Zeitschrift
fur Sozialforschung
Herausgegeben von
Max Horkheimer
Jahrgang 1
1932
Mit einer Einleitung von
Alfred Schmidt
Deutscher Taschenbuch Verlag
Photomechanischer Nachdruck
mit Genehmigung des Herausgebers
Marz 1980
Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, Munchen
) 1970 Kosel- Verlag GmbH & Co., Munchen
Umschlaggestaltung : Celestino Piatti
Gesamtherstellung : C. H. Beck'sche Buchdruckerei, Nordlingen
Printed in Germany • isbn 3-423-05975-3
Zeitschrift fur Sozialforschung
Jahrgang 1
Die » Zeitschrift fur Sozialforschung« war fast ein Jahrzehnt lang das
Sprachrohr des Frankfurter Instituts fur Sozialforschung, das nach
1933, wie fast alle seine Mitarbeiter und Freunde, gezwungen war,
in der Emigration weiterzuarbeiten - einer der Griinde fur die bis
heute fuhrende Stellung der amerikanischen Sozialwissenschaften.
Die Zeitschrift ist das lebendige Dokument einer maBgebenden
Entwicklung sozial- und kulturwissenschaftlichen Denkens und
Forschens in unserem Jahrhundert. Mit den meisten ihrer Autoren
wurde sie zum Ausgangspunkt der in den sechziger und siebziger
Jahren wekhin tonangebenden Frankfurter Schule der Kritischen
Theorie. Viele der in ihr erstmals erschienenen Arbeiten sind spater
einzeln oder in anderem Zusammenhang wieder veroffentlichtworden
und gehoren seitdem zur wissenschaftlichen Standardliteratur.
Die oft sehr umfangreichen Beitrage gelten nicht - wie der Titel
vielleicht vermuten laBt - in erster Linie der empirischen Sozial-
forschung, sondern vor allem der Sozialphilosophie, der Soziologie,
der politischen Theorie, der Politokonomie, der Kunst- undLiteratur-
soziologie und der philosophischen und sozialen Anthropologic
DIE »ZEITSCHRIFT FOR SOZIALFORSCHUNG«
GESCHICHTE UND GEGENWARTIGE BEDEUTUNG
VON ALFRED SCHMIDT
I
Die 1932-1941 von Max Horkheimer im Auftrag des Instituts fur Sozial-
forsdiung herausgegebene Zeitschrifl: gehort zu den groflen Dokumenten euro-
paischen Geistes in diesem Jahrhundert. In ihr verbanden sidi in einmaliger
Weise intellektuelle Unabhangigkeit, kritische Analyse und humanistischer Pro-
test. Im bewufiten Gegensatz zu akademisch weithin iiblichen Organen ver-
korperte die Zeitschrifl fiir Sozialforscbnng ein einheitliches Programm, ohne
dafi deshalb die individuellen Neigungen und Interessen der Mitarbeiter oder
gar die Wissenschaftlichkeit des Anspruchs im mindesten geschmalert worden
waren. Der Kreis junger Gelehrter um Horkheimer, der wahrend der neun Jahre
spiritus rector des Unternehmens blieb, entwickelte Kategorien einer Gesamt-
konzeption der Gesellschaft, die als Kritische Theorie der Frankfurter Schule
weltbekannt werden sollte. Wer sich unabhangig vom parteipolitisch-ideologi-
schen Fur und Wider mit der Lehre von Marx und Engels beschaftigen will, ist
gerade in der gegenwartigen Situation, in der eine ganze Reihe von Marxismen
miteinander konkurrieren, auf ein sorgfaltiges Studium der Zeitschrifl; verwiesen.
Insofern dient der Reprint tiber alles Archivarische hinaus einem eminent sach-
lichen Zweck. Dieser wird freilich nur in dem Mafie erreicht, wie sich der heutige
Leser vor Dogmatisierungen hiitet und es versteht, blofi Zeitbedingtes von Ein-
sichten zu unterscheiden, welche die allgemeinen Strukturen der burgerlichen
Epoche und Geschichte betrerTen und daher uniiberholt sind. Der Leser wird
ferner gut daran tun, sich zu vergegenwartigen, wie sehr das Schicksal der Zeit-
schrifl: und ihrer Autoren, insbesondere Horkheimers, mit dem des Frankfurter
Instituts verbunden war. Seine Geschichte, die weitgehend mit der geistigen Bio-
graphie Horkheimers zusammenfallt, ist noch ungeschrieben. Die folgenden Be-
merkungen konnen sie nicht ersetzen; sie skizzieren einige fur das angemessene
Verstandnis der Zeitschrifl wichtige Tatsachen.
Nach dem unerwarteten Tod von Kurt Albert Gerlach, des aufierordentlichen
Professors an der Technischen Hochschule Aachen, der als Direktor des neu er-
richteten Instituts fiir Sozialforschung vorgesehen war, wurde der heute nahezu
vergessene Carl Griinberg auf das Direktorat berufen. Seit 1909 war er Ordina-
rius fiir politische Okonomie in Wien; 1924 verliefi er die Stadt, um die Leitung
des Instituts in Frankfurt zu iibernehmen. Diese Funktion konnte er infolge
schwerer Krankheit nur bis 1927 ausiiben; er starb 1940 in Frankfurt 1 . Griinberg
war ursprunglich Jurist und lange praktisch als soldier tatig. Spater wandte er
1 Zu Person und Lebenswerk Grunbergs cf. die kenntnisreiche Einleitung Giinther Nennings zum
Ncudrudt {Graz 1966) des von Griinberg herausgegebenen Archivs fur die Geschichte des Soiia-
lismus und der Arbeiterbewegung, I, Leipzig 1911.
6* ALFRED SCHMIDT
sich wirtschafts-, sozial- und dogmengeschichtlichen Studien zu. Er war ein un-
gemein beschlagener Historiker im Sinn der Historisdien Sdiule der National-
okonomie. Das 1911 in seiner vormarxistischen Phase von ihm gegrtindete
Archiv sollte die damals in alien gesellschaftstheoretischen Bereichen anerkannte
historische Methode audi auf die nodi vernachlassigte »Entwicklungsgeschichte
der sozial wissenschaftlidien und volkswirtschaftlichen Gedankenreihen« 8 an wen-
den und insbesondere die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung
pflegen. Dabei hob Griinberg im Vorwort zum ersten Band hervor, wie wenig
ihm daran lag, im Archiv eine bestimmte Weltansicht, wissenschaftliche Richtung
oder Parteimeinung zu bevorzugen. Er war damals nodi davon iiberzeugt, jede
»Einheitlichkeit in den Ansdiauungen der Mitarbeiter untereinander und mit
dem Herausgeber« beeintrachtige »das erkenntniskritische und synthetische
Ziel« 3 seines Unternehmens.
In diesem Betradit sollte sich Griinbergs Position andern. Als das Frankfurter
Institut am 22. Juli 1924 eingeweiht wurde, erklarte er in seiner Festrede, ihm
»erschiene . . . eine Teilung der Leitung uberhaupt oder erst recht mit welt-
anschauungsmaflig und methodisdi anders Geriditeten« vollig ausgeschlossen,
weil in dem neuen, primar auf Forschung abgestellten Institut »von vornherein
Einheitlichkeit in der Problemstellung und Problembewaltigung beabsiditigt« 4
sei. Griinberg liefi, als er sein Amt antrat, nidit den geringsten Zweifel daran,
dafi er sich als Marxist verstand - freilich nicht im parteipolitischen, sondern
im wissenschaftlidien Sinne. Der Begriff Marxismus diente ihm »zur Bezeidinung
eines in sich geschlossenen okonomischen Systems, einer bestimmten Weltanschau-
ung und einer fest umrissenen Forschungsmethode« 5 . Wenn Griinberg hier (in der
laxen Redeweise der II. Internationale) von »Weltanschauung« sprach, so driickte
sich darin kein philosophischer Ehrgeiz aus. Bestenfalls ein heute naiv wirkender
Optimismus hinsichtlich des kiinftigen Geschichtsverlaufs - die Gewifiheit, dafi
sich die Gesellschaft »mitten im Ubergang vom Kapitalismus zum Sozialismus « 6
befinde.
Unter marxistischer Forsdiungsmethode verstand Griinberg den - positivistisch
verkurzten - historisdien Materialismus, den er als »Haupttragpfeiler des wis-
senschaftlichen Sozialismus« 7 ansah. Nachdriicklich bestritt er jeden sadilichen
Zusammenhang von Marxismus und Philosophic, einschliefilich iibrigens der
materialistischen. So heifit es in seiner Festrede, dafi die von Marx und Engels
begriindete Geschichtstheorie »ein philosophisches System, eine Metaphysik
weder ist noch sein will und dafi sie insbesondere mit dem Materialismus nidits
2 Ibid., Vorwort Griinbergs, S. II.
« Ibid., S. III.
4 Carl Griinberg, Festrede, gehalten zur Einweihung des Instituts fiir Sozialforsdiung, Frank-
furter Universitatsreden, XX, Frankfurt am Main 1924, S. 8.
5 Ibid., S. 10.
« Ibid., S. 9.
7 Ibid.
DIE »ZEITSCHRIFT FUR SOZIALFORSCHUNG« 7*
zu tun hat. Man pflegt sie allerdings nur zu oft mit diesem zu verwechseln oder
zusammenzuwerfen . . . Aber der philosophische und der historische Materialis-
mus haben begrifflich nichts miteinander zu tun« 8 . Und Griinberg beruft sich
auf den Austromarxisten Max Adler und erklart, der materialistischen Ge-
sdiiditsauffassung gehe es nicht darum, »ewige Kategorien zu ergriibeln oder das
Ding an sich zu erfassen, noch das Verhaltnis zwischen Geistes- und Aufienwelt
zu begriinden« 9 . Die Marxsche Lehre reduziert sich derart auf eine erkenntnis-
theoretisch naive, tatsachenglaubige »Kausalforschung«. Ihr Objekt ist »die
gegebene konkrete Welt in ihrem Werden und Wandel«> das »gesellschaftliche
Leben in seiner unaufhorlichen, stets erneuten Umwalzung ist Gegenstand ihrer
Betrachtung, und die letzten erfafibaren Ursachen dieses Umwalzungsprozesses,
die Gesetze, nach denen er ablauft, sind Gegenstand ihres Forschens« 10 . Kein
Zufall, dafi in Griinbergs Festrede weder der Name Hegels noch der Begriff der
Dialektik auftaucht. Der widerspruchsvolle Gang der Geschichte verflacht bei
ihm zur blofien Evolution »von minder Vollkommenem zu Vollkommenerem« n .
Entsprechend simplifiziert stellen sich ihm »samtliche Lebensaufierungen der Ge-
sellschaft . . . als Reflexe des Wirtschaftslebens in dessen jeweiliger Gestaltung« 12
dar.
Bei alien - traditionsbedingten - positivistischen Schranken seines Marx-Ver-
standnisses gehort Griinberg zu den wenigen Gelehrten, welche damals die Auf-
nahme und Diskussion der Marxschen Theorie im akademischen Bereich ein-
leiteten und forderten. Er war der erste Kathedermarxist an einer deutschspra-
chigen Universitat.
Davon, dafi Griinbergs wissenschaflliche Intentionen und Verfahrensweise die
spatere Arbeit des Instituts spezifisch beeinflufit hatten, kann keine Rede sein.
Die Zeitschrift fur Sozialforschung knupfte zwar thematisch in manchem an das
Archiv an, erweiterte aber ihm gegeniiber ihren Aufgabenkreis erheblich. Gleich-
wohl bleibt eines zu bedenken. Die ganze Atmosphare des Instituts unter Griin-
berg, der Vorrang handfest empirischer, konkret-historischer Interessen, der Urn-
stand schliefilich, dafi es fiir Griinberg, wie fiir die altere Generation marxisti-
scher Gelehrter insgesamt, selbstverstandlich war, die Kritik der politischen Dko-
8 Ibid., S. 10.
9 Ibid. — Soweit Griinberg sidi bemiihte, den wissensdiaftssysteraatischen Status der Marxsdien
Lehre zu bestimmen, war Max Adler sein Gewahrsmann, der mit den (in der Tat fragwiirdigen)
»weltansdiaulidien« Interpretationen der alten Sozialdemokratie jedes - wie immer gebrochene -
Verhaltnis von Marx zum philosophischen Materialismus Ieugnete, das Autoren der II. Inter-
nationale wie Plechanow, Mehring und Dietzgen noch gesehen hatten (und dessen Diskussion
von Horkheimer auf vollig neue Grundlagcn gestellt wurde). Nicht zuletzt bestritt Adler den
erkenntnistheoretischen Gehalt der Dialektik (cf. etwa seine Schrift Marxistische Probleme, Stutt-
gart 1919, S. 37 f.). Griinberg folgte seinen Vorstellungen freiHch nur im Negativen; Adlers Ver-
such, den Marxismus transzendentalphilosophisch zu begriinden, blieb ihm als Historiker fremd.
io Ibid.
11 Ibid,
l* Ibid.
8* ALFRED SCHMIDT
nomie ins Zentrum der Gesellschaftslehre zu riicken und nicht irgendeine von
aufien aufgenommene Philosophic - all das stiftete einen gewissen Traditions-
zusammenhang und trug mit dazu bei, dafi die Frankfurter Theoretiker von
vornherein vor der leeren Tiefe sich philosophisch gebender Marx-Interpretatlo-
nen bewahrt blieben, wie sie seit den friihen dreifliger Jahren allenthalben auf-
kamen. Gemeinsam war ihnen die Tendenz, die Marxschen Jugendschriften,
namentlich die neu entdeckten Pariser Manuskripte, gegen die nach 1850 ent-
standenen Texte auszuspielen. Dabei wurde die fiir den jungen Marx kenn-
zeichnende Problematik der »Selbstentfremdung des Menschen« nicht als eine
noch abstrakte Vorstufe zur Analyse der Warenproduktion begriffen, sondern
zum eigentlichen Gehalt seiner Theorie stilisiert. Diese verwandelte sidi so wie-
der in eine Philosophic neben anderen. Der entscheidende Schritt von Marx iiber
Feuerbachs Anthropologismus hinaus und die damit einhergehende Wiederauf-
nahme Hegels blieben nicht selten unbeachtet; Marx avancierte zum Anthropolo-
gen, Daseinsanalytiker oder Existentialisten. Demgegenuber war Griinbergs
Marx-Interpretation paradoxerweise deshalb angemessener, weil sie »unphiloso-
phisch« war. Sie hatte es mit der materialen Geschichte selbst zu tun, nicht mit den ,
diirren Bestimmungen Heideggerscher »Geschichtlichkeit«. Ewige Strukturen und
Wesensgesetze der menschlichen Realitat bestreitet nach ihm der Marxsche Mate-
rialismus; seine »Resultate beanspruchen keine Geltung in Zeit und Raum
schlechthin, sondern nur relative, jeweils geschichtlich bedingte Bedeutung« 13 .
Ein Gedanke, der freilich erst in der historischen Dialektik Horkheimers und
seiner Mitarbeiter zu seinem vollen Recht gelangen sollte.
II
Wenden wir uns jetzt den gedanklichen Voraussetzungen des in der Zeitschrifl
fiir Sozialforschung entwickelten Konzepts zu. Sie sind in nuce enthalten in
Horkheimers Antrittsvorlesung vom 24. Januar 1931, als er - Nachfolger
Griinbergs - den Lehrstuhl fiir Sozialphilosophie und die Leitung des Instituts
fiir Sozialforschung ubernahm. Das Thema seiner Vorlesung lautete: Die gegen-
wartige Lage der Sozialphilosophie und die Aufgaben eines Instituts fiir Sozial-
forschung. Schon hierin lag ein neuer Akzent. Hatte Griinberg, der spezifisch
philosophischem Denken einigermafien fremd gegeniiberstand, sich sieben Jahre
vorher vom Kontakt mit der Philosophic bestenfalls eine »Befruchtung« histo-
rischer Studien versprochen 14 , so mufite jene fiir den Fachphilosophen Horkhei-
mer von Anbeginn eine positivere Rolle spielen. Horkheimer gehort zu den be-
deutendsten Begriindern einer »philosophisch« gerichteten Marx-Interpretation,
die freilich von den damals herrschenden Tendenzen recht verschieden war. So
verwarf er alle (seit Bernstein und dem Revisionisms insgesamt ublichen) Ver-
suche, die Marxsche Lehre in einer ihr auSerlichen Weise mit neukantianischen,
« Ibid., S. 11.
14 Ibid., cf. S. 16.
DIE »ZEITSCHRIFT FUR SOZIALFORSCHUNG« 9*
positivistisch-pragmatistischen oder, spater, existentialphilosophisdien Motiven zu
amalgamieren. Fur ihn war eine wirklich produktive, weiterfiihrende Aneignung
des dialektischen Materialismus notwendig verbunden mit einer genauen Analyse
der historischen wie sachlidien Bedeutung Hegels fur Marx. Dieser hatte noch
1858 die Dialektik »unbedingt das letzte Wort aller Philosophie« genannt, zu-
gleich aber darauf verwiesen, wie erforderlidi es sei, »sie von dem mystischen
Schein, den sie bei Hegel hat, zu befreien« 15 . Unter diesem doppelten Aspekt ver-
fuhr Horkheimer bei seiner Hegel-Lektiire. Sie hatte wenig gemein mit den aka-
demisch verbreiteten Bestrebungen einer sogenannten Hegel-Renaissance, wie sie
vor dem Ersten Weltkrieg begann und haufig genug darauf hinauslief, Jiegels
Philosophic, sei es neukantianisch, sei es im Sinne eines lebensphilosophischen
Irrationalismus und wilhelminischen Konservatismus zu verfalschen. In beiden
Fallen wurde die dialektische Methode eliminiert 18 .
Eher schon ist Horkheimers Hinwendung zu Hegel als dem Philosophen der
Moderne par excellence zusammenzubringen mit dem, was Merleau-Ponty den
spezifisch »westlichen« Marxismus genannt hat 17 . Darunter versteht er die Ver-
suche von Lukacs und Korsch, im Rekurs auf Hegel die philosophischen Gehalte
einer materialistischen Dialektik herauszuarbeiten - in ebenso entschiedenem
Gegensatz zur sowjetischen wie zur sozialdemokratischen Orthodoxie der zwan-
ziger Jahre. Zu erinnern ist hier an Lukacs' beruhmtes Buch Geschichte und Klas-
senbewufitsein von 1923, das die Marxschen Kategorien des Warenfetischismus
und der VerdingHchung erstmals grundsatzlich auf die erkenntnistheoretische
Problematik anwandte. Lukacs* Einflufl wird deutlich in den Arbeiten Adornos,
Blochs und Benjamins. Zu erinnern ist ferner an Korschs scharfe Polemik gegen
die sozialdarwinistischen Entstellungen der Marxschen Lehre in Kautskys 1927
erschienenem Werk Die materialistische Geschichtsauffassung, in der Schrift glei-
chen Titels von 1928 sowie an Marxismus und Philosophic, eine bedeutende
Arbeit, die 1923 in Gninbergs Archiv erschien und 1930 in erweiterter Form
veroff entlicht wurde. Das Verdienst der friihen Arbeiten von Lukacs und Korsch
bestand darin, daft sie qualitativ neue Mafistabe setzten, indem sie endgiiltig mit
den doktrinaren Traditionen der II. Internationale brachen, die im spateren
Kautskyanismus ebenso fortwirkten wie in dem nach Lenins Tode in Rufiland
kodifizierten »Marxismus-Leninismus«. Beide Orthodoxien griff en Lukacs und
Korsch heftig an, beide mit denselben objektivistischen Argumenten, die das Ver-
" Marx an Lassalle, Brief vom 31. 5. 1358, in: Marx/Engels, Werke, Band 29, Berlin 1963, S. 561.
16 Cf. zum Neuhegelianismus Wilhelm Windelband, Die Emeuerung des Hegelianismus, Sit-
zungsbericht der Heidelberger Akademie der wissensdiaften, Heidelberg 1910; sowie die zusam-
menfassende Darstellung von Heinrich Levy, Die Hegel-Renaissance, Charlottenburg 1927. An
kritiscier Literatur ist zu nennen: G. Lukacs, Die Zerstorung der Verrtunft, Berlin 1954, S. 432
bis 460; ferner das aus dem Horkheimerschen Institut hervorgegangene Buch Herbert Marcuses,
Reason and Revolution, New York 1941, deutsch Vernunfl und Revolution, Neuwied/Berlin 1962,
cf. besonders S. 354-368.
17 Cf. sein gescheites Buch Les Aventttres de la Dialectique, Paris 1955, deutsch Die Abenteuer
der Dialektik, Frankfurt am Main 1968, vor allem die Kapitel II und III.
10* ALFRED SCHMIDT
fahren der Naturwissenschaften vergotzten. Und dodi machten diese Angriffe,
worauf Adorno nachdriicklidi hingewiesen hat 18 , bei all ihrer Beschranktheit
deutlich, dafi es dem »westlichen« Marxismus der zwanziger Jahre nur um den
hohen Preis eines Riickfalls in den Hegelsdien (bei Lukdcs selbst Fichteschen)
Idealismus gelungen war, die philosophische Seite in Marx zu reaktivieren; an-
statt kritisdi ebenso iiber den erkenntnistheoretisch primitiven Abbild-Realismus
hinauszugehen wie iiber die spekulative Identitat von Subjekt und Objekt, er-
setzten Lukacs und Korsch einfach jenen durdi diese. Wohl hatten sie den Zu-
sammenhang von Dkonomie und Dialektik, von Theorie und politischer Aktion
im Marxsdien Werk beleuchtet, der von friiheren, rein wirtschaftswissenschaft-
lichen Interpreten entweder iibergangen oder nicht mehr verstanden worden
war. Aber sie waren ihren - zumal kommunistischen - Gegnern naher, als
ihnen bewufit wurde. Korsch und mehr noch Lukacs driickten nur in gebildeterer
Sprache aus, was anderswo politisch geschah: die Theologisierung und ethische
Glorifikation der Partei und ihrer Rolle. Der von ihnen entwickelte, reichlich
»apokalyptische« GeschichtsbegrirT (Lukacs bezeichnet das organisierte Proleta-
riat geradezu als Subjekt-Objekt des welthistorischen Prozesses) stattete die
Partei mit der - hochst fragwiirdigen - Tugend aus, den einzelnen Arbeitern
gegeniiber als »Objektivation ihres eigensten, ihnen selbst noch nicht klaren
Willens« lfi aufzutreten. - Die Stalinsche Ara sollte dariiber belehren, wie sehr
die Rede von der objektiven Vernunft der (bei Lukdcs noch als moralische In-
stanz verstandenen) Partei zum Feigenblatt tyrannischer Willkiir, schkchter
Subjektivitat werden kann.
Horkheimers Essays in der Zeitschrift setzen das geistige Klima der qualitativ
neuen Fragestellungen und Ergebnisse des »westlichen« Marxismus voraus.
Gleichwohl weist ihre Konzeption eine im Grundsatzlichen von Korsch und
Lukacs drastisch abweichende Tendenz auf. Dadurch dafi Horkheimer (wie
nahezu alle Mitarbeiter des Instituts) parteipolitisch unabhangig blieb, konnte er
sich dem Dogmatismus eines welthistorischen Totalwissens entziehen, in dessen
Namen alle Mittel gerechtfertigt sind. Indem Horkheimer die Moglichkeit von
Geschichtsphilosophie von vornherein zuriickhaltender beurteilte als jene Auto-
ren, verfiel er nicht der Suggestion des in den zwanziger Jahren marxistisch neu-
entdeckten Hegel. In diesem - wichtigen - Punkt steht sein Denken der Marx-
schen Position naher. Fur Marx war die »aus der kritischen Erkenntnis der ge-
schichtlichen Bewegung« zu schopfende »Wissenschaft« 20 sehr verschieden vom
»Universalschlussel einer allgemeinen geschichtsphilosophischen Theorie« 21 , die
18 Cf. seine Negative Dialektik, Frankfurt am Main 1966, S. 189.
19 Lukacs, Geschicbte und KlassenbewtifStsein, Berlin-Halensee 1923, S. 54. - Cf. audi S. 55, wo
Lukacs sich erbittert gegen den Vorwurf wehrt, diese Konzeption habe etwas mit >religiosem
Glauben« zu tun.
20 Marx an J. B. Schweitzer, Brief vom 24. 1. 1865, in: Marx/Engels, Ausgew'dhlte Briefe, Berlin
1953, S. 184.
21 Marx an die Redaktion der Otjetscbestwennyje Sapiski (Vaterlandische Blatter), November
1877, in: ibid., S. 371.
DIE »2EITSCHRIFT FUR SOZIALFORSCHUNG« H*
im Gang der Ereignisse einen hoheren Zweck nachzuweisen sucht, der sidi nach
und nach verwirklicht. Marx leugnete nicht, was bei Hegel die objektive Logik
der Weltgeschichte heifit. Aber er weigerte sich, ihre Opfer in einen Heilsplan
einzubeziehen und so mit einer metaphysischen Weihe zu versehen.
Ein Gedanke, der von Horkheimer aufgenommen und naher ausgefuhrt wurde.
So sdirieb er 1930 in seiner Kritik der Mannheimschen Wissenssoziologie iiber
die Marxsche Lehre: »Ihre Leistung sollte wesentlich in der einheitlichen Erkla-
rung der gesellschaftlichen Bewegungen aus den durch die wirtschaftliche Ent-
wicklung bedingten Klassenverhaltnissen bestehen. Nicht die Erkenntnis einer
>Totalitat< oder eine totale und absolute Wahrheit, sondern die Veranderung
bestimmter gesellschaftlicher Zustande war die Absicht seiner Wissenschaft. Im
Zusammenhang damit wird auch die Philosophic kritisiert, aber nicht eine neue
Metaphysik an die Stelle der alten gesetzu 22 . Suchte Hegels Spekulation den
bisherigen Geschichtsverlauf zu rechtfertigen, so kommt es der materialistischen
Theorie, wie Horkheimer in seinem ebenfalls 1930 erschienenen Buch iiber die
Anfdnge der burgerlichen Geschichtsphilosopbie entwickelt, darauf an, ihn wis-
senschaftlich zu erklaren, was freilich grofitenteils noch nicht geschehen ist. Dieser
Verzicht auf sinngebende Metaphysik (immanente Teleologie) gilt ebensosehr
fiir die Zukunfl: »Dafi die Geschichte eine bessere Gesellschaft aus einer weniger
guten verwirklicht hat, dafi sie eine noch bessere in ihrem Verlaufe verwirklichen
kann, ist eine Tatsache; aber eine andere Tatsache ist es, dafi der Weg der Ge-
schichte iiber das Leiden und Elend der Individuen fuhrt. Zwischen diesen beiden
Tatsachen gibt es eine Reihe von erklarenden Zusammenhangen, aber keinen
rechtfertigenden Sinn« 28 .
Die radikal aufklarerische Entzauberung dessen, was in der Hegelschen (wie in
jeder positiven) Philosophic der Weltgeschichte Fortschritt zu hoheren Stufen
heifit, macht audi vor dem Begriff der Geschichte selbst als einer einheitlichen
Struktur nicht halt: »Die vollstandig gelungene Erklarung, die durchgefiihrte
Erkenntnis der Notwendigkeit eines geschichtlichen Ereignisses, kann fiir uns, die
wir handeln, zum Mittel werden, Vernunft in die Geschichte hineinzubringen;
aber die Geschichte hat keine Vernunft, >an sich< betrachtet, ist keine wie immer
geartete >Wesenheit<, weder >Geist<, dem wir uns beugen miifiten, noch >Macht<,
sondern eine begriffliche Zusammenfassung von Ereignissen, die sich aus dem ge-
sellschaftlichen Lebensprozefi der Menschen ergeben... Die pantheistische Ver-
selbstandigung der Geschichte zu einem einheitlichen substanziellen Wesen ist
nichts als dogmatische Metaphysik« 24 .
Von diesen grundlegenden Erwagungen hat auszugehen, wer sich das Verhaltnis
Horkheimers zu Hegel (wie zur Philosophic uberhaupt) und zum Marxschen
22 Horkheimer, Ein netter Ideologiebegrifft, in: Archiv fiir die Geschichte des Sozialismus und
der Arheiterbewegung. XV. Jahrgang, 1930. Zitiert nadi: Kurt Lenk, Ideohgie, Neuwied/Berlin
1961, S. 236.
23 Horkheimer, Anfdnge der burgerlichen Geschichtsphilosopbie » Stuttgart 1930, S. 92.
» Ibid., S. 94.
12* ALFRED SCHMIDT
Materialismus verdeutlichen will. Was diesen betrifft, so wird er von Horkheimer
nicht nur inhaltlich als gesellsdiaftlidie Theorie akzeptiert, sondern zugleich in
seinen von Marx so nicht formulierten antimetaphysischen, ja nihilistischen Kon-
sequenzen dargelegt, und zwar ohne alien Zynismus. Es gibt keine »hohere«, die
materielle, raum-zeitliche Wirklichkeit uberwolbende Sphare noch ein absolut
Fundamentals, das jene Wirklichkeit als Einheitsprinzip triige. - Dieses der
Horkheimerschen Marx-Interpretation eigentiimliche Moment ist festzuhalten;
es ist konstitutiv fur den Geist, in dem die Aufsatze der Zeitschrift verfafk
sind.
Kehren wir nunmehr zuriick zu Horkheimers schon erwahnter Antrittsvorlesung
von 1931. Verglichen mit Griinbergs Festrede, mit seinem leidenschaftlichen Be-
kenntnis zu dem, was er unter Marxismus verstand, nimmt sie sich auf den
ersten Blick harmloser, akademischer aus. Horkheimers »asopische« Sprache darf
jedoch nicht dariiber hinwegtauschen, dafi er in der Sache selbst - begrifflich
wie politisch - weit radikaler war als Griinberg. - Horkheimer versucht zu-
nachst zu umschreiben, was angesichts der Schwierigkeit, wissenschaftliche Be-
reiche scharf voneinander abzuheben, unter »Sozialphilosophie« zu verstehen sei.
Diese zielt, wie er dartut, darauf ab, das kollektive Schicksal der Menschen phi-
losophisch zu deuten; sie »hat sich daher um solche Phanomene zu bekiimmern,
die nur im Zusammenhang mit dem gesellschaftlichen Leben der Menschen ver-
standen werden konnen: um Staat, Recht, Wirtschaft, Religion, kurz um die
gesamte materielle und geistige Kultur der Menschheit iiberhaupt« 25 .
Ein umfassender BegrifT von Sozialphilosophie, der - woran Horkheimer im
weiteren erinnert - im klassischen deutschen Idealismus von Kant bis Hegel
»zur entscheidenden philosophischen Aufgabe« 28 wurde. Hegel, in dessen Werk
das spekulative Denken kulminiert, befreite die Frage nach dem Wesen des Indi-
viduums als eines kulturschopferischen Subjekts dadurch von den Schranken blo-
£er Introspektion, dafi er sie »an die Arbeit der Geschichte* 27 , das heifit ans Stu-
dium konkreter Inhalte, verwies. Hegels Idealismus wurde so wesentlich Sozial-
philosophie: Theorie des »kollektiven Ganzen, in dem wir leben«, und gleichzei-
tig »Erkenntnis des Sinnes unseres eigenen Seins nach seinem wahren Wert und
Gehalt« 28 .
Aus der offenkundigen Unmoglichkeit nun, an der hegelianischen Geschichts-
konstruktion in ihrer vorliegenden Form festzuhalten, ergab sich fur Horkhei-
mer die Problematik eines sozialphilosophischen Neuansatzes. - Hegels be-
riihmte »Vernunftansicht der Weltgeschichte« (wie sie im einleitenden Band sei-
ner geschichtsphilosophischen Vorlesungen umrissen wird) war am Modell einer
liberalistischen Wirtschaft entwickelt: die Harmonie des Ganzen sollte notwen-
25 Horkheimer, Die gegenwdrtige Lage der Sozialphilosophie und die Attfgaben eines Instituts
fiir Sozialforschung, Frankfurter Universitatsreden, XXXVII, Frankfurt am Main 1931, S. 3.
*« Ibid.
27 Ibid., S. 4.
2 » Ibid., S. 4 f.
DIE »ZEITSCHRIFT FUR SOZIALFORSCHUNG« 13*
dig hervorgehen aus dem Interessenkonflikt der Individuen und Gruppen, dem
Machtstreben sich aneinander abarbeitender, zu Staaten organisierter Volker.
Dabei verlauft die Weltgeschichte Hegel zufolge so, dafi sich ihr immanentes
Prinzip, der Vernunftzweck der Freiheit, unabhangig vom - bewufiten - ge-
schichtlichen Treiben der Individuen und ihren partikularen, endlichen Zweckeri
durchsetzt; die derart iiberlisteten » Individuen verschwinden vor dem allgemei-
nen Substanziellen, und dieses bildet sich seine Individuen selbst, die es zu seinem
Zwecke notig hat« 29 . Diese Geschichtsphilosophie miindet ein in die problema-
tische Lehre, »daE der Staat die weltliche Verwirklichung« 30 objektiver Freiheit
ist, deren Gesetze »die Unterwerfung des zufalligen Willens« der einzelnen er-
heischen: »Wenn das Objektive an sich verniinftig ist, so mufi die Einsicht dieser
Vernunft entsprechend sein, und dann ist auch das wesentliche Moment der sub-
jektiven Freiheit vorhanden« 81 . - Die Objektivitat der Vernunft aber bleibt
undiskutiert; sie ist theologisch verbiirgt.
Hegel - an dieser Stelle nimmt Horkheimer ein wichtiges Motiv sozialistischer
Kritik auf - mystifiziert die objektive Tendenz des historischen Prozesses, die
sich blind aus der Unbeherrschtheit der gesellschaftlichen Verhaltnisse ergibt,
zum Walten einer hoheren Vorsehung. Sie zu erfassen ist dem philosophischen
Betrachter vorbehalten, der sich iiber blofie Empirie erhoben hat und den »objek-
tiven Inhalt des Weltgeistes als den seinigen« 32 anerkennt. Philosophic will die
»verschmahte Wirklichkeit rechtfertigen« 33 . Sie trostet die Individuen nicht, son-
dern versohnt sie mit dem Weltlauf; »sie verklart das Wirkliche, das unrecht
scheint, zu dem Verniinftigen, zeigt es als solches auf, das in der Idee selbst be-
griindet ist und womit die Vernunft befriedigt werden soil. Denn in der Vernunft
ist das G6ttliche« 34 .
Die Kategorien, mit denen Hegel das vergangene Grauen glorifiziert, gelten -
was Horkheimer unterstreicht - auch fur die Gegenwart. Als »System der Be-
diirfnisse« ist die biirgerliche Gesellschaft gekennzeichnet durch »ein Wimmeln
von Willkiir«, das jedoch »aus sich allgemeine Bestimmungen« erzeugt, »und
dieses anscheinend Zerstreute und Gedankenlose wird« - wie Hegel mit den
klassischen Dkonomen sagt - »von einer Notwendigkeit gehalten, die von selbst
eintritt« 35 . Aufgabe der Staatsokonomie ist es, diese Notwendigkeit in Gestalt
objektiver Gesetze aufzuspiiren, die sich in » einer Masse von Zufalligkeiten« 36
geltend machen. Hegels Interpretation jener Wissenschaft ist insofern wiederum
eine den Weltzustand »verklarende<c, als sie zwar ihre historische Gewordenheit,
29 Hegel, Die Vernunft in der Geschichte, Berlin 1930, S. 37.
80 Hegel, Vorlesungen iiber die Philosopbie der Welt geschichte, Band IV, Hamburg 1968,
S. 937 f.
31 Ibid., S. 938.
3 2 Ibid.
33 Hegel, Die Vernunft in der Geschichte, 1. c, S. 55.
34 Ibid.
35 Hegel, Philosophic des Rechts, Stuttgart-Bad Cannstatt 1964, § 189, Zusatz.
36 Ibid.
14* ALFRED SCHMIDT
nicht aber die Verganglichkeit ihrer Prinzipien ausspricht. Im Entdecken von
Gesetzen erblickt Hegel vielmehr »das Versohnende«, das »in der Sadie liegende
und sich betatigende Scheinen der Verniinftigkeit zu erkennen« 87 . Seine Philoso-
phic gliedert damit die okonomische Sphare in die zeitlose Logik des Weltprozes-
ses ein.
Horkheimers Hegel-Interpretation ist zentriert urn den Gedanken, dafi die »ver-
klarende« Rolle, welche Hegel der Philosophic zuspricht, gerade mit seiner un-
verlierbaren, obschon idealistisch formulierten Einsidit zusammenhangt, dafi sich
das Wesen des Menschen nicht aus der Innerlichkeit und dem persdnlichen
Schicksal der einzelnen ergibt, sondern aus der Analyse des kollektiven, ge-
schichtlichen Lebens der Volker. Spekulatives Denken sollte dem »endlichen Ein-
zelwesen« zum »begrirTlichen Bewufltsein seiner Freiheit im Staat« 38 verhelfen,
dessen es infolge der gesellschaftlichen Antagonismen dringend bedarf. Auf diese
vermittelnde Funktion, damit auf Philosophic schlechthin, glaubte die euro-
paische Gesellschaft etwa seit 1850 verzichten zu konnen. Sie trat ins Zeitalter
des Positivismus ein, der okonomisch vom »unmittelbaren Glauben an die pra-
stabilierte Harmonie der Einzelinteressen« 39 erfiillt war und sich im iibrigen an
den kontinuierlichen Fortschritt von Wissenschaft, Technik und Industrie hielt.
Die Metaphysik des objektiven Geistes schien unwiederbringlich dahin.
Je mehr freilich die Hoffnungen der nachidealistischen Periode in der gesell-
schaftlichen Praxis unerfullt blieben, desto haufiger kam es in den ersten Jahr-
zehnten unseres Jahrhunderts zu bemiihten, aber schwachlichen Versuchen,
Sozialphilosophie (vornehmlich als Moral- und Rechtsphilosophie) auf idealisti-
scher Grundlage zu restaurieren, Durchweg antipositivistisch gesonnen, liefen sie,
wie Horkheimer zeigt, darauf hinaus, »uber dem Boden der festzustellenden tat-
sachlichen Begebenheiten ein hoheres eigengesetzliches Seins-, zum mindesten ein
Geltungs- oder Sollensreich aufzuweisen, an dem die verganglichen Menschen
Anteil haben, das selbst aber nicht auf natiirliche Begebnisse zuriickzufuhren
ist« 40 . Diese Versuche wollten dem Individuum »den Blick in eine iiberpersonale
Sphare . . . offnen, die wesenhafter, sinnerfiillter, substantieller ist als sein Da-
sein« 41 . Mit Hegels Idealismus, hinter dessen konkreter Inhaltlichkeit sie weit
zuriickblieben, hatten sie lediglich das Moment der »Verklarung« gemein.
37 Ibid. — Die material istische Theorie hiitet sich demgegenviber von Anbeginn, die GesetzmaiSig-
keit der okonomischen Vorgange zu deren metaphysischer » Verniinftigkeit* zu verklaren. So
schrieb Engels in seiner genialen Skizze von 1844 (deren Titel Umrisse zu einer Kritik der
Nationalokonomie die Marxsche Lehre programmatisch vorwegnahm) vom »Gesetz der Kon-
kurrenz*, es sei >ein reines Naturgesetz, kein Gesetz des Geistes*, und zwar ein - vergangliches -
Naturgesetz, »das auf der Bewufitlosigkeit der Beteiligten beruht*. In: Marx/Engels, Werke^
Band 1, Berlin 1957, S. 514; 515.
38 Horkheimer, Die ge gen-war tige Lage der Sozialphilosophie und die Aufgaben eines Instituts
fiir Sozialforschung, 1. c, S. 6.
39 Ibid.
« Ibid., S. 8.
41 Ibid.
DIE »2EITSCHRIFT FUR SOZIALFORSCHUNG« 15*
Horkheimers Position ergibt sich daraus, dafl er den fundamentalen Mangel der
gegen den Positivismus ankampfenden sozialphilosophischen Riditungen be-
zeichnet. Er besteht, kurz gesagt, in deren Naivitat, einerseits die wissenschaft-
lich konstatierbaren »Tatsachlichkeiten« unbezweifelt hinzunehmen, andererseits
aber zu versuchen, »ihnen mehr oder minder konstruktiv, . . . >philosophierend<
Ideen, Wesenheiten, selbstandige Spharen des objektiven Geistes, Sinneinheiten,
Volksgeister als ebenso ursprungliche, ja als >echtere< Seinsbestande« 42 gegen-
iiberzustellen. Dafi es im Positivismus eine ganze Reihe unbeweisbarer meta-
physisciier Pramissen gibt, ist den neueren Philosophen Anlafi genug, ihn darin
noch zu iibertreffen. Es entsteht so ein schlechter Relativismus, der »keinen
sacfalich begriindeten Vorzug« 4S dieser Theorie gegenuber jener gestattet. Die
Sozialphilosophen spredien vom Lebensprozefi der Mensdien, den sie zu unter-
suchen haben, nur »weltanschaulich, thesenhaft, bekenntnishaft« und machen
»zwischen den Soziallehren von Auguste Comte, Karl Marx, Max Weber und
Max Sdieler eher den Unterschied von Glaubensakten als von wahren, falschen
oder vorerst noch problematischen Theorien« 44 .
Uber diesen unbefriedigenden Zustand sucht Horkheimer vermittels einer Dia-
lektik hinauszugelangen, welche die grofie Hegel-Kritik des 19. Jahrhunderts in
sich aufgenommen und fortgebildet hat. An die Stelle starrer Dualismen, ge-
trennter Spharen tritt bei ihm der lebendige Begriff, der Differenz und Identitat
von Besonderem und Allgemeinem in sich enthalt. Material e Soziologie und
Sozialphilosophie lassen sich nicht abgelost voneinander betreiben. Die Frage
nach den konkreten Formen menschlicher Vergesellschaftung schliefit allemal die
nach Realitatsgrad und Wert der zu betrachtenden Strukturen ein. Umgekehrt
bedarf die begrifHiche Arbeit des Philosophen der in grundlichen Einzelunter-
suchungen gesichteten Materialien. »Das Verhaltnis zwischen philosophischen
und . . . einzelwissenschaftlichen Disziplinen«, auf das Horkheimer wegen seiner
Wichtigkeit immer wieder zuriickgekommen ist, »darf nicht in dem Sinne gefafit
werden, als ob die Philosophic die entscheidenden Probleme behandle und dabei
von Erfahrungswissenschaft unangreifbare Theorien, eigene Wirklichkeits-
begriffe, die Totalitat umspannende Systeme konstruiere, wahrend ... die Tat-
sachenforschung ihre langen, langweiligen, sich in tausend Einzelfragen auf-
splitternden Einzelerhebungen anstelle, um schliefSlich im Chaos des Spezialisten-
tums zu enden« 45 .
Statt dessen kommt es Horkheimer darauf an, da£ sich philosophische Theorie
und einzelwissenschaflliche Praxis unentwegt dialektisch durchdringen und ent-
falten. Die Philosophic ist kein von aufien an die empirischen Befunde heran-
getragener, fertiger Katalog von Kategorien, welcher der Dialektik des Er-
kenntnisprozesses (wie der Geschichte) entzogen bleibt. Als theoretische, aufs
42 Ibid., S. 9.
« Ibid.
« Ibid.
« Ibid,, S. 10.
16* ALFRED SCHMIDT
objektive »Wesen« der Erscheinungen abzielende Intention fordert sie die spe-
ziellen Untersudiungen und ist dabei »weltofTen genug, um sich selbst von dem
Fortgang der konkreten Studien beeindrucken und verandern zu lassen« 46 .
Erwagungen, nach denen es sich von selbst versteht, da£ Horkheimer wenig
Neigung verspiirte, den deklarativen Bekundungen und leeren Konstruktionen
der Sozialphilosophie seiner Zeit weitere hinzuzufugen. Vielmehr schlagt er als
konkretes Programm vor, »auf Grund aktueller philosophischer Fragestellungen
Untersudiungen zu organisieren, zu denen Philosophen, Soziologen, National-
okonomen, Historiker, Psychologen in dauernder Arbeitsgemeinschaft sich ver-
einigen und . . . ihre aufs Grofie zielenden philosophischen Fragen an Hand der
feinsten wissenschaftlichen Methoden . . . verfolgen« 47 . Dadurch werden jene
Fragen nicht dogmatisch beantwortet, »sondern . . . selbst dialektisch einbezogen
in den empirisch wissenschaftlichen Prozefi, das heifk die Antwort auf sie liegt in
dem Fortschritt der sachlichen Erkenntnis, von dem ihre Gestalt selbst mit-
betroffen wird« 48 .
Was es bedeutet, philosophiegeschichtlich uberkommene Grundfragen im wissen-
schaftlichen ErkenntnisprozeS zu prazisieren und auf neue Weise anzugehen,
erlautert Horkheimer instruktiv am alten, stets wieder erorterten Problem, wie
sich individuelle Existenz und allgemeine Vernunft, sinnliche Realitat und Idee,
Leben und Geist zueinander verhalten. Modern formuliert, handelt es sich hier
»um die Frage nach dem Zusammenhang zwischen dem wirtschaftlichen Leben
der Gesellschaft, der psychischen Entwicklung der Individuen und den Verande-
rungen auf den Kulturgebieten im engeren Sinn« 49 . Ob man nun das Thema, wie
Schelers »Soziologie des Wissens«, metaphysisch diskutiert oder, grob verein-
f achend, eine der geschichtlich aufgetretenen Thesen vortragt und alle anderen
bestreitet - Horkheimer erwahnt, wozu ein schlecht verstandener Spinoza,
Hegel oder Marx unter Umstanden herhalten miissen - 50 : in jedem Fall wird
em komplexer Gegenstand gerade dadurch verfehlt, dafi er »rein« philosophisch
behandelt werden soil. Eine fragwiirdige »Scheidung von Geist und Realitat« in
undialektischer Weise verabsolutierend, setzt jede abstrakte Antwort die
»durchgangige Entsprechung zwischen den ideellen und materiellen Verlaufen«
voraus und vernachlassigt oder iibersieht die »komplizierende Rolle der psychi-
schen Zwischenglieder« 51 . . .
Wirklich fruchtbare Forschungen auf diesem Gebiet, die audi bestimmte Um-
fragemethoden nicht versdimahen, lassen sich demgegeniiber, wie Horkheimer
erlautert, nur dann einleken, wenn man die Frage nach dem Verhaltnis der
okonomischen Strukturen zu den kulturellen raumlich, zeitlich, psychologisch
« Ibid.
« Ibid., S. 11.
« Ibid.
« Ibid., S. 13.
so Cf. ibid.
5i Ibid.
DIE »ZEITSCHRIFT FUR SOZIALFORSCHUNG« 17*
und soziologisch eingrenzt, wodurch sie folgende Form annimmt: »Welche Zu-
sammenhange lassen sich bei einer bestimmten gesellsdiaftlidien Gruppe, in einer
bestimmten Zeitspanne, in bestimmten Landern nachweisen zwischen der Rolle
dieser Gruppe im Wirtschaftsprozefi, der Veranderung in der psychischen Struk-
tur ihrer einzelnen Mitglieder und den auf sie als Gesamtheit im Ganzen der
Gesellschaft wirkenden und von ihr hervorgebrachten Gedanken und Einrich-
tungen?« 52
Das Institut hat denn audi, wie gerade aus der Zeitschrift hervorgeht, eine Reihe
wichtiger Studien durchgefiihrt, in denen die okonomische Geschiditsauffassung
- um sie handelt es sich bei der erorterten Frage - nicht abstrakt verkundet,
sondern am Stoff" selbst erprobt wird. Auf die Notwendigkeit, so zu verfahren,
haben bereits Marx und Engels mit grofitem Nachdruck hinweisen miissen.
Jener betont, dafi die »materialistische Basis« seiner Lehre »ernstes objektives
Studium erheischt, wenn man auf ihr operieren will« 58 ; und dieser beklagt, dafi
der historische Materialismus seinen »fatalen Freunden« nicht selten »als Vor-
wand dient, Gesdiichte nicht zu studieren^ 54 ; dafi »die materialistisdbe Methode
in ihr Gegenteil umschlagt, wenn sie nicht als Leitfaden beim historischen Stu-
dium behandelt wird, sondern als fertige Schablone, wonach man sich die histo-
rischen Tatsachen zurechtschneidet« 55 .
Prinzipien, die in Horkheimers - wissenschaftlich uniiblichem - Gedanken,
einen empirisch orientierten Forschungsapparat in den Dienst umfassender
sozialphilosophischer Uberlegungen zu stellen, voll berucksichtigt wurden. Sein
1931 entwickeltes Programm sah vor, »eine Diktatur der planvollen Arbeit
iiber das Nebeneinander von philosophischer Konstruktion und Empirie in der
Geseilschaftslehre zu errichten« 5B . Tatsachenforschung und theoretisches Denken
sollten einander gleichermafien bereichern - verbunden in einer (nie blofi ge-
gebenen, sondern stets aufs neue herzustellenden) dialektischen Einheit. Als Phi-
losoph, keineswegs aber um die Anspruche der Empirie zu schmalern, wurde
Horkheimer zum Leiter des Frankfurter Instituts.
Ill
Die Zeitschrift ftir Sozialforscbung diente neben den Buchpublikationen des
Instituts der Verwirklidiung des erorterten Programms. Horkheimer gelang es,
einen Kreis befahigter Menschen um sich zu versammeln, die ihr leidenschaft-
52 Ibid., S. 14.
55 Marx an F. A. Sorge, Brief vom 27. 11. 1877, in: Marx/Engels, Ausgewablte Briefe, 1. c, S.365.
54 Engels an C. Schmidt, Brief vom 5. 8. 1890, in: ibid., S. 500 (Hervorhebung von Engels). -
Auf diese »fatalen Freunde* bezieht sich ubrigens der vielzitierte, gern miftbrauchte Satz von
Marx: »Tout ce que je sais, c'est que je ne suis pas marxiste«.
65 Engels an P. Ernst, Brief vom 5. 6. 1890, in: ibid., S. 498.
56 Horkheimer, Die gegenwdrtige Lage der Sozialphilosopbie und die Aufgaben eines Instituts
fur Sozialforscbung, 1. c, S. 12.
18* ALFRED SCHMIDT
lidbes Interesse an gesellschaftlichen Themen iiber den Wunsch stellten, akade-
misdi Karriere zu machen. Ihr Ziel war die gemeinsame Arbeit an einer kriti-
schen Theorie der Gesellsdiaft ihrer Zeit. Horkheimer hat es 1932 in seinem Vor-
wort zum ersten Heft der Zeitschrift klar umrissen 57 . Terminologisch bemerkens-
wert ist hier zunachst der Ubergang von der »Sozialphilosophie« zur
»Sozialforschung«. Deren Begriff bezeichnet keine Spezialdisziplin, sondern
»Untersuchungen auf den verschiedensten Sachgebieten und Abstraktions-
ebenen«, die dazu bestimmt sind, die Einsicht ins soziale Ganze voranzubringen.
Wiederum betont Horkheimer, wie wichtig es ist, »bei unbedingter empirischer
Strenge« im einzelnen ein »theoretisches Zentralproblem« 58 im Auge zu behalten.
Die so verstandene Sozialforschung ist gleich weit entfernt von »blofier Tat-
sachenbeschreibung« und »empiriefremder Konstruktion«. Erkenntnistheoretisch
setzt sie voraus, dafi »unter der chaotischen Oberflache der Ereignisse eine dem
Begriff zugangliche Struktur wirkender Machte zu erkennen sei. Geschichte gilt
in der Sozialforschung nicht als Erscheinung blofier Willkiir, sondern als von
Gesetzen beherrschte Dynamik, ihre Erkenntnis ist daher Wissenschaft« 59 .
Verweilen wir etwas bei dem hier eingefuhrten Begriff von »Wissenschaft«, der
wahrend der letzten Jahre in den Diskussionen zwischen der Frankfurter und
der positivistischen Soziologie eine erhebliche Rolle spielte und von positivisti-
scher Seite heftig bekampft wurde. Er geht zurtick auf Hegels Kant-Kritik,
namentlich auf die in der Groflen Logik entwickelte und in der Philosophie der
Weltgeschichte vorausgesetzte Lehre von der Erkennbarkeit des Dinges an sich.
Zur philosophischen Betrachtung des historischen Prozesses gehort es nach Hegel,
dafi von einer klassifizierenden »Sammlung von Kenntnissen« zu »verniinf tiger
Einsicht« fortgeschritten wird; denn »das Wahre liegt nicht auf der sinnlichen
Oberflache; bei allem, insbesondere was wissenschaftlich sein soil, darf die Ver-
nunfl nicht schlafen und mufi Nachdenken angewendet werden« ao . Es bedarf des
konkreten Begriffs, der »die Oberflache durchdringt und sich durch die Mannig-
faltigkeit des bunten Gewiihls der Begebenheiten hindurchringt« 61 .
Marx und Engels schliefien sich, zumal in ihren reifen Arbeiten, als radikale Geg-
ner des (zu ihrer Zeit vornehmlich neukantianischen und positivistischen) Pha-
nomenalismus der Hegelschen Lehre von der Objektivitat des Begriffs an. Ihre
Kritik der politischen Okonomie beruht auf der Dialektik von Wesen und Er-
scheinung, wobei diese Kategorien, materialistisch gewendet, keinem logischen
Reich zeitloser Geltung mehr angehoren, sondern sich geschichtlich als Momente
eines wissenschaftlich analysierbaren Objekts, der biirgerlichen Gesellschafl, aus-
einanderlegen. Erscheinende und wesentliche Wirklichkeit, Zirkulations- und
Produktionsprozefi des Kapitals, »laufen bestandig ineinander, durchdringen
57 Zeitschrift fiir Sozialforschung, Jahrgang I, 1932, Doppelheft l/2, S. I.
«8 Ibid.
5» Ibid.
60 Hegel, Die Vernunft in der Geschichte, 1. c, S. 6; 7.
ei Ibid., S. 8.
DIE »ZEITSCHRIFT FUR S02IALF0RSCHUNG« 19*
sich, und verfalschen dadurch bestandig ihre charakteristischen Unterscheidungs-
merkmale« 62 . An ihnen festzuhalten bleibt gleichwohl das Geschaft der Wissen-
schaft. Dafi die gesellschaftlichen Spharen durcheinander vermittelt sind, besei-
tigt - sosehr sie verhiillt wird - die »begriindende« Rolle der unmittelbaren
Produktion des Lebens nidit. Der Erkenntnisprozefi hat, wie die Autoren stets
betonen, das »Unsichtbare und , . . zu erforschende Wesentliche« von der sinnlich'
sich darbietenden » Oberflache « 63 zu unterscheiden, die »Ersdieinungsform von
dem, was darin erscheint« M : das Wesen als immanentes Gesetz der Erscheinungen.
Der flache Empirismus der »Vulgarokonomie« bleibt demgegenuber im strengen
Sinn ideologisch befangen; er halt sich an den »substanzlosen Sdiein« der gesell-
schaftlichen Sachverhalte und beschrankt sich im iibrigen darauf, »die banalen
und selbstgefalligen Vorstellungen der biirgerlichen Produktionsagenten von
ihrer eigenen besten Welt zu systematisieren, pedantisieren und als ewige Wahr-
heiten zu proklamieren« 65 . Da die Vulgarokonomen den inneren Zusammenhang
nicht begreifen, verf alien sie in jene Objektivitat, »die nicht weiter sieht als ihre
Nase und eben deshalb die bornierteste Subjektivitat ist« 66 .
Engels vor allem hat diese im okonomischen Kontext gewonnenen Einsichten auf
das Geschichtsstudium insgesamt angewandt. Er geht davon aus, dafi Natur-
und Sozialgeschichte sich insofern unterscheiden, als es sich bei jener um »lauter
blinde Agenzien« handelt, »die aufeinander einwirken und in deren Wechsel-
spiel das allgemeine Gesetz zur Geltung kommt« 67 , wahrend in der Geschichte
der Gesellschajft (ganz wie die Aufklarer und Hegel sie beschneben haben)
»lauter mit Bewufitsein begabte, mit Oberlegung oder Leidenschaft handelnde,
auf bestimmte Zwecke hinarbeitende Menschen« 68 wirken. Unbeschadet dieses
qualitativen Unterschieds wird auch »der Lauf der Geschichte durch innere all-
gemeine Gesetze beherrscht . . . Denn auch hier herrscht auf der Oberflache, trotz
62 Marx, Das Kapital, Band III, Berlin 1953, S. 64.
«» Ibid., S. 63.
64 Marx, Das Kapital, Band I, Berlin 1955, S. 596. - Dafi es hier um eine sachliche Bedeutung
Hegelsdier Dialektik fiir die Marxsche Lehre geht, nicht um deren gelegentliches »Kokettieren«
mit philosophisdier Terminologie, lieUe sich anhand der Texte vielfach belegen. Genannt seien
nur folgende Stellen aus Band I des Kapitals: S, 69; 321; 331; 565ft.; aus Band III:
S. 194; 216; 344; 369; 870.
05 Ibid., S. 87. — Die Intention der strengen Ideologicnlehre als Theorie der — objektiv ver-
mittelten — »Phanomenalitat« des gesellschafHichen Alltagsbewufitseins wird besonders deutlich
in der Marxschen Analyse der »verkehrten Welt« der Konkurrenz: »Die fertige Gestalt der
okonomischen Verhaltnisse, wie sie sich auf der Oberflache zeigt, in ihrer realen Existenz, und
daher auch in den Vorstellungen, worin die Trager und Agenten dieser Verhaltnisse sich xiber
dieselhen klar zu werden suchen, sind sehr verschieden von, und in der Tat verkehrt, gegensatz-
Hch zu ihrer innern, wesentlichen, aber verhiillten Kerngestalt und dem ihr entsprechenden
BegrifF*. In: Das Kapital, Band III, 1. c, S. 235.
68 Engels an E. Bernstein, Brief vom 25. 1. 1882, in: Marx/Engels, Attsgewahlte Brief e, 1. c,
S. 418.
67 Engels, Ludwig Fetterbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophic, in: Marx/
Engels, Ausgewdhlte Schrijten in zwei Banden, Band II, Berlin 1966, S. 358.
68 Ibid., S. 358 f.
20* ALFRED SCHMIDT
der bewuftt gewollten Ziele aller einzelnen, im ganzen und grofien scheinbar der
Zufall . . . Wo aber auf der Oberflache der Zufall sein Spiel treibt, da wird er
stets durch innere verborgene Gesetze beherrscht« 69 , die ihrerseits der - zu kriti-
sierenden - Tatsache entspringen, dafl die Geschichte von den Menschen »bis jetzt
nidit mit Gesamtwillen nach einem Gesamtplan« 70 gemadit wurde. Die blinde
dkonomische Notwendigkeit setzt sidi in der unendlichen Summe von Zufallen
durch; die vielen bewufken Einzelwillen stofien aufeinander und durchkreuzen
sich und bewirken so einen Zustand, »der ganz dem in der bewufklosen Natur
herrschenden analog ist« 71 . Aus diesem objektiven Grunde - nicht weil sie die
an sich bestehende Differenz von Natur und Gesellschaft einebnen wollen -
betrachten Marx und Engels »die bisherige Geschichte nach Art eines (nicht
geisteswissenschaftlich zu >verstehenden<, sondern zu >erklarenden<, A. S.)
Naturprozesses«, als »wesentlich denselben Bewegungsgesetzen unterworfen« 72 .
So viel zu den Quellen des von Horkheimer im Vorwort zur ersten Nummer der
Zeitschrift eingefiihrten Begrifrs »wissenschaftlicher« Sozialforschung. - Diese
ist nicht autark, sondern bedarf der verschiedensten Fachwissenschaften, um die
»Vorgange des Gesellschaftslebens nach dem Stand der jeweiis moglichen Einsicht
zu begreifen« 73 . Dabei ist Horkheimer sich dariiber im klaren, dafi die auszuwer-
tenden Resultate von Sonderdisziplinen haufig vorlaufigen und hypothetischen
Charakter haben. Hieraus ergibt sich die unaufhebbare Distanz der Sozialfor-
schung zu jeder auf Letztbegriindung und Abschlufihaftigkeit ihrer Urteile be-
stehenden Philosophic Dem widerspricht keineswegs, dafi die Zeitschrift nicht
wenige Aufsatze enthalt, die sich intensiv mit philosophischen Fragen beschafti-
gen; »denn nicht die Zugehorigkeit zu einem bestimmten Fach, sondern die Wich-
tigkeit fiir die Thebrie der Gesellschaft ist bei der Wahl ihrer Gegenstande be-
stimmend« 74 .
Sozialforschung im hier diskutierten Sinn und Soziologie als Einzelwissenschaft
sind fiir Horkheimer deshalb nicht identisch, weil jene »ihre Forschungsgegen-
stande auch auf nichtsoziologischen Gebieten findet« 75 . In dem Mafie freilich,
wie Fachsoziologie sich nicht im Beschreiben von Tatsachen erschopft, sondern
wirklich »auf das Problem der Gesellschaft abzielt« 78 , werden ihre Fragen auch
in der Zeitschrift behandelt, schon um die allgemein-theoretischen Abhandlungen
stofTlich zu erganzen.
«» Ibid., S. 359.
70 Engels an H. Starkenburg, Brief vom 25, 1. 1894, in: Marx/Engels, Ausgewdhlte Briefe, I. c.,
S. 560.
71 Engels, Ludwig Fetterbacb und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophic, 1. c, S. 359.
72 Engels an J. Bloch, Brief vom 21 722. 9. 1890, in: Marx/Engels, Ausgewdhlte Briefe, I.e.,
S. 503.
73 Zeitschrift fiir Sozialforschung, Jahrgang I, 1932, Doppelheft 1/2, S. I.
™ Ibid., S. II.
75 Ibid. - Davon zeugen die sich mit Kunst und schoner Literatur abgebenden Studien der Zeit-
schrift.
™ Ibid.
DIE »2EITSCHRIFT FUR SOZIALFORSCHUNG« 21*
Was das theoretisch entscheidende Verhaltnis der Sozialforschung zur Wirklich-
keit als Geschidite anbelangt, so erwahnt Horkheimer wiederum die (vom Marx-
schen Materialismus und seinen Gegnern, Max Weber etwa) angeregte »Frage
des Zusammenhangs zwisdien den einzelnen Kulturgebieten, ihrer Abhangigkeit
voneinander, der Gesetzmafiigkeit ihrer Veranderung« 77 . Eine Frage, die dann in
der Zeitschrift unter verschiedensten Gesichtspunkten angegangen wurde, nicht
zuletzt vermittels einer »den Bediirfnissen der Geschidite entgegenkommenden
SozialpsychoIogie« 78 , wie sie Dilthey 1894 in seinen Ideen iiber eine beschrei-
bende und zergliedernde Psycbologie gefordert und Freud ein gutes Stuck voran-
gebracht hatte. Die kritischen Analysen der Zeitschrift zur » Anthropologic des
biirgerlichen Zeitalters« versudien, Geschidite und Psychologie zu verbinden.
Was Horkheimer und seinen Mitarbeitern vorschwebte, war eine »Theorie des
historischen Verlaufs der gegenwartigen Epodie« 79 , die - auf verschiedenen
Gebieten erarbeitet - im Ganzen der Zeitschrift, nicht nur in einzelnen, sie aus-
driicklich thematisierenden Beitragen enthalten sein sollte. Dazu bedurfte es
audi, »sowohl zum Verstandnis der Gegenwart als audi zur Priifung und Aus-
bildung der theoretisdien Hilfsmittek 80 , konkreter Geschichtsstudien, die jedodi
so angelegt sein muftten, dafi sie ein aktuelles, kein bloft archivarisches Inter-
esse befriedigten. Ebenso wichtig waren prognostische Unter suchungen iiber die
Zukunft der bestehenden Gesellsdiaft, und zwar anhand des Studiums »der in
ihr auf planmafiige Regelung der Wirtschaft hintreibenden Tendenzen« 8i .
Am Schlufi seines programmatischen Vorworts kommt Horkheimer nochmals auf
das Verhaltnis der Sozialforschung zur begrirTlich-konstruktiven Arbeit zu spre-
chen. Letztere spielt in ihr eine erhebliche Rolle. Da sie aber »auf die gegenwar-
tige menschliche Wirklichkeit abzielt«, nicht »auf moglichst grofie Allgemeinheit
und iibergreifende Schau« 82 , setzen sich ihre Kategorien unentwegt dem Korrek-
tiv der Empirie aus. Das unterscheidet den Horkheimerschen Ansatz ebenso von
den - irrationalistischen - Metaphysiken der spatbiirgerlichen Zeit wie vom
»weltanschaulichen« Dogmatismus einer sich »marxistisch-leninistisch« nennen-
den Orthodoxie. Deren Hauptmerkmal ist es, dafi sie - gestiitzt vor allem auf
naturphilosophische Fragmente des spaten Engels - die Dialektik zu einem (je
nach den politischen Zeitlauften anders ausfallenden) Katalog allgemeinster
Seins- und damit Denkgesetze versteinern lafk. Ihnen soil zwar jeglicher Wandel
im Universum unterliegen, sie selbst aber bleiben ihm entzogen. Die objektive
Welt wird so zum Inbegriff blofier Anwendungsfalle. Wie der Hegel des ab-
gerundeten Systems betrachten die Sowjetideologen »alles, was uns umgibt,
... als ein Beispiel des Dialektischen« 83 . Sie iibersehen, daft gerade dann, wenn
" Ibid.
78 ibid,
7» Ibid., S. III.
80 Ibid.
8 1 Ibid.
82 Ibid.
83 Hegel, System der Philosophic, I, § 81, Zusatz 1.
22* ALFRED SCHMIDT
Natur nick zum Produkt des Geistes herabgesetzt werden soil, darauf verzichtet
werden mufi, ihrem von menschlicher Praxis isolierten »An-sich« eine dialek-
tische Struktur zuzuschreiben. Die materielle Welt ist, wie schon der junge Marx
wuflte, allemal »die Welt des Menschen* 84 , etwas bereits Angeeignetes. Und in
den Pariser Manuskripten heifit es: »Auch die Natur, abstrakt genommen, fur
sich, in der Trennung vom Menschen fixiert, ist fur den Menschen nichts« 85 . Die
Dialektik gehort der menschlichen Wirklichkeit an, der aufiermensdilichen nur
in dem Mafie, wie sie geschichtlich verandert, »humanisiert« ist.
Indem Horkheimers Konzeption sich amateurhafter Synthesen enthalt, ist sie
denkbar ungeeignet, weltanschaulichen Religionsersatz zu bieten. Wissenschaft-
lichen Kriterien verpflichtet, hat sie »die Selbstandigkeit ihres Erkenntnis-
anspruchs gegeniiber alien weltanschaulichen und politischen Richtungen zu be-
haupten« 86 . Das bedeutet fiir Horkheimer freilich nicht, daft die Gelehrten frei
von gesdiichtlich-gesellschaftlichen Bedingungen ihrer Tatigkeit nachgehen, nodi
dafi Erkenntnis sich in selbstgeniigsamer Kontemplation erschopft. Die histo-
rische Praxis durchdringt sie auf alien ihren Stufen und zeichnet ihr bestimmte
Schritte vor. Dennoch mussen »die Ergebnisse der Forschung . . . theoretischen
Kriterien « geniigen, »wenn sie sich in der Wirklichkeit bewahren sollen« 87 . Wohl
hat Marx den Schein voraussetzungsiosen Denkens aufgelost und gezeigt, dafi
audi die Wissenschaft als Produktivkrafl und Produktionsmittel in den sozialen
Lebensprozefi eingeht. Daraus aber zu folgern, seine Theorie habe etwas mit dem
Pragmatismus gemein, ware verfehlt. Horkheimer hebt, iibrigens in bester Tra-
dition, die Bedeutung der Idee objektiver Wahrheit fiir die materialistische Dia-
lektik hervor: »Soweit die Fruchtbarkeit einer Erkenntnis bei ihrem Wahrheits-
anspruch eine Rolle spielt«, ist darunter »eine der Wissenschaft immanente
Fruchtbarkeit und keine Obereinstimmung mit aufieren Riicksichten zu ver-
stehen. Die Priifung der Wahrheit eines Urteils ist etwas anderes als die Priifung
seiner Lebenswichtigkeit. In keinem Fall haben gesellschaftliche Interessen uber
die Wahrheit zu entscheiden, sondern es gelten Kriterien, die sich . . . mit dem
theoretischen Fortschritt entwickelt haben . . . Wenn audi die Wissenschaft in die
gesdiichtlidie Dynamik einbezogen ist, darf sie darum doch nicht des ihr eigen-
tumlichen Charakters entkleidet und utilitaristisch mifiverstanden werden« 88 . -
84 Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, in: Marx/Engels, Werke, Band 1, Berlin
1957, S. 378.
85 Marx/Engels, Werke, Erganzungsband, Erster Teil, Berlin 1968, S. 587.
86 Zeitschrifi fiir Sozialforschung, Jahrgang I, 1932, Doppelheft 1/2, S. III.
8 7 Ibid.
88 Horkheimer, Bemerkungen uber Wissenschaft und Krise, in: ibid., S. 1. — Horkheimer befindet
sich hier in vollem Einklang mit Marx, einem wahrlich politischen Denker, dem gleichwohl nichts
mehr zuwider war als irgendwelche Versuche, die Erkenntnis einem angestrebten EfFekt unter-
zuordnen. »Einen Menschen«, schreibt er in den Theorien Uber den Mehrwert gegen Malthus,
»dcr die Wissenschaft einem nicht aus ihr selbst (wie irrtumlich sie immer sein mag), sondern von
atifien, ihr fremden, aufierlichen Interessen entlehnten Standpunkt zu akkommodieren sucht,
nenne ich >gemein<«. In Marx/Engels, Werke, Band 26.2, Berlin 1967, S. 112 (Hervorhebungen
von. Marx); cf. audi S. 113.
DIE » ZEITSCHRIFT FUR SOZIALFORSCHUNG« 23*
Auf diese schon in Horkheimers urspriinglicher Konzeption enthaltene entschie-
dene Absage an alle Versuche, die Theorie leichtfertig zu instrumentalisieren,
war hier insofern naher einzugehen, als sich Vertreter des studentischen Aktio-
nismus in jiingster Zeit immer wieder auf seine friihen Arbeiten berufen haben.
Verfolgen wir nun - anhand der spateren programmatischen Aufierungen Hork-
heimers - in groben Ziigen die Geschichte der Zeitschrift. Im Jahre 1932 er-
schien das Doppelheft 1/2 sowie Heft 3 im Leipziger Verlag C. L. Hirschfeld.
1933 konnte aus den bekannten Griinden nur nodi Heft 1 in Deutsdiland er-
sdieinen. Heft 2 wurde in Paris gedruckt von den Presses Universitaires de
France und verlegt von der Librairie Felix Alcan, die auch die sonstigen
Schriften des Instituts iibernahm. Die Redaktion der Zeitschrift befand sich in
dessen Genfer Zweigstelle. Horkheimer war glucklich, dafi die Zeitschrift, ab-
gesehen von wenigen Ausnahmen, deutsch weitergefiihrt werden konnte. Er und
seine Mitarbeiter liefien sich davon leiten, dafi deutsche Sprache und Kultur bei
ihnen besser aufgehoben waren als bei den neuen Machthabern in Deutschland.
Auch nachdem die meisten Beitrage in New York entstanden und das Institut
der Columbia University angegliedert war, blieb die Zeitschrift in Paris. Als der
Krieg 1939 ausbrach, nahm Horkheimer zunachst an, damit sei ihre weitere
Publikation in Frankreich gefahrdet. Er schrieb diesbeziiglich dem Verlag, der
ihm mitteilte, Jean Giraudoux, der Kultusminister, betrachte es als Ehre, dafi die
Zeitschrift weiterhin erscheine. Erst nachdem Hitlers Truppen Paris eingenom-
men hatten, wurden in New York noch vier Nummern in englischer Sprache
veroffentlicht.
In Horkheimers Vorwort vom November 1933 zum ersten in Paris publizierten
Heft heifit es, auch unter den neuen Bedingungen werde das Institut sich bernu-
hen, die »Theorie der Gesamtgesellschaft und ihre Hilfswissenschaften zu for-
dern«, wobei die Theorie, das »begreifende Denken« - hierin lag ein neuer
Akzent -, als »Faktor der Verbesserung der Wirklichkeit« 89 zu gelten habe. -
Ausfuhrlicher aufierte sich der Herausgeber im Februar 1937 in seinem Vorwort
zum sechsten Jahrgang der Zeitschrift fiber die seitherigen Erfahrungen und
kiinftigen Absichten. Horkheimer wies zunachst darauf hin, dafi die Zeitschrift
mittlerweile zu einem der verschwindend wenigen wissenschaftlichen Organe
geworden war, »die im Ausland deutsche geisteswissenschafthche Traditionen in
deutscher Sprache « 90 fortsetzten. Damit hatte sich zwar die Verantwortung des
Unternehmens erhoht, aber der ursprungliche Plan, die Zeitschrift alien wert-
vollen geisteswissenschaftlichen Studien zur Verfugung zu stellen, die anderswo
nicht mehr veroffenthcht werden konnten, mufite infolge Platzmangels auf-
gegeben werden. Daher der Entschlufi des Instituts, »auch insofern eine philoso-
phische Tradition fortzusetzen, als neben der wissenschaftlichen Zulanglichkeit
vor allem Denkart und Richtung des Interesses bei der Auswahl der Aufsatze
1 Zeitschrift fiir Sozialforschung, Jahrgang II, 1933, Heft 2, S. 161.
' Ibid., Jahrgang VI, 1937, Heft 1, S. 1.
24* ALFRED SCHMIDT
entscheiden« 91 sollten. Ihre Aufgabe war es, gegen den wissenschaftlich verbram-
ten »Verzicht auf verniinftige Entscheidung«, gegen die modischen Relativismen
»bestimmte Gedanken durchzuhalten« 92 . Die tragenden Artikel sollten fortan,
bewufiter noch als zuvor, »eine gemeinsame philosophische Ansicht« 93 der Mit-
arbeiter entwickeln, aber wohlgemerkt nicht in abstracto, sondern auf deren je-
weiligen Forschungsgebieten 94 .
Die begriffsfeindliche Sachlichkeit des Positivismus lenkt von der gesamtgesell-
schafllichen Problematik ab und stiftet zugleich »eine Scheinsicherheit, indem sie
die Fachwissenschaft in ihrer gegebenen Gestalt als die einzig berechtigte Er-
kenntnis verklart und Ideen, die dariiber hinausgehen, als sinnlos hinstellt« 95 .
Aus dem seither Diskutierten diirfte erhellen, wie diese iiber die empirisch er-
mittelten Tatbestande »hinausgehenden« Ideen beschaffen sind. Horkheimer
denkt nicht daran, der blanken Negation von Sinn, wie sie dem positivistischen
Verfahren innewohnt, ebenso abstrakt einen wissenschaftlicher Analyse schlecht-
hin entzogenen »Sinn« entgegenzusetzen. Hohere »Werte« und »Seinsregionen«,
gegen den Intellekt gerichtete metaphysische Kategorien wie »Seele«, »Leben«,
»Personlichkeit« und »Freiheit«, welche die raum-zeitlich bedingte Menschen-
und Stoffwelt als ein Minderes hinter sich lassen, werden von Horkheimers
Konzeption nicht weniger verworfen als von der positivistischen Schule, aber -
und darin liegt der entscheidende Unterschied - »nicht unter dem Gesichts-
punkt, ob die Fachwissenschaft gerade Verwendung fur sie hat, sondern im
Zusammenhang einer auf die Praxis bezogenen Geschichtstheorie« 96 . Diese hat in
eingehenden Analysen den historisch notwendigen Verfall aller die sinnliche
Wirklichkeit mystifizierenden Metaphysik und die Aussichtslosigkeit ihrer
Restauration ebenso niichtern auszusprechen, wie es ihre Aufgabe ist, aus den
gegebenen Verhaltnissen die objektiven Bedingungen der Moglichkeit einer
» Ibid.
»2 Ibid.
93 Ibid.
»* Audi dieser wichtige Gedanke Horkheimers, daran sei wenigstens erinnert, steht in der Tra-
dition von Marx und Engels. Deren Deutsche Ideologie iiberfuhrt den spekulariven Idealismus
in eine Wissenschaft, welche »die Darstellung« der neuentdeckten Wirklichkeit des »praktischen
Entwicklungsprozesses der Mensdien* zum Inhalt hat. Mit dieser »DarsteIlung der Wirklichkeit*
verliert »die selbstlndige Philosophic . . . ihr Existenzmedium«. In: Marx/Engels, Werke, Band 3,
Berlin 1962, S. 27. — Engels hat spater die Frage nadi dem Status der Philosophic nodi einmal
aufgeworfen, insbesondere im Hinblick auf ihr Verhaltnis zu den Einzelwissenschaften. Der
»moderne Materialismus*, heifit es in der Schrift Die Entwicklung des Sozialismus von der
Utopie zur Wissenschaft, ist als ^positive Wissenschaft von Natur und Gesdiidite . . . wesentlich
dialektisdi und braudit keine iiber den andern Wissenschaften stehende Philosophic mehr. Sobald
an jede einzelne Wissensohaft die Forderung herantritt, iiber ihre Stellung im Gesamtzusammen-
hang der Dinge und der Kenntnis von den Dingen sich klarzuwerden, ist jede besondre Wissen-
schaft vom Gesaratzusammenhang Uberflussig*. In: Marx/Engels, Attsgewahlte Schriften in zwei
Bdnden, Band II, I. c, S. 119; 120.
»5 Zeitschrift fur Sozialforschung, Jahrgang VI, 1937, Heft 1, S. 1 f.
w Ibid., S. 2.
DIE »ZEITSCHRIFT FUR S0ZIALF0RSCHUNG« 25*
humaneren Gesellschaft abzuleiten, in der die grofie Philosophic von Kant bis
Hegel mit ihrer Idee der Menschheit verwirklicht wird.
Zu den Schwierigkeiten eines angemessenen Verstandnisses der Intentionen
Horkheimers gehort es, die angedeutete doppelte Frontstellung gegen Metaphy-
sik und Positivismus richtig zu erfassen. Von einer - heute zuweilen behaupte-
ten - Wissenschaftsfeindlichkeit des Horkheimerschen Entwurfs kann keine
Rede sein. Die Kritik am Positivismus hat die Frankfurter Sozialforschung nie
daran gehindert, seine »fachlichen Leistungen anzuerkennen und zu fordern« 97 .
Fur wie notwendig Horkheimer audi »angesichts der intellektuellen Ratlosig-
keit« unserer Zeit »die unbeirrte Verfolgung bestimmter Ideen auf den ver-
schiedenen Gebieten der Gesellschaftstheorie« hielt - stets war ihm klar, dafi
»jede Art philosophischen Denkens einer fortwahrenden Beobaditung der ein-
zelwissenschaftlichen Arbeit « 98 bedarf. Deren Tediniken und Ergebnisse sind
jedoch nicht zu verabsolutieren. Sie bilden lediglich die unerlafiliche Basis einer
Theorie, welche in ihrem Anspruch auf Wissenschaftlichkeit die Einzeldisziplinen
nicht etwa unterbietet, sondern ubertrifft. Der dialektische Gedanke enthalt ein
(durch anderweitig aufbereitetes Material) vielfach »vermitteltes Wissen«; denn
er hat »den Weg des Hinausgehens iiber das Sein oder vielmehr des Hinein-
gehens in dasselbe zu machen« 89 . Hegel schon unterscheidet den »Gang der Ent-
stehung der Wissensdiaft« von ihrem »Gang in sich« 100 , und Marx halt ganz in
seinem Sinn »Analyse« und »Darstellung« des Gegenstands der Erkenntnis aus-
einander: »Die Analyse« ist »die notwendige Voraussetzung der genetischen
Darstellung, des Begreifens des wirklichen Gestaltungsprozesses in seinen ver-
schiedenen Phasen« 101 .
Dementsprechend schreibt Horkheimer, dafi die »Erkenntnis der Geschichte«
ohne »analytisdies Wissen« nicht auskommt, dafi jedoch »die Lei stung, bei der es
eine Rolle spielen soil, . . . keineswegs mit ihm zusammen(fallt)« 102 . Das wirkliche
Geschehen, seine Unabgeschlossenheit, die es beherrschenden Tendenzen werden
vom >>Produkt der Analyse«, von den (im Hegelschen Sinn) »abstrakten Be-
griffe(n) und Regeln«, nicht adaquat bestimmt: »Die Einzelwissenschaften Iiefern
nur die Elemente zur theoretischen Konstruktion des geschichtlichen Ablaufs,
und diese bleiben in der Darstellung nicht, was sie in den Einzelwissenschaften
waren, sondern erhalten neue Bedeutungsfunktionen, von welchen vorher noch
keine Rede war« 103 . Die formate ist so in der dialektischen Logik aufgehoben,
»7 Ibid.
98 Ibid.
09 Hegel, Wissenscbaft der Logik, Zweiter Teil, Leipzig 1951, S. 4.
100 Hegel, Vorlesungen iiber die Geschichte der Philosophic, in: Sdmtlidoe Werke, Band 19, S. 284.
101 Marx, Theorien iiber den Mehrwert, in: Marx/Engels, Werke, Band 26.3, Berlin 1968, S. 491.
— Cf. hierzu audi die Marxsche Untersdieidung von »Forschungs-« und »Darstellungsweise« im
Nachwort zur zweiten Auflage von Band I des Kapitals.
102 Horkheimer, Zum Rationalismusstreit in der gegenwdrtigen Philosophic, in: Zeitschrift fiir
Sozialforschung, Jahrgang III, 1934, Heft 1, S. 22 f.
*«* Ibid., S. 22.
26* ALFRED SCHMIDT
die Horkheimer als »InbegrirT aller intellektuellen Mittel« bezeidinet, »um die
vom trennenden Verstand gewonnenen abstrakten Momente fiir das BilH des
lebendigen Gegenstands fruchtbar zu machen« 104 .
Es geniigt freilich nicht, was Horkheimer die gedankliche »Rekonstruktion von
Tendenzen der GesamtgeselischafW 05 nennt, blofi hinsichtlich seines Verhaltnis-
ses zu den Weisen analytischen Wissens zu charakterisieren. Die gesellschaftliche
Realitat geht in die Theorie nicht nur in einzelwissenschaftlich gleichsam filtrier-
ter Form ein. Jene ist ebensosehr ein Ganzes von Einsichten, das »aus einer be-
stimmten Praxis, aus bestimmten Zielsetzungen herruhrt« 106 . Der Materialismus
erstreckt sich auch auf seine eigene Konstruktion. Diese ist ein geschichtlich ent-
sprungenes, vergangliches Produkt, das »Menschen in der Auseinandersetzung
mit ihrer gesellschaft lichen und natiirlichen Umwelt entwerfen« 107 . - Die fort-
wahrende Reflexion auf ihre eigene Bedingtheit gehort zu den Wesensziigen der
Horkheimerschen Theorie. Bei aller objektiven Blickrichtung bekennt sie ein, dafi
sie von leibhaftigen Menschen und deren Verlangen nach einer gliicklicheren
Welt entscheidend mitbestimmt wird. In der Parteilichkeit fiir die objektive
Moglichkeit eines Besseren besteht ihr »aktive(r) Humanismus« 108 . Horkheimer
hat sich des Ausdrucks selten nur bedient. In seinen Essays geht es nicht um ein
iiberzeitlich-affirmatives »Menschenbild«, sondern darum, eine »klare Stellung
zu den geschichtlichen Problemen der Epoche« 109 zu gewinnen. Als »blofies Be-
kenntnis zu sich selbst«, als leeres Sollen kann es keinen wirklichen Humanismus
geben. Gegenwartig besteht er »in der Kritik der Lebensformen . . . und in der
Anstrengung, sie in verminftigem Sinne zu verandern« 110 .
IV
Im abschliefienden Teil sei der mit der Zeitschrift weniger vertraute oder gar
neue Leser auf die fur den heutigen Stand der Diskussion wesentlichsten Pro-
blemkomplexe hingewiesen, die vom Horkheimerschen Kreis im Laufe der Jahre
104 Ibid., S. 20; cf. audi S. 24. — Horkheimer fiihrt hier die Hegel-Rezeption und -Kritik des
reifen Marx weiter, wie sie in der (erkenntnistheoretisch) bedeutenden Einleitung zur Kritik der
politischen Okonomie von 1857/58 vorliegt. Das zentrale Problem dieses Textes ist die Methode
des »Aufsteigens vom Abstrakten zum Konkreten«. Cf. Marx/Engels, Werke, Band 13, Berlin
1964, S. 615 ff.
105 Horkheimer, Zum Rationalismusstreit in der gegenwartigen Philosophic in: ibid., Jahrgang
III, 1934, Heft 1, S. 23.
106 Horkheimer, Materialismus und Moral, in: Zeitschrift fiir Sozialforschung, Jahrgang II,
1933, Heft 2, S. 195.
107 Horkheimer, Zum Rationalismusstreit in der gegenwartigen Philosophic, in: ibid., Jahr-
gang III, 1934, Heft 1, S, 26.
108 Horkheimer, Montaigne und die Funktion der Skepsis, in: ibid., Jahrgang VII, 1938, Dop-
p.elheft 1/2, S. 49.
109 Ibid,
no Ibid.
DIE »ZEITSCHRIFT FUR SOZIALFORSCHUNG« 27*
behandelt wurden. Die Auswahl der Autoren erfolgt dabei unter dem Gesichts-
punkt, den Leser paradigmatisch in das fiir den theoretischen Gehalt der Zeit-
schrift insgesamt Verbindlidie einzufuhren. Der Verfasser kann selbstverstand-
lidi in eine materiale Erorterung der einzelnen Themen nicht wirklich eintreten,
sondern mufi sicli damit begniigen, gewisse Kernpunkte zu bezeidinen.
Dafi die Physiognomie der Zeitschrift von den philosophisch gerichteten Arbeiten
Horkheimers gepragt ist, bedarf nach dem hier Entwickelten keiner weiteren
Frage. Ihre Bedeiitung besteht nicht allein darin, dafi sie den kategorialen Rah-
men des Unternehmens abstecken und dessen theoretisch-praktische Ziele konzi-
pieren. Horkheimer hat vielmehr die Problematik modernen Philosophierens
inhaltlich vorangebracht. Seine eigenen Denkmotive entfalten sich stets am kon-
kreten Material gegnerisdier Positionen. So ergibt sich sein Entwurf einer mate-
rialistischen, sozialpsychologisch angereicherten Theorie des historisch-gesell-
schaftlichen Prozesses nicht zuletzt aus der eingehenden Kritik der geisteswissen-
schaftlichen Methode Diltheys, der Jaspersschen Weltanschauungspsychologie,
der Daseinsanalytik Heideggers und der philosophischen Anthropologic Schelers.
Die wichtigsten Studien hierzu sind: Geschichte und Psychologie (1932), Bemer-
kungen 2ur philosophischen Anthropologic (1935), Egoismus und Freiheits-
hewegung (1936), eine Arbeit iibrigens, die zum Besten zahlt, was Horkheimer
je geschrieben hat, schliefilich The Relation between Psychology and Sociology in
the Work of Wilhelm Dilthey (1939).
Was die Interpretation des (in der fachphilosophischen Literatur zumeist ganz-
lich mifiverstandenen) Materialismus betrifft, so sei an die grundlegenden Texte
Materialismus und Metaphysik und Materialismus und Moral aus dem Jahre
1933 erinnert, in denen Horkheimer dartut, dafi der Marxsche Materialismus
keine definitive, gar positive »Weltanschauung« anstrebt, sondern einen gesell-
schaftlichen Zustand, in dem seine Kategorien ungiiltig werden, weil es den
solidarischen Menschen gelungen ist, ihre Geschichte bewufit zu gestalten und so
die Macht der - bislang undurchschauten - okonomischen Determination ihres
Lebens zu brechen. Der gleichwohl verbleibende (im engeren Sinn) »metaphy-
sische« Materialismus geht fiir Horkheimer, der hierin der Aufklarung und
Schopenhauer 111 folgt, aus der naturhaften Bedurftigkeit und unentrinnbaren
Endlichkeit der menschlichen Gattung hervor. - Ein Tatbestand, der aller Uto-
pie spottet und sich in Horkheimers Denken als Moment von Demut und
Trauer durchhalt.
Ferner seien die fiir die heutige philosophische, zumal erkenntnistheoretische Dis-
111 Horkheimer hat sich hinsichtlich seines — oft ubcrschcnen — Vcrhaltnisses zu Schopenhauer
unlangst folgendermaiien ausgesprochen: »Der metaphysische Pessimismus, implizites Moment
jedes genuinen materialistischen Denkens, war seit je mir vertraut. Meine erste Bekanntschaft mit
Philosophic verdankt sioh dem Werk Schopenhauers; die Beziehung zur Lehre von Hegel und
Marx, der Wille zum Vcrstandnis wie zur Veranderung sozialer Realitat haben, trotz dem
politischen Gegensatz, meine Erfahrung seiner Philosophic nicht ausgeloscht*. In: Kritische
Theorie, herausgegeben von Alfred Schmidt, Band I, Frankfurt am Main 1968, S. XIIL
28* ALFRED SCHMIDT
kussion um Marx und den Marxismus 112 , aber audi fur die methodologischen
Auseinandersetzungen in der deutschen Soziologie wichtigen Texte wenigstens
erwahnt: Wissenschaft und Krise (1932), Zum Rationalismusstreit in der gegen-
wartigen Philosophic (1934), Zum Problem der Wahrheit (1935), die gegen den
logischen Positivismus geriditete Studie Der ] neueste Angriff auf die Metaphysik
(1937) sowie die beriihmt gewordene programmatisdie Arbeit Traditionelle
und kritische Theorie aus dem selben Jahr, in welcher die qualitative Differenz
der Marxsdien Kritik der politischen Dkonomie von der auf Descartes* Dis-
cours de la Methode zuruckgehenden Erkenntnisart eindringlich dargetan
wird.
Hinzuweisen ist schliefilich nodi auf einen hodist aktuellen Aspekt der Hork-
heimerschen Essays (der wegen ihres, traditionell gesprochen, »systematischen«
Ansprudis leicht iibergangen wird). Darauf namlich, daft sie - man denke nur
an die Arbeiten iiber Jaspers' Nietzsche, liber Bergson und Montaigne - nach
Methodik und Darstellungsweise beachtliche Ansatze zu einer marxistischen
Geschichtssdireibung der Philosophic enthalten. Oberaus behutsam bedient sich
Horkheimer des (von ihm und seinen Freunden gewissermafien wiederentdeck-
ten) authentischen Ideologiebegriffs, der in seiner »wissenssoziologischen« Umbil-
dung bei Mannheim und Scheler ebenso entscharft und verwassert wurde wie im
offiziellen kommunistischen Sprachgebrauch, der vor einem Terminus wie
»marxistische Ideologie« nicht zuriickschreckt.
Die philosophischen Beitrage Horkheimers wurden (wie die der anderen Autoren
des Kreises) im Institut vor ihrem Erscheinen ausfuhrlich diskutiert. Einen er-
heblichen Anteil daran hatte Herbert Marcuse, dem die prazise Formulierung
wichtiger Kategorien der kritisdien Gesellsdiaftstheorie zu verdanken ist. Unter
dem EinfluS des Instituts loste sich Marcuse von seinen phanomenologisch-fun-
damentalontologischen Anfangen und wandte sich dem Marxismus zu, den er
zunachst noch hatte mit Heidegger verbinden wollen 113 . Marcuse zahlte schon
friih zu den Mitarbeitern der Zeitschrift. 1934 erschien eine ideologiekritische
Analyse des unter Hitler verkiindeten »heroisch-volkischen Realismus« unter
dem Titel Der Kampf gegen den Liberalismus in der totalitaren Staatsauffas-
sung> 1936 eine Studie Zum Begriff des Wesens, welche diese von den Okonomen
der Zeitschrift (etwa Grossmann) benutzte Kategorie historisch-systematisch er-
ortert, 1937 Vher den affirmativen Charakter der Kultur sowie der (Horkhei-
mers programmatisdie Arbeit erganzende) Aufsatz Philosophic und kritische
112 Cf. zu Horkheimers Beitrag zu einer materialistischen Erkenntnistheorie den Aufsatz des
Verfassers 2ur Idee der kritischen Theorie^ der auch das Verhaltnis von analytischer und dialek-
tischer Vernunft beruhrt. In: Horkheimer, Kritische Theorie, Band II, Frankfurt am Main 1968,
S. 333 ff.
113 Cf. dazu meinen Aufsatz ExistentiaUOntologie und historischer Materialismus bei Herbert
Marcuse, in; Antworten auf Herbert Marcuse, herausgegeben von Jiirgen Habermas, Frankfurt
am Main 1968, S. 17 fF.
DIE »2EITSCHRIFT FUR SOZIALFORSCHUNG« 29*
Theories 1938 Zur Kritik des Hedonismus y ein Aufsatz, worin Marcuse gegen-
iiber den (seit der Antike verbreiteten) Vorstellungen privaten Wohlergehens
und subjektiver Zufriedenheit die Idee der »Objektivitat des Glucks« verficht,
und 1941 Some Social Implications of Modern Technology.
Hier sei lediglich auf den im Anschlufi an Horkheimers Uberlegungen entstan-
denen Essay Philosophic und kritische Theorie kurz eingegangen. Marcuse halt
sich an die vom jungen Marx ausgesprochene These, dafi die Kritik des Bestehen-
den anheben miisse mit dessen fortgeschrittenster Gestalt. Diese aber bestand
im Deutschland der vierziger Jahre des vorigen Jahrhunderts in der spekulativen
Philosophic Dafi sich Marx und Engels intensiv mit ihr abgaben, bedeutet daher
fur Marcuse nicht, dafi sie sich selbst als Philosophen verstanden und ihren
neuen, »gegenstandliche Tatigkeit« pointierenden Materialismus »als ein philo-
sophisches System gegen andere philosophische Systeme« li4 stellen wollten. An
Hegels Dialektik ankniipfend, vermieden sie es, unter dem anderswo langst
erreichten »Niveau der Geschichte« 115 zu bleiben. Nachdem einmal, schreibt Mar-
cuse, die »6konomischen Verhaltnisse als fiir das Ganze der bestehenden Welt
verantwortlich« erkannt und als gesellschaftlicher »Gesamtzusammenhang der
Wirklichkeit« 116 erfafit waren, bedurfte es der Philosophic als einer von den Rea-
lien der Geschichte abgelosten Wissenschaft dieses »Gesamtzusammenhangs<c nicht
mehr, den sie unterm Titel eines »eigentlichen Seins« erforscht hatte, dessen
»letzte und allgemeinste Griinde« 117 sie aufzudecken beabsichtigte. Im deutschen
Idealismus nun - und das ist der fiir Marcuse entscheidende Aspekt der »Auf-
hebung« des Hegelschen Systems in der kritisch-revolutionaren Theorie - wird
jenes »eigentliche Sein«, die »Substanz« der Wirklichkeit, auf den Begriff der -
mit Freiheit und Subjektivitat identischen - Vernunft gebracht. Vernunft war
die einzige Kategorie philosophischen Denkens, die wahrend der Jahrhunderte
auf das empirische »Schicksal der Menschheit« bezogen blieb. Die durch Marx
und Engels bewirkte Revolution in der Philosophic besteht Marcuse zufolge
wesentlich darin, dafi sie die Probleme der Vernunft, welche seither zugleich die
der condition humaine und ihrer welthistorisch nodi unverwirklichten Moglich-
keiten gewesen waren, auf einen materiellen Boden stellten, Sie zeigten, daft die
Philosophic Fragen aufwirft, denen mit ihren eigenen, rein begrifTlichen Mitteln
nicht beizukommen ist: es bedarf »umwalzender Praxis «, die sich an einer quali-
tativ neuen Art theoretischer Besinnung orientiert.
Das ehedem philosophische Interesse, sich die konkrete Totalitat der Welt an-
zueignen, erscheint in veranderter Gestalt in den okonomischen Kategorien der
Marxschen Theorie. Diese beansprucht, die gesamte Menschen- und Giiterwelt
114 Marcuse, Philosophic und kritische Theorie, in: Zeitschrift fiir Sozialforscbung, Jahrgang VI,
1937, Heft 3, S. 632.
115 Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung, in: Marx/Engels, Werke,
Band 1, Berlin 1957, S. 380; cf. audi S. 379.
116 Marcuse, Philosophic und kritische Theorie, in: ibid., S. 631.
i" Ibid., S. 632.
30* ALFRED SCHMIDT
aus dem gesellschaftlichen Sein der Epoche abzuleiten. Damit wird jedodi,
worauf Marcuse nachdriicklich verweist, die eigentiimliche Gebrochenheit des
marxistischen Verhaltnisses zur Philosophie keineswegs beseitigt. Der dialek-
tische Materialismus leistet mehr als die nationalokonomische oder soziologische
Fachwissenschaft; er kritisiert »das Ganze des gesellschaftlichen Seins« unter dem
Aspekt der Notwendigkeit, reale Humanitat herzustellen. Diese geht hinaus
iiber eine lediglidi »neu geregelte Wirtschaftsform« 118 , iiber alle blofi sozialtech-
nischen Mafinahmen. Humanitat meint »das Entscheidende, wodurch die Gesell-
schaft erst verniinftig wird: die Unterordnung der Wirtsdiaft unter die Bediirf-
nisse der Individuen ... In der verniinftigen Wirklichkeit soil . . . nidit mehr der
Arbeitsprozefi schon iiber das allgemeine Dasein der Mensdien entscheiden, son-
dern die allgemeinen Bediirfnisse iiber den Arbeitsprozefi« 119 . Der Materialismus,
soweit er okonomischer Determinismus ist, zielt, mit anderen Worten, auf einen
Zustand ab, in dem er aufhort, den mensdilichen Lebensprozefi richtig zu erkla-
ren. Soweit er, als »metaphysischer« Materialismus, unaufhebbar ist, griindet er
im appetitus naturalis, dem unausrottbaren Gliicksverlangen aller Kreatur.
Horkheimer gegeniiber (der sich freilich nie zum Sprecher asketisdier Ideale
gemacht hat) betont Marcuse starker die positive, »hedonistische« Seite der sinn-
lich-leiblichen Existenz des Mensdien. Von ihr aus beurteilt Marcuse Mafinah-
men, die vorgeben, den Sozialismus zu verwirklichen. So hebt er, anspielend
wohl auf das sowjetrussische Experiment der zwanziger und dreifiiger Jahre,
nachdriicklich hervor, wie wichtig es ist, Mittel und Zwecke nicht zu verwechseln:
»Nicht dafi der ArbeitsprozejS planvoll geregelt ist, sondern welches Interesse die
Regelung bestimmt, ob in diesem Interesse die Freiheit und das Gliick der Massen
aufbewahrt sind, wird wichtig. Die Vernachlassigung dieses Elements nimmt der
Theorie etwas Wesentliches: sie eliminiert aus dem Bilde der befreiten Mensch-
heit die Idee des Gliicks, durch das sie sich von aller bisherigen Menschheit unter-
scheiden soil. Ohne die Freiheit und das Gliick in den gesellschaftlichen Bezie-
hungen der Mensdien bleibt audi die grofite Steigerung der Produktion und die
AbsdiafTung des individuellen Eigentums an den Produktionsmitteln noch der
alten Ungerechtigkeit verhaftet« i20 .
Dieses emphatische Interesse an einem menschenwurdigeren Zustand verbindet
die sozialistische Theorie mit dem philosophischen Erbe. Deshalb rechtfertigt
Marcuse die haufige Diskussion philosophischer GrundbegrifTe in der Zeitschrifl
fiir Sozialforschung, indem er den burgerlichen Vorwurf entkraftet, es werde in
jenen Aufsatzen »wissenssoziologisch« oder »soziologistisch« mit der Philosophie
umgesprungen : »Niemals handelte es sich . . . nur urn eine soziologische Analyse,
um die Zuordnung philosophischer Lehrmeinungen zu gesellschaftlichen Stand-
orten. Niemals wurde audi versucht, bestimmte philosophisdie Inhalte in gesell-
sdiaftliche Sachverhalte aufzulosen. Sofern die Philosophie mehr als Ideologic
"s Ibid., S. 638.
"» Ibid.
120 Ibid.
DIE »ZEITSCHRIFT FUR SOZIALFORSCHUNG« 31*
ist, mufl jeder derartige Versuch scheitern. Die Auseinandersetzung der kritischen
Theorie mit der Philosophic ist an dem Wahrheitsgehalt der philosophischen
Probleme und Begriffe interessiert : sie setzt voraus, dafl Wahrheit wirklich in
ihnen enthalten ist. Das Geschaft der Wissenssoziologie dagegen betrifft immer
nur die Unwahrheiten, nicht die Wahrheiten der bisherigen Philosophie« 121 .
Freilich ist Marcuse sich daniber im klaren, da£ die Philosophic in ihrer vor-
liegenden Form nicht in die Theorie der Gesellschaft eingegangen ist (oder kiinf-
tig eingehen kann); denn was in ihr »an Wahrheit steckt, war unter Abstraktion
von dem konkreten Status des Menschen gewonnen und ist nur in soldier Ab-
straktheit wahr« 122 . Das Philosophische wirkt nur vermittels seiner bestimmten
Negation in der Marxschen Theorie fort; es ist aufbewahrt im kritischen Impuls
ihrer okonomischen und politischen Begriffe. Dafi die Theorie den gesellschaft-
lichen Prozeft als konkrete Totalitat zu begreifen sucht, bedeutet nicht, dafi es
angeht, » unter Berufung hierauf die okonomischen Begriffe wieder in philoso-
phische aufzulosen« 123 . Das namlich hiefie vergessen, dafl der Marxismus ein oko-
nomisches, kein philosophisches System ist: das der gegebenen Produktions-
verhaltnisse 124 . Alle fur die theoretische Konstruktion bedeutsamen philosophi-
schen Sachverhalte, darauf lauft Marcuses Marx-Interpretation hinaus, sind
streng aus dem okonomischen Kontext zu entwickeln.
Wenden wir uns jetzt den - im engeren Sinn - psychologischen Beitragen der
Zeitschrift zu. Die meisten stammen von Fromm, der sich eingehend mit der sei-
nerzeit vielerorterten, noch heute nicht befriedigend gelosten Frage beschaftigte,
ob und gegebenenfalls wie historischer Materialismus und Psychoanalyse mit-
einander vereinbar seien. Die damalige Leistung Fromms ist um so hoher zu
veranschlagen, als die parteikommunistischen Diskussionen der Freudschen Lehre
(wie ubrigens noch heute) ein sehr mafiiges, oft primitiv-polemisches Niveau auf-
wiesen. Pawlows Reflexologie, die russische Version des Behaviorismus, war
schon um 1930 so gut wie sakrosankt 125 . Sie wurde auSerlich mit dem obendrein
121 Ibid., S. 640.
122 ibid.
123 Ibid., S. 631.
124 Ein Gedanke, der besonders von Adorno aufgenommen und fortgebildet wurde.
125 Heftig umstritten war in der sowjetischen Literatur Wilhelm Reich, insbesondere sein Auf-
satz Dialektiscber Materialismus und Psychoanalyse, der in der Zeitschrift Unter dem Banner
des Marxismus, III, 1929, erschienen war. Die Polemik gegen Reich charakterisierte die ganze
Art der offiziellen Beschaftigung mit Freud und seinen linken Schiilern. Ihnen wurden biirger-
Hcher Individualismus, mangelnde Dialektik, Biologismus und ahnliche, politisch ausgemiinzte
Sunden vorgeworfen. Letztlich glaubte man - und hierin Hegt eine wichtige theoretische DifTe-
renz zwischen der Frankfurter Schule und dem Sowjetmarxismus — , Gescfaichtsforschung ohne
Psychologie treiben zu konnen. Cf. hierzu vor allem die beiden (gegen Reich gerichteten) Auf-
satze von Sapir, Freudismus, Soziologie, Psychologie, in: Unter dem Banner des Marxismtts, III,
1929, und IV, 1930. Neu abgedruckt im Sammelband Antiautoritare Erziehung, IV, Berlin o. J.,
S. 53 ff. — Cf. zum Gesamtkomplex ferner die instruktive Arbeit von Siegfried Bernfeld, Die
kommunistische Diskussion um die Psychoanalyse und Reich s AViderlegung der Todestrieb-
32* ALFRED SCHMIDT
groben Basis-Oberbau-Schema verbunden, wie es Plechanow in seinem fur die
Entwicklung der russischen Sozialdemokratie einfluflreichen Buch Grund-
probleme des Marxismus (1908) aufgestellt hatte. Plechanow sudite die zwischen
dem (selbst durch Bewufitsein vermittelten) gesellschaftlichen Sein und den For-
men des gesellschaftlichen BewuStseins vermittelnden Instanzen aufzuspiiren und
gelangte dabei zu der These, dafi »alle Ideologien in der Psychologie der betref-
fenden Epoche ihre gemeinsame Wurzel haben« 126 . Die gesellschaftliche Psycholo-
gie wiederum - Plechanow versteht sie rationalistisch - ist »teils unmittelbar
durch die Okonomie, teils durch die ganze darauf sich erhebende sozialpolitische
Ordnung« 127 determiniert; ihre Eigenschaften spiegeln sich in den Ideologien
wider. Bei Plechanow, so viel diirfte hieraus hervorgehen, wird das anstehende
Problem kaum bezeichnet, geschweige denn gelost.
Fromms Arbeiten in der Zeitschrift gehen entschieden weiter. Zu nennen sind
die uberaus lesenswerten (manche Motive des spateren Marcuse vorwegnehmen-
den) Arbeiten: Vber Methode und Aufgabe einer analytischen Sozialpsycbologie
(1932), Die psychoanalytische Cbarakterologie und ihre Bedeutung fiir die
Sozialpsycbologie (1932), Die gesellschaftliche Bedingtheit der psychoanalyti-
schen Therapie (1935) und Zum Gefiihl der Obnmacht (1937). - Hier sei knapp
auf den zuerst genannten Aufsatz eingegangen, der die wesentlichen Uberlegun-
gen Fromms zur Freudschen Theorie programmatisch vorfuhrt. Deren ursprung-
liches Konzept bleibt fiir Fromm verbindlich; er lafit die »metapsychologischen«
Spekulationen des spaten Freud, insbesondere dessen Annahme eines Todestrie-
bes, auf sich beruhen und geht davon aus, dafi die »menschliche Seelentatigkeit
sich in Anpassung an Lebensvorgange und Lebensnotwendigkeiten entwickelt und
dafi die Triebe als solche gerade dem biologischen Todestrieb entgegengesetzt
sind« 128 .
Fromm bezeichnet die Psychoanalyse als eine »naturwissenschaftliche, materia-
listische Psychologie «, weil sie nachgewiesen hat, da£ das menschliche Verhalten
Regungen und Bediirfnissen gehorcht, »die von den physiologisch verankerten,
selbst nicht unmittelbar beobachtbaren >Trieben< gespeist werden« 12fl . Materia-
listisch an der Freudschen Lehre ist fiir Fromm ferner, dafi sie gezeigt hat, einen
wie schmalen Sektor des Psychischen das bewufite Seelenleben bildet, das -
modern gesprochen - eine zerbrechliche Oberflachenstruktur ist, getragen von
der Tiefenstruktur des Unbewufiten, das sich in privaten und kollektiven Ideolo-
gien (»Rationalisierungen«) verkleidet, die »Ausdruck bestimmter, trieblich ver-
ankerter Wiinsche und Bediirfnisse« 130 sind. Dariiber hinaus ist die Psychoanalyse
hypothese<, in: Internationale Zeitschrift fiir Psychoanalyse, XVIII. Band, Heft 1, 1932. Neu
abgedruckt im Sammelband Antiautorit'dre Erziehung, III, Berlin 1968, S. 126 ff.
126 plechanow, Grundprobleme des Marxismus, Berlin 1958, S. 85.
127 Ibid., S. 84.
128 Fromm, Vber Methode und Aufgabe einer analytischen Sozialpsychologie, in: Zeitschrift fiir
Sozialforschung, Jahrgang I, 1932, Doppelheft l/2, S. 28, Fufinote 2.
129 Ibid., S. 28.
130 Ibid. - Freilich ist die Bezeichnung der Psychoanalyse als »materialistisch« mit grofieren
DIE »ZEITSCHRIFT FUR SOZlALFORSCHUNG« 33*
fiir Fromm insofern eine primar historische Methode, als sie die Triebstruktur
eines Menschen primar aus seinem Lebensschicksal abzuleiten lehrt, genauer aus
dem Einfluft, den dieses auf die »mitgebrachte Konstitution« m ausiibt. Gegen-
iiber den Selbsterhaltungstrieben haben die Sexualtriebe »infolge ihrer Auf-
schiebbarkeit, Verdrangbarkeit, Sublimierbarkeit und Verwandelbarkeit einen
viel elastischeren und geschmeidigeren Charakter« 132 , das heifit, sie konnen sich
den wechselnden Anforderungen der gesellschaftlichen Realitat weitgehend an-
passen. Die »aktive und passive Anpassung biologischer Tatbestande, der Triebe,
an soziale« berechtigt, wie Fromm ausfiihrt, dazu, »vom Problem des Indivi-
duums zu dem der Gesellschaft, von der Personalpsychologie zur Sozialpsycho-
logie vorzustofien« 133 .
Dafi dabei Schwierigkeiten auftauchen, die vermieden werden, wenn sich die
Analyse auf den individuellen Bereidi beschrankt, besagt nichts gegen die Rich-
tigkeit dieses aus der »Ausgangsposition« 134 Freuds selbst sich ergebenden Schrit-
tes; denn die Gesellschaft ist, wie die kollektiven Gebilde iiberhaupt, keine iiber-
individuelle Entitat. Bei aller Eigendynamik des Sozialen gehen dessen Struktu-
ren, wie entfremdet sie auch den Individuen entgegentreten mogen, allemal aus
dem Wechselspiel individueller Akte hervor. Wie Individuum und Gesellschaft
sich ineinander spiegeln, so auch Psychologie und Soziologie. Diejenige Soziolo-
gie nun, welche durch psychoanalytische Methoden am wirksamsten bereichert
werden kann, ist fiir Fromm der historische Materialismus. Freud hat, entgegen
den Behauptungen mancher Kritiker, das Individuum stets in seiner sozialen
Bedingtheit und Verflochtenheit gesehen. Die einer Menschen gruppe gemein-
samen »Lebensschicksale« liegen keineswegs »im Bereich des Zufalligen und Per-
sonlichen, sondern . . . sind identisch mit der sozialokonomischen Situation dieser
Gruppe« 135 . Analytische Sozialpsychologie trelben heiEt daher fiir Fromm, »die
Triebstruktur, die libidinose, zum grofien Teil unbewufite Haltung einer Gruppe
aus ihrer sozialokonomischen Struktur heraus zu verstehen« 136 , die freilich vom
heranwachsenden Kind nie unmittelbar als solche, sondern im Medium der Fa-
milie und ihrer Konflikte erlebt wird. Hieraus ergibt sich fiir Fromm f olgendes
methodologische Programm : »Die sozialpsychologischen Erscheinungen sind auf-
Sdiwierigkeiten belastet, als es hier den Anschein hat. Wenn Materialismus bedeutet, dafi Gei-
stiges (oder Psychisches) aus einem ihm Transzendenten, »Materiellen«, erklart wird, dann ist
Freud kein Materialist; denn seine Lehre vom Unbewufiten liefert eine »innerpsydiisdie« Erkla-
rung psyciiistiier Phanomene; sie sdireibt dem Unbewufiten eine Eigengesetzlichkeit (der Inter-
pretation unterliegende Symbolsprache) zu. Demgegeniiber bleibt es blofle Versicherung, wenn
Freud (worauf Fromm hier anspielt) die Triebe zugleich als etwas somatisch Gebundenes defi-
niert. Das Verhaltnis beider Aspekte des Unbewufiten : Eigengesetzlichkeit und physiologisdie
Funktionalitat, bleibt erkenntniskritisch ungeklart.
131 Ibid., S. 29; cf. audi S. 31.
132 Ibid., S. 30.
« s Ibid., S. 31.
134 Ibid.
»* Ibid., S. 34.
»M Ibid.
34* ALFRED SCHMIDT
zufassen als Prozesse der aktiven und passiven Anpassung des Triebapparates an
die sozialokonomische Situation. Der Triebapparat selbst 1st ... biologisch
gegeben, aber weitgehend modifizierbar; den okonomischen Bedingungen
kommt die Rolle als primar formenden Faktoren zu. Die Familie ist das wesent-
lichste Medium, durch das die okonomische Situation ihren formenden Einflufi
auf die Psyche des einzelnen ausubt. Die Sozialpsychologie hat die gemein-
samen - sozial relevanten - seelischen Haltungen und Ideologien - und ins-
besondere deren unbewuike Wurzeln - aus der Einwirkung der okonomisdien
Bedingungen auf die libidinosen Strebungen zu erklaren« 137 .
Man sieht: Fromm geht die von alteren Marxisten wie Plechanow aufgewor-
fene Frage nach den psychischen, zwischen Sein und Bewufksein vermittelnden
GHedern in weit konkreterer Weise an. Wichtig ist fur ihn, dafi die Vereinbarkeit
von Freud und Marx in eben dem Ma£e zunimmt, wie einerseits klar bleibt,
daft der historische Materialismus von Hause aus keine psychologische Theorie
und schon gar keine »6konomistische Psychologies* 138 ist; und andererseits die
Psychoanalyse nicht rein biologisch verstanden wird, sondern als Studium der
»Anpassung biologischer Faktoren ... an soziale« 13e . Dabei ist das psycholo-
gistische Mifiverstandnis Marxens womoglich noch verbreiteter und folgen-
reicher als das biologistische Freuds. Interpreten wie Russell oder Scheler erblik-
ken im marxistischen Materialismus eine primitive Lehre vom Kampf um Fut-
terplatze, welche den - isolierten - Trieb der Selbsterhaltung an die erste
Stelle riiclst, de Man deutet ihn als »Bestimmung des gesellschaftlichen Verhal-
tens durch den Erwerbstrieb« 140 . Dieser aber gehort zu offenkundig dem libe-
ralistischen und - in seiner brutal-kriegerischen Form - imperialistischen Zeit-
alter an, als dafi er von Marx und Engels unbesehen als allgemein-menschlicher
Zug hatte angenommen werden konnen. Fromm zeigt, dafi der historische
Materialismus nur in dem ganz abstrakten Sinn psychologische Voraussetzun-
gen hat, daE er von Menschen und den sie motivierenden Bediirfnissen ausgeht,
die sich im Verlauf der Geschichte vermannigfachen und so die materielle Pro-
duktion anspornen. Nur insofern beeinfluftt Dkonomisches das psychologische
Moment im historlschen Materialismus. Wenn dieser die Geschichte aus okono-
mischen Ursachen zu erklaren sucht, so ist damit - was Fromm unterstreicht -
»nicht Okonomie als subjektives psychologisches Motiv, sondern als objektive
Bedingung der menschlichen Lebenstatigkek gemeint« 141 .
Ausgehend von dem gegen Feuerbach gerichteten Abschnitt der Deutschen Ideo-
logic sowie dem im ersten Band des Kapitals entwickelten Arbeitsbegriff, zeigt
Fromm, daf$ durch diesen objektiven Charakter des historischen Materialismus
die Tatsache der mensdihchen Aktivitat nicht sowohl ignoriert als vielmehr
"7 ibid., S. 39 f.
13 » Ibid., S. 40.
139 Ibid., S. 41.
140 Zitiert von Fromm, ibid., S. 41.
141 Ibid., S. 44,
DIE »ZEITSCHRIFT FUR SOZIALFORSCHUNG« 35*
bestatigt wird. Die von den Menschen jeweils vorgefundenen - natiirlichen und
historisch veranderten - Umstande schreiben ihnen eine bestimmte Lebens- und
damit Denkweise vor, und der geschichtliche Prozefi insgesamt scellt sich dar als
» Prozefi der aktiven und passiven Anpassung des Menschen « 142 an objektive
Gegebenheiten. Zu ihnen zahlt audi der Mensdi als tatiges Subjekt, auch er »ist
ein Naturgegenstand, ein Ding, wenn auch lebendiges, selbstbewufites Ding« 143 .
Fromm erinnert hier an die beriihmte Stelle im Kapital, wo Marx zweckmafiige
Arbeit als einen Prozefi kennzeichnet, »worin der Mensdi seinen StofTwechsel
mit der Natur durdi seine eigne Tat vermittelt, regelt und kontrolliert« und
dabei »dem NaturstofT selbst als eine Naturmadit« 144 gegeniibertritt. Wichtig
hieran ist fiir Fromm dieses nach der subjektiven wie objektiven Seite unausrott-
bare Naturmoment, an das alle Geschichte gebunden bleibt. Objektiv liefert die
Natur das Material, an dem allein mensdiliche Arbeit sich vergegenstandlichen
kann, subjektiv liefert sie die anatomisdi-physiologische und psychisdie Be-
schaffenheit des Menschen, die (im weitesten Sinn) zu seiner »Leiblidikeit« 145
gehorenden Krafte. Wohl hat Marx mit grofitem Nachdruck darauf bestanden,
daft der Mensdi seine eigene wie die aufiere Natur im historisch-gesellsdiaft-
lidien Prozefi betrachtlich umgestaltet; dafi es falsch ware, namentlich der
menschlichen Natur dogmatisch irgendwelche konstanten Qualitaten zu-
zuspredien. Aber er hutet sich zugleidi, die Naturbasis in reine Prozessualitat
aufzulosen, das Vermittelte in die gesdiichtlidi wandelbaren Bedingungen seiner
Vermittlung. Nur so ist zu verstehen, dafi die Kritik der politischen Dkonomie
»die mensdiliche Natur im allgemeinen« und die »in jeder Epodie historisch
modifizierte Menschennatur« 146 auseinanderhalt. Zwar ist dieser Unterschied ein
dialektisdi-relativer, aber er bleibt wahrend des gesamten Geschichtsverlaufs
vorhanden; die historische Dialektik setzt, anders gesagt, die matenalistische
Erkenntnistheorie nicht aufier Kraft.
Hiervon geht Fromms Versuch aus, die Marxsdie Lehre urn Freudsche Einsich-
ten zu bereichern. Die Psychoanalyse kann, wie er naher ausfiihrt, »der umfas-
senderen Erkenntnis eines der im gesellschaftlidien Prozefi wirksamen Faktoren,
der BescharTenheit des Menschen selbst, seiner >Natur<« H7 , dienen. »Sie reiht den
Triebapparat des Menschen in die . . . natiirlidien Bedingungen ein, die selber
modifizieren, aber in deren Natur auch die Grenzen der Modifizierbarkeit lie-
gen « 148 . Der mensdiliche Triebapparat bildet eine der unabdingbaren Voraus-
setzungen des gesellschaftlichen Unterbaus. Freilich nicht in seiner »biologisdien
*« Ibid.
143 Marx, Das Kapital, Band I, 1. c, S. 211.
144 Ibid., S. 185.
*« Ibid.
148 Ibid., S. 640, Fufinote 63.
147 Fromm, Vber Mctbode und Aufgabe einer analytischen Sozialpsychologie, I. c, S. 45.
148 Ibid. — Fromm denkt hier wtederum ans Kapital, wo Marx haufig darauf zu spredien
kommt, dafi die korperliche Organisation der Individuen und das durch sie vermittelte Ver-
haltnis zur aufiermenschlichen Natur sowie deren BescharTenheit selbst dem menschlichen Willen
36* ALFRED SCHMIDT
>Urform< « 149 ,, sondern in stets sdion historisch vermittelter Gestalt: »Die
menschlidie Psyche bzw. deren Wurzeln, die libidinosen Krafte, gehoren mit
zum Unterbau, sie sind aber nicht . . . >der Unterbau<, wie eine psychologistische
Interpretation meint, und >die< menschlidie Psyche ist . . . immer nur die durch
den gesellschaftlichen Prozefi modifizierte Psyche« 150 . Erst Freud hat nach Fromm
eine »Wissenschaft von den seelischen Eigenschaften des Menschen« entwicltelt,
»die fiir den historischen Materialismus brauchbar ist« 151 .
Fromm denkt hier an die Problematik der bekannten Marxschen These, dafi
»das Ideelle nichts andres als das im Menschenkopf umgesetzte Materielle« 152 sei.
Ohne psychologische Finessen kamen die Marxisten bei der Diskussion der Frage
nach dem Wie dieser »Umsetzung« und »Obersetzung« nur in den Fallen aus,
wo es sich um Ideologien handelte, die eindeutig zweckrational Klassenposi-
tionen abstiitzten, oder wo es darum ging, in einem ersten Schritt »richtige
Zuordnungen zwischen okonomischem Unterbau und ideologischem Uberbau
vorzunehmen« 153 . Dafi es damit sein Bewenden nicht haben kann, wurde immer
wieder ausgesprochen. So in den Engelsschen Altersbriefen, die konzedieren, wie
sehr es zunachst darauf ankam, das neue Erklarungsprinzip der Geschichte
gegen den Idealismus durchzusetzen, wobei freilich nicht selten die formelle
gegeniiber der inhaltlichen Seite vernachlassigt wurde.
Hier nun liegt fiir Fromm die Aufgabe einer marxistischen, politisch wirksamen
Sozialpsychologie. Sie hat nachzuweisen, dafi »die Produkte von bestimmten
Wiinschen, Triebregungen, Interessen, Bediirfnissen . . . , selber zum grofien Teil
nicht bewufit, als >Rationalisierung< in Form der Ideologic auftreten« 154 . Jene
seelischen Tatbestande griinden zwar im Biologischen, aber sie sind, wie Fromm
betont, nach Umfang und Inhalt okonomisch-gesellschaftlich bedingt. Eine ana-
lytische Sozialpsychologie hat die Menschen als Produzenten ihrer ideologischen
Formen zu untersuchen und dabei »die Eigenart« des »Produktionsprozesses der
Ideologien, die Art des Zusammenwirkens >natiirlicher< und gesellschaftlicher
Faktoren in ihm« 155 , darzustellen und zu erklaren.
Es ist interessant zu verfolgen, wie Fromm versucht, die Marxsche Analyse des
Arbeitsprozesses (wenn audi nicht in seiner spezifisch kapitalistischen Gestalt) fiir
sein Programm nutzbar zu machen: »Die Psychoanalyse kann . . . zeigen, wie
Schranken auferlegen, wie audi die wirtschaftliche Ausbeutbarkeit des menschlichen Organismus
trotz dessen Elastizitat physisch begrenzt ist.
149 Ibid. - Von einer solchen Urform ist audi bei Marx hinsiditlidi der inensdilidien Arbeit
keine Rede. Das Kapital geht aus von der - ideell vorweggenommenen — »Formveranderung des
Natiirlichen« (einsdiliefilidi des Menschen), nicht von »ersten tierartig instinktmafiigen Formen
der Arbeit« (I.e., S. 186; 185).
150 Fromm, Vber Methode und Aufgabe einer analytiscben Sozialpsychologie, 1. c, S. 45 f.
w Ibid., S. 46.
152 Marx, Das Kapital, Band I, 1. c, S. 18.
153 Fromm, Vber Methode und Aufgabe einer analytischen Sozialpsychologie , 1. c, S. 46.
154 Ibid.
155 Ibid.
DIE »ZEITSCHRIFT FUR S02IALF0RSCHUNG« 37*
sich . . . iiber das Triebleben die okonomische Situation in Ideologic umsetzt.
Dabei ist ganz besonders zu betonen, dafi dieser >StofFwechsel< zwischen Trieb-
welt und Umwelt dazu fuhrt, dafi sich der Mensdi . . . verandert, genau so wie
die >Arbeit< die aufiermenschliche Natur verandert. Die Richtung dieser Ver-
anderung . . . liegt vor allem in dem . . . Wadistum der Idi-Organisation und
dem . . . der Sublimierungsfahigkeit« 15e . Fromm betrachtet das Entstehen von
Ideologien als eine der Ebenen und »Situationen des Stoffwechsels zwischen
Mensdi und Natur « 157 , wie Marx ihn im Kapital geschildert hat. Freilich fiigt
Fromm dem hinzu, wie sehr das Spezifische dieser Auseinandersetzung, dieses
Arbeitsprozesses, darin besteht, daft es der Mensch mit seiner eigenen, nicht mit
der aufieren »Natur« zu tun hat.
Die Rolle der menschlichen Triebsphare im gesdiichtlichen Prozefi, darauf sei
abschliefiend noch hingewiesen, ist gerade dann nicht zu unterschatzen, wenn es
darum geht, theoretisch vor den versteinerten Verhaltnissen nicht zu kapitulie-
ren. Da weder »die Geschichte« handelt noch ihre »objektiven Gesetze«, sondern
stets nur leibhaftige Individuen, und zwar keineswegs (wie bereits Hegel
wuike) unmittelbar rational, ist es erforderlich, die Wirkungsweise des » mensch-
lichen Triebapparats, seiner libidinosen Krafte« 158 zu studieren; denn in ihrem
Medium setzen sich die weltgeschichtlichen, okonomisch-sozialen Notwendigkei-
ten durch. - Fromms Uberlegungen sind (wie die des friihen Reich) geeignet,
einer angemesseneren Theorie der Gesellschaft und ihrer Geschichte den Weg zu
bahnen.
Einen relativ breiten Raum nehmen in der Zeitschrift kunstsoziologische und
asthetische Reflexionen ein. Hervorzuheben sind die noch immer wichtigen
Arbeiten Leo Lowenthals zu einer ideologiekritischen Literaturgeschichte sowie
zu einzelnen Dichtern: Zur gesellschafllichen Lage der Literatur (1932); Conrad
Ferdinand Meyers beroische Geschichtsauffassung (1933); die fiir das Verstand-
nis des imperialistischen Zeitalters wichtige Studie Die Auffassung Dostojewskis
im Vorkriegsdeutschland (1934); Das Individuum in der individualistischen
Gesellschaft; Bemerkungen Uber Ibsen (1936); schliefilich Knut Hamsun: Zur
Vorgeschicbte der autoritaren Ideologic (1937), einer der scharfsinnigsten Texte
der Zeitschrift, auf den wegen seiner prinzipiellen theoretischen Bedeutung kurz
einzugehen ist. - Lowenthal diskutiert anhand von Hamsuns Romanen die
Rolle der Natur in der nachliberalistischen, den Faschismus vorbereitenden
Ideologic Erschien Natur wahrend der Ara des Kapitalismus freier Konkur-
renz den Menschen primar als anzueignendes Material, als Mittel, Gliick und
Wohlergehen zu steigern, so wird sie jetzt zum Refugium vor den komplizier-
ten Apparaturen, welche das Leben der Menschen bedrohen. Mit dem schwin-
denden Vertrauen in die Macht individueller Venxunft geht ein Irrationalismus
"• Ibid., S. 46 f.
157 Ibid., S. 47; cf. audi S. 54.
158 Ibid., S. 49.
38* ALFRED SCHMIDT
einher, der den einzelnen in die umfassende, bergende Totalitat naturhaft-
ungebrochenen »Lebens« einbezieht. Lowenthals Artikel weist nach, dafi Ham-
suns Natur-Metaphysik die ungestillten Sehnsiichte der an die durchschnittliche
klein- und mittelbiirgerliche Existenz gefesselten Massen reflektiert, wobei sich
der reaktionare Charakter seines eskapistlsdien Ideals darin offenbart, dafi es
den herrsdienden Zustand oberflachlich bekampft, in Wahrheit jedodi billigt und
feiert. Hinter Hamsuns Traum von einem unmittelbaren Zugang zur Natur
steht einmal der Wunsch nach einem umhegten Bezirk stillen Gliicks, den Har-
ten gesellschaftlicher Realitat entzogen, zum anderen der Kultus des Uber-
machtigen, Gewaltsamen und Heroischen, in dem sich die real von den Menschen
erfahrene Ohnmacht in Unterwurfigkeit gegeniiber vermeintlich kosmischen
Machten transponiert. - Lowenthals Arbeit ist ein Muster konkreter Ideologie-
kritik.
2u erwahnen sind ferner die bedeutenden Aufsatze Adornos iiber musik-
soziologische Themen, welche die subtile Kenntnis der musikalisch-immanenten,
vor allem kompositionstechnischen Fragen mit gesellschaftlichen, audi philoso-
phischen Einsichten verbinden, die zu jener Zeit erstaunlich waren. Dafi Adorno
selbst manche dieser friihen Texte, etwa die Jazz-Arbeit, spater (als allzu
»abstrakt«) kritisiert hat 159 , schmalert ihre sachliche Bedeutung nicht. Griind-
licher Lektiire seien empfohlen: 2«r gesellschaftlichen Lage der Musik (1932),
Obex Jazz (unter dem Pseudonym Hektor Rottweiler, 1936), Oher den Fetisch-
charakter in der Musik und die Regression des Horens (1938), die Fragmente
iiber Wagner (eine Vorform des spateren Buches, 1939) und, gemeinsam mit
George Simpson, On Popular Music (1940/41). Letztere Studie ist sehr beacht-
lich. Sie entwickelt - gemafi der von Paul F. Lazarsfeld verwendeten Unter-
scheidung von » administrative « und »critical research« 160 - einige Kategorien,
welche, scharfer gefafit, ins Kapitel iiber »Kulturindustrie« in der Dialektik der
Aufklarung eingehen sollten.
Adornos Beitrage erweisen sich - was fur Kenner schon aus dem Titel der wich-
tigen Arbeit von 1^38 hervorgeht - als beeinflufit durch Lukics. Dessen be-
riihmte Essays in Geschichte und Klassenbewujltsein hatten eindringlich dar-
gestellt, dafi der Marxschen Warenanalyse (in der Schrift Zur Kritik der poli-
tischen Okonomie sowie im ersten und dritten Band des Kapitals) eine ge-
159 Cf. seine Vorrede zu den Moments musicaux, Frankfurt am Main 1964, S. 9; ferner seinen
Aufsatz Wissenschaftliche Erfahrungen in Amzrika, in: Sticbworte, Frankfurt am Main 1969,
S. 115 f.
100 Cf. dazu den prinzipiellen (von Horkheimers Unterscheidung von »traditioneller« und
»kritischer« Theorie inspirierten) Aufsatz Lazarsfelds, Remarks on Administrative and Critical
Communications Research, in: Studies in Philosophy and Social Science, Vol. IX, 1941, No. 1,
S. 2 ff. - Lazarsfeld, der damals das Princeton Radio Research Project leitete, wurde als hervor-
ragender Kenner amerikanischer Forschungstechniken fur die spatere Arbeit des Instituts als An-
reger und Diskussionspartner wichtig, wie er andererseits Kategorien der Frankfurter Richtung
bei seinen empirischen Studien anzuwenden suchte.
DIE »2EITSCHRIFT FUR SOZIALFORSCHUNG« 39*
schichtsphilosophische Dignitat zukommt. Fiir Lukacs gibt es »kein Problem die-
ser Entwicklungsstufe der Menschheit..., dessen Losung nicht in der Losung des
Ratsels der Warenstmktur gesucht werden mufite« 161 . Die dabei erforderliche
»Weite und Tiefe« des Denkansatzes mufi an die der Marxschen Analyse heran-
reichen, in der »das Warenproblem nicht blofi als Einzelproblem, audi nichr bloft
als Zentralproblem der einzelwissenschaftlich gefafiten Dkonomie, sondern als
zentrales, strukturelles Problem der kapitalistischen Gesellschaft in alien ihren
Lebensauflerungen erscheint«; denn nur so »kann in der Struktur des Waren-
verhaltnisses das Urbild aller Gegenstandlichkeitsformen und aller ihnen ent-
sprechenden Formen der Subjektivitat in der burgerlichen Gesellschaft aufgefun-
den werden « 162 .
Die Marxsche Dkonomie, daran sei lediglich erinnert, analysiert die spezifisch
biirgerliche Gesellschaft als eine, worin die menschliche Arbeitskraft und die
Arbeitsprodukte in Form von Waren auftreten. Solange keine abstrakt-
kapitalistischen, sondern »personliche Abhangigkeitsverhaltnisse die gegebene
gesellschaftliche Grundlage bilden, brauchen Arbeiten und Produkte nicht eine
von ihrer Realitat verschiedene phantastische Gestalt anzunehmen . . . Die
Naturalform der Arbeit, ihre Besonderheit, und nicht, wie auf Grundlage der
Warenproduktion, ihre Allgemeinheit, ist hier ihre unmittelbar gesellschaftliche
Form« 163 . Obwohl die vorbiirger lichen Gesellschaften ihrem Organisations-
prinzip nach »irrationaler« sind als die auf der Produktion von Tauschwerten
beruhende Ordnung, erscheinen sie den Individuen gegeniiber als » verniinf tiger «,
weil durchsichtiger. Auch in ihrer Negativitat. Umgekehrt ist der biirgerliche
Zustand, wenngleich im Prinzip rationaler, in seiner alltaglichen, steinernen
Unmittelbarkeit fiir das Bewufksein handelnder Menschen, ohne welche es ihn
gar nicht gabe, so gut wie undurchdringlich. Das ist zuruckzufuhren auf die
Warenform, die jene eigentiimliche »Verkehrung« bewirkt, »worin den Tragern
der Warenwelt ihre eigne gesellschaftliche Arbeit erscheint« 164 . Sie besteht darin,
dafi »ein gesellschaftliches Produktionsverhaltnis die Form eines Gegenstandes
annimmt, so dafi das Verhaltnis der Personen in ihrer Arbeit sich vielmehr als
ein Verhaltnis darstellt, worin Dinge sich zueinander und zu den Personen ver-
halten« 165 . Die eingeschliffenen Gewohnheiten taglichen Lebens befestigen das -
objektiv - Verriickte im Bewufksein der Menschen als unwandelbaren Normal-
und Naturzustand.
Dafi Ware, Geld und Kapital historische Erzeugnisse gesellschaftlicher Arbeit
sind, bleibt freilich nicht nur den unmittelbar am Produktionsprozeft Beteiligten
verborgen, sondern ebenso den modernen Okonomen. Auch sie lassen sich nahezu
161 Lukacs, Geschichte und Klassenbewufitsein, Berlin-Halensee 1923, S. 94 (Hervorhebung von
Lukdcs).
192 Ibid.
163 Marx, Das Kapital, Band I, 1. c, S. 83.
184 Marx, Zur Kritik der politischen Okonomie, in: Marx/Engels, Werke, Band 13, Berlin 1964, S. 128.
"S Ibid., S. 22.
40* ALFRED SCHMIDT
ausnahmslos mystifizieren. Lafit sick an den Waren immer nodi ablesen, daft ihr
» Verhaltnis ... als Tauschwerte vielmehr Verhaltnis der Personen zu ihrer
wechselseitigen produktiven Tatigkeit ist«, so »verschwindet dieser Sdiein der
Einfadiheit« der mit der Ware gesetzten Problematik beim Ubergang zu entfal-
teteren dkonomischen Kategorien. Dem Geld (Gold und Silber) lafit sidi nicht
ohne weiteres ansehen, »dafi es ein gesellschaftliches Produktionsverhaltnis dar-
stellt, aber in Form eines Naturdings mit bestimmten Eigenschaflen« 168 . Voll-
ends schwierig wird die Analyse des Kapitals, das keine Sache ist, »sondern ein
durch Sachen vermitteltes gesellschaftliches Verhaltnis zwischen Personen « 167 . Der
grobe, blofie Oberflachen-Phanomene registrierende Empirismus verwechselt
die - spezifisch gesellschaftlidien - Bestimmungen, welche die jenes Verhaltnis
vermittelnden Sachen in gerade dieser Funktion erhalten, mit deren immanen-
ten Naturqualitaten. TrerTend sdiildert Marx die Verlegenheit des ungebildeten
Bewufitseins. Die Okonomen, denen es an Dialektik gebridit, sind iiberaus ver-
dutzt, »wenn bald als gesellschaftliches Verhaltnis erscheint, was sie eben plump
als Ding festzuhalten meinten, und dann wieder als Ding sie neckt, was sie
kaum als gesellschaftliches Verhaltnis fixiert hatten« 168 .
Das Philosophische an dieser Theorie vom »gegenstandlichen Schein der gesell-
schaftlichen Charaktere der Arbeit* 169 hat seit Lukacs die Marx-Interpreten
immer wieder beeindruckt, so Bloch und Benjamin, vor allem aber Adorno. Was
Marx in den Friihschriften unter Hegelschen Kategorien wie »Entaufierung«,
»Entfremdung« und »Selbstentfremdung« des Menschen behandelt, wird hier
auf seinen wissenschaftlichen BegrifF gebracht. Marx durchschaut den »Mystizis-
mus der Warenwelt« 170 , welche in ihrer fertig vorliegenden Form - als
System - »den gesellschaftlidien Charakter der Privatarbeiten und daher die
gesellschaftlidien Verhaltnisse der Privatarbeiter sachlich verschleiert, statt sie
zu ofFenbaren« 171 .
Indem der dialektisdie Materialismus die abstrakte Unmittelbarkeit der alltag-
lichen Lebenstatsachen durchdringt, und zwar so, daft sie in ihrer gesdiichtlichen
Gewordenheit und damit Relativitat erfahrbar werden, enthiillt er zugleich, daft
diese Tatsadien »einer Gesellschaftsform angehoren, worin der Produktions-
prozeft die Menschen, der Mensch nodi nicht den Produktionsprozeft be-
meistert« 172 . Das aber ist auf den vorkapitalistisch-naturalwirtschaftlichen Stufen
>« Ibid.
167 Marx, Das Kapital, Band I, 1. c, S. 806 (Hervorhebung von Marx). - Cf. dazu audi Das
Kapital, Band III, 1. c, S. 867, wo Marx schreibt: »Aber das Kapital ist kein Ding, sondern ein
bestimmtes, gesellschaftliches, einer bestimmten historischen Gesellschaftsformation angchonges
Produktionsverhaltnis, das sich an einem Ding darstellt und diesem Ding einen spezifischen
gesellschaftlidien Charakter gibt«.
168 Marx, Zur Kritik der politischen Okonomie, in: Marx/Engels, Werke, Band 13, 1. c, S. 22.
169 Marx, Das Kapital, Band I, 1. c, S. 80.
"0 Ibid., S. 82.
171 Ibid., S. 81.
"2 Ibid., S. 87.
DIE »2EITSCHRIFT FUR SOZlALFORSCHUNG« 41*
der sozialen Entwicklung der Fall. Hier koinzidieren noch Schein und Sein
(weshalb es, strenggenommen, keine »feudalen IdeoIogien« gibt - hochstens
»feudalistische« in spatbiirgerlicher Zeit); die der Fronarbeit entspringenden
»gesellschaftlichen Verhaltnisse der Personen . . . erscheinen ... als ihre eignen
personlichen Verhaltnisse, und sind nicht verkleidet in gesellschafHiche Verhalt-
nisse der Sachen, der Arbeitsprodukte« 173 .
Letzteres kennzeichnet die biirgerlidie Gesellschaft. In ihr tritt das Produkt den
Produzenten fremd, feindlich und schicksalhaft gegeniiber: »Ihre eigne gesell-
schafcliche Bewegung besitzt fiir sie die Form einer Bewegung von Sachen, unter
deren Kontrolle sie stehen, statt sie zu kontrollieren« 174 . Marx fafk demgegen-
iiber einen »Verein freier Menschen« 175 ins Auge, der die Zwange blofier Natur-
geschichte endgiiltig hinter sich gebracht hat. In ihm hort das »gesellschaftliche
Verhaltnis der Menschen« auf, »fur sie die phantasmagorische Form eines Ver-
haltnisses von Dingen« 176 anzunehmen. Der materielle Lebensprozeft steht hier
»als Produkt frei vergesellschafteter Menschen unter deren bewufker planma-
fiiger Kontrolle«; die gemeinsam zu verrichtende Arbeit ist nicht langer entfrem-
det; sie geschieht auf der humanisierten Basis »durchsichtig verniinf tiger Bezie-
hungen« der Individuen »zueinander und zur Natur« 177 .
Solange freilich der kapitalistische Weltzustand fortbesteht, bleiben die
Menschen einem gnadenlosen »Triebwerk« 178 ausgeliefert; sie treten sich nur
unter der abstrakten Bestimmtheit gegeniiber, private Produzenten, Waren-
besitzer zu sein; und da jeder seine Ware moglichst teuer verkaufen will, also
subjektive Willkur waken lafit, stellt sich gesellschaftliche Objektivitat, der
^sachliche Zusammenhang ihrer Zusammenhanglosigkeit« 179 , gewaltsam her: hin-
ter ihrem Rucken, als »zweite Natur« (Hegel). Die Totalitat des gesellschaft-
lichen Prozesses stellt sich Marx zufolge dar als »objektiver Zusammenhang,
der . . . zwar aus dem Aufeinanderwirken der bewufiten Individuen hervorgeht,
aber weder in ihrem Bewufitsein liegt, noch als Ganzes unter sie subsumiert
wird« 180 . Die damit gesetzte Moglichkeit von Kollisionen und Krisen ist kein
vermeidbarer Schonheitsfehler, sondern gehort wesentlich zu » einer Produktions-
weise, worin sich die Regel nur als blindwirkendes Durchschnittsgesetz der
Regellosigkeit durchsetzen kann« 181 .
Auf die Marxsche Okonomie und ihre Problematik des Warenfetischismus und
der Verdinglichung war hier zu rekurrieren, weil sie fiir die Beitrage Adornos
173 Ibid., S. 83.
" 4 Ibid., S. 80.
"5 Ibid., S. 84.
"8 Ibid., S. 76.
"7 Ibid., S. 85.
I" Marx, Das Kapital, Band III, I. c, S. 936.
179 Marx, Grundrisse der Kritik der politiscben Okonomie, Berlin 1953, S. 79.
i 80 Ibid., S. 111. - Cf. zur dialektisdien Problematik von Subjektivismus und Verdinglichung
audi Das Kapital, Band I, 1. c, S. 99; 118 f., sowie Band III, 1. c, S. 881; 937.
isi Marx, Das Kapital, Band I, I. c, S. 107; cf. auch S. 117.
42* ALFRED SCHMIDT
von kaum zu iiberschatzender Wichtigkeit ist. Lukacs, so sagten wir, begriff als
erster die universelle Fruchtbarkeit der von Marx warenanalytisch entwickelten
Kategorien. Sein 1923 erschienenes Buch setzte die Ergebnisse der okonormschen
Kritik voraus und verfolgte intensiv die philosophischen Aufgaben, die sich »aus
dem Fetischcharakter der Ware, als Gegenstandlichkeitsform einerseits und aus
dem ihr zugeordneten Subjektsverhalten andererseits ergeben; deren Verstand-
nis uns erst einen klaren Blick in die Ideologienprobleme des Kapitalismus . . .
ermoglicht« 182 ,
Adornos Verdienst nun liegt darin, dafi er - Lukacs* Intentionen weiter-
treibend - in scharfsinnigen Untersuchungen die Kategorie des Waren-
fetischismus und die ihr entsprechende des »verdinglichten Bewufitseins« in die
Diskussion des gesellschaftlichen Wesens von Musik einfiihrt. Das geschieht
besonders instruktiv in der Abhandlung von 1938 Vber den Fetischcharakter in
der Musik und die Regression des Horens. Adorno selbst hat sich spater zu dieser
Arbeit und seinen damaligen Motiven geaufiert. Es handeite sich hier um einen
»ersten Niederschlag der amerikanischen Erfahrungen des Autors, als er den
musikalischen Teil des Princeton Radio Research Project leitete . . . An den
musiksoziologischen Tatbestanden, auf die der Autor damals stiefi, gingen ihm
erstmals Einsichten iiber anthropologische Veranderungen auf, die weit iiber das
begrenzte Sachgebiet hinausreichen« 183 .
Erortern wir kurz, wie sich Adorno der diffizilen Aufgabe entledigte, die
Transposition des von Marx am okonomischen Bereich dargestellten Phanomens
der Verdinglichung ins Asthetische konkret nachzuweisen. Eine primitive - vul-
garmarxistisch ubliche - Abbildlehre schied dabei aus, weil sie im vorhinein die
verfestigten Strukturen sanktioniert. Ebenso der Versuch, die Problematik durch
eine idealistische Marx-Interpretation zu iiberspielen. »Der Fetischcharakter der
Ware«, schreibt Adorno in einem Brief an Benjamin, »ist keine Tatsache des
Bewufkseins, sondern dialektisch in dem eminenten Sinne, dafi er Bewufksein
produziert« 184 , und zwar ein notwendig falsches. Adornos Ansatz ist, mit
anderen Worten, der streng Marxsche.
Marx zeigt, dafi in einer Gesellschaft, deren Einheit dadurch gestiftet wird, dafi
die Arbeitsprodukte allgemein unter der Warenform auftreten, »das blofi
atomistische Verhalten der Menschen in ihrem gesellschaftlichen Produktions-
prozefi« einerseits und »die von ihrer Kontrolle und ihrem bewufiten individuel-
len Tun unabhangige, sachliche Gestalt ihrer eignen Produktionsverhaltnisse« 185
182 Lukics, Geschichte und Klassenbewxjitsein, 1. c, S. 95.
183 Adorno, Dtssonanzen, Gottingen 1956, S. 6. — In seinera Aufsatz iiber Wissenschaftliche
Erfahrungen in Amerika (in: Stichworte, Frankfurt am Main 1969, S. 117) unterstreicht Adorno,
wie sehr es ihm darauf ankam, mit der Arbeit iiber den Fetisch&arakter die »frisdien musika-
Usch-soziologisdien Beobachtungen« begrifflidi zu durdidringen und »etwas wie ein > frame of
reference^ ein Bezugssystem, fur die durchzufiihrenden Einzeluntersuchungen (zu). entwerfen*.
184 Benjamin, Briefe, Band 2, herausgegeben und mit Anmerkungen versehen von Gershom
Scholem und Theodor W. Adorno, Frankfurt am Main 1966, S. 672.
185 Marx, Das Kapital, Band I, 1. c, S. 99 (Hervorhebungen von Marx).
DIE »2EITSCHRIFT FUR SOZIALFORSCHUNG« 43*
andererseits komplementar sind. Individueller Willkiir, bloflem Zufall hier ent-
spricht Zwang, objektive Notwendigkeit dort.
Lukacs verweist auf den wichtigen Umstand, dafi mit der einheitlichen Struktur
kapitalistisdi gefiihrter Wirtschaft zum ersten Male in der Gesdiichte eine ein-
heitlidie, fiir alle Mitglieder der Gesellsdiaft formell gleiche, namlich verding-
lidite, Bewufitseinsstruktur einhergeht 180 . Daran konnen auch - betrachtliche -
Differenzen ihrer materiellen Lebenslage nichts andern. Alle sind im Kapitalis-
mus (trotz zunehmender Organisation, ja vermoge ihrer) einem blinden,
undurchschauten »Schidksal« unterworfen. Das erzeugt in ihnen ein Bewufksein
der Ohnmacht; sie sehen sich objektiven Machten ausgeliefert - einer Dynamik,
die ganz unabhangig von ihrem Zutun zu waken sdieint. Die »Bewuf$tseinspro-
bleme der Lohnarbeit« 1S7 strukturieren daher, wie Lukics nachgewiesen hat, muta-
tis mutandis audi die nicht-proletarischer Schichten. Es entsteht eine ideologische
(aber eben deshalb gesamtgesellschaftlich verbindliche) Perceptions weise. Wie sidi
den Individuen ihr eigener SozialprozelS iiberhaupt darstellt: als Komplex ding-
hafter, aufierlicher »Tatsachen«, so audi ihre menschlidien Qualitaten, die sie als
von ihnen ablosbare, vergegenstandlichte Funktionen auf dem Markt feilbieten.
Der angedeutete Sachverhalt griindet im Kapitalverhaltnis. Die mit ihm gesetzte
Trennung der lebendigen Arbeit »von alien Arbeitsmitteln und Arbeitsgegen-
standen, von ihrer ganzen Objektivitat«, bedeutet, dafi sie auf ihre »rein subjek-
tive Existenz« reduziert wird. Sie verarmt so, wie Marx in Hegels Sprache sagt,
als »sich auf sich beziehende Negativitat« zum »Nichtgegenstandlidien« schlecht-
hin, das - mit der »unmittelbaren Leiblichkeit« des Arbeiters zusammenfal-
lend - das »Nichtgegenstandliche selbst in objektiver Form« 188 ist: fetischisier-
ter Tauschwert.
Diese (zugleich scheinhafte und reale) Trennung der Arbeitskraft von der Person
des Arbeiters, der sie dem Kapitalisten verkauft, wiederholt sich - in freilich
vermittelterer Weise - im Bereich des Oberbaus. Hierauf kommt Luk£cs bei
seiner gescheiten Analyse der modernen Biirokratie zu sprechen, die fiir ihn nur
ein Aspekt fachlicher Borniertheit ist, die das Ganze aus den Augen verliert:
»Der spezialistische >Virtuose<, der Verkaufer seiner objektivierten und versach-
lichten geistigen Fahigkeiten, wird . . . nicht nur Zuschauer dem gesellschafl;-
lichen Geschehen gegeniiber . . ., sondern gerat auch in eine kontemplative
Attitude zu dem Funktionieren seiner eigenen, objektivierten und versachlich-
ten Fahigkeiten. Am groteskesten zeigt sich diese Struktur im Journalismus, wo
gerade die Subjektivitat selbst, das Wissen, das Temperament, die Ausdrucks-
fahigkeit zu einem abstrakten, sowohl von der Personlichkeit des >Besitzers< wie
von dem materiell-konkreten Wesen der behandelten Gegenstande unabhangi-
gen und eigengesetzlich in Gang gebrachten Mechanismus wird« 189 .
180 Cf. Geschicbte und Klassenbewujitsein, 1. c, S. 111.
»87 Ibid.
188 Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Okonomie, I.e., S. 203.
189 Lukacs, Geschichte und Klassenbewufltsein, I.e., S. 111.
44* ALFRED SCHMIDT
Dafi sich das verdinglichte Bewufitsein nidit nur auf den kapitalistischen
Gesamtprozefi und die menschlichen Qualitaten erstreckt, sondern (wie Lukacs
am Ende des Zitats bemerkt) ebensosehr auf die Dinge - handle es sich um
Artefakte oder Naturgegenstande -, ist ein wichtiger, schon vom jungen Marx
(in der Heiligen Familie) erorterter Tatbestand. Voll erfafit wird er im Kapital:
in der Theorie vom Doppelcharakter der Ware und der in ihr verkorperten
Arbeit. Indem sich das Produkt abstrakt-gesellschaftlicher Arbeit, die »gespen-
stige Gegenstandlichkeit« 190 der Wertform (oder des Tauschwerts) der Waren,
gewaltsam durchsetzt gegeniiber dem, was sie dariiber hinaus sind: Produkt
konkret-individueller, Gebrauchswerte erzeugender Arbeit, stirbt die Beziehung
der Menschen zu letzteren ab. Lebendiges wird verdrangt durch Totes, Qualita-
tives durch abstrakte Quantitat, angeeignete Natur durch gesellschaftliche Funk-
tion; der allseitig herrschende Tauschwert lafit die konkrete Erfahrbarkeit des
»unmittelbaren Dingcharakter(s)« 19i der Dinge verkummern.
Hieran schliefien sich Adornos musikasthetische und -soziologische Erwagungen
in der genannten Studie an. Diese verfahrt insofern materialistisch, als sie den
radikalen Wandel des musikalischen Bewufitseins im gegenwartigen Stadium der
Gesellschaft nicht psychologisch bei den Horern untersucht, sondern vom ver-
anderten Stand der gesellschaftlichen Bedingungen musikalischer Produktion
ausgeht und die Reaktionsweisen der Menschen auf diesem Hintergrund inter-
pretiert. Dabei weist Adorno stringent nach, dafi die iiber den Verfall des
Musiklebens vorgebrachten Klagen jenem selbst bereits angehoren. Das gilt
insbesondere fiir den langst iiberholten Begriff des Geschmacks: »Er bezeichnet
eine Verhaltensweise der asthetischen Subjektivitat, in welcher diese mit den
asthetischen Konventionen falsch sich versohnt. Deren Anspriiche erscheinen
nicht langer verdinglicht und aufierlich, sondern als gleichsam aus dem Wesen
des Kunstwerks selbst hervorgehend, wahrend doch die zu friihe Versohnung
den bestimmenden Antagonismus zwischen Konvention und Subjektivitat
nicht aufhebt. Von ihrer Einheit ist nicht einmal der Schein mehr iibrig geblie-
ben. Die verantwortliche Kunst richtet sich an Kriterien aus, die der Erkennt-
nis nahekommen: des Stimmigen und Unstimmigen, des Richtigen und Fal-
schen« 192 .
Die eilfertige Rede vom verfallenden Geschmack des Publikums verfehlt Adorno
zufolge schon deshalb, was heute geschieht, weil sie die Moglichkeit einer
Aktivitat der Massen unterstellt, die nicht vorhanden sein kann. Die ideologie-
suchtigen Konsumenten drangen sich geradezu danach, »musikalisch parieren zu
diirfen wie anderwarts« 19S . Keiner verlangt mehr, dafi Konvention durch ihre
»subjektive Aneignung« gerechtfertigt werde; »die Existenz des Subjekts selbst,
190 Marx, Das Kapital, Band I, 1. c, S. 42,
191 Lukacs, Geschichte und Klassenbewufitsein, I. c, S. 104.
192 Adorno, Vber den Fetischcharakter in der Musik und die Regression des Horens, in: Zeit-
sthrifl fiir Sozialforschung, Jahrgang VII, 1938. Heft 3, S. 321.
193 Ibid.
DIE »ZEITSCHRIFT FUR SOZlALFORSCHUNG« 45*
das solchen Geschmack bewahren konnte, ist so fragwiirdig geworden wie am
Gegenpol das Recht zur Freiheit einer Wahl, zu der es empirisch ohnehin nicht
mehr kommt« 194 . Das wird deutlich an den schabigen Produkten der Schlager-
industrie. Adorno zeigt, dafi sie von den Menschen (was immer diese rationalisie-
rend vorbringen mogen) gar nicht danach beurteilt werden, ob sie »Gefallen«
oder »Mif5f alien « erregen. Objektiv setzt die Bekanntheit eines marktgangigen
Sdilagers »sich anstelle des ihm zugesprochenen Wertes: ihn mogen, heifk fast
geradeswegs ihn wiedererkennen. Das wertende Verhalten ist fur den zur
Fiktion geworden, der sich von standardisierten Musikwaren umzingelt findet.
Er kann sich weder der Obermacht entziehen noch zwischen dem Prasentierten
entscheiden, wo alles einander so vollkommen gleicht, dafi die Vorliebe . . . blofi
am biographischen Detail haftet oder an der Situation, in der zugehort wird« lfl5 .
Wohl ist zu konzedieren, dafi die sogenannte leichte, von vornherein fiir den
Massenkonsum vorgesehene Musik niemals nach den Kategorien autonomer
Kunst (die heute freilich auch fiir die Rezeption ernster Musik kaum mehr gel-
ten) aufgenommen wurde. Aber sie geniigt nicht einmal mehr den armseligen
Mafistaben ihrer Agenten. Die »Unterhaltung, den Reiz, den Genufi, den sie
verspricht«, gewahrt sie nur, »um ihn zugleich zu verweigern« 196 . Weit davon
entfernt, noch irgendweh zu unterhalten, entspricht die Unterhaltungsmusik,
was Adorno unterstreicht, recht genau den jungsten anthropologischen Verande-
rungen: »dem Verstummen der Menschen, dem Absterben der Sprache als Aus-
druck, der Unfahigkeit, sich uberhaupt noch mitzuteilen . . . Sie bewohnt die
Liicken des Schweigens, die sich zwischen den von Angst, Betrieb und einspruchs-
loser Fiigsamkeit verformten Menschen bilden« 197 .
Diesem subjektiven Befund korrespondiert auf seiten der musikalischen Gebilde
ein gesellschaftlich wichtiger Umstand. Die von Kulturkonservativen am heu-
tigen » musikalischen Massenzustand als einem von >Degeneration< « 198 geriigten
Momente, die in Wahrheit einmal solche des innerasthetischen wie sozialen
Fortschritts waren, haben sich mittlerweile ins Gegenteil verkehrt. - Wenn kon-
servative Kritik am heutigen Musikleben das Vorherrschen angeblich verweich-
lichender Sinnenreize, von Oberflachlichkeit und »Personenkult« beanstandet,
dann entgeht ihr, dafi diese Momente nicht an sich verwerflich sind, sondern in
ihrer jetzigen Funktion. Zunachst wirkten sie, wie gesagt, fortschrittlich: »Die
verbotenen Reize bilden Fermente des Genusses, der sich potenziert, indem er
sich selber ins Auge sieht; sinnliche Buntheit und differenzierendes Bewufksein
verschranken sich in ihnen. Die Praponderanz der Person iiber den kollektiven
Zwang in der Musik indiziert das Moment der subjektiven Freiheit . . ., und als
Oberflachlichkeit stellt sich jene Profanitat dar, welche sie aus ihrer magischen
is* Ibid., S. 321 f.
195 Ibid., S. 322.
198 Ibid.
1" Ibid.
i e8 Ibid., S. 323.
46* ALFRED SCHMIDT
Beklemmung lost. So sind die beklagten Momente in die ... abendlandische
Musik eingegangen . . . Freilich . . . eingegangen und in ihr aufgehoben; nicht
aber ist die grofie Musik in ihnen aufgegangen« 199 . Ihr Spezifikum war es viel-
mehr, jene Momente dem Formgesetz zu unterwerfen und eben dadurch ihrem -
utopischen - Versprechen treu zu bleiben. Ihre Grofie bestand, Kantisch ge-
sprochen, darin, die Mannigfaltigkeit von Reiz und Ausdruck zur Einheit zu
bringen: »Nicht blofi konserviert die musikalische Synthesis die Einheit des
Scheins und behiitet sie davor, in rebellisdie Augenblicke von Lust zu zerfallen.
Sondern in soldier Einheit, in der Relation der partikularen Elemente zu einem
sidi produzierenden Ganzen, wird auch das Bild eines gesellschaftlichen Zu-
stands festgehalten, in dem allein jene partikularen Elemente von Gluck mehr
waren als gerade Sdiein« 200 .
Der Umschlag nun, von dem oben gesprodien wurde, tritt - wie Adorno dar-
tut - im kapitalistischen Zeitalter ein. In dem Mafie, wie jene vormals progres-
siven Elemente sich der synthetischen Einheit, dem Formgesetz, entziehen und
losgelassen, fur sidi (im Hegelschen Sinne: abstrakt) auftreten, werden sie riick-
schrittlidi; sie horeh auf, »produktive Impulse« 201 zu sein, die gegen starre
asthetisdie Traditionen ankampfen und das Individuum in seinem Widerstand
gegen den Weltlauf bestarken. Kritik verkehrt sich in Kapitulation, immanente
Utopie in Realitatsgerechtigkeit: »Reiz, Subjektivitat und Profanitat, die alten
Widersacher der dinghaften Entfremdung, verfallen gerade dieser. Die iiberlie-
ferten antimythoiogisdien Fermente der Musik verschworen sidi . . . gegen die
Freiheit . . . Die Trager der Opposition gegen das autoritare Schema werden zu
Zeugen der Autoritat . . . marktmafiigen Erfolgs. Die Lust . . . der bunten Ober-
flache wird zum Vorwand, den Horer vom Denken des Ganzen zu entbinden,
dessen Ansprudi im editen Horen enthalten ist, und der Horer wird ... in den
akzeptierenden Kaufer verwandelt« 202 .
In dem Mafie, wie die musikalische Dialektik stillgelegt wird, wie die »Partial-
momente« dem »vorgedachten Ganzen« gegeniiber nicht mehr kritisch auftre-
ten, bringen sie audi jene Kritik zum Schweigen, »welche die gelungene
asthetisdie Totalitat an der briichigen der Gesellschaft iibt« 203 . AufSerstande, die
ihnen geopferte synthetische Einheit von sidi aus neu herzustellen, werden die
»isolierten Reizmomente« unvereinbar mit der »immanenten Konstitution des
Kunstwerks« 204 , das so seinen Aspekt von Erkenntnis einbiifk. Ihrer kritischen
(und eben dadurch konstitutiven) Funktion als Momente eines werdenden
Sinnzusammenhangs entledigt, sanktionieren die sinnlich-lustbetonten Elemente
der Musik den verdinglichten Zustand; sie stumpfen ab und liefern nur noch
"» Ibid., S. 323; 324.
2 30 Ibid., S. 324.
20i Ibid.
202 Ibid., S. 324.
203 ibid.
204 Ibid.
DIE »2EITSCHRIFT FUR SOZIALFOKSCHUNG« 47*
»Schablonen des Anerkannten«. Ihr progressiver Zug schwindet dahin: »Dienst-
bar dem Erfolg, . . . verschworen (sie) sich zum Einverstandnis mit allem, was
der isolierte Augenblick einem isolierten einzelnen zu bieten vermag, der langst
keiner mehr ist« 205 .
Angesichts dieser veranderten Situation macht Adorno darauf aufmerksam,
welche neue Rolle das Asketische in der Musik iibernehmen muf$. Sein Begriff ist
iiberaus dialektisch. Einzig in der Askese ist heute aufbewahrt, worauf deren
Gegenteil einmai hinauswollte : »Die Verfiihrungskraft des Reizes iiberlebt blofi
dort, wo die Krafte der Versagung am starksten sind: in der Dissonanz, die
dem Trug der bestehenden Harmonie den Glauben verweigert . . . Schlug ehedem
Askese den asthetischen Anspruch auf Lust reaktionar nieder, so ist sie heute zum
Siegel der progressiven Kunst geworden. Die antagonistische Gesellschaft, die
verneint und bis in die innersten Zellen ihrer Glucksfeindschaft freigelegt wer-
den muE, ist darstellbar allein in kompositorischer Askese. Kunst verzeichnet
negativ eben jene Glucksmoglichkeit, welcher die blofl partielle positive Vor-
wegnahme des Gliicks heute verderblidi entgegensteht. Darum ist alle >leichte<
und angenehme Kunst scheinhaft und verlogen geworden: was in Genufikate-
gorien asthetisch auftritt, kann nicht mehr genossen werden . . .« 206 .
Das aber kennzeichnet die neue Stufe des Bewufkseins der Horermassen durch
»Genufifeindsdiafl im Genufi« 207 . Jene reagieren auf Musik ahnlich wie auf
Sport und Reklame, wobei der Unterschied von unterhaltender und ernster
Musik immer belangloser wird. Auszugehen ist hierbei von dem, was Adorno
den »Funktionswedisel« der »Macht des Banalen« 208 nennt. Diese stand ein-
mai, vor allem als Element des Melodiosen, gegen das Bildungsmonopol der
Herrschenden. Dadurch aber, dafi sie sich nunmehr »ubers Gesellschaftsganze
erstreckt«, wird die Differenz von hoher und niederer Musik hinfallig; die »aus-
einanderklaffenden Spharen miissen zusammengedacht werden«, wobei ihre
Einheit freilich nicht die eines Kontinuums, sondern die »des ungelosten Wider-
spruchs« ist. Keineswegs kann populare Musik als Vorstufe der hoheren gelten
oder diese ihre »verlorene kollektive Kraft von der unteren ausborgen« 20(> . Im
unschlichtbaren Bruch reflektieren sich die radikalen Veranderungen des Ganzen.
Die sich dem Banalen ernstlich entziehende Produktion wird kaum noch absetz-
bar, wahrend die »Standardisierung der Erfolge« 210 im volkstumlichen Bereich
dazu fiihrt, dafi pures »Mitmachen« verdrangt, was friiher Erfolg hiefi. Der zu-
nehmenden Unverstandlichkeit strenger Musik entspricht unvermittelt die Un-
entrinnbarkeit und Zuganglichkeit der leichten. Fiir das Individuum bleibt da-
zwischen kein Spielraum mehr.
2 °5 Ibid., S. 325.
2 °° Ibid.
207 Ibid.
2( >8 Ibid.. S. 326.
209 Ibid.
21 ° Ibid., S. 327.
48* ALFRED SCHMIDT
Erwagungen, die zu Adornos Begriff des »musikalischen Fetischismus« 211 tiber-
leiten. - Der erorterte Konflikt zwischen popularer und hoherer Musik wieder-
holt sich in deren Bereich, und zwar in dem Mafte, wie sidi die wirklich fort-
geschrittene Produktion dem Massenkonsum entzieht und die verbleibende
ernste Musik sidi ihm anbequemt: um den Preis ihres Erkenntnisgehalts. Sie
»verfallt dem Waren-H6ren« 212 . Daft iiberhaupt nodi von Unterschieden hin-
sichtlich der Rezeption von offizieller »klassischer« und unterhaltender Musik
gesprochen wird, griindet nicht sowohl in der Sache als darin, daft die Musik-
Waren verkauflich sein mussen; »dem Jazzenthusiasten mufi ebenso versichert
werden, daft seine Idole nicht zu hoch fiir ihn seien, wie dem Besucher der Phil-
harmoniker sein Niveau bestatigt« 213 . Der Eifer, mit dem Unterschiede betont
werden, die real vollig unerheblich geworden sind, dient rein kommerziellen
Zwecken.
Adornos Analyse, das hoben wir bereits hervor, geht davon aus, daft die
»Anwendung der Warenkategorie auf Musik « 214 keine vage Analogie ist. Sie
mufi vielmehr streng im Sinn Marxscher Okonomie verstanden werden; denn
das Musikleben wird liickenlos dem Diktat der Warenform und dem ihr verhaf-
teten Fetischcharakter unterworfen. Das aufiert sidi drastisch an den Reaktions-
weisen der Horer. Diese »sdieinen sidi«, wie Adorno entwickelt, »aus der Bezie-
hung zum Vollzug der Musik zu losen und unmittelbar dem akkumulierten Er-
folg zu gelten, der seinerseits nicht entfernt durch vergangene Spontaneitaten
des Horens zureichend begriffen werden kann, sondern auf das Kommando der
Verleger, Tonfilmmagnaten und Rundfunkherrn zuriickdatiert« 215 . Solche
Warenfetische sind neben dem geradezu religios verehrten Erfolg »an sidi« die
Stars, ihre gefeierten Namen, die »sensuellen Reizmomente des Einfalls, der
Stimme, des Instruments« 216 , schliefilich jene Werke, die ein » Pantheon von
best-sellers« 217 bevolkern. Was in dieses nicht hineingelangt, verschwindet aus
den Programmer Das gilt nicht nur fiir »das mittlere Gut . . ., das die musik-
wissenschaftlichen Branchevertreter den Horern aufsdiwatzen mochten« 218 -
audi die offiziell geduldeten Klassiker unterliegen einer Selektion, die der
Qualitat ihrer Werke aufterlich ist; sie erfolgt »nach ihrer >Wirksamkeit<
im Sinne eben der Erfolgskategorien, welche die leichte Musik determinieren
oder dem Crackdirigenten gestatten, programmgemafi zu faszinieren« 219 .
Den Reizmomenten, die fetischisiert, weil aus alien sinnverleihenden, auf ein
Ganzes abzielenden Strukturen herausgelost, zur schlecht-abstrakten Unmittel-
211 Ibid., S. 230.
212 Ibid., S. 327.
213 Ibid.
214 Ibid., S. 330.
215 Ibid., S. 327.
218 Ibid., S. 329.
2" ibid., S. 327.
218 Ibid., S. 328.
2i» Ibid.
DIE »2EITSCHRIFT FUR SOZIALFORSCHUNG« 49*
barkeit erstarren, sind Verhaltensweisen der Horer zugeordnet, deren Beziehun-
gen zur Musik, wie die auf dem Markt iiberhaupt, nur solche Beziehungsloser
sein konnen. Ihre »blinden und irrationalen Emotionen« 220 gehorchen reflekto-
risch dem isolierten Auftreten jener Reizmomente. »Nahe«, sdireibt Adorno, ist
den Horern »nur nodi das vollendet Fremde und fremd, wie durch einen dichten
Schleier vom Bewufksein der Massen geschieden, was fur die Stummen zu reden
versucht« 221 - die fortgeschrittene, antikulinarische Musik.
Der eigentumliche Warencharakter der Musik widersetzt sich jeder unvermittelt
psychologischen Erklarung musiksoziologischer Phanomene. Er besteht darin,
dafi » >Werte< konsumiert werden und AfTekte auf sich ziehen, ohne dafi ihre
spezifischen Qualitaten vom Bewufitsein des Konsumenten iiberhaupt nodi er-
reicht wiirden« 222 . Hinzu kommt - was nicht zu unterschlagen ist - die sehr
handfeste Tatsadie, dafi der Tausch sogenannter »Kulturguter« letztlidi »ter-
miniert in materiellen Dingen: Opern- und Konzertkarten, Klavierfassungen
der Schlager, Grammophonplatten, Radioapparaten und . . . den Gegenstanden,
zu deren Anpreisung die musikalischen Exekutionen beitragen. Musik, mit all
den Attributen des Atherischen und Sublimen, die ihr freigebig gespendet wer-
den, dient wesentlich nur nodi der Reklame von Waren, die man erwerben mufi,
um Musik horen zu konnen« 223 .
In dieser fatalen Verkehrung von Mittel und Zweck wiederholt sich, abgewan-
delt, nur der fiir die burgerlidie Wirtschaftsweise typische Sadiverhalt, dafi sie
die Gebrauchswerte der Waren: das Primare, weil mit den Qualitaten der
Menschen und der Dingwelt Verbundene, einem Sekundaren, dem - rein ge-
sellschaftlichen - Tauschwert unterordnet. Dadurch werden die Gebrauchs-
werte, obwohl sie den »ston c lichen Inhalt des Reichtums« 224 bilden, zur blofien
Staffage einer menschenfeindlidien Abstraktion herabgesetzt, die freilich von
den Menschen selbst, unbewufit, tagtaglich vollzogen wird.
Adorno interpretiert, was bei Marx Fetischcharakter der Ware heifit, als »die
Veneration des Selbstgemachten« 225 , das in Gestalt des Tauschwerts sich den
Individuen entfremdet, und fiihrt dabei die bekannte Stelle des Kapitals an:
»Das Geheimnisvolle der Warenform besteht . . . einfach darin, dafi sie den
Menschen die gesellschaftlichen Charaktere ihrer eignen Arbeit als gegenstand-
liche Charaktere der Arbeitsprodukte selbst . . . zuriickspiegelt, daher auch das
gesellschaftliche Verhaltnis der Produzenten zur Gesamtarbeit als ein aufier
ihnen existierendes gesellschaftliches Verhaltnis von Gegenstanden« 226 . Was
Marx hier das »Geheimnis« des Warenfetischismus nennt, ist fiir Adorno zu-
22 <> Ibid., S. 330.
* 21 Ibid.
222 Ibid.
223 Ibid.
224 Marx, Das Kapital, Band I, 1. c„ S. 42.
225 Adorno, 1. c, S. 330.
228 Marx, Das Kapital, Band I, I. c„ S. 77.
50* ALFRED SCHMIDT
gleich das Geheimnis des allmachtigen Erfolges: »Er ist die blofie Reflexion
dessen, was man auf dem Markt fiir das Produkt zahlt: recht eigentlidi betet
der Konsument das Geld an, das er selber fiir die Karte zum Toscaninikonzert
ausgegeben hat. Buchstablich hat er den Erfolg >gemacht<, den er verdinglicht
und als objektives Kriterium akzeptiert, ohne darin sich wiederzuerkennen.
Aber >gemacht< hat er ihn nicht dadurch, dafi ihm das Konzert gefiel, sondern
dadurch, dafi er die Karte kaufle« 227 .
Allerdings (und dieser wesentliche Punkt ist nicht zu vernachlassigen) lafk sich
Adornos musikalische Warenanalytik davon leiten, dafi der Tauschwert sich in
der kulturellen Sphare in besonderer Weise durchsetzt. Diese namlich erscheint,
von der Warenwelt aus betrachtet, gerade als »der Macht des Tausches« ent-
riickt, als eine geheiligte Sphare der »Unmittelbarkeit zu den Giitern, und dieser
Schein ist es wiederum, dem die Kulturgiiter« - schon der Name ist verrate-
risch - »ihren Tauschwert allein verdanken« 228 . Es bedarf jedoch keiner
Frage, dafi audi die kulturellen Erzeugnisse ganz wie die materiellen der
Warenwelt angehoren; sie werden fiir den Markt hergestellt und sind ihm in
jeder Hinsicht untertan. Adorno bringt jenen Schein mit dieser Realitat dialek-
tisch zusammen. Der Schein verhiillt nicht blofi das Wesen, »sondern geht aus
dem Wesen selber zwangvoll hervor« 229 . Dafi sich der Uberbau dem Unterbau
gegemiber verselbstandigt, ist dessen eigene Funktion. Der Schein der Unmit-
telbarkeit ist ebenso nichtig wie objektiv seiend, weil durch den Tauschwert
vermittelt. Das biirgerliche Bewufitsein sucht den Widerspruch so zu schlichten,
dafi es »den Schein von Lust und Unmittelbarkeit« 230 auf den Tauschwert uber-
tragt. Hiervon geht Adornos Theorie aus. Der »reine Gebrauchswert« der kul-
turellen Waren, dessen Illusion just die vollig dem Wertgesetz ausgelieferte Ge-
sellschaft verhaftet bleibt, wird » durch den reinen Tauschwert substituiert, der
gerade als Tauschwert die Funktion des Gebrauchswerts triigend ubernimmt. In
diesem Quid pro quo konstituiert sich der spezifische Fetischcharakter der
Musik: die Affekte, die auf den Tauschwert gehen, stiften den Schein des
Unmittelbaren, und die Beziehungslosigkeit zum Objekt dementiert ihn zu-
gleich« ; sie »griindet in der Abstraktheit des Tauschwerts« 2ai .
Im zweiten Teil seiner Studie diskutiert Adorno unterm Titel der »Regression
des H6rens« das der fetischisierten Musik angemessene Bewufitsein des breiten
Publikums. Hier freilich - in einem derivativen Bereich - kommen psycho-
logische Kategorien ins Spiel. Nicht nur geht den Menschen die (stets schon sel-
tene) »Fahigkeit zur bewufiten Erkenntnis von Musik« 232 verloren - sie leug-
nen, dafi sie iiberhaupt moglich ist. Ihre Horweise wird von Adorno beschrieben
227 Adorno, I.e., S. 331.
22S Ibid.
22 9 Ibid., S. 333.
230 Ibid., S. 331.
231 Ibid.
232 Ibid., S. 339.
DIE »2EITSCHRIFT FUR S02IALF0RSCHUNG« 51*
als ein Fluktuieren »zwisciien breitem Vergessen und jahem, sogleich wieder
untertauchendem Wiedererkennen; sie horen atomistisch und dissoziieren das
Gehorte, entwickeln aber eben an der Dissoziation gewisse Fahigkeiten, die in
traditionell-asthetischen BegrifFen weniger zu fassen sind als in solchen von
Fufiballspielen und Chauffieren« 238 . Regressiv sind jedodi nidit nur der Verlust
des differenzierten Horvermogens und der verdriickte, ressentimenthafte Hafi
der Horer schon gegen die Moglichkeit einer menschlicheren Musik, regressiv ist
audi die Rolle, welche die konsumierte, massenhaft verbreitete Musik in ihrem
psychischen Haushalt spielt: »Sie werden ... in ihrer neurotisdien Dummheit
konfirmiert, ganz gleichgiiltig, wie ihre musikalischen Fahigkeiten zur spezifisdi
musikalischen Kultur friiherer gesellschaftlidier Phasen sidi verhalten, ganz
gieidigiiltig audi, ob die Individuen selber musikalische Ruckschritte madien oder
nicht« 234 .
Davon, dafi die Regression keine des »Geschmacks« ist, war bereits die Rede.
Ebenso verfehlt ware es anzunehmen, die gegenwartigen Individuen fielen auf
ein verlassenes Stadium ihrer Entwicklung zuriick: »Regression des Horens heifit
nichts anderes als: das Horen Regredierter« 235 . Obwohl ein sozialpathologisches
Phanomen, tragt es dazu bei, den herrschenden Zustand zu festigen und einen
Ausbruch aus der »infantilen Gesamtverfassung« 238 zu unterbinden. — Histo-
risch gehort das regressive Horen einer Gesellschaft an, worin der Druck von
Reklameerzeugnissen so unertraglich geworden ist, dafi »dem Bewufitsein vor
der Obermadit des annoncierten StofFes nichts . . . tibrigbleibt als zu kapitulie-
ren und seinen Seelenfrieden sich zu erkaufen, indem man die oktroyierte Ware
budistablich zur eigenen Sadie madit« 287 . Das geschieht durch blanke »Iden-
tifikation der Horer mit den Fetischen«, vermittels derer der Fetischcharakter in
der Musik »seine eigene Verdeckung« 238 produziert. - Die durch das Verges-
sen und plotzliche Wiedererkennen eingeleitete und sich durchsetzende »perzep-
tive Verhaltensweise ... ist die Dekonzentration« 239 , welche es unmoglich macht,
ein Ganzes aufzunehmen. Die erorterte Abspaltung der Teile vom Ganzen und
alien iiber ihr unmittelbares, punktuelles Dasein hinausreichenden Momenten
fiihrt dazu, dafi sich das musikalische Interesse auf den »sensuellen Reiz« ver-
lagert, »der von Kulturrettern so mifiverstanden wird« 240 . Er ist nichts weniger
als anarchisch. Anzunehmen, es setze sich hier, wie in der burgerlichen Auf-
stiegsperiode, die »Genufifunktion« gegeniiber der »disziplinierenden« durch,
ware falsch; denn die »apperzipierten Reize« verbleiben »widerstandslos im
starren Schema, und wer sich ihnen verschreibt, wird am letzten gegen es auf-
233
Ibid.
234
Ibid.,
, s.
340;
cf.
zur
»Dummheit des Horens*
audi S. 344 f .
235
Ibid.
236
237
236
Ibid.,
Ibid.
Ibid.,
s.
s.
341.
342.
239
240
Ibid.
Ibid.,
s.
343.
52* ALFRED SCHMIDT
mucken«. Sie halten sich zudem, borniert, wie sie sind, »im Umkreis einer im-
pressionistisch aufgeweichten Tonalitat« 241 . Gerade die atomistisch Horenden
wehren sich am ehesten gegen ungewohnte neue Farben und Klange, ihr Inter-
esse am isolierten Reiz bleibt musikalisch folgenlos. Soweit sie iiberhaupt nodi
gewillt und imstande sind, den vorgezeichneten Rahmen zu verlassen, stiirzen
sie sich in eine - von Adorno typologisch beschriebene - Pseudoaktivitat 242 ,
welche den »passiven Zustand des Zwangskonsumenten« 248 nicht beseitigt und
die Regression allemal bestatigt.
Adornos Arbeiten in der Zeitschrift, von denen hier die iiber den Fetischcharak-
ter wegen ihrer Nahe zur Marxschen Dkonomie eingehender behandelt wurde,
sind durchweg als Beitrage zum dialektischen Problem der »Vermittlung« von
Uberbau und Basis zu verstehen, das fiir Adorno »das eigentliche Problem einer
materialistischen Kulturgeschichte« 244 ist. Welche geschichtsphilosophischen und
-methodischen Uberlegungen ihn bei dieser Frage bestimmen, geht am deutlich-
sten wohl hervor aus seinem ersten Aufsatz in Horkheimers Organ: Zur gesell-
schaftlichen Lage der Musik 245 . Auf ihn sei deshalb noch kurz verwiesen.
Adornos Ausgangspunkt ist die These, dafi - im Sinne der marxistisch gedeu-
teten Logik Hegels - die antagonistische Gesellschaft, das negative »Wesen«,
in vielfach gebrochener Weise in den Strukturen der Musik »erscheint«. Deren
Situation ist dadurch gekennzeichnet, dafi sie »in den bestimmtesten Linien die
Widerspriiche und Briiche ab(zeichnet), welche die . . . Gesellschaft durchfur-
chen«, und dabei »zugleich durch den tiefsten Bruch von eben der Gesellschaft
abgetrennt (ist), die sie selber samt ihren Briichen produziert, ohne doch mehr als
Abhub und Triimmer der Musik aufnehmen zu konnen« 246 . Die uberaus schroffe
Trennung von Gesellschaft und Musik ist doppelten Wesens. Einmal verhilft sie
der Musik dazu, sich als Kunst zu konstituieren, zum anderen entzieht sie diese
den Menschen. In dem Mafle, wie der kapitalistische Verwertungsprozefi sich
alle musikalische Produktion und Konsumption einverleibt, »wird die Entfrem-
dung zwischen der Musik und den Menschen vollkommen* 247 . Soweit sich jene
nicht den Gesetzen der Warenproduktion iiberlafit, ist ihr der gesellschaftliche
Boden tendenziell entzogen; sie lauft Gefahr, hohl und unverbindlich zu wer-
den. Wohl ist die Musik, wie Adorno im einzelnen ausfuhrt, »unter der Uber-
macht des monopolkapitalistischen Musikbetriebes zum BewuStsein ihrer eige-
2" Ibid.
*« Cf. ibid., S. 346 ff.
24 » Ibid., S. 346.
244 Adorno, Rezension von: Alfred Kleinberg, Die europaische Kultur der Neuzeit, in: Zeit-
schrift fiir Sozialforschung, Jahrgang I, 1932, Doppelheft l/2, S. 212.
245 Adorno hat gerade dieser Arbeit fiir seine spatere Entwiddung eine gewisse Schlusselposition
zuerkannt. Cf. dazu den Aufsatz WissenschaftUche Erfahmngen in Amerika, in: Stichworte,
1. c, S. 114.
246 Adorno, Zur gesellschafilichen Lage der Musik, in: Zeitschrift jiir Sozialforschung, Jahr-
gang I, 1932, Doppelheft 1/2, S. 103.
«* Ibid.
DIE »ZEITSCHRIFT FUR SOZIALFORSCHUNG« 53*
nen Verdinglichung, der Entfremdung von den Menschen« 248 , vorgestofien.
Dadurdi aber, dafi ihr die aufiermusikalischen, materiell-gesellschaftlichen Ur-
sachen ihres prekaren Zustands unbekannt blieben, verfiel sie dem ideologi-
schen Trug, ihre Isolierung »sei isoliert, namlich blofi von der Musik aus korri-
gierbar« 249 .
Fur Adorno indessen beginnt jede ernsthafte Diskussion der gesellschaftlichen
Lage von Musik mit der Einsicht, dafi deren »Gesellschafts-Fremdheit . . . selber
gesellschaftliches Faktum, selber gesellschaftlidi produziert ist. Und darum audi
korrigierbar nidit innermusikalisch, sondern blofi gesellschaftlidi: durch Verande-
rung der Gesellschaft« 250 . Insofern gehen denn audi die Angriffe eines begriff-
lidi stumpfen musikalisch-kulturpolitisdien Reformismus auf die wirklidi avan-
cierte Kunst an der Sadie vorbei. Sie stehen im Zeichen von Vorwiirfen wie
»Individualismus, Artistentum, tedinische Esoterik« und behaupten sidi nodi
heme. Was die Frage angeht, ob (und, gegebenenfalls, was) Musik zur gesell-
schaftlichen Veranderung beisteuern kann, so ist Adorno sehr vorsichtig. Fest
steht ihm zunachst nur, da£ sie sich alien Gemeinschafts-Ideologien versagen
mufi, jedem (die historische Dialektik mifiachtenden) Versuch, »von sich aus eine
Unmittelbarkeit herzustellen . . ., die gesellschaftlidi nicht blofi heute verwehrt,
sondern schlechter dings nicht wiederherstellbar nodi selbst wunschbar ist; und
damit zur Verhullung der Lage beitragt« 251 .
Hodist fraglich, ob die Musik, sofern sie uberhaupt in den sozialen Prozefi ein-
greift, dies qua Kunst bewerkstelligt. Fiir Adorno gibt es 1932 angesichts der -
objektiv vermittelten - Ungewifiheiten nur ein asthetisch vertretbares Pro-
gramm, woran er audi spater, prinzipiell zumindest, festgehalten hat: »Musik
(vermag) nichts anderes als in ihrer eigenen Struktur die gesellschaftlichen
Antinomien darzustellen ... Sie wird um so besser sein, je tiefer sie ... die
Madit jener Widerspriidie und die Notwendigkeit ihrer gesellschaftlichen Uber-
windung auszuformen vermag; je reiner sie, in den Antinomien ihrer eigenen
Formensprache, die Not des . . . Zustands ausspricht . . . Ihr frommt es nicht, in
ratlosem Entsetzen auf die Gesellschaft hinzustarren: sie erfiillt ihre gesellschaft-
liche Funktion genauer, wenn sie in ihrem eigenen Material und nach ihren
eigenen Formgesetzen die gesellschaftlichen Probleme« darstellt, »welche sie bis
in die innersten Zellen ihrer Technik in sidi enthalt« 252 .
Damit ist jeder plakativ-»realistischen« Kunst-Konzeption eine entschiedene
Absage erteilt. Adornos materialistische Asthetik betont die dialektisch-span-
nungsvolle Einheit des spezifisch artistischen und des gesellschaftlichen »Wesens«
der Kunst. Je unbeirrter sich diese ihrer immanenten Logik anvertraut, das
2« Ibid., S. 104.
2 « Ibid.
25 ° Ibid.
251 ibid, - Cf. dazu auch Adornos Bemerkungen iiber den »Objektivismus« und »FoIklorismus«
auf S. 108.
252 Ibid., S. 105.
54*
ALFRED SCHMIDT
heifit: alle von aufien kommenden politischen Parolen auf sich beruhen lafit,
desto mehr ofifenbart sie von den ebenso destruktiven wie zukunftstrachtigen
Tendenzen des Zeitalters; wobei sie Ietztere nicht etwa propagiert, sondern
negativ ausdriickt: »in den Chiffren des Leidens« 253 . - Kritische Kunst bildet
die (sie tragende und zugleich als gesellschaftlich-historisdi bearbeitetes Natur-
material in sie einwandernde) empirisdie Realitat nicht oberflachlich-aufierlich
ab; vielmehr reflektiert sie, monadologisch, das ihr Transzendente in sich selbst,
in der gegenstandlichen Immanenz ihrer Werke.
Eine griindlichere Diskussion dieser - sicher immer nodi aktuellen - Erwagun-
gen iiberschritte den Rahmen des Essays. Nur noch so viel: Adorno sieht die
»Aufgabe der Musik als Kunst « durchaus analog zu der »der gesellschaftlichen
Theorie« 254 . Wie diese steht sie in einem komplexen, ja aporetischen Verhaltnis
zur kapitalistischen Gesellschaft. An ihr hat die Musik ihre geschichtliche Sub-
stanz, deren Negativitat sie, mit Hegel gesprochen, auszuhalten trachtet. Adorno
bezeichnet die im Verhaltnis von Musik und Gesellschaft enthaltenen Schwierig-
keiten folgendermafien: »Wollte man die immanente Entfaltung der Musik
absolut setzen, als blofie Spiegelung des gesellschaftlichen Prozesses, so wiirde
man . . . den Fetischcharakter . . . sanktionieren, der ihre Not und das . . . von
ihr darzustellende Grundproblem ist. Dafi sie andererseits nicht nach der beste-
henden Gesellschaft gemessen werden darf, . . . steht klar. Dafi sie vollends
nicht, . . . fern von den tatsachlichen gesellschaftlichen Verhaltnissen, als
>geistiges< Phanomen genommen werden sollte, das . . , Wunsche der gesellschaft-
lichen Veranderung unabhangig von deren empirischen Verwirklichung im
Bilde vorwegnehmen kann, ist die Voraussetzung jeder historisch-materiali-
stischen und nicht blofi >geistesgeschichtlichen< Methode« 255 . Haben derart Musik
und kritische Theorie in ihrem Verhaltnis zum soziaien Ganzen mit den nam-
lichen Aporien zu kampfen, so verhalten sich beide diesen gegeniiber analog:
namlich erkennend. Aus den genannten Verlegenheiten ergibt sich fiir Adorno
gerade kein irrationalistisches Abdanken der Musik. Von ihr - und das ver-
bindet seine Asthetik mit der Hegelschen - fordert er, was, cum grano salis,
»Erkenntnischarakter« genannt werden kann: »In ihrem Material mufi sie die
Probleme rein ausformen, die das Material ... ihr stellt; die Losungen, die sie
dabei findet, stehen Theorien gleich: in ihnen sind gesellschaftliche Postulate ent-
halten« 256 . Dafi deren Beziehung zur Praxis hochst indirekt ist und dafi sie sich
keineswegs auf Anhieb verwirklichen lassen, konzediert Adorno. Aber sie ent-
scheiden letztlich dariiber, in weldier Weise Musik auf die gesellschaftliche
Wirklichkeit einwirkt.
In diesem Zusammenhang wendet sich Adorno energisch gegen die kurzatmige
(noch immer zu horende) These, den Massen unverstandliche Musik sei
2 «« Ibid.
W4 Ibid.
«5 Ibid.
256 Ibid.
DIE »ZEITSCHRIFT FUR SOZlALFORSCHUNG« 55*
»esoterisch-privat, also reaktionar« 257 . Er zeigt, dafi dieser romantischen Vor-
stellung musikalisdier Unmittelbarkeit zugleich die - audi politisdi fehl-
gehende - Ansicht zugrunde liegt, »das empirische Bewufitsein der gegenwar-
tigen Gesellschaft, das in Enge und Unerhelltheit . . . von der Klassenherrsdiaft
gefordert wird, konne als positives Mafi einer nicht mehr entfremdeten, sondern
dem freien Menschen zugehorigen Musik gelten« 258 . Die gesellsdiaftliche Erkennt-
nis muE sich, kontrar, dagegen. sperren, daft ein selbst der Kritik bedurftiges
Bewufitsein ihr Grenzen aufnotigt. Auch das des Proletariats ist durch die Klas-
senverhaltnisse verunstaltet. Wie die Theorie, muft audi die Musik das unmit-
telbare Bewufitsein der Massen transzendieren. Dialektisch verhalt sie sich zur
bestehenden Praxis, »indem sie in sich selber« - dem erreiditen Stand der
Theorie gemafi — »alle die Elemente ausbildet, deren objektive Intention die
Oberwindung der Klassenherrsdiaft ist« - audi wenn dies »gesellschaftlich
isoliert und zellenhaft wahrend der Klassenherrsdiaft sich vollzieht« 259 .
Adorno denkt hier vornehmlich an Schonberg und seine Sdiule. Der heftige,
ihrer Produktion entgegengebradite Widerstand indiziert, wie er schreibt, »dafi
die dialektische Funktion dieser Musik in der Praxis . . . bereits fiihlbar wird« 260 .
Gerade der »esoterische Schonberg« gehort keiner »spezialisierten und gesell-
schaftlich irrelevanten Musikgeschichte als Geistesgeschichte« 261 an, sondern dem
kritisdi begriftenen Prozefi der realen Gesellschaft; und zwar deshalb, weil er
sich kompromifiios der Logik der Sache hingibt. Jede »subjektiv-expressive Er-
rungenschaft« Schonbergs ist, wie Adorno biindig dartut, »eine Auflosung ob-
jektiv-materialer Widerspriidie«, eine »prazise Antwort . . . auf Fragen, welche
das Material in Gestalt der materialeigenen Probleme an ihn richtet« 262 . Eine
Projektion der »materialen Dialektik« Schonbergs auf die der Gesellschaft ist
daher fur Adorno insofern gerechtfertigt, als Schonberg »in Gestalt der
materialen Probleme, die er ubernahm und weitertrieb, die Probleme der Ge-
sellschaft vorfand, die das Material produzierte und in ihm ihre Widerspruche
als technische Probleme aufstellte« 263 . — Ein instruktiver Essay, der die ent-
scheidenden Kategorien von Adornos Geschichtsphilosophie der Neuen Musik
teils vorwegnimmt, teils bereits entfaltet.
Unsere - notwendig skizzenhafte - Charakteristik der asthetischen und kunst-
soziologischen Studien in der Zeitschrift bliebe allzu unvollstandig, wollten wir
darauf verzichten, Walter Benjamins zu gedenken. Das Horkheimersche Institut
bot ihm nicht nur die Moglichkeit, von seinem Pariser Exil aus zu publizieren,
257 Ibid., S, 106.
258 Ibid.
*5» Ibid.
26 Ibid., S. 107.
261 Ibid., S. 111.
262 Ibid.
263 Ibid.; cf. zur »dialektisdien Erkenntnisfunktion« der Neuen Musik auch S. 106 unten.
56* ALFRED SCHMIDT
es unterstiitzte ihn audi finanziell wahrend einer anhaltend akuten Notlage. -
Von Benjamin enthalt die Zeitschrift folgende Beitrage: Zum gegenwartigen
Standort des franzosiscben Schriftstellers (1934), Probleme der Sprachsoziologie
(ein Sammelreferat, 1935), die vieldiskutierte, zunachst franzosisdi gedruckte
Arbeit uber den geschiditlichen Verlust der »Aura« des Kunstwerks unter dem
Titel Uoeuvre d'art a Vepoque de sa reproduction mecanisee (1936), die - fur
das Marx-Verstandnis Benjamins nicht unwiditige - Gelegenheitsarbeit Eduard
Fuchs, der Sammler und der Historiker (1937), schliefilich den weithin bekannten
Essay Uber einige Motive bei Baudelaire (1939).
Hier sei lediglich auf die Texte von 1936 und 1937 knapp eingegangen. Der
erstere, spater deutsch unter dem Titel Das Kunstwerk im Zeitalter seiner tech-
nischen Reproduzierbarkeit veroffentlidit, wurde fiir die geistige Entwicklung
seines Autors widitig. Benjamin war sidier, »als Erster einige Fundamentalsatze
der materialistisdien Kunsttheorie gefunden« zu haben, und setzte sie in einer
ebenso kleinen wie gehaltvollen »programmatischen Schrift<c 264 auseinander.
Diese war, nicht zuletzt unter dem Einflufi Brechts und des sowjetischen Doku-
mentarfilms entstanden 265 , gegen die faschistische Massenkunst gerichtet, spradi
ihren Thesen einigen »Kampfwert« 268 zu und wollte »die neu in die Kunst-
theorie eingefuhrten BegrifTe . . . zur Formulierung revolutionarer Forderungen
in der Kunstpolitik« 267 benutzen. Die faschistisch betriebene »Asthetisierung der
Politik« sollte mit der marxistischen »Politisienmg der Kunst« 268 beantwortet
werden.
Ausgangspunkt der Reflexionen Benjamins ist die Einsicht in die Untauglichkeit
biirgerlich iiberlieferter Kategorien wie Schopfertum, Genialitat, Personlichkeit,
Ewigkeitswert und Geheimnis, weil sie, umstandslos verwandt, »zur Verarbei-
tung des Tatsachenmaterials in faschistischem Sinn« 269 fiihren. Benjamin da-
gegen mochte zeigen, dafi in dem mit der technischen Reproduzierbarkeit der
Kunstwerke gesetzten Verfall ihrer »Aura« sich audi andere Moglidikeiten ab-
zeidinen, die es zu retten gilt. Insbesondere durch den Film, der die Reproduk-
tion eines auf Reproduzierbarkeit angelegten Kunstwerks leistet, sieht Benjamin
das »VerhaItnis der Masse zur Kunst« 270 qualitativ verandert. Gerade er for-
264 Benjamin an Werner Kraft, Brief vom 28.10.1935, in: Benjamin, Briefe, Band 2, I.e.,
S. 699. - Im Brief vom 24. 10. 1935 an Kitty Marx-Steinschneider spricht er hinsichtlich seines
Aufsatzes von »Fixierungen einiger eingreifender Oberlegungen zur Kunsttheorie «, in: ibid.,
S. 697.
265 Cf. dazu Helmut Lethen, Zur materialistischen Kunsttheorie Benjamins, in: alternative,
10. Jahrgang, Heft 56/57, Berlin 1967, S. 226 f. und 231 f.
266 Zitiert nach der (erweiterten) deutsdien Fassung, in: Benjamin, Schriften, herausgegeben von
Theodor W. Adorno und Gretel Adorno unter Mitwirkung von Friedridi Podszus, Frankfurt am
Main 1955, S. 367.
2 «7 Ibid.
268 Ibid., S. 397.
*™ Ibid.
*™ Ibid., S. 387.
DIE »ZEITSCHRIFT FUR SOZlALFORSCHUNG« 57*
dert, selbst unter der Herrschaft des Filmkapitals, »eine revolutionare Kritik der
iiberkommenen Vorstellungen von Kunst« 271 . Die naive »Lust am Sdiauen und
Erleben« geht, was Benjamin besonders unterstreicht, in der »simultanen Kol-
lektivrezeption« der Filmtheaterbesudier »eine unmittelbare und innige Verbin-
dung mit der Haltung des fadimannischen Beurteilers« 272 ein. Verlangte die tra-
ditionelle Kunst vom Betrachter Konzentration und Sammlung, so bietet sidi der
Film dem Bedurfnis nach Zerstreuung an, bei dessen Befriedigung die Massen
das Kunstwerk in sidi »versenken« 273 . Der kollektiv vollzogenen Rezeption
schreibt Benjamin im Gegensatz zur privaten, abgekapselten die mobilisierende
Kraft zu, Kunst aus ritualer in riditige politische Praxis zu uberfuhren.
Fraglos heikle, zu optimistische Gedankengange, die in der Analyse bedeutsamer
waren als in den aus ihr gezogenen praktischen Konsequenzen. Sie mufiten sidi
von vornherein sdiarfster Kritik aussetzen. Die drastisdien Erfahrungen mit
dem manipulierten politischen Film in den totalitaren Staaten dieses Jahrhun-
derts, seine dubiose Rolle im System spatkapitalistischer Kulturindustrie 274 , ganz
zu sdiweigen von der Massenwirksamkeit heutiger Medien, alien voran des
Fernsehens, haben dariiber belehrt, wie triigerisch Benjamins (und Brechts) Hoff-
nungen waren, der spatbiirgerlidie Verfall von Kunst, das Verschwinden der
Autonomic des Werkes, der Kultwerte, des schonen Scheins werde sidi im Sinn -
fortschrittlicher - Politik »umfunktionieren« lassen. Benjamin iiberschatzte den
Spielraum moglidier Neutralitat der tedinischen Produktivkrafte gegeniiber der
Weise, sidi ihrer im vorgegebenen Rahmen der Produktionsverhaltnisse zu be-
dienen. Was die modernen Kollektiva angeht, deren Willen, in die Geschichte
aufzubredien, Benjamin ebenfalls iiberbewertet hat, so fiihlen sie sidi, zumin-
dest in den fortgeschrittenen Industrielandern des heutigen Westens, im total ent-
fremdeten Zustand bestatigt. Ihn »geniefien« sie inzwisdien, nicht seine pro-
gressive Kritik, wie Benjamin (mit Brecht) annahm. Davon, dafi die eine Welt
transportabler Spiegelbilder 275 des Bestehenden herstellenden (und insofern
a priori ideologisdi wirkenden) Apparaturen eine Art Selbstkontrolle der
Massen auslosen oder wenigstens ermoglichen, an weldie die »organisierende
Funktion« 276 revolutionarer Kunstwerke einfadi anzukniipfen vermodite, kann
keine Rede sein.
271 Ibid., S. 383.
272 Ibid., S. 387.
2" Cf. ibid., S. 393 f.
274 Adornos hier erorterte Abhandlung uber den Fetischcharakter verstand sich als »eine Art
kritischer Replik* auf Benjamins kurz vorher in der Zeitsdirift veroffentHchte Arbeit. »Die Proble-
matik der kulturindustriellen Produktion und der thr zugeordneten Verhaltensweisen*, sdireibt
Adorno, »wurde darin unterstridien, wahrend Benjamin eben jene problematische Sphare . . . alku
ungebrochen zu >retten< trachtete«. In: Wissenschafiltcbe Erfahrungen in Amerika, 1. c, S. 117.
275 Cf. Benjamin, Das Kunstwerk im Zettalter seiner technischen RepToduzierbarkeit^ 1. c,
S. 382.
278 Piet Grudiot, Konstmktive Sabotage. Walter Benjamin und der burgerliche Intellektuelle,
in: alternative, 1. c, S. 209.
58* ALFRED SCHMIDT
Gleidrwohl bietet Benjamins Arbeit, namentlich in ihren fur die Erkenntnis-
theorie des dialektischen Materialismus wesentlichen, noch nicht rezipierten
Aspekten 277 , grundlegendes Material fur die Diskussion einer marxistischeri
Asthetik.
Wenn hier die Benjaminsche Arbeit iiber Fuchs noch gestreift wird, so weniger
wegen ihres Gegenstandes. Fuchs' Versuch, in seinen beruhmten archivarischen
Biichern historisch-materialistisch zu verfahren, ist iiber die bescheidenen Ergeb-
nisse der Kautsky und Mehring schwerlich hinausgelangt. Bemerkenswert ist die
Arbeit durch eingestreute Reflexionen iiber den Begriff der Geschichte, die (zum
Teil wortlich) in den Geschichtsphilosophischen Thesen wiederkehren. Benjamins
Beschaftigung mit diesem Thema beginnt friih und richtet sich von vornherein
mehr aufs Materiale als aufs Formale und Definitorische. So bemangelt er, dafi es
sich bei Kants kleinen Schriften »weniger um die Geschichte als um gewisse
geschichtliche Konstellationen von ethischem Interesse« 278 handelt. Auf gleicher
Linie liegt Adornos Hinweis, dafi Benjamin »den existential-ontologischen
Geschichtsbegrifl« Heideggers als »blofies Destillat verwarf, aus dem der StofF
der historischen Dialektik verdampft« 279 . Mit ihm jedoch mufi ein Denken sich
abgeben, das einen »kunftigen, von Magie befreiten Weltzustand« 280 anvisiert.
Es ist in jiingster Zeit wiederholt dariiber diskutiert worden, mit welchem Recht
Benjamin als Marxist bezeichnet werden konne. Er selbst hat sich unmifiver-
standlich dazu geaufiert. In einem Brief an Max Rychner versucht er, die
marxistischen Gedankengange seiner spateren Arbeiten aus der Sache selbst, nicht
aus angeeigneter Gesinnung, zu begriinden: »Nicht weil ich >Bekenner< der
materialistischen >Weltanschauung< ware; sondern weil ich bestrebt bin, die
Richtung meines Denkens auf diejenigen Gegenstande zu lenken, in denen je-
weils die Wahrheit am dichtesten vorkommt. Und das sind heute nicht die
>ewigen Ideen<, nicht die >zeitlosen Werte< «. Im weiteren bittet er Rychner,
in ihm keinen »Vertreter des dialektischen Materialismus als eines Dogmas, son-
dern einen Forscher zu sehen, dem die Haltung des Materialisten wissenschaft-
lich und menschlich in alien uns bewegenden Dingen fruchtbarer scheint als die
idealistische« 281 ,
Benjamin fesselt an der Marxschen Theorie der neue, allem blofien »Historis-
mus« sich widersetzende Zugang zur Geschichte, wie er auch der judisch-mysti-
277 Zu denken ware dabei an Benjamins Ansatze zu einer historischen Theorie der menschlichen
Suineswahrnehmung und Wahrnehmungswelt. Cf. etwa 1. c, S. 372; 388 f.; 390; 394.
278 In einem (vermutlich vom 23. 12. 1917 datierenden) Brief an Scholem. In: Benjamin, Brief e,
Band 1, I.e., S. 161.
279 Adorno, Prismen, Frankfurt am Main 1955, S. 286.
280 Benjamin an Werner Kraft, Brief vom 28. 10. 1935, in: Benjamin, Briefe, Band 2, 1. c, S. 698.
281 Brief vom 7.3.1931, in: 'Benjamin, Briefe, Band 2, I.e., S. 523; 524 (Hervorhebung von
Benjamin). - Diese sehr bedachten Aufierungen decken sich weitgehend mit der von Horkheimers
Kreis entwickelten Konzeption; sie zeigen, auf welche Schwierigkeiten die (inzwischen nicht mehr
seltenen) Bemiihungen stofien miissen, Benjamins Denken in den Dienst parteikommunistischer
Ideologic zu stellen.
DIE »ZEITSCHRIFT FUR SOZIALFORSCHUNG« 59*
schen Tradition nicht fremd ist. Ihr wufite sich der Freund Scholems und Blochs
verbunden. - Die Arbeit iiber Fudis nun belegt an einem Brief des spaten
Engels zur >>geschichtliche(n) Lage . . . des historischen Materialismus selbst« 282
einen zentralen Impuls des Benjaminsdien Geschichtsdenkens. Bei Engels heifk
es: »Es ist dieser Sdiein einer selbstandigen Geschichte der Staatsverfassungen,
der Reditssysteme, der ideologischen Vorstellungen auf jedem Sondergebiet, der
die meisten Leute vor allem blendet. Wenn Luther und Calvin die offizielle
katholische Religion, wenn Hegel den Fichte und Kant, Rousseau indirekt mit
seinem republikanisdien >Contrat social< den konstitutionellen Montesquieu
>uberwindet<, so ist das ein Vorgang, der innerhalb der Theologie, der Phi-
losophic, der Staatswissenschaft bleibt, eine Etappe in der Geschichte dieser Denk-
gebiete darstellt und gar nicht aus dem Denkgebiet hinauskommt. Und seitdem
die biirgerliche Illusion von der Ewigkeit und Letztinstanzlichkeit der kapita-
listischen Produktion dazu gekommen, gilt ja sogar die Oberwindung der Mer-
kantilisten durch die Physiokraten und A. Smith flir emen blofien Sieg des
Gedankens; nicht fiir den Gedankenreflex veranderter okonomischer Tatsachen,
sondern fiir die endlich errungene richtige Einsicht in stets und iiberall beste-
hende tatsachliche Bedingungen« 283 .
Benjamin konstatiert zunachst, dafi damit das »geistesgeschichtliche« Dogma
einer reinen Immanenz ideeller Ablaufe zertriimmert ist; es geht nicht langer
an, einzelne Kultursektoren abgelost von ihrer sozialen Wirkungsgeschichte zu
behandeln, die ihrerseits vermittelt ist durch den jeweiligen Lebensprozeft der
Gesellschaft. »Aber«, fiigt Benjamin dem sogleich hinzu, »die Sprengkraft dieser
Gedanken ... reicht tiefer«; sie problematisiert aufs empfindlichste »die Ge-
schlossenheit« der aufierokonomischen »Gebiete und ihrer Gebilde« 284 . Auf die
Kunst angewandt, bedeutet strenger Materialismus, dafi ihr - bislang einheit-
lich gedachter - Begriff briichig wird. Die Kunstwerke verlieren ihren
ontologischen Status. Ihre Analyse schliefit fiir den historischen Dialektiker das
genaue Studium ihrer Vor- und Nachgeschichte ein - »eine Nachgeschichte,
kraft deren audi ihre Vorgeschichte als in standigem Wandel begriffen erkenn-
bar wird« 285 . Beide wandern in die innerste Struktur der Werke ein; sie beleh-
ren den dialektisch Forschenden dariiber, »wie ihre Funktion ihren Schopfer zu
iiberdauern, seine Intentionen hinter sich zu lassen vermag; wie die Aufnahme
durch seine Zeitgenossen ein Bestandteil der Wirkung ist, die das Kunstwerk
heute auf uns selber hat, und wie die letztere auf der Begegnung nicht allein nut
ihm, sondern mit der Geschichte beruht, die es bis auf unsere Tage hat kommen
lassen « 286 .
282 Benjamin, Edttard Fucks, der Sammler und der Htstoriker, in: Zeitschrift fur Sozialfor-
schung, Jahrgang VI, 1937, Heft 2, S. 346.
283 Engels an Mehring, Brief vom 14. 7. 1893, in: Marx/Engels, Ausgewdhlte Brief e s 1. c, S. 550.
284 Benjamin, Eduard Fuchs, der Sammler und der Htstoriker, 1. c, S. 347.
** Ibid.
28 « Ibid.
60* ALFRED SCHMIDT
Am Anfang jeder wirklich dialektischen Untersuchung der Geschichte steht fiir
Benjamin die »Beunruhigung« dariiber, dafi sie dem Betrachter zumutet, »die ge-
lassene, kontemplative Haltung dem Gegenstand gegeniiber aufzugeben, um der
kritischen Konstellation sich bewuik zu werden, in der gerade dieses Fragment
der Vergangenheit mit gerade dieser Gegenwart sich befindet« 287 . - Es geht hier,
wohlgemerkt, um ein Metaphysisches, nicht nur darum, in die Soziologie von
Kunstwerken (wie dies Lowenthal in der Zeitschrift recht eindrucksvoll unter-
nommen hat) deren Wirkungsgeschichte aufzunehmen. Wenn es in einem -
von Benjamin erwahnten - Satz Gottfried Kellers heifit, die Wahrheit werde
uns nicht davonlaufen, so ist der theoretische Ort markiert, an dem das
»Geschichtsbild des Historismus . . . vom historischen Materialismus durchschla-
gen wird. Denn es ist ein unwiederbringliches Bild der Vergangenheit, das mit
jeder Gegenwart zu verschwinden droht, welche sich nicht als in ihm gemeint
erkannte« 288 . Eine solche Gegenwart ist die ganze spatburgerliche Phase: eine
Nachwelt, die sich ihrer grofien Vergangenheit schamt, deren Dokumente sie
entweder verfalscht oder beseitigt. Der historische Materialist indessen fafk
»geschichtliches Verstehen ... als ein Nachleben des Verstandenen auf, dessen
Pulse bis in die Gegenwart spurbar sind« 28& . Ihm kommt Zukunft als unverwirk-
lichte Moglichkeit auch aus der Vergangenheit entgegen.
Wer Geschichte dialektisch darstellt, gibt auf, was Nietzsche »antiquarische
Historie« genannt hat; er entschlagt sich aller fiir den Historismus charakte-
ristischer Beschaulichkeit, des behaglichen Abschilderns der Fakten; er gibt das
»epische Element der Geschichte« preis, ihre einleuchtende Linearitat, und zwar
zugunsten einer »Konstruktion, deren Ort nicht die leere Zeit, sondern die be-
stimmte Epoche, das bestimmte Leben, das bestimmte Werk bildet«. Benjamin
rekurriert mit diesem Begriff der »Konstruktion« (der ganz wie der ihm ver-
wandte der »Darstellung« bei Marx romantischer Philosophic entstammt) auf
sein bedeutendes Buch iiber den Ursprung des deutschen Trauerspiels und notiert
dabei, es sei deren Aufgabe, »das in der geschichtlichen Erfahrung ursprunglich
uns Betreffende gegen die zusammengestoppelten Befunde des Tatsachlichen«
abzuheben. Das bewerkstelligt sie so, dafi sie aus der »dinghaften >geschicht-
lichen Kontinuitat< « die zu untersuchende »Epoche« herausbricht, aus ihr wie-
derum »das Leben« und das »Werk aus dem Lebenswerk«. Zugleich stellt die
Konstruktion den - nunmehr begriffenen - Zusammenhang wieder her; sie
erreicht, »dafi im Werke das Lebenswerk, im Lebenswerk die Epoche und in der
Epoche der Geschichtsverlauf aufbewahrt und aufgehoben ist« 2M .
287 ibid.
288 Ibid.
28» Ibid., S. 348.
290 Ibid. - Die von Benjamin als Beleg fiir seinen Konstruktion sbegriff aus dem Trauerspiel-
Buch angefiihrte Stelle lautet: »Im nackten ofFenkundigen Bestand des Faktischen gibt das Ur-
spriinglidie sich niemals zu erkennen, und einzig einer Doppeleinsicht steht seine Rhythmik
offen. Sie...betrifft dessen Vor- und Nachgeschichte«. In: Benjamin, Schriften, Band 1, I.e.,
S. 162. - Cf. zum »Ursprung« als »historischer Kategorie« auch S. 161.
DIE »ZEITSCHRIFT FUR SOZIALFORSCHUNG« 61*
Im Gegensatz zum Historismus (wie zu seiner eigenen, platt-evolutionistischen
Verfallsform) ist es dem historischen Materialismus nicht urn »das ewige Bild der
Vergangenheit« zu tun, sondern darum, »eine jeweilige Erfahrung mit ihr« zu
formulieren, »die einzig dasteht«. An die Stelle des blofien »Es-war-einmal des
Historismus « tritt kritisdi »ein Bewufttsein der Gegenwart, welches das Kon-
tinuum der Geschichte aufsprengt« 291 , um diese aus ihrer Verstricktheit in Natur
zu erlosen.
Das philosophisch Wahre ist fiir Benjamin, der sich audi in diesem Punkt mit
Nietzsche beruhrt, nidit im zeitlos Allgemeinen aufzufinden, sondern nur im
Spezifischen, Konkret-Geschichtlichen, worin der Theoretiker sich versenken
muf5. Den Gedanken, daf5 »einzig das Geschichtliche die Gestalt des Absoluten
abgebe«, hat Adorno geradezu als »Kanon« 292 der Benjaminschen Methode be-
zeidmet. Diese besteht nicht darin, feststehende Begriffe durch historisches
Material zu illustrieren. Vielmehr gilt Benjamins » desperate Anstrengung, aus
dem Gefangnis des Kulturkonformismus auszubrechen, . . . Konstellationen des
Geschichtlichen, die nicht auswechselbare Beispiele fiir Ideen bleiben, jedoch in
ihrer Einzigkeit die Ideen als selber geschichtliche konstituieren« 293 . - Benja-
mins Erwagungen zum Begriff der Geschichte diirften gerade heute auf das
Interesse all derer stofien, die sich mit dem kargen Bescheid strukturalistischer
Ideologen nicht abfinden wollen, daft die Menschheit dem Immer-Gleichen aus-
geliefert bleibe.
Last not least ist andeutungsweise auf die Beitrage der Zeitschrift zur poli-
tischen Dkonomie und ihrer Kritik sowie zu volkswirtschaftlichen Einzelfragen
einzugehen. Fiir sie gilt in besonderem Mafie, was eingangs zum Gesamtinhalt
der Bande zu sagen war: das rein faktische Material ist grofienteils veraltet, und
der Leser hat sich davor zu hiiten, damals begriindete Interpretationen unmit-
telbar auf die Gegenwart zu iibertragen. Gleichwohl ist die systematische
Bedeutung der okonomischen Studien fiir das die Zeitschrift tragende Konzept
nicht gering zu veranschlagen. Sie bilden ein wesentliches Korrektiv der phi-
losophisch-kulturwissenschaftlich orientierten Aufsatze; aus ihnen geht der (in
heutigen Diskussionen oft genug stiefmiitterlich behandelte) okonomische Inhalt
der von Horkheimer und seinen Freunden entworfenen Geschichtstheorie her-
vor.
Erortern wir kurz die Hauptgegenstande der Diskussion. - Auf wirtschafts-
und sozialgeschichtlichem Gebiet sind die umfassenden und kenntnisreichen
Arbeiten Wittfogels iiber China zu nennen, welche die gerade in der Gegen-
wart methodisch wichtige Problematik der (von Marx unzulanglich bestimmten)
»asiatischen Gesellschaftsformation« behandeln: The Foundations and Stages of
Chinese Economic History (1935), der Bericht fiber eine grofiere Untersuchung
201 Benjamin, Eduard Fuchs, der Sammler und der Historiker, 1. c, S. 348.
292 Adorno, Prismen, I. c, S. 286.
S" Ibid., S. 287.
62* ALFRED SCHMIDT
der sozialokonomischen Struktur Chinas (1938) und The Society of Prehistoric
China (1939). - Ferner werden Fragen des sozialen Strukturwandels, der
technologischen Arbeitslosigkeit, der marxistischen Krisentheorie und der Plan-
wirtschaft diskutiert - Themen, die von den damaligen historischen Umstanden
nahe genug gelegt wurden. Die namhaftesten Dkonomen der Zeitschrift waren
Pollock und Grossmann, beide ausgewiesen durch beachtliche Publikationen des
Instituts. Dieser hatte ein Buch liber Das Akkumulations- und Zusammen-
bruchsgesetz des kapitalistischen Systems vorgelegt, jener die erste zusammen-
fassende Darstellung iiber Die planwirtschaftlichen Versuche in der Sowjetunion
(1917-1927) in deutscher Spradie. Anders als Grossmann argumentierte Pol-
lock hinsichtlich der (damals von nicht wenigen vertretenen) These, der Kapi-
talismus werde bald untergehen, weit vorsichtiger. Er nahm - wie sidi zeigen
sollte, zu Redit - an, dafi es dem biirgerlichen Staatsapparat gelingen werde,
audi um den Preis interventionistisdier, ja totalitarer Mafinahmen, die wirt-
schaftlichen Schwierigkeiten zu meistern. Obwohl ihm 1932 in Westeuropa alle
okonomisdien Voraussetzungen gegeben sdiienen, eine funktionsfahige Plan-
wirtschaft zu verwirk lichen, betrachtete er deren politisdie Aussiditen als gering.
Ihrn kam es darauf an, »alle Moglichkeiten einer solchen Wirtschaft zu iiberprii-
fen und eine geschlossene Theorie aufzubauen, die einer kunftigen Wirtschafts-
politik als Orientierungsmittel dienen konnte« 294 . - Von Pollock enthalt die
Zeitschrift folgende Aufsatze: Die gegenwartige Lage des Kapitalismus und die
Aussiditen einer planwirtschaftlichen Neuordnung (1932), Autarkic und Plan-
wirtscbafi (gemeinsam mit Mandelbaum, unter dem Pseudonym Kurt Baumann,
1933), die instruktive Arbeit Bemerkungen zur Wirtschaftskrise (1933), schliefl-
lich die Studien zur Theorie des autoritaren Staates aus den Jahren 1940/41
State Capitalism und Is National Socialism a New Order? - Von Grossmann
seien genannt: Die Wert-Preis-Trans formation hei Marx und das Krisen-
problem (1932), eine sich mit der wissensdiaftslogisch-erkenntnistheoretisdien
Struktur des Kapitals beschaftigende, nodi immer lesenswerte Arbeit, sowie sein
Diskussionsbeitrag Die gesellschaftlichen Grundlagen der mechanistischen Phi-
losophic und die Manufaktur (1935) zu Borkenaus Buch Der Vhergang vom
feudalen zum burgerlichen Weltbild, das ebenfalls aus der Arbeit des Instituts
hervorgegangen war.
Nicht zu vergessen sind die zahlreidien Beitrage, Literaturiiberblicke und Sam-
mehrezensionen, in denen das internationale Schrifttum iiber neoliberale Theorie
und die verschiedenen Spielarten von Planwirtschaft ebenso ausfuhrlich wie
kritisch erortert wird. Zu nennen ware unter anderem der Bericht von Meyer
iiber Engliscbe Liter atur zur Planwirtschaft (1933), der von Mandelbaum iiber
Neue Literatur zur Planwirtschaft (1935), die sehr lesenswerte Gemeinsdiafts-
arbeit von Mandelbaum und Meyer Zur Theorie der Planwirtschaft (1934),
sdiliefilich der Meyersdie Aufsatz iiber Krisenpolitik und Planwirtschaft (1935).
294 Pollock, Die gegenwartige Lage des Kapitalismus und die Attssichten einer planwirtschaft-
lichen Neuordnung, in: Zeitschrift fur Sozialforschung, Jahrgang I, 1932, Doppelheft 1/2, S. 27.
DIE »2EITSCHRIFT FUR SOZlALFORSCHUNG« 63*
Der Leser ist gut beraten, sich den Besprechungsteil der Zeitschrift genauer
anzusehen; nicht wenige Rezensionen haben den Rang kleiner Essays. Er enthalt
nicht nur eine ausgezeidinete Obersicht uber die gesamte sozialwissenschaftliche
und philosophische Diskussion der dreifiiger Jahre, sondern audi Quellen von
hohem zeitgeschichtlich-politologischem Interesse. Unbeschadet ihrer wissen-
schaftlichen Unerheblichkeit wurde in der Zeitschrift die fiir die Selbstinterpreta-
tion des nationalsozialistischen Staates mafigebliche Literatur kritisch be-
sprochen. Zur umfassenderen Analyse des Nationalsozialismus waren die Arbei-
ten von Landsberg, Kirchheimer und Neumann heranzuziehen. Ebensowenig
fehlt es an zusammenfassenden Berichten iiber die theoretischen Diskussionen in
Sowjetrufiland wahrend jener Jahre.
Dafi die in der Zeitschrift entwickelten Kategorien und Theoreme nicht unmittel-
bar auf die gegenwartige Situation angewandt werden konnen, wurde betont.
Imponierend bleibt bei alien heute erforderlichen Modifikationen und Korrek-
turen die grofiartige Geschlossenheit, mit der hier eine kleine Gruppe streitbarer
Intellektueller eine aus der besten europaischen Tradition hervorgegangene
Theorie auf ihren Spezialgebieten anwandte, so dafi fiir den Leser ein Doku-
ment von enzyklopadischem Reichtum entstand, das seinesgleichen sucht. Wem
immer es heute um kritische Besinnung und Humanitat zu tun, ist, wird zu der
Zeitschrift greifen.
Zeitschrift fur
Sozialforschung
Herausgegeben vom
Institut fur Sozialforschung Frankfurt a. M.
Jahrgang i / 1932
VERLAG VON C. L HIRSCHFELD / LEIPZIG
Copyright 1932 by C. L. Hirschfeld Verlag, Leipzig
INHALT DES I. JAHRGANGS
I. Aufsatze.
Seite
Vorwort I
FRANZ BORKENAU
Zur Soziologic des mcchanistischen Weltbildes, 311
ERICH FROMM
ffber Methode und Aufgabe einer analytisehen Sozialpsychologie. 28
ERICH FROMM
Die psychoanalytische Charakterologic und ihre Bedeutung fiir
die Sozialpsychologie 253
HENRYK GROSSMANN
Die Wert-Preis-Transformation bei Marx und das Krisen problem. 55
JULIAN QUMPERZ
Zur Soziologie des amerikanischen Parteiensystems. ..... 278
MAX HORKHEIMER
Bemerkungen uber Wissenschaft und Krise 1
MAX HORKHEIMER
Geschichte und Psychologic 125
LEO LOWENTHAL
Zur gesellschaftlichen Lage der Literatur. 85
FRIEDRICH POLLOCK
Die gegenwartige Lage des Kapitalismus und die Aussichten
einer planwirtschaftlichen Neuordnung 8
ANDRIES STERNHEIM
Zum Problem der Freizeitgestaltung 336
THEODOR WIESENGRUXD-ADORNO
Zur gesellschaftlichen Lage der Musik 103, 356
Inhalt des I. Jahrgangs
Seiie
II. Sammelbesprechungen.
GERHARD MEYER
Neucre Literatur iiber Planwirtschaft 379
III. Besprechiingen.
Philosophic:
Baeumler (Hrsg.) s. u.: Handbuch der Philosophic
Bounce ase, J., Philosophic do rimperialisme et science <Iu droit
(Tazerout) 408
Colin. Jonas, Wertwissenschaft. 2 Bde. (Sternberger) 400
Groce, Benedetto. Tre saggi filosofici (Drci philosophisohe Essays)
(Lerda-Olberg) . . . '." 407
Dunkmann, Karl (Hrsg.) s. u.: Lehrbuch der Soziologie und Sozial-
philosophic
Frank, Philipp, Das Kausalgesetz und seine Grenzen (Korttch) . . 404
Gogarten. Eriedrich, Politischo Ethik (Speier) . . . 404
Gouhier, Henri, La vie d' August e Comte (Kojevnikojj ) 152
Handbuoh der Philosophic 1 , hrsg. von Baeumler und Schroter. Abt. ill:
Mensch und Charakter (Steinrath) 14H
Jaspers, Karl, Philosophic. 3 Bde. (v. Aster) 401
— Die geistige .Situation der Zoit (Strzelewicz) 140
Lehrbueh der Soziologie und Sozialphilosophie. hrsg. vou Karl Dunk-
mann (IVcstermann) 140
Marck, Siegfried, Die Dialcktik in tier Philosophic der Gegenwart
(Meyer) 151
Ma reuse, Herbert. Hegels Ontologieimd die Gnmdlegungeiner Philo-
sophic der Geschichtliehkeit (Wiesencjrvnd-Adorno) 401*
Mehring. Franz, Zur Gesehichte der Philosophie. Gesammelte
Schriften und Aufsiitze, hrsg. von August Thalheimer (Meyer) 411
Nitzschkc, Heinz, Die Gesohichtsphilosophic Lorcnz von Steins
(Neumann) 410
Sauerland, Kurt. Dei* diulektisehe Materialismus ( W estermann ) . 152
Schaxel, Julius, Das Wcltbild der Gegenwart und seine gesellsehatl -
lichen Grundlagen (Korsch) 405
Spann. Othmar, Gesohichtsphilosophie (tilernberyer) 403
Spengler, Oswald . Der Mensch und die Technik ( Wiesengriwd-
Adorno) 149
Suranyi -Un ger T Theo, Gcschichte <ler Wirtschaftsphilosophie
(Meyer) 411
Tischleder, Peter s. u.: Weber, Heinrich, Handbuch der Sozialethik
Weber, Heinrich und Peter Tischleder. Handbuch dor Sozial-
ethik. Bd. I (Mert(ws) 408
AUgemcine Soziologie:
Alexander. Werner, Kainpf um Marx (Moldcnhan.cr) 417
American Sociological Society s. u.: Organization of Research in the
American Sociological Society
Bogardus, Emory S., (Contemporary Sociology (Lorke) 420
Brookings-Institution s. u.: Essays on Research in the Social Sciences
Davy, Georges, Sociologies d'hier et d'aujourd'hui (Szende) . . 164
Duncan. Hannibal Gerald. Backgrounds for Sociology (Lorke) . 422
Duprat, G. L. (Hrsg.) s. u.: Griinder der Soziologie
Endt, Piet, Sosiologie (Ster/iheim) 422
Inhalt des I. Jahrgangs
Seite
Engels, Fried rich s. u,: Marx, Karl, Die heilige Familie
— s. u.: Marx, Karl, Die deutsche Ideologie
Essays on Research in the Social Sciences, hrsg. von der Brookings-
Institution (Lorke) 162
Eubank, Earle E., The Concepts of Sociology (Lorke) 420
Fischer, Hugo, Karl Marx unci sein Verhaltnis zu Staat und Wirt-
schaft (Moldenhauer) 417
Freyer, Hans, Einleitung in die Soziologie (Winter) 157
— Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft (Winter) 157
Criinder der Soziologie. Eine Vortragsreihe unter Mitwirkung von
G. L. Duprat u. a. (Borkenau) 412
Handworterbuch der Soziologie, hrsg. von A. Vierkandt (O'ollub) . . 153
Heider, Werner, Die Geschiehtslehre von Karl Marx (Milko) . . 161
Kroner, Richard, Kulturphilosophische Grundlegung der Politik
(Haselberg) 414
Lenin, W. J., Uber den historischeii Materialismus (Korsch) , . , , 423
Lubienski, Zbigniew, Die Grundlagen des ethisch-politischen
Systems von Hobbes (Borkenau) 419
Maclver, R. M., Society. Its Structure and Changes (Lorke) , . 420
Marcuse, Herbert, Neue Quellen zur Grundlegung des historischen
Materialismus. In: Die Gesellschaft, 9. Jg., Nr. 8 (W ester mann) 416
Karl Marx/Friedrich Engels, Die heilige Famine und Schriften von
Marx von Anfang 1844 bis Anfang 1845. Marx-Engels-Gesamt-
ausgabe, I. Abt., Bd. 3 ( Westermann) 160
— - Die deutsche Ideologie. Mmx-Engels-Gesamtausgabe, I. Abt., Bd. 5
(Borkenau) . 416
Marx, Karl, Der historische Materialismus. Die Friihschriften, hrsg.
von S. Landshut und J. P. Mayer ( Westermann) 160
Neurath, Otto, Empirische Soziologie (v. Aster) 159
Organization of Research in the American Sociological Society (Lorke) 422
Rice, Stuart A., Methods in Social Science (Lorke) 420
RoB, E. A., Backgrounds of Sociology (Lorke) 16*3
Schiitz, Alfred, Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt (Borkenau) 415
Sorokin, Pitirim, Soziologische Theorien im 19. und 20. Jahrhundert
(Salomon) 413
Soziologie von heute. Ein Symposion der Zeitschrift fiir Volkerpsycho-
logie und Soziologie, hrsg. von Richard Thurnwald (Winter) . 156
Spahr, Earl and R. John Swenson, Methods and Status of Scientific
Research (Lorke) 164
Steinmetz, S. R., Inleiding tot de Sosiologie (Einleitung in die
Soziologie) (Sternheim) 165
Swenson, R. John s. u.: Spahr, Earl, Methods and Status of Scientific
Research
Thurnwald, Richard, Die menschliche Gesellschaft in ihren ethno-
soziologischen Grundlagen. Bd. II (Vatter) 412
— (Hrsg.) s. u-: Soziologie von heute
Tonnies, Ferdinand, Einfiihrung in die Soziologie (Streller) . . 160
Turgeon, Charles, Critique de la conception materialiste de I'histoire
(Szende) 164
Verhandlungen des siebenten deutschen Soziologentages vom 28, Sep-
tember bis 1. Oktober 1930 in Berlin (Szende) 154
Vierkandt, A. (Hrsg.) s. u.: Handworterbuch der Soziologie
Psychologie :
Behrendt, Richard, Politischer Aktivismus (Borkenau) 174
Breysig, Kurt, Die Geschichte der Seele im Werdegang der Mensch-
heit (v. Aster) ' 166
Bumke, G. (Hrsg.) s. u.: Handworterbuch der psychischen Hygiene und
der psychiatrischen Fiirsorge
Inhalt des I. Jahrgangs
Seite
Dorer, Maria, Historische Grundlagen der Psychoanalyse (Fromm) 427
Eulenburg, Franz, Phantasie und Wille des wirtschaftenden
Menschen ( Drey f up) 171
Fenichel, Otto, Hysterien und Zwangsneurosen (Landaiter) . . . 427
— Perversionen, Psychosen, Charakterstorungen (Landauer) .... 427
Folsom, J. K., Social Psychology (Liebmann) 170
Franzen-Hellersberg, Lisbeth, Die jugendliche Arbeiterin. Ihre
Arbeitsweise und Lebensform (Mennicke) 175
Freud, Sigmund, Uber libidinose Typen. In: Internationale Zeit-
schrift fxir Psychoanalyse. Bd. 17 (Landauer) . . < 168
Fromm, Erich, Die Entwicklung des Christusdogmas (Borkenau) . 174
Sir Galahad, Mutter und Amazonen (Fromm) 427
Halbwachs, M., Les causes du suicide (Koyri) 173
Handworterbuch der psychischen Hygiene und der psychiatrischen
Fiirsorge, hrsg. von G. Bumke u. a. (Landauer) 168
Jungs t, Hildegard, Die jugendliche Fabrikarbeiterin (Mennicke). 175
Jung, C. G., Seelenprobleme der Gegenwart (Landauer) 167
Kelchner, Mathilde, Schuld und Siihne im Urteil jugendlicher
Arbeiterinnen (Mennicke) 175
Kraus, Siegfried, Bedurfnis und Befriedigung (Westermann) . . . 429
Kunkel, Fritz, Charakter, Liebe und Ehe (Fromm- Reichmann ) . . 426
— Grundziige der politischen Charakterkunde (Fuchs) 177
Lange-Eichbaum, W., Das Genieproblem (Landauer) 425
Messer, August, Sozialethik (Landauer) 424
Murphy, Gardener and Louis Barclay Murphy, Experimental
Social Psychology (Lewin) 169
Privat, Edmond, Le choc des patriotismes (Qrunberg) 179
Rada,Margarete, Das reif ende Proletariermadchen (Mennicke) ... 175
Romer, G. A., Die wissenschaftliche ErschlieCung der Innenwelt
einer Personlichkeit (Landauer) 169
Urbschat, Fritz, Das Seelenleben des kaufmannisch-tatigen Jugend-
lichen (Wei&) 429
Vergin, Fedor, Das unbewufite Europa (Fromm) 172
Young, Kimball, Social Attitudes (Lorke) 171
— Social Psychology (Liebmann) 428
— Source Book of Social Psychology (Liebmann) 428
Geschlchte:
Serve, Helmut, Griechische Geschichte. I. Halfte (Mackauer) . . 436
Bott, Alan, Our Fathers (Carls) 434
Guerri, Domenico, La corrente populare nel Rinascimente (Die
volkstumliche Strdxnung in der Renaissance) (Olberg) .... 437
Hasebrock, Johann, Griechische Wirtschafts- und Gesellschaftsge-
schichte bis zur Perserzeit (Mackauer) 436
Hassinger, Hugo, Geographische Grundlagen der Geschichte
(Mackauer) 439
Heller, Otto, Der Untergang dea Judentums (Fromm) 438
MacGee, John Edwin, A Crusade for Humanity (Rosenhaupt) . 433
Karl Marx/Friedrich Engels, Briefwechsel. Marx-Engels-Gesamt-
ausgabe. III. Abt., Bd. 4 (Oollub) 431
Mehring, Franz, Zur deutschen Geschichte. Gesammelte Schriften
und Aufsatze, hrsg. von Eduard Fuohs (Doppler) 430
International Migrations. Vol. I: Statistics, Vol. II: Interpretations . . .
ed. by Walter F. Willcox. . v 433
Spiegel, Kathe, Kulturgeschichtliche Grundlagen der amerikanischen
Revolution (Harnack) . * • 435
Steinhausen, Georg, Deutsche Geistes- und Kulturgeschichte von
1870 bis zur Gegenwart (Mackauer) 430
Vogt, Joseph, Rdmische Geschichte. I. Halfte (Mackauer) . . 436
Inhalt des I. Jahrgangs
Seite
Willcox, Walter F. (Hrsg.) s. u.: International Migrations
Wittfogel, Karl August, Die naturlichen Grundlagen der Wirt-
schaftsgeschichte. In: Archiv fur Sozialwissenschaft und Sozial-
politik, Bd. 67, H. 4—6 (Petersen) 439
Wolf, Julius, Romische Geschichte. II. Halfte (Mackauer) . . . 436
Young, Pauline V., The Pilgrims of Russian Town (Lorke) . . . 432
Soziale Beuegung und Sozialpolitik:
Allgemeiner Freier Angestelltenbund s. u.: Was verbrauchen die An-
gestellten ?
Mein Arbeitstag ■ — Mein Wochenende. 150 Berichte von Textil-
arbeiterinnen, hrsg. vom Text ilarbeiter verband (Speier) .... 191
Lea aspects sociaux de la rationalisation. Bureau International du
Travail, Etudes et Documents, Serie B, No. 18 (Stemheim) . 194
Becker, August, Geschichte des religiosen und atheistischen Friih-
sozialismus (Moldenhauer) 443
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von 145 deutschen Landarbeit erf ami lien (Speier) 191
Binyon, Gilbert Cli ve, The Christian Socialist Movement in England
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Die Gehaltlage der Kaufmannsgehilfen. Eine Fragebogenerhebung des
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Sozialrechtliches Jahrbuch, hrsg. von Theodor Brauer u. a. (Merterw) 445
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in the United States of America.
Inhalt des I. Jahrgangs
Seite
Internationale Arbeitskonferenz. 16. Tagung. Bericht des Direktors
(Albert Thomas) (Stemheim) 194
Internationales Arbeitsamt s. u. : Les aspects sociaux de la rationali-
sation.
Internationales Arbeitsamt s. u.: Probleme der Arbeitslosigkeit im
Jahre 1931.
Internationales Arbeitsamt s. u. : Studien iiber die Beziehungen zwischen
Arbeitgebern und Arbeitnehmern.
Karsthans, Die Bauern marschieren (Jaeger) 190
Kautsky, Benedikt s. u.: Briigel, Fritz, Der deutsche Sozialismus.
Kuczynski, Jurgen und Marguerite, Die Lage des deutschen
Industriearbeiters (WeifiJ 193
Die wirtschaftliche und soziale Lage der Angestellten. Ergebnisse und
Erkenntnisse aus der grofien sozialen Erhebung des Gewerk-
schaftsbunds der Angestellten (Speier) 191
Die Lebenshaltung der Bauarbeiter nach Wirtschaftsrechnungen aus
dem Jahre 1929 (Speier) , 191
Die Lebenshaltung des Landarbeiters. Die Wirtschaftsrechnungen von
130 Landarbeiterfamilieri. Eine Erhebung des Reichsverbandes
* landlicher Arbeitnehmer (Speier) 191
Louis, Paul, Les idees essentielles du socialisme (Grunberg) .... 180
Luetgebrune, Walt., NeupreuBens Bauernkrieg (Jaeger) .... 190
Markham, S. F., A History of Socialism (Walter) 440
Meyer, Hakon, Den politiske arbeiderbevegelse i Norge (Die politische
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schutzes und der Gewerbehygiene.
