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Full text of "Zentralblatt für Psychoanalyse. Medizinische Monatsschrift für Seelenkunde II. Jahrgang 1912 Heft 12 September"

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Zentralblatt 

für 

Psychoanalyse. 

Medizinische Monatsschrift für Seelenkunde. 

Organ der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung. 


Herausgeber: Prof. Dr. Sigm. Freud. 
Schriftleiter: Dr. Wilhelm Stekel, Wien, Gonzagagasse 21. 


Unter Mitwirkung uon: 

Dr. Karl Abraham, Berlin; Dr. R. 0. Assagioli, Florenz; Dr. Ludwig Binswanger, 
Kreuzlingen; Dr. Poul Bjerre, Stockholm; Dr. A. A. Brill, New-Vork; ;Dr. M. 
Eitingon, Berlin; Dr. D. Epstein, Kiew; Dr. S. Ferenczi, Budapest; Dr. Max Graf, 
Wien; Dr. Magnus Hirschfeld, Berlin; Dr. E. Hitschmann, Wien; Professor E. ]ones, 
Toronto; Dr. Otto Juliusburger, Steglitz; Dozent C. G. Jung, Zürich; Dr. F. S. 
Krauss, Wien; Professor August u. Luzenberger, Neapel; Dr. Alfons Mäder, 
Zürich; Dr. J. Marcinowski, Haus Sielbeck a. Uklei, Prof. Güstau Modena, Ancona; 
Prof. Morichau-Beauchant, Poitiers; Dr. Richard Nepalleck, Wien; Dozent N. Ossi- 
pow, Moskau; Dr. Oskar Pfister, Zürich; Prof, Dr. James Putnam, Boston; Otto 
Rank, Wien; Dr. R. Reitler, Wien; Dr- Franz Riklin, Zürich; Dr. J. Sadger, 
Wien; Dr. L. Seif, München; Dr. A. Stegmann, Dresden; Dr. M. Wulff, Odessa; 
Dr. Erich Wulffen Dresden. 


II. Jahrgang Heft 12. 

September. 


Wiesbaden. 

Verlag uon J. F. Bergmann. 

1912. 


Jährlich erscheinen 12 hefte im Gesamt-Umfang uon mindestens 
40 Druckbogen zum Jahrespreise uon 18 Mark. 






















Verlag von J. F. Bergmann in Wiesbaden. 


Die 

Sprache des Traumes. 


Eine Darstellung 

der Symbolik und Deutung des Traumes in ihren 
Beziehungen zur kranken und gesunden Seele 

für 

Ärzte und Psychologen 

von 

Dr. Wilhelm Stekel, 

Spezialarzt für Psychotherapie und Nervenleiden in Wien. 

Treis Mk. 12.60, gebunden Mk. 14 .—. 

Wenn der Volksglaube von altersher meint, dass Traume etwas Zukün- 
tiges bedeuten, so beweist die neuere, besonders durch den Wiener Professor 
S. Freud zu grossen Fortschritten gebrachte moderne Traum forsch ung, dass 
sie Gegenwärtiges bedeuten; nämlich Gedanken, Wünsche und Triebe, die in 
den Tiefen unseres Seelenlebens gegenwärtig sind. Dr. Stekel findet dafür 
die Formel: „Der Traum ist eigentlich ein Spiel von Darstellungen im Dienste 
der Affekte.“ Namentlich solche seelische Regungen sind das Bewegende dos 
Traumes, welche wir uns selbst nicht eingestehen wollen und im Wachleben 
unterdrücken; z. B. verbrecherische oder solche sexuelle Tendenzen, die wir 
nicht gutheissen. Alle diese Affekte leben sich im Traum sozusagen aus, aber 
nicht in ihrer wahren Form, sondern symbolisch maskiert, sodass sie nicht 
leicht erkannt werden. ... Im Traum ist jeder Mensch ein Weltschöpfer. Und 
wenn er eine schlechte Welt erschafft, so hat er die Verantwortung der schlim¬ 
men Weltordnung zu tragen, die sein Werk ist. Kommen im Traum schlechte 
Geschöpfe vor, Bösewichler, Egoisten, rachsüchtige, schadenfrohe, hinterlistige, 
raubgierige Menschen und Tiere, so hat der Träumer die Schlechtigkeit, die er 
erfährt oder mit ansieht, im Grunde sich selbst zuzuschreiben. Es ist daher 
nicht ganz richtig, zu behaupten, dass man für seine Träume nicht verantwort¬ 
lich sei. Diese und andere Erkenntnisse gehen jedem denkenden Leser des 
überaus fasslichen und fesselnden StekeIschen Werkes auf, das einen grossen 
Leserkreis verdient. Das 540 Seiten starke Buch enthält nahezu an 600 analy¬ 
sierte Beispiele. Allgemeine Sport-Zeitung. 

Aeskulap als Harlekin. 

Humor, Satire und Phantasie aus der Praxis. 

Von 

med. Dr. Serenus. 

Preis Mk. 2.80. 


Das Problem des Schlafes. 

Biologisch und psychologisch betrachtet. 

Von Dr. Ernst Trömner in Hamburg. 

Grenzfragen des Nerven- und Seelenlebens. Herausgegeben von Hofrat 
Dr. L. Loewenfeld. München. Heit 84. 

Treis Mk. 2.80. 








Originalarbeiten 


i. 

Drei Romane in Zahlen. 

Ein Beitrag zur symbolischen Verwendung von Zahlen im Leben und 

im Traume. 

Von Dr. J. Marcinowski, Haus Sielbeck a. Uklei. 

Wohl keine der vielen symbolischen Verkleidungen, mit denen das 
Unbewusste sein phantastisches Spiel treibt, stösst dem nüchternen Verstand 
so vor den Kopf, wie die Symbolik der Zahlen. Keine macht so sehr den 
Eindruck des völlig Willkürlichen, obwohl sie für den Träumer genau die¬ 
selbe Bedeutung und Überzeugungskraft besitzt wie andere Symbole, die als 
Allgemeingut der Menschheit der Einsicht leichter zugänglich sind. 

Die Beispiele, die ich hier beschreiben will, sind in ungewöhnlichem 
Masse geeignet, die Berechtigung zu erweisen, Zahlen in einem tieferen Sinne 
zu deuten. Es gewährt einen klaren Einblick in eine weitverbreitete Spielerei 
und beweist, dass wir es mit Tatsachen und nicht mit willkürlichen Unter¬ 
stellungen zu tun haben, wenn wir bei der Traumdeutungsarbeit auf Grund 
der Einfälle des Träumers allerhand rechnerische Kunststücke vorzunehmen 
haben. Die vorliegenden Beispiele sind überdies — mit Ausnahme meiner genau 
notierten Fragen — in all ihren Teilen ohne Einfluss des Arztes vom Kranken 
selbst gedeutet worden. Fall I ist überdies die stenographische Niederschrift 
während der Hypnose der Kranken, die gewohnt ist, kurz vor dem Wecken 
die Träume der Nacht und damit ihre Angstzustände abzureagieren. Sie 
hatte keinerlei Kenntnis davon, dass es sogenannte Zahlenträume gibt. Um 
so beweisender sind die Aufzeichnungen, die ich wörtlich und in absoluter 
Originaltreue, d. h. völlig ungeordnet und ungruppiert wiedergebe, in genau 
der Reihenfolge, wie die Einfälle hintereinander kamen. Später, nach dem 
Erwachen erzählte sie mir, dass sie als Kinder in diesen Zahlenphantasien 
geschwelgt hätten. Diese Scherze sind auf eine Stufe zu stellen mit den 
sogenannten Geheimsprachen der Schulkinder, der B-Sprache, der Erbsen- 
Sprache und ähnlicher, über ganz Deutschland verbreiteter Schülergepflogen¬ 
heiten. Sie hätten, so berichtet sie, für jeden Buchstaben des Alphabetes 
die entsprechende Zahl auswendig gewusst (das weiss sie übrigens auch jetzt 
noch) und dann in Ziffern gesprochen oder richtiger schnell buchstabiert. 

Wo wir Kinderspiele haben, die sich als Allgemeinbesitz des ganzen 
Volkes finden und sich fast triebartig durchsetzen, da handelt es sich um 

Zentralblatt für Psychoanalyse. II n . 44 


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Dr. Marcinowski, 


ernste, tiefsinnige Gepflogenheiten früherer Jahrtausende, die im Laufe fort¬ 
schreitender Kultur zu Kinderspielen herabgesunken sind. Am deutlichsten 
sehen wir das an Waffen und Geräten. Alter Männerbrauch erhält sich so 
in kindischem Tun. Der Knabe macht heute mit Flitzbogen und Pfeilen 
die Strasse unsicher, und auf dem Weihnachtsmarkt wird das alte heilige 
Sch wirrholz als Waldteufel ausgeboten, Stück für Stück ’nen Sechser. Die 
Julnacht gehört aber dazu; nie wird ein Kind mitten in unheiligen Sommer¬ 
nächten auf den Gedanken verfallen, den „Teufel“ schwirren zu lassen, zu 
dem das Christentum alte Yolksgottheiten herabgewertet hat. Das alles 
steckt in uns. Jahrtausendlanger Gebrauch hat Instinktkraft gewonnen und 
äussert sich naturgemäss in einem Alter, das dem kulturgeschichtlichen 
Wiederholungskursus entspricht, den unsere Jugendzeit entwicklungsge¬ 
schichtlich durchläuft. Zahlensymbolik ist auch solch alter heiliger 
Kultgebrauch, der zum Kinderspiel herabsank und zum Aberglauben. 

Meine Beispiele sind vom Zufall übrigens so reizend unterstützt, dass 
sie fast unheimlich auf entsprechende Gemüter wirken müssen. Man wird 
am Schluss sehr wohl verstehen, wie man dabei zu Aberglauben und Be¬ 
stimmungsvorstellungen gelangen kann. 


I. 

Der Traumtext im ersten Beispiele lautet: 

.. . Ich habe dann noch viel durcheinander geträumt, darunter folgendes 
Bild: ,,I c h kam zum Lehrter Bahnhof, W.... ’s riefen mir zu, 
ich solle nur schnell machen, der Zug ginge 2,45. Ich wollte 
aber nicht, und sagte, ich wollte erst zwei Stunden später mit 
dem Schnellzug fahren um 1,15. (Der Mittagsschnellzug von Berlin 
nach Sielbeck geht tatsächlich 1,15 von dort ab.) Das taten wir dann 
auch und fuhren 3. Klasse. Es war auch noch etwas mit 
11 d ab ei.“ 

Arzt: Das ist ja sehr eigentümlich. Was bedeuten diese Zahlen? 
Können Sie sich dabei denken etwas? 

Einfälle der Hypnotisierten: 

2,45 bin ich öfter am Sonnabend nach H. (Vorort von Berlin, 

wo Patientin wohnt) gefahren, an den Tagen, wenn A . . . später nach Hause 
kommt. (A. ist ihr Gatte.) — 

2,45 ist 3 / 4 3, d. h. es fehlt etwas an 3. — 

3 ist mein Junge, mein 3. Kind, was ich erwarte. (Patientin ist in 
anderen Umständen.) — 

3 und 9 sind meine Lieblingszahlen, in Swinemünde habe ich immer 
nur die Badezellen 3 oder 9 benutzt. — 

Überhaupt habe ich die ungraden Zahlen gerne, mit Ausnahme 
von 7. Auch die Zahlen, die sich durch 9 teilen lassen, wie 27 und 45, 
auch 18. — 

Ich werde jetzt 27 Jahre alt (3 X 9) und bekomme jetzt gerade meinen 
3. Jungen. Sicher ist es einer, wie es mir Ben Akiba in Swinemünde 
geweissagt hatte. Er hat mir ja auch die ersten beiden Kinder richtig 
prophezeit. (Ben Akiba war eine interessante Badebekanntschaft von ihr.) 

3 / 4 3 ist das Kind jetzt, d. h. es ist noch nicht ganz fertig, noch 
nicht ganz 3. 



Drei Romane in Zahlen. 


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3 ist die „Erfüllung“, und daher dieser Junge, der mein grösster Wunsch 
ist, wie ich ihn in der ganzen Kinderzeit schon gehabt habe. Ich erinnere 
mich an die Puppe, die mir diesen Wunsch verkörperte, und wie ich meinen 
Bruder habe totschlagen wollen, als er sie mir zerbrach. (Dieser Junge, ein 
Kind von ganz bestimmter Art, ist geradezu eine fixe Idee von ihr, die ihr 
Leben in hohem Grade beherrscht. Starke Beseitigungsideen gegen die 
ersten beiden Kinder, die diesem Wunsche nicht entsprachen, machten sie 
krank.) Nun weiter: 2 Uhr 45! — ist 4 + 5 = 9, ausserdem die 2 dazu¬ 
gerechnet = 11, und 11 ist gleich L. = Lena, mein Vorname. — 

Arzt: Wieso das? 

Patientin: Weil wir auf der Schule fliessend in Zahlen sprechen 
konnten, indem wir die Nummern des Buchstabens im Alphabet statt des 
Buchstaben setzten. — 

4 5 schreibe ich immer fast zwangsweise gedankenlos in den Sand, 
wenn ich mit Schirm oder Stock male. Das hängt so zusammen: 

P ist gleich 15, und .3X15 = 45. 

Als Backfisch hatte ich nämlich einen Verehrer, der mit Vaternamen 
P.... hiess. Wenn ich mich Mutter träumte, und das tat ich wie gesagt 
fast immer, so wandelte sich ja mein Name durch die Heirat auch in P. 
Das war zu seinem Namen dann die zweite 15, und dazu kam als dritte 15 
der Junge, also 3X15 = 45, meine wunscherfüllende Zahl (wunscher¬ 
füllend, weil 4 + 5=9). Ausserdem ist 2 X (4 + 5) = 2 X 9 = 1 8 und 
1 + 8 gibt wieder 9. In 2,45 steckt also nicht nur mein jetziger Zustand 
als unvollendete Schwangerschaft, als 3 / 4 3, sondern auch als 2 X (4 + 5), 
nämlich als 2X9. Der Junge und ich sind aber als 1 + 8 = 9 dabei 
noch ungeteilt. 

Arzt: Ich denke, Sie sind 11 ? = Lena? Wieso sollen Sie denn 
9 sein? 

Patientin: Wieso ich 9 bin? — Ja, 11 ist mein Name Lena, 9 
aber doch die mir eigene Zahl. Jeder Mensch hat doch eine Zahl, 
die seine ganze Persönlichkeit ausdrückt. Wissen Sie das nicht? 
Ich weiss jetzt gar nicht, wieso ich 9 bin, aber es ist so. 

Doch, da fällt mir ein, wenn ich 9 schreibe, und das tue ich sehr 
oft, so ist der obere Teil wie ein Ei, und das Schwänzchen daran wie ein 
Samenfaden, der dort hineindringt. 

Arzt: Aber 9 waren Sie doch schon als Kind, und das haben Sie 
damals doch noch nicht gewusst. 

Patientin: Das stimmt, ich war es schon als Kind. — Und jetzt 
fällt mir ein, wie alles gekommen ist. Ich war immer die erste in der 
Schule, wurde dann krank und fehlte lange Zeit. Als ich wiederkam, wurde 
ich 9!?, und weinte furchtbar darüber. Meine Mutter tröstete mich und sagte 
immer und hat es noch oft gesagt: „Du musst die 9 lieb haben. Das 
ist doch eine so schöne Zahl, und Du bist mir viel lieber, wenn Du als 9|? 
gesund bist, als wenn Du als 1|| krank wärest.“ 

Ich habe mir rasende Mühe gegeben, wieder heraufzukommen, aber es 
gelang mir nicht. Einmal wurde ich sogar 11 i^, das war das tiefste. Dann 
habe ich es wegen dieser 9 durchgesetzt, dass ich auf eine andere 
Schule kam. — 


44* 


622 


Dr. Maroinowski, 


Ausserdem ist aber 9 auch Sonst noch mein Ideal, mein männ¬ 
liches I deal. — 

Darum muss auch mein Junge 9 sein. — 

9 ist im Alphabet das J. — 

J ist mein Bruder Johannes, J sind Sie Herr Doktor. (Mein Vorname 
ist Jaroslav.) Und J ist auch mein Vater, als Kind mein Ideal von 
Männlichkeit. Ich wollte ebensolche 9 haben, als Mann sowohl wie als 
Jungen, daher 2,45 = 2 X^ = 18. (18 = 1 + 8 = 9.) 

Diese drei Ideale meines Herzens zusammengefasst 9 + 9 + 9=27 sind 
nämlich auch wieder 9 = 2 + 7. — 

Eigentlich bin ich ja gar nicht 11, (Lena) sondern 12, denn ich bin 
Magdalena = M getauft. Das ist wieder 3, nämlich 12 = 1 + 2 = 3. — 

Nun kommt noch eine andere Lieblingszahl von mir, das ist die 5. 
5 wurde ich aber erst auf der Hochzeitsreise, nämlich: Ich war M = 12 
und 1 + 2 = 3, also eigentlich auch 3. Dazu wurde ich durch den Familien¬ 
namen meines Mannes B.... = 2. Das gibt für mich als verheiratete 
Frau, als Magdalena B ... . die Summe 3 + 2 = 5. 

Damit ist es mir sehr merkwürdig ergangen. Auf der Hochzeitsreise 
bekam ich eine, wie nennt man das doch, wenn es fortgeht? 

Arzt: Einen Abort? 

Patientin: Ja, das meine ich. (So stolpert sie stets in der ihr eigen¬ 
tümlichen Art über Komplexworte, hier Flagellationsszenen auf dem 
Abort betreffend). Ich bekam plötzlich in Mentone eine sehr starke Blutung, 
träumte in der Nacht, mein Mann wäre nach Monte Carlo gefahren, und 
hätte auf „5 rot“ gewonnen. Ich erzählte ihm den Traum und bat ihn, 
das zu tun. Lachend sagte er: „Gut, ich riskiere aber nur 5 Franks.“ 
Und was geschah? Er trat in den Saal, und als er am ersten Tisch auf 
„5 rot“ setzen wollte, erscholl der Huf: „Rien ne va plus.“ Es war zu spät; 
die Kugel rollte, „5 rot“ gewann vergebens! — Er ging an den zweiten 
Tisch und auch da war es fast zu spät. Er warf das Geldstück rasch auf 
den Tisch; es fiel daneben, mitten ins Roulette hinein, so dass es nicht galt. 
Das Roulette blieb stehen, „5 rot“ hatte wieder vergeblich gewonnen. Er 
ging an den dritten Tisch und sagte sich, das ist Unsinn, dreimal kommt 
rot sicher nicht. Er setzt auf etwas anderes, die Kugel rollte, „5 rot“ ge¬ 
wann und er hatte abermals verloren! — 

„5 rot“ heisst in der Sprache meiner Zahlensymbolik also: Magdalena 
B.... blutet. — Dafür habe ich aber nachher auf 9 und 18 gewonnen. 
Ich habe auch oft verloren. — Aber Sie kennen ja meine eigentümliche 
Zwangsneigung, dass ich oft das Gegenteil von dem tun muss, was ich will. 
So sind mir 2 6 und 2 9 Unglückszahlen, die habe ich auf schwarz oft 
zusammengesetzt, in die Mitte von beiden. 

Arzt: Warum sind das denn Unglückszahlen? 

Patientin: Ja, 26 und 29 sind so furchtbar schwarze Zahlen, 
aber ich w r eiss nicht, warum. — 


Da weitere Einfälle nicht kamen, brach ich die Hypnose ab. Die Frage, 
warum 1,15 zwei Stunden später war als 2,45, konnte sie mir 
nicht beantworten. Am folgenden Tage fing sie in der Hypnose von selbst 



Drei Romane in Zahlen. 


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zu sprechen an und brachte einen langen Nachtrag. Sie sagte, sie hätte in 
ihrem Leben nie aufgehört, mit Zahlen zu spielen, nur noch nie davon ge¬ 
sprochen. 

Die Hypnotisierte fährt fort: Der Tag, an dem ich träumte, 
war der 27 und 2 + 7 = 9. Es war Kaisers Geburtstag. Ich habe den 
Kaiser immer beneidet, weil er so viele Jungens hat. Der Kaiser hat oft 
eine Rolle in meinen Träumen gespielt. — 

Der 26. — gestern — war mein Hochzeitstag, kurz vor dem 27., 
d. h. dicht vor der 9. 26=2 + 6 = 8. Der 8. Februar ist ausserdem 

mein Geburtstag, auch wieder dicht vor dem 9. 

Am 7. 2. hatte A_ P.... Geburtstag, und 7+2 = 9. [ A_ P_ 

ist der Jugendverehrer, von dem schon die Rede war, vgl. 45 = 3X15. 
(15 = P.)] 

Alle geraden Zahlen bedeuten für mich immer etwas dickes, rundes, 
Ei ähnliches = weibliches Symbol. Alle ungeraden, etwas langge¬ 
strecktes = mannliches Symbol. (Dies ohne Kenntnis der Stekel- 
schen Deutungen. 

A .. .. P . .. . ist A = 1, P = 15. Das gibt, die 1,15, den Schnellzug 
des Traumes nach Sielbeck. 

Der 26. September ist der Geburtstag meines Mädels, wieder dicht 
vor dem 9. (2 + 6 ist bloss 8) d. h. dicht vor der „Erfüllung“. Es war ein 
Mädel und ich wollte einen Jungen. — 

Arzt: Ja, aber Sie haben doch ausserdem einen Jungen, wie ist es 
mit dem? 

Patientin: Ja, am 25. 2. 09 ist der Geburtstag meines Knaben. 
2 + 5 + 2 ist zwar 9 und 09 dazu ist 18. (1 + 8 = 9.) Aber 25 erzielt 

2 + 5 = 7, d. h. es ist nicht der richtige Junge, nicht der, den ich mir 
gewünscht habe. Er ähnelt nicht den Idealen, die sich mir in der 9 ver¬ 
körpern. — 

Und nun weiss ich auf einmal, wie das mit den Zügen ist. Wenn 
ich damals mit dem Schnellzug 1,15 gefahren wäre, d. h. A... P... 
= 1,15 geheiratet hätte, wäre ich schneller zu meinem Ziel, dem 
„bestimmten“ Jungen gekommen. Ich kam aber erst auf dem Bahnhof 
(Standesamt) an, als der Personenzug 2,45 ging. 2 = B . . . , ich heiratete 
den B . . . , um zu 45 (4 + 5 = 9), d. h. dem Jungen zu gelangen. Der 
Zug fuhr mir aber zu langsam, es dauerte zu lange, bis ich den Jungen, 
den ich haben wollte, bekam. Darum liess ich ihn ohne mich weiter fahren, 
und fuhr lieber zwei Stunden später, d. h. nachdem ich schon 2 Kinder 
hatte, mit dem Schnellzug 1,15 nach Sielbeck, der eigentlich vor den zwei 
Kindern hätte fahren sollen. — 

Sielbeck ist nämlich in meiner Phantasie die 4 + 5, die 9. 

Schreiben Sie einmal Sielbeck untereinander und die Zahlen daneben; 


dann muss das herauskommen: S = 18 

i = 9 

e = 5 

1 = 11 
b = 2 

e = 5 

c = 3 

k = 10 


63 = und 6 + 3 = 9. 



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Dr. Marcinowski, 


Bei Ihrem Namen ist das natürlich ebenso: 

Erstens ist J = 9 

und 31 = 12 

das macht zusammen 21 und 2 + 1=3. [Vgl. M = (Magda¬ 
lena = 12 und 1 +2 = 3.] 

Aber auch mein Mann hat am 4. 5. Geburtstag: das ist auch 4+5 = 9, 
d. h. er ist gut. — 

Nun muss ich Ihnen noch die 2,45 erklären. Das ist ebensowenig nur 
der Vorortszug nach H...., wie 1,15, nur der D-Zug nach Sielbeck. Sie 
wissen, dass ich kurz vor meiner Verlobung die Verbindung mit dem Leutnant 
W. H. anstrebte, und wie ich unglücklich war, als daraus nichts wurde. 
Nun habe ich einmal eine Zusammenkunft gehabt, die ist folgendermassen 
zustande gekommen: [W. H. ist übrigens 22 +8 =30. Null ist Nichts, also 
W. H. = 3j. Eines Tages bekam ich von ihm eine Karte, worauf er 
sich selbst zu Pferde im Hippodrom im Tiergarten gezeichnet hatte. Es 
stand weiter nichts darauf, als ganz klein zwischen den Reitwegen gekritzelt: 
„Wochentags 2,45 nachm., Sonntags 10 Uhr vorm.“. Die Karte bekam ich 
am Freitag. Ich habe dann sehr mit mir gekämpft, ob ich hingehen sollte, 
bin aber den ersten Nachmittag noch nicht hingegangen. Aber 2 Tage 
später (vgl. 2 Stunden später) bin ich dann am Sonntag durch den Tier¬ 
garten zur Kirche gegangen, zusammen mit der ahnungslosen F . . . F . . .. 
Wir sahen ihn auf dem Hinweg nur kurz. Aber auf dem Rückweg, wo ich 
allein ging, habe ich ihn lange gesprochen. 2,45 bedeutet also nächst 1,15 
meine zweite Jugendliebe. Die Buchstaben seines Vornamens Wilhelm und 
seines Vaternamens zusammengezählt ergeben übrigens 78 und 86, d. h. 
7 + 8+ 8 + 6 = 29, also 2 + 9 = 11, meinen eigenen Vornamen (L = 11), 
und auch der Tag, an dem ich ihn kennen lernte, war ein Glückstag, eine 9. 
(1. 2. 1905 = 18 und 1 + 8 = 9.) 

Der Unglückstag, der sich mit seinem Namen für mich verknüpft, er¬ 
gibt natürlich wieder 7. Nämlich: der 14. 6. 05 = 25 und 5 + 2 = 7, 
das ist der Tag, an dem er nach Afrika ging. Aber am 2. 10. 1905 
erhielt ich noch einmal einen letzten Gruss von ihm 2 +10+1 + 9 + 5 = 27 
und 2 + 7 = 9. 

