sexuellen Genusses, 
den die biirgerliche Sexualmoral vomimmt. GewiB ist auch die katho- 
lische Moral nicht genuBbejahend, aber es ist gar kein Zweifel, daB die 
Lebenspraxis der burgerlich-protestantischen Welt in diesem Punkte 
eine ganz andere war als die vorbiirgerliche. Eine Gesinnung, wie sie 
klassisch bei Franklin in seiner Tugendaufstellung zum Ausdruck 
kommt, ist eben nicht nur eine ethische Norm, sondern eine Wider- 
spiegelung der burgerlichen Praxis. Franklin sagt dort unter Punkt 12 
tiber Keuschheit: „Fleischeslust genieBe selten, auBer urn der Gesund- 
heit oder der Nachkommen halber, nie bis zur Ermattung oder Schwa- 
chung, noch auch zum Schaden deines eigenen oder fremden Friedens 
und Rufes" 1 ). 

Der Entwertung des sexuellen Genusses als solchem entspricht die 
Verdinglichung aller menschlichen Beziehungen innerhalb der burger- 
lichen Gesellschaft. Die Beziehungen der Menschen werden wesent- 
lich nicht mehr von der Liebe gestaltet, sondern von rationalen Er- 
wagungen. Speziell die Liebesbeziehungen sind weitgehend wirt- 
schaftlichen Gesichtspunkten untergeordnet. Zu der fur die biirger- 
liche Epoche charakteristischen Verdinglichung kommt weiterhin die 
Gleichgultigkeit gegen das Schicksal der Nebenmenschen, die fur die 
Beziehung der Menschen der burgerlichen Welt charakteristisch ist. 
Nicht daB man in der vorburgerlichen Epoche nicht oder auch nur 
weniger grausam gewesen ware, aber die biirgerliche Indifferenz hat 
eine bestimmte, fur sie spezifische Nuance: das Fehlen der Verant- 
wortung eines jeden fiir das Los aller 2 ), einer verpflichtenden, dem Mit- 
menschen als solchem geltenden, nicht an Bedingungen gekniipften 
liebenden Einstellung. 

Einen klassischen Ausdruck findet diese Gleichgultigkeit in der 
Definition, die Defoe von den Armen gibt 3 ). ,,Unter Armen verstehe 
ich eine Menge jammernder, unbeschaftigter und unversorgter Leute, 
welche fiir die Nation eine belastende Unannehmlichkeit sind 



x ) Dr. Benjamin Franklins Leben, aus dem Englischen iibersetzt, 
Weimar 1818, 1. Teil, S. 113f.. 

2 ) Unter den Tugenden, die Franklin fiir die wichtigsten halt (MaBigkeit, 
Schweigsamkeit, Ordnung, Entschlossenheit, Sparsamkeit, Betriebsamkeit, 
Aufrichtigkeit, Gerechtigkeit, Mai3igung, Reinlichkeit, Ruhe, Keuschheit 
und die spater noch hinzugefiigte ( ! ) Demut) kommt die Caritas, Liebe oder 
Gtite charakteristischerweise iiberhaupt nicht vor. 

a ) Defoe, Giving Alms no Charity, London 1704, S. 426; zit. bei Kraus 
a. a. O. S. 283. 



Die psychoanalytische Charakterologie und ihre Bedeutung usw. 273 

und eigener Gesetze bedurfen." DaB die Praxis des Kapitalismus, 
besonders im 1-8. und 19. Jahrhundert, dieser Gesinnung entsprach, 
ist bekannt. Aber auch im Urteil iiber den Tabaktrust in den Ver- 
einigten Staaten aus dem Jahre 1911 wird dieselbe Gesinnung fest- 
gestellt. „Im Felde der Konkurrenz wurde jedes menschhche Wesen 
. . . unbarmherzig beiseite geschoben 1 )." Die Lebensgeschichte der 
groBen amerikanischen Wirtschaftsfuhrer des 19. Jahrhunderts bietet 
eine einzige Illustration zu dieser Feststellung. Diese Mitleidslosigkeit 
erscheint im BewuBtsein des burgerlichen Geistes keineswegs als etwas 
Unethisches. Im Gegenteil, sie ist verankert in bestimmten religiOsen, 
bzw. ethischen Vorstellungen. An Stelle der fur den im SchoB der 
Kirche Geborgenen garantierten Seligkeit wird das Gluck in der 
burgerlichen Anschauung die Belohnung getaner Pflicht, eine Auf- 
fassung, die durch die Konstruktion unterstiitzt wird, daB im Kapi- 
talismus der „Ttichtige" unbeschrankte ErfolgsmOglichkeiten hat. 
Diese Mitleidslosigkeit des burgeriichen „Charakters" stellt eine not- 
wendige Anpassung an die Okonomische Struktur des Kapitalismus 
dar. Das Prinzip der freien Konkurrenz und der durch sie vor sich 
gehenden Auslese verlangt Individuen, die nicht durch Mitleid im 
wirtschaftlichen Handeln gehemmt werden, und laBt die am wenig- 
sten „Mitleidigen" zu den Erfolgreichsten werden. 

In unserer Aufzahlung der spezifisch burgerlichen Charakterzuge 
bedarf endlich noch einer der Erwahnung, auf dessen Wichtigkeit 
ausfuhrlich von den verschiedensten Autoren hingewiesen worden ist : 
die Rationalitat und Rechenhaftigkeit des burgerlichen Geistes. Es 
scheint uns, daB diese spezifisch burgerliche Rationalitat, die ja nicht 
identisch ist mit einer hohen Stufe rationaler Aufhellung iiberhaupt, 
weitgehend mit dem zusammenf allt, was man, unter einer rein psycho- 
logischen Kategorie, als „Ordentlichkeit" bezeichnen kOnnte. Die 
Lebensgeschichte Franklins ist ein typisches Beispiel dieser spezifisch 
burgerlichen „Ordentlichkeit" und Rationalitat 2 ). 

2 ) Zitiert bei Sombart, a. a. O. S. 234. 

*) Einen schonen Ausdruck findet diese „Ordentlichkeit" in dem Tages- 
plan, den sich Franklin selbst gemacht hat und den er in seinen Lebens- 
erinnerungen beschreibt (a. a. O. S. 118ff.)- »&& das Gebot der Ordnung 
erforderte, daB jeder Teil meines Geschaftes seine angewiesene Zeit habe, so 
enthielt eine Kolumne meines Biichleins folgenden Entwurf zum Gebrauch 
der vierundzwanzig Stunden eines natiirlichen Tages. 

Entwurf. 

Fruh. (5) . Aufstehen, waschen, an die machtige Gottheit 

Fr. Was habe ich (6) 1 mich wenden; an mein Tagewerk gehen und 

heute Gutes zu (7) | meinen Vorsatz fur heute zu fassen, die 

tun ? ' jetzigen Studien fortsetzen u. fnihstucken. 



274 Erich Fromm 

Es kam uns darauf an, auf einige wichtige, ftir den biirgerlich- 
kapitalistischen Geist typische Charakterziige hinzuweisen. 

Als die Hauptcharakterziige des biirgerlichen Geistes glaubten wir 
annehmen zu durfen: einerseits die Einschrankung des Genusses als 
Selbstzwecks (speziell der Sexualitat), den Riickzug von der Liebe und 
die Ersetzung dieser Positionen durch die lustvolle Rolle des Sparens, 
Saminebis und Besitzens als Selbstzweck, der Pflichterfiillung als 
obersten Wertes, der rationalen „Ordentlichkeit" und der mitleids- 
losen Beziehungslosigkeit zum Mitmenschen. 

Vergleichen wir diese Charakterziige mit den oben dargestellten 
typischen Zugen des analen Charakters, so fallt ohne weiteres auf, daB 
hier eine weitgehende Ubereinstimmung vorzuliegen scheint. Wenn 
diese t)bereinstimmung tatsachlich zutrifft, so ware die Annahme 
gerechtfertigt, daB die fur den Menschen der biirgerlichen Gesell- 
schaft typische libidinose Struktur durch eine Verstarkung der 
analen Labidiposition charakterisiert ist. Eine ausgefuhrte Unter- 
suchung hatte also eine unter psychoanalytischen Kategorien zu- 
reichende Beschreibung der burgerlich-kapitalistischen Charakter- 
ziige zu geben, dann aufzuzeigen, wie und inwiefern sich diese 
Charakterziige im Sinne der Anpassung an die Erfordernisse der 
kapitalistischen Wirtschaftsstruktur entwickelt haben und inwiefern 
andererseits die den Charakter formierende Analerotik selbst zu 



(8) . 

\l(\\\ Arbeiten 

Mittag. (12h Lesen oder meine Rechnungen durchsehen und 

(1) / essen. 
Nachmittag. (2) . 

\J. > Arbeiten 

(5) J 
Abend. (6) . 

Fr. Was habe ich (7) i Sachen an Ort gelegt. Abendessen, Musik, 
Gutes getan ? (8) f Zerstreuung, Gesprach, Prufung des Tages. 

(9) ' 
Nacht. (10K 

(II) 



(12) 

(1) 

(2) 

(3) 

(4) 



• Schlaf 



Auch die Tabelle, in die Franklin seine 13 Tugenden eingetragen hatte 
und taglich bei der Tugend, gegen die er verstofien hatte, ein Kreuz 
machte, ist ein typischer Ausdruck derselben „Ordentlichkeit", wie wir 
sie oben, plastisch von Abraham beschrieben, anfiihrten. 



Die psychoanalytische Charakterologie und ihre Bedeutung usw. 275 

einer die kapitalistische Wirtschaft vorwartstreibenden Produktiv- 
kraft wird 1 ). 

Obwohl wir uns ausdrucklich nicht um die Frage gekummert haben, 
von wann an man von einem Kapitalismus und einem burgerlich- 
kapitalistischen „Geist" sprechen kann, so laBt sich, sollen nicht 
schwere MiBverstandnisse entstehen, ein Hinweis auf die hochkapita- 
listische Entwicklung nicht vermeiden. Es ist deutlich, daB die fur 
den Burger des 16. — 19. Jahrhunderts typischen Charakterziige in 
demselben MaBe schwinden, als auch der klassische Typ des selb- 
standigen Unternehmers, der gleichzeitig Eigentiimer und Leiter des 
Unternehmens, immer mehr zurucktritt. Die Charakterziige, die den 
Kaufmann ehemals ftfrderten, sind teilweise fiir den GroBunter- 
nehmer des Hochkapitalismus eher hinderlich als fOrdernd. Eine Be- 
schreibung und Erklarung der Psyche des GroBunternehmers in der 
hochkapitalistischen Epoche ware eine andere Aufgabe, die mit den 
Mitteln der psychoanalytischen Sozialpsychologie vorzunehmen ware. 

In einer Schicht haben sich jedoch die burgerlichen Charakterziige 
auch noch im Hochkapitalismus erhalten: im Kleinbiirgertum, das 
zwar in kapitalistisch so fortgeschrittenen Landern wie etwa Deutsch- 
land wirtschaftlich und politisch ohnmachtig ist, aber noch in den 
alten Formen der kapitalistischen Epoche des 18. und 19. Jahr- 
hunderts wirtschaftet. Im heutigen Kleinburgertum sind dieselben 
fiir den analen Charakter typischen Ziige anzutreffen, wie sie fur den 
alten biirgerlich-kapitalistischen Geist angenommen wurden 2 ). 



*) Wichtige einschlagige Probleme, die einer ausfuhrlichen Unter- 
suchung bediirften, seien hier wenigstens erwahnt: das des Zurucktretens 
der Beziehung zur giitigen, ihre Kinder bedingungslos liebenden Mutter, 
die im mittelalterlichen Katholizismus eine dominierende Rolle spielt 
(vgl. meine Ausfuhrungen iiber die Mutterbedeutung der Kirche, Marias 
und Gottes in , , Entwicklung des Christusdogmas", Wien 1930), zugunsten 
der (typischerweise ambivalenten) Beziehung zum Vater, der selber mit 
dem Sohn rivalisiert und seine Liebe von der Erfullung bestimmter Be- 
dingungen abhangig macht; ferner das Problem der mannlichen Gebar- 
wiinsche, wie sie hinter der spezifisch kapitalistischen Produktivitat als 
Antrieb vorhanden sein mogen. 

8 ) Auch die Analyse des heutigen Kleinburgertums ist eine wichtige 
Aufgabe. Besonders sei auf die Eigenart der spezifisch kleinburgerlich- 
revolutionaren Einstellung hingewiesen: die fiir die anale Haltung iiber- 
haupt charakteristische Mischung von Verehrung der vater lichen Autoritat, 
der Sehnsucht nach Disziplin, in merkwiirdiger Einheit mit Rebellion. 
Die Rebellion geht nie gegen die Autoritat des Vaters als solche; diese 
bleibt in ihren Fundamenten bei aller Trotzeinstellung unangetastet. Dazu 
kann die ambivalent e Einstellung durch Spaltung der Objekte befriedigt 
werden : die Autoritatsimpulse werden am starken Eiihrer ausgelassen, die 
Rebellion an besonderen anderen Vaterfiguren, Der Unterschied klein- 
und groBburger licher Haltung laSt sich neben vielen sonstigen Beispielen 



276 Erich Fromm 

Das Proletariat weist ebenfalls nicht annahernd in demselben 
MaBe die analen Charakterziige auf wie das Kleirxbiirgertum 1 ). Da 
es eine Stellung im ProduktionsprozeB hat, die diese Charakter- 
ziige uberflussig macht, ist die Frage nach der Ursache dieser Anders- 
artigkeit leicht zu beantworten 2 ). Viel schwieriger ist die Frage, 
warum so viele Proletaries ebenso wie viele Kleinbtirger, die gar kein 
Kapital mehr zu verwalten, die gar nichts mehr zu sparen haben, 
dennoch mehr oder weniger biirgerlich-anale Ziige bzw. entsprechende 
Ideologien haben. Der entscheidende Grund hierfiir scheint uns darin 
zu liegen, daB die libidinOse Struktur, auf der diese Charakterziige be- 
ruhen, durch die Familie, aber auch durch andere kulturelle Ein- 
f liisse im alten Sinn beeinfluBt wird, daB sie ein gewisses Eigengewicht 
hat und sich langsamer andert als die okonomischen Tatsachen, 
denen sie einst angepaBt war. 

Die Bedeutung einer im Sinne der hier angedeuteten Illustration 
vorgehenden Sozialpsychologie fur die Soziologie liegt vor allem darin, 
daB sie ermoglicht, die im Charakter zum Ausdruck kommenden libi- 
dinosen Krafte in ihrer Rolle als die gesellschaftliche Entwicklung im 
Sinne der Entfaltung der Produktivkrafte vorwartstreibenden bzw. sie 
hemmendenFaktor zu verstehen. Hiermit wird es erst mOglich, demBe^ 
griff des „Geistes" einer Epoche einen konkreten, wissenschaftlich kor- 



sinnfallig darin illustrieren, daB die im kleinburgerlichen (Bier-)Kabaret be- 
liebte und herrschende Zote die anale ist, wahrend die fur das groBburger- 
liche (Wein-, bzw. Sekt-)Kabaret ebenso typische Zote die genitale ist. 

1 ) Inwieweit man bei ihm wie bei den ob j ektiv f ortgeschrittensten 
Teilen der Bourgeoisie von einem Anwachsen der genitalen Charakterziige 
sprechen kann, ist ein wichtiges, aber deshalb so schwieriges Problem, weil 
der „genitale Charakter" auch personalpsychologisch-klinisch noch so 
wenig untersucht ist. 

2 ) Wie wichtig die Analyse der spezifischen Charakterziige des Prole- 
tariats fur das Verstandnis des Sozialismus, fur die Ursachen seines Er- 
folges wie der Widerstande gegen seine Verwirklichung im Proletariat 
sind, braucht nicht besonders betont zu werden. Es sei hier nur auf den 
Gegensatz hingewiesen zwischen der Einstellung des Marxismus, der die 
menschliche Wiirde und Freiheit erst jenseits der wirtschaftenden Tatigkeit 
sieht, der fiir jeden Menschen bedingungsloses Recht auf Gliick und Be- 
friedigung fordert, der den verdinglichten Charakter menschlicher Be- 
ziehungen im Kapitalismus kritisiert, und den analen Ziigen des biirgerlichen, 
Geistes, der diesen Marxismus im Sinne der Forderung einer Gleichheit 
der den einzelnen zugeteilten Portionen typisch mifiversteht. Mit dieser 
Frage hangt eng eine andere zusammen, die hier nur angedeutet werden 
soil: das Zurucktreten der vaterlichen Autoritat im Psychischen und das 
Hervortreten der der Mutter zugewandten Ziige. (Die Erde wird zur alien 
ihren Kindern reichlich spendenden Mutter.) Hierher gehort die Befreiung 
der Frau ebenso wie zum kleinburgerlichen Faschismus die Betonung des 
mannlich- vaterlichen Autoritatsstandpunktes und die Unterwerfung der 
Frau. Auch der Zusammenhang des Nationalismus mit der patriarchalisch- 
kleinburgerlichen Struktur gehort in diesen Problemkreis. 



Die psychoanalytische Charakterologie und ihre Bedeutung usw. 277 

rekten Sinn zu geben. Wenn der Begriff des „Geistes" der Gesellschaft 
in dieser Weise verstanden wird, werden sich auch eine Reihe von 
Kontroversen in der soziologischen Literatur als hinfallig erweisen, 
weil sie daraus entspringen, daB der „Geist" als Ideologic aufgefaBt 
wird und nicht als libidinos bedingter Charakterzug, der sich in sehr 
verschiedenen und auch sich widersprechenden Ideologien ausdriicken 
kann. Die Anwendung der Psychoanalyse wird aber nicht nur dem 
Soziologen brauchbare Gesichtspunkte zur Untersuchung dieser Fragen 
in die Hand geben, sie wird ihn auch verhindern, kritiklos falsche 
psychologische Kategorien zu verwenden 1 ). 



1 ) Ein charakteristisches Beispiel hierfur sind die falschen und ober- 
flachlichen psychologischen Kategorien, mit denen Sombart arbeitet. 
So etwa, wenn er vom vorkapitalistischen Menschen sagt: „Das ist der 
natiirliche Mensch. Der Mensch wie ihn Gott geschaffen hat . . . Seine 
Wirtschaf tsgesinnung aufzuf inden ist deshalb auch nicht schwer : sie ergibt 
sich wie von selbst aus der menschlichen Natur" (a. a. O. S. 11). Oder 
wenn er die Psyche des Unternehmers des Hochkapitalismus damit erklart, 
dafi dieser im Grunde — ein Kind sei. Er sagt: ,,In der Tat scheint mir die 
Seelenstruktur des modernen Unternehmers, wie des von seinem Geiste 
immer mehr angesteckten modernen Menschen uberhaupt, am ehesten 
uns verstandlich zu werden, wenn man sich in die Vorstellungs- und Werte- 
welt des Kindes versetzt und sich zum Bewufitsein bringt, daB in unseren 
uberlebensgrofi erscheinenden Unternehmern und alien echt modernen 
Menschen die Triebkrafte ihres Handelns dieselben sind wie beim Kind. 
Die letzten Wertungen dieser Menschen bedeuten eine ungeheure Reduktion 
aller seelischen Prozesse auf ihre allereinfachsten Elemente, stellen sich 
also als eine vollstandige Simplifizierung der seelischen Vorgange dar, 
sind also eine Art von Riickfall in die einfachen Zustande der Kinderseele. 
Ich will diese Ansicht begriinden. Das Kind hat vier elementare Wert- 
komplexe, vier ,,Ideale" beherrschen sein Leben: 

1. das sinnlich Grofie . . . 

2. die rasche Bewegung ... 

3. das Neue ... 

4. das Machtgefuhl ... 

Diese — und wenn wir genau nachpriifen nur diese — Ideale des Kindes. 
stecken nun aber in alien spezifisch modernen Wertvorstellungen" (S. 
22H.). 



Zur Soziologie des amerikanischen Parteiensystems. 

Von 
Julian Gumperz (Berlin). 

I. 

Die Vereinigten Staaten von Amerika galten dem europaischen 
Liberalismus von jeher als das Mutterland der Demokratie. Die 
konstitutionellen Formen, welche die junge Republik jenseits des 
Atlantischen Ozeans in ihrer Verfassung ausgearbeitet hatte, wurden 
zum Vorbild fur zahlreiche politische Bewegungen auf dem alten 
Kontinent. Von den europaischen Parteien des Fortschrittes als 
Muster einer vernunftgemaBen Verfassung gepriesen, erfuhren sie 
von den Machten der Reaktion schon darum Zunickweisung, weil 
sie von jenen unterstiitzt waren. Beide Gruppen xibersahen aber die 
Tatsache, daB die demokratische Konstitution in den Vereinigten 
Staaten nicht das war, was sie ihnen von ihrem europaischen Gesichts- 
feld aus zu sein schien, namlich ein Synonym fur die Herrschaft des 
Volkes. 

Dieser europaische Irrtum betraf nicht nur die Verfassung der 
amerikanischen Demokratie, sondern auch die Instrumente, welche 
die Verfassung in die lebendige Wirklichkeit ubersetzen sollten: die 
Parteien, welche die amerikanische Szene von der Geburtsstunde 
der Verfassung an unter wechselnden politischen und organisatorischen 
Formen beherrscht haben. Es wiederholt sich hier ein typischer 
Fall von Interpretation f remden geschichtlichen Lebens : eine fremde 
Wirklichkeit wird unbewuBt auf die Recheneinheiten der eigenen 
Vorstellungswelt bezogen. 

Wenn die europaische Beurteilung der amerikanischen Verfassung 
und der Parteien, die auf ihrer Grundlage entstehen, immer wieder 
in die Feststellung miindet, daB es in Amerika keine Parteien im 
europaischen Sinne gebe, daB die amerikanischen Parteien Organi- 
sationen ohne eigentlichen politischen Inhalt darstellen, daB die 
Parteien nur Mechanismen sind, die Wahlstimmen registrieren, so 
kann man doch diese Auffassung nicht nur damit abtun, daB man 



Zur Soziologie des amerikanischen Parteiensystems 279 

sie als einen typisch europaischen Irrtum bezeichnet, denn auch 
in den Vereinigten Staaten selbst wird von vielen wissenschaft- 
lichen und popularen Schriftstellern eine ahnliche Anschauung 
vertreten. Nachdem Bryce die amerikanischen Parteien mit leeren 
Flaschen verglichen hatte, deren Etikett sich nur durch die Auf- 
schrift unterscheidet, ist dieser Vergleich im amerikanischen Schrift- 
tum selbst wie auch in der offentlichen Diskussion oft in zu- 
stimmendem Sinne wiederholt worden 1 ) . 

Das MiBverstandnis iiber Wesen und Funktion der politischen Par- 
teien der Vereinigten Staaten wurzelt demgemaB nicht ausschlieOlich 
in dem Umstand, daB die Vereinigten Staaten unter europaischen 
Gesichtspunkten betrachtet werden, es scheint vielmehr, als habe der 
Irrtum in der Methode der Betrachtung selbst seine Quelle. Man geht 
von der Parteiideologie aus, wenn man die Partei selbst untersuchen 
will. Man vergiBt, daB die Partei nicht ein selbstandiger isolierter Or- 
ganismus imRahmender Gesamtgesellschaft ist, sonderndaB bestimmte 
Funktionen sie mit dem politischen Leben der Nation verknupfen. 
Nur von diesen Funktionen aus und nicht von der Ideologic, welche 
die Partei zur Ausiibung ihrer Funktionen in der Offentlichkeit ent- 
wickelt, ist das Parteisystem in den Vereinigten Staaten zu begreifen. 

Wenn es richtig ist, daB jede groBe politische Partei die Interessen 
einer bestimmten Klasse der Gesellschaft vertritt, so wird umgekehrt 
nicht jede groBere Klasse der Gesellschaft ihre politische Vertretung 
in einer Partei finden 2 ). Das hangt nicht nur von einer Reihe von 
okonomischen und historischen Bedingungen ab, sondern auch in 
weitem Umfange von den konkreten politischen Formen, die von 
einer gegebenen Verfassung der Tatigkeit einer politischen Partei 
dargeboten werden. Darum wird die politische Vertretung bestimmter 
Klasseninteressen in verschiedenen Landern und zu verschiedenen 
Zeiten sich verschiedene politische Formen suchen. 

*) Vgl. hierzu Arthur M. Holcombe, The Political Parties o£ To-day, 
A Study in Republican and Democratic Politics, New York 1924, p. 1 — 13. 
Ebenso John W. Davis : Party Government in the TJnited States, Princeton 
1929, p. 31 ff. 

2 ) Der Absicht dieser Untersuchung liegt eine allgemein-theoretische Be- 
handlung der Beziehungen zwischen einer gesellschaftlichen Klasse und ihrer 
politischen Vertretung fern. Daher blieb auch die unter diesem Gesichts- 
punkt abgefaBte Literatur unberiicksichtigt. 

Dem aufmerksamen Leser wird es nicht entgehen, daB den folgenden 
Seiten eine bestimmte Auffassung von dem Zusammenhang zwischen Klasse 
und politischer Vertretung zugrunde liegt. Dieses theoretische Bild selbst 
hier zu entwickeln scheint um so unangebrachter, als sich ja die Theorie hier 
an einem konkreten Stoff zu bewahren hat und ihre kritische Abwehr nicht 
ins Abstrakt-Allgemeine abgelenkt werden sollte. 



280 Julian Gumperz 

Geschichtlich gesehen, haben sich natiirlich der Charakter der poli- 
tischen Partei in den Vereinigten Staaten, ihre Klassenaufgaben und 
die Mittel, mit Hilfe derer sie diese zu erfiillen suchte, verandert. Die 
Demokraten vom Jahre 1932 haben mit der von Andrew Jackson vor 
ungefahr hundert Jahren gegrlindeten Farmerpartei dieses Namens, 
von der sie historisch ihre Abstammung ableiten, kaum mehr 
als den Namen gemein. Die Republikaner von heute, die sich 
auf die Traditionen der von Alexander Hamilton und James 
Madison geleiteten Partei der Federalists aus der amerikanischen 
Revolutionszeit berufen, wurden von Hamilton oder Madison wohl 
kaum als Anhanger ihrer Auffassungen anerkannt werden. Aber trotz 
des veranderten politischen Gehalts der Parteien ist ihre Funktion 
im sozialen Gefiige der amerikanischen Gesellschaft im wesentlichen 
seit der Annahme der amerikanischen Verfassung vor ungefahr 
hundertfunfzig Jahren unverandert geblieben. Die erste Aufgabe, 
die wir daher hier zu lOsen haben, besteht in der Analyse der Funktion, 
welche die amerikanische Partei im Gesamtzusammenhang des 
politischen Lebens zu erfiillen hat. 

II. 

Die Verfassung, die eine siegreiche Klasse oder Klassengruppe 
einer Gesellschaft im Kampf aufzwingt, schreibt dieser ein bestimmtes 
Gesetz politischen Wachstums vor, von dem sie sich nur in einem 
neuen revolutionaren Kampf befreien kann. Durch sie entscheidet 
die siegreiche Klasse gleichzeitig, welche Rolle ihre eigene politische 
Interessenvertretung sowie die anderer Gruppen der Gesellschaft in 
der weiteren Auseinandersetzung der Klassen spielen werden. 

Zwischen dem amerikanischen Unabhangigkeitskrieg, der die Bande, 
welche die dreizehn Kolonien mit dem Mutterlande verkniipften, 
zerriB, und der Herstellung der staatlichen Einheit zwischen den 
Kolonien in Form der Verfassung, liegt eine Periode von mehr als 
einem Jahrzehnt, das von den heftigsten Klassenkampfen innerhalb 
der einzelnen Kolonien erfiillt war. Wahrend dieser Zeit gelang es 
konservativen StrOmungen innerhalb der einzelnen Staaten, welche 
die Interessen der industriellen und merkantilen Klassen vertraten, 
einzelstaatliche Verfassungen durchzusetzen, die gegentiber der 
ursprunglichen primitiven Demokratie der Kolonien einen geeig- 
neteren Schutz fiir ihre Interessen zu bieten schienen. So machten 
diese Gruppen hauptsachlich in den Neu-Englandstaaten des Nordens 
nach Durchsetzung geeigneter verfassungsrechtlicher Bestimmungea 



Zur Soziologie des amerikanischen Parteiensystems 281 

den Versuch, den Farmern und kleinen Handwerkern die Zahlung 
der wahrend des Unabhangigkeitskrieges aufgenommenen staatlichen 
Schulden aufzubiirden. Dies wurde von den Farmern mit einer 
Reihe von Aufstanden beantwortet, die 1786 in einem bewaffneten 
Kampf, der ,, Shays-Rebellion", kulminierten. Die Niederwerfung 
dieses Aufstandes durch die bewaffnete Macht iiberzeugte die be- 
wuBten Vertreter der herrschenden Klasse in den dreizehn Kolonien, 
daB die Zeit zur Konsolidierung der politischen Verhaltnisse und zur 
Durchsetzung einer Verfassung gekommen sei, welche ihre Interessen 
zu stiitzen geeignet ware 1 ). 

Diese Auffassung wird sogar von den hervorragendsten Politikern 
der Zeit ausgesprochen und anerkannt. James Madison, der neben 
Alexander Hamilton den bedeutendsten Anteil an der Abfassung 
und Durchsetzung der amerikanischen Konstitution hatte, schrieb 
in einem Brief aus dem Jahre 1821: 

„Die Notwendigkeit solch einer Konstitution wurde verstarkt durch die 
groben und unruhmlichen Ungleichheiten, die in der inneren Administration 
der meisten Einzelstaaten sich gezeigt hatten. Auch war die kurz vorher- 
gehende und alarmierende, von Shays in Massachusetts gefiihrte Insurrek- 
tion von bedeutsamem Einflufi auf das offentliehe BewuBtsein" 2 ). 

So setzt also die von Madison, Hamilton und deren Freunden 
vorgeschlagene Verfassung des Bundes nur den Kampf fort, den die 
klassenbewuBten Vertreter der industriellen und merkantilen Gruppen 
des Landes mit der physischen Niederwerfung der Farmer begonnen 
hatten. Aus der gesamten klassenmaBigen Situation der Zeit ergeben 
sich demgemaB die Absichten, welche die Vater der amerikanischen 
Konstitution mit ihr zu realisieren trachteten. 

Sucht man so zu dem Kern der amerikanischen Verfassung zu ge- 
langen, dann ist man nichtauf eine langeund umstandliche verfassungs- 
rechtliche Interpretation ihrer einzelnen Bestimmungen angewiesen, 
man ist vielmehr in der Lage, auf die Begrundung zuriickzugreifen, 
welche die Vater der Verfassung selbst gegebenhaben. In denBerichten, 
die Madison iiber die Debatten der verfassunggebenden Versammlung 
hinterlieB, sowie in der unter dem Namen ,, Federalist" bekannt ge- 
wordenenSammlungvonAufsatzen, die Alexander Hamilton und James 
Madison in den Jahren 1787 und 1788 schrieben, sind die entschei- 
denden Gesichtspunkte, welche den Aufbau der amerikanischen Ver- 



x ) Vgl. Vernon Louis Parrington, Main Currents in American Thought. 
An Interpretation of American Literature from the Beginnings to 1920. 
Vol. I. The Colonial Mind, New York 1927, p. 277. 

2 ) The Records of the Federal Convention of 1787, edited by Max Farrand, 
New Haven 1911, Vol. Ill, p. 449. 



282 Julian Gumperz 

fassung motivieren, mit nicht zu iiberbietender Deutlichkeit ausge- 
sprochen 1 ). 

Die wesentliche Funktion einer Regierung, fuhrt Madison hierin 
aus, besteht darin, die Menschen in ihrer verschiedenen Befahigung 
zu beschutzen, Besitz zu erwerben. „Aus diesem Schutz verschieden- 
artiger und ungleicher Befahigungen, Besitz zu erwerben, entspringt 
sofort das Eigentum in seinen verschiedenen Graden und Formen." 
Dieser Umstand ist, meint Madison, die Basis jedes politischen 
Lebens. 

„Aus dem Einflufi dieser verschiedenen Eigentumsformen auf die Ge- 
fuhle und Gesichtspunkte der betreffenden Eigentumer entsteht eine Spaltung 
der Gesellschaft in verschiedenartige Interessen und Parteien . . . Die all- 
gemeinste und dauerhaf teste Quelle fur Gruppenbildungen ist also die ver- 
schiedenartige und ungleiche Verteilung des Besitzes. Diejenigen, die Eigen- 
tum haben, und diejenigen, die ohne Eigentum sind, haben immer verschieden- 
artige Interessen in der Gesellschaft vertreten . . . Ein Grundbesitzerinter- 
esse, ein Industrielleninteresse, ein Handlerinteresse, ein Bankenintefesse 
sowie viele kleinere Interessen entstehen mit Notwendigkeit in zivilisierten 
Nationen und spalten sie in verschiedene Klassen, die von verschiedenen 
Gefuhlen und Gesichtspunkten angetrieben werden. Diese verschiedenartigen 
und einander feindlichen Interessen zu regulieren, ist die Hauptaufgabe 
modemer Gesetzgebung. Und diese Aufgabe schliefit den Geist der Parteien- 
und Gruppenbildung in den notwendigen und gewdhnlichen Handlungen der 
Regierung ein." 

Und bier gibt es auch keinen Ausweg, die Ursachen der Parteien- 
bildung in der modernen Gesellschaft kOnnen nicht beseitigt werden; 
denn „wir wissen" — schreibt Madison — , ,,daB wir uns weder auf 
moralische noch auf religiose Motive als auf ein sicheres Mittel der 
Kontrolle verlassen konnen". Die ungleiche Verteilung des Eigen- 
tums ist unvermeidlich, und ebenso unvermeidlich werden aus ihr 
sich bekampfende Gruppen im Staate entstehen. Die Regierungs- 
gewalt wird und muB diesen unvermeidlichen Konflikt widerspiegeln, 



x ) „Sicherlich das uberragendste Werk aus dieser Zeit ist der federalist', 
eine Sammlung von 85 Aufsatzen, welche in kurzen Abstanden (ein bis zwei 
pro Woche) in verschiedenen New Yorker Zeitungen wahrend der Jahre 
1787 und 1788 erschien. Sie wurden geschrieben von Hamilton, Madison 
und Jay. Hamilton war der Initiator, er entwarf den Gesamtplan und lieferte 
den grofiten Teil der Beitrage. Unterstutzt wurde er in wesentlichen Fragen, 
besonders in Details, von Madison, nur wenige der Aufsatze stammen von Jay. 
Im einzelnen ist die Autorschaft fur manche Aufsatze noch strittig.*' Alex 
Bein, Die Staatsidee Alexander Hamiltons in ihrer Entstehung und Entwick- 
lung, Miinchen und Berlin 1927, p. 124/5. 

Von amerikanischen Forschern wird der Anteil Madisons bedeutender 
eingeschatzt. Dafiir spricht auch der Umstand, da6 die zehnte Nummer des 
Federalist, die den Kern der gesamten politischen tJberlegungen enthalt 
und auf die wir uns im wesentlichen in unserer Darstellung stiitzen, von 
Madison geschrieben ist. Als beste Ausgabe des jjFederalist' 1 gilt heute die 
von P. L. Ford, New York, 1898. 



Zur Soziologie des amerikanischen Parteiensystems 283 

doch die entscheidende Gefahr wird dem neuen Staate nur daraus 
entstehen konnen, daB sich bestimmte Interessen zu einer domi- 
nierenden Majoritat fusionieren, die — wie Madison voraussagt — 
in der Zukunft voraussichtlich das landlose Proletariat sein wird. 

„In zukiinftigen Zeiten wird eine groBe Mehrheit des Volkes nicht 
nur ohne Grundeigentum, sondern ohne jedes Eigentum uberhaupt sein. 
Daher wird sie unter dem EinfluB dieser gemeinsamen Situation sich 
zusammenschliefien. In diesem Fall werden das Eigentum und die offent- 
liche Freiheit in ihrer Hand nicht mehr sicher sein. Oder, was auch 
moglich ist, die Massen werden zu Instrumenten und Werkzeugen des 
Ehrgeizes werden. In diesem Fall droht eine gleichartige Gefahr auf der 
anderen Seite." 

Die Aufgabe der Verfassung ist es, die Nation vor diesen Gefahren 
zu bewahren. ,,Das Allgemeinwohl zu sichern", erklart er, „und 
die privaten Rechte gegen die Gefahr solcher Gruppenbildungen zu 
schtitzen, zu gleicher Zeit aber den Geist und die Form einer 
Regierung durch das Volk zu bewahren — das ist das groBe 
Ziel, dem wir unsere Untersuchungen zu widmen haben." 

So waren sich Madison und mit ihm die ganze Gruppe, die sich 
unter seine und Hamiltons Fuhrung begab, des Grundproblems 
vollkommen bewuBt, das die amerikanische Verfassung zu lOsen hatte, 
namlich ob die dreizehn Kolonien weiter in einer losen Vereinigung 
bleiben sollten, die in ihrem demokratischen laissez-faire die Grund- 
rechte des Privateigentums gefahrdete, oder ob in einem fest organi- 
sierten Bundesstaat ein kraftvolles Bollwerk gegen die revolutionar- 
demokratischen Krafte der Zeit errichtet werden solle. Hatten sich 
in den Einzelstaaten bereits Mehrheiten in den gesetzgebenden 
Versammlungen gebildet, die den demokratischen Willen des Volkes 
als das hOchste und einzige Gesetz deklarierten, so muBte die neue 
Verfassung demgegeniiber ihre eigenen Grundprinzipien dem mog- 
lichen Zugriff solcher Mehrheiten entziehen. Government by law 
and not by men — das war daher die Parole, in der die Foderalisten 
ihre Absichten verkiindeten. 

Sollte uberhaupt eine von England unabhangige soziale und poli- 
tische Entwicklung des Landes sichergestellt werden, so muBte der 
Schutz des Privateigentums als suprema lex verkiindet und garantiert 
werden. Das war die Grundanschauung, von der die Schopfer der 
amerikanischen Verfassung ausgingen. So wurde der von ihnen 
vertretene Foderalismus zu einem Mittel, die unabhangige Ent- 
wicklung des Kapitalismus in den Vereinigten Staaten durchzusetzen. 

Von dieser Grunduberzeugung gingen die Foderalisten ebenso bei 
der Abfassung der Konstitution wie auch bei den ersten groBen poli- 



284 Julian Gumperz 

tischen MaBnahmen aus, die sie nach Erledigung des Verfassungs- 
kampfes durchfuhrten. Der ^Report on Manufactures" vom Dezember 
1791, den Alexander Hamilton dem KongreB der Vereinigten Staaten 
vorlegte, ist ein Dokument, das an staatsmannischer Einsicht und 
okonomischem Weitblick nur von wenigen AuBerungen anderer 
politischer Fuhrerpersdnlichkeiten ubertroffen wird. Mit klarem 
BewuBtsein zog es aus den Ergebnissen der industriellen Revolution 
in England die Lehren ftir Amerika. Es erkannte, welche ungeheuren 
Quellen neuen Reichtums in der Anwendung der englischen Prinzipien 
auf das neue Land sich erschlieBen wlirden. Es stellte die auBer- 
ordentlichen MSglichkeiten fest, welche Fabrikorganisation, Ver- 
drangung der Handarbeit durch die Maschine, fortschreitende Arbeits- 
teilung und Einbeziehung der gesamten Bevolkerung, Manner, 
Frauen und Kinder in den ArbeitsprozeB dem neuen Land bieten 
wiirden. Es betonte noch einmal die Notwendigkeit der Konsoli- 
dierung der nationalen Schuld, wie das Hamilton bereits in seinem 
Bericht iiber die offentlichen Finanzen mit den Worten verkiindet 
hatte : 

„Eine nationale Schuld, falls nicht ubergrofl, wird fvir uns einen natio- 
nalen Segen bedeuten. Sie wird unseren Bund zusammenschmieden. Sie 
wird die Notwendigkeit schaffen, die Steuern in einem AusmaGe aufrecht- 
zuerhalten, das, ohne driickend zu sein, fur die Industrie einen Ansporn be- 
deutet . . . Sonst bestunde die Gefahr einer zu groBen Sparsamkeit und Nach- 
lassigkeit, zu der uns unsere popularen Maximen antreiben konnten. Wir 
arbeiten jetzt weniger als irgendeine zivilisierte Nation in Europa, und die 
Gewohnheit zu arbeiten ist ebenso wesentlich fiir die Gesundheit und Kraft 
des Volkes, wie sie ertragreich ist fiir die Wohlfahrt des Staates" 1 ). 

Diese von den F5deralisten verfochtene Grundanschauung stand 
nicht nur im scharfsten Kampf gegen die urspriinglichen demokra- 
tischen ELrafte, welche die amerikanische Revolution auf die histo- 
rische Biihne gefiihrt hatte, sondern sie wurde auch heftig von Gruppen 
befehdet, die selbst Teile der herrschenden Klasse darstellten. So 
lehnten die Anti-Foderalisten, die sich spater unter Jeffersons Fiihrung 
zur Partei der Republikaner 2 ) zusammenschlossen, eine Entwicklung 
der amerikanischen Union nach englischem Vorbild ab. Jefferson 
schrieb : 



x ) Vgl. Parrington, Vol. I, p. 308ff. Ferner: The Works of Alexander 
Hamilton, edited by Henry Cabot Lodge, New York, 1885; besonders Vol. Ill: 
Finance, Trade, Foreign Relations. 

2 ) Erst unter Andrew Jackson nahm die Partei Jeffersons den bis dahin 
verponten Namen „Demokraten" an, den sie bis zum heutigenTage beibe- 
halten hat. 

Vgl. hierzu auch die Schrift von Gilbert Chinard : Jefferson et les Ideologues 
(d'apres sa correspondance inedite avec Destutt de Tracy, Cabanis, I. B. Say 



Zur Soziologie des amerikanischen Parteiensystems 285 

„AUgemein gesprochen stellt die Proportion, die der Landmann in einem 
Staate zu den iibrigen Teilen der Bevolkerung einnimrnt, genau die Propor- 
tion der gesunden Teile zu den ungesunden dar . . . Solange wir noch Land 
zu bebauen haben, laBt uns nie den Tag herbeiwiinschen, an dem unsere 
Burger an einer Werkbank beschaftigt sind . . . Mogen unsere Werkstatten 
in Eur opa bleiben ! Es ist besser, Vorrate und Rohmaterial zu den Arbeitern 
dort zu bringen, als umgekehrt die Arbeiter zu den Vorraten und Roh- 
materialien hierher zu transport ieren . . . Die Menschenmassen in den groBen 
St ad ten tragen ebensoviel zur XJnterstiitzung einer reinen Regierung bei, 
wie Schwaren zur Kraft des mensehlichen Korpers" 1 ). 

Indem Jefferson und seine Freunde sich einer selbstandigen kapi- 
talistischen Entwicklung in den Vereinigten Staaten entgegenstellten, 
vertraten sie damit die Entwicklung Amerikas als einer agraren Basis 
fur den europaischen Kapitalismus. Ihre Schwache bestand nicht nur 
darin, daB sie sich einer bereits eingetretenen industriellen Ent- 
wicklung in den Kolonien entgegenstemmten ; sie lag zum mindesten 
ebensosehr in dem Umstande, daB sie den Widerspruch zwischen der 
unabhangigen und selbstandigen Farmwirtschaft des Nordens und 
der SklavenOkonomie des Stidens iibersahen 2 ). 

III. 

Wenn, wie die Fdderalisten und mit ihnen die Mehrheit der konsti- 
tuierenden Versammlung glaubten, einander entgegengesetzte Inter- 
essen notwendig mit der modernen Gesellschaft entstehen und in der 
Politik sich widerspiegeln, so folgt daraus mit zwingender Notwen- 
digkeit dieHauptaufgabe, welche der neuen amerikanischen Verfassung 
gestellt war: sie hat einer moglicherweise sich bildenden Mehrheit, 



et Auguste Comte, Baltimore und Paris, 1925, in der es auf S. 51 heifit: 
„ . . . Jefferson, der so vieie Jahre im Kampf gegen die verderblichen aristo- 
kratischen Lehren, deren Vertreter Hamilton war, und gegen die Angli- 
sierung der amerikanischen Verfassung verbracht hatte." 

*) Vgl. Charles A. Beard, The American Party Battle, New York 1928, 
p. 36, ferner Parrington, Vol. I; p. 347, wie auch den Brief von Jefferson an 
John Jay vom 23. August 1785 in Thomas Jefferson: Letters and Addresses, 
edited by Parker and Viles, New York, 1908, pp. 40—42. 

2 ) Es ist interessant und charakteristisch zu beobachten, dafi Jefferson, 
als er im Jahre 1800 die Prasidentschaft ubernahm, sich gezwungen sah, 
die Politik Hamiltons, Madisons und ihrer Freunde zu betreiben, eine Politik, 
die er 25 Jahre lang so leidenschaftlich bekampft hatte. „ Hat ten die Fodera- 
listen" — schreibt Ch. A. Beard (Economic Origins of Jeffersonian Demo- 
cracy, New York, 1915, p. 449/50) — „tatsachlich ein Abkomraen vor der 
Wahl mit Jefferson getroffen gehabt, so hat ten sie kaum eine klarere An- 
erkennung der von ihnen vertretenen Interessen erreichen konnen. Ob 
Jefferson jemals im Ernst einen Krieg gegen die groBen kapi talis tischen 
Interessen, die er so heftig angeklagt hat, in Betracht zog oder spater die 
Nutzlosigkeit eines solchen Vorgehens einsah, . - . dariiber kann man inter- 
essante Spekulationen anstellen. Das Ergebnis jedoch war das gleiche, 
was auch immer das Motiv seiner Politik gewesen sein mag." 



286 Julian Gumperz 

die gewillt ware, die Minderheitsinteressen zu majorisieren und zu 
vergewaltigen, entgegenzuwirken, ihre Weiterentwicklung zu hemmen 
und durch die Form der politischen Apparatur selbst die miteinander in 
Widerstreit liegenden Interessen moglichst im Gleichgewicht zu halten. 

Durch welche Mittel nun ist das Ziel zu erreichen, dem Madison 
seine Untersuchungen widmen wollte ? Wie er selbst erklart, gibt es 
hier nur zwei Moglichkeiten : entweder muB uberhaupt die Entwick- 
lung eines gemeinsamen Interesses in einer Mehrheit verhindert 
werden, oder diese Mehrheit muB, wenn sie durch gleiche Leiden- 
schaften und Interessen zusammengeschmiedet wird, „durch ihre 
Zahl und ihre lokale Lage dazu unfahig gemacht werden, sich zu 
vereinigen und Mafinahmen der Unterdriickung durchzuflihren". 

In dieser Hinsicht offenbaren sich uberhaupt nach Madison die 
voneinander divergierenden Prinzipien einer Demokratie und einer 
Republik. Wahrend in einer Demokratie das Volk direkt seinen 
Willen kundgibt, delegiert es in einer Republik die politische Macht 
an eine kleine Zahl von Burgern. Wahrend eine Demokratie sich 
notwendig aus kleinen geographischen und bevolkerungspolitischen 
Einheiten zusammensetzen muB, kann eine Republik eine grofiere 
Zahl von Burgern und einen groBeren geographischen Raum umfassen. 

„Die Wirkung des ersten Unterschiedes besteht darin, die offentliche 
Meinung zu verfeinern, indem sie durch das Medium einer gewahlten Korper- 
schaf t hindurchgef uhrt wird . . . Der zweite Unterschied laBt Kombinationen 
selbstsiichtiger Interessen in einer Republik weniger gefahrlich als in einer 
Demokratie erscheinen . . . Indem man die raumliche Sphare ausdehnt und 
so eine grofiere Unterschiedlichkeit von Gruppen und Interessen einschliefit, 
macht man es weniger wahrscheinlich, daC eine Mehrheit des Ganzen ein 
gemeinsames Motiv besitzt, das sie veranlafit, die Rechte der anderen Burger 
anzutasten; oder, falls etwa ein solch gemeinsames Motiv entstehen sollte, 
macht man es fur alle, die sich seiner bewufit sind, schwieriger, ihre Starke 
zu entdecken und in Einheit miteinander zu handeln." 

Dieser Auffassung Madisons pflichtete auch Hamilton in einer 
Rede vor der konstituierenden Versammlung bei, indem er als die 
beiden Prinzipien, auf denen allein der Aufbau einer Republik moglich 
ist, die folgenden bezeichnete : erstens miissen Republiken eine solche 
Ausdehnung besitzen, daB dadurch Kombinationen von BevOlkerungs- 
gruppen auf Grand gemeinsamer Interessen erschwert werden, und 
zweitens muB durch den Vorgang der Wahl die Reprasentation 
des Volkes von diesem selbst abgelost werden. 

Wenn demgemaB die demokratische Kammer, das Reprasen- 
tantenhaus, direkt durch das Volk, der Senat, die aristokratische 
Kammer, von den Legislaturen der Einzelstaaten, der President von 



Zur Soziologie des amerikanischen Parteiensy stems 287 

Wahlmannern, die nur zu diesem Zweck vom Volk bestimmt werden, 
gewahlt werden, dann wird, wie Madison ausfuhrt, die Wahrschein- 
lichkeit sehr gering sein, daB „ein gemeinsames Interesse diese drei 
verschiedenen Zweige der Regierung zu einer einseitigen Parteilichkeit 
fur eine bestimmte Klasse von Wahlern zusammenzementiert". 

Diesem Gedankengang entspricht auch das Wahlrecht, das die 
Verfassung ursprunglich vorsah. Es war nur folgerichtig, daB Madison 
und Hamilton keine Vorliebe fur ein allgemeines und gleiches Wahl- 
recht hatten 1 ). Wenn sie aber trotz aller Bedenken das aktive und 



*) In den Notizen, die sich Madison zu einer Rede iiber die Frage des 
WahJrechts wahrend der Verhandlungen der verfassunggebenden Versamm- 
lun; gemacht hat, f inden sich folgende Bemerkungen : „Das Wahlrecht ist ein 
funcfcmentaler Grundsatz in einer republikanischen Verfassung. Seine Re- 
g Hit] ung jedoch ist gleichzeitig eine Aufgabe besonderer Feinfuhligkeit. 
Gi. ; man das Recht ausschlieBlich dem Eigentum, so sind die persdnlichen 
R ' hte in Gefahr. Die feudale Staatsfuhrung allein beweist dies genugend. 

Dehnt man es jedoch gleichmaBig auf alle aus, so konnen die Rechte des 
Eigi ntums oder die Forderungen der Gerechtigkeit von einer Majoritat ohne 
Eigentum iiberrannt werden . . . Dafur liefern andere Regierungen durch das 
Volk genugend Beweise, und es ist auch nicht ohne Bei spiel in unserer eigenen, 
besonders wenn man an die Gesetze denkt, welche die Vertragstreue in Frage 
gesttllt haben ... 

Da die Besitzer von Eigentum gemeinsam mit deri Burgern ohne Eigentum 
alle anderen Rechte besitzen, werden sie mehr als diese davon zuruckgehalten, 
die Rechte der anderen zu kurzen. Nichtsdestoweniger ist es sicher, daB es viele 
verschiedenartige Wege gibt, auf denen die Reichen die Armen unterdriicken 
konnen und auf denen das Eigentum die Freiheit in Frage stellt. Die Welt 
ist voll von Beispielen dieser Art. Die Armen miissen einen Schutz gegen diese 
Gefahr haben. 

Auf der anderen Seite kann man sich die Gefahr fur die Besitzer von Eigen- 
tum nicht verhehlen, wenn sie schutzlos einer Majoritat ohne Eigentum gegen- 
iibt rstehen. GroBe Korperschafteri werden nicht weniger von ihren Interessen 
gft. rieben als Etnzelindividuen. Nur werden sie weniger von der Furcht 
voi Vorwiirfen und ahnlichen anderen Motiven, die bei Einzelindividuen eine 
Roll.- spielen, kontrolliert . . . 

Die Vereinigten Staaten besitzen einen kostbaren Vorteil in der tatsach- 
licli n Verteilung des Eigentums, besonders des Landeigentums, wie auch 
in G'.r allgemeinen Hoffnung, Eigentum zu erwerben. Diese letztere Eigen- 
tii Uichkeit gehort mit zu den gliicklichsten Ziigen in ihrer Situation, ver- 
ghchen mit der der Alten Welt, in der keine vorauss/ itliche Veranderung 
in uie&er Hinsicht dem Volk eine gleiche Sympathie fiir die Rechte des Eigen- 
tums einfloBen kann. Augenblicklich hat die Nation eine Mehrheit von 
hiK isassen und ihrer Erben, bzw. von Menschen, die mit Recht hoffen konnen, 
tin freies Stuck Land zu erhalten. Mag auch der Tag, da solche Freisassen 
niuht mthr eine Mthiheit in der Gesellschaft umfassen, noch sehr fern sein, 
.-■ wird or doch eintreten. Kann man auch zugeben, daB das anbaufahige 
iwciid noch in viele kleinere Teile aufgeteilt werden kann, so wird dennoch 
» me wachsende Yolkyzahl . . . die Freisassen in eine Minoritat verwandeln. 
Und warm inimer aiu Mehrheit ohne Land oder anderes Eigentum und ohne 
dii Mitttl odor die Hoifnung, es zu erwerben, sein wird, worin wird dann die 
ucherhcit. aer Rechtt des Privateigen turns gegen die Gefahr einer Gleichheit 
und Allgumeinheit ou .s Wahlrechtes begriindet sein, das die Macht iiber das 
Eigentum in Hanuc iogt, die keinen An teil daran haben ?" 

Tho 3s> -ords of th. Federal Convention of 1787, Vol. Ill, p. 451/2. 



288 Julian Gumperz 

passive Wahlrecht nicht an eine verfassungsrechtlich verankerte 
Voraussetzung eines bestimmten Besitzes gekniipft haben, so lag 
das einerseits daran, daB man sich nicht auf bestimmte Eigentums- 
vorbehalte einigen konnte, und andererseits daran, daB die Ver- 
fassungen der Einzelstaaten, denen die Bundesverfassung dieses 
Problem iiberlieB, ihrerseits bereits ein bestimmtes Minimum an 
Eigentum als Voraussetzung des Wahlrechtes vorschrieben. Es ist 
bezeichnend, daB sich Uberreste dieser Bestimmungen noch bis zum 
heutigen Tage in einer Reihe von Einzelstaaten erhalten haben. 

Die Vater der amerikanischen Verfassung haben so nicht nur in 
den allgemeinen Prinzipien, die sie der Verfassung zugrunde legten, 
sondern auch in den konkreten Formen, die sie ihr gaben, einen 
bewundernswerten politischen Instinkt bewiesen. Nicht nur, daB 
sie verfassungsrechtlich eine vOllige Trennung der Gewalten vor- 
sahen, eine Trennung in eine legislative, exekutive und richterliche 
Gewalt, die gegeneinander verselbstandigt werden sollten, sie haben 
auch bereits an den Quellen, die sie fur die Bildung dieser Gewalten 
bestimmten, fur ihre reale Trennung Sorge getragen. Das Reprasen- 
tantenhaus wird nach dem Willen der Vater der Verfassung direkt 
von den Teilen des Volkes gewahlt, die von den Einzelstaaten als 
geeignet und feif fiir die Ausiibung des Wahlrechts betrachtet werden. 
Der Senat wird von den gesetzgebenden Korperschaften der Einzel- 
staaten gewahlt, die ihrerseits im Jahre 1787 auf Grund von be- 
stimmten Eigentumsvoraussetzungen zustande gekommen waren. Der 
President wird von Wahlmannerri bestimmt, die ihrerseits nach 
Gesichtspunkten, wie sie den Einzelstaaten geeignet erscheinen 
mogen, gewahlt werden. Die Richter des Obersten Bundesgerichts 
werden vom Prasidenten gemeinsam mit dem Senat bestimmt, 
die beide direkter Kontrolle durch das Volk entzogen sind und deren - 
Amtszeit langer ist als die des Reprasentantenhauses. 

Das Reprasentantenhaus wird auf zwei Jahre gewahlt, die Sena- 
toren auf sechs, doch nicht in einem einzigen Wahlgang, denn ein 
Drittel des Senats muB sich alle zwei Jahre neu zur Wahl stellen. 
Die Amtszeit des Prasidenten betragt vier Jahre, die Richter des 
Obersten Bundesgerichts iiben ihr Amt bis zum Tode aus. 

Nimmt man einmal mit den Vatern der Verfassung als Ziel der- 
selben den Zweck an, die burgerliche Ordnung gegen feindliche 
Majoritaten zu sichern, so wird man wohl zugeben miissen, daB die 
amerikanische Verfassung eines der sichersten zu diesem Behufe er- 
fundenen Instrumente in der Geschichte der biirgerlichen Welt darstellt. 



Zur Soziologie des amerikanischen Parteiensystems 289 

Man muB sich die amerikanische Verfassung in dieser ihrer tech- 
nischen Konstruktion vergegenwartigen, urn einzusehen, welche 
fast unuberwindlichen Schwierigkeiten sie gefahrlichen Majoritaten 
in den Weg legt. Denn sind solche dominierenden Majoritaten unter 
den Wahlberechtigten der Nation vorhanden, so kOnnen sich diese 
direkt nicht auswirken, weil ihnen ein Hindernis dnrch die indirekte 
Wahl von Senat 1 ) und Prasident entgegengestellt wird. AuBerdem 
mtiBten sie sich sechs Jahre lang in unverminderter Starke behaupten, 
nm sich — wenn es ihnen iiberhaupt gelange — auf indirektem Wege 
im Senat fuhlbar zu machen; und endlich mtiBten sie auch noch den 
Widerstand der richterlichen Gewalt iiberwinden, was auf legalem 
Wege nur moglich ware, wenn wahrend der Amtszeit eines oppo- 
sitionellen Prasidenten und einer oppositionelien Mehrheit im Senat 
geniigend Richter des Obersten Bundesgerichts sturben, um auch 
in diesem eine oppositionelle Mehrheit zu errichten. Dabei muBten 
alle diese Umstande zeitlich zusammenfallen, so daB die dominierende 
Mehrheit sich iiber das Reprasentantenhaus hinaus auswirken konnte. 

Der Grundgedanke, der die Verfassung der Vereinigten Staaten 
als Ganzes wie auch in ihren Teilen durchdringt, besteht demgemaB 
in der Uberzeugung, daB das Privateigentum als solches die Re- 
gierungsgewalt begriindet und uber ihr stent, daB die Rechte dieses 
Privateigentums infolgedessen dem Eingriff politischer Majoritaten 
entzogen sein sollen. So ist die Verfassung der Vereinigten Staaten 
in der Form, wie sie von ihren Vatern konzipiert wurde, als ein Mittel 
gedacht, die burgerliche GeseUschafts- und Eigentumsordnung gegen 
die Moglichkeit feindlicher Eingriff e zu sichern. 

Fur die Biegsamkeit und Elastizitat der amerikanischen Verfassung, 
wie sie 1787 von Madison und seinen Freunden geschaffen wurde, ist 
bezeichnend, daB auch revolutionare Veranderungen der Okono- 
mischen und sozialen Struktur des Landes schlieBlich nur dazu 
gefiihrt haben, den ursprunglichen Willen der verfassunggebenden 
Versammlung, namlich den, das Privateigentum zu schiitzen, der 
veranderten historischen Situation anzupassen. Wahrend das Privat- 
eigentum im allgemeinen jenseits der Verfassung stent, weil es diese 
erst begriindet, wird der Schutz des Privateigentums im besonderen 
gewissen Bestimmungen der Verfassung anvertraut. Veranderungen 
und Erganzungen der Konstitution, welche der geschichtliche ProzeB 
ihrer Anpassung an die sich verandernde historische Gesamtsituation 

x ) Seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts werden die Senatoren direkt 
durch das Volk gewahlt. 



290 Julian Gumperz 

des Landes notwendig macht, sind in ihr selbst vorgesehen und mit 
ihrem Grundgedanken unlGslich verkniipft. 

Eines der sohlagendsten Beispiele hierfur ist das 14. Verfassungs- 
Amendement, das nach dem amerikanischen Btirgerkrieg angenommen 
wurde und zum Ziel hatte, einerseits den Negern die Burgerrechte 
zu verleihen, anderefseits eine groBe historische Expropriation, die 
Expropriation der Sklavenbesitzer der Siidstaaten, zu vollziehen 1 ). 
Wenn dieses Amendement nur diese beiden Funktionen erfullt hatte, 
so besaBe es heute nur noch historisches Interesse. Das Amendement 
enthalt jedoch einen kleinen Nachsatz, der fur die Klassenbeziehungen 
zwischen Unternehmern und Arbeitern von grundlegender Be- 
deutung geworden ist und der damals von einem bewuBten Vertreter 
der aufstrebenden industriekapitalistischen Klasse dem Amendement 
beigefiigt wurde. Dieser Satz heiBt: ,,Kein Einzelstaat soil ein Gesetz 
annehmen oder durchfuhren diirfen, das die Rechte von Biirgern der 
Vereinigten Staaten verkurzt; auch soil es keinem Staate erlaubt 
sein, einen Menschen seines Lebens, seiner Freiheit oder seines Eigen- 
tums zu berauben, ohne das gesetzmaBig vorgeschriebene Verfahren 
zu beachten. Noch soil es ihm gestattet sein, einem Menschen in 
seinem Machtbereich den gleichmaBigen Schutz der Gesetze zu 
versagen." Als vor mehreren Jahren der Staat New York die Arbeits- 
stunden in Backereien auf 60 pro Woche begrenzen wollte, erklarte 
der Oberste Gerichtshof das Gesetz fur ungultig, da es die Freiheit des 
Vertragsrechtes in Frage stelle und damit das 14. Amendement 
verletze. 

Dabei ist es interessant zu beobachten, wie sich in dem KongreB- 
komitee, das dieses Verfassungs-Amendement formulierte, zwei 
Gruppen, unabhangig von der ParteizugehOrigkeit, gegenuberstanden. 
Die eine beabsichtigte nur, die Rechte der Neger sicherzustellen, 
die andere hatte ihren Bhck auf die gesamte, durch die Negereman- 
zipation vorbereitete und eingeleitete soziale Umwalzung geheftet. 
Der Fuhrer dieser zweiten Gruppe, ein erfolgreicher Eisenbahnan- 
walt aus Ohio, hat selbst in einer spateren, vor dem KongreB der Ver- 
einigten Staaten gehaltenen Rede seine Absichten bei der Formu- 
lierung dieses Satzes ausgesprochen. Es war ihm — wie er mit- 
teilte — aufgefallen, daB die Verfassung der Vereinigten Staaten 
keine Handhaben gegen einen Eingriff eines Einzelstaates in Rechte 

x ) Die Entwickliing der Parteigruppierungen in der dem Btirgerkrieg 
unmittelbar vorausgehenden Periode behandelt Th. Clarke Smith in seiner 
Arbeit: ^Parties and Slavery, 1850—1859" (Vol. 18 der Sammlung „The 
American Nation: A History), New York 1906. 



Zur Soziologie des amerikanischen Parteiensy stems 291 

des Privateigentums bot. So hatte z. B. die Stadt Baltimore Privat- 
eigentum zum stadtischen Gebrauch ohne Kompensation enteignet, 
und der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten hatte unter den 
bestehenden verfassungsmaBigen Bestimmungen seine Inkompetenz 
zugestehen miissen. Dem sollte der letzte Satz des Amendements 
abhelfen 1 ). 

In der Tatsache also, dafi solche Veranderungen wie die eben 
skizzierte im Sinne der ursprunglichen Verfassung, in ihrer Anpassung 
an die sich verandernde geschichtliche Situation erfolgt sind, doku- 
mentiert sich der geniale staatsmannische Weitblick ihrer ursprung- 
lichen Begrunder. 

Aus der Teilung der Gewalten, welche die amerikanische Ver- 
fassung vorsieht, aus der Aufspaltung der politischen Funktionen in 
legislative, exekutive und richterliche, ergeben sich eine Reihe von 
Konsequenzen fur das amerikanische politische Leben, die man 
beachten mu£, wenn man die Rolle der Partei in den Vereinigten 
Staaten begreifen will. Sollen die Gewalten namlich wirklich ge- 
trennt bleiben, so muB die Prasidialgewalt unabhangig von der 
Legislative sein. Das amerikanische Kabinett ist daher ein Kabinett 
des Prasidenten, nicht ein Kabinett des Kongresses, es wird weder 
aus dem Parlament gebildet, noch kann es durch das Kabinett ver- 
andert werden. Als Exekutivorgan ist der amerikanische Prasident 
wahrend seiner Amtszeit absoluter Diktator, dem KongreB wie auch 
seinem eigenen Kabinett gegeniiber. 

Aus dieser Tatsache ergeben sich bezeichnende Folgen im Gegen- 
satz etwa zu einem parlamentarisch regierten Lande wie England, 
Folgen, auf die schon Walter Bagehot in seinem zuerst 1868 er- 
schienenen klassischen Buche uber die englische Verfassung 2 ) aufmerk- 
sam gemacht hat. In England kann das Kabinett Gesetzgebung durch 
die Drohung eines Rucktritts oder einer Parlamentsauflosung er- 
zwingen. Bern amerikanischen Prasidialkabinett stehen solche Mittel 
nicht ziu 1 Verfiigung. Ein parlamentarisches Kabinett bedeutet 
ferner eine politische Erziehung der Nation, wahrend von einem 
Prasidialkabinett keinerlei Wirkungen dieser Art ausgehen. Bagehot 
schreibt : 

„Ob die Regierung gestiirzt oder an der Macht bleiben wird, wird durch 
die Debatten und die Gruppierungen im Parlament best i mm t. Ferner durch 
die Meinungsbildung auBerhalb des Parlaments, jener geheimnisvoll sich 

2 ) Vgl. Charles A. Beard and William Beard, The American Leviathan: 
The Republic in the Machine Age, New York 1930, pp. 47/49, 654ff. 
2 ) Walter Bagehot, The English Constitution, London 1913 



292 Julian Gumperz 

durchsetzenden Stimmung der Gesellschaft, die auf jene Gruppierung einen 
groflen Einflufl hat. Die Nation ist sich der Tatsache bewufit, dafi ihr Urteil 
von Wichtigkeit ist . . . Bei einem Prasidialkabinett dagegen hat die Nation 
aufier im Augenblick der Wahl keinen Einflufi . . . Zweifellos gibt es auch 
dann Debatten im Parlament — doch das sind Prologe, ohne dafi das Stuck 
auf sie f olgt. Es umspielt sie nicht eine Stimmung der Katastrophe : man kann 
die Regierung nicht stiirzen" 1 ). 

Unter der gleichen Schwierigkeit leidet bei einer Prasidialver- 
fassung die Presse. Sie kann weder zum Sturz einer Regierung noch 
zum Aufstieg einer neuen beitragen. Das direkte politische Interesse 
der amerikanischen Presse wird daher mehr ein passives als ein 
aktives sein mussen. Denn keiner will lange Artikel lesen, die kaum 
einen EinfluB auf die Ereignisse ausuben. Wenn aber die Verfassung 
aus den genannten Griinden die politischen Funktionen der Staats- 
fuhrung voneinander geschieden und gegeneinander verselbstandigt 
hat, so miissen doch diese Funktionen wiederum zu einer Einheit 
zusammengefafit werden, soil der Staatsapparat nicht durch einander 
kompensierende Krafte lahmgelegt werden. Diese Aufgabe erfullt 
die Partei, 

IV. 

Die primare Funktion, welche die politische Partei im staatlichen 
Leben der nordamerikanischen Union zu erfullen hat, besteht also 
nicht darin, irgendein weltanschaulich oder prinzipiell begrundetes 
politisches Programm zu realisieren, sondern vielmehr darin, gegen- 
uber der durch die Verfassung begriindeten Trennung und Auf- 
spaltung der Gewalten die Einheit der Staatsfiihrung durchzusetzen 
und zu garantieren. Ohne sie wurde die Staatsgewalt in auseinander- 
strebende Teile zerfallen, und ein reibungsloses Funktionieren der 
gesamten politischen Maschinerie ware dem Spiel des Zufalls iiber- 
antwortet 2 ). Es ist klar, dafi schon aus diesem Grunde, soziologisch 

!) Bagehot, p. 21 

2 ) Vgl. hierzu die Interpretation, die Goodnow dem amerikanischen 
Parteiensystem in seiner Schrift ,, Politics in Administration" gegeben hat. 

Auch er leitet die Funktion der Partei aus der Struktur des Regierungs- 
sy stems ab und weist darauf hin, dafi wegen der Teilung der Gewalten und der 
ihr entsprechenden Dezentralisation der mit politischer Au tori tat ausge- 
statteten Organe keine Instanz existiert, die eine zentralisierende und kon- 
trollierende Funktion ausiibt. Daher sei der Partei die Aufgabe zugef alien, 
die divergierenden Gewalten und die auseinanderliegenden Pilichten der 
verfassungsmafiig vorgesehenen Regierung zu koordinieren. 

Auch Croly vertritt in seiner Schrift ,, Progressive Democracy" die gleiche 
Auffassung. Er unterstreicht nur die hierbei mitspielenden sozialen und oko- 
nomischen Faktoren energischer als Goodnow. 

Vgl. hierzu auch Charles Edward Merriam: American Political Ideas. 
Studies in the Development of American Political Thought. New York 1920» 
p. 291 ff. 



Zur Soziologie des amerikanischen Parteiensy stems 293 

gesehen, die amerikanische Partei in dem ganzen System der Regierung 
ein viel groBeres spezifisches Gewicht bekommt als etwa in Landern, 
in denen die Partei ein integrierender Bestandteil des Verfassungs- 
sy stems selbst ist. DaB die aktiven Parteiarbeiter in den Vereinigten 
Staaten ihrer Partei eine Loyalitat beweisen, wie sie in europaischen 
Parteien jedenfalls nicht zu den Selbstverstandlichkeiten gehort, daB 
der amerikanische Wahler sozusagen von Geburt Republikaner oder 
Demokrat ist, erklart sich soziologisch schon aus der eigentiimlichen 
Funktion, welche die amerikanische Partei im politischen Gesamt- 
system der Nation ausubt. 

Erst durch die politische Partei wird schlieBlich auch garantiert, 
daB der Sinn der Verfassung, namlich die Aufrechterhaltung der 
burgerlichen Rechts- und Eigentumsordnung, erfullt wird. Prinzipiell 
wird daher der Kampf urn die politische Macht in den Vereinigten 
Staaten, soweit er sich innerhalb und durch die politische Partei 
vollzieht, immer ein Kampf rivalisierender burgerlicher Gruppen 
sein mussen. Der oben geschilderte Mechanismus der Konstitution 
schaltet demgemaB von vornherein alle Schichten und Probleme aus, 
welche die biirgerliche Rechts- und Eigentumsforderung selbst grund- 
satzlich in Frage stellen. ; 

Diese ihr auf Grund des ganzen konstituierenden Mechanismus 
zufallende Funktion hat die Partei in den Vereinigten Staaten trotz 
der fundamentalen in der okonomischen Basis der amerikanischen 
Gesellschaft wahrend des letzten Jahrhunderts erfolgten Veranderung 
mit groBem Erfolge erfullt. Gegeniiber den Klassenkampfen, die die 
amerikanische Szene erfullt und die Umwandlung der amerikanischen 
Gesellschaft in eine hochindustriell und finanzkapitalistisch organi- 
sierte begleitet haben, hat die amerikanische Partei stets wie ein 
Filter gewirkt: in den ruhigeren Perioden der Geschichte war er 
dicht genug, um die zwischen den Klassen sich abspielenden Kampfe 
und die hieraus resultierenden Fragen meist iiberhaupt nicht durch- 
zulassen, wahrend er in Epochen zugespitzter Konflikte ihren sozialen 
und politischen Widerhall nur abgeschwacht passieren lieB. 

A. M. Sait macht in seiner Schrift „ American Parties and Elections", 
New York 1927 (bei einer ahnlichen Grundauffassung) noch auf einen anderen 
Umstand aufmerksam. Er schreibt: „Welches sind demgemafi die Aufgaben, 
die die Parteien erf iillen ? Sie geben erstens dem aufierst komplizierten 
Regierungsmechanismus Zusammenhalt, der auf Grund der Bundes- und 
einzelstaat lichen Verfassungen entstanden ist. Zu einem bestimmten Grade 
mi Idem sie die Nachteile des Foderativsy stems, indem sie die Politik der 
Einzelstaaten und der Nation in solchen Fallen in Einklang bringen, bei denen 
politische Handlungen, um effektiv zu sein, gleichzeitig an beiden Stellen 
stattfinden mussen " (p. 159). 



294 Julian Gumperz 

Nach den obigen Ausfuhrungen ware es natiirlich auch denkbar, 
daB die Aufgabe, die den politischen Parteien in den Vereinigten 
Staaten zufallt, von einer einzigen Partei oder von einer Vielzahl 
von Parteien verwaltet wiirde. Tatsachlich hat es auch bestimmte 
Perioden in der politischen Geschichte der Union gegeben, in dem 
das bundesstaatliche Leben nur eine einzige Partei gekannt hat. 
Wenn die Prasidialgewalt, die verfassungsrechtlich ja eine domi- 
nierende Stellung f ur sich beansprucht, nicht an die Person eines 
einzigen Mannes und damit auch an die einer einzigen der zur Macht 
strebenden burgerlichen Gruppen gebunden ware, so hatte sich wahr- 
scheinlich das Zwei-Parteiensystem in den Vereinigten Staaten in 
seiner heutigen Form nie entwickeln kOnnen 1 ). 

Um nun zu begreifen, in welcher Weise die politische Partei im 
staatlichen Leben der Union ihre fundamentale Aufgabe erfullt, 
muB man sich mehr mit der organisatorischen Form, die sich das 
Parteileben geschaffen hat, als mit denParteiprogrammenbeschaftigen. 
Natiirlich tragt die Organisationsform der politischen Partei in den 
Vereinigten Staaten — und hier ist absichtlich der Singular gewahlt, 
weil sich auch in dieser Beziehung die beiden Parteien nur noch in 
Nuancen, nicht mehr im Grundlegenden unterscheiden — auch das 
Resultat all der Veranderungen in sich, die in den gesellschaftlichen 
und Skonomischen Verhaltnissen wahrend ihrer geschichtlichen 
Existenz vor sich gegangen sind. Der ProzeB dieser Veranderungen 
selbst kann hier nicht verfolgt werden. Es kdnnen nur seine Ergeb- 
nisse aufgedeckt werden, wie sie sich in den heutigen Organisations- 
formen der politischen Partei kristallisiert haben. 

Der politische Grundmechanismus des amerikanischen Systems ist 
so konstruiert, daB er die burgerlichen Eigentums- und Rechts- 
formen dem eigentlichen politischen Fragebereich entzieht. Dabei 
enthalt er an geeigneten Stellen, mit geschickter Hand eingebaut, 
Sicherheitsventile fiir Volksstimmungen, die gegen das burgerliche 
System revoltieren. Soil nun die politische Partei die ihr zugefallene 
Funktion erfullen, so darf sie diesen politischen Grundmechanismus 



1 ) „Ware das amerikanische Volk damit zufrieden gewesen . . . die Wahl 
von Prasidenten unbestritten in den Handen der herrschenden Gruppe zu 
lassen, so hatte es sich ohne Gefahr fiir das Regierungssystem selbst in so 
viele Parteien spalten kdnnen, als Interessen existierten, die nach Represen- 
tation drangten. Aber da es darauf bestand, sich bei der Wahl von Prasi- 
denten wie bei der von Kongrefimitgliedem zu betatigen, waren die Poli- 
tiker gezwungen, zwei grofie Parteien zu bilden, um wenigstens den Schein 
einer Auswahl aufrechtzuerhalten." 

Holcombe, 1. c. p. 317. 



Zur Soziologie des amerikanischen Parteiensystems 295 

nicht storen, sie muB sich ihm vielmehr moglichst ohne groBe 
Reibungen einfiigen. Sie wird also so organisiert sein miissen, daB 
sie ein sicheres Instrument in der Hand der herrschenden Gruppen 
bleibt, dabei aber noch gentigend Elastizitat besitzt, um diver- 
gierenden politischen Stromungen Platz und WirkungsmOglich- 
keiten zu bieten. Die empirische, konkrete Form, die sich der 
Parteiorganismus in den Vereinigten Staaten gegeben hat, bedarf 
daher einer kurzen Darstellung. 



Die Partei stand zunachst auBerhalb des Rahmens der amerika- 
nischen Verfassung, wenn sie auch ihre notwendige Erganzung dar- 
stellte. DemgemaB war sie naturlich ursprunglich auch dem Auf- 
gabenbereich des Gesetzgebers entzogen. 

Organisatorisch begann die Partei in den Vereinigten Staaten erst 
um die Wende der zwanziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts 
zu existieren. Vorher, von der Zeit des Unabhangigkeitskrieges bis 
zur Prasidentschaft von Andrew Jackson, waren die Parteien der 
Foderalisten und der Republikaner weniger bestimmt umrissene 
politische Organisationen als vielmehr Organe, die divergierende 
politische Anschauungen und Auffassungen zum Ausdruck brachten 1 ). 

Andrew Jackson, Vertreter einer gegen den vordringenden Kapi- 
talismus revoltierenden Farmer-Demokratie, war es, der durch 
seine MaBnahmen den Boden vorbereitete, auf dem sich eine fest- 
gefiigte politische Organisation der Partei in ihrer heutigen Gestalt 
entwickeln konnte. Indem er in seiner ersten Botschaft an den KongreB 
als Prasident die Auffassung aussprach, daB offentliche Posten und 
Amter die rechtmaBige Belohnung fur loyale Parteitatigkeit seien, 
leitete er eine Periode und ein System ein, das als Spoils- System 
bekannt und fur die gesamte organisatorische Weiterentwicklung der 
amerikanischen Partei von entscheidender Bedeutung geworden ist. 

Als Jackson seine Theorie von der ,,Beute, die dem Sieger im 
Wahlkampf gehOrt", verkiindete, war die gesamte politische Struktur 
des amerikanischen Staates noch verhaltnismaBig einfach. Politische 
Amter gab es wenig; die Bevolkerung war hauptsachlich landlich; 
grOBere Stadte existierten nur vereinzelt. Die Okonomische Ent- 
wicklung brachte mit der ihr entsprechenden Erweiterung der Auf- 
gaben der Bundesregierung eine VergrOBerung der Zahl der zu be- 

x ) Vgl. Claude G. Bowers, The Party Battles of the Jackson Period, 
Boston 1928, p. V. 



296 Julian Gumperz 

setzenden Posten und Amter. Das hatte seinerseits zur Folge, daB 
der Wirkungsbereich der politischen Partei sich standig verbreiterte. 
Damit wurde es unmoglich, weiter die Partei und besonders ihre 
organisatorischen Eormen in der gesetzgeberischen Tatigkeit zu 
ubersehen. Die Partei, die zu Beginn dem Gesetz unbekannt war, 
ward so immer mehr in den Kreis der Gesetzgebung einbezogen, 
so daB sie endlich aus einer freiwilligen Assoziation zu einer staatlich 
sanktionierten wurde 1 ). 

Gegen das Spoils- System, das mehr und mehr zur organisatorischen 
Machtbasis der Partei wurde, entwickelte sich sofort ein hef tiger 
Kampf, der in einer Civil Service Reform gipfelte, welche wenigstens 
formal dem Machtbereich der Partei eine groBe Anzahl von Posten 
entzog. Trotzdem wird heute noch die Anzahl der Stellen, die auf 
einer Parteibasis vergeben werden, auf ungefahr 800000 geschatzt 2 ). 

Mit dem Spoils- System entwickelte sich die Macht der Partei- 
maschine, welche nach den Worten eines der energischsten Kampf er 
gegen dieses ganze System die dem Volk gehorende Macht fur sich 
usurpiert und den BoB an Stelle des wahren Parteifuhrers gesetzt 
hat. An Stelle von Mannern, die fuhren, 

„indem sie die Meinung des Volkes formen und lenken, indem sie eine 
gemeinsame tJherzeugung im Volke durch unaufhorlichen Beweis und f lam- 
mende Rede herstellen, sind Parteimanager getreten, die ihre Auffassungen 
tiber groBe politische Probleme, wenn sie uberhaupt welche haben, nicht aus- 
driicken konnen oder wollen ... Es sind GroBlieferanten von Stimmen, 
Leute, die mit Posten und Wohlstand handeln und schachern. Und wahrend 
dieses System personliche Servilitat zur Basis politischen Erfolges macht 
und von seinen Anhangern selbst blinde Parteitreue fordert, zogert es gleich- 
zeitig nicht, die Partei selbst durch einen Handel mit dem Feind zu verraten 3 )." 

Indem die Parteimaschine die verfassungsmaBig den "Wahlern 
gehorende Macht usurpierte, geriet sie in Widerspruch zu dem von 
Madison formulierten Grundziel der Verf assung, bei einer Ausschaltung 
der Gefahr dominierender Majoritaten „zu gleicher Zeit den Qeiat und 
die Form einer Regierung durch das Volk zu bewahren". Dieser 
Widerspruch spllte durch eine Reihe politischer Reformen, besonders 
durch die Einfuhrung des „direct-primary u -Systems, beseitigt werden. 

Mit der Konzentration der okonomischen Macht ging in der 
politischen Sphare eine Konzentration der politischen Macht in den 
Handen einer kleinen Parteikhque vor sich, welche in Amerika 



*) Vgl. Merriam, p. 278. 

2 ) Vgl. Charles Edward Merriam and Harold Foote Gosnell, The American 
Party System : An Introduction to the Study of Political Parties in the United 
States, New York 1929, p. 242/3. 

3 ) Vgl. Merriam, p. 275/6. 



Zur Soziologie des amerikanischen Parteiensystems 297 

unter dem Namen der Parteimaschine bekannt ist. Diese hatte in 
zunehmendem MaBe durch ihre Verfiigungsgewalt iiber Posten und 
Amter die politische Macht in Gemeinden, Einzelstaaten, wie auch 
in Washington fur sich monopolisiert, eine Monopolisierung, die 
durch den Umstand unterstiitzt wurde, daB in den Vereinigten 
Staaten Steuereinschatzungen nicht von den Zensiten, sondern 
von den politischen Behorden vorgenommen werden. So war von 
den durch Andrew Jackson erkampften demokratischen Errungen- 
schaften nicht mehr viel ubrig geblieben. Die den Massen zur Wahl 
prasentierten Kandidaten wurden in geheimen Sitzungen der Partei- 
maschine festgestellt, und was den Wahlern schlieBlich nur noch 
ubrig blieb, war die Auswahl zwischen dem demokratischen und dem 
republikanischen Kandidaten, wobei wahrscheinlich in vielen Fallen 
beide nicht nach ihrem Geschmack waren. 

Das sogenannte ,, direct-primary law", das die durch die Allmacht der 
Parteimaschine gefahrdete Reprasentativform der Rregierung in 
den Vereinigten Staaten wieder herstellen sollte und das um die 
Jahrhundertwende in der Mehrzahl der Einzelstaaten zum Gesetz 
wurde, suchte daher die Wahl der Parteikandidaten aus einem ge- 
heimen, in einem geschlossenen Konventikel vor sich gehenden Akt 
zu einem offentlichen zu machen. Die besondere Eigentumlichkeit 
dieser Gesetzgebung besteht darin, daB die Nominierung der Partei- 
kandidaten zu einer offentlichen Wahlhandlung gemacht wird, die 
der Staat beaufsichtigt und an der jedes Mitglied der Partei teil- 
nehmen kann. Die beiden Parteien werden so durch die ,, direct 
primary' '-Gesetzgebung zu staatlich anerkannten und sanktionierten 
Verbanden. Ihre Mitgliederlisten unterstehen der staatlichen Auf- 
sicht, und die „primary"-Wahlen (Primarwahlen), in denen die 
Kandidaten der Partei zu den verschiedenen zu besetzendenAmtern 
nominiert werden, vollziehen sich unter staatlichem Schutz und auf 
Staatskosten. Die Abstimmungen finden getrennt nach Parteien 
statt. Die Demokraten wie die Republikaner haben ein gesondertes 
Wahllokal, in dem nur jeweils eingeschriebene Mitglieder der Parteien 
ihre Kandidaten nominieren konnen 1 ). 

Die mit der ,,primary"-Gesetzgebung verfolgten Absichten liefen 
darauf hinaus, daB die Reprasentanten des Volkes vom Volke selbst 

x ) Die „direct primary" — Gesetzgebung ging von den Einzelstaaten aus 
und runt auch heute noch im wesent lichen bei den Einzelstaaten. Infolge- 
dessen haben sich verschiedenartige Systeme von Primarwahlen entwickelt. 
Eine zusammenfassende Schilderung dieser verschiedenen Systeme findet 
man bei Merriam and Gosnell, p. 258 ff. 



298 Julian Gumperz 

bestimmt werden sollten und nicht von einem kleinen Gremium, 
das von der Parteimaschine dirigiert wird. Der Erfolg der Gesetz- 
gebung war jedoch, daB die Parteimaschine nicht nur in den Primar- 
wahlen die von der Partei zu nominierenden Kandidaten bestimmte, 
sondem auch praktisch durch die Primarwahlen bereits die Haupt- 
wahlen entschied. In diesen, wie in den meisten ahnlichen Fallen 
amerikanischer Geschichte, war das Ergebnis einer Bewegung, die 
auf ihre Fahnen „Mehr Demokratie" geschrieben hatte, nur das 
Entgegengesetzte : weniger Demokratie 1 ). 

Um diese Tatsache, die fur den organisatorischen Aufbau der Partei 
von fundamentaler Bedeutung ist, in ihrem ganzen Umfang zu 
begreifen, muB man einmal versuchen, sich konkret vorzustellen, wie 
die Parteimaschine diese Primarwahlen kontrolliert und wie sie von 
hier aus die ganze politische Apparatur des Landes beherrscht 2 ). 
In den Vereinigten Staaten ist — wie in anderen Landern auch — 
das Land in Wahlbezirke und Unterbezirke aufgeteilt, und auf diesen 
Unterbezirken, die in der nordamerikanischen Union wards und 
precincts heiBen, beruht die politische Kraft und die tatsachliche 
Macht der Partei, Der unterste Wahlbezirk umfaBt im allgemeinen 
bis zu 600 Wahlerstimmen. Da nun erfahrungsgemafi bei den Primar- 
wahlen hOchstens 30% der Wahlberechtigten, meistens sehr viel 
weniger, an der Abstimmung teilnehmen, gentigt es, ungefahr 120 
bis 125 sichere Stimmen fur die von der Parteimaschine empfohlenen 
Kanditen zu mobilisieren, um den Sieg davonzutragen. Meistens 
braucht man zu diesem Zweck noch sehr viel weniger Stimmen, so 
daB im Durchschnitfc der unterste Wahlbezirk mit ungefahr 1 / 7 — 1 / 8 
aller wahlberechtigten Stimmen vollkommen kontrolliert werden 
kann. Wie vollzieht sich nun diese Kontrolle ? 

Fur jeden dieser Unterbezirke ist der Partei ein Ward- bzw. 
Precinct-BoB verantwortlich, dessen Aufgabe es ist, bei den Primar- 
wahlen die Nominierung der von der Parteimaschine aufgestellten 
Kandidaten durchzusetzen. Das ist fur den BoB im allgemeinen ein 
Leichtes, denn fur seine Empfehlungen stimmen seine Familienmit- 

x ) Graham Wallas behandelt in seinem Buche „Human Nature in Politics" 
(London 1908) Teil II, Kap. 1 — 2, die allgemeinen Ursachen fur die wachsende 
Unzufriedenheit mit den Methoden demokratischer Representation, wie sie 
sich in den wichtigsten Demokratien entwickelt haben. Vgl. auch „The 
Great Society" (London und New York 1914) des gleichen Autors, p. 297 ff. 