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Pipkin, CharlesW., Social Politics and Modern Democracies (Feinberg) 201
Posse, Ernst H. t Der Marxismus in Frankreich 1871—1905 (Korsck) 186
Preller, Ludwig s. u.: Eibel, Hermann, Praxis des Arbeitsschutzes
und der Gewerbehygiene.
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Landarbeiters.
Richter, Lutz, Sozialversicherungsrecht (Croner) 202
Rosenberg, Arthur, Geschichte des Bolschewismus von Marx bis zur
Gegenwart (Walter) 441
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— und Carl Dietrich von Trotha, Das Arbeitslager (Menniche) . 446
Saposs, David J., The Labour Movement in Post-War France (Har-
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Schwarz, Georg, Kohlenpott (Dreyfufl) 194
Stenbok-Fermor, Alexander, Deutschland von unten (Dreyfufi) 194
Studien iiber die Beziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeit-
nehmern. Internationales Arbeitsamt. Reihe A, No. 33 und 35
(Stemheim) 443
Suhr, Susanne, Die weiblichen Angestellten. Eine Umfrage des
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Thomas, Albert s. u.: Internationale. Arbeitskonferenz. 16. Tagung.
Bericht des Direktors.
Tonnies, Georg Ove, Die Auflehnung der Nordmark-Bauern (Jaeger) 190
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Was verbrauchen die Angestellten? Ergebnisse der dreijahrigen
Haushaltungsstatistik des Allgemeinen Freien Angestellten-
bundes (Speier) . 191
Inhalt des I. Jahrgangs
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Westphalen, F. A., Die theoretischen Grundlagen der Sozialpolitik
(Croner) , 444
Weber, Adolf, Reden und Aufsatze (Burchardt) 199
Wirz, PaulJ., Der revolutionare Syndikalismus in Frankreich ( Walter) 187
Zen tralver band der Angestellten s. u.: Suhr, Susanne, Die weiblichen
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Spezielle Soziologie:
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Ah r ens, Hermann, Untersuchungen zur Soziologie der Familie in
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Arbeiten zur biologischen Grundlegung der Soziologie. Forscliuntren zur
Volkerpsychologie und Soziologie. Bd. X, 1. u. 2. Halbbd.
(Schaxel) 233
Arnheim, Rudolf, Film als Kunst (Dvcyfufi) 227
Aron, R. etA. Dandieu, Decadence de la nation franca ise (Tazerout) 461
Ausschufl zur Untersuchung der Erzeugungs- und Absatzbedingungen
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Baumer, Gertrud, Die Frau im neuen Lebensraum (Streller) . . . 224
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Dinse, Robert, Das Freizeitleben der Groflstadtjugend (Speier) . . 462
Dreiser, Theodore, Tragic America (Pollock) 458
Ehrenburg, II j a, Die Traumfabrik (Dreyfufi) 227
Festschrift fur Carl Griinberg zum 70. Geburtstag (Mandclbaum) . . 235
Die soziale Frage und der Katholizismus, hrsg. von der Sektion fur
Sozial- und Wirtschaftswissenschaft der G orresgesellscha ft
(Mertens) 456
Frank, Elisabeth, Fam i 1 ien verba It nisse ge.schiedener und ehe-
verlassener Frauen (Pollock) 448
Frazer, James George, Mensch, Gott und Unsterblichkeit (Leser) 231
Freyer, Hans, Revolution von rechts (Burchardt) 215
Fu lop -Miller, Rene, Die Phantasiemaschine (Dreyfufi) 227
Geek, L. H. A., Die sozialen Betriebsverhaltnisse im Wandel der
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Gegenwartsfragen aus tier allgemeinen Staatslehre und der Ver-
fassungstheorie, hrsg. von Hans Gmelin und Otto Koellreuter
(Haselberg) 207
Geiger, Theodor, Die soziale Schichtung des deutschen Volkes
(Flaskdmper) 447
Das Gesicht der Demokratie, hrsg. von Edmund Schultz (Freund) 462
Getzeny, Heinrich, Kapitalismus und Sozialismus im Lichte
der neueren, insbesondere der katholischen Gesellschafts-
lehre (Mertens) 457
Glaeser, Ernst (Hrsg.) s. u.: Der Staat ohne Arbeitslose.
Glotz, G., La cite grecque (Koyri) 210
Gmelin, Hans (Hrsg.) s. u.: Gegenwartsfragen aus der allgemeinen
Staatslehre.
Gorres-Gesellschaft, Sektion fiir Sozial- und Wirtschaftswissen-
schaft s. u. : Die soziale Frage und der Katholizismus.
Groethuysen, Bern hard, Dialektik der Demokratie (Neumann) . 453
Inhalt des I. Jahrgaugs
Seite
Grunberg, Carl s. u.: Festschrift fiir Carl Grunberg zum 70. Ge-
burtstag.
Das deutsche Handwerk. Bericht der 8. Arbeitsgruppe des III. Unter-
ausschusses des Ausschusses zur Untersuchung der Erzeugungs-
und Absatzbedingungen der deutschen Wirtschaft (Grunberg) . 223
Handwdrterbuch des deutschen Volksbildungswesens, hrsg. von
Heinrich Becker u. a. (Neumann) 464
H an sen-Blancke, Dora, Die hauswirtschaf tliche tmd Mutter-
schaftsleistung der Fabrikarbeiterin (Pollock) 448
Heinrich, Walter, Das Standewesen mit besonderer Beriicksichtigung
der Selbstverwaltung der Wirtschaft (Salomon) ....... 454
Hermens, S. A., Demokratie und Kapitalismus (Lowenthal) .... 454
20 Jahre Weltgeschichte in 700 Bildern mit einer EinLeitung von
Friedrich Sieburg (Freund) . 462
Johann, A. E., Amerika (Pollock) 458
Jost, Walter, Das Sozialleben des industriellen Betriebs (Speier) . . 455
Junger, Ernst, Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt (Speier) . . . 456
Kahle, Margarete, Beziehungen weiblicher Fursorgezbglinge zur
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Kahn-Freund, Otto, Das soziale Ideal des Reichsarbeitsgerichts
(Lorch) . 217
Kleinberg, Alfred, Die europaische Kultur der Neuzeit (Wiesen-
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Konfessionen und Ehe. In: Religiose Besinnung, Jg. 4, H, 1 (Streller) 224
Labriola, Arturo, Al di la del capitalismo e del socialismo (Jenseits
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Le H6naff, Armand, Le pouvoir politique et les forces sociales
(Griinberg) 209
Loser, Paul, Entstehung und Verbreitung des Pfluges (Honigsheim) 232
Li chtenberger, J. P., Divorce (Freudenthal ) 451
Lindquist, Ruth, The Family in the Present Social Order (Streller) 224
Lot, F., La fin du monde antique et les debuts du moyen-age (Koyri) 211
Liidy, Elisabeth, Erwerbstatige Mutter in vaterlosen Familien
(Pollock) 448
Malinowski, Bronislav, Das Geschlechtsleben der Wilden in Nord-
westmelanesien (Reich) 232
Martens-Edelmann, Agnes, Die Zusammensetzung des Familien-
einkommens (Streller) 224
Martin, Alfred von, Soziologie der Renaissance (Salomon) .... 213
Matthes, Karl, Die Rationalisierung der Wirtschaftsprozesse in
ihren Auswirkungen auf den in der Wirtschaft tatigen Mensohen
(Speier) 455
Mehmke, R L., Der Unternehmer und seine Sendung (Dreyfufi) . . 221
Meuter, Hanna, Heimlosigkeit und Familienleben (Pollock) .... 448
Mitgau, Hermann, Familienforschung und Sozialwissenschaft
(Streller) 224
Mourik-Broekman, M. C. van, Erotiek en Huwelijksleven (Erotik
und Ehe) (Stemheim) 452
Miiller, Franz s. u.: Schwer, Wilhelm, Der deutsche Katholizismus.
Neumann, Sigmund, Die deutschen Parteien (Speier) 452
Niemeyer, Annemarie, Zur Struktur der Familie (Streller) . . . 224
Petzet, Wolfgang, Verbotene Filme (Dreyfwfi) 227
Reich Gottes — Marxismus — Nationalsozialismus, hrsg. von. Georg
Wunsch (Mertens) 216
Renier, J. G., The English: Are They Human? (Gerth) 460
Rohden, Peter Richard (Hrsg.) s. u. : Demokratie und Partei.
Rosenstock, Eugen, Die europaischen Revolutionen (Heider) . . 214
Ruppin, Arthur, Soziologie der Juden (Mayer) . 461
Salomon, Gottfried, Allgemeine Staatslehre (Szende) 205
Inhalt des I. Jahrgangs
Seite
Schaidnagl, Ventur, Heimlose Manner (Pollock) 448
Schaxel, Julius, Das biologische Individiuim. In: Erkenntnis,
Bd. 1, H. 6 (Feinberg) 234
Schmitt, Carl, Der Begriff des Politischen (Speier) 203
— Der Huter der Verfassung (Korsch) 204
Schultz, Edmund (Hrsg.) s. u.: Das Gesicht der Demokratie.
Schwer, Wilhelm und Franz Miiller, Der deutsche Katholizismus
im Zeitalter des KapitaKsmus (Mertens) 457
Slotemaker de Bruine, J. R., Vakbeweging en Wereldbeschouving
(Gewerkschaftsbewegung und Weltanschauung) (Sternkeim) . 218
Der Staat ohne Arbeitslose, hrsg. von Ernst Glaeser und F. C. Weiskopf
(Freund) 462
Thurnwald, Richard, Die menschliehe Gesellschaft in ihren ethno-
soziologischen Grundlagen. Bd. I (Vatter) 229
Tyler, Ralph W. s. u.: Waples, Douglas, What People Want to
Read about.
Wagner, Hermann, Der jugendliche Industriearbeiter und die
Industriefamilie (Streller) 224
Waples, Douglas and Ralph W. Tyler, What People Want to Read
about (Waas) 228
Westerkamp, Alix s. u.: Baum, Marie, Rhythmusdes Familienlebens.
Wildenhayn, F., Die Auflosung der Familie (Streller) 224
Winthuis, J., Einfiihrung in die Vorstellnngswelt primitiver Volker
(Leser) 230
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Korsch, Karl s. u.: Marx, Karl, Das KapitaL
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Laurat, Lucien, Economie planeecontre economie enchainee (Meyer) 387
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— Planwirtschaft (Meyer) 391
Leichter, Otto, Kapitalismus und Sozialismus in der Wirtschafts -
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Man, Hendrik de, Reflexions sur reconomie dirigce (Meyer), . . 387
Marx, Karl, Das Kapital, hrsg. von Karl Korsch (Westermann) . 241
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Mendelsohn, Kurt, Kapitalistischcs Wirtschaftschaos oder sozia-
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— Sozialismus und Landwirtschaft. In: Festschrift fiir Carl Griinberg
zum 70. Geburtstag (Meyer) 397
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Ritschl,Hans, Gemeinwirtschaft und kapitalist ische Marktwirtschaft
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Schiff, Walter, Die Planwirtschaft und ihre okonomisclien Haupt-
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Schriften des Vereins fiir Sozialpolitik, 183, 1 s. u.: Probleme der Wert-
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Schroder. Paul, Die Uborwindung der Wirtschaftskrise durch den
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Slichter, Sumner H M The Limitations of Planning (Meyer) . . . 384
Sombart, Werner, Die Zukunft des Kapitalismus (Meyer) , . . 388
Soule, George, A Planned Society (Meyer) 380
The New Survey of London Life and Labour, Vol. 1. 2 ( Klingendcr ) . 243
Thomas, Albert s. u.: Internationale Arbeitskonferenz. Bericht des
Direktors.
Tisch, Klare, Wirtschaftsrechnung und Verteilung im zentralistiseh
organisierten sozialistisohen Gemeinwesen (Meyer) 398
Umbau der Wirtschaft. Die Forderungen der Gewerkschaften (Meyer) 393
Ungern- Sternberg, Roderich von, Die Planting als Ordnungsprin-
zip der deutsehen Indus triewirtschaft (Meyer) 388
Wachter, Planung, Fiihrung, Ordnung (Meyer) 388
Wagemann, Ernst, Struktur und Rhythmus der Welt wirtschaft
(Ritzmann) '- 237
When We Choose to Plan. In: Survev Graphic. Vol. 20, No. 6 (Meyer) 383
Wibaut, F. M., Do Redding (Die Rettung) (Meyer) 386
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World Planning. Supplement to the Week-end Review, August 22nd,
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Institute (Meyer) 385
Belletrlstik:
Britton, Lionel, Hunger and Love (Asch) 250
Ehrhardt, Justus. StraBcn ohne Ende (Seine) 251
Frank, Leonhard, Von drei Millionen Drei (Carte) 252
Regor, Erik, Union der festen Hand (Carls) . 252
Verzeichnis der rezensierten Autoren.
Adamic, Louis 219
Ahrens, Hermann 448
Alexander, Werner 417
Allgemeiner Deutscher Gewerkschaftsbund
393
Allgemeiner Freier Angestelltenbund 191,
393
American Academy of Political and Social
Science 383
American Economic Association 383
American Sociological Society 422
Arnheim, Rudolf 227
Aron, R. 461
Ausschuss zur Untersuchung der Erzeu-
gungs- und Absatzbedingungen der
deutschen Industrie 223
Baumer, Gertrud 224
Baeumler (Hrsg.) 148
Baum, Marie 224
Beard, Charles A. 382
Becker, August 443
Becker, Heinrich (Hrsg.) 464
Behrendt, Richard 174
Bernier, Wilhelm 191
Berve, Helmut 436
Beveridge, Sir William 448
Binyon, Gilbert Clive 443
Bloch, Kui-t 444
Bogardus, Emory S. 420
Bonnecase, J. 408
Bott, Alan 434
Bougie, C. 440
Brae uti gam, Harald 389
Brauer, Theodor 200
- (Hrsg.) 445
Brentano, Lujo 183
Breysig, Kurt 166
Britton, Lionel 250
Brookings-Institution 163
Briigel, Fritz 180
Bumke, G. (Hrsg.) 166
Bureau International du Travail s. Inter-
nationales Arbeitsamt
Calkins, Clinch 198
Chase, Stuart 458
Conn, Jonas 406
Croce, Benedetto 407
Dandieu, A. 461
Davy, Georges 164
Deutsche Gesellschaft fur 8ozioiogie 154
Deutscher Baugewerksbund 191
DHV. (Deutschnationaler Haudlungsge-
hilfenverband) 191
Director, Aaron 196
Dinse, Robert 462
Dobretsberger, Josef 400
Donham, Wallace Brett 384
Dorer, Maria 427
Douglas, Paul H. 196
Dreiser, Theodore 448
Dubois, Florence 447
Duncan, Hannibal Gerald 422
Dunkmann, Karl (Hrsg.) 146
Duprat, G. L. 412
Ehrenburg, Ilja 227
Ehrhardt, Justus 251
Eibel, Hermann 202
Endt, Piet 422
Engels, Friedrich 160, 416, 431
Ermers, Max 442
Escbmann, Ernst Wilhelm 390
Eubank, Earle E. 420
Eulenburg, Franz 171
Fallada, Hans 190
Fenichel, Otto 427
Fischer, Hugo 417
Folsom, J. K. 170
Frank, Elisabeth 448
Frank, Leonhard 252
Frank, Philipp 404
Franzen-HeUersberg, Lisbeth 175
Frazer, James George 231
Freud, Sigmund 168
Freyer, Hans 157, 215
Fried, Ferdinand 390
Frieder, Otto 391
Fromm, Erich 174
Ftilop-Miller, Rene 227
Sir Galahad 427
Geek, L. H. A. 217
Geiger, Theodor 447
Getzeny, Heinrich 457
Gewerkschaftsbund der Angestellten 191
Glaeser, Ernst (Hrsg.) 462
Glotz, G. 210
Gmelin, Hans (Hrsg.) 207
Gogarten, Friedrich 404
Goitein, Irma 181
Gorresgesellschaft, Sektion fur Sozial-
und Wirtschaftswissenschaften 456
Gottl-Ottilienfeld, Friedrich von 399
Gouhier, Henry 152
Groethuysen, Bernhard 453
Grunberg, Carl (Festschrift) 235
Guerri, Domenico 437
Haan, Hugo 381
Halbwachs, M. 173
Halm, Georg (Hrsg.) 399
Hansen, Alvin Harvey 384
Hansen-Blancke, Dora 448
Verzeichnis der rezensierten Autoren
Harnack, Arvid 184
Hasebrock, Johann 436
Hassinger, Hugo 439
Heider, Werner 161
Heimann, Eduard 395
Heinrich, Walter 454
Heller, Fritz 444
Heller, Otto 438
Hermberg, Paul 398
Hermens, F. A. 454
Hoffmann, Walther 242
International Chamber of Commerce 197
International Industrial Relations Asso-
ciation 385
Internationales Arbeitsamt 194, 385, 443
Jaspers 146, 401
Johann, A. E. 458
Jost, Walter 455
Journal de Commerce 386
Jiinger, Ernst 456
Jiingst, Hildegard 175
Jung, C. G. 167
Kahle, Margarete 224
Kahn-Freund, Otto 217
Karsthans 190
Kautsky, Benedikt 180
Kelchner, Mathilde 175
Klein, Georg 396
Kleinberg, Alfred 211
Korsch, Karl 241
Kraus, Siegfried 429
Kroner, Richard 414
Kuczynski, Jiirgen 193
— Marguerite 193
Kunkel, Fritz 177, 426
Labriola, Arturo 226
Laidler, Harry W. 244
Landauer, Carl 394
Lange-Eichbaum, W. 425
Laurat, Lucien 387
League of Independant Political Action 383
Lederer, Emil 236, 237, 391, 392
Le Henaff, Armand 209
Leichter, Otto 392
Lenin, W. J. 423
Leser, Paul 232
Lichtenberger, J. P. 451
Lindquist, Ruth 224
London 8chool of Economics and Politi-
cal Science 234
Lorwin, Lewis 381
Lot, F. 211
Louis. Paul 180
Lubienski, Zbigniew 419
Ludy, Elisabeth 448
Luetgebrune, Walt. 190
McGee, John Edwin 433
Maclver, R. M. 420
Malinowski, Bronislaw 232
Man, Hendrik de 387
Marck, Siegfried 151
Marcuse, Herbert 409, 416
Markham, S. F. 440
Martens-Ed elmann, Agnes 224
Martin, Alfred von 213
Marx, Karl 160, 241, 416, 431
Matthes, Karl 455
Mehmke, R. L. 221
Mehring, Franz 411, 430
Mendelsohn, Kurt 391
Messer, August 424
Meuter, Hanna 448
Meyer, Hakon 189
Meyer-Brodnitz, Karl 202
Mielcke, Karl 181
Millner, Frederic 248
Mises, Ludwig 399
— (Hrsg.) 239
Mitchell, Wesley C. 239
Mitgau, Hermann 224
Morandi, Rodolfo 249
Mourik Broekman, M. C. van 452
Miiller, Franz 457
Murphy, Gardener 169
— Louis Barclay 169
National Federation of Settlements 198
National Progressive Conference 382
Neumann, Sigmund 452
Neurath, Otto 159
The New Republic 382
Niemeyer, Annemarie 224
Nitzschke, Heinz 410
Notre temps 386
Patterson j E. M. (Hrsg.) 383
Person, H. 8. 381
Petzet, Wolfgang 227
Pipkin, Charles W. 201
Pohle, Ludwig 399
Pollock, Friedrich 397
Posse, Ernst H. 186
Preller, Ludwig 202
Privat, Edmond 179
Kada, Margarete 175
Reger, Erik 252
Refigiose Besinnung 224
Reicnsverband landKcher Arbeitnehmer 191
Renier, J. G. 460
Rice, Stuart A. 420
Richter, Lutz 202
Ritschl, Hans 248
Romer, G. A. 169
Rohden, Peter Richard (Hrsg.) 453
Rosenberg, Arthur 441
Rosenstock, Eugen 214. 446
Ross, E. A. 163
Ruppin, Arthur 461
Salomon, Gottfried 205
Sappos, David J. 188
Sauerland, Kurt 152
Schaidnagl, Ventur 448
Schaxel, Julius 234, 405
Schiff. Walter 396
Schmitt, Carl 203, 204
Schroder, Paul 388
Schutz, Alfred 415
Schultz, Edmund (Hrsg.) 462
Schwarz, Georg 194
Schwer, Wilhelm 457
Sieburg, Friedrich 462
Stichter, 8umner H, 384
Slotemaker de Bruine, J. R. 218
Verzeichnis der rezensierten Autoren
Sombart, Werner 388
Sorokin, Pitirim 413
Sonle, George 380
Spahr, Earl 164
Spann, Othmar 403
Spengler. Oswald 149
8piegel. Kathe 435
Statistisches Reichsamt 249
Steinhausen. Georg 430
Steinmetz, S. R. 165
Stenbok-Fermor, Alexander 194
Sulir, 8usanne 191
Suranyi-Unfrer, Theo 411
Survey Graphic 383
Swenson, R. John 164
Textilarbeiter-Verband 191
Thomas, Albert 194, 385
Thurnwald. Richard 229. 412
— (Hrsg.) 156, 233
Tisch, Klare 398
Tischleder. Peter 408
Tonnies, Ferdinand 160
Tonnies, Georg Ove 190
Trotha, Carl Dietrich von 446
Turgeon, Charles 164
Tyler, Ralph W. 228
Ungern-Sternberg, Rod^rich von 388
Urbschat, Fritz 429
Vergin. Fedor 172
Verein fiir Sozialpolitik 239 '
Vierkandt, A. (Hrsg.) 153
Vogt, Joseph 436
Wachter 388
Wagemann, Ernst 237
Wagner, Hermann 224
Waples, Douglas 228
Westphalen, F. A. 444
Weber, Adolf 199
Weber, Heinrich 408
Week-End Review 385
Westerkamp, Alix 224
Wibaut, F. M. 386
Wildenhavn. F. 224
Willcox 433
Winthuis, J. 230
Wirz, Paul J. 187
Wittfogel, Karl August 439
Wolf, Julius (Festschrift) 240
— Julius 436
Wood, Louis Aubrey 246
Wunsch, Georg (Hrsg.) 216
Young, Donald 448
— Kimball 171, 428
— Pauline V. 432
Zentralverband der Angestellten 224
Ziegler, Heinz O. 205
Zeltschrift
fttr
Sozialforschung
Herausgegeben vom
INSTITUT FUR SOZIALFORSCHUNG FRANKFURT/M.
Jahrgang I 1932 DoppelheH 1/2
VERLAG VON C L. HIRSCHFELD / LEIPZIG
INHALT.
I. Aufsatze.
Seite
Vorwort I
MAX HORKHEIMER
Bemerkungcn iiber Wissenschaft und Krise 1
FRIEDRICH POLLOCK
Die gegenwartige Lage des Eapitalismus und die Aussichten
einer planwirtschaftlichen Neuordnung. . . 8
ERICH FROMM
tlber Methode und Aufgabe einer analytischen Sozialpsychologie. 28
HENRYK GROSSMAN N
Die Wert-Preis-Transformation bei Marx und das Krisenproblem. 55
LEO LdWENTHAL
Zur geseUschaf tlichen Lage der Literatur 85
THEODOR WIESENGRUND-ADORNO
Zur gesellschaftlichen Lage der Musik 103
MAX HORKHEIMER
Geschichte und Psychologie 125
II. Besprechungen.
Philosophic:
Karl Jaspers, Die geistige Situation der Zeit (Strzelewicz) . . . 146
Lehrbuch der Soziologie und Sozialphilosophie, hrsg. v. Karl Dunk-
mann (Westermann) . . - 146
Handbuch der Philosophie, hrsg. v. Baeumler und Schroter, Abt. Ill:
Mensch und Charakter (Steinrath) ,. 143
Oswald Spengler, Der Mensch und die Technik. Beitrag zu eindx
Philosophie des Lebens (Wiesengrund-Adorno) 149
SiegfriedMarck, Die Dialektik in d. Philosophie d. Gegenwart (Meyer) 151
Kurt Sauerland, Der dialektische Materialismus (Westermann) . . 152
Henry Gouhier, La vie d'Auguste Comte (Kojevnikoff) 152
Allgemeine Soziologie:
Handworterbuch der Soziologie, hrsg. v. A. Vierkandt u. a. (Gollub) . 153
Verhandlungen des Siebenten deutschen Soziologentages vom 28. Sept.
bis 1. Okt. 1930 in Berlin (Szende) . 154
Soziologie von heute. Ein Symposion der Zeitschrift fiir Volkerpsycho-
logie und Soziologie, hrsg. v. Richard Thurnwald (Winter) . . 156
Fortsetzunff des Inhaltsverzeichnisses atti Schluss des lleftes.
Vorwort.
Das Wort ,, Sozialforschung" beansprucht nicht, auf der Land-
karte der Wissenschaften, die heute ohnehin sehr fragwiirdig er-
scheint, neue Grenzlinien einzuzeichnen. Die Untersuchungen auf
den verschiedensten Sachgebieten und Abstraktionsebenen, die es
bier bedeutet, werden durch die Absicht zusammengehalten, daB sie
die Theorie der gegenwartigen Gesellschaft als ganzer fGrdern sollen.
Dieses vereinigende Prinzip, nach dem die Einzeluntersuchungeii bei
unbedingter empirischer Strenge doch imHinblick auf ein theoretisches
Zentralproblem zu fiihren sind, unterscheidet die Sozialforschung,
der die Zeitschrift dienen mochte, ebenso von blofier Tatsachen-
beschreibung wie von empiriefremder Konstruktion. Es erstrebt Er-
kenntnis des gesamtgesellscbaftlichen Verlaufs und setzt daher voraus,
daB unter der chaotischen Oberflache der Ereignisse eine dem Be-
griff zugangliche Struktur wirkender Machte zu erkennen sei. Ge-
schichte gilt in der Sozialforschung nicht als die Erscheinung blofier
Willkiir, sondern als von Gesetzen beherrschte Dynamik, ihre Er-
kenntnis ist daher Wissenschaft. Diese hangt freilich in besonderer
Weise von der Entwicklung anderer Disziplinen ab. Um ihr Ziel,
die Vorgange des Gesellschaftslebens nach dem Stand der jeweils
mCglichen Einsicht zu begreifen, erreichen zu kOnnen, muB die Sozial-
forschung eine Reihe von Fachwissenschaften auf ihr Problem zu
konzentrieren und fur ihre Zwecke auszuwerten trachten.
Die Zeitschrift versucht, an der Erfullung dieser Aufgabe mit-
zuwirken. Sie zieht die Faktoren, die fur das Zusammenleben der
Menschen in der Gegenwart bestimmend sind, seien sie okonomischer,
psychischer, sozialer Natur, in ihren Arbeitskreis. Indem sie dabei
an die vorlaufigen Ergebnisse der Einzeldisziplinen ankniipft, unter-
scheidet sie sich von der philosophischen Betrachtung unter anderem
dadurch, daB sie auch Gedanken fur ihre Zwecke fruchtbar zu machen
sucht, die logisch gesehen noch unaufgehellte Probleme in sich ent-
halten mogen; sie ist prinzipiell von der UnabschlieBbarkeit der
II Vorwort
Erkenntnis iiberzeugt. Doch fallt die Behandlung sogenannter welt-
anschaulicher undphilosophischerFragendamitkeineswegs aus ihrem
Bereich, denn nicht die Zugehorigkeit zu einem bestimmten Each,
sondern die Wichtigkeit fur die Theorie der Gesellschaft ist bei der
Wahl ihrer Gegenstande bestimmend-.
Mit der Soziologie als Fachwissenschaft fallt die Sozialforschung
deshalb nicht zusammen, weil sie zwar wie diese auf das Problem
der Gesellschaft abzielt, aber ihre Forschungsgegenstande auch auf
nichtsoziologischen Gebieten findet. Doch entspricht das, was die
Soziologen im Interesse ihrer Wissenschaft auf Okonomischem,
psychologischem, historischem Gebiet selbst geleistet oder angeregt
haben, durchaus dem hier gemeinten Begriff. Bei der Verwandt-
schaft zwischen der Soziologie und den Bestrebungen der Zeit-
schrift werden auch im engeren Sinn soziologische Probleme in den
Aufsatzen angeschnitten. Die AuBerung der Zustimmung oder des
Gegensatzes zu den soziologischen Theorien der Gegenwart muB
jedoch — besonders in den ersten Heften — auch dort hinter
den sachlichen Erorterungen zurucktreten, wo die groBte Achtung
vor der Leistung anderer besteht.
Unter den Teilproblemen der Sozialforschung steht die Frage des
Zusammenhangs zwischen den einzelnen Kulturgebieten, ihrer Ab-
hangigkeit voneinander, derGesetzmaBigkeit ihrer Veranderungvoran.
Eine der wichtigsten Aufgaben zur Losung dieser Frage ist die Aus-
bildung einer den Bedurfnissen der Geschichte entgegenkommenden
Sozialpsychologie. Sie zu fordern, wird eine der besonderen Auf-
gaben der Zeitschrift sein. Zu den allgemeineren theoretischen Ab-
handlungen iiber philosophische, psychologische, okonomische, sozio-
logische Probleme treten Einzeluntersuchungen iiber konkrete Fragen
der gegenwartigen Gesellschaft und Wirtschaft. Soweit diese Studien
sich von bloBen Beschreibungen dadurch unterscheiden, daB sie die
behandelten Phanomene in ihren geschichtlichen Zusammenhangen
zu begreifen suchen, werden sie haufig hypothetischen Charakter
haben. Dies gilt besonders fur die rorlaufigen Ergebnisse der im
Institut fur Sozialforschung gefiihrten Untersuchungen, die in dieser
Zeitschrift mitgeteilt werden sollen. Manches wird sich einmal als
falsch erweisen, aber die Aussicht auf kiinftige Korrektur darf den
Versuch nicht verhindem, die Hilfsmittel der verschiedenen Wissen-
schaften auf das Problem der gegenwartigen Gesellschaft und ihrer
Widerspriiche anzuwenden und so die fur das Funktionieren und
die Veranderung des Gesellschaftslebens wichtigen Vorgange in einer
Vorwort III
der gegenwartig erreichten Erkenntnis entsprechenden Weise zu be-
greifen.
Wenn die Zeitschrift vornehmlich auf eine Theorie des historischen
Verlaufs der gegenwartigen Epoche eingestellt ist, bedarf sie doch,
sowobl zum Verstandnis der Gegenwart als auch zur Priifung
und Ausbildung der theoretischen Hilfsmittel, historischer Unter-
suchungen, die sicb auf die verschiedensten Epochen erstrecken
mogen; freilich haben sie den Zusammenhang mit der aktuellen
Problematik zu wahren. Ebenso werden Forschungen tiber die zu-
kiinftige Richtung des geschicbtlichen Verlaufs, soweit sie mit der
Problematik der Gegenwart in Zusammenhang stehen, nicht fehlen
durfen. So ist z. B. eine Erkenntnis der gegenwartigen Gesell-
schaft ohne das Studium der in ihr auf planmaBige Regelung der
Wirtschaft hintreibenden Tendenzen unmoglich, und es werden die
damit zusammenhangenden Probleme, die in der okonomischen,
soziologischen und kulturgeschichtlichen Literatur heute eine wichtige
Rolle spielen, besonders gepflegt werden mussen.
Die Sozialforschung unterscheidet sich von alien auf moglichst
groBe Allgemeinheit und iibergreifende Schau geriehteten geistigen
Unternehmungen dadurch, daB sie auf die gegenwartige mensch-
liche Wirklichkeit abzielt. Sie wird dabei zusammenfassender Be-
griffsbildungen und theoretischer Voraussetzungen aller Art nicht
entraten kOnnen, aber im Gegensatz zu breiten Stromungen der
gegenwartigen Metaphysik schlieBen ihre Kategorien die weitere
Aufhellung und berechtigten Widerspruch durch die empirische
Forschung nicht aus. So wenig iibergreifende begriffUche Zusammen-
f assungen bei der wissenschaf tlichen Arbeit zu entbehren sind, durfen
sie diese doch nirgends abschlieBend vorwegnehmen und sich an die
Stelle der zu losenden Probleme setzen.
Die Verpflichtung auf wissenschaftliche Kriterien trennt die
Sozialforschung methodisch auch von der Politik. Sie hat die
Selbstandigkeit ihres Erkenntnisanspruchs gegeniiber alien weltan-
schauUchen und politischen Rucksichten zu behaupten. Dies be-
deutet nicht, daB sie irgendeinen wissenschaftlichen Schritt frei von
historischer Bedingtheit wahnte, noch daB ihr die Erkenntnis als
sich selbst geniigend und konsequenzlos erschiene. Aber wie sehr
die Geschichte auch in alle Theorie hereinspielen mag, so werden
doch die Ergebnisse der Forschung vor theoretischen Kriterien
standhalten miissen, wenn sie sich in der Wirklichkeit bewahren
gollen.
IV Vorwort
Das Institut fur Soziaiforschung schuldet dem Verlag C. L. Hirsch-
feld besonderen Dank. Indem er das Erscheinen der Zeitschrift trotz
der schwierigen Verhaltnisse heute ermOglicht, hat er neben der
Fttrderung ihrer neuen Ziele auch daftir gesorgt, dafi manche Auf-
gaben des Griinbergschen Archivs weiter erfullt werden kOnnen. Die
Zeitschrift darf sich in mehr als einer Hinsicht als seine Fort-
setzung fuhlen.
Frankfurt a. M., im Juni 1932.
Max Horkheimer
o. Professor an der Universitdt Frankfurt a. M.
und Direktor des Institute fur Soziaiforschung,
Bemerkungen iiber Wissensdiaft und Krise 1 ).
Von
Max Horkheimer (Frankfurt a. M.).
1. Die Wissenschaft wird in der Theorie der Geselischaft zu
den menschlichen Produktivkraften gezahlt. Als Bedingung der
durchschnittlichen Beweglichkeit des Denkens, die sich in den
letzten Jahrhunderten mit ihr entwickelt hat, ferner in Gestalt der
einfachen Erkenntnisse iiber Natur und Menschenwelt, die in den
fortgeschrittenen Landern selbst die Angehorigen der unteren so-
zialen Schichten mitbekommen, nicht zuletzt als Bestandteil des
geistigen Vermogens der Forscher, deren Entdeckungen die Form
des gesellschaftlichen Lebens entscheidend mitbestimmen, ermoglicht
sie das moderne Industriesystem. Insofern sie als ein Mittel zur
Hervorbringung gesellschaftlicher Werte, d. h. als Produktions-
methoden formuliert vorliegt, stellt sie auch ein Produktionsmittel dar.
2. DaB die Wissenschaft als Produktivkraft und Produktionsmittel
im LebensprozeB der Geselischaft eine Rolle spielt, berechtigt keines-
wegs eine pragmatistische Erkenntnistheorie. Soweit die Fruchtbar-
keit einer Erkenntnis bei ihrem Wahrheitsanspruch eine Rolle spielt,
ist eine der Wissenschaft immanente Fruchtbarkeit und keine Uber-
einstimmung mit auBeren Riicksichten zu verstehen. Die Priifung
der Wahrheit eines Urteils ist etwas anderes als die Priifung seiner
Lebenswichtigkeit. In keinem Fall haben gesellschaftliche Interessen
iiber die Wahrheit zu entscheiden, sondern es gelten Kriterien, die
sich im Zusammenhang mit dem theoretischen Fortschritt ent-
wickelt haben. Zwar verandert sich die Wissenschaft selbst im
geschichtlichen ProzeB, aber niemals ist der Hinweis auf diese
Veranderung ein Argument fiir die Anwendung anderer Wahrheits-
kriterien als derjenigen, die dem Stand der Erkenntnis auf der er-
reichten Entwicklungsstufe angemessen sind. Wenn auch die Wissen-
schaft in die geschichtliche Dynamik einbezogen ist, darf sie darum
doch nicht des ihr eigentumlichen Charakters entkleidet und utili-
taristisch miBverstanden werden. Freilich fuhren die Griinde, welche
1 ) Der fiir dieses Heft vorgesehene Auf satz von Max Horkheimer
iiber Wissenschaft und Geselischaft konnte krankheitshalber nicht recht-
zeitig abgeschlossen werden. An seiner Stelle erscheinen diese Bemerkungen
und der Vortrag iiber Geschichte und Psychologie.
2 Max Horkheimer
die Ablehnung der pragmatistischen Erkenntnistheorie und des
Relativismus tiberhaupt bedingen, keineswegs zur positivistischen
Trennung von Theorie und Praxis. Einerseits sind weder Rich-
tung und Methoden der Theorie, noch ihr Gegenstand, die Wirklich-
keitselbst,von den Menschen unabhangig, andererseits ist dieWissen-
schaft ein Faktor des geschicht lichen Prozesses. Die Trennung von
Theorie und Praxis ist selbst ein historisches Phanomen.
3. In der allgemeinen Wirtschaftskrise erscheint die Wissen-
schaft als eines der zahlreichen Elemente des gesellschaftlichen
Reichtums, der seine Bestimmung nicht erfullt. Er iibertrifft heute
bei weitem den Besitzstand fruherer Epochen. Es sind auf der Erde
mehr Rohstoffe, mehr Maschinen, mehr geschuite Arbeitskrafte und
bessere Produktionsmethoden vorhanden als jemals, aber sie kommen
den Menschen nicht entsprechend zugute. Die Gesellschaft erweist
sich in ihrer heutigen Form auBerstande, von den Kraften, die sich
in ihr entwickelt haben, und von dem Reichtum, der in ihrem Rahmen
hervorgebracht worden ist, wirklich Gebrauch zu machen. Die wissen-
schaftlichen Erkenntnisse teilen das Schicksal der Produktivkrafte
und Produktionsmittel anderer Art : das MaB ihrer Anwendung steht
in furchtbarem MiBverhaltnis zu ihrer hohen Entwicklungsstufe und
zu den wirklichen Bediirfnissen der Menschen; dadurch wird auch
ihre weitere quantitative und qualitative Entf altung gehemmt. Wie der
Verlauf fruherer Krisen zeigt, wird sich das wirtschaftliche Gleich-
gewicht erst auf dem Weg der in ungeheurem Umfang stattfindenden
Vernichtung menschlicher und sachlicher Werte wiederherstellen.
4. Zur Verschleierung der Ursachen der gegenwartigen Krise ge-
hort es, gerade diejenigen Krafte fur sie verantwortlich zu machen,
die auf eine bessere Gestaltung der menschlichen Verhaltnisse hin-
treiben, vor allem das rationale, wissenschaftliche Denken selbst.
Es wird versucht, seine Steigerung und Kultivierung beim einzelnen
hinter die Ausbildung des „Seelischen" zurucktreten zu lassen und
den kritisehen Vcrstand, soweit er nicht beruflich in der Industrie
benotigt wird, als entscheidende Instanz zu diskreditieren. Durch
die Lehre, daB der Verstand nur ein fur die Zwecke des taglichenLebens
brauchbares Instrument sei, aber vor den groBen Problemen zu ver-
stummen und substantielleren Machten der Seele das Feld zu raumen
habe, wird von einer theoretischen Beschaftigung mit der Gesell-
schaft als ganzer abgelenkt. Ein Teil des Kampfes der modernen
Metaphysik gegen den Scientivismus ist ein Reflex dieser breiteren
gesellschaftlichen Stromungen.
Bemerkungen iiber Wissenschaf t und Krise 3
5. Tatsachlich weist die Wissenschaf t der Vorkriegsjahrzehnte eine
Reihe von Mangeln auf , aber sie liegen nicht in der tlbertreibung,
sondern in der durch die zunehmende Verfestigung der gesellschaft-
lichen Verhaltnisse bedingten Verengenmg ihrer Rationalitat. Die
Aufgabe, unbekummert um auBerwissenschaftliche Rticksichten Tat-
sachen zu verzeichnen und die zwischen ihnen obwaltenden Regel-
maBigkeiten festzustellen, war urspriinglich als ein Teilziel des biirger-
lichen Emanzipationsprozesses in kritischer Auseinandersetzung mit
scholastischen Hindernissen der Forschung formuliert worden. Aber
in der zweiten Halfte des 19. Jahrhunderts hatte diese Definition
bereits ihren fortschrittlichen Sinn verloren und erwies sich im Gegen-
teil als Beschrankung des Wissenschaftsbetriebes auf eine um die
Unterscheidung des Gleichgiiltigen vom Wesentlichen unbekummerte
Aufzeichnung, Klassifikation und Verallgeineinerung von Er-
scheinungen. In dem MaB, als an die Stelle des Interesses fur eine
bessere Gesellschaft, von dem die Aufklarung noch beherrscht ge-
wesen war, das Bestreben trat, die Ewigkeit der gegenwartigen zu
begriinden, kam ein hemmendes und desorganisierendes Moment in
die Wissenschaft. Fanden ihre Ergebnisse, wenigstens zum Teil,
in der Industrie niitzHche Verwertung, so versagte sie gerade vor
dem Problem des gesellschaftlichen Gesamtprozesses, das durch die
sich verscharfenden Krisen und die damit zusammenhangenden
gesellschaftlichen Kampfe bereits vor dem Kriege die Realitat be-
herrschte. Der am Sein und nicht am Werden orientierten Methode
entsprach es, die gegebene Gesellschaftsform ala einen Mechanismus
von sich wiederholenden gleichen Ablaufen anzusehen, der zwar auf
kiirzere oder langere Zeit gestOrt sein mOge, jedenfalls aber keine
andere wissenschaftliche Verhaltungsweise erfordere als etwa die
Erklarung einer komplizierten Maschine. Aber die gesellschaftliche
Wirklichkeit, d. h. die Entwicklung der sich geschichtlich verhaltenden
Menschen, enthalt eine Struktur, deren Erfassung die theoretische
Abbildung radikal umgestaltender, alle kulturellen Verhaltnisse um-
walzender Verlaufe erfordert und die keineswegs durch die auf Regi-
strierung von wiederholt Vorhandenem eingestellte Verfahrungsweise
der alteren Naturwissenschaft zu bewaltigen ist. Die Absperrung
der Wissenschaft gegen eine angemessene Behandlung der Probleme,
die mit dem GesellschaftsprozeB zusammenhangen, hat eine metho-
dische und inhaltliche Verflachung verursacht, die nicht bloB in
der Vernachlassigung der dynamischen Beziehungen zwischen den
einzelnen Gegenstandsgebieten zum Ausdruck kommt, sondern sich
4 Max Horkheiraer
auf die verschiedenste Weise in dem Betrieb der Disziplinen fiihlbar
raacht. Mit dieser Absperrung hangt es zusammen, daB eine Reihe
von ungeklarten, starren und fetischhaften Begriffen weiter eine Rolle
spielen konnen, wahrend sie durch Einbeziehung in die Dynamik
des Geschehens zu erhellen waren. Beispiele dafiir sind: der Begriff
des BewuBtseins an sich als des angeblichen Erzeugers der Wissen-
schaft, ferner die Person und ihre aus sich selbst die Welt setzende
Vernunft, das ewige, alles Geschehen beherrsohende Naturgesetz,
das sich gleichbleibende Verhaltnis von Subjekt und Objekt, der
starre Unterschied zwischen Geist und Natur, Seele und Leib und
andere kategoriale Bildungen mehr. Die Wurzel dieser Mangel aber
liegt keineswegs in der Wissenschaft selbst, sondern in den gesell-
schaftlichen Bedingungen, die ihre Entwicklung hemmen und mit
den der Wissenschaft immanenten rationalen Elementen in Konflikt
geraten sind.
6. Etwa seit der Jahrhundertwende wird innerhalb der Wissen-
schaft und Philosophie auf die Mangelhaftigkeit und Unangemessen-
heit der rein mechanistischen Methoden hingewiesen. Diese Kritik
hat zu prinzipiellen Diskussionen gefuhrt, die wichtige Grundlagen
der Forschung betreffen, so daB heute auch von einer inneren Krise
der Wissenschaft gesprochen werden kann. Diese tritt zu der auBeren
Unzufriedenheit mit ihr als einem der vielen Produktionsmittel, das
die an es gekniipf ten Erwartungen zur Linderung der allgemeinen Not
nicht hat erfullen konnen, hinzu. Wenn besonders die neuere Physik
die Mangel der traditionellen Betrachtungsweise innerhalb ihres
eigenen Fachs weitgehend iiberwunden und ihre erkenntnistheore-
tischen Grundlagen einer Revision unterzogen hat, so ist es das Ver-
dienst der Nachkriegsmetaphysik, besonders Max Schelers, die
Wissenschaft als ganzes auf eine Reihe von Gegenstanden erst wieder
hingewiesen und an manchen Stellen einer weniger durch konven-
tionelle Blickverengung gehemmten Betrachtungsweise Bahn ge-
brochen zu haben. Vor allem haben die Beschreibung wichtiger
psychischer Phanomene, ferner die Darstellung gesellschaftlicher
Charaktertypen und die Begriindung einer Soziologie des Wissens
befruchtend gewirkt. Doch abgesehen davon, daB die metaphysischen
Versuche als die konkrete Realitat fast immer „das Leben", also
selbst noch eine mythische Wesenheit und nicht die wirkliche lebendige
Gesellschaft in ihrer geschichtlichen Entwicklung hinstellten, ver-
hielten sie sich gegemiber der Wissenschaft schliefilich nicht weiter-
treibend, sondern einfach negativ. Anstatt daB sie die der Wissen-
Bemerkungen iiber Wissenschaft und Krise 5
schaft durch ihre klaseenmaBige Verengerung gezogenen Grenzen
aufgewiesen und schlieBlich durchbrochen hatten, identifizierten sie
die in mancher Hinsicht ungenugende Wissenschaft der vorange-
gangenen Epoche mit der Rationalitat iiberhaupt, negierten das
urteilende Denken selbst und uberlieBen sich sowohl willkurlich aus-
gesuchten Gegenstanden als auch einer von der Wissenschaft be-
freiten Methodik. Es entstand eine philosophische Anthropologic,
die im Gefiihl ihrer Unabhangigkeit einzelne Ziige am Menschen ver-
absolutierte, und dem kritischen Verstand wurde die dem Zwang
wissenschaftlicher Kriterien sich iiberhebende, ihres genialen Blickes
gewisse Intuition entgegengestellt. Damit lenkt diese Metaphysik
von den Ursachen der gesellschaftlichen Krise ab und entwertet sogar
die Mittel zu ihrer Erforschung. Eine besondere Verwirrung richtet
sie an, indem sie den isolierten, abstrakt gefaBten Menschen hypo-
stasiert und damit die Bedeutung des theoretischen Begreifens der
gesellschaftlichen Vorgange bagatellisiert.
7. Nicht bloB die Metaphysik, sondern auch die von ihr kriti-
sierte Wissenschaft selbst, insofern sie eine die Aufdeckung der wirk-
hchen Krisenursachen hemmende Gestalt bewahrt, ist ideologisch.
Dies bedeutet keineswegs, daB es ihren Tragern selbst nicht um die
reine Wahrheit zu tun ware. Alle Verhaltungsweisen der Menschen,
welche die wahre Natur der auf Gegensatze aufgebauten Gesellschaft
verhiillen, sind ideologisch, und die Feststellung, ob philosophische,
moralische, religiose Glaubensakte, wissenschaftliche Theorien, Rechts-
satze, kulturelle Institutionen diese Funktion ausiiben, betrifft
keineswegs den Charakter ihrer Urheber, sondern die objektive Rolle,
die jene Akte in der Gesellschaft spielen. An sich richtige Ansichten,
theoretische und asthetische Werke von unbestreitbar hoher Quali-
tat konnen in bestimmten Zusammenhangen ideologisch wirken, und
manche Illusionen sind dagegen keine Ideologic Der ideologische
Schein entsteht bei den Mitgliedern einer Gesellschaft notwendig auf
Grund ihrer Stellung im Wirtschaftsleben ; erst wenn die Verhaltnisse
so weit fortgeschritten sind, die Interessengegensatze eine solche
Scharfe erreicht haben, daB auch ein durchschnittliches Auge den
Schein durchdringen kann, pflegt sich ein eigener ideologischer
Apparat mit selbstbewuBten Tendenzen auszubilden. Mit der Ge-
fahrdung einer bestehenden Gesellschaft durch die ihr immanenten
Spannungen wachsen die auf Erhaltung der Ideologie gerichteten
Energien und werden schlieBlich die Mittel verscharft, sie gewaltsam
zu stiitzen. Je mehr das romische Imperium von sprengenden Ten-
6 Max Horkheimer
r denzen bedroht war, um so brutaler versuchten die Kaiser den alten
Staatskult zu erneuern und damit das untergrabene Gef iihl der Einheit
herzustellen. Die Epochen, die auf die Christenverfolgungen und den
Untergang des Reiches folgten, sind von anderen furchtbaren Bei-
spielen des sich regelmaBig wiederholenden Verlaufes voll. Inner-
halb der Wissenschaft einer solchen Periode pfiegt das ideologische
Moment weniger darin zu erscheinen, daB sie falsche Urteile enthalt,
als in ihrer mangelnden Klarheit, ihrer Ratlosigkeit, ihrer ver-
hiillenden Sprache, ihren Problemstellungen, ihren Methoden, der
Richtung ihrer Untersuchungen und vor allem in dem, wovor sie
die Augen verschlieBt.
8. In der Gegenwart bietet der Wissenschaftsbetrieb ein Abbild
der widerspruchsvollen Wirtschaft dar. Diese ist weitgehend mono-
polistisch beherrscht und doch im WeltmaBstab desorganisiert und
chaotisch, reicher als je und doch unfahig, das Elend zu beheben.
Auch in der Wissenschaft erscheint ein doppelter Widerspruch.
Erstens gilt es als Prinzip, daB jeder ihrer Schritte einen Erkenntnis-
grund habe, aber der wichtigste Schritt, namlich die Aufgabenstellung
selbst, entbehrt der theoretischen Begriindung und scheint der Willkiir
preisgegeben zu sein, Zweitens ist es der Wissenschaft um die Er-
kenntnis umfassender Zusammenhange zu tun, den umfassenden
Zusammenhang aber, von dem ihr eigenes Dasein und die Richtung
ihrer Arbeit abhangt, namlich die Gesellschaft, vermag sie in ihrem
wirklichen Leben nicht zu begreifen. Beide Momente sind eng ver-
kniipf t . In der Erhellung des gesamtgesellschaf thchen Lebens -
prozesses ist die Aufdeckung des Gesetzes, das in der scheinbaren
Willkurlichkeit der wissenschaftlichen wie der anderen Unterneh-
mungen sich durchsetzt, mit enthalten, denn auch die Wissenschaft
wird dem Umfang und der Linie ihrer Arbeiten nach nicht bloB durch
die ihr eigenen Tendenzen, sondern letzten Endes durch die gesell-
schaftlichen Lebensnotwendigkeiten bestimmt. Die Verzettelung und
Verschwendung von geistigen Energien, die den Gang der Wissen-
schaft im letzten Jahrhundert trotz dieser GesetzmaBigkeit kenn-
zeichnen und immer wieder von den Philosophen dieser Epoche kriti-
siert wurden, kOnnen freilich ebensowenig wie die ideologische Funk-
tion der Wissenschaft durch bloBe theoretische Einsicht iiberwunden
werden, sondern einzig durch die Veranderung ihrer realenBedingungen
in der geschichtlichen Praxis.
9. Die Lehre vom Zusammenhang der kulturellen Unordnung mit
den akonomischen Verhaltnissen und den aus ihnen sich ergebenden
Bemerkungen iiber Wissenschaft und Krise 7
Interessengegensatzen besagt nichts iiber den Realitatsgrad oder das
Rangverhaltnis der materiellen und geistigen Giiter. Sie steht freilich
zur idealistischen Ansicht, daB die Welt als Erzeugnis und Ausdruck
eines absoluten Geistes zu betrachten sei, in Widerspruch, weil sie
den Geist iiberhaupt nicht als ein vom historischen Dasein AblOsbares
nnd Selbstandiges betrachtet. Wenn aber der Idealismus nicht in
dieser fragwiirdigen Metaphysik, sondern vielmehr in dem Bestreben
gesehen wird, die geistigen Anlagen der Menschen wirklich zur Ent-
faltung zu bringen, dann entspricht die materialistische Theorie der
Unselbstandigkeit des Ideellen besser diesem Begriff der klassischen
deutschen Philosophie als ein groBer Teil der modernen Metaphysik ;
denn der Versuch, die gesellschaftlichen Ursachen der Verkummerung
und Vernichtung menscblicben Lebens zu erkennen und die Wirt-
schaft wirklich den Menschen unterzuordnen, ist jenem Streben an-
gemessener als die dogmatische Behauptung einer vom Lauf der
Geschichte unabhangigen Prioritat des Geistigen.
10. Soweit mit Recht von einer Krise der Wissenschaft gesprochen
wird, ist sie von der allgemeinen Krise nicht zu trennen. Die geschicht-
liche Entwicklung hat eine Fesselung der Wissenschaft als Produktiv-
kraft mit sich gebracht, die sich in ihren Teilen, dem Inhalt und der
Form, dem Stoff wie der Methode nach, auswirkt. AuBerdem wird
die Wissenschaft als Produktionsmittel nicht entsprechend an-
gewandt. Das Begreifen der Krise der Wissenschaft hangt von der
richtigen Theorie der gegenwartigen gesellschaftlichen Situation ab,
denn die Wissenschaft, als eine gesellschaftliche Funktion, spiegelt in
der Gegenwart die Widerspruche der Gesellschaft wider.
Die gegenwartige Lage des Kapitalismus und die Aus-
sichten einer planwirtschaftlichen Neuordnung 1 ).
Von
Friedrich Pollock (Frankfurt a. M.).
I.
„Die industrielle Produktion hat sich seit ihrem Hochststand von
Mitte 1929 urn etwa 46% vermindert. Bis zum Ende 1931 war sie auf
den Stand von Ende der neunziger Jahre zuriickgef alien. Um die ganze
Schwere dieses Riickschlags ermessen zu konnen, muB man sich ver-
gegenwartigen, daB die Bevolkerung des Deutschen Reiches jetzt um
mehr als ein Fiinftel groBer ist als damals.
Die Zerruttung der Kapitalmarkte hat die Investitionstatigkeit so
gut wie vollig lahmgelegt. Neuinvestitionen werden kaum noch in
Angriff genommen. Ersatzinvestitionen unterbleiben mehr und mehr . . .
Der Arbeitsmarkt bietet das Bild schwerster Erschutterung. Die
Zahl der Erwerbslosen, gegenwartig iiber 6 Millionen, bedeutet, daB
beinahe 30% der Arbeiter und Angestellten zum Feiern gezwungen
sind. Nur wenig mehr als zwei Fiinftel der vorhandenen Arbeitsplatze
in der Industrie sind besetzt . . . Das Volkseinkommen (im Jahre 1929
ca. 76 Milliarden RM.) ist fiir das Jahr 1930 auf 60—70, fur das Jahr
1931 auf rund 50 — 60 Milliarden RM. zu veranschlagen. Das Jahr
1932 wird mit Sicherheit noch niedrigere Zahlen ergeben.
Die Konkurse haben mit schatzungsweise 18800 im Jahre 1931
den hochsten jemals zu verzeichnenden Stand erreicht."
Wie ein Heeresbericht aus einem verlorenen Krieg lesen sich diese
Satze, mit denen das Institut fiir Konjunkturforschung die Schwere
der deutschen Wirtschaftskrise zu Anfang des Jahres 1932 zu beschreiben
versucht 2 ). Ahnliche Meldungen liegen fiir die meisten anderen kapi-
talistischen Staaten vor, und wenn es zu Beginn des Jahres 1931 noch
so scheinen konnte, als ob einzelne besonders bevorzugte Lander von
der Wirtschaftskrise verschont bleiben w T iirden, so zeigt es sich heute,
daB auch die bisher widerstandsfahigsten Volkswirtschaften, vor allem
x ) Die Arbeit wurde im Februar 1932 abgeschlossen, das seithererschienene
Material konnte nur ausnahmweise beriicksichtigt werden.
2 ) Wochenbericht des Inst. f. Konjunkturforschung vom 17. Februar
1932.
Die gegenwartige Lage des Kapitalismus usw. 9
Frankreieh, mehr und mehr von den zerstOrenden Kraften der Krise
angef alien werden. Das allgemeine MiBtrauen gegen alle Wahrungen
und alle Unternehmungen fiihrt zum Verzicht auf eine noch so niedere
Verzinsung, der in der privaten Goldhortung zum Ausdruck kommt.
Begreiflich wird dieses Verhalten, wenn man von den Kapitalzer-
storungen erfahrt, die seit dem Zusammenbruch der New-Yorker Borse
im Herbst 1929 erfolgt sind und von denen die Borsenindices em un-
gefahres Bild geben 1 ).
Erganzt und vertieft wird dieses Bild durch einen Blick auf die
Entwicklung der internationalen Rohstoffpreise. Gegeniiber dem Stand
von 1926 sind sie selten weniger als um die Halfte, haufig auf ein Drittel
(Weizen, Zucker, Erdol, Kaffee, Blei, Zink, Rohseide usw.), vereinzelt
sogar noch tiefer gesunken (z. B. Kautschuk von einem Durchschnitts-
preis von 4436RM. je t im Jahre 1926 auf 643 RM.), wahrend die sicht-
baren Vorrate sich vervielfacht haben und vorlaufig einen weiteren
Druck auf die Preise ausiiben.
Je mehr man auf die Einzelheiten der krisenhaften Erscheinungen
eingeht, um so mehr haufen sich die Beispiele fur die Schwere der Zer-
stdrungen, die sie in der ganzen kapitalistischen Welt anrichten. Die
Menschheit, die in ihrer Geschichte keinen Abschnitt kannte, in dem sie
absolut und pro Kopf gerechnet so reich an Produktionsmitteln und
hochqualifizierten Arbeitskraften war wie heute, verarmt auf doppelte
Weise: durch die ungeheure Brachlegung der sachlichen und person-
lichen Produktivkrafte und durch die Vernichtung eines Teiles des
Geschaffenen. Eine einfache Uberlegung gibt eine Vorstellung davon,
was den darbenden Menschen durch die Arbeitslosigkeit des Jahres
1931 an wirtschaftlichen Werten, die nut den vorhandenen Produk-
tionsmitteln hatten hergestellt werden konnen, entgangeh ist. Legt
man im Durchschnitt des Jahres 1931 fur samtliche Industriestaaten
eine Arbeitslosigkeit von 20 Millionen zugrunde (wobei Kurzarbeiter
mit einem entsprechenden Schliissel in Vollarbeitslose umzurechnen
waren) und nimmt man als rohen Durchschnitt ein Jahreseinkommen
pro Arbeiter von 2000 RM. an, dann ergibt sich ein Einkommens-
2 )
Aktienindex
Vereinigt
Datum
s Staaten
1926=100
Deuts
Datum
chland
1924/26=100
Hoehster Stand
Bisheriger tiefster Stand
Sept. 1929
Marz 1932
257
56
Mai 1927
April 1932
203
46,5
10 Friedrich Pollock
ausfall von 40 Milliarden RM. und ein Ausfall an technisch moglicher
Neuproduktion, dessen Hohe" diese 40 Milliarden Mark weit iibersteigt.
Der schreiende Widerspruch zwischen der Verarmung immer groBerer
Schichten, dem Fehlen der Mittel selbst fur die dringendsten Kultur-
aufgaben auf der einen Seite und den durch die Umwalzung in den land-
wirtschaftlichen Produktionsmethoden und die sprunghaften Fort-
schritte in der Produktivitat der industriellen Arbeit gegebenen tech-
nischen Moglichkeiten auf der anderen zwingen breiteste Schichten
zum Nachdenken liber die ZweckmaBigkeit der kapitalistischen Wirt-
schaftsordnung. Immer kleiner wird die Zahl derer, die verlangen,
daB die Wirtschaftsfuhrung „uberall da, wo verwaltungsmaBige Er-
ledigung der Geschafte nicht ausreicht, wieder auf die Grundlage der
individualistischen Weltanschauung zuriickgebracht werden" solle,
und die meinen, daB man nur „dem freien Spiel der Krafte, das das
Wesen der kapitalistischen Ordnung ausmacht, wieder mehr Raum
geben" miiBte, um der Krise Herr zu werden 1 ). Statt dessen ertont
selbst aus Kreisen, die man fruher zu den zuverlassigsten Anhangern
des liberalistischen Systems gezahlt hat, der Ruf, daB das Ende des
Kapitalismus gekommen sei und daB nur eine planwirtschaftliche Neu-
ordnung die heutigen Schwierigkeiten bewaltigen und die wirtschaft-
lichen Krafte aus den zerst6renden, lebensfeindlichen Machten von heute
zu Dienern der Menschen machen konnte.
Es ist die Aufgabe der nachstehenden Seiten, auf einige zur Beurteilung
dieser Streitfrage wichtige Gesichtspunkte hinzuweisen.
II.
Nur von den Vertretern einer „exogenen" Krisentheorie durfte ernst-
haft bestritten werden, daB die heutige Weltwirtschaftskrise zu einem
guten Teil auf dieselben Ursachen zuruckzuf iihren ist wie ihre nationalen
und internationalen Vorganger seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts.
Strittig ist aber, welche Faktoren verscharfend auf den Krisenablauf
einwirken und die Uberwindung des Tiefpunktes immer wieder ver-
zogern. Grob schematisch lassen sich diese zusatzlichen Storungs-
faktoren in drei Gruppen einteilen: politische Storungsmomente,
einmalige wirtschaftliche Storungsursachen und solche ^strukturelle"
Veranderungen, die den normalen Gang des kapitalistischen Auto-
matismus behindern.
x ) Bericht der Darmstadter und Nationalbank iiber das Geschaftsjahr
1930, S. 12.
Die gegenwartige Lage des Kapitaliamus usw. 1 1
Die beiden ersten Gruppen stehen teilweise in engem Zusammenhang.
Die Erscheinungen, urn die es sich hier handelt, sind so oft beschrieben
worden, daB wir nur an zwei besonders wichtige Tatsachen erinnern.
Die Storungen der internationalen Arbeitsteilung durch die Folgen
des Krieges und die allgemeine durch die Friedensvertrage und Repara-
tionen geschaffene politische Unruhe haben das heute enger als je
verflochtene internationale Kreditsystem aufs schwerste erschiittert.
Besonders krisenverscharfend muBte weiterhin das Zusammen-
treffen einer schweren Agrarkrise mit der Industriekrise wirken, weil
erfahrungsgemaB in den fruheren Krisen das relativ konstante Ein-
kommen der landwirtschaftlichen Bevolkerung der Nachfrage nach
Industriewaren einen gewissen Halt geboten und zusammen mit den
iibrigen festen Geldeinkommen bei der Aufnahme der aufgestauten
Vorrate zu den gesunkenen Krisenpreisen eine groBe Rolle gespielt
hatte. Dieser den Absturz bremsende Faktor fiel durch das sprunghafte
Tempo in der Umwalzung der landwirtschaftlichen Produktionstechnik
aus.
Fur unsere Fragestellung ist eine dritte Gruppe von Storungsfaktoren
besonders wichtig, weil diese als dauernd wirksam angesehen werden
mussen und das Funktionieren des Marktmechanismus dauernd be-
drohen. Hierher gehort in erster Linie die Verschiebung des wirt-
schaftlichen Schwergewichtes zu den GroBbetrieben und den Riesen-
unternehmungen in der Industrie, im Handel und im Bankwesen. Seit
Marx sind viele Versuche gemacht worden, die Zwangslaufigkeit dieses
Prozesses zu erklaren, aber ob man nun ein bestimmtes Gesetz der
Konzentration und Zentralisation annimmt oder die wachsende Be-
deutung der „fixen Kosten" als Ursache bezeichnet, die Tatsache dieser
Entwicklung selbst kann heute ernsthaft nicht mehr in Frage. gestellt
werden. GewiB gibt es in der nordamerikanischen Industrie noch etwa
30000 Unternehmungen mit einem investierten Gesamtkapital von
rund 600 Milliarden RM., aber iiber 44% dieses Kapitals entfielen
schon 1927 auf etwa 200 Unternehmungen 1 ). Jede neue statistische
Veroffentlichung iiber die Entwicklung der Betriebs- und Unter-
nehmungsgroBen, jede Ubersicht iiber die Vorgange auf dem Gebiete
der Kartell-, Konzern- und Trustbildung redet eine ahnhche Sprache.
x ) H. K. Simon, Amerikas Industriesystem, Deutscher Volkswirt vom
20. 11. 1931, S. 251. Vgl. auch H. W. Laidler, Concentration of Control in
American Industry, New York 1931. — In Deutschland gab es am 31. X>ez.
1930 10970 Aktiengesellschaften mit einem Nominalkapital von insgesamt
24,1 Milliarden RM., von dem iiber die Halfte (12,5 Milliarden RM.) auf
189 Gesellschaftenentfiel(Stat. Jahrbuch f. d. Deutsche Reich, 1931, S.36H.).
12 Friedrich Pollock
Das Wachstum der wirtschaftlichen Einheiten verleiht ihren Leitern zu-
nehmencle wirtschaftliche und politische Macht. Es entsteht dann jene
viel diskutierte „Erstarrung" der Wirtschaft, in der die Preise vieler
wichtiger Waren nicht mehr durch das ,,freie Spiel der Krafte" zustande
kommen, sondern durch monopolistische Bindungen. Diese gebundenen
Preise werden dadurch ermoglicht, daB unter dem politischen Einf luB der
groBen Wirtschaft smachte eine Zollpolitik durchgesetzt wird, die die
auslandische Konkurrenz vom Inlandsmarkt fernhalt oder den groBen
Verbanden gestattet, mit der auslandischen Konkurrenz die Markte
aufzuteilen.
Ebenso wie durch diese Eingriffe in die freie Preisbildung ein fur die
Struktur des liberalistischen Wirtschaftssystemes entscheidendes Gebiet
eine durchgreifende Veranderung erfahrt, wird durch die Einschrankung
der freien tTnternehmertatigkeit und der Unternehmerverantwortung
das alte System grundlich verandert. Es ist wiederum das Wachstum
der wirtschaftlichen Einheiten, das diese Veranderungen verursacht.
Solange die GroBe der Einzelunternehmung im Verhaltnis zur ganzen
Wirtschaft noch bescheiden war, konnte man vom Staat nicht erwarten,
daB er den Zusammenbruch eines erfolglosen Unternehmens verhinderte.
Die Folgen fur die iibrige Wirtschaft waren im einzelnen Fall zu er-
tragen, die Zahl der durch den Bankrott brotlos Gewordenen blieb
in relativ maBigen Grenzen. Hente sind viele Unternehmungen in der
Industrie und im Bankwesen so riesenhaft angewachsen, daB keine
Staatsgew r alt, moge sie sich noch so liberalistisch gebarden, ihren Unter-
gang untatig mit ansehen kann. Von einer bestimmten GroBe des
Kapitals an darf das Unternehmen zwar den Gewinn noch fur sich allein
beanspruchen, das Risiko aber auf die Masse der Steuerzahler abwalzen,
da sein Zusammenbruch die schwersten Folgen f iir den gesamten W T irt-
schaftskOrper und damit auch fiir die politische Situation haben muBte 1 ).
Der Ein wand, daB auch fruher der Staat schon gelegentHch eingegriffen
habe, urn Unternehmungen zu stiitzen, trifft insofern nicht zu, als der-
artige MaBnahmen im vergangenen Jahrhundert noch eine Ausnahme
waren, wahrend heute z. B. jede gefahrdete GroBbank mit staatlicher
Hilfe gehalten werden muB. Wenn in der letzten Zeit immer haufiger
davon gesprochen wird, daB der Arbeitslosenunterstiitzung neuer-
dings eine ..Erfolglosenunterstiitzung" gegentiberstehe und daB diese
1 ) Ein drastisches Beispiel hierfiir ist die Reorganisierung der deutschen
Grofibanken unter Auf wen dung vieler hunderter von Millionen offentlicher
Mitt el, nachdem noch wenige Monate vor der Juli-Krise von 1931 die Leiter
der zuerst zusammengebrochenen Grofibank in dem oben zitierten Jahres-
bericht gegen staatliche Eingriffe protestiert hatten.
Die gegenwartige Lage des Kapitalismus usw. 13
Phase der kapitalistischen Entwicklung als „garantierter a Kapitalis-
mus gekennzeichnet werden miisse, so ist damit eine wichtige struk-
turelle und den Marktautomatismus bedrohende Veranderung charak-
terisiert.
Die Eingriffe des Staates in den freien Arbeitsvertrag, die damit
zusammenhangenden sozialpolitischen MaBnahmen, die staatliche An-
erkennung der Gewerkschaften stimmen mit den urspriinglichen Ge-
danken des Liberalismus ebensowenig iiberein wie die Bindungen
anderer Warenpreise, die allerdings eine vOllig verschiedene wirtschaft-
liche und soziale Bedeutung haben. Die Behauptung, daB heute nur
an die Stelle der „niinosen" Konkurrenz die ,,geregelte" Konkurrenz
getreten sei, gibt gerade das zu, was sie leugnen mOchte, denn die
Konkurrenz kann als Regulator nur insofern wirksam sein, als sie
„ruinos ( * ist. Allerdings ist die zunehmende Staatstatigkeit keine zu-
f allige Eigentiimlichkeit des Nachkriegskapitalismus , sondern wird
voraussichtlich auch weiterhin fiir das kapitalistische System best immend
sein. In der Krise wird der Druck auf die Staatsgewalt, in den Wirt-
schaftsprozeB einzugreifen, naturgemaB noch bedeutend verstarkt. da
die Krafte der Selbststeuerung ebenso wie die normalen Mittel der
liberalistischen Wirtschaftspolitik nicht ausreichen.
Der konsequente Liberalismus laBt nur ein Mittel zur Konjunktur-
regulierung zu, namlich die Diskontpolitik der Zentralnotenbank.
Aber dieses Mittel kann nur solange wirksam sein, als freie Konkurrenz
der Kapitalien und Unternehmungen besteht. In der heutigen ..ge-
bundenen" Wirtschaft ist es ,,ein viel zu femes Instrument, mit dem
man den groBen und schlagartig auftretenden Storungen gar nicht
entgegenzuwirken vermag" *).
Analoge Storungen wie beim binnenwirtschaftlichen Automatismus
lassen sich auch bei den internationalen Wirtschaft sbeziehungen nach-
weisen. Man konnte es eine tragische Situation nennen, daB gerade zu
der Zeitj in der die Nachrichten- und Verkehrstechnik eine vollentfaltete
Weltwirtschaft iiberhaupt erst moglich machen, starkste Krafte auf
AbschlieBung der einzelnen Wirtschaftsgebiete voneinander und Be-
schrankung des internationalen Warenaustausches auf das unbedingt
Notwendige hinwirken. Unter dem ironischen Schlagwort ..Schutz-
zoll per Kasse — Freihandel auf Termin" ist kxirzlich eine Gegeniiber-
stellung der wohlmeinenden Vorschlage zur Erleichterung der inter-
nationalen Arbeitsteilung und der zur gleichen Zeit in Kraft getretenen
2 ) E. Lederer, Planwirtschaft, Tubingen 1932, S. 23.
14 Friedrich Pollock
protektionistischen MaBnahmen veroffentlicht worden 1 ). Es findet sich
darin der resignierte Hinweis, daB das positive Ergebnis aller bisherigen
freihandlerischen Arbeiten des Volkerbundes in einem Abkommen liber
die Ausfuhr von Hauten tmd Fellen bestehe. Wahrend aber dieser
Feststellung auch im Fruhjahr 1932 nichts hinzuzufugen ist, muBte
die lange Liste der protektionistischen MaBnahmen, die im Oktober
1931abgeschlossen wurde, durch eine fast ebenso lange Liste der seither
in Kraft getretenen oder geplanten Zolle, Einfuhrverbote, Kontin-
gentierungen erganzt werden. Sicher ist dieser anwachsende Protek-
tionismus nicht allein durch die Wirtschaftskrise verursacht; er ist
erst moglich geworden durch den Wegfall der Voraussetzungen einer
internationalen Arbeitsteilung, auf denen die Freihandelslehre beruhte.
Somit rechtfertigt sich der schon von List ausgesprochene Verdacht,
daB es sich bei dieser Lehre urn eine Ideologie handelt, mit der die
industriell f ortgeschrittensten oder vorwiegend handeltreibenden Staaten
ihre Interessen verbramt haben. Der Nexus: wachsende GrbBe der
Wirtschaftseinheiten — wachsende wirtschaftliche und politische Macht
— Benutzung dieser Macht zur Bindung der Preise im Innern und Ab-
schluBgegendieauslandischeKonkurrenz — Unvermeidbarkeitder Staats-
hilfe, wenn wichtige Teile der Wirtschaft bedroht sind 2 ), schwacht oder
vernichtet die Selbststeuerung der kapitalistischen Wirtschaft, fiihrt
zu Fehlinvestitionen groBten Stils, verscharft die Disproportionalitaten
zwischen den einzelnen Wirtschaftszweigen und zwingt zu einem immer
heftigeren Kampf auf dem f ortwahrend weiter zusammenschrumpf enden
Weltmarkt 3 ).
III.
Wenn die Wirtschaftskrise als eine durch einmalige und dauernde
Faktoren verscharfte ,,normale" kapitalistische Krise angesehen werden
1 ) Nachkriegskapitalismus, Eine XJntersuchung der Handelsredaktion der
Frankfurter Zeitung, Frankfurt 1931, S. 30f.
2 ) In diesem Zusammenhang ist auch auf den landwirtschaft lichen Pro-
tektionismus hinzuweisen. Die Kosten der Stiitzungsaktionen des nord-
amerikanischen Farm -Boards oder der brasilianischen Kaffeevalorisationen
sind bekannt. Der Preis, den die deutschen Konsumenten fiir die Erhaltung
des deutschen Getreidebaues zu zahlen haben, wurde neuerdings auf 30.
bis 35% des Nettowertes der Getreideproduktion, d. h. auf 3 — 4 Milliarden
RM. pro Jahr berechnet. Vgl. F. Dessauer, Landwirtschaftliche und indu-
strielle Subventionen in „Der deutsche Volkswirt" vom 13. 11. 1931.
3 ) Da hier der Raum zu naheren Ausfiihrungen uber diese Zusammen-
■hange fehlt, verweisen wir auf die nachstehenden Arbeiten, mit denen wir
in diesem Punkt weitgehend ubereinstimmen : A. Lowe, Lohnabbau als Mittel
der Kriseniiberwindung; A. Lowe, Der Sinn der Weltwirtschaftskrise, Neue
Blatter fiir den Sozialismus, Jahrgang I, Heft 5 bzw. Jahrgang II, Heft 2;
E. Lederer, Wege aus der Krise, Tubingen 1931.
Die gegenwartige Lage des Kapitalismus usw. 15
muB, dann erhebt sich die Frage, ob nach einer allmahlichen Bereini-
gung der Krisenursachen der alte Automatismus des kapitalistischen
Systems nicht doch wieder hergestellt werden kann. Auch heute fehlt
es nicht an Stimmen, die behaupten, daB die gegenwartige Unordnung
daher riihre., daB dieser „wenn auch nicht ideale, so doch bewunderungs-
wurdige Mechanismus der Marktwirtschaft durch die tappischen und
unintelligenten Eingriffe aufierer und innerer Politik nach dem Kriege"
gestort worden sei, und daB es nur darauf ankomme, dieses System zu
reinigen, das „in einer ungemein sinnvollen, wenn auch von den wenigsten
voll verstandenen Weise die automatische Anpassung der arbeits-
teiligen Produktion an den Bedarf durch den Regulator der Preise
und die Lenkung der Produktionskrafte auf die ertragreichsten Gebiete
durch den Regulator des Zinses" bewirke 1 ). Gegeniiber dieser harmo-
nisierenden Darstellung des „Vorkriegskapitalismus" kann nicht nach-
drucklich genug gesagt werden, daB der kapitalistische Automatismus
zwar GroBartiges geleistet hat, daB er sich dazu aber der barbarischen
Mittel eines erbarmungslosen Vernichtungskampfes bediente, dessen
Kosten - — nicht die privatwirtschaftlich ausgewiesenen allein, sondern
die Kosten fur die gesamte Gesellschaft • — bisher nie berechnet worden
sind. Keine noch so beschonigende Terminologie, welche die Zer-
storungen dieses groben Automatismus als ,,Friktionen" bagatellisiert,
kann die Tatsache aus der Welt schaffen, daB das kapitalistische System
seit seinem Bestehen in mehr oder weniger gleichmaBigen Abstanden
immer wieder aus dem Gleichgewicht geraten ist und daB die not-
wendigen Proportionalitaten jeweils durch die massenhafte Vernichtung
von Werten und Menschenleben hergestellt werden muBten. Sicher hat
es viele Jahrzehnte keinen besseren Weg als diesen Automatismus
gegeben, die Produktivkrafte der menschlichen Gesellschaft zu ent-
wickeln, ebenso wie jahrhundertelang eine Seuchenbekampfung
nicht anders moglich war als durch Isolierung der Kranken, die
man ihrem Schicksal uberlieB, aber diese Einsicht sollte das Ur-
teil iiber den barbarischen Charakter derartiger Methoden nicht
trxiben.
Uberdies ist es zumindest fraglich, ob der Marktmechanismus in den
letzten 50 Jahren wirklich eine „optimale Anpassung der Erzeugungs-
krafte an die Bedarf swiinsche" geleistet hat. Uberlegt man in welchem
Umfang der Produktionsapparat in diesem letzten Jahrhundert faktisch
ausgeniitzt worden ist, so wird sich im Konjunkturdurchschnitt
x ) Nachkriegskapitalismus, 1. c. S. 7.
16 Friedrich Pollock
vermutlich eine nicht unbetrachtliche Nichtausnutzung der Kapazitat
ergeben. Zwar leistet der Automatismus eine trendmaBige Anpassung
der Produktion an die zahlungsfahige Nachfrage. Es handelt sich
aber darum, eine gleichmaSigere und bessere Versorgung des faktischen
Bedarfes zu ermoglichen.
IV.
Ohne Zweifel laBt sich begriinden, daB diese Krise mit kapitalistischen
Mitteln uberwunden werden kann und daB der „monopolistische"
Kapitalismus auf zunachst unabsehbare Zeit weiter zu existieren ver-
mag. Allerdings ist das nur noch beschrankt funktionierende alte
System weiterhin mit solchen Spannungen geladen, daB verhaltnis-
maBig geringfugige Anlasse zu einer Katastrophe fiihren konnen, deren
vernichtende Wirkungen heute noch nicht annahernd iibersehbar
sind.
Die Elemente zur Uberwindung der aktuellen Wirtschaftskrise sind
bereits in weitem Umfang vorhanden. Das Kapital hat, wenn man von
den Landern absieht, die eine besondere politisch bedingte Kreditkrise
durchzumachen hatten, in groBem Umfang Geldf orm angenommen, der
ProzeB der „Dekapitalisierung" ist in vollem Gang, die Rohstoffe haben
teilweise einen nicht fur moglich gehaltenen Preissturz erlitten, die An-
passung der Bodenwerte an die gesunkenen Rohstoffpreise setzt sich
allmahlich durch, die Vorrate an Fertigfabrikaten sind in alien Landern
zusammengeschmolzen, kurz ; es scheint nur noch der „Ankurbelung"
zu bediirfen, um den WirtschaftsprozeB aus seiner heutigen Lahmung
zu l6sen. Hemmend wirken allerdings in hOchstem MaB die politische
Unsicherheit auf der ganzen Welt, der damit in engem Zusammenhang
stehende bedenkliche Zustand der offentlichen Finanzen und der inter-
national Zoll- und Wahrungskrieg. Auch wenn in den nachsten Jahren
die verscharfenden Faktoren noch das Ubergewicht behalten sollten
und trotz aller Ankurbelungsversuche die Vernichtung wirtschafthcher
Werte weiterginge, bliebe die theoretische Moglichkeit einer allmah-
lichen Uberwindung der Krise bestehen. Es spricht allerdings vieles
dafur, daB in diesem gebundenen Kapitalismus die Depressionen
langer, die Auf schwungsphasen kurzer und heftiger und die Krisen ver-
nichtender sein werden als in den Zeiten der ,,freien Konkurrenz",
aber sein ,,automatischer" Zusammenbruch ist nicht zu er-
warten. Ein unabweisbarer Zwang, ihn durch ein anderes Wirt-
schaftssystem zu ersetzen, besteht rein wirtschaftlich nicht.
Die gegenwartige Lage des Kapitalismus usw. 17
Je geringer die Zahl derjenigen wird, die an der Aufrechterhaltung
des gegenwartigen Wirtschaftsystems objektiv interessiert sind 1 ), um
so dringender wird die Frage nach der Moglichkeit, dieses System durch
ein besseres zu ersetzen. Wir sehen eine solche Moglichkeit nur in der
Richtung auf die Ersetzung der ,,partiellen" durch eine „totale" Or-
ganisation und fragen deshalb hier nach den Aussichten einer planwirt-
schaftlichen Neuordnung.
Die offenkundigen Schwierigkeiten des kapitalistischen Systems
ebenso wie das Ausbleiben des von fast alien Sachverstandigen prophe-
zeiten Zusammenbruchs der russischen planwirtschafthchen Versuche
sind die Hauptgriinde, warum heute uberall von Planwirtschaft ge-
sprochen wird. In den Landern, in denen das kapitalistische System
noch am festesten gegrundet erscheint, in den Vereinigten Staaten und
in Frankreich, werden Zehnjahresplane und Funfjahresplane zur Ent-
wicklung der Wirtschaft diskutiert. Die nordamerikanischen und eng-
lischen okonomischen Zeitschriften sind voll von Erorterungen liber
planwirtschaf tliche Probleme ; in Amsterdam fand im August des vorigen
Jahres ein insbesondere von amerikanischer Seite zahlreich besuchter
KongreB statt, auf dem die Moglichkeiten einer Planwirtschaft auf
kapitalistischer Grundlage in sehr ernsthafter Weise diskutiert wurden ;
gelegentlich des Kongresses der britischen Gewerkschaften sprach man
sich im September 1931 uber die Moglichkeit einer natiqnalen britischen
Planwirtschaft aus. Berichte uber die Schicksale des russischen Funf-
jahresplans erscheinen in alien Sprachen der Welt, Aber mit wenigen
Ausnahmen hat die Erorterung planwirtschafthcher Probleme bisher
eher verwirrend als erklarend gewirkt, und nur in wenigen Fallen ist
1 ) Anhaltspunkte dafur, wie klein diese Schicht in Deutschland bereits
geworden ist, geben die Zahlen der Einkommens- und Vermogensstatistik.
Sie sind von F. Fried in seinem Buche uber: ,,Das Ende des Kapitalismus"
in popularer Weise zusammengestellt (S. 50ff .). Nach der letzten Einkommens-
steuerstatistik aus dem Jahre 1928 bezogen 89,4% der Erwerbstatigen, bei
denen hier die mithelfenden Familienangehorigen nicht beriicksichtigt sind,
ein Einkommen bis 250 RM. monatlich und 57,2% ein Einkommen bis
100 KM. Fried hat berechnet, dafi es unter den 32V 2 Millionen Erwerbs-
tatigen rund 100000 gibt, ,,die wirklich ohne Sorgen, auskommlich und gut
leben konnen". Vermogensteuerpflichtig waren in Deutschland im Jahr 1928
insgesamt 2,76 Millionen Personen. Von den deklarierten Vermogen im
Gesamtbetrag von 77,37 Milliarden RM. entfallen 29,11 Milliarden = rund
37,6% auf Vermogen iiber 100000 RM. Diese sind im Besitz von 3,8% der
Verm o gens teuerpflichtigen, namlich 104,955 Personen ( Statistisches Jahr-
buch fur das Deutsche Reich, 1931, S. 533 und 514f).
18 Friedrich Pollock
es zu einer scharferen Herausarbeitung der mit einer Planwirtschaft
zusammenhangenden Problematik gekommen 1 ).
Es ist das Verdienst Lorwins, dadurch eine gewisse Ordnung in das
Sprachgewirr der planwirtschaftlichen Diskussion gebracht zu habeii,
daB er vier verschiedene Typen pknwirtschaftlicher Systeme begriff-
lich trennte. In teilweiser TJbereinstimmung mit ihm verstehen wir
unter Planwirtschaft ein Wirtscbaftsystem, in dem Produktion und
Distribution zentral durch gesellschaftliche Planung reguliert werden,
und unterscheiden zwei Haupttypen: kapitalistische Planwirtscbaft
auf Grundlage des Privateigentums an den Produktionsmitteln und
damit im sozialen Rahmen einer Klassengesellschaft und sozialistische
Planwirtscbaft mit den Merkmalen des gesellschaftlichen Eigentums
an den Produktionsmitteln und des sozialen Raums einer klassenlosen
Gesellschaft. In ein Schema, dessen Extreme durch diese beiden Haupt-
typen charakterisiert sind, lassen sich prinzipiell alle bisherigen plan-
wirtschaftlichen Vorschlage einordnen. Am einen Ende findet sich das
Generalkartell Hilferdings, in dem samtliche Unternehmungen zu-
sammengeschlossen sind, aber prinzipiell das Privateigentum an den
Produktionsmitteln erhalten bleibt bei scharfer Scheidung zwischen
einer relativ kleinen herrschenden Klasse und der groBen Masse der
Besitzlosen. Dann folgen die Entwurfe, in denen der Staat als grdBter
Kapitalist auftritt, ohne daB das Privateigentum an den Produktions-
mitteln prinzipiell aufgegeben ware. Bei der Beurteilung dieser Formen
entscheidet die Beantwortung der Frage, welche Klasse im Besitze der
Staatsmacht ist, daruber, ob sie mehr zum kapitalistischen oder zum
sozialistischen Typ zu zahlen sind 2 ). Von den Mischformen, wie sie
den wirtschaftsdemokratischen Forderungen vorschweben und in denen
offentliches, genossenschaftliches und privates Eigentum an den Pro-
duktionsmitteln nebeneinander bestehen, fuhren dann theoretisch viele
Ubergange zu dem sozialistischen Typ der Planwirtschaft 3 ). , So ver-
*) Wir verweisen vor allem auf die Publikationen von Heimann, Lan-
dauer, Lederer und Lorwin.
2 ) Solche planwirtschaftlichen Vorschlage wie etwa die des Tat-Kreises,
in denen mit einem vollig ungeklarten Staatsbegriff operiert wird, lassen
sich allerdings in unser Schema nur sehr schwer einreihen, da lediglich Ver-
mutungen daruber moglich sind, was fur ein Gebilde dieser Staat ist, der
in der geforderten „Gesamtwirtschaft" die wirtschaftlichen „Komraando-
hohen" besetzt halt. Viele Anzeichen lassen allerdings darauf schlieJBen,
daB als herrschende Klasse die kleinen Eigentumer unterstellt werden,
womit sich die Charakterisierung als kapitalistische Planwirtschaft ergeben
wurde. Vgl. E. W. Eschmann, Ubergang zur Gesamtwirtschaft, in: Die Tat,
Septemberheft 1931.
8 ) Es mufi hier daran erinnert werden, dai3 es ebensowenig eine allgemein
anerkannte Theorie der Planwirtschaft gibt wie eine allgemein oder aucb
Die gegenwartige Lage des Kapitalismus usw. 19
schieden alle diese Typen in bezug auf das Wirtschaftsziel, ihren gesell-
schaftlichen Inhalt, die Differenzierung der Einkommen und damit auch
die Bestimmung der Richtung der Produktion sein mogen, dies eine
haben sie alle gemeinsam, daB an die Stelle der „SelbststeueTung"
der Wirtschaft mit ihrer grundsatzlich immer zu spat eintretenden
Korrektur wirtschaftlicher Fehlhandlungen ein Plan treten soil, dem
im Idealfall alle Einzelheiten des wirtschaftlichen Geschehens derart
einzuordnen sind, daB mit den vorhandenen Mitteln ein Optimum an
Leistung erreicht wird. Das „ingenieurmaBige" Denken soil vom Einzel-
betrieb auf die Gesamtwirtschaft iibertragen und der Wirkungsgrad
der gesellschaftlichen Zusammenarbeit auf eine bisher nicht erreichte
Stufe gehoben werden. Es bleibt zunachst eine offene Frage, ob die
verschiedenen Typen dasselbe wirtschaftliche Resultat erzielen konnen.
Zuerst muB eine Klarung dariiber herbeigefuhrt werden, von welchen
dkonomischen Voraussetzungen der Erfolg einer planwirtschaftlichen
Neuordnung abhangt.
VI.
Es gehort zu den Grundanschauungen der Marxschen dkonomischen
Theorie, daB ein neues Wirtschaftssystem erst dann durchgesetzt
werden kann, wenn seine Okonomischen und gesellschaftlichen Voraus-
setzungen wenigstens in ihren Elementen unter der Oberflache des
fruheren Systems vorgebildet und die Produktionsverhaltnisse zur
Fessel der Produktivkrafte geworden sind.
Ebenso wie die Beseitigung der alten Bindungen im Frankreich des
ausgehenden 18. Jahrhunderts nur deswegen eine schnelle wirtschaft-
liche Entwicklung im Gefolge hatte, weil unter den Tnimmern der iiber-
lebten feudalen Wirtschaft die technischen, okonomischen und gesell-
schaftlichen Voraussetzungen fur das System des Laissez-faire bereits
vorhanden waren, ist auch nur dann mit einer Entfesselung der vor-
handenen Produktivkrafte durch eine planwirtschaftliche Neuordnung
nur von der Mehrheit der Fachvertreter angenommene Theorie der kapita-
listischen Marktwirtschaft. Uber diese Schwierigkeit hinaus befindet sich
die planwirtschaftliche Theorie in der mifilichen Lage, daB sie nicht zu einer
Schulenbildung gekommen ist und daB in bezug auf ihre positiven The sen
es kaum Autoren gibt, die in den wesent lichen Punkten miteinander einig
waren. Soweit im nachstehenden bestimrate Thesen vertreten sind, betrachtet
der Verfasser sie lediglich als einen Beitrag zu einer in den ersten Ansatzen
bef indlichen theoretischen Klarung. Der Charakter dieses Aufsatzes als eines
raumlich eng begrenzten Diskussionsbeitrages bringt es mit sich, daB viele
Behauptungen aufgestellt werden, deren Begriindung hier nicht gegeben
werden kann. Spatere Artikel sollen versuchen, die vorliegende grobe
Skizze zu erganzen und zu korrigieren.
20 Friedrich Pollock
zu rechnen, wenn deren Voraussetzungen schon gegeben sindL Ganz
allgemein lassen sich ihre okonomischen Bedingungen — von den poli-
tischen wird zunachst abgesehen — auf die Formel bringen, daB das
Schwergewicht der industriellen Produktion bei der groBbetrieblichen
Massenfabrikation liegt und der ZentralisationsprozeB eine gewisse
Stufe erreicht hat, daB die technischen und organisatorischen Mittel
zur Bewaltigung der Aufgaben einer zentralen Wirtschaftsleitung be-
kannt sind und daB eine erhebliche Produktivitatsreserve vorhanden ist,
welche durch die Anwendung der planwirtschaftlichen Methoden aus-
genlitzt werden kann. Es laBt sich leieht zeigen, daB alle diese okono-
mischen Voraussetzungen in den groBen Industriestaaten ebenso wie
in der Weltwirtschaft in weitem Umfang vorhanden sind.
Gerade diejenige Entwicklung, die sich fur den ,,normalen Ablauf des
Marktmechanismus" als verhangnisvoll erweist, schafft eine der wichtig-
sten Voraussetzungen ftir die Moglichkeit einer planmaBigen Leitung
des Wirtschaftsprozesses. In vieler Hinsicht erleichtern die Konzen-
trations- und Zentralisationsprozesse eine zentrale Wirtschaftsleitung.
Die technischen Erfordernisse der Massenproduktion bewirken eine
standige wachsende NivelUerung des Bedarfs, eine Verminderung der
hergestellten Typen und vereinfachen damit ungemein die Bedarfs-
erfassung. In den GroBbetrieben und den Zentralbiiros der Riesen-
unternehmungen werden die Methoden zur statistischen und organi-
satorischen Bewaltigung sachlich und raumlich ausgedehnter wirt-
schaftlicher Vorgange ausgebildet. Endlich verringern sich zahlreiche
Schwierigkeiten einer zentralen Wirtschaftsleitung in dem MaBe, wie
die Zahl der zu regulierenden Betriebe kleiner wird. Die Durchfuhrung
eines Wirtschaftsplanes fiir ein groBes Wirtschaftsgebiet erfordert
gewaltige technische Mittel, gleichgiiltig wie weit die Dezentralisierung
in der Ausfiihrung des Planes auch durchgefuhrt sein mag, Diese Mittel
stehen im modernen Kapitalismus bereit. Die Verbesserung des Nach-
richtenverkehrs, die Entwicklung der statistischen Methoden und der
technischen Mittel zu ihrer Anwendung, die noch vor einem Jahrzehnt
nicht fiir moglich gehaltene Maschinisierung der Buchhaltung erlauben
es, von einer zentralen Stelle aus wirtschaftliche Vorgange groBten
Umfangs ohne Zeitverlust zu registrieren und iibersichtlich zusammen-
zufassen.
Die Technik der Produktion und Distribution hat heute schon auf
weiten Gebieten den Charakter des Individuellen verloren und wird
mit dem Vordringen der wissenschaftlichen Betriebsfuhrung unifor-
miert und in Lehrsatze gefafit, die mit Hilfe einer jedem Durchschnitts-
Die gegenwartige Lage des Kapitalismus usw. 21
menschen zuganglichen Ausbildung iiberall angewendet werden konnen.
Einzelne Untemehmerfunktionen werden durch fortschreitende Spe-
zialisierung erlernbar, andere von besonderen Einrichtungen uber-
nommen. Der technische Fortschritt ist in der Regel nicht mehr zu-
falligen Entdeckungen iiberlassen, sondern wird planmaBig in den La-
boratorien der groBen Unternehmungen vorbereitet.
Die Probleme der organisatorischen Bewaltigung groBer planwirt-
schaftlicher Aufgaben sind im Rahmen der kapitalistischen GroBstaaten
langst praktisch in Angriff genommen worden. Bahnbrechend wirkte
hier die Kriegswirtschaft, deren aufierordentliche Leistungen, insbeson-
dere in England und den Vereinigten Staaten, dank der Gegenpro-
paganda starker wirtschaftlicher Interessengruppen kaum Beachtung
finden konnten. Aber auch die heutige kapitalistische Praxis bietet zahl-
reiche Beispiele dafur, wie groBe planwirtschaftliche Aufgaben von den
Regierungen iibernommen werden miissen. Die protektionistische
Zollpolitik, die in manchen Staaten bis hart an die Grenzen eines AuBen-
handelsmonopols geht, die Organisation der Kohlen- und Elektrizi-
tatswirtschaft etwa in Deutschland und GroBbritannien, sowie die
MaBnahmen auf dem Gebiete der Kreditwirtschaft in den Vereinigten
Staaten, die ihre vorlaufige Kronung in der Griindung der mit einer
Verfiigungsgewalt iiber 2 Milliarden Dollar ausgestatteten Reconstruc-
tion Finance Corporation gefunden haben, sind besonders charakteri-
stische Belege wenn nicht fur den Erfolg, so doch fiir den Zwang zur
Vornahme regulierender Eingriffe. In welchem Umfang die dritte der
von uns genannten Voraussetzungen, das Vorhandensein unausgenutzter
Produktivitatsreserven gegeben ist, zeigt jede Untersuchung iiber das
Verhaltnis von Produktionskapazitat und wirklicher Produktion im
Durchschnitt eines Konjunkturzyklus. Auf alien Gebieten der Produk-
tion und der Verteilung laBt sich der Tatbestand einer Fesselung der
Produktivkrafte durch die Produktionsverhaltnisse nachweisen. In
diesem Zusammenhang waren auch die Produktionszweige zu nennen,
an deren planmaBige Regulierung bereits im kapitalistischen System
gegangen werden muB, weil die Mittel der Konkurrenz ganz offenbar
die Ausnutzung der vorhandenen technischen Moglichkeiten verhindern
(Elektrizitatswirtschaft, Eisenbahnen usw.).
In wie hohem MaBe die okonomischen Voraussetzungen fiir eine plan-
wirtschaftliche Ordnung der Gesamtwirtschaft bereits im SchoBe des
heutigen Wirtschaftssystems entwickelt sind, ergibt sich indirekt auch
daraus, daB selbst die unentwegtesten Anhanger der freien Wirtschaft
in kritischen Situationen den Staat zu Hilfe rufen. Sie geben damit zu,
22 Friedrich Pollock
daB der Marktmechanismus gerade bei den entscheidenden Aufgaben
versagt und durch staatliche Eingriffe erganzt werden mufi.
vn.
Die Gegner einer planwirtschaftlichen Neuordnung haben bis heute
ein sehr wichtiges Argument auf ihrer Seite. Das schlechte Funktio-
nieren des Marktautomatismus und das Vorhandensein wichtiger
okonomischer Voraussetzungen fur eine Planwirtschaft beweisen noch
nicht, daB diese mehr leistet als das bisherige System. Ein Beweis
hierfur ist letzten Endes ebenso nur durch die Praxis zu erbringen, wie
die Verkunder des Laissez-faire-Prinzips in der zweiten Halfte des
18. Jahrhunderts erst durch die Erfolge des von ihnen geforderten
Systems ihre theoretischen Satze verifizieren konnten. Bis dahin
miissen sich auch die Vertreter des Plangedankens darauf be-
schranken, die gegnerischen Argumente auf ihre Tragfahigkeit
moglichst sorgfaltig zu prufen und eine in sich widerspruchs-
freie, dem heutigen Stand der sozialokonomischen Wissenschaft
angemessene systematische Theorie einer planwirtschaftlichen Ord-
nung aufzustellen. Beide Aufgaben bieten so groBe Schwierig-
keiten, daB sie nur durch kollektive Arbeit bewaltigt werden kOnnen.
Hier beschranken vnr uns darauf, einen summarischen Uberblick
liber die wichtigsten Streitfragen zu geben und die eigene Stellung
nur anzudeuten.
Gegen eine Planwirtschaft wird in erster Linie das Bedenken er-
hoben, sie sei weniger produktiv als die heutige Marktwirtschaft, da
sie den Markt zerstOre, ohne seine Funktionen ersetzen zu kotmen. Vor
allem sei es ihr unmOgHch, ihre Kosten zu berechnen, und unter solchen
Umstanden sei „es immer noch besser, sich zuweilen etwas zu verrechnen,
als iiberhaupt nicht zu rechnen" 1 ). Wahrend die Marktwirtschaft in
den letzten 100 Jahren trotz groBer Reibungsverluste die Bediirfnisse
einer rasch wachsenden BevOlkerung immer besser befriedigte, miisse
sich eine Planwirtschaft darauf beschranken, den status quo aufrecht
zu erhalten, da sie weder Bedarfsverschiebungen noch Veranderungen
der Technik auf Okonomisch brauchbare Weise erfassen kOnne. Auf
dreierlei Weise begegneten planwirtschaftliche Theoretiker diesem
Einwand: Marktorganisation und Planwirtschaft seien gar keine unver-
einbaren Gegensatze, im Gegenteil, erst eine Planwirtschaft konne die
Vorteile der Kostenermittlung durch die Marktpreisbildung voll aus-
x ) Nachkriegskapitalismua 1. c. 19.
Die gegenwarfcige Lage des Kapitalismus usw. 23
nutzen 1 ). Der zweite Gegeneinwand lautete, daB die Ermittlung der
Kosten auch ohne das indirekte Mittel des Tauschverkehrs moglich sei.
„Wie der Tauschverkehr die richtigen Preise nur durch Erproben
ermittelt, so kann auch eine strenge Planwirtsehaft nach Projek-
tierung im grofien fur die Einzelbestimmung der Preise einzelne Giiter-
teile von einer Produktion in die andere wirklich verschieben und tastend
versuchen, wie sie auf Grund des hoheren Nutzens der neuen Kombina-
tion die BedeutungsgroBe des betreffenden Gutes erhohen kann*' 2 ).
Von anderen Theoretikern wird sogar der Beweis angeboten, daft eine
„naturalwirtschaftliche" Rechnung, die auch. nicht mehr mit fiktiven
Preisen arbeitet, der Kostenermittlung des Marktes iiberlegen sei 3 ).
Endlich kann man mit 0. Bauer einwenden: „Die kapitalistische
Gesellschaft ist gesellschaftlicher Rationalitat nicht fahig. Sie senkt
den Kostenaufwand des einzelnen Unternehmers ohne Riicksicht darauf ,
ob die Senkung seiner Kosten durch Mehraufwand an gesellschaftlichen
Kosten liberwogen wird. . . Erst in einer sozialistischen Gesellschaft,
in der die Gesellschaft selbst iiber die Produktionsmittel verfiigt und die
Produktion leitet, wird jede wirtschaftliche EntschlieBung von rech-
nungsmaBigem Vergleich des gesellschaftlichen Ertrages und des ge-
sellschaftlichen Aufwandes abhangig" 4 ).
Auch wir halten die Moglichkeit, das Verhaltnis von Kosten und
Ertrag auf andere Weise als durch den Austausch festzustellen, bereits
auf Grund der heutigen Erfahrungen fur gegeben, wenn auch die dazu
notwendigen Methoden noch sehr viel weiter ausgebildet sein miissen,
bis das denkbare Optimum der wirtschaftlichen Erfolgsberechnung
erreicht wird.
Ein zweiter Einwand besagt, daB in einer Planwirtsehaft die ent-
scheidende Triebkraft des Profitstrebens und der freien- Konkurrenz,
die zur Aktivierung aller wirtschaftlichen Krafte fuhrte, wegfiele und
die Ergiebigkeit der Wirtschaft schnell nachlieBe. Dieser Einwand
scheint uns auf einer unhaltbaren Psychologie zu beruhen.
Ferner wird behauptet, daB in einer Planwirtsehaft der Anreiz zur
Kapitalbildung fehle und das vorhandene Kapital unsachgemaB ver-
teilt werde. Gerade hier kSnnte aber die Kapitalbildung der Willkur
der einzelnen Wirtschaftssubjekte entzogen und den gesellschaftlichen
x ) Vor allem E. Heimann, dessen Schrift „Sozialistische Wirtschafts- und
Arbeitsordnung", Potsdam 1932, sich eingehend mit dieser Frage beschaftigt,
2 ) Landauer, 1. c. S. 120.
3 ) O. Neurath, Wirtschaftsplan und Naturalrechnung. Berlin 1925,
vor allem S. 53ff.
4 ) O. Bauer, Kapitalismus und Sozialismus nach dem Weltkrieg, 1. Bd.
Rationalisierung-Fehlrationalisierung, Wien 1931, S. 181.
24 Friedrich Pollock
Organen ubertragen werden, denen dann auch die zweckinaBige Anlage
der Kapitalien lage. Fehlinvestitionen wiirden rascher bemerkt,
und die Mittel zu ihrer Korrektur waren bedeutend wirksamer
ais heute 1 ). Die Gefahr, daB die technisehen Fortschritte in einer
Planwirtschaft nachlassen, ist dadurch ausgeschaltet, daB die Erfinder-
tatigkeit in den technisch-wissenschaftlichen Anstalten der Unter-
nehmnngen und des Staates bereits heute weitgehend rationalisiert
ist und fast von einer fortlaufenden Produktion von Erfindungen ge-
sprochen werden kann. Eine Planwirtschaft wird darauf sehen miissen,
bei der Umsetzung neuer technischer Verfahren in die Praxis Tempo
und AusmaB der Umstellung zu regulieren, und wird dadurch die groBen
Storungen und Verluste, die notwendig bei profitorientierter Techni-
sierung entstehen, vermeiden.
Eine weitere Gruppe von Streitfragen betrifft die organisatorischen
Grundsatze einer Planwirtschaft. Die groBte Schwierigkeit laBt sich
auf das Problem zuriickfuhren, wie die Prinzipien der Zentralisation
und Dezentralisation am zweckmaBigsten miteinander vereinigt werden
konnen. Denn die Forderung nach einer zentralen Leitung der gesamten
Wirtschaftsprozesse. kann nicht so verstanden werden, daB von einer
Zentrale aus jeder einzelne Betrieb in alien Einzelheiten seiner Geschafts-
fuhrung bevormundet wird. Wo die Grenzen der zentralistischen
Fiihrung liegen, laBt sich nicht ein fur allemal sagen, da dies offenbar
bei einem verschiedenen Grad der Technik, der Vereinheitlichung des
Produktions- imd Verteilungsprozesses, der Differenzierung in der
Vorbildung der Ausfiihrenden ganz verschieden ist.
Im engsten Zusammenhang mit diesem Problem stent der bereits
oben genannte Vorschlag, sozusagen die gute Seite der Marktprozesse
in den Dienst der Planwirtschaft zu stellen. Dadurch wxirde scheinbar
der zentralen Tatigkeit eine klare Grenze gezogen und gleichzeitig die
Losung eines anderen schwierigen Problems, namlich die rasche An-
passung der Produktion an die Wunsche der uber ihr Einkommen frei
verf iigenden Konsumenten gesichert. Nach alien bisherigen Erfahrungen
rmiBte die Uberfuhrung des heutigen Systems in eine Planwirtschaft
zunachst an die Markteinrichtungen ankniipfen, denn die vielen vor-
handenen Ansatze fur eine marktlose Wirtschaft bediirfen einer Modi-
fizierung, gegenseitiger Abstimmung und Erganzung, ehe sich mit ihrer
Hilfe die Marktfunktionen vorteilhaft ersetzen lassen. Unsere Bedenken
riphten sich nicht gegen die Beibehaltung der Marktorganisation in
2 ) Vgl. Landauer, 1. c. S. 121 — 130, der uns auf diesen Seiten Entscheidende&
zu dieser Frage gesagt zu haben scheint.
Die gegenwartige Lage des Kapitalismus usw. 25
einer tjbergangswirtschaft, sondern gegen die Auffassung, daB grund-
satzlich nur der Markt die Rechnungen ermOglichen kOnne, an denen
sich eine rationale Wirtschaftspolitik orientieren miifite. Es ist typisch
fur alle ernsthaften Versuche, den Marktmechanismus in das Gebaude
einer Pianwirtschaft einzubeziehen, daB das Prinzip der freien Preis-
bildung regelmaBig durchbrochen wird zugunsten ..sozialer" Preise
(Lorwin) oder solcher „diktierter" Preise, die etwa einer von der Gesell-
schaft bzw. ihren Planorganen beschlossenen Kapitalbildung dienen
sollen (Heimann). Eine weitere Einschrankung crfahrt in den meisten
dieser Systeme die freie Preisbildung durch die Kreditpolitik, die in
einer Pianwirtschaft dieKapitalien nicht notwendig zum Ort der hochsten
Rentabilitat leiten muB. Vielmehr miissen die Planorgane ,,aktiv ent-
scheiden, ob einem Produktionszweig das Kapital zugeleitet werden
soil, das er von sich aus zinsbringend verwenden wiirde. Es wird ihm
zugeleitet werden, nur, falls der Uberblick tiber die Verschiebung des
Arbeitsbedarfs im Gesamtrahmen der Volkswirtschaft keine Gefahr
daraus erwarten laBt" 1 ) und falls nicht eine andere Verteilung des
Kapitals im Rahmen des Gesamtplans vorgesehen ist. Ob eine solche
marktmaBige Ordnung der Pianwirtschaft moglich ist, bedarf einer aus-
giebigen Diskussion. Jedenfalls aber konnen keine Bedenken gegen die
Verwendung von Preisen im Sinne bloBer Verrechnungsmittel erhoben
werden. Die arbeitsteilig verbundenen Betriebe miissen miteinander
abrechnen, und soweit den Konsumenten ihr Einkommen nicht in
Naturalien zugewiesen wird, braucht man ein Mittel zur Verrechnung
dieser Einkommen.
Je nach der Auffassung uber den zu verwirklichenden Typus von
Pianwirtschaft ergibt sich eine abweichende Stellung zu den Problemen
der Konsumfreiheit und der Frage, in welchem MaBe die Konsumenten
bei der Aufstellung des Wirtschaftsplanes iiber Richtung und Umfang
des Konsums und damit der Produktion mitzubestimmen haben. Hier
begegnen uns neben vielen ungelosten Fragen eine Anzahl von Schein-
problemen, so z. B. die Behauptung, daB ein Wirtschaftsplan jede
Konsumfreiheit ausschlieBe. Eine Konsumfreiheit, jedenfalls im ab-
soluten Sinne, hat es aber fiir die iiberwiegende Mehrzahl der Menschen
me gegeben und ist nur bei einem vorlaufig nicht realisierbaren Reich -
turn der Gesellschaft denkbar. Durch eine beschrankte Konsum-
freiheit waren aber erhebliche Storungen des Planes nicht zu
befurchten, da die Bedarf sgewohnheiten bei mittleren Einkommen s-
lagen relativ starr sind und diese Konstanz durch gesellschaftliche
!) Heimann, 1. c. S. 39.
26 Friedrich Pollock
Beeinflussung und das Zusammendriicken der Einkommenspyramide
sich noch verstarkte.
Halt man sich den verschiedenen Grad kapitalistischer Entwicklung
und Reife in den einzelnen Landern vor Augen, so erhebt sich die Frage,
ob eine Planwirtschaft in einem einzelnen Lande oder nur international
moglich sei und ob innerhalb einer Volkswirtschaft Teilplane in die
Marktwirtschaft eingebaut werden konnen. Lederer hat kiirzlich nach-
zuweisen versucht, daB freie Wirtschaft und Planwirtschaft „nur prin-
zipielle Gegensatze seien, die sich in der Wirklichkeit nicht ausschlieBen",
kommt aber dann zu dem Ergebnis, daB die Vorteile einer Planwirtschaft
sich nur dann voll auswirken konnen, wenn alle Wirtschaftszweige in
einen Gesamtplan einbezogen werden 1 ).
Auch wir sind der Meinung, daB ein Teilplan qualitativ etwas ganz
anderes darstellt als ein Gesamtplan und daB erst dann von einer Plan-
wirtschaft gesprochen werden kann, wenn zumindest alle entscheidenden
Wirtschaftszweige planmaBig reguliert werden. Dagegen durfte ein
planwirtschaftliches System auch im Rahmen nur einer Volkswirtschaft
prinzipiell moglich sein, soweit es ihr gelingt,-die Schwierigkeiten, die
dem Plan aus der Abhangigkeit von der Belieferung durch das Ausland
entstehen konnen, zu uberwinden. Die von der okonomischen Seite
her drohenden Gef ahren spielen hier wahrscheinlich eine viel geringere
Rolle als diejenigen von der politischen. Durch die Verfugungsgewalt
uber ein relativ autarkes Gebiet wird allerdings die Planarbeit auBer-
ordenthch erleichtert.
Aus der Fulle der planwirtschaftlichen Probleme greifen wir noch
die eine Frage heraus, ob eine Planwirtschaft mit dem Privateigentum
an den Produktionsmitteln vereinbar ist. Wird unter Eigentum aus-
schlieBliche Verfugungsgewalt verstanden, so ist nicht einzusehen, wie ein
Plan durchfuhrbar sein sollte, wenn die einzelnen Eigentumer derProduk-
tionsmittel die Wahl hatten, seine Anweisungen in dem Umfang zu be-
folgen, wie esihnenzusagt. Dagegen wurden okonomisch keine Schwie-
rigkeiten bestehen, das Privateigentum nominell beizubehalten, wenn die
Verfugungsgewalt an die Planorgane abgetreten ware. Es ware dann
zu dem geworden, was es in sehr vielen Fallen heute schon ist, namlich
zu einem mehr oder weniger sicheren Anspruch auf den Bezug einer Rente .
VIII.
Wenn auch der gegenwartige Stand der planwirtschaftlichen Theorie
es nicht eriaubt, ein bis in die Einzelheiten ausgefuhrtes Bild einer
l ) E. Lederer, Planwirtschaft, 1. c. S. 9ff., 39ff.
Die gegenwartige Lage des Kapitalismus usw. 27
Planwirtschaft zu zeichnen, so erscheinen uns doch alle Okonomischen
Voraussetzungen zu ihrer Verwirklichung gegeben zu sein 1 ). Eine ganz
andere Frage aber ist es, ob die ebenso wichtigen gesellschaftlichen und
insbesondere die politischen Tatbestande in absehbarer Zeit eine plan-
wirtschaftliche Neuordnung gestatten.
Eine kapitalistische Planwirtschaft kann von den Eigentiimem
der Produktionsmittel schon allein aus dem Grande nicht geduldet
werden, weil sie, wie oben bereits angedeutet, ihrer Okonomischen
Eunktion entkleidet und zu bloBen Rentenbeziehern degradiert werden
miiBten. In keiner Geseilschaftsordnung hat sich aber bisher der bloBe
Bezug von Renten auf Kosten der Gesellschaft ohne sichtbare Gegen-
leistung auf die Dauer aufrecht erhalten lassen.
Die Aussichten fur die Verwirklichung einer sozialistischen
Planwirtschaft sind trotz aller okonomischer MOglichkeiten solange
gering, wie der Einf luB der an einer solchen Wirtschaftsform durch ihre
Klassenlage interessierten Schichten fur eine Umwalzung nicht ausreicht.
Wichtig aber bleibt, die auf eine Planwirtschaft hindrangenden Ten-
denzen zu verfolgen, alle Mdglichkeiten einer solchen Wirtschaft zu
iiberpriifen und eine geschlossene Theorie aufzubauen, die einer kiinftigen
Wirtschaftspolitik als Orientierungsmittel dienen konnte.
x ) Es wird bei manchen Befremden hervorrufen, dafi wir unter den Argu-
menten fur die Moglichkeit einer Planwirtschaft das sowjetrussische Wirt-
schaftssystem nicht angefiihrt haben. Wir sind nun allerdings der tJber-
zeugung, daI3 die Theorie und Praxis der Planwirtschaft aus den russischen
Versuchen sehr viel zu lernen hat, miissen aber im gegenwartigen Stadium
dem russischen Experiment die Beweiskraft dafiir absprechen, ob diese Art
der Planwirtschaft okonomisch — und nur unter diesem Gesichtspunkt
haben wir das Problem bisher erortert — dem privatkapitalistischen System
iiberlegen ist. Die Bedingungen, unter denen seit 1917 die Wirtschafts-
politik in der Sowjetunion stent, sind in negativem und positive m Sinn so
einzigartige, dafi sich heute kaum schon Aussagen dariiber machen lassen,
was von den Erfolgen oder MiBerfolgen aus den Eigenarten der russischen
Situation und was aus den Besonderheiten der planwirtschaftlichen Me-
thoden zu erklaren ist.
Uber Methode und Aufgabe einer analytischen
Sozialpsychologie.
Von
Erich Fromm (Berlin).
Die Psychoanalyse ist eine naturwissenschaftliche, materialistische
Psychologic Sie hat als Motor menschlichen Verhaltens Triebregungen
und Bediirfnisse nachgewiesen, die von den physiologisch verankerten,
selbst nicht unmittelbar beobachtbaren ,,Trieben" gespeist werden.
Sie hat aufgezeigt, dafi die bewuBte Seelentatigkeit nur einen relativ
kleinen Sektor des Seelenlebens ausmacht, daB viele entscheidende
Antriebe seelischen Verhaltens dem Menschen nicht bewuBt sind. Sie
hat insbesondere private und kollektive Ideologien als Ausdruck be-
stimmter, trieblich verankerter Wiinsche und Bediirfnisse entlarvt
und auch in den ,,moralischen" und ideellen Motiven verhiillte und
rationalisierte AuBerungen von Trieben entdeckt 1 ).
Freud hat zunachst, ganz entsprechend der popularen Einteilung
der Triebe in Hunger und Liebe, zwei Gruppen von Trieben ange-
nommen, die als Motoren des menschlichen Seelenlebens wirksam
sind: die Selbsterhaltungstriebe und die Sexualtriebe 2 ). Die den
Sexualtrieben innewohnende Energie hat er als Libido bezeichnet,
seelische Vorgange, die von dieser Energie gespeist sind, als libidinose.
*) Das „tjber-lch" als Instanz pflichtgemafien Handelns verdankt nach
Freud seine Entstehung den Geiiihlsbeziehungen zwischen Kind und EI tern,
hat also seine Basis durchaus in den Trieben.
2 ) Unter dem Eindruck der Tatsache der libidinosen Beimengungen zu
den Selbsterhaltungstrieben und der besonderen Bedeutung der destruk-
tiven Tendenzen hat Freud seine urspriingliche Annahme dahin modi-
fiziert, daB er nun den lebenserhaltenden (erotischen) Trieben Zerstorungs-
triebe (Todestrieb) gegemiberstellt. So bedeutsam gewiC Freuds Argumen-
tation fur diese Modifikation seines urspriinglichen Standpunkts ist, so
tragt sie doch einen bei weitem spekulativeren und weniger empirischen
Charakter als seine urspriingliche Position. Sie scheint uns auf einer von
Freud sonst vermiedenen Vermischung biologischer Tatsachen und psycho-
logischer Tendenzen zu beruhen. Sie steht auch im Gegensatz zu einer
urspriinglichen Position Freuds, zur Auffassung der Triebe als primar
wiinschend, begehrend, den Lebenstendenzen dienend und sich ihnen an-
passend. "Uns scheint eine Konsequenz der Gesamtauffassung von Freud zu
sein, daB die menschliche Seelentatigkeit sich in Anpassung an Lebensvor-
gange und Lebensnotwendigkeiten entwickelt und dafi die Triebe als solche
gerade dem biologischen Todesprinzip entgegengesetzt sind. Die Diskussion
iiber die Annahme von Todestrieben ist innerhalb der analytischen Wissen-
schaft noch im Gange; wir gehen bei unserer Darstellung der psychoana-
lytischen Theorie von der urspriinglichen Position Freuds aus.
XJber Methode und Aufgabe einer analytischen Sozialpsychologie 29
Unter Sexualtrieben hat Freud in berechtigter Erweiterung der ub-
lichen Verwendung dieses Begriffes alle, analog den genital en Im-
pulsen, korperlich bedingten und an Korperstellen (,,erogerien Zonen")
haftenden Spannungen, die nach lustbringender Abfuhr verlangen,
verstanden.
Als Hauptprinzip der Seelentatigkeit nimmt Freud das „Lust-
prinzip" an, die Tendenz zu maximaler, lustbringender Abfuhr der
Triebspannungen. Dieses Lustprinzip wird durch das „Realitats-
prinzip" modifiziert, das unter dem EinfluB der Beobachtung der
Realitat Verzicht oder Auf schub von Lust zugunsten der Vermeidung
groBerer Unlust oder der Gewinnung kiinf tiger groBerer Lust fordert.
Die Eigenart der spezifischen Triebstruktur eines Menschen sieht
Freud durch zwei Faktoren bedingt: die mitgebrachte Konstitution
und das Lebensschicksal, vor allem das Schicksal seiner fruhen Kind-
heit. Er geht davon aus, daB mitgebrachte Konstitution und Erleben
eine ,,Erganzungsreihe" bilden und daB die spezifisch analytische
Aufgabe die Erforschung des Einflusses des Erlebens auf die gegebene
Triebkonstitution ist. Die analytische Methode ist also eine exquisit
historische: sie fordert Verstandnis der Triebstruktur aus
demLebensschicksal. Diese Methode hat ihre Giiltigkeit sowohl
fur das Seelenleben des Gesunden wie das des Kranken, der neu-
rotischen Personlichkeit. Das, was den neurotischen Menschen vom
,,normalen" unterscheidet, ist die Tatsache, daB bei diesem sich die
Triebstruktur optimal seinen realen Lebensnotwendigkeiten angepafit
hat, wahrend bei jenem die Triebentwicklung auf gewisse Hindernisse
gestoBen ist, die eine geniigende Anpassung der Triebe an die Realitat
verhinderten.
Um die Tatsache der Anpassung und Modifizierbarkeit der Sexual-
triebe an die Realitat ganz verstandlich machen zu konnen, ist es
notwendig, auf gewisse Eigenschaften der Sexualtriebe hinzuweisen,
Eigenschaften, die sie gerade von den Selbsterhaltungstrieben unter-
scheiden.
Die Sexualtriebe sind im Gegensatz zu den Selbsterhaltungs-
trieben aufschiebbar, wahrend jene imperativischer Natur sind,
d. h. eine langere Nichtbefriedigung den Tod herbeifiihrt, bzw, see-
lisch absolut unertraglich ist. Diese Tatsache bewirkt, daB die Selbst-
erhaltungstriebe ein Primat vor den Sexualtrieben haben ; nicht in dem
Sinn, daB sie an sich eine groBere Rolle spielen, aber so, daB im Falle
des Konflikts sie die dringlicheren sind, daB sie sich, soiange sie noch
unbefriedigt sind, als die starkeren erweisen.
30 Erich Fromm
Damit ist eng verkniipft, daB die Regungen der Sexualtriebe ver-
drangbar sind, wahrend die sich aus den Selbsterhaltungstrieben
ergebenden Wiinsche nicht aus dem BewuBtsein entfernt werden und
im UnbewuBten deponiert bleiben konnen. Ein weiterer wichtiger
Unterschied zwischen beiden Triebgruppen ist die Tatsache, daB die
Sexualtriebe sublimierbar sind, d. h. daB an die Stelle der direkten
Befriedigung eines sexuellen Wunsches eine vom ursprtinglichen
Sexualziel entfernte. mit Leistungen des Ich amalgamierte Befriedi-
gung treten kann. Die Selbsterhaltungstriebe sind solcher Subli-
mierung nicht fahig.
Von besonderer Wichtigkeit ist ferner die Tatsache, dafi die Be-
friedigung der Selbsterhaltungsimpulse immer wirklicher Mittel
bedarf, daB aber die Befriedigung der Sexualtriebe oft in Phantasien,
ohne Aufwendung realer Mittel, vor sich gehen kann. Konkret ge-
sprochen heiBt das : den Hunger der Menschen kann man nur mit Brot
befriedigen, aber etwa ihre Wiinsche, geliebt zu werden, mit einer
Phantasie von einem gutigen, liebenden Gott oder ihre sadistischen
Tendenzen mit blutigen Volksschauspielen.
Wesentlich ist endlich, daB die verschiedenen AuBerungsformen der
Sexualtriebe — wiederum im Gegensatz zu den Selbsterhaltungs-
trieben — in hohem Grade untereinander vertauschbar und ver-
schiebbar sind. Bei Nichtbefriedigung einer Triebregung kann diese
durch eine andere ersetzt werden, deren Befriedigung — aus innern
oder auBern Grlinden — moglich ist. Diese Verwandelbarkeit und
Vertauschbarkeit innerhalb der Sexualtriebe ist einer der Schliissel
zum Verstandnis des neurotischen wie des gesunden Seelenlebens und
ein Kernstiick der psychoanalytischen Theorie. Sie ist aber auch eine
gesellschaftliche Tatsache von hochster Bedeutung. Sie erlaubt es,
daB gerade diejenigen Befriedigungen den Massen geboten und von
ihnen akzeptiert werden, die aus sozialen Griinden zur Verfiigung
stehen bzw. der herrschenden Klasse erwiinscht sind 1 ).
Zusammenfassend ergibt sich also, daB die Sexualtriebe infolge
ihrer Aufschiebbarkeit, Verdrangbarkeit, Sublimierbarkeit und Ver-
wandelbarkeit einen viel elastischeren und geschmeidigeren Charakter
haben als die Selbsterhaltungstriebe. Sie lehnen sich diesen an, folgen
J ) Eine besondere Rolle spielt die Aufpeitschun^ und Befriedigung sa-
distischer Impulse, die dann stattzuhaben pflegt, wenn andere Triebbefriedi-
gungen positiver Natur aus sozialokonomischen Griinden ausgeschlosflcn
sind. Der Sadismus ist das grofie Triebreservoir, auf das man zuriick-
zugreifen pflegt, wenn man der Masse keine anderen — und gewohnlicb
kostspieligeren — Befriedigungen zu bieten hat und mit dessen Hilfe man,
gleichzeitig seine Gegner vernichtet.
Uber Methode und Aufgabe einer analytischen Sozialpsychologie 31
ihren Spuren 1 ). Die Tatsache der grOBeren Geschmeidigkeit und
Wandlungsfahigkeit der Sexualtriebe bedeutet aber nicht, daB sie auf
die Dauer unbefriedigt bleiben konnen. Es gibt nicht nur ein phy-
sisches, sondern auch ein psychisches Existenzminimum, d. h.
ein notwendiges MindestmaB der Befriedigung der Sexualtriebe.
Die hier charakterisierten Unterschiede zwischen Selbsterhaltungs-
und Sexualtrieben bedeuten vielmehr nur, daB sich die Sexualtriebe
in hohem MaBe den Befriedigungsmoglichkeiten, d. h. den realen
Lebensumstanden anpassen konnen. Sie entwickeln sich schon im
Sinne dieser Anpassung, und nur bei neurotischen Individuen
liegen Storungen der Anpassungsfahigkeit vor. Die Psychoanalyse
hat gerade diese Modifizierbarkeit der Sexualtriebe aufgezeigt, sie
hat gelehrt, die individuelle Triebstruktur aus dem Lebensschicksal
bzw. aus der Beeinflussung der mitgebrachten Triebanlage durch das
Lebensschicksal zu verstehen. Die aktive und passive An-
passung biologischer Tatbestande, der Triebe, an soziale
ist die Kernauffassung der Psychoanalyse, und jede personalpsycho-
logische tJntersuchung geht von dieser Grundauffassung aus.
Freud hat sich ursprunglich — und auch spaterhin vorwiegend — ■
mit der Psychologie des Individuums beschaftigt. Nachdem aber
einmal in den Trieben die Motive menschlichen Verhaltens, im Un-
bewuBten die geheime Quelle der Ideologien und Verhaltungsweisenent-
deckt waren, konnte es nicht ausbleiben, daB die analytischen Autoren
den Versuch machten, vom Problem des Individuums zu dem der Ge-
sellschaf t, von der Personalpsychologie zur Sozialpsychologie
vorzustoBen. Es muBte der Versuch unternommen werden, mit den
Mitteln der Psychoanalyse den geheimen Sinn und Grund der im
gesellschaftlichen Leben so augenfalligen irrationalen Verhaltungs--
weisen, wie sie sich in der Religion und in Volksbrauchen, aber auch
in der Politik und Erziehung auBern, zu finden. GewiB muBten damit
Schwierigkeiten entstehen, die vermieden wurden, solange man sich
auf das Gebiet der Personalpsychologie beschrankte.
Aber diese Schwierigkeiten andern nichtsdaran, daB dieFragestellung
eine vollig korrekte, legitime wissenschafthcheKonsequenz aus der Aus-
gangsposition der Psychoanalyse darstellt. Wenn sie im Triebleben, im
UnbewuBten, den Schlussel zum Verstandnis menschlichen Verhaltens
gefunden hat, so muB sie auch berechtigt undimstande sein, Wesent-
liches iiber die Hintergriinde gesellschaftlichen Verhaltens auszusagen.
l ) vgl. Freud, Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. Ges. Sch. V Leipzig,
Wien, Zurich 1924.
32 Erich Fromm
Denn auch die ,,Gesellschaft" besteht aus einzelnen lebendigen Indi-
viduen, die keinen anderen psychologischen Gesetzen unterliegen
kOnnen als denen, die die Psychoanalyse im Individuum entdeckt hat.
Es scheint uns deshalb auch unrichtig zu sein, wena man, wie
W. Reich das tut, der Psychoanalyse das Gebiet der Personal-
psychologie reserviert und ihre Verwendbarkeit fiir gesellschaft-
liche Erscheinungen wie Politik, KlassenbewuBtsein etc. grundsatzlich
bestreitet 1 ). Die Tatsache, daB eine Erscheinung in der Gesellschafts-
lehre behandelt wird, heiBt keineswegs,* daB sie nicht Objekt der
Psychoanalyse sein kann (so wenig wie es richtig ist, daB ein Gegen-
stand, den man unter physikalischen Gesichtspunkten untersucht,
nicht auch unter chemischen untersucht werden dtirfe). Es bedeutet
nur, daB sie nur, insoweit — aber auch ganz insoweit — bei der Er-
scheinung psychische Tatsachen eine Rolle spielen, Objekt der Psycho-
logie ist und speziell der Sozialpsychologie, die die gesellschaftlichen
Hintergrlinde und Funktionen der psychischen Erscheinung fest-
zustellen hat. Die These, die Psychologie habe es nur mit dem
einzelnen, die Soziologie mit ,,der" Gesellschaft zu tun, ist
falsch. Denn so sehr es die Psychologie immer mit dem vergesell-
schafteten Individuum zu tun hat, so sehr hat es die Soziologie
mit einer Vielheit von einzelnen zu tun, deren seelische Struktur
und Mechanismen von der Soziologie berucksichtigt werden
mxissen. Es wird spater davon die Rede sein, welche Rolle
psychische Tatbestande gerade bei gesellschaftlichen Erscheinungen
spielen und daB gerade hier der methodische Ort einer analytischen
Sozialpsychologie ist.
Die Soziologie, mit der die Psychoanalyse die meisten Beriihrungs-
punkte, aber auch die meisten Gegensatze zu haben scheint, ist der
historische Materialismus.
*) „Der eigentliche Gegenstand der Psychoanalyse ist das Seelenleben
des vergesellschafteten Menschen. Das der Masse kommt fiir sie riur insofern
in Betracht, als individuelle Phanomene in der Masse in Erscheinung
treten (etwa das Problem des Fiihrers), ferner, soweit sie Erscheinungen der
,Massenseele', wie Angst, Panik, Gehorsam usw. aus ihren Erfahrungen am
einzelnen erklaren kann. Aber es scheint, als ob ihr das Phanomen des
Klassenbewufitseins kaum zuganglich ware, und Probleme wie das der
Massenbewegung, der Politik, des Streiks, die der Gesellschaftslehre an-
gehoren, konnen nicht Objekte ihrer Methode sein." (Dialektischer Mate-
rialismus und Psychoanalyse. Unter dem Banner des Marxismus III, 5
S. 737.) Wir betonen, der prinzipiellen Bedeutung dieses methodologischen
Problems wegen, diese Differenz zu dem von Reich vertretenen Standpunkt,
den er, wie seine letzten Arbeiten zeigen, in fruchtbarer Weise modifiziert
zu haben scheint. Wir kommen spater noch auf die mannigfachen Uberein-
stimmungen mit seinen , ausgezeichneten empirischen sozialpsychologischen
Untersuchungen zuruck.
tJber Methode und Aufgabe einer analytischen Sozialpsychologie 33
Die meisten Beruhrungspunkte — derm sie sind beide materia -
listische Wissenschaften. Sie gehen nicht von ,,Ideen", sondern vom
irdischen Leben, von Bedtirfnissen aus. Sie beriihren sich im be-
sonderen in ihrer gemeinsamen Einschatzung des BewuBtseins, das
ihnen weniger Motor menschlichen Verhaltens als Spiegelbild anderer
geheimer Krafte zu sein scheint. Aber hier, bei der Frage nach dem
Wesen dieser eigentlichen, das BewuBtsein bestimmenden Faktoren
scbeint ein unversohnlicher Gegensatz zu bestehen. Der historische
Materialismus sieht im BewuBtsein einen Ausdxuck des gesellschaft-
lichen Seins, die Psychoanalyse einen des UnbewuBten, der Triebe.
Es entsteht die unabweisbare Frage, ob diese beiden Thesen in einem
Widerspruch zueinander stehen und, wenn nicht, in welcher Weise
sie sich zueinander verhalten und endlich, ob und warum eine Be-
nutzung psychoanalytischer Methoden fur den historischen Materialis-
mus eine Bereicherung darstellt,
Bevor wir uns der Diskussion dieser Fragen selbst zuwenden, er-
scheint es notig zu erortern, welche Voraussetzungen denn die Psycho-
analyse zu einer Verwendung furgesellschaftlicheProbleme mitbringt 1 ).
Freud hat niemals den isolierten, aus dem sozialen Zusammen-
hang gelosten Menschen als Objekt der Psychologie angenommen.
,,Die Individualpsychologie ist zwar auf den einzelnen Menschen ein-
gestellt und verfolgt, auf welchen Wegen derselbe die Befriedigung
seiner Triebregungen zu erreichen sucht, allein sie kommt dabei nur
selten, unter bestimmten Ausnahmebedingungen, in die Lage, von
den Beziehungen dieses einzelnen zu den anderen Individuen abzu-
sehen. Im Seelenleben des einzelnen kommt ganz regelmaBig der
andere als Vorbild, als Objekt, als Heifer und als Gegner in Betracht,
und die Individualpsychologie ist dabei von Anfang an auch gleich-
zeitig Sozialpsychologie in diesem erweiterten, aber durchaus be-
Techtigten Sinne" 2 ).
Freud hat aber auch grundlich mit der Illusion einer Sozial-
psychologie aufgeraumt, deren Objekt eine Gruppe als solche, ,,die"
Oesellschaft oder sonst ein soziales Gebilde mit einer entsprechenden
„Massenseele" oder ,,Gesellschaftsseele" ist. Er geht vielmehr immer
von der Tatsache aus, daB jede Gruppe nur aus Individuen besteht
x ) Vgl. zum Methodologischen die ausfuhrlichen Ausfiihriingen in Froram,
Die Entwicklxing des Christusdogmas, Wien 1931; ferner Bernf eld, Sozialis-
mus und Psychoanalyse mit Diskussionsbemerkungen von E. Simmel und
B. Lantos (Der sozialistische Arzt, II, 2/3, 1926); W. Reich, Dialekfcischer
Material is mus und Psychoanalyse (Unter dem Banner des Marxismus III, 5).
2 ) Freud, Massenpsychologie und Ich-Analyse. Ges. Schr. VI, S. 261.
34 Erich Fromm
und nur Individuen als solche Subjekt psychischer Eigenschaften
sind 1 ). Ebensowenig hat Freud einen ,, sozialen Trieb" angenommen.
Das, was man als solchen bezeichnet, ist fur ihn „kein ursprunglicher
und unzerlegbarer" Trieb; er sieht „die Anfange seiner Bildung in
einem engeren Kreis, wie etwa in der Familie". Es ergibt sich als
Konsequenz seiner Anschauungen, daB die sozialen Eigenschaften
dem Einflufi bestimmter Umweltverhaltnisse, gewisser Lebens-
bedingungen auf die Triebstruktur ihre Entstehung, ihre Verstarkung
wie ihre Abschwachung verdanken.
Ist so fur Freud immer nur der vergesellschaftete Mensch, der
Mensch in seiner sozialen Verflochtenheit, Objekt der Psychologie, so
spielen auch fur ihn, worauf wir schon oben hingewiesen haben,
Umwelt und Lebensbedingungen des Menschen die entscheidende
Rolle fiir seine seelische Entwicklung wie fur deren theoretisches Ver-
standnis. Freud hat wohl die biologisch-physiologische Bedingtheit
der Triebe erkannt, er hat aber gerade nachgewiesen, in welchem
MaBe diese Triebe modifizierbar sind und daB der modifizierende
Faktor die Umwelt, die gesellschaftliche Realitat ist.
Die Psychoanalyse scheint so alle Voraussetzungen mitzubringen,
die ihre Methode auch brauchbar fur sozialpsychologische Unter-
suchungen machen und alle Konflikte mit der Soziologie ausschalten.
Sie fragt nach den den Mitgliedern einer Gruppe gemeinsamen see-
lischen Zugen, und sie versucht, diese gemeinsamen seelischen Hal-
tungen aus gemeinsamen Lebensschicksalen zu erklaren. Diese Lebens-
schicksale liegen aber nicht — jegroBerdie Gruppe ist, um so weniger —
im Bereich des Zufalligen und Pers6nlichen, sondern sie sind identisch
mit der sozialokonomischen Situation eben dieser Gruppe. Ana-
lytische Sozialpsychologie heiBt also: die Triebstruktur,
die libidinose, zum groBen Teil unbewuBte Haltung einer
Gruppe aus ihrer sozialokonomischen Struktur heraus zu
verstehen.
Hier scheint aber ein Einwand am Platze zu sein. Die Psycho-
analyse erklart die Triebentwicklung gerade aus dem Lebensschicksal
der ersten Kindheitsjahre, also einer Periode, wo der Mensch noch
kaum mit „der Gesellschaft" zu tun hat, sondern fast ausschlieBlich
im Kreis der Familie lebt. Wie sollen also, nach psychoanalytischer
Auffassung, die sozialokonomischen Verhaltnisse eine solche Bedeutung
1 ) Vgl. zu dieser Frage die klarenden Bemerkungen von Georg Simmel:
tJber das Wesen der Sozialpsychologie. Archiv f. Sozialwissenschaft und
Sozialpolitik XXVI, 1908, S. 287f.
Uber Methode und Aufgabe einer analytischen Sozialpsychologie 35
gewinnen konnen ? Es handelt sich urn ein Scheinproblem. Allerdings
gehen die ersten entscheidenden Einflusse auf das heranwachsende
Kind von der Familie aus, aber die gesamte Struktur der Familie,
alle typischen Gefiihlsbeziehungen innerhalb ihrer, alle durch sie ver-
tretenen Erziehungsideale sind ihrerseits selbst bedingt vom gesell-
schaftlichen und klassenmaBigen Hintergrund der Familie, von der
sozialen Struktur, aus der sie erwachst. (Die Gefiihlsbeziehungen etwa
zwischen Vater und Sohn sind vollig andere in einer Familie der burger-
lichen, vaterrechtlichen Gesellschaft als in der ,, Familie" einer mutter -
rechtlichen Gesellschaft.) Die Familie ist das Medium, durch das die
Gesellschaft bzw. die Klasse die ihr entsprechende, fur sie spezifische
Struktur dem Kind und damit dem Erwachsenen aufpragt; die
Familie ist die psychologische Agentur der Gesellschaft.
Die bisherigen psychoanalytischen Arbeiten, die eine Anwendung
der Psychoanalyse auf gesellschaftliche Probleme versuchen, ent-
sprechen nun den Anforderungen, die an eine analytische Sozial-
psychologie zu stellen sind, zum uberwiegenden Teil nicht 1 ). Der Fehler
beginnt bei der Einschatzung der Funktion der Familie. Man sah
zwar, daB der einzelne nur als vergesellschaftetes Wesen zu ver-
stehen ist, man entdeckte, daB es die Beziehungen des Kindes zu den
verschiedenen Mitgliedern der Familie sind, die seine Triebentwicklung
so entscheidend bestimmen, aber man ubersah fast vollkommen, daB
die Familie ihrerseits in ihrer ganzen psychologischen und sozialen
Struktur, mit den fur sie spezifischen Erziehungszielen und af fektiven
Einstellungen, das Produkt einer bestimmten gesellschaftlichen und,
im engeren Sinn, einer bestimmten Klassenstruktur ist, daB sie tat-
sachlich nur die psychologische Agentur der Gesellschaft und Klasse
ist, aus der sie erwachst. Man hatte den Ansatzpunkt gefunden, aus
dem die psychologische Einwirkung der Gesellschaft auf das Kind zu
*) Aueh wenn man von wissenschaftlich wertlosen Versuchen absieht
(wie etwa dem oberflachlichen Schriftchen des einmal als Psychoanalytiker
aufgetretenen A. Kolnai uber Psychoanalyse und Soziologie oder dem nur
mit den allerdiirftigsten Kenntnissen ausgestatteten Verginschen Buch uber
„ Psychoanalyse der europaischen Politik"), gilt diese Kritik jenen Autoren
wie Reik, Roheim u. a. m., die sozialpsychologische Themen behandelt
haben. Eine Ausnahme macht neben S. Bernfeld, der besonders auf die
soziale Bedingtheit aller padagogischen Bemuhungen, hingewiesen hat
(Sysiphos oder iiber die Grenzen der Erziehung), vor allem W. Reich, dessen
Einschatzung der Rolle der Familie weitgehend mit der hier entwickelten
Ansicht iibereinstimmt. Reich hat insbesondere das wichtige Problem der
gesellschaftlichen Bedingtheit und der gesellschaftlichen Funktionen der
Sexualmoral ausf uhrlich untersucht. Vgl. sein ,,Geschlechtsreife, Enthalt-
samkeit, Ehemoral" und die soeben erschienene Schrift ,;Einbruch der
Sexualmoral'*.
36 Erich Fromm
verstehen war, aber man merkte es nicht. Wie war das moglich ?
Die psychoanalytischen Forscher hatten hier mir ein Vorurteil, das
sie mit alien andern biirgerlichen — auch den fortschrittlichen —
Forschern teilen : die Verabsolutierung der biirgerlich- kapitalistischen
Gesellsohaft und den mehr oder weniger deutlich bewuBten Glauben,
dafl sie die ,,normale" Gesellsohaft und ihre und die in ihr vorzu-
findenden psychischen Tatbestande die fur ,,die" Gesellsohaft iiber-
haupt typischen seien.
Es gab aber noch einen besonderen Grund, der den analytischen
Autoren diesen Fehler besonders nahelegte. Das Objekt ihrer Unter-
suchungen waren ja in erster Linie kranke und gesunde Angehorige
der modernen biirgerlichen Gesellsohaft, vorwiegend sogar der biirger-
lichen Klasse 1 ), bei denen also der die Familienstruktur bedingende
Hintergrund gleich bzw. konstant war. Was das Lebensschicksal ent-
schied und unterschied, waren also die auf dieser allgemeinen Grund-
lage basierenden individuellen, personlichen und, vom gesellschaft-
lichen Standpunkt aus gesehen, zufalligen Ereignisse. Die sich aus der
Tatsache einer autoritaren, auf Klassenherrschaft und Klassen-
unterordnung, auf Erwerb nach zweckrationalen Methoden usw.
organisierten Gesellsohaft ergebenden psychischen Ziige waren alien
Untersuchungsobjekten gemeinsam; was sie unterschied, war die
Tatsache, ob einer einen iiberstrengen Vater, den er als Kind uber-
maBig fiirchtete, ein anderer eine etwas altere Schwester, der seine
ganze Liebe gait, oder ein Dritter eine Mutter hatte, die ihn so stark
an sich band, daB er diese libidinOse Bindung nie mehr aufgeben
konnte. GewiB waren diese personlichen Schicksale fur die indivi-
duelle, personliche Entwicklung von hochster Wichtigkeit, und mit
der Beseitigung der aus diesen Schicksalen erwachsenden seelischen
Schwierigkeiten hatte die Analyse als Therapie vollauf ihre Schuldig-
keit getan, d. h. sie hatte den Patienten zu einem an die bestehende
2 ) Es sind psychologisch zwar am Individuum zu unterscheiden die fiir
die Gesamtgesellschaft typischen Ziige von den fiir seine Klasse typischen,
aber da die psychische Struktur der Gesamtgesellschaft sich den einzelnen
Klassen in gewissen grundlegenden Ziigen weitgehend aufpragt, sind die
spezifischen Ziige der Klasse bei aller Gewichtigkeit nur von sekundarer
Bedeutung gegenuber denen der Gesamtgesellschaft. Gerade der Wider-
spruch zwischen der — mindestens erstrebten — relativen Einheitlichkeit
der psychischen Struktur der verschiedenen Klassen und der Gegensatzlich-
keit ihrer okonomischen Interessen ist eines der Charakteristika der Klassen-
gesellschaft, verdeckt durch Ideologien. Je starker allerdings eine Gesell-
sohaft okonomisch, sozial und psychologisch zerfallt, je mehr die bindende
und pragende Kraft der Gesamtgesellschaft bzw. der in ihr herrschenden
Klasse schwindet, desto groBer werden auch die Differenzen der psychischen
Struktur der verschiedenen Klassen.
tlber Methode und Aufgabe einer analytisehen Sozialpsychologie 37
gesellschaftliche Realitat angepaBten Menschen gemacht. Weiter
ging ihr therapeutisches Ziel nicht — und brauchte es nicht zu
gehen; weiter ging aber auch das theoretische Verstandnis nicht.
Mehr war fur das wesentliche Arbeitsgebiet der Analyse, die Personal-
psychologie, nicht nGtig, denn die Vernachlassigung der die Familien-
struktur bedingenden gesellschaftlichen Struktur fur die Personal-
psychologie machte eine praktisch irrelevante Fehlerquelle aus.
Ganz anders lag en die Dinge, wenn man von personalpsycholo-
gischen zu sozialpsychologischen Untersuchungen uberging. Was dort
eine praktisch irrelevante Vernachlassigung war, muBte hier zu einer
fur die gesamte Arbeit von vornherein verhangnisvollen Fehlerquelle
werden.
Nachdem man einmal die Struktur der burgerlichen Gesellschaft
und ihrer vaterrechtlichen Familie als die „normale" empfand, nach-
dem man in der personalpsychologischen Arbeit gelernt hatte, die
individuellen Differenzen gerade aus den an sich zufalligen Traumen
zu verstehen, begann man in entsprechender Weise auch die ver-
schiedenen sozialpsychologischen Erscheinungen unter dem gleichen
Gesichtspunkt des Traumas, also des sozial Zufalligen, zu betrachten.
Man kam auf diesem Wege notwendigerweise dazu, die eigentliche
analytische Methode aufzugeben. Da man sich um die Verschiedenheit
des „Lebensschicksals", d. h. also der okonomisch-sozialen Situation
anderer Gesellschaftsformationen nicht bekiimmerte, infolgedessen
auch nicht versuchte, ihre psychische Struktur aus ihrer sozialen zu
verstehen, muBte man, anstatt zu analysieren, analogisieren, d. h.
man behandelte die Menschheit oder eine bestimmte Gesellschaft wie
ein Individuum, iibertrug die spezif ischen Mechanismen, die man beim
heutigen Menschen vorgefunden hatte, auf alle m6glichen*Gesellschafts-
formationen und „erklarte" dann deren psychische Struktur aus der
Analogie mit gewissen Erscheinungen vor allem krankhafter Art, die
sich typischerweise beim Menschen der eigenen Gesellschaft vorf anden.
Man ubersah bei diesem Analogisieren einen Gesichtspunkt, der
geradezu zu den Fundamenten der analytisehen Personalpsychologie
gehort: die Tatsache, daB die Neurose, sei es das neurotische Sym-
ptom, sei es der neurotische Charakterzug, das Resultat einer man-
gelnden AngepaBtheit der Triebstruktur eines ,,anormalen" In-
dividuums an die ihm gegebene Realitat ist; daB aber bei Massen,
also „Gesunden", gerade die Fahigkeit zur Anpassung vorliegt, d. h.
also schon aus diesem Grunde massenpsychologische Erscheinungen
grundsatzlich nicht in Analogie an neurotische verstanden werden
38 Erich Fromm
konnen, sondern nur als Resultat der Anpassung der Triebstruktur an
die gesellschaftliche Realitat, nur haufig an eine von der bestehenden
mehr odef weniger stark abweichende.
Das markanteste Beispiel dieses Vorgehens ist wohl die Ver-
absolutierung des ,,Oedipuskomplexes" (des aus der Rivalitat urn die
Mutter entspringenden Hasses gegen den Vater) zu einem allgemein-
menschlichen Mecharusmus, obwohl vergleichende soziologische und
volkerpsychologische Untersuchungen mit Wahrscheinlichkeit zeigen,
daB diese spezifische Gefuhlseinstellung eben nur ganz fur die Familie
der vaterrechtlichen Gesellschaft typisch ist und keinen so allge-
meinmenschlichen Charakter tragt. Die Verabsolutierung des Oedipus-
komplexes fiihrte Freud dazu, die Entwicklung der gesamten Mensch-
heit auf diesen Mechanismus des Vaterhasses und der daraus resul-
tierenden Reaktionen zu basieren 1 ), ohne dafi dem materiellen Lebens-
prozeB der untersuchten Gruppe Beachtung geschenkt wurde.
Wenn der geniale Blick Freuds auch bei einem soziologisch
falschen Ausgangspunkt immer noch Fruchtbares und Bedeutsames
entdeckte 2 ),so muBte bei den andern analytischenAutoren diese Fehler-
x ) vgl. sein „Totem und Tabu"!
-) In der „Zukunft einer Illusion" (1927) weicht Freud von dlesem die
gesellschaftliche Realitat und ihre Veranderungen vernachlassigenden Stand -
punkt ab und kommt unter Wiirdigung der Bedeutung der okonomischen
Bedingungen von der personalpsychologischen Fragestellung, wie Keligion
(personal-) psychologisch moglich ist (namlich als Wiederholung der in-
fantilen Einstellung zura Vater) zur sozialpsychologischen Fragestellung,
warum Religion sozial moglich und notig ist. Er findet die Antwort, daB
Religion notig war, solange die Menschen durch ihre Ohnmacht gegeniiber
der Natur, also durch den geringen Grad der Entwicklung der Produktiv-
krafte der religiosen Illusionen bedurften, dafi sie aber mit dem Wachstum
der Technik, aber auch mit dem damit verkniipften ,,Erwachsenwerden" des
Menschen zu einer uberfliissigen und schadlichen Illusion wird. Wenn gewifi
auch in dieser Schrift nicht alle gesellschaftlich relevanten Funktionen der
Religion beriihrt werden, besonders auch nicht das Problem des Zusammen-
hanges bestimmter Religionsformen mit bestimmten gesellschaftlichen Kon-
stellationeh, so ist diese Schrift Freuds doch diejenige, die methodisch und
inhaltlich einer materialistischen Sozialpsychologie am nachsten steht. (Es
sei zum Inhaltlichen nur an den Satz erinnert: ,,Es braucht nicht gesagt zu
werden, daB eine Kultur, welche eine so groBe Zahl von Teilnehmern un-
befriedigt lafit und zur Auflehnung treibt, weder Aussicht hat, sich dauernd
zu erhalten, noch es verdient.") (Freuds Buch beriihrt sich mit dem Stand-
punkt des jungen Marx, der ihm geradezu als Motto dienen konnte: „Die Auf-
hebung der Religion als des illusorischen Gliicks des Volkes ist die Forderung
seines wirklichen Gliicks. Die Forderung, die Illusionen iiber seinen Zustand
aufzugeben, ist die Forderung, einen Zustand aufzugeben, der der Illusionen
bedarf . Die Kritik der Religion ist also im Keim die Kritik des Jammertals,
dessen Heiligenschein die Religion ist." [Zur Kritik der Hegelschen Rechts-
philosophie. Lit. NachlaB 1923 Bd. 1 S. 385]) In seiner nachsten sozial-
psychologische Probleme behandelnden Arbeit iiber ,,Das Unbehagen in der
Kultur" setzt Freud aber diese Linie weder methodisch noch inhaltlich fort. Sie
ist vielmehr geradezu als ein Gegensatz zur„Zukunft einer Illusion" anzusehen.
tjber Methode und Aufgabe einer analytischen Sozialpsychologie 39
quelle zu einem die Analyse in den Augen der Soziologie und speziell
der marxistischen Gesellschaftswissenschaft geradezu kompromittie-
renden Ergebnis fiihren.
Es war aber falsch, die Psychoanalyse als solche dafur zu be-
lasten. Im Gegenteil, gerade die klassische Methode der psj'cho-
analytischen Personalpsychologie brauchte nur konsequent auf die
Sozialpsychologie angewandt zu werden, urn zu vollig einwandfreien
Resultaten zu fiihren. Der Fehler lag nicht an der psychoanalytischen
Methode, sondern daran, daB die psychoanalytischen Autoren auf-
horten, sie in konsequenter und korrekter Weise anzuwenden, wenn
sie statt iiber Individuen iiber Gesellschaften, Gruppen, Klassen,
kurz uber soziale Phanomene Untersuchungen anstellten.
Eine erganzende Bemerkung ist hier am Platze.
Wir haben in den Mittelpunkt unserer Darstellung die Modifizier-
barkeit des Triebapparates durch die Einwirkung auBerer, d. h. also
letzten Endes sozialer Faktoren geriickt. Es darf aber nicht iibersehen
werden, daB der Triebapparat, quantitativ wie qualitativ, gewisse
physiologisch und biologisch bedingte Grenzen seiner Modifizierbarkeit
besitzt und daB er nur innerhalb dieser Grenzen der Beeinflussung
durch die sozialen Faktoren unterliegt. Infolge der Starke der in
ihm aufgespeicherten Energiemengen stellt aber der Triebapparat
selbst eine hochst aktive Kraft dar, der ihrerseits die Tendenz inne-
wohnt, die Lebensbedingungen im Sinne der Triebziele zu verandern 1 ).
Im Wechselspiel des Aufeinanderwirkens der psychischen Antriebe
und der okonomischen Bedingungen kommt letzteren ein Primat zu.
Nicht in dem Sinn, daB sie das ,,starkere' ; Motiv darstellten — diese
Fragestellung betrafe ein Scheinproblem, weil es sich gar nicht urn
quantitativ vergleichbare ., Motive" gleicher Ebene handelt — , ein
Primat aber in dem Sinne, daB die Befriedigung eines groBen Teils
der Bedurfnisse, speziell aber der dringlichsten, der Selbsterhaltungs-
bediirfnisse, an die materielle Produktion gebunden ist und daB die
Modifizierbarkeit der okonomischen auBermenschlichen Realitat weit
geringer ist als die des menschlichen Triebapparates. speziell als die der
Sexualtriebe.
Die konsequente Anwendung der Methode der analytischen Per-
sonalpsychologie auf soziale Phanomene ergibt folgende sozial-
psychologische Methode: Die sozialpsychologischen Erschei-
nungen sind aufzufassen als Prozesse der aktiven und
x ) Vgl. die spater angefiihrte AuBerung von Marx im ,,Kapital" iiber die
Bedtirfnissteigerung als eine Quelle der wirtschaftlichen Entwicklung!
40 Erich Fro mm
passiven Anpassung des Triebapparates an die sozial-
okonomische Situation. Der Triebapparat selbst ist — in
gewissen Grundlagen — biologisch gegeben, aber weit-
gehend modifizierbar; den Okonomischen Bedingungen
kommt die Rolle als primar formenden Faktoren zu. Die
Familie ist das wesentlichste Medium, durch das dieokono-
mische Situation ihren formenden Einflufi auf die Psyche
des einzelnen ausiibt. Die Sozialpsychologie hat die ge-
meinsamen — sozial relevanten ■ — seelischen Haltungen
und Ideologien — und insbesondere deren unbewuBte
Wurzeln — aus der Einwirkung der Okonomischen Bedin-
gungen auf dielibidinosen Strebungen zuerklaren.
Seheint soweit die Methode der Sozialpsychologie in einem guten
Einklang sowohl mit der Methode der Freudschen Personalpsychologie
wie auch mit den Anforderungen der materialistischen Geschichts-
auffassung zu stehen, so ergeben sich neue Schwierigkeiten, wenn diese
analytische Methode mit einer falschen, sehr verbreiteten Inter-
pretation der marxistischen Theorie konfrontiert wird: der Auf-
f assung des historischen Materialismus als psychologischer Theorie und
speziell als okonomistischer Psychologic
Wenn es wirklich so ist, wie Bertrand Russell meint 1 ), daB Marx
im „Geldmachen", Freud in der Liebe das entscheidende Motiv
menschlichen Handelns sahe, dann waren beide Wissenschaften
allerdings so unvereinbar, wie Russell es glaubt. Aber wenn die von
Russell zitierte Eintagsfliege wirklich theoretisch denken konnte,
wiirde sie statt der ihr in den Mund gelegten Antwort erklaren, daB
*) In einem 1927 im jiidischen „ Forward" veroffentlichten Aufsatz:
„Warum ist die Psychoanalyse popular ?" (zitiert bei Kautsky, Der histo-
rische Materialismus, Bd. I S. 340/1) schreibt Russell: „Selbstverstandlich
ist sie (die Psychoanalyse) ganz unvereinbar mit dem Marxismus. Denn Marx
legt den Nachdruck auf das okonomische Motiv, das hochstens im Zusammen-
hang mit der Selbsterhaltung steht, die Psychoanalyse betont dagegen das
biologische Motiv, das mit der Selbsterhaltung durch Fortpflanzung zu-
sammenhangt. Unzweifelhaft sind beide Gesichtspunkte einseitig, beide
Motive spielen eine Rolle." Russell spricht dann von der Eintagsfliege, die
im Larvenstadium nur Organe zum Fressen, nicht aber zum Lieben hat,
wahrend sie als vollentwickeltes Insekt (Imago) im Gegenteil nur iiber Organe
zur Fortpflanzung, nicht aber zur Emahrung verfiigt. Diese braucht sie nicht,
da sie in diesem Stadium nur einige Stunden am Leben bleibt. Was wiirde
geschehen, konnte die Eintagsfliege theoretisch denken ? „Als Larve wiirde
sie ein Marxist sein, als Imago ein Freudianer." Russell fiigt hinzu, Marx,
„der Bucherwurm des britischen Museums" sei der richtige Reprasentant
der Larvenphilosophie. Russell selbst fuhlte sich von Freud mehr angezogen,
denn „er sei fur die Freuden der Liebe nicht unempfanglich, verstehe sich
dagegen nicht aufs Geldmachen, also nicht auf die orthodoxe Okonomie,
die von ausgetrockneten alteren Herren geschaffen wurde*\
t)ber Met h ode und Aufgabe einer analytischen Sozialpsychologie 41
Russell sowohl die Psychoanalyse als auch den Marxismus ganz und
gar falsch versteht, daB die Psychoanalyse gerade die Anpassung
biologischer Faktoren, der Triebe, an soziale untersucht und der
Marxismus wiederum uberhaupt keine psychologische Theorie ist.
Russell ist nicht der einzige, der beide Theorien so miB versteht,
er befindet sich dabei in Gesellschaft einer Reihe von Theoretikern
und verbreiteter Anschauungen.
Besonders deutlich und drastisch wird diese Auffassung der materia-
listischen Geschichtsauffassung als einer okonomistischen Psycho-
logie von Hendrik de Man vertreten. Er sagt 1 ):
„Marx selber hat bekanntlich seine Motivlehre niemals formuliert. Er
hat sogar niemals umschrieben, was unter Klasse zu verstehen sei; der Tod
hat sein letztes Werk unterbrochen, als er dabei war, sich diesem Gegenstand
zuzuwenden. Uber die Grundanschauungen, von denen er ausging, besteht
jedoch kein Zweifel ; diese bestatigen sich auch ohne Definition als stillschwei-
gendeVoraussetzung durch die steteAnwendung sowohl bei seiner wissenschaft-
lichen wie bei seiner politischen Tatigkeit. Jeder okonomische Lehrsatz
und jede politisch-strategische Meinung Marxens beruht auf der Voraus-
setzung, daB die menschlichen Willensmotive, wodurch sich der gesellschaft-
liche Fortschritt vollzieht, in erster Linie vora wirtschaftlichen Interesse
diktiert seien. Denselben Gedanken wiirde die Sprache der heutigen Sozial-
psychologie als Bestimmung des gesellschaftlichen Verhaltens durch den
Erwerbstrieb, d. h. den Trieb zur Aneignung von sachlichen Werten aus-
drucken.
Wenn Marx selber diese oder ahnliche Formeln fiir uberfliissig gehalten
hat, so erklart sich das einfach daraus, daB ihr Inhalt der gesamten National-
okonomie seiner Zeit als selbstverstandlich gait."
Was Hendrik de Man fiir eine ,,stillschweigende Voraussetzung des
Marxismus" halt, stillschweigend, weil es alien zeitgenossischen (lies
biirgerlichen) Nationalokonomen eine selbstverstandliche Vorstellung
war, ist ganz und gar nicht die Auffassung von Marx, der ja auch in
manchen andern Punkten die Auffassung der Theoretiker ,,seiner
Zeit" nicht geteilt hat.
Auch Bernstein ist, wenn auch weniger ausdrucklich, nicht weit
von dieser psychologistischen Interpretation entfernt, wenn er eine
Art Ehrenrettung des historischen Materialismus durch folgende Be-
merkung vornehmen will 2 ) :
,, Okonomische Geschichtsauffassung braucht nicht zu heiBen, daB bloB
okonomische Krafte, bloB okonomische Motive anerkannt werden, sondern
nur, daB die Okonomie die immer wieder entscheidende Kraft, den
Angelpunkt der groBen Bewegungen in der Geschichte bildet (Sperrungen
E. F,)."
x ) Zur Psychologie des Sozialismus, 1927, S. 28 L
2 ) Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozial-
demokratie, Stuttgart 1899, S. 13.
42 Erich Fromm
Hinter diesen verschwommenen Formulierungen verbirgt sich die
Auffassung des Marxismus als okonomistischer Psychologie, die von
Bernstein im idealistischen Sinn gereinigt und verbessert wird 1 ).
Der Gedanke, daB der ,,Erwerbstrieb a das wesentliche oder einzige
Motiv des menschlichenHandelns sei, ist ein Gedanke des Liberalismus.
Er wuTde von burgerlicher Seite einerseits als psychologisches Ar-
gument gegen die VerwirklichungsmOglichkeit des Sozialismus ver-
wendet 2 ), andererseits aber wurde der Marxismus von seinen klein-
biirgerlichen Anhangern im Sinne dieser okonomistischen Psychologie
interpretiert. In Wirklichkeit ist der historische Materialismus weit
davon entfernt, eine psychologische Theorie zu sein. Er hat nur einige,
ganz wenige psychologische Voraussetzungen.
Zunachst die, daB es die Menschen sind, die ihre Geschichte
machen, weiterhin die, dafi es die Bediirfnisse sind, die das Handeln
und Fiihlen der Menschen motivieren (Hunger und Liebe) und weiter-
hin, daB diese Bediirfnisse im Laufe der gesellschaftlichen Entwicklung
steigen und dieses SteigenderBedurfnisse eine Bedingung fur die
steigende wirtschaftliche Tatigkeit darstellt 3 ).
Der okonomische Faktor spielt im Zusammenhang mit der Psycho-
logie im historischen Materialismus nur insofern eine Rolle, als die
menschlichen Bediirfnisse — und zunachst die nach Selbsterhaltung
— zum groBen Teil ihre Befriedigung durch Produktion von Giitern
finden, also in den Bedurfnissen der Hebel und Anreiz zur Produktion
zu suchen ist. Marx und Engels haben wohl betont, daB unter den
Bedurfnissen die nach Selbsterhaltung alien anderen voranstehen, sie
haben sich im einzelnen aber iiber die Qualitat der verschiedenen
Triebe und Bediirfnisse nicht geauBert. Ganz gewiB aber haben sie
nie den ,,Erwerbstrieb", also das Bediirfnis, das auf den Erwerb an
x ) Kautsky lehnt gleich zu Beginn seines Buches ,,Der historische Mate-
rialismus" die psychologistische Interpretation sehr entschieden ab, erganzt
aber den historischen Materialismus durch eine rein idealistische Psycho-
logie, durch die Annahme etnes urspriinglichen ,,sozialen Triebes". Vgl.
unten S. 48.
2 ) Wie ja iiberhaupt ein profier Teil der gegen den historischen Materialis-
mus gerichteten Angriffe in Wirklichkeit nicht diesen, sondern seine von
„Freunden" oder Gegnern hineingeschmuggelten spezifisch biirgerlichen Bei-
mengungen trifft.
3 ) „Wie der Wilde mit der Natur ringen muB, um seine Bediirfnisse zu
befriedigen, um sein Leben zu erhalten und zu reproduzieren, so mufi es der
Zivilisierte, und er muB es in alien Gesellschaftsformen und unter alien
moglichen Produktionsweisen. Mit seiner Entwicklung erweitert sich dies
Reich der Naturnotwendigkeit, weil (gesperrt E. F.) die Bediirfnisse; aber
zugleich erweitern sich die Produktivkrafte, die diese befriedigen/' (Marx,
Kapital, Hamburg 1922, III, 2, S. 355.)
t^ber Methode und Aufgabe einer analytischen Sozialpsychologie 43
sich, den Erwerb als Selbstzweck geht, fur das einzige oder auch
nur wesentlichste Bedurfnis gehalten. Es ist nur eine naive Verabr
solutierung eines psychischen Zuges, der in der kapitalistischen Gesell-
schaft eine unerhorte Starke erlangt hat, wenn man ihn in dieser
Starke und Auspragung fiir einen allgemein-menschlichen deklariert.
Marx und Engels ist am allerwenigsten eine solche Verklarung biirger-
lich-kapitalistischer Zuge zu allgemein-menschlichen zuzumuten. Sie
wuBten sehr wohl, welche Stelle der Psychologie innerhalb der Sozio-
logie zukommt, sie waren aber keine Psychologen und wollten auch
keine sein, indem sie iiber diese allgemeinen Hinweise hinaus nahere
Aussagen iiber Inhalt und Mechanismen der menschlichen Triebwelt
machten. Es stand ihnen auch abgesehen von gewissen und sicherlich
nicht zu unterschatzenden Ansatzen in der Literatur der franzosischen
Aufklarung (vor allem Helvetius) keine wissenschaftliche materiali-
stische Psychologie zur Verfugung. Erst die Psychoanalyse hat diese
Psychologie geliefert und gezeigt, daB der „Erwerbstrieb" zwar eine
wichtige, aber neben andern (genitalen, sadistischen, narzistischen
u. a. m.) Bediirfnissen keineswegs eine tiberragende Rolle im Seelen-
haushalt des Menschen spielt. Insbesondere kann sie aufzeigen, daB
zu einem grofien Teil der ,,Erwerbstrieb u gar nicht als tiefste Ursache
das Bedurfnis zu erwerben oder zu besitzen hat, sondern dafi er selbst
nur ein Ausdruck narzistischer Bediirfnisse ist, des Wunsches, bei sich
selbst und bei andern Anerkennung zu finden. Es ist klar, daB in
einer Gesellschaft, die dem Besitzenden, Reichen das HochstmaB an
Anerkennung und Bewunderung zollt, die narzistischen Bediirfnisse
der Mitglieder dieser Gesellschaft zu einer auBerordentlichen Inten-
sivierung des Besitzwunsches fiihren miissen, wahrend in einer Ge-
sellschaft, in der Besitz nicht die Basis des gesellschaftlichen Ansehens
ist, sondern etwa fiir die Gesamtheit wichtige Leistungen, die gleichen
narzistischen Impulse sich nicht als ,,Erwerbstrieb" auBern, sondern
als ,,Trieb" zur sozial wichtigen Leistung. Da die narzistischen Be-
diirfnisse zu den elementarsten und machtigsten seelischen Stre-
bungen gehoren, ist es besonders wichtig zu erkcnnen, daB die Ziele
und damit die konkreten Inhalte der narzistischen Strebungen von
der bestimmten Struktur einer Gesellschaft abhangen und dafi des-
halb der ,,Erwerbstrieb <( zu einem groBen Teil nur der besonderen
Hochschatzung des Besitzes in der biirgerlichen Gesellscliaft seine
imponierende Rolle verdankt.
Wenn also in der materialistischen Geschichtsauffassung von
okonomischen Ursachen gesprochen wird, so ist — abgesehen von der
44 Erich Fromm
eben angefiihrten Bedeutung — nicht Okonomie als subjektives
psychologisches Motiv, sondern als objektive Bedingung der
menschlichen Lebenstatigkeit gemeint. Alles menschliche Agieren, die
Befriedigung aller Bediirfnisse hangt ab von der Eigenart der vorge-
fundenen naturlichen okonomischen Bedingungen, und diese Be-
dingungen sind es, die das Wie des Lebens der Menschen vorschreiben.
Das BewuBtsein der Menschen ist fur Marx nur zu verstehen aus
ihrem gesellschaftlichen Sein, aus ihrem irdischen, realen, eben durch
den Stand der Produktivkrafte bedingten Leben.
„Die Produktion der Ideen, Vorstellungen, des Bewufltseins ist zunachst
unmittelbar verflochten in die materielle Tatigkeit und den materiellen Ver-
kehr der Menschen, Sprache des wirklichen Lebens. Das Vorstellen, Denken,
der geistige Verkehr der Menschen erscheinen hier noch als direkter AusfluS
ihres materiellen Verhaltens. Von der geistigen Produktion, wie sie in der
Sprache der Politik, der Gesetze, der Moral, der Religion, Metaphysik usw.
cines Volkes sich darstellt, gilt dasselbe. Die Menschen sind die Produ-
zent-en ihrer Vorstellungen, Ideen usw., aber die wirklichen, wirkenden
Menschen, wie sie bedingt sind durch eine bestimmte Entwicklung ihrer
Produktivkrafte und des denselben entsprechenden Verkehrs bis zu seinen
weitesten Formationen hinauf. Das BewuBtsein kann nie etwas anderes
.sein als das bewuflte Sein, und das Sein der Menschen ist ihr wirklicher
Lebensprozefl. Wenn in der ganzen Ideologic die Menschen und ihre Ver-
nal tnisse wie in einer camera obscura auf den Kopf gestellt erscheinen, so
geht dieses Phanomen ebensbsehr aus ihrem historischen Lebensprozefl
hervor, wie die Umdrehung der Gegenstande auf der Netzhaut aus ihrem
unmittelbar physischen." 1 )
Der historische Materialismus faBt den geschichtlichen ProzeB als
ProzeB deraktivenundpassivenAnpassung desMenschen an die ihnum-
gebenden naturlichen Bedingungen auf. „Die Arbeit ist zunachst ein
ProzeB zwischen Mensch und Natur, ein ProzeB, worin der Mensch
seinen Stoffwechsel mit der Natur durch seine eigene Tat vermittelt,
regelt und kontrolliert. Er tritt dem Naturstoff selbst als eine Natur-
macht gegenuber." 2 ) Der Mensch und die Natur sind die beiden aufein-
ander ein wirkenden, sich wechselseitig verandernden und bedingenden
Pole. Immer bleibt der historische ProzeB an die Gegebenheiten der
naturlichen Bedingungen auBerhalb desMenschen wie seiner eigenenBe-
schaffenheit gebunden. ObwohlMarx gerade davon ausging, in welchem
ungeheuren AusmaB der Mensch die Natur und sich selbst im gesell-
schaftlichen ProzeB verandert, hat er immer wieder betont, daB alle
Veranderungen an die naturlichen Bedingungen gebunden sind. Dies
unterscheidet gerade seinen Standpunkt von gewissen idealistischen,
1 ) Marx und Engels, Teil I der „Deutschen Ideologic". Marx-Engels
Archiv, Bd. I, S. 239.
2 ) Marx, Kapital S. 140.
tjber Methode und Aufgabe einer analytischen Sozialpsychologie 45
dem menschlichen Willen unbeschrankte Macht zutrauenden Posi-
tionen 1 ).
Marx und Engels sagen in der „Deutschen Ideologic" 2 ):
„Die Voraussetzungen, mit denen wir beginnen, sind keine willkurlichen,
keine Dogmen, es sind wirkliche Voraussetzungen, von denen man nur in
der Einbildung abstrahieren kann. Es sind die wirklichen Individuen, ihre
Aktion und ihre materiellen Lebensbedingungen, sowohl die vorgefundenen
wie die durch ihre eigene Aktion erzeugten. Diese Voraussetzungen sind
also auf rein empirischem Wege konstatierbar.
Die erste Voraussetzung aller Menschengeschichte ist natiirlich die
Existenz lebendiger menschlieher Individuen. Der erste zu konstatierende
Tatbestand ist also die korperliche Organisation dieser Individuen und ihr
dadurch gegebenes Verhaltnis zur ubrigen Natur. Wir konnen hier natiir-
lich weder auf die physische Beschaffenheit der Menschen selbst noch auf
die von den Menschen vorgefundenen Naturbedingungen, diegeologischen, oro-
hydrographischen, klimatischen und anderen Verhaltnisse eingehen. Alle
Geschichtsschreibung mufi von diesen natiirlichen Grundlagen und ihrer
Modifikation im Laufe der Geschicjite durch die Aktion der Menschen aus-
gehen."
Wie stellt sich nun, nach Beseitigung der grObsten MiBverstand-
nisse, das Verhaltnis zwischen Psychoanalyse und historischem
Materialismus dar ?
Die Psychoanalyse kann die Gesamtauffassung des historischen
Materialismus an einer ganz bestimmten Stelle bereichern, nam-
lich in der umfassenderen Kenntnis eines der im gesell-
schaftlichen ProzeB wirksamen Faktoren, der Beschaffen-
heit des Menschen selbst, seiner ,, Natur". Sie reiht den Trieb-
apparat des Menschen in die Reihe der natiirlichen Bedingungen ein,
die selber modifizieren, aber in deren Natur auch die Grenzen der
Modifizierbarkeit liegen. Der Triebapparat des Menschen ist eine
der ,, natiirlichen" Bedingungen, die zum Unterbau des gesellschaft-
lichen Prozesses gehoren. Aber nicht der Triebapparat ,,im all-
gemeinen", in seiner biologischen ,,Urform". Als solcher erscheint
er in Wirklichkeit niemals, sondern immer schon in einer bestimmten,
eben durch den gesellschaftlichen ProzeB veranderten Form. Die
menschliche Psyche bzw. deren Wurzeln, die libidinosen Krafte, ge-
horen mit zum Unterbau, sie sind aber nicht etwa „der" Unterbau,
wie eine psychologistische Interpretation meint, und,, die" menschliche
Psyche ist auch immer nur die durch den gesellschaftlichen ProzeB
J ) Vgl. zu dieser Frage die das Naturmoment besonders klar liervor-
hebende Arbeit von Bucharin, Die Theorie des historischen Materialismus,
1922, und die dieses Problem speziell behandelnde und kliirende Arbeit
von K. A. Wittfogel, Geopolitik, geographischer Materialismus und Marxis-
mus. (Unter dem Banner des Marxismus III, 1, 4, 5.)
2 ) a. a. O. S. 237f.
46 Erich Fromm
modifizierte Psyche. Der historische Materialismus verlangt eine
Psychologie, d. h. eine Wissenschaft von den seelischen Eigenschaften
des Menschen. Erst die Psychoanalyse hat eine Psychologie geliefert,
die fur den historischen Materialismus brauchbar ist.
Diese Erganzung ist besonders aus folgendem Grunde wichtig.
Marx und Engels konstatierten die Abhangigkeit alien ideologischen
Geschehens vom okonomischen Unterbau, sahen im Geistigen „das in
den Menschenkopf umgesetzte Materielle". GewiB konnte in vielen
Fallen der historische Materialismus auch ohne alle psychologischen
Voraussetzungen richtige Antworten geben. Aber doch nur entweder
da, wo die Ideologic einen mehr oder weniger zweckrationalen Cha-
rakter mit Bezug auf gewisse Klassenziele tragt oder da, wo es sich
darum handelt, richtige Zuordnungen zwischen okonomischem Unter-
bau und ideologischem Uberbau vorzunehmen, ohne doch zu erklaren,
wie der Weg von der Okonomie zum menschlichen Kopf oder Herz
geht 1 ). Aber liber das Wie der Umsetzung des Materiellen in den
Menschenkopf konnten und wollten — mangels einer brauchbaren
Psychologie — Marx und Engels keine Antwort geben. Die Psycho-
analyse kann zeigen, daB die Ideologien die Produkte von bestimmten
Wimschen, Triebregungen, Interessen, Bediirfnissen sind, die, selber
zum grofien Teil nicht bewuBt, als „Rationalisierung" in Form der
Ideologic auftreten; daB aber diese Triebregungen selbst zwar einer-
seits auf der Basis biologisch bedingter Triebe erwachsen, aber weit-
gehend ihrer Quantitat und ihrem Inhalt nach von der sozial-okono-
mischen Situation des Individuums bzw. seiner Klasse gepragt sind.
Wenn, wie Marx sagt, die Menschen die Produzenten ihrer Ideologic
sind, so kann eben gerade die analytische Sozialpsychologie die Eigen-
art dieses Produktionsprozesses der Ideologien, die Art des Zusammen-
wirkens „naturlicher" und gesellschaftlicher Eaktoren in ihm be-
schreiben und erklaren. Die Psychoanalyse kann also zeigen ?
wie sich auf dera Wege iiber das Triebleben die okono-
mische Situation in Ideologie umsetzt. Dabei ist ganz
besonders zu betonen, daB dieser ^Stoffwechsel" zwischen Triebwelt
und Umwelt dazu fuhrt, daB sich der Mensch als solcher verandert,
l ) Zur Frage nach dem Wesen des ideologischen Uberbaus vgl. auch
Engels' Brief an Mehring (v. 14. Juli 1893, zitiert nach Duncker, Uber histo-
rischen Materialismus, Berlin 1930): ,,Namlich wir alle haben zunachst das
Hauptgewicht auf die Ableitung der politischen, rechtlichen und sonstigen
ideologischen Vorstellungen und (lurch diese Vorstellungen vermittelter
Handlungen aus den okonomischen Grundtatsachengelegt und legen miissen.
Dabei haben wir dann die formelle Seite iiber der inhaltlichen vernachlassigt :.
die Art und Weise, wie diese Vorstellungen zustande komraen."
tJber Methode und Aufgabe einer analytischen Sozialpsychologie 47
genau so wie die „ Arbeit" die auBermenschliche Natur verandert.
Die Richtung dieser Veranderung des Menschen kann hier nur an-
gedeutet werden. Sie liegt vor allem in dem von Freud verschiedent-
lich betonten Wachstum der I ch- Organisation und dem damit ver-
bundenen Wachstum der Sublimierungsfahigkeit 1 ). Die Psycho-
analyse erlaubt uns also, die Ideologiebildung als eine Art ,,Arbeits-
prozeB", als eine der Situationen des Stoffwechsels zwischen Mensch
und Natur anzusehen, wobei die Besonderheit darin liegt, daB die
„ Natur " in diesem Fall innerhalb und nicht aufierhalb des Menschen
liegt.
Die Psychoanalyse kann gleichzeitig liber die Wirkungsweise der
Ideologien oder Ideen auf die Gesellschaft AufschluB geben. Sie kann
aufzeigen, daB die Wirkung einer ,,Idee" wesentlich auf ihrem un-
bewufiten und an bestimmte Triebtendenzen appellierenden Gehalt
beruht, d. h. daB es Art und Starke des libidinosen Resonanzbodens
der Gesellschaft oder einer Klasse ist, die uber die soziale Wirkung
der Ideologien mitbestimmt.
Wenn so klar zu sein scheint, daB die psychoanalytische Sozial-
psychologie in einem ganz bestimmten Punkt ihren Platz innerhalb
des historischen Materialismus hat, so ist noch auf einige Punkte hin-
zuweisen, in denen sie ganz unmittelbar gewisse Schwierigkeiten zu
beseitigen imstande ist.
Zunachst einmal kann der historische Materialismus gewissen Ein-
wanden klarer entgegnen. Wenn darauf hingewiesen wurde, welche
Rolle in der Geschichte ideelle Momente, wie Freiheitswille, Liebe zur
Gruppe, der man angehort, usw, spielen, so konnte man vom Stand-
punkt des historischen Materialismus aus wohl diese Fragestellung als
eine psychologische ablehnen und sich darauf beschranken, die ob-
jektive okonomische Bedingtheit der historischen Ereignisse nach-
zuweisen. Man war aber nicht imstande, eine klare Antwort darauf
zu geben, welcher Art und Herkunft denn nun wirklich diese — als
psychische Antriebe doch offenbar sehr wirksamen — menschlichen
Krafte sind und wie man sie im gesellschaftlichen ProzeB einzuordnen
hat. Die Psychoanalyse kann aufzeigen, daB diese scheinbar ideellen
Motive in Wirklichkeit nichts anderes als der rationalisierte Ausdruck
von triebhaften, libidinosen Bedurfnissen sind und daB Inhalt und
Umfang der jeweils herrschenden Bediirfnisse wiederum nur aus dem
1 ) Dafi damit allerdings auch ein Wachstum des Uber-Ichs und der Ver-
drangungen verkniipft sein soli, erscheint uns ein innerer Widerspruch.
Wachstum des Ichs und der Sublimierungsmoglichkeiten heifit ja gerade
Bewaltigung der Triebe auf anderem Weg als dem der Verdrangung.
48 Erich Fromm
EinfluB der sozialftkonomischen Situation auf die gegebene Trieb-
struktur der die Ideologie bzw. das dahinterstehende Bedurfnis
produzierenden Gruppe zu verstehen sind. Es ist also der Psycho-
analyse moglich, auch die sublimsten ideellen Beweggrunde auf ihren
irdischen libidinosen Kern zu reduzieren, ohne dabei gezwungen zu
sein, die okonomischen Bediirfnisse als die allein wichtigen anzusehen.
Der Mangel an einer dem historischen Materialismus adaquaten
Psychologie fuhrte dazu, daB gewisse Vertreter des historischen
Materialismus an dieser S telle eine private, rein idealistische Psycho-
logie aufstellten. Ein typisches Beispiel — typischer noch als offen
idealistische Autoren wie Bernstein — ist Kautsky. Er nimmt an,
daB es einen dem Menschen eingeborenen ,, sozialen Trieb" gibt. Das
Verhaltnis zwischen diesem sozialen Trieb und den sozialen Verhalt-
nissen beschreibt er f olgendermaBen : „Je nach der Starke und
Schwache seiner sozialen Triebe wird der Mensch mehr zum BOsen
oder Guten neigen. Doch hangt dies nicht minder von seinen Lebens-
bedingungen in der Gesellschaft ab" 1 ). Es ist klar, daB dieser ein-
geborene soziale Trieb nichts anderes ist als das dem Menschen ein-
geborene moralische Prinzip und daB sich der kautskysche Stand-
punkt nur in der Ausdrucksweise von einer idealistischen Ethik
unterscheidet 2 ).
Diejenigen marxistischen Autoren aber, die nicht die Wendung zu
einer idealistischen Psychologie und Ethik gemacht haben, schenken
der Psychologie iiberhaupt wenig Beachtung 3 ). Nun ist es gewiB
i) a. a. O., S. 262.
2 ) Die gleiche Position vertritt Kautsky, wenn er der Annahme, der histo-
rische Materialismus sei eine okonomistische Psychologie, folgendermaBen
entgegnet: „Wiirde die materialist ische Geschichtsauffassung wirklich be-
haupten, dafi die Menschen nur von okonomischen Motiven oder von mafce-
riellen Interessen bewegt werden, dann wiirde es sich nicht lohnen, dafi wir
Uhs ausfiihrlich mit ihr beschaftigen. Dann ware sie nur eine Vergroberung
jener sehr alt en Anschauung, die im Egoismus oder im Streben nach Lust
das einzige Motiv menschlichen Handelns erblickt. Dann hatten auch Marx
und Engels ihre Theorie durch ihre eigene Praxis schlagend widerlegt, denn
es hat nie zwei Menschen gegeben, die selbstloser waren und weniger durch
materielle Motive bewegt wurden, als meine beiden Meister*' (a. a. O., S. 6).
Hier enthullt sich klar die idealistische Position Kautskys. Er bemerkt
keineswegs, daB okonomische Motive und Streben nach Lust
zwei ganz verscniedene Dinge sind und daC auch die wertvollen
j^ersonlichen QUalitaten nicht jenseits des von Bediirfnissen der
verschiedensten Art erfiillten und auf ihre Befriedigung be-
dachten seelischen Apparates stehen.
3 ) Bucharin hat in seiner „Theorie des historischen Materialismus'* dem
Problem der Psychologie ein besonderes Kapitel gewidmet. Er erklart
darin vollkommen richtig, dafi die Psychologie einer Klasse nicht identisch
ist mit ihrem „Interesse", worunter er ihre realen, okonomischen Inter-
essen versteht; daB aber immer die Psychologie der Klasse aus ihrer oko-
tlber Methode und Aufgabe einer analytischen Sozialpsychologie 49
richtig, worauf oben schon hinge wiesen wurde. daB der gesellschaftliche
ProzeB auch ohne Psychologie aus der Kenntnis der okonomischen und
von ihnen abhangigen sozialen Krafte verstanden werden kann. Da
ja aber nicht die gesellschaftlichen Gesetze es sind, welche handeln,
sondern lebendige Menschen, d. h. da die okonomischen und sozialen
Notwendigkeiten sich durch das Medium nicht nur des ruenschlichen
rationalen Denkens, sondern vor allem des menschlichen Trieb-
apparates, seiner libidinosen Krafte, durchsetzen, ergibt sich folgendes :
einmal ist die menschliche Triebwelt eine Naturkraft, die gleich andern
(also etwa Bodenfruchtbarkeit, Bewasserung usw.) unmittelbar zum
Unterbau des gesellschaftlichen Prozesses gehort und einen wichtigen
naturalen, sich unter dem EinfluB des gesellschaftlichen Prozesses
veranderndenFaktordarstellt, dessen Kenntnis also zum vollstandigen
Verstandnis des gesellschaftlichen Prozesses notwendig ist; weiter-
hin, daB die Produktion und Wirkungsweise der Ideologien nur
aus der Kenntnis des Funktionierens des Triebapparates richtig
verstanden werden kann; endlich, daB beim Auftreffen der oko-
nomisch bedingenden Faktoren auf dieses Medium, die Triebwelt,
gleichsam gewisse Brechungen entstehen , d . h . daB dure h die
Eigenart der Triebstruktur sich faktisch der soziale ProzeB, vor
allem im Tempo, anders — rascher oder langsamer — voll-
zieht, als dies bei theoretischer Vernachlassigung des psychischen
Faktors zu erwarten ist. Es ergibt sich also aus der Verwendung der
Psychoanalyse innerhalb des historischen Materialismus eine Ver-
feinerung der Methode, eine Erweiterung der Kenntnis der im gesell-
schaftlichen ProzeB wirksamen Krafte, eine noch groBere Sicherheit
sowohl im Verstandnis historischer Ablaufe als in der Prognose kiinf-
nomisch- sozialen Rolle verstanden werden muC. Er erwahnt als Beispiel
Situationen, wo eine Verzweiflungsstimmung die Massen oder Gruppen nach
einer groflen Niederlage im Klassenkampf erfafit. ,,Dann ist ein Zusammen*
hang mit dem Klasseninteresse nachweisbar, aber dieser Zusammenhang
ist eigentumlicher Art: der Kampf wurde von verborgenen Triebfedern
derlnteressen (gesperrt E. F.) gefiihrt, aber nun ist die Armee der Kampf er
geschlagen; auf diesem Boden entsteht die Zersetzung, die Verzweiflung. es
beginnt das Hoffen auf ein Wunder, das Predigen der Menschenflueht, die
Blicke richten sich gen Himmel." Bucharin fahrt dann fort ; ,,\Vir sehen also,
daB bei der Betrachtung der Klassenpsychologie wir es mit einer wiederum
sehr komplizierten Erscheinung zu tun haben, die sich keineswegs auf das
nackte Interesse allein zuriickf iihren laflt, die aber stets durch jenes konkrete
Milieu zu erklaren ist, in das die betreffende Klasse geraten ist." Er spricht
dann weiterhin auch von den ideologischen Prozessen als von einer besonderen
Art der gesellschaftlichen Arbeit. Aber da ihm eine entsprechende Psychologie
nicht zur Verfiigung steht, kommt er nicht weiter als eben bis zu dieser
Feststellung, kann es ihm nicht gelingen, die Art dieses Arbeitsprozesses
zu verstehen.
50 Erich Fromm
tigen gesellschaftlichen Geschehens und speziell das vollkommene Ver-
standnis der Produktion der Ideologien.
Der Grad der Fruchtbarkeit einer psychoanalytischen Sozial-
psychologie hangt natiirlich ab von dem Grad der Bedeutung, den die
libidinosen Krafte im gesellschaftlichen ProzeB haben. Eine auch nur
einigermaBen vollstandige Untersuchung miiBte weit uber den Rahmen
dieses Aufsatzes hinausfuhren. Wir begmigen uns deshalb an dieser
Stelle mit einigen andeutenden grundsatzlichen Bemerkungen.
Wenn man fragt, durch welche Krafte eine bestimmte Gesellschaft
in ihrer Stabilitat gehalten, durch welche andererseits diese Stabilitat
erschuttert wird, so sieht man, daB es zwar die okonomischen Be-
dingungen, die gesellschaftlichen Widerspriiche sind, die liber Stabili-
tat oder Zerfall einer Gesellschaft entscheiden, daB aber der Faktor,
der auf der Basis dieser Bedingungen ein iiberaus wichtiges Element
in der gesellschaftlichen Struktur darstellt, die in den Menschen wirk-
samen libidinosen Tendenzen sind. Gehen wir zunachst von einer
relativ stabilen gesellschaftlichen Konstellation aus. Was halt die
Menschen zusammen, was macht gewisse Solidaritatsgefuhle, was
gewisse Einstellungen der Unter- und Uberordnung mOglich ? GewiB,
es ist der auBere Machtapparat (also Polizei, Justiz, Militar usw.), der
die Gesellschaft nicht aus den Fugen gehen laBt. GewiB, es sind die
zweckrationalen, egoistischen Interessen, die zur Formierung und
Stabilitat beitragen. Aber weder der auBere Machtapparat noch die
rationalen Interessen wurden ausreichen, urn das Funktionieren der
Gesellschaft zu garantieren, wenn nicht die libidinosen Strebungen
der Menschen hinzukamen. Es sind die libidindsen Krafte der
Menschen, die gleichsam den Kitt formieren, ohne den die Gesell-
schaft nicht zusammenhielte, und die zur Produktion der groBen ge-
sellschaftlichen Ideologien in alien kulturellen Spharen beitragen.
Verdeutlichen wir dies an einer besonders wichtigen gesellschaft-
lichen Konstellation, am Verhaltnis der Klassen zueinander. In der
uns bekannten Geschichte herrscht eine Minoritat iiber die Majoritat
der Gesellschaft. Diese Klassenherrschaft war nicht der Erfolg von
List und Betrug, wie es etwa die Aufklarung darstellt, sondern sie
war notwendig und bedingt von der Okonomischen Gesamtsituation
der Gesellschaft, vom Stand der Produktivkrafte. So erscheint etwa
Necker „dasVolk durch Eigentumsgesetze verdammt, immer nur das
Allernotwendigste fiir seine Arbeit zu bekommen". Die Gesetze
werden als SchutzmaBregeln der Besitzenden gegen die Besitzlosen
angesehen. Sie seien, so schreibt Linguet, gewissermaBen „eine Ver-
tlber Methode und Aufgabe einer analytischen Sozialpsychologie 51
schworung gegen den zahlreichsten Teil des Menschengeschlechts,
gegen den dieser nirgends und auf keine Art Hilfe finden konne'' 1 ).
Die Aufklarung hat das Abhangigkeitsverhaltnis beschrieben und
kritisiert, wenn sie auch seine okonomische Bedingtheit nicht er-
kannte. In der Tat entspricht die Feststellung der Herrschaft einer
Minoritat dem geschichtlichen Verlauf . Welches sind aber die Fak-
toren, die diesem Abhangigkeitsverhaltnis Bestand verleihen ?
Es sind wohl in erster Reihe die Mittel physischen Zwangs, und es
sind bestimmte Gruppen, die mit der Handhabung dieser Mittel be-
auftragt sind, aber daneben gibt es noch einen anderen wichtigen
Faktor: die libidinosen Bindungen, Angst, Liebe, Vertrauen, die die
Seelen der Majoritat in ihrem Verhaltnis zur herrschenden Klasse
erfiillen. Diese seelische Einstellung ist aber keine willkurliche, zu-
fallige, sie ist der Ausdruck der libidinosen Anpassung der Menschen
an die okonomisch notwendigen Lebensbedingungen. Da und so-
lange diese die Herrschaft einer Minoritat iiber eine Majoritat not-
wendig machen, paBt sich auch die Libido dieser okonomischen
Struktur an und wird damit selbst zu einem das Klassenverhaltnis
stabilisierenden Moment.
tjber der Anerkennung der okonomischen Bedingtheit der libi-
dinosen Struktur darf aber die Sozialpsychologie nicht vergessen, die
psychologische Basis dieser Struktur zu untersuchen; d. h. es ist
nicht nur zu erforschen, warum diese libidinose Struktur notwendig
ist, sondern auch wie sie psychologisch moglich ist, durch welche
Mechanismen sie funktioniert. Bei der Untersuchung dieser Wurzeln
der libidinosen Bindung der Majoritat an die herrschende Minori-
tat wird etwa die Sozialpsychologie feststellen, daB diese Bindung
eine Wiederholung bzw. eine Fortsetzung der seelischen Haltung
ist, die diese erwachsenen Menschen als Kinder zu ihren Eltern,
speziell zu ihrem Vater gehabt haben (innerhalb der biirgerlichen
Familie) 2 ). Es handelt sich urn eine Mischung von Bewunderung,
Angst, Glauben an die Kraft, Klugheit und guten Absichten des
Vaters, d. h, affektiv bedingte Uberschatzung seiner intellektuellen
und moralischen Qualitaten, wie wir sie beim Kind im Verhaltnis zum
Vater wie beim Erwachsenen innerhalb der patriarchalischen Klassen-
gesellschaft im Verhaltnis zum Angehorigen der herrschenden Klasse
finden. Hiermit eng verkniipft sind gewisse moralische Prinzipien,
x ) Zitiert nach Griinberg in den „Verhandlungen des Vereins fur Sozial-
politik" in Stuttgart 1924, S. 31.
2 )Es darf aber nicht vergessen werden, daB dieses bestimmte Vater -Kind -
Verhaltnis seinerseits selbst gesellschaftlich bedingt ist.
52 Erich Fromm
die es den Armen vorziehen lassen zu leiden, als ,,Unrecht" zu tun,
die ihn glauben lassen, der Sinn seines Lebens sei Gehorsam und
Pflichterfullung im Dienste der Machtigen usf. Auch diese flir die
soziale Stabilitat so iiberaus wichtigen ethischen Vorstellungen sind
das Produkt bestimmter affektiver, emotionaler Beziehungen zu
denjenigen, die diese Vorstellungen inaugurieren und vertreten.
Selbstverstandlich wird es nicht dem Zufall iiberlassen, ob solche
Vorstellungen entstehen oder nicht . Vielmehr dient ein ganz wesentlicher
Teil des Kulturapparates dazu, die sozial geforderte Haltung syste-
matise]! und planmaBig zu schaffen. Die Darstellung der Rolle, die
das gesamte Erziehungswesen oder auch z. B die Strafjustiz hierbei
spielen, ist eine wichtige Aufgabe der Sozialpsychologie 1 ).
Wir haben die libidinosen Beziehungen zwischen der herrschenden
Minoritat und der beherrschten Majoritat herausgegriffen, weil dieses
Verhaltnis der soziale wie psychische Kern jeder Klassengesell-
schaft ist. Aber auch alle andern Beziehungen innerhalb der Gesell-
schaft tragen ihr besonderes libidinOses Geprage. Etwa die Be-
ziehungen der Angehorigen der gleichen Klasse weisen eine andere psy-
chische Farbung innerhalb des Kleinburgertums als innerhalb des
Proletariats auf , die libidin6se Beziehung zum politischen Fiihrer ist
psychologisch anders strukturiert beim seine Klasse zwar fuhrenden,
aber sich mit ihr identifizierenden und ihren Wunschen dienenden,
proletarischen und anders bei dem der Masse als starker Mann,
als machtiger, vergroBerter pater familias gegenuberstehenden, kom-
mandierenden Fiihrer 2 ).
1 ) Vgl, Fromm, Zur Psychologie des Verbrechers und der strafenden Ge-
sellschaft. Imago, XVII, 12. — Der Kulturapparat dient auch nicht nur
dazu, die libidinosen Krafte (speziell die praegenitalen und die Partial-
triebe) der Menschen in bestimmte, gesellschaftlich erwiinschte Richtungen
zu lenken, sondern auch, die libidinosen Krafte so weit zu schwachen, dafi
sie nicht zu einer Gefahr fur die gesellschaftliche Stabilitat werden. In
dieser Abdampfung der libidinosen Krafte, bzw. ihrer Zuriicklenkung auf das
praegenitale Gebiet, ist auch ein Grund der Sexualmoral gewisser Gesell-
schaften zu finden.
2 ) Freud hat in seiner „Massenpsychologie und Ich-Analyse tc gerade auf
die libidinosen Momente des Verhaltnisses zum Fiihrer hingewiesen. Er hat
aber „den Fiihrer" abstrakt genommen, wie er „die Masse 4 ' abstrakt nimmt,
d. h. ohne Riicksicht auf ihre konkrete Situation. Dadurch bekommt auch
die Darstellung der psychischen Vorgange eine Allgemeinheit, die der Wirk-
lichkeit nicht entspricht, bzw. es wird ein bestimmter Typ der Beziehung
zum Fiihrer zum allgemeinen gestempelt. Auch wird iiberhaupt das ent-
scheidende Problem ^der Sozialpsychologie, das Verhaltnis der Klassen, durch
ein sekundares, das Verhaltnis Masse-Fiihrer ersetzt. Es bleibt aber be-
merkenswert, d&Q Freud in dieser Arbeit die die Masse herabsetzenden
Tendenzen der biirgerlichen Sozialpsychologen feststellt und seinerseits
nicht teilt.
Tiber Methode und Aufgabe einer analytischen Sozialpsychologie 53
Entsprechend der Mannigfaltigkeit der moglichen libidinosen Be-
ziehungen herrschen auch tatsachlich die allerverschiedensten Arten
gefiihlsmaBiger Bindungen innerhalb der Gesellschaft. Ihre Be-
schreibung und Erklarung ist an dieser Stelle auch nur andeutungs-
weise ganz unmoglich. Es ist dies eine Hauptaufgabe einer analy-
tischen Sozialpsychologie. Nur soviel mu6 gesagt werden, daB jede
Gesellschaft, so, wie sie eine bestimmte okonomische und eine soziale,
politische und geistige Struktur hat, auch eine ihr ganz spezifische
libidindse Struktur hat. Die libidinOse Struktur ist das Produkt
der Einwirkung der sozial-okonomischen Bedingungen auf die Trieb-
tendenzen, und sie ist ihrerseits ein wichtiges bestimmendes Moment
ftir die Gefuhlsbildung innerhalb der verschiedenen Schichten der
Gesellschaft wie auch fur die Beschaffenheit des ,,ideologischen
Uberbaus". Die libidinose Struktur einer Gesellschaft ist das
Medium, in dem sich die Einwirkung der Okonomie auf die eigent-
lich menschlichen, seelisch-geistigen Erscheinungen vollzieht.
Selbstverstandlich bleibt die libidindse Struktur einer Gesellschaft
so wenig konstant wie ihre okonomische und soziale. Sie hat aber eine
relative Konstanz, solange die Gesellschaftsstruktur in einem ge-
wissen Gleichgewicht ist, d. h. also in den relativ konsolidierten
Phasen der gesellschaftlichen Entwicklung. Mit dem Wachsen der
objektiven Widerspriiche innerhalb der Gesellschaft, mit der be-
ginnenden starkeren Zersetzung einer bestimmten Gesellschaftsform
treten auch gewisse Veranderungen in der libidinosen Struktur der
Gesellschaft ein ; traditionelle, die Stabilitat der Gesellschaft erhaltende
Bindungen verschwinden, traditionelle Gefiihlshaltungen andern sich.
Libidinose Krafte werden zu neuen Verwendungen frei und verandern
damit ihre soziale Funktion. Sie tragen nun nicht mehr dazu bei, die
Gesellschaft zu erhalten, sondern sie fuhren zum Aufbau neuer Ge-
sellschaftsformationen, sie horen gleichsam auf, Kitt zu sein und
werden Sprengstoff.
Kehren wir noch einmal zu der am Eingang diskutierten Frage-
stellung zuruck, dem Verhaltnis der Triebe zu den Lebensschicksalen,
also den aufieren Lebensbedingungen des Menschen! Wir hatten ge-
sehen, daft die analytische Personalpsychologie die Triebentwicklung
als Produkt der aktiven und passiven Anpassung der Triebstruktur
an die Lebensbedingungen ansieht. Das Verhaltnis zwischen der
libidinosen Struktur der Gesellschaft und ihren okonomischen Be-
dingungen ist prinzipiell genau das gleiche. Es handelt sich um
einen Prozefi der aktiven und passiven Anpassung der libidinosen
54 Erich Fromm, t)ber Methode u. Aufgabe einer analyt. Sozialpsychologie
Struktur der Gesellschaft an die Okonomischen Bedingungen. Die
Menschen, eben getrieben von ihren libidinosen Impulsen, verandern
ihrerseits die okonomischen Bedingungen, die veranderten okono-
mischen Bedingungen bewirken, daB neue libidinose Strebungen und
Befriedigungen entstehen usf . Entscheidend ist, daB alle diese Ver-
anderungen in letzter Instanz auf die okonomischen Bedingungen
zuruckgehen, daB sich die Triebregungen und Bedurfnisse im Sinne
der okonomischen Bedingungen, d. h. des jeweils Moglichen bzw.
Notwendigen verandern und anpassen.
Innerhalb der Auffassung des historischen Materiaiismus findet
die analytische Psychologie eindeutig ihren Platz. Sie untersucht
einen der im Verhaltnis Gesellschaft — Natur wirksamen naturlichen
Faktoren, die menschliche Triebwelt, die aktive und passive Rolle,
die sie innerhalb des gesellschaftlichen Prozesses spielt. Sie untersucht
damit zugleich einen entscheidenden zwischen der okonomischen
Basis und der Ideologiebildung vermittelnden Faktor. Die analy-
tische Sozialpsychologie ermoglicht dadurch das voile Verstandnis
des ideologischen Uberbaus aus dem zwischen Gesellschaft und Natur
sich abspielenden ProzeB.
Kurz zusammengefafit ist das Ergebnis dieser Untersuchung iiber
Methode und Aufgabe einer psychoanalytischen Sozialpsychologie:
Die Methode ist die der klassischen Freudschen Psychoanalyse,
d. h. auf sozialePhanomene ubertragen: Verstandnis dergemeinsamen,
sozial relevanten seelischen Haltungen aus dem ProzeB der aktiven
und passiven Anpassung desTriebapparates an die sozial-Okonomischen
Lebensbedingungen der Gesellschaft.
Die Aufgabe einer psychoanalytischen Sozialpsychologie liegt
zunachst in der Herausarbeitung der sozial wichtigen libidinosen
Strebungen, mit anderen Worten in der Darstellung der libidinosen
Struktur der Gesellschaft. Ferner hat die Sozialpsychologie die
Entstehung dieser libidinosen Struktur und ihre Funktion im gesell-
schaftlichen ProzeB zu erklaren. Die Theorie, wie die Ideologien
aus dem Zusammenwirken von seelischem Triebapparat und sozial-
okonomischen Bedingungen entstehen, wird dabei ein besonders
wichtiges Stuck sein.
Die Wert-Preis-Transformation bei Marx und das
Krisenproblem.
Von
Henryk Grossmann (Frankfurt a. M.).
I. Die konkrete Wirklichkeit als Objekt und Ziel der
Marxschen Erkenntnis.
Die Aufgabe aller Wissenschaft besteht in der Erforschung und
dem Verstandnis der konkret gegebenen Totalitat der Phanomene,
ihres Zusammenhanges und ihrer Veranderungen. Die Schwierigkeit
dieser Aufgabe liegt darin, daB die Phanomene nicht unmittelbar
mit dem Wesen der Dinge zusammenf alien. Die Erforschung des
VVesens bildet die Voraussetzung fur die Erkenntnis der Erscheinungs-
welt. Allein wenn Marx im Gegensatz zur Vulgarokonomie das
,,verborgene Wesen" und den ,,inneren Zusammenhang" der oko-
nomischen Realitat erkennen will (Marx, Kapital III 2, S. 352 1 )), so
besagt das nicht, dafi ihn die konkreten Erscheinungen nicht inter-
essieren. Im Gegenteil! Unmittelbar sind dem BewuBtsein nur die
Erscheinungen gegeben, woraus sich — schon rein methodologisch —
ergibt, daB man nur durch die Analyse der Erscheinungen zu ihrem
verborgenen wesentlichen „Kern" gelangen kann (vgl. Marx,
Kapital, III 1, S. 17, 22).
Aber die konkreten Erscheinungen sind fur Marx nicht nur
deshalb wichtig, weil sie Ausgangspunkt und Mittel fur die Erkenntnis
der ,,wirklichen Bewegung" sind, sondern sie selbst sind es, die Marx
letzten Endes in ihrem Zusammenhang erkennen und verstehen will.
Denn keinesfalls will er sich — unter Ausschaltung der Phanomene
■ — lediglich auf die Erforschung des ,,Wesens" beschranken. Vielmehr
hat das erkannte Wesentliche die Funktion, uns zu befahigen, die
konkreten Erscheinungen zu begreifen. Deshalb ist Marx beimiht,
,,das Gesetz der Phanomene", das sie beherrscht, also ,,das Gesetz
ihrer Veranderungen" zu finden. (Nachwort zur 2. Ausg. d. ,, Kapital".)
Unverstandlich und ,, prima facie abgeschmackt" sind nach Marx
nur die Phanomene an sich, ohne Zusammenhang mit dem ,,ver-
2 ) Im folgenden werden der I. und der III. Band des Marxschen ,, Kapital"
nach der dritten, der II. Band nach der ersten Auflage, ,,Theorien iiber den
Mehrwert'* als „Mehrwert" zitiert.
56 Henryk Grossraann
borgenen Wesen" der Dinge. Aber es ware ein verhangnisvoller
Fehler der okonomischen Wissenschaft, wenn sie — in den umge-
kehrten Irrtum der Vulgarokonomie verfallend — nun in der Analyse
bei dem gefundenen ,,verborgenen Wesen" der Dinge verbliebe, ohne
von ihm her den Riickweg zur konkreten Erscheinung, urn
deren Erklarung es sich doch handelt, zu finden, d. h. ohne die
vielen Vermittlungen zwischen Wesen und Erscheinungsform
zu rekonstruieren ! Deshalb sieht auch Marx in diesem Wege vom
Abstrakten zum Konkreten ,,offenbar die wissenschaftlich richtige
Methode". Hier ,,fuhren die abstrakten Bestimmungen zur Re-
produktion des Konkreten im Wege des Denkens", weil „die
Methode, vom Abstrakten zum Konkreten aufzusteigen, nur die
Art fur das Denken ist, sich das Konkrete anzueignen, es als
einKonkretesgeistigzureproduzieren". (Einltg. z. Kritik d. Polit.
Okonomie, S. XXXVI).
An einem konkreten Beispiel zeigt Marx, daB es nicht geniigt, die
in der industriellen Produktion geschaffenen Werte auf das allgemeine
Gesetz, d. h. darauf zuruckzufiihren, ,,daB die Werte der Waren be-
stimmt sind durch die in ihnen enthaltene Arbeitszeit". Denn die
empirischen Vorgange in der Zirkulationssphare, z. B. der praktisch
sichtbare EinfluB des Kaufmannskapitals auf die Warenpreise, zeigt
..Phanomene, die ohne sehr weitlaufige Analyse der Mittel-
glieder eine rein willkurliche Bestimmung der Preise voraus-
zusetzen scheinen", so daB der Schein entsteht, „als ob der Zirku-
lationsprozeB als solcher die Preise der Waren bestimme, unabhangig
(innerhalb gewisser Grenzen) vom ProduktionsprozeB", also von der
Arbeitszeit. Um also das Illusorische dieses Scheins nachzuweisen
und den , } inneren Zusammenhang" zwischen dem Phanomen und
dem ..wirklichen Vorgang" herzustellen — was ,,ein sehr verwickeltes
Ding iind eine sehr ausfuhrliche Arbeit ist" — , ,,ist es ein Werk der
Wissenschaft, die sichtbare, bloB erscheinende Bewegung auf die
inner e wirkliche Bewegung zu reduzieren" (Kapital, III 1 ?
S. 297), ,,ganz wie die scheinbare Bewegung der Himmelskorper
nur dem verstandlich, der ihre wirkliche, aber sinnlich nicht wahr-
nehmbare Bewegung kennt" (Kapital, I, S. 314).
Das entscheidend wichtige „Werk der Wissenschaft" ist also, die
,,Vermittlungen", die „Mittelglieder" zu finden, die von dem Wesen
zum konkreten Phanomen fiihren, da ohne diese Mittelglieder die
Theorie, d. h. das „Wesen" der Dinge im Widerspruch zur kon-
kreten Wirklichkeit stunde. Mit Recht verspottet Marx solche
Die Wert-Preis-Transformation bei Marx und das Krisenproblem 57
„Theoretiker", die sich in wirklichkeitsfremden Konstruktionen ver-
lieren. Nur „der Vulgus hat daher geschlossen, dafl die theoretischen
Wahrheiten Abstraktionen sind, die den wirklichen Ver-
haltnissen widersprechen" (Mehrwert, II 1, S. 166).
Diesem methodologischen Grundgedanken Marxens entspricht.
auch, wie ich dies bereits gezeigt habe 1 ), der Aufbau des Marxschen
,,Kapital" und das darin angewandte „Armaherungsverfahren", das
seinen pragnantesten Ausdruck in der Konstruktion des Marxschen
Reproduktionsschemas gefunden hat. Unter Anwendung zahlreicher
vereinfachender Annahmen wird dort zunachst die „Reise" vom Kon-
kreten zum Abstrakten unternommen. Es wird von der gegebenen
Erscheinungswelt, von den konkreten Teilformen, in denen der Mehr-
wert in der Zirkulationssphare auftritt (Unternehmergewinn, Zins,
Handelsprofit usw.), abgesehen und die ganze Analyse des I. und
II. Bandes des ,, Kapital" auf den Wert und Mehrwert als
Ganzes, auf ihre Schopfung und ihre GrOJBen variation im Produk-
tions- und AkkumulationsprozeB konzentriert. Dabei wird der ,,dem
ZirkulationsprozeB angehorige Schein" (K. I, S. 600) ausgeschaltet.
Bestand die Aufgabe der Analyse im I. und II. Band des ,, Kapital"
darin, die SchOpfung des Mehrwerts als das Wesen des okono-
mischen Gesamtprozesses zu erforschen, so gait es nachher — und
das bildet, wie dies Marx ausdrucklich betont, gerade die Aufgabe
und den Inhalt des III. Bandes — , den „inneren Zusammenhang"
zwischen dem aufgedeckten „Wesen" und seiner Erscheinungsf orm :
den empirisch gegebenen Formen des Mehrwerts, herzustellen, d. h.
,,die konkreten Formen aufzufinden und darzustellen,
welche aus dem BewegungsprozeB des Kapitals als Ganzes
betrachtet hervorwachsen. In ihrer wirklichen Bewegung treten
sich die Kapitale in solchen konkreten Formen gegeniiber"
(Kapital, III 1, S. 1).
Hier, im III. Bande werden daher die fruher gemachten verein-
fachenden Voraussetzungen (z. B. der Verkauf der Waren zu ihren
Werten, die Ausschaltung der Zirkulationssphare und der Konkurrenz,
die Behandlung des Mehrwerts in seiner Totalitat und unter Aus-
schaltung der Teilformen, in die er sich spaltet usw.) fallen gelassen
*) H. Grossmann, Das Akkumulations- und Zusammenbruchsgesetz des
kapitalistischen Systems, Leipzig 1929, S. Vlff. — „Die Anderung des ur-
spriinglichen Aufbauplans des Marxschen , Kapital' und ihre Ursachen"
(Arch. f. d. Gesch. d. Sozialismus, Jahrg. XIV, 1929). — ,,Die Goldproduk-
tion im Reproduktionsscherna v. Marx und Rosa Luxemburg", Festschrift
fur C. Grunberg, Leipzig 1932, S. 152.
58 Henryk Grossmann
und nachtraglich, in dieser zweiten Etappe des Annaherungs-
verfahrens, schrittweise die bisher vernachlassigten Vermittlungen
beriicksichtigt und die konkreten Profitformen, wie sie in der
empirischen Wirklichkeit sichtbar sind (Grundrente, Zins, Handels-
profit usw.), behandelt. Erst dadurch wird der Kreis der Marxschen
Analyse geschlossen und der Nachweis erbracht, daB die Arbeitswert-
theorie keine wirklichkeitsfremde Konstruktion ist, daB sie vielmehr
tatsachlich das „Gesetz der Phanomene", d. h. die Grundlage bildet,
die uns befahigt, die reale Welt der Erscheinungen zu erklaren.
Mit nicht mifizuverstekender Klarheit wird dieser methodologische
Grundgedanke formuliert, wenn Marx sagt: ,,Wir hatten es in Buch I
und II nur mit denWerten derWaren zu tun" . . . „ Jetzt", d.h. im
III. Buch, .,hat sich der Produktionspreis als eine verwandelte
Form des Werts entwickelt." (Kapital, III 1, S. 142). — „Die Ge-
staltungen des Kapitals, wie wir sie in diesem (dritten) Buch ent-
wickeln, nahern sich also schrittweise der Form, worin sie
aufderOberflache der Gesellschaf t, in der Aktion der verschiedenen
Ka pit ale aufeinander, der Konkurrenz, und im gewohnlichen Be-
wuBtsein der Produktionsagenten selbst auftreten."
II. Der Widerspruch zwischen dem Wertschema und der
Wirklichkeit.
Bildet somit, wie gezeigt wurde, die Reproduktion der konkreten
Wirklichkeit im Wege des Denkens das Ziel der Marxschen Erkenntnis,
dann ist auch die Funktion des Marxschen Reproduktionsschemas
innerhalb der Marxschen Forschungsmethode klar zu erkennen: es
beansprucht nicht, fur sich allein ein Abbild der konkreten
kapitalistischen Wirklichkeit zu sein, es ist nur ein Glied im
Marxschen Annaherungsverfahren, das, zusammen mit den verein-
fachenden Annahmen, die dem Schema zugrunde liegen, und den
nachtraglichen Modifikationen im Sinne einer progressiven Kon-
kretisierung ein unzertrennlichos Ganzes bildet. Dabei verliert jeder
dieser drei Teile fur sich allein, ohne die beiden anderen, fur die Er-
kenntnis der Wahrheit jeden Sinn und kann nur ein vorlaufiges Er-
kenntnisstadium, die erste Etappe im Annaherungsverfahren an
die konkrete Wirklichkeit, bedeuten.
Ist man sich iiber diesen Charakter des Marxschen Reproduktions-
schemas im klaren, weiB man, daB es nur ein Hilfsmittel unseres
Denkens und keine Wiedergabe konkreter Vorgange ist* dann kann
man auch iiber den Charakter der einzelnen Elemente, aus welchen das
Die Wert-Preis-Transformation bei Marx und das Krisenproblem 59
Schema aufgebaut ist — Werte, Mehrwerte, verschiedene Profitraten
in den einzelnen Produktionsspharen — keinen Zweifel haben. Wie
ich an anderer Stelle gezeigt habe, ist der Mehrwert eine realeGroBe.
(Das Akkumulations- und Zusammenbruchsgesetz, S. 196.) Dies
gilt jedoch nur fiir die Gesamtgesellschaft, fur welche die Werte
und Preise, daher auch Mehrwert und Profit, quantitativ identische
GroBen sind. Anders verhalt sich die Sache inbezugaufdieein-
zelnen Produktionsspharen. Innerhalb dieser haben wir in der
kapitalistischen Wirklichkeit nicht Werte, sondern die von ihnen
quantitativ divergierenden Produktionspreise, wir haben nicht Mehr-
wertgroBen, sondern ProfitgroBen. Kurz, die im Reproduktions-
schema vorkommenden Werte und Mehrwerte sind, quantitativ be-
trachtet, keine Wirklichkeitskategorien, sie sind nicht unmittelbar
in der Welt der kapitalistischen Wirklichkeit gegeben, sind vielmehr
aus methodologischen Gninden der Vereinfachung freigewahlte An-
nahmen, die zunachst der Wirklichkeit widersprechen. Nehmen wir
zunachst die Werte. Ist es noch nOtig, daran zu erinnern, daB bei
Marx der Verkauf der Waren zu ihren Werten nur den Charakter
einer theoretischen vorlaufigen Annahme hat, daB aber Marx nie
und nirgends behauptet, daB diese Annahme der Wirklichkeit ent-
spricht ? So wird doch im I. Band des „Kapital" ausdrucklich gesagt :
„Wir unterstellen hier also . . ., daB der Kapitalist, der die Waren
produziert, sie zu ihrem Wert verkauf t" (Kapital, I, S. 579) — ,,Wir
unterstellen, daB die Waren zu ihrem Wert verkauf t werden"
(Kapital, I, S. 530). — Auch im II. Band wird der theoretische
Charakter dieser Voraussetzung betont, indem Marx sagt: „Im
I. Buch . . . wurde unterstellt, daB der Kapitalist . . . das Produkt
zu seinem Wert verkauf t" (Kapital, II, S. 343). Aber nirgends wird
behauptet, daB diese Annahme der Wirklichkeit entspricht, vielmehr
wird das Gegenteil gesagt, daB man sich durch diese Annahme von
der Wirklichkeit entfernt und prima facie mit ihr in einen offenbaren
Widerspruch gerat. Mit ungewohnlicher Klarheit konstatiert
namlich Marx bereits im I. Band des „Kapitar ( , daB der Verkauf der
Waren zu ihren Werten nur fiir den von ihm angenommenen theo-
retischen ,, Normal verlauf" gilt, „sofern" und ,,wenn" das Phanomen
„rein" vor sich geht : ,Jn seiner r einen Form bedingt der Zirkulations-
prozeB den Warenaustausch von Aquivalenten. Jedoch gehen die
Dinge in der Wirklichkeit nicht rein zu" (Kapital, I, S. 136).
— Hier wird also der ,,reine" Vorgang der Wirklichkeit gegenuber-
gestellt. Nur im ersteren, nicht aber in der letzteren werden die Waren
60 Henryk Grossmann
zu ihren Werten ausgetauscht. In einem Brief an Kugelmann vom
11. Juli 1868 geiBelt Marx dann mit dem ihm eigentumlichen Sarkas-
mus die in der biirgerlichen Okonomie oft vorkommende Verwechs-
lung der theoretischen Annahme mit der Erfahrung. „Der Vulgar-
Okonom hat nicht die geringste Ahnung davon, daB die wirklichen
taglichen Austauschverhaltnisse und die WertgroBen nicht un-
mittelbar identisch sind."
An unzahligen anderen Stellen in alien Banden des „Kapital" und
in den ,,Theorien iiber den Mehrwert" wiederholt Marx immer wieder,
daB die Waren in der Wirklichkeit nicht zu ihren Werten, sondern zu
Produktionspreisen verkauft werden, wobei ,,die Produktions-
preise der meisten Waren von ihren Werten . . . abweichen
mussen" (Mehrwert, III, S. 92). Eben deshalb polemisiert er gegen
die Ricardosche Behauptung, daB die Waren zu ihren Werten ver-
kauft werden: ,,Das ist die erste falsche Voraussetzung . . . Die
Waren tauschen sich nur ausnahmsweise aus zu ihren Werten' 6
(Mehrwert, II 1, S. 191). Und A. Smith gegeniiber wird gesagt: —
,,Wie ich spater nachweisen werde, selbst der Durchschnittspreis der
Waren ist stets von ihrem Werte verschieden" (Mehrwert, I,
S. 162).
Was hier vom Wert gesagt wurde, gilt auch vom Mehrwert. Im
Reproduktionsschema haben wir zwar Mehrwerte, nicht aber in der
Wirklichkeit. Denn Mehrwert ist das ,,Unsichtbare", wahrend in der
Realitat des Kapitalismus nur verschiedene Profitformen wie
Unternehmergewinn, Zins, Handelsprofit, Grundrente vorkommen.
Die in jeder Produktionssphare des Schemas dargestellten Mehrwerte
sind daher nur vorlaufige Annahmen, die der Wirklichkeit nicht ent-
sprechen. Dasselbe gilt endlich in bezug auf die im Schema sichtbaren
Profitraten. In einem auf Werten aufgebauten Reproduktions-
schema, also unter Annahme, daB die Waren zu ihren Werten ver-
kauft werden, mussen in jeder Abteilung des Schemas verschiedene
Profitraten bestehen, wahrend doch die Erfahrung eines kon-
kurrenzbedingten kapitalistischen Systems zeigt, daB in der Wirklich-
keit eineTendenz zur Ausgleichung der verschiedenen Profit-
raten in den einzelnen Spharen zu einer allgemeinen, d. h. Durch-
schnittsprofitrate herrscht, was schon im Begriff des Produk-
tionspreises eingeschlossen ist: „Dasein und Begriff des Produktions-
preises und der allgemeinen Prof itrate, die er einschlieBt, beruhen
darauf, daB die einzelnen Waren nicht zu ihren Werten ver-
kauft werden" (Kapital, III, 2, S. 293), wie umgekehrt „die bloBe
Die Wert-Preis-Transformation bei Marx und das Krisenproblem 61
Existenz einer allgemeinen Profitrate von den Werten unterschiedene
Produktionspreise bedingt" (Mehrwert, II 1, S. 17). —
So ergibt es sich, daB das Reproduktionsschema, indem es nur
Werte, Mehrwerte und in den einzelnen Spharen verschiedene Profit-
raten aufweist, zunachst im Widerspruch zur konkreten Wirk-
lichkeit steht. Der theoretische, vorlaufige Charakter des Re-
produktionsschemas und speziell der Annahme, daB die Waren sich
zu ihren Werten austauschen, ist somit klar. Die wirklichen Vor-
gange spielen sich ganz anders als im Reproduktionsschema ab. Und
zwar handelt es sich dabei nicht etwa um zufallige, voriibergehende
Abweichungen von den im Schema dargestellten Vorgangen, die so-
mit von der Wissenschaft vernachlassigt werden durfen, sondern der
wirkliche Ablauf der Reproduktion ist wesentlich ein anderer,
als das Schema zeigt. Die Abweichungen der Preise von den
Werten, wie sie in der Wirklichkeit vorkommen, sind keine bloB
voriibergehenden Schwankungen, wie dies z. B. bei den Markt-
preisen der Fall ist, sondern die faktisch eintretende Verwandlung der
Werte in Produktionspreise „schafft dauernd Abweichungen von
den Werten*' (Mehrwert, II 1, S. 164). Im Schema werden in den
einzelnen Spharen die von ihnen produzierten Mehrwerte realisiert.
Ganz anders in der Wirklichkeit. Auf die Dauer werden nicht die
Mehrwerte, sondern der von ihnen dauernd abweichende Durch-
schnittsprofit realisiert. ,,So streben alle Kapitale, welches immer
der von ihnen selbst erzeugte Mehrwert, an Stelle dieses Mehrwertes
den Durchschnittsprofit durch die Preise ihrer Waren zu rea-
lisieren" (Kapital, III 1, S. 152).
„Es scheint also — sagt daher Marx — daB die Werttheorie hier
unvereinbar ist mit der wirklichen Bewegung, unvereinbar mit den
tatsachlichen Erscheinungen der Produktion, und daB daher
uberhaupt darauf verzichtet werden muB, die letzteren zu begreifen"
(Kapital, III 1, S. 132).
III. Die Produktionspreise und die allgemeine Profitrate
als „Regulatoren" der kapitalistischen Produktion.
Fur das Verstandnis des kapitalistischen Mechanismus geniigt es
indessen nicht, sich auf die Feststellung zu beschranken, daB das
Wertschema des Reproduktionsprozesses und die darin enthaltenen
Kategorien des Mehrwertes sowie der besonderen Profitraten in den
einzelnen Produktionsspharen der konkreten Realitat nicht ent-
sprechen. Wir mussen weiter fragen: Welche Kategorien sind dann
62 Henry k Gross mann
fur die kapitalistische Wirklichkeit maBgebend und fur die „wirkliche
Bewegung" des kapitalistischen Mechanismus entscheidend wichtig?
Die Marxsche Antwort auf diese Frage — und sie bildet den Inhalt
des III. Bandes des „Kapital u — ist bekannt. Nicht die theoretisch
angenommenen Werte, sondern die erfahrungsgemaB gegebenen Pro-
duktionspreise bilden das objektive Gravitationszentrum, um
welches die taglichen Marktpreise oszillieren. Fur die konkreten
Kapitalbewegungen sind nicht die im Schema theoretisch ange-
nommenen verschiedenen Profitraten, sondern die erfahrungs-
maBig gegebene allgemeine Durchschnittsprofitrate entscheidend
wichtig.
..Andererseits — sagt Marx — unterliegt es keinem Zweifel, daB
in der Wirklichkeit (von unwesentlichen, zufalligen und sich aus-
gleichenden Unterschieden abgesehen) die Verschiedenheit der
durchschnittlichen Profitraten fiir die verschiedenen Industriezweige
nicht existiert und nicht existieren konnte, ohne das ganze
System der kapitalistischen Produktion aufzuheben" (Ka-
pital, III 1, S. 132). Von dieser allgemeinen Profitrate sagt Marx,
sie ..sei die treibende Macht in der kapitalistischen Produktion"
(Kapital, III 1, S. 241). Dieser ,,Durchschnittsprofit ist . . . wie
es in der kapitalistischen Produktionsweise der Fall ist, als Regulator
der Produktion liberhaupt" zu betrachten (Kapital, III 2, S. 316), er ist
das ,,regelnde Gesetz . . . der kapitalistischen Gesellschaft". (Kapital,
III 2, S. 355.) Aus demselben Grunde ist fiir Marx „das Grundgesetz
der kapitalistischen Konkurrenz das Gesetz, welches die allgemeine
Profitrate und die durchsie bestimmten sog. Produktionspreise
regelt" (Kapital, III 1, S. 12). Von der Ausgleichung endlich meint
Marx, daf$ ,,die Bewegung dieser Ausgleichung (die Grundlage
ist, H. G.), worauf die ganze kapitalistische Produktion
beruht !i (Kapital, III 1, S. 422). Denn nicht die Werte, sondern die
Produktionspreise ,,sind die wirklich regulierenden Durch-
schnitts-Marktpreise", d. h. sie bilden die Basis, um welche die wirk-
lichen Marktpreise oszillieren: „Die Marktpreise steigen iiber und
fallen unter diese regulierenden Produktionspreise" (Kapital,
III 2, S. 396), ,,da nicht die Werte, sondern die von ihnen ver-
schiedenen Produktionspreise in j eder Produktionssphare die
regulierenden Durchschnittspreise bilden" (Kapital, III 2,
S. 409; vgl. Kapital, III 2, S. 181, 187, 364, 381, 396 u. ofters).
;; Regulierende Durchschnittspreise" heiBt aber nichts anderes, als
daB auf die Dauer eben der Produktionspreis und nicht der Wert die
Die Wert-Preis-Transformation bei Marx und das Krisenproblem 63
BedingungderReproduktion bildet, wie dies Marx ausdriicklich
feststellt: „Es ist tatsachlich dasselbe, was . . . Ricardo price of
production, cost of production, die Physiokraten prix necessaire
nennen, . . . weil er auf die Dauer Bedingung der Zufuhr,
der Reproduktion der Ware jeder besonderen Produktions-
sphare ist" (Kapital, III 1, S. 178).
Noch mebr aber ! Die praktische Wichtigkeit und Bedeutung der
allgemeinen Profitrate wird noch klarer hervortreten, wenn wir er-
wagen, dafi auf ihr die Gemeinsamkeit der dkonomischen
Klasseninteressen der Unternehmer beruht. Wurden sich nam-
lich die Waren zu ihren Werten austauschen, dann ware jeder Unter-
nehmer nur an der Exploitation der von ihm selbst beschaftigten
Arbeiter interessiert und sein Gewinn mit deni von ..seinen" Arbeitem
produzierten Mehrwert identisch. Erst die Venvandlung des Mehr-
werts in den Durchschnittsprofit bewirkt, ); daB jeder einzelne Kapi-
talist, wie die Gesamtheit aller Kapita listen, ... in der Exploitation
der Gesamtarbeiterklasse durch das Gesamtkapital und in dem Grad
dieser Exploitation nicht nur aus allgemeiner Klassensympathie,
sondern direkt 5konomisch beteiligt ist, weil . . . die Durch-
schnittsprofitrate abhangt von dem Exploitationsgrad der Gesamt-
arbeit durch das Gesamtkapital" (Kapital, III 1, S. 177).
Halt man sich an das Wertschema, wo der Verkauf der Waren
zu ihren Werten stattfindet, daher auch in den einzelnen Spharen
verschiedene Profitraten bestehen, so bleibt die Konkurrenz und
ihr Ergebnis — die Tatsache der regulierenden Produktionspreise —
unberiicksichtigt 1 ), und dieDurchschnittsprofitrate. also die ..treibende
Macht" — „worauf die ganze kapitalistische PrQduktion beruht" —
geht verloren!
1 ) Der Einwand Sternbergs gegen meine Wert auf fassung, dai3 sie „die
Bedeutung der Konkurrenz im Kapitalismus iibersehe" (,.Die Umw&lzung
der Wissenschaft", Berlin 1930, S. 12), stellt die Tatsachen auf den Kopf.
Nicht ich habe die Konkurrenz iibersehen, vielmehr blieb sie in der ganzen
bisherigen 30jahrigen Diskussion iiber das Akkumulations- und Krisen-
problem unberiicksichtigt. Herr Sternberg spricht zwar von der Xot-
wendigkeit, die Konkurrenz zu beriicksichtigen, tut es aber ebensowenig
wie die anderen Autoren von Tugan-Baranowsky bis Bucharin, da sie alle
mit einem Schema operieren, das nur Werte kennt. Im Begriff des Wertes
ist aber auch die Verschiedenheit der Profitraten in den einzelnen
Spharen, daher auch die Ausschaltung der Konkurrenz, eingeschlossen, da
,,erst die Konkurrenz der Kapitale in den verschiedenen Spharen den
Produktionspreis hervorbringt, der die Profitraten zwischen den verschiedenen
Spharen egalisiert" (Kapital, III 1, S. 156). Wo man die Krisen a Is pri-
mar partielle, aus der Disproportionalitat der einzelnen Spharen sich er-
gebende behandelt ■ — wie in den Arbeiten der genannten Autoren — , ist
die Beriicksichtigung der Konkurrenz, d. h. der Tendenz zur Ausgleichung
64 Henryk Grossmann
Weil aber ein solches Wertschema uns nichts liber die Produktions-
preise und den Durchschnittsprofit als Ganzes sagt und sagen kann,
so kann es selbstverstandlich ebensowenig auch die einzelnen Teil-
formendesProfits,die aus der Spaltung des Mehrwerts entstehen ,
erklaren; es ist also ungeeignet ,,die konkreten Formen . . . dar-
zustellen, welche aus dem BewegungsprozeB des Kapitals, als Ganzes
betraehtet, hervorwachsen". Die Existenz aller dieser Profitformen
ist mit dem Wertschema unvereinbar, daher auch vom Standpunkt
der ihm zugrundeliegenden Werttheorie zunachst nicht erklarbar.
Das Wertschema umfaBt namlich blofl das produktive, an der
Produktion von Wert und Mehrwert beteiligte, nicht aber das in der
Zirkulationssphare fungierende Geld- und Kaufmannskapital.
Wenn also die industriellen Produzenten die Waren zu ihren
Werten, d. h. zu „Wertpreisen", die mit den Werten quantitativ
identisch sind (Kapital, III 1, S. 153), verkaufen (wie dies im Wert-
schema geschieht), so ist die Existenz des Handelsprofits, also
der Profit des Kaufmannskapitals, das an der Produktion gar
nicht beteiligt ist, ein unlosbares Ratsel. „Prima facie erscheint der
reine, unabhangige Handelsprofit unmOglich, solange Produkte zu
ihren Werten verkauft werden." (Kapital, III 1, S. 313). „Die aus
der Betrachtung des industriellen Kapitals unmittelbar abgeleiteten
Satze iiber Wertbildung, Profit usw. passen nicht direkt aufdas
Kaufmannskapital" (Kapital III 1, S. 308). Solange wir also
innerhalb der Wert betrachtung verbleiben, solange ist zugleich ein
grofier und wichtiger Teil der Phanomene der kapitalistischen Wirk-
der Profitraten, unbedingt notwendig. Anders ist es in meinem Buche,
wo es urn die Erklarung der primar allgemeinen, saint liche Spharen zu-
gleich erfassenden t^berakkumulationskrisen geht. Fur die Gesamtgesell-
schaft „verliert die Unterscheidung der Werte von den Produktionspreisen
jede Bedeutung" (vgl. mein „Akkumulationsgesetz", S. 107 und 211), da
hier beide GroBen identisch sind.
Ebenso unrichtig ist der weitere Ein wand, daB die Wirkung der Konkurrenz
schon im Werte selbst enthalten ware, weil die Konkurrenz den Wert, d. h.
die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit, bestimme. Diese Auffassung ist
mit den wesent lichen Grundlagen der Marxschen Wertlehre absolut unver-
einbar. Tatsachlich ist die Funktion der Konkurrenz fur den Wert nicht
konstitutiv, sondern blofi deklaratorisch. Sie bestimmt nicht die gesellschaft-
lich notwendige Arbeitszeit, stellt sie vielmehr nur nachtraglich fest. Die
Konkurrenz spielt sich namlich auf dem Markt, also innerhalb der Zirkula-
tionssphare, ab. Der Wert aber wird in der Produktion geschaffen, geht
also aller Konkurrenz voraus. „Der Wert der Waren" — sagt Marx — „ist
in ihren Preisen dargestellt, bevor sie in die Zirkulation t re ten, also Vor-
aussetzung und nicht Resultat derselben'- (Kapital, I, S. 133. Ahnlich
„Zur Kritik'% S. 49). Bereits die Physiokraten Quesnay und Mercier de
la Riviere wufiten, dafl die Waren den Tauschwert besitzen, bevor sie
zum Austausch auf den Markt kommen (vgl. Marx, Kapital, I, S. 133 und
Aug. Oncken, Gesch. d. Nationalokon., Leipzig 1902, S. 370).
Die Wert-Preis-Transformation bei Marx und das Krisenproblem 65
lichkeit — der Profit des Kaufmannskapitals — speziell auch in
seiner internationalen Gestalt, d. h. die Erscheinungen des Welt-
marktes und des Welthandels unerklarfear.
Indes auch die Verwandlung der Werte (der Wertpreise) des
Schemas in Produktionspreise und die Ausgleichung der verschiedenen
Profitraten in den einzelnen Spharen des Schemas zur allgemeinen
Profitrate wiirden zur Erklarung der Existenz des Handelsgewinns
noch keinesfalls ausreichen. Denn wir hatten damit bloB die pro-
duktiven, d. h. an der Schopfung des Mehrwerts beteiligten Kapitale
bei der Bildung der allgemeinen Profitrate und der Umwandlung der
Wertpreise in Produktionspreise beriicksichtigt. Ein solches Aus-
gleichsverfahren ware somit bloB ,,die erste Betrachtung" der all-
gemeinen Profitrate, keinesfalls aber ihre ,,f ertige Gestalt' 1 (Kapital,
III 1, S. 322). Immer noch bliebe das an der Schopfung des Mehr-
werts unbeteiligte Handelskapital unberiicksichtigt. Um die Existenz
des Handelsprofits zu erklaren, ware daher eine weitere Stufe im
Annaherungsverfahren erforderlich, namlich die, daB das erste Aus-
gleichungsverfahren der pro duktiven Kapitale allein nachher durch
,,die Teilnahme des Handelskapitals an dieser Ausgleichung/*'
also durch eine Ausgleichung zweiten Grades ,,erganzt'' wird (ebenda).
Erst dadurch wird die „f ertige Gestalt" der Durchschnittsprofitrate
erreicht, nachdem die Produktionspreise nunmehr eine ,,ein-
schrankende Bestimmung" erfahren haben (Kapital, III 1, S. 269) und
weiter in ,,merkantile Preise" (Kapital, III 1, S. 298) modifiziert
werden, wodurch auch der ursprimgliche Durchschnittsprofit ,,sich
jetzt innerhalb engerer Grenzen" als vorher darstellt (Kapital, III 1,
S. 322). Wir sehen: will man die konkrete, empirisch gegebene Form
des Handelsprofits verstehen, so muB vorher das Wertschema eine
Reihe von Wandlungen im Annaherungsverfahren durchmachen.
Unter den Voraussetzungen des Wertschemas, d. h. ohne Auffindung
dieser Zwischenstufen, die von den ,,Wertpreisen" iiber die , , Pro-
duktionspreise" zu der Erscheinung der ,,merkantilen Preise" fiihren,
ware die Existenz des Handelsprofits weder moglich noch begreifbar.
Und nicht nur dies allein! Es kommt der weitere Umstand hinzu,
daB der im Wertschema dargestellte Verlauf des Akkumulations-
prozesses durch die Existenz des Handelsprofits, d. h. durch die
Umwandlung der Werte in Produktions- resp. merkantile Preise,
stark modifiziert wird.
