Zentralblatt
für
Psychoanalyse.
Medizinische Monatsschrift für Seelenkunde.
Organ der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung.
Herausgeber: Prof. Dr. Sigm. Freud.
Schriftleiter: Dr. Wilhelm Stekel, Wien, Gonzagagasse 21.
Unter Mitwirkung uon:
Dr. Karl Abraham, Berlin; Dr. R. G. Assagioli, Florenz; Dr. Ludwig Binswanger,
Kreuzlingen; Dr. Poul Bjerre, Stockholm; Dr. A. A. Brill, New-Vork; Dr. M.
Eitingon, Berlin; Dr. D. Epstein, Kiew; Dr. S. Ferenczi, Budapest; Dr. Max Graf,
Wien; Dr. Magnus Hirschfeld, Berlin; Dr. E. Hitschmann, Wien; Professor E. Jones,
Toronto; Dr. Otto Juliusburger, Steglitz; Dozent C. G. Jung, Zürich; Dr. F. S.
Krauss, Wien; Professor August u> Luzenberger, Neapel; Prof. Güstau Modena,
Ancona; Dr. Alfons Mäder, Zürich; Dr. Richard Nepalleck, Wien; Dozent N.
Ossipow, Moskau; Dr. Oskar Pfister, Zürich; Dr. James Putnam, Boston; Otto
Rank, Wien; Dr. R. Reitler, Wien; Dr. Franz Riklin, Zürich; Dr. J. Sadger, Wien;
Dr. L. Seif, München; Dr. A. Stegmann, Dresden; Dr. M. Wulff, Odessa; Dr. Erich
Wulffen, Dresden.
II. Jahrgang Heft 2.
Nouember.
Wiesbaden.
Verlag uon J. F. Bergmann.
1911 .
Jährlich erscheinen 12 Hefle im Gesamt-Umfang uon 36 bis
40 Druckbogen lahrespreise uon 18
INSTlTUiJ \
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PSYCHO-ANALYSIS
LENDING LIBRARY y *
Verlag von J. F. Bergmann in Wiesbaden.
Soeben erschien:
Die klinische Untersuchung’
N ervenkranker.
Ein Leitfaden
der
allgemeinen und der topischen und eine synoptische Zusammen¬
stellung der speziellen Diagnostik der Nervenkrankheiten für
Studierende und. praktische Ärzte
nach Vorlesungen
von
Dr. Otto Veraguth.
Nervenarzt, Privatdozent der Neurologie an der Universität Zürich. •
Mit 102 teils farbigen Textabbildungen und 44 Schematen und Tabellen.
Preis gebd. Mk. 10.65.
Aus dem Vorwort.
Zweck dieses Buches ist: Einführung des Medizinstudenten
und des nicht neurologisch spezialisierten Arztes in die theoretisch
immer interessanter und praktisch immer wichtiger werdende
Nervenheilkunde. {
Eine solche Bestimmung verlangte Ausführlichkeit in der
Behandlung der Untersuchungstechnik mit möglichst jeweiligem
Hinweis auf die physiologische, anatomische und physiopathologische
Begründung der optimalen Untersuchungsbedingungen und eine
Darstellung der Lehren der topischen Diagnostik nach Gesichts¬
punkten, die vom Schema weg zum selbständigen Erfassen weisen.
v Aus dem Bestreben, dem frisch an das Gebiet Herantretenden
möglichst umfassende, aber in sich geschlossene Vorstellungsbilder
zu bieten, sind etwelche Eigentümlichkeiten des Buches entstanden:
Einfügung von bisher in Neurologiebüchern noch nicht behandelten
Themen und von neuen Darstellungen altbekannter Tatsachen. . . .
. . . Dem Charakter eines Einführungsbuches zuliebe sind
viele anatomische Bilder, auch über die peripheren Nerven, bei¬
gegeben worden. . . .
Originalarbeiten,
i.
Die Lehren der Freud-Schule.
Von Havelock Ellis.
Im Jahre 1895 erschien ohne Aufsehen zu erregen in Wien ein
Buch, das „Studien über Hysterie“ betitelt und gemeinsam von zwei
Autoren, Dr. Josef Breuer und Dr. Sigmund Freud, verfasst
war. Es fehlte an einem Publikum zur Aufnahme des Buches und so
erweckte es nur schwache Aufmerksamkeit und fand wenig Käufer. In
England blieb es fast vollständig unbekannt, so dass es dem Schreiber
dieser Zeilen zur Genugtuung gereicht, daran erinnern zu können, dass
wohl die erste vollständige Darlegung der in diesem Buche enthaltenen
Grundanschauungen in englischer Sprache im ersten Bande seiner eigenen
„Studien über Sexualpsychologie“ im Jahre 1898 erschien. Und doch
wurde mit diesen. Studien über Hysterie, wie ein aufmerksamer Leser
imschwer bemerken konnte, eine neue Seite in der medizinischen
Psychologie aufgeschlagen, und diese neue Seite war von bestrickendem
Interesse. Ein Fall von Hysterie war nun nicht länger ein Ding, das sich
mit einem Lächeln der Verachtung als unwürdig der Aufmerksamkeit
eines Arztes abtun liess, noch konnte er bloss durch genaue Beschreibung
der physischen Symptome erledigt werden, wie es die Schule Charcot’s
getan hatte, zu welcher Schule Freud in seinen ersten Anfängen ge¬
rechnet werden kann. Er war ein Geheimnis, das man geduldig durch¬
forschen musste, ein Geheimnis, dessen Schlüssel oft weit zurück und
vergessen in der Geschichte des Patienten lag; und diese medizinische
Geschichte gewann, wenn sie geschickt, mit Wissen und Einsicht benützt
wurde, nicht bloss psychologische Bedeutung, sondern auch etwas von
dem Interesse eines Romanes.
Die Priorität für die Erfassung der in jenem Buche enthaltenen
Ideen und für die darauf aufgebaute Behandlung gebührt, wie Professor
Freud anerkannt hat, dem älteren Autor Dr. B r e u e r. Nachdem er
so den Weg gewiesen hatte, verschwindet Breuer von der psycho¬
analytischen Szene. Freud jedoch verfolgte, unabgeschreckt vom Aus¬
bleiben aller Sympathie und Aufmerksamkeit, den so gewiesenen Weg;
er erreichte stets neue Gesichtspunkte und liess bald den Standpunkt des
Zentralblatt für Psychoanalyse II*. 5
62
Havelock Ellis,
ersten Buches hinter sich, so dass selbst jetzt die Formulierung seiner
Lehren nicht als endgültig anzusehen ist. Nach etwa zehnjähriger Arbeit
begann das Interesse an dem Schaffen F r e u d ’s Ausdruck zu finden,
seine Bücher wurden begehrt und auch unter den Ärzten fanden sich
einige erklärte iVnhänger. Während der letzten fünf Jahre hat diese
Bewegung einen mächtigen Aufschwung genommen. Heute zählt Freud
zahlreiche tüchtige Anhänger; unter diesen nimmt Jung in Zürich den
ersten Platz ein, der zu den Methoden F r e u d ’s wichtige Bereicherungen
gefunden hat. F r e u d ’s Psychoanalyse wird nun nicht nur in Öster¬
reich und der Schweiz verteidigt und angewendet, sondern auch in den
Vereinigten Staaten, in England, Indien, Kanada und, wie ich nicht zweifle,
in Austral-Asien. Die tiefgehende und allgemeine Bedeutung dieser Be¬
wegung fand ihre Anerkennung, als Freud eingeladen wurde, die Ver¬
einigten Staaten zu besuchen, um den Grad eines L. L. D. [doctor legum *■)]
an der Clark-Universität zu empfangen und eine Reihe von Vorlesungen
über Psychoanalyse zu halten.
F r e u d ’s Lehren sind so weit ausgreifend, so neu und in manchen
Punkten dem, was als gesichert überliefert wird, so völlig entgegen¬
gesetzt, dass sie nicht nur glühende Begeisterung, sondern auch bittere
Feindseligkeit und Verachtung erregt haben, insbesondere in Deutschland.
Die neue Schule steht inmitten der Wogen eines heissen Kampfes. Aber
zwischen den Lagern der beiden unversöhnlichen Gegner finden sich
noch viele, die der Ansicht sind, dass wir — mag es auch noch un¬
möglich sein, den Platz, den Freud in der Psycho-Pathologie einnimmt,
endgültig zu bestimmen — ihm jedenfalls für die neuen Gesichtspunkte,
die er ans Licht gebracht hat, unsere Dankbarkeit schulden und dass
wir keinesfalls den Leitfaden fallen lassen dürfen, den er uns für die
Durchforschung vieler noch im Dunkel liegender Wissensgebiete in die
Hand gegeben hat.
F r e u d ’s Lehren sind so ineinander verschlungen, dass es un¬
möglich ist, sie völlig und klar in wenigen Minuten darzulegen. Ein
knapper Umriss einiger seiner wichtigsten Sätze kann immerhin von
Nutzen sein.
Nach der Ansicht F r e u d ’s liegen die grössten und bedeutendsten
Teile des Gebietes der Psychologie in der Region des Unbewussten. Der
wichtigste Teil der Aufgabe des Psycho-Pathologen im Sinne F r e u d ’s
besteht darin, die Spuren der krankhaften Prozesse, die in dieser dunkeln
Region vor sich gehen, zu entdecken und sie an die Oberfläche des
bewussten Daseins zu bringen und dadurch krankhafte Vorgänge zu
normalen umzubilden. Die dabei anzuwendende Technik ist das Um und
Auf der Psychoanalyse. Freud führt die krankhaften Vorgänge, denen
seine Untersuchung gilt — Hysterie, Zwangsneurosen und Verwandtes —,
zurück auf in der frühen Kindheit liegende Wurzeln, auf eine infantile
Disposition; darin liegt der Grund, warum sie dem ungeschulten Blick
verborgen, im Unbewussten liegen. Die späteren psychischen Traumen,
die in die Reihe der Ursachen der Hysterie oder Zwangsneurose ein-
treten, können höchst bedeutsam sein, aber sie stehen immer insgeheim
in Verbindung mit einem zugrunde liegenden, wenn auch verborgen
■) Anmerkung des Übersetzers.
Die Lehren der Freud-Schule.
63
bleibenden Trauma oder einer konstitutionellen Disposition, die von der
Kindbeit oder frühen Jugend herrühren.
Diese infantile Quelle späterer krankhafter psychischer Vorgänge
ist nach der Ansicht F r eu d ’s sexueller Natur. Auf die infantile Sexualität
und ihre Bedeutsamkeit für das ganze spätere Leben im Falle einer
Erkrankung legt er sehr grosses Gewicht. Das Sexualleben des Kindes
sieht er als sehr kompliziert an. Es besteht ursprünglich in blosser Be¬
rührungslust, Daumensaugen und Reiben der Genitalien und der urethralen
und analen Öffnungen und anderer erogener Zonen. Später entwickelt es
sich zu einem besonderen Interesse für die exkretorischen Tätigkeiten,
der defäkatorischen sowohl wie der urinalen. Sobald es sich auf andere
Personen ausdehnt, trachtet es sich im Falle des Knaben an die Mutter,
im Falle des Mädchens an den Vater festzuknüpfen, desgleichen auch
an die Geschwister des entgegengesetzten Geschlechtes; es sucht aber
auch die Geschlechtsunterschiede in der Bedeutung, die sie für Er¬
wachsene haben, nicht zu beachten. „Man wird kaum fehlgehen“, sagt
Freud, „wenn man jedem Kinde eine teilweise Eignung zur Homo¬
sexualität zuschreibt.“ Diese besondere Vorliebe kann auch zur be¬
sonderen Abneigung werden. Im Grunde ist sie jedenfalls ein Wunsch.
Ein sexueller Wunsch ist, nach Freud’s Theorie, die Wurzel vieler
psychopathischer und neuropathischer Zustände, die daher auf Störungen
in der sexuellen Entwicklung zurückgleführt werden können.
Im Fortgange der Entwicklung verschwindet der ursprüngliche
sexuelle Wunsch ins Unbewusste und wird im Bewussten durch irgend
ein anderes Zeichen seines Daseins ersetzt. Dies tritt unvermeidlich ein,
denn bei zunehmendem Alter drängen die Gefühle, welche durch Scham,
Ekel und die Moral hervorgerufen werden, den infantilen sexuellen Wunsch
aus dem Gesichtsfelde des Bewusstseins. Einzelne Teilstücke der infantilen
Form der Begierden können in gewissen Fällen als Perversionen fixiert
werden und weiter bestehen. Die Perversion verhält sich zur Neurose wie
das Positiv zum Negativ. In den Neurosen äussern dieselben Urimpulse
ihre Wirkung, aber sie wirken vom Unbewussten aus. Selbst in dem
Erstlingswerk von Breuer und Freud sind schon viele belehrende
Fälle berichtet, die beweisen, dass die schmerzhaften physischen Sym¬
ptome tatsächlich mit früheren Episoden und Wünschen sexuellen Inhaltes
in assoziativer Verbindung stehen, jedoch so, dass diese Verbindung dem
Bewusstsein verloren gegangen ist und die ganze Intensität des ver¬
drängten Gefühles auf das physische Symptom übertragen wurde. Die
Krankheit ist, nach Fr eu d ’s Worten, eine Flucht vor der unbefriedigenden
Wirklichkeit in etwas, was zwar im biologischen Sinne schädlich, aber
doch nicht ohne Vorteil für den Patienten ist, da er von der Welt be¬
trogen oder nicht mehr imstande, den Kampf mit ihr aufzunehmen,
mit seinen umgeformten infantilen Wünschen sich wie in ein Kloster
dorthinein zurückziehen kann.
Dies ist eine auf das Äusserste abgekürzte Beschreibung der
Lage der Dinge nach F r e u d ’s Auffassung, gegen welche dann der
Arzt ankämpfen muss; sie ist, wie Freud mit Entschiedenheit ver¬
sichert, nicht qualitativ verschieden von dem Befund bei normalen
Personen, wenn auch in der Intensität sehr gesteigert. Der Vorgang,
durch welchen die Ärzte der Freud ’schen Schule diesen Zustand er-
5*
64
Havelock Ellis,
forschen und an das Licht des Bewusstseins bringen, womit zugleich
seine Heilung erzielt wird, ist die berühmte Methode der Psychoanalyse.
Anfänglich benützte Freud die Hypnose als Forschungsmethode.
Doch hat er sie schon längst als willkürlich und selbst der Erforschung
noch bedürftig aufgegeben, da ja in zahlreichen Fällen die Patienten
überhaupt nicht hypnotisiert werden konnten. Er zieht es vor, den Pa¬
tienten im Normalzustände nach einer Methode zu erforschen, die er
die kathartische nennt. Es scheint nicht gerade vielversprechend zu
sein, dass ein Arzt dasjenige erfahren soll, was er wissen will, indem
er den Patienten darüber befragt, der davon ebensowenig weiss. Doch
Freud erinnerte sich daran, dass er in Nancy Bernheim gesehen
hatte, der zu zeigen imstande war, dass ein Patient, wenngleich er von dem,
was mit ihm in einem vorhergehenden hypnotischen Zustande geschehen
war, scheinbar nichts mehr erinnern konnte, doch durch geschickte Be¬
handlung dahin gebracht werden konnte, die Kenntnis dieser Vorgänge
wiederzugewinnen. Er fand, dass bei den ersten Gefühlserfahrungen, welche
die Wurzel der Neurose dieser Patienten bildeten, derselbe Vorgang möglich
war. Freud fordert den Patienten auf, alles auszusprechen, was ihm
durch den Kopf geht, mag es auch beziehungslos oder albern erscheinen,
während er diese Blasen, die aus der Tiefe des Seelenlebens aufsteigen,
wachsam betrachtet, um jene herauszufinden, aus denen er auf die
inneren Vorgänge schliessen kann. Jung entwickelte einen wertvollen
Zweig dieser Psychoanalyse mit seiner Methode der freien Assoziation,
die darin besteht, dass dem Patienten eine Wortreihe vorgelesen wird;
dieser soll dann sogleich mit dem antworten, was ihm bei jedem Worte
einfäll t. Die Resultate werden niedergeschrieben in der oft schon be¬
stätigten Erwartung, dass der Patient auf diesem Wege Geheimnisse ver¬
raten wird, die ihm selbst noch unbekannt sind. Diese Methode sieht
Freud als das psychoanalytische Äquivalent der Qualitätsanalyse des
Chemikers an.
Während des Patienten wirkliche Geschichte so enthüllt und langsam
und mühevoll an die Oberfläche gebracht wird — und Freud räumt
ein, dass der Vorgang äusserst langsam und mühevoll ist —, wird der
Patient in Stand gesetzt, sich der krankhaften Vorgänge bewusst zu
werden und dies hilft ihm dazu, sich von ihnen freizumachen. Darum
ist die psychoanalytische Methode kathartisch; Freud selbst macht
darauf aufmerksam, dass sie gerade das Gegenstück zur hypnotischen
Methode bildet, denn während die Hypnose etwas in den Patienten
einzusetzen sucht, sucht die Psychoanalyse etwas zu entfernen.
Diese Erfassung der Psychoanalyse war eine glanzvolle Idee, für
die wir Freud allein zu Dank verpflichtet sind. Doch wurde, soweit
ich davon unterrichtet bin, bis heute noch nicht darauf hingewiesen,
dass Freud einen Vorgänger in dieser Idee hat, wenn auch nicht in
ihrer klinisch-therapeutischen Anwendung. Im Jahre 1857 veröffentlichte
Dr. J. J. G a r t h W i 1 k i n s o n , ein damals bekannter Anhänger der
Swedenborg ’schen Mystik, einen Band mystischer Knüttelverse, die
nach einer, wie er annahm, „neuen Methode“ geschrieben waren, der
Methode der „Impression“. ,,Ein Thema wird gewählt oder nieder¬
geschrieben,“ schildert er, „sobald dies geschehen ist, so ist der erste
geistige Eindruck, der dem Akte des Niederschreibens des Titels folgt,
der Beginn einer Entfaltung des Themas, gleichgültig, wie seltsam und
Die Lehren der Freud-Schulen.
65
fremdartig das Wort oder die Phrase sein mag.“ „Die erste Bewegung
des Verstandes, das erste Wort, das kommt“, ist die Antwort auf
den Wunsch des Geistes, das Subjekt aufzurollen.“ Die Fortsetzung ge¬
schieht auf dieselbe Weise und Garth Wilkinson fügt hinzu: „Ich
fand immer, dass es mit einem untrüglichen Instinkte zu dem Subjekte
führe.“ Die Methode war nach der Ansicht von Garth Wilkinson
eine Art von Laissez-faire in der Exaltation, ein an die tiefsten un¬
bewussten Instinkte gerichtetes Gebot, sich Ausdruck zu finden. Ver¬
stand und Wille, so will es seine Unterweisung, sind ausgeschaltet;
man vertraut einem „influx“, und die geistigen Fähigkeiten werden
„Zielen zugewendet, von denen sie nichts wissen“. Garth Wilkinson,
dies muss stets festgehalten werden, benützte, obgleich er Arzt war,
seine Methode für religiöse und literarische und nicht für wissenschaft¬
liche oder medizinische Zwecke. Doch es ist leicht zu erkennen, dass
sie im Wesen nichts anderes ist als die Anwendung der psychoanalytischen
Methode auf das eigene Ich.
Freud meint auch, dass wir die Methode der Psychoanalyse auf
uns selbst anwenden sollen, und dies ist sogar eines seiner Lieblings¬
themen. Mit der Selbst-Psychoanalyse, deren Fürsprecher Freud ist,
ist die Traumdeutung gemeint. Er stellt den Satz auf, dass der ganze Vor¬
gang der Hysterie und der anderen Neurosen mit grösster Genauigkeit
an den Träumen normaler Personen studiert werden kann. „Auf die
Frage“, sagt Freu d irgendwo, „wie man Psychoanalyse erlernt, könnte
ich nur antworten, durch das Studium der eigenen Träume.“ Die Traum¬
deutung ist seiner Meinung nach der eigentliche und Hauptweg zur
Kenntnis des Unbewussten und die unerschütterliche Grundlage der Psycho¬
analyse. Die Analogie zwischen Traum und Wahnsinn ist schon seit
altersher bekannt. Freud hat ausgeführt, dass der psychische Prozess
des Träumens, zum mindesten in einigen Fällen, grosse Ähnlichkeit mit
dem Bilde der Hysterie und verwandter Krankheitsformen bietet; dass
hier wie dort dieselben sexuellen Wünsche, dieselbe Verdrängung und
Zensur walten, dass das Resultat bei beiden die Folge einer Verwandlung
und des Gebrauches einer symbolischen Darstellung ist; auch bedarf der
Traum zu seiner Deutung ebenso der Anwendung der Psychoanalyse bis
auf sein nebensächlichstes Detail. F r e u d ’s grösstes und sorgfältigstes
Werk, dem er vielleicht das meiste Gewicht zuschreibt, ist seine „Traum¬
deutung“.
Wenn wir Freud’s Auffassung von Hysterie und anderen ver¬
wandten psychologischen Zuständen betrachten, denken wir natürlich zu¬
nächst an Janet, dem einzigen Forscher, der Anspruch darauf erheben
darf, neben ihm genannt zu werden. Die Ähnlichkeit in manchen Punkten
fällt in die Augen. Beide Forscher bestehen auf einer ausschliesslich
psychologischen Erklärung, beide sind in ihren Erklärungen scharfsinnig
und sorgfältig. Beide suchen den Schlüssel in einer psychischen Teilung.
Doch während J a n e t ’s „Dissoziations-Zustände“ auf angeborener Un¬
fähigkeit zur Erreichung einer vollständigen psychischen Synthese be¬
ruhen, erklärt Freud die psychische Gegenwirkung dynamisch als einen
Konflikt feindlicher psychischer Kräfte. Auch nimmt er für diesen Vor¬
gang ein viel weiteres Anwendungsgebiet in Anspruch, als es Janet
für seine Theorie fordert.
66
Havelock Ellis,
Freud ‘wurde, es ist kaum nötig, dies zu wiederholen, von den
verschiedensten Gesichtspunkten aus kritisiert. Auch unter denen, die
seine Theorie in einigen Punkten akzeptieren, finden sich viele, die
keineswegs zugeben wollen, dass sexuelle Impulse bei psychopathologischen
Prozessen eine so grosse Rolle spielen. In dieser Hinsicht hält Freud
seinen Standpunkt mit Entschiedenheit fest. Er gesteht bereitwillig zu,
dass er das Wort Sexualität in einem weiteren Sinne als dem gewöhn¬
lichen gebraucht; doch er versichert dabei, dass die Benützung in diesem
weiteren Sinne ein Erfordernis ist. Er weist auch auf das Beweismaterial
hin, das von S a n f o r d Bell und anderen Psychologen beigebracht
wurde, die gezeigt haben, dass die sexuellen Gefühlsströmungen in Liebe
und Eifersucht eine weit grössere Rolle im Leben auch ganz kleiner
Kinder spielen, als man gemeiniglich anzunehmen geneigt ist.