2 ) Eine populare, von groBer Sachkenntnis getragene Darstellung der 
Partei und ihrer Rolle im sozialen und politischen Leben der amerikanischen 
Nation unter dem oben genannten Gesichtspunkt findet sich in dem 3uch 
von Frank R. Kent, The Great Game of Politics, New York 1923. 

Eine anschauliche Darstellung gibt auch Sait, p. 319 ff. 



Zur Soziologie des amerikanischen Parteiensystems 299 

glieder nebst Anhang und all diejenigen Parteimitglieder samt 
Familienanhang, die durch die Parteimaschine in dem betreffenden 
Wahldistrikt zu Amt und Brot gekommen sind. Man muB bei diesen 
Amtern nicht etwa nur an diejenigen denken, die in Deutschland 
Beamten vorbehalten sind, sondern es gehoren dazu auch samtliche 
Posten der Stadtverwaltung bis hinunter zum StraBenfeger und 
Feuerwehrmann. Mit diesen Stimmen allein wird der BoB in der 
Mehrzahl der Falle in der Lage sein, seinen Distrikt nach den Wiinschen 
der Parteimaschine zu dirigieren. Aufierdem stehen ihm noch ge- 
niigend andere Reserven zur Verfugung, die er im Notfall mobili- 
sieren kann. Man muB sich dabei aber dariiber klar sein, daB sein 
Interesse bei den Primarwahlen nicht darin liegen kann, einen mog- 
lichst groBen Teil der Wahlberechtigten an die Urne zu bringen, 
sondern umgekehrt: je geringer die Beteiligung, um so sicherer der 
Sieg fur ihn, denn die aktiven Parteimitglieder sind ja verpflichtet, 
fur seine Vorschlage zu stimmen. Geniigen aber diese Stimmen in 
einem besonders heiB umstrittenen Bezirk nicht, so kann er die 
Dankbarkeit von geniigend Wahlern fur sich in Anspruch nehmen, 
denen er persOnliche Dienste bei der Stadtverwaltung, bei der Ver- 
folgung von Prozessen oder irgendwelchen Anspriichen geleistet hat. 
Fiir die Parteimaschine ist es durchaus nicht entscheidend, ob der 
BoB bei der Hauptwahl die Parteiliste in seinem Bezirk durchbringt. 
Versagt er jedoch bei der Primarwahl, so ist er die langste Zeit Bofi 
gewesen. 

Der BoB ist oft karrikiert dargestellt worden, so daB die grund- 
legende Rol]e, die er im gesellschaftlichen Organismus spielt, iiber- 
sehen wird. Merriam hat mit Recht darauf hingewiesen, daB ein 
erfolgreicher BoB eine PersOnlichkeit sein muB, die fahig ist, mit 
komplizierten politischen und sozialen Kraften umzugehen, daB er 
Klassenbeziehungen, Rassenverhaltnisse, religiose Vorurteile, soziale 
Gewohnheiten in ihren Imponderabih'en kennen und beherrschen 
muB. Vor alien Dingen braucht er ein Verstandnis fiir Massen- 
psychologie und eine durchdringende Kenntnis der Psychologie der 
Einzelwahler, um grOBere Massen von Menschen beeinflussen zu 
kOnnen 1 ). 

Wie Sait feststellt, muB er 

„ein Volkstribun sein. Besonders in den groCen Stadten, in denen der 
komplexe Mechanismus der Verwaltung, das Durcheinander von zahllosen 
Gesetzen und Bestiramungen, die Menschen im allgemeinen verwirren und 

1 ) Eine anschauliche geschichtliche Schilderung des Bofl-Systems findet 
sich bei Gustavus Myers: „History of Tammany Hall", New York 1917* 



300 Julian Gumperz 

auBer Fassung bringen, wird seine Hilfe dauernd gesucht. Er berat die Rat- 
losen, er beseitigt Schwierigkeiten. Er gibt jurist ischen Rat. Reicht seine 
eigene Kenntnis nicht aus, so steht ihm jemand anders aus der Organisation 
zur Verfiigung . ." x ). 

Das spezifische Gewicht der politischen Tatigkeit muBte sich dem- 
gemaB immer mehr nach den Primarwahlen hinverlagern, da nur ein 
Kandidat, der durch eine Primarwahl nominiert ist, offentlich zur 
Hauptwahl gestellt werden kann. Hinzu kommt noch, daB in diesen 
Primarwahlen nicht nur die Kandidaten fur die offentlichen Posten und 
Amter nominiert, sondern auch die Mitglieder der verschiedenen 
Parteikomitees gewahlt werden. Da die Parteimaschine nun auf Grund 
des eben geschilderten BoB- Systems die Primarwahlen ziemlich sicher 
in der Hand hat, kontrolliert sie auch damit die Kandidaten, die fur 
die offentliche Wahl in Frage kommen. Soil demgemaB die Partei- 
maschine mit ihren Kandidaten von hieran interessierten Gruppen 
zurtickgeschlagen werden, so ist es an keiner anderen Stelle moglich 
als in den Primarwahlen. Die Sicherung der burgerlichen Rechts- 
und Eigentumsordnung findet also hier ihr eigentumliches und ent- 
scheidendes Korrelat. Und die „direct primary" -Gesetzgebung, die 
urspninglich dazu bestimmt war, oppositionellen, gegen die Partei- 
maschine gerichteten Stromungen ungehindertere Ausdrucksmog- 
lichkeiten zu schaffen, hat im Effekt nur die Parteimaschine, deren 
Macht sie zerstoren wollte, gestarkt und es unabhangigen Gruppen 
unmogiich gemacht, sich mit einem unabhangigen Programm den 
Wahlern zu prasentieren 2 ). 

*) p. 321. Vgl. auch die Schilderung bei Adolf Rein, Demokratie und 
Parfcei in den Vereinigten Staaten von Nordamerika, in dem von P. R. Rhoden 
herausgegebenen Sammelwerk: Demokratie und Partei, Wien 1931, p. lOOff. 

2 ) I. Allan Smith hat in seiner Schrift: ,,The Growth and Decadence of 
Constitutional Government*' (New York 1930) die Frage aufgeworfen, 
warum in den Vereinigten Staaten jede Erweiterung der demokratischen 
Rechte geschichtlich bisher immer nur zu einer Festigung der burgerlichen 
Klassenherrschaft gefiihrt hat. Er beantwortet diese Frage im wes en t lichen 
allerdings mit dem Hinweis auf die Macht der Propaganda, die in den Handen 
der herrschenden Gruppen bleibt. Wir haben gezeigt, daB die Struktur des 
amerikanischen Regierungssystems selbst die politische Meinungsbildung in 
einer effektiven, direkten, durch daa Spiel und Gegenspiel der politischen 
Krafte bestimmten Form verhindert, wahrend sie auf der anderen Seite 
zugleich eine Hypertrophic der offentlichen Meinung in ihrer unbestimmten, 
weil einfluBlosen Form erzeugt. In keinem Land ist die offentliche Meinung 
im Grunde so maehtlos wie in den Vereinigten Staaten, obwohl sie so macht voll 
erscheint. Besonders gilt dies fur die Kriegs- und Nachkriegsperiode. Walter 
Lippmann hat in seinen Schrift en darauf hinge wiesen, dafl eine Revolution 
in der Kunst eingetreten ist, Zustimmung zu den politischen MaBnahmen 
eines Systems zu erzeugen. Wie er auseinandersetzt, wird die Kenntnis der 
Technik, Zustimmung zu bestimmten MaBnahmen unter den da von Be- 
troffenen zu erzeugen, samtliche politischen Beziehungen in ihren Grund- 
lagen verandern. 



Zur Soziologie des amerikanischen Parteiensystems 301 

Die Institution der Primarwahlen hat die Parteimaschine legali- 
siert, ihr die staatliche Anerkennung von Gesetzes wegen verschafft 
und den Aufstieg rivalisierender Organisationen auBerordentlich 
erschwert. Da bei den Primarwahlen getrennt nach Parteien abge- 
stimmt wird, also nur die Mitglieder der eigenen Partei in Frage 
kommen, hat die Parteimaschine bei diesen Wahlen keine korikur- 
rierende Partei zu fiirchten. Es ist ihr daher um so leichter, spater 
bei den Hauptwahlen durch geeignete Abreden mit der gegnerischen 
Partei ihre spezifischen Absichten durchzusetzen. Auf diesem Wege 
wird der Unterschied zwischen den beiden Parteien noch mehr ni- 
velliert. So sind die Primarwahlen zum festesten Bollwerk der Partei- 
maschine in den Vereinigten Staaten geworden. 

Die Vielzahl der Wahlen und der durch Wahl zuganglichen Amter 
verhindern, dafi Niederlagen im nationalen MaBstabe den EinfluB 
der Partei brechen. So haben seit dem Burgerkrieg die Republikaner, 
wenn man von den Prasidentschaften von Cleveland und Wilson 
absieht, immer den Sieg bei den Prasidentenwahlen davongetragen. 
Diese Tatsache hat aber keineswegs die Macht der Demokraten in 
den Einzelstaaten und Stadtverwaltungen vermindert. Und auch 
im nationalen MaBstabe ist es den Demokraten oft gelungen, wahrend 
der Amtszeit eines republikanischen Prasidenten demokratische 
Mehrheiten im Reprasentantenhaus zustande zu bringen. 

Wenn nun die legitime Funktion der Partei im amerikanischen 
Staatsleben darin besteht, gegeniiber der verfassungsmaBig begnin- 
deten Trennung der Gewalten die Einheit der Staatsfuhrung zu 
garantieren, so ergibt sich daraus, daB die aus dem organisatorischen 
Aufbau der Partei resultierenden finanziellen Verflechtungen eben- 
falls einen legitimen, wenn auch durch die Verfassung und ihre 
Gesetze nicht ausdrucklich anerkannten Charakter haben. Da der 
Parteiorganismus einen notwendigen Teil im Getriebe der Staats- 
maschine darstellt, ist es verstandlich, daB dieser Organismus die 
Existenz seiner Funktionare zu gewahrleisten hat. So wird die 
finanzielle Grundlage der Partei im wesentlichen dadurch gesichert, 
daB jedes durch die Partei zu Amtern und Posten gelangte Mitglied 
einen bestimmten Prozentsatz seiner Einnahmen an die Parteikasse 
abzufiihren hat. Auf der anderen Seite sind die direkten Ausgaben 
fiir die Wahlen relativ gering, da sie ja vom Staate bestritten werden, 
eine Tatsache, die wiederum die Stellung der Parteimaschine und 
des BoB dadurch starkt, daB man AuBenseitern oder weniger 
aktiven Parteimitgliedern die relativ gut bezahlten Stellungen von 



302 Julian Gumperz 

Wahlbeisitzern offerieren kann. So spiegelt die amerikamsche Partei 
in ihrem organisatorischen und finanziellen Aufbau den Mechanismus 
der amerikanischen Verfassung selbst wider. 



VI. 

Da die Parteien in den Vereinigten Staaten keine KJassenorgani- 
sationen im programmatischen Sinne des Wortes sind, da infolge- 
dessen bei den Wahlen nicht fiir ein politisches Programm, sondern 
fur bestimmtePersOnlichkeiten abgestimmt wird, erhalt das persOnliche 
Moment im politischen Leben der Vereinigten Staaten einen be- 
sonderen Akzent. 

Wenn daher die beiden amerikanischen Parteien als Parteien nicht 
mehr bestimmt umrissene Klasseninteressen vertreten, wahrend sich 
andererseits die biirgerliche Gesellschaft gerade in den Vereinigten 
Staaten in einer hochst komplexen, klassendifferenzierten Form ent- 
faltet hat, so ist es klar, daB diese differenzierten, oft auseinander- 
strebenden Interessen auch einen bestimmten politisch-organi- 
satorischen Ausdruck finden miissen, soweit die Parteien als solche 
nicht denRahmen bilden. Auch diese im politischen Mechanismus der 
Union begriindete supplemental Institution, die sogenannte Lobby, 
wird meistens ausschlieBlich unter dem Gesichtspunkt der Korruption 
und der ungesetzmaBigen Beeinflussung des Gesetzgebers betrachtet. 
Sie ist oft als unsichtbare Regierung, als dritte Kammer neben Re- 
prasentantenhaus und Senat bezeichnet worden. Ihre Funktion ist es, 
gegeniiber bestimmten gesetzgeberischen MaBnahmen oder Planen 
das spezielle Interesse bestimmter Klassengruppen und Klassen- 
schichten zur Geltung zu bringen, 

Eine Analyse einer gegebenen politischen Situation in Washington 
erf ordert daher nicht so sehr eine Untersuchung der Parteierklarungen 
zu bestimmten Fragen, sondern eine Klarstellung der Tatigkeit und 
Anschauungen der mafigebenden Lobbies. Deren Zahl betragt nach 
iibereinstimmenden Schatzungen ungefahr funfzehnhundert, von 
denen etwa tausend ausgesprochene okonomische Absichten ver- 
folgen. Sie gliedern sich hauptsachlich nach den entscheidenden 
Industrie- und Handelszweigen ; so gibt es eine Eisenbahn-, eine 
Petroleum-, eine Stahl-, eine Einzelhandels-, eine Bank- usw. Lobby. 
Treten die Interessen solcher Gruppen in einen wenigstens fur den 
Augenblick nicht versChnbaren Konflikt, so kommen die groBen 
Enthiillungen zustande, wie sie wahrend der letzten Jahre oft den 



Zur Soziologie des amerikanischen Parteiensystems 303 

Senat und damit auch die Offentlichkeit der Vereinigten Staaten be- 
schaftigt haben. Hierher gehoren z. B. die Enthullungen tiber die 
Power-Lobby, die ein griindlich durchdachtes System der Beein- 
flussung der &ffentlichen Meinung in alien ihren AuBerungsformen 
zutage gefordert haben. Wie diese Lobby in die Universitaten und 
Hochschulen eingedrungen ist, wie auf ibre Veranlassung okonomische 
Lehrbiicher geschrieben und benutzt wurden, wie sie die Presse be- 
einfluBt bat, das erzahlt Ernest Gruening in einer reich dokumen- 
tierten Schrift 1 ). 

Alle diese Lobbies unterbalten in Washington ebenso wie in den 
Hauptstadten der Einzelstaafcen Biiros und Vertreter, deren Aufgabe 
es ist, die geplante Gesetzgebung zu iiberwacben, dafiir zu sorgen, 
daB Gesetzentwiirfe, die den Interessen ihrer Auftraggeber schadlich 
sind, nicbt durchkommen und dafi MaBnahmen, die zur Forderung 
ihrer Gruppen zweckmafiig erscheinen, vor den KongreB gebracht 
werden. 

Ihre Tatigkeit besteht im wesentlichen nicht etwa darin, KongreB - 
mitglieder durch geldliche Zuwendungen zu beeinflussen, sondern 
sie haben den in Frage kommenden Komitees des Kongresses Tatsachen 
und Argumente in einem Sinne zu prasentieren, der das gewunschte 
Ziel erreichen laBt. Die okonomische Struktur des Landes ist heute 
so kompliziert geworden, daB die einzelnen KongreBmitglieder un- 
mOglich die Wirkung bestimmter gesetzlicher MaBnahmen ubersehen 
konnen. Da die beiden Parteien nun Organisationen im nationalen 
MaBstabe eigentlich nicht kennen — diese werden nur bei Gelegenheit 
der Prasidentenwahlen gebildet und nach Erledigung der Wahl wieder 
aufgelost — und auf Grund ihrer ganzen organisatorischen Struktur 
sich auch nicht auf bestimmte konkrete politische Linien festlegen, 
kann das einzelne KongreBmitglied sachgemaBe Information von 
seiner Partei nicht erwarten; es empfangt sie daher legitimerweise 
von der Lobby, die auf diesem Wege die spezifischen Interessen 
der von ihr vertretenen Gruppe durchsetzt. Es ist daher auch kein 
Wunder, daB es kaum eine gesetzgeberiscbe MaBnahme von Bedeutung 
gibt, bei der im KongreB die Abstimmung auf Grund von Parteizu- 
gehorigkeit erfolgt. 

Die Lobby hat ihr Netz tiber das ganze Land verbreitet und beginnt 
ihre Tatigkeit bereits bei der Aufstellung der Kandidaten, welche die 
Parteien bei den Primarwahlen prasentieren. Unter solchen Ge- 

2 ) Ernest Gruening, The Public Pays, A Study of Power Propaganda. 
New York, 1931. 



304 Julian Gumperz 

sichtspunkten erklart sich auch der ungeheure EinfluB, den die 
Frauenorganisationen auf die Politik in den Vereinigten Staaten 
ausiiben kOnnen, stellen sie doch eine der machtvollsten Lobbies 
dar, welche uber viele Millionen von Stimmen bei den Wahlen 
verfiigt 1 ). 

Man hat oft die Frage aufgeworfen, warum es in den Vereinigten 
Staaten keine politische Arbeiterbewegung im europaischen Sinne 
gibt. Wenn die American Federation of Labor, die in Washington 
wie auch in den Hauptstadten der Einzelstaaten eine Lobby unter- 
halt, es immer wieder abgelehnt hat, eine Labour Party etwa im 
Sinne der englischen zur Durchsetzung der politischen Forderungen 
der gewerkschaftlich organisierten Arbeiter zu griinden, so ist diese 
Taktik des amerikanischen Gewerkschaftsbundes durch das System 
der Primarwahlen nur noch bestarkt worden. Nach der Auffassung 
des amerikanischen Gewerkschaftsbundes haben die amerikanischen 
Arbeiter durch die Ausnutzung des Systems der Primarwahlen groBere 
politische Resultate erzielt als die Arbeiter in England oder irgend- 
einem anderen europaischen Staate 2 ). Die sogenannte „Non-Partisan 
Policy" der American Federation of Labor ist nur im Rahmen des 
ganzen amerikanischen Regierungssystems verstandlich. Sie besteht 
darin, daB die Gewerkschaften die ihnen zur Verfugung stehenden 
Stimmen zugunsten irgendeines Kandidaten, unabhangig von seiner 
Parteizugehorigkeit, mobilisieren, sofern er nur die von den Gewerk- 
schaften geforderten gesetzgeberischen MaBnahmen im KongreB bzw. 
in den Parlamenten der Einzelstaaten zu vertreten verspricht. Dem- 
gemaB hat die von dem Amerikanischen Gewerkschaftsbund in 
Washington unterhaltene Lobby u. a. die Aufgabe, bei Abstimmungen 
im KongreB die Haltung der verschiedenen KongreBmitglieder 
gegentiber Gesetzen, an denen die Gewerkschaften sich interessiert 
erklart haben, zu registrieren und dieses Register gewissenhaft bis 
zum nachsten Wahlgang des betreffenden KongreBmitgliedes fort- 
zufuhren. Hat dieses nun im groBen und ganzen in einem Sinne ge- 
stimmt, der von den Gewerkschaften bejaht wird, so empfehlen sie 
ihren Mitgliedern, fiir seine Wiederwahl einzutreten. Auch hier wirkt 
also die Institution der Primarwahlen einer unabhangigen oppositio- 
nellen Bewegung entgegen. Denn miBliebige Richter, Gouverneure, 

x ) Eine ausfiihrlichere Schilderung der Lobby findet sich in der Schrift 
von Edward B. Logan, Lobbying, Annals of the American Academy of Poli- 
tical and Social Science, Philadelphia 1929. 

2 ) Vgl. William English Walling, American Labor and American Demo- 
cracy, New York 1926, p. 126ff., p. 139ff., p. 146ff. 



Zur Soziologie des amerikanischen Parteiensystems 305 

Senatoren usw. kann man beseitigen, indem man in den Primarwahlen 
gegen sie stimmt 1 ). 

Dieser Konstellation entspricht es auch, dafi die gesamte Sozial- 
gesetzgebung der letzten vierzig Jahre, wie im ubrigen auch all jene 
gesetzgeberischen MaBnahmen, die man als progressive zu bezeichnen 
gewohnt ist, Bewegungen und Stromungen entsprang, deren Quellen 
jenseits der politischen Parteien lagen. Ihre StoBkraft gewann sie aus 
der Agitation straffer oder loser organisierter Minoritaten, denen es 
gelang, den beiden groBen Parteien Konzessionen abzuzwingen. 

Die Lobby stellt demgemaB, ebenso wie die politische Partei, in 
den Vereinigten Staaten eine notwendige Erganzung der verfassungs- 
mafiig gegebenen Organisationen auBerhalb der Verfassung, jedoch 
nicht im Gegensatz zu ihr, dar. Der Kampf zwischen den maBgebenden 
Schichten der herrschenden Klasse um die politische Macht spielt 
sich infolgedessen ebensosehr innerhalb der Parteien wie zwischen 
den Lobbies ab. 

VIL 

Mit der zunehmenden Industrialisierung des Landes, mit der immer 
engeren und dichteren Verflechtung aller okonomischen Beziehungen 
und Verhaltnisse hat natiirlich auch die Lobby standig an Bedeutung 
gewonnen. Und die Konflikte, die sich ursprunglich im wesentlichen 
im Rahmen der groBen Parteien abgespielt haben, sind heute Kampf- 
gebiet fur den Aufmarsch der Lobbies geworden. Natiirlich klingt 
in den beiden Parteien noch das Echo der groBen historischen Aus- 
einandersetzungen nach, deren Werkzeuge sie gewesen sind. Obwohl 
fur die Bundespolitik eigentlich nur noch eine politische Partei 
existiert 2 ), so muB man doch, um das Kolorit des politischen Lebens 
in den Vereinigten Staaten zu begreifen, den groBen geschichtlichen 
Konflikt, der in den beiden Parteien zum Austrag gekommen ist 

x ) Uber die Geschichte unabhangiger Arbeiterparteien in den Vereinigten 
Staaten orientiert die Schrift von Nathan Fine, Farmer- Labor Parties in 
the United States, 1828—1928, New York, 1928. Vgl. ferner Stuart Rice, 
Farmers and Workers in American Politics, New York 1924. 

2 ) In einem etwas anderen Sinne ist es auch richtig, dafi die Entwicklung 
auch in den Einzelstaaten und Gemeinden dahin tendiert, oft die Unter- 
schiede zwischen den einzelnen Parteien aufzuheben und auch organisato- 
risch eine einzige Partei herzustellen. ,,Die erfolgreiche Maschine oder der 
erfolgreiche Bofi waren oft in der Lage, beide Parteien zu kontrollieren und 
so ein einheitliches jZweiparteien-System* zu schaffen, innerhalb dessen 
Parteizwistigkeiten relativ unwesentlich wurden. So wurde. besonders bei 
lokalen Angelegenheiten, das Zweiparteiensystem tatsachlich zu einer Ein- 
heit, wenn man es unter dem Gesichtspunkt der Verfiigungsgewalt be- 
trachtet." Merriam, p. 270. 



306 Julian Gumperz 

und der heute mehr oder minder als abgeschlossen gelten kann, in 
seinem Ablauf und in seiner Wirkung auf die Parteien verfolgen 1 ). 

Die amerikanische Gesellschaft war von der Zeit ihrer Entstehung 
an in ihrem Klassenaufbau einfacher als die europaische. Wenn auch 
zweifellos die Behauptung, da6 Amerika keinen Feudalismus gekannt 
hat, unzutreffend ist, so war doch die ganze gesellschaftliche Schich- 
tung der Klassen in den Vereinigten Staaten klarer und tibersichtlicher 
als in den Mutterlandern. Infolgedessen sind auch die politischen 
Probleme, die mit der Entstehung und Entwicklung der biirgerlichen 
Gesellschaft verbunden sind, in der politischen Geschichte der Ver- 
einigten Staaten mit groBerer Klarheit abgezeichnet und ohne Bei- 
mengungen aus vorhergegangenen Geschichtsepochen, welche die 
Probleme in ihrer Eindeutigkeit verwirren. Das entscheidende 
Problem, das den Geschichtsablauf in den Vereinigten Staaten seit 
Begriindung der Union bis um die Wende des zwanzigsten Jahr- 
hunderts beherrscht hat, war die Umwandlung einer im wesentlichen 
agrarisch orientierten Gesellschaft in eine industriell-kapitalistische. 
Die Eroberung der Farmwirtschaft durch und fur den industriellen 
Kapitalismus war die entscheidende Aufgabe der ersten hundert- 
fiinfzig Jahre in der amerikanischen Geschichte. Auf dieser Basis 
stellte ein Parteisystem wie das europaische mit seiner Vielzahl 
verschiedener Gruppierungen eine Unmoglichkeit dar. GeschichtUch 
und politisch moglich waren, von unbedeutenden Abweichungen 
abgesehen, nur zwei Parteien: die Partei der Eroberung der Agrar- 
wirtschaft fiir den Kapitalismus und die Partei des Widerstandes, 
eines Widerstandes aber, der sich im Rahmen des kapitalistischen 
Systems selbst hielt und der dazu bestimmt war, allzu hastige Be- 
schleunigungen der Umwandlung der Agrarwirtschaft zu verzogern 
und die daraus resultierenden Erschiitterungen auszugleichen. 

Dieser Kampf hat heute praktisch sein Ende erreicht, da die 
stadtische BevOlkerung der Vereinigten Staaten zu der Zeit des ersten 
Bundeszensus nicht ganz 4% der Gesamtbevolkerung betrug, wahrend 
sie heute ungefahr 80% umfafit. Mit dieser grundlegenden Veranderung 
im Leben der amerikanischen Nation hat sich naturlich auch eine 
fundamentale Veranderung innerhalb der politischen Parteien voll- 
zogen. Die Demokraten, denen Jefferson, Jackson und zuletzt 

x ) Eine zuverlassige Chronik der Entwicklung der Republikanischen, bzw. 
der Demokratischen Partei ist in den folgenden Schriften zu finden: Francis 
Curtis, The Republican Party, 1854— 1904. 2 vols, New York 1904. W. S. 
Myers, The Republican Party: A History, New York, 1928. Frank R. Kent, 
The Democratic Party: A History, New York, 1928. 



Zur Soziologie des amerikanischen Parteiensystems 307 

noch Bryan das Ideal einer einfachen, auf den selbstandigen Farmer 
basierten Wirtschaft vorangetragen hatten, sind heute aus einer rein 
agrarischen zu einer Partei der groBstadtischen Bevdlkerung ge- 
worden. Da die Demokraten als Partei des Widerstandes geschichtlich 
gesehen gezwungen waren, sich immer mit den unterdriickten 
Schichten der Bevolkerung zu verbinden, so stellten sich die zuletzt 
gekommenen Gruppen der Einwanderer hinter sie, wahrend die- 
jenigen Einwandererschichten, denen es gelungen war, von den 
angelsachsischen Herren anerkannt zu werden, sich meistens der 
Republikanischen Partei anschlossen. 

Mit der Tatsache dieses grundlegenden Konfliktes in der ameri- 
kanischen Geschichte, der den Angelpunkt zu ihrem Verstandnis 
darstellt, hangt auch zusammen, daB es in den Vereinigten Staaten 
trotz aller konfessionellen und religidsen Gegensatze nie einen Kirchen- 
konflikt in politischer Zuspitzung gegeben hat. Obwohl die Kirchen 
in Amerika eine nicht zu unterschatzende Macht reprasentieren und 
reprasentiert haben, haben sie nie wie in Europa groBen Grundbesitz 
ihr eigen genannt. Infolgedessen gab es in den Vereinigten Staaten 
keine reale okonomische Basis f fir klerikale und antiklerikale Parteien 
wie in europaischen Landern. Auch innerhalb der, beiden Parteien 
konnten kirchliche Konflikte daher nie akut werden. Andere Eragen, 
die in Europa zum Streitgegenstand der Parteien wurden, sind in 
den Vereinigten Staaten auf Grund der Verfassung der gesetzgebe- 
rischen Beeinflussung durch die Bundesgewalt entzogen. So ist 
u. a. das Strafrecht und zum groBen Teil auch das Zivilrecht, die 
Arbeitsverhaltnisse in den meisten Industrien, Erziehung und Unter- 
richt Domane der einzelstaatlichen Gresetzgebung' geblieben. An 
solchen Eragen konnte sich also der politische Konf likt in und zwischen 
den Parteien nicht entzunden, wenigstens soweit es sich um die 
Bundespolitik in Washington handelte. Der grundlegende Konf likt, 
der die Geschichte der Vereinigten Staaten durchzieht und den man 
in stenographischer Abkurzung als den Konflikt zwischen Industrie 
und Landwirtschaft bezeichnen kann, ist infolgedessen in Amerika 
nicht durch Probleme verwischt worden, die ihm fremd sind. 

Ahnliches gilt noch auf einem anderen Gebiet. Der eigentiimliche 
Charakter der amerikanischen Verfassung hat eine Burokratie im 
europaischen Sinne nicht entstehen lassen, ebensowenig wie eine 
groBe und einfluBreiche Militarkaste mit eigenen abgesonderten 
Interessen und Auffassungen. Infolgedessen bot sich auch von dieser 
Seite aus keine Moglichkeit einer anders gearteten Parteienbildung 



308 Julian Gumperz 

oder einer Verwischung des grundlegenden historischen Konflikts 
innerhalb der beiden Parteien selbst. 

Es ist bereits festgestellt worden, daB die Demokratische Partei, 
geschichtlich gesehen, die Partei des Agrarwiderstandes war 1 ). Mit 
der Verlegung des Bevolkerungs-Schwerpunktes vom Land in die 
Stadt hat sich die gesamte politische Situation, fur welche die Demo- 
kratische Partei den Rahmen bot, grundlegend verandert. Da die 
Grunder der Partei im wesentlichen Plantagenbesitzer aus den Siid- 
staaten waren, hat die Partei auch heute noch in diesen Teilen des 
Landes eine bislang nicht erschutterte Majoritat. Als Partei 
der Sklavenbesitzer waren die Demokraten auch die Partei der 
Niederhaltung der Neger. Aber auch in dieser Beziehung hat die 
Entscheidung, die im grundlegenden Konflikt zwischen Kapita- 
lismus und Landwirtschaft gefallen ist, die scheinbar so festge- 
ftigten Verhaltnisse und Beziehungen zu verandern begonnen. 
Eine Industrialisierung der Siidstaaten hat eingesetzt, welche auf 
der einen Seite die endgiiltige Auflosung der Klasse der Plantagen- 
besitzer bedeutet, auf der andern eine Emigration der Neger aus den 
Baumwollbezirken des Siidens in die industriellen des Nordens. 
Diese Wanderungsbewegung bewirkte politisch eine Starkung der 
Republikaner, da der Negerwahler aus Tradition fiir die Partei der 
Sklavenbefreier, die Republikaner, stimmt. 

Diese Industrialisierung der Sudstaaten hat aber fiir die Demo- 
kratische Partei noch eine weitere Eolge. Als Partei des Agrar- 
widerstandes waren die Demokraten traditionell eine Anti-Hoch- 
schutzzollpartei. Die wachsende Industrialisierung im Siiden, die 
Entstehung von Eisen- und Textilindustrien in den Siidstaaten, 
fuhrt aber notwendigerweise zu einer Starkung der Hochschutzzoll- 
Stimmung bei den Demokraten. Dem lauft eine andere Tendenz 
entgegen: da in den nordlichen zum groBten Teil demokratischen 
GroBstadten der Kapitalexport eine immer starkere Bedeutung an- 
genommen hat, ergibt sich aus den schutzzollfeindlichen Inter essen 
dieser Gruppen eine Stromung im Rahmen der Demokratischen 
Partei, die sich auf den Abbau des Hochschutzzolls richtet, in 

x ) Neben der Demokratischen Partei sind jedoch in der amerikanischen 
Geschichte immer wieder Gruppen und Organisationen aufgetreten, die auch 
programmatisch die Lebensinteressen der Farnrwirtschaft zu ihrem Aus- 
gangspunkt nahmen. Besonders reich an Bewegungen und Organisationen 
dieser Art ist die Zeit zwischen Burger krieg und der Jahrhundertwende, 
Eine gute Darstellung dieser Periode unter materialistischen Gesichtspunkten 
hat John D. Hicks in seinem Buch: The Populist Revolt, Minneapolis 1932, 
gegeben. 



Zur Soziologie des amerikanischen Parteien systems 309 

Ubereinstimmung mit den Traditionen der Partei, aber gegen 
ihren eigentlichen Sinn. Diese Strdmung wird noch dadurch unter- 
stiitzt, daB in den letzten Jahrzehnten das spezifische Gewicht von 
Industrien gestiegen ist, die durch den Schutzzoll nicht tangiert 
werden und die zum groBen Teil ebenfalls in demokratischen Bezirken 
entstanden sind. Die groBen Public Utility- Gesellschaf ten sind das 
beste Beispiel dafiir. 

Die zunehmende Konzentration des Kapitals, die Verdrangung 
des kleinen und mittleren Unternehmers aus der Industrie, die 
Ersetzung des Einzelhandlers und Kaufmanns durch den Ketten- 
laden, das Warenhaus, das Einheitspreisgeschaft, die Proletari- 
sierung der unteren und mittleren Angestelltenschichten, alle 
diese mit unheimlicher Wucht und Schnelligkeit sich durch- 
setzenden Prozesse haben die Mittelschichten aufgerieben, welche 
in den Stadten mit zu den entscheidenden Wahlermassen der Demo- 
kratischen Partei gehort haben. Damit werden gerade die Schichten 
zerstDrt, welche der Partei den Kampf um die Anti-Trustgesetz- 
gebung aufgezwungen hatten. Die Partei hort infolgedessen graduell 
auf , die Partei des Kampfes gegen die Trusts zu sein. 

Ein ahnlicher ProzeB hat ihr eine andere soziale Antriebskraft 
entzogen, den kleinen und unabhangigen Farmer, der traditionell 
das Kraftreservoir fur fortschrittliche demokratische Bewegungen 
in den Vereinigten Staaten dargestellt hat. Mit der definitiven sozialen 
und Gkonomischen Niederlage des unabhangigen Farmers ist der 
Kampf zwischen Kapitalismus und Landwirtschaf t zu einem AbschluB 
gekommen, zu einem AbschluB allerdings, der selbst wiederum die 
Existenzgrundlage des amerikanischen Kapitalismus in Frage stellt. 
Rein Okonomisch gesehen ware ein Kapitalismus in den Vereinigten 
Staaten vorstellbar, der sich die Farmer ebenso wie die stadtischen 
Mittelschichten eingegliedert hatte. Pohtisch gesehen wurde aber 
das Gleichgewicht eines solchen Systems durch AnstoBe der gering- 
fiigigsten Art gestort werden konnen. ,,In einem Augenblick kapi- 
talistischer Krise wurde eine aus Pachtern und Landarbeitern be- 
stehende FarmerbevOlkerung, der in den Stadten eine BevOlkerung 
von groBkapitalistischen Angestellten und Arbeitern gegeniibersteht, 
nur eine armselige Grundlage fur die Institution des Privateigentums 
abgeben" 1 ). 

Als Partei des Agrarwiderstandes waren die Demokraten tradi- 
tionell die Partei, welche die Rechte der Einzelstaaten gegeniiber 
l ) Lawrence Dennis, Is Capitalism Doomed ? New York 1932, p. 146. 



310 Julian Gumperz, Zur Soziologie des amerikanischen Parteiensystems 

denen des Bundes vertreten hat. Auch in dieser Beziehung ist jetzt 
eine grundlegende Wandlung eingetreten. Die Zentralgewalt hat 
gegeniiber den Einzelstaaten eine auBerordentliche Starkung er- 
fahren und das aus vielen Griinden: einmal hat seit der Jahrhundert- 
wende eine mit Riesenschritten fortschreitende Konzentration und 
Zentralisation des Kapitals eingesetzt, welche die Grenzen der Einzel- 
staaten verwischt und aufgehoben hat. Ferner hat der Kapitalexport 
die auBenpolitische Rolle der Bundesgewalt den innenpolitischen 
Funktionen der Einzelstaaten gegeniiber akzentuiert. Und schlieBlich 
haben sich auch die Okonomischen Aufgaben des Staates im Innern 
immer mehr erweitert und so die Zentralisierung der Bundesgewalt 
in Washington gefordert. Infolgedessen hat auch diese Frage auf- 
gehOrt, ein eigentlicher Konfliktsgegenstand zu sein. Sie ist eine 
historische Erinnerung, die als Tradition im Leben der Partei lebendig 
geblieben ist, wenn sie auch die urspriingliche Parteidifferenzierung 
in den Vereinigten Staaten ebensowenig wie irgendeines der anderen 
eben kurz zitierten Fundamentalprobleme der politischen Ent- 
wicklung verursacht und bestimmt hat. 



Zur Soziologie des mechanistischen Weltbildes 1 ). 

Von 
Franz Borkenau (Wien). 

Von etwa 1620 an vollzieht sich im Denken der entwickeltsten 
europaischen Nationen (Frankreich, Italien, Holland, England) eine 
tiefgreifende Umwalzung, die ihren pragnantesten Ausdruck in der 
Entstehung der neuen philosophischen Schulen von Descartes, 
Gassendi und Hobbes findet. Die Erneuerung der Philosophie be- 
deutet an diesem Wendepunkt der Denkgeschichte jedoch nicht vor 
allem eine Veranderung der spezifisch metaphysischen Denkinhalte 
iiber Gott, Seele, Unsterblichkeit, obwohl die Umwalzung des Denkens 
auch diese Themen mitbetrifft. Zentral ist fur die ganze „moderne" 
Philosophenschule dieser Zeit die Konstituierung einer neuen Auf- 
f assung von der Natur und — fur einige unmittelbar, fur alle implizit — 
auch von der menschlichen Gesellschaft. Die vollkommene Um- 
walzung der Erkenntnistheorie, welche die philosophischen Systeme 
dieser Zeit von der vorhergehenden Periode scharf abhebt, dient 
eben der Grundlegung der neuen Kategorien der Natur- und Gesell- 
schaftswissenschaft. Daher ist auch die Bedeutung der grofien Staats- 
rechtler wie Althusius und Grotius, der groBen Naturforscher wie 
Galilei, Fermat, Huyghens, Harvey, Pascal fur die Entstehung der 
neuen Weltanschauung nicht geringer als die der eigentlichen Philo- 
sophen. In dem EntstehungsprozeB des modernen Denkens gibt es 
— im scharfsten Gegensatz zu seiner weiteren Ausbildung — keine 
Grenze zwischen Metaphysik und Erkenntnistheorie einerseits, 
Physik und Soziallehre andererseits. 

I.Mathematisch-mechanistischesWeltbildundManufaktur. 

Die neue Denkform laBt sich am besten als das mathematisch- 

mechanistische Weltbild definieren; es ist mechanistisch, insofern 

l ; Das Folgende sind Gedankengange aus einem Buch, das demnachst 
in der Schriftenreihe des Instituts fiir Sozialforschung unter dem Titel „Der 
t)T3ergang vom feudalen zum biirgerlichen Weltbild" erscheinen wird. In 
der vorliegenden verkiirzten Darstellung mufite auf alles Beweismaterial und 
auf die Aufzeigtmg zahlreicher Zwischenglieder des gesellschaftlichen Zu* 
sammenhanges verzichtet werden. 



312 Franz Borkenau 

alles Geschehen letzthin auf Bewegungen qualitativ gleichartiger 
Korper und auf Bewegungsiibertragung innerhalb einer rauin-zeit- 
lichen Kontinuitat zuruckgefiihrt wird ■ — anders als in der folgenden 
Periode, deren Physik auf der Annahme von Fernkraften und der 
Wiedereinf uhrung besonderer Qualitaten beruht ; es ist mathematisch, 
insofern Wissenschaftlichkeit und GewiBheit nur der Beweisform 
der euklidischen Geometrie und ihren Nachbildern zuerkannt wird 
und insofern die Tendenz besteht, das als eine Summe von Bewegungs- 
tibertragungen gefaBte Geschehen vermittels eines Biindels linearer 
Gleichungen auszudrticken. Das mathematisch-mechanistischeDenken 
ist mit der Rolle der Manufaktur im ProduktionsprozeB untrennbar 
verkniipft. Jedoch ist der Zusammenhang zwischen Naturwissen- 
schaft und industrieller Produktion in der Manufakturperiode ein 
ganz anderer als in der Periode der groBen Industrie. Wahrend in 
dieser die Wissenschaft eine der machtigsten Produktivkrafte darstellt, 
ist der technische Nutzen der Naturwissenschaft in der Manufaktur- 
periode gleich null gewesen. Die Manufaktur als systematische 
Reduktion der Arbeit auf die primitivsten handwerklichen Prozesse, 
als arbeitszerlegender handwerklicher GroBbetrieb, bedarf keiner 
Naturwissenschaft und vermag sie nicht zu nutzen; von alien Jahr- 
hunderten der neueren Geschichte ist das 17. bei weitem das armste 
an technischen Erfindungen, seine Naturwissenschaft am reinsten 
abstrakte Theorie. Innerhalb ihrer spielt die Manufaktur vor allem 
die Rolle eines Vorbildes, insofern der manufakturelle Produktions- 
prozeB durch weitgehendste Abstraktion von allem Qualitativen 
charakterisiert ist. Die extreme Arbeitszerlegung schafft einerseits 
ein abstraktes allgemeines Arbeitssubstrat, dessen chemische und 
sonstige Qualitaten moglichst ignoriert werden, das nur als Stoff an 
sich, als reine Materie in Betracht kommen soil, anderseits den voll- 
standig unqualifizierten Arbeiter, der nur als Arbeitskraft an sich 
in Betracht kommt, dessen Tatigkeit abstrakte Arbeit, reine physi- 
kalische Bewegung ist. Der grofite Klassiker der Physik der Manu- 
fakturperiode, Galilei, behandelt in seiner Hauptschrift, den„Discorsi <( , 
eben die Gesetze dieser abstrakten Arbeit. Die wissenschaftlichen 
Fragestellungen der Zeit gehen jedoch liber eine bloBe Untersuchung 
der manufakturellen Technik weit hinaus. Die Trager des neuen 
Weltbildes wollen alles Geschehen nach Analogie eines manufak- 
turellen Arbeitsprozesses erklaren. Manche von ihnen begniigen sich 
auch damit nicht, sondern versuchen, iiber die Probleme der Dynamik 
hinauszugehen und das Weltgeschehen rein logisch-mathematisch zu 



Zur Soziologie des mechanistischen Weltbildes 313 

fassen. Diese Verallgemeinerung der von der Manufaktur ausgehenden 
Fragestellungen iiber den Bereich des gesamten menschlichen Wissens 
ist nicht aus den Bedurfnissen des technischen Produktionsprozesses, 
sondern aus den Klassenkampfen zu erklaren, die sich an das Empor- 
kommen der neuen Produktionsweise knupfen. 

II. Der Naturgesetzbegriff. 

Welche Rolle spielt nun die Verallgemeinerung der manufak- 
turellen Anschauungsweise in den Klassenkampfen, die die Ent- 
stehung der kapitalistischen Gesellsehaft herbeif iihren ? Das ergibt 
sich am besten aus einer Untersuchung der Vorgeschichte der mecha- 
nistischen Naturauffassung. Diese soil an einer geschichtlichen 
Darstellung der Entwicklung des Begriffes „Naturgesetz" durch- 
gefuhrt werden; die geeignete Methode hierzu ist die Geschichte 
der Wortbedeutung des Terminus „lex naturalist Denn in diesem 
Terminus verbindet sich vom 13. Jahrhundert ab unmittelbar die 
Idee der gesellschaftlichen Ordnung mit der Vorstellung von der 
Naturordnung. 

In der neueren Geschichte wird dieser Begriff zum erstenmal bei 
Thomas von Aquino und seinen Vorlaufern Bonaventura und 
Alexander von Hales (im Zusammenhang mit der Rezeption des. 
Aristotelismus) zum Gegenstand systematischer ErOrterung. Der 
tJbergang von der erbstandischen zur berufsstandischen Gesellschaft 
fuhrt den Ubergang von hartester Askese zu einer relativ weltoffenen 
Haltung mit sich. Der neue Begriff der „lex naturalis" ist der wichtigste 
Ausdruck dieser Wendung. Denn er verknupft die Begriffe „lex" 
und „natura", die bis dahin sich als das Prinzip des gottlichen Guten 
und des fleischlichen Bosen in uniiberbruckbarer Feindschaft gegen- 
iiberstanden. Wahrend fur Augustin und das ganze fruhe Mittelalter 
das gottliche Gesetz ein dem Menschen von auBenaufgezwungenes 
Gebot ist, ist es fiir Thomas der Ausdruck der allgemeinen naturlichen 
Neigungen des Menschen, einer naturlichen Harmonie seiner phy- 
sischen Bestandteile und seiner psychischen Bestrebungen, welche 
freilich nur in einer wohlgeordneten Gresellsehaft zu ihrem Rechte 
kommen konnen. Um diese in Funktion zu bringen und zu halten, 
bedarf es erkennender Vernunft, die das im Menschen bloB latent 
angelegte gottliche Gesetz in Wirksamkeit setzt. Dabei wird, ent- 
sprechend der Thomas als „naturlich" geltenden feudalen Gesell- 
schaftsordnung, angenommen, da6 die Natur und also das Natur- 
gesetz der verschiedenen Stande verschieden sei. Der Begriff der „lex 



314 Franz Borkenau 

naturalis" bei Thomas dient der Apologie der berufsstandischen 
Gesellschaft, der Polemik gegen die Lehre vom „irdischen Jammer- 
tar', der Lobpreisung des Menschen, der fahig ist, Gottes Werke zu 
verwirklichen, der Lehre von der Ubereinstimmung von Trieb und mo- 
ralischer Norm. Das Naturgesetz gilt eigentlich bloB fur die menschliche 
Gesellschaft, nur im ubertragenen Sinn fiir die auBermenschliche Natur. 
Mit dem Verfall der feudal-traditionalistischen Gesellschafts- 
ordnung andert sich die Auffassung vom Menschen, zerreiBt der un- 
mittelbare Zusammenhang zwischen dem Begriff des Naturgesetzes 
und der Auffassung von der Gesellschaft, schieben sich zwischen 
Soziallehre und Naturbild immer zahlreichere Mittelglieder ein. Die 
veranderte Bewertung der Menschennatur fuhrt schrittweise zur 
reformatorischen Anthropologic Erschien Thomas der Mensch als 
von Natur aus mit alien Forderungen der Sitte und der Sittlichkeit 
iibereinstimmend, so gilt er nun inmitten des Verfalls der standischen 
Traditionen als ein schlechthin bases Wesen, unfahig, sein eigenes 
Heil zu wirken, auf die gottliche Gnade bedingungslos angewiesen. 
In solcher Situation wird das Problem der Ordnung in verdoppelter 
Scharfe aktuell. Konnte Thomas die Ordnung des Kosmos unmittelbar 
aus der evidenten Ordnung des menschlichen Daseins ableiten, so 
muB nunmehr eine Deutung des Weltalls herbeibemuht werden, um 
den Glauben an die Moglichkeit der Harmonie im Menschenleben auf- 
rechtzuerhalten, die in der erscheinenden Wirklichkeit des gesellschaf t- 
lichen Lebens nicht mehr aufweisbar ist. Bei Nikolaus Cusanus als 
dem ersten Denker, der das Problem der Weltharmonie konsequent 
gestellt hat, klindigen sich so die Grundprobleme der modernen 
Philosophie an. In der Erscheinung ist die Welt ein Reich der Unruhe, 
das nicht verstanden werden kann. Diesem Reich der Erscheinung 
wird ein Reich des Wesens gegeniibergestellt, in dem Harmonie und 
Ordnung herrschen. Dieses Wesen ist unseren irdischen Kraften nicht 
voll zuganglich, deus absconditus. Aber seine Spuren finden sich 
tiberall, einerseits in der ,,lex naturalis", die zwar nicht mehr ein 
Ausdruck der natiirlichen Triebkonstitution des Menschen ist, die 
er aber als Gewissen von Gott eingepflanzt in seinem Herzen tragt; 
anderseits in der „lex naturalis" der ewigen Bestandigkeit schoner 
Ordnung in der Natur, die einen allgutigen SchOpfer anzeigt. So 
wird die GewiBheit der Wesenhaftigkeit des moraHschen Naturgesetzes, 
die aus dem verderbten Menschenleben nicht mehr gewonnen werden 
kann, der Natur abgezwungen, die sich zu diesem Zwecke eine bewuBte 
Deutung in mathematischen MaBen, nach Art des Neupythagoreismus, 



'Zur Soziologie des mechanistischen Weltbildes 315 

gef alien lassen muB. Die Trennung des physischen vom moralischen 
Naturgesetz fiihrt dazu, daB das gesellschaftliche Leben nur noch 
aus den Gesetzen der auBeren Natur deduktiv oder analogisch ver- 
standen werden kann, wahrend Thomas gerade umgekehrt die Natur 
aus den Zwecken desMenschenlebens erklaren will. In der entstehenden 
kapitalistischen Gesellschaftsordnung erscheinen die gesellschaftlichen 
Ordnungen dem Menschen nicht mehr, wie im feudalen Tradition 
nalismus, als seine angeborene „Natur" und noch nicht, wie in der 
sozialistischen Lehre, als sein Produkt. Wie alles gesellschaftliche 
Geschehen im Kapitalismus, erscheinen ihm seine Taten als ein ihm 
von auBen kommendes Schicksal, das also jeder anthropozentrisch- 
finalen Deutung verschlossen ist. 

Cusanus vertritt eine gesellschaftliche Gruppe, die innerhalb der 
AuflOsung des Feudalismus eine harmonische Gesellschaftsordnung 
durch Herrschaft einer ,,weisen" Oligarchic aufrechtzuerhalten strebt. 
Seine harmonistische Deutung des Weltalls ist wertlos fur jene 
Schichten, die durch den ZersetzungsprozeB des Feudalismus aus 
ihrer traditionalistischen Lebensform geworfen worden sind, dadurch 
aber nicht neue Moglichkeiten der Herrschaft bekommen haben, 
sondern sich der Notwendigkeit eines qualvollen Anpassungsprozesses 
an die Bedingungen des Geldkapitalismus gegeniibersehen. Fur die 
vom Untergang bedrohten Kleinadeligen, Zunfthandwerker und 
Intellektuellen, deren Wortfiihrer Calvin ist, bedeutet die Zer- 
stGrung der „naturlichen" feudalen Gesellschaftsordnung das Fehlen 
jeder Ordnung iiberhaupt. Der Zusammenhang zwischen der Auf- 
fassung der Natur und der Bewertung des moralischen Charakters 
des Menschen ist nirgends so deutlich wie bei Calvin. Zwar leugnet 
er nicht das Vorhandensein eines moralischen Naturgesetzes und einer 
gottlichen Weltordnung, aber in der abgriindigen Verderbtheit, die 
dem Siindenfall gefolgt ist, sind beide dem Menschen unerkennbar 
geworden. Das Gewissen hat nur den Zweck, den Menschen vor sich 
selber anzuklagen, ohne daB ihm doch irgendein Weg zum Guten 
offenstiinde. Jetzt ist es voller Ernst mit dem deus absconditus. Da 
der Mensch durch und durch bOse ist, kOnnte eine Weltordnung nur 
ein Reich des Teufels sein; gesetzliche RegelmaBigkeit oder schOne 
Harmonie der Natur zu behaupten, erklart Calvin daher ausdrucklich 
fiir blasphemisch. Er leugnet das moralische wie das physische 
Naturgesetz. 

Die herrschende geldkapitalistische Schicht versucht, sich den 
Konsequenzen des Calvinschen Pessimismus zu entziehen. Dieser ist 



316 Franz Borkenau 

jedoch in der Periode des Geldkapitalismus die einzige konsequente 
Weltansicht, da der Feudalismus nicht mehr besteht und die kapi- 
talistischen Lebensformen die Massen noch nicht durchdrungen haben, 
so daB die gesellschaftliche Wirklichkeit als bloBe Herrschaft zerstoren- 
derMachte erscheinen muB. Die Ideologic des Geldkapitals, die Philo- 
sophic der Renaissance, ist daher gez wungen , in ihren apologetischen 
Bemiihungen auf jede Sinndeutung der Gesellschaft zu verzichten 
und ihre harmonistischen Theorien rein vom Standpunkt des voll- 
kommenen Individuums zu begriinden, nahert sich aber trotzdem 
immer mehr der Calvinschen Haltung. 

Die erste Etappe auf diesem Wege stellt die Philosophic Ficinos 
dar; er stellt das Problem der menschlichen Seele in den Mittelpunkt. 
Unwiderstehlich treiben die „ Appetite" die Seele zu sinnloser Be- 
wegung. Das ist ihre „fatalis lex". Aber wahrend die erscheinende 
Bewegung sinnlos ist, hat sie gleichzeitig eine wesenhafte Bedeutung. 
Im Kreislauf zahlreicher, durch Seelenwanderung verbundener 
Erdenleben durchlauft sie alle Objekte der Begierde, um sich von 
alien zu befreien; so lauft sie im Kreis um Gott, um schliefilich in 
ihn zu fallen. Bei Ficino stehen die Calvin vorwegnehmende Lehre 
von der vollen Sinnlosigkeit des menschlichen Daseins und die har- 
monistische Wesensphilosophie unvermittelt nebeneinander. Um 
so starkerer Akzent fallt auf eine harmonistische Naturdeutung. Um 
dem Kreislauf der Seelen Glaubhaftigkeit zu verleihen, konstruiert 
Ficino die ganze physische und geistige Welt als ein System von 
Kreisen. Diese Auffassung der Natur als eines harmonischen Systems 
von Kreisen, der edelsten der Kurven, hat die Naturwissenschaft der 
Renaissance entscheidend bestimmt. Die statische Ordnung der 
Gesellschaft, Grundanschauung des Hochmittelalters, hatte wenigstens 
die Entstemmg einer wissenschaftlichen Statik ermoglicht, wahrend 
jede Art von Dynamik dem Mittelalter verschlossen blieb. Nun 
tritt die Bemuhung um eine Dynamik der Kreisbewegungen 
in den Vordergrund und mit ihr die Physik der Himmelskorper als 
reinste Darstellung dieser Dynamik . Diese Auf gabe hat Kopernikus 
gelost. Wahrend dem hohen Mittelalter alles daran lag, den Menschen 
als die Krone der Schopfung, die Spitze der hierarchischen Ordnung 
der Welt, die Erde also als deren Mittelpunkt aufzufassen, wogegen es 
nichts bedeutete, daB die gequalten ptolemaischen Epicyklen aller 
schonen Einfachheit bar waren, gelten jetzt die Seelen der Himmels- 
korper als edler denn die Menschenseelen — entsprechend der pessi- 
mistischen Bewertung des Menschen und der Superioritat der Natur 



Zur Soziologie des mechaniatischen Weltbildes 317 

uber die Gesellschaft. Dagegen stent der Gesichtspunkt der Harmonie 
in der Natur liber alien anderen. Kopernikus bezeichnet ausdrucklich 
als Motiv seiner Ablehnung des ptolemaischen Systems die Un- 
mOglichkeit, mit seiner Hilfe das Weltall einfach und harmonisch 
zu konstruieren. 

Kommt bei Ficino die entscheidende Rolle des aller sozialen 
Schranken ledigen vollentwickelten Individuums nur indirekt in 
seiner rein anthropologischen, asozialen Fragestellung zur Geltung, 
so stellt es Ludovico Vives ausdrucklich in den Mittelpunkt. Fur ihn 
besteht weder eine finale noch eine harmonistische Weltordnung. 
Sinn, Trieb, lex naturalis des Weltgeschehens ist fiir ihn die Voll- 
kommenheit jeder Art in ihren vollkommensten Individuen. Die 
Einheit von Trieb und Norm scheint wiederhergestellt, jedoch auf 
vollkommen naturalistischer Grundlage. Von hier aus erOffnet sich 
ein weites, von den Naturgeschichtlern der Spatrenaissance reichlich 
bebautes Feld empirischer Naturforschung. Sie gilt der Fest- 
stellung des besonderen Verhaltens jeder Spezies, wobei der 
Begriff des Funktionszweckes der Organe fiir das Individuum um- 
fassende Anwendung findet. Die Fragestellung dieser Empiriker 
ist durchaus vitalistisch, Probleme der Mechanik tauchen in ihrem 
Kreis nicht auf. Wohl aber tritt fiir Vives und seine Nacbfolger 
die Erkenntnistheorie als selbstandiges Problem in den Gesichts- 
kreis. Denn wenn alles mittelalterliche Weltverstandnis von einer 
scheinbar evidenten ,,Naturlichkeit" des menschlichen Wesens und 
seiner Strebungen ausging, so ist in Vives* Naturalismus die Uber- 
legenheit der Natur uber den Menschen endgiiltig verfestigt, die Lehre 
vom Menschen ein Bestandteil der Lehre von der auBeren Natur. 
Und nun wird das bisher Selbstverstandliche zum Problem: Wie 
konnen wir der Adaquatheit unseres Wissens von der AuBenwelt gewiB 
sein % Dabei erweist sich die Erkenntnistheorie als Abbild der Meta- 
physik. Wer die Erkennbarkeit ewiger Ordnungen in der Natur 
behauptet, muB das Vorhandensein ewiger evidenter Erkenntnisse der 
menschlichen ratio behaupten. Und umgekehrt: wer, wie Vives, 
ein Bereich der Gesetzlichkeit und eines des Zufalls lehrt, muB ein 
Bereich der ewigen ratio und eines der schwankenden opinio be- 
haupten. Die Erkenntnistheorie, scheinbar eine Voraussetzung, ist 
eine Folge der gesellschaftlich bedingten Anschauung von der Welt- 
ordnung. 

Dem Begriff der ,,lex naturalis" bei Vives fehlt in Wahrheit seine 
vorgebliche Eindeutigkeit. Denn welches Individuum innerhalb 



318 Franz Borkenau 

einer Art als vollkommen gelten soil, dafiir gibt es kein Kriterium. 
In Vives' Anthropologic ist derBegriff derNorm faktisch verschwunden. 
Nach ihm verschwindet der Begriff der „lex naturalis" aus der Theorie. 
Wie im Staatsrecht an Stelle der Lehre vom Naturgesetz die Theorie 
des Gottesgnadentums tritt, so treten bei den Naturphilosophen seit der 
zweiten Halfte des 16. Jahrhunderts, vor allem bei Bodin und Cam- 
panula, an Stelle des eine RegelmaBigkeit bezeichnenden Naturgesetz- 
begriff es Begriff e wie fatum, fortuna, providentia, die die Zufalligkeit 
alles Geschehens, zunachst des menschlichen und dann alles Natur- 
geschehens liberhaupt, ausdriicken. Den Gipfelpunkt dieser Ent- 
wicklung stellt das novum organon Bacons dar. Die Baconsche 
Naturphilosophie ist eine einzige Aufforderung, die Frage der Normen 
aus der Naturbetrachtung auszuschalten und die Illusion einer 
einheitlichen, allgemeinen GesetzmaBigkeit aufzugeben. Bezeichnet in 
dieser Hinsicht Bacon nicht einen Anfang, sondern den Endpunkt 
einer jahrhundertelangen Entwicklung, so bringt er der Natur- 
wissenschaft als neues Element die systematische Energie einer 
praktisch-industriellen Zielsetzung. Das Geldkapital vollzieht seinen 
Ubergang in die Sphare der Produktion. Aber Bacons Forschen ist 
unfruchtbar geblieben. Seine angeblich reine Empirie hat nichts 
zutage gefordert als ein Kunterbunt von Kategorien der Renaissance- 
wissenschaft. Das neue mechanistische Weltbild konnte er nicht 
schaffen, vielmehr entstand es gerade aus einer Wiederherstellung 
der engsten Verbundenheit zwischen der moralischen und der phy- 
sischen „lex naturalis", die auf der Verallgemeinerung der aus der 
Manufaktur geschopften Methoden der Naturbetrachtung beruhte. 

III. Naturrecht und Gesellschaftsvertrag. 
Eine der wichtigsten Vermittlungen zwischen dem mittelalter- 
lichen und dem modernen Naturgesetzbegriff ist die Umwandlung 
der Staatslehre, die aus dem Siege des fiirstlichen Absolutismus 
zu Beginn des 16. Jahrhunderts und aus den fruhburgerlichen Revo- 
lutionen (Aufstand der Niederlande, Hugenottenkriege, Grand 
revolution) erf olgt . Macchiavellist der erste Denker, der konsequent 
von den Daseinsbedingungen des fiirstlichen Absolutismus ausgeht. 
Zwar ist dieser nicht sein Ideal, im Gegenteil verherrlicht er die mittel- 
alterliche Stadtefreiheit, aber er akzeptiert die Tyrannis als unver* 
meidliche Tatsache und entwickelt die technischen Bedingungen, 
unter denen sie funktionieren kann. Hierbei ergibt sich sogleich der 
enge Zusammenhang der neuen Staatsform mit einer neuen Auf- 



Zur Soziologie des mechanistischen Weltbildes 319 

fassung vom menschliclien Wesen tmd von der Sittlichkeit. Indem 
Macchiavell in dem Entwurfe seiner Politik von alien moralischen 
Bestimmungen des Staates radikal absieht, leugnet er implizit die 
reale Bedeutsamkeit des Naturgesetzes im gesellschaftlichen Leben; 
ohne es ausdriicklich auszusprechen, geht er von der Voraussetzung 
aus, dafi die Menschen einander natiirlicherweise feind sind. Abso- 
lutismus und pessimistische Anthropologic gehGren seitdem untrenn- 
bar zusammen. Die Reformation bat diesen Zusammenhang ausdruckr 
lich ausgesprochen. Sie begriindet die Lehre von der Herrschaft 
der Obrigkeit von Gottes Gnaden mit der Notwendigkeit, den von 
Natur bOsen Menschen mit Gewalt zu bandigen. Fur naturrechtliche 
Anspriiche der Individuen bleibt hier kein Raum. 

Jedoch erst durch Bo din wird der Absolutismus im Begriff der 
Souveranitat zum Bestand des Staatsrechts im engeren Sinne. Bodin 
ist zur juristischen Fassung der Tatsache des Absolutismus durch 
die Unmoglichkeit seiner theologischen Begriindung gezwungen; 
dies ergibt sich aus der Stellung der royalistischen Mittelpartei in 
den Hugenottenkriegen, die dem religibsen Fanatismus sowohl der 
Calviner als der Liguisten den religiOs toleranten, auf das inner- 
weltliche Wohl der Untertanen bedachten legitimen bourbonischen 
Absolutismus entgegenstellt. Bodin vermag jedoch die innerweltliche 
Begriindung der Souveranitat nicht zu Ende zu fuhren, da der 
innerweltliche Zweck des Absolutismus nur die Wahrung von Leben, 
Eigentum, Glauben und Wohl der Untertanen sein kann ; eben an diese 
Menschenrechte darf jedoch der Absolutismus nicht gebunden werden, 
da er sonst aufhorte, absolut zu sein. Bodin muB daher die Souve- 
ranitat als angebliche empirische Tatsache einfach hinstellen und 
gewaltsam in alle bestehenden Verfassungen hineindeuten, sowie sie 
metaphysisch durch Analogien in der Weltordnung (Gottesherrschaft, 
Patriarchat usw.) stiitzen. Aber ebensowenig wie Bodin die Souve- 
ranitat, kOnnen seine Gregner, die calvinischen und jesuitischen 
Monarchomachen, die Menschenrechte in einer systematischen Kon- 
struktionderGesellschaftbegriinden. Gregendie „macchiavellistischen" 
Greuel der Bartholomausnacht stellen sie das Recht des Individuums 
auf seine Existenz, seine Sicherheit, seinen Gottesglauben und seine 
durch unaufhebbare Rechte garantierten standischen Anspriiche, 
und sie sprechen den Untertanen das Recht zu, den Herrscher, der 
diese Voraussetzungen seiner Herrschaft miBachtet, als Tyrannen 
zu beseitigen. Hier argumentieren sie jedoch bloB als in ihren Rechten 
bedrohte Minderheit, sie versuchen gar nicht, diese Rechte, die fur 



320 Franz Borkenau 

sie einfache Gegebenheiten sind, als notwendige Elemente einer 
sittlichen Gesellschaftsordnung aufzuzeigen. Die Menschenrechte 
sind ihnen nicht mehr Bestandteile eines die Gesamtgesellschaft 
organisierenden Naturgesetzes, sondern bloBes subjektives Natur- 
recht. 

Althusius, der Ideologe des demokratischen Casarismus der 
Oranier (Professor an der Nassauisch-Oranischen Landesuniversitat 
Herborn-Siegen), versuchtden Gegensatz zwischen Souveranitat und 
Menschenrechten zu tiberwinden. Er ist nicht, wie Gierke behauptet 
hat, Theoretiker einer abstrakten Demokratie, vielmehr scharfer 
Vertreter des furstlichen Absolutismus. Die Volkssouveranitat dient 
in seinem System nur dazu, dem Erwahlten des Volkes eine moglichst 
absolute Macht zu vindizieren; der vom Volke eingesetzte Souveran 
ist normalerweise unabsetzbar. Aber zum Unterschied von Bodin 
vertritt Althusius nicht eine legitime, sondern eine revolutionare Herr- 
schermacht, die ihr Recht nur der unmittelbaren Einsetzung dufch 
das Volk verdanken kann. Es geht ihm urn die zur Durchsetzung 
modern-biirgerlicher Verhaltnisse geschaffene revolutionare Diktatur 
mit monarchischer Spitze. Um die Absolutheit des Herrschers 
gegenuber alien gesellschaftlichen Verhaltnissen sicherzustellen, muB 
er einerseits die Souveranitat fur eine notwendige Eigenschaft der 
Staatsgewalt erklaren, andererseits Staat und Gesellschaft identifi- 
zieren. Denn ohne diese Idendifikation bliebe ja dem gesellschaft- 
lichen Leben ein Bereich unaufhebbarer individueller Freiheitsrechte, 
die der Souveran nicht antasten durfte. Gehort aber der souverane 
Staat untrennbar zur Gresellschaft, verdankt andererseits der Souveran 
sein Recht einem Vertrage, dann muB die Gesellschaft selbst Produkt 
eines Vertrages sein. Die so von Althusius begriindete Lehre vom 
Gesellschaftsvertrag zieht die letzten Konsequenzen aus der Antinomie 
von Souveranitat und moralischem Naturgesetz. Bei Althusius wird 
das Naturgesetz in einem solchen Grade geleugnet, daB alle Ver- 
haltnisse des menschlichen Lebens aus vertraglicher Satzung, d. h. 
aus der Willkiir der Individuen abgeleitet werden. Von hier aus 
off net sich der Weg zu der soziologischen Staatslehre des Hobbes. 
Althusius vermeidet die letzten Konsequenzen Hobbes*, dem er im 
iibrigen auBerst nahe steht, nur durch den einzigen naturrechtlichen 
Rest seines Systems, die Heiligkeit der Vertrage. Sie ergibt sich aus 
der calvinischen Begrtindung seines Standpunktes. Althusius' Gegen- 
spielerGrotius, den man mitUnrecht ftirdenBegrunder der modernen 
Staatslehre gehalten hat, versucht als Ideologe einer standischen 



Zur Soziologie des mechanistischen W«Itbildes 321 

Schicht, des hollandischen Stadtepatriziats, in Ankniipfung an die 
Scholastik ein objektives Naturgesetz festzuhalten, das der Staats- 
macht Schranken setzt und aus dem er die Unaufhebbarkeit erwor- 
bener standischer Rechte ableitet. 

IV. Neue Theologie und neue Anthropologic 
Die Lehre von der Souveranitat und vom Gesellschaftsvertrag 
setzt also eine pessimistische Anthropologie voraus. Sie wird daher 
konsequent nur innerhalb des Protestantismus entwickelt. Umgekelirt 
entwickelt sich im katholischen Kulturkreis die philosophische 
Problematik an der dort festgehaltenen Voraussetzung von der Giite 
und ErlGsungsfahigkeit des Menschen, die mit den gegebenen Tat- 
sachen der Zersetzung der feudalen Gesellschaftsordnung und der 
durch den kapitalistischen ArbeitsprozeB geforderten ,,innerweltlichen 
Askese" in Einklang gebracht werden muB. 

Die anthropologischen Probleme kennt auch der Calvinismus, 
aber sie haben bei ihm keine philosophische Tragweite, weil er sie 
vermittels eines widerspruchsfreien Pessimismus lost. Der Calvinismus 
ist der wichtigste Nahrboden kapitalistischen Geistes geworden . 
Zwar ist er selbst nicht ein Produkt des kapitalistischen Arbeits- 
prozesses, aber ein Produkt der Anpassung an den Einbruch des 
Geldkapitals in die traditionalistische Wirtschaft vermittels inner- 
weltlicher Askese, die den Weg zum kapitalistischen ArbeitsprozeB 
offnet. Hierbei scheint uns, im Gegensatz zu Max Weber, das Be- 
wahrungsdogma von geringerer Bedeutung als die Lehre von der 
abgriindigen Verderbtheit des Menschen, die im Calvinismus nicht 
wie im Luthertum durch die MOglichkeit der Erlosung im Glauben 
abgeschwacht ist. Diese Lehre wird dann so gewendet, daB jede 
VerschOnerung dieses verderbtenLebens alsTeufelsdienst gilt. Daraus 
ergibt sich die innerweltliche Askese von selbst. Der Gott, der diese 
Welt beherrscht — ohne seine Existenz, sein ausdruckliches Gebot 
konnte aus der Verderbtheit der Welt nur ein Leben ohne moralische 
Schranke folgen — , kann nur ein deus absconditus sein. Letzten 
Endes ist die innerweltliche Askese irrationalistisch fundiert. Aber 
gerade darum ist dem Calvinismus das Problem erspart, die Sinn- 
entleerung des kapitalistischen Daseins und den Krieg aller gegen 
alle mit irgendeinem Ideal vom Guten und Schonen in Einklang zu 
bringen. Vielmehr nimmt er sie als Tatsache hin. 

Zu Beginn des 17. Jahrhunderts ist der Calvinismus zur Konfession 
von Bankiers, Manufakturbourgeois und industriellen Arbeitern ge- 



322 Franz Borkenau 

worden. Die adeligen Schichten scheiden aus. Unannehmbar ist 
er auch fur die Zwischenschicht der Gentry, des Amtsadels, die in 
Holland wie in England und Frankreich aus feudalen und burger- 
lichen Elementen zusammengewachsen ist, vermoge ihres Reichtums 
die Amter erobert und standische Erblichkeit erlangt hat. In Frank- 
reich erscheint diese Schicht als Noblesse de robe, konsolidiert sich 
wahrend der Biirgerkriege, setzt im Jahre 1604 die Erblichkeit der 
Amter durch, ist seitdem die einzige von der Krone dauernd relativ 
unabhangige Klasse und der Haupttrager der modernen StrSmungen 
im geistigen Leben. An das Ideal eines standisch edlen Lebens ge- 
bunden, weist sie den calvinischen Pessimismus von sich. Trager der 
Bewegung der ,,Politiciens", Hauptverteidiger des aufkommenden 
Absolutismus in seinen ersten Stadien, ist sie der feudalen Staatslehre 
wie dem Ultramontanismus feindlich. 

Die erste ideologische Form, die sie sich gibt, ist der neue Stoizismus 
von Lipsius und du Vair, den die Corneilleschen Dramen ver- 
herrlichen. Ihnen erscheint das gesellschaftliche Leben im Burger - 
krieg als sinnloses Fatum, als ein grundsatzlich Leid bringendes 
Gehandeltwerden der Menschen von auBen, in dem alle bOsen Krafte 
walten. In der Beurteilung der Realitat weichen sie von den Calvinern 
nicht ab, aber sie stellen diesem Fatum die Ataraxie einer gefaBten 
Seele gegeniiber, die sich den Weltlauf nicht anfechten laBt. Daher 
lehren sie auch die Freiheit des Willens, aber nicht wie die Thomisten 
als Fahigkeit des Menschen, selbst den Weg zum Guten zu finden, 
sondern als negative Kraft, sich das Ubel von der Seele abzuhalten. 
Im Stoizismus zuerst ist auBeres Geschehen und Innerlichkeit schroff 
geschieden, alles auBere Geschehen, auch im Menschenleben, als 
dem Menschen fremd aufgefaBt. Der Stoizismus kennt noch kein 
Problem der modernen Massenmoral, er gilt noch nicht dem kapi- 
talistischen Aufbau, sondern der Selbstbehauptung rationaler Un- 
abhangigkeit inmitten des Untergangs der feudalen Welt. 

Selbstbehauptung in der allgemeinen Auflosung bezweckt auch 
die Ideologic des Hofadels, der Libertinismus, wie ihn Vanini, 
Theophileu. a. vertreten. Wahrend der Landadel in seinen feudal- 
katholischen Traditionen verharrt, ist der seit dem Ende der Biirger- 
kriege aufkommende Hofadel von alien feudalen Banden gelOst, 
kapitalistischen nicht unterworfen, eine Klasse funktionsloser, dabei 
aber unendlich gewalttatiger Aussauger. Auch der Libertinismus 
proklamiert die Verderbtheit der Welt, er aber zieht aus ihr den 
SchluB, daB alle moralischen Satze nur im Interesse jener, die sie 



Zur Soziologie dea mechanistischen Weltbiides 323 

lehren, aufgestellt seien, daB die GroBen und die Philosophen sich 
nicht wie die Masse von ihnen betoren lassen diirften, daB man es 
sich in dieser bosen Welt so gut wie mttglich sein lassen musse. Atheis- 
mus und Materialismus treten zuerst in dieser Gestalt in der modernen 
Denkgeschichte auf, ohne jede Verbindung mit mechanistischen 
Theorien, vielmehr durchsetzt mit alien Sorten von Aberglauben. 

Mit dem Eindringen von Merkantilismus und Manufaktur sehen 
sich Hofadel und Gentry vor das Problem neuer Formen der Massen- 
moral gestellt. Die Gentry greift zunachst, solange ihre Abneigung 
gegen den religiosen Fanatismus beider Richtungen iiberwiegt, zu 
einer Wiederbelebung der Naturgesetztheorie, deren charakteristischer 
Vertreter Charron ist. Bei dem Versuch Charrons wird jedoch nur die 
Unmoglichkeit einer innerweltlich-rationalen Begriindung der neuen 
Moral offenbar. Die menschliche Natur, auf die das moralische 
Leben begriindet werden soil, muB gut sein. Gleichzeitig erweist 
sich aber Punkt fur Punkt, daB sie bose ist, so daB diese beiden 
Thesen sich ununterbrochen kontradiktorisch gegeniiberstehen. Um 
die Massendomestikation im Sinne der innerweltlichen Askese zu 
leisten, muB die Gentry wie die Manufakturbourgeoisie zu der irra- 
tionalen Begriindung auf den deus absconditus greifen. Intensiv 
wie das Interesse der Gentry als kraftigster der burgerlichen Schichten 
an der Neugestaltung der Moral ist, wirft sie sich mit aller Kraft in 
die religiose Erneuerungsbewegung und driickt ihr hierbei, zunachst 
halb unbewuBt, ihren Stempel auf. 

Vbll entwickelt sich die biirgerliche katholische Religiositat jedoch 
erst im Kampf mit der religidsen Theorie des Hofadels, dem Jesuitis- 
mus. Auch der Hofadel ist seit der Zeit Richelieus genotigt, sich der 
religiosen Erneuerungsbewegung anzupassen, seinen offenen theo- 
retischen Libertinismus aufzugeben. Er tut dies aber in einer mit 
seinem praktischen Libertinismus vereinbaren Weise. Die von 
Molina entwickelte Moraltheorie der Jesuiten abstrahiert grund- 
satzlich von der aller bisherigen Moraltheologie zugrunde liegenden 
Frage, ob der Wille des Menschen im Wesen gut oder bOse sei. Sie 
kennt nur konkrete Grebote, teils positive gOttliche Vorschriften, 
teils aus dem Wesen der Sache entspringende naturrechtliche Satze. 
Sie teilt also mit den Calvinern die rein positivistische Auffassung 
der Moral, trennt sich aber von ihnen durch das Fehlen der inner- 
weltlichen Askese. Vielmehr liefert sie die einzelnen Moralgebote 
juristischer Interpretation aus, die mangels eines auf strenge Lebens- 
grundsatze tendierenden Interpretationsprinzips notwendig in die 



324 Franz Borkenau 

Richtung auBerster Laxheit fuhrt. Diese bis dahin unbekannte 
Reduktion der moralischen Forderungen ermoglicht es den Jesuiten, 
sich einerseits alien Bediirfnissen des libertinischen Hofadels anzu- 
passen, anderseits dem Menschen die Fahigkeit zuzusprechen, sein 
Heil selbst zu bewirken. Der Reduktion der Moral auf engste positive 
Gesetzlichkeit entspricht bei Molina die Lehre von der Willens- 
indifferenz. Jede Lehre, die eine einheitliche Beziehung des Menschen 
auf eine finale Weltordnung behauptet, muB auch die Determiniertheit 
des menschlichen Willens behaupten. Indem Molina die thomistische 
positive Beziehung des Menschen auf das hOchste Gut wie die cal- 
vinische negative leugnet, kommt er zur Lehre von der Indifferenz 
des Willens, der sich frei nach alien Seiten entscheiden kann. Aus 
der Auflosung der einheitlichen moralischen Grundhaltung in ein 
Biindel positiver Rechtssatze folgt die Auflosung des Glaubens an 
eine einheitliche Weltordnung. Dies macht bei Molina — zum ersten- 
mal im modernen Denken — eine scharfe Trennung zwischen auBerer 
und innerer Notwendigkeit mfiglich. In der Polemik gegen die fina- 
listischen Moralsysteme vertritt Molina die Allgegenwart der rein 
auBeren effizienten Kausalitat in der Welt, mit alleiniger Ausnahme 
der Kontingenz in den menschlichen Willensentschlussen. Diese 
Lehre hat spater Gassendi, ein bewuBter Anhanger des Molinismus, 
zum philosOphischen System ausgeweitet. Als Gegengewicht steht 
dem alien nur die zum Zwecke religiftser Domestikation entworfene 
Lehre gegenuber, daB der Mensch, der die Anforderungen der Moral 
aus eigenen Kraften zu erfullen vermag, zur Erlangung des iiber- 
natiirlichen Heils der Sakramentsgnade zwingend bedarf: laxeste 
Moral, aber Unentbehrlichkeit der kirchlichen Heilsmittel ; libertinische 
Lebensfiihrung des Hofadels, aber unerbittliche Handhabung des 
religiosen Herrschaf tsinstrumentes . 

Dieser Laxheit wirft sich die Moral der Gentry entgegen. Ihr 
Ziel ist Rationalisierung der Lebensfiihrung, ihre ideologischen 
Mittel Pradestinationslehre und neuer Platonismus. Ihr Agitations- 
zentrum sind zunachst Berulles Oratorianer mit Gibieuf als Theo- 
retiker, dann die Jansenisten. Von Calvin trennt sie dessen Lehre 
von der Verworfenheit alles Menschlichen. Es gibt fur sie ein er- 
reichbares System des Guten; denn sie sind Ideologen der opti- 
mistischen Gentry. Mit Calvin verbindet sie die Lehre, daB alle 
irdische Lust als Konkupiszenz Siinde sei. Denn als fiihrende Schicht 
der Bourgeoisie sind sie Vertreter der innerweltlichen Askese. Sie 
iiberwinden diesen Widerspruch durch die platonisierende Grundlehre 



Zur Soziologie des mechanistischen Weltbildes 325 

ihrer Schule, daB das wahre Wesen des Menschen nicht sein erschei- 
nendes Dasein, sondern das Gottliche in ihm ist. Vom thomistischen 
Finalismus ist diese Auffassung durch die schroffe Verwerfung alles 
Irdischen geschieden. Aus Gibieufs Anthropologic ergibt sich von 
selbst sein Pradestinationismus. Ob ein Mensch imstande ist, zu 
seinem g6ttlichen Wesen zu gelangen, hangt von Gottes Vorbe- 
stimmung ab. An dieser Stelle ergibt sich das Grunddilemma, das 
den katholischen Rigorismus zum Scheitern verurteilt hat. Im Gegen- 
satz zum Calvinismus, der das BOse als unvermeidlich anerkennt 
und nicht als unbedingtes Hindernis der Erwahlung betrachtet, lehrt 
der katholische Rigorismus die Mbglichkeit eines guten Lebens, 
fafit jedoch den Begriff der Verderbtheit nicht weniger weit als 
der Calvinismus, so daB es zu einer "Ubersteigerung der moralischen 
Forderungen kommt. In der Praxis schrankt er sich dadurch auf 
einen kleinen Kreis von Auserwahlten ein. Dies aber erregt wiederum 
doppelten AnstoB. Denn die aus der Spannung zwischen Realitat 
und moralischen Forderungen unvermeidlich aufsteigende Lehre, 
daB die wenigsten erwahlt sind, fuhrt zu einem pessimistischen Welt- 
bild, das alien Intentionen des Katholizismus und der Gentry wider- 
spricht. Gibieuf lehrt kurzerhand die Erwahlung der meisten, im 
Widerspruch zur Wirklichkeit, Jansenius die Erwahlung weniger. 
Dadurch gelangt er nicht nur hart an die Grenze des Calvinismus, 
sondern stellt auch seinen Hauptzweck, die moralische Radikali- 
sierung der Seelsorge, in Frage. Denn wenn im Calvinismus 
die Erwahlung eine gratia gratuita und das moralische Leben 
nur ihr ungewisses Anzeichen ist, so ist im Jansenismus die Er- 
lOsung Folge eines siindenlosen Lebens, dieses freilich Resultat 
gOttlicher Pradestination. Sind die moralischen Leistungen nicht 
zur Virtuositat gesteigert, so sind sie fur das Heil wertlos, ent- 
halten also keine Pramie. Faktisch hat daher der Jansenismus 
nicht als positiv umgestaltende Kraft, sondern nur als eine gegeniiber 
der jesuitischen Laxheit kritische Sekte von Laienheiligen gewirkt. 
Auf eine solche Sekte von Laienheiligen kommt der moderne Katholi- 
zismus in seiner strengen Fassung unvermeidlich hinaus. Denn 
im Gegensatz zur feudal-traditionalistischen Gesellschaftsordnung 
beruht die kapitalistische nicht mehr auf der „natiirlichen" Identitat 
von Trieb und Norm, sondern auf ihrer scharfen Entgegenstellung. 
Will man daraus nicht mit Calvin die Verderbtheit alles Irdischen 
folgern, dann muB man eine Sphare moralischen Lebens schaffen, 
in der die irdischen Triebe nicht zur Geltung kommen. Da aber diese 



326 Franz Borkenau 

Sphare nur Virtuosen der Askese bedingt zuganglich sein kann, 
erscheint dann unvermeidlicherweise die iibergroBe Mehrheit der 
Menschen als verworfen, d. h., die optimistische Intention, die zur 
Verwerfung der calvinischen Anthropologie fuhrte, ist auf dem Gebiet 
der praktischen Moral nicht erreicht. Gerade daraus entspringt 
jedoch die Aufgabe, der sehlechten Erscheinung das wesenhaft Gute 
der Welt theoretisch entgegenzustellen. 

V. Descartes. 

Descartes hat die Losung dieser Aufgabe unternommen. Aus 
einer Gentryfamilie stammend, geht er von der stoischen Moral als 
Voraussetzung aus. Er anerkennt die fatale Notwendigkeit des Welt- 
geschehens und verwirft seine finale Deutung. Gleichzeitig lehnt er 
es aber ab, dieses Geschehen von der Seele hochmiitig fernzuhalten. 
Indem er es verstandlich macht, hofft er zu zeigen, dafi es gut ist. 
Die mathematische Mechanik soil zur Grundlage der Moral gemacht 
werden. So nimmt er den mittelalterlichen Gedanken einer Universal- 
wissenschaft wieder auf. Er gibt seiner Fragestellung zunachst die 
Form des Suchens nach einem Schliissel der Wissenschaften. Indem 
er so an der uberlieferten Auffassung von Natur und Menschenwelt 
zweifelt, eine systematische Neugestaltung des gesamten menschlichen 
Wissens aus metaphysischen Voraussetzungen ins Auge faBt, muB 
er an die religiosen Wahrheiten Hand anlegen. So erklart sich die 
tiefe Gewissenkrise, die sich ain 11. November 1619 in drei Traumen 
l6st, welche er fiir Gottes unmittelbare Offenbarung halt. In ihnen 
glaubt er die gOttliche Erlaubnis erhalten zu haben, den Weg des 
Zweifels zu gehen, und die Versicherung, dafi dieser Weg ihn nicht 
zur Zerstorung, sondern zur Wiederherstellung der gottgegebenen 
religiOsen und moralischen Wahrheiten fuhren werde. 

Als provisorische Moral beschlieBt er die vorlaufige Anerkennung 
aller Gebrauche seines Vaterlandes, um nachher das Wesentliche 
an ihnen systematisch zu rechtfertigen. Darin ist die wichtigste 
Voraussetzung seiner Gedankenarbeit bereits enthalten. Er setzt 
sich das Ziel, den stoischen Pessimismus zu iiberwinden, aber nicht 
durch eine Anderung der Welt, sondern unter Festhaltung des stoischen 
Fatumsbegriffes durch eine Anderung der Gedanken iiber die Welt. 
Der Hauptinhalt des stoischen Fatumsbegriffes ist die Kontingenz des 
Menschenschicksals. tJberwindung der Kontingenz — im Denken, 
nicht im Handeln — wird zum Zentralproblem der Descartesschen 
Philosophic. Sie ware gelungen, wenn das, was dem Menschen auBer- 



Zur Soziologie des mechanistischen Weltbildes 327 

lich geschieht, als sein inneres Wesen aufgezeigt werden konnte. Diese 
tibereinstimmung des auBeren mit dem inneren Wesen kann im Bereich 
einer kontemplativen Grundhaltung nur intellektuelle tibereinstim- 
mung sein. Es gilt zu zeigen, daB das Wesen der Welt mit dem Wesen 
der menschlichen ratio identisch ist. Damit formuliert Descartes das 
Grundproblem der burgerlichen Philosophie, wie es sich von ihm 
bis Hegel immer wieder gestellt hat. Die Spannung, die durch dieses 
philosophische Grundproblem iiberwunden werden soil, besteht 
zwischen der unaufhebbaren mechanischen Fatalitat des burgerlichen 
Schicksals und dem Bestreben, es optimistisch zu deuten. 

Die kontemplative Attitude ist hierbei nur sekundar durch die 
tibereinstimmung der franzOsischen Gentry mit den Grundziigen der 
gesellschaftlichen Machtverhaltnisse ihrer Zeit bedingt. A lie boirger- 
liche Philosophie hat diese kontemplative Attitude, die aus dem 
Gehandeltwerden des Menschen im Kapitalismus, der Fatalitat des 
Geschehens entspringt. Der spezifische Beitrag der Gentry zu der 
philosophischen Fragestellung Descartes' liegt in seinem Bemiihen, 
diese Fatalitat optimistisch zu fassen; wie denn alle groBen idea- 
listischen Schulen der Bourgeoisie nicht von dieser selbst, sondern 
von Zwischenschichten getragen sind. Daher polemisiert auch Des- 
cartes gegen die pessimistische Gesellschaftslehre des Hobbes, der er 
die Moglichkeit, das objektiv Gute in der absoluten Herrschaft zu 
verwirklichen, entgegenhalt. Jedoch fuhrt dies nicht zur Formu- 
lierung einer konkreten oder gar einer revolutionaren Moral. Immer 
handelt es sich bloB um die optimistische Interpretierung des un- 
vermeidlichen Geschehens. 