2 3 ist auch so eine Lieblingszahl von mir. Ich bin geboren am 8. 
2. 85 = 8 + 2 + 8 + 5 = 23 und 2 + 3 = 5.— 

So habe ich noch viel mit Zahlen gespielt, ich will noch mehr davon 
erzählen: 

Mein Verlobungstag z. B. war am 10. 11. 05. Das gibt wieder¬ 
mal 26 und 2 + 6 = 8. Die Verlobung liegt nämlich kurz vor der 9, 
vor der Erfüllung, und die Verlobung war eben keine ganze Erfüllung. Am 
nächsten Tage, am 11. 11. 05, zusammen 27 und 2 + 7 = 9 fuhren wir 
mit dem Schnellzug um 9 Uhr nach Lübeck. Sie sehen, wie sehr mir das 
noch alles im Gedächtnis haftet, alles immer wieder 9. Eigentlich hatten wir 
allerdings schon am selben Tage fahren wollen. Wir kamen aber zu spät, 
denn wir hatten zu viel Besorgungen. Die Verlobung war nämlich um 
3 Ub zustande gekommen, das ist 4,45, und das wiederum sind 2 Stunden 
später wie 2,45 im Traum. Das Datum nehme ich auch gerne so: 

11. 11. 05 = 1 + 1 + 5 + 2 + 4 +■ 5 = 18 und 1 + 8 = 9. 



Drei Romane in Zahlen. 


625 


Mir sind noch viele solcher Daten geläufig: 

So ist am 13. 3. 1901 der Tag meiner Einsegnung. 

13 + 3 + 19 + 1 = 36. 3 + 6 = 9. 

1 + 3 + 3 + 19 + 1 = 27. 2 + 7 = 9. 

1 + 3 + 3+1+ 9 + 1 = 18. 1 + 8 = 9. 

Unangenehm war mir auch der Antrag eines Franzosen, am 24. 5. 

1904; dementsprechend ergibt 2 —j— 4 —(— 5 —+ 1 —|— 9 + 4 = 25, also 2 + 5 = 7. 

Am 26. 1. 1906 war der Tag meiner Hochzeit, die mir nicht hielt, 
was ich erwartet hatte. Das Datum ergibt deshalb auch die unglückliche 7, 
die ich nicht mag, nämlich: 

26 +T + 19 + 6 = 52. 5 + 2 = 7. 

2 + 6 + 1 + 1+ 9 + 6 = 25. 2 + 5 = 7. 

Und auch der Name meines Mannes gibt dementsprechend 7, nämlich 
die Buchstaben des Vornamens zusammengezählt 80, des Vaternamens 53, 
zusammen = 133, und 1 + 3 + 3 = 7. 

Dann ist am 26. 9. 1907 Luisens Geburtstag; nur ein Mädel, also 
auch nur 7: 



26 + 9 + 19 + 7 = 61. 

6 + 1 = 

2+6+9+1+ 

9 + 7 = 34. 

3 + 4 = 

Meine guten 

Jugendfreundinnen heissen: 


G. 

0. 

7 + 14 = 21. 

2 + 1 = 

E. 

F. 

6 + 6 = 12. 

1 + 2 = 

A. 

R. 

1 + 17 = 18. 

1 +8 = 

H. 

D. 

8 + 4 = 12. 

1 + 2 = 

E. 

D. 

5+ 4= 9. 

= 


Die mir Unglück brachte und ich selbst, wir heissen beide M. D. 

M.D. 12 + 4 = 16. 1 + 6 = 7. 

Deshalb habe ich auch sofort Magdalena in Lena umgewandelt: 

L.D. = li + 4 = 15. 

(Vergl. 15 im Traum, 3X 15 = 45.) 

Nun Sie, Herr Doktor! — J. M. ist wie gesagt = 9 + 12 = 21, das 
gibt 2 + 1=3, also Güte. Aber nun werden Sie mich auslachen und 
wieder von Übertragung reden. Alle Ihre Zahlen, wie ich sie auch fasse, 
ergeben immer meinen Vornamen: 11 also L. 

1. Ihr Geburtstag fällt auf den 13. 11. 1868, das gibt: 

13 + 11 + 18 + 68 = 110 und da Null gleich nichts, so auch 11, 
oder 1 + 3 + 1 + 1 + 1 + 8 + 6 + 8 = 29, und 2 + 9 = 11, 
oder 13. 11. 68. geschrieben dasselbe, nämlich: 

13 + 11 + 68 = 92 und 9+ 2 = 11. 

2. Weiter, Ihr Vorname Jaroslav, untereinander geschrieben ergibt 

J = 9 

a = 1 

r = 17 

o = 14 

s = 18 

1 = 11 

a = 1 

v = _ 21 

das macht 92, und 9 + 2 = 11. 

















626 


Dr. Marcinowski, 


3. Ihr Vatersname desgleichen: 

M = 12 

a = 1 



n = 13 

o = 14 

w = 22 


s = 18 

k = 10 

i = _ 9 

das macht 128, und 1 + 2 + 8 = 11 . 
Meine Übertragung ist doch also so schicksalsbestimmt wie nur möglich. 


Nun will ioh noch zum Schluss das Material so zusammenfassen, dass 
der Traum, von dem wir ausgingen, seinen klaren Sinn erhält. Ich würde 
etwa so sagen: „Also, gestern war mein Hochzeitstag, am 26 ten ; das ist 
2+6=8, d. h. dicht vor der 9, meiner Glückszahl, der Zahl meiner 
Wunscherfüllungen. Ich bin wieder in anderen Umständen, also auch kurz 
vor der Erfüllung, und zwar 3 / 4 3, denn das dritte Kind wird doch nun endlich 
der ersehnte Junge sein, die 9. Dann habe ich 2 Jungens, 2,45 = 2 X (4 + 5). 
Wäre ich damals mit A. P. (1,15) zusammen gekommen, so wäre ich viel 
schneller (mit dem Schnellzug 1,15) zu meinem Ziel gelangt. Nun 
musste ich 2 Stunden (2 Kinder lang) warten, bis das dritte dran kommt. 
Und 2,45 (= W. H.) habe ich mir entgehen lassen, bin erst 2 Tage später 
hingegangen (2 Stunden später als 2,45.) Die 2, die böse 2, (das B = 
mein Mann), das mich aufhält! Wenn das kommt (alle Sonnabend), dann 
komme ich immer noch mit einem späteren Zuge (2,45) zurecht. Ach was, 
kurz vor der Erfüllung ( s / 4 3) fahre ich noch schnell (Schnellzug 1,15) nach 
Sielbeck. [Sie soll nämlich die Entbindung wegen drohender Puerperal psychose, 
hier bei mir abmachen] und wenn ich (Lena = 11) zu ihm (J. M. = 9. 12.) 
nach Sielbeck komme, wird alles gut werden, (denn Sielbeck ist ja 9) und 
besser und eher, als wenn ich auf vergangener Hoffnung stehen bliebe.“ — 
Die Deutung des Traumes in dieser Zusammenstellung wird dem Sinn 
und dem Wortlaut nach von der Träumerin lebhaft bestätigt, und auch im 
wachen Zustande als übereinstimmend mit ihren eigenen Ge¬ 
dankengängen und Phantasien befunden. 


Ich möchte zum Schlüsse noch bemerken, dass ich in dem Protokoll 
nicht ein Wort und nicht eine Zahl ausgelassen habe. Man könnte vielleicht 
meinen, dass unter der erdrückenden Fülle von zutreffenden Rechenresultaten 
auch solche zu verzeichnen gewesen wären, die nicht 9 oder 7 und 5 u. s.w. er¬ 
geben hätten. Ich erkläre ausdrücklich, dass von irgend einem solchen 
Fehlversuch nicht die Rede war. Auch die schwierigen, langen Exempel, 
wie z. B. die bei meinem Namen, waren dem Unbewussten also völlig geläufig. 





Drei Romane in Zahlen. 


627 


Übrigens hatte die Analyse dieses Zahlentraumes eine verblüffend 
starke Wirkung auf die Kranke. Ein wahrer Jubel von Befreiungsgefühlen 
brach in ihr los. Drei Tage nach dem Traum findet sich in ihrem Tage¬ 
buch 1 * * ) die Notiz: „Mir ist dadurch erst mein ganzes Krankheitsbild klar 
geworden, sein Aufbau. Ich will nun alles ehrlich aufschreiben. Das meiste 
wissen wir zwar schon; aber ich sehe erst heute vollständig klar von Anfang 
bis zu Ende. Ich wäre nie so krank geworden, wenn ich W. geheiratet 
hätte. Den habe ich heiss und leidenschaftlich geliebt.“ .... „Durch die 
Zahlenanalyse und die eigentümliche, erst so wirr anmutende Zusammen¬ 
stellung der Exempel sind mir auf einmal alle Lebensbeziehungen klar ge¬ 
worden. Es ist, als ob das Unbewusste sie mir in Zahlensprache vorge¬ 
sprochen hätte.“ .... „Mein Vater hatte gedroht, er würde W, wenn er 
als Freier ins Haus käme, die Marmortreppe hinunterwerfen. Damit 
hängt bestimmt meine Absicht, mich aus dem Fenster zu stürzen, 
zusammen ; denn ich träumte nachts immer, dass W. die Treppe herunter¬ 
fliegt. Und noch eins wird mir klar. Ich hatte doch die unselige Zwangs¬ 
vorstellung, hinter die wir nicht kommen konnten, Häuser bis auf den 
letzten Stein in Gedanken abbauen zu müssen. Ich wollte die Treppe 
abtragen, um die Drohung des Vaters zu verhindern/ 4 — ,,Meine Ehe 
ist wie ein Verhängnis. Mein Schwiegervater hatte meine Mutter sehr 
lieb gehabt, und die beiden Männer hatten verabredet, dass ich einen B. 
heiraten solle. Ich habe einen „Ableger“ von meiner Frau, sagte mein 
Vater. Ich war stets ausser mir über diesen Ausdruck und kam mir 
immer wie verkauft vor an ein untrennbares Schicksal. So verlobte ich 
mich gleich nach der Geschichte mit W, und redete mich in eine Liebe 
hinein, die gar nicht eine innere Notwendigkeit war. Das war vielmehr 
ausschliesslich ein Racheakt und daneben allerdings auch der Trieb nach 
sinnlicher Liebe, der durch meine Liebe zu W. aufgeflammt war. Daher 
sollte der Junge auch durchaus W ähnlich sehen, und als er das nicht tat, 
war ich enttäuscht und sage, es ist nicht der richtige, den ich mir von klein auf 
an gewünscht habe, und verfolge ihn in Gedanken mit meinem Todeswunsche 
für das B... sehe Gesicht, das ich an ihm nicht sehen mag.“ — „Der Rache¬ 
akt an meinem Vater soll ihm einfach zeigen, was er an mir angerichtet hat. 
80 wurde ich krank und wäre dem Wahnsinn verfallen, wenn die Analyse 
mich nicht gerettet hätte.“ — »Die Angst vor der Irrenanstalt ist lediglich 
die Verkörperung der Wunsch Vorstellung: Ich will fort von dem Manne, der 
eigentlich nicht der rechte ist, dahin, wo er mich nicht wieder heraus¬ 
bekommt, und dahin, wo ich ungestört meinen Trieben freien Lauf lassen 
kann.“ — „Die anderen Angstvorstellungen, die Beseitigungswünsche und all 
das, sind mir ja alle klar. Aber nun kommt der grosse Wendepunkt.: die 
Liebe zu W. hatte ich natürlich als ehrsame Ehefrau wahnsinnig unterdrückt. 
Jetzt lernte ich in Dr. Marcinowski den Mann kennen, der in mir die 
Erinnerung an W. herausreisst. Er hat auch im Gesicht eine gewisse Ähn¬ 
lichkeit, denn er erinnert mich immer wieder an ihn. Ja Dr. Marcinowski 
ist W., aber so, wie ich mir W. für später als Idealbild vorgestellt habe, 


1 ) Ich bin gezwungen, wesentliche Tede der Tagebuchaufzeichnungen fort¬ 
zulassen. Teils weil sie zu anderen Teilen der ausgedehnten Neurose gehören und 
hier nur verwirren würden, teils weil die Träumerin sonst für andere kenntlich 

werden könnte, so leider auch die inhaltreichen traumatischen Beziehungen zu den 

guten und den bösen Freundinnen. Zu dem hier Niedergeschriebenen gab sie ihre 

Einwilligung. 





628 


Dr. Marcinowski, 


nicht, wie er wirklich war. W. war der Mann, der meine Sinne voll¬ 
kommen befriedigt hätte. In unseren geistigen Neigungen hätten wir nicht 
zueinander gepasst.“ — „Er ist nun der gereifte, geistig hochstehende Mann, 
nach dem ich mich mein ganzes Leben gesehnt. Das war nun wohl die 
schärfste Klippe, dieses Begegnen. Ihm habe ich es aber auch zu ver¬ 
danken, dass ich sie umschifft habe, und nicht wieder in Krankheit darüber 
versank. Ich sehe klar, das sagt alles.“ 

Damals: Ich habe W. nicht bekommen, aus Wut den B. genommen, 
und bin dann aus Rache krank geworden. 

Jetzt: Ich kann den Mann nicht erringen. Das Schicksal will 
es nicht. Ich lasse mich aber nicht wieder überrumpeln, 
sondern will bewusst mein Schicksal tragen. 

„Ich habe viel an meinem Mann gut zu machen und will ihn so lieb 
haben, wie es in meinen Kräften steht. Meine Kinder will ich so führen, 
dass sie mit offenen Augen ihr Leben leben. Das was ich bei ihm ge¬ 
lernt habe, soll den Kindern ein heiliges Gut werden. Ich will glücklich 
machen und werde dabei glücklich sein!“ — „Fühlt Ihr nun alle, wie ich 
mich befreit habe? Wie ich gesund werde?“ — „Und die zarte Freundschaft 
zu meinem Arzt und Führer, die so leicht ein wilder Brand in meinem aus¬ 
gehungerten Herzen werden konnte, die will ich als ein heiliges Erinnern 
mit mir nehmen; denn das darf ich jetzt — ich bin ja durch sie und an 
ihr gesund geworden. Morgen geht es heim! O, wie bin ich so stolz und 
so froh!“ — 

Die Klippe war scharf gewesen, das stimmt. Die kleine, leidenschaft¬ 
liche Frau war aber gereift und gewachsen in der Analyse und hatte 
tapfer entscheiden gelernt, statt feige zu verschleiern. Sie hatte 
vor allem alle falsche Scham abgelegt und vornehme Natürlichkeit dafür ein¬ 
getauscht, und das hat sie vor Rückfällen geschützt. Offenes, ehrliches Be¬ 
kennen und Anerkennen des Tatsächlichen hatte der Übertragung auf mich 
die krankhafte Spannung, hatte ihr die Kraft genommen, das Ungesunde. 
Ich war zum „Werkzeug“ herabgesunken, an dem sich die Kranke aus dem 
Abgrund herausgeholfen. Nun hatte der Mohr seine Schuldigkeit getan, und 
ich konnte ihr das Werkzeug zeigen und seine Gesetzmässigkeiten erklären. 
Das Brauchbare an dem Gefühl blieb, das andere konnte sie ruhig fallen 
lassen. Als sie fuhr, hinterliess sie folgende Zeilen, die das starke Auf¬ 
stehen einer fast verloren geglaubten Seele schön wiedergeben. Es ist zu¬ 
gleich ein Zeugnis dafür, dass man als Arzt, auch „ohne zu beschämen“, 
„Übertragungen“ begegnen und sie heilen kann — das „Menschlichste“ an 
uns, wie Nietz’sche es nennt. Sie schrieb: 

„Ich kann Dir trotz allem Geschehen 
Stolz in die Augen seh’n. 

Denn etwas Grosses im Leben 
Vollbewusst aufzugeben, 

Heisst: „Kämpfen und Ringen.“ 

Nur dann kann’s gelingen 
Zu überwinden, 

Wege zu finden, 

Sich zu befreien. — 

Denn, was wir sollen, 


Drei Romane in Zahlen. 


629 


Müssen wir wollen, 

Ehrlich treu. 

Nicht schwanken und biegen, 
Entscheiden — und siegen.“ — 


II. 

Im Anschluss an diesen schicksalsschwangeren Traum will ich nun 
von einer zweiten Zahlensymbolik berichten, die im Gegensatz zu dem ersten 
Traum von einer Kranken geliefert wurde, die niemals mit Zahlen ge¬ 
spult hat. Auch hier enthalten die wenigen Zahlen fast das gesamte 
Schicksalsmaterial, den Roman der Träumerin. Auch hier liegt ein Be weis 
für die Berechtigung unserer Traumanalysen vor; denn in diese Zahlen 
kann der Analytiker auch beim besten Willen und selbst 
bei „verruchtester“ Phantasie nichts hineindeuten. Hier ist 
man eben völlig in der Hand des Träumers, und ganz und nur auf das 
angewiesen, was er selber an Einfällen bringt. 

Übrigens habe ich die Empfindung, dass gerade diesem Wiederspiegeln 
des ganz persönlichen Schicksals in einem Traume eine starke, überzeugende 
Kraft innewohnt; es liegt etwas, ich möchte sagen, Unausweichbares darin. 
Ebenso auch in den eigentümlichen Serienbildungen, die ich, je tiefer ich zu 
schauen lernte, desto häufiger feststellen kann. Mit solchen Traumserien 
begleiten die Kranken unsere Arbeit und spiegeln deren Wirkungen genau 
wieder. Wir sehen, wie dieselben Motive sich gemäss unserer Gespräche 
ändern und in stets neuen Verkleidungen dies innere Arbeiten der Seele wie 
Antworten an den Arzt hervortreten lassen. Wie wäre es möglich, in all 
ihrem bunten Wechseln immer wieder gerade das herauszudeuten, was im 
Innenleben der Kranken tatsächlich gerade vorgeht, wenn es nicht ebenso 
tatsächlich im Traume zu lesen stände! Ein solches Ratenkönnen 
und Hineinlegen und Unterschieben wäre ja für sich ein viel 
wunderbareres Vermögen, eine viel erklärungsbedürftigere 
Erscheinung, als die immer einfacher und klarer von uns 
herausgearbeitete Trau msy mbo 1 ik selbst. — 

Doch nun zu unseren Zahlen. Sie werden verständlicher, wenn ich die 
Hauptdaten der Krankengeschichte vorausschicke. 

Frau E. M. ist eine überzarte kleine Frau, durchaus hysterischen 
Charakters, seit Jahren von pseudo-organischen Zuständen beherrscht, fast 
dauernd im Bett, weil dauernd ein allgemeiner, schmerzhafter Spasmus aller 
Muskeln und Eingeweide sie quält: heftige Kolik der Gebärorgane, des 
Darmes, Schlaflosigkeit, Überempfindlichkeiten aller Sinnesorgane, Unfähigkeit 
zu geordneter Nahrungsaufnahme, viel Erbrechen u.s.w. Krank war sie seit der 
frühesten Kindheit, die sie als „unverstandenes“ Mädchen unter schwersten 
Enttäuschungen ihres kleinen Kinderherzens durchmachte und in der sie ihre 
krampfhaften Zustände dadurch erwarb, dass sie sich andauernd in Rollen 
hineinzwingen und ihre Beschwerden unterdrücken musste. Ihre schwersten 
Traumen waren folgende: 1. Die heftige Zurechtweisung seitens des leiden¬ 
schaftlich geliebten Vaters, als sie bei ihrem ersten Angstanfall (7 Jahr) 
während des Abendbrotes die Familie störte. Vorher, mit 3 V 2 Jahren, 
hatte sie eine grosse Ungerechtigkeit erlitten. Ohne eine Ahnung oder 


630 


Dr. Marcinowski, 


irgendwelche Verständnismöglichkeit für das Frevelhafte ihres Beginnens, hatte 
das Mädelchen sich über den Hof zum Eselstall hingetrudelt und dort voller 
Entzücken in dem Anblick des Grauchens geschwelgt, während man sie angstvoll 
suchte. Strafe, Zwang zum Verzeihung bitten und ähnliche erzieherische Mass¬ 
nahmen lösen noch heute in der Erinnerung stärkste Affektbetonungen aus. 
Hann folgen in der Mädchenzeit verschiedene stark gefühlsbetonte Szenen, die 
die leidenschaftliche Liebe zum Vater und zum Bruder klar zum Ausdruck 
bringen. So ein Geldgeschenk vom Vater für eine mehrwöchige Vertretung 
der verreisten Mutter, das als Beleidigung empfunden wurde—sehr bezeichnend 
für die Bolle, in die sich das Mädchen hineingeträumt hatte. Für diese war 
„Bezahlung“ allerdings ein Schimpf. Später, als erwachsene Frau, brach sie 
zusammen, als ihr unter nichtigen Vorgängen ein vorübergehender Aufenthalt 
im Fremdenstübchen bei ihrem Vater versagt wurde. Das kam allerdings der 
Vernichtung ihres heiligsten Lebensinhaltes, der Ausschliessung von ihrer stärksten 
Liebesquelle gleich, und in der Nacht darauf folgte logischerweise ein furchtbarer 
Angstanfall und ein Versuch zur Selbstentleibung. Wir sehen, der Familien¬ 
roman spielt seine übliche Bolle. Dazu kommt das eigentlich Schicksals¬ 
bestimmende in Gestalt der ihr von den Eltern aufgeredeten Verbindung mit 
einem, allerdings für ihre ganze''Art sehr ungeeigneten Gatten. — Aber gemäss 
ihres Komplexes war sie ein gehorsames Kind, obwohl sie sich noch auf dem 
Wege zum Standesamt überlegte, ob sie sich nicht noch im letzten Augen¬ 
blick durch irgend eine phantastische Fälschung der Unterschrift einer 
rechtlich bindenden Eheschliessung entziehen könne. Die Ehe war denn 
auch danach geworden und bildete jenen unentrinnbaren Schicksalsspruch, 
als den wir sie in dem Traumbilde gekennzeichnet finden werden. Die Kranke be¬ 
nutzte ihre Krankheit als Waffe, um sich dem Schicksal, das heisst hier dem 
Mann, zu entziehen. Die spastischen Erscheinungen äusserten sich entsprechend 
als Vaginismus; auch Erbrechen als Ausdruck des Widerwillens hoben im Laufe 
der Jahre die Ehe als solche auf, während ein reiches Mass von hausfrau¬ 
licher Pflichterfüllung, soweit der Körper das zuliess — also eigentlich mehr 
in der Theorie — die Familie dafür entschädigen sollte. Der Vater war mittlerweile 
gestorben; an seine Stelle war der ältere Bruder getreten. Ihrem eigenen 
Sohne, dem einzigen Kinde, war sie eine vorzügliche Mutter. Sie konnte mit 
Becht sagen, der Junge wäre ihr ein und alles und fülle ihren ganzen 
Lebensinhalt aus. Wenigstens traf das bisher zu und hat erst durch die 
Berührung mit mir eine andere Gestalt angenommen, da ich durch die Über¬ 
nahme der Behandlung in der bekannten, gesetzmässigen Weise zum stell¬ 
vertretenden Nachfolger des Vaters wurde und als lebendes Idealbild der 
Träger ihrer zurückgedämmten Affektbetonungen werden musste. 

Ich gebe mit diesem Abriss der Krankengeschichte zugleich einen un¬ 
gefähren Überblick über den Standpunkt der Analyse. Was ich hier ange¬ 
deutet habe, war der Kranken mit allen dazu gehörigen Einzelheiten klar 
bewusst geworden. 

Ich gebe nun den Traumtext wieder: „Ich traf meinen Bruder auf 
der Strasse und fragte ihn nach dem Befinden meiner kleinen Schwester, 
die ein Baby bekommen hatte. „Na, es geht“, meinte er, und fügte 
lachend hinzu: „Aber heutzutage mache ich die Geschichte nicht mehr für 
30 — 40 M. Ich schreibe jetzt andere Bechnungen.“ Damit begrüssten 
wir eine sehr einfache aber ordentlich gekleidete Frau (die Frau des 
Kutschers, der schon meinen Vater gefahren hatte). Er deutete auf mich 
und sagte: „meine Schwester“. Dann war er verschwunden. — Die Frau 


Drei Romane in Zahlen. 


631 


sagte: „Mögen sie es sich auch gerne schön und bequem in ihrem Hause 
machen? Ah, Sie wollen Blumen kaufen? — Ich nickte.“ — 

Nach einer Weile träumte sie weiter: „Ich war in meinem Zimmer und 
lag zu Bett, hatte aber Besuch und die Tür war offen. Frau Dr. ging fort 
und ich sprach mit Herrn W. über Unterhaltungsgabe. „Her eine lernt es 
nie, der andere spät,“ sagte der. — „Ach, Reden können bedeutend noch lange 
keine Unterhaltung führen,“ war meine Antwort. Im gleichen Augenblick 
sah ich Herrn Dr. in Frau W’s. Zimmer gehen. Er nickte uns zu; ich tat 
aber, als sehe ich es nicht, merkte aber, wie forschend seine Augen auf uns 
gerichtet waren. Ich sagte: „Da geht unser Quälgeist, der ruht nicht, 
bis man die 2910 Stufen (Neunundzwanzig — zehn gesprochen, wie bei 
Telephonummern) glücklich hin auf geklettert ist.“ Diese Zahlen sah ich 
gross und leuchtend in der Luft vor mir schweben und mit 
tiefem Bangen wachte ich auf. Es war wie das Mene Tekel 
und als wollten sie mir sagen: „Wir sind Dein Schicksal, Du 
entrinnst uns nicht! Wolle nichts anderes!“ 

Die letzten Worte beziehen sich darauf, dass ich der Kranken oftmals 
gesagt hatte, sie sei mit ihrem falschen Bemühen wie das Bäumchen, das 
immer andere Blätter haben wollte; sie solle doch nicht immer anders 
sein wollen, als der liebe Gott sie geschaffen habe. 


Und nun muss ich allerdings die Lösung der eigentlichen Schicksals¬ 
frage bis zuletzt aufsparen, denn bis zu ihr spitzt sich die Geschichte erst 
zu, wenn ich die Einfälle der Träumerin wieder wörtlich und genau in der 
Reihenfolge bringe, wie ich sie von ihr erfahren habe. Ich bemerke aus¬ 
drücklich, dass die Patientin von Zahlenträumen nichts, kaum die Tatsache 
selbst wusste, dass es so etwas gab. 

Bedeutsam war bereits das Datum des Traumes selbst. Es fiel auf 
den Geburtstag ihres Vaters. Kein Wunder, wenn ihr in dieser 
Nacht ihr ganzes Leben noch einmal im Traume wach wurde. 