Zu welchen Schlussfolgerungen immer wir aber auch mit Hin¬
blick auf die Leistung F r e u d ’s gelangen mögen, daran kann kein
Zweifel bestehen, dass seine Werke ein eingehendes Studium verlangen
und dass wir es uns nicht länger gestatten dürfen, daran mit gleich¬
gültiger Verachtung vorbeizugehen. Dem nur das Englische beherrschenden
Leser ist nun durch B r i 11 ’s Übersetzung von F r e u d ’s „Ausgewählte
Schriften über Hysterie und andere Psychoneurosen“ (in New-York er¬
schienen) ein Zugang eröffnet worden, und in Kürze wird eine englische
Übersetzung der neuen 3. Ausgabe der Traumdeutung erscheinen. Dem
deutschen Leser seien die beiden fesselnden und glänzenden Bände von
Freud’s „Sammlung kleiner Schriften zur Neurosenlehre“ besonders emp¬
fohlen, während ausgearbeiteteres Material von dem „Jahrbuch der psycho¬
analytischen Forschungen“ beigestellt wird, von dem mehrere Bände mit
Beiträgen von Freud und seinen Anhängern schon erschienen sind. Ich
selbst gehöre zu jenen, die überzeugt sind, dass Freud in einigen
Fällen der Nachweis gelungen ist, dass seine Erklärungen sich mit den
Tatsachen decken. Doch bin ich der Ansicht, dass er zu schnell ver¬
allgemeinert und dass er allzu streng jeden Erklärungsversuch ausschliesst,
der nicht im Kreise seiner Theorie bleibt. Das ist insbesondere der Fall
bei jenem Forschungsgebiete Freud’s, der Traumdeutung, das ich auch
mit grösster Sorgfalt beobachtet habe.
Jedenfalls hat Freud unseren Horizont erweitert und tiefer in
gewissen psychischen Feldern geschürft, als irgend einer seiner Vorgänger.
Wie bei Lombroso, dessen Theorien oft mangelhaft, ja sogar in ihren
tatsächlichen Voraussetzungen falsch waren, wird es sich wohl auch
bei Freud zeigen, dass e r die Zauber wirkende Hand des Genies besitzt,
die allem, was sie berührt, Leben schenkt und einen neuen Antrieb zur
Forschung verleiht, wofür wir nie dankbar genug sein können.
n.
Zur Frage der Genese des Eifersuchtswahnes.
Von Dr. Hans Oppenheim —Berlin,
ehemaligem Assistenten am „Berolinum“ (Lankwitz).
In der Symptomatologie zahlreicher Psychosen, die mit der Bildung
von Wahnvorstellungen einhergehen, spielt der Eif ersuchts wahn
eine hervorragende Rolle; bekannt ist sein Auftreten besonders hei Alkoho-
listen, aber auch im Verlaufe vieler anderer Geistesstörungen ist er, meist
vergesellschaftet mit sonstigen Beeinträchtigungs- und Verfolgungsideen,
häufig anzutreffen. Diese vielmalige Wiederholung der gleichen Wahnform
in Psychosen verschiedensten Gepräges gibt zu denken und wird in uns
die Vermutung einer verwandten oder ähnlichen Entstehung erwecken.
Die folgenden Untersuchungen wollen einiges Licht in dieses Problem
tragen.
Was zunächst Zeit und Art des Auftretens von Eif ersuchts wahn
innerhalb der einzelnen Psychose betrifft, so ist einmal die relative Spät-
heit seiner vollkommenen Ausbildung, andererseits die starke Fixierung
der einmal entstandenen Wahnidee bemerkenswert. Schon früh zwar, in
den ersten Stadien der Psychose, kommen dem Kranken häufig wahn¬
hafte Vorstellungen in Form beunruhigender Vermutungen oder Verdachte,
die sich auf die eheliche Treue seiner Frau beziehen, ohne indes vorerst
zu der ausgeprägten Gestalt einer systematisierten Wahnvorstellung sich
zu verdichten; diese Ausmodellierung vollzieht sich erst allmählich pro¬
portional dem Vorschreiten der psychischen Konflikte, um dann freilich
eine durchaus umschriebene Form anzunehmen, deren Stabilität und Ver¬
harrungstendenz gegenüber berichtigenden Gegenvorstellungen eine ausser¬
ordentliche ist. Über die zeitlichen Beziehungen des Eifersuchts¬
wahnes lässt sich nur soviel sagen, dass die wahnhaften Einbildungen
kaum minder häufig auf die Vergangenheit als auf gegenwärtige Verhält¬
nisse Bezug nehmen: ebenso wie der Kranke für den Augenblick seinem
Weibe das Begehen strafwürdiger Fehltritte und ehebrecherischer Hand¬
lungen unterschiebt, bildet er auch anschuldigende Wahnvorstellungen,
deren Inhalt von vergangenen Ereignissen seinen Ausgang nimmt. Diese
letztere Form der Wahnbildung betrifft entschieden häufiger eine retro¬
spektive Umdeutung wirklicher ehemaliger Erlebnisse, die dann als so¬
genannte Erinnerungsentstellungen zum Vorschein kommen, als
die freie wahnhafte Erfindung angeblich erlebter Vorgänge, wie sie Krae-
p e 1 i n unter dem Namen Erinnerungstäuschungen versteht; das
68
Dr. Hans Oppenheim,
Verhältnis ist hier ähnlich dem der „Illusion“ zur „Halluzination“
(Wer nicke). Mit anderen Worten: auf die Vergangenheit bezügliche
Eifersuchtsideen entstehen meist durch „illusionäre Auslegung“ (Ziehen)
tatsächlicher, als Anknüpfungssymptom dienender Ereignisse, seltener
dagegen als dichterische Erzeugnisse der blossen Phantasie. Die Gefühls-
betonung des Eifersuchtswahnes endlich bietet, da sie seinem Inhalte
im allgemeinen adäquat ist, wenig Bemerkenswertes; nur wäre zu be¬
tonen, dass Eifersuchtsgedanken meist mit dem Tone zorniger Erbitterung
oder drohender Rachsucht geäussert werden, während sie depressive Affekte
seltener, eine mehr indifferente Stimmungslage nur in Ausnahmefällen
begleiten.
Soviel über die allgemeinen Eigenschaften des Eifersuchtswahnes.
Wenn wir uns nunmehr, um unserer eigentlichen Aufgabe näher zu
kommen, seinen besonderen, je nach der möglichen Entstehung ver¬
schieden zu deutenden Arten zuwenden, so lassen sich a priori fünf
differente Kategorien der Eifersuchtsgenese aufstellen: nämlich
Eifersuchtsideen erstens als autochthone Einfälle, sogenannte
Delires d’emblee, zweitens als affektive Gedankenproduk¬
tionen, drittens und viertens als Beziehungs- resp. Er¬
klärungswahnvorstellungen und endlich fünftens als un¬
bewusste Komplexe sexueller Provenienz. Es kommt darauf
an, festzustellen, welcher der hier aufgezählten Entstehungsmechanismen
die weiteste Verbreitung aufweist und damit den Anspruch erheben kann,
in der Lehre von der unbegründeten Eifersucht als „Vater des Gedankens“
zu gelten.
Die in der Literatur verstreuten Bemerkungen über den Eifersuchts¬
wahn dürften, soweit sie Erklärungsversuche seiner Genese darstellen, fast
ausnahmslos bei kritischer Würdigung ihres Erkenntniswertes dem Gefühle
einer gewissen Unzulänglichkeit begegnen. Dies rührt daher, dass die
Konstruktion des Eifersuchtswahnes in der Weise, wie sie bisher stets ver¬
sucht wurde, nämlich aus einer einfachen Wurzel, zeige sie auch das
mannigfachste Aussehen, den Tatsachen nicht entspricht; die Eifersucht ist
vielmehr ein komplexes Gebilde, aufgebaut aus mehreren, verschiedenen
Wurzeln, unter denen die bisher angeführten vielleicht eine Rolle, sicherlich
aber nicht die einzige und dominierende spielen. Man muss sich, um den
Ursprung einer derart einseitigen und daher unzureichenden xVuffassung
zu verstehen, vergegenwärtigen, in welches Teilgebiet des seelischen
Lebens eigentlich der Eifersuchtswahn einzureihen ist; im Gegensatz
zur üblichen Ansicht hegen wir die Meinung, dass nicht nur er, sondern
die weitaus meisten, ja vielleicht sämtliche Wahnvorstellungen überhaupt
in genetische Beziehung zu dem grossen Gebiet der Triebe zu setzen
sind. Nicht der Intellekt ist der Boden, auf dem in letzter
Linie die Wahnidee sich entwickelt und ihre Blüten
treibt; das Trieb- und Wunschleben vielmehr gibt den
Mutterboden ab für die Entstehung des Wahnes. Man ver¬
sperrt sich also von vornherein den Einblick in den Gesamtmechanismus,
wenn man wie bisher die Entstehung des Eifersuchtswahnes ausschliess¬
lich aus intellektuellen Vorgängen heraus sich klarzumachen sucht, während
man doch zu allererst das Triebleben des Kranken berücksichtigen und
den überwertigen Einfluss der, wie vorwegnehmend gesagt sei, hier wirk¬
samen Psychosexualität dafür verantwortlich machen muss. In-
Zur Frage der Genese des Eifersuchtswahnes.
69
dessen mögen zunächst die bisherigen Deutungen der Eifersuchtsgenese
einer eingehenden Betrachtung und Abschätzung unterzogen werden.
Die an den beiden ersten Stellen genannten eventuellen
Vorgänge der Eifersuchtswahnbildung scheiden wegen ihrer ausserordent¬
lichen Unwahrscheinlichkeit bei unseren Überlegungen von vornherein aus.
Denn ein plötzliches Auftauchen, eine sozusgen apoplektiforme Entstehung
des ausgebildeten Eifersuchtswahnes ohne irgendwelche inzitative Ante-
zedentien lässt sich, wie übrigens schon oben betont wurde, bei eingehender
Psychoanalyse des Kranken wohl stets von der Hand weisen; ebenso
schwer denkbar ist die Geburt eifersüchtiger Ideen aus einer pathologischen
Stiinmungslage heraus, als Folgesymptom einer blossen depressiven Reiz¬
barkeit oder etwa eines einfachen Affektes des Misstrauens. Die Vor¬
herrschaft negativer Gefühlstöne oder krankhafter Gereiztheit, selbst wenn
sie' sich auf umschriebene Objekte, z. B. die häuslichen Verhältnisse, be¬
zieht, vermag allein, ohne Mitwirkung begünstigender Komponenten
(gleichgültiges oder abweisendes Verhalten der Frau, Impotenz des Mannes
und ähnliches), nie ausgeprägte Eifersuchtsideen zu erzeugen; viel öfter
wird durch die auf anderem Wege entstandene Eifersucht erst eine sekun¬
däre Verstimmung hervorgerufen.
Anders steht es mit der Deutung von Eifersuchtsideen als Be-
ziehungs- oder Erklärungswahnvorstellungen; ihre Auf¬
fassung in diesem Sinne ist keineswegs von der Hand zu weisen, als un¬
wahrscheinlich ohne weiteres abzulehnen; vielmehr erfreut gerade sie
sich einer zahlreichen und kompetenten Anhängerschaft (Ziehen,
K r a e p e 1 i n, W e r n i c k e u. a.). Schon unter physiologischen Ver¬
hältnissen basiert ja jeder eifersüchtige Verdacht auf einer Beziehungs¬
assoziation, die — gleichviel ob begründet oder grundlos — gewisse
wirkliche oder vermeintliche Vorgänge mit dem ehelichen Leben im Sinne
einer „Störung“ desselben in Verbindung zu bringen sucht. Um wieviel
mehr scheint dies bei der krankhaften Eifersucht der Fall zu sein; imponiert
sie doch als eine spezielle Form des Beziehungswahnes par excellence! Der
Kranke „dichtet“, wenn ich so sagen darf, Aussenvorgängen, denen er
seine besondere Beachtung schenkte, eine Beziehung auf die eigene Person
(im weitesten Sinne) an; er konzentriert diese Vorstellungen der Be¬
einflussung auf ein ganz bestimmtes Gebiet seiner persönlichen Verhält¬
nisse, sein Eheleben; dieser Ideengang ruft die negativen Affekttöne der
Unlust hervor, worunter die Transformation in Beeinträchtigungsideen
zustande kommen muss. Zu dieser Analyse des vermutlichen Gedanken¬
ablaufes ist jedoch zu betonen, dass die geschilderte Entwicklung keines¬
wegs als im Bewusstsein des Kranken sich abspielend zu denken ist;
vielmehr erfolgt der allmähliche Aufbau ohne jede freiwillige Mitwirkung
unterhalb der psychischen Schwelle, sodass allein das Endprodukt, die
Eifersuchtsvorstellung, bewusst oder, wie wir sagen, „aktuell“ wird. Ferner
ist die Möglichkeit nicht auszuschliessen, dass erst die Umwandlung der
ehelichen Beziehungsideen in solche des Ehebruches die gemütliche Ver¬
stimmung erzeugt, anstatt umgekehrt durch diese veranlasst zu sein; auch
eine Gleichzeitigkeit, ein Paralielismus beider Akte wäre denkbar. —
Mir scheint diese Definition der Eifersucht in Psychosen als eine nur um¬
schriebene Art des Beziehungswahnes unser Kausalitätsbedürfnis nicht
befriedigen zu können; stellt sie doch eine blosse Verschiebung der Frage
dar, ohne uns ihrer Lösung irgendwie näher zu bringen. Denn jetzt lautet
70
Dr. Hans Oppenheim,
das Problem offenbar: wie kommt es und wie ist es zu verstehen, dass
gewisse Eindrücke der Aussenwelt gerade mit dem Eheleben des Wahn¬
bildners verknüpft werden und nicht mit irgendwelchen anderen Kom¬
ponenten seines Daseins, wie z. B. Beruf oder Zukanftswünschen? Und
gibt man selbst zu, dass eben nur solche Erlebnisse zur Wahnbildung ver¬
wandt werden, die das Verhalten der Ehefrau zu ihrer Umgebung s. 1.
betreffen, so ist auch damit nur wieder die Frage nach dem eigentlichen
Ursprünge der Eifersucht auf einen anderen Punkt eingestellt, doch nicht
beantwortet. Die Annahme aber, jeder Eifersuchtswahn stütze sich auf
einen schon vor dem Ausbruch der Psychose, zu Zeiten geistiger Gesund¬
heit, gehegten Zweifel an der Treue der Frau, der als Anknüpfungssymptom
zum späteren Ausbau der Wahnvorstellung diene, entspricht selten dem
wirklichen Vorgänge; meist fällt das Auftauchen von Eifersuchtsgedanken
bereits in das Stadium der sich entwickelnden Geistesstörung.
Näherliegend und — in zahlreichen Fällen — recht einleuchtend
ist die zurzeit weit verbreitete Deutung des Eifersuchtswahnes als sekun¬
dären Erklärungsversuch gewisser gefühlsbetonter Eindrücke
(Wernicke); es ist dies eine Auffassung, die schon wegen ihrer oft
überraschenden Einfachheit, mit der sie das Punctum saliens beleuchtet,
Beachtung verdient. Der Charakter der primären Vorgänge, die als ihre
Erklärung Wahnvorstellungen eifersüchtiger Natur hervorrufen, ist natür¬
lich meist derart, dass er zu Gedanken über die Gattin tendieren muss;
es handelt sich also um — wirkliche oder fiktierte — Ereignisse, die
in irgendeiner Beziehung zum Eheleben des Patienten stehen und eben
wegen dieser ihrer sexuellen Färbung einen nach wirkenden Eindruck,
eine überwertige Erinnerung hinterlassen haben. Dabei ist zu beachten,
dass ähnliche Wahrnehmungen, zumal wenn sie mit Unlustgefühlen ver¬
knüpft sind, mitunter schon normalerweise die Ursache zu argwöhnischem
Zweifel an der Treue der Frau abgeben; während aber beim Geistes¬
gesunden solche gelegentlichen Einfälle durch korrigierende Überlegungen
und Beobachtungen rasch wieder verdrängt werden, arbeitet sich der
Kranke, ohne Rücksicht auf berichtigende Assoziationen, gleichsam in
seinen Gedanken hinein, baut ihn weiter und weiter aus; er lässt sich,
ungehemmt durch Widersprüche, von seinen Gefühlen einfach treiben
(„Überwertige Idee“, als Erinnerung an ein oder mehrere in Zusammen¬
hang stehende affektvolle Erlebnisse). Ein paar Beispiele, der Wirklichkeit
entnommen, mögen das Gesagte erläutern. Ein Trinker wird e i n mal, als er
sich im Rausche seiner Frau nähern wollte, von der Empörten äbgewiesen;
anstatt dass nun der wieder Ernüchterte dies Verhalten verzeihbar oder
wenigstens erklärlich findet, spinnt er in seiner Einsichtslosigkeit und
Kritikunfähigkeit, die eigne Schuld ignorierend und sie in vergrössertem
Massstabe auf die Gattin abwälzend, Gedanken krankhaften Charakters,
die jene trotz aller Beweise ihrer bisherigen Makellosigkeit der Neigung
zu fremden Männern, ja sogar des Geschlechtsverkehres mit ihnen be¬
zichtigen und deshalb sie den Gatten abweisen lassen. Ganz ver¬
strickt in die „überwertige Idee der Schnapsnotwendigkeit“, gefangen
gehalten von der traditionellen Auffassung der Unentbehrlichkeit, ja Selbst¬
verständlichkeit des Alkoholgenusses kann, wie Juliusburger in der
„Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie“ (Bd. XIX, Heft 2) ausführt,
der Potator, selbst abgesehen von seiner geistigen Minderwertigkeit, schon
deshalb nicht zur Einsicht seiner Schuld gelangen, weil ihm eben der
Zur Frage der Genese des Eifersuchtswahnes.
71
Gedanke einer Pflichtverletzung oder Ungehörigkeit, die seine als „natür¬
lich" aufgefasste Trunksucht zur Ursache haben könnte, gar nicht ein¬
kommt. Dem chronischen Alkoholisten wird schliesslich der Schnaps¬
genuss so zur zweiten Natur, dass ihm das Ungewöhnliche seines Tuns
ganz aus dem Bewusstsein schwindet und er seine Ausschreitungen eher
als alles andere denn als „Folgen des schädlichen Trinkens" aufzufassen
geneigt ist. Also: das Naheliegende wird von der Hand gewiesen und
Unwahrscheinliches zur Erklärung nicht nur herbeigeholt, sondern auch
ins Masslose ausgebaut; darin unterscheidet sich u. a. eben die kranke
Psyche von der gesunden, in unserem Falle der Gewohnheits- vom (rausch¬
erwachten) Gelegenheitstrinker. Ferner: einen Paralytiker im Anfangs¬
stadium überweist — natürlich wider seinen Willen — die Ehefrau einer
geschlossenen Anstalt, weil er draussen durch seine Vergesslichkeit und
Kritiklosigkeit in geschäftlichen wie moralischen Dingen sich und die
Seinen in Gefahr bringt. Im Irrenhause vermisst bald der Kranke schmerz¬
lich die vielen Annehmlichkeiten des Familienlebens, insbesondere den
Umgang mit seiner Gattin; er empfindet, dass auch sie unter seiner Ab¬
wesenheit leiden müsste; so bildet sich, vielleicht ohne sein bewusstes
Zutun, in seinem Geiste die Folgerung: Entweder befriedigt mein Weib
— gleichsam notgedrungen — nun ihre Leidenschaft an einem fremden
Manne oder sie hat mich gar deshalb entfernt, um ungestört sich anderen
hingeben zu können. Es hat sich auf Grund des affektvollen Erlebnisses
die überwertige Idee des Ehebruches herausgebildet. Also auch hier ein
Übersehen der wirklichen Ursache (der eigenen krankhaften Verfassung)
und die Beiseitedrängung widerlegender Erinnerungsbilder (von der bis¬
herigen Treue der Frau); hieraus folgt als Erklärung für ein affekt-
erregendes Erlebnis (die Internierung), die Entwicklung des Eifersuchts¬
wahnes, der nun weiter ausgebildet, mit erdichteten Zusätzen geschmückt
und sogar, unter tendenziöser Transformation vergangener Ereignisse, in
retrospektiver Richtung erweitert wird. Ähnlicher Beispiele aus psychiatri¬
schen Krankengeschichten sind Legion, und alle haben das gemeinsam,
dass gewisse Eindrücke mit (in weitestem Sinne) sexuellem Einschläge
und stark negativer Gefühlsbetonung durch die Annahme des Ehebruches
gleichsam gerechtfertigt, für den Betroffenen selbst erklärt werden sollen,
und dies unter einer meist unbewussten Beiseiteschiebung der wirklichen
Ursachen. Dieser Entstehungsmodus des Eifersuchtswahnes, der zwar durch
seine Unkompliziertheit imponiert, aber doch nicht überall den Tatsachen
zu entsprechen scheint, leitet uns zu einer anderen, bisher kaum beachteten
Auffassung über, die wir nunmehr eingehend erörtern wollen. Gleich
hier sei vorgreifend betont, dass trotz der Häufigkeit ihres Auftretens
überhaupt Eifersuchtsvorstellungen unkomplizierten Charakters zu
den Ausnahmen gehören, dass vielmehr die überwiegende Mehrzahl
ihrer Genese nach als äusserst zusammengesetzt und verwickelt sich
darbietet; daher bedarf es fast immer erst einer sorgfältigen Analyse,
eines verständnisvollen und zielbewussten Eindringens in die Gedanken¬
welt des Kranken, um aus dem Wust verhüllender Nebensächlichkeiten,
unterstützender Momente und auslösender Umstände den eigentlichen Kern
der Sache herauszuschälen. Ist dies aber gelungen, so macht die Ent¬
wirrung des übrigen Gewebes kaum mehr Schwierigkeiten; nicht selten
ergibt sie sich fast von selbst und gestattet dann den ersehnten Einblick
in den Ursprung und Aufbau des ganzen Wahnsystemes.
72
Dr. Hans Oppenheim,
Das Ergebnis nun, das unsere Untersuchungen und Überlegungen
an zahlreichen teils eigenen, d. h. in unserer Anstalt beobachteten, teils
der Literatur entnommenen praktischen Fällen gezeitigt haben, lässt den
Werdegang der pathologischen Eifersucht, sowohl bezüg¬
lich ihrer Grundursachen als der Hauptbedingungen für ihr Zustande¬
kommen, in einem ganz anderen Lichte erscheinen als es das Studium der
bisherigen Deutungsarten verbreitete. Zunächst sind wir, um es nochmals
zu betonen, zu der Überzeugung gelangt, dass der Ursprung aus dem
Triebleben, wie er oben für die meisten, wenn nicht alle Wahn¬
vorstellungen — soweit es sich nicht um sekundäre Erklärungs¬
wahnvorstellungen handelt — als höchstwahrscheinlich angegeben
wurde, wenigstens beim Eifersuchtswahne unbedingte und ausnahmslose
Geltung hat. Das Triebleben des Kranken, meist selbst krankhaft alteriert,
produziert die Eifersuchtsidee als psychische Umformung gewisser, gleich
zu besprechender Regungen; es „zwingt“ gleichsam seinem Träger jene
Gedanken auf, die dieser dann — freilich unbewusst — weiter ausbaut
und ergänzt. Dass nicht der Intellekt den Boden für den Eifersuchtswahn
abgibt, erhellt ja schon aus jenen Fällen, in denen von einem Intelligenz-
defekte im weitesten Sinne nicht die Rede sein kann, wie bei manchen
geistig hochstehenden Alkoholisten; bildet doch keineswegs der Schwach¬
begabte oder Ungebildete allein den Kreis der pathologischen Eifer¬
süchtigen ! Da also der Trieb der Erzeuger des Eifersuchtswahnes ist,
erklärt sich auch ohne weiteres seine eingangs erwähnte Eigentümlichkeit,
gegenüber korrigierenden Einflüssen ein durchaus refraktäres Verhalten
zu zeigen — eine Eigentümlichkeit, die er aus ebendemselben Grunde mit
den meisten anderen Wahnideen teilt. Seine Beharrungstendenz
entspricht eben nur einer Haupteigenschaft seines ursprünglichen
Materiales, der enormen Überwertigkeit und Stabilität der Triebe, die ja —
wie besonders F r e u d’s und seiner Schüler Untersuchungen gezeigt haben
— leichter in die verschiedensten Transformationen und Sublimierungen
übergehen als ihre Auslösehung oder auch nur Unterdrückung gestatten.