Denn es ist ohne weiteres klar, daB jener Teil des im Wertschema
dargestellten Mehrwerts, der dem Handelskapital als Profit zufallt
66 Henryk Grossmann
und innerhalb der Zirkulationssphare akkumuliert wird (Geschafts-
gebaude der Handelsunternehmungen, Buroeinrichtungen, Be-
triebskapital usw.) einen „Abzug vom Profit des industrieUen Ka-
pitals" (Kapital, III 1, S. 270) bedeutet und „pro tanto den Umfang,
worin das vorgeschossene Kapital produktiv fungiert, vermindert"
(Kapital, II, jS. 109). Fur die Zukunft scheidet dieser Teil des Mehr-
werts aus der im Wertschema dargestellten Akkumulation des pro-
duktiven Kapitals aus und ist an der Schopfung des Mehrwerts
nicht mehr beteiligt, nimmt jedoch teil an der Verteilung des
Profits. Durch beide Tatsachen : durch die Verminderung der Aktiv-
seite und die VergrOBerung der Passivseite wird das Tempo der
Akkumulation des industriellen Kapitals pro tanto verlangsamt.
„Je groBer das Kaufmannskapital im Verhaltnis zum industriellen
Kapital, desto kleiner die Kate des industriellen Profits" (Kapital,
III 1, S. 270). Zugleich ist es klar, daB durch die Tatsache des
Handelsprofits ein Teil des Mehrwerts — vom Standpunkt R. Luxem-
burgs ein Teil des „unabsetzbaren Mehrwertrestes" — aus der Pro-
duktionssphare in die Zirkulationssphare verschoben wird. Die Um-
rechnung der Wertpreise in Produktionspreise resp. in merkantile
Preise hat somit eine Stoning aller im Wertschema errechneten
Proportionalitaten zur Folge!
Was hier vom Handelskapital gesagt wurde, gilt wortlich und aus
denselben Griinden auch fur das Geld- und Bankkapital. Auch
dieses Kapital fungiert ausschlieBlich in der Zirkulationssphare, ist
zwar an der Verteilung, nicht aber an der Produktion von Mehrwert
beteiligt. Werden die Waren zu ihren Werten verkauft, d. h. behalten
die Industriellen den ganzen Mehrwert, den sie sich zunachst an-
eigneten, dann „ware bei dieser Annahme (das) . . . Bankkapital
unmoglich", weil es keinen Profit machte 1 ).
SchlieBlich ist auf Basis des Wertschemas nicht bloB die Existenz
des Geldzinses unmoglich, sondern auch die Bewegung des Zinsf uBes
nicht verstandlich. „DerZinsfuB verhalt sich zur Profitrate ahnlich wie
der Marktpreis der Ware zu ihrem Wert. Soweit der Zinsf uB durch
die Profitrate bestimmt ist, ist es stets durch dieallgemeine Profit-
rate, nicht durch die spezifischen Profitraten, die in besonderen
Industriezweigen herrschen mogen" . . . „Die allgemeine Profitrate
erscheint daher in der Tat als empirisches, gegebenes Faktum
wieder in der Durchschnittszinsrate" (Kapital, III 1, S. 350).
x ) Brief von Engels 15. X. 1888 anNikolaion (Die Brief e von K. Marx und
Fr. Engels an Danielson, Leipzig 1929, S. 45).
Die Wert-Preis -Transformation bei Marx und das Krisenproblem 67
„In diesem Sinn", heiBt es an anderer Stelle, „kann man sagen, daB
der Zins reguliert wird . . . durch die ailgemeine Profitrate" (Kapital,
III 1, S. 344). In einem Wertschema mit seinen verschiedenen Pro-
fitraten in den einzelnen Spharen und mit seinem Gesamtmehrwert
sind weder die Existenz des ZinfuBes noch dessen Bewegungen er-
klarbar, daher auch das Bank- und Finanzkapital, also diejenige
konkrete Form des Kapitals unmoglich, der gerade Hilferding fur
die neueste Entwicklung des Kapitalismus eine entscheidend wichtige
Bedeutung zuerkennt.
Und dasselbe gilt von der Grundrente in ihrer modernen, kapi-
talistischen Form, die „nur in einer Gesellschaft existiert, deren
Basis die kapitalistische Produktionsweise ist" (Mehrwert, III,
S. 454). Aus einem Wertschema, d. h. unter der Annahme, daB
samtliche Waren zu ihren Werten verkauft werden, ist die Existenz
der Grundrente nicht erklarbar 1 ).
Aus der bisherigen Darstellung ergibt sich zur Geniige, daB fur die
Erkenntnis des konkreten Ablaufs des kapitalistischen Produktions-
prozesses unmittelbar nicht die im Reproduktionsschema dargestellten
Kategorien: Wert, Mehrwert und die verschiedenen Profitraten von
entscheidender Bedeutung sind, sondern die darin nicht erfaBten
Kategorien: Produktionspreise, Profit und seine Teil-
formen, schlieBlich die ailgemeine Durchschnittsprofitrate.
Diesen Kategorien muB somit das Primat fur die unmittelbare Er-
kenntnis der konkreten kapitalistischen Produktion zuerkannt werden,
weileben der Durchschnittsprof it der ,, Regulator" und die ,,treibende
Macht" dieser Produktion ist, und weil auf der Ausgleichsbewe-
gung verschiedener Profitraten ,,die ganze kapitalistische Bewegung
beruht".
l ) Denn die absolute Rente ist bloC ein ,,tJberprofit", d. h. ein
„UberschuB iiber den Durchschnittsprof it" (Mehrwert, III, S. 450, Mehrwert,
II 2, S. 4, Kapital, III 2, S, 174, 316). „So bildet der UberschuB dieses
Wertes (der Agrikulturprodukte) iiber den Produktionspreis die absolute
Rente. Aber damit dieser UbersehuB des Wertes iiber den Produktions-
preis (gemessen) werden konne, muB der Produktionspreis das Prius sein, also
der Agrikultur von der Industrie als Gesetz aufgezwangt werden'* (Mehrwert,
III, S. 114). — „Die Rente ist . . . absolut nicht zu erklaren, wenn derindu-
strielle Profit nicht den landwirtschaftlichen regulierte" (1. c S. 113). „Um
iiberhaupt von einem UbersehuB iiber den Durchschnittsprofit sprechen zu
konnen, muB dieser Durchschnittsprofit selbst als MaBstab und wie es in
der kapitalistischen Produktionsweise der Fall ist, als Regulator der Pro-
duktion iiberhaupt hergestellt sein" (Kapital, III 2, S. 316). Aus dem Wert-
schema, in dem dieser Regulator nicht besteht, ist daher die Existenz der ab-
soluten Grundrente unerklarbar.
68 Henryk Grossmann
Vergegenwartigt man sich diesen Sachverhalt, dann ist es klar,
daB ein Wertschema, in dem alle diese realen Kategorien fehlen, auf
denen die wirkliche kapitalistische Bewegung beruht, uns wohl die
geschichtlichen Entwicklungstendenzen, also „das allgemeine Ge-
setz der kapitalistischen Aldnimulation", wie es Marx bereits im
I. Bande des „Kapital" darstellt, zu erkennen erlaubt, aber un-
moglich imstande ist, die konkreten Bewegungsformen des
Kapitals im Wege des Denkens zu reproduzieren. Eben deshalb sind
die aus einem Wertschema gezogenen SchluBfolgerungen uber die
Proportionalitat oder Disproportionalitat der einzelnen Produktions-
spharen nicht beweiskraftig und zumindest verfruht.
IV. Das Wertschema als ein historischer und theoretischer
Ausgangspunkt.
Legt man den erfahrungsmafiig gegebenen Kategorien Produk-
tionspreis, Durchschnittsprofit und allgemeine Profitrate die Rolle
des Regulators, der treibenden Macht der kapitalistischen Produktion
bei, so drangt sich die Frage auf : welche Funktion erf iillen dann die
Werte ? Ist ein auf Werten aufgebautes Reproduktionsschema nicht
bedeutungslos, nachdem es doch kein adaquates Abbild der kapita-
listischen Warenproduktion darstellt und keine unmittelbare Wirk-
lichkeitsgeltung besitzt? Eine solche Folgerung ware verfehlt. Die
Werte behalten trotz der Realitat der Produktionspreise ihre zentrale
Bedeutung fiir den Kapitalismus, und zwar, wie Marx betont, in
doppelter Hinsicht:
1. Sie sind einmal das historische Prius, gultig fur die Epoche der
einfachen, d. h. vor kapitalistischen Warenproduktion der selb-
standigen Produzenten — Handwerker, Bauern — ,,solange die in
jedem Produktionszweig festgesetzten Produktionsmittel nur mit
Schwierigkeit aus der einen Sphare in die andere iibertragbar sind"
(Kapital, III 1, S. 156), d. h. solange fur die Kapitalwanderungen
reehtliche oder faktische Hindernisse bestehen, welche die Bildung
der allgemeinen Profitrate verhindern (Kapital, III 1, S. 292). Nur
in dieser Periode der einfachen Warenproduktion ist der Austausch
der Waren zu ihren (Markt-)Werten keine bloB theoretische An-
nahme, sondern ein tats achlic her Vorgang in dem Sinne, daB die
taglichen Schwankungen der Marktpreise sich um die Werte als
Gravitationszentrum drehen (Kapital, III 1, S. 157).
2. In der kapitalistischen Warenproduktion dagegen modi-
f iziert sich die bisherige Funktion der Werte im Austausch : die Waren
Die Wert-Preis -Transformation bei Marx und das Krisenproblem 39
tauschen sich nun au Produktionspreisen aus, die von den Werten
quantitativ verschieden sind, wobei die Werte nur noch die Funktion
des theoretischen Prius ftir die Ableitung der Produktionspreise
erfiillen. Die Produktionspreise sind der Regulator des Pro-
duktionsumfangs im Kapitalismus, sie entscheiden liber die Kapital-
wanderungen, d. h. uber die bestandige Zufuhr und Entziehung von
Kapital in den einzelnen Produktionsspharen, also iiber die Ver-
teilung des gesellschaftlichen Gesamtkapitals, sie und nicht die Werte
sind daher auch fur die Proportionality oder Dispropor-
tionalitat dieser Verteilung verantwortlich. Wahrend jedoch
die burgerliche Okonomie die Produktionspreise als Tatsache hin-
nimmt, ohne weiter ihre Entstehung zu prufen, weist Marx nach, daB
die Produktionspreise selbst aus den Werten abgeleitet werden miissen,
daB ohne eine solche Ableitung ,,die allgemeine Profitrate (und daher
auch der Produktionspreis der Ware) eine sinn- und begrifflose Vor-
stellung bbebe" (Kapital, III 1, S. 136 undMehrwert, II 1, S. 36/37).
Urn vom Durchschnittsprofit sprechen zu kdnnen, mufi man die Kom-
ponenten kennen, aus welchen der Durchschnitt berechnet wird.
„Ohne diese ist der Durchschnittsprofit Durchschnitt von nichts,
bloBes Hirngespinst. Nur noch in diesem Sinne beherrscht das
Wertgesetz (die) Bewegung der Warenpreise im Kapitalismus"
(Kapital, III 1, S. 156, Mehrwert, III, S. 91/92). Das hindert aber
nicht, daB in den einzelnen Produktionsspharen nicht die
Werte, sondern die Produktionspreise das Zentrum bilden,
um welches die taglichen Marktpreise oszillieren 1 ) und „wozu sie sich
in bestimmten Perioden ausgleichen" (Kapital, III 1, S. 158), daB
ferner die Produktionspreise und nicht dieWerte die Produktion,
ihren Umfang und die Kapitalverteilung regulieren, also gerade die-
jenigen Momente bestimmen, die ftir das Verstandnis der Krisen —
soweit sie auf die Disproportionalitat der Kapitalverteilung zuriick-
zufiihren sind — von ausschlaggebender Bedeutung sind 2 ).
*) Es ist somit unrichtig, wenn K. Diehl, scheinbar Marx entgegen-
kommend, zwar die Inkongruenz der Preise und der Werte einzelner
Waren innerhalb der Marxschen Theorie als berechtigt und notwendig an-
erkennt, dann aber behauptet: „Fiir die durchschnitt lichen Markt-
preise nimmt Marx entschieden den Arbeitswert als das Gravitations -
zentrum an." (K. Diehl, tjber das Verhaltnis von Wert und Preis im oko-
nomischen System von K. Marx, Jena 1898, S. 6 und ebenso noch in der
3. Ausgabe von „Sozialwissenschaftl. Erlauterungen zu D. Ricardos Grund-
gesetzen d. Volkswirtschaft, 1921, Bd. I. 96.)
2 ) „Der ganze kapitalistische Produktionsprozefi ist reguliert durch die
Preise der Produkte. Aber die regulierenden Produktionspreise sind
selbst wieder reguliert durch die Ausgleichung der Profitrate und die ihr
70 Henryk Grossmann
Wir sehen, der Verkauf der Waren zu ihren Werten gilt nicht fur
die kapitalistische Wirklichkeit. ,,Der Austausch von Waren zu ihren
Werten . . ." sagt Marx, ,,erfordert also eine viel niedrigere Stuf e
als der Austausch zu Produktionspreisen, wozu eine bestimmte
Hohe kapitalistischer Entwicklung notig ist" (Kapital, III 1,
S. 156). Die Ausgleichung verschiedener Profitraten einzeiner In-
dustriespharen (daher auch die Herausbildung der Produktions-
preise) gelingt dem Kapital urn so mehr, ,,je hdher die kapita-
listische Entwicklung in einer gegebenen nationalen Gesell -
schaft ist" (Kapital, III 1, S. 176 und III 1, S. 159).
Aus dem Gesagten ergibt sich, daB die Beweisfiihrung R. Luxem-
burgs und ihrer Anhanger, aber ebenso auch Hilferdings und
Otto Bauers von vornherein verfehlt sein muBte, da sie es unter-
nahmen, die KrisengesetzmaBigkeit des Kapitalismus an einem
Schema zu demonstrieren (oder zu negieren), das nur den Verkauf
.von Waren zu ihren Werten kennt, also nach Marx Ausdruck einer
,,niedrigeren Stufe" der Entwicklung, namlich der vorkapita-
listischen Warenproduktion, ist. Damit ignorierten sie das fur den
entwickelten Kapitalismus maBgebende Produktionspreisschema,
also gerade alle jene Momente, wie Produktionspreise und Durch-
schnittsprofit, die fur die Proportionality oder Disproportionalitat
der Kapitalverteilung im entwickelten Kapitalismus entscheidend
sind. Die wirklichen, den ganzen Mechanismus regulierenden Kate-
gorien werden vernachlassigt ; berucksichtigt werden dagegen Kate-
gorien, die unwirklich sind (Verschiedenheit der Profitraten) und
die — wenn sie verwirklicht waren — „das ganze System der kapita-
listischen Produktion aufheben" miiBten!
Das Unzureichende eines solchen Verfahrens ist klar. Soil der
friiher geschilderte Gegensatz zwischen der Werttheorie und den
„tatsachlichen Erscheinungen der Produktion", zwischen dem Wert-
schema und der kapitalistischen Wirklichkeit beseitigt werden, dann
darf man in der Analyse des kapitalistischen Reproduktionsprozesses
nicht bei dem Wertschema mit seinen verschiedenen Profitraten
stehen bleiben, dann muB man es tatsachlich nur als ein ,,theoretisches
Prius t( betrachten, d. h. die Werttheorie, also auch das Wertschema
nur als den Ausgangspunkt einer Analyse nehmen, von dem aus
mit Hilfe einer Reihe von Mittelgliedern die Brucke zu finden ist,
entsprechende Verteilung des Kapitals in den verschiedenen gesell-
echaftlichen Produktionsspharen. Der Profit erscheint hier also als Haupt-
faktor, nicht der Verteilung der Produkte, sondern ihrer Produktion
selbst" {Kapital, III 2, S. 419).
Die Wert-Preis-Transformation bei Marx und das Krisenproblem 71
die zu den tatsachlichen Erscheinungen, zu den Produktionspreisen
und zur allgemeinen Profitrate, fiihrt. Kurz, das Wertschema muB
in einer mehrstufigen und schrittweisen Annaherung in ein Pro-
duktionspreisschema verwandelt werden. „Es ist klar, daB die
Darstellung, Verwirklichung, Herstellung der allgemeinen Profitrate
die Verwandlung der Werte in von ihnen verschiedene
Produktionspreise ernotigt" (Mehrwert, II 1. S. 161).
Wohl beginnt Marx im II. Band des ,.Kapital" seine Analyse
der Krisenproblematik an einem Wertschema. Aber seine Beweis-
fiihrung auf dieser von der Wirklichkeit entfernten und zunachst mit
ihr im Widerspruch sich befindenden Abstraktionsstufe ist nicht und
kann nicht definitiv sein. Sie hat einen bloB vorlaufigen Charakter
und wird durch die Lehre des III. Bandes des ,,Kapital", durch die
Lehre von der Transformation der Werte in Produktionspreise, ver-
vollstandigt. Das Wertschema bildet in der Marxschen Analyse
lediglich die Keimform, die erste Etappe im Annaherungsverfahren,
die erst durch eine Reihe von Metamorphosen zur Preisform heran-
reifen muB !
Das Marxsche Wertschema beschrankt die Analyse lediglich auf
die Wert- und Mehrwertschopfung als Ganzes, d. h. in der Form,
wie sie aus dem ProduktionsprozeB hervorgehen, wobei zunachst
von der Konkurrenz und von den Einflussen der Zirkulations-
sphare auf die Verteilung dieses Mehrwerts abgesehen wird.
Nachtraglich mussen jedoch die ausgeschiedenen Elemente beriick-
sichtigt werden und daher die Analyse der Schopfung des Mehrwerts
im ProduktionsprozeB durch die Analyse seiner vermittels der Kon-
kurrenz erfolgenden Verteilung im ZirkulationsprozeB er-
ganzt werden.
Aus dem Gesagten ergibt sich fur die Krisenproblematik — ■ soweit
sie die gegenseitigen Abhangigkeits- und Proportionalitatsverhalt-
nisse der einzelnen Produktionsspharen betrifft — der folgcnde
SchluB, der zugleich auch den einzuschlagenden Forschungsweg
anzeigt.
Soil die Analyse der KrisengesetzmaBigkeit fur die kapita-
listische Realitat beweiskraftig sein, dann darf sie sich unmoglich
auf das Wertschema, auf die erste Etappe im Annaherungsver-
fahren, beschranken, sondern muB vielmehr fur alle seine Etappen
erf olgen und auch an einem Produktionspreisschema nach-
gewiesen werden.
72 Henryk Grossmann
V. Die Krisenproblematik und die Lehren des III. Bandes
des Marxschen ,,Kapital".
Das soeben formulierte Forschungsprogramm steht indes in
eklatantem Gegensatz zur tatsachlichen Geschichte der Krisen-
problematik im marxistischen Lager. „In der politischen Okonomie"
— sagt Marx — „ist die gedankenlose Tradition machtiger als in
jeder anderen Wissenschaft" (Mehrwert, III, S. 387). Wir werden
sehen, daB dies nicht bloB fur die biirgerliche Okonomie allein, sondern
ebenso auch von der politischen Okonomie mancher Marx-Epigonen
gilt. Zunachst wurde die Bedeutung der im II. Band des „Kapital"
entwickelten Reproduktionsschemata fiir die Krisenproblematik
iiberhaupt nicht erkannt. In einer 1886 in der „Neuen Zeit"
erschienenen Besprechung des II. Bandes des „Kapital" fiihrt
K. Kautsky die Griinde an, warum nach seiner Meinung
dieser Band fiir die Arbeiterklasse geringeres Interesse habe
als der erste. Fiir sie sei nur die Produktion des Mehrwerts
in der Fabrik von Wichtigkeit. Die weitere Frage, wie dieser
Mehrwert realisiert wird, interessiere mehr die Kapitalisten als
die Arbeiterklasse. Und dasselbe Urteil, zum Teil sogar mit den-
selben Worten, wiederholt kritiklos 10 Jahre- spater (1895) Ed.
Bernstein, anlaBlich des Erscheinens des III. ,,Kapital" -Bandes
in einem TJberblick liber das ganze nun zum AbschluB gelangte
Marxsche Hauptwerk. Die Praktiker der Bewegung haben oft nur
den ersten Band gelesen, die weiteren Bande durch Jahrzehnte
iiberhaupt nicht in der Hand gehabt. ,,Da Du im Loch Kapital II
und III ochsen willst", schreibt F. Engels noch am 16. III. 1895
an Viktor Adler nach Wien, „so will ich Dir zur Erleichterung
einige Winke geben." Mit Recht spricht daher Hi If erding von den
bis zum Erscheinen des Buches von Tugan-Baranowsky, 1901,
..unbeachteten Analysen des II. Bandes" (Finanzkapital, Wien,
1910, S. 303) und fiigt dann hinzu: ,,Es ist das Verdienst Tugan-
Baranowskys, auf die Bedeutung dieser Untersuchungen fiir das
Krisenproblem in seinen bekannten ,,Studien ..." hingewiesen zu
haben. Merkwiirdig ist nur, daB es erst eines solchen Hinweises be-
durfte" (ebda, S. 304).
Mit der Wendung, die seit dem Erscheinen des Tuganschen
Buches eintrat, fiel man in das entgegengesetzte Extrem.
Wurde bis dahin die Bedeutung des Reproduktionsschemas fiir das
Krisenproblem iiberhaupt nicht gesehen, so beginnt man es nun
Die Wert-Preis-Transformation bei Marx und das Krisenproblem 73
— wie ich an anderer Stelle gezeigt habe 1 ) — , in iiber-
schwenglichster Weise zu verherrlichen, man schreibt ihm eine
,,objektive, gesellschaftliche Existenz" zu und erblickt in ihm ein
exaktes Abbild des kapitalistischen Reproduktions-
prozesses, so daB aus den Verhaltnissen des Reproduktions-
schemas unmittelbar SchluBfolgerungen iiber die Vorgange in
der kapitalistischen Wirklichkeit gezogen werden! So sagt z. B.
Rosa Luxemburg: ,,Wir haben uns zu fragen, welche Bedeutung
das analysierte Schema des Reproduktionsprozesses fur die Wirk-
lichkeit hat" (Akkumulation des Kapitals., S. 76). Ihre Ant-
wort geht dahin, daB die exakten Proportionen des Marxschen
Schemas die , , allgemeine absolute Grundlage der gesellschaf t-
lichen Reproduktion" bilden, und zwar sowohl fur die kapitalistische,
als auch fiir die sozialistische, iiberhaupt jede planmaBige Produk-
tion! (1. c. S. 56, 75, 103.) In einer planmaBig geleiteten
sozialistischen Wirtschaft wiirde die Produktion exakt den Schema-
verhaltnissen entsprechen. ,,In der kapitalistischen Wirtschaft",
sagt Rosa Luxemburg weiter, ,,fehlt jede planmaBige Organisation
des Gesamtprozesses. Deshalb (! H. G.) geht in ihr auch nichts
so glatt nach der mathematischen Formel, wie es im Schema
aussieht. Der Kreislauf der Reproduktion verlauft vielmehr unter
standigen Abweichungen von den Verhaltnissen des Schemas"
(1. c. S. 76). — „Bei all diesen Abweichungen jedoch stellt das
Schema jenen gesellschaftlich notwendigen Durchschnitt
dar, um den sich jene Bewegungen vollziehen und dem sie
immer wie der zustreben, nachdem sie sich von ihm entfernt
haben" (1. c. S. 77).
Nicht anders verhalt sich die Sache bei Otto Bauer. Auch bei
ihm stellt schon das Wertschema jenen ausgeglichenen Gleich-
gewichtszustand zwischen Kapitalakkumulation und Bevolkerung
dar, um welchen der Kreislauf der wirklichen Reproduktion oszilliert.
Die Wirklichkeit zeigt zwar standige zyklische Abweichungen vom
Gleichgewichtszustand des Wertschemas, indem der Produktions-
apparat im Verhaltnis zum Bevolkerungswachstum eine Uber-
akkumulation oder Unterakkumulation aufweist. Zugleich aber be-
steht in der kapitalistischen Produktions weise eine Tendenz, welche
— wenn auch „durch Vermittlung groBer Krisen" — ,,selbsttatig
Uberakkumulation und Unterakkumulation aufhebt, die Akkumu-
l ) Die Goldproduktion im Reproduktionsschema von Marx und Rosa
Luxemburg. 1. c. S. 153ff.
74 Henry k Grossmann
lation des Kapitals immer wieder dem Wachstum der BevGlkerung
anpaBt" (Neue Zeit, 1913, Bd. I, S. 872), d. h., daB die wirkliche
Bewegung jenem theoretisch errechneten Gleichgewichts-
zustand, welcher durch das Wertschema reprasentiert
wird, zustrebt.
Im frappanten Gegensatz zu der oben entwickelten Lehre Marxens
von der regulierenden Funktion des Durchschnittsprofits und der
Produktionspreise, im Gegensatz zur Lehre, daB nicht Werte, sondern
erst ihre verwandelte Form, die Produktionspreise, das Gra-
vitationszentrum fur die Schwankungen der Marktpreise bilden,
schreiben R. Luxemburg und 0. Bauer diese Funktion den Werten
zu. Die Verhaltnisse des Wertschemas sind bei beiden nicht nur
die erste Etappe im Annaherungsverfahren wie bei Marx, sondern
sie spiegeln unmittelbar die Wirklichkeit wider.
Aus dieser Divergenz in der Auffassung des Wertschemas bei Marx
einerseits und R. Luxemburg und 0. Bauer andererseits ergeben
sich auch die weiteren Konsequenzen fiir die Analyse der Krisen-
problematik. Das im II. Band des ,,Kapital" entwickelte Repro-
duktionsschema mit seinen Werten und verschiedenen — mangels
Konkurrenz nicht ausgeglichenen — Profitraten entspricht nicht der
Wirklichkeit. Soil die Werttheorie den wirklichen Erscheinungen
nicht widersprechen, sondern sie erklaren, dann miissen die Werte —
im Einklang mit der Marxschen Lehre des III. Bandes des „Kapital"
— mit Hilfe der Konkurrenz in konkretere Produktionspreise um-
gewandelt, d. h. ,,eine Masse von Mittelgliedern" entwickelt werden,
die zur allgemeinen Profitrate, schlieBlich zu den empirisch gegebenen
Profitformen (Zins, Grundrente, Handelsgewinn) fuhren. Indem
R. Luxemburg und 0. Bauer der methodologischen, vorlaufigen
Marxschen Annahme, daB die Waren zu ihren Werten verkauft
werden, Wirklichkeitsgeltung zuerkennen, daher das Wertschema als
Widerspiegelung der Wirklichkeit betrachten, schalten sie da mit
von vornherein aus dem Kreis ihrer Problematik die Not-
wendigkeit der Umwandlung der Werte in Produktions-
preise und weiter in merkantile Preise aus. Sie verzichten auf
die Methode der fortschreitenden Konkretisierung der im
Schema dargestellten Verhaltnisse, auf die Methode zunehmender
Genauigkeit des Reproduktionsschemas. Man braucht sich
nicht erst stufenweise der Erfassung der Wirklichkeit zu nahern,
nachdem doch, nach R. Luxemburg und O. Bauer, das Schema bereits
die Wirklichkeit widerspiegelt !
Die Wert-Preis -Transformation bei Marx und das Krisenproblem 75
Es ist somit nur die logische Konsequenz dieses verhangnisvollen
Fehlers, daB fur R. Luxemburg und 0. Bauer nicht nur das Problem
der Wert-Preis-Transformation, sondern auch das damit verkniipfte
Problem der allgemeinen Profitrate, sowie das Problem der
Verwandlung des Mehrwerts in seine besonderen Profitformen
(Handelsgewinn, Zins usw.), also die ganze Lehre des III. Bandes
des Marxschen ,,Kapital" nicht existiert! Sie bleiben inner-
halb der „Keimform" des Wertschemas, bei der von der Wirklichkeit
entfemten Abstraktionsstufe, stehen, ohne die ,jMetamorphosen'\
d. h. den Weg, der zur Annaherung an die konkrete kapitalistische
Wirklichkeit fuhrt, zu betreten. DaB infolge dieser fatalen Verkennung
der Marxschen Methodik der Zusammenhang des Problems der Wert-
Preis-Transformation mit dem Krisenproblem nicht gesehen und nicht
behandelt wird, ist nach dem Gesagten selbstverstandlich.
Worin besteht nun dieser Zusammenhang und die spezifische
Funktion der Preisrechnung ? Um dies zu zeigen, wenden wir uns
an die Problemstellung, wie sie sich bei R. Luxemburg vorfindet.
Durch ihre kritische Analyse des Marxschen Reproduktionsschemas
gelangte sie namlich zum Ergebnis, daB innerhalb eines solchen
Schemas — soweit in dessen beiden Abteilungen verschiedene orga-
nische Zusammensetzung des Kapitals besteht — ein restloser Absatz
der Waren, somit ein Gleichgewicht, nicht moglich sei, weil ,,mit
jedem Jahre . . . ein wachsender UberschuB an Konsumtions-
mitteln entstehen muB" (1. c, S. 306). ,, Dieser unabsetzbare
Mehrwertrest in der Abteilung II wird durch die Beriicksichti-
gung der steigenden Produktivitat der Arbeit noch verstarkt, weil
diese . . . auf einen viel starkeren UberschuB unabsetzbarer Kon-
sumtionsmittel hinweist, als dies aus der Wertsumme dieses Uber-
schusses hervorgeht" (1. c, S. 308).
Unterstellen wir einmal, R. Luxemburg ware dieser Nachweis ge-
lungen. Was hatte sie damit bewiesen ? Lediglich den Umstand, daB
der ,, unabsetzbare Rest" in der Abteilung II innerhalb des Wert-
schemas entsteht, d. h. unter der Voraussetzung, daB die Waren zu
ihren Werten ausgetauscht werden. Aber wir wissen, daB diese Vor-
aussetzung der Wirklichkeit nicht entspricht. Im Wertschema, das
der Analyse R. Luxemburgs zugrunde liegt, sind in den einzelnen
Produktionsabteilungen verschiedene Profitraten, die mangels
der Konkurrenz nicht zur Durchschnittsrate ausgeglichen werden.
Auch dies widerspricht der Wirklichkeit, wo infolge der Konkurrenz
eine Tendenz zur Ausgleichung verschiedener Profitraten zur all-
76 Henryk Grossmann
gemeinen Profitrate besteht. Welche Beweiskraft fur die Wirklichkeit
haben somit die Schlufifolgerungen R. Luxemburgs — der Nachweis
ernes unabsetzbaren Konsumtionsrestes — , die aus einem Schema
abgeleitet werden, dem keine Wirklichkeitsgeltuhg zukommt ? Da
infolge der Konkurrenz die Umwandlung der Werte in
Produktionspreise und dadurch eine Neuverteilung des
Mehrwerts unter die einzelnen Industriezweige im Schema
stattfindet, wodurchnotwendigerweiseaucheineAnderung
der bisherigen Proportionalitatsverhaltnisse der einzelnen
Spharen des Schemas erfolgt, so ist es durchaus moglich und
wahrscheinlich, daB ein ,,Konsumtionsrest" im Wertschema nach-
her im Pr oduk t i on spreis schema verschwindet und umgekehrt,
daB ein urspningliches Gleichgewicht des Wertschemas sich nachher im
Produktionspreisschema in eine Disproportionalitat verwandelt. Die
Mangelhaftigkeit der Beweisfuhrung, die sich lediglich auf die Analyse
des Wertschemas beschrankt und mit Werten und verschiedenen
Profitraten, statt mit Produktionspreisen und der allgemeinen Profit-
rate operiert, ist evident. Sagt doch R. Luxemburg selbst: „Das
gesellschaftliche Gesamtkapital mit seinem Gegenstiick, dem gesell-
schaftlichen Gesamtmehrwert, sind also nicht bloB reale GroBen von
objektiver Evidenz, sondern ihr Verhaltnis, der Durchschnitts-
profit, leitet und lenkt — vermittels des Mechanismus des
Wertgesetzes — den ganzen Austausch, namlich die quanti-
tativen Austauschverhaltnisse der einzelnen Waren unabhangig
von ihren besonderen Wertverhaltnissen." Die Durchschnitts-
profitrate ist namlich die leitende Macht, „die tatsachlich jedes
Privatkapital nur als Teil des gesellschaftlichen Gesamtkapitals be-
handelt, ihm den Profit als einen ihm nach GroBe zukommenden Teil
des in der Gesellschaft herausgepreBten Gesamtmehrwertes ohne
Riicksicht auf das von ihm tatsachlich erzielte Quantum zu-
weist" (1. c, S. 50).
Nach dieser Darstellung R. Luxemburgs lenkt der Durchschnitts-
profit den ganzen Warenaustausch. Trotzdem pnift sie die Frage,
ob ein restloser Austausch moglich ist, an einem Schema, das keinen
Durchschnittsprofit kennt. Kann man sich einen groBeren Wider-
spruch vorstellen ? Wenn weiter, wie R. Luxemburg feststellt, die
Austauschverhaltnisse einzelner Waren in der konkreten Wirklichkeit
,, unabhangig von ihren besonderen Wertverhaltnissen' 4 stattfinden,
wenn jedes Kapital nicht das von ihm selbst erzeugte Quantum
Mehrwert realisiert, sondern bloB den zu seiner GroBe pro-
Die Wert-Preis-Transformation bei Marx und das Krisenproblem 77
portionalen Durchschnittsprofit erhalt, so gibt doch R. Luxem-
burg damit indirekt zu, daB ihre Theorie von der Notwendigkeit der
Realisierung des Mehrwerts falsch ist, so gibt sie indirekt zu, daB
die Waren sich nicht zu ihren Werten, sondern zu Pre is en,
namlich zu Produktionspreisen, austauschen, die von den Werten
dauernd abweichen, da es nach Marx ,,die Durchschnittsrate des
Profits ist, die allein die Produktionspreise herstellt" (Mehrwert II 1,
S. 78). Sind ja im Marxschen System gleicher Durchschnittsprofit
und von den Werten abweichende Produktionspreise korrelative
Begriffe! Es istdaher ein offenbarer logischer Widerspruch, wenn
R. Luxemburg aus ihrer eigenen Feststellung des empirischen Faktums
des Durchschnittsprofits und seiner zentralen leitenden Rolle fur den
weiteren Gang ihrer Analyse keine Konsequenzen zieht, daB sie
zwar die Existenz der Durchschnittsprofitrate anerkennt, gleichwohl
aber an der Vorstellung festhalt, daB die Waren zu ihren Werten
verkauft werden! Die oben angefuhrte Stelle ihres Buches ist auch
die einzige, wo sie vom Durchschnittsprofit und in verhiillter Weise
von den Produktionspreisen spricht. Nirgends aber wird diese Er-
kenntnis fiir die Analyse des Krisenproblems verwertet.
R. Luxemburg hatte offenbar selbst das Gefiihl, daB das Wert-
schema eine wirklichkeitsferne Konstruktion ist, wenn sie in ihrer
,,Antikritik" vom III. Bande des „Kapitar f und dessen Verhaltnis
zur Wertlehre des I. Bandes sagt: „Denn hier steht im Mittelpunkt
als eine der wichtigsten Entdeckungen der Marxschen okono-
mischen Theorie die Lehre von dem Durchschnittsprofit. Dies gibt
der W 7 erttheorie des ersten Bandes erst realen Sinn." (S. 38.)
Sie stellt somit selbst fest, daB nicht die Wertlehre des I. Bandes,
sondern erst die ^Produktionspreise" und der Durchschnittsprofit des
III. Bandes einen „ realen Sinn" haben. Aber in ihrem Buche iiber
die ,,Akkumulation" und in ihrer ,,Antikritik" werden die Produk-
tionspreise nicht einmal erwahnt und es wird an der falschen Voraus-
setzung festgehalten, daB der Austausch der Waren zwischen I (v + m)
und lie zu ihren Werten keine bloB methodologische Annahme,
sondern in der kapitalistischen Wirklichkeit ein tatsachlicher Vor-
gang ist! So sagt sie z. B., daB der Lebensmittelbedarf fiir die Ab-
teilung I des Schemas, durch das variable Kapital und den Mehrwert
dieser Abteilung ausgedriickt, aus dem Produkt der Abteilung II ,,doch
nur im Austausch gegen die gleiche Wertmenge des Produkts I
erhaltlich" ist. (Akkumulation, S. 100, 311.) Noch in ihrem letzten
posthum erschienenen Werke behauptet sie: „Alle Waren tauschen
78 Henryk Grossmann
sich gegeneinander nach ihrem Wert" (Einfiihrung in die National-
okonomie, Berlin 1925, S. 239) x ). Diese in sich widerspruchsvolle
Stellungnahme R. Luxemburgs, durch welche sie in die schlimmsten
Irrtumer des Vulgarsozialismus verfallt, ist kein Zufall. Sie
entspringt aus ihrer falschen Vorstellung von der ein fur allemal
durch die Naturgestalt des Mehrwerts bereits gegebenen Funk-
tionsbestimmung desselben, entweder als Produktionsmittel innerhalb
der Abteilung I oder als Konsumtionsmittel innerhalb der Abteilung II
zu wirken. Aus dieser funktionellen Vorausbestimmung ergibt sich
fur R. Luxemburg , daB irgendwelche Verschiebungen des Mehr-
werts (oder eines Teiles desselben) aus der Abteilung II in die Ab-
teilung I unmoglich ist. Eine solche Ubertragung des Mehrwerts
scheitert nach R. Luxemburg noch aus einem zweiten Grund,
namlich an der Gleichwertigkeit der Austauschverhaltnisse
zwischen beiden Abteilungen (Die Akkumulation, S. 311).
Mit dieser Behauptung gelangt R. Luxemburg notwendig zur
Negation des ganzen Inhalts des III. Bandes des ,,Kapital" und
speziell der dort entwickelten Lehre von den Produktionspreisen
und von der Herausbildung einer gleichen Profitrate. Ihr Wort-
zugestandnis, daB im Mittelpunkt des III. Bandes die Lehre von dem
Durchschnittsprofit, „eine der wichtigsten Entdeckungen der Marx-
schen Theorie", stent, kann den wahren Sachverhalt, daB sie die Lehre
vom Durchschnittsprofit preisgegeben hat, nicht verschleiern ; viel-
mehr wird diese Preisgabe noch dadurch unterstrichen, daB R. Luxem-
burg den einzigen Weg , auf welchem sich ein gleicher Durchschnitts-
profit herausbilden kann, als unmoglich bezeichnet. Vergegenwartigen
wir uns den Sachverhalt an dem Marxschen Schema der einfachen
Reproduktion :
I 4000c + lOOOv + 1000m = 6000 Profitrate = 20%
II 2000c + lOOOv + 1000m = 4000 Profitrate = 33%
Wir sehen, halt man an dem Wertschema, an dem Austausch von
Aquivalenten fest, also daran, daB lOOOv + 1000m der Abteilung I
sich gleichwertig gegen 2000c der Abteilung II austauschen, dann
fa lit die Marxsche Lehre von den Produktionspreisen unter den Tisch,
dann mussen in beiden Abteilungen verschiedene Profitraten be-
stehen. Die Profitrate der Abteilung I betragt 20%, die der Abteilung II
l ) Ahnlich sagt aueh E. Heimann : ,,Auf dem Markte tauschen sich Waren-
mengen gleichen Wertes." (Mehrwert und Gemeinwirtschaft, Berlin 1922,
S. 10.)
Die Wert-Preis-Transformation bei Marx und das Krisenproblem 79
33%. Wie kann sich in den beiden Abteilungen des Marxschen Sche-
mas eine gleiche Profitrate — im gegebenen Fall eine Profitrate
von 25% — herausbilden ? Es erscheint der Himveis fast banal, daB
dies nur im Wege der Herausbildung von Produktionspreisen moglich
ist, also durch den Umstand, daB die an die Abteilung II abzutretenden
Waren der Abteilung I iiber ihren Werten, dagegen die Waren der
Abteilung II, soweit sie an Abteilung I gelangen, unter ihren Werten
verkauft werden. Nur dadurch, daB die Abteilung I fur ihre (v -f m)
= 2000 Werteinheiten von der Abteilung II mehr bekommt, nam-
lich 2250 Werteinheiten, kann in beiden Abteilungen die gleiche
Profitrate entstehen. Auf diese Weise wird ein Teil des Mehrwerts
der Abteilung II in die Abteilung I im Wege des Austausches
iibertragen. Nur dadurch kann in der Abteilung I ein gegeniiber
dem ursprtinglich erzielten Mehrwert (= 1000m) groBerer Profit,
(namlich 1250) erworben werden, was bei dem ausgelegten Kapital
von 5000C eine Profitrate von 25% ausmacht. In der Abteilung II
bleibt statt des urspriinglichen Mehrwerts (= 1000m) bloB ein Profit
von 750, was beim vorgeschossenen Kapital von 3000C eine Profit-
rate von gleichfalls 25% ergibt.
DaB durch die Tendenz zur Nivellierung der Profitraten. durch die
Tatsache der Ubertragung eines Teiles des Mehrwertes aus der Ab-
teilung II in die Abteilung I die Lehre R. Luxemburgs vom ,,unab-
setzbaren Konsumtionsrest" in der Abteilung II in ihren Grundlagen
erschuttert wird, ist nach dem Gesagten ohne weiteres klar, und ihre
,,unerschutterliche Position* * (Sternberg) erweist sich als eine Seifen-
blase, die bei der Beriihrung mit der Wirklichkeit sofort platzt. Wollte
R. Luxemburg ihren Gedanken vom unabsetzbaren Konsumt ions-
rest tatsachlich beweisen, dann hatte sie diesen Nachweis nicht bloB
auf der Basis des Wertschemas, sondern weiter auch innerhalb des
Produktionspreisschemas fuhren und zeigen miissen, daB ein solcher
unabsetzbarer Rest sich auch nach Herausbildung der Durchschnitts-
profitrate notwendig ergeben muB 1 ). Einen solchen Nachweis hat sie
aber nicht gefiihrt und nicht einmal zu fuhren versucht.
1 ) In dem bekannten Reproduktionsschema Otto Bauers werden im
ersten Produktionsjahr in jeder Abteilung aus dem Mehrwert lOOOU c und
2500 v fur Akkumulationszwecke bereitgestellt. Die faktische Akkumulation
ist eine andere. Sie betragt namlich in der Abt. I mehr, und zwar 14 666 c und
3 667 v, dagegen in der Abt. II weniger, und zwar bloB 5 33-4 c und 1 333 v.
Das besagt, daB Bauer einen Teil des zur Akkumulation inAbt. II bestimmten
Mehrwerts in die Abt. I verschoben hat, ohne jedoch irgendeinen wissen-
schaftlich plausiblen Grund zur Rechtfertigung einer solchen Verschiebung
angeben zu konnen. Der Rettungsversuch Helene Bauers, ihr Hinweis, daB
80 Henryk Grossmann
Die Tendenz zur Nivellierung der Profitrate in verschiedenen
Produktionszweigen ist eine durch die Erfahrung bestatigte Beob-
achtung, die wahrend eines ganzen Jahrhunderts von Theoretikern
verschiedener wissenschaftlicher Richtungen gleichermaBen anerkannt
wurde. Als Tatsache wurde sie bereits von Ricardo und Malthus
gesehen. Auch Marx spricht von ihr als von einem ,,empirisch ge-
gebenen Faktum" (Kapital, III 1, S. 350), als von einer „praktischen
Tatsache (( (ebenda, S. 149). ,,Die Beobachtung der Konkurrenz
— der Phanomene der Produktion — zeigt, daB Kapitalien von
gleicher GroBe im Durchschnitt gleich viel Profit liefern" (Mehr-
wert III, 73). Diese Nivellierungstendenz ist auch von neueren
Theoretikern, z. B. von Bohm-Bawerk und anderen, fiir den kon-
kurrenzbedingten Kapitalismus nicht bestritten worden 1 ).
Nur in der Art der Erklarung dieser Tatsache schieden sich die
Richtungen und an der Schwierigkeit dieser Erklarung scheiterte
speziell die nachricardosche Schule, weil sie es nicht verstand, die
Tatsache der gleichen Profitrate mit der Theorie des Arbeits-
wertes in Einklang zu bringen. Hier war der Punkt, wo die historische
eine solche Verschiebung im Kreditwege erfolge, mufi als eine naive Aus-
flucht betrachtet werden. Die Verschiebungen im Kreditwege — mogen sie
in der Wirklichkeit einegrofie Rolle spielen — sind bei der theoretischen
Analyse des Reproduktionsprozesses unzuliissig. Gehort ja doch zu den
vielen vereinfachenden Voraussetzungen des Marxschen Reproduktions-
schemas auch die methodologische Annahme, daB vom Kredit abstrahiert
wird. DieAufgabe desSchemas besteht doch gerade darin, die Austausch-
beziehungen zwischen seinen beiden Abteilungen aufzuzeigen und zu priifen,
ob ein restloser Absatz moglich sei. Nachdem man bei der Problem-
losung in Schwierigkeiten geraten ist, ist es unzulassig, die urspriinglich ge-
machten Voraussetzungen nachtraglich zu andern. So konnte Fr. Sternberg
einen allzu leichten Triumph iiber Bauer davontragen. Bildete indes f iir O. Bauer
die Verschiebung eines Teils des Mehrwerts aus II nach I eine nicht zu er-
klarende Schwierigkeit, an der er gestolpert ist, so ist sie vom Standpunkt
der im Text vertretenen Auffassung nicht nur zulassig und gerechtfertigt,
sondern notwendig. Man iibersah in der bisherigen Diskussion den Umstand,
daB in den Abteilungen des Bauerschen Schemas verschiedene Profit-
raten bestehen. (In Abt. Ip = 29,4%, in Abt. lip = 38,4%.) Soil eine
gleiche, d. h. eine Durchschnittsprofitrate von 33,3% hergestellt werden,
dann miissen aus Abt. II nicht bloB (wie bei O. Bauer) 5833, namlich 4666 c
und 1167 v, sondern sogar 6667 aus Abt. II in Abt. I ubertragen werden.
Und diese "frbertragung erfolgt im Wege des Austausches! Allerdings
eines ungleiehen Austausches, bei dem die Waren beider Abteilungen nicht
zu ihren Werten, sondern zu Produktionspreisen ausgetauscht werden.
1 ) So spricht Bohm-Bawerk von der ,,als Erfahrungstatsache un-
zweifelhaft feststehenden Annahme, daB eine Nivellierung der Kapital-
gewinne stattfindet". (Kapital und Kapitalzins, 3. Aufl. 1914, I. S. 537.) —
Ebenso S. Budge: „Die Erfahrung lehrt, daB die Profitraten . . . dahin
tendieren, sich auszugleichen, daB sie mithin in dem f ingierten Gleichgewichts-
zustand des Wirtschaftsgetriebes, der ,,Statik" der Wirtschaft ausgeglichen
sind.'* (Der Kapitalprofit, Jena 1920, S. 6.)
Die Wert-Preis -Transformation bei Marx und das Krisenproblem 81
Grofitat Marxens eiiisetzte. Er hat es verstanden, durch seine Lehre
von der Divergenz zwischen den Produktionspreisen und den Werten
die Tatsache der gleichen Profitrate, die prima facie dem Arbeits-
wertgesetz widerspricht, aus diesem Wertgesetz zu erklaren. Indem
R. Luxemburg aller Erfahrung zum Trotz die Moglichkeit der Uber-
tragung eines Teiles des Mehrwerts aus Abteilung II in Abteiiung I,
also die Moglichkeit der Bildung der Produktionspreise, negiert und
daran festhalt, daB der Austausch der Waren in den einzelnen Spharen
zu ihren Werten erfolgt, vermag sie nicht vom Boden der Arbeits-
wertlehre aus die Durchschnittsprofitrate zu erklaren; obwohl sie
starr an der Wertlehre festhalt, gibt sie hier tatsachlich die Grund-
lage des Marxschen theoretischen Systems preis. Denn unter
der Voraussetzung, daB die Waren zwischen den verschiedenen Pro-
duktionsspharen sich gleichwertig austauschen, ist die Tatsache der
gleichen Profitrate nicht zu erklaren. Statt also jene falsche Voraus-
setzung vom „gleichwertigen Austausch* c zwischen beiden Schema-
abteilungen, sowie ferner von der Unmoglichkeit der Mehrwertuber-
tragung aus Abteilung II in Abteilung I fallen zu lassen, um die Tat-
sachen erklaren zu kOnnen, opfert R. Luxemburg eher die Tatsachen
und zieht es vor, an jener falschen Voraussetzung vom „gleich-
wertigen" Warenaustausch f estzuhalten ! Mit einem Federstrich wird
so die ganze Marxsche Lehre vom gleichen Durchschnittsprofit, nach
R. Luxemburg selbst „eine der wichtigsten.Entdeckungen der Marx-
schen Okonomischen Theorie", einfach aus der Welt geschafft.
VI. Statt Fortentwicklung iiber Marx hinaus — Ruckent-
wicklung zu Ricardo zuriick.
Was wir oben von der Aufrollung der Krisenproblematik durch
R. Luxemburg gesagt haben, das gilt wOrtlich in bezug auf alle
marxistischen Theoretiker, die sich mit dem Krisen- und Akkumu-
lationsproblem beschaftigt haben. Wie seltsam das auch klingen mag,
es ist dennoch eine Tatsache, daB in der ganzen bisherigen, mit dem
Buche Tugan-Baranowskys 1901 eroffneten, nunmehr 30jahrigen
Diskussion iiber die Moglichkeit eines storungslosen Verlaufs des
kapitalistischen Produktionsprozesses das eigentliche Problem — die
Krisenproblematik auf alien Stufen des Annaherungsverfahrens nach-
zuweisen — von niemandem auch nur gestellt wurde. Ob es sich um
die Neo-Harmoniker Kautsky, Hilferding und Otto Bauer oder um
Rosa Luxemburg und ihre Anhanger, oder endlich um Bucharin und
andere Theoretiker des Kommunismus handelt — sie alle haben das
82 Henryk Grossmann
Problem nur an seiner Schwelle, an Hand des Wertschemas, das Werte,
Mehrwerte und verschiedene Profitraten kennt, behandelt, statt ihre
Analyse und SchluBfolgerungen weiter auch auf Grundlage eines
Produktionspreisschemas zu erharten, eines Schemas also ?
das die regulierenden Kategorien der Produktionspreise, der Kon-
kurrenz und der allgemeinen Profitrate zeigt. Ganz unabhangig
da von, ob man sieh fur die Notwendigkeit und Zwangslaufigkeit der
Krisen im Kapitalismus ausspricht oder, wie die Neo-Harmoniker es
tun, die Moglichkeit eines krisenlosen Verlaufs behauptet, ist es klar,.
daB die aus einem Wertschema gezogenen SchluBfolgerungen voreilig
und nicht beweiskraftig sind. Wie konnte uns denn auch die Analyse
eines Wertschemas iiber die Notwendigkeit der Proportionality oder
der Disproportionalitat des Warenaustausches im Kapitalismus be-
lehren, wenn die im Wertschema so muhsam errechneten Propor-
tionalitatsverhaltnisse nachher durch die Tendenz zur Ausgleichung
der Profitraten und die dadurch bewirkte Neuverteilung des Mehrwerts
notwendig umgeworfen werden! Keiner von den genannten Theo-
retikern hat die Bedeutung und die Tragweite der Umwandlung der
Werte in die Produktionspreise fur die Krisenproblematik erkannt
und auch nur mit einem einzigen Worte erwahnt, geschweige denn
behandelt 1 ).
Die burgerliche Okonomie hat die „praktische Tatsache" (Kapital,
III 1, S. 149) der gleichen Profitrate seit Ricardo und Malthus ge-
x ) Dies gilt auch von J. J.Rubin, der in seinem Buch ,,Skizzen zur Marx-
schen Werttheorie" (4. Auf I. Moskau 1929, russisch) zwar feststellt: „Die
Theorie des Arbeitswertes und der Produktionspreise reprasentieren nicht
Theorien fiir zwei verschiedene Wirtschaftstypen, sondern die Theorie ein-
und derselben kapitalistischen Wirt sch aft auf zwei Stufenwissenschaft-
licher Abstraktion" (S. 217); dennoch behandelt er aber weder ein-
gehender die Frage der Umwandlung der Werte in Produktionspreise,.
noch die sich daraus fiir die Krisenproblematik ergebenden Konse-
quenzen, obwohl nach R. die Produktionspreise eine konkretere Ab-
straktionsstufe als die Werte zu reprasentieren scheinen. — Dasselbe
gilt auch von zahlreichen anderen Autoren wie K. Diehl (tTber das Ver*
haltnis von Wert und Preis im okonomischen System von Karl Marx,
Jena 1898), Tugan-Baranowsky (Theoretische Grundlagen des Marxis-
mus, Leipzig 1905, bes. S. 174 if.), v. Bortkiewicz (,,Wertrechnung und
Preisrechnung", Archiv f. Sozialwiss. 1907 und „Zur Berichtigung der grund-
legenden theoretischen Konstruktion von Marx im III. Band des ^Kapital"
in Conrads Jahrb. fiir Nationalok., 1907) und in neuester Zeit Hans Zeisl
(„Ein Einwarid gegen die Marxsche Wertlehre", Der Kampf, Wien 1930)
und Emil Walter („ Liquidation der Arbeitswertlehre ?", ebenda). Sie alle
stellen zwar das Problem der Wert- und Preisrechnung in das Zentrum ihres
Inter esses. Aber sie behandeln es ausschliefilich unter dem Gesichtspunkte,,
inwieweit die Marxsche Ableitung der Produktionspreise aus den Werten
richtig und mit den Grundlagen der Marxschen Wertlehre vereinbar ist.
Keiner dieser Autoren hat jedoch die Bedeutung der Wert-Preis-Trans-
formation fiir die Krisenproblematik erkannt.
Die Wert-Preis-Transformation bei Marx und das Krisenproblem 83
sehen. - Aber weder die Klassiker noch die nachricardosche Schule
haben es verstanden, diese Tatsache in Ubereinstimmung mit der
Wertlehre zu bringen und sind in eine theoretische Sackgasse geraten,
indem sie gezwungen waren, entweder die Theorie ztigunsten der
Tatsachen, oder die Tatsachen zugunsten der Theorie preiszugeben 1 ).
An diesem Widerspruch zwischen der Theorie und den Tatsachen, an
der Unmoglichkeit, aus dem abstrakten Arbeitswertgesetz die all-
gemeine Profitrate ableiten zu k6nnen, ist die nachricardosche Schule
schlieBlich zugrunde gegangen, und mit Recht gab Marx in seinem
Epitaph als Auflosungsursache der Schule an: ,,Bildung der
allgemeinen Profitrate . . . Unverstandenes Verhaltnis
zwischen Wert und Produktionspreis" (Mehrwert, III, S. 280).
Speziell gegen Ricardo erhebt er den Vorwurf, daB dieser in Uber-
einstimmung mit der Wirklichkeit zwar eine allgemeine Profitrate
,,unterstellt", ohne indes zu „untersuchen, inwieweit ihre Existenz
iiberhaupt der Bestimmung der Werte durch die Arbeitszeit ent-
spricht", wahrend doch faktisch ,,sie ihr prima facie widerspricht,
ihre Existenz also erst durch eine Masse Mittelglieder zu
entwickeln ist" (Mehrwert, II 1, S. 14), Deshalb betont Marx die
„wissenschaftliche Unzulanglichkeit" der Methode Ricardos, die
ihn „zu irrigen Resultaten fiihrt" und darin besteht, daB Ricardo,
,,von der Bestimmung der WertgrOBen der Waren durch die Arbeits-
zeit ausgeht" und dann untersucht, ob die tibrigen okonomischen
Verhaltnisse und Kategorien den Werten entsprechen oder wider -
sprechen. Die Unzulanglichkeit dieser Methode liege also darin, „da8
sie notwendige Mittelglieder iiberspringt und in unmittel-
barer Weise die Kongruenz der okonomischen Kategorien unter-
einander nachzuweisen sucht" (Mehrwert, II 1, S. 2).
Indem Marx diese ^Mittelglieder" rekonstruiert hat und durch
seine Lehre von der Bildung der allgemeinen Profitrate sowie von der
Verwandlung der Werte in Produktionspreise resp. merkantile Preise
die Arbeitswertlehre in Einklang mit den Tatsachen gebracht hat, hat
er die dkonomische Theorie tiber den Punkt fortentwickelt, an dem
die nachricardosche Schule zugrunde gegangen ist.
1 ) Nach Marx bestand diese ,,Verwirrung der Theoretiker" darin, „daQ
. . . die bisherige Okonomie entweder gewaltsam von den Unterschieden
zwischen Mehrwert und Profit, Mehrwertsrate und Profitrate abstrahierte,
ura die Wertbestimmung als Grundlage festhalten zu konnen, oder aber
mit dieser Wertbestimmung alien Grund und Bod en wissenschaft lichen Ver-
haltens aufgab, urn an jenen in der Erseheinung auffalligen Unterschieden
festzuhalten" (Kapital, III 1, S. 147).
84 Henryk Grossmann, Die Wert -Preis- Transformation bei Marx usw.
Und gerade dieses spezif ische Ergebnis der theoretischen Forschung
Marxens verschwindet aus der ganzen bisherigen Diskussion uber das
Krisen- und Akkumulationsproblem. Es existiert fiir R. Luxem-
burg ebensowenig wie fiir Otto Bauer, Hilf erding oder Bucharin.
Sie alle bleiben in ihrer Analyse in der von der Wirklichkeit entf ernten
Sphare des Wertsehemas stecken, ohne sich darum zu kummern, daB
dieses Schema nur die erste Annaherung an die Wirklichkeit, nicht
aber diese Wirklichkeit selbst darstellt. Sie ubersehen, daB dieses
Schema ohne die weiteren „Mittelglieder" kein geeignetes Mittel fiir
die Erforschung der entwickelten kapitalistischen Produktions-
weise und jener konkreten Forrnen ist, in welchen die Kapitale
,,in ihrer wirklichen Bewegung" sich gegeniibertreten. Denn wie
Engels richtig im Vorwort zum II. Bande des ,,Kapital" sagt, „sind
die Untersuchungen dieses Buch II . . . nur Vordersatze zum In-
halt des Buch III, das die SchluBergebnisse der Marxschen
Darstellung des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses auf kapita-
listischer Grundlage entwickelt" (Kapital, II, S. XXIII). Die im
II. Bande des „Kapital" gegebene Darstellung des Reproduktions-
prozesses auf Basis der Wertschemata enthalt somit nur die Vorder-
satze einer Beweisfuhrung, deren SchluBsatze erst im III. Bande
des ,, Kapital", in der Lehre von der Umwandlung der Wertschemata
in Produktionspreisschemata folgen. Erst durch diese Lehre wird
die Marxsche Gedankenkette geschlossen und das Annaherungs-
verfahren, in dem es durch alle Stufen hindurch bei der konkreten
Wirklichkeit angelangt ist, beendet. Es ist allerdings eine sonderbare
Manier der bisherigen Marxdiskussion, sich nicht an die Totalitat
der Marxschen Beweisfuhrung auf alien ihren Stufen, sondern bloB
an die aus dieser geschlossenen Gedankenkette herausgerissenen
„Vordersatze", d. h. an die Wertschemata zu halten. Anstatt, wie die
genannten Theoretiker meinen, Marx fortzuentwickeln, kehren sie
alle zu jenem Punkte zuriick: ,,unverstandenes Verhaltnis zwischen
Wert und Produktionspreis", an dem die nachricardosche Schule
urn 1850 stehen geblieben und schlieBhch gescheitert ist.
Zur gesellschaftlichen Lage der Literatur.
Von
Leo Lowenthal (Frankfurt a. M.)
I.
Den Schwierigkeiten, die jeder geschichtlichen Bemiiliung ent-
stehen, ist die Literaturgeschichte in ganz besonderer Weise aus-
gesetzt. Sie wird nicht nur von alien prinzipiellen Diskussionen iiber
den begrifflichen Sinn und die materiale Struktur des Geschichtlichen
mitgetroffen, sondern ihr Gegenstand unterliegt der Kompetenz be-
sonders vieler wissenschaftlicher Disziplinen. Von den eigentlichen
Hilfswissenschaften der Geschichte, welche quellenmaBige Sicherheit
zu gewahren haben, ganz zu schweigen, treten mit Anspriichen mannig-
faltiger Art Philosophic, Asthetik, Psychologie, Padagogik, Philologie,
ja sogar Statistik auf. In merkwiirdigem Gegensatz zu dieser grund-
satzlichen Situation steht im allgemeinen die tagliche Praxis. Es
bedarf nicht vieler Worte, um auf das AusmaB hinzuweisen, in dem
die Literatur zum wissenschaftlichen Strandgut wird. Alle moglichen
Instanzen, vom „naiven Leser (t bis zum angeblich dazu be-
rufenen Lehrer wagen in jeder nur denkbaren Beliebigkeit die Deutung
des literarischen Werks. Die relativ groBe Kenntnis einer Sprache
und die Entbehrlichkeit einer gelehrten Fachterminologie erscheinen
haufig als zulangliche Voraussetzungen, Literaturgeschichte treiben
zu diirfen. Aber auch die eigentliche akademische Literaturwissen-
schaft scheint keineswegs der Lage ihres Objekts Kechnung zu
tragen. Die Tatsache, daB literaturgeschichtliche Arbeit nicht von
vornherein eine einheitliche Bemiihung, sondern eine zu organisierende
wissenschaftliche Aufgabe darstellt, hat nicht etwa dazu gefiihrt, daB
ihre Forschungsmethoden sich folgerichtig aus der Komplexitat ihres
Gegenstandes entwickelt hatten. Damit sollen nicht alle einzelwissen-
schaftlichen Unternehmungen der modernen Literaturgeschichte ge-
troffen werden, sondern hier, wo das Problem prinzipiell zum Gegen-
stand gemacht wird, werden auch nur die Prinzipien der Wissenschaft,
so wie sie heute vorliegen, beriicksichtigt.
Fast alle Gelehrten, die zu dem vor kurzem erschienenen
Sammelband „Philosophie der Literaturwissenschaft" 1 ) beigetragen
2 ) Herausgegeben von Emil Ermatinger, Berlin 1930.
85 Leo Lowenthal
haben, sind sich daruber einig, daB der „szientifische" Weg fur die
Literaturgeschichte nur in die Irre fiihre. Nicht nur, daB sie — und
dies mit Recht — sich einig waren tiber die irrationalen Momente am
Dichtwerk selbst, sie halten die rationale Methode diesem Gegenstand
nicht fur angemessen. Als ,,historischer Pragmatismus" 1 ), als ,,histo-
risierender Psychologismus" 2 ), als ,,positivistische Methode" 3 ) ver-
fallt die im 19. Jahrhundert begriindete Literaturwissenschaft einem
richtenden Urteil. GewiB entbehren Hettners oder Scherers Werke
absoluter Giiltigkeit, ja in dieser Wissenschaftler Intention selber
hatte nichts weniger als das gelegen, aber alle Bemiihungen urn Lite-
ratur, die einen wissenschaftlichen Charakter aufweisen sollen, sind
darauf angewiesen, an diejenigen positivistischen Methoden kritisch
anzuschlieBen, die in den historischen Wissenschaften des 19. Jahr-
hunderts entdeckt worden sind und deren sie zunachst selbst nicht
entraten kOnnen.
Isolierung und Simplifizierung des literarhistorischen Gegenstands
vollziehen sich freilich in einem hochst sublimen ProzeB. Dichtung und
Dichter werden aus den Verflechtungen des Geschichtlichen herausge-
nommen und zu einer wie immer gearteten Einheitlichkeit konstruiert,
von der der Strom der Marmigfaltigkeit abflieBt ; sie gewinnen eine
Wurde, deren sich sonstige Erscheinungen nicht riihmen dtirfen. ,,In
der Literaturgeschichte sind Taten und Tater gegeben, in der Welt-
geschichte nur mehr oder minder verfalschte Berichte uber meist
unreelle Geschafte von selten personifizierbaren Firmen 4 )." Diese
Weihe kann eine historische Erscheinung nur dadurch gewinnen,
daB sie als Erscheinung des Geistes, jedenfalls als ein Sondergebiet
eigenen Rechts, gefaBt wird 5 ). Nur dann sind ja die positivistischen
Methoden prinzipiell unzulanglich, wenn ihr Gegenstand nicht mehr
ein solcher der inner- und auBermenschlichen Natur und ihrer verander-
lichen Bedingungen ist, sondern als in einem Sein hoherer Artung
ruhend gedacht wird. Mit der Sicherheit eines philosophischen Instinkts
1 ) Herbert Cysarz, Das Periodenprinzip in der Literaturwissenschaft,
a. a. O., S. 110.
2 ) D. H. Sarnetzki, Literaturwissenschaft, Dichtung, Kritik des Tages,
a, a. O. S. 454.
, 3 ) passim.
4 ) Cysarz, a. a. O.
5 ) Naiv wird das neuerdings ausgedriickt bei Werner ZiegenfuB, Art.
Kunst im Handworterbuch der Soziologie, 1931, S. 311: ,,Wollen wir hier
Kunst uberhaupt als Kunst, Dichtung als Dichtung, und nicht beides nur
als sekundare Begleiterscheinungen letzthin nur korperlicher Vorgange
ansehen, dann mufi fur das primitive Schaffen ebenso wie fur. die hochsten
Leistungen aller Kunst das Seelisch-Geistige in seiner urspriinglichen Wirk-
Iichkeit anerkarmt werden. 4 *
Zur gesellschaftlichen Lage der Literatur 87
wird daher der vonDilthey eingefiihrte, den geschichtlichen Zusammen-
hangen verpflichtende Strukturbegriff fiir das Dichtwerk wieder auf-
zugeben versucht und zum Begriff des Organischen zunickgekehrt,
der ,,klar, eindeutig und bestimmt das Geistige als die durch Sinn-
einheit bedingte Individualitat des geschichtlichen Lebens kenn-
zeichnet" 1 ). Belastete Ausdriicke wie „Werk", ,,Gestalt", „Gehalt"
zielen alle auf eine letztlich metaphysisch begriindete und ableitbare,
jenseits aller Mannigfaltigkeit sich bewegende Einheit der Dichtung
und des Dichters ab. Diese radikale Entfremdung der Dichtung
gegeniiber der geschichtlichen Realitat findet ihren hochsten Ausdruck,
wenn Begriffe wie ,,Klassik" und ,,Romantik" nicht nur der Geschichte
zugeordnet, sondern zugleich metaphysisch verklart werden. „Auch
diese beiden Grundbegriffe der Vollendung und Unendlichkeit sind,
wie der oberste Begriff der Ewigkeit, sowohl aus der historischen und
psychologischen Erfahrung wie aus der philosophischen Erkenntnis
abzuleiten 2 )."
Ihre sachliche Legitimierung glaubt diese geschlossene irrationali-
stische Front der Literaturwissenschaft darin zu finden, daft die
,,naturwissenschaftliche Methode" ihren Gegenstand zerstiicke, zer-
setze und, wenn es sich urn Auspragungen der ; ,dichterischen Lebens-
seele handele, an ihrem „Geheimnis a vorbeigehe 3 ). Der Sinn dieser
tjberlegungen ist schwer verstandlich. Denn inwiefern eine rationale
Erfassung dem Gegenstand selber ein Leid antun soil, beclarf noch
bis heute des Experiments in der Praxis. Wer ein Phanomen analysiert,
kann es sich doch stets in seiner Ganzheit vor Augen halten, in-
dent er das BewuBtsein dessen, was er in der Analyse unternimmt,
nicht verliert. Freilich ergeben die in der Analyse gewonnenen Ele-
mente als Summe nur ein Mosaik und nicht das Ganze. Aber wo in
aller Welt verlangt wissenschaftliche Analyse solche stiickhafte
Summation ? Und sind denn selbst die naturwissenschaftlichen Me-
thoden allein und dauernd atomistischer Art ? Sie sind es ebensowenig,
wie es die literaturwissenschaftlichen Methoden dort zu sein ha ben,
wo es fiir ihre spezifischen Aufgaben ungeeignet ist. Auf der Fahrt
ins Ungewisse der Metaphysik hat die Literaturwissenschaft auch den
Begriff des Gesetzes mitgenommen. Aber anstatt daB das Gesetz die
Bedeutung einer in den Sachen erkannten Ordnung behielte. wird es
bereits bei seiner Einfuhrung mit einem neuen und vagen Inhalt vor-
3 ) Emil Ermatinger, Das Gesetz in der Literaturwissenschaft, a. a. O.,
S. 352.
2 ) Fritz Strich, Deutsche Klassih und Romantik, Miinchen 1924. fi. 7.
-) Sarnetzki, a, a. O.
88 Leo Lowenthal
belastet. An Stelle der zu erforschenden und darzustellenden Ord-
nung tritt eine vorgegebene „Sinneinheit", und als Hauptprobleme
der Literaturwissenschaft, die vor der Untersuchung als in bestimmter
Weise gesetzlich strukturiert vorausgesetzt werden, erscheinen unter
anderem die ,,dichterische Personlichkeit" und das ,,dichterische
Werk" 1 ). ,,Personlichkeit" und ,,Werk" aber gehOren zu denjenigen
begrifflichen Konstruktionen, die in ihrer Undurchsichtigkeit und der
prinzipiell abschlu'Bhaften Art ihrer Konstruktion die Wissenschaft
eben dort von ihren Bemtihungen bereits abhalten, wo sie einzusetzen
hatten,
Soweit es sich der Literaturwissenschaft um die Abwehr einer Ein-
stellung handelt, die in der Durchfuhrung geschichtlicher, psycho-
logischer und philologischer Einzelanalysen mit der wissenschaftlichen
Darstellung von Dichter und Dichtung fertig zu sein glaubt, kann man
ihr nur zustimmen. Doch gerade wenn es auf genaue Bestimmung
des Kunstwerks und um ihretwillen um das Verstandnis seiner
qualitativen Beschaffenheit geht, wenn es sich also um Fragen des
Wertes und der Echtheit handelt, Fragen, die doch den irrationa-
listischen StrOmmungen so sehr am Herzen gelegen sind, dann ent-
hullen deren Methoden ihre Unzulanglichkeit am deutlichsten; denn
unabhangig von der Entscheidung, ob und in welchem MaBe die
technischen Gesetzmafiigkeiten rational entstanden sind oder nicht :
ihre Prinzipien sind nur in rationaler Analyse mit der ihr eigen-
tumlichen Exaktheit aufzudecken. Aber die Literaturwissenschaft
hat ihre Abwehrtendenzen so auf die Spitze getrieben, daB sie
nun selber in eine Situation gebracht ist, die ihr offenbar iiber-
haupt keinen Ausweg mehr laBt. Die metaphysische Verzauberung
ihrer Gegenstande hindert sie an der sauberen Betrachtung ihrer
wissenschaftlichen Aufgaben. Diese sind gewiB nicht allein histo-
rischer Art, es gibt ein sehr wichtiges literaturwissenschaftliches
Problem, das wir mit dem Diltheyschen Ausdruck des ,,Verstehens"
vorlaufig kennzeichnen wollen. Mit alien analytischen und synthe-
tischen Methoden gilt es, das in Inhalt und Form Gestaltete auf-
zugreifen, in seiner schlichten und in seiner tiefer gemeinten Bedeutung
zu erfassen, gilt es ferner, die Relation zwischen dem Schopfer und
seinem Gebilde aufzudecken. Freilich werden solche Aufgaben sich
nur erfullen lassen, wenn man sich dessen bewuBt ist, daB die Mittel
einer formalen Poetik in keiner Weise ausreichen. Ohne eine — im
groBen und ganzen noch zu leistende — Psychologie der Kunst, ohne
x ) Emil Ermatinger, a. a. O., S. 363 f.
Zur gesellschaftlichen Lage der Literatur 89
eine wirkliche Klarung der Rolle des Ordnungssinns und ahnlicher
Faktoren beim Schaffenden und beim Publikum 1 ), ohne das Studium
der unbewuBten Regungen, die an dem psycholpgischen Dreieck
von Dichter, Dichtung und Aufnehmendem beteiligt sind, gibt es
keine poetische Asthetik. Das Bundnis mit einer Psychologie, die das
,,grofie Kunstwerk" in mystischen Zusammenhang mit dem Volk
stellt, die die „personliche Biographie des Dichters . . . interessant
und notwendig, aber hinsichtlich des Dichters unwesentlich" 2 ) findet,
kann freilich die Literaturwissenschaft nur kompromittieren.
II.
Fur die gekennzeichneten herrschenden Stromungen ist es charak-
teristisch, daB sie mit einer Psychologie sympathisieren, die in
gleicher Weise wie sie selbst zu einer isolierenden Betrachtungs-
weise der Phanomene tendiert, ja die es gleichfalls sich angelegen sein
laBt, ihren Gegenstanden eine geistige Wurde zu verleihen, die sie
selbst unter Preisgabe wissenschaftlicher Methodik zu erkaufen
trachtet. Denn der gleiche Psychologe, der von der Belanglosigkeit
der personlichen Biographie der Dichter spricht, bemerkt zugleich
von ihnen: ,,Sie erkennen, als die ersten ihrer Zeit, die geheimnis-
vollen Strdmungen, die sich unter Tage begeben, und driicken sie nach
individueller Fahigkeit in mehr oder weniger sprechenden S3 7 mbolen
aus 3 )." Es bedarf keines weitlaufigen Nachweises, daB eine Unter-
suchung iiber die Beziehung zwischen UnbewuBtem, dichterischem
Symbol und dem individuellen psychischen Faktor dieses Symbols
sich mit der Belangloserklarung der ,, personlichen Biographie'* nicht
vereinbaren laBt.
Wichtige Hinweise zu kunstpsychologischen Theorien vermag die
Psychoanalyse zu geben. Sie hat Untersuchungen iiber zentrale
1 ) Einer der wichtigsten Hinweise auf eine psych ologisch -material ist ische
Asthetik findet sich bei Nietzsche: „Manche der asthetischen Wertschat-
zungen sind fundamentaler, als die moralischen, z. B. das Wohlgefallen am
Geordneten, Ubersichtlichen, Begrenzten, an der Wiederholung, — es sind
die Wohlgefuhle aller organischen Wesen im Verhaltnis zur Gefahrlichkeit
ihrer Lage, oder zur Schwierigkeit ihrer Ernahrung. Das Bekannte tut wohl,
der Anblick von etwas, dessen man sich leicht zu bemachtigen hof ft. tut wohl
usw. Die logischen, ' arithmetischen und geometrisehen Wohlgefuhle bilden
den Grundstock der asthetischen Wertschatzungen : gewisse Lebensbedin-
gungen werden als so wichtig gefuhlt und der Widerspruch der Wirklichkeit
gegen dieselbe so haufig und grofl, daB Lust entsteht beim Wahrnehmen
sole her Formen." (Werke, 11. Band: Aus dem Nachlafl 1883/88, S. 3.)
2 ) C. C. Jung, Psychologia und Dichtung, a. a. O., S. 330.
3 ) C. G. Jung, zitiert nach Walter Muschg, Psychoanalyse und Literatur-
wissenschaft, Berlin 1930, S. 7.
90 Leo Lowenthal
Probleme der Literaturwissenschaft zur Diskussion gestellt, besonders
iiber die seelischen Bedingungen, unter denen das groBe Kunstwerk
entsteht, so iiber den Aufbau der dichterischen Phantasie, und vor
ailem auch iiber das bisher immer wieder in den Hintergrund ge-
drangte Problem des Zusammenhangs von Werk und Aufnahme 1 ).
Gewifi sind diese Arbeiten noch ganz im Anfang — hat ja doch audi
die Literaturforschung kaum etwas zu ihrer Forderung unter-
nommen — , gewifi sind eine Reihe von Hypothesen noch nicht ge-
schliffen und fein genug, noch schematisch und erganzungsbediirftig.
Aber auf die Hilfe der wissenschaftHchen Psychologie beim Studium
des Kunstwerks zu verzichten heifit nicht, sich vor „barbarischen
Einbriichen von Eroberern" zu schutzen, sondern sich selbst der
Barbarei auszusetzen 2 ).
Zu dem Verdammungsurteil gegen den ,,historisierenden Psycho-
logismus", welcher^am Geheimnis der „eigentlichen dichterischen
Lebensseele" 3 ) vorbeigehe, gesellt sich das gegen die historische Me-
thode, besonders aber gegen jede kausal und gesetzesgerichtete Ge-
schichtstheorie, kurzum gegen das, was als der ,,positivistische
Materialismus" 4 ) von der modernen Literaturforschung aufs strengste
verpOnt ist. Freilich stent's hier genau wie bei der Psychologie: vor
„Ubergriffen" schreckt man seinerseits nicht zuriick. Beliebiger wohl-
lautender historischer Kategorien hat sich die moderne Literatur-
geschichte stets bedient, ja sie sogar selbst mit erzeugt: da werden
Kategorien wie „Volkstum, Gesellschaft, Menschentum" 5 ) auf-
gegriffen, es wird von dem ProzeC des ,,pluralistischen, steigemden"
und des „vergeistigenden, artikulierenden Erlebens" 6 ) gesprochen.
Man erfahrt von n Wesens"- und ,,Schicksalsverbanden", von „Voll-
endung und Unendlichkeit" als „Grundbegriffen" der „historischen
Erfahrung" 7 ), die Redeweise von „Zeitaltern des Homer, Perikles,
*) Vgl. an erster Stelle die wichtige Schrift von Hanns Sachs, Gemein-
same Tagtraume (bes. den ersten Teil), Leipzig-Wien-Ziirich 1924.
2 ) Vgl. Muschg a. a. O., S, 15. Ubrigens bemiiht sich gerade Muschg
um die Verwertung psych oanalytischer Methoden und Erkenntnisse. Vj?i.
sein Buch: Gotthelf, Die Geheimnisse des Erzahlers, Miinchen 1931; daruber
G. H. Graber in: Imago Bd. XVIII, Heft 2, 1932.
3 ) Sarnetzki, a. a. O. Was alles an Argumentation gestattet ist, mag
folgender — polemisch gemeinte — Satz verraten: „ Psychoanalyse grabt
nach innen und sucht triebhafte Naturmachte der Seele, sie analysiert; eine
soziologische Betrachtung bemiiht sich, Ziele zu erkennen, von denen aus
allein das Menschliche gedeutet werden kann, sie komponiert" (ZiegenfufS,
a. a. O., S. 312.
4 ) Sarnetzki, a. a. O.
5) Ziegenfuft, a. a. O., S. 337.
6 ) Cysarz, Erfahrung und Idee, Wien u. Leipzig 1922, S. 6i".
7 ) Strich a. a. O.
Zur gesellschaftlichen Lage der Literatur 91
Augustus, Dante, Goethe" 1 ) wird gerechtfertigt, — aber Verachtung
und Zorn sind einer Geschichts- und Gesellschaftswissenschaft
sicher, wenn sie im AnschluB an die positivistischen und materiali-
stischen Methoden der historischen Forschung, deren Grund im
19. Jahrhundert gelegt worden ist, die Geschichte der Dichtung als
soziales Phanomen zu erfassen trachtet. Offen wird es ausgesprochen,
daB es urn die „Preisgabe des beschreibenden Standpunkts der positi-
vistischen Methode und die Besinnung auf den metaphysischen
Charakter der Geisteswissenschaften" 2 ) gehe. Wir werden noch sehen,
daB eine Preisgabe urn so leidenschaftlicher da gefordert wird, wo an
die Stelle der historischen Deskription die materialistische gesell-
schaftliche Theorie selber tritt. Selbst die Grenze zwischen Wissen-
schaft und Demagogie wird verwischt, wenn es sich um die isolierende
Verklarung der Kunstbetrachtung handelt : , ,Dem historischen
Pragmatismus ergibt sich vielleicht, daB gutenteils die Syphilis den
Minnesang und seine polygame Konvention begraben hat oder die
Wiederaufrichtung der deutschen Nachkriegswahrung den . . . . Ex-
pressionismus. Die Wesenssicht aber des Minnesangs und des Ex-
pressionismus bleiben unmittelbar von solchen Erkenntnissen un-
abhangig. Die Frage lautet hier eben : was ist er, nicht aber : warum
ist er. Dieses Warum erdffnete bloB einen Regressus in infinitum:
warum ist am Ende des Mittelalters die Lues eingeschleppt, warum
ist Anfang 24 die Reichsmark eingefuhrt worden und so fort bis zum
Ei der Leda 3 )." Dies ist eine Karrikatur jeder echten wissenschaft-
lichen Fragestellung. Keineswegs verlangt jede kausale Frage einen
unendlichen RegreB, sondern wenn sie prazis formuliert ist, so ist sie
prinzipiell auch prazis beantwortbar, unbeschadet darum, daB mit
dieser Ant wort irgendwelche anderen neuen wissenschaftlichen Pro-
bleme aufgeworfen werden: die Untersuchung der Ursachen, aus denen
Goethe nach Weimar ging, erfordert nicht eine Geschichte der deutschen
Stadtegriindung !
Vergegenwartigt man sich die in Umrissen beschriebene Lage der
Literaturwissenschaft, ihr schiefes Verhaltnis zur Psychologic, Ge-
schichte und Gesellschaftsforschung, die Willkiir in der Auswahl
ihrer Kategorien, die kiinstliche Isolierung und wissenschaftliche
Entfremdung ihres Objekts, dann wird man mit Recht der Forderung
eines modernen Literarhistorikers zustimmen, der, unbefriedigt von
x ) Friedrich Gundolf, Shakespeare, Sein Wesen und Werk, Berlin 1928,
Bd. I, S. 10.
2 ) Ermatinger, a. a. O., S. 352.
3 ) Csysarz, Das Periodenprinzip, S. 110.
92 Leo Lowenthal
der ^Metaphysizierung", die in seinem Fach eingerissen ist, Ruck-
kehr zur strengen Wissenschaftlichkeit, leidenschaftliche Ergeben-
heit an den Stoff, intensive Pflege des reinen Wissens, kurz:
neue „Hochschatzung des Wissens und der Gelehrsamkeit" 1 ) fordert.
Wenn freilieh Schultz gleichzeitig in bezug auf Konstraktion, Er-
forschung von Strukturzusammenhangen, tibergreifende Theorien-
bildung sich enthalten mochte 2 ), so laBt sich das zwar aus dem Ge-
sagten gut begreifen, doch ist es nicht notwendig. In der Tat ist der
Entwurf einer Literaturgeschichte moglich, die ausgestattet mit dem
Wissensrustzeug philologischer und literarischer Forschung es wagen
darf, das Dichtwerk geschichtlich so zu erklaren, daB sie weder in
bloBer positivistischer Beschreibung stecken bleibt, noch sich zur ein-
samen und verlassenen Hohe metaphysischer Spekulation entfernt.
III.
Es laBt sich naturlich eine Einsteilung denken, die solches Entwurfes
nicht bedarf, wenn man namlich die „bewuBte Emanzipation der
Literaturwissenschaft von der Welthistorie" 3 ), ja iiberhaupt von
jedem geschichtlichen und gesellschaftlichen Zusammenhang fordert.
Nur verzichtet man damit auf jeden Erkenntnisanspruch und macht
aus der Beschaftigung mit der Dichtung selbst wieder Dichtung. Es
bleibt dann iibrigens bare Willkiir, eine solche unverpflichtende,
nicht auf kontrollierbare Erkenntnis ausgerichtete Haltung nicht auf
alle Erfahrungsgegenstande anzuwenden und die Wissenschaft iiber-
haupt zu vertreiben. Sich mit der Geschichte der Dichtung beschaf-
tigen heiBt die Dichtung geschichtlich erklaren. Ihre Erklarungs-
moglichkeit setzt eine entfaltete Theorie der Geschichte und der
Gesellschaft voraus. Dabei soil nicht gemeint sein, daB man sich mit
irgendwelchen allgemeinen Zusammenhangen zwischen Poesie und
Gesellschaft abzugeben habe, auch nicht, daB ganz allgemein von
gesellschaftlichen Bedingungen zu sprechen sei, deren es bediirfe, damit
es iiberhaupt so etwas wie Dichtung gebe 4 ), sondern die geschichtliche
1 ) Franz Schultz, Das Schicksal der deutschen Literaturgeschichte,
Frankfurt a. M. 1928, S. 138.
2 ) a. a. O., S. 141 ff.
3 ) Cysarz, a. a. O.
4 ) Etwa wie bei ZiegenfuB, a. a. 0., S. 310: „Damit ist aber keineswegs
gesagt, daB in den wirtschaftlichen Beweggrunden zugleich die bestimmenden
und richtunggebenden Motive fur die Eigentiimlichkeit der besonderen
Formen liegen, die diese autonome Kunst sich gibt. Auch in grofler wirt-
schaftlicher Abhangigkeit des Kiinstlers entspringen die formenden Not-
wendigkeiten seines Schaffens, vorausgesetzt, er schafft wirklich Kunst und
nicht Kitsch und Mache, aus ganz eigener Selbstbestimmung, und nur die
Zur gesellschaftlichen Lage der Literatur 93
Erklarung der Dichtung hat die Aufgabe zu untersuchen, was von be-
stimmten gesellschaftlichen Strukturen in der einzelnen Dichtung zum
Ausdruck kommt und welche Funktion die einzelne Dichtung in der
Gesellschaft ausiibt. Die Menschen stehen zum Zweck der Erhaltung
undErweiterung ihres Lebens in bestimmtenProduktionsverhaltnissen.
Diese stellen sich gesellschaftlich als die miteinander ringenden
Klassen dar, und die Entwicklung ihrer Beziehungen bildet die reale
Grundlage fur die verschiedenen Spharen der Kultur. Von der je-
weiligen Struktur der Produktion, d. h.,von der Okonomie hangt nicht
nur die Gestaltung der Eigentums- und Staatsverhaltnisse, sondern zu-
gleich die der gesamten menschlichen Lebensf ormen in jedergeschicht-
lichen Epoche ab. Jede „Geistes"- und „Verstehens"wissenschaft r die
sich auf die Autonomic oder mindestens auf die autonome Deutbar-
keit gesellschaftlicher Uberbaugebilde beruft, vergewaltigt das
Wissenschaftsgebiet der menschlichen Vergesellschaftung. Literatur-
geschichte als blofie Geistesgeschichte vermag prinzipiell keinerlei
bindende Aussagen zu machen, wenn auch in der Praxis Begabung und
Einfuhlungskraft des Literarhistorikers Wertvolles geleistet haben.
Eine echte erklarende Literaturgeschichte aber muB mater ialistisch
sein. Das heiBt, sie muB die okonomischen Grundstrukturen, wie
sie sich in der Dichtung darstellen, und die Wirkungen untersuchen,
die innerhalb der durch die Okonomie bedingten Gesellschaft das
materialistisch interpretierte Kunstwerk ausiibt.
Solange eine solche Forderung bloB erhoben wird, wird sie freilich
dogmatisch klingen, ebenso wie die von ihr vorausgesetzte Gesell-
schaftstheorie diesem Vorwurf ausgesetzt ist, wenn sie nicht im ein-
zelnen ihre Fragestellungen prazisiert 1 ). Auf dem Spezialgebiet der
Okonomie und der politischen Geschichte ist dies bereits in breitem
MaBe geschehen, aber auch in der Literaturgeschichte finden sich An-
Mdglichkeit, dafi sie sich iiberhaupt verwirklichen konnen, hangt vom Wirt-
schaftlichen ab. DieFragen der wirtschaf tlichen Selbsterhaltung desKiinstlers
und der wirtschaf tlichen Verwertung der Kunst und Literatur gehoren
zur Wirtschaftssoziologie." Also: Ressortfragen statt wissenschaftlicher
Prinzipienfragen !
2 ) Darura muten auch oft die geisteswissenschaftlich orientierten Arbeiten
so dogmatisch und willktirlich an, weil sie ins unzuganglich Allgemeinste
verschwimmen. Vgl. z. B. Strich, a. a. O., S. 401: „Es verstand sich natiir-
lich von selbst, dafi diese Betrachtung in der Geschichte der Dichtung auf
das ganze Menschentum und all seinen, nicht nur formalen, Ausdruck er-
weitert werden mu(3te. Es wird sich noch zeigen, dafi auch Musik und Reli-
gion und jegliches Kultursystem sich so erfassen lafit und dafi die grund-
begriffliche Durchdringung derganzen Geschichtswissenschaft die Geschichte
des Geistes erst als das of fenbar machen wird, was sie wirklich ist : die stili -
stische Verwandlung des geistigen Willens zur Verewigung."
94 Leo Lowenthal
satze vor.~ Hinzuweisen ist vor allem auf die literaturgeschichtlichen
Aufsatze von Franz Mehring 1 ), der — oft in einer vereinfachten und
popularen, oft auch in einer nur politisch fundierten Weise — zum
ersten Male die Anwendung der materialistischen Gesellschaftstheorie
auf die Liter atur versucht hat. Freilich ist wie an den oben erwahnten
psychologischen Einzeluntersuchungen auch an den materialistischen
Arbeiten Mehrings und ihm verwandter Autoren dieLiteraturgeschichte
vorbei zur Tagesordnung oder zum Tagesgeschimpf iibergegangen ;
so hat sie noch in jiingster Zeit einen Anwalt gefunden, fur den „solche
Denkweise . . . nicht nur unsoziologisch oder der wissenschaftlichen
Soziologie entgegengesetzt" ist, sondern dem sie,, wie eine Schmarotzer-
j}flanze" vorkommt, die ,,einemBaum seine gesunden Saf te entzieht" 2 ).
Die materialistische Geschichtserklarung vermag nicht in der
gleichen simplifizierenden und isolierenden Art und Weise vorzugehen,
die wir an der ihr entgegengesetzten Haltung festgestellt haben. Es
hieBe jene Theorie schlecht verstehen, wollte man ihr den Glauben an
eine unmittelbare Ableitung der G^samtkultur aus der Wirtschaft
zuschieben, ja wollte man nur von ihr behaupten, sie versuche die
Grundzuge kultureller und psychischer Gebilde aus einer bestimmten
okonomisch erklarten Struktur abzulesen. Es kommt ihr vielmehr
darauf an, zu zeigen, in wie vermittelter Weise sich die grundlegenden
Lebensverhaltnisse der Menschen in alien ihren Formen, also auch in
der Literatur, ausdriicken. Damit gewinnt die Psychologie ihren ganz
bestimmten Ort in der Literaturwissenschaft : sie ist eine, nicht die
einzige, Hilfswissenschaft der Vermittlungen, indem sie aufzeigt,
welches die psychischen Vorgange sind, durch die in den Kulturlei-
stungen des Kunstwerks sich die Strukturen des gesellschaftlichen
Unterbaus reproduzieren. Da sich diese Basis der Gesellschaft als das
Verhaltnis von herrschenden und beherrschten Klassen in der bis-
herigen Geschichte und als der ^Stoffwechsel" von Gesellschaft und
Natur darstellt, so wird auch in der Literatur wie bei alien historischen
Phanomenen dieses Verhaltnis durchscheinen. In der gesellschaft-
lichen Erklarung des tJberbaus — nicht etwa in der gesellschaftlichen
2 ) Jetzt gesammelt: in Schriften und Aufsatze 1. u. 2. Bd.: Zur Literatur-
geschichte, Berlin 1929, ferner auch sein Buch ,,Die Lessinglegende*' 9. Aufl.
Berlin 1926.
2 ) ZiegenfuB a. a. 0., S. 330f. — Wie legitimiert Z. zu solcher Kritik ist,
belegt er selbst, indem er als — einzigen — Kronzeugen fur diese ,, Denk-
weise" Alfred Kleinbergs Buch uber ,,Die deutsche Dichtung" zitiert — ein
Werk, das den auBerst zweideutigen, jedenfalls nicht materialistischen
TJntertitel tragt : ,, . . . in ihren sozialen, zeit- und geistesgeschichtlichen
Bedingungen" !
Zur gesellschaftlichen Lage der Literatur 95
Theorie schlechthin — nimmt darum der Begriff der Ideologic eine
entscheidende Stelle ein. Denn die Ideologic ist ein Bewufitseinsinhalt,
der die Funktion hat, die gesellschaftlichen Gegensatze zu vertuschen
und an Stelle der Erkenntnis der sozialen Antagonismen den Schein
der Harmonie zu setzen. Die Aufgabe der Literaturgeschichte ist zu
einem groBen Teil Ideologienforschung.
Den Vorwurf, noch unentwickelte Methoden und einen zu rohen
Begriff sapparat zu besitzen, kann die materialistische Geschichts-
theorie ruhig hinnehmen. Sie darf demgegenuber darauf verweisen,
daB sie immerhin diese Unvollkommenheit dem wissenschaftlichen
Fortschritt zur Diskussion stellt und iiberhaupt alle ihre vermeintlichen
Ergebnisse so formuliert, daB sie der Kontrolle des Wissenschaf tiers
wie der moglichen Veranderung durch neue Erfahrungen ausgesetzt
sind und nicht sich zu Gebilden verfluchtigen, die vielleicht verzaubern
und die Erkenntnis bestechen, aber nicht sich an ihr zu bewahren ver-
mogen. Diese Theorie darf sich weiterhin sagen lassen, daB sie letzten
Endes Glaubenssache ware; sie ist es in dem Sinn, in dem jede wissen-
schaftliche Hypothese nicht abgeschlossen und ein fur allemal ge-
sichert, sondern stets durch neue Erfahrung zu bestatigen oder ab-
zuandern ist. Sie hat aber gegen die bio Be Verkiindung der reinen
Geisteswissenschaft den Vorteil moglicher Verifikation innerhalb
der organisierten Wissenschaf t.
IV.
Die folgenden Beispiele machen weder den Anspruch, den ganzen
Umfang ihrer Begrundung aufzuweisen, noch den, nicht weiter einer
Verfeinerung und gegliederteren Ordnung geoffnet zu sein 1 ). Zum Teil
werden sie als langst bekannte Einsichten anmuten, zum Teil auch
einen thesenhaften Charakter zu tragen scheinen ; doch ist das erste —
entgegen dem in mancher modernen Diskussion angeschlagenen Ton
— ■ keine Widerlegung einer Erkenntnis und das andere die notwendige
Folge einer im Prinzip geklarten, in ihren Methoden noch undurch-
gebildeten neuen wissenschaftlichen Arbeitsweise.
Fragen der Form, des Motivs wie des Stoffs haben in gleicher
Weise sich der materialistischen Betrachtungsweise zu eroffnen. Das
*) Besondere wissenschaftliche Neigungen haben mich veranlafit, Dar-
stellungsart und Forschungsmethoden einer materialistischen Literatur-
geschichte zunachst an der erzahlenden europaischen Dichtung zu ver-
suchen. Die grundsatzliche Absicht dieses Aufsatzes und die Notwendigkeit
der Raumbeschrankung zwingen zu einer ^villkurlichen und unvollstandigen
Auswahl erreichter Resultate.
96 Leo Lowenthal
soil etwa bei dem Problem der Romanenzyklopadie, wie es bei Balzac
und Zola auftritt, angedeutet werden. Beide beabsichtigen mit ihren
groBen Zyklen die gesamte Gesellschaft ihrer Zeit mit allem lebenden
und toten Inventar, Berufen wie Staatsformen, Leidenschaften wie
Wohnungseinrichtungen, darzustellen. Dieser Absicht liegt die Vor-
stellung von der prinzipiellen Moglichkeit, die Welt in Gedanken zu
besitzen und durch ihre gedankliche Aneignung sie beherrschen zu
konnen, also der biirgerliche Rationalismus, zugrunde. Vermittelt
sich bei Balzac aus bestimmten psychologischen Griinden damit die
merkantilistische Wirtschaftsweise, die Vorstellung von der Beherrsch-
barkeit der Okonomie durch ihre obrigkeitliche Regelung, so steckt
bei Zola eine kritische Haltung zu der kapitalistischen Produktions-
weise dahinter, die sich von der Analyse der durch sie bestimmten Ge-
sellschaft die Moglichkeit der Behebung ihrer Mangel verspricht. Die
Breite des Romanwerks weist ebensosehr auf den Ort des Verfassers
in einer in der Herrschaft begriffenen Klasse, wie auf den bestimmten
Standpunkt hin, den der Dichter zu der okonomischen Struktur
seiner Zeit einnimmt.
Diese gesellschaftliche Bedeutung lafit sich auch an anderen, mehr
in Einzelheiten gehenden Fragen aufweisen. So kann ein gleiches
Formmittel in verschiedenen Zusammenhangen einen durchaus ver-
schiedenen sozialen Sinn haben. Beispiele daftir sind etwa das Hervor-
treten des Dialogs und damit die Beschrankung der erzahlenden oder
kommentierenden Zwischenreden und der Kunstgriff der Rahmener-
zahlung. Fur das erste wahlen wir Gutzkows, Spielhagens und die
impressionistische Erzahlungsweise aus. Gutzkow fiihrt wahrscheinlich
zum ersten Male in der deutschen Literatur das moderne Gesprach
der burgerlichen Gesellschaft ein. Die Geschichte des Dialogs in der
Erzahlung zeigt die Entwicklung aus einer starren und gesicherten
Tradition zur „zwanglosen" offenen Gesprachstechnik der Gegenwart.
Das Gesprach ist in der Realitat der MaBstab der psychologischen Kennt-
nisse, iiber welche die frei miteinander konkurrierenden Subjekte in der
kapitalistischen Gesellschaft, wenigstens in ihrererstenliberalenEpoche,
verfugen. Der Wendigere, der die bessere Kenntnis von der Reaktions-
weise des Gesprachspartners besitzt, hat, soweit es sich nicht um grobe,
eineDiskussion nicht zulassendeMachtverhaltnisse handelt, die groBere
Okonomische Siegeschance. Was sich in der ihrer objektiven Situation
fast unbewuBten jungdeutschen Dichtung nur indirekt erschlieBen
laBt, gibt sich bei Spielhagen mit einer gewissen Theorie belastet.
Die epische Zwischenerzahlung wird auf ein Minimum reduziert, so
Zur gesellschaftlichen Lage der Literatur 97
daB der Eindruck entsteht, der Dichter halte sich im Arrangement der
Begebenheit an die Forderungen der Realitat und verzichte auf die
Willkiir personlicher Kombinationen von Handlung, Begebenheit,
Zufall und auf die Interpretation des objektiven.Geschehens. Man
wird finden, daB der impressionistische Roman mit dem alteren Fon-
tane und mit Sudermann angefangen bis zu Arthur Schnitzler in
seinen letzten Novellen ebenfalls im Zeichen des kommentarlosen
Dialogs steht. Aber dieser ,,Verzicht auf die Vorrechte des deutenden
und erganzendenErzahlers" 1 ) hat bei Spielhagen einen ganz anderen
Sinn als beim deutschen Impressionismus. Der Spielhagenschen
Technik liegt die Uberzeugung zugrunde, daB in den Gesprachen der
Menschen die Sachen selber deutlich werden, daB in der Aussprache
fur den nachdenkenden Leser eine Theorie iiber die Beziehungen der
Menschen zwischen sich und innerhalb der Gesellschaft entsteht. Als
burgerlicher Idealist glaubt er an die Macht des objektiven Geistes,
der in den ausgesprochenen Gedanken der Menschen gerinnt, so daB
dieWechselrede bereits keinenZweifel andensachlichenUberzeugungen
des Dichters of fen laBt. Hingegen spricht sich in der asketischen
Kommentarlosigkeit des Impressionismus die Kritik des liberalen
Biirgertums an sich selber seit Beginn des 20. Jahrhunderts aus; aus
dem Unvermogen, soziale Theorien zu bilden, aus der Halt- und Rat-
losigkeit des in seinen Positionen bedrangt und unsicher gewordenen
mittleren Biirgertums erwachst in der Tat ein Verzicht auf Vorrechte,
namlich auf die des subjektiven Geistes, der an die Moglichkeit ver-
tretbarer Allgemeinerkenntnis glaubt. Spiegelt sich in der tastenden
Dialogisierung Gutzkows das wirtschaftliche Tasten eines in den ersten
Anfangen befindlichen liberalen Biirgertums in Deutschland, so wird
in der Spielhagenschen Technik sein okonomischer Sieg verklart und
in der des Impressionismus seine Krise ideologisch vertuscht oder
in einer gewissen Ratlosigkeit eingestanden.
Andere Klassenverhaltnisse enthiillen sich, wenn man die Funktion
der Rahmenerzahlung bei Storm und Meyer vergleicht. Dieses Gestal-
tungsprinzip hat bei beiden Dichtern eine entgegengesetzte Bedeutung.
Storm gewinnt mit ihm die Haltung der Resignation, des verzichtenden
Rtickblicks. Er ist der miide kleinburgerliche Rentner, dem eine
Welt zerf alien ist, in der er etwas zu bedeuten hat. Die Zeit ist ab-
gelaufen; der einzige Lebenshalt, den die Gegenwart noch zu bieten
vermag, ist die Ruckerinnerung. Ihre verklarende Funktion verrat
x ) Oskar Walzel, Die Deutsche Literatur von Goethes Tod bis zur Gegen-
wart. Berlin 1918. S. 664.
98 Leo Lowenthal
auch die Bildertechnik Storms, durch die das Gedachtnis nur Bruch-
stiicke noch wiederzugeben vermag, solche namlich, die sich nicht
unmittelbar auf die triibe Gegenwart beziehen und der psychischen
Verdrangung darum nicht anheimf alien miissen. Bei Meyer hingegen
dient die Rahmenerzahlung im genauen Wortsinn als prachtiger
Rahmen eines herrlichen Gemaldes, erfiillt sie also gleichsam zwei
Funktionen. Einmal weist sie auf die Wiirdigkeit dessen hin, was sie
umschlieBt, zum andern hebt sie aus dem indifferenten Vielerlei der
Erscheinungen das jeweils Singulare, auf das es ankommt, heraus.
Was in Storms Welt das Zeichen des Bescheidenen, Kleinen und Ab-
sterbenden ist, wird bei Meyer zum Symbol der lebendigsten Wirklich-
keit. Wo die Kleinburgerseele Storms in sich hineinweint, treibt
Meyer wuchtig in die Welt seine Gestalten hinaus, die feudalen
Wunschtraumen des herrschenden Biirgertums um 1870 zu geniigen
vermOgen.
Im AnschluB daran, zugleich als letztes Beispiel fur die Analyse
von Formproblemen, ein kurzer Hinweis auf die Verwendung der
bildmaBigen Schilderung bei Meyer. Fiir den Asthetiker Lessing war
die Schilderung in der Poesie verpont ; bei Meyer ist sie ein beliebtes
Kunstmittel. Fiir Lessing kommt es auf den Fortschritt der Menschen
in der Zeit an, auf die von ihm optimistisch bewertete Entwicklung
des Menschengeschlechts. Fiir ihn geht das Wesentliche in der Zeit
und ihrem ProgreB vor. Er ist der Vorkampfer der aufsteigenden
burgerlichen Gesellschaft, die in den Spannungsgegensatzen des
Dramas mit einer LOsung bereit stent, welche sie fiir den Antago-
nismus in der Gesellschaft zu haben glaubt. Meyer ist der Erbe
dieser dramatischen Auseinandersetzung, soweit die Sieger durch -
gehalten haben und zu GroBbiirgern wurden. Wo Lessing Drama-
tiker ist, darf Meyer Plastiker sein. Wo der eine die Welt
dynamisieren muB, darf der andere das Rad anhalten. Wo dem einen
die Kunst ein Mittel ist, das Allgemeine und fiir alle Menschen Ver-
bindliche als iiberlegen dem historisch einzelnen und Zufalligen auf-
zuweisen, ist sie fiir den anderen die MOglichkeit, eben das Besondere
und GroBartige als allein wirklichkeitswurdig hervorzuheben. Das
an Zeit und Raum nicht fixierte Bild verewigt den groBen Moment der
groBen Gestalt. Auch hier verrat sich eine im Interesse der herr-
schenden Schicht des Biirgertums ideologische Einstellung. Sein
AngehOriger kann im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts die Welt
einzig als Chance der PersOnlichkeit sehen, er enthebt sich kleinlicher
Sorgen des Alltags nicht nur fiir sich, sondern in seinem BewuBtsein
Zur gesellschaftlichen Lage der Literatur 99
auch fur die Masse und ist standig von groBen Geschaften, groBen
Gestalten und groBen Idealen umwittert und bestatigt.
Ein Motiv, das ebenfalls derVerklarungOkonomischerKommando-
hohen dient, finden wir etwa in Stendhals Einstellung zur Langeweile.
Langeweile ist so gut wie der Tod fur ,,the happy few", die allein be-
rechtigt sind, seine Biicher zu lesen und fur die allein er zu schreiben
wtinscht : fur Menschen, die in weitem Abstand von den Konsequenzen
einer kleinen okonomischen Existenz ihrem Gliick in eigengesetzlicher
Moral zu leben berechtigt sind. Wie Stendhal der Romancier der
Burgeraristokratie Napoleons ist, so singt Gustav Freytag dem libe-
ralen Biirgertum Deutschlands urn die Mitte des Jahrhunderts sein
Hohelied. Er verklart es, indem er von vornherein sich den Zugang
zu den Erkenntnissen der Widerspriiche in der biirgerlichen Gesell-
schaft versperrt. Offenkundig liegen diese ja in der Arbeit, ihrer Ver-
teilung, ihrer Organisation, ihrer Entlohnung. Indem man grundsatz-
lich das Motiv der Arbeit aufgreift und undifferenziert es auf den
ebenfalls undifferenzierten Begriff ,,Volk" anwendet, hat man die
Gesellschaftsordnung im wortlichsten Sinn ,,ubersehen", namlich das,
was sie als Gesellschaft konkurrierender Gruppen kennzeichnet. Der
Ideologe steht bei Gustav Freytag also bereits am Anfang, wenn er
als Motto zu seinem Hauptwerk ,,Soll und Haben" die Worte von
Julian Schmidt wahlt : „Der Roman soil das deutsche Volk da suchen,
wo es in seiner Tiichtigkeit zu finden ist, namlich bei seiner Arbeit. "
SchlieBlich soil noch die Analyse des Todesmotivs, das zu wieder-
holten Malen in Morikes „Maler Nolten" und in Meyers „Jurg Je-
natsch" anklingt, angedeutet werden. Gestaltet MOrike in Leben und
Dichtung das Schicksal des Biedermeiers, d. h. der noch unrevolu-
tionaren, aber zur Herrschaft bestimmten biirgerlichen Klasse, emp-
findet er — auch am eigenen Leibe — immer wieder das Todesurteil
aufstrebender burgerlicher Existenzen im Zeitalter der Reaktion,
ist so der Tod in seiner Erzahlung durch die Niederlage des Burger-
turns seiner Generation zu deuten und die Verganglichkeit in ideolo-
gischer Verklarung dieses Schicksals der Schliissel zum Leben, so
wird umgekehrt in der Erzahlung Meyers der Tod zu einem besonders
hoch gesteigerten Augenblick aus der Fulle des Lebens. Lucretia
tOtet Jurg Jenatsch; wir diirfen vermuten, daB diese Tat auch der
Beginn ihrer physischen Vernichtung ist. Aber dieser sinngemaBe
Doppelmord ist der Ausdruck heroischen Lebens; nur diese beiden
sind einander ebenbtirtig, nur diese in Schicksal und Charakter Art-
verwandten haben ein Anrecht, sich wechselweise zu beseitigen. Die
100 Leo Lowenthal
Solidaritat der internationalen f uhrenden Minderheit bewahrt sich
hier bis zum Tode.
Auch bei der materialistischen Analyse der Stof f wahl sei zunachst
auf Freytag und Meyer hinge wiesen. Beide haben historische Romane
und Erzahlungen geschrieben. So wie das Gesamtwerk Freytags
als das Schulbuch des mittleren national-liberalen Burgertums be-
zeichnet werden darf, das die Tugenden und Gefahren seiner Ange-
horigen aufweist, so ist auch die Historie nicht ein Buch der Ver-
zauberung, sondern ein padagogisches Organ. Zur Warnung oder
Nachahmung enthalt sie die Geschichte von Menschen und Gruppen,
aus denen in spateren Generationen tiichtige Burger werden konnten
oder die das ungewisse Schicksal des Adels oder gar das verachtungs-
wiirdiger anderer Gesellschaftsklassen auf sich nehmen muBten.
Spricht sich in dieser Haltung zur Geschichte die Okonomische Posi-
tion eines mit zaher Tiichtigkeit um gesicherte Existenz kampfenden
Burgertums aus, so diirfen wir in der auswahlenden Art, in der Meyer
mit der Geschichte verfahrt, einen ,,groBburgerlichen Historismus"
erblicken. Wo Geschichte nur je und je durch einzelne Erscheinungen
konstituiert wird, tritt nicht nur die Uberfulle der historischen Pha-
nomene in ein belangloses Halbdunkel zuriick, sondern verliert die
Kette der Ereignisse als solche jeden Sinn. Es gibt kein Kontinuum
von Geschehen, welches einen deutbaren Charakter, sei es im Sinne
der Kausalitat oder selbst einer theologischen oder sonst welchen
Teleologie, hatte. Die Veranderungen als solche haben keinerlei Ge-
wicht, im Strome des historischen Lebens der Menschen geht nichts
Entscheidendes vor. Der „Historiker" i n diesem eingeschrankten
Sinne gerat in eine Zuschauerhaltung, in der er das Singulare als ein
groBartiges Schauspiel genieBt. Die Kategorie des Spiels geht in die
reale Geschichte sowohl wie in die Geschichtsforschung derart ein,
daB das Gewimmel derMannigfaltigkeit zum Fundus einesMarionetten-
theaters der Heroen wird und deren Leben selbst zum spielerischen
GenuB des Deutenden. In der hier in Rede stehenden Epoche des
GroBburgertums ist der ihr konforme Historiker wesentlich Asthet.
Ein anderes Beispiel ist das Problem der Politik. Bei Gottfried Keller
finden wir eine geradezu kuhne MiBachtung der wirtschaftlichen
Differenzierung der Menschen, dagegen eine auBerordentliche Be-
deutung der politischen Sphare, sei es, daB sie gelegentlich in der
Karrikierung der Bierbank oder in den weisen Gesprachen der „Auf-
rechten" iiber offentUche Angelegenheiten getroffen wird. In dieser
Uberschatzung des rein Politischen enthullt sich, wenn auch in der
Zur gesellsch aft lichen Lage der Literatur 101
Sprache der Verklarung, das Schicksal des gerade noch eben wirt-
schaftlich gesicherten Schweizer Kleinbiirgertums, das Keller dar-
stellt. Politik als ein isoliertes Phanomen zu nehmen, in der Politik
eine Sphare zu sehen, neben der es im gesellschaftlichen Geschehen
auch andere gibt wie Kunst oder Wirtschaft oder Recht, die
Politik als eine befriedigende Kampfstatte zu betreten, auf der
offentliche Angelegenheiten sich regeln lasseri, ja aus der uberhaupt
ira Grunde die offentlichen Angelegenheiten bestehen — alle diese
trugerischen Vorstellungen entstehen in solchen Schichten, deren
Situation in der Tat im wirtschaftlichen Kampf zwar nicht verzweifelt,
aber ohne Chancen erscheint. Soweit in der Politik die Vorstellung
von dem Ausgleich der miteinander ringenden Krafte, das Sich-
Einigen auf einem goldenen Mittelweg, ja letzten Endes die har-
monische Verschmelzung und Versohnung der einander nicht recht
kennenden, an verschiedenen Enden stehenden Menschen auftritt,
ist diese Vorstellung gerade haufig von gesellschaftlichen Mittel-
schichten produziert. Denn diese finden eine ideologische Verbramung
ihrer Gesamtsituation in dem Glauben, daB die „Mitte" in der Ge-
sellschaft eine besondere Mission habe. Auch Stendhal verwendet
politische Stoffe, aber er bedarf bei ihnen, sei es bewuBt oder unbewuBt,
nicht der gleichen ideologischen Kunstgriffe, da er dem Lebensgefiihl
der franzosischen GroBbourgeoisie seiner Zeit ein aufgeklartes Be-
wuBtsein verschafft. Fur ihn sind die politischen Geschafte nur ein
Teil oder ein Ausdruck groBer okonomischer Auseinandersetzungen,
und die Regierungen sind ihm nichts anderes als geschaftliche Kon-
trahenten, die man in ganz bestimmter Weise zu behandeln hat.
Angedeutet, wenn auch nicht ausgefuhrt sei, da es sich hierbei nicht
mehr in erster Linie um eine Frage der kiinstlerischen Gestaltung
handelt, daB die materialistische Literaturbetrachtung einen wichtigen
Fingerzeig immer durch das Studium des BewuBtseins hat, das dem
Dichter von den Aufgaben und der Stellung seines Berufs im Ganzen
der burgerlichen Gesellschaft eignet. An diesem BewuBtsein erhellt
jedesmal in einer sehr genauen Weise die psychologische Beschaffenheit
des Schriftstellers, und damit eroffnet es die Moglichkeit des Studiums
der vermittelnden Zwischenglieder zwischen der gesellschaftlichen
Struktur und dem Werk durch die Psyche des Dichters hindurch. Die
rasende Verliebtheit in die kunstlerische Position bei Balzac, die hoch-
miitige Isolierung Flauberts, die gelassene Haltung Stendhals und
Meyers zu poetischen Aufgaben, die bereite Einordnung des Dichters
und Schriftstellers in die biirgerliche Ordnung durch Freytag sind
102 Leo Lowenthal, Zur gesellschaftlichen Lage der Literatur
ebensoviele Hinweise auf die bestimmten Formungen, Veranderungen
und Verdeckungen, die in den ausgefuhrten Werken dieser Dichter
die okonomische Struktur ihrer Tage gefunden hat.
SchlieBlich bleibt es geschichtsphilosophisch interessant, daB eine
fur die Forschung so unendlich wichtige und zentrale Aufgabe wie das
Studium der Wirkung dichterischer Werke fast iiberhaupt nicht in
Angriff genommen worden ist, obwohl in Zeitschriften und Zeitungen,
Briefen und Erinnerungen ein unendliches Material bereitliegt, urn
iiber die Aufnalime der Dichtungen in bestimmten gesellschaftlichen
Gfuppen und Individuen sich zu unterrichten. Diese Aufgabe bleibt
der materialistischen Literaturgeschichte vorbehalten, die unbe-
ktimmert um die bisherige angstliche Behiitung der Poesie deren Stu-
dium breit zu organisieren hat, ohne dabei fiirchten zu miissen, in
bloBer Philologie und Datensammlung stecken zu bleiben, da die ihr
zugrunde liegende gesellschaftliche Theorie ihr die Arbeitsrichtung
vorzuschreiben vermag.
Zur gesellschaftlichen Lage der Musik.
Von
Theodor Wiesengrund-Adorno (Frankfurt a. M.).
1. — UmriB. — Produktion.
Wann immer heute Musik erklingt, zeichnet sie in den bestimm-
testen Linien die Widerspriiche und Briiche ab, welche die gegen-
wartige Gesellschaft durchfurchen und ist zugleich durch den tiefsten
Bruch von eben der Gesellschaft abgetrennt, die sie selber samt
ihren Briichen produziert, ohne doch mehr als Abhub und Trummer
der Musik aufnehmen zu konnen. Die Rolle der Musik im gesell-
schaftlichen ProzeB ist ausschlieBend die der Ware ; ihr Wert der des
Marktes. Sie dient nicht mehr dem unmittelbaren Bediirfnis und
Gebrauch, sondern fiigt sich mit alien anderen Gtitern dem Zwang des
Tausches um abstrakteEinheiten und ordnet mit ihrem Gebrauchswert,
wo immer er ubrig sein mag, dem Tauschzwang sich unter. Die
Inseln eines vorkapitalistischen ,,Musizierens", wie sie das 19. Jahr-
hundert noch dulden konnte, sind uberspiilt ; die Technik von Radio
und Tonfilm, machtigen Monopolen zugehorig und in unbeschrankter
Verfugung iiber den gesamten kapitalistischen Propagandaapparat,
hat selbst von der innersten Zelle musikalischer Ubung, dem haus-
lichen Musizieren, Besitz ergriffen, deren Moglichkeit bereits im
19. Jahrhundert, gleich dem biirgerlichen Privatleben insgesamt, nur
die Ruckseite eines gesellschaftlichen Korpers bildete, dessen Vorder-
seite die privatkapitalistische Produktion ausmacht. Die Dialektik
der kapitalistischen Entwicklung hat auch diese letzte Unmittel-
barkeit — selber eine bloB scheinhafte, in welcher die Balance zwischen
der individuellen Produktion und dem gesellschaftlichen Verstandnis
stets bedroht und seit dem ,. Tristan" gestort war — ganzlich auf-
gehoben. Indem der kapitalistische ProzeB die musikalische Produktion
und Konsumtion restlos in sich hineinzieht, wird die Entfremdung
zwischen der Musik und den Menschen vollkommen. Wohl hatte die
Objektivierung und Rationalisierung der Musik, ihre Abl6sung von der
bloBen Unmittelbarkeit des Gebrauchs, sie als Kunst erst gepragt : an
Stelle ephemeren Erklingens ihr dieDauer verliehen; dieMacht weit-
reichender Triebsublimierung, verbindlicher Aussprache des Humanen
ihr geschenkt. Nunaber verfallt die rationalisierte Musik den gleichen
104 Theodor Wiesengrund-Adorno
Gefahren wie die rationalisierte Gesellschaft, in der das Klassen-
interesse der Rationalisierung Einhalt gebietet, sobald sie wider die
Klassenverhaltnisse selber sich kehren konnte; das nun die Men-
schen in einem Stande der Rationalisierung belaBt, der, wenn
ihm die MOglichkeit dialektischer Weiterentfaltung versperrt ist,
zwischen seinen unaufgelosten Widerspnichen die Menschen zer-
reibt. Die gleiche Macht der Verdinglichung, die die Musik als Kunst
konstituierte und die nie in bloBe Unmittelbarkeit sich riickver-
wandeln lieBe, wollte man nicht die Kunst auf ein vor-arbeitsteiliges
Stadium zuriickverweisen — die gleiche Macht der Verdinglichung
hat heute den Menschen die Musik genommen und ihnen bloB deren
Schein gelassen; die Musik aber, soweit sie sich nicht dem Gebot der
Warenproduktion unterwirft, ihres gesellschaftlichen Haftes beraubt,
in den luftleeren Raum verbannt und ihre Gehalte ausgehohlt. Davon
hat jede Betrachtung der gesellschaftlichen Lage der Musik auszu-
gehen, die nicht den Tauschungen verfallen will, die heute — guten
Teiles der Verhullung des tatsachlichen Zustandes, auch der ver-
mittelnden Apologie der okonomisch eingeschuchterten Musik zu-
liebe — die Diskussion beherrschen. Diese Tauschungen riihren
daher, daB die Musik selber unter der Ubermacht des monopol-
kapitalistischen Musikbetriebes zum BewuBtsein ihrer eigenen Ver-
dinglichung, der Entfremdung von den Menschen gelangte; in einer
Unkenntnis des gesellschaftlichen Prozesses indessen, die ebenfalls
gesellschaftlich produziert und erhalten wird, die Schuld daran nicht
der Gesellschaft sondern sich selber zuschreibt und sich in der Illusion
halt, die Isolierung der Musik sei isoliert, namlich bloB von der Musik
aus korrigierbar. Statt dessen gilt es hart einzusehen, daB die Gesell-
schafts-Fremdheit der Musik, all das, wofur ein eilfertiger und rational
unerhellter musikalischer Reformismus SchimpfwOrter wie Individua-
lismus, Artistentum, technische Esoterik verwendet, selber gesell-
schaftliches Faktum, selber gesellschaftlich produziert ist. Und darum
auch korrigierbar nicht innermusikalisch, sondern bloB gesellschaftlich :
durch Veranderung der Gesellschaft. Es steht dahin, was zu solcher
Veranderung dialektisch Musik etwa beitragen mag ; gering aber wird
ihr Beitrag sein, wenn sie von sich aus eine Unmittelbarkeit herzu-
stellen trachtet, die gesellschaftlich nicht bloB heute verwehrt,
sondern schlechterdings nicht wiederherstellbar noch selbst wixnsch-
bar ist ; und damit zur Verhullung der Lage beitragt. Es ist weiter die
Frage, wie weit Musik, soweit sie etwa selber in den gesellschaftlichen
ProzeB eingreifen sollte, in der Lage sein wird, als Kunst einzu-
Zur gesellschaftlichen Lage der Musik 105
greifen. Wie immer jedoch es damit sich verhalte: heute und hier
vermag Musik nichts anderes als in ihrer eigenen Struktur die gesell-
schaftlichen Antinomien darzustellen, die auch an ihrer Isolation
Schuld tragen. Sie wird urn so besser sein, je tiefer sie in ihrer Gestalt
die Macht jener Widerspriiche und die Notwendigkeit ihrer gesell-
schaftlichen Uberwindung auszuformen vermag ; je reiner sie, in den
Antinomien ihrer eigenen Formensprache, die Not des gesellschaft-
lichen Zustandes ausspricht und in der Chiff ernschrift des Leidens zur
Veranderung aufruft. Ihr frommt es nicht, in ratlosem Entsetzen
auf die Gesellschaft hinzustarren : sie erfullt ihre gesellschaftliche
Funktion genauer, wenn sie in ihrem eigenen Material und nach ihren
eigenen Formgesetzen die gesellschaftlichen Probleme zur Darstellung
bringt, welche sie bis in die innersten Zellen ihrer Technik in sich
enthalt. Die Aufgabe der Musik als Kunst tritt damit in gewisse
Analogie zu der der gesellschaftlichen Theorie. Wollte man die
immanente Entfaltung der Musik absolut setzen, als bloBe Spiegelung
des gesellschaftlichen Prozesses, so wiirde man damit eben den
Fetischcharakter der Musik sanktionieren, der ihre Not und das heute
gerade von ihr darzustellende Grundproblem ist. DaB sie andererseits
nicht nach der bestehenden Gesellschaft gemessen werden darf, die
sie produziert und zugleich von sich fernhalt, steht klar. DaB sie
vollends nicht, abstrakt und fern von den tatsachlichen gesellschaft-
lichen Verhaltnissen, als „geistiges" Phanomen genommen werden
sollte, das irgend welche Wunsche der gesellschaftlichen Veranderung
unabhangig von deren empirischer VerwirkUchung im Bilde vorweg-
nehmen kann, ist die Voraussetzung jeder historisch-materialistischen
und nicht bloB ,,geistesgeschichtlichen" Methode. Damit ist die
Relation von gegenwartiger Musik und Gesellschaft nach alien
Pvichtungen hin gleich problematisch. Ihre Aporien teilt sie mit der
gesellschaftlichen Theorie; zugleich aber auch die Verhaltensweisen,
in der diese den Aporien gegeniibertritt oder gegeniibertreten sollte.
Von Musik, die heute ihr Lebensrecht bewahren will, ist in gewissem
Sinne Erkenntnischarakter zu fordern. In ihrem Material muB
sie die Probleme rein ausformen, die das Material — selber nie reines
Naturmaterial, sondern gesellschaftlich-geschichtlich produziert —
ihr stellt; die LOsungen, die sie dabei findet, stehen Theorien gleich:
in ihnen sind gesellschaftliche Postulate enthalten, deren Verhaltnis
zur Praxis zwar auBerst vermittelt und schwierig sein mag und die
keinesfalls umstandslos sich mogen realisieren lassen, uber die aber
in letzter Instanz entscheidet, ob und wie sie in die gesellschaftliche
106 Theodor Wiesengrund-Adorno
Wirklichkeit einzugehen vermogen. Der KurzschluB: diese Musik
ist unverstandlich, also esoterisch-privat, also reaktionar, mufi
abgewiesen werden: ihm liegt mit einer romantischen Vorstellung
primitiver musikalischer Unmittelbarkeit zugleich die Meinung
zugrunde, das empirische BewuBtsein der gegenwartigen Gesellschaft,
das in Enge und Unerhelltheit, ja bis zur neurotischen Dummheit von
der Klassenherrschaft zu deren Erhaltung gefordert wird, konne als
positives MaB einer nicht mehr entfremdeten, sondern dem freien
Menschen zugehdrigen Musik gelten. So wenig die Politik von diesem
BewuBtseinsstand abstrahieren darf, mit dem die gesellschaftliche
Dialektik zentral rechnen muB, so wenig darf sich dafur die Erkenntnis
von einem BewuBtsein Grenzen setzen lassen, das von der Klassen-
herrschaft produziert ist und auch als KlassenbewuBtsein des Prole-
tariats die Male der Verstummelung durch den Klassenmechanismus
weiter tragt. Wie die Theorie iiber dies gegenwartige BewuBtsein
der Massen hinausgreift, muB auch Musik dariiber hinausgreifen. Wie
aber die Theorie dialektisch zur Praxis steht, an welche sie nicht bloB
Forderungen richtet, sondern von der sie auch Forderungen liber-
nimmt, so wird auch eine Musik, die das SelbstbewuBtsein ihrer
gesellschaftlichen Funktion erlangt hat, dialektisch zur Praxis stehen,
Nicht indem sie heute und hier, Ware gerade im Schein der Unmittel-
barkeit, sich dem ,,Gebrauch" fugt; wohl aber indem sie in sich
selber, in Ubereinstimmung mit dem Stande der gesellschaftlichen
Theorie, alle die Elemente ausbildet, deren objektive Intention die
Uberwindung der Klassenherrschaft ist, auch wofern deren Ausbildung
gesellschaftlich isoliert und zellenhaft wahrend der Klassenherrschaft
sich vollzieht. Wenn die fortgeschrittenste kompositorische Produk-
tion der Gegenwart, lediglich unterm Zwang der immanenten Ent-
faltung ihrer Probleme, biirgerliche Grundkategorien wie die schop-
f erische Personlichkeit und ihren Seelenausdruck, die Welt der privaten
Gefuhle und die verklarte Innerlichkeit auBer Aktion setzte und an
ihre Stelle h6chst rationale und durchsichtige Konstruktionsprinzipien
riickte, so ist diese Musik, gebunden an den burgerlichen Produktions-
vorgang, zwar gewiB nicht als ^klassenlose" und eigentliche Zukunfts-
musik anzuschauen, wohl aber als die, welche ihre dialektische Er-
kenntnisf unktion am genauesten erf ullt . Der ungemein hef tige
Widerstand, dem in der gegenwartigen Gesellschaft gerade solche
Musik begegnet und der den gegen alle, sei's noch so sehr literarisch-
politisch akzentuierte, Gebrauchs- und Gemeinschaftsmusik iiber-
trifft — dieser Widerstand scheint immerhin darauf hinzudeuten,
Zur gesellschaftlichen Lage der Musik 107
daB die dialektische Funktion dieser Musik in der Praxis, ob auch bloB
negativ, als ,,Destruktion", bereits fiihlbar wird.
Unterm gesellschaftlichen Aspekt lafit sich die gegenwartige
Musikiibung, Produktion und Konsumtion, drastisch aufteilen in
solche, die den Warencharakter umstandslos anerkennt und, unter Ver-
zicht auf jeden dialektischen Eingriff , nach den Erfordernissen des
Marktes sich richtet und in solche, die sich prinzipiell nicht nach dem
Markt richtet. Anders gewandt: in der Entfremdung von Gesellschaft
und Musik stellt die erste Gruppe — ■ passiv und undialektisch — sich
auf die Seite der Gesellschaft, die zweite auf die der Musik. Die her-
kommliche, in der biirgerlichen Musikkultur sanktionierte Scheidung
von „leichter" und „ernster" Musik fallt mit dieser scheinbar zu-
sammen. Freilich nur scheinbar. Denn ein groBer Teil der vorgeblich
„ernsten" Musik richtet sich wie die Komponisten leichter Musik
nach den Erfordernissen des Marktes, ware es auch unterm Schutz
okonomisch undurchsichtiger „Mode ( ', oder kalkuliert wenigstens die
Markterfordernisse der Produktion ein; die Verhullung der Markt -
funktion solcher Musik durch den Begriff der Personlichkeit, der
Schlichtheit, des Lebens dient nur dazu, sie zu verklaren und damit
ihren Markt wert mittelbar zu steigern. Andererseits enthalt gerade die
„leichte" Musik, von der gegenwartigen Gesellschaft geduldet, ver-
achtet und benutzt gleich der Prostitution, mit der sie als ..leicht-
geschurzt" nicht umsonst verglichen wird, Element e, die wohl Trieb-
befriedigungen der heutigen Gesellschaft darstellen, deren offiziellen
Anspnichen aber widerstreiten und damit in gewissem Sinne die
Gesellschaft transzendieren, der sie dienen. In der Scheidung von
leichter und ernster Musik spiegelt die Entfremdung von Menschen
und Musik sich nur verzerrt, namlich so, wie sie dem Burgertum
selbst sich darstellt. Sie will die ,,ernste" Musik von der Entfremdung
ausnehmen, die doch Strawinskijs Psalmensymphonie mit dem letzten
Schlager von Robert Stolz teilt, und dafiir die Last der Entfremdung
unter dem Titel ,, Kitsch'* allein jener Musik auf burden, die als exakte
Reaktion auf Triebkonstellationen der Gesellschaft als einzige dieser
angemessen ist, aber gerade durch ihre Angemessenheit die Gesellschaft
desavouiert. Darum ist die Scheidung leichter und ernster Musik durch
jene andere zu ersetzen, die die beiden Halften der musikalischen Welt-
kugelgleichermaBen imZeichen der Entfremdung sieht: Halften eines
Ganzen, das freilich durch deren Addition niemals rekonstruier bar ware.
Die musikalische Produktion im engeren Sinne, die sich nicht
umstandslos dem Marktgesetz unterwirft, also die .,ernste" unter
108 Theodor Wiesengrund-Adorno
AusschluB der quantitativ freilich tiberwiegenden, die verkappt
ebenfaUs dem Markt dient, ist die, welche die Entfremdung gestaltet.
Grob laBt sich schematisieren : ihr erster Typ ist einer, der ohne
BewuBtsein des gesellschaftlichen Ortes oder gleichgultig dagegen,
bloB immanent seine Probleme und Losungen auskristallisiert und
gewissermaBen fensterlos wie die Leibnizsche Monade zwar nicht eine
prastabilierte Harmonie, wohl aber eine historisch produzierte Disso-
nanz, namlich die gesellschaftlichen Antinomien „vorstellt". Dieser
erste Typ, als „moderne" Musik der allein ernstlich chokierende,
wird wesentlich von Arnold Schonberg und seiner Schule vertreten.
— Dem zweiten Typ rechnet Musik zu, die die Tatsache der Ent-
fremdung, als ihre eigene Isolierung und als „lndividualismus" ?
erkennt und ins BewuBtsein hebt, aber in sich selbst, formimmanent
und bloB asthetisch, also ohne Riicksicht auf die tatsachliche Gesell-
schaft, aufzuheben trachtet; meist durch einen Riickgriff auf ver-
gangene Stilformen, die sie der Entfremdung enthoben meint, ohne
zu sehen, daB sie in vollig veranderter Gesellschaft und vollig ver-
andertem Musikmaterial nicht wiederherstellbar sind. Insofern diese
Musik, ohne sich auf eine gesellschaftliche Dialektik einzulassen, im
Bilde eine nichtexistente „objektive" Gesellschaft oder, naeh ihrer
Intention, , , Gemeinschaf t ( ' zitieren mochte, mag sieObjektivismus
heiBen. Zum Objektivismus zahlt in den hochkapitalistisch-indu-
striellen Landern der Neoklassizismus, in den unentwickelteren
agrarischen der Folklorismus. Der wirksamste Autor des Objekti-
vismus, nacheinander iibrigens, aufschluBreicher Weise, seiner beiden
Hauptrichtungen, ist Igor Strawinskij. — Der dritte Typ ist eine
Zwischenform. Mit dem Objektivimus geht er von der Erkenntnis der
Entfremdung aus. Zugleich aber erkennt er, gesellschaftlich erhellter
als jener, dessen Ldsungen als Schein. Er verzichtet auf die positive
Losung und begniigt sich, die gesellschaftlichen Briiche durch briichige,
sich selbst als scheinhaft setzende Faktur hervortreten zu lassen, ohne
sie mehr durch asthetische TotaHtat zu iiberwolben. Er bedient sich
dabei der Formsprache teils der burgerhchen Musikkultur des 19. Jahr-
hunderts, teils der heutigen Konsummusik, urn sie zu enthiillen. Mit
der Sprengung der asthetischen Formimmanenz transzendiert dieser
Typ zum Literarischen. Weitreichende sachhche Ubereinstimmungen
mit den franzosischen Surrealisten berechtigen dazu, beim dritten
Typ von surrealistischer Musik zu sprechen. Sie ist ausgegangen
vom mittleren Strawinskij, dem der Histoire du soldat zumal. Am
konsequentesten ist sie von Kurt Weill in den gemeinsam mit Brecht
Zur gesellschaffclichen Lage der Musik 109
produzierten Werken, besonders der ,,Dreigroschenoper" und „Maha-
gonny" ausgebildet worden. — Der vierte Typ ist der solcher Musik,
die die Entfremdung von sich aus und real zu durchbrechen trachtet,
sei es auch auf Kosten der immanenten Gestalt. Er wird gemeinhin
mit dem Namen „Gebrauchsmusik" belegt. Doch zeigt gerade die
charakteristische Gebrauchsmusik, wie sie zumal von Rundfunk- und
Theaterbestellungen hervorgerufen wird, bereits zu deutliche Ab-
hangigkeiten vom Markt, als da8 sie hier zur Diskussion stiinde.
Statt ihrer erheischen Aufmerksamkeit Bestrebungen wie etwa die
einer vom Neoklassizismus ausgehenden ,,Gemeinschaftsmusik", die
Hindemith vertritt, und die proletarischen Chorwerke von Hanns
Eisler.
Arnold Schonberg, als intellektualistisch, destruktiv, abstrakt
und esoterisch verfehmt, trifft mit jedem neuen Werk auf Widerstande,
die denen gegen die Psychoanalyse nicht unahnlich sind. In der Tat
zeigt er, nicht zwar dem konkreten Gehalt seiner heute von alien
psych ologisch en Bezug abgelosten Musik, wohl aber der gesellschaft-
lichen Struktur nach weitreichende Ubereinstimmungen mit Freud.
Gleich ihm und gleich Karl Kraus, zu dessen sprachkritischer
Bemuhung seine Reinigung des musikalischen Materials das Seiten-
stiick abgibt, rechnet der Wiener Schonberg zu jenen dialektischen
Erscheinungen des biirgerlichen Individualismus — das Wort ganz
allgemein genommen — , die ohne Riicksicht auf eine vorgedachte
gesellschaftliche Totalitat in ihren angeblich ,,spezialisierten :i
Problemkreisen arbeiten, in ihnen aber Losungen gewinnen, die sich
unvermerkt wider die Voraussetzungen des Individualismus kehren
und umschlagen; Losungen, wie sie einem gesellschaftlich orientierten
biirgerlichen Reformismus prinzipiell versagt sind, der seine auf die
Totalitat abzielende Einsicht, die cloch nicht den Grund erreicht,
mit „vermittelnden" und damit verhiillenden Losungen bezahlen mufi.
Wenn Freud, urn zu den objektiven Symbolen und schlieBlich der
objektiven Dialektik des BewuBtseins der Menschen in der Geschichte
zu gelangen, die Analyse des individuellen BewuBtseins und Unbe-
wuBtseins durchfiihren muBte; wenn Kraus, um in der Sphare des
,,Uberbaus (t die Konzeption des Sozialismus gleichsam zum zweiten
Mai zu vollbringen, nichts anderes tat, als das burgerliche Leben mit
seiner eigenen Norm des richtigen individuellen zu konfrontieren und
mit den Individuen deren Norm enthiillte : dann hat, nach dem gleichen
Schema, Schonberg die Ausdrucksmusik des privaten biirgerlichen
Individuums, lediglich ihre eigenen Konsequenzen verfolgend, zur
110 Theodor Wiesengrund-Adorno
Aufhebung gebracht und eine andere Musik an ihre Stelle gesetzt, der
zwar unmittelbare gesellschaftliche Funktionen nicht zukommen, ja
die die letzte Kommunikation mit der Horerschaft durchschnitten
hat, die aber einmal an immanent-musikalischer Qualitat, dann an
dialektischer Aufklarung des Materials alle andere Musik der Zeit
hinter sich zurueklaBt und eine so vollkommene rationale Durch-
konstruktion darbietet, daB sie mit der gegenwartigen gesellschaft-
lichen Verfassung schlechterdings unvereinbar ist, die denn auch in
all ihren kritischen Reprasentanten unbewuBt sich zur Wehr setzt
und dieNatur wider denAngriff desBewuBtseins zuHilfe ruft, den sie
bei Schonberg erfuhr. Mit ihm bat, zum ersten Male vielleicht in
der Geschichte der Musik, BewuBtsein das musikalische Natur-
material ergriffen und beherrscht es. Der Durchbruch des BewuBtseins
aber ist bei ihm nicht idealistisch : nicht als Produzieren von Musik aus
bloBem Geist zu verstehen. Vielmehr darf in strengem Sinn von
Dialektik die Rede sein. Denn die Bewegung, die Schonberg vollzogen
hat, geht au-s von Fragestellungen, wie sie im Material selbst gelegen
sind, und die Produktivkraft, die sie in Bewegung bringt, ist eine
Triebrealitat, namlich der Drang zu unverstellter und ungehemmter
Expression des Psychischen und gerade des UnbewuBten, wie sie in
Schonbergs mittlerer Phase, der der „Erwartung", der ,,Glucklichen
Hand" und der Kleinen Klavierstiicke, sein Werk in unmittelbare Be-
ziehung zur Psychoanalyse setzt. Das objektive Problem aber, das diesem
Drang gegeniiber Hegt, ist dies: wie vermag das technisch durchgebil-
detste Material — das also, das Schonberg von Wagner und andererseits
von Brahms empfing — der radikalen Expression des Psychischen
sich zu unterwerfen ? Das vermag es nur, indem es sich von Grund
auf verandert: namlich alle die vorgegebenen Bindungen aufgibt, die
— Spiegelungen eines ,,Einverstandnisses" der biirgerlichen Gesell-
schaft mit der Psyche des Individuums, welches nun von dessen
Leiden aufgektindigt wird — der Freiziigigkeit des individuellen
Ausdrucks im Wege stehen. Es sind das die uberkornmenen musi-
kalischen Symmetrieverhaltnisse in jedem Betracht, die auf einer
wie immer gearteten Technik der Wiederholung basieren, und ihre
Kritik ereignet sich, abermals in Ubereinstimmung mit Karl Kraus,
aber auch etwa den architektonischen Absichten von Adolf Loos,
als Kxitik jeglichen Ornaments. Bei der Verschranktheit aller
musikalischen Elemente bleibt diese Kxitik nicht etwa bei der musi-
kalischen Architektur, deren Symmetric und Ornamentik sie
negiert, stehen; sie geht ebenso auf das harmonisehe Korrelat der
Zur gesellschaftlichen Lage der Musik 111
tektonischen S3'mmetrieverhaltnisse, die Tonalitat, die zugleich
von der Dissonanz als dem Trager des radikalen Ausdrucksprinzips
getroffen wird; mit dem Zerfall des tonalen Schemas emanzipiert
sich der bislang akkordisch eingeengte Kontrapunkt und erzeugt
jene Form von Polyphonie, die unter dem Namen der ,,Linearitat"
bekannt ist; schlieBlich wird auch der totale, homogene Klang, wie
er von der Substanz des orchestralen Streichertuttis getragen war,
angegriffen. Es ist nun die eigentlich zentrale und in der iib-
lichen Betrachtungsweise niemals recht gewiirdigte Leistung Schon-
bergs, daB er schon von den fruhsten Werken, etwa den Liedern op. 6
an die expressive Kritik des vorgegebenen Materials und seiner
Formen niemals ,,expressionistisch", durch selbstherrlich.es und riick-
sichtsloses Einlegen subjektiver Intentionen ins heterogene Material
vollzog, sondern daB jede Geste, mit der er ins materiale Gefuge
eingreift, zugleich die prazise Antwort ist auf Fragen, welche das
Material in Gestalt der materialeigenen Probleme an ihn richtet.
Jede subjektiv-expressive Errungenschaft Schonbergs ist zugleich
eine Auflosung objektiv-materialer Widerspriiche, wie sie sowohl in
der chromatischen Sequenztechnik Wagners wie der diatonischen
Variationstechnik Brahmsens fortbestanden. Wenn der esoterische
Schonberg nicht einer spezialisierten und gesellschaftlich irrelevanten
Musikgeschichte als Geistesgeschichte vorbehalten ist, sondern in
seiner materialen Dialektik auf die gesellschaftliche projiziert werden
darf, so rechtfertigt sich das damit, daB er in Gestalt der materialen
Probleme, die er iibernahm und weitertrieb, die Probleme der Gesell-
schaft vorfand, die das Material produzierte und in ihm ihre Wider-
spriiche als technische Probleme aufstellte. DaB Schonbergs Losungen
der technischen Probleme trotz ihrer Isoliertheit gesellschaftlich
belangvoll sind, erweist sich daran, daB er, trotz und vermoge seiner
eigenen expressiven Urspriinge, in ihnen alien an Stelle der
privaten Zufalhgkeit, die man recht wohl als eine Art anarchischer
Musikproduktion bezeichnen kOnnte, eine objektive GesetzmaBigkeit
riickte, die dem Material nicht von auBen aufgezwungen, sondern
aus ihm selber herausgeholt ist und es in geschichtlichem ProzeB
rationaler Durchsichtigkeit annahert. Das ist der Sinn des Um-
schlages, der technologist als „Zwolftonkomposition" figuriert. Im
gleichen Augenblick, da das gesamte musikalische Material der
Macht der Expression unterworfen ist, erlischt die Expression —
als ob sie nur am Widerstand des subjekt-fremden, selber ,,entfrem-
deten" Materials sich entziindete. Die subjektive Kritik der orna-
112 Theodor Wiesengrund-Adorno
mentalen und Wiederholungsmomente zeitigt eine objektive, nicht-
expressive Struktur, die an Stelle von Symmetric und Wiederholung
den AusschluB der Wiederholung in der Zelle, namlich die Verwendung
aller zwolf Tone des Chromas vor der Wiederholung eines Tones
daraus setzt und zugleich den ,,freien", zufalligen, konstruktiv un-
gebundenen Einsatz irgendeines Tones verwehrt. Entsprechend
tritt fur die expressiv gebundene leittonige Harmonik eine komplemen-
tare ein. Der auBersten Strenge des immanenten Geftiges ist zuge-
ordnet radikale Freiheit von alien dinglichen, von auBen der Musik
gesetzten Normen, so daB sie wenigstens in sich selber die Entfremdung
als eine von subjektiver Formung und objektivem Material aufgehoben
hat und dem zustrebt, wofiir Alois Haba den sch5nen Ausdruck
„Musikstil der Freiheit" fand. Freilich tiberwindet sie die Ent-
fremdung nach innen nur durch deren Vollendung nach auBen.
Und es ware romantische Verklarung der Meisterschaft, auch der
Schonbergs, der groBten der gegenwartigen Musik, Verkennung der
heute unaufloslichen Aporien der Musik, wollte man annehmen,
deren immanente Be waltigung sei tatsachlich bruchlos mOglich .
Denn mit der Textwahi zu seiner letzten Oper „Von heute auf morgen",
einer Verherrlichung der burgerlichen Ehe gegeniiber der Ldbertinage,
die ,,Liebe <e und „Mode" bedenkenlos kontrastiert, unterstellt immer-
hin Schonberg selber seine eigene Musik einer burgerlichen Privat-
sphare, die sie ihrer objektiven Beschaffenheit nach angreift. Ge-
wisse klassizistische Neigungen in der groBen Formarchitektur, wie
sie sich beim letzten Schonberg verfolgen lassen, mogen in die gleiche
Richtung weisen. Vor allem aber : es ist die Frage, ob das Ideal des
geschlossenen, in sich ruhenden Kunstwerkes, das Schonberg von
der Klassik ubernahm und treu festhalt, mit den Mitteln, die er
auskristallisierte, noch vereinbar ist und ob es, als Totalitat und
Kosmos, sich uberhaupt noch halten laBt. Mag immer in der tiefsten
Schicht SchOnbergs Werk diesem Ideal entgegen sein — das Moment
der Scheinlosigkeit zeugt dafiir, das schon in seinem Kampf gegen
die Ornamentik sich aussprach und mehr noch in der Nuchternheit
seiner heutigen musikalischen Diktion, auch der der Texte — ; mag
selbst seinem Werk als dessen Geheimnis Kunstfeindschaft inne-
wohnen: dem expliziten Anspruch nach will es mit historisch durch-
rationalisierten Mitteln das Beethovensche, autonome, sich selbst
genugende und symbolkraftige Kunstwerk noch einmal herbei-
S&Wingen, und die Moglichkeit solcher Rekonstruktion ist, wie die der
Krausschen Rekonstruktion einer reinen Sprache, zu bezweifeln.
Zur gesellschaft lichen Lage der Musik 113
Hier, freilich nur hier und nicht in der Unpopularitat seines Werkes
st6Bt die gesellschaftliche Einsicht auf seine Grenze; auf die Grenze
nicht sowohl seiner Begabung als vielmehr die der Funktion von
Begabung iiberhaupt. Sie laBt sich musikalisch nicht mehr iiber-
schreiten. An ihr hat Alban Berg, Schonbergs Schiiler, sich ange-
siedelt. Kompositionstechnisch stellt sein Werk gewissermaBen die
riickwartige Verbindungslinie zwischen dem vorgeschobenen Schon-
bergschen ceuvre und der vorangegangenen Generation: Wagner,
Mahler, in mancher Hinsicht auch Debussy dar. Diese Linie ist aber
vom Schonbergschen Niveau aus gezogen: dessen technische Er-
rungenschaf ten : extreme Variation und Durchkonstruktion, auch
das Zwolftonverfahren sind auf das altere, chromatisch-leittonige
Material angewandt, ohne es, wie es im Werke Schonbergs geschieht,
,,aufzuheben": die expressive Funktion wird erhalten. Bleibt nun
Berg damit mehr als Schonberg der burgerlich-individualistischen
Musik — in den herkommlichen Kategorien der Stilkritik: der neu-
deutschen Schule — verhaftet, so entringt er sich ihr in anderer
Richtung ebenso vollkommen wie Schonberg. Seine Dialektik tragt
sich zu im Bereich des musikalischen Ausdrucks, der nicht, wie die
Anwalte einer leer-kollektivistischen Neusachlichkeit ohne UnterlaB
proklamieren, ohne weiteres als „individualistisch" verworfen werden
kann. Die Frage nach dem Ausdruck laBt sich statt dessen nur konkret,
nur nach dem Substrat des Ausdrucks, dem Ausgedriickten, und
nach der Bundigkeit des Ausdrucks selber beantworten. Wird diese
Frage im Bereich der burgerlich-individualistischen Ausdrucksmusik
ernstlich gestellt, so zeigt sich, daB diese Ausdrucksmusik nicht nur als
Musik, sondern ebenso auch als Ausdruck fragwurdig ist: daB, ahnlich
wie in einem groBen Teil der ,,psychologischen" Romanliteratur des
19. Jahrhunderts, gar nicht die psychische Realitat des Bezugs-
subjekts, sondern eine fiktive, stilisierte und in vielem Betracht
gefalschte ausgedriickt ward. Auf diesen Sachverhalt deutet in der
Musik die Verschrankung des psychologischen Ausdrucks- mit
dem Stilbegriff der Bomantik hin. Gelingt es nun der Musik, das
fiktive psychologische Substrat, also vorweg das heroisch-erotische
Menschenbild Wagners zu durchstoBen und ins reale Substrat einzu-
dringen, so andert sich die Funktion der Musik dem burgerlichen
Individuum gegeniiber. Sie will es dann nicht mehr verklaren und
als Norm statuieren, sondern seine Not und sein Leiden aufdecken,
die von der Konvention, der musikalischen nicht anders als der
psychologischen, verborgen werden; indem sie die Not — oder die
114 Theodor Wiesengrund-Adorno
Gemeinheit — des Individuums ausspricht, ohne es in seiner Iso-
lierung zu belassen, sondern indem sie es zugleich objektiviert, kehrt
sie sich schlieBlich gegen die Ordnung der Dinge, in der sie zwar als
Musik entspringt wie das ausgedriickte Individuum als Individuum,
die aber in ihr zum BewuBtsein ihrer selbst und ihrer Verzweiflung
gelangt. Sobald solche Musik, ihrerseits inhaltlich der Psychoanalyse
verwandt genug und nicht umsonst in den Regionen von Traum und
Wahnsinn beheimatet, die konventionelle Ausdruckspsychologie tilgt,
kehrt sie sich zugleich auch gegen die konventionelle Formensprache
der Musik, die jener Psychologie entspricht, zerfallt deren Ober-
flachenzusammenhange und baut aus den Partikeln des musikalischen
Ausdrucks musikalisch-immanent eine neue Sprache, die trotz des
ganzlich verschiedenen Weges mit der konstruktiven SchOnbergs kon-
vergiert. Diese Dialektik tragt im Werke Bergs sich zu, und sie
allein laBt seine Komposition von Biichners Trauerspiel ,, Wozzeck"
in ihrer Tragweite verstehen. Wenn eine Parallele zur bildenden
Kunst erlaubt ist : Berg verhalt sich zur Ausdrucksmusik des spateren
19. und beginnenden 20. Jahrhunderts wie die Portrats Kokoschkas
zu denen der Impressionisten. Die wahrhafte Darstellung der individu-
ellen Psyche, der burgerlichen und der vom Biirgertum produzierten
proletarischen, schlagt mit dem Wozzeck in die gesellschaftskritische
Intention urn, ohne freilich den Rahmen der asthetischen Immanenz
zu sprengen. Dabei ist es das tiefe Paradoxon Bergs, in dem die
gesellschaftliche Antinomik werk-immanent sich abzeichnet, daB
diese kritische Wendung gerade im Bezug auf ein vergangenes und
von seiner Kritik nun transparent gemachtes Material moglich wird.
So stellt es in einem der bedeutendsten Teile des Wozzeck, der groBen
Wirtshausszene sich dar, und hier uberschneidet sich sein Verfahren
mit dem surrealistischen. Dieser Bezug ist es zugleich, der bislang
Bergs Werk, zumindest das dramatische, vor der vollkommenen
Isolierung behiitet hat und ihm beim burgerlichen Publikum eine
gewisse Resonanz schuf , die, mag sie immer im MiBverstandnis des
Wozzeck als des letzten ,,Musikdramas (t Wagnerischer Provenienz
griinden, durch die Kanale des MiBverstehens ins herrschende Be-
wuBtsein einiges von dem einsickern lieB, was als dunkler und ge-
fahrlicher Strom im Wozzeck aus den Hohlen des UnbewuBten ent-
springt. — Es ist in diesem Zusammenhang schlieBlich in Kiirze des
dritten Reprasentanten der SchOnbergschule zu gedenken, dessen
gesellschaftliche Interpretation, so fraglos die auBerordentliche
musikalische Qualitat steht, einstweilen noch die grofite Schwierigkeit
Zur gesellschaftlichen Lage der Musik 115
bereitet und hier nicht einmal versucht werden darf : Anton Web erns.
Einsamkeit und Entfremdung der Gesellschaft gegeniiber, bei Schon-
berg durch die Formstruktur des Werkes bedingt, werden ihm the-
matisch und zum Inhalt: die Aussage des Unaussagbaren, also der
vollkommenen Entfremdung ist mit jedem Laut seiner Musik gemeint.
Wollte man den fur die Schonberg- Schule konstitutiven Grundbegriff
der immanenten Dialektik auf Webern anwenden: man mtiBte, mit
einem Untertitel Kierkegaards, der Webern nahe genug liegt, von
,,dialektischer Lyrik" reden. Denn hier wird die auBerste individuelle
Differenzierung, eine Auflosung des vorgegebenen Materials, die
musikalisch noch iiber Schonberg und expressiv noch uber Berg
hinausgeht, zu keinem anderen Zweck geiibt als dem : eine Art Natur-
sprache der Musik, den reinen Laut freizumachen, wie er dem Ruck-
griff auf ein Naturmaterial, also die Tonalitat und die ,,naturlichen"
Obertonverhaltnisse, unweigerlich sich versagte. Das Bild der Natur
in geschichtlicher Dialektik zu produzieren : das ist die Absicht seiner
Musik und das Ratsel, das sie aufgibt ; das, als Ratsel, zu jeder positiven
Natur-Romantik als Antwort ganzlich kontrar steht. Es wird erst
spater sich dechiffrieren.
Zur Meisterschaft Sch6nbergs und seiner Schule setzt die genaue
Antithesis die Virtuositat Strawinskijs und seines Gefolges; zur
Scheinlosigkeit das Spiel; zur gebundenen Dialektik, deren Substrat
umschlagend sich verwandelt, der verfiihrerisch-beliebige Wechsel der
Masken, deren Trager dafiir identisch, aber nichtig bleibt. Die Musik
des Objektivismus ist gesellschaftlich um soviel durchsichtiger denn
die der Schonberg-Schule, als sie sich technologisch weniger dicht in
sich verschlieBt. Darum hat die gesellschaftliche Interpretation des Ob-
jekti vismusgerade von dessen technischer Verf ahrungs weise auszugehen .
Technisch wird in jeglicher objektivistischen Musik der Versuch ge-
macht, die Entfremdung der Musik von innen her, also ohne Ausblick
auf die gesellschaftliche Realitat zu korrigieren: nicht aber durch
Weiterverf olgung ihrer immanenten Dialektik, die als individualistisch-
iiberdifferenziert — Strawinskij hat, absurd genug, Schonberg einmal
mit Oscar Wilde verglichen — , intellektualistisch-abstrakt und natur-
entfremdet gescholten wird. Sondern die musikimmanente Korrektur
der Entfremdung wird erhofft von einem Riickgriff auf altere, durch-
wegs vorburgerliche Musikformen, in denen man einen urtumlichen
Naturstand der Musik, man konnte sagen: eine musikalische Anthro-
pologie behaupten mochte, der, zugehdrig dem Wesen Mensch und
seiner leibhaften Konstitution — daher die Neigung alles Objektivis-
116 Theodor Wiesengrund-Adorno
mus zu Tanzformen und im Tanz entspringender Rhythmik —, dem
geschichtlichen Wechsel enthoben und jederzeit zuganglich sein soil.
Vom stilhistorisch pragnanten Begriff der Romantik, mit einer
extremen Formel: dem ,,Legendenton" Schumanns unterscheidet der
Objektivismus sich dadurch, dafi er nicht sowohl einen vergangenen
musikalischen Zustand als positiv dem negativen gegenwartigen
gegentiberstellt und sehnsiichtig ihn wiederherzustellen trachtet, als
vielmehr im Vergangenen das Bild eines' schlechterdings Giiltigen
konstruiert, das heut und hier wie jederzeit zu realisieren sei. Darum
hat der Objektivismus in seinen theoretischen AuBerungen gerade die
Romantik aufs heftigste befehdet. Das besagt aber praktisch-musi-
kalisch nichts anderes, als daB der Ruckgriff des Objektivismus auf
seine historischen Modelle, sei es nun echte und falsche bauerliche
Volksmusik, mittelalterliche Polyphonie oder der ,,vorklassische"
Konzertatstil, nicht einfach auf Wiedereinsetzung jener Modelle
abzielt: nur in Ausnahmefallen hat der Objektivismus, als Stilkopie,
um solche Wiedereinsetzung sich bemuht. In der Breite seiner Pro-
duktion aber strebt der Objektivismus, als „neue Sachlichkeit" seine
Arriviertheit und ZeitgemaBheit geflissentlich betonend, die alten
und vermeintlich ewigen Modelle gerade auf das aktuelle Material
anzuwenden : das gleiche harmonisch-f reiziigige , zur Polyphonie
pradisponierte, vom Ausdruckszwang emanzipierte Material, wie es
aus der Dialektik der Schonbergschule hervorgeht und undialektisch
vom Objektivismus ubernommen wird. Die vor-arbeitsteilige, statisch-
naturhafte Formung eines hochst differenzierten, in sich alle Merkmale
der Arbeitsteilung aufweisenden Materials: das ist das Ideal des
musikalischen Objektivismus.
Damit drangen unabweislich aktuelle gesellschaftliche Analo-
gien sich auf. Die standisch-korporative Gliederung eines hoch-
industriellen Wirtschaf tszusammenhanges : sie scheint in der ob-
jektivistischen Musik konform abgebildet, und wie im Faszismus
uber den „Organismus" der Gesellschaft eine „Fuhrerelite", in Wahr-
heit namlich die MonopolkapitaUsten gebieten, so gebietet uber den
vorgeblich musikalischen Organismus in Freiheit der souverane
Komponist ; wann eine Dissonanz einzuf iihren, wann ein Vorhalt auf-
zulOsen sei, daruber entscheidet weder ein vorgesetztes Schema, das
ja durchs aktuelle Material auBer Kraft gesetzt ist, noch die Immanenz
des Gefiiges, deren rationale ZwangsmaBigkeit gerade im Namen der
Natur verneint wird, sondern einzig das Belieben, namlich der „Ge-
schmack'* des Komponisten. So verlockend nun aber die Analogie ist
Zur gesellschaftlichen Lage der Musik 117
und so viel sie vom wahren Sachverhalt erschlieBt: Erkenntnis darf
sich ihr nicht ohne Widerstand tiberlassen. Zwar ist bei dem russischen
Emigranten Strawinskij selber oder gar einem kunstpolitisch ambi-
tionierten Neoklassizisten wie Casella der Zusammenhang mit dem
Faszismus aufier Frage. Jedoch die gesellschaftliche Interpretation
von Musik hat es nicht mit dem individuellen BewuBtsein der Autoren
sondern mit der Funktion ihres oeuvres zu tun. Und da ergeben sich
Schwierigkeiten. Zunachst miiBten fur die Beziehung Objektivismus-
Faszismus, soil sie real verstanden werden, die Vermittlungskategorien
gefunden und die Vermittlung expliziert werden. Der Vermittlungs-
mechanismus ist aber noch unbekannt. Er konnte sich am ehesten
erschliefien einer Analyse des Sachverhalts der Mode, die — wie es im
Fall Strawinskij s etwa seine allgemein gelaufigen Abhangigkeiten
dartun — wesentliche Formelemente des Neoklassizismus nicht in
immanent-technischen Fragestellungen sich auspragen lieB, sondern
sie zunachst von auBen hereinwarf, bis sie dann in die technische
Immanenz des Kunstwerkes libergefiihrt wurden. Die Mode selbst
aber weist einsichtig auf geseUschaftlich-Gkonomische Tatsachen
zurux$kr~i[ndessen es ist damit nicht sowohl eine LOsung des Ver-
mittluhgsptoblems fur die Musik angegeben als vielmehr nur der
Ort des Problems genauer bezeichnet. Weiter jedoch ergeben sich
fur die gesellschaftliche Interpretation des Objektivismus auf den
Faszismus inhaltliche Schwierigkeiten. Und zwar durch den gleichen
Sachverhalt der Entfremdung, dessen immanent-asthetische Be-
seitigung oder Verdeckung der Objektivismus sich zur Aufgabe gestellt
hat. Gesetzt namlich, er ware in der Tat der Intention und objektiven
Struktur nach die Musik der fortgeschrittensten monopolkapi-
talistischen Schicht : sie vermochte ihn trotzdem nicht zu konsumieren
und nicht zu verstehen. Indem der Objektivismus die Entfremdung
nur im Bilde zu beseitigen trachtet, laBt er sie in der Realitat un-
verandert bestehen. Die technische Spezialisierung der Musik ist
so weit gediehen, daB das Publikum eine Musik selbst dann nicht
mehr adaquat zu begreifen vermag, wenn sie objektiv seine eigene
Ideologic ist. Dazu kommt, daB ideologische Machte anderer Art
wie der Begriff der „Bildung" als einer Akkumulation von geistigem
Gut aus der Vergangenheit auf das Publikum auch musikalisch weit
starker wirken als die unmittelbare Ausformung seiner Gesellschafts-
ideale in der Musik; allzufremd ist es bereits der Musik geworden,
um solcher Ausformung noch zentralen Wert beizumessen. Mag immer
die Musik Strawinskij s groBburgerliche Ideologien unvergleichlich
118 Theodor Wiesengrund-Adorno
viel genauer widerspiegeln als etwa die von Richard StrauB als des
groBbiirgerlichen Komponisten der letzten Generation: das GroB-
biirgertum wird trotzdem Strawinskij als „Destrukteur" bearg-
wohnen und an seiner Statt lieber Richard StrauB und noch lieber
Beethovens Siebente Synphonie hOren. So kompliziert Entfremdung
die gesellschaftliche Gleichung. Sie kommt aber auch immanent-
iisthetisch zutage — und hier mag der wahre Ursprung des MiBtrauens
der GroBburger gegen „ihre" Musik zu suchen sein. Dem Belieben
namlich, mit dem der Komponist uber sein Material zu schalten
vermag, ohne daB es objektiv verbindlich vorgeformt ware, ohne dafi
aber auch die innere Gefligtheit des musikaiischen Gebildes selber
liber musikalisches Recht und Unrecht eindeutig richtete — diesem
schlechten Beheben entspricht die Unstimmigkeit des Gebildes bei
sich selber, in dem der Widerspruch zwischen der beschworenen
Formintention und dem tatsachlichen Materialstand unaufgelost
bleibt.
Am gerechtesten wird ihrn noch ein Kompositionsverfahren,
das, wie etwa der bedeutende ungarische Komponist und Volks-
liedforscher Bela Bart ok, auf die Fiktion von Formobjektivitat
verzichtet und statt dessen auf ein vor-objektives,wahrhaft archaisches
Material zuruckgreift, das aber gerade in seiner partikularen Aufge-
lostheit dem aktuellen uberaus nahesteht, so daB ein radikaler Folk-
lorismus in der rationalen Durchkonstruktion von partikularem
Material der Schcmbergschule sich erstaunlich angleicht. Bar-
tok aber ist im Raume des Ob j ektivismus durchaus singular ;
schon bei seinem friiheren Mitarbeiter Kodaly ist die echte Folklore
zu einem romantischen Wunschbild ungeteilt-volkischen Lebens
verfalscht, das durch den Kontrast urtiimelnder Melodik und sinnlich-
weicher, spatimpressionistischer Harmonik sich selber denunziert.
Vor solcher Demaskierung ist Strawinskij s Maskenspiel durch den
genauesten und vorsichtigsten Kunstverstand geschiitzt. Es ist
seine groBe und gefahrliche, auch fur inn selbst gefahrliche Leistung,
daB seine Musik das Wissen urn ihre zwangsmaBige Antinomik nutzt,
indem sie sich als Spiel gibt ; niemals aber blank als Spiel, niemals als
of f enes Kunstgewerbe : sondern sich in einer steten Schwebe zwischen
Spiel und Ernst wie zwischen den Stilen halt, die es fast unmoglich
macht, sie beim Namen zu rufen und in der die Ironie jede Durch-
schaubarkeit der objektivistischen Ideologie verhindert, der Hinter-
grund einer Verzweiflung aber, der jeder Ausdruck erlaubt ist, weil
ihr keiner eindeutig zukommt, das Maskenspiel von der Tiefe
Zur gesellschaftlichen Lage der Musik 119
seines dusteren Hintergrundes abhebt. Dies Schwanken, darin jeden
Augenblick das Spiel Ernst werden, ins satanische Gelachter um-
schlagen kann und mit der Moglichkeit nichtentfremdeter Musik die
Gesellschaft verhOhnt: dies ist es, was die Aufnahme Strawinskijs
als des Modekomponisten, dessen Pretention gleichzeitig seine Musik
erhebt, unmoglich macht. Gerade die artistische Sicherheit, mit der
er die Unmoglichkeit einer positiv-asthetischen Losung der gesell-
schaftlich bedingten Antinomien anerkennt, damit aber die gesell-
schaftliche Antinomik selber, macht ihn dem GroBburgertum suspekt
und provozierte bei seinen besten und exponiertesten Stiicken, wie
der Histoire du soldat, Widerspruch. Strawinskijs Uberlegenheit im
Metier gegentiber alien anderen objektivistischen Autoren gefahrdet
die ungebrochene ideologische Positivitat seines Stiles, wie sie die
Gesellschaft von ihm verlangte : so wird auch bei ihm die artistische
Folgerichtigkeit gesellschaftlich-dialektisch. Den Verdacht der
herrschendenMachte gegen groBstadtische ,,Atelier"-Kunst, decadence
und Zersetzung scheint er erst mit der gewalttatigen Theologie der
Psalmensymphonie abgewehrt zu haben.
Es ist die wesentliche gesellschaftliche Funktion Hindemiths,
den Objektivismus Strawinskijs durch die Naivitat zu entgiften, mit
der er ihn ubernimmt. Sein Objektivismus gibt sich ungebrochen-
ernst; die artifizielle Sicherheit wird zur handwerkerlichen Biederkeit,
wobei die Idee des Handwerkers als eines ,,Musikanten" wieder dem
Ideal eines nicht-arbeitsteiligen Produktionsstandes entspricht, der
in der Musik die Differenz von Produktion und Reproduktion nicht
kenne; die satanische Ironie zum ,,gesunden Humor", dessen Ge-
sundheit auf den unreflektierten Naturstand 4 des Objektivismus
deutet, den das Grinsen der Strawinskijschen Masken verstorte,
wahrend der Humor, gegenuber der aggressiven, sei's avantgar-
distischen, sei's snobistischen Ironie, seine prinzipielle Versohnlichkeit
mit den gesellschaftlichen Verhaltnissen einbekennt. Die Stra-
winskijsche Verzweiflung aber, eine sehr geschichtliche Verzweiflung,
die in der „ Histoire du soldat (< bis zur Grenze der Schizophrenie ge-
trieben ist, als Ausdruck einer Subjektivitat, welche nur noch von
Fetzen und Gespenstern der vergangenen objektiven Musiksprache
erreicht wird — diese Verzweiflung moderiert sich bei Hindemith
zu einer bloB naturhaften, ungelOsten, aber auch undialektischen
Schwermut, die auf den Tod als einen ewigen Sachverhalt blickt gleich
manchen Intentionen der zeitgenossischen Philosophic, als „existen-
tiell" den konkreten gesellschaftlichen Widerspriichen ausweicht und
120 Theodor .Wiesengrund-Adorno
damit dem anthropoogisch-auBergeschichtlichen Ideal des Objektivis-
mus wiUig sich einordnet. Strawinskij hat die gesellschaftlichen
Widerspniche in die kunstlerische Antinomik aufgenommen und
gestaltet; Hindemith verdeckt sie, und dafur gerat ihm die blinde
Gestalt widerspruchsvoll. Der scharfere technische Blick, der die
Oberflache liickenlos ineinandergeschlossener Bewegungen und un-
trtiglich instrunientensicherer Klangfaktur zu durchdringen vermag,
wird allerorten der Bnichigkeit des Hindemithschen Verf ahrens inne :
der Differehzen zwischen zufalligem Motivmaterial und behaupteter
Formgesetzlichkeit ; zwischen der prinzipiellen Unwiederholbarkeit
der Elemente und den Wiederholungsfofmen, die sie auBerlich zu-
sammenf assen ; zwischen der Terrassenarchitektur im groBen und
der Wahllosigkeit, mit welcher die Terrassen im einzeliien angelegt sind
und angelegt sein miissen, eben weil die ,,objektive" Architektur nicht,
als eine vorgegebene, die einzelnen Produktionsmomente apriorisch
umfangt, sondern ihnen von der kompositorischen Willkur auf-
geklebt wird, f alsche Fassade im Zeichen der neuen Sachlichkeit.
Zuf allig bleibt hier, wie bei Strawinskij und gewiB der Schar der
Grefolgsleute, der Gehalt des Objektivismus ; zufaliig, das will sagen,
auswechselbar nach dem wechselnden ideologischen Bedurfnis und
nicht eindeutig vorgezeichnet von einer gesellschaftlichen Verfassung,
die an keiner Stelle der ordo ist, fur den die Musik zeugen mOchte,.
sondern eine Klassenordnung, die die Musik im Zeichen ihrer Mensch-
lichkeit verdecken soil. Bald wird bloBe Formobjektivitat ohne alien
Gehalt, in ihrer Leere, als Gehalt ausgegeben, Objektivitat um der
Objektivitat willen wie haufig bei Strawinskij, und dabei die dunkle
Leere als irrationale Naturmacht gepriesen; bald wird sie, wie bei
Hindemith, als Beleg einer Gemeinschaft angefuhrt, wie sie zwar als
kleinburgerlicher Protest gegen die kapitalistischen Mechanisierungs-
formen sich ausbilden und als Jugendbewegung auch auf die Pro-
duktion einwirken mag, dem kapitalistischen ProduktionsprozeB aber
lediglich ausweicht. Bald soil die Musik tonendes Spiel sein, das die
Menschen entspannt oder ihre Gemeinschaft stiftet, bald soil sie als
kultischer oder existentieller Ernst ihnen begegnen, wie in jenem
Augenblick, als die Kritik von dem damals noch aggressiveren Hinde-
mith „Vertiefung" verlangte, welchem Verlangen er mit der Kompo*
sition des Rilkeschen Marienlebens entsprach. Die Gehalte des musi-
kalischen Objektivismus sind so divergent wie die Interessen der herr-
schenden Machte der Gesellschaft, und vollends eine Differenz wie
die von GroB- und Kleinburgertum — die Begriffe so vag gebraucht,
Zur gesellschaftlichen Lage der Musik 121
wie es der Stand der gesesllchaftlichen Erkenntnis einstweilen noch
vorschreibt — spiegelt in den objektivistischen Produktionen sich
deutlich wieder; die Frage nach der ,,Vermittlurig" ware auch hier
zu stellen. Gemeinsam ist den objektivistischen Musiken nur eines:
die Intention der Ablenkung vom gesellschaftlichen Zustand.
Den einzelnen will sie glauben machen, er sei nicht einsam, sondern
mit den anderen in einer Verbundenheit, die die Musik ihm vorfuhrt,
ohne ihre gesellschaftliche Funktion zu bestimmen; die Gesamtheit
will sie, durch ihre bloBe Transformation ins tOnende Medium, als
eine sinnvolle, das individuelle Schicksal positiv erfullende vor-
stellen. Grund und Sinn aber des Verbundenseins sind auswechselbar.
Soweit die Intention der Ablenkung real gemeint und nicht bloB
Spiegelung von Wiinschen im isoliert-asthetischen Bereich ist, darf
sie als miBlungen gelten. Das Kleinburgertum, um welches mit
Singgemeinden und Spielgruppen, „Musikantengilden" und Arbeits-
kollektiven der Objektivismus intensiv warb, hat fur den Absatz vOllig
versagt. Die Not der kapitalistischen Krise hat die vom Objektivismus
oder seinen Popularisatoren gemeinten Schichten auf andere, hand-
lichereldeologien verwiesen als die inhaltlich recht unbestimmten und
kompliziert geschalteten des Objektivismus. Sie werden kaum Neigung
spuren, den ,,esoterischen" SchGnberg vom „musikantischen" Hinde-
mith zu unterscheiden, beide mitsamt der Jazzmusik als kultur-
bolschewistisch ablehnen und sich ihrerseits an die auferstandenen
Militarmarsche halten.
Es ist damit bereits das Wesentliche vorweggenommen zur gesell-
schaftlichen Problematik derjenigen Typen, die die Tatsache der
Entfremdung nicht mehr im asthetischen Bilde meistern, sondern
real liberwinden wollen durch Einrechnung des tatsachlichen gesell-
schaftlichen BewuBtseinsstandes ins kompositorische Verfahren:
durch Verwandlung des musikalischen terminus a quo in einen
gesellschaftlichen terminus ad quern. Zu solchem Verfahren tendiert
auf seinen niedrigeren Stufen merkbar bereits der Objektivismus;
sprunglos verwandelt sich ihm die Forderung nach asthetisch-
immanent gemeinschaftsmaBiger Musik in die nach asthetisch ge-
hobener Gebrauchsmusik. Wenn solchem Verfahren und dem
schlechten Ideal des Gehobenen gegeniiber Kurt Weill als Re-
prasentant des musikalischen Surrealismus sich weit iiberlegen
zeigt, so ruhrt das daher, daB er, in besserer Kenntnis des gesell-
sehaftlichen Zustandes, nicht sowohl die positive Veranderung der
Gesellschaft durch Musik als moglich annimmt als vielmehr ihre
1 22 Theodor Wiesengrund-Adorno
Enthiillung. Er prasentiert nicht den Menschen eine primitivierte
Kunstmusik zum Gebrauch, er halt ihnen ihre eigene Gebrauchs-
musik im Zerrspiegel seines kiinstlerischen Verfahrens vor und zeigt
sie als Ware. Nicht umsonst steht der Stil der Dreigroschenoper und
von „Mahagonny" der „Histoire du soldat" naher als Hindemith:
ein Stil der Montage, welche die ,,organisehe" Oberflachengestalt
des Neoklassizismus aufhebt und Trtimmer und Bruchstiicke an-
einander riickt oder die Falschheit und Scheinhaftigkeit, die heute
an der Harmonik des 19. Jahrhunderts zutage kommt, real aus-
komponiert durch Zusatz falscher Tone. Der Chok, mit welchem
Weills Kompositionsverfahren die gewohnten kompositorischen Mattel,
iiberbelichtet, als Gespenster prasentiert, wird zum Schrecken liber
die Gesellschaft, aus der sie entspringen und zugleich zur Negation
der MOglichkeit einer positiven Gemeinschaftsmusik, die im Gelachter
der teuflischen Vulgar- als der wahren Gebrauchsmusik zusammen-
bricht. Mit den Mitteln vergangenen Scheines bekennt das gegen-
wartige kompositorische Verfahren sich selbst als scheinhaft, und
im grellen Schein wird die Chif fernschrift eines gesellschaf tlichen
Zustandes lesbar, der nicht nur jede Beschwichtigung im asthetischen
Bilde verwehrt und samt seinen Widerspriichen darin wiederkehrt,
sondern den Menschen so nah auf den Leib riickte, dafi er nicht einmal
Frage und Versuch des autonomen Kunstwerkes mehr zulafit. Be-
wundernswert, welche qualitative Fiille von Ergebnissen Weill mit
Brecht aus dieser Konstellation entwickelte, welche Neuerungen
des Operntheaters im Blitzlicht von Momenten angelegt sind,
die zugleich dialektisch sich gegen die Moglichkeit des Operntheaters
iiberhaupt kehren. Fraglos ist Weills Musik heute die einzige von
echter gesellschaftlich-polemischer Schlagkraft, solange sie auf der
Spitze ihre Negativitat sich halt ; sie hat sich auch als solche erkannt
und eingeordnet. Ihre Problematik riihrt daher, daB sich auf dieser
Spitze nicht verbleiben laBt; daB der Musiker Weill den Bindungen
einer Arbeitsweise auszuweichen trachten muB, die von der Musik aus
notwendig „literarisch" erscheint wie die Bilder der Surrealisten.
Das PublikumsmiBverstandnis, das die Songs der Dreigroschenoper,
die doch sich selbst und dem Publikum f eind sind, friedlich als Schlager
konsumierte, mag als Mittel dialektischer Kommunikation legitimiert
sein. Der weitere Gang der Dinge aber laBt Zweideutigkeit als Gefahr
erkennen: der vordem enthullte Schein spielt in falsche Positivitat,
die Destruktion in Gemeinschaftskunst im Rahmen des Bestehenden
hiniiber, und hinter der hohnischen Primitivitat wird, herbeigelockt
Zur gesellschaftlichen Lag© der Musik 123
von ihrer Schmerzlichkeit, der naturglaubige Primitivismus eines
Riickgriffs nun nicht mehr auf alte Polyphonie, wbhl aber auf Han-
delsche Homophonie sichtbar. Doch steht gerade der Experimentator
Weill jeglichem Glauben ans unbewuBt Organische so grundlich fern,
daB sich damit rechnen laBt, er werde der Gefahr des Ungefahrlichen
nicht erliegen.
Ihr ist die Gemeinschafts- und Gebrauchsmusik im weitesten
Umfang verfallen. Indem ihre Aktivitat an der falschen Stelle, bei
der Musik anstatt bei der Gesellschaft, ansetzt, versaumt sie beide.
Denn das menschliche Miteinander, von dem sie ausgeht, ist in der
kapitalistischen Gesellschaft fiktiv und wo es etwa real sein mag, ohn-
machtig gegenuber dem kapitalistischen ProduktionsprozeB ; die
Fiktion von ,,Gemeinschaft" in der Musik verbirgt ihn, ohne ihn zu
verandern. Zugleich ist die Gemeinschaftsmusik innermusikalisch
reaktionar: in gleicher Richtung wie der Objektivismus, nur weit
grOber lehnt sie die dialektische Weiterbewegung des musikalischen
Materials als ,,intellektuell u oder ,,individualistisch" ab und zielt auf
einen schlechten, statischen Naturbegriff in der Restitution der
Unmittelbarkeit : den ,,Musikanten". Anstatt die — gewiB berechtigte
— Kritik am Individualismus dialektisch zu iiben und ihn mit der
Korrektur seiner immanenten Widerspruche zu korrigieren, aber als
notwendige Stufe der Befreiung der Musik fur die Menschen anzu-
erkennen, wird hier allenthalben auf erne primitive, vorindivi-
dualistische Stufe rekurriert, ohne daB auch nur noch die neoklassi-
zistische Frage nach der Umformung des Materials mehr gestellt ware.
Der grundende Irrtum liegt in der Auffassung der Funktion von
Musik dem PubUkum gegenuber. Dessen BewuBtsein wird verab-
solutiert: in der kleinbiirgerUchen Gemeinschaftsmusik als ,,Natur",
in der klassenbewuBt-proletarischen, wie etwa Eisler sie vertritt, als
proletarisches KlassenbewuBtsein, das bereits heute und hier positiv
genommen wird. Dabei ist verkannt, daB eben die Forderungen,
nach denen hier die Produktion sich richten soil, Singbarkeit, Ein-
fachheit, kollektive Wirksamkeit als solche, notwendig gekniipft sind
an einen BewuBtseinsstand, der durch die Klassenherrschaft derart
gedruckt und gefesselt ist — keiner hat das extremer formuliert als
Marx — , daB er, soil sich die Produktion einseitig an ihm orientieren,
zur Fessel der musikalischen Produktivkraft wird. Die immanent-
asthetischen Resultate der burgerlichen Geschichte, auch der der
letzten fiinfzig Jahre, kOnnen mcht einfach von der proletarischen
Kunsttheorie und -praxis beiseite geschoben werden, will sie nicht
124 Theodor Wiesengrand-Adorno, Zur gesellschaftlichen Lage der Musik
einen von der Klassenherrschaft produzierten Zustand in der Kunst
verewigen, dessen Abschaffung in der Gesellschaft das unverriickbare
Ziel des proletarischen Klassenkampfes ist. Dabei wird die Fugsamkeit
der Gemeinschaftsmusik gegenuber dem gegenwartigen BewuBtsein
von diesem selber Liigen gestraft, weil es den Tonfilmschlager vom
kleinen Gardeoffizier immer noch lieber gebraucht als eine popular
gedachte Gemeinschaftsmusik zur Verherrlichung des Proletariats.
Der agitatorische Wert und damit das politische Recht proletarischer
Gemeinschaftsmusik wie etwa der Eislerschen ChOre steht auBer
Frage, und nur utopisch-idealistisches Denken konnte an ihrer Statt
eine innerlich der Funktion des Proletariats angemessene, ihm selber
aber unverstandliche Musik furs Proletariat fordern. Sobald aber diese
Musik aus der Front der unmittelbaren Aktion heraustritt, reflektiert
und sich als Kunstform setzt, ist unverkennbar, daB die produzierten
Gebilde gegenuber der f ortgeschrittenen burgerlichen Produktion nicht
standhalten und sich als fragwiirdige Mischung aus Abfallen inner -
biirgerlich iiberholter Stilf ormen, selbst der kleinburgerlichen Manner-
chorliteratur, und aus Abfallen der f ortgeschrittenen „neuen" Musik
darstellen, die durch die Mischung urn die Scharfe des Angriffs wie
um die Bundigkeit jeder technischen Formulierung gebracht werden.
Denkbar ware an Stelle solcher Zwischenlosungen, daB man etwa in
Umlauf befindlichen Melodien der burgerlichen Vulgarmusik neue
Texte unterlegte, um sie auf diese Art dialektisch ^umzufunktio-
nieren". Immerhin verdient es Aufmerksamkeit, daB in der Figur des
bislang konsequentesten proletarischen Komponisten,Eisler, die SchOn-
bergschule, aus der er hervorging, mit Bestrebungen sich beruhrt, die
scheinbar ihr kontrar entgegengesetzt sind. Damit diese Beruhrung
fruchtbar wiirde, miiBte der Gebrauch seine Dialektik finden: es
miiBte die Musik sich nicht passiv-einseitig nach dem Stand des
VerbraucherbewuBtseins, auch des proletarischen, richten, sondern
mit ihrer Gestalt selber aktiv ins BewuBtsein eingreifen.
Ein zweiter Teil folgt.
Geschichte und Psychologic
Von
Max Horkheimer (Frankfurt a. M.).
Vortrag, gehaUen in der Kant-Gesellschaft Frankfurt a. H.
Das Verhaltnis von Geschichte und Psychologie ist im Laufe der
letzten Jahrzehnte viel erortert worden. Sie erwarten von mir aber
weder einen Bericht tiber die in der Literatur gefiihrten, zuin Teil
beruhmten Diskussionen noch eine systematische Entwicklung der
verschiedenen Aspekte, die das Problem heute darbietet, sondern die
Kennzeichnung der Rolle, die der Psychologie im Rahmen einer dem
Stand der Sozialwissenschaften angemessenen Geschichtstheorie zu-
kommt. Zu diesem Zweck muB der Geschichtsbegriff erklart werden,
von dem hier Gebrauch gemacht wird. In der Philosophic erschwert
namlich die Geltung mehrerer Bedeutungen von Geschichte, die
heterogenen geistigen Absichten zugeordnet sind, auch die Ver-
standigung liber jede Einzelfrage.
Vor allem werden zwei logisch verschiedene Geschichtsbegriffe
einander entgegengesetzt. Der erste stammt aus den sich auf Kant
berufenden Systemen, die in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahr-
hunderts als Reaktion gegen materialistische Tendenzen in Wissen-
schaft und Gesellschaft entstanden sind. Die Gemeinsamkeit ihrer
Lehre lag darin, den Sinn von Natur, Kunst, Geschichte nicht aus
unmittelbarer Vertiefung in diese Gebiete selbst, sondern aus einer
Analyse der ihnen entsprechenden Erkenntnis zu gewinnen. Aus der
Grundansicht dieser Philosophie, daB die Welt einen subjektiven
Ursprung habe, ergab es sich, die Eigentumlichkeiten der Seins-
bereiche auf verschiedene Funktionsweisen des erkennenden Subjekts
zuruckzufuhren. Das, was ihrem Wesen nach die Natur ist, sollte
aus der systematischen Ableitung der konstitutiven Methoden der
Naturwissenschaft einleuchtend gemacht werden, und ebenso wollte
man aus einer Darlegung der historischen Methoden erklaren, was
Geschichte sei. Der Geschichtsbegriff dieser Philosophie ist daher
jeweils am Faktum der Geschichtswissenschaft orientiert; prinzipiell
kann sie sich zur Geschichtsschreibung auch in einer Zeit, in der diese
mit ihren Methoden und Auffassungsweisen hinter dem allgemeinen
126 Max Horkheimer
Stand der Erkenntnis zuriickbleibt, nicht eigentlich kritisch, sondern
nur apologetisch verhalten.
Die Philosophie, die dem anderen Geschichtsbegriff zugrunde liegt,
bewahrt keine solche Bescheidenheit gegeniiber den vorhandenen
Wissenschaften. Sieist ein Teil des gegenwartigen Bestrebens, dieEnt-
scheidung uber die sogenannten weltanschaulichen Fragen von wissen-
schaftlichen Kriterien unabhangig zu machen und cLie Philosophie
iiberhaupt jenseits der empirischen Forschung aufzubauen. Im
Gegensatz zur erwahnten erkenntnistheoretischen Ansicht sollen jetzt
die verschiedenen Seinsgebiete keineswegs mehr aus den Wissen-
schaften, sondern aus ihrer einheitlichen Wurzel, dem ursprunglichen
Sein, zu dem unsere Zeit einen neuen Zugang zu finden beansprucht,
verstandlich gemacht werden. Besonders aus der phanomenologischen
Schule, deren Wesenslehre urspriinglich vollig unhistorisch war, ist
ein neuer Begriff von Geschichtlichkeit hervorgegangen. Hatte noch
Scheler, der besonders in den letzten Lebensjahren die undialektische
Wesenslehre der Phanomenologie mit dem Faktum der umwalzenden
Geschichte in Einklang zu bringen versuchte, darunter wesentlich
die soziale und politische Geschichte verstanden, so bedeutet bei
Heidegger die Geschichtlichkeit eine Geschehensweise im Seinsgrund,
den die Philosophie im Menschen zu entdecken hat. Erst aus dieser
ursprunglichen Geschehensweise soil die Geschichte als Thema der
Historie Sinn gewinnen. Bei fundamentalen ErOrterungen scheint es
daher heute angemessen zu sein, von dieser Bedeutung auszugehen.
Fur das hier zu behandelnde Thema ist es aber nicht weniger
problematisch, den Begriff der inneren Geschichtlichkeit zugrunde
zu legen als den Geschichtsbegriff der traditionellen Wissenschaft.
Weil die Existenzphilosophie nach phanomenologischer Tradition
sich von den Ergebnissen der Forschung auf den verschiedenen Ge-
bieten unabhangig zu machen sucht; weil sie entschlossen ist, ganz
von vorne anzufangen, und den Sinn von Sein ohne Hinblick auf den
Stand der gegenwartigen Forschung neu zu bestimmen trachtet, er-
scheint ihr Entwurf fur unsere Problematik noch zu eng. Nach der
Auffassung, daB die Geschichte erst aus der inneren Geschichtlichkeit
des Daseins begriffen werden soil, muBte die Verflochtenheit des
Daseins in den realen GeschichtsprozeB bloB als auBerliche und schein-
hafte gelten. Es macht aber die Beschaftigung mit der auBeren Ge-
schichte ebensowohl das jeweilige Dasein verstandlich, wie die Ana-
lyse der jeweiligen Existenzen das Verstandnis der Geschichte bedingt.
Das Dasein ist in die auBere Geschichte unlOslich verflochten, und
Geschichte und Psychologie 127
seine Analyse wird daher keinen Grund entdecken konnen, der als
solcher zwar in sich bewegt, jedoch unabhangig von jeder auBeren
Bestimmung ware. Die wirkliche Geschichte mit ihren vielfaltigen,
die Individuen iibergreifenden Strukturen ist dann nicht, wie es der
Existenzphilosophie entsprache, bloB ein Abgeleitetes, Sekundares,
Objektiviertes. Damit verwandelt sich die Lehre vom Sein im Men-
schen ebensowohl wie jede Art philosophischer Anthropologic aus
einer trotz allem statischen Ontologie in die Psychologie der in einer
bestimmten Geschichtsepoche lebenden Menschen.
Die Schwierigkeiten, denen die Anwendung der erwahnten Ge-
schichtsbegriffe begegnet, werden in diesem Zusammenhang noch
durch ihr negatives Verhaltnis zur Psychologie vermehrt. Auf die
Tendenz der gegenwartigen Phanomenologie, die Aufgaben der
Psychologie einer von wissenschaftlichen Kriterien unabhangigen
Ontologie zu ubertragen, habe ich soeben hingewiesen. Die Stellung
des Kantianismus zu unserer Frage hat sich seit Fichtes Behauptung,
daB die Psychologie „nichts ist" 1 ), wenig geandert. Der Geschichts-
theoretiker des Neukantianismus, Rickert, halt die Hoffnungen, ,,die
man auf eine Forderung der Geschichtswissenschaft durch die Psycho-
logie oder gar durch den Psychologismus setzt", fur Zeugnisse eines
Denkens, „dem das logische Wesen der Geschichte vollig fremd ge-
bliebenist" 2 ). Ich mochte daher statt von der Geschichtsauffassung
der gegenwartigen Philosophic von einer Ihnen alien bekannten Ge-
schichtsphilosophie, namhch der Hegelschen, ausgehen. Nach einer
Andeutung ihres Verhaltnisses zur Psychologie soil dann die Rolle der
Psychologie in der Okonomischen Geschichtsauffassung mit einiger
Ausfiihrlichkeit bestimmt werden. Ich hoffe, daB die Er6rterung des
Problems auf der Grundlage dieser Theorie auch denjenigen unter
Ihnen eine gewisse Anregung zubieten vermag, denen die historischen
Fragen unter dem Aspekt einer subjektivistischen Philosophie er-
scheinen.
Die philosophische Betrachtung hat es mit der Erkenntnis der
einheitlichen dynamischen Struktur in der verwirrenden Vielfaltigkeit
des Geschehens zu tun. Diese Aufgabe ist im Sinne Hegels unmoglich
ohne die aus der dialektischen Logik hervorgehende genaue Kenntnis
der Idee und ihrer Momente zu lOsen, denn philosophische Geschichts-
betrachtung ist nichts anderes als die Anwendung der "Uberzeugung
x ) J. G. Fichte, Werke, hrsg. v. F. Medicus, Leipzig, 3.Bd. S. 589.
2 ) H. Rickert, Die Grenzen der naturwissenschaft lichen Begriffsbildung,
Tubingen 1913, 2. Aufl., S. 487.
128 Max llorkheimer
von der Macht der Idee, sich in der Wirklichkeit durchzusetzen und
zu entfalten, auf die Menschenwelt. Dabei empfangt der Geschichts-
philosoph nicht bloB das Rohmaterial, sondern schon weitgehend
geformte Bestandteile seiner geschichtlichen Konstruktion von der
empirischen Historic Wie nach Hegel der Naturforscher dem
Naturphilosophen nicht eine bloBe Aufzahlung der Tatsachen liefert,
sondern ihm durch die theoretische Formulierung seines Wissens weit-
gehend entgegenkommt und vorarbeitet, so bietet die Historie der
Geschichtsphilosophie auBer der Kenntnis der wirklichen Ereignisse
auch so wesentliche kategoriale Bestimmungen wie die ursachlichen
Zusammenhange, die Perioden, die Einteilung der geschichtlich
handelnden Menschen in Rassen, Stamme, Nationen dar. Aber den
lebendigen Sinn gewinnen die Perioden erst, indem wir sie als Epochen
der sich entfaltenden Idee begreifen; erst indem sich die weltge-
schichtliche Nation als Tragerin eines jeweils neuen, eigenen und der
Idee mehr adaquaten Prinzips erweist, wird sie aus einem Ordnungs-
begriff zu einer sinnvollen Realitat, wird ihr Geist, der Volksgeist,
aus einer Zusammenfassung von Eigentiimlichkeiten zur metaphy-
sischen Macht und der Kampf der Nationen aus beklagenswerten
Handeln mit zufalligem Ausgang zu dem in den Gegensatzen sich
verwirklichenden Weltgericht.
Hegel nimmt dieses Zusammenspiel von empirischer Historie und
Geschichtsphilosophie ganz ernst. Er will nicht etwa die em'pirische
Geschichte von einem ihr auBerlichen Gesichtspunkt aus nachtraglich
deuten oder sie an einem ihr fremden MaBstab messen, sein Vernunft-
begriff ist vielmehr so wenig abstrakt, daB z. B. der Sinn des Moments
der Freiheit, so wie es xn der Logik auftritt, erst durch die biirger-
liche Freiheit im Staat, die der Historiker feststellt, vollstandig zu
bestimmen ist. Erst wenn man weiB, daB es sich in der Logik um die-
selbe Freiheit handelt, die in den orientalischen T^annendynastien
bloB bei einem einzigen und bei den Griechen bloB bei einigen ver-
wirklicht war und die daher zur Sklaverei in Widerspruch steht, ver-
mag man die Freiheit zu begreifen. Das Hegelsche System ist wirklich
ein Kreis; die abstraktesten Gedanken der Logik sind nach ihm nur
vollendet, insofern die Zeit vollendet ist, d. h. insofern alles
wesentliche, was die Zukunft enthalten mag, bereits in der Wesens-
bestimmung der Gegenwart vorweggenommen ist. Das Ende des
Glaubens an die Gegenwart und der Wille zu ihrer radikalen Ver-
anderung muBte daher notwendig das Hegelsche System, dem
die Geschlossenheit wenigstens in seiner spateren Gestalt wesentlich
Geschichte und Psychologie 129
zu eigen war, als System aufheben, und zwar in einem neuen, mit
seinen eigenen Prinzipien nicht zu vereinbarenden Sinn.
Damit ist auch die Bedeutung der Psychologie fur die Erkenntnis
der Geschichte verandert worden. Bei Hegel sind ja die Triebe und
Leidenschaften der Menschen wie bei irgendeinem franzosischen Auf-
klarer der unmittelbare Motor der Geschichte. Die Menschen werden
durch ihre Interessen zum Handeln bestimmt, und ebensowenig wie
die Masse haben die.groBen Manner „das BewuBtsein der Idee iiber-
haupt" 1 ). Es kommt ihnen vielmehr auf ihre eigenen politischen und
sonstigen Zwecke an, sie werden durch ihre Triebe bestimmt. Aber
der psychischen Struktur solcher Menschen nachzugehen, ist nach
Hegel im Gegensatz zur Aufklarung unwichtig, ja subaltern, denn
die eigentliche Macht, die sich in der Geschichte durchsetzt, ist grund-
satzlich weder aus der Einzelpsyche noch aus der Massenpsyche zu
verstehen. Hegel lehrt, daB die Heroen „aus einer Quelle" schopfen,
„deren Inhalt verborgen und nicht zu einem gegenwartigen Dasein
gediehen ist, aus dem inneren Geiste, der noch unterirdisch ist, der
an die AuBenwelt wie an die Schale pocht und sie sprengt, weil er ein
anderer Kern als der Kern dieser Schale ist" 2 ). Er meint damit nicht
etwa das UnbewuBte der modernen Psychologie, sondern die Idee
selbst, d. h. jenes nicht durch Psychologie, sondern durch Philosophic
zu begreifende immanente Telos der Geschichte, durch das es ge-
schieht, daB die Resultate jeweils nicht bloBe Resultanten sind, sondern
Zeugnis ablegen von der Macht der Vernunft und daB Geschichts-
erkenntnis nicht bloBe Feststellung und moglichst umfassende Er-
klarung von Geschehnissen, sondern Gotteserkenntnis ist.
Nach dem Zusammenbruch des Hegelschen Systems tritt die
liberalistische Weltansicht wieder teilweise die Herrschaft an. Sie ver-
warf zugleich mit dem Glauben an die Macht einer in der Geschichte
wirkenden Idee die Ansicht von den ubergreifenden dynamischen
Strukturen in der Geschichte und stellte die ihre Interessen ver-
folgenden Individuen als letzte selbstandige Einheiten im ge-
schichtlichen Gange auf. Die sinngemaBe Geschichtsauffassung des
Liberalismus ist ihrem Wesen nach psychologisch. Die Individuen
mit den in ihrer Natur fest begriindeten ewigen Trieben sind nicht
mehr bloB die unmittelbaren Akteure der Geschichte, sondern auch
die letzten Instanzen fur die Theorie des Geschehens in der gesell-
x ) Vorlesungen iiber die Philosophie der Geschichte ( Jubilaumsausgabe,
Stuttgart 1928, Bd. 11. S. 60). I
2 ) A. a. O.
130 Max Horkheimer
schaftlichen Wirklichkeit. Das Problem, wie trotz dieser chaotischen
Grundlage die Gesellschaft als Ganzes leben kann oder vielmehr wie
ihr Leben durch diese Grundlage in steigendem Mafi beeintrachtigt
wird, hat freilich der Liberalismus nicht zu losen vermocht. Der
Zukunftsglaube des 18. Jahrhunderts, daB die Triebe der Individuen
nach Abschaffung der feudalistischen Schranken zur Einheit der
Kultur zusammenstimmen mussen, hat sich im Liberalismus des
19. Jahrhunderts in das Dogma der Inter essenharmonie verwandelt.
Andererseits haben Marx und Engels die Dialektik in einem mate-
rialistischen Sinn ubernommen. Sie hielten dabei an der Uberzeu-
gung Hegels von der Existenz uberindividueller dynamischer Struk-
turen und Tendenzen in der geschichtlichen Entwicklung fest, ver-
warfen aber den Glauben an eine in der Geschichte wirkende selb-
standige geistige Macht. Es liegt nach ihnen der Geschichte nichts
zugrunde, und es kommt in der Geschichte nichts zum Ausdruck,
was als durchgehender Sinn, als einheitliche Macht, als be-
wegende Vernunft, als immanentes Telos gedeutet werden durfte. Das
Vertrauen auf die Existenz eines solchen Kerns ist nach ihrer Ansicht
vielmehr ein ZubehOr der verkehrten idealistischen Philosophic Das
Denken, daher auch die Begriffe und Ideen sind Funktionsweisen
der Menschen und keine selbstandige Macht. In der Geschichte gibt
es keinen durchgehenden, zu sich selbst kommenden Gedanken, denn
es gibt keinen von den Menschen unabhangigen Geist. Die Menschen
mit ihrem BewuBtsein sind bei all ihrem Wissen, ihrer Erinnerung,
ihrer Tradition und ihrer Spontaneitat, ihrer Kultur und ihrem Geist
verganglich ; es existiert nichts, was nicht entsteht und vergeht.
Aber Marx gelangt dabei keineswegs zu einer psychologistischen
Geschichtstheorie. Die geschichtlich handelnden Menschen werden
nach ihm nirgends bloB aus ihrem Innern, sei es aus ihrer Natur oder
aus einem in ihnen selbst zu entdeckenden Seinsgrund, verstandlich,
sie sind vielmehr eingespannt in geschichtliche Bildungen, die ihre
eigene Dynamik haben. Methodologisch ist Marx hierbei Hegel ge-
folgt. Dieser hatte eigene Strukturprinzipien jeder groBen geschicht-
lichen Epoche behauptet : die Grundsatze der Verfassungen der Vttlker
wechseln nach einer inneren GesetzmaBigkeit, die Nationen stehen
in den Kampfen der Weltgeschichte gegeneinander und erleiden ihr
Schicksal, ohne daB der Grund in der Psyche einzelner oder gar einer
Mehrheit von Individuen zu entdecken ware. Wahrend jedoch die
Artikulation dieser Dialektik bei Hegel aus der Logik des absoluten
Geistes, aus der Metaphysik, einsichtig wird, liefert nach Marx keine
Geschichte und Psychologie 131
der Geschichte logisch vorgeordnete Einsicht den Schliissel zu ihrem
Verstandnis. Vielmehr ergibt sich die richtige Theorie aus der Be-
trachtung der jeweils unter bestimmten Bedingungen lebenden und
mit Hilfe bestimmter Werkzeuge ihr Leben erhaltenden Menschen.
Weder ist die in der Geschichte zu entdeckende GesetzmaBigkeit eine
Konstruktion a priori, noch eine Registrierung von Tatsachen durch
ein als unabhangig gedachtes Erkenntnissubjekt, sondern sie wird
von dem selbst in die geschichtliche Praxis einbezogenen Denken als
Spiegelung der dynamischen Struktur der Geschichte produziert.
Die Okonomische oder materialistische Geschichtsauffassung, die in
dieser Einstellung begriindet worden ist, erweist sich so gleichzeitig als
Gegensatz wie als Fortsetzung der Hegelschen Philosophie . In dieser stellt
sich die Geschichte wesentlich als Kampf der welthistorischen Reiche
um die Herrschaft dar. Dabei ist es den Individuen ebenso wie den
Volkernund Staaten um ihreMacht und nicht um den Geist zu tun. Der
Ausgang der Kampf e entbehrt aber trotz dieser BewuBtlosigkeit nicht
des geistigen Sinnes. Die Weltgeschichte wird von Hegel deshalb als
Weltgericht angesprochen, weil nach ihm stets das Volk die Herrschaft
antritt, dessen innere Verfassung eine konkretere Gestalt der Freiheit
darstellt als die des unterliegenden. Das MaB der Entfaltung der
Staaten „zum Bild und zur Wirklichkeit der Vernunft" 1 ) entscheidet
tiber ihren Sieg. Aber daB dieser der Logik des absoluten Geistes ent-
sprechende Stufengang in den kriegerischen Aktionen sich tatsachlich
durchsetzt, daB mit anderen Worten das Volk, dessen Staat eine
adaquatere Darstellung der Idee und ihrer Momente bildet, auch die
bessere Strategic, die uberlegenen Waff en besitzen muB, wird bei
Hegel nicht mehr erklart, sondern erscheint als welthistorischer Zu-
fall, als eine der prastabilierten Harmonien, die notwendig zur idea-
listischen Philosophie gehoren. Soweit die wissenschaftliche Er-
forschung der vermittelnden Bedingungsreihen an Stelle der bloB
behaupteten Parallelitat erkannte historische Zusammenhange zu
setzen vermag, wird der Mythos von der List der Vernunft und damit
auch das metaphysische Hauptstiick dieser Geschichtsphilosophie
uberflussig. Wir erfahren dann die wirkhchen Ursachen, warum
differenziertere Staats- und Gesellschaftsformen an die Stelle von
unentwickelteren getreten sind, d. h. nach Hegel die Ursachen des
Fortschritts im BewuBtsein der Freiheit. Die Erkenntnis der realen
Zusammenhange entthront den Geist als autonom die Geschichte ge-
staltende Macht und setzt die Dialektik zwischen den verschieden-
l ) Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 360.
132 Max Horkheimer
artigen in der Auseiandersetzung mit der Natur wachsenden mensch-
lichen Kraften und veralteten Gesellschaftsformen als Motor der
Geschichte ein.
Die okonomische Geschichtsauffassung vollzieht diese Wendung
von der Metaphysik zur wissenschaftlichen Theorie. Nach ihr
zwingt die Erhaltung und Erneuerung des gesellschaftlichen Lebens
den Menschen jeweils eine bestimmte soziale Gruppenordnung auL
Diese, die nicht bloB die politischen und rechtlichen Institutionen,
sondern die hoheren Ordnungen der Kultur bedingt, wird
den Menschen vorgezeichnet durch die verschiedenen Funktionen,
die im Rahmen des Wirtschaftsprozesses, so wie er in einer
bestimmten Periode den menschlichen Fahigkeiten entspricht,
ausgefiihrt werden mussen. DaB z. B. im alten Rom die Gesellschaft
in Freie und Sklaven, im Mittelalter in Grundherren und Leibeigene,
im Industriesystem in Unternehmer und Arbeiter geteilt ist, ebenso
die Differenzierung dieser Verhaltnisse im Innern der Staaten,
ferner auch die Spaltung in Nationen und die Gegensatze zwi-
schen nationalen Machtgruppen — all dieses ist weder aus
dem guten oder bosen Wilien, noch aus einem einheitlichen
geistigen Prinzip zu erklaren, sondern aus den Erfordernissen des
materiellen Lebensprozesses auf seinen verschiedenen Gestaltungs-
stufen. Je nachdem auf Grund des Entwicklungsgrades der Menschen
die Technik ihrer Werkzeuge und ihrer Zusammenarbeit geartet ist,
d. h. je nach der Weise des Produktionsprozesses bilden sich auch die
Abhangigkeitsverhaltnisse und der dazugehorige juristische und poli-
tische Apparat. Wird durch das Wachstum der produktiven mensch-
lichen Fahigkeiten eine neue Produktionsweise moglich, welche die
Allgemeinheit besser versorgen kOnnte als die alte, so verhindertdas Be-
stehender gegebenen sozialenStruktur mit den ihr entsprechenden Insti-
tutionen und festgewordenen menschlichen Dispositionen zunachst ihre
Ausbreitung als herrschende* Daraus ergeben sich die gesellschaftlichen
Spannungen, welche in den geschichtlichen Kampfen zum Ausdruck
kommen und gleichsam das Grundthema der Weltgeschichte bilden.
Wenn der Gegensatz zwischen den wachsenden menschlichen
Kraften und der gesellschaftlichen Struktur, der sich in diesem
Zusammenhang als Motor der Geschichte erweist, als universales Kon-
stmktionsschema an die Stelle konkreter Untersuchungen tritt oder
zu einer mit Notwendigkeit die Zukunf t gestaltenden Macht erhoben
wird, so kann sich die soeben angedeutete Geschichtsauffassung in eine
abschlieBende dogmatische Metaphysik verwandeln. Gilt sie jedoch
Geschichte und Psychologie 133
als die richtige Theorie des uns bekannten geschichtlichen Verlaufs,
die freilich der erkenntnistheoretischen Problematik der Theorie
iiberhaupt untersteht, so bildet sie eine der gegenwartigen Erkenntnis
entsprechende Formulierung der historischen Erfahrung. Versuchen
wir ihr Verhaltnis zur Psychologie zu bestimmen, so zeigt sich zu-
nachst, daB sie, im Gegensatz zur liberalistischen Ansicht, nicht
psychologisch ist. Diese muBte sinngemaB die Geschichte aus dem
Zusammenspiel der als isoliert gedachten Individuen und ihren im
wesentlichen konstanten psychischen Kraften, ihren Interessen, er-
klaren. Gliedert sich die Geschichte aber nach den verschiedenen
Weisen, in denen sich der LebensprozeB der menschlichen Gesellschaft
vollzieht, so sind nicht psychologische, sondern Okonomische Kate-
gorien historisch grundlegend. Die Psychologie wird aus der Grund-
wissenschaft zur freilich unentbehrlichen Hilfswissenschaft der Ge-
schichte. Durch diese Funktionsanderung wird auch ihr Inhalt be-
troffen. Ihr Gegenstand verliert im Rahmen dieser Theorie die Ein-
heitlichkeit. Sie hat es nicht mehr mit dem Menschen iiberhaupt zu
tun, sondern in jeder Epoche sind die gesamten in den Individuen
entfaltbaren seelischeh Krafte, die Strebungen, welche ihren manuellen
und geistigen Leistungen zugrunde liegen, ferner die den gesell-
schaftlichen und individuellen LebensprozeB bereichernden seelischen
Faktoren zu unterscheiden von den durch die jeweilige gesellschaft-
liche Gesamtstruktur determinierten und relativ statischen psychischen
Verfassungen der Individuen, Gruppen, Klassen, Rassen, Nationen,
kurzum von ihren Charakteren.
Ist der Gegenstand der Psychologie solchermaBen in die Geschichte
verflochten, so laBt sich doch andererseits die Rolle der Individuen
nicht in bloBe Funktionen der okonomischen Verhaltnisse auflOsen.
Die Theorie verneint weder die Bedeutung weltgeschichtlicher Per-
sonen noch diejenige der psychischen Verfassung bei den Ange-
hdrigen der verschiedenen sozialen Gruppen. Die Erkenntnis, daB die
AblOsung unterlegener Produktionsweisen durch differenziertere, den
Bedurfnissen der Allgemeinheit besser angepaBte, gleichsamdas Gerippe
der uns interessierenden Greschichte darstellt, ist der zusammenfassende
Ausdruck fur die menschliche Aktivitat. Auch die in ihm enthaltene Be-
hauptung, daB von der Art, wie sich der LebensprozeB einer Gesell-
schaft, d. h. ihre Auseinandersetzung mit der Natur vollzieht, die Kultur
abhange, ja, daB jeder Teil dieser Kultur den Index jener grund-
legenden Verhaltnisse an sich trage und daB sich mit der wirtschaft-
lichen Tatigkeit der Menschen auch ihr BewuBtsein verandere, leugnet
134 Max Horkheimer
keineswegs die menschliche Initiative, sondern versucht Einsicht in
die Formen* und Bedingungen ihrer geschichtlichen Wirksamkeit zu
gebeii. Die menschliche Aktivitat muB freilich jeweils an die Lebens-
notwendigkeiten anknupfen, die von den vorhergegangenen Gene-
rationen gestaltet worden sind, aber sowohl die auf Erhaltung als auch
die auf Veranderung der vorhandenen Verhaltnisse gerichteten mensch-
lichen Energien haben ihre eigentumliche Beschaffenheit, die von
der Psychologie zu erforschen ist. Vor allem dadurch unterscheiden
sich ja die Begriffe der dkonomischen Geschichtstheorie grundsatzlich
von den metaphysischen, daB sie zwar die geschichtliche Dynamik
in ihrer moglichst bestimmten Form zu spiegeln versuchen, aber keine
abschlieBende Sicht der Totalitat zu geben beanspruchen, sondern
im Gegenteil die Instruktionen zu weiteren Untersuchungen enthalten,.
deren Ergebnis auf sie selbst zuriickwirkt.
Dies gilt besonders fur die Psychologie. Die in der Theorie be-
hauptete Bestimmung des geschichtlichen Handelns von Menschen
und Menschengruppen durch den okonomischen ProzeB kann im
einzelnen erst verstandlich werden durch die wissenschaftliche Auf-
hellung der ihnen auf einer bestimmten historischen Stufe jeweils
eigenen Reaktionsweisen. Soweit noch nicht erkannt ist, wie struktu-
relle Veranderungen des wirtschaftlichen Lebens durch die psychische
Verfassung, die bei den Mitgliedern der verschiedenen sozialen Gruppen
in einem gegebenen Augenblick vorhanden ist, sich in Veranderungen
ihrer gesamten LebensauBerungen umsetzen, enthalt die Lehre von
der Abhangigkeit dieser von jenen dogmatische Elemente, die ihren
hypothetischen Wert fiir die Erklarung der Gegenwart aufs starkste
beeintrachtigen. Die Aufdeckung der psychischen Vermittlungen
zwischen der okonomischen und der sonstigen kultarellen Entwick-
lung wird zwar die Aussage bestehen lassen, daB auf radikale oko-
nomische Veranderungen radikale kulturelle gefolgt sind, aber sie
kann unter Umstanden nicht bloB zu einer Kritik der Auffassung von
den funktionalen Verhaltnissen zwischen beiden Keihen, sondern
auch zur Bestarkung der Vermutung fuhren, daB sich die Folge-
ordnung in der Zukunft einmal andern oder umkehren wird.
Dann muBte sich auch das Rangverhaltnis von Okonomik und
Psychologie in Beziehung auf die Geschichte verandern, und
es zeigt sich somit, daB die Auffassung, von der hier die Rede
ist, ebensosehr die Ordnung der Wissenschaften und damit ihre
eigenen Thesen in die Geschichte einbezieht wie die menschlichen
Triebe selbst.
Geschichte und Psychologie 135
Der reale Sachverhalt freilich ) der gegenwartig das Verhaltnis
der beiden Wissenschaften bestimmt, spiegelt sich auch in der
aktuellen Gestalt der Psychologie. DaB die Menschen okonomische
Verhaltnisse, iiber die ihre Krafte und Bedurfnisse hinausgewachsen
sind, aufrecht erhalten, anstatt sie durch eine h6here und rationalere
Organisationsform zu ersetzen, ist nur moglich, weil das Handeln
numerisch bedeutender sozialer Schichten nicht durch die Erkenntnis,
sondern durch eine das BewuBtsein verfalschende Triebmotorik be-
stimmt ist. Keineswegs bloB ideologische Machenschaften bilden die
Wurzel dieses historisch besonders wichtigen Moments — eine solche
Deutung entsprache der rationalistischen Anthropologic der Auf-
klarung und ihrer historischen Situation — , sondern die psychische
Gesamtstruktur dieser Gruppen, d. h. der Charakter ihrer Mitglieder
wird im Zusammenhang mit ihrer Rolle im Okonomischen Prozefi
fortwahrend erneuert. Die Psychologie wird daher zu diesen tiefer-
liegenden psychischen Faktoren, mittels deren die Okonomie die
Menschen bestimmt, vorzustoBen haben, sie wird weitgehend Psycho-
logie des UnbewuBten sein. In dieser durch die gegebenen gesell-
schaftlichen Verhaltnisse bedingten Gestalt ist sie keineswegs auf
das Handeln der ver schiedenen gesellschaf tlichen Sch chten in
gleicher Weise anzuwenden. Je mehr das geschichtliche Handeln
von Menschen und Menschengruppen durch Erkenntnis motiviert
ist, um so weniger braucht der Historiker auf psychologische Er-
klarungen zuriickzugreifen. Hegels Verachtung der psychologischen
Deutung der Heroen kommt hier zu ihrem Recht. Je weniger das
Handeln aber der Einsicht in die Wirklichkeit entspringt, ja dieser
Einsicht widerspricht, um so mehr ist es notwendig, die irrationalen,
zwangsmafiig die Menschen bestimmenden Machte psychologisch
aufzudecken.
Die Bedeutung der Psychologie als Hilfswissenschaft der Ge-
schichte ist darin begriindet, daB sowohl jede Form der Gesellschaft,
die auf der Erde herrschend gewesen ist, einen bestimmten Ent-
wicklungsgrad der menschlichen Krafte voraussetzt und daher psy-
chisch mitbedingt ist, als auch vor allem das Funktionieren einer
schon bestehenden und auch die Aufrechterhaltung bereits ver-
sagender Organisationsformen unter anderem auf psychischen Fak-
toren beruht. Bei der Analyse einer bestimmten Geschichtsepoche
kommt es besonders darauf an, die psychischen Krafte und Dis-
positionen, den Charakter und die Wandlungsfahigkeit der Ange-
hOrigen der verschiedenen sozialen Gruppen zu erkennen. Doch wird
136 Max Horkheimer
die Psychologie darum keineswegs zur Massenpsychologie, sondern
gewinnt ihre Einsichten aus der Erforschung von Individuen. ,,Die
Grundlage der Sozialpsychologie bleibt immer die Individual-
psyche" 1 ). Es gibt weder eine Massenseele noch ein MassenbewuBt-
sein. Der Begriff der Masse im vulgaren Sinn scheint aus der Beob-
achtung von Menschenansammlungen bei aufregenden Ereignissen
gebildet zu sein. Mogen die Menschen als Teile solcher zufalliger
Gruppen auf eine charakteristisehe Weise reagieren, so ist das Ver-
standnis hierfur in der Psyche der sie bildenden einzelnen Glieder zu
suchen, die bei jedem freilich durch das Schicksal seiner Gruppe in der
Gesellschaft bestimmt ist. An die Stelle der Massenpsychologie tritt
eine differenzierte Gruppenpsychologie, d. h. die Erforschung der-
jenigen Triebmechanismen, die den Angehorigen der wichtigen
Gruppen des Produktionsprozesses gemeinsam sind. Sie wird vor
allem zu untersuchen haben, inwiefern die Funktion des Individuums
imProduktionsprozeB durch sein Schicksal in einer bestimmt gearteten
Familie, durch die Wirkung der gesellschaftlichen Bildungsmachte
an dieser Stelle des gesellschaftlichen Raums, aber auch durch die Art
und Weise seiner eigenen Arbeit in der Wirtschaft fur die Ausge-
staltung seiner Charakter- und BewuBtseinsformen bestimmend ist.
Es ware zu erforschen, wie die psychischen Mechanismen zustande-
kommen, durch die es mSglich ist, daB Spannungen zwischen den
gesellschaftlichen Klassen, die auf Grand der Okonomischen Lage zu
Konflikten drangen, latent bleiben kOnnen. Wenn in manchen Dar-
stellungen der Psychologie bei ahnlichen Gegenstanden viel von Fiihrer
und Masse gesprochen wird, so ist zu bedenken, daB das bedeutsame
Verhaltnis in der Geschichte weniger die Gefolgschaft einer un-
organisierten Masse zu einem einzelnen Fuhrer als das Vertrauen der
gesellschaftlichen Gruppen in die Stabilitat und Notwendigkeit der
gegebenen Hierarchie und der herrschenden gesellschaftlichen Machte
darstellt. Die Psychologie hat beobachtet, daB ,,alle Vervollstan-
digungen der gesellschaftlichen Organisation, sei es unter demo-
kratischer oder aristokratischer Form, zur Wirkung haben, einen iiber-
legten, zusammenhangenden, individuellen Zweck reiner, weniger
verandert und tiefer, auf sichereren und kurzeren Wegen in das Gehirn
der GeseUschaftsmitglieder zu bringen <( , und daB der Fuhrer eines
Aufstands mangels einer so vervollkommneten Organisation niemals,
der General dagegen fast immer vollstandig iiber seine Leute ver-
x ) E. Bernheim, Lehrbuch der historischen Methode und der Geschichts-
phUosophie, 5. u. 6. AufL, Leipzig 1908, S. 677.
Geschichte und Psychologie 137
fiigen kann 1 ). Aber dieser ganze Fragenkomplex, der das Verhaltnis
von Fiihrer und Masse als ein Spezialproblem enthalt, bedarf noch
der psychologischen Vertiefung 2 ). Der Begriff der ^habitude", dem
die franzOsische Forschung bei der Behandlung sozialpsychologischer
Fragen eine wichtige Funktion zuweist, bezeichnet vortrefflich das
Resultat des Bildungsprozesses : die Starke der zum sozial gef orderten
Handeln treibenden psychischen Dispositionen. Aber es gilt, tiefer
zu dringen und dieEntstehung dieses Resultats, seine Reproduktion und
fortwahrende Anpassung an den sich verandernden gesellschaftlichen
ProzeB zu begreifen. Dies ist nur auf Grund von Erfahrungen moglich,
die in der Analyse von Einzelpersonen zu gewinnen sind 3 ).
Unter den methodologischen Richtlinien einer fur die Historie
fruchtbaren Psychologie wird u. a. die Anpassungsfahigkeit der Mit-
glieder einer sozialen Gruppe an ihre okonomische Lage besonders
wichtig sein. Die jeweiligen psychischen Mechanismen, die diese An-
passung fortlaufend ermOglichen, sind freilich selbst im Laufe der
Geschichte entstanden, aber wir haben sie etwa bei der Erklarung
bestimmter historischer Ereignisse der Gegenwart als gegeben vor-
auszusetzen, sie bilden dann einen Teil der Psychologie der gegen-
wartigen Epoche. Hierher gehOrt z. B. die Fahigkeit der Menschen,
die Welt so zusehen, daB die Befriedigung der Interessen, die sich
aus der okonomischen Situation der eigenen Gruppe ergeben, mit dem
Wesen der Dinge in Einklang steht, daB sie in einer objektiven
Moral begrundet ist. Das muB sich keineswegs so rational
abspielen, daB verdreht und gelogen wiirde. Kraft ihres psy-
chischen Apparates pflegen die Menschen vielmehr die Welt schon
so zur Kenntnis zu nehmen, daB ihr Handeln ihrem Wissen ent-
sprechen kann. Kant hat bei der Erorterung des ^Schematismus",
dessenLeistungwesentlichin der aUgemeinen Preformation unsererEin-
driicke vorihrer Aufnahme ins empirische BewuBtsein besteht, von einer
verborgenen Kunst in den Tiefen der menschlichen Seele gesprochen,
,,deren wahre Handgriffe wir der Natur schwerlich jemals abraten
und sie unverdeckt vor Augen legen werden" 4 ). Jene besonderePrafor-
mation dagegen, die den Einklang des Weltbildes mit dem Okonomisch
2 ) G. Tarde, L'Opinion et la foule, Paris 1922, S. 172.
2 ) Einen wichtigen Schritt iiber die herrschenden Theorien der Massen-
psychologie hinaus (Le Bon, Mc Dougall) hat Freud in seinem Buch iiber
„Massenpsychologie und Ich -Analyse" getan.
3 ) Die Begriindung einer Sozialpsychologie auf psychoanalytischer
Grundlage wird in den Arbeiten von E. Fromm versucht. Vgl. seinen Beitrag
zu diesem Heft.
*) Kritik der reinen Vernunft, 2. Ausg. S. 180/1.
138 Max Horkheimer
geforderten Handeln zur Folge hat, wird von der Psychologie zu
erklaren sein, und es ist sogar nicht unmoglich, daB dabei auch etwas
iiber den von Kant gemeinten Schematismus ausgemacht wird. Denn
seine Funktion, die Welt so ins BewuBtsein zu bringen, daB sie nachher
in den Kategorien der mathematisch-mechanischen Naturwissenschaft
aufgeht, erscheint — ganz unabhangig von der Entscheidung iiber
diese selbst — als ein geschichtlich bedingter psychischer Effekt.
Zu dem Mifitrauen, das mariche Historiker der Psychologie ent-
gegenbringen, hat mit Recht die Festlegung einiger psychologischer
Systeme auf einen rationalistischen Utilitarismus beigetragen. Danach
sollen die Menschen ausschlieBlich auf Grund von Erwagungen iiber
ihren materieilen Nutzen handeln. Solche psychologischen Vor-
stellungen haben — freilich im Sinn von Arbeitshypothesen, aber doch
in ausschlaggebender Weise — die liberalistische Nationalokonomie be-
stimmt. GewiB spielt dasPrivatinteresse in der Gesellschaft bestimmter
Epochen eine kaumzuiiberschatzendeRolle. Aber das, was dieser psy-
chologischen Abstraktion an den wirklich handelnden Menschen ent-
spricht, der wirtschaftliche Egoismus, ist selbst ebenso wie der gesell-
schafthche Zustand, zu dessen Erklarung das Prinzip herbeigezogen
wird, geschichtlich bedingt und radikal veranderlich. Wenn in der
Auseinandersetzung iiber die Moglichkeit einer nicht individua-
listischen Wirtschaftsordnung Argumente eine Rolle zu spielen
pflegen, denen die Lehre von der egoistischen Menschennatur zu-
grunde liegt, so sind sowohl die Anhanger als die Gegner der okono-
mischen Theorie im Unrecht, sofern sie ihre Argumente auf die all-
gemeine Gultigkeit eines so problematischen Prinzips stutzen. Die
moderne Psychologie hat langst erkannt, daB es verkehrt ware, die
Selbsterhaltungstriebe im Menschen als die naturlichen zu behaupten
und dort, wo individuelle und gesellschaftliche Taten offensichtlich
nicht auf sie zuruckzufuhren sind, sogenannte ,,zentrale" Faktoren
einzufuhren. Der Mensch und wahrscheinlich auch die Tiere sind
keineswegs psychisch so individualistisch organisiert, daB alle ihre
urspriinglichen Triebregungen sich notwendig auf unmittelbare Lust
an materieilen Befriedigungen bezOgen. Die Menschen vermogen
z. B. in der Solidaritat mit Gleichgesinnten ein Gliick zu erleben, das
sie Leiden und Tod in den Kauf nehmen laBt. Kriege und Revolutiohen
bieten das sichtbarste Beispiel daf iir . Nichtegoistische Tr iebregungenhat
es zu alien Zeiten gegeben, sie sind auch faktisch von keiner ernsthaften
Psychologie geleugnet, sondern hochstens durch problematische Erkla-
rungen auf individualistische Motive zuruckzufuhren versucht worden.
Geschichte und Psychologie 139
Gegeniiber jener Gkonomistischen Entstellung der Lehre vom Men-
schen durch psychologische und philosophische StrOmungen haben
manche Soziologen versucht, eigeneTrieblehren aufzustellen. Aber diese
pf legen im Gegensatz zur utilitaristischen Psychologie , die alles axis einem
Punkte erklart, groBe Tafeln von Instinkten und Trieben, die alle
gleichermaBen als angeboren angesehen werden, zu enthalten und die
spezifisch psychologischen Funktionsverhaltnisse zu vernachlassigen 1 ).
Jedenfalls entspringen die Handlungen der Menschen nicht bloB
ihrem physischen Selbsterhaltungsstreben, auch nicht bloB dem un-
mittelbaren Geschlechtstrieb, sondern z. B. auch den Bedurfnissen nach
Betatiguhg der aggressiven Krafte, ferner nach Anerkennung und Be-
statigung der eigenen Person, nach Geborgenheit in einer Kollektivitat
und anderen Triebregungen mehr. Die moderne Psychologie (Freud)
hat gezeigt, wie sich solche Anspriiche vom Hunger dadurch unter-
scheiden, daB dieser eine direktere und stetigere Befriedigung
verlangt, wahrend jene weitgehend aufschiebbar, modellierbar und
der Phantasiebefriedigung zuganglich sind. Aber zwischen beiden
Arten von Triebregungen, den unaufschiebbaren und den^plastischen",
bestehen Zusammenhange, die im geschichtlichen Gange von groBer
Wichtigkeit sind. Die mangelnde Befriedigung der unmittelbar phy-
sischen Bedurfnisse kann trotz ihrer grftBeren Dringlichkeit teilweise
und eine Zeitlang wenigstens durch die Lust auf anderen Gebieten
ersetzt werden. Die circenses aller Art sind in vielen historischeri
Situationen weitgehend an die Stelle des panis getreten, und das
Studium der psychologischen Mechanismen, die dies ermoglichen, ist
nebst ihrer sachkundigen Anwendung auf den zu erklarenden kon-
kreten historischen Verlauf eine dringende Aufgabe, welche die
Psychologie im Rahmen der Geschichtsforschung zu erfullen hat.
Das okonomistische Prinzip k6nnte bei dieser Leistung nur Schaden
stiften. Es kOnnte etwa dazu verfuhren, die Teilnahme der unteren
gesellschaftlichen Schichten an Aktionen der Allgemeinheit, von denen
sie keine unmittelbare Hebung ihrer wirtschaf tlichen Lage zu erwarten
haben, z. B. an Kriegen, auf theoretischen Umwegen doch auf mate-
2 ) Im allgemeinen enthalt die soziologische Literatur — selbst wenn sie,
wie die Durkheimschule, die Soziologie von der Psychologie radikal getrennt
wiasen will — tiefere psychologische Erkenntnisse als die traditionelle Schul-
psychologie. L. v. Wiese z. B. wendet sich gegen eine Belastung seiner
Wissenschaft mit spezifisch psychologischen Aufgaben, wobei er freilich als
Oegenstand der Psychologie zu Unrecht bloB BewuBtseinsvorgange angibt.
Aber seine Arbeiten legen selbst von einem differenzierteren Wissen um
psychische Vorgange Zeugnis ab, als es bei denen, welche die Soziologie der
Psychologie unterordnen, vorhanden zu sein pflegt.
140 Max Horkheimer
rielle Zielsetzungen zuriickzufuhren. Dabei verkennte man aber die
groBe psychische Bedeutung, welche die Zugehorigkeit zu einer ge-
achteten und machtigen kollektiven Einheit fur die Menschen hat,
wenn sie durch die Erziehung auf personliche Geltung, Aufstieg, ge-
sicherte Existenz hingewiesen sind und die Verwirklichung dieser
Wertordnung ihnen als Individuen kraft ihrer gesellschaftlichen
Lage unmoglich gemacht ist. Eine erfreuliche und die Selbstachtung
hebende Arbeit laBt physische Entbehrungen leichter ertragen, und
schon das einfache BewuBtsein des Erfolges kann weitgehend die
Unlust an schlechter Nahrung wettmachen. Ist diese Kompensation
der druckenden materiellen Existenz den Menschen verwehrt, so
wird die Moglichkeit, sich in der Phantasie mit einer iiberindividuellen
Einheit zu identifizieren, die sich Achtung verschafft und Erfolg hat,
urn so lebenswichtiger. Wenn wir von der Psychologie lernen, daB die
Befriedigung der hier zugrunde liegenden Bediirfnisse eine psychische
Realitat ist, die an Intensitat nicht hinter den materiellen Geniissen
zuriickzustehen braucht, so wird fiir das Verstandnis einer Reihe
weltgeschichtlicher Phanomene schon viel gewonnen sein.
Ich gebe ein weiteres Beispiel fiir die Rolle der Psychologie im
Rahmen der Geschichtstheorie. Die differenzierten Vorgange und
Konflikte im BewuBtsein fein organisierter Individuen, die Phanomene
ihres Gewissens sind insofern ein Produkt der okonomischen Arbeits-
teilung, als die fiir den Bestand der Gesellschaft notwendigen groben
Verrichtungen ihnen abgenommen werden. Obwohl ihr Leben, so wie
sie es fiihren, davon abhangt, daB es Gefangnisse und Schlachthauser
gibt und eine ganze Reihe von Arbeiten ausgefiihrt werden, deren
Verrichtung unter den gegebenen Verhaltnissen ohne Brutalitat iiber-
haupt nicht zu denken ist, konnen sie doch infolge ihrer gesellschaft-
lichen Entfernung von den groben Formen des Lebensprozesses diese
Vorgange aus ihrem BewuBtsein verdrangen. Ihr seelischer Apparat
vermag infolgedessen so fein zu reagieren, daB ein unbedeutender
moralischer Konflikt in ihrem eigenen Leben die grOBten Erschiitte-
rungen zur Folge haben kann. Sowohl ihr Verdrangungsmechanismus
als auch ihre bewuBten Reaktionen und Schwierigkeiten werden von
der Psychologie zu erfassen sein, die Bedingung ihrer Existenz ist
dagegen okonomisch. Das Okonomische erscheint als das Umfassende
und Primare, aber die Erkenntnis der Bedingtheit im einzelnen, die
Durchforschung der vermittelnden Hergange selbst und daher auch
das Begreifen des Resultats hangen von der psychologischen Ar-
beit ab.
Geschichte und Psychologic 141
Mit der Ablehnung einer Psychologie, die auf okonomistische Vor-
urteile festgelegt ist, soil aber nicht davon abgelenkt werden, daB die
wirtschaftliche Situation der Menschen bis in die feinsten Veraste-
lungen ihres Seelenlebens hinein wirksam ist. Nicht bloB der Inhalt,
sondern auch die Starke der Ausschlage des psychischen Apparats
sind okonomisch bedingt. Es gibt Verhaltnisse, die es mit sich bringen,
daB die geringste Schikane oder eine unbedeutende erfreuliche Ab-
wechslung Gemiitsbewegungen von einer fur die AuBenstehenden
kaum verstandlichen Starke auslosen. Die Reduktion auf einen
kleinen Lebenskreis bedingt eine entsprechende Verteilung der Liebe
und Lust, die auf den Charakter zuriickwirkt und ihn qualitativ be-
einfluBt. Giinstigere Situationen im ProduktionsprozeB, z. B. die
Leitung groBer Industrien, gewahren dagegen einen solchen Uber-
blick, daB Gentisse und Betriibnisse, die fur andere Menschen groBe
Schwankungen ihres Lebens bedeuten, belanglos werden. Welt-
anschauliche und moralische Vorstellungen, die von denen, fur welche
die gesellschaftlichen Zusammenhange nicht sichtbar sind, starr fest-
gehalten werden und die ihr Leben bestimmen, werden von hohen
dkonomischen Positionen aus in ihren Bedingungen und Schwan-
kungen uberschaut, so daB sich ihr starrer Charakter aufldst. Selbst
wenn wir voraussetzen, daB die angeborenen psychischen Unter-
schiede auBerst groB sind, so wird doch die Struktur der Grundinter-
essen, die jedem durch sein Schicksal von Kindheit an aufgepragt
wird, der Horizont, der jedem durch seine Funktion in der Gesellschaft
vorgezeichnet ist, in den seltensten Fallen eine ungebrochene Ent-
faltung jener ursprtinglichen Unterschiede zulassen. Die Chance
dieser Entfaltung selbst ist vielmehr je nach der sozialen Schicht, der
ein Mensch angehdrt, verschieden. Vor allem konnen sich Intelligenz
und eine Reihe sonstiger Tiichtigkeiten desto leichter entwickeln, je
weniger Hemmungen von Anfang an durch die Lebenssituation ge-
setzt sind. Die Gegenwart ist mehr noch als durch das bewuBte
okonomische Motiv durch die unerkannte Wirkung der okonomischen
Verhaltnisse auf die gesamte Gestaltung des Lebens gekennzeichnet.
Das Verdienst, die Beziehungen zwischen Psychologie und Ge-
schichte wirksam zum Gegenstand philosophischer Erorterungen ge-
macht zu haben, gebuhrt Dilthey. Zu diesem Problem ist er im Laufe
seiner Arbeit immer wieder zurtickgekehrt. Er hat eine den Bediirf-
nissen der Geisteswissenschaften entgegenkommende, die Mangel der
Schulpsychologie uberwindende neue Psychologie gefordert. Die Ent-
wicklung der einzelnen Geisteswissenschaften ist nach ihm an die
142 Max Horkheimer
Ausbildung der Psychologie gebunden ; ohne den seelischen Zusammen-
hang, in dem ihre Gegenstande gegrundet sind, bilden die Geistes-
wissenschaften „ein Aggregat, ein Biindel, aber kein System 1 ). "
„Es ist so", schreibt er, „und keine Absperrung der Facher kann es
hindern: Wie die Systeme der Kultur: Wirtschaft, Recht, Religion,.
Kunst und Wissenschaft, wie die auBere Organisation der Gesellschaft
in den Verbanden der Familie, der Gemeinden, der Kirche, des Staates,
aus dem lebendigen Zusammenhang der Menschenseele hervor-
gegangen sind, so konnen sie schlieBlich nur aus diesem verstanden
werden. Psychische Tatsachen bilden ihren wichtigsten Bestandteil,
ohne psychische Analyse kdnnen sie also nicht eingesehen werden" 2 ).
Aber wenn die Psychologie bei Dilthey als Hilfswissenschaft fur die
Geschichte fungiert, so gilt ihm die Geschichte selbst wesentlich als
ein Mittel zur Erkenntnis des Menschen. Es steht ihm fest, daB in den
groBen Kulturperioden der Geschichte das einheitliche Menschen-
wesen sich nach seinen verschiedenen Seiten, die ursprunglich in
jedem Menschen angelegt sind, entfalte, die reprasentativen PersOn-
lichkeiten jeder Epoche sind ihm nur die besten Ausdrucksformen
fur je eine dieser verschiedenen Seiten. ,,Menschenrassen, Nationen,
gesellschaftliche Klassen, Berufsformen, geschichtliche Stufen, Indi-
vidualitaten : alle diese sind . . . Abgrenzungen der individuellen
Unterschiede innerhalb der gleichformigen Menschennatur" 3 ), die
sich in jeder Epoche auf besondere Weise offenbart.
So sehr die Diltheysche Forschung einer den Bediirfnissen der Ge-
schichtsforschung entgegenkommenden Psychologie berechtigt ist,
so wenig richtig muB es erscheinen, daB den Kultursystemen
einer Epoche ein einheitlicher seelischer Zusammenhang zugrunde
liege und daB gar dieser seelische und durchgehend verstandliche
Zusammenhang eine Seite des totalen Menschenwesens darstelle, das
sich erst in der Gesamtentwicklung der Geschichte voll zur Entfaltung
bringe. Diese Einheit der Kultursysteme in einer Epoche und der
Epochen untereinander muBte wesentlich eine geistige Einheit sein,
denn sonst konnten ihre AuBerungen nicht als verstandliche, durch
die Methoden einer verstehenden Psychologie zugangliche AuBerungen
behauptet werden. Die von Dilthey geforderte Psychologie ist ja eine
Psychologie des Verstehens, und die Geschichte wird daher in seiner
Philosophic wesentlich zur Geistesgeschichte. Nach dem hier Dar-
x ) Gesammelte Sehriften (Leipzig und Berlin) V, S. 147f.
2 ) A. a. O.
3 ) A. a. O. S. 235.
Geschichte und Psyohologie 143
gelegten ist aber weder eine Epoche noch gar die sogenannte Weltge-
schichte, auch nichtdie Geschichte der einzelnenKulturgebiete aus einer
solchen Einheit verstandlich zu machen, wenn auch manche Stellen
etwa der Philosophiegeschichte, vielleicht die Folge der Vorsokratiker,
sich in einem einheitlichen Gedankenzug darstellen lassen mogen. Mit
Seelischem und mit Geistigem sind die geschichtlichen Veranderungen
jeweils gieichsam durchsetzt, die Individuen in ihren Gruppen und
innerhalb der vielfach bedingten gesellschaftlichen Antagonismen
sind psychische Wesen, und daher bedarf es auch der Psychologie in
der Geschichte ; aber es ware weit gefehlt, Geschichte an irgendeiner
Stelle aus dem einheitlichen Seelenleben einer allgemeinen Menschen-
natur begreifen zu wollen.
Das Verstandnis der Geschichte als Geistesgeschichte pflegt auch
mit dem Glauben verbunden zu sein, der Mensch sei wesentlich
identisch mit dem, als was er sich selbst ansieht, fiihlt, beurteilt,
kurz, mit seinem BewuBtsein von sich selbst. Diese Vermengung der
Aufgabe des Geisteswissenschaf tiers mit der desOkonomen, Soziologen,
Psychologen, Physiologen usf . geht auf eine idealistische Tradition zu-
rtick, bildet aber eine Verengerung des geschichtlichen Horizonts, die
mit dem Stande der gegenwartigen Erkenntnis schwer zu vereinbaren
ist. Was fur die Individuen gilt, gilt auch fur die Menschheit im all-
gemeinen: wenn man wissen will, was sie sind, darf man nicht dem
glauben, was sie von sich halten.