Darauf entdeckte sie, dass die Ziffern des vollen Geburtstagsdatums in 
der Quersumme 29 ergaben. 

17. 2. 1837 = 1 + 7 + 2 + 1 + 8+ 3 + 7 = 29. 

Gestorben war der Vater im Jahre 1907 und der Unterschied von 
70 Jahren entspricht der Summe 30 und 40, von der der Bruder ge¬ 
sprochen hatte. Sie fährt fort: 

Nun ist ferner 2 + 9 = 11. 

Aus diesen Zahlen ist durch entsprechende Umstellung das Jahr meines 
heutigen Traumes herzustellen. 


2 + 9 = 11 1912 



Die Stufen, die ich hinaufklettern soll, sind durch die Trennung von 
2910 in 29 und 10 gewissermassen als Zehn er stufen bezeichnet. Das 
führt auf einen merkwürdigen Zufall in unserer Familie. Die Geburtsjahre 
liegen da nämlich immer um 10 Jahre auseinander. Es wurde geboren : 




\ 

632 Dr. Marcinowski, 


mein Vater 

im 

Jahre 

1837 

meine Mutter 



1847 

mein Mann 



1857 

mein Bruder 

>> 

j? 

1867 

mein Vater starb 



1907 


Die Träumerin hat also eine gewisse Berechtigung, das Leben bis su 
dem Ende, wo ich sie nicht mehr quälen kann, in Stufen von je 10 Jahren 
einzuteilen, in Stufen, die zu gleicher Zeit ihre persönlichen Herzensbeziehungen 
wiederspiegeln. 

Zu dem Wort „Quälgeist“ sagt sie: 

1 . Mein Leben ist eine Qual, die ich auf mich nehmen muss, weil 
ich es mir selber geschaffen habe; denn es war Unrecht, wie ich meine Ehe 
eingegangen bin. Also: keine Ruhe, bis alle Stufen überwunden sind und 
ich im Tode wieder bei meinem Vater bin. So träume ich an seinem 
Geburtstag. 2. Und auch der Doktor ruht nicht, bis ich eine andere 
Lebensauffassung bekommen habe. 

Nun fällt mir ferner ein, fuhr die Träumerin fort, in diesem Jahr gibt 
es einen 29. 2. Es ist ein Schaltjahr, ein wichtiges Jahr in meinem Leben. 

Am 10. 1 . ist der Geburtstag meines Mannes. 

Am 10. 2 . ist mein Verlobungstag. 

Am 29. 6. ist der Tag meiner Ziviltrauung. Von meinen Gedanken 
bei der Unterschrift sagte ich Ihnen schon, das war im Jahre 92, eine Um¬ 
kehrung von 29, der Zahl meines Vaters. Die ganze Jahreszahl meines 
Hochzeitsdatums 1892 erscheint mir merkwürdig zugespitzt, indem schon die 
18 (= 2 X 9) die 29 enthält, also: 1892 = (2 X 9) 92. 

Am 29. 3. so sagte mein Junge mir, würden die Ferien anfangen. Das 
bringt die wichtige Entscheidung seiner Versetzung, von der viel abhängt. 
Aber auch für mich kann der Tag viel bedeuten, denn es ist vielleicht der 
Tag meines Scheidens von hier. Meine Abreise ist ja von seiner Reise¬ 
begleitung abhängig. Kann ich noch länger bleiben, so wird verabredeter- 
massen der 29. 4. mein Abreisetag, das ist der letzte Termin, denn am 1. Mai 
habe ich Personal Wechsel. 

Auf das 29i e Jahr fiel die Unterleibsoperation, die mir so unsagbar 
viel Qualen vorher und nachher gebracht hat. 

29 -f- 10 = 39. Im 39. Lebensjahr erlebte ich jene fast tödliche 
diphtherische Erkrankung, die mich dann zum erstenmal nach Sielbeck und 
damit an die Wende meines Lebens führte. 

29 500 M. betrug das Kapital, das Vater auf unserem Hause stehen 
hatte, zu 3 1 /s % wurde es verzinst, d. i. die Hälfte zwischen 30 und 40 für 
tausend. 35 000 M., d. h. die Mitte zwischen 3 und 4000 M. beträgt der 
Mietpreis unserer jetzigen Wohnung. 

Die Hausnummer unseres Elternhauses war 55 und 5 + 5 = 10. 

Unsere eigene Hausnummer ist 32 und 3 + 2 = 5, das ist die Hälfte 
von 10 . 

Mein Mann ist gerade 55 Jahre geworden, also auch hier stimmt 10. 

3 — 4000 M. betrug übrigens die Summe, die mein Vater und später 
mein Bruder für sein Fuhrwerk ausgab. Jetzt fährt mein Bruder Auto und 
er ist „ungenügsam“ geworden. Er will sich nicht mehr mit den bisherigen 
Verhältnissen wie seine Eltern (in die 30 er und 40 er Jahre fallen die Geburts¬ 
tage von Vater und Mutter) „begnügen“. Auch drückt 30 und 40 die bis- 


Drei Romane in Zahlen. 


633 


herige Zeit seiner Ehe aus. Er ist jetzt 45 Jahre alt und gemäss meiner 
alten Kinderliebe will ich ihn ungenügsamer sehen und mir mit ihm mein 
Heim blumiger gestalten. So mein Traumwunsch und die Erklärung für 
das Auftreten der Kutschersfrau und ihr Gerede. 

3 und 4. Die Zahlen 3 und 4 enthalten aber auch Anspielungen auf 
die schwersten seelischen Verwundungen meines Lebens, soweit sie nicht 
mit meiner Ehe zu tun haben, sondern sich in meiner Familie abspielen. 
So liegt zwischen 3 und 4 meine erste Erinnerung. 

Ich war 3 1 /2 Jahr, als ich das erstemal an meinem Vater irre wurde, 
wie ich wegen der Eselsgeschichte durchaus um Verzeihung bitten sollte. 

3 + 4 = 7. In mein siebentes Jahr fällt mein erster Angstanfall mit 
dem Traum vom schwarzen Mann. Ich war damals so furchtbar davon 
betroffen, dass ich Schelten erntete statt Liebe und Tröstung, als ich in 
meinem grauenvollen Zustand nach dem Vater rief. Ich hatte „gestört“! 

Dann war es wieder zwischen 30 und 40, nämlich in meinem 34. 
Lebensjahr, als mir in meinem Elend ein kurzer Unterschlupf im Hause 
meines Vaters verweigert wurde; das Kind war durch sein Kranksein zum 
lästigen Störenfried geworden. Kein Wunder, dass mein Bruder nur mit 
Mühe und Not meinen verzweifelten Selbstmord verhindern konnte. — 

Nun aber soll ein reicheres Leben beginnen. Mit alle dem, was diese 
Zahlen ausdrücken, will auch ich mich nicht mehr begnügen. Aber mein 
Schicksal steht als drohendes Mene Tekel an der Schwelle von 1912 (vgl. 
Anfang) und dies Schicksal will ich mit all seinem selbstgeschaffenem Elend 
ruhig und tapfer tragen, so wie Sie es mich gelehrt haben. (Heilungstraum.} 
Ich möchte es bildlich so darstellen: 


29 Ehe 92 



10 


Die Zahlen 29 und 92 (mein Hochzeitsjahr) rahmen es ein, und in 
der Mitte steht die 10 1 ), das Datum meines Verlobungstages und des Geburts¬ 
tages meines Mannes. Der fällt auf den 10. 1. und 10 + 1 gibt 11, 
(gleich 2 + 9). So wird mein Mann (10 + 1) mit gleicher Zahl die Fort¬ 
setzung meines Vaters (2 + 9). 

Zu 29 als Schicksalszahl sind nun noch weitere Belege zu ver¬ 
zeichnen. Dass die Quersumme von meines Vaters Geburtsdatum 29 ist, 
sagte ich schon. 17. 2. 1837 = 29. 

Aber auch meiner Mutter Todestag hat die gleiche Quersumme: 

21 . 10. 1897 = 29, und enthält übrigens auch die zweite Zahl, die 
10 in sich. 

Der Hochzeitstag der Eltern fiel auf den 25. 4. — Quersumme 29. 

Mein Vater starb am 12. 7. — Quersumme 19 und zwar nach der 
Mutter, also als 2. und der Tod ergibt die Auflösung = 0. Diese 4 Zahlen 


i) Ich füge hinzu, dass 10 das Symbol der Ehe selbst ist, die Nebeneinander¬ 
stellung von 1 (Phallus) und 0 (Vagina). 






634 


Dr. Marcinowski. 


1, 9, 2 und 0, aus denen sich 2910 zusammensetzt. Kein Wunder, wenn 
ich danach dem Jahre 1920 als einem für mich vielleicht sehr kritischen 
entgegensehe. 


2910 1920 



Von dem Geburtstagsdatum meines Vaters ausgehend, versuchte ich dann, 
welche Zahl sich bei Ihrem Geburtstag, Herr Dr., ergab. Nach alledem war 
ich schon nicht mehr überrascht, dass auch die Quersumme dieses Datums 
(13. 11. 1868) 29 ergab. Ist das nicht wie eine Bestätigung meiner Über¬ 
tragung des väterlichen Idealbildes auf ihre Person und wie ein Beleg zu 
der inneren Berechtigung dazu? (ganz wie bei Fall I, vgl. Seite 626). 

Und nun hatte ich einen weiteren Einfall. Es lockte mich, die 
Anzahl der Buchstaben von den Worten „Sanatorium Haus Sielbeck 
am Uklei“ zusammenzuzählen, und siehe, auch das ergab 29 ! 

Dasselbe versuchte ich mit Ihrem Namen, wie er auf dem Titelblatt 
ihrer Bücher steht, und auch da kamen 29 Buchstaben heraus. Dasselbe 
probierte ich nun erst bei ihrer Frau und dann bei meinen Familienange¬ 


hörigen und stets mit dem gleichen überraschenden Ergebnis. 

Hier die Tabelle: 

1. Sanatorium Haus Sielbeck am Uklei.29. 

2. Dr. med. J. Marcinowski, Haus Sielbeck . ..29. 

3. Helene Marcinowski, Haus Sielbeck.29. 

4. mein Vater: Dr. med. Wilh. 1 ) Erich Schulze 2 ) in Berlin . 29. 

5. meine Mutter: Manon Schulz e-Lange man n in Berlin . . 29. 

6. mein Mann: Hermann Johannes Müller, in Berlin ... 29. 

7. ich selbst: Marie Müller, geb. Schulze in Berlin .... 29. 

8. dazu: Sohn August Wilhelm Müller, Berlin .29. 

9. mein ältester Bruder: Dr. med. E. Schulze, prakt. Arzti. Berlin 29. 

10. seine Frau: Emma Schulze geb. Alberti in Berlin ... 29. 

11. meine Schwester: Auguste Madretzki-Schulze, Danzig . . 29. 

12. ihr Mann: Direktor Karl Madretzki in Danzig .... 29. 

13. mein 2. Bruder: Privatdozent Dr. E. Schulze, Breslau . . 29. 

14. seine Frau: Verena Schulze-Pranitz in Breslau .... 29. 

15. meine 2. Schwester: Louise Mendelsohn-Schulze, Berlin . 29. 

16. ihr Mann: Dr. jur. Berthold Mendelsohn, Berlin .... 29. 


Alle diese Zahlen ergaben sich ohne weiteres Probieren bei der ersten 
Niederschrift und sind nicht etwa die Auswahl des Zutreffenden aus einer 
Reihe von spielerischen Versuchen. In mir muss also die Tatsache bereits 
festgestellt gelegen haben, als die Einfälle mich auf forderten, das zu versuchen. 
Hier etwas hinzuzufügen wäre abschwächen. 


1) Mein Vater pflegt seinen Vornamen stets so abzukürzen. 

2) Die Namen der Familienmitglieder sind selbstverständlich durch andere von 
genau gleicher Buchstabenzahl ersetzt; die Vornamen sind zum Teil unverändert. 







Drei Romane in Zahlen. 


635 


Mein Vater 17. 2. 
Meine Mutter 25. 7. 
Mein Bruder 
Mein Mann 
Ich selbst 
Mein Junge 


2 . 1 . 
10 . 1 . 
27. 4. 
21 . 6 . 


= 3] [5 + 3 + 3 = 11 


Noch eine kleine Zahlen Spielerei möchte ich hieran anschliessen. Die 
Geburtstage meiner Familienangehörigen und die Quersummen der Daten sehen 
folgendermassen aus: 

1837 = 29 
1847 = 34 
1867 = 25 
1857 = 23 
1871 = 30 
1893 = 30 

Man sieht, die endgültigen Quersummen sind bei meiner Mutter und ihrem 
ältesten Sohne dieselben, nämlich beidemal 7, und auch bei mir und meinem 
Jungen dieselben, beidemal 3, und die Zahlen von mir und meinem Mann 
und meinem Jungen zusammen ergeben die Zahl meines Vaters 11. 

So gut wie ich übrigens aus den Quersummen von meines Vaters 
Geburtstag 2 + 9 = 11 machen kann, kann ich auch umgekehrt 9 — 2 = 7 
nehmen und erhalte damit die Zahlen von Mutter und Bruder mit ihrem 
inneren Gehalt von 3 + 4. 

Zum Schluss möchte ich noch erwähnen, dass ich in der „fröhlichen 
Wissenschaft“ von Nietzsche zwei Lieblingsstellen habe, die Sternenfreund- 
schaft und die Media vita. Die beiden Aphorismen tragen die Nummern 
279 und 324, darin ist sowohl die 2 ... 9, als auch die 3 ... 4 enthalten. 


Zum Schluss noch kurz einen dritten Zahlentraum von ganz ähnlichem Auf¬ 
bau. Auch er gehört zu denen, die ich Heilungsträume nenne, d. h. die 
Patientin befindet sich in der Ablösung von der Übertragung auf den Arzt 
und drückt das im Traum aus. Sie lebt in unverstandener nnd unbefriedigter 
Ehe, und hatte in den letzten Jahren Angstzustände und Zwangsvorstellungen. 
Es war mir gelungen, einen grossen Teil davon bereits aufzulösen und vor 
allem das Verhältnis der Ehegatten untereinander wesentlich zu ändern, da 
der Mann auf meine Darlegungen sehr gut einzugehen verstand. 

Traumtext: 

Es war in H., ich ging mit meinem Mann auf dem „Breiten¬ 

weg“. Wir kamen an der Luisenschule vorbei, wo ich zur Schule gegangen 
bin. Es gongte gerade dreimal. Ich hatte das Gefühl, als ob es das 
Sanatorium (Lebensschule) wäre, aber ich war schon lange fort. Ich sagte 
zu meinem Mann: „Lass uns mal dort Vorbeigehen, vielleicht treffen wir 
dort Bekannte.“ Wir mussten erst durch die Schule durch und dann mussten 
wir durch einen Weg, der vom Regen aufgeweicht war und worin man versank. 
Wir konnten nur mühsam vorwärtskommen. Als wir den Weg beinahe 
beendet hatten und er anfing, besser zu werden, bemerkte ich plötzlich, dass 
ich meinen Ring verloren hatte. Ich sagte es meinem Mann und der sagte: 
„Der Herr hier, der gerade etwas auf hebt, hat ihn vielleicht gefunden.“ Ich 
drehte mich um und sah, wie sich ein Herr gerade bückte. Ich frug ihn, 
ob er meinen Ring gefunden hätte. Darauf gab er ihn mir. Mein Mann 
zog ein Taschenbuch heraus und sagte: „Damit sie glauben, dass uns auch 
der Ring gehört, hier steht es aufgezeichnet (Datum unklar), ein Ring mit 
einem Smaragd und 26 Brillanten.“ Dabei ein Menschenauflauf, der sich 
sofort zerstreute. Mein Mann fasste in die Tasche und ich hörte Geld 


Zdntralblatt für Psychoanalyse. II 18 . 


45 






636 


Dr. Marcinowski, 


klappern, und hatte das Gefühl, mein Mann wollte ihm Geld zur Belohnung 

geben. Ich sagte darauf: „Geld kannst Du dem doch nicht geben, lass Dir 

doch die Adresse sagen.“ Der Herr sagte sie auch, aber ich weiss sie 

nicht mehr. Wir gingen weiter und ich dachte: „der Weg war so dunkel 

und aufgeweicht, dass du den Bing nie wieder bekommen hättest, wenn der 
Herr ihn nicht sofort gefunden hätte. — 

Erkl ärung: 

Der Traum versetzt sie in ihre Heimatstadt H.. in der sie sich 

im Gegensatz zu ihrem jetzigen Wohnort sehr wohl gefühlt hat. Das drei¬ 
malige Gongen erinnert sie an unseren hiesigen Tafelruf, und zugleich an 
die Tatsache, dass sie „drei“ Kinder habe. Zu Bing: bringt sie als Einfälle 
das Volkslied „Ach, wie ist’s möglich dann“, und die Stelle aus der Glocke: 
„Mit dem Gürtel, mit dem Schleier“. — Das drückt den Beginn ihrer Ehe 
aus, die Verlobung (Liebeslied) und dann die Erkenntnis, dass sie sich ge¬ 
täuscht habe. — Der Wahn riss entzwei! Sie wirft schliesslich den Bing 
fort oder verliert ihn, was auf dasselbe herauskommt. Das bedeutet: die 
innere Gemeinsamkeit der durch den Bing verbundenen Ehe ist verloren 
gegangen. Es kam ihr in der „Lebensscbule“ des Sanatoriums eigentlich erst so 
recht zum Bewusstsein, wieweit diese Entfremdung gediehen war und in welchem 
„Sumpf“ sie sich zu verlieren gedroht hatte. Mühsam ging der dunkle Weg der 
Analyse durch den „aufge weichten“ Boden, bis es allmählich besser wurde. — 

Der Mann, der den Bing aufhebt und ihr wiedergibt, bin ich. Das 
Gespräch wegen des Finderlohnes bezieht sich auf eine Erörterung mit ihrem 
Mann, bei der sie festgestellt hatten, dass es sich mit Geld nicht belohnen 
liesse, was ich an der Frau getan hätte. Der Gatte macht seine Besitz¬ 
rolle an der Ehefrau geltend, die ihm ein Wertstück, ein Schatz von Edel¬ 
steinen dünkt, der Träumerin ein erwünschter Beweis seiner Liebe. — Es 
stecken selbstverständlich noch eine Menge Einzelheiten hinter diesen Bildern, 
die ich aber unerörtert lasse, weil ich hier nur das Wesentliche für die 
Analyse der Zahlen herausholen will. Die Schule wurde als Lebensschule 
übrigens auch der Ehe gleichgesetzt. Der Weg durch diese malt also ncch 
mehr, als bloss die Arbeit der analytischen Behandlung. Der Bing gilt ihr 
ferner nicht nur als verlorenes Glü ck, sondern auch als die damit ver¬ 
lorene Gesundheit, und diese Verdichtung in ein Symbol bedeutet ihr 
den inneren Zusammenhang von beiden. 

Nun zu den Zahlen: Die Patientin hat seit ihrer Kindheit eine 
eigentümliche Zwangsneigung: Wo sie Zahlen sieht, an Taxameterdroschken 
z. B., da muss sie die Quersumme davon ziehen und ist totunglücklich, wenn 
eine ungerade Zahl dabei herauskommt. Sie muss dann solange an anderen 
Zahlen weiter probieren, bis sie eine Zahl mit gerader Quersumme erwischt: 
dann erst ist sie ruhig. Diese Zwangshandlung ist eine Art Orakelfrage an 
den lieben Gott, ob er ihr gnädig sei oder nicht. Als Kind hatte sie deutlich 
das Gefühl, nun sei alles gut und wieder in Ordnung, sobald das Orakel 
mit einer geraden Zahl antwortete. Augenscheinlich liegt irgend eine kind¬ 
liche Schuldphantasie dem zugrunde, die ich indessen über Wichtigerem noch 
nicht herausanalysieren konnte. 

Ganz im Gegensatz zu dieser Zwangsneigung, die sie bei der Erörte¬ 
rung des Traumes völlig vergessen hatte, erschien ihr vor einigen Tagen, als 
die Patientin des Falles I mit ihr davon sprach, die Zahl 9 auch als ihre 



Drei Romane in Zahlen. 


637 


ausgesprochene Lieblingszahl, ohne dass sie dafür Gründe anzugeben ver¬ 
mochte. 7 und 13 dagegen waren ihr unangenehm. 

In der nächsten Nacht träumte sie prompt ihren ersten Zahlentraum. 
Sie sah auf der Strasse einen Gegenstand liegen, ein Herz in Goldpapier 
fest eingewickelt. Sie war sehr bange, dass irgend ein anderer es eher be¬ 
merken würde wie sie selbst. Es gelang ihr, es vor den anderen zu erreichen, 
hob es auf und steckte es rasch und heimlich zu sich. Zu Hause an ge¬ 
kommen, sah sie, dass es die Nummer 913 trug und ein Schlüsselloch hatte. 
Der Schlüssel von ihrem Schmu c kk asten (!) passte dazu, sie schloss 
auf und wollte nachsehen, was in dem Herzen drin war, — da wachte sie 
zu ihrem grossen Bedauern auf, ehe sie den Inhalt feststellen konnte. 

Das Herz 913 enthält sowohl Glück (9) wie Unglück (13) und ist 
zusammengenommen 9 + 1 + 3 = 13, also auch gerade nichts Glückver- 
heissendes. Viel mehr hatte sich damals nicht ergeben. 

Jetzt aber sollte die Zahl in ihrer ganzen Bedeutung zutage treten. 
Sie hatte augenscheinlich im Unbewussten (nicht etwa in der Bewusstheit) 
gegen lü Tage lang daran gearbeitet, diese Zahlenbeziehung im Geheimen 
festzustellen. Nun erschien plötzlich der Traum und die Einfälle kamen 
nacheinander heraus, wie ich sie hier gebe. Auch sie sind, wie bei den 
beiden anderen Träumen, dadurch gekennzeichnet, dass nur solche Einfälle 
kamen, die das positive Ergebnis 9 hatten. Fehlversuche, wie man sie, im 
Bewusstsein spielend, dann leicht macht, waren nicht darunter. 

Nun zu den Zahlen selbst. Die Patientin besitzt nun tatsächlich einen 
Ring mit einem grossen Smaragd, um den herum 26 kleine Brillanten grup¬ 
piert sind. Niemals ist sie auf den Gedanken gekommen, diese winzigen 
Sternchen zu zählen, was übrigens auch sehr mühsam ist. Sie war äusserst 
erstaunt darüber, dass ihr Unbewusstes im Traum von der Zahl Kenntnis 
hatte, und sehr verblüfft, dass der Traum mit den tatsächlichen Verhältnissen 
übereinstimmte. An diesen Ring knüpften sich peinliche Erinnerungen für 
die Ehegatten, die die Frau noch nicht verwinden konnte. Die 26 + 1 Steine 
= 27 ergeben wieder als endgültige Quersumme 2 + 7=9, und die übrigen 
Einfälle erweisen diese Zahl wie in dem anderen Traume als Schicksals¬ 
zahl. Übrigens mit 26 Jahren'(26 Brillanten) wurde siekrank. Das 7. Jahr, 
in dem sie den Ring geschenkt erhalten hatte, war 1908 = 27 und 2 = 7 = 9. 
Das Geschenk hätte also eigentlich ein glückbringendes sein sollen. Das 
hätte auch gestimmt, wenn das Geschenk, wie erwähnt am 24. 12. 1908 
gemacht worden wäre. (2 + 4 + l + 2 + l-|-9+8 = 27 und 2 + 7=9.) 
Aber das richtige Datum, der 31. 12. 1908 ergibt nur 25, d. h. 2 + 5 = 7, 
also eine Unglückszahl. Gottlob hat die Träumerin damals nichts davon 
geahnt, sonst hätte ihr die Bedeutung der damit verknüpften Erlebnisse noch 
schwerwiegender auf der Seele gelastet. 

Dieses Datum, der 31. 12. 1908 ist wohl stellvertretend für das im 
Traum „vergessene“ zu setzen. 

Weitere Einfälle der Patientin ergaben noch: 

Auch das Wort „Sylvester“ hat übrigens . . . . = 9 Buchstaben. 

Mein Geburtstag fällt auf den 22. 12. 1874 = 27 = 9 „ 

Wir waren „Zwillinge“, dieses Wort hat . = 9 „ 

Ich heisse „Elisabeth“, macht ebenfalls . . = 9 „ 

Ihre Vaterstadt „H.“, desgleichen . . = 9 „ 

Die Strasse, auf der der Traum spielt, der „Breite 

Weg“ hat.=9 „ 

45* 





638 


Dr. Marcinowski, Drei Romane in Zahlen, 


Daher wird es nicht mehr wundern, dass der 8. Oktober, d. h. der Tag, 

an dem sie in Sielbeck eintraf, dieselbe Zahl enthält, nämlich 8 + 10 = 18 

und 1 + 8 = 9. 

Ihre drei Kinder sind geboren am 30. 3., 19. 3. und 13. 4. Zusammen- 
gezählt: 30 + 19 + 13 + 3 + 3 + 4 = 72 und 7 + 2 = 9. 

Nun zählte sie die Buchstaben ihres Vornamens und Vater¬ 
namens in Zahlenwerte umgesetzt, wie die Träumerin I, zusammen. Das 
ergab die Summe von 151 = Quersumme 7; nein, unverheiratet wollte sie 
nicht bleiben. 

Nun vertauscht sie in der Ehe den Namen des Vaters mit dem des 
Mannes, der hat 2 Punkte mehr, also 153 und 1 + 5 + 3 = 9. Aber wie 
das Herz Nr. 913 geteilt war in die Zahlenwerte 9 und 13, so auch ihre Ehe. 

Der Hochzeitstag war am 9. 2. 1895 gewesen. Teilen wir das in die 

Werte 9 und 2. 1895, so ergibt das für die zweite Hälfte die Quersumme 

25 und 2 + 5 = 7. 

Das entspricht also den Werten 9 und 13 im ersten Traum. 

Das ganze Hochzeitsdatum zusammengerechnet ergibt 34 und 3 + 4 = 7. 

Nein, glückbringend war der Tag bisher nicht gewesen; aber von nun 
an solle die 9 herrschen in ihrem Leben! 