Dazu kommt noch ein Faktor, der als Mitursache der Festigkeit der
Wahnidee gleichfalls wohl zu beachten ist: ich meine die Uner-
w ii n s c h t h e i t einer Korrektur für den Wahnbildner selbst *). Denn
da seine Eifersucht nur ein Ausfluss des Trieblebens ist, muss dem
Kranken jede Widerlegung oder Berichtigung seiner Wahnideen, mag sie
nun von anderer Seite oder durch eigene psychische Reaktionen erfolgen,
offenbar höchst unwillkommen sein; würde doch die Aufgabe seines
Wahnes für ihn gleichbedeutend sein mit dem Verzicht auf eine Äusserung
der mächtigsten Komponenten seines seelischen Daseins, seiner Triebe!
Dass diese Fixation der Wahnidee durch „Willensvorgänge“, dieser gleich¬
sam absichtliche Widerstand des Kranken durchaus im Unterbewusst-
U Dazu siehe Juliusberger (Referat über W u 1 f f e n: Gerhart Hanpt-
mann vor dem Forum der Kriminalpsychologie): Die wahnhaften Schöpfungen sind
unterbewusste Vergegenständlichungen aus dem Unterbewussten hervorbrechender
Wünsche. Solange die letzteren an der Herrschaft bleiben und das Kommando
führen, kann keine Korrektur der Wahngebilde eintreten — nicht weil eine Schwäche
der Intelligenz vorliegt, sondern weil die Korrektur an der Macht der Wünsche,
also der Energie des Willens scheitert. Das Unterbewusste wünscht und will eben
keine Korrektur, bis andere Wünsche die Oberhand gewinnen und ein Ausgleich
stattfinden kann. Man darf nicht vergessen, dass der Wille oder der Wunsch
das Primäre, die Wurzel — der Intellekt das Sekundäre, also die Krone darstellt.
Zur Frage der Genese des Eifersuchtswahnes.
73
sein spielt, brauche ich wohl nicht erst zu betonen. Also: der \\ahn
haftet einmal, weil sein Bildner an ihm festhalten muss, und zweitens,
weil er an ihm festhalten will; der Grund für dieses „Müssen und
„Wollen“ aber liegt in der Überwertigkeit des determinierenden Triebes.
-— Was hier und im folgenden vom Eifersuchtswahne des Mannes gesagt
ist, gilt natürlich mutandis mutatis in gleichem Masse von dem der Frau,
der nur wegen seiner relativen Seltenheit gegenüber jenem bisher nicht
besonders gewürdigt wurde; ist doch auch der Alkoholismus, auf dessen
Boden er sich so überaus häufig entwickelt, beim weiblichen Geschlechte
ungleich seltener anzutreffen.
Welcher Trieb ist nun das wirksame Agens bei der Entstehung des
Eifersuchtswahnes ? Schon die Form der Wahnidee, die ja durch die
Eigenart ihres Stoffes, des Verhältnisses zwischen Mann und Weib, d. h.
dem Liebenden und der Geliebten, deutlich erotische Züge aufweist,
musste unsere Aufmerksamkeit besonders auf den Sexualtrieb und
seine Variationen lenken. Es unterliegt unseres Erachtens in der Tat
keinem Zweifel, dass die unendliche Macht des Dranges nach Liebe bzw.
seiner Äquivalente, eines Dranges, dessen Befehlen die gesamte lebende
Natur fast blindlings zu gehorchen pflegt, auch als die Mutter dieses
unnatürlichen Kindes, des Eifersuchts wahnes, anzusehen ist. Freilich nicht
der Liebestrieb in seinem sozusagen „normalen“ Verhalten, dessen Grenzen
übrigens kaum sicher festzulegen sind; sondern, wie sich bei näherer
Betrachtung der verschiedensten Fälle stets wieder ergab, die abnorm
gesteigerte oder gleichzeitig abgeänderte sexuelle Libido. Fast ausnahms¬
los liess sich nachweisen, dass diese Hyperlibido bereits ab origine,
in der individuellen Anlage des betreffenden Kranken vorhanden war, wenn¬
gleich die Tatsache nicht zu bestreiten ist, dass gewisse der hier in Betracht
kommenden Psychosen, so die Paralyse in ihren Anfangsstadien und be¬
sonders der chronische Alkoholismus, Wieder ihrerseits eine Steigerung
des Geschlechtsbedürfnisses zu bewirken imstande sind. Eine originäre
Steigerung der Sexualität wird also das Fundament jedes Eifersuchts¬
wahnes bilden.
Im speziellen sind es zwei Varietäten der Libido sexualis, die bei
der Bildung der pathologischen Eifersucht miteinander konkurrieren:
erstens eine ausgesprochene polygame bzw. polyandrische
Neigung, zweitens und besonders ein dem Sadismus entstam¬
mender Komplex; letzterer wird uns alsbald noch ausführlich be¬
schäftigen. Die polygame Anlage des Mannes erhellt ebenso wie
die entsprechende der Frau, deren Wesen am besten durch das Wort
„Dirnenphantasie“ gekennzeichnet wird, in den Fällen wahnhafter Eifer¬
sucht aus verschiedenen Daten, deren Nachweis freilich häufig auf er¬
hebliche Schwierigkeiten stösst. Dennoch scheint sie kaum je ganz zu
fehlen, und die Unmöglichkeit des jedesmaligen Beweises für ihr Vorhanden¬
sein erklärt sich zum Teil aus dem uns Kulturmenschen anerzogenen,
unüberwindlichen Widerstreben vor der Aufdeckung derartiger „Seelen¬
geheimnisse“, zum anderen aber aus ihrer eben oft vollkommenen „Sub¬
limierung“ bzw. „Transformierung“, deren Stammkomplex seinem Träger
selbst nicht mehr zum Bewusstsein kommt. Eine solche Transformation
der polygamen Veranlagung stellt nun auch der Eifersuchtswahn dar,
und zwar ist der Entstehungsmodus im einzelnen wohl so zu denken,
dass unbewusst die Sucht nach vielen, d. h. neuen und fremden Liebes-
74
Dr. Hans Oppenheim,
Objekten, von ihrem Träger als unwürdig und frevelhaft abgelehnt oder,
wie der Fachausdruck lautet, „verdrängt“ und auf den Partner als nächst¬
stehenden sexuellen Komplizen übertragen, „projiziert“ wird. Mit anderen
Worten: Weil der Gatte nicht polygam sein will, was er doch ist;
weil er einen Trieb als unmoralisch von sich weist, den er als „Trieb“
eben nicht unterdrücken kann, so legt er einfach die ihm unbequeme Last
auf die Schultern seines intimsten Genossen im Glück und Unglück, seiner
Frau, und klagt diese damit desjenigen Vergehens an, das eigentlich er
selbst zu verantworten hätte; nicht anders beschuldigt die Gattin, indem
sie ihre eigenen Dirnenwünsche überträgt, den schuldlosen Mann des Ver¬
kehrs mit anderen Frauen! — Mit dieser Betrachtung berühren wir be¬
reits eine neue Konstituente des Eifersuchtswahnes, den sogenannten
Schuldkomplex, der indessen erst später eingehender gewürdigt werden soll.
Eine nicht minder bedeutende Rolle als die polygame Veran¬
lagung spielt sicherlich das oben erwähnte sadistische Moment;
wir gehen sogar soweit, anzunehmen, dass in keinem Falle krank¬
hafter Eifersucht die sadistische Komponente vermisst wird. An sich
wird dies Auftreten eines sexuell-perversen Faktors nach dem Studium
der Sexualtheorie Freud’s jedenfalls kaum überraschen; ist
doch durch sie die allgemeine Verbreitung einer Anlage im Sinne
aktiver Algolagnie fast bewiesen, einer Anlage, die im Leben des
Erwachsenen nur deshalb nicht immer zur vollen Entwicklung und Be¬
tätigung gelangt, weil sie durch die erzieherischen Einflüsse einer ge¬
läuterten Moral verdrängt und grossenteils sublimiert worden ist. Schon
das naive Empfinden des Volkes bringt ja in der Definition des Begriffes
„Eifersucht“ als einer „Leidenschaft, die mit Eifer sucht, was
Leiden schafft“ 1 ) so treffend das Charakteristische dieses eigenartigen
Gemütszustandes zum Ausdruck; es ist in der Tat ein Wühlen, ein
Schwelgen in Dingen, die dem Opfer schmerzliche Wunden, leider nicht
immer nur psychisch, schlagen müssen. Ob diese ewige Wiederholung der
gleichen unsinnigen Anklagen, dieses hartnäckige Festhalten an denselben
beleidigenden Vorwürfen trotz aller Beteuerungen und Gegenbeweise der
Frau beim Peiniger in der Tiefe seiner Seele, im Unterbewusstsein nur
gewisse positive Affekttöne auslöst, ob nicht vielleicht auch e r unter
dieser unbarmherzigen Quälerei der geliebten Person — denn nur das
geliebte Objekt kann ja Eifersucht erwecken! — mitleidet und erst
sekundär an diesem Eigenschmerze sich berauscht, ist bei der ausserordent¬
lich nahen Verwandtschaft und häufigen Koinzidenz von Sadismus und
Masochismus in weiterem Sinne an ein und demselben Individuum a priori
nicht von der Hand zu weisen; am wahrscheinlichsten ist, dass beide
Vorgänge gleichzeitig, aber in dem einzelnen Falle mit verschieden grossem
Anteile statthaben 2 ). Gerade bei der wahnhaften Eifersucht ist, wie
0 Der Satz soll von Schleiermacher sein. Anm. der Schriftleitung.
2 ) Nach Niederschrift dieses Satzes kommt mir eine — das tatsächliche
Bestehen derartiger psychischer Vorgänge bestätigende — Bemerkung Bleulers
in die Hände, die — einem Vortrage in der ordentlichen Winterversammlung des
Vereins schweizerischer Irrenärzte in Bern vom 27. November 1910 entstammend —
sich in Nr. 43 der Psychiatrisch-Neurologischen Wochenschrift 1910/11 findet.
Bleuler erklärt darin: „Sexualität ist stets ambivalent.“ Dabei versteht er
unter „Ambivalenz“ die gleichzeitige Neigung in der Richtung zweier scheinbar
entgegengesetzter Extreme (z. B. Sadismus und Masochismus) und unterscheidet
drei Arten derselben, nämlich: 1. die affektive x4mbivalenz, 2. die voluntäre
Ambivalenz (sog. „Ambitendenz“) und 3. die intellektuelle Ambivalenz.
Zur Frage der Genese des Eifersuchtswahnes.
75
wir meinen, diese Lust am Quälen, diese dem eigenen Ich uneingestandene,
da unbewusste Freude am Leidensehen des Opfers, eine Freude, die ja
nichts anderes bedeutet als den Durchbruch eines lange zurückgehaltenen,
tief wurzelnden Triebes, in keiner Weise zu verkennen; denn während
der geistesgesunde Eifersüchtige nach mehr oder minder langen Aus¬
einandersetzungen mit der Gattin zu einem baldigen Ende der peinlichen
Situation hindrängt, gefällt sich umgekehrt der vom Eifersuchtswahn Be¬
fangene in der Aufrechterhaltung des Status quo, in der möglichst aus¬
gedehnten Fortdauer der gegenseitigen gespannten und zu häufigen Reibe¬
reien führenden Beziehungen. Der krankhaft Eifersüchtige gefällt sich
auch stets in der Beschuldigung einer mehrfachen, vielseitigen Untreue
und begnügt sich nie wie der Gesunde mit dem Gedanken an Ehebruch
mit einer einzigen fremden Person. Selbst in dem Falle, dass die doch
unschuldige Gattin, nur um den aufgeregten Mann zu beruhigen, ein er¬
dichtetes Geständnis ablegt, lässt der Kranke von seinen Anklagen nicht
ab, sondern tobt und grübelt unablässig weiter. — Der Unterschied
zwischen der normalen und pathologischen Eifersucht besteht also kurz
gesagt darin, dass jene den Konfliktsstoff — meist zufällig und wider¬
strebend — findet, während diese ihn — oft absichtlich und sehn¬
süchtig — sucht; dass ferner jene unter den augenblicklichen Verhält¬
nissen leidet, diese dagegen sich gefällt; endlich dass jene ein
rasches Ende des unerquicklichen Zustandes, sei es selbst ein Ende
mit Schrecken, herbeizuführen sucht, während diese ihn nach Möglichkeit
zu verlängern strebt. In diesem ganzen Verhalten der wahnhaften
Eifersucht ist unseres Erachtens der sadistische Komplex, das
Sichausleben eines lang zurückgehaltenen sadistischen Triebes für jeden
Vorurteilslosen kaum zu leugnen; einen weiteren Beweis für seine Mit¬
wirkung sehen wir schliesslich in dem Verhalten derartiger Kranker
innerhalb der Anstalt. Da ihnen hier nämlich eine Realisierung
ihrer sadistischen Neigungen zur Unmöglichkeit gemacht ist, drängt sich
die andere Komponente der Algolagnie hervor, der Masochismus, um
wenigstens in seiner sublimierten Form unter dem Zwange des Augen¬
blickes auf seine Kosten zu kommen. Daher zeigt der Kranke in der Anstalt
häufig eine tiefe Demut, eine fast hündische Unterwürfigkeit; er gibt
sich sogar dem Pflegepersonal gegenüber friasslos zuvorkommend, gehorsam,
selbst untertänig; kurz, er dienert und katzbuckelt vor jedem, mit dem
er in Berührung kommt, indem er auf diese Weise sich gleichsam als un¬
schuldiges Opfer fremder Niedertracht in den Mittelpunkt des allgemeinen
Interesses und Mitleids zu rücken sucht.
Bei der Besprechung des Einflusses einer polygamen Anlage auf die
Eifersuchtswahnbildung haben wir bereits ein weiteres Moment gestreift,
das nach dem Ergebnis unserer Untersuchungen schliesslich gleichfalls
zu diesem Erfolge beiträgt, den sogenannten „S c h u 1 d k o m p 1 e x“.
Worin besteht nun das Wesen dieses eigenartigen Komplexes?
Wie schon oben angedeutet, handelt es sich hierbei im wesentlichen um
den psychischen Prozess der Abwälzung einer eigenen Last und ihrer
Übertragung auf die Schultern des Partners; genauer gesagt: ein
Schuldgefühl, sei es als Ausfluss begangener Fehltritte, bestehender
Mängel oder verbotener Wünsche, also ein Gefühl lästigen Druckes oder
innerer Spannung, dessen einfache Löschung im Vorstellungskreise wegen
76
Dr. Hans Oppenheim,
der Überwertigkeit seiner Gefühlsbetonung versagt, wird auf unbewusstem
Wege aus der eigenen Psyche verdrängt und nach aussen projiziert,
d. h. es wird in umgewandelter Form als ein der Anklage wertes Ver¬
gehen, gleichsam in erweiterter iVn Wendung des Grundsatzes: Geteilte
Schuld ist halbe Schuld, derjenigen Persönlichkeit überwiesen, die auch
sonst an Freud und Leid des eben Bedrängten den ersten, grössten und
innigsten Anteil hat, also dem Ehegenossen. Dass die auf diese Weise
dem Gatten bzw. der Gattin, wenn ich so sagen darf, „angedichtete“ Ver¬
fehlung gerade das Gebiet des Ehelebens betrifft, ist bei der be¬
sonderen Art der Lebensgemeinschaft von Mann und Frau, deren Alpha
und Omega ja das sexuelle Moment in seinen verschiedensten Variationen
bildet, nicht eben verwunderlich. Dazu kommt ferner der Umstand, dass
die vom Wahnbildner abgelehnte Schuld selbst meist der sexuellen
Sphäre entstammt und daher diesen ihren Grundcharakter auch in ihrer
Umformung nicht verleugnet. Welche besondere Gestalt das Schuldgefühl
im einzelnen annimmt, hängt von den speziellen Verhältnissen ab; sehr
häufig begegnet man bei der Psychoanalyse einem Gegensätze in
der sexuellen Veranlagung der Ehegatten, indem Leidenschaft¬
lichkeit und Hyperhedonie auf der einen, Frigidität oder Impotenz auf
der anderen Seite sich gegenüberstehen. Dabei ist jedoch zu bemerken,
dass die eifersüchtige Person selbst nie sexuell frigid ist — vielmehr,
wie oben betont, stets eine angeborene Hypersexualität aufweist —,
während dies beim Partner sehr wohl der Fall sein kann. Frigidität des
oder der Eifersüchtigen ist immer nur eine scheinbare; sie ist nichts
als verdrängte Libido, als niedergezwungene Sexualität, sozusagen faute
de mieux, wenn nämlich ein geeignetes Objekt nicht vorhanden ist. Der
Schuldkomplex im besonderen beruht meist entweder auf der als
Ungehörigkeit empfundenen Hypersexualität oder auf verbotener Neigung
zu einer fremden Person *) oder endlich auf einer krankhaften Abnahme der
Potenz, wie sie besonders beim Alkoholiker einzutreten pflegt; auch Kom¬
binationen dieser Komponenten der Schuld — z. B. gesteigerte Libido
und gleichzeitige Impotenz beim Trinker — tauchen hier und da auf.
Eine über grosse sexuelle Begehrlichkeit wird innerlich als
strafwürdige Ungebühr ausgelegt und in veränderter Gestalt auf den
Partner in der Ehe abgewälzt. Ganz ähnlich wirken verbotene Ge¬
lüste und begangene Vergehen, die gleichfalls dem sexuellen Triebleben
angeboren, als lästige Empfindungen, deren Unterdrückung infolge ihrer
Überwertigkeit nicht gelingt — eine Überwertigkeit, die sich eben aus
ihrer Herkunft vom Triebleben erklärt; sie werden daher in derselben
Weise verdrängt und auf ein aussenstehendes Subjekt projiziert. Der
impotente Alkoholiker 1 2 ) endlich benutzt den Alkohol als Quelle
mühelosen Lustgewinnes, zu dem er auf geschlechtlichem Wege nicht
gelangen kann; das wurmt ihn in seinem Selbstbewusstsein, und er ver¬
drängt die ihm so peinliche Empfindung. So resultiert aus unbewussten
psychischen Vorgängen als Endeffekt der Eifersuchtswahn, als
dessen bedeutsamste Wurzeln wir die sadistisch -maso-
1 ) Siehe Otto Juliusburger: Bemerkungen zur Psychologie der Zwangs¬
vorstellungen und Verwandtenehe. (Centralblatt für Nervenheilkunde u. Psychiatrie.
20. Bd. 1909.)
2 ) Siehe Karl Abraham: Die psychologischen Beziehungen zwischen
Sexualität und Alkoholismus. (Zeitschrift für Sexualwissenschaft. VIII. Heft. 1908.)
Zur Frage der Genese des Eifersuchtswahnes.
77
chistischenTriebkräfteund ein eigenartiges Gefühl der
Schuld im Individuum ansprechen.
Nachtrag:
Die vorliegende Arbeit war seit längerer Zeit abgeschlossen und
nur aus äusseren Gründen der Schriftleitung nicht überreicht worden,
der sie bereits angekündigt war; erst jetzt erhielt ich Kenntnis von der
bedeutsamen Arbeit F r e u d’s: Psychoanalytische Bemerkungen über einen
autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia (Dem. paranoides)
(Jahrbuch für psychoanalytische und pathologische Forschungen, 1911,
Bd. 3), sowie 'von den Ausführungen S. Ferenczi’s: Über die Rolle
der Homosexualität in der Pathogenese der Paranoia (ibid.). Beide Autoren
erklären den Eifersuchtswahn aus der Projektion des Gefallens am eigenen
Geschlecht, also aus einer verdrängten und auf den Partner projizierten
Homosexualität. „Die Eifersüchtige z. B. verdächtigt (nach Freud)
den Mann, mit all den Frauen, die ihr selbst gefallen, infolge ihres über¬
stark gewordenen, disponierenden Narzismus und ihrer Homosexualität.“
Der gleiche Mechanismus gilt auch mutatis mutandis für den eifer¬
süchtigen Mann. In eine eingehende Würdigung der hier erwähnten An¬
schauungen von Freud und Ferenczi kann ich nach Beendigung
meiner Arbeit nicht mehr eintreten; nur das eine glaube ich bemerken
zu müssen, dass die Theorie von Freud und Ferenczi wie mir scheint
nicht den Elementen des Eifersuchtswahns gerecht wird, welche wir
unseren obigen Darlegungen gemäss aus dem sadistisch-masochistischen
Komplex herleiteten. Übrigens wird 0. Juliusburger an dieser Stelle
demnächst eingehend auf die einschlägigen Fragen zu sprechen kommen.
Zentralblatt für Psychoanalyse. II 2 .
6
in.
Mantik und Psychanalyse.
Von Herbert Silberer.
Die mantischen Künste, also jene Prozeduren, die man in früherer
Zeit anwandte, um Aufschlüsse über zukünftige Geschicke zu erhalten,
waren stets so beschaffen, dass neben der rein manuellen, nach irgend
einer Regel ausgeführten Verrichtung auch dem von dieser Regel un¬
abhängigen Zufall ein entscheidender Einfluss auf den Ausgang der
mantischen Handlung eingeräumt wurde. Ja, die manuelle Verrichtung
war gleichsam nur das Material, welches dem Zufall geboten wurde,
damit er Gelegenheit habe, sich darin zu offenbaren. Indem ich hier den
„Zufall“ nenne, begehe ich eigentlich einen Fehler. Man erwartete ja
nicht, dass das blinde Ohngefähr die Lose regieren solle. Da man die
Weissagung den Göttern und Dämonen oder einer göttlichen Entzückung
der Seele zuschrieb, hoffte man vielmehr dadurch, dass man unkontrol¬
lierten Einflüssen die Tür öffnete, eine überirdische Einwirkung ins Spiel
zu bringen. Diese überirdische Macht lenkte — nach der alten Vor¬
stellung, worauf die Mantik aufgebaut ist — die fallenden Lose, die
fliegenden Vögel und Wolken, das pendelnde Metall, sie gab der
stammelnden Pythia die Worte ein, brachte im glitzernden Kristall
Visionen hervor usf.