GesetzmaBige Deutung des Fatums als eines rein auBeren Ge- 
schehens bedeutet: 1. seine mechanische Deutung als einer Kette 
rein aufierer Kausalzusammenhange, 2. die Rationalisierung dieser 
auBeren Kausalzusammenhange, d. h. ihre Fassung in mathematische 
Gesetze. Das philosophische Ziel kann als erreicht nur gelten, wenn 
das ganze Weltall mechanisch gedeutet, die Mechanik aber auf 
reine Mathematik zuruckgefuhrt ist. Denn nur dann stellt das 
Weltall ein mathematisches System dar, in dem aus wenigen evi- 
denten Obersatzen more geometrico alles Konkrete deduziert werden 
kann. Nur dann ware die Kontingenz wirklich iiberwunden. Aus 
der Aufgabestellung des rationalistischen Fatalismus ergibt sich so 
die Tendenz auf das rationalistische System. Ursprunglich ver- 
meint Descartes es mit einem Griff zu fassen, namlich vermittels 
eines allumfassenden Schliissels der Wissenschaften. Unmittelbar 



328 Franz Borkenau 

vor der Traumnacht glaubt er ihn in Form eines allumfassenden 
Systems der Anwendung von Proportionen gefunden zu haben. 
Von dieser Illusion muB er lassen. Es bleibt jedoch die geometrische 
Methode, welche die Forderung der Anschaulichkeit mit der Mathe- 
matisierung und der logischen Deduktion verkntipft. 

In der Forderung der Anschaulichkeit spiegelt sich die hand- 
werkliche Produktionsgrundlage der Manufakturperiode. Descartes 
hat andauernd Verwendung solcher mathematischen Methoden ab- 
gelehnt, die — z. B. durch die Einfuhrung anschaulich nicht 
vorstellbarer GroBen hOherer Potenz — den Rahmen der euklidischen 
Geometrie sprengen. Der Begriff der ,,clara et distincta perceptio" 
formuliert ebenso die Ablehnung solcher nichtanschaulicher rechne- 
rischer Beweise, wie anschaulicher, aber nicht rechnerischer Beweise. 
Uber diese Forderung geht er jedoch in derRichtung der Allmathematik 
hinaus, einerseits indem er die anschaulichen GrOBen auf logische 
Evidenzen zu griinden versucht, anderseits durch den Versuch der 
Reduktion der Materie auf reinen Raum. Beide Tendenzen stehen 
im Dienste der Allmathematik, die die konkreten physikalischen 
Forschungen Descartes' dauernd kreuzt und beeinfluBt. Das Be- 
diirfnis, Anschauungen auf Evidenzen zu griinden, macht sich ins- 
besondere bei der Fundierung der Bewegungsgesetze geltend. Des- 
cartes erfindet ein Gesetz der Konstanz der Bewegung und begrtindet 
es auf Gottes Giite. Die besondere Vollkommenheit dieses Konstanz- 
gesetzes, die er als Selbstverstandlichkeit behauptet, ohne sie zu 
begriinden, liegt in Wahrheit im Austausch von Aquivalenten bei 
der Ubertragung der Bewegung von einem Korper zum andern. 
Die biirgerliche Tauschgleichheit erweist sich so als Grundkategorie 
der Natur. Hochst fruchtbar ist die allrationalistische Tendenz der 
Descartesschen Methode in seiner Erneuerung der Mathematik 
geworden. Indem er eine einheitliche mathematische Zeichensprache 
schafft, ermoglicht er die Reduktion von Gleichungen verschiedener 
Potenz, er off net sich den Weg zur analytischen Geometrie und schafft 
so erst die Fundamente einer rein quantitativen, deduktiv verfahrenden 
Mathematik an Stelle der getrennten Behandlung verschiedener Glei- 
chungen und verschiedener Kurven in der Mathematik des Mittelalters. 

All dies unternimmt er bewuBt im Dienste der burgerlichen, 
katholisch-rigoristischen Weltanschauung. Ein geheimer Pakt mit 
B6rulle ermOglicht ihm, dem theologischen Tageskampf durch Uber- 
siedlung nach Holland auszuweichen und dort seine Philosophie 
auszuarbeiten. Diese, im standigen Kampf mit den Jesuiten verbreitet, 



Zur Soziologie des mechanistischen Weltbildes 329 

von den Oratorianern systematisch begiinstigt, wird im Verlauf der 
Richtungskampfe zur philosophischen Begriindung sowohl der orato- 
rianischen Mystik als des Jansenismus und wird mit ihnen gemeinsam 
seit der reaktionaren Wendung der Regierung Ludwig XIV. ver- 
folgt. Sie unterliegt auch den gleichen inneren Widerspriichen wie 
ihre theologischen Schwesterschulen. Denn die Identitat des Ichs 
mit der AuBenwelt ist ebensowenig praktisch zu vollziehen wie die 
Identitat des auf reines Denken reduzierten Ichs mit der auf reine 
ratio reduzierten AuBenwelt theoretisch. Hier springt Descartes' 
rationale Theologie ein. Der in seiner konkreten Erscheinung un- 
befriedigte Mensch wird auf den unendlichen ProgreB der Erkenntnis 
verwiesen. Wie er ist, ist aber sein Wille weiter als sein Intellekt. 
Die Unendlichkeit des Willens ist das spezifisch Neue der Descar- 
tesschen Anthropologic, die philosophische Proklamierung des un- 
endlichen Strebens des biirgerlichen Menschen als Wesen des Menschen 
schlechthin. Aus diesem Antagonismus zwischen Wollen und Konnen 
entspringt die Unvermeidlichkeit des Irrtums, der in einem all- 
rationalistischen Weltbild das Kardinallaster sein muB. Die Mdglich- 
keit des Irrtums bedeutet das Scheitern des allrationalistischen 
Systems. Dem entspricht Descartes' Freiheitsbegriff : frei sind wir, 
soweit wir wissend sind, d. h. mit Notwendigkeit nach dem Guten 
streben. Also sind wir groBenteils unfrei. Die so entstandene Kluft 
deckt Descartes durch seine Gottesbeweise zu. Aus der Diskrepanz 
zwischen unserem Streben nach dem Vollkommenen und unserer 
Unvollkommenheit erschlieBt er durch willkurliches Postulat die 
Existenz eines vollkommenen Wesens. Der Gottesbeweis hat keinen 
anderen Zweck als die Identitat von Ich und Welt, in die Descartes 
das hOchste Gut setzt, die uns aber nur in unendlicher Annaherung 
zuganglich ware, als auBerhalb unser existent zu setzen. So kom- 
pensiert der ontologische Gottesbeweis das Scheitern des Systems, 
das sich vor allem in dem Verzicht auf die Deduktion der einzelnen 
Naturerscheinungen auBert. Faktisch uberbriickt der Gottesbeweis 
diese Kluft jedoch nicht, das allrationalistische System bleibt Entwurf , 
und die Spannung zwischen der teilweisen Rationalisierung eines sinn- 
losen mechanischen Fatums und seiner systematischen optimistischen 
Interpretation verbleibt den folgenden Generationen als Aufgabe. 

VL Hobbes. 
Ein echter mechanistischer Materialist ist dagegen Hobbes, der 
Ideologe der Gentry in der englischen Revolution. Sein Materialismus 



330 Franz Borkenau 

entspringt aus seiner rein iimerweltlichen Apologie der Sou- 
veranitat. Denn wenn die absolute Gewalt weder, wie bei 
frtiheren Naturrechtlern, -legitimistisch noch harmonistisch noch 
durch ein bloBes Vertragsschema gerechtfertigt werden kann, dann 
bleibt als einzig mogliche Begriindung die unaufhebbare Ver- 
derbtheit der Menschennatur, die nur durch Zwang gebandigt 
werden kann, weil das Gute in ihr keine Wirklichkeit hat. 
Urn diesen SchluB unwiderleglich zu machen, muB Hobbes jeden 
Glauben an andere als rein egoistische und materielle Triebkrafte 
ausschlieBen. Der burgerliche Materialismus ist so mit einer pessi- 
mistischen Einschatzung der burgerlichen PersOnlichkeit und mit der 
Bekampfung der burgerlich-revolutionaren Richtungen untrennbar 
verbunden. (Als im 18. Jahrhundert der Materialismus sich mit 
dem Fortschrittsglauben verbiindet, transzendiert er, wie schon 
Marx hervorhob, die burgerlichen Schranken in der Richtung des 
Kommunismus.) 

Die PersOnlichkeit besteht fur Hobbes aus dem Streben nach 
Macht. Dieses Streben wird u. a. daraus abgeleitet, daB jeder mog- 
lichst viel zu besitzen wimsche, d, h. aus der Sphare des Konkurrenz- 
kampfes. Die entscheidenden Antriebe fiir diese Machtpsychologie 
stammen jedoch aus der Sphare des Klassenkampfes. Hobbes be- 
griindet die Notwendigkeit einer absoluten Grewalt aus dem Streben 
jeder Partei nach der ganzen Macht im Staate; dieses Streben, 
prinzipiell unbegrenzt und daher auch in der Wahl der Mittel ohne 
innere Schranken, fiihrt unvermeidlich zum Biirgerkrieg, dem 
schlimmsten der tJbel, wenn die absolute Staatsmacht dem nicht 
Schranken setzt. Hobbes stoBt hier hart an die Grenze einer historisch- 
materialistischen Einsicht in das Wesen der burgerlichen Revolution. 
Er muBte, um zu ihr zu gelangen, nur noch die verschiedenartigen 
materiellen Interessen der verschiedenen Parteien aufzeigen. Aber 
dies wurde seinen burgerlichen Standpunkt im allgemeinen und 
seine Position als Verteidiger des Absolutismus im besonderen auf- 
heben. Er weicht dieser Konsequenz aus, indem er den Parteikampf 
auf das Niveau des Konkurrenzkampfes herunterbringt, die Partei 
als das Resultat des Ehrgeizes der sie fuhrenden Individuen faBt, 
die ganz unabhangig von den vorgeschobenen Ideologien nach un- 
beschrankter Macht streben. Von der Realitat des Klassenkampfes 
bleibt in der Hobesschen Staatglehre nur die psychologische Tatsache 
des Machtstrebens, individualpsychologisch miBdeutet. Die Be- 
hauptung von einem naturlichen unbegrenzten Machtstreben ist fur 



Zur Soziologie des mechanistischen Weltbildes 331 

Hobbes unentbehrlich, weil ohne sie die Absolutheit der Staats- 
gewalt nicht gerechtfertigt werden kann. 

Hobbes leugnet nicht, daB es auch im vorstaatlichen Natur- 
zustand Vernunftgrundsatze der Selbsterhaltung gibt, die friedliche 
Verstandigung mit dem Mitmenschen befehlen, also ein Naturrecht 
im eigentlichen Sinn. Aber ganz wie Calvin, in dessen Gedanken- 
welt der Hobbismus wurzelt, leugnet Hobbes die praktische Wirk- 
samkeit dieses „ersten Naturrechts", das im Naturzustand durch 
das bellum omnium in omnes unwirksam gemacht wird. Um dieses 
zu vermeiden, das „erste Naturrecht" in Wirksamkeit zu setzen, be- 
darf es der Ubergabe samtlicher naturlichen Rechte der Individuen 
in die Hande des absoluten Herrschers. Dies ist das „zweite Natur- 
recht", das formal alle Satze des ersten aufhebt, um sie inhaltlich 
durchzusetzen. Dabei meint Hobbes mit dem „zweiten Naturrecht" 
durchaus nicht den Stuartschen Staat der allgegenwartigen Staats- 
intervention, vielmehr ist er als streng burgerlicher Denker ein Gegner 
des Staatskirchentums, der Monopolwirtschaft usw. Sein Absolutismus 
ist nicht wohlfahrtsstaatlich, sondern formal-juristisch, burgerlich- 
freihandlerisch gemeint. In der Konstruktion befindet sich jedoch 
ein klaffender Widerspruch, der das ganze System des Hobbes auf- 
hebt. Die Notwendigkeit der Souveranitat ergibt sich fur ihn daraus, 
daB allein absolute Macht das Leben der Staatsburger garantieren 
kann, ihre Bekampfung also dem Selbstmord gleichsteht und eine 
Absurditat bedeutet. Aber der absolute Souveran ist nicht materiell 
starker als die samtlichen Individuen, die ihm ihre Selbstandigkeit 
abgetreten haben, und also machtlos, wenn deren Machttriebe wirklich 
unbezwingbar sind. Daher muB Hobbes das grOBte Gewicht auf Ein- 
heit der politischen Meinungen, die durch den Absolutismus herzu- 
stellen ist, legen. Aber wenn der Absolutismus sich letztlich auf die 
tJberzeugung der Untertanen von der Notwendigkeit gesellschaft- 
lichen Lebens stiitzen muB, dann ist er uberfliissig, weil diese tJber- 
zeugung dann auch ohne formal-juristische Absolutheit des Herrschers 
zur Vermeidung des Burgerkrieges ausreicht. In seinem Bemuhen, 
von den realen Machtverhaltnissen der realen Klassen im Dienste einer 
formal-juristischenKonstruktion zu abstrahieren,gleichzeitig aber seine 
Staatstheorie materialistisch zu unterbauen, kommt Hobbes zu dem 
SchluB, daB etwas (namlich der Parteienkampf) logisch absurd sei, 
was real durchaus mOglich ist. Dieser Widerspruch ist unauflOslich. 
So geht Hobbes von den Trieben naturlicher Wesen aus, um ihnen 
in dialektischer Antithese ein rationales System von Rechtsnormen 



332 Franz Borkenau 

entgegenzustellen. Diese eigenartige Konstruktion seines Systems 
gibt den Schliissel zu der vielumstrittenen Frage, welcher philoso- 
phischen und erkenntnistheoretischen Schule Hobbes zuzurechnen 
ist. Nicht mehr als Gassendi hat der Materialist Hobbes in die 
Geschichte der modernen Naturwissenschaft eingegriffen. Er hat 
das Experiment ausdriicklich verworfen, mit den mechanistischen 
Grundeinsichten seiner Zeit das menschliche Wissen von der Natur 
furabgeschlossengehalten; ausschlieBlicheralsbeiirgendeinem anderen 
Denker der Zeit ist bei ihm die Naturauffassung von der Sozialwissen- 
schaft her bestimmt. Er ist weder reiner Empirist noch reiner Ratio- 
nalist. Vom reinen Rationalismus trennt ihn der Unterschied, den er 
zwischen Raum und Korper macht und den er durch den Begriff 
des conatus zu uberbriicken trachtet; die streng nominalistische 
Logik; das Ausgehen von der sinnlxchen Erkenntnis. Aber vom 
Empirismus und Sensualismus trennt ihn nicht nur seine streng 
mechanistische Auffassung der Natur, sondern auch die Definition 
des Denkens als Rechnen und der Versuch, auf nominalistischen 
Voraussetzungen eine synthetisch-deduktive Logik aufzubauen. Aus 
Voraussetzungen, die demRationalismus striktwidersprechen, bemiiht 
er sich, ein more geometrico deduzierendes rationalistisches System 
zu gewinnen. Es ergibt sich das aus dem Grundwiderspruch seiner 
Staatslehre. 

Hobbes ist der Ideologe des fortgeschrittensten Teiles der landed 
gentry. Die eigentliche Verwirklichung seiner absolutistischen 
Theorie hat zwar die Cromwellsche Diktatur gebracht, und er hat 
dieser auch gedient. Aber er hat seine Theorie urspriinglich im Dienste 
der Stuarts entwickelt, nicht weil er deren Politik inhaltlich billigte, 
sondern weil ihm in seiner praktisch-politischen Haltung ebenso 
wie in seiner theoretischen die Allgewalt der Staatsmacht wichtiger 
schien als ihre konkreten MaBnahmen, d. h. die burger liche Form 
der Staatsmacht (die Souveranitat) wichtiger als der biirgerliche 
Inhalt ihrer nachsten Schritte. Es liegt dies in der Situation der 
fruhburgerlichen Revolutionen, die im Gegensatz zu den klassischen 
burgerlichen Revolutionen eine moderne Staatsmacht erst geschaffen 
haben; jeder Parteienkampf bedeutet dann unmittelbare Gefahr 
des Riickf alls in feudale Selbstandigkeiten. Diese Einsicht lag freilich 
zunachst dem landlichen Grundbesitz naher als der stadtischen 
Bourgeoisie, die durch die Stuartische Wohlfahrtstaatspolitik un- 
mittelbarer geschadigt war. Aber ein Vertreter der Grentry ist Hobbes 
auch unter Cromwell geblieben. Wie er unter den Stuarts der Gentry 



Zur Soziologie des mechanistischen Weltbildes 333 

absoluten Gehorsam rat, dem Konig aber eine rein innerweltliche 
Fundierung seiner Staatsmacht und Beriicksichtigung der burger- 
lichen Bedurfnisse, so predigt er unter der Cromwellschen Diktatur 
wiederum der Gentry Unterwerfung, dem Diktator aber AussOhnung 
mit dem landlichen Grundbesitz, um einen Block der landlichen 
Klassen gegen die aufsassigen manufakturellen und proletarischen 
Schichten zustande zu bringen. So ist Hobbes der erste ganz konse- 
quent biirgerliche Staatstheoretiker, zugleich aber der Vertreter einer 
konservativen Bourgeoisie. Konservative Bourgeoisie trat als 
Resultat des Prozesses der urspriinglichen Akkumulation in der 
Landwirtschaft zum erstenmal in der englischen Revolution auf. 



VII. Pascal. 

Ist Hobbes der Begriinder des mechanistischen Pessimismus, so 
ist Pascal sein Vollender. Das Einzigartige der Situation Pascals 
liegt darin, dafi fur ihn, der der zweiten Generation der Mechanisten 
zugehort, die mechanistischen Prinzipien der Natur und Gesellschafts- 
lehre schlechthin selbstverstandlich geworden sind (er bemuht sich 
daher nicht mehr, sie zu begriinden, sie sind fur ihn die einzig mog- 
lichen), dafi er aber aus seiner individuellen Verzweiflung am eigenen 
Dasein alle Antinomien dieser Prinzipien konsequent zu Ende denkt, 
ohne doch die Grenzen des biirgerlichen Weltbildes zu transzendieren. 
Eine solche Haltung ware beim Herannahen der klassischen biirger- 
lichen Revolutionen nicht mehr moglich gewesen, da diese das Prole- 
tariat auf den Plan rufen. Pascal ist daher der einzige weder feudal 
noch sozialistisch gerichtete, gleichwohl ganz konsequente Kritiker 
der biirgerlichen Daseinsform. Rechnet er im allgemeinen den Janse- 
nisten zu, so trennt er sich doch von ihnen in der entscheidenden 
Frage: der Giiltigkeit der Einsichten der ratio. Sein schr offer 
Antirationalismus ware, obwohl von rationalistischen Voraus- 
setzungen ausgehend, calvinisch, wenn ihm nicht das durchaus 
katholische Problem der erlebbaren individuellen Erlosung im Mittel- 
punkt des Denkens stiinde. Nur gerade durch das Festhalten an 
diesem Problem, nicht durch irgendeine seiner Antworten, gehort 
Pascal dem Katholizismus zu. 

Pascal mifit die rationalistischen Systeme eines Descartes und 
Hobbes an der Realitat des Lebens, d. h. er stellt dem Rationalismus 
die unaufgehobene Kontingenz des menschlichen Schicksals gegen- 
iiber. Fur ihn existiert das Vertrauen, dafi die Antinomien des Lebens 



334 Franz Borkenau 

in der Wirklichkeit verschwinden, wenn sie im Denken aufgeldst 
sind, nicht. Er verachtet daher den RegreB von den individuellen 
und sozialen Problemen des menschlichen Daseins auf die Natur- 
theorie und stellt das Problem des sittlichen Daseins des Menschen 
wieder unmittelbar in den Mittelpunkt. Hierbei ergibt sich ihm, daB 
Bejahung und Verneinung des gottlichen Naturgesetzes im Menschen 
gleich unmoglich sind. 

Das sittliche Wesen des Menschen, wie es die Stoiker gepredigt 
haben, ist Fiktion. Denn das Naturrecht ist inhaltlich verschieden 
je nachdem, wer es ausspricht, und der einzige objektive MaBstab 
des Rechtes ist die Macht. Pascal schiebt die cartesische Apologie 
beiseite, halt sich aber auch bei den rationalistischen Folgerungen 
nicht auf, die Hobbes aus dieser Machtstaatslehre zieht. Er landet 
vielmehr bei der calvinischen Folgerung, daB alles Recht ein logisch 
und sittlich nicht begrundbarer Ausdruck der Macht, eben darum 
aber einfach zu akzeptieren ist. Die Ausiibung der Macht h6rt auf, 
Funktion eines hOheren Rechtes zu sein, sie wird wie bei MacchiaveU 
einfache Folge der Begierde. Pascal faBt Hobbes und MacchiaveU zu- 
sammen und vernichtet damit alleLehren des burgerlichenNaturrechts. 

Aber bei diesem Calvinschen Endresultat bleibt er nicht stehen. 
Er stellt fest — und darin ist er katholisch und eben das Festhalten 
dieser katholischen Fragestellung ermoglicht ihm, die Antinomien 
des biirgerlichen Daseins all sei tig zu entwickeln — , daB einLeben 
rein nach den Trieben nicht mOglich sei. Seine Verneinung des liber- 
tinischen Daseins konzentriert sich in seiner Kritik des divertisse- 
ment". „Divertissement" ist fur ihn jeglicher Zeitvertreib, sei es 
die scheinbar um des Nutzens willen geschehende Arbeit, sei es das 
offen als Selbstzweck gesuchte Vergniigen. Pascal weist nach, daB 
keine dieser Strebungen ihren Zweck in sich selbst tragt, daB alle 
\iber sich selbst hinaus in eine Unendlichkeit weisen, daB also alle 
widerspruchsvoll sind. Die pessimistische Wendung der katholischen 
Anthropologic ermoglicht es Pascal, zu erkennen, daB innerhalb 
des Kapitalismus kein qualitativ bestimmtes Ziel ; sondern nur der 
unendliche ProgreB als solcher gilt. Dieser unendliche ProgreB aber 
stGfit auf die unabanderliche Tatsache des Todes, der so zur sinn- 
vernichtenden Zentralwahrheit des Lebens wird. In diesem Wider- 
spruch zwischen dem unendlichen Streben und der Beschranktheit 
des menschlichen Daseins erscheint jede Tatigkeit als widerspruchs- 
voll. An den Fragen des unendlichen Progresses hat Pascal den all- 
seitigen Widerspruch des burgerlichen Daseins, das ihm als das 



Zur Soziologie des mechanistischen Weltbildes. 335 

menschliche schlechthin erscheint, entwickelt und diese ,, negative 
Dialektik" ausdriicklich als die allgemeinste Form des menschlichen 
Daseins formuliert. 

Aus dem Leben iibertragt sich die negative Dialektik auf das 
Denken. Pascal als erster hat den Rationalismus in der Natur- 
forschung konsequent im BewuBtsein seiner Stuckhaftigkeit ange- 
wandt ; er als erster hat mit auBerster Strenge die Formulierung von 
Naturgesetzen der Verifizierung durch das Experiment untergeordnet 
und sich dadurch die Einsicht in das grundsatzlich Unabgeschlossene 
der Naturforschung eroifnet. Daraus ergibt sich aber unmittelbar 
die moralische Nutzlosigkeit der Naturforschung. Denn das Fatum, 
das nur durch Verstandlichmachung ertraglich werden, konnte, bleibt 
unaufgehoben, wir bleiben hilflose Punkte inmitten einer Unend- 
lichkeit. 

So gibt es keine unmittelbare Befriedigung im Guten, denn der 
Mensch ist bfise; damit fallt der Thomismus. Es gibt keine unmittel- 
bare Evidenz der dem Herzen eingeschriebenen moralischen Wahr- 
heiten; damit fallt der Scheinoptimismus der Stoiker, der Jesuiten, 
des Grotius. Es gibt keine tJberwindung des kontingenten Bosen 
im rationalen Denken, weil unser Wissen grundsatzlich unabge- 
schlossen ist; damit fallt das rationalistische System Descartes'. Aber 
es gibt auch kein Sichbescheiden in dieser bosen Welt, weil das Indi- 
viduum die Forderung nach einem im Guten erfullten Dasein nicht 
aufzugeben vermag; damit fallen die unter sich so verschiedenen 
Resignationen der Libertiner, der Calviner und desHobbes. Was bleibt, 
ist der hoffnung3lose Widerspruch als allgemeine Form, das abstrakte 
ErlOsungsbedurfnis inmitten einer vollig erlosungsfremden Welt. Der 
Gott, der diese ErlCsung wirken konnte, ist ein deus absconditus 
im scharfsten Sinne, und nur ganz auBere Zeichen wie die Bibelbeweise 
und die stumpfe Gewohnheit des Glaubens einerseits, eine mit nichts 
Menschlichem verbundene iibernaturliche Gnade anderseits konnen 
zu ihm fiihren. 

Was Pascal — unhistorisch wie alle Mechanisten — als das Wesen 
des Menschen schlechthin faBt, ist aber das Wesen der besonderen 
Epoche, in der er lebt. Ihre tJberwindung ist mitbedingt durch die 
Einsicht in ihren historischen Charakter. Als Fichte das, was Pascal 
die ewige Verderbtheit des Menschen nennt, als das „Zeitalter der 
vollendeten Sundhaftigkeit" definiert, ist die anthropologische Grund- 
haltung die gleiche geblieben, aber die historische Fassung des Problems 
kiindigt das Heraufdammern der tJberwindung dieses Zeitalters an. 



Zum Problem der Freizeitgestaltung. 

Von 
Andries Sternheim (Genf) 1 ). 

I. 

Diese Arbeit soil sich auf die Freizeitgestaltung der Arbeitnehmer 
beschranken. Bei dem auBerordentlichen Umfang des Problems ist 
schon aus praktischen Griinden eine Begrenzung notwendig, wenn 
auch nicht verkannt werden kann, daB einem tieferen Eindringen in 
die Verwendung der Freizeit aller gesellschaftlichen Schichten vom 
soziologischen und sozialpsychologischen Gesichtspunkt aus grOBte 
Bedeutung beigemessen werden muB. 

Mit der Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise und 
durch die fortschreitende Sozialpolitik hat die Arbeiterklasse 
im Laufe der Zeit eine groBe Wandlung durchgemacht. GroBe 
Schichten haben sich geistig und kulturell gehoben. Der Anteil der 
Arbeiter an dem offentlichen Leben hat in jeder Richtung stark zu- 
genommen. In den meisten, vor allem den industriellen Landern sind 
sie aus einem passiven ein aktives Element geworden. Da das Gesamt- 
problem der Freizeit in seiner soziologischen sowohl als sozial- 
psychologischen Bedeutung in der wissenschaftlichen Literatur 
noch kaum angeschnitten wurde, ist diese Arbeit als ein Versuch 
zu betrachten, zunachst auf die Bedeutung einiger wichtiger Aspekte 
hinzuweisen. 

Als Freizeit wird hier diejenige Zeit betrachtet, welche nach der 
normalen Arbeitsperiode iibrig bleibt. Die Freizeit ist daher als Anti- 
pode zu der auf dem normalen Arbeitsplatz verbrachten Zeit gedacht. 
Ausdrucklich wird bei dieser Begriffsbestimmung von normaler 
Arbeitsperiode und normalem Arbeitsplatz gesprochen, da die Freizeit 
auch fur zusatzliche Arbeit zur Befriedigung eigener oder fremder 
Bedxirfnisse verwendet werden kann. Weiter bleibt die Freizeit der 
vollig aus dem WirtschaftsprozeB Ausgeschiedenen und derjenigen, 



1 ) Aus den Arbeiten der Genfer Zweigstelle des Institute fur Sozial- 
forschung. 



Zum Problem der Freizeitgestaltung 337 

die noch nicht im WirtschaftsprozeB tatig sind, auBer Betracht 1 ). 
Der Begriff Freizeitgestaltung auf Grund der angegebenen Be- 
grenzungen soil sich also nur auf die Zeit beziehen, welche nach Voll- 
endung der normalenArbeitszeit iibrig bleibt unterAbzug der Stunden, 
die fur die Reproduzierung der Arbeitskraft notwendig sind. 
Unter diesem Gesichtspunkt soil unter Freizeitgestaltung nicht nur 
die planmaBige Verwendung, sondern die Anwendung der Freizeit 
als einheitliches Problem, das alle Verwendungsarten umfaBt, ver- 
standen werden. 

II. 

Die Frage der Freizeitgestaltung wurde erst dann zum Problem, 
als ihre Dauer tiberhaupt eine Art der Verwendung ermoglichte, die 
mehr bedeutete als die einfache Reproduktion der Arbeitskraft. Die 
Tatsache, daB vor dem Krieg ein Arbeitstag von 9 — 10 Stunden und 
langer als normal betrachtet wurde, gibt schon eine Erklarung, wes- 
halb damals von einem Problem der Freizeitverwendung nicht die 
Rede sein konnte. Unter den damaligen Umstanden waren nicht 
einmal die Institutionen der Arbeiterklasse auf die Behandlung 
dieser Frage eingestellt. Sie waren hauptsachlich Kampforganisationen 
zur Gewinnung politischen und gewerkschaftlichen Einflusses. Hierzu 
war vor allem die Anzahl ihrer Mitglieder von groBter Bedeutung ; die 
Qualitat stand dabei zuriick. In vielen Landern handelte es sich fur 
diese Organisationen besonders darum, den Kampf gegen das vor- 
handene Gefuhl der Minderwertigkeit zu fiihren 2 ), ein Kampf, der 
erst allmahlich seine Erfolge mit der Hebung der okonomischen und 
sozialen Lage zeigte. 

Die Bestrebungen, die Arbeiter in die Kulturgemeinschaft ein- 
zubeziehen, ihr SelbstbewuBtsein zu heben, forderten an erster Stelle 
die Ausbildung einer Fuhrerschaft. Die Amter innerhalb der In- 
stitutionen der Arbeiterbewegung wurden anfanglich aus rein finan- 
zieller Notwendigkeit groBtenteils ehrenamtlich ausgeiibt. Nur eine 
kleine Schar von Leuten, die hervorragendsten aus der Arbeiterklasse, 
gestalteten damals ihre Freizeit auf eine positive Art und Weise. Als 
die Arbeiterbewegung grofieren EinfluB gewann, waren ihre Forde- 

x ) Das fiir die gesamte Gesellschaft so wichtige Problem der Freizeit- 
verwendung und Beschaftigung der Arbeitslosen wird deshalb in dieser 
Arbeit nicht berucksichtigt. 

2 ) „Mit der Ausbildung des Fabriksystems sank die Arbeiterschicht nach 
Auffassung der Unternehmer zu einem relativ unerheblichen Appendix der 
Maschinen herab." (Handworterbuch der Staatswissenschaften, Art. Ar- 
beitszeit. S. 893. 4. Aufl. Jena 1923.) 



338 Andries Sternheim 

rungen auf kulturellem Gebiet zunachst sehr beschrankt. In den 
meisten Landern fuhrte sie in erster Linie den Kampf um die Ent- 
wicklung der Sozialgesetzgebung und stellte daneben die kon- 
kreten Forderungen nach obligatorischem Schulbesuch und besserer 
Beruf sausbildung *) . 

Der Weltkrieg hat auch hier utnwalzend gewirkt. In den meisten 
europaischen Landern wurde ab 1919, unter aktivster Mitwirkung des 
Internationalen Arbeitsamtes, der Achtstundentag gesetzlich ein- 
gefuhrt und in Tarifvertragen festgelegt. Daneben kamen in vielen 
Landern eine Anzahl Verordnungen iiber LadenschluB zustande, 
welche auch fur die Angestellten im Einzelhandel eine Verkurzung 
ihrer Arbeitszeit bedeuteten. Die Tatsache, daB einer groBen Schicht 
hauptsachlich industrieller Arbeiter eine Anzahl von Freistunden 
zur Verfiigung gestellt wurde, die nicht nur zur Reproduktion der 
Arbeitskraft dienten, hat eigentlich erst das Problem der Freizeit- 
verwendung geschaffen. 

Eine einfache Erklarung fur das Zustandekommen des verkiirzten 
Arbeitstages ist das Bedurfnis des Arbeiters nach einem grdBeren 
Quantum von Freizeit. Die Beantwortung der Frage: was hat die 
Arbeiterschaft dazu veranlaBt, diese Verkurzung zu beanspruchen, ist 
damit Jedoch noch nicht gegeben. Der Hinweis auf das zunehmende 
MachtbewuBtsein der Arbeiterklasse und die Steigerung ihres Per- 
sdnlichkeitsgefuhls reicht nicht aus. Das Hauptmotiv war wohl viel 
mehr das Bedurfnis nach einer Verminderung der Anzahl der Arbeits- 
stunden als gerade das Verlangen nach einer auf eine bestimmte Art 
und Weise zu verwendenden Freizeit. Man konnte hier von einem 
negativen Motiv reden. Es lassen sich noch zwei andere Motive 
denken, welche in der Psyche der Arbeiterschaft eine Rolle gespielt 
haben: 1. bei einer Gruppe das Verlangen nach einer groBeren Frei- 
zeit infolge eines inneren Bedurfnisses, ohne zu wissen, was man damit 
anfangen solle, also ein unbestimmtes Verlangen; 2. bei einer anderen 
Gruppe, die wahrscheinlich auBerst klein gewesen ist, eine positive 
Vorstellung von der Verwendung ihrer Freizeit. 



x ) „Die Frage der Arbeiterbildung spielte unter den nationalen Er- 
ziehungsaufgaben nur eine ^eringe Rolle. Nur die Erziehung fiir die Wirt- 
schaft, die beruf liche Ausbildung der Arbeiter fand sorgfaltigere Beriick- 
eichtigung. DaB es sich hier um eine eigene, weit umfassendere Aufgabe 
handelte, um die Erschliefiung der seelischen und geistigen Krafte einer 
grofien Volksschicht, um ihrer eelbst wie um der Nation willen, zu deren 
lebenswichtigsten Organen sie gehdrt, wurde nur von wenigen empfunden." 
(Theodor Leipart und Lothar Erdmann: Arbeiterbildung und Volksbildung, 
Berlin 1928, S. 7.) 



Zum Problem der Freizeitgestaltung 339 

Wenn theoretisch drei verschiedene Motive angenommen werden 
konnen (negativ, unbestimmt und positiv), so ist eine Korrelation 
zwischen Klirzung der Arbeitszeit und einer bestimmten Verwendung 
der Freizeit nicht zu verkennen. Die beiden Faktoren wirken un- 
mittelbar aufeinander ein. 

Obwohl im allgemeinen angenommen werden kann> daB gesetzliche 
oder sonstige MaBnahmen, welche auf Besserung der Lebensverhalt- 
nisse solcher Schichten hinzielen, auch mit Zustimmung dieser 
Schichten, ja ganz bestimmt auf ihr Drangen zustande gekommen 
sind, so ist das Bild, das nach der Erreichung dieser Ziele sich heraus- 
kristallisieren wird, immerhin unsicher. Insbesondere trifft dies auf 
die uns hier interessierende Frage zu. Erst dann, als die Arbeitszeit 
gekurzt wurde, wurden die groBen Probleme, wie die Freizeit zu ver- 
bringen sei und welche Tendenzen sich bei der groBen Masse offen- 
baren, aufgerollt. Die psychologischen Vorbedingungen fur eine kon- 
struktive Freizeitverwendung muBten von den f uhrenden Instanzen 
noch geweckt werden. 

Die Differenzierung in der Art der Freizeitverwendung ist als 
eine Folge vieler einzelner oder in gegenseitigem Zusammenhang 
auftretender Faktoren zu betrachten. Sowohl nationale wie anthro- 
pologische, geographische und allgemeinkulturelle Faktoren spielen 
hier eine wesentliche Rolle ; von der Auf f assung iiber die Aufgaben 
des Staates hangt es ab, ob cler Staat auf dem Gebiet der Freizeit- 
verwendung als absolute Herrschermacht auftritt oder man alles dem 
freien Spiel der Krafte iiberlaBt. 

Die MOglichkeiten der Freizeitverwendung sind im absoluten Sinn 
unbegrenzt, ihre Ausnutzung ist jedoch letzten Endes durch die be- 
stehendeProduktionsweise und die gesellschaftliche Struktur bestimmt. 
Nirgends starker als bei der Freizeitverwendung kommt es darauf an, 
inwieweit die den Menschen innewohnenden Triebregungen und 
geistigen Bedurfnisse bereits in dem ArbeitsprozeB selbst teilweise 
oder v6llige Befriedigung finden oder, indem sie in ihm ungesattigt 
bleiben, auf andere Weise befriedigt werden miissen. 

Auch bei der auf dem Gebiet der Freizeitverwendung anscheinend 
vorherrschenden Willkiir mufi nach einem Kausalzusammenhang 
zwischen Produktionsweise und Betatigung in der Freizeit gesucht 
werden. Die analytische Sozialpsychologie steht hier noch vor einer 
groBen Aufgabe. Hat sie sich doch mit der Frage der Entstehung der 
physischen, psychischen und geistigen Bedurfnisse der Arbeiterschaft 
zu befassen, und zwar im Zusammenhang einerseits mit der vor- 



340 Andries Sternheim 

handenen Produktionsweise und ihren spezifischen Arbeitsmethoden, 
andererseits mit den MOglichkeiten und Grenzen der Bedurfnis- 
befriedigung innerhalb der Freizeit. 

Nachstehend wird auf Umfang und Bedeutung einiger Arten der 
Freizeitverwendung hingewiesen. Eine Typologie wird angestrebt, 
kann aber bei dem heutigen Stand der Untersuchungen noch nicht 
vorgelegt werden. 

Am allerwichtigsten erscheinen uns diejenigen Arten der Freizeit- 
verwendung, die Massencharakter tragen und in standiger Ver- 
breitung begriffen sind. Als solche nennen wir zunachst Sport, 
Kino, Rundfunk und Kleingartnerei. 

III. 

Mehr als in anderen Zweigen der Freizeitgestaltung ist der Sport 
in seinen vielen Verzweigungen imstande, die in der Arbeiterschaft 
vorhandenen Bediirfnisse zu befriedigen. Von ganz verschiedenen 
Gesichtspunkten aus muB dem Sport im gegenwartigen Zeitalter eine 
besondere Bedeutung beigemessen werden, und zwar physiologisch, 
indem er ein Gegengewicht zu der alltaglichen einformigen, 
maschinellen Arbeit bildet; psychologisch, indem libidinose 
Bedurfnisse, der Geltungstrieb, die Aggressionsneigungen und das 
Glorifizierungsbediirfnis hier in groBem MaBe befriedigt werden 1 ); 
soziologisch, indem er die Annaherung von Mensch zu Mensch 
fdrdert und vom Standpunkt der gesellschaftlichen Gruppensolidaritat 
aus betrachtet eine wichtige Rolle spielt; ideologisch, insoweit die 
sportliche Betatigung ideell begriindet wird (Starkung der Volks- 
kraft, des Nationalismus, der proletarischen Solidaritat usw.); sozial- 
politisch, insoweit er zweckbewuBt auf die Aufrechterhaltung des 
physischen (und psychischen) Gleichgewichts des Arbeitnehmers 
tendiert ; politisch, insoweit er off en oder verdeckt militaristischeZiele 
verfolgt. Einige wenige Einzelheiten sollen auf die nationalen Ver- 
schiedenheiten wie auf die groBe Wichtigkeit des Sports als sozial- 
psychologisches Problem hinweisen. In manchen europaischen 
Landern, besonders in Frankreich und Belgien, besteht eine wahre 
„folie de sport". Jean-Henri Adams 2 ) stellt aber dar, daB die 
grofie franzOsische Sportbewegung nur eine Fassade ist, hinter der 



2 ) Wichtig fur die Sozialpsychologie ist hier die Analyse der besonderen 
Grunde fur die aktive und passive Sportbeteiligung. 

2 ) „L*Education physique et les sports" in: „Les loisirs et Teducatioa 
populaire" (Les Cahiers du Redressement frangais. No. 21. Paris 1927) S. 6^ 



Zum Problem der Freizeitgestaltung 341 

sich nichts wesentlich Konstruktives befindet. Er macht nur fur die 

Gymnastikvereine eine Ausnahme. Die Sportbewegung hat in Frank- 

reich nach dem Krieg sehr stark zugenommen. Gab es im Jahr 1919 

9900 Sportvereine, so betrug ihre Anzahl 1927 bereits 20000. Im 

ganzen erscheinen in Frankreich 130 Sportblatter. Wenn behauptet 

wird, so fuhrt Adams aus, daB es in Frankreich 2 Millionen Sport- 

liebhaber gibt, dann glauben wir nicht, daft es mehr als 200000 Per- 

sonen gibt, die wirklich Sport treiben; die iibergrofie Mehrzahl sind 

nur Zuschauer bei Footballmatehes und lesen die roten und gelben 

Sportblatter. Darf man die AuBerung von Jean Beaudemoulin 1 ) 

als richtig betrachten, dann lesen die jungen sich am Sport betei- 

ligenden Arbeiter nur ,,1/Auto", statt der gewohnlichen Tagespresse. 

,,Die politischen Fragen sind ihnen gleichgtiltig. Sie stellen ihre ge- 

liebten Athleten uber die Arbeiterfuhrer." Mehr als in vielen anderen 

Landern scheint hier Mangel an Bildungsbediirfnis vorzuherrschen. 

Auch inBelgien interessiert sich die groBe Masse besonders fur 

den Sport, d. h. fur die Wettkampfe. Buset, Generalsekretar des 

belgischen Jnstituts fiir Arbeiterbildung, erklart in einem Artikel: 

„Ou nous mene la passion sportive" in „La vie ouvriere", Monats- 

schrift der Bildungszentrale (Februar- und Marznummer 1932), daB 

von einer rein aktiven oder passiven Teilnahme beim Sport im ab- 

soluten Sinne nicht gesprochen werden kann, weil diejenigen, die nicht 

direkt am Spiel teilnehmen, als sog. ^supporters" eine groBe Rolle 

spielen 2 ). Zur Herbeischaffung von Material iiber die ,, passion 

sportive" hat Buset in der genannten Zeitschrift einen Fragebogen 

veroffentlicht, der von den Lesern ausgefiillt werden sollte. Es wurden 

u. a. die folgenden Fragen gestellt: 

Besuchen Sie regelmaBig die sportlichen Veranstaltungen ? 

Lesen Sie lieber die Sportblatter als die Parteiblatter ? 

Wird in Ihrer Fabrik viel iiber Sport geredet und mehr als iiber soziale 

Fragen ? 
Liest die Mehrzahl Ihrer Kameraden lieber Sportblatter als unsere Tage- 

blatter ? 
Sind sie in der Mehrzahl Teilnehmer an sportlichen Veranstaltungen ? 
Kommt es ofters vor, daB Sie eineri Tag verlieren, indem Sie an den in der 

Woche stattfindenden sportlichen Veranstaltungen teilnehmen ? 
Glauben Sie, daB dem Zutritt j lingerer Arbeiter in unsere Organisation 

durch die ,, passion sportive" und durch die Ausubung des Sports ent- 

gegengearbeitet wird ? 

x ) Enqu^te sur les loisirs de Touvrier frangais, Paris 1924, S. 239. 

2 ) B. sagt: „Ich glaube, daB man in Belgien hunderttausend von braven 
Leuten zahlen konnte, deren Betatigung als , } supporter" dazu fiihrt, daB 
sie den groBten Teil ihrer Freizeit auf den Sportplatzen verbringen, Sport- 
zeitungen lesen und vom Sport sprechen." (S. 39) 



342 Andries Sternheim 

Diese Fragen wurden von 100 Lesem der Zeitschrift beantwortet, 

und zwar von Arbeitern, Angestellten, Lehrern und einigen Studenten. 

Obwohl der Enquete aus methodischen Grunden keine allzugroBe Be- 

deutung beigemessen werden kann, scheint das Ergebnis doch recht 

charakteristisch i 

„Die Arbeiter bevorzugen in iibergroBer Mehrheit, wie wir schon an- 
nahmen, diejenigen Blatter, die am ausfiihrlichsten tiber Sport berichten, 
und besonders diejenigen, die diesen Mitteilungen einen literarischen 
Sehwung geben. Wie man erwarten konnte, teilen die Befragten uns ein- 
stimmig mit, dafi die grofie Mehrheit ihrer Arbeitskollegen Besucher 
sportlicher Veranstaltungen sind ; verschiedene bemerken noch dazu, dafi es 
besonders die jungere Generation ist, die die Sport veranstaltungen mit 
groBtem Eifer besucht." (S. 60) 

Einen anderen Charakter tragt der Sport in GroBbritannien, 
wo er mehr als vornehmes Spiel betrachtet wird. In ganz England 
ebenso wie in den Vereinigten Staaten gibt es iiberall von Privatleuten 
gegriindete sog. „playing fields". So besteht in London bereits langer 
als 40 Jahre eine groBe musterhafte Playing Field Society mit der 
Aufgabe, Cricket, Fufiball u. a. derartige Spiele bei den Londoner 
Beamten und Arbeitern zu fordern, um die physischen und mora- 
lischen Krafte der Bevolkerung zu heben. Im allgemeinen gibt es auf 
dem Gebiet des Sports in England keine scharfe Klassentrennung, 
ebensowenig wie auf dem Gebiet der Bildungsbestrebungen. 

In den grofien modernen Arbeitersportorganisationen ist die Be- 

wegung mit einer bestimmten Idee verwachsen : der kulturellen 

Hebung der Masse im Kampf fur den Sozialismus. Klar wird der Ur- 

sprung dieser Bewegung, die sich besonders in den mitteleuropaischen 

Landern entwickelt hat, von Paul Franken skizziert. 

„Nach den Novembertagen 1918 trat die Arbeiterschaft als ein wesent- 
licher Faktor in das offentliche Leben ein. Es war ein weiter Baum ge- 
schaffen, in dem sieh die Krafte frei entfalten konnten, die bis dahin ge- 
bunden und gehemmt waren. Besonders die proletarische Jugendbe- 
Bewegung, vor allem aber aiich die Arbeiter- Turn- und Sportbewegung 
wurden jetzt Massenbewegungen im wahrsten Sinne des Wortes. In der Ar- 
beiterklasse entwickelt en sich MachtbewuBtsein und Machtwille nach dem 
Zusammenbruch der alten Gewalten in starkstem Ma fie. Das blieb nicht 
ohne EinfluB auf das Vereinsleben. Auf vielen Gebieten der proletarischen 
Kulturbestrebungen machte sich ein neuer und ktihner Geltvmgsdrang 
bemerkbar, als Ruckwirkung auf den harten und eisernen Zwang furcht- 
barer Kriegs jahre. Vier lange Jahre hatte man den menschlichen Korper 
miBachtet. Verzweiflung, Trauer und Hunger hatten selbst die leiseste 
Sehnsucht nach erhebender Freude, nach einer Ausfullung der freien 
St und en, die diesem tiefen Sehnen entsprach, unterdriickt. So ist es zu 
verstehen, dafi nach dem Ende des Kriegsschreckens die Freuden des 
Leben s entdeckt und erlebt sein wollten. Sport, Wandern usw. zogen groBe 
Massen, besonders der arbeitenden Jugend, in ihren Bann. Korperpflege 



Zum Problem der Freizeitgestaltung 343 

und Leibesiibungen gaben dem Leben von hunderttausenden Proletariern 
einen neuen Inhalt und kamen zu ihrer grofien Bedeutung in der gesell- 
schaftlichen Entwicklung der Nachkriegszeit. Der Sport wurde zu einer 
GroBmacht" 1 ). 

Es ist bemerkenswert, wie stark die sozialistische Sportbewegung 
seit dem Weltkrieg zugenommen hat. In Deutschland, einem stark 
durchorganisierten Land, betrug die Mitgliederzahl des Arbeiter- 
Turnerbundes 1919 400000 Mitglieder, 1927 iiber 700000 2 ). 

Auch die Mitgliederzahl der Sozialistischen Arbeiter-Sport-Inter- 
nationale ist sehr stark gestiegen, und zwar von 370000 im Jahre 
1920 auf fast 2 Millionen im Jahre 1932; allein 1931 hat die SASI 
um 85000 Mitglieder zugenommen. 

Besondere Aufmerksamkeit mufi den Grundsatzen gewidmet 
werden, welche in Italien auch auf sportlichem Gebiet herrschen. 
Hier ist die Verwendung der Freizeit nicht in erster Iinie auf das Wohl 
des Individuums, sondern auf die Interessen des Staates bezogen. 
In einem Bericht uber die Rolle des Sports in der Erziebungsarbeit 
der Dopolavoro, der zentralen Freizeitorganisation, wird gesagt 3 ): 

„Kaum zwei Jahre genugten fur die Tatigkeit der , Dopolavoro', um 
bei den italienischen Arbeit ermassen einen noch nie dagewesenen Enthu- 
siasmus fur aile denkbaren Sportarten zu entfalten. Es erubrigt sich zu 
erwahnen, daB rd. 3 Millionen Personen an den verschiedenen sportlichen 
Veranstaltungen der , Dopolavoro* teilgenommen haben. Diese Einrichtung 
umfaBt hunderte von Unternehmungen gegrundete Sportverbande, da- 
neben unzahlbare lokale Gesellschaften und neue Sportgruppen, die auf 
Veranlassung der regionalen und lokalen Organe der , Dopolavoro* ge- 
griindet wurden.** (S. 332) 

Neben einer Untersuchung der politischen und religiosen Ein- 
stellung der Sportvereine in den einzelnen Landern ware es interessant 
zu wissen, aus welchen Kreisen sich ihre Mitglieder rekrutieren, be- 
sonders wie groB die Teilnahme qualifizierter und unqualifizierter 
und andererseits die Anzahl der politisch und gewerkschaftlich organi- 
sierten und unorganisierten Mitglieder ist. Mit Bezug auf die Anzahl 
der Qualifizierten und Unqualifizierten muB jedoch im voraus be- 

1 ) Paul Franken: Vom Werden einer neuen Kultur, Berlin 1930, S. 25 
und 26. 

8 ) Einige andere Ziffern vom Jahr 1929, fiir die una keine Vergleiohs- 
zahlen bekannt sind, lassen wir noeh folgen: 

Radfahrerbund„Solidaritat**, Sitz Offenbach 251620 Mitglieder 

Arbeiterschachbund, Chemnitz 13000 „ 

Freier Seglerverband, Berlin 1616 

Arbeiter-Anglerbund, Berlin 6890 ,, 

Deutscher Arbeiter-Keglerbund, Chemnitz 8216 „ 

nach C. Gellert: 10 Jahre Sozialistische Sport -Internationale, Leipzig 1930. 
Vgl. auch das bereits erwahnte Buch von Paul Franken. 

8 ) L'Activite de 1'Opera Nazionale Dopolavoro, dem im Jahre 1930 in 
Luttich abgehaltenen 1. interna tionalen Kongrefi fiir die Freizeit vorgelegt. 



344 Andries Stemheim 

riicksichtigt werden, daB besonders jlingere Arbeiter der Sport- 
bewegung angehoren, die zwar nicht zu den qualifizierten Arbeitern 
gehoren, aber doch nicht als ungeschult angesehen werden konnen, 
da ihre Berufsausbildung ofters noch nicht abgeschlossen ist. 

IV. 

Ebenso wie der Sport fordert das Kino nur ein MindestmaB an 
geistiger Anstrengung. Es dient als Emotionsentlastung und ermog- 
licht die Befriedigung naturlich vorhandener, jedoch von der Gesell- 
schaft auf eine bestimmte Weise modifizierter Triebe. Fur das Prole- 
tariat ist das Kino das einfachste und zweckmaBigste Mittel, seine 
wirkliche Lebenssituation zu vergessen und sich in eine andere, 
illusionare Welt zu versetzen. Das Kino ist als MassengenuBmittel 
besonders wegen seines Spannungswechsels und seiner Gefuhlsreize 
brauchbar. 

In einer vom Institut International du Cinematographe Educatif, 
Rom, herausgegebenen Schrift 1 ) wird mit folgenden Worten auf den 
Unt f erschied zwischen dem gesprochenen Wort (Vortrage) und dem 
Film hingewiesen: 

„Das Wort ist am wenigsten geeignet, die von emotionellen Typen ver- 
langte Stimmung hervorzurufen. Es richtet sich gewohnlich an verant- 
wortliche Elemente, bezieht sich auf Lebensaufierungen wie Politik, Kunst 
oder rein geistige Dinge. Dies alles hat nicht immer Interesse und er- 
mudet psychisch sogar durch die geistige Anstrengung, welche vom Zu- 
horer gefordert wird. Was beim Wort auch fehlt, ist das Element der Vor- 
stellung, welche von groBter Bedeutung ist. Man darf die suggestive Wir- 
kung des Films, der das Leben in seiner Bewegung reproduziert, so wie es 
ist, des wegen nicht verkennen." (S. 246) 

Die Frage des Einf lusses des Films auf die Arbeitnehmerschichten 
ist wissenschaftlich bisher kaum bearbeitet worden. Die Film- 
Literatur befafit sich fast ausschlieBlich mit der Bedeutung der Film- 
industrie als grofiindustrieller Erzeugerin dieses Konsumtionsgutes 
oder mit dem asthetischen Wert der Filme. Fest steht wohl, dafi die 
Popularitat, ja die Daseinsmoglichkeit des Films iiberhaupt 
der Anpassung entstammt, welche die in ihm produzierten Gehalte 
an die herrschenden Gedanken, Auffassungen und Triebwiinsche der 
gegenwartigen Gesellschaft vornehmen. Starker als Literatur und 
Vortrage ist der Film dazu geeignet, auf positive Weise der Masse 
bestimmte Gef iihle und Gedanken aufzudrangen, welche sich voll- 
kommen der vorhandenen Vorstellungswelt anpassen. Filme, die 



l ) ,,Les Aspects sociaux du Cinema", H. 4, o, J. 



Zum Problem der Freizeitgestaltung 345 

nach anderen Richtungen tendieren, sind ein Problem fur sich; sie 
verschwinden in der grofien Masse der „Anpassungs-Filme" oder 
machen die Errichtung besonderer Organisationen fur ihre Vorflihrung 
notwendig 1 ). 

Naturlich gibt es auch andere Gesichtspunkte. Der Film hat dem 
Arbeiter in fremde Lander und weite Gesellschaftskreise Einblick 
gegeben, die ihm vorher nur aus der Literatur bekannt sein konnten. 
Dadurch hat er sich, wenn auch vielfach in verzerrter Form, 
nicht nur groBere Kenntnisse der Lebensgewohnheiten und Auf- 
fassungen anderer Schichten angeeignet (die er wohl auch nach- 
zuahmen versucht), sondern es sind in ihm Bedurfnisse geweckt 
worden, die er vorher nicht kannte. 

Seitdem erkannt ist, daB der Film als Beeinflussungsmittel groBe 
Qualitaten besitzt, wird er auch bewuBt in den Dienst der Massen- 
beherrschung gestellt. In Italien gibt es seit April 1926 eine Verord- 
nung, nach der die Kinotheater des Landes verpflichtet sind, kulturell 
wertvolle Filme zu projizieren, die die Bevolkerung zu guten Biirgern 
erziehen und die nationale Erziehung fordern sollen. Weiter steht der 
Film in einzelnen Landern im Dienste zahlreicher Unternehmungen, 
um die Belegschaft an den Betrieb fester zu binden. Von besonderer 
sozialpsychologischer Bedeutung ist die Herstellung und Vorfuhrung 
von Kulturfilmen durch Arbeiterorganisationen und Genossenschaften 
als Gegenstiick zu den Alltagsfilmen. 

Eine tiefere Untersuchung des ganzen Filmproblems wird erst 
moglich sein, wenn in einer Reihe von GroB- und Provinzstadten iiber 
Anzahl der Kinos, Art und Qualitat der gebotenen Filme, Alters- und 
Schichtenzusammensetzung der Zuschauer und iiber die von Arbeiter- 
organisationen veranstalteten Filmvorfuhrungen genaueres Er- 
hebungsmaterial vorliegt. 

V. 

Die Bedeutung des Rundfunks fur die Freizeitverwendung laBt 
sich in wesentlichen Punkten mit der des Kinos vergleichen: die 
massenhafte Benutzung des Rundfunks als Freizeitverwendung, der 
universelle Charakter, den beide gemein haben, die aktive Beein- 
flussung und die Anpassung an den Geschmack und die Ideenwelt 
seiner Horer, eine Anpassung, die ja noch viel detaillierter als beim 



x ) In diesen Ausfiihrungen wird der Film vom sozialpsychologischen 
Gesichtsptinkt aus betrachtet; die Frage des kunstlerischen Wertes lassen 
wir beiseite. 



346 Andries Stemheim 

Film durchgefiihrt werden kann. Jedoch gibt es zugleich einen 
wesentlichen Unterschied, indem der Rundfunk durch Vermittlung 
des gesprochenen Wortes den Geist der Zuhorer direkter und unver- 
hiillter beeinfluBt als der Film ; so kann der Rundfunk in den Handen 
bestimmter gesellschaftlicher oder politischer Sehichten auf die Ideen- 
welt der Arbeiterschaft eine starke Wirkung ausiiben. In diesem 
Zusammenhang ist es wichtig, daB in einigen Landern die Arbeiter- 
organisationen oder religiose Richtungen Rundfunkorganisationen be- 
sitzen, die zu bestimmten Stunden selbstandig senden und damit ihre 
spezifischen Auffassungen in der Welt verbreiten konnen. 

Vor allem hat die Beeinflussungsmoglichkeit zugenommen, seit- 
dem die Anzahl der Empfangsgerate sich stark vermehrt hat, deren 
groBter Teil sich bei den Arbeitnehmern befindet. Bereits vor einigen 
Jahren konnte das Internationale Arbeitsamt die nachfolgende Fest- 
stellung machen: 

„In Deutschland gibt es z. Z. etwa 4 Millionen Horapparate. Die 
Zahl hat sich inner halb von zwei Jahren verdoppelt, und es mu6 betont 
werden, daB der grofite Teil der Apparate Arbeitern gehort. In der Tschecho- 
slowakei hat sich die Zahl der Arbeitern gehorigen Apparate verdoppelt 
und belauft sich gegenwartig auf mindestens 300 000* (1 ). 

Eine Beurteilung des Grades, in dem der Rundfunk die Arbeiter- 
schaft beeinfluBt, ist wegen des Mangels an eingehenden Unter- 
suchungen noch nicht moglich. 

Zweifellos hat der Rundfunk die Tendenz, das Familienleben des 
Arbeiters zu starken. Bis zu welchem AusmaB ist schwer festzustellen, 
da gerade die Anwendung des Rundfunks auBerhalb des Hauses, be- 
sonders in Wirtshausern eine entgegengesetzte Wirkung ausxibt und 
auch eine Reihe anderer Faktoren (Kino, Tanz) das auBerhausliche 
Leben fordern. 

Fiir die Beantwortung der Frage, wieweit sich der Geschmack des 
Arbeitnehmers unter EinfluB des Rundfunks entwickelt hat, sind 
umfangreiche Erhebungen nOtig. Sie miiBten feststellen, welche Sen- 
dungen bei ihm am beliebtesten sind und inwieweit angenommen 
werden kann, daB durch den Rundfunk der Anteil an anderen Ver- 
anstaltungen (Konzerten, Versammlungen, Vortragen) beeintrachtigt 
wird. Aus den Resultaten derartiger Untersuchungen lieBe sich 
schlieBen, in welchem MaBe der Rundfunk die Mentalitat der heutigen 
Arbeitnehmerschichten beeinfluBt und psychische und geistige Be^ 
durfnisse befriedigt. 

2 ) Bericht des Direktors des Intern ationalen Arbeitsamtes vom Jahre 
J 929, S. 278. 



Zum Problem der Freizeitgestaltung 347 

VI. 

Neben Sport, Kino und Radio spielt die Kleingartnerei in der 
Nachkriegsperiode als Freizeitverwendung eine wichtige Rolle. S6- 
wohl iiber den Umfang wie iiber die Ursachen der Bedeutung der 
Kleingartnerei liegt schon viel Material vor. Vor dem Krieg be- 
standen in einer Reihe von Landern bereits die Schrebergarten, die 
sich nach dem Krieg zusammen mit Kleintierzucht stark fortent- 
wickelt haben. Die Zunahme von Kleingartchen hat schlieBlich in 
den meisten europaischen Landern zur Griindung von Organisationen 
gefuhrt, die seit 1927 zu einer Internationale der Kleingartnerorgani- 
sationen zusammengefaBt sind. Ihr Sitz befindet sich in Esch-sur- 
Alzette (Luxemburg) ; sie organisiert keine Berufsgartner, sondern nur 
Liebhaber. Viele dieser Organisationen erhalten Staats- oder Ge- 
meindezuschiisse. Wie von zuverlassiger Seite mitgeteilt wird, gibt 
es auBer 2 1 /2Millionen der Internationale angeschlossenen Mitgliedern, 
die mit ihren Familien auf 11 Millionen geschatzt werden konnen, 
noch abertausend von Kleingartnern, die keinem Verband ange- 
schlossen sind. Einige Ziffern iiber die organisierten Kleingartner 
lassen wir hier folgen; 

Deutschland .... 432 544 1 ) 

England 120000 

Osterreich 34392 

Belgien 65000 

Schweiz 11000 

Bemerkenswert sind die verschiedenen Motive, welche zur Be- 
grundung der Kleingartnerbewegung dienen. Neben dem Wunsch, 
sich in der Preizeit ein zusatzliches Einkommen zu schaffen, spielt 
zunachst das Moment der Erholung eine groBe Rolle. Die Arbeiter, 
soweit sie in den GroBstadten ihrer Arbeit nachgehen, wollen ihre 
Freizeit in einer ruhigen Atmosphare verbringen. Der Garten ist 
,,der wahre Ruhe- und Erholungsplatz fur den Menschen, der unter 
physischer und geistiger "Oberbelastung unter dem Druck unseres 
Maschinenzeitalters leidet" 2 ). 

Wir finden ferner als Motiv den Ruf : „Zuruck zur Natur". Die 
Erde nahrt uns, alles kommt nur von der Erde, so heiBt es, und wir 
mussen ihr alle unsere Krafte widmen. Damit zusammenhangend 
wird dann auf die Liebe zum eigenen Land und eigenen Boden hin- 

1 ) Die Gesamtzahl der Kleingartner wird fiir Deutschland auf l 1 / a Mil- 
lionen geschatzt. 

2 ) „La fondation de TOffice International des Jardins ouvriers**, S. 21. 



348 Andries Sternheim 

gewiesen. ,,Notre pays, notre propre terre!" Besonders spielen der- 
artige Motive in Frankreich eine Rolle. Die Liebe zum eigenen Boden 
griindet auch teilweise auf der Auffassung, daB das „Zuruck zur 
Natur" schlieBlich zur Starkung der eigenen Rasse beitragen wird. 
Auch die sozialen Motive spielen eine Rolle, man verweist auf die 
,,groBe soziale Pazifizierung, die die internationale Kleingartnerei- 
bewegung darstellt". Dabei wird einerseits an den friedlichen EinfluB 
des Landlebens gedacht, andererseits an die Losung sozialer 
Probleme durch Bearbeitung brachliegenden Landes. Weiter nennen 
wir noch das kleinblirgerliche Motiv: Jedem sein Fleckchen Erde, 
jedem sein Eigenheim! In den Schriften der obengenannten Inter- 
nationale wird sehr oft darauf hingewiesen, daB ein eigenes Heim das 
groBte denkbare Gliick ist. In einem offenen Brief an den Volker- 
bund (25. Januar 1931), in dem mehrere Forderungen im Zusammen- 
hang mit der Bewirtschaftung des Bodens gestellt wurden, heiBt es 
u. a. : 

,,Das internationale Biiro fur Kleingarten und Arbeitergarten ist keine 
Vereinigung von Gemuse- und Blumenzuchtern. Wir sind die Zuchter 
eines neuen Geistes, die Zuchter der Erneuerung der Arbeiterfamilie durch 
den Kleingrundbesitz, die Zuchter der Befestigung des Friedens, des Volker- 
friedens zu Hause und infolgedessen des Friedens unter alien Volkern. — 
Wir verlangen zur rechten Stunde, Herr President, dafi der Volkerbund 
unseren Grundsatz in Betracht ziehe: ,, Jedem sein Fleckchen Erde, jedem 
sein Eigenheim!'* 

Es wird Nachdruck auf die Herbeifuhrung des Familienglucks 

gelegt, welches durch die Schaffung eines eigenen Heims erreicht 

werden kann. Immer wieder wird auf den Zusammenhang zwischen 

Eigenheim und Familiengluck hingewiesen. So finden wir in der Zeit- 

schrift der international Kleingartnerorganisation folgende bel- 

gische Notiz x ) : 

„Bis heute hat die Belgische National-Liga bereits tausende von Ar- 
beitern zu Eigentiimern gemacht, deren Familien fortan in viel groCerer 
Sicherheit leben. Sie erfreuen sich eines intensiveren Familienlebens, das 
auf der Basis gesicherten Wohlstands taglich inniger wird. Die allge- 
meine Anwendung unseres Systems ist der Weg zu einer friedlicheren 
und klugeren Gesellschaftsklasse" (S. 32.) 

Eigentiimlicherweise sind es sogar einander entgegengesetzte 

soziale Gruppen, die die Bedeutung der Kleingartnerei unterstreichen. 

Von sozialistischer Seite wurde auf dem dritten Internationalen Klein- 

gartnerkongreB eine of f izielle Kundgebung zugunsten dieser Bewegung 

veranstaltet. Auf dieser Zusammenkunft, abgehalten in Essen 1929, 



x ) „ Bulletin" vom September 1931. 



Zum Problem der Freizeitgestaltung 349 

auBerte sich der Vertreter der Sozialdemokratischen Partei, Reichs- 
tagsabgeordneter Heinrich Limbertz, wie folgt: 

„Im Namen der Sozialdemokratischen Partei Essens und im besonderen 
Auftrag des Vorstandes der Partei in Berlin sowie der Reichstagsfraktion 
gestatte ich mir, Ihnen zu Ihren Verhandlungen den besten Erfolg zu 
wiinschen. Dafi meine Partei Ihre Bestrebungen mit grofiem Interesse ver- 
folgt und sie nach Moglichkeit zu unterstiitzen bereit ist, brauche ich wohl 
nicht besonders auseinanderzusetzen. Das ist fur eine Partei, deren Ziel 
die Erreichung groBtmoglichster Wohlfahrt fiir die grofltmoglichste Zahl 
der Menschen ist, selbstverstandlich." (Kongrefiprotokolf S. 135) 

Auch L. Pierard, ein angesehener belgischer Sozialist, der sich 
eingehend mit den Problemen der Freizeitverwendung befaBt, tritt 
als ein Befurworter der Kleingartnerei auf . Im belgischen Parlament 
hat er sich wie folgt geauBert : 

„Ah! die grofien sittlichen Folgen des kleinen Stuckchen Landes: der 
Mann geht nicht mehr ins Wirtshaus, er widmet sich vollig seinem Garten. 
Seinem Garten ! Wie ihn dieser vom Fabrikarbeiter zum anderen Menschen 
macht. Land des Friedens, nach Anstrengung und Larm, Land der Freiheit 
in der Sonne und in der frischen Luft 1 ).** 

Andererseits wird die Kleingartnerbewegung besonders in Frank- 
reich, aber auch in anderen Landern von den Unternehmern finanziell 
und moralisch unterstiitzt. Nach einer AuBerung von Robert George 
Picot , demVorsitzendendes franzosischenVerbandesderlOeingartner, 
gibt es in Frankreich 150000 Garten, die von der GroBindustrie ge- 
grundet wurden. Es ware interessant, im einzelnen zu untersuchen, 
welche Motive die Unternehmer zu ihrer Mithilfe veranlassen und 
welchen Einf luB diese Gartengrundungen auf die Beziehungen zwischen 
Unternehmern und Arbeitern ausiiben 2 ). 

Fiir das Problem der Aufrechterhaltung der Arbeiterf amilie hat die 
standige Entwicklung der Kleingartnerei eine wesentliche Bedeutung. 

VII. 

Wir gelangen jetzt zu einer Reihe anderer Verwendungsarten der 
Freizeit, die teilweise noch weniger als die bisher behandelten iiber- 
sehbar und statistisch kaum erfaBbar sind. In vielen Fallen kOnnen 
hochstens Vermutungen ausgesprochen werden. 

Zunacbst ist hier das Gebiet der Bildungstatigkeit zu nennen, zu 
dem wir Lektiire, „Arbeiterbildung" und Theaterbesuch rechnen. 



1 ) ,,L* Organisation desLoisirs duTravailleur en Belgique et a Tetranger' 4 . 
Paris 1931, S. 225. 

2 ) Der bereits erwahnte R. G. Picot betont in ,,Le jardin ouvrier", in: 
„Les Cahiers du Redressement Fran9ais'% Paris 1927, daC der Garten den 
Arbeiter jedenfalls von allem, was ihn an die Kl assent rennung erinnert, 
fernhalte (S. 135). 



350 Andries Sternheim 

Es ware zu untersiichen, welche Zeitungen vor allem von den 
Arbeitem gelesen werden. Die Arbeiterpresse samtlicher Rich- 
tungen hat sich in den letzten 10 Jahren sehr stark geandert. In ihr 
spiegeln sich alle Arten der Freizeitverwendung wieder, denen sich 
die Arbeiterklasse zuwendet. Die Presse wird immer mehr von der 
Partei- zur Voikszeitung und an das Durchschnittsbediirfnis angepaBt. 
Dies fuhrt dazu } daB die Arbeiterzeitung sich in vielen Fallen, ab- 
gesehen von ihren politischen oder religi&sen Tendenzen, nicht wesent- 
lich von den biirgerlichen Blattern unterscheidet. 1st diese Anderung 
der Zeitung sowohl ihrem Inhalt wie ihrer Aufmachung nach ein Ent- 
gegenkommen an den Geschmack und die augenblicklichen Be- 
diirfnisse der groBen Masse, so wirken diese Anderungen andererseits 
wieder beeinflussend auf die Arbeiter im Sinne der biirgerlichen Ge- 
dankenwelt zuriick. Unzweifelhaft ist auch die Rationalisierung 
einer der Faktoren, welche beim Arbeiter das Verlangen hervorgerufen 
haben, nach seiner taglichen Arbeit sich nicht zu eingehend mit 
schwierigen Fragen beschaftigen zu mtissen. Auch fur die Angestellten, 
deren Arbeit ebenfalls stark mechanisiert ist, scheinen dieselben Be- 
diirfnisse zu bestehen. So schreibt Max ROssigeru. a: „Eine acht- 
oder jetzt oft schon wieder neunstundige Arbeitszeit im rationalisierten 
und entpersdnlichten Betrieb zerrt an den Nerven und weckt auch bei 
sonst Anspruchsvolleren den Hunger nach leichter Kost als Betau- 
bungsmittel" 2 ). Die hier angedeutete Umbildung der Arbeiterzeitung, 
zusammen mit der immer wachsenden Differenzierung in der Ver- 
wendung der Freizeit und die dadurch herbeigefiihrte Entwicklung 
des Vereinswesens haben die Herausgabe einer Reihe von Zeitungen 
und Zeitschriften, welche speziellen geistigen, sozialen und sonstigen 
Interessen dienen, zur Folge gehabt. 

Bei der Untersuchung der Rolle des Biicherlesens muB ein 
Unterschied zwischen dem Lesen und Kaufen von Biichern gemacht 
werden. Was gelesen wird, ist teilweise durch statistische Angaben 
von Bibliotheken, Lesevereinen, Volksbiichereien usw. zu erfassen, 
aber gewOhnUch fehlt die Erfassung der BerufszugehOrigkeit der 
Leser, so daB diesen Statistiken nur ein relativ geringer Wert zuge- 
messen werden kann 2 ). Ubrigens geht aus ihnen nicht hervor, 
wie oft Biicher angefragt wurden, also ein Bedurfnis danach bestand, 

2 ) Max Rdssiger, Der AngesteUte von 1930, Sieben-Stabe-Verlag t 
Berlin 1930. S. 64. 

*) Bine Ausnahme bildet das ausgezeichnete Buch von Walter Hofmann, 
„Die Lektiire der Frau", Leipzig 1931. Es enthalt ausfiihrliohe Betrach- 
tungen iiber die Lektiire der Frau verschiedener sozialer Schichten. 



Zum Problem der Freizeitgestaltung 351 

das Buch jedoch ausgeliehen war. Wieviel Arbeiter Biicher kaufen 
und was sie an Literatur besitzen, muB noch durch Befragung von 
Sachverstandigen, am besten durch eine besondere Erhebung fest- 
gestellt werden* 

Die Art der Arbeiterbildung und die Institutionen, welche sich 
damit befassen, sind in den verschiedenen Landern sehr stark diffe- 
renziert. Wir sehen hier von den Landern ab, in denen die Bildungs- 
einrichtungen unmitteibar unter der Kontrolle des Staates und im 
Dienste der Staatsziele stehen, wie Italien und RuBland, und unter- 
scheiden zwei Haupttypen, den apolitischen und den politischen. 
Von einer Arbeiterbildung kann in GroBbritannien und in den 
Vereinigten Staaten nicht gesprochen werden, da eine Trennung 
zwischen allgemeiner und Arbeiterbildung generell nicht besteht. 
Fast alles, was hier unternommen wird, geschieht durchaus unpolitisch ; 
die rein politischen Instanzen, die sich mit Bildung befassen, sind 
Ausnahmen. Der Individualismus laBt einen bedeutenden EinfluB 
des Staates auf die Bildung nicht zu. Dieser gibt hOchstens Zuschiisse, 
ist jedoch selbst fur den Charakter der Bildungsarbeit nicht verant- 
wortlich. Hier sei noch an die umfassende Bildungsarbeit der Volks- 
bildungsheime und die von kirchlichen Instanzen betriebene Volks- 
bildung erinnert, die sich jedoch nicht ausschlieBlich den Interessen 
der Arbeitnehmer zuwendet. 

Der politische Typ wird durch die prinzipiell sozialistische Arbeiter- 
bildung reprasentiert, wie sie in Landern wie Deutschland, Oster- 
reich, Holland, den skandinavischen Landern und Belgien 
vorherrscht, wo eigene Bildungsorganisationen der Arbeiterklasse be- 
stehen, die als ihren Endzweck ausdriicklich die Herbeifuhrung einer 
sozialistischen Gemeinschaft angeben. Mit der VergrOfierung der Zahl 
der Amter, die von Vertrauensmannern der Arbeiter-Organisationen 
besetzt werden, wird jedoch auch diese prinzipiell sozialistische Bil- 
dungsarbeit mit allgemeinen Erziehungsabsichten vermischt, die nicht 
unmitteibar mit sozialistischen Zielvorstellungen zusammenhangen 
(Ausbildung von Vollburgern, guten Gewerkschaftsfunktionaren und 
Vertretern in Offentlichen Instanzen). Zu bemerken ist hier noch, daB 
vieleArbeiten, die vonBildungsinstitutionen verschiedener Richtungen 
unternommen werden, bei ihrem neutealen Charakter ebensogut von 
einer neutralen Stelle aus gemacht werden kOnnten. Jedoch herrscht 
allmahlich die Auffassung vor, daB auch diese neutrale Arbeit am 
besten im eigenen Kreise, in der eigenen Organisation mit ihrer be- 
sonderen Sphare gedeiht. 



352 Andries Stemheim 

Bex der Beurteilung der Bedeutung des Theaters hat man zu- 
nachst an das offentliche Theater zu denken, wo die Besucher 
als Zuschauer eine passive Rolle spielen. Trotz der in einer 
Reihe von Landern unter Mitwirkung von Arbeiterorganisationen ge- 
schaffenen Theater und trotz der Grundung der Volksbuhnen- 
Vereine gilt mancherorts der massenhafte Besuch von Theatern der 
Auffuhrung sog. „Volksdramen", die das eigene Leben des Arbeiters 
gewohnlich auf melodramische Art und Weise reproduzieren, die 
Solidaritat verherrlichen und dadurch dem Narzismus der Besucher 
schmeicheln. Eine andere Grundform bildet das Theater, wie es vor 
allem in bauerlichen Gegenden gepflegt wird, wo ofters noch heute 
historische Dramen oder religiose Spiele aufgefiihrt werden. Da- 
neben nennen wir die Dilettantenvereine, wie sie vor allem in den 
lateinischen und angelsachsischen Landern bestehen. 

VIII. 

DaB mit der Zunahme der Freizeit auch die Zerstreuungen sich 
vervielfaltigen, ist mit Hinsicht auf die differenzierten Bedurfnisse der 
verschiedenartig veranlagten Menschen klar. Die Arbeiterpresse 
liefert dafiir ein deutliches Beispiel. Rubriken, welche vor dem Krieg 
kaum in einer Tageszeitung vermutet wurden, machen jetzt einen 
wesentlichen Bestandteil dieser Blatter aus. Wir denken an die regel- 
maBig erscheinenden Nachrichten iiber Rudersport, Schwimmen, 
FuBball, Kanu und Kanubau, Basteleien, Errichtung von Tauben- 
schlagen, Karten- und Schachspiel, Photographieren, Baukurse fiir 
Anfertigung von Radioapparaten, Vereinswesen, Briefmarken- 
sammeln usw. 

Es fallt schwer festzustellen, inwieweit qualifizierte oder nicht- 
qualifizierte, politisch und gewerkschaftlich organisierte oder un- 
organisierte Arbeiter sich dieser oder jener Zerstreuungsmittel be- 
dienen. Generell darf gesagt werden, daB das Hauptquantum an 
Freizeit, iiber das die Arbeiter verfugen, die Entwicklung der ver- 
schiedenen persOnlichen Bedurfnisse stark fordert und deswegen eine 
immer gr^Bere Verschiedenheit der Entspannungsmdglichkeiten auf- 
tritt. Die durch den besseren Wohnungsbau, soziale Hygiene, giin- 
stigere Arbeitsbedingungen erm6glichte angenehmere Lebensweise 1 ) 

1 ) Fiir die sozialpolitisehe Bedeutung der vermehrten Freizeit bieten die 
VerOffentlichungen des Internationalen Arbeitsamtes wichtiges Quellen- 
material, besonders diejenigen, welche als Grundlage fiir die Be hand lung 
der Freizeitfrage auf der 1924 abgehaltenen Internationalen Arbeitskon- 
ferenz erschienen sind. 



Zum Problem der Freizeitgestaltung 353 

hat teilweise zu einer Ubernahme vieler Arten der Freizeitverwendung 
gefuhrt, die langere Zeit das Privileg der Mittelklassen und sogar der 
GroBbourgeoisie waren 1 ). Hier zeigt sich ein ProzeB der Nachahmung 
in vielen Richtungen, dessen Tragweite sowohl fur die Morphologie 
des Klassenkampfes wie fur die gesellschaftliche Kultur uberhaupt 
von einer nicht zu unterschatzenden Bedeutung ist. 

Neben dieser Ubernahme vieler Gewohnheiten anderer gesellschaf t- 
licher Kreise ist die Wiederbelebung einer Reihe von Arten der Frei- 
zeitverwendung zu beobachten, welche in der organisierten Arbeiter- 
klasse langere Zeit als die Vergniigungen der „nicht klassenbewuBten 
Arbeiter" gegolten haben. Angeln, Kartenspiel, Kegelspiel, Billard- 
spiel, das Halten von Tauben werden auch in den klassenbewuBten 
Arbeiterkreisen mehr und mehr betrieben und sogar als gute Formen 
der Freizeitverwendung propagiert. 

Schwer fallt es, ein positives Urteil fiber die Bedeutung des Wirts- 
hauses fur die Freizeit auszusprechen. In den verschiedenen Landern 
und hier wieder fur Stadt und Dorf nimmt es eine ganz verschiedene 
Bedeutung ein. Besonders in Frankreich und Belgien tragen z. B. das 
„ Cabaret" oder das „Estaminet" einen durchaus sozialen Charakter, 
so daB ein regelmaBiger Wirtshausbesuch nicht als minderwertig gilt. 
Es sind auBerfamiliare Platze, wo sich die Kameradschaft und das 
Bediirfnis an gesellschaftlichem Verkehr weiter entfalten. Uber den 
Besuch des Wirtshauses als Freizeitverwendung liegt bisher wenig 
positives Material vor. Offizielle franzosische Erhebungen vor un- 
gefahr 10 Jahren haben festgestellt, daB der Wirtshausbesuch seit der 
Einfiihrung des verkurzten Arbeitstages stark abgenommen hat. 

Andere Freizeitverwendungen, die wir hier erwahnen, die aber 
ihrem Wesen nach auch unter andere Gruppierungen fallen, sind 
Wandern, Besuch von Museen, Ausstellungen und schlieBlich 
— ein Problemkreis fur sich — die Beschaftigung innerhalb der 
Familie. Von groBer Bedeutung ist endlich die Tatigkeit in Ver- 
einen aller Art. 

IX. 

Mit der Umstrukturierung der Freizeitbestrebungen der Arbeiter- 
schaft geht — soweit es sich um festgegriindete Organisationen handelt 



J ) „Tausende von Arbeitern, welche friih den Arbeitsplatz verlassen, 
konnen im Sommer Wasser und Sonne geniefien und lernen ein wenig vom 
Leben in der freien Luft kennen, das vor einigen Jahren nur das Vorrecht 
der begiiterten Klassen war." Bericht des Direktors des Intemationalen 
Arbeitsamtes vom Jahre 1928, S. 257. 



354 Andries Sternheim 

— auch eine relative Abnahme der freiwilligen politischen und ins- 
besondere gewerkschaftlichen Betatigung Hand in Hand. Mit dem 
Wachstum der Verbande und der Zunahme der f inanziellen Tragkraf t 
ist die Moglichkeit geschaffen, allmahlich liber einen groBen Apparat 
mit besoldeten Kraften zu verfiigen. In Zeiten heftiger Agitation, 
bei groBen politischen und gewerkschaftlichen Aktionen, Wahlen, 
Mitgliederwerbung geht die Anzahl derer, die ihre Freizeit in den 
Dienst ihrer Organisation stellen, in steigender Richtung ; die aktive 
Mitarbeit der groBen Masse der Mitglieder ist in normalen Zeiten nur 
bei radikalen Kampforganisationen die Regel. 



Eine eingehende Analyse des Entwicklungsprozesses der Freizeit- 
verwendung in der Nachkriegszeit wird als Beitrag fur die Psychologie 
und Geistesrichtung der heutigen Arbeiterschaft sowie fur die Auf- 
deckung bestehender gesellschaftlicher Zusammenhange fruchtbar 
sein. Bei diesen Untersuchungen wird das Problem der Familie ofters 
mit hineinbezogen werden mussen, indem diese durch die Wandlungen 
der Freizeitbenutzung unmittelbar beeinfluBt wird und selbst durch 
innere Faktoren auf die Freizeitgestaltung zuriickwirkt. Bisher 
wurde das Problem der Kurzung des Arbeitstages fast ausschlieBlich 
vom volkswirtschaftlichen Standpunkt aus behandelt, dagegen die 
durch die Kurzung entstandene Mehrung der Freizeit und ihre Ver- 
wendung als Gesamtproblem im allgemeinen weder soziologisch noch 
sozialpsychologisch untersucht. Einige Gesichtspunkte zur Inangriff- 
nahme dieser Probleme sind hier gezeigt worden. 

Prinzipiell darf jedoch das Problem der Freizeit niemals als 
selbstandiges Studienobjekt in Angriff genommen werden, in dem 
Sinn, als handele es sich hier um ein Problem, das, auBerhalb der 
Arbeitssphare liegend, auch wesentlich davon getrennt ware. Wenn 
Marx vom „Reich der Freiheit" gesprochen hat, das erst anfangt, 
„wo das Arbeiten, das durch Not und auBere ZweckmaBigkeit be- 
stimmt ist, aufhort" 1 ), so kann dieser Begriff ,,Freiheit" nie im ab- 
soluten Sinn gemeint sein, sondern nur im Gegensatz zur wirtschaft- 
lichen Gebundenheit. Ebensowenig wie in der geistigen und in der 
psychischen Sphare laBt sich eine Zweiteilung des Arbeiters als Pro- 
duzent und als Mensch durchfuhren. Unter volliger Anerkennung des 
Primats des wirtschaftlichen Elements sehen wir ein Aufeinander- 



!) Marx, Das Kapital, III. Bd., Volksaiisgabe, S. 316. 



Zum Problem der Freizeitgeataltung 355 

einwirken, ein Durchdringen der in den beiden Teilgebieten vorhan- 
denen oder neuerzeugten geistigen und physischen Gegebenheiten. 
Doch glauben wir schon jetzt feststellen zu durfen, daB der Arbeits- 
zeit fur die Modifizierung der biologisch gegebenen Triebstruktur, 
der Freizeit ftir die Entwicklung der geistigen Faktoren ein mafi- 
gebender Platz einzuraumen ist. Das Studium der einzelnen Arten 
der Freizeitverwendung unter Anwendung der analytischen sezial- 
psycbologischen Methode wird erst Auf schluB uber die psychologischen 
Vorbedingungen des Entstehens, Fortbestehens und gegebenenfalls 
des Verfalls bestimmter Freizeitzweige geben und somit als wichtiger 
Beitrag zur Aufdeckung der derzeitigen Gefuhls- und Denkwelt der 
modernen Arbeiter und Angestellten und der sie bedingenden Faktoren 
dienen kOnnen. 



Zur gesellschaftlichen Lage der Musik. 

Von 
Theodor Wiesengrund-Adorno (Frankfurt a. M.). 