Mit diesen Ausfiihrungen habe ich Ihnen nicht mehr als einige
Gesichtspunkte zur Frage nach dem logischen Ort der Psychologie
in einer Geschichtstheorie, die der gegenwartigen Situation entspricht,
geben konnen. Trotz der Orientierung an der okonomischen Auf-
fassung konnte diese Ansicht keineswegs auch nur einigermaBen voll-
standig umrissen werden. Die Frage, inwiefern die psychologische
Arbeit in ihren Einzelheiten uberhaupt fur die Geschichtsforschung
etwas bedeutet, ist jedoch nicht unwichtig, weil die psychologischen
Probleme von manchen Soziologen und Geschichtsforschern aus
prinzipiellen Grtinden vernachlassigt werden, und vor allem, weil als
Folge davon in vielen geschichtUchen Darstellungen eine primitive
Psychologie unkontrolliert eine Rolle spielen darf. Auch erhalt
die Psychologie in der Gegenwart noch eine besondere Bedeu-
tung, die freilich fluchtig sein mag. Mit der Beschleunigung der
Okonomischen Entwicklung kdnnen namlich die Anderungen der
menschlichen Reaktionsweisen, die unmittelbar durch die Wirtschaft
bedingt sind, d. h. die unmittelbar aus dem wirtschaftlichen Leben
144 Max Horkheimer, Geschichte und Psychologie
sich ergebenden Gewohnheiten, Moden, moralischen und asthetischen
Vorstellungen so rasch wechseln, daB ihnen gar keine Zeit mehr
bleibt, sich zu verfestigen und richtige Eigenschaften der Menschen
zu werden. Dann gewinnen die relativ ewigen Momente in der psy-
chischen Struktur an Gewicht und dementsprechend auch die all-
gemeine Psychologie an Erkenntniswert. In stabileren Perioden
scheint die bloBe Unterscheidung gesellschaftlicher Gharaktertypen
auszureichen, jetzt tendiert die Psychologie dazu, die wichtigste Quelle
zu werden, aus der liber die Seinsweise des Menschen etwas zu er-
fahren ist. Schon deshalb wird die Psyche in kritischen Momenten
mehr als sonst zu einem ausschlaggebenden Moment, well dariiber,
ob und in welchem Sinn die zur abgelaufenen Geschichtsperiode ge-
horende moralische Verfassung von den Mitgliedern der verschiedenen
gesellschaftlichen Klassen bewahrt oder verandert wird, nicht ohne
weiteres selbst wieder okonomische Faktoren entscheiden.
Weder die Bedeutung eines Problems noch diejenige einer Theorie
ist unabhangig vom Stand der Geschichte und von der Rolle, die
ein Mensch in ihr spielt. Dies gilt auch fur ihre okonomische Auf-
fassung: es mag Existenzen geben, denen die Geschichte andere Seiten
zukehrt oder fur die sie iiberhaupt keine Strukturiertheit zu haben
scheint. Es ist dann schwer, in diesen Fragen Einverstandnis zu
erzielen und zwar keineswegs bloB wegen der Verschiedenheit der
materiellen Interessen, sondern auch weil die theoretischen unter
scheinbarer Parallelitat in verschiedene Richtungen ftihren. Aber
dies betrifft die Schwierigkeit der Verstandigung, nicht die Einheit
der Wahrheit. Bei aller Verschiedenheit der Interessen ist auch das
subjektive Moment in der Erkenntnis der Menschen nicht ihre Will-
kur, sondern der Anteil ihrer Fahigkeiten, ihrer Erziehung, ihrer Ar-
beit, kurz, ihrer eigenen Geschichte, die im Zusammenhang mit der
Geschichte der Gesellschaft zu begreifen ist.
Besprechungen.
Der Besprechungsteil dient der Absicht, ivichtige Erkenntmisse aus ver-
schiedenen Wissensgebieten fur die Erfassung gesellschaftlicher Vorgange
zu verwerten. Es ist seine Aufgabe, auf die in Betracht Jcommenden
wichtigen neuen Arbeiten, moglichst aus alien Sprachgebieten, dutch kurze
Berichte ilber Inhalt und Grundeinstellung des Verf assets hinzuiveisen;
besonderes Gewicht ivitd datanf gelegt, daft die Schtiften moglichst inner-
halb Jcurzer Zeit nach ihrem Erscheinen angezeigt werden. Bei sehr wich-
tigen WerJcen mag dann spalet im Hauptteil eine ausfuhtliche Wilrdigung
erfolgen, oder sie mbgen auch in einem Sammelreferat ilber ein Einzel-
gebiet wiedet erscheinen; zundchst abet gilt es, dutch Jcutze Angaben auf
Biichet und Aufsdtze aufmerJcsam zu machen, gleichgiiltig, 6b diese gut
oder schlecht erscheinen.
Es versteht sich t dafi der zur Ausgestaltung des Besprechungsteils not-
ivendige Apparat erst im Lauf der Zeit ausgebaut werden Jcann. In den
etsten Heften werden nicht nut ivichtige Schtiften aus den behandelten
Sachgebieten unerwaknt bleiben, sondetn es werden auch die Erscheinungen
mancher Lander ihberhaupt fehlen. WirMiche VollstandigJceit aber ist in
gat Jceiner Gruppe des Besprechungsteils erstrebt Seine Aufgabe ist ledig-
lichj uber PhilosopMej Soziologie, Psychologie, Geschichte 7 soziale Be-
wegung, SozialpolitiJc, olconomische Theotie und auch iibet belletristische
Werke zu bericl\ten 7 soweit die Sozialforschung ein besonderes Interesse
daran hat.
146 Besprechungen
Philosophic
Jaspers, Karl, Diegeistige Situation der Zeit. De Gruyter, Berlin w. Leip-
zig 1931. (191 S., RM. 1,80)
Wenn Jaspers in der Novalisschen Art philosophieren will, „in der univer-
sale]! Heimatlosigkeit faktisch eine neue andere Heimat" zu gewinnen, so
lehnt er doch die romantischen Versuche ab, sich in verlassene jjHeimaten"
zuriickzufinden. „Mit der Technisierung ist ein Weg beschritten, der weiter
gegangen werden mufi", sagt er an einer S telle, ohne allerdings naher zu
bestimmen, wie er gegangen werden soil. Der Weg kann keineswegs in
vertrauendem Befolgen dessen bestehen, was empirische Forschung an das
bisher Geleistete anfiigt oder was vorfindliche Krafte im ,,Dasein" be-
wirken. tlber dieses bloJJ vorfindbare „Dasein" will alle Existenzphilosophie
„hinausgreifen", um in „philosophischer Weltorientierung" und „Existenz-
erhellung" zum „Beschworen der Transzendenz" in der Metaphysik zu ge-
langen. ttber die gegenwartige „Massenordnung in Daseinsfiirsorge" muft
also wohl hinausgegangen werden, wenn auch der Weg der Technisierung-
weiterbeschritten werden soil. Und hier findet J. im Hinblick auf diese,
transzendierende Orientierung im Dasein, dafl die „Kampffronten verwirrt"
sind.
Aber diese dennoch vorhandenen Kampffronten bleiben so hart wie die
Tatsachen von jeher, und auf sie hin und an ihnen muB sich eine Philosophie
entscheiden, die die menschliche Existenz an der geschichtlich orientierten
Entscheidung aufhangen will. Was und wie diese Kampffronten sind,.
kann nur der Forschung empirischer Wissenschaften uberlassen bleiben.
Wahrscheinlich wiirde eine genauere Analyse ergeben/ daB die Jasper ssche
Philosophie hierbei die Hinweise auf die Befunde widerlegten (Bestimmung
des Staats, des Sozialismus, des Fascismus, der Psychoanalyse usw.). Aus
diesem Grunde darf man in diesem Buchlein die Klarung eines aktuellen
Entscheidungsbegriffes nicht erwarten, wohl aber die interessante beschrei-
bende Charakterisierung aktueller Erscheinungen.
W. Strzelewicz (Berlin).
Lehrbuch der Soziologie nnd Sozlalphilosophie, hrsg. v. Karl Dunkmann*
T. 1: Gerhard Lehmann, Sozialphilosophie. — T. 2: Karl Dunkmann,
Soziologie. — T. 3: Soziologie der Kultur. Mit Beitrdgen von Heinz Sauer-
land und den Obengenannten. Junker u. Diinnhaupt. Berlin 1931. (486 S.;
br. RM. 22.—, geb. RM. 25.—)
Bei der engen Beziehung, die in Deutschland stets zwischen Philosophie
und Soziologie geherrscht hat, war zu erwarten, dafi die jiingste Entwick-
lung der Philosophie nicht ohne EinfluB auf die Soziologie bleiben werde.
Die in der Hegelrenaissance und der Existenzialphilosophie angelegten
sozialphilosophischen Elemente mufiten sich, zusammen mit der umwal-
zenden Einwirkung des primar sozialtheoretisch orientierten Marxismus,
zu einem starken Antrieb fiir die sozialphilosophische Selbstbesinnung des
burger lichen Denkens verdichten. Dafiir zeugt nicht minder die ,, Soziologie
als Wirklichkeitswissenschaft" von Freyer wie das vorliegende Kollektiv-
Philosophic 147
werk, das auf den „ Grundsatzen einer methodologisch verwerteten ,Existenzial-
dialektik'" basiert. Die aufiere Dreiteilung des Buches in eine Sozialphilo-
sophie, der die Aufgabe der Sinnerfragung und damit Sinngebung des Gegen-
stands der Soziologie zugewiesen wird ; in eine Soziologie, die — unter Geltend-
machung ihres historisch gewordenen Substrats — systematisch ausgegliedert
ist; und schlieBlich in eine Kultursoziologie, die alle „Gemeinschaftsobjekti-
vation" (Kunst, Wirtschaft, Recht, Religion, Erziehung) nach ihrem sozialen
Urgrund erforscht — dieser Aufbau soil der Losung des richtig erfafiten
Grundproblems des sozialtheoretischen Denkens dienen : der unlosbaren
Durchdringung und wechselseitigen Bedingtheit von Sozialphilosophie und
Sozialforschung. A lie in die Berechtigung einer gesonderten Sozialphilo-
sophie ist m. E. weder aus der vorausgesetzten Konzeption der ,,metaphy-
sischen Erkenntnis" als der „begleitenden Beziehung metaphysischer Ge-
staltung (Poiesis) und reiner, d. h. sachlieher Erkenntnis" (S. 11) abzuleiten,
noch aus den fruchtbaren Ergebnissen, zu denen der dialektisch-existenzielle
Ansatz der sozialphilosophischen Betrachtung verhilft.
Dank jenem Ansatz wird das philosophierende Bewufltsein von vorn-
herein als „gespaltenes, mit sich selbst zerfallenes" gefafit und der Grund
der Sozialphilosophie in die „Zerrissenheit des sozialen BewuBtsein" (S. 18)
gelegt. Vom gleichen Ausgangspunkt her gelingt es, bei der Bestimmung
des Verhaltnisses von Erkenntnistheorie und Sozialphilosophie ihr dialek-
tisches Ineinander sichtbar zu machen: die „Struktur des erkennenden
BewuBtseins" wird als „soziale Struktur" angesprochen und Erkenntnis
als „sozialer ProzeB" begriffen (S. 20, 21). Das „Lehrbuch" kann sich daher
konsequent auf die bedeutsamen Ergebnisse stiitzen, zu denen die Bemuhung
um eine „soziale Logik" <H. Pichler) gefiihrt hat. Unter Ablehnung der
„gegenstandlichen" Erkenntnis (S. 60) als dem Sozialen inadaquat wird die
„zustandliche" (S. 159), d. h. die sich als Selbstbewufitsein des sozialen
Prozesses verwirklichende Erkenntnis gefordert. Das impliziert, daB die
sozialphilosophische „verstehende" Erfahrung letzten Endes „politisches
Handeln" im Sinne „personlicher Entscheidung" (S. Ill) bedeutet. Dem
entspricht als sozialtheoretisch wertvollstes Resultat ein Begriff des „sozia!en
Gesetzes", die „anscheinende Paradoxic, daB es soziale Gesetze nur gibt,
indem sie wirklich und willentlich befolgt werden" (S. 61).
Neben dem bisher Gesagten gehoren zahlreiche anregende Einzelbemer-
kungen zu den wissenschaftlich fruchtbaren Leistungen des Lehrbuchs.
Aller dings verbleibt ein peinlicher Rest von Abstraktheit gerade dort, wo
das wirkliche Subjekt „existenzial dialektischen" Denkens — die konkrete
Klasse im historischen Elemente des Klassenkampfes — aufzuzeigen ware.
Die Hauptfunktionen des Staats werden „Kultur und Wehrmacht"; der
„lmperialismus . . . erscheint als unentbehrliches Moment in jedem Staat"
(S. 250),die inneren Antagonismen des Staats verfliichtigen sich zu einer
„soziologischen Antinomie im Staatsbegriff" (S.249), in der dieMachtordnung
mit der Kulturordnung kollidiert. Aus der okonomischen Abhangigkeit
der Lohnarbeiter wird nach D. eine „widerwillige Gefolgschaft" (S. 241),
die mit ihren „Fuhrern", die man „in der Wirtschaft ganz allgemein ,Wirt-
schaftsfiihrer', ,Generaldirektoren ( " (S. 241) nennt, nicht harmoniert.
Als methodische .Grundlage fur diese Begriffsbildung dient eine ausdruck-
148 Besprechungen
lich als „platonisch-mittelalterlich" bezeichnete Unterscheidung von tiber-
geschichtlich Realem und geschichtlich Konkretem, zu der die Realdialektik
von Julius Bahnsen hinzugenommen wird.
A. F. Wester mann Frankfurt a. M.
Seifert, Friedrich, Charakterologie. — Seifert, Friedrich, Psychologie.
Metaphysikder Seele. — Groethuysen,Bernhard, Philosophische Anthro-
pologic. In: Handbuch der Philosophie, hrsg. v. Baeumler u. Schroter,
Abt. III, Mensch und Charahter, B. Oldenbourg. Milnchen- Berlin 1931,
(899 S.; RM. 42.—)
Der Rahmen der Zeitschrift verlangt Beschrankung auf die im engeren
Sinne anthropologischen Beitrage. Als systematische Abhandlung kommt
vor allem Seifert, Charakterologie, in Betracht. Bemerkenswert ist die
methodische Ausgangsstellung dieser Arbeit. S. will nicht den Ort einer neuen
Wissenschaft Charakterologie im bestehenden Wissenschaftsgefiige durch
Bestimmung ihres Gegenstandsbereichs und ihrer methodischen Besonder-
heiten festlegen. Charakterologie ist ihm ein Name fur eine Reihe in die
gleiche Richtung zielender Bewegungen, die mit einer veranderten Ein-
stellung an die von den Wissenschaften aufgeteilte menschliche Gesamt-
wirklichkeit herangehen. Der Erlebnishintergrund dieses neuen wissenschaft-
lichen Wollens ist fur ihn der neue Realismus des 20. Jahrhunderts. Diesen
„Realismus" grenzt er ab gegen den Naturalismus und den Idealismus.
Realismus ist hier nicht erkenntnistheoretisch als Anerkennung eines vora
Bewufitsein unabhangigen Seins gemeint, Realitat nicht als Gegeniiber eines
zum Bezugskorrelat verfliichtigten Subjekts. Sofern Realitat uberhaupt
ein Gegeniiber ist, ist sie es in der lebendigen Auseinandersetzung und nicht
in der vergegenstandlichenden Betrachtung. Zunachst ist sie die zu iiber-
nehmende, auszuhaltende und zu bewahrende eigene konkrete Wirklichkeit.
Obwohl die alternativen Begriffspaare des Idealismus: Subjekt-Objekt,
Allgemeines-Besonderes, Vernunftiges und empirisches Ich die Erfassung
der menschlichen Wirklichkeit erschwert haben, glaubt der Verf. doch, daB
in der philosophischen Entwicklung des deutschen Idealismus auch Kate-
gorien herausgearbeitet worden sind, die dem neuen Verstandnis der mensch-
lichen Wirklichkeit dienstbar gemacht werden konnen, vor allem die aus
der Beschaftigung mit der kiinstlerischen, organischen und geschichtlichen
Wirklichkeit hervorgegangerie Kategorie der Totalitat und der aus der
Naturspekulation stammende Begriff der Polaritat.
Der zweite Beitrag von S. iiber die Metaphysik der Seele ist durch die
systematische Grundhaltung, die im vorigen skizziert wurde, bestimmt.
Man kann dies an der Gegenuberstellung des aristotelisch-thomistischen
und des augustinischen Seelenbegriffs ersehen. Fur Aristoteles steht die
Seele an bestimmter Stelle im hierarchisch gegliederten Formenkosmos,
sie ist selbst gegliedert, einmal gestaltendes Prinzip der vitalen Funktionen,
dann als Nous" Prinzip der Wesenserkenntnis. Das eigentlich Personliche
geht hier ebenso verloren wie bei der idealistischen Aufteilung des Menschen
in Vemunft und Sinnlichkeit. Demgegeniiber steht Augustin, der Ent-
decker der menschlichen Gesamtwirklichkeit, des abgrundigen Lebens, des
cor humanum. Fur ihn ist Seele der Ort unmittelbaren und erschiitternden
Philosophic 149
Angesprochenseins vom Unbedingten. S. hebt gegeniiber den iramer wieder
angefiihrten unter neuplatonischem EinfluB stehenden augustinischen
Fruhschriften die Bedeutung der spaten Schriften hervor; vor allem sind
fiir ihn die „Konfessionen" als Aussprechen des Ringens, TJnterliegens und
Erlebens der Einzelseele Ausdruck einer gegeniiber der griechischen Situation
vollig veranderten Auffassung von der personlichen Wirklichkeit.
Die historischen Darlegungen des Verf. bleiben jedoch weitgehend hinter
dem Programm des neuen „Realismus" zuriick. Allzusehr noch werden
nebeneinandergereihte Meinungen vorgetragen. S. laBt uns nicht sehen,
wie diese Meinungen in der Auseinandersetzung geschichtlicher Menschen
mit den Problemen ihrer Situation erwachsen. Allzuhaufig werden Begriffe,
die in konkreter historischer Situation deren Erleben und Ringen Ausdruck
verschaffen, wie ein jederzeit verfiigbarer Kategorienvorrat gebraucht.
Dieser Mangel drangt sich vor allem da auf , wo der Verf. ungeloste Probleme
in der Geschichte sieht, zu deren Bewaltigung den betreffenden Denkern
die begriff lichen Mittel gefehlt hatten.
Die Groethuysensche Untersuchung ist demgegenuber mehr aus der
Analyse konkreter historischer Situationen erwachsen. Auf das Inhaltliche
der sorgfaltig und mit grofiem historischen Verstandnis durchgefuhrten
Einzelanalysen kann hier leider nicht eingegangen werden. Wir miissen uns
auf einige Bemerkungen iiber das Methodische beschranken. G. s Beitrag
will eine Geschichte der menschlichen Selbstbesinnung geben. Diese Selbst
besinnung tritt in doppelter Form auf. Die erste als Lebensphilosophie be
zeichnete Form umfafit alle begriff lichen, aber auch kiinstlerischen Aus
drucksformen, in denen der Mensch, im Lebenszusammenhang verbleibend,
Lebenserfahrungen ausspricht, Lebensstimmungen und Motivzusammen-
hange zur Darstellung bringt. Diese dem Leben selbst zugehorige Selbst
besinnung „gibt die Atmosphere an, in der die geistigen Schopfungen ent
stehen". Sie bildet die standige, das Erleben selbst mit aufbauende TJnter
stromung alles expliziten Fragens nach dem, was der Mensch sei. Diese
letztgenannte Form der Selbstbesinnung stellt sich auCerhalb des eigenen
Lebenszusammenhanges, um von dort her nach dem Wesen der Seele, des
BewuCtseins, des Ichs usw. zu fragen. Durch das Mittelglied der deutenden
Darstellung eigenen Erlebens in alltaglicher Rede, Brief, Tagebuch, Gedicht
usw. versucht G. die Verbindung zwischen dem kontinuierlichen Gang des
Erlebens in Zusammenhang und Auseinandersetzung mit der eigenen see-
lischen und gesellschaftlichen Wirklichkeit und den isolierten Aufgipfelungen
menschlich-kultureller Leistungen zu gewinnen. Es ist die Methode, die der
Verf. schon in seinem fruheren Werk iiber die Entstehung der burgerlichen
Weltanschauung in Frankreich mit so groBem Erfolg verwendet hat.
Franz Steinrath (Frankfurt a. M.).
Spengler, Oswald, Der Mensch und die Technik. Beitrag zu einer Philoso-
phic des Lebens. C. H. Beck. Miinchen 1931. (V u. 88 S., or. BM. 2. — ,
geb. BM. 3.20)
Die Broschiire, vorgetragen mit jenem polternd generosen Pathos, kraft
dessen seit Nietzsche kulturphilosophische "Cberlegungen gern den An-
spruch urtumhcher Schau erheben, stellt in Wahrheit sich dar als Entwurf
1 50 Besprechungen
einer anthropologischen Natur dialektik, wie sie seit der Aufklarung bis
zu Engels stets wieder in Angriff genommen ward. Die Kategorien aber, aus
denen hier die Dialektik entspringt und die von der Dialektik umschlossen
werden, sind ebendieNietzscheschen. Idealisten, die die Fragenach der Teehnik
als untergeistig abweisen, werden wirklichkeitsfremd, Materialisten, die
dem Nutzen der Teehnik nachfragen, flach gescholten. Legitimes Erkenntnis-
mittel soil der ,,physiognomische Takt" (S. 6) sein: der Spenglersche Erbe
des alten Intuitionsbegriffs, in welchem die Lebensphilosophen die Frage
nach wahr und falsch nun einmal verloschen lassen. Anders als sonst im
Leben hat es der Takt nicht mit dem Kleinen sondern einzig mit dem Groflen
zu tun: dem Schicksal, dem man am taktvo listen begegnet, wenn man sich
ihm fiigt (cf.-S. 13). Der Rhythmus dieses Schicksals hebt an mit dem Satze:
„Denn der Mensch ist ein Raubtier" (S. 14); Raubtier, . wohlverstanden,
der Seele nach, denn Spengler ist ja beileibe kein Materialist, aber doch
Raubtier von Natur und ein fur allemal. Sein Leben ■ — ■ freilich doeh wohl
nicht blofi das Seelenleben — besteht im Toten (S. 16).. Weil ihm die Frei-
heit des Totens eignet, darum findet der physiognomische Takt, das Raub-
tier sei „die hochste Form des freibeweglichen Lebens" (S. 17). Eine Onto-
logie der Sinnesorgane kommt ihm zuhilfe : die Nase sei blofi das Organ der
Verteidigung, dem Raubtier und Menschen aber sei das Auge als Organ der
Angriffs gegeben (cf. S. 19). Die Menschenseele, gelegentlieh von Spengler
ganz schlicht der „gottliche Funke" geheifien (S. 20), konstituiert sich als
solche durch die Distanz von der Gattung, wie sie irgendwie bereits im
spahenden Blick angelegt sein' soil, ohne dafi deutlich wiirde, warum dann
die Panther nicht auch des Geschenks der Nietzsche- Spenglerschen Einsam-
keit teilhaftig werden. Teehnik heiflt danach die Lebens taktik des erfinde-
rischen, gattungsunabhangigen Raubtieres. Sie wird anthropologisch auf
die Hand zuriickgef iihrt : Hand und Werkzeug — und damit Teehnik —
sollen im XJrsprung korrespondieren (S. 28). In der naturerzeugten Taktik
von Hand, Auge, Werkzeug setzt der Mensch sich als Antithesis zur
Natur: „der Natur wird das Vorrecht des Schopfertums entrissen" (S. 35).
Damit beginnt fiir Spengler, und nicht umsonst steht an dieser Stelle eine
asthetische Kategorie an Stelle einer geschichtsphilosophischen, die „Tragodie
des Menschen, denn die Natur ist starker" (S. 35). Auf der zweiten Stufe
gelangt das Fur-sich-sein des Menschen zur Darstellung: der zweiten Stufe
in der Geschichte des geschichtlichen Menschenwesens namlich und nicht
der Gesellschaf t : Sprechen und XJnternehmen sind, als Antithesis zu Hand
und Werkzeug, die Signa jener zweiten Stufe. Die Seele bringt es rein aus
sich heraus zum tlbergang vom organischen zum organisierten Leben und
damit zum Staat (S. 53). Es folgt die Synthesis als Katastrophe. Freilich
etwas vag und allgemein : die Teehnik, urspriinglich von Spengler als Taktik,
als Verhaltensweise angesetzt, wird von ihm verabsolutiert, ohne dafi auch
blofi die Frage gestellt ware, ob nicht gerade die Verselbstandigung der Teehnik
gegeniiber ihrem gesellschaftlichen Gebrauch durch eine Veranderung der
gesellschaftlichen Struktur korrigierbar ware. Die Kritik an der falschen
Funktion der Teehnik hintertreibt er mit einer technischen Mythologie,
die die Fetische noch anbetet, nachdem ihr Fetischcharakter erkannt ist:
„Wieeinst der Mikrokosmos Mensch gegen die Natur, so emport sich jetzt der
Philosophie 151
Mikrokosmos Maschine gegen den nordischen Menschen. Der Herr der Welt
wird zum Sklaven der Maschine" (S. 75). Folgerecht-mythisch spricht
Spengler von „Frevel und Sturz des faustischen Menschen" (S. 75) und
prophezeit baldigen Untergang der abendlandischen Technik, die in Ver-
gessenheit geraten miisse, weil fur die kommenden, nichtfaustischen Seelen
,,die faustische Technik kein inneres Bedurfnis" (S. 87) sei, obwohl doch
nach Spenglers eigener Aussage ,,die Japaner . . binnen 30 Jahren technische
Kenner ersten Ranges" (S. 86) wurden. Den betroffenen Abendlandern bleibt
nichts tibrig als heroisch-tragische Gesinnung.
Zur Kritik ist die kurze Anzeige nicht der Ort. Es sollen statt dessen
einige Satze Spenglers stehen, die fur sich selbst sprechen: „J*etzt aber, seit
dem 18. Jahrhundert, arbeiten die zahllosen ,Hande' an Dingen, von deren
tatsachlicher Rolle im Leben, auch im eigenen, sie gar nichts mehr wissen
und an deren Gelingen sie gar keinen inneren Anteil nehmen" (S. 74). Das
ist richtig, wenn auch anderwarts scharfer formuliert. Wie aber interpre-
tiert Spengler die Warenform ? ,,Eine seelische Verodung greift um sich,
eine trostlose Gleichformigkeit ohne Hohen und Tiefen, die Erbitterung
weckt" — gegen wen wohl ? — „ gegen das Leben der Begabten, die schopfe-
risch geboren sind" (S. 74). Die schopferisch Geborenen aber sind ihmheutzu-
tage die kapitalistischen Unternehmer, die das Schicksal gnadig an ihrenPlatz
stellte: ,,Die kleine Schar der geborenen Fiihrer, der Unternehmer und Er-
finder, zwingt die Natur . . ." (S. 72). Es gibt eben „von Natur Befehlende
und Gehorchende" (S. 50) und bei der Theodizee der Edelmenschen fallt der
Satz : „Nur Kinder glauben, daB der Konig mit der Krone zu Bett geht, und
Untermenschen der GroBstadte, Marxisten, Literaten glauben von Wirt-
schaftsfuhrern etwas Ahnliches" (S. 51). Es wird nicht verraten, welche Art
von Menschen heute noch kapitalistische Unternehmer fur die naturgewollten,
begnadeten Fiihrer ansieht. Aber der Satz lafit wenigstens keinen Zweifel,
welchen zwischenmenschlichen Beziehungsforraen der physiognomische
Takt hier zugute kommt und welche konkrete Bestatigung die These, der
Mensch sei ein Raubtier, durch Spenglers Philosophie selber etwa finden mag.
Theodor Wiesengrund- Adorno (Frankfurt a. M.).
Marck, Siegfried, Die Dialektik in der Philosophie der Gegenwart.
1. and 2. Halbbd. I, C. B. Mohr (Paul Siebeck). Tubingen 1929 und 1931.
(IV %l. 166 und VI u. 174 S.; geb. in einem Band RM. 20. — ;
Das Werk will einen Querschnitt durch die Philosophie der Gegenwart
unter dem Gesichtspunkt des Problems der Dialektik geben. Mit dieser Ab-
sicht greift es bewufit in die auch von anderer Seite als Leitfaden durch die
Fiille der Probleme und Systeme dargestellte ,,Reproduktion" der Problem-
geschichte von Kant bis Hegel auf „erweiterter Stufenleiter" ein. Das Ziel
des Verfassers ist die Rechtfertigung einer „kritischen Dialektik 1 ', die
gegen die spekulative Dialektik des Neuhegelianismus und den nichtdia-
lektischenKritizismus der Neukantianer abgegrenzt undalsKonvergenzpunkt
der Gegenwartsphilosophie aufgewiesen wird.
Die entscheidende Leistung, die dem Kritizismus die Einbeziehung der
nachkantischen Motive ermdglicht, ohne daG er den metaphysischen Konse-
quenzen der nachkantischen Systeme verfallen miiCte, sieht der Verfasser
1 52 Besprechungen
in der vor allem durch R. Honigswald erreichten Wendung der Denkpsycho-
logie zur philosophischen Prinzipienlehre. — Aufier Honigswald werden
J. Cohn, H. Bauch, P. Hofmann, E. Cassirer und Th. Litt als Vertreter der
kritischen Dialektik behandelt.
Im Sinne der oben erwahnten Abgrenzung erfolgt die kritische Auseinander-
setzung mit H. Rickert, E. Lask, R. Kroner, Kierkegaard, Barth, Gogarten,
E. Brunner, P. Tillich, G. Lukacs, E. Griesebach, M. Heidegger, G. Simmel,
P. Natorp, A. Liebert, N. Hartmann, E. Troeltsch, E. Przywara und P. Wust.
Obwohl im iibrigen der Bezug der philosophischen Probleme auf die
Probleme der Einzelwissenschaften nicht behandelt wird — so sehr auch die
kritische Dialektik (kantisch gesprochen) eine kritische Analytik fordert — , so
darf doch besonders auf die klare Darstellung der Denkpsychologie hin-
ge wiesen werden, die in den bisher nur zu wenig bekannt gewordenen Werken
R. Honigswalds eine Fiille grundlegender Einsichten und scharfsinniger
Untersuchungen fur die Probleme der Geistes- und Sozialwissenschaften
enthalt. Freilich, die methodologischen Probleme der Soziologie kommen
entgegen der in der Vorrede zum ersten Halbbd. vom Verfasser geauBerten
Absicht zu kurz. Franz Meyer (Breslau).
Saucrland, Kurt, Der dialektische Materialismus, 1. Buck: Schopferiscker
oder dogmatischer Mater ialismus? Berlin 1932. (320 S.; RM. 4.80)
Das Buch bildet den ersten Band eines groBeren Werkes, in dem die
Leninsche Auffassung des dialektischen Mater ialismus den westeuropaischen
Auffassungen entgegengestellt werden soil. Der vorliegende Band ver-
sucht einen historischen Abrifi der Entwicklung des dialektischen Materialis-
mus zu geben, die systematische Darstellung soil erst im 2. Bande folgen.
Als erste Aufgabe wird die „Wiederherstellung des wahren Marxismus"
(S. 3) bezeichnet. Die sozialdemokratischen Theorien, einschliefilich der-
jenigen R. Luxemburgs und K. Liebknechts, werden dabei im wesentlichen
als MiBverstandnisse betrachtet. Der Verfasser bestimmt die mater ialistische
Dialektik im Anschlufi an Lenin als „die wissenschaftliche Lehre von
den Gesetzen der Entwicklung aller materiellen und geistigen Dinge, d. h.
der Entwicklung alles konkreten Inhalts der Welt und der Erkenntnis
derselben" (S. 40), und gibt ihr die dreifache Funktion, Weltanschauung,
Methodologie und Erkenntnis theorie zu sein (S. 42). Die ,,materialistische
Dialektik** ist nach S. zugleich „die Logik des revolutionaren proletarischen
Klassenkampfes" (S. 261).
Die wissenschaftliche Behandlung des Gegenstands entsprache in der Tat
einem Bedurfnis. Der Wert des Buches wird aber entschieden dadurch
beeintrachtigt, dafi die Thesen weniger durch logische Beweisfiihrungen als
durch Berufung auf politische Autoritaten gestutzt werden, deren Be-
deutung bestimmt nicht auf philosophischem Gebiet zu suchen ist. Ein
endgiiltiges Urteil wird sich erst nach Erscheinen des zweiten Bandes ab-
geben lassen. A. F. Westermann (Frankfurt a. M.)
Gouhier, Henri. La Vie d' August Comte. („ Vies des hommes illustres",
Nr. 63). Gallimard. Paris 1931. (300 S.)
Henri Gouhier ist ein junger Philosophiehistoriker, der durch seine aus-
gezeichneten Arbeiten iiber Malebranche und Descartes bekannt ist. Seine
AUgemeine Soziologie 153
Comte-Biographie gehort nicht zu der Gattung der heute so beliebten
„ biographies romancers", sondern ist ein wissenschaftlich relevantes
Buch. Allerdings ein Buch, das fur ein breiteres Publikum bestimmt und
sehr leicht, man mochte sogar sagen spannend, geschrieben ist. Die Lehre
Comtes ist darin nicht beriicksichtigt worden, aber das Personliche wurde
stets im Hinblick auf das theoretische Werk behandelt. Der Verf. hat sich
eine doppelte Aufgabe gestellt: „Ich muJ3 Auguste Comte so wiederfinden,
wie er sich selbst gesehen hat; es ist mir untersagt, auf das Wissen zu ver-
zichten, ob er sich so gesehen hat, wie er war** (S. 9).
Man kann verschiedener Meinung daruber sein, ob G. diese Aufgabe richtig
gelost hat; aber alles, waser sagt, ist interessant, durchdacht und mit reich-
lichem und gut gewahltem Z it at material belegt.
A. W. Kojevnikoff (Vanves [Seine]).
AUgemeine Soziologie.
Vierkandt, A., Handwbrterbuch der Soziologie. Hrsg. in Verb, mit
G. Briefs, F. Fulenburg, F. Oppenheimer, W. Sombart, F. Tonnies, A . Weber,
L. v. Wiese. Ferd. Enke. Stuttgart 1931. (XII u. 690 S.;geh. RM. 69. — ,
geb. RM. 74.—)
Die von dem Herausgeber im Vorwort ausgesprochene dreifache Absicht
dieses Handworterbuches ist: 1. die Kenntnis der Soziologie „in weiteren
Kreisen zu verbreiten", 2. ,,gleichsam durch einen Akt der Kodifikation"
den gegenwartigen Stand der Soziologie festzulegen und 3. zur Selbstbesin-
nung der Soziologie zu dienen und auf ihren Fortschritt hinzuwirken. Ist
die Durch fiihrung des ersten Punkts durch den hohen Preis erschwert und
der dritte durch die Zukunft zu beantworten, so wird man feststellen miissen,
daJ3 dem Herausgeber die ttbersicht iiber das, was heute unter Soziologie
verstanden und in ihr geleistet wird, in hohem Mafi gelungen ist.
Mitgearbeitet haben an diesem Werk fast samtliche Soziologen an deutschen
Universitaten und technischen Hochschulen. In 62 Artikeln von 4 — 30 Seiten
Umfang behandeln die Autoren die verschiedenen Probleme der Soziologie.
Eine systematische Inhaltsubersicht teilt das Buch in 5 Abteilungen ein:
Allgemeines, Gesellschaftssoziologie, allgemeine Kultursoziologie, Soziologie
der einzelnen Kulturgiiter, einzelne Kulturen und Epochen. Zwar wird der
Leser keine durchgangige Auffassung iiber das, was Soziologie sei, fest-
stellen konnen, es sei denn die, daB es sich urn so etwas wie urn die Erfor-
schung des „Gesellschaftlichen" handele; was aber in diesen Bereich einzu-
beziehen, was aus ihm auszuschlieBen sei, daruber hat fast jeder Autor seine
eigene Meinung. Die Soziologie befindet sich im Stadium des Experimen-
tierens, aber sie ist darum nicht weniger fruchtbar und bietet nicht
weniger Erkenntnisse als bei starrer Eixieruhg. Man kann den Spielraum
und die Weite der Soziologie am besten an einer Gegenuberstellung von
Sombart und Mannheim erlautern. Sombart (Art.Grundformen des mensch-
lichen Zusammenlebens) anerkennt nur die durch „Geist (t konstituierten
Gruppen („echte lt Verbande) als legitime Objekte der Soziologie, Mannheim
(Art. Wissenssoziologie) zieht samtliche Erscheinungen des historisch-
sozialen Lebens in seine Fragestellung und untersucht sie auf ihre Bezie-
1 54 Besprechungen
hung zum realen gesellschaftlichen Sein hin. In diese Spannung ordnen sich
je nach Gegenstand und Methods die anderen Auffassungen von Soziologie
ein. Es wiirde den Rahmen dieses Refer ates sprengen, wollte man auf alle
Aufsatze einzeln eingehen und sie nach ihrem Werte wiirdigen. Es kann nur
auf einige hingewiesen werden, die uns besonders bemerkenswert und wichtig
erscheinen. So die Aufsatze von G. Briefs iiber die Sozialstruktur der
Gegenwart (Betriebssoziologie, Sozialform und Sozialgeist der Gegenwart,
Proletariat). Klar und einsichtig weist hier der Verf. auf den Prozefi der
Verdinglichung der menschlichen Beziehungen im modernen Betrieb, auf
die Klassenspaltung der kapitalistischen Gesellschaft und auf das Phanomen
der Entproletarisierung des Proletariats, von dem „Verburgerlichung" nur
ein moglicher Weg ist, hin. Eine wertvolle Erganzung findet die Soziologie
der Gegenwart in dem temperamentvoll geschriebenen ausgezeichneten Aufsatz
von A. Meusel iiber Biirgertum, der die mannigfaltige Schichtung und
GHederung des modernen Biirgertums darstellt. Ferner erwahnt seien die
klaren formalsoziologischen Artikel von Th. Geiger iiber FUhrung, Gesell-
schaft, Gemeinschaft und Revolution. Gundlach zeigt in einem aus-
geschliff enen Aufsatz iiber die Soziologie des Ordens neben vielem Sachlichen
die Mentalitat der modernen katholischen Soziologie. Bemerkenswert
erscheint uns auch der Aufsatz von K. Mannheim iiber Wissens -
soziologie, der im Rahmen der Behandlung des Wissens in seiner Beziehung
zu den gesellschaftlichen Gruppierungen einen Vorstofi in das Gebiet der
Erkenntnistheorie unternimmt. An diese Abhandlung wird sich sicher
noch eine lebhafte Diskussion anschliefien. Daneben bietet das Handworter
buch eine Fiille von Aufsatzen iiber die Soziologie der Gruppen (Tonnies,
Vierkandt, Sombart, Oppenheimer, Colm), der zwischenmensch-
lichen Beziehungen (L. v. Wiese), zwei Aufsatze iiber allgemeine Kultur-
soziologie (A. Weber, Freyer), mehrere iiber besondere Kulturen: China.
Aufklarung, Mittelalter, Renaissance (v, Rosthorn, B. v. Wiese, v. Mar-
tin). Die Soziologie der Politik findet ihre Behandlung durch Michel s,
Heller, Mitscherlich, v. Beckerath, Grabowsky u. a., die iiber
Patriotismus, Staat, Volk und Nation, Faschismus, Bolschewismus usw.
referieren. Religionssoziologie, Padagogische Soziologie, Rechtssoziologie
werden von Wach, A. Fischer und J. Kraft behandelt. Schering und
Ziegenfufi berichten iiber die Soziologie der Kunst (Musik, Literatur und
bildende Kunst). Wie nicht anders zu erwarten ist, sind bei der Beschrankt-
heit des Raumes nicht alle Probleme im Handworterbuch zu Wort gekommen,
und nicht alle sind so ausfiihrlich behandelt worden, wie sie es eigentlich
verdienten. Deshalb sind auch die einzelnen Aufsatze nicht von gleichera
Wert. Im groBen und ganzen kann jedoch gesagt werden, dafi das Hand-
worterbuch seinen Zweck, einen tft>erblick iiber den gegenwartigen Stand der
Soziologie in Deutschland zu geben, erfiillt. W. Gollub (Frankfurt a. M.)-
VerhandlungendesSiebentendeutschenSoziologentagesvo7n28.Sep-
tember bis 1. Oktcber 1930 in Berlin. J. C. B. Mohr (Paul Siebeck).
Tiibingen 1931. (X u. 203 S.; RM. 11.40)
Durch die Uberlastung der Tagesordnung mit fiinf Fragen wurden dio
Debatten kurzer, die Auseinandersetzungen weniger ausfiihrlich als auf
Allgemeine Soziologie 155
frtiheren Soziologentagen, obzwar hervorgehoben werden rauB, daC trotz
der Kurze der Zeit wertvolle Vortrage und Diskussionsreden gehalten wurden.
Nur auf einiges kann im Rahmen einer kurzen Besprechung hingewiesen
werden.
Der erste Punkt der Tagesordnung lautete: Presse und offentliche
Meinung. Brinkmann sieht die geschaftsmaflige Entwieklung des modernen
Pressewesens und vergleicht sie mit der der anderen monopoloiden Grofi-
produktionen. Er sieht auch die Gefahren dieser Entwieklung fur offentliche
Meinung und Kultur, erhofft aber die Hilfe von der Herausbildung einer neuen
aristokratischen Schicht fiihrender Geister und Organe, die die Presse zu
ihren idealen Zwecksetzungen zuriickfiihren werde. Von Eckardt arbeitete
die Verflochtenheit der Presse mit Wirtschaft, Kultur und Staat heraus und
wies besonders auf die okonomische Fundierung des Zeitungswesens mit alien
ihren Begleit- und Folgeerscheinungen hin. In der Diskussion bekampfte
Kapp die Behauptung, dafi die Presse die Partei mache, und zeigte auf grofie
Schichten hin, die gegen den publizistischen Willen der groBen Presse immun
sind.
In der Untergruppe fiir Methodologie wurden iiber die Begriffsbildung
in der Soziologie zwei Vortrage gehalten. Stoltenbergs, ernes an sich an-
regenden Soziologen, Vortrag kann schwer gewiirdigt werden, denn er hat
die Leidenschaft, fiir die ihm wichtig erscheinenden Begriffe sofort aueh
neue Worte zu schaffen, deren Erfassung viel Zeit und Geduld erfordert.
Koigen suchte die Aufgabe der Soziologie im wissenschaftlichen Aufbau des
soziologischen Gegenstandes, in der Auffindung der Begriffe und der Regeln,
nach denen sich der soziologische Tatbestand aufbaut. Aus der Diskussion:
Pieper warnte vor der tTberschatzung der Erfahrung. Stepun zeigte, daS
das Miterleben der russischen Revolution die nachtragliche adaquate Er-
fassung der franzosischen Revolution erleichterte. Gierlichs warf den
fruchtbaren Gedanken einer Soziologie des Alltagslebens auf.
tiber die Soziologie der Kunsb sprach als erster v. Wiese. Unter
Zugrundelegung seiner Beziehungslehre zerlegte er die Aufgabe in zwei
Problemkreise : die Kunst als Komplex sozialer Prozesse und die Kunst als
soziales Gebilde. Nach Rothacker ist die Aufgabe der Kunstsoziologie, die
soziale Bedingtheit der Entstehung und Wandlung der Lebens-, Kultur- und
Kunststile darzulegen. Breysig betrachtete das geistige Schaffen als Gegen-
stand der Gesellschaftslehre, und alle drei Gattungen des geistigen Verhaltens :
das neuernde Erzeugen, das nachahmende Weitergeben und das hinnehmende
Empfangen, machte er zum Gegenstand seiner Untersuchungen. Die drei
Vortrage zeichneten sich durch eine Fiille geistiger Anregungen aus. Dement-
sprechend war auch die Diskussion bemerkenswert. Schmalenbach wies
mit Recht darauf hin, dafl nicht nur das Kunstwerk soziologisch wirkt,
sondern dafi es auch soziologisch erwirkt ist. Honigsheim widmete seine
Ausfiihrungen der Soziologie des Publikums.
Vher die Soziographie sprach zuerst Tonnies. Die S. hat die ver-
borgenen Quellen, die sich der Statistik verschliefien, aufzuspiiren. Der
soziographische Begriff der Stadt, den er als Beispiel entwickelte, ist sehr
lehrreich. In der Diskussion warnte Bortkiewicz vor der Gegeniiber-
stellung von Soziographie und Soziologie.
156 Besprechungen
In der Untergruppe fur politische Soziologie wurden „Die deutschen
Stamme" behandelt. Die einleitenden Worte sprach Eulenburg, der eine
rassenmafiige Losung des Problems als unwissenschaftlich zuruckwies.
Hellpach befaBte sich mit der naturforschenden und geisteswissenschaft-
lichen Seite des Themas und empfahl die strengste Wertungsenthaltsam-
keit. Nadler hielt tiber die literaturhistorischen Erkenntnismittel des
Stamme sproblems einen interessanten Vortrag. Aubin sprach von den
geschiehtlichen Gmndlagen der deutschen Stamme; als entscheidendes
Merkmal der Stammesbildung betrachtet er das gemeinsame und von
der Umwelt sondernde Erleben und zeigt, daB ,,reine" Stamme iiber-
haupt nicht existieren. Aus der Diskussion wollen wir folgendes erwahnen:
Hertz: Die Losung des Stammesproblems ist bisher nicht gelungen, weil
dieses eigentlich eine Gleichung mit vielen Unbekannten darstellt, zu deren
Losung bisher noch nicht genug Gleichungen vorhanden sind. Die natur-
wissenschaftlichen Erkenntnisversuche leiden an einem Mangel geschichtlicher
Kenntnisse. Sombart: Der Stamm als eine Angelegenheit der Blutsver-
wandtschaft und Abkommenschaft ist kein soziologischer Begriff. Volk ist
diejenige soziologische Gruppe, die eine gemeinsame Tradition hat, Nation
eine Gruppe, die ein gemeinsames Ziel hat.
Der Anhang enthalt schriftliche Beitrage zur Soziologie der Kunst von
Miiller-Freienfels, Hanna Meuter und Alfred Peters.
Der Berliner Soziologentag stand aui* einem hohen geistigen Niveau, und
trotz der "Dberfiillung der Tagesordnung war er imstande, eine ersprieBliche
Arbeit zu leisten. Paul Szende (Wien).
Soziologie von heute. Ein Symposion der Zeitschrift fiir V blkerpsychologie
und Soziologie. Hrsg. v. Richard Thurnwald. C. L. Hirschfeld, Leipzig
1932. (VIII, 158 S.; EM. $.— , geb. RM. 6.50)
In diesem „Symposion" vereinigt Th. zu dem Thema: Aufgaben und
Grenzen der Soziologie die programmatischen Ausfiihrungen fiihrender
Soziologen. Nur einige kommen zu Wort: Freyer, Ginsberg, Maclver,
W. F. Ogburn, Plenge, Sorokin, Steinmetz, Thurnwald, Tonnies und Walther-
Die Aussprache dient einem „allgemeinen Gedankenaustausch" und soil
mehr das Verbindende und Einigende als das Trennende in wichtigen Grund-
uberzeugungen betonen, damit sich — wie der Herausgeber im Vorwort
hervorhebt — „mit der Zeit ein fester Wissens- und Methodenkern heraus-
bildet, ohne den es nicht moglich sein darf, Soziologie zu treiben". Um dieses
Programms willen und weil hier so ganz verschieden geartete deutsche mit
amerikanischen Soziologen diskutieren, verdient dieser soziologische „Sanger-
krieg'*, wie Tonnies die Diskussion humorvoll bezeichnet, Beachtung.
Gemeinsam fordern die 4 amerikanischen und 6 deutschen Soziologen
eine Weiterfuhrung der methodologischen Klarung und lehnen den „ Sprung
in die Empirie" mit guten Griinden ab. Dafi die konkrete Einzelforschung
mit der Prinzipienbetrachtung engen Konnex behalten oder neu finden
miisse, sagen auch die amerikanischen Soziologen, von denen besonders
Maclver interessante Ausfiihrungen iiber die behavioristische Sozialpsycho-
logie in Amerika macht. Unter Ablehnung „dogmatischer Verengungen"
begibt man sich gemeinsam auf den Boden methodisch-liberaler Toleranz;
Allgemeine Soziologie 157
die verschiedenen soziologischen Schulen kdnnen M in friedlichem Nebenein-
ander organisch-verbunden existieren", meint Sorokin, und Freyer spricht
von ihrem M sinnvoIlen Zusammenspiel" und ihrer „sachbedingten Ko-
operation". So wie eine gewisse Wendung zur methodologischen Theorie in
den amerikanischen, so ist eine neuartige Betonung der Gegenwart und
Praxis in den deutschen Beitragen auffallig.
DaB es trotzdem den „Rednern im Symposion" mit ihren Beitragen weder
eine gemeinsame Gesprachsbasis zu finden gelungen noch bedeutungsvollere
theoretischet^bereinstimmungenaufzuzeigengeglucktist, hat seine besonderen
Griinde. Denn wenn auch die Soziologie durch Differenzierung ihrer Methoden
und Vermehrung ihrer Forschungsergebnisse weiter fortgeschritten ist, so
ist sie in Wirklichkeit doch noch weit entfernt von jenem „Konsolidierungs-
zustand", der eine der notwendigen Vorbedingungen fur jenes oben an-
gedeutete „ Symposion" ware. Gerade denjenigen, der die Gesellschafts-
wissenschaften gerne mit dem von Freyer neuentdeckten Begriff das „Selbst-
bewuBtsein einer Epoche" nennen mochte, wird es nicht wundernehmen,
wenn eine Zeit wie die Gegenwart auch bewufitseinsmaBig scharfste
Spaltungen erzeugt. Erich Winter (Frankfurt a. M.).
Freyer, Hans, Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft. Logiscke
Qrundlegung des Systems der Soziologie. Teubner. Leipzig und Berlin 1930.
(310 S. t br. RM. 10.—, geb. RM. 12.—)
Freyer, Hans, Einleitung indie Soziologie. Quelle & Meyer. Leipzig 1931.
(149 S., RM. 1.80)
In seinem bedeutsamen Buch zur Grundlegung eines „Systems der Sozio-
logie" sucht Freyer die Soziologie als eine Wissenschaft mit eigenem Gegen-
standsgebiet und besonderen Erkenntnismethoden neu zu konstituieren.
Zwei Drittel des Buches dienen der kritischen Auseinandersetzung mit der
deutschen Soziologie. Da die Soziologie „das organische Produkt einer
bestimmten Kultur und darum in eine andere Kultur nicht einfach uber-
tragbar ist'* (Zitat F.s aus Walther S. 7) und da die europaische Soziologie
„durch ihre eigene Geschichte auf ganz bestimmte Problemstellungen ver-
pf lichtet" sei, will er sich mit der amerikanischen Soziologie nicht auseinander-
setzen. Gegen die Auf f assungen, die die Soziologie „als Philosophieersatz
fur die philosophisch unglaubig Gewordenen anpreisen" setzt er die These,
daC die Soziologie „in aller Strenge des Worts System ist'* und die Aufgabe
habe, „die gesellschaftliche Wirklichkeit der Gegenwart ins wissenschaft-
liche BewuBtsein zu heben" (S. 12).
Die geisteswissenschaftliche Fundierung der Soziologie bei Dilthey,
Simmel und Spann habe gerade die Eigentiimlichkeit des Gegenstandes
und der Methode der Soziologie verwischt. Fur die „Logoswissenschaften"
werde „die gesellschaftliche Wirklichkeit mit ihreri Gegensatzen, Kampfen,
Entwicklungen und Entscheidungen zu dem Kraftespiel, in dem sich der
Sinnzusammenhang der Kulturformen verwirklicht" (S. 35). Diese logos-
wissenschaftliche Soziologie musse scheitern, weil „drei grundlegende Eigen-
schaften, die einander bedingen . . ., die gesellschaftlichen Gebilde von alien
Formen des objektiven Geistes unterscheiden" (S. 81). Erstens seien sie
*,Formen aus Leben"; deshalb auch sei der Soziologie die theoretische Hal-
158 Besprechungen
tung des geisteswissenschaftlichen „Verstehens" versagt. Sie seien zweitens
„der konkreten Zeit eingelagert" ; deshalb miisse die Soziologie „ein System
des Nacheinander sein" (S. 87). Die dritte Bestimmung sei, d&Q die gesell-
schaftlichen Gebilde „die existenzielle Situation des Menschen sind" (S. 97).
Sinn der soziologischen Theorie sei „Vertiefung der eigenen Entscheidung,
Unterbauung der eigenen Wirklichkeit". , , Nicht souveran soil der Erken-
nende werden, sondem verantwortlich . . ."; so treteneben die Logoswissen-
schaften ein zweiter Typus von Geisteswissenschaf ten : „die Ethoswissen-
schaften" (S. 91).
Wenn auch „von einem hochsten Blickpunkt aus, philosophisch be-
trachtet, alles Sein zur Wirklichkeit, der der Mensch existenziell angehort,
alle Wissenschaft vom Sein zur Wirklichkeitswissenschaft im hier gemeinten
Sinn'* (S. 201/02) werde, so sei doch in den drei Wissenschaftsgruppen (Natur-,
Geistes-, Wirklichkeitswissenschaften) ,,ein notwendiges Gliederungsgesetz
der Erkenntniswelt zu erfassen" (S. 202). „ Wirklichkeitswissenschaften
(Psychologie, Geschichte, Soziologie) sind zugleich ethische Wissenschaften"
(S. 206). Dabei beruhe die zentrale Aufgabe der Soziologie in der Analyse
der Beziehung von Staat und Gesellschaft.
Im dritten Teil seines Buches will F. seine Methode praktisch durch-
fiihren. An Phanomenen wie „ Gesellschaft", „Staat und Gesellschaft' %
,,Klassen" u. a. sucht er die soziologischen Satze zu erharten, daB die eigen-
tiimlichen soziologischen Strukturbegriffe generalisierbar sind, die gesell-
schaftliche Wirklichkeit geschichtet ist und in ihr „relativ reine und relativ
unreine, d. h. verhiillte, getriibte oder iiberschichtete Strukturen'* feststellbar
sind (S. 224); „fiir jede einzelne Grundstruktur" gebe es ,,typische Formen
der Einschichtung" anderer Strukturelemente.
F. versucht die Existenzialphilosophie zur Begrundung seines Systems
zu verwenden. Die philosophische Kritik seines Werkes miifite sicH gerade
diesem existenzialphilosophischen Ansatzpunkt F.s zuwenden und sich
fragen, ob nicht F. schliefilich doch die Soziologie als,,Philosophieersatz",
zumal einer philosophisch -soziologischen Ethik aufzubauen sucht. Wenn
F. im Kampf gegen die Logoswissenschaften auf Marx und Hegel zuruck-
greift und die Dialektik von dort ubernimmt, so steht diesem unbestreit-
baren Verdienst doch entgegen, daC er sich auf die Philosophie, nicht aber
auf die politische Okonomie von Marx bezieht. Das Buch F.s, so interessant
und wichtig die eigenartige Behandlung der Probleme ist, erbringt keinen
vollgiiltigen Beweis fur die Notwendigkeit eines soziologischen Systems, das
neben der Okonomie, der Geschichte, Kulturkreisforschung oder iiber ihnen
zu stehen hatte. Es rechtfertigt keineswegs ein neues System im Rahmen
der Wissenschaft, sondem stellt lediglich mit Hilfe geistesgeschichtlicher
und philosophischer Methoden fest, wie stark die begriffliche und sachliche
Differ enzierung des Denkens bei dem sein muB, der sich mit den Kampf en
des gesellschaftlichen Lebens theoretisch befaBt.
In seiner ,,Einleitung" fafit F. die Ergebnisse seines oben besprochenen
Buches kurz zusammen. Der historische Teil iiber die Geschichte der Soziolo-
gie ist neu hinzugekommen. Das kleine Buch ist sowohl historisch instruktiv
wie auch lehrreich fur den Einbruch der Existenzialphilosophie in das Gebiet
der Soziologie. Erich Winter {Frankfurt a. M.).
Allgemeine Soziologie 159
Neurath, Otto, Empirische Soziologie. Der wissenschaftliche Gehalt der
GescMckte und Nationalokonomie. Jul. Springer. Wien 1931. (151 S.;
RM. 9.60)
Neuraths Buch ist eine Programmschrift, eine Schrift iiber Wesen
und Methode der Soziologie mit scharf polemischer antitheologischer und
antimetaphysischer Spitze. Es gibt nur eine Wissenschaft mit eine r Methode
(,,Einheitswissenschaft"), die sich in der Physik als der vorgeschrittensten
und grundlegendsten aller wissenschaftlichen Disziplinen am reinsten ver-
korpert („Physikalismus"). Jede Wissenschaft (die es mit der Wirklichkeit
zu tun hat, von Logik — Mathematik abgesehen) stellt sich dar als Logi-
sierung empirisch gefundener Da ten, sie faBt diese Beobachtungstatsachen
daher in ihrem funktionellen Abhangigkeitsverhaltnis und in ihrer raum-
zeit lichen Ordnung, derart, daB kontrollierbare Voraussagen von Erfahrungs-
tatsachen moglich werden. Von dieser Grundthese ausgehend lehnt N. die
prinzipielle Scheidung zwischen natur- und geisteswissenschaftlicher Er-
kenntnis, die Trennung von „erklarender" und „verstehender t( Wissenschaft,
die Behauptung von der weltanschaulichen Grundlage oder der Wert-
beziehung geisteswissenschaftlicher Forschung ab. Er sieht ferner im Ge-
schichtsmaterialismus, im Marxismus, den „geschlossensten aller bisherigen
Versuche, eine streng wissenschaftliche, unmetaphysische physikalistische
Soziologie zu schaffen'*.
Das kleine Buch ist von erfreulicher Klarheit und Entschiedenheit, und
vor allem der Forderung, daB die Soziologie nur klare und erfahrungsmaCig
definierte Begriffe verwenden diirfe, mochte Ref. nachdrucklich zustimmen.
Es ist heute besonders notwendig zu betonen, daB die Begriffe einer echten
Wissenschaft termini sein mussen und nicht etwa „ausdruckskraftige Worte
der Sprache", die ,,die Lebendigkeit in ihr Recht einsetzen wo lien'* — ■ um
eine bezeichnende Wendung eines modernen philosophischen Werks zu
zitieren. Der Gefahr des Einbruchs solcher Philosophic und ihrer „ Begriffe"
in die Soziologie vorzubeugen, ist ein Verdienst, das ich auf alle Falle Neurath
und seiner Richtung zuerkennen mochte, auch wenn ich ihm im einzelnen
nicht uberall folgen kann. Vor allem fuhrt ihn das Vorbild der Physik m. M.
nach zu weit: so wenn er sich den „Behaviorismus" zum Muster nimmt, der
sich trotz exakter Reiz- und Reaktionsbestimmungen als vollig unfruchtbar
erwiesen hat, wo es sich darum handelte, grundlegende gesetzmaflige Zu-
sammenhange zu finden; nie ware man z. B. auf seinen Wegen zu der be-
deutendsten und durchaus empirischen Schopfung der modernen Psycho-
logic zur Psychoanalyse Freuds gekommen. Im Grunde begeht der Be-
haviorismus denselben Fehler wie die metaphysische Soziologie: er geh-
mit vorgefafitem Programm an die Tatsachen, anstatt sich von ihnen leiten
zu lassen. Mit Recht betont N. selbst, daB Soziologie soziologisch betrachtete
Geschichte werden muB — m. a. W. historische Reihenbildung, aus dem
einmaligen historischen Material herausgearbeitet, die zugleich das Einmalige
in seinem Zusammenhang und seiner Richtungstendenz erkennen lafit und
das ,,Typische" seines Ablaufs, das man in andern Fallen wiedererkennt,.
gleichgultig, ob es sich in einem Gesetz im strengen Sinn formulieren lafit.
Es ware, scheint mir, giinstig fiir die Soziologie, wenn die Erorterung der
Programme und Methoden (einer Wissenschaft, die selbst erst in ihren An-
160 Besprechungen
fangen steht!) hinter der praktischen Arbeit mehr zurucktrate. In der Natur-
wissenschaft ist die erkenntnistheoretische Reflexion der Wissenschaft
gefolgt, nicht ihr vorausgegangen. E. v. Aster (GieBen).
Tonnies, Ferdinand, Einfiihrung in die Soziologie. Ferd. Enke, Stuttgart
1931. (327 S.; br. BM. 11,50, geb. BM. 13.—)
Wer Tonnies ist und wo sein wissenschaftlicher Standort ist, weiB jeder.
Ea kann sich also nur darum handeln anzugeben, was von dem Gedankengut
des Forschers gerade in diesera Buch zu finden ist, was nicht. Es fehlt die
sog. generelle Soziologie, derenHauptbestandteilediephysischeAnthropologie
in ihrer soziologischen Bedeutung und die Sozialpsychologie sind. T. gibt nur
den theoretischen Teil der reinen Soziologie ; das Ziel seiner Darstellung sind
Normalbegriffe und ideelle Typen (dieser Terminus scheint ihm angemessener
als „Idealtypen" zu sein). Im Mittelpunkt seines Interesses steht auch hier
der Komplex Gemeinschaft-Gesellschaft; die „Einfuhrung in die Soziologie"
kann geradezu als Fortsetzung des Buches „Gemeinschaft und Gesellschaft u
aufgefaBt werden. Das Buch berichtet von der Statik und von der systema-
tischen Ordnung der sozialen Wesenheiten, nicht von ihrer Dynamik.
T. halt uberall die Linie des Theoretikers inne; wo er Aussagen iiber das
„wirkliche Leben" niacht und uber die Veranderungen und Bewegungen, in
die die sozialen Wesenheiten durch das wirkliche Leben geraten, handelt es
sich urn sorgfaltig ausgewahlte Beispiele einer Verifizierung des Behaupteten.
DaB er mit warmem Herzen an den Sorgen unserer Zeit teilnimmt, zeigt
schon eine Stelle der Vorrede, wo er sagt, dafl er seine Hoffnung nur in die
Internationalist der nationalen Arbeiterbewegungen setze, wenn er an eine
bessere Zukunft denke. Justus Stroller (Leipzig).
Karl Marx / Friedrich Engels, Die heilige Familie und die Schriften
von Marx von An fang 1844 bis An fang 1845. (Mdrx-Engels Gesamt-
ausgabe; I. Abteilung, 3. Band.) Marx-EngeU-Verlag GmbH., Berlin 1932.
(640 S., BM. 18.—)
Karl Marx, Der historische Mater ialismus. Die Fruhschriften, 2 Bdnde,
hrsg. von S. Landshut und J. P. Mayer. (Kroners Taschenausgaben)
Kroner. Leipzig 1932. (414 u. 638 S., je BM. 3.75)
Der neue Band der Gesamtausgabe ist von V. Adoratskij, dem Nachfolger
des verdienstvollen und kenntnisreichen D. B. Rjazanov, im Auftrag des
Marx-Engels Instituts, Moskau, herausgegeben und weist die textwissen-
schaf tlichen und bibliographischen Vorzuge der vorhergegangenen Bande
auf . Der vorliegende Band enthalt — wie auch Band I der Landshut- Mayer -
schen Ausgabe — ein zum ersten Mai veroffentlichtes Manuskript philo-
sophisch-okonomischen Inhalts aus dem Jahr 1844, das fur die Kenntnis der
Jugendgeschichte M.s von besonderem Wert ist. Das Jahr 1844 in Paris ist
fur M. damit bedeutsam geworden, dafl er dort — wie aus den abge-
<lruckten Exzerptheften hervorgeht — die englische und franzosische
okonomische und sozialistische Literatur und die franzosische Ar-
beiterbewegung aus pers6nlicher Anschauung kennenlernt. Das Manu-
skript enthalt denn auch seine ersten kri tischen Bemerkungen iiber die
biirgerliche politische Okonomie sowie eine Kritik der utopischen kommu-
nis tischen und sozialistischen Schriften. Im Zusammenhang mit dem Pro-
Allgemeine Soziologie 161
blem der Selbstentfremdung des Menschen findet sich auch eine Auseinander-
setzung mit Hegel. Jenes Problem hat M. wahrend seiner ganzen Friihzeit
beschaftigt und nimmt in den Gedankengangen des Manuskripts eine ent-
scheidende S telle ein. Hier tritt es zum let z ten Male als philosophisch-
metaphysisches Problem auf, um dann in der materialistischen Geschichts-
auffassung, wie sie in der „Deutschen Ideologic'* von 1845 — 46 zum era ten
Mai ausgefiihrt ist, in den okonomisch-soziologischen Begriff der Verding-
lichung tiberzugehen. Die Frage, inwieweit M. in seiner Grundhaltung immer
Hegelianer geblieben isti oder ob seine Kritik an Hegel seinen spateren ameta-
physischen Materialismus zureichend begriindet hat, ist allein auf Grund
jenes Manuskripts nicht zu entscheiden.
Deswegen ist auch die ethisierend-idealistische Interpretation, als deren
Verfechter S. Landshut und J. P. Mayer in der Einleitung zu ihrer Ausgabe
auftreten, recht problematisch. Sie ist auch unzureichend fundiert, weil sie
auf den Anteil des Feuerbachschen Humanismus an der Pragung des M.schen
Begriffs vom Menschen und auf die spatere Entwicklung M.s und die Selbst-
kritik an seiner hegelianisch-philosophischen Vergangenheit gar nicht ein-
geht. Die Bemiihungen, M. zum „vielleicht echtesten Hegelianer"
zu stempeln, wirken umso befremdender, als die Herausgeber M. mangelndes
Hegelverstandnis vorwerfen.
Der zweite Band der Landshut -Mayerschen Ausgabe enthalt den voll-
standigen Abdruck der „Deutschen Ideologie" mit einigen bisher unver-
offentlichten Bruchstiicken.
A. F. Westermann (Frankfurt a. M.).
H eider, Werner, Die Oeschichtslekre von Karl Marx. Cotta. Stutt-
gart u. Berlin 1931. (VIII u. 201 5.; RM. 9.50)
Als Ausgangspunkt seiner Betrachtungen nimmt H. die Marxsche mate-
rialistische Greschichtsauf f assung ; die Darstellung will er, nach Breysigs
Beispiel, „vom Boden der Geschichtswissenschaft selbst aus" unternehmen,
und sein Ziel sieht er darin gegeben, „die in zahlreichen Schriften Marx*
verstreuten Bausteine seiner Geschichtslehre zusammenzutragen und sinn-
voll ineinander zu fiigen". Im Dienste eben dieses Leitmotivs haben „alle
Arbeiten Marx* gestanden", und so gilt es, gegen die Wirtschaftstheoretiker
zu kampfen, die die Bedentung des „Historisch-Philosophischen in Marx*
Arbeiten zu gering anschlagen und als Quintessenz der Forschungsergeb*
nisse Marx* die Mehrwert-, Krisentheorie usw." betrachten.
Das Buch ist in drei Abschnitte geteilt. Im ersten werden „die wissen-
schaftlichen Grundlagen der Marxschen Geschichtslehre" als die philo-
sophischen Voraussetzungen und die Methode Marx' aufgezeichnet, im
zweiten „das System der geschichtlichen Formen und Krafte" — was etwa
dem Thema Produktivkrafte — Produktionsverhaltnisse entspricht —
behandelt und im letzten, „Bewegung und Entwicklung", die Gesetze der
dialektischen Bewegung und die Stufenreihe der Entwicklung angegeben
und an Hand der Marxschen Erklarungen der einzelnen Stufen seine Ge-
schichtslehre erlautert. H. versucht erfolgreich, jeglicher Polemik fernzu-
bleiben, geht deshalb direkt auf keine der vielen friiheren Untersuchungen
des Problems ein, belegt desto mehr seine Ausfiihrungen mit Marxzitaten,
162 Besprechungen
wobei auch die erst neuerdings veroffentlichten Schriften von Marx
— insbsondere die , , Deutsche Ideologic** — stark herangezogen werden;
die Darstellung ist sehr lebendig und klar, und das ganze Werk liest sich
sehr leicht.
Hier ist kein Platz fiir eine Auseinandersetzung vorhanden, es muB aber
betont werden, daB die Aufgabe, die der Verf . sich setzt, nicht in der Weise
bewaltigt werden kann, daB die „verstreutenBausteine Marxscher Geschichts-
lehre" zusammengetragen werden. Bei einem solchen Vorgehen werden
die verschiedenartigen Elemente nebeneinandergestellt, die dann eben nur
— sinnvoll oder uberhaupt r'cht geordnet werden konnen. Warum aber
„briichige Stellen" in der Marxschen Geschichtslehre entstanden sind und
auf welche Weise sie ausgefullt werden sollen — diese Fragen sind unbeant-
wortet geblieben. Dem Leser dringen sie sich desto mehr unaufhorlich auf.
Michael Milko (Berlin).
Essays on Research in the Social Sciences. The Brookings Institution.
Washington 1931. (194 S.)
Das Brookings Institut lud 1930/31 eine Anzahl bekannter Forscher ein,
zu dem Problem wissenschaftlicher Forschungsmethoden in den Sozial-
wissenschaften Stellung zu nehmen. Diese Vortrage liegen nun in Buch-
form vor.
Angeregt von dem Erfolg der Natur wissenschaf ten, allerdings mit der
einschrankenden Erkenntnis, daB die Sozialwissenschaften durch die Be-
sonderheit ihres Materials kaum gleiche Resultate haben konnen, versucht
man Arbeit smethoden zu finden, die ebenfalls relativ sichere Schliisse zu-
lassen. Die grundlegende Frage : was ist Wissenschaf t ? wird allerdings von
W. F. G. Swann m. E. kaum beantwortet. W. W. Cook, der die Moglich-
keiten gesellschaftlicher Studien als Wissenschaf t untersucht, verwirft die
kunstliche Scheidung zwischen Tatsachen- und Werturteilen und gibt eine
Analyse dessen, was wir unmittelbare Tatsachen nennen, um zu zeigen, daB
jede gegebene Tatsache im Augenblicke, wo wir sie beschreiben, denjenigen
Aspekt zeigt, den unser Interesse gerade beleuchtet. Die Naturwissenschaften
sind deshalb nicht mehr als die Sozialwissenschaften imstande, absolute
Wahrheiten zu enthiillen. Es sind immer nur der Situation entsprechende
relative Wahrheiten auffindbar. — Dann f olgen Aufsatze uber die Methoden
in den einzelnen Wissenschaftsgebieten, die zur Sozialwissenschaft gehoren:
in der politischen Geschichte (Beard), in der Volkswirtschaft (I. M. Clark),
im Recht (K. L. Llewellyn), in der Psychologie (M. Bentley) und in der Ge-
schichte (A. M. Schlesinger).
Was dieser Abschnitt eigentlich nur zeigt, ist, daB gegenseitige Befruch-
tung sehr selten stattfindet und daB der Forscher doch zumeist Historiker,
Volkswirt usw., nicht aber So zial wissenschaf tier ist.
Fast alle Aufsatze wehren sich gegen eine Dberschatzung der quanti-
tation Methode. Sie ist ,,eine Phase, nicht etwa ein besonderer Typus des
Denkens'% durch die sich Wahrheitsfragmente erreichen lassen; Hypo-
thesen sind notig, um die sich die sonst chaotischen Tatsachen lagern miissen.
Interessant ist im Gegensatz dazu Ogburns Aufsatz uber die Grundsatze
Allgemeine Soziologie 163
der Auswahl von Forschungsproblemen, die nach ihm alle allein der Wissen-
schaft, also der „Entdeckung neuen dauemden Wissens" dienen sollen; ent-
scheidend bei der Auswahl soil sein, ob es zuverlassiges Material daruber gibt,
das sich mit den Methoden, die uns zur Verfiigung stehen, wissenschaftlich
erforschen lafit. Ein Aufsatz von W. I. Thomas folgt, der das menschliche
Verhalten nicht durch statistische Methoden, sondern aus der Gesamt-
situation her studiert sehen will.
Die gesammelten Aufsatze geben uns, ohne die methodologischen Pro-
bleme etwa erschopfend zu behandeln, einen guten tlberblick uber die Art,
wie man sich in den einzelnen Gebieten der Sozialwissenschaft in Amerika
uber die jedem gemafien Forschungsmethoden klar zu werden versucht.
Margareta Lorke (Frankfurt a. M.).
Rofi, E. A., Principles of Sociology, Revised Edition. The Century
Co. New York 1930. (592 S. $ 4)
In noch starkerem Matie als die Erstauflage ist diese neue veranderte
Ausgabe der ,, Principles of Sociology*' (die auch in Deutschland als „Das
Buch der Gesellschaft", Verlag G. Braun, Karlsruhe 1926, vorliegen) das
Werk eines Forschers, der die fernsten Lander — Mexiko, Portugiesisch-
Afrika, Sudafrika, Indien, Java, Siam, Agypten und Palastina — bereist,
um die lebendigen Probleme unserer heutigen Zeit mit anzuschauen und dar-
zustellen. Mutig bekennt er sich zu Veranderungen, wie dem Weglassen
der friiher oft zur Erklarung herangezogenen Instinktpsychologie oder dem
Hinzufugen friiher wenig beachteter anthropologischer Erkenntnisse. Ein
System — wenigstens in unserm Sinn, als ein Einordnen der gesamten sozio-
logischen Phanomene in ein in sich selbst bestandiges Gedankengebaude —
ist es auch jetzt nicht. Vielmehr geht R. mit reichem Tatsachenmaterial auf
die sozialen Probleme unserer Zeit ein. Demgemafi ist denn auch eine ver-
atarkte Betonung auf den Abschnitt „KonfIikt" gelegt worden!
Wenn R. als einen der Griinde fur die Neuausgabe die in der Forschung ge-
machten Fortschritte angibt, so will er damit nicht etwa sagen, daC er nun
die neusten „exakt"-wissenschaftlichen Methoden der neuen Forschungs-
richtung hatte anwenden wollen. Das hieBe sein gesamtes Lebenswerk in
Frage stellen. R., der sich, soviel ich weiB, friiher niemals veranlaBt gesehen
hat, seine Forschungsmethode theoretisch zu rechtfertigen oder uberhaupt
zum Problem der Methodologie Stellung zu nehmen, sieht sich jetzt gegen-
iiber der unter dem Banner „exakter" oder „quantitativer" Forschungs-
methoden immer machtiger heranmarschierenden Front der jiingeren ameri-
kanischen Soziologen veranlaBt, in seinem Artikel „The Uniqueness of the
Social Sciences" in „Sociology and Social Research", September- Oktober
1931, S. 3 — 6, seine eigene Methode zu verteidigen. Dafi auch dieser Artikel
keine Auseinandersetzung mit den grundsatzlichen Problemen bietet, liegt
nicht nur an der Beschranktheitdes Raums, sondern auch an R.s Temperament
und Einstellung, die Lebendiges lebendig anpackt und der jede ausgesponnene
methodologische Vorfrage als Zeitvergeudung erschiene.
Margareta Lorke (Frankfurt a. M.)
164 Besprechungen
Spahr, Earl, und Rinehart John Swenson, Methods and Status of Scienti*
fie Research. Harper & Brothers. New York 1930. (XXI u. 553 S.;
$ 4.-)
Ein Hilfsbueh fiir amerikanische Studenten, das ihnen sowohl den wissen-
schaftlichen Geist als Voraussetzung bei Forschungsarbeit analysiert als
auch die samtlichen technischen Phasen einer Arbeit beschreibt. Es gibt
wichtige Information uber Bibliotheksbenutzung, nationale und inter-
nationale Forschungsinstitute, Anlegen ubersichtlicher Kartotheken, An-
fertigung von Manuskripten und Korrekturlesen und uber Biicherbespre-
chungen: kurzum uber alles Technische wissenschaftlicher Arbeit, das zu
wis sen no tig ist und viel Zeit erspart.
Margaret a Lorke (Frankfurt a. M.).
Davy, Georges, Sociologues d'hier et d'aujourd'hui. Filix Alcan.
Paris 1931. (308 S.)
Die moderne franzosische Soziologie wandelt noch immer in Durkheims
FuBstapfen; der EinfluB Spencers und sogar der Comtes ist imVerschwinden
begriffen. Auch Le Play vermag der jetzigeh Generation wenig zu sagen,
seine Anhanger rekrutieren sich meistens aus reaktionar und klerikal ein-
gestellten Wissenschaftlern. Von diesem Stand der franzosischen Soziologie
gibt das vorliegende Buch ein ausfuhrliches Bild. Die Einleitung schildert die
Entwicklung der franzosischen Soziologie in der ersten Nachkriegszeit. Das
Buch umfaBt vier Abhandlungen : In der ersten wird das Werk des Soziologen
Espinas, der von Spencer ausging, aber spater auch Wege der Durkheim-
Schule einschlug, beschrieben. Das 2.Kapitel bespricht die Lehre Durkheims
von Familie und Verwandtschaft, im 3. ist eine Parallele zwischen der
Sozialpsychologie des englischen Gelehrten William McDougall und der
Soziologie Durkheims gezogen. Im letzten Kapitel wird ausfxihrlich das
Lebenswerk von Levy-Bruhl, seine Leistung auf dem Gebiete der Psycho -
logie der primitiven Volker gewiirdigt. Schade, daB die letzte Schrift Levy-
Bruhls „Das Ubernaturliche und die Natur im Denken der primitiven Volker'*
spater erschienen ist und daher nicht mehr berucksichtigt werden konnte.
Das Buch gewahrt eine aufschluBreiche Orientierung.
Paul Szende (Wien).
Turgeon, Charles, Critique de la Conception matirialiste de Vhistoire.
Librairie du Becueil Sirey. Paris 1931. (Ill u. 530 S.)
Turgeon will beweisen, dafi die materialistische Geschichtsauffassung
weder neu, noch logisch, noch wissenschaftlich ist. Der Angriff geht auf
drei Fronten vor sich. Zuerst sucht er zu zeigen, daB die Produktivkrafte
nicht die einzige Triebkraft in der Geschichte bilden. Gegen den Deter minis -
mus der materialistischen Geschichtsauffassung operiert er dann mit der
abstrakten Idee der individuellen Freiheit : nicht die okonomischen Tatsachen,
sondern Pflichtgef uhl und religioser Glaube bestimmen nach seiner Ansicht
die menschlichen Handlungen. ,,Die ersten deutschen KanonenschUsse
durchbrachen diesen internationalistischen Zauber, die materialistischen
Allgemeine Soziologie 165
Trugschliisse. Freiwillig, in einem triebhaften Schwung, sind alle franzo-
sischen Arbeiter zu den Grenzen geeilt, um das Vaterland zu verteidigen,
als ob sie ihrer Mutter zu Hilfe gelaufen waren". Die Zunahme der
Religiositat in Frankreich nach dem Kriege beniitzt der Verf . auch als Argu-
ment gegen die materialistische Geschichtsauffassung. Er verwechselt aber
zwei Sachen: nicht die Religiositat hat im Frankreich der Nachkriegszeit
zugenommen, sondern die Macht der Kirche, die sich mit der Schwerindustrie
und Hochf inanz verbiindet und ihre Krai te den Geldmachten zur Verf ugung
gestellt hat. Entsprechend seiner klerikalen Einstellung halt es der Verf.
nicht fur moglich, die letzten Griinde der geschichtlichen Entwicklung zu
entdecken: „Angesichts dieses vielleicht unergrundlichen "CJnbekannten
miissen wir ein grofies religioses Stillschweigen bewahren, das sich alien
Seelen von gutem Glauben, die nicht bar jeder Bescheidenheit und Vorsicht
sind, auferlegt". Auch ein wissenschaftlicher Standpunkt!
Paul Szende (Wien).
Steinmetz, S. R., Inleiding tot de sociologie. (Einleitung in die Sozio-
logie) Haarlem 1931. (256 S.)
Diese Einfuhrung in die Soziologie von der Hand des bekannten hol-
landischen Soziologen hatte m. E. besser mit dem Titel ,, Einfuhrung in
die Probleme der Soziologie" bezeichnet werden kdnnen. Die Soziologie
steht nach S. noch erst in ihren Anfangen, man hat zu lange iiber Methode,
Definition und Begrenzung dieser Wissenschaft diskutiert, statt mit dem
Studium der vielen noch nicht aufgedeckten gesellschaftlichen Probleme
anzufangen. Bei jeder Gelegenheit versucht S. deshalb nachzuweisen, welche
ungelosten Fragen es gibt, und betont die Notwendigkeit, diese griindlich
und unbefangen zu studieren.
Die Schrift will gleichzeitig eine Anklage gegen den Dilettantismus auf
soziologischem Gebiet sein. Um diesen zu bekampfen, sei es zunachst notig,
den direkten Zusammenhang zwischen dieser Wissenschaft und anderen,
welche sich mit dem Menschen und der Gesellschaft beschaftigen, festzu-
stellen. Als wichtige Hilfswissenschaften sollen neben Psychologie und Ge-
schichte die politische Okonomie, die Ethnographic und Soziographie gelten^
deren Bedeutung, auch an der Hand von umfangreichem hollandischem
Material, in dieser „Einleitung" besonders hervorgehoben wird.
Von den zur Behandlung gelangten Themen nennen wir besonders „Die
Gemeinschaft und ihre Seele'*, „Die Macht der ,gro!3en Manner'" und „Die
Arten der Gruppierungen und ihre Einteilung". Am meisten hat die Behand-
lung des letztgenannten Themas unsere Aufmerksamkeit erregt, da es hier
eine Fiille von anregenden Gedanken gibt; zu bedauern ist nur, daB in diesem
Abschnitt iiber die Bedeutung und das eigene Lebensgesetz der verschie-
denen sozialen Gruppierungen viel zu wenig gesprochen wird.
Generell muB festgestellt werden, dafi die Vielheit der Fragen und die
Anhaufung von Problemen zusammen mit dem aggressiven Charakter der
Schrift fiir Anf anger nicht direkt ermutigend wirkt. Vielmehr ist diese
„Emfuhrung" als Meditationsschrift geeignet fiir diejenigen, welche bereits
mit den verschiedenen soziologischen Richtungen vertraut sind. Die viel-
1 66 Besprechungen
fach wiederholte, ubrigens berechtigte Bemerkung, dafi diese Zeit experimen-
telle soziologische Studien fordere, richtet sich wohl auch mehr an die Fach-
leute als an diejenigen, denen diese „Einfuhrung" an erster S telle dienen
soil. Andries Sternheim (Genf).
Psychologic
Breysig, Kurt, Die Geachichte der Seele im Werdegang der Menschheit.
M. & H. Marcus, Breslau 1931. (XXXVII. w. 526 S.; br. RM. 15.—,
geb. RM. 17.—)
Breysig will die Weltgeschichte (politische wie Geistesgeschichte) als
eine Geschichte der menschlichen Seele, ihre einzelnen Perioden als Ausdruck
verschiedener seelischer Grundverfassungen — nicht eines fiktiven Zeit-
geistes oder einer Volksseele, sondern der wirklichen handelnden und schaf-
fenden Menschen — ,,deuten". Die Perioden selbst — Urzeit, Altertum,
Mittelalter, neuere und neueste Zeit — werden in ihrer Abgrenzung voraus-
gesetzt, ubrigens zugleich als Allgemeinbegriffe genommen. Auch die Pri-
mitiven der Gegenwart leben in der Urzeit, von einer neueren und neuesten
Zeit wird auch bei den alteuropaischen Volkern gesprochen. In friiheren Wer-
ken hatte B. einen Versuch solcher ,,Weltseelengeschichte" durch die Unter-
scheidung der beiden alternierenden Perioden eines iiberwiegenden,, Hingabe"-
und ^Ichbehauptungstriebes*' gemacht, diese Unterscheidung soil nicht
aufgehoben, sondern erganzt werden durch das vorliegende Buch, das von
den vier „Seelenkraften" Einbildungskraft, Gefiihl, Wille, Verstand ausgeht.
Die Urzeit wird bestimmt durch die Vorherrschaft der Einbildungskraft
(als des Quells der grofien Mythen, aber auch der Sprache und der Ge-
schlechtsordnungen, in deren minutioser Regelung B. das Walten „frei
spielender Lust" ( ?) erkennen will) unter starker Anteilnahme des Gefiihls.
Das Altertum ist durch den Prima t des vom Verstand unterstiitzten Willens
gekennzeichnet : der Despotismus als Staatsform, ubergewaltige Gotter-
geatalten zeigen diesen Willenscharakter ebenso wie die Pyramiden der
Agypter oder der gewaltige Bau der babylonischen Astralreligion. Das Mittel-
alter zeigt wieder Verwandtschaft mit der Urzeit, nur dafi in ihm das Gefiihl
herrscht, die Einbildungskraft die unterstiitzende Rolle spielt; die neuere
Zeit entspricht dem Altertum, nur dafi dem Verstand die uberragende Stellung
zufallt. Die neueste Zeit — mit dem Hervortreten des Gefiihls in der Rousseau-
zeit und der Romantik beginnend, dann in den Willensprimat der Diktaturen
eines Robespierre und Napoleon umschlagend, spater zwischen Imperialismus
und Demokratismus, kapitalistischem Eroberertum und sozialistischer Heils-
botschaft, zerflieBender Mystik und zielbestimmter Begriffstechnik, natura-
listischer Hingabe an den Stoff und Wertung gepragten Stils — zwischen Ge-
fiihls- und Willensbewegungen in schnellstem Wechsel schwankend, mehr und
mehr gleichzeitig in sie gespalten, zeigt nicht mehr das Dominieren einer
Seelenkraft, sondern ein stofiweises Hin und Her. Andererseits weist das
Ganze der weltgeschichtlichen Entwicklung eine fortschreitende Richtung
auf in der Seite des starkeren Hervortretens der BewuBtheit alles Gesche-
hens.
Psychologie 1 67
Das Hauptbedenken, das man gegen Breysigs Versuch haben wird,
ist natiirlich die XJnbestimmtheit jener vier Grundbegriffe, es sind sozusagen
Begriffe einer naiven Vermogenspsychologie. LaBt sich z. B. der quali-
tative Unterschied zwischen dem Denken und Fuhlen der Primitiven
und dem unsrigen auf die einfache Formel von der Herrschaft der „Ein-
bildungskraft" bringen ? Mir scheint, wir miiBten, wie die Dinge heute la gen,
erst eine genauere Psychologie der Menschen der verschiedenen Zeiten und
(besonders je naher wir der Gegenwart kommen) auch der Klassen haben,
ehe wir eine Geschichte der menschlichen Seele durch die Weltgeschichte
verfolgen konnen. Damit will ich dem B.schen Buch Wert und Verdienst
nicht absprechen, es besitzt sie schon durch die historische Sachkenntnis des
Verfassers und durch seine Fahigkeit, Ahnlichkeiten und Gleichgerichtet-
heiten in den verschiedenen Seiten gleichzeitiger Tat- und Geistesgeschichte
zu entdecken, und das Prinzip von der Dominanz und Mischung der Seelen-
krafte ist natiirlich ein Ordnungsprinzip, das wie jedes an den Tatsachen
gewonnene Ordnungsprinzip heuristischen Wert hat. E. v. Aster (GieBen).
Jung, C. G. ? Seelenprobleme der Gegenwart. Raacher. Zurich 1931.
(435 S. t geb. RM. 11.20)
Das Buch vereinigt Vortrage und Aufsatze teilweise polemischer Form.
,,Probleme der modernen Psychotherapie" sind identisch mit Psychoanalyse,
allerdings in einem weit uber Freud hinaus erweiterten Sinn. Die erste
Stufe der Psychologie ist die Reinigung: durch die Idee der Siinde entsteht
das Verdrangte, das von der Gemeinschaft abscheidet und als „kleine ein-
geschlossene Psyche" seine Schatten auf das BewuBtsein wirft. Da meist
der Kranke diese nicht erkennen kann, muB der Arzt aufklaren und evtl.
deuten, namentlich die Ubertragung. Dies kann zerstorerisch sein, denn
,,selbst unsere reinsten und allerheiligsten Anschauungen ruhen auf tiefen
dunklen Grundlagen". Es sei ein Irrtum Freuds, zu glauben, daB ,,das Lichte"
nicht mehr bestehe, weil es von der Schattenseite her erklart ist. Dieser
,,Relativismus" sei ,,als feme ostliche Wahrheit" eine Erganzung zu ,,unseren
abendlandischen Illusionen und Beschranktheiten". Die dritte Stufe, die
Erziehung zum sozialen Menschen, basiere Adler auf der „Psychologie des
Unterdriickten und sozial Erfolglosen", dessen ;,einzige Leidenschaft das
Geltungsbediirfnis" sei. Adler wolle den normalen Menschen. Da aber nicht
jeder ein ,,Durchschnittsmensch" sein konne, sieht fiir ihn J. die ethische
Forderung: ,,du mufit der sein, als der du wirken willst" und ,,fiihrt so an
die irrationalen Faktoren der menschlichen Personlichkeit heran". Dieser
Einleitungsaufsatz zeigt den psychologischen und soziologischen Ort von J. :
er ist befangen von Ressentiments gegen den als uberlegenen Geist emp-
fundenen Freud, Aus ihnen heraus stellt er Dinge, die seinLehrer vor 30 Jahren
als Selbstverstandlichkeiten voraussetzte (z. B. Selbsterforschung des Ana-
lytikers, ethische und asthetische Wertungen) als neue Funde im groBen
Gegensatz zu Freud dar. Dabei nimmt die Polemik fiir Verhaltnisse medi-
zinischer Literatur erstaunlich klare Formen an: J. ist der Verteidiger des
abendlandischen Ethos gegen die ostliche Skepsis und im Falle Adler noch
der bodenstandige Schweizer gegeniiber dem Vertreter der sozial Erfolglosen.
Er ist der Verfechter des archaischen Menschen und seiner dichterischen
168 Besprechungen
Phantasien gegenuber dem geistigen. Und so stellt er in seiner „ Psycho -
logischen Typologie" den Weltabgewandten, der mit dem Abkommling
seines Unbewufiten zufrieden spielt, dem anderen gegenuber, der der Aufien-
welt zugekehrt ist, um sie zu verandero. J. bringt so, gerade weil er pole-
misch und daher sehr offen ist, einen glanzenden Beitrag zur Psychologie
des Intellektuellen, der zurtick zur Natur, weg vom Sozialen, der Bewunde-
rung der Personlichkeit — seiner eigenen — lebt.
Karl Landauer (Frankfurt a. M.).
Freud, Sigmund, Vber libidinoae Typen. In: Internationale Zeitschrift
fur Psychoanalyse, XVII. Band. Intern. Psychoanalytischer Verlag.
Wien 1931. (S. 313—316)
Es gibt viele Moglichkeiten, die Menschen nach Typen einzuteilen. Die
ideale Typisierung unterscheidet nach korperlich-seelischen Bildern (wie
das auch Kretschmer vorschwebt. D. Ref.). Da dies z. Z. noch nicht moglich
ist, so versucht F. eine Typisierung nach der vorwiegenden Unterbringung
der Libido in den Provinzen des seelischen Apparates. I. Reine Typen:
1. Der erotische Typ hat sein Hauptinteresse dem Liebesleben zugewendet*
Die Personen sind beherrscht von der Angst vor Liebesverlust und abhangig
von denen, die ihnen die Liebe versagen konnen. Sozial wie kulturell ver-
treten sie die elementaren Triebanspriiche des Es* 2. Der Zwangstyp ist
charakterisiert durch die Vorherrschaft des Uberichs. Beherrscht von Ge-
wissensangst, zeigt er innere Abhangigkeit statt der auBeren, entfaltet ein
hohes MaJJ von Selbstandigkeit und wird zum eigentlichen, vorwiegend
konservativen Trager der Kultur. 3. Der narzistische Typ ist negativ charakte-
risiert durch das Fehlen der Spannung zwischen Ich und Uberich und der
tfibermacht der erotischen Bedurfnisse. Sein Hauptinteresse gilt der Selbst-
erhaltung. Hohe Bereitschaft zur Aktivitat. Lieben wird vor dem Geliebt-
werden bevorzugt. Derartige Menschen imponieren als „Pers6nlichkeiten'V
ubernehmen oft die Rolle von Fuhrern, geben der Kulturentwicklung neue
Anregung und schadigen das Bestehende. — Viel haufiger sind II. die Misch-
typen: 1. Beim erotischen Zwangstyp ist dietTbermacht des Trieblebens durch
das ttberich eingeschrankt. 2. Der haufigste Typ uberhaupt ist der erotisch-
narzistische ; er vereinigt Gegensatze, die sich gegenseitig m a 13 i gen. 3. Der
narzistische Zwangstyp, die kulturell wertvollste Variation, fiigt zur auBeren
Unabhangigkeit und Beachtung der Gewissenforderungen die Fahigkeit
zur kraftvollen Betatigung hinzu. — Ein erotisch - zwangshaft - narzi-
stischer Mischtyp ware die absolute Norm, die ideale Harmonie. In bezug
auf die Anwendung der Typenlehre fiir das Verstandnis der Neurosen und
ihre Entstehung aufiert sich Freud sehr vorsichtig, wie uberhaupt dieser
kleine Aufsatz die ganze Weisheit und Zuruckhaltung des greisen Forschers.
kund tut. Karl Landauer (Frankfurt a. M.).
Bumke, 0., 0. Kolb, H. Roemer, E. Kahn, Handworterbuch der Psy-
chischen Hygiene und der Psychiatrischen Fursorge. De Gruyter..
Berlin und Leipzig 1931. (VI u. 400 S„ geh. RM. 23.—, geb. EM. 25.—).
Es handelt sich um den ersten Versuch einer zusammenfassenden Dar-
stellung der psychischen Hygiene, einer wissensehaftlichen Bestrebung y
Psychologic 169
die in den letzten Jahren hauptsachlich auf amerikanischen AnstoB hin ins
Leben trat. Bis vor ganz kurzem waxen die einschlagigen Arbeiten an den
verschiedenartigsten Stellen zu suchen, auch fehlte ein Forum, das 1930
im Intern. KongreB fiir Psych. Hygiene (Washington) geschaffen wurde.
Der Neuartigkeit des darzustellenden Gesamtthemas entspricht es, wenn
nicht ein lehrbuchmaBiger Aufbau sich schon jetzt ermoglichen lieB, vielmehr
die Einteilung nach Schlagworten im Sinne eines Worterbuches gewahlt
wurde. Man hat fiir die einzelnen Kapitel bewahrte Autoren gefunden, so fiir
„Ausbildung der mit Ps. H. befafiten Personenkreise" Sioli, „ Grundsatzliches
zur Eugenik" Luxemburger, „Fiirsorge fiir Encephalitiker" Stern-Kassel,
,,Beschaftigungsbehandlung der Geisteskranken" Simon- Giintersloh, „Ent-
wurf des preufiischen Irrenfiirsorgegesetzes und neues Strafgesetzbuch"
Schulze-Gottingen, ^Pathopsychologies Schneider- Koln, „Psychotherapie"
Kretschmer. Man wird demzufolge die verschiedenen sich widersprechenden
psychiatrischen und soziologischen Anschauungen vertreten finden und sich
uber sie orientieren konnen.
Karl Landauer (Frankfurt a. M.).
Homer, G. A., Die wissenschaftliche Erschliefiung der Innen-
welt einer Personlichkeit. Emil Birkhauser & Cie. Basel 1930. (32 S..
EM. 1.80)
Diese Arbeit aus dem Stuttgarter „Arztlich-psychologischen Institut"
versucht mit Erfolg, auch die tieferen Schichten des Menschen experimentell
zu erfassen. R. benutzt die durch ihn wesentlich ausgebaute Methode von
Rorschach (Phantasien zu Tintenklecksen), die mit zahlreichen z. T. ge-
schickt verbesserten Tests verkniipft wird. So kann er zeigen, dafi zu den
verschiedenen Konstitutionen bestimmte Atemtypen gehoren. Auch bringt
er Tatsachen bei, die es schwer werden lassen, weiterhin ein Unbewufites
abzulehnen. Neben diesem theoretisch wichtigen Result at bringt die kluge
und fleiBige Arbeit dem Eignungspriifer auch reichlich praktische An-
regung. Karl Landauer (Frankfurt a. M.).
Murphy, Gardener, and Louis Barclay Murphy, Experimental Social
Psychology. Harper & Brothers. New York 1931. (709 S.; $ 3.50)
Die experim en telle Sozialpsychologie besitzt in Amerika seit langerer
Zeit die Stellung einer anerkannten Disziplin, die in engstem Kontakt zu
den allgemeinen biologischen Fragen, z. B. zum Instinktproblem (Mac-
Dougall), sowie zur Kinder- und Tierpsychologie steht.
Viel statistisches Material iiber die Bedeutung von Anlage und Erziehungs-
einfluB fiir die individuellen Unterschiede wird beigebracht (Zwillings-
forschungen; der EinfluB von Sauglingsheim und Kindergarten; die Be-
dingungen fiir die bessernde Wirkung einer Anstalt auf straff allige Kinder >
insbesondere die groBe Bedeutung der Stellung des Kindes zur Arbeit usf.).
Nach Collins ist der Einflufi des Berufs der Eltern auf die Intelligenz der
Kinder nicht groB (verglichen wird eine ganze Stufenfolge vom sozial ge-
hobensten Berufe bis zum ungelemten Arbeiter). Trotz einer Fiille von
XJntersuchungen hat sich kein eindeutiger Intelligenzunterschied* zwischen
Negern und Wei Ben ergeben, wohl aber besteht ein deutlicher Intelligenz*
170 Bespreohungen
unterschied zwischen den Negern auf dem Lande und in der Stadt. Man
sucht zu ermitteln, ob hier die Stadt selektiv wirkt oder ob eine Anderung
durch die Umwelt vorliegt.
Ausfuhrtich werden die Probleme der Nachahmung, der Suggestibility
und Hypnotisierbarkeit behandelt, die Entwicklung des sozialen Verhaltens
beim Kinde, des sozialen Kontaktes, die Bedeutung der Sprache. Wichtig
ist eine Reihe russischer Arbeiten uber Gruppenbildung und Fuhrerschaft
bei Kindem (Doroschenko); Beziehung von Altersgleichheit und Freund-
schaft; Zusammenarbeit in der Gruppe; Gruppendenken in Konfliktsitua-
tionen; die Abhangigkeit der Dauer einer Gruppe von ihrer Grofie; ver-
schiedene Arten des Zerf alia der Gruppen ; Vergleich der Tendenz zur Gruppen-
bildung bei Kindern von russischen Arbeitern und russischen Beam ten u. a. m.
Die Bedeutung der Stellung eines Kindes in der Familie, vor allem in
der Geschwisterreihe, und die Wirkung der Berufsarbeit der Mutter werden
untersucht. Amerikanische Arbeiten berichten tiber die Einstellung der
Mitglieder verschiedener Rassen und Klassen zueinander (dabei konnen
der ersten Frage 22 Seiten, der zweiten 1 Seite gewidmet werden).
M u r p h y s Buch gewahrt eine ausgezeichnete Orientierung uber ein
gegenwartig bereits recht umfangreichea Tatsachenmaterial. Es laBt auch
erkennen, wo innerhalb der statistischen Tatsachensammlung Tendenzen
auftreten, iiber die gebrauchliche Problems tellung zu tief eren Fragen vor-
zustoCen. Kurt Lewin (Berlin).
Folsom, Joseph K., Social Psychology, Harper & Brothers. New York 1931.
(XVIII— 701 S. $ 3,50)
Das vorliegende Buch ist ein Lehrbuch der Sozialpsychologie vom be-
havioristischen Standpunkt. Es legt besonderen Wert auf den Aufbau der
Einzelpersdnlichkeit, wobei in getrennten Kapiteln die angeborene und er-
worbene Organsiation des Verhaltens, Wiinsche und Organisation der Per-
sonlichkeit, Wunschvereitelung und Wiederherstellen (readjustment) der
Personlichkeit, individuelle Unterschiede und ihre Messung behandelt
werden.
Im zweiten Teil geht der Verfasser zu den Wechselwirkungen (inter-
actions) zwischen den Personlichkeiten iiber. Ein dritter Teil behandelt die
Wirkung der Kultur auf das Individuum.
Die Masse wird im wesentlichen in tJbereinstimmung mit Allport als
Summe der einzelnen Individuen aufgefafit, und durch diese einseitige
Haltung fehlt eine Auseinandersetzung mit der Tatsache der verschiedenen
Gruppentypen, mit der Rolle des einzelnen in einer urspriinglichen Gemein-
schaft (wie bei den Naturvolkern vor der Beriihrung mit den Kulturvolkern),
mit der individualistischen Gesellschaftsform u. a. m. (vgl. die Auseinander-
setzung mit Levy-Bruhl).
Der Literaturnachweis gibt eine Auswahl solcher Literatur, die in eng-
liseher Sprache vorliegt, so daB wichtige Werke fehlen (Karl Marx, Wundt,
JSrismann, Biihler, Kiinkel u. a.).
S. Liebmann (Berlin).
Psychologie 171
Young, Kimball, Social Attitudes. Henry Holt. New York 1931. (382 S.)
Um den Begriff „ Social Attitudes", den W. 1. Thomas in seinem Buch
„Der polnische Bauer in Europa und Amerika" zum Verstandnis sozial-
psychologischer Probleme gebrauchte, gruppieren sich die in diesem Sammel-
bande vereinigten Aufsatze seiner Freunde und Schiiler. Dieser gemeinsame
Hintergrund bringt freilich nicht auch eine tft>ereinstimmung aller Ansichten
mit sich. Far is stellt zuerst einmal den Begriff in seiner Bedeutung fur die
Soziologie dar. Gegeniiber dem Versuch, das menschliche Verhalten und
die Institutionen durch exakt zu definierende Instinkte zu erklaren, erklart
man es nun durch die Erf ahrung und die Betatigung der Gruppe, in der das
Individuum aufwachst. Hier entwickelt sich die ^Definition einer Situation"
— hier eine bestimmte Einstellung den Werten (Thomas) oder Dingen (Faris)
der Umwelt gegeniiber, die sich in Handlungen auswirkt. In den Einstel-
lungen sind die Erfahrungen und Einsichten einer Personlichkeit zusammen-
gefaflt und organisiert. Sie sind selbstverstandlich subjektiv, es gibt keine
festgelegte Beziehung zwischen einem Gegenstand und einer bestimmten
daraus unabanderlich resultierenden Einstellung. Besonders dem Behavio-
rismus gegeniiber betont dann Park die richtunggebende Kraft, die die Ein-
stellungen auf das Verhalten des Organismus haben. Sie wurzeln in der Er-
fahrung, lassen sich jedoch ebenfalls unter gewissen Umstanden auch dorthin
iiber tragen, wo die Voraussetzung der Erf ahrung fehlt (Massenstimmungen).
Bernard weist die Quellen auf, aus denen sich eine Umwandlung der Ein-
stellung und damit des Verhaltens vor allem in kritischen Zeiten ergibt, in
denen die alt en Ansichten veranderte Situationen nicht mehr adaquat er-
klaren. E. F. Young zeigt das dynamische Sichausbalanzieren neuer Ein-
stellungen, die alte Wertordnungen durchstieBen, um sich dann selbst wieder
zu organisieren. Wenn in dem Beitrag von Kimball Young das Wort
,, Attitude" auch kaum vorkommt, so zeigt er uns doch das wichtigste Mittel
auf, durch das die Atmosphare und die Denkformen, und dadurch die Ein-
stellungen, bedingt werden : namlich die Sprache der Gruppe, in der wir zur
Personlichkeit wurden. McKennzie schreibt iiber die kulturellen und rassen-
mafligen Unterschiede als Basis menschlicher Symbiose, wahrend sich
Steiner und BurgeC fiir den Wandel der Sitten und der Familientradition,
die sie als ,» Attitudes" sehen, interessieren. Es schliei3en sich an Unter-
suchungen von Queen iiber den Stand der Kontroverse um den Begriff
„ Attitude", von Thrasher und Sutherland iiber die Beeinflussung von
jugendlichen Delinquenten durch die Gruppen, in denen sie leben, und eine
Reihe anderer Arbeiten.
Wenn es den einzelnen Autoren auch nicht gelang, uns ein geschlossenes
und in sich bestandiges Bild iiber Bedeutung und Funktion der „ Social Atti-
tudes" zu iibermitteln ( vielleicht lag das nicht einmal in ihremPlan), so weisen
sie uns doch das gesamte Gebiet auf, in dem der Begriff sozialpsychologisch
fruchtbar verwendet wird. Margareta Lorke (Frankfurt a. M.).
Eulenburg, Franz, Phantasie und Wille des wirtschaftenden Menschen.
J. C. B. Mohr (Paul Siebeck). Tubingen 1931. (47 S. t br. RM. 1.50)
Die im ,,Weltbild der Gegenwart wichtigen emotionellen Krafte" werden
in ihrer Bedeutung fiir den wirtschaftenden Menschen untersucht. Wille
1 72 Besprechungen
und Phantasie sind nach E.s Meinung treibende Faktoren fiir die in der
Wirtschaft Tatigen und sollen entscheidenden Einflufi auf ihre Stellung und
ihr Handeln besitzen. Die Bedeutung dieser beiden Krafte wird fiir die
verschiedenen „wirtschaftlichen Typen der Gegenwart" dargelegt. Beim
Bauer und Handworker sind Phantasie und Wille dem mehr statischen
Charakter dieser Wirtschaftstypen entsprechend begrenzt. Ganz anders
liegt es beim Handler, dessen Tatigkeit ausschlaggebend von diesen Trieb-
federnbestimmtwird. Auchder modernelndustriellewirtschaftet mit;,schopfe-
rischer Phantasie" und ,, starker Willenskraft". Ihre Mitwirkung an der
Wirtschaftsentwicklung wird, so glaubt E., auch trotz Rationalisierung und
Mechanisierung im Burobetrieb noch langere Zeit andauern. Phantasie und
Wille „gehoren zu den wirksamsten Machten der Gegenwart und zu den
eigentlich gestaltenden Kraften des sozialen Lebens".
In den mit vitalistischen Kategorien arbeitenden, ausschliefilich psycho-
logischen Untersuchungen bleiben die okonomischen und sozialen Einfliisse
auf den in der Wirtschaft tatigen Menschen unbeachtet. So kommt E. bei
seinen wirklichkeitsfremden Betrachtungen zu Trugschliissen, die den Er-
kenntnissen okonomischer und soziologischer Forschung widersprechen :
„Der Lebenskampf ist ein Zeichen gesteigerten Willens"; die Sport-
bewegung, die eine eindeutige soziale Funktion hat, ist ,,ein starker Aus-
druck fiir den Lebensdrang" ; ,,das Hochhaus ist der klare Ausdruck
fiir das willensmafiige Emporstreben". Romantisch glorifiziert der
Verfasser die Tatigkeit des Handlers als ,,von der Phantasie befliigelt"..
Die Reklame wird nicht als Hilfsmittel fiir den Absatz der tjberproduktion
und fiir die Erzeugung kiinstlichen Bedarfes enthiillt, sondern von ihr wird
ausgesagt, daB sie „intuitive, nervose Einfiihlung in den fremden Menschen
erfordert". Ebenso ist „die kaufmannische Phantasie dynamisch
feinfiihlig, feinnervig 1 *. Wie wenig die Betrachtungen des Verfassers
die realen Vorgange in der Wirtschaft treffen, beweist z. B. die Dar-
stellung, die er von dem Ausleseprozefi gibt. Er setzt sich iiber alle 6kono-
mischen und sozialen Vorbedingungen hinweg und behauptet: ,,Die Auswahl
der speziellen Begabung, die immer zugleich eine solche der Willensenergie
ist, wird aus den Reihen des geistig unverbrauchten Volkes getroffen. Aus
ihm erwachsen die Manner, die in schnellem Aufstieg in Fiihrerstellen ein-
riicken". Die Arbeit stellt sich als romantische Verherrlichung des Unter-
nehmers dar, der, von „schopferischer, extensiver, musischer Phantasie""
befliigelt, seine Aufgabe mit starkster Willenskraft erfulle.
CarlDreyfuB (Frankfurt a. M.).
Vergin, Fedor, Das unbewufite Eur op a. Psychoanalyse der europaischen
Politik. He0, Wien, Leipzig 1931. (342 S.; br. RM. 6.50, geb. RM. 8.50)
Dieses Buch, das die geheimen, unbewuCten Triebfedern und Hinter-
griinde der europaischen Politik aufzeigen und sogar ein praktischer Weg-
weiser fiir die Politik sein will, mutet wie eine Karrikatur einer falschen,
psychologistischen Soziologie an. Karrikatur deshalb, weil die von dieser
Methode gemachten Fehler, soziales Geschehen ohne Zusammenhang mit
seinen wirtschaftlichen Wurzeln als Produkt irgendwelcher an. der rechten
Stelle auftauchender Triebe zu „erklaren", hier bis zum grotesken Extrem
Psychologie 173
tibertrieben werden. Der Autor meint einleitend: „Hinsichtlich der Politik
mufi jedoch zuerst ernsthaft die Forderung erhoben werden, daB die poli-
tischen Erscheinungen in ihren iibertriebenen Symptomen als seelisch krank-
haft erkannt und anerkannt werden". Er gibt dann weiter an: „Von
Wichtigkeit . . . sind allerdings alle rein materiellen, rein wirtschaftlichen
XJrsachen. Dies wurde, wenn auch vielfach stillschweigend, in Rechnung
gestellt". Als Quelle seiner (Mentioning iiber diese Frage gibt der
Verfasser — Lewinsohn (Moras), ,,Geld in der Politik" an. Er kommt zum
SchluB, die Weltfinanz sei „dem Seelenleben des einzelnen wie den kollek-
tiven GroBen ebenso untertan, als ob das Geld nicht existiere". Auf diesem
Niveau geht es das ganze Buch hindurch weiter. Es sei nur bemerkt, dafi
der Verfasser auch von der Psychoanalyse nur die oberflachlichsten Kennt-
nisse zu haben scheint, daB es sich also durchaus nicht etwa um eine psycho -
analytische Untersuchung handelt. Erich Fromm (Berlin).
Halbwachs, M., Les causes du suicide. Felix Alcan. Paris 1931. (VII
u. 520 S.)
Das Buch M. Halbwachs', zuerst als Zusatz zu der Neuausgabe des klas-
sischen Werkes Durkheims (Le suicide, 2 ed. Paris 1930) gedacht, ist
schlieBlich zu einer groBangelegten und vollig selbstandigen Arbeit
geworden, welche die Durkheimschen Thesen weitgehend niodifiziert und
auch methodologisch seine Theorien umgestaltet. Und zwar handelt es
sich nicht nur um die Verwendung der neuesten und feinsten statistischen
Methoden, mittels deren das reichhaltige Material bearbeitet wird, sondern
um eine entsprechende Verfeinerung und Vertiefung der psychologisch-
phanomenologischen Analyse. Nirgends zeigt sich dies deutlicher als in
der Definition des Selbstmordes selbst, welcher von D. foIgendermaBen
formuliert wurde: „Man nennt Selbstmord jeden Fall des Todes, welcher
direkt oder indirekt die Folge eines — positiven oder negativen — Aktes
ist, der von dem Opfer selbst vollzogen wird und von dem es wuBte, daB
er dieses Resultat herbeifuhren mtisse." Dieser Begriffsbestimmung, deren
eigenster Sinn darin liegt, daB sie — bewuBt und absichtlich — auf jegliche
innere Charakterisierung verzichtet (was D. ermoglicht, alle Arten des selbst-
gewollten Todes, so z. B. auch das Selbstopfer, als Selbstmord zu bezeichnen),
wird von H. — fiir den die sozialen Krafte aus auSeren Ursachen zu inneren,
die Motivationsstrukturen der Seele und deren Aufbau bestimmenden Fak-
toren geworden sind — eine andere substituiert : „Der Selbstmord ist ein
Fall des Todes, welcher aus einem, von dem Opfer selbst in der Absicht
sich zu tdten (von mir gesperrt) vollzogenen Akt resultiert und der kein
Opfer ist."
Denn nach H. ist ein Selbstopfer — Ausdruck einer Selbstifidentizierung
des einzelnen mit der Gemeinschaft — ein von dem Selbstmord, dem Aus-
druck eines sich von der Gemeinschaft Loslosens, einer Vereinsamung eines
seine Stelle in der Gesellschaft nicht — oder nicht mehr — findenden Indi-
viduums, toto coelo verschiedenes Phanomen, welches deshalb auch in der
Untersuchung von dem ersteren strong geschieden werden muB. DaB in
beiden Fallen soziale Faktoren wirksam sind, ist fiir H. selbstverstandlich ;
es sind aber andere Faktoren, die jedesmal am Werke sind; deshalb wird auch
1 74 Besprechungen
der Selbstmord von der Gesellschaft auf ganzlich verschiedene Weise be-
urteilt. Es ist eben nicht dasselbe, ob einer aus dem Leben fluchtet, der Ge-
sellschaft auf diese Weise absagend, oder sich richtet oder sich totet, um
seine Ehre usw. zu retten, wodurch er eben die gesellschaftliche Wertskala
bejaht. Diese Falle unterschiedslos unter eine Rubrik zu bringen, war ein
Fehler D.s gewesen.
f , In einer Reihe von Kapiteln werden von H. zunachst die Untersuehungs-
methoden (Kap. I u. II), dann die statistischen Daten tiber die Haufigkeit
des Selbstmordes in verschiedenen europaisehen Staaten (Kap. Ill bis
VII), bei der Land- und Stadtbevolkerung (Kap. VII) behandelt. Kap. VIII
untersueht den Einflufi der Familie, Kap. IX denjenigen der Religion, wobei
H. der landlaufigen Behauptung, dafi der Katholizismus eine den Selbstmord
verhindernde Kraft ist, ziemlich skeptisch gegenubersteht. Kap. XI und XII
analysieren den EinfluB der Kriege und Krisen, wobei H. den Hauptfaktor
in der Vereinfachung der sozialen Struktur dieser Perioden oder uragekehrt
in deren Verkomplizierung sieht. — Endlich wird gegen die psychiatrische
These von der psychologischen Natur des Selbstmordes die sozialpsycho-
logische Auffassung verfochten (Kap. XIII, XIV und SchluB). Eine
Anzahl ubersichtlicher Tabellen erleichtern die Benutzung und erhohen
den „Gebrauchswert" des ausgezeichneten Buches.
A. Koyre (Paris).
Fro mm, Erich, Die Entwicklung des Christusdogmas. Intern, psycho-
analyt. Verlag. Wien 1931. (72 S.; EM. 3.—)
Mit dieser Studie Hefert Fromm den ersten Versuch, die Methode einer
Verkniipfung des Marxismus mit der Freudschen Psychoanalyse an einem
konkreten Beispiel aufzuzeigen. Er hat glanzend nachgewiesen, dafi aus der
Psychoanalyse der verschiedenen Fassungen des Christusdogmas das Ver-
standnis der dem Christentum zugrunde liegenden sozialen Stromungen
und damit des Christentums selbst uberhaupt erst gewonnen werden kann.
Die dabei angewandte Methode ist — im grobsten — etwa folgende: Eine
scheinbare Entfremdung von Ideologic und Wirklichkeit tritt ein, wenn eine
Klasse keine Aussicht hat, ihre Klassenziele durch Kampf in der Realitat
durchzusetzen. Dann tritt an S telle der realen Befriedigung die Phantasie-
befriedigung der mit den realen Kampfobjekten unzertrennlich verbundenen,
aber inhaltlich realitatsfremden, unbewuBten Triebziele. Diese konnen, da
unbewuBt, auch in der Phantasie nur in transformierter Gestalt, an Sym-
bolen, befriedigt werden. Der Sinn solcher symbolischer Massenphantasien
verschliefit sich dann jedem zweckrationalen Deutungsversuch ; sie sind
der rocher de bronce der Lehre von der Selbstandigkeit und Eigengesetz-
lichkeit ideologischer Gebilde, und nur die Psychoanalyse kann ihre Bezie-
hung zur gesellschaft lichen Realitat aufdecken. — Ein solcher Zwang zur
Regression lag fur die unterdriickten Massen z. Z. der Entstehung des Christen-
tums in der Aussicht slosigkeit ihres Kampfes gegen die Kaisermacht. Die
dem Kampf gegen die Staatsautoritat zugeordnete unbewuBte Triebregung
war die Rebellion gegen den Vater. Daher tritt zunehmend an Stelle des
realen Kampfes gegen die Staatsgewalt die Phantasie vom Sturze des Vater-
symbols, Gottes, teilweise zunachst in Kombination mit passiven, messia-
Psychologie 175
nischen Hoffnungen auf einen Fall der Herrschenden. Das Urchristentum
ist adoptianisch, es lafit den Menschen Jesus zu Gott werden, vernichtet
dadurch das Herrscherprivileg des Vatergottes. In einer dreihundertjahrigen
Entwicklung wird das christliche Dogma zum Ausdruck der Interessen der
Herrschenden, da sich auch die Kirche zu einem Instrument der Herrschenden
entwickelt. Im nicaanischen Dogma ist endgiiltig festgelegt, dafi Christus
von Ewigkeit her mit Gott eins war. Gott lafit sich jetzt also zum Menschen
herab, aber durch diese Herablassung zum menschlichen Leiden ermdglicht
er es den leidenden Massen immer noch, sich mit ihm — nun unter Wahrung
der Unterwurfigkeit — zu identifizieren. F. lehnt entschieden die Auf-
fassung Reiks ab, der eine Selbstentwicklung des Dogmas nach Analogie
des spontanen Ablaufs von Fallen von Zwangsdenken bei Individuen an-
nimmt; andererseits aber auch die Kautskys, der zwar die zentrale Rolle
des Klassenkampfs in der Geschichte des Christentums als erster ausfiihrUch
nachgewiesen hat, das Dogma aber fur ein blofles, charitative Einrichtungen
deckendes Firmenschild halt. Fromm beansprucht nicht, mit dem vor-
liegenden Biichlein die historischen Bedingungen des Christentums allseitig
zu erfassen. Darum fehlt wohl die Untersuchung der sozialpyschologischen
Bedingungen des Ubergangs zum Monotheismus und zur spiritualistischen
Auffassung der Gottheit, die die allgemeinste Voraussetzung der Entstehung
des Christentums bilden. Franz Borkenau (Wien).
Jiingst, Hildegard, Die jugendliche Fabrikarbeiterin. Fin Beitrag zur
Industriepddagogik. Ferdinand Schoningh. Paderbom 1929. (136 S.;
RM. 8.—)
Franzen-Hellersberg, Lisbeth. Die jugendliche Arbeiterin. Ihre ArbeiC
weise und Lebensform. J. C. B. Mohr (Paul Siebeck). Tubingen 1932.
(XII u. 144 S.; 6r, RM. 6.—, geb. RM. 8.70)
Rada, Margarete, Das reifende Proletariermddchen. Deutscher Verlag
fiir Jugend und Volk. Wien- Berlin 1931. (82 S.; RM. 4.~)
Kelchner, Mathilde, Schuld und Siihne im Urteil jugendlicher Ar-
beiterinnen. J.A.Barth. Leipzig 1932. (IV u. 147 S.; geb. RM. 8.40)
Es ist erfreulich, daB diese Arbeiten mit vereinten Kraften einem Problem
zu Leibe riicken, das bisher in der soziologischen und psychologischen For-
schung nur wenig Interesse und so gut wie keinerlei Klarung gefunden hat.
Die friiheren Arbeiten von Rosa Kempf, Erna Barschak und Mathilde
Kelchner etwa wirken den umfassenden Versuchen von Hildegard Jiingst
und Lisbeth Franzen-Hellersberg gegeniiber wie erste Ansatze. Auch in
dieser Reihe bleibt ubrigens die Kelchnersche Arbeit an sachlichem Ge-
wicht nicht unbetrachtlieh hinter den andern zuriick. Wie schon bei ihrer
Schrift „Kummer und Trost jugendlicher Arbeiterinnen u (deren wesent-
lisches Resultat: positive Stellung der jugendlichen Arbeiterin zur Familie —
durch die Arbeiten von Jiingst, Franzen-Hellersberg und Rada uberein-
stimmend als falsch erwiesen wird), so zeigt sich auch jetzt wieder, daB eine
so einlinige Methode, wie sie sie zur Anwendung bringt (Anfertigen von Atu'-
satzen uber gestellte Themen in Beruisschulklassen und Auswerten dieser
Aufsatze in vergleichender Betrachtung), einen so hohen Zufallsquotienten
in sich hat, da!3 die gezogenen SchluBfolgerungen nur mit ailergrofiter Vor-
176 Besprechungen
sicht aufgenommen werden konnen. AuBerdem wird hier ganz iibersehen,
dafi Urteil und Haltung durchaus zweierlei sind. Jedenfalls aber bleibt
die Arbeit als Materialsammlung ebenso interessant wie wertvoll.
Auch Margarete Rada benutzt Aufsatze, die sie die Kinder (11 bis
13jahrige Madchen aus einem Wiener Proletarierviertel) schreiben laBt. Aber
diese Aufsatze gehen iiber Jahre und behandeln die allerverschiedensten
Themen, die sieh aus einer sorgfaltigen Beobachtung der Kinder ergeben.
Dazu werden diese Beobachtungen von Frau Rada als der Lehrerin der
Kinder aufgezeichnet und auBerdem erganzt durch systematische Haus-
besuche. Das Ziel aller dieser Beobachtungen und Untersuchungen ist, fest-
zustellen, was fur das innere und auBere Leben des reifenden Proletarier-
madchens charakteristisch ist, namentlich in welchen Beziehungen es zu
seiner Umwelt steht. Das Resultat ist, kurz zusammengefafit, dieses: daB
das reif ende Proletariermadchen fiir seine innere und aufiere Entwicklung
von der Familie wenig oder nichts, von der Schule im allgemeinen etwas
mehr, wirklich viel aber nur hat von einem Verein, wenn es AnschluB an
inn findet und wenn der Verein eine ideelle oder politische Orientierung hat.
„Die Idee, fiir die das Madchen sich hier begeistert, wirkt sich in seiner ganzen
Lebensfuhrung aus, gibt ihm Halt und dem Leben eine gewisse Einheitlich-
keit." In die padagogische Auswertung dieses Resultates spielen dann aller -
dings Wertungen hinein, die kritisch zu nehmen sind und die doch auch
vielieicht fiir den Gang der Untersuchung nicht ganz unmafigeblich waren.
Die beiden Monographien iiber die jugendliche Arbeiterin sind in ihrem
Charakter denkbar verschieden, und doch beruhren sie sich in der Methode,
die sie ausbilden und anwenden, wie auch in den Resultaten. IXnd gerade
dieser doppelte Umstand macht ihr Studium so aufschluBreich. Die Arbeit
von Hildegard J tings t ist in ihrem Ansatz begrenzter (ihr wesentliches
Material schopft sie aus einer mehrmonatigen Mitarbeit in einer Schoko-
ladenfabrik als Arbeiterin unter Arbeiterinnen und aus einem anonymen
Mitwohnen zeitweise in einem Arbeiterinnenheim, zeitweise in einer Schlaf-
stelle), die Atmosphare des Buches ist ausgesprochen jugendlich, die Nei-
gung zum Optimismus behauptet sich gegen die Angriffe der Realitat. Die
Untersuchung von Frau Franzen-Heilersberg ist reifer und groBziigiger,
sie charakterisiert ihre Methode selbst als „kombinierende und relativierende
Methode der Erkundung" und registriert ihre pessimistischen Beobachtungen
ohne Abzug auch da, wo sie einer Frau unangenehm sein mussen. Aber auch
Hildegard Jiingst macht sich (in wirklich gediegenen methodischen tJber-
legungen) die Fehlerquellen ihres begrenzten Untersuchungsganges klar
und zieht andere Forschungsmittel heran, die denen von Franzen-Heilers-
berg ganz ahnlich sind.
Die entscheidende t3T3erlegenheit der Franzen-Heilersberg schen
Arbeit ©rweist sich darin, daB sie es zu einer zusammenhangenden Charakte-
ristik bringt, sowohl hinsichtlich der privaten Existenz der. jugendlichen
Arbeiterin wie ihrer industriellen oder gewerbiichen Arbeit wie endlich
charakteristischer AuBerungsformen proletarischer Madchen. Naturlich
ist dabei auch die Gefahr der Verallgemeinerung gegeben, der gegen iiber
eine Reihe von Einzelbemerkungen bei Hildegard Jiingst als notwendige
Einschrankungen empfunden werden mussen. Als die im Zusammenhang
Psychologie 177
der modernen soziologischen und psychologischen Forschung durchschla-
gendate Erkenntnis (auf die eine Arbeit iiber „Gemeinschaftsformen jugend-
licher Madchen" von Gertrud Herrmann schon hinzielte) erscheint aber bei
Franzen-Hellersberg die von der „vitalen Existenzform" der jugendlichen
Arbeiterin. Das Jugenderlebnia der Proletarierin hat positive Inhalte (Freund,
Sexualverkehr, gemeinsames Sonntagavergniigen zu mehreren Paaren,
Schwimmen, Tanzen, Kino, Schmuck, schone Kleider usw.) zum Gegen-
stand. Ihre Vorstellung der Weltordnung ist durch dieses Fruherlebnis fest-
gelegt. („Dagegen ist die Pubertatszeit kultivierter Madchen ausgefiillt von
Reflexionen iiber sich und iiber die Welt. Ihnen scheint noch alles unsicher
und fragwiirdig. Proletarische Madchen aber erfahren einen primitiven,
letzten Sinn ihrer Existenz durch ihr hochst realistisches Reifeerlebnis.")
Die drei andern Arbeiten nehmen ihre Maflstabe fiir die Gruppierung und
Auswertung ihrer Beobachtungen zuletzt doch aus dem Reifeerlebnis des
„kultivierten" Madchens. Hier zum erstenmal ist die existentiale Eigenform
der korperlich arbeitenden Frau in voller Klarheit erkannt und ausdruck-
lich zugestanden. Dafi demgegentiber die padagogisehen Konsequenzen,
die Hildegard Jiingst aus ihren Feststellungen zieht, fragwiirdig anmuten,
ist nur selbstverstandlioh. Auch die Arbeit von Franzen-Hellersberg
ist gewift noch mehr Anfang als Ende, aber eine Haufung von Erkenntnissen
jedenfalls, mit denen jede sozialpsychologische wie sozialpadagogische
Arbeit der Zukunft sich wird auseinandersetzen miissen.
Karl Mennicke (Frankfurt a. M.).
Kiinkel, Fritz, Orundziige der politiacken Ckarakterkunde. Junker und
DunnhaupU Berlin 1931. (118 S.; BM. 4.80)
Aufgabe einer politischen Charakterkunde ist nach K. die Erforschung
der Wechselwirkung zwischen ich und wir (Individuum und Kollektiv) von
einem „psychophysisch neutralen" Standpunkte aus. Die Grundlage aller
politischen Charakterkunde sei in den Satzen von Karl Marx enthalten, dafi
das BewuBtsein der Menschen vom gesellschaftlichen Sein bestimmt werde
und daB Umstande und Erziehung, deren Produkt der Mensch sei, eben von
dem Menschen verandert werden, daB der Erzieher selbst erzogen werden
miisse.
In den Mittelpunkt riickt K. die innere Krise des einzelnen und deren
produktive Losung im Sinne einer Anerkennung der Forderungen der Wirk-
lichkeit und der Gemeinschaft („Wirhaftigkeit"). Echte Fuhrer sind die-
jenigen, die in privaten Krisen ihre Ichhaftigkeit uberwunden haben. Bei
genauer Charakteranalyse zeigt sich, dafl gewisse Mitlaufer des Radikalismus
an Stelle einer inneren Revolution in die auBere geflohen sind. „Nicht das
Proletariat stent als vorwarts treibende Kraft dem hemmenden Burgertum
gegeniiber, sondern die wenigen reifenden Menschen, die es gibt, stehen im
Burgertum ebenso wie im Proletariat einer hemmenden Masse von Mit-
laufern gegeniiber." — DieCharakterform, unbewuBt und in der friihen Kind-
heit erworben, ist das Resultat „ichhafter" Erziehung. Der Erzieher ist aber
letzten Endes eindeutig von der Gesellschaftsform bestimmt. Im Zeitalter
des Individualismus und der Privatwirtschaft gibt es nur ichhafte Erzieher.
Aber die Anderung der Gesellschaft erfolgt bloB auf die ernsthafte Charakter-
1 78 Besprecbungen
krise des einzelnen hin, in welche er durch die unerbittliche reale, soziale Not
getrieben wird. Die Entscheidung aber ist frei, keinehistorischeNotwendigkeit
und keine Mechanik def Gehirnmolekule kann sie beeinflussen.
Auf die zugrunde liegende Auffassung vom Menschen kann hier nicht
eingegangen werden, da dies in eine Kritik der Adlerschen Individualpsycho-
logie einmunden miiBte. Manchmal sind allzu einfach auf soziale Probleme
die Gesichtspunkte angewandt, die sich in der Kinderstube bewahren mogen.
Doch ist die Herkunft K.s aus der psychotherapeutischen Arbeit wohltuend
fiihlbar ebenso wie das ehrliche Ringen mit den Problemen und Noten der
Zeit. Das Buch ist ganz im Dienst wirklicher Anwendbarkeit geschrieben;
es kann einen guten Einblick in die individualpsychologische Gedanken-
welt speziell. Kiinkelscher Pragung geben.
S. H. Fuchs (Frankfurt a. M.).
Behrendt, Richard. Politiscker Aktiviamus. G, L. Hirsckfeld. Leipzig
1932. (178 S.; RM. 5.80)
Neurotiker, denen die Einordnung in die Gesellschaft Schwierigkeiten
macht, erreichen sie, indem sie sich die Umgestaltung derselben zum Ziel
setzen; Narzisten, denen es unmoglich ist, mit Gleichen zusammenzuleben,
gelingt ein soziales Dasein, indem sie sich zu Herrschern machen. Mit dem
Wegfall einer Reihe leidkompensierender Kulturgebilde (Religion usw.),
mit der zunehmenden Rationalisierung und Technisierung des modernen
Lebens verfallen ganze gesellschaftliche Gruppen, insbesondere Intellektuelle,
einer neurotischen Asozialitat und kdnnen den AnschluB an das soziale
Leben nur auf dem XJmweg iiber revolutionaren politischen Aktivismus
finden. Diese Tatsachen, die der Schrift von B. zugrunde liegen, sind richtig
und altbekannt. Ein wahrer Skandal ist es aber, daB er sie fur das Ent-
scheidende an der Psychoanalyse und Soziologie der politischen Aktivitat
halt. Diese Behauptung stiitzt B. mit der These, daB alle politischen Inhalte
blofi akzidentell seien, imWesen sei Politik nichts als Aktivitat um der Aktivi-
tat willen. Eine Behauptung, die durch nichts als eine Zitatensammlung aus
Michels, Scheler, Wiese, Treitschke, Taine, Sorokin usw. gestiitzt wird.
Schlufif olgerung : jede Anderung der Gesellschaft sei nutzlos, da sie ja die
unbewuBten Triebkrafte der Krankheit „politische Aktivitat" doch nicht
beseitige. Wie man sieht, lohnt eine Spezialkritik nicht. Nur auf zweierlei
sei hingewiesen. Das Resultat, politische Aktivitat sei im Wesen nur Neu-
rose, ergibt sich aus der vorgefaBten Meinung von der Nichtigkeit aller
spezifisch politischen Inhalte, d. h. die fur die Untersuchung angeblich
grundlegenden psychoanalytischen Einsichten sind nichts als Aufputz der
antipolitischen Grundthese, die ohne diese Scheinpsychologie doch allzu
wenig eindrucksvoll ware. Denn — dies ist das zweite — es ist Scheinpsycho-
logie, weil der Begriff der neurotischen Asozialitat zu weit ist, um eine kon-
krete psychologische Typologie des Politikers zu ermoglichen, und weil
eine solche Typologie iiberhaupt nur mdglich ware, wenn der Gesichtspunkt
der psychischen Struktur mit dem der Klassengebundenheit und der poli-
tischen Situationsnotwendigkeiten kombiniert wurde. Selbst psychologisch
ist B.s Schrift belanglos. Zum Gliick beginnen in letzter Zeit auch autori-
tative Psychoanalytiker — ich nenne nur O. Fenichel — gegen die scheinbare
Psychologie 179
Fundierung falscher Soziologien auf schlecht verarbeitete psychoanalytische
Lesefriichte zu protestieren. Franz Borkenau (Wien).
Privat, Edmond, Le choc dea patriotiamea. — Lea aentimenta cotlec-
tifa et la morale entre nationa. F6lix Alcan. Paria 1931. (179 S.;
fra. 15.—)
P. untersucht das Massengefuhl ,, Nationalismus" und seine Bedeutung
im Zusammenleben der Nationen. Nach ihm sind nicht nur — r bereits hin-
langlich behandelte — okonomische und politische Faktoren bestimmend
fur die Haltung der Massen, sondern auch ihre Gefiihle und Religionen.
Im Nationalismus sieht P. eine solche Religion. Diese stiinde in krassem
Gegensatz zur Individualmoral : Mord, Raub, Vergewaltigung und Ver-
leumdung seien oberster pflichtmaBiger Dienst an ihr, Kritik und Besinnung
aber Sakrileg. Kennzeichen des Nationalismus seien Intoleranz und Feind-
seligkeit gegen alles Fremde, die sich noch bis in die Sprachbildung aus-
wirkten. Schule, Presse und Kirche nahrten dieses Massengefuhl. Jede
grofie Idee bedurfe der Mystik, um die Massen mitzureiBen; die des Natio-
nalismus seien die schmetternden Hymnen, flatternden Fahnen, die Tradition
des Heroismus. Notwendig miisse diese Einstellung zum Konflikt nut
anderen gleichen Nationalismen fiihren, der nur im blutigen Kriege gelost
werden konne. Nach dieser Darstellung wirft P. die grofle Menschheits-
frage auf, ob es denn notwendig so sein miisse, ob die Hekatomben, die der
Nationalismus fordere, nicht zu vermeiden, Toleranz und friedliche Losung
der Gegensatze im Zusammenleben der Nationen nicht moglich waren.
Und er bejaht diese Frage. tJber dem engen Nationalismus beginne eine
neue Massenmoral sich durchzuringen, die im Einklang mit der Einzel-
moral: „Da sollst nicht toten" die Nationen durch die Menschheit ersetze.
In der S. d. N., im Esperanto, in Ghandis „non- violence* *-Bewegung und
in Polens passivem Erdulden roher Mordgewalt 1861 sieht P. erste Keime,
die er begriifit. Nur die Mystik fehle dieser neuen Religion noch, und daher
stoBe sie auf Widerstande im Massenempfinden.
P. steht hart an der Grenze der Psychologie, auf die er sich auch ab und
zu beruft, ohne aber ihre Methodik oder ihr Aufgabenbereich einzuhalten.
tJber die Entstehung des Nationalismus sagt er nichts; „Im 20. Jahr-
hundert ubernimmt Europa von Asien dessen herrschende Religion . . . den
Nationalismus**. Die moderne Psychologie weiU, daB die Existenz-
bedingungen Massengefiihle gestalten und beriicksichtigt sie in ihrer Anam-
nese (cf. Fro mm, „ Psychoanalyse und Politik*', Psychoanalytische Be-
wegung, III, 5u. Fro mm, „Entwicklung des Christusdogmas'*, Wien 1931).
Mystik um Religionen aber ist oft nur der Fetisch, hinter dem sich das Inter-
esse verbirgt. Aufgabeder Psychologie ist es, den Mechanismus zu erklaren,
in dem die Masse auf die realen Untergriinde ihrer Existenz reagiert. P.,
der im Nationalismus einen gegebenen selbstandigen Faktor erblickt, dessen
Entstehung er nicht untersucht, ist an dieser Frage vorbeigegangen. So
gibt er wohl ein scharfes Abbild des Nationalismus, aber keine Analyse,
obwohl er sieht, daB innerhalb jeder nationahstischen Gruppe „les classes
opprimees'*, deren Interessen sich nicht mit denen der Gruppe decken, Trager
seiner neuen internationalen Religion sind . . . genau so bereit zum blutigen,
180 Besprechungen
intoleranten Kampf fur ihre Religion wie die Anhanger des Nationalismus
fur diesen. Verdienstvoll aber ist jeder Pionierversuch, der in das bislang
noch so ratselhafte Gebiet der Massenpsychologie vordringt, und ein Erfolg
ist es schon, eine Darstellung gegeben zu haben, auf der die Analyse auf-
bauen kann. Emil Grtinberg (Frankfurt a. M.)
Soziale Bewegung und Sozialpolitik.
Brtigel, Fritz und Benedikt Kautsky, Der deutsche Sozialismus von Lud-
wig Gall bis Karl Marx. Hep. Wien, Leipzig 1931. (302 S.; br.
rm. 6.—, geb. 7.50,)
In der letzten Zeit regt sich das Interesse am deutschen Fruhsozialismus.
Wahrend aber K. Mielcke in seinem „Deutschen Fruhsozialismus" nur Weit-
ling und HeB in den Kreis seiner Betrachtungen zieht, versuchen Fritz
Briigel und Benedikt Kautsky in dem vorliegenden „Lesebuch des
Sozialismus** „den Entwicklungsgang der sozialistischen Idee in Deutschland
von Ludwig Gall bis zum ,Kapital* von Karl Marx und dem Allgemeinen
Deutschen Arbeiterverein von Lassalle, also den Weg von der Utopie bis
zur wissenschaftlichen und politisch-praktischen Formulierung, an der Hand
von ausgewahlten wissenschaftlichen und politischen Dokumenten darzu-
stellen. Einundvierzig Lesestiicke sind in chronologischer Reihenfolge ge-
ordnet. Neben bekannteren Namen wie Ludwig Gall, Georg Biichner, Weit-
ling, Rodbertus, Engels, Moses HeB, Lorenz von Stein, Ferdinand Lassalle
findet man auch weniger bekannte Lesestiicke von Bettina von Arnim und
vor allem manches aufschluBreiche anonyme Schriftstiick. Es ist klar f
dafi die Auswahl sich auf typische Stellen beschranken mufite und dafi Karl
Marx ausgiebig zu Wort kommt. Es ist den beiden Herausgebern damit ge-
lungen, ein lebendiges Bild des deutschen Fruhsozialismus zu zeichnen, das
durch die knappe und ubersichtlich geschriebene Einleitung wertvolle Unter-
malung erfahrt. Emil J. Walter (Zurich).
Louis, Paul, Les idies essentielles du socialisms. Marcel Rivie're. Paris
1931. (204 S.;frs. 12.—)
Der Historiker des franzosischen Sozialismus und der franzosischen
Arbeiterklasse sucht in seinem neuesten Buche Klarheit iiber die letzte
Entwicklung des Weltsozialismus zu gewinnen. Ausgehend von der Tat-
sache, daB die soziaUstischen Parteien zersplittert, ihre revolutionare Kraft
geschwacht, ihre theoretische Einstellung und Schulung gegen fruhere
Epochen zuruckgegangen und die Kampfe zwischen den beiden sozialistischen
Hauptlagern der Kommunisten und der Sozialdemokraten zu einem er-
bitterten Bruderkrieg ausgeartet sind, stellt er die Frage, ob die marxistischen
Thesen noch gelten, ob die Gedanken der sozialen, okonomischen Revolu-
tion und der voriibergehenden Diktatur des Proletariats noch Lebenskraft
haben. L. gibt zu diesem Zwecke eine planmaBige und klare t^bersicht iiber
die im Sozialismus widerstreitenden Hauptstromungen und bewertet
sie an den tatsachlichen Ereignissen. Dabei pruft er die wichtigsten marxi-
Soziale Bewegung und Sozialpolitik 181
stischen Thesen, wiegt sie gegen die Theorien def Reformisten ab und kommt
zur SchluBfolgerung, daB diese Thesen heute noch Geltung haben, daB nur
durch die soziale- okonomische Revolution eine Anderung der Lage der Ar-
beiterklasse moglich sei, wahrend die Geschehnisse der letzten Zeit die Sinn-
losigkeit derTeilnahme an einer biirgerlichenRegierung zeigten, durch die nur
der zu stiirzende Staat gegen die Revolution verteidigt werde. Die Kommu-
nisten freilich sind nach L. Marx insofern untreu geworden, als sie den Grund-
satz der Einigkeit des Proletariats verlassen haben und in sektenhafter Abge-
schlossenheit in ihren Reihen Gewissensterror tiben. So seien sie AnlaB neuer
Spaltungen und somit einer neuen Schwachung des Proletariats geworden.
Die voriibergehend unerlaBIiche Diktatur des Proletariats dauere in RuB-
land bereits zu lange an und werde in gleicher Form in Westeuropa
unbedingt einen Sieg der Reaktion bedeuten. Trotz aller Fehler aber sei
die russische Revolution der kostbarste Besitz der Arbeiterklasse und unter
alien Umstanden und mit alien Mitteln zu schiitzen : sie bedeute den ersten
sozialistischen Keil im kapitalistischen System. ,Die Arbeiterklasse aber
mtisse — und dies ist sein endgiiltiges Ergebnis — wieder geeint werden.
Nicht eine militante, terrorisierende Minderheit, sondern die Gesamtheit
des Weltproletariats allein konne die Befreiung herbeifuhren.
Diese Ideen sind fliissig und leicht dargestellt. Sie ermangeln aber der
Tiefe und theoretischen Fundierung. L. halt sich an die allgemeinste Form
der marxistischen Thesen, wie sie im ,,Kommunistischen Manifest" nieder-
gelegt sind. Er verteidigt die materialistische Geschichtsauffassung, ohne
sie aber auf seine eigene Fragestellung anzuwenden. Nirgends versucht er
einen ursachlichen Zusammenhang zwischen den Ereignissen und den von
ihm besprochenen Thesen und Handlungen der Sozialisten herzustellen.
Dadurch verliert sein Versuch, die Marxsche Lehre zu verteidigen, wesent-
lich an Wert. In seiner Polemik bringt er kein neues Argument, sondern
begniigt sich, die bekannten in allerdings klarer und seharfer Form heraus-
zuarbeiten. Am wertvollsten ist das Kapitel ,,L'exp6rience social-democrate
et Texperience communiste", in dem er diese beideii Hauptrichtungen des
Sozialismus und ihre bisherigen Erfahrungen und Erfolge gegeneinander-
stellt. Der groBe Wert des Buches liegt aber in der leichten und verstand-
lichen Darstellung der prinzipiellen Gedanken des Sozialismus, zumal des
wissenschaftlichen Sozialismus, und der historischen Tatsachen.
Emil Grim berg (Frankfurt a. M*).
MIelcke, Karl, Deutacker Friihsoztaliamus. QeselUchaft und Oesckichte
in den Schriften von W titling und He/3. J. 0, Cottasche Buchhandlung.
Stuttgart und Berlin 1931, (XII, 199 S.; RM. 9.50)
Goltein, Irma, Probleme der Oesellschaft und des Staates bei Moses
Hep. G. L. Hirschfeld. Leipzig 1931. (VI, 181 S.; RM. 8.80)
Mit Reeht betont Mielcke, daB die Theoretiker des Sozialismus vor
Marx selbstandige richtige Denkansatze und Sehweisen entwickelt haben.
Er sucht daher den Anteil von Weitling und HeB, den beiden bedeutenden
Vertretern des deutschen Fruhsozialismus, am Gesamtbau des Sozialismus
zu wiirdigen. Xieider bleiben in seiner Arbeit die Beziehungen des deutschen
Fruhsozialismus zum franzosischen Sozialismus einerseits, zur deutschen
1 82 Besprechungen
Philosophie und zum Marxismus andrerseits einer kurzen SchluBbetrachtung
vorbehalten. Die Formeln, auf die M. die Bestrebungen von WeitHng und
HeB gemeinsam zu bringen meint: Organisation der Erziehung, Organi-
sation der Arbeit, Idee des Rechts, eroffnen sehr weitgehende Parallelen ge-
rade in einer international vergleichenden Betrachtung. Weitling und HeB
faBten ihre Gedanken nicht zu einem geschlossenen System. Die Schrift
vonM. gibt daher zuerst eine getrennte Gegeniiberstellung der philosophischen
Ausgangspunkte, der Gesellschaftsanschauungen und der Geschichtsanschau-
ungen von Weitling und HeB. Der Verf. ist der Ansicht, Weitlings System
sei konstruiert, ohne daB die Entwicklungstendenzen der voraufgegangenen
Zeit gewiirdigt seien, wahrend HeB dagegen wisse, daB der Sozialismus,
wie er durch die Entwicklung des Geistes gebieterisch gefordert werde, auch
seine Voraussetzungen in realen Verhaltnissen habe. Dagegen sprechen aber
u. E. Weitlings Hinweise auf die notwendigen tJbergangslosungen. Weit-
lings Aufsatze in der ,,Republik der Arbeiter" werden leider, weil ihre Ver-
offentlichung erst in spatere Zeit nach Erscheinen des „Kommunistischen
Manifestes" fallt, vom Verf. nicht berucksichtigt. Die Gesellschaftslehre
Weitlings scheint uns in ihrem historischen Gehalt mit seiner Geschichts-
auffassung nicht so lose verbuhden. M. selbst hat den soziologischen Ent-
wicklungsgedanken Weitlings sehr deutlich herausgestellt : die Auflosung
' der iiberlieferten, in der inneren Harmonie der Menschen garantierten Ord-
nung, die Vereinzelung des Individuums im Zusammenhang mit der Ent-
wicklung des Eigentums und die Ausbildung einer neuen Sozialordnung
auf der Grundlage gemeinsamen Zweckinteresses, die, insoweit in ihr das
Wissen als Ausdruck des geistig-moralischen Lebens die Menschen zusammen-
halt und das gesellschaftliche Leben gestaltet, ideeller Natur ist. Ganz
richtig kennzeichnet der Verfasser Weitlings SteUung zum religiosen Sozialis-
mus: Glaube ist ihm eine bloBe Vorstufe des Wissens, an der Religion wird
vor allem die ethische Seite geseheh. Dieser naturrechtlich begriindeten
Gesellschaftslehre entspricht auch Weitlings Fortschrittsgedanke im Geiste
der Aufklarung. Die widersprechenden Anklange an Rousseau sind eine
leicht verstandliche Wendung des Revolutionars zum Mythos. Der Vergleich
mit Moses HeB wird deshalb so schwer, weil hier fraglos sehr voneinander
verschiedene Epochen der Gesellschafts- und Staatskritik von HeB unter-
schieden werden mussen.
Daa Gemeinsame bleibt, daB der Sozialismus von HeB, wie Irma Goitein
hervorhebt, immer — welche Wandlungen er auch erfuhr — ethisch fun-
diert und ethisch orientiert war. Weiter sei hingewiesen auf die auffallend
ubereinstimmenden Ziige in dem anonym erschienenen Aufsatz in den
Rheinischen Jahrbuchern, dessen Verfasserschaft Goitein erstmalig HeB zu-
schreibt. Die Arbeit von Irma Goitein zeigt die Stellung von Moses HeB
zwischen Idealismus und historischem Materialismus an seinem sozia-
listischen Entwicklungsgang auf. Die geistesgeschichtlichen Zusammenhange
werden so in den einzelnen Phasen des Schaffens von HeB sichtbar. Die
Gesellschafts- und Staatskritik der Straufi, Bauer, Eeuerbach, des Jung-
hegelianismus kennzeichnet die geistige Situation der Erstlingswerke von
HeB. Der zunehmende EinfluB von Feuerbach und Fichte findet dann semen
Niederschlag in einer Radikalisierung des HeBschen Sozialismus. Ein drittes
Soziaie Bewegung und Sozialpolitik 183
Stadium bedeutet die Zeit seiner Auseinandersetzung mit Marx, Proudhon,
Herzen. Besonders wertvoll ist in diesem Zusammenhang die Veroffent-
lichung bisher ungedruckter Handschriften und Briefe von HeB, sowie der
Abdruck der seltenen Broschiire von HeB „Roter Katechismus fur da3
deutsche Volk" und der anonym erschienenen Abhandlung „Kommuni-
stisches Bekenntnis". Kurt Moldenhauer (Berlin).
Brentano, Lujo, Mein Leben im Kampf um die soziaie Entwicklung
Deutschlands. Eugen Diederichs. Jena 1931. (423 S.; br. RM. 14.50,
geb. 18.—)
Der Titel dieser Memoiren ist kennzeichnend fur den Menschen und sein
Werk. Brentano war ein Kampfer sein Leben lang, und wenn die zahlreichen
Schriften, die er im Laufe von sechs Jahrzehnten veroffentlichte, auch einen
sehr weiten Kreis theoretischer und praktischer Fragen beriihrten, so stand
im Zentrum seiner Untersuchungen doch die Problematik der modernen
wirtschaftlich-sozialen Entwicklung — eine Problematik, die den Ausgangs-
punkt fiir seine wissenschaftliche Arbeit bildete und zu der er immer wieder
zuruckkehrte.
Brentano war Liberaler, aber einer, der sich mehr als dem deutschen
dem ,,sozialpolitisch" orientierten Liberalismus Englands verbunden fuhlte,
jenes Landes, dessen okonomische und politische Anschauungen und Ein-
richtungen fiir seine Ideenwelt schon friihzeitig von entscheidender
Bedeutung wurden. Sein erstes grofles Werk, die zweibandigen „Arbeiter-
gilden der Gegenwart" (1871/2) brachte sozusagen die „Entdeckung u
der englischen Gewerkvereine fiir Deutschland, und am Ende seines
wissenschaftlichen Sehaffens steht die umfassende „Geschichte der wirt-
schaftlichen Entwicklung Englands*' (1927 ff .)• Seine Untersuchungen fuhrten
ihn, den j^iirgerUcheri*', an die Seite der Arbeiterschaft, deren be-
rechtigte Forderungen er in Wort und Schrift gegen den Interessentenansturm
zu Zeiten verteidigte, in denen solche Haltung noch nicht oder nicht mehr
als „zeitgemaB" gait. Wahrheit, Freiheit, Gerechtigkeit und echte Humani-
tat — das waren die Leitsterne seines Lebens, die Ideale, fiir die er auf wirt-
schafts- und sozialpolitischem, aber auch auf staats- und hochschulpolitischem
Gebiete unzahlige Kampf e fiihrte, die sich in dem vorliegenden Erinnerungs-
werk widerspiegeln.
Die beriihmte Familie, der Brentano entstammte und deren Geschichte
er einleitend mit Stolz und Liebe schildert, vermittelte ihm Beziehungen zu
zahlreichen politisch einfluBreichen Personlichkeiten, von denen mancher
bemerkenswerte Zug berichtet wird und die sich vielfach seines sachkundigen
Rats bedienten. Mit seinen englischen Gesinnungsfreunden verband ihn
ein Treueverhaltnis, das durch den Krieg nur eine voriibergehende Triibung
erlitt. Nicht zuletzt diese Freundschaft hat es ihm ermoglicht, Deutschland
wertvolle politische Dienste zu leisten, wenn er auch offizielle politische
Missionen (so das der Offentlichkeit bisher kaum bekannt gewordene An-
gebot, als erster Botschafter der Republik nach Washington zu gehen) steta
abgelehnt hat.
Man pflegt B. meist zur sog. ,,jungeren historischen Schule" der National-
okonomie zu zahlen, doch wird man Inhalt und Methode seines Werkes mifc
1 84 Besprechungen
einer solchen Klassifikation kaum gerecht. GewiB nimmt das Historische
einen breiten Raum bei ihm ein, aber es hat die Theorie nicht tiberwuchert,
und seiner Grundauffassung entsprechend, die im Menschen „Ausgangs-
und Endpunkt der Volkswirtschaft" sieht, sucht er die okonomisch-sozialen
Entwicklungen nicht mechanistisch, sondern soziologisch zu erkennen und
zu deuten. Sorgsamstes Detailstudium hindert inn freilieh, mag es sich nun
urn Einzelfragen'des Gewerkschafts- oder Wohnungswesens, der Lohntheorie,
der Agrarreform, des Kartellwesens usw. handeln oder urn zusammenfassende
geschichtliche Darstellungen wie das Englandbuch oder die antike Wirt-
schaftsgeschichte, sich in allgemeine Phrasen zu verlieren. Stets hat sein
strenges wissenschaftliches Gewissen sein leidenschaftliches Kampfer-
temperament zu zugeln gesucht.
Seine Lebenserinnerungen geben so das Bild einer machtvollen, ge*
schlossenen und geradlinigen Persdnlichkeit. Sie sehliefien mit einer Motivie-
rung seines Austritts aus dem — von ihm selbst mit begrundeten — „Verein
fiir Sozialpolitik", den er vollzog, weil dieser zu den grofien sozial- und
handelspolitischen Fragen der Gegenwart nicht jene Stellung einnahm, die
seine Tradition ihm nahegelegt hatte. Noch die letzte Seite des Buchs zeigt
in ihren anklagerischen Fragen an die Vereinsleitung den ungebrochenen
Kampfer fiir wirtschaftliche Vernunft und soziale Gerechtigkeit, ausklingend
in den Satz: „Ich verstehe diese Politik nicht; will man eine soziale Revo-
lution?" Fritz Neu mark (Frankfurt a. M.).
Harnack, Arvid, Die vormarxiatiscke Arbeiterbewegung in den Ver-
einigten Staaten. Guatav Fischer* Jena 1932. (X u. 167 S.; geb-
RM. 8.—)
Der Verfasser der vorliegenden Studie hat in den Jahren 1926 bis 1928-
dank der Unterstutzung des „Laura Spelman Rockefeller Memorial" vor
allem in Wisconsin und Washington die Geschichte der amerikanischen.
Arbeiterbewegung studiert. Die vorliegende Arbeit bildet „den ersten Teil
einer Geschichte der amerikanischen Arbeiterbewegung".
Als vormarxistische Periode wird von H. die Periode von 1792 bis.
1857 bezeichnet. In einem einleitenden Kapitel wird zunachst der okono-
mische und politische Hintergrund aufgezeigt, auf dem sich die amerika-
nische Arbeiterbewegung dieser Zeit bewegt. Sich stark an Friedrich Lists.
Wirtschaftsstufentheorie anlehnend, zeichnet der Verfasser ein anschau-
liches Bild der geographischen, bevolkerungspolitischen und staatsrecht-
lichen Grundlagen der amerikanischen Wirtschaft, der wirtschaftlichen Ent-
wicklung und der Entwicklung der Klassengegensatze zwischen Industrie,
Grofigrundbesitz und Farmern und innerhalb der Industrie selbst. Von
grofiem EinfluB auf die Arbeiterbewegung waren die Wirtschaftskrisen, die
in Amerika ganz besonders scharfe Formen annahmen, so jene von 1819,
1837 und 1857. Die Leiter der aufstrebenden Industrie des Nordostens
und die Sklavenbesitzer des Siidens waren die Hauptfaktoren der Politik
der Vereinigten Staaten. Nach und nach schoben sich zwischen diese beiden
Klassen die Farmer, welche der Freilandbewegung und der Antisklaven-
bewegung schlieBlich zum Sieg verhalfen.
Sbziale Bewegung und Sozialpolitik 185
Die Arbeiterbewegung stutzte sich in der vormarxistischen Periode vor
allem auf die Arbeiter der von Verlegern und Kaufleuten abhangigen Bo-
triebe. Die Fabrikarbeiterschaft wurde damals von der Arbeiterbewegung
kaum erfafit. „Der freie Mann auf freier Scholle und der selbstandige
Handwerker war das Ziel."
Die vormarxistische Periode zerfallt in vier Unterabschnitte. Die erste
Periode, die der ersten Gewerkschaften, begann 1792 und endete in denKrisen-
jahren 1814 bis 1819. Die Schuhmacher und die Drucker der Kustenstadte
suchten durch gewerkschaftlichen Zusammenschlufi ihre Lage zu verbessem.
DurchMonopolisierung desArbeitsmarktes,Kontrolle desLehrlingswesens und
auch durch Streiks suchten sie ihr Ziel zu erreichen, erlagen aber bald der
Gegenwehr der Arbeitgeber und der richterlichen Rechtsprechung. In der
langdauernden Depressionsperiode nach 1815 mifilangen alle gewerkschaft-
lichen Versuche. Deshalb versuchten die Arbeiter in den Jahren 1827 bis
1832 durch die Beeinflussung des Staates ihre Lage zu verbessem. Arbeiter -
parteien vermochten in einzelnen Staaten vorubergehende Wahlerfolge zu
erzielen, aber innere Spaltungen lieften die Bewegung bald zusammenbrechen.
Sie gewann nur indirekten EinfluB auf die Entwicklung, indem der Forde-
rung auf offentliche Schulen, Abschaffung der Schuldhaft, strengere Uber-
wachung der Banken, Abschaffung der Miliz und der Fabrikgesetzgebung
vorgearbeitet wurde. Mit der Besserung der Wirtschaftslage setzt um
1833 wieder die gewerkschaftliche Bewegung auf verbreiterter Basis ein.
In New York werden 1833 uber 30 Gewerkschaften gegriindet. Die Zahl
der Streiks steigt. Es kommt zur Bildung von Ortskartellen, Zentral-
gewerkschaften und einem Zentralkartell. Aber die Arbeiter der Fabrik-
industrie werden kaum erfafit. An vielen Orten fuhrten die Kampfe fiir den
Zehnstundentag zum Erfolg. Die Einzelheiten der Organisation entsprechen
modernen gewerkschaftlichen Grundsatzen. Aber die schwere Krise des
Jahres 1837 bedeutete auch fiir diese zweite Periode der Gewerkschafts.-
bewegung das Ende. Die letzte Periode von 1837 bis 1857 ist die
der Reformer. Albert Brisbane, der Schiiler Fouriers, regte in den
Jahren 1843/44 die Griindung zahlreicher „phalansteres" an, die aber in
der Mehrzahl nach kurzer Frist wieder zusammenbrachen zuf olge des Fehlens
der Rechtspersonlichkeit, des Kapitalmangels, ungeschickter Leitung oder
innerer Streitigkeiten. G. H. Evans verfocht die Landreform, das Recht
des amerikanischen Burgers auf gleichmafiige, unentgeltliche Zuteilung von
Land und leitete damit einen der heifiesten Kampfe der Geschichte des
amerikanischen Parlaments ein. Er erlebte den Sieg seiner Idee durch
die Annahme des Heimstattengesetzes 1862 nicht mehr, da er schon
1856 verschied. Die Konsumgenossenschaftsidee wurde seit 1842 durch
die „New England Workingsman Association" intensiv gefordert. Der
Biirgerkrieg zerstorte aber diese Ansatze zu einer starken Konsumgenossen-
schaftsbewegung, indem etwa noch bestehende Unternehmungen sich in
privatwirtschaftliche Gesellschaften umwandelten. Endlich lebte die Be-
wegung fiir den Zehnstundentag wieder auf und fafite in den Fabriken FuB.
Weim man auch im einzelnen der vorliegenden Arbeit eine tiefer schiir-
fende Analyse der sozialen und wirtschaftlichen Verhaltnisse der einzelnen
Perioden wunschen mochte, ist sie doch ein anregendes Werk, das durch die
186 Besprechungen
Skizzierung amerikanischer Verhaltnisse indirekt manches Streiflicht auf
die Geschichte der europaischen Arbeiterbewegung fallen laJSt.
Emil J. Walter (Zurich).
Posse, Ernst H., Der Marxismus in Franhreich 1871 — 1905. Prager.
Berlin 1930. (82 8.; RM. 3,50)
Der „Marxismus" wurde in Frankreich im letzten Drittel des 19. Jahr-
hunderts in der Form des ,,Guesdismus" rezipiert, ganz ebenso wie er in
der gleichen Periode in Deutschland in der Form des „Kautskyanismus",
in wieder anderen spezifisch verschiedenen Formen in It alien und in Rufl-
land rezipiert worden ist. Aber wahrend der kautskyanische deutsche
Marxismus in deni Lande der ,,demokratischen und revolutionaren Ohn-
macht" (Jaures) in dieser Periode eine zwar nur ideologische, aber in dieser
Form auch fast unbestrittene Vormachtstellung innerhalb der sozialistischen
Gesamtbewegung einnahm, muBte der Guesdistische franzosische Marxis-
mus unter den ganz anders gearteten gesellschaftlichen und politischen
Bedingungen der dritten Republik fast vom ersten Augenblick seiner Exi-
stenz an die praktische Brauchbarkeit seiner theoretischen Prinzipien fur
die wirkliche Aktion der Arbeiterklasse bewahren und hierbei zugleich noch
einen unaufhorlichen scharfen Konkurrenzkampf gegeniiber den aus der
iriiheren Entwicklung iiberlieferten und den aus der lebendigen Entwick-
lung neu entstehenden Theorien und Taktiken bestehen. P. zeigt, wie in
diesem jahrzehntelangen Ringen der Guesdismus einerseits seinen anfang-
Hch absoluten, revolutionar-proletarischen Charakter mehr und mehr
einbiiBt und am Ende fast am auflersten rechten Fliigel der damaligen
sozialistischen Gesamtbewegung angelangt ist, wie aber andererseits zu-
gleich in dieser Periode die von den beiden Alten in London bis zu ihrem
Tode stets als ,,unsere Partei" bezeichnete Gruppe Guesdes die erfolg-
reichate Erziehungsarbeit geleistet und der Gesamtbewegung in einer im Guten
und Bosen noch heute nachwirkenden Weise ihren marxistischen Stempel
aufgedriickt hat.
Ist angesichts dieser widerspruchsvollen Entwicklung die herkommliche
Auffassung begriindet, nach welcher der formelle Sieg der marxistisch-
guesdistischen Minderheit iiber die reformistische und zentristische Mehr-
heit des Pariser Einigungskongresses von 1905 einen Sieg des revolutionaren
proletarischen Klassenstandpunktes in der franzosischen Arbeiterbewegung
der Vorkriegszeit bedeutet ? Zu dieser Frage hat der Autor in dem hier
rezensierten Buche nicht mehr klar und eindeutig Stellung genommen. Er
lafit zwar in seiner Darstellung der Kritik, die seit der Jahrhundertwende
einerseits vom revolutionaren Syndikalismus (Pelloutier, Lagardelle, Sorel),
andererseits von der Richtung Jaures am franzosischen Guesdismus und
deutschen Kautskyanismus geiibt worden ist, deutlich genug erkennen,
dai3 er diese kritischen Angriffe im einzelnen als begriindet ansieht. Er
bleibt aber gleichwohl in seiner Gesamtbeurteilung der von ihm behandelten
geschichtlichen Entwicklungsphase bei dem konventionellen Schema aus-
driicklich stehen. Insofern besteht zwischen dem formell ausgesprochenen
und dem wirklichen Resultat seiner Darstellung einunbehebbarer Widerspruch,
der noch deutlicher hervortrate, wenn der Autor seine Untersuchung
Soziale Bewegung und Sozialpolitik 187
nicht von vornherein in zweifacher Hinsicht, zeitlich auf die Entwicklung
bis 1905, sachlich auf die im engeren Sinne „politische" Bewegung, ein-
geschrankt hatte. Trotz des ungelosten Restes von Zweideutigkeit in ihrem
formellen Resultat hat die Schrift von P. durch ihren materiellen Inhalt
zu der Losung der schwierigen Aufgabe, einen „von der Parteien Gunst und
Hafi verwirrten*' wichtigen Abschnitt der wirklichen Entwicklungsgeschichte
des Marxismus kritisch-wissenschaftlich aufzuklaren, einen wesentlichen
Beitrag geleistet. KarlKorsch (Berlin).
Wirz, J. Paul, Der revolution are S yndi kalis mus in Frankreich. Girs-
berger & Go. Zurich 1931. (XI u. 214 S.; schw. frs. 13.75)
Die vorliegende Arbeit bildet ein weiteres Glied der von Prof. Saitzew
in den „Zurcher Volkswirtschaftlichen Forschungen" systematisch gefor-
derten Studien uber den franzosischen Sozialismus. W. beschreibt zunachst
die Entstehung des revolutionaren Syndikalismus, wobei in interessanter
Weise die 1895 erfolgte Griindung der „ Confederation Generate du Travail"
(C. G. T.) in die Entwicklung der franzosischen Arbeiterbewegung eingereiht
wird. TJnter revolutionarem Syndikalismus definiert der Verf . die Prinzipien,
welche die Mehrheit der C. G. T. in den Jahren 1902 — 1914 geltend machte:
1. die Berufsorganisation wird als Zelle der zukiinftigen Gesellschaftsordnung
betrachtet, 2. die foderalistische Organisation, 3. die Betonung des abso-
iuten Klassengegensatzes von Arbeit er und Unternehmer, der zur Revolution
und zum Siege des Proletariates fuhren musse, 4. der Antietatismus, die
Ablehnung der parlamentarischen Kampfmethoden.
In einem zweiten „Die Organisation des revolutionaren Syndikalismus"
uberschriebenen Teil untersucht W. die Organisationsprobleme der C. G. T.,
das Problem der Indus trie verbande, das foderalistische Prinzip in der syndika-
listischen Organisation, die Abneigung der revolutionaren Minderheit gegen
eine prozentuale Vertretung im syndikalistischen Kongrefi. Der dritte Teil
ist dem „ Antietatismus" gewidmet, der vierte Teil der ,, Sozialpolitik des
revolutionaren Syndikalismus". Einzig auf dem Gebiete der Organisation
des Arbeitsmarktes hat der Syndikalismus durch Errichtung von Arbeits-
borsen einige Erfolge erzielt. Der Ausbruch des Weltkrieges vollendete die
Zersetzung der Prinzipien des revolutionaren Syndikalismus. In der Gegen-
wart deckt sich das Programm der C. G. T. mit dem Programm der sozia-
listischen Partei, wahrend der linke abgespaltene Fliigel der franzosischen
Gewerkschaften der Parole der Kommunisten folgt.
Die vorstehend gebotene Skizze des Inhaltes der Dissertation von Wirz
laflt vielleicht mehr erwarten, als die Arbeit wirklich bietet. So breit sie
angelegt scheint, so krankt sie doch an wesentlichen methodischen Mangeln.
W. schrieb eine geisteswissenschaftliche Studie, die wohl treffende
Bemerkungen enthalt, als Ganzes aber nicht befriedigt. Es fehlen
vor allem Da ten und statistische Angaben. Sogar im Kapitel „Biogra-
phisches" sucht man vergeblich nach einigen Lebensdaten der bedeu-
tendsten syndikalistischen Fuhrer. Ebenso sparlich sind die Angaben
uber die organisatorische Entwicklung des revolutionaren Syndikalismus.
Wich tiger als eine „ geisteswissenschaftliche'* Untersuchung der Gedanken-
welt des revolutionaren Syndikalismus ware eine anschauliche Beschreibung
188 Besprechungen
seiner soziologischen Grundlagen und eine lebendige Schilderung der
franzosischen Arbeiterbewegung gewesen. So aber bietet die Schrift bloS
eine Darstellung der Ideen des revolutionaren Syndikalismus, wie sie sieh
im Kopfe des Verf. spiegeln. Ob W. Endgiiltiges zu sagen vermochte, laflt
sich daher nicht entscheiden.
Emil J. Walter (Zurich).
Saposs, David J., The Labor Movement in Post- War France. Columbia
University Press, New York 1931, (508 S., $ 6.—)
S. ist ein Schiiler des bekannten Historikers der amerikanischen
Arbeiterbewegung John R. Commons. Zur Zeit unterrichtet er an der
Schule der American Federation of Labor, am Brookwood College. Aus
beidem ergibt sich der Blickpunkt, von dem aus das vorliegende Buch ge-
schrieben ist: S. steht der gegenwartigen Wirtschaftsordnung nicht ab-
lehnend gegeniiber, er wunscht aber ihre Besserung auf evolutionarem Wege.
Das Buch basiert auf einer auBerordentlich grundlichen Quellenforschung
und wird deshalb fiir jeden, der sich mit der Geschichte der Arbeiterbewe-
gung beschaftigt, von grofiem Werte sein, auch wenn er sich den Urteilen
seines Verfassers in vielem nicht anschlieBen kann.
Die Arbeit zerfallt in fiinf Teile. Der erste befafit sich mit der Gewerk-
schaftsbewegung. Es wird in ihm geschildert, wie schon vor dem Kriege
syndikalistische Stromungen durch die reformistischen verdrangt wurden,
wie der Krieg zunachst den vollstandigen Sieg der letzteren bedeutete,
dann aber doch zur Heranbildung des radikalen Fliigels fiihrte, wie schlieB-
lich nach dem Kriege die Spaltung eintrat und wie sich danach die Bewegung
entwickelte. 1927 zahlte die der Zweiten Internationale angeschlossene
Conf6deration G6n6rale du Travail rund 900000 Mitglieder, die der Dritten
Internationale zugehorige Confederation G^n^rale du Travail Unit aire immer-
hin beinah eine halbe Million. Die daneben bestehenden katholischen und
syndikalistischen Organisationen hatten keine Bedeutung. Teil 2 und 3-
handeln von der Sozialpolitik des Staates und der Stellung, die die Unter-
nehmer der Arbeiterfrage gegeniiber einnahmen. Auch in Frankreich brachte
der Krieg einen gewaltigen Ausbau der vorher diiritigen Sozialgesetzgebung
mit sich. Sie fand ihre Kronung in dem Sozialversicherungsgesetz vom
5. April 1928, das die bisherigen Bestimmungen zusammenfafite und er-
weiterte. Es sieht Zahlungen bei Krankheit, Unf alien, Arbeitsunfahigkeit
infolge Alters, Todesfallen, Schwangerschaft und Arbeitslosigkeit vor. Die
meisten der groBen Unternehmer nehraen den Gewerkschaften gegeniiber
eine of fen feindliche Stellung ein. In Teil 4 wird die Entstehung der Genossen-
schaftsbewegung dargestellt und ihre Nachkriegssituation eingehend analy-
siert. Die Konsumgenossenschaften zahlten 1926 rund 2,2 Millionen Mit-
glieder. Sie haben uberwiegend eine kleinburgerliche Ideologie und neigen
deshalb politisch der radikalsozialen Partei zu. Bezeichnend fiir die Starke
der kleinbiirgerlichen Einflusse und der Proudhonschen Tradition ist
auch die Tatsache, daB die Produktivgenossenschaften eine gewisse
Bedeutung behielten. 1923 betrug ihr Umsatz 155 Millionen Francs.
Den AbschluB des Buches (Teil 5) bildet eine Darstellung der politischen
Arbeiterbewegung. Die Sozialistische Partei erhielt 1928 rund 1,7, die
Soziale Bewegung und Sozialpolitik 189
Kommunistische rund 1 Million Stimmen bei einer Gesamtstimmenzahl
von rund 9 Millionen. A rv id Ha mack (Berlin).
Meyer, Hakon, Den politiske arbeiderbevegelse i Norge. (Die politieche
Arbeiterbewegung Norwegens.) Del norske arbeiderpartis forlag. Oslo 1931.
(176 S.; Kr. 3.—)
Das Buch ist in erster Linie als Handbuch fur die Studiengemeinschaften
und Vorlesungskurse der Norwegischen Arbeiterbildungszentrale geschrieben.
Es beschrankt sich deshalb auf eine tJbersicht des geschichtlichen Entwick-
lungsganges der politischen Arbeiterbewegung Norwegens. M. macht keinen
Anspruch auf eingehende wissenschaftliche Erorterungen der eigenartigen
Entwicklung der norwegischen Arbeiterbewegung wahrend und nach dem
Kriege. Sein Werk hat jedoch Bedeutung als die einzige vorliegende Dar-
stellung der ganzen bisherigen Geschichte unserer Bewegung.
Die ersten Seiten schildern in sehr konzentrierter Form die Periode der
Vorlaufer, 1848 — 1880. Etwas ausfuhrlicher werden dann die 80er Jahre
behandelt, die Periode des Durchbruchs des burgerlich-bauerlichen Parla-
mentarismus und der burgerlichen Kultur, ab'er auch die Zeit der Entste-
hung der Gewerkschaften und der norwegischen Arbeiterpartei und ihrer
Emanzipation von burger lich-liberaler Ideologic. Der zweite Teil schildert
dann die Entwicklung von der propagandistischen Sekte zur praktisch-
politischen Partei wahrend der Periode der Wahlrechtskampfe der 90er Jahre,
die Konsolidierung der Partei auf parlamentarischem Gebiete 1903 — 12,
unter Zuziehung kleinbiirgerlicher und kleinbauerlicher Elemente, und die
ersten Ansatze einer syndikalistisch beeinfluflten Opposition. Die Entste-
hung einer neuen oppositionellen Fuhrergeneration 1912 — 15 und der Durch-
bruch dieser „ neuen Richtung" 1914 — 18 werden dann sehr klar geschildert,
ohne daC jedoch die Ursachen dieser Entwicklung, die in erster Linie
in der Eigenart und dem iiberschnellen Tempo der Industrialisierung Nor-
wegens wahrend dieser Periode zu suchen sind, geniigend hervortreten. Die-
selbe Kritik der mangelnden Beriicksichtigung wirtschaftlicher Faktoren
trifft auch die Schilderung der ersten Parteispaltung durch den Austritt
der bewuBt sozialdemokratischen Elemente nach dem Beitritt der Partei
zur dritten Internationale 1919 — 20, der weiteren Spaltung als Folge des
Streites zwischen der halbsyndikalistischen Mehrheit der Arbeiterpartei
und der Leitung der Internationale 1920 — 23 und der allmahlichen Vor-
bereitung der Sammlung, die durch das Zusammengehen der Sozialdemo-
kraten und der Arbeiterpartei 1927 erfolgte. Die letzten Kapitel schildern
derf politischen Aufschwung der letzten Jahre und die lehrreiche Episode
der Arbeiterregierung von 1928.
Als Anhang enthalt das Buch eine kurze t^ersicht der Wahlrechts-
bestimmungen seit 1814, eine Tabelle iiber die Vertretung der Partei bei
internationalen Kongressen, die Parteivorsitzenden und Redakteure des
Hauptorgans, die Stimmenzahlen und die Vertretung bei Wahlen, die Mit-
gliederbewegung und ein ausfuhrliches Namensregister.
Wie schon angedeutet, leidet das Buch bei all seiner Klarheit und tJber-
sichtlichkeit daran, da6 es in engstem Sinne Organisationsgeschichte sein
will. Die wirtschaftliche Entwicklung, die Verschiebungen der Klassen-
190 Bespjechungen
gegensatze und der politisehen Konstellationen der biirgerlichen Welt werden
nur angedeutet, und auch die parlamentarische Wirksamkeit der Arbeiter-
partei selbst wird 'kaum in Betracht gezogen. Dadurch entsteht eine ge-
wisse Einseitigkeit in der Beurteilung der verschiedenen Phasen der Partei-
entwicklungj die besonders der sozialdemokratischen Periode sowie der rein
sozialdemokratischen Stromung in der jetzigen Parfcei kaum Gerechtigkeit
leistet. Halvard M. Lange (Oslo).
Tonntes, Georg Ove, Die Auflehnung der Nordmark-Bauem. Kusten-
landverlag. Flensburg 1930. (30 S.; RM. 1.20). — Luetgebrune, Walt.,
Neu- Preufiens Bauernkrieg. Hanseatische Verlagsanstalt. Hamburg
1931. (213 S.; RM. 3.80). — Karsthans, Die Bauern marschieren.
Stalling. Oldenburg 1931. (297 S.; RM. 4.80, geb. RM. 5.80). — Fallada,
Hans, Bauern, Bonzen und Bomben. Rowohlt. Berlin 1931. (565 S.;
RM. 6.— y geb. RM. 8.50)
Die durch die verzweifelte Lage der deutschen Bauern entstandene poli-
tische Umschichtung hat ihren Niederschlag in zahlreichen Broschiiren und
Buchern gefunden. Die beginnende politische Aktivierung geht in den
kapitalistischen Landern Europas nach den verschiedensten Richtungen:
zum Faschismus (Bekampfung der Arbeiterschaft in Osterreich), zur bauer-
lichen Demokratie (Bundnis mit der Arbeiteraristokratie in Rumanien), zum
Kampf gegen die Stadt (Bulgarien), im Gegensatz zum Bolschewismus
(Bundnis mit dem Proletariat in der Sowjet-Union).
Die kleine Broschvire von Tonnies eroffnet interessante Einblicke in
die politische Atmosphare der Bauernbewegung. Der Verf . lehnt die Gewalt
ab, miBtraut den Parteien und polemisiert gegen Stadt und Industrie ; gleich-
zeitig reiBt er also eine Kluft auf, die er auf der anderen Seite schliefien will.
Er berichtet von den Leiden der Bauern, die seit Jahrhunderten die Lasttiere
der Gesellschaft gewesen seien. Heute sei ein „bauerliches Klassenbewufit-
sein" entstanden. Wahrend T. einerseits den Arbeiter als Bundesgenossen
fur eine neue Ordnung sucht, betont er immer wieder, daB der Bauer vollig
allein stehe, und kommt so zu stadtfeindlichen SchluBfolgerungen und stan-
dischen Gedanken, fiir die er nur eine zentralistische Handhabung verwirft.
Er fordert „Bauernland" und „Bauernrate", die als berufsstandische Schlich-
tungsausschiisse wirken und die Steueraufbringung regeln sollen, bekennt
sich also zur reformistischen Losung.
Der rechtsradikale, aus zahlreichen Prozessen gegen Nationalsozialisten
und Landvolkleute bekannte An wait Luetgebrune liefert in seinem Buch
eine Kampf schrift gegen das „preufiisehe Regierungssystem". Es enthalt
zahlreiche amtliche Schreiben, Urteile, Gutachten, Gesetzestexte und Ver-
waltungsentscheidungen und zerfallt in drei Abteilungen: ,, Kampf der
Einanzbehorden", „Kampf des Verwaltungsapparates", „Kampf durch die
Justiz". Die Gruppierung und die Auswahl des autentischen Materials
machen das Buch zwar zu einer Anklageschrift. Durch den Verzicht auf jede
politische und okonomische Analyse bleibt jedoch das Problem ungelost; so
kommt L. zu schiefen Behauptungen und primitiven Erklarungen wie der, dafi
die Notlage der Bauern eine Folge der Reparationszahlungen und der Ver-
waltungsschikanen sei.
Soziale Bewegung und Sozialpolitik 191
Karsthans schildert in Romanform denKrieg von 1525, dessen Tradition
in der heutigen Landvolkbewegung eine groBe Bolle spielt. Mit deut-
licher Beziehung auf die heutige Zeit ist dies Buch geschrieben ; das ge-
schichtliche Beispiel soil warnend und mahnend die Bauern wachriitteln, so
hofft der Verf . im Vorwort. Die Darstellung der historischen Ereignisse ist
teilweise zwar sehr dramatisch, packend und eindrucksyoll, aber die Parallele
zu den aktuellen Vorgangen ist — getriibt durch romantische Vorstellungen
— vollig irrefuhrend. Hinter dem Pseudonym verbirgt sich Herbert Blank
von den „Revolutionaren Nationalsozialisten".
In dem ausgezeichneten Roman von Fallada wird die moderne Land-
volkbewegung in sehr lebendiger und interessanter Weise geschildert. Es
handelt sich um einen Schlusselroman, der deutlich als Hintergrund die be-
kannten Ereignisse in Neumunster erkennen laCt, Der Verfasser bemiiht sich
um eine naturgetreue Wiedergabe der Vorgange. So ist das Buch als unter-
richtende Materialsammlung der aktuellen Bauernbewegung zu werten.
Aber indem F. alien gerecht werden will, kommt es zu einem — standpunkt-
losen Standpunkt! Hans Jaeger (Berlin).
Mein Arbeitstag — mein Wochenende. 150 Berichte von Textilarbeite-
rinnen. Ges. u. hrsg. vom Dt. Textilarbeiterverband, Hauptvor stand , Ar-
beiterinnensekretariat. Berlin 1930. Verlag Textilpr axis. (230 S.; RM. 2.60)
— Suhr, Susanne, Die weiblichen Angestellten. Arbeits- und Lebens-
verhdltnisse. Eine Umfrage des Zentralver bands der Angestellten. Zentral-
verband der Angestellten. Berlin 1930. (48 S.; RM. 1.40) — Die wirt-
schaftliche und soziale Lage der Angestellten. Ergebnisse und Er-
kenntnisse aus der grofien sozialen Erhebung des Gewerkschaftsbunds der
Angestellten. Vollst. erw. Ausgabe B t Berlin. SiebenStabe- Verlag. Berlin
1931. (334 S.; RM. 10. — ) — Die Gehaltslage der Kaufmanns-
gehilfen. Eine Fragebogenerhebung des D. H. V. {Bearb. Werner Deiters).
Hanseat. Verlagsanstalt. Hamburg 1931. (159 S.; RM. 7.—) — Was
verbrauchen die Angestellten? Ergebnisse der dreijdhrigen Haus-
haltungsstatistik des Allgemeinen Freien Angestelltenbundes. Freier Volks-
verlag. Berlin 1931. (82 S.; RM. 1.75) ■ — Die Lebenshaltung des
Landarbeiters. Wirtschaftsrechnungen von 130 Landarbeiterfamilien.
Eine Erhebung des Reichsverbands landlicher Arbeitnehmer, bearb. von
Max Hofer. Landvolk- Verlag. Berlin 1930. (245 S.; RM. 7.50) —
Bernier, Wilhelm, Die Lebenshaltung, Lohn- und Arbeitsverhdltnisse von
145 deutschen Landarbeiterfamilien. Ergebnis einer Erhebung d. dt.
Landarbeiterverbandes in der Zeit vom 1. Juli 1929 bis 30. Juni 1930.
Hrsg. vom Vorstand d. Dt. Landarbeiterverbandes, Berlin 1931. (120 S.;
RM. 4. — ) — Die Lebenshaltung der Bauarbeiter nach Wirt-
schaftsrechnungen ausdemJahre 1929. Deutscher Baugewerksbund.
Berlin 1931. (167 S.; geh. RM. 8.—)
Das Arbeiterinnensekretariat beim Haupt vorstand des freigewerkschaft-
lichen Deutschen Textilarbeiter-Verbandes hat im Herbst 1928 den Mit-
gliedern die Preisaufgabe gestellt, anschaulich und wahrhaftig den regel-
mafiigen Verlauf eines Samstags und Sonntags zu schildera. Von je 1000
weiblichen Mitgliedern beteiligte sich je eines. Die 150 Antworten („Mein
192 Besprechungen
Arbeitstag — mein Wochenende") sind ungewohnlich wertvoll, da
sie Verhaltnisse und BewuBtseinszustande zu erfassen gestatten, die sonst
sehr schwer faBbar sind. Das Buch, 150 monotone Anklagen (durchschnitt-
liche Arbeitszeit in Betrieb und Haushalt: 13 a / 4 Std.), sei jedem Sozial-
und Bevolkerungspolitiker, jedem Soziologen und Sozialpsychologen nach-
driicklich empfohlen, auch den Gewerbeaufsichtsbeamten. Arbeits- und
Lebensverhaltnisse der weiblichen Angestellten hat der freigewerkschaft-
liche Zentral-Verband der Angestellten durch eine kleine Erhebung (5741 Per-
sonen) ermittelt („Die weiblichen Angestellten"). Die Ergebnisse sind
unter folgenden Gesichtspunkten statistisch und textlich dargestellt: Alter,
Familienstand usw. (92% ledig), Schulzeit und Berufsausbildung (84,1%
Volksschulbesucher), Stellungswechsel und -dauer (54% traten die erste
Stellung zwischen dem 14. und 15. Jahr an), Arbeitszeit (fast die Halfte
machte tubers tunden, davon 46% ohne jedes Entgelt), Einkommen:
146,24 RM. Durchschnitt, 46% unter 125 KM. brutto. Die sachlich urn-
fassendste Erhebung iiber „Die wirtschaftliche und soziale Lage der
Angestellten" hat im Fruhjahr 1929 der freiheitlich-nationale Ge-
werkschaftsbund der Angestellten durchgeftihrt. Jeder Fragebogen ent-
hielt iiber 100 Fragen, mehr als 75 Millionen Lochkarten waren zur Verarbei-
tung notig. Die Enquete erfaBte iiber 120000 mannliche und weibliche An-
gestellte aller Kategorien. Besonders aufschluBreich fiir den Soziologen sind
die Ermittlungen iiber die soziale Herkunft in den einzelnenOrtsgroBenklassen,
die in Verbindung mit der Altersgliederung Ruckschliisse auf die Verande-
rung der sozialen Aufstiegsvorgange gegeniiber der Vorkriegszeit ermog-
lichen. „Die Gehaltslage der Kaufmannsgehilfen", eine Fragebogen-
erhebung des Deutschnationalen Handlungsgehilfen-Verbandes vom 3. 2. 1929,
ist sachlich enger begrenzt, stutzt sich aber auf iiber 188000 Falle und ist
in der tabellarischen Darstellung ausfiihrlicher. Besonders wertvoll ist die
ins einzelne gehende Aufgliederung nach Berufen. Nebenbei sei erwahnt,
daB ein Vergleich der letztgenannten Arbeiten auch recht interessante
Einblicke in die soziale Struktur der beideh Verbande zulaBt. Die jiingste
Haushaltsstatistik von Angestellten hat der Afa-Bund ver6ffentlicht („Was
verbrauchen die Angestellten ?"), der besondere Bedeutung schon
deswegen zukommt, weil sie sich iiber 3 Jahre (vom 1. 7. 1928 — 31. 7. 1931)
erstreckt und daher auch Aufschlusse iiber die Wirkung der Konjunktur
auf die Haushaltsfiihrung gibt. Leider wurde der letzte Abschnitt, in dem
Hauahaltsrechnungen erwerbsloser Angestellter ausgewertet werden, aus
zeitlichen Griinden kiirzer gefaBt als die ubrigen Kapitel. Der christlich-
nationale Reichsverband landlicher Arbeitnehmer hat an Hand von 130 Wirt-
schaftsrechnungen ,die Lebenshaltuhg des Landarbeiters' im Jahre 1927
genau untersucht. Das durchschnittliche Monatseinkommen je Durch -
schnittsfamilie (4,92 Personen) betrug einschlieBlich der Einnahmen aus
Naturallohn, Eigenwirtschaft, Mitarbeit von Frau und Kindern 162,56 RM.
In OstpreuBen, Nordwest- und Ostdeutschland lag es darunter. Nur in
9 Familien wurde wahrend weniger Wochen dieLohnsteuerfreigrenze erreicht!
Die spater, in der Zeit vom 1. Juli 1929 bis 30. Juni 1930, durchgefuhrte
Erhebung des freigewerkschaftlichen Deutschen Landarbeiter-Verbandes
kommt zu ahnlich traurigen Resultaten. Leider konnen ihre Ergeb-
Soziale Bewegung und Sozialpolitik 193
nisse mit denen der vorhergenannten Erhebung nicht verglichen werden
vor allem wegen der teilweise abweichenden Bewertung von Depu-
tat- und Eigenwirtschaftserzeugung sowie wegen der differierenden stati-
stischen Aufbereitung des Materials. Doch zeigen sich weitgehende relative
tjbereinstimmungen im Grofien, z. B. in bezug auf die starken Unterschiede
der Einkommenszusammensetzung und Lebenshaltung in den verschiedenen
Wirtschaftsgebieten und Einkommensstufen. Die Arbeit des D. L. V. ist
thematisch weiter gefaBt; interessant, wenn auch bei der geringen Teil-
nehmerzahl nicht unbedingt von typischem Wert, sind die Ermittlungen
iiber das Verhaltnis von Zeit- und Akkordlohnarbeit. Im iibrigen geht die
Arbeit des Reichsverbandes starker ins einzelne und ist iibersichtucher
gruppiert. Beide Erhebungen vermeiden Schwarzmalerei ; sie geben bei
groBer Vorsicht in der Naturallohnberechnung ein objektives Bild, was um
so verdienstvoller ist, als die Notlage der Landarbeiterschaft von Arbeit-
geberseite zuweilen statistischgemildert wird. Zum Schlusse sei auf die Haus-
haltsstatistik des freigewerkschaftlichen Baugewerksbundes hingewiesen:
„Die Lebenshaltung der Bauarbeiter nach Wirtschaftsrechnungen aus
dem Jahre 1929". Sie stiitzt sich auf 896 Falle ( !) und ist methodisch muster-
haft. Durch die Gliederung nach Berufsgruppen, Ortsgruppenklassen und -ge-
bieten, durch Untersuchungen, wie Arbeitslosigkeit und FamiliengroBe die
Lebenshaltung beeinflussen und wie diese sich von der der Eisenbahner und
Schuhmacher unterscheidet, ergeben sich wichtige neue Aufschlusse iiber
die Lage dieser Arbeiterschicht. Es ist zu wiinschen, daB der Verband die
Arbeit fortfuhrt.
Hans Speier (Berlin).
Kuczynski, Jiirgen u. Marguerite, Die Lage des deutschen Industrie-
arbeiters. Internal. Arbeiterverlag . Berlin 1931. (166 S.; RM. 2.50)
Das kleine Buch versucht, die Lage des deutschen Industriearbeiters
in der Nachinflationszeit statistisch darzustellen, und fiihrt zu diesem Zweck
Daten aus den Gebieten des Arbeitsmarkts, der Entwicklung der Lohne sowie
der Unfallhaufigkeit als Folge der Rationalisierung auf. Nach einem kurzen
tjberblick iiber die Gesamtsituation werden die einzelnen Industriezweige
entsprechend untersucht. Bemerkenswert sind die Errechnungen des Real-
lohns und der relativen Verelendung des deutschen Arbeiters; nur fehlen
genaue Angaben iiber die Quellen des Materials. Uberdies sind die Unter-
lagen zu den eigenen Berechnungsmethoden ungenugend erlautert, so daB sie
nicht hinreichend uberpriift werden konnen. Auch stunden die SchluB-
folgerungen fiir den Arbeiter selbst, die sich am Ende der Beschreibung der
Lage in jedemlndustriezweig wiederholen, besser zusammenhangend und aus-
fiihrlicher am AbschluB der ganzen Arbeit. Kuczynski bringt in knappem
Rahmen reiches Material ; auf Grund seiner Berechnungen sucht er den Nach-
weis zu erbringen, daB der Lebenshaltungsindex des Statistischen Reichsamts
unbrauchbar ist und daB die Reallohne in keinem der Nachinflations jahre —
mit Ausnahme von 1928 — an die Vorkriegslohne heranreichten.
Hilde WeiB (Frankfurt a. M.).
1 94 Besprechungen
Stenbock-Fermor, Graf Alexander, Deutsckland von unten. Engelhorn.
Stuttgart 1931. (159 S.; kart. RM. 5.50, geb. RM. 7.50)
Schwarz, Georg, Koklenpott. Biichergilde Gutenberg. Berlin 1931. (207 S,
geb. RM. 3.—)
„t)lberall wohin ich kam, steigendes Elend, steigende Verbitterting,
steigende Verzweiflung. Eine Welt der Armut und des Hungers und der
Ausbeutung." So fafit Stenbock die Eindriicke zusammen, die er auf
einer Beise durch die vom Proletariat dicht besiedelten Gegenden Deutsch-
lands empfangen hat. Die Reportage berichtet von den Webern des Eulen-
gebirges, den Glasblasern im Thiirmger Wald, den Spielzeugschnitzern und
Holzarbeitem imErzgebirge, denHolzfloBern undHeimarbeitern im Franken-
wald, den Bergleuten in Waldenburg und dem Ruhrgebiet, den Arbeitern
des Leunawerkes. Im grauenvollsten Elend, in entsetzlicher Not fristen
Millionen von Menschen ihr Dasein, diese untere Schicht des Proletariats,
von deren Existenzbedingungen nichts bekannt ist; die Presse schweigt
hieriiber. Wir erfahren, daB zahllose mehrkopfige Heimarbeiterfamilien
von 40 Mark im Monat leben miissen, wenn man den langsamen Hungertod
in uberfullten baufalligen Wohnhohlen so nennen will. Zehn Menschen
hausen in einem Raum, Erwachsene und Kinder arbeiten funfzehn Stunden
am Tag, um dann erschopft und hungrig auf dem mit Lumpen bedeckten
FuBboden den Schlaf zu finden. Der Bericht ist von einer grausamen Objek-
tivitat. Nackte Tatsachen, niichterne Zahlen werden aufgezeigt, von einer
groBen Anzahl erschiitternder Photographien belegt, von Zeitungsmel-
dungen und historischen Darlegungen erganzt. Jeder, der sich mit wirt-
schaftlichen, sozialpolitischen und soziologischen Fragen beschaftigt, muB
dieses Buch lesen; es verdient starkere Beachtung als zahlreiche Versuche
wirklichkeitsfremder Theoretiker.
Auch die Reportage iiber das Ruhrrevier von Georg Schwarz ist eine
wertvolle Tatbestandsaufnahme, aus Einzelschilderungen und Illustrationen
zusammengefugt, die eine genaue Sachkenntnis des Verfassers verraten. Der
Leser erhalt — in einer allerdings unerfreulichen Ausdrucksform — eine
anschauliche Vorstellung von diesem Industriegebiet, von seiner historischen
Entwicklung, den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zustanden, von
den Organisationen und Vereinen, von den Werken und ihrer Rationali-
sierung. Allerdings ist dem Verfasser, der sich eindeutig zur Sozialdemo-
kratie bekennt, die Darstellung der Existenzbedingungen und der Freizeit-
gestaltung des Proletariats besser gelungen als die Schilderung des Burger-
turns, dessen Sein und BewuBtsein oft falsche oder oberflachliche Deu-
tungen finden.
Carl DreyfuB (Frankfurt a. M.).
Probleme der Arbeitslosigkeit im Jakre 1931. Internationales Arbeits-
ami, Reihe C, Nr. 16 der Studien und Berichte. Oenf 1931. (316 S.;
schw. frs. 7.50)
Lea Aspects Sociaux de la Rationalisation. Bureau International du
Travail, Etudes et Documents, Strie B (Conditions 4conomiques). No. 18
Oenf 1931. (415 S.; schw. frs. 10.—)
Sozial© Bewegung und Sozialpolitik 195
Internationale Arbeitskonferenz. 16. Tagung, Qenf 1932, Bericht des
Direktors. Internationales Arbeitsamt. Genf 1932. (112 S.; RM. 4. — )
Das Internationale Arbeit samt hat sich seit seiner Griindung und selbst -
verstandlich besonders wahrend der letzten Jahre dem Studium der Arbeits-
losigkeit gewidmet. So erschien im vorigen Jahr das Buch iiber „Probleme
der Arbeitslosigkeit", das neben einem Auszug aus dem Bericht des
Direktors eine Reihe von Studien enthalt, welche teils vom I.A.A. selbst,
teils von Sachverstandigen aus verschiedenen Landern geschrieben wurden.
Die Beitrage iiber die Frage der Geldwertschwankungen und Arbeitslosigkeit
sowie iiber Rationalisierung und Beschaftigung wurden vom Amt selbst ge-
liefert. Aufierdem schrieben Prof. Ansiaux, Briissel, iiber die Storungen des
Welthandels, Prof. Albert Hahn, Frankfurt a. M., iiber die Ungleichheiten
der internationalen Kapitalverteilung, Professor Hersch, Genf, iiber das
Bevolkerungsproblem und Cole, Oxford, iiber die Lohne, alles im Zusammen-
hang mit dem Problem der Arbeitslosigkeit.
Der Beitrag des inzwischen verstorbehen Direktors gibt eine allgemeine
Analyse der Krisenursachen. Wir mochten diesen Bericht vor allem als
,, document humain" betrachten, denn hier spricht jemand, der das Elend
der Massen kennt und sich Mtihe gibt, eine Losung herbeizufuhren. Die
weiteren Studien befassen sich nur mit Teilproblemen. Diese Methode hat
ihre Vor- und Nachteile: Einige Studien, wie die iiber Bevolkerungsfragen
und Rationalisierung, stellen gegliickte Versuche dar, die behandelten Themen
eingehend zu beleuchten; ein Nachteil ist jedoch der Mangel einer einheitlichen
Auffassung in den verschiedenen Arbeiten und einer gegenseitigen Erganzung.
Die Arbeit iiber die Geldwertschwankungen ftihrt aus, dafi die Preis-
schwankungen nicht als eine Ursache der Arbeitslosigkeit bezeichnet werden
konnen. Die Studie iiber Kapitalverteilung legt den Nachdruck auf die Not-
wendigkeit der Elastizitat der Lohne, auf die Gef ahren brusker Kapital-
ausfuhr und den Vertrauensmangel, der die freie Zirkulation des Kapitals
behindert. Ansiaux stellt fest, in wieweit Import- und Exportbeschrankungen
nachteilig wirken. Hersch gelangt zu der tJberzeugung, daB die Ursachen
der Krise nicht in einer tjbervolkerung, sondern teilweise in einer zu geringen
Bevolkerungszunahme liegen. Die Arbeit iiber Rationalisierung stellt fest,
dafi diese auf die Dauer fur die ganze Gesellschaft eine gute Auswirkung
haben mufi, und verteidigt teilweise noch die Kompensationstheorie ; schliefi-
lich ist Cole der Meinung, dafi die Handhabung der Lohne nie Ursache der
Arbeitslosigkeit sein kann. Der grofie Wert der Studien liegt in der Auf-
rollung einer Reihe mit der Arbeitslosigkeit zusammenhangender Probleme.
Jedoch zeigt sich hier, wie gesagt, die unbedingte Notwendigkeit, alle Klraf te
zu koordinieren, die gegenseitige Beeinflussung der verschiedenen Faktoren
zu untersuchen, wobei dann von selbst die tiefer liegenden fundamentalen
Ursachen der Krise aufgedeckt werden.
In der bisher nur franzosisch erschienenen zweiten hier besprochenen
Verdffentlichung des LA.A. wird die Rationalisierung zwar ausschliefilich
von ihrer sozialen Seite studiert, aber dennoch unter verschiedenen Gesichts-
punkten : im Zusammenhang mit Ertrag, Arbeitsdauer, Gehalt, Beschaftigung,
Vorbeugung von Unfallen, Arbeitsmethode, Beziehungen zwischen Arbeit-
196 Besprechungen
geber und Arbeitnehmer und Bedeutung der auf genossenschaftlichem
Prinzip basierten Unternehmungen.
Die ausgezeiohneten, wenn auch in vielen Fallen auf liickenhaftem Mate-
rial aufgebauten Studien zeigen, welchen gewaltigen Aufschwung die Ra-
tionalisierung seit dem Krieg genommen und wie sie, wenn auch eine Fort-
setzung der bereits vor dem Krieg sich zeigenden Mechanisierung der Wirt-
schaft, grundlegende Anderungen im Wirtschaf tsleben hervorgerufen hat.
Wenn die Rationalisierung auch nicht als die Ursache der Krise betrachtet
wird — der Bericht wagt nicht, sich in positiver Form daruber auszusprechen
— so zeigt sich doch, daB sie einen stark mitwirkenden Faktor darstellt.
Festgestellt wird, daB die Rationalisierung immer Arbeitslosigkeit hervor-
ruft — wenn auch voriibergehend. Da die Ausdehnung der Rationalisierung
mit den groBen weltwirtschaftlichen St6rungen parallel lauft, ergeben sich
•daraus Schwierigkeiten, ihre Folgen genau abzugrenzen. Besonders hin-
gewiesen wird in dem Bericht auf die durch die Rationalisierung entstandene
-engere Zusammenarbeit zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer auf sozial-
politischem Gebiet.
Wenn auch die Weltkrise in dieser Arbeit aufier Betracht gelassen wird,
so hat das empirisch gesammelte Material doch groBen Wert. Der Gedanke,
der sich beim Durchlesen dieser Veroffentlichung aufdrangt, ist wohl der,
daB die planlose Rationalisierung schlieBlich Folge der planlosen Wirtschaft
ist und daB unter Beibehaltung dieses planlosen Systems die Rationalisierung
die Krise verscharft, anstatt ihr entgegenzuwirken.
Es ist eine gute Gewohnheit, daB der jahrlich stattfindenden Arbeits-
konferenz nicht mehr wie frtiher ein umfangreicher Bericht tiber die ganze
Tatigkeit des I.A.A. vorgelegt wird, sondern ein kurzer, der die brennenden
Fragen der Gegenwart behandelt. Der diesjahrige befaBt sich ausschliefllich
mit dem Problem der Arbeitslosigkeit und der Weltkrise. Auch werden die
MaBnahmen dargelegt, welche das I.A.A. selbst zur Aufhebung der Krise
vorgeschlagen hat, und welche von einem ernsten Willen zeugen, alles zu tun,
was das in seinen Befugnissen immerhin stark begrenzte Amt vermag.
Ein ganzes Kapitel ist diesmal der organisierten Wirtschaft gewidmet,
wobei auch viel Material uber den Stand der planwirtschaftlichen Fragen
gebracht wird. Dies zeigt wieder, daB das I.A.A. von alien neuen Tendenzen
in der Wirtschaftswissenschaft genau Kenntnis nimmt und daB es bestrebt
ist, eine vitale Kraft in der heutigen Gesellschaft zu sein.
DaB es sich bei diesen Bestrebungen mit rein wirtschaftlichen Problemen
befassen muB, wahrend das Sozialpolitische relativ in den Hintergrund
gedrangt wird, ist ein neuer Beweis fur die vom I.A.A. vertretene These, daB
in letzter Instanz auf sozialpoUtischem Gebiet keine bedeutenden Fortschritte
gemacht werden kdnnen, ohne daB die Wirtschaft gesundet.
Andries Sternheim (Genf).
Douglas, Paul H., and Aaron Director, The Problem of Unemployment
The Macmillan Company. New York 1931. (XIX, 505 S.)
Dieses Buch, das eine umfassende Analyse des Arbeitslosenproblems
in der kapitalistischen Wirtschaft anstrebt, steht eowohl seinem sachlichen
Soziale Bewegung mid Sozialpolitik 197
Gehalt nach wie auch in seiner sozialpolitischen Intention in Parallele zu
dem bekannten grundlegenden Werk von Beveridge „Unemployment a
Problem of Industry'* aus der Vorkriegszeit. Die Arbeitslosigkeit wird auf-
gefaBt als Friktionserscheinung des in seiner lokalen, beruflichen und zeit-
lichen Fluktuation gehemmten Arbeitsangebots mit der unstetigen Bewe-
gung der Industrie. Als die wichtigsten Ursachen der Schwankungen der
Arbeiternachfrage der Industrie werden jahreszeitliche Einfltisse, technische
Fortschritte und Konjunkturbewegung hervorgehoben und die ihnen ent-
sprechenden Formen der Arbeitslosigkeit: Saisonarbeitslosigkeit, techno-
logische und zyklische Arbeitslosigkeit am amerikanischen Material einer
quantitativen Analyse unterzogen und mit entsprechenden europaischen
Zahlen in Vergleich gesetzt. Mit den so gewonnenen Resultaten werden die
verschiedenen Projekte zur Beseitigung der Arbeitslosigkeit wie etwa Regu-
larisierung der Beschaftigung in einzelnen "Unternehmungen und ganzen
Industriezweigen oder Ausschaltung von Konjunktur schwankungen durch
Dbsierung offentlicher Auftrage oder Kreditpolitik konfrontiert und — eine
sehr positive Seite des Buches — auf das wirkliche MaB ihrer moglichen
Wirkung reduziert. Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung werden
als notwendige sozialpolitische Maflnahmen herausgearbeitet. Die theore-
tischen Ausftihrungen, zu denen die Verf. bei der Behandlung der techno-
logischen und zyklischen Arbeitslosigkeit gekommen sind, sind schwach.
Beispielsweise glauben die Verf. die Unmoglichkeit eines absoluten Arbeiter-
uberschusses einfach aus der tfoertragung der Kaufkraft der freigesetzten
Arbeiter auf andere Bevolkerungsschichten beweisen zu konnen. Typisch
fiir die Art, wie die okonomische Theorie dabei behandelt wird, ist die Fest-
stellung in einer Anmerkung, daB „Sismondi, Rodbertus und natiirlich Marx
sowie neuerdings Henry Ford" die Depression daraus erklarten, daB der
Arbeiter nicht sein voiles Produkt zurtickkaufen konnte, weshalb es sich
als Vorrat ansammle und schlieBIich die Produktion verstopfe, bis die Lager
wieder geraumt seien.
Die zweite Halfte des Buches wird von einer Beschreibung der Arbeits-
losenversicherung und Arbeitslosenvermittlung in den verschiedenen Landern
ausgefiillt, wobei entsprechend dem praktischen Zweck des Buches beson-
deres Gewicht auf die Organisation und Verwaltung gelegt wird. Wahrend
die Beschreibung der europaischen Institutionen wenig Neues bringt, iBt
die Schilderung der amerikanischen Verhaltnisse gerade auch in ihren De-
tails fiir den nichtamerikanischen Leser von groBem Interesse.
Jakob Feinberg (Frankfurt a. M.)*
Employment Begularization in the United States of America.
American Section International Chamber of Commerce. Washington D. C.
1931. (84 S.)
Dieses von der Internatibnalen Handelskammer herausgegebene Heft
sei hier erwahnt, weil es eine interessante Darstellung eines bestimmten
Zweiges der amerikanischen Arbeitslosenpolitik gibt, namlich der Versuche
emzelner Unternehmungen und Gruppen von Unternehmern, die Arbeits-
losigkeit durch VergleichmaBigung des Produktionsumfangs zu reduzieren.
Es werden eine ganze Reihe von Budgetierungsplanen emzelner ITnter-
198 Besprechungen
nehmungen zur Ausschaltung der Saisonbewegungen der Produktion ge-
schildert. Was hingegen die Beseitigung der zyklischen Arbeitslosigkeit
angeht, so mufi sich dieser Versuch der Beschreibung der spezifisch indivi-
dualistisch-amerikanischen Formen der Bekampfung der Arbeitslosigkeit
im wesentlichen auf die Auffiihrung unzahliger Komitees fiir diesen Zweck
beschranken. Jakob Feinberg (Frankfurt a. M.).
Case Studies of Unemployment. Compiled by the Unemployment Commi-
tee of the National Federation of Settlements. University of Pennsylvania
Press, Philadelphia 1931. (XLIX, 418 S.)
Calkins, Clinch, Some Folks Won't Work. Harcourt, Brace and Company.
New York o. J. (1931). (202 S.)
Die beiden Bucher sind entstanden aus einer Untersuchung des Arbeits-
losigkeitsausschusses der National Federation of Settlements. Ihre Bedeu-
tung liegt erstens in der sozialwissenschaftlich-methodisch wichtigen For-
schungsweise der Untersuchung, zweitens darin, dafl sie klarer als dies all-
gemein in der amerikanischen Arbeitslosenliteratur geschieht, ein System
der Sozialpolitik fordern und begrunden. Die Untersuchung stellt es sich
zur Aufgabe, die Wirkung der Arbeitslosigkeit auf die Familie als die
unmittelbar durch den Einkommensausfall getroffene soziale Einheit fest-
zustellen. In den ,,Case Studies" unterbreiten die Verfasser das Quellen-
material dieser Untersuchung: die Chronik von 150 Familien im Laufe
mehrerer Jahre, in denen diese wahrend groflerer oder geringerer Zeit-
raume und mit wechselnder Haufigkeit von Arbeitslosigkeit betroffen
wurden. Die Berichte iiber die einzelnen Familien sind von Settlement-
workers in verschiedenen Stadten auf Grund sehr eingehender personlicher
Bekanntschaft an Hand von sachkundig ausgearbeiteten Fragebogen ge-
liefert worden und ergeben eben durch diese Verbindung von wissenschaft-
licher Methode mit unmittelbarster Nahe der Beobachtung ein weder durch
Statistik noch durch allgemeine Eirfahrung ersetzbares Urmaterial.
Die sozialpolitische Gedankenfiihrung der Verf . zeigt grofle Ahnlichkeit
mit der europaischen, insbesondere englischen Arbeitslosenliteratur des
Vorkriegsjahrzehnts. Wie diese versuchen die Verfasser, „die Arbeitslosen
von den ,unemployables l zu Bondern" und nachzuweisen, dafl sie nichfc
identisch mit der Schicht der Paupers sind, dafl vielmehr die Arbeitslosig-
keit ein ^Problem der Industrie" ist und dafl ihr Arbeiter von guter
Qualifikation und industriellem Standard verfallen. Zu diesem Zweck
schliefien die Verfasser aus den Berichtfallen alle Familien ausdriicklich aus,
bei deren Arbeitslosigkeit „Streiks, Krankheit, Lebensgewohnheiten oder
andere personliche Faktoren uberwiegend waren". Der zweite Schritt der
Argumentation ist die aus den untersuchten Fallen uberzeugend nach-
gewiesene Tatsache der Unzulanglichkeit aller individuellen „Schutzwalle"
des Arbeiters gegen die Arbeitslosigkeit und zwaf nicht nur in Zeiten
der Depression, sondern bereits in der PrOsperitat. (Samtliche Falle sind
vor dem Eintritt der Krise gesammelt worden, illustrieren also dadurch
die Verhaltnisse der amerikanischen „Normalarbeitslosigkeit <( , wodurch das
Buch ein ganz besonderes Interesse gewinnt.) In alien Fallen setzt
Soziale Bewegung und Sozialpolitik 199
mit einem gut herausgearbeiteten typischen Verlauf der bei dem relativ
hoheii Lebensstandard des amerikanischen Arbeiters besonders auffallige
ProzeB des Abstiegs auf der industriellen und sozialen Stufenleiter ein, an
dessen Ende der qualifizierte Arbeiter zum Gelegenheitsarbeiter geworden
ist, der schlieBlich in vielen Fallen in die Schicht des Pauperismus versinkt,
jedenfalls mit groBter Schwierigkeit nur seinen friiheren sozialen Standard
wieder erreicht. Auf die sehr inter essante Schilderung dieses Prozesses
im einzelnen kann hier nur hingewiesen werden.
Die sozialpolitischen Forderungen der Verfasser ubernehmen im wesent-
lichen die Prinzipien der europaischen Vorkriegssozialpolitik : Glattung der
Konjunkturzyklen (hier beruhren sich ihre Gedankengange mit den zahl-
losen amerikanischen „regularization of employment "-Vorschlagen), Organi-
sation des Arbeit smarkts (um das ^hunting the job" zu beseitigen) und
Arbeitslosenversicherung, um „ein Minimum sozialer Vorkehrungen gegen
die schlimmsten Formen der Not zu schaffen".
Das Buch von Calkins ist eine propagandistisch populare, sehr tempera-
mentvolle und gut geschriebene Zusammenfassung der Resultate aus den
„Case Studies". Das zumTitel gewahlteSchlagwort,, Some Folkswon't Work'*,
das der Verfasser als eine in Amerika noch vielf ach als ausrefchend erachtete
Erklarung des Arbeitslosenproblems bezeichnet, charakterisiert die Riick-
standigkeit der „6ffentlichen Meinung", gegen die das Buch ankampfen will.
Jakob Feinberg (Frankfurt a. M.).
Weber, Adolf, Sozialpolitik. Reden und Aufsdtze. Duncker dh Humblot.
Munchen u. Leipzig 1931, (23S S.; br. RM. 9.—, geb. RM. 11.—)
Wahrend die ublichen Lehrbiicher der Sozialpolitik die Geschichte der
sozialpolitischen Organisation und Gesetzgebung in den Vordergrund zu
rucken pflegen, bemiiht sich diese Sammlung von Essays aus der Hand Adolf
Webers ausschliefllich um die Klarung der theoretischen Grundfragen der
„Grenzen und Gefahren der Sozialpolitik' * - — wie es der Titel des letzten
Abschnitts treffend umschreibt. Drei Problemgruppen stehen dabei im
Zentrum der Diskussion: 1. die grundsatzhche Gesellschafts- und Wirt-
schaftsordnung, 2. das Verhaltnis von Staat und Wirtschaft innerhalb
einer grundsatzlich freien Verkehrswirtschaft und $. das Verhaltnis von
Arbeitgebern und Arbeitnehmem. Die erste Frage wird von W. klar zu-
gunsten der freien Verkehrswirtschaft und gegen die Planwirtschaft ent*
schieden. Die grundsatzlich zu bejahende kapitalistische Verkehrswirtschaft
biete fur politische Beeinflussung und Regulierung nur wenig Raum. Die
Wirtschaft habe ihre Eigengesetzlichkeit, die weder durch private Monopol-
bildungen noch durch staatliche Inter ventionen ungestraft durchbrochen
werde. Auf die Dauer stelle das freie Spiel der Krafte die im Gesamt-
interesse hegende beste Versorgung her, und es kdnne nur darauf an-
kommen, durch Starkung der Anpassungskrafte die unvermeidlichen
Friktionen zu mildern. Diese Einstellung bedeute nicht die Forderung
atomisierter Konkurrenz, wie sie der Theorie der Klassiker zugrunde ge-
legen habe. Die Konkurrenz schreie geradezu nach Organisation der
Selbsthilfe. Der Hauptfehler der Kartelle und Gewerkschaften bestehe in
der Behinderung der Elastizitat der Preisbildung und der Anpassungs-
200 Besprechungen
prozesse. Politische Preise jeglicher Art fuhrten stets zu unwirtschaftlicher
tlberteuerung und zu Kapitalfehlleitungen mit nachfolgender Kapitalver-
nichtung. — Das Verhaltnis von Arbeitgebern und Arbeitnehmem miisse
mit Verstandnis fur das volkswirtschaftlich Notwendige in Vertrauen
und Selbstverantwortung gestaltet- werden. Der Klasserikampfgedanke
sei schroff abzulehnen und an seine S telle der Gedanke der „Mitarbeit"
zu setzen, der in Arbeitsgemeinschaften von Unternehmern und Arbeitern,
die beide das gleiche Interesse der Wohlstandssteigerung hatten, verwirk-
licht werden konnte. — W.s Liberalismus laBt ihn eine Ruckbildung der
Sozialpolitik fordern, sein Katholizismus hebt um so starker die Bedeutung
der ethischen und religiosen Motive fiir die Losung der sozialen Frage
hervor.
Fritz Burchardt (Frankfurt a. M.).
Brauer, Theodor, S ozialpolitik und Sozialre form. G.Fischer, Jena 1931*
(116 S.; RM. 4.50)
Sozialpolitik ist Handhabung der offentlichen Angelegenheiten im Hin-
blick auf die gesellschaftlichen Bediirfnisse. Gesellschaft ist die allerall-
gemeinste Zusammenfassung von Menschen, und die gesellschaftlichen Be-
diirfnisse gruppieren sich um das Problem der qualitativen Schichtung;
diese qualitative Schichtung ist die naturgemaBe Organisation der Gesellschaft.
B. behandelt nur die deutschen Verhaltnisse und nur die staatliche Sozial-
politik. Er findet, daB in Deutschland eine qualitativ geschichtete Gesell-
schaft nicht vorhanden ist, weil eine solche Schichtung auf differenzierten
Leistungen beruhen miifite; tatsachlich beruhe sie aber lediglich auf diffe-
renziertem Besitz. Dieser Pseudo-,, Gesellschaft" steht ein Staat gegenuber,.
der sich ausschliefllich von der Staatsrason leiten und der alle Erwagungen
hinter dem Interesse an der Erhaltung seiner selbst zuriicktreten laBt. Dieser
Staat treibt keine Sozialpolitik; die Gesellschaft verlangt es auch nicht, da
sie eben rein mengenmaJBig konstituiert und zur Erhebung von sozialkon-
stitutiven Forderungen nicht imstande ist. Richtig verstandene Sozialpolitik
muB Sozialreform sein; Ansatze dazu Hegen in der Berufsberatung vor, in
Teilen des Koalitions- und Arbeitsrechts. — B. zeigt dann, wie er sich eine
sozialkonstitutive SozialpoUtik denkt: berufsstandische Gliederung der Ge-
sellschaft, freiwillige Bildung von Arbeitsgemeinschaften zwischen Gewerk-
schaften und Arbeitgeberverbanden, Verteilung der Aufgaben des Arbeit-
nehmerschutzes, der Altersversorgung, der Arbeitsmarktpolitik und der
Sozialversicherung auf die Berufsgemeinschaften. Dem Staat kommt die
Aufgabe zu, die Interessenbereiche der Berufsgemeinschaften gegeneinander
abzugrenzen und Grenzverletzungen zu verhindern.
B.s Sprache ist einfach und klar. tJber die ungeheuren Schwierigkeiten
einer berufsstandischen Dezentralisierung der heutigen staatlichen sozial-
politischen Einrichtungen macht er sich keine Illusionen. Leider geht er an
zwei Problemen, die zu seinem Thema gehoren, voriiber. Er behauptet, dafl
die beruflicheTatigkeit dasjenige sei, was auf dieWesenheit des Menschen den
etarksten Einflufl habe und infolgedessen am besten zum Ausgangspunkt
von sozialkonstitutiven MaBnahmen gewahlt werde. Er laBt ununtersucht,
ob nicht die „Arbeitnehmerhaftigkeit" und das „Chefsein tt viel starkere
Soziale Bewegung und Sozialpolitik 201
Bildungsfaktoren sind oder, falls sie das seiner Ansicht nach nicht sind, ob
nicht „Tischlersein'* urid „Arbeitnehmersein" im Falle der Konstituierung
der Berufsgemeinschaften doch in einenKonflikt miteinander geraten konnen
bzw. mussen, der die Berufsgemeinschaft gefahrdet. Zweitens kummert
sich B. nicht um das Phanomen „Betrieb", nicht um das Verhaltnis
zwischen Berufszugehorigkeit und Betriebszugehorigkeit, nicht um die An-
satze zur Bildung von Betriebsgemeinschaften (wir meinen hier nicht die
ktinstlichen ^Werksgemeinschaften"). Im ubrigen sagt B., dafl zunachst das
„prinzipielle Mifltrauen (d. h. der Arbeitnehmer gegen die Arbeitgeber und
umgekehrt), diese Teufelsgeburt" uberwunden werden miisse.
Justus Streller (Leipzig).
Pipkin, Charles MV. 9 Social Politics and Modern Democracies. Macmillan.
New York 1931. (Bd. 1, XXXIV u. 377 S. f Bd. 2, VII u. 417 S.)
Der Gegenstand des Buches ist „die Entwicklung der Sozialgesetzgebung
und -verwaltung in England und Frankreich", aufgefafitals „die Geschichte
des Versuchs zweier grofler Staaten, die Probleme eines sich verandernden
Wirtschaftssystems" zu bewaltigen. Dabei kommt es dem Verfasser darauf
an, die Herausbildung der modernen Sozialpolitik innerhalb und vermittels
der parlamentarischen Demokratie zu zeigen, eine Entwicklung, die er als
,,die Annahme von Vernunft und Grerechtigkeit zum leitenden Prinzip der
innerstaatlichen Politik" interpretiert. Den grofiten Teil des 1. Bandes
nimmt eine historische Darstellung der sozialpolitischen Gesetzgebung in
England sowie der Umformung der Verwaltung zu ihrer Durchfiihrung ein.
Ausfuhrlich behandelt wird die Zeit von der Jahrhundertwende an bis zur
Gegenwart als die Periode, in der die Sozialpolitik zu einem geschlossenen
Kxeis vorbeugender und unterstiitzender MaCnahmen ausgebaut worden ist.
Der Begriff Sozialpolitik ist weit gefaBt; Fabrikgesetzgebung, Jugendlichen-
schutz, Wohnungswesen sowie die gesamte Sozialversicherung werden ein-
bezogen. Den Sinn aller dieser MaBnahmen sieht der Verfasser in der Fixie-
rung und staatlichen Sicherung eines „national standard of life**. Der histo-
rischen Darstellung ist neben viel zeitgenossischer Literatur in der Hauptsache
das Quellenmaterial der Parlamentsberichte zugrundegelegt. Die Wahl der
Quellen, die dem Buch seinen besonderen Charakter in der sozialpolitischen
Literatur verleiht, ergibt sich aus der Art, in der der Verfasser den Zu-
sammenhang der Sozialpolitik des 20. Jahrhunderts mit der parlamenta-
rischen Staatsform sieht. Er versucht, aus der detaillierten Schilderung der
parlamentarischen Geschichte jedes einzelnen sozialpolitischen Gesetzes
den Fortschritt der offentlichen Meinung herauszuarbeiten, die in einer
Demokratie auf dem Wege tiber die Volksvertretungswahlen die Triebkraft
der Gesetzgebung sei. Nicht allein versaumt der Verfasser — bis auf ge-
legentliche Bemerkungen — den Zusammenhang der sozialpolitischen Ge-
setzgebung mit der Herausbildung und Umformung der Arbeiterklasse im
19. Jahrhundert aufzuweisen, er unterlaCt es auch, die parlamentarische
Haltung der verschiedenen Parteien in die jeweilige politische Situation
einzuordnen.
Den zweiten Teil des 1. Bandes bildet eine Untersuchung tiber die Rtick-
wipkung des Parlamentarismus und der Sozialgesetzgebung auf die englische
202 Besprechungen
Arbeiterbewegung. Der Verfasser begrundet die Herausbildung der Labour-
Party aus der Gewerkschaftsbewegung mit der Einsicht der Gewerkschaften
in die Notwendigkeit einer selbstandigen Vertretung im Parlament zur
Sicherung ihrer juristischen Stellung und zu kraftigerer Durchsetzung
staatlicher sozialpolitischer MaBnahmen. Als Resultat des tJbergreifens
der Gewerkschaften in die politische Sphare stellt der Verfasser die Er-
weiterung der Ziele der Arbeiterbewegung dar: zu einem Volksprogramm
der Arbeiterpartei einerseits, zu einer Ausgestaltung des Gewerkschafts-
programms in der Richtung eines wirtschaftsdemokratischen Ausbaus der
Stellung der Arbeit er in Staat und Wirtschaft andererseits. Unter dieser
Perspektive wird der ProzeB des Einbaus der Gewerkschaften in den admini-
strativen Apparat der Sozialpolitik (einschliefilich des Schlichtungswesens)
betrachtet, wobei sich der Verfasser aller dings meist auf die Herausstellung
der Ansatze dieser Entwicklung in den einzelnen Gesetzen beschrankt.
Der zweite, Frankreich behandelnde Band ist ahnlich aufgebaut ; Raum-
mangel verbietet eine inhaltliche Besprechung.
Jakob Feinberg (Frankfurt a. M.).
Eibel, Meyer-Brodnitz, Preller, Praxis dea Arbeit 8 achutzea und der
Oewerbehygiene. Mit einem Vorwort von Theodor Leipart. Verlaga-
gesellachaft dea Allgemeinen Deutschen Oewerkachaftabundea. Berlin 1931.
(233 S.; RM. 3.50, Org.-Ausgabe RM. 2.60) .
Das handliche Buch gibt eine ausgezeichnete und klare tft>ersicht tiber
alle fiir den Betriebsrat wesentlichen Fragen aus der Organisation und dem
Recht des Arbeitsschutzes, aus dem Gesundheitsschutz des arbeitenden
Menschen (wobei den Berufskrankheiten besondere Aufmerksamkeit ge-
widmet ist), dem betrieblichen Arbeitsschutz und schlieBt mit Ratschlagen
fiir erste Hilfe. Besondere Hervorhebung verdienen die in einer Tasche bei-
gefiigten Tafeln tiber das geltende Arbeitszeit recht, den besonderen Kinder-,
Frauen- und Jugendlichenschutz, die Sonntagsarbeit und die Schutzbestim-
mungen fiir einzelne Gewerbe. Die Arbeit kann als vorbildlich fur die Be-
handlung komplizierter Fragen des modernen Betriebs- und Arbeitslebens
fur das Verstandnis der Arbeiterschaft bezeichnet werden.
Fritz Croner (Berlin).
Richter, Lutz, iSozialveraicherungsrecht. Enzyklopddie der Rechta- und
Stoatswiaaenschaft, Bd. XXXI a. Juliua Springer. Berlin 1931. (XII u.
235 S.; RM. 12.60)
Richter wendet sich nach Ablehnung der „Versicherungstheorie" und
der ,,Fursorgetheorie" auchgegen die Auf fassung Kaskels, insbesondere gegen
dessen Auffassung des Arbeitsrechts (also auch der Sozialversicherung) als
Sonderrecht des Proletariats. Erbehauptet,dafidie Sozialversicherungsgesetze
denEintritt des Versicherungaverhaltnisses usw. nicht an „auCerhalb des sach-
lichen Tatbestands" liegende personliche Merkmale, sondern an „bestimmte
Tatbestande'*, d. i. die „Arbeiter- Arbeit'* bzw.„Angesteliten-Arbeit (t ,knupfen.
Diese Auffassung steht nicht nur im Widerspruch zu der eigenen Ableitung
R.s von der Entstehung und Funktion der Sozialversicherung, sie.
fuhrt ihn auch in groBte Schwierigkeiten bei dem Versuch, von dieser Basis
Spezielle Soziologie 203
aus den Personenkreis der Sozialversicherung abzugrenzen. Da er den
Sonderrechtscharakter der Sozialversicherung nicht zugeben will, kon-
struiert er einen Unterschied zwischen dem Proletarier, der als soziologische
Erscheinung fur die Sozialversicherung nicht relevant sei, und dem „Arbeiter
in concreto", der den allein entscheidenden Tatbestand des Arbeiterseins
fiir die Sozialversicherung reprasentiere. Zu welchen Kiinstlichkeiten diese
Unterscheidung bei den Angestellten fuhrt, wo von der „gesellschaftlichen
Gesamtstellung als Angestellte" im Gegensatz zum „ Angestellten in con-
creto" die Rede ist, ist leicht einzusehen. Die Unterscheidung ist aber auch
unfruchtbar, wenn man sie vom Boden des R. schen Systems zu Ende denkt .
Nach R. ist der Kreis der Sozialversicherung abgesteckt durch den „Arbeiter
in concreto", nicht durch den Proletarier, weil rechtserheblich „nur*' die
personliche Abhangigkeit, nicht auch die wirtschaftliche sei, die zwar „oft",
aber , , nicht notwendig" dazutrete. R. iibersieht, dafi die sog. „pers6nliche"
Abhangigkeit nicht existiert ohne wirtschaftliche Abhangigkeit.
Die „Eigenart" der Arbeit, die zum Ertragen solcher personlichen Abhangig-
keit zwingt, ist eben, daO sie von Proletariern verrichtet wird. Das Gegen-
beispiel R. s, die Versicherungspflicht nebenberuflicher Tatigkeit, schlagt —
ganz abgesehen von seiner zahlenmafiigen Bedeutungslosigkeit — nicht
durch, da von diesen nebenberuf lichen Tatigkeiten entweder die von R. ge-
nannten Kennzeichen personlicher Abhangigkeit nicht erfiillt werden oder
aber auch Yiir sie zugleich der Tatbestand wirtschaftlicher Abhangigkeit
gegeben ist.\
Die Darstellungsmethode des Sozialversicherungsrechts bei R. ist neu-
artig. Er gliedert nicht nach Sozialversicherungszweigen, also vertikal,
sondern horizontal jeweils durch die gesamte Sozialversicherung nach den
einzelnen Rechtsverhaltnissen. Das Buch setzt also eine gute Kenntnis
der Sozialversicherung voraus. Zur Einfuhrung ist es nicht dienlich. Wohl
aber kann es gute Dienste bei jeder tJberlegung und Mafinahme leisten, die
das Ganze der Sozialversicherung angehen, so etwa bei einer Reform der
Sozialversicherung. Fritz Croner (Berlin).
Spezielle Soziologie.
Schmitt, Karl, Der Begriff des Politischen. Duncker & Humblot.
Munchen 1932. (81 S.; EM. 2.40)
In der geistreichen Abhandlung des Verf., die unter gleichem Titel be-
reits in Band 58 des „Archivs fiir Sozialwissenschaft und Sozialpolitik* 4 er-
schienen ist, wird der Begriff der Politik von der „letzten" Unterscheidung
aus bestimmt, „auf die alles im spezifischen Sinne politische Handeln zuriick-
gefiihrt werden" konne: von der Unterscheidung Freund-Feind, Feind im
Sinne von host is, nicht von inimicus verstanden. Der Verf. betont, daB
seine Begriff sbestimmung gegenstandsgerecht sei, j ede j uristische oder
moralische Behandlung dagegen die Klarheit des Gegenstands triiben musse.
Die Moglichkeit soziologischer Betrachtung beriicksichtigt S. nicht, ob-
wohl seine Polemik gegen den Liberalismus, der — ohnmachtig zur Totali-
tatsbetrachtung — die politischen Begriffe nach der wirtschaftlichen und
204 Besprechungen
ethischen Seite aufgelost habe, namlich Kampf in Konkurrenz und Dis-
kussion usw., bestes soziologisches Erbgut ist : Saint- Simon, Comte, Marx u. a,
haben freilich angegeben, welche konkreten Krafte die Freund-Feind-Grup-
pierung nun eigentlich bewirken. S. unterlaflt es. Er halt die formale
Scheidung in Freund und Feind fur eine seinsmaBige, also nicht weiter ab-
leitbare. Wie die Soziologie in der Polemik gegen das politische Denken
(Hobbes) entstanden ist, als es eine ausreichende Deutung des offentlichen
Lebens nicht mehr zu leisten vermochte, so setzt sich heute die Restauration
der Politik dem soziologischen Denken entgegen. Dabei wird dieses zur
Chimare, zum Anhangsel des Liberalismus, als seien Smith und W. v. Hum-
boldt und nicht Mill und Hegel seine Bahnbrecher gewesen. Es ware zu
wunschen, dafi die Kritik ebenso prazis und energisch geiibt wird, wie Schmitt
seine Thesen vorgetragen und begriindet hat.
Hans Speier (Berlin).
Schmitt, Karl, Der H titer der Verfassung. J. G. B. Mohr. Tubingen
1931. (VI u. 159 S.; br. RM. 10.50, geb. RM. 12.50)
Das in politischen Restaurationsperioden, also in der neueren Verfassungs-
geschichte zuerst in England nach dem Tode Crom wells, in Deutschland
mit der Weimarer Verfassung, aktuell werdende Problem des „Hiiters der
Verfassung" wird in dieser gedanken- und materialreichen Untersuchung
wissenschaftlich, d. h. im Zusammenhang mit der konkreten Verfassungs-
lage behandelt. S. widerlegt zunachst die Anschauung, wonach fiir den
heutigen deutschen Staat ebenso wie fiir USA. die Justiz zum Huter der
Verfassung berufen sein soil. Er pruft dann in eindringlicher Analyse der
drei nach seiner Meinung aus der konkreten Verfassungslage der Gegen wart
hervorbrechenden staatsauflosenden Tendenzen des „Pluralismus", der
,,Polykratie" und des ^Foderalismus" die Frage, warum es im heutigen
deutschen ,,demokratischen Verfassungsstaat'* iiberhaupt eines besonderen
,,Huters der Verfassung" bedarf und warum nicht einfach nach der fiir den
„Gesetzgebungsstaat" des 19. Jahrhunderts selbstverstandlichen Vor-
stellung das Parlament ,, seiner Natur und seinem Wesen nach in sich selbst
die eigentliche Garantie der Verfassung enthalt". Nach S. steht und fallt
diese „parlamentarische u Anschauung mit der liberal -bur gerlichen Gegen -
iiberstellung von Gesellschaft und Staat. Sie ist heute endgiiltig iiberholt
einerseits durch die „Entwicklung des Par laments zum Schauplatz eines
pluralistischen Systems", andererseits durch die iiber alle hemmenden und
kreuzenden Gegentendenzen hinweg sich siegreich durchsetzende ,,Wendung
vom nicht-interventionistisch neutralen zum Wirtschafts- und totalen Staat".
Inf olge dieser beiden letzten Endes aus der okonomischen Entwicklung
entspringenden Tendenzen steht der Staat heute vor der Alternative, ent-
weder die (nach S. zu seinem Wesen gehorige) Einheit und Ganzheit vollig
aufzugeben und sich in ein ,,pluralistisches System", einen bloBen ,,Vertrag
der sozialen Machtkomplexe", umzuwandeln, mit alien daraus entstehenden
Konsequenzen, oder aber „zu versuchen, aus der Kraft der Einheit des
Ganzen heraus die notwendige Entscheidung herbeizufiihren". Als gegen-
wartig besten Weg zur Durchfiihrung dieses Versuchs proklamiert S. im
wesentlichen AnschluB an Benjamin Constant die von der Weimarer Ver-
Spezielle Soziologie 205
fassung bereits vorgezeichnete und in den letzten 10 Jahren gewohnheits-
rechtlich weiterentwickelte Ausbildung eines plebiszitaren „pouvoir neutre"
in Gestalt des „vom ganzen deutschen Volke" gewahlten Reichsprasi-
denten.
Die Starke der hiermit in den Grundztigen dargestellten Theorie liegfc
in ihrer kritischen Analyse der bisher vorherrschenden biirgerlich-liberalen
Staatsauffassung, die dem tatsachlichen Pluralismus der wirtschaftlichen
und gesellschaftlichen Interessen einen neutralen, in wirtschaftliche und
gesellschaftliche Angelegenheiten nicht intervenierenden Staat iiberbauen
zu konnen vermeinte. S. schildert uberzeugend die dialektische Entwick-
lung, in der sich dieser liberale Staat und sein Parlament ,,aus dem Schau-
platz einer einheitbildenden, freien Verhandlung freier Volksvertreter, aus
dem Trans formator parteiischer Interessen in einen uberparteiischen Willen
zu einem Schauplatz pluralistischer Aufteilung der organisierten gesellschaft-
lichen Machte, zu einer „B6rse, an der die verschiedenen Stiicke sozialer
Macht gehandelt werden", verkehrt hat. In Wirklichkeit aber tritt in dieser
von S. ausgemalten pluralistischen Auflosung nicht nur der illusionare und
widerspruchsvolleCharakter der bisherigen parlament arisen -liberalen Staats-
f orm in Erscheinung, sondern ein viel tiefer liegender, auf der heute ge-
gebenen okonomischen Grundlage dem ganzen biirgerlichen Staat inne-
wohnender Konflikt: der Widerspruch zwischen den sich entwickelnden
Produktivkraften und den jeweilig fixierten Produktionsverhaltnissen und
der aus diesem Widerspruch entspringende Gegensatz und Kampf der ge-
sellschaftlichen Klassen. Und gerade dieser Widerspruch wird nicht uber-
wunden, sondern nur noch einmal und sogar in verscharfter Form aktuali-
siert in jenem faschistischen ^otalstaat", von dessen endlicher Heran-
kunft S. heute ganz ebenso unkritisch wie einst die liberalen Bourgeois
von ihrem „Rechtsstaat" die positive Losung des von ihm behandelten
Staatsproblems erwartet. Nicht ohne Grund beginnt die wirkliche Geschichte
des juristischen Problems des „Huters der Verfassung" mit jenen lake-
damonischen Ephoren, deren Aufgabe nach der von S. zitierten Darstel-
lung von Busolt-Swoboda darin bestand, „vor allem auch die bestehende
Ordnung gegen eine Rebellion der unterdriickten Heloten zu sichern".
Karl Korsch (Berlin).
Salomon, Gottfried, Allgemeine Staatslekre. Industrieverlag Spdth
& Linde. Berlin-Wien 1931. (166 S.; br. EM. 4.80, geb. RM. 6.60)
Das Buch ist eine Zusammenfassung von Vorlesungen an Beamten-
hochschulen uber die historisch-soziologische Seite des Materials. S. stellt
sich die Aufgabe, die Entwicklung des Staates, der Staatsgewalt, der Staats-
verfassungen und der Staatsform historisch-kritisch zu beleuchten und das
Verhaltnis zwischen Staat und Gesellschaft zu erlautern. Im zweiten Teile
des Buches gibt er eine ubersichtliche Geschichte der Staatslehren ; endlich
befaBt er sich mit der Politik als Wissenschaft.
Es gelingt dem Verf., die Wirklichkeit des Staates in seinem Verhaltnis
zur Gesellschaft illusionsfrei darzustellen. Nach S. darf eine Soziologie
des Staates nicht parteilich gebunden sein, weil die Staatslehre als Wissen-
schaft im Gegensatz zur Parteilehre antidogmatisch ist. Wir wollen jetzt
206 Besprechungen
nicht dariiber streiten, ob eine wirklich unparteiische Staatslehre iiberhaupt
denkbar ist, sondern nur darauf hinweisen, dafi der Verf. schon auf S,2 seines
Buches feststellt: „Der Staat ist Macht im Verhaltnis der herrschenden
zur beherrschten Gruppe. Der Kampf urn die Macht ist der Inhalt der
politischen Geschichte." Diese Feststellung wird gewifl auch durch die
politischen Kampfe in der Jetztzeit bestatigt.