Betrachten wir einige Arten der Mantik etwas näher. Zunächst die
Geomantie oder Punktierkunst, die besonders in der Hexen- und
Astrologenzeit des nachmittelalterlichen Europa im Schwange war. Man
machte, ohne zu zählen, vier Reihen Punkte in den Sand (auf die Erde,
daher „Geomantie“). Dann zählte man die Punkte ab und setzte in ein
Diagramm für jede gerade Anzahl zwei, für jede ungerade einen Punkt.
Nehmen wir an, ich hätte in den Sand zuerst 8, dann 11, dann 10, dann
14 Punkte gemacht, also zuerst eine gerade Anzahl, dann eine ungerade,
und zweimal je eine gerade Anzahl. Ich muss also ins Diagramm eine
Figur einzeichnen, die (von oben nach unten betrachtet) aus 2 ~f— 1 —j— 2 —{— 2
Punkten besteht, wie Fig. 1 zeigt.
Die ganze Prozedur nehme ich viermal vor, erhalte also vier Figuren,
die ich nebeneinander stelle. Sie heissen „Mütter“. Aus diesen ,,Müttern“
werden ebensoviele „Töchter“ gewonnen, indem man die oberste (hori¬
zontale) Punktreihe der Mütter zu einer ersten Figur zusammentut, die
zweite Reihe zu einer zweiten etc. Man erhält damit z. B. folgende
Tafel (Fig. 2):
Mantik and Psychanalyse.
79
Darin sind die oberen vier Figuren die „Mütter , die unteren vier
die daraus abgeleiteten Töchter. Die Figuren wurden nun entweder als
solche schon gedeutet, denn jeder der sechzehn überhaupt möglichen
Gestalten entsprach irgend ein Begriff wie „Freude , „Weg , „Verlust etc.
oder sie wurden, wenn man ganz kunstgerecht vorgehen wollte, in ein
astrologisches Schema gesetzt, so dass eine Art Horoskop entstand, dessen
„Häuser“ statt mit Gestirnen mit den geomantischen Figuren besetzt
wurden, die man sich allerdings wieder mit den Gestirnen in einer
magischen Korrespondenz stehend dachte. Letzterer Gedanke war schon
deshalb konsequent, da man billigerweise verlangen musste, dass ein
geomantisches Horoskop einem zu gleicher Zeit gestellten astrologischen
nicht widersprechen dürfe. War das Horoskop fertiggezeichnet, so konnte
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Figur 1.
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Figur 2.
man ans Deuten gehen. Es wäre für unsere Zwecke ganz überflüssig, wollte
ich beschreiben, wie man hierbei verfuhr; wichtig ist indes, zu konstatieren,
dass, wiewohl das Einträgen der Gestirne oder der geomantischen Figuren
ins Schema rein mechanisch erfolgte, die Deutung des Horoskops doch
der Intuition oder wenigstens dem kombinatorischen Geist des Deuters
einen nicht unbeträchtlichen Spielraum Hess, so zwar, dass nicht nur
zwei verschiedene Menschen ein und dasselbe Horoskop verschieden deuten
würden, sondern dass auch ein und derselbe Mensch bei verschiedener
psychischer Verfassung einmal vorzugsweise dies, ein andermal vor¬
wiegend jenes in dem Horoskop erblicken müsste; manchmal werden die
Zeichen „zu ihm sprechen“, ein andermal stumm sein.
Betrachten wir in dem Gesamtvorgang vom Streuen der Punkte
angefangen bis zur endlichen Deutung des fertigen geomantischen Horo¬
skops die Verteilung der geregelten und der „zufälligen“ oder von der
„Eingebung“ abhängigen Elemente, so finden wir zuerst ein Element der
zweiten, unbestimmten Gruppe (das ohne Überlegung und Zählen er¬
folgende Hinwerfen der Punkte auf den Sand); dann ein Element der ersten,
bestimmten Gruppe (das Zeichnen der Mütter); dann als vreitere Elemente
der bestimmten Gruppe das Bilden der Töchter aus den Müttern und
das Übertragen aller Figuren in das Horoskop; ein Element der un¬
bestimmten Gruppe sehen wir in jener Freiheit, mit welcher der Deuter,
nach der momentanen, gleichsam zufälligen „Eingebung“ verfahrend, die
Figuren auslegt; daneben geht ein Element der bestimmten Gruppe einher,
indem sich der Ausleger an die astrologischen Regeln und die Grund¬
bedeutungen der einzelnen Figuren zu halten hat.
6
80
Herbert Silberer,
Man bemerkt hier nicht bloss die Vermischung der Elemente beider
Gruppen, sondern sieht sehr lebendig vor sich, was ich oben von dem
Verhältnis dieser beiden Gruppen zueinander sagte, nämlich, dass jene
Elemente, die wir als die „bestimmten“ bezeichnen, gleichsam das Material
für die Betätigung oder Manifestierung der anderen abgeben.
Um rasch noch einige andere Arten der Mantik durchzugehen, halte
ich mich an die Definitionen eines Fachmanns „aus der Zeit“, D. Georg
Pictorius aus Villingen 1 ). Bei einer der vielen Gattungen der Hydro-
m a n t i e füllt man einen Becher mit Wasser und hält, nach voraus¬
gegangenen Beschwörungssprüchen, mit dem Finger an einem Faden einen
Bing darüber. Der Ring beginnt nun zu pendeln und gibt durch die An¬
zahl von Schlägen an den Rand des Bechers den Orakelspruch kund.
Man hat hier das Element der vorerwähnten unbestimmten Gruppe in
den unwillkürlichen Bewegungen der Hand zu suchen. Dass, wie Pic¬
torius erzählt, die Hydromantie von Betrügern missbraucht zu werden
pflegte, geht uns nichts an, denn der Betrüger macht das unbestimmte
Element zu einem bestimmten, indem er den unwillkürlichen Impulsen
willkürliche unterschiebt, also jene Versuchsanordnung, die uns einzig
und allein interessiert, gänzlich aufhebt.
Die Kapnomantie wurde in der Weise ausgeübt, dass man,
wie Cardanus schreibt, Samen von schwarzem Mohn und Sesam auf
glühende Kohlen warf und Zauberformeln dabei murmelte. Ein reiner
Knabe oder eine schwangere Frau sah nun verschiedene Figuren in dem
Rauche, aus denen das Orakel entnommen wurde. Bei dieser mantischen
Kunst sind drei Elemente der unbestimmten Gruppe gehäuft: die Rauch¬
bildung, die Apperzeption von Bildern in dem Qualm und die deuterische
Kombination dieses Bildermaterials.
Bei der Koskinomantie, welche zur Ermittlung von Dieben,
Auffindung von verlorenen Gegenständen etc. gebraucht wurde, spielen
wieder die unwillkürlichen Bewegungen die Hauptrolle. Man lässt zwei
Personen, jede mit ihrem Mittelfinger eine Zange halten, worin ein Sieb
ziemlich labil eingeklemmt ist. Nachdem einige Zauberworte gesprochen
worden, nennt man die Namen der verschiedenen verdächtigen Personen etc.
Das Sieb bezeichnet den richtigen Namen oder Ort, indem es sich bei
Nennung desselben dreht.
Bei der 0 n y c h o m a n t i e 2 ) bestreicht man einem kleinen Knaben
den Nagel des Zeigefingers oder die Handfläche mit Russ und öl, und
indem man einige Zaubersprüche murmelt, lässt man ihn auf den Nagel
oder die Handfläche sehen. Die Bilder, die er nun darin erblickt, dienen
als Orakel. Cardanus will, dass der Knabe den bestrichenen Nagel
oder die Handfläche an die Sonne halte, damit in dem Reflex ihrer Strahlen
Bilder und verschiedene Farben zum Vorschein kommen. Bei dieser
mantischen Kunst erscheint die hypnotisierende Wirkung des Glanzes,
welche später Braid der wissenschaftlichen Forschung unterwarf, zu
dem Zwecke ausgenützt, um den Schauenden von der Willkür frei zu
machen und die Wege der Inspiration zu öffnen. Der Mittel, die zur
U „De speciebus magiae ceremonialis . . . epitome.“ Gedruckt in mehreren
Ausgaben der magischen Schriften des Henricus Cornelius Agrippa von Nettesheim
(XVI. Jahrhundert). Deutsch 1855 bei J. Scheible in Stuttgart.
2 ) Jedenfalls richtiger als das in der erwähnten Agrippa-Ausgabe gebrauchte
Wort „Onimantie“.
Mantik und Psychanalyse.
81
Hervorrufung von Ekstasen dienen sollten, gab es ja bekanntlich schon
im frühesten Altertum unzählige.
Zur Lekanomantie 1 ) gehört ein rundes mit Wasser gefülltes
Glasbecken. Um dieses werden Kerzen herumgestellt, und man lässt einen
unschuldigen Knaben oder eine schwangere Frau hineinblicken. Der
Schauende gewahrt in dem Wasser allerlei Bilder, zumeist von grosser
Deutlichkeit.
Die bei den Alten offiziell geübte Opferschau und die Vogel¬
schau sind zu bekannt, als dass ich sie beschreiben müsste; ich will
nur hervorheben, dass dabei das unbestimmte Element hauptsächlich in
rein äusseren Naturdingen und Naturereignissen liegt. Ebenso bei der¬
jenigen Geomantie, die aus Erdbeben und meteorologischen Vor¬
gängen, bei der Ichthy omantie, die aus dem Anbeissen oder Nicht-
anbeissen der Fische, bei der Pyromantie, die aus dem Verhalten
des Feuers, bei der Aeromantie, die aus der Richtung und Stärke
der Winde ihre Sprüche zog.
Man sieht, dass die Mantik zwei prinzipiell verschiedene Wege
einschlagen kann, um den unbestimmten Elementen Eingang in die
mantische Handlung zu verschaffen. Sie kann nämlich diese unbestimmten
Elemente entweder im äusseren Naturgeschehen (Vogelflug, Wehen des
Windes etc.) oder aber in dem Menschen suchen. In dem einen Falle lässt
sie Dinge hineinspielen, auf die der Weissagende keinen Einfluss hat;
in dem zweiten Fall zieht sie Handlungen hinein, auf die der Seher
zwar auch keinen bewussten Einfluss hat, die aber dennoch unter
der*Mitwirkung seiner Psyche zustande kommen. Mit anderen
Worten: in dem zweiten Falle bedient sich die Mantik des Unbewussten
im Menschen und zwängt es systematisch zur Äusserung. So z. B. überall,
wo es auf die unwillkürlichen Bewegungen, auf phantasmenhafte Apper¬
zeption, Visionen etc. ankommt.
Wenn es meine Sache wäre, im Sinne der alten Mantik selbst
zwischen den beiden Gattungen der unbestimmten Elemente ihrem Werte
nach eine 'Entscheidung zu treffen, so würde ich mich ohne Zaudern zu¬
gunsten der psychischen Gattung aussprechen. Denn, wofern überhaupt
ein hellseherisches Moment irgendwie auftreten kann, ist sein Erscheinen
im psychischen Apparat doch noch weniger unwahrscheinlich als in den
Vorgängen der äusseren Natur; man könnte ja, um vorsichtshalber nicht
alles Unbewiesene von vornherein als unmöglich zu erklären, immerhin
jene Möglichkeit eines telepathischen Vorganges ins Auge fassen, die
z. B. Dr. Wilhelm Stekel in seiner „Sprache des Traumes“ (XLVI. Ka¬
pitel) erwähnt. Es ist jedoch mein Vorhaben nicht, mich mit diesen
Fragen zu beschäftigen. Es interessiert uns nicht, was die mantischen
Künste für die Weissagung, sondern das, was sie für die Psychanalyse
bedeuten. Und hier muss ich abermals den unbestimmten Elementen der
psychischen, nicht der physischen Gattung die Palme reichen. Es ist
uns gleichgültig, ob sie durch die Erschliessung des Unbewussten die
Mantik förderten. Wichtig ist für uns, dass sie überhaupt das Unbewusste
erschliessen. Ein gleiches ist ja das Ziel der Psychanalyse. Vielleicht
U In der erwähnten Ausgabe steht zwar „Gastromantie“; die Überschriften
des III. und IV. Kapitels dürften jedoch verwechselt sein.
82
Herbert Silberer,
kann die Psychanalyse aus den mantischen Praktiken einigen Nutzen
ziehen.
Die Psychanalyse will, wenn sie dem Unbewussten zu Leibe geht,
das von ihm haben, was die Mantik als störenden Ballast empfand, weil
sie ganz andere Zwecke verfolgte und für diesen Ballast nicht jenes
tiefe Interesse hatte, das er verdient. Die Psychanalyse begnügt sich
sozusagen mit weniger und findet daher ihre Versuchsbedingungen viel
eher erfüllt als die Mantik, welche das Unmögliche begehrte, dass die
schauende Person vollkommen „rein“ sei, also eine gänzlich ungetrübte,
oder sagen wir: komplexlose Seele besitze. Ihr war wohlbekannt,
dass die Wünsche und Begierden und Leidenschaften, kurz alles was auf
der Lust-Unlustlinie in der Seele bewusst oder unbewusst hausen mag,
sich in den Gesichten wiederspiegeln. Daher die minutiösen Vorschriften
der Vorbereitungen zur mantischen Handlung, der äusseren Reinigungen,
die natürlich als Symbole der inneren aufzufassen sind, usf. Bei
H. C. A g r i p p a finde ich im III. Buch de occulta philosophia im
LV. Kapitel eine hierher passende schöne Stelle aus Boethius zitiert:
Tu quoque si vis
Lumine claro
Cernere verum
Tramite recto
Carpere callem:
Gaudia pelle,
Pelle timorem,
Nec dolor adsit,
Spemque fugato.
Nubila mens est
Vinctaque frenis
Haec ubi regnant.
Den göttlichen Einfluss, dessen wir als Orakelsteller bedürfen, er¬
langen wir nur, „quando nos absolvimus ab impedimentis aggravantibus,
a carnalibus et terrenis occupationibus et ab omni externa agitatione“.
Mit dem Begriff eines Mysterienpriesters, eines Sehers, eines Propheten
ist innig die Forderung eines reinen, vom Irdischen losgelösten Lebens¬
wandels verknüpft. Die goetischen Zauberer aber bedienten sich vor¬
zugsweise kindlicher und jungfräulicher Personen, um sie durch Lekano-
mantie, Kapnomantie u. dgl. das schauen zu lassen, was ihrem eigenen
trüben Auge verschlossen war. Ganz folgerichtig! Ob sie mit dieser
Praktik die Aufschlüsse erhielten, die sie suchten, bleibe dahingestellt;
das Interessante für uns ist die Denkrichtung in den hier zugrunde
liegenden Vorstellungen.
Aus all den Reinheitsvorschriften und Gebräuchen geht eigentlich
schon hervor, dass, wer unvorbereitet die Wahrheit erfahren will, deren
reines Licht deshalb nicht zu sehen erhoffen darf, weil sich die
trübe Wolke seiner eigenen Seele davor legt; dass er
also statt im Grunde des Sees in seinem Busen (im Grunde des eigent¬
lichsten lekanomantischen Gefässes!) das Wahre zu erblicken, die Sedi¬
mente seines irdischen Wesens dort erschaut. Diese Sedimente, das,
was „am Grund der Seele ruht“, zu sehen, ist nun gerade das Bestreben
der Psychanalyse. Die Mantik rechnet also von altersher mit jenen Er¬
scheinungen, die der Lehre von den Komplexen zugrunde liegen.
Nach den obigen Darlegungen hindert uns nichts, die mantischen
Praktiken der Seelenanalyse dienstbar zu machen, indem wir das, was
die Mantik als störenden Nebenerfolg betrachtete, zum Ziel der Versuche
machen. Es ist mir nicht bekannt, dass dies bisher geschehen wäre,
Mantik nnd Psychanalyse.
83
obgleich die Sache interessant nnd gar nicht so fernliegend ist. Um so
weniger fernliegend, als man ja an eine psychologische Prüfung auto¬
matischer Phänomene sowie auch an die psychanalytische Wertung patho¬
logischer Visionen, Halluzinationen etc. herangegangen ist. In ersterer
Hinsicht wäre namentlich auf französische Psychologen wie z. B. J a n e t
hinzuweisen, in der zweiten auf Freu d und die Zürcher Schule. Nicht
weit von der Mantik entfernt sind das automatische Schreiben und Klopfen
(auch das „Tischrücken“); ja beides kann insofern den mantischen Künsten
beigezählt werden, als es abergläubische Leute zur Genüge gibt, die in
den sogenannten „spiritistischen Seancen“ auf diesem Wege wahrsagerische
Aufschlüsse sich erwarten. Da die besagten automatischen Äusserungen
der unterbewussten Psyche sogar in eben jenem „spiritistischen“ Milieu
(wo sie also als mantisch gelten konnten) von wissenschaftlicher Seite
aufgesucht und psychologisch (fruchtbar) behandelt worden sind — ich
erinnere nur an Th. Flournoy’s vortreffliche Studie „Des Indes ä la
Planete Mars“ —, und da ferner die psychische Mechanik der aber¬
gläubischen Praktiken durch Freud’s Schriften dem Verständnis so nahe¬
gerückt erscheint: ergibt sich wie von selbst die Idee, die mantischen
Methoden wenigstens versuchsweise zu psychanalytischen Zwecken zu
gebrauchen.
Von diesem Gedankengang ausgehend, habe ich probiert, nicht bloss
das automatische Schreiben, das, wie gesagt, schon mehrfache
psychologische Untersuchungen erfahren hat, zur Psychanalyse heran¬
zuziehen, sondern auch die Lekanomantie ähnlich zu gebrauchen.
Die Visionen, welche diese oben definierte mantische Kunst durch eine
Versuchsperson lieferte, machte ich in analoger Weise zu Ausgangs¬
punkten von Assoziationsketten, wie man in der Traumanalyse verfährt.
Die Versuchsperson wurde auch unabhängig von den lekanomantischen
Versuchen analysiert, wobei aus naheliegenden Gründen ein Hauptaugen¬
merk auf die Träume gelegt wurde. Auf diese Weise konnte ich mir
eher ein Verständnis des durch die Lekanomantie zutage tretenden Mate¬
rials versprechen, als wenn ich meine Informationen bloss aus dieser
Quelle geholt hätte. Um andererseits die Entwickelung der Ergebnisse
nicht zu fälschen, hütete ich mich nach Möglichkeit, sie durch aus dem
übrigen Material hergenommene Deutungen zu beeinflussen.
Leider erfuhren die Versuche, die anfangs nur langsame Fort¬
schritte zeigten, später aber desto ergiebigere Resultate versprachen, je
mehr sie an Zusammenhang gewannen, einen vorzeitigen Abbruch infolge
unerwarteter äusserer Umstände. Hoffentlich werden die Experimente
nach Behebung jener Störungen, nach mehrmonatiger Pause jene Fort¬
setzung finden, deren sie bedürfen, um ihren vollen Ertrag zu liefern.
Die bisher gewonnenen Einsichten sind allzu lückenhaft. Man wird also
nur einen zaghaften Anfang, nicht eine abgeschlossene Untersuchung
vor sich sehen, wenn ich mir in einem nächsten Artikel erlauben werde,
das Wichtigste aus meinen lekanomantischen Experimenten mitzuteilen.
Mitteilungen
' i.
Analyse eines Falles von Namen vergessen.
Von Prof. Ernest Jones, übersetzt von J. Th. v. Kalmar.
Die folgenden Ausführungen sind ein Beispiel dafür, wie fein die
Fäden sind, die unterbewusste Gedanken verbinden.
Eine Dame, im Bestreben sich des Namens einer intimen Freundin
zu erinnern, fand zu ihrer Überraschung, dass sie sich nur deren Zunamen
ins Gedächtnis rufen konnte; als Vorname tauchte der Ersatzname
Isidore (Isidor) auf, der jedoch sofort als unrichtig verworfen wurde.
Der richtige Name, den ich nicht kannte, war I s a b e 11 Brown. Wie
man sieht, bestand der Gedächtnisfehler nur im Ersatz der Silbe „b e' 11“
durch „dore“.
Ich forderte sie auf, zu dem Worte Brown zu assoziieren, und
sofort erschienen in ihrer Vorstellung die beiden Namen Owlie und
Lien. Es ist zu bemerken, dass die beiden ersten Buchstaben des
ersten Wortes und der letzte Buchstabe des zweiten in Brown enthalten
sind. Das einzige fremde Element bildet in beiden Fällen die Silbe
„1 i e“, ausgesprochen „1 y“ (Lüge), was wir uns merken wollen. Die
beiden Worte waren Kosenamen von zwei Freundinnen der in Frage
stehenden Dame, die mit ihr zusammen wohnten und in deren Gesell¬
schaft sie Miss Brown immer zu sehen pflegte. Von ersterer sagte sie,
dass dieselbe gegenwärtig ihre erste Schwangerschaft durchmache, auch
sei sie bezüglich des Ausganges sehr ängstlich, da gewisse Kennzeichen
in der Gestalt ihrer Freundin in ihr den Verdacht hervorgerufen hatten,
dass eine Anomalie des Beckens Schwierigkeiten bei der Niederkunft
hervorrufen könnten. Sie erwähnte dann eine andere Freundin, Dora D.,
die ähnliche Merkmale aufwies und auch Isidora Duncan, die be¬
rühmte klassische Tänzerin, die sie persönlich kannte und deren voll¬
kommene Gestalt sie sehr bewunderte.
Der Ersatzname Isidore erinnerte sie an das Lied „B e a u t i f u 1
,1 s i d o r e‘ Lee“ (Lee wird wie „ly“ ausgesprochen). Ich sagte ihr, der
richtige Titel des Liedes sei „B e a u t i f u 1 ,A n n a b e 11‘ Le e“, so dass
sie eine zweite Erinnerungsverfälschung begangen hatte. Offenbar war
eine Verdrängung gegen die beiden Silben Ann und Bell tätig. Der
Name Annabell löste in ihrem Gedächtnis den Namen von Owlie’s
Schwester A n n i e S y b i 1 aus, der ja eine direkte Zusammenziehung
Analyse eines Falles von Namenvergessen.
85
von Anna I sab eil darstellt, und sofort tauchte in ihrer Erinnerung
der richtige Name der „M iss Brown Isabel V auf.
Sie hatte vor kurzer Zeit mit Annie Sybil einen peinlichen Streit
gehabt, in den unglücklicherweise auch die Schwester der letzteren ver¬
wickelt worden war. Sie hatte es immer bedauert, dass die ihr un¬
sympathische Schwester einen kräftigeren Körperbau habe und für die
Ehe mehr geeignet war als die andere, der sie so zugetan war. Die Motive
der iVmnesie waren also zwei miteinander verbundene unlustbetonte Kom¬
plexe, einer die Sorge wegen Owlie’s Schwangerschaft, der andere der
Umstand, dass die verhasste Schwester in dieser Beziehung vorteilhafter
veranlagt sei.
So weit die Analyse. Ich will nun in folgendem eine „Rekonstruktion“
der Symptomhandlung versuchen. Die Namen, deren sich die Behandelte
zuerst erinnerte, nämlich Isidore — — Brown, der eine falsch, der
andere richtig, wurden beide sofort mit der Silbe „ly“ assoziiert. Die
unterdrückte Silbe war „bell“. Das Wort „belly“ *) jedoch drückte sym¬
bolisch genau die mit der Schwangerschaft der Freundin verbundenen
unlustbetonten Gedanken aus.