II. 

Experimentelle Träume 1 ). 

Von phil. Dr. Karl Sclirütter, Wien. 

Ich habe eine grosse Versuchsreihe auf dem Gebiete der experi¬ 
mentellen Träume entriert, über welche an dieser Stelle zum ersten 
Male literarischer Bericht erstattet wird. Nur wenige Proben sollen hier 
wiedergegeben werden. Ebenso werde ich es vermeiden, theoretische 
Schlüsse zu ziehen. Dieselben werden in der seinerzeit in Buchform 
erfolgenden Publikation zu finden sein. 

Zum Zwecke der Experimente wurden die Versuchspersonen in 
den tiefen hypnotischen Schlaf versetzt, der bekanntlich durch vollständige 
Bewusstlosigkeit und nachträgliche Amnesie gekennzeichnet ist. Darauf 
habe ich ihnen entsprechende Traumsuggestionen erteilt. Nach Verlauf 
von etwa 4—5 Minuten fingen die Medien spontan zu träumen an. Auf 
meinen Befehl gaben die Personen Beginn und Ende des Traumes durch 
bestimmte Bewegungen zu erkennen, so dass die Dauer des bewussten 
Traumvorganges exakt gemessen werden konnte. Nach dem Erwachen 
wurde der Inhalt des Traumes mitgeteilt. In einer anderen Versuchsreihe 
träumten die Medien in der auf den Experimentalabend folgenden Schlaf¬ 
nacht. In diesen Fällen wurde — ebenfalls auf Grund einer posthypno¬ 
tischen Suggestion — der Traum in der Frühe von den Versuchspersonen 
aufgeschrieben und mir übergeben. 

Die Experimente zerfallen in zwei Gruppen. 

1. Gruppe: Den Versuchspersonen wurden 3—7 Worte als Vor¬ 
stellungserreger mitgeteilt und dazu der Befehl, von ihnen zu träumen. 


D Diese Publikation gilt als vorläufige Mitteilung. 



pbil. Dr. Karl Schrötter, Experimentelle Träume. 


639 


Weiter wurden Vorstellungen mit wirklichen oder suggerierten Leibreizen 
kombiniert. Diese Versuchsreihe entstand auf Anregung des Dozenten 
der Wiener Universität Dr. Hermann Swoboda, der bereits vor 
3 Jahren den praktischen Zahnarzt Herrn Eduard Wolf (gegenwärtig 
in Zabern i. Eisass) veranlasste, einige Experimente im selben Sinne zu 
unternehmen. Die 1. Gruppe kann das Interesse der Psychoanalytiker nur 
teilweise in Anspruch nehmen. Unter diesem Gesichtswinkel habe ich 
eine Auswahl getroffen, die im folgenden mitgeteilt wird. 

1 . Experiment. Hier tritt ein aktueller Komplex (Wunsch¬ 
phantasie) mit besonderer Klarheit hervor. 

Versuchsperson Herr Fr., stud. phil., 22 Jahre. 

Suggestion: Sie werden träumen: vom Nobelpreis, von Herrn 
Mayer, Leutnant H., Stalehner, dem Bilde: Die Hochzeitsreise von Schwind 
und dem Hause auf dem Michaelerplatz (das vom Architekten Loos erbaute). 

Leib reiz: Die linke Hand der Versuchsperson wurde unter das 
Gesäss gerückt, so dass der Arm einwärts gerollt und in Schiefstellung 
gebracht wurde. 

Traumdauer: 3 Minuten 16 Sekunden. 

Traum (in der Hypnose): Ich stehe vor einem Marmorhaus 
mit grünen Marmorplatten. Ich will eintreten. Der Portier verlangt von 
mir eine Karte. Wie mir schien: eine Eisenbahnkarte. Ich habe keine. 
Da kommt Mayer und sagt, er wolle mich mitnehmen, er gehe für seinen 
Bruder den Nobelpreis abholen, und zwar den für Chemie. Die Situation 
verwandelt sich. Ich stehe auf einem dreieckig zugespitzten Platz, wo 
ein Militärbegräbnis stattfindet. Mir gegenüber wieder ein marmornes 
Haus. An einem Glasfenster Fräulein E., welche die Scheiben putzt, in 
einem schwarzen Harlekinskostüm. Sie putzt mit der linken Iland in 
der Stellung (Sie wissen ja!) so schief nach einwärts, wie sie immer 
geht. Ich gehe in eine Seitengasse und begegne Sie. Sie tragen ein grosses 
Bild und sagen: Das ist die Hochzeitsreise von Schwind. 

Analyse (die notwendig unvollständig ist, da ich die Technik 
der Traumanalyse nur unvollkommen beherrsche): Herr F. ist ganz be¬ 
herrscht von dem Komplexe seiner Liebe zu Fräulein E. Diese aber 
ist die Geliebte des Leutnant H., der F. aufgegeben wurde. F. rächt sich 
an dem Nebenbuhler, indem er ihn sterben lässt, denn statt von ihm, 
träumt er von einem — Militärbegräbnis. Und in der Nähe befindet sich 
Fräulein E. in einem schwarzen Harlekinskostüm. Schwarz bedeutet die 
Trauer um den Toten. Das Harlekinkostüm ist wohl zum Teil darch das 
Suggestionswort Stalehner bedingt, wo Maskenbälle stattfinden, die F. 
besucht hat. Andererseits wird aber durch die Gegensätzlichkeit der 
Kleidung jener Schimmer von Hoffnung zum Ausdruck gebracht, der F. 
nach Hinwegräumung des Gegners übrig bleibt. Deswegen kommt auch 
die Hochzeitsreise am Schlüsse. Zu Beginn des Traumes konnte F. nicht 
fahren. Er hatte keine Eisenbahnkarte. Man beachte noch die Schmähung, 
die darin liegt, wenn F. Fräulein E. zum Dienstmädchen erniedrigt, sowie 
die geschickte Verwertung des Leibreizes im selben Sinne (die „schiefe 
Stellung“). Auch das Scheibenputzen ist determiniert. Nicht allzu lange 
Zeit vor dem Traume wurde der Leutnant im Militärspitale auf Syphilis 
behandelt. Die Diagnose erwies sich später als irrtümlich. F. zweifelte 
aber innerlich an dieser Richtigstellung und meinte einmal scherzweise: 


640 


phil. Dr. Karl Schrötter, 


„Wenn der sich auf eine Glasscheibe setzt, entsteht ein Quecksilberspiegel.“ 
Den muss E. nun abputzen. Daher auch der Pleonasmus: Glasfenster. 

2. Experiment. An diesem Versuche kann — mutatis mutandis 
— die feine Verwebung der Tagesanknüpfungen demonstriert werden. 

Versuchsperson Herr Fr. 

Suggestion: Sie werden träumen von einem Biber, der franzö¬ 
sischen Revolution, Rom, einer elektrischen Lampe, von einem Bilde, 
das in meinem Zimmer hängt, und von einem Schmuckkästchen. 

Traumdauer: 3 Minuten. 

Traum (in der Hypnose): Ich fahre in einem Kahn auf einem 
grossen dunklen Teich allein; plötzlich sitzt neben mir eine Dame; wir 
fahren, es wird heiss. Marmorbauten umgeben uns ringsumher: Wir sind 
in Rom. Und dann bin ich wieder auf dem Teich und komme auf eine 
weite Ebene, wo eine elektrische Bahn fährt. Da drängen Leute darauf 
zu. Ich frage einen Herrn in einem braunen Pelz, was da los sei. Er 
sagt: Wir fahren zur französischen Revolution. Ich erkläre ihn für einen 
Narren. Er bekräftigt es aber und fordert mich auf mitzufahren. Wir 
kommen nach Paris. Ich steige aus und gehe ins Theater, wo gerade der 
erste Akt der Jungfrau von Orleans gegeben wird. 

Bemerkung: Kahn am Teich: Auf 2 Bildern, die in meinem 
Zimmer hängen, sind Teiche (besser kleine Seen) abgebildet. Auf dem 
einen ist es finster als Ausdruck eines heranziehenden Gewitters. 
Elektrische Lampe als elektrische Bahn realisiert. Gedränge 
der Leute: vielleicht durch eine Reproduktion von Rembrandts Schar- 
wache, die in meinem Zimmer hängt, suggeriert. Brauner Pelz = 
Biber pelz; in unserem Falle eine literarische Assoziation. Jungfrau 
von Orleans: In meinem Zimmer befindet sich ein Bildnis Schillers. 
Hauptsächlich jedoch bedingt durch das Schmuckkästchen, das im 
I. Akt 4. Auftritt Agnes Sorel dem Könige bringt. 

3. Experiment. Um die Wirkung der Klangassoziationen zu 
zeigen. 

Versuchsperson Frl. B., stud. med., 20 Jahre. 

Suggestion: Sie werden träumen: von Frl. Vlasta Mach, von 
dem med. Zänker und von dem Sänger aus dem anatomischen Institut 
(ebenfalls ein stud. med., dessen Namen ich nicht kannte, wohl aber 
Versuchsperson, wie sich zeigen wird). Alle drei Personen werden sich 
auf Grund von Klangassoziationen ihrer Namen in etwas anderes ver¬ 
wandeln. Sie werden beim Träumen nichts davon wissen. Darauf erteilte 
ich ihr eine Belehrung darüber, was Klangassoziation sei. 

Traum (in der folgenden Nacht): Sie wollten eine musikalische 
Soiree geben und versprachen mir viel Schönes; ich kam. Anwesend waren 
Dr. P., Frl. M., Vlasta Mach, der Werner Seifert (Namen des singenden 
stud.) und der med. Zänker. W. Seifert sang sehr schön aus Siegfried. 
Da fingen Seifenblasen an, ihm aus dem Munde zu steigen. Zänker fing 
sie auf und spielte Tennis mit ihnen; indessen verwandelte er sich in 
einen gewissen Zamirowits, eine Bekanntschaft vom Tennisplätze. Seifert 
ging nach und nach ganz in die Seifenblasen auf. Da sagte ich Ihnen: 
Sie als Chemiker müssen doch wissen, wie das möglich ist. Darauf ant¬ 
worteten Sie: Da müssen Sie einen Drogisten fragen. Woher soll ich den 
Drogisten nehmen? Da sehe ich plötzlich, wie statt Vlasta Mach, d. h. 


Experimentelle Träume. 


641 


in ihrer blauen Bluse der Drogist sitzt, bei dem ich einzukaufen pflege: 
es schien mir, als ob er Wlastl Mladenov heisse — — — —. 

Bemerkung: Die Situation schliesst genau an einen der letzten 
Abende an, wo alle anwesenden Personen anwesend waren ausser 
Werner S. und med. Zänker, den ich Frl. B. am selben Tage vorgestellt 
hatte. 'Siegfried hatte Versuchsperson vor drei Tagen in der Oper 
gehört. „Da müssen Sie einen Drogisten fragen“ ist die 
nahezu wörtliche Wiederholung des Ausspruches eines Professors. Es 
ist schliesslich eine charakteristische Eigentümlichkeit der suggerierten 
Träume, dass der Hypnotiseur darin eine Rolle spielt. Ich als Che¬ 
miker: Ich selbst bin mag. pharm. 

4. Experiment. Frl. B. In der folgenden Nacht. 

Suggestion: Im ersten Teil des Traumes wird alles abnorm 
klein, im zweiten abnorm gross sein. 

Traum: Wir (Sie, Fr. und ich) sitzen heim Wimberger. Sie 
hypnotisieren mich. Ich weiss nichts von mir. Wie ich erwache, steht 
ein Pfaffe vor mir und sagt: Die Seele gehört dem Himmel und muss 
vor Ihnen gerettet werden und ähnliches. Ich sage nichts. Sie antworten: 
„Das ist ja meine Frau!“ Darauf der Pfaffe: Eher geht ein Kamel durch 
ein Nadelöhr, als die Ihre Frau ist. Ich sage: „0, durch ein Nadelöhr 
kann ich schon kriechen“; darauf ziehe ich eine grosse Nadel heraus 
und krieche durch. Indem ich das tue, werde ich so klein, wie ein 
kleiner Finger. Darauf sagen Sie zu mir: „Sie müssen das ja auch können, 
Sie Gletscherfloh!“ Dann gehen wir alle fort. Wir sind ganz klein und 
geben zwischen unsere Schultern — wir sind eingehängt — eine Lupe, 
damit wir uns sehen können. Da bitte ich Sie um eine Zigarette. Sie 
nehmen eine heraus, die ist ungeheuer gross, ebenso die Zündholzschachtel 

— wie ein Haus. Wir gehen auf den Stephansplatz. Dort ist ein Plakat: 
3 Worte: Gessler, Altvater, Jägerndorf. Ich sage: Gehen wir auf den 
Bisamberg; mit 3 Schritten (einer über die Donau) sind wir dort. Denn 
wir sind durch die Lupe ungeheuer gross geworden. 

Bemerkung: Am Vorabend waren wir im Restaurant Wim¬ 
berger, wo ich die Unvorsichtigkeit beging, die Dame coram publico zu 
hypnotisieren. Darüber regten sich zwei Herren auf, denen ich ant¬ 
wortete: Frl. B. ist ja meine Frau. 

Also wieder eine wörtliche Wiederholung. Auch das: „Sie 
Gletscherfloh“ stammt vom Vorabend. Ein Angeheiterter rief ihr 

— sie ist sehr klein — dieses Scherzwort zu. Eingehängt sind wir 
drei nach Hause gegangen. Von einer Lupe hat der Angeheiterte ge¬ 
sprochen. Am Bisamberg war sie selbigen Tages. Dort hat sie auch 
einen Geistlichen getroffen. Auch das Plakat ist eine Tages¬ 
anknüpfung. 

Die 2. Gruppe habe ich ganz selbständig in Angriff genommen. 
Ihr liegt die Freud’sche Fragestellung zugrunde. Ein latenter Traum¬ 
inhalt, ähnlich jenen, die Freud und seine Schule durch ihre Methode 
der Traumanalyse entdeckt haben, wird als Traumsuggestion verwendet. 
Die Technik des Experimentes ist die nämliche wie in Gruppe 1. Es 
muss ausdrücklich bemerkt werden, dass die Versuchspersonen Freud’s 
Forschungen nicht kannten, noch vom Sinne ihrer Träume eine Ahnung 
hatten. 


642 


phil. Dr. Karl Schrötter, 


5. Experiment. Versuchsperson Frl. B. 

Suggestion: Sie werden träumen, dass Sie mit Ihrem Freunde B. 
sexuell verkehren und zwar zunächst auf normale und dann auf ab¬ 
normale Weise. Sie haben die Suggestion zu vergessen und dann 
symbolisch davon zu träumen. Eine weitere Erklärung wurde 
nicht gegeben. 

Traum (in der Hypnose): Ein Sonntagnachmittag. Ich erwarte 
meinen Freund B., dessen Namenstag wir gemeinsam feiern wollen. Er 
bringt eine Flasche Wein mit, in einen Mantel eingeschlagen. Auf seine 
Bitte nehme ich ein Glas aus der Kredenz und halte es ihm hin, er schenkt 
ein. Dabei erschrecke ich, schreie auf und lasse das Glas fallen, so dass 
es zerbricht und der Wein weit über den Fussboden verschüttet wird. Ich 
ärgere mich sehr über B., weil er mir den Teppich ganz verdorben habe. 
Da tröstet er mich: „Ich werd’s schon wieder gut machen, gib mir noch 
ein Glas her, dass ich einschenken kann.“ Ich hole ein zweites Glas, 
in das er mir mit Vorsicht noch den Rest aus der Flasche giessen will. 
Aber heim ersten Tropfen, der in das Glas rinnt, reisst er die Flasche weg. 

Bemerkung: Die eigentümlichen, schwer zu beschreibenden, 
wollüstigen Bewegungen der Träumerin gehörten deutlich dem latenten 
Inhalt an. 

6. Experiment. Versuchsperson Frl. B. 

Suggestion: Sie werden träumen, dass Sie mit einem Manne 
auf französische Weise verkehren. (Der Versuchsleiter wusste, dass ihr 
diese Art des Verkehrs unter dem wiedergegebenen Namen bekannt sei.) 
Hinzugefügt wurde diesmal nichts. 

Traum (in der Hypnose): Mir war, als ob sich vom oberen Augen¬ 
rand eine Masse über mich senken würde, die mich am Sehen verhinderte 
und sich dann wie schwere Flügel über meine Schultern senkte. Ich 
hüllte mich ganz darin ein, als ob es ein Domino wäre und ging auf einen 
Maskenball, um B. zu suchen. Ich trat ein. Ein Gewimmel von Menschen, 
die durcheinander schwirrten, Lärm, Gestank, Kerzen brannten. Da sah 
ich — eigentlich sah ich nichts — B. in einer Ecke mit einem Frauen¬ 
zimmer. „Ah, Du bist da, ich wusste, dass Du kommen wirst.“ Dann 
wollte er mir die Hand geben, zog sie aber wieder zurück und suchte in 
den Taschen nach seinen Handschuhen. Er fand sie nicht. Da nahm er 
eine Zigarette heraus und steckte sie in den Mund. Ich wollte sie ihm 
entreissen und verbrannte mich dabei heftig. Er sagte: „Was machst Du 
denn da?“ - 

Traumdauer: 4 Minuten 5 Sekunden. 

Bemerkung: Die Dame führte spontan den ersten Satz des 
Traumes auf einen starken Kopfschmerz zurück, der sie vor Beginn der 
Hypnose tatsächlich bedrückte. Sicherlich ist dieser Reiz verwertet, doch 
ist die Symbolisierung der Stellung bei dem Akte vollkommen klar. (Flügel 
über die Schultern = Beine; Masse = fremder Körper, sowie das „nicht 
sehen können“.) Man beachte noch: das Gewimmel der Menschen = Ge¬ 
heimnis nach Freud und die brennenden Kerzen. Zum Tatsächlichen 
muss noch bemerkt werden, dass an dem Experimentabend ihr Freund B. 
eine Redoute besuchte und sie den Wunsch äusserte, ihn dort zu über¬ 
raschen. 


Experimentelle Träume. 


643 


7. Experiment. Versuchsperson Frl. E., mag. pharm., 24 Jahre. 

Suggestion: Sie werden träumen, dass Sie mit Ihrer Freundin L. 
homosexuell verkehren. Sie werden die Suggestion vergessen und dann 
träumen. (Kein Auftrag zur Symbolisierung.) 

Traum (in der folgenden Nacht): Ich sitze in einem kleinen, 
schmutzigen Kaffeehause, in der Hand eine riesige französische Zeitung. 
Ausser mir sind fast keine Leute da, nur ein paar Hausierer. Zweimal 
fragt mich ein Weib mit stark jüdischem Jargon: „Bedarfen Se nix zu 
gebroochen?“ Ich antworte gar nicht und verschanze mich hinter meine 
Zeitung. Da kommt sie ein drittes Mal; ärgerlich lege ich das Blatt aus 
der Hand, da erkenne ich in ihr eine Bekannte, L.; in der Hand trägt sie 
eine schäbige Reisetasche, worauf ein Zettel klebt, bedruckt mit den 
Worten: „Nur für Damen!“ Angezogen ist sie wie ein altes Weib, mit 
schmutzigen Lumpen, ein Tuch um den Kopf. „Magst Du nicht mit mir 
kommen, ich bin auf dem Weg nach Hause.“ Ich verlasse mit ihr das 
Kaffeehaus, wir gehen durch unbekannte Strassen, finden uns aber bald 
in Mariahilf, wo sie wohnt. Unterwegs hängt sie sich in mich ein, mir 
ist es zwar unangenehm, aber ich will sie nicht kränken und dulde es. 
Vor ihrem Haus zieht sie aus einem Fetzen einen riesigen Schlüsselbund 
hervor, sucht einen Schlüssel heraus und gibt ihn mir. „Den vertraue 
ich nur Dir an; er sperrt die Tasche hier. Du wirst ihn vielleicht gerne 
benutzen. Nur schau, dass ihn mein Mann nicht in die Hand bekommt, 
das vertrag ich nicht; er ist so indiskret und will immer in meinen Sachen 
herumkramen, aber ich kann das nicht leiden.“ „Ich versteh kein Wort, 
was Du da redest.“ „Verrat mich nur nicht, mein Mann darf nichts er¬ 
fahren.“ Dann geht sie ins Haus und lässt mir den Schlüssel in der Hand. 

Bemerkung: Frl. L., die Freundin, ist Jüdin, Träumerin arischer 
Abkunft. 

8. Experiment. Versuchsperson Frl. E. 

Suggestion: Sie werden träumen von der Erfüllung des stärksten 
Wunsches, der Sie gegenwärtig beherrscht. 

Leib reize: 1. Versuchsleiter strich zweimal mit seiner Hand 
über die Mitte des Unterarms der Dame. 2. Desgleichen zwickte er sie 
zweimal in die Knöchel des linken Fusses. Das geschah während des 
Träumens. 

Vorbemerkung: Ich kannte den stärksten Wunsch der Ver¬ 
suchsperson. Es ist dieselbe Dame, die im Traume des Herrn F. (siehe 
1. Experiment) eine Rolle spielt. Sie liebte einen Leutnant, doch war 
an eine Verbindung aus äusseren Gründen sclrwer zu denken. 

Traum (in der Hypnose): Ich fahre nach Dalmatien. Meine Mutter 
und Leutnant H. sind mir bis Gravosa entgegengekommen. Vom Molo aus 
gehen wir in einem Wildbach (der aber eigentlich zu unserer Campagne 
in Lastua gehört); da der Weg sehr schlecht ist, hänge ich mich in den 
Leutnant ein. Mit den Worten: „Damit Du mit keinem anderen Arm in 
Arm gehst“, zerhaut er mir mit dem Säbel den linken Arm und zwar 
der Länge nach. Es fängt an, heftig zu regnen. Wir sollten nach Hause. 
Da klemme ich mir in einer Felsspalte den linken Fuss ein, meine Mutter 
geht fort, um einen Schirm zu holen, unterdes wickelt mich H. in seinen 
Wettermantel; und wir bleiben allein, um meine Mutter zu erwarten. 


644 


phil. Dr. Karl Schrötter, 


Bemerkung: Schon die Fahrt nach Dalmatien bedeutet die 
Wunscherfüllung. Denn Leutnant H. weilte dort. Die Mutter protegierte 
das Verhältnis, doch waren die jungen Leute in ihrer Gegenwart nie auf 
dem „Du“-Fusse. Die Worte „Damit Du mit keinem anderen . . enthalten 
eine wichtige Beziehung zur Übertragung, worüber später. 

9. Experiment. Versuchsperson Frl. E. 

Suggestion: Träumen Sie, was Ihren gegenwärtigen psychischen 
Status symbolisiert. 

Traum (in der Hypnose): Ich gehe durch einen herbstlich ge¬ 
färbten Wald. Dann steigt der Weg an, es ist kalt und eisig. Neben mir 
geht jemand, den ich nicht sehe; ich fühle nur einen Händedruck; da 
verspüre ich einen starken Durst. Ein Quell rauscht daneben. Ich will 
trinken, da ist über dem Quell ein Zeichen wie auf den Giftfläschchen. 
Knochen, die sich überkreuzen und ein Totenkopf. 

Bemerkung: der Traum gibt die unglückselige Stimmung wieder, 
in der sich Versuchsperson befand, als sie erfuhr, dass Leutnant H. 
syphilitisch sei. 

10. Experiment. Versuchsperson Herr Fr. 

Suggestion: Träumen Sie, dass Sie mit Ihrer Stiefmutter sexuell 
verkehren. In verkleideter Form. 

Traumdauer: 2 Minuten. 

Traum (in der Hypnose): Mein Vater ist gestorben und liegt auf¬ 
gebahrt in einem grossen Sarge. Da kommt ein junges Mädchen herein, 
die ich nicht kenne. Ich fange mit ihr zu tändeln an und werde hand¬ 
greiflich. Sie wehrt ab und sagt, sie sei meine Schwester. Da steht auf 
einmal hinter mir mein Vater und sagt mir etwas, was ich nicht ver¬ 
stehe; und durch die Türe kommt mein kleiner Bruder herein. 

Bemerkung: Herr Fr. hat seine Mutter in frühem Kindesalter 
verloren. Seit 10 Jahren hat er eine Stiefmutter, von der nur ein Kind 
stammt: der kleine Bruder, wie er ihn stets nennt. Schwestern hat Fr. 
keine. Doch ist es bemerkenswert, dass er seine Jugendgedichte stets an 
eine „Schwester“ richtete. 

Ich habe fernerhin die Symbolisierung körperlicher Vorgänge 
untersucht. 

11. Experiment. Versuchsperson Frl. B. 

Vorbemerkung: Die Dame leidet an hartnäckigem Kopfschmerz, 
den ich ihr gelegentlich in der Hypnose wegnahm. 

Suggestion: Sie werden davon träumen, wie das Kopfweh 
schwindet. 

Traum: Ich gehe auf dem Ring mit einem riesig grossen Hut, der 
im Winde flattert und den er mir zu entreissen droht. Ich halte ihn, aber 
er fliegt weg und alle Leute sehen mich an. Da steige ich in ein vorbei¬ 
fahrendes Automobil; es mussten aber Rosshaare in dem Polster sein; 
denn es ritzte die Hände. 

Bemerkung: Das letzte Moment ist durch einen Leibreiz bedingt, 
indem ich die Schläferin an den Handflächen kitzelte. 

12. Experiment. Versuchsperson Herr Fr. 

Suggestion: Sie haben Zahnschmerz und leichten Harndrang. 
Im Verlaufe von 5 Minuten werden Sie etwas träumen. 


Experimentelle Träume. 


645 


Traum: Wir waren im Prater beim Watschenmann. Den habe 
ich so lange gehaut, bis sein Gesicht immer grösser und grösser wurde. 
Dann sind wir in einem Kahn in ein Wirtshaus gefahren, wo wir viel 
getrunken haben. 

Traumdauer: 1 Minute 20 Sekunden. 

Bemerkung: Die Symbolik des Kahnfahrens ist klar. Der Schluss 
enthält die Motivierung des Harndrangs. 

Wie bereits angedeutet, habe ich auch das Phänomen der „Über¬ 
tragung 1: (vom Medium auf den Hypnotiseur) beobachtet. Diese Er¬ 
scheinung wird durch den folgenden Fall illustriert. 