S. hat die Gabe, aus dem uniibersehbaren Material geschichtlicher Tat-
sachen die wichtigsten und kennzeichnendsten auszuwahlen, obzwar alle
historisch aufgetretenen Staats- und Machtgebilde wie auch die sie be-
treffenden Theorien in Betracht gezogen worden sind. Als besonders ge-
lungene Kapitel heben wir das uber die Rechtfertigung und den Zweck des
Staates und die Staatsformen hervor. Sehr gliicklich ist seine Definition
der franzosischen Republik: „Frankreich hat ein liberales System erhalten,
welches die Gleichheit in der Freiheit, die Verallgemeinerung des Eigentums
und der Bildung und die vollige Freiheit der kapitalistischen Wirtschaft
entsprechend dem Charakter dieses bourgeoisen Volkes verfassungsmafiig
festlegt". In der Besprechung der staatsrechtlichen Umwalzungen der
Nachkriegszeit weist er mit Recht darauf hin, daB es nicht Ideen, sondern vor
allem materielle Leiden waren, welche die Revolution und die Demokratie,
den Aufstand und Aufstieg des Volkes bewirkten.
In der Geschichte der Staatslehren kommt auch die materialistische
Geschichtsauffassung zur Wurdigung. Paul Szende (Wien).
Ziegler, Heinz 0., Die mod erne Nation. J. G. B. Mohr (Paul Siebeck).
Tubingen 1931. (VIII u. 308 S.; br. EM. 14.—, geb. RM. 17.—)
Die Behandlung politischer Gegenstande wurde in Deutschland in der
Regel sei es vom Staatsrecht, sei es von der Ideengeschichte her unter-
nommen. So hat man auch seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts immer
von neuem versucht, dem Phanomen „Nation" von der Ideen- und Be-
griffsgeschichte her nahe zu kommen. Verf. weist nach, daB alle Versuche,
objektivistische oder subjektivistische Definitionen zu geben, notwendig
scheitern miissen. Besonders eingehend und wichtig bleibt seine Kritik an
Otto Bauers Theorie von der Nation als historischer Schick salsgemeinschaft.
Demgegenuber schlagt der Verfasser einen anderen Weg ein, der durch eine
soziologische Fragestellung gekennzeichnet ist. Alles soziale Zusammen-
leben wird gebunden und gekittet durch bestimmte Vorstellungen, die den
Institutionen erst ihre Legitimitat und Wirksamkeit verleihen. Diese soziale
Verbindlichkeit von Vorstellungen und Ideen gerade innerhalb der poli-
tischen Sphare ist der eigentliche Gegenstand einer politischen Soziologie.
Der methodischen Einleitung folgt ein historisch-politisches Kapitel, in
welchem im wesentlichen auf Grund der Literatur iiber die franzosische
Revolution der Zusammenhang und der Gegensatz zu dem absoluten Staat
aufgezeigt wird. Ubernommen wird die Staatseinheit und der Zentralis-
mus, die Souveranitat der politischen Entscheidungseinheit, neu und be-
sonders aber ist die Kollektivierung der Souveranitat in der Nation. Im
folgenden Kapitel werden fiir Deutschland diejenigen ideellen Voraus-
setzungen aufgezeigt, die fiir die Geltung der modernen Nation vor -
stellung wichtig geworden sind. Und zwar sieht der Verf. mit Recht
Spezielle Soziologie 207
in der deutschen Identitatsphilosophie den wichtigsten Bestandteil fur ein
neues politisches BewuBtsein. Indem das BewuBtsein von der geschicht-
lich-sozialen Welt aus einem religios-transzendenten Zusammenhang heraus-
gerissen und in den GeschichtsprozeB selbst eingelagert wurde, erhalt dieser
eine Absolutheit, die alles politisch-soziale Geschehen zum Ausdruck eines
absoluten Geistes macht. In diesem Zusammenhang ist auch die Verabsolu-
tierung der Nation beheimatet. Die Bedeutung dieses philosophischen
Denkens fur die deutsche Geschichtswissenschaft und die deutsche Staats-
philosophie wird durch ausgezeichnete Charakteristiken von Ranke und Stahl
erhartet. Besonders dankenswert ist das Eingehen auf Dahlmann, dessen
„Politik" leider immer noch zu den unbekannten Biichern deutscher Staats-
lehre gehort. Am wichtigsten ist das letzte Kapitel: Nation und Politik.
Hier fiihrt Z. die soziologische Analyse radikal zu Ende und trennt alle
liberal-konstitutionelle Entwicklung von dem demokratischen Absolutis-
mus, der mit der nationalen Souveranitat identisch ist. Die Konsequenz
der national-demokratischen Legitimitat fiihrt zu einer Reihe politischer
Krisenerscheinungen, die system atisch entwickelt werden. Der Umbau
der nationalen Idee wird erf orderlich ; der Zusammenhang zwischen ratio-
naler Ordnungstechnik des politischen Geschehens und den irrationalen
Kraften ihrer Mobilisierung wird sowohl innen- wie auBenpolitisch mit
vollster Deutlichkeit aufgewiesen. Zieglers Buch ist ein bedeutender Bei-
trag zur politischen Soziologie. Albert Salomon (Koln).
Gegenwartsfragen aus der allgemeinen Staatslehre und der Ver-
jassungstheorie. Hrsg. von Hans Omelin und Otto Koellr enter. Fest-
gabe filr Richard Schmidt zu seinem 70. Qeburtstag. C. L. Hirschfeld.
Leipzig 1931. (VI, 273 S.; geh. RM. 18.—, geb. RM. 20.—)
Das Werk enthalt aufier rein staatsrechts-theoretischen Aufsatzen uber
Reichsreform, Wahlrechtsgrundsatze und Selbstverwaltung Aufsatze, die
nicht mehr in unmittelbarem Zusammenhange mit der Staatslehre als einer
juristischen Disziplin stehen. Sie gelten einer Verbindung der Staatslehre
mit politischen, geopolitischen, historischen und soziologischen Frage-
stellungen, wie dies der Methode und den Arbeiten Richard Schmidts ent-
spricht. Da im Rahmen dieser Besprechung nicht darauf eingegangen werden
kann, ob eine solche Verbindung der Jurispmdenz mit den genannten Dis-
ziplinen uberhaupt moglich ist, so miissen wir uns hier mit dem Hinweis auf
einige wichtige Beitrage begnugen.
Gmelin bezeichnet in seinem Aufsatz uber „Politische Abhangigkeit
von Staaten untereinander" als neue Auf gabe der allgemeinen Staatslehre
die Untersuchung neu entstandener und entstehender zwischenstaatlicher
Abhangigkeiten, eine Aufgabe, die von der Geopolitik bisher nur unter ein-
seitiger Beriicksichtigung der geographischen Zusammenhange behandelt
werde. Besonders die juristisch noch nicht erfaBten Abhangigkeitstypen
sollen untersucht und gleichsam als Modelle und Idealtypen fiir neue
staatstheoretische Begriffsbildungen benutzt werden. DemgemaB wird eine
Aufstellung der hauptsachlich vorkommenden zwischenstaathchen Abhangig-
keitsverhaltnisse gegeben, ferner eine Darstellung der Abstufung dieser
Abhangigkeit, aber ohne prazise Trennung der realen Momente (geographische,
208 Besprechungen
militarische, wirtschaftliche Situationen) von den ideologischen (gemeinsame
Religion, „Parteisympathien", personliche Beziehungen). Leider geht G.
kaum iiber diese Aufzahlung heraus, die als solche ebensogut in das Gebiet
der politischen Soziologie gehort. Einen wertvollen Hinweis fur die Staats-
theorie i. e. S. gibt er nur mit den Ausfiihrungen uber den geschichtlichen
und im urspriinglichen Sinne nicht mehr zureichenden Begriff der Sou-
veranitat.
Eine ausgezeichnete Darstellung der Geschichte und zukunftigen Per-
spektiven des politischen Verhaltnisses Asien-Europa ist der Beitrag Gra-
bowskys „Die Konstruktion des eurasischen Raums". Von besonderem
Interesse ist schliefilich die Abhandlung Koellreutters iiber „Parteien
und Verfassung im heutigen Deutschland", die die eingangs erwahnte Ver-
bindung der allgemeinen Staatslehre mit der „wissenschaftlichen Politik"
bis zu einem Punkte vortreibt, an dem u. E. die Wissenschaft aufhort und
der — subjektive — Glaube beginnt. K. betont zunachst gegen Kelsen die
Notwendigkeit der politischen Methode in der Staatslehre. Er untersucht
dann mit den Mitteln der „politischen Methode" die Moglichkeiten staat-
Hcher Willensbildung unter der Parteienkonstellation in Deutschland seit
1918. Mit dem Anwachsen der Parteien, die die Weimarer Verfassung seit
ihrem Bestehen bekampfen, d. h. der KPD., der DNVP. und der
NSDAP., und dem entsprechenden Riickgang der Parteien der Weimarer
Koalition wurde das Problem einer demokratischen Regierungsbildung
immer schwieriger; schon vorher war das Problem in Staaten mit einer
KPD.- Oder NSDAP.-Mehrheit (Sachsen 1923, Thiiringen) aufgetaucht.
K. versucht nun eine Rechtfertigung des Einmarsches von 1923 in Sachsen
und des Fehlens einer ahnlichen Reichsexekution etwa gegen Braunschweig
1931 mit folgender Explikation des Begriffes revolutionar : die deutsche
Verfassung bildet nur den Rahmen fur die geschichtlich gewordene Einheit
der Nation. Wer diese Einheit zerstoren will, handelt revolutionar, nicht
dagegen, wer innerhalb dieser Einheit — u. U. mit Gewalt — die Macht
erringt; er handelt nur „ illegal". Die Nationalsozialisten konnen demnach
gar nicht revolutionar handeln, wohl aber die Kommunisten : denn sie wiirden
im Auf stand die Grundlagen der deutschen Nation zerstoren, Privateigentum,
Ehe, Religion. Also sind die Kommunisten nicht an die Regierung zu lassen,
selbst im Falle einer demokratischen Mehrheit fiir sie.
Die Unhaltbarkeit der juristischen Konstruktion dieses Vorschlags zu
beweisen, ist nicht unsere Aufgabe. Als Kritik der politischen Methode moge
folgendes Zitat geniigen: „Das scharfe Wort Erich Kaufmanns, dafi „die
bloC technische Rechtswissenschaft eine Hure sei, die fiir alle und zu allem
zu haben ist", enthalt sehr viel Wahrheit. Denn jede Verfassung ist -. . . nur
das GefaB fiir die pohtische Substanz der Nation . . . Deshalb mufi aber auch
die Auslegung der einzelnen Verfassungsbestimmungen danach ausgerichtet
werden . . ., wobei ganz bewufit in jedes Verfassungsrecht ein politisches
Element hineingetragen wird. Das ist keine Mythologies . . . sondern es
bedeutet nur die Anerkennung der Tatsache, dafi Volksgeist und Volkswille
reale GroBen einer bestimmten Seinsstruktur sind." Das bedeutet also
— abgesehen von der sinnleeren Formulierung der letzten Aussage — realiter,
dafi in dieser neuesten Richtung der deutschen Staatslehre wieder einmal
Spezielle Soziologie 209
,,das alte Gespenst des Volksgeistes" dazu herhalten mufi, eine „uber-
persbnliche Autoritat" zu konstruieren.
P. v. Haselberg (Frankfurt a. M.).
le H6naff, Armand, Le pouvoir politique et les forces sociales. Re-
cueil Sirey. Paris 1931, (162 S. t frs. 20.—)
H. untersucht die Entstehung und Entwicklungsgeschichte der politischen
Macht. Uber ihre Anfange stellt er die Hypo these auf : die Urgruppen waren
Trager der Macht durch ihre absolute Einheitlichkeit und das Aufgehen des
Individuums. Allmahlich losen sich daraus der Rat der Alten, begabte
Krieger, Zauberer und Priester. Die Gesellschaft beginnt sich zu
Untergruppen zu spezialisieren : Familie, durch die Arbeitsteilung hervor-
gerufene Gruppierungen, territoriale Gruppen. Die Macht wird dadurch
komplizierter. Ihre Aufgabe kann es nicht mehr sein, allgemeingiiltige Vor-
schriften zu erlassen und auch so fort durchzufuhren, denn die Untergruppen
treten fur ihre divergierenden Interessen ein. Sie mufi jetzt diese verschie-
denen Interessen gegeneinander abwagen und dem Gemeinwohl nutzbar
zu machen suchen. Dies fiihrt zur Teilung der Macht : exekutive und legisla-
tive. Die Exekutive fiihrt aus und hat das Gleichgewicht zur Aufgabe, die
Legislative vertritt die verschiedenen Interessengruppen, gibt der Exekutiven
so die Richtlinien an und ubt die Kontrolle aus. Durch die ganze Geschichte
schildert H. an den verschiedenen Erscheinungsformen der politischen
Macht diese Entwicklung, die zu einer immer starkeren Betonung des Indi-
viduums fiihrt, das durch die Spezialisierung zunehmend aus der einst
homogenen Masse herausgehoben wird. Die Entwicklung fiihrt so zu einer
immer grofieren Betonung des Individuums in den verschieden gearteten
Formen des Parlamentarismus und der Demokratie. Nebenher kann als
dritte Macht noch die Gerichtsbarkeit bestehen, uber die H. nichts weiter
aussagt. Das treibende Entwicklungsmoment ist der Gegensatz zwischen
Einzel- und Gesamtinteresse ; die notwendige Ausbalancierung des Gleich-
gewichts: der Kompromifi. Von diesem Standpunkt urteilt H. auch uber
den Wohlfahrtsausschufi der franzosischen Revolution, die U.S.S.R. und
den Faschismus, die durch ihre sich an keine Regeln haltende Machtausiibung
das Individuum seiner Rechte und vor allem jeder Sicherheit beraubten.
Es sei eingeflochten, dafi es unmoglich ist, in diesem Zusammenhang die
drei Machtformen zu beurteilen: es sind revolutionare Ausnahmezustande,
in denen sich gewaltsam eine Entwicklung vollzieht und die erst in groBem
zeitlichen Abstand aus ihren Ergebnissen heraus abgeurteilt werden konnen.
Fiir den italienischen Faschismus und die U.S.S.R. fehlt dieser Abstand
noch. — H. begriiBt die berufliche Gruppierung, wie etwa der Faschismus
sie kennt, und in ihr — ■ allerdings ohne ihr grofie Gewalt zu ubertragen —
erblickt er einen wichtigen Faktor der kiinftigen Formen politischer Macht,
da sie die sich immer starker zersplitternden Individuen wieder zusammen-
fasse und die Herstellung des Gleichgewichts-Kompromisses erleichtere.
H. spricht viel uber die Formen politischer Macht . . . uber die sozialen
Krafte sagt er nichts: der Widerstreit der Interessen ist ihm erklarendea
Moment, das daher selbst nicht weiter untersucht zu werden braucht. Ein-
mal erwahnt er den feudalen Grundbesitz als Machtquelle, da dieser durch
210 Besprechungen
Leibeigene militarische Macht gewahre. Aber die Bedeutung des Privat-
eigentums schlechthin und seine Wandlungen fiihrt er nirgends in die Ana-
lyse ein. Er zeichnet nur abstrakte Idealtypen verschiedener Regierungs-
f ormen, die nie existiert haben, nicht aber die lebendigen Krafte, die hinter
den Formen stehen und sie gestalten, nicht einmal die Wirklichkeit dieser
Formen. Zu seiner Ausgangsthese — Entstehung der Urmacht — sei noch
gesagt, dafi sie in seiner Konzeption auf die ungeloste Schwierigkeit stoBt,
aus einer fiir lange, lange Zeitraume unveranderlich angenommenen Statik
der absolut homogenen Gruppe plotzlich und ohne ersichtlichen Grund zu
einer Dynamik zu kommen. Emil Griinberg (Frankfurt a. M.)«
Glotz, G., La citi grecque. (V Evolution de Vhumaniti, Bd. XIV) La
Renaissance du lime. Paris 1931. (XXI u. 476 S.)
Das neue Buch von Glotz ist ein modernes Gegenstiick zu dem klassischen
Werke Fustel de Coulanges' „La cite antique". Der Titel schon ist bezeich-
nend : zugleich Anlehnung und Gegensatz. Fustel de Coulanges hat bekannt-
lich die antike Polis aus einem einzigen, ubermachtig wirksamen Faktor,
der Familienreligion, abgeleitet. Nach G. ist das eine durchaus unberechtigte
Vereinfachung, die der komplexen und reichhaltigen soziologischen Struktur
des griechischen Stadtstaates nicht Rechnung tragt.
Wenn fiir F. de Coulanges die antike Polis eine vergroBerte Familie war,
so betont G. demgegenuber, dafi sie sich iiberhaupt nur in einem Kampf
gegen den Patriarchalismus hat behaupten konnen. In der antiken (grie-
chischen) Gesellschaft sieht G. drei einander bekampfende Krafte am Werke,
deren Wechselwirkung und relatives tJbergewicht die jeweilige konkrete
soziale Struktur bestimmen. Es sind: die Familie, die Stadt, das Individuum.
In einer ersten Periode „setzt sich die Polis aus einer Anzahl von Familien
zusammen, die aber eifersiichtig ihr Sonderrecht sowohl dem Ganzen als
dem einzelnen gegeniiber bewahren und das Individuum in ihrem Kollektiv-
wesen aufgehen lassen". Dies ist die alteste Form, die aristokratische Ur-
polis, welche von der Tyrannis — einer sozialrevolutionaren Bildung, die
ein Werkzeug des Machtwirkens der untersten Klassen war und deren Sinn
es gewesen, die traditionellen Herrschaftsformen zu brechen — vernichtet
wurde, um einem neuen Gleichgewicht, der auf einem Biindnis zwischen
dem Individuum und dem Staate gegen die Familienherrschaft beruhenden
demokratischen Polis Platz zu machen. „Die Polis unterwirft sich die Fa-
milien, indem sie das befreite Individuum zu Hilfe ruft."
Der Analyse der sozialen Struktur der demokratischen — vor allem der
athenischen — Polis ist der zweite Teil des ausgezeichneten Buches gewidmet,
der mit groBer Prazision und Klarheit den verwickelten Aufbau der
atheniensischen Institutionen schildert. Nach G. sind die dem athenien-
sischen Staate gewidmeten Kritiken — zumindest fiir die Perikleische Zeit —
teils unberechtigt, teils iibertrieben; das ganze komplizierte Geba-ude hatte
den Zweck — den es auch eine Zeitlang erf iillte — , ein Gleichgewicht zwischen
den Rechten des Individuums und des Gemeinwesens zu stiften und zu
erhalten, ohne das eine dem anderen zu opfern. — Ausgedehnte Kapitel,
Literaturverzeichnis, Quellennachweise machen aus diesem mit einer muster -
gultigen Klarheit und Schlichtheit geschriebenen Buche — das sich des
Spezielle Soziologie 211
Vergleichs mit dem von F. de Coulanges nicht zu schamen braucht — ein
hochst wertvolles „ instrument de travail". A. Koyr6 (Paris).
Lot, F., La fin du monde antique et les ddbuts du moyen-dge. La
Renaissance du Livre. Paris 1931
Es gibt fur den soziologisch interessierten Historiker (und auch fur den
Soziologen) kaum ein reizvolleres Problem als „das Ende der Antike und
die Entstehung des Mittelalters". DaB es keine Umwalzung, keine Revolution,
sondern ein stetiger Prozefi gewesen, weiB man geniigend. Um so schwieriger
ist es, die ineinandergreifenden und sich durchkreuzenden Faktoren und
Krafte, welche die — trotz der Stetigkeit der Entwicklung und des tlber-
ganges — vollig neue soziologische Struktur des M. A. geschaffen haben, heraus-
zuanalysieren, ohne dabei irgendeine Gruppe — seien es die politischen Macht-
faktoren, seien es die okonomischen oder religiosen Krafte — einseitig hervor-
zuheben. Es ist die Vielseitigkeit des entworfenen Bildes — oder der Bilder — ,
die das niichterne Buch Lots auszeichnet. Der erste Teil des Werkes schildert
die allmahliche Verwandlung des Verwaltungs- und Finanzwesens (Biirokratie
und Fronwirtschaft), die Verfremdung des Heeres, die Parasitierung der
Stadte und die Verarmung und Proletarisierung des Landes, die Ausbreitung
der Mysterienreligionen und den Sieg — zugleich aber die Verstaatlichung — -
des Chris tentums.
Die alte Werteskala wird allmahlich durch eine neue ersetzt, und die antike
Welt ist eigentlich in dem Moment schon tot, als sie ihr Prestige veriiert,
als namentlich die gesellschaftliche Hierarchie sich der Rangordnung des
kaiserlichen Beamtentums anpaBt und sich dieser letzteren unterwirft.
Und das Mittelalter ist in dem Momente da, als sich der Kampf zwischen dem
machtlosen Prestigetrager — dem romischen Kaiser — und dem prestige-
losen Machttrager — dem barbarischen Heerfiihrer — zugunsten des
letzteren entscheidet. Oder vielmehr in dem Moment, wo dieser letztere
geniigend Prestige selbst besitzt, um das Imperium an sich zu reiBen. Dieser
Prestigekampf wird von L. an trefflichen Beispielen sorgfaltig beleuchtet:
Wandlung der Tracht (Hosenmode); Wandlung der Waff en; Wandlung der
Namen, deren Etappen — a) Romanisierung, b) Nichtromanisierung des
barbarischen Namen und endlich c) die Verbreitung der barbarischen Namen
inmitten der romanisierten Bevolkerung — die Etappen der Barbarisierung
des Romischen Imperiums genau nachzeichnen.
Der zweite Teil des Buches gibt eine kurzgefaBte Geschichte des Fruh-
mittelalters — einer nach L. vollig trostlosen Zeit. Die romantische Auf-
fassung einer Neubelebung der Alten Welt hat in L. keinen Freund:
nach ihm haben die Barbaren der Alten Welt nur den Begriff — und die Tat-
sache — des Raubkonigtums (Quelle der europaischen Monarchie) gegeben.
A. Koyr6 (Paris).
Kleinberg, Alfred, Die europaische Kultur der Neuzeit, B. G. Teubner. Leipzig
und Berlin 1931. (XII u. 233 S. t brosch. RM. 5.80, geb. RM. 7.20)
Das kleine Buch deklariert als Programm: „Nicht die groBen, sichtbaren
Einzelereignisse wie Kriege und andere Volkerkatastrophen, nicht die hervor-
ragenden Einzelpersonlichkeiten machen das Wesen der Geschichte aus,
212 Besprechungen
sondern die unauffalligen, stetig wirkenden Gemeinschaftsbildungen der
Wirtschaft und der gesellschaftlichen Ordnung und ihr ebenso kollekti-
vistisch bestimmter Uberbau." Dies Programm mag als Bekennthis zur
materialistischen Geschichtsauffassung gemeint sein. So wenig aber der
vorausgesetzte Begriff der „Stetigkeit" durch die Theorie der materiali-
stischen Dialektik zu legitimieren ware, die gerade die Idee sprungloser
Entwicklung zentral streitig macht, so wenig nimmt das Buch das eigentliche
Problem einer materialistischen Kulturgeschichte selber in Angriff : das der
,,Vermittlung". Die Frage, wie die Produktionsverhaltnisse jeweils den tlber-
bau konkret bestimmen, ist nicht aufgeworfen. Das Buch bleibt statt dessen
bei der Konstatierung allgemeiner struktureller Ubereinstimmungen von
Unterbau und tlberbau stehen ; behauptet wohl gelegentlich die Abhangigkeit
des tJberbaus vom Unterbau, aber abstrakt und ohne die okonomischen
Bedingungen fiir das Sosein eines geistigen Phanomens so tief zu analysieren,
dafi das Phanomen selber verstandlich wiirde. Trotz des materialistischen
Programmes handelt es sich darum in Wahrheit um immanente Geistes-
geschichte, die ihre Stilbegriffe — unter denen auch ,,der" mittel alter liche
Mensch nicht fehlt — freilich nicht auf die Sphare der Kultur und des ob-
jektiven Geistes beschrankt, sondern auch an den wirtschaftlichen Ver-
haltnissen demons triert. Modell dieser Strukturen bleibt durchwegs der als
bewegt gedachte Menschengeist ; zwar nicht ausdriicklich, denn stets
wird als Fundament die Klassenlage entworfen, aber tatsachlich, indem die
Abhangigkeit von der Klassenlage wohl behauptet, aber nicht an realen
Abhangigkeitsverhaltnissen aufgewiesen ist. Die materialistische Erkenntnis
wird damit um jede Scharfe gebracht; Kleinberg hat mit Dilthey mehr zu
tun als mit Marx, ohne freilich jemals die Anschauungskraft Diltheys zu
erreichen. Dem gemafiigten Materialismus der Geschichtsauffassung ent-
sprechen genau gewisse irrationalistische und intuitionistische Sympathien
des Autors, die freilich an einer Stelle (S. 208) klug eingeschrankt werden. —
Es bleibt zu bedenken : da6 man dem Buch mit scharf en method ologischen
Forderungen vielleicht Unrecht tut, da es sich seiner Grenzen bewufit ist
und lieber bekannte Zusammenhange human und fafilich darstellen als neue
fremd und aggressiv konstruieren mochte. Aber wollte man es etwa — mit
einer Geste, die weder dem Ernst des Gegenstandes noch der Wirkung recht
ansteht — fiir Volkshochschulen, Padagogien, Arbeiterakademien empfehlen,
so geriete man in Verlegenheit wegen einer XJnzuverlassigkeit im Detail,
die der Fragwiirdigkeit der methodischen Grundhaltung merkwiirdig ent-
spricht. Wo man ernsthaft zugreift, findet man Halbrichtiges und Falsches.
Ich zitiere aufs Geratewohl: „Das Kernelement dieses Gedankenbaues, die
ausdehnungslose, rein geistige Krafteinheit der „Monade", die alles Sein
zusammensetzen und doch ein unbeeinfluCbares, vollig abgeschlossenes
Individuum sein soil, war willkurlich und phantastisch** (S. 35). Man mag
gegen Leibniz alle erdenklichen Einwande haben : nur gerade der der Willkur
ist nicht erlaubt, die Monade ist zugleich in tief stem Zusammenhang mit dem
Stand der Naturerkenntnis seiner Zeit wie mit seiner eKkenntniskritischen
Analyse erwachsen: zu schweigen davon, dafi gerade beim Monadenbegriff
fruchtbarste Einsichten zum Problem der okonomischen „Vermittlung"
zu gewinnen waren. — Oder: „Einsteins Relativitatstheorie (seit 1905)
Spezielle Soziologie 213
setzte der sinnlich-naiven Anschauung ein Ende, dafi Zeit, Raum und Gravi-
tation etwas Absolutes, fiir alle Gleiches seien, indem sie diese Grofien als
vom Standort, von Bewegung oder Ruhelage des Beobachters abhangig
nachwies" (S. 197). Aber solche Erkenntnisse gab es in Gestalt des „Relati-
vitatsprinzips" langst vor Einstein, dessen sachliche Leistung dariiber ent-
scheidend hinausgreif t ; mit einem allgemeinen weltanschaulichen Relativis-
mus hat er vollends nichts zu tun. Von der Anwendung der Riemannschen
Geometrie auf den empirischen Raum, von der Lehre von der Endlichkeit
des Raumes ist bei Kleinberg iiberhaupt nicht die Rede, und eine kultur-
geschichtliche Deutung Einsteins ist darum fur ihn ganzlich unmoglich;
statt dessen werden ihm Banalitaten zugeschoben. — Grotesk geraten die
Darstellungen Kleinbergs im Bereich der Kunst. Wenn der Lyriker Georg
Heym als Walter Heym erscheint (S. 202), so mag man dariiber hinweggehen,
wenn auch in einem Buch von wissenschaftlichem Anspruch solche Irrtiimer
nicht unterlaufen durften. Wenn aber „der Englander Aubrey Beardsley,
der Franzose Toulouse-Lautrec, die Deutschen Kubin und GroB das Leben
als einen Tummelplatz von Larven, als ekle Fratze und lahmende Grimasse"
gemeinsam zeichnen sollen (S. 202), so verschlagt einem die Kombination
bereits den Atem : was hat wohl die ornament ale Perversion Beardsleys mit
GroB zu tun, der ja nicht das „Leben" als Tummelplatz von Larven, sondern
die Verdinglichung der Menschen unter der Klassenherrschaft darstellt ? —
In der Musik wird Bizet als Wagnerianer eingeordnet (S. 180), obwohl doch
seine Musik so unwagnerisch ist, dafi schon Nietzsche ihn als Gegenpapst
gegen Bayreuth reklamierte; dafiir aber wird Hugo Wolff, der nun wirklich
ein Wagnerianer war, gemeinsam mit dem Antiwagnerianer Nietzsche und
mit van Gogh als „kunstlerischer Vorposten der Epoche" ausgegeben —
wobei an Stelle sachlicher Gemeinsamkeiten zwischen den dreien, die es ja
in der Tat nicht gibt, ihre Geisteskrankheit als Verbindendes fungiert.
Angesichts solcher Leistungen im Detail wird die Frage nach materialistischer
oder geistesgeschichtlicher Methode gleichgiiltig.
Theodor Wiesengrund-Adorno, Frankfurt a. M.).
Martin, Alfred toii, Soziologie der Renaissance. Zur Physiognomik und
Rhythmik biirgerlicher Kultur. Ferdinand Bnke. Stuttgart 1932. (XII u.
US S.; br. RM. 5.—, geb. RM. 6.50)
M. versucht, eine bestimmte historische . Epoche struktursoziologisch
zu beschreiben, und wahlt als Beispiel im wesentlichen die Florentiner Renais-
sance. Als soziologisch bedeutsam wird die Verschiebung des gesellschaft-
lichen Schwerpunktes vom Land in die Stadt und von einem militarischen
Adel zu einem okonomischen Biirgertum angesehen. In diesem entsteht
durch seine soziale Lage eine neue Denkweise, aus der die modernen Formen
eines Leistungswissens und Bildungswissens hervorgehen. Der - Begriff
der Leistung, sei es als objektives Werk, sei es als subjektive Tiichtigkeit,
entspringt der Lebensform einer burger lich-kaufmannischen Oberschicht.
Ihr Ziel ist der Virtuose, der Mann, der bestimmte Fahigkeiten bis zur aufier-
sten Vollendung entwickelt. Fiir diese burgerliche Aristokratie gibt es
zwei Wege der sozialen Entwicklung: eine Assimilation an bestehende
Herrschaftsordnungen und eine eigenstandige Ausformung ihrer gesellschaft-
214 Besprechungen
lichen Existenz zu einer besonderen Representation. In dieser Dialektik
bewegt sich die soziale Entwicklung des Biirgertums der Renaissance. Es
ubernimmt Lebensformen und Konventionen des politisch entrechteten
Adels und ftigt zugleich den alten Konventionen eine neue Bildungskon-
vention hinzu. Die Abschnitte iiber Humanismus enthalten die wichtigsten
Bemerkungen fiir die historische Grundlegung einer Soziologie der modernen
Intelligenz. Die Kategorien: ritterlicher Humanismus, bodenstandiger
Burgerhumanismus und freier Literatenhumanismus bezeichnen drei typische
Epochen des Heraustretens einer Intelligenzschicht aus einer Welt poli-
tischer und sozialer Bindung und damit eine Verschiebung des Ethos vom
Moralisch-Aktivistischen zum Asthetisch-Beschaulichen. Diese erste biirger-
liche Kultur, in . der die Bildung zur Representation des Besitzes gemacht
wurde, vermochte ihre politische Form nicht zu finden. M. gibt in der Ana-
lyse Macchiavellis eine einleuchtende Darstellung der soziologischen Motive,
die zum Ruf nach der Diktatur und zur Entstehung des absoluten Staates
fuhrten. In dem Abschnitt iiber Renaissance- Gesellschaft und Kirche wird
die Anpassung der wirtschaftlichen Ideologie an den Friihkapitalismus auf-
gezeigt und eine Reihe bemerkenswerter religionssoziologischer Einsichten
fiir die Struktur der modernen Formen christlicher Frommigkeit heraus-
gestellt.
Methodisch ruht die Arbeit auf den Untersuchungen von Max Weber,
Scheler und Mannheim. Martin, der beste Kenner dieser Geschichtsepoche
in Deutschland, hat mit diesem soziologischen Versuch eine notwendige
Aufgabe zur Erganzung der Arbeiten von Burdach und Burckhardt geleistet.
Albert Salomon (Koln).
Rosenstock, Eugen, Die europdischen Revolutionen. Diederichs. Jena
1931. (IV w. 554 S.; br. RM. 15.—, geb. RM. 18.50)
Die Geschichte Europas in den neun Jahrhunderten, die seit Beginn des
Kampfes zwischen Papst und Kaiser vergangen sind, kann nach R. nur unter
dem Aspekt der Revolution begriffen werden. Unter ,-, Revolution" versteht
R. eine Totalumwalzung, die sich an einem Volk vollzieht und auf die iibrigen
Volker zuriickwirkt. ,, Jede Revolution ist nur zu 50 v. H. Sozialumwalzung,
zur anderen Halfte pragt sie die Volker." So lost sich die Geschichte Europas
in eine Reihe nationaler Revolutionen auf, die indessen nicht nur chrono-
logische Abfolge, sondern ebenso eine logische Kette ist. Sozial ist die Re-
volution insofern, als sich die gesamte Nation in einer sozialen Schicht ver-
korpert. Die Reihenfolge, in welcher die Nationen „ihre" Revolutionen er-
leben, ist nicht zufallig. Immer das riickstandigste Land macht Revolution,
und riickstandig wird es dadurch, dafi die vorhergehende Revolution ihm
schwereren Schaden zugefugt hat als den iibrigen Nationen. So ergibt sich
fiir R. folgende Reihe: Italienische Papstrevolution — deutsche Fursten-
re volution (Reformation und Aufkommen Preufien-Osterreichs) — englische
Gen tryre volution — franzosische Burger re volution — russische Welt re vo-
lution. In jeder Revolution wird der europaische Mensch ,,reproduziert",
und zwar erweitert reproduziert (R. wendet den okonomischen Begriff be-
wufit in biologischem und noch mehr in theologischem Sinne an) ; im Zentrum
Spezielle Soziologie 215
stehen Monch oder Edelmann, well nur diese ,,den notigen Abstand vom
Leben" und damit die Sorge um die „Wiederkehr des Lebens" haben.
R. erklart, nicht im Gegensatz zur okonomischen Geschichfcsauffassung
zu stehen. Sie sei fur ihn eine „Selbstverstandlichkeit". Marx allerdings
habe die Dialektik der Revolution noch nicht durchblicken konnen,
und der Vulgarmarxismus habe seine Theorie iiberhaupt nicht verstanden.
(R. beruft sich vor allem auf Lukacs.) Dazu ist zu bemerken, dafi R. zum
mindesten die historische Analyse, wie Marx sie methodisch ausgebildet hat,
fremd ist. Bei allem Bemiihen; dialektisch zu sehen, gibt er deshalb statt
Analyse ,,Deutung". Neben sehr fruchtbaren Gesichtspunkten finden sich
die grobsten Verzerrungen und Gewaltsamkeiten (man vergleiche z. B. den
Abschnitt iiber die Papstrevolution), die ungleich schwerer wiegen als eine
Reihe unrichtiger Angaben (im Kapitel „Die russische Revolution 4 '), welche
bei einem so ungeheuer weit gefafiten Thema verzeihlich erscheinen.
Werner Heider (Berlin).
Freyer, Hans, Revolution von rechts. JEugen Diederichs. Jena 1931.
(72 S., RM. 2.—)
,,Die groBartige Dialektik des 19. Jahrhunderts besteht in der Tatsache,
dafi . . . die Geschichte in ihren zentralen Vorgangen zur gesellschaftlichen
Bewegung : zum Klassenkampf wird. Der Burger wird Bourgeois, das off ent-
liche Leben Wirtschaft, der Besitz Kapital, die Besitzlosigkeit Proletariat,
die Politik Liberalismus. . . . Nicht nur die Arbeit, das Denken, der Staat,
auch die revolutionare Kraft dieses mannlichen Jahrhunderts wird Okono-
mie. Revolution wird Klassenkampf. Darum ist das 19. Jahrhundert nur
materialistisch zu begreifen. Es ist fiir alle Zeiten der Klassizismus der
Revolution von links." Aber die in ihm angelegte permanente Revolution
geschieht nicht. In der Gestalt „des Kampfes um den sozialen Forts chritt
greift der soziale Gedanke den dialektischen Kern des 19. Jahrhunderts
an". Das Proletariat „kampft nicht mehr negativ, sondem positiv, nicht
mehr gegen die industrielle Gesellschaft als System, sondem fiir ihre Er-
neuerung von innen her, also auf ihrem Boden". „Die Arbeiterschaft ist —
nicht endgiiltig (denn sie kampft noch), aber grundsatzlich — eingeordnet."
Durch die Liquidation der revolutionaren Energien wird die industrielle
Gesellschaft zunachst befestigt, aber gerade diese Eingliederung hat eine
neue revolutionare Kraft erzeugt; „dasjenige, was nicht Gesellschaft, nicht
Klasse, nicht Interesse, also nicht ausgleichbar, sondern abgrundig revolutio-
nar ist: das Volk". Dieses Volk hat nichts zu tun mit der Nation des 19. Jahr-
hunderts, die Bildungs- und Besitzstand ist, sondern ,,ist die Substanz
unserer selbst". ,, Seine Revolution bricht von unten her in die Ebene der
industriellen Gesellschaft ein quer durch alle ihre Interessengegensatze
hindurch. Das Volk nimmt die Arbeits- und Giiterwelt der industriellen
Gesellschaft in seinen Besitz, aber es iibernimmt keineswegs das Prinzip,
nach dem sie gebaut ist. Es negiert dieses Prinzip . . ." Sein Weg geht not-
wendig iiber. die Emanzipation des Staates, der zum Gegenspieler der in-
dustriellen Gesellschaft und notwendiger Trager des Gegenstofies gegen sie
wird. Dieses Volk, diese „geheime Umschichtung im Material des Menschen-
tums", „ist Realitat geworden: nicht fertige Ordnung, . . . aber kraftig sich
216 Besprechungen
bildender Kern".. „Eben darum ist die Revolution von rechts der Inhalt
der Zeit".
F. sieht und wtinscht eine Revolution von hinten. Aber kampft nicht,
was sich ,,rechts" formiert, mehr und mehr mit ,,bescheideriem Egoismus"
auf dem Boden der industriellen Gesellschaft „um den eigenen Platz im
Geschiebe des Systems" ? Marschieren in Wirklichkeit nicht die „Nationa-
listen des Geimits" und die „Interessen ten einer banalen Reaktion", und wird
so nicht „statt Geschichte wiederum ein Schwindel geschehen" ?
Fritz Burchardt (Frankfurt a. M.).
Reich Gottes — Marxismus — Nationalsozialismus. Ein Bekenntnis
religibser Sozialisten. Hrsg. v. Gg. Wiinsch. J. C. B. Mohr. Tubingen
1931, (V u. 116 S.; geb. RM. 5.50)
Wahrend die Mehrheit der religiosen Sozialisten einen sog. ,,ethischen
Sozialismus" in betont antimarxistischer Pragung verfolgt, gelangten einige
intellektuelle Wortfuhrer zu einer bedingten Anerkennung des Marxismus.
Wiinsch steigert diese Annaherung zu dem Versuch, den Marxismus in
eine christliche Theologie einzubauen. „Die Aufgabe des Marxismus in der
Bewegung des Reiches Gottes" — so lautet das Thema seines Beitrags —
sieht er darin, dafi der Marxismus als Leitfaden diene, um „die Fiihrung
Gottes in der profanen Geschichte zu seiriem Reich zu erkennen" ; der
Marxismus ist sogar der „einzige Leitfaden" dieser Art, so daB jeder glaubige
Christ genotigt ist, ihn anzuerkennen, wenn er Gottes Willen begreifen und an
der Verwirklichung des Reiches Gottes in der menschlichen Gesellschaft
mitarbeiten will.
Leonhard Ragaz, ehemals Theologieprofessor, Fiihrer der schweize-
rischen religiosen Sozialisten, vertritt eine' , .religiose Geschichtsdeutung
von der Art, wie die Bibel Geschichte deutet". Hinter der „irrtumlichen
Gedankenform des Marxismus" sieht er einen unbewufiten „prophetischen
Messianismus", dessen Kraft allerdings jetzt ausgestromt sei und ersetzt
werden musse „durch den wieder lebendig gewordenen bewuflten (Messia-
nismus) des Reiches Gottes, das in Christus erschienen ist". Der Beitrag
von Ragaz isthistorisch gehalten; er beschreibt die Geschichte der schwei-
zerischen Bewegung und setzt sich aufierdem mit der dialektischen Theologie
auseinander, die von Schiilern Ragaz 1 (Barth, Thurneysen, Brunner u. a.)
aus der religios-sozialistischen Gedankenwelt entwickelt wurde und spater
zur Abspaltung fuhrte.
Pfarrer Heinz Kappes behandelt den „theologischen Kampf der reli-
giosen Sozialisten gegen das nationals ozialistische Christentum". „Der
Nationalsozialismus wie der Marxismus drangen nach einer eigenen Theo-
logie hin (t — so beginnt der Aufsatz. Man mufi einschrankend sagen, dafi
sich diese Behauptung bestenfalls auf einen religios-sozialistisch interpre-
tierten, also bereits theologisch verdeuteten Marxismus beziehen kann,
auf einen „Marxismus", der — wie die Ausfiihrungen von Ragaz zeigen —
nicht einmal von den religiosen Sozialisten selbst einheitlich vertreten wird.
Im ubrigen setzt Kappes sich gegen neuheidnische Miflbildungen der christ-
lichen Lehre durch Arthur Rosenberg zur Wehr und scheut auch vor
mutigen Angriffen gegen Kirchenbehorden nicht zuruck. Der Aufsatz
Spezielle Soziologie 217
klingt in die Vermutung aus, daJ3 eine vollige Faschisierung der Kirch e die
religiosen Sozialisten veranlassen werde, „auBerhalb der Kirche als eine
der Form nach profanisierte Bewegung ohne Sektencharakter fiir die Sache
Christi in der marxistischen Gesamt bewegung" einzustehen.
Heinrich Mertens (Frankfurt a. M.).
Kahn-Freund, Otto, Das soziale Ideal des Reichsarbeitsgerichts.
J. Bensheimer. Mannheim 1931, (X u. 466 S.; RM. 4. — )
Die Schrift unternimmt den Versuch, „die Rechtsprechung des Reichs-
arbeitsgerichts auf das ihr zugrunde liegende Sozialideal zu untersuchen".
Dieses Sozialideal ist nach Ansicht des Verfassers der Faschismus — nicht der
Faschismus als politisches System, sondern das soziale System, wie es in den
arbeitsrechtlichen Gesetzen Italiens seinen Niederschlag gefunden habe. Die
gesamte Rechtsprechung des obersten Gerichts auf dem Gebiet des indivi-
duellen und kollektiven Arbeitsrechts wird als Einheit betrachtet, in deren
Schatten die faschistische Ideologic erkennbar sei.
Erscheint es schon an sich gewagt, die aufierordentlich uneinheitlichen,
ja vielfach KompromiBcharakter tragenden Entscheidungen auf einen
Nenner bringen zu wollen, so diirfte Kahn-Freund dariiber hinaus auch den
Gesichtskreis der Reichsrichter iiberschatzen, wenn er ihre Rechtsprechung
auf die von ihm angenommene geschlossene Grundanschauung zuriickfuhrt.
Reichsgerichtsrat Sonntag beurteilt seine Kollegen wohl richtiger, wenn er
ihre kleinbiirgerliche Enge als besonderes Merkmal aufzeigt (Vgl. „ Leipzig
und das Reichsgericht" in „Justiz" 1931, S. 631ff.)-
LaBt sich m. E. auch nicht aus der Gesamtheit der Entscheidungen ab-
leiten, daC das Sozialideal des Reichsarbeitsgerichts die faschistische Idee
verwirkliche, so liegt das hohe Verdienst der Arbeit K.s in der zutreffenden
kritischen Wiirdigung der Rechtsprechung im einzelnen, die allgemein tief
enttauscht hat. Mit bemerkenswerter Klarheit werden als Leitgedanken der
Rechtsprechung die Ideen des Wirtschaftsfriedens, der Betriebsdisziplin und
der individuellen Fiirsorge herausgearbeitet. Hier stellt die Schrift eine wert-
volle Erganzung und Vertiefung der schon von Neumann (in „Die politische
und soziale Bedeutung der arbeitsrechtlichen Rechtsprechung") im Jahre
1929 anges tell ten Untersuchungen dar.
Alex Lorch (Frankfurt a. M.).
Geek, L. H. Ad., Die sozialen Betriebsverhaltnisse im Wandel der
Zeit. Geschichtliche Einfuhrung in die Betriebssoziologie. Julius Springer.
Berlin 1931. (VIII u. 173 S.; RM. 7.50)
Ein Mittelding zwischen Lehrbuch und Abhandlung nennt der Verf.
seine anregende Arbeit, die als Heft I der Schriftenreihe des Ins ti tuts fiir
Betriebssoziologie und soziale Betriebslehre an der Technischen Hochschule
zu Berlin erschienen ist (Herausg. Goetz Briefs und Paul Riebensahm).
Lehrbuchcharakter tragt sie in der Tat, obwohl man glauben konnte, daB
dieses lebendige Thema einer lehrbuchmaBigen Darstellung spot ten sollte.
G. unterscheidet Sach-, Arbeits- und Personalverfassung des Betriebes;
die Wandlungen der Personalverfassung, den eigentlichen Gegenstand
seines Buches, versteht er aus dem "CTbergang vom Kleinbetrieb mit Hand-
218 Besprechungen
arbeit zum GroBbetrieb mit Maschinen, aus der Veranderung der Unter-
nehmeranschauungen, aus der Entwicklung der staatlichen Sozialpolitik
und aus den Einwirkungen der Arbeitnehmer- und Arbeitgeberverbande.
Die Begriffsbildung ist besonders bei Darstellung der vom Geiste des Liberalis-
mus durchwirkten Personalverfassungen unzureichend : liberal -okonomisch,
Hberalistisch-rechtlich, liberal -humanitar, okonomisch -rechtlich sind kaum
zulassige und jedenfalls keine fruchtbaren Unterscheidungen. Diese Un-
scharfe scheint mir iibrigens notwendig zu entstehen, wenn man die soziale
Verfassung des Betriebes nicht von der Verfassung der ganzen Gesellschaft
aus, sondern fur sich betrachtet. Aber die groBen Verdienste der Arbeit
liegen in den Quellennachweisen und -zitaten. Nicht nur verschollenes
Material tiber deutsche Verhaltnisse sondern auch franzosische, englische
und amerikanische Literatur sind herangezogen. Eine gewisse Bevorzugung
katholischen und evangelischen und die Vernachlassigung sozialistischen
Schrifttums werden ausgeglichen durch den deutlichen Willen zur Objektivi-
tat, der freilich zuweilen, z. B. bei Behandlung der Werkzeitungen, Werk-
sparkassen usw., schon iiber das Ziel schieCt.
Hans Speier (Berlin).
Slotemaker de Bruine, J, R., Vakbeweging en W ereldbeschouwing.
(Gewerkschaftsbewegung und Weltanschauung). Christelijk Sociale Studien
III, J. A. Buys. Zeist 1930. (304 S.)
Diese Arbeit des hollandischen Theologen Dr. J. R. Slotemaker de
Bruine, dessen friihere Arbeiten schon immer einen sozialen Einschlag
hatten, befaBt sich mit einem Problem, das nur ausnahmsweise in der sozio-
logischen Literatur zur Behandlung gelangt : den Zusammenhangen zwischen
Weltanschauung und Zugehorigkeit zu einer bestimmten Gewerkschafts-
richtung. S. unternimmt diese schwere Aufgabe. Er beschrankt seine
Untersuchungen nicht auf ein Land, sondern macht den Versuch, das
Charakteristische der Gewerkschaftsbewegung in England, Amerika, Deutsch-
land, Frankreich und Ruflland und der verschiedenartigen intemationalen
Gruppierungen herauszustellen.
Vor allem ist nach ihm die Religion fiir die Mentalitat, welche sich bei
den Arbeitern in bezug auf ihre gewerkschaftlichen Tendenzen offenbart,
bestimmend. So versucht er vom Standpunkt der Religion eine Erklarung
der anarchistischen und ,,ordentlichen Gewerkschaftsbewegung" zu geben,
wobei dann auch die Volksseele, die Ethnologie und die Rasse eine Rolle
mitspielen. Seine These lautet ungefahr f olgendermaCen : Anarchismus ist
iiberall vorhanden, wo die romisch-katholische und griechisch-katholische
Kirche vorherrscht; vor allem also in Siid- und Osteuropa, namentlich in
Frankreich, Spanien, Portugal und Rufiland (merkwiirdig ist, dafi Italien
in dieser Beziehung nicht genannt wird, was das Bild ja auch vollig verschoben
hatte). Die romische Padagogik handhabt die Autoritat fiir alle Lebens-
erscheinungen auch iiber die Erwachsenen* Sie laBt das Gefiihl der Selb-
standigkeit nicht durchkommen. Wenn nun die Autoritat ihre Macht und
ihren EinfluB verliert, entsteht eine Verwirrung unter denjenigen, welche
sich frei fuhlen, die Freiheit jedoch nicht ertragen konnen. Mit dem Pro-
testantismus steht es s. E. ganz anders. Er schafft se lbs tan dig e Person lich-
Spezielle Soziologie 219
keiten, gebun'den an Gott und frei von menschlichen Autoritatsorganen,
welche in eigener Verantwortlichkeit erzogen werden.
S. beschaftigt sich ausfiihrlich mit dem Fehlen eines sozialistischen Ein-
schlags der britischen Arbeiterbewegung im Gegensatz zu einer Reihe von
Landern auf dem Kontinent. Der deutsche Prototypus, bei dem die Klassen-
kampftheorie grofien Anhang findet, wird als Folge der theoretischen Denk-
art des deutschen Volkes im Gegensatz zu der praktischen Art der Eng-
lander erklart.
. Wir konnen nicht gerade behaupten, dafi die Arbeit fur die Wissenschaft
eine grofie Bereicherung ist, wenn auch der Versuch, die Probleme auf
diesem Gebiete aufzudecken, gewiirdigt werden kann. Was dieser Arbeit
besonders fehlt, ist eine klare Begriffsbestimmung. So wirkt die vom Autor
gewahlte Einteilung der Gewerkschaftsbewegung in einen anarchistischen,
sozialistischen und christlichen Fliigel schon unklar, besonders wenn man
weiter feststellen kann, dafi die anarchistische -Richtung von ihm in zwei
Abschnitte geteilt wird, wovon Frankreich den einen und Rufiland (!) den
anderen darstellen soli.
Die vielen Einzelheiten liber die Struktur und die Methode der Arbeiter-
bewegung in den einzelnen Landern sind nur ein mafiiger Ersatz fiir das
Fehlen einer tiefgehenderen klaren Analyse iiber das aufierst wichtige Thema.
Andries Sternheim (Genf).
Adamlc, Louis, Dynamite, The Story of class violence in America,
The ViHng Press. New York 1931. (X u. 452 S.; $ 3.50)
Das Buch von Louis Adamic schildert die Entwicklung und Ausbreitung
terroristischer Methoden in den Klassenkampfen der Vereinigten Staaten.
Schon die ersten Arbeitskampfe in der Mitte des 19. Jahrhunderts wurden
mit ausgiebiger Anwendung von Gewaltmethoden gefiihrt, wie sie auch in
der Fruhzeit der westeuropaischen Arbeiterbewegung — wenn auch nicht
im gleichen Ausmafie — zu verzeichnen sind. Wahrend aber in Westeuropa
vorzuglich durch die Gewerkschaften die Krafte der Arbeiterschaft organ i-
siert und die Arbeitskampfe in geregelte Bahnen gelenkt wurden, hat sich
in U.S.A. das Anwendungsgebiet des Terrors immer mehr erweitert, wo bei
die Methoden dauernd verfeinert wurden. Die terroristischen Akte spielen
in den Arbeitskampfen der „Unorganisierten" — d. h. fiir Amerika der
von den Gewerkschaften ausgeschlossenen Arbeiterschichten — eine wichtige
Rolle. Immer wieder bilden sich bei grofien Arbeitskampfen ad hoc lockere
Arbeiterorganisationen, die durch bewaffneten Widerstand, Sabotage,
Dynamitattentate die Streikbewegung unterstiitzen. Auch die in den ersten
Nachkriegsjahren zeitweilig starke Organisation der „Industrial Workers
of the World" bediente sich bei ihren Kampfen mit Vorliebe dieser Gewalt-
methoden. Nicht selten bo ten die von ihr gefiihrten grofien Streikbewegungen
das Bild eines offenen Burgerkrieges der Streikenden mit den gleichfalls
bewaffneten Werkspolizisten und Streikbrechern. Der Verf. weist nach,
dafi die terroristischen Methoden — zum grofiten Entsetzen von Samuel
Gompers — sogar in die Verbande der American Federation of Labour ein-
drangen und dort auch in der Gegenwart nicht immer verabscheut werden.
Die hochste Stufe des Terrors im Klassenkampf stellt die Verbindung mit
220 Besprechungen
dem Berufsverbrechertum dar, den ,, gangsters" und „ racketeers", die im
Auftrage von Arbeiterorganisationen terroristische Attentate ausfuhren
(wie sie auch von den Unternehmern gegen die Arbeiterorganisationen ein-
gesetzt werden).
Leider fehlt in dem Buch, das ein aufschlufireiches und seltenes Material
zum ersten Male in solcher Vollstandigkeit zusammentragt, eine abschliefiende
Untersuchung der sozialen und okonomischen Ursachen dieser Zustande.
Nur aus eingestreuten Bemerkungen erhalt der Leser manchen wertvollen
Hinweis. Die exklusive Haltung der Gewerkschaften, die eine privilegierte
Arbeiterschicht geschaffen haben, der hohe Anteil der mit dem Volksleben
kaum verbundenen Eingewanderten, die Traditionen der Grenzerzeit haben
die Entstehung des Solidaritatsgefiihls in der Arbeiterklasse bisher ver-
hindert. Dazu kommt, daJ3 die in den gleichen Traditionen aufgewachsene
Unternehmerschaft von jeher wenig Bedenken hatte, den Bewegungen der
Arbeiter die Gewalt entgegenzusetzen und dafi ihr Vorgehen von den Justiz-
behorden fast stets entschuldigt und beschonigt wurde.
Fiir den deutschen Leser besonders wichtig ist die Einschatzung der
Ideologie der American Federation of Labour, die bekanntlich mit der
„Kaufkrafttheorie der Lohne" und dem Gedanken der „Wirtschaftsdemo-
kratie" die Wirtschaftsauffassung der deutschen Gewerkschaftsbewegung
stark befruchtet hat. A. weist nach, dafi diese Ideologie dem Wunsche ent-
sprang, die privilegierte Arbeiterschicht von der grofien Masse der sozial
gering geachteten und durch zahlreiche terroristische Bewegungen diskredi-
tierten Arbeiter zu distanzieren. Es ist zu wunsehen, daB das wichtige
Buch, das leider etwas unbeholfen geschrieben ist, durch eine tJbersetzung
auch dem breiten Leserpublikum in Deutschland zuganglicti gemacht wird.
Franz Hering (Berlin).
Labriola, Arturo, Al di Id del Capitalismo e del Socialismo (Jenseits
von Kapitalismus und Sozialismus). Verl. Collana di Studi politici e so-
ciali. Paris 1931. (344 S.; frs 20.—)
Der Autor, Dozent am Institut de Hautes Etudes in Briissel, der als junger
Mann dem aufiersten linkenFlugel der sozialistischen Partei Italiens angehorte,
dann im letzten Ministerium Giolitti Minister fiir 6f f entliche Arbeiten war und
jetzt als politischer Fliichtlmg im Ausland lebt, bietet in dem vorliegenden
Buch mehr eine „boutade" voll polemischer Ausfalle als einen systematisch
gefiigten Gedankenbau.
Fiir ihn ist der Sozialismus nicht Gegenpart des Kapitalismus, sondera
Auf lehnung gegen das Elend : die sozialistischen Ideologien sind alter als der
Kapitalismus. Es ist ein Fehler des Marxismus, den Sozialismus zum Anti-
kapitalismus verkummert zu haben. Marx hat nie aufgezeigt, warum die
vom Kapitalismus freigesetzten Produktivkrafte die privatkapitalistische
Gesellschaftsordnung sprengen miiCten. Der Kapitalismus hat das Elend
der Massen nicht gesteigert, sondern vermindert. Es liegt durchaus im Be-
reich der Moglichkeit, im kapitalistischen Kegime dem Arbeiter den vollen
Arbeitsertrag zu bezahlen. Krisen sind unvermeidbare Erscheinungen der
Umschichtung des Marktes und der Produktion, die auch im sozialistischen
Regime nicht ausbleiben konnen. Ursache des Elends ist die Vergeudung,
Spezielle Soziologie 22 1
und diese ist bei Planwirtschaft grofier als bei individueller Initiative: die
Kosten fiir die tastenden Versuche der einzelnen, aus denen sich die Wirtschaf t
im privatkapitalistischen Regime gestaltet, fallen auf das Individuum, nicht
auf die Gesellschaft zuriick. Die juridische Tatsache des Besitzes der
Produktionsmittel habe keinen wesentlichen Einflufi auf die Produktion.
„Die tiberfuhrung der Produktionsmittel in Kollektiveigentum andert weder
die Quote der Ersparnisse ncch deren Umwandlung in Kapital, weder die
Nachfrage nach Arbeitskraf ten noch das gegenseitige Gleichgewichtsverhaltnis
der verschiedenen Produkte." L. kommt zu dem Schlufi, daB nicht
das Ende des Kapitalismus, sondern das Ende des Staates zur Beseitigung
der Klassen fiihren werde. Der Kampf gegen den Kapitalismus zwinge der
sozialistischen Bewegung eine falsche Ideologic auf, insof ern der Kapitalismus
eines der Mittel zur Beseitigung des Elends ist.
Dem Gedankengang Labriolas liegen verschiedene MiBverstandnisse
zugrunde. Zunachst die Ansicht, daB der Kampf gegen den Kapitalismus auch
den technischen und wirtschaftlichen Errungenschaften gelte, die der Kapi-
talismus gezeitigt hat; dann die Auffassung der Sozialisierung der Produk-
tionsmittel als einer rein juridischen Sache. tJberhaupt sieht Labriola den
Sozialismus kleinlich und philistros, um dann zu sagen, daB er kleinlich und
philistros ist. Es handelt sich da nicht darum, Besitztitel umzuschreiben,
sondern Sinn und Richtung der Arbeit zu andern, den Tribut an die Not-
wendigkeit, den der Kapitalismus verringert hat, gerecht zu verteilen.
Labriola durfte nur deshalb meinen, jenseits von Kapitalismus und Sozialis-
mus zu stehen, weil er die sozialen Auswirkungen beider uber ihrer Produk-
tionsformel vergiBt.
Oda Olberg (Wien).
Mehmke, R. L., Der Unternehmer und seine Sendung. J. F. Lehmanns
Verlag. Miinchen 1932. (191 S.; geh. RM. 4.50, geb. RM. 6.—)
Die historische Einleitung bezeichnet alle Produktivitat und Forderung
in technischer und kultureller Hinsicht als Unternehmertatigkeit des Men-
schen; sei er nun Konig oder Furst, Monch oder Ritter, Bauer oder Hand-
worker. Der Begriff des XJnternehmers (= U) ist also auBerst weit gefafit,
so dafl die beabsichtigte historische Genese des modernen U unzulanglich
beschrieben wird. Die Definition des TJ ist auch iiberaus verschwommen und
vieldeutig. „Der U ist eih Mann, der etwas kann und etwas wagt". Ihn
leitet „die Freude am Werk und am Wagnis und das Streben, aus totem,
geringwertigem Material Werte und Hilfsmittel fiir den Fortschritt der
Menschheit zu schaffen". „Der U ist in erster Linie zum Dienst am Ver-
braucherberufen". „Er steht zu seiner Arbeit imVerhaltnis wie derLiebende
zum Gegenstand seiner Liebe". So und ahnlich wird die „ Sendung des U"
beschrieben, eine Aufgabe also, der je nach Bedarf des Autors in der Ver-
gangenheit Amenemhet I. von Agypten und Karl der Grofie, heute der
Kleinbauer oder der selbstandige FUckschuster gerecht werden kann.
Kein Wunder, dafi bei diesem grofien TJkreis die Zahl der U auf
der ganzen Welt fast dreimal so groB wie die Zahl derjenigen ist,
die man als die „Arbeiter" bezeichnet, dafi in Deutschland „rund ein
222 Besprechungen
Drittel der 32 Millionen Berufstatigen XJ sind". Die solchen Behauptungen
zugrundegelegten Zahlen sind willkiirlich oder falsch zusammengestellt, wie
uberhaupt M. fast uberall auf Quellenangaben und Materialhinweise groB-
ziigig verzichtet. Um den gewaltsam geformten Ubegriff aufrecht zu erhalten,
werden die eindeutigsten Daten der Wirtschaftsentwicklung unrichtig be-
schrieben oder interpretiert. „Der soziale Aufstieg in die wirtschaftliche Ober-
schicht erfolgt gar nicht so selten auch direkt vom Arbeiterberuf aus."
Nach den auf Grund der Erhebungen des Statistischen Reichsamtes zu-
sammengestellten Zahlen (Sozialer Auf- und Abstieg im deutschen Volk,
Munchen 1930) kommen 85% der wirtschaftlichen Oberschicht (Industrielle,
Bankiers, Kaufleute) aus ihrer Schicht und nur zusammen 15% aus Mittel-
schicht und Unterschicht ; leider ist diese Zahl nicht mehr spezifiziert, aber
es ist ohne weiteres anzunehmen, daB der weitaus groBere Teil dem Klein-
burger turn entstammt, nur ein verschwindender Prozentsatz dem Proletariat.
— Werden kleinere Industriefirmen von der iibermachtigen Konkurrenz
zugrunde gerichtet, dann liegt keine kapi talis tische Entwicklungstendenz vor,
sondern „sie hatten ihren alten Fortschrittsgeist eingebiiBt. . Der letzte Akt
des Trauerspiels eines ehemals blvihenden Gewerbes spielt sich ab. Die
ihrer Sendung untreu werden, sind zuletzt auch noch mit technischer Un-
fruchtbarkeit geschlagen. Ein Geschlecht neuer Manner, in denen wiederum
eine Sendung lebendig ist, steigt auf". Ich beschranke mich auf die
Wiedergabe dieser beiden Bluten okonomischer Erkenntnis, eine Legion
ahnlicher Behauptungen fullt das Buch. — Kurz sei noch die Stellung des
Verf. zur Beziehung zwischen XT und Arbeiter gekennzeichnet. Prinzipiell
sind die Bezeichnungen„Arbeiter" und^Angestellte" vermieden unddurchden
Sammelbegriff „Mitarbeiter" ersetzt. Diese Mitarbeiter am Werk des U, die
mit ihm der Sache zu dienen berufen sind, werden keineswegs ausgebeutet,
sondern sind selbst die Ausbeuter in der Wirtschaft. Wenn sie ihre wirtschaft-
liche Lage zu verbessern suchen, dann sind sie „nichts anderes als Spekulanten,
sind ein Interessentenhaufen, der nicht deswegen mehr Recht beanspruchen
kann, weil er sehr groB ist". „Durchaus falsch ist, wenn es in der
Offentlichkeit immer wieder so dargestellt wird, als bestiinde in der Gegenwart
eine unubersteigbare Kluft zwischen dem abhangigen Lohnarbeiter und dem
selbstandigen U." Die Losung der sozialen Frage soil die oft gepriesene
Werksgemeinschaft bringen. ,,Die einzelnen Mitglieder des Orchesters
sollen seinen Zeichen und Worten nicht als stumpfe. Arbeitssklaven folgen,
sondern sollen als Mitwirkende in voller Arbeitsverbundenheit mit dem Werk
stehen."
Uber das Buch ware kein Wort zu verlieren, wenn es nicht eine heute
uberaus machtige Ideologie darstellte, die man auf Schritt und Tritt an-
trifft. Sie wird in der auBeren Form einer wissenschaft lichen Theorie dar-
geboten; iiber solche im Dienste des kapitalistischen U produzierte Wissen-
schaft laBt sich mit des Verf. eigenen Worten urteilen, mit denen er einen
Teil der Studenten treffen will; ,,sie bedeutet immer weniger Studierenden
die ,hohe, die himmlische Gottin*, vielmehr ist sie einer wachsenden Zahl
die ,tuchtige Kuh' geworden, die den Studierten ,mit Butter ver-
sorgcn soil"',
Carl DreyfuB (Frankfurt a. M.).
Spezielle Soziologie 223
Das deutscke Handwerk. Bericht der 8. Arbeitsgruppe des III. Unter-
ausschusses des Aussehusses zur Untersuchung der Erzeugungs- und Ab~
satzbedingungen der deutschen Wirtschaft. Mittler & Sohn. Berlin 1931.
(4 Bde., 1858 S.)
Der Enqueteausschufi stellt in diesem Bericht die Ergebnisse seiner Unter-
suchung iiber die Lage des Handwerks in Deutschland zusammen. Der
II. Band enthalt das Tabellenmaterial der mit den Stichtagen 1. X. 26 und
— resultatlos ■ — 1. X. 13 im Jahre 1927 durchgefuhrten Erhebung. Band III
u. IV enthalten besonders eingehende Spezialuntersuchungen 12 wiehtiger
Handwerkszweige, die durch Sachverstandigeneinvernahrne (Juni/Juli 28)
besonders vertieft worden sind. In Band I finden sich die Gesamtergebnisse
und ihre Zusammenfassung und Ausdeutung. Zumal die technische, be-
triebswirtschaftliche und organisatorische Fortentwicklung des Handwerks
wird eingehend dargestellt. Die gesammelten Angaben sind umfassend und
vorziiglich: das erste Mai iiberhaupt ist hier iiber das Handwerk derart
reiches Material zusammengetragen und dadurch eine genaue Erforschung
dieses Wirtschaftsteiles ermoglicht worden. Allerdings folgt daraus, dafi
die Ergebnisse dieser Untersuchung mit friiheren, vpr allem der amtlichen
Statistik, die nicht auf das Handwerk abgestellt waren, fast unvergleichbar
sind. Zu einer Analyse der gegenwartigen Situation des Handwerks und
zu einer darauf basierenden in groBen Ziigen durchgefiihrten Betrachtung
der Entwicklung und Entwicklungstendenzen bietet der Bericht das voll-
kommenste Tatsachenmaterial. Die neueste Handwerksliteratur, wie etwa
der Art. „Handwerk" j n den von Harms herausgegebenen „Struktur-
wandlungen der deutschen Volkswirtschaft" und der Art. „ Handwerk"
von G. Albrecht imW.d.V. 4, baut auch bereits auf den Angaben des Be-
richtes auf. Dabei ubernimmt diese Literatur die Ausdeutung und SchluB-
f olgerung des Berichtes ohne weitere Nachpriif ung . Dessen endgiiltige
Folgerungeh jedoch stehen in befremdlichem Gegensatz zu den Angaben in den
Banden II, III, IV und der Zusammenfassung in Band I. Am besten ge-
kennzeichnet ist die theoretische Einstellung des Berichtes etwa durch den
Satz: „. , . viel hilft der unverzagte Glaube des freien Mannes an die ur-
wiichsige Lebenskraft des deutschen Handwerks" (Bd. I). Der Bericht
kommt zu dem Ergebnis, daB es dem Handwerk zufriedenstellend gehe,
dai3 endgiiltig die ,,Niedergangstheorie", die um die Jahrhundertwende
an sein Verschwinden geglaubt hat, widerlegt sei und dafi es im Gegenteil
sich standig weiterentwickle und einen wichtigen Platz in der Gesamt-
wirtschaft einnehme. Seine Bedeutung beruhe auf seiner arbeitsintensiven
Produktionsweise, die immer noch in der Befriedigung des Bedarfes an
Qualitatsware fiir den personlichen Geschmack vorherrschend sei, weiter
auf seiner dezentralisierten Arbeitsart und darauf, da6 es einerseits die
Industrie mit Facharbeitern versorge, andererseits bei schlechter Konjunktur
die Arbeitslosen aufsauge und eine vermittelnde Rolle im Gegensatz zwischen
Arbeitgebern und Arbeitnehmern spiele. Speziell jetzt in der Zeit der ge-
waltigen Kapitalkonzentration sei es die letzte Aufstiegsmoglichkeit zur
Selbstandigkeit. Diese Behauptungen werden aber samtlich von dem eigensten
Material des Berichtes widerlegt. In der tibersicht iiber die einzelnen
Handwerkszweige (Bd. I, S. 60 — 187) mufi der Bericht fiir fast ausnahmslos-
224 Besprechungen
jeden f eststellen : Arbeitslosigkeit und tJbersetzung (1927 war gut© Kon-
junktur!), Verdrangung durch die GroBindustrie {sei es durch Konkurrenz
um das gleiche Produkt, sei es durch Surrogierung und Bedarfsverschiebung).
So erhalt die grofle Zahl der Betriebe, die der Bericht als Beweis fur die
innere Kraft des Handwerks anfiihrt, erst in Relation gebracht mit der Zahl
der Beschaftigten, des Umsatzes, der Kapitalbildung und des Einkommens
ihre wahre Bedeutung: 70,5% aller industriellen Unternehmen sind Hand-
werksbetriebe, auf die aber nur 29,2% der hier Beschaftigten entf alien; der
Anteil am Gesamtbinnenumsatz 1928 betragt 7,85%, an dem der Industrie
18% (Berechnungen des Institutes fur Konjunkturforschung, Berlin.) Der
Bericht gelangt zwar zu 20% als Anteil am Gesamtumsatz, doch ist diese
Zahl in keiner Weise nachprufbar erlautert. Nach Angaben des Berichtes
haben etwa 9/ 10 aller Handwerksselbstandigen ein Einkommen bis zu
hochstens 3000 RM. jahrlich. Die Kapitalbildung im Handwork ist un-
zureichend.
Der Bericht kennt keine Definition seines Untersuchungsobjektes und
lehnt jeden Versuch zu einer solchen ab. Er ersetzt sie durch den Berufsstand,
dem aufier den in Handwerksbetrieben Tatigen alle in der Wirtschaft vor-
wiegend qualifizierte Handarbeit Leistenden zugerechnet werden. So werden
etwa die MaBschneiderabteilungen groBer Konfektionshauser dem Hand-
werk zugezahlt, wodurch der auf der Art der Arbeitsleistung aufgebaute
Berufsstandsbegriff ad absurdum gefuhrt und sein handwerkspolitischer
Zweck deutlich gemacht wird.
Die Methode des Berichtes ist unklar und beschrankt sich darauf,
ohne auf Entwicklungstendenzen Riicksicht zu nehmen, ein Augen-
blicksbild zu entwerfen, aus diesem aber letztgiiltige Schliisse zu
ziehen. Die Aussagekraft der Tatsachen wird durch eine ziemlich
verworrene und unsystematische Anordnung verschleiert, die Zusammen-
gehoriges auseinanderreiBt und gesondert, ohne Beziehung zu anderen
Faktoren, „ausdeutet", wie etwa Zahl der Betriebe, Umsatz, Zahl der
Tatigen usw.
Jedoch sei noch einmal betont, daB der Bericht eine einzigartige Mate-
rialsammlung darstellt, die fiir die neuere Zeit erst die Basis zu einer wirk-
lichen Erforschung des zumindest soziologisch noch uberaus interessanten
Handwerks gibt.
Emil Griinberg (Frankfurt a. M.).
Niemeyer, Annemarie, Zur Struktur der Familie. F. A. Herbig. Berlin
1931, (175 S.; EM. 7.50). — Baum, Marie, u. Allx Westerkamp,
Rhythmus des Familienlebens. F.A. Herbig. Berlin 1931. (190 S.;
geb. RM. 9. — ). — Martens-Edelmann, Agnes, Die Zusammensetzung
des Familieneinkommens. Verlagsges. R. Miiller. Berlin 1931.
(76 S.; geb. RM. 3.90). — Wlldenhayn, F., DieAuflosung der Familie.
A. From. Berlin 1931. (105 S.; geb. RM. 3.20). — Kahle, Margarete,
Beziehungen weiblicher Filrsorgezoglinge zur Familie. J. A.
Bartk. Leipzig 1931. (188 S.; geb. RM. 10.—). — Lindquist, Ruth, The
Spezielle Soziologie ' 225
Family in the Present Social Order. University of North Carolina
Press. Chapel Hill 1931. (XIII u. 241 S., $ 2.50). — Wa^ener, Hermann,
Der jugendliche Industriearbeiter und die Industrie} amilie*
Miinsterverlag: Munster i. W. 1931. (145 S.; geh. RM. 3. — ). — Konfes-
8 ion en und Ehe.In: Religiose Besinnung, Heft 1, Jg. I V (1931 — 32) . From-
manns Verlag. Stuttgart 1931. — Baumer, Gertrud, Die Frau im neuen
Lebensraum. F. A. Herbig. Berlin 1931. (285 S.; RM. 7.50).~mtg&u,
Hermann, Familienforschung und Sozialwissenschaft. Degener
& Co. Leipzig 1931. (32 S.; geh. RM. 2.—, geb. RM. 3.50)
Die deutsche Akademie fiir soziale und padagogische Frauenarbeit la fit
unter der Leitung von Alice Salomon und Gertrud Baumer eine Schriften-
reihe„Forschungen iiber Bestand und Erschiitterung der Familie in der Gegen-
wart" erscheinen. So gibt Annemarie Niemeyer eine recht brauchbare
Bestandsaufnahme von allgemeinen statistischen Daten iiber die Familie.
Systematisch wird unterschieden : 1. Sozialbiologische Familienstatistik :
Geschlechterstatistik, Ehestatistik bder Familienstatistik im engeren Sinne,
Statistik der unehelichen Familie; 2. Sozialokonomische Familienstatistik:
Allgemeine Haushaltungsstatistik, Wohnungsstatistik, Statistik der Haushalt-
rechnungen. — Marie Baumund Alix Westerkamp untersuchen ,, das von
einer Familie taglich zu leistende Arbeitspensum** d. h. die von jedem
Familienmitglied taglich innerhalb und auBerhalb des Hauses zu leistende
Arbeit; ferner wird dargestellt, welche Tagesstunden diese Arbeiten in An-
spriich nehmen und in welcher Weise sie den einzelnen belasten. Das be-
nutzte Material (70 Familien) ist zu klein, als dafi an die Forschungsergeb-
nisse verallgemeinernde Schlusse gekniipft werden konnten. Erwagt man,
dafi die Sachkenntnis der Autoren ihnen eine Auswahl von typischen Fa-
milien ermoglichte, so ist die statistische Behandlung der Materie unan-
gemessen, ein Fehler, der iibrigens bei A. Westerkamp weniger hervortritt. —
Zu der in den let z ten Jahren stark angewachsenen Literatur iiber die Ein-
kommensverhaltnisse verschiedener Familientypen liefert Agnes Martens-
Edelmann einenBeitrag, in welchem iiber von anderer Seite seit 1925 veran-
staltete Erhebungen iiber das Einkommen von zusammen 3102 Arbeiter-,
Angestellten- und Beamtenfamilien referiert wird. Von der Verfasserin
selbst wurde das Monatseinkommen in 69 minderbemittelten Familien
unter Beriicksichtigung der regelmafiig von den Haushaltungsmitgliedern
fiir den Haushalt unentgeltlich geleisteten Arbeit untersucht. Dabei ist —
wohl erstmalig — nach dem Marktwert derartiger Arbeiten gefragt worden.
Die sehr interessante Arbeit zeigt, dafi in vielen Fallen das Familieneinkommen
mehr als doppelt so groB ist wie der Arbeitsverdienst des Mannes, wahrend
letzterer etwa 75% des Familieneinkommens auszumachen pflegt, wenn
man dieses nach sonst ublicher Methode berechnet.
Karl Mennicke (in seinem Vorwort zur Schrift von Wildenhayn)
halt die Methode der genannten Schriften fiir verfehlt, nicht nur wegen des
zu eng begrenzten Materials und der zu unbefangenen Benutzung der Selbst-
zeugnisse der Befragten, sondern weil es versaumt wurde, von der durch
die Breite des gesellschaftlichen Lebens hin nachweisbaren strukturellen
Formveranderung des Familienlebens auszugehen und den Einzelbeob-
achtungen und -erhebungen einen nur erlauternden bzw. differenzierenden
226 Besprechungen
Sinn beizulegen. — A. Niemeyer hatte gefunden, daft nur 60 — 80% der
Volksschiiler zu normalen Vollfamilien gehoren; die „unvollstandige" Fa-
milie wird nun genauer von Wildenhayn nach der statistischen und nach
der fursorgepolitischen Seite hin untersucht. Besonders wertvoll ist die
Darstellung der einzelnen sozialpolitischen Systeme in ihrer spezifischen
Bedeutung und ihren Substitutionsmoglichkeiten. — Ebenfalls von der
unvollstandigen Familie geht Margarete Kahle aus, wenn sie untersucht,
welche Grundhaltungen das jugendliche Madchen in seiner Situation als
Fiirsorgezogling von sich aus zu seiner Familie einnimmt, wie die Haltung
der Eltern in dieser Situation zum Madchen ist, wie sich beide gegenseitig
beeinflussen und welche Beziehungen sich daraus ergeben. Sehr sympathisch
wirkt die behutsame Art der Auswertung der Protokolle. Das Buch ist eine
Fundgrube feinster psychologischer Beobachtungen. — Von der sozial-
padagogischen Seite her behandelt Ruth Lindquist das Familienproblem,
indem sie 306 Haushaltungen von mittleren nordamerikanischen Ange-
stellten darauf untersucht, mit welchen Schwierigkeiten materieller und
seelischer Art sie zu kampfen haben und wie der Unterricht der verschie-
denen Schulgattungen gestaltet werden mufi, um auch auf diesem Gebiet
wirksame Hilfe leisten zu konnen. — Beitrage zur Psychologie der Reifezeit
liefert Hermann Wagener; er macht die Industrie jugend im Reifealter
und ihr Verhaltnis zu Vater, Mutter, Geschwistern usw. zum Gegenstand
seiner Forschung. Es kommt ihm dabei auf die padagogischen Einfliisse an,
die von der Familie zu dem Jugendlichen bestehen, und er gelangt zu
dem Ergebnis, daft sowohl fur jeden einzelnen Erzieher als auch fur jede
Erziehungsgemeinschaft der Aufblick nach oben schlechterdings unent-
behrlich ist. — Mit der Haltung der Konf essionen gegenuber dem Eheproblem
beschaftigt sich Heft 1, 1931, der Zeitschrift „ReligioseBesinnung". Ge-
boten wird vor allem eine Kritik der papstlichen Enzyklika „casti connubii"
vom 31. Dez. 1930 und der sog. Lambeth- Bo tschaft der anglikanischen
Bischofe vom Sommer 1930, die gleichfalls von Ehe und Geschlechtsleben
handelt. Dabei die Anpassungsversuche der Gesellschaft an den Entwick-
lungszustand der modernen Zivilisation, in erster Linie der Technik, als
Verwilderung der Sitten, Entgeistigung der menschlichen Beziehungen usw.
zu kennzeichnen und alledem ein hartnackiges „Zuriick!" entgegenzu-
rufen, scheint nicht auf der Linie der Wiedergewinnung einer groftt-
moglichen Harmonie der sozialen Beziehungen zu liegen.
Eine soziologische Betrachtung der Familie stoftt sehr bald auf das
Problem der Frau. Aus alien bisher zitierten Schriften ergibt sich klar, daft
das Wohl und Wehe auch der modernen Grofistadtfamilie ganz wesentlich
von der moralischen Kraft der Frau abhangt. Vorbildlich wird diese Materie
von Gertrud Baumer dargestellt. Sie findet, dafi die wesentliche Bedeu-
tung der Familie nicht in ihrer Eigenschaft als Arbeits- und Wirtschafts-
zelle liegt und also nicht an Wert und Sinn in dem Mafte verliert, als ihre
wirtschaftlichen Funktionen sich verandert haben, daft vielmehr die bluts-
verwandten Bindungen den ubrigen durchaus iibergeordnet sind und als
solche Bestand haben. Baumer muft dabei allerdings die Behauptung auf-
stellen, daft unsere heutigen wirtschaftlichen Verhaltnisse „soziale Mift-
bildungen" sind, an die sich anzupassen ein Unding ist.
Spezielle Soziologie 227
Anregungen fur eine Methodik der Erforschung des sozialen Auf- und
Abstieges von Familien bietet Hermann Mitgau, indem er zeigt, dafi dabei
das sog. Generationsschicksal die entscheidende Rolle spielt und dafi dieser
Fragenkomplex von der bisher nur genealogisch erfafiten Generation her
bearbeitet werden mufi. Justus Streller (Leipzig)*
Efcrenburg, Ilja, Die Traumfabrik. Malik-Verlag. Berlin 1931. (310 S.;
hart. RM. 3.50, geb. RM. 5.50)
Petzet, Wolfgang, Verbotene Filme. Sozietats-Verlag. Frankfurt a. M.
1931. (160 S.; RM. 2.50)
Fulop - Miller, Rene, Die Phantasie - Maschine. P. Zsolnay, Berlin 1931
(203 S.; RM. 3.50, geb. RM. 6.—)
Arnheim, Rudolf, Film als Kunst. Ernst Rowohlt. Berlin 1932. (339 S.;
br. RM. 7.—, geb. RM. 9.—)
Der Film ist bis jetzt weder soziologisch noch psychologisch, ja nicht
einmal asthetisch zusammenfassend untersucht worden. Erst in der letzten
Zeit widmen sich einige beachtliche Arbeiten der Analyse des Films; aller-
dings bedient sich keine von ihnen einer wissenschaftlichen Methode.
Die aufsehlufireichsten Feststellungen enthalt das neueste Werk Ilja
Ehrenburgs. In dieser Chronik der jungen Filmindustrie wird aufgezeigt,
von welchen okonomischen und soziologischen Faktoren die Erzeugung
des heute so wichtigen Konsumtionsgutes „Film" abhangig ist. Am lau-
fenden Band werden in oder, monotoner Arbeit die Wunschtraume fiir den
Kinobesucher hergestellt, der vor Not und Hoffnungslosigkeit, vor der
Erschopfung nach oder, monotoner Arbeit ins Lichtspielhaus entflieht. Die
Fiknfabrikation verfolgt ebenso wirtschaftliche wie soziale Interessen; ihre
Produkte bringen grofie Gewinne und dienen dazu, die Masse des vorhan-
denen und des werdenden Proletariats der herrschenden Klasse gefiigig
zu machen. Staat und Gesellschaft, Kirche, Armee und Polizei bedienen
sich dieser machtigen Kampfmittel. „Das ist die Zauberschachtel, die die
Welt regiert. Das ist eine grofie Erfindung, und das ist Ode, grausame fres-
sende Ode. Das ist der Film.'* Ehrenburg setzt in der vorliegenden
Arbeit die Keihe seiner materialistischen Wirtschaftsberichte fort, die er
mit Beitragen iiber die Autoindustrie und die grofien Trusts begonnen hat.
Er gibt auch in ihr ein aufschlufireiches, umfassendes Material, gekleidet
in die ihm eigene fesselnde Ausdrucksform der romanhaften Reportage.
Eine interessante Erganzung zu Ehrenburgs Werk stellt die Broschure
Petzets dar, in der iiber die mafilose Willkur der deutschen Filmzensur
berichtet wird. Das unterbreitete Material und die genaue Analyse des
Lichtspielgesetzes zeigen das blinde Walten dieses amtlichen Apparats.
Das wichtigste Ergebnis der Untersuchung : die Filmindustrie stent nur in
einem scheinbaren Gegensatz zu der Priifstelle, in Wirklichkeit decken
sich die Intentionen der Produktionsfirmen und des Kontrollorgans mit
seltenen Ausnahmen in volliger Kongruenz. Die Schrift Petzets ware
noch wertvoller, wenn sie in der Auswahl des Materials und in seiner
Interpretation klarer die okonomischen und soziologischen TJrsachen fiir
die behordliche Tatigkeit enthullte; der Uberale Standpunkt des Verfassers
228 Besprechungen
verhindert eine Blofilegung, wie sie die materialistische Methode ermog-
licht hatte.
Fur den Soziologen, der psychologische Tatsachen zu verwerten weifi,
sind viele der Erkenntnisse aus Fiilop-Millers Untersuchung ein brauch-
bares Material. Eine gewisse Vorsicht ist dabei am Platze, da der Verfasser
durch den Verzicht auf jede soziologische Fundierung seiner psychologischen
und zum Teil asthetischen Ausfiihrungen zu manchen falschen Schlufi-
folgerungen gelangt; er verficht die oft ausgesprochene irrige These, dafi
allein der Publikumsgeschmack die Filmproduktion bestimme. Auch die
okonomischen Faktoren fur die Filmerzeugung sind unzulanglich dargestellt ;
eine schiefe Parallele zwischen Film- und Kleiderkonfektion, die sich durch
das ganze Buch zieht, verzerrt das Bild dieses Wirtschaftszweiges. Kultur-
historische Exkurse bis ins Altertum und Mittelalter verschleiem die Unter-
suchungen iiber den Film, der doch ein typisches Produkt und Ausdrucks-
mittel des Kapitalismus ist. Die Arbeit enthalt eine Reihe richtiger
psychologischer Erkenntnisse und Beobachtungen ; den dilettantischen
Verzicht auf jede wissenschaftliche Methodik verbirgt der Verfasser durch
ein wissenschaftliches Gewand aus zahllosen Zitaten von Demokrit und
Aristoteles bis zu Bergson und Graf Key ser ling.
Arnheims sehr griindliche und umfassende Asthetik des Films kampft
fiir dessen Anerkennung als Kunstgattung. Wer sich mit der neuen Kunst-
form des Films soziologisch auseinandersetzen will, wird gut tun, sich aus
dieser kritischen und apolegetischen Analyse zu unterrichten. Obwohl das
Schwergewicht der Arbeit auf asthetischem Gebiet liegt, sieht A. sehr wohl
die Abhangigkeit des Films von den wirtschaftlichen und sozialen Zustanden :
„wer den Film verbessern will, mufi erst die Gesellschaftsordnung ver-
bessern". Carl Dreyfufi (Frankfurt a. M.).
Waples, Douglas, u. Ralph W. Tyler, What people want to read about,
A study of group interest and a survey of problems in adult reading. Uni-
versity of Chicago Press. Chicago 1931. (XXX u. 312 S.)
Das vorliegende Buch gibt Kenhtnis davon, dafi eine Fragestellung, die
ims in Deutschland in den letzten Jahren lebhaf t beschaftigt hat, neuerdings
auch in Amerika mit grofiem Nachdruck aufgegriffen worden ist. Es ist
die Frage, was sich aus dem statistisch und durch andere Beobachtung fafi-
baren und mefibaren Lesebedurfnis einzelner Gruppen auf einzelnen Ge-
biet en geistigen Lebens fiir Schliisse ziehen lassen, die dann fiir die prak-
tische Arbeit des Bibliothekars und Buchhandlers, aber auch fiir die mehr
theoretische des Soziologen und Sozialpsychologen von grofier Bedeutung
sein konnen. Man wandte diesseits und jenseits des Ozeans verschiedene
Methoden an. Wahrend das unter der Leitung von Hofmann stehende Leip-
ziger Institut fiir Leser- und Schrifttumskunde, fufiend auf der Ausleih-
statistik von Biichern, ausgeht von dem wirklich gelesenen Buch, geht Waples
in Amerika von dem Wunsch aus, ein Buch iiber ein bestimmtes Thema zu
lesen, den er in Fragebogen zu erfassen sucht. Wir konnen und wollen hier
nicht entscheiden, welcher Weg mehr verspricht; wichtig ist, dafi die Be-
deutung der Fragestellung durch diese Doppeltheit der Arbeit unterstrichen
wird, und wichtig ist, dafi die angebahnten Arbeitsbeziehungen beider In-
Spezielle Soziologie 229
stitute die Moglichkeit einer gegenseitigen Korrektur und Erganzung in
Aussicht stellen.
Trotz der Gleichheit des Ausgangspunktes ist uns Deutschen das Buch
des Amerikaners zunachst etwas fremd. Man spurt andere soziale Verhalt-
nisse und andere soziale und soziologische Betrachtungsweisen, wenn unter
den fiir das Leseinteresse mafigebenden Faktoren zwar Geschlecht, Schul-
bildung und Beschaftigung genannt, aber die Frage der Klassenzugehorig-
keit nicht erortert wird. Wir glauben Kalkulationen aus dem ameri-
kanischen Geschaftsleben vor uns zu haben, wenn wir sehen, wie man
mit alien Methoden der Mathematik Wahrscheinlichkeitskoefhzienten fiir
die Wirkung einer Biichergruppe auf eine Lesergruppe errechnet. — Und
man spurt den entwicklungsfrohen Optimismus des fremden Landes, wenn
man die hoffnungsvolle Freude des Verf . sieht, mit der er die Moglichkeiten
der sicheren, berechenbaren Grundlage fiir die Arbeit des Bibliothekars, des
Verlegers und des Sortimenters auf zuzeigen hoff t. Doch das alles erklart sich
aus der Situation Amerikas, die unserer nicht gleicht. Man wird die Fort-
setzung der Arbeiten, die W. ankundigt, mit Spannung zu erwarten haben,
da sie vor allem die sozialpadagogische Ausdeutung des erarbeiteten Materials
bringen wird, die hier nur in Anfangen vorhanden ist und vorhanden sein
kann- Das Buch hat fiir unsere Arbeit seinen Hauptwert in dem Eifer, dem
Ernst und der Grundlichkeit, mit denen das Problem angegriffen ist. Sie
werden das Interesse der Cffentlichkeit in Europa an diesen Fragen und
an den begonnenen Arbeiten — ich nenne das kurzlich erschienene Buch
von Walter Hofmann: Die Lektiire der Frau — steigern, und das ist not-
wendig. Denn die Fragestellung ist iiber den engeren Fachkreia weit
hinaus wichtig. Adolf Waas (Frankfurt a. M.).
Thurnwald, Richard, DiemenscklicheGesellschaft in ihren ethnosozio-
logischen Grundlagen. 1. Band: Reprasentative LebensbiMer von
Naturvblkern. Walter de Gruyter. Berlin und Leipzig 1931. (311 S. [mit
Tafeln u. Abb.]; brosch. BM. 18.—, geb. RM. 20.—)
Anlageplan und Zielsetzung der auf 5 Bande berechneten Gesamtver-
offentlichung, vor allem aber die methodologische Grundlegung, wie sie sich
aus dem programmatischen Vorwort und der historisch-kritischen Ein-
leitung des vorhegenden 1. Bandes ergibt, lassen erkennen, dafi dieses Werk
allein schon durch die gedankliche Durchdringung und die methodische
Verarbeitung des Stoffes der Volkerkunde und der Soziologie einen starken
Impuls geben wird und der Behandlung ethnosoziologischer Probleme neue
Wege weist. In der Volkerkunde durfte der Angriff auf Kulturkreislehre
und kulturhistorische Richtung der Ethnologie die Auseinandersetzungen
uber Wesen und Brauchbarkeit ihrer methodologischen Kriterien voraus-
sichtlich erneut aufleben lassen.
Den weitaus groBten Teil des 1. Bandes nehmen die „reprasentativen
Lebensbilder" ein, welche die „GeseIlungstypen*' in ihrem kulturellen Zu-
sammenhang schildern. Mit diesen knapp formulierten Darstellungen der
Lebensverhaltnisse zahlreicher Naturvolker will T. dem Leser, insbesondere
demjenigen, dem das umfangreiche und zersplitterte volkerkundliche Mate-
rial nicht unmittelbar zuganglich ist, einen geordneten Bestand an Tat-
2 30 Besprechungen
sachen vor Augen stellen, so daB er aus ihnen selbst seine Schlusse Ziehen, bzw.
die des Autors nachpriifen kann. In solchen Lebensbildern glaubt T. auch
am ehesten reale Normalformen der menschlichen Vergesellschaftung er-
kennen und Fehlschliisse, wie sie die Verwechslung „gedanklicher Ideal-
typen" und „realer Extremformen" mit sich bringt, vermeiden zu konnen.
Die in den Lebensbildern dargestellten Gemeinschaften, Volker oder
Stamme, gliedern sich nach dem grundlegenden Verhaltnis des Menschen
zu den Quellen seiner Nahrung in zwei Gruppen: die „ Wildbeuter" und die
„Pfleger von Pflanzen und Tieren". Die Wildbeuter sind die Jager und
Sammler der Ethnologie; Thurnwald scheidet sie weiter in Wildbeuter
des Eises (wie die Eskimo), der Steppe, Wiiste und des Graslandes (wie z. B.
die Australier), des Waldes (wie die Weddas auf Ceylon) und endlich des
Wassers, fur die er ein Fischervolk vom Kongo als Beispiel anfuhrt. Aus der
Gesamtheit der Lebensbilder werden dann unter Ausschaltung regional
oder historisch bedingter Sonderbildungen die „soziologischen Ergebnisse"
gezogen. In ahnlicher Weise sind die ,,Pfleger", d. h. die Bodenbauer und
die Hirten, gegliedert und behandelt ; ihre Lebensverhaltnisse, ihre wirtschaft-
liche und soziale Struktur sind naturgemafi unvergleichlich komplizierter
als bei den Wildbeutern. Die Nomenklatur weist manche Sonderbarkeiten
auf („ungeschichtete Klein viehhirten", „gestaffelte Kamelhirten" u. a.),
aber man gewohnt sich rasch an sie, da sie fur den, der das Buch liest,
Wesentliches treffend bezeichnet.
Die folgenden Bande, in denen die „Einrichtungen und Lebensbrauche
in den Gesellungen selbst", d. h. Familie, Wirtschaft, Staat und Recht
dargestellt werden, sollen im nachsten Heft dieser Zeitschrift ausfiihrlicher
gewiirdigt werden.
Ernst Vatter (Frankfurt a. M.)-
Winthuis, J., Einfuhrung in die V orstellungswelt primitiver Volker.
<7. £. Hirschfeld. Leipzig 1931. (364 S.; RM. 7.—, geb. RM. 8.—)
J. Winthuis lafit seinen beiden Schriften iiber das Zweigeschlechterwesen
eine dritte folgen, die die Gedankengange der beiden alteren Arbeiten fort-
fiihrt und vertieft. Alle drei Arbeiten haben nicht nur unsere Kenntnisse
iiber Neupommern (wo der Verf. 12 Jahre lang tatig war) betrachtlich be-
reichert, sondern sie haben auch auf die gesamte Volkerkunde anregend, ja
aufregend gewirkt. W. bringt zahlreiche Belege dafiir, daB viele Naturvolker
den Menschen nicht als eingeschlechtig, sondern als doppelgeschlechtig, als
„Zweigeschlechterwesen" ansehen, daB der Glaube an die Doppelgeschlechtig-
keit in der Weltanschauung vieler Volker eine groBe Rolle spielt und daB
manche Gebrauche nur den Zweck haben, dem Menschen die (verloren ge-
gangene) Doppelgeschlechtigkeit wiederzugeben. Hieruber hinausgehend
betont W. zunachst die groBe Bedeutung geschlechtlicher Bilder und Vor-
stellungen fiir das Dehken der Eingeborenen und schlieBlieh die Verschieden-
heit des „primitiven Denkens" vom „kulturfortschrittlichen Denken'*. Doch
schrankt er „die tJberzeugung, daB die primitive Denkweise von der euro-
paischen spezifisch verse hieden ist", an verschiedenen Stellen ein, so wenn
er schreibt, daB sich bei una „auch in der Oberschicht" gelegentlich primi-
tives Denken verrate, von dem sich ganz „wohl kein Mensch . . . losmachen"
Spezielle Soziologie 231
konne. Auch daB das, was er als ein recht wichtiges Merkmal primitiven
Denkens ansieht, die vorherrschende Besehaftigung mit geschlechtlichen
Dingen, ahnlich bei Tins zu finden ist, gibt er selber ausdrucklieh zu,
ja er erwahnt sogar, daB die gleichen Bilder fiir geschlechtliche Vorgange
wie in der Siidsee auch bei den Flamen vorkommen. Man muB dera
hinzufugen, daB auch die Gleichsetzung „alles Langlichen" mit „dem Mann-
lichen" bei uns ublich ist; „Lanze, Stock, Zeigefinger, Nase" usw. werden in
Europa genau so geschlechtlich gedeutet wie bei den Gunantuna (vgl.
Bd. 9 der Beiwerke zum Studium der Anthropophyteia). — Auch in einer
anderen Beziehung ist W. im allgemeinen vorsichtig: wie schon in dem Titel
seines Buches, so spricht er auch in dem Werk selber meistens nur von den
Anschauungen »,primitiver Volker" und nicht etwa in unzulassiger Verall-
gemeinerung von den Anschauungen der primitiven Volker. Aber gelegent-
lich gelingt es doch, ihn zu stellen: so fiihrt er (sogar zweimal) zustimmend
den Satz von H. Naumann an „Die primitiven Volker sind sich ahnlich und
undifferenziert wie die Kinder". Man wird unbedenklich sagen diirfen, daB
diese Ansieht falsch ist.
Zu eingehender Auseinandersetzung mit den W.schen Gedankengangen ist
hier nicht der Raum. W. hat begeisterte Zustimmung, aber auch entschiedene
Ablehnung erfahren. Der Kampf um ihn wird hoffentlich zu einer Klarung
mancher volkerkundlicher Fragen beitragen.
Paul Leser (Frankfurt a. M.).
Frazer, James George, Mensch, Oott und Unsterblichkeit. Gedanken
uber den menschlichen Fortschritt. (Au8 dem Engl, tibers.) C. L. Hirschfeld.
Leipzig 1932. (XVI u. 364 S.; RM. 6.80, geb. RM. 8.50)
Dem Nichtvolkerkundler, der sich einen Uberblick uber F.s Ansichten
verschaffen will, wird dieser Sammelband, der 177 kurze Abschnitte aus
alteren Arbeiten F.s abdruckt, sehr willkommen sein, besonders dem-
jenigen, der vor dem riesigen Umfang des F.schen Schaffens zuriick-
schreckt. Soweit die Abschnitte schwerer zuganglichen Arbeiten F.s
«ntnommen sind, wird auch der Fachgenosse manche Anregung aus dem
Band gewinnen. Dagegen erscheint mir der Wert des Buches fiir die
breite Offentlichkeit, an die sich diese deutsche Ausgabe wendet, etwas
zweifelhaft. Im Vorwort spricht F, in erstaunlicher Selbsterkenntnis
davon, daB wohl der Hauptwert seiner Biicher in den von ihm zu-
sammengetragenen Berichten uber die Zustande bei den sog. Wilden be-
ruhe. Gerade diese Berichte aber, die ,,schweren Massen von Tatsachen",
sind in diesem Band zum groBen Teil gestrichen worden, so daB oft nur die
„allgemeineren Schliisse" iibrig geblieben sind. XJnd unter diesen Ansichten
von F. sind manche, das wird man bei aller Ehrerbietung vor der Bedeutung
des Verf. doch sagen mussen, die iiberholt oder schief sind. Es erscheint mir
wenig angebracht, w^nn Irrtiimer, uber die die deutsche Vdlkerkunde seit
Jahrzehnten hinaus ist, jetzt als neueste Feststellungen der Wissenschaft ins
Volk getragen werden. Andererseits sei dankbar anerkannt, daB zahlreiche
Stellen des Buchs ohne Einschrankung als lehrreich bezeichnet werden
konnen und sicherlich manchen zu einer naheren Besehaftigung mit der
Yolkerkunde veranlassen werden. Paul Leser (Frankfurt a. M.).
232 Besprechungen
Malinowski, Bronislav, Das Gescklechtsleben der Wilden in Nordwest-
melanesien. Grethlein £ Co. Leipzig 1930. (XIX u. 442 S. ; geb. RM.24. — )
Das vorliegende Werk des englischen Ethnologen ist eine Fortsetzung
seiner Forschungsberichte iiber die mutterrechtliche Gesellschaft der Tro-
briander in Nordwestmelanesien. Es behandelt zum ersten Male in der
etbnologischen Literatur mit eingehender Griindlichkeit nicht nur die auBeren
Formen des Geschlechtslebens, Ehe und Familie, sondern auch den Cha-
rakter des Geschlechtserlebens selbst beim Kinde, Jugendlichen und Er-
wachsenen. Das besonders Wertvolle des Werkes ist darin zu erblicken, daU
es auf die Fragen der Geschlechtlichkeit im Zusammenhange mit der wirt-
schaftlichen und sozialen Struktur der trobriandrischen Gesellscbaft ein-
geht. Ein weiterer Vorzug liegt in der fast vollkommen amoralischen Ein-
stellung des Autors, die ihn davor bewahrt, im Geschlechtsleben der Wilden
einen „zugellosen und unmoralischen Lebenswandel" zu erblicken. Neu-
artig geschildert werden auch die Heiratsriten der Trobriander, die fiir die
Auffassung des gesamten gesellschaf tlichen Prozesses und seiner Widerspruche-
sehr aufschluBreich sind.
Bedeutsam fiir die Beurteilung des Einflusses der sexualfeindlichen
Moral unserei* Kulturkreise auf die seelische Hygiene ist der Fund M.s,
dafi patriarchalische Volkerstamme im Gegensatz zu den mutterrechtlichen
eine strikte Familienmoral und voreheliche Sexualeinschrankung auf-
weisen, gleichzeitig aber auch nervose Erkrankungen, Perversionen und
sexuelle Dissozialitat. Das bestatigt nicht nur die Freudsche Lehre von der
Atiologie der Neurosen, sondern ist auch geeignet, aktuelle Stellungnahmen
zur Frage der psychischen Hygiene ethnologisch zu fundieren.
Dieses Standardwerk der Sexualethnologie wird keiner entbehren konnen^
der aktuelle oder historische Fragen der Sexualsoziologie behandelt. Es
kann auch zweif ellos dazu beitragen, eine ganze Reihe sachlich f alscher und
moralischer Voreingenommenheit entstammender Auffassungen iiber die
menschliche Sexualitat aus der Welt zu schaffen.
Wilhelm Reich (Berlin).
Leser, Paul. Entstehung und Verbreitung des Pfluges. Aschendorfscke
Verlagsbuchhandlung. Munster i. W. 1931. (XV u. 676 S.; br. RM. 36.80*
geb. RM. 39.~)
Das Werk will keine Soziologie der Pflugkultur bieten, sondern eine Unter-
suchung iiber Entstehung und Verbreitung des Pfluges. Kach einer ungemein
fleifiigen Ubersicht iiber die Bodenbearbeitungsgerate in den einzelnen
Landern bringt der zweite Teil eine Greschichte des Pfluges. Dabei ergibt
sich folgendes Bild: das Ziehen von Handgeraten und die Kenntnis der
Verwendung von Tieren zum Schleppen von Schlitten waren — und zwar,
wie das Vorkommen der letztgenannten Erscheinungen in der Arktis zeigt,,
schon vor der Genesis der Hochkultur — der Erfindung des Wagens und des
Pfluges vorausgegangen. Dieser ist allenthalben einheitlicher Herkunft,
kniipft nicht an die Hacke, sondern an den von Menschen gezogenen Zieh-
spaten an, ist in seinen altesten Formen iiberall durch das gleiche Gerippe
und durch das Nicht vorhandensein eines Kriimels gekennzeichnet. Dieses.
Teilstiick kommt erst bei einer jungeren Form vor. Sie hat sich ebenso wie
Spezielle Soziologie 233
der vierseitige Pflug, aber parallel zu ihm aus dem geschilderten friihesten
Typ entwickelt. Das geschah innerhalb der Hochkultur der Mittelmeer-
lander, aber nicht bei den Indogermanen ; denu schon vorher sind babylo-
nische und etruskische Exemplare aufweisbar.
Die Kritik wird, um mit dem Positiven zu beginnen, anerkennen miissen,
dafi L. der Beweis fiir seine Thesen im allgemeinen gelungen ist; diese Be-
hauptung muJ3 aber zwei Einschrankungen erleiden: warum mussen nam-
lich erstens das Ziehen von Handgeraten und die Kenntnis der Verwendung
von Tieren zum Ziehen von Schlitten beide alter sein als nicht nur die Er-
findung des Pfluges, sondern auch die Erfindung des Wagens ? Das ware
doch nur in einem Falle zutreffend, dann namlich, wenn als erstes Tier der
Ren gezahmt worden ware. Mit diesem Argument arbeiten allerdings etliche
Kulturkreistheoretiker gern. Es bleibt aber unbewiesene Behauptung. Doch
beriihrt dieser Einwand diejenigen geschichtlichen Zusammenhange weniger,
die L. besonders am Herzen liegen. Schwerer wiegt dann schon ein anderes
Bedenken. Unerwiesen bleibt namlich die These: Der Pflug ist nicht aus
der Hacke, sondern aus dem Spaten abzuleiten. Sie ist Eduard Hahn gegen-
iiber aufgestellt. In dieser einen Hinsicht muJB man aber an der Auffassung
H.s festhalten. Auch dann bleibt der grundlegende Unterschied zwischen
Hackbau und Pflugbau bestehen. Er ist eben vor allem dadurch gegeben,
da!3 man bei letzterer Seinsform iiber gezahmte Tiere verfiigt und bei ersterer
nicht. Das Wahrscheinlichste hat iibrigens L. selbst geahnt. Auf S. 558,
Anm. 29, sympathisiert er namlich mit der Moglichkeit, die tJbertragung
der Zugkraft des Tieres auf ein Bodenbereitungs-Gerat sei eine Misch-
erscheinung. In diesem Zusammenhange ist insbesondere an die Tatsachen
der Kulturkreisuberlagerungen zu erinnern. Durch Schmidt und Koppers
einerseits, durch Franz Oppenheimer andererseits, sowie auf dem Wege einer
Verkniipfung von Elementen aus den beiden letztgenannten Systemen von
Seiten des Verf. dieser Rezension sind sie herausprapariert worden. Im
iibrigen vermag das Werk trotz jener zwei Einwande wertvolle Anregungen
zu erteilen, und zwar auch noch iiber das aufgezahlte Positive hinaus. Nur
noch auf zweierlei sei abschlieBend hingewiesen: Hier wird an einem neuen
Beispiel die Moglichkeit einer verschiedenartigen Entwicklung aus der gleichen
Form heraus gezeigt und dadurch abermals das grundsatzliche Problem:
Kulturkreistheorie und Evolutionismus aufgerollt. Aber auch noch in einem
ganz anderen Zusammenhang, der die Wissenschaft unserer Zeit besonders
stark bewegt, vermag ein Resultat des Buches wichtig zu werden. Denn iiber
das bislang Bekannte hinaus laBt es die Einheit vorgriechischer Mittelmeer-
kulturen einschliefilich der Etrusker evident werden. Und so wird man,
wenn man alles in allem nimmt, sich trotz jener zwei Einwande des Buches
freuen diirfen. Paul Honigsheim (Koln).
Arbeiten zur biologiscken Grundlegung der Soziologie. Bd. X (1. und
2. Halbband) von Thurnwalds Forschungen zur Volkerpsychologie und
Soziologie. C. L. Hirschfeld. Leipzig 1931. (378 und 218 S.; br. RM.
28.50)
Zehn Autoren geben eine Sammlung mehr von Auffassungen als von
neuen Tatsachen, ein eindringliches Beispiel dafiir, da6 der Eklektizismus
234 Besprechungen
zunimmt, je mehr sich die Wissenschaften von der Benutzung mathematischer
Darstellungsmittel entfemen. Erst recht fehlt die durchgehende Betrach-
tungsweise, die verwickelte Verhaltnisse aufklaren konnte. Auf mehr oder
minder gelaufige oder eigens ersonnene Gedankengebilde werden Erfah-
rungen und Deutungen zuruckzufiihren gesucht. Die Biosoziologie verlangt
freilich mehr.
H. Legewie bemiiht sich um die Bedeutung der Tiers oziologie fiir die
Gesellschaftslehre des Menschen. Im Mittelpunkt seiner Darstellung steht
der „Zusammenhang Leib-Psyche-Umwelt", mit dem er das Problem „Orga-
nismus und Umwelt" ausdeutet. Aphoristische Bemerkungen iiber „das
Tier als geselliges Subjekt" von T. Geiger behandeln die „sozialen Kontakte
de- Menschen zum Tier". Der inzwischen verstorbene Klassiker der Ameisen-
voiOgie E. Wasmann vergleicht die Demokratie in den Staaten der Ameisen
t.iid der Termiten. Der iiberaus verdienstvolle Sachkenner gelangt leider
zu ganz dilettantischen Folgerungen. E. Schwiedland sieht in „Trieb-
anlage und Umwelt soziale Gestalter". Zufallige Voraussetzungen und
schopferische Selbstverwirklichung bestimmen das Werdende. R. Rapaies
gibt einen popularen „Versuch einer Gesellschaftslehre der Pflanzen", dem
die viel griindlichere und umfassende Darstellung von W. Zimmermann
iiber „Pflanzensoziologie" folgt. Wenn auch die neueren Werke von Braun-
Blanquet und Du Rietz nicht mehr berucksichtigt werden konnten, so
liegt doch eine gute Einfuhrung in das Gebiet vor. Der philosophische An-
hang iiber „Wert-Zweck-Ganzheit-Seele (< laflt erfreulicherweise den niich-
terhen Naturwissenschaftler erkennen. P. Krische faCt sich in seinen ,,Bei-
tragen zur Soziologie der Pflanzen" sehr kurz. Er betont die „starken ge-
sellschaftlichen Gemeinschaftskrafte" neben dem erbarmungslosen Kampf
ums Dasein aller gegen alle in der Natur. J. Schjelderup-Ebbes „Des-
potie im sozialen Leben der Vdgel" ist eine Spezialarbeit auf Grund eigener
Naturbeobachtungen. G. Heberer referiert iiber das „Abstammungs-
problem des Menschen im Lichte neuerer palaontologischer Forschung"
unter Berucksichtigung der Literatur bis 1926 und einiger spaterer Arbeiten.
K. F. Wolff erortert kurz die soziologische Bedeutung der kraniologischen
Polaritatstheorie. Julius Schaxel (Jena).
Schaxel, Julius, Das biologische Individuum (in: Erkenntnis, I. Bd.,
H. 6). Felix Meiner. Leipzig 1931. (25 S.)
Sch. bemiiht sich in jahrelanger Arbeit, die Biologie aus ihrem gegen-
wartigen Zustand, der durch das Nebeneinanderbestehen heterogenster
Theorien gekennzeichnet ist, herauszuf uhren : er weist die unbewufit aus der
Forschung der Vergangenheit ubernommenen Denkelemente der heutigen
Theorien auf, die die Fragestellungen der Forschung vorbestimmen und
so ihre Losungen beeinflussen. In dem vorliegenden Aufsatz, der aus einer
geplanten umfassenden Darstellung der modernen Naturwissenschaften
vom Standpunkt des dialektischen Materialismus einiges empirische Mate-
rial vorwegnimmt, erbringt Sch. fiir „den zentralen Begriff jeder meta-
physischen Biologie", den absoluten Begriff des biologischen Individuums
als des Unteilbaren, Vereinzelten, der jahrhundertelang den Fortschritt
der Forschung hemmte, den Nachweis einerseits der gesellschaftlichen Be-
Spezielle Soziologie 235
dingtheit, anderseits seines Zusammenbrechens mit dem Ende der Epoche,
der er entstammte : an einigen herausgegriffenen Beispielen wird seine Un-
haltbarkeit gegenuber den Tatsachen der modernen Forschung, seine Relati-
vierung von alien Seiten her aufgezeigt. Die historische Auflosung des Indi-
viduums geschah durch den Darwinismus, der die Organismen als Produkte
historischer Kumulation erkannte, das absolute Individuum also auf das
Aggregat der unabhangig voneinander an seiner Spezies verlaufenen histo-
rischen Veranderungen reduzierte. Die genetische Auflosung des Indivi-
duums geschieht durch die Vererbungsforschung, die aus dem jeweiligen
physiologischen Individuum nichts anderes als einen willkiirlichen Ausschnitt
aus einem Zusammenhang von Relationen macht. Formal auf gelds t \tfird
der Begriff des Individuums durch die Entwicklungsmechanik, die, im Gegen-
satz zur zielbstrebigen Auffassung der organischen Form als Verwirklichung
des gottlichen Bauplans im Sinne der idealistischen Morphologie, die ontoge-
netische Entwicklung als insukzessiven Akten determiniert erweist, und durch
das biologische Experiment, das die Teilbarkeit des „Unteilbaren" zeigt.
Als sozial relativiert erweisen sich die Lebewesen nicht nur in den Bezie-
hungen der Lebenserhaltung, die durch den Kreislauf des Stoffwechsels
gegeben sind, sondern auch in alien moglichen Abhangigkeitsverhaltnissen
der Konkurrenz und Kooperanz, die in dialektischem Prozefi zu den ver-
schiedensten Graden der Vergesellschaftung in der Natur gefiihrt haben.
Julia Feinberg (Frankfurt a. M.).
Festschrift zum 70. Geburtstag von Carl Grunberg. C. L. Hirschfeld.
Leipzig 1932. (560 S.; br. RM. 27.—, geb. EM. 30.—)
Die Beitrage zu dieser Festschrift legen Zeugnis fiir die vielseitige Forde-
rung und Anregung ab, die Griinbergs Forscher- und Lehrtatigkeit einem
groBen Kreis von Schulern und Freunden gegeben hat. Sie behandeln,
Griinbergs Interessen folgend, Probleme aus den verschiedensten gesell-
schaftswissenschaftlichen Gebieten. Zur Geschichte der Arbeiterbewegung
liegen u. a. Edmond Laskines Aufsatz „Socialisme, mouvement ouvrier et
politique douaniere", Robert Mich els' Bericht iiber eine von ihm selbst ge-
tragene syndikalistische Unterstromutig im deutschen Sozialismus (1903 bis
1907) und Kathe Leichters Studie iiber den Weg vom revolutionaren
SyndikaUsmus zur Verstaatlichung der Gewerkschaften in Italien und RuB-
land vor. Untersuchungen zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte haben Max
Beer, der iiber „ Social Foundations of Pre-Norman England 4 *, und Fedor
Schneider, der iiber die soziale Lage des freien Handwerks im fruhen Mittel-
alter schreibt, geliefert. Paul Szendes Beitrag aus der ungarischen Rechtsge-
schichte ~ er schildert unter dem Titel „Nationales Recht und Klassenrecht" die
Tatigkeitder sog. Judexkurialkonferenz vom Jahr 1861 — ist durch die Pro-
blemstellung des historischen Materialismus angeregt. — Fragen der okonomi-
schen Theorie behandeln die Arbeiten von O. Leichter iiber „Kapitalisraus und
Sozialismus in der Wirtschaftspolitik" und F. Pollock iiber „ Sozialismus und
Landwirtschaft", ferner die Aufsatze Stephan Bauers, Henryk GroBmanns
und Franz Oppenheimers. Bauer verfolgt den Ursprung der Doktrin des
laisser faire und des wirtschaftlichen Gleichgewichts — er nenntdiese Theoreme
„Verlegenheitsme.taphern t ' — bis in die Medizin. Grofimann weist die Kritik
236 Besprechungen
zurtick, die Rosa Luxemburg an der MarxschenDarstellung der Reproduktion
des Geldmaterials geubt hat. Oppenheimer stellt bei der Aufklarung der
gegenseitigen Beziehungen von Stadt und Land das Goltzsche Gesetz in den
Mittelpunkt. Eine Arbeit von Gerloff unterrichtet iiber die Entwicklungs-
tendenzen in der Besteuerung der Landwirtschaf t ; herangezogen sind dieVer-
haltnisse in Deutschland, GroBbritannien, Frankreich, der Tschechoslowakei,
Italien, Rufiland undKanada. Die Beitrage Krzeczkowskis und Pribrams
haben sozialpolitische Themata zum Gegenstand. Den Methodenstreit in
der Nationalokonomie nimmt Louise Sommer zum Ausgangspunkt einer
geisteswissenschaftlichen Analyse, die zeigt, wie stark der Ursprung der
Methodenkampfe (nicht nur in der Nationalokonomie) im Gegensatz der
Weltanschauungen verankert ist. Zu den Fragen der Wissenschaftslehre
nimmt auch Horkheimers Aufsatz „Hegel und das Problem der Meta-
physik" Stellung: nach ihm ist die Behauptung der Identitat von Subjekfc
und Objekt nicht blofi die ausdriickliche systematische Voraussetzung
Hegels, sondern die implizite aller Metaphysik. Mit ihrer Widerlegung sei
jegliche Aussage iiber das „ Absolute" getroffen. Nach Fortfall der Subjekt-
Objekt-These Hegels mufiten die Elemente seiner Philosophie entweder in
Wissenschaft iibergefuhrt werden oder selbst ebenfalls der Kritik erliegen. —
Mit geistes- bzw. dogmengeschichtlichen Skizzen zur Interpretation wichtiger
Bestandteile der Marxschen Gesellschaftslehre sind Max Adler, Rodolfo
Mondolfo und K. A. Wittfogel an der Festschrift beteiligt.
Kurt Mandelbaum (Frankfurt a. M.).
Okonomie 1 ).
Lederer, Emil, Aufrijil der ohonomischen Theorie. 3. erw. u. vollig urn-
gearb. Aufh J. C. B. Mohr (Paul Siebeck). Tubingen 1931. (XII u.
351 S.; 6r. KM. 9.20, geb. RM. 12.—)
Lederer legt seine „Grundzuge" jetzt in dritter, wesentlich erweiterter
Fassung als „AufriB der okonomischen Theorie" vor. Schon ein Blick auf
das Inhaltsverzeichnis zeigt, dafi L. das iibliche Auf bau- und Gliederungs-
schema der „Einfuhrungen" verlassen hat und semen Gegenstand methodisch-
theoretisch entwickelt. Allerdings nicht in einer klassifikatorisch-gerad-
linigen Systematik, sondern in didaktisch fruchtbaren Gegeniiberstellungen
und Vergleichen. So werden in den beiden Einleitungskapiteln die naturalen
und sozialen Grundphanomene der Wirtschaft und des Wirtschaftslebens
dargestellt unter dem Gesichtspunkt ihres Bedeutungswandels in den ver-
schiedenen Wirtschaftsformen (L. unterscheidet Bedarfsdeckungswirtschaft,
einfache und entwickelte Verkehrswirtschaft). In einem klaren Katalog
von korrespondierenden, den einzelnen Wirtschaftsformen zugeordneten
Grundbegriffen kann L. schliefilich diese fiir das Verstandnis der historischen
Natur der heutigen Wirtschaftsverfassung wichtige Analyse abschlieBen.
Der eigentliche Hauptteil des Werkes wird ausgefiillt von einer Gegeniiber-
stellung der auf der Arbeitswertlehre aufbauenden klassischen und marxi-
x ) Eine Sammelbesprechung iiber neuere planwirtschaftliche Literatur
muBte wegen Raummangels fiir das nachste Heft ziu:iickgestellt werden.
Okonomie 237
stischen Schule und der auf der Gebrauchswerttheorie basierenden Grenz-
nutzenschule. Jedes der beiden Systeme wird zunachst fiir sich in seinen
Grundlagen und Konsequenzen entwickelt, die Schwierigkeiten, die von
jedem Ansatz her entstehen (z. B. Zins- und Lohnprobleme fiir beide Theorie -
gruppen, das Zurechnungsproblem speziell fiir die Grenznutzenschule, die
Bedeutung der Bedarfsordnung und des Monopolpreises besonders fiir die
klassischeLehre), werden aufgedeckt und dann derVersuch gemacht, Grenzen
und Leistungsfahigkeit beider Systeme abzuwagen. Vollig undogmatisch
und mit klaren Argumenten nimmt L. zu jedem einzelnen Problem Stellung
und zeichnet im Anschlufl an das Zinsproblem die Grundlinien einer dyna-
misehen Theorie durch eine kurze Analyse der Wirkungen der Bevolke-
rungsvermehrung und des technischen Fortschritts.
L.s Schrift gibt durch die Konfrontierung von klassischer und Grenz-
nutzenlehre einen guten Uberblick iiber den Stand der okonomisch-theo-
retischen Diskussion, bringt, wenn auch nicht dem „reinen Anf anger",
so doch dem fortgeschrittenen Studenten eine Fiille von Anregungen und
vermittelt ein wirkliches Verstandnis der schwierigen theoretischen Zu-
sammenhange. Kein Paukbueh — aber ein Lehrbuch in jenem guten Sinne,
dafl es zum selbstandigen Denken geradezu herausfordert.
Fritz Burchardt (Frankfurt a. M.).
Lederer, Emil, Technischer Fortsckritt und Arbeitslosigkeit. J. C. B. Mohr
(Paul Siebeck). Tubingen 1931. (VII u. 126 S.; br. BM. 5.—)
Lederer untersucht die Wirkungen eines technischen Fortschritts, der
in einem Teil der Produktion die organische Zusammensetzung des Kapitals
erhoht, also zu Arbeiterentlassungen fiihrt. Im Ausgangsschema, dem eine
gleichmaBig wachsende Wirtschaft ohne Produktionsreserven zugrunde
liegt, ist angenommen, daB der technische Fortschritt durch Ablenkung
von Kapital aus anderen Verwendungen finanziert wird. Wahrend die
Kompensationstheorie die Wiederaufsaugung der freigesetzten Arbeiter
lediglich von einer statischen Angleichung der vorhandenen Produktions-
elemente abhangig macht, weist L. iiberzeugend nach, da6 die Freisetzung
erst kompensiert werden kann, wenn zusatzliche Produktionsanlagen ge-
schaffen sind. Dabei entscheidet der Umfang der Kapitalbildung im Sinne
der Vermehrung der Arbeitsplatze iiber das AusmaB der Kompensation,
die jedenfalls nicht im bestehenden Kreislauf erfolgt und bei forciertem Tempo
des technischen Fortschritts iiberhaupt zweifelhaft wird (strukturelle Ar-
beitslosigkeit'.). Dieses Kesultat bleibt auch bei Beriicksichtigung des zu-
satzlichen Kredits und in der Wirtschaft vorhandener Reserven bestehen,
mit deren Einfuhrung L, in die Gedankengange der Konjunkturlehre ein-
biegt. Seine Arbeit, die mit der Forderung nach gesellschaftlicher Zugelung
des technischen Fortschritts schlieBt, bringt die Theorie der Arbeitslosigkeit
urn ein gutes Stuck vorwarts. Kurt Mandelbauna (Frankfurt a. M.).
Wagemann, Ernst, Struktur und Rhythmus der Weltwirtschaft. Beimar
Hobbing. Berlin 1931. (XXVI u. 414 S.; br. BM. 18.—, geb. BM. 20.— )
„Die Gesamtheit der verkehrsverbundenen Volkswirtschaften" steht
in verschiedener „Organisationsform" auf verschiedener „Intensitatsstufe".
238 Besprechungen
In funktionaler Wechselwirkung mit der Bevolkerungsdichte und Boden-
kapazitat sind die Intensitatsstufen vor allem charakterisiert durch Quantitat
und Qualitat der produzierten Produktionsmittel. Produktivitat, Selbst-
versorgung, Export -Import-Dependenz und Krisenfestigkeit sind natiir-
lich aufs starkste durch die jeweilige Stufe bestimmt. Die Organisations -
formen aber sind nicht wie die Intensitatsstufen das technisch-okonomische,
sondern das rechtlich-okonomische Fundamentaldatum. Als fiir unsere
kapitalistische Gegenwart relevant unterscheidet W. idealtypisch freie
Ertrags- und Bedarfswirtschaft wie gebundene Ertrags- und Bedarfswirt-
schaft. Real sind diese 4 Typen beispielsweise reprasentiert durch: 1. den
Hauptteil der agrarischen Marktwirtschaft Europas von 1850 wie der kolo-
nialen Agrarwirtschaft von 1930, die beide „in der Hauptsache darauf aus
sind, den Konsum durch den Markttausoh zu erganzen", 2. jene scharf
kalkulierende liberal -biirgerliche Profitwirtschaft, welche protektionistisch
immer mehr modifiziert den 3. Typus vorbereitete — die neomerkantilistisch
von Zollen ummauerte und auch sonst staatlich subventionierte, durch-
kartellierte und vertrustete Profitwirtschaft mit ihrer zwangslaufigen Wen-
dung zum reinen „Unternehmerstaat" des Faschismus. Der 4. Typus,
obgleich wie der 3. gebunden, ist „der starkste Gegenpol des Faschismus":
der Bolschewismus, der im Prinzip „einen reinen Arbeiterstaat begriindet"
und als einzige Organisationsform es verstanden hat, „der Krise auszu-
weichen*'. Diese 4 Organisationsformen ergeben zusammen mit den jeweiligen
Intensitatsstufen — die keine Entwicklungsstufen zu sein brauchen —
4 Wirtschaftssysteme, von denen jedes im geographischen Neben- und
historischen Nacheinander grundverschiedene Wirtschaftsstrukturen auf-
weist. Und wie zuvor schon in der „Konjunkturlehre" unterscheidet W.
diese Wirtschaftssysteme oder Kealtypen als Nicht-, Halb-, Neu- und Hoch-
kapitalismus.
Die ganze Krisentheorie W.s ist Konjunktur-Strukturtheorie. „Wie
sehr die unorganische Systemmischung inner halb der Weltwirtschaft und
schon innerhalb der Volkswirtschaften die Uberwiiidung der Krisen er-
schwert", diese Feststellung bildet ein Hauptergebnis seiner Betrachtungen.
,,Die ganze Wucht der krisenhaften Erschutterungen konzentriert sich auf
den Bezirk der wirklich frei beweglichen Wirtschaftselemente", da „iso-
lierte Regulierungen einzelner Wirtschaftsvorgange Storungen auf den
Nachbargebieten keineswegs verhindern, sondern im Gegenteil oft erst
hervorrufen oder verstarken". Mischsysteme sind am krisenanfalligsten.
W. fordert eine Lehre der weltwirtschaftlichen Dynamik und erarbeitet
durch seine Fragestellung, durch sein Tatsachenmaterial, durch den klaren
tjberblick der Konjunkturlinien bis zum Weltkrieg, die knappe Beschrei-
bung der Systemumbildung und der Konjunktur nach 1919 ein Stuck rea-
listischer Okonomie. Es ist schon deshalb eines der wichtigsten okonomischen
Biicher aus den letzten Jahren. Die Kausalanalyse der gegenwartigen
Krise aber macht es zu einem besonders interessanten und aktuellen
Werk.
Heinrich Ritzmann (Frankfurt a. M.).
Okonomie 239
Mitchell, Wesley C, Der Konjunkturzyklus. Problem und Problemstel-
lung. Nach der vom Verf. durchges. u. erg. Originalausgabe hrsg. v. Fug en
Altschul. Hans Buske. Leipzig 1931. (XVIII u. 487 S.; br.BM.26.—,
geb. RM. 28.—)
Die Herausgabe des Mitchellschen Werkes in deutscher Sprache, das
in der ersten Auflage vom Jahre 1913 wegweisend fxir eine zugleich theore-
tische und realistische Konjunkturforschung war und in der der Ubersetzung
zugrundeliegenden 5. Auflage bedeutend erweitert und vertieft wurde, ist
ein nicht zu unterschatzendes Verdienst von E. Altschul, dem Leiter des
Frankfurter Konjunkturinstituts. tlber den Irihalt des Buches selbst, das
in einem 2. Bande, der die Sachprobleme der Theorie behandelt, foftgesetzt
werden soil, braucht angesichts seiner internationalen Anerkennung als
Standardwerk der Konjunkturforschung kaum etwas gesagt zu werden. Es
enthalt einleitend einen Uberblick iiber die gangigen Konjunkturtheorien
und eine Darstellung des Zusammenhangs zwischen Wirtschaftsverfassung
und Konjunkturablauf. Sein Schwergewicht liegt jedoeh in der Analyse
der Methoden der Konjunkturstatistik, ihrer Durchfuhrung am konkreten
Material und der Aufdeckung der Grenzen ihrer Anwendung. Den AbschluB
bildet ein Resume der „ Business Annals'', d. h. eine Untersuchung der
Konjunkturintensitat und -dauer in verschiedenen historischen Epochen
fur fast alle Lander. — Die Ubersetzung hat die grofien Schwierigkeiten,
die durch den z. T. recht knappen Stil und die Vielzahl von terminis technieis
entstanden, geschickt iiber wunden und vermittelt dem Leser in leicht faB-
licher Sprache ein klaresBild iiber den Stand der amerikanischen Konjunktur-
forschung. Zu den Arbeiten von Wagemann, die vornehmlich die deutsche
Entwicklung beriicksichtigen, diirfte die Altschulsche Ausgabe des Mitchell-
schen Werkes mit ihren zahlreichen statistischen und graphischen Dar-
stellungen amerikanischen Materials und ihren umfangreichen Literatur-
hinweisen eine wertvolle Erganzung bilden.
Fritz Burchardt (Frankfurt a. M.),
Probleme der Wertlehre. Hrsg. v. Ludwig Mises und Arthur Spiethoff.
Erster Teil. Beitrdge von V. Furlan, Friedrich v. Gottl-Ottilienfeld, Wil-
helm Kromphardt, Robert Liefmann, Ludwig Mises, Oskar Morgenstern,
Franz Opperiheimer, Othmar Spann, Wilhelm Vleugels, Hans Zeisl. —
Schriften des Vereins filr Sozialpolitik t 183/1. Duncker & Humblot. Miln-
chen u. Leipzig 1931. (295 S.)
Man wird von einem Unternehmen, das um der Klarung der werttheo-
retischen Standpunkte willen den Vertretern der verschiedenen Lehrmei-
nungen das Wort gibt, nicht erwarten dtirfen, daB es viele vorwartsweisende
Gesichtspunkte zutage fordert. Umso mehr sei aus der Reihe der Beitrage
der Aufsatz von Oskar Morgenstern iiber „Die drei Grundtypen der
Theorie des subjektiven Wertes" hervorgehoben, weil hier deutlicher als
es bisher geschehen ist, die fundamentalen tibereinstimmungen zwischen
der osterreichischen, der Lausanner und der ^angloamerikanischen Variante
der Grenznutzenlehre herausgearbeitet sind. — Als grundsatzlich liberale
Theorie wird die Grenznutzenlehre in zwei Aufsatzen von Mises vorgetragen.
240 Besprechungen
Seine Darlegungen unterliegen jedoch dem Einwand Hans Zeisls, der mit
Recht darauf hinweist, dafi die subjektive Theorie iiber die ZweckmaBigkeit
von Interventionen, die auf „Datenanderungen" abzielen, nichts aussagen
kann. — Die Arbeitswertlehre kommt in diesem Band nur durch Oppen-
heimer zur Geltung. Denn auch Zeisl, der in seinem Beitrag iiber „Marxis-
mus und subjektive Theorie" die tJberlegenheit des Marxschen Stand-
punktes verficht, beschreibt den Preismechanismus mit den Denkmitteln
der Grenznutzenlehre ; aber er bestreitet die Fruchtbarkeit der durch die
moderne Theorie vorgenommenen Einschrankung des Sachgebietes der Wirt-
schaft auf die Preisgesetze, weil bei solchem Vorgehen alle Prozesse
unerklart blieben, durch die sich im Gefolge der Wirtschaftshandlungen
die Struktur der Gesellschaft und damit die Daten der Preisbildung andern.
■ — Die Aufsatze von Kromphardt und Vleugels befassen sich kritisch
mit den Gedankengangen, die der Ablehnung der Wertlehre zugrunde liegen.
Kurt Mandelbaum (Frankfurt a. M.).
Der Internationale Kapitalismus und die Krise. Festschrift fiir Julius Wolf
zum 20. April 1932. Ferdinand Enke. Stuttgart 1932. (383 S.; 6r. EM.
12.—, geb. EM. 14.40)
Die Autoren, die an dieser Festschrift zum 70. Geburtstag J. Wolfs mit-
gearbeitet haben, gehen an die okonomischen und zum Teil auch politischen
Probleme der Gegenwart von verschiedenen Seiten heran. Einige Aufsatze
haben die Weltwirtschaftskrise unmittelbar zum Gegenstand. Eine Auf-
klarung iiber ihre Entstehungsgrunde versucht aller dings nur Englis, ohne
mit seinem Hinweis auf die Geldaufwertung als Krisenursache sehr in die
Tiefe zu gehen. Ebensowenig kann Mises befriedigen, der unter dem Titel
,,Die Legende vom Versagen des Kapitalismus" in bekannter Weise gegen
Interventionismus und Etatismus Anklage erhebt. Eine viel realistischere
Deutung der staatlichen Eingriffe in die Wirtschaft bietet demgegeniiber der
Beitrag „Ne laissez pas aller!" von Eul en berg, der die wirtschaft spolitischen
MaBnahmen des Staates nach ihren verschiedenartigen Aufgaben und Wir-
kungen differenziert. Eine Reihe von Mitarbeitern macht Vorschlage zur
tTberwindung oder Linderung der Krise. Dal berg befvirwortet in seinem
Bericht iiber ^England seit Aufgabe des Goldstandards" eine Nachahmnung
des englischen Vorbilds. Julius Hirsch empfiehlt zur Teillosung der Arbeits-
losenfrage die Griindung einer Selbsthilfeorganisation, die in Ausbau bereits
vorhandener Ansatze (Frankfurter Erwerbslosenkiichen usw.) den Arbeits-
losen ermoglichen soil, sich gegenseitig bei der Beschaffung der Emahrung,
bei Ausbesserungsarbeiten an Kleidung, Wohnung usw. zu helfen. Der land-
wirtschaftlichen Absatzkrise kann nach Laur durch MaCnahmen abgeholfen
werden, die geeignet sind, die Verwandlung des Getreides in tierische Er-
zeugnisse und den Verbrauch von Fleisch und Molkereiprodukten zu fordern.
Elsa Gasser-Pfau setzt sich fiir eine international Aktion zur Liquidierung
der tJbervorrate ein : die Vorratsiiberschusse an Lebensmitteln sollen zu sehr
mafiigen Preisen an Arbeitslose verteilt, die Rohstoffvorrate in ahnlicher
Weise zur Verarbeitung gebracht werden.
Ein Sonderabschnitt der Festschrift ist den Problemen der einzelnen
Volkswirtschaften gewidmet. tTber ein Teilgebiet der deutschen Wirtschaft,
Okonomie 241
den deutschen Maschinenexport, instruiert Hans Kroner. Die Sonder-
stellung Fr ankreichs wird unter verschiedenen Aspekten von U n g e r n -
Sternberg, Gottfried Salomon und Gotz Briefs beleuchtet. Ein Aufsatz
Cleinows uber „Klassenbildung im Sowjetstaat" berichtet vornehmlich
tiber das Verkiimmern des Sowjetgedankens und das Erstarken der Biiro-
kratie. Hermann Levy behandelt den Aufstieg der fernostlichen GroB-
industrie mid die Konkurrenzverhaltnisse auf diesen Markten. tJber die
politisehen Spannungen im fernen Osten und den pazifischen Gebieten
orientieren Otte und Grabowski.
Eine Erscheinung, die sich in der Mehrzahl der groBen Lander gelt end
macht, ist der Geburtenriickgang, der — wie Burgdorfer fur Deutschland
feststellt — entgegen der Annahme der „ Wohlstandstheorie" bei den breiten
Massen vielfach in noch starkerem MaBe auftritt als bei den Wohlhabenden.
Als einer voraussichtlichen Folge der zu erwartenden Bevolkerungsst agnation
vor allem in Europa rechnet Sartorius von Waltershausen mit einem
quotenweisen Zuriickweichen des westlichen Europa im Welthandel. Den
EinfluB des Geburtenriickgangs auf die Wanderungsbewegung behandelt
Ferenczi. Zum SchluB sei bemerkt, daB auch Karl Kautsky, ein alter
Gegner Julius Wolfs, mit einem Aufsatz iiber „Die Fabel von der Natur-
notwendigkeit des Krieges" an der Festschrift mitgearbeitet hat; er setzt
sich mit Rudolf Steinmetz, Sigmund Freud und Oswald Spengler ausein-
ander. Kurt Mandelbaum (Frankfurt a. M.)
Marx, Earl, „Das Kapital", Kritik der politisehen Okonomie, 1. Bd., neu
herausgegeben und mit einem Geleitwort von Karl Korsch. Gustav Kiepen-
heuer. Berlin 1932. (768 S., geb. RM. 2,85)
Korsch hat sich die Aufgabe gestellt, eine „zugleich treue und fiir jeder-
mann lesbare Ausgabe des Marxschen Kapitals" zu besorgen. Die druck-
technisch einwandfreie, handliche und erstaunlich billige Neuausgabe hat den
besonderen Vorzug, daB darin alles getan ist, um dem Nichtfachmann die
Lektiire zu erleichtern: alle fremdsprachlichen Zitate sind iibersetzt, die
anglizistischen Eigentumlichkeiten des Marxschen Stils ins Deutsche iiber -
tragen, Stichworte am Kopf jeder Seite erleichtern die Orientierung, FuB-
noten, die fiir den heutigen Leser belanglos sind, wurden gekiirzt oder ganz
weggelassen, und am SchluB finden sich ausreichende biographische Notizen
iiber alle wichtigen Eigennamen, eine Auffuhrung der zitierten Werke und
ein Fremdworterverzeichnis. Diese bedeutende herausgeberische Leistung
darf trotz gelegentlicher Irrtiimer als gegliickt gelten, der Herausgeber hat
die grofie Schwierigkeit, bei allem Bemiihen um Popular isierung eine mog-
lichst treue Wiedergabe des Originals zu geben, mit Erfolg gelost.
Die besondere Note dieser Ausgabe liegt darin, daB sie eine Wiedergabe
der zweiten, noch von M. allein besorgten deutschen Auflage des „Kapitals (t
von 1872 darstellt. Die spater erschienene franzosische Ausgabe, die von M.
durchgesehen worden ist und zahlreiche Zusatze und vereinfachte Ausdriicke
enthalt, ist von K. ,,nur in solchen Fallen beriicksichtigt, wo dadurch der
streng wissenschaftliche Aufbau und die kiinstlerische Geschlossenheit" der
vorhergegangenen deutschen Ausgabe nicht gestort wurde. Allerdings
konnen uns die K.schen Argumente fiir die tJberlegenheit der 2. Auflage des
242 Besprechungen
M.schen Werkes gegeniiber den spateren "UTierarbeitungen von Marx und
Engels bzw. Kautsky und Rjasanov, nicht ganz da von uberzeugen, ob es
nicht doch richtiger gewesen ware, eine spatere Ausgabe zugrunde zu legen.
Jedoch sind die Unterschiede der verschiedenen Ausgaben nicht so bedeutend,
daB durch die Bedenken gegen die Wahl der 2. Auflage der Wert des vor-
liegenden Buches als popularer Fassung des Werks geschmalert wiirde.
A. F. Westermann (Frankfurt a. M.).
Hoffmann, Walther, Stadien und Typen der Industrialisierung.
Ein Beitrag zur quantitativen Analyse historischer Wirtschaftsprozesse.
Gustav Fischer. J e na 1931. (VII u. 190 S.; RM. 9.—)
Hoffmann hat sich zur Aufgabe gesetzt, die Industriewirtschaften der
wichtigeren und dank ihrem statistischen Material erfafibaren Lander in-
haltlich nach ihrem Entwicklungsgrad miteinander zu vergleichen und ihr
Wachstumstempo zu erfassen. Er muB zu diesem Zweck typische Gestal-
tungen des industriewirtschaftlichen Aufbaus herausarbeiten, die einen
Vergleich in raumlicher wie zeitlicher Hinsicht ermoglichen. Ein brauch-
bares Strukturkriterium bietet nach den theoretischen Uberlegungen des
ersten Teils das GroBenverhaltnis zwischen Konsumgut- und Kapital-
gutindustrien. Da sich diese Relation im Laufe der Entwicklung derart
verschiebt, daB die anfangliche Vorherrschaft der Konsumgutindustrien
kontinuierlich zugunsten der Kapitalgutindustrien zuriickgeht, ist es mog-
lich, den EntwicklungsprozeB in Stadien zu zerlegen, die durch typische
GroBenordnungen der beiden Produktionsabteilungen gekennzeichnet sind
und deren Abfolgecharakter dadurch hervorgehoben werden kann, daB die
aus dem Material gewonnenen Durchschnittstypen in der Richtung der
Abnahme der Konsumgutindustrien mit dem Index des 1., 2., 3. . . . Sta-
diums der Industrialisierung versehen werden. Die auf solche Weise mar-
kierte Entwicklung ist jeweils von einzelnen Industrien getragen, so daB
weiterhin die Frage erhoben werden kann, von welcher Art diejenigen Bran-
chen sind, die den groBten Anted an der Strukturanderung haben. Von
diesem Gesichtspunkt aus lassen sich Typen der Industriewirtschaft nach
dem Merkmal der jeweils vorherrschenden Einzelindustrie bilden.
Infolge der Gegenlaufigkeit der beiden groBen Produktionsabteilungen
miissen Industrielander gleichen Alters ahnliche Strukturen aufweisen bzw.
rmissen die einzelnen Volkswirtschaften in jedem Zeitpunkt einen verschie-
denen Aufbau zeigen, da sie nacheinander zum Industriekapitalismus iiber-
gegangen sind. Die vergleichende Gegenuberstellung der raumlich getrennten
Wirtschaftsgebiete macht demnach eine zeitliche Fixierung des Industriali-
sierungsbeginns erforderlich. H. unterscheidet vier groBe Perioden, die
ungefahr durch die Jahre 1770—1820, 1820—1860, 1860—1890 und 1890
bis zur Gegenwart abgegrenzt sind: in jeder dieser Perioden machen andere
Lander den Ansatz zur Industrialisierung.
Im Interesse der Uberschaubarkeit der Entwicklungsprozesse war H.
zur Einfiihrung solcher Zasuren gezwungen. Ihre ZweckmaBigkeit erweist
sich im Gang der Untersuchung, die bei aller vom Thema geforderten theo-
retischen Zuspitzung doch immer dem Geschichtlichen gerecht bleibt, weil
H. bei der Einordnung der einzelnen Industriewirtschaften jeweils die Fak-
Okonomie 243
toren beriicksichtigt, deren Wirksamkeit bei der Strukturgestaltung von
EinfluB war und eventuell zu Abweichungen von den Durchschnittstypen
gefiihrt hat. KurtMandelbaum (Frankfurt a. M.).
The New Survey of London Life and Labour. Vol. I: Forty years of
change. Vol. II: London Industries. King. London 1930 u. 1931.
(I: XVI u. 438 S., II: VIII u. 492 S.)
Der vorliegende Band bildet die Einleitung zu einer Buchreihe, in der
die Ergebnisse der gegenwartigen Enquete iiber die Lebens- und Arbeits-
verhaltnisse der Londoner Bevblkerung niedergelegt werden sollen. Diese
Enquete wird unter der Leitung von Sir Hubert Llewellyn Smith von der
London School of Economics aus unternommen und ist eine Erneuerung
der groflen Untersuchung, welche Charles Booth in den Jahren 1886 — 1903
durchfiihrte. B. unternahm seine Arbeit zu einer Zeit> in der die ersten
sozialen Folgen der Erschiitterung der absoluten Vormachtstellung der eng-
lischen Industrie wahrend des vorhergehenden Jahrzehnts sich deutlich fuhl-
bar gemacht hatten und in der es daher notig war, sich zum erstenmal mit
den groBen sozialen Problemen der Arbeitslosigkeit und der ,,Armut" im
allgemeinen ernstlich auseinanderzusetzen. Das fast vollige Fehlen jed-
weden statistischen Materials brachte es mit sich, dafi B. seine Hauptarbeit
gerade in der Losung des Problems der Zahlen, des Verhaltnisses der
„armen" Bevblkerung zur Gesamtbevolkerung und der Definition der
,,Armut" sah. Das Ergebnis war ein auBerst detailliertes Bild der Lon-
doner Lebensverhaltnisse wahrend der letzten Jahre des 19. Jahrhunderts,
ein Bild, das jedoch bei aller Warme und Lebendigkeit des beschreibenden
Details ganz bewufit ein rein statisches war.
Die neue Untersuchung hat von B. im wesentlichen die Fragestellung
ubernommen, d. h. sie bewegt sich ausschliefilich im Kahmen einer stati-
stischen Problemstellung, und sie wird ein wesentlich statisches Bild der
Verhaltnisse 40 Jahre nach B. geben. Der erste Band nun hat die Aufgabe,
als Einleitung zu der neuen Serie die Verbindung mit B. herzustellen, und
befaBt sich daher mit den Veranderungen der statistisch erfafiten Lebens-
verhaltnisse der Londoner Bevblkerung wahrend der letzten 40 Jahre, die
besonders unter den folgenden Gesichtspunkten behandelt werden : Lebens-
kosten; Geld- und Reallbhne und Arbeitszeit; Mieten und XJbervblkerung;
Gesundheit; Schulwesen; Arbeitslosigkeit und ihre Behandlung; Armenfur-
sorge; Verbrechen.
Aus dem Charakter dieses Bandes als Einfuhrung zu dem Gesamtwerk
ergibt sich die Tatsache, daB die Resultate zunachst als vorlaufige anzu-
sehen sind, die durch die eigentliche Untersuchung erst ihre Bestatigung
oder, wo nbtig, Korrektur erhalten werden. Bei der Bewertung der Ergeb-
nisse selbst ist die zeitliche Begrenzung zu beriicksichtigen. Notwendiger-
weise muBte bei dem vorliegenden Band das Jahr 1928 in der Hauptsache
als Endpunkt der statistischen Serien genommen werden, d. h. ein Jahr
der verhaltnismaBigen Hochkonjunktur, in dem vor allem die Londoner
Industrien noch nicht von der jetzt sehr tiefgreifenden Krise der englischen
Wirtschaft erfaBt waren. Es folgt die Notwendigkeit, diesen Faktor in Rech-
244 Besprechungen
nung zu ziehen, wenn man aus den dargelegten Verhaltnissen ein Bild der
heutigen Zustande gewinnen will.
Der zweite Band enthalt den ersten Teil der industriellen (im Gegensatz
zur sozialen) Serie der Beschreibungen. Bauindustrie, Metall- und Maschinen-
industrie, Holz- und Mobelindustrie, Bekleidungsindustrie, Schuhfabrikation
und -reparatur, Hafenarbeit und endlich private Dienstbotenarbeit fiillen die
fast 500 Seiten dieses Bandes. Struktur der Industrie, Form und Einflufi so-
wohl der Arbeitgeber- wie der Arbeitnehmerorganisationen, Einflufi der
Mechanisierung auf die Arbeitertypen, Lohne und Form der Entlohnung,
Arbeitslosigkeit usw. werden eingehend beschrieben.
Das Resultat ist ein uberaus reichhaltiges Mosaik von Details, aus dem
als grofie Linie im Vergleich zu den Verhaltnissen, die Booth beschrieb,
der Eindruck eines sehr langsamen Wandels mit zahem Festhalten an traditio-
nellen Formen und besonders auch an der kleinen Werkeinheit hervortritt.
Bei 21000 Londoner Arbeitgebern mit 10 oder mehr versicherten Arbeit -
nehmern war die durchschnittliche Arbeitnehmerzahl im Jahre 1930 66;
die Halfte dieser Arbeitgeber beschaftigt weniger als 25 Arbeiter, drei Viertel
weniger als 50, neun Zehntel weniger als 100 — nur 34 Unternehmer in
Grofi -London beschaftigen je mehr als 2000 versicherte Arbeitnehmer !
Dafi dieser Eindruck einer fast an Stagnation grenzenden Langsamkeit
vorwiegt, mag zu einem gewissen Teil an der vorwiegend statischen Natur
der Enquete liegen, auf die wir oben hinwiesen, wichtiger aber ist die Tat-
sache, dafi die Symptome eines radikalen Wandels erst jetzt, seit der voile
Einflufi der Krise sich durchsetzt, klarer zu Tage treten, wahrend die Haupt-
arbeit fur diese Beschreibungen vor und wahrend der ersten Periode der
Krise geleistet wurde. Diese Tatsache erklart auch die recht optimistische
Charakterisierung des Lohnniveaus in diesem Bande — denn die Haupt-
of fensive des Unternehmertums in dieser Hinsicht setzte in London erst vor
kurzem voll ein.
Im grofien und ganzen steht die — man mochte sagen — akademische Ruhe
und Distanz der Beschreibung — nur im „Dienstbotenproblem" scheint
die Warme der personlichen Beziehung gegeben zu sein — in eigentumlichem
Gegensatz zu der unerhorten Spannung und dem Kampf der Widerspriiche,
der die Dynamik der wirtschaftlichen Entwicklung ausmacht.
F. D. Klingender (London).
Laidler, Harry W., Concentration of Control in American Industry.
CrowcllCo. New York 1931. (XVI, 501 S.; $ 3.75)
Der grofie Kampf, der in den Vereinigten Staaten von 1880 bis zum Be-
ginn des Weltkrieges gegen die immer ubermachtiger werdende Kapital-
konzentration in Riesentrusts gefiihrt worden war, hatte damals die Aufmerk-
samkeit der ganzen Welt auf diese Phase der kapitalistischen Entwicklung
gelenkt. Und die wirklich durchgesetzte Anti-Trustgesetzgebung sowie
das energische Vorgehen eigens geschaffener Stellen gegen eine Reihe der
machtigsten dieser Wirtschaftsgiganten, vor allem gegen die Standard Oil
Company, verleiteten weite Kreise zu dem Glauben, es ware tatsachlich
moglich, das Gesetz der Konzentration des Kapitals durch gesetzliche Mafi-
regeln zu vereiteln oder zumindest in seiner Wirksamkeit weitgehend ein-
Okonomie 245
zuschranken. Kam diesem Glauben doch die allgemein herrschende libera-
listische Auffassung von der Notwendigkeit, ja sogar von der segensreichen
Wirkung der Konkurrenz entgegen, eine Auffassung, die selbst durchaus
ernst zu nehmende Wissenschaftler veranlaBte, das Gesetz der Konzentration
entweder ganzlich zu leugnen oder seine Auswirkungen als Entartungs-
erscheinungen der kapitalistischen Wirtschaft hinzustellen.
Die Kriegswirtschaft und die protektionistische Wirtschaft der Nach-
kriegszeit fiihrten jedoch einen Umschwung in der Ansicht der meisten Men-
schen iiber die Frage des wirtschaf tlichen Liberalismus herbei ; die Zusammen-
fassung der XJnternehmungen in Riesenkonzerne und Trusts, der „organi-
sierte" Kapitalismus, wie erbesondersinEuropasichimmer starker entwickelte,
stieB keineswegs auf eine liberalistische Massenstimmung und dement-
spreehende Ablehnung, im Gegenteil, man sah in dieser Entwicklung das
Heil, den Weg in eine bessere Zukunft., Mit Genugtuung, ja sogar mit Stolz
verfolgte man allenthalben die standig zunehmende Konzentration des
Kapitals, nirgends waren — zummdest vor der gegenwartigen Krise — An-
zeichen fiir eine Antitruststimmung vorhanden, wie sie vor dem Krieg in
den Vereinigten Staaten aufgetreten war.
Die gegenwartig die Weltwirtschaft verheerende Krise brachte jedoch
wieder einen Umschwung in der Stimmung der Volker und auch der Wissen-
scha ft gegeniiber der Kapitalkonzentration ; immer lauter werden die
Stimmen, die eben diesen „organisierten" Kapitalismus, diese Kapitalkon-
zentration fiir die Dauer und sogar fiir die Entstehung der Krise mitverant-
wortlich machen, und es scheint eine Antitruststimmung im Wachsen zu
sein, die sich aber von der der Vorkriegszeit wesentlich in ihrer Motivierung
unterscheidet. Denn lag dieser damals das liberalistische Denken zu-
grunde, so muC heute die Triebfeder dieser Stimmung mehr in staatskapi-
talistischen oder sozialpolitischen, jedenfalls aber in planwirtschaftlichen Ge-
dankengangen gesucht werden.
Angesichts dieser Umstande nimmt es nicht wunder, wenn sich die Wirt-
schaf tsliteratur der letzten Jahre, die sich mit der Frage der Konzentration
beschaftigte, mehr mit den europaischenVerhaltnissen befaBte, obwohl doch
Amerika die Geburtsstatte der Trusts und dadurch auch der Ausgangspunkt
der Bewegung zu ihrer Bekampfung gewesen war; scheint doch in Europa
das liberalistische Denken in weit hoherem Grade erschiittert zu sein als in
Amerika. So muBte es sich ergeben, da£ man iiber die Entwicklung der euro-
paischen Wirtschaft und ihre Konzentration eigentlich besser unterrichtet
wurde als iiber die der amerikanischen.
L a i d I e r unternimmt nun in dem vorliegendem Buche den iiberaus dankens-
werten Versuch, die Fortschritte, welche die Konzentration des Kapitals in
den Vereinigten Staaten trotz aller gesetzlichen Hemmungen gemacht hat,
aufzuzeigen. Mit ungeheurem Fleifi ist hier Material aus alien Zweigen der
amerikanischen Wirtschaft zusammengetragen ; wir sehen, dafi das Konzen-
trationsgesetz in der Rohstoff wirtschaft wie in der Kraft- und Verkehrs-
wirtschaft, in der Fertigwarenindustrie wie in der Land wirtschaf t, im Handel
wie in der Finanz entweder bereits zu starkster Vereinigung der Kontrolle
iiber die betreffenden Wirtschaftszweige gefiihrt hat oder doch deutlich in
dieser Richtung wirkt.
246 Besprechungen
Wir sehen aus diesem Buche deutlich, dafl der Kapitalismus in seiner
Entwicklung durch gesetzliche Einschrankungen nicht aufgehalten werden
kann, dafl er es verstanden hat, immer wieder Mittel und Wege zu finden,
um trotz aller gesetzlichen Hindernisse doch zu einem Zusammenschlufi der
Untemehmungen in den allerverschiedensten Formen zu gelangen. Ungemein
interessant ist dabei die Feststellung Laidlers, daC hierbei die Frage des
Besitzes der Untemehmungen nicht mehr die allein ausschlaggebende Rolle
spielt ; die moderne Finanztechnik ermoglicht es, bereits mit verhaltnismaflig
geringem Eigenkapital bedeutende Untemehmungen zu kontrollieren.
Ebenso interessant ist Laidlers Hinweis auf die Bedeutung, die der immer
haufiger werdenden Personalunion der Aufsiehtsrate in der Frage der Kon-
zentration der Wirtschaft zukommt.
Dafl der Sozialist Laidler in dieser Entwicklung eine voile Bestatigung der
Lehre Marx' von dem Gesetz der Konzentration erblickt, ist selbst vers t and -
lich, wenngleich er sich — beinahe zu angstlich — davor hutet, iiber die Dar-
stellung der Tatsachen hinauszugehen und theoretische Betrachtungen iiber
diese Frage anzustellen. Das Buch bleibt daher eine ganz ausgezeichnete
und dankenswerte Sammlung von Material iiber Stand und Methoden der
Kapitalkonzentration in den Vereinigten Staaten, und es bleibt nur zu hoffen,
dafl Laidler uns nun bald auf der Grundlage dieses Buches ein weiteres
geben wird, worin er sich audi theoretisch mit diesem Fragenkomplex aus-
einandersetzt.
Hans Adler (Berlin).
Wood, Louis Aubrey, Union Management Cooperation on the Railroads.
Yale University Press. New Haven 1931. ($ 4. — )
Wood beschreibt sorgfaltig und eingehend die vereinten Bemuhungen
der Angestellten und Direktoren bei der Organisation des Arbeitsprozesses
auf einigen der nordamerikanischen Eisenbahnen. Die ersten Kapitel
schildern die rechtlichen Bestimmungen iiber Instandhaltung, die Arbeits-
technik, die Aufgaben der Arbeiter, der Direktion und der Gewerkschaften.
Dann folgt ein Bericht iiber den Ursprung und die Entwicklung der Zu-
sammenarbeit. Zu den wertvolleren Kapiteln des Buches gehoren die iiber
das jetzige Zusammenarbeiten von Gewerkschaften und Direktion, ins-
besondere die drei Kapitel X — XII iiber die Vorschlage, die auf den gemein-
samen Konferenzen behandelt werden: „Der normale Frozen tsatz von un-
annehmbar befundenen Vorschlagen ist sehr niedrig."
Das Interesse wird sich hauptsachlich auf den Teil des Buches konzen-
trieren, der die Resultate behandelt. Die betreffenden Kapitel umfassen das
Problem der Arbeitsfreude, die allgemeine Angleichung des Beschaftigungs-
grades und die Teilung der Gewinne. W. erklart, dafl zur Zeit ,,die Gesell-
schaften lukrativere Gewinne aus der Zusammenarbeit haben als die Leute",
abermannigfaltige Vorteile scheinen auch den Arbeitern in bezug auf das Leben
in der Werkstatt und die Sicherheit der Anstellung erwachsen zu sein. Die
letzten Kapitel beschaftigen sich mit den Fragen des Lehrlingswesens, der
Methoden der Lohnzahlung und der Ausbreitung der „ Union -Management -
Cooperation" in anderen Industrien.
Okonomie 247
Eine oder zwei Liicken erscheinen in dem Buch. Es diirfte wertvoll sein,
die Wirkung der Bewegung vom Standpunkt der Gewerkschaften zu be-
trachten. Auch die Abschatzung und Verteilung der Gewinne bedarf noch
der vergleichenden Betrachtung ahnlicher Betriebe. Trotz der propa-
gandistischen Tendenzen des Verf. zugunsten der Bewegung sind alle rele-
vanten Tatsachen in Betracht gezogen. Sein Buch berichtet zuverlassig iiber
das Entstehen einer Methode der industriellen Beziehungen, die in Nord-
amerika wachsenden Anklang findet.
H. E. Chudleigh (Washington).
Ritschl, Hans, Oemeinwirtschaft und kapitalistische Marktwirtschaft.
I. C. B. Mohr. Tubingen 1931. (VIII u. 182 S.; br. RM. 6.—)
Die neue Schrif t R i t s c h 1 s (mit der ich mich an anderer Stelle ausf uhrlicher
auseinanderzusetzen gedenke) gilt dem Nachweise des dualistischen Charakters
unserer heutigen Wirtschaftsordnung. Diese beruht, so lautet die Grundthese,
,,auf der Herrschaft zweier Systeme, des gemeinwirtschaftlichen Sy-
stems, das von der Staatswirtschaft getragen wird, und des Systems der
kapitalistischen Marktwirtschaft, das von der Tauschgesellschaft
getragen wird".
Das Buch zerfallt in vier Abschnitte, deren erster einen „lehrgeschicht-
lichen Uberblick" enthalt und nach einer kritischen Durchleuchtung der
iiblicherweise behaupteten Unterschiede zwischen Staats- und Privatwirt-
schaft einige neuere „Versuche der Erfassung der Staatswirtschaft unter dem
Begriff eines gemeinwirtschaftlichen Systems" behandelt. Den Kern der
Arbeit stellen die dann folgenden beiden Abschnitte dar, die die „Staats-
wirtschaft als Gemeinwirtschaft" und die ,,Gemeinwirtschaf t als
Staatswirtschaft" zu erfassen und zu deuten suchen. Zunachst wird der
„gemeinwirtschaftliche" Charakter der Staatswirtschaft durch einen ein-
gehenden Vergleich mit der Marktwirtschaft herausgearbeitet, und zwar
werden die Wesenseigentiimlichkeiten der beiden Wirtschaftsformen an
Hand einer Untersuchung der respektiven Arten der Gesellung, der Be-
diirfnisse, der Gesinnung, der Wirtschaftsfiihrung, der Wirtschaftsstruktur
und der Technik bestimmt. Der dritte Abschnitt der Arbeit gibt in der Haupt-
sache einen klaren, systematischen Uberblick uber die ,,staatswirtschaft-
lichen Gestaltungsf ormen der Gemeinwirtschaft", wobei der Verf.
gewisse Gedankengange weiterfuhrt, die bereits in seinen fruheren Schriften
angedeutet waren. Der SchluBteil zieht unter dem Titel: ,,Monistische
oder dualistische Wirtschaftsordnung?" das Fazit aus den vorher-
gehenden Untersuchungen. Es werden die Grenzen der beiden Wirtschafts-
formen aufgewiesen und schlieGlich die „Umrisse einer werdenden neuen
Ordnung" gezeichnet. Entsprechend seiner Grundanschauung, der gemafi
ihm u. a. die soziale Frage ,,als eine seelische Frage der Einordnung in das
entseelte Gefxige des Industrialismus" erscheint, setzt sich R. fiir Werks-
und Siedlungsgemeinschaften u. dgl. ein — ubrigens in origineller Auffassung
■ — , wahrend Korporativstaat und -wirtschaft abgelehnt werden. Erwahnt
sei schlieClich noch, dafi in der „neuen Ordnung" fiir die privaten Monopol-
unternehmungen eine eigenartige Form von „ Sozialisierung" vorgesehen ist.
248 Besprechungen
Eine Kritik dieses Buches, die an dieser Stelle, wie erwahnt, nicht mog-
lich ist, hatte an erster Stelle an der R.schen Grundthese anzusetzen und zu
untersuchen, ob der behauptete Dualismus zweier Wirtschaftssysteme uber-
haupt sinnvoll gedacht werden kann. Des weiteren ware die Methode der
Untersuchung einer naheren Betrachtung zu unterziehen. Wie mir scheint,
ist der Verf . nicht der Gefahr entgangen, die Dinge vielfach nicht so zu sehen,
wie sie sind, sondern wie sie nach R.s idealistischer und idealisierender Auf-
fassung sein sollten. Besonders deutlich wird das bei den Darlegungen,
die sich auf der R.schen Theorie des ,,Gemeinsinns" aufbauen, der das in
der Staatswirtschaft ( = ,,Gemeinschaft" — im Gegensatz zur Marktwirt-
schaft = „Gesellschaft") herrschende Gesinnungsprinzip darstellen soil.
Da im iibrigen das neue Buch R.s — ebenso wie seine friiheren Schriften —
sehr anregend und flussig geschrieben ist, wird es zweifellos auch von den-
jenigen mit Nutzen gelesen werden, die, wie der Rezensent, der Methode und
den Ergebnissen des Verf. groBenteils nicht zuzustimmen vermogen.
Fritz Neumark (Frankfurt a. M.).
Millner, Frederic, Economic Evolution in England. Macmillan & Co.
London 1931. (XXII, 451 S.; geb. £ 0. 6. 6)
Das Buch will eine allgemeinverstandliche zusammenfassende Darstel-
lung der wirtschaftlichen Entwicklung Englands vom Beginn der Geschichte
bis zur Gegenwart geben. Da es dem Verf. mehr auf eine Synopse als auf
eine Bereicherung der Detailkenntnis ankommt, stiitzt er sich im wesent-
lichen auf sekundare Quellen, deren Hauptwerke am SchluB jedes Kapitels
angefiihrt werden. Ohne Festlegung auf eine bestimmte Geschichtsauffas-
sung werden die Hauptlinien der okonomischen Entwicklung fiir vier groBe
Epochen aufgezeigt — fur die Epoche vor der Eroberung, fiir das Mittel-
alter, fiir das Zeitalter des Nationalisms und fiir die Moderne. Die Dar-
stellung jeder Periode beginnt mit einem allgemeinen tJberblick und behandelt
dann die verschiedenen Wirtschaftszweige. Dabei finden die allgemein-
politischen Ereignisse, die Wandlungen in den wirtschaftspolitischen An-
schauungen und die Entwicklung des okonomischen Gedankengutes ent-
sprechende Beriicksichtigung. Das Schwergewicht des Werkes liegt natur-
gemaB auf der Wirtschaftsentwicklung seit dem Mittelalter.
Fiir die Neuzeit erweist sich das gewahlte Gliederungsschema als zu
weitmaschig und erschwert durch fehlende Unterteilung den tlberblick.
Auch wichtige Strukturen des englischen Aufstiegs im 19. Jahrhundert
kommen dadurch nicht geniigend zum Ausdruck: die Stellung Englands
als Weltbankier und Kapitalgeber, die Industrialisierung der auBereng-
lischen Lander und ihre Riickwirkungen auf die Industriestruktur Englands,
Aufbau und Gliederung des englischen Industriekorpers selbst, die wirt-
schaftliche Bedeutung der Kolonien und andere Ziige englischer Wirtschafts-
gestaltung treten nicht deutlich genug hervor oder sind gar nicht behandelt.
Trotzdem wird man das materialreiche und konzentrierte Werk, das sehr
schlicht und anspruchslos geschrieben ist, dem deutschen Leser als Ein-
fiihrung in die englische Wirtschaftsgeschichte durchaus empfehlen konnen.
Fritz Burchardt (Frankfurt a. M.).
Okonomie 249
Morandi, Rodolfo, Storia della grande industria in Italia (Geschichte
der italienischen Grofiindustrie). Laterza. Bari 1931. (300 S.; L. 22. — ) '
Morandi hat die Entwicklung der italienischen Industrie skizziert imd
dabei auch die politischen und gesellschaftlichen Ereignisse beriicksichtigt,
die mit seinem Thema zusammenhangen. Im ersten Teil, der der Ent-
stehung der Industrie zu Beginn des 19. Jahrhunderts gilt, schildert M. die
schadlichen, lange Zeit fiihlbaren Wirkungen, die die auslandische Beherr-
schung Italiens vor seiner Einigung hervorbrachte. Die Teilung in so viele
kleine Staaten und damit die zahlreichen Zollgrenzen muBten sich ungiinstig
auf die industrielle Entwicklung auswirken, vor alien Dingen auf die ersten
schwachen Anfange der Seidenindustrie in der Lombardei. So war die
italienische Industrie, verglichen mit der auslandischen um 1870, dem Datum
der Einigung Italiens, sehr ruckstandig und beschrankt auf das nordliche
Italien. M. fahrt dann in seiner Priifung fort, indem er die langsamen, aber
bestandigen Fortschritte nach 1870 feststellt; er gibt ein genaues Entwick-
lungsbild der verschiedenen Industriezweige bis zur Krise, die nach der
Zollreform des Jahres 1887 eintrat. Im allgemeinen waren die Schwierig-
keiten der Industrie bis zum Ende des 19. Jahrhunderts groft und die Lebens-
bedingungen des Proletariats erschreckend : die Arbeitszeit betrug bei Hunger -
lohnen bis zu 16 Stunden. Die Seiten, auf denen die Lage der Arbeiter ge-
schildert wird, besonders die der Frauen und Kinder in den Fabriken des
Nordens, sind besonders eindrucksvoll. Im zweiten Teil verfolgt M. Schritt
fur Schritt die Fortschritte der verschiedenen Industrien vor und nach dem
Kriege, der mit Recht als Ansporn fiir viele Industrien, z. B. die chemische,
bewertet wird, die im vorausgehenden Jahrzehnt noch sehr unentwickelt
waren.
Die Darstellung ist immer klar und unparteiisch und fuBt auf soliden
Daten. Urteilsfahigkeit und Verzicht auf billige Prophezeiungen zeigen sich
vor allem bei der Abwagung der unvermeidlichen Konsequenzen der gegen-
wartigen Krise. Am Ende des Buches hat der Leser ein exaktes Bild der
Lage der italienischen Industrie, und darum ist das Werk M.s als eine ge-
naue Einfuhrung in ein gegenwartig stark umstrittenes Gebiet zu empfehlen.
Paolo Treves (Mailand).
JStatistisches Jahrbuch fiir das Deutsche Reich 1931. Hrsg. vom Stati-
stischen Reichsamt. R. Hobbing. Berlin 1931. (XL, 566 u. 190 S., Preis
geb. RM. 6.80)
Der vorliegende 50. Jahrgang des „Statistischen Jahrbuches" regt zu
Vergleichen an: gleichviel ob man an die Ausgestaltung friiherer Bande
oder an die analogen Veroffentlichungen des Auslands denkt: die Arbeit
des Reichsamts vermag solche Vergleiche hochst ehrenvoll zu bestehen.
Dem wachsenden Bediirfnis nach Statistik, besonders auf wirtschaftlich-
sozialem Gebiet, ist das Jahrbuch stets rechtzeitig gefolgt.
Der 50. Band bringt wieder in verschiedenen Abschnitten — ■ neben Er-
ganzungen — Erweiterungen, so fiir die industrielle Produktions-, die Lohn-,
dieUmsatz- und namentlich die Finanzstatistik. Aber auch die Bevolkerungs-
statistik ist durch Neuaufnahme von Fruchtbarkeits-, Auf wuchszif fern u. dgl.
250 Besprechungen
mehr bereichert worden. Freilich ist auf dem Gebiete des Bevolkerungs-
wesens dadurch eine bedauerliche Liicke entstanden, daB aus finanziellen
Griinden eine neue Volks- und Berufszahlung unterblieben ist und infolge-
dessen detaillierte Zahlen immer noeh nur fur 1925 vorliegen, obwohl sich
seit diesem Jahre grundlegende Anderungen vollzogen haben, iiber die wir
gegenwartig nur ziemlich unvollkommen unterrichtet sind. Sehr erwiinscht
ware auch eine „Neuauflage'* der Wirtschaftsrechnungen, um den EinfluB
der Konjunkturschwankungen auf die Kdnsumtion besser verfolgen zu
konnen, als das an Hand von Ziffern iiber den Gesamtverbrauch einzelner,
vorwiegend agrarischer Artikel jetzt moglich ist. Die besondere Pflege der
Finanzstatistik (seit 1925), die neben offentlichen Einnahmen, insbesondere
Steuern, und Ausgaben neuerdings auch die offentlichen Schulden umfaBt,
hat vielfach iiber die fiskalisch bedeutsamen Fragestellungen hinaus volks-
wirtschaftlich interessantes Material geliefert, so insbesondere iiber Ein-
kommens-, Vermogens-, UmsatzgroBe und -zusammensetzung usw. Neu ist
im vorliegenden Band die Statistik iiber das Volkseinkommen (S. 532/3), die
wertvolle und z. T. ganz neue Aufschlusse iiber dessen Umfang und sachliche
sowie regionale Vert ei lung bietet und auch fiir die Vorkriegszeit durchgefuhrt
ist. — Die internationalen Ubersichten, die schon in den letzten Jahren aus-
gebaut worden waren, haben eine weitere Ausgestaltung erfahren; sie be-
treffen u. a. Bevolkerungswesen, Preise, AuBenhandel, gewerbliche Produktion,
Finanzen, Lohne sowie Geld- und Kreditwesen. Einige graphische Dar-
stellungen imAnhang erstrecken sich diesmal, wegen des Jubilaumscharakters
des Bandes, auf langere Zeitraume (3 — 5 Jahrzehnte).
Der Sozialforscher, der seine Wissenschaft als eine empirische auffafit,
wird aus dem reichen Inhalt des Jahrbuchs viel Nutzen ziehen, wenngleich
natiirlich dasselbe in manchen Fallen nur Ausgangspunkt fiir tiefergehende
statistische Studien sein kann, die durch ein ausfiihrliches Quellenverzeichnis
ubrigens wesentlich erleichtert werden.
Fritz Neumark (Frankfurt a. M.).
Belletristik.
Britton, Lionel, Hunger and Love. Putnam. London 1931. (XI u. 705 8.;
7 sh 6d)
Brittons Buch ist die Geschichte eines ungewohnlich begabten englischen
Proletarierjungen, der sich unter Entbehrungen ein groBes Wissen aneignet
und dem der Weg vom Botenjungen im Griinkramladen zum Angestellten
eines Antiquariats gelingt. Fast hat er den Aufstieg in die „middle class'* er-
reicht, als der Krieg den innerlich Widerstrebenden zum Soldaten macht,
der auf den flandrischen Schlachtfeldern schlieBlich den Tod findet.
Britton kritisiert in der Form des Bildungsromans die kapitalistische
Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. Seine Kritik richtet sich gegen die
Verfalschung des Menschlichen, die von der Bourgeoisie zum Zweck der
Machtgewinnung und Machterhaltung vorgenommen worden und der es
zu verdanken sei, daB noch immer Hunger und Liebe die Triebkrafte und
den Hauptinhalt des menschlichen Lebens bildeten.Nicht nur das Geschlechts-
Belletristik 251
leben des einzelnen und die wirtschaftliche Existenz der Millionen seien durch
das biirgerlich-kapitalistische System in Fesseln geschlagen, auch das Geistes-
leben sei vergif tet und der menschliche Fortschritt gehemmt : reiche Moglich-
keiten des menschlichen Geistes blieben unausgeniitzt. Alle Wissenschaften,
alle Kiinste erlagen der bourgeoisen Ideologie, die in der „Idee des Boman-
tischen" die V^rfalschung der Wirklichkeit auf die Spitze treibe. „ Bour-
geois influence spreads through the race body like a cancer." „Human and
^Bourgeois' are mutually exclusive terms".
B.s Kritik geht nicht nur von okonomischen, soziologischen und
^thischen Gesichtspunkten aus, sondern von einer besonderen Idee des
Menschlichen, die in der Gesellschaft einen dem menschlichen Korper
ahnlichen Organismus sieht. B. fafit die Entwicklung der mensch-
lichen Rasse als einen organischen ProzeB zum Sozialismus hin. , Nach Uber-
wiridung des Individualismus werden durch Assoziation und Kooperation
aller Glieder der menschlichen Gesellschaft die natiirlichen kosmischen
Energien fiir eine kollektive Entfaltung der Zivilisation, des seiner selbst
bewuBt werdenden und iiber das Endliche hinausstrebenden menschlichen
Geistes freigesetzt.
B.s Gesellschaftskritik bietet in den an sich gut gesehenen Einzel-
beobachtungen, so vor allem des sozialen Milieus der Angestellten, nicht
wesentlich Neues. Seine Gedanken iiber die Neuordnung der Gesellschaft,
die in einer Art organischer Planwirtschaft gipfeln, sind zu sehr als Impres-
sionen wiedergegeben, urn systematischer Prtifung zuganglich zu sein, am
besten lieflen sie sich vielleicht als „kosmischer" Sozialismus charakteri-
sieren. Der Originalitat dieser Ausfuhrungen entspricht die Form des Buches,
die die Schilderung fast ganz in Selbstgesprache des Helden und Zwie-
gesprache zwischen Autor und Held auflost und stilistisch vielfach einen
Stichwort-Expressionismus bevorzugt. Bert a Asch (Berlin).
J3hrhardt, Justus, Strafien ohne Ende. Agis-Verlag. Berlin-Wien 1931.
(256 S.; geb. RM. 3.75, hart. RM. 2.85)
Ehrhardt zeigt in belletristischer Form, wie ein Berliner Prole tarierjunge
Allmahlich auf Abwege gerat, in eine Fursorgeerziehungsanstalt gebracht
wird und nun, im Verein mit einem verantwortungsbewuflten Fursorger, ver-
gebliche Versuche unternimmt, dieser „Maschine" Fiirsorgeerziehung durch
den Nachweis einer ordentlichen Lebensfiihrung wieder zu entrinnen. Weil
dies nicht gelingt, gibt der Junge den Kampf auf und schlieCt sich endgiiltig
<lenen an, welche ohne Hoffnung auf eine andere Gestaltung ihrer Lebensver-
haltnisse auf jenen Straflen wandern, die immer wieder einmal in eine Er-
ziehungsanstalt oder ein Gefangnis fiihren. Was dieses Buch bedeutungsvoll
macht, ist, daB der Verf asser, der seit vielen Jahren in vorderster Front der
Fursorgeerziehungsarbeit steht, in ,,verdichteter" Form an einem Einzel-
beispiel zeigt, was in Wirklichkeit das Geschick vieler Tausender ist. Damit
aber weist er darauf hin, dafi es sich sowohl hinsichtlich der Verwahrlosung
und ihrer Entstehungsursachen als auch hinsichtlich der Fiirsorgeerziehung
um gesellschaftliche Probleme handelt, die nur im Zusammenhang mit
anderen Fragen des gesellschaft lichen Lebens einer befriedigenden Losung
«ntgegengefiihrt werden konnen. Gerhard Schie (Berlin).
252 Besprechungen
Frank, Leonhard, Von drei Millionen Drei. 3. Fischer. Berlin 1932.
(224 S.; RM. 5.—)
Eine soziologisch bemerkenswerte Tatsache : das Kollektivschicksal der
Arbeitslosigkeit, das seit JahrenDeutschland, ja die ganze Welt iiberschattet,
hat vorher keinem Dichter als Vorwurf zu einer Arbeit gedient. Leonhard
Frank schrieb den ersten Arbeitslosenroman. Drei aus dem Millionenheer
der Hungernden erleben die Verwirklichung eines Wunschtraumes. Durch
einen unglaubhaften Zufall kommen sie in den Besitz von zweitausend Mark,
die ihnen die ersehnte Auswanderung nach Sudamerika ermoglichen ; driiben
erleben sie eine kurze marchenhafte Zeit ohne Not und Kummer. Aber die
Arbeitslosigkeit folgt ihnen iibers Meer, nach Verwicklung in einen Auf-
stand werden zwei von ihnen — der dritte ist gestorben — wieder nach
Deutschland abgeschoben. Hier gehen sie mit funf Millionen, an Korper
und Geist krank, dem Hungertod entgegen, wenn nicht vorher der Selbst-
mord dem unsaglichen Leid ein Ende bereitet.
F. schildert erschiitternd den hoffnungslosen Kampf um Arbeit und
Brot. Und wenn auch der marchenhafte Erwerb des Reisegeldes, die gluck-
liche Zeit in Sudamerika und die abenteuerliche Heimreise als romantisch-
bunte Ausschmiickung der grauen Elendsfabel anmuten, so hat doch dieser
Handlungsablauf einen tief eren Sinn : der aus dem ProduktionsprozeB
Ausgestofiene findet den Riickweg zur Arbeit endgiiltig verschlossen.
Ludwig Carls (Berlin).
Reger, Erik, Union der festen Hand, Ernst JRowohlt. Berlin 19 SI. (587 S.;
br. RM. 6.50, geb. RM. 8.50)
„Man lasse sich nicht dadurch tauschen, daB dieses Buch auf dem Titel-
blatt als Roman bezeichnet wird", so beginnt zwar der Verfasser die ein-
leitende ^Gebrauchsanweisung'*. Aber durch die trotzdem vorhandene
Intention, ein romanahnliches Gebilde zu schaffen, wird der Nutzwert der
Arbeit wesentlich vermindert, obwohl sie immer noch durch die Fulle des
interessanten Materials fruchtbar und instruktiv ist. Sie umfaBt eine er-
schopfende Wirtschaftsgeschichte des Ruhrgebietes seit dem Kriege, die Ent-
wicklung der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung, der Lohn- und Sozial-
politik des Unternehmerverbandes, die XJmstellung und Ausdehnung der
Schwerindustrie seit 1918, die Revolution und den Kapp-Putsch. Eine
objektive okonomisch-soziologische Reportage hatte aber die sehr genauen
Kenntnisse des Verf assers besser ubermittelt als dieser schon wegen seiner
Sprache schwer lesbare Roman, der die Berichte in eine langweilige Fabel
von belanglosen Einzelschicksalen einzwangt. Die Schilderungen der schwer -
industriellen Unternehmungen, ihrer sozialpolitischen Machtkampfe und
ihrer hierarchischen Betriebsverhaltnisse, die getreue Wiedergabe von unter-
nehmerischen Reden und Aufierungen und manches andere Detail machen
das Buch zu einer fiir den Soziologen wertvollen Sammlung historischen
Materials. Aber R. verzichtet auf jede Analyse und bleibt der unbeteiligte
Beobachter, der mit Resignation und Defaitismus schildert, ohne den Mut*
zu einem eigenen Standpunkt zu finden. Ludwig Carls (Berlin).
Vor kurzem erschien:
Festschrift
fur Carl Griinberg
z a in 7 0. G e b u r t g t a g
560 Seiten. C. L. Hirschfeld Verlag, Leipzig 1932. Preis broschiert RM. 27.—,
Ireinen RM. 30. — , Halbfranzband RM. 33. — . Fur Abonnenten der „Zeitschrift
fur Sozialforschurig" (Gninbergs Archiv) RM. 3. — billiger.
Zu Ehren des bedeutenden NationalSkonomen und Historikers des Sozialismus
haben sich 25 Gelehrte aus Deutschland, Frankreich, Holland, Italien, Osterreich,
Polen, Schweiz und Ungarn vereinigt, urn durch ihre Beitrage Zeugnis abzulegen
fur die Internationale Wirksamkeit ihres Lehrers und Freundes und die weite
Ausdehnung seiner Interesssengebiete. Die Veroffentlichung ist wichtig fiir alle
Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler, insbesondere Nationalokonomen, Sozio-
logeri, Sozialpsychologen, Sozialpolitiker, ferner fur Historiker und Philosophen,
i tir offentliche Bibliotheken, Seminare und Institutsbuchereien des In- u. Auslandes.
Inhalt:
Adler, Max, Zur geistesgeschichtlichen
Entwicklung d. GesellBchaftsbegriffes
Bauer, Stephan, Der Verfall der meta-
phorischen Okonomik
Beer, Max, Social Foundations of Pre-
Norman England
Blom, D. ran, Uber das Band zwischen
historischem Materialism us und Klas-
senkampflehre und dessen Tragweite
Bourgin, Georges, Le Communiste De-
zamy
Briigel, Fritz, Andreas Freiherr v. Stifft
Gerloff, Wilhelm, Entwicklungstenden-
zen in der Besteuerung der Landwirt-
schaft
Goldscheid, Rudolf, Die Zukunft der
Gemeinschaft
OroBmann, Henryk, Die Goldproduk-
tion im Reproduktionsschema von
Marx und Rosa Luxemburg
Horkhelmer, Max, Hegel und die Me-
taphysik
JKrzeczkowski, Konstantin, Daniel De-
foe und John Vancouver als Vor-
laufer der Sozial versicherung
Xasklne, Edmond, Socialisme, mouve-
ment ouvrier et politique douaniere
Xeichter, Kathe, Vom revolutionaren
Syndikalismus zur Verstaatlichung
der Gewerkschaften
Lei enter, Otto, Kapitalismus und So-
zialismus in der Wirtschaftspolitik
Menzel, Adolf, J. P, Proudhon als So-
ziologe
Michels, Robert, Eine syndikalistischge-
richtete Unterstroraung im deutschen
Sozialismus (1903—1907)
Mondolfo, Rodolfo, II concetto mar-
xistico della „umwalzende Praxis" e
suoi germi in Bruno e Spinoza
Oppenheimer, Franz, Stadt und Land in
ihren gegenseitigen Beziehungen
Pollock, Friedrich, Sozialismus und
Landwirtschaft
Pribram, Karl, Das Problem der Ver-
antwortlichkeit in der Sozialpolitik
Szende, Paul, Rationales Recht und
Klassenrecht. — Beitrage aus der
ungarischen Rechts- und Wirtschafts-
geschichte
Schneider, Fedor, Zur sozialen Lage des
freien Handwerks im friihen Mittel-
alter
Sommer, Louise, Das geisteswissen-
schaftliche Phanomen des „Methoden-
streits"
Wittfogel, K. A., Die Entstehung des
Staates nach Marx und Engels
Wittich, Werner, Der Schatz der bosen
Werke
C. Tt. Hirschfeld Terlag / Leipzig € 1
Schriften des Instituts fur Sozialforschung
an der Universitat Frankfurt a. M.
Band I: Henry k Grofimann
Das Akkumulations- nnd Znsammenbrnchsgesetz
deS kapi talis tischeit Systems (zugleich eine Krisentheorie)
XVI und 625 Seiten. RM. 18.—, gebunden RM. 19.80
Vorzugspreis: RM. 16.20, gebunden RM. 18.—. v or zugspreise
fiir Abnehmer der ganzen Schriftenreihe, sowie Bezieher und Mit
arbeiter der „Zeitschrift fiir Sozialforschung".
„Wir mochten behaupten, dass das Buch in mancher Beziehung das beste darstellt, was
bis jetzt iiber Marx geschrieben wurde. Der Verfasser besitzt nicht nur eine wirklich
tiefdringende Kenntnis der Marxschen Werke und der in der Nachfolge von Marx er-
schienenen sozialisuschen Liter atur, sondern erweist sich dariiber hinaus als ein Denker T
der imstande ist, ein ungeheures Material geistig zu durchdringen und produktiv fort-
zubilden." Zeitschrift fiir die gesamte Staatsunssenschaft
Band II: Friedrich Pollock
Die planwirtsehaftlichen Versnche in der Sowjet-
union (1917—1927)
XII und 409 Seiten. RM. 12.15, gebunden RM. 13.50
Vorzugspreis (s. a. Bd. I): RM. 11.—, gebunden RM. 12.15
„Pollock hat das erste zusammenfassende, in deutscher Sprache erschienene Buch iiber
die planwirtsehaftlichen Versuche der Sowjetunion geschrieben. Es ist erstaunlich, wie
gut dieser erste Versuch der Behandlung eines ebenso interessanten wie komplizierten
Problems gelungen ist . . .". Finampnlitische Korrespondenz.
Band III: K. A. Wittfogel
Wirtschaft nnd &esellschaft Chinas
Versuch der wissenschaftlichen Analyse einer groBen asiat. Agrar
gesellschaft
Band I: Produktivkrafte, Productions- und Zirkulationsprozefl
XVIII und 768 Seiten mit Textabbildungen. RM. 27.—, gebunden
RM. 28.80
Vorzugspreis (s. a. Bd. I): RM. 24.30, gebunden RM. 26.—
„Als grossangelegter Versuch, zum erstenmal seit Marx wieder eine systeniatisch zu-
sammenfassende und erschopfende Analyse der okonomischen Grundlagen der alten.
chmesischen Kultur zu liefern, stellt es eine ebenso willkommene wie innerhalb der
ziinfti^en, vorwiegend philosophisch-literarisch orientierten Chinaliteratur einsame Neu-
erscheinung dar . . . Der intransigent orthodoxe Marxismus, dem wie die Fragestellung
auch die Methode de* Verfassers entspringt, ist aber im ganzen der geistigen Durch-
arbeitung der Problematik hervorragend zu^ute gekommen, so dass man immer wieder
davon uberrascht ist, wie ansserordentlich eingehend und zugleich von welchen weiten
Perspektiven aus jeder Einzelzug erfasst wird." Archiv fiir angewandte Soziologie.
Weitere Bande in Vorbereitung
C. JL. Hirschfeld Verlag / Leipzig € 1
Neuerscheinung!
Soziologie tod lioiite
Ein Symposion der Zeitschrift fur Yolkerpsychologie
und Soziologie
Mit Beitragen der Professoren:
Hans Freyer, Leipzig / M. Ginsberg, London /R.M.Mac Iver,
New York / W. F. Ogburn, Chicago / Johann Plenge, Miinster /
P. A. S o r o k i n , Harvard / S. R. Steinmetz, Amsterdam / R. T h u r n -
wald, Berlin-Yale / F. Tonnies, Kiel / A. W a 1 1 h e r , Hamburg
Herausgegeben von
Richard Thurnwald
Professor an der Universitat Berlin, znr Zeit
Gafltprof. a. d, Harvard -Univ., Cambridge
VIII und 160 Seiten, steif brosch. RM. 5.—, Leinenband RM. 6.50
J> e r aus fit hrliche JProspekt liegt die 8 em Heft bei!
Woher kommt die Welle der politischen Leiden-
schaft, die nns fiberflutet, und wohin treibt sie?
Eine Antwort auf diese Fragen gibt
die Neuerscheinung:
Politischer Aktivismus
Ein Yersuch zur Soziologie und Pgychologie der Politik
Von
Dr. Richard Berendt
190 Seiten. Kartoniert RM. 5.80
Aus dem Inh'alt: Einleitung. / Mensch und Politik. — Ursprung politischer Aktivitat.
Politischer Aktivismus und „Zweck". / Verge sellschaftungsformen. / Der aktivistische
Mythos. / Vergangenheit und Zuknnft des aktivistischen ^Triebes". / Namenregister.
Diese Sehrift setzt sich zum Ziel, Wesen und Auswirkungen jener Haltung
zu ergrunden, die politische BetStigung in radikaler Form erstrebt und gerade
der Gegenwart so stark den Stempel aufdruckt. Es werden dafiir die neueren
Forschungsergebnisse der Soziologie und der Psychoanalyse, sowie mannig-
faches geschichtliches Material aufgeboten. Grofie Aufmerksamkeit wird dabei
auch den ZusammenhSngen zwischen wirtschaftlichen Zustanden unjd politischen
Bewegungen gewidmet.
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Seit Beginn des 8. Jahrgangs (Marz 1932) erscheint die
Zeitschrift f. Volkerpsychologie u. Soziologie
zweisprachig — Deutsch und Englisch — unter dem Titel
SOCIOLOGUS
A JOURNAL
OF
SOCIOLOGY
AND
SOCIALPSYCHOLOGY
In collaboration with:
ZEITSCHRIFT
FOR
vOlkerpsychologie
UNO
SOZIOLOGIE
in Verbindnng mit:
F. ALVKRDES, Univ. Marburg a. L. / E. BOLTE, Bremen / B. MALINOWSKI, Univ. London /
W. F. OGBURN, Univ. Chicago / E. SAPIR, Yale-Univ. / E. SCHXJLTZ-EWERTH, Berlin /
E. SCHWIEDLAND, Techn. Hochsch. nnd Univ. Wien / P. A. 80R0KIN, Harvard-Univ.
S. E, STEINMETZ, Univ. Amsterdam
heranagegeben von: edited by:
RICHARD THURNWALD, Univ. Berlin und Yale-Univ. (New Haven, Conn).
Scnriftletter: Managing Editor
W. E. MUHLMANN, Postfach 120, Berlin NW. 7
SOCIOLOGUS bringt kiinftig regelmafiig auch Originalbeitrage
in englischer Sprache. Den englischen Abhandlungen wird
eine kurze Zusammenfassung in deutscher Sprache beige-
geben und umgekehrt. Der leicht zitierbare Haupttitel
SOCIOLOGUS bedeutet kein Zurucktreten der VOlkerpsychologie
gegenuber friiher. Tatsachlich werden die Volkerpsycho-
logischen Ziele noch mehr unterstrichen und gewinnen durch
die verstarkte Mitarbeit auslandischer Autoren erhohte prak-
tische Bedeutung.
SOCIOLOGUS kostet trotzdem nicht mehr als bisher: Einzelheft
(durchschnittlich 8 Driickbogen) RM. 5. — , Abonnement
jahrJich (4 Hefte) RM. 18.-—.,
JDer ausfiihrliche ProdpeTct liegt dies em Heft belt
Probehefte &ur Ansicht!
C. Lu Hirschfeld Verlag / Leipzig € 1
Hans Freyer, Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft — Ders., Ein-
leitung in die Soziologie (Winter) 157
Otto Neurath, Empirische Soziologie. Der wissenschaf tliche Gehalt
der Geschichte und Nationalokonomie (v. Aster) 159
Ferdinand Tcnnies, Einfuhrung in die Soziologie (Streller) . . . 160
Marx/Engels Gesamtausgabe I. Abt. 3. Bd.: Die heilige Familie und
Schriften von Marx von Anfang 1844 bis Anfang 1845. — Karl
Marx, Der historische Material ismus. Die Fruhschriften, hrsg.
v. S. Landshut und J. P. Mayer (Westermann) 160
Werner Heider, Die Geschichtslehre von Karl Marx (Milko) . . . 161
Essays on Research in the Social Sciences, hrsg. v. d. Brookings Insti-
tution, Washington (Lorke) 162
E.A.Ross, Backgrounds of Sociology (Lorke) 163
Earl Spahr and R. John Swen son, Methods and Status of Scientific
Research (Lorke) 164
Georges Davy, Sociologues d'hier et d'aujourd'hui (Szende) . . . 164
Charles Turgeon, Critique de la Conception materialiste de l'histoire
(Szende) 164
S. R. Steinmetz, Inleiding tot de sociologie (Sternheim) 165
Psychologic:
Kurt Breysig, Die Geschichte der Seele im Werdegang der Mensch-
heit (v. Aster) 166
C. G. Jung, Seelenprobleme der Gegenwart (Landauer) 167
Sigmund Freud, tiber libidindse Typen (in Intern. Zeitschr. f. Psycho-
analyse Bd. XVII, 1931) (Landauer) 168
Handworterbuch der Psychischen Hygiene und der Psychiatrischen Fiir-
sorge, hrsg. v. G. Bumke u. a. (Landauer) 168
G. A.Romer, Die wissenschaftliche Erschliefiung der Innenwelt einer
Personlichkeit (Landauer) 169
Gardener Murphy and Louis Barclay Murphy, Experimental
Social Psychology (Lewin) 169
J. K. Folsom, Social Psychology (Liebmann) 170
Kimball Young, Social Attitudes (Lorke) 171
Franz Eulenburg, Phantasie u. Wille des wirtschaftenden Menschen
(DreyfuP) 171
Fedor Vergin, Das unbewufite Europa. Psychoanalyse der euro-
paischen Politik (Fromm) 172
M. Halbwachs, Les causes du suicide (Koyre) 173
Erich Fromm, Die Entwicklung des Christusdogmas (Borkenau) . 174
Hildegard Jtingst, Die jugendliche Fabrikarbeitarin. Ein Beitrag
zur Industriepadagogik. — Lisbeth Franzen-Hellersberg,
Die jugendliche Arbeiterin. Ihre Arbeitsweise und Lebensform. —
Mar g arete Rada, Das reifende Proletariermadchen. — Ma-
thilde Kelchner, Schuld und Siihne im Urteil jugendlicher
Arbeiterinnen (Mennicke) 175
Fritz Kunkel, Grundziige der politischen Charakterkunde (Fuchs) 177
Richard Behrendt, Politischer Aktivismus (Borkenau) 178
Edmond Privat, Le choc des patriotismes. Les sentiments collectifs
et la morale entre nations (Grilnberg) 179
Soziale Bewegung und Sozialpolitik :
Fritz Briigel und Benedikt Kautsky, Der deutsche Sozialismus
von Ludwig Gall bis Karl Marx (Walter) 180
Paul Louis, Les idees essentielles du socialisme (Grilnberg) . . . 180
KarlMielcke, Deutscher Friihsozialismus. Gesellschaft u. Geschichte
in den Schriften von Weitling -und Hefi. — Irma Go it ein,
Probleme der Gesellschaft und des Staates bei Moses Hefi. Ein
Beitrag zu dem Thema HeB und Marx mit bisher unveroffent-
lichtem Quellenmaterial (Moldenhauer) 181
Lujo Brentano, Mein Leben im Kampf um die soziale Entwicklung
Deutschlands (Neumark) 183
Arvid Harnack, Die vormarxistische Arbeiterbewegung in den Ver-
einigten Staaten (Walter) 184
Ernst H. Posse, Der Marxismus in Frankreich 1871—1905 (Korsch) 186
Paul J. Wirz, Der revolutionare Syndikalismus in Frankreich (Walter) 187
David J. Saposs, The Labor Movement in Post-War Prance (Harnack) 188
Hakon Meyer, Den politiske arbeiderbevegelse i Norge (Lange) . .189
Georg Ove Tonnies, Die Auflehnung der Nordmark-Bauern. —
Walt.Luetgebrune,Neu-PreuBensBauernkrieg.-Karsthans,
Die Bauern marschieren. — HansFallada, Bauern, Bonzen und
Bomben (Jaeger) . 190
Mein Arbeitstag — Mein Wochenende. 150 Berichte von Textilarbeite-
rinnen, hrsg. v. Te xtilarbe iter ver band. — Susanne Suhr, Die
weib lichen Angestellten. Eine Umfrage des Zentralverbandes der
Angestellten. — Die wirtschaftliche und soziale Lage der Ange-
stellten. Ergebnisse und Erkenntnisse aus der groCen sozialen
Erhebung des Gewerkschaftsbundes der Angestellten. — Die Ge-
haltslage der Kaufmannsgehilfen. Eine Fragebogenerhebung des
D. H. V. — Was verbrauchen die Angestellten ? Ergebnisse der
dreijahrigen Haushaltungsstatistik des Allgemeinen Freien An-
gestelltenbundes. — Die Lebenshaltung des Landarbeiters. Wirt-
schaftsrechnungen von 130 Landarbeiterfamilien. Eine Erhebung
des Reichsverbands landlicher Arbeitnehmer. — Wilhelm
Bernier, Die Lebenshaltung, Lohn- und Arbeitsverhaltnisse von
145 deutschen Landarbeiterfamilien. — Die Lebenshaltung der
Bauarbeiter nach Wirtschaftsrechnungen aus dem Jahre 1929
(Speier) 191
Jtirgen und Marguerite Kuczynski, Die Lage des deuschen In-
dustriearbeiters (Weifi) . 193
Alexander Stenbock-Fermor, Deutschland von unten. — Georg
Schwarz, Kohlenpott (Dreyfufi) 194
Probleme der Arbeitslosigkeit im Jahre 1931. Reihe C, Nr. 16 der
Studien u. Berichte des Internationalen Arbeitsamts. — Les aspects
sociaux de la rationalisation. Bureau Interational du Travail,
Etudes et Documents, Serie B, No. 18. — Internationale Ar-
beitskonferenz, 16. Tagung, Genf 1932, Bericht des Directors
(Stemheim) 194
Paul H. Douglas and Aaron Director, The Problem of Unemploy-
ment (Feinberg) ..*... 198
Employment Regularization in the United States of America. American
Section International Chamber of Commerce (Feinberg) . . . 197
Case Studies of Unemployment. Compiled by the Unemployment
Committee of the National Federation of Settlements. — Clinch
Calkins, Some Folks Won't Work (Feinberg) 198
Adolf Weber, Sozialpolitik. Reden und Aufsatze (Burchardt) . , 199
Theodor Brauer, Sozialpolitik und Sozialreform (StreUer) .... 200
Charles W. Pipkin, Social Politics and Modern Democracies
(Feinberg) 201
Hermann Eibel, Karl Meyer-Brodnitz und Ludwig Preller,
Praxis des Arbeitsschutzes und der Gewerbehygiene (Croner) . 202
Lutz Richter, Sozialversicherungsrecht. Enzyklopadie der Rechts-
und Staatswissenschaft Bd. XXXI (Croner) ........ 202
Spezielle Soziologie:
Karl Schmitt, Der Begriff des Politischen (Speier) 203
Karl Schmitt, Der Hiiter der Verfassung (Korsch) 204
Gottfried Salomon, Allgemeine Staatslehre (Szende) 205
Heinz O. Ziegler, Die moderne Nation. Ein Beitrag zur politischen
Soziologie (Salomon) * . . . . 206
Gegenwartsfragen aus der allgemeinen Staatslehre und der Verfassungs-
theorie. Hrsg. v. Hans Gmelin und Otto Koellreuter (Haselberg) 207
Armand le Henaff, Le pouvoir politique et les forces sociales
(Grunberg) 209
G. Glotz, La cit6 grecque (Koyre) 210
F. Lot, La fin du monde antique et les debuts du moyen-age (Koyre) 211
AlfredKleinberg, Die europaische Kultur der Neuzeit (Wiesengrund-
Adomo) 211
Alfred von Martin, Soziologie der Renaissance (Salomon) .... 213
Eugen Rosenstock, Die europaischen Revolutionen (Hetder) . .214
Hans Freyer, Revolution von rechts (Burchardt) 215
Reich Gottes — Marxismus — Nationalsozialismus, hrsg. v. Georg
Wiinsch (Mertens) . . . . 216
Otto Kahn-Freund, Das soziale Ideal des Reichsarbeitsgerichts
(Lorch) 217
L. H. A. Geek, Die sozialen Betriebsverhaltnisse im Wandel der Zeit
(Speier) 2 17
J. R. Slotemaker de Bruine, Vakbeweging en Wereldbeschouwing
(Sternheim) 218
Louis Adamic, Dynamite. The Story of Class Violence in America
(Hering) . 219
Arturo Labriola, Al di la del capitalismo e del socialismo (OWerg) 220
R. L. Mehmke, Der Unternehmer und seine Sendung (Dreyfufi) . .221
Das deutsche Handwerk. Bericht der 8. Arbeitsgruppe des III. Unter-
ausschusses des Ausschusses zur Untersuchung der Erzeugungs-
und Absatzbedingungen der deutschen Wirtschaft (Grunberg) . 223
Annemarie Niemeyer, Zur Struktur der Familie. — Marie Baum
und Alix Westerkamp, Rhythmus des Familienlebens. Das
von einer Familie taglich zu leistende Arbeitspensum. — Agnes
Martens-Edelmann, Die Zusammensetzung des Familienein-
kommens. — F. Wildenhayn, Die Auflosung der Familie. —
Margarete Kahle, Beziehungen weiblicher Fiirsorgezoglinge
zur Familie. — Ruth Lindquist, The Family in the Present
Social Order. — Hermann Wagener, Der jugendliche In-
dustriearbeiter und die Industriefamilie. — Konfessionen und
Ehe (in: Religiose Besinnung, H. 1, 1931). — Gertrud Baumer,
Die Frau im neuen Lebensraum. — Hermann Mitgau, Familien-
forschung und Sozialwissenschaft (Streller) 224
II j a Ehrenburg, Die Traumfabrik. — Wolfgang Petzet, Verbotene
Filme. — Rene Fiilop-Miller, Die Phantasie-Maschine. —
Rudolf Arnheim, Film als Kunst (Dreyfu/3) 227
Douglas Waples and Ralph W. Tyler, What people want to read
about (Waas) 228
Richard Thurnwald, Die menschliche Gesellschaft in ihren ethno-
soziologischen Grundlagen, I. Band: Reprasentative Lebensbilder
von Naturvolkern (VaUer) 229
J. Winthuis, Einfiihruug in die Vorstellungswelt primitiver Volker
(Leser) 230
James George Frazer, Mensch, Gott und Unsterblichkeit (Leser) 231
Bronislav Malinowski, Das Geschlechtsleben der Wilden in Nord-
westmelanesion (Reich) 232
Paul Leser, Entstehung und Verbreitung des Pfluges (Honigskeim) 232
Arbeiten zur biologischen Grundlegung der Soziologie (Forschungen zur
Volkerpsychologie und Soziologie, Bd. X, 1. u. 2. Halbbd.)
(Schaxel) 233
Julius Schaxel, Das biologische Individuum (in: Erkenntnis, Heft 6,
1931) (Feinberg) . 234
Festschrift zum 70. Geburtstag von Carl Grunberg (Mandelbaum) . 235
Okonomle:
Emil Lederer, AufriB der okonomischen Theorie (Burckardt) . . . 236
Emil Lederer, Technischer Fortschritt und Arbeitslosigkeit (Mandel-
baum) - 237
Ernst Wagemann, Struktur und Rhythmus der Weltwirtschaft
(Bitzmann) 237
Wesley C. Mitchell, Der Konjunktur-Zyklus, Problem u. Problem-
stellung (Burckardt) 239
Probleme der Wertlehre, hrsg. v. Ludwig Mises und Arthur Spiethoff
(Schriften des Vereins liir Sozialpolitik, 183, 1) (Mandelbaum) . 239
Der Internationale Kapitalismus und die Krise. Festschrift fur' Julius
Wolf zum 20. April 1932 (Mandelbaum) 240
Karl Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Okonomie, hrsg. v.
Karl Korsch (Westermann) 241
Walther Hoffmann, Stadien und Typen der Industrialisierung
(Mandelbaum) , 242
The new Survey of London Life and Labour (KUngender) .... 243
Harry W. Laidler, Concentration of Control in American Industry
(Adler) .244
Louis Aubrey Wood, Union Management Cooperation on the Rail-
roads (Chudleigh) . 246
HansRitschl, Gemeinwirtschaf t und kapitalistische Marktwirtschaf t
(Neumark) 247
Frederic Millner, Economic Evolution in England (Burckardt) . . 248
Rodolfo Morandi, Storia della grande industria in Italia (Treves) 249
Statistisches Jahrbuch fur das Deutsche Reich 1931 (Neumark) . . 249
Belletxistik:
Lionel Britton, Hunger and Love (Asck) 250
Justus Ehrhardt, StraBen ohne Ende (Sckie) 251
Leonhard Frank, Von drei Millionen Drei (Carls) 252
Erik Reger, Union der festen Hand (Carls) 252
Alle Sendungen redaktioneller Art (Manuskripte, Rezenslonsexemplare, Tausch-
exemplare) sind ausschlleOlich zu richten an die Redaktion der Zeitschrlft tttr
SozlaUorschung, Frankfurt a. M., Ylktoria-AUee 17, alle Sendungen gescMft-
licher Art nur an den Verlag C. L. Hirschfeld, Leipzig C 1, Hospitalstr. 10.
Die Zeitschrift erscheint dreimal jahriich: im Marz, Juli und November.
Der Preis des Jahrgangs — einschliefilich der Einbanddecke, die kostenlos
geliefert wird — betragt RM. 18.—. Einzelhefte kosten RM. 6.—.
Verantwortlicher Schrif tleiter : Dr. Leo Lowenthal (Frankfurt a. M.)
Zeitschrift
IQr
Sozialforschung
Herausgegeben vom
INSTITUT FUR SOZIALFORSCHUNG FRANKFURT/M.
Jahrgangl 1932 Heft 3
VERLAG VON C. L. HIRSCHFELD / LEIPZIG
INHALT.
I. Aufsatze.
Seite
ERICH FROMM
Die psychoanalytische Charakterologie und ihre Bedeutung fiir
die Sozialpsychologie 253
JULIAN GUMPMRZ
Zur Soziologie des amerikanischen Parteiensystenis .... 278
FRANZ BORKENAU
Zur Soziologie des mechanistischen Weltbildes 311
ANDRIES STERNHEIM
Zum Problem der Freizeitgestaltung 336
THEODOR WIESENGRUND-ADORNO
Zur gesellschaftlichen Lage der Musik 356
II. Sammelbesprechungen.
GERHARD MEYER
Neuere Literatur iiber Plaimirtschaft 379
III. Besprechungen.
Philosophic:
Karl Jaspers, Philosophic 3 Bde. (v. Aster) 401
Othmar Spann, Geschichtsphilosophie (Sternberger) 403
Friedrich Go gar ten, Politische Ethik (Speier) 404
Philipp Frank, Das Kausalgesetz und seine Grenzen (Korsch) . . 404
Julius Schaxel, Das Weltbild der Gegenwart und seine gesellschaft-
lichen Grundlagen (Korsch) 405
Jonas Conn, Wertwissenschaft. 2 Bde. (Sternberger) 406
Benedetto Croce, Tre saggi filosofici (Drei philosophische Essays)
(OJherg) 407
Heinrich Weber und Peter Tischleder, Handbuch der Sozialethik,
Bd. I: Wirtschaftsethik (Mertens) 408
J. Bonnecase, Philosophie de Timperialisme et science du droit
(Tazerout) 408
Herbert Marcuse, Hegels Ontologie und die Grundlegung einer
Theorie der Geschichtlichkeit (Wiesengrund-Adomo) 409
Heinz Nitzschke, Die Geschichtsphilosophie Lorenz von Steins
(Neumann) 410
Theo Suranyi-tfnger, GeachichtederWirtschaftsphilosoirfiiefitfeycr/ 411
Franz Mehring, Zur Geschichte der Philosophie (Meyer), . . . ^ . 411
Fortsetzung des Inhaltsverzeichnisses am Schluss des Heftes*
Die psychoanalytische Charakterologie und ihre
Bedeutung fur die Sozialpsychologie 1 ).
Von
Erich Fromm (Berlin).
Der Ausgangspunkt der Psychoanalyse war ein therapeutischer :
seelische Stdrungen wurden erklart aus der Stauung und der dadurch
hervorgerufenen pathologischen Verwendung der Sexualenergie im
Symptom, bzw. aus der Abwehr von im BewuBtsein nicht zuge-
lassenen, mit libidinCsen Impulsen verkniipften Vorstellungen.
Die Reihe : Libido — Abwehr durch verdrangende Instanz — Symptom
war der rote Faden der friihen analytischen Untersuchungen. Da-
mit verbunden war die Tatsache, daB Gegenstand der analytischen
Untersuchung fast ausschlieBlich Kranke und in der Mehrzahl
solche mit korperlichen Symptomen waren. Im Verlauf der Ent-
wicklung der Psychoanalyse trat neben diese Fragestellung die
nach der Genese und Bedeutung bestimmter psychischer Eigen-
arten, die sich bei Kranken sowohl wie bei Gesunden finden. Hier
handelt es sich zwar, genau wie bei der ursprunglichen Fragestellung,
um die Aufdeckung der triebhaften, libidinosen Wurzeln der psy-
chischen Einstellung, aber die Reihe wird nicht in der Richtung:
Verdrangung — Symptom, sondern in der: Sublimierung bzw. Re-
aktionsbildung — Charakterzug fortgesetzt. Diese Fragestellung muBte
sich gleich fruchtbar fur das Verstandnis des kranken wie des ge-
1 ) Nachdem im Heft 1/2 dieser Zeitschrift versucht wurde, Allgemeines
zur Methode und Aufgabe einer analytischen Sozialpsychologie darzu-
legen, soil dieser Aufsatz eine Konkretisierung des dort Ausgefuhrten ver-
suchen und zwar an einem besonders wichtigen Punkt: der analytischen
Charakterologie. Seine wesentliche Aufgabe ist, fiir den nicht analytisch
geschulten Leser diesen Teil der analytischen Theorie wenigstens in groBen
Umrissen darzustellen ; sie inacht es notwendig, sich im wesent lichen auf
die Darstellung der wichtigsten Ergebnisse der psychoanalytischen Charakter-
forschung zu beschranken und auf die Erorterung wichtiger Einzelfragen,
die sich als Fortfuhrung oder als Kritik zu manchen hier vorgetragenen
Forschungsergebnissen aufdrangen, zu verzichten. Als Illustration folgt
am SchluB ein Hinweis auf die Moglichkeiten, die eine Anwendung dieser
psychoanalytischen Kategorien auf das Problem des „Geistes" des Kapi-
talismus ergeben.
254 Erich Fromm
sunden Charakters erweisen und damit in besoiiderem MaB fiir die
Probleme der Sozialpsychologie wichtig werden.
Die allgemeine Grundlage der psychoanalytischen Charakterologie
ist, bestimmte Charakterztige aufzufassen als Sublimierung bzw.
Reaktionsbildung bestimmter sexueller (im erweiterten, von Freud
so gebrauchten Sinn) Triebregungen, bzw. als Fortsetzung bestimmter
in der Kindheit diesen Triebregungen koordinierter Objektbezie-
hungen. Diese genetische Ableitung der psychischen Erscheinung
aus libidinSsen Quellen und friihkindlichen Erlebnissen ist das
spezifisch analytische Prinzip, das die analytische Charakterologie
mit der Neurosenlehre teilt ; wahrend aber das neurotische Symptom
(wie auch der neurotische Charakter) das Ergebnis einer nicht ge-
gliickten Anpassung der Triebe an die gesellschaftliche Realitat dar-
stellt, handelt es sich bei dem nicht neurotischen Charakterzug um
eine Verarbeitung libidinoser Regungen auf dem Wege der Reaktions-
bildung oder Sublimierung in einer relativ stabilen und gesellschaft-
lich angepaBten Weise. Der Unterschied zwischen dem norinalen und
dem neurotischen Charakter ist allerdings ein ganz flieBender und
in erster Linie vom Grad der gesellschaftlichen UnangepaBtheh)
her zu bestimmen.
Es kann an dieser Stelle das komplizierte Problem der Reaktions-
bildung und Sublimierung nur angedeutet werden. Unter Reaktions-
bildung ist zu verstehen die Aufrichtung einer dem ursprunglichen
Triebziel entgegengesetzten, dieses abwehrenden und niederhaltenden
Haltung, die selbst mehr oder weniger den Charakter der Sublimierung
tragen kann 1 ). Zur Sublimierung sei nur gesagt, daB Freud darunter
die Ablenkung sexueller Impulse von ihren ursprunglichen sexuellen
Zielen und ihre Hinwendung auf bzw. ihre Ersetzung durch andere,
nicht sexuelle, kulturelle Ziele begreift. Dies ist nicht so zu verstehen,
daB aus Sexualitat auf eine geheimnisvolle, ,,alchimistische" Weise
Charakter oder Intellekt entsteht, sondern daB sexuelle Energien auf
andere Stellen des seelischen Apparats gelenkt und dort als Trieb-
kraft und in einer eigenartigen, noch kaum geklarten Verbindung mit
Fahigkeiten des Ichpsychische und geistige Qualitaten auf bauen helfen.
Besonders wichtig ist es, nicht zu ^ergessen, daB Freud das Problem
der Sublimierung am allerwenigsten mit der Sexualitat im iiblichen
Sprachgebrauch, d. h. der genitalen Sexualitat in Zusammenhang
*) Als Beispiel denke man. an eine „tJbergute", die die Funktion hat,
den verdrangten Sadismus niederzuhalten. Wichtig ist die „Wiederkehr-
des Verdrangten 1 * in der Reaktionsbildung.
Die psychoanalytische Charakterologie und ihre Bedeutung usw. 255
bringt, sondern vorwiegend mit den „pragenitalen" Sexualstrebungen,
d. h. der oralen und analen Sexualitat und dem Sadismus 1 ). Der Unter-
schied zwischen Reaktionsbildung und Sublimierung liegt im wesent-
lichen darin, da6 die Reaktionsbildung immer die Funktion der Ab-
webr und Niederbaltung eines verdrangten Triebimpulses hat, aus dem
sie auch ihre Energie bezieht, wahrend die Sublimierung eine direkte
Verarbeitung, eine ,,Kanalisierung" der Triebregung darstellt.
Die Theorie der pragenitalen Sexualitat, von Freud zum erstenmal
ausfuhrlich in den „Drei Abbandlungen zur Sexualtheorie" dar-
gestellt, geht von der Beobachtung aus, daB, noch bevor beim Kind
die Genitalien eine entscheidende Rolle spielen, die Mundzone und
die Afterzone als ,,erogene Zonen" Trager von lustvollen, den genitalen
Sensationen analogen Sensationen sind, daB sie im Laufe der Ent-
wickhmg teilweise ihre sexuelle Energie an die Genitalien abgeben,
zum geringeren Teil diese Energien behalten, teils in ihrer ursprung-
lichen Form, teils in der Form von Sublimierungen und Reaktions-
bildungen im Ich. Aufbauend auf diesen Beobachtungen der pra-
genitalen Sexualitat verOffentlichte Freud 1908 einen kurzen Aufsatz
iiber „Charakter und Analerotik" (Ges. Schriften, Bd. V, S. 260ff.),
der die Grundlage der analytischen Charakterforschung bildet.
Freud ging von der Beobachtung aus, daB man haufig in der Analyse
einem Typus begegnet, der „durch das Zusammentreffen bestimmter
Charaktereigenschaften ausgezeichnet ist, wahrend das Verhalten
einer gewissen Korperfunktion und der an ihr beteiligten Organe in
der Kindheit dieser Personen die Aufmerksamkeit auf sich zieht"
(S. 261). Er findet drei Charakterzuge — Ordnungsliebe, Spar-
samkeit und Eigensinn — bei solchen Individuen, in deren Kind-
heit die Lust an der Darmentleerung und ihren Produkten eine besonders
grofie Rolle spielt. Besonders betonte er die in der Neurose wie im
Mythus, Aberglauben, Traum, Marchen anzutreffende Gleichsetzung
von Kot und Greld (Geschenk). Auf dieser grundlegenden Arbeit Freuds
bauten sich eine Reihe Arbeiten anderer psychoanalytischer Autoren
auf, die die Grundziige einer, freilich noch in vielen Punkten unfertigen
und hypothetischen, psychoanalytischen Charakterologie lieferten 2 ).
x ) Aus diesem Grunde ist es ein grobes MiBverstandnis des Freudschen
Standpunktes, das Problem der Sublimierung im wesentlichen als identisch
mit dem der genital -sexuellen Abstinenz zusammenfallen zu lassen, wie es
etwa Scheler (besonders in „Wesen und Formen der Sympathie", Bonn
1923, S. 238 ff ) tat.
2 ) Vgl. die instruktiven Ausfuhrungen und die reichen Literaturhinweise
bei Otto Fenichel, Perversionen, Psychosen, Charakterstorungen. Psycho-
analytische spezielle Neurosenlehre, Wien 1931.
256 Erich Fromm
Bevor wir zur Darstellung der fur den Soziologen wichtigsten
Ergebnisse dieser Arbeiten kommen, soil auf einen Gesichtspunkt
hingewiesen werden, der in manchen dieser Arbeiten nicht oder zu
wenig deutlich hervortritt und dessen Betonung ein besseres Verstand-
nis dieser Untersuchungen erm5glicht : die Unterscheidung zwischen
Sexualziel und Sexualobjekt, bzw. zwischen der Organlust und den
Objektbeziehungen. Freud bringt die Sexualtriebe in einen engen
Zusammenhang mit den „erogenen Zonen" 1 ) und nimmt an, daB die
Sexualtriebe durch Reizung an diesen erogenen Zonen hervor-
gerufen werden. In der ersten Lebensperiode steht die Mundzone
und die mit ihr verkniipften Funktionen — Saugen und BeiBen — ,
dann, nach der Sauglingsperiode, die Afterzone mit ihren Funktionen
— Stuhlentleerung bzw. Stuhlzuriickhaltung — und vom 3. bis
5. Jahr die Genitalzone im Zentrum der Sexualitat (diese erste Bliite
der genitalen Sexualitat hat Freud als „phallische Phase" bezeichnet,
weil er annimmt, daB in dieser Zeit f iir beide Geschlechter allein der
Phallus bzw. die phallisch erlebte Clitoris eine Rolle spielt, mit der
Tendenz zum Eindringen und Zerstoren. Nach einer „Latenzzeit",
die etwa bis zur Pubertat dauert, kommt es dann im Zusammenhang
mit der korperlichen Reifung zur Entwicklung der eigentlichen geni-
talen Sexualitat, der die pragenitalen Sexualstrebungen unter-, bzw.
eingeordnet werden, d. h. zur endgultigen Herstellung des „Primats"
der Genitalitat). Von dieser Organerotik, d. h. also von der an eine
bestimmte KOrperzone bzw. eine bestimmte mit dieser Zone ver-
knupfte Funktion gebundenen Organlust sind die Objektbeziehungen
zu unterscheiden, d. h. die (liebenden oder hassenden) Einstellungen
zu den dem Menschen gegenubertretenden Mitmenschen, bzw. der
eigenen Person, mit anderen Worten die Gefuhlseinstellung und
-haltung zur Umwelt uberhaupt. Auch die Objektbeziehungen haben
einen typischen Verlauf : nach Freud ist der Saugling vorwiegend
narzistisch eingestellt, nur auf sich und die Befriedigung seiner
Bedurfnisse bedacht; in einer zweiten Periode, nach dem Ende der
Sauglingszeit etwa, mehren sich sadistische, objektfeindliche Ziige,
x ) Die Annahme einer so zentralen Rolle der erogenen Zonen lag Freud
abgesehen von eeinen empirischen Beobachtungen auch von seinen theo-
retiachen Voraussetzungen, einem mechanistisch-physiologischen Stand-
punkt aus nahe. Sie hat die Entwicklung der analytischen Theorie ent-
scheidend beeinf luBt ; eine fruchtbare Diskussion mancher psychoanalytischer
Thesen wiirde bei einer Kritik der zentralen Rolle der erogenen Zonen ein-
zuaetzen haben. Da wir aber hier Ergebnisse der Analyse darstellen
wollen, verzichten wir auf eine Ausfiihrung kritischer Gesichtspunkte zu
diesem uberaus wichtigen Problem.
Die psychoanalytische Charakterologie und ihre Bedeutung usw. 257
die auch noch in der phallischen Phase eine wichtige Rolle
spielen. Erst mit dem Primat der Genitalitat in der Pubertat treten
objektfreundliche, liebende Ziige eindeutig in den Mittelpunkt. Die
Objektbeziehungen werden in einen engen Zusammenhang mit den
erogenen Zonen gebracht. Dieser Zusammenhang ist verstandlich,
wenn man bedenkt, daB sich spezifische Objektbeziehungen zuerst in
Verbindung mit bestimmten erogenen Zonen entwickeln und daB
diese Verbindung durchaus keine zufallige ist. Ohne aber an dieser
Stelle das Problem diskutieren zu wollen, ob der Zusammenhang
ein so enger ist, wie es vielfach in der psychoanalytischen Literatur
dargestellt wird, oder ob und inwieweit nicht die fur eine erogene Zone
typische Objektbeziehung auch unabhangig von den besonderen Schick-
salen dieser erogenen Zone sich entwickeln kann, soil Wert darauf gelegt
werden, prinzipiell zwischen der Organlust und den Objektbeziehungen
zu unterscheiden ; in der nun folgenden Darstellung sollen, bevor die
analytischen Befunde iiber die oralen, analen und genitalen Charakter-
ziige dargestellt werden, die komponierenden Elemente, namlich
die Sublimierungen und Reaktionsbildungen der Organlust und die
koordinierten typischen Objektbeziehungen eine getrennte Dar-
stellung finden.
Der in der ersten Lebensperiode zentrale Sexualtrieb ist die Oral -
erotik. Beim Kind findet sich ein starkes Lust- und Befriedigungs-
gefiihl, das ursprunglich mit dem Saugen (^Wonnesaugen"), spater
mit dem BeiBen und Kauen, mit dem In-den-Mund-nehmen
und Verschlingenwollen von Gegenstanden verkniipft ist. Die
nahere Beobachtung zeigt, dafi es sich hier keineswegs nur um eine
AuBerung des Hungers handelt, sondern daB das Saugen, BeiBen, Ver-
schlingenwollen daruber hinaus eine an sich lustvolle Betatigung dar-
stellt. Ereud nahm schon in seinen ,,Drei Abhandlungen" an, daB
die Mundzone eine der sog. „erogenen Zonen" sei, die, im AnschluB
an die Vorgange der Nahrungsaufnahme, am friihesten die Basis
intensiver libidinOser Bediirfnisspannungen und Befriedigungen dar-
stellt. Wenn auch die direkten oralerotischen Bedurfnisse und Be-
friedigungen nach der „Sauglings u zeit abnehmen, so bleiben doch
mehr oder weniger groBe Reste auch in der spateren Kindheit und
beim Erwachsenen erhalten. Es sei hier nur an das oft weit iiber die
Sauglingszeit auftretende Daumenlutschen oder an das Nagelkauen
erinnert, ferner aber, um von etwas ganz „Normalem" zu sprechen,
an das Kussen oder an die starken libidinosen, oralerotischen Wurzeln
des RauchenSv
258 Erich Fromm
Insoweit die Oralerotik nicht in ursprunglicher Form erhalten
bleibt und andererseits doch nicht von anderen sefcuellen Impulsen
abgelftst wird, tritt sie uns in Reaktionsbildungen oder Sublimierungen
entgegen. Von den Sublimierungen sei nur eines der wichtigsten
Beispiele hier genannt : die Verschiebung der kindlichen Saugelust
auf das geistige Gebiet. An Stelle der Milch tritt das Wissen. Die
Sprache driickt diesen Zusammenhang aus, wenn sie davon spricht,
daB man „an den Bnisten der Weisheit schlurft" oder „von der Milch
der frommen Denkungsart" trinkt. Diese symbolische Gleichsetzung
von Trinken und geistigem Aufnehmen finden wir in Sprachen und
Marchen verschiedener Kulturen ebenso wie in den Traumen und
Einfallen der Patienten in der Analyse. Die Reaktionsbildungen
konnen ebensowohl in dem urspriinglichen Gebiet bleiben, also etwa
die Form einer EBhemmung annehmen, wie auch sich auf die Subli-
mierungen erstrecken und dann etwa als Lern-, Arbeits- oder WiB-
hemmung auftreten.
Die in der ersten Lebensperiode des Kindes auftretenden Objekt-
beziehungen tragen einen recht komplizierten Charakter 1 ). Der Saug-
ling ist zunachst — und in ganz extremer Weise in den ersten drei
Lebensmonaten — narzistisch eingestellt ; einUnterschied zwischen Ich
und AuBenwelt besteht noch kaum. Allmahlich entwickeln sich neben
der narzistischen Einstellung objektfreundliche, liebende Ztige 2 ). Die
Einstellung des Sauglings zur Mutter (oder entsprechenden Pflegeperson)
wird freundlich, liebevoll, Schutz und Iiebe erwartend. Die Mutter ist
der Garant fur sein Leben, ihre Liebe gibt ihm ein Grefiihl von Lebens-
sicherheit und Geborgenheit. GewiB ist sie weitgehend Mittel zum
Zweck der Befriedigung der Bedurf nisse des Kindes, und gewiB tragt
die liebe des Kindes weitgehend einen verlangehden, nehmenden und
nicht einen spendenden,fursorgenden Charakter, aber wichtig sind doch
objektfreundliche, objektzugewandte Ziige in dieser ersten Phase.
Die Objektbeziehungen des Kindes andern sich allmahlich 3 ).
Mit dem kfirperlichen Wachstum des Kindes wachsen seine An-
spriiche, dadurch — wie wohl auch noch durch andere in der Umwelt
J ) Vgl. Bernfeld, Psychologic des Sauglings. Wien 1925.
2 ) In der psychoanalytischen Literatur werden vor allem die narzistischen
Ziige des kleinen Kindes betont, wahrend die objektfreundlichen in der
Schilderung zurucktreten. Es soil an dieser Stelle nicht naher auf dieses
schwierige Problem eingegangen werden; es werden hier nur die objekt-
freundlichen Ziige im Gegensatz zu den dann auftretenden objektfeind-
lichen, sadistischen besonders betont.
s ) Es versteht sich, dai3 in der ganzen Entwicklutig nur von einem Zu-
oder Abnehmen verschiedener Tendenzen die Rede sein kann, nicht von
einem Sichabldsen von voneinander strong getrennten Strukturtypen.
Die psychoanalytische Charakterologie und ihre Bedeutung usw. 259
liegende Faktoren — entstehen und wachsen Versagungen seitens
der Umwelt, auf die das Kind mit Zorn und Wut reagiert, fiir deren
Bildung inzwischen auch die organische Entwicklung bessere Be-
dingungen geschaffen hat. Neben die objektfreundlichen Tendenzen
und an ihre Stelle treten in wachsendem Mafie objektfeindliche. Das
Kind, sowohl durch Enttauschungen wiitend als auch sich starker
fiihlend, wartet nicht mehr vertrauensvoll auf liebende Befriedigung
seiner vor allem ja noch oralen Wiinsche, es beginnt, sich mit Gewalt
nehmen zu wollen, was man ihm vorenthalt. Der Mund mit den
Zahnen wird zu seiner Waffe, er erwirbt eine aggressive, den
Objekten feindselige, sie angreifen und aussaugen oder verschlingen
wollende Haltung. An Stelle einer urspriinglichen relativen Harmonie
mit der Umwelt treten Konflikte und aggressiv-sadistische Impulse 1 ).
Das Saugen und BeiBen oder Verschlingenwollen, bzw. ihre
Reaktionsbildungen und Sublimierungen einerseitSj die vertrauens-
volle, beschenkt- oder geliebtwerdenwollende objektfreundliche
Haltung und ihre Fortsetzung in aggressiven, rauberischen, objekt-
feindlichen Tendenzen andererseits sind die Elemente, die die „oralen"
Charakterziige der Erwachsenen zusammensetzen.
Abraham macht eine Unterscheidung zwischen den charakterp-
logischen Konsequenzen einer besonders ungestorten, gliicklichen
oralen Befriedigung in der Kindheit und einer gestorten, mit viel
Unlust vermischten (wie etwa plGtzlichem Absetzen von der Brust,
unzureichender Milchmenge oder, was die koordinierten Objekt-
beziehungen anlangt, mangelnder Liebe seitens der Pflegepersonen).
Im ersten Falle haben oft Menschen
„aus dieser gliicklichen Lebenszeit eine tief in ihnen wurzelnde tfber-
zeugung mitgebracht, es.miisse ihnen immer gut gehen. So stehen sie dem
Leben mit einem unerschiitter lichen Optimismus gegeniiber, der ihnen
oftmals zur tatsachlichen Erreichung praktischer Ziele behilflich ist, Auch
hier gibt es weniger gunstige Spielarten der Entwicklung. Blanche Personen
sind von der Erwartung beherrscht, daB stets eine giitige, f Ursorgende Person,
also eine Vertreterin der Mutter vorhanden sein miisse, von der sie alles zum
Leben Notwendige empfangen wiirden. Dieser optimistische Schicksalsglaube
veiurteilt sie zur Untatigkeit. Wir erkennen in ihnen diejenigen wieder,
die in der Saugeperiode verwohnt wurden. Ihr gesamtes Verhalten im Leben
lafit die Erwartung erkennen, daB ihnen sozusagen ewig die Mutterbrust
flieBen werde. Derartige Personen muten sich keinerlei Anstrengungen zu;
in manchen Fallen verschmahen sie geradezu jeden eigenen Erwerb"
(Psychoanalytische Studien zur Charakterbildung, Wien 1925, S. 42).
J ) Die Frage, inwieweit das Verschlingen- und Sich -Bemachtigen- Wollen
(wie das Produzieren und Zerstoren iiberhaupt) eine ursprungliche, Tendenz
des Menschen in seinem Verhaltnis zur Umwelt ist, kann an dieser Stelle
nicht erortert werden.
260 Erich Fromm
An diesen Menschen ist haufig eine besonders ausgepragte Frei-
gebigkeit, eine gewisse seigneurale Haltung zu bemerken. Sie haben
die uneingeschrankt spendende Mutter als Ideal und bemuhen sich,
sich diesem Ideal entsprechend zu verhalten.
Der zweite Typ, der mit starken oralen Versagungen in der friihen
Kindheit, entwickelt spater haufig Ziige, die in der Richtung des Aus-
saugens oder Beraubens anderer Personen liegen. Diese Menschen
tragen gleichsam einen Riissel, mit dem sie sich uberall ansaugen
wollen, oder wenn entsprechend starke sadistische Beimengungen
enthalten sind, sind sie wie Raubtiere, die davon leben, Opfer zu
suchen, die sie ausweiden kdnnen.
„Im sozialen Verhalten dieser Menschen tritt etwas standig Verlangendes
hervor, das sich bald mehr in der Form des Bittens, bald mehr in der-
jenigen des Forderns aufiert. Die Art, in welcher sie Wunsche vorbringen,
hat etwas beharrlich Saugendes an sich; sie lassen sich ebensowenig durch
die Sprache der Tatsachen wie durch sachliche Einwande abweisen, sondern
fahren fort, zu drangen und zu insistieren. Sie neigen dazu, sich an andere
Personen formlich festzusaugen. Besonders empfindlich sind sie gegen
jedes Alleinsein, und wenn es nur kurze Zeit wahrt. In ganz besonderem
Ma6 tritt die Ungeduld bei ihnen hervor. Bei gewissen Personen . . . findet
sich dem geschilderten Verhalten ein grausamer Zug beigemischt, der ihrer
Einstellung zu den anderen Menschen etwas Vampyrhaftes verleiht"
(Abraham, S. 44).
Zeigen die Personen des ersten Typs eine gewisse Noblesse und
GroBzugigkeit, zeigen sie sich heiter und umganglich, so sind die
des zweiten Typus feindselig und bissig, reagieren auf eine Ver-
weigerung dessen, was sie haben wollen, mit Wut und sind auf alle, die
es besser haben, von intensivem Neid erfiillt. Fur den Soziologen
wichtig ist noch die von Abraham vermerkte Tatsache, daB Personen
mit oraler Charakterbildung leicht dem Neuen zuganglich sind,
„wahrend zum analen Charakter ein konservatives, alien Neuerungen
feindliches Verhalten gehort ..."
Die Analerotik fangt keineswegs erst nach der Oralerotik an,
eine Rolle zu spielen. Wohl schon von vornherein ist der ungehemmte
Austritt der Korperprodukte fur das Kind mit einer lustvollen Reizung
der Afterschleimhaut verbunden. Ebenso sind die Produkte der Ent-
leerung selbst, ihr Anblick, ihr Geruch, die Beriihrung mit der Ober-
flache des Rumpfes und endlich das Beriihren mit den Handen eine
Quelle intensiver Lustempfindungen. Das Kind ist stolz auf den Kot,
welcher sein erster ,,Besitz", der Ausdruck seiner ersten Produktivitat
ist. Eine wesentliche Veranderung bringt die etwa gleichzeitig mit
der Entwohnung des Kindes von saugender Nahrungsaufnahme vor
sich gehende Erziehung zur korperlichen Reinlichkeit, fiir deren
Die psychoanalytische Charakterologie und ihre Bedeutung usw. 261
Gelingen die sich allmahlich ausbildende Funktion der SchlieBmuskeln
der Blase und des Darms die Voraussetzung bildet. Indem sich das
Kind den Fordeningen der Erziehung anpaBt und lernt, seinen Stuhl
zuriickzuhalten bzw. ihn zur rechten Zeit herzugeben, wird die
Retention des Stuhles und werden die damit verbundenen physio-
logischen Vorgange zu einer neuen Lustquelle. Gleichzeitig wird die
urspriingliche Liebe zum Kot teilweise durcli Ekelgefuhle abgewehrt
bzw. ersetzt ; teilweise wird allerdings durch das Verhalten der Umwelt
der primitive Stolz auf den Kot bzw. seine piinktliche Entleerung nur
noch vermehrt.
Ganz ebenso wie ein Teil der urspriinglichen oralen bleiben auch
die analen Impulse in einem gewissen Grade bis ins Leben des Er-
wachsenen hinein erhalten. Diese Tatsache erkennt man leicht
an der relativ starken aff ektiven Reaktion vieler Menschen der analen
Beschimpfung oder der analen Zote gegeniiber. Auch das besonders
unter allerhand Rationalisierungen auftretende liebevolle Interesse
fur den eigenen Kot laBt die Reste der urspriinglichen Analerotik
deutlich erkennen. Normalerweise aber geht ein wesentlicher Teil
der analerotischen Strebungen in Sublimierungen und Reaktions-
bildungen auf. Diese Fortbildungen der urspriinglichen Analerotik
liegen in einer doppelten Richtung: einerseits in der charakterolo-
gischen Fortsetzung der urspriinglichen Funktion, deren Ergebnis
die Lust bzw. Unfahigkeit am Behalten, Sammeln und Produzieren,
ferner Ordentlichkeit, Piinktlichkeit, Reinlichkeit, Geiz sind ; anderer-
seits in der Fortsetzung der urspriinglichen Liebe zum Kot, die sich
vor allem in der Liebe zum „Besitz" auBert. Eine ganz besondere
Bedeutung kommt dem in dieser Periode sich ausbildenden Pflicht-
gefiihl zu. Die anale EntwOhnung ist eng gekniipft an das Problem
des „Mussens" und „Sollens" bzw. Nichtdiirfens, und die klinische
Erfahrung zeigt, daB haufig besonders intensive Auspragungen des
Pflichtgefuhls auf diese friihe Periode zuriickgehen.
Die der analen Periode zugeordneten Objektbeziehungen stehen
unter dem Zeichen wachsender Konflikte mit der Umwelt. Sie tritt
zum erstenmal mit Forderungen an das Kind heran, deren Erfullung
sie mit Iiebespramien oder Strafen erzwingt. Nicht mehr die Lust
gewahrende, gutige, spendende Mutter ist es, die dem Kind gegen-
iibertritt, sondern die Verzichte fordernde, strafende. Das Kind
reagiert entsprechend. Es verharrt einerseits in seiner narzistischen,
objektgleichgultigen Einstellung, die durch seine geringer werdende
korperliche Hilflosigkeit wie durch den wachsenden Stolz auf
262 Erich Fromm
seine eigenen Leistungen in gewisser Weise noch gesteigert wird,
andererseits wird seine objektfeindliche, trotzige, sadistische, die
Eingriffe in seine Privatsphare bose abwehrende Einstellung erheblich
verstarkt.