II. — Reproduktion. — Konsum. 

Die Entfremdung zwischen Musik und Gesellschaft spiegelt 
in den Antinomien der musikalischen Produktion sich wider: als 
reale gesellschaftliche Tatsache wird sie greifbar am Verhaltnis von 
Produktion und Konsumtion. Zwischen beiden vermittelt die 
musikalische Reproduktion. Sie dient der Produktion, die nur 
reproduziert unmittelbar gegenwartig zu werden vermag, anders als 
toter Text verharrte; sie ist die Form jeglichen musikalischen Kon- 
sums, weil nur an reproduzierten Werken und nie an blofien Texten 
die Gesellschaft Anteil gewinnen kann. Die Forderung der Produk- 
tion — als die nach Authentizitat — und die der Konsumtion — als 
die nach Verstandlichkeit — richten sich gleichermaBen an die Re- 
produktion und verschranken sich in ihr: das Postulat „deutlicher" 
Wiedergabe des Werkes etwa kann ebensowohl von der sinngemafien 
Darstellung des Textes wie von der AuffaBbarkeit fur den Horer her 
an die Reproduktion ergehen. Wenn dergestalt in den innersten 
Zellen der Reproduktion Produktion und Konsumtion sich begegnen, 
dann bietet Reproduktion den genauesten Schauplatz fur die Kon- 
flikte, die sie miteinander auszutragen haben. Als Reproduktion 
entfremdeter Musik vermag siedie Gesellschaft nicht mehr zu erreichen ; 
als Reproduktion fur die Gesellschaft verfehlt sie die Werke. Denn 
konkrete Reproduktion hat es — wie die landlaufige Kunstkritik stets 
wieder mochte vergessen machen — weder mit einem ewigen Werk 
an sich noch mit einem an konstante Naturbedingungen gebundenen 
Horer zu tun, sondern mit geschichtlichen. Nicht bloB ist das Be- 
wuBtsein der Horerschaft vom Wechsel der gesellschaftlichen Be- 
dingungen abhangig; nicht blofi das der Reproduzierenden vom 
Stande der musikalischen Gesamtverf assung : die Werke selber haben 
ihre Geschichte und verandern sich in ihr. Ihr Text namlich ist eine 
blofie Chiffernschrift, die Eindeutigkeit nicht verburgt und in der 



Zur gesellschaftlichen Lage der Musik 357 

mit der Entfaltung der musikalischeii Dialektik — die wieder ge- 
sellscJiaftliche Momente in sich faBt •>— wechselnde Gehalte er- 
scheinen. Die Veranderung der Werke selbst stellt sich dar in der 
Reproduktion. Und zwar, im Zeichen der radikalen Entfremdung, als 
Schwinden der reproduktiven Fr e i h e i t . Die vorkapitalistische 
Reproduktion war beherrscht von Tradition : Tradition musikalischer 
Zunfte, Tradition oft auch einzelner Familien. Das traditionale 
Moment garantierte einen stetigen Zusammenhang zwischen der Musik 
und ihrer Horerschaft in der Stetigkeit der Wiedergabe; das Werk 
stand nicht isoliert der Gesellschaft gegemiber, sondern in der Re- 
produktion behauptete sie Einf luB auf die Produktion, und bis gegen 
Ende des 18. Jahrhunderts, also bis zur Beseitigung der Generalbafi- 
praxis durch die Wiener Klassik, gingen Produktion, Reproduktion, Im- 
provisation ohne scharf e Grenze ineinander uber ; selbst ein so streng 
auskomponierter Formtyp wie die Bachische Fuge, die sich, Erbin 
der mittelalterlichen Polyphonie, der Generalbafipraxis nicht unter- 
worfen hatte, laBt dem Interpreten in Tempo und Dynamik, die im 
Text nur gelegentlich fixiert sind, voile Freiheit und gibt die Regelung 
einer Tradition anheim, die noch Jahrhunderte nach der Einfuhrung 
der temperierten Stimmung irrational bleibt. All das andert sich mit 
dem Sieg der burgerlichen Klasse. Das Werk setzt sich selbstandig 
und in einem rationalen Zeichensystem der Gesellschaft als Ware 
gegeniiber; die Tradition der Interpreten und ihrer Zunfte reiBt mit 
der Durchsetzung der freien Konkurrenz ab; die „Schulen" werden 
zu Lern- und Gesinnungsgemeinschaften ohne Verbindlichkeit der 
iibermittelten Lehrgehalte; die Restbestande traditionaler Musik - 
iibung, wie etwa Mahler in Wien sie vorfand, sind, nach seinem Wort, 
durchsichtig als „Schlamperei". Der Eingriff des Interpreten ins 
Werk, in der Zeit vor der definitiven Verdinglichung der Werke jeweils 
moglich und selbst gefordert, wird zur schlechten Willkiir, die die 
Authentizitat des rational bezeichneten Werkes von sich fernhalten 
mu6. Die Geschichte der musikalischen Reproduktion im letzten 
Jahrhundert hat die reproduktive Freiheit vernichtet. Der Interpret 
hat einzig noch die Wahl zwischen zwei Anforderungen rationaler 
Art; er muB entweder sich streng auf die Realisierung, allenfalls Ent- 
zifferung der genauen Sprache der musikalischen Zeichen beschranken, 
oder er muB den Wiinschen entsprechen, die die Gesellschaft als Markt 
an ihn richtet und in denen die Gestalt des Werkes untergeht. Zwischen 
beiden Forderungen vermittelte im 19. Jahrhundert die S) Interpreten- 
personlichkeit" als letztes musikalisches Refugium irrationaler Repro- 



358 Theodor Wiesengrund-Adomo 

duktion im kapitalistischen ProzeB. Sie steht in deutlicher Beziehung 
zur Form der f reien Konkurrenz und enthalt so viel Irrationales in sich 
wie diese. Dem Werk dient sie, indem sie dessen Gehalte, im Rahmen 
des vorgezeichneten Textes und seiner Zeichen, nochmals gleichsam 
aus sich selbst hervorbringt ; das wird moglich durch die Homogenitat 
der Struktur von Autor und Interpret, die beide in gleicher Weise 
burgerliche „Individuen" sind und in gleicher Weise den „Ausdruck" 
burgerlicher Individualitat vollbringen : Liszt, Rubinstein, beide ex- 
pressive Komponisten und als Interpreten „Naehschopfer", sind Ur- 
bilder solcher Interpretation. Die Gesellschaft, der sie die Musik dar- 
bieten, ist ebenso individualistisch beschaffen wie sie; in ihnen er- 
kennt sie sich wieder, in ihnen nimmt sie von den Werken Besitz, und 
in den Triumphen, die sie den Virtuosen, weit mehr als den Kompo- 
nisten, bereitet, feiert sie sich selber. Es ist die entscheidende Ver- 
anderung, die die gegenwartige musikalische Reproduktion dem 
19. Jahrhundert gegeniiber erfuhr, daB das Gleichgewicht von indi- 
vidualistischer Gesellschaft und individualistischer Produktion ver- 
nichtet, dieFreiheit der Reproduktion vollendsproblematisch geworden 
ist und nirgends besser als hier mag an musikalischen Phanomenen der 
Ubergang vom Konkurrenz- zum Monopolkapitalismus sich erkennen 
lassen. Zwar die „Interpretenpersonlichkeit" besteht im Musikleben 
fort und diirfte gesellschaftlich wirksamer sein als je zuvor : aber ihre 
Funktion ist vollig geandert, und die Souveranitat, mit der sie Werken 
und Publikum gleichermaBen gebietet, verbirgt diktatorisch den 
Sprung zwischen freiem Interpreten und Werk. Die musikalische 
Produktion aber, soweit sie dem Markt gegeniiber Selbstandigkeit 
behauptet, fordert ganzliche Unterordnung des Interpreten unter den 
Text, und diese Unterordnung bleibt nicht auf die gegenwartige Pro- 
duktion beschrankt, sondern wird zum notwendigen Postulat auch der 
vergangenen gegeniiber, wof ern nicht im Lichte der fortgeschrittensten 
Produktion die Wiedergabe der alten iiberhaupt unmoglich ist und die 
vergangenen Werke dem strengen Interpreten transparent und stumm 
vor Augen liegen. Indem Schonberg als Komponist die tonale Kadenz 
und alle in ihr entspringenden Formmittel beseitigte, entfielen auch 
die ihnen als selbstverstandlich zugeordneten und darum nicht aus- 
driicklich vermerkten Mittel der Darstellung, deren Selbstverstand- 
hchkeit gerade dem friiheren Interpreten seine Freiheit garantierte. 
Jetzt ist der Text bis zur letzten Note und bis zur unmerklichsten 
Temponuance bezeichnet, und der Interpret wird zum Exekutor des 
eindeutigen Autorenwillens. Wenn solche Strenge bei Schonberg 



Zur gesellschaftlichen Lage der Musik 359 

dialektisch in .der Strenge eines Kompositionsverfahrens entspringt, 
nach welchem ohne alles vorgegebene und sozial garantierte 
Material die Musik ganzlich „auskomponiert" wird, dann ist bei den 
minder genau bezeichneten Notentexten Strawinskijs, undialektisch 
zwar, doch mit ahnlichem Ergebnis, die Freiheit des Interpreten 
ausgeschlossen durch Stil und „Geschmack" eines Objektivismus, 
der sich zwar nicht rein auskonstruiert, aber doch vom Interpreten 
ganzliche Unterordnung unter seine objektive Attitude verlangt 
und diese Unterordnung, wenn sie schon nicht in Komposition und 
Zeichengebung festgelegt ist, wenigstens in einer affektlosen, dem 
Spiel mechanischer Instrumente angeglichenen Vortragsweise zum 
Ausdruck bringen mochte. Die Verbesserungen und Erfindungen im 
Bereich der mechanischen Musikinstrumente, die eine prazisere Wieder- 
gabe jedenfalls als die durch mittlere und unkontrollierte „freie" 
Interpreten gewahrleisten, mogen dabei das Reproduktionsideal mit- 
geformt haben, und jedenfalls bekraftigt es die Anspriiche gesell- 
schaftlicher Deutung der musikalischen Reproduktionsverhaltnisse, 
daB deren immanente Problematik die gleiche Einschrankung der 
reproduktiven Freiheit, die gleichen Tendenzen zu Technisierung und 
Rationalisierung zeitigte, welche von auBen mit der gesellschaftlich- 
okonomischen Entwicklung : durch Vervollkommnung der Maschinen 
und Ersatz der menschlichen durch mechanische Arbeitskrafte 
musikalisch aktuell wurden. Diese Tendenzen blieben nun nicht auf 
die Wiedergabe zeitgenossischer Musik beschrankt. Die geschichtliche 
Veranderung der Werke im Rahmen ihrer mehrdeutigen Texte spielt 
sich nicht beliebig ab, sondern gehorcht strikt den Erkenntnissen, die 
im Raum der musikalischen Produktion gewonnen sind. Genauerer 
Anschauung unterworfen, fordert altere und zumal die „klassische" 
deutsche Musik, um so realisiert zu werden wie ihre Konstruktion 
heute dem Auge sich darbietet, die gleiche strenge, jegliche im- 
provisatorische Freiheit des Interpreten verwehrende Wiedergabe 
wie die neueste. Die Forderung sachlich adaquater Wiedergabe der 
Werke hat sich dabei von dem — ohnehin schwer kontrollierbaren — 
Willen der Autoren ganz emanzipiert und gerade in solcher Eman- 
zipation kommt der geschichtliche Charakter von Reproduktion 
bundig zutage. Wollte man etwa eine fruhere Beethovensche Klavier- 
sonate so ,,frei", mit so willkurlich-improvisatorischen Veranderungen 
zumal der GrundzeitmaBe der einzelnen Satze spielen, wie es, nach 
zeitgenossischen Berichten, der Pianist Beethoven tat — vor der heute 
«rst, durch die spatere Produktion, ganz erkennbaren konstruktiven 



360 Theodor Wiesengruad-Adorno 

Einheit solcher Satze miiBte die scheinbar authentische Inter- 
pretationsweise schlechterdings als sinnwidrig sich darstellen. 
. Indem nun aber in der immanenten Auseinandersetzung mit den 
Werken fortgeschrittenste, am aktuellen Stande der Produktion 
orientierte Interpretation zur Idee ihrer Selbstaufhebung gelangt und 
sich zwangslaufig, gerade in den besten Reprasentanten, auf die reine 
Wiedergabe der Werke konzentriert, kommt es zum offenen Konflikt 
mit der Gesellschaft, mit dem Publikum, das sich durch den Inter- 
preten im Werk vertreten fuhlt und durch dessen Opfer nun ausge- 
schlossen wird. Scharfer noch der Reproduktion als der Produktion 
gegeniiber zeigt sich die Ambivalenz der Gesellschaft im Verhaltnis 
zur Rationalisierung. Mit der Vervollkommnung der technischen 
Mittel zum Zweck der Ersparnis von Arbeitskraften, mit der fort- 
schreitenden Verselbstandigung der Musik als einer gegen abstrakte 
Einheiten tauschbaren Ware, die sich schlieBlich von der Gesellschaft 
ablOst, hat die burgerliche Gesellschaft den musikalischen Rationa- 
lisierungsprozeB nicht bloB befordert, sondern uberhaupt erst ermog- 
licht; die Konsequenzen der Rationalisierung aber greifen den 
Bestand der biirgerlichen Ordnung in ihren Grundkategorien an, 
und vor ihnen weicht sie zuriick in eine Begriffswelt, die nicht 
bloB die immanent-musikalische, sondern auch die. immanent- 
biirgerliche Wirklichkeit langst hinter sich zuriicklieB, die aber 
dafur wieder zur ideologischen Verhullung der monopolkapita- 
listischen Entwicklung der Gesellschaft sich als besonders taug- 
lich erweist. Die Rationalisierung musikalischer Produktion und 
Reproduktion, Resultat der gesellschaftlichen, wird als „Entseelung* e 
perhorresziert, wie wenn man fiirchtete, die Irrationalitat des gesell- 
schaftlichen Zustandes, die aller ^Rationalisierung" zum Trotz sich 
behauptet, werde im Lichte radikalerer kiinstlerischer Rationalitat 
allzu deutlich; die „Seele" wird dabei stillschweigend der burgerlich- 
unabhangigen Privatperson gleichgesetzt, deren Recht man ideologisch 
um so sichtbarer statuieren mOchte, je mehr es Ckonomisch-gesell- 
schafthch in Frage geriickt ist. Die plattesten Antithesen sind dem 
Konsumentenbewufitsein recht, um sich vorm Zugriff der ihrem Er- 
kenntnischarakter nach aktuellen Reproduktion zu schiitzen und eine 
Art des Musizierens zu gewahrleisten, deren Hauptfunktion es ist, 
mit Traum, Rausch und Versenkung die Realitat zu verbergen und den 
Biirgern im asthetischen Bilde eben jene Triebbefriedigungen zu ver- 
schaffen, die die Realitat ihnen verwehrt ; fur die aber das Kunstwerk 
mit dem Preis seiner integralen Gestalt zu zahlen hat. Organik wird 



Zur gesellschaftlichen Lage der Musik 361 

da gegen Mechanik, Innerlichkeit gegen Leere, Personlichkeit gegen 
Anonymitat ausgespielt. Der Objektivismus hat, in seiner konzilian- 
teren deutschen Form, versucht, solchen Einwanden, wie sie gegen 
die rationale Reproduktion laut werden, von der Produktionsseite 
aus zu begegnen, indem er die verlorene reproduktive Freiheit oder 
wenigstens deren Schein als ,,Musikantentum" in den Text aufnahm 
und den Text derart aus den instrumentalen Spielweisen entwickelte, 
als ob die freie Moglichkeit von Reproduktion die Produktion selber 
erst ermoglichte. Der Scheincharakter dieses Vermittlungsversuches 
kommt daran zutage, daB die Funktionen, die gerade die Reproduktion 
erfiillen miiBten, der Produktion iiberantwortet werden; damit bleibt 
der ,,Text" und die dingliche Komposition fur das „Musizieren" die 
letzte Instanz, und das Musikantentum ist bloBe ornamentale Zutat 
zur Komposition. Die Musizier musik war denn auch dem Publikum 
gegeniiber unwirksam genug. Zum Vollstrecker von dessen Willen 
Wurde dafiir die gleiche ,,Interpretenpersonlichkeit", die im 19. Jahr- 
hundert dem Durchbruch des individuellen Ausdrucks in der Musik 
gedient hatte und deren Funktion nun drastisch verandert ist. Sie 
muB eine doppelte Aufgabe erfiillen. Einmal muB sie, mit der Sou- 
veranitat ihrer „Auffassung", die verlorene Kommunikation zwischen 
Werk und Publikum herstellen, indem sie die Gestalt des Werkes in 
einer Art von VergroBerung oder Uberplastik hervortreibt, die zwar 
dem Werke unangemessen sein mag, dafiir aber dessen affektive 
Wirkung auf das Publikum sicherstellt. Dann aber muB sie das Werk 
als Ausdruck einzelmenschlicher Dynamik und privater Beseeltheit, 
der es doch nicht mehr ist, beschworen ; die Fahigkeit, Werke in einer 
Gestalt heraufzuholen, die sie langst nicht mehr haben und vielleicht 
niemals besaBen, ist es vor alien anderen Eigenschaften, die den 
,,prominenten" Dirigenten auszeichnet. Die Wunschbilder von vitaler 
Fiille und ungebundenem Schwung, von beseelter Organik und un- 
mittelbarer, nichtverdinglichter Innerlichkeit spendet erleibhaftdenen, 
welchen die kapitalistische Wirtschaft real die Erfiillung aller solchen 
Wunsche versagt ; und bestarkt sie zugleich im Glauben an ihre eigene 
Substanz, welche eben die unsterblichen, soil sagen: unveranderlichen 
Werke hervorbrachte, die er beschwort, iiber die sie kraft ihrer 
Bildung ebenfalls verfiigen und die sie als Fetisch zugleich verehren. 
Der zeitgendssischen Produktion steht er — im strikten Gegensatz 
zu den Vorbildern aus dem 19. Jahrhundert — fremd oder ablehnend 
gegeniiber, demonstriert einmal ein modernes Werk als abschreckendes 
Beispiel oder laBt allenfalls die neue Musik als tJbergang zur Re- 



362 Theodor Wiesengrund-Adorno 

stauration der alten Seelenkunst gelten, halt sich aber sonst an die 
heroisch-burgerliche Vergangenheit — Beethoven — oder an einen 
Autor wie Bruckner, der den Pomp der gesellschaftlichen Veran- 
staltung mit dem gleichen Anspruch auf Beseeltheit und Innerlichkeit 
vereint, welcher der des prominenten Interpreten ist. DaB derselbe 
Dirigententyp, der unersattlich-versunken das Adagio aus Bruckners 
Achter zelebriert, wie ein Konzernherr darauf auszugehen pflegt, 
moglichst viele Organisationen, Institute und Orchester in seiner 
Hand zu vereinen, ist das genaue gesellschaftliche Korrelat zur indi- 
viduellen Beschaffenheit einer Figur, die im Kapitalismus musikalisch 
Trust und Innerlichkeit auf den gemeinsamen Nenner zu bringen hat. 
Und daB in der Typengeschichte des gegenwartigen prominenten 
Interpreten der Dirigent, der ungebunden und widerspruchslos den 
Orchestermechanismus beherrscht, die freie Konkurrenz der instru- 
mentalen und vokalen Virtuosen zuruckdrangte ; daB es gerade ein 
einzelner, eben eine ,,Pers5nlichkeit" ist, die iiber Musik und Pu- 
blikum gleichermaBen gebietet und im Namen des Publikums, aber 
ohne dessen Willen und mit Kommandogesten die Vergangenheit 
zitiert ; daB schlieBlich sein Erf olg gerade von der Geste des Bef ehls 
getragen wird, mit der er dem Publikum begegnet — das alles zeigt 
vollends den einzelnen, der angeblich die Mechanisierung iiberwindet, 
als den Monopolherren, der den rational-mechanischen Apparat der 
Einsicht der Individuen entzieht, um im eigenen Interesse dariiber 
zu verfiigen. Seine ideologische Herrschaft wird getragen vom Ruhm, 
in welchem die Gesellschaft seine restaurativ-reproduktive Leistung 
wieder und wieder reproduziert. So genau ist das KlassenbewuBtsein 
auf das ihm angemessene Interpretenideal eingestimmt, daB es Inter- 
preten, die ihm nicht entsprechen, mag immer deren sachliche Quali- 
tat und selbst Suggestivkraft unbestreitbar sein, beseitigt; im Vor- 
kriegswien nicht anders als im gegenwartigen Mailand und Berlin. 
Die Forderungen der gegenwartigen Gesellschaft an eine Musik, 
die ihr, als ihre Ideologic, Geniige leisten soil, so wie sie im Problem- 
bereich der Reproduktion an der Figur der „Interpretenpers6nlichkeit" 
dialektisch zutage kommen — diese Forderungen sind es, die den 
offiziellen, von der Instanz der Bildung sanktionierten musikalischen 
Konsum der biirgerlichen Gesellschaft insgesamt beherrschen. In 
ihrem „Musikleben", wie es in den Opernhausem und Konzertsalen 
seine traditionale Statte einstweilen noch behauptet, hat die biirger- 
liche Gesellschaft mit der entfremdeten Musik eine Art von Waffen- 
stillstand geschlossen und verkehrt mit ihr in vorsichtigen und genau 



Zur gesellschaftlichen Lage der Musik. 363 

regulierten Formen. Freilich ist der Waffenstillstand beliebig kiind- 
bar : das „Musikleben" reagiert prompt und exakt auf jede Veranderung. 
der gesellschaftlichen Verhaltnisse im Burgertum. So hat etwa die 
Expropriation der gehobenen Mittelschichten durch Inflation und 
Krise diese Schichten aus den Opern und Konzerten verscheucht und 
an die Radioapparate verbannt, deren Zerstreutheit wieder die Atomi- 
sierung des Biirgertums, den AusschluB der biirgerlichen Privatperson 
von den Off entlichen Dingen adaquat ausdriickt : vorm Lautsprecher 
ist der Burger Okonomisch und musikalisch dem Monopol, sei's auch 
dem ,,gemischtwirtschaftlichen Betrieb", uberantwortet. Weil das 
Musikleben dergestalt die innerburgerlichen Strukturanderungen 
unmittelbar registriert, ist die Analyse gehalten, die immanenten 
Differenzen und Widerspriiche des Biirgertums einzurechnen. In 
einer Sphare, in der der autonome Anspruch der isolierten Kunst- 
werke bereits gebrochen und durch den Marktbedarf ersetzt ist, 
vermOchte hier Statistik wesentliches Material zur gesellschaftlichen 
Deutung zu gewinnen. Solches Material liegt nicht vor. Immerhin 
darf Beobachtung einige Befunde beistellen. Was zunachst die Oper 
anlangt, so hat sie auch als Konsummittel ihre Aktualitat eigentlich 
verloren. Die Funktion, die ihr im 19. Jahrhundert vorab zukam, 
die der Representation, ist ihr jedenf alls fur den Augenblick genommen : 
die depossedierten Mittelschichten haben weder Ckonomisch die 
Kraft, solche Representation zu stiitzen, noch bilden sie mehr eine 
kulturelle Einheit, die so sublimierter Reprasentationen fahig ware, 
wie es die des Operntheaters einmal waren ; allenf alls gedenken sie in 
den „Meistersingern" ihrer gliicklicheren Jahre. Die GroBbourgeoisie 
aber, die reprasentieren kann und will, vermeidet es, als herrschende 
und 6konomisch leistungsfahige Schicht sich allzu offen darzu- 
stellen; ihre Reprasentationen behalt sie einstweilen exklusiveren 
Zirkeln vor als denen in den Logen, die fiir jedes Opernglas erreichbar 
sind; sie ist zudem am Operarepertoire desinteressiert und schafft sich 
ihre musikalischen Domanen lieber in den groBen Konzertgesell- 
schaften, die sie Okonomisch und programmpolitisch beherrscht, ohne 
sich allzuweit zu exponieren. Immerhin lieBe sich denken, daB bei 
fortschreitender politischer Ausbildung der monopolkapitalistischen 
Herrschaftsformen die Oper nochmals einiges vom alten gesellschaft- 
lichen Glanze zuruckgewOnne. Einstweilen wird sie teils von Abon- 
nenten aus der alteren Generation der „gebildeten" Mittelschichten 
besucht, die in ihr die eigene Vergangenheit, den triumphalen Burger- 
rausch besonders Wagners zitieren und zugleich, indem sie bei einer 



364 Theodor Wiesengrund-Adorno 

Kunstform stehen bleiben, die in der Breite der Produktion von den 
gesellschaftlichen Veranderungen wenig beriihrt ward, gegen die 
kiinstleriachen Neuerungen und deren gesellschaftliche Intentionen 
insgesamt protestieren. Teils auch fullen die Opern AngehOrige solcher 
biirgerlichen Kreise, die, wie manche Kleinhandler und auch hand- 
werkerUch-zunftlerische Berufe, okonomisch noch einen gewissen 
Standard behaupten, von der ,,Bildung" aber durch Ursprung und 
Erziehung ausgeschlossen sind. Es ist das jener Typ des Opern- 
besuchers, der sich zwar freut, den Marsch aus ,,Aida" und die Arie 
der Butterfly wieder zu hOren, die ihm aus Kino und Kaffee vertraut 
und seiner musikalischen Schulung angemessen sind; der aber zu- 
gleich seiner tatsachlichen okonomischen Stellung und der MOglichkeit 
gesellschaftlichen Aufstiegs schuldig zu sein glaubt, solche Konsum- 
stiicke an einer Stelle entgegenzunehmen, die vom alten biirgerlichen 
Bildungsideal geweiht ist und an der anwesend zu sein dem Besucher, 
wenigstens in seinen eigenen Augen, etwas von.derWiirde derBildung 
verleiht. Der Anteii dieses — freilich sehr modifizierbaren — Typus 
amOpernpublikumdarf als recht erheblichvermutetwerden. Charakte- 
ristisch ist der vollige Ausfall der jiingeren groBburgerlichen Gene- 
ration, der gesamten Intellektuellenschicht und der Angestelltenschaft. 
Pie entworfene Struktur ist vorab die des Publikums der Provinz- 
opern. In den groBstadtischen Zentren, Berlin, auch Wien, ist einer- 
seits durch den ausgebildeteren Mechanismus der Zerstreuung das 
Burgertum weiter noch von der Oper abgelenkt, so daB die Mittel- 
schichten fur die Oper weniger in Betracht kommen als in der Provinz. 
Andererseits wird der Oper, im Namen wirklich vorhandener oder 
fiktiver „Fremder ( ', eine representative Dignitat zugesprochen, die 
die GroBbourgeoisie enger an sie fesselt und gelegentlich Opernvor- 
stellungen als ,, gesellschaftliche Ereignisse" moglich macht. 

Grofier ist die Funktion der Konzerte im Haushalt des Biirger- 
tums. Die krude Stofflichkeit der Oper fehlt im Konzert. Sie ist 
barockes Erbgut, das durch die Verlagerungen der Gewichte inner- 
musikalischer Entwicklung von der vokalen auf die instrumentale 
Seite in den letzten Jahrhunderten sich weithin unberuhrt erhielt : 
der Anteii der Oper am biirgerlichen Humanismus und Idealismus ist 
bloB mittelbar und einzig in den grOBten Werken der Gattung, bei 
Mozart, im Fidelio, im Freischiitz fraglos. Gerade die Stofflichkeit 
bindet die unteren Mittelschichten an die Oper, die in ihr ein Ahnliches 
wie eine Regression in vorburgerliche Zustande vollziehen mogen. 
Die gleiche Stofflichkeit aber schreckt die Oberschicht, als „naiv", 



Zur gesellschaftlichen Lage der Musik 365 

,,primitiv", ,,roh", zurtick. Sei es, daB sie in der vorbiirgerlichen und 
jedenfalls nichtbiirgerlichen Stoffwucht des Operntheaters, die stets 
politisch sich zu aktivieren vermochte, die Gefahr wittert; sei es, daB 
sie ein Interesse daran hat, den Charakter der Wirkliohkeit als einer 
Welt bloBer Dinge zu verbergen, wie ihn die Oper mit unbekfimmerter 
Entdeckerfreude manifestiert — zu verbergen, gerade weil er stets 
noch der Charakter der biirgerlichen Wirkliohkeit selber ist : die Ober- 
schicht weicht davor in eine ,,Innerlichkeit" aus, die ihr um so ge- 
nehmer ist, je weiter sie sich von den gesellschaftlichen Verhaltnissen 
und der Einsicht in deren Widerspruch distanziert ; und die sich musi- 
kalisch sogar reprasentieren und mit dem Schein unmittelbarer Kollek- 
tivitat bekleiden laBt. Das GroBburgertum liebt die Konzerte und 
die humanistisch-idealistische Bildungsideologie, die es in den Kon- 
zertsalen — ohne sie selbst zu durchschauen — pflegt, lockt die Bil- 
dungsschicht im weitesten Umfang, bis zu deren depossedierten und 
kleinburgerlichen Vertretern, ebendorthin. Die Zweiheit von „Biklung 
und Besitz", die in den Konzertsalen ideologisch sich versohnt, pragt 
in der Doppelheit der Orchester zahlreicher Stadte sinnf allig sich aus : 
wahrend die „Philharmoniker* £ in teuren Konzerten, deren Exklusi- 
vitat durch das Stamm-Abonnement- System garantiert ist, mit ruhm- 
reichen auswartigen Stars und einer ,uberaus begrenzten Zahl sank- 
tionierter, gleichsam zeremonialer Werke fur das GroBburgertum 
spielen, dienen die „Symphonieorchester", mit vorsichtig dosierten 
Novitaten im traditionalistischen Programm, mit der Einbeziehung 
von einheimischen, , ,bodenstandigen { ' Kraf ten und mit billigen 
Preisen der mittleren Bildungsschicht, solange die Lage der Wirtschaft 
es ihnen noch gestattet. Die Solistenkonzerte, deren Zahl wegen des 
Risikos fur die Konzertgeber einschrumpft und denen nicht mehr die 
alte Teilnahme begegnet, die auch gerade durch die Reduktion ihrer 
Anzahl dem Offentlichen BewuBtsein mehr und mehr entschwinden, 
beschranken sich zusehends auf den Kreis der monopolisierten Stars. 
Konzerte, die, wie die Veranstaltungen der Internationalen Gesell- 
schaft f iir Neue Musik, ostentativ die gegenwartige selbstandige Pro- 
duktion vertreten, demonstrieren deren Isoliertheit mit okonomischer 
Drastik ; sie werden, gleichviel welche Richtung der Moderne sie pro- 
pagieren, fast nur noch von Musikern besucht, die ihre Karten nicht 
bezahlen; treten also aus der Sphare der musikalischen Produktion 
nicht heraus und sind wirtschaftlich ganzlich unproduktiv: ZuschuB- 
und Defizitunternehmungen. Die wenigen Amateure, die sie stiitzten, 
Burger meist, die nicht oder nicht mehr unmittelbar am wirtschaft- 



366 Theodor Wiesengrund-Adorno 

lichen ProduktionsprozeB teilhaben, hat die Wirtschaftskrise aus- 
geschaltet. Einen „Konsum" Neuer Musik gibt es tiberhaupt nicht. 
Soweit sie noch zur Reproduktion gelangt, wird es ihr moglich durch 
Okonomisch kaum eben tragf ahige Organisationen der Kunstler unter- 
einander oder durch politisch gefarbte internationale Meetings, die 
sich als fiktiv erweisen, sowohl was die Stellung der einzelnen Staaten 
zur aktuellen musikalischen Produktion wie ihr Interesse an „gei- 
stigem Austausch" anlangt, und denen lange Fortdaiier nicht mehr 
prognosziert werden kann. Indem diese Meetings aus okonomischen 
Rticksichten an der Fiktion des Konsums und „Austauschs" libera- 
listisch festhielten, haben sie sich durch die Kompromisse ihrer Pro- 
graminpolitik auch musikalisch-immanent um jede Verbindlichkeit 
gebracht. 

Das BewuBtsein der Konsumenten des offiziellen Musiklebens 
ist nicht blank auf die Formel zu bringen. Die Rede vom ideologischen 
Charakter des btirgerlichen Musikkonsums bedarf der Erlauterung. 
Sie ist nicht so zu verstehen, als liege dem Musikkonsum kein realer 
Bedarf zugrunde; als sei das ganze Musikleben nichts als eine Art 
tOnender Kultur-Kulisse, die die biirgerliche Gesellschaft zur Tau- 
schung iiber ihre .wahren Zwecke errichte, wahrend hinter der Szene 
ihr eigentliches, okonomisch-politisches Leben sich abspiele. Wieviel 
auch immer das Musikleben von solchen Funktionen iibernehmen mag, 
•wie hoch auch der Anteil von Reprasentation, von spezifisch „gesell- 
schaftUchen", namlich vom musikalischen Bedarf abgelosten Zwecken 
am Musikleben angeschlagen werden muB : daran ist es nicht genug. 
Vielmehr ist die ideologische Macht des Musikkonsums am so groBer, je 
weniger er als bloBer Schein und diinne Oberf lache durchschaubar ist ; 
je genauer er mit tatsachlichen Bedurfnissen kommuniziert, aber der- 
art, daB mit ihm ein M falsches BewuBtsein" produziert, die gesell- 
schaftliche Lage fiir die Konsumenten verhiillt wird. Das Bedurfnis 
nach Musik ist in der btirgerlichen Gesellschaft vorhanden und wachst 
mit der Problematik der gesellschaftlichen Verhaltnisse, die die In- 
dividuen notigt, ihre Befriedigung auBerhalb einer unmittelbaren 
gesellschaftlichen Wirklichkeit zu suchen, die sie ihnen versagt. Diese 
Befriedigung gewahrt ihnen das Musikleben „ideologisch", indem es 
ihre — dialektisch produzierte — Tendenz, aus der gesellschaftlichen 
Wirklichkeit zu fliehen oder sie sich umzudeuten, aufnimmt und ihnen 
Gehalte entwirft, die die gesellschaftliche Wirklichkeit nie besaB oder 
langst verlor und an denen festzuhalten objektiv die Intention in sich 
einschlieBt, eine Veranderung der Gesellschaft zu hintertreiben, welche 



Zur gesellschaftlichen Lage der Musik 367 

notwendig eben jene Gehalte entlarven mtiBte. Gerade daB das 
„Musikleben" die Bedtirfnisse des Btirgertums bo adaquat befriedigt, 
— daB es aber in der Form der Befriedigung das bestehende BewuBt- 
sein anerkennt und stabilisiert, anstatt in seiner eigenen Form die 
gesellschaftlichen Widerspruche aufzudecken, zu gestalten und in Er- 
kenntnis tiber die Beschaffenheit der GeseDschaft umzusetzen: das 
macht das ideologische Wesen des Musiklebens aus. Wenn Nietzsche 
den „Ransch", den Musik hervorrufe, einen unfruchtbaren, schwer 
aktivierbaren Rausch, als unrein und gefahrvoll verwarf, so hat er, 
bei aller Fragwtirdigkeit seiner Kategorien und eines umstandslos an 
Wagner orientierten Musikbildes, jedenfalls den Zusammenhang von 
Bedurfnisbefriedigung und ideologischer Vernebelung richtig erkannt, 
welcher das Gesetz der burgerlichen Musikiibung ausmacht, und hat 
auch das Unbewufite als Schauplatz jenes Zusammenhanges visiert. 
Im Schutz des UnbewuBten vollzieht sich der Umgang des Btirger- 
tums mit der Musik: der legale des „Musiklebens" und mehr noch der 
illegale mit der „leichten" Musik. Die UnbewuBtheit des Verhalt- 
nisses garantiert zugleich auch den Fetischcharakter der Musik-Dinge ; 
Ehrfurchtf bus dem theologischen Bereich schief genug ins asthetische 
projiziert, verbietet die bewuBte, „analysierende" Beschaftigung mit 
Musik, deren Aiffassung dem „Gefuhr ( vorbehalten bleibt: die Un- 
kontrollierbarkeit der privat-burgerlichen Reaktionsweisen und die 
fetischhaftelsolierung der musikahschenGestalt selber korrespondieren 
miteinander. Jede technologische Besinnung, die mit dem musi- 
kaHschen Gefiige etwa auch dessen gesellschaftliche Funktion erhellen 
konnte, wird im Namen des Gefuhls verwehrt, dafur aber die Kenntnis 
allgemeiner und unverbindhcher Stilbegriffe im Namen der Bildung 
gefordert. Ehrfurcht und Gefiihl heften sich an Zelebritaten der Ver- 
gangenheit, vor denen Kritik und Frage verstummt und in denen zu- 
gleich die burgerliche Gesellschaft ihren eigenen Ursprung als den von 
Heroen zu behaupten liebt. Heute, da die offizielle Musikkultur in 
der rationalisierten Gesellschaft vorab zur Apologie verpflichtet ist, 
nutzt sie gleichermaBen burgerlich-revolutionare Objektivitat — 
„Klassik" — und biirgerlich entsagende Subjektivitat — „Romantik u 
— ; die Verherrlichung des Sieges der burgerlichen ratio ebensogut 
wie das Leiden des einzelnen unter ihrer Alleinherrschaft ist Gegen- 
stand des burgerlichen Musiklebens und in seinen kanonischen Werken 
ausgednickt; die Ambivalenz eines Gefuhls, das an Klassik und Ro- 
mantik gleichermaBen sich sattigt, ist die des Btirgertums seiner 
eigenen ratio gegentiber. Jenseits der Spannuug rational konstituierter 



368 Theodor Wiesengrund-Adorno 

Objektivitat und irrational betonter, privater Innerlichkeit registriert 
das Burgertum im „Musikleben" noch die Phasen seines hochkapita- 
listischen Aufschwungs. In den „Meistersingern", einem der auf- 
schluBreichsten und nicht umsonst gesellschaf tlich beliebtesten Werke, 
wird der Aufstieg des biirgerlichen Unternehmers und seine „national- 
liberale" Versohnung mit der Feudalitat in einer Art von Traumver- 
schiebung thematisch. Der Wunschtraum des dkonomisch arrivierten 
Unternehmers laBt nicht ihn vom Feudalherren, sondern den Feudal- 
herren vom reichen Burgertum rezipiert werden; der Traumende ist 
nicht der Bifrger sondern der Junker, dessen Traumlied zugleich, 
gegemiber dem rationalen Regelsystem der biirgerlichen ,,Meister", 
die verlorene, vorkapitalistische Unmittelbarkeit wiederherstellt. Das 
Leiden des biirgerlichen Individuums unter der eigenen und zugleich 
entfremdeten Wirklichkeit, die Tristanseite der Meistersinger, ver- 
eint sich, im HaB gegen den Kleinbiirger Beckmesser, mit dem Be- 
wuBtsein des weltwirtschaftlich-expansiv gerichteten Unternehmers. 
der die bestehendenProduktionsverhaltnisse als Fesseln der Produktiv- 
krafte erfahrt und vielleicht bereits, im romantischen Bilde des Feudal- 
herren, das Monopol an Stelle der f reien Konkurrenz ersehnt : wie es 
denn tatsachlich auf der Festwiese nicht mehr zu einer Konkurrenz, 
sondern bloB deren Parodie in der Auseinandersetzung zwischen 
Junker und Beckmesser kommt. In dem asthetischen Triumph 
Sachsens und des Junkers sind die Ideale des Privatiers und des Ex- 
porteurs noch gegeneinander ausbalanziert. Bei Richard StrauB, dem 
letzten bedeutenden biirgerlichen Komponisten, dessen Musik das 
Burgertum konsumiert, hat, wie bereits Ernst Bloch erkannte, die 
Weltwirtschaft die Oberhand gewonnen. Innerlichkeit und Pessimis- 
mus sind liquidiert, Der „Schwung", als Unternehmergeist, eman- 
zipiert sich. Chromatik und Dissonanz, vordem Mittel der Befreiung 
der biirgerlichen Musik aus einem vorgesetzten, irrationalen System 
und Trager einer Dialektik, die das Material angreift und verandert, 
verlieren die revolutionar-dialektische Kraft und werden, wie Exotik 
und Perversitat in den Sujets, zum bloBen Emblem weltwirtschaftlicher 
Freiziigigkeit ; technisch beliebig als Klexe verwandt, die in jeder 
Sekunde vom gesunden Optimismus der Quartsextakkorde ge- 
tilgt werden kormen. Das Material, das in StrauBens Musik schlieBlich 
hervortritt, ist gewissermaBen das Urmaterial aller biirgerlichen 
Musik, das diatonisch-tonale, das das Biirgertum trotz aller Struktur- 
anderungen in Wahrheit so treu festhielt wie das Prinzip der Profitrate 
und das bei StrauB, indem es sich die fremden Markte Literatur, Orient, 



Zur gesellschaftlichen Lage der Musik 369 

Antike und Dixhuitieme unterwirft, mit einigem Zynismus auftritt. 
Die Divergenz zwischen dem phrasenhaft-vielberufenen „technischen 
Raffinement" StrauB ens, namlich einer von auBen gesetzten, nicht 
material-immanenten, sondern zufalligen und eigentlich irrationalen 
„Beherrschung" der Apparatur — und einer historisch unberuhrten, 
harmlosen, feuchtfrohlichen Musiksubstanz : diese Divergenz mag 
nicht bloB dem empirischen BewuBtseinsstand des grofiburgerlich- 
industriellen Unternehmers um 1900 recht angemessen sein: sie 
zeichnet auch wieder deutlich die Selbstentzweiung des Biirgertums 
seiner ratio gegentiber ab, die es zugleich steigern und bremsen muB. 
Immerhin ist in der nachwagnerischen Musiksituation, durch die 
gesellschaftliche Entwicklung und die immanente Dialektik des 
Wagnerschen Werkes, die Entfremdung von Musikmaterial und Gesell- 
schaft bereits so weit gediehen, daB eineProduktivkraft wie die StrauB - 
sche nicht umstandslos die materialen Eorderungen ignorieren und 
der Gesellschaft sich gefiigig zeigen konnte. In seinen besten Werken, 
Salome und Elektra, ist zwar die Divergenz ebenf alls angelegt ; in der 
Jochanaanmusik wie in den gesamten SchluBpartien der Elektra be- 
hauptet sich Banalitat, aber am Anfang der Salome, im Elektra- 
monolog und der Klytemnastraszene verselbstandigt sich gleichsam 
sein Kompositionsmaterial und stoBt, gegen seinen Willen, hart an 
die Grenze des tonalen Raumes. Diese Grenze ist zugleich die des 
Konsums: von beiden Werken fiihlte das Publikum musikalisch wie 
stofflich sich chokiert und verweigerte ihnen, wenn schon nicht alle 
Opernhauser, doch den sicheren Platz im Repertoire. Nach StrauB 
hat es Schlufi gemacht und der SchluBstrich tangiert sein ceuvre. Aber 
er hat ihn selber gezogen. Von alien Komponisten des Biirgertums 
vielleicht der klassenbewuBteste, hat er mit dem „Rosenkavalier", 
seinem grOBten Erfolg, die materiale Dialektik selber von auBen ab- 
gebrochen, die Diatonik von alien gefahrlichen Eermenten gesaubert 
und den Jungen Herrn aus groBem Hause, gerade eben noch eine 
Hosenrolle, mit der Tochter des Reichen Neugeadelten vermahlt, 
wahrend die Marechallin, Erbin Hans Sachsens und Isoldens zugleich, 
das Nachsehen hat und Trost im abstrakten BewuBtsein von Vergang- 
lichkeit. Mit dem sacrificium intellectus ans KonsumentenbewuBtsein 
erlischt die StrauBische Produktivkraf t : was auf den Rosenkavalier 
folgt, ist Kunstgewerbe. — Der Bruch von Produktion und Konsum- 
tion, dem StrauB als Produzierender zum Opfer fiel, hat zunachst 
nur in Deutschland die extreme Gestalt angenommen. In Erankreich, 
wo der IndustrialisierungsprozeB minder weit getrieben war und da- 



370 Theodor Wiesengrund-Adorno 

mit die Antinomien der burgerlichen Ordnung sich minder radikal aus- 
pragten, stimmenbeidelangerzusammen. Das musikalisch interessierte 
Btirgertum, im Besitz ausgiebigerer Freizeit und durch die Malerei des 
Impressionismus geschult, vermag der Bewegung weiter zu folgen; 
die Musik, nicht isoliert noch und nicht dialektisch in sich durch die 
Polemik zur Gesellschaft, kann ihre Mattel sublimieren, ohne sie sub- 
stantial anzugreifen. Noch Debussy, autonomer Kiinstler gleich den 
impressionistischen Malern, deren Technologie er in die musikalische 
transponiert, darf als Klang und Wohllaut Elemente der burgerlichen 
GenuB- und selbst Salonmusik mitnehmen ins wahlerischste artistische 
Verfahren. Freilich tritt bei ihm wie bei StrauB, auch theoretisch: 
inv Dogma von den natiirlichen Obertonen und der daraus entsprin- 
genden Rousseau-Parole, als Resultat aller Sublimierung das musi- 
kalische Urmaterial des Burgertums, die Diatonik, kahl und archaisch 
hervor, und der wissende Ravel dann weiB sich nicht anders damit 
abzuf inden als psychologisch-literarisch : durch zartliche Ironie . 
Damit ist aber auch in Frankreich die Versohnung am Ende. Die 
Komponisten der Nach-Ravelschen Generation dort zeigen den ver- 
dachtigsten Mangel, der franzosischen Kiinstlern widerfahren < kann : 
den an Metier. Die Tradition, die lange noch bewahrte, ist abgerissen ; 
die isoliert-musikalische Schulung im Sinne Sehonbergs dafiir nicht 
ausgebildet. — Zwischen der ernsten Produktion und dem burgerlichen 
Konsum zeigt sich allerorten of fen das Vakuum. Die immanent-aus- 
kristallisierte bleibt unzuganglich; die aber, die sich auf den Konsum 
einrichtet, wird in ihrer subalternen Mattheit vom GroBbiirgertum 
selber als „epigonal" zuruckgewiesen. Es sieht sich damit bestimmter 
steta auf den begrenzten und nicht mehr erganzungsfahigen Kreis 
der ^Klassik" zurtickgeworfen. Der Riickgriff auf vorliberalistische 
Klassik, die Ablehnung auch der ,,gemaBigten Moderne" entspricht 
genau dem Okonomisch-politischen Riickgriff auf vorliberalistische 
Formen, wie ihn dialektisch der Liberalismus selbst bedingt, wofern 
er nicht iiber sich fortschreitend hinausgehen will. 

Unterhalb des „Musiklebens", unterhalb von Bildung und Re- 
presentation, erstreckt sich das Reich der „leichten" Musik. Mit 
Kunstgewerbe und Chanson, Mannerchorliteratur und versiertem 
Jazz setzt es das Musikleben bruchlos fort und nimmt so viel von oben 
auf wie ihm nur erreichbar ist ; nach unten erstreckt es sich bodenlos 
bis in eine Unterwelt weit jenseits der burgerlichen ,,Schlager", aus 
welcher nur zuweilen Blasen wie das beangstigende ,,Trink, trink, 
Briiderlein trink" zum BewuBtsein aufsteigen. Die leichte Musik 



Zur gesellschaftlichen Lage der Musik 371 

befriedigt unmittelbar Bedurfnisse, und zwar nicht nur des Burger- 
turns, sondern der gesamten Gesellschaft. Zugleich aber ist sie, als 
reine Ware, der Gesellschaft am fremdesten; sie driickt nichts von 
ihrer Not und ihrem Widerspruch mehr aus, sondern bildet selber 
einen einzigen Widerspruch zu ihr, indem sie mit der Triebbefriedi- 
gung, die sie den Menschen gewahrt, ihre Erkenntnis der Wirklichkeit 
falscht, von der Wirklichkeit sie abdrangt, sie aus der Geschichte, 
der musikalischen wie der gesellschaftlichen, herauslost. Indem die 
Gesellschaft die leichte Musik als ,, Kitsch" passieren laBt, der zwar 
kein asthetisches Recht beanspruche, aber als Mittel der Zerstreuung 
auch keiner Kritik unterliege, hat sie auf ihre Weise mit der Paradoxic 
der leichten Musik sich abgefunden, die von jeglicher den Menschen 
zugleich die nachste und die fernste ist. Dieselben Produkte, die wie 
Tagtraume bewuBte und unbewuBte Wunsche der Menschen erfullen, 
werden vom Kapitalismus mit all seiner Technik den gleichen Men- 
schen aufgezwungen, ohne daB sie irgendeinen EinfluB darauf hatten; 
ohne daB sie befragt wiirden; ja ohne daB sie sich nur dagegen wehren 
konnten. Vorm Zugriff der Erkenntnis ist die leichte Musik mehrfach 
geschutzt. JEinmal gilt sie als harmlos, als das kleine Gliick, das man 
den Menschen nicht rauben diirf e ; dann als unernst und der gebildeten 
Betrachtung unwert ; endlich aber ist der Mechanismus der Wunsch- 
erfiillung durch die leichte Musik so tief ins UnbewuBte versenkt und 
so sorgfaltig im Dunkel des UnbewuBten belassen, daB er gerade in 
den wichtigsten Fallen — wie etwa denen der „absurden" Schlager 
von der Form ,,Wer hat denn den Kase zum Bahnhof gerollt" — ohne 
Theorie kaum zuganglich ist und der genauesten, im Auge des Burger- 
turns „kunstlichen" Interpretation, wohl auch der genauesten psycho- 
analytischen Schulung bedarf. Die technologische Betrachtung im 
Sinne der Kunstmusik vermag wenig zutage zu f ordern, da es gerade die 
Vulgarmusik charakterisiert, daB sie eine autonome Technologie nicht 
ausbildete, urn als Ware den Anf orderungen des Konsums prompt ge- 
nugenzukdnnen. An Stelletechnologischer Analyse hatteein Aufweis der 
wenigen, regressiv festgehaltenen und off enbar archaisch-symbolischen 
Typen zu treten, mit denen die Vulgarmusik haushalt; und es ware 
weiter das Schema der Depravation zu entwerfen, in welcher einzig 
die leichte Musik Greschichte registriert und dem archaischen Trieb- 
mechanismus einfiigt; endlich waren die Veranderungen der 
leichten Musik, die, der „Geschichtslosigkeit" ihrer Typen zum Trotz, 
umf anglich und wichtig sind, zu beschreiben und in ihrer okonomischen 
Konstitution zu ergriinden. All das ist von der organisierten Wissen- 



372 Theodor Wiesengrund-Adomo 

schaft nicht erfaBt und nicht einmal das Material philologisch bereit- 
gestellt. tiber die evidenten Relationen zwischen der gegenwartigen 
und der alteren Vulgarmusik, also den liberlieferten Tanzformen, dem 
geselligen Lied, der Opera buff a, dem Singspiel; und tiber die fol- 
kloristisch-befriedigteKonstatierung von ? ,Urmotiven c< ist man nicht 
hinausgelangt. Es kame aber gerade hier, wo die Invarianten offen 
zutage liegen, weit weniger darauf an, sie herauszupraparieren, als 
sie funktionell zu deuten; zu zeigen, daB das Gleiche, die identischen 
Triebstrukturen, denen die leichte Musik sich anpafit, jeweils nach 
dem Stande des gesellschaftlichen Prozesses vollig verschiedene Be- 
deutungen annimmt; daB derselbe vulgare Ldedtyp etwa, mit dessen 
Profanitat das junge Biirgertum des 17. und 18. Jahrhunderts die 
feudale Hierarchie enthiillen und verhohnen mochte, heute gerade 
der Verklarung und Apologie der biirgerlich rationalen Profanwelt 
dient, deren Schreibmaschinen, aller Rationalisierung zum Trotz, 
sogar in Musik sich setzen und sich singen, also in ,,Unmittelbarkeit" 
verwandeln lassen; und es waren im Zusammenhang mit dem Funk- 
tionswechsel auch die Formveranderungen aller Arten leichter Musik 
zu studieren. Wenn der apokryphe Charakter der leichten Musik ihre 
gesellschaftliche Erforschung erschwert, so wiirde sie erleichtert da- 
durch, daB eine autonome Dialektik der Produktion hier f ortf allt ; daB 
also die Enthullung der Vulgarmusik nicht durch den technologischen 
Aufweis ihrer immanenten Widerspriiche vermittelt zu sein braucht, 
weil sie, dem gesellschaftlichen Diktat gehorchend, gesellschaftlichen 
Kategorien weit geringeren Widerstand entgegensetzt als die selb- 
standige Produktion und das gebildete Musikleben. Aber das dunkle 
Reich der leichten Musik ist noch unbetreten und iiber seine Topo- 
graphie sollte um so weniger etwas prajudiziert werden, als die geringe 
Zahl der Grundtypen ebenso wie die drastische ideologische Funktion 
mancher Phanomene dazu verfuhren, die ganze Sphare vorweg- 
nehmend und ohne die geforderte pragmatische Strenge aus ihrer 
„Idee" auszukonstruieren — wodurch die gesellschaftliche Deutung 
nicht bloB um die Zuverlassigkeit, sondern wahrscheinlich auch um 
die Fruchtbarkeit gebracht wurde. Noch die iiberlegen-apercuhafte 
Behandlung der leichten Musik bleibt ihr horig, indem sie die zwei- 
deutige Ironie, mit der heutzutage die leichte Musik gleich vielen 
Filmen sich zu belacheln liebt, um unangefochten passieren zu diirfen, 
von ihr iibernimmt und als Gegenstand des Spiels akzeptiert, was erst 
der unerbittlichen, vom Lachen ungeriihrten Betrachtung als die 
verhangnisvolle Macht des Truges vor Augen liegt, die in der leichten 



Zur gesellschaftlichen Lage der Musik 373 

Musik sich konzentriert. Ehe solche Betrachtung moglick wird, 
mtissen fragmentarische Hinweise geniigen. 

So alt die Spannung von Kunst- und Vulgarmusik ist : radikal wurde 
sie erst im Hochkapitalismus. In frtiheren Epochen kat die Kunst- 
musik je und je durch Einbeziekung der Vulgarmusik ikren Umkreis 
zu erweitern, ihr Material zu regenerieren vermocht; die mittelalter- 
licke Polypkonie, wenn sie sick ihre cantus firmi aus Volksliedern 
kolte, ebenso wie Mozart, als er die Guckkasten-Kosmologie der 
ZauberflOte mit der Vereinigung von Opera seria und Singspiel zu- 
stande bracbte. Nock bei den Operettenmeistern des 19. Jakrkunderts, 
Offenback und Jokann StrauB, war die Divergenz der beiden musi- 
kaliscken Produktionsspkaren zureickend bekerrsckt. Heute ist die 
Moglickkeit des Ausgleicks gesckwunden und Versucke der Ver- 
sckmelzung, wie sie mancke befkssene Kunst-Komponisten zur Zeit 
der Jazzmode unternakmen, bleiben frucktlos. Es gibt kein ,,Volk" 
mekr, dessen Gesang und Spiel von der Kunst aufgegriffen und 
sublimiert werden konnte; die ErsckkeBung der Markte und der 
biirgerlicke RationalisierungsprozeB kaben die gesamte Gesellscbaft 
auck ideologisck den biirgerlicken Kategorien unterstellt, und die 
Kategorien der gegenwartigen Vulgarmusik sind allesamt solcke der 
biirgerlick-rationalen Gesellsckaft, die nur, um konsumfakig zu 
bleiben, in den BewuBtseinssckranken gebalten sind, die die biirger- 
licke Gesellscbaft den unterdriickten Klassen, aber auck sick selbst 
auferlegt. Das Material der Vulgarmusik ist das veraltete oder de- 
pravierte der Kunstmusik. Bei Jokann StrauB nock ist es vom 
gleickzeitigen kunstmusikakscken wokl durck das „ Genre", nickt aber 
ganzlick getrennt : seine Walzer lassen Raum zu karmoniscker Diffe- 
renzierung, so wie sie tkematisck aus kleinen, kontrastierenden, 
niemals leer wiederkolten Einkeiten gebildet sind, deren iiberrasckende 
Verkniipfung den Reiz, die „Pikanterie (< des StrauBiscken Walzers 
ausmackt und ikn zugleick mit der Tradition der Wiener Klassik ver- 
bindet, von der er sick uber den alteren StrauB, Lanner, Sckubert 
kerleiten mag. Es ist nun das entsckeidende Faktum der Gesckicbte 
der neuen Vulgarmusik, daB der definitive Bruck, die Preisgabe des 
Zusammenkangs mit der selbstandigen Produktion, die Auskoklung 
und Banaksierung der leickten Musik selber genau zusammenfallt 
mit der Industrialisierung der Produktion. Die Autoren der 
leickten Musik wurden durck die ungemein sckarfe Konkurrenz zur 
Massenproduktion gezwungen ; die arrivierten unter iknen kaben dann , 
sckon vor dem Krieg, sick zu Kompositionstrusts zusammenge- 



374 Theodor Wiesengrund-Adorno 

schlossen, die im Salzkammergut sich niederlieBen und in planvoller 
Zusammenarbeit mit Librettisten und Theaterdirektoren Outsider 
und Neulinge fernhielten, durch die Einengung der Produktion auf 
ihre eigene begrenzteZahl aber die Herstellung vor allem der Operetten 
bis zur Zahl und Art der einzelnen „Nummern u normten; sie haben 
zugleich von vornherein den Absatz ihrer Gebilde einkalkuliert, darum 
alle Schwierigkeiten vermieden, die das Behalten und Nachsingen der 
Melodien verhindern kdnnten und denen das Wiener oder Pariser 
Burgertum von 1880 noch gewachsen war. Musikalisch ist das Signal 
der Industrialisierung der Produktion die vollige Beseitigung aller 
Kontraste innerhalb der Melodien und die Alleinherrschaft der — 
selbstverstandlich schon friiher als Mittel zur Einpragung gehand- 
habten — Sequenz; der Walzer der ,,Lustigen Witwe" diirfte exem- 
plarisch den neuen Stil statuiert haben, und der Jubel, mit dem das 
Burgertum Lehars Operette begrtiBte, ist dem Erfolg der ersten 
Warenhauser zu vergleichen. Oscar Straufi etwa, der noch aus der 
Wiener Tradition kommt, sein Handwerk gelernt hat und um gestalten- 
reichere Operettenmusik sich mtihte, muBte sie entweder kunstgewerb- 
lich, also ohne die gesellschaftliche Schlagkraft des Johann StrauO 
pflegen oder der Industrialisierung sich angleichen; Leo Fall ist der 
letzte, der sich mit einigem Anstand aus der Affare zog. Sie alle aber 
hangen mit der biirgerlichen Kunstmusik noch zusammen durch die 
Form der Operette selber als einer Einheit, einer — wenn auch 
parodistischen — „Totalitat", die musikalische Architektur, Profi- 
lierung der Figuren und schlieBlich sogar den Einfall verlangt. Die 
industrielle Entwicklung der leichten Musik lOste dann auch die letzte 
asthetische Bindung und verwandelte die leichte Musik in einen 
Markenartikel. Die Stofflichkeit der Revue hat die subjektiven Form- 
elemente der Operette beseitigt und die Operetten beim Hdrer unter- 
boten, nicht nur, indem sie ihm die Girls vorfuhrte, sondern indem sie 
ihn vom letzten Zwang geistigen Vollzuges, denkender Teilnahme an 
den Vorgangen und ihrer Einheit befreite und die Biihne dem un- 
gebundenen Spiel der Wunsche preisgab, womit die Revueoperette 
ubrigens, sonderbar genug, gewissen Intentionen der selbstandigen 
Produktion sich anglich; sie hat die Wiener Operette und ihre un- 
garischen Ableger zunachst konkurrenzunfahig gemacht. Der Tonfilm 
dann eliminierte den musikalischen Einfall. Wahrend noch ein Schlager 
wie „ Valencia", um den Markt zu bezwingen, die Banalitat seiner 
Sekundschritte durch asymmetrische, „aparte" Metrik von anderen 
Banalitaten unterscheiden muBte, sind die durchrationalisierten, 



Zur gesellschaftlichen Lage der Musik 375 

kapitalistisch-arbeitsteiligen Fabriken der Tonfilmschlager solcher 
Miihe enthoben. Ihre Produkte durfen aussehen und klingen wie sie 
wollen, sie werden „Erfolge"; die Horer imissen sie nachsingen, nicht 
bloB weil die praziseste Maschinerie ohne UnterlaB sie ihnen ein- 
hammert, sondern vor allem, weil das Tonfilmmonopol verhindert, 
daS andere Musikware iiberhaupt an sie herangebracht wird, die sie 
wahlen konnten. Hier hat musikalisch der Monopoikapitalismus rein 
und extrem sich durchgesetzt und in Machwerken wie „Bomben auf 
Monte Carlo" seine Omnipotenz auch bereits politisch ausgewertet. 
1st damit die Vulgarmusik von den Bildungskategorien der burger- 
lichen Gesellschaft, an deren Fortbestand diese selber interessiert ist, 
ihrer Form und Struktur nach ganz losgerissen, so halt sie die Stoffe 
der Bildung dafiir fest als Fetische. Die Industrialisierung der 
leichten Musik und der VerschleiB von biirgerlichem Bildungsgut, den 
sie vollzieht, sind Equivalent. Kein Zufall, daB zur gleichen Zeit, 
wo die letzten Chancen musikeigener Produktion leichter Musik ge- 
schrumpft sind, dieOperette dafiir den ,,sch6pferischen" Kiinstler glori- 
fiziert, indem sie ihm die Melodien stiehlt: das „Dreimaderlhaus" ge- 
hort alsReklame undldeologie notwendig zum okonomischenUnterbau 
der Schlagerfabrikation und jede weitere Ausbildung der industriellen 
Apparatur hat den Fetischcharakter des Bildungsgutes in der leichten 
Musik extremer befestigt; Friederike und das „Land des Lachelns" 
mit seiner Exotik sind Schwesterwerke, und die Jazz-Fertigindustrie 
lebt von der Verarbeitung „klassischer" Musik, die Bildung als Roh- 
stoff ihr liefert und die, als Fetisch, im Gliick der Wiederbegegnung 
Bildung bestarkt. Es war die ideologische Funktion der Jazzmusik, 
als der zunachst groBbiirgeriichen Form der gegenwartigen Vulgar- 
musik, deren Warencharakter und die entfremdete Produktionsweise 
zu verdecken, den Markenartikel als „Qualitatsarbeit u anzubieten. 
Sie sollte den Schein improvisatorischer Freiheit und Unmittelbarkeit 
in der Sphare der leichten Musik erwecken; darum konnte sie von den 
gleichsinnigen Bestrebungen in der Kunstmusik so bequem adaptiert 
werden. Psychologisch ist das Manover des Jazz jahrelang gelungen : 
dank der Struktur einer Gesellschaft, deren Rationalisierungsmechanis- 
mus zwangslaufig die Notwendigkeit der Verhullung seiner selbst 
erzeugt, um absatzfahig zu bleiben. Sachlich ist der Warencharakter 
der Jazzmusik evident. Wie beim Jazz von „unmittelbarer" Produk- 
tion keine Rede sein kann; wie die Arbeitsteilung in ,,Erfinder", 
Korrektor, Harmonisator und Instrumentator hier womoglich noch 
weiter getrieben ist als bei der Operettenherstellung ; wie selbst die 



376 Theodor Wiesengrund-Adomo 

scheinbaren Improvisationen der Hot-music genau genormt und 
auf ganz wenige Grundtypen zuriickfuhrbar sind: so ist beim Jazz 
auch musikalisch ^immanent Freiheit und rhythmischer Reichtum 
Schein : metrisch herrscht die pure Achttaktigkeit, die die Synkopen 
und „scheintaktigen" Einschaltungen nur als Ornament benutzt, 
aber in den harmonisch-formalen Verhaltnissen unangefochten sich 
behauptet, und die rhythmiscbe Emanzipation bleibt gebunden an die 
durchgehaltenen Viertel der grofien Trommel. Unter der reicherenOber- 
flache des Jazz liegt kahl, unverandert, deutlich ablGsbar, das primi- 
tivste harmonisch-tonale Schema mit seiner Gliederung in Halb- und 
GanzschluB und damit der ebenso primitiven Metrik und Form. Esist 
gesellschaftlich und musikalisch gleichermaBen aufschluBreich, daB 
Jazzkapellen und Jazzkomposition ohne weiteres der Mode der Militar- 
marsche gehorchen konnten, als der politische Umschwung in der 
Krisenentwicklung erfolgte, das groBburgerliche Unternehmertum an 
Stelle der Weltmarktexpansion und deren exotisch-folkloristischer 
Korrelate in der Vulgarmusik nationale Autarkie proklamierte und von 
seiner Gebrauchskunst sie verlangte ; die groBe Trommel, die zuvor die 
tanzerischen Urgefuhle kolonialer Volker reprasentieren sollte, reguliert 
jetzt den Marschschritt einheimischer Formationen. — Die Elemente 
des musikaUscben Impressionismus, die der Jazz benutzt hat, die 
Ganztonskala , die Nonenakkorde , die akkordischen Parallelbewegungen 
vermogen an alldem nichts zu andern. Nicht bloB, daB sie erst er- 
scheinen, nachdem die Dialektik der Kunstmusik sie hinter sich zuriick- 
lieB, nachdem sie selbst als Reizwerte erschopft sind ; so wie die Vulgar- 
musik der zweiten Halfte des 19. Jahrhunderts von der voraufgehenden 
Romantik das Chroma ubernahm. Wesentlicher ist, daB diesen Mitteln 
beim Jazz jegliche formbildende Kraft genommen ward. Wie jene 
alten Salonpiecen, Walzer, Charakterstiicke und Rdverien die Chro- 
matik nur in Gestalt harmoniefremder ZwischentOne der Melodie 
einfugten, ohne das harmonische Fundament selber zu chromatisieren, 
so erscheinen beim Jazz die impressionistischen Floskeln nur als 
Interpolationen, ohne das harmonisch-metrische Schema zu st6ren. 
Die leichte Musik halt an der Diatonik, als ihrem ^Naturgrund", 
starr fest und ist dieses Naturgrundes um so sicherer, je eher sie sich, 
wie im Jazz, einmal einen ExzeB erlauben kann. 

Wenn das Schema der Depravation der leichten Musik vorge- 
zeichnet wird von ihrer Immanenz im statischen Ausgangsmaterial 
der burgerlichen Kunstmusik: der Tonalitat; und wenn danach das 
Verhaltnis der leichten und der Kunstmusik auch gesellschaftlich 



Zur gesellschaftlichen Lage der Musik 377 

keine ubergrofien Schwierigkeiten bietet, so sind dafiir die einer 
Typenlehre um so erheblicher. Schon der typische Grundsach- 
verhalt der leichten Musik, die Scheidung in Couplet und Refrain, ist 
nicht leicht zuganglich. Erwagt man den historischen Ursprung im 
Wechsel von Einzel- und Chorgesang ; vergleicht man damit den Trick 
vieler gegenwartiger Schlager, im Couplet gleichsam die Geschichte 
des eigenen Refrains zu erzahlen, so ergibt sich als wahrscheinlich die 
Auslegung : es wolle in ihrer stereotypischen Gestalt die leichte Musik 
die Tatsache der Entfremdung meistern, indem sie das berichtende, 
zuschauende, abgeloste Individuum, sobald es den Refrain anstimmt, 
in ein fiktives Kollektiv aufnimmt und in seiner Geltung dadurch be- 
starkt, daB es an der Objektivitat des Refrains teilhat, ja den Inhalt 
des Refraintextes als seinen eigenen im Couplet erlebt, den es dann im 
Refrain staunend und erhoben als kollektiven Inhalt wiedererkennt. 
Der psychologische Mechanismus der Schlagerbildung ware sonach 
narziBtisch, und dem entsprache die Forderung der beliebigen Nach- 
singbarkeit der Schlager : indem jeder Horer die Melodie, mit der er 
bearbeitet wird, sogleich nachsingeh kann, identifiziert er sich mit den 
urspriinglichen Tragern der Melodie, gehobenen PersOnlichkeiten, oder 
mit <Jem kriegerischen Kollektiv, das die Lieder anstimmt, vergiBt 
dariiber seine Vereinzelung und empfangt die Illusion, entweder vom 
Kollektiv umfangen oder selber eine gehobene Perstfnlichkeit zu sein. 
Immerhin herrscht dieser Mechanismus nicht ausnahmslos: wenn 
auch der iiberwiegende Teil der Schlagerproduktion an der Scheidung 
von Couplet und Refrain festhalt, so waren doch gerade einige der 
erfolgreichsten Schlager der Nachkriegszeit wie The dancing tam- 
bourine und The Wedding of the painted doll solche, die von der 
Scheidung abgehen : der erste ein Tanzstuck mit Trio, der zweite eine 
Art von „Charakterstiick" im Sinne des 19. Jahrhunderts. Bei solchen 
Stiicken, deren Erfolg nicht Texten zuzuschreiben ist, lafit sich der 
psychologische Mechanismus weit weniger bequem aufdecken; beim 
Tambourine mag eine gewisse melodische Plastik zumal des Trios, 
beim Puppenstuck das Moment der Infantilitat mitspielen, aber solche 
Bestimmungen sind schon weit weniger biindig als die psycho- 
analytischen, die, fast mOchte man vermuten: jeder Schlagertext 
provoziert, um hinter der psychoanalytisch-individuellen Bedeutung 
eine zweite und gefahrlichere : die gesellschaftliche zu verbergen. Wenn 
aber bei jenen beiden Instrumentalschlagern der Anteil der Musik am 
Effekt so erheblich ist, so hat man kaum ein Recht, ihn bei den Text- 
schlagern zu vernachlassigen. Eine Methode nun, die psychologische 



378 Theodor Wiesengrund-Adorno, Zur gesellschaftlichen Lage der Musik 

Wirkung von Musik zu analysieren, ist noch nicht ausgebildet und 
auch Ernst Kurths Musikpsychologie gibt fur das hier erreichte Pro- 
blem, vielleicht das aktuell wichtigste der gesellschaftlichen Deutung 
der Musik, keine zureichenden Anweisungen. Und es ist die Frage, ob 
hier Psychologie ausreicht : ob nicht gerade die entscheidenden Kate- 
gorien von der gesellschaftlichen Theorie beigestellt werden mtiBten. 
Die „Psychologie" der Schlager im herkOmmlichen Sinn fiihrt 
auf Triebkonstanten. So etwa ist es einleuchtend, zur Erklarung 
des „absurden" Schlagertyps die anale Eegression samt ihrer 
sadistischen Komponente heranzuziehen, die in den zustandigen 
Schlagertexten selten fehlt; die Absurditat stellt sich als leicht 
erganzbare Zensurliicke dar. Mit der Bestimmung der anal- 
sadistischen Struktur jener Schlager ist aber nichts tiber ihre 
gegenwartige gesellschaftliche Funktion ausgemacht und die Wirkung 
auf eine naturliche Triebanlage und deren Konflikte mit Gesellschaft 
iiberhaupt zunickgefuhrt, die jederZeitgleich eigentiimlich sein kOnnte, 
wahrend Ursprung und Funktion der Schlager im Kapitalismus aufier 
Frage stehen. Solange aber die gesellschaftliche Dialektik und 
die Analysis der Triebstruktur diskret oder bloB „erganzend" 
nebeneinander stehen, ist die konkrete Wirkung der leichten Musik 
nicht durchschaut, sondern einzelnen Wissenschaften zur Be- 
arbeitung iiberlassen, die, im Sinne der biirgerlichen Wissenschafts- 
systematik, isoliert verfahren und in ihrer Trennung eine der frag- 
wiirdigsten Disjunktionen des biirgerlichen Denkens selber voraus- 
setzen: die von Natur und Geschichte. Es sieht sich damit die gesell- 
schaftliche Deutung der leichten und schlieBlich aller Musik als ihrer 
zentralen Frage der gegenuber : wie sie verfahren solle, ohne mehr die 
Zweiheit natiirlicher Statik — in den Triebkomponenten — und ge- 
schichtlicher Dynamik — in den sozialen Funktionen — methodisch 
voraussetzen zu mussen. Wenn, wie sie es bislang tat, Musik dem 
Schematismus der individuellen Psychologie sich entziehen sollte; 
wenn bereits die elementarste ihrer Wirkungen einen konkreten 
gesellschaftlichen Zustand voraussetzt, ausdriickt, tendenziell auf 
einen hinweist; wenn Natur selber musikalisch nicht anders als in 
geschichtlichen Bildern erscheint, dann kGnnte die materiale Be- 
schaffenheit von Musik Hinweise bieten, wie etwa der dialektische 
Materialismus nicht zwar die jjFrage" nach dem Verhaltnis von Natur 
und Geschichte zu losen, wohl aber in Theorie und Praxis die Frage 
abzuschaffen vermOchte. 



Neuere Literatur iiber Planwirtschaft 1 ). 

Von 
Gerhard Meyer (Frankfurt a. M.). 

Aus der Fiille der neueren Planwirtschaftsliteratur sollen hier unter 
Verzicht auf Vollstandigkeit im wesentlichen drei Gruppen, amerikanische, 
franzosische und deutsche Veroffentlichungen, in der Form einer „biblio- 
graphie raisonnee" gesichtet werden. Dieser Versuch erfordert eine vor- 
herige Verstandigung iiber die dabei verwandten Begriffe. XJnter Plan- 
wirtschaft sei die bewufite planorientierte Gestaltung des totalen Wirt- 
schaftsablaufs im Dienste der Krisenverhutung und Wachstumsstetigkeit 
verstanden. Partikulare Eingriffe in den Wirtschaftsmechanismus ohne 
„Leitregelung" des Gesamtablaufs konstituieren also noch keine Plan- 
wirtschaft. Daft diese notwendig total ist, bedeutet aber nicht, daft sie 
auch „ universal" sein, d. h. alle einzelnen Teilprozesse direkt von einer 
Zentrale her regulieren muft. Es muft vielmehr als offene Frage gelten, 
ob dem Ziel der Planwirtschaft eine direkte universale Planung, bei der es 
praktisch nur einen einzigen Haushalt gibt, Oder aber eine z. T. indirekte, 
auf dem Zusammenspiel von „Selbstregelung" und „Leitregelung" be- 
ruhende „partielle" Organisation des Wirtschaftslebens mehr gerecht werden 
wiirde. Planwirtschaft kann — dies fiihrt zu einer weiteren Unterscheidung 
— nicht gedacht werden ohne Beriicksichtigung der zugrundeliegenden 
Sozialordnung, innerhalb deren sie funktionieren soil. XJnter diesem 
Gesichtspunkt sprechen wir entweder von kapitalistischer oder von sozia- 
listischer Planwirtschaft. Kapitalistische Planwirtschaft ist das auf 
die Zahmung der konjunkturellen Dynamik ausgerichtete System von 
Eingriffen und Einbauten in die vornehmlich unternehmungsweise er- 
folgende Erwerbswirtschaft unter prinzipieller Aufrechterhaltung der 
privaten Verfugungsgewalt von Unternehmern und Kapitalisten iiber alle 
entscheidenden Wirtschaftsmittel und damit auch iiber die freien Arbeiter. 
Innerhalb dieses Rahmens wird man je nach der formalen Tragerschaft 
zwischen einer Unternehmerplanwirtschaft und einer Staatsplanwirtschaft 
unterscheiden k6nnen. Wichtiger ist die Frage nach der faktischen Trager- 
schaft, d. h. nach den Gruppen, die an Planwirtschaft im Kapitalismus 
interessiert sind. Danach lassen sich mit Lor win (s. u.) ein „business- 
type** und ein „social progressive type of planning** einander gegenuber- 



*) Diese Sammelbesprechung ist einer umfangreichen kritischen Studie 
des Verf . iiber die wichtigste planwirtschaftliche Literatur entnommen, die 
im Auftrag des Instituts flir Sozialforschung ausgefiihrt worden ist, aber 
aus Raummangel nur zum kleinsten Teil verdffentlicht werden kann. Die 
Literatur iiber die sowjetrussische Planwirtschaft soil einem besonderen 
Artikel vorbehalten bleiben. Die Schriftleitung. 



380 Gerhard Meyer 

stellen, je nachdem ob die Unternehmer unumschrankt oder aber nur bei 
Kompromissen mit anderen Schichten, z. B. den Arbeitern, ihre Herrschaft 
zu behaupten vermogen. Notwendig ist die Abgrenzung vom Staats- 
kapitalismus. Dieser liegt da vor, wo der Sfcaat selber als kapitalistischer 
Unternehmer auftritt. Es ist dies noch keine Planwirtsehaft. Die sozia- 
listische Planwirtsehaft hat eine grundsatzlich veranderte Sozialordnung 
zur Voraussetzung : hier ist das Privateigentum an den Produktions- 
mitteln zugunsten des Gemeineigentums beseitigt, die Kapitalherrschaft 
gebrochen. Die Planwirtsehaft mu6 auch hier nicht als universale gedacht 
werden. Unter Zuriickstellung der Frage nach der Durchfiihrbarkeit beider 
Formen unterscheiden wir daher : Sozialismus mit Gemeineigentum an den 
Produktionsmitteln aber blofler zentralistischer Leitregelung der prinzipiell 
in den Marktmechanismus verflochtenen Wirtschaftseinheiten, als „Markfc- 
sozialismus" einerseits und universale zentralistische Planwirtsehaft 
{einschliefilich des Konsums) als ,,Verwaltungssozialismus" anderer- 
seits. Von der sozialistischen Planwirtsehaft ist der Staatssozialismus 
abzugrenzen. Bei ihm handelt es sich um die staatliche Bewirtschaftung 
bestimmter Produktionszweige (oder auch nur Betriebe) nach „gemein- 
wirtschaftlichen" Prinzipien. Das gemeinwirtschaftliche Prinzip, dessen 
Grenzfall die Gratislieferung von Leistungen mit Deckung der Kosten 
aus Steuern oder anderen Ertragnissen bildet, weist zwar eine gewisse 
Affinitat zum Sozialismus auf, findet sich aber prinzipiell, zumindest als 
Korrektiv, auch im Kapitalismus. Was seinen planwirtschaftlichen Cha- 
rakter anlangt, so liegt dabei zunachst nur parti kulare Planung vor. 

Mit dieser Systematisierung der Grundbegriffe der Planwirtschafts- 
diskussion ist zugleich auch eine gewisse "tf bersicht uber die Hauptprobleme 
gegeben. Wir stellen die neuen Publikationen nach dem Erscheinungsland 
zusammen, um den nationalen Eigentiimlichkeiten der Fragestellung 
gerecht zu werden. 

I. Amerikanische Planwirtschaftsliteratur. 

Der umfangreichen amerikanischen Planwirtschaftsliteratur ist ein 
stark technischer Charakter eigen. Nicht nur, daS vorwiegend organi- 
sationstechnische Fragen in den Vordergrund gestellt werden, vor allem 
werden die Ingenieure als die eigen t lie hen Vorkampfer gegen Unwirt- 
schaftlichkeiten aller Art und als Trager einer neuen Wirtschaftsordnung 
angesehen. Auf diese Weise wird auch das Klassenkampfproblem ura- 
gangen. Abgesehen von einigen Sozialisten halten fast alle amerikanischen 
Planwirtschaftler am kapitalistischen Privateigentum fest und suchen es 
allenfalls offentlicher Kontrolle zu unterwerfen. Neben der technologisch- 
sozialref ormerisch eingestellten Bewegung existieren auch unternehmerische 
Bestrebungen. Einen allgemeinen t^berblick iiber die Grundlagen der 
sozialprogressiven Richtung gibt das glanzend geschriebene Buch von 

1. Soule, George, A Planned Society, The Macmillan Co., New York 
1932. (295 S.; ? 2.50) 

Nach einer interessanten Kritik des Liberalismus und der „un- 
managed civilization" beschwort S. das Bild der amerikanischen 



Sammelbesprechunif: Planwirtschaft 381 

Kriegswirtschaft, beschreibt Aufbau und Leistungen der russischen 
Planwirtschaft und entwirft dann den Vorschlag einer sozialpro- 
gressiven kapitalistischen Planwirtschaft fur die Vereinigten Staaten. 
Er sieht darin eine letzte Chance fur die Privatwirtschaft, ist aber selber 
hinsichtlich ihrer Verwirklichung etwas skeptisch. Dies wohl mit 
Recht, zumal sein Planungsvorschlag im wesentlichen auf Freiwilligkeit 
beruht. Okonomisch-theoretisch ist vor allem seine Anlehnung an 
die in USA., besonders bei den Planwirtschaft lern, populare Foster- 
Catchingssche Unterkonsumtionstheorie bedenklich. — Ebenfalls 
eine gute Charakteristik der amerikanisohen Planwirtschaftsbe- 
strebungen bietet 

2. Lorwln, Lewis, The Problem of Economic Planning. (Materialien 
des World Social Economic Congress. Amsterdam 1931. 43 S.) 1 ) 

L. macht als erster den Versuch, eine — mit gewissen Modifi- 
kationen auch von uns verwandte — Begrif f sbestimmung und Typologie 
von Wirtschaftsplanung je nach der zugrundegelegten soziologischen 
Ordnung aufzustellen. Seine in einigen Punkten anfechtbare Grup- 
pierung bietet besonders hinsichtlich des business und des social-pro- 
gressive type of planning, den er selber (mit relativ starkerer Bereit- 
schaft zu Zwangseingriffen als andere Autoren) vertritt, ein gutes Bild 
der Auseinandersetzung in der amerikanisohen Literatur. 

3. Person, H. S., Scientific Management as a Philosophy and 
Technique of Progressive Industrial Stabilization. (Materialien 
des World Social Economic Congress). Amsterdam 1931. (64 S.J 

P., leitender Direktor der Taylor- Society, zeichnet die Entwicklung 
der Bewegung fiir wissenschaftliche Betriebsfuhrung, die von der 
Kationalisierung der kleinsten Einheiten, der Arbeitsplatze, an iiber 
-die verschiedenen Mittelglieder schliefilich zur Kationalisierung der 
Volkswirtschaft, ja der Weltwirtschaft gedrangt wird, da Unstabilitat 
des Milieus jede Teilrationalisierung gefahrdet. Alles wird vom Stand- 
punkt des Technikers gesehen. P. betont besonders die zur Katio- 
nalisierung notwendige Zusammenfassung der Industrie zweige und 
neigt daher stark zu derjenigen Art des Kampfes gegen die Trust- 
gesetze, die fiir die GroBunternehmungen charakteristisch ist. — Aus 
der Reihe der Schriften, die positive „Plane" wiedergeben, sind zu 
nennen : 

4. Haan, Hugo, American Planning in the Words of its Promoters. 
A Bird's-Eye Survey expressed in Quotations. The American Academy 
of Political and Social Science. Philadelphia 1932. (51 S.; 25 cts.) 2 ) 

Haans ttbersicht, die die bis Marz 1932 vorliegende „Planning"- 
Literatur verarbeitet, ordnet den Stoff auBerst iibersichtlich nach 
einheitlich bei jedem Autor angewandten Gesichtspunkten. Dabei 



*) Vgl. das Gesamtprotokoll des Kongresses unten unter Nr. 14. 

2 ) Eine deutsche Ausgabe, in der die bis Ende September erschienene 
Literatur verarbeitet ist, erscheint im Verlag dieser Zeitschrift unter dem 
"Titel: Das amerikanische „Planning". 



382 Gerhard Meyer 

fallt auf, wie sehr die Amerikaner auf AuBerlichkeiten der vorge- 
schlagenen Planwirtschaftsorganisationen eingehen, grundlegende 6ko» 
noraische, soziologische und politische tTberlegungen aber zumeist 
hintanstellen. 

5. Beard, Charles A., America Faces the Future. Houghton Mifflin 
Co, Boston 1932. (VIII u. 416 S.; * 3.00) 

In diesem Sammelwerk sind zunachst unter dem Titel: „The new 
intellectual and moral climate" schon vorher veroffentlichte Auf sat ze 
(u. a. von Butler, Andre Maurois und Foster) zusammengestellt, 
die die Ausbreitung des Planwirtschaftsgedankens dartun sollen. 
Darauf folgen unter dem Titel „Bhie Prints for a Planned Economy" 
eine Reihe von Vorschlagen einer allgemeinen Planwirtschaftsorgani- 
sation und spezieller Plane fur einzelne Wirtschaftsgebiete. Neben 
reinen Unternehmerplanen (hier ist vor allem der Plan des Prasidenten 
der General Electric, Gerard Swope, zu nennen) finden sich auch 
gemafiigt sozialreformerische. Im Vordergrund des Interesses steht 
der Kampf gegen die Antitrustgesetze. Swope begnttgt sich damit; 
er konzediert nur zum Ausgleich offentliche Kontrolle der geforderten 
Indus trie verbande und gewisse sozialpolitische Einrichtungen. Von 
anderen wird daneben die Notwendigkeit einer zentralen Plan- 
organisation und z. T. auch einer Reprasentativvertretung aller organi- 
sierten Industrien verfochten. Die eigentlichen okonomischen Probleme 
werden nur wenig behandelt. In dieser Hinsicht hebt sich sehr vorteil- 
haft heraus der „sozialprogressive" Planentwurf : 

6. Long-Range Planning for the Regularization of Industry. The Report 
of a Subcommittee of the Committee on Unemployment and 
Industrial Stabilization of the National Progressive Con- 
ference. The New Republic. Vol. LXIX, No. 893, Part 2. New York 
1932, 

zu dessen Verfassem u. a. Soule und vor allem J. M. Clark gehoren. 
Der Plan sieht eine Fulle von Organisationsformen f tir alle Wirtschafts- 
zweige vor. In den Korperschaften sollen alle Interessen, auch die der 
Arbeiter und Konsumenten, vertreten sein. Auf diese Weise hoffen 
die Verfasser die von ihnen scharf kritisierte Gefahr der Organisierung ; 
monopolistische Produktionseinschrankung, bannen zu konnen. In 
betontem Gegensatz zu den bisherigen Planen, die sich in partikularen 
Regulierungen erschopfen, wird als die Aufgabe der Planwirtschaft 
Wachstumsregulierung („the regularized growth") und Verbesserung 
der Massenversorgung bezeichnet. Diesem Ziel ordnen sich die in 
groBer Vollstandigkeit und mit theoretischer Fundierung dargestellten 
MaBnahmen der Planwirtschaftsorgane unter, zu denen auBer den In- 
dustrieorganisationen ein informierendes und beratendes zentrales 
Planamt gehort. Im ganzen will man der Privatwirtschaft, die nicht 
an sich, sondern nur unter dem „laisser faire" versagt habe, eine- 
neue Chance geben. 



Sammelbesprechung : Planwirtschaft 383 

7. A Four-Tear Presidential Plan 1932 — 36, prepared by the League 
for Independant Political Action. New York 1932. The Nation, 
Vol. 134, No. 3476, Sect. 2, Febr. 17th, 1932. 

Dieser Plan, der als Grundlage fur eine etwaige Wahlkampagne der 
sozialprogressiven Gruppegedacht ist, fordertganz allgemein , , social con- 
trol", fiir bestimmte Produktionszweige' auch Verstaatlichung. An dem 
Institut der „Public Utilities" wird scharfe Kritik geubt. — Erwahnung 
verdienenferner noch die Sondernummern einiger Zeitschriften, darunter: 

8. Survey Graphic, When We Choose to Plan. Vol. XX, No. 6. New 
York, March 1932. 

An dieser Sondernummer sind hervorragende Teilnehmer des 
Amsterdamer Kongresses wie Lor win, Person, Mary v. Kleeck 
und Neurath beteiligt. Mehrere Aufsatze berichten uber Planung in 
einzelnen Wirtschaftszweigen, Wichtig ist der Bericht von Isador 
Lubin liber die Veraehmungen von Sachverstandigen vor einer 
Unterkommission des Senats betr. den Vorschlag des Senators La 
Follette, einen ^National Economic Council** zu errichten. 

9. The American Economic Review, Vol. XXII, No. 1. Supplement. 
Papers and Proceedings of the forty-fourth Annual Meeting 
of the American Economic Association. Menasha (Wise.) March 
1932. Second Session — Economic Organization and the Control of 
Industry. (S. 63—104) 

Der hier abgedruckte Vortrag des Industriellen Harriman beweist, 
daB die heute an Planwirtschaft interessierten Unternehmer. im wesent- 
lichen nur Organisationsfreiheit fiir die einzelnen Industriezweige 
meinen . T u g w e 11 , ein Fuhrer der institutionalistischen S chule, 
betont stark das Dilemma, daB Planwirtschaft notwendig, aber keine 
Macht vorhanden sei, sie einzufiihren. 

10. The Annals of the American Academy of Political and Social Science. 
National and World Planning, ed. by E. M. Patterson. Vol. 162. 
Philadelphia. Juli 1932. 

Hervorgehoben seien der Beitrag v. Haans uber internationale 
Planung, eine Arbeit Frank G. Dickinsons, der nachzuweisen sucht, 
daB eine Stabilisierung der Konjunktur, jedenfalls auf absehbare Zeit, 
nicht etwa Vollbeschaftigung, sondern nur die fiir Aufschwung und 
Krise bisher durchschnittliche 1 eschaf tigung ermoglichenwurde, Fosters 
schon im Titel genugend charakterisierte Stellungnahme : „Planning 
in a Free Country: Managed Money and Unmanaged Men*', und end- 
lich die drei einleitenden Aufsatze uber die Moglichkeit kapitalistischer 
Planung: Lindeman vertritt eine sozialprogressive kapitalistische 
Planwirtschaft mit gemaBigtem Zwangscharakter ; der Sozialist 
O. B Ian shard stellt in scharfer Antithese sozialistische und kapita- 
listische Planwirtschaft einander gegeniiber; der Aufsatz des Harvard- 
professors W. B. Donham endlich bejaht von einem ziemlich liberalen 
Standpunkt aus die Frage: „Can Planning be Effective without Con- 
trol ?** und bietet gewissermafien einen Auszug aus 



384 Gerhard Meyer 

11. Donham, Wallace Brett, Business Looks at the Unforeseen. WhitU 
lessey House. New York 1932 (IX u. 209 S., geb. $ 2.50) 

D. halt besonders zah an dem amerikanischen Ideal der „Un- 
kon tr oilier theit" fest, aber er erklart „Planung" im Sinne einer ver- 
nunftigen Ausrichtung der Wirtschaftspolitik fur notwendig und f order t 
darum eine beratende „Central Thinking Agency". Er beurteilt alle 
wichtigen Plane danach, ob eine neue Burokratie und zentralistische 
Eingriffe daraus erwachsen konnten. Seine Vorschlage beinhalten 
eigentlich nur ganz konservative MaBnahmen (einschl. Zollen). — Ein 
Rundfunkvortrag von 

12. SHchter, Sumner H., The Limitations of Planning. The Univ. of 
Chicago Press. Chicago 1932. (12 8.) 

ubt iiberzeugende Kritik vornehralich an den ,,voluntaristischen" 
Planwirtschaftsentwtirfen. S., Professor in Harvard, weist zunachst 
nach, daB die Organisierung der einzelnen Industriezweige nach Auf- 
hebung oder Einschrankung der Antitrustgesetze die Krisen eher zu 
verscharfen drohe und erortert dann die Aussichten eines beratenden 
„ National Economic Council". Unter Heranziehung von Beispielen 
aus der jiingsten amerikanischen Erfahrung zeigt er, daB die Plan- 
stelle wegen ihrer Ohnmacht versagen und an entscheidenden Punk ten 
mit machtigen Finanzinteressen in Konflikt geraten wiirde. Trotzdem 
solle man einen Versuch in dieser Richtung machen. 