13. Experiment. Frl. B. 

Vorbemerkung: Frl. B. sollte zu den Ferien verreisen, wollte 
aber in Wien bleiben. Darauf bezieht sich die 

Suggestion: Sie werden träumen von der Erfüllung Ihres 
Wunsches, hierzubleiben. 

Traum (in der folgenden Nacht): Ich packe meinen Koffer zur 
Abreise. Unter der Wäsche fällt mir ein Handtuch durch seine Faltung 
auf. Ich versuche, darauf wie auf einer Ziehharmonika zu spielen. Da 
das nicht gelingt, werfe ich das Handtuch wütend auf den Boden, setze 
mich zum Schreibtisch und schreibe auf grossen Konzeptbogen seitenlang 
immer ein und dasselbe Wort. Ich stehe dabei unter dem Eindrücke, eine 
Zwangshandlung zu vollziehen. Daher halte ich mich für irrsinnig und 
will mir das Leben nehmen. Den Versuch, mir mit einer Nagelfeile die 
Pulsadern zu durchfeilen, gebe ich auf, denn eigentlich ist’s nicht so 
arg mit meiner Verrückheit. Aber ich setze ein Telegramm auf: „Kann 
nicht nach Hause kommen. Bin paralytisch. Diskretion Ehrensache.“ 
Hauptsächlich kommt es darauf an, dass niemand von meinem Zustande 
etwas merkt. Besonders muss ich mich vor Dr. Schrötter als Psychologen 
hüten. Am besten, er erfährt von meinem Entschluss, in Wien zu bleiben, 
gar nichts. Da erhalte ich einen Brief von Ihnen: „Es wird mich freuen, 
am Ostermontag mit Ihnen einen Ausflug zu machen, etwa nach Steinhof. 
Um 8 Uhr bei der Universität.“ Da dachte ich, Sie wollten mich in die 
Irrenanstalt bringen. Sie lauern mir auf, ich wage mich nicht auf die 
Strasse. Aber das früher aufgesetzte Telegramm muss ich doch aufgeben! 
Voll Angst verlasse ich das Haus, finde vor dem Tor einen Einspänner, 
in dem Sie mich erwarten. Mit Gewalt ziehen Sie mich in den Wagen, 
halten meine Hände fest umklammert und starren mich -— wie hei der 
Hypnose — unverwandt an. Mir wird unter diesem starren Blick fürchter¬ 
lich unheimlich, meine Angst steigt und steigt, ich mache mich los, reisse 
den Wagenschlag auf und springe bei voller Fahrt aus dem Wagen. Im 
Stürzen fängt mich ein Bekannter, ein Regimentsarzt, auf. 

Bemerkung: Der Traum wendet sich in seinem Tone ganz an 
mich. Die Dame selbst bringt folgende Einzelheiten bei: Am Vortage hat 
sie Wäsche geordnet, in einem Lokale Ziehharmonika spielen gehört und 
ein Gespräch am Nebentische belauscht, wo von verschiedenen Wahn¬ 
sinnsformen die Rede war. Sie hat ferner spielerisch unbewusst Figuren 
auf ein Papier gezeichnet, und als sie es bemerkte, gesagt: „Verrückt!“ 
Deutlich ist der Sinn des Traumes: Wenn ich verrückt werde, kann ich 
hierbleiben. Die Verrücktheit wird in enge Beziehung zur Hypnose ge- 


646 


phil. Dr. Karl Schrötter, Experimentelle Träume. 


bracht. (Populär: Durch Hypnose wird man verrückt.) Sehr klar ist auch 
der Durchbruch einer Schwangerschaftsphantasie (bei Versuchsperson keine 
Seltenheit). Hierher gehört: „Diskretion Ehrensache“ und „dass niemand 
von meinem Zustande etwas erfährt“. Gewisse Rücksichten verbieten es, 
über diesen ziemlich leicht verständlichen Traum mehr Licht zu ver¬ 
breiten. 

Zum Schlüsse berichte ich noch einen Wecktraum. 

14. Experiment. Frl. E. 

Suggestion: Sie sind sehr müde, es ist morgens und Sie sind 
erst spät nach Hause gekommen. Ich werde in ein paar Minuten durchs 
Zimmer gehen. Davon werden Sie erwachen. 

Traum: Ich sitze in der Universitätsbibliothek und bin über dem 
Buche eingeschlafen. Der Diener geht fortwährend auf und ab und bringt 
Stösse von Büchern. Damit weckt er mich auf. Ich schimpfe und sage: 
So lassen Sie mich doch schlafen, aber er kommt immer wieder. 


Mitteilungen 


i. 

Selbstbestrafung wegen Abortus. 

Yon Dr. J. E. Gr. von Emden, Haag (Holland). 

Frau X., aus gutem bürgerlichen Milieu, ist verheiratet und hat 
mehrere Kinder. Sie ist zwar nervös, aber brauchte nie eine energische 
Behandlung, da sie dem Leben doch genügend gewachsen ist. Eines Tages 
zog sie sich in folgender Weise eine momentan ziemlich imponierende, 
aber vorübergehende Entstellung ihres Gesichtes zu. 

In einer Strasse, welche zurecht gemacht wurde, stolperte sie über 
einen Steinhaufen und kam mit dem Gesicht in Berührung mit einer 
Hausmauer. Das ganze Gesicht war geschrammt, die Augenlider wurden 
blau und ödematös, und da sie Angst bekam, es möchte mit ihren Augen 
etwas passieren, liess sie den Arzt rufen. Nachdem sie deswegen beruhigt 
war, fragte ich: „Aber warum sind Sie eigentlich so gefallen?“ Sie er¬ 
widerte, dass sie gerade zuvor ihrem Manne, der seit einigen Monaten 
eine Gelenkaffektion hatte, wodurch er schlecht zu Fuss war, gewarnt 
hatte, in dieser Strasse gut aufzupassen, und sie hatte ja schon öfters 
die Erfahrung gemacht, dass in derartigen Fällen merkwürdigerweise ihr 
selber dasjenige passierte, wogegen sie eine andere Person gewarnt hatte. 

Ich war mit dieser Determinierung ihres Unfalles nicht zufrieden 
und fragte, ob sie nicht vielleicht etwas mehr zu erzählen wusste. Ja, — 
gerade vor dem Unfall hatte sie in einem Laden von der entgegengesetzten 
Seite der Strasse ein hübsches Bild gesehen, das sie ganz plötzlich als 
Schmuck für die Kinderstube sich wünschte und darum sofort kaufen 
wollte: da ging sie geradeaus auf den Laden zu, ohne auf die Strasse zu 
achten, stolperte über den Steinhaufen und fiel mit ihrem Gesicht gegen 
die Hausmauer, ohne einmal den leisesten Versuch zu machen, sich mit 
den Händen zu schützen. Der Vorsatz, das Bild zu kaufen, war gleich 
vergessen und sie ging eiligst nach Hause. 

„Aber warum haben Sie nicht besser zugeschaut?“ fragte ich. 

„Ja“, antwortete sie, „es war vielleicht doch eine Strafe! Wegen 
der Geschichte, welche ich Ihnen schon im Vertrauen erzählt habe.“ 

„Hat diese Geschichte Sie denn immer so gequält?“ 

„Ja — nachher habe ich es sehr bedauert, mich selbst boshaft, 
verbrecherisch und unmoralisch gefunden: aber ich war damals fast ver¬ 
rückt von Nervosität.“ 


643 


Dr. J. E. G. Emden, Selbstbestrafung wegen Abortus. 


Es hatte sich um einen Abortus gehandelt, welchen sie mit Ein¬ 
verständnis ihres Mannes, da sie beide wegen den pekuniären Verhältnissen 
von mehr Kindersegen verschont bleiben wollten, von einer Kurpfuscherin 
hatte einleiten und von einem Spezialarzt hatte terminieren lassen. 

„Öfters machte ich mir den Vorwurf: aber du hast doch dein Kind 
töten lassen, und ich hatte Angst, dass so etwas doch nicht ohne Strafe 
bleiben konnte. Jetzt da Sie mir versichert haben, dass mit den Augen 
nichts Schlimmes vorliegt, bin ich ganz beruhigt; ich bin nun so wie so 
schon genügend gestraft.“ 

Dieser Unfall war also eine Selbstbestrafung einerseits um für ihre 
Untat zu büssen, andererseits aber um einer vielleicht viel grösseren un¬ 
bekannten Strafe, für welche sie monatelang fortwährend Angst hatte, zu 
entgehen. 

In dem Augenblick, als sie auf den Laden losstürzte, um sich das 
Bild zu kaufen, war die Erinnerung an die ganze Geschichte mit all ihren 
Befürchtungen, welche schon während der Warnung ihres Mannes sich in 
ihrem Unbewussten ziemlich stark regte, ganz dominierend geworden und 
hätte vielleicht in einem etwa derartigen Wortlaut Ausdruck finden können. 

iVber wofür brauchst du einen Schmuck für die Kinderstube, du 
hast dein Kind umbringen lassen! Du bist eine Mörderin! Aber gewiss, 
die grosse Strafe naht! 

Dieser Gedanke wurde nicht bewusst, aber statt dessen benutzte sie 
in diesem, ich möchte sagen psychologischen Moment die Situation, um 
den Steinhaufen, der ihr dafür geeignet schien, in unauffälliger Weise 
für die Selbstbestrafung zu verwenden: deswegen streckte sie beim Fallen 
auch nicht einmal die Hände aus, und war sie nicht stark erschrocken. 
Die zweite, wahrscheinlich geringere Determinierung ihres Unfalles ist 
wohl die Selbstbestrafung wegen dem unbewussten Beseitigungs¬ 
wunsch gegen ihren, allerdings in dieser Affaire mitschuldigen Manne. 
Dieser Wunsch hatte sich verraten durch die vollkommen überflüssige 
Warnung, in der Strasse ja gut aufzupassen mit dem Steinhaufen, da der 
Mann, eben weil er schlecht zu Fuss war, sehr vorsichtig ging. 


H. 

Ein Fall von „clejä vir 1 . 

Von Dr. S. Ferenezi (Budapest). 

Eine Patientin erzählt mir in der Analysenstunde einen Traum aus 
ihrer Brautzeit; ihr Bräutigam erschien ihr damals mit kurzgeschorenem 
englischem „Zahnbürsten-Schnurrbart“. Unmittelbar vor dieser Traum¬ 
erzählung sagte mir die Patientin, wie sehr und wie unangenehm sie durch 
das Geständnis ihres Bräutigams berührt worden sei, dass die Männer 
nicht, wie die Frauen, „jungfräulich“, sondern nach verschiedentlichen 
erotischen Erfahrungen die Ehe schliessen. Auf meine Frage, was ihr 
zur Zahnbürste einfalle und ob sie an der Mundpflege des Bräutigams nichts 
auszusetzen hatte, gesteht sie mir, dass er tatsächlich manchmal „nach 
schlechtem Magen“ gerochen hätte. Ich kombiniere die gelieferten Ein- 


Dr. S. Ferenczi, Ein Fall von „ddjä vuV 


649 


fälle und gebe der Vermutung Ausdruck, dass diese Geruchsempfindlich¬ 
keit bei ihr wohl auch durch die ihr unangenehme Vorstellung gesteigert 
worden sein konnte, der Bräutigam könnte den Geruch anderer Frauen 
an sich tragen. In diesem Moment ruft die Patientin aus: „Das, was jetzt 
hier vorgeht, ist mir pünktlich so einmal schon vorgekommen. Ihre Worte, 
Ihre Stimme, diese Möbel gerade in dieser Ordnung, alles war schon einmal 
da!“ Ich erkläre ihr, dass das der bekannte psychische Eindruck des 
„dejä vu“ sei, und eine Bestätigung meiner Vermutungen bedeuten könne. 
„Ja, wir (ich und meine Schwestern) kannten diesen Vorgang schon als 
Kinder“, sagte die Patientin, „wir pflegten zu sagen: wahrscheinlich 
kommen uns Dinge manchmal so bekannt vor, weil wir sie irgend einmal, 
wo wir noch Frösche waren, gesehen haben können.“ Ich mache 
die Patientin darauf aufmerksam, dass sie, wie sie noch „ein Frosch“ 
(Embryo) gewesen sei, tatsächlich in intimster Berührung mit einem 
Frauenleib (mit dem der Mutter) sich befunden hätte und zwar in der 
Nähe von Organen und Exkreten, deren Geruch ihr (wie ich es schon 
weiss) sehr widerwärtig ist. Daraufhin bringt mir die Patientin einige 
ihrer infantilen Sexualtheorien (Storchfabel mit Froschteich, Geburt auf 
analem Wege etc.) und eine Reminiszenz an den Körpergeruch der Mutter, 
den sie verspürte, wenn sie sich in ihr Bett legen durfte. 

Den Traum, das „dejä vu“ und die Einfälle dazu konnte ich dann 
als wertvolle Bestätigungen der von mir lange vermuteten ziemlich starken 
(unbewussten) homosexuellen Fixierung der Patientin verwerten, die sich 
im Bewusstsein u. a. auch in übertriebener Aversion gegen Frauengerüche 
äusserte. Zugleich bekräftigte der Fall meine bei früheren Anlässen ge¬ 
machte Erfahrung, dass zwischen „dejä vu“ und Traum oft ein intimer 
Zusammenhang besteht. Allerdings fand ich bisher diesen Zusammenhang 
nur zwischen dem „dejä vu“ und einem Traume der ihm voraus¬ 
gegangenen Nacht; dieses Beispiel zeigt aber, dass auch längst 
vorausgegangene Träume mit einem aktuellen „dejä vu“ Zu¬ 
sammenhängen können. Nehmen wir die ursprüngliche Erklärung Freud’s 
hinzu, wonach die Sensation des „dejä vu“ zumeist die Erinnerung an 
einen unbewussten Tagtraum bedeutet, so können wir zusammen¬ 
fassend sagen: das „dejä vu“ ist den „passageren Symptom¬ 
bildungen“ (s. dieses Zentralbl. Juli-Heft 1912) zuzuzählen und 
bedeutet immer eine Bestätigung aus dem Unbewussten. 

Interessant ist auch die infantile Theorie meiner Patientin über das 
„dejä vu“. Diese führt das unerklärliche Bekanntheitsgefühl auf ein früheres 
Leben zurück, in dem ihre Seele im Körper eines anderen Tieres (Frosch) 
gesteckt habe. Die Vermutung Freud’s, dass es eine solche Theorie 
geben könnte, bestätigt sich also 1 ). 

Man kann übrigens die seit undenklichen Zeiten so hartnäckig 
verteidigte Lehre von der Seelen Wanderung als mythologische Pro¬ 
jektion der sich uns immer bestimmter auf drängenden Erkenntnis auf fassen, 
dass die menschliche Seele unbewusste Erinnerungsspuren der phylogenen 
Entwicklung beherbergt. 


U Freud, Psychopath, d. Alltagslebens. (S. Karger, Berlin. IV. Aufl.) 



650 Frau Dr. Marg. Stegmann, Ein Fall von Namen vergessen. 

III. 

Ein Fall von Namenvergessen. 

Von Frau Dr. Marg. Stegmann, Dresden. 

Eine Studentin der Theologie erzählte mir, ihre Schwester sei zu 
ihr zu Besuch gekommen; sie habe sich aber immer befangen gefühlt, 
wenn sie sie mit Kollegen bekannt gemacht habe, denn sie hätte mit ihnen, 
die nur zu fachsimpeln verstanden, nicht reden können. Zum erstenmal 
sei sie nicht eingeschüchtert worden, sei etwas aus sich herausgegangen, 
als sie heute mit ihr eine Doktorin der Physik besucht habe, die sehr 
nett über allgemeine Fragen geplaudert hätte. Die Kollegin wollte den 
Namen der Physikerin nennen, hatte ihn aber zu ihrem grossen Erstaunen 
total vergessen und musste ihn erst auf einer Visitenkarte wieder nach- 
lesen. Die Theologin hatte vorher mit mir über Freud gesprochen, von 
dessen Theorien sie einiges, ihr unglaublich dünkendes gehört lind ge¬ 
lesen hatte. Ich schlug ihr vor, das Vergessen dieses Namens mit ihr 
zu analysieren, um zu sehen, wieweit ihre Aufrichtigkeit gegen sich 
selber gehe und um ihr die Richtigkeit der Freu d’schen Ansicht über 
das Vergessen zu beweisen. 

Als ich sie zunächst nochmals die Umstände des Besuches bei der 
Physikerin genau erzählen liess, sagte sie, die Dame sei in Schwarz ge¬ 
wesen, denn ihr Vater sei kürzlich gestorben. Mit dieser Bemerkung war 
für mich der Fall aufgeklärt. Die Schwester der Theologin lebt in einer 
kleinen Stadt bei ihren Eltern. Die Mutter ist geisteskrank (wahrscheinlich 
manisch-depressiv), lebt aber im Hause, weil der Vater sie durchaus nicht 
in eine Anstalt geben will. Die Schwester ist gezwungen, der Pflege der 
Mutter zu leben, hat keinerlei geistige Anregung und kann nichts lernen. 
Dem Vater verbirgt sie, dass sie unter dem Zustand leidet; nur wenn die 
Studentin in die Ferien kommt, macht sich ihre Entbehrung Luft m einer 
Explosion von Schmerz. Die Theologin selbst empfindet den Zustand 
der Schwester um so schmerzlicher, als sie sich sagt, dass sie die Be¬ 
vorzugte ist und dass ihre Schwester studieren könnte, wenn sie es nicht 
täte. Der Tod des Vaters würde die Schwester frei machen, denn die 
Mutter könnte dann in einer Anstalt versorgt werden. Ursache des Namen¬ 
vergessen s war also der beim Anblick der um ihren Vater trauernden 
Physikerin in meiner Bekannten aufgestiegene und sofort verdrängte 
Wunsch, ihr Vater möchte sterben, ein Wunsch, der natürlich mit den 
religiösen und menschlichen Grundsätzen der Theologin aufs schärfste 
kontrastiert. Im Verlauf der Analyse war der Dame bezeichnenderweise 
eingefallen, ich meine wohl, sie hätte gewünscht, dass statt des Vaters 
der Physikerin ihre Mutter hätte sterben sollen. Aber, fiel ihr selber 
sofort ein, für ihre Schwester hätte das nichts geändert, weil sie dann 
doch beim Vater bleiben müsste. — Der Name der Physikerin unterscheidet 
sich nur durch einen Buchstaben von meinem Namen, was ein Motiv 
mehr zur Verdrängung gewesen sein mag, da die Theologin oft mit mir 
über den Konflikt der Schwester gesprochen, und ich die Ansicht vertreten 
hatte, es sei nicht richtig, dass ein ganzes junges Leben und eine Zukunft 
für ein altes geopfert werde. 


Dr. Rudolf Reitler, Zwei Versprechen, von denen das zweite das erste deutet. 651 


IV. 

Zwei Versprechen, von denen das zweite das erste 

deutet. 

Von Dr. Rudolf Reitler, Wien. 

Einer meiner Patienten befand sich in einem deutlichen Konflikt 
zwischen Ablehnung der Freu d’schen Lehren und deren Anerkennung. 
Er war einer jener sich überschlau dünkenden Menschen, welche immer 
mit überlegenem Lächeln die Gescheiteren sein und deshalb von vorn¬ 
herein die Möglichkeit nicht zugeben wollen, dass ein anderer mehr von 
ihrem inneren Seelenleben ergründen könnte, als sie ohnedies von sich 
selbst schon wüssten. 

Nun häuften sich aber die Beweise für die Richtigkeit der psycho¬ 
analytischen Arbeitsmethode derart, dass mein Patient — allerdings unter 
beständiger Wahrung seines ungläubigen Standpunktes — denn doch seiner 
Hochachtung vor den geistvollen Konzeptionen Freud’s Ausdruck ver¬ 
leihen musste. Aber bei aller Anerkennung der Genialität vertrat er doch 
noch immer die Meinung, die Dinge müssten doch nicht gar zu kom¬ 
pliziert erklärt werden, es könne alles viel einfacher zugehen. Zum Be¬ 
weise für diese „einfachen“ Erklärungsmöglichkeiten erzählte er mir eines 
Tages triumphierend folgendes Versprechen. 

Er habe soeben in einer Apotheke gegen seinen Stockschnupfen 
Form an-Watte kaufen wollen. Der Apotheker riet ihm aber, er solle es 
lieber mit einer Bormentholsalbe versuchen, von der bloss ein stecknadel¬ 
kopfgrosses Teilchen in die Nasenöffnungen eingerieben werden dürfe. 

„Also nur spinatkopfgross?“, fragte der Patient, indem er die kleine 
Salbentube misstrauisch betrachtete, „und das soll schon wirken?“ „Nur 
stecknadelkopfgross“, korrigierte der Apotheker. „Nur spinatkopfgross?“, 
wiederholte kopfschüttelnd mein Patient und merkte erst durch das Ge¬ 
lächter der Umstehenden sein hartnäckig festgehaltenes Versprechen. 

Schliesslich liess er sich doch die schon von ihm erprobte Forman- 
Watte geben, da er zu dem neuen Mittel kein rechtes Vertrauen hatte 
und beschloss auf dem Wege in meine Ordination, mir sofort dieses Ver¬ 
sprechen zu erzählen, zum Beweise, wie „einfach“ alles erklärt werden 
könne. Er habe nämlich gerade vorher in einer Restauration zu Mittag 
Spinat gegessen und dadurch sei doch sein Versprechen ohne weiteres 
hinlänglich verständlich. 

„Das Spinatessen“, erwiderte ich, „kann doch Ihnen an und für 
sich keinen gar so starken Eindruck gemacht haben, dass damit Ihr späteres 
Versprechen in der Apotheke genügend erklärt wäre; da muss noch etwas 
anderes dahinter stecken.“ „Absolut nicht“, sagte der Patient und lächelte 
höhnisch triumphierend. Dieses überschlaue Lächeln kannte ich schon. 
Es trat immer dann auf, wenn der Patient einerseits zwischen Misstrauen 
zu den Lehren und andererseits Hochachtung vor der Person Prof. F r e u d’s 
hin- und herpendelte. Ich schloss somit, dass „der Spinat“ irgend etwas 

Zentralblatt für Psychoanalyse. II J *. 46 


652 Dr. Rudolf Reitler, Zwei Versprechen, von denen das zweite das erste deutet. 

direkt mit der Person Freud’s zu tun haben müsse. Und nun fiel mir 
ein, den Patienten zu fragen, ob er nicht vielleicht in der Arbeit F r e u d’s 
„Über den Traum“ (Grenzfragen zwischen Nerven- und Seelenleben) jenen 
Traum gelesen habe, in dem der Professor an der Table d’höte sitzt, es 
wird Spinat gegessen usw. 

„Richtig ja!“ sagte der Patient, „und ich erinnere mich jetzt sogar 
ganz deutlich, dass ich mir heute mittags, in der Restauration, als ich 
im Zweifel war, welches Gemüse ich wählen sollte, nur deshalb Spinat 
bestellte, weil ich gerade vorher im Freud den Spinat gelesen hatte.“ 

Jetzt wäre an mir die Reihe gewesen, überlegen zu lächeln, aber 
bevor ich meine Befriedigung äusserte, frug ich zur Vorsicht nochmals: 
„Was haben Sie im Freud gelesen?“ 

„Den Spinat habe ich gelesen“, wiederholte arglos mein Patient. 

Er hatte sich also zum zweiten Male versprochen oder präziser 
ausgedrückt einen charakteristischen, stilistischen Fehler gemacht. Richtig 
hätte er ja doch sagen müssen: „Ich habe ,über‘ oder ,vom Spinat 4 ge¬ 
lesen“, tatsächlich aber sagte er, er habe im Freud „den Spinat“ ge¬ 
lesen. Mein Patient verfügte sonst über eine geradezu tadellose Rede¬ 
gewandtheit, und als ich ihn auf seinen lapsus linguae aufmerksam machte, 
wollte er ihn zuerst abstreiten, musste aber, nachdem ich ihn an die 
von mir provozierte Wiederholung erinnert hatte, schliesslich doch zu¬ 
geben, dass die fehlerhafte Stilisierung einer unterdrückten Schmähungs¬ 
tendenz entsprang. 

In Wien und wohl auch in ganz Süddeutschland dient „Spinat“ 
ebenso wie „Kohl, Holler, Kraut und Rüben“ zur geringschätzigen Be¬ 
zeichnung eines minderwertigen Geistesproduktes. Wenn daher mein 
Patient sagte, er habe im Freud „den Spinat“ gelesen, so drückte er 
damit seine Ablehnung aus und zwar in einer unziemlich geringschätzigen 
Form, die er sich im Bewussten nie gestattet hätte. 

Die psychischen Zusammenhänge waren nunmehr klar. Am Vor¬ 
mittage empfand er bei der Lektüre der Traumdeutung Zweifel und Miss¬ 
trauen, und als er dann in der Restauration ebenfalls in eine Zweifel¬ 
situation geriet, nämlich welches Gemüse er wählen sollte, wurde aus 
naheliegenden Gründen die Erinnerung an den „Freud’schen Spinat“ ge¬ 
weckt. Und später wurde ihm schliesslich in der Apotheke statt der 
erprobten Forman-Watte eine ihm unbekannte Salbe empfohlen, die ihm 
kein rechtes Vertrauen einflösste. Und dieses Misstrauen in die Pleil- 
wirkung war das tertium comparationis, welches die Parallele zu der 
Freud’schen Psychoanalyse herstellte und zu dem Versprechen „spinat¬ 
kopfgross“ statt „stecknadelkopfgross“ führte. 

Die Analyse wäre jedenfalls nicht so beweiskräftig ausgefallen, 
wenn der Patient in der Ordination nicht das zweite Versprechen pro¬ 
duziert hätte, in welchem das Wort „Spinat“ in seiner herabsetzenden 
Bedeutung angewendet worden war. 



Ernst Marcus, Psychische Beeinflussung der Menstruation. 


653 


J. 

Psychische Beeinflussung (1er Menstruation. 

Von Ernst Marcus. 