Es ist anzunehmen, dass der Gedanke an Miss Brown die Be¬
handelte unbewusst an ihre gemeinsame Freundin * 2 ) erinnerte und dass
das Erfassen der unterdrückten Silbe „b e 11“ durch seine Assoziation
mit dem unlustbetonten, mit ihrer Freundin in Verbindung stehenden
Komplexe verhindert wurde, der durch das Wort „belly“ einen guten
Ausdruck fand. Dennoch kamen diese Gedanken in dem Gedächtnisfehler
zum Ausdruck. Der Akzent wurde zuerst von der ersten Silbe des Wortes
„bell y“ auf die zweite „1 y“ verlegt, die gleichzeitig die zweite Hälfte
von Owlie’s 3 ) Namen bildet. Diese Silbe jedoch war nicht geeignet,
mit dem nicht vergessenen „Isi“ verbunden einen Namen zu bilden und
in gefährlicher Nähe des widrigen Wortes. Es trat eine weitere Ver¬
schiebung ein, indem „s i e“ durch „d o r e“ ersetzt wurde. Dora war
der Name einer Freundin, die ähnliche Merkmale aufwies wie Owlie,
in Verbindung mit „Isi“ jedoch ergab sich der Name einer anderen Frau,
Isidora, welcher keiner Zensur obliegen musste. Die Behandelte
schmückt dadurch ihre Freundin mit der Schönheit (beautiful Isidore Lee)
und Gesundheit der berühmten Tänzerin.
Doch will der unterdrückte unlustbetonte Gedanke irgendwo seinen
Platz finden. Er kommt in einer Kompromiss-Bildung zum Ausdruck,
indem er den letzten Buchstaben von Isidora in „e“ verwandelt. „Dore“
wird genau so ausgesprochen wie „d o o r“ (Tor), d. h. die Öffnung (Aus¬
gang), der ja alle Besorgnis galt.
Ein breiteres Licht fällt auf die Analyse, wenn man in Erwägung
zieht, dass die Behandelte eigene Affekte auf ihre Freundin projiziert,
was ja schon ziemlich deutlich erkenntlich ist. Sie ist selbst verheiratet,
hat aber keine Kinder. Ein auf infantile Wurzeln zurückgehender Komplex
v ) Das Wort Belly = Bauch wird in guter Gesellschaft nicht gebraucht und
peinlichst vermieden.
2 ) In diesem Zusammenhänge ist auch auffällig, dass der Vokal von Brown
(ow) auch der Hauptvokal in Owlie ist. Die beiden Worte wurden direkt assoziiert.
3 ) Da die betreffende Dame auch deutsch versteht, mag auch die Assoziation
bellen = to howl eine Rolle gespielt haben. Man spricht auch von Frauen,
die während ihrer Schwangerschaft heulen (howl).
86 Ein Traum, der das Gegenteil einer Wunscherfüllung zu verwirklichen schien.
„Die Angst vor dem Kinde“ ist unzweideutig erkennbar. Ihre
Identifizierung mit der Freundin wurde dadurch erleichtert, dass sie
einerseits den Gatten ihrer Freundin sehr bewunderte und andererseits
der Freundin selbst ausserordentlich ergeben war. Sie zeigte eine ziem¬
lich betonte Tendenz zu Homosexualität und spielte in dieser Freundschaft
die männliche Rolle. Dies wirkte wahrscheinlich auch bestimmend auf
die Wahl der männlichen Form „Isidore“ statt der der weiblichen
„Isidora“.
Nachtrag: Nach der Geburt des erwarteten Kindes teilte die Ana-
lysandin diese Neuigkeit mehreren Freunden mit, wobei sie sich jedesmal
neuerlich versprach. Sie sagte: „Frau M . . . hat ein Kind bekommen.“
Frl. M. war ihre Freundin vor ihrer Hochzeit und wohl eifersüchtig wegen
der Hochzeit. Aber M . . . ist auch der Name der Analysandin.
II.
Ein Traum, der das Gegenteil einer Wunscherfüllung
zu verwirklichen schien, zugleich ein Beispiel eines
Traumes, der von einem anderen Traum gedeutet wird.
Von August Stärcke, Willem Arntszhoeve (Holland).
Weygandt (Monatsschr. f. N. u. Ps.) hat gegen Freud den
Ein wand erhoben, dass manche Träume direkt das Nicht gewünschte
darstellen. Obgleich dieser Vorwurf nur gemacht werden kann hei Ver¬
nachlässigung des Unterschiedes zwischen latentem und manifestem Traum¬
inhalt, und von Freud selbst schon in der ersten Ausgabe der Traum¬
deutung durch interessante Beispiele widerlegt worden ist, kann es, bei
den wunderbar schiefen Begriffen, die manche Fachgenossen noch über
dieses Kapitel hegen, seinen Nutzen haben, einen solchen Traum mit¬
zuteilen, in welchem diese Differenz scharf zum Ausdruck kommt.
Ein Arzt träumt:
„Ich habe und sehe an meinem linken Zeigefinger
einen syphilitischen Primäraffekt an der letzten Pha-
1 a n g e.“
Das wäre nun wirklich das letzte, das sich einer wünschen könnte!
Der Träumer hatte nie Lues; eine venerische Infektion wäre auch
überhaupt das Schrecklichste, was ihm passieren könnte.
Einfälle zu diesem Traum: (Diese Einfälle kamen nicht in der
angegebenen Reihe, sondern, wie überhaupt alles, was aus dem Un¬
bewussten auftaucht, mehr oder weniger alle zugleich. Auch sind es
keine definierte Vorstellungen, sie treten hervor in „Heniden“-Form
[W eininger]; erst bei der sprachlichen Übersetzung kommt das scharf
definierte Bild zustande.)
I. In J a c o b i ’s Atlas der Hautkrankheiten steht ein Bild von
einem solchen Finger; er hatte diese Abbildung kurz vorher noch gesehen.
II. Der Professor der Dermatologie sagte, das Wort Syphilis stammte
von sus = Schwein und philis = Liebe.'
Ein Traum, der das Gegenteil einer Wunscherfüllung zu verwirklichen schien. 87
Um die Bedeutung des Wortes „sus“ zu verstehen, müssen wir
zurückgreifen auf einen Traum, der einige Tage vorher geträumt war:
Der Traum „Susi“ lautet:
„Es war da ein Pferdchen, das herum rannte und
auf mich zu kam und mir die beiden Vorderpfoten um
den Hals legte.“
Einfälle zum Traume „Susi“: 1. Gleich beim Erwachen weiss er,
dass dieses Pferdchen „Susi“ sei, das dressierte Maultier des Zirkus
Corty Althoff, das er kurz zuvor gesehen hatte. Jener Maulesel gibt
seinem Zureiter einige Fusstritte mit den Hinterhufen, das war eins von
seinen Künstchen (im Traum genau das Umgekehrte).
2. Die Schwiegerschwesterchen (holl. = „zusje“) werden jetzt zu
gross, um noch auf seinen Knien zu sitzen. Das wird ihm unangenehm
gewesen sein.
3. S u z e war der Name der Hauptperson eines erotischen Kom¬
plexes vor einigen Jahren her. Sie legte aber nicht ihre Arme um seinen
Hals, sondern gab nicht undeutlich zu verstehen, dass ihr Herz schon
von einem anderen eingenommen war. Es war eine rasch vorübergehende
Kälberliebe von ihm gewesen (sie kommt im zweiten Traum als
Schweineliebe zurück). Sie war Indo-Europäerin (Bastard-
Maulesel). Wenn sie erzürnt war, stampfte sie mit dem Fuss,
wie ein Pferd; in ihrem Familiennamen kommt übrigens auch die Silbe
„h o r s“ vor (engl, „horse“ = Pferd). Einer Gebärde erinnert er sich
noch von ihr: Sie schlug einmal mit den Händen auf die Knie, das war
ihm besonders unangenehm vorgekommen. An diese Gebärde war er
neulich erinnert worden: die Clown im Zirkus machten sie wiederholt.
4. Eine Schwester (holländisch: „zuste r“, „z u s j e“) zu haben,
war längere Zeit in seiner Jugend ein lebhafter Wunsch. Hieran knüpft
ein kleines Ereignis. Eine kleine Kusine, sie mag 5 oder 6 Jahre alt
gewesen sein und er selbst 7 oder 8, spielte oft im Hause seiner Eltern.
Es war ein ihm lieber Gedanke, sie möchte als seine Schwester ins Haus
kommen. Eines Tages ging sie vor ihm die Treppe hinauf und ent-
blösste plötzlich ihren Hinterteil. Das kam ihm sehr niedrig und gemein
vor, von da an mochte er sie nicht mehr leiden und verdrängte sie aus
seiner Phantasie.
Hiermit ist zwar bloss das „kulturelle“, noch nicht das „unbewusste“
Material aufgedeckt; das genügt aber für unseren Zweck.
Der Traum „Susi“ hat sich dargestellt als die Kondensation dreier
Wunscherfüllungen, die drei übereinander gelagerten Komplexen ent¬
sprechen. Erstens kommt das Pferdchen (hors) Susi (Suze) ihm
ein Liebeszeichen geben, zweitens hat er eine Schwester (zusje—Susi)
und drittens entblösst sie ihm nicht den Hinteren, sondern zeigt ein nor¬
males Verhalten. Die durchsichtigen weiteren Beziehungen auf „Verlegung
nach oben“, „Ersetzung durch Gegenteil“ und die Zweideutigkeit der
„Vorderpfote“ übergehe ich hier, da sie bewusstseinsunfähig und also bloss
hypothetisch blieben. Ausserdem sind die unbewussten tiefsten Komplexe
fast bei jedem Traum und jedem Symptom dieselben; nur das „kulturelle“
Material variiert; ist einmal diese Stereotypie konstatiert, so kann die
Mitteilung des Grundmaterials in der Folge fortbleiben.
Jetzt wird auch die Bedeutung des syphilitischen Geschwürs
im zweiten Traum mit einem Schlage klar! Der Traum hat ein neues
88 Ein Traum, der das Gegenteil einer Wunscherfüllung zu verwirklichen schien.
Symbol gefunden, das alle drei Komplexe zugleich vertreten kann. Er hat
sich jetzt die Liebe der „s u s“ (S u z e, z u s t e r) an den Finger ge¬
zaubert, wie einen Verlobungsring. Nicht an den vierten Finger, denn
dieser ist schon von einer anderen Liebe eingenommen, die er auch
behalten möchte; an den Zeigefinger, denn mit dem Zeigefinger schwört
man (holl, „zweeren“ bedeutet sowohl „einen Eid schwören“ als „ein
Geschwür haben“) und zwar, „auf die Spitze getrieben“!
Verfolgen wir die Analyse des Syphilistraumes:
III. Aus der Zeit seiner Werbung erinnert er sich, dass er einmal,
da das umworbene Mädchen eine Coryza hatte, gegen sie den Wunsch
äusserte, sie möchte ihn infizieren. Die Infektion ist im Traume
da. Früher hatte er manchmal geäussert, wenn er ein Mädchen wahrhaft
liebte, so würde er sogar eine venerische Infektion gar nicht zählen.
Die Schwere der Infektion im Traum ist also ein Gradmesser von
der Heftigkeit der gewünschten Liebe, ebenso wie der Sitz des Geschwüres.
IV. Es fällt ihm ein, dass Primäraffekt auch prima affectio
geschrieben werden und dann die erste Liebe bedeuten kann.
Jetzt wird auch deutlich, warum dieselben Wunscherfüllungen noch¬
mals geträumt wurden: der zweite Traum ist eben vollständiger
als der erste.
Die Struktur der aufgedeckten Traumgedanken kann man sich wie
folgt denken:
Maulesel Susi
Besuch im Zirkus
' \ \/
Pferdchen Suze
(hors)
Zuster
i ,
Wunsch eine Schwester zu
Sus philis syphil. Prim affekt.
/
/
/
Atlas Jakobi
haben, um sie lieben zu können /
t
/
Wunsch der
Infektion
/
Unbewusste Partialtriebe
erste Liebe
(prima affectio)
Hier müssen wir die Mitteilung der Analyse abbrechen. Das wider¬
liche Geschwür hat sich inzwischen als Symbol dargestellt und als Ver¬
treter von mit grossem Affekt belegten Wunscherfüllungen.
in.
Der Traum eines Coitus interruptus.
Von Dr. Alfred Meisl.
Nach einigen einleitenden Bemerkungen erzählt Herr N. den Inhalt
eines Traumes der vergangenen Nacht: „Er sollte einen leeren Korb zu
der Schwester seiner Frau bringen, stieg zu diesem Zwecke in einen
Strassenbahnwagen und fuhr eine Strecke weit. Da erinnerte er sich,
den Korb zu Hause vergessen zu haben, stieg deshalb aus und bestieg
Der Traum eines Coitus interruptus.
89
einen in entgegengesetzter Richtung verkehrenden Wagen, um nach Hause
zu gelangen. Nun gab es allerlei Hindernisse auf der Fahrt, er musste
wiederholt aussteigen, andere Wagen besteigen, um vorwärts zu kommen.
Er konnte es ja tun, da er Besitzer einer Jahreskarte wäre. Endlich blieb
der Wagen, in dem er fuhr, stecken und konnte nicht weiter. Er musste
aussteigen und den weiteren Weg zu seiner Frau zu Fuss zurücklegen.
Da sah er, dass vor dem Wagen das Geleise aufgerissen war, zwischen
den Schienen in der Erde eine tiefe Grube klaffte, das aufgewühlte
Erdreich ringsum den Boden bedeckte und schlüpfrig machte, so dass
die aussteigenden Passagiere leicht in Gefahr kamen, auszugleiten. Er
sah auch, wie Damen, die ausgestiegen waren, ausrutschten, und sich
krampfhaft anhalten mussten, um nicht in die Grube zu fallen.“
Die oberflächliche Deutung des Traumes war nicht schwer: Der
Träumer steigt ein, fährt eine Strecke weit, muss aussteigen, weil er den
leeren Korb zu Hause vergessen hat. Er fährt hin und her und muss
vor dem Ziele aussteigen. Das Aussteigen ist mit Gefahren verbunden,
die ihm dunkel vorschweben. Der Trauminhalt war eine in der Sprache
des Traumes abgefasste, lebendige und treue Darstellung eines ehelichen
Coitus interruptus, in welcher selbst der Trauungsschein, die Jahreskarte,
nicht fehlte, sowie der äussere Anlass, das Vergessen des leeren Korbes,
des Kondoms.
Den Beweis, dass die Deutung des Traumes die richtige war, hatte
der Träumer selbst geliefert. Er erzählte nämlich vor Beginn des Traum¬
berichtes, dass er mit einer Erektion aus einem durchaus nicht lasziven
Traume erwacht sei. Er musste auch, der Wahrheit die Ehre gebend,
zugestehen, dass er den Coitus interruptus ausübe, wenn er ein Kondom
zu nehmen vergessen habe.
IV.
Aus dem Tagebuch eines Neurotikers.
Von Dr. W. Stekel.
Ich veröffentliche diese Tagebuchstelle eines an Zwangsneurose
leidenden 25 jährigen Juristen, weil sie eine gar nicht seltene symbolische
Darstellung der Krankheit und die Rolle des Neurotikers als Schauspieler
illustriert.
„Einen unangenehmen Traum hatte ich heute in der Nacht. Ich
sah am Fussboden inmitten meines Zimmers eine ekel¬
hafte Ratte. Ich versuchte sie durch vielen Lärm zu
verscheuchen — jedoch vergebens. Sie liess sich gar
nicht beängstigen — ja sie ging aggressiv gegen mich
vor. Ich setzte indessen meinen unnützen Kampf fort.
Plötzlich verliess die Ratte ihre Stelle und ich sah
sie mit Blitzesschnelle am Fussboden laufen. Sie ist
irgendwo verschwunden — nur aber schien es, dass sie
in mich hi nein gesprungen ist. Ekel und Angst er¬
fasste mich.“
90
Aus dem Tagebuch eines Neurotikers.
„Was für ein wunderschönes Symbol! Diese Ratte — das ist die
Krankheit —, die mich verzehrt. Ich suche sie zu vertreiben, jedoch
umsonst, denn sie ist ein Teil von mir selbst. Ich bin aufgestanden mit
einer starken Unruhe. Ein quälender Gedanke erwachte in mir, dass
ich durch meine Krankheit das Leben meiner Eltern verkürze. Ich be-
schliesse am selben Tage einen Brief zu schreiben, um ihnen Mut ein-
zuflössen. In solchen Momenten eines inneren Zwiespalts tritt nun der
Komödiant in mir sehr deutlich an den Tag. Sogar in solchen Augen¬
blicken spiele ich, und wäre es auch im Mangel an Zuschauern vor einem
Spiegel. In der Seele ein Kampf, und ich schaue in den Spiegel, ob
er mir gut zu Gesicht steht. Vor meinen Augen taucht ein Bild auf
— einmal gesehen —, darstellend Hamlet im Momente eines Seelen¬
kampfes. Die Augenbrauen zusammengezogen, tiefe vertikale Runzeln
um die Mundwinkel. Sehe ich ihm nicht ähnlich? Ich stellte mich vor
den Spiegel und betrachtete mit Wohlgefallen die tiefen Runzeln in den
Mundwinkeln auf meinem Gesichte. Mit einer gewissen Freude habe ich
festgestellt, dass die Krankheit auf meinem Gesicht bereits Spuren hinter¬
lassen hat. Und in meiner Phantasie sah ich mir mit Vergnügen das
Bild an, wie der Blick meiner Mutter mit einem schmerzlichen Aus¬
druck diese Spuren des Leidens auf meinem Antlitz verfolgt. Und doch
ist kaum ein Augenblick verflossen, seit meine Seele von starker Unruhe
über meine Mutter erfüllt war.“
Referate und Kritiken.
Dr. Oskar Pfister, Psycho-Analysis and child-study. In
“School Hygiene“. Vol. II. Nr. 8. (Fortsetzung.)
Der Autor hält sich auch in diesem zweiten und letzten Teile
konsequent sein Ziel vor Augen, bei den englischen Pädagogen vor allem
das Interesse an den Leistungen und Erfolgen der Psychoanalyse zu
erwecken. Er verweilt daher nicht lange bei theoretischen Erörterungen,
sondern demonstriert an einfachen und — nach gewonnener Einsicht —
leicht übersehbaren Beispielen den Vorgang der Verdrängung und die
umfassende Bedeutung der Sexualität. Die treffliche Auswahl der Beispiele
und die sichere Darstellung lassen die Hoffnung zu, dass der Artikel
nicht ohne Eindruck auf seine Leser bleiben wird.
Dr. Hanns Sachs.
Prof. Felix Asnaurow, „Algolagnie und Verbrechen.“ Im
„Archiv für Kriminalanthropologie und Kriminalistik“, herausgegeben
von Dr. Hans Gross in Graz, Band 38, Verlag F. C. W. Vogel.
Erschienen auch unter dem Titel „Passivisme et criminalite“ in „Archives
d’Anthropologie criminelle“. Lyon und Paris.
Der Verfasser macht für die sexuelle Frühreife und die späteren
manifesten sadistischen und masochistischen Perversionen die Prügel-
Referate und Kritiken.
91
strafe verantwortlich und begründet es an einigen Fällen seiner persön¬
lichen Erfahrung. „Fast alle von mir gekannten Masochisten im Alter
von 10—50 Jahren gestanden mir, dass die erste Züchtigung ihnen zu¬
gleich mit der grössten Erniedrigung und Scham auch die grösste Wonne
bereitet hätte. Auch die stärkste Züchtigung wirkt schliesslich doch nur
sexuell exzitierend.“ Der Verfasser tritt energisch für die Abschaffung
der Prügelstrafe in Schule und Haus auf.
Wenn auch die Aufklärung des Masochismus mit diesen elementaren
Tatsachen nicht erschöpft ist und das Festhalten an gewissen Perversionen
wohl einen komplizierten Mechanismus voraussetzt, so bilden doch die
Ausführungen in vorliegender Schrift neuerdings eine teilweise Bestätigung
für die in der Psychoanalyse gemachte Beobachtung der Fixierung infan¬
tiler Eindrücke. Rosenstein.
Prof. Felix Asnaurow, „Die sexuelle Seuche in Russland.“
In „Sexual-Probleme“, Zeitschrift für Sexualwissenschaft und Sexual¬
politik, 6. Jahrgang, 7. Heft, VII. 1910.
Der Verfasser zeigt das Zunehmen der sexuellen Verbrechen in
Russland und bringt die Erscheinung in Zusammenhang mit der schweren
politischen und sozialen Reaktion während der letzten Jahre. Auch die
Selbstmordstatistik weist enorme Ziffern auf. So ist die Zahl der Selbst¬
morde in den Jahren 1907—1909 (den Jahren der Reaktion) mehr als
dreimal so gross als die korrespondierende Zahl der drei vorangegangenen
Jahre. — Der vom Autor aufgezeigte interessante Zusammenhang von
politischer Reaktion, Sexualverbrechen und Selbstmord erforderte selbst¬
redend eine genauere psychoanalytische Untersuchung, die sich vornehm¬
lich auf die Kausalbeziehungen erstrecken müsste, was natürlich nicht
den Intentionen der bloss darstellenden Schrift entsprach.
Rosenstein.
Georg Büttner, „Das Wesen der Seel e.“ Modernes Verlags¬
bureau Curt Wigand, Berlin-Leipzig 1910.
Ein Versuch zur Lösung des psychophysischen Problems. Der Ver¬
fasser sieht das Gemeinsame aller physischen und psychischen Er¬
scheinungen in der „Energie“. Das Empirische an dem äusseren
Geschehen ist bloss Bewegung, die dahinter vermutete Kraft (die
physische Energie) erschliessen wir nur in Analogie mit den Wider¬
ständen, die unser Körper den Bewegungen der Aussenwelt entgegen¬
stellt. Wir erleben die Kraft nicht als physische, sondern als psychi¬
sche Energie. Aus den Differenzierungen in den Bewegungsverhältnissen
schliessen wir auf Differenzierungen der Energie selbst, ohne dass uns
diese „direkt“ zugängig wären, während uns in der Psyche die Energie
unmittelbar differenziert erscheint, entsprechend unseren Emp-
findungs- und Gefühlsqualitäten. Dies ist der phänomenale Unterschied
der psychischen und physischen Energie, ihrem Wesen nach sind beide
identisch. Beim Nebenmenschen nehmen wir psychische Energie durch
Nachempfinden wahr (also durch Einfühlung), je tiefer wir in der organi¬
schen Welt hinabsteigen, desto empfindungsärmer nehmen wir sie an;
diese Annahme ist nur bedingt durch die Unfähigkeit des Nachempfindens.
Bestünde diese Unfähigkeit nicht, wäre die Fähigkeit des „Nachempfindens“
92
Referate und Kritiken.
eine unbeschränkte, dann kämen wir zur Annahme einer Allbeseelung.
So gelangt der Verfasser zur Postulierung einer Psyche auch des An¬
organischen und weiter zur logischen Identität des bloss phänomenal
verschiedenen physischen und psychischen Geschehens unter dem gemein¬
samen Begriffe der Energie.