Die Sublimierungen und Reaktionsbildungen der Analerotik und
die Fortsetzung der dieser Stufe typischerweise zugeordneten
Objektbeziehungen setzen die analen Charakterztige zusammen,
wie sie in ihrem normalen oder pathologischen Vorkommen in
der psychoanalytischen Literatur geschildert werden. Es seien
hier nur einige fur die Sozialpsychologie besonders wichtige er-
wahnt.
Die ersten charakterologischen Befunde Freuds haben wir schon
wiedergegeben : eine oft in Pedanterie iibergehende Ordentlichkeit,
eine an Geiz grenzende Sparsamkeit und einen in Trotz ubergehenden
Eigensinn. Diesen allgemeinen Ziigen sind von einer Reihe psycho-
analytischer Autoren, vor allem von Jones und Abraham, viele
mehr ins Detail gehende hinzugefiigt worden. Abraham weist
darauf hin, daB es' Uberkompensierungen des urspriinglichen
Trotzes gibt,
„unter welchen das trotzige Festhalten am primitiven Selbstbestimmungs-
recht verborgen liegt, bis es gelegentlich gewaltsam hervorbricht. Ich
habe hier solche Kinder (und natiirlich auch Erwachsene) im Auge, die sich
durch besondere Bravheit, Korrektheit, Folgsamkeit hervortun, ihre in
der Tiefe liegenden rebellischen Antriebe aber damit begriinden, dafi man
sie von frtih auf unterdruckt habe" (S. 9).
Mit diesem Stolz eng verbunden ist die zuerst von Sadger hervor-
gehobene Vorstellung der Einzigartigkeit. („Alles, was nicht Ich
ist, ist Dreck.") Solche Menschen empfinden nur Freude an einem
Besitz, wenn niemand anderes etwas Ahnliches hat. Sie haben die
Neigung, alles im Leben als Eigentum anzusehen und alles „Private"
vor fremden Eingriffen zu schiitzen. Es handelt sich dabei keines-
wegs nur um Geld und Besitz, sondern ebenso urn Menschen wie um
Grefiihle, Erinnerungen, Erlebnisse. Wie stark die dieses Besitzver-
haltnis zur Privatsphare verankernden libidin6sen Begungen sind,
erkennt man leicht an der Wut, mit der solche Menschen auf jeden
Eingriff in ihre Privatsphare, ihre „Freiheit" reagieren. Zu dieser
Betonung der Privatsphare gehort die von Abraham erwahnte Emp-
findlichkeit des analen Charakters gegen jeden aufieren Eingriff.
Niemand hat sich in ,, seine Angelegenheiten" zu mischen. Verwandt
damit ist auch ein weiterer Zug, auf den Jones aufmerksam gemacht
hat: das eigensinnige Festhalten an einer selbsterdachten Ordnung,
Die psychoanalytische Charakterologie und ihre Bedeutung usw. 263
bzw. die Neigung, anderen eine solche Ordnung aufzuzwingen 1 )*
Solche Menschen zeigen dann auch haufig eine iiberstarke Lust am
Rubrizieren, am Aufstellen von Tabellen und Planen. Von besonderer
Wichtigkeit ist die von Abraham betonte Tatsache, dafl beim analen
Charakter die unbewuBte Tendenz vorliegt, die Analfunktion als
wichtigste produktive Tatigkeit und als der genitalen uberlegen anzu-
sehen. Geldverdienen, Sammeln, das Aufhaufen von Kenntnissen
(ohne ihre produktive Verarbeitung) sind Ausdruck dieser Ein-
stellung 2 ). Zu dieser Hochschatzung der analen, sammelnden Pro-
duktivitat tritt als charakteristisch die Hochschatzung des Ge-
sammelten, des Besitzes. Abraham sagt dariiber:
„In ausgepragten Fallen von analer Charakterbildung werden nahezu
alle Lebensbeziehungen unter den Gesichtspunkt des Habens (Festhaltens)
und Gebens, also des Besitzes, gestellt. Es ist, als ware der Wahlspruch
mancher solcher Menschen : wer mir gibt, ist mein Freund ; wer etwas von
mir verlangt, ist mein Feind" (S. 20 f.)-
Nicht anders ist es mit den Liebesbeziehungen. Gewohnlich ist beim
analen Charakter das genitale Bediirfnis und die genitale Bef riedigung
mehr oder weniger eingeschrankt ; haufig ist diese Einschrankung mit
moralischen Rationalisierungen oder auch Angsten verkntipft. Soweit
die Liebe eine Rolle spielt, hat sie typische Ziige. Eine Frau wird nicht
geliebt, sondern „besessen", und es herrscht dem ^Liebes^objekt
gegeniiber dieselbe Gefuhlseinstellung wie anderen Gegenstanden des
Besitzes gegeniiber, also die Tendenz, entweder mOglichst viel oder
moglichst ausschlieBlich zu besitzen. Die erste Einstellung fuhrt zum
Typ scheinbar sehr liebesfahiger Menschen, deren Liebe im Grunde
doch nur eine Art Sammeltrieb ist, und die zweite zum Typ des extrem
Eifersiichtigen und auf „Treue" Bedachten. Ein besonders schOnes
Beispiel des ersten Typs bot mir ein Analysand, der ein Buch hatte,
in dem er die Andenken an jede Begegnung mit einer Frau sammelte,
x ) „Eine Mutter verfaflt ein schriftliches Frogramm, in welchem sie
ihrer Tochter den Tag in minutioser Weise einteilt. Fiir den fruhen Morgen
enthalt es z. B. die Anweisung: 1. Aufstehen, 2. Topfchen, 3. Hande-
waschen usw. Am Morgen klopft sie von Zeit zu Zeit an die Tur und fragt
die Tochter: wie weit bist du ? Diese hat dann zu antworten ,9 ( oder ,15*
usw., so daB die Mutter eine genaue Kontrolle iiber die Einhaltung des
Planes hat" (Abraham, a. a. O. S. 12).
2 ) „Solche Personen lieben es, Geld oder Geldeswert zu schenken;
manche unter ihnen werden Mazene oder Wohltater. Doch bleibt ihre
Libido den Objekten mehr oder weniger fern, und so ist auch ihre Arbeits-
leistung nicht im wesentlichen Sinne produktiv. Es fehlt ihnen keineswegs
an Ausdauer — einera hauf igen Kennzeichen des analen Charakters — ,
aber sie wird zu einem guten Teil in unproduktivem Sinne verwandt, etwa
an pedantische Einhaltung f estgesetzter Formen verschwendet, so daft in
ungiinstigen Fallen das sachliche Interesse dem formalen erliegt" (Abraham,
a. a. O., S. ia).
264 Erich Fromm
also gebrauchte Theaterbillette, Programme, aber auch Korrespondenz
einklebte. Eng verknupft mit dieser Einstellung ist der intensive
Neid, den man bei vielen Menschen mit analem Charakter findet.
Sie erschopfen oft ihre Kraft nicht in eignen produktiven Leistungen,
sondern im Neid auf die Leistung und vor allem dem Besitz anderer.
Dies fuhrt zur Erwahnung ernes der klinisch wie soziologisch wich-
tigsten analen Charakterziige : des besonderen Verhaltnisses zum Geld,
d. h. vor allem der Sparsamkeit und des Geizes. Gerade dies hat eine
besonders ausgiebige Bestatigung durch die analytischen Erfahrungen
erhalten und ist ausfuhrlich in der psychoanalytischen Iiteratur
erortert 1 ). Sparsamkeit und Geiz beziehen sich durchaus nicht nur
auf Geld oder Geldeswert. Auch Zeit und Kraft werden ganz analog
behandelt und jede Zeit- und Kraftverschwendtmg wird verab-
scheut 2 ). Bemerkenswert ist, daB diese analen Tendenzen reichlich
*) Hier nur einige spezielle Hinweise Abrahams: „Es gibt Falle, in
welcheri der Zusammenhang zwischen absichtlicher Stuhlverhaltung
und systematischer Sparsamkeit offen zutage liegt. Ich erwahne hier das
Beispiel eines reichen Bankiers, der seinen Kindern immer wieder ein-
scharfte, sie sollten den Darminhalt so lange wie nur moglich bei sich
behalten, damit die teure Nahrung bis zum auBersten ausgentitzt werde. —
Sodann ist auf die Tatsache zu verweisen, daB manche Neurotiker ihre
Sparsamkeit bzw. ihreri Geiz auf gewisse Arten von Ausgaben beschranken,
in anderen Beziehungen dagegen mit auffalliger Bereitwilligkeit Geld ver-
ausgaben. So gibt es unter unseren Patienten solche, die jede Ausgabe fur
„Vergangliches" meiden. Ein Konzert, eine Reise, der Besuch einer Aus-
stellung sind mit Kosten verbunden, fiir welche man keinen bleibenden
Besitz eintauscht. Ich kannte jemanden, der den Besuch der Oper aus
solchem Grunde mied ; er kauf te sich aber Klavierausziige der Opern,
welche er nicht gehort hatte, weil er auf diese Weise etwas „Bleibendes**
erhielt. Manche solche Neurotiker vermeiden auch gem die Ausgaben fiir
das Essen, weil man es ja doch nicht als bleibenden Besitz behalt. Be-
zeichnenderweise gibt es einen anderen Typus, der bereitwillig Ausgaben
fiir die Ernahrung macht, die bei ihm ein uberwertiges Interesse darstellt.
Es handelt sich um Neurotiker, die ihren Korper bestandig sorgsam iiber-
wachen, ihr Gewicht priifen usw. Ihr Interesse ist der Frage zugewandt,
was von den eingefiihrten St of fen ihrem Korper als dauernder Besitz bleibt.
Bei dieser Gruppe ist es evident, daB sie Korperinhalt mit Geld identif iziert.
— In anderen Fallen finden wir die Sparsamkeit in der gesamten Lebens-
weise strong durchgef tihrt ; in einzelnen Beziehungen wird sie aber auf die
Spitze getrieben, ohne daB einepraktisch nennenswerteErsparnis an Material
erzielt wird. Ich erwahne einen geizigen Sonderling, der im Hause mit offen-
stehender Hose herumlief , damit die Knopf locher nicht so schnell abge-
nutzt wiirden. Es ist leicht zu erraten, daB hier noch andere Antriebe mit-
w irk ten. Doch bleibt es charakteristisch, wie diese sich hinter der anal
bedingten Spartendenz verbergen konnen ; so sehr wird diese als wichtigstes
Prinzip anerkannt. Bei manchen Analysanden finden wir eine auf den
Verbrauch von Klosettpapier spezialisierte Sparsamkeit; hier wirkt die
Scheu, Reines zu beschmutzen, als deter minierend mit" (S. 22, 23).
2 ) „Viele Neurotiker sind in bestandiger Sorge vor Zeitverlusten. Nur
die Zeit, welche sie all ein mit ihrer Arbeit verbringen, erscheint ihnen
wohl ausgeniitzt. Jede Storung in ihrer Tatigkeit versetzt sie in hdchste
Reizbarkeit. Sie hassen Untatigkeit, Vergnugungen usw. Es sind die
Die psychoanalytische Charakterologie und ihre Bedeutung usw, 265
rationalisiert zu werden pflegen, vor allem natiirlich mit Okonomischen
Erwagungen, f ernerhin, daB man hauf ig neben besonderer Reinlichkeit,
Sparsamkeit, Ordentlichkeit, Punktlichkeit Durchbriiche gerade der
entgegengesetzten, durch diese Reaktionsbildungen abgewehrten
Ziige findet. Wegen seiner sozialpsychologischen Bedeutung sei endlich
noch das von Abraham hervorgehobene, fur den analen Charakter
typische Bedurfnis nach Symmetric und „gerechtem Ausgleich"
erwahnt.
Die genitale Sexualitat hat eine fur die Charakterbildung
prinzipiell andere Bedeutung als die orale und anale. Wahrend diese
nur in relativ geringem AusmaB auch noch iiber die erste Kindheits-
periode hinaus in direkter Form weiterbestehen konnen und ihreHaupt-
verwendung im spateren Leben gerade in den Sublimierungen und
Reaktionsbildungen finden, ist die genitale Sexualitat in erster Linie
dazu bestimmt, eine direkte korperliche Abfuhr zu erhalten. So
einfach es ist, das Sexualziel der genitalen Sexualitat zu beschreiben,
so schwierig ist etwas iiber die spezifischen genitalen Charakterziige
auszusagen. Es ist wohl richtig, daB die der genitalen Sexualitat
zugeordnete Objektbeziehung eine objektfreundliche, relativ ambi-
valenzfreie ist 1 ) ; es darf allerdings nicht vergessen werden, daB der
physiologisch normale Sexualakt keineswegs notwendigerweise eine
entsprechende, d. h. liebende psychische Haltung involviert. Er kann,
psychologisch gesehen, vorwiegend narzistisch oder sadistisch erlebt
sein. Fragt man nach den charakterologisch wichtigen Reaktions-
bildungen und Sublimierungen der genitalen Sexualitat, so scheint
uns als Reaktionsbildung in erster Linie die Willensbildung wichtig.
Bei den Sublimierungen halten wir es aber fur nOtig, zwischen
mannlicher und weiblicher Sexualitat zu unterscheiden. (Wobei
nicht zu vergessen ist, daB in jedem Individuum mannliche und
weibliche Sexualstrebungen vorhanden sind. Vgl. Freuds Be-
merkungen in den Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, Leipzig
1923, S. 16f. Anmerkung.) Von ihren Sublimierungen ist noch sehr
wenig bekannt. Vielleicht darf man vermuten, daB die Sublimierung
der mannlichen Sexualitat vorwiegend in der Richtung des geistigen
gleicheu Menschen, die zu den von Ferenczi beschriebenen „Sonntags-
neurosen" neigen, das heiBt keine Unterbrechung ihrer Arbeit vertragen.
Wie jede neurotisch ubertriebene Tendenz ihr Ziel leicht verfehlt, so ge-
schieht es auch oftmals dieser. Die Patienten sparen oft Zeit im kleinen
und verlieren sie im grofien" (Abraham, S. 23).
1 ) Es erhebt aich hier das zentrale, von der Psychoanalyse bisher wenig
erdrterte Problem der Psychologie der Liebe.
266 Erich Fromm
Eindringens, Zeugens, Ordnens, die der weiblichen Sexualitat in
der Richtung des Aufnehmens, Bergens, Produzierens und in der
Richtung der bedingungslosen mtitterlichen Liebe liegt 1 ).
Die hier skizzenhaft wiedergegebene psychoanalytische Theorie
der Entwicklung der Sexualitat und der Objektbeziehungen ist ein
noch rohes und in vieler Beziehung hypothetisches Schema, an dem
die analytische Forschung noch manche wichtige Punkte zu andern
und in das sie sehr viele neue einzutragen haben wird. Sie ist aber ein
Ausgangspunkt, der das Verstandnis der triebhaften Hintergriinde der
Charakterziige ermoglicht und den Zugang zu einer Erklarung der
Entwicklung des Charakters eroffnet.
Diese Entwicklung bedingen zwei Faktoren, die in verschiedener
Richtung wirksam sind. Einmal ist es die k&rperliche Reifung des
Individuums : vor allem das Wachstum der genitalen Sexualitat und
die physiologisch relativ geringer werdende Rolle der oralen und analen
Zone, aber auch die Reifung der Gesamtpersonlichkeit und die damit
verknupfte geringere Hilflosigkeit, die eine objektfreundliche, liebende
Haltung ermoglichen. Der zweite, die Entwicklung vorwartstreibende
Faktor wirkt von auBen auf das Individuum ein; es sind die gesell-
schaftlichen, zunachst und am eindrucksvollsten durch die Erziehung
vermittelten Regeln, die die Verdrangung der pragenitalen Sexual-
strebungen bis zu einem hohen Grade verlangen und so gleichsam
der genitalen Sexualitat den Vormarsch erleichtern.
•Dieser Vormarsch gelingt aber haufig nur unvollkommeri, und die
pragenitalen Positionen bleiben oft in direkter oder sublimierter
Form uberdurchschnittlich stark bestehen. Fur ein uberdurchschnitt-
lich starkes Erhaltenbleiben pragenitaler Strebungen gibt es grund-
satzlich zwei Ursachen: entweder eine Fixierung, d. h. durch be-
sonders starke Befriedigungs- oder Versagungserlebnisse in der
Kindheit blieben die pragenitalen Wiinsche gegen die Entwicklung
resistent und erhielten sich in besonderer Starke ; oder eine Regression,
d. h. nachdem die normale Entwicklung beendet ist, fiihrt eine
besonders starke innere oder auBere Versagung zu einer Abwendung
von der Liebe, einem Riickzug von der Genitalitat zu jenen alteren
pragenitalen Organisationsstufen der Libido. In der Wirklichkeit
w*irken gewOhnlich Fixierung und Regression zusammen, d. h. eine
gewisse Fixierung stellt eine Disposition dar, die im Falle einer Ver-
x ) Die hier angeriihrten Problems fuhren zu Fragen* die innerhalb
der Psychoanalyse teils noch unerortert, teils umstritten sind und deren
nahere Diskussion wir uns an dieser Stelle versagen miissen. Vgl. Reich, Der
genitale und der neurotische Charakter. Int. Ztschr. f. Psychoanalyse, 1929.
Die psychoanalytische Charakterologie und ihre Bedeutung usw. 267
sagung relativ leicht eine Regression auf die fixierte Triebstufe zur
Folge hat.
Die psychoanalytische Charakterologie kann nicht nur durch den
Nachweis der libidinOsen Grundlagen der Charakterziige deren dyna-
mische Funktion als Produktivkraft in der Gesellschaft verstehen
lassen, sie bildet andererseits auch den Ansatzpunkt ftir eine Sozial-
psychologie, die auf zeigt, daB die fur eine Gesellschaft typischen, durch -
schnittlichen Charakterziige ihrerseits durch die Eigenart dieser Gresell-
schaft bedingt sind. Diese soziale Beeinflussung der Charakterentwick-
lung geht zunachst und vor allem durch das Hauptmedium, durch
das sich die psychische Formung des einzelnen im Sinne der Gesell-
schaft vollzieht, vor sich : durch die Familie. In welcher Weise und
mit welcher Starke bei einem Blind gewisse pragenitale Strebungen
unterdriickt oder verstarkt werden, in welcher Weise es zu Subli-
mierungen oder Reaktionsbildungen angeregt wird, hangt wesentlich
von der Erziehung ab, die ihrerseits der Ausdruck der psychischen
Struktur der Gesellschaft ist. Aber uber die Kindheit hinaus wirkt
die Gesellschaft auf die Ausbildung des Charakters ein. Fiir die-
jenigen Charakterziige, die innerhalb einer bestimmten Wirtschafts-
und Gesellschaftsstruktur bzw. innerhalb einer bestimmten Klasse
am brauchbarsten sind, die ein Individuum am meisten innerhalb
dieser Gesellschaft fordern, besteht etwas, was wir als „soziale
Pramie" bezeichnen mOchten und was bewirkt, daB sich derCharakter
der „normalen", d. h. in dieser Gesellschaft als „gesund" geltenden
Menschen im Sinne der Struktur dieser Gesellschaft anpaBt 1 ). Der
Charakter entwickelt sich also im Sinne der Anpassung der libidintfsen
Struktur — zunachst durch das Medium der Familie, dann unmittelbar
im gesellschaftlichen Leben — an die jeweilige gesellschaftliche
Struktur. Eine ganz besondere Rolle spielt hierbei die Sexualmoral
einer Gesellschaft. Es wurde gezeigt, daB die pragenitalen Strebungen
zum entscheidenden Teil in der genitalen Sexualitat aufgehen. In
dem MaBe, in dem innerhalb einer Gesellschaft die herrschende Sexual-
moral die genitale Sexualbefriedigung hemmt, muB eine Verstarkung
der pragenitalen Strebungen bzw. der aus ihnen formierten Charakter-
x ) Die Unterscheidung zwischen „normaIen" \md „neurotischen"
Charakterziigen ist selbst weitgehend von gesellschaftlichen Faktoren
bedingt und lafit sich eigentlich immer nnr mit Bezug auf eine ganz be-
stimmte Gesellschaft treffen, wo eine dieser Gesellschaft nicht angepaBte
Charakterstruktur eben krankhaft ist. Der Charakter eines kapitalistischen
Kaufmanns des 19. Jahrhunderts ware jedenfalls einer feudalen Gesell-
schaft recht „krank" erschienen und umgekehrt.
268 Erich Fromm
zitge eintreten. Durch die Verscharfung des Verbots genitaler Be-
friedigung wird das Zuruckstromen der Libido zu den pragenitalen
Positionen und damit das verstarkte Auftreten oraler und analer
Charakterzuge im gesellschaftlichen Leben erreicht.
Da die Charakterzuge in der libidinOsen Struktur verankert sind,
zeigen sie auch eine relative Stabilitat. Sie bilden sich zwar im Sinne
der Anpassung an die gegebenen wirtschaftlichen und gesellschaft-
lichen Verhaltnisse aus, aber sie verschwinden nicht ebenso rasch,
wie sich diese Verhaltnisse andern. Die libidinose Struktur, aus der
sie erwachsen, hat eine gewisse Tragheit und Schwerkraft, und es
bedarf erst wieder eines lang dauernden neuen Anpassungsprozesses
an neue Okonomische Bedingungen, bis eine entsprechende Ver-
anderung der libidinOsen Struktur und der aus ihr erwachsenden
Charakterzuge erf olgt. Hierin liegt ein Grund, warum der ideologische
Uberbau, der auf den fur eine Gesellschaft typischen Charakterzugen
basiert, sich langsamer verandert als der ttkonomische Unterbau.
Die Anwendung der psychoanalytischen Charakterologie auf sozio-
logische Probleme soil hier an einem konkreten Beispiel versucht
werden. Jedoch handelt es sich dabei vor allem um einen Hinweis
auf den zu beschreitenden Weg, nicht aber um die endgiiltige Be-
antwortung des als Beispiel gewahlten Themas.
Hierfiir scheint das Problem des ,,Geistes" des Kapitalismus,
der seelischen Grundlagen der biirgerlichen Gesellschaft, aus zwei
Griinden besonders geeignet zu sein : einmal weil der Teil der psycho-
analytischen Charakterologie, der am meisten zum Verstandnis des
biirgerHchen Geistes heranzuziehen sein wird, die Theorie von den
analen Charakterzugen, der relativ ausfiihrlfchste und gesichertste
ist; zum andern weil tiber dieses Problem eine relativ grofie sozio-
logische Literatur und Kontroverse besteht, die die Heranbringung
eines neuen Gesichtspunktes, eben des psychoanalytischen, besonders
empfiehlt.
Unter „Greist" des Kapitalismus bzw. der biirgerlichen Gesell-
schaft verstehen wir die Summe der fur die Menschen dieser Gesell-
schaft typischen Charakterzuge, wobei das entscheidende Gewicht
auf den durch diese Charakterzuge reprasentierten libidinOsen Stre-
bungen, d. h. also auf der dynamischen Funktion des Charakters
liegt. Charakter wird hier von uns allerdings in einem sehr weiten
Sinn gebraucht, und die Definition, wie sie Sombart 1 ) vom „Geist"
einer Wirtschaft gibt, wiirde im groBen und ganzen auch von uns
x ) Der Bourgeois, Miinchen u. Leipzig 1913, S. 2.
Die psychoanalytische Charakterologie und ihre Bedeutung usw. 269
verwandt werden ktfnnen. Er nennt den „ Geist" einer Wirtschaft
„die Gesamtheit seelischer Eigenschaften, die beim Wirtschaften
in Betracht kommen. Alle AuBerungen des Intellekts, alle Charakter-
ztige, die bei wirtschaftlichen Strebungen zutage treten, ebenso
aber auch alle Zielsetzungen, alle Werturteile, alle Grundsatze, von
denen das Verhalten des wirtschaftenden Menschen bestimmt und
geregelt wird". Insoweit es sich aber * nicht nur urn den Geist
der Wirtschaft im engeren Sinn, sondern urn den ,, Geist" der
Gesellschaft, bzw. einer Klasse handelt, werden wir nicht
nur die Ziige untersuchen, die „beim Wirtschaften" in Frage
kommen, sondern nach den typischen seelischen Eigenschaften
des Individuums dieser Klasse oder Gesellschaft fragen, das ja
dasselbe ist, ob es wirtschaftet oder nicht. Auch unterscheiden
wir uns von Sombarts Begriff des „Geistes" dadurch, daB es
uns nicht auf die ,, Grundsatze, Werturteile" usw. als solche an-
kommt, sondern auf die Charakterziige, deren rationalisierter Aus-
druck sie sind.
Ganz ausscheiden wollen wir den Zusammenhang des burgerlichen
Geistes mit dem Protestantismus und den protestantischen Sekten.
Dieses Problem ist so komplex, daB schon seine fliichtige ErOrterung
hier viel zu weit fuhren wiirde. Ebensowenig kann die Frage
nach den Okonomischen Ursachen der kapitalistischen Gesell-
schaft hier beruhrt werden. Einerseits wurde dies ebenfalls den
Rahmen dieser illustrierenden Ausfiihrungen sprengen, andererseits
ist die vorubergehende Vernachlassigung methodisch zulassig, wenn
man nur die Eigenart des „Charakters" einer Gesellschaft beschreiben
und untersuchen will, wie der Charakter als Ausdruck einer bestimm-
ten „HbidinOsen Struktur" der Gesellschaft selbst als Produktivkraft
an deren Entwicklung Anteil hat. Eine ausgefuhrte sozialpsycho-
logische Untersuchung muBte von der Darstellung der Okonomischen
Tatsachen ausgehen und zunachst aufzeigen, wie sich die libidinOse
Struktur gerade diesen Tatsachen anpaBt. Endlich diirfen wir uns
auch nicht mit der sehr komplizierten und umstrittenen historischen
Frage beschaftigen, von wann an man eigentlich von einem Kapita-
lismus und kapitalistisch-burgerlichem Geist sprechen kann. Es soil
vielmehr davon ausgegangen werden, daB es einen solchen Geist,
der gewisse einheitliche Ziige tragt, gibt, gleichgiiltig, ob wir
ihn, wie Sombart meint, am fruhesten schon um die Wende des
14. Jahrhunderts in Florenz treffen, oder im England des
17. Jahrhunderts, ob bei Defoe, Benjamin Franklin, Carnegie
270 Erich Fromm
oder eihem durchschnittlichen deutschen Kaufmann des 19. Jahr-
hunderts 1 ).
Die Eigenart des kapitalistisch-biirgerlichen Geistes laBt sich zu-
nachst am leichtesten negativ beschreiben, durch das, was er im Ver-
gleich mit dem vorkapitalistischen Geist, etwa dem des Mittelalters,
nicht hat : Lebensghick und LebensgenuB ist fiir die biirgerliche Psyche
nicht mehr selbstverstandlich bejahterZweck, dem dasHandeln und
speziell das wirtschaftliche dient. Es ist dabei zunachst gleichgultig,
ob es sich urn den weltlichen LebensgenuB, den die seigneurale Lebens-
fuhrung der feudalen Klasse gewahrt, handelt oder urn die „Seligkeit",
die die Kirche der Masse versprach, oder auch um den relativen Ge-
nuB, den die Masse durch prunkvolle Feste, herrliche Gebaude und
Bilder und viele Feiertage erhielt. Immer ist Anspruch auf Gliick,
Seligkeit, GenuB oder wie man es sonst bezeichnet, das selbstverstand-
liche Recht des Menschen und der selbstverstandliche Zweck wirt-
schaftlichen wie auBerwirtschaftlichen Verhaltens.
Der biirgerliche Geist bringt hierin eine entscheidende und gar
nicht zu ubersehende Anderung: das Gliick h6rt auf, selbstverstand-
licher Zweck des Lebens zu sein, und etwas anderes nimmt die oberste
Stelle der Werte ein: die Pflicht. Kraus stellt diesen Punkt als einen
der wichtigsten Unterschiede zwischen der scholastischen und calvi-
nistischen Einstellung heraus. „Was Calvins Arbeitsethos vom scho-
lastischen streng unterscheidet, ist die Ausschaltung der Zweck-
setzung imd die Betonung eines formalen Berufsgehorsams, dem das
Material, an dem es sich betatigt, vOllig indifferent ist, der mit
eherner Disziplin nur eines befiehlt: aus Gresinnungsgehorsam zu
handeln" (S. 245). Bei aller sonstigen Polemik gegen Max Weber
erklart Kraus: „Hier hat Weber gewiB recht, wenn er sagt, ,daB die
Schatzung der Pf lichterfiillung innerhalb der weltlichen Berufe als des
h6chsten Inhalts, den die sittliche Selbstbetatigung iiberhaupt an-
nehmen kann' (Weber, Ges. Aufsatze uber Religionssoziologie,
S. 63 f.), der alten Kirche wie dem Mittelalter unbekannt waren." Die
Einschatzung der Pflicht (an Stelle von Gliick oder Seligkeit) als
obersten Wertes zieht sich vom Calvinismus durch das ganze biirger-
liche Denken, ob nun theologisch oder wie immer rationalisiert.
r ) Vgl. insbesondere : Sombart, Der Bourgeois, Miinchen 1913;
Max Weber, Ges. Aufsatze zur Religionssoziologie. Bd. 1. Tubingen 1920;
Tawney, Religion and the Rise of Capitalism, London 1927; Brentano,
Die Anf ange des modernen Kapitalismus, Miinchen - 1 916; Troeltsch, Die
Soziallehren der christlichen Kirche. Ges. Schr. Bd. I, Tubingen 1919;
Kraus, Scholastik, Puritanismus und Kapitalismus, Miinchen und Leip-
zig 1930. (Vgl. bei diesem auch die ausfuhrlichen Liter aturangaben.)
Die psychoanalytische Charakterologie und ihre Bedeutung usw. 271
Mit dem in den Mittelpunkt Treten des Pflichtbegriffs geht eine
andere Veranderung einher: man wirtschaftet nicht mehr urn des
(standesgemaBen) Lebensunterhalts willen, sondern Besitzen und
Sparen werden, unabhangig von dem GenuB des Erworbenen, zu
ethischen Forderungen bzw. zu an sich lustvollem Verhalten. In
der einschlagigen Literatur ist hieriiber soviel Material beigebracht
worden, daB wir uns hier mit ganz wenigen beispielhaften An-
deutungen begntigen kOnnen.
Sombart zitiert als besonders eindrucksvoll fur diese neue Bewer-
tung des Sparens einige Stellen aus Albertis Eamilienbuchern :
„Wie vor jedem Todfeind hiite man sich vor iiberflussigen Ausgaben."
„ Jede Ausgabe, die nicht unbedingt notig ist (molto necessario), kann nur
aus Verriicktheit gemacht werden (da pozzia)." „Ein so schlechtes Ding
die Verschwendung ist, so gut, nutzlich und lobenswert ist die Sparsam-
keit." „Die Sparsamkeit schadet niemand, sie niitzt der Familie." „Heilig
ist die Sparsamkeit." „WeiBt du, welche Leute mir am besten gefallen ?
Diejenigen, die fur das N6tigste ihr Geld ausgeben und nicht mehr; den
"UberfluB heben sie auf; diese nenne ich sparsam, gute Wirte (massai)."
(L. B. Albert i, I libri della famiglia editi da Givolamo Man gin i, Firenze 1908,
zit. bei Sombart, a. a. O. S. 140.)
Alberti predigte aber auch die Okonomie der Krafte:
„Die echte Maserizia soil sich auf das Haushalten mit drei Din gen, die
unser sind, erstrecken: 1. unsere Seele, 2. unseren Korper, 3. — vor allem —
unsere Zeit!" „Um von dem so kostbaren Gute, der Zeit, nichts zu ver-
lieren, stelle ich mir diese Kegel auf: nie bin ich muBig, ich fliehe den Schlaf
und lege mich 'erstj nieder, wenn ich vor Ermattung umsinke . . . Ich ver-
fahre also so : ich fliehe den Schlaf und die Mufie, in dem ich mir etwas
vornehme. Um alles in guter Ordnung zu vollbringen, was vollbracht
werden mufl, mache ich mir morgens, wenn ich aufstehe, einen Zeitplan:
was werde ich heute zu tun haben ? Viele Dinge : ich werde sie aufzahlen,
denke ich, und jeder weise ich dann ihre Zeit zu: dieses tue ich heute, das
nachmittags, das heute abend; und auf diese Weise vollbringe ich meine
Geschafte in guter Ordnung fast ohne Miihe . . . Abends iiberdenke ich
mir alles, ehe ich mich zur Ruhe lege, was ich getan habe . . . Lieber will
ich den Schlaf verlieren als die Zeit." (Zit. bei Sombart, a. a. O. S. 142/43).
Denselben Geist atmet die puritanische Ethik (vgl. Kraus a. a. O.
S. 259), denselben Geist die Lebensregeln Benjamin Franklins sowohl
wie des Burgers des 19. Jahrhttnderts.
Eng verwandt mit dieser Einstellung zum Eigentum ist ein weiterer
fur den burgerlichen „ Geist" charakteristischer Zug: die Bedeutung
der Privatsphare. Ganz unabhangig vom Inhalt, der materieller
wie seelischer Art sein kann, ist die Privatsphare etwas Heiliges, ein
Eingriff in sie ist eines der elementaren Verbrechen. (Die starken
Affekte gegen den Sozialismus, deren Ursprung auch bei vielen Be-
sitzlosen sonst nicht verstandlich ware, kommen zum Teil daher,
dafi er eine Bedrohung der Privatsphare bedeutet.)
272 Erich Fromra
Welches sind die fur den „Geist" des burgerlichen Kapitalismus
charakteristischen Objektbeziehungen ?
Am auffalligsten ist die Einschrankung des sexuellen Genusses,
den die biirgerliche Sexualmoral vomimmt. GewiB ist auch die katho-
lische Moral nicht genuBbejahend, aber es ist gar kein Zweifel, daB die
Lebenspraxis der burgerlich-protestantischen Welt in diesem Punkte
eine ganz andere war als die vorbiirgerliche. Eine Gesinnung, wie sie
klassisch bei Franklin in seiner Tugendaufstellung zum Ausdruck
kommt, ist eben nicht nur eine ethische Norm, sondern eine Wider-
spiegelung der burgerlichen Praxis. Franklin sagt dort unter Punkt 12
tiber Keuschheit: „Fleischeslust genieBe selten, auBer urn der Gesund-
heit oder der Nachkommen halber, nie bis zur Ermattung oder Schwa-
chung, noch auch zum Schaden deines eigenen oder fremden Friedens
und Rufes" 1 ).
Der Entwertung des sexuellen Genusses als solchem entspricht die
Verdinglichung aller menschlichen Beziehungen innerhalb der burger-
lichen Gesellschaft. Die Beziehungen der Menschen werden wesent-
lich nicht mehr von der Liebe gestaltet, sondern von rationalen Er-
wagungen. Speziell die Liebesbeziehungen sind weitgehend wirt-
schaftlichen Gesichtspunkten untergeordnet. Zu der fur die biirger-
liche Epoche charakteristischen Verdinglichung kommt weiterhin die
Gleichgultigkeit gegen das Schicksal der Nebenmenschen, die fur die
Beziehung der Menschen der burgerlichen Welt charakteristisch ist.
Nicht daB man in der vorburgerlichen Epoche nicht oder auch nur
weniger grausam gewesen ware, aber die biirgerliche Indifferenz hat
eine bestimmte, fur sie spezifische Nuance: das Fehlen der Verant-
wortung eines jeden fiir das Los aller 2 ), einer verpflichtenden, dem Mit-
menschen als solchem geltenden, nicht an Bedingungen gekniipften
liebenden Einstellung.
Einen klassischen Ausdruck findet diese Gleichgultigkeit in der
Definition, die Defoe von den Armen gibt 3 ). ,,Unter Armen verstehe
ich eine Menge jammernder, unbeschaftigter und unversorgter Leute,
welche fiir die Nation eine belastende Unannehmlichkeit sind
x ) Dr. Benjamin Franklins Leben, aus dem Englischen iibersetzt,
Weimar 1818, 1. Teil, S. 113f..
2 ) Unter den Tugenden, die Franklin fiir die wichtigsten halt (MaBigkeit,
Schweigsamkeit, Ordnung, Entschlossenheit, Sparsamkeit, Betriebsamkeit,
Aufrichtigkeit, Gerechtigkeit, Mai3igung, Reinlichkeit, Ruhe, Keuschheit
und die spater noch hinzugefiigte ( ! ) Demut) kommt die Caritas, Liebe oder
Gtite charakteristischerweise iiberhaupt nicht vor.
a ) Defoe, Giving Alms no Charity, London 1704, S. 426; zit. bei Kraus
a. a. O. S. 283.
Die psychoanalytische Charakterologie und ihre Bedeutung usw. 273
und eigener Gesetze bedurfen." DaB die Praxis des Kapitalismus,
besonders im 1-8. und 19. Jahrhundert, dieser Gesinnung entsprach,
ist bekannt. Aber auch im Urteil iiber den Tabaktrust in den Ver-
einigten Staaten aus dem Jahre 1911 wird dieselbe Gesinnung fest-
gestellt. „Im Felde der Konkurrenz wurde jedes menschhche Wesen
. . . unbarmherzig beiseite geschoben 1 )." Die Lebensgeschichte der
groBen amerikanischen Wirtschaftsfuhrer des 19. Jahrhunderts bietet
eine einzige Illustration zu dieser Feststellung. Diese Mitleidslosigkeit
erscheint im BewuBtsein des burgerlichen Geistes keineswegs als etwas
Unethisches. Im Gegenteil, sie ist verankert in bestimmten religiOsen,
bzw. ethischen Vorstellungen. An Stelle der fur den im SchoB der
Kirche Geborgenen garantierten Seligkeit wird das Gluck in der
burgerlichen Anschauung die Belohnung getaner Pflicht, eine Auf-
fassung, die durch die Konstruktion unterstiitzt wird, daB im Kapi-
talismus der „Ttichtige" unbeschrankte ErfolgsmOglichkeiten hat.
Diese Mitleidslosigkeit des burgeriichen „Charakters" stellt eine not-
wendige Anpassung an die Okonomische Struktur des Kapitalismus
dar. Das Prinzip der freien Konkurrenz und der durch sie vor sich
gehenden Auslese verlangt Individuen, die nicht durch Mitleid im
wirtschaftlichen Handeln gehemmt werden, und laBt die am wenig-
sten „Mitleidigen" zu den Erfolgreichsten werden.
In unserer Aufzahlung der spezifisch burgerlichen Charakterzuge
bedarf endlich noch einer der Erwahnung, auf dessen Wichtigkeit
ausfuhrlich von den verschiedensten Autoren hingewiesen worden ist :
die Rationalitat und Rechenhaftigkeit des burgerlichen Geistes. Es
scheint uns, daB diese spezifisch burgerliche Rationalitat, die ja nicht
identisch ist mit einer hohen Stufe rationaler Aufhellung iiberhaupt,
weitgehend mit dem zusammenf allt, was man, unter einer rein psycho-
logischen Kategorie, als „Ordentlichkeit" bezeichnen kOnnte. Die
Lebensgeschichte Franklins ist ein typisches Beispiel dieser spezifisch
burgerlichen „Ordentlichkeit" und Rationalitat 2 ).
2 ) Zitiert bei Sombart, a. a. O. S. 234.
*) Einen schonen Ausdruck findet diese „Ordentlichkeit" in dem Tages-
plan, den sich Franklin selbst gemacht hat und den er in seinen Lebens-
erinnerungen beschreibt (a. a. O. S. 118ff.)- »&& das Gebot der Ordnung
erforderte, daB jeder Teil meines Geschaftes seine angewiesene Zeit habe, so
enthielt eine Kolumne meines Biichleins folgenden Entwurf zum Gebrauch
der vierundzwanzig Stunden eines natiirlichen Tages.
Entwurf.
Fruh. (5) . Aufstehen, waschen, an die machtige Gottheit
Fr. Was habe ich (6) 1 mich wenden; an mein Tagewerk gehen und
heute Gutes zu (7) | meinen Vorsatz fur heute zu fassen, die
tun ? ' jetzigen Studien fortsetzen u. fnihstucken.
274 Erich Fromm
Es kam uns darauf an, auf einige wichtige, ftir den biirgerlich-
kapitalistischen Geist typische Charakterziige hinzuweisen.
Als die Hauptcharakterziige des biirgerlichen Geistes glaubten wir
annehmen zu durfen: einerseits die Einschrankung des Genusses als
Selbstzwecks (speziell der Sexualitat), den Riickzug von der Liebe und
die Ersetzung dieser Positionen durch die lustvolle Rolle des Sparens,
Saminebis und Besitzens als Selbstzweck, der Pflichterfiillung als
obersten Wertes, der rationalen „Ordentlichkeit" und der mitleids-
losen Beziehungslosigkeit zum Mitmenschen.
Vergleichen wir diese Charakterziige mit den oben dargestellten
typischen Zugen des analen Charakters, so fallt ohne weiteres auf, daB
hier eine weitgehende Ubereinstimmung vorzuliegen scheint. Wenn
diese t)bereinstimmung tatsachlich zutrifft, so ware die Annahme
gerechtfertigt, daB die fur den Menschen der biirgerlichen Gesell-
schaft typische libidinose Struktur durch eine Verstarkung der
analen Labidiposition charakterisiert ist. Eine ausgefuhrte Unter-
suchung hatte also eine unter psychoanalytischen Kategorien zu-
reichende Beschreibung der burgerlich-kapitalistischen Charakter-
ziige zu geben, dann aufzuzeigen, wie und inwiefern sich diese
Charakterziige im Sinne der Anpassung an die Erfordernisse der
kapitalistischen Wirtschaftsstruktur entwickelt haben und inwiefern
andererseits die den Charakter formierende Analerotik selbst zu
(8) .
\l(\\\ Arbeiten
Mittag. (12h Lesen oder meine Rechnungen durchsehen und
(1) / essen.
Nachmittag. (2) .
\J. > Arbeiten
(5) J
Abend. (6) .
Fr. Was habe ich (7) i Sachen an Ort gelegt. Abendessen, Musik,
Gutes getan ? (8) f Zerstreuung, Gesprach, Prufung des Tages.
(9) '
Nacht. (10K
(II)
(12)
(1)
(2)
(3)
(4)
• Schlaf
Auch die Tabelle, in die Franklin seine 13 Tugenden eingetragen hatte
und taglich bei der Tugend, gegen die er verstofien hatte, ein Kreuz
machte, ist ein typischer Ausdruck derselben „Ordentlichkeit", wie wir
sie oben, plastisch von Abraham beschrieben, anfiihrten.
Die psychoanalytische Charakterologie und ihre Bedeutung usw. 275
einer die kapitalistische Wirtschaft vorwartstreibenden Produktiv-
kraft wird 1 ).
Obwohl wir uns ausdrucklich nicht um die Frage gekummert haben,
von wann an man von einem Kapitalismus und einem burgerlich-
kapitalistischen „Geist" sprechen kann, so laBt sich, sollen nicht
schwere MiBverstandnisse entstehen, ein Hinweis auf die hochkapita-
listische Entwicklung nicht vermeiden. Es ist deutlich, daB die fur
den Burger des 16. — 19. Jahrhunderts typischen Charakterziige in
demselben MaBe schwinden, als auch der klassische Typ des selb-
standigen Unternehmers, der gleichzeitig Eigentiimer und Leiter des
Unternehmens, immer mehr zurucktritt. Die Charakterziige, die den
Kaufmann ehemals ftfrderten, sind teilweise fiir den GroBunter-
nehmer des Hochkapitalismus eher hinderlich als fOrdernd. Eine Be-
schreibung und Erklarung der Psyche des GroBunternehmers in der
hochkapitalistischen Epoche ware eine andere Aufgabe, die mit den
Mitteln der psychoanalytischen Sozialpsychologie vorzunehmen ware.
In einer Schicht haben sich jedoch die burgerlichen Charakterziige
auch noch im Hochkapitalismus erhalten: im Kleinbiirgertum, das
zwar in kapitalistisch so fortgeschrittenen Landern wie etwa Deutsch-
land wirtschaftlich und politisch ohnmachtig ist, aber noch in den
alten Formen der kapitalistischen Epoche des 18. und 19. Jahr-
hunderts wirtschaftet. Im heutigen Kleinburgertum sind dieselben
fiir den analen Charakter typischen Ziige anzutreffen, wie sie fur den
alten biirgerlich-kapitalistischen Geist angenommen wurden 2 ).
*) Wichtige einschlagige Probleme, die einer ausfuhrlichen Unter-
suchung bediirften, seien hier wenigstens erwahnt: das des Zurucktretens
der Beziehung zur giitigen, ihre Kinder bedingungslos liebenden Mutter,
die im mittelalterlichen Katholizismus eine dominierende Rolle spielt
(vgl. meine Ausfuhrungen iiber die Mutterbedeutung der Kirche, Marias
und Gottes in , , Entwicklung des Christusdogmas", Wien 1930), zugunsten
der (typischerweise ambivalenten) Beziehung zum Vater, der selber mit
dem Sohn rivalisiert und seine Liebe von der Erfullung bestimmter Be-
dingungen abhangig macht; ferner das Problem der mannlichen Gebar-
wiinsche, wie sie hinter der spezifisch kapitalistischen Produktivitat als
Antrieb vorhanden sein mogen.
8 ) Auch die Analyse des heutigen Kleinburgertums ist eine wichtige
Aufgabe. Besonders sei auf die Eigenart der spezifisch kleinburgerlich-
revolutionaren Einstellung hingewiesen: die fiir die anale Haltung iiber-
haupt charakteristische Mischung von Verehrung der vater lichen Autoritat,
der Sehnsucht nach Disziplin, in merkwiirdiger Einheit mit Rebellion.
Die Rebellion geht nie gegen die Autoritat des Vaters als solche; diese
bleibt in ihren Fundamenten bei aller Trotzeinstellung unangetastet. Dazu
kann die ambivalent e Einstellung durch Spaltung der Objekte befriedigt
werden : die Autoritatsimpulse werden am starken Eiihrer ausgelassen, die
Rebellion an besonderen anderen Vaterfiguren, Der Unterschied klein-
und groBburger licher Haltung laSt sich neben vielen sonstigen Beispielen
276 Erich Fromm
Das Proletariat weist ebenfalls nicht annahernd in demselben
MaBe die analen Charakterziige auf wie das Kleirxbiirgertum 1 ). Da
es eine Stellung im ProduktionsprozeB hat, die diese Charakter-
ziige uberflussig macht, ist die Frage nach der Ursache dieser Anders-
artigkeit leicht zu beantworten 2 ). Viel schwieriger ist die Frage,
warum so viele Proletaries ebenso wie viele Kleinbtirger, die gar kein
Kapital mehr zu verwalten, die gar nichts mehr zu sparen haben,
dennoch mehr oder weniger biirgerlich-anale Ziige bzw. entsprechende
Ideologien haben. Der entscheidende Grund hierfiir scheint uns darin
zu liegen, daB die libidinOse Struktur, auf der diese Charakterziige be-
ruhen, durch die Familie, aber auch durch andere kulturelle Ein-
f liisse im alten Sinn beeinfluBt wird, daB sie ein gewisses Eigengewicht
hat und sich langsamer andert als die okonomischen Tatsachen,
denen sie einst angepaBt war.
Die Bedeutung einer im Sinne der hier angedeuteten Illustration
vorgehenden Sozialpsychologie fur die Soziologie liegt vor allem darin,
daB sie ermoglicht, die im Charakter zum Ausdruck kommenden libi-
dinosen Krafte in ihrer Rolle als die gesellschaftliche Entwicklung im
Sinne der Entfaltung der Produktivkrafte vorwartstreibenden bzw. sie
hemmendenFaktor zu verstehen. Hiermit wird es erst mOglich, demBe^
griff des „Geistes" einer Epoche einen konkreten, wissenschaftlich kor-
sinnfallig darin illustrieren, daB die im kleinburgerlichen (Bier-)Kabaret be-
liebte und herrschende Zote die anale ist, wahrend die fur das groBburger-
liche (Wein-, bzw. Sekt-)Kabaret ebenso typische Zote die genitale ist.
1 ) Inwieweit man bei ihm wie bei den ob j ektiv f ortgeschrittensten
Teilen der Bourgeoisie von einem Anwachsen der genitalen Charakterziige
sprechen kann, ist ein wichtiges, aber deshalb so schwieriges Problem, weil
der „genitale Charakter" auch personalpsychologisch-klinisch noch so
wenig untersucht ist.
2 ) Wie wichtig die Analyse der spezifischen Charakterziige des Prole-
tariats fur das Verstandnis des Sozialismus, fur die Ursachen seines Er-
folges wie der Widerstande gegen seine Verwirklichung im Proletariat
sind, braucht nicht besonders betont zu werden. Es sei hier nur auf den
Gegensatz hingewiesen zwischen der Einstellung des Marxismus, der die
menschliche Wiirde und Freiheit erst jenseits der wirtschaftenden Tatigkeit
sieht, der fiir jeden Menschen bedingungsloses Recht auf Gliick und Be-
friedigung fordert, der den verdinglichten Charakter menschlicher Be-
ziehungen im Kapitalismus kritisiert, und den analen Ziigen des biirgerlichen,
Geistes, der diesen Marxismus im Sinne der Forderung einer Gleichheit
der den einzelnen zugeteilten Portionen typisch mifiversteht. Mit dieser
Frage hangt eng eine andere zusammen, die hier nur angedeutet werden
soil: das Zurucktreten der vaterlichen Autoritat im Psychischen und das
Hervortreten der der Mutter zugewandten Ziige. (Die Erde wird zur alien
ihren Kindern reichlich spendenden Mutter.) Hierher gehort die Befreiung
der Frau ebenso wie zum kleinburgerlichen Faschismus die Betonung des
mannlich- vaterlichen Autoritatsstandpunktes und die Unterwerfung der
Frau. Auch der Zusammenhang des Nationalismus mit der patriarchalisch-
kleinburgerlichen Struktur gehort in diesen Problemkreis.
Die psychoanalytische Charakterologie und ihre Bedeutung usw. 277
rekten Sinn zu geben. Wenn der Begriff des „Geistes" der Gesellschaft
in dieser Weise verstanden wird, werden sich auch eine Reihe von
Kontroversen in der soziologischen Literatur als hinfallig erweisen,
weil sie daraus entspringen, daB der „Geist" als Ideologic aufgefaBt
wird und nicht als libidinos bedingter Charakterzug, der sich in sehr
verschiedenen und auch sich widersprechenden Ideologien ausdriicken
kann. Die Anwendung der Psychoanalyse wird aber nicht nur dem
Soziologen brauchbare Gesichtspunkte zur Untersuchung dieser Fragen
in die Hand geben, sie wird ihn auch verhindern, kritiklos falsche
psychologische Kategorien zu verwenden 1 ).
1 ) Ein charakteristisches Beispiel hierfur sind die falschen und ober-
flachlichen psychologischen Kategorien, mit denen Sombart arbeitet.
So etwa, wenn er vom vorkapitalistischen Menschen sagt: „Das ist der
natiirliche Mensch. Der Mensch wie ihn Gott geschaffen hat . . . Seine
Wirtschaf tsgesinnung aufzuf inden ist deshalb auch nicht schwer : sie ergibt
sich wie von selbst aus der menschlichen Natur" (a. a. O. S. 11). Oder
wenn er die Psyche des Unternehmers des Hochkapitalismus damit erklart,
dafi dieser im Grunde — ein Kind sei. Er sagt: ,,In der Tat scheint mir die
Seelenstruktur des modernen Unternehmers, wie des von seinem Geiste
immer mehr angesteckten modernen Menschen uberhaupt, am ehesten
uns verstandlich zu werden, wenn man sich in die Vorstellungs- und Werte-
welt des Kindes versetzt und sich zum Bewufitsein bringt, daB in unseren
uberlebensgrofi erscheinenden Unternehmern und alien echt modernen
Menschen die Triebkrafte ihres Handelns dieselben sind wie beim Kind.
Die letzten Wertungen dieser Menschen bedeuten eine ungeheure Reduktion
aller seelischen Prozesse auf ihre allereinfachsten Elemente, stellen sich
also als eine vollstandige Simplifizierung der seelischen Vorgange dar,
sind also eine Art von Riickfall in die einfachen Zustande der Kinderseele.
Ich will diese Ansicht begriinden. Das Kind hat vier elementare Wert-
komplexe, vier ,,Ideale" beherrschen sein Leben:
1. das sinnlich Grofie . . .
2. die rasche Bewegung ...
3. das Neue ...
4. das Machtgefuhl ...
Diese — und wenn wir genau nachpriifen nur diese — Ideale des Kindes.
stecken nun aber in alien spezifisch modernen Wertvorstellungen" (S.
22H.).
Zur Soziologie des amerikanischen Parteiensystems.
Von
Julian Gumperz (Berlin).
I.
Die Vereinigten Staaten von Amerika galten dem europaischen
Liberalismus von jeher als das Mutterland der Demokratie. Die
konstitutionellen Formen, welche die junge Republik jenseits des
Atlantischen Ozeans in ihrer Verfassung ausgearbeitet hatte, wurden
zum Vorbild fur zahlreiche politische Bewegungen auf dem alten
Kontinent. Von den europaischen Parteien des Fortschrittes als
Muster einer vernunftgemaBen Verfassung gepriesen, erfuhren sie
von den Machten der Reaktion schon darum Zunickweisung, weil
sie von jenen unterstiitzt waren. Beide Gruppen xibersahen aber die
Tatsache, daB die demokratische Konstitution in den Vereinigten
Staaten nicht das war, was sie ihnen von ihrem europaischen Gesichts-
feld aus zu sein schien, namlich ein Synonym fur die Herrschaft des
Volkes.
Dieser europaische Irrtum betraf nicht nur die Verfassung der
amerikanischen Demokratie, sondern auch die Instrumente, welche
die Verfassung in die lebendige Wirklichkeit ubersetzen sollten: die
Parteien, welche die amerikanische Szene von der Geburtsstunde
der Verfassung an unter wechselnden politischen und organisatorischen
Formen beherrscht haben. Es wiederholt sich hier ein typischer
Fall von Interpretation f remden geschichtlichen Lebens : eine fremde
Wirklichkeit wird unbewuBt auf die Recheneinheiten der eigenen
Vorstellungswelt bezogen.
Wenn die europaische Beurteilung der amerikanischen Verfassung
und der Parteien, die auf ihrer Grundlage entstehen, immer wieder
in die Feststellung miindet, daB es in Amerika keine Parteien im
europaischen Sinne gebe, daB die amerikanischen Parteien Organi-
sationen ohne eigentlichen politischen Inhalt darstellen, daB die
Parteien nur Mechanismen sind, die Wahlstimmen registrieren, so
kann man doch diese Auffassung nicht nur damit abtun, daB man
Zur Soziologie des amerikanischen Parteiensystems 279
sie als einen typisch europaischen Irrtum bezeichnet, denn auch
in den Vereinigten Staaten selbst wird von vielen wissenschaft-
lichen und popularen Schriftstellern eine ahnliche Anschauung
vertreten. Nachdem Bryce die amerikanischen Parteien mit leeren
Flaschen verglichen hatte, deren Etikett sich nur durch die Auf-
schrift unterscheidet, ist dieser Vergleich im amerikanischen Schrift-
tum selbst wie auch in der offentlichen Diskussion oft in zu-
stimmendem Sinne wiederholt worden 1 ) .
Das MiBverstandnis iiber Wesen und Funktion der politischen Par-
teien der Vereinigten Staaten wurzelt demgemaB nicht ausschlieOlich
in dem Umstand, daB die Vereinigten Staaten unter europaischen
Gesichtspunkten betrachtet werden, es scheint vielmehr, als habe der
Irrtum in der Methode der Betrachtung selbst seine Quelle. Man geht
von der Parteiideologie aus, wenn man die Partei selbst untersuchen
will. Man vergiBt, daB die Partei nicht ein selbstandiger isolierter Or-
ganismus imRahmender Gesamtgesellschaft ist, sonderndaB bestimmte
Funktionen sie mit dem politischen Leben der Nation verknupfen.
Nur von diesen Funktionen aus und nicht von der Ideologic, welche
die Partei zur Ausiibung ihrer Funktionen in der Offentlichkeit ent-
wickelt, ist das Parteisystem in den Vereinigten Staaten zu begreifen.
Wenn es richtig ist, daB jede groBe politische Partei die Interessen
einer bestimmten Klasse der Gesellschaft vertritt, so wird umgekehrt
nicht jede groBere Klasse der Gesellschaft ihre politische Vertretung
in einer Partei finden 2 ). Das hangt nicht nur von einer Reihe von
okonomischen und historischen Bedingungen ab, sondern auch in
weitem Umfange von den konkreten politischen Formen, die von
einer gegebenen Verfassung der Tatigkeit einer politischen Partei
dargeboten werden. Darum wird die politische Vertretung bestimmter
Klasseninteressen in verschiedenen Landern und zu verschiedenen
Zeiten sich verschiedene politische Formen suchen.
*) Vgl. hierzu Arthur M. Holcombe, The Political Parties o£ To-day,
A Study in Republican and Democratic Politics, New York 1924, p. 1 — 13.
Ebenso John W. Davis : Party Government in the TJnited States, Princeton
1929, p. 31 ff.
2 ) Der Absicht dieser Untersuchung liegt eine allgemein-theoretische Be-
handlung der Beziehungen zwischen einer gesellschaftlichen Klasse und ihrer
politischen Vertretung fern. Daher blieb auch die unter diesem Gesichts-
punkt abgefaBte Literatur unberiicksichtigt.
Dem aufmerksamen Leser wird es nicht entgehen, daB den folgenden
Seiten eine bestimmte Auffassung von dem Zusammenhang zwischen Klasse
und politischer Vertretung zugrunde liegt. Dieses theoretische Bild selbst
hier zu entwickeln scheint um so unangebrachter, als sich ja die Theorie hier
an einem konkreten Stoff zu bewahren hat und ihre kritische Abwehr nicht
ins Abstrakt-Allgemeine abgelenkt werden sollte.
280 Julian Gumperz
Geschichtlich gesehen, haben sich natiirlich der Charakter der poli-
tischen Partei in den Vereinigten Staaten, ihre Klassenaufgaben und
die Mittel, mit Hilfe derer sie diese zu erfiillen suchte, verandert. Die
Demokraten vom Jahre 1932 haben mit der von Andrew Jackson vor
ungefahr hundert Jahren gegrlindeten Farmerpartei dieses Namens,
von der sie historisch ihre Abstammung ableiten, kaum mehr
als den Namen gemein. Die Republikaner von heute, die sich
auf die Traditionen der von Alexander Hamilton und James
Madison geleiteten Partei der Federalists aus der amerikanischen
Revolutionszeit berufen, wurden von Hamilton oder Madison wohl
kaum als Anhanger ihrer Auffassungen anerkannt werden. Aber trotz
des veranderten politischen Gehalts der Parteien ist ihre Funktion
im sozialen Gefiige der amerikanischen Gesellschaft im wesentlichen
seit der Annahme der amerikanischen Verfassung vor ungefahr
hundertfunfzig Jahren unverandert geblieben. Die erste Aufgabe,
die wir daher hier zu lOsen haben, besteht in der Analyse der Funktion,
welche die amerikanische Partei im Gesamtzusammenhang des
politischen Lebens zu erfiillen hat.
II.
Die Verfassung, die eine siegreiche Klasse oder Klassengruppe
einer Gesellschaft im Kampf aufzwingt, schreibt dieser ein bestimmtes
Gesetz politischen Wachstums vor, von dem sie sich nur in einem
neuen revolutionaren Kampf befreien kann. Durch sie entscheidet
die siegreiche Klasse gleichzeitig, welche Rolle ihre eigene politische
Interessenvertretung sowie die anderer Gruppen der Gesellschaft in
der weiteren Auseinandersetzung der Klassen spielen werden.
Zwischen dem amerikanischen Unabhangigkeitskrieg, der die Bande,
welche die dreizehn Kolonien mit dem Mutterlande verkniipften,
zerriB, und der Herstellung der staatlichen Einheit zwischen den
Kolonien in Form der Verfassung, liegt eine Periode von mehr als
einem Jahrzehnt, das von den heftigsten Klassenkampfen innerhalb
der einzelnen Kolonien erfiillt war. Wahrend dieser Zeit gelang es
konservativen StrOmungen innerhalb der einzelnen Staaten, welche
die Interessen der industriellen und merkantilen Klassen vertraten,
einzelstaatliche Verfassungen durchzusetzen, die gegentiber der
ursprunglichen primitiven Demokratie der Kolonien einen geeig-
neteren Schutz fiir ihre Interessen zu bieten schienen. So machten
diese Gruppen hauptsachlich in den Neu-Englandstaaten des Nordens
nach Durchsetzung geeigneter verfassungsrechtlicher Bestimmungea
Zur Soziologie des amerikanischen Parteiensystems 281
den Versuch, den Farmern und kleinen Handwerkern die Zahlung
der wahrend des Unabhangigkeitskrieges aufgenommenen staatlichen
Schulden aufzubiirden. Dies wurde von den Farmern mit einer
Reihe von Aufstanden beantwortet, die 1786 in einem bewaffneten
Kampf, der ,, Shays-Rebellion", kulminierten. Die Niederwerfung
dieses Aufstandes durch die bewaffnete Macht iiberzeugte die be-
wuBten Vertreter der herrschenden Klasse in den dreizehn Kolonien,
daB die Zeit zur Konsolidierung der politischen Verhaltnisse und zur
Durchsetzung einer Verfassung gekommen sei, welche ihre Interessen
zu stiitzen geeignet ware 1 ).
Diese Auffassung wird sogar von den hervorragendsten Politikern
der Zeit ausgesprochen und anerkannt. James Madison, der neben
Alexander Hamilton den bedeutendsten Anteil an der Abfassung
und Durchsetzung der amerikanischen Konstitution hatte, schrieb
in einem Brief aus dem Jahre 1821:
„Die Notwendigkeit solch einer Konstitution wurde verstarkt durch die
groben und unruhmlichen Ungleichheiten, die in der inneren Administration
der meisten Einzelstaaten sich gezeigt hatten. Auch war die kurz vorher-
gehende und alarmierende, von Shays in Massachusetts gefiihrte Insurrek-
tion von bedeutsamem Einflufi auf das offentliehe BewuBtsein" 2 ).
So setzt also die von Madison, Hamilton und deren Freunden
vorgeschlagene Verfassung des Bundes nur den Kampf fort, den die
klassenbewuBten Vertreter der industriellen und merkantilen Gruppen
des Landes mit der physischen Niederwerfung der Farmer begonnen
hatten. Aus der gesamten klassenmaBigen Situation der Zeit ergeben
sich demgemaB die Absichten, welche die Vater der amerikanischen
Konstitution mit ihr zu realisieren trachteten.
Sucht man so zu dem Kern der amerikanischen Verfassung zu ge-
langen, dann ist man nichtauf eine langeund umstandliche verfassungs-
rechtliche Interpretation ihrer einzelnen Bestimmungen angewiesen,
man ist vielmehr in der Lage, auf die Begrundung zuriickzugreifen,
welche die Vater der Verfassung selbst gegebenhaben. In denBerichten,
die Madison iiber die Debatten der verfassunggebenden Versammlung
hinterlieB, sowie in der unter dem Namen ,, Federalist" bekannt ge-
wordenenSammlungvonAufsatzen, die Alexander Hamilton und James
Madison in den Jahren 1787 und 1788 schrieben, sind die entschei-
denden Gesichtspunkte, welche den Aufbau der amerikanischen Ver-
x ) Vgl. Vernon Louis Parrington, Main Currents in American Thought.
An Interpretation of American Literature from the Beginnings to 1920.
Vol. I. The Colonial Mind, New York 1927, p. 277.
2 ) The Records of the Federal Convention of 1787, edited by Max Farrand,
New Haven 1911, Vol. Ill, p. 449.
282 Julian Gumperz
fassung motivieren, mit nicht zu iiberbietender Deutlichkeit ausge-
sprochen 1 ).
Die wesentliche Funktion einer Regierung, fuhrt Madison hierin
aus, besteht darin, die Menschen in ihrer verschiedenen Befahigung
zu beschutzen, Besitz zu erwerben. „Aus diesem Schutz verschieden-
artiger und ungleicher Befahigungen, Besitz zu erwerben, entspringt
sofort das Eigentum in seinen verschiedenen Graden und Formen."
Dieser Umstand ist, meint Madison, die Basis jedes politischen
Lebens.
„Aus dem Einflufi dieser verschiedenen Eigentumsformen auf die Ge-
fuhle und Gesichtspunkte der betreffenden Eigentumer entsteht eine Spaltung
der Gesellschaft in verschiedenartige Interessen und Parteien . . . Die all-
gemeinste und dauerhaf teste Quelle fur Gruppenbildungen ist also die ver-
schiedenartige und ungleiche Verteilung des Besitzes. Diejenigen, die Eigen-
tum haben, und diejenigen, die ohne Eigentum sind, haben immer verschieden-
artige Interessen in der Gesellschaft vertreten . . . Ein Grundbesitzerinter-
esse, ein Industrielleninteresse, ein Handlerinteresse, ein Bankenintefesse
sowie viele kleinere Interessen entstehen mit Notwendigkeit in zivilisierten
Nationen und spalten sie in verschiedene Klassen, die von verschiedenen
Gefuhlen und Gesichtspunkten angetrieben werden. Diese verschiedenartigen
und einander feindlichen Interessen zu regulieren, ist die Hauptaufgabe
modemer Gesetzgebung. Und diese Aufgabe schliefit den Geist der Parteien-
und Gruppenbildung in den notwendigen und gewdhnlichen Handlungen der
Regierung ein."
Und bier gibt es auch keinen Ausweg, die Ursachen der Parteien-
bildung in der modernen Gesellschaft kOnnen nicht beseitigt werden;
denn „wir wissen" — schreibt Madison — , ,,daB wir uns weder auf
moralische noch auf religiose Motive als auf ein sicheres Mittel der
Kontrolle verlassen konnen". Die ungleiche Verteilung des Eigen-
tums ist unvermeidlich, und ebenso unvermeidlich werden aus ihr
sich bekampfende Gruppen im Staate entstehen. Die Regierungs-
gewalt wird und muB diesen unvermeidlichen Konflikt widerspiegeln,
x ) „Sicherlich das uberragendste Werk aus dieser Zeit ist der federalist',
eine Sammlung von 85 Aufsatzen, welche in kurzen Abstanden (ein bis zwei
pro Woche) in verschiedenen New Yorker Zeitungen wahrend der Jahre
1787 und 1788 erschien. Sie wurden geschrieben von Hamilton, Madison
und Jay. Hamilton war der Initiator, er entwarf den Gesamtplan und lieferte
den grofiten Teil der Beitrage. Unterstutzt wurde er in wesentlichen Fragen,
besonders in Details, von Madison, nur wenige der Aufsatze stammen von Jay.
Im einzelnen ist die Autorschaft fur manche Aufsatze noch strittig.*' Alex
Bein, Die Staatsidee Alexander Hamiltons in ihrer Entstehung und Entwick-
lung, Miinchen und Berlin 1927, p. 124/5.
Von amerikanischen Forschern wird der Anteil Madisons bedeutender
eingeschatzt. Dafiir spricht auch der Umstand, da6 die zehnte Nummer des
Federalist, die den Kern der gesamten politischen tJberlegungen enthalt
und auf die wir uns im wesentlichen in unserer Darstellung stiitzen, von
Madison geschrieben ist. Als beste Ausgabe des jjFederalist' 1 gilt heute die
von P. L. Ford, New York, 1898.
Zur Soziologie des amerikanischen Parteiensystems 283
doch die entscheidende Gefahr wird dem neuen Staate nur daraus
entstehen konnen, daB sich bestimmte Interessen zu einer domi-
nierenden Majoritat fusionieren, die — wie Madison voraussagt —
in der Zukunft voraussichtlich das landlose Proletariat sein wird.
„In zukiinftigen Zeiten wird eine groBe Mehrheit des Volkes nicht
nur ohne Grundeigentum, sondern ohne jedes Eigentum uberhaupt sein.
Daher wird sie unter dem EinfluB dieser gemeinsamen Situation sich
zusammenschliefien. In diesem Fall werden das Eigentum und die offent-
liche Freiheit in ihrer Hand nicht mehr sicher sein. Oder, was auch
moglich ist, die Massen werden zu Instrumenten und Werkzeugen des
Ehrgeizes werden. In diesem Fall droht eine gleichartige Gefahr auf der
anderen Seite."
Die Aufgabe der Verfassung ist es, die Nation vor diesen Gefahren
zu bewahren. ,,Das Allgemeinwohl zu sichern", erklart er, „und
die privaten Rechte gegen die Gefahr solcher Gruppenbildungen zu
schtitzen, zu gleicher Zeit aber den Geist und die Form einer
Regierung durch das Volk zu bewahren — das ist das groBe
Ziel, dem wir unsere Untersuchungen zu widmen haben."
So waren sich Madison und mit ihm die ganze Gruppe, die sich
unter seine und Hamiltons Fuhrung begab, des Grundproblems
vollkommen bewuBt, das die amerikanische Verfassung zu lOsen hatte,
namlich ob die dreizehn Kolonien weiter in einer losen Vereinigung
bleiben sollten, die in ihrem demokratischen laissez-faire die Grund-
rechte des Privateigentums gefahrdete, oder ob in einem fest organi-
sierten Bundesstaat ein kraftvolles Bollwerk gegen die revolutionar-
demokratischen Krafte der Zeit errichtet werden solle. Hatten sich
in den Einzelstaaten bereits Mehrheiten in den gesetzgebenden
Versammlungen gebildet, die den demokratischen Willen des Volkes
als das hOchste und einzige Gesetz deklarierten, so muBte die neue
Verfassung demgegeniiber ihre eigenen Grundprinzipien dem mog-
lichen Zugriff solcher Mehrheiten entziehen. Government by law
and not by men — das war daher die Parole, in der die Foderalisten
ihre Absichten verkiindeten.
Sollte uberhaupt eine von England unabhangige soziale und poli-
tische Entwicklung des Landes sichergestellt werden, so muBte der
Schutz des Privateigentums als suprema lex verkiindet und garantiert
werden. Das war die Grundanschauung, von der die Schopfer der
amerikanischen Verfassung ausgingen. So wurde der von ihnen
vertretene Foderalismus zu einem Mittel, die unabhangige Ent-
wicklung des Kapitalismus in den Vereinigten Staaten durchzusetzen.
Von dieser Grunduberzeugung gingen die Foderalisten ebenso bei
der Abfassung der Konstitution wie auch bei den ersten groBen poli-
284 Julian Gumperz
tischen MaBnahmen aus, die sie nach Erledigung des Verfassungs-
kampfes durchfuhrten. Der ^Report on Manufactures" vom Dezember
1791, den Alexander Hamilton dem KongreB der Vereinigten Staaten
vorlegte, ist ein Dokument, das an staatsmannischer Einsicht und
okonomischem Weitblick nur von wenigen AuBerungen anderer
politischer Fuhrerpersdnlichkeiten ubertroffen wird. Mit klarem
BewuBtsein zog es aus den Ergebnissen der industriellen Revolution
in England die Lehren ftir Amerika. Es erkannte, welche ungeheuren
Quellen neuen Reichtums in der Anwendung der englischen Prinzipien
auf das neue Land sich erschlieBen wlirden. Es stellte die auBer-
ordentlichen MSglichkeiten fest, welche Fabrikorganisation, Ver-
drangung der Handarbeit durch die Maschine, fortschreitende Arbeits-
teilung und Einbeziehung der gesamten Bevolkerung, Manner,
Frauen und Kinder in den ArbeitsprozeB dem neuen Land bieten
wiirden. Es betonte noch einmal die Notwendigkeit der Konsoli-
dierung der nationalen Schuld, wie das Hamilton bereits in seinem
Bericht iiber die offentlichen Finanzen mit den Worten verkiindet
hatte :
„Eine nationale Schuld, falls nicht ubergrofl, wird fvir uns einen natio-
nalen Segen bedeuten. Sie wird unseren Bund zusammenschmieden. Sie
wird die Notwendigkeit schaffen, die Steuern in einem AusmaGe aufrecht-
zuerhalten, das, ohne driickend zu sein, fur die Industrie einen Ansporn be-
deutet . . . Sonst bestunde die Gefahr einer zu groBen Sparsamkeit und Nach-
lassigkeit, zu der uns unsere popularen Maximen antreiben konnten. Wir
arbeiten jetzt weniger als irgendeine zivilisierte Nation in Europa, und die
Gewohnheit zu arbeiten ist ebenso wesentlich fiir die Gesundheit und Kraft
des Volkes, wie sie ertragreich ist fiir die Wohlfahrt des Staates" 1 ).
Diese von den F5deralisten verfochtene Grundanschauung stand
nicht nur im scharfsten Kampf gegen die urspriinglichen demokra-
tischen ELrafte, welche die amerikanische Revolution auf die histo-
rische Biihne gefiihrt hatte, sondern sie wurde auch heftig von Gruppen
befehdet, die selbst Teile der herrschenden Klasse darstellten. So
lehnten die Anti-Foderalisten, die sich spater unter Jeffersons Fiihrung
zur Partei der Republikaner 2 ) zusammenschlossen, eine Entwicklung
der amerikanischen Union nach englischem Vorbild ab. Jefferson
schrieb :
x ) Vgl. Parrington, Vol. I, p. 308ff. Ferner: The Works of Alexander
Hamilton, edited by Henry Cabot Lodge, New York, 1885; besonders Vol. Ill:
Finance, Trade, Foreign Relations.
2 ) Erst unter Andrew Jackson nahm die Partei Jeffersons den bis dahin
verponten Namen „Demokraten" an, den sie bis zum heutigenTage beibe-
halten hat.
Vgl. hierzu auch die Schrift von Gilbert Chinard : Jefferson et les Ideologues
(d'apres sa correspondance inedite avec Destutt de Tracy, Cabanis, I. B. Say
Zur Soziologie des amerikanischen Parteiensystems 285
„AUgemein gesprochen stellt die Proportion, die der Landmann in einem
Staate zu den iibrigen Teilen der Bevolkerung einnimrnt, genau die Propor-
tion der gesunden Teile zu den ungesunden dar . . . Solange wir noch Land
zu bebauen haben, laBt uns nie den Tag herbeiwiinschen, an dem unsere
Burger an einer Werkbank beschaftigt sind . . . Mogen unsere Werkstatten
in Eur opa bleiben ! Es ist besser, Vorrate und Rohmaterial zu den Arbeitern
dort zu bringen, als umgekehrt die Arbeiter zu den Vorraten und Roh-
materialien hierher zu transport ieren . . . Die Menschenmassen in den groBen
St ad ten tragen ebensoviel zur XJnterstiitzung einer reinen Regierung bei,
wie Schwaren zur Kraft des mensehlichen Korpers" 1 ).
Indem Jefferson und seine Freunde sich einer selbstandigen kapi-
talistischen Entwicklung in den Vereinigten Staaten entgegenstellten,
vertraten sie damit die Entwicklung Amerikas als einer agraren Basis
fur den europaischen Kapitalismus. Ihre Schwache bestand nicht nur
darin, daB sie sich einer bereits eingetretenen industriellen Ent-
wicklung in den Kolonien entgegenstemmten ; sie lag zum mindesten
ebensosehr in dem Umstande, daB sie den Widerspruch zwischen der
unabhangigen und selbstandigen Farmwirtschaft des Nordens und
der SklavenOkonomie des Stidens iibersahen 2 ).
III.
Wenn, wie die Fdderalisten und mit ihnen die Mehrheit der konsti-
tuierenden Versammlung glaubten, einander entgegengesetzte Inter-
essen notwendig mit der modernen Gesellschaft entstehen und in der
Politik sich widerspiegeln, so folgt daraus mit zwingender Notwen-
digkeit dieHauptaufgabe, welche der neuen amerikanischen Verfassung
gestellt war: sie hat einer moglicherweise sich bildenden Mehrheit,
et Auguste Comte, Baltimore und Paris, 1925, in der es auf S. 51 heifit:
„ . . . Jefferson, der so vieie Jahre im Kampf gegen die verderblichen aristo-
kratischen Lehren, deren Vertreter Hamilton war, und gegen die Angli-
sierung der amerikanischen Verfassung verbracht hatte."
*) Vgl. Charles A. Beard, The American Party Battle, New York 1928,
p. 36, ferner Parrington, Vol. I; p. 347, wie auch den Brief von Jefferson an
John Jay vom 23. August 1785 in Thomas Jefferson: Letters and Addresses,
edited by Parker and Viles, New York, 1908, pp. 40—42.
2 ) Es ist interessant und charakteristisch zu beobachten, dafi Jefferson,
als er im Jahre 1800 die Prasidentschaft ubernahm, sich gezwungen sah,
die Politik Hamiltons, Madisons und ihrer Freunde zu betreiben, eine Politik,
die er 25 Jahre lang so leidenschaftlich bekampft hatte. „ Hat ten die Fodera-
listen" — schreibt Ch. A. Beard (Economic Origins of Jeffersonian Demo-
cracy, New York, 1915, p. 449/50) — „tatsachlich ein Abkomraen vor der
Wahl mit Jefferson getroffen gehabt, so hat ten sie kaum eine klarere An-
erkennung der von ihnen vertretenen Interessen erreichen konnen. Ob
Jefferson jemals im Ernst einen Krieg gegen die groBen kapi talis tischen
Interessen, die er so heftig angeklagt hat, in Betracht zog oder spater die
Nutzlosigkeit eines solchen Vorgehens einsah, . - . dariiber kann man inter-
essante Spekulationen anstellen. Das Ergebnis jedoch war das gleiche,
was auch immer das Motiv seiner Politik gewesen sein mag."
286 Julian Gumperz
die gewillt ware, die Minderheitsinteressen zu majorisieren und zu
vergewaltigen, entgegenzuwirken, ihre Weiterentwicklung zu hemmen
und durch die Form der politischen Apparatur selbst die miteinander in
Widerstreit liegenden Interessen moglichst im Gleichgewicht zu halten.
Durch welche Mittel nun ist das Ziel zu erreichen, dem Madison
seine Untersuchungen widmen wollte ? Wie er selbst erklart, gibt es
hier nur zwei Moglichkeiten : entweder muB uberhaupt die Entwick-
lung eines gemeinsamen Interesses in einer Mehrheit verhindert
werden, oder diese Mehrheit muB, wenn sie durch gleiche Leiden-
schaften und Interessen zusammengeschmiedet wird, „durch ihre
Zahl und ihre lokale Lage dazu unfahig gemacht werden, sich zu
vereinigen und Mafinahmen der Unterdriickung durchzuflihren".
In dieser Hinsicht offenbaren sich uberhaupt nach Madison die
voneinander divergierenden Prinzipien einer Demokratie und einer
Republik. Wahrend in einer Demokratie das Volk direkt seinen
Willen kundgibt, delegiert es in einer Republik die politische Macht
an eine kleine Zahl von Burgern. Wahrend eine Demokratie sich
notwendig aus kleinen geographischen und bevolkerungspolitischen
Einheiten zusammensetzen muB, kann eine Republik eine grofiere
Zahl von Burgern und einen groBeren geographischen Raum umfassen.
„Die Wirkung des ersten Unterschiedes besteht darin, die offentliche
Meinung zu verfeinern, indem sie durch das Medium einer gewahlten Korper-
schaf t hindurchgef uhrt wird . . . Der zweite Unterschied laBt Kombinationen
selbstsiichtiger Interessen in einer Republik weniger gefahrlich als in einer
Demokratie erscheinen . . . Indem man die raumliche Sphare ausdehnt und
so eine grofiere Unterschiedlichkeit von Gruppen und Interessen einschliefit,
macht man es weniger wahrscheinlich, daC eine Mehrheit des Ganzen ein
gemeinsames Motiv besitzt, das sie veranlafit, die Rechte der anderen Burger
anzutasten; oder, falls etwa ein solch gemeinsames Motiv entstehen sollte,
macht man es fur alle, die sich seiner bewufit sind, schwieriger, ihre Starke
zu entdecken und in Einheit miteinander zu handeln."
Dieser Auffassung Madisons pflichtete auch Hamilton in einer
Rede vor der konstituierenden Versammlung bei, indem er als die
beiden Prinzipien, auf denen allein der Aufbau einer Republik moglich
ist, die folgenden bezeichnete : erstens miissen Republiken eine solche
Ausdehnung besitzen, daB dadurch Kombinationen von BevOlkerungs-
gruppen auf Grand gemeinsamer Interessen erschwert werden, und
zweitens muB durch den Vorgang der Wahl die Reprasentation
des Volkes von diesem selbst abgelost werden.
Wenn demgemaB die demokratische Kammer, das Reprasen-
tantenhaus, direkt durch das Volk, der Senat, die aristokratische
Kammer, von den Legislaturen der Einzelstaaten, der President von
Zur Soziologie des amerikanischen Parteiensy stems 287
Wahlmannern, die nur zu diesem Zweck vom Volk bestimmt werden,
gewahlt werden, dann wird, wie Madison ausfuhrt, die Wahrschein-
lichkeit sehr gering sein, daB „ein gemeinsames Interesse diese drei
verschiedenen Zweige der Regierung zu einer einseitigen Parteilichkeit
fur eine bestimmte Klasse von Wahlern zusammenzementiert".
Diesem Gedankengang entspricht auch das Wahlrecht, das die
Verfassung ursprunglich vorsah. Es war nur folgerichtig, daB Madison
und Hamilton keine Vorliebe fur ein allgemeines und gleiches Wahl-
recht hatten 1 ). Wenn sie aber trotz aller Bedenken das aktive und
*) In den Notizen, die sich Madison zu einer Rede iiber die Frage des
WahJrechts wahrend der Verhandlungen der verfassunggebenden Versamm-
lun; gemacht hat, f inden sich folgende Bemerkungen : „Das Wahlrecht ist ein
funcfcmentaler Grundsatz in einer republikanischen Verfassung. Seine Re-
g Hit] ung jedoch ist gleichzeitig eine Aufgabe besonderer Feinfuhligkeit.
Gi. ; man das Recht ausschlieBlich dem Eigentum, so sind die persdnlichen
R ' hte in Gefahr. Die feudale Staatsfuhrung allein beweist dies genugend.
Dehnt man es jedoch gleichmaBig auf alle aus, so konnen die Rechte des
Eigi ntums oder die Forderungen der Gerechtigkeit von einer Majoritat ohne
Eigentum iiberrannt werden . . . Dafur liefern andere Regierungen durch das
Volk genugend Beweise, und es ist auch nicht ohne Bei spiel in unserer eigenen,
besonders wenn man an die Gesetze denkt, welche die Vertragstreue in Frage
gesttllt haben ...
Da die Besitzer von Eigentum gemeinsam mit deri Burgern ohne Eigentum
alle anderen Rechte besitzen, werden sie mehr als diese davon zuruckgehalten,
die Rechte der anderen zu kurzen. Nichtsdestoweniger ist es sicher, daB es viele
verschiedenartige Wege gibt, auf denen die Reichen die Armen unterdriicken
konnen und auf denen das Eigentum die Freiheit in Frage stellt. Die Welt
ist voll von Beispielen dieser Art. Die Armen miissen einen Schutz gegen diese
Gefahr haben.
Auf der anderen Seite kann man sich die Gefahr fur die Besitzer von Eigen-
tum nicht verhehlen, wenn sie schutzlos einer Majoritat ohne Eigentum gegen-
iibt rstehen. GroBe Korperschafteri werden nicht weniger von ihren Interessen
gft. rieben als Etnzelindividuen. Nur werden sie weniger von der Furcht
voi Vorwiirfen und ahnlichen anderen Motiven, die bei Einzelindividuen eine
Roll.- spielen, kontrolliert . . .
Die Vereinigten Staaten besitzen einen kostbaren Vorteil in der tatsach-
licli n Verteilung des Eigentums, besonders des Landeigentums, wie auch
in G'.r allgemeinen Hoffnung, Eigentum zu erwerben. Diese letztere Eigen-
tii Uichkeit gehort mit zu den gliicklichsten Ziigen in ihrer Situation, ver-
ghchen mit der der Alten Welt, in der keine vorauss/ itliche Veranderung
in uie&er Hinsicht dem Volk eine gleiche Sympathie fiir die Rechte des Eigen-
tums einfloBen kann. Augenblicklich hat die Nation eine Mehrheit von
hiK isassen und ihrer Erben, bzw. von Menschen, die mit Recht hoffen konnen,
tin freies Stuck Land zu erhalten. Mag auch der Tag, da solche Freisassen
niuht mthr eine Mthiheit in der Gesellschaft umfassen, noch sehr fern sein,
.-■ wird or doch eintreten. Kann man auch zugeben, daB das anbaufahige
iwciid noch in viele kleinere Teile aufgeteilt werden kann, so wird dennoch
» me wachsende Yolkyzahl . . . die Freisassen in eine Minoritat verwandeln.
Und warm inimer aiu Mehrheit ohne Land oder anderes Eigentum und ohne
dii Mitttl odor die Hoifnung, es zu erwerben, sein wird, worin wird dann die
ucherhcit. aer Rechtt des Privateigen turns gegen die Gefahr einer Gleichheit
und Allgumeinheit ou .s Wahlrechtes begriindet sein, das die Macht iiber das
Eigentum in Hanuc iogt, die keinen An teil daran haben ?"
Tho 3s> -ords of th. Federal Convention of 1787, Vol. Ill, p. 451/2.
288 Julian Gumperz
passive Wahlrecht nicht an eine verfassungsrechtlich verankerte
Voraussetzung eines bestimmten Besitzes gekniipft haben, so lag
das einerseits daran, daB man sich nicht auf bestimmte Eigentums-
vorbehalte einigen konnte, und andererseits daran, daB die Ver-
fassungen der Einzelstaaten, denen die Bundesverfassung dieses
Problem iiberlieB, ihrerseits bereits ein bestimmtes Minimum an
Eigentum als Voraussetzung des Wahlrechtes vorschrieben. Es ist
bezeichnend, daB sich Uberreste dieser Bestimmungen noch bis zum
heutigen Tage in einer Reihe von Einzelstaaten erhalten haben.
Die Vater der amerikanischen Verfassung haben so nicht nur in
den allgemeinen Prinzipien, die sie der Verfassung zugrunde legten,
sondern auch in den konkreten Formen, die sie ihr gaben, einen
bewundernswerten politischen Instinkt bewiesen. Nicht nur, daB
sie verfassungsrechtlich eine vOllige Trennung der Gewalten vor-
sahen, eine Trennung in eine legislative, exekutive und richterliche
Gewalt, die gegeneinander verselbstandigt werden sollten, sie haben
auch bereits an den Quellen, die sie fur die Bildung dieser Gewalten
bestimmten, fur ihre reale Trennung Sorge getragen. Das Reprasen-
tantenhaus wird nach dem Willen der Vater der Verfassung direkt
von den Teilen des Volkes gewahlt, die von den Einzelstaaten als
geeignet und feif fiir die Ausiibung des Wahlrechts betrachtet werden.
Der Senat wird von den gesetzgebenden Korperschaften der Einzel-
staaten gewahlt, die ihrerseits im Jahre 1787 auf Grund von be-
stimmten Eigentumsvoraussetzungen zustande gekommen waren. Der
President wird von Wahlmannerri bestimmt, die ihrerseits nach
Gesichtspunkten, wie sie den Einzelstaaten geeignet erscheinen
mogen, gewahlt werden. Die Richter des Obersten Bundesgerichts
werden vom Prasidenten gemeinsam mit dem Senat bestimmt,
die beide direkter Kontrolle durch das Volk entzogen sind und deren -
Amtszeit langer ist als die des Reprasentantenhauses.
Das Reprasentantenhaus wird auf zwei Jahre gewahlt, die Sena-
toren auf sechs, doch nicht in einem einzigen Wahlgang, denn ein
Drittel des Senats muB sich alle zwei Jahre neu zur Wahl stellen.
Die Amtszeit des Prasidenten betragt vier Jahre, die Richter des
Obersten Bundesgerichts iiben ihr Amt bis zum Tode aus.
Nimmt man einmal mit den Vatern der Verfassung als Ziel der-
selben den Zweck an, die burgerliche Ordnung gegen feindliche
Majoritaten zu sichern, so wird man wohl zugeben miissen, daB die
amerikanische Verfassung eines der sichersten zu diesem Behufe er-
fundenen Instrumente in der Geschichte der biirgerlichen Welt darstellt.
Zur Soziologie des amerikanischen Parteiensystems 289
Man muB sich die amerikanische Verfassung in dieser ihrer tech-
nischen Konstruktion vergegenwartigen, urn einzusehen, welche
fast unuberwindlichen Schwierigkeiten sie gefahrlichen Majoritaten
in den Weg legt. Denn sind solche dominierenden Majoritaten unter
den Wahlberechtigten der Nation vorhanden, so kOnnen sich diese
direkt nicht auswirken, weil ihnen ein Hindernis dnrch die indirekte
Wahl von Senat 1 ) und Prasident entgegengestellt wird. AuBerdem
mtiBten sie sich sechs Jahre lang in unverminderter Starke behaupten,
nm sich — wenn es ihnen iiberhaupt gelange — auf indirektem Wege
im Senat fuhlbar zu machen; und endlich mtiBten sie auch noch den
Widerstand der richterlichen Gewalt iiberwinden, was auf legalem
Wege nur moglich ware, wenn wahrend der Amtszeit eines oppo-
sitionellen Prasidenten und einer oppositionelien Mehrheit im Senat
geniigend Richter des Obersten Bundesgerichts sturben, um auch
in diesem eine oppositionelle Mehrheit zu errichten. Dabei muBten
alle diese Umstande zeitlich zusammenfallen, so daB die dominierende
Mehrheit sich iiber das Reprasentantenhaus hinaus auswirken konnte.
Der Grundgedanke, der die Verfassung der Vereinigten Staaten
als Ganzes wie auch in ihren Teilen durchdringt, besteht demgemaB
in der Uberzeugung, daB das Privateigentum als solches die Re-
gierungsgewalt begriindet und uber ihr stent, daB die Rechte dieses
Privateigentums infolgedessen dem Eingriff politischer Majoritaten
entzogen sein sollen. So ist die Verfassung der Vereinigten Staaten
in der Form, wie sie von ihren Vatern konzipiert wurde, als ein Mittel
gedacht, die burgerliche GeseUschafts- und Eigentumsordnung gegen
die Moglichkeit feindlicher Eingriff e zu sichern.
Fur die Biegsamkeit und Elastizitat der amerikanischen Verfassung,
wie sie 1787 von Madison und seinen Freunden geschaffen wurde, ist
bezeichnend, daB auch revolutionare Veranderungen der Okono-
mischen und sozialen Struktur des Landes schlieBlich nur dazu
gefiihrt haben, den ursprunglichen Willen der verfassunggebenden
Versammlung, namlich den, das Privateigentum zu schiitzen, der
veranderten historischen Situation anzupassen. Wahrend das Privat-
eigentum im allgemeinen jenseits der Verfassung stent, weil es diese
erst begriindet, wird der Schutz des Privateigentums im besonderen
gewissen Bestimmungen der Verfassung anvertraut. Veranderungen
und Erganzungen der Konstitution, welche der geschichtliche ProzeB
ihrer Anpassung an die sich verandernde historische Gesamtsituation
x ) Seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts werden die Senatoren direkt
durch das Volk gewahlt.
290 Julian Gumperz
des Landes notwendig macht, sind in ihr selbst vorgesehen und mit
ihrem Grundgedanken unlGslich verkniipft.
Eines der sohlagendsten Beispiele hierfur ist das 14. Verfassungs-
Amendement, das nach dem amerikanischen Btirgerkrieg angenommen
wurde und zum Ziel hatte, einerseits den Negern die Burgerrechte
zu verleihen, anderefseits eine groBe historische Expropriation, die
Expropriation der Sklavenbesitzer der Siidstaaten, zu vollziehen 1 ).
Wenn dieses Amendement nur diese beiden Funktionen erfullt hatte,
so besaBe es heute nur noch historisches Interesse. Das Amendement
enthalt jedoch einen kleinen Nachsatz, der fur die Klassenbeziehungen
zwischen Unternehmern und Arbeitern von grundlegender Be-
deutung geworden ist und der damals von einem bewuBten Vertreter
der aufstrebenden industriekapitalistischen Klasse dem Amendement
beigefiigt wurde. Dieser Satz heiBt: ,,Kein Einzelstaat soil ein Gesetz
annehmen oder durchfuhren diirfen, das die Rechte von Biirgern der
Vereinigten Staaten verkurzt; auch soil es keinem Staate erlaubt
sein, einen Menschen seines Lebens, seiner Freiheit oder seines Eigen-
tums zu berauben, ohne das gesetzmaBig vorgeschriebene Verfahren
zu beachten. Noch soil es ihm gestattet sein, einem Menschen in
seinem Machtbereich den gleichmaBigen Schutz der Gesetze zu
versagen." Als vor mehreren Jahren der Staat New York die Arbeits-
stunden in Backereien auf 60 pro Woche begrenzen wollte, erklarte
der Oberste Gerichtshof das Gesetz fur ungultig, da es die Freiheit des
Vertragsrechtes in Frage stelle und damit das 14. Amendement
verletze.
Dabei ist es interessant zu beobachten, wie sich in dem KongreB-
komitee, das dieses Verfassungs-Amendement formulierte, zwei
Gruppen, unabhangig von der ParteizugehOrigkeit, gegenuberstanden.
Die eine beabsichtigte nur, die Rechte der Neger sicherzustellen,
die andere hatte ihren Bhck auf die gesamte, durch die Negereman-
zipation vorbereitete und eingeleitete soziale Umwalzung geheftet.
Der Fuhrer dieser zweiten Gruppe, ein erfolgreicher Eisenbahnan-
walt aus Ohio, hat selbst in einer spateren, vor dem KongreB der Ver-
einigten Staaten gehaltenen Rede seine Absichten bei der Formu-
lierung dieses Satzes ausgesprochen. Es war ihm — wie er mit-
teilte — aufgefallen, daB die Verfassung der Vereinigten Staaten
keine Handhaben gegen einen Eingriff eines Einzelstaates in Rechte
x ) Die Entwickliing der Parteigruppierungen in der dem Btirgerkrieg
unmittelbar vorausgehenden Periode behandelt Th. Clarke Smith in seiner
Arbeit: ^Parties and Slavery, 1850—1859" (Vol. 18 der Sammlung „The
American Nation: A History), New York 1906.
Zur Soziologie des amerikanischen Parteiensy stems 291
des Privateigentums bot. So hatte z. B. die Stadt Baltimore Privat-
eigentum zum stadtischen Gebrauch ohne Kompensation enteignet,
und der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten hatte unter den
bestehenden verfassungsmaBigen Bestimmungen seine Inkompetenz
zugestehen miissen. Dem sollte der letzte Satz des Amendements
abhelfen 1 ).
In der Tatsache also, dafi solche Veranderungen wie die eben
skizzierte im Sinne der ursprunglichen Verfassung, in ihrer Anpassung
an die sich verandernde geschichtliche Situation erfolgt sind, doku-
mentiert sich der geniale staatsmannische Weitblick ihrer ursprung-
lichen Begrunder.
Aus der Teilung der Gewalten, welche die amerikanische Ver-
fassung vorsieht, aus der Aufspaltung der politischen Funktionen in
legislative, exekutive und richterliche, ergeben sich eine Reihe von
Konsequenzen fur das amerikanische politische Leben, die man
beachten mu£, wenn man die Rolle der Partei in den Vereinigten
Staaten begreifen will. Sollen die Gewalten namlich wirklich ge-
trennt bleiben, so muB die Prasidialgewalt unabhangig von der
Legislative sein. Das amerikanische Kabinett ist daher ein Kabinett
des Prasidenten, nicht ein Kabinett des Kongresses, es wird weder
aus dem Parlament gebildet, noch kann es durch das Kabinett ver-
andert werden. Als Exekutivorgan ist der amerikanische Prasident
wahrend seiner Amtszeit absoluter Diktator, dem KongreB wie auch
seinem eigenen Kabinett gegeniiber.
Aus dieser Tatsache ergeben sich bezeichnende Folgen im Gegen-
satz etwa zu einem parlamentarisch regierten Lande wie England,
Folgen, auf die schon Walter Bagehot in seinem zuerst 1868 er-
schienenen klassischen Buche uber die englische Verfassung 2 ) aufmerk-
sam gemacht hat. In England kann das Kabinett Gesetzgebung durch
die Drohung eines Rucktritts oder einer Parlamentsauflosung er-
zwingen. Bern amerikanischen Prasidialkabinett stehen solche Mittel
nicht ziu 1 Verfiigung. Ein parlamentarisches Kabinett bedeutet
ferner eine politische Erziehung der Nation, wahrend von einem
Prasidialkabinett keinerlei Wirkungen dieser Art ausgehen. Bagehot
schreibt :
„Ob die Regierung gestiirzt oder an der Macht bleiben wird, wird durch
die Debatten und die Gruppierungen im Parlament best i mm t. Ferner durch
die Meinungsbildung auBerhalb des Parlaments, jener geheimnisvoll sich
2 ) Vgl. Charles A. Beard and William Beard, The American Leviathan:
The Republic in the Machine Age, New York 1930, pp. 47/49, 654ff.
2 ) Walter Bagehot, The English Constitution, London 1913
292 Julian Gumperz
durchsetzenden Stimmung der Gesellschaft, die auf jene Gruppierung einen
groflen Einflufl hat. Die Nation ist sich der Tatsache bewufit, dafi ihr Urteil
von Wichtigkeit ist . . . Bei einem Prasidialkabinett dagegen hat die Nation
aufier im Augenblick der Wahl keinen Einflufi . . . Zweifellos gibt es auch
dann Debatten im Parlament — doch das sind Prologe, ohne dafi das Stuck
auf sie f olgt. Es umspielt sie nicht eine Stimmung der Katastrophe : man kann
die Regierung nicht stiirzen" 1 ).
Unter der gleichen Schwierigkeit leidet bei einer Prasidialver-
fassung die Presse. Sie kann weder zum Sturz einer Regierung noch
zum Aufstieg einer neuen beitragen. Das direkte politische Interesse
der amerikanischen Presse wird daher mehr ein passives als ein
aktives sein mussen. Denn keiner will lange Artikel lesen, die kaum
einen EinfluB auf die Ereignisse ausuben. Wenn aber die Verfassung
aus den genannten Griinden die politischen Funktionen der Staats-
fuhrung voneinander geschieden und gegeneinander verselbstandigt
hat, so miissen doch diese Funktionen wiederum zu einer Einheit
zusammengefafit werden, soil der Staatsapparat nicht durch einander
kompensierende Krafte lahmgelegt werden. Diese Aufgabe erfullt
die Partei,
IV.
Die primare Funktion, welche die politische Partei im staatlichen
Leben der nordamerikanischen Union zu erfullen hat, besteht also
nicht darin, irgendein weltanschaulich oder prinzipiell begrundetes
politisches Programm zu realisieren, sondern vielmehr darin, gegen-
uber der durch die Verfassung begriindeten Trennung und Auf-
spaltung der Gewalten die Einheit der Staatsfiihrung durchzusetzen
und zu garantieren. Ohne sie wurde die Staatsgewalt in auseinander-
strebende Teile zerfallen, und ein reibungsloses Funktionieren der
gesamten politischen Maschinerie ware dem Spiel des Zufalls iiber-
antwortet 2 ). Es ist klar, dafi schon aus diesem Grunde, soziologisch
!) Bagehot, p. 21
2 ) Vgl. hierzu die Interpretation, die Goodnow dem amerikanischen
Parteiensystem in seiner Schrift ,, Politics in Administration" gegeben hat.
Auch er leitet die Funktion der Partei aus der Struktur des Regierungs-
sy stems ab und weist darauf hin, dafi wegen der Teilung der Gewalten und der
ihr entsprechenden Dezentralisation der mit politischer Au tori tat ausge-
statteten Organe keine Instanz existiert, die eine zentralisierende und kon-
trollierende Funktion ausiibt. Daher sei der Partei die Aufgabe zugef alien,
die divergierenden Gewalten und die auseinanderliegenden Pilichten der
verfassungsmafiig vorgesehenen Regierung zu koordinieren.
Auch Croly vertritt in seiner Schrift ,, Progressive Democracy" die gleiche
Auffassung. Er unterstreicht nur die hierbei mitspielenden sozialen und oko-
nomischen Faktoren energischer als Goodnow.
Vgl. hierzu auch Charles Edward Merriam: American Political Ideas.
Studies in the Development of American Political Thought. New York 1920»
p. 291 ff.
Zur Soziologie des amerikanischen Parteiensy stems 293
gesehen, die amerikanische Partei in dem ganzen System der Regierung
ein viel groBeres spezifisches Gewicht bekommt als etwa in Landern,
in denen die Partei ein integrierender Bestandteil des Verfassungs-
sy stems selbst ist. DaB die aktiven Parteiarbeiter in den Vereinigten
Staaten ihrer Partei eine Loyalitat beweisen, wie sie in europaischen
Parteien jedenfalls nicht zu den Selbstverstandlichkeiten gehort, daB
der amerikanische Wahler sozusagen von Geburt Republikaner oder
Demokrat ist, erklart sich soziologisch schon aus der eigentiimlichen
Funktion, welche die amerikanische Partei im politischen Gesamt-
system der Nation ausubt.
Erst durch die politische Partei wird schlieBlich auch garantiert,
daB der Sinn der Verfassung, namlich die Aufrechterhaltung der
burgerlichen Rechts- und Eigentumsordnung, erfullt wird. Prinzipiell
wird daher der Kampf urn die politische Macht in den Vereinigten
Staaten, soweit er sich innerhalb und durch die politische Partei
vollzieht, immer ein Kampf rivalisierender burgerlicher Gruppen
sein mussen. Der oben geschilderte Mechanismus der Konstitution
schaltet demgemaB von vornherein alle Schichten und Probleme aus,
welche die biirgerliche Rechts- und Eigentumsforderung selbst grund-
satzlich in Frage stellen. ;
Diese ihr auf Grund des ganzen konstituierenden Mechanismus
zufallende Funktion hat die Partei in den Vereinigten Staaten trotz
der fundamentalen in der okonomischen Basis der amerikanischen
Gesellschaft wahrend des letzten Jahrhunderts erfolgten Veranderung
mit groBem Erfolge erfullt. Gegeniiber den Klassenkampfen, die die
amerikanische Szene erfullt und die Umwandlung der amerikanischen
Gesellschaft in eine hochindustriell und finanzkapitalistisch organi-
sierte begleitet haben, hat die amerikanische Partei stets wie ein
Filter gewirkt: in den ruhigeren Perioden der Geschichte war er
dicht genug, um die zwischen den Klassen sich abspielenden Kampfe
und die hieraus resultierenden Fragen meist iiberhaupt nicht durch-
zulassen, wahrend er in Epochen zugespitzter Konflikte ihren sozialen
und politischen Widerhall nur abgeschwacht passieren lieB.
A. M. Sait macht in seiner Schrift „ American Parties and Elections",
New York 1927 (bei einer ahnlichen Grundauffassung) noch auf einen anderen
Umstand aufmerksam. Er schreibt: „Welches sind demgemafi die Aufgaben,
die die Parteien erf iillen ? Sie geben erstens dem aufierst komplizierten
Regierungsmechanismus Zusammenhalt, der auf Grund der Bundes- und
einzelstaat lichen Verfassungen entstanden ist. Zu einem bestimmten Grade
mi Idem sie die Nachteile des Foderativsy stems, indem sie die Politik der
Einzelstaaten und der Nation in solchen Fallen in Einklang bringen, bei denen
politische Handlungen, um effektiv zu sein, gleichzeitig an beiden Stellen
stattfinden mussen " (p. 159).
294 Julian Gumperz
Nach den obigen Ausfuhrungen ware es natiirlich auch denkbar,
daB die Aufgabe, die den politischen Parteien in den Vereinigten
Staaten zufallt, von einer einzigen Partei oder von einer Vielzahl
von Parteien verwaltet wiirde. Tatsachlich hat es auch bestimmte
Perioden in der politischen Geschichte der Union gegeben, in dem
das bundesstaatliche Leben nur eine einzige Partei gekannt hat.
Wenn die Prasidialgewalt, die verfassungsrechtlich ja eine domi-
nierende Stellung f ur sich beansprucht, nicht an die Person eines
einzigen Mannes und damit auch an die einer einzigen der zur Macht
strebenden burgerlichen Gruppen gebunden ware, so hatte sich wahr-
scheinlich das Zwei-Parteiensystem in den Vereinigten Staaten in
seiner heutigen Form nie entwickeln kOnnen 1 ).
Um nun zu begreifen, in welcher Weise die politische Partei im
staatlichen Leben der Union ihre fundamentale Aufgabe erfullt,
muB man sich mehr mit der organisatorischen Form, die sich das
Parteileben geschaffen hat, als mit denParteiprogrammenbeschaftigen.
Natiirlich tragt die Organisationsform der politischen Partei in den
Vereinigten Staaten — und hier ist absichtlich der Singular gewahlt,
weil sich auch in dieser Beziehung die beiden Parteien nur noch in
Nuancen, nicht mehr im Grundlegenden unterscheiden — auch das
Resultat all der Veranderungen in sich, die in den gesellschaftlichen
und Skonomischen Verhaltnissen wahrend ihrer geschichtlichen
Existenz vor sich gegangen sind. Der ProzeB dieser Veranderungen
selbst kann hier nicht verfolgt werden. Es kdnnen nur seine Ergeb-
nisse aufgedeckt werden, wie sie sich in den heutigen Organisations-
formen der politischen Partei kristallisiert haben.
Der politische Grundmechanismus des amerikanischen Systems ist
so konstruiert, daB er die burgerlichen Eigentums- und Rechts-
formen dem eigentlichen politischen Fragebereich entzieht. Dabei
enthalt er an geeigneten Stellen, mit geschickter Hand eingebaut,
Sicherheitsventile fiir Volksstimmungen, die gegen das burgerliche
System revoltieren. Soil nun die politische Partei die ihr zugefallene
Funktion erfullen, so darf sie diesen politischen Grundmechanismus
1 ) „Ware das amerikanische Volk damit zufrieden gewesen . . . die Wahl
von Prasidenten unbestritten in den Handen der herrschenden Gruppe zu
lassen, so hatte es sich ohne Gefahr fiir das Regierungssystem selbst in so
viele Parteien spalten kdnnen, als Interessen existierten, die nach Represen-
tation drangten. Aber da es darauf bestand, sich bei der Wahl von Prasi-
denten wie bei der von Kongrefimitgliedem zu betatigen, waren die Poli-
tiker gezwungen, zwei grofie Parteien zu bilden, um wenigstens den Schein
einer Auswahl aufrechtzuerhalten."
Holcombe, 1. c. p. 317.
Zur Soziologie des amerikanischen Parteiensystems 295
nicht storen, sie muB sich ihm vielmehr moglichst ohne groBe
Reibungen einfiigen. Sie wird also so organisiert sein miissen, daB
sie ein sicheres Instrument in der Hand der herrschenden Gruppen
bleibt, dabei aber noch gentigend Elastizitat besitzt, um diver-
gierenden politischen Stromungen Platz und WirkungsmOglich-
keiten zu bieten. Die empirische, konkrete Form, die sich der
Parteiorganismus in den Vereinigten Staaten gegeben hat, bedarf
daher einer kurzen Darstellung.
Die Partei stand zunachst auBerhalb des Rahmens der amerika-
nischen Verfassung, wenn sie auch ihre notwendige Erganzung dar-
stellte. DemgemaB war sie naturlich ursprunglich auch dem Auf-
gabenbereich des Gesetzgebers entzogen.
Organisatorisch begann die Partei in den Vereinigten Staaten erst
um die Wende der zwanziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts
zu existieren. Vorher, von der Zeit des Unabhangigkeitskrieges bis
zur Prasidentschaft von Andrew Jackson, waren die Parteien der
Foderalisten und der Republikaner weniger bestimmt umrissene
politische Organisationen als vielmehr Organe, die divergierende
politische Anschauungen und Auffassungen zum Ausdruck brachten 1 ).
Andrew Jackson, Vertreter einer gegen den vordringenden Kapi-
talismus revoltierenden Farmer-Demokratie, war es, der durch
seine MaBnahmen den Boden vorbereitete, auf dem sich eine fest-
gefiigte politische Organisation der Partei in ihrer heutigen Gestalt
entwickeln konnte. Indem er in seiner ersten Botschaft an den KongreB
als Prasident die Auffassung aussprach, daB offentliche Posten und
Amter die rechtmaBige Belohnung fur loyale Parteitatigkeit seien,
leitete er eine Periode und ein System ein, das als Spoils- System
bekannt und fur die gesamte organisatorische Weiterentwicklung der
amerikanischen Partei von entscheidender Bedeutung geworden ist.
Als Jackson seine Theorie von der ,,Beute, die dem Sieger im
Wahlkampf gehOrt", verkiindete, war die gesamte politische Struktur
des amerikanischen Staates noch verhaltnismaBig einfach. Politische
Amter gab es wenig; die Bevolkerung war hauptsachlich landlich;
grOBere Stadte existierten nur vereinzelt. Die Okonomische Ent-
wicklung brachte mit der ihr entsprechenden Erweiterung der Auf-
gaben der Bundesregierung eine VergrOBerung der Zahl der zu be-
x ) Vgl. Claude G. Bowers, The Party Battles of the Jackson Period,
Boston 1928, p. V.
296 Julian Gumperz
setzenden Posten und Amter. Das hatte seinerseits zur Folge, daB
der Wirkungsbereich der politischen Partei sich standig verbreiterte.
Damit wurde es unmoglich, weiter die Partei und besonders ihre
organisatorischen Eormen in der gesetzgeberischen Tatigkeit zu
ubersehen. Die Partei, die zu Beginn dem Gesetz unbekannt war,
ward so immer mehr in den Kreis der Gesetzgebung einbezogen,
so daB sie endlich aus einer freiwilligen Assoziation zu einer staatlich
sanktionierten wurde 1 ).
Gegen das Spoils- System, das mehr und mehr zur organisatorischen
Machtbasis der Partei wurde, entwickelte sich sofort ein hef tiger
Kampf, der in einer Civil Service Reform gipfelte, welche wenigstens
formal dem Machtbereich der Partei eine groBe Anzahl von Posten
entzog. Trotzdem wird heute noch die Anzahl der Stellen, die auf
einer Parteibasis vergeben werden, auf ungefahr 800000 geschatzt 2 ).
Mit dem Spoils- System entwickelte sich die Macht der Partei-
maschine, welche nach den Worten eines der energischsten Kampf er
gegen dieses ganze System die dem Volk gehorende Macht fur sich
usurpiert und den BoB an Stelle des wahren Parteifuhrers gesetzt
hat. An Stelle von Mannern, die fuhren,
„indem sie die Meinung des Volkes formen und lenken, indem sie eine
gemeinsame tJherzeugung im Volke durch unaufhorlichen Beweis und f lam-
mende Rede herstellen, sind Parteimanager getreten, die ihre Auffassungen
tiber groBe politische Probleme, wenn sie uberhaupt welche haben, nicht aus-
driicken konnen oder wollen ... Es sind GroBlieferanten von Stimmen,
Leute, die mit Posten und Wohlstand handeln und schachern. Und wahrend
dieses System personliche Servilitat zur Basis politischen Erfolges macht
und von seinen Anhangern selbst blinde Parteitreue fordert, zogert es gleich-
zeitig nicht, die Partei selbst durch einen Handel mit dem Feind zu verraten 3 )."
Indem die Parteimaschine die verfassungsmaBig den "Wahlern
gehorende Macht usurpierte, geriet sie in Widerspruch zu dem von
Madison formulierten Grundziel der Verf assung, bei einer Ausschaltung
der Gefahr dominierender Majoritaten „zu gleicher Zeit den Qeiat und
die Form einer Regierung durch das Volk zu bewahren". Dieser
Widerspruch spllte durch eine Reihe politischer Reformen, besonders
durch die Einfuhrung des „direct-primary u -Systems, beseitigt werden.
Mit der Konzentration der okonomischen Macht ging in der
politischen Sphare eine Konzentration der politischen Macht in den
Handen einer kleinen Parteikhque vor sich, welche in Amerika
*) Vgl. Merriam, p. 278.
2 ) Vgl. Charles Edward Merriam and Harold Foote Gosnell, The American
Party System : An Introduction to the Study of Political Parties in the United
States, New York 1929, p. 242/3.
3 ) Vgl. Merriam, p. 275/6.
Zur Soziologie des amerikanischen Parteiensystems 297
unter dem Namen der Parteimaschine bekannt ist. Diese hatte in
zunehmendem MaBe durch ihre Verfiigungsgewalt iiber Posten und
Amter die politische Macht in Gemeinden, Einzelstaaten, wie auch
in Washington fur sich monopolisiert, eine Monopolisierung, die
durch den Umstand unterstiitzt wurde, daB in den Vereinigten
Staaten Steuereinschatzungen nicht von den Zensiten, sondern
von den politischen Behorden vorgenommen werden. So war von
den durch Andrew Jackson erkampften demokratischen Errungen-
schaften nicht mehr viel ubrig geblieben. Die den Massen zur Wahl
prasentierten Kandidaten wurden in geheimen Sitzungen der Partei-
maschine festgestellt, und was den Wahlern schlieBlich nur noch
ubrig blieb, war die Auswahl zwischen dem demokratischen und dem
republikanischen Kandidaten, wobei wahrscheinlich in vielen Fallen
beide nicht nach ihrem Geschmack waren.
Das sogenannte ,, direct-primary law", das die durch die Allmacht der
Parteimaschine gefahrdete Reprasentativform der Rregierung in
den Vereinigten Staaten wieder herstellen sollte und das um die
Jahrhundertwende in der Mehrzahl der Einzelstaaten zum Gesetz
wurde, suchte daher die Wahl der Parteikandidaten aus einem ge-
heimen, in einem geschlossenen Konventikel vor sich gehenden Akt
zu einem offentlichen zu machen. Die besondere Eigentumlichkeit
dieser Gesetzgebung besteht darin, daB die Nominierung der Partei-
kandidaten zu einer offentlichen Wahlhandlung gemacht wird, die
der Staat beaufsichtigt und an der jedes Mitglied der Partei teil-
nehmen kann. Die beiden Parteien werden so durch die ,, direct
primary' '-Gesetzgebung zu staatlich anerkannten und sanktionierten
Verbanden. Ihre Mitgliederlisten unterstehen der staatlichen Auf-
sicht, und die „primary"-Wahlen (Primarwahlen), in denen die
Kandidaten der Partei zu den verschiedenen zu besetzendenAmtern
nominiert werden, vollziehen sich unter staatlichem Schutz und auf
Staatskosten. Die Abstimmungen finden getrennt nach Parteien
statt. Die Demokraten wie die Republikaner haben ein gesondertes
Wahllokal, in dem nur jeweils eingeschriebene Mitglieder der Parteien
ihre Kandidaten nominieren konnen 1 ).
Die mit der ,,primary"-Gesetzgebung verfolgten Absichten liefen
darauf hinaus, daB die Reprasentanten des Volkes vom Volke selbst
x ) Die „direct primary" — Gesetzgebung ging von den Einzelstaaten aus
und runt auch heute noch im wesent lichen bei den Einzelstaaten. Infolge-
dessen haben sich verschiedenartige Systeme von Primarwahlen entwickelt.
Eine zusammenfassende Schilderung dieser verschiedenen Systeme findet
man bei Merriam and Gosnell, p. 258 ff.
298 Julian Gumperz
bestimmt werden sollten und nicht von einem kleinen Gremium,
das von der Parteimaschine dirigiert wird. Der Erfolg der Gesetz-
gebung war jedoch, daB die Parteimaschine nicht nur in den Primar-
wahlen die von der Partei zu nominierenden Kandidaten bestimmte,
sondem auch praktisch durch die Primarwahlen bereits die Haupt-
wahlen entschied. In diesen, wie in den meisten ahnlichen Fallen
amerikanischer Geschichte, war das Ergebnis einer Bewegung, die
auf ihre Fahnen „Mehr Demokratie" geschrieben hatte, nur das
Entgegengesetzte : weniger Demokratie 1 ).
Um diese Tatsache, die fur den organisatorischen Aufbau der Partei
von fundamentaler Bedeutung ist, in ihrem ganzen Umfang zu
begreifen, muB man einmal versuchen, sich konkret vorzustellen, wie
die Parteimaschine diese Primarwahlen kontrolliert und wie sie von
hier aus die ganze politische Apparatur des Landes beherrscht 2 ).
In den Vereinigten Staaten ist — wie in anderen Landern auch —
das Land in Wahlbezirke und Unterbezirke aufgeteilt, und auf diesen
Unterbezirken, die in der nordamerikanischen Union wards und
precincts heiBen, beruht die politische Kraft und die tatsachliche
Macht der Partei, Der unterste Wahlbezirk umfaBt im allgemeinen
bis zu 600 Wahlerstimmen. Da nun erfahrungsgemafi bei den Primar-
wahlen hOchstens 30% der Wahlberechtigten, meistens sehr viel
weniger, an der Abstimmung teilnehmen, gentigt es, ungefahr 120
bis 125 sichere Stimmen fur die von der Parteimaschine empfohlenen
Kanditen zu mobilisieren, um den Sieg davonzutragen. Meistens
braucht man zu diesem Zweck noch sehr viel weniger Stimmen, so
daB im Durchschnitfc der unterste Wahlbezirk mit ungefahr 1 / 7 — 1 / 8
aller wahlberechtigten Stimmen vollkommen kontrolliert werden
kann. Wie vollzieht sich nun diese Kontrolle ?
Fur jeden dieser Unterbezirke ist der Partei ein Ward- bzw.
Precinct-BoB verantwortlich, dessen Aufgabe es ist, bei den Primar-
wahlen die Nominierung der von der Parteimaschine aufgestellten
Kandidaten durchzusetzen. Das ist fur den BoB im allgemeinen ein
Leichtes, denn fur seine Empfehlungen stimmen seine Familienmit-
x ) Graham Wallas behandelt in seinem Buche „Human Nature in Politics"
(London 1908) Teil II, Kap. 1 — 2, die allgemeinen Ursachen fur die wachsende
Unzufriedenheit mit den Methoden demokratischer Representation, wie sie
sich in den wichtigsten Demokratien entwickelt haben. Vgl. auch „The
Great Society" (London und New York 1914) des gleichen Autors, p. 297 ff.
2 ) Eine populare, von groBer Sachkenntnis getragene Darstellung der
Partei und ihrer Rolle im sozialen und politischen Leben der amerikanischen
Nation unter dem oben genannten Gesichtspunkt findet sich in dem 3uch
von Frank R. Kent, The Great Game of Politics, New York 1923.
Eine anschauliche Darstellung gibt auch Sait, p. 319 ff.
Zur Soziologie des amerikanischen Parteiensystems 299
glieder nebst Anhang und all diejenigen Parteimitglieder samt
Familienanhang, die durch die Parteimaschine in dem betreffenden
Wahldistrikt zu Amt und Brot gekommen sind. Man muB bei diesen
Amtern nicht etwa nur an diejenigen denken, die in Deutschland
Beamten vorbehalten sind, sondern es gehoren dazu auch samtliche
Posten der Stadtverwaltung bis hinunter zum StraBenfeger und
Feuerwehrmann. Mit diesen Stimmen allein wird der BoB in der
Mehrzahl der Falle in der Lage sein, seinen Distrikt nach den Wiinschen
der Parteimaschine zu dirigieren. Aufierdem stehen ihm noch ge-
niigend andere Reserven zur Verfugung, die er im Notfall mobili-
sieren kann. Man muB sich dabei aber dariiber klar sein, daB sein
Interesse bei den Primarwahlen nicht darin liegen kann, einen mog-
lichst groBen Teil der Wahlberechtigten an die Urne zu bringen,
sondern umgekehrt: je geringer die Beteiligung, um so sicherer der
Sieg fur ihn, denn die aktiven Parteimitglieder sind ja verpflichtet,
fur seine Vorschlage zu stimmen. Geniigen aber diese Stimmen in
einem besonders heiB umstrittenen Bezirk nicht, so kann er die
Dankbarkeit von geniigend Wahlern fur sich in Anspruch nehmen,
denen er persOnliche Dienste bei der Stadtverwaltung, bei der Ver-
folgung von Prozessen oder irgendwelchen Anspriichen geleistet hat.
Fiir die Parteimaschine ist es durchaus nicht entscheidend, ob der
BoB bei der Hauptwahl die Parteiliste in seinem Bezirk durchbringt.
Versagt er jedoch bei der Primarwahl, so ist er die langste Zeit Bofi
gewesen.
Der BoB ist oft karrikiert dargestellt worden, so daB die grund-
legende Rol]e, die er im gesellschaftlichen Organismus spielt, iiber-
sehen wird. Merriam hat mit Recht darauf hingewiesen, daB ein
erfolgreicher BoB eine PersOnlichkeit sein muB, die fahig ist, mit
komplizierten politischen und sozialen Kraften umzugehen, daB er
Klassenbeziehungen, Rassenverhaltnisse, religiose Vorurteile, soziale
Gewohnheiten in ihren Imponderabih'en kennen und beherrschen
muB. Vor alien Dingen braucht er ein Verstandnis fiir Massen-
psychologie und eine durchdringende Kenntnis der Psychologie der
Einzelwahler, um grOBere Massen von Menschen beeinflussen zu
kOnnen 1 ).
Wie Sait feststellt, muB er
„ein Volkstribun sein. Besonders in den groCen Stadten, in denen der
komplexe Mechanismus der Verwaltung, das Durcheinander von zahllosen
Gesetzen und Bestiramungen, die Menschen im allgemeinen verwirren und
1 ) Eine anschauliche geschichtliche Schilderung des Bofl-Systems findet
sich bei Gustavus Myers: „History of Tammany Hall", New York 1917*
300 Julian Gumperz
auBer Fassung bringen, wird seine Hilfe dauernd gesucht. Er berat die Rat-
losen, er beseitigt Schwierigkeiten. Er gibt jurist ischen Rat. Reicht seine
eigene Kenntnis nicht aus, so steht ihm jemand anders aus der Organisation
zur Verfiigung . ." x ).
Das spezifische Gewicht der politischen Tatigkeit muBte sich dem-
gemaB immer mehr nach den Primarwahlen hinverlagern, da nur ein
Kandidat, der durch eine Primarwahl nominiert ist, offentlich zur
Hauptwahl gestellt werden kann. Hinzu kommt noch, daB in diesen
Primarwahlen nicht nur die Kandidaten fur die offentlichen Posten und
Amter nominiert, sondern auch die Mitglieder der verschiedenen
Parteikomitees gewahlt werden. Da die Parteimaschine nun auf Grund
des eben geschilderten BoB- Systems die Primarwahlen ziemlich sicher
in der Hand hat, kontrolliert sie auch damit die Kandidaten, die fur
die offentliche Wahl in Frage kommen. Soil demgemaB die Partei-
maschine mit ihren Kandidaten von hieran interessierten Gruppen
zurtickgeschlagen werden, so ist es an keiner anderen Stelle moglich
als in den Primarwahlen. Die Sicherung der burgerlichen Rechts-
und Eigentumsordnung findet also hier ihr eigentumliches und ent-
scheidendes Korrelat. Und die „direct primary" -Gesetzgebung, die
urspninglich dazu bestimmt war, oppositionellen, gegen die Partei-
maschine gerichteten Stromungen ungehindertere Ausdrucksmog-
lichkeiten zu schaffen, hat im Effekt nur die Parteimaschine, deren
Macht sie zerstoren wollte, gestarkt und es unabhangigen Gruppen
unmogiich gemacht, sich mit einem unabhangigen Programm den
Wahlern zu prasentieren 2 ).
*) p. 321. Vgl. auch die Schilderung bei Adolf Rein, Demokratie und
Parfcei in den Vereinigten Staaten von Nordamerika, in dem von P. R. Rhoden
herausgegebenen Sammelwerk: Demokratie und Partei, Wien 1931, p. lOOff.
2 ) I. Allan Smith hat in seiner Schrift: ,,The Growth and Decadence of
Constitutional Government*' (New York 1930) die Frage aufgeworfen,
warum in den Vereinigten Staaten jede Erweiterung der demokratischen
Rechte geschichtlich bisher immer nur zu einer Festigung der burgerlichen
Klassenherrschaft gefiihrt hat. Er beantwortet diese Frage im wes en t lichen
allerdings mit dem Hinweis auf die Macht der Propaganda, die in den Handen
der herrschenden Gruppen bleibt. Wir haben gezeigt, daB die Struktur des
amerikanischen Regierungssystems selbst die politische Meinungsbildung in
einer effektiven, direkten, durch daa Spiel und Gegenspiel der politischen
Krafte bestimmten Form verhindert, wahrend sie auf der anderen Seite
zugleich eine Hypertrophic der offentlichen Meinung in ihrer unbestimmten,
weil einfluBlosen Form erzeugt. In keinem Land ist die offentliche Meinung
im Grunde so maehtlos wie in den Vereinigten Staaten, obwohl sie so macht voll
erscheint. Besonders gilt dies fur die Kriegs- und Nachkriegsperiode. Walter
Lippmann hat in seinen Schrift en darauf hinge wiesen, dafl eine Revolution
in der Kunst eingetreten ist, Zustimmung zu den politischen MaBnahmen
eines Systems zu erzeugen. Wie er auseinandersetzt, wird die Kenntnis der
Technik, Zustimmung zu bestimmten MaBnahmen unter den da von Be-
troffenen zu erzeugen, samtliche politischen Beziehungen in ihren Grund-
lagen verandern.
Zur Soziologie des amerikanischen Parteiensystems 301
Die Institution der Primarwahlen hat die Parteimaschine legali-
siert, ihr die staatliche Anerkennung von Gesetzes wegen verschafft
und den Aufstieg rivalisierender Organisationen auBerordentlich
erschwert. Da bei den Primarwahlen getrennt nach Parteien abge-
stimmt wird, also nur die Mitglieder der eigenen Partei in Frage
kommen, hat die Parteimaschine bei diesen Wahlen keine korikur-
rierende Partei zu fiirchten. Es ist ihr daher um so leichter, spater
bei den Hauptwahlen durch geeignete Abreden mit der gegnerischen
Partei ihre spezifischen Absichten durchzusetzen. Auf diesem Wege
wird der Unterschied zwischen den beiden Parteien noch mehr ni-
velliert. So sind die Primarwahlen zum festesten Bollwerk der Partei-
maschine in den Vereinigten Staaten geworden.
Die Vielzahl der Wahlen und der durch Wahl zuganglichen Amter
verhindern, dafi Niederlagen im nationalen MaBstabe den EinfluB
der Partei brechen. So haben seit dem Burgerkrieg die Republikaner,
wenn man von den Prasidentschaften von Cleveland und Wilson
absieht, immer den Sieg bei den Prasidentenwahlen davongetragen.
Diese Tatsache hat aber keineswegs die Macht der Demokraten in
den Einzelstaaten und Stadtverwaltungen vermindert. Und auch
im nationalen MaBstabe ist es den Demokraten oft gelungen, wahrend
der Amtszeit eines republikanischen Prasidenten demokratische
Mehrheiten im Reprasentantenhaus zustande zu bringen.
Wenn nun die legitime Funktion der Partei im amerikanischen
Staatsleben darin besteht, gegeniiber der verfassungsmaBig begnin-
deten Trennung der Gewalten die Einheit der Staatsfuhrung zu
garantieren, so ergibt sich daraus, daB die aus dem organisatorischen
Aufbau der Partei resultierenden finanziellen Verflechtungen eben-
falls einen legitimen, wenn auch durch die Verfassung und ihre
Gesetze nicht ausdrucklich anerkannten Charakter haben. Da der
Parteiorganismus einen notwendigen Teil im Getriebe der Staats-
maschine darstellt, ist es verstandlich, daB dieser Organismus die
Existenz seiner Funktionare zu gewahrleisten hat. So wird die
finanzielle Grundlage der Partei im wesentlichen dadurch gesichert,
daB jedes durch die Partei zu Amtern und Posten gelangte Mitglied
einen bestimmten Prozentsatz seiner Einnahmen an die Parteikasse
abzufiihren hat. Auf der anderen Seite sind die direkten Ausgaben
fiir die Wahlen relativ gering, da sie ja vom Staate bestritten werden,
eine Tatsache, die wiederum die Stellung der Parteimaschine und
des BoB dadurch starkt, daB man AuBenseitern oder weniger
aktiven Parteimitgliedern die relativ gut bezahlten Stellungen von
302 Julian Gumperz
Wahlbeisitzern offerieren kann. So spiegelt die amerikamsche Partei
in ihrem organisatorischen und finanziellen Aufbau den Mechanismus
der amerikanischen Verfassung selbst wider.
VI.
Da die Parteien in den Vereinigten Staaten keine KJassenorgani-
sationen im programmatischen Sinne des Wortes sind, da infolge-
dessen bei den Wahlen nicht fiir ein politisches Programm, sondern
fur bestimmtePersOnlichkeiten abgestimmt wird, erhalt das persOnliche
Moment im politischen Leben der Vereinigten Staaten einen be-
sonderen Akzent.
Wenn daher die beiden amerikanischen Parteien als Parteien nicht
mehr bestimmt umrissene Klasseninteressen vertreten, wahrend sich
andererseits die biirgerliche Gesellschaft gerade in den Vereinigten
Staaten in einer hochst komplexen, klassendifferenzierten Form ent-
faltet hat, so ist es klar, daB diese differenzierten, oft auseinander-
strebenden Interessen auch einen bestimmten politisch-organi-
satorischen Ausdruck finden miissen, soweit die Parteien als solche
nicht denRahmen bilden. Auch diese im politischen Mechanismus der
Union begriindete supplemental Institution, die sogenannte Lobby,
wird meistens ausschlieBlich unter dem Gesichtspunkt der Korruption
und der ungesetzmaBigen Beeinflussung des Gesetzgebers betrachtet.
Sie ist oft als unsichtbare Regierung, als dritte Kammer neben Re-
prasentantenhaus und Senat bezeichnet worden. Ihre Funktion ist es,
gegeniiber bestimmten gesetzgeberischen MaBnahmen oder Planen
das spezielle Interesse bestimmter Klassengruppen und Klassen-
schichten zur Geltung zu bringen,
Eine Analyse einer gegebenen politischen Situation in Washington
erf ordert daher nicht so sehr eine Untersuchung der Parteierklarungen
zu bestimmten Fragen, sondern eine Klarstellung der Tatigkeit und
Anschauungen der mafigebenden Lobbies. Deren Zahl betragt nach
iibereinstimmenden Schatzungen ungefahr funfzehnhundert, von
denen etwa tausend ausgesprochene okonomische Absichten ver-
folgen. Sie gliedern sich hauptsachlich nach den entscheidenden
Industrie- und Handelszweigen ; so gibt es eine Eisenbahn-, eine
Petroleum-, eine Stahl-, eine Einzelhandels-, eine Bank- usw. Lobby.
Treten die Interessen solcher Gruppen in einen wenigstens fur den
Augenblick nicht versChnbaren Konflikt, so kommen die groBen
Enthiillungen zustande, wie sie wahrend der letzten Jahre oft den
Zur Soziologie des amerikanischen Parteiensystems 303
Senat und damit auch die Offentlichkeit der Vereinigten Staaten be-
schaftigt haben. Hierher gehoren z. B. die Enthullungen tiber die
Power-Lobby, die ein griindlich durchdachtes System der Beein-
flussung der &ffentlichen Meinung in alien ihren AuBerungsformen
zutage gefordert haben. Wie diese Lobby in die Universitaten und
Hochschulen eingedrungen ist, wie auf ibre Veranlassung okonomische
Lehrbiicher geschrieben und benutzt wurden, wie sie die Presse be-
einfluBt bat, das erzahlt Ernest Gruening in einer reich dokumen-
tierten Schrift 1 ).
Alle diese Lobbies unterbalten in Washington ebenso wie in den
Hauptstadten der Einzelstaafcen Biiros und Vertreter, deren Aufgabe
es ist, die geplante Gesetzgebung zu iiberwacben, dafiir zu sorgen,
daB Gesetzentwiirfe, die den Interessen ihrer Auftraggeber schadlich
sind, nicbt durchkommen und dafi MaBnahmen, die zur Forderung
ihrer Gruppen zweckmafiig erscheinen, vor den KongreB gebracht
werden.
Ihre Tatigkeit besteht im wesentlichen nicht etwa darin, KongreB -
mitglieder durch geldliche Zuwendungen zu beeinflussen, sondern
sie haben den in Frage kommenden Komitees des Kongresses Tatsachen
und Argumente in einem Sinne zu prasentieren, der das gewunschte
Ziel erreichen laBt. Die okonomische Struktur des Landes ist heute
so kompliziert geworden, daB die einzelnen KongreBmitglieder un-
mOglich die Wirkung bestimmter gesetzlicher MaBnahmen ubersehen
konnen. Da die beiden Parteien nun Organisationen im nationalen
MaBstabe eigentlich nicht kennen — diese werden nur bei Gelegenheit
der Prasidentenwahlen gebildet und nach Erledigung der Wahl wieder
aufgelost — und auf Grund ihrer ganzen organisatorischen Struktur
sich auch nicht auf bestimmte konkrete politische Linien festlegen,
kann das einzelne KongreBmitglied sachgemaBe Information von
seiner Partei nicht erwarten; es empfangt sie daher legitimerweise
von der Lobby, die auf diesem Wege die spezifischen Interessen
der von ihr vertretenen Gruppe durchsetzt. Es ist daher auch kein
Wunder, daB es kaum eine gesetzgeberiscbe MaBnahme von Bedeutung
gibt, bei der im KongreB die Abstimmung auf Grund von Parteizu-
gehorigkeit erfolgt.
Die Lobby hat ihr Netz tiber das ganze Land verbreitet und beginnt
ihre Tatigkeit bereits bei der Aufstellung der Kandidaten, welche die
Parteien bei den Primarwahlen prasentieren. Unter solchen Ge-
2 ) Ernest Gruening, The Public Pays, A Study of Power Propaganda.
New York, 1931.
304 Julian Gumperz
sichtspunkten erklart sich auch der ungeheure EinfluB, den die
Frauenorganisationen auf die Politik in den Vereinigten Staaten
ausiiben kOnnen, stellen sie doch eine der machtvollsten Lobbies
dar, welche uber viele Millionen von Stimmen bei den Wahlen
verfiigt 1 ).
Man hat oft die Frage aufgeworfen, warum es in den Vereinigten
Staaten keine politische Arbeiterbewegung im europaischen Sinne
gibt. Wenn die American Federation of Labor, die in Washington
wie auch in den Hauptstadten der Einzelstaaten eine Lobby unter-
halt, es immer wieder abgelehnt hat, eine Labour Party etwa im
Sinne der englischen zur Durchsetzung der politischen Forderungen
der gewerkschaftlich organisierten Arbeiter zu griinden, so ist diese
Taktik des amerikanischen Gewerkschaftsbundes durch das System
der Primarwahlen nur noch bestarkt worden. Nach der Auffassung
des amerikanischen Gewerkschaftsbundes haben die amerikanischen
Arbeiter durch die Ausnutzung des Systems der Primarwahlen groBere
politische Resultate erzielt als die Arbeiter in England oder irgend-
einem anderen europaischen Staate 2 ). Die sogenannte „Non-Partisan
Policy" der American Federation of Labor ist nur im Rahmen des
ganzen amerikanischen Regierungssystems verstandlich. Sie besteht
darin, daB die Gewerkschaften die ihnen zur Verfugung stehenden
Stimmen zugunsten irgendeines Kandidaten, unabhangig von seiner
Parteizugehorigkeit, mobilisieren, sofern er nur die von den Gewerk-
schaften geforderten gesetzgeberischen MaBnahmen im KongreB bzw.
in den Parlamenten der Einzelstaaten zu vertreten verspricht. Dem-
gemaB hat die von dem Amerikanischen Gewerkschaftsbund in
Washington unterhaltene Lobby u. a. die Aufgabe, bei Abstimmungen
im KongreB die Haltung der verschiedenen KongreBmitglieder
gegentiber Gesetzen, an denen die Gewerkschaften sich interessiert
erklart haben, zu registrieren und dieses Register gewissenhaft bis
zum nachsten Wahlgang des betreffenden KongreBmitgliedes fort-
zufuhren. Hat dieses nun im groBen und ganzen in einem Sinne ge-
stimmt, der von den Gewerkschaften bejaht wird, so empfehlen sie
ihren Mitgliedern, fiir seine Wiederwahl einzutreten. Auch hier wirkt
also die Institution der Primarwahlen einer unabhangigen oppositio-
nellen Bewegung entgegen. Denn miBliebige Richter, Gouverneure,
x ) Eine ausfiihrlichere Schilderung der Lobby findet sich in der Schrift
von Edward B. Logan, Lobbying, Annals of the American Academy of Poli-
tical and Social Science, Philadelphia 1929.
2 ) Vgl. William English Walling, American Labor and American Demo-
cracy, New York 1926, p. 126ff., p. 139ff., p. 146ff.
Zur Soziologie des amerikanischen Parteiensystems 305
Senatoren usw. kann man beseitigen, indem man in den Primarwahlen
gegen sie stimmt 1 ).
Dieser Konstellation entspricht es auch, dafi die gesamte Sozial-
gesetzgebung der letzten vierzig Jahre, wie im ubrigen auch all jene
gesetzgeberischen MaBnahmen, die man als progressive zu bezeichnen
gewohnt ist, Bewegungen und Stromungen entsprang, deren Quellen
jenseits der politischen Parteien lagen. Ihre StoBkraft gewann sie aus
der Agitation straffer oder loser organisierter Minoritaten, denen es
gelang, den beiden groBen Parteien Konzessionen abzuzwingen.
Die Lobby stellt demgemaB, ebenso wie die politische Partei, in
den Vereinigten Staaten eine notwendige Erganzung der verfassungs-
mafiig gegebenen Organisationen auBerhalb der Verfassung, jedoch
nicht im Gegensatz zu ihr, dar. Der Kampf zwischen den maBgebenden
Schichten der herrschenden Klasse um die politische Macht spielt
sich infolgedessen ebensosehr innerhalb der Parteien wie zwischen
den Lobbies ab.
VIL
Mit der zunehmenden Industrialisierung des Landes, mit der immer
engeren und dichteren Verflechtung aller okonomischen Beziehungen
und Verhaltnisse hat natiirlich auch die Lobby standig an Bedeutung
gewonnen. Und die Konflikte, die sich ursprunglich im wesentlichen
im Rahmen der groBen Parteien abgespielt haben, sind heute Kampf-
gebiet fur den Aufmarsch der Lobbies geworden. Natiirlich klingt
in den beiden Parteien noch das Echo der groBen historischen Aus-
einandersetzungen nach, deren Werkzeuge sie gewesen sind. Obwohl
fur die Bundespolitik eigentlich nur noch eine politische Partei
existiert 2 ), so muB man doch, um das Kolorit des politischen Lebens
in den Vereinigten Staaten zu begreifen, den groBen geschichtlichen
Konflikt, der in den beiden Parteien zum Austrag gekommen ist
x ) Uber die Geschichte unabhangiger Arbeiterparteien in den Vereinigten
Staaten orientiert die Schrift von Nathan Fine, Farmer- Labor Parties in
the United States, 1828—1928, New York, 1928. Vgl. ferner Stuart Rice,
Farmers and Workers in American Politics, New York 1924.
2 ) In einem etwas anderen Sinne ist es auch richtig, dafi die Entwicklung
auch in den Einzelstaaten und Gemeinden dahin tendiert, oft die Unter-
schiede zwischen den einzelnen Parteien aufzuheben und auch organisato-
risch eine einzige Partei herzustellen. ,,Die erfolgreiche Maschine oder der
erfolgreiche Bofi waren oft in der Lage, beide Parteien zu kontrollieren und
so ein einheitliches jZweiparteien-System* zu schaffen, innerhalb dessen
Parteizwistigkeiten relativ unwesentlich wurden. So wurde. besonders bei
lokalen Angelegenheiten, das Zweiparteiensystem tatsachlich zu einer Ein-
heit, wenn man es unter dem Gesichtspunkt der Verfiigungsgewalt be-
trachtet." Merriam, p. 270.
306 Julian Gumperz
und der heute mehr oder minder als abgeschlossen gelten kann, in
seinem Ablauf und in seiner Wirkung auf die Parteien verfolgen 1 ).
Die amerikanische Gesellschaft war von der Zeit ihrer Entstehung
an in ihrem Klassenaufbau einfacher als die europaische. Wenn auch
zweifellos die Behauptung, da6 Amerika keinen Feudalismus gekannt
hat, unzutreffend ist, so war doch die ganze gesellschaftliche Schich-
tung der Klassen in den Vereinigten Staaten klarer und tibersichtlicher
als in den Mutterlandern. Infolgedessen sind auch die politischen
Probleme, die mit der Entstehung und Entwicklung der biirgerlichen
Gesellschaft verbunden sind, in der politischen Geschichte der Ver-
einigten Staaten mit groBerer Klarheit abgezeichnet und ohne Bei-
mengungen aus vorhergegangenen Geschichtsepochen, welche die
Probleme in ihrer Eindeutigkeit verwirren. Das entscheidende
Problem, das den Geschichtsablauf in den Vereinigten Staaten seit
Begriindung der Union bis um die Wende des zwanzigsten Jahr-
hunderts beherrscht hat, war die Umwandlung einer im wesentlichen
agrarisch orientierten Gesellschaft in eine industriell-kapitalistische.
Die Eroberung der Farmwirtschaft durch und fur den industriellen
Kapitalismus war die entscheidende Aufgabe der ersten hundert-
fiinfzig Jahre in der amerikanischen Geschichte. Auf dieser Basis
stellte ein Parteisystem wie das europaische mit seiner Vielzahl
verschiedener Gruppierungen eine Unmoglichkeit dar. GeschichtUch
und politisch moglich waren, von unbedeutenden Abweichungen
abgesehen, nur zwei Parteien: die Partei der Eroberung der Agrar-
wirtschaft fiir den Kapitalismus und die Partei des Widerstandes,
eines Widerstandes aber, der sich im Rahmen des kapitalistischen
Systems selbst hielt und der dazu bestimmt war, allzu hastige Be-
schleunigungen der Umwandlung der Agrarwirtschaft zu verzogern
und die daraus resultierenden Erschiitterungen auszugleichen.
Dieser Kampf hat heute praktisch sein Ende erreicht, da die
stadtische BevOlkerung der Vereinigten Staaten zu der Zeit des ersten
Bundeszensus nicht ganz 4% der Gesamtbevolkerung betrug, wahrend
sie heute ungefahr 80% umfafit. Mit dieser grundlegenden Veranderung
im Leben der amerikanischen Nation hat sich naturlich auch eine
fundamentale Veranderung innerhalb der politischen Parteien voll-
zogen. Die Demokraten, denen Jefferson, Jackson und zuletzt
x ) Eine zuverlassige Chronik der Entwicklung der Republikanischen, bzw.
der Demokratischen Partei ist in den folgenden Schriften zu finden: Francis
Curtis, The Republican Party, 1854— 1904. 2 vols, New York 1904. W. S.
Myers, The Republican Party: A History, New York, 1928. Frank R. Kent,
The Democratic Party: A History, New York, 1928.
Zur Soziologie des amerikanischen Parteiensystems 307
noch Bryan das Ideal einer einfachen, auf den selbstandigen Farmer
basierten Wirtschaft vorangetragen hatten, sind heute aus einer rein
agrarischen zu einer Partei der groBstadtischen Bevdlkerung ge-
worden. Da die Demokraten als Partei des Widerstandes geschichtlich
gesehen gezwungen waren, sich immer mit den unterdriickten
Schichten der Bevolkerung zu verbinden, so stellten sich die zuletzt
gekommenen Gruppen der Einwanderer hinter sie, wahrend die-
jenigen Einwandererschichten, denen es gelungen war, von den
angelsachsischen Herren anerkannt zu werden, sich meistens der
Republikanischen Partei anschlossen.
Mit der Tatsache dieses grundlegenden Konfliktes in der ameri-
kanischen Geschichte, der den Angelpunkt zu ihrem Verstandnis
darstellt, hangt auch zusammen, daB es in den Vereinigten Staaten
trotz aller konfessionellen und religidsen Gegensatze nie einen Kirchen-
konflikt in politischer Zuspitzung gegeben hat. Obwohl die Kirchen
in Amerika eine nicht zu unterschatzende Macht reprasentieren und
reprasentiert haben, haben sie nie wie in Europa groBen Grundbesitz
ihr eigen genannt. Infolgedessen gab es in den Vereinigten Staaten
keine reale okonomische Basis f fir klerikale und antiklerikale Parteien
wie in europaischen Landern. Auch innerhalb der, beiden Parteien
konnten kirchliche Konflikte daher nie akut werden. Andere Eragen,
die in Europa zum Streitgegenstand der Parteien wurden, sind in
den Vereinigten Staaten auf Grund der Verfassung der gesetzgebe-
rischen Beeinflussung durch die Bundesgewalt entzogen. So ist
u. a. das Strafrecht und zum groBen Teil auch das Zivilrecht, die
Arbeitsverhaltnisse in den meisten Industrien, Erziehung und Unter-
richt Domane der einzelstaatlichen Gresetzgebung' geblieben. An
solchen Eragen konnte sich also der politische Konf likt in und zwischen
den Parteien nicht entzunden, wenigstens soweit es sich um die
Bundespolitik in Washington handelte. Der grundlegende Konf likt,
der die Geschichte der Vereinigten Staaten durchzieht und den man
in stenographischer Abkurzung als den Konflikt zwischen Industrie
und Landwirtschaft bezeichnen kann, ist infolgedessen in Amerika
nicht durch Probleme verwischt worden, die ihm fremd sind.
Ahnliches gilt noch auf einem anderen Gebiet. Der eigentiimliche
Charakter der amerikanischen Verfassung hat eine Burokratie im
europaischen Sinne nicht entstehen lassen, ebensowenig wie eine
groBe und einfluBreiche Militarkaste mit eigenen abgesonderten
Interessen und Auffassungen. Infolgedessen bot sich auch von dieser
Seite aus keine Moglichkeit einer anders gearteten Parteienbildung
308 Julian Gumperz
oder einer Verwischung des grundlegenden historischen Konflikts
innerhalb der beiden Parteien selbst.
Es ist bereits festgestellt worden, daB die Demokratische Partei,
geschichtlich gesehen, die Partei des Agrarwiderstandes war 1 ). Mit
der Verlegung des Bevolkerungs-Schwerpunktes vom Land in die
Stadt hat sich die gesamte politische Situation, fur welche die Demo-
kratische Partei den Rahmen bot, grundlegend verandert. Da die
Grunder der Partei im wesentlichen Plantagenbesitzer aus den Siid-
staaten waren, hat die Partei auch heute noch in diesen Teilen des
Landes eine bislang nicht erschutterte Majoritat. Als Partei
der Sklavenbesitzer waren die Demokraten auch die Partei der
Niederhaltung der Neger. Aber auch in dieser Beziehung hat die
Entscheidung, die im grundlegenden Konflikt zwischen Kapita-
lismus und Landwirtschaft gefallen ist, die scheinbar so festge-
ftigten Verhaltnisse und Beziehungen zu verandern begonnen.
Eine Industrialisierung der Siidstaaten hat eingesetzt, welche auf
der einen Seite die endgiiltige Auflosung der Klasse der Plantagen-
besitzer bedeutet, auf der andern eine Emigration der Neger aus den
Baumwollbezirken des Siidens in die industriellen des Nordens.
Diese Wanderungsbewegung bewirkte politisch eine Starkung der
Republikaner, da der Negerwahler aus Tradition fiir die Partei der
Sklavenbefreier, die Republikaner, stimmt.
Diese Industrialisierung der Sudstaaten hat aber fiir die Demo-
kratische Partei noch eine weitere Eolge. Als Partei des Agrar-
widerstandes waren die Demokraten traditionell eine Anti-Hoch-
schutzzollpartei. Die wachsende Industrialisierung im Siiden, die
Entstehung von Eisen- und Textilindustrien in den Siidstaaten,
fuhrt aber notwendigerweise zu einer Starkung der Hochschutzzoll-
Stimmung bei den Demokraten. Dem lauft eine andere Tendenz
entgegen: da in den nordlichen zum groBten Teil demokratischen
GroBstadten der Kapitalexport eine immer starkere Bedeutung an-
genommen hat, ergibt sich aus den schutzzollfeindlichen Inter essen
dieser Gruppen eine Stromung im Rahmen der Demokratischen
Partei, die sich auf den Abbau des Hochschutzzolls richtet, in
x ) Neben der Demokratischen Partei sind jedoch in der amerikanischen
Geschichte immer wieder Gruppen und Organisationen aufgetreten, die auch
programmatisch die Lebensinteressen der Farnrwirtschaft zu ihrem Aus-
gangspunkt nahmen. Besonders reich an Bewegungen und Organisationen
dieser Art ist die Zeit zwischen Burger krieg und der Jahrhundertwende,
Eine gute Darstellung dieser Periode unter materialistischen Gesichtspunkten
hat John D. Hicks in seinem Buch: The Populist Revolt, Minneapolis 1932,
gegeben.
Zur Soziologie des amerikanischen Parteien systems 309
Ubereinstimmung mit den Traditionen der Partei, aber gegen
ihren eigentlichen Sinn. Diese Strdmung wird noch dadurch unter-
stiitzt, daB in den letzten Jahrzehnten das spezifische Gewicht von
Industrien gestiegen ist, die durch den Schutzzoll nicht tangiert
werden und die zum groBen Teil ebenfalls in demokratischen Bezirken
entstanden sind. Die groBen Public Utility- Gesellschaf ten sind das
beste Beispiel dafiir.
Die zunehmende Konzentration des Kapitals, die Verdrangung
des kleinen und mittleren Unternehmers aus der Industrie, die
Ersetzung des Einzelhandlers und Kaufmanns durch den Ketten-
laden, das Warenhaus, das Einheitspreisgeschaft, die Proletari-
sierung der unteren und mittleren Angestelltenschichten, alle
diese mit unheimlicher Wucht und Schnelligkeit sich durch-
setzenden Prozesse haben die Mittelschichten aufgerieben, welche
in den Stadten mit zu den entscheidenden Wahlermassen der Demo-
kratischen Partei gehort haben. Damit werden gerade die Schichten
zerstDrt, welche der Partei den Kampf um die Anti-Trustgesetz-
gebung aufgezwungen hatten. Die Partei hort infolgedessen graduell
auf , die Partei des Kampfes gegen die Trusts zu sein.
Ein ahnlicher ProzeB hat ihr eine andere soziale Antriebskraft
entzogen, den kleinen und unabhangigen Farmer, der traditionell
das Kraftreservoir fur fortschrittliche demokratische Bewegungen
in den Vereinigten Staaten dargestellt hat. Mit der definitiven sozialen
und Gkonomischen Niederlage des unabhangigen Farmers ist der
Kampf zwischen Kapitalismus und Landwirtschaf t zu einem AbschluB
gekommen, zu einem AbschluB allerdings, der selbst wiederum die
Existenzgrundlage des amerikanischen Kapitalismus in Frage stellt.
Rein Okonomisch gesehen ware ein Kapitalismus in den Vereinigten
Staaten vorstellbar, der sich die Farmer ebenso wie die stadtischen
Mittelschichten eingegliedert hatte. Pohtisch gesehen wurde aber
das Gleichgewicht eines solchen Systems durch AnstoBe der gering-
fiigigsten Art gestort werden konnen. ,,In einem Augenblick kapi-
talistischer Krise wurde eine aus Pachtern und Landarbeitern be-
stehende FarmerbevOlkerung, der in den Stadten eine BevOlkerung
von groBkapitalistischen Angestellten und Arbeitern gegeniibersteht,
nur eine armselige Grundlage fur die Institution des Privateigentums
abgeben" 1 ).
Als Partei des Agrarwiderstandes waren die Demokraten tradi-
tionell die Partei, welche die Rechte der Einzelstaaten gegeniiber
l ) Lawrence Dennis, Is Capitalism Doomed ? New York 1932, p. 146.
310 Julian Gumperz, Zur Soziologie des amerikanischen Parteiensystems
denen des Bundes vertreten hat. Auch in dieser Beziehung ist jetzt
eine grundlegende Wandlung eingetreten. Die Zentralgewalt hat
gegeniiber den Einzelstaaten eine auBerordentliche Starkung er-
fahren und das aus vielen Griinden: einmal hat seit der Jahrhundert-
wende eine mit Riesenschritten fortschreitende Konzentration und
Zentralisation des Kapitals eingesetzt, welche die Grenzen der Einzel-
staaten verwischt und aufgehoben hat. Ferner hat der Kapitalexport
die auBenpolitische Rolle der Bundesgewalt den innenpolitischen
Funktionen der Einzelstaaten gegeniiber akzentuiert. Und schlieBlich
haben sich auch die Okonomischen Aufgaben des Staates im Innern
immer mehr erweitert und so die Zentralisierung der Bundesgewalt
in Washington gefordert. Infolgedessen hat auch diese Frage auf-
gehOrt, ein eigentlicher Konfliktsgegenstand zu sein. Sie ist eine
historische Erinnerung, die als Tradition im Leben der Partei lebendig
geblieben ist, wenn sie auch die urspriingliche Parteidifferenzierung
in den Vereinigten Staaten ebensowenig wie irgendeines der anderen
eben kurz zitierten Fundamentalprobleme der politischen Ent-
wicklung verursacht und bestimmt hat.
Zur Soziologie des mechanistischen Weltbildes 1 ).
Von
Franz Borkenau (Wien).
Von etwa 1620 an vollzieht sich im Denken der entwickeltsten
europaischen Nationen (Frankreich, Italien, Holland, England) eine
tiefgreifende Umwalzung, die ihren pragnantesten Ausdruck in der
Entstehung der neuen philosophischen Schulen von Descartes,
Gassendi und Hobbes findet. Die Erneuerung der Philosophie be-
deutet an diesem Wendepunkt der Denkgeschichte jedoch nicht vor
allem eine Veranderung der spezifisch metaphysischen Denkinhalte
iiber Gott, Seele, Unsterblichkeit, obwohl die Umwalzung des Denkens
auch diese Themen mitbetrifft. Zentral ist fur die ganze „moderne"
Philosophenschule dieser Zeit die Konstituierung einer neuen Auf-
f assung von der Natur und — fur einige unmittelbar, fur alle implizit —
auch von der menschlichen Gesellschaft. Die vollkommene Um-
walzung der Erkenntnistheorie, welche die philosophischen Systeme
dieser Zeit von der vorhergehenden Periode scharf abhebt, dient
eben der Grundlegung der neuen Kategorien der Natur- und Gesell-
schaftswissenschaft. Daher ist auch die Bedeutung der grofien Staats-
rechtler wie Althusius und Grotius, der groBen Naturforscher wie
Galilei, Fermat, Huyghens, Harvey, Pascal fur die Entstehung der
neuen Weltanschauung nicht geringer als die der eigentlichen Philo-
sophen. In dem EntstehungsprozeB des modernen Denkens gibt es
— im scharfsten Gegensatz zu seiner weiteren Ausbildung — keine
Grenze zwischen Metaphysik und Erkenntnistheorie einerseits,
Physik und Soziallehre andererseits.
I.Mathematisch-mechanistischesWeltbildundManufaktur.
Die neue Denkform laBt sich am besten als das mathematisch-
mechanistische Weltbild definieren; es ist mechanistisch, insofern
l ; Das Folgende sind Gedankengange aus einem Buch, das demnachst
in der Schriftenreihe des Instituts fiir Sozialforschung unter dem Titel „Der
t)T3ergang vom feudalen zum biirgerlichen Weltbild" erscheinen wird. In
der vorliegenden verkiirzten Darstellung mufite auf alles Beweismaterial und
auf die Aufzeigtmg zahlreicher Zwischenglieder des gesellschaftlichen Zu*
sammenhanges verzichtet werden.
312 Franz Borkenau
alles Geschehen letzthin auf Bewegungen qualitativ gleichartiger
Korper und auf Bewegungsiibertragung innerhalb einer rauin-zeit-
lichen Kontinuitat zuruckgefiihrt wird ■ — anders als in der folgenden
Periode, deren Physik auf der Annahme von Fernkraften und der
Wiedereinf uhrung besonderer Qualitaten beruht ; es ist mathematisch,
insofern Wissenschaftlichkeit und GewiBheit nur der Beweisform
der euklidischen Geometrie und ihren Nachbildern zuerkannt wird
und insofern die Tendenz besteht, das als eine Summe von Bewegungs-
tibertragungen gefaBte Geschehen vermittels eines Biindels linearer
Gleichungen auszudrticken. Das mathematisch-mechanistischeDenken
ist mit der Rolle der Manufaktur im ProduktionsprozeB untrennbar
verkniipft. Jedoch ist der Zusammenhang zwischen Naturwissen-
schaft und industrieller Produktion in der Manufakturperiode ein
ganz anderer als in der Periode der groBen Industrie. Wahrend in
dieser die Wissenschaft eine der machtigsten Produktivkrafte darstellt,
ist der technische Nutzen der Naturwissenschaft in der Manufaktur-
periode gleich null gewesen. Die Manufaktur als systematische
Reduktion der Arbeit auf die primitivsten handwerklichen Prozesse,
als arbeitszerlegender handwerklicher GroBbetrieb, bedarf keiner
Naturwissenschaft und vermag sie nicht zu nutzen; von alien Jahr-
hunderten der neueren Geschichte ist das 17. bei weitem das armste
an technischen Erfindungen, seine Naturwissenschaft am reinsten
abstrakte Theorie. Innerhalb ihrer spielt die Manufaktur vor allem
die Rolle eines Vorbildes, insofern der manufakturelle Produktions-
prozeB durch weitgehendste Abstraktion von allem Qualitativen
charakterisiert ist. Die extreme Arbeitszerlegung schafft einerseits
ein abstraktes allgemeines Arbeitssubstrat, dessen chemische und
sonstige Qualitaten moglichst ignoriert werden, das nur als Stoff an
sich, als reine Materie in Betracht kommen soil, anderseits den voll-
standig unqualifizierten Arbeiter, der nur als Arbeitskraft an sich
in Betracht kommt, dessen Tatigkeit abstrakte Arbeit, reine physi-
kalische Bewegung ist. Der grofite Klassiker der Physik der Manu-
fakturperiode, Galilei, behandelt in seiner Hauptschrift, den„Discorsi <( ,
eben die Gesetze dieser abstrakten Arbeit. Die wissenschaftlichen
Fragestellungen der Zeit gehen jedoch liber eine bloBe Untersuchung
der manufakturellen Technik weit hinaus. Die Trager des neuen
Weltbildes wollen alles Geschehen nach Analogie eines manufak-
turellen Arbeitsprozesses erklaren. Manche von ihnen begniigen sich
auch damit nicht, sondern versuchen, iiber die Probleme der Dynamik
hinauszugehen und das Weltgeschehen rein logisch-mathematisch zu
Zur Soziologie des mechanistischen Weltbildes 313
fassen. Diese Verallgemeinerung der von der Manufaktur ausgehenden
Fragestellungen iiber den Bereich des gesamten menschlichen Wissens
ist nicht aus den Bedurfnissen des technischen Produktionsprozesses,
sondern aus den Klassenkampfen zu erklaren, die sich an das Empor-
kommen der neuen Produktionsweise knupfen.
II. Der Naturgesetzbegriff.
Welche Rolle spielt nun die Verallgemeinerung der manufak-
turellen Anschauungsweise in den Klassenkampfen, die die Ent-
stehung der kapitalistischen Gesellsehaft herbeif iihren ? Das ergibt
sich am besten aus einer Untersuchung der Vorgeschichte der mecha-
nistischen Naturauffassung. Diese soil an einer geschichtlichen
Darstellung der Entwicklung des Begriffes „Naturgesetz" durch-
gefuhrt werden; die geeignete Methode hierzu ist die Geschichte
der Wortbedeutung des Terminus „lex naturalist Denn in diesem
Terminus verbindet sich vom 13. Jahrhundert ab unmittelbar die
Idee der gesellschaftlichen Ordnung mit der Vorstellung von der
Naturordnung.
In der neueren Geschichte wird dieser Begriff zum erstenmal bei
Thomas von Aquino und seinen Vorlaufern Bonaventura und
Alexander von Hales (im Zusammenhang mit der Rezeption des.
Aristotelismus) zum Gegenstand systematischer ErOrterung. Der
tJbergang von der erbstandischen zur berufsstandischen Gesellschaft
fuhrt den Ubergang von hartester Askese zu einer relativ weltoffenen
Haltung mit sich. Der neue Begriff der „lex naturalis" ist der wichtigste
Ausdruck dieser Wendung. Denn er verknupft die Begriffe „lex"
und „natura", die bis dahin sich als das Prinzip des gottlichen Guten
und des fleischlichen Bosen in uniiberbruckbarer Feindschaft gegen-
iiberstanden. Wahrend fur Augustin und das ganze fruhe Mittelalter
das gottliche Gesetz ein dem Menschen von auBenaufgezwungenes
Gebot ist, ist es fiir Thomas der Ausdruck der allgemeinen naturlichen
Neigungen des Menschen, einer naturlichen Harmonie seiner phy-
sischen Bestandteile und seiner psychischen Bestrebungen, welche
freilich nur in einer wohlgeordneten Gresellsehaft zu ihrem Rechte
kommen konnen. Um diese in Funktion zu bringen und zu halten,
bedarf es erkennender Vernunft, die das im Menschen bloB latent
angelegte gottliche Gesetz in Wirksamkeit setzt. Dabei wird, ent-
sprechend der Thomas als „naturlich" geltenden feudalen Gesell-
schaftsordnung, angenommen, da6 die Natur und also das Natur-
gesetz der verschiedenen Stande verschieden sei. Der Begriff der „lex
314 Franz Borkenau
naturalis" bei Thomas dient der Apologie der berufsstandischen
Gesellschaft, der Polemik gegen die Lehre vom „irdischen Jammer-
tar', der Lobpreisung des Menschen, der fahig ist, Gottes Werke zu
verwirklichen, der Lehre von der Ubereinstimmung von Trieb und mo-
ralischer Norm. Das Naturgesetz gilt eigentlich bloB fur die menschliche
Gesellschaft, nur im ubertragenen Sinn fiir die auBermenschliche Natur.
Mit dem Verfall der feudal-traditionalistischen Gesellschafts-
ordnung andert sich die Auffassung vom Menschen, zerreiBt der un-
mittelbare Zusammenhang zwischen dem Begriff des Naturgesetzes
und der Auffassung von der Gesellschaft, schieben sich zwischen
Soziallehre und Naturbild immer zahlreichere Mittelglieder ein. Die
veranderte Bewertung der Menschennatur fuhrt schrittweise zur
reformatorischen Anthropologic Erschien Thomas der Mensch als
von Natur aus mit alien Forderungen der Sitte und der Sittlichkeit
iibereinstimmend, so gilt er nun inmitten des Verfalls der standischen
Traditionen als ein schlechthin bases Wesen, unfahig, sein eigenes
Heil zu wirken, auf die gottliche Gnade bedingungslos angewiesen.
In solcher Situation wird das Problem der Ordnung in verdoppelter
Scharfe aktuell. Konnte Thomas die Ordnung des Kosmos unmittelbar
aus der evidenten Ordnung des menschlichen Daseins ableiten, so
muB nunmehr eine Deutung des Weltalls herbeibemuht werden, um
den Glauben an die Moglichkeit der Harmonie im Menschenleben auf-
rechtzuerhalten, die in der erscheinenden Wirklichkeit des gesellschaf t-
lichen Lebens nicht mehr aufweisbar ist. Bei Nikolaus Cusanus als
dem ersten Denker, der das Problem der Weltharmonie konsequent
gestellt hat, klindigen sich so die Grundprobleme der modernen
Philosophie an. In der Erscheinung ist die Welt ein Reich der Unruhe,
das nicht verstanden werden kann. Diesem Reich der Erscheinung
wird ein Reich des Wesens gegeniibergestellt, in dem Harmonie und
Ordnung herrschen. Dieses Wesen ist unseren irdischen Kraften nicht
voll zuganglich, deus absconditus. Aber seine Spuren finden sich
tiberall, einerseits in der ,,lex naturalis", die zwar nicht mehr ein
Ausdruck der natiirlichen Triebkonstitution des Menschen ist, die
er aber als Gewissen von Gott eingepflanzt in seinem Herzen tragt;
anderseits in der „lex naturalis" der ewigen Bestandigkeit schoner
Ordnung in der Natur, die einen allgutigen SchOpfer anzeigt. So
wird die GewiBheit der Wesenhaftigkeit des moraHschen Naturgesetzes,
die aus dem verderbten Menschenleben nicht mehr gewonnen werden
kann, der Natur abgezwungen, die sich zu diesem Zwecke eine bewuBte
Deutung in mathematischen MaBen, nach Art des Neupythagoreismus,
'Zur Soziologie des mechanistischen Weltbildes 315
gef alien lassen muB. Die Trennung des physischen vom moralischen
Naturgesetz fiihrt dazu, daB das gesellschaftliche Leben nur noch
aus den Gesetzen der auBeren Natur deduktiv oder analogisch ver-
standen werden kann, wahrend Thomas gerade umgekehrt die Natur
aus den Zwecken desMenschenlebens erklaren will. In der entstehenden
kapitalistischen Gesellschaftsordnung erscheinen die gesellschaftlichen
Ordnungen dem Menschen nicht mehr, wie im feudalen Tradition
nalismus, als seine angeborene „Natur" und noch nicht, wie in der
sozialistischen Lehre, als sein Produkt. Wie alles gesellschaftliche
Geschehen im Kapitalismus, erscheinen ihm seine Taten als ein ihm
von auBen kommendes Schicksal, das also jeder anthropozentrisch-
finalen Deutung verschlossen ist.
Cusanus vertritt eine gesellschaftliche Gruppe, die innerhalb der
AuflOsung des Feudalismus eine harmonische Gesellschaftsordnung
durch Herrschaft einer ,,weisen" Oligarchic aufrechtzuerhalten strebt.
Seine harmonistische Deutung des Weltalls ist wertlos fur jene
Schichten, die durch den ZersetzungsprozeB des Feudalismus aus
ihrer traditionalistischen Lebensform geworfen worden sind, dadurch
aber nicht neue Moglichkeiten der Herrschaft bekommen haben,
sondern sich der Notwendigkeit eines qualvollen Anpassungsprozesses
an die Bedingungen des Geldkapitalismus gegeniibersehen. Fur die
vom Untergang bedrohten Kleinadeligen, Zunfthandwerker und
Intellektuellen, deren Wortfiihrer Calvin ist, bedeutet die Zer-
stGrung der „naturlichen" feudalen Gesellschaftsordnung das Fehlen
jeder Ordnung iiberhaupt. Der Zusammenhang zwischen der Auf-
fassung der Natur und der Bewertung des moralischen Charakters
des Menschen ist nirgends so deutlich wie bei Calvin. Zwar leugnet
er nicht das Vorhandensein eines moralischen Naturgesetzes und einer
gottlichen Weltordnung, aber in der abgriindigen Verderbtheit, die
dem Siindenfall gefolgt ist, sind beide dem Menschen unerkennbar
geworden. Das Gewissen hat nur den Zweck, den Menschen vor sich
selber anzuklagen, ohne daB ihm doch irgendein Weg zum Guten
offenstiinde. Jetzt ist es voller Ernst mit dem deus absconditus. Da
der Mensch durch und durch bOse ist, kOnnte eine Weltordnung nur
ein Reich des Teufels sein; gesetzliche RegelmaBigkeit oder schOne
Harmonie der Natur zu behaupten, erklart Calvin daher ausdrucklich
fiir blasphemisch. Er leugnet das moralische wie das physische
Naturgesetz.
Die herrschende geldkapitalistische Schicht versucht, sich den
Konsequenzen des Calvinschen Pessimismus zu entziehen. Dieser ist
316 Franz Borkenau
jedoch in der Periode des Geldkapitalismus die einzige konsequente
Weltansicht, da der Feudalismus nicht mehr besteht und die kapi-
talistischen Lebensformen die Massen noch nicht durchdrungen haben,
so daB die gesellschaftliche Wirklichkeit als bloBe Herrschaft zerstoren-
derMachte erscheinen muB. Die Ideologic des Geldkapitals, die Philo-
sophic der Renaissance, ist daher gez wungen , in ihren apologetischen
Bemiihungen auf jede Sinndeutung der Gesellschaft zu verzichten
und ihre harmonistischen Theorien rein vom Standpunkt des voll-
kommenen Individuums zu begriinden, nahert sich aber trotzdem
immer mehr der Calvinschen Haltung.
Die erste Etappe auf diesem Wege stellt die Philosophic Ficinos
dar; er stellt das Problem der menschlichen Seele in den Mittelpunkt.
Unwiderstehlich treiben die „ Appetite" die Seele zu sinnloser Be-
wegung. Das ist ihre „fatalis lex". Aber wahrend die erscheinende
Bewegung sinnlos ist, hat sie gleichzeitig eine wesenhafte Bedeutung.
Im Kreislauf zahlreicher, durch Seelenwanderung verbundener
Erdenleben durchlauft sie alle Objekte der Begierde, um sich von
alien zu befreien; so lauft sie im Kreis um Gott, um schliefilich in
ihn zu fallen. Bei Ficino stehen die Calvin vorwegnehmende Lehre
von der vollen Sinnlosigkeit des menschlichen Daseins und die har-
monistische Wesensphilosophie unvermittelt nebeneinander. Um
so starkerer Akzent fallt auf eine harmonistische Naturdeutung. Um
dem Kreislauf der Seelen Glaubhaftigkeit zu verleihen, konstruiert
Ficino die ganze physische und geistige Welt als ein System von
Kreisen. Diese Auffassung der Natur als eines harmonischen Systems
von Kreisen, der edelsten der Kurven, hat die Naturwissenschaft der
Renaissance entscheidend bestimmt. Die statische Ordnung der
Gesellschaft, Grundanschauung des Hochmittelalters, hatte wenigstens
die Entstemmg einer wissenschaftlichen Statik ermoglicht, wahrend
jede Art von Dynamik dem Mittelalter verschlossen blieb. Nun
tritt die Bemuhung um eine Dynamik der Kreisbewegungen
in den Vordergrund und mit ihr die Physik der Himmelskorper als
reinste Darstellung dieser Dynamik . Diese Auf gabe hat Kopernikus
gelost. Wahrend dem hohen Mittelalter alles daran lag, den Menschen
als die Krone der Schopfung, die Spitze der hierarchischen Ordnung
der Welt, die Erde also als deren Mittelpunkt aufzufassen, wogegen es
nichts bedeutete, daB die gequalten ptolemaischen Epicyklen aller
schonen Einfachheit bar waren, gelten jetzt die Seelen der Himmels-
korper als edler denn die Menschenseelen — entsprechend der pessi-
mistischen Bewertung des Menschen und der Superioritat der Natur
Zur Soziologie des mechaniatischen Weltbildes 317
uber die Gesellschaft. Dagegen stent der Gesichtspunkt der Harmonie
in der Natur liber alien anderen. Kopernikus bezeichnet ausdrucklich
als Motiv seiner Ablehnung des ptolemaischen Systems die Un-
mOglichkeit, mit seiner Hilfe das Weltall einfach und harmonisch
zu konstruieren.
Kommt bei Ficino die entscheidende Rolle des aller sozialen
Schranken ledigen vollentwickelten Individuums nur indirekt in
seiner rein anthropologischen, asozialen Fragestellung zur Geltung,
so stellt es Ludovico Vives ausdrucklich in den Mittelpunkt. Fur ihn
besteht weder eine finale noch eine harmonistische Weltordnung.
Sinn, Trieb, lex naturalis des Weltgeschehens ist fiir ihn die Voll-
kommenheit jeder Art in ihren vollkommensten Individuen. Die
Einheit von Trieb und Norm scheint wiederhergestellt, jedoch auf
vollkommen naturalistischer Grundlage. Von hier aus erOffnet sich
ein weites, von den Naturgeschichtlern der Spatrenaissance reichlich
bebautes Feld empirischer Naturforschung. Sie gilt der Fest-
stellung des besonderen Verhaltens jeder Spezies, wobei der
Begriff des Funktionszweckes der Organe fiir das Individuum um-
fassende Anwendung findet. Die Fragestellung dieser Empiriker
ist durchaus vitalistisch, Probleme der Mechanik tauchen in ihrem
Kreis nicht auf. Wohl aber tritt fiir Vives und seine Nacbfolger
die Erkenntnistheorie als selbstandiges Problem in den Gesichts-
kreis. Denn wenn alles mittelalterliche Weltverstandnis von einer
scheinbar evidenten ,,Naturlichkeit" des menschlichen Wesens und
seiner Strebungen ausging, so ist in Vives* Naturalismus die Uber-
legenheit der Natur uber den Menschen endgiiltig verfestigt, die Lehre
vom Menschen ein Bestandteil der Lehre von der auBeren Natur.
Und nun wird das bisher Selbstverstandliche zum Problem: Wie
konnen wir der Adaquatheit unseres Wissens von der AuBenwelt gewiB
sein % Dabei erweist sich die Erkenntnistheorie als Abbild der Meta-
physik. Wer die Erkennbarkeit ewiger Ordnungen in der Natur
behauptet, muB das Vorhandensein ewiger evidenter Erkenntnisse der
menschlichen ratio behaupten. Und umgekehrt: wer, wie Vives,
ein Bereich der Gesetzlichkeit und eines des Zufalls lehrt, muB ein
Bereich der ewigen ratio und eines der schwankenden opinio be-
haupten. Die Erkenntnistheorie, scheinbar eine Voraussetzung, ist
eine Folge der gesellschaftlich bedingten Anschauung von der Welt-
ordnung.
Dem Begriff der ,,lex naturalis" bei Vives fehlt in Wahrheit seine
vorgebliche Eindeutigkeit. Denn welches Individuum innerhalb
318 Franz Borkenau
einer Art als vollkommen gelten soil, dafiir gibt es kein Kriterium.
In Vives' Anthropologic ist derBegriff derNorm faktisch verschwunden.
Nach ihm verschwindet der Begriff der „lex naturalis" aus der Theorie.
Wie im Staatsrecht an Stelle der Lehre vom Naturgesetz die Theorie
des Gottesgnadentums tritt, so treten bei den Naturphilosophen seit der
zweiten Halfte des 16. Jahrhunderts, vor allem bei Bodin und Cam-
panula, an Stelle des eine RegelmaBigkeit bezeichnenden Naturgesetz-
begriff es Begriff e wie fatum, fortuna, providentia, die die Zufalligkeit
alles Geschehens, zunachst des menschlichen und dann alles Natur-
geschehens liberhaupt, ausdriicken. Den Gipfelpunkt dieser Ent-
wicklung stellt das novum organon Bacons dar. Die Baconsche
Naturphilosophie ist eine einzige Aufforderung, die Frage der Normen
aus der Naturbetrachtung auszuschalten und die Illusion einer
einheitlichen, allgemeinen GesetzmaBigkeit aufzugeben. Bezeichnet in
dieser Hinsicht Bacon nicht einen Anfang, sondern den Endpunkt
einer jahrhundertelangen Entwicklung, so bringt er der Natur-
wissenschaft als neues Element die systematische Energie einer
praktisch-industriellen Zielsetzung. Das Geldkapital vollzieht seinen
Ubergang in die Sphare der Produktion. Aber Bacons Forschen ist
unfruchtbar geblieben. Seine angeblich reine Empirie hat nichts
zutage gefordert als ein Kunterbunt von Kategorien der Renaissance-
wissenschaft. Das neue mechanistische Weltbild konnte er nicht
schaffen, vielmehr entstand es gerade aus einer Wiederherstellung
der engsten Verbundenheit zwischen der moralischen und der phy-
sischen „lex naturalis", die auf der Verallgemeinerung der aus der
Manufaktur geschopften Methoden der Naturbetrachtung beruhte.
III. Naturrecht und Gesellschaftsvertrag.
Eine der wichtigsten Vermittlungen zwischen dem mittelalter-
lichen und dem modernen Naturgesetzbegriff ist die Umwandlung
der Staatslehre, die aus dem Siege des fiirstlichen Absolutismus
zu Beginn des 16. Jahrhunderts und aus den fruhburgerlichen Revo-
lutionen (Aufstand der Niederlande, Hugenottenkriege, Grand
revolution) erf olgt . Macchiavellist der erste Denker, der konsequent
von den Daseinsbedingungen des fiirstlichen Absolutismus ausgeht.
Zwar ist dieser nicht sein Ideal, im Gegenteil verherrlicht er die mittel-
alterliche Stadtefreiheit, aber er akzeptiert die Tyrannis als unver*
meidliche Tatsache und entwickelt die technischen Bedingungen,
unter denen sie funktionieren kann. Hierbei ergibt sich sogleich der
enge Zusammenhang der neuen Staatsform mit einer neuen Auf-
Zur Soziologie des mechanistischen Weltbildes 319
fassung vom menschliclien Wesen tmd von der Sittlichkeit. Indem
Macchiavell in dem Entwurfe seiner Politik von alien moralischen
Bestimmungen des Staates radikal absieht, leugnet er implizit die
reale Bedeutsamkeit des Naturgesetzes im gesellschaftlichen Leben;
ohne es ausdriicklich auszusprechen, geht er von der Voraussetzung
aus, dafi die Menschen einander natiirlicherweise feind sind. Abso-
lutismus und pessimistische Anthropologic gehGren seitdem untrenn-
bar zusammen. Die Reformation bat diesen Zusammenhang ausdruckr
lich ausgesprochen. Sie begriindet die Lehre von der Herrschaft
der Obrigkeit von Gottes Gnaden mit der Notwendigkeit, den von
Natur bOsen Menschen mit Gewalt zu bandigen. Fur naturrechtliche
Anspriiche der Individuen bleibt hier kein Raum.
Jedoch erst durch Bo din wird der Absolutismus im Begriff der
Souveranitat zum Bestand des Staatsrechts im engeren Sinne. Bodin
ist zur juristischen Fassung der Tatsache des Absolutismus durch
die Unmoglichkeit seiner theologischen Begriindung gezwungen;
dies ergibt sich aus der Stellung der royalistischen Mittelpartei in
den Hugenottenkriegen, die dem religibsen Fanatismus sowohl der
Calviner als der Liguisten den religiOs toleranten, auf das inner-
weltliche Wohl der Untertanen bedachten legitimen bourbonischen
Absolutismus entgegenstellt. Bodin vermag jedoch die innerweltliche
Begriindung der Souveranitat nicht zu Ende zu fuhren, da der
innerweltliche Zweck des Absolutismus nur die Wahrung von Leben,
Eigentum, Glauben und Wohl der Untertanen sein kann ; eben an diese
Menschenrechte darf jedoch der Absolutismus nicht gebunden werden,
da er sonst aufhorte, absolut zu sein. Bodin muB daher die Souve-
ranitat als angebliche empirische Tatsache einfach hinstellen und
gewaltsam in alle bestehenden Verfassungen hineindeuten, sowie sie
metaphysisch durch Analogien in der Weltordnung (Gottesherrschaft,
Patriarchat usw.) stiitzen. Aber ebensowenig wie Bodin die Souve-
ranitat, kOnnen seine Gregner, die calvinischen und jesuitischen
Monarchomachen, die Menschenrechte in einer systematischen Kon-
struktionderGesellschaftbegriinden. Gregendie „macchiavellistischen"
Greuel der Bartholomausnacht stellen sie das Recht des Individuums
auf seine Existenz, seine Sicherheit, seinen Gottesglauben und seine
durch unaufhebbare Rechte garantierten standischen Anspriiche,
und sie sprechen den Untertanen das Recht zu, den Herrscher, der
diese Voraussetzungen seiner Herrschaft miBachtet, als Tyrannen
zu beseitigen. Hier argumentieren sie jedoch bloB als in ihren Rechten
bedrohte Minderheit, sie versuchen gar nicht, diese Rechte, die fur
320 Franz Borkenau
sie einfache Gegebenheiten sind, als notwendige Elemente einer
sittlichen Gesellschaftsordnung aufzuzeigen. Die Menschenrechte
sind ihnen nicht mehr Bestandteile eines die Gesamtgesellschaft
organisierenden Naturgesetzes, sondern bloBes subjektives Natur-
recht.
Althusius, der Ideologe des demokratischen Casarismus der
Oranier (Professor an der Nassauisch-Oranischen Landesuniversitat
Herborn-Siegen), versuchtden Gegensatz zwischen Souveranitat und
Menschenrechten zu tiberwinden. Er ist nicht, wie Gierke behauptet
hat, Theoretiker einer abstrakten Demokratie, vielmehr scharfer
Vertreter des furstlichen Absolutismus. Die Volkssouveranitat dient
in seinem System nur dazu, dem Erwahlten des Volkes eine moglichst
absolute Macht zu vindizieren; der vom Volke eingesetzte Souveran
ist normalerweise unabsetzbar. Aber zum Unterschied von Bodin
vertritt Althusius nicht eine legitime, sondern eine revolutionare Herr-
schermacht, die ihr Recht nur der unmittelbaren Einsetzung dufch
das Volk verdanken kann. Es geht ihm urn die zur Durchsetzung
modern-biirgerlicher Verhaltnisse geschaffene revolutionare Diktatur
mit monarchischer Spitze. Um die Absolutheit des Herrschers
gegenuber alien gesellschaftlichen Verhaltnissen sicherzustellen, muB
er einerseits die Souveranitat fur eine notwendige Eigenschaft der
Staatsgewalt erklaren, andererseits Staat und Gesellschaft identifi-
zieren. Denn ohne diese Idendifikation bliebe ja dem gesellschaft-
lichen Leben ein Bereich unaufhebbarer individueller Freiheitsrechte,
die der Souveran nicht antasten durfte. Gehort aber der souverane
Staat untrennbar zur Gresellschaft, verdankt andererseits der Souveran
sein Recht einem Vertrage, dann muB die Gesellschaft selbst Produkt
eines Vertrages sein. Die so von Althusius begriindete Lehre vom
Gesellschaftsvertrag zieht die letzten Konsequenzen aus der Antinomie
von Souveranitat und moralischem Naturgesetz. Bei Althusius wird
das Naturgesetz in einem solchen Grade geleugnet, daB alle Ver-
haltnisse des menschlichen Lebens aus vertraglicher Satzung, d. h.
aus der Willkiir der Individuen abgeleitet werden. Von hier aus
off net sich der Weg zu der soziologischen Staatslehre des Hobbes.
Althusius vermeidet die letzten Konsequenzen Hobbes*, dem er im
iibrigen auBerst nahe steht, nur durch den einzigen naturrechtlichen
Rest seines Systems, die Heiligkeit der Vertrage. Sie ergibt sich aus
der calvinischen Begrtindung seines Standpunktes. Althusius' Gegen-
spielerGrotius, den man mitUnrecht ftirdenBegrunder der modernen
Staatslehre gehalten hat, versucht als Ideologe einer standischen
Zur Soziologie des mechanistischen W«Itbildes 321
Schicht, des hollandischen Stadtepatriziats, in Ankniipfung an die
Scholastik ein objektives Naturgesetz festzuhalten, das der Staats-
macht Schranken setzt und aus dem er die Unaufhebbarkeit erwor-
bener standischer Rechte ableitet.
IV. Neue Theologie und neue Anthropologic
Die Lehre von der Souveranitat und vom Gesellschaftsvertrag
setzt also eine pessimistische Anthropologie voraus. Sie wird daher
konsequent nur innerhalb des Protestantismus entwickelt. Umgekelirt
entwickelt sich im katholischen Kulturkreis die philosophische
Problematik an der dort festgehaltenen Voraussetzung von der Giite
und ErlGsungsfahigkeit des Menschen, die mit den gegebenen Tat-
sachen der Zersetzung der feudalen Gesellschaftsordnung und der
durch den kapitalistischen ArbeitsprozeB geforderten ,,innerweltlichen
Askese" in Einklang gebracht werden muB.
Die anthropologischen Probleme kennt auch der Calvinismus,
aber sie haben bei ihm keine philosophische Tragweite, weil er sie
vermittels eines widerspruchsfreien Pessimismus lost. Der Calvinismus
ist der wichtigste Nahrboden kapitalistischen Geistes geworden .
Zwar ist er selbst nicht ein Produkt des kapitalistischen Arbeits-
prozesses, aber ein Produkt der Anpassung an den Einbruch des
Geldkapitals in die traditionalistische Wirtschaft vermittels inner-
weltlicher Askese, die den Weg zum kapitalistischen ArbeitsprozeB
offnet. Hierbei scheint uns, im Gegensatz zu Max Weber, das Be-
wahrungsdogma von geringerer Bedeutung als die Lehre von der
abgriindigen Verderbtheit des Menschen, die im Calvinismus nicht
wie im Luthertum durch die MOglichkeit der Erlosung im Glauben
abgeschwacht ist. Diese Lehre wird dann so gewendet, daB jede
VerschOnerung dieses verderbtenLebens alsTeufelsdienst gilt. Daraus
ergibt sich die innerweltliche Askese von selbst. Der Gott, der diese
Welt beherrscht — ohne seine Existenz, sein ausdruckliches Gebot
konnte aus der Verderbtheit der Welt nur ein Leben ohne moralische
Schranke folgen — , kann nur ein deus absconditus sein. Letzten
Endes ist die innerweltliche Askese irrationalistisch fundiert. Aber
gerade darum ist dem Calvinismus das Problem erspart, die Sinn-
entleerung des kapitalistischen Daseins und den Krieg aller gegen
alle mit irgendeinem Ideal vom Guten und Schonen in Einklang zu
bringen. Vielmehr nimmt er sie als Tatsache hin.
Zu Beginn des 17. Jahrhunderts ist der Calvinismus zur Konfession
von Bankiers, Manufakturbourgeois und industriellen Arbeitern ge-
322 Franz Borkenau
worden. Die adeligen Schichten scheiden aus. Unannehmbar ist
er auch fur die Zwischenschicht der Gentry, des Amtsadels, die in
Holland wie in England und Frankreich aus feudalen und burger-
lichen Elementen zusammengewachsen ist, vermoge ihres Reichtums
die Amter erobert und standische Erblichkeit erlangt hat. In Frank-
reich erscheint diese Schicht als Noblesse de robe, konsolidiert sich
wahrend der Biirgerkriege, setzt im Jahre 1604 die Erblichkeit der
Amter durch, ist seitdem die einzige von der Krone dauernd relativ
unabhangige Klasse und der Haupttrager der modernen StrSmungen
im geistigen Leben. An das Ideal eines standisch edlen Lebens ge-
bunden, weist sie den calvinischen Pessimismus von sich. Trager der
Bewegung der ,,Politiciens", Hauptverteidiger des aufkommenden
Absolutismus in seinen ersten Stadien, ist sie der feudalen Staatslehre
wie dem Ultramontanismus feindlich.
Die erste ideologische Form, die sie sich gibt, ist der neue Stoizismus
von Lipsius und du Vair, den die Corneilleschen Dramen ver-
herrlichen. Ihnen erscheint das gesellschaftliche Leben im Burger -
krieg als sinnloses Fatum, als ein grundsatzlich Leid bringendes
Gehandeltwerden der Menschen von auBen, in dem alle bOsen Krafte
walten. In der Beurteilung der Realitat weichen sie von den Calvinern
nicht ab, aber sie stellen diesem Fatum die Ataraxie einer gefaBten
Seele gegeniiber, die sich den Weltlauf nicht anfechten laBt. Daher
lehren sie auch die Freiheit des Willens, aber nicht wie die Thomisten
als Fahigkeit des Menschen, selbst den Weg zum Guten zu finden,
sondern als negative Kraft, sich das Ubel von der Seele abzuhalten.
Im Stoizismus zuerst ist auBeres Geschehen und Innerlichkeit schroff
geschieden, alles auBere Geschehen, auch im Menschenleben, als
dem Menschen fremd aufgefaBt. Der Stoizismus kennt noch kein
Problem der modernen Massenmoral, er gilt noch nicht dem kapi-
talistischen Aufbau, sondern der Selbstbehauptung rationaler Un-
abhangigkeit inmitten des Untergangs der feudalen Welt.
Selbstbehauptung in der allgemeinen Auflosung bezweckt auch
die Ideologic des Hofadels, der Libertinismus, wie ihn Vanini,
Theophileu. a. vertreten. Wahrend der Landadel in seinen feudal-
katholischen Traditionen verharrt, ist der seit dem Ende der Biirger-
kriege aufkommende Hofadel von alien feudalen Banden gelOst,
kapitalistischen nicht unterworfen, eine Klasse funktionsloser, dabei
aber unendlich gewalttatiger Aussauger. Auch der Libertinismus
proklamiert die Verderbtheit der Welt, er aber zieht aus ihr den
SchluB, daB alle moralischen Satze nur im Interesse jener, die sie
Zur Soziologie dea mechanistischen Weltbiides 323
lehren, aufgestellt seien, daB die GroBen und die Philosophen sich
nicht wie die Masse von ihnen betoren lassen diirften, daB man es
sich in dieser bosen Welt so gut wie mttglich sein lassen musse. Atheis-
mus und Materialismus treten zuerst in dieser Gestalt in der modernen
Denkgeschichte auf, ohne jede Verbindung mit mechanistischen
Theorien, vielmehr durchsetzt mit alien Sorten von Aberglauben.
Mit dem Eindringen von Merkantilismus und Manufaktur sehen
sich Hofadel und Gentry vor das Problem neuer Formen der Massen-
moral gestellt. Die Gentry greift zunachst, solange ihre Abneigung
gegen den religiosen Fanatismus beider Richtungen iiberwiegt, zu
einer Wiederbelebung der Naturgesetztheorie, deren charakteristischer
Vertreter Charron ist. Bei dem Versuch Charrons wird jedoch nur die
Unmoglichkeit einer innerweltlich-rationalen Begriindung der neuen
Moral offenbar. Die menschliche Natur, auf die das moralische
Leben begriindet werden soil, muB gut sein. Gleichzeitig erweist
sich aber Punkt fur Punkt, daB sie bose ist, so daB diese beiden
Thesen sich ununterbrochen kontradiktorisch gegeniiberstehen. Um
die Massendomestikation im Sinne der innerweltlichen Askese zu
leisten, muB die Gentry wie die Manufakturbourgeoisie zu der irra-
tionalen Begriindung auf den deus absconditus greifen. Intensiv
wie das Interesse der Gentry als kraftigster der burgerlichen Schichten
an der Neugestaltung der Moral ist, wirft sie sich mit aller Kraft in
die religiose Erneuerungsbewegung und driickt ihr hierbei, zunachst
halb unbewuBt, ihren Stempel auf.
Vbll entwickelt sich die biirgerliche katholische Religiositat jedoch
erst im Kampf mit der religidsen Theorie des Hofadels, dem Jesuitis-
mus. Auch der Hofadel ist seit der Zeit Richelieus genotigt, sich der
religiosen Erneuerungsbewegung anzupassen, seinen offenen theo-
retischen Libertinismus aufzugeben. Er tut dies aber in einer mit
seinem praktischen Libertinismus vereinbaren Weise. Die von
Molina entwickelte Moraltheorie der Jesuiten abstrahiert grund-
satzlich von der aller bisherigen Moraltheologie zugrunde liegenden
Frage, ob der Wille des Menschen im Wesen gut oder bOse sei. Sie
kennt nur konkrete Grebote, teils positive gOttliche Vorschriften,
teils aus dem Wesen der Sache entspringende naturrechtliche Satze.
Sie teilt also mit den Calvinern die rein positivistische Auffassung
der Moral, trennt sich aber von ihnen durch das Fehlen der inner-
weltlichen Askese. Vielmehr liefert sie die einzelnen Moralgebote
juristischer Interpretation aus, die mangels eines auf strenge Lebens-
grundsatze tendierenden Interpretationsprinzips notwendig in die
324 Franz Borkenau
Richtung auBerster Laxheit fuhrt. Diese bis dahin unbekannte
Reduktion der moralischen Forderungen ermoglicht es den Jesuiten,
sich einerseits alien Bediirfnissen des libertinischen Hofadels anzu-
passen, anderseits dem Menschen die Fahigkeit zuzusprechen, sein
Heil selbst zu bewirken. Der Reduktion der Moral auf engste positive
Gesetzlichkeit entspricht bei Molina die Lehre von der Willens-
indifferenz. Jede Lehre, die eine einheitliche Beziehung des Menschen
auf eine finale Weltordnung behauptet, muB auch die Determiniertheit
des menschlichen Willens behaupten. Indem Molina die thomistische
positive Beziehung des Menschen auf das hOchste Gut wie die cal-
vinische negative leugnet, kommt er zur Lehre von der Indifferenz
des Willens, der sich frei nach alien Seiten entscheiden kann. Aus
der Auflosung der einheitlichen moralischen Grundhaltung in ein
Biindel positiver Rechtssatze folgt die Auflosung des Glaubens an
eine einheitliche Weltordnung. Dies macht bei Molina — zum ersten-
mal im modernen Denken — eine scharfe Trennung zwischen auBerer
und innerer Notwendigkeit mfiglich. In der Polemik gegen die fina-
listischen Moralsysteme vertritt Molina die Allgegenwart der rein
auBeren effizienten Kausalitat in der Welt, mit alleiniger Ausnahme
der Kontingenz in den menschlichen Willensentschlussen. Diese
Lehre hat spater Gassendi, ein bewuBter Anhanger des Molinismus,
zum philosOphischen System ausgeweitet. Als Gegengewicht steht
dem alien nur die zum Zwecke religiftser Domestikation entworfene
Lehre gegenuber, daB der Mensch, der die Anforderungen der Moral
aus eigenen Kraften zu erfullen vermag, zur Erlangung des iiber-
natiirlichen Heils der Sakramentsgnade zwingend bedarf: laxeste
Moral, aber Unentbehrlichkeit der kirchlichen Heilsmittel ; libertinische
Lebensfiihrung des Hofadels, aber unerbittliche Handhabung des
religiosen Herrschaf tsinstrumentes .
Dieser Laxheit wirft sich die Moral der Gentry entgegen. Ihr
Ziel ist Rationalisierung der Lebensfiihrung, ihre ideologischen
Mittel Pradestinationslehre und neuer Platonismus. Ihr Agitations-
zentrum sind zunachst Berulles Oratorianer mit Gibieuf als Theo-
retiker, dann die Jansenisten. Von Calvin trennt sie dessen Lehre
von der Verworfenheit alles Menschlichen. Es gibt fur sie ein er-
reichbares System des Guten; denn sie sind Ideologen der opti-
mistischen Gentry. Mit Calvin verbindet sie die Lehre, daB alle
irdische Lust als Konkupiszenz Siinde sei. Denn als fiihrende Schicht
der Bourgeoisie sind sie Vertreter der innerweltlichen Askese. Sie
iiberwinden diesen Widerspruch durch die platonisierende Grundlehre
Zur Soziologie des mechanistischen Weltbildes 325
ihrer Schule, daB das wahre Wesen des Menschen nicht sein erschei-
nendes Dasein, sondern das Gottliche in ihm ist. Vom thomistischen
Finalismus ist diese Auffassung durch die schroffe Verwerfung alles
Irdischen geschieden. Aus Gibieufs Anthropologic ergibt sich von
selbst sein Pradestinationismus. Ob ein Mensch imstande ist, zu
seinem g6ttlichen Wesen zu gelangen, hangt von Gottes Vorbe-
stimmung ab. An dieser Stelle ergibt sich das Grunddilemma, das
den katholischen Rigorismus zum Scheitern verurteilt hat. Im Gegen-
satz zum Calvinismus, der das BOse als unvermeidlich anerkennt
und nicht als unbedingtes Hindernis der Erwahlung betrachtet, lehrt
der katholische Rigorismus die Mbglichkeit eines guten Lebens,
fafit jedoch den Begriff der Verderbtheit nicht weniger weit als
der Calvinismus, so daB es zu einer "Ubersteigerung der moralischen
Forderungen kommt. In der Praxis schrankt er sich dadurch auf
einen kleinen Kreis von Auserwahlten ein. Dies aber erregt wiederum
doppelten AnstoB. Denn die aus der Spannung zwischen Realitat
und moralischen Forderungen unvermeidlich aufsteigende Lehre,
daB die wenigsten erwahlt sind, fuhrt zu einem pessimistischen Welt-
bild, das alien Intentionen des Katholizismus und der Gentry wider-
spricht. Gibieuf lehrt kurzerhand die Erwahlung der meisten, im
Widerspruch zur Wirklichkeit, Jansenius die Erwahlung weniger.
Dadurch gelangt er nicht nur hart an die Grenze des Calvinismus,
sondern stellt auch seinen Hauptzweck, die moralische Radikali-
sierung der Seelsorge, in Frage. Denn wenn im Calvinismus
die Erwahlung eine gratia gratuita und das moralische Leben
nur ihr ungewisses Anzeichen ist, so ist im Jansenismus die Er-
lOsung Folge eines siindenlosen Lebens, dieses freilich Resultat
gOttlicher Pradestination. Sind die moralischen Leistungen nicht
zur Virtuositat gesteigert, so sind sie fur das Heil wertlos, ent-
halten also keine Pramie. Faktisch hat daher der Jansenismus
nicht als positiv umgestaltende Kraft, sondern nur als eine gegeniiber
der jesuitischen Laxheit kritische Sekte von Laienheiligen gewirkt.
Auf eine solche Sekte von Laienheiligen kommt der moderne Katholi-
zismus in seiner strengen Fassung unvermeidlich hinaus. Denn
im Gegensatz zur feudal-traditionalistischen Gesellschaftsordnung
beruht die kapitalistische nicht mehr auf der „natiirlichen" Identitat
von Trieb und Norm, sondern auf ihrer scharfen Entgegenstellung.
Will man daraus nicht mit Calvin die Verderbtheit alles Irdischen
folgern, dann muB man eine Sphare moralischen Lebens schaffen,
in der die irdischen Triebe nicht zur Geltung kommen. Da aber diese
326 Franz Borkenau
Sphare nur Virtuosen der Askese bedingt zuganglich sein kann,
erscheint dann unvermeidlicherweise die iibergroBe Mehrheit der
Menschen als verworfen, d. h., die optimistische Intention, die zur
Verwerfung der calvinischen Anthropologie fuhrte, ist auf dem Gebiet
der praktischen Moral nicht erreicht. Gerade daraus entspringt
jedoch die Aufgabe, der sehlechten Erscheinung das wesenhaft Gute
der Welt theoretisch entgegenzustellen.
V. Descartes.
Descartes hat die Losung dieser Aufgabe unternommen. Aus
einer Gentryfamilie stammend, geht er von der stoischen Moral als
Voraussetzung aus. Er anerkennt die fatale Notwendigkeit des Welt-
geschehens und verwirft seine finale Deutung. Gleichzeitig lehnt er
es aber ab, dieses Geschehen von der Seele hochmiitig fernzuhalten.
Indem er es verstandlich macht, hofft er zu zeigen, dafi es gut ist.
Die mathematische Mechanik soil zur Grundlage der Moral gemacht
werden. So nimmt er den mittelalterlichen Gedanken einer Universal-
wissenschaft wieder auf. Er gibt seiner Fragestellung zunachst die
Form des Suchens nach einem Schliissel der Wissenschaften. Indem
er so an der uberlieferten Auffassung von Natur und Menschenwelt
zweifelt, eine systematische Neugestaltung des gesamten menschlichen
Wissens aus metaphysischen Voraussetzungen ins Auge faBt, muB
er an die religiosen Wahrheiten Hand anlegen. So erklart sich die
tiefe Gewissenkrise, die sich ain 11. November 1619 in drei Traumen
l6st, welche er fiir Gottes unmittelbare Offenbarung halt. In ihnen
glaubt er die gOttliche Erlaubnis erhalten zu haben, den Weg des
Zweifels zu gehen, und die Versicherung, dafi dieser Weg ihn nicht
zur Zerstorung, sondern zur Wiederherstellung der gottgegebenen
religiOsen und moralischen Wahrheiten fuhren werde.
Als provisorische Moral beschlieBt er die vorlaufige Anerkennung
aller Gebrauche seines Vaterlandes, um nachher das Wesentliche
an ihnen systematisch zu rechtfertigen. Darin ist die wichtigste
Voraussetzung seiner Gedankenarbeit bereits enthalten. Er setzt
sich das Ziel, den stoischen Pessimismus zu iiberwinden, aber nicht
durch eine Anderung der Welt, sondern unter Festhaltung des stoischen
Fatumsbegriffes durch eine Anderung der Gedanken iiber die Welt.
Der Hauptinhalt des stoischen Fatumsbegriffes ist die Kontingenz des
Menschenschicksals. tJberwindung der Kontingenz — im Denken,
nicht im Handeln — wird zum Zentralproblem der Descartesschen
Philosophic. Sie ware gelungen, wenn das, was dem Menschen auBer-
Zur Soziologie des mechanistischen Weltbildes 327
lich geschieht, als sein inneres Wesen aufgezeigt werden konnte. Diese
tibereinstimmung des auBeren mit dem inneren Wesen kann im Bereich
einer kontemplativen Grundhaltung nur intellektuelle tibereinstim-
mung sein. Es gilt zu zeigen, daB das Wesen der Welt mit dem Wesen
der menschlichen ratio identisch ist. Damit formuliert Descartes das
Grundproblem der burgerlichen Philosophie, wie es sich von ihm
bis Hegel immer wieder gestellt hat. Die Spannung, die durch dieses
philosophische Grundproblem iiberwunden werden soil, besteht
zwischen der unaufhebbaren mechanischen Fatalitat des burgerlichen
Schicksals und dem Bestreben, es optimistisch zu deuten.
Die kontemplative Attitude ist hierbei nur sekundar durch die
tibereinstimmung der franzOsischen Gentry mit den Grundziigen der
gesellschaftlichen Machtverhaltnisse ihrer Zeit bedingt. A lie boirger-
liche Philosophie hat diese kontemplative Attitude, die aus dem
Gehandeltwerden des Menschen im Kapitalismus, der Fatalitat des
Geschehens entspringt. Der spezifische Beitrag der Gentry zu der
philosophischen Fragestellung Descartes' liegt in seinem Bemiihen,
diese Fatalitat optimistisch zu fassen; wie denn alle groBen idea-
listischen Schulen der Bourgeoisie nicht von dieser selbst, sondern
von Zwischenschichten getragen sind. Daher polemisiert auch Des-
cartes gegen die pessimistische Gesellschaftslehre des Hobbes, der er
die Moglichkeit, das objektiv Gute in der absoluten Herrschaft zu
verwirklichen, entgegenhalt. Jedoch fuhrt dies nicht zur Formu-
lierung einer konkreten oder gar einer revolutionaren Moral. Immer
handelt es sich bloB um die optimistische Interpretierung des un-
vermeidlichen Geschehens.
GesetzmaBige Deutung des Fatums als eines rein auBeren Ge-
schehens bedeutet: 1. seine mechanische Deutung als einer Kette
rein aufierer Kausalzusammenhange, 2. die Rationalisierung dieser
auBeren Kausalzusammenhange, d. h. ihre Fassung in mathematische
Gesetze. Das philosophische Ziel kann als erreicht nur gelten, wenn
das ganze Weltall mechanisch gedeutet, die Mechanik aber auf
reine Mathematik zuruckgefuhrt ist. Denn nur dann stellt das
Weltall ein mathematisches System dar, in dem aus wenigen evi-
denten Obersatzen more geometrico alles Konkrete deduziert werden
kann. Nur dann ware die Kontingenz wirklich iiberwunden. Aus
der Aufgabestellung des rationalistischen Fatalismus ergibt sich so
die Tendenz auf das rationalistische System. Ursprunglich ver-
meint Descartes es mit einem Griff zu fassen, namlich vermittels
eines allumfassenden Schliissels der Wissenschaften. Unmittelbar
328 Franz Borkenau
vor der Traumnacht glaubt er ihn in Form eines allumfassenden
Systems der Anwendung von Proportionen gefunden zu haben.
Von dieser Illusion muB er lassen. Es bleibt jedoch die geometrische
Methode, welche die Forderung der Anschaulichkeit mit der Mathe-
matisierung und der logischen Deduktion verkntipft.
In der Forderung der Anschaulichkeit spiegelt sich die hand-
werkliche Produktionsgrundlage der Manufakturperiode. Descartes
hat andauernd Verwendung solcher mathematischen Methoden ab-
gelehnt, die — z. B. durch die Einfuhrung anschaulich nicht
vorstellbarer GroBen hOherer Potenz — den Rahmen der euklidischen
Geometrie sprengen. Der Begriff der ,,clara et distincta perceptio"
formuliert ebenso die Ablehnung solcher nichtanschaulicher rechne-
rischer Beweise, wie anschaulicher, aber nicht rechnerischer Beweise.
Uber diese Forderung geht er jedoch in derRichtung der Allmathematik
hinaus, einerseits indem er die anschaulichen GrOBen auf logische
Evidenzen zu griinden versucht, anderseits durch den Versuch der
Reduktion der Materie auf reinen Raum. Beide Tendenzen stehen
im Dienste der Allmathematik, die die konkreten physikalischen
Forschungen Descartes' dauernd kreuzt und beeinfluBt. Das Be-
diirfnis, Anschauungen auf Evidenzen zu griinden, macht sich ins-
besondere bei der Fundierung der Bewegungsgesetze geltend. Des-
cartes erfindet ein Gesetz der Konstanz der Bewegung und begrtindet
es auf Gottes Giite. Die besondere Vollkommenheit dieses Konstanz-
gesetzes, die er als Selbstverstandlichkeit behauptet, ohne sie zu
begriinden, liegt in Wahrheit im Austausch von Aquivalenten bei
der Ubertragung der Bewegung von einem Korper zum andern.
Die biirgerliche Tauschgleichheit erweist sich so als Grundkategorie
der Natur. Hochst fruchtbar ist die allrationalistische Tendenz der
Descartesschen Methode in seiner Erneuerung der Mathematik
geworden. Indem er eine einheitliche mathematische Zeichensprache
schafft, ermoglicht er die Reduktion von Gleichungen verschiedener
Potenz, er off net sich den Weg zur analytischen Geometrie und schafft
so erst die Fundamente einer rein quantitativen, deduktiv verfahrenden
Mathematik an Stelle der getrennten Behandlung verschiedener Glei-
chungen und verschiedener Kurven in der Mathematik des Mittelalters.
All dies unternimmt er bewuBt im Dienste der burgerlichen,
katholisch-rigoristischen Weltanschauung. Ein geheimer Pakt mit
B6rulle ermOglicht ihm, dem theologischen Tageskampf durch Uber-
siedlung nach Holland auszuweichen und dort seine Philosophie
auszuarbeiten. Diese, im standigen Kampf mit den Jesuiten verbreitet,
Zur Soziologie des mechanistischen Weltbildes 329
von den Oratorianern systematisch begiinstigt, wird im Verlauf der
Richtungskampfe zur philosophischen Begriindung sowohl der orato-
rianischen Mystik als des Jansenismus und wird mit ihnen gemeinsam
seit der reaktionaren Wendung der Regierung Ludwig XIV. ver-
folgt. Sie unterliegt auch den gleichen inneren Widerspriichen wie
ihre theologischen Schwesterschulen. Denn die Identitat des Ichs
mit der AuBenwelt ist ebensowenig praktisch zu vollziehen wie die
Identitat des auf reines Denken reduzierten Ichs mit der auf reine
ratio reduzierten AuBenwelt theoretisch. Hier springt Descartes'
rationale Theologie ein. Der in seiner konkreten Erscheinung un-
befriedigte Mensch wird auf den unendlichen ProgreB der Erkenntnis
verwiesen. Wie er ist, ist aber sein Wille weiter als sein Intellekt.
Die Unendlichkeit des Willens ist das spezifisch Neue der Descar-
tesschen Anthropologic, die philosophische Proklamierung des un-
endlichen Strebens des biirgerlichen Menschen als Wesen des Menschen
schlechthin. Aus diesem Antagonismus zwischen Wollen und Konnen
entspringt die Unvermeidlichkeit des Irrtums, der in einem all-
rationalistischen Weltbild das Kardinallaster sein muB. Die Mdglich-
keit des Irrtums bedeutet das Scheitern des allrationalistischen
Systems. Dem entspricht Descartes' Freiheitsbegriff : frei sind wir,
soweit wir wissend sind, d. h. mit Notwendigkeit nach dem Guten
streben. Also sind wir groBenteils unfrei. Die so entstandene Kluft
deckt Descartes durch seine Gottesbeweise zu. Aus der Diskrepanz
zwischen unserem Streben nach dem Vollkommenen und unserer
Unvollkommenheit erschlieBt er durch willkurliches Postulat die
Existenz eines vollkommenen Wesens. Der Gottesbeweis hat keinen
anderen Zweck als die Identitat von Ich und Welt, in die Descartes
das hOchste Gut setzt, die uns aber nur in unendlicher Annaherung
zuganglich ware, als auBerhalb unser existent zu setzen. So kom-
pensiert der ontologische Gottesbeweis das Scheitern des Systems,
das sich vor allem in dem Verzicht auf die Deduktion der einzelnen
Naturerscheinungen auBert. Faktisch uberbriickt der Gottesbeweis
diese Kluft jedoch nicht, das allrationalistische System bleibt Entwurf ,
und die Spannung zwischen der teilweisen Rationalisierung eines sinn-
losen mechanischen Fatums und seiner systematischen optimistischen
Interpretation verbleibt den folgenden Generationen als Aufgabe.
VL Hobbes.
Ein echter mechanistischer Materialist ist dagegen Hobbes, der
Ideologe der Gentry in der englischen Revolution. Sein Materialismus
330 Franz Borkenau
entspringt aus seiner rein iimerweltlichen Apologie der Sou-
veranitat. Denn wenn die absolute Gewalt weder, wie bei
frtiheren Naturrechtlern, -legitimistisch noch harmonistisch noch
durch ein bloBes Vertragsschema gerechtfertigt werden kann, dann
bleibt als einzig mogliche Begriindung die unaufhebbare Ver-
derbtheit der Menschennatur, die nur durch Zwang gebandigt
werden kann, weil das Gute in ihr keine Wirklichkeit hat.
Urn diesen SchluB unwiderleglich zu machen, muB Hobbes jeden
Glauben an andere als rein egoistische und materielle Triebkrafte
ausschlieBen. Der burgerliche Materialismus ist so mit einer pessi-
mistischen Einschatzung der burgerlichen PersOnlichkeit und mit der
Bekampfung der burgerlich-revolutionaren Richtungen untrennbar
verbunden. (Als im 18. Jahrhundert der Materialismus sich mit
dem Fortschrittsglauben verbiindet, transzendiert er, wie schon
Marx hervorhob, die burgerlichen Schranken in der Richtung des
Kommunismus.)
Die PersOnlichkeit besteht fur Hobbes aus dem Streben nach
Macht. Dieses Streben wird u. a. daraus abgeleitet, daB jeder mog-
lichst viel zu besitzen wimsche, d, h. aus der Sphare des Konkurrenz-
kampfes. Die entscheidenden Antriebe fiir diese Machtpsychologie
stammen jedoch aus der Sphare des Klassenkampfes. Hobbes be-
griindet die Notwendigkeit einer absoluten Grewalt aus dem Streben
jeder Partei nach der ganzen Macht im Staate; dieses Streben,
prinzipiell unbegrenzt und daher auch in der Wahl der Mittel ohne
innere Schranken, fiihrt unvermeidlich zum Biirgerkrieg, dem
schlimmsten der tJbel, wenn die absolute Staatsmacht dem nicht
Schranken setzt. Hobbes stoBt hier hart an die Grenze einer historisch-
materialistischen Einsicht in das Wesen der burgerlichen Revolution.
Er muBte, um zu ihr zu gelangen, nur noch die verschiedenartigen
materiellen Interessen der verschiedenen Parteien aufzeigen. Aber
dies wurde seinen burgerlichen Standpunkt im allgemeinen und
seine Position als Verteidiger des Absolutismus im besonderen auf-
heben. Er weicht dieser Konsequenz aus, indem er den Parteikampf
auf das Niveau des Konkurrenzkampfes herunterbringt, die Partei
als das Resultat des Ehrgeizes der sie fuhrenden Individuen faBt,
die ganz unabhangig von den vorgeschobenen Ideologien nach un-
beschrankter Macht streben. Von der Realitat des Klassenkampfes
bleibt in der Hobesschen Staatglehre nur die psychologische Tatsache
des Machtstrebens, individualpsychologisch miBdeutet. Die Be-
hauptung von einem naturlichen unbegrenzten Machtstreben ist fur
Zur Soziologie des mechanistischen Weltbildes 331
Hobbes unentbehrlich, weil ohne sie die Absolutheit der Staats-
gewalt nicht gerechtfertigt werden kann.
Hobbes leugnet nicht, daB es auch im vorstaatlichen Natur-
zustand Vernunftgrundsatze der Selbsterhaltung gibt, die friedliche
Verstandigung mit dem Mitmenschen befehlen, also ein Naturrecht
im eigentlichen Sinn. Aber ganz wie Calvin, in dessen Gedanken-
welt der Hobbismus wurzelt, leugnet Hobbes die praktische Wirk-
samkeit dieses „ersten Naturrechts", das im Naturzustand durch
das bellum omnium in omnes unwirksam gemacht wird. Um dieses
zu vermeiden, das „erste Naturrecht" in Wirksamkeit zu setzen, be-
darf es der Ubergabe samtlicher naturlichen Rechte der Individuen
in die Hande des absoluten Herrschers. Dies ist das „zweite Natur-
recht", das formal alle Satze des ersten aufhebt, um sie inhaltlich
durchzusetzen. Dabei meint Hobbes mit dem „zweiten Naturrecht"
durchaus nicht den Stuartschen Staat der allgegenwartigen Staats-
intervention, vielmehr ist er als streng burgerlicher Denker ein Gegner
des Staatskirchentums, der Monopolwirtschaft usw. Sein Absolutismus
ist nicht wohlfahrtsstaatlich, sondern formal-juristisch, burgerlich-
freihandlerisch gemeint. In der Konstruktion befindet sich jedoch
ein klaffender Widerspruch, der das ganze System des Hobbes auf-
hebt. Die Notwendigkeit der Souveranitat ergibt sich fur ihn daraus,
daB allein absolute Macht das Leben der Staatsburger garantieren
kann, ihre Bekampfung also dem Selbstmord gleichsteht und eine
Absurditat bedeutet. Aber der absolute Souveran ist nicht materiell
starker als die samtlichen Individuen, die ihm ihre Selbstandigkeit
abgetreten haben, und also machtlos, wenn deren Machttriebe wirklich
unbezwingbar sind. Daher muB Hobbes das grOBte Gewicht auf Ein-
heit der politischen Meinungen, die durch den Absolutismus herzu-
stellen ist, legen. Aber wenn der Absolutismus sich letztlich auf die
tJberzeugung der Untertanen von der Notwendigkeit gesellschaft-
lichen Lebens stiitzen muB, dann ist er uberfliissig, weil diese tJber-
zeugung dann auch ohne formal-juristische Absolutheit des Herrschers
zur Vermeidung des Burgerkrieges ausreicht. In seinem Bemuhen,
von den realen Machtverhaltnissen der realen Klassen im Dienste einer
formal-juristischenKonstruktion zu abstrahieren,gleichzeitig aber seine
Staatstheorie materialistisch zu unterbauen, kommt Hobbes zu dem
SchluB, daB etwas (namlich der Parteienkampf) logisch absurd sei,
was real durchaus mOglich ist. Dieser Widerspruch ist unauflOslich.
So geht Hobbes von den Trieben naturlicher Wesen aus, um ihnen
in dialektischer Antithese ein rationales System von Rechtsnormen
332 Franz Borkenau
entgegenzustellen. Diese eigenartige Konstruktion seines Systems
gibt den Schliissel zu der vielumstrittenen Frage, welcher philoso-
phischen und erkenntnistheoretischen Schule Hobbes zuzurechnen
ist. Nicht mehr als Gassendi hat der Materialist Hobbes in die
Geschichte der modernen Naturwissenschaft eingegriffen. Er hat
das Experiment ausdriicklich verworfen, mit den mechanistischen
Grundeinsichten seiner Zeit das menschliche Wissen von der Natur
furabgeschlossengehalten; ausschlieBlicheralsbeiirgendeinem anderen
Denker der Zeit ist bei ihm die Naturauffassung von der Sozialwissen-
schaft her bestimmt. Er ist weder reiner Empirist noch reiner Ratio-
nalist. Vom reinen Rationalismus trennt ihn der Unterschied, den er
zwischen Raum und Korper macht und den er durch den Begriff
des conatus zu uberbriicken trachtet; die streng nominalistische
Logik; das Ausgehen von der sinnlxchen Erkenntnis. Aber vom
Empirismus und Sensualismus trennt ihn nicht nur seine streng
mechanistische Auffassung der Natur, sondern auch die Definition
des Denkens als Rechnen und der Versuch, auf nominalistischen
Voraussetzungen eine synthetisch-deduktive Logik aufzubauen. Aus
Voraussetzungen, die demRationalismus striktwidersprechen, bemiiht
er sich, ein more geometrico deduzierendes rationalistisches System
zu gewinnen. Es ergibt sich das aus dem Grundwiderspruch seiner
Staatslehre.
Hobbes ist der Ideologe des fortgeschrittensten Teiles der landed
gentry. Die eigentliche Verwirklichung seiner absolutistischen
Theorie hat zwar die Cromwellsche Diktatur gebracht, und er hat
dieser auch gedient. Aber er hat seine Theorie urspriinglich im Dienste
der Stuarts entwickelt, nicht weil er deren Politik inhaltlich billigte,
sondern weil ihm in seiner praktisch-politischen Haltung ebenso
wie in seiner theoretischen die Allgewalt der Staatsmacht wichtiger
schien als ihre konkreten MaBnahmen, d. h. die burger liche Form
der Staatsmacht (die Souveranitat) wichtiger als der biirgerliche
Inhalt ihrer nachsten Schritte. Es liegt dies in der Situation der
fruhburgerlichen Revolutionen, die im Gegensatz zu den klassischen
burgerlichen Revolutionen eine moderne Staatsmacht erst geschaffen
haben; jeder Parteienkampf bedeutet dann unmittelbare Gefahr
des Riickf alls in feudale Selbstandigkeiten. Diese Einsicht lag freilich
zunachst dem landlichen Grundbesitz naher als der stadtischen
Bourgeoisie, die durch die Stuartische Wohlfahrtstaatspolitik un-
mittelbarer geschadigt war. Aber ein Vertreter der Grentry ist Hobbes
auch unter Cromwell geblieben. Wie er unter den Stuarts der Gentry
Zur Soziologie des mechanistischen Weltbildes 333
absoluten Gehorsam rat, dem Konig aber eine rein innerweltliche
Fundierung seiner Staatsmacht und Beriicksichtigung der burger-
lichen Bedurfnisse, so predigt er unter der Cromwellschen Diktatur
wiederum der Gentry Unterwerfung, dem Diktator aber AussOhnung
mit dem landlichen Grundbesitz, um einen Block der landlichen
Klassen gegen die aufsassigen manufakturellen und proletarischen
Schichten zustande zu bringen. So ist Hobbes der erste ganz konse-
quent biirgerliche Staatstheoretiker, zugleich aber der Vertreter einer
konservativen Bourgeoisie. Konservative Bourgeoisie trat als
Resultat des Prozesses der urspriinglichen Akkumulation in der
Landwirtschaft zum erstenmal in der englischen Revolution auf.
VII. Pascal.
Ist Hobbes der Begriinder des mechanistischen Pessimismus, so
ist Pascal sein Vollender. Das Einzigartige der Situation Pascals
liegt darin, dafi fur ihn, der der zweiten Generation der Mechanisten
zugehort, die mechanistischen Prinzipien der Natur und Gesellschafts-
lehre schlechthin selbstverstandlich geworden sind (er bemuht sich
daher nicht mehr, sie zu begriinden, sie sind fur ihn die einzig mog-
lichen), dafi er aber aus seiner individuellen Verzweiflung am eigenen
Dasein alle Antinomien dieser Prinzipien konsequent zu Ende denkt,
ohne doch die Grenzen des biirgerlichen Weltbildes zu transzendieren.
Eine solche Haltung ware beim Herannahen der klassischen biirger-
lichen Revolutionen nicht mehr moglich gewesen, da diese das Prole-
tariat auf den Plan rufen. Pascal ist daher der einzige weder feudal
noch sozialistisch gerichtete, gleichwohl ganz konsequente Kritiker
der biirgerlichen Daseinsform. Rechnet er im allgemeinen den Janse-
nisten zu, so trennt er sich doch von ihnen in der entscheidenden
Frage: der Giiltigkeit der Einsichten der ratio. Sein schr offer
Antirationalismus ware, obwohl von rationalistischen Voraus-
setzungen ausgehend, calvinisch, wenn ihm nicht das durchaus
katholische Problem der erlebbaren individuellen Erlosung im Mittel-
punkt des Denkens stiinde. Nur gerade durch das Festhalten an
diesem Problem, nicht durch irgendeine seiner Antworten, gehort
Pascal dem Katholizismus zu.
Pascal mifit die rationalistischen Systeme eines Descartes und
Hobbes an der Realitat des Lebens, d. h. er stellt dem Rationalismus
die unaufgehobene Kontingenz des menschlichen Schicksals gegen-
iiber. Fur ihn existiert das Vertrauen, dafi die Antinomien des Lebens
334 Franz Borkenau
in der Wirklichkeit verschwinden, wenn sie im Denken aufgeldst
sind, nicht. Er verachtet daher den RegreB von den individuellen
und sozialen Problemen des menschlichen Daseins auf die Natur-
theorie und stellt das Problem des sittlichen Daseins des Menschen
wieder unmittelbar in den Mittelpunkt. Hierbei ergibt sich ihm, daB
Bejahung und Verneinung des gottlichen Naturgesetzes im Menschen
gleich unmoglich sind.
Das sittliche Wesen des Menschen, wie es die Stoiker gepredigt
haben, ist Fiktion. Denn das Naturrecht ist inhaltlich verschieden
je nachdem, wer es ausspricht, und der einzige objektive MaBstab
des Rechtes ist die Macht. Pascal schiebt die cartesische Apologie
beiseite, halt sich aber auch bei den rationalistischen Folgerungen
nicht auf, die Hobbes aus dieser Machtstaatslehre zieht. Er landet
vielmehr bei der calvinischen Folgerung, daB alles Recht ein logisch
und sittlich nicht begrundbarer Ausdruck der Macht, eben darum
aber einfach zu akzeptieren ist. Die Ausiibung der Macht h6rt auf,
Funktion eines hOheren Rechtes zu sein, sie wird wie bei MacchiaveU
einfache Folge der Begierde. Pascal faBt Hobbes und MacchiaveU zu-
sammen und vernichtet damit alleLehren des burgerlichenNaturrechts.
Aber bei diesem Calvinschen Endresultat bleibt er nicht stehen.
Er stellt fest — und darin ist er katholisch und eben das Festhalten
dieser katholischen Fragestellung ermoglicht ihm, die Antinomien
des biirgerlichen Daseins all sei tig zu entwickeln — , daB einLeben
rein nach den Trieben nicht mOglich sei. Seine Verneinung des liber-
tinischen Daseins konzentriert sich in seiner Kritik des divertisse-
ment". „Divertissement" ist fur ihn jeglicher Zeitvertreib, sei es
die scheinbar um des Nutzens willen geschehende Arbeit, sei es das
offen als Selbstzweck gesuchte Vergniigen. Pascal weist nach, daB
keine dieser Strebungen ihren Zweck in sich selbst tragt, daB alle
\iber sich selbst hinaus in eine Unendlichkeit weisen, daB also alle
widerspruchsvoll sind. Die pessimistische Wendung der katholischen
Anthropologic ermoglicht es Pascal, zu erkennen, daB innerhalb
des Kapitalismus kein qualitativ bestimmtes Ziel ; sondern nur der
unendliche ProgreB als solcher gilt. Dieser unendliche ProgreB aber
stGfit auf die unabanderliche Tatsache des Todes, der so zur sinn-
vernichtenden Zentralwahrheit des Lebens wird. In diesem Wider-
spruch zwischen dem unendlichen Streben und der Beschranktheit
des menschlichen Daseins erscheint jede Tatigkeit als widerspruchs-
voll. An den Fragen des unendlichen Progresses hat Pascal den all-
seitigen Widerspruch des burgerlichen Daseins, das ihm als das
Zur Soziologie des mechanistischen Weltbildes. 335
menschliche schlechthin erscheint, entwickelt und diese ,, negative
Dialektik" ausdriicklich als die allgemeinste Form des menschlichen
Daseins formuliert.
Aus dem Leben iibertragt sich die negative Dialektik auf das
Denken. Pascal als erster hat den Rationalismus in der Natur-
forschung konsequent im BewuBtsein seiner Stuckhaftigkeit ange-
wandt ; er als erster hat mit auBerster Strenge die Formulierung von
Naturgesetzen der Verifizierung durch das Experiment untergeordnet
und sich dadurch die Einsicht in das grundsatzlich Unabgeschlossene
der Naturforschung eroifnet. Daraus ergibt sich aber unmittelbar
die moralische Nutzlosigkeit der Naturforschung. Denn das Fatum,
das nur durch Verstandlichmachung ertraglich werden, konnte, bleibt
unaufgehoben, wir bleiben hilflose Punkte inmitten einer Unend-
lichkeit.
So gibt es keine unmittelbare Befriedigung im Guten, denn der
Mensch ist bfise; damit fallt der Thomismus. Es gibt keine unmittel-
bare Evidenz der dem Herzen eingeschriebenen moralischen Wahr-
heiten; damit fallt der Scheinoptimismus der Stoiker, der Jesuiten,
des Grotius. Es gibt keine tJberwindung des kontingenten Bosen
im rationalen Denken, weil unser Wissen grundsatzlich unabge-
schlossen ist; damit fallt das rationalistische System Descartes'. Aber
es gibt auch kein Sichbescheiden in dieser bosen Welt, weil das Indi-
viduum die Forderung nach einem im Guten erfullten Dasein nicht
aufzugeben vermag; damit fallen die unter sich so verschiedenen
Resignationen der Libertiner, der Calviner und desHobbes. Was bleibt,
ist der hoffnung3lose Widerspruch als allgemeine Form, das abstrakte
ErlOsungsbedurfnis inmitten einer vollig erlosungsfremden Welt. Der
Gott, der diese ErlCsung wirken konnte, ist ein deus absconditus
im scharfsten Sinne, und nur ganz auBere Zeichen wie die Bibelbeweise
und die stumpfe Gewohnheit des Glaubens einerseits, eine mit nichts
Menschlichem verbundene iibernaturliche Gnade anderseits konnen
zu ihm fiihren.
Was Pascal — unhistorisch wie alle Mechanisten — als das Wesen
des Menschen schlechthin faBt, ist aber das Wesen der besonderen
Epoche, in der er lebt. Ihre tJberwindung ist mitbedingt durch die
Einsicht in ihren historischen Charakter. Als Fichte das, was Pascal
die ewige Verderbtheit des Menschen nennt, als das „Zeitalter der
vollendeten Sundhaftigkeit" definiert, ist die anthropologische Grund-
haltung die gleiche geblieben, aber die historische Fassung des Problems
kiindigt das Heraufdammern der tJberwindung dieses Zeitalters an.
Zum Problem der Freizeitgestaltung.
Von
Andries Sternheim (Genf) 1 ).
I.
Diese Arbeit soil sich auf die Freizeitgestaltung der Arbeitnehmer
beschranken. Bei dem auBerordentlichen Umfang des Problems ist
schon aus praktischen Griinden eine Begrenzung notwendig, wenn
auch nicht verkannt werden kann, daB einem tieferen Eindringen in
die Verwendung der Freizeit aller gesellschaftlichen Schichten vom
soziologischen und sozialpsychologischen Gesichtspunkt aus grOBte
Bedeutung beigemessen werden muB.
Mit der Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise und
durch die fortschreitende Sozialpolitik hat die Arbeiterklasse
im Laufe der Zeit eine groBe Wandlung durchgemacht. GroBe
Schichten haben sich geistig und kulturell gehoben. Der Anteil der
Arbeiter an dem offentlichen Leben hat in jeder Richtung stark zu-
genommen. In den meisten, vor allem den industriellen Landern sind
sie aus einem passiven ein aktives Element geworden. Da das Gesamt-
problem der Freizeit in seiner soziologischen sowohl als sozial-
psychologischen Bedeutung in der wissenschaftlichen Literatur
noch kaum angeschnitten wurde, ist diese Arbeit als ein Versuch
zu betrachten, zunachst auf die Bedeutung einiger wichtiger Aspekte
hinzuweisen.
Als Freizeit wird hier diejenige Zeit betrachtet, welche nach der
normalen Arbeitsperiode iibrig bleibt. Die Freizeit ist daher als Anti-
pode zu der auf dem normalen Arbeitsplatz verbrachten Zeit gedacht.
Ausdrucklich wird bei dieser Begriffsbestimmung von normaler
Arbeitsperiode und normalem Arbeitsplatz gesprochen, da die Freizeit
auch fur zusatzliche Arbeit zur Befriedigung eigener oder fremder
Bedxirfnisse verwendet werden kann. Weiter bleibt die Freizeit der
vollig aus dem WirtschaftsprozeB Ausgeschiedenen und derjenigen,
1 ) Aus den Arbeiten der Genfer Zweigstelle des Institute fur Sozial-
forschung.
Zum Problem der Freizeitgestaltung 337
die noch nicht im WirtschaftsprozeB tatig sind, auBer Betracht 1 ).
Der Begriff Freizeitgestaltung auf Grund der angegebenen Be-
grenzungen soil sich also nur auf die Zeit beziehen, welche nach Voll-
endung der normalenArbeitszeit iibrig bleibt unterAbzug der Stunden,
die fur die Reproduzierung der Arbeitskraft notwendig sind.
Unter diesem Gesichtspunkt soil unter Freizeitgestaltung nicht nur
die planmaBige Verwendung, sondern die Anwendung der Freizeit
als einheitliches Problem, das alle Verwendungsarten umfaBt, ver-
standen werden.
II.
Die Frage der Freizeitgestaltung wurde erst dann zum Problem,
als ihre Dauer tiberhaupt eine Art der Verwendung ermoglichte, die
mehr bedeutete als die einfache Reproduktion der Arbeitskraft. Die
Tatsache, daB vor dem Krieg ein Arbeitstag von 9 — 10 Stunden und
langer als normal betrachtet wurde, gibt schon eine Erklarung, wes-
halb damals von einem Problem der Freizeitverwendung nicht die
Rede sein konnte. Unter den damaligen Umstanden waren nicht
einmal die Institutionen der Arbeiterklasse auf die Behandlung
dieser Frage eingestellt. Sie waren hauptsachlich Kampforganisationen
zur Gewinnung politischen und gewerkschaftlichen Einflusses. Hierzu
war vor allem die Anzahl ihrer Mitglieder von groBter Bedeutung ; die
Qualitat stand dabei zuriick. In vielen Landern handelte es sich fur
diese Organisationen besonders darum, den Kampf gegen das vor-
handene Gefuhl der Minderwertigkeit zu fiihren 2 ), ein Kampf, der
erst allmahlich seine Erfolge mit der Hebung der okonomischen und
sozialen Lage zeigte.
Die Bestrebungen, die Arbeiter in die Kulturgemeinschaft ein-
zubeziehen, ihr SelbstbewuBtsein zu heben, forderten an erster Stelle
die Ausbildung einer Fuhrerschaft. Die Amter innerhalb der In-
stitutionen der Arbeiterbewegung wurden anfanglich aus rein finan-
zieller Notwendigkeit groBtenteils ehrenamtlich ausgeiibt. Nur eine
kleine Schar von Leuten, die hervorragendsten aus der Arbeiterklasse,
gestalteten damals ihre Freizeit auf eine positive Art und Weise. Als
die Arbeiterbewegung grofieren EinfluB gewann, waren ihre Forde-
x ) Das fiir die gesamte Gesellschaft so wichtige Problem der Freizeit-
verwendung und Beschaftigung der Arbeitslosen wird deshalb in dieser
Arbeit nicht berucksichtigt.
2 ) „Mit der Ausbildung des Fabriksystems sank die Arbeiterschicht nach
Auffassung der Unternehmer zu einem relativ unerheblichen Appendix der
Maschinen herab." (Handworterbuch der Staatswissenschaften, Art. Ar-
beitszeit. S. 893. 4. Aufl. Jena 1923.)
338 Andries Sternheim
rungen auf kulturellem Gebiet zunachst sehr beschrankt. In den
meisten Landern fuhrte sie in erster Linie den Kampf um die Ent-
wicklung der Sozialgesetzgebung und stellte daneben die kon-
kreten Forderungen nach obligatorischem Schulbesuch und besserer
Beruf sausbildung *) .
Der Weltkrieg hat auch hier utnwalzend gewirkt. In den meisten
europaischen Landern wurde ab 1919, unter aktivster Mitwirkung des
Internationalen Arbeitsamtes, der Achtstundentag gesetzlich ein-
gefuhrt und in Tarifvertragen festgelegt. Daneben kamen in vielen
Landern eine Anzahl Verordnungen iiber LadenschluB zustande,
welche auch fur die Angestellten im Einzelhandel eine Verkurzung
ihrer Arbeitszeit bedeuteten. Die Tatsache, daB einer groBen Schicht
hauptsachlich industrieller Arbeiter eine Anzahl von Freistunden
zur Verfiigung gestellt wurde, die nicht nur zur Reproduktion der
Arbeitskraft dienten, hat eigentlich erst das Problem der Freizeit-
verwendung geschaffen.
Eine einfache Erklarung fur das Zustandekommen des verkiirzten
Arbeitstages ist das Bedurfnis des Arbeiters nach einem grdBeren
Quantum von Freizeit. Die Beantwortung der Frage: was hat die
Arbeiterschaft dazu veranlaBt, diese Verkurzung zu beanspruchen, ist
damit Jedoch noch nicht gegeben. Der Hinweis auf das zunehmende
MachtbewuBtsein der Arbeiterklasse und die Steigerung ihres Per-
sdnlichkeitsgefuhls reicht nicht aus. Das Hauptmotiv war wohl viel
mehr das Bedurfnis nach einer Verminderung der Anzahl der Arbeits-
stunden als gerade das Verlangen nach einer auf eine bestimmte Art
und Weise zu verwendenden Freizeit. Man konnte hier von einem
negativen Motiv reden. Es lassen sich noch zwei andere Motive
denken, welche in der Psyche der Arbeiterschaft eine Rolle gespielt
haben: 1. bei einer Gruppe das Verlangen nach einer groBeren Frei-
zeit infolge eines inneren Bedurfnisses, ohne zu wissen, was man damit
anfangen solle, also ein unbestimmtes Verlangen; 2. bei einer anderen
Gruppe, die wahrscheinlich auBerst klein gewesen ist, eine positive
Vorstellung von der Verwendung ihrer Freizeit.
x ) „Die Frage der Arbeiterbildung spielte unter den nationalen Er-
ziehungsaufgaben nur eine ^eringe Rolle. Nur die Erziehung fiir die Wirt-
schaft, die beruf liche Ausbildung der Arbeiter fand sorgfaltigere Beriick-
eichtigung. DaB es sich hier um eine eigene, weit umfassendere Aufgabe
handelte, um die Erschliefiung der seelischen und geistigen Krafte einer
grofien Volksschicht, um ihrer eelbst wie um der Nation willen, zu deren
lebenswichtigsten Organen sie gehdrt, wurde nur von wenigen empfunden."
(Theodor Leipart und Lothar Erdmann: Arbeiterbildung und Volksbildung,
Berlin 1928, S. 7.)
Zum Problem der Freizeitgestaltung 339
Wenn theoretisch drei verschiedene Motive angenommen werden
konnen (negativ, unbestimmt und positiv), so ist eine Korrelation
zwischen Klirzung der Arbeitszeit und einer bestimmten Verwendung
der Freizeit nicht zu verkennen. Die beiden Faktoren wirken un-
mittelbar aufeinander ein.
Obwohl im allgemeinen angenommen werden kann> daB gesetzliche
oder sonstige MaBnahmen, welche auf Besserung der Lebensverhalt-
nisse solcher Schichten hinzielen, auch mit Zustimmung dieser
Schichten, ja ganz bestimmt auf ihr Drangen zustande gekommen
sind, so ist das Bild, das nach der Erreichung dieser Ziele sich heraus-
kristallisieren wird, immerhin unsicher. Insbesondere trifft dies auf
die uns hier interessierende Frage zu. Erst dann, als die Arbeitszeit
gekurzt wurde, wurden die groBen Probleme, wie die Freizeit zu ver-
bringen sei und welche Tendenzen sich bei der groBen Masse offen-
baren, aufgerollt. Die psychologischen Vorbedingungen fur eine kon-
struktive Freizeitverwendung muBten von den f uhrenden Instanzen
noch geweckt werden.