Schliefilich noch ein Werk, daB seinem Gehalt nach ein viel weiteres 
AusmaB hat, in seinem letzten Teil aber auch eine Kritik der Plan- 
wirtschaft enthalt: 

13. Hansen, Alvin Harvey, Economic Stabilization in an Unbalanced 
World. Harcourt Brace & Co., New Yorkl932 (IX u. 384S.; geb. % 3.00) 

H. behandelt zunachst eine Reihe von internationaien Depressions- 
und Krisenfaktoren, dann Probleme der Arbeitslosigkeit und ihrer 
Bekampfung, darauf die Frage der Bevolkerungsstabilisierung und 
schliefit mit dem Abschnitt ^Toward a Stabilized Capitalism ?". 
Hinsichtlich der Moglichkeit der volligen Ausschaltung der Krisen und 
Konjunkturen unterscheidet er scharf zwischen einer absolut mono- 
polistischen Organisation und freier Konkurrenz, unabhangig davon, 
ob es sich um eine kapitalistische oder sozialistische Ordnung handelt. 
Im Falle freier Konkurrenz halt er einen erheblichen Grad der Stabili- 
sierung der Beschaftigung fiir unmoglich, Magegen konne eine „com- 
pletedly centralized economic autocracy" die Krisen ausschalten. 
Eine kapitalistische Diktatur mit einem System von Trusts wiirde 
diese planwirtschaftliche Aufgabe ebensogut losen wie die russische 
kommunistische Diktatur. Aber H. weist mit groBtem Nachdruck auf 
die Kehrseite der Stabilisierung hin: sie opfere die Freiheit und vor 
allem den Fortschritt- Trotzdem halt er eine Entwicklung in dieser 
Richtung fiir wahrscheinlich. Recht problematisch ist seine enge Zu- 
einanderordnung von monopolkapitalistischer und kommunistischer 
Diktatur einerseits und (relativ) freier kapitalistischer und sozialistischer 



Sammelbesprechung; Planwirtschaft 385 

Marktwirtschaft andererseits. Vor allem sieht er in der Konzeption 
einer sozialistischen Marktwirtschaft eine solche Annaherung von 
Kapitalismus und Sozialismus vollzogen, dafi ihm schliefilich der 
Gegensatz zwischen beiden Systemen als relativ unwesentlich erscheint 
gegeniiber einem anderen Gegensatz, dem von Konkurrenz und Monopoly 
der fur ihn zusammenfallt mit der Antithese von Demokratie und Auto- 
kratie. 



II. Europaische Literatur iiber Planwirtschaft mit Ausnahme 

der deutschen. 

Die europaische Diskussion iiber die Moglichkeiten der Wirtschaf ts- 
planung hat gegeniiber der amerikanischen schon wegen der viel starkeren 
Bedeutung des Sozialismus in den „alten" Landern ein anderes Geprage. 
Auch sind die Beziehungen zwischen dem amerikanischen und dem euro- 
paischen Literaturkreis relativ locker. Es ist das Verdienst des Amster- 
damer Kongresses, hier zum ersten Mai einen Kontakt hergestellt zu haben. 
Die Verhand lunge n und Materialien dieses Kongresses sind jetzt in einer 
von M. L, Fledderus musterhaft besorgten Ausgabe veroffentlicht unter 
dem Titel: 

14. World Social Economic Planning. The Necessity for Planned Ad* 
justment of Productive Capacity and Standards of Living. 
International Industrial Relations Institute (I. R. I.). The Hague 1932. 
(LXIII u. 935 S.; in 2 Bdn.; H. FL 4.50) 

Wegen seines internationalen Charakters muBte der KongreB das 
Problem der Weltplanung, der Abhangigkeit nationaler Wirtschafts- 
planung von einer Ordnung der internationalen Wirtschaf tsbeziehungen 
stark betonen. GewiB sind dabei unmittelbare praktische Ergebnisse 
uicht erzielt worden. Aber sowohl in den Vortragen als auch in der 
Diskussion sind viele wichtige Gesichtspunkte hervorgehoben worden, 
und es wurde der in Deutschland sehr beliebten Verkoppelung von 
Planwirtschaft und Autarkic eine in mancher Hinsicht fruchtbarere 
Fragestellung gegeniibergestellt. 

Auch Albert Thomas beschaftigte sich in seinem letzten Bericht 

15. Internationale Arbettskonferenz. XVI. Tagung. Bericht des 
Direktors. Internationales Arbeitsamt. Genf 1932. (112 S.; RM. 4. — ) 
mit der internationalen Diskussion iiber Planwirtschaft als Rettung aus 
der Wirtschaf tskrise. Er selbst neigte unter starker Betonung des Ge- 
nossenschaftsprinzips und monetarer Mafinahmen zu einem solchen 
auf internationale Zusammenarbeit gestiitzten Versuch schon im 
Kapitalismus. (Vgl. auch S. 194.) 

16. World Planning, Supplement to the ^Week-end Review 11 . August 
22, 1931. London 1931. (14 S.) 

Diese Sondernummer zum Amsterdatner KongreB enthalt u. a. 
kurze Beitrage von Lor win, Neurath und Carli (Italien). 



386 Gerhard Meyer 

17, Wibaut, F. M., Dc Redding. Uitgave van de S.D.A.P. (Die Rettung; 
hrsg. v. d. S.D.A.P.) Amsterdam 1932. (30 S.; 5 Cents) 

W. schildert zunachst die krisenhafte Nachkriegsentwicklung mit 
dem Ergebnis, daB der Kapitalismus vollig am Ende sei, und sieht 
die Rettung allein in einer weltumfassenden sozialistischen Planwirt- 
schaft, die von den internationalen Arbeiterorganisationen auf demo- 
kratischer Grundlage unter Ablehnung russischer Methoden und unter 
besonderer Betonun'g staatlicher Bank- und Geidpolitik propagiert 
und durchgesetzt werden mttsse. 

In Frankreich stehen im Mittelpunkt der Debatte die Bemuhungen 
eines Kreises von j linger en Abgeordneten und Fublizisten der Linken, 
eine Planwirtschaft als moglich zu erweisen, die einerseits ,,antikapi- 
talistisch" ist, andererseits aber das traditionelle sozialistische Mittel der 
„Nationalisierung u ablehnt. Der Fiihrer dieser Gruppe ist Bertrand de 
Jouvenel. Die starke Beachtung, die seine Programmschrift „Ij Economic 
dirig&e" (Valois. Paris 1928) fand, veranlaBte das Journal de Commerce 
zu einer Sondernummer 

18, Journal de Commerce, Risultats et possibilites de . Vlconomie 
dirigie, No. 2229, 14. annic. Paris, le 9 Juin, 1932. 

Die wichtigsten Beitrage stellen die Auf satze dar, die das Problem auf 
Grund der russischen, deutschen und italienischen Erfahrungen kritisch 
behandeln. — In einer Sondernummer des Organs der jungen Linken 

19, Notre temps, Economic dirige'e. 6. annie, 3. sirie, 7 et 14 aoiXt 
No. 154. 155. Paris 1932. (Sp. 439—501; 3 free.) 

antwortet de J. auf eine ganze .Reihe von besonders im Journal de 
Commerce (a. a. O.) enthaltenen Angriffen sowie auf Fragen, die der 
radikalsozialistische Abgeordnete Bergery an ihn richtete. Bergery 
kritisiert besonders de Jouvenels „Mischform" von Kapitalismus 
und Sozialismus: ,„Vous avez reve d*une eeonomie dirigee pour le 
profit de la collectivite et realisee pour le profit de l'individu" — ein 
klassischer Einwand gegen alle prinzipiellen Verfechter einer sozial- 
reformerischen Planwirtschaft. De J. gibt als Grundprinzip der ( ,econo- 
mie dirigee ' * an : gleichmaBigere Einkommensverteilung und Orientierung 
an den Bediirfnissen der Massen. Bei Aufrechterhaltung der Geld- 
wirtschaft bedeutet dies allmahliche Egalisierung der Kaufkraft- 
verteilung. Die neben der Angleichung von kaufkraf tiger Nachfrage 
und Bediirfnissen wichtigste Aufgabe der Planwirtschaft, die An- 
gleichung von Produktion und Nachfrage, glaubt de J. vor allem mit 
Hilfe der staatlichen Kreditpolitik bewaltigen zu konnen. Damit 
erha^te der Staat ausreichenden EinfluB auf die groSen Unternehmungen. 
Fiir die kleinen Unternehmungen geniige gute Information tiber die 
Marktchancen. Diese Planwirtschaft darf nach de J. nicht auf bloB 
nationaler Grundlage, sondern muB in europaischem Rah men erfolgen 
und auf eine Weltplanung hinzielen. Die ,, eeonomie dirig6e" sei Sozialis- 
mus, denn sie verfolge die gleichen Ziele wie der proletarische Sozialis- 
mus, die Ausschaltung des GroBkapitals. 



Sammelbesprechung : Planwirtschaft 387 

20. Laurat, Lucien, Economic planie contre iconomie enchaine'e. 
Les cahiers bleus, seconde sirie, No. 12, 15 mai 1932. Valois. Paris 1932, 
(124 S.) 

L. geht davon aus, daB auch nach der Ubernahrae der politischen 
Macht eine Sozialisierung nicht auf einmal moglich 1st, sondern je 
nach der Keife der Industrie schrittweise erfolgen raufi. Die waohsende 
Trennung von Leitung und Eigentum der Untemehmungen determiniert 
die GroB untemehmungen als den Ort, wo die Sozialisierung sofort 
einsetzen mufi und ohne v o Iks wirtscha ft lichen Schaden auch einsetzen 
kann. Damit wird eine Kontrolle iiber den AkkumulationsprozeB 
erlangt, durch die die Moglichkeit Krisen auslosender Unterkonsumtion 
ausgeschlossen wird. Das zweite Hauptraittel stellt die Bankenkontrolle 
dar, die die von seiten der Sparer und Kleinuntemehmer der Plan- 
wirtschaft drohenden Gefahren beseitigen kann. Die „ economic 
planee" konne — unter der Voraussetzung einer Arbeiterregierung — 
die Krise sofort beheben. 

21. de Many Henri, inflexions sur Viconomie dirigie. L* Eglantine, 
Paris- Bruxelles 1932. (46 S.) 

De Man hebt den EinfluB der Taylorbewegung auf das Plandenken 
hervor. Die heutige Wirtschaft werde aus einer Wirtschaft der Unter- 
nehmer immer mehr zu einer Wirtschaft der Ingenieure und Bankiers. 
Es herrsche eine Tendenz zur „autonomen Unternehmung" und 
parallel damit zu einem wirtschaftlichen Neofeudalismus, der auch in 
Trustbildung und Kartellierung zum Ausdruck komme. Diese neue 
Form gibt sich ein planwirtschaftliches Ansehen, aber die eigentliche 
Planwirtschaftsbewegung ist gerade gegen diesen Monopolismus ge- 
richtet. De Man sucht die auf dem Amsterdamer Kongrefi aufgestellte 
Forderung einer Planwirtschaft im Innern und eines Abbaus des Protek- 
tionismus nach auBen aus jener antifeudalistischen Frontstellung zu 
erklaren, wobei er Wechselbeziehungen zwischen Unterkonsumtion 
infolge Lohndrueks und dkonomischem Nationalismus hervorhebt. 
Er halt eine von Sozialisten und Liberalen gemeinsam getragene Plan- 
wirtschaftsbewegung schon im Rahmen des kapitalistischen Systems 
fur moglich. 

III. Die neuere deutsche Planwirtschaftsliteratur. 
Inhaltlich geht auch in Deutschland — und gerade hier am starksten — 
der Streit um vier Fragen : erstens die Leistungsf ahigkeit des Liberalismus 
und die Moglichkeit der Riickkehr zur freien Wirtschaft, zweitens im 
Zusammenhang damit die Verbindung oder scharfe Scheidung von-„Inter- 
ventionismus" und Planwirtschaft, drittens die technischen Grenzen jeder 
Planwirtschaft, viertens kapitalistische oder sozialistische Planwirtschaft 
und wenn das letztere, welche Organisationsform. Die letzte Frage- 
atellung bildet das Hauptgliederungsprinzip der folgenden "frbersicht. 
Vorweg sei ein Buch genannt, das man im eigentlichen Sinne nicht zur 
wissenschaftlichen Literatur zahlen kann, das aber fur eine Reihe von 
Veroffentlichungen wohlmeinender okonomischer Laien typisch ist: 



388 Gerhard Meyer 

22. Wachter, Planting, Fuhrung, Ordnung. Urn Staat und Wirtschaft 
der Deutschen. Edudn Runge. Berlin 1931. (X u. 312 S.;br. RM. 3.60, 
geb. RM. 4.80) 

W. fordert unter Ablehnung der Demokratie einen dem Kapitalismus 
an Leistung weit iiberlegenen straff militarischen ,,Kommunismus" 
im Inneren („militarisch kann man alles machen, das weifi jeder alte 
Soldat"; S. 281) bei scharfem Wettbewerb von Exportkonzernen auf 
dem Weltmarkt, der darum moglich sei, weil es in der militarischen 
Wirtschaft ja keine Lohnkosten gebe. — Schwer einzuordnen ist die 
Gelegenheitsarbeit von 

23. Sombart, Werner, Die Zukunft des Kapitalismus. Buchholz 
& Weifiwange. Berlin 1932. (54 S.; RM. 0.90) 

Man darf sie zum Typ der kapitalistischen Planwirtschaft rechnen, 
sofern Planwirtschaft als System des Spatkapitalismus gemeint wird. 
Im wesentlichen geht es in der kleinen Broschure um den Begriff 
der Planwirtschaft (oder ,,sinnvollen" Wirtschaft), dem die drei Merk- 
male : Umf assendheit, Einheitlichkeit und Mannigf altigkeit zuge- 
sprochen werden. Die knappe Klassifikation der Mannigf altigkeit 
der Formen und Mittel (Gesamtplan, direkte und indirekte autoritare 
Eingriffe, Erziehung) enthalt gewiC richtige Hinweise, lafit aber eine 
inhaltliche Auseinandersetzung mit der wirklichen Problematik ver- 
missen. 

Schon im Titel befiirwortet deutlich eine kapitalistische Planwirt- 
schaft 

24. Schroder, Paul, Die Oberwindung der Wirtschaftskrise dutch 
den Plankapitalismu8. Gustav Fischer. Jena 1932. (180 S*; 
RM. 8.—) 

S. analysiert die iiblichen Vorschlage zur Behebung der Krise, 
verwirft sie (mit nicht immer zutreffenden Griinden) und fordert die 
etappenweise Einfiihrung des Plankapitalismus, einer Plan-Markt- 
wirtschaft mit fester Wahrung, festen Einzelpreisen (Ausnahmen 
bei Kostenwandlungen), festem Lohn und Zins. Gleichzeitig wird freie 
Konkurrenz, Privateigentum und privates Unternehmertum verlangt, 
allerdings organisiert in Zwangsein- und -verkaufsverbanden, die 
die tTbersicht tiber den Markt vermitteln. Das Kreditwesen wird 
aus dieser Sphare sogenannter Konkurrenz herausgelost. Es gibt 
keinen Kapitalmarkt, sondern nur Kapitalverwaltung. — Ein weiteres 
hier zu erwahnendes Programm einer Planwirtschaft im Kapitalismus 
(zweifellos mit sozialreformerischer Absicht) ist 

25. v. Ungern- Sternberg, Boderieh, Die Planung als Ordnungsprinzip 
der deutschen Industriewirtschaft. Ferdinand Enhe. Stuttgart 
1932. (108 S.; br. RM. 4.—) 

Unter starker Betonung des Organisatorischen vertritt U.-St, im 
Anschlufl an Rathenausche Ideen das Planprinzip der „Industrie- 
gemeinschaften". Hierfur wird ein ausfuhrlicher Gesetzentwurf vor- 



Sammelbesprechung : Planwirtschaft 389 

gelegt. Alle Industriezweige sollen in Produktions- und Absatzgemein- 
schaften zwangsweise zusammengefafit und von Zentraldirektionen, 
deren Verwaltungsmehrheit aus Staatsvertretem bestehen soil, ge- 
leitet werden. Dabei gibt es auch vertikale Zusammenfassungen. Fiir 
den ganzen Industriezweig, der systematisch auf den hochsten Stand 
gebracht werden soil, gilt eine einheitliche Preisbildung nach Grenz- 
kosten. Die Differentialprofite werden (falschlich) nur als Pramie 
fiir fortschrittliche Unternehmer angesehen. Wahrend die Produkt- 
preise als beweglich gedacht werden, sind die Preise der Produktions- 
faktoren (Lohn und Zins) fixiert. Den Einwand moglicher Konflikte 
zwischen dem Profitinteresse der Unternehmer- und Industrieverbande 
einerseits und den Zentraldirektionen andererseits versucht XJ.-St. 
mit dem Hinweis auf den Einflufi der „Staatsvertreter" und durch den 
Ruf nach ,,ausreichend sozialistisch-gememwirtschaftlichem Geist" der 
Unternehmer zu entkraften. 

Zwischen die Literatur uber kapitalistische und sozialistische Planwirt- 
schaft sei hier eine Gruppe von Arbeiten eingef ugt, die als Zwischentyp auf- 
zufassen sind und iiber deren Zuordnung man streiten konnte. 

26. Braeutigam, H., Wirtschaftssystem des N ationalsozialismus. 
Carl Heymann. Berlin 1932. (97 S.; br. RM. 3.—) 

Dieses Buch ist ein ernsthafter Versuch einer wirtschaftstheore- 
tischen Begriindung des Nationalsozialismus. Der Grundgedanke ist: 
in der heutigen Wirtschaft besteht „Zinsknechtschaft", und zwar mufi 
ein einheitlicher und normaler Zins sowohl fur freies wie fiir bereits 
investiertes Kapital herausgewirtschaftet werden. Dieses Prinzip 
erzwingt einen Monopolkapitalismus, der allein die wegen der Zins- 
knechtschaft notwendigen Profite garantiert, und fuhrt durch mono- 
polistischeProduktionseinschrankung und Preisiiberhohung zu Kapital- 
verlusten und Arbeitslosigkeit. Zur Beantwortung der Frage, wie die 
Mangel der Kapitalwirtschaft mit ihren Krisenfolgen vermieden werden 
konnen, entwickelt B. zunachst ein ideales System eines extremen 
Marktsozialismus mit Gemeineigentum und zentraler Kredit- und In- 
vestitionspolitik und weist die Moglichkeit seines Funktionierens nach. 
B. versucht dann zu zeigen, wie eine annahernde Verwirklichung dieser 
idealen sozialistischen Verkehrs wirtschaft auch bei grundsatzlicher An- 
erkennung des Privateigentums an den Produktionsmitteln moglich sei. 
Im Prinzip wird das „Unternehmertum (< des standisch geregelten Wett- 
bewerbs gefordert. Die Standekammern haben sowohl Monopole wie 
Schleuderkonkurrenz zu verhindern. Richtige Lohnpolitik ver- 
langt monopolistisch und staatlich beeinflufite Lohnfestsetzung mit 
dem Ziel stabiler Nominaleinkommen be.i festen Geldpreisen, daneben 
Gewinnbeteiligung. B. fordert weiter Zwangskapitalbildung und zen- 
trale Verteilung des Neukapitals grundsatzlich nach dem Ort der 
hochsten „Gewinne", aber bei Wahrung der Proportionalitat der 
Produktionszweige und Arbeitsplatzbeechaffung fiir freigesetzte 
Arbeiter. 



390 Gerhard Meyer 

Etwa in die gleiche Zwischenstellung gehdren auch die mit nationalen 
Autarkieforderungen eng verknupften planwirtschaftlichen Vorschlage des 
„Tatkreises" : 

27. Eschmann, Ernst Wilhelm: Obergang zur Gesamtwirtschaft, in: 
„Die Tat". Hrsg. von Hans Zehrer, 23. Jahrg., Heft 6, September 1931. 
Eugen Diederichs, Jena 1931. 

E. versucht, dem Autarkiegedanken eine realistischere Fassung zu 
geben, und skizziert darauf unter Abhebung der deutschen von den 
spezifisch russischen Aufgaben die Ordnung einer „ Gesamtwirtschaft", 
die ebenso wie die Autarkie und in Verbindung mit ihr „die Sou- 
veranitat der Nation tiber die Wirtschaft" gewahrleisten soil. Es wird 
ein staatlicher und ein „freier" Sektor unterschieden. Zu jenem sollen 
vor allem die Kraft- und Rohstoffwirtschaft, ferner alle Trusts und 
Konzerne der verarbeitenden Industrie, sowie die Banken, Handels- 
monopole und einige besondere Wirtschaftszweige gehdren. Dem 
„freien" Sektor mit Privateigentum und privater Unternehmerverant- 
wortung ist prinzipiell der iibrige Teil der verarbeitenden Industrie 
sowie die bauerlich zu organisierende Landwirtschaft zugewiesen. Doch 
sind auch die freien Betriebe in die von einem staatlichen Planorgan 
geleitete „Planwirtschaft" einzugliedern. An Stelle der „willkurlichen*' 
Kapitalbildung soil eine planmaBige, durch das offentliche Bankwesen 
geregelte treten. Diese „gegen den Besitz, aber fur das Eigentum" 
eintretende Planwirtschaf t wird auch antikritisch verteidigt : in der 
Theorie und Praxis des Marxismus werde die Bedeutung der Mittel- 
schichten, vor allem der Bauerh, auch fur den Aufbau der kunftigen 
„Nationalwirtschaft" verhangnisvoll unterschatzt. — Auch Ferdinand 
Fried hat kurzlich, nachdem er schon vor Eschmann zwar nur sehr 
kurze, aber um so weitreichendere Perspektiven.einer vornehmlich auf 
eine deutsche Staatswirtschaft gesttitzten planmafligen GroBraumwirt- 
schaft gegeben hatte 1 ), aus der konkreten Lage heraus ein „TTmbau"- 
programm entworfen: 

28. Fried, Ferdinand: Der Umbau in der Wirtschaft, in: „Die Tat**. 
Hrsg. von Hans Zehrer, 24. Jahrg., Heft 6, September 1932. Eugen* 
Diederichs, Jena 1932. 

Die allein aus der Kxise herausfiihrenden Mafinahmen: Arbeits- 
beschaffung durch Siedlung, Arbeitsdienst und ErschlieBung von Stidost- 
europa und die dafiir notwendige Geldschopfung, sind nur planma&ig 
und nur durch einen starken, autoritaren Staat zu verwirkliohen. 
Diese staatliche Plan wirtschaft, die den Erwerbstrieb zu binden und 
den Gemeinschaftsgeist herauszuarbeiten hat, ist zunachst eine kredit- 
wirtschaf tliche ; sie wird aber mit einer groBen Verstaatlichungeaktion 
verkniipft. Diese soil den Bergbau, groBe Teile der Schwerindustrie, 
Staatsmonopole, Kraft- und Verkehrswirtschaft einschl. Groflschiffahrt 



x ) Fried, Ferdinand: Wo stehen wir ? in: Die Tat, 23. Jahrg., Heft 5, 
August 1931, S. 354ff., bes. S. 383 ff.: Der Weg des neuen Deutschland. 



Sammelbesprechung : Planwirtschaf t 391 

und vor allem das Kreditwesen umfassen. Auffaliig ist die mehr oder 
minder versteckte kriegswirtschaftliche Motivierung dieser Mafinahmen. 
Von den inneren Problemen der Planwirtschaf t wird nicht gesprochen 1 ). 

Die nun folgenden Werke stammen von Sozialisten, die vor allem das 
Problem des tTbergangs zu einer sozialistischen Wirtschaft zur Diskussion 
stellen. Zunachst seien zwei kleine einander erganzende Schriften erwahnt. 
Die eine (popular gehaltene) ist 

29. Mendelsohn, Kurt, Kapitalistisches Wirtschaftschaos oder so< 
zialistische Planwirtschaf ft J. H. W. Dietz, Berlin 1932 (67 S.; 
RM. 0.75), 

worin die in der Krise offenbarten Kapitalfehlleitungen und die ,,un- 
notigen" Fehler der Unternehmer und Bankiers dargestellt werden. 
Die andere (wissenschaftlichere) ist 

30. Frieder, Otto, Der Weg zur sozialistischen Planwirtschaft. 
Oesckichte und Verwirklichung einer Idee. J. H. W. Dietz. Berlin 1932. 
(67 S.; RM. 0.75) 

F. schildert nacheinander Sozialisierung als Utopie, als Projekt und 
als Experiment (RuBland) und geht dann auf die Frage der Sozialisierung 
in Deutschland ein. Hier bespricht F. zunachst eine Reihe von Plan- 
wirtschaf ts- und Sozialisierungsvorschlagen, wobei er die auf Kontroll- 
einrichtungen abzielenden Forderungen der Sozialdemokratie hervor- 
hebt, und erortert dann selbstandig die Probleme des Sozialismus und 
der Sozialisierung. Dabei werden die entscheidenden politischen Vor- 
aussetzungen in den Vordergrund geriickt. 

31. Lederer, Emll, Planwirtschaft. J. C. B. Mohr. Tubingen 1932. 
(48 S.; RM. 1.20) 

L. schwacht den Gegensatz zwischen ,,freier Wirtschaft" und ,, Plan- 
wirtschaft" praktisch durch den Hinweis ab, daB Elemente der einen 
jeweils in der anderen moglich seien. Das Hauptproblem ist aber nicht 
diese partikulare Planwirtschaft, sondern die Frage, ob eine to tale 
krisenverhiitende Planwirtschaft denkbar sei. L. bejaht das und 
f order t entsprechende MaCnahmen zur XJberwindung der gegenwartigen 
Krise und zur Verhiitung von Konjunkturschwankungen iiberhaupt. Be- 
kannt ist sein Vorschlag einer partiellen natural wirtschaft lichen Er- 
werbslosen wirtschaft. Vor allem aber fordert L. Kreditkontrolle, die 
in sich eine gewisse Kraft zur Weiterentwieklung in Richtung auf eine 
Produktionskontrolle trage. Es bleibt jedoch fraglich, ob diese nach L. 
schon im Kapitalismus durchzufuhrende Kredit- und schlieBlich Pro- 
duktionskontrolle wirklich zum Vollsozialismus f iihrt, den L. am Schlusse 
der Schrift als Marktsozialismus kurz skizziert. Im Vordergrund steht 
h er das Problem der Wirtschaf tsrechnung und der Kapitalrechnung : 
beide bieten nach L. keine Schwierigkeiten. Das sozialistische System 
der Kapitalakkumulation habe vor dem kapitalistischen drei Vorziige : 

x ) tJber die Einordnung dieser „Tat* 'plane in das hier gewahlte Qrund- 
schema siehe auch Pollock im vorigen Heft dieser Zeitschrift S. 18, Anm. 2. 



392 Gerhard Meyer 

erstens konnte die Kapitalbildung grofier sein, insofern ein grofier Teil 
des heutigen Mehrkonsums der Gewinn- und Zinsbezieher dafiir zur 
Verf iigung stande ; zweitens ware die Produktion nicht notwendig an 
eine gewisse „Verzinsung" des Kapitals gebunden, etwaige Dispro- 
portionalitaten brauchten nicht durch Konkurs und Produktions- 
einstellung liquidiert zu werden; drittens: es muflte sich infolge von 
Fehldispositionen und daran anschliefiender Einschrankung der Neu- 
investitionen nicht das Sozialprodukt absolut verringern. 

L. hat in einer neuen Veroffentlichung nochmals zu Spezialpro* 
blemen der sozialistischen Wirtschaft Stellung genommen: 

32. Lederer, Emil, Die Guterverteilung als Problem des Sozialismus 
In: Die Guterverteilung in der Gesamtwirtschaft. Drei Vortrage 
von 0. v. Nell-Breuning, Otkmar Spann und Emil Lederer: EinzeU 
handelsverlag Berlin 1932. (87 S.; MM. 1.—; S. 39—66) 

L.s Vortrag ragt durch seine klare Gegenuberstellung der Funk- 
tionen des Handels im Kapitalismus und im Sozialismus hervor. Es 
gibt auch im Sozialismus distributive Funktionen, aber diese sind sicher 
eingeschrankter als heute und werden zum grofien Teil auch andere 
Trager haben. Das wesentliche Spezifikum des Sozialismus sieht L. 
hier in der Moglichkeit einer grundsatzlich neuen Einkommens- 
verteilung. 

33. Leichter, Otto, Kapitalismus und Sozialismus in derWirtschafts- 
politik. Der Kampf der neuen mit den alien Wirtschafts- 
elementen. C. L. Hirschfeld. Leipzig 1932. In: Festschrift fiir Carl 
Griinberg zum 70. Geburtstag, S. 382 — 411. 

34. Leichter, Otto, Die Sprengung des Kapitalismus. Die Wirt- 
schaftspolitik der Sozialisierung. Wiener Volksbuchhandlung. 
Wien 1932. (171 S.; br. BM. 4.— geb. RM. 5.—) 

Neue Entwicklungselemente der heutigen Wirtschaft: Kapital- 
konzentration, Staatseingriffe und die wachsende Macht der Arbeiter- 
klasse, stellen nach L. den alten kapitalistischen vier „neue" Wirt- 
schaf tsgesetze gegeniiber : die Tendenz zur solidarischen PlanmaBigkeit 
der Verteilung, die Einschrankung der kapitalistischen Profitrechnung, 
die Einengung der Unternehmerselbstandigkeit und die Politi- 
sierung der Wirtschaft. Diese „Gesetze" sprengen auf die Dauer den 
Kapitalismus und fuhren zum Sozialismus. Darunter versteht L. 
sozialistische Marktwirtschaft mit Gemeineigentum an den Produk- 
tionsmitteln und zentraler Planung vor allem der (offentlichen) Kapi- 
talbildung und der Kapitallenkung, die durch die Staatsbanken erfolgt. 
Der AuBenhandel wird durch ein Monopol geregelt. Fiir die Landwirt- 
schaft sollen Getreidemonopole usw. sorgeh. Die Lohne diirfen nicht 
diktatorisch von oben festgelegt werden, sondern sollen zwischen den 
Gewerkschaften und den Vertretern des Allgemeininteresses vereinbart 
werden. DaB freie Konsumwahl und die Moglichkeit genauer Kosten- 
kalkulation vorgesehen werden, versteht sich von selbst bei diesem 
Gesamtbild. Soweit irgend moglich, muO Betriebs- und Wirtschafts- 



Sammelbesprechung: Planwirtschaft 393 

demokratie herrschen. Der Weg zu diesem Ziel fiihrt im Kampf der 
altea mit den neuen Gesetzen iiber einen planwirtschaft lichen „Staats- 
kapitalismus". Die sozialistische Wirtschaftspolitik macht dabei auf 
den verschiedenen Gebieten bestimmte Etappen durch. Fur die Mono- 
pole fiihrt der Weg von einer Monopolkontrolle zur Investitionskon- 
trolle, die zur Preisfestsetzung und schlieBlich zu planmafiiger Ent- 
scheidung iiber den gesamten Wirtschaftsplan tiberleitet und notwendig 
bei der Vergesellschaftung der Produktion endet. Ahnlich beginnt die 
Kreditwirtschaft mit der Bankenkontrolle, geht iiber zur Kapital- 
beteiligung des Staates und fiihrt unter Ausnutzung dieser Position zur 
Verstaatlichung der Banken. Im ganzen vertritt L. wirtschaftsdemo- 
kratische Gedanken in austromarxistischer Farbung. — Das 

35. Material fur ein Wirtschaftsprogramm der freien Gewerk- 
schaften. 2. Afabundesauschufi-Sitzung. Berlin, 22. Mdrz 1932, (6 S.) 
wurde zum groBen Teil, jedoch mit noch starkerer Betonung der sozia- 
listischen Politik, in das kiirzlich von den Gewerkschaften heraus- 
gegebene Programm ubernommen. Beide Brosehiiren konnen deshalb 
im folgenden als Ein he it behandelt werden. 

36. Umbau der Wirtschaft. Die Forderungen der Gewerkschaften. 
Verlagsgesellschaft des Allg. Deutschen Gewerkschaftsbundes. Berlin 1932. 
(39 S.; 6r. RM. 0.40) 

. „Es gilt den Raum zwischen Kapitalismus und Sozialismus zu ge- 
stagen." Die darauf gerichteten Forderungen gliedern sich folgender- 
maBen: zunachst Konjunkturpolitik, die zugleich sozialpolitische 
Funktionen erfiillt, dann Maflnahmen fur die einzelnen Wirtschafts- 
gebiete und zum SchluB der Aufbau der Planwirtschaft. 

Die Hauptforderung zu „ Konjunkturpolitik und Massenkaufkraft" 
lautet: „ . . . systematische Starkung der Massenkaufkraft und Kege- 
lung der Kapitalbildung sowie der Kapitalverwendung." — Von den 
einzelnen Wirtschaftsgebieten werden zunachst Industrie und Handel 
betrachtet. Der demokratische Staat (wer damit konkret gemeint ist, 
wird nicht gesagt) soil die „Kommandohohen" der Wirtschaft besetzen. 
Das bedeutet tTberfiihrung der Rohstoffindustrie, der GroBchemie, der 
Energie- und Verkehrs wirtschaft in Gemeineigentum. Ein gut Teil 
der Problematic die der Verstaatlichung anhaftet, wird deutlich 
hervorgehoben. Es soil keine rein zentralistische Planwirtschaft er- 
strebt werden: „Beherrschung von der Zentrale, im iibrigen aber 
sehr weitgehende Dezentralisation" (zur Sicherung echter Freiheit). 
Dieser ,Dezentralismus' bedingt — vom Grundgedanken her nur 
folgerichtig — die Zulassung persSnlichen Arbeitseigentums bei Bauern 
und Handwerkern. Die Enteignung richtet sich also gegen das „aus- 
beuterische kapitalistische Grofieigentum in Industrie und Land wirt- 
schaft." Energisch wird die Enteignung des GroBgrundbesitzes 
gefordert, gleichzeitig aber in der Siedlungsfrage die Oppenheimersche 
genossenschaftliche GroBsiedlung starker hervorgehoben. Die Vor- 
schlage iiber Kredit- und Bankwesen folgen den vom Afabund ge- 
machten: also schrittweise Verstaatlichung und Bankenamt, in dem 



394 Gerhard Meyer 

u. a. auch die Gewerkschaften und Verbraucher vertreten sein sollen. 
Die Endforderung des planwirtschaf tlichen AuBenhandelsmonopols 
wird abgegrenzt gegen die modernen Autarkieplane. Das Umbau- 
programm stellt vermutlich ein sehr bedeutsames Zwischenglied in 
der Reihe von Versuchen der Arbeiterorganisationen dar, von wirt- 
schaftsdemokratischen Zielsetzungen zu einer starkeren Betonung des 
Endziels, der sozialistischen Planwirtschaft, zu gelangen. 

Nachdem im bisherigen sozialistische Publikationen besprochen worden 
sind, die eine kapitalistische Planwirtschaft als Weg zum Sozialismus fur 
moglich und notwendig halten, seien nun diejenigen Neuerscheinungen ver- 
treten, die, zumeist unter deutlicher Ablehnung jener Zwischenlosungen, nur 
das sozialistische Zielbild als solches hinzustellen versuchen. 

37. Landauer, Carl, Planwirtschaft und V erkehrswirtschaft. Duncker 
& Humblot. Munchenl931. (VI, 222 S.; br. BM. 9.—, geb. EM, 13.50) 
L. geht von der Feststellung aus, dafi eine sozialistische Ordnung 
der kapitalistischen in „produktiver u Hinsicht xiberlegen sein muB, 
wenn sie Bestand haben soil. Als Mafistab der Produktivitat wahlt 
er den Grad der Vollkommenheit der individuellen Bedarfsdeckung, 
die in der idealen Verkehrswirtschaft optimal sein miifite. Aber diese 
^reine" Verkehrswirtschaft hat nie existiert, und es kommt L. darum 
zunachst darauf aD, die „antiproduktiven Erscheinungen in der realen 
Verkehrswirtschaft" aufzudecken. Unter diesem Titel behandelt er 
das Monopol sowie Arbeitslosigkeit und Krisen, die er letztlich (unter 
Verwendung des Kapitalmangel- und des Irrtumsarguments) auf den 
technischen Fortschritt zuriickfuhrt. Als weitere Eolgen der tech- 
nischen Entwicklung leitet er aus dem steigenden Anteil des fixen 
Kapitals einer seits eine wachsende Konjunkturempfmdlichkeit der 
Wirtschaft, andererseits eine Machtsteigerung der, Gewerkschaften 
ab, die in zunehmendem MaBe die auch fiir die Arbeiter notwendige 
Kapitalbildung gefahrden konnte. Gerade daraus schliefit er auf die 
Notwendigkeit einer sozialistischen Wirtschaft, in der der Ausgleich 
zwischen Gegenwarts- und Zukunftsinteressen der Arbeiter nicht durch 
das Klassenverhaltnis zwangslaufig gestort wird. Im zweiten Abschnitt 
kritisiert L, treffend alle Versuche, den Kapitalismus durch gemein- 
wirtschaftliche Kontrolle zu regulieren. Uberzeugend ist sein Hinweis 
auf die Grenzen der Wirksamkeit der Monopolkontrolle und der Noten- 
bankpolitik. Der dritte Abschnitt entwirft das Bild eines Markt- 
sozialismus, mehr noch: einer sozialistischen Konkurrenz wirtschaft, 
die eine Verbindung von Zentralismus und Dezentralismus, Staats- 
sozialismus und Genossenschaftssozialismus darstellt. Die einzelnen 
Staatsbetriebe konk\n:rieren friedlich untereinander, sie machen 
unterschiedliche Gewinne, an denen Betriebsangehorige und Betriebs- 
leiter beteiligt werden. Zugleich aber wird an den entscheidenden 
Stellen das Wachstum der Wirtschaft durch das Kreditmonopol, das 
erst im Sozialismus w irks am sein kann, reguliert. Die Grundlage der 
zentralen Kapitalpolitik ist ein Investitionsprogramm sowie die Mog- 
lichkeit, ein bestimmtes AusmaB der Akkumulation direkt und indirekt 



Sammelbesprechung : Planwirtschaft 395 

zu erzwingen. Eine Voraussetzung des Investitionsprogramms ist 
nach L. eine naturalwirtschaftliche Kontrollrechnung, die in Erganzung 
der Geldrechnung das mengenmafiige Ineinandergreifen der ver- 
schiedenen Produktionszweige sicherstellt. Das zweite Element 
der Wachstumsplanung, die Regulierung des Akkumulationstempos, 
unterliegt im Sozialismus der Entscheidung der Gesamtarbeitersohaft, 
die selbst den erwiinschten Spargrad bestimmt. Dafi dabei Interessen- 
konflikte entstehen konnen, halt L. fur sehr moglich, aber es erscheint 
ihm unwahrscheinlich, dafi sich daraus neue Klassengegensatze 
entwickeln. Hinsichtlich des Weges zum Sozialismus entscheidet sich 
L. unter Ablehnung einer radikal-revolutionaren Haltung und scharfer 
Kritik der Versuche, dem Sozialismus durch allmahlichen „planwirt- 
schaftlichen" XJmbau des Kapitalismus naherzukommen, fur eine 
systematische Sozialisierungsaktion (mit Entschadigung aus Steuer- 
mitteln), die im Verlauf von 12 — 15 Jahren zur "Qbernahme der wich- 
tigsten Teile der Industrie durch den Staat fiihren miisse. Erst dann 
konne mit dem Aufbau einer echten Planwirtschaft begonnen werden. 
— Gleiches Niveau mit diesem ausgezeichneten Werk halt 

38. Hefmann, Eduard, Sozialiatiscke Wirtschctfts- und Arbeits- 
ordnung. (Sozialistische Aktion, hrsg. v. Walter Pahl und August 
Eathmann, H. 1.) Alfred Protte. Potsdam 1932. (63 S.; BM. 1.20) 
Auch H.s Sozialismus ist ein stark dezentralistischer und daher 
marktwirtschaftlicher Sozialismus. Die Notwendigkeit des Marktes 
wird mit der TJnentbehrlichkeit einer rationalen Kostenrechnung, 
die nur bei freier Preisbildung moglich sei, begriindet. Es ist allerdings 
nicht ganz klar, inwieweit dieses Prinzip der freien Preisbildung mit 
den spater eingeraumten Mdglichkeiten monopolistischer und gemein- 
wirtschaftlicher Preispolitik vereinbar ist. Mit der Preisrechnung 
zugleich verlangt H. auch eine Kapital- und Zinsrechnung im Sozialis- 
mus. Marktwirtschaft und Kapitalrechnung widersprechen nach 
H. nicht dem sozialistischen Prinzip: M Gerade fur die marxistische 
Betrachtung kommt alles auf die soziologische Grundordnung an, 
innerhalb deren sich die Wirtschaftsvorgange abspielen." Kann aber 
eine solche Marktordnung auch Planwirtschaft sein ? Zunachst gibt 
H. eine knappe Analyse des nach seiner Meinung wichtigsten Kon- 
junkturfaktors, des den Arbeiter freisetzenden technischen Fort- 
schritts. Daraus folgt die Aufgabe der Planwirtschaft, technische 
Fortschritte und Kapitalbildung zur Finanzierung nicht nur der Fort- 
schritte selbst, sondern auch der Neuschaffung von Arbeitsplatzen 
fur die freigesetzten Arbeitskrafte aufeinander abzustimmen. Die 
Mittel dieser Konjunkturregelung sind zentrale Kapitalbildung und 
zentrale Kreditwirtschaft. Hier schlieflt H. sich weitgehend Landauer 
an. Das Verhaltnis von zentralem Plan und Markt stellt sich nach 
allem so dar, dafi durch die zentralen Eingriffe wohl die Daten des 
Preis-Mengen- Systems verandert werden, nicht aber der Markt- 
mechanismus selbst gest6rt wird. — Die soziologische Grundordnung 
dieses Sozialismus wird von H. gekennzeichnet durch die drei un- 



396 Gerhard Meyer 

trennbaren Forderungen: Aufhebung der Klassenscheidung, Freiheit 
und Ordnung. Dem Freiheitsverlangen der Arbeiter muB im Sozialismus 
durch moglichste Dezentralisierung, Starkung der Eigenverant- 
wortung und vor allem Selbstgestaltung auch des Arbeitslebens Er- 
fiillung gegeben werden. (Der sozialistischen Arbeits ordnung widmet 
H. einen besonderen Abschnitt.) Der Beseitigung der Klassen dient die 
Abschaffung des privaten Eigentums an den Produktionsmitteln. 
Freilich sind nach H. der Sozialisierung Grenzen gezogen: sie ist 
unmoglich bei den stadtischen Kleingewerben und vor allem bei der 
Bauern wirtschaft, hier aber auch nicht notig, weil die Vereinigung 
von Arbeit und Eigentum, die der Sozialismus erstrebt, z. B. im 
Bauernbetrieb noch erhalten ist und sich da als produktiv er- 
weist 1 ). Heimann ist im ubrigen ganz wie Landauer der Meinung, 
dafi die Sozialisierung dem Aufbau der eigentlichen Planwirtschaft 
voranzugehen hat. 

39. Klein, Georg, System eines idealistischen Sozialismus. Theo- 
retische Qrundlegung einer planwirtschaftliehen Volks- und Weltwirt- 
schaftsordnung . W. BraumiiUer. Wien-Leipzig 1931. (XV u. 294 S.; 
RM. 11.—) 

K. stellt unter starker Ausrichtung auf das Organisatorische die 
sozialistische Wirtschaft als Geldwirtschaffc dar und teilt sie in zwei 
Hauptgruppen ein. Die groBere (A), die alle mit relativ viel Kapital 
ausgeriisteten Betriebe umfafit, befindet sich in Gemeineigentum. Die 
kleinere (B) umschliefit die Kleinbetriebe einschliefilich der Bauern- 
wirtschaf ten ; hier bleibt das Privateigentum erhalten. Die gesamte 
Wirtschaft wird streng gegliedert: erstens nach der gesellschaftlichen 
Zweckleistung in Wirtschaftsverbande, zweitens nach der sozialen 
Schichtung in Berufsverbande. Die eigentliche Zusammenfassung 
erhalt die Wirtschaft durch einen zentralen Geld- und Bankapparat, 
iiber dessen Verrechnungskonten samtliche Geldbewegungen der 
Abteilung A gehen. Die Zentralbank ist Informations quelle und 
Werkzeug fur die Politik des Zentralwirtschaftsamts, das die Preise 
festsetzt und das Wachstum der Wirtschaft regelt. K. vertritt einen 
^halbstarren" Marktsozialismus mit nach den Grenzkosten kalkulierten 
festen Preisen. Als Ziel schwebt ihm letzlich die Schaffung einer Welt- 
planwirtschaft vor. Das vielleicht wichtigste Kapitel des Buches 
ist eine Darstellung und Beantwortung der wirtschaftstheoretisch, 
psychologisch, axiologisch und empirisch begriindeten Einwande gegen 
den Sozialismus. 

40. Schlff, Walter, Die Plcunwirtachaft und ihre dkonomischen 
Hauptprobleme. C. Heymann. Berlin 19S2. (106 S.; BM. 3.60) 

S. entwickelt zunachst den Begriff der Planwirtschaft, stellt die 
TJnmoglichkeit einer kapitalistischen Planung fest und erortert sodann 

l ) Die Theorie des Arbeitseigentums ist inzwischen von H. mehrfach 
behandelt worden, vor allem in: Sozialismus und Mittelstand, Neue 
Blatter fiir den Sozialismus, hrsg. von E. Heimann, F. Klatt, A. Rath- 
mann, Paul Tillich. 3. Jahrgang, Heft 7. Alfred Protte. Potsdam 1932. 



Sammelbesprechung : Planwirtschaft 397 

ausfuhrlich die Voraussetzungen und die Hauptprobleme einer sozia- 
listischen bzw. einer bei Erhaltung eines privatwirtschaftlichen Sektors 
doch sozialistisch orientierten Planwirtschaft, wobei eine Reihe wich- 
tiger Einwande und Erganzungen in einem besonderen Abschnitt zu- 
sammengefafit werden. S.' Bild enthalt Konsumfreiheit, Markt, Geld, 
Preise und Lohne, jedoch mit veranderten Funktionen und unter weit- 
gehender Aufhebung des Automatismus. Im Vordergrund steht das 
Problem einer Konsumplanung mittels Durchschnittsberechnung von 
natural bestimmten „Lebenslagen" der einzelnen Produzentenschichten. 
Die Darstellung wird belastet durch den Versuch, Grenznutzen- und 
Arbeitswerttheorie in einer normativen Ebene zu verkniipfen. Die 
eigentlichen Wachstumsprobleme werden nur sehr kurz behandelt. S. 
ist sichtlieh an der Problemstellung des Verwaltungssozialisten Neurath 
orientiert; offenbar schatzt er die Ordnungsfunktion des Marktes nur 
gering ein. Um so charakteristischer ist sein Eintreten fur einen, freilich 
gebundenen, Marktsozialismus und fur das Prinzip grofitmdglicher 
Freiheitschancen. Insofern ist auch S. noch zu der Gruppe des mehr oder 
minder dezentralisierten „Marktsozialismus" zu rechnen, dessen starkes 
Vordringen in der heutigen Diskussion unsere tTbersicht deutlich zeigt. 

41. Pollock, Friedrich, Sozialismus und Landwirtschaft. C. L. Hirsch- 
feld. Leipzig 2932. In: Festschrift fiir Carl Grunberg zum 70. Ge- 
burtstag, S. 397— 43 L 

P., der im Gegensatz zu den bisher behandelten Autoren Markt - 
wirtschaft und Sozialismus fiir unvereinbar halt, skizziert die Stellung 
der Sozialisten (von Marx iiber Kautsky und David bis zu den neuesten 
Programmen) zur Agrarfrage, insbesondere zum Betriebsgr66en- 
problem und f ormuliert dann das Kernproblem : Ist sozialistische Ge- 
sellschaft hi unserem Sinne (d. h. auch markt lose Gesellschaft) sowohl 
technisch als auch gesellschaftlich mit klein- und mittelbauerlichem 
Besitz dauernd vereihbar ? Nach alien Richtungen wird diese Frage 
entschieden verneint. Besonders stehe der antikollektivistische 
Klassencharakter des Bauerntums dem Aufbau einer sozialistischen 
Gesellschaft im Wege. Diese sei nur bei kollektiver und grofibetrieb- 
licher Durchfuhrung der Agrarproduktion moglich. Da die neueste 
Entwicklung der Landwirtschaft nach P.s Meinung den Grofibetrieb 
nicht nur im Getreidebau, sondern auch in der Viehzucht zum Siege 
fuhrt, schafft sie eine wesentliche Voraussetzung des Sozialismus. 

42. Pollock, Friedrich, Die gegenwartige Lage des Kapitalismus und 
die Aussichten einer planwirtschaftlichen Neuordnung. In 
Heft 1/2, Jg. I (1932) dieser Zeitschrift. 

P. sieht in der Durchfuhrung einer planwirtschaftlichen Neuordnung 
die einzige Moglichkeit, die schweren und in der Zukunft sich noch 
verscharfenden Schaden des Kapitalismus zu beseitigen. Er stellt 
die wichtigsten Einwande gegen eine Planwirtschaft zur Diskussion 
und kommt zu dem SchluB, daB trotz des Vorhandenseins der okono- 
mischen Voraussetzungen eine Planwirtschaft so lange nicht zu er- 
warten ist, als die gesellschaftlichen Voraussetzungen dafiir fehlen. 



398 Gerhard Meyer 

4 3. Hermberg, Paul, Planwirtschaft. In: Die Arbeit. Zeitschrift fur Qewerk- 
schaftspolitik und Wirtsckaftshunde. Hrsg. von Th. LeiparU 9. Jahrg, 
Berlin 1932, (I. Planwirtschaft und Wirtschaftskrise. Heft 4. — 
II, Planwirtschaft und Verteilung. Heft 6. — III. Wege zur Plan* 
wirtschaft. Heft 8. — IV. Planwirtschaft und Markt, Heft 10.) 

H. formuliert als zentrales Problem: kann Planwirtschaft Krisen 
verhindern ? Die Haupttypen der Krisentheorie werden gegeniiber- 
gestellt; alien gemeinsam ist die Behauptung einer mangelhaften 
Regelung dea Ausdehnungstempos der Wirtschaft. Die damit der Plan- 
wirtschaft gestellte Aufgabe kann nicht durch partielle Eingriffe, wohl 
aber von einer an einem Gesamtplan orientierten Zentralstelle gelost 
werden. Der von H. vertretene Typus von sozialistischer Planwirtschaft 
schwankt in eigenartiger Weise zwischen Verwaltungs- und Markt- 
sozialismus. Prinzipiell wird Planwirtschaft als marktfeindlich an- 
gesehen, und H. behauptet gegen Mises, dafl rationale Kechenhaftigkeit 
nicht Marktpreise voraussetze. Dennoch werden praktisch wenigstens 
Axbeitsmarkt und Konsumgutermarkt zugelassen. Einen besonderen 
Markt der Produktionsmittel dagegen sucht H. in einer Polemik gegen 
Heimann nicht nur als unnotig, sondern auch als mit wirksamer Plan- 
wirtschaft unvereinbar nachzuweisen. Entsprechend ist die Ein- 
stellung H.s gegeniiber dem Verteilungsproblem : die Vergiitung nach 
Leistungs- und Knappheitsprinzip soil durch das mehr oder minder 
marktfeindliche Bedarfsprinzip eingeschrankt werden. H. halt daran 
fest, dafi Planwirtschaft auch die Versorgung zu regeln habe, versteht 
darunter aber nicht Warenrationierung, sondern Kaufkraftzuweisung. 
Die kapitalistische Antinomic, dafi erhebliche Einkommensdifferen- 
zierung und uberhaupt Besitzeinkommen als ungerecht empfunden 
werden, andererseits aber zur Kapitalbildung notwendig sind t kann 
nach H. nur in einer sozialistischen Planwirtschaft aufgehoben werden, 
in der von der Gesamtheit die Quoten von Kapitalbildung und Ver- 
brauchseinkommen festgelegt werden. Der wichtigste Beitrag der Auf- 
satzreihe durfte der dritte, „Wege zur Planwirtschaft*' betitelte, sein. 
H. zeigt an mehreren Beispielen die Gefahr, die in der Einfuhrung oder 
Begiinstigung „ sozialistischer" For men inmitten eines kapitalistischen 
Milieus, in der Verwechselung von Weg und Ziel liegt. Die Frage nach 
dem Wege zur Planwirtschaft wird aus einer wirtschaftspolitischen zu 
einer allgemeinpolitischen, zur Frage nach dem Wege zur politischen 
Macht, die die Grundlage einer einheitUchen Wirtschaftsf uhrung bildet, 
Damit stellt sich H. praktisch in eine Front mit Heimann und Landauer 
— trotz aller Dif ferenzen in der inhaltlichen Konzeption des Zielbildes, 
die zum guten Teil auf einer sehr unterschiedlichen Stellungnahme zu 
der vor allem von Mises vorgebrachten Kritik am Sozialismus beruhen. 

44. Tisch, Klare, Wirtachaftsrechnung und Verteilung im zentra- 
listisch organisierten sozialistischen Qemeinwesen. Bonner 
Dissertation, Wuppertal-Elberfeld 1932 

entwirft ein ahnliches Bild einer sozialistischen Wirtschaft, die nur 
einen Markt der Konsumgiiter kennt. Die „Preise" der Produktions- 



Sammelbesprechung: Planwirtschaft 399 

faktoren und Produktionsmittel sollen „auf dem Papier" nach den 
Prinzipien der Gleichgewichtstheorie ohne Zuhilfenahme des Marktes 
bestimmt werden. Im iibrigen enthalt die Dissertation eine Dar- 
stellung und Kritik der bieherigen Losungen des Problems der sozia- 
listischen Wirtschaftsrechnung und der Misesschen Kritik. 
Zum AbschluB seien vier Werke genannt, die dem Gedanken des Sozialis- 
mus und der Planwirtschaft kritisch gegeniiberstehen. 

45. MIses, tudwlg, Die Gemeinwirtschaft. U titer suchungen uber 
den Sozialismus. Zweite, umgearb. Auf I. Gustav Fischer. Jena 1932. 
(XIV u. 500 S.; br. RM. 18.—, geb. RM. 20.—) 

Diese Neu aufl age des bekannten Werkes, das bei seine m ersten 
Erscheinen der Theorie der Bozialistischen Wirtschaft zweifellos einen 
starken AnstoB gegeben hat, im iibrigen aber eher eine Darstellung 
des Liberalismus als des Sozialismus vermittelt, ist gegeniiber der 
ersten Fassung nur unwesentlich veraridert. Die neuere Auseinander- 
setzung iiber die Moglichkeit sozialistischer Wirtschaftsrechnung ist 
nicht mehr beriicksichtigt. 

46. Pohle, Lad wig, Kapitalismus und Sozialismus. 4. vollig neugest. 
u. wesentt. erw. AufL, a. d. Nachl. hrsg., bearb. u. erg. von Ge org Balm. 
Julius Springer. Berlin 1931. (IX U.316S.; br. RM. 6.60, geb. RM. 7.80) 

Das gegeniiber der dritten Auflage etwa auf den doppelten Um- 
fang erweiterte Werk wurde von Halm durch Abschnitte liber sozia- 
listische Wirtschaftsrechnung, das russische Experiment und das frei- 
gewerkschaftliche Programm einer „Wirtschaftsdemokratie" bereichert. 
Die Schrift ist ebenfalls von liberate m Standpunkt aus geschrieben. In 
der neuen Anordnung zeichnet ein erster Abschnitt die Grundlagen 
des ,, Kapitalismus", der zweite, bei weitem umfangreichste, beschaftigt 
sich mit der sozialistischen Kritik am Kapitalismus, der dritte endlich 
entwickelt das Wesen des Sozialismus aus den Prinzipien der Gleichheit 
und Sicherheit und schildert seine Hauptrichtungen. Die Verf. glauben 
eine zunehmende Entleerung des urspriinglichen Sozialismusbegriffes 
feststellen zu konnen. Hinsichtlich der Moglichkeit einer sozialistischen 
Wirtschaftsrechnung verharrt H, auf seinem bekannten kritischen 
Standpunkt. 

47. Gottl-Ottillenfeld, Frledrlch v., Der My thus der Planwirtschaft. 
Vom Wahn im W irtschaftsleben. Gustav Fischer. Jena 1932. 
(VII u. 114 S.; RM 5.—) 

Auf der Grundlage seiner gebildetheoretischen Anschauung vom 
Wirtschaftsleben entwickelt G. die grundsatzliche Einstellung der 
heutigen Wirtschaft auf marktmaBige „Selbstregelung", die jedoch in 
vielfaltigen, von G. analysierten Formen durch eine „Leitregelung" 
erganzt wird. In diesen partiellen zwangswirtschaftlichen Einbauten 
und Eingriffen sieht G. „ Planwirtschaft als Tatbeetand". Da von wird 
unterschieden „ Planwirtschaft als Programm" — die Forderung einer 
vernunftigeren planmafligen Ausrichtung der Wirtschaftepolitik — 
und endlich die „ Planwirtschaft als Wunschbild". Die damit gemeinte 



400 Gerhard Meyer, Sammelbesprechung : Planwirtschaft 

Zielsetzung wird zunachst als Forderung universaler Verwaltungs- 
wirtschaft gedeutet, als identisch mit dem Programm der „Vergesell- 
schaftung der Produktionsmitter' erwiesen und in vielen Richtungen 
scharf kritisiert. Konsumfreiheit, also Marktwirtschaft, halt G. mit 
totaler Planung fur unvereinbar. Besondera temperamentvoll rechnet 
G. ab mit dem Glauben an eine „ Evolution nach totaler Zwangswirt- 
schaft hin" und mit der Meinung, jedes Stiick partieller Planwirtschaft 
und Gemeinwirtschaft bedeute schon einen Schritt weiter zum sozia- 
listischen Endziel. 

48. Dobretsberger, Josef, Freie oder gebundene .Wirtschaftt Zu- 
sammenh&nge zwischen Konjunkturverlauf und Wirtschafts- 
form. Duncker & Humblot. Miinchen u. Leipzig 1932. (165 S.; 
. geb. BM. 9.—) 

D. sucht die Frage, ob eine zwangsiaufige Tendenz zu „gebundener 
Wirtschaft" (wozu er u. a. neben Monopolbildungen auch „Planwirt- 
schaft" rechnet) bestehe, auf eine neue Weise zu beantworten: die je- 
weiligen Wirtschaftsformen sind eine Funktion des Konjunkturverlaufs 
und wandeln sich mit diesem. Unter Konjunktur sind hier vor allem 
die „langen Wellen" zu verstehen, die durch das wechselnde Tempo 
der Bevolkerungsentwicklung, der Kapitalbildung und der technischen 
Fortschritte sowie durch das MaB der Marktausdehnung bestimmt sind, 
ohne d&Q diese Phanomene selbst naher analysiert werden. Je nach 
der Konjunkturlage verstarken sich die Tendenzen zur „freien** oder 
„gebundenen" Wirtschaft. Diese Tendenzen werden aber nach D. 
sofort ideologisch zu Idealsystemen ubersteigert. Unter diesem heu- 
ristischen Prinzip uritersucht er eine Reihe „neuer Tatsachen", u. a. 
auch die Plan wirtschafts tendenzen, den Bolschewismus (dessen neuere 
Entwicklung als endgiiltiger Beweis fiir die Unmoglichkeit der voll- 
sozialistischen Planwirtschaft genommen wird), die Klassenkampf- 
intensitat und die Funktion der Kartelle. Das Buch prophezeit 
fiir einen kommenden Aufschwung einen starken Riickgang aller 
Bindungstendenzen und der dazugeh6rigen Ideologien. Die geistreich 
verfochtene These erscheint zuweilen uberspitzt. Die Meinung, dafi 
die „Konjunkturen" unabwendbares Schicksal seien, wird trotz allem 
nicht als zwingend erwiesen. 

Immerhin diirfte Dobretsbergers Prognose fiir das nachste Jahrzehnt 
richtig sein und auch fiir die Planwirtschaftsdiskussion Geltung haben. 
Die gegenwartigen Auseinandersetzungen tiber Moglichkeiten und Grenzen 
kapitalistischer und sozialistischer Planwirtschaft haben jedoch zweifellos 
zu Erkenntnissen gefiihrt, die iiber die heutige Kriais hinaus ihre theo- 
retische und praktische Bedeutung behalten werden. 



Besprechungen. 

Philosophic. 

Jaspers, Karl, Philosophie. J. Springer, Berlin 1932. 

1. Band: Philosophische WeUorientierung. (XI u. 340 S.; geh. JRM. 8.80, 
geb. 10.60) — 2. Band: Existenzerhellung. (VI u. 441 S.; geh. RM. 11.40, 
geb. 13.20) — 3. Band: Metaphysilc. (VI u. 237 £.; geh. EM. 6.60, 
geb. 8.40) 

„Philosophie" schlechthin nennt Jaspers kurz und ein wenig anspruchs- 
voll sein Werk. „Philosophieren" ist der. Weg zur Ergreifung des Seins. 
Sein ist einmal Gegenstandliches, „In-der-Welt-sein", Philosophie „phiIo- 
sophische Weltorientierung", die auf die „Grenzprobleme** stofit, welche 
die Unmoglichkeit einer philosophisch befriedigenden Seinserfassung im 
Rahmen einer Philosophie als Weltorientierung zeigen. A He Weltbegriffe 
sind f aktisch Begrif f e von einzelnem Wirklichen, nicht von aller Wirklichkeit. 
Zwischen den einzelnen Spharen der Welt — Materie, Leben, Seele, Geist — 
liegen Spr tinge. Die gegenstandliche Welt ist Objekt fur ein aktiv auf sie 
gerichtetes Subjekt, sie setzt das Ich voraus, das sie zum blofien Objekt ge- 
macht hat, das andrerseits nicht von der Beziehung zum Objekt gelost 
werden kann. Der Betrachtung der gegenstandlichen Welt tritt gegeniiber 
die „Erhellung" der Ich„existenz" mit ihrer TJrsprungiichkeit, Freiheit, 
Entscheidung, ihrer absoluten Einmaligkeit und Geschichtlichkeit, ihrem 
„In-Kommunikation-treten" mit andern „Existenzen". Existenzer- 
hellung ist nicht Wissen vom Ich, Erfassen seines Wesens — solches ist 
unmoglich, hiefie das Ich zum Gegenstand machen — , sie lafit uns das Ich 
in seiner Freiheit als „moglich" zum Bewu fit sein kommen, schafft Raura 
fiir sein Eingreifen, bedeutet Appell an mich, „aus dem TJrsprung meiner 
selbst" zu handeln, in Kommunikation mit andern als freien Personen. 
Drittens ist Sein die „ absolute Wirklichkeit", nach der die Metaphysik 
fragt, das letzte „An-sich". Sie ist jenseits der Subjekt-Objektbeziehung 
stehend, transzendent; jeder Versuch, in den Kategorien und Inhalten 
der empirischen Welt eine metaphysische Wirklichkeit zu denken, f iihrt zu 
Tauschungen, aber wir vermogen „in der Immanenz des empirischen Da- 
seins und der Existenz Grenzen zu erfahren, an denen sie uns gegenwartig 
ist". Es gibt in der Existenz „Grenzsituationen"; die Einsicht in die Un- 
vermeidlichkeit von Kampf, Schuld, Leiden, Tod. In diesen Grenzsitua- 
t ion en, die wir unserm Bewufitsein verhullen, wenn wir die ,,Welt" als 
einziges Sein annehmen, „enthiillt sich uns die Fragwiirdigkeit des Seins 
der Welt und unseres Seins in ihr", aus ihnen steigt das unvermeidliche 
Fragen nach dem Transzendenten auf. Nur in einer Form konnen wir uns 
diesTranszendente zum Bewufitsein bringen: dadurch, dafi uns die Welt und 
unsere Existenz zu „Chiffren" werden; nicht zu Symbolen jedoch, deren 



402 Besprechungen 

Sinn wir vom Symbol abzulosen und fiir sich zu denken vermdchten, sondern 
deren Sinn fiir una nur in der „Transparenz" der Chiffre selbst da ist. Alles 
kann Chiffre fiir una werden, alle Metaphysik ist em „Chiffreleaen", aber 
die metaphysiachen Weltaapekte aind dann selbst wieder Chiffren, aozu- 
sagen zweiter Ordnung, und mussen als solche von una gelesen werden; 
sie gliedern sich in die allgemeine Geiateageschichte ein f die exiatentiell 
gesehen zu unserer eigenen Geachichte, in unsere „Exiatenz" aufgenommen, 
mit ihr in die Fragwurdigkeit dea geaamten Daseins — beatimmten Einzel- 
seins — gestellt, in das zu unserem Schicksal gehorige „Scheitern" hinein- 
gezogen wird. Dies Scheitern selbst aber iat aozusagen die letzte Chiffre, in 
der wir die Transzendenz erfassen: „Wahrheit ist, wo scheiternde Exiatenz 
die vieldeutige Sprache der Tranazendenz in die einfaltigate Seinsgewifiheit 
zu ubersetzen vermag." 

Jaspers Werk iat ein charakteristisches Beispiel fiir das die deutsche 
Philoaophie der Gegenwart auazeichnende Bestreben, uber den eigenen 
Schatten zu springen, etwaa in Worten auszudriicken, von dem in demselben 
Atemzug gesagt wird, dafi es nicht ausdriickbar ist, und aus der XTnmoglich- 
keit der Metaphysiken eine Metaphysik zu machen. Aber eine Metaphysik, 
die nicht in Begriffen, in Worten fixierbaren Sinnes gedacht, sondern in 
Symbolen, in Sinnbildern erlebt wird. Schon die Worte, in denen die 
„ExistenzerheUung" vollzogen wird, bezeichnen nicht etwas, sondern 
appellieren, wecken zu einem Handeln, zu einem Tun; die Worte der Meta- 
physik dea Transzendenten sind „Chiffren" ohne abldsbaren Sinn, die 
aozusagen jene Weckrufe der Exiatenzerhellung in einer Grundmelodie 
verfestigen. Die Grenzen zwiachen Philoaophie und Dichtung verschwimmen, 
Dichtung nicht im Sinne eines dichtenden Spiels mit Begriffen, sondern 
eines Stimmungaauadrucka in Gedanken. SchlieBlich steckt hinter Jaspers 
Philosophie eine bestimmte, in sich konsequente, fiir unsere Zeit charakte- 
ristische Grundhaltung eines philoaophierenden Menschen sich selbst und 
der Welt gegeniiber — eine, nicht die Philoaophie — , ein bestimmtes 
Grundethos. Roh urns chrie ben ist es das Ethos eines Menschen, der aus der 
Belativierung aller Wertungen und Wahrheiten, aus der Unerfindlichkeit 
eines letzten objektiv und allgemeingiiltig verbindlichen Ziels und anderer- 
eeits der Unmoglichkeit einer fatalistiseh hinzunehmenden Notwendigkeit 
alles Geschehens, angesichts der Fragwurdigkeit alles objektiv Seienden 
und des Mangels einer einsichtig und fiir alle giiltigen Richtschnur, Ruhe 
findet in dem freiwilligen Ergreifen, dem Wo lien des Schicksals, in das 
er geworfen ist. Die „Treue" gegen diea Gegebene und zugleich Gewollte 
wird ihm Substanz des eigenen Seins, in ihr handelt er zugleich ganz aus der 
augenblicklichen Situation, fiigt aich alao in sie, in sein geschichtliches Sein 
an seiner Zeitstelle restlos ein, ganz und gar „frei", „unbedingt" aus sich 
selbst; als Werkzeug der Zeit und der Geschichte und als freie Personlichkeit. 
Jaspers Grundhaltung beruhrt sich hier mit andern, neb en Heidegger ware 
der „Kairo9"-Kreis zu nennen. 

J. war bekanntlich urspriinglich Arzt. Die besten Abschnitte seines 
Buches sind m. E, die, in denen er die arzt lie he Situation als Beispiel heran- 
zieht und psychologisch analysiert, die Situation des modernen Arztes, der 
es ablehnt, vor dem Kranken und sich selbst den lieben Gott zu spielen. 



Philosophie 403 

tfberhaupt ist Situationspsychologie die eigentliche Starke Jaspers, als 
Situationspsychologie mochte ich auch seine Philosophie verstehen — und 
in diesem Sinn als Beispiel fur eine kiinftige „ Psychologic der Weltan- 
schauungen". Ernst v. Aster (GieBen). 

Spann, Othmar, Geachicktsphilosophie. Gustav Fischer. Jena 1932. 

(XV u. 456 S.; RM.15.—; geb. MM. 16.30) 

Es ist die ausdruckliche Absicht dieses Buches, ein „inneres Verhaltnis 
zum Geiste" wiederherzustellen, welches dem modernen Menschen durch 
die Schuld von allerlei damonischen Gewalten weithin verloren sei. Bei 
so eindeutigem Bediirfnis nach Restauration ist es nicht anders moglich, 
als daB dieser restaurierte Geist nicht in Vollzug und Anwendung, sondern 
in gleichsam gotzenhafter Isolierung, wenn auch als Lehre (vom Wesen 
der Geschichte) errichtet und vorgefiihrt wird. Solcher Geist hat keine 
Aufgabe und ist nicht Aufgabe, nicht der Auflosung oder Austreibung 
der Damonen und nicht der realen Befreiung. Weit entfernt, durch Geist 
angegriffen zu werden, kommen die Damonen vielmehr geradezu in der 
hier entwickelten geschichtsphilosophischen „Kategorienlehre' < vor und 
sind dort unter dem deutschen Namen „Unholde", den „Fuhrern (i als 
„Helden und Heiligen" entgegengesetzt, eigens festgehalten und bestatigt. 
In einem Zuge ist so das Element, das von je den widerspenstigen Motor 
alles logisch-kategorialen Ordnens ausmachte, in die Ordnung mit auf- 
genommen — und diese Ordnung selbst ihrer Kraft und Mdglichkeit, 
Realitat zu befassen, beraubt. Schon dies ist Symptom dafur, d&Q eine 
derartige Kategorienlehre (welche im Buch zwischen „Vorfragen" und 
„Metaphysik*' das Kernstuck bildet) nicht viel mehr ist als ein Arsenal von 
Etiketten, die beliebigen geschichtlichen Vorgangen und Gegenstanden 
Aufgeklebt werden k6nnen. Bestimmte historische Namen und Szenen 
werden denn in der Tat als blofle „Beispiele" fur die oder jene Kategorie 
genannt: es gibt Beispiele fur „Unholde" (etwa Rousseau, Danton, Locke, 
Marx, Darwin, Freud), fur „unholdische Spannungen" (etwa als „staatliche 
Entartungen": „Demokratie vom Altertum bis heute", „RevoIutionen 
des tTntermenschentums", darunter auch 1789), es gibt sogar an einer Stelle 
«in durchgefiihrtes Exempel dafiir, wie durch eine gewisse Kunst der 
^Combination und Permutation die kategorialen Grundbegriffe so zur 
Serie verkniipft werden konnen, daB sie auf die abendlandische Staaten- 
geschichte sich anwenden lassen. Sie beginnt danaoh mit der „Urgrundung" 
des karolingischen Lehensstaats und endigt unterZiffer7 mit der „heilenden 
Neugriindung" durch „standische Organisation des Lebens", wozu der 
Faschismus Mussolinis die einzige bisherige Annaherung sei. Mit ein laden der 
Vorsicht fiigt der Autor, den Beispielcharakter der Realitat nurnoch ver- 
•deutlichend, sogleich hinzu: „Wer mit den Beispielen nicht ein verstanden 
ist, braucht darum die Kategorien als solche noch nicht zu verwerfen." — 
Dies Verhaltnis beliebiger Subsumtion von diesem und jenem „in" der 
Geschichte unter die obendrein noch permutablen „Kategorien" straft 
in seiner Zufalligkeit den Wortlaut der Kategorien unaufhorlich Liigen. 
Ebon darum die gewaltsam apodiktische Form einer schlicht mitteilbaren 
,, Lehre'* und numerierter „Lehrsatze" ! Aus alledem ist deutlich, dafi 



404 Besprechungen 

„Sinn" hier weder praktisch gewollt noch metaphysisch erdeutet, sondern 
nicht anders wie ein Fetisch blofi aufgestellt und ausgeschrien wird. Der 
Kampf gegen Kausalitat und Fortschritt, der hier auf jeder Seite angesagt 
wird, vermag sich um so weniger durch Argumente zu stiitzen, je mehr 
,,der Geist" sich in ein Ding zusammenzieht. So lesen wir's drastisch in dem 
Satze: „Der Geist ist etwas so Kostbares, daB er nur selten in der Natur 
anzutreffen ist." Oder — mit einer Wendung, die dem „Empirismus" der 
Okkultisten genau gleichkommt — : „Solche Wunder des Geistes sind in 
der Geschichte mit Handen zu greifen". 

Dieses Stadium philosophischer Ohnmacht, gewollter Ohnmacht des 
Menschen, hat einen Zustand mit best immen helfen, der allerdings gegen - 
wartig mit Handen zu greifen ist. Dolf Sternberger (Heidelberg). 

Gogarten, Friedrich, Politische Ethih. Versuch einer Qrundlegung. 
Bugen Diederichs. Jena 1932. (220 S.; RM. 4.20, geb. 6.40) 
Gogarten unterscheidet in seinem neuen Buch, das sich ebenso gegen 
den politischen Liberalismus wie gegen die Hberale Theologie richtet, 
zwischen zwei Forderungen verschiedenen Rangs. Der „Du-sollst-Sinn" 
der ethischen Forderung, der das „unaufhebbare Bosesein des Menschen" 
aufdeckt, richtet sich nicht eigentlich auf das Handeln des Menschen, 
sondern auf ihn in seinem Sein. Das Bose konnen gute Taten nicht uber- 
winden. Dafi es uberwindbar sei, meint derjenige, der im Sinne des „Man- 
tut-das-und-das" fordert, damit also die ethische Forderung an die Be- 
dingung knupft, der Angesprochene bekenne sich zu dem Kreise des „man". 
Das Gute, welches dem (bosen) Menschen allein zuganglich ist, geschieht 
im Staat, der — eine aufiere Ordnung im Chaos — den Menschen vor 
den zerstorerischen Gewalten des Menschen schutzt. Daher haben ethische 
Forderungen im „Man-tut-das-und-das"- Sinne ethische Qualitat nur dann, 
wenn sie die ,,Du-sollst-Forderung (t nicht verdecken, sondern offenhalten; 
sie haben sie also, wenn das ,,man t( den Staat reprasentiert und so die an 
.sich ethisch neutralen „Man-tut-das-und-das ( '-Forderungen auf die Er- 
haltung der Ordnung gerichtet sind. — G.s politische Ethik stiitzt sich auf 
Luthers Theologie und Staatslehre. Hire theologische und theologie* 
geschichtliche Bedeutung steht hier nicht in Frage. Was aber das Politische 
dieser Ethik betrifft, ist zu erwidern, daB sich von G. aus keine konkrete 
Ant wort auf die Frage ergibt, die zwar protestantische Theologen sehr 
selten, Millionen Menschen aber, die nicht mehr auf sie horen, sehr laut 
erheben ; wie sie innerhalb einer Ordnung leben sollen, iiber deren Prinzipien 
Gott die machtigsten Interessenten entscheiden laBt. Obwohl es zu dem 
bezwingenden Ernst, mit dem G. seine Gedanken entwickelt, in Widerspruch 
steht, dafl er Darstellung und Kritik des Marxismus aus gelegentlichen Bemer- 
kungen C. Schmitts und einigen Aufsatzen de Mans bedenkenlos iibernimmt, 
sei darauf hingewiesen, dafi diese politische Theologie durch eine Welt 
von den Elaboraten Stapels getrennt ist. Hans Speier (Berlin). 

Frank, Phllipp, Das Kausalgesetz und seine Orenzen. Julius Springer.. 

Wien 1932. (XV u. 308 S.; br. RM. 18.60) 

Dieses Werk gibt eine zugleich wissenschaftlich strenge und gemein- 
verstandliche klarende Ubersicht iiber die Konsequenzen, die sich mit- 



Philosophic 405 

Bezug auf den Sinn und die Anwendbarkeit des Kausalgesetzes aus der 
neuesten Entwicklung der Physik, besonders seit der Quanten- und Wellen- 
mechanik und dem ttbergang von der dynamischen zur statistischen 
GesetzmaBigkeit ergeben haben. Im Gegensatz zu den heute in weiteren 
wissenschaftlichen Kreisen vorherrschenden Erwartungen besteht die 
Bedeutung dieser Entwicklung nach der Darstellung F.s nicht in einer 
nunmehr auch auf dem Gebiet der theoretischen Physik vollzogenen Ab- 
wendung von der Strenge der „ mechanist ischen" Kausalitat und Zuwen- 
dung zu solchen „organischen" bzw. schon direkt animistischen Vor- 
stellungen wie „Ganzheit", ,,Plan", „Zweck", „Willensfreiheit", „Atom- 
seele" u. dgl. m. Vielmehr handelt es sich lediglich una die prinzipiell auch 
schon friiher gegebene, durch die neueste Entwicklung aber aktualisierte 
Notwendigkeit einer solchen Formulierung des Kausalgesetzes, durch 
welche dieses einerseits von alien metaphysischen und philosophisch 
apriorischen Sinnlosigkeiten gereinigt, andrerseits aus einer blofien all- 
gemeinen Tautologie immer mehr in besondere, erfahrungsmafiig ent- 
scheidbare Wirklichkeitsaussagen umgewandelt wird. 

Man sieht, das Programm dieses streitbaren Positivisten besteht keines- 
wegs in einer sog. ,,t)berwindung des mechanischen Materialismus". 
F. erklart, daB an dem Leninschen Kampf gegen die philosophierenden 
Machisten ,,vom Standpunkt einer Soziologie der wissenschaftlichen 
Theorien aus vieles richtig" gewesen sei. Auch gegeniiber den antiposi- 
tivistischen Tendenzen des heute im marxistischen Lager vertretenen 
,, Materialismus" nimmt F. nicht dieselbe ablehnende Stellung ein wie 
gegeniiber den verschiedenen metaphysischen Stromungen in der gegen- 
wartigen Philosophie und Wissenschaft. Er widmet fast in jedem Kapitel 
seines Buches einige Abschnitte solchen Fragen wie dem „ Kampf gegen 
die Philosophie in SowjetruBland", dem „Dialektischen Materialismus", 
der „Rolle von Kausalitat und Zufall in der materialistischen Geschichts- 
auffassung". In all diesen Auseinandersetzungen zeigt er sich bemiiht, 
die gemeinsame fortschrittliche Grundtendenz des positivistisch-ma- 
chistischen und des dialektisch- marxistischen Materialismus herauszu- 
arbeiten. Karl Korsch (Berlin). 

Schaxel, Julias, Das Weltbild der Qegenwart und seine gesellschaft- 
lichen Grundiagen. Urania-Freidenker-Verlag. Jena 1932. (79 S.; 
RM. 1.-W, geb. IM) 

Diese Streitschrift eines wirklich „frei denkenden" modernen Natur- 
forschers erscheint als eine bewufite Antithese gegeniiber solchen weit 
verbreiteten Publikationen uber das naturwissenschaftliche „Weltbild" wie 
dem bekannten Buch von Bavink oder dem kollektiven Werk von Grote, 
Hartmann u. a., die nicht nur tatsachlich ihrem Inhalt nach, sondern auch 
ganz bewuBt nach der Absicht ihrer Herausgeber den Zweck verfolgen, 
auf den „krassen Materialismus" der vergangenen Periode mit einer 
„kraftigen Reaktion" einzusetzen. Da es naturlich unmoglich ist, auf 
jeweils 10 — 20 Seiten solche groBen Bereiche wie die seit der Jahrhundert- 
wende immer mehr verscharfte „Krise der Wissenschaft", das Verhaltnis 
von „Wirtschaft und Wissenschaft", von „Kapitalismus und Natur- 



406 Besprechungen 

wissenschaft", proletariat und Gesellschaftswissenschaft", „Sozialismus 
und Planwissenschaft", auch nur in den Hauptzttgen vollstandig zu be- 
waltigen, so beschrankt sich Sch. in den 5 Teilen seiner „Hauptdarstellung" 
mit Recht auf ein „Gerippe" mit nur gelegentlicher ausfuhrlicher Behand- 
lung wichtiger Einzelheiten. Er erganzt aber dieses Gerippe durch einen 
„Anhang" von 10 eng gedruckten Seiten, angefullt mit auBerst wert- 
vollen und inhaltsreichen Hinweisen auf das Schrifttum, treffend ausge- 
wahlten eharakteristisohen Zitaten und einer kritischen Kennzeichnung 
der Zusammenhange. Er bemerkt mit Grund, dafi der Leser, der diesem 
„Wegweiser" zu folgen vermag, „gegenstandliche Fiille und hochsteAktu- 
alitat" finden wird. Der „rote Faden" in der Hauptdarstellung wie im 
Anhang wird gebildet durch die Anwendung des historischen Materialismus 
von Marx, Engels, Lenin auf die Ausbildung des heutigen wissenschaft- 
lichen „Weltbildes", seine gesellschaftlichen Grenzen und die Durch- 
brechung dieser Grenzen durch die bewufit gesellschaftliche und plan- 
raafiige sozialistische Erkenntnis der Arbeiterklasse. 

Karl Korsch (Berlin). 

Conn, Jonas, Wertwissenschaft. Erater Teil: Axiotik, Zweiter Teil: 
Systematic. F.Frommann. Stuttgart 1932. (XVI u. 420 S.; RM. 5.80) 
Philosophie der „ Werte" tritt ausdriicklich erst im 19. Jahrhundert 
auf, ist ein Produkt des 19. Jahrhunderts. Hermann Cohens praziser Satz, 
der Wert sei „die Kategorie des Verkehrs", deckt die meist und auch im 
vorliegenden Werke verschwiegene Grundlage solchen Philosophierens auf, 
Verkehr und Tausch, obwohl weder als Faktum noch als Problem ausdriick- 
lich hier behandelt, ermoglichen doch allein sowohl jene Aufteilung der 
Welt in „Kulturgebiete" und ihre Nivellierung unter dem Aspekt einer 
immer wiederkehrenden gleichen Struktur von Wert,Werthaltung und Wert- 
bezug iiberhaupt, wie auch jene Versammlung der Geschichte in ein syste- 
matisches Pantheon der Werte, welche in der Theorie des „Verstehens" 
sich die erkenntnistheoretische Rechtfertigung geschaffen hat. Wenn auch 
die „Systematik" der Cohnschen Wertwissenschaft die Werte selber als 
ein uberaus kompliziertes Gebaude von einander fundierenden, immer hQher 
aufsteigenden Stufen (mit den Namen ihrer jeweiligen „Wertzentren" — • 
oder Subjekte — benannt als ^Leben", „Erleben", „Selbst", „ Person", 
„Gemeinschaft", „Geist") sinnreich verkniipft und entfaltet, so ist dieser 
Bau doch insofern durchaus unhegelianisch, als „jede Stufe ihren Eigen- 
wert" behalt oder als, anders ausgedrtickt, die Zeit wie auch die bestimmten 
geschichtlichen Orte ganzlich eliminiert sind. Die Architektur durchkreuzt 
und umfangt nur ein zunachst planes Nebeneinander von „Kulturgebieten", 
das eingestandenermaBen den Ausgangsstoff der Wertforschung und ins- 
besondere der „ Axiotik" (Analyse der Wertstruktur als solcher) bildet. Und 
sie tut auf diese Art dem mystisch-idealistischen BedUrfnis Gentige, Hoff- 
nung auf Erlosung (im theologischen und also zeitlichen Verstande) in 
einen einzigen simultanen Raum, eben als Stufen gebaude, einzufangen 
und zu barmen, Vor aller AusfUhrung ist denn die Gefahr der Negation 
von „Kultur" und Wert iiberhaupt (am Exempel Rousseaus und Buddhas) 
durch einen ganzlich in abstracto bleibenden t5l>errumpelungsbeweis 



Philosophie 407 

(S. 101, 104) aus dem Wege geraumt und so der Name „Kultur" — durchaus 
in konservativer Defensive — als Garantie der Positivitat aller Werte gerettet 
worden. Die Wirkung der „Dialektik u (welche die Eigentiimhchkeit dieser 
Wertlehre ausmacht gegeniiber friiheren entweder psychologisch-prag- 
matisch oder phanomenologisch -material begriindeten Systemen) besteht 
wesentlich in der Entfaltung jener Stufen als reflexiv selbstandiger Ganz- 
heiten, eigentiimlich schwebender Gebilde, welche die Werte aus der ding- 
haften Verfassung in die Bewegung des „Akts" zurticknehmen sollen, 
tatsachlich aber wohl eher dem wirklichen Menschen ein genuBreiches 
Gefangnis bereiten helfen. — Es darf aber auch im kurzen Referat nicht 
ausgelassen werden, dafl hier der Geist, der „Sinn t( und die Wertbeziige 
nicht mehr allmachtig sind: daB es in diesem Werke, worin die Arbeit 
eines Lebens niedergelegt ist, die eigentlich groBartigen Satze sind, in 
welchen gerade die Grenzen des Sinnverstehens erortert werden und an 
denen somit die Kultur zum Stiickwerk wird vor der „Unverstandlichkeit 
alles dessen, wovon wir abhangen" (411). Die Religion als „Idee eines 
allumfassenden Sinnganzen", welche doch zugleich die Fremdheit Gottes 
und der Welt als Natur mit enthalt, macht so den BeschluB der Wert- 
systematik, ohne sie aber metaphysisch abzuschlieBen. 

Dolf Sternberger (Heidelberg). 

Croce, Benedetto, Tre saggi filosofici. (Drei philosophi&che Essays.) 