Wir sehen hier eine Verbindung von Energetik, Panpsychismus
und Identitätsphilosophie, ohne dass man den begrifflichen Konklusionen
besondere Originalität oder Geschlossenheit zuschreiben konnte. Doch
berechtigen einige gute Beobachtungen zu der Annahme, dass der Ver¬
fasser manches Wertvolle in der Zukunft bringen wird, wenn er nur,
statt die schon bestehende philosophische und psychologische Literatur
zu ignorieren, mehr auf dieser Grundlage aufbauen wollte!
Am -Schlüsse des Büchleins versucht der Verfasser die Nutzbar¬
machung einiger Sätze aus der Physik für die Psychologie und kommt
zu einigen interessanten Analogien. So wird z. B. der Satz vom Parallelo¬
gramm der Kräfte auf psychische Tendenzen angewendet, auch der aus
der Physik stammende Begriff der „Spannungen“ wird nicht ohne Erfolg
auf psychische Verhältnisse übertragen. Die Erörterungen darüber bilden
den wertvollsten Teil der Schrift und liefern mehrere nicht unbefriedigende
Resultate auf dem Gebiete der psychischen Dynamik.
Rosenstein.
Binet, Le Diagnostique Judiciaire par la Methode des
Association s.
B i n e t macht zuerst einige allgemeine Bemerkungen über den Wert
der Assoziationsmethode, welche er mit der Psychoanalyse vergleicht. Er
erkennt den Scharfsinn der Anhänger, die Feinheit ihrer Deutungen, ihr
Interesse für das wirklich Psychologische an, findet aber bei allen „das
gleiche literarische und mystische Gepräge wie bei Freu d“. „Man er¬
schrickt durch den Mangel an Kontrolle. Eine Wissenschaft ohne Kon¬
trolle ist wie ein Volk ohne Sitten; es ist der Anfang der Entartung.“
Zur Illustrierung bespricht er zwei Arbeiten von den amerikanischen
Forschern Yerkes, Berry, Henke und Eddy über Assoziations¬
versuche. Es dünkt uns, dass der Verfasser Besseres hätte wählen
können, um die Methodik der Komplexdiagnostik und ihren allgemeinen
Wert einzuschätzen. Allerdings wäre seine Kritik nicht so rund und
elegant ausgefallen.
B i n e t macht sich die Sache leicht; wenn er die Arbeiten J u n g ’s
in die Hand nehmen würde (speziell die Broschüre über die Tatbestands¬
diagnostik — Marhold, Halle), könnte er sich überzeugen, dass kritischer
Geist auch bei den Anhängern der Assoziationsmethode Vorkommen kann.
Die Versuche der amerikanischen Forscher enthalten einen grossen
Fehler, in den die meisten Experimentalpsychologen geraten. Sie arbeiten
unter künstlichen Bedingungen in der „ambiance“ des Laboratoriums
und sie wollen die Resultate ihrer Experimente auf das reale Leben aus¬
dehnen. Es ist sehr naiv, einen diagnostischen Assoziationsversuch an¬
zustellen, indem man den Versuchspersonen Mäuse und Karten zeigt mit
dem Auftrag, das Gesehene in ihren Assoziationen zu dissimulieren. Die
Züricher Schule mit Jung an der Spitze hat sich von Anfang an bemüht,
sich in möglichst natürlichen Bedingungen zu bewegen, wie es bei
Referate und Kritiken.
93
Ärzten begreiflich ist. Der diagnostische Wert des Assozia-
tionsversnches liegt in dem Nachweise der Affekte,
welche während des Experimentes zum Ausdruck kommen
(Komplexzeichen). Man kann nicht erwarten, dass eine beliebige \ersuchs-
person sich für eine Maus oder eine Spielkarte so sehr interessieren kann,
um einen starken Affekt beim Dissimulieren der Objekte zu entwickeln.
Ganz anders steht es mit dem Verbergen von stark gefühlsbetonten Er¬
lebnissen. I < ! ! i? I 'i
Die amerikanischen Experimentatoren machen keine Angaben über
die Qualität der Reaktionen, sie begnügen sich mit einer Statistik der
Zeitverhältnisse. Es ist ein zweiter grosser Fehler, den sie begangen haben.
Tausende von Experimenten, welche in der Züricher Klinik mit
einer vollkommeneren Technik gemacht worden sind, liefern überzeugende
Resultate. B i n e t beanstandet den gänzlichen Mangel an Kontrolle. Eine
Kontrolle hat man doch; denn die Versuchspersonen bestätigen sozusagen
ausnahmslos die Deutung des Experimentators. Sie teilen die gefühls¬
betonten Erlebnisse ausführlich mit, welche Spuren ihrer unerledigten
Tätigkeit in den Störungen des Assoziationsexperimentes hinterlassen haben
(Komplexzeichen). Binet sollte in den Arbeiten Jung’s die Bedenken
des Verfassers über die Verwendung des Assoziationsexperimentes in der
Tatbestandsdiagnostik lesen. Jung erhob selbst Einwände gegen die
Einführung der Methode in die juristische Praxis, sogar nachdem es ihm
gelungen war, einen Dieb zu entlarven und zum Geständnis der Tat zu
bringen. (Also doch eine Kontrolle 1 ).)
Ref. macht den Verfasser des französischen Aufsatzes noch darauf
aufmerksam, dass seine vierte Bemerkung Seite 383 unberechtigt ist,
denn der Experimentator stellt als Hauptbedingung des Versuches die
Mitteilung des ersten Einfalls auf das Reizwort. Wenn er merkt, dass die
Versuchsperson prinzipiell nach Überlegung reagiert, kann er das ge¬
lieferte Material nicht verwerten. Er hängt also zum Teil vom guten
Willen der Versuchsperson ab. Dies ist eine zweite Einschränkung der
Verwertbarkeit des Experimentes.
Dr. A. M a e d e r.
Dr. Hermann Aub, Die Hysterie des Mannes. Verlag von
Ernst Reinhardt. München 1911.
Dieses Buch ist für Laien bestimmt und soll aufklärend wirken.
Diesem Zwecke scheint es mir vollkommen zu genügen. Aub stellt sich
auch teilweise auf den Standpunkt F r e u d ’s und versucht eine Ver¬
mittlung zwischen alten und neuen Lehren. Wesen, Heilmethoden, Sym¬
ptome und Übergangsformen der Hysterie werden eingehend abgehandelt,
ebenso wie die Hysterie beim Militär und die Beziehungen der männlichen
Hysterie zur Philosophie, Literatur, Kunst und Musik. In dem Kapitel
1 ) Auf einer Abteilung der Klinik wurde ein Diebstahl begangen. Die sechs
in Verdacht stehenden Pflegerinnen wurden nach der Assoziationsmethode unter¬
sucht. Zwei konnten gleich von den anderen getrennt werden und als verdächtig
erklärt werden; die Geständnisse der beiden brachten die Sache ins Klare. Die
eine war die Diebin, die zweite, ihre Freundin, war in die Sache eingeweiht. Dieser
Fall zeigt sehr klar die zurzeit bestehende Grenze der Verwendbarkeit des Experi¬
mentes in der juristischen Praxis; die Technik erlaubt eben nicht, mit Sicherheit
den Mitwissenden vom Schuldigen zu unterscheiden.
Zentralblatt für Psychoanalyse. 11*
7
94
Referate und Kritiken.
„Die Hysterie des Kindes“ verweist der Autor auf die Diskussion der
„Wiener psychoanalytischen Vereinigung“ „Über den Selbstmord“ und
bestätigt besonders die Wichtigkeit meiner Ausführungen. Stekel.
Havelock Ellis, Geschlecht und Gesellschaft. Grundzüge
der Soziologie des Geschlechtslebens. Autorisierte deutsche Übersetzung
besorgt von Dr. Hans Kur eil a. II. Teil. Würzburg. Curt Kabitzsch,
A. Stuber’s Verlag. 1911.
In der E 11 i s eigenen enzyklopädischen Art werden in diesem Bande¬
eine Reihe wichtigster Themen abgehandelt: Die Orgie, der Ursprung
und die Entwickelung der Prostitution, die Ursachen der Prostitution,
die gegenwärtige Haltung gegenüber der Prostitution, die Bekämpfung der
Geschlechtskrankheiten, Ehe und Ehescheidung, die Wissenschaft der Fort¬
pflanzung. Als den interessantesten Beitrag möchte ich das 11. Kapitel
der Liebeskunst bezeichnen, welches eine grosse Menge interessanten
Materials vorbringt und im Originale nachgelesen werden muss. Besonders
bedeutsam erscheint mir, dass E11 i s auf eine Gemeinschaft hinweist,
in der der Coitus reservatus allgemein üblich war und bei der das Ver¬
fahren keine schlechten Folgen gezeitigt hat. Es war dies die sogenannte
Male continence, die von N o y e s begründet wurde und darin bestand,
dass jeder Mann der Ehemann jeder Frau war, aber nicht mit jeder
Kinder zeugen durfte. Es gab zweierlei Arten von Kohabitationen, einen
propragativen und befruchtenden. Es war Pflicht der Männer, den Orgas¬
mus bis zu einer Stunde auszudehnen. Angeblich soll eine ausserordentlich
geringe Zahl von nervösen Erkrankungen sich ergeben haben und nur zwei,
die etwas übertrieben, hätten nervöse Störungen gezeigt. Diese inter¬
essante Beobachtung würde auf den grossen Einfluss des psychischen
Konfliktes für das Zustandekommen einer Angstneurose neben der soma¬
tischen Schädigung hin weisen. Stekel.
Dr. Max Marcuse, Die Gefahren der sexuellen Abstinenz
für die Gesundheit. Leipzig, Verlag von Johann Ambrosius
Barth, 1910.
In dieser gross angelegten Studie wird fast die gesamte wissen¬
schaftliche Literatur über diesen Gegenstand abgehandelt und das pro
und contra der Abstinenz sorgfältig erwogen. Verfasser weist an Hand
der Literatur und an Hand interessanter eigener Beobachtungen den
Schaden der sexuellen Abstinenz nach und nimmt ziemlich heftig Stellung
gegen jene Ärzte, die die Onanie als unschädlich erklären. Er bezeichnet
sie insgesamt nach dem Beispiele Nyströms als „Onanie-Advo¬
katen“. Während er sonst einen ausserordentlich kritischen und un¬
parteiischen Standpunkt einnimmt, scheint er mir in der Onaniesache
entschieden zu weit zu gehen. So sagt er: „Und ich weiss nicht, ob
die Intelligenz oder das Gefühlsleben jenes Professors den grösseren
Defekt aufweist, der im Kreise seiner Schüler erklärte: Die Onanie mässig
ausgeübt, hat sehr viele Vorteile, besonders für studierende Jünglinge;
es wird dabei Geld und, was noch wertvoller ist, Zeit erspart; man
entgeht allen unangenehmen Verbindlichkeiten und Verhältnissen, macht
niemanden unglücklich und läuft nicht Gefahr, venerische Krankheiten
zu 6rwerben.“
Referate und Kritiken.
95
Und gleich darauf meint er, dieser Professor hätte nur „mit aller
Schamlosigkeit“, was andere Ärzte und Nichtärzte denken, gesagt.
Dem ist entschieden entgegenzuhalten, dass, wenn der Onanie-Advokat
eine schlechte Rolle spielt, der Onanie-Staatsanwalt keineswegs eine
bessere zu spielen scheint, denn es handelt sich hier um Überzeugungen
und wissenschaftliche Ansichten, aus denen man weder dem Anhänger
noch dem Gegner einen Vorwurf machen darf. Jedenfalls betont Marcuse
die Notwendigkeit des geschlechtlichen Aktes der Onanie gegenüber ganz
ausserordentlich energisch, wobei nicht verschwiegen werden soll, dass
einzelne seiner Argumente entschieden Richtigkeit haben, wie z. B. das
Argument, dass die Onanie sehr leicht zum Onanismus, d. h. zur Un-
mässigkeit führt. Exzesse aller Art sind ja sicherlich schädlich. Die
Vorsätze des Onanisten, mässig zu bleiben, seien nichts als Vorsätze,
und er unterliege trotz aller Vornahmen der Versuchung, in die Un-
mässigkeit zu verfallen.
Ausser zu „Onanismus“ könne die Abstinenz auch zu perversen
Handlungen führen und vorhandene krankhafte Triebe verstärken. Es gebe
auch eine Pseudohomosexualität, ebenso wie es eine angeborene Homo¬
sexualität gebe. „Die Bewegung, die von dem sogenannten Wissenschaftlich¬
humanitären Komitee vor zirka 10 Jahren ins Leben gerufen wurde und
ihren geistigen Führer in Magnus Hirschfeld hat, leugnet bekannt¬
lich die Möglichkeit, anders als infolge der angeborenen Anlage zur
Homosexualität zu gelangen, durchaus. Sie wird in dieser Auffassung
auch durch objektivere Autoren unterstützt, wie z. B. durch N ä c k e. Aber
mit der übergrossen Mehrzahl der Sachkundigen halte ich es für zweifel¬
los, dass in einem sehr erheblichen Umfange junge Leute beiderlei Ge¬
schlechts, bis vor kurzem überwiegend freilich junge Männer, in den
letzten Jahren aber in beträchtlicher Zahl auch Frauen und Mädchen,
zur Homosexualität, die zunächst erst noch eine Pseudohomosexualität
ist, d. h. sich in homosexuellen Handlungen erschöpft, verführt werden,
dass dann aber weiterhin von ihnen ein Teil durch Gewöhnung, die bei
der Notwendigkeit einer Abstinenz leicht erfolgt, allmählich zu echten
Homosexuellen wird. Und selbst, wenn man für diese Gruppe der ge¬
wordenen Homosexuellen eine gewisse angeborene Veranlagung als Be¬
dingung annimmt und zugibt, so wird dadurch die Tatsache, dass die
Homosexualität auch eine Abstinenzerscheinung sein kann, nicht an Be¬
deutung verlieren.“
Verfasser kommt schliesslich zu dem Schlüsse: „Nach dem
gegenwärtigen Stande der Wissenschaft und Praxis
ist die geschlechtliche Enthaltung eine gewichtige
Ursache geistiger und körperlicher Krankheiten.“
S t ek e 1.
Dr. Cli. von Härtlingen, Kritische Tage und Träume. Zeit¬
schrift für Psychotherapie und medizinische Psychologie. III. Band
1. Heft. 1911.
Mitteilung eines Traumes, der sich mit Hilfe des Periodenschiebers
von S w o b o d a auf kritische Familientage zurückführen lässt. Wenn
ich auch den Wert dieser Forschungen für die Psychoanalyse des Traumes
nicht hoch einschätze, so halte ich ihn vom psychologischen Standpunkt
7* '
96
Referate und Kritiken.
für ausserordentlich bedeutsam und würde nur wünschen, dass diese
Untersuchungen einmal konsequent an einem grösseren Materiale aus¬
geführt werden. S t e k e 1.
S. Rahmer, Nicolaus Lenau als Mensch und Dichter. Ein
Beitrag zur Sexualpathologie. Verlag von Karl Curtius, Berlin.
Rahmer ist ein ärztlich gebildeter Germanist. Mit seinen medizi¬
nischen Kenntnissen ragt er unter Seinesgleichen hervor, die ihr ein¬
schlägiges Wissen doch nur aus irgend einem Lehrbuch schöpfen, unter
den Ärzten hinwieder zeichnet er sich durch starkes literarisches Forschen
aus. Seine neueste Spezialität ist die Ehrenrettung ausgesprochen kranker
Poeten. Heinrich v. Kleist unternahm er, als vollständig Gesunden zu
erweisen, ja geradezu als königlich preussischen Normaldichter zu
präsentieren, und auch bei Lenau geht er jetzt ähnliche Wege. Das Ver¬
fahren Rahmer’s ist von klassischer Einfachheit, wie ich schon in
meinem Kleistbuche nachweisen konnte. Zunächst sei festgestellt., dass
Rahmer von der just bei solchen Themen so hochwichtigen Frage der
Belastung und Entartung gar nichts versteht oder mindestens ein even¬
tuelles Wissen bis zur Unkenntlichkeit zu verbergen weiss. Belastung
scheint bei ihm erst zu beginnen, wenn so und soviele Fälle von
Geisteskrankheiten in der Familie stattgefunden haben. Von den Stigmen
der Belastung, die bei Kleist und Lenau in geradezu überwältigender
Fülle Vorkommen, sieht er entweder nichts oder will sie nicht sehen.
Was sonst dem Psychologen von entscheidender Wichtigkeit, Briefe und
einzelne Lebenszüge, auch die bestbeglaubigten, gelten ihm nichts, wenn
sie für Belastung seiner Objekte zu sprechen scheinen, hingegen beweist
er deren Gesundheit aus den — Dichterwerken, selbst wenn diese soviel
Pathologisches enthalten, wie abermals die von Kleist und Lenau. Dann
freilich kommen Behauptungen heraus wie etwa die folgenden: „Lenaus
Dichtungen verraten Eigenschaften, die zweifellos einer geistig und sitt¬
lich hochstehenden Persönlichkeit angehören von ursprünglich gesundem
Empfinden, Denken und Wollen. Dahinter steckt kein Gezeichneter, here¬
ditär Belasteter, Minderwertiger, kein Neuropsychopath mit irgendwelchen
geistigen und sittlichen Defekten. Dazu rechnet die Ursprünglichkeit, die
Wahrheit und Tiefe des Empfindens, der angeborene Natur- und Freiheits¬
sinn. Seine Fähigkeit der Vertiefung in die umgebende Natur wird Lenau
immer eine hohe und in gewissem Sinne universale Bedeutung verleihen.
Der Geist freier, männlicher Überzeugung, der frische Hauch der Freiheit
durchzieht seine ganze Poesie und kommt zum hinreissendsten und
jubelnden Ausdruck in den Albigensern. Niemals ist Lenau kleinlich und
stets frei von jeder gemeinen Empfindelei, niemals ist sein Fühlen ober¬
flächlich. Sein Wollen und Streben ist stets gross, ebenso ist er stets
wahr, gefühlswahr und aufrichtig. Psychologischer Bestand und funk¬
tionelle Leistung können sich niemals widersprechen. Lenau ist von
Haus aus gesund, das lehrt uns die Kenntnis seiner Poesie, und es
ist ganz widersprechend, wenn sein Schwager behauptet: ,er brachte
die Belastung zum Irrsinn mit auf die Welt 4 .“ Liest sich das nicht wie
die Antwort eines Graphologen in einem deutschen Familienblatte, wobei
es natürlich viel minder auf Wahrheit als darauf ankommt, den ver¬
ehrten Abonnenten zufrieden zu stellen?
Referate und Kritiken.
97
Aber auch im einzelnen dünkt mich eine Fülle zu bemängeln.
R a h m e r ist ein moderner Mensch und hat ganz richtig herausgefühlt,
dass die alte Pathographie, wie sie Möbius schuf, eine Ergänzung
heischt im Sinne der Erotik, seitdem uns Freud deren überragende
Bedeutung durch seine Forschungen aufgedeckt hat. Darum verspricht
auch der Titel von Rahmer ’s Buch einen „Beitrag zur Sexualpsycho¬
logie“. Worin besteht nun dieser Beitrag? Zunächst darin, dass der
Autor des langen und breiten auseinandersetzt, dass die Paralyse, an
welcher Lenau zugrunde ging, Syphilis voraussetzt, und dann auf Grund
dieser richtigen Prämisse des Dichters ganzes Liebesieben aus der In¬
fektion mit Lues erklärt. Zum zweiten, dass Rahmer die „Entdeckung“
vorträgt, Lenaus jahrelanges Verhältnis mit Sophie habe durch die
physische Entsagung nervöse Schädigungen hervorgerufen im Sinne der
Freud ’schen Angstneurose. Einen Punkt, den so ziemlich alle Bio¬
graphen klar durchschauten und mehr weniger deutlich auch ausge¬
sprochen haben, wenn begreiflicherweise auch nicht mit dem modernen
Terminus F re ud ’s. Es hat also Rahmer genau wie unsere ärztlichen
Gegner von den Freud’schen Entdeckungen just das Oberflächlichste
akzeptiert, dasjenige, was selbst der Beschränkteste sogleich erfasst; die
weitaus wichtigeren infantilen Beziehungen, zumal den Kernkomplex jeder
Neurose, aber auch des Gesunden, die erotischen Verknüpfungen mit Vater
und Mutter, lehnt er ebenso hochnäsig ab, wie so viele andere Un¬
verständige. Für diese entscheidenden Beziehungen, die ich in meinem
Lenau-Buch per longum et latum, besonders in ihrer Wichtigkeit für des
Dichters Leben ausgeführt habe, hat Rahmer nur die „vornehme“ Ab¬
lehnung: „Der Schluss auf den Hass und die Ablehnung des Vaters ist
ebenso kühn, als die Folgerung auf mütterlichen Inzest absurd ist.“
Weil er von jenem wichtigsten Punkt nichts wissen mag oder
wirklich nichts weiss, wird natürlich seine Schilderung vom Liebesieben
Lenau’s dürftig und völlig unzureichend. So bleibt ihm z. B. das Ver¬
hältnis mit Berta „sehr dunkel“ und findet er bloss „eine Summe von
Rätseln und von Widersprüchen und ein tiefes Dunkel in der Beurteilung
und Bewertung von Lenau’s Persönlichkeit“. Von den übrigen Liebes¬
beziehungen des Dichters behandelt er einzig zwei ausführlicher, die er
beide aus Lenau’s Infektion mit Syphilis zu erklären versucht. Weil
dieser im Jahre 1844 an manifester Paralyse erkrankte, verlegt unser
Autor, auf einzelnen vagen Briefstellen fussend*), die Infektion mit Lues
in das Jahr 1831. Und weil der Dichter damals frisch angesteckt ge¬
wesen, habe er die Beziehung zu Schilflottchen gelöst. Über Sophie
Löwenthal aber fabuliert er: „Wenn die Beziehung der beiden einen
Charakter annahm, der uns zunächst unverständlich ist, so erklärt er
sich dadurch, dass Lenau in den ersten Jahren der Freundschaft noch
schwer leidend war, dass er notgedrungen den Sexual verkehr mied und
zwischen sich und ihr absichtlich eine Mauer errichtete, gegen die er
später vergeblich losstürmte.“ Schade nur, dass diese merkwürdige Mauer
U So führt er z. B. folgende Worte Lenau’s an: „Es hilft alles nichts.
Der gewisse innere Riss wird immer tiefer und weiter. Es
hilft alles nichts. Ich weiss es, es liegt im Körper, aber, aber.“ Den letzten Satz
druckt Rahmer gesperrt, den vorstehenden aber vom inneren Riss, der schlechter¬
dings zur Infektion nicht stimmt und von allen Biographen auf das Verhältnis mit
Berta bezogen wird, übergeht er mit Stillschweigen.