Die Differenzierung in der Art der Freizeitverwendung ist als
eine Folge vieler einzelner oder in gegenseitigem Zusammenhang
auftretender Faktoren zu betrachten. Sowohl nationale wie anthro-
pologische, geographische und allgemeinkulturelle Faktoren spielen
hier eine wesentliche Rolle ; von der Auf f assung iiber die Aufgaben
des Staates hangt es ab, ob cler Staat auf dem Gebiet der Freizeit-
verwendung als absolute Herrschermacht auftritt oder man alles dem
freien Spiel der Krafte iiberlaBt.
Die MOglichkeiten der Freizeitverwendung sind im absoluten Sinn
unbegrenzt, ihre Ausnutzung ist jedoch letzten Endes durch die be-
stehendeProduktionsweise und die gesellschaftliche Struktur bestimmt.
Nirgends starker als bei der Freizeitverwendung kommt es darauf an,
inwieweit die den Menschen innewohnenden Triebregungen und
geistigen Bedurfnisse bereits in dem ArbeitsprozeB selbst teilweise
oder v6llige Befriedigung finden oder, indem sie in ihm ungesattigt
bleiben, auf andere Weise befriedigt werden miissen.
Auch bei der auf dem Gebiet der Freizeitverwendung anscheinend
vorherrschenden Willkiir mufi nach einem Kausalzusammenhang
zwischen Produktionsweise und Betatigung in der Freizeit gesucht
werden. Die analytische Sozialpsychologie steht hier noch vor einer
groBen Aufgabe. Hat sie sich doch mit der Frage der Entstehung der
physischen, psychischen und geistigen Bedurfnisse der Arbeiterschaft
zu befassen, und zwar im Zusammenhang einerseits mit der vor-
340 Andries Sternheim
handenen Produktionsweise und ihren spezifischen Arbeitsmethoden,
andererseits mit den MOglichkeiten und Grenzen der Bedurfnis-
befriedigung innerhalb der Freizeit.
Nachstehend wird auf Umfang und Bedeutung einiger Arten der
Freizeitverwendung hingewiesen. Eine Typologie wird angestrebt,
kann aber bei dem heutigen Stand der Untersuchungen noch nicht
vorgelegt werden.
Am allerwichtigsten erscheinen uns diejenigen Arten der Freizeit-
verwendung, die Massencharakter tragen und in standiger Ver-
breitung begriffen sind. Als solche nennen wir zunachst Sport,
Kino, Rundfunk und Kleingartnerei.
III.
Mehr als in anderen Zweigen der Freizeitgestaltung ist der Sport
in seinen vielen Verzweigungen imstande, die in der Arbeiterschaft
vorhandenen Bediirfnisse zu befriedigen. Von ganz verschiedenen
Gesichtspunkten aus muB dem Sport im gegenwartigen Zeitalter eine
besondere Bedeutung beigemessen werden, und zwar physiologisch,
indem er ein Gegengewicht zu der alltaglichen einformigen,
maschinellen Arbeit bildet; psychologisch, indem libidinose
Bedurfnisse, der Geltungstrieb, die Aggressionsneigungen und das
Glorifizierungsbediirfnis hier in groBem MaBe befriedigt werden 1 );
soziologisch, indem er die Annaherung von Mensch zu Mensch
fdrdert und vom Standpunkt der gesellschaftlichen Gruppensolidaritat
aus betrachtet eine wichtige Rolle spielt; ideologisch, insoweit die
sportliche Betatigung ideell begriindet wird (Starkung der Volks-
kraft, des Nationalismus, der proletarischen Solidaritat usw.); sozial-
politisch, insoweit er zweckbewuBt auf die Aufrechterhaltung des
physischen (und psychischen) Gleichgewichts des Arbeitnehmers
tendiert ; politisch, insoweit er off en oder verdeckt militaristischeZiele
verfolgt. Einige wenige Einzelheiten sollen auf die nationalen Ver-
schiedenheiten wie auf die groBe Wichtigkeit des Sports als sozial-
psychologisches Problem hinweisen. In manchen europaischen
Landern, besonders in Frankreich und Belgien, besteht eine wahre
„folie de sport". Jean-Henri Adams 2 ) stellt aber dar, daB die
grofie franzOsische Sportbewegung nur eine Fassade ist, hinter der
2 ) Wichtig fur die Sozialpsychologie ist hier die Analyse der besonderen
Grunde fur die aktive und passive Sportbeteiligung.
2 ) „L*Education physique et les sports" in: „Les loisirs et Teducatioa
populaire" (Les Cahiers du Redressement frangais. No. 21. Paris 1927) S. 6^
Zum Problem der Freizeitgestaltung 341
sich nichts wesentlich Konstruktives befindet. Er macht nur fur die
Gymnastikvereine eine Ausnahme. Die Sportbewegung hat in Frank-
reich nach dem Krieg sehr stark zugenommen. Gab es im Jahr 1919
9900 Sportvereine, so betrug ihre Anzahl 1927 bereits 20000. Im
ganzen erscheinen in Frankreich 130 Sportblatter. Wenn behauptet
wird, so fuhrt Adams aus, daB es in Frankreich 2 Millionen Sport-
liebhaber gibt, dann glauben wir nicht, daft es mehr als 200000 Per-
sonen gibt, die wirklich Sport treiben; die iibergrofie Mehrzahl sind
nur Zuschauer bei Footballmatehes und lesen die roten und gelben
Sportblatter. Darf man die AuBerung von Jean Beaudemoulin 1 )
als richtig betrachten, dann lesen die jungen sich am Sport betei-
ligenden Arbeiter nur ,,1/Auto", statt der gewohnlichen Tagespresse.
,,Die politischen Fragen sind ihnen gleichgtiltig. Sie stellen ihre ge-
liebten Athleten uber die Arbeiterfuhrer." Mehr als in vielen anderen
Landern scheint hier Mangel an Bildungsbediirfnis vorzuherrschen.
Auch inBelgien interessiert sich die groBe Masse besonders fur
den Sport, d. h. fur die Wettkampfe. Buset, Generalsekretar des
belgischen Jnstituts fiir Arbeiterbildung, erklart in einem Artikel:
„Ou nous mene la passion sportive" in „La vie ouvriere", Monats-
schrift der Bildungszentrale (Februar- und Marznummer 1932), daB
von einer rein aktiven oder passiven Teilnahme beim Sport im ab-
soluten Sinne nicht gesprochen werden kann, weil diejenigen, die nicht
direkt am Spiel teilnehmen, als sog. ^supporters" eine groBe Rolle
spielen 2 ). Zur Herbeischaffung von Material iiber die ,, passion
sportive" hat Buset in der genannten Zeitschrift einen Fragebogen
veroffentlicht, der von den Lesern ausgefiillt werden sollte. Es wurden
u. a. die folgenden Fragen gestellt:
Besuchen Sie regelmaBig die sportlichen Veranstaltungen ?
Lesen Sie lieber die Sportblatter als die Parteiblatter ?
Wird in Ihrer Fabrik viel iiber Sport geredet und mehr als iiber soziale
Fragen ?
Liest die Mehrzahl Ihrer Kameraden lieber Sportblatter als unsere Tage-
blatter ?
Sind sie in der Mehrzahl Teilnehmer an sportlichen Veranstaltungen ?
Kommt es ofters vor, daB Sie eineri Tag verlieren, indem Sie an den in der
Woche stattfindenden sportlichen Veranstaltungen teilnehmen ?
Glauben Sie, daB dem Zutritt j lingerer Arbeiter in unsere Organisation
durch die ,, passion sportive" und durch die Ausubung des Sports ent-
gegengearbeitet wird ?
x ) Enqu^te sur les loisirs de Touvrier frangais, Paris 1924, S. 239.
2 ) B. sagt: „Ich glaube, daB man in Belgien hunderttausend von braven
Leuten zahlen konnte, deren Betatigung als , } supporter" dazu fiihrt, daB
sie den groBten Teil ihrer Freizeit auf den Sportplatzen verbringen, Sport-
zeitungen lesen und vom Sport sprechen." (S. 39)
342 Andries Sternheim
Diese Fragen wurden von 100 Lesem der Zeitschrift beantwortet,
und zwar von Arbeitern, Angestellten, Lehrern und einigen Studenten.
Obwohl der Enquete aus methodischen Grunden keine allzugroBe Be-
deutung beigemessen werden kann, scheint das Ergebnis doch recht
charakteristisch i
„Die Arbeiter bevorzugen in iibergroBer Mehrheit, wie wir schon an-
nahmen, diejenigen Blatter, die am ausfiihrlichsten tiber Sport berichten,
und besonders diejenigen, die diesen Mitteilungen einen literarischen
Sehwung geben. Wie man erwarten konnte, teilen die Befragten uns ein-
stimmig mit, dafi die grofie Mehrheit ihrer Arbeitskollegen Besucher
sportlicher Veranstaltungen sind ; verschiedene bemerken noch dazu, dafi es
besonders die jungere Generation ist, die die Sport veranstaltungen mit
groBtem Eifer besucht." (S. 60)
Einen anderen Charakter tragt der Sport in GroBbritannien,
wo er mehr als vornehmes Spiel betrachtet wird. In ganz England
ebenso wie in den Vereinigten Staaten gibt es iiberall von Privatleuten
gegriindete sog. „playing fields". So besteht in London bereits langer
als 40 Jahre eine groBe musterhafte Playing Field Society mit der
Aufgabe, Cricket, Fufiball u. a. derartige Spiele bei den Londoner
Beamten und Arbeitern zu fordern, um die physischen und mora-
lischen Krafte der Bevolkerung zu heben. Im allgemeinen gibt es auf
dem Gebiet des Sports in England keine scharfe Klassentrennung,
ebensowenig wie auf dem Gebiet der Bildungsbestrebungen.
In den grofien modernen Arbeitersportorganisationen ist die Be-
wegung mit einer bestimmten Idee verwachsen : der kulturellen
Hebung der Masse im Kampf fur den Sozialismus. Klar wird der Ur-
sprung dieser Bewegung, die sich besonders in den mitteleuropaischen
Landern entwickelt hat, von Paul Franken skizziert.
„Nach den Novembertagen 1918 trat die Arbeiterschaft als ein wesent-
licher Faktor in das offentliche Leben ein. Es war ein weiter Baum ge-
schaffen, in dem sieh die Krafte frei entfalten konnten, die bis dahin ge-
bunden und gehemmt waren. Besonders die proletarische Jugendbe-
Bewegung, vor allem aber aiich die Arbeiter- Turn- und Sportbewegung
wurden jetzt Massenbewegungen im wahrsten Sinne des Wortes. In der Ar-
beiterklasse entwickelt en sich MachtbewuBtsein und Machtwille nach dem
Zusammenbruch der alten Gewalten in starkstem Ma fie. Das blieb nicht
ohne EinfluB auf das Vereinsleben. Auf vielen Gebieten der proletarischen
Kulturbestrebungen machte sich ein neuer und ktihner Geltvmgsdrang
bemerkbar, als Ruckwirkung auf den harten und eisernen Zwang furcht-
barer Kriegs jahre. Vier lange Jahre hatte man den menschlichen Korper
miBachtet. Verzweiflung, Trauer und Hunger hatten selbst die leiseste
Sehnsucht nach erhebender Freude, nach einer Ausfullung der freien
St und en, die diesem tiefen Sehnen entsprach, unterdriickt. So ist es zu
verstehen, dafi nach dem Ende des Kriegsschreckens die Freuden des
Leben s entdeckt und erlebt sein wollten. Sport, Wandern usw. zogen groBe
Massen, besonders der arbeitenden Jugend, in ihren Bann. Korperpflege
Zum Problem der Freizeitgestaltung 343
und Leibesiibungen gaben dem Leben von hunderttausenden Proletariern
einen neuen Inhalt und kamen zu ihrer grofien Bedeutung in der gesell-
schaftlichen Entwicklung der Nachkriegszeit. Der Sport wurde zu einer
GroBmacht" 1 ).
Es ist bemerkenswert, wie stark die sozialistische Sportbewegung
seit dem Weltkrieg zugenommen hat. In Deutschland, einem stark
durchorganisierten Land, betrug die Mitgliederzahl des Arbeiter-
Turnerbundes 1919 400000 Mitglieder, 1927 iiber 700000 2 ).
Auch die Mitgliederzahl der Sozialistischen Arbeiter-Sport-Inter-
nationale ist sehr stark gestiegen, und zwar von 370000 im Jahre
1920 auf fast 2 Millionen im Jahre 1932; allein 1931 hat die SASI
um 85000 Mitglieder zugenommen.
Besondere Aufmerksamkeit mufi den Grundsatzen gewidmet
werden, welche in Italien auch auf sportlichem Gebiet herrschen.
Hier ist die Verwendung der Freizeit nicht in erster Iinie auf das Wohl
des Individuums, sondern auf die Interessen des Staates bezogen.
In einem Bericht uber die Rolle des Sports in der Erziebungsarbeit
der Dopolavoro, der zentralen Freizeitorganisation, wird gesagt 3 ):
„Kaum zwei Jahre genugten fur die Tatigkeit der , Dopolavoro', um
bei den italienischen Arbeit ermassen einen noch nie dagewesenen Enthu-
siasmus fur aile denkbaren Sportarten zu entfalten. Es erubrigt sich zu
erwahnen, daB rd. 3 Millionen Personen an den verschiedenen sportlichen
Veranstaltungen der , Dopolavoro* teilgenommen haben. Diese Einrichtung
umfaBt hunderte von Unternehmungen gegrundete Sportverbande, da-
neben unzahlbare lokale Gesellschaften und neue Sportgruppen, die auf
Veranlassung der regionalen und lokalen Organe der , Dopolavoro* ge-
griindet wurden.** (S. 332)
Neben einer Untersuchung der politischen und religiosen Ein-
stellung der Sportvereine in den einzelnen Landern ware es interessant
zu wissen, aus welchen Kreisen sich ihre Mitglieder rekrutieren, be-
sonders wie groB die Teilnahme qualifizierter und unqualifizierter
und andererseits die Anzahl der politisch und gewerkschaftlich organi-
sierten und unorganisierten Mitglieder ist. Mit Bezug auf die Anzahl
der Qualifizierten und Unqualifizierten muB jedoch im voraus be-
1 ) Paul Franken: Vom Werden einer neuen Kultur, Berlin 1930, S. 25
und 26.
8 ) Einige andere Ziffern vom Jahr 1929, fiir die una keine Vergleiohs-
zahlen bekannt sind, lassen wir noeh folgen:
Radfahrerbund„Solidaritat**, Sitz Offenbach 251620 Mitglieder
Arbeiterschachbund, Chemnitz 13000 „
Freier Seglerverband, Berlin 1616
Arbeiter-Anglerbund, Berlin 6890 ,,
Deutscher Arbeiter-Keglerbund, Chemnitz 8216 „
nach C. Gellert: 10 Jahre Sozialistische Sport -Internationale, Leipzig 1930.
Vgl. auch das bereits erwahnte Buch von Paul Franken.
8 ) L'Activite de 1'Opera Nazionale Dopolavoro, dem im Jahre 1930 in
Luttich abgehaltenen 1. interna tionalen Kongrefi fiir die Freizeit vorgelegt.
344 Andries Stemheim
riicksichtigt werden, daB besonders jlingere Arbeiter der Sport-
bewegung angehoren, die zwar nicht zu den qualifizierten Arbeitern
gehoren, aber doch nicht als ungeschult angesehen werden konnen,
da ihre Berufsausbildung ofters noch nicht abgeschlossen ist.
IV.
Ebenso wie der Sport fordert das Kino nur ein MindestmaB an
geistiger Anstrengung. Es dient als Emotionsentlastung und ermog-
licht die Befriedigung naturlich vorhandener, jedoch von der Gesell-
schaft auf eine bestimmte Weise modifizierter Triebe. Fur das Prole-
tariat ist das Kino das einfachste und zweckmaBigste Mittel, seine
wirkliche Lebenssituation zu vergessen und sich in eine andere,
illusionare Welt zu versetzen. Das Kino ist als MassengenuBmittel
besonders wegen seines Spannungswechsels und seiner Gefuhlsreize
brauchbar.
In einer vom Institut International du Cinematographe Educatif,
Rom, herausgegebenen Schrift 1 ) wird mit folgenden Worten auf den
Unt f erschied zwischen dem gesprochenen Wort (Vortrage) und dem
Film hingewiesen:
„Das Wort ist am wenigsten geeignet, die von emotionellen Typen ver-
langte Stimmung hervorzurufen. Es richtet sich gewohnlich an verant-
wortliche Elemente, bezieht sich auf Lebensaufierungen wie Politik, Kunst
oder rein geistige Dinge. Dies alles hat nicht immer Interesse und er-
mudet psychisch sogar durch die geistige Anstrengung, welche vom Zu-
horer gefordert wird. Was beim Wort auch fehlt, ist das Element der Vor-
stellung, welche von groBter Bedeutung ist. Man darf die suggestive Wir-
kung des Films, der das Leben in seiner Bewegung reproduziert, so wie es
ist, des wegen nicht verkennen." (S. 246)
Die Frage des Einf lusses des Films auf die Arbeitnehmerschichten
ist wissenschaftlich bisher kaum bearbeitet worden. Die Film-
Literatur befafit sich fast ausschlieBlich mit der Bedeutung der Film-
industrie als grofiindustrieller Erzeugerin dieses Konsumtionsgutes
oder mit dem asthetischen Wert der Filme. Fest steht wohl, dafi die
Popularitat, ja die Daseinsmoglichkeit des Films iiberhaupt
der Anpassung entstammt, welche die in ihm produzierten Gehalte
an die herrschenden Gedanken, Auffassungen und Triebwiinsche der
gegenwartigen Gesellschaft vornehmen. Starker als Literatur und
Vortrage ist der Film dazu geeignet, auf positive Weise der Masse
bestimmte Gef iihle und Gedanken aufzudrangen, welche sich voll-
kommen der vorhandenen Vorstellungswelt anpassen. Filme, die
l ) ,,Les Aspects sociaux du Cinema", H. 4, o, J.
Zum Problem der Freizeitgestaltung 345
nach anderen Richtungen tendieren, sind ein Problem fur sich; sie
verschwinden in der grofien Masse der „Anpassungs-Filme" oder
machen die Errichtung besonderer Organisationen fur ihre Vorflihrung
notwendig 1 ).
Naturlich gibt es auch andere Gesichtspunkte. Der Film hat dem
Arbeiter in fremde Lander und weite Gesellschaftskreise Einblick
gegeben, die ihm vorher nur aus der Literatur bekannt sein konnten.
Dadurch hat er sich, wenn auch vielfach in verzerrter Form,
nicht nur groBere Kenntnisse der Lebensgewohnheiten und Auf-
fassungen anderer Schichten angeeignet (die er wohl auch nach-
zuahmen versucht), sondern es sind in ihm Bedurfnisse geweckt
worden, die er vorher nicht kannte.
Seitdem erkannt ist, daB der Film als Beeinflussungsmittel groBe
Qualitaten besitzt, wird er auch bewuBt in den Dienst der Massen-
beherrschung gestellt. In Italien gibt es seit April 1926 eine Verord-
nung, nach der die Kinotheater des Landes verpflichtet sind, kulturell
wertvolle Filme zu projizieren, die die Bevolkerung zu guten Biirgern
erziehen und die nationale Erziehung fordern sollen. Weiter steht der
Film in einzelnen Landern im Dienste zahlreicher Unternehmungen,
um die Belegschaft an den Betrieb fester zu binden. Von besonderer
sozialpsychologischer Bedeutung ist die Herstellung und Vorfuhrung
von Kulturfilmen durch Arbeiterorganisationen und Genossenschaften
als Gegenstiick zu den Alltagsfilmen.
Eine tiefere Untersuchung des ganzen Filmproblems wird erst
moglich sein, wenn in einer Reihe von GroB- und Provinzstadten iiber
Anzahl der Kinos, Art und Qualitat der gebotenen Filme, Alters- und
Schichtenzusammensetzung der Zuschauer und iiber die von Arbeiter-
organisationen veranstalteten Filmvorfuhrungen genaueres Er-
hebungsmaterial vorliegt.
V.
Die Bedeutung des Rundfunks fur die Freizeitverwendung laBt
sich in wesentlichen Punkten mit der des Kinos vergleichen: die
massenhafte Benutzung des Rundfunks als Freizeitverwendung, der
universelle Charakter, den beide gemein haben, die aktive Beein-
flussung und die Anpassung an den Geschmack und die Ideenwelt
seiner Horer, eine Anpassung, die ja noch viel detaillierter als beim
x ) In diesen Ausfiihrungen wird der Film vom sozialpsychologischen
Gesichtsptinkt aus betrachtet; die Frage des kunstlerischen Wertes lassen
wir beiseite.
346 Andries Stemheim
Film durchgefiihrt werden kann. Jedoch gibt es zugleich einen
wesentlichen Unterschied, indem der Rundfunk durch Vermittlung
des gesprochenen Wortes den Geist der Zuhorer direkter und unver-
hiillter beeinfluBt als der Film ; so kann der Rundfunk in den Handen
bestimmter gesellschaftlicher oder politischer Sehichten auf die Ideen-
welt der Arbeiterschaft eine starke Wirkung ausiiben. In diesem
Zusammenhang ist es wichtig, daB in einigen Landern die Arbeiter-
organisationen oder religiose Richtungen Rundfunkorganisationen be-
sitzen, die zu bestimmten Stunden selbstandig senden und damit ihre
spezifischen Auffassungen in der Welt verbreiten konnen.
Vor allem hat die Beeinflussungsmoglichkeit zugenommen, seit-
dem die Anzahl der Empfangsgerate sich stark vermehrt hat, deren
groBter Teil sich bei den Arbeitnehmern befindet. Bereits vor einigen
Jahren konnte das Internationale Arbeitsamt die nachfolgende Fest-
stellung machen:
„In Deutschland gibt es z. Z. etwa 4 Millionen Horapparate. Die
Zahl hat sich inner halb von zwei Jahren verdoppelt, und es mu6 betont
werden, daB der grofite Teil der Apparate Arbeitern gehort. In der Tschecho-
slowakei hat sich die Zahl der Arbeitern gehorigen Apparate verdoppelt
und belauft sich gegenwartig auf mindestens 300 000* (1 ).
Eine Beurteilung des Grades, in dem der Rundfunk die Arbeiter-
schaft beeinfluBt, ist wegen des Mangels an eingehenden Unter-
suchungen noch nicht moglich.
Zweifellos hat der Rundfunk die Tendenz, das Familienleben des
Arbeiters zu starken. Bis zu welchem AusmaB ist schwer festzustellen,
da gerade die Anwendung des Rundfunks auBerhalb des Hauses, be-
sonders in Wirtshausern eine entgegengesetzte Wirkung ausxibt und
auch eine Reihe anderer Faktoren (Kino, Tanz) das auBerhausliche
Leben fordern.
Fiir die Beantwortung der Frage, wieweit sich der Geschmack des
Arbeitnehmers unter EinfluB des Rundfunks entwickelt hat, sind
umfangreiche Erhebungen nOtig. Sie miiBten feststellen, welche Sen-
dungen bei ihm am beliebtesten sind und inwieweit angenommen
werden kann, daB durch den Rundfunk der Anteil an anderen Ver-
anstaltungen (Konzerten, Versammlungen, Vortragen) beeintrachtigt
wird. Aus den Resultaten derartiger Untersuchungen lieBe sich
schlieBen, in welchem MaBe der Rundfunk die Mentalitat der heutigen
Arbeitnehmerschichten beeinfluBt und psychische und geistige Be^
durfnisse befriedigt.
2 ) Bericht des Direktors des Intern ationalen Arbeitsamtes vom Jahre
J 929, S. 278.
Zum Problem der Freizeitgestaltung 347
VI.
Neben Sport, Kino und Radio spielt die Kleingartnerei in der
Nachkriegsperiode als Freizeitverwendung eine wichtige Rolle. S6-
wohl iiber den Umfang wie iiber die Ursachen der Bedeutung der
Kleingartnerei liegt schon viel Material vor. Vor dem Krieg be-
standen in einer Reihe von Landern bereits die Schrebergarten, die
sich nach dem Krieg zusammen mit Kleintierzucht stark fortent-
wickelt haben. Die Zunahme von Kleingartchen hat schlieBlich in
den meisten europaischen Landern zur Griindung von Organisationen
gefuhrt, die seit 1927 zu einer Internationale der Kleingartnerorgani-
sationen zusammengefaBt sind. Ihr Sitz befindet sich in Esch-sur-
Alzette (Luxemburg) ; sie organisiert keine Berufsgartner, sondern nur
Liebhaber. Viele dieser Organisationen erhalten Staats- oder Ge-
meindezuschiisse. Wie von zuverlassiger Seite mitgeteilt wird, gibt
es auBer 2 1 /2Millionen der Internationale angeschlossenen Mitgliedern,
die mit ihren Familien auf 11 Millionen geschatzt werden konnen,
noch abertausend von Kleingartnern, die keinem Verband ange-
schlossen sind. Einige Ziffern iiber die organisierten Kleingartner
lassen wir hier folgen;
Deutschland .... 432 544 1 )
England 120000
Osterreich 34392
Belgien 65000
Schweiz 11000
Bemerkenswert sind die verschiedenen Motive, welche zur Be-
grundung der Kleingartnerbewegung dienen. Neben dem Wunsch,
sich in der Preizeit ein zusatzliches Einkommen zu schaffen, spielt
zunachst das Moment der Erholung eine groBe Rolle. Die Arbeiter,
soweit sie in den GroBstadten ihrer Arbeit nachgehen, wollen ihre
Freizeit in einer ruhigen Atmosphare verbringen. Der Garten ist
,,der wahre Ruhe- und Erholungsplatz fur den Menschen, der unter
physischer und geistiger "Oberbelastung unter dem Druck unseres
Maschinenzeitalters leidet" 2 ).
Wir finden ferner als Motiv den Ruf : „Zuruck zur Natur". Die
Erde nahrt uns, alles kommt nur von der Erde, so heiBt es, und wir
mussen ihr alle unsere Krafte widmen. Damit zusammenhangend
wird dann auf die Liebe zum eigenen Land und eigenen Boden hin-
1 ) Die Gesamtzahl der Kleingartner wird fiir Deutschland auf l 1 / a Mil-
lionen geschatzt.
2 ) „La fondation de TOffice International des Jardins ouvriers**, S. 21.
348 Andries Sternheim
gewiesen. ,,Notre pays, notre propre terre!" Besonders spielen der-
artige Motive in Frankreich eine Rolle. Die Liebe zum eigenen Boden
griindet auch teilweise auf der Auffassung, daB das „Zuruck zur
Natur" schlieBlich zur Starkung der eigenen Rasse beitragen wird.
Auch die sozialen Motive spielen eine Rolle, man verweist auf die
,,groBe soziale Pazifizierung, die die internationale Kleingartnerei-
bewegung darstellt". Dabei wird einerseits an den friedlichen EinfluB
des Landlebens gedacht, andererseits an die Losung sozialer
Probleme durch Bearbeitung brachliegenden Landes. Weiter nennen
wir noch das kleinblirgerliche Motiv: Jedem sein Fleckchen Erde,
jedem sein Eigenheim! In den Schriften der obengenannten Inter-
nationale wird sehr oft darauf hingewiesen, daB ein eigenes Heim das
groBte denkbare Gliick ist. In einem offenen Brief an den Volker-
bund (25. Januar 1931), in dem mehrere Forderungen im Zusammen-
hang mit der Bewirtschaftung des Bodens gestellt wurden, heiBt es
u. a. :
,,Das internationale Biiro fur Kleingarten und Arbeitergarten ist keine
Vereinigung von Gemuse- und Blumenzuchtern. Wir sind die Zuchter
eines neuen Geistes, die Zuchter der Erneuerung der Arbeiterfamilie durch
den Kleingrundbesitz, die Zuchter der Befestigung des Friedens, des Volker-
friedens zu Hause und infolgedessen des Friedens unter alien Volkern. —
Wir verlangen zur rechten Stunde, Herr President, dafi der Volkerbund
unseren Grundsatz in Betracht ziehe: ,, Jedem sein Fleckchen Erde, jedem
sein Eigenheim!'*
Es wird Nachdruck auf die Herbeifuhrung des Familienglucks
gelegt, welches durch die Schaffung eines eigenen Heims erreicht
werden kann. Immer wieder wird auf den Zusammenhang zwischen
Eigenheim und Familiengluck hingewiesen. So finden wir in der Zeit-
schrift der international Kleingartnerorganisation folgende bel-
gische Notiz x ) :
„Bis heute hat die Belgische National-Liga bereits tausende von Ar-
beitern zu Eigentiimern gemacht, deren Familien fortan in viel groCerer
Sicherheit leben. Sie erfreuen sich eines intensiveren Familienlebens, das
auf der Basis gesicherten Wohlstands taglich inniger wird. Die allge-
meine Anwendung unseres Systems ist der Weg zu einer friedlicheren
und klugeren Gesellschaftsklasse" (S. 32.)
Eigentiimlicherweise sind es sogar einander entgegengesetzte
soziale Gruppen, die die Bedeutung der Kleingartnerei unterstreichen.
Von sozialistischer Seite wurde auf dem dritten Internationalen Klein-
gartnerkongreB eine of f izielle Kundgebung zugunsten dieser Bewegung
veranstaltet. Auf dieser Zusammenkunft, abgehalten in Essen 1929,
x ) „ Bulletin" vom September 1931.
Zum Problem der Freizeitgestaltung 349
auBerte sich der Vertreter der Sozialdemokratischen Partei, Reichs-
tagsabgeordneter Heinrich Limbertz, wie folgt:
„Im Namen der Sozialdemokratischen Partei Essens und im besonderen
Auftrag des Vorstandes der Partei in Berlin sowie der Reichstagsfraktion
gestatte ich mir, Ihnen zu Ihren Verhandlungen den besten Erfolg zu
wiinschen. Dafi meine Partei Ihre Bestrebungen mit grofiem Interesse ver-
folgt und sie nach Moglichkeit zu unterstiitzen bereit ist, brauche ich wohl
nicht besonders auseinanderzusetzen. Das ist fur eine Partei, deren Ziel
die Erreichung groBtmoglichster Wohlfahrt fiir die grofltmoglichste Zahl
der Menschen ist, selbstverstandlich." (Kongrefiprotokolf S. 135)
Auch L. Pierard, ein angesehener belgischer Sozialist, der sich
eingehend mit den Problemen der Freizeitverwendung befaBt, tritt
als ein Befurworter der Kleingartnerei auf . Im belgischen Parlament
hat er sich wie folgt geauBert :
„Ah! die grofien sittlichen Folgen des kleinen Stuckchen Landes: der
Mann geht nicht mehr ins Wirtshaus, er widmet sich vollig seinem Garten.
Seinem Garten ! Wie ihn dieser vom Fabrikarbeiter zum anderen Menschen
macht. Land des Friedens, nach Anstrengung und Larm, Land der Freiheit
in der Sonne und in der frischen Luft 1 ).**
Andererseits wird die Kleingartnerbewegung besonders in Frank-
reich, aber auch in anderen Landern von den Unternehmern finanziell
und moralisch unterstiitzt. Nach einer AuBerung von Robert George
Picot , demVorsitzendendes franzosischenVerbandesderlOeingartner,
gibt es in Frankreich 150000 Garten, die von der GroBindustrie ge-
grundet wurden. Es ware interessant, im einzelnen zu untersuchen,
welche Motive die Unternehmer zu ihrer Mithilfe veranlassen und
welchen Einf luB diese Gartengrundungen auf die Beziehungen zwischen
Unternehmern und Arbeitern ausiiben 2 ).
Fiir das Problem der Aufrechterhaltung der Arbeiterf amilie hat die
standige Entwicklung der Kleingartnerei eine wesentliche Bedeutung.
VII.
Wir gelangen jetzt zu einer Reihe anderer Verwendungsarten der
Freizeit, die teilweise noch weniger als die bisher behandelten iiber-
sehbar und statistisch kaum erfaBbar sind. In vielen Fallen kOnnen
hochstens Vermutungen ausgesprochen werden.
Zunacbst ist hier das Gebiet der Bildungstatigkeit zu nennen, zu
dem wir Lektiire, „Arbeiterbildung" und Theaterbesuch rechnen.
1 ) ,,L* Organisation desLoisirs duTravailleur en Belgique et a Tetranger' 4 .
Paris 1931, S. 225.
2 ) Der bereits erwahnte R. G. Picot betont in ,,Le jardin ouvrier", in:
„Les Cahiers du Redressement Fran9ais'% Paris 1927, daC der Garten den
Arbeiter jedenfalls von allem, was ihn an die Kl assent rennung erinnert,
fernhalte (S. 135).
350 Andries Sternheim
Es ware zu untersiichen, welche Zeitungen vor allem von den
Arbeitem gelesen werden. Die Arbeiterpresse samtlicher Rich-
tungen hat sich in den letzten 10 Jahren sehr stark geandert. In ihr
spiegeln sich alle Arten der Freizeitverwendung wieder, denen sich
die Arbeiterklasse zuwendet. Die Presse wird immer mehr von der
Partei- zur Voikszeitung und an das Durchschnittsbediirfnis angepaBt.
Dies fuhrt dazu } daB die Arbeiterzeitung sich in vielen Fallen, ab-
gesehen von ihren politischen oder religi&sen Tendenzen, nicht wesent-
lich von den biirgerlichen Blattern unterscheidet. 1st diese Anderung
der Zeitung sowohl ihrem Inhalt wie ihrer Aufmachung nach ein Ent-
gegenkommen an den Geschmack und die augenblicklichen Be-
diirfnisse der groBen Masse, so wirken diese Anderungen andererseits
wieder beeinflussend auf die Arbeiter im Sinne der biirgerlichen Ge-
dankenwelt zuriick. Unzweifelhaft ist auch die Rationalisierung
einer der Faktoren, welche beim Arbeiter das Verlangen hervorgerufen
haben, nach seiner taglichen Arbeit sich nicht zu eingehend mit
schwierigen Fragen beschaftigen zu mtissen. Auch fur die Angestellten,
deren Arbeit ebenfalls stark mechanisiert ist, scheinen dieselben Be-
diirfnisse zu bestehen. So schreibt Max ROssigeru. a: „Eine acht-
oder jetzt oft schon wieder neunstundige Arbeitszeit im rationalisierten
und entpersdnlichten Betrieb zerrt an den Nerven und weckt auch bei
sonst Anspruchsvolleren den Hunger nach leichter Kost als Betau-
bungsmittel" 2 ). Die hier angedeutete Umbildung der Arbeiterzeitung,
zusammen mit der immer wachsenden Differenzierung in der Ver-
wendung der Freizeit und die dadurch herbeigefiihrte Entwicklung
des Vereinswesens haben die Herausgabe einer Reihe von Zeitungen
und Zeitschriften, welche speziellen geistigen, sozialen und sonstigen
Interessen dienen, zur Folge gehabt.
Bei der Untersuchung der Rolle des Biicherlesens muB ein
Unterschied zwischen dem Lesen und Kaufen von Biichern gemacht
werden. Was gelesen wird, ist teilweise durch statistische Angaben
von Bibliotheken, Lesevereinen, Volksbiichereien usw. zu erfassen,
aber gewOhnUch fehlt die Erfassung der BerufszugehOrigkeit der
Leser, so daB diesen Statistiken nur ein relativ geringer Wert zuge-
messen werden kann 2 ). Ubrigens geht aus ihnen nicht hervor,
wie oft Biicher angefragt wurden, also ein Bedurfnis danach bestand,
2 ) Max Rdssiger, Der AngesteUte von 1930, Sieben-Stabe-Verlag t
Berlin 1930. S. 64.
*) Bine Ausnahme bildet das ausgezeichnete Buch von Walter Hofmann,
„Die Lektiire der Frau", Leipzig 1931. Es enthalt ausfiihrliohe Betrach-
tungen iiber die Lektiire der Frau verschiedener sozialer Schichten.
Zum Problem der Freizeitgestaltung 351
das Buch jedoch ausgeliehen war. Wieviel Arbeiter Biicher kaufen
und was sie an Literatur besitzen, muB noch durch Befragung von
Sachverstandigen, am besten durch eine besondere Erhebung fest-
gestellt werden*
Die Art der Arbeiterbildung und die Institutionen, welche sich
damit befassen, sind in den verschiedenen Landern sehr stark diffe-
renziert. Wir sehen hier von den Landern ab, in denen die Bildungs-
einrichtungen unmitteibar unter der Kontrolle des Staates und im
Dienste der Staatsziele stehen, wie Italien und RuBland, und unter-
scheiden zwei Haupttypen, den apolitischen und den politischen.
Von einer Arbeiterbildung kann in GroBbritannien und in den
Vereinigten Staaten nicht gesprochen werden, da eine Trennung
zwischen allgemeiner und Arbeiterbildung generell nicht besteht.
Fast alles, was hier unternommen wird, geschieht durchaus unpolitisch ;
die rein politischen Instanzen, die sich mit Bildung befassen, sind
Ausnahmen. Der Individualismus laBt einen bedeutenden EinfluB
des Staates auf die Bildung nicht zu. Dieser gibt hOchstens Zuschiisse,
ist jedoch selbst fur den Charakter der Bildungsarbeit nicht verant-
wortlich. Hier sei noch an die umfassende Bildungsarbeit der Volks-
bildungsheime und die von kirchlichen Instanzen betriebene Volks-
bildung erinnert, die sich jedoch nicht ausschlieBlich den Interessen
der Arbeitnehmer zuwendet.
Der politische Typ wird durch die prinzipiell sozialistische Arbeiter-
bildung reprasentiert, wie sie in Landern wie Deutschland, Oster-
reich, Holland, den skandinavischen Landern und Belgien
vorherrscht, wo eigene Bildungsorganisationen der Arbeiterklasse be-
stehen, die als ihren Endzweck ausdriicklich die Herbeifuhrung einer
sozialistischen Gemeinschaft angeben. Mit der VergrOfierung der Zahl
der Amter, die von Vertrauensmannern der Arbeiter-Organisationen
besetzt werden, wird jedoch auch diese prinzipiell sozialistische Bil-
dungsarbeit mit allgemeinen Erziehungsabsichten vermischt, die nicht
unmitteibar mit sozialistischen Zielvorstellungen zusammenhangen
(Ausbildung von Vollburgern, guten Gewerkschaftsfunktionaren und
Vertretern in Offentlichen Instanzen). Zu bemerken ist hier noch, daB
vieleArbeiten, die vonBildungsinstitutionen verschiedener Richtungen
unternommen werden, bei ihrem neutealen Charakter ebensogut von
einer neutralen Stelle aus gemacht werden kOnnten. Jedoch herrscht
allmahlich die Auffassung vor, daB auch diese neutrale Arbeit am
besten im eigenen Kreise, in der eigenen Organisation mit ihrer be-
sonderen Sphare gedeiht.
352 Andries Stemheim
Bex der Beurteilung der Bedeutung des Theaters hat man zu-
nachst an das offentliche Theater zu denken, wo die Besucher
als Zuschauer eine passive Rolle spielen. Trotz der in einer
Reihe von Landern unter Mitwirkung von Arbeiterorganisationen ge-
schaffenen Theater und trotz der Grundung der Volksbuhnen-
Vereine gilt mancherorts der massenhafte Besuch von Theatern der
Auffuhrung sog. „Volksdramen", die das eigene Leben des Arbeiters
gewohnlich auf melodramische Art und Weise reproduzieren, die
Solidaritat verherrlichen und dadurch dem Narzismus der Besucher
schmeicheln. Eine andere Grundform bildet das Theater, wie es vor
allem in bauerlichen Gegenden gepflegt wird, wo ofters noch heute
historische Dramen oder religiose Spiele aufgefiihrt werden. Da-
neben nennen wir die Dilettantenvereine, wie sie vor allem in den
lateinischen und angelsachsischen Landern bestehen.
VIII.
DaB mit der Zunahme der Freizeit auch die Zerstreuungen sich
vervielfaltigen, ist mit Hinsicht auf die differenzierten Bedurfnisse der
verschiedenartig veranlagten Menschen klar. Die Arbeiterpresse
liefert dafiir ein deutliches Beispiel. Rubriken, welche vor dem Krieg
kaum in einer Tageszeitung vermutet wurden, machen jetzt einen
wesentlichen Bestandteil dieser Blatter aus. Wir denken an die regel-
maBig erscheinenden Nachrichten iiber Rudersport, Schwimmen,
FuBball, Kanu und Kanubau, Basteleien, Errichtung von Tauben-
schlagen, Karten- und Schachspiel, Photographieren, Baukurse fiir
Anfertigung von Radioapparaten, Vereinswesen, Briefmarken-
sammeln usw.
Es fallt schwer festzustellen, inwieweit qualifizierte oder nicht-
qualifizierte, politisch und gewerkschaftlich organisierte oder un-
organisierte Arbeiter sich dieser oder jener Zerstreuungsmittel be-
dienen. Generell darf gesagt werden, daB das Hauptquantum an
Freizeit, iiber das die Arbeiter verfugen, die Entwicklung der ver-
schiedenen persOnlichen Bedurfnisse stark fordert und deswegen eine
immer gr^Bere Verschiedenheit der Entspannungsmdglichkeiten auf-
tritt. Die durch den besseren Wohnungsbau, soziale Hygiene, giin-
stigere Arbeitsbedingungen erm6glichte angenehmere Lebensweise 1 )
1 ) Fiir die sozialpolitisehe Bedeutung der vermehrten Freizeit bieten die
VerOffentlichungen des Internationalen Arbeitsamtes wichtiges Quellen-
material, besonders diejenigen, welche als Grundlage fiir die Be hand lung
der Freizeitfrage auf der 1924 abgehaltenen Internationalen Arbeitskon-
ferenz erschienen sind.
Zum Problem der Freizeitgestaltung 353
hat teilweise zu einer Ubernahme vieler Arten der Freizeitverwendung
gefuhrt, die langere Zeit das Privileg der Mittelklassen und sogar der
GroBbourgeoisie waren 1 ). Hier zeigt sich ein ProzeB der Nachahmung
in vielen Richtungen, dessen Tragweite sowohl fur die Morphologie
des Klassenkampfes wie fur die gesellschaftliche Kultur uberhaupt
von einer nicht zu unterschatzenden Bedeutung ist.
Neben dieser Ubernahme vieler Gewohnheiten anderer gesellschaf t-
licher Kreise ist die Wiederbelebung einer Reihe von Arten der Frei-
zeitverwendung zu beobachten, welche in der organisierten Arbeiter-
klasse langere Zeit als die Vergniigungen der „nicht klassenbewuBten
Arbeiter" gegolten haben. Angeln, Kartenspiel, Kegelspiel, Billard-
spiel, das Halten von Tauben werden auch in den klassenbewuBten
Arbeiterkreisen mehr und mehr betrieben und sogar als gute Formen
der Freizeitverwendung propagiert.
Schwer fallt es, ein positives Urteil fiber die Bedeutung des Wirts-
hauses fur die Freizeit auszusprechen. In den verschiedenen Landern
und hier wieder fur Stadt und Dorf nimmt es eine ganz verschiedene
Bedeutung ein. Besonders in Frankreich und Belgien tragen z. B. das
„ Cabaret" oder das „Estaminet" einen durchaus sozialen Charakter,
so daB ein regelmaBiger Wirtshausbesuch nicht als minderwertig gilt.
Es sind auBerfamiliare Platze, wo sich die Kameradschaft und das
Bediirfnis an gesellschaftlichem Verkehr weiter entfalten. Uber den
Besuch des Wirtshauses als Freizeitverwendung liegt bisher wenig
positives Material vor. Offizielle franzosische Erhebungen vor un-
gefahr 10 Jahren haben festgestellt, daB der Wirtshausbesuch seit der
Einfiihrung des verkurzten Arbeitstages stark abgenommen hat.
Andere Freizeitverwendungen, die wir hier erwahnen, die aber
ihrem Wesen nach auch unter andere Gruppierungen fallen, sind
Wandern, Besuch von Museen, Ausstellungen und schlieBlich
— ein Problemkreis fur sich — die Beschaftigung innerhalb der
Familie. Von groBer Bedeutung ist endlich die Tatigkeit in Ver-
einen aller Art.
IX.
Mit der Umstrukturierung der Freizeitbestrebungen der Arbeiter-
schaft geht — soweit es sich um festgegriindete Organisationen handelt
J ) „Tausende von Arbeitern, welche friih den Arbeitsplatz verlassen,
konnen im Sommer Wasser und Sonne geniefien und lernen ein wenig vom
Leben in der freien Luft kennen, das vor einigen Jahren nur das Vorrecht
der begiiterten Klassen war." Bericht des Direktors des Intemationalen
Arbeitsamtes vom Jahre 1928, S. 257.
354 Andries Sternheim
— auch eine relative Abnahme der freiwilligen politischen und ins-
besondere gewerkschaftlichen Betatigung Hand in Hand. Mit dem
Wachstum der Verbande und der Zunahme der f inanziellen Tragkraf t
ist die Moglichkeit geschaffen, allmahlich liber einen groBen Apparat
mit besoldeten Kraften zu verfiigen. In Zeiten heftiger Agitation,
bei groBen politischen und gewerkschaftlichen Aktionen, Wahlen,
Mitgliederwerbung geht die Anzahl derer, die ihre Freizeit in den
Dienst ihrer Organisation stellen, in steigender Richtung ; die aktive
Mitarbeit der groBen Masse der Mitglieder ist in normalen Zeiten nur
bei radikalen Kampforganisationen die Regel.
Eine eingehende Analyse des Entwicklungsprozesses der Freizeit-
verwendung in der Nachkriegszeit wird als Beitrag fur die Psychologie
und Geistesrichtung der heutigen Arbeiterschaft sowie fur die Auf-
deckung bestehender gesellschaftlicher Zusammenhange fruchtbar
sein. Bei diesen Untersuchungen wird das Problem der Familie ofters
mit hineinbezogen werden mussen, indem diese durch die Wandlungen
der Freizeitbenutzung unmittelbar beeinfluBt wird und selbst durch
innere Faktoren auf die Freizeitgestaltung zuriickwirkt. Bisher
wurde das Problem der Kurzung des Arbeitstages fast ausschlieBlich
vom volkswirtschaftlichen Standpunkt aus behandelt, dagegen die
durch die Kurzung entstandene Mehrung der Freizeit und ihre Ver-
wendung als Gesamtproblem im allgemeinen weder soziologisch noch
sozialpsychologisch untersucht. Einige Gesichtspunkte zur Inangriff-
nahme dieser Probleme sind hier gezeigt worden.
Prinzipiell darf jedoch das Problem der Freizeit niemals als
selbstandiges Studienobjekt in Angriff genommen werden, in dem
Sinn, als handele es sich hier um ein Problem, das, auBerhalb der
Arbeitssphare liegend, auch wesentlich davon getrennt ware. Wenn
Marx vom „Reich der Freiheit" gesprochen hat, das erst anfangt,
„wo das Arbeiten, das durch Not und auBere ZweckmaBigkeit be-
stimmt ist, aufhort" 1 ), so kann dieser Begriff ,,Freiheit" nie im ab-
soluten Sinn gemeint sein, sondern nur im Gegensatz zur wirtschaft-
lichen Gebundenheit. Ebensowenig wie in der geistigen und in der
psychischen Sphare laBt sich eine Zweiteilung des Arbeiters als Pro-
duzent und als Mensch durchfuhren. Unter volliger Anerkennung des
Primats des wirtschaftlichen Elements sehen wir ein Aufeinander-
!) Marx, Das Kapital, III. Bd., Volksaiisgabe, S. 316.
Zum Problem der Freizeitgeataltung 355
einwirken, ein Durchdringen der in den beiden Teilgebieten vorhan-
denen oder neuerzeugten geistigen und physischen Gegebenheiten.
Doch glauben wir schon jetzt feststellen zu durfen, daB der Arbeits-
zeit fur die Modifizierung der biologisch gegebenen Triebstruktur,
der Freizeit ftir die Entwicklung der geistigen Faktoren ein mafi-
gebender Platz einzuraumen ist. Das Studium der einzelnen Arten
der Freizeitverwendung unter Anwendung der analytischen sezial-
psycbologischen Methode wird erst Auf schluB uber die psychologischen
Vorbedingungen des Entstehens, Fortbestehens und gegebenenfalls
des Verfalls bestimmter Freizeitzweige geben und somit als wichtiger
Beitrag zur Aufdeckung der derzeitigen Gefuhls- und Denkwelt der
modernen Arbeiter und Angestellten und der sie bedingenden Faktoren
dienen kOnnen.
Zur gesellschaftlichen Lage der Musik.
Von
Theodor Wiesengrund-Adorno (Frankfurt a. M.).
II. — Reproduktion. — Konsum.
Die Entfremdung zwischen Musik und Gesellschaft spiegelt
in den Antinomien der musikalischen Produktion sich wider: als
reale gesellschaftliche Tatsache wird sie greifbar am Verhaltnis von
Produktion und Konsumtion. Zwischen beiden vermittelt die
musikalische Reproduktion. Sie dient der Produktion, die nur
reproduziert unmittelbar gegenwartig zu werden vermag, anders als
toter Text verharrte; sie ist die Form jeglichen musikalischen Kon-
sums, weil nur an reproduzierten Werken und nie an blofien Texten
die Gesellschaft Anteil gewinnen kann. Die Forderung der Produk-
tion — als die nach Authentizitat — und die der Konsumtion — als
die nach Verstandlichkeit — richten sich gleichermaBen an die Re-
produktion und verschranken sich in ihr: das Postulat „deutlicher"
Wiedergabe des Werkes etwa kann ebensowohl von der sinngemafien
Darstellung des Textes wie von der AuffaBbarkeit fur den Horer her
an die Reproduktion ergehen. Wenn dergestalt in den innersten
Zellen der Reproduktion Produktion und Konsumtion sich begegnen,
dann bietet Reproduktion den genauesten Schauplatz fur die Kon-
flikte, die sie miteinander auszutragen haben. Als Reproduktion
entfremdeter Musik vermag siedie Gesellschaft nicht mehr zu erreichen ;
als Reproduktion fur die Gesellschaft verfehlt sie die Werke. Denn
konkrete Reproduktion hat es — wie die landlaufige Kunstkritik stets
wieder mochte vergessen machen — weder mit einem ewigen Werk
an sich noch mit einem an konstante Naturbedingungen gebundenen
Horer zu tun, sondern mit geschichtlichen. Nicht bloB ist das Be-
wuBtsein der Horerschaft vom Wechsel der gesellschaftlichen Be-
dingungen abhangig; nicht blofi das der Reproduzierenden vom
Stande der musikalischen Gesamtverf assung : die Werke selber haben
ihre Geschichte und verandern sich in ihr. Ihr Text namlich ist eine
blofie Chiffernschrift, die Eindeutigkeit nicht verburgt und in der
Zur gesellschaftlichen Lage der Musik 357
mit der Entfaltung der musikalischeii Dialektik — die wieder ge-
sellscJiaftliche Momente in sich faBt •>— wechselnde Gehalte er-
scheinen. Die Veranderung der Werke selbst stellt sich dar in der
Reproduktion. Und zwar, im Zeichen der radikalen Entfremdung, als
Schwinden der reproduktiven Fr e i h e i t . Die vorkapitalistische
Reproduktion war beherrscht von Tradition : Tradition musikalischer
Zunfte, Tradition oft auch einzelner Familien. Das traditionale
Moment garantierte einen stetigen Zusammenhang zwischen der Musik
und ihrer Horerschaft in der Stetigkeit der Wiedergabe; das Werk
stand nicht isoliert der Gesellschaft gegemiber, sondern in der Re-
produktion behauptete sie Einf luB auf die Produktion, und bis gegen
Ende des 18. Jahrhunderts, also bis zur Beseitigung der Generalbafi-
praxis durch die Wiener Klassik, gingen Produktion, Reproduktion, Im-
provisation ohne scharf e Grenze ineinander uber ; selbst ein so streng
auskomponierter Formtyp wie die Bachische Fuge, die sich, Erbin
der mittelalterlichen Polyphonie, der Generalbafipraxis nicht unter-
worfen hatte, laBt dem Interpreten in Tempo und Dynamik, die im
Text nur gelegentlich fixiert sind, voile Freiheit und gibt die Regelung
einer Tradition anheim, die noch Jahrhunderte nach der Einfuhrung
der temperierten Stimmung irrational bleibt. All das andert sich mit
dem Sieg der burgerlichen Klasse. Das Werk setzt sich selbstandig
und in einem rationalen Zeichensystem der Gesellschaft als Ware
gegeniiber; die Tradition der Interpreten und ihrer Zunfte reiBt mit
der Durchsetzung der freien Konkurrenz ab; die „Schulen" werden
zu Lern- und Gesinnungsgemeinschaften ohne Verbindlichkeit der
iibermittelten Lehrgehalte; die Restbestande traditionaler Musik -
iibung, wie etwa Mahler in Wien sie vorfand, sind, nach seinem Wort,
durchsichtig als „Schlamperei". Der Eingriff des Interpreten ins
Werk, in der Zeit vor der definitiven Verdinglichung der Werke jeweils
moglich und selbst gefordert, wird zur schlechten Willkiir, die die
Authentizitat des rational bezeichneten Werkes von sich fernhalten
mu6. Die Geschichte der musikalischen Reproduktion im letzten
Jahrhundert hat die reproduktive Freiheit vernichtet. Der Interpret
hat einzig noch die Wahl zwischen zwei Anforderungen rationaler
Art; er muB entweder sich streng auf die Realisierung, allenfalls Ent-
zifferung der genauen Sprache der musikalischen Zeichen beschranken,
oder er muB den Wiinschen entsprechen, die die Gesellschaft als Markt
an ihn richtet und in denen die Gestalt des Werkes untergeht. Zwischen
beiden Forderungen vermittelte im 19. Jahrhundert die S) Interpreten-
personlichkeit" als letztes musikalisches Refugium irrationaler Repro-
358 Theodor Wiesengrund-Adomo
duktion im kapitalistischen ProzeB. Sie steht in deutlicher Beziehung
zur Form der f reien Konkurrenz und enthalt so viel Irrationales in sich
wie diese. Dem Werk dient sie, indem sie dessen Gehalte, im Rahmen
des vorgezeichneten Textes und seiner Zeichen, nochmals gleichsam
aus sich selbst hervorbringt ; das wird moglich durch die Homogenitat
der Struktur von Autor und Interpret, die beide in gleicher Weise
burgerliche „Individuen" sind und in gleicher Weise den „Ausdruck"
burgerlicher Individualitat vollbringen : Liszt, Rubinstein, beide ex-
pressive Komponisten und als Interpreten „Naehschopfer", sind Ur-
bilder solcher Interpretation. Die Gesellschaft, der sie die Musik dar-
bieten, ist ebenso individualistisch beschaffen wie sie; in ihnen er-
kennt sie sich wieder, in ihnen nimmt sie von den Werken Besitz, und
in den Triumphen, die sie den Virtuosen, weit mehr als den Kompo-
nisten, bereitet, feiert sie sich selber. Es ist die entscheidende Ver-
anderung, die die gegenwartige musikalische Reproduktion dem
19. Jahrhundert gegeniiber erfuhr, daB das Gleichgewicht von indi-
vidualistischer Gesellschaft und individualistischer Produktion ver-
nichtet, dieFreiheit der Reproduktion vollendsproblematisch geworden
ist und nirgends besser als hier mag an musikalischen Phanomenen der
Ubergang vom Konkurrenz- zum Monopolkapitalismus sich erkennen
lassen. Zwar die „Interpretenpersonlichkeit" besteht im Musikleben
fort und diirfte gesellschaftlich wirksamer sein als je zuvor : aber ihre
Funktion ist vollig geandert, und die Souveranitat, mit der sie Werken
und Publikum gleichermaBen gebietet, verbirgt diktatorisch den
Sprung zwischen freiem Interpreten und Werk. Die musikalische
Produktion aber, soweit sie dem Markt gegeniiber Selbstandigkeit
behauptet, fordert ganzliche Unterordnung des Interpreten unter den
Text, und diese Unterordnung bleibt nicht auf die gegenwartige Pro-
duktion beschrankt, sondern wird zum notwendigen Postulat auch der
vergangenen gegeniiber, wof ern nicht im Lichte der fortgeschrittensten
Produktion die Wiedergabe der alten iiberhaupt unmoglich ist und die
vergangenen Werke dem strengen Interpreten transparent und stumm
vor Augen liegen. Indem Schonberg als Komponist die tonale Kadenz
und alle in ihr entspringenden Formmittel beseitigte, entfielen auch
die ihnen als selbstverstandlich zugeordneten und darum nicht aus-
driicklich vermerkten Mittel der Darstellung, deren Selbstverstand-
hchkeit gerade dem friiheren Interpreten seine Freiheit garantierte.
Jetzt ist der Text bis zur letzten Note und bis zur unmerklichsten
Temponuance bezeichnet, und der Interpret wird zum Exekutor des
eindeutigen Autorenwillens. Wenn solche Strenge bei Schonberg
Zur gesellschaftlichen Lage der Musik 359
dialektisch in .der Strenge eines Kompositionsverfahrens entspringt,
nach welchem ohne alles vorgegebene und sozial garantierte
Material die Musik ganzlich „auskomponiert" wird, dann ist bei den
minder genau bezeichneten Notentexten Strawinskijs, undialektisch
zwar, doch mit ahnlichem Ergebnis, die Freiheit des Interpreten
ausgeschlossen durch Stil und „Geschmack" eines Objektivismus,
der sich zwar nicht rein auskonstruiert, aber doch vom Interpreten
ganzliche Unterordnung unter seine objektive Attitude verlangt
und diese Unterordnung, wenn sie schon nicht in Komposition und
Zeichengebung festgelegt ist, wenigstens in einer affektlosen, dem
Spiel mechanischer Instrumente angeglichenen Vortragsweise zum
Ausdruck bringen mochte. Die Verbesserungen und Erfindungen im
Bereich der mechanischen Musikinstrumente, die eine prazisere Wieder-
gabe jedenfalls als die durch mittlere und unkontrollierte „freie"
Interpreten gewahrleisten, mogen dabei das Reproduktionsideal mit-
geformt haben, und jedenfalls bekraftigt es die Anspriiche gesell-
schaftlicher Deutung der musikalischen Reproduktionsverhaltnisse,
daB deren immanente Problematik die gleiche Einschrankung der
reproduktiven Freiheit, die gleichen Tendenzen zu Technisierung und
Rationalisierung zeitigte, welche von auBen mit der gesellschaftlich-
okonomischen Entwicklung : durch Vervollkommnung der Maschinen
und Ersatz der menschlichen durch mechanische Arbeitskrafte
musikalisch aktuell wurden. Diese Tendenzen blieben nun nicht auf
die Wiedergabe zeitgenossischer Musik beschrankt. Die geschichtliche
Veranderung der Werke im Rahmen ihrer mehrdeutigen Texte spielt
sich nicht beliebig ab, sondern gehorcht strikt den Erkenntnissen, die
im Raum der musikalischen Produktion gewonnen sind. Genauerer
Anschauung unterworfen, fordert altere und zumal die „klassische"
deutsche Musik, um so realisiert zu werden wie ihre Konstruktion
heute dem Auge sich darbietet, die gleiche strenge, jegliche im-
provisatorische Freiheit des Interpreten verwehrende Wiedergabe
wie die neueste. Die Forderung sachlich adaquater Wiedergabe der
Werke hat sich dabei von dem — ohnehin schwer kontrollierbaren —
Willen der Autoren ganz emanzipiert und gerade in solcher Eman-
zipation kommt der geschichtliche Charakter von Reproduktion
bundig zutage. Wollte man etwa eine fruhere Beethovensche Klavier-
sonate so ,,frei", mit so willkurlich-improvisatorischen Veranderungen
zumal der GrundzeitmaBe der einzelnen Satze spielen, wie es, nach
zeitgenossischen Berichten, der Pianist Beethoven tat — vor der heute
«rst, durch die spatere Produktion, ganz erkennbaren konstruktiven
360 Theodor Wiesengruad-Adorno
Einheit solcher Satze miiBte die scheinbar authentische Inter-
pretationsweise schlechterdings als sinnwidrig sich darstellen.
. Indem nun aber in der immanenten Auseinandersetzung mit den
Werken fortgeschrittenste, am aktuellen Stande der Produktion
orientierte Interpretation zur Idee ihrer Selbstaufhebung gelangt und
sich zwangslaufig, gerade in den besten Reprasentanten, auf die reine
Wiedergabe der Werke konzentriert, kommt es zum offenen Konflikt
mit der Gesellschaft, mit dem Publikum, das sich durch den Inter-
preten im Werk vertreten fuhlt und durch dessen Opfer nun ausge-
schlossen wird. Scharfer noch der Reproduktion als der Produktion
gegeniiber zeigt sich die Ambivalenz der Gesellschaft im Verhaltnis
zur Rationalisierung. Mit der Vervollkommnung der technischen
Mittel zum Zweck der Ersparnis von Arbeitskraften, mit der fort-
schreitenden Verselbstandigung der Musik als einer gegen abstrakte
Einheiten tauschbaren Ware, die sich schlieBlich von der Gesellschaft
ablOst, hat die burgerliche Gesellschaft den musikalischen Rationa-
lisierungsprozeB nicht bloB befordert, sondern uberhaupt erst ermog-
licht; die Konsequenzen der Rationalisierung aber greifen den
Bestand der biirgerlichen Ordnung in ihren Grundkategorien an,
und vor ihnen weicht sie zuriick in eine Begriffswelt, die nicht
bloB die immanent-musikalische, sondern auch die. immanent-
biirgerliche Wirklichkeit langst hinter sich zuriicklieB, die aber
dafur wieder zur ideologischen Verhullung der monopolkapita-
listischen Entwicklung der Gesellschaft sich als besonders taug-
lich erweist. Die Rationalisierung musikalischer Produktion und
Reproduktion, Resultat der gesellschaftlichen, wird als „Entseelung* e
perhorresziert, wie wenn man fiirchtete, die Irrationalitat des gesell-
schaftlichen Zustandes, die aller ^Rationalisierung" zum Trotz sich
behauptet, werde im Lichte radikalerer kiinstlerischer Rationalitat
allzu deutlich; die „Seele" wird dabei stillschweigend der burgerlich-
unabhangigen Privatperson gleichgesetzt, deren Recht man ideologisch
um so sichtbarer statuieren mOchte, je mehr es Ckonomisch-gesell-
schafthch in Frage geriickt ist. Die plattesten Antithesen sind dem
Konsumentenbewufitsein recht, um sich vorm Zugriff der ihrem Er-
kenntnischarakter nach aktuellen Reproduktion zu schiitzen und eine
Art des Musizierens zu gewahrleisten, deren Hauptfunktion es ist,
mit Traum, Rausch und Versenkung die Realitat zu verbergen und den
Biirgern im asthetischen Bilde eben jene Triebbefriedigungen zu ver-
schaffen, die die Realitat ihnen verwehrt ; fur die aber das Kunstwerk
mit dem Preis seiner integralen Gestalt zu zahlen hat. Organik wird
Zur gesellschaftlichen Lage der Musik 361
da gegen Mechanik, Innerlichkeit gegen Leere, Personlichkeit gegen
Anonymitat ausgespielt. Der Objektivismus hat, in seiner konzilian-
teren deutschen Form, versucht, solchen Einwanden, wie sie gegen
die rationale Reproduktion laut werden, von der Produktionsseite
aus zu begegnen, indem er die verlorene reproduktive Freiheit oder
wenigstens deren Schein als ,,Musikantentum" in den Text aufnahm
und den Text derart aus den instrumentalen Spielweisen entwickelte,
als ob die freie Moglichkeit von Reproduktion die Produktion selber
erst ermoglichte. Der Scheincharakter dieses Vermittlungsversuches
kommt daran zutage, daB die Funktionen, die gerade die Reproduktion
erfiillen miiBten, der Produktion iiberantwortet werden; damit bleibt
der ,,Text" und die dingliche Komposition fur das „Musizieren" die
letzte Instanz, und das Musikantentum ist bloBe ornamentale Zutat
zur Komposition. Die Musizier musik war denn auch dem Publikum
gegeniiber unwirksam genug. Zum Vollstrecker von dessen Willen
Wurde dafiir die gleiche ,,Interpretenpersonlichkeit", die im 19. Jahr-
hundert dem Durchbruch des individuellen Ausdrucks in der Musik
gedient hatte und deren Funktion nun drastisch verandert ist. Sie
muB eine doppelte Aufgabe erfiillen. Einmal muB sie, mit der Sou-
veranitat ihrer „Auffassung", die verlorene Kommunikation zwischen
Werk und Publikum herstellen, indem sie die Gestalt des Werkes in
einer Art von VergroBerung oder Uberplastik hervortreibt, die zwar
dem Werke unangemessen sein mag, dafiir aber dessen affektive
Wirkung auf das Publikum sicherstellt. Dann aber muB sie das Werk
als Ausdruck einzelmenschlicher Dynamik und privater Beseeltheit,
der es doch nicht mehr ist, beschworen ; die Fahigkeit, Werke in einer
Gestalt heraufzuholen, die sie langst nicht mehr haben und vielleicht
niemals besaBen, ist es vor alien anderen Eigenschaften, die den
,,prominenten" Dirigenten auszeichnet. Die Wunschbilder von vitaler
Fiille und ungebundenem Schwung, von beseelter Organik und un-
mittelbarer, nichtverdinglichter Innerlichkeit spendet erleibhaftdenen,
welchen die kapitalistische Wirtschaft real die Erfiillung aller solchen
Wunsche versagt ; und bestarkt sie zugleich im Glauben an ihre eigene
Substanz, welche eben die unsterblichen, soil sagen: unveranderlichen
Werke hervorbrachte, die er beschwort, iiber die sie kraft ihrer
Bildung ebenfalls verfiigen und die sie als Fetisch zugleich verehren.
Der zeitgendssischen Produktion steht er — im strikten Gegensatz
zu den Vorbildern aus dem 19. Jahrhundert — fremd oder ablehnend
gegeniiber, demonstriert einmal ein modernes Werk als abschreckendes
Beispiel oder laBt allenfalls die neue Musik als tJbergang zur Re-
362 Theodor Wiesengrund-Adorno
stauration der alten Seelenkunst gelten, halt sich aber sonst an die
heroisch-burgerliche Vergangenheit — Beethoven — oder an einen
Autor wie Bruckner, der den Pomp der gesellschaftlichen Veran-
staltung mit dem gleichen Anspruch auf Beseeltheit und Innerlichkeit
vereint, welcher der des prominenten Interpreten ist. DaB derselbe
Dirigententyp, der unersattlich-versunken das Adagio aus Bruckners
Achter zelebriert, wie ein Konzernherr darauf auszugehen pflegt,
moglichst viele Organisationen, Institute und Orchester in seiner
Hand zu vereinen, ist das genaue gesellschaftliche Korrelat zur indi-
viduellen Beschaffenheit einer Figur, die im Kapitalismus musikalisch
Trust und Innerlichkeit auf den gemeinsamen Nenner zu bringen hat.
Und daB in der Typengeschichte des gegenwartigen prominenten
Interpreten der Dirigent, der ungebunden und widerspruchslos den
Orchestermechanismus beherrscht, die freie Konkurrenz der instru-
mentalen und vokalen Virtuosen zuruckdrangte ; daB es gerade ein
einzelner, eben eine ,,Pers5nlichkeit" ist, die iiber Musik und Pu-
blikum gleichermaBen gebietet und im Namen des Publikums, aber
ohne dessen Willen und mit Kommandogesten die Vergangenheit
zitiert ; daB schlieBlich sein Erf olg gerade von der Geste des Bef ehls
getragen wird, mit der er dem Publikum begegnet — das alles zeigt
vollends den einzelnen, der angeblich die Mechanisierung iiberwindet,
als den Monopolherren, der den rational-mechanischen Apparat der
Einsicht der Individuen entzieht, um im eigenen Interesse dariiber
zu verfiigen. Seine ideologische Herrschaft wird getragen vom Ruhm,
in welchem die Gesellschaft seine restaurativ-reproduktive Leistung
wieder und wieder reproduziert. So genau ist das KlassenbewuBtsein
auf das ihm angemessene Interpretenideal eingestimmt, daB es Inter-
preten, die ihm nicht entsprechen, mag immer deren sachliche Quali-
tat und selbst Suggestivkraft unbestreitbar sein, beseitigt; im Vor-
kriegswien nicht anders als im gegenwartigen Mailand und Berlin.
Die Forderungen der gegenwartigen Gesellschaft an eine Musik,
die ihr, als ihre Ideologic, Geniige leisten soil, so wie sie im Problem-
bereich der Reproduktion an der Figur der „Interpretenpers6nlichkeit"
dialektisch zutage kommen — diese Forderungen sind es, die den
offiziellen, von der Instanz der Bildung sanktionierten musikalischen
Konsum der biirgerlichen Gesellschaft insgesamt beherrschen. In
ihrem „Musikleben", wie es in den Opernhausem und Konzertsalen
seine traditionale Statte einstweilen noch behauptet, hat die biirger-
liche Gesellschaft mit der entfremdeten Musik eine Art von Waffen-
stillstand geschlossen und verkehrt mit ihr in vorsichtigen und genau
Zur gesellschaftlichen Lage der Musik. 363
regulierten Formen. Freilich ist der Waffenstillstand beliebig kiind-
bar : das „Musikleben" reagiert prompt und exakt auf jede Veranderung.
der gesellschaftlichen Verhaltnisse im Burgertum. So hat etwa die
Expropriation der gehobenen Mittelschichten durch Inflation und
Krise diese Schichten aus den Opern und Konzerten verscheucht und
an die Radioapparate verbannt, deren Zerstreutheit wieder die Atomi-
sierung des Biirgertums, den AusschluB der biirgerlichen Privatperson
von den Off entlichen Dingen adaquat ausdriickt : vorm Lautsprecher
ist der Burger Okonomisch und musikalisch dem Monopol, sei's auch
dem ,,gemischtwirtschaftlichen Betrieb", uberantwortet. Weil das
Musikleben dergestalt die innerburgerlichen Strukturanderungen
unmittelbar registriert, ist die Analyse gehalten, die immanenten
Differenzen und Widerspriiche des Biirgertums einzurechnen. In
einer Sphare, in der der autonome Anspruch der isolierten Kunst-
werke bereits gebrochen und durch den Marktbedarf ersetzt ist,
vermOchte hier Statistik wesentliches Material zur gesellschaftlichen
Deutung zu gewinnen. Solches Material liegt nicht vor. Immerhin
darf Beobachtung einige Befunde beistellen. Was zunachst die Oper
anlangt, so hat sie auch als Konsummittel ihre Aktualitat eigentlich
verloren. Die Funktion, die ihr im 19. Jahrhundert vorab zukam,
die der Representation, ist ihr jedenf alls fur den Augenblick genommen :
die depossedierten Mittelschichten haben weder Ckonomisch die
Kraft, solche Representation zu stiitzen, noch bilden sie mehr eine
kulturelle Einheit, die so sublimierter Reprasentationen fahig ware,
wie es die des Operntheaters einmal waren ; allenf alls gedenken sie in
den „Meistersingern" ihrer gliicklicheren Jahre. Die GroBbourgeoisie
aber, die reprasentieren kann und will, vermeidet es, als herrschende
und 6konomisch leistungsfahige Schicht sich allzu offen darzu-
stellen; ihre Reprasentationen behalt sie einstweilen exklusiveren
Zirkeln vor als denen in den Logen, die fiir jedes Opernglas erreichbar
sind; sie ist zudem am Operarepertoire desinteressiert und schafft sich
ihre musikalischen Domanen lieber in den groBen Konzertgesell-
schaften, die sie Okonomisch und programmpolitisch beherrscht, ohne
sich allzuweit zu exponieren. Immerhin lieBe sich denken, daB bei
fortschreitender politischer Ausbildung der monopolkapitalistischen
Herrschaftsformen die Oper nochmals einiges vom alten gesellschaft-
lichen Glanze zuruckgewOnne. Einstweilen wird sie teils von Abon-
nenten aus der alteren Generation der „gebildeten" Mittelschichten
besucht, die in ihr die eigene Vergangenheit, den triumphalen Burger-
rausch besonders Wagners zitieren und zugleich, indem sie bei einer
364 Theodor Wiesengrund-Adorno
Kunstform stehen bleiben, die in der Breite der Produktion von den
gesellschaftlichen Veranderungen wenig beriihrt ward, gegen die
kiinstleriachen Neuerungen und deren gesellschaftliche Intentionen
insgesamt protestieren. Teils auch fullen die Opern AngehOrige solcher
biirgerlichen Kreise, die, wie manche Kleinhandler und auch hand-
werkerUch-zunftlerische Berufe, okonomisch noch einen gewissen
Standard behaupten, von der ,,Bildung" aber durch Ursprung und
Erziehung ausgeschlossen sind. Es ist das jener Typ des Opern-
besuchers, der sich zwar freut, den Marsch aus ,,Aida" und die Arie
der Butterfly wieder zu hOren, die ihm aus Kino und Kaffee vertraut
und seiner musikalischen Schulung angemessen sind; der aber zu-
gleich seiner tatsachlichen okonomischen Stellung und der MOglichkeit
gesellschaftlichen Aufstiegs schuldig zu sein glaubt, solche Konsum-
stiicke an einer Stelle entgegenzunehmen, die vom alten biirgerlichen
Bildungsideal geweiht ist und an der anwesend zu sein dem Besucher,
wenigstens in seinen eigenen Augen, etwas von.derWiirde derBildung
verleiht. Der Anteii dieses — freilich sehr modifizierbaren — Typus
amOpernpublikumdarf als recht erheblichvermutetwerden. Charakte-
ristisch ist der vollige Ausfall der jiingeren groBburgerlichen Gene-
ration, der gesamten Intellektuellenschicht und der Angestelltenschaft.
Pie entworfene Struktur ist vorab die des Publikums der Provinz-
opern. In den groBstadtischen Zentren, Berlin, auch Wien, ist einer-
seits durch den ausgebildeteren Mechanismus der Zerstreuung das
Burgertum weiter noch von der Oper abgelenkt, so daB die Mittel-
schichten fur die Oper weniger in Betracht kommen als in der Provinz.
Andererseits wird der Oper, im Namen wirklich vorhandener oder
fiktiver „Fremder ( ', eine representative Dignitat zugesprochen, die
die GroBbourgeoisie enger an sie fesselt und gelegentlich Opernvor-
stellungen als ,, gesellschaftliche Ereignisse" moglich macht.
Grofier ist die Funktion der Konzerte im Haushalt des Biirger-
tums. Die krude Stofflichkeit der Oper fehlt im Konzert. Sie ist
barockes Erbgut, das durch die Verlagerungen der Gewichte inner-
musikalischer Entwicklung von der vokalen auf die instrumentale
Seite in den letzten Jahrhunderten sich weithin unberuhrt erhielt :
der Anteii der Oper am biirgerlichen Humanismus und Idealismus ist
bloB mittelbar und einzig in den grOBten Werken der Gattung, bei
Mozart, im Fidelio, im Freischiitz fraglos. Gerade die Stofflichkeit
bindet die unteren Mittelschichten an die Oper, die in ihr ein Ahnliches
wie eine Regression in vorburgerliche Zustande vollziehen mogen.
Die gleiche Stofflichkeit aber schreckt die Oberschicht, als „naiv",
Zur gesellschaftlichen Lage der Musik 365
,,primitiv", ,,roh", zurtick. Sei es, daB sie in der vorbiirgerlichen und
jedenfalls nichtbiirgerlichen Stoffwucht des Operntheaters, die stets
politisch sich zu aktivieren vermochte, die Gefahr wittert; sei es, daB
sie ein Interesse daran hat, den Charakter der Wirkliohkeit als einer
Welt bloBer Dinge zu verbergen, wie ihn die Oper mit unbekfimmerter
Entdeckerfreude manifestiert — zu verbergen, gerade weil er stets
noch der Charakter der biirgerlichen Wirkliohkeit selber ist : die Ober-
schicht weicht davor in eine ,,Innerlichkeit" aus, die ihr um so ge-
nehmer ist, je weiter sie sich von den gesellschaftlichen Verhaltnissen
und der Einsicht in deren Widerspruch distanziert ; und die sich musi-
kalisch sogar reprasentieren und mit dem Schein unmittelbarer Kollek-
tivitat bekleiden laBt. Das GroBburgertum liebt die Konzerte und
die humanistisch-idealistische Bildungsideologie, die es in den Kon-
zertsalen — ohne sie selbst zu durchschauen — pflegt, lockt die Bil-
dungsschicht im weitesten Umfang, bis zu deren depossedierten und
kleinburgerlichen Vertretern, ebendorthin. Die Zweiheit von „Biklung
und Besitz", die in den Konzertsalen ideologisch sich versohnt, pragt
in der Doppelheit der Orchester zahlreicher Stadte sinnf allig sich aus :
wahrend die „Philharmoniker* £ in teuren Konzerten, deren Exklusi-
vitat durch das Stamm-Abonnement- System garantiert ist, mit ruhm-
reichen auswartigen Stars und einer ,uberaus begrenzten Zahl sank-
tionierter, gleichsam zeremonialer Werke fur das GroBburgertum
spielen, dienen die „Symphonieorchester", mit vorsichtig dosierten
Novitaten im traditionalistischen Programm, mit der Einbeziehung
von einheimischen, , ,bodenstandigen { ' Kraf ten und mit billigen
Preisen der mittleren Bildungsschicht, solange die Lage der Wirtschaft
es ihnen noch gestattet. Die Solistenkonzerte, deren Zahl wegen des
Risikos fur die Konzertgeber einschrumpft und denen nicht mehr die
alte Teilnahme begegnet, die auch gerade durch die Reduktion ihrer
Anzahl dem Offentlichen BewuBtsein mehr und mehr entschwinden,
beschranken sich zusehends auf den Kreis der monopolisierten Stars.
Konzerte, die, wie die Veranstaltungen der Internationalen Gesell-
schaft f iir Neue Musik, ostentativ die gegenwartige selbstandige Pro-
duktion vertreten, demonstrieren deren Isoliertheit mit okonomischer
Drastik ; sie werden, gleichviel welche Richtung der Moderne sie pro-
pagieren, fast nur noch von Musikern besucht, die ihre Karten nicht
bezahlen; treten also aus der Sphare der musikalischen Produktion
nicht heraus und sind wirtschaftlich ganzlich unproduktiv: ZuschuB-
und Defizitunternehmungen. Die wenigen Amateure, die sie stiitzten,
Burger meist, die nicht oder nicht mehr unmittelbar am wirtschaft-
366 Theodor Wiesengrund-Adorno
lichen ProduktionsprozeB teilhaben, hat die Wirtschaftskrise aus-
geschaltet. Einen „Konsum" Neuer Musik gibt es tiberhaupt nicht.
Soweit sie noch zur Reproduktion gelangt, wird es ihr moglich durch
Okonomisch kaum eben tragf ahige Organisationen der Kunstler unter-
einander oder durch politisch gefarbte internationale Meetings, die
sich als fiktiv erweisen, sowohl was die Stellung der einzelnen Staaten
zur aktuellen musikalischen Produktion wie ihr Interesse an „gei-
stigem Austausch" anlangt, und denen lange Fortdaiier nicht mehr
prognosziert werden kann. Indem diese Meetings aus okonomischen
Rticksichten an der Fiktion des Konsums und „Austauschs" libera-
listisch festhielten, haben sie sich durch die Kompromisse ihrer Pro-
graminpolitik auch musikalisch-immanent um jede Verbindlichkeit
gebracht.
Das BewuBtsein der Konsumenten des offiziellen Musiklebens
ist nicht blank auf die Formel zu bringen. Die Rede vom ideologischen
Charakter des btirgerlichen Musikkonsums bedarf der Erlauterung.
Sie ist nicht so zu verstehen, als liege dem Musikkonsum kein realer
Bedarf zugrunde; als sei das ganze Musikleben nichts als eine Art
tOnender Kultur-Kulisse, die die biirgerliche Gesellschaft zur Tau-
schung iiber ihre .wahren Zwecke errichte, wahrend hinter der Szene
ihr eigentliches, okonomisch-politisches Leben sich abspiele. Wieviel
auch immer das Musikleben von solchen Funktionen iibernehmen mag,
•wie hoch auch der Anteil von Reprasentation, von spezifisch „gesell-
schaftUchen", namlich vom musikalischen Bedarf abgelosten Zwecken
am Musikleben angeschlagen werden muB : daran ist es nicht genug.
Vielmehr ist die ideologische Macht des Musikkonsums am so groBer, je
weniger er als bloBer Schein und diinne Oberf lache durchschaubar ist ;
je genauer er mit tatsachlichen Bedurfnissen kommuniziert, aber der-
art, daB mit ihm ein M falsches BewuBtsein" produziert, die gesell-
schaftliche Lage fiir die Konsumenten verhiillt wird. Das Bedurfnis
nach Musik ist in der btirgerlichen Gesellschaft vorhanden und wachst
mit der Problematik der gesellschaftlichen Verhaltnisse, die die In-
dividuen notigt, ihre Befriedigung auBerhalb einer unmittelbaren
gesellschaftlichen Wirklichkeit zu suchen, die sie ihnen versagt. Diese
Befriedigung gewahrt ihnen das Musikleben „ideologisch", indem es
ihre — dialektisch produzierte — Tendenz, aus der gesellschaftlichen
Wirklichkeit zu fliehen oder sie sich umzudeuten, aufnimmt und ihnen
Gehalte entwirft, die die gesellschaftliche Wirklichkeit nie besaB oder
langst verlor und an denen festzuhalten objektiv die Intention in sich
einschlieBt, eine Veranderung der Gesellschaft zu hintertreiben, welche
Zur gesellschaftlichen Lage der Musik 367
notwendig eben jene Gehalte entlarven mtiBte. Gerade daB das
„Musikleben" die Bedtirfnisse des Btirgertums bo adaquat befriedigt,
— daB es aber in der Form der Befriedigung das bestehende BewuBt-
sein anerkennt und stabilisiert, anstatt in seiner eigenen Form die
gesellschaftlichen Widerspruche aufzudecken, zu gestalten und in Er-
kenntnis tiber die Beschaffenheit der GeseDschaft umzusetzen: das
macht das ideologische Wesen des Musiklebens aus. Wenn Nietzsche
den „Ransch", den Musik hervorrufe, einen unfruchtbaren, schwer
aktivierbaren Rausch, als unrein und gefahrvoll verwarf, so hat er,
bei aller Fragwtirdigkeit seiner Kategorien und eines umstandslos an
Wagner orientierten Musikbildes, jedenfalls den Zusammenhang von
Bedurfnisbefriedigung und ideologischer Vernebelung richtig erkannt,
welcher das Gesetz der burgerlichen Musikiibung ausmacht, und hat
auch das Unbewufite als Schauplatz jenes Zusammenhanges visiert.
Im Schutz des UnbewuBten vollzieht sich der Umgang des Btirger-
tums mit der Musik: der legale des „Musiklebens" und mehr noch der
illegale mit der „leichten" Musik. Die UnbewuBtheit des Verhalt-
nisses garantiert zugleich auch den Fetischcharakter der Musik-Dinge ;
Ehrfurchtf bus dem theologischen Bereich schief genug ins asthetische
projiziert, verbietet die bewuBte, „analysierende" Beschaftigung mit
Musik, deren Aiffassung dem „Gefuhr ( vorbehalten bleibt: die Un-
kontrollierbarkeit der privat-burgerlichen Reaktionsweisen und die
fetischhaftelsolierung der musikahschenGestalt selber korrespondieren
miteinander. Jede technologische Besinnung, die mit dem musi-
kaHschen Gefiige etwa auch dessen gesellschaftliche Funktion erhellen
konnte, wird im Namen des Gefuhls verwehrt, dafur aber die Kenntnis
allgemeiner und unverbindhcher Stilbegriffe im Namen der Bildung
gefordert. Ehrfurcht und Gefiihl heften sich an Zelebritaten der Ver-
gangenheit, vor denen Kritik und Frage verstummt und in denen zu-
gleich die burgerliche Gesellschaft ihren eigenen Ursprung als den von
Heroen zu behaupten liebt. Heute, da die offizielle Musikkultur in
der rationalisierten Gesellschaft vorab zur Apologie verpflichtet ist,
nutzt sie gleichermaBen burgerlich-revolutionare Objektivitat —
„Klassik" — und biirgerlich entsagende Subjektivitat — „Romantik u
— ; die Verherrlichung des Sieges der burgerlichen ratio ebensogut
wie das Leiden des einzelnen unter ihrer Alleinherrschaft ist Gegen-
stand des burgerlichen Musiklebens und in seinen kanonischen Werken
ausgednickt; die Ambivalenz eines Gefuhls, das an Klassik und Ro-
mantik gleichermaBen sich sattigt, ist die des Btirgertums seiner
eigenen ratio gegentiber. Jenseits der Spannuug rational konstituierter
368 Theodor Wiesengrund-Adorno
Objektivitat und irrational betonter, privater Innerlichkeit registriert
das Burgertum im „Musikleben" noch die Phasen seines hochkapita-
listischen Aufschwungs. In den „Meistersingern", einem der auf-
schluBreichsten und nicht umsonst gesellschaf tlich beliebtesten Werke,
wird der Aufstieg des biirgerlichen Unternehmers und seine „national-
liberale" Versohnung mit der Feudalitat in einer Art von Traumver-
schiebung thematisch. Der Wunschtraum des dkonomisch arrivierten
Unternehmers laBt nicht ihn vom Feudalherren, sondern den Feudal-
herren vom reichen Burgertum rezipiert werden; der Traumende ist
nicht der Bifrger sondern der Junker, dessen Traumlied zugleich,
gegemiber dem rationalen Regelsystem der biirgerlichen ,,Meister",
die verlorene, vorkapitalistische Unmittelbarkeit wiederherstellt. Das
Leiden des biirgerlichen Individuums unter der eigenen und zugleich
entfremdeten Wirklichkeit, die Tristanseite der Meistersinger, ver-
eint sich, im HaB gegen den Kleinbiirger Beckmesser, mit dem Be-
wuBtsein des weltwirtschaftlich-expansiv gerichteten Unternehmers.
der die bestehendenProduktionsverhaltnisse als Fesseln der Produktiv-
krafte erfahrt und vielleicht bereits, im romantischen Bilde des Feudal-
herren, das Monopol an Stelle der f reien Konkurrenz ersehnt : wie es
denn tatsachlich auf der Festwiese nicht mehr zu einer Konkurrenz,
sondern bloB deren Parodie in der Auseinandersetzung zwischen
Junker und Beckmesser kommt. In dem asthetischen Triumph
Sachsens und des Junkers sind die Ideale des Privatiers und des Ex-
porteurs noch gegeneinander ausbalanziert. Bei Richard StrauB, dem
letzten bedeutenden biirgerlichen Komponisten, dessen Musik das
Burgertum konsumiert, hat, wie bereits Ernst Bloch erkannte, die
Weltwirtschaft die Oberhand gewonnen. Innerlichkeit und Pessimis-
mus sind liquidiert, Der „Schwung", als Unternehmergeist, eman-
zipiert sich. Chromatik und Dissonanz, vordem Mittel der Befreiung
der biirgerlichen Musik aus einem vorgesetzten, irrationalen System
und Trager einer Dialektik, die das Material angreift und verandert,
verlieren die revolutionar-dialektische Kraft und werden, wie Exotik
und Perversitat in den Sujets, zum bloBen Emblem weltwirtschaftlicher
Freiziigigkeit ; technisch beliebig als Klexe verwandt, die in jeder
Sekunde vom gesunden Optimismus der Quartsextakkorde ge-
tilgt werden kormen. Das Material, das in StrauBens Musik schlieBlich
hervortritt, ist gewissermaBen das Urmaterial aller biirgerlichen
Musik, das diatonisch-tonale, das das Biirgertum trotz aller Struktur-
anderungen in Wahrheit so treu festhielt wie das Prinzip der Profitrate
und das bei StrauB, indem es sich die fremden Markte Literatur, Orient,
Zur gesellschaftlichen Lage der Musik 369
Antike und Dixhuitieme unterwirft, mit einigem Zynismus auftritt.
Die Divergenz zwischen dem phrasenhaft-vielberufenen „technischen
Raffinement" StrauB ens, namlich einer von auBen gesetzten, nicht
material-immanenten, sondern zufalligen und eigentlich irrationalen
„Beherrschung" der Apparatur — und einer historisch unberuhrten,
harmlosen, feuchtfrohlichen Musiksubstanz : diese Divergenz mag
nicht bloB dem empirischen BewuBtseinsstand des grofiburgerlich-
industriellen Unternehmers um 1900 recht angemessen sein: sie
zeichnet auch wieder deutlich die Selbstentzweiung des Biirgertums
seiner ratio gegentiber ab, die es zugleich steigern und bremsen muB.
Immerhin ist in der nachwagnerischen Musiksituation, durch die
gesellschaftliche Entwicklung und die immanente Dialektik des
Wagnerschen Werkes, die Entfremdung von Musikmaterial und Gesell-
schaft bereits so weit gediehen, daB eineProduktivkraft wie die StrauB -
sche nicht umstandslos die materialen Eorderungen ignorieren und
der Gesellschaft sich gefiigig zeigen konnte. In seinen besten Werken,
Salome und Elektra, ist zwar die Divergenz ebenf alls angelegt ; in der
Jochanaanmusik wie in den gesamten SchluBpartien der Elektra be-
hauptet sich Banalitat, aber am Anfang der Salome, im Elektra-
monolog und der Klytemnastraszene verselbstandigt sich gleichsam
sein Kompositionsmaterial und stoBt, gegen seinen Willen, hart an
die Grenze des tonalen Raumes. Diese Grenze ist zugleich die des
Konsums: von beiden Werken fiihlte das Publikum musikalisch wie
stofflich sich chokiert und verweigerte ihnen, wenn schon nicht alle
Opernhauser, doch den sicheren Platz im Repertoire. Nach StrauB
hat es Schlufi gemacht und der SchluBstrich tangiert sein ceuvre. Aber
er hat ihn selber gezogen. Von alien Komponisten des Biirgertums
vielleicht der klassenbewuBteste, hat er mit dem „Rosenkavalier",
seinem grOBten Erfolg, die materiale Dialektik selber von auBen ab-
gebrochen, die Diatonik von alien gefahrlichen Eermenten gesaubert
und den Jungen Herrn aus groBem Hause, gerade eben noch eine
Hosenrolle, mit der Tochter des Reichen Neugeadelten vermahlt,
wahrend die Marechallin, Erbin Hans Sachsens und Isoldens zugleich,
das Nachsehen hat und Trost im abstrakten BewuBtsein von Vergang-
lichkeit. Mit dem sacrificium intellectus ans KonsumentenbewuBtsein
erlischt die StrauBische Produktivkraf t : was auf den Rosenkavalier
folgt, ist Kunstgewerbe. — Der Bruch von Produktion und Konsum-
tion, dem StrauB als Produzierender zum Opfer fiel, hat zunachst
nur in Deutschland die extreme Gestalt angenommen. In Erankreich,
wo der IndustrialisierungsprozeB minder weit getrieben war und da-
370 Theodor Wiesengrund-Adorno
mit die Antinomien der burgerlichen Ordnung sich minder radikal aus-
pragten, stimmenbeidelangerzusammen. Das musikalisch interessierte
Btirgertum, im Besitz ausgiebigerer Freizeit und durch die Malerei des
Impressionismus geschult, vermag der Bewegung weiter zu folgen;
die Musik, nicht isoliert noch und nicht dialektisch in sich durch die
Polemik zur Gesellschaft, kann ihre Mattel sublimieren, ohne sie sub-
stantial anzugreifen. Noch Debussy, autonomer Kiinstler gleich den
impressionistischen Malern, deren Technologie er in die musikalische
transponiert, darf als Klang und Wohllaut Elemente der burgerlichen
GenuB- und selbst Salonmusik mitnehmen ins wahlerischste artistische
Verfahren. Freilich tritt bei ihm wie bei StrauB, auch theoretisch:
inv Dogma von den natiirlichen Obertonen und der daraus entsprin-
genden Rousseau-Parole, als Resultat aller Sublimierung das musi-
kalische Urmaterial des Burgertums, die Diatonik, kahl und archaisch
hervor, und der wissende Ravel dann weiB sich nicht anders damit
abzuf inden als psychologisch-literarisch : durch zartliche Ironie .
Damit ist aber auch in Frankreich die Versohnung am Ende. Die
Komponisten der Nach-Ravelschen Generation dort zeigen den ver-
dachtigsten Mangel, der franzosischen Kiinstlern widerfahren < kann :
den an Metier. Die Tradition, die lange noch bewahrte, ist abgerissen ;
die isoliert-musikalische Schulung im Sinne Sehonbergs dafiir nicht
ausgebildet. — Zwischen der ernsten Produktion und dem burgerlichen
Konsum zeigt sich allerorten of fen das Vakuum. Die immanent-aus-
kristallisierte bleibt unzuganglich; die aber, die sich auf den Konsum
einrichtet, wird in ihrer subalternen Mattheit vom GroBbiirgertum
selber als „epigonal" zuruckgewiesen. Es sieht sich damit bestimmter
steta auf den begrenzten und nicht mehr erganzungsfahigen Kreis
der ^Klassik" zurtickgeworfen. Der Riickgriff auf vorliberalistische
Klassik, die Ablehnung auch der ,,gemaBigten Moderne" entspricht
genau dem Okonomisch-politischen Riickgriff auf vorliberalistische
Formen, wie ihn dialektisch der Liberalismus selbst bedingt, wofern
er nicht iiber sich fortschreitend hinausgehen will.
Unterhalb des „Musiklebens", unterhalb von Bildung und Re-
presentation, erstreckt sich das Reich der „leichten" Musik. Mit
Kunstgewerbe und Chanson, Mannerchorliteratur und versiertem
Jazz setzt es das Musikleben bruchlos fort und nimmt so viel von oben
auf wie ihm nur erreichbar ist ; nach unten erstreckt es sich bodenlos
bis in eine Unterwelt weit jenseits der burgerlichen ,,Schlager", aus
welcher nur zuweilen Blasen wie das beangstigende ,,Trink, trink,
Briiderlein trink" zum BewuBtsein aufsteigen. Die leichte Musik
Zur gesellschaftlichen Lage der Musik 371
befriedigt unmittelbar Bedurfnisse, und zwar nicht nur des Burger-
turns, sondern der gesamten Gesellschaft. Zugleich aber ist sie, als
reine Ware, der Gesellschaft am fremdesten; sie driickt nichts von
ihrer Not und ihrem Widerspruch mehr aus, sondern bildet selber
einen einzigen Widerspruch zu ihr, indem sie mit der Triebbefriedi-
gung, die sie den Menschen gewahrt, ihre Erkenntnis der Wirklichkeit
falscht, von der Wirklichkeit sie abdrangt, sie aus der Geschichte,
der musikalischen wie der gesellschaftlichen, herauslost. Indem die
Gesellschaft die leichte Musik als ,, Kitsch" passieren laBt, der zwar
kein asthetisches Recht beanspruche, aber als Mittel der Zerstreuung
auch keiner Kritik unterliege, hat sie auf ihre Weise mit der Paradoxic
der leichten Musik sich abgefunden, die von jeglicher den Menschen
zugleich die nachste und die fernste ist. Dieselben Produkte, die wie
Tagtraume bewuBte und unbewuBte Wunsche der Menschen erfullen,
werden vom Kapitalismus mit all seiner Technik den gleichen Men-
schen aufgezwungen, ohne daB sie irgendeinen EinfluB darauf hatten;
ohne daB sie befragt wiirden; ja ohne daB sie sich nur dagegen wehren
konnten. Vorm Zugriff der Erkenntnis ist die leichte Musik mehrfach
geschutzt. JEinmal gilt sie als harmlos, als das kleine Gliick, das man
den Menschen nicht rauben diirf e ; dann als unernst und der gebildeten
Betrachtung unwert ; endlich aber ist der Mechanismus der Wunsch-
erfiillung durch die leichte Musik so tief ins UnbewuBte versenkt und
so sorgfaltig im Dunkel des UnbewuBten belassen, daB er gerade in
den wichtigsten Fallen — wie etwa denen der „absurden" Schlager
von der Form ,,Wer hat denn den Kase zum Bahnhof gerollt" — ohne
Theorie kaum zuganglich ist und der genauesten, im Auge des Burger-
turns „kunstlichen" Interpretation, wohl auch der genauesten psycho-
analytischen Schulung bedarf. Die technologische Betrachtung im
Sinne der Kunstmusik vermag wenig zutage zu f ordern, da es gerade die
Vulgarmusik charakterisiert, daB sie eine autonome Technologie nicht
ausbildete, urn als Ware den Anf orderungen des Konsums prompt ge-
nugenzukdnnen. An Stelletechnologischer Analyse hatteein Aufweis der
wenigen, regressiv festgehaltenen und off enbar archaisch-symbolischen
Typen zu treten, mit denen die Vulgarmusik haushalt; und es ware
weiter das Schema der Depravation zu entwerfen, in welcher einzig
die leichte Musik Greschichte registriert und dem archaischen Trieb-
mechanismus einfiigt; endlich waren die Veranderungen der
leichten Musik, die, der „Geschichtslosigkeit" ihrer Typen zum Trotz,
umf anglich und wichtig sind, zu beschreiben und in ihrer okonomischen
Konstitution zu ergriinden. All das ist von der organisierten Wissen-
372 Theodor Wiesengrund-Adomo
schaft nicht erfaBt und nicht einmal das Material philologisch bereit-
gestellt. tiber die evidenten Relationen zwischen der gegenwartigen
und der alteren Vulgarmusik, also den liberlieferten Tanzformen, dem
geselligen Lied, der Opera buff a, dem Singspiel; und tiber die fol-
kloristisch-befriedigteKonstatierung von ? ,Urmotiven c< ist man nicht
hinausgelangt. Es kame aber gerade hier, wo die Invarianten offen
zutage liegen, weit weniger darauf an, sie herauszupraparieren, als
sie funktionell zu deuten; zu zeigen, daB das Gleiche, die identischen
Triebstrukturen, denen die leichte Musik sich anpafit, jeweils nach
dem Stande des gesellschaftlichen Prozesses vollig verschiedene Be-
deutungen annimmt; daB derselbe vulgare Ldedtyp etwa, mit dessen
Profanitat das junge Biirgertum des 17. und 18. Jahrhunderts die
feudale Hierarchie enthiillen und verhohnen mochte, heute gerade
der Verklarung und Apologie der biirgerlich rationalen Profanwelt
dient, deren Schreibmaschinen, aller Rationalisierung zum Trotz,
sogar in Musik sich setzen und sich singen, also in ,,Unmittelbarkeit"
verwandeln lassen; und es waren im Zusammenhang mit dem Funk-
tionswechsel auch die Formveranderungen aller Arten leichter Musik
zu studieren. Wenn der apokryphe Charakter der leichten Musik ihre
gesellschaftliche Erforschung erschwert, so wiirde sie erleichtert da-
durch, daB eine autonome Dialektik der Produktion hier f ortf allt ; daB
also die Enthullung der Vulgarmusik nicht durch den technologischen
Aufweis ihrer immanenten Widerspriiche vermittelt zu sein braucht,
weil sie, dem gesellschaftlichen Diktat gehorchend, gesellschaftlichen
Kategorien weit geringeren Widerstand entgegensetzt als die selb-
standige Produktion und das gebildete Musikleben. Aber das dunkle
Reich der leichten Musik ist noch unbetreten und iiber seine Topo-
graphie sollte um so weniger etwas prajudiziert werden, als die geringe
Zahl der Grundtypen ebenso wie die drastische ideologische Funktion
mancher Phanomene dazu verfuhren, die ganze Sphare vorweg-
nehmend und ohne die geforderte pragmatische Strenge aus ihrer
„Idee" auszukonstruieren — wodurch die gesellschaftliche Deutung
nicht bloB um die Zuverlassigkeit, sondern wahrscheinlich auch um
die Fruchtbarkeit gebracht wurde. Noch die iiberlegen-apercuhafte
Behandlung der leichten Musik bleibt ihr horig, indem sie die zwei-
deutige Ironie, mit der heutzutage die leichte Musik gleich vielen
Filmen sich zu belacheln liebt, um unangefochten passieren zu diirfen,
von ihr iibernimmt und als Gegenstand des Spiels akzeptiert, was erst
der unerbittlichen, vom Lachen ungeriihrten Betrachtung als die
verhangnisvolle Macht des Truges vor Augen liegt, die in der leichten
Zur gesellschaftlichen Lage der Musik 373
Musik sich konzentriert. Ehe solche Betrachtung moglick wird,
mtissen fragmentarische Hinweise geniigen.
So alt die Spannung von Kunst- und Vulgarmusik ist : radikal wurde
sie erst im Hochkapitalismus. In frtiheren Epochen kat die Kunst-
musik je und je durch Einbeziekung der Vulgarmusik ikren Umkreis
zu erweitern, ihr Material zu regenerieren vermocht; die mittelalter-
licke Polypkonie, wenn sie sick ihre cantus firmi aus Volksliedern
kolte, ebenso wie Mozart, als er die Guckkasten-Kosmologie der
ZauberflOte mit der Vereinigung von Opera seria und Singspiel zu-
stande bracbte. Nock bei den Operettenmeistern des 19. Jakrkunderts,
Offenback und Jokann StrauB, war die Divergenz der beiden musi-
kaliscken Produktionsspkaren zureickend bekerrsckt. Heute ist die
Moglickkeit des Ausgleicks gesckwunden und Versucke der Ver-
sckmelzung, wie sie mancke befkssene Kunst-Komponisten zur Zeit
der Jazzmode unternakmen, bleiben frucktlos. Es gibt kein ,,Volk"
mekr, dessen Gesang und Spiel von der Kunst aufgegriffen und
sublimiert werden konnte; die ErsckkeBung der Markte und der
biirgerlicke RationalisierungsprozeB kaben die gesamte Gesellscbaft
auck ideologisck den biirgerlicken Kategorien unterstellt, und die
Kategorien der gegenwartigen Vulgarmusik sind allesamt solcke der
biirgerlick-rationalen Gesellsckaft, die nur, um konsumfakig zu
bleiben, in den BewuBtseinssckranken gebalten sind, die die biirger-
licke Gesellscbaft den unterdriickten Klassen, aber auck sick selbst
auferlegt. Das Material der Vulgarmusik ist das veraltete oder de-
pravierte der Kunstmusik. Bei Jokann StrauB nock ist es vom
gleickzeitigen kunstmusikakscken wokl durck das „ Genre", nickt aber
ganzlick getrennt : seine Walzer lassen Raum zu karmoniscker Diffe-
renzierung, so wie sie tkematisck aus kleinen, kontrastierenden,
niemals leer wiederkolten Einkeiten gebildet sind, deren iiberrasckende
Verkniipfung den Reiz, die „Pikanterie (< des StrauBiscken Walzers
ausmackt und ikn zugleick mit der Tradition der Wiener Klassik ver-
bindet, von der er sick uber den alteren StrauB, Lanner, Sckubert
kerleiten mag. Es ist nun das entsckeidende Faktum der Gesckicbte
der neuen Vulgarmusik, daB der definitive Bruck, die Preisgabe des
Zusammenkangs mit der selbstandigen Produktion, die Auskoklung
und Banaksierung der leickten Musik selber genau zusammenfallt
mit der Industrialisierung der Produktion. Die Autoren der
leickten Musik wurden durck die ungemein sckarfe Konkurrenz zur
Massenproduktion gezwungen ; die arrivierten unter iknen kaben dann ,
sckon vor dem Krieg, sick zu Kompositionstrusts zusammenge-
374 Theodor Wiesengrund-Adorno
schlossen, die im Salzkammergut sich niederlieBen und in planvoller
Zusammenarbeit mit Librettisten und Theaterdirektoren Outsider
und Neulinge fernhielten, durch die Einengung der Produktion auf
ihre eigene begrenzteZahl aber die Herstellung vor allem der Operetten
bis zur Zahl und Art der einzelnen „Nummern u normten; sie haben
zugleich von vornherein den Absatz ihrer Gebilde einkalkuliert, darum
alle Schwierigkeiten vermieden, die das Behalten und Nachsingen der
Melodien verhindern kdnnten und denen das Wiener oder Pariser
Burgertum von 1880 noch gewachsen war. Musikalisch ist das Signal
der Industrialisierung der Produktion die vollige Beseitigung aller
Kontraste innerhalb der Melodien und die Alleinherrschaft der —
selbstverstandlich schon friiher als Mittel zur Einpragung gehand-
habten — Sequenz; der Walzer der ,,Lustigen Witwe" diirfte exem-
plarisch den neuen Stil statuiert haben, und der Jubel, mit dem das
Burgertum Lehars Operette begrtiBte, ist dem Erfolg der ersten
Warenhauser zu vergleichen. Oscar Straufi etwa, der noch aus der
Wiener Tradition kommt, sein Handwerk gelernt hat und um gestalten-
reichere Operettenmusik sich mtihte, muBte sie entweder kunstgewerb-
lich, also ohne die gesellschaftliche Schlagkraft des Johann StrauO
pflegen oder der Industrialisierung sich angleichen; Leo Fall ist der
letzte, der sich mit einigem Anstand aus der Affare zog. Sie alle aber
hangen mit der biirgerlichen Kunstmusik noch zusammen durch die
Form der Operette selber als einer Einheit, einer — wenn auch
parodistischen — „Totalitat", die musikalische Architektur, Profi-
lierung der Figuren und schlieBlich sogar den Einfall verlangt. Die
industrielle Entwicklung der leichten Musik lOste dann auch die letzte
asthetische Bindung und verwandelte die leichte Musik in einen
Markenartikel. Die Stofflichkeit der Revue hat die subjektiven Form-
elemente der Operette beseitigt und die Operetten beim Hdrer unter-
boten, nicht nur, indem sie ihm die Girls vorfuhrte, sondern indem sie
ihn vom letzten Zwang geistigen Vollzuges, denkender Teilnahme an
den Vorgangen und ihrer Einheit befreite und die Biihne dem un-
gebundenen Spiel der Wunsche preisgab, womit die Revueoperette
ubrigens, sonderbar genug, gewissen Intentionen der selbstandigen
Produktion sich anglich; sie hat die Wiener Operette und ihre un-
garischen Ableger zunachst konkurrenzunfahig gemacht. Der Tonfilm
dann eliminierte den musikalischen Einfall. Wahrend noch ein Schlager
wie „ Valencia", um den Markt zu bezwingen, die Banalitat seiner
Sekundschritte durch asymmetrische, „aparte" Metrik von anderen
Banalitaten unterscheiden muBte, sind die durchrationalisierten,
Zur gesellschaftlichen Lage der Musik 375
kapitalistisch-arbeitsteiligen Fabriken der Tonfilmschlager solcher
Miihe enthoben. Ihre Produkte durfen aussehen und klingen wie sie
wollen, sie werden „Erfolge"; die Horer imissen sie nachsingen, nicht
bloB weil die praziseste Maschinerie ohne UnterlaB sie ihnen ein-
hammert, sondern vor allem, weil das Tonfilmmonopol verhindert,
daS andere Musikware iiberhaupt an sie herangebracht wird, die sie
wahlen konnten. Hier hat musikalisch der Monopoikapitalismus rein
und extrem sich durchgesetzt und in Machwerken wie „Bomben auf
Monte Carlo" seine Omnipotenz auch bereits politisch ausgewertet.
1st damit die Vulgarmusik von den Bildungskategorien der burger-
lichen Gesellschaft, an deren Fortbestand diese selber interessiert ist,
ihrer Form und Struktur nach ganz losgerissen, so halt sie die Stoffe
der Bildung dafiir fest als Fetische. Die Industrialisierung der
leichten Musik und der VerschleiB von biirgerlichem Bildungsgut, den
sie vollzieht, sind Equivalent. Kein Zufall, daB zur gleichen Zeit,
wo die letzten Chancen musikeigener Produktion leichter Musik ge-
schrumpft sind, dieOperette dafiir den ,,sch6pferischen" Kiinstler glori-
fiziert, indem sie ihm die Melodien stiehlt: das „Dreimaderlhaus" ge-
hort alsReklame undldeologie notwendig zum okonomischenUnterbau
der Schlagerfabrikation und jede weitere Ausbildung der industriellen
Apparatur hat den Fetischcharakter des Bildungsgutes in der leichten
Musik extremer befestigt; Friederike und das „Land des Lachelns"
mit seiner Exotik sind Schwesterwerke, und die Jazz-Fertigindustrie
lebt von der Verarbeitung „klassischer" Musik, die Bildung als Roh-
stoff ihr liefert und die, als Fetisch, im Gliick der Wiederbegegnung
Bildung bestarkt. Es war die ideologische Funktion der Jazzmusik,
als der zunachst groBbiirgeriichen Form der gegenwartigen Vulgar-
musik, deren Warencharakter und die entfremdete Produktionsweise
zu verdecken, den Markenartikel als „Qualitatsarbeit u anzubieten.
Sie sollte den Schein improvisatorischer Freiheit und Unmittelbarkeit
in der Sphare der leichten Musik erwecken; darum konnte sie von den
gleichsinnigen Bestrebungen in der Kunstmusik so bequem adaptiert
werden. Psychologisch ist das Manover des Jazz jahrelang gelungen :
dank der Struktur einer Gesellschaft, deren Rationalisierungsmechanis-
mus zwangslaufig die Notwendigkeit der Verhullung seiner selbst
erzeugt, um absatzfahig zu bleiben. Sachlich ist der Warencharakter
der Jazzmusik evident. Wie beim Jazz von „unmittelbarer" Produk-
tion keine Rede sein kann; wie die Arbeitsteilung in ,,Erfinder",
Korrektor, Harmonisator und Instrumentator hier womoglich noch
weiter getrieben ist als bei der Operettenherstellung ; wie selbst die
376 Theodor Wiesengrund-Adomo
scheinbaren Improvisationen der Hot-music genau genormt und
auf ganz wenige Grundtypen zuriickfuhrbar sind: so ist beim Jazz
auch musikalisch ^immanent Freiheit und rhythmischer Reichtum
Schein : metrisch herrscht die pure Achttaktigkeit, die die Synkopen
und „scheintaktigen" Einschaltungen nur als Ornament benutzt,
aber in den harmonisch-formalen Verhaltnissen unangefochten sich
behauptet, und die rhythmiscbe Emanzipation bleibt gebunden an die
durchgehaltenen Viertel der grofien Trommel. Unter der reicherenOber-
flache des Jazz liegt kahl, unverandert, deutlich ablGsbar, das primi-
tivste harmonisch-tonale Schema mit seiner Gliederung in Halb- und
GanzschluB und damit der ebenso primitiven Metrik und Form. Esist
gesellschaftlich und musikalisch gleichermaBen aufschluBreich, daB
Jazzkapellen und Jazzkomposition ohne weiteres der Mode der Militar-
marsche gehorchen konnten, als der politische Umschwung in der
Krisenentwicklung erfolgte, das groBburgerliche Unternehmertum an
Stelle der Weltmarktexpansion und deren exotisch-folkloristischer
Korrelate in der Vulgarmusik nationale Autarkie proklamierte und von
seiner Gebrauchskunst sie verlangte ; die groBe Trommel, die zuvor die
tanzerischen Urgefuhle kolonialer Volker reprasentieren sollte, reguliert
jetzt den Marschschritt einheimischer Formationen. — Die Elemente
des musikaUscben Impressionismus, die der Jazz benutzt hat, die
Ganztonskala , die Nonenakkorde , die akkordischen Parallelbewegungen
vermogen an alldem nichts zu andern. Nicht bloB, daB sie erst er-
scheinen, nachdem die Dialektik der Kunstmusik sie hinter sich zuriick-
lieB, nachdem sie selbst als Reizwerte erschopft sind ; so wie die Vulgar-
musik der zweiten Halfte des 19. Jahrhunderts von der voraufgehenden
Romantik das Chroma ubernahm. Wesentlicher ist, daB diesen Mitteln
beim Jazz jegliche formbildende Kraft genommen ward. Wie jene
alten Salonpiecen, Walzer, Charakterstiicke und Rdverien die Chro-
matik nur in Gestalt harmoniefremder ZwischentOne der Melodie
einfugten, ohne das harmonische Fundament selber zu chromatisieren,
so erscheinen beim Jazz die impressionistischen Floskeln nur als
Interpolationen, ohne das harmonisch-metrische Schema zu st6ren.
Die leichte Musik halt an der Diatonik, als ihrem ^Naturgrund",
starr fest und ist dieses Naturgrundes um so sicherer, je eher sie sich,
wie im Jazz, einmal einen ExzeB erlauben kann.
Wenn das Schema der Depravation der leichten Musik vorge-
zeichnet wird von ihrer Immanenz im statischen Ausgangsmaterial
der burgerlichen Kunstmusik: der Tonalitat; und wenn danach das
Verhaltnis der leichten und der Kunstmusik auch gesellschaftlich
Zur gesellschaftlichen Lage der Musik 377
keine ubergrofien Schwierigkeiten bietet, so sind dafiir die einer
Typenlehre um so erheblicher. Schon der typische Grundsach-
verhalt der leichten Musik, die Scheidung in Couplet und Refrain, ist
nicht leicht zuganglich. Erwagt man den historischen Ursprung im
Wechsel von Einzel- und Chorgesang ; vergleicht man damit den Trick
vieler gegenwartiger Schlager, im Couplet gleichsam die Geschichte
des eigenen Refrains zu erzahlen, so ergibt sich als wahrscheinlich die
Auslegung : es wolle in ihrer stereotypischen Gestalt die leichte Musik
die Tatsache der Entfremdung meistern, indem sie das berichtende,
zuschauende, abgeloste Individuum, sobald es den Refrain anstimmt,
in ein fiktives Kollektiv aufnimmt und in seiner Geltung dadurch be-
starkt, daB es an der Objektivitat des Refrains teilhat, ja den Inhalt
des Refraintextes als seinen eigenen im Couplet erlebt, den es dann im
Refrain staunend und erhoben als kollektiven Inhalt wiedererkennt.
Der psychologische Mechanismus der Schlagerbildung ware sonach
narziBtisch, und dem entsprache die Forderung der beliebigen Nach-
singbarkeit der Schlager : indem jeder Horer die Melodie, mit der er
bearbeitet wird, sogleich nachsingeh kann, identifiziert er sich mit den
urspriinglichen Tragern der Melodie, gehobenen PersOnlichkeiten, oder
mit <Jem kriegerischen Kollektiv, das die Lieder anstimmt, vergiBt
dariiber seine Vereinzelung und empfangt die Illusion, entweder vom
Kollektiv umfangen oder selber eine gehobene Perstfnlichkeit zu sein.
Immerhin herrscht dieser Mechanismus nicht ausnahmslos: wenn
auch der iiberwiegende Teil der Schlagerproduktion an der Scheidung
von Couplet und Refrain festhalt, so waren doch gerade einige der
erfolgreichsten Schlager der Nachkriegszeit wie The dancing tam-
bourine und The Wedding of the painted doll solche, die von der
Scheidung abgehen : der erste ein Tanzstuck mit Trio, der zweite eine
Art von „Charakterstiick" im Sinne des 19. Jahrhunderts. Bei solchen
Stiicken, deren Erfolg nicht Texten zuzuschreiben ist, lafit sich der
psychologische Mechanismus weit weniger bequem aufdecken; beim
Tambourine mag eine gewisse melodische Plastik zumal des Trios,
beim Puppenstuck das Moment der Infantilitat mitspielen, aber solche
Bestimmungen sind schon weit weniger biindig als die psycho-
analytischen, die, fast mOchte man vermuten: jeder Schlagertext
provoziert, um hinter der psychoanalytisch-individuellen Bedeutung
eine zweite und gefahrlichere : die gesellschaftliche zu verbergen. Wenn
aber bei jenen beiden Instrumentalschlagern der Anteil der Musik am
Effekt so erheblich ist, so hat man kaum ein Recht, ihn bei den Text-
schlagern zu vernachlassigen. Eine Methode nun, die psychologische
378 Theodor Wiesengrund-Adorno, Zur gesellschaftlichen Lage der Musik
Wirkung von Musik zu analysieren, ist noch nicht ausgebildet und
auch Ernst Kurths Musikpsychologie gibt fur das hier erreichte Pro-
blem, vielleicht das aktuell wichtigste der gesellschaftlichen Deutung
der Musik, keine zureichenden Anweisungen. Und es ist die Frage, ob
hier Psychologie ausreicht : ob nicht gerade die entscheidenden Kate-
gorien von der gesellschaftlichen Theorie beigestellt werden mtiBten.
Die „Psychologie" der Schlager im herkOmmlichen Sinn fiihrt
auf Triebkonstanten. So etwa ist es einleuchtend, zur Erklarung
des „absurden" Schlagertyps die anale Eegression samt ihrer
sadistischen Komponente heranzuziehen, die in den zustandigen
Schlagertexten selten fehlt; die Absurditat stellt sich als leicht
erganzbare Zensurliicke dar. Mit der Bestimmung der anal-
sadistischen Struktur jener Schlager ist aber nichts tiber ihre
gegenwartige gesellschaftliche Funktion ausgemacht und die Wirkung
auf eine naturliche Triebanlage und deren Konflikte mit Gesellschaft
iiberhaupt zunickgefuhrt, die jederZeitgleich eigentiimlich sein kOnnte,
wahrend Ursprung und Funktion der Schlager im Kapitalismus aufier
Frage stehen. Solange aber die gesellschaftliche Dialektik und
die Analysis der Triebstruktur diskret oder bloB „erganzend"
nebeneinander stehen, ist die konkrete Wirkung der leichten Musik
nicht durchschaut, sondern einzelnen Wissenschaften zur Be-
arbeitung iiberlassen, die, im Sinne der biirgerlichen Wissenschafts-
systematik, isoliert verfahren und in ihrer Trennung eine der frag-
wiirdigsten Disjunktionen des biirgerlichen Denkens selber voraus-
setzen: die von Natur und Geschichte. Es sieht sich damit die gesell-
schaftliche Deutung der leichten und schlieBlich aller Musik als ihrer
zentralen Frage der gegenuber : wie sie verfahren solle, ohne mehr die
Zweiheit natiirlicher Statik — in den Triebkomponenten — und ge-
schichtlicher Dynamik — in den sozialen Funktionen — methodisch
voraussetzen zu mussen. Wenn, wie sie es bislang tat, Musik dem
Schematismus der individuellen Psychologie sich entziehen sollte;
wenn bereits die elementarste ihrer Wirkungen einen konkreten
gesellschaftlichen Zustand voraussetzt, ausdriickt, tendenziell auf
einen hinweist; wenn Natur selber musikalisch nicht anders als in
geschichtlichen Bildern erscheint, dann kGnnte die materiale Be-
schaffenheit von Musik Hinweise bieten, wie etwa der dialektische
Materialismus nicht zwar die jjFrage" nach dem Verhaltnis von Natur
und Geschichte zu losen, wohl aber in Theorie und Praxis die Frage
abzuschaffen vermOchte.
Neuere Literatur iiber Planwirtschaft 1 ).
Von
Gerhard Meyer (Frankfurt a. M.).
Aus der Fiille der neueren Planwirtschaftsliteratur sollen hier unter
Verzicht auf Vollstandigkeit im wesentlichen drei Gruppen, amerikanische,
franzosische und deutsche Veroffentlichungen, in der Form einer „biblio-
graphie raisonnee" gesichtet werden. Dieser Versuch erfordert eine vor-
herige Verstandigung iiber die dabei verwandten Begriffe. XJnter Plan-
wirtschaft sei die bewufite planorientierte Gestaltung des totalen Wirt-
schaftsablaufs im Dienste der Krisenverhutung und Wachstumsstetigkeit
verstanden. Partikulare Eingriffe in den Wirtschaftsmechanismus ohne
„Leitregelung" des Gesamtablaufs konstituieren also noch keine Plan-
wirtschaft. Daft diese notwendig total ist, bedeutet aber nicht, daft sie
auch „ universal" sein, d. h. alle einzelnen Teilprozesse direkt von einer
Zentrale her regulieren muft. Es muft vielmehr als offene Frage gelten,
ob dem Ziel der Planwirtschaft eine direkte universale Planung, bei der es
praktisch nur einen einzigen Haushalt gibt, Oder aber eine z. T. indirekte,
auf dem Zusammenspiel von „Selbstregelung" und „Leitregelung" be-
ruhende „partielle" Organisation des Wirtschaftslebens mehr gerecht werden
wiirde. Planwirtschaft kann — dies fiihrt zu einer weiteren Unterscheidung
— nicht gedacht werden ohne Beriicksichtigung der zugrundeliegenden
Sozialordnung, innerhalb deren sie funktionieren soil. XJnter diesem
Gesichtspunkt sprechen wir entweder von kapitalistischer oder von sozia-
listischer Planwirtschaft. Kapitalistische Planwirtschaft ist das auf
die Zahmung der konjunkturellen Dynamik ausgerichtete System von
Eingriffen und Einbauten in die vornehmlich unternehmungsweise er-
folgende Erwerbswirtschaft unter prinzipieller Aufrechterhaltung der
privaten Verfugungsgewalt von Unternehmern und Kapitalisten iiber alle
entscheidenden Wirtschaftsmittel und damit auch iiber die freien Arbeiter.
Innerhalb dieses Rahmens wird man je nach der formalen Tragerschaft
zwischen einer Unternehmerplanwirtschaft und einer Staatsplanwirtschaft
unterscheiden k6nnen. Wichtiger ist die Frage nach der faktischen Trager-
schaft, d. h. nach den Gruppen, die an Planwirtschaft im Kapitalismus
interessiert sind. Danach lassen sich mit Lor win (s. u.) ein „business-
type** und ein „social progressive type of planning** einander gegenuber-
*) Diese Sammelbesprechung ist einer umfangreichen kritischen Studie
des Verf . iiber die wichtigste planwirtschaftliche Literatur entnommen, die
im Auftrag des Instituts flir Sozialforschung ausgefiihrt worden ist, aber
aus Raummangel nur zum kleinsten Teil verdffentlicht werden kann. Die
Literatur iiber die sowjetrussische Planwirtschaft soil einem besonderen
Artikel vorbehalten bleiben. Die Schriftleitung.
380 Gerhard Meyer
stellen, je nachdem ob die Unternehmer unumschrankt oder aber nur bei
Kompromissen mit anderen Schichten, z. B. den Arbeitern, ihre Herrschaft
zu behaupten vermogen. Notwendig ist die Abgrenzung vom Staats-
kapitalismus. Dieser liegt da vor, wo der Sfcaat selber als kapitalistischer
Unternehmer auftritt. Es ist dies noch keine Planwirtsehaft. Die sozia-
listische Planwirtsehaft hat eine grundsatzlich veranderte Sozialordnung
zur Voraussetzung : hier ist das Privateigentum an den Produktions-
mitteln zugunsten des Gemeineigentums beseitigt, die Kapitalherrschaft
gebrochen. Die Planwirtsehaft mu6 auch hier nicht als universale gedacht
werden. Unter Zuriickstellung der Frage nach der Durchfiihrbarkeit beider
Formen unterscheiden wir daher : Sozialismus mit Gemeineigentum an den
Produktionsmitteln aber blofler zentralistischer Leitregelung der prinzipiell
in den Marktmechanismus verflochtenen Wirtschaftseinheiten, als „Markfc-
sozialismus" einerseits und universale zentralistische Planwirtsehaft
{einschliefilich des Konsums) als ,,Verwaltungssozialismus" anderer-
seits. Von der sozialistischen Planwirtsehaft ist der Staatssozialismus
abzugrenzen. Bei ihm handelt es sich um die staatliche Bewirtschaftung
bestimmter Produktionszweige (oder auch nur Betriebe) nach „gemein-
wirtschaftlichen" Prinzipien. Das gemeinwirtschaftliche Prinzip, dessen
Grenzfall die Gratislieferung von Leistungen mit Deckung der Kosten
aus Steuern oder anderen Ertragnissen bildet, weist zwar eine gewisse
Affinitat zum Sozialismus auf, findet sich aber prinzipiell, zumindest als
Korrektiv, auch im Kapitalismus. Was seinen planwirtschaftlichen Cha-
rakter anlangt, so liegt dabei zunachst nur parti kulare Planung vor.
Mit dieser Systematisierung der Grundbegriffe der Planwirtschafts-
diskussion ist zugleich auch eine gewisse "tf bersicht uber die Hauptprobleme
gegeben. Wir stellen die neuen Publikationen nach dem Erscheinungsland
zusammen, um den nationalen Eigentiimlichkeiten der Fragestellung
gerecht zu werden.
I. Amerikanische Planwirtschaftsliteratur.
Der umfangreichen amerikanischen Planwirtschaftsliteratur ist ein
stark technischer Charakter eigen. Nicht nur, daS vorwiegend organi-
sationstechnische Fragen in den Vordergrund gestellt werden, vor allem
werden die Ingenieure als die eigen t lie hen Vorkampfer gegen Unwirt-
schaftlichkeiten aller Art und als Trager einer neuen Wirtschaftsordnung
angesehen. Auf diese Weise wird auch das Klassenkampfproblem ura-
gangen. Abgesehen von einigen Sozialisten halten fast alle amerikanischen
Planwirtschaftler am kapitalistischen Privateigentum fest und suchen es
allenfalls offentlicher Kontrolle zu unterwerfen. Neben der technologisch-
sozialref ormerisch eingestellten Bewegung existieren auch unternehmerische
Bestrebungen. Einen allgemeinen t^berblick iiber die Grundlagen der
sozialprogressiven Richtung gibt das glanzend geschriebene Buch von
1. Soule, George, A Planned Society, The Macmillan Co., New York
1932. (295 S.; ? 2.50)
Nach einer interessanten Kritik des Liberalismus und der „un-
managed civilization" beschwort S. das Bild der amerikanischen
Sammelbesprechunif: Planwirtschaft 381
Kriegswirtschaft, beschreibt Aufbau und Leistungen der russischen
Planwirtschaft und entwirft dann den Vorschlag einer sozialpro-
gressiven kapitalistischen Planwirtschaft fur die Vereinigten Staaten.
Er sieht darin eine letzte Chance fur die Privatwirtschaft, ist aber selber
hinsichtlich ihrer Verwirklichung etwas skeptisch. Dies wohl mit
Recht, zumal sein Planungsvorschlag im wesentlichen auf Freiwilligkeit
beruht. Okonomisch-theoretisch ist vor allem seine Anlehnung an
die in USA., besonders bei den Planwirtschaft lern, populare Foster-
Catchingssche Unterkonsumtionstheorie bedenklich. — Ebenfalls
eine gute Charakteristik der amerikanisohen Planwirtschaftsbe-
strebungen bietet
2. Lorwln, Lewis, The Problem of Economic Planning. (Materialien
des World Social Economic Congress. Amsterdam 1931. 43 S.) 1 )
L. macht als erster den Versuch, eine — mit gewissen Modifi-
kationen auch von uns verwandte — Begrif f sbestimmung und Typologie
von Wirtschaftsplanung je nach der zugrundegelegten soziologischen
Ordnung aufzustellen. Seine in einigen Punkten anfechtbare Grup-
pierung bietet besonders hinsichtlich des business und des social-pro-
gressive type of planning, den er selber (mit relativ starkerer Bereit-
schaft zu Zwangseingriffen als andere Autoren) vertritt, ein gutes Bild
der Auseinandersetzung in der amerikanisohen Literatur.
3. Person, H. S., Scientific Management as a Philosophy and
Technique of Progressive Industrial Stabilization. (Materialien
des World Social Economic Congress). Amsterdam 1931. (64 S.J
P., leitender Direktor der Taylor- Society, zeichnet die Entwicklung
der Bewegung fiir wissenschaftliche Betriebsfuhrung, die von der
Kationalisierung der kleinsten Einheiten, der Arbeitsplatze, an iiber
-die verschiedenen Mittelglieder schliefilich zur Kationalisierung der
Volkswirtschaft, ja der Weltwirtschaft gedrangt wird, da Unstabilitat
des Milieus jede Teilrationalisierung gefahrdet. Alles wird vom Stand-
punkt des Technikers gesehen. P. betont besonders die zur Katio-
nalisierung notwendige Zusammenfassung der Industrie zweige und
neigt daher stark zu derjenigen Art des Kampfes gegen die Trust-
gesetze, die fiir die GroBunternehmungen charakteristisch ist. — Aus
der Reihe der Schriften, die positive „Plane" wiedergeben, sind zu
nennen :
4. Haan, Hugo, American Planning in the Words of its Promoters.
A Bird's-Eye Survey expressed in Quotations. The American Academy
of Political and Social Science. Philadelphia 1932. (51 S.; 25 cts.) 2 )
Haans ttbersicht, die die bis Marz 1932 vorliegende „Planning"-
Literatur verarbeitet, ordnet den Stoff auBerst iibersichtlich nach
einheitlich bei jedem Autor angewandten Gesichtspunkten. Dabei
*) Vgl. das Gesamtprotokoll des Kongresses unten unter Nr. 14.
2 ) Eine deutsche Ausgabe, in der die bis Ende September erschienene
Literatur verarbeitet ist, erscheint im Verlag dieser Zeitschrift unter dem
"Titel: Das amerikanische „Planning".
382 Gerhard Meyer
fallt auf, wie sehr die Amerikaner auf AuBerlichkeiten der vorge-
schlagenen Planwirtschaftsorganisationen eingehen, grundlegende 6ko»
noraische, soziologische und politische tTberlegungen aber zumeist
hintanstellen.
5. Beard, Charles A., America Faces the Future. Houghton Mifflin
Co, Boston 1932. (VIII u. 416 S.; * 3.00)
In diesem Sammelwerk sind zunachst unter dem Titel: „The new
intellectual and moral climate" schon vorher veroffentlichte Auf sat ze
(u. a. von Butler, Andre Maurois und Foster) zusammengestellt,
die die Ausbreitung des Planwirtschaftsgedankens dartun sollen.
Darauf folgen unter dem Titel „Bhie Prints for a Planned Economy"
eine Reihe von Vorschlagen einer allgemeinen Planwirtschaftsorgani-
sation und spezieller Plane fur einzelne Wirtschaftsgebiete. Neben
reinen Unternehmerplanen (hier ist vor allem der Plan des Prasidenten
der General Electric, Gerard Swope, zu nennen) finden sich auch
gemafiigt sozialreformerische. Im Vordergrund des Interesses steht
der Kampf gegen die Antitrustgesetze. Swope begnttgt sich damit;
er konzediert nur zum Ausgleich offentliche Kontrolle der geforderten
Indus trie verbande und gewisse sozialpolitische Einrichtungen. Von
anderen wird daneben die Notwendigkeit einer zentralen Plan-
organisation und z. T. auch einer Reprasentativvertretung aller organi-
sierten Industrien verfochten. Die eigentlichen okonomischen Probleme
werden nur wenig behandelt. In dieser Hinsicht hebt sich sehr vorteil-
haft heraus der „sozialprogressive" Planentwurf :
6. Long-Range Planning for the Regularization of Industry. The Report
of a Subcommittee of the Committee on Unemployment and
Industrial Stabilization of the National Progressive Con-
ference. The New Republic. Vol. LXIX, No. 893, Part 2. New York
1932,
zu dessen Verfassem u. a. Soule und vor allem J. M. Clark gehoren.
Der Plan sieht eine Fulle von Organisationsformen f tir alle Wirtschafts-
zweige vor. In den Korperschaften sollen alle Interessen, auch die der
Arbeiter und Konsumenten, vertreten sein. Auf diese Weise hoffen
die Verfasser die von ihnen scharf kritisierte Gefahr der Organisierung ;
monopolistische Produktionseinschrankung, bannen zu konnen. In
betontem Gegensatz zu den bisherigen Planen, die sich in partikularen
Regulierungen erschopfen, wird als die Aufgabe der Planwirtschaft
Wachstumsregulierung („the regularized growth") und Verbesserung
der Massenversorgung bezeichnet. Diesem Ziel ordnen sich die in
groBer Vollstandigkeit und mit theoretischer Fundierung dargestellten
MaBnahmen der Planwirtschaftsorgane unter, zu denen auBer den In-
dustrieorganisationen ein informierendes und beratendes zentrales
Planamt gehort. Im ganzen will man der Privatwirtschaft, die nicht
an sich, sondern nur unter dem „laisser faire" versagt habe, eine-
neue Chance geben.
Sammelbesprechung : Planwirtschaft 383
7. A Four-Tear Presidential Plan 1932 — 36, prepared by the League
for Independant Political Action. New York 1932. The Nation,
Vol. 134, No. 3476, Sect. 2, Febr. 17th, 1932.
Dieser Plan, der als Grundlage fur eine etwaige Wahlkampagne der
sozialprogressiven Gruppegedacht ist, fordertganz allgemein , , social con-
trol", fiir bestimmte Produktionszweige' auch Verstaatlichung. An dem
Institut der „Public Utilities" wird scharfe Kritik geubt. — Erwahnung
verdienenferner noch die Sondernummern einiger Zeitschriften, darunter:
8. Survey Graphic, When We Choose to Plan. Vol. XX, No. 6. New
York, March 1932.
An dieser Sondernummer sind hervorragende Teilnehmer des
Amsterdamer Kongresses wie Lor win, Person, Mary v. Kleeck
und Neurath beteiligt. Mehrere Aufsatze berichten uber Planung in
einzelnen Wirtschaftszweigen, Wichtig ist der Bericht von Isador
Lubin liber die Veraehmungen von Sachverstandigen vor einer
Unterkommission des Senats betr. den Vorschlag des Senators La
Follette, einen ^National Economic Council** zu errichten.
9. The American Economic Review, Vol. XXII, No. 1. Supplement.
Papers and Proceedings of the forty-fourth Annual Meeting
of the American Economic Association. Menasha (Wise.) March
1932. Second Session — Economic Organization and the Control of
Industry. (S. 63—104)
Der hier abgedruckte Vortrag des Industriellen Harriman beweist,
daB die heute an Planwirtschaft interessierten Unternehmer. im wesent-
lichen nur Organisationsfreiheit fiir die einzelnen Industriezweige
meinen . T u g w e 11 , ein Fuhrer der institutionalistischen S chule,
betont stark das Dilemma, daB Planwirtschaft notwendig, aber keine
Macht vorhanden sei, sie einzufiihren.
10. The Annals of the American Academy of Political and Social Science.
National and World Planning, ed. by E. M. Patterson. Vol. 162.
Philadelphia. Juli 1932.
Hervorgehoben seien der Beitrag v. Haans uber internationale
Planung, eine Arbeit Frank G. Dickinsons, der nachzuweisen sucht,
daB eine Stabilisierung der Konjunktur, jedenfalls auf absehbare Zeit,
nicht etwa Vollbeschaftigung, sondern nur die fiir Aufschwung und
Krise bisher durchschnittliche 1 eschaf tigung ermoglichenwurde, Fosters
schon im Titel genugend charakterisierte Stellungnahme : „Planning
in a Free Country: Managed Money and Unmanaged Men*', und end-
lich die drei einleitenden Aufsatze uber die Moglichkeit kapitalistischer
Planung: Lindeman vertritt eine sozialprogressive kapitalistische
Planwirtschaft mit gemaBigtem Zwangscharakter ; der Sozialist
O. B Ian shard stellt in scharfer Antithese sozialistische und kapita-
listische Planwirtschaft einander gegeniiber; der Aufsatz des Harvard-
professors W. B. Donham endlich bejaht von einem ziemlich liberalen
Standpunkt aus die Frage: „Can Planning be Effective without Con-
trol ?** und bietet gewissermafien einen Auszug aus
384 Gerhard Meyer
11. Donham, Wallace Brett, Business Looks at the Unforeseen. WhitU
lessey House. New York 1932 (IX u. 209 S., geb. $ 2.50)
D. halt besonders zah an dem amerikanischen Ideal der „Un-
kon tr oilier theit" fest, aber er erklart „Planung" im Sinne einer ver-
nunftigen Ausrichtung der Wirtschaftspolitik fur notwendig und f order t
darum eine beratende „Central Thinking Agency". Er beurteilt alle
wichtigen Plane danach, ob eine neue Burokratie und zentralistische
Eingriffe daraus erwachsen konnten. Seine Vorschlage beinhalten
eigentlich nur ganz konservative MaBnahmen (einschl. Zollen). — Ein
Rundfunkvortrag von
12. SHchter, Sumner H., The Limitations of Planning. The Univ. of
Chicago Press. Chicago 1932. (12 8.)
ubt iiberzeugende Kritik vornehralich an den ,,voluntaristischen"
Planwirtschaftsentwtirfen. S., Professor in Harvard, weist zunachst
nach, daB die Organisierung der einzelnen Industriezweige nach Auf-
hebung oder Einschrankung der Antitrustgesetze die Krisen eher zu
verscharfen drohe und erortert dann die Aussichten eines beratenden
„ National Economic Council". Unter Heranziehung von Beispielen
aus der jiingsten amerikanischen Erfahrung zeigt er, daB die Plan-
stelle wegen ihrer Ohnmacht versagen und an entscheidenden Punk ten
mit machtigen Finanzinteressen in Konflikt geraten wiirde. Trotzdem
solle man einen Versuch in dieser Richtung machen.
Schliefilich noch ein Werk, daB seinem Gehalt nach ein viel weiteres
AusmaB hat, in seinem letzten Teil aber auch eine Kritik der Plan-
wirtschaft enthalt:
13. Hansen, Alvin Harvey, Economic Stabilization in an Unbalanced
World. Harcourt Brace & Co., New Yorkl932 (IX u. 384S.; geb. % 3.00)
H. behandelt zunachst eine Reihe von internationaien Depressions-
und Krisenfaktoren, dann Probleme der Arbeitslosigkeit und ihrer
Bekampfung, darauf die Frage der Bevolkerungsstabilisierung und
schliefit mit dem Abschnitt ^Toward a Stabilized Capitalism ?".
Hinsichtlich der Moglichkeit der volligen Ausschaltung der Krisen und
Konjunkturen unterscheidet er scharf zwischen einer absolut mono-
polistischen Organisation und freier Konkurrenz, unabhangig davon,
ob es sich um eine kapitalistische oder sozialistische Ordnung handelt.
Im Falle freier Konkurrenz halt er einen erheblichen Grad der Stabili-
sierung der Beschaftigung fiir unmoglich, Magegen konne eine „com-
pletedly centralized economic autocracy" die Krisen ausschalten.
Eine kapitalistische Diktatur mit einem System von Trusts wiirde
diese planwirtschaftliche Aufgabe ebensogut losen wie die russische
kommunistische Diktatur. Aber H. weist mit groBtem Nachdruck auf
die Kehrseite der Stabilisierung hin: sie opfere die Freiheit und vor
allem den Fortschritt- Trotzdem halt er eine Entwicklung in dieser
Richtung fiir wahrscheinlich. Recht problematisch ist seine enge Zu-
einanderordnung von monopolkapitalistischer und kommunistischer
Diktatur einerseits und (relativ) freier kapitalistischer und sozialistischer
Sammelbesprechung; Planwirtschaft 385
Marktwirtschaft andererseits. Vor allem sieht er in der Konzeption
einer sozialistischen Marktwirtschaft eine solche Annaherung von
Kapitalismus und Sozialismus vollzogen, dafi ihm schliefilich der
Gegensatz zwischen beiden Systemen als relativ unwesentlich erscheint
gegeniiber einem anderen Gegensatz, dem von Konkurrenz und Monopoly
der fur ihn zusammenfallt mit der Antithese von Demokratie und Auto-
kratie.
II. Europaische Literatur iiber Planwirtschaft mit Ausnahme
der deutschen.
Die europaische Diskussion iiber die Moglichkeiten der Wirtschaf ts-
planung hat gegeniiber der amerikanischen schon wegen der viel starkeren
Bedeutung des Sozialismus in den „alten" Landern ein anderes Geprage.
Auch sind die Beziehungen zwischen dem amerikanischen und dem euro-
paischen Literaturkreis relativ locker. Es ist das Verdienst des Amster-
damer Kongresses, hier zum ersten Mai einen Kontakt hergestellt zu haben.
Die Verhand lunge n und Materialien dieses Kongresses sind jetzt in einer
von M. L, Fledderus musterhaft besorgten Ausgabe veroffentlicht unter
dem Titel:
14. World Social Economic Planning. The Necessity for Planned Ad*
justment of Productive Capacity and Standards of Living.
International Industrial Relations Institute (I. R. I.). The Hague 1932.
(LXIII u. 935 S.; in 2 Bdn.; H. FL 4.50)
Wegen seines internationalen Charakters muBte der KongreB das
Problem der Weltplanung, der Abhangigkeit nationaler Wirtschafts-
planung von einer Ordnung der internationalen Wirtschaf tsbeziehungen
stark betonen. GewiB sind dabei unmittelbare praktische Ergebnisse
uicht erzielt worden. Aber sowohl in den Vortragen als auch in der
Diskussion sind viele wichtige Gesichtspunkte hervorgehoben worden,
und es wurde der in Deutschland sehr beliebten Verkoppelung von
Planwirtschaft und Autarkic eine in mancher Hinsicht fruchtbarere
Fragestellung gegeniibergestellt.
Auch Albert Thomas beschaftigte sich in seinem letzten Bericht
15. Internationale Arbettskonferenz. XVI. Tagung. Bericht des
Direktors. Internationales Arbeitsamt. Genf 1932. (112 S.; RM. 4. — )
mit der internationalen Diskussion iiber Planwirtschaft als Rettung aus
der Wirtschaf tskrise. Er selbst neigte unter starker Betonung des Ge-
nossenschaftsprinzips und monetarer Mafinahmen zu einem solchen
auf internationale Zusammenarbeit gestiitzten Versuch schon im
Kapitalismus. (Vgl. auch S. 194.)
16. World Planning, Supplement to the ^Week-end Review 11 . August
22, 1931. London 1931. (14 S.)
Diese Sondernummer zum Amsterdatner KongreB enthalt u. a.
kurze Beitrage von Lor win, Neurath und Carli (Italien).
386 Gerhard Meyer
17, Wibaut, F. M., Dc Redding. Uitgave van de S.D.A.P. (Die Rettung;
hrsg. v. d. S.D.A.P.) Amsterdam 1932. (30 S.; 5 Cents)
W. schildert zunachst die krisenhafte Nachkriegsentwicklung mit
dem Ergebnis, daB der Kapitalismus vollig am Ende sei, und sieht
die Rettung allein in einer weltumfassenden sozialistischen Planwirt-
schaft, die von den internationalen Arbeiterorganisationen auf demo-
kratischer Grundlage unter Ablehnung russischer Methoden und unter
besonderer Betonun'g staatlicher Bank- und Geidpolitik propagiert
und durchgesetzt werden mttsse.
In Frankreich stehen im Mittelpunkt der Debatte die Bemuhungen
eines Kreises von j linger en Abgeordneten und Fublizisten der Linken,
eine Planwirtschaft als moglich zu erweisen, die einerseits ,,antikapi-
talistisch" ist, andererseits aber das traditionelle sozialistische Mittel der
„Nationalisierung u ablehnt. Der Fiihrer dieser Gruppe ist Bertrand de
Jouvenel. Die starke Beachtung, die seine Programmschrift „Ij Economic
dirig&e" (Valois. Paris 1928) fand, veranlaBte das Journal de Commerce
zu einer Sondernummer
18, Journal de Commerce, Risultats et possibilites de . Vlconomie
dirigie, No. 2229, 14. annic. Paris, le 9 Juin, 1932.
Die wichtigsten Beitrage stellen die Auf satze dar, die das Problem auf
Grund der russischen, deutschen und italienischen Erfahrungen kritisch
behandeln. — In einer Sondernummer des Organs der jungen Linken
19, Notre temps, Economic dirige'e. 6. annie, 3. sirie, 7 et 14 aoiXt
No. 154. 155. Paris 1932. (Sp. 439—501; 3 free.)
antwortet de J. auf eine ganze .Reihe von besonders im Journal de
Commerce (a. a. O.) enthaltenen Angriffen sowie auf Fragen, die der
radikalsozialistische Abgeordnete Bergery an ihn richtete. Bergery
kritisiert besonders de Jouvenels „Mischform" von Kapitalismus
und Sozialismus: ,„Vous avez reve d*une eeonomie dirigee pour le
profit de la collectivite et realisee pour le profit de l'individu" — ein
klassischer Einwand gegen alle prinzipiellen Verfechter einer sozial-
reformerischen Planwirtschaft. De J. gibt als Grundprinzip der ( ,econo-
mie dirigee ' * an : gleichmaBigere Einkommensverteilung und Orientierung
an den Bediirfnissen der Massen. Bei Aufrechterhaltung der Geld-
wirtschaft bedeutet dies allmahliche Egalisierung der Kaufkraft-
verteilung. Die neben der Angleichung von kaufkraf tiger Nachfrage
und Bediirfnissen wichtigste Aufgabe der Planwirtschaft, die An-
gleichung von Produktion und Nachfrage, glaubt de J. vor allem mit
Hilfe der staatlichen Kreditpolitik bewaltigen zu konnen. Damit
erha^te der Staat ausreichenden EinfluB auf die groSen Unternehmungen.
Fiir die kleinen Unternehmungen geniige gute Information tiber die
Marktchancen. Diese Planwirtschaft darf nach de J. nicht auf bloB
nationaler Grundlage, sondern muB in europaischem Rah men erfolgen
und auf eine Weltplanung hinzielen. Die ,, eeonomie dirig6e" sei Sozialis-
mus, denn sie verfolge die gleichen Ziele wie der proletarische Sozialis-
mus, die Ausschaltung des GroBkapitals.
Sammelbesprechung : Planwirtschaft 387
20. Laurat, Lucien, Economic planie contre iconomie enchaine'e.
Les cahiers bleus, seconde sirie, No. 12, 15 mai 1932. Valois. Paris 1932,
(124 S.)
L. geht davon aus, daB auch nach der Ubernahrae der politischen
Macht eine Sozialisierung nicht auf einmal moglich 1st, sondern je
nach der Keife der Industrie schrittweise erfolgen raufi. Die waohsende
Trennung von Leitung und Eigentum der Untemehmungen determiniert
die GroB untemehmungen als den Ort, wo die Sozialisierung sofort
einsetzen mufi und ohne v o Iks wirtscha ft lichen Schaden auch einsetzen
kann. Damit wird eine Kontrolle iiber den AkkumulationsprozeB
erlangt, durch die die Moglichkeit Krisen auslosender Unterkonsumtion
ausgeschlossen wird. Das zweite Hauptraittel stellt die Bankenkontrolle
dar, die die von seiten der Sparer und Kleinuntemehmer der Plan-
wirtschaft drohenden Gefahren beseitigen kann. Die „ economic
planee" konne — unter der Voraussetzung einer Arbeiterregierung —
die Krise sofort beheben.
21. de Many Henri, inflexions sur Viconomie dirigie. L* Eglantine,
Paris- Bruxelles 1932. (46 S.)
De Man hebt den EinfluB der Taylorbewegung auf das Plandenken
hervor. Die heutige Wirtschaft werde aus einer Wirtschaft der Unter-
nehmer immer mehr zu einer Wirtschaft der Ingenieure und Bankiers.
Es herrsche eine Tendenz zur „autonomen Unternehmung" und
parallel damit zu einem wirtschaftlichen Neofeudalismus, der auch in
Trustbildung und Kartellierung zum Ausdruck komme. Diese neue
Form gibt sich ein planwirtschaftliches Ansehen, aber die eigentliche
Planwirtschaftsbewegung ist gerade gegen diesen Monopolismus ge-
richtet. De Man sucht die auf dem Amsterdamer Kongrefi aufgestellte
Forderung einer Planwirtschaft im Innern und eines Abbaus des Protek-
tionismus nach auBen aus jener antifeudalistischen Frontstellung zu
erklaren, wobei er Wechselbeziehungen zwischen Unterkonsumtion
infolge Lohndrueks und dkonomischem Nationalismus hervorhebt.
Er halt eine von Sozialisten und Liberalen gemeinsam getragene Plan-
wirtschaftsbewegung schon im Rahmen des kapitalistischen Systems
fur moglich.
III. Die neuere deutsche Planwirtschaftsliteratur.
Inhaltlich geht auch in Deutschland — und gerade hier am starksten —
der Streit um vier Fragen : erstens die Leistungsf ahigkeit des Liberalismus
und die Moglichkeit der Riickkehr zur freien Wirtschaft, zweitens im
Zusammenhang damit die Verbindung oder scharfe Scheidung von-„Inter-
ventionismus" und Planwirtschaft, drittens die technischen Grenzen jeder
Planwirtschaft, viertens kapitalistische oder sozialistische Planwirtschaft
und wenn das letztere, welche Organisationsform. Die letzte Frage-
atellung bildet das Hauptgliederungsprinzip der folgenden "frbersicht.
Vorweg sei ein Buch genannt, das man im eigentlichen Sinne nicht zur
wissenschaftlichen Literatur zahlen kann, das aber fur eine Reihe von
Veroffentlichungen wohlmeinender okonomischer Laien typisch ist:
388 Gerhard Meyer
22. Wachter, Planting, Fuhrung, Ordnung. Urn Staat und Wirtschaft
der Deutschen. Edudn Runge. Berlin 1931. (X u. 312 S.;br. RM. 3.60,
geb. RM. 4.80)
W. fordert unter Ablehnung der Demokratie einen dem Kapitalismus
an Leistung weit iiberlegenen straff militarischen ,,Kommunismus"
im Inneren („militarisch kann man alles machen, das weifi jeder alte
Soldat"; S. 281) bei scharfem Wettbewerb von Exportkonzernen auf
dem Weltmarkt, der darum moglich sei, weil es in der militarischen
Wirtschaft ja keine Lohnkosten gebe. — Schwer einzuordnen ist die
Gelegenheitsarbeit von
23. Sombart, Werner, Die Zukunft des Kapitalismus. Buchholz
& Weifiwange. Berlin 1932. (54 S.; RM. 0.90)
Man darf sie zum Typ der kapitalistischen Planwirtschaft rechnen,
sofern Planwirtschaft als System des Spatkapitalismus gemeint wird.
Im wesentlichen geht es in der kleinen Broschure um den Begriff
der Planwirtschaft (oder ,,sinnvollen" Wirtschaft), dem die drei Merk-
male : Umf assendheit, Einheitlichkeit und Mannigf altigkeit zuge-
sprochen werden. Die knappe Klassifikation der Mannigf altigkeit
der Formen und Mittel (Gesamtplan, direkte und indirekte autoritare
Eingriffe, Erziehung) enthalt gewiC richtige Hinweise, lafit aber eine
inhaltliche Auseinandersetzung mit der wirklichen Problematik ver-
missen.
Schon im Titel befiirwortet deutlich eine kapitalistische Planwirt-
schaft
24. Schroder, Paul, Die Oberwindung der Wirtschaftskrise dutch
den Plankapitalismu8. Gustav Fischer. Jena 1932. (180 S*;
RM. 8.—)
S. analysiert die iiblichen Vorschlage zur Behebung der Krise,
verwirft sie (mit nicht immer zutreffenden Griinden) und fordert die
etappenweise Einfiihrung des Plankapitalismus, einer Plan-Markt-
wirtschaft mit fester Wahrung, festen Einzelpreisen (Ausnahmen
bei Kostenwandlungen), festem Lohn und Zins. Gleichzeitig wird freie
Konkurrenz, Privateigentum und privates Unternehmertum verlangt,
allerdings organisiert in Zwangsein- und -verkaufsverbanden, die
die tTbersicht tiber den Markt vermitteln. Das Kreditwesen wird
aus dieser Sphare sogenannter Konkurrenz herausgelost. Es gibt
keinen Kapitalmarkt, sondern nur Kapitalverwaltung. — Ein weiteres
hier zu erwahnendes Programm einer Planwirtschaft im Kapitalismus
(zweifellos mit sozialreformerischer Absicht) ist
25. v. Ungern- Sternberg, Boderieh, Die Planung als Ordnungsprinzip
der deutschen Industriewirtschaft. Ferdinand Enhe. Stuttgart
1932. (108 S.; br. RM. 4.—)
Unter starker Betonung des Organisatorischen vertritt U.-St, im
Anschlufl an Rathenausche Ideen das Planprinzip der „Industrie-
gemeinschaften". Hierfur wird ein ausfuhrlicher Gesetzentwurf vor-
Sammelbesprechung : Planwirtschaft 389
gelegt. Alle Industriezweige sollen in Produktions- und Absatzgemein-
schaften zwangsweise zusammengefafit und von Zentraldirektionen,
deren Verwaltungsmehrheit aus Staatsvertretem bestehen soil, ge-
leitet werden. Dabei gibt es auch vertikale Zusammenfassungen. Fiir
den ganzen Industriezweig, der systematisch auf den hochsten Stand
gebracht werden soil, gilt eine einheitliche Preisbildung nach Grenz-
kosten. Die Differentialprofite werden (falschlich) nur als Pramie
fiir fortschrittliche Unternehmer angesehen. Wahrend die Produkt-
preise als beweglich gedacht werden, sind die Preise der Produktions-
faktoren (Lohn und Zins) fixiert. Den Einwand moglicher Konflikte
zwischen dem Profitinteresse der Unternehmer- und Industrieverbande
einerseits und den Zentraldirektionen andererseits versucht XJ.-St.
mit dem Hinweis auf den Einflufi der „Staatsvertreter" und durch den
Ruf nach ,,ausreichend sozialistisch-gememwirtschaftlichem Geist" der
Unternehmer zu entkraften.
Zwischen die Literatur uber kapitalistische und sozialistische Planwirt-
schaft sei hier eine Gruppe von Arbeiten eingef ugt, die als Zwischentyp auf-
zufassen sind und iiber deren Zuordnung man streiten konnte.
26. Braeutigam, H., Wirtschaftssystem des N ationalsozialismus.
Carl Heymann. Berlin 1932. (97 S.; br. RM. 3.—)
Dieses Buch ist ein ernsthafter Versuch einer wirtschaftstheore-
tischen Begriindung des Nationalsozialismus. Der Grundgedanke ist:
in der heutigen Wirtschaft besteht „Zinsknechtschaft", und zwar mufi
ein einheitlicher und normaler Zins sowohl fur freies wie fiir bereits
investiertes Kapital herausgewirtschaftet werden. Dieses Prinzip
erzwingt einen Monopolkapitalismus, der allein die wegen der Zins-
knechtschaft notwendigen Profite garantiert, und fuhrt durch mono-
polistischeProduktionseinschrankung und Preisiiberhohung zu Kapital-
verlusten und Arbeitslosigkeit. Zur Beantwortung der Frage, wie die
Mangel der Kapitalwirtschaft mit ihren Krisenfolgen vermieden werden
konnen, entwickelt B. zunachst ein ideales System eines extremen
Marktsozialismus mit Gemeineigentum und zentraler Kredit- und In-
vestitionspolitik und weist die Moglichkeit seines Funktionierens nach.
B. versucht dann zu zeigen, wie eine annahernde Verwirklichung dieser
idealen sozialistischen Verkehrs wirtschaft auch bei grundsatzlicher An-
erkennung des Privateigentums an den Produktionsmitteln moglich sei.
Im Prinzip wird das „Unternehmertum (< des standisch geregelten Wett-
bewerbs gefordert. Die Standekammern haben sowohl Monopole wie
Schleuderkonkurrenz zu verhindern. Richtige Lohnpolitik ver-
langt monopolistisch und staatlich beeinflufite Lohnfestsetzung mit
dem Ziel stabiler Nominaleinkommen be.i festen Geldpreisen, daneben
Gewinnbeteiligung. B. fordert weiter Zwangskapitalbildung und zen-
trale Verteilung des Neukapitals grundsatzlich nach dem Ort der
hochsten „Gewinne", aber bei Wahrung der Proportionalitat der
Produktionszweige und Arbeitsplatzbeechaffung fiir freigesetzte
Arbeiter.
390 Gerhard Meyer
Etwa in die gleiche Zwischenstellung gehdren auch die mit nationalen
Autarkieforderungen eng verknupften planwirtschaftlichen Vorschlage des
„Tatkreises" :
27. Eschmann, Ernst Wilhelm: Obergang zur Gesamtwirtschaft, in:
„Die Tat". Hrsg. von Hans Zehrer, 23. Jahrg., Heft 6, September 1931.
Eugen Diederichs, Jena 1931.
E. versucht, dem Autarkiegedanken eine realistischere Fassung zu
geben, und skizziert darauf unter Abhebung der deutschen von den
spezifisch russischen Aufgaben die Ordnung einer „ Gesamtwirtschaft",
die ebenso wie die Autarkie und in Verbindung mit ihr „die Sou-
veranitat der Nation tiber die Wirtschaft" gewahrleisten soil. Es wird
ein staatlicher und ein „freier" Sektor unterschieden. Zu jenem sollen
vor allem die Kraft- und Rohstoffwirtschaft, ferner alle Trusts und
Konzerne der verarbeitenden Industrie, sowie die Banken, Handels-
monopole und einige besondere Wirtschaftszweige gehdren. Dem
„freien" Sektor mit Privateigentum und privater Unternehmerverant-
wortung ist prinzipiell der iibrige Teil der verarbeitenden Industrie
sowie die bauerlich zu organisierende Landwirtschaft zugewiesen. Doch
sind auch die freien Betriebe in die von einem staatlichen Planorgan
geleitete „Planwirtschaft" einzugliedern. An Stelle der „willkurlichen*'
Kapitalbildung soil eine planmaBige, durch das offentliche Bankwesen
geregelte treten. Diese „gegen den Besitz, aber fur das Eigentum"
eintretende Planwirtschaf t wird auch antikritisch verteidigt : in der
Theorie und Praxis des Marxismus werde die Bedeutung der Mittel-
schichten, vor allem der Bauerh, auch fur den Aufbau der kunftigen
„Nationalwirtschaft" verhangnisvoll unterschatzt. — Auch Ferdinand
Fried hat kurzlich, nachdem er schon vor Eschmann zwar nur sehr
kurze, aber um so weitreichendere Perspektiven.einer vornehmlich auf
eine deutsche Staatswirtschaft gesttitzten planmafligen GroBraumwirt-
schaft gegeben hatte 1 ), aus der konkreten Lage heraus ein „TTmbau"-
programm entworfen:
28. Fried, Ferdinand: Der Umbau in der Wirtschaft, in: „Die Tat**.
Hrsg. von Hans Zehrer, 24. Jahrg., Heft 6, September 1932. Eugen*
Diederichs, Jena 1932.
Die allein aus der Kxise herausfiihrenden Mafinahmen: Arbeits-
beschaffung durch Siedlung, Arbeitsdienst und ErschlieBung von Stidost-
europa und die dafiir notwendige Geldschopfung, sind nur planma&ig
und nur durch einen starken, autoritaren Staat zu verwirkliohen.
Diese staatliche Plan wirtschaft, die den Erwerbstrieb zu binden und
den Gemeinschaftsgeist herauszuarbeiten hat, ist zunachst eine kredit-
wirtschaf tliche ; sie wird aber mit einer groBen Verstaatlichungeaktion
verkniipft. Diese soil den Bergbau, groBe Teile der Schwerindustrie,
Staatsmonopole, Kraft- und Verkehrswirtschaft einschl. Groflschiffahrt
x ) Fried, Ferdinand: Wo stehen wir ? in: Die Tat, 23. Jahrg., Heft 5,
August 1931, S. 354ff., bes. S. 383 ff.: Der Weg des neuen Deutschland.
Sammelbesprechung : Planwirtschaf t 391
und vor allem das Kreditwesen umfassen. Auffaliig ist die mehr oder
minder versteckte kriegswirtschaftliche Motivierung dieser Mafinahmen.
Von den inneren Problemen der Planwirtschaf t wird nicht gesprochen 1 ).
Die nun folgenden Werke stammen von Sozialisten, die vor allem das
Problem des tTbergangs zu einer sozialistischen Wirtschaft zur Diskussion
stellen. Zunachst seien zwei kleine einander erganzende Schriften erwahnt.
Die eine (popular gehaltene) ist
29. Mendelsohn, Kurt, Kapitalistisches Wirtschaftschaos oder so<
zialistische Planwirtschaf ft J. H. W. Dietz, Berlin 1932 (67 S.;
RM. 0.75),
worin die in der Krise offenbarten Kapitalfehlleitungen und die ,,un-
notigen" Fehler der Unternehmer und Bankiers dargestellt werden.
Die andere (wissenschaftlichere) ist
30. Frieder, Otto, Der Weg zur sozialistischen Planwirtschaft.
Oesckichte und Verwirklichung einer Idee. J. H. W. Dietz. Berlin 1932.
(67 S.; RM. 0.75)
F. schildert nacheinander Sozialisierung als Utopie, als Projekt und
als Experiment (RuBland) und geht dann auf die Frage der Sozialisierung
in Deutschland ein. Hier bespricht F. zunachst eine Reihe von Plan-
wirtschaf ts- und Sozialisierungsvorschlagen, wobei er die auf Kontroll-
einrichtungen abzielenden Forderungen der Sozialdemokratie hervor-
hebt, und erortert dann selbstandig die Probleme des Sozialismus und
der Sozialisierung. Dabei werden die entscheidenden politischen Vor-
aussetzungen in den Vordergrund geriickt.
31. Lederer, Emll, Planwirtschaft. J. C. B. Mohr. Tubingen 1932.
(48 S.; RM. 1.20)
L. schwacht den Gegensatz zwischen ,,freier Wirtschaft" und ,, Plan-
wirtschaft" praktisch durch den Hinweis ab, daB Elemente der einen
jeweils in der anderen moglich seien. Das Hauptproblem ist aber nicht
diese partikulare Planwirtschaft, sondern die Frage, ob eine to tale
krisenverhiitende Planwirtschaft denkbar sei. L. bejaht das und
f order t entsprechende MaCnahmen zur XJberwindung der gegenwartigen
Krise und zur Verhiitung von Konjunkturschwankungen iiberhaupt. Be-
kannt ist sein Vorschlag einer partiellen natural wirtschaft lichen Er-
werbslosen wirtschaft. Vor allem aber fordert L. Kreditkontrolle, die
in sich eine gewisse Kraft zur Weiterentwieklung in Richtung auf eine
Produktionskontrolle trage. Es bleibt jedoch fraglich, ob diese nach L.
schon im Kapitalismus durchzufuhrende Kredit- und schlieBlich Pro-
duktionskontrolle wirklich zum Vollsozialismus f iihrt, den L. am Schlusse
der Schrift als Marktsozialismus kurz skizziert. Im Vordergrund steht
h er das Problem der Wirtschaf tsrechnung und der Kapitalrechnung :
beide bieten nach L. keine Schwierigkeiten. Das sozialistische System
der Kapitalakkumulation habe vor dem kapitalistischen drei Vorziige :
x ) tJber die Einordnung dieser „Tat* 'plane in das hier gewahlte Qrund-
schema siehe auch Pollock im vorigen Heft dieser Zeitschrift S. 18, Anm. 2.
392 Gerhard Meyer
erstens konnte die Kapitalbildung grofier sein, insofern ein grofier Teil
des heutigen Mehrkonsums der Gewinn- und Zinsbezieher dafiir zur
Verf iigung stande ; zweitens ware die Produktion nicht notwendig an
eine gewisse „Verzinsung" des Kapitals gebunden, etwaige Dispro-
portionalitaten brauchten nicht durch Konkurs und Produktions-
einstellung liquidiert zu werden; drittens: es muflte sich infolge von
Fehldispositionen und daran anschliefiender Einschrankung der Neu-
investitionen nicht das Sozialprodukt absolut verringern.
L. hat in einer neuen Veroffentlichung nochmals zu Spezialpro*
blemen der sozialistischen Wirtschaft Stellung genommen:
32. Lederer, Emil, Die Guterverteilung als Problem des Sozialismus
In: Die Guterverteilung in der Gesamtwirtschaft. Drei Vortrage
von 0. v. Nell-Breuning, Otkmar Spann und Emil Lederer: EinzeU
handelsverlag Berlin 1932. (87 S.; MM. 1.—; S. 39—66)
L.s Vortrag ragt durch seine klare Gegenuberstellung der Funk-
tionen des Handels im Kapitalismus und im Sozialismus hervor. Es
gibt auch im Sozialismus distributive Funktionen, aber diese sind sicher
eingeschrankter als heute und werden zum grofien Teil auch andere
Trager haben. Das wesentliche Spezifikum des Sozialismus sieht L.
hier in der Moglichkeit einer grundsatzlich neuen Einkommens-
verteilung.
33. Leichter, Otto, Kapitalismus und Sozialismus in derWirtschafts-
politik. Der Kampf der neuen mit den alien Wirtschafts-
elementen. C. L. Hirschfeld. Leipzig 1932. In: Festschrift fiir Carl
Griinberg zum 70. Geburtstag, S. 382 — 411.
34. Leichter, Otto, Die Sprengung des Kapitalismus. Die Wirt-
schaftspolitik der Sozialisierung. Wiener Volksbuchhandlung.
Wien 1932. (171 S.; br. BM. 4.— geb. RM. 5.—)
Neue Entwicklungselemente der heutigen Wirtschaft: Kapital-
konzentration, Staatseingriffe und die wachsende Macht der Arbeiter-
klasse, stellen nach L. den alten kapitalistischen vier „neue" Wirt-
schaf tsgesetze gegeniiber : die Tendenz zur solidarischen PlanmaBigkeit
der Verteilung, die Einschrankung der kapitalistischen Profitrechnung,
die Einengung der Unternehmerselbstandigkeit und die Politi-
sierung der Wirtschaft. Diese „Gesetze" sprengen auf die Dauer den
Kapitalismus und fuhren zum Sozialismus. Darunter versteht L.
sozialistische Marktwirtschaft mit Gemeineigentum an den Produk-
tionsmitteln und zentraler Planung vor allem der (offentlichen) Kapi-
talbildung und der Kapitallenkung, die durch die Staatsbanken erfolgt.
Der AuBenhandel wird durch ein Monopol geregelt. Fiir die Landwirt-
schaft sollen Getreidemonopole usw. sorgeh. Die Lohne diirfen nicht
diktatorisch von oben festgelegt werden, sondern sollen zwischen den
Gewerkschaften und den Vertretern des Allgemeininteresses vereinbart
werden. DaB freie Konsumwahl und die Moglichkeit genauer Kosten-
kalkulation vorgesehen werden, versteht sich von selbst bei diesem
Gesamtbild. Soweit irgend moglich, muO Betriebs- und Wirtschafts-
Sammelbesprechung: Planwirtschaft 393
demokratie herrschen. Der Weg zu diesem Ziel fiihrt im Kampf der
altea mit den neuen Gesetzen iiber einen planwirtschaft lichen „Staats-
kapitalismus". Die sozialistische Wirtschaftspolitik macht dabei auf
den verschiedenen Gebieten bestimmte Etappen durch. Fur die Mono-
pole fiihrt der Weg von einer Monopolkontrolle zur Investitionskon-
trolle, die zur Preisfestsetzung und schlieBlich zu planmafiiger Ent-
scheidung iiber den gesamten Wirtschaftsplan tiberleitet und notwendig
bei der Vergesellschaftung der Produktion endet. Ahnlich beginnt die
Kreditwirtschaft mit der Bankenkontrolle, geht iiber zur Kapital-
beteiligung des Staates und fiihrt unter Ausnutzung dieser Position zur
Verstaatlichung der Banken. Im ganzen vertritt L. wirtschaftsdemo-
kratische Gedanken in austromarxistischer Farbung. — Das
35. Material fur ein Wirtschaftsprogramm der freien Gewerk-
schaften. 2. Afabundesauschufi-Sitzung. Berlin, 22. Mdrz 1932, (6 S.)
wurde zum groBen Teil, jedoch mit noch starkerer Betonung der sozia-
listischen Politik, in das kiirzlich von den Gewerkschaften heraus-
gegebene Programm ubernommen. Beide Brosehiiren konnen deshalb
im folgenden als Ein he it behandelt werden.
36. Umbau der Wirtschaft. Die Forderungen der Gewerkschaften.
Verlagsgesellschaft des Allg. Deutschen Gewerkschaftsbundes. Berlin 1932.
(39 S.; 6r. RM. 0.40)
. „Es gilt den Raum zwischen Kapitalismus und Sozialismus zu ge-
stagen." Die darauf gerichteten Forderungen gliedern sich folgender-
maBen: zunachst Konjunkturpolitik, die zugleich sozialpolitische
Funktionen erfiillt, dann Maflnahmen fur die einzelnen Wirtschafts-
gebiete und zum SchluB der Aufbau der Planwirtschaft.
Die Hauptforderung zu „ Konjunkturpolitik und Massenkaufkraft"
lautet: „ . . . systematische Starkung der Massenkaufkraft und Kege-
lung der Kapitalbildung sowie der Kapitalverwendung." — Von den
einzelnen Wirtschaftsgebieten werden zunachst Industrie und Handel
betrachtet. Der demokratische Staat (wer damit konkret gemeint ist,
wird nicht gesagt) soil die „Kommandohohen" der Wirtschaft besetzen.
Das bedeutet tTberfiihrung der Rohstoffindustrie, der GroBchemie, der
Energie- und Verkehrs wirtschaft in Gemeineigentum. Ein gut Teil
der Problematic die der Verstaatlichung anhaftet, wird deutlich
hervorgehoben. Es soil keine rein zentralistische Planwirtschaft er-
strebt werden: „Beherrschung von der Zentrale, im iibrigen aber
sehr weitgehende Dezentralisation" (zur Sicherung echter Freiheit).
Dieser ,Dezentralismus' bedingt — vom Grundgedanken her nur
folgerichtig — die Zulassung persSnlichen Arbeitseigentums bei Bauern
und Handwerkern. Die Enteignung richtet sich also gegen das „aus-
beuterische kapitalistische Grofieigentum in Industrie und Land wirt-
schaft." Energisch wird die Enteignung des GroBgrundbesitzes
gefordert, gleichzeitig aber in der Siedlungsfrage die Oppenheimersche
genossenschaftliche GroBsiedlung starker hervorgehoben. Die Vor-
schlage iiber Kredit- und Bankwesen folgen den vom Afabund ge-
machten: also schrittweise Verstaatlichung und Bankenamt, in dem
394 Gerhard Meyer
u. a. auch die Gewerkschaften und Verbraucher vertreten sein sollen.
Die Endforderung des planwirtschaf tlichen AuBenhandelsmonopols
wird abgegrenzt gegen die modernen Autarkieplane. Das Umbau-
programm stellt vermutlich ein sehr bedeutsames Zwischenglied in
der Reihe von Versuchen der Arbeiterorganisationen dar, von wirt-
schaftsdemokratischen Zielsetzungen zu einer starkeren Betonung des
Endziels, der sozialistischen Planwirtschaft, zu gelangen.
Nachdem im bisherigen sozialistische Publikationen besprochen worden
sind, die eine kapitalistische Planwirtschaft als Weg zum Sozialismus fur
moglich und notwendig halten, seien nun diejenigen Neuerscheinungen ver-
treten, die, zumeist unter deutlicher Ablehnung jener Zwischenlosungen, nur
das sozialistische Zielbild als solches hinzustellen versuchen.
37. Landauer, Carl, Planwirtschaft und V erkehrswirtschaft. Duncker
& Humblot. Munchenl931. (VI, 222 S.; br. BM. 9.—, geb. EM, 13.50)
L. geht von der Feststellung aus, dafi eine sozialistische Ordnung
der kapitalistischen in „produktiver u Hinsicht xiberlegen sein muB,
wenn sie Bestand haben soil. Als Mafistab der Produktivitat wahlt
er den Grad der Vollkommenheit der individuellen Bedarfsdeckung,
die in der idealen Verkehrswirtschaft optimal sein miifite. Aber diese
^reine" Verkehrswirtschaft hat nie existiert, und es kommt L. darum
zunachst darauf aD, die „antiproduktiven Erscheinungen in der realen
Verkehrswirtschaft" aufzudecken. Unter diesem Titel behandelt er
das Monopol sowie Arbeitslosigkeit und Krisen, die er letztlich (unter
Verwendung des Kapitalmangel- und des Irrtumsarguments) auf den
technischen Fortschritt zuriickfuhrt. Als weitere Eolgen der tech-
nischen Entwicklung leitet er aus dem steigenden Anteil des fixen
Kapitals einer seits eine wachsende Konjunkturempfmdlichkeit der
Wirtschaft, andererseits eine Machtsteigerung der, Gewerkschaften
ab, die in zunehmendem MaBe die auch fiir die Arbeiter notwendige
Kapitalbildung gefahrden konnte. Gerade daraus schliefit er auf die
Notwendigkeit einer sozialistischen Wirtschaft, in der der Ausgleich
zwischen Gegenwarts- und Zukunftsinteressen der Arbeiter nicht durch
das Klassenverhaltnis zwangslaufig gestort wird. Im zweiten Abschnitt
kritisiert L, treffend alle Versuche, den Kapitalismus durch gemein-
wirtschaftliche Kontrolle zu regulieren. Uberzeugend ist sein Hinweis
auf die Grenzen der Wirksamkeit der Monopolkontrolle und der Noten-
bankpolitik. Der dritte Abschnitt entwirft das Bild eines Markt-
sozialismus, mehr noch: einer sozialistischen Konkurrenz wirtschaft,
die eine Verbindung von Zentralismus und Dezentralismus, Staats-
sozialismus und Genossenschaftssozialismus darstellt. Die einzelnen
Staatsbetriebe konk\n:rieren friedlich untereinander, sie machen
unterschiedliche Gewinne, an denen Betriebsangehorige und Betriebs-
leiter beteiligt werden. Zugleich aber wird an den entscheidenden
Stellen das Wachstum der Wirtschaft durch das Kreditmonopol, das
erst im Sozialismus w irks am sein kann, reguliert. Die Grundlage der
zentralen Kapitalpolitik ist ein Investitionsprogramm sowie die Mog-
lichkeit, ein bestimmtes AusmaB der Akkumulation direkt und indirekt
Sammelbesprechung : Planwirtschaft 395
zu erzwingen. Eine Voraussetzung des Investitionsprogramms ist
nach L. eine naturalwirtschaftliche Kontrollrechnung, die in Erganzung
der Geldrechnung das mengenmafiige Ineinandergreifen der ver-
schiedenen Produktionszweige sicherstellt. Das zweite Element
der Wachstumsplanung, die Regulierung des Akkumulationstempos,
unterliegt im Sozialismus der Entscheidung der Gesamtarbeitersohaft,
die selbst den erwiinschten Spargrad bestimmt. Dafi dabei Interessen-
konflikte entstehen konnen, halt L. fur sehr moglich, aber es erscheint
ihm unwahrscheinlich, dafi sich daraus neue Klassengegensatze
entwickeln. Hinsichtlich des Weges zum Sozialismus entscheidet sich
L. unter Ablehnung einer radikal-revolutionaren Haltung und scharfer
Kritik der Versuche, dem Sozialismus durch allmahlichen „planwirt-
schaftlichen" XJmbau des Kapitalismus naherzukommen, fur eine
systematische Sozialisierungsaktion (mit Entschadigung aus Steuer-
mitteln), die im Verlauf von 12 — 15 Jahren zur "Qbernahme der wich-
tigsten Teile der Industrie durch den Staat fiihren miisse. Erst dann
konne mit dem Aufbau einer echten Planwirtschaft begonnen werden.
— Gleiches Niveau mit diesem ausgezeichneten Werk halt
38. Hefmann, Eduard, Sozialiatiscke Wirtschctfts- und Arbeits-
ordnung. (Sozialistische Aktion, hrsg. v. Walter Pahl und August
Eathmann, H. 1.) Alfred Protte. Potsdam 1932. (63 S.; BM. 1.20)
Auch H.s Sozialismus ist ein stark dezentralistischer und daher
marktwirtschaftlicher Sozialismus. Die Notwendigkeit des Marktes
wird mit der TJnentbehrlichkeit einer rationalen Kostenrechnung,
die nur bei freier Preisbildung moglich sei, begriindet. Es ist allerdings
nicht ganz klar, inwieweit dieses Prinzip der freien Preisbildung mit
den spater eingeraumten Mdglichkeiten monopolistischer und gemein-
wirtschaftlicher Preispolitik vereinbar ist. Mit der Preisrechnung
zugleich verlangt H. auch eine Kapital- und Zinsrechnung im Sozialis-
mus. Marktwirtschaft und Kapitalrechnung widersprechen nach
H. nicht dem sozialistischen Prinzip: M Gerade fur die marxistische
Betrachtung kommt alles auf die soziologische Grundordnung an,
innerhalb deren sich die Wirtschaftsvorgange abspielen." Kann aber
eine solche Marktordnung auch Planwirtschaft sein ? Zunachst gibt
H. eine knappe Analyse des nach seiner Meinung wichtigsten Kon-
junkturfaktors, des den Arbeiter freisetzenden technischen Fort-
schritts. Daraus folgt die Aufgabe der Planwirtschaft, technische
Fortschritte und Kapitalbildung zur Finanzierung nicht nur der Fort-
schritte selbst, sondern auch der Neuschaffung von Arbeitsplatzen
fur die freigesetzten Arbeitskrafte aufeinander abzustimmen. Die
Mittel dieser Konjunkturregelung sind zentrale Kapitalbildung und
zentrale Kreditwirtschaft. Hier schlieflt H. sich weitgehend Landauer
an. Das Verhaltnis von zentralem Plan und Markt stellt sich nach
allem so dar, dafi durch die zentralen Eingriffe wohl die Daten des
Preis-Mengen- Systems verandert werden, nicht aber der Markt-
mechanismus selbst gest6rt wird. — Die soziologische Grundordnung
dieses Sozialismus wird von H. gekennzeichnet durch die drei un-
396 Gerhard Meyer
trennbaren Forderungen: Aufhebung der Klassenscheidung, Freiheit
und Ordnung. Dem Freiheitsverlangen der Arbeiter muB im Sozialismus
durch moglichste Dezentralisierung, Starkung der Eigenverant-
wortung und vor allem Selbstgestaltung auch des Arbeitslebens Er-
fiillung gegeben werden. (Der sozialistischen Arbeits ordnung widmet
H. einen besonderen Abschnitt.) Der Beseitigung der Klassen dient die
Abschaffung des privaten Eigentums an den Produktionsmitteln.
Freilich sind nach H. der Sozialisierung Grenzen gezogen: sie ist
unmoglich bei den stadtischen Kleingewerben und vor allem bei der
Bauern wirtschaft, hier aber auch nicht notig, weil die Vereinigung
von Arbeit und Eigentum, die der Sozialismus erstrebt, z. B. im
Bauernbetrieb noch erhalten ist und sich da als produktiv er-
weist 1 ). Heimann ist im ubrigen ganz wie Landauer der Meinung,
dafi die Sozialisierung dem Aufbau der eigentlichen Planwirtschaft
voranzugehen hat.
39. Klein, Georg, System eines idealistischen Sozialismus. Theo-
retische Qrundlegung einer planwirtschaftliehen Volks- und Weltwirt-
schaftsordnung . W. BraumiiUer. Wien-Leipzig 1931. (XV u. 294 S.;
RM. 11.—)
K. stellt unter starker Ausrichtung auf das Organisatorische die
sozialistische Wirtschaft als Geldwirtschaffc dar und teilt sie in zwei
Hauptgruppen ein. Die groBere (A), die alle mit relativ viel Kapital
ausgeriisteten Betriebe umfafit, befindet sich in Gemeineigentum. Die
kleinere (B) umschliefit die Kleinbetriebe einschliefilich der Bauern-
wirtschaf ten ; hier bleibt das Privateigentum erhalten. Die gesamte
Wirtschaft wird streng gegliedert: erstens nach der gesellschaftlichen
Zweckleistung in Wirtschaftsverbande, zweitens nach der sozialen
Schichtung in Berufsverbande. Die eigentliche Zusammenfassung
erhalt die Wirtschaft durch einen zentralen Geld- und Bankapparat,
iiber dessen Verrechnungskonten samtliche Geldbewegungen der
Abteilung A gehen. Die Zentralbank ist Informations quelle und
Werkzeug fur die Politik des Zentralwirtschaftsamts, das die Preise
festsetzt und das Wachstum der Wirtschaft regelt. K. vertritt einen
^halbstarren" Marktsozialismus mit nach den Grenzkosten kalkulierten
festen Preisen. Als Ziel schwebt ihm letzlich die Schaffung einer Welt-
planwirtschaft vor. Das vielleicht wichtigste Kapitel des Buches
ist eine Darstellung und Beantwortung der wirtschaftstheoretisch,
psychologisch, axiologisch und empirisch begriindeten Einwande gegen
den Sozialismus.
40. Schlff, Walter, Die Plcunwirtachaft und ihre dkonomischen
Hauptprobleme. C. Heymann. Berlin 19S2. (106 S.; BM. 3.60)
S. entwickelt zunachst den Begriff der Planwirtschaft, stellt die
TJnmoglichkeit einer kapitalistischen Planung fest und erortert sodann
l ) Die Theorie des Arbeitseigentums ist inzwischen von H. mehrfach
behandelt worden, vor allem in: Sozialismus und Mittelstand, Neue
Blatter fiir den Sozialismus, hrsg. von E. Heimann, F. Klatt, A. Rath-
mann, Paul Tillich. 3. Jahrgang, Heft 7. Alfred Protte. Potsdam 1932.
Sammelbesprechung : Planwirtschaft 397
ausfuhrlich die Voraussetzungen und die Hauptprobleme einer sozia-
listischen bzw. einer bei Erhaltung eines privatwirtschaftlichen Sektors
doch sozialistisch orientierten Planwirtschaft, wobei eine Reihe wich-
tiger Einwande und Erganzungen in einem besonderen Abschnitt zu-
sammengefafit werden. S.' Bild enthalt Konsumfreiheit, Markt, Geld,
Preise und Lohne, jedoch mit veranderten Funktionen und unter weit-
gehender Aufhebung des Automatismus. Im Vordergrund steht das
Problem einer Konsumplanung mittels Durchschnittsberechnung von
natural bestimmten „Lebenslagen" der einzelnen Produzentenschichten.
Die Darstellung wird belastet durch den Versuch, Grenznutzen- und
Arbeitswerttheorie in einer normativen Ebene zu verkniipfen. Die
eigentlichen Wachstumsprobleme werden nur sehr kurz behandelt. S.
ist sichtlieh an der Problemstellung des Verwaltungssozialisten Neurath
orientiert; offenbar schatzt er die Ordnungsfunktion des Marktes nur
gering ein. Um so charakteristischer ist sein Eintreten fur einen, freilich
gebundenen, Marktsozialismus und fur das Prinzip grofitmdglicher
Freiheitschancen. Insofern ist auch S. noch zu der Gruppe des mehr oder
minder dezentralisierten „Marktsozialismus" zu rechnen, dessen starkes
Vordringen in der heutigen Diskussion unsere tTbersicht deutlich zeigt.
41. Pollock, Friedrich, Sozialismus und Landwirtschaft. C. L. Hirsch-
feld. Leipzig 2932. In: Festschrift fiir Carl Grunberg zum 70. Ge-
burtstag, S. 397— 43 L
P., der im Gegensatz zu den bisher behandelten Autoren Markt -
wirtschaft und Sozialismus fiir unvereinbar halt, skizziert die Stellung
der Sozialisten (von Marx iiber Kautsky und David bis zu den neuesten
Programmen) zur Agrarfrage, insbesondere zum Betriebsgr66en-
problem und f ormuliert dann das Kernproblem : Ist sozialistische Ge-
sellschaft hi unserem Sinne (d. h. auch markt lose Gesellschaft) sowohl
technisch als auch gesellschaftlich mit klein- und mittelbauerlichem
Besitz dauernd vereihbar ? Nach alien Richtungen wird diese Frage
entschieden verneint. Besonders stehe der antikollektivistische
Klassencharakter des Bauerntums dem Aufbau einer sozialistischen
Gesellschaft im Wege. Diese sei nur bei kollektiver und grofibetrieb-
licher Durchfuhrung der Agrarproduktion moglich. Da die neueste
Entwicklung der Landwirtschaft nach P.s Meinung den Grofibetrieb
nicht nur im Getreidebau, sondern auch in der Viehzucht zum Siege
fuhrt, schafft sie eine wesentliche Voraussetzung des Sozialismus.
42. Pollock, Friedrich, Die gegenwartige Lage des Kapitalismus und
die Aussichten einer planwirtschaftlichen Neuordnung. In
Heft 1/2, Jg. I (1932) dieser Zeitschrift.
P. sieht in der Durchfuhrung einer planwirtschaftlichen Neuordnung
die einzige Moglichkeit, die schweren und in der Zukunft sich noch
verscharfenden Schaden des Kapitalismus zu beseitigen. Er stellt
die wichtigsten Einwande gegen eine Planwirtschaft zur Diskussion
und kommt zu dem SchluB, daB trotz des Vorhandenseins der okono-
mischen Voraussetzungen eine Planwirtschaft so lange nicht zu er-
warten ist, als die gesellschaftlichen Voraussetzungen dafiir fehlen.
398 Gerhard Meyer
4 3. Hermberg, Paul, Planwirtschaft. In: Die Arbeit. Zeitschrift fur Qewerk-
schaftspolitik und Wirtsckaftshunde. Hrsg. von Th. LeiparU 9. Jahrg,
Berlin 1932, (I. Planwirtschaft und Wirtschaftskrise. Heft 4. —
II, Planwirtschaft und Verteilung. Heft 6. — III. Wege zur Plan*
wirtschaft. Heft 8. — IV. Planwirtschaft und Markt, Heft 10.)
H. formuliert als zentrales Problem: kann Planwirtschaft Krisen
verhindern ? Die Haupttypen der Krisentheorie werden gegeniiber-
gestellt; alien gemeinsam ist die Behauptung einer mangelhaften
Regelung dea Ausdehnungstempos der Wirtschaft. Die damit der Plan-
wirtschaft gestellte Aufgabe kann nicht durch partielle Eingriffe, wohl
aber von einer an einem Gesamtplan orientierten Zentralstelle gelost
werden. Der von H. vertretene Typus von sozialistischer Planwirtschaft
schwankt in eigenartiger Weise zwischen Verwaltungs- und Markt-
sozialismus. Prinzipiell wird Planwirtschaft als marktfeindlich an-
gesehen, und H. behauptet gegen Mises, dafl rationale Kechenhaftigkeit
nicht Marktpreise voraussetze. Dennoch werden praktisch wenigstens
Axbeitsmarkt und Konsumgutermarkt zugelassen. Einen besonderen
Markt der Produktionsmittel dagegen sucht H. in einer Polemik gegen
Heimann nicht nur als unnotig, sondern auch als mit wirksamer Plan-
wirtschaft unvereinbar nachzuweisen. Entsprechend ist die Ein-
stellung H.s gegeniiber dem Verteilungsproblem : die Vergiitung nach
Leistungs- und Knappheitsprinzip soil durch das mehr oder minder
marktfeindliche Bedarfsprinzip eingeschrankt werden. H. halt daran
fest, dafi Planwirtschaft auch die Versorgung zu regeln habe, versteht
darunter aber nicht Warenrationierung, sondern Kaufkraftzuweisung.
Die kapitalistische Antinomic, dafi erhebliche Einkommensdifferen-
zierung und uberhaupt Besitzeinkommen als ungerecht empfunden
werden, andererseits aber zur Kapitalbildung notwendig sind t kann
nach H. nur in einer sozialistischen Planwirtschaft aufgehoben werden,
in der von der Gesamtheit die Quoten von Kapitalbildung und Ver-
brauchseinkommen festgelegt werden. Der wichtigste Beitrag der Auf-
satzreihe durfte der dritte, „Wege zur Planwirtschaft*' betitelte, sein.
H. zeigt an mehreren Beispielen die Gefahr, die in der Einfuhrung oder
Begiinstigung „ sozialistischer" For men inmitten eines kapitalistischen
Milieus, in der Verwechselung von Weg und Ziel liegt. Die Frage nach
dem Wege zur Planwirtschaft wird aus einer wirtschaftspolitischen zu
einer allgemeinpolitischen, zur Frage nach dem Wege zur politischen
Macht, die die Grundlage einer einheitUchen Wirtschaftsf uhrung bildet,
Damit stellt sich H. praktisch in eine Front mit Heimann und Landauer
— trotz aller Dif ferenzen in der inhaltlichen Konzeption des Zielbildes,
die zum guten Teil auf einer sehr unterschiedlichen Stellungnahme zu
der vor allem von Mises vorgebrachten Kritik am Sozialismus beruhen.
44. Tisch, Klare, Wirtachaftsrechnung und Verteilung im zentra-
listisch organisierten sozialistischen Qemeinwesen. Bonner
Dissertation, Wuppertal-Elberfeld 1932
entwirft ein ahnliches Bild einer sozialistischen Wirtschaft, die nur
einen Markt der Konsumgiiter kennt. Die „Preise" der Produktions-
Sammelbesprechung: Planwirtschaft 399
faktoren und Produktionsmittel sollen „auf dem Papier" nach den
Prinzipien der Gleichgewichtstheorie ohne Zuhilfenahme des Marktes
bestimmt werden. Im iibrigen enthalt die Dissertation eine Dar-
stellung und Kritik der bieherigen Losungen des Problems der sozia-
listischen Wirtschaftsrechnung und der Misesschen Kritik.
Zum AbschluB seien vier Werke genannt, die dem Gedanken des Sozialis-
mus und der Planwirtschaft kritisch gegeniiberstehen.
45. MIses, tudwlg, Die Gemeinwirtschaft. U titer suchungen uber
den Sozialismus. Zweite, umgearb. Auf I. Gustav Fischer. Jena 1932.
(XIV u. 500 S.; br. RM. 18.—, geb. RM. 20.—)
Diese Neu aufl age des bekannten Werkes, das bei seine m ersten
Erscheinen der Theorie der Bozialistischen Wirtschaft zweifellos einen
starken AnstoB gegeben hat, im iibrigen aber eher eine Darstellung
des Liberalismus als des Sozialismus vermittelt, ist gegeniiber der
ersten Fassung nur unwesentlich veraridert. Die neuere Auseinander-
setzung iiber die Moglichkeit sozialistischer Wirtschaftsrechnung ist
nicht mehr beriicksichtigt.
46. Pohle, Lad wig, Kapitalismus und Sozialismus. 4. vollig neugest.
u. wesentt. erw. AufL, a. d. Nachl. hrsg., bearb. u. erg. von Ge org Balm.
Julius Springer. Berlin 1931. (IX U.316S.; br. RM. 6.60, geb. RM. 7.80)
Das gegeniiber der dritten Auflage etwa auf den doppelten Um-
fang erweiterte Werk wurde von Halm durch Abschnitte liber sozia-
listische Wirtschaftsrechnung, das russische Experiment und das frei-
gewerkschaftliche Programm einer „Wirtschaftsdemokratie" bereichert.
Die Schrift ist ebenfalls von liberate m Standpunkt aus geschrieben. In
der neuen Anordnung zeichnet ein erster Abschnitt die Grundlagen
des ,, Kapitalismus", der zweite, bei weitem umfangreichste, beschaftigt
sich mit der sozialistischen Kritik am Kapitalismus, der dritte endlich
entwickelt das Wesen des Sozialismus aus den Prinzipien der Gleichheit
und Sicherheit und schildert seine Hauptrichtungen. Die Verf. glauben
eine zunehmende Entleerung des urspriinglichen Sozialismusbegriffes
feststellen zu konnen. Hinsichtlich der Moglichkeit einer sozialistischen
Wirtschaftsrechnung verharrt H, auf seinem bekannten kritischen
Standpunkt.
47. Gottl-Ottillenfeld, Frledrlch v., Der My thus der Planwirtschaft.
Vom Wahn im W irtschaftsleben. Gustav Fischer. Jena 1932.
(VII u. 114 S.; RM 5.—)
Auf der Grundlage seiner gebildetheoretischen Anschauung vom
Wirtschaftsleben entwickelt G. die grundsatzliche Einstellung der
heutigen Wirtschaft auf marktmaBige „Selbstregelung", die jedoch in
vielfaltigen, von G. analysierten Formen durch eine „Leitregelung"
erganzt wird. In diesen partiellen zwangswirtschaftlichen Einbauten
und Eingriffen sieht G. „ Planwirtschaft als Tatbeetand". Da von wird
unterschieden „ Planwirtschaft als Programm" — die Forderung einer
vernunftigeren planmafligen Ausrichtung der Wirtschaftepolitik —
und endlich die „ Planwirtschaft als Wunschbild". Die damit gemeinte
400 Gerhard Meyer, Sammelbesprechung : Planwirtschaft
Zielsetzung wird zunachst als Forderung universaler Verwaltungs-
wirtschaft gedeutet, als identisch mit dem Programm der „Vergesell-
schaftung der Produktionsmitter' erwiesen und in vielen Richtungen
scharf kritisiert. Konsumfreiheit, also Marktwirtschaft, halt G. mit
totaler Planung fur unvereinbar. Besondera temperamentvoll rechnet
G. ab mit dem Glauben an eine „ Evolution nach totaler Zwangswirt-
schaft hin" und mit der Meinung, jedes Stiick partieller Planwirtschaft
und Gemeinwirtschaft bedeute schon einen Schritt weiter zum sozia-
listischen Endziel.
48. Dobretsberger, Josef, Freie oder gebundene .Wirtschaftt Zu-
sammenh&nge zwischen Konjunkturverlauf und Wirtschafts-
form. Duncker & Humblot. Miinchen u. Leipzig 1932. (165 S.;
. geb. BM. 9.—)
D. sucht die Frage, ob eine zwangsiaufige Tendenz zu „gebundener
Wirtschaft" (wozu er u. a. neben Monopolbildungen auch „Planwirt-
schaft" rechnet) bestehe, auf eine neue Weise zu beantworten: die je-
weiligen Wirtschaftsformen sind eine Funktion des Konjunkturverlaufs
und wandeln sich mit diesem. Unter Konjunktur sind hier vor allem
die „langen Wellen" zu verstehen, die durch das wechselnde Tempo
der Bevolkerungsentwicklung, der Kapitalbildung und der technischen
Fortschritte sowie durch das MaB der Marktausdehnung bestimmt sind,
ohne d&Q diese Phanomene selbst naher analysiert werden. Je nach
der Konjunkturlage verstarken sich die Tendenzen zur „freien** oder
„gebundenen" Wirtschaft. Diese Tendenzen werden aber nach D.
sofort ideologisch zu Idealsystemen ubersteigert. Unter diesem heu-
ristischen Prinzip uritersucht er eine Reihe „neuer Tatsachen", u. a.
auch die Plan wirtschafts tendenzen, den Bolschewismus (dessen neuere
Entwicklung als endgiiltiger Beweis fiir die Unmoglichkeit der voll-
sozialistischen Planwirtschaft genommen wird), die Klassenkampf-
intensitat und die Funktion der Kartelle. Das Buch prophezeit
fiir einen kommenden Aufschwung einen starken Riickgang aller
Bindungstendenzen und der dazugeh6rigen Ideologien. Die geistreich
verfochtene These erscheint zuweilen uberspitzt. Die Meinung, dafi
die „Konjunkturen" unabwendbares Schicksal seien, wird trotz allem
nicht als zwingend erwiesen.
Immerhin diirfte Dobretsbergers Prognose fiir das nachste Jahrzehnt
richtig sein und auch fiir die Planwirtschaftsdiskussion Geltung haben.
Die gegenwartigen Auseinandersetzungen tiber Moglichkeiten und Grenzen
kapitalistischer und sozialistischer Planwirtschaft haben jedoch zweifellos
zu Erkenntnissen gefiihrt, die iiber die heutige Kriais hinaus ihre theo-
retische und praktische Bedeutung behalten werden.
Besprechungen.
Philosophic.
Jaspers, Karl, Philosophie. J. Springer, Berlin 1932.
1. Band: Philosophische WeUorientierung. (XI u. 340 S.; geh. JRM. 8.80,
geb. 10.60) — 2. Band: Existenzerhellung. (VI u. 441 S.; geh. RM. 11.40,
geb. 13.20) — 3. Band: Metaphysilc. (VI u. 237 £.; geh. EM. 6.60,
geb. 8.40)
„Philosophie" schlechthin nennt Jaspers kurz und ein wenig anspruchs-
voll sein Werk. „Philosophieren" ist der. Weg zur Ergreifung des Seins.
Sein ist einmal Gegenstandliches, „In-der-Welt-sein", Philosophie „phiIo-
sophische Weltorientierung", die auf die „Grenzprobleme** stofit, welche
die Unmoglichkeit einer philosophisch befriedigenden Seinserfassung im
Rahmen einer Philosophie als Weltorientierung zeigen. A He Weltbegriffe
sind f aktisch Begrif f e von einzelnem Wirklichen, nicht von aller Wirklichkeit.
Zwischen den einzelnen Spharen der Welt — Materie, Leben, Seele, Geist —
liegen Spr tinge. Die gegenstandliche Welt ist Objekt fur ein aktiv auf sie
gerichtetes Subjekt, sie setzt das Ich voraus, das sie zum blofien Objekt ge-
macht hat, das andrerseits nicht von der Beziehung zum Objekt gelost
werden kann. Der Betrachtung der gegenstandlichen Welt tritt gegeniiber
die „Erhellung" der Ich„existenz" mit ihrer TJrsprungiichkeit, Freiheit,
Entscheidung, ihrer absoluten Einmaligkeit und Geschichtlichkeit, ihrem
„In-Kommunikation-treten" mit andern „Existenzen". Existenzer-
hellung ist nicht Wissen vom Ich, Erfassen seines Wesens — solches ist
unmoglich, hiefie das Ich zum Gegenstand machen — , sie lafit uns das Ich
in seiner Freiheit als „moglich" zum Bewu fit sein kommen, schafft Raura
fiir sein Eingreifen, bedeutet Appell an mich, „aus dem TJrsprung meiner
selbst" zu handeln, in Kommunikation mit andern als freien Personen.
Drittens ist Sein die „ absolute Wirklichkeit", nach der die Metaphysik
fragt, das letzte „An-sich". Sie ist jenseits der Subjekt-Objektbeziehung
stehend, transzendent; jeder Versuch, in den Kategorien und Inhalten
der empirischen Welt eine metaphysische Wirklichkeit zu denken, f iihrt zu
Tauschungen, aber wir vermogen „in der Immanenz des empirischen Da-
seins und der Existenz Grenzen zu erfahren, an denen sie uns gegenwartig
ist". Es gibt in der Existenz „Grenzsituationen"; die Einsicht in die Un-
vermeidlichkeit von Kampf, Schuld, Leiden, Tod. In diesen Grenzsitua-
t ion en, die wir unserm Bewufitsein verhullen, wenn wir die ,,Welt" als
einziges Sein annehmen, „enthiillt sich uns die Fragwiirdigkeit des Seins
der Welt und unseres Seins in ihr", aus ihnen steigt das unvermeidliche
Fragen nach dem Transzendenten auf. Nur in einer Form konnen wir uns
diesTranszendente zum Bewufitsein bringen: dadurch, dafi uns die Welt und
unsere Existenz zu „Chiffren" werden; nicht zu Symbolen jedoch, deren
402 Besprechungen
Sinn wir vom Symbol abzulosen und fiir sich zu denken vermdchten, sondern
deren Sinn fiir una nur in der „Transparenz" der Chiffre selbst da ist. Alles
kann Chiffre fiir una werden, alle Metaphysik ist em „Chiffreleaen", aber
die metaphysiachen Weltaapekte aind dann selbst wieder Chiffren, aozu-
sagen zweiter Ordnung, und mussen als solche von una gelesen werden;
sie gliedern sich in die allgemeine Geiateageschichte ein f die exiatentiell
gesehen zu unserer eigenen Geachichte, in unsere „Exiatenz" aufgenommen,
mit ihr in die Fragwurdigkeit dea geaamten Daseins — beatimmten Einzel-
seins — gestellt, in das zu unserem Schicksal gehorige „Scheitern" hinein-
gezogen wird. Dies Scheitern selbst aber iat aozusagen die letzte Chiffre, in
der wir die Transzendenz erfassen: „Wahrheit ist, wo scheiternde Exiatenz
die vieldeutige Sprache der Tranazendenz in die einfaltigate Seinsgewifiheit
zu ubersetzen vermag."
Jaspers Werk iat ein charakteristisches Beispiel fiir das die deutsche
Philoaophie der Gegenwart auazeichnende Bestreben, uber den eigenen
Schatten zu springen, etwaa in Worten auszudriicken, von dem in demselben
Atemzug gesagt wird, dafi es nicht ausdriickbar ist, und aus der XTnmoglich-
keit der Metaphysiken eine Metaphysik zu machen. Aber eine Metaphysik,
die nicht in Begriffen, in Worten fixierbaren Sinnes gedacht, sondern in
Symbolen, in Sinnbildern erlebt wird. Schon die Worte, in denen die
„ExistenzerheUung" vollzogen wird, bezeichnen nicht etwas, sondern
appellieren, wecken zu einem Handeln, zu einem Tun; die Worte der Meta-
physik dea Transzendenten sind „Chiffren" ohne abldsbaren Sinn, die
aozusagen jene Weckrufe der Exiatenzerhellung in einer Grundmelodie
verfestigen. Die Grenzen zwiachen Philoaophie und Dichtung verschwimmen,
Dichtung nicht im Sinne eines dichtenden Spiels mit Begriffen, sondern
eines Stimmungaauadrucka in Gedanken. SchlieBlich steckt hinter Jaspers
Philosophie eine bestimmte, in sich konsequente, fiir unsere Zeit charakte-
ristische Grundhaltung eines philoaophierenden Menschen sich selbst und
der Welt gegeniiber — eine, nicht die Philoaophie — , ein bestimmtes
Grundethos. Roh urns chrie ben ist es das Ethos eines Menschen, der aus der
Belativierung aller Wertungen und Wahrheiten, aus der Unerfindlichkeit
eines letzten objektiv und allgemeingiiltig verbindlichen Ziels und anderer-
eeits der Unmoglichkeit einer fatalistiseh hinzunehmenden Notwendigkeit
alles Geschehens, angesichts der Fragwurdigkeit alles objektiv Seienden
und des Mangels einer einsichtig und fiir alle giiltigen Richtschnur, Ruhe
findet in dem freiwilligen Ergreifen, dem Wo lien des Schicksals, in das
er geworfen ist. Die „Treue" gegen diea Gegebene und zugleich Gewollte
wird ihm Substanz des eigenen Seins, in ihr handelt er zugleich ganz aus der
augenblicklichen Situation, fiigt aich alao in sie, in sein geschichtliches Sein
an seiner Zeitstelle restlos ein, ganz und gar „frei", „unbedingt" aus sich
selbst; als Werkzeug der Zeit und der Geschichte und als freie Personlichkeit.
Jaspers Grundhaltung beruhrt sich hier mit andern, neb en Heidegger ware
der „Kairo9"-Kreis zu nennen.
J. war bekanntlich urspriinglich Arzt. Die besten Abschnitte seines
Buches sind m. E, die, in denen er die arzt lie he Situation als Beispiel heran-
zieht und psychologisch analysiert, die Situation des modernen Arztes, der
es ablehnt, vor dem Kranken und sich selbst den lieben Gott zu spielen.
Philosophie 403
tfberhaupt ist Situationspsychologie die eigentliche Starke Jaspers, als
Situationspsychologie mochte ich auch seine Philosophie verstehen — und
in diesem Sinn als Beispiel fur eine kiinftige „ Psychologic der Weltan-
schauungen". Ernst v. Aster (GieBen).
Spann, Othmar, Geachicktsphilosophie. Gustav Fischer. Jena 1932.
(XV u. 456 S.; RM.15.—; geb. MM. 16.30)
Es ist die ausdruckliche Absicht dieses Buches, ein „inneres Verhaltnis
zum Geiste" wiederherzustellen, welches dem modernen Menschen durch
die Schuld von allerlei damonischen Gewalten weithin verloren sei. Bei
so eindeutigem Bediirfnis nach Restauration ist es nicht anders moglich,
als daB dieser restaurierte Geist nicht in Vollzug und Anwendung, sondern
in gleichsam gotzenhafter Isolierung, wenn auch als Lehre (vom Wesen
der Geschichte) errichtet und vorgefiihrt wird. Solcher Geist hat keine
Aufgabe und ist nicht Aufgabe, nicht der Auflosung oder Austreibung
der Damonen und nicht der realen Befreiung. Weit entfernt, durch Geist
angegriffen zu werden, kommen die Damonen vielmehr geradezu in der
hier entwickelten geschichtsphilosophischen „Kategorienlehre' < vor und
sind dort unter dem deutschen Namen „Unholde", den „Fuhrern (i als
„Helden und Heiligen" entgegengesetzt, eigens festgehalten und bestatigt.
In einem Zuge ist so das Element, das von je den widerspenstigen Motor
alles logisch-kategorialen Ordnens ausmachte, in die Ordnung mit auf-
genommen — und diese Ordnung selbst ihrer Kraft und Mdglichkeit,
Realitat zu befassen, beraubt. Schon dies ist Symptom dafur, d&Q eine
derartige Kategorienlehre (welche im Buch zwischen „Vorfragen" und
„Metaphysik*' das Kernstuck bildet) nicht viel mehr ist als ein Arsenal von
Etiketten, die beliebigen geschichtlichen Vorgangen und Gegenstanden
Aufgeklebt werden k6nnen. Bestimmte historische Namen und Szenen
werden denn in der Tat als blofle „Beispiele" fur die oder jene Kategorie
genannt: es gibt Beispiele fur „Unholde" (etwa Rousseau, Danton, Locke,
Marx, Darwin, Freud), fur „unholdische Spannungen" (etwa als „staatliche
Entartungen": „Demokratie vom Altertum bis heute", „RevoIutionen
des tTntermenschentums", darunter auch 1789), es gibt sogar an einer Stelle
«in durchgefiihrtes Exempel dafiir, wie durch eine gewisse Kunst der
^Combination und Permutation die kategorialen Grundbegriffe so zur
Serie verkniipft werden konnen, daB sie auf die abendlandische Staaten-
geschichte sich anwenden lassen. Sie beginnt danaoh mit der „Urgrundung"
des karolingischen Lehensstaats und endigt unterZiffer7 mit der „heilenden
Neugriindung" durch „standische Organisation des Lebens", wozu der
Faschismus Mussolinis die einzige bisherige Annaherung sei. Mit ein laden der
Vorsicht fiigt der Autor, den Beispielcharakter der Realitat nurnoch ver-
•deutlichend, sogleich hinzu: „Wer mit den Beispielen nicht ein verstanden
ist, braucht darum die Kategorien als solche noch nicht zu verwerfen." —
Dies Verhaltnis beliebiger Subsumtion von diesem und jenem „in" der
Geschichte unter die obendrein noch permutablen „Kategorien" straft
in seiner Zufalligkeit den Wortlaut der Kategorien unaufhorlich Liigen.
Ebon darum die gewaltsam apodiktische Form einer schlicht mitteilbaren
,, Lehre'* und numerierter „Lehrsatze" ! Aus alledem ist deutlich, dafi
404 Besprechungen
„Sinn" hier weder praktisch gewollt noch metaphysisch erdeutet, sondern
nicht anders wie ein Fetisch blofi aufgestellt und ausgeschrien wird. Der
Kampf gegen Kausalitat und Fortschritt, der hier auf jeder Seite angesagt
wird, vermag sich um so weniger durch Argumente zu stiitzen, je mehr
,,der Geist" sich in ein Ding zusammenzieht. So lesen wir's drastisch in dem
Satze: „Der Geist ist etwas so Kostbares, daB er nur selten in der Natur
anzutreffen ist." Oder — mit einer Wendung, die dem „Empirismus" der
Okkultisten genau gleichkommt — : „Solche Wunder des Geistes sind in
der Geschichte mit Handen zu greifen".
Dieses Stadium philosophischer Ohnmacht, gewollter Ohnmacht des
Menschen, hat einen Zustand mit best immen helfen, der allerdings gegen -
wartig mit Handen zu greifen ist. Dolf Sternberger (Heidelberg).
Gogarten, Friedrich, Politische Ethih. Versuch einer Qrundlegung.
Bugen Diederichs. Jena 1932. (220 S.; RM. 4.20, geb. 6.40)
Gogarten unterscheidet in seinem neuen Buch, das sich ebenso gegen
den politischen Liberalismus wie gegen die Hberale Theologie richtet,
zwischen zwei Forderungen verschiedenen Rangs. Der „Du-sollst-Sinn"
der ethischen Forderung, der das „unaufhebbare Bosesein des Menschen"
aufdeckt, richtet sich nicht eigentlich auf das Handeln des Menschen,
sondern auf ihn in seinem Sein. Das Bose konnen gute Taten nicht uber-
winden. Dafi es uberwindbar sei, meint derjenige, der im Sinne des „Man-
tut-das-und-das" fordert, damit also die ethische Forderung an die Be-
dingung knupft, der Angesprochene bekenne sich zu dem Kreise des „man".
Das Gute, welches dem (bosen) Menschen allein zuganglich ist, geschieht
im Staat, der — eine aufiere Ordnung im Chaos — den Menschen vor
den zerstorerischen Gewalten des Menschen schutzt. Daher haben ethische
Forderungen im „Man-tut-das-und-das"- Sinne ethische Qualitat nur dann,
wenn sie die ,,Du-sollst-Forderung (t nicht verdecken, sondern offenhalten;
sie haben sie also, wenn das ,,man t( den Staat reprasentiert und so die an
.sich ethisch neutralen „Man-tut-das-und-das ( '-Forderungen auf die Er-
haltung der Ordnung gerichtet sind. — G.s politische Ethik stiitzt sich auf
Luthers Theologie und Staatslehre. Hire theologische und theologie*
geschichtliche Bedeutung steht hier nicht in Frage. Was aber das Politische
dieser Ethik betrifft, ist zu erwidern, daB sich von G. aus keine konkrete
Ant wort auf die Frage ergibt, die zwar protestantische Theologen sehr
selten, Millionen Menschen aber, die nicht mehr auf sie horen, sehr laut
erheben ; wie sie innerhalb einer Ordnung leben sollen, iiber deren Prinzipien
Gott die machtigsten Interessenten entscheiden laBt. Obwohl es zu dem
bezwingenden Ernst, mit dem G. seine Gedanken entwickelt, in Widerspruch
steht, dafl er Darstellung und Kritik des Marxismus aus gelegentlichen Bemer-
kungen C. Schmitts und einigen Aufsatzen de Mans bedenkenlos iibernimmt,
sei darauf hingewiesen, dafi diese politische Theologie durch eine Welt
von den Elaboraten Stapels getrennt ist. Hans Speier (Berlin).
Frank, Phllipp, Das Kausalgesetz und seine Orenzen. Julius Springer..
Wien 1932. (XV u. 308 S.; br. RM. 18.60)
Dieses Werk gibt eine zugleich wissenschaftlich strenge und gemein-
verstandliche klarende Ubersicht iiber die Konsequenzen, die sich mit-
Philosophic 405
Bezug auf den Sinn und die Anwendbarkeit des Kausalgesetzes aus der
neuesten Entwicklung der Physik, besonders seit der Quanten- und Wellen-
mechanik und dem ttbergang von der dynamischen zur statistischen
GesetzmaBigkeit ergeben haben. Im Gegensatz zu den heute in weiteren
wissenschaftlichen Kreisen vorherrschenden Erwartungen besteht die
Bedeutung dieser Entwicklung nach der Darstellung F.s nicht in einer
nunmehr auch auf dem Gebiet der theoretischen Physik vollzogenen Ab-
wendung von der Strenge der „ mechanist ischen" Kausalitat und Zuwen-
dung zu solchen „organischen" bzw. schon direkt animistischen Vor-
stellungen wie „Ganzheit", ,,Plan", „Zweck", „Willensfreiheit", „Atom-
seele" u. dgl. m. Vielmehr handelt es sich lediglich una die prinzipiell auch
schon friiher gegebene, durch die neueste Entwicklung aber aktualisierte
Notwendigkeit einer solchen Formulierung des Kausalgesetzes, durch
welche dieses einerseits von alien metaphysischen und philosophisch
apriorischen Sinnlosigkeiten gereinigt, andrerseits aus einer blofien all-
gemeinen Tautologie immer mehr in besondere, erfahrungsmafiig ent-
scheidbare Wirklichkeitsaussagen umgewandelt wird.
Man sieht, das Programm dieses streitbaren Positivisten besteht keines-
wegs in einer sog. ,,t)berwindung des mechanischen Materialismus".
F. erklart, daB an dem Leninschen Kampf gegen die philosophierenden
Machisten ,,vom Standpunkt einer Soziologie der wissenschaftlichen
Theorien aus vieles richtig" gewesen sei. Auch gegeniiber den antiposi-
tivistischen Tendenzen des heute im marxistischen Lager vertretenen
,, Materialismus" nimmt F. nicht dieselbe ablehnende Stellung ein wie
gegeniiber den verschiedenen metaphysischen Stromungen in der gegen-
wartigen Philosophie und Wissenschaft. Er widmet fast in jedem Kapitel
seines Buches einige Abschnitte solchen Fragen wie dem „ Kampf gegen
die Philosophie in SowjetruBland", dem „Dialektischen Materialismus",
der „Rolle von Kausalitat und Zufall in der materialistischen Geschichts-
auffassung". In all diesen Auseinandersetzungen zeigt er sich bemiiht,
die gemeinsame fortschrittliche Grundtendenz des positivistisch-ma-
chistischen und des dialektisch- marxistischen Materialismus herauszu-
arbeiten. Karl Korsch (Berlin).
Schaxel, Julias, Das Weltbild der Qegenwart und seine gesellschaft-
lichen Grundiagen. Urania-Freidenker-Verlag. Jena 1932. (79 S.;
RM. 1.-W, geb. IM)
Diese Streitschrift eines wirklich „frei denkenden" modernen Natur-
forschers erscheint als eine bewufite Antithese gegeniiber solchen weit
verbreiteten Publikationen uber das naturwissenschaftliche „Weltbild" wie
dem bekannten Buch von Bavink oder dem kollektiven Werk von Grote,
Hartmann u. a., die nicht nur tatsachlich ihrem Inhalt nach, sondern auch
ganz bewuBt nach der Absicht ihrer Herausgeber den Zweck verfolgen,
auf den „krassen Materialismus" der vergangenen Periode mit einer
„kraftigen Reaktion" einzusetzen. Da es naturlich unmoglich ist, auf
jeweils 10 — 20 Seiten solche groBen Bereiche wie die seit der Jahrhundert-
wende immer mehr verscharfte „Krise der Wissenschaft", das Verhaltnis
von „Wirtschaft und Wissenschaft", von „Kapitalismus und Natur-
406 Besprechungen
wissenschaft", proletariat und Gesellschaftswissenschaft", „Sozialismus
und Planwissenschaft", auch nur in den Hauptzttgen vollstandig zu be-
waltigen, so beschrankt sich Sch. in den 5 Teilen seiner „Hauptdarstellung"
mit Recht auf ein „Gerippe" mit nur gelegentlicher ausfuhrlicher Behand-
lung wichtiger Einzelheiten. Er erganzt aber dieses Gerippe durch einen
„Anhang" von 10 eng gedruckten Seiten, angefullt mit auBerst wert-
vollen und inhaltsreichen Hinweisen auf das Schrifttum, treffend ausge-
wahlten eharakteristisohen Zitaten und einer kritischen Kennzeichnung
der Zusammenhange. Er bemerkt mit Grund, dafi der Leser, der diesem
„Wegweiser" zu folgen vermag, „gegenstandliche Fiille und hochsteAktu-
alitat" finden wird. Der „rote Faden" in der Hauptdarstellung wie im
Anhang wird gebildet durch die Anwendung des historischen Materialismus
von Marx, Engels, Lenin auf die Ausbildung des heutigen wissenschaft-
lichen „Weltbildes", seine gesellschaftlichen Grenzen und die Durch-
brechung dieser Grenzen durch die bewufit gesellschaftliche und plan-
raafiige sozialistische Erkenntnis der Arbeiterklasse.
Karl Korsch (Berlin).
Conn, Jonas, Wertwissenschaft. Erater Teil: Axiotik, Zweiter Teil:
Systematic. F.Frommann. Stuttgart 1932. (XVI u. 420 S.; RM. 5.80)
Philosophie der „ Werte" tritt ausdriicklich erst im 19. Jahrhundert
auf, ist ein Produkt des 19. Jahrhunderts. Hermann Cohens praziser Satz,
der Wert sei „die Kategorie des Verkehrs", deckt die meist und auch im
vorliegenden Werke verschwiegene Grundlage solchen Philosophierens auf,
Verkehr und Tausch, obwohl weder als Faktum noch als Problem ausdriick-
lich hier behandelt, ermoglichen doch allein sowohl jene Aufteilung der
Welt in „Kulturgebiete" und ihre Nivellierung unter dem Aspekt einer
immer wiederkehrenden gleichen Struktur von Wert,Werthaltung und Wert-
bezug iiberhaupt, wie auch jene Versammlung der Geschichte in ein syste-
matisches Pantheon der Werte, welche in der Theorie des „Verstehens"
sich die erkenntnistheoretische Rechtfertigung geschaffen hat. Wenn auch
die „Systematik" der Cohnschen Wertwissenschaft die Werte selber als
ein uberaus kompliziertes Gebaude von einander fundierenden, immer hQher
aufsteigenden Stufen (mit den Namen ihrer jeweiligen „Wertzentren" — •
oder Subjekte — benannt als ^Leben", „Erleben", „Selbst", „ Person",
„Gemeinschaft", „Geist") sinnreich verkniipft und entfaltet, so ist dieser
Bau doch insofern durchaus unhegelianisch, als „jede Stufe ihren Eigen-
wert" behalt oder als, anders ausgedrtickt, die Zeit wie auch die bestimmten
geschichtlichen Orte ganzlich eliminiert sind. Die Architektur durchkreuzt
und umfangt nur ein zunachst planes Nebeneinander von „Kulturgebieten",
das eingestandenermaBen den Ausgangsstoff der Wertforschung und ins-
besondere der „ Axiotik" (Analyse der Wertstruktur als solcher) bildet. Und
sie tut auf diese Art dem mystisch-idealistischen BedUrfnis Gentige, Hoff-
nung auf Erlosung (im theologischen und also zeitlichen Verstande) in
einen einzigen simultanen Raum, eben als Stufen gebaude, einzufangen
und zu barmen, Vor aller AusfUhrung ist denn die Gefahr der Negation
von „Kultur" und Wert iiberhaupt (am Exempel Rousseaus und Buddhas)
durch einen ganzlich in abstracto bleibenden t5l>errumpelungsbeweis
Philosophie 407
(S. 101, 104) aus dem Wege geraumt und so der Name „Kultur" — durchaus
in konservativer Defensive — als Garantie der Positivitat aller Werte gerettet
worden. Die Wirkung der „Dialektik u (welche die Eigentiimhchkeit dieser
Wertlehre ausmacht gegeniiber friiheren entweder psychologisch-prag-
matisch oder phanomenologisch -material begriindeten Systemen) besteht
wesentlich in der Entfaltung jener Stufen als reflexiv selbstandiger Ganz-
heiten, eigentiimlich schwebender Gebilde, welche die Werte aus der ding-
haften Verfassung in die Bewegung des „Akts" zurticknehmen sollen,
tatsachlich aber wohl eher dem wirklichen Menschen ein genuBreiches
Gefangnis bereiten helfen. — Es darf aber auch im kurzen Referat nicht
ausgelassen werden, dafl hier der Geist, der „Sinn t( und die Wertbeziige
nicht mehr allmachtig sind: daB es in diesem Werke, worin die Arbeit
eines Lebens niedergelegt ist, die eigentlich groBartigen Satze sind, in
welchen gerade die Grenzen des Sinnverstehens erortert werden und an
denen somit die Kultur zum Stiickwerk wird vor der „Unverstandlichkeit
alles dessen, wovon wir abhangen" (411). Die Religion als „Idee eines
allumfassenden Sinnganzen", welche doch zugleich die Fremdheit Gottes
und der Welt als Natur mit enthalt, macht so den BeschluB der Wert-
systematik, ohne sie aber metaphysisch abzuschlieBen.
Dolf Sternberger (Heidelberg).
Croce, Benedetto, Tre saggi filosofici. (Drei philosophi&che Essays.)
Libreria Cuni. Palermo 2932. (69 S.; 8 L)
Im ersten Essay handelt Croce von der JLsthetik und der Volkswirtschaft
als den beiden Wissenschaften, deren Betonung das Geist esleben der Neu-
zeit von dem des Mittelalters unterscheide. Die weltliche Natur der beiden
neuen Wissenschaften sei weder den am Alten hangenden noch den zum
Neuen strebenden Geistern zum Bewufltsein gekommen, und doch voll-
ziehe sich in beiden die Versdhnung von Sinnlichkeit und Geist igkeit,
von Natur und Geist. Sie seien die modernen Wissenschaften par ex-
cellence. Unter dem Titel „ Philosophie als moralisches Leben und mora-
lisches Leben als Philosophie" fuhrt C. im zweiten Essay aus, dafi die
Unterscheidung zwischen philosophischem und nichtphilosophischem
Denken nicht logischer, sondern psychologischer Art sei. Philosophie
ist das Bedurfnis nach Zusammenhang und Ubereinstimmung — cohae-
rentia — t das bei den verschiedenen Menschen verschieden weit reicht
und bei einigen ganz fehlt. Im praktischen Verhalten bezeichnen wir
einen. hohen Grad dieser cohaerentia als Charakter, ihr Fehlen als Charakter-
losigkeit. Aber das philosophische Bedurfnis nach Zusammenhang und
tft>ereinstimmung hangt mit dem sittlichen Bedurfnis nach beidem, dem
Charakter, zusammen. Erkenntnis setzt sittliche Bereitschaft fiir die Wahr-
heit voraus. Echte Philosophie mufl man leben. — Im dritten Essay —
„Gnade und freier Wille" — beleuchtet C die Tatsache, daB sich in der
Einheit des geistigen Lebens das menschliche Handeln verschieden dar-
is tell t : vom theoretischen Standpunkt als notwendig, ohne Schuld und Ver-
dienst, vom praktischen als freie Tat, fiir die man sich verantwortlich
fuhlt. C. fragt sich, „ob der jahrhundertelange Kampf der Theologen liber
Gnade und freien Willen sich nicht durchsichtiger und einfacher darstellen
408 Besprechungen
lieBe, wenn man ihn auf einen ZusammenstoB oder eine Verwechslung
zwischen dem theoretischen und geschichtlichen Standpunkt und dem
praktischen und moralischen zuruckfiihre. Man konne sagen, dafi wir
uns beim Denken der Geschichte immer auf den Standpunkt der Gnade
und Vorsehung und der Rechtfertigung durch den Glauben stellen und
beim Machen der Geschichte, also im Gestalten des praktischen Lebens,
auf den des freien Willens, der Verantwortlichkeit und der Rechtfertigung
durch die Werke". Oda Olberg (Wien).
Weber, Heinrich und Peter Tischleder, Handbuch der Sozialethik. Erster
Band. Wirtschaftsethik. S.O.Baedeker. Essen 1931. (XXXVI u. 556 S.;
geb. RM. 16.—)
Die erste systematische katholische Wirtschaftsethik. Sie will das
wirtschaftliche Handeln den scholastischen Moralgesetzen unterwerfen.
Der merkwurdige Versuch ruht auf der doppelten Voraussetzung :. daB
erstens die bestehende kapitalistische Wirtschaftsordnung in ihren oko-
nomisch-rechtlichen Grundlagen ethisch indifferent sei ; dafi zweitens die
aus der mittelalterlichen Scholastik tradierten Moralprinzipien „unwandel-
bare" Geltung hatten und auf jedwede historische Sozialverfassung ange-
wandt werden konnten.
Von der bisherigen sozial- und wirtschaftsethischen Literatur des
Katholizismus hebt sich das Werk dadurch bemerkenswert ab, daB in
ihm eine grundliche Kenntnis des kapitalistischen Funktionsmechanismus
verarbeitet ist. Die Verfasser — ein Nationalokonom und ein Moral-
theologe — bemuhen sich, an den tatsachlichen, okonomisch vorge-
schriebenen Funktionen der Kapitalgeber, Unternehmer, Borsenspeku-
lanten, Handler und Arbeiter die Anwendbarkeit ihrer ethischen Prinzipien
nachzuweisen. Der Erfolg ist allerdings weniger eine sittliche Normierung
als eine moralische Legalisierung der kapitalistischen Wirtschaft. Sie
wird unterstiitzt durch eine scharfe, polemisch-heftige Kritik des Sozialis-
mus, die keine neuen und iiberzeugenden Argumente enthalt.
Heinrich Mertens (Frankfurt a. M.).
Bonnecase, J., Philosophic de Vimp6rialisme et science du droit*
Delmas. Bordeaux 1932. (290 S.; 40 Frs.)
Aus dem ersten kritischen Teile ergeben sich dem Verf. vier „Grund-
begriffe" fur die Philosophic des Imperialismus: es seien nach Ernest
Seilliere zunachst der ,»wesenhafte Imperialismus im Lebewesen'% dann die
„Mystik", drittens die „Romantik", endlich die „Vernunft" im Gegen-
satz zum Instinkt oder zum Geftihl. Die Vernunft schaffe und baue kraft
Willens und Begriffs, das Gefiihl ahme nach kraft „egotisme pathologique,
mysticisme conqu6rant, velleite et terminologie rationnelles".
Der zweite Teil will die gewonnenen Begriffe auf die Rechtswissenschaft
anwenden, aber erst durch Heranziehung zweier weiterer Postulate, die sich
aus der Antithese ^rational-irrational" ergeben. Z. B. gilt dem Verf. der
juridische Imperialismus rational als Privatrecht, irrational als Staats-
und internationales Recht. Der imperialistische Juridismus zeitigt
demnach mit seiner „dreifachen Mystik der Basse, der Klasse und des
Philosophie 409
Individuums" ein rassenhaftes Internationales Recht, aber kein klassen-
haftes Staatsrecht, weil dieses sich auf ein Privatrecht reduziere. Ein
offenbarer Widerspruch! Denn wie kann man einen „Begriff" rationali-
sieren ? EntWeder sind ,,Mystik" und „Romantik" rationale Begriffe und
dann nicht rationalisierungsbediirftig. Oder sie sind keine Begriffe und
mijssen aus der Rechtswissenschaft ausscheiden. Gerade wenn man damit
einverstanden ist, da6 der Rechtsbegriff „un point fixe au milieu du tour-
billon social" sein musse, bleibt die Behauptung unverstandlich, daB die
Rechtswissenschaft von der Rechtsphilosophie „nicht zu trennen" sei.
Verf. gerat eben in die Klemme, die er bei den Gegnern von rechts (Hauriou
und Renard) und von links (Duguit und Lacroix) zu beseitigen sucht: die
Verwechslung von wissenschaftlichem Begriff und philosophischem Postulat
zwingt ihn zur willkiirlichen Reduzierung der Sozialwissenschaft auf die
Rechtswissenschaft* M. Tazerout (La Roche, Yon).
Marcuse, Herbert, Hegels Ontologie und die Grundlegung einer
Theorie der Geschichtlichkeit. Vittorio Klostermann. Frankfurter. M.
1932, (367 JS.; RM. 15.—)
Marcuses TJnternehmen, gerichtet auf den system -tragenden „Seinsent-
wurf" Hegels, wirdgefordert durchdessen eigene philosophische Vorgeschichte.
Seit Diltheys Forschungen und der Nohlschen Ausgabe der theologischen
Jugendschriffcen ist kein Zweifel an der Prioritat des Lebensbegriffes bei
Hegel als des zugleich einheitlichen und sich entzweienden, daran die .
dialektische Umdeutung der Kantischen Subjekt-Objekt-Problematik erst
als systematische Auspragung der philosophischen Grunderfahrung sich
anschlieBt. M. nun sucht diesen Lebensbegriff herauszulosen aus dem Bereich
von Faktizitat, in welchem er gewonnen ist, und als „Sinn** nicht sowohl
des Seienden als von Sein selbst zu erfassen, der als reine Moglichkeit
aller Faktizitat vorgeordnet, ob auch not wen dig auf existierendes Seiendes
verwiesen ist. „Der Grundsinn von Sein, der den Ansatz des Seinsbe-
griffes bestimmt, ist die ursprungliche Ein he it der Gegensatze von ,Sub-
jektivitat* und,Objektivitat' IndemdieseEinheit von Hegel als einigende
Einheit gefafit und als das Geschehen des Seienden selbst begriffen wird,
wird die Bewegtheit als Grundcharakter des Seins erkannt" (S. 5);
darum Hegel nicht mehr wie ublich auf den bereits verdinglichten, f aktischen
„Geist" interpretiert, wie er die spaten materialen Systemausfuhrungen
beherrscht, sondern auf den „vollen Seinsbegriff des Lebens" (S. 7).
Als dessen „eigentlichstes Sein" wird verstanden „das begreifende Sein:
der ,Begriff" (S. 6); „wissende Bewegtheit**. — Das Buch gliedert sich
in die ontologische Interpretation von Sein als wissender Bewegtheit und
den Fundierungsversuch einer existentialen Theorie der „ Geschichtlichkeit".
Diese mdchte schlieBIich die Verwandlung der ontologischen Ausgangsfragen
Hegels in Deutungen der Faktizitat nicht bloft bezeichnen, sondern aus
der Problematikder „PhanomenoIogie" verstandlich machen : als „Verwandlung
des Lebensbegriff s in den Seinsbegriff des Geistes** und als „ Verwandlung
der wissenden Bewegtheit in die Bewegtheit des absoluten Wissens".
Damit scheint M. von Heideggers publiker Lehrmeinung, die er sonst mit der
Strenge des Schulers vertritt, entscheidend abzuweichen: er tendiert vom
410 Besprechungen
„Sinn von Sein" zur I£rschlieBung des Seienden; von Fundamentalontologie
zur Geschichtsphilosophie ; von Geschichtlichkeit zur Geschichte. Dasmacht
die Bedeutung des Werkes aus und eroffnet es zugleich der Kritik. Wenn M.
so weit geht, nicht sowohl mehr bloB die Moglichkeit des Faktischseins
ontologisch auszulegen als vielmehr die Moglichkeit der Auslegung faktischen
Seine aus der ontologischen Struktur herzuleiten, ware konsequent zu er-
wagen: warum iiberhaupt philosophisch die „ontologische" Frage der In-
terpretation der realen geschichtlichen Fakten noch vorausgeht, wahrend
doch M. den Bruch zwischen Faktizitat und Ontologie schliefien mochte.
1st die konstitutive „Ganzheit" selber vorfaktische, ontologisohe Grund-
struktur oder weist sie auf historisch bestimmte Faktizitat zuriick: das
gleiche „Subjekt", in dem M. nicht umsonst das „eigentlichste Sein" der
Hegelschen Bewegtheit sieht ? Dann schliige die Frage nach dem Hegelschen
Sinn von Sein als Moglichkeit um in die nach dem Sinn von Subjektivitat
als Wirklichkeit. Und hat nicht gerade die „Ganzheit" des Hegelschen
Entwurfs als eine des „ Systems" den geschichtlich-faktischen Anspruch
absoluter Subjektivitat zur Voraussetzung ? Deutet nicht der Fundierungs-
anspruch der neuen Ontologie eben als Anspruch auf „Ganzheit" seinem
Wahrheitsgehalt nach zuriick auf den Idealismus und damit einen
innergeschichtlichen, auf bestimmte Pragmatik bezogenen philosophischen
„Standpunkt"?
Theodor Wiesengrund-Adorno (Frankfurt a. M.).
Nitzschke, Heinz, Die Geschichtsphilosophie Lorenz von Steins. Ein
Beitrag zur Qeistesgeschichte des 19. Jahrhunderts. R. Oldenbourg.
Miinchen «. Berlin 1932. (145 S.; MM. 6.—)
Die Leipziger Dissertation aus der Freyer-Schule gibt eine systematische
Darstellung der Geschichtsphilosophie von Lorenz von Stein, der neben
Marx mit Reeht der Begriinder der deutschen Soziologie genannt wird.
Fern einer gegenwartig verbreiteten Formalsoziologie ist seine Gesellschafts-
wissenschaft gleichzeitig universale Geschichtsphilosophie. Dies zeigt
deutlich N. in seinem Hauptteil iiber die materielle Geschichtsphilosophie
bei Stein, die nach Troeltschs Schematik im AnschluB an seine formale
Geschichtslogik ausfuhrlich behandelt wird. Der Verf. untersucht u. a.
Steins philosophische Anthropologic, seine Philosophie der Arbeit, die
historischen Triebkrafte (Geschichte als „Bewegung der Interessen"), die
Gesetze der Geschichte, Geschichte und Gesellschaft, Geschichte und Staat.
Vor allem die Analyse der Realisierung der geschichtlich-gesellschaftlichen
Neuordnung bei Stein beleuchtet sein eigentiimliches Schwanken zwischen
Realismus und Idealismus. In einem zweiten Teil wird die geistesgeschicht-
liche Stellung und die innere Entwicklung Steins untersucht, wofiir N.
drei $pochen feststellt (bis 1841 Hegel -Einflufi, bis 1861 Einwirkung des
positivistischen Westens, schlieBlich Annaherung an romantisch-konser-
vative Denkhaltung).
N. fiihrt iiber Griinfelds bisher beste Analyse von Personlichkeit und
Werk Lorenz von Steins ein gutes Stuck hinaus und gibt eine wertvolle
Grundlegung einer geistesgeschichtlichen Biographie. Die gewissenhafte
und umsichtige Studie gewinnt darttber hinaus Bedeutung dadurch, dafi
Philosophie 411
sie in der Analyse des markantesten geschiohtsphilosophischen Soziologen
einen fruchtbaren Beitrag gibt fur die in der gegenwartigen wissenschaft-
Iichen Diskussion zentrale Problematik von Geschichte und Soziologie und
damit von dem Grundcharakter der Soziologie iiberhaupt.
Sigmund Neumann (Berlin).
Suranyi- linger, Theo, Geschichte der Wirtschaftsphilosophie. Junker
<fc Diinnhaupt. Berlin 1931. (70 S.; RM. 3.60)
Das nur 70 Seiten starke Heft bespricht liber 200 Autoren. Eine gewisse
Oberflachlichkeit in der Behandlung seines Stoffes wird man dem Verf.
daher nachsehen mtissen. Er kntipft seine Untersuchung uber die Wechsel-
wirkungen zwischen Philosophie und Wirtschaftstheorie an den Entwick-
lungsgang der Volkswirtschaftslehre selbst an. Hierdurch werden die wenigen,
aber sachlich iiberaus wichtigen Forscher beiseite gelassen, die das Gebiet
der Wirtschaftsphilosophie von philosophischer Seite her bearbeitet haben.
Ich erwahne hier Scheler, Gorland, Kroner, Lukacs u. a. Aufierdem ist
es — entgegen der Auffassung des Autors — fur jegliche Erorterung wirt-
schaftsphilosophischer Probleme entscheidend wichtig, zwischen der per-
sonlichen Philosophie der Okonomen und den philosophischen Grundlagen
der okonomischen Systeme scharf zu unterscheiden.
Franz Meyer (Breslau).
Mehring, Franz, Zur Geschichte der Philosophic. Mit Einleitung und
Anhang von August Thalheimer. Soziologische VerlagsanstaU. Berlin
1931. (420 S.; br. KM. 6.50, geb. RM. 8.50)
Der Herausgeber des Bandes teilt die Tatigkeit Mehrings auf dem Ge-
biete der Philosophiegeschichte in vier groBe Gruppen ein: 1. die Vermitt-
lung und kritische Sichtung des Erbes der klassischen deutschen Philoso-
phie; 2. die Erforschung des Ubergangs von der Hegelschen Philosophie
uber die Neuhegelianer und Feuerbach zum wissenschaftlichen Sozialismus
von Marx und Engels; 3. die Erlauterung und Anwendung des historischen
MateriaUsmus und die kritische Abwehr seiner Gegner; 4. die Klarlegung und
Verteidigung der kritischen Auflosung der Religion im allgemeinen und des
Christentums im besonderen. Die Aufsatze zu Punkt 1 und 2 bilden das
Kernstuck des M.schen Werkes. M. hatte, wie Thalheimer in der Einleitung
auch hervorhebt, nur ein schwaches Interesse fiir die Fragen der Logik und
Dialektik und war fast ausschlieBlich historisch interessiert.