Ein Mädchen verliebt sich in einen Mann, wird jedoch durch ver¬ 
schiedene Umstände gezwungen, ein Jahr lang in einer anderen Stadt 
zu leben als er. Dort bleibt ihr die Menstruation aus; der untersuchende 
Arzt findet keinerlei organische Ursache. Nach 9 Monaten tritt die Men¬ 
struation wieder ein; das Ausbleiben hat somit Schwangerschaft, also 
einen stattgehabten Koitus symbolisiert. Ihre Angabe, dass sie zu jener 
Zeit noch keinerlei Koitusgedanken, überhaupt noch keine bewussten 
sexuellen Phantasien gehabt hat, gewinnt dadurch einige Wahrscheinlich¬ 
keit, dass sie ohne weiteres zugibt, nach der Trennung recht intime Be¬ 
ziehungen zum Geliebten gehabt zu haben. Sie ist überhaupt gar 
nicht prüde. 

Dasselbe Mädchen erzählt von einer Bekannten, der auch die Men¬ 
struation 9 Monate lang ausgeblieben ist und sich dann von selbst wieder 
einstellte. Über diesen Fall ist mir nichts Näheres bekannt. 

In einem dritten Fall erscheint psychische Beeinflussung der Peri¬ 
odendauer wahrscheinlich. Ein Mädchen hat ganz regelmässig zu lange 
Perioden, die Menstruation tritt um 3—4, manchmal auch um 7—8, ja 
einmal um 10 Tage verspätet auf. Nun war sie einmal unvorsichtig und 
lebt in der grössten Angst, die Menstruation könnte ihr ausbleiben. Sie 
wird nervös, schaut sehr schlecht aus und fürchtet besonders für den 
Fall, die Menstruation könnte sich wieder verzögern, in solche Angst 
zu geraten, dass sie sich etwas antäte, obwohl vielleicht gar kein Grund 
dazu vorhanden wäre. Die Menstruation tritt schon am 27. Tage auf. 
Die Annahme, dass sie nur durch ihren intensiven Wunsch den Ablauf 
der Periode beschleunigt habe, gewinnt dadurch an Wahrscheinlichkeit, 
dass die nächsten Menstruationen wieder verspätet eintreten. 

Schliesslich ist mir noch ein Fall bekannt, wo die Menstruation 
infolge von Angst verfrüht kam. Ein Mädchen sollte einen nicht ganz 
leichten Klettersteig gehen und schämte sich, ihre Angst ihrem Begleiter 
zu zeigen. Im letzten Moment kam ihr die Menstruation um 8 Tage 
verfrüht. An einen Abstieg auf diesem Wege war demnach nicht zu 
denken. Ob der Vorgang nur den Sinn hatte, den Abstieg unmöglich zu 
machen, oder ob es sich um einen Vorgang analog den Angstpollutionen 
und Angstenuresen gehandelt hat, d. h. ob er auch lustbetont war, mag 
dahingestellt bleiben. Hervorheben möchte ich nur, dass das Mädchen 
unter jeder Menstruation ausnehmend schwer zu leiden hat. 

Zum Schluss möchte ich noch bemerken, dass ich sehr wohl weiss, 
dass in allen diesen Fällen die psychische Beeinflussung der Menstruation 
nur wahrscheinlich, keineswegs aber gesichert ist. 


46* 



654 


Referate und Kritiken. 


Referate und Kritiken. 


Bleuler, Dementia praecox oder Gruppe der Schizo¬ 
phrenie. Aus dem Handbuch der Psychiatrie Aschaffenburg’s. 
Deuticke, Leipzig u. Wien 1911. 

Bleuler hebt zuerst die Verdienste K r a e p e 1 i n’s hervor, welchem 
man die Kenntnis der Krankheitsgruppe verdankt. „Ein wichtiger Teil des 
Versuches, die Pathologie weiter auszubauen, ist nichts als die Anwendung 
der Ideen F r e u d’s auf die Dementia praecox.“ (Ref. Züricher Schule, 
speziell Jung neben Bleuler.) Bleuler verwirft den so oft miss¬ 
verstandenen Namen Dementia praecox und schlägt Schizophrenie 
vor, weil die Spaltung der verschiedenen psychischen Funktionen eine 
ihrer wichtigsten Eigenschaften ist. Somit wird das Psychologische in 
der Betrachtung des klinischen Bildes in das Zentrum des Interesses 
gerückt. — Zuerst werden die Grundsymptome, Störungen der ein¬ 
fachen Funktionen behandelt (in den Assoziationen: Verlust des Zusammen¬ 
hangs; Neigung zu Stereotypien, Sperrung. Affektivität: Gleichgültigkeit 
bis zur scheinbaren gemütlichen Verblödung, Defekt der Modulationsfähig¬ 
keit, Verlust der Einheitlichkeit der Affekte). Bei den Störungen der zu¬ 
sammengesetzten Funktionen ist namentlich das Verhältnis zur Wirklich¬ 
keit gestört, das Binnenleben erhält ein krankhaftes Übergewicht (Autismus), 
dann die sogenannte Demenz. „Der Schizophrene ist nicht blödsinnig 
schlechthin, sondern er ist blödsinnig in bezug auf gewisse Zeiten, Kon¬ 
stellationen, gewisse Komplexe.“ Die intellektuelle Leistung wechselt mit 
den Komplexen. 

Das 2. Kapitel enthält die akzessorischen Symptome (Sinnes¬ 
täuschungen, Wahnideen, Gedächtnisstörungen, Alterationen der Persön¬ 
lichkeit etc.), die körperlichen Symptome, die katatonen Symptome und 
die akuten Syndrome, welche sehr sorgfältig und systematisch behandelt 
werden; in diesen 100 Seiten steht viel wertvolles psychoanalytisches 
Material! Bleuler vertritt (2. Abschnitt) seine bekannte Einteilung der 
Schizophrenie in die 4 Gruppen: Paranoid, Katatonie, Hebephrenie und 
Schizophrenia simplex. Die Schizophrenie umfasst für ihn die Mehrzahl 
der bisher als funktionell bezeichneten Psychosen; „sie ist nicht vor¬ 
läufig als Spezies einer Krankheit aufzufassen, sondern als Genus, im 
gleichen Sinne wie die organischen Geisteskrankheiten“. „Innerhalb dieser 
Gruppe kennen wir noch keine natürlichen Grenzen; was man bis jetzt 
für Grenzen ausgab, sind Grenzen von Zustandsbildern, nicht von Krank¬ 
heiten.“ Bleuler erkennt keine absolute Abgrenzung nach dem Nor¬ 
malen, sondern im Gegenteil alle Übergänge der Schizophrenie zum Nor¬ 
malen. Latente Schizophrenien mit sehr wenigen Symptomen können unter 
verschiedenen Einflüssen akut werden. Der K r a e p e 1 i n’sche präsenile 
Beeinträchtigungswahn gehört zur Schizophrenie, ein grosser Teil der 
ganz schlimmen Formen der Zwangszustände, der sogenannten juvenilen 
Psychosen, ebenso. — Die Differentialdiagnose wird sehr ausführlich be¬ 
handelt. Von den Schizophrenen sind 90«/o erblich belastet; andere mög¬ 
liche ätiologische Momente werden besprochen; psychische Ursachen der 
Krankheit selbst nimmt Verfasser als sehr unwahrscheinlich an; „psychi- 



Referate und Kritiken. 


655 


sehe Erlebnisse können aber unzweifelhaft schizophrene Syndrome be¬ 
wirken“. Bleuler bekennt offen unsere gründliche Unwissenheit in 

Sachen der wahren Ätiologie.Der 10. Abschnitt behandelt die 

Theorie der Psychopathologie der Schizophrenie. Bleuler führt, wie 
oben erwähnt, eine ganz neue Einteilung der Symptome (primäre und 
sekundäre) ein. Fast die gesamte bis jetzt beschriebene Symptomatologie 
der Dementia praecox ist eine sekundäre, in gewissem Sinne zufällige. 
Zu den primären Symptomen zählt Bleuler gewisse körperliche Sym¬ 
ptome (gewisse Fälle von Hirnlähmung und Stoffwechselstörung, die 
Pupillendifferenz, der Tremor in akuten Zuständen, Anomalien des Vaso- 
motorius, die Ödeme), manche katatonen Anfälle und im psychischen ein 
Teil der Assoziationsstörung, „soweit es sich um Herabsetzung und 
Nivellierung der Affinitäten handelt“. (Bleuler spricht auch von einer 
primären Lockerung der Assoziationen), Benommenheitszustände, manische 
und melancholische Anfälle, mit Jahrmärker nimmt Bleuler als 
wahrscheinlich an, dass eine Disposition zu Halluzinationen und zur 
Stereotypie zu den primären Symptomen gehören. Auf dieser Grundlage 
würden sich nach Verfassers Ansicht die bekannten sekundären Symptome 
entwickeln, die psychischen Konflikte wickeln sich in einem schon spezi¬ 
fisch veränderten Milieu ab. „Die Spaltung ist die Vorbedingung der 
meisten komplizierten Erscheinungen der Krankheit; sie drückt der ganzen 
Symptomatologie ihren besonderen Stempel auf. Hinter dieser syste¬ 
matischen Spaltung in bestimmte Ideenkomplexe aber haben wir vorher 
eine primäre Lockerung des Assoziationsgefüges gefunden, die zu einer 
unregelmässigen Zerspaltung so fester Gebilde wie der konkreten Begriffe 
führen kann. Mit dem Namen der Schizophrenie wollte ich beide Arten 
der Spaltung treffen, die in ihren Wirkungen oft in eins verschmelzen.“ 
Die Genese des Inhaltes der Wirklichkeitstäuschungen (317—356) 
enthält einen wichtigen Anteil B 1 e u 1 e r’s und J u n g’s am psycho¬ 
analytischen Aufbau der Dementia praecox-Symptomatologie. „Der sexu¬ 
elle Komplex steht meist im Vordergrund, bei vielen Kranken konnten 
wir ausschliesslich sexuelle Komplexe finden. So sehr wir uns dagegen 
sträubten, wurden wir um so sexueller in unserer Auffassung, je mehr 
Erfahrung wir hatten. Ich muss namentlich gegenüber Einwänden, die 
oft gemacht werden, betonen, dass wir uns mehr als genug gehütet haben, 
die Kranken durch unsere Fragen auf das sexuelle Gebiet zu führen. 
Immerhin kommen, namentlich bei Männern, seltener bei Frauen, auch 
andere Komplexe zur Geltung, ohne dass die Sexualität anders dabei 
beteiligt wäre, als wie bei jedem beliebigen Gedanken, der natürlich auch 
seine Assoziationen an diesen grössten Ideen und Gefühlskomplexen hat; 
bei einzelnen Männern wurde der sexuelle Komplex durch die anderen 
gerade in den Hintergrund gedrängt. Trotz der vielen Einzelheiten, die 
uns die Psychoanalyse aufgeklärt hat, wäre es noch zu gewagt, die ganze 
Symptomatologie unter einem einheitlichen Gesichtspunkte zusammen¬ 
fassen zu wollen. Eine vorläufige Formulierung unseres Wissens mag 
aber am Platze sein. Die in die Augen fallende Symptomatologie ist sicher 
zum Teil (möglicherweise ganz) nichts anderes als der Ausdruck eines 
mehr oder weniger verunglückten, Versuches, aus einer unerträglichen 
Situation herauszukommen“ (Autismus, Dämmerzustände, Flucht in die 
Krankheit). Zusammenfassend drückt sich Bleuler folgendermassen aus : 
„Wir nehmen einen Prozess an, der direkt die primären Symptome macht; 



G56 


Referate und Kritiken. 


die sekundären Symptome sind teils psychische Funktionen unter ver¬ 
änderten Bedingungen, teils die Folgen mehr oder weniger missglückter 
oder auch geglückter Anpassungsversuche an die primären Störungen.“ 

Vielleicht ist die Hirnstörung auf eine schemische oder anatomische 
Ursache zurückzuführen? So wirken am häufigsten beide Ursachen bei 
Kreierung der psychotischen Symptomkomplexe zusammen. . . . „Was der 
schizophrene Krankheitsprozess ist, das wissen wir nicht.“ Die Deutung 
der anatomischen Befunde ist unbekannt. Die Therapie kann den 
Umständen gemäss nur kurz behandelt werden: Erziehung und Herstellung 
des Kontaktes mit der Wirklichkeit ist die allgemeine Aufgabe der Be¬ 
handlung. 

Die Schizophrenie Bleulers ist ein grundlegendes Werk, welches 
eine grosse Objektivität und ein umfangreiches Wissen (die Bibliographie 
umfasst 850 Nummern) mit Vertiefung und Bereicherung des Stoffes 
vereinigt. A. M a e d e r. 

Drs. Menzerath et Ley, L’etude experimentale des asso- 
ciations d’idees dans les maladies mentales. Imprimerie 
van der Haeghen, Gand. Rapport presente au VI Congre beige de 
Neurologie et de Psychiatrie. 

Die Verfasser heben die Bedeutung der Assoziationsexperimente für 
die Psychiatrie hervor. Die Methode hat den Nachweis der „unbe¬ 
wussten Assoziationen“ geliefert, ihren Einfluss auf das „soziale und 
geistige Verhalten“ des Individuums, ihren Wert für die Erforschung der 
Affektivität gezeigt. „Der Assoziationsversuch ist ein ausgezeichnetes 
Instrument der Psychoanalyse geworden.“ Die Verfasser besprechen 
kurz und bestätigen im ganzen die Resultate der Zürcher Schule; sie gehen 
nirgends über dieselben hinausi). Aus diesem Grunde eignet sich das 
Buch als erste Einführung für französische Leser in das grosse Gebiet 
der Komplexforschung. Es ist schade, dass die Autoren vor der Deutung 
der Symbole, welche in den von ihnen aufgenommenen Assoziationen 
zahlreich vertreten sind, Halt gemacht haben; vieles wäre ihnen nicht 
entgangen, was so deutlich zu sehen ist. Die belgischen Kollegen wollen 
bei den Assoziationen der Dementia praecox - Kranken keine Äusse¬ 
rungen der Affektivität gefunden haben (im Gegensatz zu Jung). Dabei 
vergessen sie, dass sie selbst verschiedene Male z. B. auf das Lachen 
der Versuchspersonen aufmerksam gemacht haben, welches gewiss eine 
Äusserung des Affektes ist; die von ihnen häufig nachgewiesene „Komplex¬ 
hemmung“ ist auch ein Affekt Vorgang. Wenn sie manchmal Komplexe 
bei den Schizophrenen nicht gefunden haben, ist es einfach, weil sie sie 
nicht gesehen haben; denn sie sind in ihren Assoziationen nachweislich 
enthalten. Sie haben vor der Inkohärenz Halt gemacht, ohne sich zu be¬ 
mühen, diesen scheinbaren Unsinn zu enträtseln. Hinter den mehrfach 
konstatierten „Wiederholungen“ des Reizwortes (Haftenbleiben) stecken 
z. B. im Falle 5 deutliche Komplexäusserungen. Die 5. der Schluss¬ 
bemerkungen: Die Verlängerung der Assoziationszeit könne andere als 
Komplexursachen haben, z. B. bei Kranken, welche einem besonderen Be- 


l ) Die bekannte Arbeit des Utrechter Arztes Schnitzler gegen die Kom 
plexdiagnostik wird als eine Experimentalstudie mit „manifester Voreingenommen 
heit“ mit Recht charakterisiert. 



Referate und Kritiken, 


657 


dürfnis gehorchen intelligente Antworten zu geben, beruht auf einem 
Missverständnis. Diese Einstellung des Kranken ist eben der Ausdruck 
eines Intelligenzkomplexes (deswegen die Verlangsamung), wie 
der technische Ausdruck lautet. Dieser Komplex zwingt seinen Besitzer 
ein besonderes Verhalten anzunehmen, das sich im Leben ebensowohl 
wie im Experimente zeigt. 

Menzerath und Ley haben den Wert der Assoziationen für eine 
verfeinerte Diagnostik mancher unklaren Krankheitsbilder (Mischzustände 
des manisch-depressiven Irreseins, latente Schizophrenien etc.) gut er¬ 
kannt und sich dessen bedient. 

Die Verf. machen auf eine mögliche Fehlerquelle in der Aufnahme 
der Assoziationen aufmerksam; nämlich die mehr oder weniger unbewusste 
Betonung einzelner komplexanregenden Reizwörter seitens des Experi¬ 
mentators. Aus dem Grunde hat Menzerath die optische Methode 
(mittels des Kartenwechslers) eingeführt und empfängt die Schallwellen 
(die Reaktion) in einem R ö m e r’schen Schalltrichter. Durch diese tech¬ 
nische Vervollkommnung ist eine grössere Objektivität in der Führung des 
Experimentes ermöglicht. Allerdings bleibt eine Seite der Frage un¬ 
beachtet, und zwar der Einfluss dieser komplizierten Apparate auf die 
Einstellung des Kranken. Die Atmosphäre des Laboratoriums dürfte im 
allgemeinen auf den Kranken nicht sehr günstig einwirken und dadurch 
ein künstliches Element in das Experiment einführen, dessen Bedeutung 
zu untersuchen wäre. Der Modus operandi J u n g’s ist so einfach und 
natürlich wie möglich. 

Trotz dieser geringen Einschränkungen ist das Werk Menzerath’s 
und L e y’s sehr zu begrüssen. Es ist ein fruchtbarer Weg, den die Autoren 
gehen. A. M a e d e r. 

Psychische Studien. Monatliche Zeitschrift. 3. Heft, 39. Jahrgang. 

Leipzig, Oswald Mutze. 

Das Heft enthält unter anderem einen Aufsatz von Schrenck- 
Notzing: „Die Phänomene des Mediums Linda Gazerra“, in dem der 
Verfasser — ohne die mediumistische Fähigkeit der genannten Lalienerin 
zu negieren — doch die bisher veröffentlichten Beweise hierfür als un¬ 
genügend bezeichnet. Ausserdem findet sich eine Mitteilung von Dr. Franz 
Freudenberg über K r a 1 l’s Buch „Denkende Tiere. Beiträge zur 
Tierseelenkunde auf Grund eigener Versuche“, in dem bewiesen sein soll, 
dass sich im Tier „alle psychischen Fähigkeiten des Menschen, sowohl die 
intellektuellen als auch die moralischen“ vorfinden, wenn sie geweckt 
werden. Gaston Rosenstein. 

„Psiclie.“ Rivista di studi psicologici. Firenze, Via degli Alfani 46. 

Eine neu erschienene italienische Zeitschrift, die sich die Ver¬ 
breitung psychologischer Kenntnisse zur Aufgabe macht. I. Heft (Jänner- 
Februar 1912). Dieses enthält: Einen Aufsatz von Guido Villa über 
Introspektion. Gegenüber den deutschen Experimentalpsychologen will der 
Autor die synthetische Betrachtung der Psyche mehr in den Vordergrund 
rücken und der Introspektion zu ihrem Rechte verhelfen. — Francesco 
de S a r 1 o schreibt über das Werk Alfred Bine t’s. — Antonio 
Renda publiziert einen Artikel über die Irrtümer der Psychologie und 


658 


Referate und Kritiken. 


fordert Aufstellung von Regeln, uni die Täuschungen der Selbstbeobachtung 
zu korrigieren, z. B. die Berücksichtigung einer Art „persönlicher Gleichung“ 
für den Psychologen. — Ein Vortrag G. Heyman’s über das künftige 
Zeitalter der Psychologie ist ins Italienische übersetzt. — A s s a g i o 1 i 
bespricht die Chancen der psychologischen Forschung in Italien. 

II. Heft (März-April 1912). Das vorliegende Heft beschäftigt sich 
mit dem Unbewussten und der Psychoanalyse. Eine Arbeit von Professor 
Enrico Morselli berichtet über J u n g’s Assoziationsmethode. Der 
Autor erhebt dagegen mehrere Einwendungen, er greift das Jung’sche 
Reizwortschema an, meint, man müsse auf gewisse Komplexe schon durch 
die Wahl des Reizwortes Rücksicht nehmen, sonst kämen keine Komplex- 
reaktionen zustande und glaubt, dass der Konflikt zwischen verschiedenen 
indifferenten Prädikaten, die alle zum Reizworte einfallen, eine Verlänge¬ 
rung der Reaktionszeit bewirke, so dass aus dieser nicht immer auf 
Komplexe zu schliessen sei. Sonderbarerweise betrachtet er die Jun g’schen 
Assoziationsexperimente als eine unwesentliche Veränderung der bisher 
von anderen durchgeführten Experimente; die Technik hält er für sehr 
unvollkommen. A s s a g i o 1 i antwortet im selben Hefte und rechtfertigt 
die Methode, indem er unter anderem auf die erheblichere Verlänge¬ 
rung der Reaktionszeit nach Komplexen im Gegensätze zu der Verlängerung 
nach anderen störenden Ursachen hin weist. — Weiterhin schreibt Assa- 
gioli über die Psychologie des Unbewussten und stellt die Entwicklung 
und die wichtigsten Lehren der Freud’schen Psychoanalyse dar. Einen 
grossen Teil der Gesetze und Mechanismen bestätigt er durch eigene 
Erfahrung, aber er erhebt Bedenken gegen einige unbewiesene Symbol- 
deutungen und insbesondere gegen die Zurückführung höherer geistiger 
Tätigkeiten auf sexuelle Triebfedern; damit greift er die in der Psycho¬ 
analyse seiner Meinung nach zur Gewohnheit gewordenen oberflächlichen 
Erledigungen schwerwiegender philosophischer und religiöser Probleme an. 
Die Therapie zerlegt er in zwei Teile. Der erste Teil soll die Verdrängungen 
aufheben, der zweite Teil soll sich mit der Reedukation des Patienten 
beschäftigen, die entgegengesetzten Tendenzen in ihm angleichen und 
seine Fähigkeit zur Hemmung und Selbstkontrolle stärken. Das psycho¬ 
analytische Verfahren scheint ihm für den ersten Teil der Behandlung 
sehr vorteilhaft, aber zur „psychagogischen“ Beeinflussung ungenügend. 
Bezüglich seiner Stellung zum Unbewussten vertritt er die an anderem 
Orte mitgeteilte Ansicht, dass es ein Unbewusstes im eigentlichen Sinne 
des Wortes nicht gibt, sondern nur ein „Nebenbewusstes“, ein uns nicht 
bewusstes Bewusstsein, ein zweites Bewusstseinszentrum. — 

Wir können auf die verschiedenen Einwände hier nicht näher ein- 
gehen, sie müssten mit grösserer Ausführlichkeit, als im Rahmen eines 
Referats möglich, behandelt werden; zum Teil treffen sie ja tatsächlich 
Fragen über den Wirkungsbereich der Psychoanalyse, die in Zukunft aus¬ 
führlich diskutiert werden müssen. Nur einen Punkt wollen wir ganz 
in Kürze aufgreifen: A s s a g i o 1 i streitet der Wissenschaft das Recht 
ab, in Problemen der sexuellen Ethik zu entscheiden, denn eine „Wertung“ 
könne nur das „moralische Bewusstsein“ vollziehen. — „Entscheiden“ 
will nun die Psychoanalyse zunächst auch nichts, aber es ist gänzlich 


1 ) „II subcosciente“. Firenze, Biblioteca Filosofica, 1911. Referat im Zentral¬ 
blatt für Psychoanalyse. II. Jabrg. 



Referate und Kritiken. 


659 


unerfindlich, warum die Psychologie und insbesondere die Psychoanalyse, 
die schon wertvolle Vorarbeit geleistet hat, vor dem Problem der Wertung 
und des moralischen Bewusstseins Halt machen sollte. Es ist 
auch nirgends ersichtlich, wo die Grenze liegt zwischen der „berechtigten 
Bekämpfung pseudomoralischer Vorurteile“ und der „unberechtigten Ent¬ 
scheidung in Problemen der Sexualethik“. Übrigens hat die Psychoanalyse 
ethische Entscheidungen niemals geliefert, wohl aber ist es ihre Aufgabe, 
zu untersuchen, wie die Entscheidungen in jedem einzelnen Falle durch 
das Unbewusste determiniert werden. 

Das Heft enthält ausserdem eine von Assagioli ins Italienische 
übersetzte frühere Arbeit Freu d’s über Psychoanalyse und eine Biblio¬ 
graphie der bisher erschienenen wichtigsten psychoanalytischen Schriften. 

Gaston Rosenstein. 


Dr. C. Widmer - Zofingen, Die Rolle der Psyche hei der 
Bergkrankheit und der psychische Faktor bei Steig¬ 
ermüdungen. Münch, med. Wochenschr. 1912, Nr. 17. 

Verf. schildert Beobachtungen, die er bei ca. 50 Sportsexpeditionen, 
die meist in Höhen von 2000, oft auch 3000 Meter führten, und bei Militär¬ 
übungen gemacht hat. Er findet als Basis aller Ermüdungs Vorgänge die 
Psyche und konstatierte bemerkenswerte Gedächtnisstörungen bei Berg¬ 
touren: ein Botaniker hat beispielsweise den Namen einer bekannten 
Pflanze vergessen, ein Arzt kann das Wort für Eosin nicht mehr finden. 
Ganze Lebensperioden sollen sogar dem Bewusstsein verloren gehen 
können, so dass normale Menschen imstande seien, Kartengrüsse an Ver¬ 
storbene, z. B. an abgeschiedene Mütter und Frauen zu richten. Verfasser 
findet für diese, nicht im einzelnen analysierten Erscheinungen, bei denen 
so offenkundig die Wunscherfüllung des Unbewussten tätig ist, die all¬ 
gemeine Erklärung, dass die psychische Sphäre eingeengt und viel Ober¬ 
flächliches an Bildung, Anstand, Sittlichkeit weggeschmolzen sei, während 
nur das bleibe, was den einzelnen „nahe an ge he“. 

Auffallend war ihm das unvermutete Zutagetreten der Sexualität 
auch „hei Personen von bester Erziehung und tiefsittlichem Empfinden“. 
„Es ist dann, als wäre nichts anderes mehr da, wovon man sprechen 
könnte“, und wie der Tourist vorher dem vergessenen Namen liachstudiert 
habe, so suche nun das zutage getretene Sexualgefühl nach den Vor¬ 
stellungen, die es eben noch in Zucht und Schranken hielten. In diesen 
letzteren seien die Elemente der Erziehung und Bildung auffallend wenig 
zu finden, dafür aber irgend ein dunkles Axiom, dem sich das Individuum 
mit seiner Moral und seinem Sexualgefühl verpflichtet glaube, und von 
dem es seine Sexualsphäre immobilisieren und seinen ganzen Lebens¬ 
inhalt dominieren lasse. Ohne Mühe könne dieses Axiom auch als gesund- 
und krankmachendes Motiv für viele organische Affektionen erkannt werden. 