Libreria Cuni. Palermo 2932. (69 S.; 8 L) 

Im ersten Essay handelt Croce von der JLsthetik und der Volkswirtschaft 
als den beiden Wissenschaften, deren Betonung das Geist esleben der Neu- 
zeit von dem des Mittelalters unterscheide. Die weltliche Natur der beiden 
neuen Wissenschaften sei weder den am Alten hangenden noch den zum 
Neuen strebenden Geistern zum Bewufltsein gekommen, und doch voll- 
ziehe sich in beiden die Versdhnung von Sinnlichkeit und Geist igkeit, 
von Natur und Geist. Sie seien die modernen Wissenschaften par ex- 
cellence. Unter dem Titel „ Philosophie als moralisches Leben und mora- 
lisches Leben als Philosophie" fuhrt C. im zweiten Essay aus, dafi die 
Unterscheidung zwischen philosophischem und nichtphilosophischem 
Denken nicht logischer, sondern psychologischer Art sei. Philosophie 
ist das Bedurfnis nach Zusammenhang und Ubereinstimmung — cohae- 
rentia — t das bei den verschiedenen Menschen verschieden weit reicht 
und bei einigen ganz fehlt. Im praktischen Verhalten bezeichnen wir 
einen. hohen Grad dieser cohaerentia als Charakter, ihr Fehlen als Charakter- 
losigkeit. Aber das philosophische Bedurfnis nach Zusammenhang und 
tft>ereinstimmung hangt mit dem sittlichen Bedurfnis nach beidem, dem 
Charakter, zusammen. Erkenntnis setzt sittliche Bereitschaft fiir die Wahr- 
heit voraus. Echte Philosophie mufl man leben. — Im dritten Essay — 
„Gnade und freier Wille" — beleuchtet C die Tatsache, daB sich in der 
Einheit des geistigen Lebens das menschliche Handeln verschieden dar- 
is tell t : vom theoretischen Standpunkt als notwendig, ohne Schuld und Ver- 
dienst, vom praktischen als freie Tat, fiir die man sich verantwortlich 
fuhlt. C. fragt sich, „ob der jahrhundertelange Kampf der Theologen liber 
Gnade und freien Willen sich nicht durchsichtiger und einfacher darstellen 



408 Besprechungen 

lieBe, wenn man ihn auf einen ZusammenstoB oder eine Verwechslung 
zwischen dem theoretischen und geschichtlichen Standpunkt und dem 
praktischen und moralischen zuruckfiihre. Man konne sagen, dafi wir 
uns beim Denken der Geschichte immer auf den Standpunkt der Gnade 
und Vorsehung und der Rechtfertigung durch den Glauben stellen und 
beim Machen der Geschichte, also im Gestalten des praktischen Lebens, 
auf den des freien Willens, der Verantwortlichkeit und der Rechtfertigung 
durch die Werke". Oda Olberg (Wien). 

Weber, Heinrich und Peter Tischleder, Handbuch der Sozialethik. Erster 

Band. Wirtschaftsethik. S.O.Baedeker. Essen 1931. (XXXVI u. 556 S.; 

geb. RM. 16.—) 

Die erste systematische katholische Wirtschaftsethik. Sie will das 
wirtschaftliche Handeln den scholastischen Moralgesetzen unterwerfen. 
Der merkwurdige Versuch ruht auf der doppelten Voraussetzung :. daB 
erstens die bestehende kapitalistische Wirtschaftsordnung in ihren oko- 
nomisch-rechtlichen Grundlagen ethisch indifferent sei ; dafi zweitens die 
aus der mittelalterlichen Scholastik tradierten Moralprinzipien „unwandel- 
bare" Geltung hatten und auf jedwede historische Sozialverfassung ange- 
wandt werden konnten. 

Von der bisherigen sozial- und wirtschaftsethischen Literatur des 
Katholizismus hebt sich das Werk dadurch bemerkenswert ab, daB in 
ihm eine grundliche Kenntnis des kapitalistischen Funktionsmechanismus 
verarbeitet ist. Die Verfasser — ein Nationalokonom und ein Moral- 
theologe — bemuhen sich, an den tatsachlichen, okonomisch vorge- 
schriebenen Funktionen der Kapitalgeber, Unternehmer, Borsenspeku- 
lanten, Handler und Arbeiter die Anwendbarkeit ihrer ethischen Prinzipien 
nachzuweisen. Der Erfolg ist allerdings weniger eine sittliche Normierung 
als eine moralische Legalisierung der kapitalistischen Wirtschaft. Sie 
wird unterstiitzt durch eine scharfe, polemisch-heftige Kritik des Sozialis- 
mus, die keine neuen und iiberzeugenden Argumente enthalt. 

Heinrich Mertens (Frankfurt a. M.). 

Bonnecase, J., Philosophic de Vimp6rialisme et science du droit* 

Delmas. Bordeaux 1932. (290 S.; 40 Frs.) 

Aus dem ersten kritischen Teile ergeben sich dem Verf. vier „Grund- 
begriffe" fur die Philosophic des Imperialismus: es seien nach Ernest 
Seilliere zunachst der ,»wesenhafte Imperialismus im Lebewesen'% dann die 
„Mystik", drittens die „Romantik", endlich die „Vernunft" im Gegen- 
satz zum Instinkt oder zum Geftihl. Die Vernunft schaffe und baue kraft 
Willens und Begriffs, das Gefiihl ahme nach kraft „egotisme pathologique, 
mysticisme conqu6rant, velleite et terminologie rationnelles". 

Der zweite Teil will die gewonnenen Begriffe auf die Rechtswissenschaft 
anwenden, aber erst durch Heranziehung zweier weiterer Postulate, die sich 
aus der Antithese ^rational-irrational" ergeben. Z. B. gilt dem Verf. der 
juridische Imperialismus rational als Privatrecht, irrational als Staats- 
und internationales Recht. Der imperialistische Juridismus zeitigt 
demnach mit seiner „dreifachen Mystik der Basse, der Klasse und des 



Philosophie 409 

Individuums" ein rassenhaftes Internationales Recht, aber kein klassen- 
haftes Staatsrecht, weil dieses sich auf ein Privatrecht reduziere. Ein 
offenbarer Widerspruch! Denn wie kann man einen „Begriff" rationali- 
sieren ? EntWeder sind ,,Mystik" und „Romantik" rationale Begriffe und 
dann nicht rationalisierungsbediirftig. Oder sie sind keine Begriffe und 
mijssen aus der Rechtswissenschaft ausscheiden. Gerade wenn man damit 
einverstanden ist, da6 der Rechtsbegriff „un point fixe au milieu du tour- 
billon social" sein musse, bleibt die Behauptung unverstandlich, daB die 
Rechtswissenschaft von der Rechtsphilosophie „nicht zu trennen" sei. 
Verf. gerat eben in die Klemme, die er bei den Gegnern von rechts (Hauriou 
und Renard) und von links (Duguit und Lacroix) zu beseitigen sucht: die 
Verwechslung von wissenschaftlichem Begriff und philosophischem Postulat 
zwingt ihn zur willkiirlichen Reduzierung der Sozialwissenschaft auf die 
Rechtswissenschaft* M. Tazerout (La Roche, Yon). 

Marcuse, Herbert, Hegels Ontologie und die Grundlegung einer 
Theorie der Geschichtlichkeit. Vittorio Klostermann. Frankfurter. M. 
1932, (367 JS.; RM. 15.—) 

Marcuses TJnternehmen, gerichtet auf den system -tragenden „Seinsent- 
wurf" Hegels, wirdgefordert durchdessen eigene philosophische Vorgeschichte. 
Seit Diltheys Forschungen und der Nohlschen Ausgabe der theologischen 
Jugendschriffcen ist kein Zweifel an der Prioritat des Lebensbegriffes bei 
Hegel als des zugleich einheitlichen und sich entzweienden, daran die . 
dialektische Umdeutung der Kantischen Subjekt-Objekt-Problematik erst 
als systematische Auspragung der philosophischen Grunderfahrung sich 
anschlieBt. M. nun sucht diesen Lebensbegriff herauszulosen aus dem Bereich 
von Faktizitat, in welchem er gewonnen ist, und als „Sinn** nicht sowohl 
des Seienden als von Sein selbst zu erfassen, der als reine Moglichkeit 
aller Faktizitat vorgeordnet, ob auch not wen dig auf existierendes Seiendes 
verwiesen ist. „Der Grundsinn von Sein, der den Ansatz des Seinsbe- 
griffes bestimmt, ist die ursprungliche Ein he it der Gegensatze von ,Sub- 

jektivitat* und,Objektivitat' IndemdieseEinheit von Hegel als einigende 

Einheit gefafit und als das Geschehen des Seienden selbst begriffen wird, 
wird die Bewegtheit als Grundcharakter des Seins erkannt" (S. 5); 
darum Hegel nicht mehr wie ublich auf den bereits verdinglichten, f aktischen 
„Geist" interpretiert, wie er die spaten materialen Systemausfuhrungen 
beherrscht, sondern auf den „vollen Seinsbegriff des Lebens" (S. 7). 
Als dessen „eigentlichstes Sein" wird verstanden „das begreifende Sein: 
der ,Begriff" (S. 6); „wissende Bewegtheit**. — Das Buch gliedert sich 
in die ontologische Interpretation von Sein als wissender Bewegtheit und 
den Fundierungsversuch einer existentialen Theorie der „ Geschichtlichkeit". 
Diese mdchte schlieBIich die Verwandlung der ontologischen Ausgangsfragen 
Hegels in Deutungen der Faktizitat nicht bloft bezeichnen, sondern aus 
der Problematikder „PhanomenoIogie" verstandlich machen : als „Verwandlung 
des Lebensbegriff s in den Seinsbegriff des Geistes** und als „ Verwandlung 
der wissenden Bewegtheit in die Bewegtheit des absoluten Wissens". 
Damit scheint M. von Heideggers publiker Lehrmeinung, die er sonst mit der 
Strenge des Schulers vertritt, entscheidend abzuweichen: er tendiert vom 



410 Besprechungen 

„Sinn von Sein" zur I£rschlieBung des Seienden; von Fundamentalontologie 
zur Geschichtsphilosophie ; von Geschichtlichkeit zur Geschichte. Dasmacht 
die Bedeutung des Werkes aus und eroffnet es zugleich der Kritik. Wenn M. 
so weit geht, nicht sowohl mehr bloB die Moglichkeit des Faktischseins 
ontologisch auszulegen als vielmehr die Moglichkeit der Auslegung faktischen 
Seine aus der ontologischen Struktur herzuleiten, ware konsequent zu er- 
wagen: warum iiberhaupt philosophisch die „ontologische" Frage der In- 
terpretation der realen geschichtlichen Fakten noch vorausgeht, wahrend 
doch M. den Bruch zwischen Faktizitat und Ontologie schliefien mochte. 
1st die konstitutive „Ganzheit" selber vorfaktische, ontologisohe Grund- 
struktur oder weist sie auf historisch bestimmte Faktizitat zuriick: das 
gleiche „Subjekt", in dem M. nicht umsonst das „eigentlichste Sein" der 
Hegelschen Bewegtheit sieht ? Dann schliige die Frage nach dem Hegelschen 
Sinn von Sein als Moglichkeit um in die nach dem Sinn von Subjektivitat 
als Wirklichkeit. Und hat nicht gerade die „Ganzheit" des Hegelschen 
Entwurfs als eine des „ Systems" den geschichtlich-faktischen Anspruch 
absoluter Subjektivitat zur Voraussetzung ? Deutet nicht der Fundierungs- 
anspruch der neuen Ontologie eben als Anspruch auf „Ganzheit" seinem 
Wahrheitsgehalt nach zuriick auf den Idealismus und damit einen 
innergeschichtlichen, auf bestimmte Pragmatik bezogenen philosophischen 
„Standpunkt"? 

Theodor Wiesengrund-Adorno (Frankfurt a. M.). 

Nitzschke, Heinz, Die Geschichtsphilosophie Lorenz von Steins. Ein 

Beitrag zur Qeistesgeschichte des 19. Jahrhunderts. R. Oldenbourg. 

Miinchen «. Berlin 1932. (145 S.; MM. 6.—) 

Die Leipziger Dissertation aus der Freyer-Schule gibt eine systematische 
Darstellung der Geschichtsphilosophie von Lorenz von Stein, der neben 
Marx mit Reeht der Begriinder der deutschen Soziologie genannt wird. 
Fern einer gegenwartig verbreiteten Formalsoziologie ist seine Gesellschafts- 
wissenschaft gleichzeitig universale Geschichtsphilosophie. Dies zeigt 
deutlich N. in seinem Hauptteil iiber die materielle Geschichtsphilosophie 
bei Stein, die nach Troeltschs Schematik im AnschluB an seine formale 
Geschichtslogik ausfuhrlich behandelt wird. Der Verf. untersucht u. a. 
Steins philosophische Anthropologic, seine Philosophie der Arbeit, die 
historischen Triebkrafte (Geschichte als „Bewegung der Interessen"), die 
Gesetze der Geschichte, Geschichte und Gesellschaft, Geschichte und Staat. 
Vor allem die Analyse der Realisierung der geschichtlich-gesellschaftlichen 
Neuordnung bei Stein beleuchtet sein eigentiimliches Schwanken zwischen 
Realismus und Idealismus. In einem zweiten Teil wird die geistesgeschicht- 
liche Stellung und die innere Entwicklung Steins untersucht, wofiir N. 
drei $pochen feststellt (bis 1841 Hegel -Einflufi, bis 1861 Einwirkung des 
positivistischen Westens, schlieBlich Annaherung an romantisch-konser- 
vative Denkhaltung). 

N. fiihrt iiber Griinfelds bisher beste Analyse von Personlichkeit und 
Werk Lorenz von Steins ein gutes Stuck hinaus und gibt eine wertvolle 
Grundlegung einer geistesgeschichtlichen Biographie. Die gewissenhafte 
und umsichtige Studie gewinnt darttber hinaus Bedeutung dadurch, dafi 



Philosophie 411 

sie in der Analyse des markantesten geschiohtsphilosophischen Soziologen 
einen fruchtbaren Beitrag gibt fur die in der gegenwartigen wissenschaft- 
Iichen Diskussion zentrale Problematik von Geschichte und Soziologie und 
damit von dem Grundcharakter der Soziologie iiberhaupt. 

Sigmund Neumann (Berlin). 

Suranyi- linger, Theo, Geschichte der Wirtschaftsphilosophie. Junker 

<fc Diinnhaupt. Berlin 1931. (70 S.; RM. 3.60) 

Das nur 70 Seiten starke Heft bespricht liber 200 Autoren. Eine gewisse 
Oberflachlichkeit in der Behandlung seines Stoffes wird man dem Verf. 
daher nachsehen mtissen. Er kntipft seine Untersuchung uber die Wechsel- 
wirkungen zwischen Philosophie und Wirtschaftstheorie an den Entwick- 
lungsgang der Volkswirtschaftslehre selbst an. Hierdurch werden die wenigen, 
aber sachlich iiberaus wichtigen Forscher beiseite gelassen, die das Gebiet 
der Wirtschaftsphilosophie von philosophischer Seite her bearbeitet haben. 
Ich erwahne hier Scheler, Gorland, Kroner, Lukacs u. a. Aufierdem ist 
es — entgegen der Auffassung des Autors — fur jegliche Erorterung wirt- 
schaftsphilosophischer Probleme entscheidend wichtig, zwischen der per- 
sonlichen Philosophie der Okonomen und den philosophischen Grundlagen 
der okonomischen Systeme scharf zu unterscheiden. 

Franz Meyer (Breslau). 

Mehring, Franz, Zur Geschichte der Philosophic. Mit Einleitung und 

Anhang von August Thalheimer. Soziologische VerlagsanstaU. Berlin 

1931. (420 S.; br. KM. 6.50, geb. RM. 8.50) 

Der Herausgeber des Bandes teilt die Tatigkeit Mehrings auf dem Ge- 
biete der Philosophiegeschichte in vier groBe Gruppen ein: 1. die Vermitt- 
lung und kritische Sichtung des Erbes der klassischen deutschen Philoso- 
phie; 2. die Erforschung des Ubergangs von der Hegelschen Philosophie 
uber die Neuhegelianer und Feuerbach zum wissenschaftlichen Sozialismus 
von Marx und Engels; 3. die Erlauterung und Anwendung des historischen 
MateriaUsmus und die kritische Abwehr seiner Gegner; 4. die Klarlegung und 
Verteidigung der kritischen Auflosung der Religion im allgemeinen und des 
Christentums im besonderen. Die Aufsatze zu Punkt 1 und 2 bilden das 
Kernstuck des M.schen Werkes. M. hatte, wie Thalheimer in der Einleitung 
auch hervorhebt, nur ein schwaches Interesse fiir die Fragen der Logik und 
Dialektik und war fast ausschlieBlich historisch interessiert. 

Es besteht naturhch die Gefahr, daC M.s philosophiegeschichtliche Ar- 
beiten heute als „veraltet** beiseite gelegt werden. Sind sie doch noch vor 
dem Weltkriege abgeschlossen worden. Inzwischen ist durch die Marx- 
Engels-Gesamtausgabe ganz neues Material fiir das Hauptthema M.s ver- 
offenthcht worden. Vor allem aber hat sich die methodische Einstellung 
zu einer historisch -materialistischen oder erkenntnissoziologischen Behand- 
lung der Philosophiegeschichte so grundlegend verschoben, daB alle heute 
zu dieser Frage mdglichen „Standpunkte" von Mehring durch eine uniiber^ 
bruckbare Kluft getrennt sind, Trotz dieses Hauches von Verganglichkeit 
bewahren die Aufsatze den Charakterzug „klassischer" Leistungen. 

Franz Meyer (Breslau). 



412 Besprechungen 

Allgemeine Soziologie. 

Oriinder der Soziologie. Eine Vortragsreihe unter Mitwirkung von 
G. L. Duprat, H. Freyer, A. Meusel, F. K. Mann, L. v. Wiese u. M. Weber. 
Gustav Fischer. Jena 1932. (VII u. 158 S.; RM. 7.50) 
Das Buch enthalt eine Vortragsreihe des L. von Wieseschen Sozial- 
wissenschaftlichen Forschungsinstituts an der Universitat Koln. Die Aus - 
wahl der behandelten Forscher ist etwas willkurlich. 78 Seiten sind allein 
Schaffle aus AnlaB eines Gedenktages gewidmet. L. von Wiese zeichnet 
in wenigen Strichen ein Gesamtbild dieses Autors, Mann behandelt aus* 
fiihrlich seine Wirtschafts- und Finanzsoziologie. Aus beiden Darstellungen 
ergibt sich deutlich das Willkurliche, Sprunghafte, Widerspruchsvolle in 
Schaffles Denken, auch die Breite seines Gesichtskreises und sein Reichtum 
an Einfallen. Seine Verbindung mit Comte und Darwin nach rtickwarts, 
mit dem Spannschen Universalis mus nach vorwarts, trotz mancher be- 
deutender Gedanken auch das im Grunde Unschopferische seines Denkens 
treten sehr iiberzeugend hervor. — Freyer charakterisiert in prachtiger 
Kiirze und Klarheit die Soziologie der Romantik als das Werk entwurzelter 
Intellektueller, die sich mit den konservativen Machten der Gesellschaft 
verbinden, die gewaltige Bedeutung dieses Bundnisses fur die Entstehung 
des geschichtlichen Weltbilds einerseits, das Unverstandnis der Romantiker 
fur den modernen Kapitalismus andererseits. Me use 1 gibt auf nur 13 Seiten 
eine alles Wesentliche beriicksichtigende Quintessenz des Marxismus, den 
er in orthodoxer Interpretation als Einheit von Theorie und proletarisch- 
revolutionarer Praxis charakterisiert. — Duprat entwirft eine Gegen- 
iiberstellung von Comte und Durkheim. Er bestreitet Durkheim „jede 
wissenschaftliche Kultur 4 *, leugnet jeden bedeutenden Fortschritt der 
Soziologie seit Comte, bemuht sich im ubrigen nicht, diesen, der ihm In- 
begriff des Richtigen und Durkheim, der ihm Herold alles Falschen ist, 
aus Situation und Problemstellung zu verstehen. — Marianne Weber gibt 
einen kurzen AbriB der Biographie und des Lebenswerkes Max Webers. 

Franz Borkenau (Wien). 

Thurnwald, Richard, Die menschliche Gesellschaft. 2. Bd.: Werden t 

Wandel und Gestaltung von Familie, Verwandtschaft und Biinden. 

W. de Gruyter. Berlin u. Leipzig 1932. {360 S.; geb. RM. 20.~) 

Hatte Thurnwald im 1. Bd. des Werkes (s. diese Ztschr. I, 1932, 229f.) 

durch die „reprasentativen Lebensbilder" einer groBen Zahl von Natur- 

volkern die verschiedenen Formen der Vergesellschaftung in ihrer Ver- 

flechtung mit der jeweiligen Gesamtkultur aufgezeigt, so bringt der vor- 

liegende 2. Band die systematische Darstellung der entscheidenden sozialen 

Institutionen, die jedoch, wie Verf. mit Recht hervorhebt, gerade bei 

den niederen Natur volkern nicht die Merkmale der , , Unbedingtheit, 

Festigkeit und Unabanderlichkeit" an sich tragen, wie wir Europaer sie ale 

unerlaBlich fiir das Wesen einer „ Institution" ansehen,.und die deshalb auch 

nur seiten klar umrissen und unmittelbar faBlich in Erscheinung treten. 

Den weitaus groflten Teil des Buches nimmt der Abschnitt „Familie und 

Verwandtschaft" ein, dem gegeniiber die Ausfiihrungen iiber die „Biinde" 



Allgemeine Soziologie 413 

(Mannerbiinde, Geheimbiinde, die mit ihnen in engem Zusammenhang 
stehenden Jiinglings- und Madchenweihen) fast nur als Anhang erscheinen. 
t^ber die Gliederung und Anordnung des Stoffes kann man oft verschiedener 
Meinung sein; es ware z. B. sic her besser gewesen, die erst als 9. und 
10. Kapitel erscheinenden grundlegenden Auseinandersetzungen uber 
Mutter- und Vaterrecht der Darstellung der Familie vorausgehen zu 
lassen. Im iibrigen sind alle wichtigen sozialen Institutionen unter ge- 
legentlicher Heranziehung europaischer Gesellschaften behandelt: Familie, 
Sippe, Klan und Grofifamilie, die Stellung der Frau und ihre wirtschaftliche 
Bedingtheit, die Ehe nebst Ehebruch und Scheidung, die Heiratsformen 
und -ordnungen, die ,,sexuellen Sitten" (worunter auch die Prostitution 
gefaBt ist), die Art der Verwandtschaft, die Stellung des Kindes (wobei die 
Erziehung, dieses interessante und auch fur unsere Padagogik so aufschluB- 
reiche Kapitel primitiven Zusammenlebens leider nur ganz kurz abgetan 
wird) und endlich der Altersablauf. 

tJber der in ihrer Gesamtheit stattlichen Zahl von Quellen, die der Ver- 
fasser kritisch gesichtet als Grundlage bzw. Belege fur die Herausarbeitung 
der besonderen Formen und Varianten der einzelnen sozialen Institutionen 
heranzieht, darf nicht vergessen werden, daB sie doch nur einen kleinen, 
dazu stark von Zuf alien abhangigen Ausschnitt aus den tatsachlich exi- 
stierenden gesellschaftlichen Einrichtungen der Volker der Erde dar- 
stellen und daB deshalb allgemein gultige Folgerungen und Schltisse kaum 
raoglich sind. Ein Hinweis, der weder dem hochverdienten Verfasser 
noch dem methodisch geschulten Ethnologen etwas Neues sagt, der aber 
vielleicht doch von Wert ist fur diejenigen, die auf den Nachbar- und Grenz- 
gebieten der Ethnologie arbeiten und deshalb weniger als der Ethnologe 
der Erfahrung ausgesetzt sind, dafi neben den bestehenden weitreichenden 
Zusammenhangen und Beziehungen der Kulturen doch auch jede einzelne 
Kultur ihr ausgepragtes Eigenleben hat und die Variabilitat und Viel- 
gestaltigkeit kulturelier und sozialer Formen und Institutionen viel 
groBer ist, als es eine im wesentlichen auf Syn these, auf die Fest- 
stellung von Kultur verwandtschaft, ausgehende Forschungsrichtung 
erkennen lafit. 

Ernst Vatter (Frankfurt a. M.). 

Sorokin, Pitirim, Soziologische Theorien im 19. und 20. Jahrhundert, 
Deutsche Bearbeitung von Hans KafSpohl. C. H. Beck. Miinchen 1931. 
(VII u. 342 S.; geh. RM. 10.50, geb. 13.50) 

Das leider von 785 auf 342 Seiten gekiirzte Standardwerk des bekannten 
russischen Soziologen, der jetzt an der Harvard-Universitat lehrt, stellt 
einen groBen Fortschritt gegenuber den bisherigen Geschichten der So- 
ziologie dar: die geschichtsphilosophische Spekulation tritt vollig zuriick# 
es werden nicht Prinzipien untersucht, sondern das Material auf seine Halt* 
barkeit gepruft. Infolge der besonderen Neigung des Verf . zu statistischen 
und induktiv-experimentellen Darstellungen werden nicht die dogmatischen 
Voraussetzungen der verschiedenen Schulmeinungen, sondern die Spezial- 
untersuchungen hervorgehoben. tJ'ber die Einteilung der Schulen laBt 
sich streiten. S. hat nicht eine Problemgeschichte gegeben, sondern 



414 Besprechungen 

die Lehren nach EinflUssen der Nachbargebiete : soziale Physik, Geo- 
graphie, Anthropologic und Biologie, Psychologie und Soziologismus unter - 
schieden, dabei ist jeweils eine Kritik unter dem Gesichtspunkt der posi- 
tiven Ergebnisse angefiigt. Leader wird die deutsche Literatur ungeniigend 
behandelt, von der eigentlich deutschen Gesellschaftswissenschaft seit 
Hegel und L. von Stein ist nicht die Rede ; Gumplowicz ist unter die Sozio- 
logisten kurz eingereiht, die romantische Schule bis Spann wird nur ganz 
nebenbei behandelt, die wissens- und kultursoziologische Schule kommt 
uberhaupt nicht vor. Pareto und Leplay werden entsprechend gewtirdigt. 
Unter dem Titel „BioIogische Theorien" sind nicht nur die organizistischen 
und darwinistischen Lehren, sondern auch die anthropologischen Schulen 
eingereiht. Sehr ausfiihrlich gibt S. im Anschlufl an die Lehre vom Daseins- 
kampf eine Soziologie des Kriegs. Die soziologistische oder vielmehr neu- 
positivistische Schule von de Roberty, Espinas und Durkheim wird 
unter dem Gesichtspunkt: „Wissenschaft als primarer sozialer Faktor" 
zu vereinfacht gesehen. XJnzureichend ist die Kritik der sog. wirtschaftlichen 
Schule von Karl Marx, in der nur der wirtschaftliche Gesichtspunkt als 
altbekannt und einseitig in seinem Determinismus abgelehnt wird ; dagegen 
werden wirtschaftliche Bedingungen fur k6rperliche und geistige Merkmale 
und Zusammenhange von Verarmung und Verbrechen, Wirtschaftsverhalt- 
nissen und politischen Institutionen und Revolutionen, Verfall und Fort* 
schritt konstatiert. Wahrend die sog. formale Schule, zu der Tonnies ge- 
rechnet wird, damit abgetan scheint, daC sie nur eine unvollstandige Auf- 
zahlung der For men gebe, welche in den „Theorien des Rechts" seit jeher 
viel genauer angegeben wiirden, und enzyklopadisch genannt wird, weil 
eben der soziale Inhalt aus den verschiedensten Wissenschaften ent- 
nommen ware, wird die psychologische Schule grtindlich und richtig be- 
handelt. Die sozialen Funktionen des Rechts sind zu kurz gekommen, da- 
gegen sind die experimentellen Untersuchungen iiber Familie, Beruf, 
stadtische XJmgebung, Rhythmus und Zyklus sozialer Veranderungen und 
des Verf. eigene Darstellungen iiber soziale Beweglichkeit, also die experi- 
mentellen soziologischen Sonder untersuchungen auBerordentlich lehrreich. 
Das vorliegende Werk ist mit seiner weiten tftiersicht in Deutschland zum 
Studium sehr zu empfehlen. 

Gottfried Salomon (Frankfurt a. M.). 

Kroner, Richard, Kulturphilosophische Orundlegung der Politik. 
Junker & Dunnhaupt. Berlin 1931, (112 S.; RM. 5.50) 
K. versucht einen allgemeinen philosophischen Kanon fur Politik, 
politische Ziele und politisches Handeln aufzustellen. Politik sei — vom 
philosophischen Standpunkt aus gesehen — Kampf um Verwirklichung 
berechtigter Interessen (zum Unterschied von blofier Gewalt) und Ent- 
faltung der ewigen Idee des Rechts. Das Forum, vor dem iiber Existenz- 
berechtigung politischer Interessen gerichtet wird, ist das ,,allgemeine 
RechtsbewuBtsein", das also anscheinend diese ewige Idee des Rechts 
legitim verkundet. Dieses nicht weiter nach seiner Herkunft erforschte 
sittliche RechtsbewuQtsein der einzelnen Menschen schlagt dialektisch um 
in die objektive Sinnwirklichkeit des Staates; der Staat ist eine iibersinn- 



Allgemeine Soziologie 415 

liche, aber nichtsdestoweniger konkrete individuelle Personlichkeit. Des- 
halb ist auch die Frage nach der Entstehung des Staates falsch gestellt: 
„Wie konnen Menschen etwas erzeugt haben, das machtiger ist als sie ?" 
Eine eindeutige Wahl zugunsten von Monarchie oder Demokratie wagt 
K. nicht zu treffen. Entscheidend aber erscheint ihm das Fuhrerprinzip 
als Ausdruck der Staatspersonlichkeit, „erst durch den Fiihrerwillen wird 
das Volk iiberhaupt zum Volk zum TJnterschiede vom Haufen oder von 
der bloflen Masse". Folgerichtig bekennt er sich auch zum Standestaat 
und zum Klassenstaat, die naturlichen Rangordnungen entsprachen. 

K. versucht eine Nachkonstruktion der Hegelschen Staatsphilosophie, 
mit der Krdnung des Systems in der Philosophic der Kultur. Aber die 
tJbemahme unverwandelter Hegelscher Kategorien scheint uns in der 
vorliegenden Form heute nicht mehr moglich. Das Ergebnis ist ein System, 
das uns mehr eine Mythologie deucht als eine Philosophie, urn so mehr, als 
K. das vorliegende Material der heutigen Soziologie, Okonomie und Staats- 
theorie aufier acht lafit. Die spekulativ beginnenden Gedanken des Verf. 
gipfeln in politisch liberalen Behauptungen, die nach dieser philosophischen 
Grundlegung nicht an Objektivitat und Uberzeugungskraft gewonnen 
haben. Eher scheint uns die Polemik K.s gegen „politische Philosophie als 
Ideologic" auf sein eigenes Buch zuzutreffen. 

Peter von Haselberg (Frankfurt, a. M.). 

Schiitz, Alfred, Der sinnkafte Aufbau der sozialen Welt, Julius 
Springer. Wien 1932. (285 S.; br. RM. 12.~~, geb. RM. 13.50) 
S. macht den Versuch, die Max Webersche Lehre von der verstehenden 
Soziologie und vom Idealtypus unter Heranziehung der Bergsonschen 
Ich-Metaphysik phahomenologisch zu interpretieren. Er stellt das rationale 
Verstehen sozialer Gebilde im Sinne Webers dem intuitiven Verstehen 
Diltheys, das ihm als unwissenschaftlich gilt, scharf gegeniiber. Das 
grundliche, in der Beweisfiihrung tadellos korrekte Werk ist reich an An- 
regungen nach vielen Richtungen. Wir heben den soziologisch bedeutsamen 
Grundgedanken heraus: S. zeigt, wie das Verstehen auf dem Weg vom Ich 
zu den sozialen Gebilden immer hohere Grade von „Anonymitat" erreicht. 
Schon das Erleben des Ich ist nicht mit dem Leben identisch. Dies geht 
in der duree im Sinne Bergsons vor sich, jenes dagegen in reflexiver Zu- 
wendung zum Leben, das dabei als abgelaufen vorgestellt wird. Handeln 
beruht noch mehr auf der Phantasie des Vollzogenseins der Handlung. 
Im Erlebnis des Du, das zum Mitwelterlebnis erweitert werden kann, 
liegt nooh immer das Ich- Verstehen zugrunde. Handelt es sich aber um 
blofie Umwelt, die mir nicht mehr durch persdnliche, sondern bloB durch 
sachliche Beziehungen verbunden ist, dann reduziert sich ihr Verstehen 
auf die Anwendung eines Schemas, in dem ich typischen Verhaltensweisen 
von Individuen, die fur mich sachlich bedeutsam sind, entsprechende 
Intentionen dieser Individuen unterlege. Allem menschlichen Handeln 
und daher auch meiner Deutung der Umwelt liegt die Mittel-Ziel- Relation 
zugrunde. Jedes idealtypische Handeln, d. h. jede typische Mittel-Ziel- 
Relation muJ3 kausaladaquat und sinnadaquat sein, d. h. das Mittel muB 
nach unserem Erfahrungswissen tatsachlich zum Ziel fiihren, dieses Ziel 



416 Besprechungen 

aber auch gemeint sein. Ganz durchsichtig wird diese Relation nur im Fall 
des rationalen Handelns, wo das Ziel wie alle zu ihm fiihrenden Mittel 
vollig eindeutig sind. Es ist daher der ideale Anwendungsfall der ver- 
stehenden Soziologie. Im Gegensatz zum Verf. bin ich der Meinung, dafi 
sein — formell ganz unanfechtbarer — Gedankengang zur Auflosung der 
idealtypischen Soziologie fuhrt. Es zeigt sich, daO die idealtypische ver- 
stehende Soziologie — im Gegensatz zur intuitiven — auoh nicht einmal den 
Versuch macht, Ziele zu verstehen. Die „Anonymisierung" ist namlich das 
Unverstandlich-Werden fremdpsychologischen Verhaltens, je weiter wir 
uns von ihm entfernen. Letzten Endes ist fiir diese Methode jedes fremde 
Ziel eine blofie, eben nicht verstandliche Gegebenheit. Von der verstehenden 
Soziologie bleibt nichts iibrig als das Wissen, da 6 alles menschliche Handeln 
aus Mittel-Ziel-Relationen besteht, die wir nach einezn vom Ich iiber- 
nommenen Schema yerstehen. Die Inhalte des Schemas aber erschliefien 
sich nicht verstehenden, sondem nach dem Ursache-Wirkung- Schema 
verfahrenden erklarenden Methoden. Fiir die Diskussion der einschlagigen 
Fragen ein vollig geklartes Begriffsmaterial zur Verfiigung gestellt zu 
haben, ist das Verdienst des Werkes von S. 

Franz Borkenau (Wien). 

Earl Mars / Friedrtch Engels, Die deutsche Ideologic. (Marx-EngeU Qe- 
samtau8gabe t I* Abteilung, Band 5.) Marx-EngeU-Verlag. Berlin 1932. 
(XIX u. 706 S.; RM. 16 JO) 

Der von V. Adoratskij herausgegebene Band enthalt die erste voll- 
standige Ausgabe der erhaitenen Teile der „Deutschen Ideologic". Die 
beiden Hauptstucke waren schon bekannt, der „Feuerbach" in der 
Ausgabe von Rjazanow, der ,,Sankt Max" in der Ausgabe von Bern- 
stein. Aus dem „Westphalischen Dampfboot" (1847) ist ein Artikel 
gegen Karl Griin iibernommen, interessant insofern, als er vollstandig 
die Beurteilung des ,,wahren Sozialismus" im ,,Kommunistischen Mani- 
fest" antizipiert. Zum ersten Mai erscheinen hier im Druck zwei kleine 
Bruchstiicke, „Das Leipziger Konzil" und „SchluB des Leipziger Kon- 
zils" so wie der 18 Seiten umfassende „Sankt Bruno" gegen Bruno 
Bauer, der sich auf der Linie der sonstigen Marxschen Kritik an den 
Junghegelianern bewegt. „Der Dr, Georg Kullmann", eine witzige Pole- 
mik gegen einen kommunistischen Prop he ten, diirf te von Moses HeB 
stammen und von Marx nur redigiert sein. Einige bisher unbekannte 
Tagebucheintragungen von Marx (als Anfang abgedruckt) geben sonst nur 
in vollendeter Fassung bekannte Gedanken im Zustand des Entstehens. 
Ein umfassendes Verzeichnis der Textvarianten wird jede kritisohe Durch- 
arbeitung des nun endlich vollstandig vorliegenden Werkes erleichtern. 

Franz Borkenau (Wien). 

Marcuse, Herbert, Neue Quellen zur Orundlegung dee historischen 
Mater ialismus. In: Die Gesellsckaft. Internationale Revue fiir Sozia- 
lismus und Politik, IX. Jg., Nr. 8. Berlin 1932 
DaB die „Okonomisch-philosophischen Manuskripte aus dem Jahre 

1844" von Marx zu „einem entscheidenden Ereignis in der Geschichte der 



Allgemeine Soziologie 417 

Marx-Forschung" geworden sind, durfte nach den griradlichen Aufierungen 
zahlreicher Sachkundiger feststehen. Allein die Interpretation weist eine 
schroffe Divergenz in der Frage auf: hegelianisch-philosophischer oder 
materialistisch-positivistischer Marxismus? M. sieht die Bedeutung der 
Manuskripte in ihrer zentral-philosophischen Frage stellung. Marx geht 
in der ersten an der klassischen Nationalokonomie geiibten Kritik vom 
Begriff eines „Wesens des Menschen" aus, der in der ontologischen Kategorie 
der Arbeit, der totalen gegenstandlichen Lebensaufierung, griindet. Nach 
M. bildet diese — in Wirklichkeit durchaus metaphysische und von 
Marx selbst in der „Deutschen Ideologic" nachtraglich destruierte •. — 
Begriffsmystik das „eigentliche Fundament*' der „Theorie der Revolution", 
Doch verkennt M. offensichtlich die Bedeutung der von Marx vorgenomme- 
nen Identifizierung seiner empirisch-praktischen Theorie des Proletariats 
in der burgerlichen Gesellschaft mit dem in vorwissenschaf tlichen Kategorien 
(„Mensch") formulierten elementaren Protest des Proletariats gegen seine 
unertragliche Existenz. 

A. F. Westermann (Frankfurt a. M.) 

Fischer, Hugo, Karl Marx und sein Verhaltnis zu Staat und Wirt' 

schafL Gustav Fischer. Jena 1932. (102 8.; RM. 4.50) 
Alexander, Werner, Kampf um Marx. Entwicklung und Kritik der 

Akkumulationstheorie. Alfred Protte. Potsdam 1932. (VIII, 139 S.; 

MM. 4.50) 

Fischer weist die anschaulichen Elemente der Marxschen Lehre auf 
und sucht Marx aus seiner Welt heraus, der kapitalistischen Welt des 
19. Jahrhunderts, zu verstehen. Im Vordergrund stent das „5konomistische*' 
der Epoche, in der auch das Aufierwirtschaftliche des menschlichen Lebens 
als Funktion des Wirtschaf tlichen ausgedriickt iet. Unbegriindet wird 
gegen Marx selbst der Vorwurf des Okonomismus erhoben. M. habe nicht 
das Wirtschaftliche zugleich als Funktion des Politischen bestimmt. 
Zugrunde Uegt die Abneigung des Verf . gegen eine geschichtsphilosophische 
Auffassung des Okonomischen als der determinierenden Sphare. Der 
Kapitalismus wird umgekehrt als Dekadenz des sozialen Lebens abgeleitet, 
erst der Verfall der alteren Kultur habe die Emanzipation der Wirtschaft 
nach sich gezogen. Die Neuordnung mufi daher, so schliefit F. riickblickend, 
an den Status des Mittelalters anknupfen. F. irrt hier doppelt. Einmal ist 
das mittelalterliche Gemeinwesen kein Staat, und Satze wie: „Im Mittel- 
alter ist Volksleben und Staatsleben identisch" — „Das Mittelalter ist im 
tiefsten Sinne demokratisch, allerdings war es die Demokratie der Unfrei- 
heit", sind angesichts der Standeverfassung, der Herrschaft einer kleinen 
Zahl Privilegierter und des Fehlens einheitlicher Gewalt und eines einheit- 
lichen politischen Willens ohne Sinn. Zum andern gilt die These von der 
„Wirtschaftsformigkeit des modernen Staates" (Politik als Mittel der 
Wirtschaft) ebenso von der mittelalterlichen Feudalverfassung — man ver- 
gleiche nur die Familiengeschichte souveraner H&user — wie vom Staat des 
19. Jahrhunderts. Auch die andere These des Verf., daB das Gesetz der 
Rentabilitat zuriickzutreten habe hinter „einem politiseh sinnvollen Er- 
gebnis", ist das Argument -jeder staatlichen Invervention uberhaupt. Ein 



418 Besprechungen 

Wunschbild „protektionistischerMaBnahmen und staatlicher Subventionen" 
als sozialer Norm, wie es der Verf. entwickelt, ist allerdings damit nicht 
zu begriinden. 

Die Schrift von Alexander ist eia dankenswerter Beitrag zur Akku- 
raulations- und Zusammenbruohstheorie. A. behandelt in tibersichtlicher 
Weise die Entwicklung der Marxschen Theorie, ihre Ausgestaltung bei 
Tugan-Baranowsky, Otto Bauer, Rosa Luxemburg, Fritz Sternberg und 
geht ebenso ein in die Einzelheiten der Kontroverse mit Neifier, GroBmann, 
Lederer, Hilferding, Bucharin u. a. „Die Imperialismustheorie braucht 
nicht die Akkumulationstheorie, die Akkumulationstheorie nicht den Aus- 
weg dea Imperialismus" ■ — ,»Die Akkumulationstheorie ist eine vollkommen 
untragfahige Basis fur eine Imperialismustheorie", ist das Ergebnis dieser 
Arbeit. Der Verf. nennt seine Schrift einen kritischen Epilog und glaubt 
unter den jahrzehntelangen Streit einen Schluflstrich setzen und den Weg 
fiir eine neue richtige Deutung von Akkumulation und Imperialismus frei 
machen zu konnen. Das reiche Material der letzten Schrift yon Sternberg, 
,,Der Niedergang des Kapitalismus", ist von A. noch nicht beriicksichtigt. 

Kurt Moldenhauer (Berlin). 

Dickmann, Julius, Das Qrundgeaetz der aozialen Entwicklung. Wien 

1932. (60 S.). — Ders., Der Arbeitabegriff bei Marx. Wien 1932. 

(55 S.). Beide cUa Manuakript vervielfdltigt. 

Die beiden Schriften bilden die ersten Hefte einer Keihe „Beitrage zur 
Selbstkritik des Marxismus". Die erste stelit einen Versuch dar, die Grund- 
konzeption der materialistischen Gesellschaftstheorie von Marx durch eine 
neue zu ersetzeh. D.s These besagt, dafi nicht die von innen heraus erfolgende 
Ausweitung der Produktivkrafte die ihnen frtiher adaquaten Produktions- 
verhaltnisse beseitigt („sprengt u ),sondern daB „dasHervorgehen einer neuen 
Produktionsweise aus einer alteren auf das durch den ungehemmtenGebrauch 
bewirkte Zusammenschrumpfen der naturlichen Grundlage ihrer Anwendung 
zuruckzufiihren ist" (S. 13). Diese neuartige Auffassung belegt D. durch 
ein umf angreiches Material und versucht, die grundlegenden AuBerungen 
von Marx und Engels iiber Produktivkrafte und Produktionsverhaltnisse im 
einzelnen als widerspruchsvoll aufzuzeigen. Aber D.s Begriff der Produktiv- 
kraft deckt sich nicht mit dem von Marx-Engels; Marx kennt neben den 
naturlich bedingten noch die gesellschaftlich bedingten Produktivkrafte; 
D. handelt nur von den naturlich bedingten. Seine SchluBfolgerungen aus 
diesem relativ engen Produktivkraftbegriff treffen daher die Marxsche Pro- 
duktivkraf ttheorie nur unvollstandig, sie beriihren demgemaB auch nicht 
die kapitalistischen Krisen als Knotenpunkte der „sozialen Entwicklung". 
Nichtsdestoweniger bedeutet die Schrift von D. wegen ihrer Originalitat 
einen interessanten Beitrag zur Diskussion des Problems der sozialen Ent- 
wicklung. 

Im zweiten Heft, „Der Arbeit sbegr iff bei Marx", zeigt sich die oben 
erwahnte einseitige HeraussteNung des Naturfaktors als bewuBte theo- 
retische Point e D.s. Er sieht den groBen Mangel des Marxschen Begriff s 
der „abstrakt-allgemeinen Arbeit" eben in der Abstraktion von der Natur- 
basis, der physiologisch-mechanischen Energieverausgabung. Nach D. 



Allgemeine Soziologie 419 

ist die abstrakt-allgemeine Arbeit, die bei Marx als die einzig wertbildende 
auftritt, von der konkret-niitziichen, die Gebrauchswerte schafft, nicht 
dadurch unterschieden, dafi diese einen natiirlichen, jene aber einen rein 
gesellschaftlichen Charakter hat. Vielmehr sind beides nur natiirliche 
Funktionen ein- und derselben gesellschaftlichen Produktionstatigkeit des 
Menschen, die abstrakt-allgemeine als aufierlich-mechanische Energie- 
verausgabung, die konkrete als geistig-zwecksetzende Tatigkeit. Wert- 
bildend ist auch nach D. nur die abstrakt-allgemeine Arbeit, das Problem 
der potenzierten Wertbildung durch ,,qualifizierte" Arbeit besteht fur ihn 
nicht, diese falle ausschliefllich indenBereichder Gebrauchswertsohopfung — 
ein Zusammenhang, den Marx nicht gesehen habe. Eine eingehendere 
Beurteilung der D.schen Kritik ware nur sinnvoll, wenn er seine eigene 
Werttheorie dargestellt hatte. Dies hat er einem der folgenden Hefte vor- 
behalten. Seine vorliegende Kritik des Marxschen Arbeitsbegriffs stiitzt 
D. auf die Ergebnisse der modernen Arbeitswissenschaft. 

A. F. Westermann (Frankfurt a. M.) 

Lubienski, Zbigniew, Die Qrundlagen des ethisch-politischen Systems 
von Hobbes. Ernst Reinkardt. Miinchen 1932. (302 S.; geh. RM. 12.—, 
geb. RM. 14.—) 

Das Leopold von Wiese gewidmete Werk ist eine vorwiegend deskriptive 
Darstellung des soziologischen Begriffssystems des Hobbes und als solche 
— einige minder wesentliche Punkte, die Zweifel erregen, ausgenommen — 
einwandfrei und fleifiig gearbeitet* Es zeigt sich jedoch an der Schrift wieder 
«inmal, dafi ein gesellschaftskritisch-politisches Werk wie das von Hobbes 
nicht analysiert werden kann, ohne es selbst zum Objekt soziologischer Unter- 
suchung zu machen. Nur eine soziologische Fragestellung kann ergeben, 
worauf es dem Denker ankam, nur sie kann also das organisierende Moment 
eines Systems verstandlich machen. Dieses Zentralproblem ist bei H., aus 
naturhaften Beziehungen zwischen den Menschen Normen ihres gesellschaft- 
lichen Lebens abzuleiten, deren Ubertretung einen logischen Selbstwider- 
spruch bedeutet. Da ein solcher Versuch in sich widerspruchsvoll ist, tragt 
jeder einzehie Grundbegriff bei H. einen gleichartigen Widerspruch in sich. 
h. hat zwar das Paradoxe dieses Beginnens nicht verkannt, da er aber seine 
zentrale Rolle nicht erfafit hat, unterlafit er es, seine Einsicht in den Grund- 
widerspruch des H.schen Systems auf alle seine Bestandteile anzuwenden. 
Vielmehr bricht in der Einzeldarstellung immer wieder die Tendenz durch, 
die Auffassungen H.s zu harmonisieren. Diese Unfahigkeit des Verf., Wider - 
sp niche in der Theorie systematisch zu entwickeln, beruht auf seiner Ab- 
neigung, ihre entscheidende Rolle in der Praxis zu sehen. „So haben sturmische 
Zeiten stets Augenblicke einer gewissen Entspannung zur Folge, in denen der 
Wille zur Rtickkehr zu den normalen ruhigen Vernal tnissen uberwiegt" 
(S. 29). Das soil als Erklarung der politischen Grundtendenz des H. gelten. 
Kein Wunder, dafi L. versagt, sobald er iiber die bloJQe Darstellung hinaus 
die Rolle von H. in der Entwicklung des Denkens zu erfassen sucht. „Hobbes 
kann als der Vorlaufer jener naturalistischen Richtung in der Staatswissen- 
schaft gelten, deren Hauptvertreter wie H. Post, K. Frantz und Schaffle 
erst in der Mitte des vorigen Jahrhunderts ihre Theorien zu verbreiten be- 



420 Besprechungen 

gannen" (S. 236). Was H. von den Naturalisten trennt, sein Rationalismus, 
sind fiir L. scholastische "ttberreste. Oerade der Versuch, vom Naturalismus 
zura Rationalismus zu kommen, ist aber das Zentrale an H.s Denken. Fiir 
L. gibt es nur einerseits den „modernen" empirischen Naturalismus, 
andererseits die „Scholastik". Wenn aber H. schon zu den Naturalisten 
gestellt wird, ist er dann wirklich nur der Vorlaufer von K. Schaffle ? 
Spinoza, Mandeville, Helvetius, Ricardo, Buckle und vor allem Marx 
stehen offenbar fiir L. in keiner Beziehung zur naturalistischen Gesell- 
schaftslehre. 

Alles in allem: eine verzuckerte Interpretation des Gedankenkreises, 
der mit seinem „homo homini lupus" als erster das Wesen der kapitalistischen 
Gesellschaftsordnung konsequent aussprach. 

Franz Borkenau (Wien). 

Rice, Stuart A., Methods in Social Science* The University of Chicago 

Press 1931. (822 S.; $ 4.50) 
Bogardus, Emory S., Contemporary Sociology. University of Southern 

California Press. Los Angeles, 1. Aufl, 1931; 2. Aufl. 1932. (483 S.; 

$ 3.50) 
Eubank, Earle E., The Concepts of Sociology. D.C. Heath and Company. 

New York 1932. (570 S.; $ 4.80) 
Maclver, R. M., Society. Its Structure and Changes. Ray Long & Richard 

R. Smith. New York 1931. (569 S.; $ 5.— ) 

Es scheint, dafi die amerikanische Soziologie an einem wichtigen Wende- 
punkt ihrer Entwicklung angekommen ist. Wahrend in den letzten Jahren 
eine standig wachsende Neigung zur Beschrankung auf konkrete Wirklich* 
keitsforschung wahrnehmbar war, die mit mefibaren und genau nach- 
kontrollierbaren Fakten die soziologische Erkentniswelt erwei tern wollte, 
mehren sich jetzt die Zeichen fiir eine Wandlung. Das behavioristische 
Studium soziologischer Phanomene hatte mehrere Wurzeln. Es war zuerst 
wohl eine Reaktion gegen systematisierende Sozialphilosophie <Ward„ 
Gidding, Small), die mit gar zu leichtem Tatsachengepack reiste, dann eine 
Dbernahme der durch die Erfolge der Naturwissenschaften erprobten 
Forschungsmethoden und ferner ein allgemeiner Optimismus, schon dadurch 
die sozialen "Obelstaride heilen zu konnen, dafi man ihre akuten Ursachen 
jeweils erkannte, ohne dafi man sie in den schwerer erfafibaren Zusammen- 
hangen der sozialen Struktur und ihrer Wandlungen sehen wollte. Das 
Bekenntnis zu einer Wissenschaftsform, in der kooperative Faktensamm- 
lung Zentrum des Interesses wird, findet sich auch in dem Sammelwerk, 
das Rice zusammen gestellt hat, in dem er die wichtigsten Forschungen 
von andern Wissenschaftlern, die selbst inmitten des neuzeitlichen For- 
schungsbetriebes stehen, darstellen lafit. Er nennt das Buch ,, Methods in 
Social Science**, obwohl von Methodologie im deutschen, aber wohl auch 
im europaischen Sinne nicht die Rede ist. Er fafit auch nirgends die grund- 
legenden methodologischen Probleme zusammen, sondern verfahrt gerade 
so wie die Soziologen, von deren Arbeiten berichtet wird: das Material 
wird „objektiv" gesammelt und dargestellt. Die Vielfalt der Methoden 
erklart sich aus dem Wunsch, jedes Objekt ihm selbst adaquat (ohne 



Allgemeine Soziologie 421 

vorherige Theorie) zu untersuchen, ohne daraus zu begrifflicher Zusammen- 
fassung vordringen zu wollen. Das reichhaltige Buch triige wohl besser den 
Namen: Blick in soziologische Forschungswerkstatten. 

Das Buch von Bogardus steht dieser Richtung sehr nahe. B., der 
selbst eine groBe Untersuchung an der pazifischen Ktiste iiber Rassen- 
probleme geleitet hat, legte damals detailliert die Methoden und das tech- 
nische Vorgehen in seinem ,,A New Social Research" dar; in seinem „Ma- 
king Social Science Studies" (1925) gibt er jungen Soziologen eingehende 
Arbeitsanweisungen und widmet auch einen groBen Teil seines Werkes 
^Contemporary Sociology" der Darstellung von Forschungsmethoden. In 
grofien Kapiteln besprechen Spezialforscher die okologische, soziologische, 
sozialpsychologische und statistische Methode, und zwar meist die besten 
Vertreter der verschiedenen Gebiete, so daB sich ein Gegenwartsbild der 
amerikanischen Soziologie ergibt. Interessant ist der Nachdruck, den B. 
in der Einleitung auf die Notwendigkeit legt, Theorie und Faktenforschung 
fruchtbar zu verbinden* Daraus erklart sich wohl auch die Anordnung des 
Buches, dessen Kapitel von den in den verschiedenen Gebieten gebrauch- 
lichen Begriffen (,, concepts") sprechen. So ist es sozusagen eine ,, round- 
table-conference" zur Klarung dieser Begriffe. 

Die Wandlung aber, von der wir in der Einleitung sprachen, wird deut- 
lich sichtbar in den Buchern von Eubank und Maclver. 

Aufschlufireich ist bei dem Buch von Eubank bereits die Widmung: 
„To the memory of Albion W. Small", dem Theoretiker also. Eubank 
hat bereits in mehreren Artikeln die Wichtigkeit der begrifflichen Klarung,. 
ja uberhaupt den Wert logisch begrifflichen Denkens betont, das schlieB- 
lich zu einem relativ einheitlichen System zu fuhren vermoge. Dieses Buch, 
das eine allgemeine Klassifikation der Hauptkategorien der Soziologie 
bringt, gliedert auch die Kapitel systematisch. Ohne wie Beckers „ Syste- 
matic Sociology", auf die erst im nachsten Heft eingehender hingewiesen 
werden kann, das gesamte Gebiet der Soziologie in ein System ein- 
zubauen, kann man dieses Werk doch als eine systematische Soziologie 
bezeichnen. 

Maclver beginnt die Einleitung seines Buches mit einem Satz, den 
man driiben in der letzten Zeit selten las: This book presents a system of 
sociology". Den behavioristisch Forschenden schickt er den Ruf entgegen 
„It (Soziologie) deals with the inner phenomena of experience and not the 
outer phenomena of nature", oder „manchmal mochte man glauben, daB 
es der Soziologie nur forderlich ware, wenn ihre Bearbeiter endlich einmal 
vergessen konnten, daB es sich um eine ,Wissenschaft* handelt". In 
4 groBen Abschnitten analysiert und definiert M. — ohne die uns vertraute 
amerikanische Realitatsfreude '■ — soziologische Grundbegriffe und Zu- 
sammenhange. Er hat ein besonders gutes Organ fiir strukturelle Schau 
und eine groBe Gabe, logisch klar zu gliedern, nicht immer zum Vorteil des 
psychologischen Eindringungsvermogens. 

Ob die hier dargestellte Entwicklung der amerikanischen Soziologie 
zu einer Synthese der beiden Hauptstromungen oder zum "Cbergewicht 
einer iiber die andere fiihrt, bleibt noch abzuwarten. 

Margareta Lorke (Frankfurt a. M.). 



422 Besprechungen 

Duncan, Hannibal Gerald, Backgrounds for Sociology. Marshall Jones 

Company, Boston 1931. (XX u. 831 S.; $ 4.—) 

Es ist das Ziel dieses Buches, dem soziologischen Unterricht an den 
amerikanischen Hochschulen zu dienen. Daraus erklart sich die Anlage des 
Buches und die Art der Darstellung. Das gesamte Gebiet der sozio- 
logischen Probleme ist in den f unf Kapiteln : I. Einleitung, II. Be- 
v6lkerungsprobleme, III. Soziale Probleme und Verhaltnisse, IV. Soziale 
Organisationen und V. Grundprinzipien der Soziologie angeschnitten. Es 
entspricht der Bestimmung des Buches* dafi sein Autor nicht etwa versucht, 
eine eigene Theorie zu geben. Wohl scheinen einige Kapitel sein besonderes 
Spezialgebiet zu sein, wie die iiber Bevolkerungsprobleme, iiber Group Con- 
tacts und vor allem iiber Human Ecology and Social Control. Sonst gibt er 
aus anderen langeren Studien Zusammenfassungen oder Ausziige vieler 
Autoren, die er wertungsfrei seinen Schiilern darbietet. Jeder Abschnitt 
bringt eine fur una sehr nutzliche Bibliographie. Im ersten Kapitel ist eine 
kurze historische Entwicklung der Soziologie gegeben, bei der man mit 
Freude feststellt, daB die Soziologie gar nicht so jung ist wie ihre Gegner 
es haufig wollen. Soil sich doch schon Hammurabi (2124 — 2081 a. Chr. n.) 
fur Soziologie interessiert haben! 

Margareta Lorke (Frankfurt a. M.), 

Organization of Research in the American Sociological Society* 
Publication of the American Sociological Society, June 1932. (39 S.) 
Diese Schrift enthalt den Bericht einer Sonderkommission der ameri- 
kanischen Soziologischen Gesellschaft tiber die Forschungsarbeit, die in 
dieser Gesellschaft oder mit ihrer Hilfe geleistet wird. Da es sich um eine 
noch in der Entwicklung befindliche Wissenschaft handelt, hat die Kom- 
mission von einer Definition der Soziologie abgesehen und sich darauf be- 
schrankt, alle Zweige soziologischer Forschung, die fur die Forderung der 
Soziologie von Nutzen sind, kurz zu schildern und Plane f ttr eine fruchtbare 
Mithilfe der Gesellschaft bei der Arbeit zu unterbreiten. 

Wichtiger als die Aufzahlung der Institute, Forschungsgesellschaften, 
der Interessengebiete bei den Mitgliedern, der Publikationen und der 
Arbeiten auf Nachbargebieten ist der Nachdruck, der auf eine Zentral- 
stelle fiir soziologische Arbeiten, ein ^Clearing House" gelegt wird, 
eine Einrichtung, die bei kooperativer Arbeit im AusmaB der amerika- 
nischen soziologischen Untersuchungen gewiB unentbehrlich ist. Die Ge- 
sellschaft mochte hier eine S telle schaffen, in der alles Quellenmaterial 
zusammengetragen wird, in der alle fruheren und laufenden Arbeiten hinter- 
legt und katalogisiert werden sollen und die gleichzeitig als zuverlassige 
bibliographische Informationsquelle und als Austauschdienst im Sinne 
fruchtbarer wissenschaftlicher Arbeitsteilung dienen kann. 

Margareta Lorke (Frankfurt a. M.). 

Endt, Plet, Sociologie. Wereldbibliotheeh. Amsterdam 1931. (355 S.; 

Hfl. 3.50) 

Im Anschlufi an v. Wiese hat der hollandische Autor den. Versuch unter- 
nommen, neben einer sehr ausfuhrlichen Darstellung der „Beziehungs- 



Allgemeine Soziologie 423 

lehre" a He in der Gesellschaft denkbaren sozialen Beziehungen, Prozesse und 
Gebilde durch eine groBe Anzahl von Beispielen zu konkretisieren. Seibst 
ein hervorragender Scbriftsteller und mit der Weltliteratur vollig vertraut, 
hat E. mit seiner Methode zahlreichen Begriffen (wie z. B. Vereinsamung, 
Toleranz, Leiden, KompromiB, Nachahmung) einen lebendigen Inhalt 
verliehen, so daB er die sonst an der modernen soziologisehen Wissensehaft 
haufig kritisierte allzu grofle Abstraktheit bis zu einem gewissen Grad uber- 
windet. Es darf alierdings nicht unerwahnt b lei ben, daB die Beschreibung 
einer so grofien Anzahl soziologischer und sozialpsychologischer Probleme 
notwendig zu einer Verflachung ihrer Behandlung fuhren muB. Dennoch 
ist diese VeroffentHchung im Hinblick auf die lebendige Darstellung sowohl 
als auch den in Holland vorhandenen Mangel an allgemein orien- 
tierendem soziologischem Material zu begriiBen. 

Andries Sternheim (Genf). 

Lenin, W. J., Ober den hiatoriachen Materialismus. (Kleine Lenin- 

bibliothek, Band 6.) Verl. f, Literatur u. Politik. Berlin 1931. (105 £.; 

RM. 0.90) 

Die ausfuhrlichsten und wich tigs ten Arbeiten des jungen Lenin iiber 
den historischen Materialismus aus dem Jahre 1894 wurden erst vor 
wenigen Jahren aus volliger Verschollenheit wieder aufgefunden und in 
russischer Sprache veroffentlicht. Sie sind in dem in deutscher Sprache 
vorliegenden Schrifttum tiber Lenin und seine Stellung zur marxistischen 
Methode bisher noch nirgends beriicksichtigt. 

Die beiden Hauptgegner Lenins in diesen Schriften sind einerseits 
der narodnikische Publizist Michailowski, andererseits der spatere 
,, legale Marxist" Peter Struve. Dieser letztere stand seinerseits da- 
mals ebenfalls in einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Narod- 
nikitum, und es ist von hochstem Interesse zu verfolgen, mit welcher wach- 
senden Entschiedenheit sich Lenin in seiner Wiedergabe der scheinbar 
marxistischen Narodnikikritik Struves zugleich gegen die schon damals 
erkennbaren biirgerlichen Tendenzen in der Theorie des „nicht orthodoxen 
Marxisten" Struve richtet, desselben, der noch vier Jahre spater dazu be- 
rufen wurde, den Aufrui des Griindungsparteitages der russischen Sozial- 
demokratie zu verfassen und der heute ein Fiihrer der reaktionaren monarchi- 
stischen Emigration geworden ist. Lenin bekampft schon im Jahre 1894 
Struves tendenziellklassenlosen„0bjektivismus", seine Verwendungabstrakter 
statt historisch-konkreter Kategorien, seine Anerkennung einer „reinen 
Philosophie", seine revisionistisch biirgerUche Auffassung des „Staats" 
und insbesondere der staatlichen Biirokratie und seine ungenugende Be- 
kampfung der beiden narodnikischen Mythen von der geschichtlichen Mission 
der damaligen russischen „stahdelosen Intelligenz'V und der sog. „Volks- 
produktion". 

Das eigentliche Hauptinteresse und in vielen Punkten eine fur den Me- 
thodenstreit in der Soziologie gerade heute wieder unerhorte AktuaUtat 
besitzen die Argumente, mit denen Lenin die gewaltige Uberlegenheit der 
marxistischen materialistischen Methode der Soziologie gegen den subjek- 
tiven und idealistischen Standpunkt Michailowskis geltend macht. Er 



424 Besprechungen 

unterscheidet hierbei genau zwischen dem Wesen und der Funktion des 
„alten" und des jetzt (1894) „modernen" Narodnikitums, von denen „jenes 
bis zu einem gewissen Grade eine harmonische Lehre war, die in einer Epoche 
entstand, als der Kapitalismus in RuBland noch hochst schwach entwickelt 
war". Im scharfen Gegensatz zu diesem russischen „Bauernsozialismus" 
der 70er Jahre, der „auf die Freiheit wegen ihrer Burgerlichkeit pfiff", 
die biirgerlichen Liberalen bekampfte und „von einer Bauernrevolution 
traumte", erscheint ihm die jetzige Narodnikitheorie nur noch als ein ordi- 
narer kleinbiirgerlicher Liberalismus, getragen von jener angeblich „stande- 
losen Intelligenz", die in Wirklichkeit eine biirgerliche Intelligenz war und 
nicht mehr den „unmittelbaren Produzenten", der sich tendenziell bereits 
in gegensatzliche Klassen aufloste, sondem nur noch allgemein biirgerliche 
Interessen vertrat. Karl Korsch (Berlin). 



Psychologic 

MesBer, August, Sexualethik. Volksverband der Biicherfreunde, Wegweiser- 
Verlag G. m. b. H. Berlin 1931. (264 S„ EM. 2.90) 
M. legt zunachst die philosophischen Grundlagen der Sexualethik dar, 
die Bedeutung des Gewissens und der philosophischen Besinnung in Gewissens- 
konflikten. Gut ist nur eine Handlung, die nicht auf fremde Autoritat hin 
(heteronom), sondern autonom „nach bestem Wissen und Gewissen" er- 
folgt. Das Gewissen ist einer Vervollkommnung bedurftig. Man kann sich 
bei der Beurteilung einer Handlung nicht einfach auf die Natur berufen. 
Auch das bose Handeln entspringt menschlichem Streben. Dies ist sittlich gut, 
wenn es dem Rangverhaltnis der in Frage kommenden Werte entspricht, und 
wenn der Mensch in seiner jeweiligen Lage den hochst mdglichen Wert zu ver- 
wirklichen sich bemtiht. Die Natur des Menschen ist nicht fur alle Menschen 
gleich gegeben (z. B. anders fur die Homosexuellen). Die Begriffe normal 
und abnorm sind doppeldeutig : so ist es das Gewohnliche und insof era das 
Normale, daB der Jugendliche der Onanie „verfalle" oder auBerehelichen 
Geschlechtsverkehr habe. Damit ist dies aber noch nicht normal in dem 
Sinne, daB es sein soil. Die autonome Wertethik hat einen formalen Cha- 
rakter, dagegen stelle die Kirche inhaltlich bestimmte Gebote und Verbote 
auf, wodurch gewisse Handlungen, z. B. die Verhinderung der Befruchtung, 
ausnahmslos schlecht sind. M. beschaftigt sich dann mit dem Freiheits- 
problem. Fiir ihn reicht das Recht der Willensfreiheit soweit, als sie Ausdruck 
der natiirlichen Zuversicht des wollenden Menschen ist, das, was er als Pflieht 
erlebt, auch bejahen und an seiner Verwirklichung arbeiten zu konnen. 
Der Mensch „spielt gleichsam verschiedene Rollen". Es folgen kurze und 
recht klare Abschnitte iiber Physiologic, Hygiene und Psychologie des Ge- 
schlechtslebens. Der ftinfte Teil setzt die Beziehungen des Geschlechts- 
lebens mit der Sittlichkeit auseinander : Padagogik des Totschweigens, Er- 
ziehung zum rechten Schamgefuhl, Onanie und Odipuskomplex, Geschlechts- 
not der Jugendlichen, Enthaltsamkeit, Prostitution, Verhaltnis, Flirt, Probe- 
ehe, Kameradschaitsehe, Wesen und Sinn der Ehe, Ehe zu dritt, Kinder^ 



Psychologie 425 

zahl und Pflichten gegen die Kinder. Der letzte Abschnitt behandelt Ge- 
schlechtsleben und Recht. 

Man kann sich bei vielen Abschnitten nicht des Eindrucks erwehren, 
dafi M., bei alien Bestrebungen, die Kompliziertheit der Materie und 
damit die aus ihr entstehenden Gewissenskonflikte zur Geltung zu bringen, 
an vielen alten Vorurteilen hangen geblieben ist, daB er auch der modemen 
Psychologie — Freud ist ein eigener Abschnitt gewidmet — ■ nicht ent- 
sprechend Rechnung getragen hat. So fiihrt er scheues, egozentrisches 
Wesen, das den EntschluB zu einer Ehe erschwert, auf Onanie zuriick und 
leitet daraus eine Schadlichkeit der Onanie ab, wahrend er besser tate, die 
Onanie zuriickzufiihren auf die TTnfahigkeit, aus sich heraus zu treten. Da- 
durch wird das Buch geeignet, bei Neurotischen Skrupel mit ihren schlimmen 
Folgen zu vertiefen, statt — wie es bestrebt ist — ■ zu klaren. 

Karl Landauer (Frankfurt a. M.). 

Lange-Eichbaum, W. 9 Das Genieproblem (Eine Einfuhrung). Ernst 
Bernhardt, Miinchen 1931. (128 S., br. EM. 2.80, geb. EM. 4.50) 
Es handelt sich um eine Einfuhrung in das grundlegende Werk des Ver- 
fassers ,, Genie, Irrsinn und Ruhm". Niemals in der Geschichte verliert das 
Genie als Wertbegriff einen versteckt religiosen Beigeschmack fiir die 
Verehrergemeinde. Andere denken und fiihlen der gleichen Personlichkeit 
gegeniiber ganzlich verschieden. Auch die Gefuhlsrangordnung des einzelnen 
ist in seinen verschiedenen Lebensaltern verschieden. Bei seinen Lebzeiten 
oft mifiachtet oder gekreuzigt, wird der Mensch erst viel spater zurn Genie. 
Der einzelne und die Massen widersprechen sich in ihren Genie wertungen, 
aber erst Menschengruppen schaffen ihren Gottern den Respekt als Genie. 
Genie ist nichts Absolutes, sondern eine Wertung. Die Genufigrofie ist an 
dieser Wertung das wichtigste Moment: ohne Leistung keine Wertung als 
Genie. Aber der Trager ist nicht immer die geistig schaffende Ursache der 
Leistung; nur an seinen Namen kniipft der Ursachentrieb der Menschheit 
das, was ihr behagt. Der grofle Staatsmann z. B. ist nur ein Faktor in einer 
riesigen soziologischen Kraftepyramide ; Denksparsamkeit der Masse schiittet 
alien Ruhm auf den einen. Das Genie muB das Ideal des einzelnen und wo- 
moglich eines ganzen Volks als Gesamtbild reprasentieren. Der wahren 
GenuBgroBe entspricht der subjektive Genieakkord, das Gefiihl von etwas 
Heiligem. Dieser wird in Anschlufi an Otto psychologisch weitgehend zer- 
gliedert. Den positiven Gefiihlstonen der t^erlegenheit, des MitreiBenden, 
des Lockenden, des Besonderen stehen negative gegeniiber: das Genie muB 
unheimlich sein und leises Grauen erregen. Mit der Martyrerkrone urns Haupt 
sieht der Verehrer sein Genie am liebsten. Daher auch der unheimliche Reiz 
des Geisteskranken, des Friihverstorbenen und des endlos Lebenden. Im 
Laufe der Jahrzehnte gesellt sich noch hinzu: der Ruhm als anerkanntes 
Genie, der Eindrack der geheiligten Unantastbarkeit. Ein solcher Akkord 
kann nicht plotzlich entstehen. Einer wird niemals von Anf ang an als Genie 
gewertet oder gar als solches geboren. Genie ist ein soziologisch -religions - 
psychologisches Endprodukt, das oft Jahrhunderte ium Entstehen ndtig 
hat. Der zweite Hauptteil: Genie und Ruhm, rollt die ganze soziologische 
Seite des Problems auf: bei vielen Menschen bekannt sein ist noch nicht 



426 Besprechungen 

Ruhm, ebensowenig wie Wirkung oder aufierer Erfolg. Sensation kann die 
Vorstufe zum Ruhm werden; aber der Blick muB haften bleiben. Es 
gibt auch negativen Ruhm. Ruhm ist ein erreichter Zustand, indem zahl- 
reiche Menschen jemand als gefuhlsmafiig stark eindrucksvoll bei sich er- 
leben. Genieruhm ist eine engere TJnterform des positiven Ruhms. Es gibt 
keine verkannten oder noch unbekannten Genies, erst der mystische Ruhm 
macht Menschen, meist Hochtalente, zum Genie. 

Wir haben diese ersten Teile, die das OrigineUe der Konzeption von 
L. bringen, ausfuhrlicher besprochen. Aus ihnen ergibt sich das Spatere 
iiber Genie und Begabung, Genie und Irrsinn, Genie und Kultur, wozu L. 
auch noch gute und manche neue Einzelheiten bringt. Das Bedeutungsvolle 
an seinem Werke ist, daB er das Genieproblem aus dem Bereiche der nur 
biologisch-medizinischen Betrachtung lost und das soziologische Problem 
in seiner Bedeutung charakterisiert. In dem kleinen und sehr klar geschrie- 
benen Buch findet sich ein geradezu erstaunliches Wissen und massenhaftes 
einwandfreies Material. Diesen Vorzugen gegeniiber fallt es nicht in die 
Wage, dafl man in einzelnen psychologischen Fragen anders sehen mag 
als L. Karl Landauer (Frankfurt a. M.). 



Kiinkel, Fritz, Charakter, Liebe und Eke. S. HirzeU Leipzig 1932. 

(179 S.; geb. RM. 8.—) 

Dies Buch erfullt in keiner Weise die Aufgabe, die der Autor sich ge- 
setzt hat, im Rahmen einer angewandten Charakterkunde eine allgemein- 
verstandliche wissenschaftliche Darstellung zu geben iiber „Die Liebe als 
Wecbselwirkung zwischen Mann und Frau", „Die Ehe als Wechselwirkung 
zwischen Paar und Gesellschaft" und beider Grundlagen und Folgerungen; 
und es kann diese Aufgabe auch grundsatzlich nicht erf u Hen, weil K. mit 
der final gerichteten und ethisierenden Betrachtungsweise der Individual- 
psychologie, ja mit der Voreingenommenheit verkappt theologischer Frage- 
stellungen an die einschlagigen psychologischen, biologischen und sozio- 
logischen Probleme herangeht. 

Eine eigene und eigenbrddlerische Nomenklatur steht an Stelle neuer 
Einsichten; so stellt K. der idealistischen und materialistischen seine dia- 
lektische Geschichtsauffassung gegeniiber, und die marxistische Denkweise 
ist ihm „nicht dialektisch genug". Die Menschheit durchlauft nach ihm 
eine „ Grundeinstellung in der Friihzeit als urspriingliche Wirhaf tigkeit", 
sodann als „Merkmal der wachen Kultur" das Stadium der „Ichhaftigkeit", 
um schliefilich zur zukiinftigen „kulturellen Wirhaftigkeit" zu kommen, 
deren Ausdruck im Bereich der Geschlechtsbeziehungen „die monogame 
Polaritat zwischen je zwei" — „verantwortungs"bewufiten — „gleichbe- 
rechtigten Werktatigen" sein wird. Die psychoanalytischen Einsichten 
iiber die menschlichen Liebesbeziehungen lehnt Verf. ab, weil dort „der 
Begriff der Verantwortung" fehle; er erwahnt und bekampft zwar 
Freuds Lehre vom Ich und vom Es als Teilen der menschlichen Psyche, 
ubersieht aber das Dberich (Idealich), nach Freud die Reprasentanz „des 
Hoheren, Moralischen, tftjerpersfinlichen im Menschen". 

Frieda Fromm-Reichmann (Heidelberg) 



Psychologie 427 

Sir Galahad, Mutter und Amazonen. Umrifi weiblicker Reiche. Albert 

Langen. Miinchen 1932. (305 S.; RM. 11.50) 

Die Verfasserin will in diesem Buch eine „erste weibliche Kulturge- 
schichte", einen ,,UmriB weiblicher Reiche" geben. Unter Zugrundelegung 
der Ergebnisse wissenschaftlicber Forschung, vor allem von Bach of en, 
Brif fault, Frobenius, aber auch vieler anderer, will sie ein zusammen- 
fassendes Bild jener Gesellschaften geben, in denen die Frau mehr oder 
weniger ausschlieBlich herrschte und mutterliche Ziige die Kultur be- 
etimmten. Es wird zunachst eine schone Darstellung der Bachofenschen 
Theorie und speziell seiner Symboldeutung gegeben, dann werden die ver- 
schiedenen Kulturen behandelt, von denen mutterrechtliche Ziige bekannt 
sind (besonders ausfiihrlich hierbei Nordamerika, Mittel- und Sudamerika, 
Airika, Agypten). Endlich wird eine kritische Darstellung der verschie denen 
Theorien uber das Mutterrecht gegeben, der am Ende die kurze Darstellung 
des Amazonenproblems folgt. 

Inwieweit im einzelnen das von der Verf. herangezogene Material 
wissenschaftlich gesichert ist, kann der Ref. nicht entscheiden. Es kommt 
bei diesem Werke wohl auch weniger auf die Richtigkeit von Einzelheiten 
an als darauf, daB in einer sehr geistreichen, graziosen und lebendigen Weise 
dem Leser ein Bild der viel vernachlassigten miitter lichen Elemente der 
Kultur gegeben wird, wobei die Verfasserin sich durch ein feines Verstand- 
nis fur UnbewuBtes und Symbolik als besonders geeignet fiir diese Aufgabe 
erweist. 

Obwohl die Verf. am Schlusse erklart, dafi von einer „Wiederkehr des 
Gleichen" in der Geschichte keine Rede sein konne, ist sie durchaus 
undialektische Romantikerin, und ihre Pole mi k gegen den historischen 
Materialismus, den sie mit dem burger lichen Rationalismus verwechselt, 
ist oberflachlich. Erich Fromm (Berlin) 

Feniehel, Otto, Perversion, Psychosen t Charakterstorungen. (218 S., 

6r. RM. $.— , geb. RM. 10.—) 
Feniehel, Otto, Hysterien und Zwangsneurosen. (123 S., br. RM. 7. — , 

geb. RM. 8. — ). Beide Intern. Psychoanalytischer Verl. Wien 1931. 

Die beiden Werke des erfahrenen Psychoanalytikers stellen zusammen 
eine „psychoanalytisch spezielle Neurosenlehre" dar, wie der Untertitel 
lautet. Sie zeigen, wie viel ernste klinische Beobachtungen von Freud und 
seiner Schule geleistet worden sind, da zum ersten Male die ganze heute 
nur noch schwer uberschaubare Literatur in mustergiiltiger Weise verarbeitet 
wurde. Keiner, der sich eingehend mit der Psychoanalyse befaBt, kann an 
diesen Schriften voriibergehen. Karl Landauer (Frankfurt a. M.). 

Dorer, Maria, Historische Qrundlagen der Psychoanalyse. Felix 
Meiner. Leipzig 1932. (184 S.; RM. 0.— , geb. RM. 5.— ) 
Die Arbeit unternimmt den Versuch einer geistesgeschichtlichen Ein- 
ordnung der Freudschen Theorie durch den Nachweis der geistigen Ein- 
fliisse, die auf Freud eingewirkt haben. Es werden zunachst die psycholo- 
giechen Grundbegriffe Freuds an Hand seiner — vor allem friiheren — 
Schriften herausgearbeitet, dann versucht, ein Bild der wissenschaftlichen 



428 Besprechungen 

Personlichkeit Freuds, der wissenschaftlichen Welt Wiens 1870 — 1900 und 
speziell von Freuds Lehrern und Freunden zu geben. Die Verf . kommt zu 
folgendem Resultat: „Das wichtigste Resultat . . . laBt sich . . . dahin 
formulieren, dafi zwischen der Psychologie Freuds und jener Herbarts 
tatsachlich ein konkreter, ein realer Zusammenhang besteht. Und zwar 
geht die historische Linie, schematisch gesprochen, von Herbart iiber Grie- 
singer zu Meynert, von Meynert aber zu Freud" (S. 170). 

So wichtig die Fragestellung, von der die Arbeit ausgeht, ist und so 
grundlich und korrekt auch vorgegangen wird, so kann das Ergebnis im 
ganzen doch nicht uberzeugen; es erscheint zu sehr aus einzelnen Aufie- 
rungen konstruiert und zu wenig die grofien Zusammenhange beriick- 
sichtigend. Erich Fromm (Berlin). 

Young, Kimball. Social Psychology. An Analysis of Social Behavior. 

F. S. Crofts & Co. New York 1930. (XVII u. 674 S.) 
Ders. ? Source Book for Social Psychology. F. S. Crofts & Co. New 

York 1931. (872 S.) 

Der Standpunkt, den der Autor selbst in der psychologischen Arbeit 
vertritt, ist nicht leicht ersichtlich. Einige seiner Ansatze bedeuten eine 
Loslosung von der allgemeinen Sehweise der Behavioristen, so z. B. wenn 
er betont, dafi die Gruppe vom sozialpsychologischen Standpunkt aus vor 
dem Individuum da ist, oder wenn er die Gruppen charakterisiert als 
„we-group" im Gegensatz zu „ others -group". Andererseits verlafit er sich 
in der Psychologie des Einzelmenschen vdllig auf behavioristische Arbeiten. 
Er zieht z. B. zur Charakterisierung des Gruppenlebens bei den Tieren die 
„Intelligenzprufungen an Menschenaffen" von W. Kohler heran, bei dem 
Kapitel iiber Intelligenz beriicksichtigt er diese Arbeit und andere Unter- 
suchungen wie z.B. W. Sterns uberhaupt nicht. Er erklart selbst, da6 er den 
behavioristischen Ansatz fiir gesund halt, dafi man aber in den Gebieten, 
wo der Behaviorismus noch nicht gearbeitet hat: „in dealing with internal 
aspects of behavior" die Terminologie der alteren Psychologie benutzen 
mu6. — • Die Literaturangaben machen keinen Anspruch auf Vollstandig- 
keit und soilen anregend wirken. Die Auswahl ist davon beeinfluCt, ob 
ein Buch in englischer Sprache geschrieben oder in diese Sprache iibersetzt 
ist. 

Das Source Book zerfallt in 6 Hauptteile. 1. Grundziige des sozialen 
Verhaltens, 2. Die psychologischen Grundlagen des sozialen Verhaltens, 
3. Persdnlichkeit und Verhalten, 4. Soziale Haltungen (attitudes) und die 
TJmgebung des Subjekts, 5. Fuhrerschaft und Prestige im sozialen Verhalten, 
6. Kollektives Verhalten (Charakteristiken des Gruppenverhaltens, der Zu- 
horerschaft, geistiger Epidemien, der Natur der offentlichen Meinung, der 
Organe der offentlichen Meinung). 

Jedem Kapitel geht ein kurze Einleitung vor aus, die eine Einfuhrung 
in die Problemlage gibt. Dann folgt eine kurze Kennzeichnung der in 
der Materialsammlung dargebotenen Einzelarbeiten, aus denen der Stand- 
punkt und die Denkweise des jeweiligen Verfassers hervorgehen. 

Material ist aus den verschiedensten Gebieten zusammengetragen : 
Tierpsychologie, Psychiatrie, Physiologie und angewandte Psychologie 



Psychologie 429 

sind durch Arbeiten von Forschern wie Kretschmer, McDougall, Watson, 
Bleuler, W. Kohler, Stanley Hall vertreten. 

Die Einteilung der Social Psychology entspricht der des Source 
Book nicht vollig. Am Ende jedes Kapitels ist dort auf die zugehorigen 
Stellen des Source Books hinge wiesen. Es werden Fragen angefugt, die 
tiefer in die Materie hineinfiihren sollen. 

Susanne Liebmann (Berlin). 

Kraus, Siegfried, Bedurfnis und Befriedigung. Eine Unterauchung 
iiber die Hintergrundmachte der Gesellschajt. Julius Springer, Wien 
1931. (XI u. 109 S.; RM. 7.50) 

Der Verfasser der vorliegenden sozialphilosophischen Arbeit unter- 
nimmt es, das Phanomen ^Bedurfnis" nach seiner strukturellen Konstitu- 
tion und dynamischen Funktion zu analysieren. Er nimmt damit den Faden 
der seit August Dorings ,,Philosophischer Gtiterlehre" (1888) vernach- 
lassigten Theorie des Bediirfnisses wieder auf. K. fuhrt die Analyse auf 
der einen Seite bis zu den erkenntnistheoretischen Elementen der Sub- 
jektskonstitution fort, auf der andern bis zu den „metaphysischen Wesen- 
heiten", die er am Horizonte des Bediirfniskreises als Grenzphanomene 
«xistierend annimmt. Das Bedurfnis wird als komplexe Einheit von Wollen, 
Fiihlen, Denken und zentralem IchbewuBtsein aufgezeigt, seine Dynamik als 
ineinandergreifende Abfolge von Transformations akt en (vages Begehren — 
Affektstauung — Planbildung — Vorstellungsformung und Logisierung) nach- 
gezeichnet. Neben dieser detaillierten Phanomenologie des Bediirfnisses 
nimmt sich die lediglich auf die Darstellung von Ersatz befriedigungen 
beschrankte Behandlung der ,,Verwirklichungstechnik" sehr karglich aus. 
Im kritischen Teil wirft K. Marx eine zu enge („vorkritische") Fassung 
der Bedingungsgesamtheit menschlicher Handlungen und Bediirfnisse vor, 
die zur Verabsolutierung eines einzigen Faktors, des umweltlichen, fiihre. 
Zur „Umwelt" des Individuums aber rechnet K. nicht nur den mensch- 
lichen Leib, sondern auch alle „vorstellungsma6igen Bestandteile des Be- 
wufitseins", wahrend ,,das Individuum" fvir ihn identisch ist mit einem 
bloQ willensmafiigen, denkfahigen Ichkern. Nach einer solchen Begriffs- 
bestimmung gelangt er dann zum ebenso naheliegenden wie unsinnigen 
Schlufl, daC der Mensch ein ,,von der Umwelt wesentlich unabhangiger 
Erzeuger seiner Taten" sei. 

A. F. Westermann (Frankfurt M.). 

Urbschat, Fritz, Das Seelenleben des kaufmdnnisch-tatigen Jugend- 
lichen. J. Beltz. Langensalza 1932. (80 S.; RM. 2.50) 
Die Stellung des jugendlichen Angestellten — im Milieu ostpreufiischer 
Mittelstadte — zu seinem Beruf sowie seine Gestaltung der Freizeit ist 
das Objekt der Untersuchung. Als Forschungsmethode dienten Lehr- 
gesprache zwischen Lehrer und Schiilern der Berufsschule mit anschlieflenden 
schriftlichen Darlegungen der Schiilerj Spontanberichte, personliche Be- 
obachtungen des Lehrers in der Schule und in gemeinsam verbrachter 
Freizeit traten zur Erganzung hinzu. 466 Schiiler und Schiilerinnen waren 
die Versuchspersonen, aus deren Aussagen iiber Berufswahl, Berufserleben 



430 Besprechungen 

und •wiinschen Beispiele gebracht werden. Auffallend stark tritt der den 
Jugendlichen selbst bewuBte EinfluB von Kindheitserlebnissen, Kinder- 
spielen und fruhesten Berufswiinschen bei der spateren Berufswahl in 
Erscheinung, Klagen iiber Mangel an Freizeit, die von der Mehrzahl der 
jungen Angestellten erhoben werden, fiihrt der Verf. wohl unberechtigt 
auf die besondere Situation der Kleinstadt zuruck* — Statt bisweilen 
recht lebensfremde Anforderungen an die Jugendlichen zu stellen, hatte U. 
die gesammelten, z. T. wertvollen Aussagen im Zusammenhang mit dem 
wirklichen Leben der Angestellten beurteilen miissen. 

Hilde WeiB (Frankfurt a. M.). 



Geschichte. 

Steinhausen, Georg, Deutsche Geistes- und Kultur geschichte von 
1870 bis zur Gegenwart M. Niemeyer. Halle (Saale) 1931. (512 S.; 
gek. RM. 12.—, geb. RM. 14.—) 
Das Werk ruht auf der These, dafi Vorkriegszeit und Nachkriegszeit 
„trotz dem Einschnitt durch Weltkrieg und Staatsumwalzung eng zu- 
sammenhangen", ja dafi die letzten sechzig Jahre im Grunde eine einheit- 
liche und geschlossene Epoche dar stellen. Von dieser Dberzeugung her 
verschiebt sich fur den Verf. die Aufgabe: er bemiiht sich nicht eigentlich 
um eine „ Geschichte", d. h. um eine Darstellung des Werdens und des 
Wandels der deutschen Kultur in dieser Zeit — dazu finden sich nur An- 
satze — , sein Interesse ist auf Analyse eines statisch Gegebenen gerichtet, 
sein eigentliches Ziel ist, den Zeitraum „von der tieferen, von der geistigen 
Seite zu deuten". Aber die Analyse vermag nicht den in Fiille gebotenen 
Stoff zu durchdringen : dazu fehlt es ihr an einer einheit lichen, theoretisch 
geklarten, soziologisch und sozialpsychologisch fundierten Untersuchungs- 
methode; die „Deutung" des Objekts wird mit Hilfe einiger popular - 
idealistischer Kategorien vollzogen; die Zeit von 1870 bis zur Gegenwart 
ist ein „t)bergangszeitalter", in dem „Materialismus" und „Egoismus" 
um sich greifen, dem die „groBen Ideen" fehlen und vor allem die „genialen 
Personlichkeiten heroisch-damonischen Charakters". Dabei ist trotz aller 
Mangel im Grundsatzlichen das Einzelurteil des Verf. nicht ohne Wert oder 
zum mindesten Interesse: St. durchmustert die Erscheinungen der Zeit 
mit ehrlicher, oft eigenwilliger Unabhangigkeit und mit Achtung gebieten- 
dem Ernst — nur verschwindet immer wieder hinter dem nach sittlichen 
Mafistaben und oft in sittlichemZorn wertenden und verurteilenden Prediger 
der erkIarendeundverkniipfendeHistoriker,den man in diesemBuche eigent- 
lich sucht. Wilhelm Mackauer (Frankfurt a. M.). 