Es besteht naturhch die Gefahr, daC M.s philosophiegeschichtliche Ar-
beiten heute als „veraltet** beiseite gelegt werden. Sind sie doch noch vor
dem Weltkriege abgeschlossen worden. Inzwischen ist durch die Marx-
Engels-Gesamtausgabe ganz neues Material fiir das Hauptthema M.s ver-
offenthcht worden. Vor allem aber hat sich die methodische Einstellung
zu einer historisch -materialistischen oder erkenntnissoziologischen Behand-
lung der Philosophiegeschichte so grundlegend verschoben, daB alle heute
zu dieser Frage mdglichen „Standpunkte" von Mehring durch eine uniiber^
bruckbare Kluft getrennt sind, Trotz dieses Hauches von Verganglichkeit
bewahren die Aufsatze den Charakterzug „klassischer" Leistungen.
Franz Meyer (Breslau).
412 Besprechungen
Allgemeine Soziologie.
Oriinder der Soziologie. Eine Vortragsreihe unter Mitwirkung von
G. L. Duprat, H. Freyer, A. Meusel, F. K. Mann, L. v. Wiese u. M. Weber.
Gustav Fischer. Jena 1932. (VII u. 158 S.; RM. 7.50)
Das Buch enthalt eine Vortragsreihe des L. von Wieseschen Sozial-
wissenschaftlichen Forschungsinstituts an der Universitat Koln. Die Aus -
wahl der behandelten Forscher ist etwas willkurlich. 78 Seiten sind allein
Schaffle aus AnlaB eines Gedenktages gewidmet. L. von Wiese zeichnet
in wenigen Strichen ein Gesamtbild dieses Autors, Mann behandelt aus*
fiihrlich seine Wirtschafts- und Finanzsoziologie. Aus beiden Darstellungen
ergibt sich deutlich das Willkurliche, Sprunghafte, Widerspruchsvolle in
Schaffles Denken, auch die Breite seines Gesichtskreises und sein Reichtum
an Einfallen. Seine Verbindung mit Comte und Darwin nach rtickwarts,
mit dem Spannschen Universalis mus nach vorwarts, trotz mancher be-
deutender Gedanken auch das im Grunde Unschopferische seines Denkens
treten sehr iiberzeugend hervor. — Freyer charakterisiert in prachtiger
Kiirze und Klarheit die Soziologie der Romantik als das Werk entwurzelter
Intellektueller, die sich mit den konservativen Machten der Gesellschaft
verbinden, die gewaltige Bedeutung dieses Bundnisses fur die Entstehung
des geschichtlichen Weltbilds einerseits, das Unverstandnis der Romantiker
fur den modernen Kapitalismus andererseits. Me use 1 gibt auf nur 13 Seiten
eine alles Wesentliche beriicksichtigende Quintessenz des Marxismus, den
er in orthodoxer Interpretation als Einheit von Theorie und proletarisch-
revolutionarer Praxis charakterisiert. — Duprat entwirft eine Gegen-
iiberstellung von Comte und Durkheim. Er bestreitet Durkheim „jede
wissenschaftliche Kultur 4 *, leugnet jeden bedeutenden Fortschritt der
Soziologie seit Comte, bemuht sich im ubrigen nicht, diesen, der ihm In-
begriff des Richtigen und Durkheim, der ihm Herold alles Falschen ist,
aus Situation und Problemstellung zu verstehen. — Marianne Weber gibt
einen kurzen AbriB der Biographie und des Lebenswerkes Max Webers.
Franz Borkenau (Wien).
Thurnwald, Richard, Die menschliche Gesellschaft. 2. Bd.: Werden t
Wandel und Gestaltung von Familie, Verwandtschaft und Biinden.
W. de Gruyter. Berlin u. Leipzig 1932. {360 S.; geb. RM. 20.~)
Hatte Thurnwald im 1. Bd. des Werkes (s. diese Ztschr. I, 1932, 229f.)
durch die „reprasentativen Lebensbilder" einer groBen Zahl von Natur-
volkern die verschiedenen Formen der Vergesellschaftung in ihrer Ver-
flechtung mit der jeweiligen Gesamtkultur aufgezeigt, so bringt der vor-
liegende 2. Band die systematische Darstellung der entscheidenden sozialen
Institutionen, die jedoch, wie Verf. mit Recht hervorhebt, gerade bei
den niederen Natur volkern nicht die Merkmale der , , Unbedingtheit,
Festigkeit und Unabanderlichkeit" an sich tragen, wie wir Europaer sie ale
unerlaBlich fiir das Wesen einer „ Institution" ansehen,.und die deshalb auch
nur seiten klar umrissen und unmittelbar faBlich in Erscheinung treten.
Den weitaus groflten Teil des Buches nimmt der Abschnitt „Familie und
Verwandtschaft" ein, dem gegeniiber die Ausfiihrungen iiber die „Biinde"
Allgemeine Soziologie 413
(Mannerbiinde, Geheimbiinde, die mit ihnen in engem Zusammenhang
stehenden Jiinglings- und Madchenweihen) fast nur als Anhang erscheinen.
t^ber die Gliederung und Anordnung des Stoffes kann man oft verschiedener
Meinung sein; es ware z. B. sic her besser gewesen, die erst als 9. und
10. Kapitel erscheinenden grundlegenden Auseinandersetzungen uber
Mutter- und Vaterrecht der Darstellung der Familie vorausgehen zu
lassen. Im iibrigen sind alle wichtigen sozialen Institutionen unter ge-
legentlicher Heranziehung europaischer Gesellschaften behandelt: Familie,
Sippe, Klan und Grofifamilie, die Stellung der Frau und ihre wirtschaftliche
Bedingtheit, die Ehe nebst Ehebruch und Scheidung, die Heiratsformen
und -ordnungen, die ,,sexuellen Sitten" (worunter auch die Prostitution
gefaBt ist), die Art der Verwandtschaft, die Stellung des Kindes (wobei die
Erziehung, dieses interessante und auch fur unsere Padagogik so aufschluB-
reiche Kapitel primitiven Zusammenlebens leider nur ganz kurz abgetan
wird) und endlich der Altersablauf.
tJber der in ihrer Gesamtheit stattlichen Zahl von Quellen, die der Ver-
fasser kritisch gesichtet als Grundlage bzw. Belege fur die Herausarbeitung
der besonderen Formen und Varianten der einzelnen sozialen Institutionen
heranzieht, darf nicht vergessen werden, daB sie doch nur einen kleinen,
dazu stark von Zuf alien abhangigen Ausschnitt aus den tatsachlich exi-
stierenden gesellschaftlichen Einrichtungen der Volker der Erde dar-
stellen und daB deshalb allgemein gultige Folgerungen und Schltisse kaum
raoglich sind. Ein Hinweis, der weder dem hochverdienten Verfasser
noch dem methodisch geschulten Ethnologen etwas Neues sagt, der aber
vielleicht doch von Wert ist fur diejenigen, die auf den Nachbar- und Grenz-
gebieten der Ethnologie arbeiten und deshalb weniger als der Ethnologe
der Erfahrung ausgesetzt sind, dafi neben den bestehenden weitreichenden
Zusammenhangen und Beziehungen der Kulturen doch auch jede einzelne
Kultur ihr ausgepragtes Eigenleben hat und die Variabilitat und Viel-
gestaltigkeit kulturelier und sozialer Formen und Institutionen viel
groBer ist, als es eine im wesentlichen auf Syn these, auf die Fest-
stellung von Kultur verwandtschaft, ausgehende Forschungsrichtung
erkennen lafit.
Ernst Vatter (Frankfurt a. M.).
Sorokin, Pitirim, Soziologische Theorien im 19. und 20. Jahrhundert,
Deutsche Bearbeitung von Hans KafSpohl. C. H. Beck. Miinchen 1931.
(VII u. 342 S.; geh. RM. 10.50, geb. 13.50)
Das leider von 785 auf 342 Seiten gekiirzte Standardwerk des bekannten
russischen Soziologen, der jetzt an der Harvard-Universitat lehrt, stellt
einen groBen Fortschritt gegenuber den bisherigen Geschichten der So-
ziologie dar: die geschichtsphilosophische Spekulation tritt vollig zuriick#
es werden nicht Prinzipien untersucht, sondern das Material auf seine Halt*
barkeit gepruft. Infolge der besonderen Neigung des Verf . zu statistischen
und induktiv-experimentellen Darstellungen werden nicht die dogmatischen
Voraussetzungen der verschiedenen Schulmeinungen, sondern die Spezial-
untersuchungen hervorgehoben. tJ'ber die Einteilung der Schulen laBt
sich streiten. S. hat nicht eine Problemgeschichte gegeben, sondern
414 Besprechungen
die Lehren nach EinflUssen der Nachbargebiete : soziale Physik, Geo-
graphie, Anthropologic und Biologie, Psychologie und Soziologismus unter -
schieden, dabei ist jeweils eine Kritik unter dem Gesichtspunkt der posi-
tiven Ergebnisse angefiigt. Leader wird die deutsche Literatur ungeniigend
behandelt, von der eigentlich deutschen Gesellschaftswissenschaft seit
Hegel und L. von Stein ist nicht die Rede ; Gumplowicz ist unter die Sozio-
logisten kurz eingereiht, die romantische Schule bis Spann wird nur ganz
nebenbei behandelt, die wissens- und kultursoziologische Schule kommt
uberhaupt nicht vor. Pareto und Leplay werden entsprechend gewtirdigt.
Unter dem Titel „BioIogische Theorien" sind nicht nur die organizistischen
und darwinistischen Lehren, sondern auch die anthropologischen Schulen
eingereiht. Sehr ausfiihrlich gibt S. im Anschlufl an die Lehre vom Daseins-
kampf eine Soziologie des Kriegs. Die soziologistische oder vielmehr neu-
positivistische Schule von de Roberty, Espinas und Durkheim wird
unter dem Gesichtspunkt: „Wissenschaft als primarer sozialer Faktor"
zu vereinfacht gesehen. XJnzureichend ist die Kritik der sog. wirtschaftlichen
Schule von Karl Marx, in der nur der wirtschaftliche Gesichtspunkt als
altbekannt und einseitig in seinem Determinismus abgelehnt wird ; dagegen
werden wirtschaftliche Bedingungen fur k6rperliche und geistige Merkmale
und Zusammenhange von Verarmung und Verbrechen, Wirtschaftsverhalt-
nissen und politischen Institutionen und Revolutionen, Verfall und Fort*
schritt konstatiert. Wahrend die sog. formale Schule, zu der Tonnies ge-
rechnet wird, damit abgetan scheint, daC sie nur eine unvollstandige Auf-
zahlung der For men gebe, welche in den „Theorien des Rechts" seit jeher
viel genauer angegeben wiirden, und enzyklopadisch genannt wird, weil
eben der soziale Inhalt aus den verschiedensten Wissenschaften ent-
nommen ware, wird die psychologische Schule grtindlich und richtig be-
handelt. Die sozialen Funktionen des Rechts sind zu kurz gekommen, da-
gegen sind die experimentellen Untersuchungen iiber Familie, Beruf,
stadtische XJmgebung, Rhythmus und Zyklus sozialer Veranderungen und
des Verf. eigene Darstellungen iiber soziale Beweglichkeit, also die experi-
mentellen soziologischen Sonder untersuchungen auBerordentlich lehrreich.
Das vorliegende Werk ist mit seiner weiten tftiersicht in Deutschland zum
Studium sehr zu empfehlen.
Gottfried Salomon (Frankfurt a. M.).
Kroner, Richard, Kulturphilosophische Orundlegung der Politik.
Junker & Dunnhaupt. Berlin 1931, (112 S.; RM. 5.50)
K. versucht einen allgemeinen philosophischen Kanon fur Politik,
politische Ziele und politisches Handeln aufzustellen. Politik sei — vom
philosophischen Standpunkt aus gesehen — Kampf um Verwirklichung
berechtigter Interessen (zum Unterschied von blofier Gewalt) und Ent-
faltung der ewigen Idee des Rechts. Das Forum, vor dem iiber Existenz-
berechtigung politischer Interessen gerichtet wird, ist das ,,allgemeine
RechtsbewuBtsein", das also anscheinend diese ewige Idee des Rechts
legitim verkundet. Dieses nicht weiter nach seiner Herkunft erforschte
sittliche RechtsbewuQtsein der einzelnen Menschen schlagt dialektisch um
in die objektive Sinnwirklichkeit des Staates; der Staat ist eine iibersinn-
Allgemeine Soziologie 415
liche, aber nichtsdestoweniger konkrete individuelle Personlichkeit. Des-
halb ist auch die Frage nach der Entstehung des Staates falsch gestellt:
„Wie konnen Menschen etwas erzeugt haben, das machtiger ist als sie ?"
Eine eindeutige Wahl zugunsten von Monarchie oder Demokratie wagt
K. nicht zu treffen. Entscheidend aber erscheint ihm das Fuhrerprinzip
als Ausdruck der Staatspersonlichkeit, „erst durch den Fiihrerwillen wird
das Volk iiberhaupt zum Volk zum TJnterschiede vom Haufen oder von
der bloflen Masse". Folgerichtig bekennt er sich auch zum Standestaat
und zum Klassenstaat, die naturlichen Rangordnungen entsprachen.
K. versucht eine Nachkonstruktion der Hegelschen Staatsphilosophie,
mit der Krdnung des Systems in der Philosophic der Kultur. Aber die
tJbemahme unverwandelter Hegelscher Kategorien scheint uns in der
vorliegenden Form heute nicht mehr moglich. Das Ergebnis ist ein System,
das uns mehr eine Mythologie deucht als eine Philosophie, urn so mehr, als
K. das vorliegende Material der heutigen Soziologie, Okonomie und Staats-
theorie aufier acht lafit. Die spekulativ beginnenden Gedanken des Verf.
gipfeln in politisch liberalen Behauptungen, die nach dieser philosophischen
Grundlegung nicht an Objektivitat und Uberzeugungskraft gewonnen
haben. Eher scheint uns die Polemik K.s gegen „politische Philosophie als
Ideologic" auf sein eigenes Buch zuzutreffen.
Peter von Haselberg (Frankfurt, a. M.).
Schiitz, Alfred, Der sinnkafte Aufbau der sozialen Welt, Julius
Springer. Wien 1932. (285 S.; br. RM. 12.~~, geb. RM. 13.50)
S. macht den Versuch, die Max Webersche Lehre von der verstehenden
Soziologie und vom Idealtypus unter Heranziehung der Bergsonschen
Ich-Metaphysik phahomenologisch zu interpretieren. Er stellt das rationale
Verstehen sozialer Gebilde im Sinne Webers dem intuitiven Verstehen
Diltheys, das ihm als unwissenschaftlich gilt, scharf gegeniiber. Das
grundliche, in der Beweisfiihrung tadellos korrekte Werk ist reich an An-
regungen nach vielen Richtungen. Wir heben den soziologisch bedeutsamen
Grundgedanken heraus: S. zeigt, wie das Verstehen auf dem Weg vom Ich
zu den sozialen Gebilden immer hohere Grade von „Anonymitat" erreicht.
Schon das Erleben des Ich ist nicht mit dem Leben identisch. Dies geht
in der duree im Sinne Bergsons vor sich, jenes dagegen in reflexiver Zu-
wendung zum Leben, das dabei als abgelaufen vorgestellt wird. Handeln
beruht noch mehr auf der Phantasie des Vollzogenseins der Handlung.
Im Erlebnis des Du, das zum Mitwelterlebnis erweitert werden kann,
liegt nooh immer das Ich- Verstehen zugrunde. Handelt es sich aber um
blofie Umwelt, die mir nicht mehr durch persdnliche, sondern bloB durch
sachliche Beziehungen verbunden ist, dann reduziert sich ihr Verstehen
auf die Anwendung eines Schemas, in dem ich typischen Verhaltensweisen
von Individuen, die fur mich sachlich bedeutsam sind, entsprechende
Intentionen dieser Individuen unterlege. Allem menschlichen Handeln
und daher auch meiner Deutung der Umwelt liegt die Mittel-Ziel- Relation
zugrunde. Jedes idealtypische Handeln, d. h. jede typische Mittel-Ziel-
Relation muJ3 kausaladaquat und sinnadaquat sein, d. h. das Mittel muB
nach unserem Erfahrungswissen tatsachlich zum Ziel fiihren, dieses Ziel
416 Besprechungen
aber auch gemeint sein. Ganz durchsichtig wird diese Relation nur im Fall
des rationalen Handelns, wo das Ziel wie alle zu ihm fiihrenden Mittel
vollig eindeutig sind. Es ist daher der ideale Anwendungsfall der ver-
stehenden Soziologie. Im Gegensatz zum Verf. bin ich der Meinung, dafi
sein — formell ganz unanfechtbarer — Gedankengang zur Auflosung der
idealtypischen Soziologie fuhrt. Es zeigt sich, daO die idealtypische ver-
stehende Soziologie — im Gegensatz zur intuitiven — auoh nicht einmal den
Versuch macht, Ziele zu verstehen. Die „Anonymisierung" ist namlich das
Unverstandlich-Werden fremdpsychologischen Verhaltens, je weiter wir
uns von ihm entfernen. Letzten Endes ist fiir diese Methode jedes fremde
Ziel eine blofie, eben nicht verstandliche Gegebenheit. Von der verstehenden
Soziologie bleibt nichts iibrig als das Wissen, da 6 alles menschliche Handeln
aus Mittel-Ziel-Relationen besteht, die wir nach einezn vom Ich iiber-
nommenen Schema yerstehen. Die Inhalte des Schemas aber erschliefien
sich nicht verstehenden, sondem nach dem Ursache-Wirkung- Schema
verfahrenden erklarenden Methoden. Fiir die Diskussion der einschlagigen
Fragen ein vollig geklartes Begriffsmaterial zur Verfiigung gestellt zu
haben, ist das Verdienst des Werkes von S.
Franz Borkenau (Wien).
Earl Mars / Friedrtch Engels, Die deutsche Ideologic. (Marx-EngeU Qe-
samtau8gabe t I* Abteilung, Band 5.) Marx-EngeU-Verlag. Berlin 1932.
(XIX u. 706 S.; RM. 16 JO)
Der von V. Adoratskij herausgegebene Band enthalt die erste voll-
standige Ausgabe der erhaitenen Teile der „Deutschen Ideologic". Die
beiden Hauptstucke waren schon bekannt, der „Feuerbach" in der
Ausgabe von Rjazanow, der ,,Sankt Max" in der Ausgabe von Bern-
stein. Aus dem „Westphalischen Dampfboot" (1847) ist ein Artikel
gegen Karl Griin iibernommen, interessant insofern, als er vollstandig
die Beurteilung des ,,wahren Sozialismus" im ,,Kommunistischen Mani-
fest" antizipiert. Zum ersten Mai erscheinen hier im Druck zwei kleine
Bruchstiicke, „Das Leipziger Konzil" und „SchluB des Leipziger Kon-
zils" so wie der 18 Seiten umfassende „Sankt Bruno" gegen Bruno
Bauer, der sich auf der Linie der sonstigen Marxschen Kritik an den
Junghegelianern bewegt. „Der Dr, Georg Kullmann", eine witzige Pole-
mik gegen einen kommunistischen Prop he ten, diirf te von Moses HeB
stammen und von Marx nur redigiert sein. Einige bisher unbekannte
Tagebucheintragungen von Marx (als Anfang abgedruckt) geben sonst nur
in vollendeter Fassung bekannte Gedanken im Zustand des Entstehens.
Ein umfassendes Verzeichnis der Textvarianten wird jede kritisohe Durch-
arbeitung des nun endlich vollstandig vorliegenden Werkes erleichtern.
Franz Borkenau (Wien).
Marcuse, Herbert, Neue Quellen zur Orundlegung dee historischen
Mater ialismus. In: Die Gesellsckaft. Internationale Revue fiir Sozia-
lismus und Politik, IX. Jg., Nr. 8. Berlin 1932
DaB die „Okonomisch-philosophischen Manuskripte aus dem Jahre
1844" von Marx zu „einem entscheidenden Ereignis in der Geschichte der
Allgemeine Soziologie 417
Marx-Forschung" geworden sind, durfte nach den griradlichen Aufierungen
zahlreicher Sachkundiger feststehen. Allein die Interpretation weist eine
schroffe Divergenz in der Frage auf: hegelianisch-philosophischer oder
materialistisch-positivistischer Marxismus? M. sieht die Bedeutung der
Manuskripte in ihrer zentral-philosophischen Frage stellung. Marx geht
in der ersten an der klassischen Nationalokonomie geiibten Kritik vom
Begriff eines „Wesens des Menschen" aus, der in der ontologischen Kategorie
der Arbeit, der totalen gegenstandlichen Lebensaufierung, griindet. Nach
M. bildet diese — in Wirklichkeit durchaus metaphysische und von
Marx selbst in der „Deutschen Ideologic" nachtraglich destruierte •. —
Begriffsmystik das „eigentliche Fundament*' der „Theorie der Revolution",
Doch verkennt M. offensichtlich die Bedeutung der von Marx vorgenomme-
nen Identifizierung seiner empirisch-praktischen Theorie des Proletariats
in der burgerlichen Gesellschaft mit dem in vorwissenschaf tlichen Kategorien
(„Mensch") formulierten elementaren Protest des Proletariats gegen seine
unertragliche Existenz.
A. F. Westermann (Frankfurt a. M.)
Fischer, Hugo, Karl Marx und sein Verhaltnis zu Staat und Wirt'
schafL Gustav Fischer. Jena 1932. (102 8.; RM. 4.50)
Alexander, Werner, Kampf um Marx. Entwicklung und Kritik der
Akkumulationstheorie. Alfred Protte. Potsdam 1932. (VIII, 139 S.;
MM. 4.50)
Fischer weist die anschaulichen Elemente der Marxschen Lehre auf
und sucht Marx aus seiner Welt heraus, der kapitalistischen Welt des
19. Jahrhunderts, zu verstehen. Im Vordergrund stent das „5konomistische*'
der Epoche, in der auch das Aufierwirtschaftliche des menschlichen Lebens
als Funktion des Wirtschaf tlichen ausgedriickt iet. Unbegriindet wird
gegen Marx selbst der Vorwurf des Okonomismus erhoben. M. habe nicht
das Wirtschaftliche zugleich als Funktion des Politischen bestimmt.
Zugrunde Uegt die Abneigung des Verf . gegen eine geschichtsphilosophische
Auffassung des Okonomischen als der determinierenden Sphare. Der
Kapitalismus wird umgekehrt als Dekadenz des sozialen Lebens abgeleitet,
erst der Verfall der alteren Kultur habe die Emanzipation der Wirtschaft
nach sich gezogen. Die Neuordnung mufi daher, so schliefit F. riickblickend,
an den Status des Mittelalters anknupfen. F. irrt hier doppelt. Einmal ist
das mittelalterliche Gemeinwesen kein Staat, und Satze wie: „Im Mittel-
alter ist Volksleben und Staatsleben identisch" — „Das Mittelalter ist im
tiefsten Sinne demokratisch, allerdings war es die Demokratie der Unfrei-
heit", sind angesichts der Standeverfassung, der Herrschaft einer kleinen
Zahl Privilegierter und des Fehlens einheitlicher Gewalt und eines einheit-
lichen politischen Willens ohne Sinn. Zum andern gilt die These von der
„Wirtschaftsformigkeit des modernen Staates" (Politik als Mittel der
Wirtschaft) ebenso von der mittelalterlichen Feudalverfassung — man ver-
gleiche nur die Familiengeschichte souveraner H&user — wie vom Staat des
19. Jahrhunderts. Auch die andere These des Verf., daB das Gesetz der
Rentabilitat zuriickzutreten habe hinter „einem politiseh sinnvollen Er-
gebnis", ist das Argument -jeder staatlichen Invervention uberhaupt. Ein
418 Besprechungen
Wunschbild „protektionistischerMaBnahmen und staatlicher Subventionen"
als sozialer Norm, wie es der Verf. entwickelt, ist allerdings damit nicht
zu begriinden.
Die Schrift von Alexander ist eia dankenswerter Beitrag zur Akku-
raulations- und Zusammenbruohstheorie. A. behandelt in tibersichtlicher
Weise die Entwicklung der Marxschen Theorie, ihre Ausgestaltung bei
Tugan-Baranowsky, Otto Bauer, Rosa Luxemburg, Fritz Sternberg und
geht ebenso ein in die Einzelheiten der Kontroverse mit Neifier, GroBmann,
Lederer, Hilferding, Bucharin u. a. „Die Imperialismustheorie braucht
nicht die Akkumulationstheorie, die Akkumulationstheorie nicht den Aus-
weg dea Imperialismus" ■ — ,»Die Akkumulationstheorie ist eine vollkommen
untragfahige Basis fur eine Imperialismustheorie", ist das Ergebnis dieser
Arbeit. Der Verf. nennt seine Schrift einen kritischen Epilog und glaubt
unter den jahrzehntelangen Streit einen Schluflstrich setzen und den Weg
fiir eine neue richtige Deutung von Akkumulation und Imperialismus frei
machen zu konnen. Das reiche Material der letzten Schrift yon Sternberg,
,,Der Niedergang des Kapitalismus", ist von A. noch nicht beriicksichtigt.
Kurt Moldenhauer (Berlin).
Dickmann, Julius, Das Qrundgeaetz der aozialen Entwicklung. Wien
1932. (60 S.). — Ders., Der Arbeitabegriff bei Marx. Wien 1932.
(55 S.). Beide cUa Manuakript vervielfdltigt.
Die beiden Schriften bilden die ersten Hefte einer Keihe „Beitrage zur
Selbstkritik des Marxismus". Die erste stelit einen Versuch dar, die Grund-
konzeption der materialistischen Gesellschaftstheorie von Marx durch eine
neue zu ersetzeh. D.s These besagt, dafi nicht die von innen heraus erfolgende
Ausweitung der Produktivkrafte die ihnen frtiher adaquaten Produktions-
verhaltnisse beseitigt („sprengt u ),sondern daB „dasHervorgehen einer neuen
Produktionsweise aus einer alteren auf das durch den ungehemmtenGebrauch
bewirkte Zusammenschrumpfen der naturlichen Grundlage ihrer Anwendung
zuruckzufiihren ist" (S. 13). Diese neuartige Auffassung belegt D. durch
ein umf angreiches Material und versucht, die grundlegenden AuBerungen
von Marx und Engels iiber Produktivkrafte und Produktionsverhaltnisse im
einzelnen als widerspruchsvoll aufzuzeigen. Aber D.s Begriff der Produktiv-
kraft deckt sich nicht mit dem von Marx-Engels; Marx kennt neben den
naturlich bedingten noch die gesellschaftlich bedingten Produktivkrafte;
D. handelt nur von den naturlich bedingten. Seine SchluBfolgerungen aus
diesem relativ engen Produktivkraftbegriff treffen daher die Marxsche Pro-
duktivkraf ttheorie nur unvollstandig, sie beriihren demgemaB auch nicht
die kapitalistischen Krisen als Knotenpunkte der „sozialen Entwicklung".
Nichtsdestoweniger bedeutet die Schrift von D. wegen ihrer Originalitat
einen interessanten Beitrag zur Diskussion des Problems der sozialen Ent-
wicklung.
Im zweiten Heft, „Der Arbeit sbegr iff bei Marx", zeigt sich die oben
erwahnte einseitige HeraussteNung des Naturfaktors als bewuBte theo-
retische Point e D.s. Er sieht den groBen Mangel des Marxschen Begriff s
der „abstrakt-allgemeinen Arbeit" eben in der Abstraktion von der Natur-
basis, der physiologisch-mechanischen Energieverausgabung. Nach D.
Allgemeine Soziologie 419
ist die abstrakt-allgemeine Arbeit, die bei Marx als die einzig wertbildende
auftritt, von der konkret-niitziichen, die Gebrauchswerte schafft, nicht
dadurch unterschieden, dafi diese einen natiirlichen, jene aber einen rein
gesellschaftlichen Charakter hat. Vielmehr sind beides nur natiirliche
Funktionen ein- und derselben gesellschaftlichen Produktionstatigkeit des
Menschen, die abstrakt-allgemeine als aufierlich-mechanische Energie-
verausgabung, die konkrete als geistig-zwecksetzende Tatigkeit. Wert-
bildend ist auch nach D. nur die abstrakt-allgemeine Arbeit, das Problem
der potenzierten Wertbildung durch ,,qualifizierte" Arbeit besteht fur ihn
nicht, diese falle ausschliefllich indenBereichder Gebrauchswertsohopfung —
ein Zusammenhang, den Marx nicht gesehen habe. Eine eingehendere
Beurteilung der D.schen Kritik ware nur sinnvoll, wenn er seine eigene
Werttheorie dargestellt hatte. Dies hat er einem der folgenden Hefte vor-
behalten. Seine vorliegende Kritik des Marxschen Arbeitsbegriffs stiitzt
D. auf die Ergebnisse der modernen Arbeitswissenschaft.
A. F. Westermann (Frankfurt a. M.)
Lubienski, Zbigniew, Die Qrundlagen des ethisch-politischen Systems
von Hobbes. Ernst Reinkardt. Miinchen 1932. (302 S.; geh. RM. 12.—,
geb. RM. 14.—)
Das Leopold von Wiese gewidmete Werk ist eine vorwiegend deskriptive
Darstellung des soziologischen Begriffssystems des Hobbes und als solche
— einige minder wesentliche Punkte, die Zweifel erregen, ausgenommen —
einwandfrei und fleifiig gearbeitet* Es zeigt sich jedoch an der Schrift wieder
«inmal, dafi ein gesellschaftskritisch-politisches Werk wie das von Hobbes
nicht analysiert werden kann, ohne es selbst zum Objekt soziologischer Unter-
suchung zu machen. Nur eine soziologische Fragestellung kann ergeben,
worauf es dem Denker ankam, nur sie kann also das organisierende Moment
eines Systems verstandlich machen. Dieses Zentralproblem ist bei H., aus
naturhaften Beziehungen zwischen den Menschen Normen ihres gesellschaft-
lichen Lebens abzuleiten, deren Ubertretung einen logischen Selbstwider-
spruch bedeutet. Da ein solcher Versuch in sich widerspruchsvoll ist, tragt
jeder einzehie Grundbegriff bei H. einen gleichartigen Widerspruch in sich.
h. hat zwar das Paradoxe dieses Beginnens nicht verkannt, da er aber seine
zentrale Rolle nicht erfafit hat, unterlafit er es, seine Einsicht in den Grund-
widerspruch des H.schen Systems auf alle seine Bestandteile anzuwenden.
Vielmehr bricht in der Einzeldarstellung immer wieder die Tendenz durch,
die Auffassungen H.s zu harmonisieren. Diese Unfahigkeit des Verf., Wider -
sp niche in der Theorie systematisch zu entwickeln, beruht auf seiner Ab-
neigung, ihre entscheidende Rolle in der Praxis zu sehen. „So haben sturmische
Zeiten stets Augenblicke einer gewissen Entspannung zur Folge, in denen der
Wille zur Rtickkehr zu den normalen ruhigen Vernal tnissen uberwiegt"
(S. 29). Das soil als Erklarung der politischen Grundtendenz des H. gelten.
Kein Wunder, dafi L. versagt, sobald er iiber die bloJQe Darstellung hinaus
die Rolle von H. in der Entwicklung des Denkens zu erfassen sucht. „Hobbes
kann als der Vorlaufer jener naturalistischen Richtung in der Staatswissen-
schaft gelten, deren Hauptvertreter wie H. Post, K. Frantz und Schaffle
erst in der Mitte des vorigen Jahrhunderts ihre Theorien zu verbreiten be-
420 Besprechungen
gannen" (S. 236). Was H. von den Naturalisten trennt, sein Rationalismus,
sind fiir L. scholastische "ttberreste. Oerade der Versuch, vom Naturalismus
zura Rationalismus zu kommen, ist aber das Zentrale an H.s Denken. Fiir
L. gibt es nur einerseits den „modernen" empirischen Naturalismus,
andererseits die „Scholastik". Wenn aber H. schon zu den Naturalisten
gestellt wird, ist er dann wirklich nur der Vorlaufer von K. Schaffle ?
Spinoza, Mandeville, Helvetius, Ricardo, Buckle und vor allem Marx
stehen offenbar fiir L. in keiner Beziehung zur naturalistischen Gesell-
schaftslehre.
Alles in allem: eine verzuckerte Interpretation des Gedankenkreises,
der mit seinem „homo homini lupus" als erster das Wesen der kapitalistischen
Gesellschaftsordnung konsequent aussprach.
Franz Borkenau (Wien).
Rice, Stuart A., Methods in Social Science* The University of Chicago
Press 1931. (822 S.; $ 4.50)
Bogardus, Emory S., Contemporary Sociology. University of Southern
California Press. Los Angeles, 1. Aufl, 1931; 2. Aufl. 1932. (483 S.;
$ 3.50)
Eubank, Earle E., The Concepts of Sociology. D.C. Heath and Company.
New York 1932. (570 S.; $ 4.80)
Maclver, R. M., Society. Its Structure and Changes. Ray Long & Richard
R. Smith. New York 1931. (569 S.; $ 5.— )
Es scheint, dafi die amerikanische Soziologie an einem wichtigen Wende-
punkt ihrer Entwicklung angekommen ist. Wahrend in den letzten Jahren
eine standig wachsende Neigung zur Beschrankung auf konkrete Wirklich*
keitsforschung wahrnehmbar war, die mit mefibaren und genau nach-
kontrollierbaren Fakten die soziologische Erkentniswelt erwei tern wollte,
mehren sich jetzt die Zeichen fiir eine Wandlung. Das behavioristische
Studium soziologischer Phanomene hatte mehrere Wurzeln. Es war zuerst
wohl eine Reaktion gegen systematisierende Sozialphilosophie <Ward„
Gidding, Small), die mit gar zu leichtem Tatsachengepack reiste, dann eine
Dbernahme der durch die Erfolge der Naturwissenschaften erprobten
Forschungsmethoden und ferner ein allgemeiner Optimismus, schon dadurch
die sozialen "Obelstaride heilen zu konnen, dafi man ihre akuten Ursachen
jeweils erkannte, ohne dafi man sie in den schwerer erfafibaren Zusammen-
hangen der sozialen Struktur und ihrer Wandlungen sehen wollte. Das
Bekenntnis zu einer Wissenschaftsform, in der kooperative Faktensamm-
lung Zentrum des Interesses wird, findet sich auch in dem Sammelwerk,
das Rice zusammen gestellt hat, in dem er die wichtigsten Forschungen
von andern Wissenschaftlern, die selbst inmitten des neuzeitlichen For-
schungsbetriebes stehen, darstellen lafit. Er nennt das Buch ,, Methods in
Social Science**, obwohl von Methodologie im deutschen, aber wohl auch
im europaischen Sinne nicht die Rede ist. Er fafit auch nirgends die grund-
legenden methodologischen Probleme zusammen, sondern verfahrt gerade
so wie die Soziologen, von deren Arbeiten berichtet wird: das Material
wird „objektiv" gesammelt und dargestellt. Die Vielfalt der Methoden
erklart sich aus dem Wunsch, jedes Objekt ihm selbst adaquat (ohne
Allgemeine Soziologie 421
vorherige Theorie) zu untersuchen, ohne daraus zu begrifflicher Zusammen-
fassung vordringen zu wollen. Das reichhaltige Buch triige wohl besser den
Namen: Blick in soziologische Forschungswerkstatten.
Das Buch von Bogardus steht dieser Richtung sehr nahe. B., der
selbst eine groBe Untersuchung an der pazifischen Ktiste iiber Rassen-
probleme geleitet hat, legte damals detailliert die Methoden und das tech-
nische Vorgehen in seinem ,,A New Social Research" dar; in seinem „Ma-
king Social Science Studies" (1925) gibt er jungen Soziologen eingehende
Arbeitsanweisungen und widmet auch einen groBen Teil seines Werkes
^Contemporary Sociology" der Darstellung von Forschungsmethoden. In
grofien Kapiteln besprechen Spezialforscher die okologische, soziologische,
sozialpsychologische und statistische Methode, und zwar meist die besten
Vertreter der verschiedenen Gebiete, so daB sich ein Gegenwartsbild der
amerikanischen Soziologie ergibt. Interessant ist der Nachdruck, den B.
in der Einleitung auf die Notwendigkeit legt, Theorie und Faktenforschung
fruchtbar zu verbinden* Daraus erklart sich wohl auch die Anordnung des
Buches, dessen Kapitel von den in den verschiedenen Gebieten gebrauch-
lichen Begriffen (,, concepts") sprechen. So ist es sozusagen eine ,, round-
table-conference" zur Klarung dieser Begriffe.
Die Wandlung aber, von der wir in der Einleitung sprachen, wird deut-
lich sichtbar in den Buchern von Eubank und Maclver.
Aufschlufireich ist bei dem Buch von Eubank bereits die Widmung:
„To the memory of Albion W. Small", dem Theoretiker also. Eubank
hat bereits in mehreren Artikeln die Wichtigkeit der begrifflichen Klarung,.
ja uberhaupt den Wert logisch begrifflichen Denkens betont, das schlieB-
lich zu einem relativ einheitlichen System zu fuhren vermoge. Dieses Buch,
das eine allgemeine Klassifikation der Hauptkategorien der Soziologie
bringt, gliedert auch die Kapitel systematisch. Ohne wie Beckers „ Syste-
matic Sociology", auf die erst im nachsten Heft eingehender hingewiesen
werden kann, das gesamte Gebiet der Soziologie in ein System ein-
zubauen, kann man dieses Werk doch als eine systematische Soziologie
bezeichnen.
Maclver beginnt die Einleitung seines Buches mit einem Satz, den
man driiben in der letzten Zeit selten las: This book presents a system of
sociology". Den behavioristisch Forschenden schickt er den Ruf entgegen
„It (Soziologie) deals with the inner phenomena of experience and not the
outer phenomena of nature", oder „manchmal mochte man glauben, daB
es der Soziologie nur forderlich ware, wenn ihre Bearbeiter endlich einmal
vergessen konnten, daB es sich um eine ,Wissenschaft* handelt". In
4 groBen Abschnitten analysiert und definiert M. — ohne die uns vertraute
amerikanische Realitatsfreude '■ — soziologische Grundbegriffe und Zu-
sammenhange. Er hat ein besonders gutes Organ fiir strukturelle Schau
und eine groBe Gabe, logisch klar zu gliedern, nicht immer zum Vorteil des
psychologischen Eindringungsvermogens.
Ob die hier dargestellte Entwicklung der amerikanischen Soziologie
zu einer Synthese der beiden Hauptstromungen oder zum "Cbergewicht
einer iiber die andere fiihrt, bleibt noch abzuwarten.
Margareta Lorke (Frankfurt a. M.).
422 Besprechungen
Duncan, Hannibal Gerald, Backgrounds for Sociology. Marshall Jones
Company, Boston 1931. (XX u. 831 S.; $ 4.—)
Es ist das Ziel dieses Buches, dem soziologischen Unterricht an den
amerikanischen Hochschulen zu dienen. Daraus erklart sich die Anlage des
Buches und die Art der Darstellung. Das gesamte Gebiet der sozio-
logischen Probleme ist in den f unf Kapiteln : I. Einleitung, II. Be-
v6lkerungsprobleme, III. Soziale Probleme und Verhaltnisse, IV. Soziale
Organisationen und V. Grundprinzipien der Soziologie angeschnitten. Es
entspricht der Bestimmung des Buches* dafi sein Autor nicht etwa versucht,
eine eigene Theorie zu geben. Wohl scheinen einige Kapitel sein besonderes
Spezialgebiet zu sein, wie die iiber Bevolkerungsprobleme, iiber Group Con-
tacts und vor allem iiber Human Ecology and Social Control. Sonst gibt er
aus anderen langeren Studien Zusammenfassungen oder Ausziige vieler
Autoren, die er wertungsfrei seinen Schiilern darbietet. Jeder Abschnitt
bringt eine fur una sehr nutzliche Bibliographie. Im ersten Kapitel ist eine
kurze historische Entwicklung der Soziologie gegeben, bei der man mit
Freude feststellt, daB die Soziologie gar nicht so jung ist wie ihre Gegner
es haufig wollen. Soil sich doch schon Hammurabi (2124 — 2081 a. Chr. n.)
fur Soziologie interessiert haben!
Margareta Lorke (Frankfurt a. M.),
Organization of Research in the American Sociological Society*
Publication of the American Sociological Society, June 1932. (39 S.)
Diese Schrift enthalt den Bericht einer Sonderkommission der ameri-
kanischen Soziologischen Gesellschaft tiber die Forschungsarbeit, die in
dieser Gesellschaft oder mit ihrer Hilfe geleistet wird. Da es sich um eine
noch in der Entwicklung befindliche Wissenschaft handelt, hat die Kom-
mission von einer Definition der Soziologie abgesehen und sich darauf be-
schrankt, alle Zweige soziologischer Forschung, die fur die Forderung der
Soziologie von Nutzen sind, kurz zu schildern und Plane f ttr eine fruchtbare
Mithilfe der Gesellschaft bei der Arbeit zu unterbreiten.
Wichtiger als die Aufzahlung der Institute, Forschungsgesellschaften,
der Interessengebiete bei den Mitgliedern, der Publikationen und der
Arbeiten auf Nachbargebieten ist der Nachdruck, der auf eine Zentral-
stelle fiir soziologische Arbeiten, ein ^Clearing House" gelegt wird,
eine Einrichtung, die bei kooperativer Arbeit im AusmaB der amerika-
nischen soziologischen Untersuchungen gewiB unentbehrlich ist. Die Ge-
sellschaft mochte hier eine S telle schaffen, in der alles Quellenmaterial
zusammengetragen wird, in der alle fruheren und laufenden Arbeiten hinter-
legt und katalogisiert werden sollen und die gleichzeitig als zuverlassige
bibliographische Informationsquelle und als Austauschdienst im Sinne
fruchtbarer wissenschaftlicher Arbeitsteilung dienen kann.
Margareta Lorke (Frankfurt a. M.).
Endt, Plet, Sociologie. Wereldbibliotheeh. Amsterdam 1931. (355 S.;
Hfl. 3.50)
Im Anschlufi an v. Wiese hat der hollandische Autor den. Versuch unter-
nommen, neben einer sehr ausfuhrlichen Darstellung der „Beziehungs-
Allgemeine Soziologie 423
lehre" a He in der Gesellschaft denkbaren sozialen Beziehungen, Prozesse und
Gebilde durch eine groBe Anzahl von Beispielen zu konkretisieren. Seibst
ein hervorragender Scbriftsteller und mit der Weltliteratur vollig vertraut,
hat E. mit seiner Methode zahlreichen Begriffen (wie z. B. Vereinsamung,
Toleranz, Leiden, KompromiB, Nachahmung) einen lebendigen Inhalt
verliehen, so daB er die sonst an der modernen soziologisehen Wissensehaft
haufig kritisierte allzu grofle Abstraktheit bis zu einem gewissen Grad uber-
windet. Es darf alierdings nicht unerwahnt b lei ben, daB die Beschreibung
einer so grofien Anzahl soziologischer und sozialpsychologischer Probleme
notwendig zu einer Verflachung ihrer Behandlung fuhren muB. Dennoch
ist diese VeroffentHchung im Hinblick auf die lebendige Darstellung sowohl
als auch den in Holland vorhandenen Mangel an allgemein orien-
tierendem soziologischem Material zu begriiBen.
Andries Sternheim (Genf).
Lenin, W. J., Ober den hiatoriachen Materialismus. (Kleine Lenin-
bibliothek, Band 6.) Verl. f, Literatur u. Politik. Berlin 1931. (105 £.;
RM. 0.90)
Die ausfuhrlichsten und wich tigs ten Arbeiten des jungen Lenin iiber
den historischen Materialismus aus dem Jahre 1894 wurden erst vor
wenigen Jahren aus volliger Verschollenheit wieder aufgefunden und in
russischer Sprache veroffentlicht. Sie sind in dem in deutscher Sprache
vorliegenden Schrifttum tiber Lenin und seine Stellung zur marxistischen
Methode bisher noch nirgends beriicksichtigt.
Die beiden Hauptgegner Lenins in diesen Schriften sind einerseits
der narodnikische Publizist Michailowski, andererseits der spatere
,, legale Marxist" Peter Struve. Dieser letztere stand seinerseits da-
mals ebenfalls in einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Narod-
nikitum, und es ist von hochstem Interesse zu verfolgen, mit welcher wach-
senden Entschiedenheit sich Lenin in seiner Wiedergabe der scheinbar
marxistischen Narodnikikritik Struves zugleich gegen die schon damals
erkennbaren biirgerlichen Tendenzen in der Theorie des „nicht orthodoxen
Marxisten" Struve richtet, desselben, der noch vier Jahre spater dazu be-
rufen wurde, den Aufrui des Griindungsparteitages der russischen Sozial-
demokratie zu verfassen und der heute ein Fiihrer der reaktionaren monarchi-
stischen Emigration geworden ist. Lenin bekampft schon im Jahre 1894
Struves tendenziellklassenlosen„0bjektivismus", seine Verwendungabstrakter
statt historisch-konkreter Kategorien, seine Anerkennung einer „reinen
Philosophie", seine revisionistisch biirgerUche Auffassung des „Staats"
und insbesondere der staatlichen Biirokratie und seine ungenugende Be-
kampfung der beiden narodnikischen Mythen von der geschichtlichen Mission
der damaligen russischen „stahdelosen Intelligenz'V und der sog. „Volks-
produktion".
Das eigentliche Hauptinteresse und in vielen Punkten eine fur den Me-
thodenstreit in der Soziologie gerade heute wieder unerhorte AktuaUtat
besitzen die Argumente, mit denen Lenin die gewaltige Uberlegenheit der
marxistischen materialistischen Methode der Soziologie gegen den subjek-
tiven und idealistischen Standpunkt Michailowskis geltend macht. Er
424 Besprechungen
unterscheidet hierbei genau zwischen dem Wesen und der Funktion des
„alten" und des jetzt (1894) „modernen" Narodnikitums, von denen „jenes
bis zu einem gewissen Grade eine harmonische Lehre war, die in einer Epoche
entstand, als der Kapitalismus in RuBland noch hochst schwach entwickelt
war". Im scharfen Gegensatz zu diesem russischen „Bauernsozialismus"
der 70er Jahre, der „auf die Freiheit wegen ihrer Burgerlichkeit pfiff",
die biirgerlichen Liberalen bekampfte und „von einer Bauernrevolution
traumte", erscheint ihm die jetzige Narodnikitheorie nur noch als ein ordi-
narer kleinbiirgerlicher Liberalismus, getragen von jener angeblich „stande-
losen Intelligenz", die in Wirklichkeit eine biirgerliche Intelligenz war und
nicht mehr den „unmittelbaren Produzenten", der sich tendenziell bereits
in gegensatzliche Klassen aufloste, sondem nur noch allgemein biirgerliche
Interessen vertrat. Karl Korsch (Berlin).
Psychologic
MesBer, August, Sexualethik. Volksverband der Biicherfreunde, Wegweiser-
Verlag G. m. b. H. Berlin 1931. (264 S„ EM. 2.90)
M. legt zunachst die philosophischen Grundlagen der Sexualethik dar,
die Bedeutung des Gewissens und der philosophischen Besinnung in Gewissens-
konflikten. Gut ist nur eine Handlung, die nicht auf fremde Autoritat hin
(heteronom), sondern autonom „nach bestem Wissen und Gewissen" er-
folgt. Das Gewissen ist einer Vervollkommnung bedurftig. Man kann sich
bei der Beurteilung einer Handlung nicht einfach auf die Natur berufen.
Auch das bose Handeln entspringt menschlichem Streben. Dies ist sittlich gut,
wenn es dem Rangverhaltnis der in Frage kommenden Werte entspricht, und
wenn der Mensch in seiner jeweiligen Lage den hochst mdglichen Wert zu ver-
wirklichen sich bemtiht. Die Natur des Menschen ist nicht fur alle Menschen
gleich gegeben (z. B. anders fur die Homosexuellen). Die Begriffe normal
und abnorm sind doppeldeutig : so ist es das Gewohnliche und insof era das
Normale, daB der Jugendliche der Onanie „verfalle" oder auBerehelichen
Geschlechtsverkehr habe. Damit ist dies aber noch nicht normal in dem
Sinne, daB es sein soil. Die autonome Wertethik hat einen formalen Cha-
rakter, dagegen stelle die Kirche inhaltlich bestimmte Gebote und Verbote
auf, wodurch gewisse Handlungen, z. B. die Verhinderung der Befruchtung,
ausnahmslos schlecht sind. M. beschaftigt sich dann mit dem Freiheits-
problem. Fiir ihn reicht das Recht der Willensfreiheit soweit, als sie Ausdruck
der natiirlichen Zuversicht des wollenden Menschen ist, das, was er als Pflieht
erlebt, auch bejahen und an seiner Verwirklichung arbeiten zu konnen.
Der Mensch „spielt gleichsam verschiedene Rollen". Es folgen kurze und
recht klare Abschnitte iiber Physiologic, Hygiene und Psychologie des Ge-
schlechtslebens. Der ftinfte Teil setzt die Beziehungen des Geschlechts-
lebens mit der Sittlichkeit auseinander : Padagogik des Totschweigens, Er-
ziehung zum rechten Schamgefuhl, Onanie und Odipuskomplex, Geschlechts-
not der Jugendlichen, Enthaltsamkeit, Prostitution, Verhaltnis, Flirt, Probe-
ehe, Kameradschaitsehe, Wesen und Sinn der Ehe, Ehe zu dritt, Kinder^
Psychologie 425
zahl und Pflichten gegen die Kinder. Der letzte Abschnitt behandelt Ge-
schlechtsleben und Recht.
Man kann sich bei vielen Abschnitten nicht des Eindrucks erwehren,
dafi M., bei alien Bestrebungen, die Kompliziertheit der Materie und
damit die aus ihr entstehenden Gewissenskonflikte zur Geltung zu bringen,
an vielen alten Vorurteilen hangen geblieben ist, daB er auch der modemen
Psychologie — Freud ist ein eigener Abschnitt gewidmet — ■ nicht ent-
sprechend Rechnung getragen hat. So fiihrt er scheues, egozentrisches
Wesen, das den EntschluB zu einer Ehe erschwert, auf Onanie zuriick und
leitet daraus eine Schadlichkeit der Onanie ab, wahrend er besser tate, die
Onanie zuriickzufiihren auf die TTnfahigkeit, aus sich heraus zu treten. Da-
durch wird das Buch geeignet, bei Neurotischen Skrupel mit ihren schlimmen
Folgen zu vertiefen, statt — wie es bestrebt ist — ■ zu klaren.
Karl Landauer (Frankfurt a. M.).
Lange-Eichbaum, W. 9 Das Genieproblem (Eine Einfuhrung). Ernst
Bernhardt, Miinchen 1931. (128 S., br. EM. 2.80, geb. EM. 4.50)
Es handelt sich um eine Einfuhrung in das grundlegende Werk des Ver-
fassers ,, Genie, Irrsinn und Ruhm". Niemals in der Geschichte verliert das
Genie als Wertbegriff einen versteckt religiosen Beigeschmack fiir die
Verehrergemeinde. Andere denken und fiihlen der gleichen Personlichkeit
gegeniiber ganzlich verschieden. Auch die Gefuhlsrangordnung des einzelnen
ist in seinen verschiedenen Lebensaltern verschieden. Bei seinen Lebzeiten
oft mifiachtet oder gekreuzigt, wird der Mensch erst viel spater zurn Genie.
Der einzelne und die Massen widersprechen sich in ihren Genie wertungen,
aber erst Menschengruppen schaffen ihren Gottern den Respekt als Genie.
Genie ist nichts Absolutes, sondern eine Wertung. Die Genufigrofie ist an
dieser Wertung das wichtigste Moment: ohne Leistung keine Wertung als
Genie. Aber der Trager ist nicht immer die geistig schaffende Ursache der
Leistung; nur an seinen Namen kniipft der Ursachentrieb der Menschheit
das, was ihr behagt. Der grofle Staatsmann z. B. ist nur ein Faktor in einer
riesigen soziologischen Kraftepyramide ; Denksparsamkeit der Masse schiittet
alien Ruhm auf den einen. Das Genie muB das Ideal des einzelnen und wo-
moglich eines ganzen Volks als Gesamtbild reprasentieren. Der wahren
GenuBgroBe entspricht der subjektive Genieakkord, das Gefiihl von etwas
Heiligem. Dieser wird in Anschlufi an Otto psychologisch weitgehend zer-
gliedert. Den positiven Gefiihlstonen der t^erlegenheit, des MitreiBenden,
des Lockenden, des Besonderen stehen negative gegeniiber: das Genie muB
unheimlich sein und leises Grauen erregen. Mit der Martyrerkrone urns Haupt
sieht der Verehrer sein Genie am liebsten. Daher auch der unheimliche Reiz
des Geisteskranken, des Friihverstorbenen und des endlos Lebenden. Im
Laufe der Jahrzehnte gesellt sich noch hinzu: der Ruhm als anerkanntes
Genie, der Eindrack der geheiligten Unantastbarkeit. Ein solcher Akkord
kann nicht plotzlich entstehen. Einer wird niemals von Anf ang an als Genie
gewertet oder gar als solches geboren. Genie ist ein soziologisch -religions -
psychologisches Endprodukt, das oft Jahrhunderte ium Entstehen ndtig
hat. Der zweite Hauptteil: Genie und Ruhm, rollt die ganze soziologische
Seite des Problems auf: bei vielen Menschen bekannt sein ist noch nicht
426 Besprechungen
Ruhm, ebensowenig wie Wirkung oder aufierer Erfolg. Sensation kann die
Vorstufe zum Ruhm werden; aber der Blick muB haften bleiben. Es
gibt auch negativen Ruhm. Ruhm ist ein erreichter Zustand, indem zahl-
reiche Menschen jemand als gefuhlsmafiig stark eindrucksvoll bei sich er-
leben. Genieruhm ist eine engere TJnterform des positiven Ruhms. Es gibt
keine verkannten oder noch unbekannten Genies, erst der mystische Ruhm
macht Menschen, meist Hochtalente, zum Genie.
Wir haben diese ersten Teile, die das OrigineUe der Konzeption von
L. bringen, ausfuhrlicher besprochen. Aus ihnen ergibt sich das Spatere
iiber Genie und Begabung, Genie und Irrsinn, Genie und Kultur, wozu L.
auch noch gute und manche neue Einzelheiten bringt. Das Bedeutungsvolle
an seinem Werke ist, daB er das Genieproblem aus dem Bereiche der nur
biologisch-medizinischen Betrachtung lost und das soziologische Problem
in seiner Bedeutung charakterisiert. In dem kleinen und sehr klar geschrie-
benen Buch findet sich ein geradezu erstaunliches Wissen und massenhaftes
einwandfreies Material. Diesen Vorzugen gegeniiber fallt es nicht in die
Wage, dafl man in einzelnen psychologischen Fragen anders sehen mag
als L. Karl Landauer (Frankfurt a. M.).
Kiinkel, Fritz, Charakter, Liebe und Eke. S. HirzeU Leipzig 1932.
(179 S.; geb. RM. 8.—)
Dies Buch erfullt in keiner Weise die Aufgabe, die der Autor sich ge-
setzt hat, im Rahmen einer angewandten Charakterkunde eine allgemein-
verstandliche wissenschaftliche Darstellung zu geben iiber „Die Liebe als
Wecbselwirkung zwischen Mann und Frau", „Die Ehe als Wechselwirkung
zwischen Paar und Gesellschaft" und beider Grundlagen und Folgerungen;
und es kann diese Aufgabe auch grundsatzlich nicht erf u Hen, weil K. mit
der final gerichteten und ethisierenden Betrachtungsweise der Individual-
psychologie, ja mit der Voreingenommenheit verkappt theologischer Frage-
stellungen an die einschlagigen psychologischen, biologischen und sozio-
logischen Probleme herangeht.
Eine eigene und eigenbrddlerische Nomenklatur steht an Stelle neuer
Einsichten; so stellt K. der idealistischen und materialistischen seine dia-
lektische Geschichtsauffassung gegeniiber, und die marxistische Denkweise
ist ihm „nicht dialektisch genug". Die Menschheit durchlauft nach ihm
eine „ Grundeinstellung in der Friihzeit als urspriingliche Wirhaf tigkeit",
sodann als „Merkmal der wachen Kultur" das Stadium der „Ichhaftigkeit",
um schliefilich zur zukiinftigen „kulturellen Wirhaftigkeit" zu kommen,
deren Ausdruck im Bereich der Geschlechtsbeziehungen „die monogame
Polaritat zwischen je zwei" — „verantwortungs"bewufiten — „gleichbe-
rechtigten Werktatigen" sein wird. Die psychoanalytischen Einsichten
iiber die menschlichen Liebesbeziehungen lehnt Verf. ab, weil dort „der
Begriff der Verantwortung" fehle; er erwahnt und bekampft zwar
Freuds Lehre vom Ich und vom Es als Teilen der menschlichen Psyche,
ubersieht aber das Dberich (Idealich), nach Freud die Reprasentanz „des
Hoheren, Moralischen, tftjerpersfinlichen im Menschen".
Frieda Fromm-Reichmann (Heidelberg)
Psychologie 427
Sir Galahad, Mutter und Amazonen. Umrifi weiblicker Reiche. Albert
Langen. Miinchen 1932. (305 S.; RM. 11.50)
Die Verfasserin will in diesem Buch eine „erste weibliche Kulturge-
schichte", einen ,,UmriB weiblicher Reiche" geben. Unter Zugrundelegung
der Ergebnisse wissenschaftlicber Forschung, vor allem von Bach of en,
Brif fault, Frobenius, aber auch vieler anderer, will sie ein zusammen-
fassendes Bild jener Gesellschaften geben, in denen die Frau mehr oder
weniger ausschlieBlich herrschte und mutterliche Ziige die Kultur be-
etimmten. Es wird zunachst eine schone Darstellung der Bachofenschen
Theorie und speziell seiner Symboldeutung gegeben, dann werden die ver-
schiedenen Kulturen behandelt, von denen mutterrechtliche Ziige bekannt
sind (besonders ausfiihrlich hierbei Nordamerika, Mittel- und Sudamerika,
Airika, Agypten). Endlich wird eine kritische Darstellung der verschie denen
Theorien uber das Mutterrecht gegeben, der am Ende die kurze Darstellung
des Amazonenproblems folgt.
Inwieweit im einzelnen das von der Verf. herangezogene Material
wissenschaftlich gesichert ist, kann der Ref. nicht entscheiden. Es kommt
bei diesem Werke wohl auch weniger auf die Richtigkeit von Einzelheiten
an als darauf, daB in einer sehr geistreichen, graziosen und lebendigen Weise
dem Leser ein Bild der viel vernachlassigten miitter lichen Elemente der
Kultur gegeben wird, wobei die Verfasserin sich durch ein feines Verstand-
nis fur UnbewuBtes und Symbolik als besonders geeignet fiir diese Aufgabe
erweist.
Obwohl die Verf. am Schlusse erklart, dafi von einer „Wiederkehr des
Gleichen" in der Geschichte keine Rede sein konne, ist sie durchaus
undialektische Romantikerin, und ihre Pole mi k gegen den historischen
Materialismus, den sie mit dem burger lichen Rationalismus verwechselt,
ist oberflachlich. Erich Fromm (Berlin)
Feniehel, Otto, Perversion, Psychosen t Charakterstorungen. (218 S.,
6r. RM. $.— , geb. RM. 10.—)
Feniehel, Otto, Hysterien und Zwangsneurosen. (123 S., br. RM. 7. — ,
geb. RM. 8. — ). Beide Intern. Psychoanalytischer Verl. Wien 1931.
Die beiden Werke des erfahrenen Psychoanalytikers stellen zusammen
eine „psychoanalytisch spezielle Neurosenlehre" dar, wie der Untertitel
lautet. Sie zeigen, wie viel ernste klinische Beobachtungen von Freud und
seiner Schule geleistet worden sind, da zum ersten Male die ganze heute
nur noch schwer uberschaubare Literatur in mustergiiltiger Weise verarbeitet
wurde. Keiner, der sich eingehend mit der Psychoanalyse befaBt, kann an
diesen Schriften voriibergehen. Karl Landauer (Frankfurt a. M.).
Dorer, Maria, Historische Qrundlagen der Psychoanalyse. Felix
Meiner. Leipzig 1932. (184 S.; RM. 0.— , geb. RM. 5.— )
Die Arbeit unternimmt den Versuch einer geistesgeschichtlichen Ein-
ordnung der Freudschen Theorie durch den Nachweis der geistigen Ein-
fliisse, die auf Freud eingewirkt haben. Es werden zunachst die psycholo-
giechen Grundbegriffe Freuds an Hand seiner — vor allem friiheren —
Schriften herausgearbeitet, dann versucht, ein Bild der wissenschaftlichen
428 Besprechungen
Personlichkeit Freuds, der wissenschaftlichen Welt Wiens 1870 — 1900 und
speziell von Freuds Lehrern und Freunden zu geben. Die Verf . kommt zu
folgendem Resultat: „Das wichtigste Resultat . . . laBt sich . . . dahin
formulieren, dafi zwischen der Psychologie Freuds und jener Herbarts
tatsachlich ein konkreter, ein realer Zusammenhang besteht. Und zwar
geht die historische Linie, schematisch gesprochen, von Herbart iiber Grie-
singer zu Meynert, von Meynert aber zu Freud" (S. 170).
So wichtig die Fragestellung, von der die Arbeit ausgeht, ist und so
grundlich und korrekt auch vorgegangen wird, so kann das Ergebnis im
ganzen doch nicht uberzeugen; es erscheint zu sehr aus einzelnen Aufie-
rungen konstruiert und zu wenig die grofien Zusammenhange beriick-
sichtigend. Erich Fromm (Berlin).
Young, Kimball. Social Psychology. An Analysis of Social Behavior.
F. S. Crofts & Co. New York 1930. (XVII u. 674 S.)
Ders. ? Source Book for Social Psychology. F. S. Crofts & Co. New
York 1931. (872 S.)
Der Standpunkt, den der Autor selbst in der psychologischen Arbeit
vertritt, ist nicht leicht ersichtlich. Einige seiner Ansatze bedeuten eine
Loslosung von der allgemeinen Sehweise der Behavioristen, so z. B. wenn
er betont, dafi die Gruppe vom sozialpsychologischen Standpunkt aus vor
dem Individuum da ist, oder wenn er die Gruppen charakterisiert als
„we-group" im Gegensatz zu „ others -group". Andererseits verlafit er sich
in der Psychologie des Einzelmenschen vdllig auf behavioristische Arbeiten.
Er zieht z. B. zur Charakterisierung des Gruppenlebens bei den Tieren die
„Intelligenzprufungen an Menschenaffen" von W. Kohler heran, bei dem
Kapitel iiber Intelligenz beriicksichtigt er diese Arbeit und andere Unter-
suchungen wie z.B. W. Sterns uberhaupt nicht. Er erklart selbst, da6 er den
behavioristischen Ansatz fiir gesund halt, dafi man aber in den Gebieten,
wo der Behaviorismus noch nicht gearbeitet hat: „in dealing with internal
aspects of behavior" die Terminologie der alteren Psychologie benutzen
mu6. — • Die Literaturangaben machen keinen Anspruch auf Vollstandig-
keit und soilen anregend wirken. Die Auswahl ist davon beeinfluCt, ob
ein Buch in englischer Sprache geschrieben oder in diese Sprache iibersetzt
ist.
Das Source Book zerfallt in 6 Hauptteile. 1. Grundziige des sozialen
Verhaltens, 2. Die psychologischen Grundlagen des sozialen Verhaltens,
3. Persdnlichkeit und Verhalten, 4. Soziale Haltungen (attitudes) und die
TJmgebung des Subjekts, 5. Fuhrerschaft und Prestige im sozialen Verhalten,
6. Kollektives Verhalten (Charakteristiken des Gruppenverhaltens, der Zu-
horerschaft, geistiger Epidemien, der Natur der offentlichen Meinung, der
Organe der offentlichen Meinung).
Jedem Kapitel geht ein kurze Einleitung vor aus, die eine Einfuhrung
in die Problemlage gibt. Dann folgt eine kurze Kennzeichnung der in
der Materialsammlung dargebotenen Einzelarbeiten, aus denen der Stand-
punkt und die Denkweise des jeweiligen Verfassers hervorgehen.
Material ist aus den verschiedensten Gebieten zusammengetragen :
Tierpsychologie, Psychiatrie, Physiologie und angewandte Psychologie
Psychologie 429
sind durch Arbeiten von Forschern wie Kretschmer, McDougall, Watson,
Bleuler, W. Kohler, Stanley Hall vertreten.
Die Einteilung der Social Psychology entspricht der des Source
Book nicht vollig. Am Ende jedes Kapitels ist dort auf die zugehorigen
Stellen des Source Books hinge wiesen. Es werden Fragen angefugt, die
tiefer in die Materie hineinfiihren sollen.
Susanne Liebmann (Berlin).
Kraus, Siegfried, Bedurfnis und Befriedigung. Eine Unterauchung
iiber die Hintergrundmachte der Gesellschajt. Julius Springer, Wien
1931. (XI u. 109 S.; RM. 7.50)
Der Verfasser der vorliegenden sozialphilosophischen Arbeit unter-
nimmt es, das Phanomen ^Bedurfnis" nach seiner strukturellen Konstitu-
tion und dynamischen Funktion zu analysieren. Er nimmt damit den Faden
der seit August Dorings ,,Philosophischer Gtiterlehre" (1888) vernach-
lassigten Theorie des Bediirfnisses wieder auf. K. fuhrt die Analyse auf
der einen Seite bis zu den erkenntnistheoretischen Elementen der Sub-
jektskonstitution fort, auf der andern bis zu den „metaphysischen Wesen-
heiten", die er am Horizonte des Bediirfniskreises als Grenzphanomene
«xistierend annimmt. Das Bedurfnis wird als komplexe Einheit von Wollen,
Fiihlen, Denken und zentralem IchbewuBtsein aufgezeigt, seine Dynamik als
ineinandergreifende Abfolge von Transformations akt en (vages Begehren —
Affektstauung — Planbildung — Vorstellungsformung und Logisierung) nach-
gezeichnet. Neben dieser detaillierten Phanomenologie des Bediirfnisses
nimmt sich die lediglich auf die Darstellung von Ersatz befriedigungen
beschrankte Behandlung der ,,Verwirklichungstechnik" sehr karglich aus.
Im kritischen Teil wirft K. Marx eine zu enge („vorkritische") Fassung
der Bedingungsgesamtheit menschlicher Handlungen und Bediirfnisse vor,
die zur Verabsolutierung eines einzigen Faktors, des umweltlichen, fiihre.
Zur „Umwelt" des Individuums aber rechnet K. nicht nur den mensch-
lichen Leib, sondern auch alle „vorstellungsma6igen Bestandteile des Be-
wufitseins", wahrend ,,das Individuum" fvir ihn identisch ist mit einem
bloQ willensmafiigen, denkfahigen Ichkern. Nach einer solchen Begriffs-
bestimmung gelangt er dann zum ebenso naheliegenden wie unsinnigen
Schlufl, daC der Mensch ein ,,von der Umwelt wesentlich unabhangiger
Erzeuger seiner Taten" sei.
A. F. Westermann (Frankfurt M.).
Urbschat, Fritz, Das Seelenleben des kaufmdnnisch-tatigen Jugend-
lichen. J. Beltz. Langensalza 1932. (80 S.; RM. 2.50)
Die Stellung des jugendlichen Angestellten — im Milieu ostpreufiischer
Mittelstadte — zu seinem Beruf sowie seine Gestaltung der Freizeit ist
das Objekt der Untersuchung. Als Forschungsmethode dienten Lehr-
gesprache zwischen Lehrer und Schiilern der Berufsschule mit anschlieflenden
schriftlichen Darlegungen der Schiilerj Spontanberichte, personliche Be-
obachtungen des Lehrers in der Schule und in gemeinsam verbrachter
Freizeit traten zur Erganzung hinzu. 466 Schiiler und Schiilerinnen waren
die Versuchspersonen, aus deren Aussagen iiber Berufswahl, Berufserleben
430 Besprechungen
und •wiinschen Beispiele gebracht werden. Auffallend stark tritt der den
Jugendlichen selbst bewuBte EinfluB von Kindheitserlebnissen, Kinder-
spielen und fruhesten Berufswiinschen bei der spateren Berufswahl in
Erscheinung, Klagen iiber Mangel an Freizeit, die von der Mehrzahl der
jungen Angestellten erhoben werden, fiihrt der Verf. wohl unberechtigt
auf die besondere Situation der Kleinstadt zuruck* — Statt bisweilen
recht lebensfremde Anforderungen an die Jugendlichen zu stellen, hatte U.
die gesammelten, z. T. wertvollen Aussagen im Zusammenhang mit dem
wirklichen Leben der Angestellten beurteilen miissen.
Hilde WeiB (Frankfurt a. M.).
Geschichte.
Steinhausen, Georg, Deutsche Geistes- und Kultur geschichte von
1870 bis zur Gegenwart M. Niemeyer. Halle (Saale) 1931. (512 S.;
gek. RM. 12.—, geb. RM. 14.—)
Das Werk ruht auf der These, dafi Vorkriegszeit und Nachkriegszeit
„trotz dem Einschnitt durch Weltkrieg und Staatsumwalzung eng zu-
sammenhangen", ja dafi die letzten sechzig Jahre im Grunde eine einheit-
liche und geschlossene Epoche dar stellen. Von dieser Dberzeugung her
verschiebt sich fur den Verf. die Aufgabe: er bemiiht sich nicht eigentlich
um eine „ Geschichte", d. h. um eine Darstellung des Werdens und des
Wandels der deutschen Kultur in dieser Zeit — dazu finden sich nur An-
satze — , sein Interesse ist auf Analyse eines statisch Gegebenen gerichtet,
sein eigentliches Ziel ist, den Zeitraum „von der tieferen, von der geistigen
Seite zu deuten". Aber die Analyse vermag nicht den in Fiille gebotenen
Stoff zu durchdringen : dazu fehlt es ihr an einer einheit lichen, theoretisch
geklarten, soziologisch und sozialpsychologisch fundierten Untersuchungs-
methode; die „Deutung" des Objekts wird mit Hilfe einiger popular -
idealistischer Kategorien vollzogen; die Zeit von 1870 bis zur Gegenwart
ist ein „t)bergangszeitalter", in dem „Materialismus" und „Egoismus"
um sich greifen, dem die „groBen Ideen" fehlen und vor allem die „genialen
Personlichkeiten heroisch-damonischen Charakters". Dabei ist trotz aller
Mangel im Grundsatzlichen das Einzelurteil des Verf. nicht ohne Wert oder
zum mindesten Interesse: St. durchmustert die Erscheinungen der Zeit
mit ehrlicher, oft eigenwilliger Unabhangigkeit und mit Achtung gebieten-
dem Ernst — nur verschwindet immer wieder hinter dem nach sittlichen
Mafistaben und oft in sittlichemZorn wertenden und verurteilenden Prediger
der erkIarendeundverkniipfendeHistoriker,den man in diesemBuche eigent-
lich sucht. Wilhelm Mackauer (Frankfurt a. M.).
Mehring, Franz, Zur Veutschen Geschichte. GesammeUe Schriften und Auf-
sdize, krsg. von Eduard Fucks. Soziologische Verlagsanstalt. Berlin 1931.
(500 S.; RM. 8.50)
Der vorliegende Band der Mehring-Gesamtausgabe enthalt vor allem:
1. „Die Deutsche Geschichte vom Ausgang des Mittelalters", ein „Leit-
Geschichte 431
faden fiir Lehrende und Lernende" offensichtlich stark an padagogischen
Zwecken orientiert, die aus anderen Schriften M.s bekannten Analysen zu
einer Gesamtdarstellung zusammenf assend ; kleinere Aufsatze iiber 2. ,, Ull-
rich von Hutt«n, 3. „Etwas iiber groBe Manner, Martin Luther 11 und 4. „Gustav
Adolf, ein Furstenspiegel zu Lehr und Nutzen der deutschen Arbeiter" eht-
hiillen die Klassenbeziehungen der Reform ationsepoche. Eine Reihe von
Aufsatzen, die M. als Einleitung zu „Aus der neuen Rheinischen Zeitung"
in seiner Ausgabe des literarischen Nachlasses von Marx, Engels, Lassalle
und im „Wahren Jakob** veroffentlicht hat, sind zu einer Darstellung der
5. ^Revolution und Gegenrevolution 1848^-1849" zusammengefaBt. Gegen
6. „Burgerliche Geschichtsschreiber** richten sich eine Reihe weiterer Auf-
Der Band ist von Eduard Fuchs und Jean Romein, Amsterdam, sorgf altig
herausgegeben und mit Anmerkungen versehen. Die Einleitung Ludwig
Pollnaus ist reich an wertvollen Hinweisen und Polemiken mit Dopsch und
Cunow iiber den Urkommunismus, mit Veit Valentin iiber das Verhaltnis
von Bourgeoisie und Proletariat in der Revolution von 1848.
Es kann unsere Aufgabe nicht sein, in diesem Rahmen eine Untersuchung
der Methode M.s als Historiker vorzunehmen. Trotz einiger Mangel bestatigt
auch dieser Band wiederum, dafl M. .von alien deutschen „ orthodox en Mar-
xisten" der Vorkriegszeit die marxistische Methode am vollkommensten
handhabte* und jeder Versuch in dieser Richtung wird an ihn ankniipfen
miissen, freilich nicht ohne die Polemiken Reimanns und Pollnaus zu
berucksichtigen. Josef Doppler (Prag).
Karl Marx/Friedrich Engels, Der, Briefwechsel zwischen Marx und
Engels 18 68 — 1883. (Historisch-kritische Qesamtausgabe. Hrsg. v.
V. Adoratskij. III. Abteilung, Band 4). Marx-Engels-Verlag. Berlin
1931. (XVI u. 759 S.; MM. IS.—)
Nunmehr liegt der letzte Band des Brief wechsels zwischen Marx und
Engels, mit einem Abteilungsregister der vier Bande, vor. Er erstreckt sich
iiber die Jahre 1868 — 1883, iiber eine Zeitspanne, auf die zutrifft, was Lenin
sagt, daB sich in ihr „die Arbeiterklasse von der biirgerlichen Demokratie
loslost, in der eine selbstandige Arbeiterbewegung entsteht, in der die Grund-
lagen der proletarischen Taktik und Politik ausgearbeitet wurden". Dem-
gemafi nehmen die Probleme der Arbeiterklasse und ihrer Politik in der Er-
orterung der Brief schreiber einen breiten Raum ein. Die Ausfuhrlichkeit
der Darlegungen wird vor allem durch den auBeren Umstand begunstigt,
daB bis zum Jahre 1870 E. in Manchester, M. in London wohnen. Es wird
Stellung genommen zu den Arbeiterbewegungen der meisten europaisehen
Lander und Kordamerikas und zu den Problemen der Internationalen
Arbeiter-Assoziation. Die deutsche Arbeiterbewegung, vor allem ihre beiden
Fuhrer, Liebknecht und Schweitzer, werden eingehend behandelt, und die
Scharfe der Kritik an ihnen weist darauf hin, welche beeondere Wichtigkeit
M. und E. gerade der Entwicklung in Deutschland beilegten. In diese Zeit
fallen ferner die Auseinandersetzungen iiber die Probleme der politischen
Okonomie. Besonders hinge wiesen sei auf die Brief e M.s vom 22., 26. und
30. April 1868, in denen er das Verhaltnis zwischen Profitrate und Geldwert
432 Besprechungen
erortert. Im letzten entwickelt er den Aufbau des dritten Toils des „Kapitals".
Nach 1870 tritt die Behandiung der Probleme der politischen Okonomie etwas
zuruck zugunsten der Probleme der Dialektik in der Natur und der dialek-
tischen Naturwissensehaft. Hierfiir ist vor allem der Brief E.s vom 30. Mai
1873 wichtig.
Neben den sachlichen Fragen findet sich in diesen personlichen Briefen
vieles, was iiber die privaten Verhaltnisse der Briefschreiber Auskunft
gibt.
Diese neue Ausgabe des Briefwechsels ist gegeniiber der Ausgabe der
deutschen Sozialdemokratie vom Jahre 1913 urn 47 neue Briefe vermehrt
worden; ferner sind alle Streichungen der alien Ausgabe beseitigt worden.
So liegt denn der Briefwechsel der Jahre 1868 — 1883, soweit er erhalten ist,
in 1569 Nummern in einer musterhaften Ausgabe vollstandig vor.
W. Gollub (Frankfurt a. M.).
Young, Pauline V., The Pilgrims of Russian Town. The University
of Chicago Press. Chicago 1932. (296 S.; $ 3.— )
■ Zu diese m Buch, das die Geschichte einer russischen Sekte, der Molo-
kans, die vor etwa 25 Jahren nach Kalifornien wanderten, aus wirklich
intimer Nahe schildert, hat Robert E. Park als Einleitung eine eindring-
liche und schone Analyse der Wesenszuge einer Sekte uberhaupt geschrieben.
Frau Young widmete 5 Jahre dem intensiven Studium dieser Sekte.
Sie hatte das Gliick, einen besonders fruchtbaren Moment (vom Standpunkt
soziologischer Erkenntnisse) zu erfassen. Die Molokans, Bewohner des
russischen Landes, durch gemeinsame Leiden und einen gemeinsamen
Glauben fest zusammengeftigt, wandern von stillen Dorfern des Kaukasus
in eine der unruhvollsten, von modernem Leben pulsierenden Stadte
Amerikas aus. Auch hier bewahrt die alte Gruppe, nachbarschaftlich von
der Umwelt abgeschlossen, die Tradition (religios kommunistischer Art)
der Briiderschaft, die Riten ihrer Sekte. Die Einflusse des fremden Lebens
aber lassen sich durch keinen noch so hohen Damm zuriickhalten. Kon-
fliktstoff genug, der besonders durch die jungeren Generationen, die viel-
fache Beruhrungspunkte mit der Umwelt haben, herangetragen wird.
Young schildert den Wandel der Einstellungen, die Aufiockerung der Ge-
meinschaft, den Karapf der Festgefugten gegen die desintegrierenden Ein-
fliisse. Obwohl sie nur schlicht beschreibend diesen einen Fall der Ent-
wicklung einer verpflanzten Sekte darstellt, ist ihr Buch mehr als eine
bloCe Geschichte der Molokans: es gewahrt soziologische und sozial-
psychologische Einsichten, von denen wir leicht zu Hypothesen iiber die
Entwicklung von Sekten uberhaupt kommen konnen. Das Buch ist fesselnd
geschrieben und enthalt eine reiche Bibliographie iiber das behandelte
Gebiet. Margareta Lorke (Frankfurt a. M.).
McGec 5 John Edwin, A Crusade for Humanity. The History of Or-
ganized Positivismin England. Watts <k Co. London 1931. (234S. P
sh. 21.—).
Comte hat im „Systeme de politique positive" und im „Catechisme" ein
System der Humanitatsreligion ausgearbeitet, in deren Mittelpunkt die
Geschichte 433
humanity stand, deren Priesterschaft sich aus den Intellektuellen zu-
sammensetzen sollte und als deren Oberpriester er sich selbst betrachtete.
Der Gottesdienst - bestand aus kultischen Handlungen zu Ehren der
Humanitat und ihrer Vertreter (die auch den neuen Monaten die Namen
gaben) und aus wissenschaftlichen Aufklarungsvortragen.
In England grundete Richard Congreve die erste positivistische Ge-
meinde, von der sich 1878 eine andere Gruppe unter der Fuhrung von Frederic
Harrison, John Henry Bridges und Edward Spencer Beesly abspaltete.
McGee berichtet die Geschichte dieser zwei Londoner Gruppen und der
in der Provinz gegriindeten Zweigvereine. Er schildert ihren Aufstieg und
Niedergang bis in unsere Tage, in denen nur noch eine ganz kleine Sekte
unter Fuhrung von T. S. Lascelles in London existiert. Die Bewegung,
deren Anhangerschaft immer klein war, hat durch ihre Fuhrer in der Presse
zu den groBen politischen Fragen Stellung genommen. McGee halt die un-
politisch-wissenschaftliche Einstellung der Fuhrer fiir eine Hauptursache
ihrer Unpopular i tat, glaubt jedoch, daB sie auch zur Versohnung der poli-
tischen Gegensatze in England beigetragen habe. — Eine Bibliographic
von 487 Nummern beschlieBt das Buch.
McGee behandelt seinen Gegenstand rein historisch, schildert Neuerungen
im Ritus, Episoden aus dem Leben der Fuhrer und ihre — iibrigens
wirkungslose — Stellung zu politischen Fragen. Er vermittelt weder
einen Einblick in das Wesen einer wissenschaftlichen Sekte noch in
die Verarbeitung positivistischer Gedanken in England. So bleibt
seine Arbeit im rein Historischen stecken, ohne zu grofieren Zusammen-
hangen durchzudringen.
Hans Rosenhaupt (Mainz).
International Migrations. Volume I: Statistics. Compiled on behalf of the
International Labour Office, Geneva, with Introduction and Notes by
Imre Ferenczi and edited on behalf of the National Bureau of Economic
Research by Walter F. WUlcox. National Bureau of Economic Research,
New York 1929. (1112 S.; % 10.—)
Volume II: Interpretations. By a group of scholars in different countries.
Edited on behalf of the National Bureau of Economic Research by Walter
F. Willcox. National Bureau of Economic Research. New York 1931.
(715 S.: $ 7.—)
Das vorliegende Werk, das von amerikanischer Seite angeregt und
finanziert, vom Internationalen Arbeitsamt unter der Leitung Ferenczis
durchgefuhrt worden ist, wird wohl alien kiinftigen Arbeiten auf dem Gebiet
der Wanderungsfrage als Grundlage, mindestens aber als unentbehrliches
Hilfsmittel dienen. Der erste Band enthalt in einer von privater Seite nie
zu erreichenden groBartigen Vollstandigkeit alle verfiigbaren Statistiken
iiber internationale Wanderungen, und zwar nicht nur iiber die des 19. und
20. Jahrhunderts, sondern auch iiber alle weiter zuriickliegenden, soweit
sich, und sei es auch mit groBter Muhe, dar iiber Material finden lieB. Der
erste, von Ferenczi grundlich kommentierte Hauptteil behandelt die prole-
tarischen Massenwanderungen des 19. und 20. Jahrhunderts. Der gewaltige
434 Besprechungen
zweite Teil bringt ausschliefilich statistische Tabellen iiber die internatio-
nalen Wanderungen. Literaturverzeichnis und ausftihrlicher Index er-
hohen die Brauchbarkeit des Riesenwerkes.
Der zwei Jahre spater erschienene zweite Band enthalt, abgesehen von
einer grundlichen und interessanten Studie von Willcox iiber Vermehrung
und Verteilung der Erdbevdlkerung seit 1650, eine ganze Reihe von Auf-
satzen, die von Fachleuten — und zwar meistens Statistikern — der ver-
schiedenen Lander stammen. Sieben Beitrage kommen aus Einwanderungs-
landern. Sie beschranken sich fast alle auf eine Erlauterung der stati-
stischen Daten und der Einwanderungsgesetze. Trotzdem enthalten manche,
wie z. B. die Beitrage iiber Australien und Neuseeland, auch fiir den sozio-
logisch und politisch interessierten Leser viel Wertvolles, sofern er zwischen
den Zeilen zu lesen weifi. Die Beitrage aus den Emigrationslandern sind im
allgemeinen viel ausftihrlicher. Fiir Deutschland berichtet der Statistiker
Dr. Burgdorfer; iiber die Auswanderung aus der osterreichischen Halfte der
fruheren Doppelmonarchie schreibt Dr. Klezl, iiber ungarische Wande-
rungen Dr. Thirring. Besonders bemerkenswert ist der sehr umfangreiche
Aufsatz des Sowjet-Statistikers V. V. Obolensky-Ossinsky iiber russische
Ein- und Auswanderung; der Verfasser geht auch ausfiihrlich auf die wirt-
schaftlichen, sozialen und politischen Hintergriinde derMassenauswanderung
aus Rutland ein, wobei er alle Siinden des Zarismus stark herausstreicht.
Sehr interessant und bei aller Zuriickhaltung des Verfassers doch durch die
mitgeteilten Daten erschiitternd ist der Aufsatz des Genfer Professors
L. Herseh iiber jiidische Wanderungen.
Die Knappheit des Raumes erlaubt nicht eine Wiirdigung der Arbeiten
im einzelnen; doch sollen wenigstens alle an der Wanderungsfrage Inter-
essierten auf dieses groflartige Sammelwerk hingewiesen sein.
Arthur Prinz (Berlin).
Bott, Alan, Our Fathers (1870—1900). WilUam Heinemann Ltd. London
1931. (249 S.; sh. 8/6)
Bott unternimmt den neuartigen, reizvollen Versuch, die spatviktoria-
nische Zeit in einem Bilderquerschnitt widerzuspiegeln. Er zeigt aus einera
Material von hunderttausend zeitgenossischen Magazinillustrationen — Vor-
laufern der Photographie — ausgesuchte Bilder, durch kurze Texte und Ab-
handlungen nach Originalquellen erlautert. So ist ein Sammelwerk von un-
gewohnlich buntem Inhalt entstanden, das una rasch und eindringlich auf-
schlufireiche Eindriicke aus dem gesellschaftlichen Leben, aus Politik und
Krieg, aus den Anf angen der Technik und des Sports vermittelt.
Nicht ohne Schaudern erleben wir die Auferstehung der gespenstischen
Welt unserer Vater, ein surrealistisches Panoptikum. In Gehrock und Zy-
linder — der adaquaten viktorianischen Kleidung, die im Buch stets wieder-
kehrt — verlafit General Gordon London, auf dem nachsten Bild sehen wir
schon, wie sein Kopf von schwarzen Scheusalern dem Sudanfiirsten Slatin
Pasha iiberbracht wird. Der besiegte Ashanti-Konig kiifit den Fu6 des auf
einer Biihne steif thronenden Gouverneurs, der Prince of Wales umtanzt im
Schottenrockcheh fackelschwingend die Kadaver erbeuteter Hirsche, die
Geschichte 435
Aristokratie feiert imTakt des Galopps die Eroberung Indians und die Nieder-
zwingung Agyptens, zur selben Zeit werden die indischen Aufriihrer hin-
gerichtet und niedergemacht, in London kommen die erbeuteten Kunstschatze
zur Auktion. Ein Aufruhr des Hobs wird auf der gleichen Seite vorgefuhrt,
auf der die siegreiche Hilfspolizei im Bilde paradiert. Vom spanisch-ameri-
kanischen Krieg sehen wir zwar nur die Zeichnung von Kxiegsanleihe an
New Yorker Bankschaltern, dafur sind aber die englischen Kolonialfeldziige
um so breiter dargestellt. Endlich nehmen Sportbilder einen breiten
Raura ein, auf denen der Sport in seinen Anfangen als unheimlicher
Hollenspuk eracheint.
Es ist nicht mdglich, in dieser Anzeige einen Begrif f von dem reichhaltigen
Inhalt des Buches zu geben. Es sei wegen seines umfassenden Anschauungs-
materials jedem empfohlen, der sich iiber die sozialen und politischen Zu-
stande des Spatviktorianismus aus einer ungetrtibten Originalquelle unter-
richten will. Ludwig Carls (Berlin).
Spiegel, Kfithe, Kulturgeachichtliche Orundlagen der amerikanischen
Revolution. R. Oldenbourg. Milnchen und Berlin 1931. (X u. 214 S.,
br. RM. 10.—)
Die Frage des Grundes der Loslosung der amerikanischen Kolonien
vom englischen Mutterlande wurde in der deutschen wissenschaftlichen
Literatur bisher stiefmiitterlich behandelt. Sie ist sehr interessant, da sie
zu dem Probleme der gewaltigen Triebkrafte, die die heutigen Vereinigten
Staaten entstehen lieBen, hinleitet. Eine Studie daniber ist deshalb sehr zu
begriifien.
K. Sp. ist Anhangerin der kulturhistorischen Schule in der Geschichts-
wissenschaft. Dem entspricht die Gliederung der Arbeit. Der erste Ab-
schnitt behandelt die geo- und demographischen Grundlagen. Daran schlieBt
sich eine Erorterung der Eigenheiten der geistigen Entwicklung, die von
England hinweg ftihrten. Dabei stellt Verf. das religiose Leben in den Vorder-
grund. Der dritte Abschnitt befafit sich mit der Herausbildung eines eigenen
offentlichen Rechtes und erst der letzte mit der Wirtschaftsentwicklung.
Schon diese Anordnung zeigt, daC die Verf. den geistigen Momenten eine
grdfiere Bedeutung als den mater iellen zuweist und zwischen beiden nur
einen lockeren Zusammenhang sieht. Gerade fur diese Epoche der Geschichte
liegt aber die Bedeutung der okonomischen Krafte besonders klar zutage.
Es sei nur an die Emanzipationsbestrebungen der sich bildenden amerika-
nischen Industrie, an die Verschuldung des sudlichen Groflgrundbesitzes
an England und an die englische Handelspolitik, die die Verf. ja auch er-
wahnt, erinnert. Die BUckrichtung der Verf. fiihrt zu Verzeichnungen des
Bildes. Sie sind um so bedauerlicher, als das Buch viele wertvolle Einblicke
in die Struktur des kolonialen Nordamerika gibt.
Arvid Harnack (Berlin).
Hasebrock, Johann, Qriechtsche Wirtschafts- und Gesellschafts-
geschichte bis zur Perserzeit. J. C. B. Mohr. Tubingen 1931.
(XV u. 296 S.; RM. 13.— , geb. RM. 16.—)
436 Besprechungen
Berve, Helmut, Griechische Gesckiehte. 1. Hdlfte: Von den Anfdngen
bis Perikles. Herder. Freiburg 193 L (VIII u. 308 S.; RM. 7.50, geb.
RM. 9.50)
Vogt, Joseph, Romiscke Gesckiehte. 1. Hdlfte: Die rbmische Republik.
Herder. Freiburg 1932. (350 S.; RM. 9.— t geb. RM. 11.—)
Wolf, Julius, Rbmische Gesckiehte. 2. Hdlfte: Die rbmische Kaiser-
zeit. Herder. Freiburg 1932. (VIII u. 286 JS.; RM. 6.70, geb,
RM. 8.50)
Gegeniiber Ed. Meyers und Pohlmanns modernisierender Umdeutung
altgriechischer Wirtschafts- und Gesellschaftsverhaltnisse tritt Hasebrock
auf die Seite von K. Biicher und Max Weber und sucht die grundsatzliche
Andersartigkeit der antiken Kultur und ihrer wirtschaftlichen und gesell-
schaftlichen Voraussetzungen zu erweisen. So sehr es den Soziologen freuen
wird, dafl hier ein ziinftiger Historiker fur die von seiner Wissenschaft lange
iibersehenen Ergebnisse soziologischer Forschung eintritt und daruber
hinaus soziologische Methode und Fragestellung fur sein Fachgebiet nutz-
bar machen will — er wird sich nicht verhehlen konnen, dafi dieser Ver-
such wenig geeignet ist, fiir die Zusammenarbeit beider Wissenschaften
zu werben : H. iiberspitzt seine Thesen so stark, daB er bei semen Beweisen
offenkundig mit Material und Logik in Konflikt gerat. Auch gelingt es ihm
trotz aller Retuschen nicht, ein wirklich klares Gesamtbild fruhgriechischer
Verhaltnisse zu entwerfen. Im iibrigen uberrascht bei einem Freunde und
Wahlverwandten der Soziologie die sonderbar verwaschene Verwendung
von Begriffen wie „Klasse <( , „TJnternehmer", „Staatssozialismus (t , „Ge-
mein wirtschaf t ' ', „Idealtypus ( ' .
Die drei iibrigen hier anzuzeigenden Werke sind Teile einer bei Herder
erscheinenden „Geschichte der fuhrenden Volker". Den Reiz der Beitrage
von Berve und Vogt macht es aus, dafi hier zwei griindliche Sachkenner und
selbstandige Forscher den Versuch unternehmen, die Fulle des Tatsachlichen
fiir einen auBenstehenden Betrachter zu einem Ganzen zu ordnen und
begreifbar zu machen. Vor allem Berve zeigt dabei eine erstaunliche Kraft
der Stoffbewaltigung und - verdichtung : er beschrankt sich nicht auf Athen
und Sparta, sondern zeichnet von Vorgeschichte und Geschichte des gesamten
hellenischen Siedlungsgebietes ein an Einzelzugen reiches, wohldurchdachtes
Bild. Freilich bleibt er bei einer in der Hauptsache deskriptiven Behandlung
seines Gegenstandes stehen. Den Ausblick auf die treibenden Krafte
historischen Geschehens versperrt ihm seine t^berzeugung vora „organischen
Verlauf" der griechischen Geschichte, die er — in Annaherung an den
Kreis Stefan Georges — als Verwirklichung einer vorgegebenen Form sieht:
neben und hinter den „verschiedenartigen landschaftlichen und historischen
Bedingungen", die B. durchaus sieht und wiirdigt, steht ihm als das eigent-
lich gestaltende Agens die „Natur", das „Ethos*', der „Geist", auch wohl
das „Blut" der Hellenen, der ihnen „eingeborene Wille" oder „ Drang*',
„das Schicksalhafte ihres Wesens", der ,,Sinn" ihrer Geschichte. Indem er
so die Wirklichkeit jenseits des der Erfahrung grundsatzlich Zuganelichen
wurzeln lafit und bei einer unklaren Entelechie als der letzten faBbaren
Gegebenheit auf dem Wege zum Ursprung der Dinge haltmacht, zieht er
Geschichte 437
der historischen Wissenschaft gerade dort eine Grenze, wo sich ihr heute
ein unabsehbares neues Arbeitsgebiet off net.
Vogt beschrankt sich auf die im engeren Sinne romische Geschichte —
laSt also die ubrigen Volker Italiens drauBen — und innerhalb der Ge-
schichte Roms wieder auf Politik und Krieg und einen kenntnisreichen,
feinsinnigen AbriB der Geistesgeschichte. Die Entwicklung der Wirt-
schaft wird kaum gestreift, auch die gesellschaftlichen Verhaltnisse werden
nur gelegentlich erhellt. In seiner Gesamtauffassung vom historischen
Geschehen steht V. Berve nah, nur ist seine Anschauung weniger ausge-
pragt und beeinflufit nicht so bewuflt die Komposition des Stoffes: er
findet den Schliissel zur romischen Geschichte in bleibenden Wesenszugen
des Nationalcharakters, vor allem in dem „dem romischen Volke einge-
borenen Willen zur Macht", aber auch in seinem ,,moralischen Charakter"
und in seiner „Rechtlichkeit". V. hat tiberhaupt die Neigung, sich bei
Darsiellung und Wertung der romischen Friihzeit auf dem Boden der
National- und Klassenideologie der Senatsaristokratie zu bewegen; fiir das
Revolutionszeitalter schwenkt er dann auf den gemafiigt-konservativen
Standpunkt Ciceros ein und endigt mit einer loyalen Huldigung an den
Princeps Augustus, der im Gegensatz zu Caesars Planen die „romischer
Tradition" und ,,romischem Wesen" gemaBe Form der Alleinherrschaft
begrundet.
Wolfs Darstellung der romischen Kaiserzeit bleibt hinter Vogt und
Berve weit zuriick; sie erstickt im Stoff und entbehrt der wissenschaft-
lichen Eigenart.
Wilhelm Mackauer (Frankfurt a. M.).
Guerri, Domenico, La corrente popolare nel Rinascimento. Berte,
burle e bale nella Firenze del Brunellesco e del Burckiello. (Die voiles-
tumliche Stromung in der Renaissance, Spottlieder, Possen und Sckerze
im Florenz des Brunellesco und des Burckiello) G. C. Sansoni. Florenz
1932. (174 8.; L. 18.—)
Der Autor bringt z. T. unveroffentlichte Scherze, Possen und Spott-
lieder aus dem Florentiner Stadtstaat des 14. und 15. Jahrhunderts zum
Abdruck und spurt von sprachlichen und lokalhistorischen Gesichts-
punkten ihr en Urhebern und ihrer Anlehnung an alter e Texte nach. Aber
von dieser fachwissenschaftlichen Gelehrsarakeit abgesehen, auf die der
Verf. viel Geduld und Fleifi verwendet, hat das Buch soziologischen und
kulturgesc hi cht lichen Wert, insofern die ans Licht gezogene volks tumliche
Dichtung zeigt, daB die Durchbrechung des mittelalterlichen Geistes, die
in den herrschenden Klassen als Humanismus erscheint, ein volkstiimliches
Gegenstiick hatte : wenn sich die gelehrte Welt der Zeit aus dem Formelkult
und Buchstabenglauben der Scholastik dem klassischen Altertum zu-
wendete und so ihre Befreiung als „Wiedergeburt" erlebte, so schopfte
gleichzeitig das Geistesleben der Massen den Ausdruck seiner Rebelhon
aus der taglichen Wirklichkeit. Soziologisch interessant ist der — ja auch
von andern — beigebrachte Beleg dafur, daB ohne gelehrten EinfluB,
ohne Bekanntschaft mit den Texten des Altertums, eine urwiichsige Auf-
438 Besprechungen
lehnung gegen das Herkbmmen wie auch gegen die Monopolisierung des
Wissens durch die des Lateinischen machtigen herrschenden Schichten
im Florentiner Volk lebendig war. Als die mittelalterliche Wirtschaftsform
und Gesellschaftsordnung briichig wurde, drangte sich der Geist der Kritik
und der Respektlosigkeit uberall ein. Die mehr oder weniger obszonen
Spottgedichte des Acquettino und Burchiello, die in der Werkstatt fiir
den Markt entstanden, strdmen aus demselben Quell, dem der Humanismus
entstammt. Oda Olberg (Wien).
Heller, Otto, Der Untergang des Judentums. Verl. f. Literatur u. Politik.
Berlin 1931. (390 S.; br. EM. 4.50, geb. EM. 6.50)
Auf den ersten 48 Seiten versucht der Verfasser eine Analyse der judischen
Entwicklung in der Antike. „Sie (die Juden) sind durch den naturlichen
Produktionsfaktor des geographischen Raumes, innerhalb dessen sie sich
zur Nation entwickelten, durch die Produktionsverhaltnisse des gesamten
damaligen, urn das ostliche Mittelmeerbecken gelagerten Wirtschaftskreises,
zu einem Handelsvolk geworden**. „Die Auflosung verhinderte den Unter-
gang der Juden, die fortan eine durch die Reste ihrer Nationalitat, vor
allem und entscheidend durch ihre Religion gekennzeichnete Kaste
waren . . . Verlor die Religion mit dem Erloschen jener Funktion ihre
soziale Kraft, mufite auch die Schicksalstunde der judischen Kaste
schlagen."
Angesichts des fast volligen Fehlens von Vorarbeiten wird man vom
Verfasser gewifi nicht eine iiberzeugende historisch-materialistische Analyse
der judischen Antike auf 48 Seiten verlangen kdnnen. Seine Thesen sind
schematisch und geben eine Reihe von Behauptungen (wie etwa die des-
orginare Handelsfunktion der Juden) mit einer Sicherheit, die durch Urn*
fang des zugrunde liegenden Materials und Griindlichkeit seiner Bearbeitung
nicht gerechtfertigt wird. Ea ware besser, wenn der Verf. dies selbst erkannt
und betont hatte. Je naher er aber der Gegenwart kommt, desto ausfiihr-
Ucher, griindlicher und fesselnder wird das Buch. In ganz ausgezeichneter
Weise und dokumentarisch ausfiihrlich belegt, gibt der Verf. nach einer
Schilderung der Lage der Juden im Osten bis zur Revolution eine Dar-
stellung der theoretischen und praktischen Grundlagen der Behandlung der
Judenfrage durch die Sowjetregierung. H. gibt ein Bild der in schnellem
Tempo vor sich gehenden Berufsumschichtung der etwa 3 Millionen Juden
der Sowjetunion, wobei bemerkenswert ist, daB der ursprungliche Zweig
des Produktivierungsprozesses, die landwirtschaftliche Ansiedelung der
Juden, heute bereits durch die Industrialisierung eingeholt ist. Der Jude
wird Arbeiter und Bauer, und die Mehrheit der judischen Bevolkerung lebt
schon jetzt von Lohnarbeit. Das Buch bringt auf den letzten hundert Seiten
einen sehr fesselnd geschriebenen Bericht einer Reise durch die judischen
Siedlungen. — Unyerstandlich bleibt der Titel des Buches. Die vom Verf.
dargestellte Politik der Sowjetunion geht ja davon aus, daB die Juden als
Nationalitat, auch nach Erloschen ihrer Funktion als Handelskaste, die
Moglichkeit des Fortbestandes haben. Der Titel ist der Ausdruck einer
theoretischen Inkonsequenz und Unklarheit des Verf. in bezug auf eine
Geschichte 439
wichtige Seite des Juden- und Nationalitatenproblems. Es ware erfreulich,
wenn Verf. in einer nachsten Auflage zur Aufhellung der Widerspniche
kame. Erich Fro ram (Berlin).
Hassliiger, Hugo, Geographiscke Grundlagen der Geschichte. Herder.
Freiburg 1931. (XIV u. 332 S.; RM. 8.50, geb. RM. 10.50)
Hassinger untersucht, von Agypten ausgehend, die Raume, die nach-
einander Schauplatz der Kulturentwicklung und Machtentfaltung ge-
worden sind, und analysiert sie auf die geographischen Bedingungen hin,
die sie zum Trager eines individuellen Schicksals werden liefien. Dabei legt
er ein reiches Material und eine Fiille geistvoller Erkenntnisse mit sym-
pathischer Zuruckhaltung vor; er halt sich von jedem geopolitisohen
Monismus fern und stellt klar heraus, daB das in der Natur Gegebene nur
eine „kulturelle Disposition'* der Landschaften erzeugt, dem Menschen
aber nirgends den Weg seiner Entwicklung „naturgesetzlich" vorsehreibt.
Er weiB, daB die geopolitisohen Werte nicht feste GroBen sind; er zeigt
immer wieder, wie die Wandlungen der Technik nicht nur die Kulturland-
schaft verandern, sondern auch etwa die dem Raume anhaftenden Lage-
beziehungen von Grund auf umwerten konnen. — Den einzelnen Abschnitten
sind sehr ausfiihrliche Literaturiibersichten beigegeben.
Wilhelm Mackauer (Frankfurt a. M.).
Wittfogel* Karl August, Die natiirlichen Grundlagen der Wirtachafts*
geschichte. Archiv fur Sozialwissenschaft und Sozialpolitik. (Bd. 67,
1932, Heft 4—6)
Wittfogel setzt in dieser Artikelserie die methodologischen Uhter-
suchungen fort, die er in 4 Aufsatzen uber „Geopolitik, geographischer
Materialismus und Marxismus" 1929 in der Zeitschrift „Unter dem Banner
des Marxismus" begann und als deren praktische Konsequenz der I. Bd.
seines Buches „Wirtschaft und Gesellschaft Chinas" gelten darf. Nach W.s
These ist seiteris der Marxisten — von Lenin abgesehen — weder der
Begriff der Produktivkrafte, zumal deren naturbedingte Seite, noch der
eng damit zusammenhangende Begriff der Produktionsweise und der
Produktionsverhaltnisse vollstandig und richtig rezipiert worden. Beim
Begriff der Produktionsweise steht, „so notwendig auch das gesellschaft-
liche Moment einbegriffen ist, das Verhaltnis des gesellschaftlich arbeitenden
Menschen zur Natur im Vordergrund. Im Begriff der Produktionsverhalt-
nisse steht, so sehr auch die arbeitstechnische, der Natur zugewandte
Seite mitgedacht sein mufl, die gesellschaftliche Seite der Sache im Vorder-
grund . . . Die durchaus zentrale Stellung des Begriffs der materiellen
Produktionsweise im System der Marxschen Geschichtsanalyse ist damit
gegeben".
Der methodologischen Untersuchung laBt W. in seiner neuen Auf sat z-
reihe die Skizze einer Wirtschafts- und Sozialgeschichte folgen. W. setzt
sich dabei das Ziel, mittels der von ihm fixierten Kategorien eine Reihe
offenstehender historischer Probleme zu I6sen : ' exakte Formulierung des
Systems der Produktivkrafte in der asiatischen, der antiken und der feu-
dalen Produktionsweise; Analyse der okonomischen Ursachen der zwie-
440 Besprechungen
schlachtigen Entwicklung Ost- und Westroms am Ende der Antike;
Bestimmung der historischen Stellung der altindianischen Klassengesell-
schaften, vor allem des Jnkareiches (als einer Spielart der „orientalischen"
Despotie); Erklarung der okonomisch-sozialen „ Stagnation" Spaniens vom
15. — 19. Jahrhundert; Aufdeckung derTJrsachen fur die verschiedenen Varia-
tionen der biirgerlichen Gesellschaft in Deutschland, Holland, Italien, der
Schweiz, Frankreich und England. Die beiden Aufsatzreihen W.s stellen
von einem bisher vernachlassigten Ausgangspunkte her Kernprobleme der
okonomisch-sozialen Geschichtswissenschaft zur Diskussion.
Carl Petersen (Berlin).
Soziale Bewegung und Sozialpolitik.
Markham, S. F., A History of Socialism. A. & C. Black. London 1931.
(322 S.; 7 s. 6d.)
Die vorliegende Geschichte des Sozialismus ist ein Handbuch, das iiber
die wichtigsten Daten und Ereignisse der sozialistischen Bewegung der
Welt in knapper Zusammenfassung orientiert. In einem abschlieBenden
Kapitel entwickelt M. seine Meinung iiber die Entwicklung des Sozialismus,
um mit dem Bekenntnis zu schlieflen: „May we not, with Saint-Simon,
believe, that the Golden Age is not behind but before us ?"
Mehr als eine knappe ttbersicht der Entwicklung der sozialistischen
Bewegung aller Lander der Erde kann M. nicht geben. Man wird nach diesem
Werke greifen, wenn man sich tiber Daten und Tatsachen der sozialistischen
Bewegung orientieren will. Grofies Gewicht legt der Verf. auf die Dar-
stellung der parlamentarischen Machtpositionen. Nicht nur in dieser
Hinsicht ist das Werk stark vom englischen Blickpunkt aus geschrieben.
Die Kritik der marxistischen Lehre, welche auf den Seiten 51 — 55 ver-
sucht wird, bewegt sich im Rahmen bekannter MiBverstandnisse, als ob
die Marxsche Mehrwerttheorie nicht mit den geschichtlichen Tatsachen
ubereinstimme, als ob Marx die Bedeutung des Unternehmers verkenne.
Die „materialistic conception of history" wird imSinne des philosophischen
Materialismus mifiverstanden. Deshalb ist es verstandlich, daB M. die
Geschichte des modernen Sozialismus in die Phasen des „theoretischen
Utopismus" von Owen, Saint- Simon und Fourier, des „revolutionaren
Sozialismus" von Marx, Engels, Lenin, Trotzki und Stalin und schliefilich
des ,,konstitutionellen Sozialismus" von Lassalle, Jaures, MacDonald,
Fisher, Branting, Stauning und Vandervelde trennt. Sidney Webb wird
als der „chief thinker" der dritten Phase der sozialistischen Bewegung
bezeichnet, wodurch der personliche Standpunkt des Verf. deutlich urn-
rissen wird. Emil J. Walter (Zurich).
Bougie, C, Socialismes fran?ais. Du „Socialisme ttiopique" a la
„D6mocratie indttstrielle" . Armand Colin. Paris 1932. (VIII u. 200 S.;
jr. 10.50, geb. jr. 12.^)
Bougle\ Professor an der Sorbonne, gibt eine gute tJbersicht iiber die
Entwicklung und den geistigen EinfluB des franzosischen Sozialismus.
Soziale Bewegung und Sozialpolitik 441
Er mochte es vermeiden, dafi die Geschichte nur „un moyeti de s'evader du
present" wird. Deshalb zieht er die geistigen Linien des franzosischen
Sozialismus bis in die Gegenwart, in die aktuellen Probleme der fran-
zosischen Politik und Wirtschaft hinein. Andererseits kann auch der
Zusammenhang des franzosischen Sozialismus mit der franzosischen Revo-
lution und dem 18. Jahrhundert nicht iibersehen werden: „avant de dresser
le bilan du saint- si monisme, du fourierisme, du proudhonisme, nous avons
cru devoir rappeler sommairement le legs du XVIII 6 siecle et celui de la
Revolution francaise". Ein letztes Kapitel „R6sultantes et Perspectives"
sucht die Aussichten des Sozialismus in Frankreich abzuwagen. Wenn auch
B. sich im wesentlichen der geistesgeschicht lichen Methode bedient, die
soziologische Analyse der drei grofien Systeme des franzosischen Sozialismus
bloB streift, ist es ihm doch gelungen, in anschaulicher und objektiver
Weise in die Gedankenwelt des franzosischen Sozialismus der ersten Halfte
des 19. Jahrhunderts einzuftihren. Emil J. Walter (Zurich).
Rosenberg, Arthur, Geschichte des Bolschewismus von Marx bis zur
Gegenwart. Ernst EowohlL Berlinl932. (239 S.; RM. 4.80, geb.RM. 5.80)
„Es mufi erkannt werden, dafi — trotz allem — Sowjet-RuCland sich
im Aufstieg und die III. Internationale sich in hoffnungslosem Niedergang
befindet. Mein Buch sucht zu erklaren, wie dieses eigenartige Doppel-
resultat zustande gekommen ist." — Die vorliegende „ Geschichte des Bol-
schewismus" ist ein bedeutsames und hochaktuelles Werk. Ich stehe nicht
an, dieses Buch mit Otto Bauers „ Geschichte der osterreichischen Revo-
lution" zu den wichtigsten historischen Veroffentlichungen der mar-
xistischen Schule der Nachkriegszeit zu zahlen. Rosenberg rollt auf hohem
geistigem Niveau das Problem des Bolschewismus, genauer der bolsche-
wistischen Ideologie, in aller Scharfe und Klarheit auf.
Das Werk umfafit elf Kapitel. Im ersten Kapitel „Von Marx bis Lenin
(1843 — 1890)" versucht R. eine engere Verwandtschaft der politischen
Meinungen von Marx mit denen des Bolschewismus herzustellen. Das letzte
Kapitel reicht bereits bis zum „Aufbau des , Sozialismus in einem Lande'
(1927 — -1932)". Ich greife einige wichtige Grundgedanken des Buchs heraus.
R. unterscheidet drei Etappen der Arbeiterbewegung. In der ersten werden
die Arbeiter unter der Leitung einer kleinenGruppe von Berufsrevolutionaren
aus der radikalen biirgerlichen Intelligenz organisiert, um die biirgerlich-
demokratische Revolution zu vollenden. „Das ist der Typus Marx-Engels'
und des Bolschewismus." In der zweiten Etappe bestimmen die Arbeiter
selbst die Politik ihrer Organisationen. Da das revolutionare Endziel zuruck-
tritt, die Arbeiter sich bemiihen, ihre Klassenlage innerhalb der biirgerlichen
Gesellschaft zu verbessern, tritt zwischen dem marxistischen Endziel der
revolutionarenUmgestaltung der Gesellschaft und der praktischen Politik ein
Widerspruch auf. Dieser Etappe gehorten die Parteien der zweiten Inter-
nationale und die Menschewisten an. Unter diesen Parteien gab es zwei Rich-
tungen. Die eine, die revisionistische, revidierte die marxistische Theorie ent-
sprechend der „veranderten Gegenwart", die zweite, die radikal-utopische,
hielt am revolutionaren Endziel fest, dachte aber an keine revolutionare Tat.
Die dritte Etappe, in der die Arbeiterbewegung tiber die biirgerliche Gesell-
442 Besprechungen
schaf t hinausstrebt, durch Revolution zur Macht gelangen will, urn nicht
die radikaldemokratische, sondern die sozialistische Revolution zu ver-
wirklichen, ist „die Vollendung der marxistischen Zukunftsidee". Sie
wurde in der Vorkriegszeit von einem kleinen Kreise radikaler Marxisten,
u. a. von H. Gorter, R. Luxemburg und Trotzki verfochten.
Der Bolschewismus ist nach R. eine Ideologic der demokratisch-repu-
blikanischen Revolution, eine Ideologic, welche im Gedanken des Arbeiter*
und Bauernstaates die spezifisch russische Ideologic der Narodniki zur ge-
schichtlichen Realisierung fuhren konnte. Emil J. Walter (Zurich).
Ermers, Max, Victor Adler. Aufstieg und Grbfie einer sozialistischen
Partei. Dr. Hans Epstein. Wien und Leipzig 1932. (374 S. t geh.
RM. 6.—, geb. KM. 7.25)
„Das einzigartige und fesselnde Bild des Schopfers der osterreichisehen
sozialdemokratischen Partei, des Organisators der Arbeiterschaft, wurde
bisher sonderbarerweise noch von keinem sozialistischen Historiker fest-
gehalten. Das war eine Lucke in der Literatur, die mein Verleger mit Ruck-
sicht auf den kommenden 80. Geburtstag Victor Adlers (24. Juni 1852) zu
schlieflen sucht . . .*', mit diesen Worten begriindet der Verfasser die Veroffent-
lichung seiner verdienstvollen, umfangreichen und lebendigen Schilderung
des Lebensganges des Fuhrers der osterreichisehen Sozialdemokratie der
Vorkriegszeit. Ermers zeichnet mehr als nur ein einzelnes Lebensbild: er
la fit um und durch die Gestalt Victor Adlers die ganze Geschichte der oster-
reichisehen Partei vor uns auferstehen. Die osterreichische Arbeiterbewe-
gung wird von 1848 bis zum entscheidenden Eingriff Victor Adlers in ihre
Entwicklung wahrend der achtziger Jahre eirigehend dargestellt. Mit Liebe
zeichnet der Verf . vor allem auch das Bild von Adlers Vorganger Dr. Hippolyt
Tauschinski, der an der Ungunst der sozialen Verhaltnisse scheiterte. Erst
Adler gelang, was Tauschinski versagt blieb, die Zusammenfassung der
politischen Arbeiterbewegung in der sozialdemokratischen Partei und ihre
zielbewufite Fiihrung im Kampfe um das allgemeine und geheime Wahlrecht.
Mit Recht tragt die vorliegende Biographie den stolzen Untertitel: „ Auf-
stieg und Grofie einer sozialistischen Partei'*. Adlers Leben wird als Leben
des vergesellschaf teten Menschen dargestellt und ist in diesem jSinne viel
mehr Lebensbeschreibung, als die iibliche Art der Biographie dies ist. Und
wenn im SchluBkapitel der Verfasser sich fur sozialistische Nahziele einsetzt :
„soziale Experimente in den verschiedensten Richtungen, insbesondere
wirtschaftsdemokratischer und innenkolonisatorischer Art, personliche und
tapfere Einstellung zu den Kriegsproblemen, Sammlung und Erprobung der
neuen Kulturformen, weltumspannender, praktischer Kontakt mit alien
Volkern und Rassen der Erde, Sicherung des Existenzminimums fiir alle
bis zur endlichen Austilgung der okonomischen Daseinsangst", so ist es
verstandlich, dafi er vor allem „zweierlei Leser" wiinscht: „junge Sozialisten,
die in die Vergangenheit blicken und aus ihr profitieren wollen, und burger-
liche Leser, die es gelustet, einen Menschen bedeutenden Zuschnitts kennen-
zulernen, der aus ihrer Welt kommt, aber in eine andere gegangen ist*'.
E.s Lebensbeschreibung Victor Adlers ist zwar ein erster, aber ein gelungener
Wurf. Emil J. Walter (Zurich).
Soziale Bewegung und Sozialpolitik 443
Becker, August, Qeschichte des religibsen und atheistischen Fruh-
sozialismus. Erstausgabe des von August Becker 1847 verfafiten und
von Georg Kuhlmann eingelieferten Oeheimberichtes an Metternich und
von Vinets Rapport nebst einer Einleitung, hrsg. von Prof, D. Dr. Ernst
Barnikol. Walter 0. Miihlau. Kiel 1932. (XXII, 130 S.; RM. 4.50)
Binyon, Gilbert Cllve, The Christian Socialist Movement in England.
An introduction to the study of its history. Society for Promoting
Christian Knowledge. London 1931. (X y 238 S.; 8s. 6d.)
Nach der Verdf f entlichung der bisher schwer zuganglichen Schriften We it-
lings und besonders der sch&nen Erstausgabe von Weitlings „ Gerechtigkeit"
folgt nun wiederum eine Erstausgabe, herausgegeben von Ernst Baraikol:
Die Berichte Beckers iiber die revolutionise Propaganda des Kommunis-
mus und das „ Junge Deutschland" in der Schweiz und iiber die Geschichte
des propagandistischen Vereinswesens in der Schweiz. Becker, neben Weit-
ling eine der hervorragendsten Cestalten des vormarxistischen Sozialismus,
entwirft ein bunt schillerndes Bild dieser in ihrer Ursprunglichkeit und
Selbstandigkeit bemerkenswerten Anfange einer sozialen Bewegung, die
von der Schweiz nach Deutschland heriibergebracht w}rd. Der Rapport
Vinets erganzt seinen Bericht vom Standpunkt der Restauration. Das Mit-
und Gegeneinander verschiedener Richtungen und Personlichkeiten,
Griindung und Gegengriindung zahlreicher Vereine un|d Zeitschriften ist
an Hand der beigegebenen ubersichtlichen Verzeichnisse leicht zu ver-
folgen. Die Einleitung iiber Becker und Kuhlmann tragt zu einer gerechten
Wurdigung beider Neues bei.
An den Theologen wendet sich in erster Linie Bin yon. Er verfolgt die
soziale Bewegung in England in ihrer besonderen Beziehung zu Kirchen-
geschichte, Theologie und Religionsphilosophie seit Owen. Ausfiihrlich
behandelt B. die Arbeit eines Maurice, Ludlow, Kingsley, Hughes, Neale,
und sehr eingehend wird die Stellung christlich-sozialer Organ isationen zur
modernen Arbeiterbewegung dargestellt. Die eigene Stellungnahme des
Verf. klingt aus in der Forderung einer leider nur in ijiren Ansatzen an-
gedeuteten „christlichen Soziologie". B. lehnt den Versuch ab, soziale
Einsichten erst nachtraglich religios begrunden zu wollen, und fordert
vielmehr den Aufbau einer sozialen Wertlehre auf der Grundlage christ-
licher Ethik: „an analysis of what our Lord actually thought and taught
about social questions*'. Dies Vorgehen, wenn es auch in der Anwendung
auf die sozialen Probleme unserer Zeit fortgebildet wird, bleibt notwendig
konstruktiv und ist sinnvoll durch die Fragestellung zu erganzen: welche
Bedeutung hatte das Christentum als soziale Institution, welche Funktionen
erfullt es noch, und welche sozialen Aufgaben werden ihm notwendig
gestellt ? Kurt Moldenhauer (Berlin).
Studien iiber die Beziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeit'
nekmern. Internationales Arbeitsamt, Reihe A (Berufliche Vereinigung),
Nr. 33 und 35. Oenf 1930 und 1932. (286 und 180 S.; Schw. Frcs. 6.50
und 4 t — )
Seit einigen Jahren hat das Internationale Arbeitsamt neben seinen
vielen anderen Untersuchungen sich besonders mit der Frage der Be-
444 Besprechungen
ziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern in groBen Unter-
nehmungen befafit. Die beiden Schriften legen da von Zeugnis ab. Es han-
delt sich hier um rein empirische Arbeiten, die jedoch um so wichtiger sind,
als iiber ein Gebiet Auskunft gegeben wird, das weit verschlossener liegt
als z. B. das des Verhaltnisses zwischen den Organisationen der Arbeiter -
kiasse und den Unternehmern. Die Untersuchungen, deren Ergebnisse im
ersten Heft mitgeteilt werden, betreffen die Siemenswerke in Siemens-
stadt, die Bergwerke in Lens, den Londoner Verkehrskonzern, die fran-
zosischen Staatsgruben des Saargebiets, die Schuhfabrik Bata; diejenigen
des zweiten Hefts die Zeifl- Werke, die Fiat-Werke, die Philips -Werke und
die Sandvik- Werke.
Der Darstellung iiber die Beziehungen des Unternehmers zu den Ge-
werkschaften geht eine geschichtliche tJbersicht iiber das Unternehmen,
seine Arbeiterzahl, seine Finanzen voraus; es folgt ein t^berblick iiber die
bestehenden Wohlfahrtseinrichtungen (darunter auch Gewinnbeteiligung,
Sparsystem usw.). Die Untersuchungen bieten vom sozialpolitischen Stand-
punkt aus auBerordentlich gutes objektives Material. Sie zeigen klar, was
von den obengenannten Unternehmungen fur die Arbeiter geleistet wird,
um ihr Interesse fur das Wohl des Unternehmens zu steigern. Driicken sich
die Unternehmer gegeniiber den Vertretern des Intern at ionalen Arbeits-
amtes auch in verschwommenen Formen aus, so sind sich fast alle doch
daruber einig, daB fiir den eigenen Betrieb die Gewerkschaftsbewegung
hochstens als ein notwendiges Ubel akzeptiert werden muB ; besser ware es,
wenn man sich nicht nach ihr zu richten brauchte. Alle Bemiihungen, vom
Kinderschutz bis zur Forderung des Kirchenbaus (bei den Siemens werken)
laufen darauf hinaus, die Arbeiter an die Unternehmung zu binden. Immer
wieder zeigt sich der patriarchalische Standpunkt des Unternehmers, der
fiir seine „Kinder" alles mogliche zu tun bereit ist, wenn sie sich nur zur
Unternehmung bekennen und sich in die Betriebsangelegenheiten nicht
hineinmischen. Andries Sternheim (Genf).
Bloch, Kurt, VberdenStandortder Sozialpolitik. Val. Hofling. Miinchen
1932. (56 S.; RM. 0.75)
Heller, Fritz, Sozialpolitik und Reichsarbeitsgericht. Sozialpolitische
Erwagungen in den Urteilen des Reichsarbeitsgerichts. H. Buske. Leipzig
1932. (79 S.; RM. 3.20)
Westphalen, F. A,, Die theoretischen Grundlagen der Sozialpolitik.
Gustav Fischer. Jena 1931. (VII u. 196 S.; br. RM. 10.—, geb. 11.—)
Die Frage nach dem Standort der Sozialpolitik im Kapitalismus be-
schaftigt seit geraumer Zeit die Geister wieder sehr stark. Die Losung
des Problems scheint um so dringlicher, aber auch um so unmoglicher, je
unklarer die Vorstellung vom Wesen der kapitalistischen Wirtschafts-
ordnung ist. Das Bediirfnis nach theoretischer Klarung entpuppt sich
nur zu haufig als das Bediirfnis nach ideologischer Rechtfertigung. DaB
,, Sozialpolitik eine so niichterne illusionslose Angelegenheit ist wie das
System, zu dem sie gehort", hat Eduard Heimann 1923 trefflich for-
muliert, aber 1929 mit seiner eignen Theorie desavouiert. Unterdessen
hat die Krise in Deutschland wie an alien Illusionen, so auch an den
Soziale Bewegung und Sozialpolitik 445
sozialpolitischen „SoziaIisierungs"-, „Demokratisierungs'*-, „Klassenbe-
friedungs"-Illusionen unerbittliche praktische Kritik geiibt. Bloch
bemuht sich, der Gefahr der Ideologisierung zu entgehen. Er ist von
der Erkenntnis durchdrungen, dafi das Ende der Sozialpolitik auch das
Ende des Kapitalismus ware, und zeigt, daB die scheinbar unversohn-
lichen Auffassungen von Sozialpolitik als Produktionspolitik, als Kampf
um Freiheit und Wiirde des Arbeiters, als Staatspolitik und als soziale
Reform nur verschiedene Blickrichtungen von verschiedenen soziologischen
Standorten auf das gleiche gesellschaftliche Phanomen sind. Auch wenn
man nicht jede Auffassung B.s teilt, darf man die Methode und die ge-
wonnenen Ergebnisse als fruchtbar und anregend bezeichnen. Fur die
Krise, in der sich mit der Wirtschaftsordnung und den sozialpolitischen
Institutionen auch die Wissenschaft von der Sozialpolitik befindet, ist es
aber kennzeichnend, daB B. mehr als „relativ giiltige Ergebnisse" selbst
nicht anstrebt und aus der Krise der Sozialpolitik auch das Recht fiir
das „objektive Urteil" folgert, „ungewiB" zu sein. — Wie wenig „ungewiB",
zumindest im Ziel, das angestrebt wird, das hochste deutsche Arbeits-
gericht bei semen sozialpolitischen Urteilen ist, weist iiberzeugend Heller
in einer durch Sachlichkeit und ZurUckhaltung gleich bestechenden Arbeit
nach. Das Reichsarbeitsgericht hat die „Verankerung" der „Gleichbe-
rechtigung" von Arbeitgebern und Arbeitnehmern in der Reichsverfassung
so wdrtlich genommen, daB es darin die Aufhebung der wirtschaft-
lichen Abhangigkeit des „gleichberechtigten" Proletariers erreicht sieht.
Daher seine Lehre vom Tariflohnverzicht, daher aber auch sein Abgleiten
in faschistische Gedankengange, denn wirkliche „Paritat" auf dem Boden
des Kapitalismus ist nur mdglich, wenn als Schiedsrichter uber den
„gleichberechtigten*% aber sozial ungleich bleibenden Parteien der all-
machtige Staat des Faschismus thront. H.s Buch ist ein wirkungsvoller
Beitrag zur Klarung der sozialpolitischen Situation unserer Zeit.
Das Buch Westphalens ist dagegen ebenso anspruchsvoll wie un-
ergiebig. Die Unproduktivitat der Spannschen Schule erweist sich an
solcher Arbeit recht drastisch. Um zum Ergebnis zu kommen, daB „auch
fiir die Sozialpolitik heute das Problem der klassenmafiigen Zerkliiftung
der Gesellschaft und ihre t)berwindung im Mittelpunkt steht", ware auch
ein geringerer Auf wand ausreichend gewesen. Fritz Croner (Berlin).
Sozialrechtlichea Jahrbuch. Hrsg.von Tkeodor Brauer, Christian Eckert
u. a, t Bd. 3. J. Benskeimer. Mannheim 1932, (VIII u. 187 S.;
br. RM. 10.—, geb. RM. 12.50)
Der Begriff des Sozialrechts ist umstritten. B. versteht darunter ein
autonomes Recht sozialer Gruppen und Schichten, das als Ausdruck einer
neuen (^berufsstandischen") Sozialordnung bisher zwar teilweise kodifiziert
wurde, in seinem ganzen Umfang aber noch in der Entwicklung begriff en
ist und um gesellschaftliche Anerkennung ringt. Das kollektive Arbeits-
recht ist ein Kernstiick jenes werdenden Sozialrechts, jedoch nicht mit ihra
identisch. Auf alien Lebensgebieten, nicht nur in der Wirtschaft, glaubt
B. Tendenzen zu einer „standischen" Schichtung, die einer institutionell-
juristischen Formung bediirfen, feststellen zu konnen.
446 Besprechungen
Das vorliegende Jahrbuch bietet Einzeluntersuchungen, die „standische"
Gliederungsbestrebungen vornehmlich auf den Gebieten des Berufsorgani-
sationswesens, der Industriepadagogik und der Lohnpolitik nachweisen
wollen. Besondere Beachtung unter den zwolf Beitragen dieses 3. Bandes
verdient eine Abhandlung des Herausgebers iiber die typische geistige
Verfassung des (christlichen) Gewerkschaf tssekretars ; B. schliefit in diesem
Aufsatz den im 2. Band begonnenen Vorbericht iiber das Ergebnis einer
Fragebogen-Enquete ab: Heinrich Mertens (Frankfurt a. M.).
Rosenstock, Eugen und Carl Dietrich yon Troths, Das Arbeitslager. Be-
richte aus Schlesien von Arbeitern, Bauern, Studenten. Eugen Diederichs.
Jena 1931. (159 S.; RM. 4.60)
Arbeitslager sind 3 — 4wochige Freizeiten, in denen etwa 100 Arbeiter,
Bauern und Studenten (moglichst zu gleichen Teilen) zusammenkommen,
urn sowohl korperlich wie geistig gemeinsam zu arbeiten. Sie sind zunachst
in Schlesien, dann auch in Norddeutschland und der Mark vereinzelt gehalten
worden und haben neuerlich dadurch eine etwas groflere Verbreitung ge-
funden, daC ihre Form verschiedentlich zum Vorbild fur die Organisation
des freiwilligen Arbeitsdienstes genommen wurde (unter ausdriicklicher
Inauguration durch die geistigen XJrheber des Arbeitslagers).
Entsprungen sind die Arbeitslager aus dem Bediirfnis, die verschiedenen
Schichten des Volkes miteinander in Verbindung zu bringen und dadurch
die Bereitschaft, sich als Glieder eines Volkes zu fuhlen, zu fordern. Leider
geben die Berichte kaum einen Eindruck von dem inhaltliclien Gang der
Aussprachen, so daB es unmoglich ist, ein Bild davon zu gewinnen,
wieweit der Gedanke der Urheber eine Erfullung erfahren hat. Man er-
fahrt nur aus wenigen brieflichen Aufierungen, dafi begabte und tiichtige
Studenten ehrlich er griff en, dafi junge schlesische Bauern interessiert und
befriedigt waren, d&Q junge Arbeiter skeptisch blieben. Gerade wenn
das Buch ein Beitrag zur Frage der Volksbildung sein sollte, war es wich tiger,
das Ausspraehenmaterial selbst zu bieten als den Gedanken des Arbeits-
lagers von alien Seiten durch ergriffene junge Menschen ventilieren zu lassen.
So ist das Buch auch der Gef ahr erlegen, einen in seinen Grenzen brauch-
baren Gedanken zu einer umfassenden Reformidee zu iiberhohen. Das nimmt
nicht weg, daB die SchluSbetrachtungen manches Lesenswerte bieten. Be-
sonders die Ausfiihrungen von Bailers tad t und Rosenstock enthalten (neben
einigen das Skurrile streifenden Einfallen, wie das fast immer bei Rosenstock
so ist) prinzipielle Erorterungen von einer Originalitat, die auch fur den, der
von einer ganz anderen Betrachtung der gesellschaf tlichen Zusammenhange
herkommt, anregend sein muB. Karl Mennicke (Frankfurt a. M.).
Rosenstock, Eugen, Arbeitsdienst — Heeresdienst ? Eugen Diederichs.
Jena 1932. (80 S.; RM. 1.80) '
Rosenstock geht in seiner Schrif t iiber den freiwilligen Arbeitsdienst
von der Voraussetzung aus, dafi es sich beim deutschen Arbeitslosenheer
um eine Dauererscheinung handelt. Die Arbeitslosen sind das im Pro-
duktionsprozefi freigesetzte Kapital. R. gelangt von dieser Voraussetzung
zur Anerkennung einer zweiteiligen Volksordnung. Die Reproduktions-
Spezielle Soziologie 447
armee der Arbeitslosen ist dem Markt entzogen. Fur diesen Bereich gelten
die Gesetze des Marktes nicht: der Arbeitslose betatigt sich im Arbeits-
dienst ohne Anspruch auf Bezahlung seiner Arbeit; die Unternehmer
mussen die notigen Bedurfnisse dieser Armee auch ohne Rente befriedigen
wollen. Freiwilligkeit, Beschrankung der Dienstleistungen auf zusatzliche
Arbeit, Selbstverwaltung der Arbeitsgemeinschaft im Arbeitsdienst,
Trennung von Trager der Arbeit und Trager des Dienstes werden von hier
aus zu selbstverstandlichen Forderungen. R. entwickelt an den durch diese
Situation aufgeworfenen Erscheinungen und Fragen eine Theologia in
nuce mit den Star ken und Schwachen eines solchen Versuches. Er er-
wartet von der Durchsetzung des freiwilligen Arbeitsdienstes eine Er-
neuerung des Volkes, der „ureinfache" Hilfsdienst der jungen Mannschaffc
wird zum Quell neuer Besinnung und damit offentlicher Meinungsbildung,
der Erdglaube der jungen Volksgruppe „besanftigt die Kliifte der alteren,
auseinandergesetzten und auseinandergesprengten Arbeitsmenschheit".
Die Schrift ist anschaulich geschrieben, eine Fiille von Gedanken auf
engen Raum gedrangt ; dabei halt sich R. nicht frei von ideologischen tTber-
spitzungen und setzt Dinge, die man andeuten kann, in ein zu starkes Licht.
Emil Blum (Habertshof).
Dabois, Florence, A Guide to Statistics of Social Welfare in New York
City. Welfare Council New York City 1930. (XIX, 313 S.)
Der Fuhrer gibt in iibersichtlicher Anordnung einen Quellennachweis
mit Seitenangaben fur die unter das im Titel angegebene Gebiet fallenden
Gegenstande in mehr als 300 statistischen Publikationen (Materialien der
statistischen Stellen, Jahrbucher von Amtern und Organisationen u. dgl.
sowie Studien, in denen Zusammenstellungen von statistischem Material
en thai ten sind). Das Buch ist sorgfaltig und iiberall mit Riicksicht auf
leichte Benutzbarkeit durchgearbeitet und darf als ein wichtiges biblio-
graphisches Hilfsmittel sozialwissenschaftlicher Arbeit hier angezeigt werden.
Jakob Feinberg (Frankfurt a. M.).
Spezielle Soziologie.
Geiger, Theodor, Die soziale Schichtung des deutschen Volkes. So?
ziographischer Versuch auf statistischer Grundlage. Ferdinand Enke.
Stuttgart 1932. (IV u. 142 S.; RM. 7.—)
Das Buch stellt ein Beispiel fruchtbarer Zusammenarbeit von Soziologie
und Statistik dar. — Im ersten Teil wird der grundsatzliche Unterschied
zwischen sozial- und wirtschaftsstatistischen und den soziologischen Be-
griffen klargestellt. Der soziologische Begriff der sozialen Schicht zielt nach
G. auf die Gesamtheit aller Menschen ab, die einen bestimmten Mentalitats-
typus darstellen. Eine solche Personengesamtheit zum Zwecke statistischer
Erfassung unmittelbar abzugrenzen, ist aber praktisch unmoglich. Die
Statistik kann also nur dort und nur insoweit angewendet werden, als
nach anderen, statistisch leichter erfafibaren Merkmalen (solchen des
Berufes oder der wirtschaftlichen Lage) abgrenzbare Gesamtheiten, die G.
448 Besprechungen
im Gegensatz zu dem soziologischen Begriff der sozialen Schicht als „Be-
volkerungsteile" bezeichhet, mit Schichten im soziologischen Sinne an-
nahernd zusammenfallen ; eine vollige Ubereinstimmung wird naturlich
nie eintreten.
DaB es einen sehr groBen Aufwand subtilster Kleinarbeit bedeutet,
solche Bevolkerungsteile zu finden, zeigen die im ersten Unterabschnitt
des zweiten Teilea geschilderten „Verfahrensprinzipien". Um das Ausein-
anderf alien von statistisch feststellbarer „sozialer Lagerung" und sozio-
logisch bedeutsamer „sozialer Schichtung" auf ein Minimum herabzu-
driicken, muflte selbstverstandlich bei moglichst kleinen Teilmassen be-
gonnen werden und diese Mosaiksteine dann zu unter soziologischen Ge-
sichtspunkten moglichst homogenen Gesamtmassen zusammengefaBt
werden. Das Ausgangsmaterial bildete dabei die Berufszahlung von 1925,
zu deren Erganzung weiteres amtliches und privates Material herangezogen
wurde. So wurden, um die Verteilung der Gruppe der Selbstandigen
(a-Personen der Berufszahlung) auf die sozialen Schichten vornehmen zu
konnen, die Ergebnisse der gewerblichen und landwirtschaftlichen Be-
triebszahlung (Gliederung der Betriebe nach der GroBe) herangezogen.
DaB hier ebenso wie an anderen Stellen die Grenzlinien immer mit einer
gewissen Willkiir gezogen, daC ferner an vielen Stellen mit Schatzungen
gearbeitet werden muBte, ist selbstverstandlich und muB bei kritischer
Benutzung der Ergebnisse immer im Auge behalten werden. Leider teilt
G. — mit Riicksicht auf Wunsche des Herausgebers und Verlegers — auBer
dem statistischen Ergebnis nur die groBen Richtlinien seines methodischen
Vorgehens mit.
Die einzelnen Teilmassen faBt G. einmal zu einem dreigliedrigen und
dann zu einem fiinfgliedrigen Schema zusammen. Das letztere, das er
Tiefengliederung nennt, enthalt folgende durch verschiedene Wirtschafts-
mentalitat unterschiedene Schichten: 1. Kapitalisten, 2. mittlere u. kleinere
Unternehmer, 3. Tage worker fur eigene Rechnung, 4. Lohn- und Gehalts-
bezieher hoherer Qualifikation und 5. solche minderer Qualifikation. — Der
dritte Hauptteil, der sich mit der Deutung beschaftigt, enthalt neben einer
soziologischen Beschreibung der Typenmannigfaltigkeit der ftinf Haupt-
massen vor allem sehr eingehendekritischeUntersuchungen tiber denMittel-
standsbegriff. Paul Flaskamper (Frankfurt a. M.).
Bereridge, Sir William and Others, Changes in Family Life. George
Allen & Unwin Ltd. London 1932. (160 S.; 3 s. 6d.). — Young, Donald,
(ed.)y The Modem American Family. In: The Annals of the American
Academy of Political and Social Science. Vol. 160, March 1932. Phila-
delphia 1932. (V, 256 S.; $ 2.—). — Meuter, Hanna, Heimlosigkeit
undFamilienleben. R. Mutter. Eberswalde 1932. (88 S.; RM. 2.50).
— Schaldnagl, Ventur, Heimlose Manner. R. Mutter. Eberswalde 1932.
(77 S.; RM. 2. — ). — Frank, Elisabeth, Familienverhdltnisse
geschiedener und eheverlassener Frauen. R. Mutter. Eberswalde
1932. (68 S.; RM. 2.—-). — Ltidy, Elisabeth, Erwerbstdtige Mutter
in vaterlosen Familien. R. Mutter. Eberswalde 1932. (Ill S.;
RM. 3. — ). — Hansen-Blancke, Dora, Die hauswirtschaftliche und
Spezielle Soziologie 449
Mutterschaftsleistung der IP abrikarbeiterin. R. MMler. Ebers*
walde 1932. (40 S.; RM. 1.65)* — Ahrens, Hermann, Untersuehungen
zur Soziologie der Familie in systematischer Absicht. Rostocker
Dissertation. Gustav Demmler. Ribnitz i. M. 1931. (128 S.)
In den Monaten Februar und Marz 1932 hat die Abteilung fur Er-
wachsenenerziehung des Britischen Rundfunks sieben Vortrage iiber neuere
Veranderungen im Familienleben veranstaltet. Diese Vortrage empfangen
ihr besonderes Gewicht dadurch, daB sie die Horer dazu aufforderten, zu
den behandelten Problemen in einem durch den Rundfunk auf Anforderung
zugesandten Fragebogen Stellung zu nehmen. Die unfreiwillige Propaganda
der Presse, die den Fragebogen auBerst unfreundlich beurteilte, hatte zur
Folge, daB schon vor dem ersten Vortrag iiber 15000 Fragebogen versandt
werden konnten. Bis Ende Marz waren insgesamt 50000 Exemplare ver-
teilt, von denen bis Anfang April ungefahr 7 000 ausgefullt zuruckgekommen
waren. Diese enthalten Material iiber etwa 20000 Familien und 200000 Per-
sonen.
Sir William Beveridge, der die Leitung der Vortrage und die Be-
arbeitung der Fragebogen ubernommen hatte, gibt in einezn kleinen Buch
die Sammlung der sieben Vortrage (von denen drei Dialoge waren), einen
Bericht iiber die Ausgestaltung und Aufgaben des Fragebogens sowie iiber
die ersten Resultate. Die Vortrage sprechen von den allgemeinsten Ver-
anderungen des Familienlebens, erortern den Zusammenhang zwischen
Familie und Bevolkerungsproblem, den EinfluB von natiirlichen und Um-
welt-Faktoren, wirtschaftliche Fragen des Familienlebens, die Rolle der
Familie in Staat und Gesellschaft, die Stellung der Frau und vieles andere.
Das Kapitel, in dem die ersten Resultate der Durchsicht der Fragebogen
mitgeteilt werden, tragt den Titel „The Enduring Family". Damit soil
zum Ausdruck gebracht werden, daB — naeh den Ergebnissen der Fragebogen
zu schlieBen — die grofien Veranderungen im Ff»milienleben der letzten
Jahrzehnte im ganzen eine Vervollkommnung der Familie bedeuten und
daB von revolutionaren Veranderungen keine Rede sein konne.
Ohne Zweifel handelt es sich bei diesem Experiment um einen originellen
und aussichtsreichen Versuch, den Rundfunk in den Dienst der Beschaffung
breiten empirischen Materials fiir die Sozialforschung zu stellen.
DieAmerican Academy of Political and SocialScience bringtim
Marzheft 1932 ihrer Zeitschrift 25 Aufsatze iiber die moderne amerikanische
Familie. Davon sind vier einleitende geschichtliche Aufsatze, neun werden
unter dem Titel „Die amerikanische Familie im Umbau" (transition) zu-
sammengefaBt, und zwolf Artikel behandeln die verschiedenartigen Be-
muhungen um die Stabilisierung der Familie. Der Band enthalt eine Fiille
in teres santester Einzelheiten. Leider fehlt eine zusammenfassende Dar-
stellung der wichtigsten Endergebnisse.
In der von Alice Salomon herausgegebenen Schriftenreihe von
Untersuehungen iiber Bestand und Erschutterung der Familie in der Gegen-
wart sind 1932 fiinf neue Arbeiten erschienen.
HannaMeuter versucht, „die im sozialen Zustande der Heimlosigkeit
auftretenden sozialen Beziehungen und Prozesse in ihrer Einwirkung auf
das Familienleben zu priifen". Aus der fiir Anfang 1932 auf mehr a Is
450 Besprechungen
Ewei Millionen geschatzten Zahl „heimloser" Menschen in Deutschland hat
sie mit Unterstutzung zahlreicher privater und offentlicher Ftirsorge-
organisationen mehrere tausend Falle durch Fragebogen und die Bear*
beitung von Verwaltungsakten erfaBt. In der vorliegenden Studie bietet
sie ein ausgesuchtes empirisches Material, das nach Typen geordnet und
weitgehend statistisch aufgeschlossen ist. Aus den Ergebnissen der Arbeit
ist hervorzuheben, daB trotz widrigster Lebensbedingungen in vielen Fallen
die Familie eine so starke Widerstandsfahigkeit zeigt, daB die Verf . daraus
auf eine besondere biologische Zahigkeit des sozialen Gebildes Familie
ebenso wie auf einen hohen Grad sozialer Anpassungsfahigkeit schlieBt und
meint, daB „auch durch die Heimlosigkeit hindurch die Familie die Mog-
lichkeit entwickeln wird, das gesellschaf tliche Geschehen zu meistern und
sich selbst — ... unter TJmbildung ihrer selbst und des gesellschaftlichen
Ganzen — zu erhalten". Die Lesbarkeit der sehr verdienstvollen Arbeit
wird durch eine allzu formalistische Sprache und die iiberreichliche Ver-
wendung von Zeichen und Tabellen sehr erschwert.
Das Gegenteil gilt von der eine Erganzung der Meuterschen Unter-
suohung darstellenden Schrift des Leiters der „Heimstatt-Arbeiterwohl-
fahrt" in Koln-Deutz V. Schaidnagl. Er gibt einen gut disponierten, sehr
anschaulichen Bericht iiber die Herkunft der Heimlosen, ihre Entwicklung,
die Rolle von Familienverhaltnissen als Ursache der Heimlosigkeit und
ahnliche Probleme. Sch. kommt auf Grund seiner reichen Erfahrungen zu
dem Ergebnis, daB „das sozialpsychische Bediirfnis des Menschen nach
einemHeim, nach eineradaquaten, ihnseelischumschliefiendenmenschlichen
ITmgebung nicht nur im Familienkreis . . . befriedigt werden kann, sondern
auch in einem Zusammenleben mehr kollektiver Art, mit Zugehdrigen des
gleichen Geschlechts". Die Tendenz zur Auflosung der Familie fuhre not-
•wendig zu solchen Zusammenschliissen, die ihre geschichtlichen Vorbilder
in Mannerbiinden, Klostern und Kampfverbanden hatten.
Der Bericht von Elisabeth Frank iiber die Schicksale geschiedener
oder eheverlassener Frauen, die von einer Berliner Fursorgestelle betreut
werden, gibt in 42 Einzeldarstellungen ein erschuttemdes Bild menschlichen
Iteids. Die einzelnen „ Falle" werden von der Verfasserin sehr sorgfaltig
unter wirtschaftlichen und sozialen Gesichtspunkten untersucht mit dem
Resultat, daB die Familie der geschiedenen oder verlassenen Frauen viel
starker bedroht erscheint als die der Wit we.
Eine Erganzung zu dieser Studie stellt die Untersuchung von Elisabeth
Liidy dar. Sie berichtet iiber 184 vat er lose Familien, jedoch sind neben
geschiedenen und ehe verlassenen die Mehrzahl der Mutter Wit wen oder
Ledige. T>ie Verf. hat ihr Material in besonders sorgfaltiger und liebevoller
Weise verarbeitet und kommt zu dem Schlufi, daB „von Ausnahmef alien
abgesehen, Mutter mit pflegebedurftigen Kindern ohne wirtschaf tliche und
arbeitsmaBige Entlastung ihre Aufgabe: Kihdererziehung, Haushalts-
fiihrung neben Volltagsarbeit ohne Schadigung der Familie nicht durch -
fiihren konnen*'.
Dora Hansen-Blancke hat auf Grund der Verarbeitung von 311
Fragebogen, die sie im Sommer und Herbst 1931 an Fabrikarbeiterinnen
von 9 Betrieben in verschiedenen Stadten Deutschlands ausgegeben hat,
Spezielle Soziologie 451
ein Bild zu geben versucht, wie weit die Erwerbsarbeit mit der Erfiillung
der hauswirtschaftlichen und miitterlichen Aufgaben der Frau in Konflikt
gerat. Die Verf. hebt hervor, daB ihr Material sowohl wegen seiner Ent-
stehung mitten in der Krise als auch seinem Umfang nach Verallgemeine-
Tungen nicht erlaubt, behauptet aber wohl mit Recht, daB es Ursachen
und Entwicklungstendenzen aufzeigt, die auf Grund der taglichen Erfah-
rung als allgemein wirkend angenommen werden konnen. Die Untersuchung
bestatigt, daB die Fabrikarbeit nicht der Eheschliefiung, wohl aber dem
Familienaufbau entgegenwirkt, und daB die auBerhausliche Erwerbsarbeit
von der iiberwiegenden Mehrzahl der Frauen als eine schwere auf gezwungene
Last empfunden wird.
Der wissenschaftliche Hauptwert der hier angezeigten fiinf Arbeiten
scheint uns darin zu liegen, daB sie in Erfiillung des Programms der Schriften-
reihe wichtiges Material iiber die modems Familie gesammelt haben,
dessen weitere Bearbeitung unter soziologisehen und sozialpsychologischen
Gesichtspunkten noch wesentliche Aufschliisse fiber den Zustand und die
Funktion der Familie in der heutigen Gesellschaft bringen kann.
Die Rostocker Dissertation von H. Ahrens hat sich die Aufgabe ge-
stellt, dem Problemkreis Familie eine sinn voile, d. h. „logische und speziell
soziologische" Ordnung zu geben. A. stiitzt sich dabei im wesentlichen auf
die Wiesesche Beziehungslehre und versucht, sein „Bezugssystem" nach
konstitutiven und destruktiven Elementen, nach dem Zu- und Auseinander
zu ordnen. Die Arbeit kann — wie bei einer Dissertation wohl auch nicht
anders zu erwarten war — trotz mancher kluger Ausfuhrungen nur als
bescheidener Beitrag zur Erfiillung der ihr gestellten Aufgabe gewertet
werden. Friedrich Pollock (Frankfurt a. M.).
Lichtenberger, J. P. Divorce. A social interpretation. McGraw-Hill
Publishing Co. New York u. London 1931. (XII u. 472 S.; 21s.)
Der Verfasser, Professor der Soziologie an der Pennsylvania Universitat,
versucht eine Analyse des Ehescheidungsproblems im Hinblick auf die Ver-
einigten Staaten von Nordamerika zu geben. Der erste, deskriptive Teil
des Buches bringt nach einem nicht sonderlich vertieften tJberblick iiber
die Geschichte der Ehescheidung eine ausfuhrliche Erortenmg der Ent-
wicklung und der gegenwartigen Lage in den Vereinigten Staaten; die sta-
tistischen Da ten und der Stand der Gesetzgebung werden in kritischer Be-
urteilung vorgefiihrt. Der zweite Teil versucht diese Entwicklung, die von
9937 Ehescheidungen im Jahre 1867 zu 201468 Ehescheidungen im Jahre
1929 (gegenuber 1232559 EheschlieBungen) gefiihrt hat, zu erkla-ren. Ver-
worfen wird wohl mit Recht eine ausschlaggebende Rolle der Gesetz-
gebung. Das Abnehmen der okonomischen Bedeutung der Familien-
gemeinschaft wird erwahnt, aber nicht an die entscheidende Stelle geriickt.
Die wesentliche Erklarung der Entwicklung wird darin gefunden, daB die
Traditionsgebundenheit in steigendem MaBe dem Verlangen nach Freiheit
und Selbstandigkeit weiche und daB dadurch die Auflosung von Ehen
herbeigefiihrt werde, deren tTbel man friiher geduldig hingenommen habe*
Der Verf. schlieBt mit der Voraussage, daB die patriarchalische Form der
Familie zwar hingeschwunden sei, die Ehe sich aber auf der Basis der
452 Besprechungen
Gleichberechtigung der Geschlechter und der freiwilligen Lebensgemein-
schaft wahrscheinlich neu stabilisieren werde.
Das Werk ist in seinem deskriptiven Teil am besten. Die sonstigen
Erdrterungen befriedigen nicht sehr; vor allem wird das Eigentumliche
der Entwicklung der Ehescheidung in den Vereinigten Staaten (etwa in
ihrem Unterschied von den Verhaltnissen in den sonstigen angelsachsischen
Landern) kaum adaquat erklart. Im ganzen eine gefallige, vorwiegend
kompilatorische Arbeit. Gred Freudenthal (Frankfurt a. M.).
Mourik Broekman, M. C. Tan, Erotiek en Huwelijkaleven (Erotik und
Ehe). A. W. Sijthoff's Uitgeversmaatschappij '. Leiden 1932. (260 S.;
Hfl 4.75)
Dieses Buch des hervorragenden Vertreters des freisinnigen Christen-
tums ist charakteristisch fur die Mentalitat des typischen Hollanders, fur
den die Sexualitat noch als etwas Geheimnis voiles, ja als etwas Unanstan-
diges gilt, wof iiber man so wenig wie moglich offentlich spricht. Dies©
psychologische Voreingenommenheit wird wohl die Erklarung dafiir sein,
dafi der Verf . sehr vorsichtig an die einzelnen Probleme herangeht und ferner
viele an und fiir sich interessante Feststellungen macht, die aber nicht viel
Neues bringen. Der Behandlung des eigentlichen Eheproblems geht eine
Einleitung iiber die erotischen Gefuhle voraus, die jedoch den Ansichten
Weiningers einen zu grofien, denjenigen der Freudschen Schule einen zu
kleinen Platz einraumt. Bei der Erorterung der Ehe erwahnt B. die be-
kannte Literatur, die einen Einblick in die verschiedenen Auffassungen gibt.
Der Verf. bezeichnet die Ehe als ein Mysterium, das in dem Mafie, wi©
es sich vergeistigt, zu einer von Gott gewollten Verbindung von zwei
Menschen wird. Jedoch halt er die Ehe nicht fiir etwas Unmodifizier bares.
,,Die christlichen Ideen und Ideale gehen nicht zugrunde, wenn man iiber
Ehe und Ehes ehe i dung zu anderen Schlufifolgerungen gelangt als denjenigen
des altjiidischen Milieus, in welchem die Bibel entstand, die seitdem vor-
wiegend wegen der Autoritat der Kirche und der Starke der Tradition bei-
behalten blieben." Andries Sternheim (Genf).
Neumann, Sigmund, Die deutscken Parteien. Wesen und Wandel nach
dem Kriege. Junker und Dunnhaupt. Berlin 1932. (139 S.; EM, 5. — /
N. ist der Ansicht, dafi in der Gegenwart die reine ,,Reprasentatipns-
partei" alten Stils immer starker durch den von ihm ,,Integrationspartei'*
genannten Typus abgelost werde, d. h. von Parteien, die den einzelnen nipht
nur als Wahler, sondern als ganzen Menschen in alien seinen Lebens-
bezirken zu erreichen und, befehlend oder erziehend, zupohtisierentrachten.
Zu diesem Ergebnis fiihrt ihn eine behutsame Struktur analyse der ein-
zelnen Parteien, ihrer Entwicklung nach dem Kriege, der sozialen Zu-
sammensetzung ihrer Anhangerschaften, ihres Aufbaus und des Gewichts^
das sie haben. Wie man bei der Lekture jedes Abschnittes merkt, ist die
Aufmerksamkeit des Verf. auf die Wirksamkeit jenes Geistes gerichtet, von
dessen Anerkennung durch die Parteien die Gesundheit der Demokratie
abhangt: des Geistes der Verantwortung fiir das Ganze. N. nimmt keine
dogmatieche Riicksicht ; er ist sachlich, wenn er urteilt, vorsichtig, wenn er
Spezielle Soziologie 453
Zukunftsmoglichkeiten erwagt, geistvoll, wenn er auf Vergangenes hin-
weist. Da wir sein Buch hachdrucklich empfehlen, sind wir verpflichtet,
selbst in einer so kurzen Anzeige, ein beilaufiges Urteil zuruckzuweisen,
das falsch und gefahrlich ist: die nationalsozialistische Bewegung (deren XJr-
spriinge N. richtig bestimmt) kann niemals, was N. immerhin fur mdglich
halt, zum „Gewissen der Zeit" werden. Hans Speier (Berlin).
Rohden, Peter Richard, Demokratie und Partei. L. W. Seidel & Sohn.
Wien 1932. (364 S.; RM. 9.60, geb. RM. 11.40)
Groethuysen, Bernhard, Dialektilc der Demokratie. L. W. Seidel & Sohn.
Wien 1932. (61 S.; RM. 1.80)
Der Sammelband „Demokratie und Partei" stellt den ersten Versuch
dar, eine vergleichende Parteienkunde der grofien Staaten und der ent-
scheidenden politischen Systeme der Gegenwart zu geben. Wie bei solchen
Sammelarbeiten verschiedener Autoren nicht anders zu erwarten, sind die
Beitrage ungleichmafiig in der Qualitat. Kingsley B. Smellie gibt einen
knappen tJberblick iiber die englische Entwicklung mit besonderer Beruck-
sichtigung der Labour Party. Die Eigentumliehkeiten der englischen
Innenpolitik werden gut herausgearbeitet, die innerparteilichen Verhaltnisse
und Probleme jedoch kaum gestreift. Im starkeren MaJ3e beriicksichtigt
dies Adolf Rein in seiner lebendigen Skizze iiber USA. Am interessantesten,
j&ber auch am bedenklichsten sind die Beitrage Edmond Vermeils und Peter
R. Rohdens. Gewifi ist es reizvoll, Deutschlan'd durch einen Franzosen und
Frankreieh durch einen Deutschen darstellen zu lassen, bei der Verschieden-
heit und Kompliziertheit der innerpolitischen Kraftelagerung in beiden
Staaten jedoch ein anspruchs voiles, nicht vollig gelungenes Unternehmen.
Vermeil gibt mehr eine Geschichte der deutschen Innenpolitik als die der
Parteien, deren Grundpositionen kaum herausgearbeitet werden. Kleine
Unrichtigkeiten fallen dabei weniger ins Gewicht als die nicht immer rich-
tige Gesamteinschatzung. Rohdens Beitrag, anregend und geistreich wie
seine Einfuhrung zum Gesamtwerk, aber ohne systematische Strenge,
bietet viel psychologische Randbemerkungen und kluge Betrachtungen
und wenig soziologische Forschung. Dimitri S. Mirsky (London) deutet
prinzipiell und mit positiver Grundeinstellung Sinn und Bedeutung der
Demokratie im Bolschewismus. Struktur und Problematik des Ein-
parteienstaates werden bei ihm ebensowenig benihrt wie in W. L. Steins
(Rom) Beitrag iiber den Faschismus, dessen Vorbedingungen, Geschichte
und Philosophic (Evola) — ohne Neues zu bieten — knapp und mit posi-
tiver Bewertung zusammengefafit werden. Die wertvollste Untersuchung
ist Alois Dempfs gedrangte, aber immer pragnante und durchdachte
Skizze iiber Demokratie und Partei im politischen Katholizismus. Mit
einem bei solcher Thematik selten anzutreffenden Gefuhl fiir die sozialen
Gewichte wird hier die Geschichte der katholischen Demokratie als Ge-
danke und Politik — mit einer fur die gegenwartige Situation ,,mittel-
parteilichen" Ausrichtung ■ — ■ entwickelt.
Im ganzen ist die Sammlung als Bericht und Material quelle wertvoll
(nicht zuletzt durch die fast durchgangige historische Fundierung und
durch eine allerdings nicht immer umsichtige internationale Literatur-
454 Besprechungen
iibersicht) ; als soziologische Analyse bleibt sie vollig unzulanglich. Dariiber
hinaus fehlt es dem Gesamtwerk an den notwendigen Voraussetzungen, ein
so weitlaufiges Thema auf engem Raum sinnvoll zu erfassen: an straffer
Durchdisponierung und klareren Richtlinien.
Sie konnen auch nicht riicklaufig durch die Schrift Groethuysens
gewonnen werden, die nicht nur aufierlich ganz fur sich da steht. Sie ver-
sucht eine grundsatzliche Besinnung auf die dialektischen Spannungen der
demokratischen Ideologie in ihrem rechtlichen und soziologischen Moment,
zwischen individualistischem Liberalismus und Gemeinschaftsdemokratie.
Aus diesen Antinomien und der eigenartigen Ver bin dung von bourgeois
und citoyen im „Parteimann" werden dann die Typen der raiteinander
streitenden modernen Parteisysteme entwickelt. Hierbei riickt G. die
besondere Chance der „internationalen Klassenpartei", diese Spannungen
aufzuheben, in den Vordergrund. Wie alle Arbeiten G.s ist auch diese
geistvolle Studie prinzipiell und doch nicht ohne Beziehung auf die kon-
krete Situation. Sigmund Neumann (Berlin).
Heinrich, Walter, Das Stdndewesen mit besonderer Beriicksicktigung
der Selbstverwaltung der Wirtschaft. Oustav Fischer. Jena 1932.
(XII u. 306 S.; geh. EM. 12.—, geb. U.~)
Das Buch gibt einen ausgezeichneten tfberblick iiber die Methode der
Anwendung der universalistischen Gesellschaftslehre Spanns auf die Um-
gestaltung der Wirtschaft. Da fiir Spann sowohl die liberale kapitalistische
Verkehrswirtschaft wie die sozialistische Planwirtschaft, verwerflich sind,
so wird mit Hilfe des universalistischen Begriffsapparats ein Standestaat
konstruiert, der mit dem italienischen Korporativstaat nahe verwandt ist.
Die Organisation der Wirtschaft soil in Berufsverbanden vor sich gehen, die
sich autonom verwalten und nur der Fuhrung und Kontrolle des Staates
unterliegen. Der Staat selbst ist ein Stand, dessen Tragerschaft«freilich
nur mit groBen Schwierigkeiten konstruiert werden kann. Dankenswert
ist das sehr ausfiihrliche bibliographische Kapitel und die ziemlich voll-
standige Beschreibung der berufsstandischen Literatur. Vielleicht hatte
das katholische Schrifttum zum Berufsstandeproblem etwas ausfiihrlicher
berucksichtigt werden miissen. Albert Salomon (Koln).
Hermens, F. A., Demokratie und Kapitalismus. Ein Versueh zur Soziolo*
gie der Staatsformen. Duncker & Humblot. Miinchen 1931. (VIII u.
242 S.; brosch. EM. 5.—, geb. EM. 11.50)
Mit Recht verwahrt sich H. von vornherein gegen die MiBdeutung,
als liege schon in seiner Fragestellung, inwiefern namlich die Demo-
kratie die dem Kapitalismus auf die Dauer allein gemafie Staatsform sei,
eine marxistisch-materialistische Auffassung von den Aufgaben der Soziolo-
gie. Dies ware nur der Fall, wenn unter Kapitalismus und Demokratie
klassenmaBig bestimmte Wirtschafts- und Staatsformen verstanden wurden.
H. unternimmt es im Gegenteil, Kapitalismus und Demokratie mit den
Begriffen und Methoden der Schumpeterschen Okonomie, der formalen
Soziologie und der funktionalistischen Staatslehre so zu beschreiben und zu
definieren, daO jede Spur von Klasseninhalt verschwindet. Nicht die Demo-
Spezielle Soziologie 455
kratie wird durch den Aufweis ihrer Bedeutung fiir den Kapitalismus dea
Scheins klassenloser Gerechtigkeit entkleidet; umgekehrt: die formale
Analogisierung beider ermdglicht es, diesen Schein auch auf den Kapitalis-
mus selbst fallen zu lassen. Das Resultat sind Paradoxien wie diese: „Wenn
tiberhaupt eine, so ist kapitalistische Gesellschaft klassenlose Gesellschaft".
Zunachst wird die Demokratie dadurch definiert, daB in ihr die Integra-
tion durch den Fiihrer, der sich in politischer freierKonkurrenz durchsetzen
und behaupten mufl, erfolgt, im Gegensatz zu den herrschaftlichen Staats-
formen, in denen politisches Monopol herrscht. Dann folgt eine entsprechende
Analyse des Kapitalismus, dessen Grundphanomen nicht etwa das Klassen-
nionopol an den Produktionsmitteln, sondern die wirtschaftliche Entwick-
lung sei, beruhend auf der freien Konkurrenz und der Fuhrung der schopfe-
rischenUnternehmer. Endlich wird gezeigt, wie die Dynamik des Kapitalis-
mus die traditionellen Herrschaftssysteme sprengt und ihre Ersetzung durch
die ihm angepaBte Demokratie erzwingt. In diesem dritten Teil, wo die
Untersuchung der historischen Kausalzusammenhange dazu drangt, iiber
blofie formale Analogien hinauszugehen, finden sich die besten Abschnitte
des Buches. Urn aber auch hier MiBverstandnisse zu vermeiden, unternimmt
es H., die Behauptung eines Zusammenhangs von Demokratie und Pluto -
kratie, soweit sie mehr als „MiBstande" treffen will, mittels formalen Rasonne-
ments fiir ein bloBes Schlagwort zu erklaren. Im ganzen erweist sich an H.,
der der Schule Sohumpeters entstammt, mit aller Deutlichkeit, daB der
soziologische und okonomische Formalismus nur eine aufierlich dem Stand
des modemen Denkens angepaBte Neuauflage des juris tischen Formalismus
ist, der das liberate Denken von jeher charakterisiert hat — und darin liegt
vielleicht der hauptsachlichste Erkenntniswert des Buches.
Richard Lowenthal (Berlin).
Jost, Walter, Das Sozialleben des industriellen Betriebs. Sine
Analyse des sozialen Prozesses im Betrieb. Schriftenreihe dee Institute
fiir Betriebssoziologie und soziale Betriebslehren an- der Tecknischen
Hoehschule Berlin, H. 2. Julius Springer. Berlin 1932. {83 S.; RM. 3.90)
Matthes, Carl, Die Rationalisierung der Wirtschaftaprozesse in
ihren Auswirkungenauf deninder Wirtsckafttatigen Menscken
und seine Erziehung. Rascher u. Oie. Zurich, Leipzig, Stuttgart,
1932. (131 S.; RM. 3.20)
Jost versucht in seiner Arbeit, deren Titel mehr verspricht als der
Inhalt halt, eine empirisch-systematische Basis fiir eine Betriebssoziologie
zu schaffen. Hauptkategorie ist der soziale ProzeB; er wird in Einzel-
prozesse zerlegt. Der Verf. unterscheidet einerseits regulare imd Friktions-
prozesse und andererseits Entwicklungsprozesse, wobei „Entwicklungs-
prozesse" nur ein anderer Name fiir „historische Betriebssoziologie" ist.
Die statische Betrachtung, deren Gegenstand die beiden erstgenannten
Prozesse sind, bedarf der weiteren Unterscheidung von Prozessen, die
zwischen Belegschaft und Betriebsleitung und solchen, die zwischen den
gleichgeordneten Mitgliedern einer der beiden Gruppen spielen (Vertikal-
und Horizontalprozesse). J. glaubt, daB die „Steuerung" der sozialen
Betriebsprozesse durch eine wissenschaftliche Betriebssoziologie erleichtert
456 Besprechungen
werden konne und daB „das Problem der Einpassung des arbeitenden
Menschen in die Realitat seiner Arbeits- und Lebenswelt . . . unabhangig
von der geltenden Sozial- und Wirtschaftsordnung" bestehe. — Die Arbeit
von Matthes ist wertlos. Sie enthalt nur Gemeinplatze, die mit ent-
waffnender Naivitat vorgebracht werden. Das Sprachvermogen des Verf.
reicht kaum dazu aus, sie plausibel zu machen.
Hans Speier (Berlin).
Jiinger, Ernst, Der Arbeit er. Herrschaft und Gestalt. Hanseatische Ver-
lagsanstalt. Hamburg 1932, (300 S.; RM. 4.80, geb. RM. 5.80)
Wer in diesem Buch etwas iiber den Arbeiter erf ahren will, wird ent-
tauscht. Denn Arbeiter ist hier keine soziologische Kategorie, sondern
als solcher gilt, um mit J. zu sprechen, ein „neuer aktiver Typus", fur den
wie fiir den Soldaten Freiheit und Gehorsam identisch sind. Im Arbeits-
charakter, der „nichts mit Beruf Oder Werktatigkeit im alten Sinne zu
schaffen hat", erscheint das Leben in einem neuen Modus. Bezeichnungen
wie „organische Konstruktion", „totale Mobilmachung", „Planlandschaft u
so Hen inn andeuten. Aber trotz guter Beobachtungen, deren das Buch
manche enthalt, stimmt der Anspruch des Verf., im Dienste eines „hero-
ischen Realismus" beobachtet zu haben, nicht zu der geistigen Kraft, iiber
die er verfiigt. Sie reicht nur dazu aus, das Weltbild einer soldatischen
Boheme zu entwerfen. Dafi diese mit der liter arischen nicht nur den Burger-
hafi, sondern auch eine Stilgewandtheit teilt, deren Verfiihrung der Autor
leichter erliegt als Leser, denen organische Konstruktionen logische Greuel
sind, mindert nicht ihre besondere Tragik: zornig inmitten einer zerfallenden
Zivilisation zu stehen, mit nichts als dem Willen, sie zu iiberwinden.
Hans Speier (Berlin).
Die soziale Frage und der Katkolizismus. Festschrift zum 40jdhrigen
Jubilaum der Enzylclika „Rerum novarum". Heravsgegeben von der
Sektion fiir Sozial- und Wirtschaftswissenschaft der Gorres-Qesellschaft
durch J. Strieder und J. Meaner. F. Schbningh. Paderborn 1931. (488 S. :
geb. RM. 16.—)
Uber 30 sozialwissenschaftlich geschulte Kathpliken, darunter nam.
haf te Fachvertreter wie Goetz Briefs, Theodor B r a u e r , Jakob Strieder,
Adolf Weber, v. Nell-Breuning S. J. u. a. haben zu dieser Festschrift
Beitrage geliefert. Sie behandeln Themeh zur Geschichte des sozialen
Katholizismus und versuchen, den Einflufi der Enzyklika „Rerum no-
varum" auf die sozialpolitische und sozial wissenschaftliche Entwicklung
der jiingsten Epoche darzustellen.
Die Aufsatze sind in ihrer wissenschaftlichen Qualitat sehr verschieden.
Unzulanglichkeiten der Enzyklika werden teils mit Stillschweigen iiber-
gangen, teils positiv interpretiert. Interessant ist ein Beitrag des Theologie-
professors Mitterer iiber Zusammenhange zwischen Naturrechtslehre
und Naturwissenschaft bei Thomas von Aquin (S. 436 — 452). Mitterer
weist darauf hin, daB die scholastische Naturrechtstheorie und die auf ihr
begriindete Sozialethik keineswegs „unwandelbar" sind, sondern von dem
naturwissenschaftlichen und sozialen Weltbild des Mittelalters abhangen.
Spezielle Soziologie 457
Nur wenige Beitrage dringen zur wirtschaftlich-gesellschaftlichen
Problematik der Gegenwart vor. Die kapitalismuskritische Richtung des
heutigen Katholizismus kommt infolge der einseitigen Zusammensetzung
der Mitarbeiterschaft nicht zur Geltung.
Heinrich Mertens (Frankfurt a. M.).
Schwer, Wilhelm, und Franz Mtiller, Der deutsche Katholizismus im
Zeitalter des Kapitalismus. Haas und Grabherr. Augsburg 1932.
(224 8.; RM. 3.50, geb. RM. 4.50)
Getzeny, Heinrich, Kapitalismus und Sozialismus im Lickte der
neueren, insbesondere der katholischen Gesellschaftslehre.
F. Pustet. Regensburg J 932. (274 S.; RM. 4.80, geb. RM. 5.80)
Der prozentuale Anteil der Katholiken an der Gruppe der wirtschaftlich
„Selbstandigen"istvon 1895— 1907 (zwischen den amtlichen Berufszahlungen)
gesunken, der Anteil am wachsenden Industrieproletariat relativ zu den Pro-
testanten stark gestiegen. Schwer, der die Ursachen fur dieses „wirtschaft-
liche Schicksal der deutsehen Katholiken im Kapitalismus" untersucht, sieht
den zentralen Erklarungsgrund in der staatspolitischen Lage in Deutsch-
land zur Zeit des Merkantilismus. Die zahlreichen von klerikalen Landes-
herren geleiteten geistlichen Furstentumer, in denen die groBe Mehrheit
der Katholiken ansassig war, pflegten eine traditionalistische Wirtschafts-
fiihrung und uberliefien ihren protestantischen Nachbarn die Ausniitzung
der okonomischen Aufstiegschancen in dieser fiir die spatere kapitalistische
Entwicklung entscheidenden Epoche. Erst nach der Sakularisation 1803
wurden die katholischen Gebiete fiir eine kapitalistische Wirtschaitsent-
wicklung frei; jetzt verfiigten die protestantischen Kreise uber die okono-
misch-technische Erfahrung und konnten deshalb die Erschliefiung der
befreiten katholischen Gebiete fiir den Kapitalismus in Angriff nehmen.
Dieser dkonomisch-sozialen Lage der deutsehen Katholiken entsprach
ihre Kapitalismuskritik bis Ende der achtziger Jahre. Die fiihrende katho-
lische Publizistik dieser Zeit — sie kommt in dem Beitrag von Muller
iiber die „Beurteilung des Kapitalismus in der katholischen Publizistik
des 19. Jahrhunderts" in reichen Zitaten zu Wort — lieferte oft treffende
Diagnosen des Kapitalismus; die von ihr vorgeschlagenen positiven Re-
formen aber waren zu sehr von einer vorkapitalistischen Denkweise be-
stimmt, als dafi sie politische Bedeutung hatten erlangen kdnnen. Politisch
wirksam wurde der Sozialkatholizismus erst, als er sich zu einer Sozial-
politik auf kapitalistischer Grundlage bekannte. Das geschah unter Fuhrung
von Hertling und Hitze in den achtziger Jahren.
Neuerdings, unter dem Einflufi der Krise, kommt die kapitalismus-
kritische Haltung im deutsehen Katholizismus wieder starker zur Geltung.
Dafiir ist das Buch von Getzeny ein Zeugnis. G. gibt in klarer Darstellung
eine Beschreibung der kapitalistischen Wirtschaft, kritisiert in verstandnis-
voller Weise den Sozialismus und entwickelt das wirtschaftlich -soziale
Reformprogramm des Katholizismus. Fiir die Zwecke der katholisch-
sozialen Schulung ist das Buch sehr geeignet, die wissenschaf tliche Diskussion
ist durch diesen Beitrag nicht wesentlich gefordert worden.
Heinrich Mertens (Frankfurt a. M.).
458 Besprechungen
Dreiser, Theodore, Tragic America. Horace Liveright t Inc. New York 1932*
(435 S.; $ 3. — ) — Chase, Stuart, A New Deal. The Macmillan Com-
pany. New York 1932. (257 S.; $ 2-— ) — Johann, A. E., Amerika.
Untergang am Vberflufi. VlUtein-Verlag. Berlin- 1932; (256 JS.:
br. RM 4.— t geb. RM. 5.50)
„Heutzutage versucht in Amerika eine Oligarchie von Magnaten dieses
groBe Volk zu versklaven. In dieser Absicht will man es erst geistig her-
unterbringen. Aus diesem Grund, und zwar allein aus diesem Grund habe
ich es fiir notwendig gehalten, an diesem Kampf teilzunehmen." Diese
Erklarung gibt der bekannte Verfasser der ^Amerikanischen Tragodie"
dafur, daB er ein Buch des Protestes gegen die heutige wirtschaftliche und
gesellschaftliche Verfassung der Vereinigten Staaten geschrieben hat.
Kapitel auf Kapitel hauft er seine Anklagen gegen die unmenschlichen
Lebensbedingungen groBer Teile der amerikanischen Bevolkerung, gegen
den rauberischen Charakter des amerikanischen Kapitalismus, die Regierung
der Banken und Trusts, die Raffgier der Eisenbahngesellschaften, den
obersten Gerichtshof, die Entwertung der Verfassung zu einem bloflen
Fetzen Papier, die Komodie des Wahlsystems, gegen die parteiische Hal-
tung der Kirche und die interessierte Wohltatigkeitspflege. Dreiser be-
richtet iiber eine Unmasse von belastenden Einzelheiten, die sich zu einem
triiben Bild zusammenf iigen : die Tragodie dieses Landes liegt darin, daft
seine Reichttimer nur einer kleinen Gruppe zugute kommen, wahrend die
groBe Masse der Bevolkerung im tief sten Elend oder doch in taglicher Furcht
vor der Verelendung gehalten wird. Dieser Zustand scheint D. unhaltbar
zu werden. Er sieht den Ausweg in der entschadigungslosen Enteignung
des Privateigentums und dem tJbergang der Regierungsgewalt an die Ver-
treter der Arbeiter und Farmer.
Das Buch ist der Protest eines wohlmeinenden Mannes, der den "Cber-
gang zu einer neuen Ordnung moglichst ohne die Gewalttatigkeiten der
russischen Revolution wiinscht und von der Ungerechtigkeit und Un-
ertraglichkeit der heutigen Zustande eine weit klarere Vorstellung besitzt
als von den Mitteln, sie zu beseitigen.
Das neue Buch von Stuart Chase steht theoretisch auf einer weit
hoheren Stufe. Auch er versucht zu zeigen, dafl die heutige Wirtschafts-
und Gesellschaftsordnung der Bereicherung relativ kleiner Gruppen dient,
aber darin sieht er nicht das Hauptubel: ,,Nicht der Gewinn, welchen der
Profitjager heute an sich reiBt, tragt die Hauptschuld an der heutigen Ver-
wirrung; sie liegt vielmehr bei der Verschleuderung und dem Durchein-
ander, die er schafft bei dem Versuch, inn an sich zu reiBen." Eine gut
organisierte reiche Wirtschaft konne die Menge an Kaufkraft, die durch die
„Profitjager" und die Bezieher von arbeitslosen Einkommen weggenommen
wird, ohne besonderen Schaden entbehren, aber koine Gesellschaft kdnne
es vertragen, daB ihr Wirtschaftsapparat fortwahrend durch die, welche
reich werden wollen, durcheinander gebracht wird. „Wenn wir das Gesamt-
einkommen der Besitzenden beschlagnahmten und auf den Rest der Be-
volkerung verteilten, so wurde der Lebensstandard der letzteren nach
Prof. Bowley nur urn ungefahr 10% erhoht werden. Aber wenn wir die
Machenschaften der Profitjager ausschalten konnten, waren wir imstande,
Spezielle Soziologie 459
die Armut abzuschaffen und grundsatzlich von einem Tag auf den anderen
den Lebensstandard zu verdoppeln."
C. sieht drei theoretisch mogliche Wege aus dem heutigen Zustand : eine
faschistische Diktatur des GroBkapitals, eine Diktatur nach bolsche-
wistischem Muster und den „dritten Weg". Die ersten beiden halt
er in den Vereinigten Staaten fur ungangbar, da sie am Wider-
stand der fur die Aufrechterhaltung des komplizierten arbeitsteiligen
Wirtschaftsprozesses unentbehrlichen Techniker und hochqualifizierten
Arbeiter aller Art scheitern miiBten. Der dritte Weg ist der evo-
lutionare t^bergang zu einer von einem „Planning Board" geleiteten
Planwirtschaft, die sich zunachst dreier Mittel bedient: einer Mani-
pulierung von Geld und Kredit, die vor inflationistischen MaBnahmen
nicht zuriickschreckt, Besteuerung hoher Einkommen und Erbschafts-
steuern und einer umfassenden Vergebung offentlicher Arbeiten. Der
wesentliche Unterschied gegeniiber Dreisers Vorsehlag liegt darin, daB
Chase auf die Enteignung der Produktionsmittel verzichten will, da sie auf
zu grofien Widerstand stiefle, und er meint, daB die Wirtschaft im offent-
lichen Interesse geleitet werden kann, ohne daB dazu notwendig das System
des Privateigentums beseitigt werden miifite. Die Realisierung seines
„dritten Weges" erwartet C. von einer intelligenten Minderheit, die durch
unermudliche Propaganda die Umstellung vorbereitet und auf dem Weg
iiber eine „dritte" Partei schliefilich genug politischen EinfluB gewinnt, um
ihr Programm auf legalem Wege durchzusetzen.
Viel skeptischer denkt A. E. Johann iiber die Moglichkeit einer Ver-
anderung des nicht mehr funktionierenden amerikanischen Wirtschafts-
systems. J. hat im Winter 1931/32 den ganzen nordamerikanischen Kon-
tinent im Auto bereist und sich vorgenommen, Antwort auf drei Fragen zu
erhalten: Wie steht es mit den Arbeitslosen in USA., welche Aussichten
hat dort eine kommunistische Revolution, und wie verhalt es sich mit der
Negerfrage ? Eine auCergewohnliche Beobachtungsgabe und zahlreiche
Gesprache, die er in Kanada und der Union mit Angehorigen aller Schichten
der Bevolkerung gefuhrt hat, haben dem Verf . ein reiches Material geliefert,
das er in seiner ausgezeichneten Reportage darbietet. Man findet darin
ein klares Bild der verzweifelten Lage der amerikanischen Farmer und der
Ursachen ihres Ruins, eindringliche Berichte iiber das Leben der Arbeits-
losen und den Umfang der Arbeitslosigkeit, ein Kapitel iiber die Gewerk-
schaften, das viele in Deutschland unbekannte Tatsachen mitteilt, AuBe-
rungen zweier Wirtschaftsfuhrer iiber die Krise, die an Einsichtslosigkeit
nichts zu wiinschen ubrig lassen.
Trotz des raschen Umsichgreifens der kommunistischen Bewegung halt
J. ihre Erfolgsaussichten fur gering, solange der amerikanische Farmer ein
„ Individualist in Reinkultur" bleibt und der durchschnittliche ameri-
kanische Arbeiter „fiir einen gut bezahlten Job seine samtlichen politi-
tischen ttberzeugungen an den Nagel zu hangen" bereit ist.
Nach J.s Uberzeugung gibt es nur zwei Wege, die den Kapitalismus aus
seinen Schwierigkeiten herausfuhren konnen: Riickkehr zum System der
freien Wirtschaft oder autarke Planwirtschaft. Beide halt er fur die Ver-
einigten Staaten nicht gangbar, so dafl auch fur ihn gilt, was er von den
460 Besprechungen
Amerikanern sagt: „Im Grunde genommen weifi in diesem ganzen riesig
grofien Lande Amerika kein Mensch, was weiter werden soil' 1 .
Friedrich Pollock (Frankfurt a. M.).
Renier, G. J.* The English: Are They Humanl Tauchnitz. Leipzig
1932. (286 S.; geh. RM. 1.80, geb. RM. 2.50)
Die Englander: „unintellektuell 5 beherrscht, verbissen, stetig, prag-
matisch, schweigsam und zuverlassig" werden visiert. Ein Franzose ver-
folgt sie im Straflenlarm, er zerpfliickt das Zeitungszitat, er belauscht die
Tabus der Konversation, er deckt das home der middleclass auf, er frater-
nisiert beim drink mit dem Landproletarier, er streift dureh die Gerichts-
und Betsale, folgt dem gentleman ins Parlament, sucht die Massen beim
Wetten auf dem Sportplatz, schildert die Riten der society, er vergleicht mit
Frankreich, vergleicht mit Deutschland, er vergleicht den gentleman von
heute mit dem von gestern, um die Besonderheit der Nation von heute zu
erfassen. Und die Englander sind eine besondere Nation. Sie haben die
Konzeption einer ritualistischen Lebensfiihrung. Das Ritual macht das
Leben angenehm, weniger reibungsvoll, und man weiB stets, woran man sich
halt en soil.
In den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts, aus dem sozialen und
politischen Kompromifi der Aristokratie und der modernen Bourgeoisie,
Hand in Hand mit der religious revival des Methodismus, entsteht in der
public school eine Retorte, in der bestimmte psychische, geistige und leib-
liche Attituden zum modernen gentleman zusammenwachsen. Die ver-
schuttete Bahn des alten Puritanismus wird wieder frei gelegt; was dort
hinter dem Rucken der Agent en sich bildete, wird jetzt bewufit geziichtet.
War der Kampfruf des deutschen Gymnasiallehrers : „Sei ein Mensch!", so
rief Arnold, der Inaugurator der modernen publicschool: „Sei einOffizier!"
Korpsgeist, enthusiastische Liebe zur Institution, ein Training, Macht iiber
Menschen auszuiiben, moralische Eigenschaften zu bewundern, die ihnen
nicht urspriinghch waren, und ihr eigenes natiirliches Leben zu unterdriicken,
waren das Resultat.
R. zeigt, wie dieser Menschentyp die Schule verlafit, die politischen
Amter besetzt, die City durchdringt, die Kolonien beherrscht, wie er vor-
bildlich wird und nachgeahmt werden mufi von denen, die etwas auf sich
halten. Er ftihrt seine These mit grofiem Takt, historischer Umsicht und
padagogischem Geschick durch. Hans Gerth (Frankfurt a. M.).
Aron, R. et A. Dandieu, Decadence de la nation francaise. Rieder.
Paris 1931 (245 S.; 15 Frs.)
Das Buch ist die erste Veroffentlichung eines vor kurzem gegriindeten
Studienvereins namens ,,1/ordre nouveau'*. Ein zweites Buch, „Le cancer
americain" ist schon erschienen, und ein drittes folgt bald unter dem Titel:
„La revolution necessaire".
Die Autoren stellen zunachst fest; Der Franzose ist ein geborener
Individualist und ein geborener Patriot; doch haben diese Eigenschaften
durch zwei verunstaltende Mythen: Industrie und Nation, ihre ursprung-
liche Gestalt eingebiifit. Diese fiihrten zur erfolglosen Nachahmung des
Spezielle Soziologie 461
amerikanischen Kapitalismus einerseits, des russischen Bolschewisrrius
andererseits. Die Ursache dieses traurigen Zustandes finden die Verf.
erstens bei Descartes, dessen Rational ismus einen Ford, dann bei Napoleon,
dessen „Verrat" einen Poincare erzeugt habe. Gegen die beiden Aus-
wiichse schlagen nun die Verf. eine ,,individualistisch-foderalistische Re-
volution " vor, die im nachsten Bande zu behandeln sein wird. Sie wollen
keine ,,zentrahstisch-kommunistische Revolution", aber auch keinen
,, cancer americain", sondern eine Fortsetzung der groBen Revolution von
1789.
Das Buch bringt eine detaillierte Kritik der heutigen philosophisch-
ideologischen und politischen Zustande.
M. Tazerout (La Roche, Yon).
Ruppin, Arthur, Soziologie der Juden. I. Bd. Die soziale Struktur der
Juden. II. Bd. Der Kampf der Juden urn ihre Zukunft. JUdischer Verlag.
Berlin 1930 u. 1931. (I: 522 S.; geb. RM. 20.~, Hldr. RM. 26.— ; II:
335 S.; geb. RM. 18.—, Hldr. RM. 24.—)
Das Werk ist die Frucht jahrzehntelanger Beschaftigung mit der Sonder-
statistik der Juden, einem Gebiet, auf dem der auch in dem Kolonisationswerk
in Palastina hervorragend tatige Verfasser schon in der Zeitschrift fur Demo-
graph ie und Statistik der Juden (seit 1904) und in seinem Buch „Die Juden
der Gegenwart" (1. Aufl. 1904)Bahnbrechendes geleistet hat. In einem aufier-
ordentlich weit gespannten Rahmen wird der Versuch unternommen, die
Struktur der Judenheit von den verschiedensten Seiten her darzustellen.
Nach einem einleitenden Uberblick iiber Herkunft und Rasse werden im
Hauptteil des ersten Bandes unter verschiedenen Gesichtspunkten die be-
volkerungsstatistischen Verhaltnisse der Juden in den verschiedenen Landern
zusammengefaflt ; Geburts- und Sterbeziff ern, Wanderungen, Mischehen,
Krankheiten sowie Altersgliederung werden eingehend untersucht. Die Ge-
samtzahl wird fiir 1930 auf 15903000 veranschlagt. Der folgende Abschnitt
befaCt sich mit den wirtschaftlichen Verhaltnissen, insbesondere mit der
Berufsgliederung, wobei sich starke Abweichungen von den Nichtjuden er-
geben. Ein kurzes Kapitel iiber Beruf und Kriminalitat beschlieflt den
ersten Band. Dieser statischen Untersuchung folgt im 2. Band eine
stellenweise anfechtbare Darstellung der dynamischen Krafte: der Kampf
um die Gleichberechtigung, die kulturelle Autonomic, der Antisemitismus,
die geistigen, religiosen und organisatorischen Verhaltnisse, der Zionis-
mus und die Wiederbesiedlung Palastinas. Mit einem Ausblick auf die
Elemente der zukiinftigen Entwicklung schlieBt das Werk. — Diese
sehr summarische tJbersicht kann auch nicht annahernd den auBer-
ordentlichen Stoffreichtum der beiden Bande andeuten. Band I gibt die
vollstandigste Sammlung statistischen Materials tiber die Welt judenheit,
die heute erreichbar ist. Allerdings ist diese Vollstandigkeit recht einge-
schrankt, da die Religionsstatistik in manchen Landern iiberhaupt nicht, in
anderen nur liiekenhaft durchgefuhrt wird und daher hauf ig mit Schatzungen
und Vermutungen gearbeitet werden muB ; dazu kommt eine starke TJnsicher-
heit der Vergleichsbasis, die in der Verschiedenheit der erfafiten Zeitraume
— vielfach stehen nur Angaben aus der Vorkriegszeit zur Verfiigung — be-
462 Besprechungen
griindet ist. Aber R. gebiihrt das Verdienst, daB er an Hand der zahlreichen
Einzelforschungen iiber sein Stoffgebiefc einen Querschnitt durch die Situation
der .Tudenheit gegeben hat, der nicht nur der Sozialforschung, sondern auch
der politischen Betrachtung der Judenfrage wertvolles Material liefert.
Eugen Mayer (Frankfurt a. M.).
Dinse, Robert, Das Freizeitleben der Groflstadtjugend. Schriftenreihe
des Deutschen Archivs fiir Jugendwohlfahrt, Heft 10. Vertagsgesellschajt
R. Miiller m. b. H. Eberswalde 1932. (VII u. 125 S.; RM. 3.85)
Die Schrift enthalt die Ergebnisse einer Enquete, die im Marz und No-
vember 1930 an funf Berliner Berufsschulen, je zwei Oberrealschulen und
Reformgymnasien und einem Oberlyzeum durchgefuhrt wordenist. 5191 Ju-
gendliche zwischen 14 und 18 Jahren haben Klassenaufsatze iiber das
Thema „Wie verbringe ich meine freie Zeit ?" angefertigt, wobei sie einen
Fragebogen als Anleitung zur Hand hatten. Das Buch, in dem glucklicher-
weise viele AuBerungen wortlich zitiert sind, gibt Auskunft iiber den Zu-
sammenhang der Jugendlichen mit der Familie, iiber den Umf ang der Haus-
haltsarbeiten, die Vergniigungen (Tanz, Rumrael, Kino usw.),. den litera-
rischen und musikalischen Geschmack; es zeigt, wie die Befragten zur
Kirche, zur Politik und zum Jugendverein stehen und was ihnen der Freund
und die Freundin bedeuten. Politische Interessen auBerten spontan —
denn nach ihnen war leider absichtlich nicht gefragt — von den ungelernten
Arbeitern 9%! Das ist, obwohl schon diejenigen mitgereehnet sind, die nur
eine politische Zeitung lesen, der hochste Prozentsatz aller Gruppen; bei
den Madchen betragt er 2%. Die Antworten auf die meisten Fragen diffe-
renzieren sich deutlich nach der beruflichen und sozialen Schichtung der
Befragten. In der Auswertung hielt sich der Bearbeiter sehr zuriick.
Hans Speier (Berlin).
Das Gesicht der Demokratie, hrsg. von Edmund Schultz mit einer Ein-
leitung von Friedr. Georg Jiinger. Breitkcjf und H artel. Leipzig 1931.
(152 S.; RM. 5. — , Lwd. 6.50) — Zwanzig Jahre Weltgeschichte in
700 Bildem, mit einer Einleitung von Friedrich Sieburg. Transmare Ver-
lag. Berlin 1931. (284 S.; RM. 4.80, Lwd. 5.80) — Der Staat ohne
Arbeitslose, hrsg. von Ernst Glaeser u. F. C. Weiskopf. G. Kiepen-
heuer, Berlin 1931. (VIII u. 198 &.; RM. 4.50)
Die Bildreportage hat in der Nachkriegszeit einen groBen Aufschwung
genommen. Davon zeugen die Riesenauflagen der illustrierten Zeitungen,
die Verbreitung der photographischen Sammelwerke und die „Wochenschau"
als tagliches Beiprogramm der Lichtspieltheater.
In den Biichem, die wir hier besprechen, wird versucht, einen politischen
Gedankengang durch Serien von photographischen Aufnahmen zu vermitteln,
wobei dem Wort lediglich die Rolle der Illustration zufallt. Die Bilder sollen
selber ^sprechen". Es handelt sich aber nicht — wie man zunachst annehmen
konnte — um eine primitivere Methode der Gedankenubermittlung, sondern
Spezielle Soziologie 463
vielmehr um eine „Bildersprache", die ganz bestimmte psychologische Er-
kennfcnisse vorausetzt.
Das Buch ,,Das Gesicht der Demokratie" will Kritik iiben am demo-
kratischen Parlamentarismus des Nachkriegs-Deutschland. Es steht auf
dem Boden der extremen Rechten und wendet sich besonders scharf gegen
die „Parteifunktionare" der Sozialdemokratie und der burger lichen Mittel-
parteien bis zur Volkspartei. Entsprechend der politischen Einstellung
dieses Standortes wird dem „Liberalismus", der „Novemberrevolution (< und
der „Erfullungspolitik" die Schuld am gegenwartigen Niedergang zuge-
schoben. Der einleitende Text von Jiinger wiederholt die Vorwiirfe gegen
den „liberalen Begriff" der Partei und den „soziaHstischen Begriff der
Klasse" und fordert etwas verschwommen „die Einheit von politischer
Fuhrung und Gefolgschaft von Staat und Nation".
„Zwanzig Jahre Weltgeschichte 1910 — 1930'*, so nennt sich ein umfang-
reiches Bilderbuch, zusammengestellt von Sandor Marai und Laszlo Dor-
mandi, in drei Seiten kurz von Friedrich Sieburg, dem bekannten Redakteur
der Frankfurter Zeitung, eingeleitet. Die Herausgeber wollen ein uni-
verselles Bild der ganzen Epoche bringen. Das Buch beginnt mit
Bildern aus der Vorkriegszeit, hauptsachlich den Portrats der Kaiser,
Konige und Furstlichkeiten, um dann durch die Kriegszeit hindurch
in das heutige Europa hineinzufuhren. Es bringt Bilder aus aller
Welt, SowjetruBland, Amerika, Afrika usw. und landet schheClich
bei Einzeldarstellungen, wie „Die Frau'% „Das Kind", „Die Wissenschaft" ;
am Schlufi werden gar noch Naturkatastrophen wie Springfluten, Tornados
usw. angeflickt, bis ganz am Ende das Buch mit der tJberschrift „Welt-
frieden'* die Aufrustung auf der ganzen Linie zeigt. Die Herausgeber be-
miihen sich um Objektivitat, aber schliefllich laufen alle Konturen ineinander,
und die innere logische und historische Verbundenheit der Ereignisse wird
nicht deutlich. Man gewinnt zwar den Eindruck der lebendigen Zusammen-
hange des Geschehens in alien Teilen der Erde, aber ohne da'fl sich alles in eine
einheitliche Perspektive ordnen UeBe. Daher hat das Buch mehr den
Charakter eines universalen Nachschlagewerkes, in dem man Persdnlichkeiten
iind Ereignisse der Jahre 1910 — 1930 vermerkt fzndet.
„Der Staat ohne Arbeitslose" ist ein photographisches Bilderbuch des
Funfjahresplanes der Sowjet-Union. Es gibt mehr einen Querschnitt als
einen Langsschnitt. Mit f ortlauiendem Text werden die ungeheure Weite des
Landes, die Vielfalt seiner Bevolkerung, die Entwicklung der modernen
Technik und der kulturelle Aufstieg in Stadt und Land gezeigt. Das Buch
nennt sich selbst „einen undemagogischen Versuch, der Wahrheit zu dienen".
Ganz am SchluB findet sich ein kurzes Nachwort von Alfred Kurella, das auch
Zahlenmaterial iiber den Fiinfjahrplan anfiihrt. Ein Fehler des Buches ist,
dafl es zwar den groBen Aufstieg gewissenhaft schildert, aber ihn nicht in
ein richtiges Verhaltnis setzt zu der ungeheuren Riickstandigkeit, die
heute noch in vielen Teilen des Landes und auf manchen Gebieten
des taglichen Lebens als Erbe des Zarismus und der siebenjahrigen Un-
ruhe durch Krieg und Burgerkrieg vorhanden ist. Trotzdem bleibt der
Eindruck des Ganzen stark.
Gisela Freund (Frankfurt a. M.).
464 Besprechungen
Handworterbuch des deutschen V olksbildungswesens. Hrsg. von
Heinrich Becker, Georg Adolf Narciss, Rudolf Mirbt. 1. Lieferung.
Neuer Breslauer Verlag. Breslau 1932. (159 S.; RM. 5.—)
Das Handworterbuch setzt sich zur Aufgabe, einen t^berblick iiber den
augenblicklichen Stand der verschiedenen Arbeitsgebiete der Erwachsenen-
bildung auf Grund ihrer geschichtlichen Entwicklung zu geben und gleich-
zeitig Diskussionsforum fur ihre gegenwartigen Grundprobleme zii sein.
Es dient deshalb ebenso als Nachschlage^rerk fur die tagliche Praxis wie
auch als Hilfsmittel fiir die intensive Auseinandersetzung urn die Erwach-
senenbildung. Bei der steigenden Bedeutung und gleichzeitig fast uniiber-
schaubaren Mannigfaltigkeit der deutschen Volksbildungsbewegung nach
dem Kriege ist solche gewissenhafte Orientierung und representative Be-
gegnung dringend erforderlich.
Die vorliegende erste Lieferung des alphabetisch nach Stichworten auf :
gebauten Handworterbuches wird dieser schwierigen und vielfaltigen Auf-
gabe durchaus gerecht. Erfreulich ist vor allem, daS sich die Referate nicht
auf Feststellungen und Klarung deo Tatbestandes allein beschranken,
sondern Aufgaben und Mdglichkeiten der Volksbildungsarbeit umreifien
und sie daruber hinaus in den Gesamtzusammenhang des allgemeinen
Kulturlebens stellen. TJmfangreiche Liter aturangaben geben die not-
wendigen Hinweise. Die Mitarbeiterschaft wurde aus alien mafigebenden
Kreisen gewonnen, und eine „lebendige Neutralitat", auf die die Heraus-
geber entscheidenden Wert legten, laflt die verschiedenen Stromungen zu
Worte kommen. So gibt die Sammlung einen anschaulichen und umfassen-
den t)berlick iiber das deutsche Volksbildungswesen. Das erste Heft bietet
u. a. lesenswerte, z. T. sehr umfangreiche Beitrage iiber Abend volkshoch-
schule (Mockrauer), Akademie der Arbeit (Ernst Michel), Angestellten-
bildung (O. Suhr), Arbeiterbildung (Hermberg), Arbeiterbildung in den
freien Gewerkschaften (Seelbach), Arbeitsgemeinschaft (Alfred Mann),
Arbeitslager (Eugen Rosenstock), Arbeitslosigkeit und Erwachsenenbildung
(Viktor Engelhardt).
Gerade in der kulturpolitischen Gegenwartssituation, in der die Volks-
bildung in ihren geistigen Grundlagen und ihrem materiellen Bestand ent-
scheidend umkampft ist, verdient dieser umfassende Rechenschaftsbericht
iiber Bemuhungen und Erfolge, Ziele und Aufgabe der deutschen Volks-
bildungsarbeit allgemeines Interesse.
Sigmund Neumann (Berlin).
Okonomie.
An Stelle der Besprechung einzelner okonomischer Werke steht in diesem
Heft das Sammelreferat iiber planwirtschaftliche Literatur. Im nachsten
Heft folgt wieder die Besprechung der sonstigen wichtigsten okonomischen
Neuerscheinungen.
fRIEDRIOH BURGDORFER
f RIEDR. BURGDORFER / VOLK OHNE JUGEND
Geburtenschwund u. Dberalterung des deutschen Volkskorpers
Kin Problem der Volkswirtschaft, der Sozialpolitik, der natio-
nalen Zukunft / 8°, XVI, 448 S. Text, 28 graph. Darstellungen.
9. Beihftft zur Zeitschrift fur Geopolitik
Kart. M. 7.80
Leinen „ 9.50
Aus den ersten Kritiken :
Auf grofiem itatistiscbeo Beobachtungsmaterial baot tich die< an erachatternden Tat-
■achen and ichverrr Spannung io rcichc Werk ouf. Aoa onchternen Ziffern and
Dates form t sicb die Tragiidie finet Volkea, da* in leiocm Lebeuawillen gekoickt,
in rauiachem Selbatmord licit •etbil aufgibt. Und io wird dieies Bach mm Not-
und Warnungeruf cine* vaterlandaliebenden Mannea an itinc Weggenoaaen.
Dr. J. (F. in der nReichtpoW 4
Daa Werk i»t mit i«inen zahlreicben Zablenangaben, Literalurbinweiaea nod Fignren
eine Fundgrobe f5r daa geaamie Taleacbenmaterial rum Problem dea Gebarten*
ruckganges und der beirublicbcn Cefabrdung der deultchen Weltgeltung; ea ver-
dient die aofmerkaame Beacbtung alter ao der Frage interettierien Kreiae.
Prof. Manteufet in „Die meditinitche Welt" \ 30J1932
Die BevSlkerongaveraehiebungen eracheinen al* Hintergrnnd der Politik. Zablen-
angaben and uberiichtliche grapniache Daratellungea erganzen die Arbeit, die in
Material and Ordnung eine Grandlage fur unsere kftnftigeo politiicben and aozialen
Entaefaliefinngen bietet. H /)f e Tat", September 1932
KURT VOWINCKEL VERLAG GmbH.
BERLIN-GRUNEWALD
■ ■ ■ I
DAS FRAlE\PROBLEM
der c;ec;eimvart
Eine pgychologische Bilanz
Von Dr. Alice Ruhle-Gerstel
Broschiert RM. 9.— / Ganzleinen RM. 11 — / XII, 421 Seiten / Oktav
HAUPTABSCHNITTE: I. Bedingungen der Entwicklung und die
Entwicklung der Bedingungen : Die Natur als Hemmung und An-
trieb — Im zweiten Rang der Gesellschaft — Die „Angehdrige"
in der Familie — Stiefkind der Erziehung — Vom Start der Frau
zum Ziel der Frau — Formenwandel weiblicher Leitlinien — Frauen-
bewegung als sozialer Ausdruck des weibl. Charakters. II. Lebens-
aufgaben und Lebensfiihrung. 1. Aufgaben der Geschlechtlichkeit:
Die weibliche Sexualitat — Die Frau in der Ehe — Liebe und
Weiblichkeit — Liebesproblem und Charaktertypen. 2. Arbeit
und Werk: TMige Weiblichkeit — Weibliche TStigkeit — Verwal-
tung u. Gestaltung — Arbeitsproblem und Charaktertypen. 3. Frau
und Gesellschaft: Mutterschaft — Familienkreis — Soziale Bahnen
— Bilanz d. Weiblichkeit — Eine Enquete uber das Frauenleben.
Vossische Zeitung vom 14. August 1932:
Es soil versucht werden, „das weibliche Geschlecht so zu betrachten, als bb
es ein Individuum ware", um danach Ursachen und Ziele seiner Verhal-
tungsweise im Leben zu bestimmen und womoglich zu regulieren. Die Verfas-
serin erstrebt ein unmittelbares, positives Resultat, Diagnose und Heilmittel in
einem. Ihre Grundfrage lautet : 1st die Bewertung des Biologischen notwendig
ausschlaggebend fur die Stellung der Frau innerhalb der Gesellschaft?
Die Frauen selbst lSsen ihr Problem auf dreierlei Weise. Entweder nehmen
sie ihre Bewertung als reines Geschlechtswesen, wie sie ihnen in der fanner-
welt" zugeteilt ist, auf sich, betonen diese Bindung und benutzen sie; oder sie
wehren sich und erstreben, ja erreichen Gleichberechtigung iiber die Hem-
mungen des K6rperlichen hinweg; oder sie suchen die Moglichkeiten einer
freien Einordnune in die menschliche Gesellschaft, jenseits der physischen
und psychischen Verschiedenheiten. Diese drei Typen werden charakteristisch
gezeichnet: Die „Ideale", „Barmherzige", das Kindweib und die LiebesgOttin,
die das weibliche — die „Tuchtige" und die ^rotestlerin", die das mannliche
Ziel erstreben, und die „Furie", D§monische und Cberspannte, die iiber-
geschlechtlich ihre PersSnlichkeit auszuleben suchen.
Am eindringlichsten wird das lesenswerte Buch uberall dort, wo es sein
Material unmittelbar aus dem Leben nimmt, aus Antworten und Selbstzeug-
nissen von Frauen verschiedenster Schichten, Alter und Charaktere.
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P. A. Sorokin, Harvard - S. R. Steinmetz, Amsterdam - R. Thurn-
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Professor an der UniversHat Berlin, zur Zeit
Gastprofessor a. d. Harvard-Univ., Cambridge
VIII und 1 60 Seiten, steif brosch. RM. 5. — , Leinenband RM. 6.50
Nachdem die Soziologie Lehrfach an den meisten Universitaten geworden, ist es eine
wichtige Aufgabe, einen gewissen, gemeinsamen Kern an Lehre und Wissen aus den
verschiedenen Auffassungen zu gewinnen. Zu diesemZweck wurden Vertreter verschiedener
Auffassungen aus mehreren Landern zur Teilnahme an dieser Aussprache eingeladen.
Dem Leser uird bier ein €berblick iiber die vielerlei in der Soziologie
herrschenden Stromungen geboten, ein ungefahrer Querschnitt dureh den
Stand der Soziologie von heute, der ftir jeden, der sich mit Soziologie
beschaftigt, unentbemiieh ist.
*
EIN WERTURTEIL:
„Das Sytnposion wird der neuen Wissenschaft infolge der Klarheit der
Abhandlungen viele neue Freunde werben, vor allem jene Wissenschaftler,
welche bisher mit einer gewissen Skepsis ihr gegeniiberstanden."
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Darstellung der Wirtschaftskrise und ihrer Losung. Der Verlag macht es durch
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bende Verfasser ist wahrhaft berufen.
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ENTWICKLUNGSGESETZEDESKAPITALISMUS
Okonomische, geschichtstheoretische und soziologische
Studien zur modernen Wirtschaftsverfassung
VI, 218 Seken brosch. RM; 12. —
Das Werk bietet eine grundlegend neue Auffassung des Kapitalismus. Die
von Marx aufgeworfene Fragestellung wird hier zum ersten Male in ihrem
vollen Umfang wieder aufgenommen. Die Wissenschaft - insbesondere das
beriihmte Werk von Sombart - hat seither ein umfangreiches empirisches
Material uber den Kapitalismus zusammengetragen. Aber es fehlt in der
neueren Zeit eine philosophisch fundierte allgemeine Theorie von Wesen
und Entwicklungsgesetzen des Kapitalismus. Hier greift Muller-Armack
ein. Wahrend Marx mit Hilfe der aus der Naturwissenschaft ubernom-
menen Begriffe seiner Zeit zu der Vorstellung einer zwangslaufigen sozialen
Entwicklung gelangte, geht Muller-Armack von der modernen Geistes-
wissenschaft aus, die die Geschichte als offene, der freien Aktivitat vollen
Spielraum gewahrende Entwicklung betrachtet. Der Kapitalismus insbe-
sondere bedeutet eine auf standigem Fortschritt eingestellte wirtschaftliche
Dynamik. Aus dieser Auffassung ergeben sich wichtige Anhaltspunkte
fur das Problem der Zukunft des Kapitalismus und die Beurteilung der
gegenwartigen wirtschaftlichen und politischen Situation.
DR. ERNST FALCK
KOMMUNALE WIRTSCHAFTSPOLITIK
VIII, 346 Seiten, RM. 16.—
Der Verfasser versucht, iiber das Tatsachliche hinaus feste Gesichtspunkte
auch fur eine kunftige Entwicklung zu finden. Insbesondere sucht er
den AusgleichzwischenfreiwilligerBeschrankung der Gemeinden und ihren
berechtigten Interessen und^ Tendenzen nach wirtschaftlicher Expansion.
Den Ausgleich findet er in konkret gefaBten Vorschlagenzu einer kiinftigen
Gemeindeplanwirtschaft. Im Beschreiten dieses Weges sieht er die sicherste
Garantie der Selbstverwaltung, zu der er sich trotz ihres Niederganges
in der Gegenwart bewuBt und hoffhungsfroh bekennt. Das Werk enthalt
u. a. die erste wissenschaftliche Behandlung des Sklarekskandals.
JUNKER UND DUNNHAUPT VERLAG / BERLIN
5
Soeben erscheint
BAND23 DERMARXISTISCHEN BIBLIOTHEK
(VEROFFENTLICHUNG DES MARX-ENGELS - LENIN - INSTITUTES
IN MOSKAU)
W. I. LENIN
AUS DEM
PHILOSOPHISCHEN
NACHLASS
EXZERPTE UND RANDGLOSSEN
Herausgegeben und eingeleitet von V. ADORATSKf
rinen Einbiick in die theoretische Werkstatt Lenins bieten vor-
liegende Hefte, in denen Lenin Auszuge und Randbemerkungen
beiseinemStudium der Werke Hegels, Feuerbachs, Aristoteles
u. a. niederlegte. Nach dem Manuskriptgetreu herausgegeben,
sind sie eine reiche Quelle fur jeden, der die Theorie der
Dialektik und ihre marxistisch-leninistische Umgestalfung und
Weiterentwicklung studiert. Da eine systemafische Darsfellung
des diaiektischen Maferialismus nach wie vor fehlt, muB man
schon bei Lenin selbst studieren, wie er „bestrebt ist, Hegel
materialisfisch zu lesen". Das vorliegende Material isi dem
Leninski Zbornik IX und XII entnommen und dem deuischen
Leser zum ersten Male zugangfich gemacht. Es durffe zum
tieleren Verstandnis der materialistischen Dialektik und ihrer
Anwendung beim Studium der Natur und der Cese Use haft
und in der praktisch-politischen Tatigkeit unentbehrlich sein.
AUS DEM INHALT: Zur Kritik des Hegelschen Buches: „Wt88enschatt der Logik" /
Zur Kritik der Vorlesungen Kegels Uber die Philosophic der 6eschichte / Zur Kritik
der Vorlesungen Hegels uber die Geschichte der Philosophie / Plan der Dialektik
Hegels / Uber das Buch G. Noels: „La Logique de Hegel" / Konspekt des Buches
Lassalles: „Die Philosophie Herakleitos des Dunklen von Ephesos" / Zur Frage der
Dialektik / Krittsche Bemerkungen zur ^Metaphysik" des Aristoteles / Krltische Be-
merkungen zu Feuerbachs: „Vorlesungen uber das Wesen der Religion" / Krltische
Bemerkungen zu Feuerbachs „Leibntz" / XXXVII u. 364 Seiten.
VERLAG FDR LITERATUR UND POLITIK * WIEN/BERLIN SW61
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9fpol(fnffe$e gr&mmfgfeft - grauenKebe - ftreunbfaaft - t>ie &unft afe weft*
fi<$eS €t>an0clfum — £>a$ 30ea( ber Jjumanftdt
SJiefe Beibett roaljr&aft unto erf al geftalteten Sanbe aetgen ftfjon jur ©eniige, in toeldjem ©eift
Me religiiifen, pfeilofopMfdjen, fttnftlerifdjen unb fogiaten ^roBIemc betjanbelt fmb: cin auf
gefefttgtem ©runbe [tefjenbeS, lebenaimenbeS Sauroerl — ber erfte S9anb toUi in ^orm enter
©a)au ber ©ntroidlung befi SIbenblanbeS baS flufturproMem auf, bet jroeitc fii§rt in boS ^nnerfte
beS ©efenS ©octree.
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Srfaefnt €nbe 1932!
Jtyffofop&ffae ©ajau beS Sebeng - ©fe 2Dett afe Offenbarung beg (?t»(0cn - SJom
SDcfen beg (ErfennenS - t)er ®etft bcr garbenfebre - ©fe Sfttetamorpbofe bcr
Pflanje unb ber Sfere - T)a$ Urp^dnomen — *Die p^ffofop^ff^e £e(ftung -
©oet^e unt> bfe 3ioflifat{on - Sebengfampf unb 33f(bungSu>fl(e - ©oet^e unb
baS Sfcrfftentum - £>fe 33ffton ber QolUtulttxv - ®oetfy$ EUnftbentum att
£ronung ber abenbldnbffc&en ©pdtfuttur
4. $anb, t>ttitt unfl Runftlct flee tfpathiliur
5. 23anb, 3fe JJftflofopfatt fier tfpatfuliut / 6. 93anb, OU Bomantif
7. 33<mb, JJcopfieten dec 4potht(tuc
foUen in 5t6ftan&en von 3tr>ef bt£ bref 9?tonaten $um Preffe
oon je etwa 9R5T.4.~ (Seinenbanbe j'e ca. 200 ©eiten) folgen
3c6cr fconfl fjt einjetn fmiflirfi/ 6ei SepcUung atttt |Kc6tn Sanfle 1o% p«tenarf|(o£
„SSon bem 99ud)e i[t eine ergretfenbe SEBirFung auf mid) auSgegangen . . . 2>aS ©anse nerfptitfjt ©rofeeS,
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unferefi ihitturlebens aufigefeen roirb." ©e§. 9lot ^rof. ©Ifter, Unit). HRarfitttfl.
(l 2)iefe beiben erften Sanbe itbet ©oei^eS grSmmtgfeit finb etn fdjroungoolt mitteifeenber Wuftaft ju bem
©efamtnier!; baS perfpridjt, eine ber eigenartigfteh ©oetfeefeutbigungen ju roerben unb barubet feinauS
cine aufbauenbe, roertefd)affenbe ©efa)id)t3ubi[ofo))^ie." 3)ttttfd)e Xogc^titung com 16. 8. 1932.
%u*mtliditz profpeft mil totittttn Uzttiltn,- ttftpro&tn auf tittlanQtn fopcnlo^l
t. £. ff 1 1: f d7 f c 1 6 D c 1 1 a g / £ c J p j i 9 Cl
7
Sechzehn
der besten RuBlandkenner schildern, jeder auf seinem Spezialgebiet:
die, hate. Wjbttc&aft
Ein .Sammelwerk,
herausgegeben von Dr. GERHARD DOBBERT
XII und 284 Seiten — Kartoniert RM. 6.40
Kein Gebief, das nicht inferessiert!
Planwirtschafi / Presse / Wirtschafisfuhrer / AuBenhandel /
Indusfrie / Landwirfschaft / Geld und Banken / Verkehr /
Bau- und Wohnungswesen / Soziale Lage usw.
Namen, die Sie kennen und die Ihnen etwas sagen!
Prof. Dr. OHo Hoetssch - H. R. Knickerbocker - Gehelmral Clelnow. - Prof.
Dr. Otto Auhagen vom Osteuropa-lnitltut, Breilau — Ministerlaldlr. Dr. Post*
vom ReichswIrttchaHsmlnitterfum — die Moskauer Berlchtersf alter dar groBen
interna tionalan Preue und namhafte andare RuBIandspaslallifan.
Oberraschend an Vielseitigkeit — unvoreingenommen in der Behandlung des
weltbewegenden Themas — glbt dieses Buch die Mdgllchkeit zu orientleren
und sich selbst ein Urteil zu bilden. Ein Standardwerk I
Ost-Europa-Verlag, Konigsberg Pr. / Berlin W 35
Jeder Politiker,
Soziologe, Journalist
1 i e s t die
Sozialdemokratfsche Honatssehrift fttr
Politik, Wirtschaft, Literatur n. Kaltar
DerKampf
WIEN / XXV. Jahrgang
Herausgeber: Friedrich Adler,Sekretarder Sozialistischen
Arbeiter-Internationale (Zurich)
Redaktion: Helene Bauer, Jul. Braunthal, Osk. Pollak
Preis rUr Deutschland jahrlich RM. 5.— / Postscheckkonto Berlin Nr. 156820
Verlag Wiener Tolksbnchhandlnng
WIEN VI / Gumpendorfer Strasse 18
8
Vor kurzem erschien:
Festschrift
f ii r Carl Griinberg
z n m JO. Gebartstag
560 Seiten. C. L. Hirschfeld Verlag, Leipzig 1932. Preis broschiert RM. 27.—,
Leinen RM. 30.—, Halbfranzband RM. 33. — . Fur Abonnenten der „Zeitschrift
fiir Sozialforschung" (Grunbergs Archiv) RM. 3. — billiger.
Zu Ehren des bedeutenden Nationalokonomen und Historikers des Sozialismus
haben sich 25 Gelehrte aus Deutschland, Frankreich, Holland, Italien, Osterreich,
Polen, Schweiz und Ungarn vereinigt, urn durch ihre Beitrage Zeugnis abzulegen
fiir die internationale Wirksamkeit ihres Lehrers und Freundes und die weite
Ausdehnung seiner Interesssengebiete. Die Veroffentlichung ist wichtig fiir alle
Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler, insbeaondere Nationalokonomen, Sozio-
logen, Sozialpsychologen, Sozialpolitiker, ferner fiir Historiker und Philosophen,
fiir offentliche Bibliotheken, Seminare und Institutsbiichereien des In- u. Auslandes.
Inhal t:
Adler, Max, Zur geistesgeschichtlichen
Entwicklung d. Gesellschaftsbegriffes
Bauer, Stephan, Der Verfall der meta-
phorischen Okonomik
Beer, Max, Social Foundations of Pre-
Norman England
Blom, B* ran, t)ber das Band zwischen
historischem Materialismus und Klas-
senkampflehre und dessen Tragweite
Bourgin, Georges, Le Communiste De-
zamy
Brunei, Fritz, Andreas Freiherr v. Stifft
Gerloff, Wllhelm, Entwicklungstenden-
zen in der Besteuerung der Landwirt-
schaft
Goldscheid, Rudolf, Die Zukunft der
Gemeinschaft
Grofimann, Henryk, Die Goldproduk-
tion im Reproduktionsschema von
Marx und Rosa Luxemburg
Hprkheimer, Max, Hegel und die Me-
taphysik
Krzeczfcowski, Konstantln, Daniel De-
foe und John Vancouver als Vor-
laufer der Sozialversicherung
Laskine, Edmond, Socialisme, mouve-
ment ouvrier et politique douaniere
Leichter, Kathe, Vom revolutionaren
Syndikalismus zur Verstaatlichung
der Gewerkschaften
Leichter, Otto, Kapitalismus und So-
zialismus in der Wirtschaftspolitik
Menzel, Adolf, J. P. Proudhon als So-
ziologe
Michels, Robert, Eine syndikalistischge-
richtete Unterstromung im deutschen
Sozialismus (1903—1907)
Mondolfo, Rodolfo, II concetto mar-
xistico della „umwalzende Praxis" e
suoi germi in Bruno e Spinoza
Oppenheimer, Franz, Stadt und Land in
ihren gegenseitigen Beziehungen
Pollock, Friedrich, Sozialismus und
Landwirtschaft
Pribram, Earl, Das Problem der Ver-
antwortlichkeit in der Sozialpolitik
Szende, Paul, Nationales Recht und
Klassenreoht. — Beitrage aus der
ungarischen Rechts- und Wirtschafts-
geschichte
Schneider, Fedor, Zur sozialen Lage des
freien Handwerks im friihen Mittel-
alter
Sommer, Louise, Das geisteswissen-
schaftliche Phanomen des„Methoden-
streits"
Wittfogel, K. A., Die Entstebung des
Staates nach Marx und Engels
Wittlch, Werner, Der Schatz der bosen
Werke
C. L. Hirschfeld Verlag / Leipzig €1
S o e h e n B *SWm\ e r m e h e i n t
ED1IABD HIIIMAW
Sozialwissenschaft mid
Wirklichkeit
Zwei soziologische Vortr&ge
1932 / RM. 2.40
In dem ersten der beiden vor philosophischen Gesellschaften ge-
haltenen Vortrage werden die Wissenschaften vom sozialen Leben
auf ihre Denkmittel und deren soziologische Ursprungskonstellation
hin untersucht. Nationalokonomie ist die Naturwissenschaft vom
menschlichen Wirtschaften und gehort daher zum Kapitalismus als
dem vermeintlich naturlichen System der Wirtschaft. Geschichts-
schreibung richtet den Blick auf das Gewordene und Gewachsene und
dient daher dem Konservatismus. Soziologie beschreibt ebenfalls den
geschichtlichen Ablauf, aber nicht mit irrationalistischer Pietat fur
das Vergangene, sondern mit dem Willen, das Gesetz des Werdens
iiber den Kapitalismus hinaus aufzudecken; sie gehftrt zum Sozialis-
mus. Die These wird durch genaue Analyse der mannigfachen Kombi-
nationen zwischen den drei Gesichtspunkten und der sonst moglichen
Einwendungen zu erharten versucht. - Der zweite Vortrag behandelt
die Veranderungen, die die theoretische Auffassung von der Bedeu-
dung der Persdnlichkeit fur die Wirtschaft erfahrt. Diese Verande-
rungen werden als Spiegelungen der tatsachlichen Struktur verande-
rungen in der Wirtschaft erklart. Unter diesem Gesichtspunkt werden
die Theorien von Smith, Malthus, Ricardo, Marshall, Friedrich List,
Schumpeter, Oppenheimer und die verschiedenen einander be-
kampfenden Marxinterpretationen gemeinverstandlich behandelt. —
Beide Vortrage schlieBen mit einem Ausblick auf die neuen Probleme
der gegenw&rtigen sozialen Krise : mit welchen Denkmitteln kann man
sie begreifen? Und welches Schicksal erfahrt. hier die PersGnlich-
keitsidee in der Wirtschaft?
Verlag von J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), Tubingen
10
Wirtschafts-
und Sozialordnung
als Aufgabe
von Dr. jur. Schmittmann
o. 6. Professor an der Universitat Koln
Umfang VII und 181 Seiten. Format Gr.-8». PreisRM. 5.80
D e
fcer erste Teil schildert den Verlauf der wirtschaftlichen Ent-
wioklung, um die Wirkung des kapitalistischen Wirtschafts-
systems auf das Sozialleben klarzulegen; der zweite versucht die
Normen einer natiirlichen Gestaltung des Wirtschafts- und Sozial-
lebens zu umgrenzen, deren Verwirklichung in Deutschland nach
MaBgabe der gegebenen konstitutiven Moglichkeiten der dritte Teil
priift. Die Reformgedanken des Verfassers laufen auf eine wirt-
schaftliche und soziaie Selbstverwaltung hinaus, welche die ent-
sprechenden Rechte des Staates. und des Unternehmers auf . ko-
operativ-regionale Berufsverbande iibertragt.
Die iiberaus groBe Bedeutung des Buches besteht darin, daB
in ihm in klarer tiefschiirfender Darstellung gezeigt wird die
V4\wOik&idiuH£ oikuzK neve* OhdnuHQ,
die wtcfc fapitaiiitous ist,
e£e#tfait*e#tt£ q&ok cojucA fa&io&mtuf
Verlag von W. Kohlhammer in Stuttgart
li
Eine bedeutsame Erganzung der in diesem Heft gegebenen Bibliograpbie iiber neue
planwirtscliaftliche Literatur bildet die in unserem Verlag soeben erScheinende Schrift:
Das amerikanische
Eine Bewegung fi'ir geplantes Wirtschaften
in den Vereinigten Staaten
Dargestellt durch eine Zitatensammlung von
Hugo H a a n
Sektionsohef im Internat. Rationalisierungs-Institnt tmd Sektionsmitglied im
Internat. Arbeitsamt des Volkerbundes in Genf; osterr. Ministerialrat a, D.
Zweite, verdeutschte und vermehrte Ausgabe
Die erste, englische Ausgabe erfolgte durch die amerikanische Akademie
der politischeh und sozialen Wissenschaften zu Philadelphia im Marz 1932
Preis ca. RM. 3.—
In diesem Bach wird eine neue Darstellungsart angewendet, um deni deutschen Leser
in objektivster und knappster Form gerade das zu vemiitteln, was von dieser jiingsten
amerikanischen Wirtschaftsbewegung und ihrer rapid anschwellenden Literatur zu wissen
notig ist — nicht zu viel, nicht zu wenig. Dafur hochst lebendig und am*egend: 6 of-
nzielle und 15 private Planungsvorschlage im auszugsweisen Wortlaut ibrer meist pro-
•minenten Verfasser. Fur das deutsche Wirtschaftsdenken wird dieser einzigartige Ori-
ginalbericht iiber wichtige, in der amerikanischen Luft liegende Entwicklungstendenzen
von aktuellem und befruchtendem Interesse sein.
©er JMt&el&temti im der
ksipitolisti&elieii ©esell&chaft
Eine okonomische und soziologische Untersuchung
Von Dr. Emil GrUnberg
215 Seiten. Preis ca. RM. 7.—
Die Arbeit stellt eine Analyse des so iiberaus schwierigen okonomischen und sozio-
logischen Problems Mitt els t and dar. Nachdem das vollige Fehlen auch nur annahernder
Begriffsbestimmungen in der heutigen Fachliteratur gezeigt worden ist, wird eine solche
aus der historischen Betrachtung gewonnen und zugleicb damit der Einblick in die
zwingende Gesetzmassigkeit der wirtschaftlichen Entwicklung des Mittelstandes. Das
neueste und zum grossten Teil bisher noch unverarbeitete Material wird zur BegJaubigung
der so gewonnenen Ergebnisse verwendet und der augenblickliche Stand der Entwicklung
bestimmt. Griinberg zeigt sodann die tiefen Unterschiede, die zwischen dem selbstandigen
Mittelstand der Handwerker imd kleinen Kaufleute us w. einerseit s und dem neuenMittel-
s t an d der Angestellten und Beamten bestehen. Abschliessend zeigt Griinberg die Aufgabe
und die Moglichkeiten der Mittelstandspolitik des Staates und des Mittelstandesjselbst.
€. ]L. Hirsckfeld Yeilag / Leipzig €1
12
Allgemeinc Soziologie:
Gr Under der Soziologie. Eine Vortragsreihe unter Mitwirkung von
G. L. Duprat u. a. (Borkenau) 412
Richard Thurnwald, Die menschliche Gesellschaft in ihren ethno-
soziologischen Grundlagen, 2. Bd. (Vatter) 412
Pitirim Sorokin, Soziologische Theorien im 19. und 20. Jahrhundert
(Salomon) 413
Richard Kroner, Kulturphilosophische Grundlegung der Politik
(Haselberg) 414
Alfred Schiitz, Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt (Borkenau) . 415
Karl Marx/Friedrich Engels, Die deutsche Ideologie, hrsg. v.
V. Adoratskij. Marx-Engels-Gesamtausgabe, I. Abt., Bd. 5
(Borkenau) 416
Herbert Marcuse, Neue Quellen zur Grundlegung des historischen
Materia] ismus. In: Die Gesellschaft, IX. Jg., Nr. 8 (Westermann) 416
Hugo Fischer, Karl Marx und sein Verhaltnis zu Staat und Wirtschaft.
— Werner Alexander, Kampfum Marx (Moldenhauer) . . . 417
Julius Dickmann, Das Grundgesetz der sozialen Entwicklung
(Westermann) 418
Zbigniew Lubienski, Die Grundlagen des ethisch-politischen Systems
von Hobbes (Borkenau) 419
Stuart A. Rice, Methods in Social Science. — Emory S. Bogardus,
Contemporary Sociology. — Earle E. Eubank, The Concepts
of Sociology. — R. M. Maclver, Society. Its Structure and
Changes (Lorke) 420
Hannibal Gerald Duncan, Backgrounds for Sociology (Lorke) . . . 422
Organization of Research in the American Sociological Society (Lorke) . 422
Piet Endt, Sosiologie (Stemheim) 422
W. J. Lenin, Uber den historischen Materialismus (Korsch) . . . 423
Psychologic:
August Messer, Sexualethik (Landauer) 424
W. Lange-Eichbaum, Das Genieproblem (Landauer) 425
Fritz Kiinkel, Charakter, Liebe und Ehe (Fromm-Reichmann) . . . 426
Sir Galahad, Mutter und Amazonen (Fromm) . . . " 427
OttoFenichel, Perversionen, Psy chosen, Char akterstorungen. Psycho -
analytische spezielle Neurosenlehre. — Ders., Hysterien und
Zwangsneurosen (Landauer) 427
MariaDorer, Historische Grundlagen der Psychoanalyse (Fromm) . . 427
Kimball Young, Social Psychology. — Ders., Source-Book of Social
Psychology (Liebmann) 428
Siegfried Kraus, Bediirfnis und Bef riedigung ( W estermann ) . . . . 429
Fritz Urbschat, Das Seelenleben des kaufmannisch-tatigen Jugend-
lichen (WeijS) 429
Geschichte:
Georg Steinhausen, Deutsche Geistes- und Kulturgeschichte von
1870 bis zur Gegenwart (Mackauer) 430
Franz Mehring, Zur deutschen Gesehichte. Gesammelte Schriften
und Aufsatze, hrsg. v. Eduard Fuchs (Doppler) . 430
Karl Marx/Friedrich Engels, Brief wechsel. Marx-Engels-Gesamt-
ausgabe, III. Abt., Bd. 5 (Gollub) 431
Pauline V. Young, The Pilgrims of Russian Town (Lorke) 432
John Edwin McGee, A Crusade for Humanity (Rosenhaupt) . . . . 433
International Migrations. Vol. I: Statistics, Vol. II: Interpretations
ed. by Walter F. Willcox (Prinz) 433
Alan Bo tt, Our Fathers (Carls) 434
Kathe Spiegel, Kulturgeschichtliche Grundlagen der amerikanischen
Revolution (Harnack) 435
Johann Hasebrock, Griechische Wirtschafts- und Gesellschafts-
geschichte bis zur Perserzeit, — Helmut Berye, Griechische
Geschichte. 1. Halfte: Von den Anfangen bis Perikles. - —
Joseph Vogt, Romische Geschichte. 1. Halfte: Die romische
Republik. — Julius Wolf, Romische Geschichte. 2. Halfte:
Die romische Kaiser zeit (Mackauer) 436
Domenico Guerri, La corrente popolare nel Rinascimento (Die
volkstiimliche Stromung in der Renaissance) (Olberg) 437
Otto Heller, Der XJntergang des Juden turns (Fromm) 438
Hugo Hassinger, Geographische Grundlagen der Geschichte
(Mackauer) 439
Karl Au gustWittfogel, Die naturlichen Grundlagen der Wirtschaf ts-
geschichte. In: Archiv fur Sozialwissenschaft und Sozialpolitik,
Bd. 67, lleit 4—6 (Petersen) ...'.'. 439
Sozlale Bewegung und Sozialpolitik:
Si F. Mark ham, A History of Socialism (Walter) 440
C. Bougie, Socialismes fr&ns&is (Walter) 440
Arthur Rosenberg, Geschichte des Bolschewismus von Marx bis zur
Gegenwart (Walter) 441
Max Ermers, Victor Adler. Aufstieg und Grofie einer sozialistischen
Partei (Walter) 442
August Becker, Geschichte des religiosen und atheistischen Friih-
sozialismus. — Gilbert CliveBinyon, The Christian Socialist
Movement in England (Moldenhauer) 443
Studien iiber die Beziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeit-
nehmern. Internationales Arbeitsamt, Reihe A (Berufliche Ver-
einigung) Nr. 33 und 35 (Stemheim) 443
Kurt Bloch, Uber den Standort der Sozialpolitik. — Fritz Heller,
Sozialpolitik und Reichsarbeitsgericht. — F. A. Westphalen,
Die theoretischen Grundlagen der Sozialpolitik (Croner) .... 444
Sozialrechtliches Jahrbuch, hrsg. von Theodor Brauer, Christian Eckert
u. a. (Mertens) 445
Eugen Rosenstock und Carl Dietrich von Trotha, Das Arbeits-
lager (Mennicke) 446
Eugen Rosenstock, Arbeitsdienst — Heeresdienst ? (Blum) . . , . 446
Florence Dubois, A Guide to Statistics of Social Welfare in New
York City (Feinberq) 447
Spezielle Soziologie:
Theodor Geiger, Die soziale Schichtung des deutschen Volkes
(Flaskdmper) 447
Sir William Beveridge u. a., Changes in Family Life. — Donald
Young, The Modern American Family. In: The Annals of the
American Academy of Political and Social Science, Vol. 160,
March 1932. — Hanna Meuter, Heimlosigkeit und Familien-
leben. — Ventur Schaidnagl, Heimlose Manner. — Elisa-
beth Frank, Familienverhaltnisse geschiedener und ehever-
Iassener Frauen . — Elisabeth Liidy, Er werbstatige Mutter in
vaterlosen Familien. — Dora Hans en -BI an eke, Die haus-
wirtschaftliche und Mutterschaftsleistung der Fabrikarbeiterin.
Hermann Ahrens, Untersuchungen zur Soziologie der Familie
in systematischer Absicht. (Rostocker Diss.) (Pollock). . . . 448
J. P. Lichtenberger, Divorce (Freudenthal) 451
M. C. van Mourik Broekman, Erotiek en Huwelijksleven (Erotik und
Ehe) (Stemheim) 452
Sigmund Neumann, Die deutschen Parteien (Speier) 452
Demokratie und Partei, hrsg. von Peter Richard Rohden. — Bernhard
Groethuysen, Dialektik der Demokratie (Neumann) 453
Walter Heinrich, Das Standewesen mit besonderer Beriicksichtigung
der Selbstverwaltung der Wirtschaft (Salomon) 454
F. A. Her mens, Demokratie und Kapitalismus (Lowenthal) 454
Walter Jost, Das Sozialleben des industriellen Betriebs. — Carl
Matthes, Die Rationalisierung der Wirtschaftsprozesse in ihren
Auswirkungen auf den in der Wirtschaft tatigen Menschen
(Speier) 455
Ernst Jiinger, Der Arbeiter (Speier) , 456
Die soziale Frage und der Katholizismus. Hrsg. v. d. Sektion f. Sozial-
und Wirtschaftswissenschaft der Gorres-Gesellschaft (Mertene) 456
Wilhelm Schwer und Franz M tiller, Der deutsche Katholizismus
im Zeitalter des Kapitalismus. — Heinrich Getzeny, Kapitalismus
und Sozialismus im Lichte der neueren, insbesondere der katho-
lischen Gesellschaftslehre (Mertens) 457
Theodore Dreiser, Tragic America. — Stuart Chase, A New Deal.
— A. E. Johann, Amerika (Pollock) . . . 458
J. G. Renier, The English: Are They Human? (Gerth) 460
R. Aron et A. Dandieu, Decadence de la nation francaise (Tazerout) 460
Arthur Ruppin, Soziologie der Juden (Mayer) 461
Robert Dinse^ Das Freizeitleben der Grofistadtjugend (Speier) . . 462
Das Gesicht der Demokratie, hrsg. von Edmund Schultz. — Zwanzig
Jahre Weltgeschichte in 700 Bildern, m. e. Einl. von Friedrich
Sieburg. — Der Staat ohne Arbeitslose, hrsg. v. Ernst Glaeser u.
F. C.Weiskopf (Freund) 462
Handworterbuch des deutschen Volksbildungswesens, hrsg. von Hein-
rich Becker u. a. (Neumann) 464
Okonomie:
Bemerkung der Redaktion 464
Alle Sendungen redaktioneUer Art (Manuskrfpte, Rezensionsexemplare, Tausch-
exemplare) sind ansschlieBUch zu richten an die Redaktion der Zeitschrilt ftir
Soztallorschung, Frankfurt a. M., Viktoria-Allee 17, alle Sendungen geschaft-
lichcr Art nur an den Verlag C. L. Hirschfeld, Leipzig C 1, Hospitalstr. 10.
Die Zeitschrift erscheint dreimal jahrlich: im Marz, Juli und November.
Der Preis des Jahrgangs — einschlieBlich der Einbanddecke, die kostenlos
geliefert wird — betragt RM, 18. — , Einzelhefte kosten RM. 6. — .
Verantwortlicher Schriftleiter : Dr. Leo Lowenthal (Frankfurt a. M.)
Schriften des Instituts fur Sozialforschung
an der Universit'at Frankfurt a. M.
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In Vorbereitung befindet sich Band IV:
FRANZ BOBKENAU
Der Ubergang vom feudalen
zum biirgerliehen Weltbild
Studien zur Geschichte der Philosophic der Manufakturperiode
Eine Darstellung der Entstehung der biirgerlichen Naturwissenschaft und Gesell-
schaftslehre aus der philosophischen Bewegung um Descartes, Hobbes, Pascal.
Umfassendes neues Material aus dem Gebiet der Theologie, Anthropologic und
Staatslehre des 16. und 17. Jahrhunderts zeigt, wie die neue Technik und die
neue Moral des entstehenden Kapitalismus ein neues Weltbild notwendig machen
und wie es sich in den KlassenkSmpfen der Manufakturperiode durchsetzt.
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Fruher erschienen die Bande I— III:
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Das Akkumulations- und Zusammenbruchsgesetz des kapita-
Ustischen Systems (zugleich eine tfrisentheorie)
XVI und G25 Seiten. RM. 18.— , gebunden RM. 19.80
Vorzugspreis: RM. 16.20, gebunden RM. 18.—. Vorzugspreise er-
halten Abnehmer der ganzen Schriftenreihe, sowie Bezieher und Mit-
arbeiter der „Zeitschrift fur Sozialforschung"
FRIEDRICH POLLOCK
Die planwirtschaftlichen Versuche in der Sowjetunion (1917—1927)
XII und 409 Seiten. RM. 12.15, gebunden RM. 13.50
Vorzugspreis (s. a. Band I): RM. 11.—, gebunden RM. 12.15
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Wirtschaft und GeseUschait Chinas
Versuch der wissenschaftlichen Analyse einer grofien asiatischen Agrar-
gesellschaft
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XVIII und 768 Seiten mit Textabbildungen. RM. 27.—, geb. RM. 28.80
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