98
Referate und Kritiken.
bloss in der Phantasie des Autors existiert. Errichtet hat sie nämlich
niemals der Dichter, sondern, wie aus den Briefen und Liebeszettein
ganz fraglos hervorgeht, stets bloss Sophie. Überhaupt versteht es
R a h m e r sehr gut, seine vagen Hypothesen als absolute Wahrheit aus¬
zugeben. So schreibt er z. B. S. 77: „W as unzweifelhaft fest¬
st e h t, ist, dass Lenau an Syphilis erkrankte, dass die syphilitische Er¬
krankung in das Jahr 1831 fiel, dass sie die Ursache war für den Ver¬
zicht auf das Schilflottchen und für die tiefe Depression, die sich von
Ende 31 bis tief hinein in das Jahr 1834 verfolgen lässt.“ In Wahrheit
jedoch steht nur ein einziges „unzweifelhaft fest“, dass Lenau Lues
gehabt haben muss, weil ausschliesslich diese in 5—15 Jahren eine Para¬
lyse zu erzeugen vermag. Dass aber die Ansteckung genau 12 Jahre vor
Ausbruch der Psychose erfolgt sein muss, ist ebenso erst präzise zu
erweisen, wie dass sie den Verzicht auf Lottchen begründete oder gar
die Ursache seiner Depression war, die ja bei Lenau konstitutionell, ein
Stigma der Belastung war und bald stärker, bald leichter eigentlich das
ganze Leben lang währte. Mehr als einmal zeigt R a h m e r die be¬
denkliche Gabe, bloss das im Gedächtnis aufzubewahren, was zu seinen
Theorien stimmt, Entgegenstehendes aber zu vergessen oder, wenn er es
im Zusammenhang zitieren muss, schlankweg zu übersehen.
Zusammenfassend möchte ich sagen: Das Büchlein Rahmer’s
ist weder „ein Beitrag zur Sexualpathologie“, noch Neues zum Ver¬
ständnis Lenau’s erbringend. Trotz allen aufgewandten Fleisses sieht
Rahmer die entscheidenden Ursachen nicht, ja führt in einer Reihe
von Punkten direkt in die Irre. J. S a d g e r.
D. N. A. W yrubow, Die psychotherapeutischen Auf¬
gaben eines Sanatoriums für Nervenkranke. Moskau 1910.
Die veränderten Gesichtspunkte, von denen aus heutzutage die
Ätiologie der Neurosen betrachtet wird, sind nach Wyrubow’s Meinung
vor allem massgebend für die Anforderungen, die man an ein modernes
Sanatorium stellt. Glaubt man nicht mehr an Intoxikation, an Störung
der Gewebschemie als Ursache der Neurose, so wird man physikalisch¬
diätetische Kuren allein für unzureichend erklären; nimmt man an, dass
die Neurosen psychogener Natur sind, so hat sich das Sanatorium vor
allem mit Psychotherapie zu befassen, oder, wie W y r u b o w sich aus¬
drückt, man verlangt nicht nur Mittel, um die krankhaft veränderte Tätig¬
keit des neuropsychischen Organismus indirekt zu beeinflussen, sondern
auch Methoden, um die Krankheitserscheinungen unmittelbar zu be¬
kämpfen“. Interessant sind Wyrubow’s Erfahrungen in statistischer
Beziehung. So nehmen die Psychastheniker und Hysterischen im Sana¬
torium an Anzahl den ersten Platz ein, etwa 30<>/o liefern die Zyklo-
thymiker, eine geringe Frequenz weisen die Neurastheniker auf und sehr
wenige Fälle sind es nur, die als reine Zwangsneurosen bezeichnet werden
müssen. Diese Statistik ist wegen der Anwendung der einzelnen Methoden
der Psychotherapie wuchtig, die für Wyrubow eben eine Summe von
psychotherapeutisch wirksamen Faktoren sind, welche allesamt gleiches
Bürgerrecht gemessen sollen, will man wirklich Erfolge haben. Die Iso¬
lierung von der gewohnten Umgebung, die „mit Wohlwollen durchtränkte
Atmosphäre des Sanatoriums“, die alten Methoden der Suggestion im
Referate und Kritiken.
99
Wachzustände wie in der Hypnose, die Methoden von Breuer und
Freud, die von Dubois, alle diese Faktoren müssen die Waffen
hergeben, keine Methode darf pedantisch und ausschliesslich als Panazee
gelten. Wyrubow’s Erfahrungen lehren, dass die zyklothymischen Er¬
krankungen psychotherapeutisch die einfachsten sind, da eine Psycho¬
analyse ausgeschlossen ist und nur „Erforschung der Persönlichkeit des
Kranken und Erforschung seines Zustandes“ unerlässlich sind, um dem
Kranken die Orientierung zu erleichtern. Hypnotische Suggestion muss
zu Hilfe genommen werden, um unangenehme Sensationen, Schlaflosig¬
keit etc. zu bekämpfen. Viel komplizierter gestaltet sich die Behandlung
der Psychastheniker. Es sind dies festgefügte, schwer entwirrbare Krank¬
heitsbilder, die gewöhnlich seit längerer Zeit bestehen. Zuerst kommt
die detaillierteste Psychoanalyse. Die Gedankengänge und Empfindungen
dieser Kranken haben oft ganz inadäquate Ursachen. Grober Aberglauben
ist hier gerade bei hoher Bildungsstufe und Intelligenz anzutreffen, Träume
spielen eine sehr grosse Rolle. Dabei ist die Dechiffrierung der Träume
oft besonders schwer. So erzählt W yrubow, wie eine Patientin lange
Zeit Völlig unangreifbare Träume angab. Es stellte sich dann heraus, dass
sie jahrelang ein Traumbuch benutzte und daher bereits im Traume
mit fertigen Symbolen arbeitete. Erst dieses Traumbuch gab
die Möglichkeit, die Träume in wissenschaftlicher Weise zu deuten. Durch
die Traumdeutung soll den Träumen das Geheimnisvolle genommen werden
und ausserdem soll der Kranke lernen, seine Träume selbst zu deuten.
Bei den Psychasthenischen spielt die Verdrängung nach Wyrubow
nicht jene grosse Rolle wie bei den Hysterischen, auch nicht in der
Bildung der Phobien, die gewöhnlich an physiologische Vorgänge oder
deren Störungen anknüpfen. Hier hält Wyrubow direkte naturwissen¬
schaftliche Belehrung im Sinne von Kausalzusammenhängen in physio¬
logischen Dingen für angebracht. Zum iVnlass könne irgend ein kleiner
Erfolg in der Behandlung eines Symptoms genommen werden. Bei der
Hysteriebehandlung setzt Wyrubow diee Psychoanalyse an die erste
Stelle. Alle Verdrängungen sollen aufgedeckt werden, die zu Krankheits¬
symptomen geworden sind. Die sog. Widerstände sind hier die Haupt¬
schwierigkeit, die nur durch das allmählich einsetzende Vertrauen zum
Arzte geringer wird. Wyrubow warnt vor forciertem Ausfragen. Lang¬
sam, nur an dasjenige anknüpfend, wovon der Kranke selbst zu sprechen
beginnt, lassen sich die anfangs zusammenhanglosen, jedoch sehr wert¬
vollen Stücke des Mosaikbildes — der ganzen Persönlichkeit des Kranken
und der krankhaften Abweichungen — sammeln und dann rekonstruierend
zusammenfügen. In bezug auf das Ausfragen wirft Wyrubow der
Freud ’schen Schule zu tendenziöse Betonung des Sexuellen vor. Er
leugnet nicht die Bedeutung des Sexuellen für die Entstehung von Neurosen,
möchte aber den Begriff des Sexuellen viel weiter gefasst Avissen. Ebenso
schädlich sind zu rasche Zusammenfassungen, Schlüsse, die dem Be¬
wusstsein des Kranken fremd sind, ihm aufoktroyiert erscheinen und
kein Gefühl des Gesundens in ihm hervorrufen. Bei sehr ungeduldigen
und viel kurierten Kranken zieht Wyrubow für den Anfang die Zu¬
lässigkeit der hypnotischen Suggestion zur Diskussion heran, namentlich
gegen allgemeinere Erscheinungen, wie Kopfweh, Schlaflosigkeit, Ver¬
stimmung etc. Die Hypnose hält Wyrubow auch für anwendbar zur
Überwindung des ersten, aber nur des ersten Widerstandes, und zwar
100
Referate und Kritiken.
in, /sehr seltenen Fällen. Die Zwangsneurosen sind am schwersten zu
behandeln. Eine ganze Reihe von bereits sekundären Symptomen, von
Abwehrhandlungen nach Freud, ist es, die den Kranken zum Arzt
führen. Ein ganzes kompliziertes Rituale ist es, welches das Leben
des Kranken vom Aufwachen bis zum Schlafengehen erfüllen. Auch
hier gilt das Prinzip: am Anfang war die Psychoanalyse. Die ersten
Anzeichen der Erkrankung sind in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle
schon im Alter von 4—6 Jahren zu finden. Häufig ist die Reinlichkeit
und Dinge, die damit Zusammenhängen, Gegenstand der Neurose. Der
Kern ist gewöhnlich ein Ereignis aus dem Geschlechtsleben, der daraus
hervorgehende Affekt das Gefühl von moralischer Beschmutzung. Nach
Freud werden diese Ideen in Ideen von physischer Verunreinigung trans¬
formiert. Dennoch ergeben sehr vernachlässigte Fälle oft keine günstigen
Resultate. Überhaupt soll nach Wyrubow bei dieser Neurose ausser
der Psychoanalyse die D u b o i s - Methode angewendet werden, wobei das
Überzeugen von der Absurdität der Symptome natürlich wegfällt. Die
Kranken sind davon ohnehin überzeugt. Das Überführen ins Sanatorium
ist hier an sich ein wirksamer Faktor. Daher sind Besuche von Ver¬
wandten etc. zu verbieten. Jedenfalls sollte die Heilungsdauer auf viele
Monate bemessen werden.
Dass in einem Sanatorium auch alle physikalischen Heilmethoden
zur Bekämpfung von Appetitlosigkeit, Schlaflosigkeit etc. zur Hand sein
müssen, Verstehe sich von selbst. Dr. Jenny Adler-Herzmarck.
Kostyleff, Les derniers travaux de Freud et le prob lern
de l’hysterie. Archiv de Neurologie. 1911. Heft I u. II.
Eine eingehende Analyse der letzten Arbeiten F r e u d ’s bis zum
Bruchstück einer Hysterieanalyse. (Dora.) Der Autor hält die Methode
Freud ’s fast ausserordentlich „suggestiv“. In gewissen Schlüssen jedoch
sei er nicht Herr seiner Methode und scheine über die Grenzen seiner
Wissenschaft gegangen zu sein. Das Fragment der Hysterieanalyse er¬
leuchte ebenso die Wichtigkeit der Psychoanalyse, als es auch die Irr-
tümer verrate, in die man sich verstricken könne. S t e k e 1.
Aus Vereinen und Versammlungen.
Bericht über den III. Psychoanalytischen Kongress
in Weimar am 21. und 22. September 1911
von Otto Rank (Wien).
I. Professor James J. Putnam (Boston): Über die Bedeutung der
Philosophie für die weitere Entwicklung der Psychoanalyse.
Redner hebt als nächste Aufgabe der psychoanalytischen Forschung, die bis
jetzt vorwiegend therapeutische Ziele verfolgte, die Beschäftigung mit dem normalen
Seelenleben, das Aufsuchen der Urquellen des Denkens, Ftihlens, Handelns im ge-
Aus Vereinen und Versammlungen.
101
sunden Menschen hervor. Zwar wurden bereits die Erfahrungen und Einsichten aus
der Kindheit des Einzelnen auf die Kindheit der primitiven Völker übertragen und
wenn auch den Kinderwünschen zweifellos eine ungeheuere Wirkung zukomme, so
haben doch die Regungen der erwachsenen Seele gleichfalls ein Anrecht in Betracht
gezogen zu werden: die ethischen Gefühle, welche sich mächtig in die tiefen Seelen¬
regungen einmengen, und das logische Denken; dabei wird insbesondere auf Hegels
Logik hingewiesen, deren tiefer Wahrheitsgehalt sich immer wieder aufs Neue er¬
weist. Schliesslich betont Redner, dass er damit das Unbewusste keineswegs aus-
schliessen möchte, vielmehr meine, man dürfe sich im Handeln auf die uns vertraut
gewordenen Regungen des Unterbewusstseins verlassen.
II. Professor Dr. E. Bleuler (Zürich-Burghölzli): Zur Theorie des Au¬
tismus.
Von Freud’s „Formulierungen über die zwei Prinzipien des psychischen Ge¬
schehens“ (Jahrbuch Ill/l) ausgehend, präzisiert Redner seinen in Bezug auf den psy¬
chologischen Zusammenhang dieser Dinge etwas abweichenden Standpunkt. Dem
Freud’sehen Begriff des Lustprinzips, der zu enge erscheine, wird das autistische
Denken gegenübergestellt und als dessen Gegensatz das realistische Denken (Freud’s
Realitätsprinzip) bezeichnet. Insbesondere betont Redner seine abweichende Auf¬
fassung der phylogenetischen Stellung des autistischen Denkens, das nach ihm eine
spät erworbene Funktion sei, während Freud sie als Rest einer primären Arbeits¬
weise des psychischen Apparats auffasse. Es werden schliesslich die Unterschiede
zwischen realistischem und autistischem Denken hervorgehoben, sowie auf die Not¬
wendigkeit und Zweckmässigkeit des letzteren im Seelenleben hingewiesen.
III. Dr. J. Sadger (Wien): Über Masturbation.
Redner führt die ungeheuere Verbreitung der Masturbation auf drei Haupt¬
gründe zurück: 1. die Allgemeinheit und Intensität der Geschlechtsempfindung über¬
haupt; 2. ihre besondere Eignung als allzeit parates Ausdrucksmittel für jegliche
Art von Sexualgenüssen und 3. ihre Wirkung als Trost- und Beruhigungsmittel.
Die wahie Bedeutung erhalte die Masturbation nicht durch das pheriphere
Tun, sondern durch die begleitenden Gedanken und Vorstellungen (Phantasien). Aus
der Verzweiflung über die Unrealisierbarkeit dieser (Inzest-)Phantasien erklären sich
auch die schweren Depressionszustände, von denen der masturbatorische Akt oft
gefolgt ist, wie man anderseits der Depression scheinbar durch den peripheren Akt
entrinnen kann, weil einen die Phantasien aus der unbefriedigenden Gegenwart in
die lustvollste Kindheitszeit zurückführen. Die letzten Bedingungen der Selbst¬
befriedigung wurzeln in der Säuglingspflege mit ihren notwendigen Reizungen der
äusseren Genitalien durch die Pflegepersonen. Ob man dem Kind die Masturbation
abgewöhnen kann, hängt von seiner Konstitution und den Fähigkeiten der Eltern
ab; das Kind gibt diese Lustquelle nur aus Liebe zu jemand auf. Die Abgewöhnungs¬
mittel, die nur auf das Exekutive gerichtet sind, müssen unwirksam bleiben; nur
durch Eingehen auf die begleitenden Phantasien ist eine therapeutische Wirkung
möglich. Jede habituelle Masturbation hat zwangsartigen Charakter, ist die ein¬
fachste Form einer Zwangshandlung.
IV. Dr. Karl Abraham (Berlin): Die psychosexuelle Grundlage
der Depressions- und Exaltationszustände.
In fünf analysierten Fällen konnte Redner die Ähnlichkeit im Aufbau der
Depressionszustände und der Zwangsneurose konstatieren. In allen Fällen nahm
die Depression ihren Ausgang von einer die Liebe paralysierenden Hasseinstellung
und auch die Unfähigkeit, sich für die hetero- oder homosexuelle Einstellung zu
entscheiden, fand sich regelmässig. Ferner zeigte sich der Anteil des Projektions-
102
Aus Vereinen und Versammlungen.
mechanismus bei manischen Patienten. Der Gedanke: ich kann die Menschen nicht
lieben, ich muss sie hassen, wird verdrängt und nach aussen projiziert in der Form :
die Menschen können mich nicht lieben, sie müssen mich hassen und darum bin ich
unglücklich. Damit ist die eigentliche Liebesunfähigkeit beseitigt und wird ver¬
mittels einer falschen Verknüpfung auf irgend eine geistige oder körperliche Minder¬
wertigkeit geworfen. Von hier aus ergeben sich Einblicke in die Psychogenese der
Rachephantasien (Richard III), aus denen die Schuldgefühle des Patienten stammen,
anderseits ihre wahnhaften Selbstvorwürfe, hinter denen sich der Wunsch verbirgt,
ein Verbrecher grossen Stils zu sein. Auch auf das masochistische Geniessen des
Depressionszustandes wird hingewiesen, der so einen versteckten Lustgewinn liefert.
Manisches und depressives Stadium stehen unter der Herrschaft der gleichen
Komplexe. Die Manie bricht aus, wenn die Verdrängung nicht mehr Stand hält
und ihre Lustgefühle stammen aus der frei werdenden Hemmungsersparnis. Die
Ideenflucht ermöglicht das Hineingelangen in einen anderen lustvollen Vorstel¬
lungskreis.
V. Dr. S. Ferenczi (Budapest): Einige Gesichtspunkte zur Frage
der Homosexualität.
Nachdem der Redner kurz zusammengefasst hat, was die Psychoanalyse bis¬
her über die Genese der Homosexualität ergeben hat, kommt er zu dem Schluss,
dass weder der Gesichtspunkt der allgemeinen Bisexualität, noch das frühe hetero¬
sexuelle Stadium später homosexuell Gewordener, noch endlich die narzissistische
Einstellung darüber Aufschluss gebe, wie ein Individuum dazu komme, manifest
homosexuell zu bleiben. Man müsse von der echten Inversion, die zweifellos durch
konstitutionelle Momente bedingt sei, eine Objekthomosexualität unterscheiden. Im
Gegensatz zum echt Invertierten, der einen umgekehrten Ödipuskomplex entwickelt,
hat der Objekthomosexuelle einen zu starken normalen Ödipuskomplex, vor dem er
flüchtet. Diese Homosexuellen suchen nicht die Liebe des Mannes, sondern flüchten
vor der Liebe zur Frau; sie sind nicht Invertierte (Perverse), sondern Zwangsneu¬
rotiker. Die Normalen sind den umgekehrten Weg gegangen; sie haben auf die
Homosexualität ganz verzichtet und sind zu Zwangsheterosexuellen geworden.
VI. Dr. H. Körb er (Berlin): Über Sexualablehnung.
An der Hand eines Falles eines 24jährigen Mädchens, das an Anorexie und
Dyspepsie litt und seit 2 Jahren verlobt, stets vor der Heirat zurückschreckt, wird
gezeigt, dass die kulturellen Hemmungen und Erlebnisse durchaus nicht hinreichen,
um die Ablehnung genetisch zu deuten. Vielmehr ist es die allzustarke Veranke¬
rung im Familienkomplex, welche den später zu bewusster Betätigung drängenden
Sexualtrieb jedesmal an der Schwelle schon abweist. Dabei kann das Überwiegon
eines Partialtriebes oder der Autoerotismus unterstützend hinzutreten. Die Auf¬
hebung der Sexualablehnung auf psychoanalytischem Wege angelt in der Möglich¬
keit, die Pat. aus dem Familienkomplex zu lösen und in diesem Sinne sind die Ver¬
wandtenehen vielleicht als Selbsterlösung von der Sexualablehnung anzusehen. ‘Die
Sexualablehnung, die sich psychologisch durch ein Steckenbleiben im Familienkom¬
plex erklärt, schrumpft als Sexual Verdrängung zu einem Teilproblem der Verdrängung
überhaupt zusammen. Von hier aus erklärt sich auch ihre Weiterwirkung ins Bio¬
logische hinein.
VII. Dr. Hanns Sachs (Wien): Die Wechselwirkungen zwischen
Psychoanalyse und den G e iste s wissen schäften.
Die Psychoanalyse tat den ersten Schritt auf dem Gebiete der Geisteswissen¬
schaften, als ihre Technik auf die biographischen Mitteilungen und die Werke be¬
rühmter Dichter angewendet wurde. Eine engere Beziehung entstand, als sich in
Aus Vereinen und Versammlungen.
103
Sitte und Sprache, Brauch und Religion die Bestätigung der durch die Analyse beim
Träumer und Neurotiker gefundenen Resultate nachweisen liess. Durch systematische
Berücksichtigung des Unbewussten, das bei allen diesen Erscheinungen schöpferisch
tätig war, und durch die Kenntnis seiner Ausdruckstechnik müssen sich auf zahl¬
reichen Gebieten, wie Etymologie, Religionswissenschaft, Kunst- und Literatur¬
geschichte, Ästhetik, Folklore, Kultur- und Sittengeschichte, Philosophie, wertvolle
Erkenntnisse zu tage fördern lassen. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit werden
einige Probleme aufgezählt, deren Behandlung besonders wünschenswert und Erfolg
versprechend erscheint.
Zum Schluss ergeht die Mitteilung, dass zur gründlichen und einheitlichen
Bearbeitung dieser hochwichtigen Wissensgebiete die Gründung einer Zeitschrift ge¬
plant ist, deren ausschliessliche Aufgabe die Pflege der Anwendung der Psycho¬
analyse auf die Geisteswissenschaften sein soll. Als Redakteure sollen Herr Otto
Rank und der Vortragende fungieren, das Amt des Herausgebers zu übernehmen
hat sich Herr Professor Freud bereit erklärt. (Autor-Referat.)
VIII. Prof. Dr. S. Freud (Wien): Nachtrag zur Analyse Schrebers
(Jahrbuch III/l).
Ein in der Publikation unaufgeklärt gebliebenes Detail der Wahnbildung, das
Sehrebers Verhältnis zur Sonne betrifft, wird auf den Vaterkomplex zurückgeführt
und als mythologisch bedeutsam erwiesen. Es handelt sich um Schrebers Be¬
hauptung, dass er ungeblendet in die Sonne blicken könne, ein Vorzug, den die
Alten nur einem einzigen Tiere, dem Adler, einräumten, der seine Jungen auf die
Weise einer Probe ihrer echten Abstammung von der Sonne unterzogen haben soll,
dass sie ohne zu blinzeln in die Sonne sehen mussten. Das menschliche Vorbild
dieses Brauches findet sich bei den Kelten, welche die Echtheit der Abstammung
vom Rhein erprobten, indem sie ihre Kinder dem Fluss iiberliessen; und afrikanische
Stämme, welche sich der Abkunft von Schlangen rühmen, setzen ihre Kinder dem
Biss dieser Tiere aus, um so ihre Echtbürtigkeit zu prüfen. Diese Ordalien ruhen
auf einem Gedankengang, der dem Totemismus angehört, und den man so aus-
drücken kann, dass der Totem (der Ahnherr) seinem Abkömmlung nichts tut. Wenn
also der Adler ein Kind der Sonne ist, so muss sich das darin zeigen, dass die Sonne
ihm nichts tut. Schreber hat also einfach mit seiner Behauptung, ungeblendet in
die Sonne blicken zu können, den mythologischen Ausdruck für sein Kinderverhält¬
nis zur Sonne wieder gefunden und bestätigt uns so, dass die Sonne nur ein Sym¬
bol des Vaters ist.
Es erweist hier Jung’s Satz seine volle Berechtigung, dass die mythen¬
bildende Kraft der Menschheit nicht erloschen ist und sich unter den Bedingungen
der Neurose wieder geltend macht. Aber auch die religionsbildenden Kräfte der
Menschheit sind nicht erloschen und kommen bei den Neurotikern, insbesondere bei
den Zwangskranken, immer wieder zum Vorschein (vgl. Zwangshandlungen und
Religionsübung, Kleine Schriften II.). Hier wäre eiue Anknüpfung an das uralte
System des Totemismus gegeben. Wir finden also in Traum und Neurose nicht
nur das Kind mit seinen Impulsen weiterlebend, sondern auch — nach dem biogeneti¬
schen Grundgesetz — den wilden und den primitiven Menschen.