Mehring, Franz, Zur Veutschen Geschichte. GesammeUe Schriften und Auf- 
sdize, krsg. von Eduard Fucks. Soziologische Verlagsanstalt. Berlin 1931. 
(500 S.; RM. 8.50) 
Der vorliegende Band der Mehring-Gesamtausgabe enthalt vor allem: 

1. „Die Deutsche Geschichte vom Ausgang des Mittelalters", ein „Leit- 



Geschichte 431 

faden fiir Lehrende und Lernende" offensichtlich stark an padagogischen 
Zwecken orientiert, die aus anderen Schriften M.s bekannten Analysen zu 
einer Gesamtdarstellung zusammenf assend ; kleinere Aufsatze iiber 2. ,, Ull- 
rich von Hutt«n, 3. „Etwas iiber groBe Manner, Martin Luther 11 und 4. „Gustav 
Adolf, ein Furstenspiegel zu Lehr und Nutzen der deutschen Arbeiter" eht- 
hiillen die Klassenbeziehungen der Reform ationsepoche. Eine Reihe von 
Aufsatzen, die M. als Einleitung zu „Aus der neuen Rheinischen Zeitung" 
in seiner Ausgabe des literarischen Nachlasses von Marx, Engels, Lassalle 
und im „Wahren Jakob** veroffentlicht hat, sind zu einer Darstellung der 

5. ^Revolution und Gegenrevolution 1848^-1849" zusammengefaBt. Gegen 

6. „Burgerliche Geschichtsschreiber** richten sich eine Reihe weiterer Auf- 



Der Band ist von Eduard Fuchs und Jean Romein, Amsterdam, sorgf altig 
herausgegeben und mit Anmerkungen versehen. Die Einleitung Ludwig 
Pollnaus ist reich an wertvollen Hinweisen und Polemiken mit Dopsch und 
Cunow iiber den Urkommunismus, mit Veit Valentin iiber das Verhaltnis 
von Bourgeoisie und Proletariat in der Revolution von 1848. 

Es kann unsere Aufgabe nicht sein, in diesem Rahmen eine Untersuchung 
der Methode M.s als Historiker vorzunehmen. Trotz einiger Mangel bestatigt 
auch dieser Band wiederum, dafl M. .von alien deutschen „ orthodox en Mar- 
xisten" der Vorkriegszeit die marxistische Methode am vollkommensten 
handhabte* und jeder Versuch in dieser Richtung wird an ihn ankniipfen 
miissen, freilich nicht ohne die Polemiken Reimanns und Pollnaus zu 
berucksichtigen. Josef Doppler (Prag). 



Karl Marx/Friedrich Engels, Der, Briefwechsel zwischen Marx und 

Engels 18 68 — 1883. (Historisch-kritische Qesamtausgabe. Hrsg. v. 

V. Adoratskij. III. Abteilung, Band 4). Marx-Engels-Verlag. Berlin 

1931. (XVI u. 759 S.; MM. IS.—) 

Nunmehr liegt der letzte Band des Brief wechsels zwischen Marx und 
Engels, mit einem Abteilungsregister der vier Bande, vor. Er erstreckt sich 
iiber die Jahre 1868 — 1883, iiber eine Zeitspanne, auf die zutrifft, was Lenin 
sagt, daB sich in ihr „die Arbeiterklasse von der biirgerlichen Demokratie 
loslost, in der eine selbstandige Arbeiterbewegung entsteht, in der die Grund- 
lagen der proletarischen Taktik und Politik ausgearbeitet wurden". Dem- 
gemafi nehmen die Probleme der Arbeiterklasse und ihrer Politik in der Er- 
orterung der Brief schreiber einen breiten Raum ein. Die Ausfuhrlichkeit 
der Darlegungen wird vor allem durch den auBeren Umstand begunstigt, 
daB bis zum Jahre 1870 E. in Manchester, M. in London wohnen. Es wird 
Stellung genommen zu den Arbeiterbewegungen der meisten europaisehen 
Lander und Kordamerikas und zu den Problemen der Internationalen 
Arbeiter-Assoziation. Die deutsche Arbeiterbewegung, vor allem ihre beiden 
Fuhrer, Liebknecht und Schweitzer, werden eingehend behandelt, und die 
Scharfe der Kritik an ihnen weist darauf hin, welche beeondere Wichtigkeit 
M. und E. gerade der Entwicklung in Deutschland beilegten. In diese Zeit 
fallen ferner die Auseinandersetzungen iiber die Probleme der politischen 
Okonomie. Besonders hinge wiesen sei auf die Brief e M.s vom 22., 26. und 
30. April 1868, in denen er das Verhaltnis zwischen Profitrate und Geldwert 



432 Besprechungen 

erortert. Im letzten entwickelt er den Aufbau des dritten Toils des „Kapitals". 
Nach 1870 tritt die Behandiung der Probleme der politischen Okonomie etwas 
zuruck zugunsten der Probleme der Dialektik in der Natur und der dialek- 
tischen Naturwissensehaft. Hierfiir ist vor allem der Brief E.s vom 30. Mai 
1873 wichtig. 

Neben den sachlichen Fragen findet sich in diesen personlichen Briefen 
vieles, was iiber die privaten Verhaltnisse der Briefschreiber Auskunft 
gibt. 

Diese neue Ausgabe des Briefwechsels ist gegeniiber der Ausgabe der 
deutschen Sozialdemokratie vom Jahre 1913 urn 47 neue Briefe vermehrt 
worden; ferner sind alle Streichungen der alien Ausgabe beseitigt worden. 
So liegt denn der Briefwechsel der Jahre 1868 — 1883, soweit er erhalten ist, 
in 1569 Nummern in einer musterhaften Ausgabe vollstandig vor. 

W. Gollub (Frankfurt a. M.). 

Young, Pauline V., The Pilgrims of Russian Town. The University 

of Chicago Press. Chicago 1932. (296 S.; $ 3.— ) 
■ Zu diese m Buch, das die Geschichte einer russischen Sekte, der Molo- 
kans, die vor etwa 25 Jahren nach Kalifornien wanderten, aus wirklich 
intimer Nahe schildert, hat Robert E. Park als Einleitung eine eindring- 
liche und schone Analyse der Wesenszuge einer Sekte uberhaupt geschrieben. 

Frau Young widmete 5 Jahre dem intensiven Studium dieser Sekte. 
Sie hatte das Gliick, einen besonders fruchtbaren Moment (vom Standpunkt 
soziologischer Erkenntnisse) zu erfassen. Die Molokans, Bewohner des 
russischen Landes, durch gemeinsame Leiden und einen gemeinsamen 
Glauben fest zusammengeftigt, wandern von stillen Dorfern des Kaukasus 
in eine der unruhvollsten, von modernem Leben pulsierenden Stadte 
Amerikas aus. Auch hier bewahrt die alte Gruppe, nachbarschaftlich von 
der Umwelt abgeschlossen, die Tradition (religios kommunistischer Art) 
der Briiderschaft, die Riten ihrer Sekte. Die Einflusse des fremden Lebens 
aber lassen sich durch keinen noch so hohen Damm zuriickhalten. Kon- 
fliktstoff genug, der besonders durch die jungeren Generationen, die viel- 
fache Beruhrungspunkte mit der Umwelt haben, herangetragen wird. 
Young schildert den Wandel der Einstellungen, die Aufiockerung der Ge- 
meinschaft, den Karapf der Festgefugten gegen die desintegrierenden Ein- 
fliisse. Obwohl sie nur schlicht beschreibend diesen einen Fall der Ent- 
wicklung einer verpflanzten Sekte darstellt, ist ihr Buch mehr als eine 
bloCe Geschichte der Molokans: es gewahrt soziologische und sozial- 
psychologische Einsichten, von denen wir leicht zu Hypothesen iiber die 
Entwicklung von Sekten uberhaupt kommen konnen. Das Buch ist fesselnd 
geschrieben und enthalt eine reiche Bibliographie iiber das behandelte 
Gebiet. Margareta Lorke (Frankfurt a. M.). 

McGec 5 John Edwin, A Crusade for Humanity. The History of Or- 
ganized Positivismin England. Watts <k Co. London 1931. (234S. P 
sh. 21.—). 
Comte hat im „Systeme de politique positive" und im „Catechisme" ein 

System der Humanitatsreligion ausgearbeitet, in deren Mittelpunkt die 



Geschichte 433 

humanity stand, deren Priesterschaft sich aus den Intellektuellen zu- 
sammensetzen sollte und als deren Oberpriester er sich selbst betrachtete. 
Der Gottesdienst - bestand aus kultischen Handlungen zu Ehren der 
Humanitat und ihrer Vertreter (die auch den neuen Monaten die Namen 
gaben) und aus wissenschaftlichen Aufklarungsvortragen. 

In England grundete Richard Congreve die erste positivistische Ge- 
meinde, von der sich 1878 eine andere Gruppe unter der Fuhrung von Frederic 
Harrison, John Henry Bridges und Edward Spencer Beesly abspaltete. 
McGee berichtet die Geschichte dieser zwei Londoner Gruppen und der 
in der Provinz gegriindeten Zweigvereine. Er schildert ihren Aufstieg und 
Niedergang bis in unsere Tage, in denen nur noch eine ganz kleine Sekte 
unter Fuhrung von T. S. Lascelles in London existiert. Die Bewegung, 
deren Anhangerschaft immer klein war, hat durch ihre Fuhrer in der Presse 
zu den groBen politischen Fragen Stellung genommen. McGee halt die un- 
politisch-wissenschaftliche Einstellung der Fuhrer fiir eine Hauptursache 
ihrer Unpopular i tat, glaubt jedoch, daB sie auch zur Versohnung der poli- 
tischen Gegensatze in England beigetragen habe. — Eine Bibliographic 
von 487 Nummern beschlieBt das Buch. 

McGee behandelt seinen Gegenstand rein historisch, schildert Neuerungen 
im Ritus, Episoden aus dem Leben der Fuhrer und ihre — iibrigens 
wirkungslose — Stellung zu politischen Fragen. Er vermittelt weder 
einen Einblick in das Wesen einer wissenschaftlichen Sekte noch in 
die Verarbeitung positivistischer Gedanken in England. So bleibt 
seine Arbeit im rein Historischen stecken, ohne zu grofieren Zusammen- 
hangen durchzudringen. 

Hans Rosenhaupt (Mainz). 

International Migrations. Volume I: Statistics. Compiled on behalf of the 
International Labour Office, Geneva, with Introduction and Notes by 
Imre Ferenczi and edited on behalf of the National Bureau of Economic 
Research by Walter F. WUlcox. National Bureau of Economic Research, 
New York 1929. (1112 S.; % 10.—) 
Volume II: Interpretations. By a group of scholars in different countries. 
Edited on behalf of the National Bureau of Economic Research by Walter 
F. Willcox. National Bureau of Economic Research. New York 1931. 
(715 S.: $ 7.—) 

Das vorliegende Werk, das von amerikanischer Seite angeregt und 
finanziert, vom Internationalen Arbeitsamt unter der Leitung Ferenczis 
durchgefuhrt worden ist, wird wohl alien kiinftigen Arbeiten auf dem Gebiet 
der Wanderungsfrage als Grundlage, mindestens aber als unentbehrliches 
Hilfsmittel dienen. Der erste Band enthalt in einer von privater Seite nie 
zu erreichenden groBartigen Vollstandigkeit alle verfiigbaren Statistiken 
iiber internationale Wanderungen, und zwar nicht nur iiber die des 19. und 
20. Jahrhunderts, sondern auch iiber alle weiter zuriickliegenden, soweit 
sich, und sei es auch mit groBter Muhe, dar iiber Material finden lieB. Der 
erste, von Ferenczi grundlich kommentierte Hauptteil behandelt die prole- 
tarischen Massenwanderungen des 19. und 20. Jahrhunderts. Der gewaltige 



434 Besprechungen 

zweite Teil bringt ausschliefilich statistische Tabellen iiber die internatio- 
nalen Wanderungen. Literaturverzeichnis und ausftihrlicher Index er- 
hohen die Brauchbarkeit des Riesenwerkes. 

Der zwei Jahre spater erschienene zweite Band enthalt, abgesehen von 
einer grundlichen und interessanten Studie von Willcox iiber Vermehrung 
und Verteilung der Erdbevdlkerung seit 1650, eine ganze Reihe von Auf- 
satzen, die von Fachleuten — und zwar meistens Statistikern — der ver- 
schiedenen Lander stammen. Sieben Beitrage kommen aus Einwanderungs- 
landern. Sie beschranken sich fast alle auf eine Erlauterung der stati- 
stischen Daten und der Einwanderungsgesetze. Trotzdem enthalten manche, 
wie z. B. die Beitrage iiber Australien und Neuseeland, auch fiir den sozio- 
logisch und politisch interessierten Leser viel Wertvolles, sofern er zwischen 
den Zeilen zu lesen weifi. Die Beitrage aus den Emigrationslandern sind im 
allgemeinen viel ausftihrlicher. Fiir Deutschland berichtet der Statistiker 
Dr. Burgdorfer; iiber die Auswanderung aus der osterreichischen Halfte der 
fruheren Doppelmonarchie schreibt Dr. Klezl, iiber ungarische Wande- 
rungen Dr. Thirring. Besonders bemerkenswert ist der sehr umfangreiche 
Aufsatz des Sowjet-Statistikers V. V. Obolensky-Ossinsky iiber russische 
Ein- und Auswanderung; der Verfasser geht auch ausfiihrlich auf die wirt- 
schaftlichen, sozialen und politischen Hintergriinde derMassenauswanderung 
aus Rutland ein, wobei er alle Siinden des Zarismus stark herausstreicht. 
Sehr interessant und bei aller Zuriickhaltung des Verfassers doch durch die 
mitgeteilten Daten erschiitternd ist der Aufsatz des Genfer Professors 
L. Herseh iiber jiidische Wanderungen. 

Die Knappheit des Raumes erlaubt nicht eine Wiirdigung der Arbeiten 
im einzelnen; doch sollen wenigstens alle an der Wanderungsfrage Inter- 
essierten auf dieses groflartige Sammelwerk hingewiesen sein. 

Arthur Prinz (Berlin). 



Bott, Alan, Our Fathers (1870—1900). WilUam Heinemann Ltd. London 

1931. (249 S.; sh. 8/6) 

Bott unternimmt den neuartigen, reizvollen Versuch, die spatviktoria- 
nische Zeit in einem Bilderquerschnitt widerzuspiegeln. Er zeigt aus einera 
Material von hunderttausend zeitgenossischen Magazinillustrationen — Vor- 
laufern der Photographie — ausgesuchte Bilder, durch kurze Texte und Ab- 
handlungen nach Originalquellen erlautert. So ist ein Sammelwerk von un- 
gewohnlich buntem Inhalt entstanden, das una rasch und eindringlich auf- 
schlufireiche Eindriicke aus dem gesellschaftlichen Leben, aus Politik und 
Krieg, aus den Anf angen der Technik und des Sports vermittelt. 

Nicht ohne Schaudern erleben wir die Auferstehung der gespenstischen 
Welt unserer Vater, ein surrealistisches Panoptikum. In Gehrock und Zy- 
linder — der adaquaten viktorianischen Kleidung, die im Buch stets wieder- 
kehrt — verlafit General Gordon London, auf dem nachsten Bild sehen wir 
schon, wie sein Kopf von schwarzen Scheusalern dem Sudanfiirsten Slatin 
Pasha iiberbracht wird. Der besiegte Ashanti-Konig kiifit den Fu6 des auf 
einer Biihne steif thronenden Gouverneurs, der Prince of Wales umtanzt im 
Schottenrockcheh fackelschwingend die Kadaver erbeuteter Hirsche, die 



Geschichte 435 

Aristokratie feiert imTakt des Galopps die Eroberung Indians und die Nieder- 
zwingung Agyptens, zur selben Zeit werden die indischen Aufriihrer hin- 
gerichtet und niedergemacht, in London kommen die erbeuteten Kunstschatze 
zur Auktion. Ein Aufruhr des Hobs wird auf der gleichen Seite vorgefuhrt, 
auf der die siegreiche Hilfspolizei im Bilde paradiert. Vom spanisch-ameri- 
kanischen Krieg sehen wir zwar nur die Zeichnung von Kxiegsanleihe an 
New Yorker Bankschaltern, dafur sind aber die englischen Kolonialfeldziige 
um so breiter dargestellt. Endlich nehmen Sportbilder einen breiten 
Raura ein, auf denen der Sport in seinen Anfangen als unheimlicher 
Hollenspuk eracheint. 

Es ist nicht mdglich, in dieser Anzeige einen Begrif f von dem reichhaltigen 
Inhalt des Buches zu geben. Es sei wegen seines umfassenden Anschauungs- 
materials jedem empfohlen, der sich iiber die sozialen und politischen Zu- 
stande des Spatviktorianismus aus einer ungetrtibten Originalquelle unter- 
richten will. Ludwig Carls (Berlin). 



Spiegel, Kfithe, Kulturgeachichtliche Orundlagen der amerikanischen 

Revolution. R. Oldenbourg. Milnchen und Berlin 1931. (X u. 214 S., 

br. RM. 10.—) 

Die Frage des Grundes der Loslosung der amerikanischen Kolonien 
vom englischen Mutterlande wurde in der deutschen wissenschaftlichen 
Literatur bisher stiefmiitterlich behandelt. Sie ist sehr interessant, da sie 
zu dem Probleme der gewaltigen Triebkrafte, die die heutigen Vereinigten 
Staaten entstehen lieBen, hinleitet. Eine Studie daniber ist deshalb sehr zu 
begriifien. 

K. Sp. ist Anhangerin der kulturhistorischen Schule in der Geschichts- 
wissenschaft. Dem entspricht die Gliederung der Arbeit. Der erste Ab- 
schnitt behandelt die geo- und demographischen Grundlagen. Daran schlieBt 
sich eine Erorterung der Eigenheiten der geistigen Entwicklung, die von 
England hinweg ftihrten. Dabei stellt Verf. das religiose Leben in den Vorder- 
grund. Der dritte Abschnitt befafit sich mit der Herausbildung eines eigenen 
offentlichen Rechtes und erst der letzte mit der Wirtschaftsentwicklung. 
Schon diese Anordnung zeigt, daC die Verf. den geistigen Momenten eine 
grdfiere Bedeutung als den mater iellen zuweist und zwischen beiden nur 
einen lockeren Zusammenhang sieht. Gerade fur diese Epoche der Geschichte 
liegt aber die Bedeutung der okonomischen Krafte besonders klar zutage. 
Es sei nur an die Emanzipationsbestrebungen der sich bildenden amerika- 
nischen Industrie, an die Verschuldung des sudlichen Groflgrundbesitzes 
an England und an die englische Handelspolitik, die die Verf. ja auch er- 
wahnt, erinnert. Die BUckrichtung der Verf. fiihrt zu Verzeichnungen des 
Bildes. Sie sind um so bedauerlicher, als das Buch viele wertvolle Einblicke 
in die Struktur des kolonialen Nordamerika gibt. 

Arvid Harnack (Berlin). 

Hasebrock, Johann, Qriechtsche Wirtschafts- und Gesellschafts- 
geschichte bis zur Perserzeit. J. C. B. Mohr. Tubingen 1931. 
(XV u. 296 S.; RM. 13.— , geb. RM. 16.—) 



436 Besprechungen 

Berve, Helmut, Griechische Gesckiehte. 1. Hdlfte: Von den Anfdngen 

bis Perikles. Herder. Freiburg 193 L (VIII u. 308 S.; RM. 7.50, geb. 

RM. 9.50) 
Vogt, Joseph, Romiscke Gesckiehte. 1. Hdlfte: Die rbmische Republik. 

Herder. Freiburg 1932. (350 S.; RM. 9.— t geb. RM. 11.—) 
Wolf, Julius, Rbmische Gesckiehte. 2. Hdlfte: Die rbmische Kaiser- 

zeit. Herder. Freiburg 1932. (VIII u. 286 JS.; RM. 6.70, geb, 

RM. 8.50) 

Gegeniiber Ed. Meyers und Pohlmanns modernisierender Umdeutung 
altgriechischer Wirtschafts- und Gesellschaftsverhaltnisse tritt Hasebrock 
auf die Seite von K. Biicher und Max Weber und sucht die grundsatzliche 
Andersartigkeit der antiken Kultur und ihrer wirtschaftlichen und gesell- 
schaftlichen Voraussetzungen zu erweisen. So sehr es den Soziologen freuen 
wird, dafl hier ein ziinftiger Historiker fur die von seiner Wissenschaft lange 
iibersehenen Ergebnisse soziologischer Forschung eintritt und daruber 
hinaus soziologische Methode und Fragestellung fur sein Fachgebiet nutz- 
bar machen will — er wird sich nicht verhehlen konnen, dafi dieser Ver- 
such wenig geeignet ist, fiir die Zusammenarbeit beider Wissenschaften 
zu werben : H. iiberspitzt seine Thesen so stark, daB er bei semen Beweisen 
offenkundig mit Material und Logik in Konflikt gerat. Auch gelingt es ihm 
trotz aller Retuschen nicht, ein wirklich klares Gesamtbild fruhgriechischer 
Verhaltnisse zu entwerfen. Im iibrigen uberrascht bei einem Freunde und 
Wahlverwandten der Soziologie die sonderbar verwaschene Verwendung 
von Begriffen wie „Klasse <( , „TJnternehmer", „Staatssozialismus (t , „Ge- 
mein wirtschaf t ' ', „Idealtypus ( ' . 

Die drei iibrigen hier anzuzeigenden Werke sind Teile einer bei Herder 
erscheinenden „Geschichte der fuhrenden Volker". Den Reiz der Beitrage 
von Berve und Vogt macht es aus, dafi hier zwei griindliche Sachkenner und 
selbstandige Forscher den Versuch unternehmen, die Fulle des Tatsachlichen 
fiir einen auBenstehenden Betrachter zu einem Ganzen zu ordnen und 
begreifbar zu machen. Vor allem Berve zeigt dabei eine erstaunliche Kraft 
der Stoffbewaltigung und - verdichtung : er beschrankt sich nicht auf Athen 
und Sparta, sondern zeichnet von Vorgeschichte und Geschichte des gesamten 
hellenischen Siedlungsgebietes ein an Einzelzugen reiches, wohldurchdachtes 
Bild. Freilich bleibt er bei einer in der Hauptsache deskriptiven Behandlung 
seines Gegenstandes stehen. Den Ausblick auf die treibenden Krafte 
historischen Geschehens versperrt ihm seine t^berzeugung vora „organischen 
Verlauf" der griechischen Geschichte, die er — in Annaherung an den 
Kreis Stefan Georges — als Verwirklichung einer vorgegebenen Form sieht: 
neben und hinter den „verschiedenartigen landschaftlichen und historischen 
Bedingungen", die B. durchaus sieht und wiirdigt, steht ihm als das eigent- 
lich gestaltende Agens die „Natur", das „Ethos*', der „Geist", auch wohl 
das „Blut" der Hellenen, der ihnen „eingeborene Wille" oder „ Drang*', 
„das Schicksalhafte ihres Wesens", der ,,Sinn" ihrer Geschichte. Indem er 
so die Wirklichkeit jenseits des der Erfahrung grundsatzlich Zuganelichen 
wurzeln lafit und bei einer unklaren Entelechie als der letzten faBbaren 
Gegebenheit auf dem Wege zum Ursprung der Dinge haltmacht, zieht er 



Geschichte 437 

der historischen Wissenschaft gerade dort eine Grenze, wo sich ihr heute 
ein unabsehbares neues Arbeitsgebiet off net. 

Vogt beschrankt sich auf die im engeren Sinne romische Geschichte — 
laSt also die ubrigen Volker Italiens drauBen — und innerhalb der Ge- 
schichte Roms wieder auf Politik und Krieg und einen kenntnisreichen, 
feinsinnigen AbriB der Geistesgeschichte. Die Entwicklung der Wirt- 
schaft wird kaum gestreift, auch die gesellschaftlichen Verhaltnisse werden 
nur gelegentlich erhellt. In seiner Gesamtauffassung vom historischen 
Geschehen steht V. Berve nah, nur ist seine Anschauung weniger ausge- 
pragt und beeinflufit nicht so bewuflt die Komposition des Stoffes: er 
findet den Schliissel zur romischen Geschichte in bleibenden Wesenszugen 
des Nationalcharakters, vor allem in dem „dem romischen Volke einge- 
borenen Willen zur Macht", aber auch in seinem ,,moralischen Charakter" 
und in seiner „Rechtlichkeit". V. hat tiberhaupt die Neigung, sich bei 
Darsiellung und Wertung der romischen Friihzeit auf dem Boden der 
National- und Klassenideologie der Senatsaristokratie zu bewegen; fiir das 
Revolutionszeitalter schwenkt er dann auf den gemafiigt-konservativen 
Standpunkt Ciceros ein und endigt mit einer loyalen Huldigung an den 
Princeps Augustus, der im Gegensatz zu Caesars Planen die „romischer 
Tradition" und ,,romischem Wesen" gemaBe Form der Alleinherrschaft 
begrundet. 

Wolfs Darstellung der romischen Kaiserzeit bleibt hinter Vogt und 
Berve weit zuriick; sie erstickt im Stoff und entbehrt der wissenschaft- 
lichen Eigenart. 

Wilhelm Mackauer (Frankfurt a. M.). 



Guerri, Domenico, La corrente popolare nel Rinascimento. Berte, 
burle e bale nella Firenze del Brunellesco e del Burckiello. (Die voiles- 
tumliche Stromung in der Renaissance, Spottlieder, Possen und Sckerze 
im Florenz des Brunellesco und des Burckiello) G. C. Sansoni. Florenz 
1932. (174 8.; L. 18.—) 

Der Autor bringt z. T. unveroffentlichte Scherze, Possen und Spott- 
lieder aus dem Florentiner Stadtstaat des 14. und 15. Jahrhunderts zum 
Abdruck und spurt von sprachlichen und lokalhistorischen Gesichts- 
punkten ihr en Urhebern und ihrer Anlehnung an alter e Texte nach. Aber 
von dieser fachwissenschaftlichen Gelehrsarakeit abgesehen, auf die der 
Verf. viel Geduld und Fleifi verwendet, hat das Buch soziologischen und 
kulturgesc hi cht lichen Wert, insofern die ans Licht gezogene volks tumliche 
Dichtung zeigt, daB die Durchbrechung des mittelalterlichen Geistes, die 
in den herrschenden Klassen als Humanismus erscheint, ein volkstiimliches 
Gegenstiick hatte : wenn sich die gelehrte Welt der Zeit aus dem Formelkult 
und Buchstabenglauben der Scholastik dem klassischen Altertum zu- 
wendete und so ihre Befreiung als „Wiedergeburt" erlebte, so schopfte 
gleichzeitig das Geistesleben der Massen den Ausdruck seiner Rebelhon 
aus der taglichen Wirklichkeit. Soziologisch interessant ist der — ja auch 
von andern — beigebrachte Beleg dafur, daB ohne gelehrten EinfluB, 
ohne Bekanntschaft mit den Texten des Altertums, eine urwiichsige Auf- 



438 Besprechungen 

lehnung gegen das Herkbmmen wie auch gegen die Monopolisierung des 
Wissens durch die des Lateinischen machtigen herrschenden Schichten 
im Florentiner Volk lebendig war. Als die mittelalterliche Wirtschaftsform 
und Gesellschaftsordnung briichig wurde, drangte sich der Geist der Kritik 
und der Respektlosigkeit uberall ein. Die mehr oder weniger obszonen 
Spottgedichte des Acquettino und Burchiello, die in der Werkstatt fiir 
den Markt entstanden, strdmen aus demselben Quell, dem der Humanismus 
entstammt. Oda Olberg (Wien). 

Heller, Otto, Der Untergang des Judentums. Verl. f. Literatur u. Politik. 

Berlin 1931. (390 S.; br. EM. 4.50, geb. EM. 6.50) 

Auf den ersten 48 Seiten versucht der Verfasser eine Analyse der judischen 
Entwicklung in der Antike. „Sie (die Juden) sind durch den naturlichen 
Produktionsfaktor des geographischen Raumes, innerhalb dessen sie sich 
zur Nation entwickelten, durch die Produktionsverhaltnisse des gesamten 
damaligen, urn das ostliche Mittelmeerbecken gelagerten Wirtschaftskreises, 
zu einem Handelsvolk geworden**. „Die Auflosung verhinderte den Unter- 
gang der Juden, die fortan eine durch die Reste ihrer Nationalitat, vor 
allem und entscheidend durch ihre Religion gekennzeichnete Kaste 
waren . . . Verlor die Religion mit dem Erloschen jener Funktion ihre 
soziale Kraft, mufite auch die Schicksalstunde der judischen Kaste 
schlagen." 

Angesichts des fast volligen Fehlens von Vorarbeiten wird man vom 
Verfasser gewifi nicht eine iiberzeugende historisch-materialistische Analyse 
der judischen Antike auf 48 Seiten verlangen kdnnen. Seine Thesen sind 
schematisch und geben eine Reihe von Behauptungen (wie etwa die des- 
orginare Handelsfunktion der Juden) mit einer Sicherheit, die durch Urn* 
fang des zugrunde liegenden Materials und Griindlichkeit seiner Bearbeitung 
nicht gerechtfertigt wird. Ea ware besser, wenn der Verf. dies selbst erkannt 
und betont hatte. Je naher er aber der Gegenwart kommt, desto ausfiihr- 
Ucher, griindlicher und fesselnder wird das Buch. In ganz ausgezeichneter 
Weise und dokumentarisch ausfiihrlich belegt, gibt der Verf. nach einer 
Schilderung der Lage der Juden im Osten bis zur Revolution eine Dar- 
stellung der theoretischen und praktischen Grundlagen der Behandlung der 
Judenfrage durch die Sowjetregierung. H. gibt ein Bild der in schnellem 
Tempo vor sich gehenden Berufsumschichtung der etwa 3 Millionen Juden 
der Sowjetunion, wobei bemerkenswert ist, daB der ursprungliche Zweig 
des Produktivierungsprozesses, die landwirtschaftliche Ansiedelung der 
Juden, heute bereits durch die Industrialisierung eingeholt ist. Der Jude 
wird Arbeiter und Bauer, und die Mehrheit der judischen Bevolkerung lebt 
schon jetzt von Lohnarbeit. Das Buch bringt auf den letzten hundert Seiten 
einen sehr fesselnd geschriebenen Bericht einer Reise durch die judischen 
Siedlungen. — Unyerstandlich bleibt der Titel des Buches. Die vom Verf. 
dargestellte Politik der Sowjetunion geht ja davon aus, daB die Juden als 
Nationalitat, auch nach Erloschen ihrer Funktion als Handelskaste, die 
Moglichkeit des Fortbestandes haben. Der Titel ist der Ausdruck einer 
theoretischen Inkonsequenz und Unklarheit des Verf. in bezug auf eine 



Geschichte 439 

wichtige Seite des Juden- und Nationalitatenproblems. Es ware erfreulich, 
wenn Verf. in einer nachsten Auflage zur Aufhellung der Widerspniche 
kame. Erich Fro ram (Berlin). 

Hassliiger, Hugo, Geographiscke Grundlagen der Geschichte. Herder. 
Freiburg 1931. (XIV u. 332 S.; RM. 8.50, geb. RM. 10.50) 
Hassinger untersucht, von Agypten ausgehend, die Raume, die nach- 
einander Schauplatz der Kulturentwicklung und Machtentfaltung ge- 
worden sind, und analysiert sie auf die geographischen Bedingungen hin, 
die sie zum Trager eines individuellen Schicksals werden liefien. Dabei legt 
er ein reiches Material und eine Fiille geistvoller Erkenntnisse mit sym- 
pathischer Zuruckhaltung vor; er halt sich von jedem geopolitisohen 
Monismus fern und stellt klar heraus, daB das in der Natur Gegebene nur 
eine „kulturelle Disposition'* der Landschaften erzeugt, dem Menschen 
aber nirgends den Weg seiner Entwicklung „naturgesetzlich" vorsehreibt. 
Er weiB, daB die geopolitisohen Werte nicht feste GroBen sind; er zeigt 
immer wieder, wie die Wandlungen der Technik nicht nur die Kulturland- 
schaft verandern, sondern auch etwa die dem Raume anhaftenden Lage- 
beziehungen von Grund auf umwerten konnen. — Den einzelnen Abschnitten 
sind sehr ausfiihrliche Literaturiibersichten beigegeben. 

Wilhelm Mackauer (Frankfurt a. M.). 

Wittfogel* Karl August, Die natiirlichen Grundlagen der Wirtachafts* 

geschichte. Archiv fur Sozialwissenschaft und Sozialpolitik. (Bd. 67, 

1932, Heft 4—6) 

Wittfogel setzt in dieser Artikelserie die methodologischen Uhter- 
suchungen fort, die er in 4 Aufsatzen uber „Geopolitik, geographischer 
Materialismus und Marxismus" 1929 in der Zeitschrift „Unter dem Banner 
des Marxismus" begann und als deren praktische Konsequenz der I. Bd. 
seines Buches „Wirtschaft und Gesellschaft Chinas" gelten darf. Nach W.s 
These ist seiteris der Marxisten — von Lenin abgesehen — weder der 
Begriff der Produktivkrafte, zumal deren naturbedingte Seite, noch der 
eng damit zusammenhangende Begriff der Produktionsweise und der 
Produktionsverhaltnisse vollstandig und richtig rezipiert worden. Beim 
Begriff der Produktionsweise steht, „so notwendig auch das gesellschaft- 
liche Moment einbegriffen ist, das Verhaltnis des gesellschaftlich arbeitenden 
Menschen zur Natur im Vordergrund. Im Begriff der Produktionsverhalt- 
nisse steht, so sehr auch die arbeitstechnische, der Natur zugewandte 
Seite mitgedacht sein mufl, die gesellschaftliche Seite der Sache im Vorder- 
grund . . . Die durchaus zentrale Stellung des Begriffs der materiellen 
Produktionsweise im System der Marxschen Geschichtsanalyse ist damit 
gegeben". 

Der methodologischen Untersuchung laBt W. in seiner neuen Auf sat z- 
reihe die Skizze einer Wirtschafts- und Sozialgeschichte folgen. W. setzt 
sich dabei das Ziel, mittels der von ihm fixierten Kategorien eine Reihe 
offenstehender historischer Probleme zu I6sen : ' exakte Formulierung des 
Systems der Produktivkrafte in der asiatischen, der antiken und der feu- 
dalen Produktionsweise; Analyse der okonomischen Ursachen der zwie- 



440 Besprechungen 

schlachtigen Entwicklung Ost- und Westroms am Ende der Antike; 
Bestimmung der historischen Stellung der altindianischen Klassengesell- 
schaften, vor allem des Jnkareiches (als einer Spielart der „orientalischen" 
Despotie); Erklarung der okonomisch-sozialen „ Stagnation" Spaniens vom 
15. — 19. Jahrhundert; Aufdeckung derTJrsachen fur die verschiedenen Varia- 
tionen der biirgerlichen Gesellschaft in Deutschland, Holland, Italien, der 
Schweiz, Frankreich und England. Die beiden Aufsatzreihen W.s stellen 
von einem bisher vernachlassigten Ausgangspunkte her Kernprobleme der 
okonomisch-sozialen Geschichtswissenschaft zur Diskussion. 

Carl Petersen (Berlin). 



Soziale Bewegung und Sozialpolitik. 

Markham, S. F., A History of Socialism. A. & C. Black. London 1931. 

(322 S.; 7 s. 6d.) 

Die vorliegende Geschichte des Sozialismus ist ein Handbuch, das iiber 
die wichtigsten Daten und Ereignisse der sozialistischen Bewegung der 
Welt in knapper Zusammenfassung orientiert. In einem abschlieBenden 
Kapitel entwickelt M. seine Meinung iiber die Entwicklung des Sozialismus, 
um mit dem Bekenntnis zu schlieflen: „May we not, with Saint-Simon, 
believe, that the Golden Age is not behind but before us ?" 

Mehr als eine knappe ttbersicht der Entwicklung der sozialistischen 
Bewegung aller Lander der Erde kann M. nicht geben. Man wird nach diesem 
Werke greifen, wenn man sich tiber Daten und Tatsachen der sozialistischen 
Bewegung orientieren will. Grofies Gewicht legt der Verf. auf die Dar- 
stellung der parlamentarischen Machtpositionen. Nicht nur in dieser 
Hinsicht ist das Werk stark vom englischen Blickpunkt aus geschrieben. 
Die Kritik der marxistischen Lehre, welche auf den Seiten 51 — 55 ver- 
sucht wird, bewegt sich im Rahmen bekannter MiBverstandnisse, als ob 
die Marxsche Mehrwerttheorie nicht mit den geschichtlichen Tatsachen 
ubereinstimme, als ob Marx die Bedeutung des Unternehmers verkenne. 
Die „materialistic conception of history" wird imSinne des philosophischen 
Materialismus mifiverstanden. Deshalb ist es verstandlich, daB M. die 
Geschichte des modernen Sozialismus in die Phasen des „theoretischen 
Utopismus" von Owen, Saint- Simon und Fourier, des „revolutionaren 
Sozialismus" von Marx, Engels, Lenin, Trotzki und Stalin und schliefilich 
des ,,konstitutionellen Sozialismus" von Lassalle, Jaures, MacDonald, 
Fisher, Branting, Stauning und Vandervelde trennt. Sidney Webb wird 
als der „chief thinker" der dritten Phase der sozialistischen Bewegung 
bezeichnet, wodurch der personliche Standpunkt des Verf. deutlich urn- 
rissen wird. Emil J. Walter (Zurich). 

Bougie, C, Socialismes fran?ais. Du „Socialisme ttiopique" a la 
„D6mocratie indttstrielle" . Armand Colin. Paris 1932. (VIII u. 200 S.; 
jr. 10.50, geb. jr. 12.^) 
Bougle\ Professor an der Sorbonne, gibt eine gute tJbersicht iiber die 

Entwicklung und den geistigen EinfluB des franzosischen Sozialismus. 



Soziale Bewegung und Sozialpolitik 441 

Er mochte es vermeiden, dafi die Geschichte nur „un moyeti de s'evader du 
present" wird. Deshalb zieht er die geistigen Linien des franzosischen 
Sozialismus bis in die Gegenwart, in die aktuellen Probleme der fran- 
zosischen Politik und Wirtschaft hinein. Andererseits kann auch der 
Zusammenhang des franzosischen Sozialismus mit der franzosischen Revo- 
lution und dem 18. Jahrhundert nicht iibersehen werden: „avant de dresser 
le bilan du saint- si monisme, du fourierisme, du proudhonisme, nous avons 
cru devoir rappeler sommairement le legs du XVIII 6 siecle et celui de la 
Revolution francaise". Ein letztes Kapitel „R6sultantes et Perspectives" 
sucht die Aussichten des Sozialismus in Frankreich abzuwagen. Wenn auch 
B. sich im wesentlichen der geistesgeschicht lichen Methode bedient, die 
soziologische Analyse der drei grofien Systeme des franzosischen Sozialismus 
bloB streift, ist es ihm doch gelungen, in anschaulicher und objektiver 
Weise in die Gedankenwelt des franzosischen Sozialismus der ersten Halfte 
des 19. Jahrhunderts einzuftihren. Emil J. Walter (Zurich). 

Rosenberg, Arthur, Geschichte des Bolschewismus von Marx bis zur 
Gegenwart. Ernst EowohlL Berlinl932. (239 S.; RM. 4.80, geb.RM. 5.80) 
„Es mufi erkannt werden, dafi — trotz allem — Sowjet-RuCland sich 
im Aufstieg und die III. Internationale sich in hoffnungslosem Niedergang 
befindet. Mein Buch sucht zu erklaren, wie dieses eigenartige Doppel- 
resultat zustande gekommen ist." — Die vorliegende „ Geschichte des Bol- 
schewismus" ist ein bedeutsames und hochaktuelles Werk. Ich stehe nicht 
an, dieses Buch mit Otto Bauers „ Geschichte der osterreichischen Revo- 
lution" zu den wichtigsten historischen Veroffentlichungen der mar- 
xistischen Schule der Nachkriegszeit zu zahlen. Rosenberg rollt auf hohem 
geistigem Niveau das Problem des Bolschewismus, genauer der bolsche- 
wistischen Ideologie, in aller Scharfe und Klarheit auf. 

Das Werk umfafit elf Kapitel. Im ersten Kapitel „Von Marx bis Lenin 
(1843 — 1890)" versucht R. eine engere Verwandtschaft der politischen 
Meinungen von Marx mit denen des Bolschewismus herzustellen. Das letzte 
Kapitel reicht bereits bis zum „Aufbau des , Sozialismus in einem Lande' 
(1927 — -1932)". Ich greife einige wichtige Grundgedanken des Buchs heraus. 
R. unterscheidet drei Etappen der Arbeiterbewegung. In der ersten werden 
die Arbeiter unter der Leitung einer kleinenGruppe von Berufsrevolutionaren 
aus der radikalen biirgerlichen Intelligenz organisiert, um die biirgerlich- 
demokratische Revolution zu vollenden. „Das ist der Typus Marx-Engels' 
und des Bolschewismus." In der zweiten Etappe bestimmen die Arbeiter 
selbst die Politik ihrer Organisationen. Da das revolutionare Endziel zuruck- 
tritt, die Arbeiter sich bemiihen, ihre Klassenlage innerhalb der biirgerlichen 
Gesellschaft zu verbessern, tritt zwischen dem marxistischen Endziel der 
revolutionarenUmgestaltung der Gesellschaft und der praktischen Politik ein 
Widerspruch auf. Dieser Etappe gehorten die Parteien der zweiten Inter- 
nationale und die Menschewisten an. Unter diesen Parteien gab es zwei Rich- 
tungen. Die eine, die revisionistische, revidierte die marxistische Theorie ent- 
sprechend der „veranderten Gegenwart", die zweite, die radikal-utopische, 
hielt am revolutionaren Endziel fest, dachte aber an keine revolutionare Tat. 
Die dritte Etappe, in der die Arbeiterbewegung tiber die biirgerliche Gesell- 



442 Besprechungen 

schaf t hinausstrebt, durch Revolution zur Macht gelangen will, urn nicht 
die radikaldemokratische, sondern die sozialistische Revolution zu ver- 
wirklichen, ist „die Vollendung der marxistischen Zukunftsidee". Sie 
wurde in der Vorkriegszeit von einem kleinen Kreise radikaler Marxisten, 
u. a. von H. Gorter, R. Luxemburg und Trotzki verfochten. 

Der Bolschewismus ist nach R. eine Ideologic der demokratisch-repu- 
blikanischen Revolution, eine Ideologic, welche im Gedanken des Arbeiter* 
und Bauernstaates die spezifisch russische Ideologic der Narodniki zur ge- 
schichtlichen Realisierung fuhren konnte. Emil J. Walter (Zurich). 

Ermers, Max, Victor Adler. Aufstieg und Grbfie einer sozialistischen 
Partei. Dr. Hans Epstein. Wien und Leipzig 1932. (374 S. t geh. 
RM. 6.—, geb. KM. 7.25) 

„Das einzigartige und fesselnde Bild des Schopfers der osterreichisehen 
sozialdemokratischen Partei, des Organisators der Arbeiterschaft, wurde 
bisher sonderbarerweise noch von keinem sozialistischen Historiker fest- 
gehalten. Das war eine Lucke in der Literatur, die mein Verleger mit Ruck- 
sicht auf den kommenden 80. Geburtstag Victor Adlers (24. Juni 1852) zu 
schlieflen sucht . . .*', mit diesen Worten begriindet der Verfasser die Veroffent- 
lichung seiner verdienstvollen, umfangreichen und lebendigen Schilderung 
des Lebensganges des Fuhrers der osterreichisehen Sozialdemokratie der 
Vorkriegszeit. Ermers zeichnet mehr als nur ein einzelnes Lebensbild: er 
la fit um und durch die Gestalt Victor Adlers die ganze Geschichte der oster- 
reichisehen Partei vor uns auferstehen. Die osterreichische Arbeiterbewe- 
gung wird von 1848 bis zum entscheidenden Eingriff Victor Adlers in ihre 
Entwicklung wahrend der achtziger Jahre eirigehend dargestellt. Mit Liebe 
zeichnet der Verf . vor allem auch das Bild von Adlers Vorganger Dr. Hippolyt 
Tauschinski, der an der Ungunst der sozialen Verhaltnisse scheiterte. Erst 
Adler gelang, was Tauschinski versagt blieb, die Zusammenfassung der 
politischen Arbeiterbewegung in der sozialdemokratischen Partei und ihre 
zielbewufite Fiihrung im Kampfe um das allgemeine und geheime Wahlrecht. 
Mit Recht tragt die vorliegende Biographie den stolzen Untertitel: „ Auf- 
stieg und Grofie einer sozialistischen Partei'*. Adlers Leben wird als Leben 
des vergesellschaf teten Menschen dargestellt und ist in diesem jSinne viel 
mehr Lebensbeschreibung, als die iibliche Art der Biographie dies ist. Und 
wenn im SchluBkapitel der Verfasser sich fur sozialistische Nahziele einsetzt : 
„soziale Experimente in den verschiedensten Richtungen, insbesondere 
wirtschaftsdemokratischer und innenkolonisatorischer Art, personliche und 
tapfere Einstellung zu den Kriegsproblemen, Sammlung und Erprobung der 
neuen Kulturformen, weltumspannender, praktischer Kontakt mit alien 
Volkern und Rassen der Erde, Sicherung des Existenzminimums fiir alle 
bis zur endlichen Austilgung der okonomischen Daseinsangst", so ist es 
verstandlich, dafi er vor allem „zweierlei Leser" wiinscht: „junge Sozialisten, 
die in die Vergangenheit blicken und aus ihr profitieren wollen, und burger- 
liche Leser, die es gelustet, einen Menschen bedeutenden Zuschnitts kennen- 
zulernen, der aus ihrer Welt kommt, aber in eine andere gegangen ist*'. 
E.s Lebensbeschreibung Victor Adlers ist zwar ein erster, aber ein gelungener 
Wurf. Emil J. Walter (Zurich). 



Soziale Bewegung und Sozialpolitik 443 

Becker, August, Qeschichte des religibsen und atheistischen Fruh- 
sozialismus. Erstausgabe des von August Becker 1847 verfafiten und 
von Georg Kuhlmann eingelieferten Oeheimberichtes an Metternich und 
von Vinets Rapport nebst einer Einleitung, hrsg. von Prof, D. Dr. Ernst 
Barnikol. Walter 0. Miihlau. Kiel 1932. (XXII, 130 S.; RM. 4.50) 
Binyon, Gilbert Cllve, The Christian Socialist Movement in England. 
An introduction to the study of its history. Society for Promoting 
Christian Knowledge. London 1931. (X y 238 S.; 8s. 6d.) 
Nach der Verdf f entlichung der bisher schwer zuganglichen Schriften We it- 
lings und besonders der sch&nen Erstausgabe von Weitlings „ Gerechtigkeit" 
folgt nun wiederum eine Erstausgabe, herausgegeben von Ernst Baraikol: 
Die Berichte Beckers iiber die revolutionise Propaganda des Kommunis- 
mus und das „ Junge Deutschland" in der Schweiz und iiber die Geschichte 
des propagandistischen Vereinswesens in der Schweiz. Becker, neben Weit- 
ling eine der hervorragendsten Cestalten des vormarxistischen Sozialismus, 
entwirft ein bunt schillerndes Bild dieser in ihrer Ursprunglichkeit und 
Selbstandigkeit bemerkenswerten Anfange einer sozialen Bewegung, die 
von der Schweiz nach Deutschland heriibergebracht w}rd. Der Rapport 
Vinets erganzt seinen Bericht vom Standpunkt der Restauration. Das Mit- 
und Gegeneinander verschiedener Richtungen und Personlichkeiten, 
Griindung und Gegengriindung zahlreicher Vereine un|d Zeitschriften ist 
an Hand der beigegebenen ubersichtlichen Verzeichnisse leicht zu ver- 
folgen. Die Einleitung iiber Becker und Kuhlmann tragt zu einer gerechten 
Wurdigung beider Neues bei. 

An den Theologen wendet sich in erster Linie Bin yon. Er verfolgt die 
soziale Bewegung in England in ihrer besonderen Beziehung zu Kirchen- 
geschichte, Theologie und Religionsphilosophie seit Owen. Ausfiihrlich 
behandelt B. die Arbeit eines Maurice, Ludlow, Kingsley, Hughes, Neale, 
und sehr eingehend wird die Stellung christlich-sozialer Organ isationen zur 
modernen Arbeiterbewegung dargestellt. Die eigene Stellungnahme des 
Verf. klingt aus in der Forderung einer leider nur in ijiren Ansatzen an- 
gedeuteten „christlichen Soziologie". B. lehnt den Versuch ab, soziale 
Einsichten erst nachtraglich religios begrunden zu wollen, und fordert 
vielmehr den Aufbau einer sozialen Wertlehre auf der Grundlage christ- 
licher Ethik: „an analysis of what our Lord actually thought and taught 
about social questions*'. Dies Vorgehen, wenn es auch in der Anwendung 
auf die sozialen Probleme unserer Zeit fortgebildet wird, bleibt notwendig 
konstruktiv und ist sinnvoll durch die Fragestellung zu erganzen: welche 
Bedeutung hatte das Christentum als soziale Institution, welche Funktionen 
erfullt es noch, und welche sozialen Aufgaben werden ihm notwendig 
gestellt ? Kurt Moldenhauer (Berlin). 

Studien iiber die Beziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeit' 
nekmern. Internationales Arbeitsamt, Reihe A (Berufliche Vereinigung), 
Nr. 33 und 35. Oenf 1930 und 1932. (286 und 180 S.; Schw. Frcs. 6.50 
und 4 t — ) 
Seit einigen Jahren hat das Internationale Arbeitsamt neben seinen 

vielen anderen Untersuchungen sich besonders mit der Frage der Be- 



444 Besprechungen 

ziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern in groBen Unter- 
nehmungen befafit. Die beiden Schriften legen da von Zeugnis ab. Es han- 
delt sich hier um rein empirische Arbeiten, die jedoch um so wichtiger sind, 
als iiber ein Gebiet Auskunft gegeben wird, das weit verschlossener liegt 
als z. B. das des Verhaltnisses zwischen den Organisationen der Arbeiter - 
kiasse und den Unternehmern. Die Untersuchungen, deren Ergebnisse im 
ersten Heft mitgeteilt werden, betreffen die Siemenswerke in Siemens- 
stadt, die Bergwerke in Lens, den Londoner Verkehrskonzern, die fran- 
zosischen Staatsgruben des Saargebiets, die Schuhfabrik Bata; diejenigen 
des zweiten Hefts die Zeifl- Werke, die Fiat-Werke, die Philips -Werke und 
die Sandvik- Werke. 

Der Darstellung iiber die Beziehungen des Unternehmers zu den Ge- 
werkschaften geht eine geschichtliche tJbersicht iiber das Unternehmen, 
seine Arbeiterzahl, seine Finanzen voraus; es folgt ein t^berblick iiber die 
bestehenden Wohlfahrtseinrichtungen (darunter auch Gewinnbeteiligung, 
Sparsystem usw.). Die Untersuchungen bieten vom sozialpolitischen Stand- 
punkt aus auBerordentlich gutes objektives Material. Sie zeigen klar, was 
von den obengenannten Unternehmungen fur die Arbeiter geleistet wird, 
um ihr Interesse fur das Wohl des Unternehmens zu steigern. Driicken sich 
die Unternehmer gegeniiber den Vertretern des Intern at ionalen Arbeits- 
amtes auch in verschwommenen Formen aus, so sind sich fast alle doch 
daruber einig, daB fiir den eigenen Betrieb die Gewerkschaftsbewegung 
hochstens als ein notwendiges Ubel akzeptiert werden muB ; besser ware es, 
wenn man sich nicht nach ihr zu richten brauchte. Alle Bemiihungen, vom 
Kinderschutz bis zur Forderung des Kirchenbaus (bei den Siemens werken) 
laufen darauf hinaus, die Arbeiter an die Unternehmung zu binden. Immer 
wieder zeigt sich der patriarchalische Standpunkt des Unternehmers, der 
fiir seine „Kinder" alles mogliche zu tun bereit ist, wenn sie sich nur zur 
Unternehmung bekennen und sich in die Betriebsangelegenheiten nicht 
hineinmischen. Andries Sternheim (Genf). 

Bloch, Kurt, VberdenStandortder Sozialpolitik. Val. Hofling. Miinchen 

1932. (56 S.; RM. 0.75) 
Heller, Fritz, Sozialpolitik und Reichsarbeitsgericht. Sozialpolitische 

Erwagungen in den Urteilen des Reichsarbeitsgerichts. H. Buske. Leipzig 

1932. (79 S.; RM. 3.20) 
Westphalen, F. A,, Die theoretischen Grundlagen der Sozialpolitik. 

Gustav Fischer. Jena 1931. (VII u. 196 S.; br. RM. 10.—, geb. 11.—) 

Die Frage nach dem Standort der Sozialpolitik im Kapitalismus be- 
schaftigt seit geraumer Zeit die Geister wieder sehr stark. Die Losung 
des Problems scheint um so dringlicher, aber auch um so unmoglicher, je 
unklarer die Vorstellung vom Wesen der kapitalistischen Wirtschafts- 
ordnung ist. Das Bediirfnis nach theoretischer Klarung entpuppt sich 
nur zu haufig als das Bediirfnis nach ideologischer Rechtfertigung. DaB 
,, Sozialpolitik eine so niichterne illusionslose Angelegenheit ist wie das 
System, zu dem sie gehort", hat Eduard Heimann 1923 trefflich for- 
muliert, aber 1929 mit seiner eignen Theorie desavouiert. Unterdessen 
hat die Krise in Deutschland wie an alien Illusionen, so auch an den 



Soziale Bewegung und Sozialpolitik 445 

sozialpolitischen „SoziaIisierungs"-, „Demokratisierungs'*-, „Klassenbe- 
friedungs"-Illusionen unerbittliche praktische Kritik geiibt. Bloch 
bemuht sich, der Gefahr der Ideologisierung zu entgehen. Er ist von 
der Erkenntnis durchdrungen, dafi das Ende der Sozialpolitik auch das 
Ende des Kapitalismus ware, und zeigt, daB die scheinbar unversohn- 
lichen Auffassungen von Sozialpolitik als Produktionspolitik, als Kampf 
um Freiheit und Wiirde des Arbeiters, als Staatspolitik und als soziale 
Reform nur verschiedene Blickrichtungen von verschiedenen soziologischen 
Standorten auf das gleiche gesellschaftliche Phanomen sind. Auch wenn 
man nicht jede Auffassung B.s teilt, darf man die Methode und die ge- 
wonnenen Ergebnisse als fruchtbar und anregend bezeichnen. Fur die 
Krise, in der sich mit der Wirtschaftsordnung und den sozialpolitischen 
Institutionen auch die Wissenschaft von der Sozialpolitik befindet, ist es 
aber kennzeichnend, daB B. mehr als „relativ giiltige Ergebnisse" selbst 
nicht anstrebt und aus der Krise der Sozialpolitik auch das Recht fiir 
das „objektive Urteil" folgert, „ungewiB" zu sein. — Wie wenig „ungewiB", 
zumindest im Ziel, das angestrebt wird, das hochste deutsche Arbeits- 
gericht bei semen sozialpolitischen Urteilen ist, weist iiberzeugend Heller 
in einer durch Sachlichkeit und ZurUckhaltung gleich bestechenden Arbeit 
nach. Das Reichsarbeitsgericht hat die „Verankerung" der „Gleichbe- 
rechtigung" von Arbeitgebern und Arbeitnehmern in der Reichsverfassung 
so wdrtlich genommen, daB es darin die Aufhebung der wirtschaft- 
lichen Abhangigkeit des „gleichberechtigten" Proletariers erreicht sieht. 
Daher seine Lehre vom Tariflohnverzicht, daher aber auch sein Abgleiten 
in faschistische Gedankengange, denn wirkliche „Paritat" auf dem Boden 
des Kapitalismus ist nur mdglich, wenn als Schiedsrichter uber den 
„gleichberechtigten*% aber sozial ungleich bleibenden Parteien der all- 
machtige Staat des Faschismus thront. H.s Buch ist ein wirkungsvoller 
Beitrag zur Klarung der sozialpolitischen Situation unserer Zeit. 

Das Buch Westphalens ist dagegen ebenso anspruchsvoll wie un- 
ergiebig. Die Unproduktivitat der Spannschen Schule erweist sich an 
solcher Arbeit recht drastisch. Um zum Ergebnis zu kommen, daB „auch 
fiir die Sozialpolitik heute das Problem der klassenmafiigen Zerkliiftung 
der Gesellschaft und ihre t)berwindung im Mittelpunkt steht", ware auch 
ein geringerer Auf wand ausreichend gewesen. Fritz Croner (Berlin). 

Sozialrechtlichea Jahrbuch. Hrsg.von Tkeodor Brauer, Christian Eckert 
u. a, t Bd. 3. J. Benskeimer. Mannheim 1932, (VIII u. 187 S.; 
br. RM. 10.—, geb. RM. 12.50) 

Der Begriff des Sozialrechts ist umstritten. B. versteht darunter ein 
autonomes Recht sozialer Gruppen und Schichten, das als Ausdruck einer 
neuen (^berufsstandischen") Sozialordnung bisher zwar teilweise kodifiziert 
wurde, in seinem ganzen Umfang aber noch in der Entwicklung begriff en 
ist und um gesellschaftliche Anerkennung ringt. Das kollektive Arbeits- 
recht ist ein Kernstiick jenes werdenden Sozialrechts, jedoch nicht mit ihra 
identisch. Auf alien Lebensgebieten, nicht nur in der Wirtschaft, glaubt 
B. Tendenzen zu einer „standischen" Schichtung, die einer institutionell- 
juristischen Formung bediirfen, feststellen zu konnen. 



446 Besprechungen 

Das vorliegende Jahrbuch bietet Einzeluntersuchungen, die „standische" 
Gliederungsbestrebungen vornehmlich auf den Gebieten des Berufsorgani- 
sationswesens, der Industriepadagogik und der Lohnpolitik nachweisen 
wollen. Besondere Beachtung unter den zwolf Beitragen dieses 3. Bandes 
verdient eine Abhandlung des Herausgebers iiber die typische geistige 
Verfassung des (christlichen) Gewerkschaf tssekretars ; B. schliefit in diesem 
Aufsatz den im 2. Band begonnenen Vorbericht iiber das Ergebnis einer 
Fragebogen-Enquete ab: Heinrich Mertens (Frankfurt a. M.). 

Rosenstock, Eugen und Carl Dietrich yon Troths, Das Arbeitslager. Be- 

richte aus Schlesien von Arbeitern, Bauern, Studenten. Eugen Diederichs. 

Jena 1931. (159 S.; RM. 4.60) 

Arbeitslager sind 3 — 4wochige Freizeiten, in denen etwa 100 Arbeiter, 
Bauern und Studenten (moglichst zu gleichen Teilen) zusammenkommen, 
urn sowohl korperlich wie geistig gemeinsam zu arbeiten. Sie sind zunachst 
in Schlesien, dann auch in Norddeutschland und der Mark vereinzelt gehalten 
worden und haben neuerlich dadurch eine etwas groflere Verbreitung ge- 
funden, daC ihre Form verschiedentlich zum Vorbild fur die Organisation 
des freiwilligen Arbeitsdienstes genommen wurde (unter ausdriicklicher 
Inauguration durch die geistigen XJrheber des Arbeitslagers). 

Entsprungen sind die Arbeitslager aus dem Bediirfnis, die verschiedenen 
Schichten des Volkes miteinander in Verbindung zu bringen und dadurch 
die Bereitschaft, sich als Glieder eines Volkes zu fuhlen, zu fordern. Leider 
geben die Berichte kaum einen Eindruck von dem inhaltliclien Gang der 
Aussprachen, so daB es unmoglich ist, ein Bild davon zu gewinnen, 
wieweit der Gedanke der Urheber eine Erfullung erfahren hat. Man er- 
fahrt nur aus wenigen brieflichen Aufierungen, dafi begabte und tiichtige 
Studenten ehrlich er griff en, dafi junge schlesische Bauern interessiert und 
befriedigt waren, d&Q junge Arbeiter skeptisch blieben. Gerade wenn 
das Buch ein Beitrag zur Frage der Volksbildung sein sollte, war es wich tiger, 
das Ausspraehenmaterial selbst zu bieten als den Gedanken des Arbeits- 
lagers von alien Seiten durch ergriffene junge Menschen ventilieren zu lassen. 

So ist das Buch auch der Gef ahr erlegen, einen in seinen Grenzen brauch- 
baren Gedanken zu einer umfassenden Reformidee zu iiberhohen. Das nimmt 
nicht weg, daB die SchluSbetrachtungen manches Lesenswerte bieten. Be- 
sonders die Ausfiihrungen von Bailers tad t und Rosenstock enthalten (neben 
einigen das Skurrile streifenden Einfallen, wie das fast immer bei Rosenstock 
so ist) prinzipielle Erorterungen von einer Originalitat, die auch fur den, der 
von einer ganz anderen Betrachtung der gesellschaf tlichen Zusammenhange 
herkommt, anregend sein muB. Karl Mennicke (Frankfurt a. M.). 

Rosenstock, Eugen, Arbeitsdienst — Heeresdienst ? Eugen Diederichs. 
Jena 1932. (80 S.; RM. 1.80) ' 

Rosenstock geht in seiner Schrif t iiber den freiwilligen Arbeitsdienst 
von der Voraussetzung aus, dafi es sich beim deutschen Arbeitslosenheer 
um eine Dauererscheinung handelt. Die Arbeitslosen sind das im Pro- 
duktionsprozefi freigesetzte Kapital. R. gelangt von dieser Voraussetzung 
zur Anerkennung einer zweiteiligen Volksordnung. Die Reproduktions- 



Spezielle Soziologie 447 

armee der Arbeitslosen ist dem Markt entzogen. Fur diesen Bereich gelten 
die Gesetze des Marktes nicht: der Arbeitslose betatigt sich im Arbeits- 
dienst ohne Anspruch auf Bezahlung seiner Arbeit; die Unternehmer 
mussen die notigen Bedurfnisse dieser Armee auch ohne Rente befriedigen 
wollen. Freiwilligkeit, Beschrankung der Dienstleistungen auf zusatzliche 
Arbeit, Selbstverwaltung der Arbeitsgemeinschaft im Arbeitsdienst, 
Trennung von Trager der Arbeit und Trager des Dienstes werden von hier 
aus zu selbstverstandlichen Forderungen. R. entwickelt an den durch diese 
Situation aufgeworfenen Erscheinungen und Fragen eine Theologia in 
nuce mit den Star ken und Schwachen eines solchen Versuches. Er er- 
wartet von der Durchsetzung des freiwilligen Arbeitsdienstes eine Er- 
neuerung des Volkes, der „ureinfache" Hilfsdienst der jungen Mannschaffc 
wird zum Quell neuer Besinnung und damit offentlicher Meinungsbildung, 
der Erdglaube der jungen Volksgruppe „besanftigt die Kliifte der alteren, 
auseinandergesetzten und auseinandergesprengten Arbeitsmenschheit". 

Die Schrift ist anschaulich geschrieben, eine Fiille von Gedanken auf 
engen Raum gedrangt ; dabei halt sich R. nicht frei von ideologischen tTber- 
spitzungen und setzt Dinge, die man andeuten kann, in ein zu starkes Licht. 

Emil Blum (Habertshof). 

Dabois, Florence, A Guide to Statistics of Social Welfare in New York 
City. Welfare Council New York City 1930. (XIX, 313 S.) 
Der Fuhrer gibt in iibersichtlicher Anordnung einen Quellennachweis 
mit Seitenangaben fur die unter das im Titel angegebene Gebiet fallenden 
Gegenstande in mehr als 300 statistischen Publikationen (Materialien der 
statistischen Stellen, Jahrbucher von Amtern und Organisationen u. dgl. 
sowie Studien, in denen Zusammenstellungen von statistischem Material 
en thai ten sind). Das Buch ist sorgfaltig und iiberall mit Riicksicht auf 
leichte Benutzbarkeit durchgearbeitet und darf als ein wichtiges biblio- 
graphisches Hilfsmittel sozialwissenschaftlicher Arbeit hier angezeigt werden. 

Jakob Feinberg (Frankfurt a. M.). 



Spezielle Soziologie. 

Geiger, Theodor, Die soziale Schichtung des deutschen Volkes. So? 

ziographischer Versuch auf statistischer Grundlage. Ferdinand Enke. 

Stuttgart 1932. (IV u. 142 S.; RM. 7.—) 

Das Buch stellt ein Beispiel fruchtbarer Zusammenarbeit von Soziologie 
und Statistik dar. — Im ersten Teil wird der grundsatzliche Unterschied 
zwischen sozial- und wirtschaftsstatistischen und den soziologischen Be- 
griffen klargestellt. Der soziologische Begriff der sozialen Schicht zielt nach 
G. auf die Gesamtheit aller Menschen ab, die einen bestimmten Mentalitats- 
typus darstellen. Eine solche Personengesamtheit zum Zwecke statistischer 
Erfassung unmittelbar abzugrenzen, ist aber praktisch unmoglich. Die 
Statistik kann also nur dort und nur insoweit angewendet werden, als 
nach anderen, statistisch leichter erfafibaren Merkmalen (solchen des 
Berufes oder der wirtschaftlichen Lage) abgrenzbare Gesamtheiten, die G. 



448 Besprechungen 

im Gegensatz zu dem soziologischen Begriff der sozialen Schicht als „Be- 
volkerungsteile" bezeichhet, mit Schichten im soziologischen Sinne an- 
nahernd zusammenfallen ; eine vollige Ubereinstimmung wird naturlich 
nie eintreten. 

DaB es einen sehr groBen Aufwand subtilster Kleinarbeit bedeutet, 
solche Bevolkerungsteile zu finden, zeigen die im ersten Unterabschnitt 
des zweiten Teilea geschilderten „Verfahrensprinzipien". Um das Ausein- 
anderf alien von statistisch feststellbarer „sozialer Lagerung" und sozio- 
logisch bedeutsamer „sozialer Schichtung" auf ein Minimum herabzu- 
driicken, muflte selbstverstandlich bei moglichst kleinen Teilmassen be- 
gonnen werden und diese Mosaiksteine dann zu unter soziologischen Ge- 
sichtspunkten moglichst homogenen Gesamtmassen zusammengefaBt 
werden. Das Ausgangsmaterial bildete dabei die Berufszahlung von 1925, 
zu deren Erganzung weiteres amtliches und privates Material herangezogen 
wurde. So wurden, um die Verteilung der Gruppe der Selbstandigen 
(a-Personen der Berufszahlung) auf die sozialen Schichten vornehmen zu 
konnen, die Ergebnisse der gewerblichen und landwirtschaftlichen Be- 
triebszahlung (Gliederung der Betriebe nach der GroBe) herangezogen. 
DaB hier ebenso wie an anderen Stellen die Grenzlinien immer mit einer 
gewissen Willkiir gezogen, daC ferner an vielen Stellen mit Schatzungen 
gearbeitet werden muBte, ist selbstverstandlich und muB bei kritischer 
Benutzung der Ergebnisse immer im Auge behalten werden. Leider teilt 
G. — mit Riicksicht auf Wunsche des Herausgebers und Verlegers — auBer 
dem statistischen Ergebnis nur die groBen Richtlinien seines methodischen 
Vorgehens mit. 

Die einzelnen Teilmassen faBt G. einmal zu einem dreigliedrigen und 
dann zu einem fiinfgliedrigen Schema zusammen. Das letztere, das er 
Tiefengliederung nennt, enthalt folgende durch verschiedene Wirtschafts- 
mentalitat unterschiedene Schichten: 1. Kapitalisten, 2. mittlere u. kleinere 
Unternehmer, 3. Tage worker fur eigene Rechnung, 4. Lohn- und Gehalts- 
bezieher hoherer Qualifikation und 5. solche minderer Qualifikation. — Der 
dritte Hauptteil, der sich mit der Deutung beschaftigt, enthalt neben einer 
soziologischen Beschreibung der Typenmannigfaltigkeit der ftinf Haupt- 
massen vor allem sehr eingehendekritischeUntersuchungen tiber denMittel- 
standsbegriff. Paul Flaskamper (Frankfurt a. M.). 

Bereridge, Sir William and Others, Changes in Family Life. George 
Allen & Unwin Ltd. London 1932. (160 S.; 3 s. 6d.). — Young, Donald, 
(ed.)y The Modem American Family. In: The Annals of the American 
Academy of Political and Social Science. Vol. 160, March 1932. Phila- 
delphia 1932. (V, 256 S.; $ 2.—). — Meuter, Hanna, Heimlosigkeit 
undFamilienleben. R. Mutter. Eberswalde 1932. (88 S.; RM. 2.50). 
— Schaldnagl, Ventur, Heimlose Manner. R. Mutter. Eberswalde 1932. 
(77 S.; RM. 2. — ). — Frank, Elisabeth, Familienverhdltnisse 
geschiedener und eheverlassener Frauen. R. Mutter. Eberswalde 
1932. (68 S.; RM. 2.—-). — Ltidy, Elisabeth, Erwerbstdtige Mutter 
in vaterlosen Familien. R. Mutter. Eberswalde 1932. (Ill S.; 
RM. 3. — ). — Hansen-Blancke, Dora, Die hauswirtschaftliche und 



Spezielle Soziologie 449 

Mutterschaftsleistung der IP abrikarbeiterin. R. MMler. Ebers* 

walde 1932. (40 S.; RM. 1.65)* — Ahrens, Hermann, Untersuehungen 

zur Soziologie der Familie in systematischer Absicht. Rostocker 

Dissertation. Gustav Demmler. Ribnitz i. M. 1931. (128 S.) 

In den Monaten Februar und Marz 1932 hat die Abteilung fur Er- 

wachsenenerziehung des Britischen Rundfunks sieben Vortrage iiber neuere 

Veranderungen im Familienleben veranstaltet. Diese Vortrage empfangen 

ihr besonderes Gewicht dadurch, daB sie die Horer dazu aufforderten, zu 

den behandelten Problemen in einem durch den Rundfunk auf Anforderung 

zugesandten Fragebogen Stellung zu nehmen. Die unfreiwillige Propaganda 

der Presse, die den Fragebogen auBerst unfreundlich beurteilte, hatte zur 

Folge, daB schon vor dem ersten Vortrag iiber 15000 Fragebogen versandt 

werden konnten. Bis Ende Marz waren insgesamt 50000 Exemplare ver- 

teilt, von denen bis Anfang April ungefahr 7 000 ausgefullt zuruckgekommen 

waren. Diese enthalten Material iiber etwa 20000 Familien und 200000 Per- 

sonen. 

Sir William Beveridge, der die Leitung der Vortrage und die Be- 
arbeitung der Fragebogen ubernommen hatte, gibt in einezn kleinen Buch 
die Sammlung der sieben Vortrage (von denen drei Dialoge waren), einen 
Bericht iiber die Ausgestaltung und Aufgaben des Fragebogens sowie iiber 
die ersten Resultate. Die Vortrage sprechen von den allgemeinsten Ver- 
anderungen des Familienlebens, erortern den Zusammenhang zwischen 
Familie und Bevolkerungsproblem, den EinfluB von natiirlichen und Um- 
welt-Faktoren, wirtschaftliche Fragen des Familienlebens, die Rolle der 
Familie in Staat und Gesellschaft, die Stellung der Frau und vieles andere. 
Das Kapitel, in dem die ersten Resultate der Durchsicht der Fragebogen 
mitgeteilt werden, tragt den Titel „The Enduring Family". Damit soil 
zum Ausdruck gebracht werden, daB — naeh den Ergebnissen der Fragebogen 
zu schlieBen — die grofien Veranderungen im Ff»milienleben der letzten 
Jahrzehnte im ganzen eine Vervollkommnung der Familie bedeuten und 
daB von revolutionaren Veranderungen keine Rede sein konne. 

Ohne Zweifel handelt es sich bei diesem Experiment um einen originellen 
und aussichtsreichen Versuch, den Rundfunk in den Dienst der Beschaffung 
breiten empirischen Materials fiir die Sozialforschung zu stellen. 

DieAmerican Academy of Political and SocialScience bringtim 
Marzheft 1932 ihrer Zeitschrift 25 Aufsatze iiber die moderne amerikanische 
Familie. Davon sind vier einleitende geschichtliche Aufsatze, neun werden 
unter dem Titel „Die amerikanische Familie im Umbau" (transition) zu- 
sammengefaBt, und zwolf Artikel behandeln die verschiedenartigen Be- 
muhungen um die Stabilisierung der Familie. Der Band enthalt eine Fiille 
in teres santester Einzelheiten. Leider fehlt eine zusammenfassende Dar- 
stellung der wichtigsten Endergebnisse. 

In der von Alice Salomon herausgegebenen Schriftenreihe von 
Untersuehungen iiber Bestand und Erschutterung der Familie in der Gegen- 
wart sind 1932 fiinf neue Arbeiten erschienen. 

HannaMeuter versucht, „die im sozialen Zustande der Heimlosigkeit 
auftretenden sozialen Beziehungen und Prozesse in ihrer Einwirkung auf 
das Familienleben zu priifen". Aus der fiir Anfang 1932 auf mehr a Is 



450 Besprechungen 

Ewei Millionen geschatzten Zahl „heimloser" Menschen in Deutschland hat 
sie mit Unterstutzung zahlreicher privater und offentlicher Ftirsorge- 
organisationen mehrere tausend Falle durch Fragebogen und die Bear* 
beitung von Verwaltungsakten erfaBt. In der vorliegenden Studie bietet 
sie ein ausgesuchtes empirisches Material, das nach Typen geordnet und 
weitgehend statistisch aufgeschlossen ist. Aus den Ergebnissen der Arbeit 
ist hervorzuheben, daB trotz widrigster Lebensbedingungen in vielen Fallen 
die Familie eine so starke Widerstandsfahigkeit zeigt, daB die Verf . daraus 
auf eine besondere biologische Zahigkeit des sozialen Gebildes Familie 
ebenso wie auf einen hohen Grad sozialer Anpassungsfahigkeit schlieBt und 
meint, daB „auch durch die Heimlosigkeit hindurch die Familie die Mog- 
lichkeit entwickeln wird, das gesellschaf tliche Geschehen zu meistern und 
sich selbst — ... unter TJmbildung ihrer selbst und des gesellschaftlichen 
Ganzen — zu erhalten". Die Lesbarkeit der sehr verdienstvollen Arbeit 
wird durch eine allzu formalistische Sprache und die iiberreichliche Ver- 
wendung von Zeichen und Tabellen sehr erschwert. 

Das Gegenteil gilt von der eine Erganzung der Meuterschen Unter- 
suohung darstellenden Schrift des Leiters der „Heimstatt-Arbeiterwohl- 
fahrt" in Koln-Deutz V. Schaidnagl. Er gibt einen gut disponierten, sehr 
anschaulichen Bericht iiber die Herkunft der Heimlosen, ihre Entwicklung, 
die Rolle von Familienverhaltnissen als Ursache der Heimlosigkeit und 
ahnliche Probleme. Sch. kommt auf Grund seiner reichen Erfahrungen zu 
dem Ergebnis, daB „das sozialpsychische Bediirfnis des Menschen nach 
einemHeim, nach eineradaquaten, ihnseelischumschliefiendenmenschlichen 
ITmgebung nicht nur im Familienkreis . . . befriedigt werden kann, sondern 
auch in einem Zusammenleben mehr kollektiver Art, mit Zugehdrigen des 
gleichen Geschlechts". Die Tendenz zur Auflosung der Familie fuhre not- 
•wendig zu solchen Zusammenschliissen, die ihre geschichtlichen Vorbilder 
in Mannerbiinden, Klostern und Kampfverbanden hatten. 

Der Bericht von Elisabeth Frank iiber die Schicksale geschiedener 
oder eheverlassener Frauen, die von einer Berliner Fursorgestelle betreut 
werden, gibt in 42 Einzeldarstellungen ein erschuttemdes Bild menschlichen 
Iteids. Die einzelnen „ Falle" werden von der Verfasserin sehr sorgfaltig 
unter wirtschaftlichen und sozialen Gesichtspunkten untersucht mit dem 
Resultat, daB die Familie der geschiedenen oder verlassenen Frauen viel 
starker bedroht erscheint als die der Wit we. 

Eine Erganzung zu dieser Studie stellt die Untersuchung von Elisabeth 
Liidy dar. Sie berichtet iiber 184 vat er lose Familien, jedoch sind neben 
geschiedenen und ehe verlassenen die Mehrzahl der Mutter Wit wen oder 
Ledige. T>ie Verf. hat ihr Material in besonders sorgfaltiger und liebevoller 
Weise verarbeitet und kommt zu dem Schlufi, daB „von Ausnahmef alien 
abgesehen, Mutter mit pflegebedurftigen Kindern ohne wirtschaf tliche und 
arbeitsmaBige Entlastung ihre Aufgabe: Kihdererziehung, Haushalts- 
fiihrung neben Volltagsarbeit ohne Schadigung der Familie nicht durch - 
fiihren konnen*'. 

Dora Hansen-Blancke hat auf Grund der Verarbeitung von 311 
Fragebogen, die sie im Sommer und Herbst 1931 an Fabrikarbeiterinnen 
von 9 Betrieben in verschiedenen Stadten Deutschlands ausgegeben hat, 



Spezielle Soziologie 451 

ein Bild zu geben versucht, wie weit die Erwerbsarbeit mit der Erfiillung 
der hauswirtschaftlichen und miitterlichen Aufgaben der Frau in Konflikt 
gerat. Die Verf. hebt hervor, daB ihr Material sowohl wegen seiner Ent- 
stehung mitten in der Krise als auch seinem Umfang nach Verallgemeine- 
Tungen nicht erlaubt, behauptet aber wohl mit Recht, daB es Ursachen 
und Entwicklungstendenzen aufzeigt, die auf Grund der taglichen Erfah- 
rung als allgemein wirkend angenommen werden konnen. Die Untersuchung 
bestatigt, daB die Fabrikarbeit nicht der Eheschliefiung, wohl aber dem 
Familienaufbau entgegenwirkt, und daB die auBerhausliche Erwerbsarbeit 
von der iiberwiegenden Mehrzahl der Frauen als eine schwere auf gezwungene 
Last empfunden wird. 

Der wissenschaftliche Hauptwert der hier angezeigten fiinf Arbeiten 
scheint uns darin zu liegen, daB sie in Erfiillung des Programms der Schriften- 
reihe wichtiges Material iiber die modems Familie gesammelt haben, 
dessen weitere Bearbeitung unter soziologisehen und sozialpsychologischen 
Gesichtspunkten noch wesentliche Aufschliisse fiber den Zustand und die 
Funktion der Familie in der heutigen Gesellschaft bringen kann. 

Die Rostocker Dissertation von H. Ahrens hat sich die Aufgabe ge- 
stellt, dem Problemkreis Familie eine sinn voile, d. h. „logische und speziell 
soziologische" Ordnung zu geben. A. stiitzt sich dabei im wesentlichen auf 
die Wiesesche Beziehungslehre und versucht, sein „Bezugssystem" nach 
konstitutiven und destruktiven Elementen, nach dem Zu- und Auseinander 
zu ordnen. Die Arbeit kann — wie bei einer Dissertation wohl auch nicht 
anders zu erwarten war — trotz mancher kluger Ausfuhrungen nur als 
bescheidener Beitrag zur Erfiillung der ihr gestellten Aufgabe gewertet 
werden. Friedrich Pollock (Frankfurt a. M.). 

Lichtenberger, J. P. Divorce. A social interpretation. McGraw-Hill 
Publishing Co. New York u. London 1931. (XII u. 472 S.; 21s.) 
Der Verfasser, Professor der Soziologie an der Pennsylvania Universitat, 
versucht eine Analyse des Ehescheidungsproblems im Hinblick auf die Ver- 
einigten Staaten von Nordamerika zu geben. Der erste, deskriptive Teil 
des Buches bringt nach einem nicht sonderlich vertieften tJberblick iiber 
die Geschichte der Ehescheidung eine ausfuhrliche Erortenmg der Ent- 
wicklung und der gegenwartigen Lage in den Vereinigten Staaten; die sta- 
tistischen Da ten und der Stand der Gesetzgebung werden in kritischer Be- 
urteilung vorgefiihrt. Der zweite Teil versucht diese Entwicklung, die von 
9937 Ehescheidungen im Jahre 1867 zu 201468 Ehescheidungen im Jahre 
1929 (gegenuber 1232559 EheschlieBungen) gefiihrt hat, zu erkla-ren. Ver- 
worfen wird wohl mit Recht eine ausschlaggebende Rolle der Gesetz- 
gebung. Das Abnehmen der okonomischen Bedeutung der Familien- 
gemeinschaft wird erwahnt, aber nicht an die entscheidende Stelle geriickt. 
Die wesentliche Erklarung der Entwicklung wird darin gefunden, daB die 
Traditionsgebundenheit in steigendem MaBe dem Verlangen nach Freiheit 
und Selbstandigkeit weiche und daB dadurch die Auflosung von Ehen 
herbeigefiihrt werde, deren tTbel man friiher geduldig hingenommen habe* 
Der Verf. schlieBt mit der Voraussage, daB die patriarchalische Form der 
Familie zwar hingeschwunden sei, die Ehe sich aber auf der Basis der 



452 Besprechungen 

Gleichberechtigung der Geschlechter und der freiwilligen Lebensgemein- 
schaft wahrscheinlich neu stabilisieren werde. 

Das Werk ist in seinem deskriptiven Teil am besten. Die sonstigen 
Erdrterungen befriedigen nicht sehr; vor allem wird das Eigentumliche 
der Entwicklung der Ehescheidung in den Vereinigten Staaten (etwa in 
ihrem Unterschied von den Verhaltnissen in den sonstigen angelsachsischen 
Landern) kaum adaquat erklart. Im ganzen eine gefallige, vorwiegend 
kompilatorische Arbeit. Gred Freudenthal (Frankfurt a. M.). 

Mourik Broekman, M. C. Tan, Erotiek en Huwelijkaleven (Erotik und 

Ehe). A. W. Sijthoff's Uitgeversmaatschappij '. Leiden 1932. (260 S.; 

Hfl 4.75) 

Dieses Buch des hervorragenden Vertreters des freisinnigen Christen- 
tums ist charakteristisch fur die Mentalitat des typischen Hollanders, fur 
den die Sexualitat noch als etwas Geheimnis voiles, ja als etwas Unanstan- 
diges gilt, wof iiber man so wenig wie moglich offentlich spricht. Dies© 
psychologische Voreingenommenheit wird wohl die Erklarung dafiir sein, 
dafi der Verf . sehr vorsichtig an die einzelnen Probleme herangeht und ferner 
viele an und fiir sich interessante Feststellungen macht, die aber nicht viel 
Neues bringen. Der Behandlung des eigentlichen Eheproblems geht eine 
Einleitung iiber die erotischen Gefuhle voraus, die jedoch den Ansichten 
Weiningers einen zu grofien, denjenigen der Freudschen Schule einen zu 
kleinen Platz einraumt. Bei der Erorterung der Ehe erwahnt B. die be- 
kannte Literatur, die einen Einblick in die verschiedenen Auffassungen gibt. 

Der Verf. bezeichnet die Ehe als ein Mysterium, das in dem Mafie, wi© 
es sich vergeistigt, zu einer von Gott gewollten Verbindung von zwei 
Menschen wird. Jedoch halt er die Ehe nicht fiir etwas Unmodifizier bares. 
,,Die christlichen Ideen und Ideale gehen nicht zugrunde, wenn man iiber 
Ehe und Ehes ehe i dung zu anderen Schlufifolgerungen gelangt als denjenigen 
des altjiidischen Milieus, in welchem die Bibel entstand, die seitdem vor- 
wiegend wegen der Autoritat der Kirche und der Starke der Tradition bei- 
behalten blieben." Andries Sternheim (Genf). 

Neumann, Sigmund, Die deutscken Parteien. Wesen und Wandel nach 
dem Kriege. Junker und Dunnhaupt. Berlin 1932. (139 S.; EM, 5. — / 
N. ist der Ansicht, dafi in der Gegenwart die reine ,,Reprasentatipns- 
partei" alten Stils immer starker durch den von ihm ,,Integrationspartei'* 
genannten Typus abgelost werde, d. h. von Parteien, die den einzelnen nipht 
nur als Wahler, sondern als ganzen Menschen in alien seinen Lebens- 
bezirken zu erreichen und, befehlend oder erziehend, zupohtisierentrachten. 
Zu diesem Ergebnis fiihrt ihn eine behutsame Struktur analyse der ein- 
zelnen Parteien, ihrer Entwicklung nach dem Kriege, der sozialen Zu- 
sammensetzung ihrer Anhangerschaften, ihres Aufbaus und des Gewichts^ 
das sie haben. Wie man bei der Lekture jedes Abschnittes merkt, ist die 
Aufmerksamkeit des Verf. auf die Wirksamkeit jenes Geistes gerichtet, von 
dessen Anerkennung durch die Parteien die Gesundheit der Demokratie 
abhangt: des Geistes der Verantwortung fiir das Ganze. N. nimmt keine 
dogmatieche Riicksicht ; er ist sachlich, wenn er urteilt, vorsichtig, wenn er 



Spezielle Soziologie 453 

Zukunftsmoglichkeiten erwagt, geistvoll, wenn er auf Vergangenes hin- 
weist. Da wir sein Buch hachdrucklich empfehlen, sind wir verpflichtet, 
selbst in einer so kurzen Anzeige, ein beilaufiges Urteil zuruckzuweisen, 
das falsch und gefahrlich ist: die nationalsozialistische Bewegung (deren XJr- 
spriinge N. richtig bestimmt) kann niemals, was N. immerhin fur mdglich 
halt, zum „Gewissen der Zeit" werden. Hans Speier (Berlin). 

Rohden, Peter Richard, Demokratie und Partei. L. W. Seidel & Sohn. 

Wien 1932. (364 S.; RM. 9.60, geb. RM. 11.40) 
Groethuysen, Bernhard, Dialektilc der Demokratie. L. W. Seidel & Sohn. 