Den Ausfall an Vorstellungskomplexen, der die Gedächtnisstörungen 
bedingt, betrachtet Verf. als weise Zweckmässigkeit, da dadurch vielerlei 
Motivierungen zu Willensimpulsen wegfallen und der herrlichen Automatic 
des Unterbewussten Platz machen. Das Merkbarwerden dieser letzteren, 
welche Gleichgewicht, Tempo und Rhythmus der Körperarbeit von selbst 
reguliert, sei das, was die erstaunliche Leichtigkeit und die felsenfeste 
Sicherheit in den Bergen verleihe. Die Bergkrankheit bestehe darin, dass 


660 


Referate und Kritiken. 


das „Unterbewusste plötzlich durch einen Zufall durchlöchert und vom 
Bewusstsein kontrolliert werde“, mit anderen Worten, dass das gefahr¬ 
volle oder mühselige der Situation plötzlich vom Bewusstsein registriert 
werde. 

Die interessanten Ausführungen berühren die Probleme bloss, ohne 
sie zur Lösung zu führen. Der Name F r e u d’s ist nirgends genannt; wären 
seine Forschungen nicht schon lange bekannt, so möchte man von einer 
teil weisen Vorahnung derselben reden. Interessant ist der Unterschied 
in der Auffassung der Bergkrankheit und konsequenterweise der Unfälle 
in den Bergen, die von der Freu d’schen Schule für Wirkungen unbe¬ 
wusster Komplexe gehalten werden, während sie der Verf. aus dem Auf¬ 
hören der Herrschaft des Unterbewussten herleitet. Doch dürfte zwischen 
Freu d’s Unbewusstem und des Verf. Unterbewusstem ein wesentlicher 
Unterschied bestehen. — Das die Sexualgefühle beherrschende „dunkle 
Axiom“ des Verf. ist nicht erst, wie er sagt, beim 20 jährigen Unteroffizier 
und dem 15 jährigen Backfisch zu finden, sondern es ist von Freud 
schon bei dem 5 jährigen Hans in Wirksamkeit gezeigt worden, wo von 
Einfluss der Erziehung und Bildung allerdings noch kaum gesprochen 
werden kann. Freud und seine Schule haben es aufgeklärt und seine 
phylogenetische und volkspsychologische Wurzel nachgewiesen. 

Dr. Marg. Stegmann, Dresden. 

Dl\ J. Mourly Vold, „Über den Traum“. Experimental¬ 
psychologische Untersuchungen. Herausgegeben von 0. 
Klemm, Privatdozent an der Universität Leipzig. Zweiter Band. 
Leipzig 1912. Verlag von Johann Ambrosius Barth. Preis geh. Mk. 11.— 

Von dem umfangreichen Werk des verstorbenen norwegischen Philo¬ 
sophen und Psychologen John Mourly Vold über den Traum liegt 
nun der zweite (letzte) Band vor. Die Zusammenstellung der Arbeit aus 
dem hinterlassenen Schriftenmaterial besorgte auf Wunsch der Schwester 
des Verstorbenen Privatdozent 0. Klemm. 

Bevor ich auf die Besprechung des zweiten Bandes eingehe, muss 
ich zur Information des Lesers einige Worte über den ersten sagen, nicht 
ohne gleich vorauszuschicken, dass der zweite Band grossenteils weit 
interessanter und inhaltreicher als der erste ist, den man als eine starke 
Zumutung an die Geduld des Lesers bezeichnen muss. 

Mühsam und unter langatmigen, sich beständig wiederholenden und 
nach allen Richtungen verflechtenden methodologischen Erörterungen wird 
im ersten Band in mehreren hundert Druckseiten etwas bewiesen, das 
ohnehin niemand bezweifelt; nämlich dass somatische Reize in den Inhalt 
der Träume eingehen. Der Verfasser wandte zum Erweise dieser Tatsache 
Reizungen der Füsse der Versuchspersonen an; es wurden entweder die 
Fussgelenke (eines oder auch beide) für die Nacht mit einem Band um¬ 
wunden oder aber die Füsse in Strümpfe gesteckt. Dann wurden die 
Träume der Versuchsnächte mit solchen anderer Nächte verglichen und 
ihr erhöhter Gehalt an solchen Momenten konstatiert, welche auf die, 
Fussreizung mehr oder minder deutlich hinweisen. In einer Zusammen¬ 
fassung der Ergebnisse von Versuchen mit Reizung einer Unterextremität 
heisst es (Bd. I S. 214) bezüglich dieses Hinweises: „Am bestimmtesten 
trat der Reizcharakter derjenigen Traumpunkte hervor, in denen das 


Referate und Kritiken. 


661 


Subjekt oder Andere starke rhythmische Untergliedbewegungen (wie Laufen) 

. . . zeigten — von solchen „starken“ Punkten enthielt die Versuchsreihe 
zwölfmal soviel als die Normalreihe —, schwächer trat der Reizcharakter 
der verwandten schwächeren Bewegungen (wie einfaches Gehen) und 
Positionen (wie einfaches Stehen) hervor; am schwächsten . . . erschien; 
der Versuchscharakter der abstrakten und dinglichen auf die Bewegungen 
hinweisenden Motive.“ Aus den Ergebnissen der Versuche mit Reizungen 
beider Füsse sei folgendes zitiert 1 ): „Das Träumen einer Passivbewegung 
[z. B. Reiten, Fallen] wird durch eine Reizung der Füsse (Beine) aus¬ 
gelöst, indem die von diesen ausgehende Spannung sich auf den Gesamt¬ 
körper fortpflanzt. Die meisten passiven Bewegungen im Wachzustände 
beziehen sich entweder auf beide Füsse (Unterglieder) oder auf keinen 
von diesen. Daher werden die auf beide Füsse (Beine) bezüglichen Passiv¬ 
bewegungen im Traume vornehmlich durch eine Reizung beider Füsse 
(Beine) ausgelöst.“ Es lässt sich nicht leugnen, dass in Beobachtungen, 
wie den hier beispielsweise angeführten, gewisse bisher nicht bekannte 
Feinheiten liegen. Von einem der Form nach so gross angelegten Werk 
wie Mourly V o 1 d’s ist man jedoch geneigt, mehr zu erwarten als einige 
Subtilitäten innerhalb eines an sich recht untergeordneten Gebietes. Wenn 
noch angedeutet worden wäre, dass die Untersuchungen sich nicht mit 
dem inneren Wesen der Träume, sondern mit den Bausteinen derselben 
befassen. Davon ist aber nicht die Rede. 

Der Herausgeber mochte wohl selbst den Mangel gefühlt haben. 
Anstatt nun das Unerlässliche zu tun und zu den von Freud nun einmal 
gemachten grundlegenden Entdeckungen in irgendein ausgesprochenes Ver¬ 
hältnis zu treten, hat er es für angebracht gefunden, in der Vorrede zum 
zweiten Band folgendes zu sagen: 

„. . . Besonders in unserem Zeitalter der Traumanalyse, wo nament¬ 
lich bei vielen, die in dem Fahrwasser der Freud’schen Psychoanalyse 
segbln, sich Hypothesen und Beobachtungen oft ununterscheidbar mischen, 
werden die Untersuchungen Mourly V o 1 d’s mit ihrer schlichten Mit¬ 
teilung des empirischen Materials und ihren vorsichtig abgewogenen Inter¬ 
pretationsversuchen sich dauernd ihre Stellung behaupten.“ 

Das ist freilich bequem. Selbst zugegeben, dass mancher unberufene 
Vertreter der Psychanalyse in ihrer Anwendung übers Ziel schiesst: darf 
deshalb die Sache selbst ignoriert werden? Es liegt im Wesen einer 
neuen Wissenschaft, sich tastend vorwärts zu bewegen. Untersuchungen 
wie jene Mourly V o 1 d’s haben es dagegen leicht, sich in den aller- 
sichersten Bahnen der Statistik zu bewegen. Und trotz ihrem Anschein 
der Unangreifbarkeit wären sie an verschiedenen Stellen anfechtbar, wenn 
man so ganz penibel sein wollte. Um nur eins zu erwähnen: es wird 
bei der Wertung des Einflusses der den Traumnächten vorhergehenden 
Tageserlebnissen die Periodenlehre nicht berücksichtigt; weder experi¬ 
mentell noch rein theoretisch. Es widerstrebt mir aber, kleinlich zu 
mäkeln. 

Die erste Hälfte des zweiten Bandes bringt, kurz gesagt, eine Fort¬ 
setzung der Körperreiz versuche neben zufälligen Beobachtungen und 
solchen an kranken Personen. Die Versuche mit Handreiz ergeben im 


i) Die Beispiele in eckigen Klammern rühren von mir her. 



662 


Referate und Kritiken. 


allgemeinen ähnliche Gesetzmässigkeiten wie jene mit Fussreiz. Sehr 
hübsches Material bringen die Rückenreiz-Träume des Verfassers. 

Das Interessanteste enthalten die letzten beiden Kapitel. Nicht, dass 
sie etwas den Psychanalytikern wesentlich Unbekanntes brächten; aber 
sie bieten schönes Material und auch einige daraus gezogene Folgerungen 
zur Bestätigung mancher Erfahrungen und manchen Satzes. So wird 
z. B. der vorwiegend erotische Charakter des Schwebetraumes erkannt 
(der zumeist ein Erektionstraum ist, worin M o u r 1 y V o 1 d und Dr. Paul 
Federn Übereinkommen). Es werden Träume mitgeteilt, welche die von 
mir im Jahrbuch für psychoanalytische und psychopathologische For¬ 
schungen 1911 erläuterte Schwellensymbolik aufweisen, und entsprechend 
interpretiert. Es werden ganz feine Bemerkungen über das Sprechen im 
Traum gemacht; es wird der habituellen Träume gedacht und schliesslich 
auch das Problem der Vererbung von Träumen angeschnitten. 

Das Überraschendste aber ist, dass der Autor mit seiner „schlichten 
Mitteilung des empirischen Materials und ihren vorsichtig abgewogenen 
Interpretationsversuchen“ dazu kommt, just eine der gewagtesten Ver¬ 
mutungen einiger Psychanalytiker wahrscheinlich zu machen: dass näm¬ 
lich in manchen Träumen Erinnerungen an die eigene Geburt auftauchen. 

Herbert Silberer. 

Prof. H. Vogt, Über Erziehung der Gefühle. Kritische Be¬ 
trachtungen zur modernen Psychotherapie. Med. Klinik. Nr. 15. 1912. 

Der Aufsatz ist im wesentlichen eine Polemik gegen D u b o i s, der 
als Ursache der Neurosen Denkfehler annehme. Seine Auffassung sei 
rein „intellektualistisch“, woran auch seine „Dialektik der Gefühle“ nichts 
ändere. Das Dogma von der Heilung durch Belehrung sei nicht aufrecht 
zu erhalten. Man wirke nur durch das Gefühl auf das Gefühl. 

„Und so — fährt Vogt fort — kann auch der erfolgreiche, mit- 
fortreissende Arzt, der vielen hilft, sie „belehrt“, erzieht, überredet, sie 
aufrichtet, tröstet, ihnen Lebensklugheit verleiht, der Gefühlswirkung nicht 
entraten. Er nähert sich damit dem suggestiven Moment, das D u b o i s 
aus seiner ganzen Lehre und angeblich auch aus seiner praktischen 
Tätigkeit mit grosser Leidenschaft verbannt. Es ist wohl heutzutage kein 
Zweifel mehr darüber, dass eine strenge Trennung der suggestiven und 
der rein logisch belehrenden Vorgänge in der Erziehungstherapie über¬ 
haupt nicht durchführbar ist, dass das inadäquate Moment überall in das 
adäquate ohne scharfe Grenzen überfliesst. Ohne alle Frage liegt in der 
praktischen Seite der D u b o i s’schen Therapie eine ganze Reihe von 
suggestiven Momenten, denn schon der affektiv mitfortreissende, sich um 
das Schicksal seiner Kranken eingehend kümmernde, tröstende und be¬ 
lehrende, menschenfreundliche Arzt kann das Suggestivmoment von sich 
nicht abstreifen. Wozu auch? Und wozu etwas von sich stossen, dem 
wir alle, von der Wiege bis zum Grabe, unterworfen sind und dem wir 
wohl einen Teil des Besten in uns verdanken? In gewiss weitestem Sinne 
machen wir den Kranken, sei es durch die Ausschaltung der Hemmungen 
im hypnotischen Schlafe, sei es durch den Appell an das Gefühl in der 
affektiv mitfortreissenden lebendigen Rede, eben empfänglich oder, wenn 
wir wollen, suggestibel für das, was wir ihm sagen, wir machen ihn 
empfänglich für gute Lehre, für Trostworte, für die Kraft des inneren 


Referate und Kritiken. 


663 


Widerstandes, für die frohe, vorschauende Lebensbetrachtung, für einen 
gewissen Stoizismus im „Kampfe mit dem verfluchten Objekt“. Das alles 
liegt aber nicht allein in der kühlen, logischen Denkarbeit, es wird erst 
fruchtbar durch den Appell an das Gefühl, durch die Erziehung der 
Gefühle.“ 

Wir sehen, dass Vogt sich ganz auf dem Standpunkt der Psycho¬ 
analyse gestellt hat, die er nicht nennt und erwähnt, als oh sie nicht 
existieren würde — und das Phänomen der Übertragung mit zahmen Worten 
umschreibt. Uns ist aber jede Bestätigung willkommen, mag sie von 
welcher Seite immer Zuströmen. S t e k e 1. 

Dr. Oskar Simon, Arzt in Karlsbad, „Die Karlsbader Kur im 
Hause.“ Berlin 1912. Julius Springer. 

Wir entnehmen zur Charakterisierung der trefflichen Schrift des 
bestbekannten Internisten und Chemikers folgende Stelle: „Angeregt 
durch die Untersuchungen Freu d’s über die Konversion psychischer 
Erlebnisse in Störungen der physiologischen Magenfunktionen bei der 
Hysterie, fahndete ich nach ähnlichen Momenten hei der nervösen 
Dyspepsie und war überrascht, wie ungeheuer häufig der nervöse 
Dyspeptiker mit Abnormitäten seiner Vita sexualis im Kampfe liegt, 
wie oft der Coitus interruptus, Syphilidophobie und ganz besonders die 
Onanie die Quelle aller Leiden ist. Speziell bei der nervösen Dyspepsie 
des jugendlichen Mannesalters zwischen 20 und 30 Jahren kann man fast 
mit Sicherheit dem Patienten gegenüber, auch ohne Eingeständnis des¬ 
selben, Aberrationen seines Trieblebens behaupten. Ohne Psychoanalyse 
im Sinne Freu d’s zu betreiben, konnte ich durch blosses Betonen der 
Wichtigkeit und Examinierens in bezug auf das Sexualleben das Ver¬ 
trauen der Kranken, die sich erkannt sahen, gewinnen und damit die halbe 
Heilung erzielen. Die Konversion eines psychischen Ekels nach einem 
Schock in physisches Unbehagen und Verringerung des Appetits mit Herab¬ 
setzung der sekretorischen Magenfunktionen lässt vieles Dunkle in der 
Mechanik des Zustandekommens der nervösen Dyspepsie aufhellen. Es 
ist jedenfalls das grosse Verdienst Freud’s, die üblichen leeren Schlag¬ 
worte von Überarbeitung, Sorgen und fehlerhafter Ernährung als die 
wichtigsten Ursachen der Neurasthenie im allgemeinen, ebenso die Über¬ 
treibung der L a h m a n n’schen Prinzipien in ihrer allgemeinen Geltung 
erschüttert zu haben und Störungen des intensivsten Triebs, wie sie nur 
zu oft als Folge unserer ganzen gesellschaftlichen Einrichtungen eintreten 
müssen, als die Hauptquelle der Neurosen und damit auch der nervösen 
Dyspepsie erkannt zu haben.“ Dr. E. H i t, s c h m a n n. 

Jan Nelken, „Psychologische Untersuchungen an De¬ 
mentia praecox -Kranke n.“ Journal f. Psychol. u. Neurol. 
1911, Bd. 18. 

Der Zweck der schönen Arbeit ist, die Resultate der Psychoanalyse 
eines einfachen, klinischen Falles von Schizophrenie zu zeigen. Viele 
psychische Mechanismen, welche dieser Psychose, den Neurosen und den 
Träumen Normaler gemeinsam sind, zeigen sich besonders lehrreich in 
diesem Fall, so in erster Linie die Verdrängung und die Wunscherfüllung. 
Diese Psychose ist eigentlich eine mittels dem Patienten fast durchsichtiger 


664 


Referate und Kritiken. 


Symbolik durchgeführte Abreagierung des Verdrängten, eine hindernislose 
Wimscherfüllung alles (hauptsächlich sexuell) in der Realität Entbehrten. 
Die Psychoanalyse konnte alle Symptome streng determinieren, jede Wahn¬ 
idee, jede Halluzination. Die Versündigungs- und Verunreinigungsideen 
der Patientin stehen in Zusammenhang mit dem Onanie- und Schwanger¬ 
schaftskomplex. Dr. E. Hitschmann. 

Dr. M. Friedmann, Über die Psychologie der Eifersucht. 
Grenzfragen des Nerven- u. Seelenlebens, Nr. 82. J. F. Bergmann, 
Wiesbaden. 

Dr. K. Birnbaum, Krankhafte Eifersucht und Eifersuchts¬ 
wahn. 

Arbeiten, die nicht schlecht die Erscheinungen der Eifersucht, nament¬ 
lich in der Pathologie beschreiben, die aber trotz aller Definitionen, 
trotz Berichten über die Eifersucht im Tierreich oder die Entwicklung 
der Eifersucht im Gange der Kulturentwicklung von einem psychologischen 
Tiefergehen ins Problem nichts ahnen. 

Wer bei diesem Thema nicht den Ursprüngen der Regung im Kinde 
nachspürt, den Ödipus-Komplex, die Eifersucht zwischen Geschwistern im 
„Familienroman“, den Einfluss homosexueller Neigung heranzieht, muss 
an der Oberfläche dieser psychischen Erscheinung verbleiben. Und auch 
von dem vollen Verständnis für den Anteil der Ichgefühle an der 
seelischen Dynamik der von Fried mann mitbehandelten nicht rein 
erotischen (z. B. Berufs-) Eifersucht sind wir noch ziemlich weit — es 
heisst also zunächst psychoanalytisch arbeiten! 

Dr. E. Hitschmann. 

Freud, Über einige Übereinstimmungen im Seelenleben 
der Wilden und der Neurotiker. I. Die Inzestscheu. Imago, 
Heft 1. 

Jung und seine Schüler haben den Nachweis geliefert, dass die 
Phantasiebildungen Frühdementer in auffallender Weise mit den Kosmo- 
genien alter Völker zusammenstimmen, von denen die ungebildeten Kranken 
gar keine Kunde haben konnten. Ähnlichen Analogien begegnen wir in 
den Märchen und Mythen. Sie zeigen uns eine Symbolik, die wir aus 
den Träumen und Symptomen der Neurotiker kennen. Ein alter Satz be¬ 
stätigt sich aufs neue: „Die Geschichte des Menschen ist eine Miniatur¬ 
ausgabe der Geschichte der Menschheit.“ Es ist das bekannte biogenetische 
Grundgesetz Haeckel’s. Freud kam nun auf die Idee, das Geschlechts¬ 
leben jener Völkerstämme einer vergleichenden Untersuchung zu unter¬ 
ziehen, die von den Ethnographen als die zurückgebliebensten, armseligsten 
Wilden beschrieben werden, nämlich der Ureinwohner Australiens. Seine 
Untersuchungen sind noch nicht beendet, aber die erste Probe seiner 
Ergebnisse liegt schon vor uns. Sie nennt sich: „Über einige Überein¬ 
stimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker. 1. Die Inzest¬ 
scheu“ und ist in der vornehm ausgestatteten und sehr reichhaltigen 
neuen Zeitschrift „Imago“ erschienen, die Hugo Heller in Wien verlegt 
und welche die Anwendung der von Freud begründeten Methode der 
Seelenerforschung (Psychoanalyse) auf die Geisteswissenschaften pro¬ 
pagiert. 


Referate und Kritiken. 


665 


In dieser hochinteressanten Arbeit führt Freud den Nachweis, 
dass die Wilden keineswegs jenem schrankenlosen erotischen Ausleben 
ergeben sind, wie die Phantasie des Ungebildeten und Halbgebildeten es 
gewöhnlich anzunehmen pflegt. Im Gegenteil! Die Sexualität unterliegt 
bei den Naturvölkern so viel Einschränkungen und sie behindernden Vor¬ 
schriften, dass die Naturvölker in dieser Hinsicht viel weniger Freiheit 
gemessen als die Kulturvölker. Die Möglichkeit, eine bestimmte Ehe ein¬ 
zugehen, ist durch den Totemismus sehr beschränkt. Was ist nun der 
Totem? In der Regel ein Tier, seltener eine Pflanze oder eine Naturkraft, 
welche in einem besonderen Verhältnis zur ganzen Sippe steht. Der 
Totem ist erstens der Stammvater der Sippe, dann aber auch ihr Schutz¬ 
geist und Helfer, der ihnen Orakel sendet und, wenn er sonst gefährlich 
ist, seine Kinder kennt und schont. Die Totemgenossen stehen dafür unter 
der heiligen Verpflichtung, ihren Totem nicht zu vernichten und sich 
seines Genusses zu enthalten. An Boden und Örtlichkeit ist der Totem 
nicht gebunden, die Totemgenossen wohnen mit anderen Totemgenossen 
gemischt, aber Mitglieder desselben Totem dürfen einander nicht heiraten. 
Eine Überschreitung dieses Gebotes wird mit dem Tode Oestraft. 

Freud sieht in dieser Erscheinung eine künstliche Inzestschranke, 
welche den Vater vor der Konkurrenz des Sohnes schützt, da der Totem 
sich nur durch die Mutter vererbt. Ist die Mutter vom Stamme Känguruh, 
so ist es auch der Sohn, während der Vater beispielsweise Emu bleibt. 
Känguruh und Känguruh dürfen sich nie verbinden, während dies zum 
Beispiel für Vater (Emu) und Tochter (Känguruh) möglich wäre. Dazu 
kommt noch eine weitere Einschränkung durch die sogenannten „Phratrien“; 
dies sind Heiratsklassen, die ebenfalls nicht untereinander heiraten dürfen. 
Es kann schliesslich durch beide Einschränkungsformen, Totem und die 
Phratrien, so weit kommen, dass einem Manne nur ein Zwölftel aller 
Weiber des Stammes zur Auswahl bereitstehen, wenn er heiraten will. 

Diese Einrichtungen führt Freud auf die Inzestscheu zurück. Diese 
Annahme stützen einige merkwürdige Sitten der Wilden. So muss bei ge¬ 
wissen Stämmen der Knabe in einem bestimmten Alter das mütterliche 
Heim verlassen und in das „Klubhaus“ übersiedeln. Zum Essen darf 
er nach Hause kommen; ist aber die Schwester zu Hause, so muss er 
sich in der Nähe der Tür setzen oder überhaupt fortgehen. Begegnen 
sich Bruder und Schwester im Freien, so muss sie weglaufen oder sich 
seitwärts verstecken. Ja der Bruder wird nicht einmal den Namen seiner 
Schwester aussprechen, oder er wird sich hüten, ein geläufiges Wort 
zu gebrauchen, wenn es als Bestandteil in ihrem Namen enthalten ist. 
Zwischen Mutter und Sohn herrscht sehr grosse Zurückhaltung, sie dürfen 
sich meist nicht duzen. 

Die interessantesten Verbote beziehen sich auf die Schwiegermütter. 
Der Schwiegersohn vermeidet jeden intimen Verkehr mit der Schwieger¬ 
mutter. Wenn sie sich zufällig begegnen, so tritt das Weib zur Seite und 
wendet dem Eidam den Rücken, bis er vorüber ist. Bei anderen Stämmen 
dürfen sie nur dann miteinander sprechen, wenn irgendeine Schranke, 
zum Beispiel die Einfassung des Krals, zwischen ihnen ist. Sie sprechen 
ihren Namen niemals aus. Bei manchen Stämmen dürfen sie nie in dem¬ 
selben Raume weilen und nur durch dritte Personen miteinander ver¬ 
kehren. 


666 


Referate und Kritiken. 