IX. Dozent Dr. C. G. Jung (Zürich): Beiträge zur Symbolik.
Ausgehend von dem Gegensatz, in welchem die hysterischen Phantasien zu
denen der Dementia praecox stehen, wird darauf hingewiesen, dass zum Verständnis
der letzteren historische Parallelen herangezogen werden müssen, da bei der Dementia
praecox der Kranke an Reminiszenzen der Menschheit leide. Seine Sprache benütze
104
Aus Vereinen und Versammlungen.
im Gegensatz zur Hysterie alte und allgemeingültige Bilder, die uns merkwürdiger¬
weise zunächst doch unverständlich seien.
An dem Fall einer 34jährigen Neurotica wird nun gezeigt, wie eine rezente
Phantasie durch historisches Material belegt und verständlich gemacht werden kann.
Die Phantasie der Pat., die das Aufhängen eines ihr unerreichbaren geliebten Mannes
an den Geschlechtsteilen zum Inhalt hatte, und die sich auch bei einem 9jährigen
Knaben als symbolischer Ausdruck seiner unbefriedigten Libido (Hangen und Bangen
in schwebender Pein) fand, ergibt mit entsprechenden ethnologischen Überlieferungen
und mythologischen Parallelen von dem durch Hängen oder Schinden geopferten
Frühlingsgott zusammengehalten den Sinn einer Opferung der Sexualität, an der
man hängt, von der man nicht loskommen kann und die in den alten Kulten als
Phallusopfer der grossen Mutter dargebracht wurde.
X. Otto Rank (Wien): Über das Motiv der Nacktheit in Dichtung
und Sage.
Es werden einige in Dichtung und Sage typisch wiederkehrende Verdrängungs¬
formen des Nacktheitsmotives aufgezeigt, die entsprechend der ihnen zugrunde
liegenden Perversionsneigung der Exhibition in zwei Gruppen zeifallen. 1. Als Ver¬
drängungsform der Schaulust erscheint subjektiv das Motiv der Blendung
(Godiva), objektiv das Motiv der Unsichtbarkeit (Melusine) als Strafe für den
verpönten Anblick der Nacktheit. Auf den Schaulustigen übertragen wird das Motiv
der Unsichtbarkeit anderseits zur Wunscbphantasie, welche wieder der Befriedigung
der Schaulust dient (Gyges). 2. Als Verdrängungsform der eigentlichen Exbibilions¬
neigung, der Zeigelust, erscheint das Motiv der Hemmung (Nacktheitsträume),
objektiviert als Fesselung, welche die schamhafte Flucht vereitelt und endlich das
Motiv der körperlichen Entstellung, welche den ursprünglich lustvollen Anblick
des entblössten Körpers abscheuerregend macht.
XI. Dr. Poul Bjerre (Stockholm): Zur Ra d i k a 1 b e h an d 1 u n g der
chronischen Paranoia.
Eine unverheiratete Frau von 53 Jahren suchte mich Mitte Dezember 1909
wegen einer Struma auf. Es kam an den Tag, dass sie seit zehn Jahren einer
Veischwörung ausgesetzt war, die von einem Frauenbund in Stockholm geleitet
wurde, und die über ganz Europa verbreitet war. Dieses unerschütterlich fest orga¬
nisierte Wahnsystem wurde aufgelöst. Eine vollständige Heilung mit Krankheits¬
einsicht trat im Frühjahr 1910 durch die Blosslegung einiger Identifizierungsprozesse
ein und besteht noch ohne jede Spur von Rückfall. — Die theoretische Diskussion
setzt die Bedeutung einer Reihe von Mechanismen auseinander. Die Krankheit trat
durch den Untergang einer 20jährigen Sublimation ein und der Wahn wurde einige
Jahre später als eine Art Heilungsversuch aufgebaut. (Autoref.)
XII. Dr. J. N e 1 k en (Zürich): Über Phantasien bei Dementia praecox.
Redner berichtet über seine Untersuchungen der Phantasien eines Dementia
praecox-Kranken und hebt als zentrale Phantasie den Inzestgedanken hervor, ob¬
wohl die Geschichte des Pat. die ganze Mythologie enthält. Er kommt zu dem
Ergebnis, dass die Schizophrenen an Inzestphantasien in wenig verhüllter Form
leiden und weist darauf hin, wie in diesen Fällen die individuellen Inzestphantasien
in den Inzestphantasien der ganzen Menschheit zerfliessen. Pat. projiziert den Kern¬
komplex auf das ganze Universum und gebraucht dazu die uralte symbolische Bilder¬
sprache. Seine Geschichte spiegelt den circulus vitiosus des Libidoproblems wieder.
Varia.
105
Dr. C. G. Jung: Bericht über das Vereinsjahr.
Geschäftliche Beratungen.
1. Es wird beschlossen, das bisher jeden zweiten Monat erschienene „Korre¬
spondenzblatt der Internationalen psychoanalytischen Vereinigung* aufgeben zu
lassen in dem „Zentralblatt für Psychoanalyse“, das nunmehr den Mitgliedern der
„Internationalen psychoanalytischen Vereinigung“ als offizielles Vereinsorgan zugeht.
2. Die panamerikanische „General-Association“, deren Mitglieder über ganz
Amerika verstreut sind und nur einmal jährlich Zusammenkommen, wird neben der
bereits bestehenden Ortsgruppe New-York als selbständige „Ortsgruppe“ der „Inter¬
nationalen Psa. V.“ angegliedert.
3. Der bisherige Präsident der „Internationalen Psa. V.“, Dr. C. G. Jung in
Zürich und der Zentralsekretär Dr. Franz Riklin (Zürich) werden per Akklamation
wieder gewählt.
Varia.
Die Bedeutung der Vokalfolge. Es ist sicherlich oft beanstandet worden,
dass, wie S t e k e 1 behauptet, in Träumen und Einfällen Namen, die sich
verbergen, durch andere ersetzt werden sollen, welche nur die Vokalfolge
mit ihnen gemein haben. Doch liefert die Religionsgeschichte dazu eine frappante
Analogie. Bei den alten Hebräern war der Name Gottes „tabu“; er sollte weder
ausgesprochen, noch niedergeschrieben werden; ein keineswegs vereinzeltes Beispiel
von der besonderen Bedeutung der Namen in archaischen Kulturen. Dies Verbot
wurde so gut eingehalten, dass die Vokalisation der vier Buchstaben des Gottes¬
namens HV"P auch heute unbekannt ist. Der Name wird Je ho v ah ausgesprochen,
indem man ihm die Vokalzeichen des nicht verbotenen Wortes Adonai (Herr)
verleiht. (S. R e i n a c h, Cultes, Mythes et Religions. T. I, p. 1, 1908.)
Freud.
Goethe über einen Fall von Konversion. „Und leider, versetzte der Arzt,
der in Wilhelms Ausrufung nur eine menschenfreundliche Teilnahme zu hören
glaubte, ist diese Dame mit einem noch tieferen Kummer behaftet, der ihr eine
Entfernung von der Welt nicht widerlich macht. Eben dieser junge Mensch nimmt
Abschied von ihr; sie ist nicht vorsichtig genug, eine aufkeimende Neigung zu
verbergen; er wird kühn, schliesst sie in seine Arme und drückt ihr das grosse mit
Brillanten besetzte Porträt ihres Gemahls gewaltsam wider die Brust. Sie empfindet
einen heftigen Schmerz, der nach und nach vergeht, erst eine kleine Röte und
dann keine Spur zurücklässt. Ich bin als Mensch überzeugt, dass sie sich nichts
weiter vorzuwerfen hat; ich bin als Arzt gewiss, dass dieser Druck keine üblen
Folgen haben werde, aber sie lässt sich nicht ausreden; es sei eine Verhärtung
da, und wenn man ihr durch das Gefühl den Wahn benehmen will, so behauptet
sie, nur in diesem Augenblick sei nichts zu fühlen; sie hat sich fest eingebildet,
es werde dieses Übel mit einem Krebsschaden sich endigen, und so ist ihre Jugend,
ihre Liebenswürdigkeit für sie und andere völlig verloren.“
(Aus: Wilhelm Meisters Lehrjahre.) S t e k e 1.
Ein anderes treffendes Wort Goethes. „Es ist eine schauderhafte Emp¬
findung, wenn ein edler Mensch mit Bewusstsein auf dem Punkte steht, wo er über
106
Varia.
sich selbst aufgeklärt werden soll. Alle Übergänge sind Krisen, und ist eine Krise
nicht Krankheit? Wie ungern tritt man nach einer Krankheit vor dem Spiegell“
(Aus: Wilhelm Meisters Lehrjahre.)
Goethe äussert sich über die Macht infantiler Eindrücke: „Gesetzt, das
Schicksal hätte einen zu einem grossen Maler bestimmt, und dem Zufall beliebte
es, seine Jugend in schmutzige Hütten, Ställe und Scheunen zu verstossen —
glauben Sie, dass ein solcher Mann sich jemals zur Reinlichkeit, zum Adel, zur
Freiheit der Seele erheben werde? Mit je lebhafterem Sinn er das Unreine in
seiner Jugend angefasst und nach seiner Art veredelt hat, desto gewaltsamer
wird es sich in der Folge seines Lebens an ihm rächen, indem es sich, inzwischen
dass er es zu überwinden suchte, mit ihm aufs innigste verbunden hat. Wer
früh in schlechter, unbedeutender Gesellschaft gelebt hat, wird sich, wenn er
auch später eine bessere haben kann, immer nach jener zurücksehnen, deren
Eindruck ihm, zugleich mit der Erinnerung jugendlicher, nur selten zu wieder¬
holender Freuden geblieben ist.“
(Aus: Wilhelm Meisters Lehrjahre.) S t e k e 1.
Religion und Medizin. Dr. Lilienstern 1 ) erzählt von einer Reise
um die Erde: „In Skutari bei Konstantinopel sah ich, wie islamitische Priester
für das Wohl ihrer Anhänger ärztlich tätig sind. Eine mohammedanische Sekte,
die der tanzenden Derwische, verbindet mit ihren Gebetübungen mämlich auch
die Behandlung von Kranken und speziell von kranken Kindern. Ich wohnte einem
Gottesdienst dieser Derwische bei. Die Übung bestand darin, dass deren 12—14
in einem Halbkreis um einen Scheikh herumstanden und, von einem Fuss auf den
andern tretend, sich nach rechts und links neigend, in immer rascherem Tempo
ihren einförmigen Gebetskanon (Lau elau-ha, Lau elau-ha, Lalla il Allah) im Chor
skandierten. Sie erregten sich, je länger je mehr, durch ihre Bewegungen und
erschienen zuletzt kongestioniert in Schweiss gebadet und erschöpft. Auf den
psychiatrischen Beobachter machten die Männer den Eindruck von manisch,
katatonisch oder hysterisch Erregten. Nach der Übung, die ungefähr l l / 2 Stunde
dauerte und bei der sich die Erregung zuletzt ausserordentlich gesteigert jhatte,
wurden kranke Kinder hereingebracht, auf die der Scheikh sich mit einem, ge¬
legentlich auch mit beiden Füssen stellte, um sie auf diese Weise von ihren
Übeln zu befreien!
Auf der Rückfahrt nach Konstantinopel sprach ich mit zwei Fransiskaner-
mönchen, die diese Krankheitsbehandlung der Mohammedaner als mittelalterlichen
Aberglauben bezeichneten. Ich -wies den Mönchen gegenüber darauf hin, dass
doch in allen Religionen für Kranke gebetet werde und dass durch solche Gebete
besonders bei erregten oder nervösen Kranken sicher auch eine gewisse Beruhigung
erzielt werden könne. Die Heilungen von Lourdes seien mir unter diesem Gesichts¬
punkte immer bis zu einem gewissen Grade verständlich gewesen. Gegen diese
meine Auffassung wandten die Mönche lebhaft protestierend ein, dass in Lourdes
hauptsächlich Heilungen von Tuberkulose und nicht von nervösen Zuständen
beobachtet -werden und empfahlen mir zur besseren Orientierung die periodischen
Veröffentlichungen aus Lourdes.
x ) Neurologisches und Psychiatrisches von einer Reise um die Erde. Münch.
med. Wochenschr. 1910. Nr. 37.
Varia.
107
Eine andere Art der Heilung durch religiöse Suggestion, die ich auf meiner
Reise kennen lernte, gehört dem buddhistischen Kult an. Im Asakusa-Kwannon-
Tempel zu Ueno-Tokio sah ich die Holzstatue des Heilgottes Binzuru. Es soll
früher ein Kunstwerk der Holzskulptur gewesen sein: jetzt sind an dem armen
Gotte kaum mehr der Rumpf und die Extremitäten zu unterscheiden. Die
Kranken reiben nämlich diejenige Stelle des Bildwerkes,
an der sie selbst zu leiden glauben. Es muss eine starke Heilkraft
in diesem Stück Holz stecken, sonst wäre der bedauernswerte Gott nicht so ab¬
gerieben, „mehr noch als ein lebendiger, vielbegehrter Arzt bei uns“, bemerkt bei
der Beschreibung dieses Götzen Hirschberg.
Im aufgeklärten Amerika tritt an die Stelle Binzurus die vielleicht
etwas fortgeschrittenere Form der Christian science. Schon vor acht
Jahren, als ich zum ersten Male das Land bereiste, war viel von ihr die Rede.
Inzwischen ist sie ja unter dem Namen des Gesundbetens in Deutschland in
Aufnahme gekommen. Bei meinem letzten Aufenthalt hörte ich nun, dass pich
jetzt Ärzte, darunter ein bekannter Internist aus Boston, mit einer Abart der
Christian science, dem „E manuel-movement“ liiert haben. Die Ärzte
überweisen ihre Kranken den Geistlichen zur „psychischen“
Behandlung, während umgekehrt von den Geistlichen die
Kranken gelegentlich zu den Ärzten geschickt werden, aber
natürlich nur dann, wenn ihrer „Diagnose“ nach eine körperliche Behandlung nötig
ist. Es ist bekannt, dass die amerikanischen Geistlichen, durch Attraktionen aller
Art, gegenseitig konkurrierend, ihre Kirchen füllen wollen. Wenn sie zu diesem
Zwecke auch die Krankenbehandlung in ihr Arbeitsgebiet aufnehmen, so ist das
für sie eben nur eines von den vielen Mitteln, die der Zwpck heiligt. Was die
Ärzte dagegen, die mit ihnen gemeinsame Sache machen, zu ihrer Rechtfertigung
anführen, weiss ich nicht.“
Dr. Lilien stein weiss offenbar nicht, dass die gemeinsame Arbeit von
Priester und Arzt manchmal sehr schöne Resultate bringen kann, wie das Beispiel
Pfisters beweist. Es kommt eben auf den Priester und den Arzt an.
Dr. W. St.
Wir ersuchen alle unsere Leser, die Rubrik Varia dadurch zu bereichern,
dass sie uns interessante Stellen aus Dichtern, Philosophen und Zeitungen einsenden.
Die Herren Mitarbeiter werden gebeten, die Manuskripte nur auf einer Seite
zu beschreiben und Änderungen der Adresse der Redaktion rechtzeitig mitzuteilen.
Die Korrekturen werden immer direkt an den Verleger und nicht an den
Schriftleiter gesendet.
108
Literatur.
Literatur.
(Abkürzungen: R?== Referat gesucht; ß = das Buch ist bei der Redaktion einge¬
laufen.)
Schröder: „Das Fortlaufen der Kinder.“ (Monatsschrift bei Kriminalpsychologie.
1911. 5. Heft.)
Dupre et Logre: „Hysterie et mythomanie.“ (Annales medico - psychologiques.
1911. Nr. 2.)
L. Jakobsohn: „Jahresbericht über die Leistungen und Fortschritte der Neurologie
und Psychiatrie im Jahre 1910. (S. Karger-Berlin.)
J. Berse: „Bewusstseinstonus“. (Wiener med. Wochenschr. 1911. Nr. 40.)
Dr. Julius Bauer: „Zur Kenntnis der neuropathischen Disposition des Rücken¬
markes.“ (Ibidem.)
Prof. Binswanger (Jena): „Pathogenese und Therapie der Epilepsie
und Hysterie. (Zeitschrift für ärztl. Fortbildung. 1911. Nr. 18.)
Boerner: Beitrag zur Sexualbiologie der Tiere. (Berliner tierärztliche
Wochenschrift. 1910. S. 939.) (Referat gesucht.)
E. Dupre et M. Nathan: Le langage musical. (Paris, librairee Felix Alcan.
1911.)
Robert Hessen: „Zur Hygiene des Schülerselbstmordes“. (Die neue Rundschau.
September 1911.)
Seur Jean ne des Anges: „Memoiren einer Besessenen.“ Mit einem Vorwort
von Hanns Heinz Evers. Verlag Robert Lutz. 1911.
Ernst Mach: „Psychisches und organisches Leben.“ (Österr. Rundschau. 1. Ok¬
tober 1911.)
Rehwaldt: „Über respiratorische Affektsymptome. (Pyscholog. Studien. 1911.
Band VII. Heft 3.) (R?)
De Soiner: „Etudes psychologiques des quelques delires.“ Bulletin de la Societe
de Medicine mentale de Belgique. 1911. Juin). (R?)
Aclier: „Recent freudian Literature.“ (Amer. Journal of Psychol. 1911.
22. VII.)
Feit er mann: „Contribution ä la connaissance de 1’Ätilogie des
Phobies et sur la Psychotherapie.“ (Journ. de Neuropathologie et de
Psych. ment, du nom. de S. S. Korsakoff. livre 5—6. 1910.)
Grete Meisel-Hess: „Di e In te 11 ekt u eilen.“ (Roman. Berlin. 1911. Oster-
held & Comp. 1911.)
Otto Rank: Die Loheng rinsage. Ein Beitrag zu ihrer Motivgestal¬
tung und Deutung. (Schriften zur angewandten Seelenkunde. 13. Heft.
Leipzig und Wien. 1911. Franz Deuticke.)
Max Flesch: Über die Sexualität im Kindesalter. (Sexualprobleme. Okt. 1911.)
Fehlinger: Die Entstehung der Exogaraie. (Ibidem.)
Lippa Bay: Der Eunuch. (Ibidem.)
Barriere: Die Kunst zu verführen. Studien über den modernen Donjuanismus.
Leipzig. G. Thieme. 1911.) (R?)
Busch an: Vom Jüngling zum Mann. (Stuttgart. 1911. Strecker und Schröder.)
Siebert: Der Student und die sexuelle Frage. (München. Verlag Lehmann. 1911.)
Storfer: Zur Sonderstellun g des Vatermordes. Eine rechtsgeschicht¬
liche und völkerpsychologische Studie. (Schriften zur angewandten
Seelenkunde. Heft XII. Franz Deuticke. Wien und Leipzig.)
Verlag von J. F. Bergmann in Wiesbaden.
Soeben erschien:
Spezielle Diagnostik
und Therapie
in kurzer Darstellung mit Berücksichtigung aller
Zweige der praktischen Medizin.
« Bearbeitet von
Prof. Dr. J. A meth-Münster i. W., IDr. H.JBeutte nmüller-Bad Liebenstein,
Prof. Dr. E. B1 o c h-Freiburg i. B., Prof. Dr. F. Fromme-Berlin, Stabsarzt
Dr. W. Guttm ann-Mülheim-Kuhr, Oberstabsarzt Dr. H. H;ase n[knopf-Strass¬
burg, Sanitätsrat Dr. Max Joseph-Berlin, Primärarzt Dr. H. Kajxosi-Breslau,
Oberstabsarzt Prof. Dr. F. Kayser-Köln, Geh. Sanitätsrat Prof. Dr. E. Leser-
Frankfurt a. M., Prof. Dr. J. Kaeck e-Frankfurt a. M., Prof. Dr. F. Schi eck,
Göttingen, Prof. Dr. S. Schoenborn -Heidelberg, Dr. Max Senator -Berlin,
Prof. Dr. L. W. Web er-Göttingen.
Herausgegeben von
Stabsarzt Dr. Walter Güttin ann
in Mülheim-Ruhr.
- Preis geh. Mk. 10.65. ■
Das vorliegende Buch ermöglicht auf allen Gebieten der praktischen
Medizin eine schnelle Orientierung über diagnostische und therapeutische Fragen
und ersetzt so die einzelne Zweige der Medizin behandelnden Kompendien. Die
grosse Ausdehnung des behandelten Stoffes machte prägnante Kürze in der Dar¬
stellung erforderlich. Dieses Postulat ist von den Autoren und dem Herausgeber
in durchaus befriedigender Weise erfüllt worden. Dem Praktiker ist die An¬
schaffung des Buches sehr zu empfehlen. Er wird besonders aus den thera¬
peutischen Massnahmen wertvolle Angaben für seine Tätigkeit finden, da nur
solche Heilverfahren erwähnt sind, die auf Grund eigener Erfahrungen der Ver¬
fasser als empfehlenswert erscheinen. Im Rezeptanhang sind bewährte Rezepte,
nach ihren Wirkungen geordnet, zusammengestellt, die bei verschiedenen Krank¬
heiten zur Anwendung kommen.
Inhalts-Verzeichnis des II. Heftes.
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Originalarbeiten:
I. Die Lehren der Freud-Schule. Von Havelock Ellis .... 61
II. Zur Frage der Genese des Eifersuchtswahnes. Von Dr. Hans
Oppenheim . 67
III. Mantik und Psychanalyse. VonHerbertSilberer .78
Mitteilungen:
I. Analyse eines Falles von Namen vergessen. Von Prof. Er ne st
Jones ... . . . • . 84
II. Ein Traum, der das Gegenteil einer Wunscherfüllung zu verwirk¬
lichen schien, zugleich ein Beispiel eines Traumes, der von einem
anderen Traum gedeutet wird. Von AugustStärcke . . . . 86
III. Der Traum eines Coitus interruptus. Von Dr. AlfredMeisl . . 88
IV. Aus dem Tagebuch eines Neurotikers. Von Dr. W. St ekel . . , 89
Referate und Kritiken:
Dr. Oskar Pfister: Psycho-Analysis and child-study.90
Prof. Felix Asnaurow: „Algolagnie und Verbrechen“ ...... 90
-„Die sexuelle Seuche in Russland“ ... 91
Georg Büttner: „Das Wesen der Seele“ ............. 91
Bin et: Le Diagnostique Judiciaire par la Methode des Associations . . 92
Dr. Hermann Aub: Die Hysterie des Mannes ......... 93
Dr. Havelock Ellis: Geschlecht und Gesellschaft ........ 94
Dr. Max Marcuse: Die Gefahren der sexuellen Abstinenz für die Ge¬
sundheit .■ ..94
Dr. Cb. v. Hartungen: Kritische Tage und Träume.95
S. Rahm er: Nicolaus Lenau als Mensch und Dichter.96
D. N. A. Wyrubow: Die psychotherapeutischen Aufgaben eines Sana¬
toriums für Nervenkranke. 98
Aus Vereinen und Versammlungen.
Bericht über den III. Psychoanalytischen Kongress in Weimar am 21. u.
22. September 1911.100
Varia.. 105
Literatur.108
Druck der Königl, ünivereitätsdruckerei H. Stürtz A. G. Würzburg.