Wien 1932. (61 S.; RM. 1.80) 

Der Sammelband „Demokratie und Partei" stellt den ersten Versuch 
dar, eine vergleichende Parteienkunde der grofien Staaten und der ent- 
scheidenden politischen Systeme der Gegenwart zu geben. Wie bei solchen 
Sammelarbeiten verschiedener Autoren nicht anders zu erwarten, sind die 
Beitrage ungleichmafiig in der Qualitat. Kingsley B. Smellie gibt einen 
knappen tJberblick iiber die englische Entwicklung mit besonderer Beruck- 
sichtigung der Labour Party. Die Eigentumliehkeiten der englischen 
Innenpolitik werden gut herausgearbeitet, die innerparteilichen Verhaltnisse 
und Probleme jedoch kaum gestreift. Im starkeren MaJ3e beriicksichtigt 
dies Adolf Rein in seiner lebendigen Skizze iiber USA. Am interessantesten, 
j&ber auch am bedenklichsten sind die Beitrage Edmond Vermeils und Peter 
R. Rohdens. Gewifi ist es reizvoll, Deutschlan'd durch einen Franzosen und 
Frankreieh durch einen Deutschen darstellen zu lassen, bei der Verschieden- 
heit und Kompliziertheit der innerpolitischen Kraftelagerung in beiden 
Staaten jedoch ein anspruchs voiles, nicht vollig gelungenes Unternehmen. 
Vermeil gibt mehr eine Geschichte der deutschen Innenpolitik als die der 
Parteien, deren Grundpositionen kaum herausgearbeitet werden. Kleine 
Unrichtigkeiten fallen dabei weniger ins Gewicht als die nicht immer rich- 
tige Gesamteinschatzung. Rohdens Beitrag, anregend und geistreich wie 
seine Einfuhrung zum Gesamtwerk, aber ohne systematische Strenge, 
bietet viel psychologische Randbemerkungen und kluge Betrachtungen 
und wenig soziologische Forschung. Dimitri S. Mirsky (London) deutet 
prinzipiell und mit positiver Grundeinstellung Sinn und Bedeutung der 
Demokratie im Bolschewismus. Struktur und Problematik des Ein- 
parteienstaates werden bei ihm ebensowenig benihrt wie in W. L. Steins 
(Rom) Beitrag iiber den Faschismus, dessen Vorbedingungen, Geschichte 
und Philosophic (Evola) — ohne Neues zu bieten — knapp und mit posi- 
tiver Bewertung zusammengefafit werden. Die wertvollste Untersuchung 
ist Alois Dempfs gedrangte, aber immer pragnante und durchdachte 
Skizze iiber Demokratie und Partei im politischen Katholizismus. Mit 
einem bei solcher Thematik selten anzutreffenden Gefuhl fiir die sozialen 
Gewichte wird hier die Geschichte der katholischen Demokratie als Ge- 
danke und Politik — mit einer fur die gegenwartige Situation ,,mittel- 
parteilichen" Ausrichtung ■ — ■ entwickelt. 

Im ganzen ist die Sammlung als Bericht und Material quelle wertvoll 
(nicht zuletzt durch die fast durchgangige historische Fundierung und 
durch eine allerdings nicht immer umsichtige internationale Literatur- 



454 Besprechungen 

iibersicht) ; als soziologische Analyse bleibt sie vollig unzulanglich. Dariiber 
hinaus fehlt es dem Gesamtwerk an den notwendigen Voraussetzungen, ein 
so weitlaufiges Thema auf engem Raum sinnvoll zu erfassen: an straffer 
Durchdisponierung und klareren Richtlinien. 

Sie konnen auch nicht riicklaufig durch die Schrift Groethuysens 
gewonnen werden, die nicht nur aufierlich ganz fur sich da steht. Sie ver- 
sucht eine grundsatzliche Besinnung auf die dialektischen Spannungen der 
demokratischen Ideologie in ihrem rechtlichen und soziologischen Moment, 
zwischen individualistischem Liberalismus und Gemeinschaftsdemokratie. 
Aus diesen Antinomien und der eigenartigen Ver bin dung von bourgeois 
und citoyen im „Parteimann" werden dann die Typen der raiteinander 
streitenden modernen Parteisysteme entwickelt. Hierbei riickt G. die 
besondere Chance der „internationalen Klassenpartei", diese Spannungen 
aufzuheben, in den Vordergrund. Wie alle Arbeiten G.s ist auch diese 
geistvolle Studie prinzipiell und doch nicht ohne Beziehung auf die kon- 
krete Situation. Sigmund Neumann (Berlin). 

Heinrich, Walter, Das Stdndewesen mit besonderer Beriicksicktigung 
der Selbstverwaltung der Wirtschaft. Oustav Fischer. Jena 1932. 
(XII u. 306 S.; geh. EM. 12.—, geb. U.~) 

Das Buch gibt einen ausgezeichneten tfberblick iiber die Methode der 
Anwendung der universalistischen Gesellschaftslehre Spanns auf die Um- 
gestaltung der Wirtschaft. Da fiir Spann sowohl die liberale kapitalistische 
Verkehrswirtschaft wie die sozialistische Planwirtschaft, verwerflich sind, 
so wird mit Hilfe des universalistischen Begriffsapparats ein Standestaat 
konstruiert, der mit dem italienischen Korporativstaat nahe verwandt ist. 
Die Organisation der Wirtschaft soil in Berufsverbanden vor sich gehen, die 
sich autonom verwalten und nur der Fuhrung und Kontrolle des Staates 
unterliegen. Der Staat selbst ist ein Stand, dessen Tragerschaft«freilich 
nur mit groBen Schwierigkeiten konstruiert werden kann. Dankenswert 
ist das sehr ausfiihrliche bibliographische Kapitel und die ziemlich voll- 
standige Beschreibung der berufsstandischen Literatur. Vielleicht hatte 
das katholische Schrifttum zum Berufsstandeproblem etwas ausfiihrlicher 
berucksichtigt werden miissen. Albert Salomon (Koln). 

Hermens, F. A., Demokratie und Kapitalismus. Ein Versueh zur Soziolo* 
gie der Staatsformen. Duncker & Humblot. Miinchen 1931. (VIII u. 
242 S.; brosch. EM. 5.—, geb. EM. 11.50) 

Mit Recht verwahrt sich H. von vornherein gegen die MiBdeutung, 
als liege schon in seiner Fragestellung, inwiefern namlich die Demo- 
kratie die dem Kapitalismus auf die Dauer allein gemafie Staatsform sei, 
eine marxistisch-materialistische Auffassung von den Aufgaben der Soziolo- 
gie. Dies ware nur der Fall, wenn unter Kapitalismus und Demokratie 
klassenmaBig bestimmte Wirtschafts- und Staatsformen verstanden wurden. 
H. unternimmt es im Gegenteil, Kapitalismus und Demokratie mit den 
Begriffen und Methoden der Schumpeterschen Okonomie, der formalen 
Soziologie und der funktionalistischen Staatslehre so zu beschreiben und zu 
definieren, daO jede Spur von Klasseninhalt verschwindet. Nicht die Demo- 



Spezielle Soziologie 455 

kratie wird durch den Aufweis ihrer Bedeutung fiir den Kapitalismus dea 
Scheins klassenloser Gerechtigkeit entkleidet; umgekehrt: die formale 
Analogisierung beider ermdglicht es, diesen Schein auch auf den Kapitalis- 
mus selbst fallen zu lassen. Das Resultat sind Paradoxien wie diese: „Wenn 
tiberhaupt eine, so ist kapitalistische Gesellschaft klassenlose Gesellschaft". 
Zunachst wird die Demokratie dadurch definiert, daB in ihr die Integra- 
tion durch den Fiihrer, der sich in politischer freierKonkurrenz durchsetzen 
und behaupten mufl, erfolgt, im Gegensatz zu den herrschaftlichen Staats- 
formen, in denen politisches Monopol herrscht. Dann folgt eine entsprechende 
Analyse des Kapitalismus, dessen Grundphanomen nicht etwa das Klassen- 
nionopol an den Produktionsmitteln, sondern die wirtschaftliche Entwick- 
lung sei, beruhend auf der freien Konkurrenz und der Fuhrung der schopfe- 
rischenUnternehmer. Endlich wird gezeigt, wie die Dynamik des Kapitalis- 
mus die traditionellen Herrschaftssysteme sprengt und ihre Ersetzung durch 
die ihm angepaBte Demokratie erzwingt. In diesem dritten Teil, wo die 
Untersuchung der historischen Kausalzusammenhange dazu drangt, iiber 
blofie formale Analogien hinauszugehen, finden sich die besten Abschnitte 
des Buches. Urn aber auch hier MiBverstandnisse zu vermeiden, unternimmt 
es H., die Behauptung eines Zusammenhangs von Demokratie und Pluto - 
kratie, soweit sie mehr als „MiBstande" treffen will, mittels formalen Rasonne- 
ments fiir ein bloBes Schlagwort zu erklaren. Im ganzen erweist sich an H., 
der der Schule Sohumpeters entstammt, mit aller Deutlichkeit, daB der 
soziologische und okonomische Formalismus nur eine aufierlich dem Stand 
des modemen Denkens angepaBte Neuauflage des juris tischen Formalismus 
ist, der das liberate Denken von jeher charakterisiert hat — und darin liegt 
vielleicht der hauptsachlichste Erkenntniswert des Buches. 

Richard Lowenthal (Berlin). 

Jost, Walter, Das Sozialleben des industriellen Betriebs. Sine 
Analyse des sozialen Prozesses im Betrieb. Schriftenreihe dee Institute 
fiir Betriebssoziologie und soziale Betriebslehren an- der Tecknischen 
Hoehschule Berlin, H. 2. Julius Springer. Berlin 1932. {83 S.; RM. 3.90) 
Matthes, Carl, Die Rationalisierung der Wirtschaftaprozesse in 
ihren Auswirkungenauf deninder Wirtsckafttatigen Menscken 
und seine Erziehung. Rascher u. Oie. Zurich, Leipzig, Stuttgart, 
1932. (131 S.; RM. 3.20) 

Jost versucht in seiner Arbeit, deren Titel mehr verspricht als der 
Inhalt halt, eine empirisch-systematische Basis fiir eine Betriebssoziologie 
zu schaffen. Hauptkategorie ist der soziale ProzeB; er wird in Einzel- 
prozesse zerlegt. Der Verf. unterscheidet einerseits regulare imd Friktions- 
prozesse und andererseits Entwicklungsprozesse, wobei „Entwicklungs- 
prozesse" nur ein anderer Name fiir „historische Betriebssoziologie" ist. 
Die statische Betrachtung, deren Gegenstand die beiden erstgenannten 
Prozesse sind, bedarf der weiteren Unterscheidung von Prozessen, die 
zwischen Belegschaft und Betriebsleitung und solchen, die zwischen den 
gleichgeordneten Mitgliedern einer der beiden Gruppen spielen (Vertikal- 
und Horizontalprozesse). J. glaubt, daB die „Steuerung" der sozialen 
Betriebsprozesse durch eine wissenschaftliche Betriebssoziologie erleichtert 



456 Besprechungen 

werden konne und daB „das Problem der Einpassung des arbeitenden 
Menschen in die Realitat seiner Arbeits- und Lebenswelt . . . unabhangig 
von der geltenden Sozial- und Wirtschaftsordnung" bestehe. — Die Arbeit 
von Matthes ist wertlos. Sie enthalt nur Gemeinplatze, die mit ent- 
waffnender Naivitat vorgebracht werden. Das Sprachvermogen des Verf. 
reicht kaum dazu aus, sie plausibel zu machen. 

Hans Speier (Berlin). 

Jiinger, Ernst, Der Arbeit er. Herrschaft und Gestalt. Hanseatische Ver- 
lagsanstalt. Hamburg 1932, (300 S.; RM. 4.80, geb. RM. 5.80) 
Wer in diesem Buch etwas iiber den Arbeiter erf ahren will, wird ent- 
tauscht. Denn Arbeiter ist hier keine soziologische Kategorie, sondern 
als solcher gilt, um mit J. zu sprechen, ein „neuer aktiver Typus", fur den 
wie fiir den Soldaten Freiheit und Gehorsam identisch sind. Im Arbeits- 
charakter, der „nichts mit Beruf Oder Werktatigkeit im alten Sinne zu 
schaffen hat", erscheint das Leben in einem neuen Modus. Bezeichnungen 
wie „organische Konstruktion", „totale Mobilmachung", „Planlandschaft u 
so Hen inn andeuten. Aber trotz guter Beobachtungen, deren das Buch 
manche enthalt, stimmt der Anspruch des Verf., im Dienste eines „hero- 
ischen Realismus" beobachtet zu haben, nicht zu der geistigen Kraft, iiber 
die er verfiigt. Sie reicht nur dazu aus, das Weltbild einer soldatischen 
Boheme zu entwerfen. Dafi diese mit der liter arischen nicht nur den Burger- 
hafi, sondern auch eine Stilgewandtheit teilt, deren Verfiihrung der Autor 
leichter erliegt als Leser, denen organische Konstruktionen logische Greuel 
sind, mindert nicht ihre besondere Tragik: zornig inmitten einer zerfallenden 
Zivilisation zu stehen, mit nichts als dem Willen, sie zu iiberwinden. 

Hans Speier (Berlin). 

Die soziale Frage und der Katkolizismus. Festschrift zum 40jdhrigen 
Jubilaum der Enzylclika „Rerum novarum". Heravsgegeben von der 
Sektion fiir Sozial- und Wirtschaftswissenschaft der Gorres-Qesellschaft 
durch J. Strieder und J. Meaner. F. Schbningh. Paderborn 1931. (488 S. : 
geb. RM. 16.—) 

Uber 30 sozialwissenschaftlich geschulte Kathpliken, darunter nam. 
haf te Fachvertreter wie Goetz Briefs, Theodor B r a u e r , Jakob Strieder, 
Adolf Weber, v. Nell-Breuning S. J. u. a. haben zu dieser Festschrift 
Beitrage geliefert. Sie behandeln Themeh zur Geschichte des sozialen 
Katholizismus und versuchen, den Einflufi der Enzyklika „Rerum no- 
varum" auf die sozialpolitische und sozial wissenschaftliche Entwicklung 
der jiingsten Epoche darzustellen. 

Die Aufsatze sind in ihrer wissenschaftlichen Qualitat sehr verschieden. 
Unzulanglichkeiten der Enzyklika werden teils mit Stillschweigen iiber- 
gangen, teils positiv interpretiert. Interessant ist ein Beitrag des Theologie- 
professors Mitterer iiber Zusammenhange zwischen Naturrechtslehre 
und Naturwissenschaft bei Thomas von Aquin (S. 436 — 452). Mitterer 
weist darauf hin, daB die scholastische Naturrechtstheorie und die auf ihr 
begriindete Sozialethik keineswegs „unwandelbar" sind, sondern von dem 
naturwissenschaftlichen und sozialen Weltbild des Mittelalters abhangen. 



Spezielle Soziologie 457 

Nur wenige Beitrage dringen zur wirtschaftlich-gesellschaftlichen 
Problematik der Gegenwart vor. Die kapitalismuskritische Richtung des 
heutigen Katholizismus kommt infolge der einseitigen Zusammensetzung 
der Mitarbeiterschaft nicht zur Geltung. 

Heinrich Mertens (Frankfurt a. M.). 

Schwer, Wilhelm, und Franz Mtiller, Der deutsche Katholizismus im 

Zeitalter des Kapitalismus. Haas und Grabherr. Augsburg 1932. 

(224 8.; RM. 3.50, geb. RM. 4.50) 
Getzeny, Heinrich, Kapitalismus und Sozialismus im Lickte der 

neueren, insbesondere der katholischen Gesellschaftslehre. 

F. Pustet. Regensburg J 932. (274 S.; RM. 4.80, geb. RM. 5.80) 

Der prozentuale Anteil der Katholiken an der Gruppe der wirtschaftlich 
„Selbstandigen"istvon 1895— 1907 (zwischen den amtlichen Berufszahlungen) 
gesunken, der Anteil am wachsenden Industrieproletariat relativ zu den Pro- 
testanten stark gestiegen. Schwer, der die Ursachen fur dieses „wirtschaft- 
liche Schicksal der deutsehen Katholiken im Kapitalismus" untersucht, sieht 
den zentralen Erklarungsgrund in der staatspolitischen Lage in Deutsch- 
land zur Zeit des Merkantilismus. Die zahlreichen von klerikalen Landes- 
herren geleiteten geistlichen Furstentumer, in denen die groBe Mehrheit 
der Katholiken ansassig war, pflegten eine traditionalistische Wirtschafts- 
fiihrung und uberliefien ihren protestantischen Nachbarn die Ausniitzung 
der okonomischen Aufstiegschancen in dieser fiir die spatere kapitalistische 
Entwicklung entscheidenden Epoche. Erst nach der Sakularisation 1803 
wurden die katholischen Gebiete fiir eine kapitalistische Wirtschaitsent- 
wicklung frei; jetzt verfiigten die protestantischen Kreise uber die okono- 
misch-technische Erfahrung und konnten deshalb die Erschliefiung der 
befreiten katholischen Gebiete fiir den Kapitalismus in Angriff nehmen. 

Dieser dkonomisch-sozialen Lage der deutsehen Katholiken entsprach 
ihre Kapitalismuskritik bis Ende der achtziger Jahre. Die fiihrende katho- 
lische Publizistik dieser Zeit — sie kommt in dem Beitrag von Muller 
iiber die „Beurteilung des Kapitalismus in der katholischen Publizistik 
des 19. Jahrhunderts" in reichen Zitaten zu Wort — lieferte oft treffende 
Diagnosen des Kapitalismus; die von ihr vorgeschlagenen positiven Re- 
formen aber waren zu sehr von einer vorkapitalistischen Denkweise be- 
stimmt, als dafi sie politische Bedeutung hatten erlangen kdnnen. Politisch 
wirksam wurde der Sozialkatholizismus erst, als er sich zu einer Sozial- 
politik auf kapitalistischer Grundlage bekannte. Das geschah unter Fuhrung 
von Hertling und Hitze in den achtziger Jahren. 

Neuerdings, unter dem Einflufi der Krise, kommt die kapitalismus- 
kritische Haltung im deutsehen Katholizismus wieder starker zur Geltung. 
Dafiir ist das Buch von Getzeny ein Zeugnis. G. gibt in klarer Darstellung 
eine Beschreibung der kapitalistischen Wirtschaft, kritisiert in verstandnis- 
voller Weise den Sozialismus und entwickelt das wirtschaftlich -soziale 
Reformprogramm des Katholizismus. Fiir die Zwecke der katholisch- 
sozialen Schulung ist das Buch sehr geeignet, die wissenschaf tliche Diskussion 
ist durch diesen Beitrag nicht wesentlich gefordert worden. 

Heinrich Mertens (Frankfurt a. M.). 



458 Besprechungen 

Dreiser, Theodore, Tragic America. Horace Liveright t Inc. New York 1932* 
(435 S.; $ 3. — ) — Chase, Stuart, A New Deal. The Macmillan Com- 
pany. New York 1932. (257 S.; $ 2-— ) — Johann, A. E., Amerika. 
Untergang am Vberflufi. VlUtein-Verlag. Berlin- 1932; (256 JS.: 
br. RM 4.— t geb. RM. 5.50) 

„Heutzutage versucht in Amerika eine Oligarchie von Magnaten dieses 
groBe Volk zu versklaven. In dieser Absicht will man es erst geistig her- 
unterbringen. Aus diesem Grund, und zwar allein aus diesem Grund habe 
ich es fiir notwendig gehalten, an diesem Kampf teilzunehmen." Diese 
Erklarung gibt der bekannte Verfasser der ^Amerikanischen Tragodie" 
dafur, daB er ein Buch des Protestes gegen die heutige wirtschaftliche und 
gesellschaftliche Verfassung der Vereinigten Staaten geschrieben hat. 
Kapitel auf Kapitel hauft er seine Anklagen gegen die unmenschlichen 
Lebensbedingungen groBer Teile der amerikanischen Bevolkerung, gegen 
den rauberischen Charakter des amerikanischen Kapitalismus, die Regierung 
der Banken und Trusts, die Raffgier der Eisenbahngesellschaften, den 
obersten Gerichtshof, die Entwertung der Verfassung zu einem bloflen 
Fetzen Papier, die Komodie des Wahlsystems, gegen die parteiische Hal- 
tung der Kirche und die interessierte Wohltatigkeitspflege. Dreiser be- 
richtet iiber eine Unmasse von belastenden Einzelheiten, die sich zu einem 
triiben Bild zusammenf iigen : die Tragodie dieses Landes liegt darin, daft 
seine Reichttimer nur einer kleinen Gruppe zugute kommen, wahrend die 
groBe Masse der Bevolkerung im tief sten Elend oder doch in taglicher Furcht 
vor der Verelendung gehalten wird. Dieser Zustand scheint D. unhaltbar 
zu werden. Er sieht den Ausweg in der entschadigungslosen Enteignung 
des Privateigentums und dem tJbergang der Regierungsgewalt an die Ver- 
treter der Arbeiter und Farmer. 

Das Buch ist der Protest eines wohlmeinenden Mannes, der den "Cber- 
gang zu einer neuen Ordnung moglichst ohne die Gewalttatigkeiten der 
russischen Revolution wiinscht und von der Ungerechtigkeit und Un- 
ertraglichkeit der heutigen Zustande eine weit klarere Vorstellung besitzt 
als von den Mitteln, sie zu beseitigen. 

Das neue Buch von Stuart Chase steht theoretisch auf einer weit 
hoheren Stufe. Auch er versucht zu zeigen, dafl die heutige Wirtschafts- 
und Gesellschaftsordnung der Bereicherung relativ kleiner Gruppen dient, 
aber darin sieht er nicht das Hauptubel: ,,Nicht der Gewinn, welchen der 
Profitjager heute an sich reiBt, tragt die Hauptschuld an der heutigen Ver- 
wirrung; sie liegt vielmehr bei der Verschleuderung und dem Durchein- 
ander, die er schafft bei dem Versuch, inn an sich zu reiBen." Eine gut 
organisierte reiche Wirtschaft konne die Menge an Kaufkraft, die durch die 
„Profitjager" und die Bezieher von arbeitslosen Einkommen weggenommen 
wird, ohne besonderen Schaden entbehren, aber koine Gesellschaft kdnne 
es vertragen, daB ihr Wirtschaftsapparat fortwahrend durch die, welche 
reich werden wollen, durcheinander gebracht wird. „Wenn wir das Gesamt- 
einkommen der Besitzenden beschlagnahmten und auf den Rest der Be- 
volkerung verteilten, so wurde der Lebensstandard der letzteren nach 
Prof. Bowley nur urn ungefahr 10% erhoht werden. Aber wenn wir die 
Machenschaften der Profitjager ausschalten konnten, waren wir imstande, 



Spezielle Soziologie 459 

die Armut abzuschaffen und grundsatzlich von einem Tag auf den anderen 
den Lebensstandard zu verdoppeln." 

C. sieht drei theoretisch mogliche Wege aus dem heutigen Zustand : eine 
faschistische Diktatur des GroBkapitals, eine Diktatur nach bolsche- 
wistischem Muster und den „dritten Weg". Die ersten beiden halt 
er in den Vereinigten Staaten fur ungangbar, da sie am Wider- 
stand der fur die Aufrechterhaltung des komplizierten arbeitsteiligen 
Wirtschaftsprozesses unentbehrlichen Techniker und hochqualifizierten 
Arbeiter aller Art scheitern miiBten. Der dritte Weg ist der evo- 
lutionare t^bergang zu einer von einem „Planning Board" geleiteten 
Planwirtschaft, die sich zunachst dreier Mittel bedient: einer Mani- 
pulierung von Geld und Kredit, die vor inflationistischen MaBnahmen 
nicht zuriickschreckt, Besteuerung hoher Einkommen und Erbschafts- 
steuern und einer umfassenden Vergebung offentlicher Arbeiten. Der 
wesentliche Unterschied gegeniiber Dreisers Vorsehlag liegt darin, daB 
Chase auf die Enteignung der Produktionsmittel verzichten will, da sie auf 
zu grofien Widerstand stiefle, und er meint, daB die Wirtschaft im offent- 
lichen Interesse geleitet werden kann, ohne daB dazu notwendig das System 
des Privateigentums beseitigt werden miifite. Die Realisierung seines 
„dritten Weges" erwartet C. von einer intelligenten Minderheit, die durch 
unermudliche Propaganda die Umstellung vorbereitet und auf dem Weg 
iiber eine „dritte" Partei schliefilich genug politischen EinfluB gewinnt, um 
ihr Programm auf legalem Wege durchzusetzen. 

Viel skeptischer denkt A. E. Johann iiber die Moglichkeit einer Ver- 
anderung des nicht mehr funktionierenden amerikanischen Wirtschafts- 
systems. J. hat im Winter 1931/32 den ganzen nordamerikanischen Kon- 
tinent im Auto bereist und sich vorgenommen, Antwort auf drei Fragen zu 
erhalten: Wie steht es mit den Arbeitslosen in USA., welche Aussichten 
hat dort eine kommunistische Revolution, und wie verhalt es sich mit der 
Negerfrage ? Eine auCergewohnliche Beobachtungsgabe und zahlreiche 
Gesprache, die er in Kanada und der Union mit Angehorigen aller Schichten 
der Bevolkerung gefuhrt hat, haben dem Verf . ein reiches Material geliefert, 
das er in seiner ausgezeichneten Reportage darbietet. Man findet darin 
ein klares Bild der verzweifelten Lage der amerikanischen Farmer und der 
Ursachen ihres Ruins, eindringliche Berichte iiber das Leben der Arbeits- 
losen und den Umfang der Arbeitslosigkeit, ein Kapitel iiber die Gewerk- 
schaften, das viele in Deutschland unbekannte Tatsachen mitteilt, AuBe- 
rungen zweier Wirtschaftsfuhrer iiber die Krise, die an Einsichtslosigkeit 
nichts zu wiinschen ubrig lassen. 

Trotz des raschen Umsichgreifens der kommunistischen Bewegung halt 
J. ihre Erfolgsaussichten fur gering, solange der amerikanische Farmer ein 
„ Individualist in Reinkultur" bleibt und der durchschnittliche ameri- 
kanische Arbeiter „fiir einen gut bezahlten Job seine samtlichen politi- 
tischen ttberzeugungen an den Nagel zu hangen" bereit ist. 

Nach J.s Uberzeugung gibt es nur zwei Wege, die den Kapitalismus aus 
seinen Schwierigkeiten herausfuhren konnen: Riickkehr zum System der 
freien Wirtschaft oder autarke Planwirtschaft. Beide halt er fur die Ver- 
einigten Staaten nicht gangbar, so dafl auch fur ihn gilt, was er von den 



460 Besprechungen 

Amerikanern sagt: „Im Grunde genommen weifi in diesem ganzen riesig 
grofien Lande Amerika kein Mensch, was weiter werden soil' 1 . 

Friedrich Pollock (Frankfurt a. M.). 

Renier, G. J.* The English: Are They Humanl Tauchnitz. Leipzig 

1932. (286 S.; geh. RM. 1.80, geb. RM. 2.50) 

Die Englander: „unintellektuell 5 beherrscht, verbissen, stetig, prag- 
matisch, schweigsam und zuverlassig" werden visiert. Ein Franzose ver- 
folgt sie im Straflenlarm, er zerpfliickt das Zeitungszitat, er belauscht die 
Tabus der Konversation, er deckt das home der middleclass auf, er frater- 
nisiert beim drink mit dem Landproletarier, er streift dureh die Gerichts- 
und Betsale, folgt dem gentleman ins Parlament, sucht die Massen beim 
Wetten auf dem Sportplatz, schildert die Riten der society, er vergleicht mit 
Frankreich, vergleicht mit Deutschland, er vergleicht den gentleman von 
heute mit dem von gestern, um die Besonderheit der Nation von heute zu 
erfassen. Und die Englander sind eine besondere Nation. Sie haben die 
Konzeption einer ritualistischen Lebensfiihrung. Das Ritual macht das 
Leben angenehm, weniger reibungsvoll, und man weiB stets, woran man sich 
halt en soil. 

In den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts, aus dem sozialen und 
politischen Kompromifi der Aristokratie und der modernen Bourgeoisie, 
Hand in Hand mit der religious revival des Methodismus, entsteht in der 
public school eine Retorte, in der bestimmte psychische, geistige und leib- 
liche Attituden zum modernen gentleman zusammenwachsen. Die ver- 
schuttete Bahn des alten Puritanismus wird wieder frei gelegt; was dort 
hinter dem Rucken der Agent en sich bildete, wird jetzt bewufit geziichtet. 
War der Kampfruf des deutschen Gymnasiallehrers : „Sei ein Mensch!", so 
rief Arnold, der Inaugurator der modernen publicschool: „Sei einOffizier!" 
Korpsgeist, enthusiastische Liebe zur Institution, ein Training, Macht iiber 
Menschen auszuiiben, moralische Eigenschaften zu bewundern, die ihnen 
nicht urspriinghch waren, und ihr eigenes natiirliches Leben zu unterdriicken, 
waren das Resultat. 

R. zeigt, wie dieser Menschentyp die Schule verlafit, die politischen 
Amter besetzt, die City durchdringt, die Kolonien beherrscht, wie er vor- 
bildlich wird und nachgeahmt werden mufi von denen, die etwas auf sich 
halten. Er ftihrt seine These mit grofiem Takt, historischer Umsicht und 
padagogischem Geschick durch. Hans Gerth (Frankfurt a. M.). 

Aron, R. et A. Dandieu, Decadence de la nation francaise. Rieder. 

Paris 1931 (245 S.; 15 Frs.) 

Das Buch ist die erste Veroffentlichung eines vor kurzem gegriindeten 
Studienvereins namens ,,1/ordre nouveau'*. Ein zweites Buch, „Le cancer 
americain" ist schon erschienen, und ein drittes folgt bald unter dem Titel: 
„La revolution necessaire". 

Die Autoren stellen zunachst fest; Der Franzose ist ein geborener 
Individualist und ein geborener Patriot; doch haben diese Eigenschaften 
durch zwei verunstaltende Mythen: Industrie und Nation, ihre ursprung- 
liche Gestalt eingebiifit. Diese fiihrten zur erfolglosen Nachahmung des 



Spezielle Soziologie 461 

amerikanischen Kapitalismus einerseits, des russischen Bolschewisrrius 
andererseits. Die Ursache dieses traurigen Zustandes finden die Verf. 
erstens bei Descartes, dessen Rational ismus einen Ford, dann bei Napoleon, 
dessen „Verrat" einen Poincare erzeugt habe. Gegen die beiden Aus- 
wiichse schlagen nun die Verf. eine ,,individualistisch-foderalistische Re- 
volution " vor, die im nachsten Bande zu behandeln sein wird. Sie wollen 
keine ,,zentrahstisch-kommunistische Revolution", aber auch keinen 
,, cancer americain", sondern eine Fortsetzung der groBen Revolution von 
1789. 

Das Buch bringt eine detaillierte Kritik der heutigen philosophisch- 
ideologischen und politischen Zustande. 

M. Tazerout (La Roche, Yon). 

Ruppin, Arthur, Soziologie der Juden. I. Bd. Die soziale Struktur der 
Juden. II. Bd. Der Kampf der Juden urn ihre Zukunft. JUdischer Verlag. 
Berlin 1930 u. 1931. (I: 522 S.; geb. RM. 20.~, Hldr. RM. 26.— ; II: 
335 S.; geb. RM. 18.—, Hldr. RM. 24.—) 
Das Werk ist die Frucht jahrzehntelanger Beschaftigung mit der Sonder- 
statistik der Juden, einem Gebiet, auf dem der auch in dem Kolonisationswerk 
in Palastina hervorragend tatige Verfasser schon in der Zeitschrift fur Demo- 
graph ie und Statistik der Juden (seit 1904) und in seinem Buch „Die Juden 
der Gegenwart" (1. Aufl. 1904)Bahnbrechendes geleistet hat. In einem aufier- 
ordentlich weit gespannten Rahmen wird der Versuch unternommen, die 
Struktur der Judenheit von den verschiedensten Seiten her darzustellen. 
Nach einem einleitenden Uberblick iiber Herkunft und Rasse werden im 
Hauptteil des ersten Bandes unter verschiedenen Gesichtspunkten die be- 
volkerungsstatistischen Verhaltnisse der Juden in den verschiedenen Landern 
zusammengefaflt ; Geburts- und Sterbeziff ern, Wanderungen, Mischehen, 
Krankheiten sowie Altersgliederung werden eingehend untersucht. Die Ge- 
samtzahl wird fiir 1930 auf 15903000 veranschlagt. Der folgende Abschnitt 
befaCt sich mit den wirtschaftlichen Verhaltnissen, insbesondere mit der 
Berufsgliederung, wobei sich starke Abweichungen von den Nichtjuden er- 
geben. Ein kurzes Kapitel iiber Beruf und Kriminalitat beschlieflt den 
ersten Band. Dieser statischen Untersuchung folgt im 2. Band eine 
stellenweise anfechtbare Darstellung der dynamischen Krafte: der Kampf 
um die Gleichberechtigung, die kulturelle Autonomic, der Antisemitismus, 
die geistigen, religiosen und organisatorischen Verhaltnisse, der Zionis- 
mus und die Wiederbesiedlung Palastinas. Mit einem Ausblick auf die 
Elemente der zukiinftigen Entwicklung schlieBt das Werk. — Diese 
sehr summarische tJbersicht kann auch nicht annahernd den auBer- 
ordentlichen Stoffreichtum der beiden Bande andeuten. Band I gibt die 
vollstandigste Sammlung statistischen Materials tiber die Welt judenheit, 
die heute erreichbar ist. Allerdings ist diese Vollstandigkeit recht einge- 
schrankt, da die Religionsstatistik in manchen Landern iiberhaupt nicht, in 
anderen nur liiekenhaft durchgefuhrt wird und daher hauf ig mit Schatzungen 
und Vermutungen gearbeitet werden muB ; dazu kommt eine starke TJnsicher- 
heit der Vergleichsbasis, die in der Verschiedenheit der erfafiten Zeitraume 
— vielfach stehen nur Angaben aus der Vorkriegszeit zur Verfiigung — be- 



462 Besprechungen 

griindet ist. Aber R. gebiihrt das Verdienst, daB er an Hand der zahlreichen 
Einzelforschungen iiber sein Stoffgebiefc einen Querschnitt durch die Situation 
der .Tudenheit gegeben hat, der nicht nur der Sozialforschung, sondern auch 
der politischen Betrachtung der Judenfrage wertvolles Material liefert. 

Eugen Mayer (Frankfurt a. M.). 



Dinse, Robert, Das Freizeitleben der Groflstadtjugend. Schriftenreihe 
des Deutschen Archivs fiir Jugendwohlfahrt, Heft 10. Vertagsgesellschajt 
R. Miiller m. b. H. Eberswalde 1932. (VII u. 125 S.; RM. 3.85) 

Die Schrift enthalt die Ergebnisse einer Enquete, die im Marz und No- 
vember 1930 an funf Berliner Berufsschulen, je zwei Oberrealschulen und 
Reformgymnasien und einem Oberlyzeum durchgefuhrt wordenist. 5191 Ju- 
gendliche zwischen 14 und 18 Jahren haben Klassenaufsatze iiber das 
Thema „Wie verbringe ich meine freie Zeit ?" angefertigt, wobei sie einen 
Fragebogen als Anleitung zur Hand hatten. Das Buch, in dem glucklicher- 
weise viele AuBerungen wortlich zitiert sind, gibt Auskunft iiber den Zu- 
sammenhang der Jugendlichen mit der Familie, iiber den Umf ang der Haus- 
haltsarbeiten, die Vergniigungen (Tanz, Rumrael, Kino usw.),. den litera- 
rischen und musikalischen Geschmack; es zeigt, wie die Befragten zur 
Kirche, zur Politik und zum Jugendverein stehen und was ihnen der Freund 
und die Freundin bedeuten. Politische Interessen auBerten spontan — 
denn nach ihnen war leider absichtlich nicht gefragt — von den ungelernten 
Arbeitern 9%! Das ist, obwohl schon diejenigen mitgereehnet sind, die nur 
eine politische Zeitung lesen, der hochste Prozentsatz aller Gruppen; bei 
den Madchen betragt er 2%. Die Antworten auf die meisten Fragen diffe- 
renzieren sich deutlich nach der beruflichen und sozialen Schichtung der 
Befragten. In der Auswertung hielt sich der Bearbeiter sehr zuriick. 

Hans Speier (Berlin). 



Das Gesicht der Demokratie, hrsg. von Edmund Schultz mit einer Ein- 
leitung von Friedr. Georg Jiinger. Breitkcjf und H artel. Leipzig 1931. 
(152 S.; RM. 5. — , Lwd. 6.50) — Zwanzig Jahre Weltgeschichte in 
700 Bildem, mit einer Einleitung von Friedrich Sieburg. Transmare Ver- 
lag. Berlin 1931. (284 S.; RM. 4.80, Lwd. 5.80) — Der Staat ohne 
Arbeitslose, hrsg. von Ernst Glaeser u. F. C. Weiskopf. G. Kiepen- 
heuer, Berlin 1931. (VIII u. 198 &.; RM. 4.50) 

Die Bildreportage hat in der Nachkriegszeit einen groBen Aufschwung 
genommen. Davon zeugen die Riesenauflagen der illustrierten Zeitungen, 
die Verbreitung der photographischen Sammelwerke und die „Wochenschau" 
als tagliches Beiprogramm der Lichtspieltheater. 

In den Biichem, die wir hier besprechen, wird versucht, einen politischen 
Gedankengang durch Serien von photographischen Aufnahmen zu vermitteln, 
wobei dem Wort lediglich die Rolle der Illustration zufallt. Die Bilder sollen 
selber ^sprechen". Es handelt sich aber nicht — wie man zunachst annehmen 
konnte — um eine primitivere Methode der Gedankenubermittlung, sondern 



Spezielle Soziologie 463 

vielmehr um eine „Bildersprache", die ganz bestimmte psychologische Er- 
kennfcnisse vorausetzt. 

Das Buch ,,Das Gesicht der Demokratie" will Kritik iiben am demo- 
kratischen Parlamentarismus des Nachkriegs-Deutschland. Es steht auf 
dem Boden der extremen Rechten und wendet sich besonders scharf gegen 
die „Parteifunktionare" der Sozialdemokratie und der burger lichen Mittel- 
parteien bis zur Volkspartei. Entsprechend der politischen Einstellung 
dieses Standortes wird dem „Liberalismus", der „Novemberrevolution (< und 
der „Erfullungspolitik" die Schuld am gegenwartigen Niedergang zuge- 
schoben. Der einleitende Text von Jiinger wiederholt die Vorwiirfe gegen 
den „liberalen Begriff" der Partei und den „soziaHstischen Begriff der 
Klasse" und fordert etwas verschwommen „die Einheit von politischer 
Fuhrung und Gefolgschaft von Staat und Nation". 

„Zwanzig Jahre Weltgeschichte 1910 — 1930'*, so nennt sich ein umfang- 
reiches Bilderbuch, zusammengestellt von Sandor Marai und Laszlo Dor- 
mandi, in drei Seiten kurz von Friedrich Sieburg, dem bekannten Redakteur 
der Frankfurter Zeitung, eingeleitet. Die Herausgeber wollen ein uni- 
verselles Bild der ganzen Epoche bringen. Das Buch beginnt mit 
Bildern aus der Vorkriegszeit, hauptsachlich den Portrats der Kaiser, 
Konige und Furstlichkeiten, um dann durch die Kriegszeit hindurch 
in das heutige Europa hineinzufuhren. Es bringt Bilder aus aller 
Welt, SowjetruBland, Amerika, Afrika usw. und landet schheClich 
bei Einzeldarstellungen, wie „Die Frau'% „Das Kind", „Die Wissenschaft" ; 
am Schlufi werden gar noch Naturkatastrophen wie Springfluten, Tornados 
usw. angeflickt, bis ganz am Ende das Buch mit der tJberschrift „Welt- 
frieden'* die Aufrustung auf der ganzen Linie zeigt. Die Herausgeber be- 
miihen sich um Objektivitat, aber schliefllich laufen alle Konturen ineinander, 
und die innere logische und historische Verbundenheit der Ereignisse wird 
nicht deutlich. Man gewinnt zwar den Eindruck der lebendigen Zusammen- 
hange des Geschehens in alien Teilen der Erde, aber ohne da'fl sich alles in eine 
einheitliche Perspektive ordnen UeBe. Daher hat das Buch mehr den 
Charakter eines universalen Nachschlagewerkes, in dem man Persdnlichkeiten 
iind Ereignisse der Jahre 1910 — 1930 vermerkt fzndet. 

„Der Staat ohne Arbeitslose" ist ein photographisches Bilderbuch des 
Funfjahresplanes der Sowjet-Union. Es gibt mehr einen Querschnitt als 
einen Langsschnitt. Mit f ortlauiendem Text werden die ungeheure Weite des 
Landes, die Vielfalt seiner Bevolkerung, die Entwicklung der modernen 
Technik und der kulturelle Aufstieg in Stadt und Land gezeigt. Das Buch 
nennt sich selbst „einen undemagogischen Versuch, der Wahrheit zu dienen". 
Ganz am SchluB findet sich ein kurzes Nachwort von Alfred Kurella, das auch 
Zahlenmaterial iiber den Fiinfjahrplan anfiihrt. Ein Fehler des Buches ist, 
dafl es zwar den groBen Aufstieg gewissenhaft schildert, aber ihn nicht in 
ein richtiges Verhaltnis setzt zu der ungeheuren Riickstandigkeit, die 
heute noch in vielen Teilen des Landes und auf manchen Gebieten 
des taglichen Lebens als Erbe des Zarismus und der siebenjahrigen Un- 
ruhe durch Krieg und Burgerkrieg vorhanden ist. Trotzdem bleibt der 
Eindruck des Ganzen stark. 

Gisela Freund (Frankfurt a. M.). 



464 Besprechungen 

Handworterbuch des deutschen V olksbildungswesens. Hrsg. von 

Heinrich Becker, Georg Adolf Narciss, Rudolf Mirbt. 1. Lieferung. 

Neuer Breslauer Verlag. Breslau 1932. (159 S.; RM. 5.—) 

Das Handworterbuch setzt sich zur Aufgabe, einen t^berblick iiber den 

augenblicklichen Stand der verschiedenen Arbeitsgebiete der Erwachsenen- 

bildung auf Grund ihrer geschichtlichen Entwicklung zu geben und gleich- 

zeitig Diskussionsforum fur ihre gegenwartigen Grundprobleme zii sein. 

Es dient deshalb ebenso als Nachschlage^rerk fur die tagliche Praxis wie 

auch als Hilfsmittel fiir die intensive Auseinandersetzung urn die Erwach- 

senenbildung. Bei der steigenden Bedeutung und gleichzeitig fast uniiber- 

schaubaren Mannigfaltigkeit der deutschen Volksbildungsbewegung nach 

dem Kriege ist solche gewissenhafte Orientierung und representative Be- 

gegnung dringend erforderlich. 

Die vorliegende erste Lieferung des alphabetisch nach Stichworten auf : 
gebauten Handworterbuches wird dieser schwierigen und vielfaltigen Auf- 
gabe durchaus gerecht. Erfreulich ist vor allem, daS sich die Referate nicht 
auf Feststellungen und Klarung deo Tatbestandes allein beschranken, 
sondern Aufgaben und Mdglichkeiten der Volksbildungsarbeit umreifien 
und sie daruber hinaus in den Gesamtzusammenhang des allgemeinen 
Kulturlebens stellen. TJmfangreiche Liter aturangaben geben die not- 
wendigen Hinweise. Die Mitarbeiterschaft wurde aus alien mafigebenden 
Kreisen gewonnen, und eine „lebendige Neutralitat", auf die die Heraus- 
geber entscheidenden Wert legten, laflt die verschiedenen Stromungen zu 
Worte kommen. So gibt die Sammlung einen anschaulichen und umfassen- 
den t)berlick iiber das deutsche Volksbildungswesen. Das erste Heft bietet 
u. a. lesenswerte, z. T. sehr umfangreiche Beitrage iiber Abend volkshoch- 
schule (Mockrauer), Akademie der Arbeit (Ernst Michel), Angestellten- 
bildung (O. Suhr), Arbeiterbildung (Hermberg), Arbeiterbildung in den 
freien Gewerkschaften (Seelbach), Arbeitsgemeinschaft (Alfred Mann), 
Arbeitslager (Eugen Rosenstock), Arbeitslosigkeit und Erwachsenenbildung 
(Viktor Engelhardt). 

Gerade in der kulturpolitischen Gegenwartssituation, in der die Volks- 
bildung in ihren geistigen Grundlagen und ihrem materiellen Bestand ent- 
scheidend umkampft ist, verdient dieser umfassende Rechenschaftsbericht 
iiber Bemuhungen und Erfolge, Ziele und Aufgabe der deutschen Volks- 
bildungsarbeit allgemeines Interesse. 

Sigmund Neumann (Berlin). 

Okonomie. 

An Stelle der Besprechung einzelner okonomischer Werke steht in diesem 
Heft das Sammelreferat iiber planwirtschaftliche Literatur. Im nachsten 
Heft folgt wieder die Besprechung der sonstigen wichtigsten okonomischen 
Neuerscheinungen. 



fRIEDRIOH BURGDORFER 




f RIEDR. BURGDORFER / VOLK OHNE JUGEND 

Geburtenschwund u. Dberalterung des deutschen Volkskorpers 
Kin Problem der Volkswirtschaft, der Sozialpolitik, der natio- 
nalen Zukunft / 8°, XVI, 448 S. Text, 28 graph. Darstellungen. 
9. Beihftft zur Zeitschrift fur Geopolitik 

Kart. M. 7.80 
Leinen „ 9.50 

Aus den ersten Kritiken : 

Auf grofiem itatistiscbeo Beobachtungsmaterial baot tich die< an erachatternden Tat- 
■achen and ichverrr Spannung io rcichc Werk ouf. Aoa onchternen Ziffern and 
Dates form t sicb die Tragiidie finet Volkea, da* in leiocm Lebeuawillen gekoickt, 
in rauiachem Selbatmord licit •etbil aufgibt. Und io wird dieies Bach mm Not- 
und Warnungeruf cine* vaterlandaliebenden Mannea an itinc Weggenoaaen. 

Dr. J. (F. in der nReichtpoW 4 

Daa Werk i»t mit i«inen zahlreicben Zablenangaben, Literalurbinweiaea nod Fignren 
eine Fundgrobe f5r daa geaamie Taleacbenmaterial rum Problem dea Gebarten* 
ruckganges und der beirublicbcn Cefabrdung der deultchen Weltgeltung; ea ver- 
dient die aofmerkaame Beacbtung alter ao der Frage interettierien Kreiae. 

Prof. Manteufet in „Die meditinitche Welt" \ 30J1932 

Die BevSlkerongaveraehiebungen eracheinen al* Hintergrnnd der Politik. Zablen- 
angaben and uberiichtliche grapniache Daratellungea erganzen die Arbeit, die in 
Material and Ordnung eine Grandlage fur unsere kftnftigeo politiicben and aozialen 
Entaefaliefinngen bietet. H /)f e Tat", September 1932 

KURT VOWINCKEL VERLAG GmbH. 

BERLIN-GRUNEWALD 

■ ■ ■ I 



DAS FRAlE\PROBLEM 

der c;ec;eimvart 

Eine pgychologische Bilanz 
Von Dr. Alice Ruhle-Gerstel 

Broschiert RM. 9.— / Ganzleinen RM. 11 — / XII, 421 Seiten / Oktav 

HAUPTABSCHNITTE: I. Bedingungen der Entwicklung und die 
Entwicklung der Bedingungen : Die Natur als Hemmung und An- 
trieb — Im zweiten Rang der Gesellschaft — Die „Angehdrige" 
in der Familie — Stiefkind der Erziehung — Vom Start der Frau 
zum Ziel der Frau — Formenwandel weiblicher Leitlinien — Frauen- 
bewegung als sozialer Ausdruck des weibl. Charakters. II. Lebens- 
aufgaben und Lebensfiihrung. 1. Aufgaben der Geschlechtlichkeit: 
Die weibliche Sexualitat — Die Frau in der Ehe — Liebe und 
Weiblichkeit — Liebesproblem und Charaktertypen. 2. Arbeit 
und Werk: TMige Weiblichkeit — Weibliche TStigkeit — Verwal- 
tung u. Gestaltung — Arbeitsproblem und Charaktertypen. 3. Frau 
und Gesellschaft: Mutterschaft — Familienkreis — Soziale Bahnen 
— Bilanz d. Weiblichkeit — Eine Enquete uber das Frauenleben. 



Vossische Zeitung vom 14. August 1932: 

Es soil versucht werden, „das weibliche Geschlecht so zu betrachten, als bb 
es ein Individuum ware", um danach Ursachen und Ziele seiner Verhal- 
tungsweise im Leben zu bestimmen und womoglich zu regulieren. Die Verfas- 
serin erstrebt ein unmittelbares, positives Resultat, Diagnose und Heilmittel in 
einem. Ihre Grundfrage lautet : 1st die Bewertung des Biologischen notwendig 
ausschlaggebend fur die Stellung der Frau innerhalb der Gesellschaft? 

Die Frauen selbst lSsen ihr Problem auf dreierlei Weise. Entweder nehmen 
sie ihre Bewertung als reines Geschlechtswesen, wie sie ihnen in der fanner- 
welt" zugeteilt ist, auf sich, betonen diese Bindung und benutzen sie; oder sie 
wehren sich und erstreben, ja erreichen Gleichberechtigung iiber die Hem- 
mungen des K6rperlichen hinweg; oder sie suchen die Moglichkeiten einer 
freien Einordnune in die menschliche Gesellschaft, jenseits der physischen 
und psychischen Verschiedenheiten. Diese drei Typen werden charakteristisch 
gezeichnet: Die „Ideale", „Barmherzige", das Kindweib und die LiebesgOttin, 
die das weibliche — die „Tuchtige" und die ^rotestlerin", die das mannliche 
Ziel erstreben, und die „Furie", D§monische und Cberspannte, die iiber- 
geschlechtlich ihre PersSnlichkeit auszuleben suchen. 

Am eindringlichsten wird das lesenswerte Buch uberall dort, wo es sein 
Material unmittelbar aus dem Leben nimmt, aus Antworten und Selbstzeug- 
nissen von Frauen verschiedenster Schichten, Alter und Charaktere. 



VEBLAG S. HIRZEL / I.EIPZIO € 1 

2 



V o r k u r ^ e m erschien: 

MIXIOLOOIE VOX II KITE 

Ein Symposion der Zeitschrift fur Yolkerpsychologie 
und Soziologie 

Mit Beitragen der Professoren : 

Hans Freyef, Leipzig - M. Ginsberg, London - R. M. Maclver, 

New York - W. F. Ogburn, Chicago - J oh an n Plenge, Miinster - 

P. A. Sorokin, Harvard - S. R. Steinmetz, Amsterdam - R. Thurn- 

wald, Berlin-Yale - F, Tonnies, Kiel - A. Walther, Hamburg 

Herausgegeben von 
Richard Thurnwald 

Professor an der UniversHat Berlin, zur Zeit 
Gastprofessor a. d. Harvard-Univ., Cambridge 

VIII und 1 60 Seiten, steif brosch. RM. 5. — , Leinenband RM. 6.50 

Nachdem die Soziologie Lehrfach an den meisten Universitaten geworden, ist es eine 
wichtige Aufgabe, einen gewissen, gemeinsamen Kern an Lehre und Wissen aus den 
verschiedenen Auffassungen zu gewinnen. Zu diesemZweck wurden Vertreter verschiedener 
Auffassungen aus mehreren Landern zur Teilnahme an dieser Aussprache eingeladen. 

Dem Leser uird bier ein €berblick iiber die vielerlei in der Soziologie 

herrschenden Stromungen geboten, ein ungefahrer Querschnitt dureh den 

Stand der Soziologie von heute, der ftir jeden, der sich mit Soziologie 

beschaftigt, unentbemiieh ist. 

* 
EIN WERTURTEIL: 



„Das Sytnposion wird der neuen Wissenschaft infolge der Klarheit der 
Abhandlungen viele neue Freunde werben, vor allem jene Wissenschaftler, 
welche bisher mit einer gewissen Skepsis ihr gegeniiberstanden." 

Prager Pre.ise. 

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C. Ii. HIRSCHFELD VERLAtJ / LEIPZIG C 1 



Dr. Walther Rothschild / Berlin-Grunewald 



kh zeige drei Werke zu den 
brennenden Wirtschaftsfragen an 

Die Wandlungen der Wirtschaft im 
kapitalistischen Zeitalter 

Unter Mitarbeit von: Prof. Wilh. Andreae, Min,-R. Ernst Berger, Prof. Theodor 

Brauer, Prof. W. F. Bruck, Priv.-Doz. F. Darmstaedter, Prof. Sven Helander, 

Prof. Freih. v. Mering, Prof. Alfr. Meusel, Prof. Curt Hitter, Prof. Wilh. R6pke, 

Reg.-Dir. G. A. Salander, Prof. Georg WUnsch 

Herausgegeben von 

Prof. Dr. Ooetz Briefs 

VIII und 456 Seiten Grofioktav RM. 16.—, Ganzleinen RM. 18.— 

Dieses wissenschaftliche Standardwerk von hohen Graden behandelt die sozial- 

und wirtschaftsphilosophischen Ideen des kapitalistischen Zeitalters, die soziale 

und wirtschaftliche Wirklichkeit dieses Sakulums und das neue soziale 

wirtschaftliche Werden. 



Weltwirtschaftskrise 

Ein Wegweiser zu ihrer Losung 
Von Meditator 

Ein Streifband von 214 Seiten Oktav zum Preise von RM. 2.85 

Dieses Buch bietet die erste unvoreingenommene und allgemeinverst5ndliche 

Darstellung der Wirtschaftskrise und ihrer Losung. Der Verlag macht es durch 

die beliebte Preisstufe weiten Kauferkreisen zuganglich. Der ungenannt blei- 

bende Verfasser ist wahrhaft berufen. 



Statistische Orundlagen 
inner enropaischer Handelspolitik 

Von Richard Biedl 

Gesandter und Minister a. D 

XII und 92 Seiten Tabellen im Lexikonformat RM. 8.— 

Dieses statistische Tabellenwerk gibt die ziffernmafiigen Grundlagen fur jede 

neue kooperative europaische Handelspolitik. Sein Verfasser ist als der erste 

Kenner der Materie in der Welt bekannt. 

Ausfuhrliche Prospekte zu Diensten 



NEUERSCHEINUNGEN 

DR. ALFRED MULLER-ARMACK 

ENTWICKLUNGSGESETZEDESKAPITALISMUS 

Okonomische, geschichtstheoretische und soziologische 
Studien zur modernen Wirtschaftsverfassung 

VI, 218 Seken brosch. RM; 12. — 

Das Werk bietet eine grundlegend neue Auffassung des Kapitalismus. Die 
von Marx aufgeworfene Fragestellung wird hier zum ersten Male in ihrem 
vollen Umfang wieder aufgenommen. Die Wissenschaft - insbesondere das 
beriihmte Werk von Sombart - hat seither ein umfangreiches empirisches 
Material uber den Kapitalismus zusammengetragen. Aber es fehlt in der 
neueren Zeit eine philosophisch fundierte allgemeine Theorie von Wesen 
und Entwicklungsgesetzen des Kapitalismus. Hier greift Muller-Armack 
ein. Wahrend Marx mit Hilfe der aus der Naturwissenschaft ubernom- 
menen Begriffe seiner Zeit zu der Vorstellung einer zwangslaufigen sozialen 
Entwicklung gelangte, geht Muller-Armack von der modernen Geistes- 
wissenschaft aus, die die Geschichte als offene, der freien Aktivitat vollen 
Spielraum gewahrende Entwicklung betrachtet. Der Kapitalismus insbe- 
sondere bedeutet eine auf standigem Fortschritt eingestellte wirtschaftliche 
Dynamik. Aus dieser Auffassung ergeben sich wichtige Anhaltspunkte 
fur das Problem der Zukunft des Kapitalismus und die Beurteilung der 
gegenwartigen wirtschaftlichen und politischen Situation. 

DR. ERNST FALCK 

KOMMUNALE WIRTSCHAFTSPOLITIK 

VIII, 346 Seiten, RM. 16.— 

Der Verfasser versucht, iiber das Tatsachliche hinaus feste Gesichtspunkte 
auch fur eine kunftige Entwicklung zu finden. Insbesondere sucht er 
den AusgleichzwischenfreiwilligerBeschrankung der Gemeinden und ihren 
berechtigten Interessen und^ Tendenzen nach wirtschaftlicher Expansion. 
Den Ausgleich findet er in konkret gefaBten Vorschlagenzu einer kiinftigen 
Gemeindeplanwirtschaft. Im Beschreiten dieses Weges sieht er die sicherste 
Garantie der Selbstverwaltung, zu der er sich trotz ihres Niederganges 
in der Gegenwart bewuBt und hoffhungsfroh bekennt. Das Werk enthalt 
u. a. die erste wissenschaftliche Behandlung des Sklarekskandals. 

JUNKER UND DUNNHAUPT VERLAG / BERLIN 

5 



Soeben erscheint 

BAND23 DERMARXISTISCHEN BIBLIOTHEK 

(VEROFFENTLICHUNG DES MARX-ENGELS - LENIN - INSTITUTES 
IN MOSKAU) 

W. I. LENIN 

AUS DEM 

PHILOSOPHISCHEN 

NACHLASS 

EXZERPTE UND RANDGLOSSEN 

Herausgegeben und eingeleitet von V. ADORATSKf 

rinen Einbiick in die theoretische Werkstatt Lenins bieten vor- 
liegende Hefte, in denen Lenin Auszuge und Randbemerkungen 
beiseinemStudium der Werke Hegels, Feuerbachs, Aristoteles 
u. a. niederlegte. Nach dem Manuskriptgetreu herausgegeben, 
sind sie eine reiche Quelle fur jeden, der die Theorie der 
Dialektik und ihre marxistisch-leninistische Umgestalfung und 
Weiterentwicklung studiert. Da eine systemafische Darsfellung 
des diaiektischen Maferialismus nach wie vor fehlt, muB man 
schon bei Lenin selbst studieren, wie er „bestrebt ist, Hegel 
materialisfisch zu lesen". Das vorliegende Material isi dem 
Leninski Zbornik IX und XII entnommen und dem deuischen 
Leser zum ersten Male zugangfich gemacht. Es durffe zum 
tieleren Verstandnis der materialistischen Dialektik und ihrer 
Anwendung beim Studium der Natur und der Cese Use haft 
und in der praktisch-politischen Tatigkeit unentbehrlich sein. 

AUS DEM INHALT: Zur Kritik des Hegelschen Buches: „Wt88enschatt der Logik" / 
Zur Kritik der Vorlesungen Kegels Uber die Philosophic der 6eschichte / Zur Kritik 
der Vorlesungen Hegels uber die Geschichte der Philosophie / Plan der Dialektik 
Hegels / Uber das Buch G. Noels: „La Logique de Hegel" / Konspekt des Buches 
Lassalles: „Die Philosophie Herakleitos des Dunklen von Ephesos" / Zur Frage der 
Dialektik / Krittsche Bemerkungen zur ^Metaphysik" des Aristoteles / Krltische Be- 
merkungen zu Feuerbachs: „Vorlesungen uber das Wesen der Religion" / Krltische 
Bemerkungen zu Feuerbachs „Leibntz" / XXXVII u. 364 Seiten. 

VERLAG FDR LITERATUR UND POLITIK * WIEN/BERLIN SW61 

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t>on $vit&tidf JHurfk 

Sfnteilung fce£ © efamtroerf e3: 

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3m %pvii 1932 erfaienm! Sefnenbanb ^$1.3.80 

93om ©efft bfefeg SDerfctf - <©er 3ufammen6ru<r, ber £u(tur beS SibenManbed — 

%m©cfft ber norbffefcen Srommfgfeit - ©oetye$ grdmmfgfeft: 3>ere&rung ber 

©ottfcft — SKWtfrfimmfgfeft - 37aturoeref)rung 



2. Sanb; iBoet^t* $rommf0fctt II 

3m 3«nf 1932 erfafenen! £efnenbanb 9K$t. 3.80 

9fpol(fnffe$e gr&mmfgfeft - grauenKebe - ftreunbfaaft - t>ie &unft afe weft* 
fi<$eS €t>an0clfum — £>a$ 30ea( ber Jjumanftdt 

SJiefe Beibett roaljr&aft unto erf al geftalteten Sanbe aetgen ftfjon jur ©eniige, in toeldjem ©eift 
Me religiiifen, pfeilofopMfdjen, fttnftlerifdjen unb fogiaten ^roBIemc betjanbelt fmb: cin auf 
gefefttgtem ©runbe [tefjenbeS, lebenaimenbeS Sauroerl — ber erfte S9anb toUi in ^orm enter 
©a)au ber ©ntroidlung befi SIbenblanbeS baS flufturproMem auf, bet jroeitc fii§rt in boS ^nnerfte 
beS ©efenS ©octree. 



3. 53an& : <&ottfft$ llfetamjtymiuttg uttfl filefonSfompf 

Srfaefnt €nbe 1932! 

Jtyffofop&ffae ©ajau beS Sebeng - ©fe 2Dett afe Offenbarung beg (?t»(0cn - SJom 
SDcfen beg (ErfennenS - t)er ®etft bcr garbenfebre - ©fe Sfttetamorpbofe bcr 
Pflanje unb ber Sfere - T)a$ Urp^dnomen — *Die p^ffofop^ff^e £e(ftung - 
©oet^e unt> bfe 3ioflifat{on - Sebengfampf unb 33f(bungSu>fl(e - ©oet^e unb 
baS Sfcrfftentum - £>fe 33ffton ber QolUtulttxv - ®oetfy$ EUnftbentum att 
£ronung ber abenbldnbffc&en ©pdtfuttur 



4. $anb, t>ttitt unfl Runftlct flee tfpathiliur 

5. 23anb, 3fe JJftflofopfatt fier tfpatfuliut / 6. 93anb, OU Bomantif 

7. 33<mb, JJcopfieten dec 4potht(tuc 

foUen in 5t6ftan&en von 3tr>ef bt£ bref 9?tonaten $um Preffe 

oon je etwa 9R5T.4.~ (Seinenbanbe j'e ca. 200 ©eiten) folgen 



3c6cr fconfl fjt einjetn fmiflirfi/ 6ei SepcUung atttt |Kc6tn Sanfle 1o% p«tenarf|(o£ 

„SSon bem 99ud)e i[t eine ergretfenbe SEBirFung auf mid) auSgegangen . . . 2>aS ©anse nerfptitfjt ©rofeeS, 
unb id) feoff e unb glauoe, bab non Sferem tetb en fa) aft lid) en Semiifjen eine ©enbung jum neutn §eil 
unferefi ihitturlebens aufigefeen roirb." ©e§. 9lot ^rof. ©Ifter, Unit). HRarfitttfl. 

(l 2)iefe beiben erften Sanbe itbet ©oei^eS grSmmtgfeit finb etn fdjroungoolt mitteifeenber Wuftaft ju bem 
©efamtnier!; baS perfpridjt, eine ber eigenartigfteh ©oetfeefeutbigungen ju roerben unb barubet feinauS 
cine aufbauenbe, roertefd)affenbe ©efa)id)t3ubi[ofo))^ie." 3)ttttfd)e Xogc^titung com 16. 8. 1932. 

%u*mtliditz profpeft mil totittttn Uzttiltn,- ttftpro&tn auf tittlanQtn fopcnlo^l 

t. £. ff 1 1: f d7 f c 1 6 D c 1 1 a g / £ c J p j i 9 Cl 

7 



Sechzehn 

der besten RuBlandkenner schildern, jeder auf seinem Spezialgebiet: 

die, hate. Wjbttc&aft 

Ein .Sammelwerk, 

herausgegeben von Dr. GERHARD DOBBERT 

XII und 284 Seiten — Kartoniert RM. 6.40 

Kein Gebief, das nicht inferessiert! 

Planwirtschafi / Presse / Wirtschafisfuhrer / AuBenhandel / 
Indusfrie / Landwirfschaft / Geld und Banken / Verkehr / 
Bau- und Wohnungswesen / Soziale Lage usw. 

Namen, die Sie kennen und die Ihnen etwas sagen! 

Prof. Dr. OHo Hoetssch - H. R. Knickerbocker - Gehelmral Clelnow. - Prof. 
Dr. Otto Auhagen vom Osteuropa-lnitltut, Breilau — Ministerlaldlr. Dr. Post* 
vom ReichswIrttchaHsmlnitterfum — die Moskauer Berlchtersf alter dar groBen 
interna tionalan Preue und namhafte andare RuBIandspaslallifan. 

Oberraschend an Vielseitigkeit — unvoreingenommen in der Behandlung des 
weltbewegenden Themas — glbt dieses Buch die Mdgllchkeit zu orientleren 
und sich selbst ein Urteil zu bilden. Ein Standardwerk I 

Ost-Europa-Verlag, Konigsberg Pr. / Berlin W 35 

Jeder Politiker, 

Soziologe, Journalist 

1 i e s t die 

Sozialdemokratfsche Honatssehrift fttr 
Politik, Wirtschaft, Literatur n. Kaltar 



DerKampf 



WIEN / XXV. Jahrgang 

Herausgeber: Friedrich Adler,Sekretarder Sozialistischen 
Arbeiter-Internationale (Zurich) 

Redaktion: Helene Bauer, Jul. Braunthal, Osk. Pollak 
Preis rUr Deutschland jahrlich RM. 5.— / Postscheckkonto Berlin Nr. 156820 

Verlag Wiener Tolksbnchhandlnng 
WIEN VI / Gumpendorfer Strasse 18 

8 



Vor kurzem erschien: 

Festschrift 
f ii r Carl Griinberg 

z n m JO. Gebartstag 

560 Seiten. C. L. Hirschfeld Verlag, Leipzig 1932. Preis broschiert RM. 27.—, 

Leinen RM. 30.—, Halbfranzband RM. 33. — . Fur Abonnenten der „Zeitschrift 

fiir Sozialforschung" (Grunbergs Archiv) RM. 3. — billiger. 

Zu Ehren des bedeutenden Nationalokonomen und Historikers des Sozialismus 
haben sich 25 Gelehrte aus Deutschland, Frankreich, Holland, Italien, Osterreich, 
Polen, Schweiz und Ungarn vereinigt, urn durch ihre Beitrage Zeugnis abzulegen 
fiir die internationale Wirksamkeit ihres Lehrers und Freundes und die weite 
Ausdehnung seiner Interesssengebiete. Die Veroffentlichung ist wichtig fiir alle 
Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler, insbeaondere Nationalokonomen, Sozio- 
logen, Sozialpsychologen, Sozialpolitiker, ferner fiir Historiker und Philosophen, 
fiir offentliche Bibliotheken, Seminare und Institutsbiichereien des In- u. Auslandes. 



Inhal t: 



Adler, Max, Zur geistesgeschichtlichen 
Entwicklung d. Gesellschaftsbegriffes 

Bauer, Stephan, Der Verfall der meta- 
phorischen Okonomik 

Beer, Max, Social Foundations of Pre- 
Norman England 

Blom, B* ran, t)ber das Band zwischen 
historischem Materialismus und Klas- 
senkampflehre und dessen Tragweite 

Bourgin, Georges, Le Communiste De- 
zamy 

Brunei, Fritz, Andreas Freiherr v. Stifft 

Gerloff, Wllhelm, Entwicklungstenden- 
zen in der Besteuerung der Landwirt- 
schaft 

Goldscheid, Rudolf, Die Zukunft der 
Gemeinschaft 

Grofimann, Henryk, Die Goldproduk- 
tion im Reproduktionsschema von 
Marx und Rosa Luxemburg 

Hprkheimer, Max, Hegel und die Me- 
taphysik 

Krzeczfcowski, Konstantln, Daniel De- 
foe und John Vancouver als Vor- 
laufer der Sozialversicherung 

Laskine, Edmond, Socialisme, mouve- 
ment ouvrier et politique douaniere 

Leichter, Kathe, Vom revolutionaren 
Syndikalismus zur Verstaatlichung 
der Gewerkschaften 



Leichter, Otto, Kapitalismus und So- 
zialismus in der Wirtschaftspolitik 
Menzel, Adolf, J. P. Proudhon als So- 

ziologe 
Michels, Robert, Eine syndikalistischge- 

richtete Unterstromung im deutschen 

Sozialismus (1903—1907) 
Mondolfo, Rodolfo, II concetto mar- 

xistico della „umwalzende Praxis" e 

suoi germi in Bruno e Spinoza 
Oppenheimer, Franz, Stadt und Land in 

ihren gegenseitigen Beziehungen 
Pollock, Friedrich, Sozialismus und 

Landwirtschaft 
Pribram, Earl, Das Problem der Ver- 

antwortlichkeit in der Sozialpolitik 
Szende, Paul, Nationales Recht und 

Klassenreoht. — Beitrage aus der 

ungarischen Rechts- und Wirtschafts- 

geschichte 
Schneider, Fedor, Zur sozialen Lage des 

freien Handwerks im friihen Mittel- 

alter 
Sommer, Louise, Das geisteswissen- 

schaftliche Phanomen des„Methoden- 

streits" 
Wittfogel, K. A., Die Entstebung des 

Staates nach Marx und Engels 
Wittlch, Werner, Der Schatz der bosen 

Werke 



C. L. Hirschfeld Verlag / Leipzig €1 



S o e h e n B *SWm\ e r m e h e i n t 




ED1IABD HIIIMAW 

Sozialwissenschaft mid 
Wirklichkeit 

Zwei soziologische Vortr&ge 

1932 / RM. 2.40 

In dem ersten der beiden vor philosophischen Gesellschaften ge- 
haltenen Vortrage werden die Wissenschaften vom sozialen Leben 
auf ihre Denkmittel und deren soziologische Ursprungskonstellation 
hin untersucht. Nationalokonomie ist die Naturwissenschaft vom 
menschlichen Wirtschaften und gehort daher zum Kapitalismus als 
dem vermeintlich naturlichen System der Wirtschaft. Geschichts- 
schreibung richtet den Blick auf das Gewordene und Gewachsene und 
dient daher dem Konservatismus. Soziologie beschreibt ebenfalls den 
geschichtlichen Ablauf, aber nicht mit irrationalistischer Pietat fur 
das Vergangene, sondern mit dem Willen, das Gesetz des Werdens 
iiber den Kapitalismus hinaus aufzudecken; sie gehftrt zum Sozialis- 
mus. Die These wird durch genaue Analyse der mannigfachen Kombi- 
nationen zwischen den drei Gesichtspunkten und der sonst moglichen 
Einwendungen zu erharten versucht. - Der zweite Vortrag behandelt 
die Veranderungen, die die theoretische Auffassung von der Bedeu- 
dung der Persdnlichkeit fur die Wirtschaft erfahrt. Diese Verande- 
rungen werden als Spiegelungen der tatsachlichen Struktur verande- 
rungen in der Wirtschaft erklart. Unter diesem Gesichtspunkt werden 
die Theorien von Smith, Malthus, Ricardo, Marshall, Friedrich List, 
Schumpeter, Oppenheimer und die verschiedenen einander be- 
kampfenden Marxinterpretationen gemeinverstandlich behandelt. — 
Beide Vortrage schlieBen mit einem Ausblick auf die neuen Probleme 
der gegenw&rtigen sozialen Krise : mit welchen Denkmitteln kann man 
sie begreifen? Und welches Schicksal erfahrt. hier die PersGnlich- 
keitsidee in der Wirtschaft? 

Verlag von J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), Tubingen 



10 



Wirtschafts- 

und Sozialordnung 

als Aufgabe 

von Dr. jur. Schmittmann 

o. 6. Professor an der Universitat Koln 
Umfang VII und 181 Seiten. Format Gr.-8». PreisRM. 5.80 



D e 



fcer erste Teil schildert den Verlauf der wirtschaftlichen Ent- 
wioklung, um die Wirkung des kapitalistischen Wirtschafts- 
systems auf das Sozialleben klarzulegen; der zweite versucht die 
Normen einer natiirlichen Gestaltung des Wirtschafts- und Sozial- 
lebens zu umgrenzen, deren Verwirklichung in Deutschland nach 
MaBgabe der gegebenen konstitutiven Moglichkeiten der dritte Teil 
priift. Die Reformgedanken des Verfassers laufen auf eine wirt- 
schaftliche und soziaie Selbstverwaltung hinaus, welche die ent- 
sprechenden Rechte des Staates. und des Unternehmers auf . ko- 
operativ-regionale Berufsverbande iibertragt. 



Die iiberaus groBe Bedeutung des Buches besteht darin, daB 
in ihm in klarer tiefschiirfender Darstellung gezeigt wird die 

V4\wOik&idiuH£ oikuzK neve* OhdnuHQ, 

die wtcfc fapitaiiitous ist, 
e£e#tfait*e#tt£ q&ok cojucA fa&io&mtuf 

Verlag von W. Kohlhammer in Stuttgart 

li 



Eine bedeutsame Erganzung der in diesem Heft gegebenen Bibliograpbie iiber neue 
planwirtscliaftliche Literatur bildet die in unserem Verlag soeben erScheinende Schrift: 

Das amerikanische 






Eine Bewegung fi'ir geplantes Wirtschaften 

in den Vereinigten Staaten 

Dargestellt durch eine Zitatensammlung von 

Hugo H a a n 

Sektionsohef im Internat. Rationalisierungs-Institnt tmd Sektionsmitglied im 
Internat. Arbeitsamt des Volkerbundes in Genf; osterr. Ministerialrat a, D. 

Zweite, verdeutschte und vermehrte Ausgabe 

Die erste, englische Ausgabe erfolgte durch die amerikanische Akademie 

der politischeh und sozialen Wissenschaften zu Philadelphia im Marz 1932 

Preis ca. RM. 3.— 

In diesem Bach wird eine neue Darstellungsart angewendet, um deni deutschen Leser 
in objektivster und knappster Form gerade das zu vemiitteln, was von dieser jiingsten 
amerikanischen Wirtschaftsbewegung und ihrer rapid anschwellenden Literatur zu wissen 
notig ist — nicht zu viel, nicht zu wenig. Dafur hochst lebendig und am*egend: 6 of- 
nzielle und 15 private Planungsvorschlage im auszugsweisen Wortlaut ibrer meist pro- 
•minenten Verfasser. Fur das deutsche Wirtschaftsdenken wird dieser einzigartige Ori- 
ginalbericht iiber wichtige, in der amerikanischen Luft liegende Entwicklungstendenzen 
von aktuellem und befruchtendem Interesse sein. 



©er JMt&el&temti im der 
ksipitolisti&elieii ©esell&chaft 

Eine okonomische und soziologische Untersuchung 

Von Dr. Emil GrUnberg 

215 Seiten. Preis ca. RM. 7.— 

Die Arbeit stellt eine Analyse des so iiberaus schwierigen okonomischen und sozio- 
logischen Problems Mitt els t and dar. Nachdem das vollige Fehlen auch nur annahernder 
Begriffsbestimmungen in der heutigen Fachliteratur gezeigt worden ist, wird eine solche 
aus der historischen Betrachtung gewonnen und zugleicb damit der Einblick in die 
zwingende Gesetzmassigkeit der wirtschaftlichen Entwicklung des Mittelstandes. Das 
neueste und zum grossten Teil bisher noch unverarbeitete Material wird zur BegJaubigung 
der so gewonnenen Ergebnisse verwendet und der augenblickliche Stand der Entwicklung 
bestimmt. Griinberg zeigt sodann die tiefen Unterschiede, die zwischen dem selbstandigen 
Mittelstand der Handwerker imd kleinen Kaufleute us w. einerseit s und dem neuenMittel- 
s t an d der Angestellten und Beamten bestehen. Abschliessend zeigt Griinberg die Aufgabe 
und die Moglichkeiten der Mittelstandspolitik des Staates und des Mittelstandesjselbst. 

€. ]L. Hirsckfeld Yeilag / Leipzig €1 

12 



Allgemeinc Soziologie: 

Gr Under der Soziologie. Eine Vortragsreihe unter Mitwirkung von 

G. L. Duprat u. a. (Borkenau) 412 

Richard Thurnwald, Die menschliche Gesellschaft in ihren ethno- 

soziologischen Grundlagen, 2. Bd. (Vatter) 412 

Pitirim Sorokin, Soziologische Theorien im 19. und 20. Jahrhundert 

(Salomon) 413 

Richard Kroner, Kulturphilosophische Grundlegung der Politik 

(Haselberg) 414 

Alfred Schiitz, Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt (Borkenau) . 415 
Karl Marx/Friedrich Engels, Die deutsche Ideologie, hrsg. v. 

V. Adoratskij. Marx-Engels-Gesamtausgabe, I. Abt., Bd. 5 

(Borkenau) 416 

Herbert Marcuse, Neue Quellen zur Grundlegung des historischen 

Materia] ismus. In: Die Gesellschaft, IX. Jg., Nr. 8 (Westermann) 416 
Hugo Fischer, Karl Marx und sein Verhaltnis zu Staat und Wirtschaft. 

— Werner Alexander, Kampfum Marx (Moldenhauer) . . . 417 
Julius Dickmann, Das Grundgesetz der sozialen Entwicklung 

(Westermann) 418 

Zbigniew Lubienski, Die Grundlagen des ethisch-politischen Systems 

von Hobbes (Borkenau) 419 

Stuart A. Rice, Methods in Social Science. — Emory S. Bogardus, 

Contemporary Sociology. — Earle E. Eubank, The Concepts 

of Sociology. — R. M. Maclver, Society. Its Structure and 

Changes (Lorke) 420 

Hannibal Gerald Duncan, Backgrounds for Sociology (Lorke) . . . 422 
Organization of Research in the American Sociological Society (Lorke) . 422 

Piet Endt, Sosiologie (Stemheim) 422 

W. J. Lenin, Uber den historischen Materialismus (Korsch) . . . 423 

Psychologic: 

August Messer, Sexualethik (Landauer) 424 

W. Lange-Eichbaum, Das Genieproblem (Landauer) 425 

Fritz Kiinkel, Charakter, Liebe und Ehe (Fromm-Reichmann) . . . 426 

Sir Galahad, Mutter und Amazonen (Fromm) . . . " 427 

OttoFenichel, Perversionen, Psy chosen, Char akterstorungen. Psycho - 

analytische spezielle Neurosenlehre. — Ders., Hysterien und 

Zwangsneurosen (Landauer) 427 

MariaDorer, Historische Grundlagen der Psychoanalyse (Fromm) . . 427 
Kimball Young, Social Psychology. — Ders., Source-Book of Social 

Psychology (Liebmann) 428 

Siegfried Kraus, Bediirfnis und Bef riedigung ( W estermann ) . . . . 429 
Fritz Urbschat, Das Seelenleben des kaufmannisch-tatigen Jugend- 

lichen (WeijS) 429 

Geschichte: 

Georg Steinhausen, Deutsche Geistes- und Kulturgeschichte von 

1870 bis zur Gegenwart (Mackauer) 430 

Franz Mehring, Zur deutschen Gesehichte. Gesammelte Schriften 

und Aufsatze, hrsg. v. Eduard Fuchs (Doppler) . 430 

Karl Marx/Friedrich Engels, Brief wechsel. Marx-Engels-Gesamt- 
ausgabe, III. Abt., Bd. 5 (Gollub) 431 

Pauline V. Young, The Pilgrims of Russian Town (Lorke) 432 

John Edwin McGee, A Crusade for Humanity (Rosenhaupt) . . . . 433 
International Migrations. Vol. I: Statistics, Vol. II: Interpretations 

ed. by Walter F. Willcox (Prinz) 433 

Alan Bo tt, Our Fathers (Carls) 434 

Kathe Spiegel, Kulturgeschichtliche Grundlagen der amerikanischen 

Revolution (Harnack) 435 



Johann Hasebrock, Griechische Wirtschafts- und Gesellschafts- 
geschichte bis zur Perserzeit, — Helmut Berye, Griechische 
Geschichte. 1. Halfte: Von den Anfangen bis Perikles. - — 
Joseph Vogt, Romische Geschichte. 1. Halfte: Die romische 
Republik. — Julius Wolf, Romische Geschichte. 2. Halfte: 
Die romische Kaiser zeit (Mackauer) 436 

Domenico Guerri, La corrente popolare nel Rinascimento (Die 

volkstiimliche Stromung in der Renaissance) (Olberg) 437 

Otto Heller, Der XJntergang des Juden turns (Fromm) 438 

Hugo Hassinger, Geographische Grundlagen der Geschichte 

(Mackauer) 439 

Karl Au gustWittfogel, Die naturlichen Grundlagen der Wirtschaf ts- 
geschichte. In: Archiv fur Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, 
Bd. 67, lleit 4—6 (Petersen) ...'.'. 439 

Sozlale Bewegung und Sozialpolitik: 

Si F. Mark ham, A History of Socialism (Walter) 440 

C. Bougie, Socialismes fr&ns&is (Walter) 440 

Arthur Rosenberg, Geschichte des Bolschewismus von Marx bis zur 

Gegenwart (Walter) 441 

Max Ermers, Victor Adler. Aufstieg und Grofie einer sozialistischen 

Partei (Walter) 442 

August Becker, Geschichte des religiosen und atheistischen Friih- 

sozialismus. — Gilbert CliveBinyon, The Christian Socialist 

Movement in England (Moldenhauer) 443 

Studien iiber die Beziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeit- 

nehmern. Internationales Arbeitsamt, Reihe A (Berufliche Ver- 

einigung) Nr. 33 und 35 (Stemheim) 443 

Kurt Bloch, Uber den Standort der Sozialpolitik. — Fritz Heller, 

Sozialpolitik und Reichsarbeitsgericht. — F. A. Westphalen, 

Die theoretischen Grundlagen der Sozialpolitik (Croner) .... 444 
Sozialrechtliches Jahrbuch, hrsg. von Theodor Brauer, Christian Eckert 

u. a. (Mertens) 445 

Eugen Rosenstock und Carl Dietrich von Trotha, Das Arbeits- 

lager (Mennicke) 446 

Eugen Rosenstock, Arbeitsdienst — Heeresdienst ? (Blum) . . , . 446 
Florence Dubois, A Guide to Statistics of Social Welfare in New 

York City (Feinberq) 447 

Spezielle Soziologie: 

Theodor Geiger, Die soziale Schichtung des deutschen Volkes 

(Flaskdmper) 447 

Sir William Beveridge u. a., Changes in Family Life. — Donald 
Young, The Modern American Family. In: The Annals of the 
American Academy of Political and Social Science, Vol. 160, 
March 1932. — Hanna Meuter, Heimlosigkeit und Familien- 
leben. — Ventur Schaidnagl, Heimlose Manner. — Elisa- 
beth Frank, Familienverhaltnisse geschiedener und ehever- 
Iassener Frauen . — Elisabeth Liidy, Er werbstatige Mutter in 
vaterlosen Familien. — Dora Hans en -BI an eke, Die haus- 
wirtschaftliche und Mutterschaftsleistung der Fabrikarbeiterin. 
Hermann Ahrens, Untersuchungen zur Soziologie der Familie 
in systematischer Absicht. (Rostocker Diss.) (Pollock). . . . 448 

J. P. Lichtenberger, Divorce (Freudenthal) 451 

M. C. van Mourik Broekman, Erotiek en Huwelijksleven (Erotik und 

Ehe) (Stemheim) 452 

Sigmund Neumann, Die deutschen Parteien (Speier) 452 

Demokratie und Partei, hrsg. von Peter Richard Rohden. — Bernhard 

Groethuysen, Dialektik der Demokratie (Neumann) 453 



Walter Heinrich, Das Standewesen mit besonderer Beriicksichtigung 

der Selbstverwaltung der Wirtschaft (Salomon) 454 

F. A. Her mens, Demokratie und Kapitalismus (Lowenthal) 454 

Walter Jost, Das Sozialleben des industriellen Betriebs. — Carl 
Matthes, Die Rationalisierung der Wirtschaftsprozesse in ihren 
Auswirkungen auf den in der Wirtschaft tatigen Menschen 

(Speier) 455 

Ernst Jiinger, Der Arbeiter (Speier) , 456 

Die soziale Frage und der Katholizismus. Hrsg. v. d. Sektion f. Sozial- 

und Wirtschaftswissenschaft der Gorres-Gesellschaft (Mertene) 456 
Wilhelm Schwer und Franz M tiller, Der deutsche Katholizismus 
im Zeitalter des Kapitalismus. — Heinrich Getzeny, Kapitalismus 
und Sozialismus im Lichte der neueren, insbesondere der katho- 

lischen Gesellschaftslehre (Mertens) 457 

Theodore Dreiser, Tragic America. — Stuart Chase, A New Deal. 

— A. E. Johann, Amerika (Pollock) . . . 458 

J. G. Renier, The English: Are They Human? (Gerth) 460 

R. Aron et A. Dandieu, Decadence de la nation francaise (Tazerout) 460 

Arthur Ruppin, Soziologie der Juden (Mayer) 461 

Robert Dinse^ Das Freizeitleben der Grofistadtjugend (Speier) . . 462 
Das Gesicht der Demokratie, hrsg. von Edmund Schultz. — Zwanzig 
Jahre Weltgeschichte in 700 Bildern, m. e. Einl. von Friedrich 
Sieburg. — Der Staat ohne Arbeitslose, hrsg. v. Ernst Glaeser u. 

F. C.Weiskopf (Freund) 462 

Handworterbuch des deutschen Volksbildungswesens, hrsg. von Hein- 
rich Becker u. a. (Neumann) 464 

Okonomie: 

Bemerkung der Redaktion 464 



Alle Sendungen redaktioneUer Art (Manuskrfpte, Rezensionsexemplare, Tausch- 
exemplare) sind ansschlieBUch zu richten an die Redaktion der Zeitschrilt ftir 
Soztallorschung, Frankfurt a. M., Viktoria-Allee 17, alle Sendungen geschaft- 
lichcr Art nur an den Verlag C. L. Hirschfeld, Leipzig C 1, Hospitalstr. 10. 



Die Zeitschrift erscheint dreimal jahrlich: im Marz, Juli und November. 

Der Preis des Jahrgangs — einschlieBlich der Einbanddecke, die kostenlos 

geliefert wird — betragt RM, 18. — , Einzelhefte kosten RM. 6. — . 

Verantwortlicher Schriftleiter : Dr. Leo Lowenthal (Frankfurt a. M.) 



Schriften des Instituts fur Sozialforschung 

an der Universit'at Frankfurt a. M. 

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In Vorbereitung befindet sich Band IV: 
FRANZ BOBKENAU 

Der Ubergang vom feudalen 

zum biirgerliehen Weltbild 

Studien zur Geschichte der Philosophic der Manufakturperiode 

Eine Darstellung der Entstehung der biirgerlichen Naturwissenschaft und Gesell- 
schaftslehre aus der philosophischen Bewegung um Descartes, Hobbes, Pascal. 
Umfassendes neues Material aus dem Gebiet der Theologie, Anthropologic und 
Staatslehre des 16. und 17. Jahrhunderts zeigt, wie die neue Technik und die 
neue Moral des entstehenden Kapitalismus ein neues Weltbild notwendig machen 
und wie es sich in den KlassenkSmpfen der Manufakturperiode durchsetzt. 
UngefShrer Umfang 30 Bogen — Preis brosch. etwa RM. 18. — 

Fruher erschienen die Bande I— III: 

HENEYK GBOSSMANN 

Das Akkumulations- und Zusammenbruchsgesetz des kapita- 

Ustischen Systems (zugleich eine tfrisentheorie) 
XVI und G25 Seiten. RM. 18.— , gebunden RM. 19.80 
Vorzugspreis: RM. 16.20, gebunden RM. 18.—. Vorzugspreise er- 
halten Abnehmer der ganzen Schriftenreihe, sowie Bezieher und Mit- 
arbeiter der „Zeitschrift fur Sozialforschung" 

FRIEDRICH POLLOCK 

Die planwirtschaftlichen Versuche in der Sowjetunion (1917—1927) 

XII und 409 Seiten. RM. 12.15, gebunden RM. 13.50 
Vorzugspreis (s. a. Band I): RM. 11.—, gebunden RM. 12.15 

K. A. WITTFOQEL 

Wirtschaft und GeseUschait Chinas 

Versuch der wissenschaftlichen Analyse einer grofien asiatischen Agrar- 

gesellschaft 

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XVIII und 768 Seiten mit Textabbildungen. RM. 27.—, geb. RM. 28.80 

Vorzugspreis (s. a. Band I): RM. 24.30, gebunden RM. 26. — 

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