Dies merkwürdige Verhältnis erfordert eine psychologische Erklärung. 
Verraten uns doch die zahllosen Schwiegermutterwitze, dass auch bei 
den Kulturvölkern das Verhältnis zwischen Eidam und Schwiegermutter 
eine ausserordentlich starke Gefühlsbetonung hat. Es ist jedenfalls „bipolar“ 
und setzt sich aus feindlichen und zärtlichen Regungen zusammen. „Ein 
gewisser Anteil dieser Regungen“, führt Freud aus, „liegt klar zutage. 
Von seiten der Schwiegermutter die Abneigung, auf den Besitz der Tochter 
zu verzichten, das Misstrauen gegen den Fremden, dem sie überantwortet 
ist, die Tendenz, eine herrschende Position zu behaupten, in die sie sich 
im eigenen Hause eingelebt hatte. Von seiten des Mannes die Entschlossen¬ 
heit, sich keinem fremden Willen mehr unterzuordnen, die Eifersucht gegen 
alle Personen, die vor ihm die Zärtlichkeit des Weibes besassen, und 
— last not least — die Abneigung, sich in der Illusion der Sexualüber¬ 
schätzung stören lassen. Eine solche Störung geht wohl zumeist von der 
Schwiegermutter aus, die ihn durch so viele gemeinsame Züge an die 
Tochter mahnt und doch all der Reize der Jugend, Schönheit und psychi¬ 
schen Frische entbehrt, welche ihm seine Frau wertvoll machen.“ 

Andere Motive gehen tiefer in das unbewusste Seelenleben und zeigen 
das Bestreben der Eltern, sich in ihre Kinder einzufühlen, mit ihnen 
eins zu werden, so dass sie sich schliesslich mit den Kindern vollkommen 
identifizieren. „Man sagt, die Eltern bleiben jung mit ihren Kindern; 
es ist dies in der Tat einer der wertvollsten seelischen Gewinste, .den 
Eltern aus ihren Kindern ziehen. Im Falle der Kinderlosigkeit entfällt 
so eine der besten Möglichkeiten, die für die eigene Ehe erforderliche 
Resignation zu ertragen. Die Einfühlung der Mutter in die Tochter geht 
so weit, dass sie sich in den von ihr geliebten Mann mitverliebt, was 
in grellen Fällen infolge des heftigen seelischen Sträubens gegen diese 
Gefühlsanlage zu schweren Formen neurotischer Erkrankung führt. Eine 
Tendenz zu solcher Verliebtheit ist bei der Schwiegermutter jedenfalls 
sehr häufig, und entweder diese selbst oder die ihr entgegenarbeitende 
Strebung schliessen sich dem Ge wühle der miteinander ringenden Kräfte 
in der Seele der Schwiegermutter an. Recht häufig wird gerade die un¬ 
zärtliche sadistische Komponente der Liebeserregung dem Schwiegersöhne 
zugewendet, um die verpönte zärtliche um so sicherer zu unterdrücken.“ 
Nachdem Freud alle anderen Motivierungen dieser Eigenarten wider¬ 
legt, kommt er zum Schlüsse, die Inzestscheu der Wilden sei ein infantiler 
Zug, der sich beim Neurotiker wiederfinde. Da bekanntlich alle unsere 
Forschungen über die Inzestneigungen grosser Ablehnung und heftigem 
Widerstande begegnen, so müssen wir glauben, dass diese Ablehnung 
noch ein Produkt der tiefen Abneigung des Menschen gegen seine einstigen 
Inzestwünsche ist. Es ist daher wichtig, an den wilden Völkern zeigen 
zu können, dass sie die zur späteren Unbewusstheit bestimmten Inzest¬ 
wünsche noch als bedrohlich empfinden und der schärfsten Abwehr- 
massregeln für würdig halten. St ekel. 

Otto Rank, Der Sinn der G r i s e 1 d a f a b e 1. Imago. Heft I. S. 34 ff. 

Nach dem wundervoll klaren und schönen Aufsatze von Prof. Freud 
ist die Arbeit Ranks besonders hervorzuheben. Sie geht davon aus, 
dass die'Neurotiker fast immer an der Überwindung des Familienkomplexes 
scheitern. Es zeigte sich, dass dieser Komplex auch für Sage, Mythos 


Referate und Kritiken. 


667 


und Dichtung von grösster Bedeutung ist. War im Anfänge der psycho¬ 
analytischen Bestrebungen gerade dieses gehäufte Zusammentreffen wichtig, 
so wird es jetzt die Aufgabe des Psychoanalytikers sein, das Wie, die 
verschiedenen psychischen Wege, welche zu dieser Erscheinung führen, 
zu erforschen. Der Verfasser zeigt nun in einer ausgeführten Analyse der 
Griseldafabel, wie sich der Inzestwunsch in den verschiedenen Bearbei¬ 
tungen äussert und welchen komplizierten Überbau er wählt. Er weist 
die Unzulänglichkeit aller bisherigen Motivierungsversuche nach und deckt 
die psychischen Tendenzen, welche zur Bildung der Sage führten, scharf¬ 
sinnig durch einen bisher übersehenen, typisch wiederkehrenden Zug der 
Erzählung auf. In allen Bearbeitungen des Griseldastoffes von Boccacios 
Erzählung bis zu Hauptmanns Drama wird dasselbe Motiv in verschiedener 
Auffassung und unter wechselnder Beteiligung psychischer Komplexe nach¬ 
gewiesen. Besonders klar und scharfsinnig erscheint die Erklärung der 
Motivdoublierungen. Dr. Theodor Reik. 

Dr. E. Hitschmann, Zum Werden des Romandichters. Imago. 
Heft I. S. 49 ff. 

Dr. Hitschmann untersucht psychoanalytisch eine Novelle des 
Wiener Dichters Jakob Wassermann, „Schläfst du, Mutter?“ Der infantile 
Hass gegen den Vater und die auf die Mutter fixierte Libido des Helden 
der Erzählung, eines kleinen Knaben, treten in verschiedenen Formen klar 
hervor. Ebenso bricht sich die sexuelle Neugierde des Kindes in Gedanken 
und Träumen Bahn. Das Thema von der Herkunft der Kinder verbindet 
sich auf interessante Art mit dem Problem des Todes bei diesem Knaben. 
Dr. Hitschmann sieht in allen diesen Zügen mit Recht intuitive Be¬ 
stätigungen der Freud’schen Psychoanalyse. Dr. Theodor Reik. 

Dr. Oskar Pfister, Anwendungen der Psychanalyse in 
der Pädagogik und Seelsorge. Imago. Heft I. S. 56. 

Pfister hebt einleitend die grosse Bedeutung der Freu d’schen 
Erkenntnisse hervor. Er betont den Einfluss, den die neue analytische 
Methode auf die Seelsorge hat und zeigt in vielen Beispielen (Lügen¬ 
haftigkeit, Kleptomanie, Tierquälerei, Symptomhandlungen etc. etc.), wie 
schön seelsorgerische Aufgaben, welchen man früher verzweifelt gegen¬ 
überstand, auf diesem Wege gelöst werden können. In dem Schlussabsatz 
„Allgemeine Bemerkungen über die Bedeutung der Psychanalyse für 
Pädagogik und Seelsorge“ werden in scharfen Umrissen die Aufgaben ge¬ 
zeichnet, welche den beiden Disziplinen aus der Tiefenpsychologie F r e u d’s 
erwachsen. Dr. Theodor Reik. 

Otto Rank und Dr. Hans Sachs, Entwicklung und Ansprüche 
der Psychoanalyse. Imago. Heft I. S. 1. 

Diese einleitende Abhandlung der beiden Redakteure der „Imago“ 
versucht es, auf wenigen Seiten ein Bild der Entwicklung und der ferneren 
Aussichten der Psychoanalyse zu geben. Jeder, der einmal versucht hat, 
den ungeheuren Stoff der psychoanalytischen Resultate in komprimierter 
Form darzustellen, wird die Geschicklichkeit, populäre Fassung und in¬ 
struktive Gedrängtheit bewundern, womit die beiden Autoren ihre schwere 
Aufgabe gelöst haben. Dr. Theodor Reik. 


Zentralblatt für Psychoanalyse. II 12 . 


47 


668 


Referate und Kritiken. 


A. J. Storfer, Zwei Typen der Märchenerotik. Sexual- 
Probleme. April 1912. S. 257. 

Storfer würdigt einleitend die Verdienste Freud’s, welchen auch 
die Anregung zu der neuen, psychologisierenden Art, das Märchen zu 
betrachten, zuzuzählen ist. Der Verfasser belegt die These, dass die 
verkappte Realisierung eines Wunsches der wesentliche Inhalt der Märchen 
sei, durch die Analyse zweier einander verwandter Märchentypen. Er 
erzählt erst ein offenes erotisches Märchen und zeigt, wie sich die Zensur 
in andersartigen Wendungen desselben Stoffes bemerkbar macht. Ein be¬ 
sonderer Typus des Märchens ist jener, in welchem ein Rätsel im Mittel¬ 
punkt steht. Storfer weist darauf hin, dass die Psychoanalyse die 
treibenden Momente des Examenstraumes aufgedeckt hat. Indem er die 
Verbindung dieses Einzeltraumes zum Kollektivpsychischen schlägt, kommt 
er zu folgendem aufschlussreichem Resultate: „Der Mythus oder das 
Märchen, dessen Held Rätsel zu lösen hat, ist der Examenstraum eines 
Volkes.“ Auch bei anderen Beispielen vermag er den erotischen Hinter¬ 
grund des Märchens aufzudecken. Storfers Artikel stellt eine inter¬ 
essante und wertvolle Bereicherung der Arbeiten von Rank, Ricklin 
und Ahr ah am dar. Dr. Theodor Reik. 


Dr. Alfred Kobitsek, Symbolisches Denken in der che¬ 
mischen Forschung. Imago. Heft I. S. 83. 

Dr. R o b i t s e k nimmt das autosymbolische Phänomen, wie es 
S i 1 b e r e r beschrieben hat, zum Ausgangspunkt und liefert ein sehr 
anziehendes Beispiel der Psychogenese wissenschaftlicher Forschungen. 
Es handelt sich um die Strukturtheorie August Ivekub e’s. Der 
Forscher gab selbst Aufschluss über die Entstehung dieser und der 
Benzoltheorie. Beide sind während des Traumes konzipiert. Die Träume 
werden erzählt und in den Zusammenhang des psychischen Erlebens cin- 
gereiht. Dabei treten bedeutsame Regressionen und infantile Erinnerungen 
zutage. R o b i t s e k’s Arbeit ist als Anfang einer Psychoanalyse wissen¬ 
schaftlicher Forschung zu begrüssen. Es ist zu hoffen, dass auf diesem 
Gebiete wie auf vielen anderen die psychoanalytische Methode wertvolle 
Ergebnisse zu liefern vermag. Bedeutende Philosophen (Nietzsche, 
Descartes, Pascal) und Naturforscher (Darwin) haben Selbst¬ 
bekenntnisse gegeben, welche noch einer psychoanalytischen Bearbeitung 
bedürfen. Dr. Theodor Reik. 

F. Karsch-Haak, Das gleichgeschlechtliche Leben der 
Naturvölker. E. Reinhardt, München 1911. 

Das Werk ist eine sehr stark erweiterte Ausgabe der Arbeit des¬ 
selben Verfassers „Uranismus oder Päderastie und Tribadie bei den Natur¬ 
völkern“ (Jahrb. für sex. Zwischenstufen, Leipzig, Jahrg. II). Es ent¬ 
hält eine mit erstaunlichem Fleisse zusammengetragene Sammlung des 
einschlägigen Materials (das'Literaturverzeichnis umfasst allein 60 Seiten!). 
Als ein Vorzug erscheint es, dass der Autor auf keinem vorgefassten 
Standpunkt steht, der ihn im Interesse der Theorie die natürliche Lage 
der Dinge verkennen lassen könnte. Er begnügt sich mit der möglichst 
genauen Konstatierung der Tatsachen, die beste Art, gewisse auch heute 


Referate und Kritiken. 


669 


noch verbreitete Auffassungen des homosexuellen Problems ad absurdum 
zu führen. Es ist nun kaum noch möglich, die gleichgeschlechtlichen Er¬ 
scheinungen als Produkt einer dekadenten Kultur anzusehen; es zeigt sich 
vielmehr, dass bei allen Völkern niedriger und niedrigster Entwicklungs¬ 
stufen solche beobachtet worden sind. Ebenso werden die dafür heran¬ 
gezogenen Erklärungsgründe entkräftet, als wäre der Uranismus lediglich 
die Folge von Weibernot, ein Mittel gegen Übervölkerung und dergleichen. 
Der Verfasser hat den Tatsachenbeweis erbracht, dass die Homosexualität 
eine allgemeine Veranlagung des Menschen ist, unabhängig von dem Grade 
seiner Kultur, unabhängig von der Lage und dem Klima seines Wohn¬ 
sitzes, unabhängig endlich von den ihm umgebenden sozialen Verhält¬ 
nissen. — Aus der Fülle interessanter Mitteilungen seien nur einige der 
auffallendsten erwähnt, so das überaus häufige Transvestitentum. Die 
Anpassung an das fremde Geschlecht beschränkt sich jedoch bei manchen 
Völkern nicht nur auf die Kleidung; von den Tschuktschen und anderen 
arktischen Völkern wird berichtet, dass auf „übernatürliche Eingebung“ hin 
Männer sich weiblichen Beschäftigungen hingeben, weibliche Bewegungen 
und Stimmen annehmen und nach erfolgter „Geschlechtsänderung“ sich mit 
einem Manne verheiraten. Wie bei den Tschuktschen werden auch bei 
den Dajaks auf Borneo die Homosexuellen als für den Priesterstand be¬ 
sonders geeignet angesehen; bei allen Naturvölkern aber (mit ver¬ 
schwindenden Ausnahmen) konnte tolerante Stellung der Homosexualität 
gegenüber festgestellt werden. Die gleichgeschlechtliche Betätigung besteht 
meistenteils in der Pädikation; bei vielen Indianerstämmen wird vorzugs¬ 
weise Fellation betrieben. Auch die reichlichen Angaben über die sonder¬ 
bare Einrichtung der Mikaoperation bei den Australiern sei erwähnt; dies 
ist die Bezeichnung der Verstümmlung, die an Jünglingen und Knaben 
mittels eines Schnittes durch die Unterseite des Penis vorgenommen wird, 
um künstliche Hypospadie zu erzeugen. Der tiefste Grund dieser Sitte 
ist wohl die homosexuelle Veranlagung, die auf diese Weise die Ver¬ 
stümmelten zu Trägern doppeltgeschlechtlicher Genitalien macht; tat¬ 
sächlich wird der durch die Operation hervorgerufene Einschnitt dazu 
benutzt, um durch Aufnahme der Genitalien von Knaben den Geschlechts¬ 
akt auszuführen. — Die allgemeine Einleitung, die unter anderem eine 
Übersicht bringt über die das homosexuelle Problem behandelnde ethno¬ 
logische, soziologische und medizinische Literatur, nimmt von den psycho¬ 
analytischen Forschungen noch keine Kenntnis. 

Julius von Kalmar. 


Dr. Stefan von Mäday, k. u. k. Oberleutnant d. R., Assistent am 
Physiologischen Institut der Universität Innsbruck, Psychologie 
des "Pferdes und der Dressur. Berlin, Paul Parey. 

Um die Psyche eines Tieres begreifen zu können, ist es vor allem 
notwendig, sich über die Fähigkeiten desselben klar zu werden, um seinen 
Handlungen nicht Motive zu unterschieben, die falsch sein müssen, da 
sie der Natur des Tieres widersprechen. Der Verfasser geht also vom 
wilden Pferde aus, das nur im Wege der Anwendung seiner ursprünglichen 
Fähigkeiten, Instinkte und Gewohnheiten abgerichtet werden kann, nicht 
aber im Wege der Einimpfung ihm fremder menschlicher Fähigkeiten. 
Die Sinnesorgane des Pferdes werden daher auf ihre Funktion geprüft. 

47* 


670 


Aus Vereinen und Versammlungen. 


Dann unterzieht Mäday die geistigen Fähigkeiten: Verstand, Orien¬ 
tierungsvermögen und Gemüt, einer Untersuchung. Weitere Kapitel widmet 
er den Ausdrucksbewegungen und dem Temperament und Charakter. Auf 
diesen Grundlagen baut der Verfasser seine Theorien der „Einwirkung 
auf das Pferd“ und der „Dressurhilfen“ auf. Es ist im Rahmen eines 
kurzen Referates selbstverständlich unmöglich, näher auf das Buch ein¬ 
zugehen, in dem eine Fülle von Beispielen — teils selbsterlebt, teils aus 
107 Autoren zitiert — zur Illustration herangezogen ist. Wichtig er¬ 
scheint es mir aber, auf die Ausblicke hinzuweisen, die das Buch er¬ 
öffnet. Die psychischen Gesetze, die für ein Tier als richtig erkannt 
werden, müssen evolutionistisch auch für höhere Entwicklungsstufen 
Geltung haben. Insbesondere die Psychologie des Kindes und seiner Er¬ 
ziehung hat allen Grund, nach Analogien im Tierreich zu suchen. Auch 
der Psycholog, dem Pferde fernliegen, wird das Buch Mädays daher 
mit Interesse lesen, den Pferdeliebhaber wird es entzücken. 

Julius v. Kalmar. 


Ernst Trömner, Über motorische Schlafstörungen (spe¬ 
ziell Schlaftic, Somnambulismus, Enuresis noc¬ 
turna) 1 ). Zeitschr. f. d. ges. Psychiatrie u. Neurologie 1910. S. 228. 

Unter dem Namen „motorische Schlafstörungen“ fasst Verf. moto¬ 
rische Reaktionen motorisch erregbarer Gehirne auf Reize bekannter oder 
unbekannter Art während des Schlafes zusammen, Reaktionen, die weder 
mit Träumen noch mit Wacherinnerungen Zusammenhang erkennen lassen. 
Im Gegensatz dazu stellt er an drei Stellen sensorische Schlafstörungen 
(der Terminus wird nicht ausdrücklich gebraucht), wie Träume, Hören von 
Stimmen, Alb, sensorische Erregung bei motorischer Hemmung, die oft aus¬ 
drücklich peinlich empfunden wird. 

Das Schlafsprechen hält Verf. wenigstens nicht immer für 
eine Äusserung von Träumen, weil sich die Patienten an Träume nicht 
erinnern, auch wenn man sie sofort weckt, weil sie angeben, überhaupt 
wenig zu träumen und weil in lebhaften Träumen meist motorische 
Hemmung besteht. Die Unstichhaltigkeit der ersten beiden Argumente 
ist daraus klar zu erkennen, dass auch für die gesprochenen Worte selbst 
Amnesie besteht, das dritte gibt sich selbst nicht als allgemein gültig. 
— Schlafwandeln tritt in drei Formen auf: 1. planlose, 2. planvolle, 
3. Angsthandlungen; diese bilden fliessende Übergänge zum Pavor noc- 
turnus. Angstvolles Herumlaufen und Schreien mit folgender Amnesie, 
also, wie Verf. schliesst, ohne Träume, stellt er in Gegensatz zu Angst 
und Albträumen, bei denen gerade die motorische Hemmung peinlich 
empfunden wird. Alle diese Störungen werden auf eine Dissoziation, eine 
Spaltung der Hirntätigkeit zurückgeführt, waches Sensorium bei gehemmtem 
Motorium und umgekehrt. 

Anderer Art sind motorische Schlafstörungen, die in Form von 
Zwangsimpulsen und zwar meist rhythmischer Natur auftreten (Schlaftic 
[Oppenhei m], Jactatio nocturna [Zapper t]). Zwangsbewegungen, die 


D Nach einem auf der vierten Jahresversammlung der Gesellschaft deutscher 
Nervenärzte in Berlin im Oktober 1910 gehaltenen Vortrag. 



Referate und Kritiken. 


671 


allgemein nur im wachen Zustande auftreten, werden oft auch heim 
Einschlafen oder Erwachen, manchmal auch im tiefen Schlaf beobachtet 
(Trömner, Zappert, Ungar, Stamm, Oppenheim). Sie sind 
ausgesprochen „neuropathischer Genese“ und dürften auf eine „dissoziierte 
Erregung des Grosshirns“ zurückzuführen sein. 

Sehr ausführlich behandelt Yerf. Enuresis nocturna. Zusammen¬ 
hang mit Epilepsie besteht im allgemeinen nicht, in 28o/o der Fälle fehlte 
jedes neuropathische, hereditäre oder konstitutionell verantwortliche 
Moment, auch in den anderen Fällen hatte keines der als konstitutionell 
schwächend anzusehenden Momente dominierenden Einfluss. Verf. kommt 
zu dem Resultat „Reflexinfantilismus“. Es handelt sich wieder um eine 
Art Dissoziationszustand und zwar entweder so, dass hei schlafendem 
Kortex das im Thalamus gelegene Blasenzentrum wacht, oder es handelt 
sich, analog dem Nachtwandeln, um einen motorischen Rindenvorgang 
bei gehemmtem Sensorium. 

Wie aus dem Vorstehenden ersichtlich, wird immer nur nach neuro¬ 
logischer, nie nach psychischer Ätiologie gefahndet. Im Gegensätze dazu 
rät Verf. fast ausschliesslich psychische Therapie, nämlich hypnotische 
Suggestion. In der bei weitem überwiegenden Mehrzahl der Fälle hat er 
Heilung oder wenigstens Besserung erzielt. Misserfolge sind Schuld des 
Hypnotiseurs. Bei den Störungen der 2. Gruppe sind auch sedierende, 
hydropathische Massregeln von Vorteil. Das spezifische Heilmittel dieses 
„funktionellen Neurosen“ jedoch ist die hypnotische Suggestion, die auch 
der Wachsuggestion vorzuziehen ist, weil sie allgemeiner, sicherer und 
schneller wirkt. Sie erfüllt nicht nur die Forderungen des „tuto, cito et 
iucunde“, sondern auch des „nil nocere“. Marcus. 


Aus Vereinen und Versammlungen. 


Dr. Karl Sclirötter: „Zur Psychologie und Logik der Lüge“. 

Vortrag, gehalten am 31. Januar 1911 in der Philosophischen Gesellschaft an 
der Universität zu Wien. Enthalten im 24. Jahresbericht (1911) der Philosophischen 
Gesellschaft an der Universität zu Wien. Leipzig 1912, J. A. Barth. 

Der Autor beginnt mit einer logischen und psychologischen Untersuchung des 
Urteils, stellt den Unterschied von Ausdrucks- und Tendenzurteilen fest und leitet 
zunächst aus dem letzten die Lüge ab. Damit aus dem Tendenzurteil eine Lüge 
werden, muss ein anderes Urteil oder eine „Urieilsmöglichkeit“ vorhanden sein, die 
dem Tendenzurteile widerspricht. Und dieses zweite Urteil muss mit dem sogenannten 
„Wahrheitsbewusstsein“ ausgestattet sein. Beim Lügen sind neben dem ausge¬ 
sprochenen Tendenzurteile andere Urteilsmöglichkeiten im Bewusstsein vorhanden. 
Die Wahrinhalte suchen bisweilen sprachmotorischen Ausdruck, drängen sich 
in die Rede, so dass wür uns infolgedessen versprechen: die Lüge besteht in einem 




672 


Aus Vereinen und Versammlungen. 


Verdrängungsversuche des Wahrinhaltes und seine Ersetzung resp. Entstellung 
durch ein Tendenzurteil. 

Der Verfasser unterscheidet drei Hauptformen der Lüge: 

1. Die Abwehrlüge. Diese wird provoziert. Der Wahrinhalt ist immer 
ein peinlicher, ein Inhalt, dessen Anerkennung üble Folgen nach sich ziehen würde, 
deshalb wird er abgewehrt. — Fehlreaktionen lassen die schlimme Absicht erkennen. 
„Peinliche Bewusstseinsinhalte haben überhaupt keine grossen Chancen reproduziert 
zu werden. Die mit ihnen verbundene Unlust selbst, die Scham, endlich neue 
Tendenzen, die über früher herrschende den Sieg errungen haben, bewirken eine 
dauernde Verdrängung“. 

2. Die Interessefälschung. Die Gruppe unterscheidet sich von der früheren 
durch das Moment der spontanen Entstehung. Im ersten Falle will der 
Lügner sein Ich schützen, im anderen Fall will er es durchsetzen, also sein Ziel 
erreichen. Bei der Abwehr ist der ersetzende Inhalt etwas Negatives, bei der 
Interessefälschung enthält er positive Daten. Der Wunsch hat die Fähigkeit, die 
Illusion des Wahrheitsbewusstseins zu erzeugen. Sowohl Affekt als Gewohnheit 
verdrängen die korrigierenden Elemente, so dass oft keine Gegenvorstellung auf¬ 
kommt. Wichtig werden diese Feststellungen zur Erklärung der Suggestion, des 
Demagogen, des Reklamemachers. 

Die 3. Gruppe verdankt ihre Entstehung einer Mannigfaltigkeit von drei 
Momenten, der Lust am Fabulieren, der Tendenz, unser Ich in den Mittelpunkt zu 
rücken, endlich der Gesamtheit unserer Wünsche. Die meisten Phantasielügen er¬ 
weisen sich als Wunschlügen und sind ausgesprochene, anderen Personen mitgeteilte 
Wachträume. Der Phantasielügner teilt sie aber nicht als Traum mit, er nimmt 
für sie den Glauben in Anspruch, den man Tatsachen zollt. Das erst verschafft 
ihm volle Befriedigung. Die von Freud angegebenen Motive (Ehrgeiz und Erotik) 
werden vom Verfasser bestätigt. Andere Phantasien aber verdanken ihre Entstehung 
nur einem dunklen Erlebnisdrange. Beim Phantasielügner sind die Tendenzen un¬ 
bewusst er ist auf einer kindlichen Denkstufe zurückgeblieben. Aber die korri¬ 
gierenden Elemente bleiben normalerweise erhalten, es besteht keine Erinnerungs¬ 
täuschung; diese ist erst der pathologischen Vergröberung, der Pseudologia 
phantastica Vorbehalten. Das Problem des unbewussten Wunsches wird gestreift, 
aber dessen Erörterung für einen anderen Zusammenhang Vorbehalten. 

Der Autor hat das Problem genau studiert und sehr wertvolle begriffliche 
Gliederungen gegeben. Der Aufsatz ist anregend geschrieben, die Formulierungen 
mit mehreren Beispielen erläutert. Wichtig scheint mir vor allem die Feststellung 
der „Verdrängung von Wahrinhalten“ und ihres teilweisen Misslingens, die mir 
auch für andere psychoanalytische Gedankengänge wichtig scheint und vielleicht 
eine Erweiterung der Verdrängungslehre repräsentiert. Gaston Rosenstein. 


Kongress für Familienforsclmng, Vererbungs- und Regenerationslelire. 

Giessen 9.—13. April 1912. 

Bericht von Dr. Lilienstein, Bad Nauheim. 

Wenn man aus der Ankündigung des Kongresses und der Liste der Vor¬ 
tragenden, die sich aus Ärzten, Juristen, Genealogen etc. zusammensetzte, hätte 
schliessen wollen, so hätte mancher vielleicht nicht erwartet, dass hier auf rein 



Aus Vereinen und Versammlungen. 


673 


biologisch-naturwissenschaftlicher Grundlage, die so viele geisteswissen 
schaftlichen Gebiete berührenden Fragen der Vererbung erörtert werden würden. 
Allerdings bot die Führung Sommers, der als Organisator dieser Kongresse an¬ 
gesehen werden muss, schon die Garantie, dass die naturwissenschaftliche Forschungs¬ 
methode in jeder Hinsicht zur Geltung kommen musste. 

Mit einem Überblick über die Geschichte und den Zweck des Kongresses 
eröffnete Sommer die Verhandlungen, die folgende Teilgebiete umfassten: 

1. Methodik und Vererbungsregeln. 2. Normale und geniale Anlagen. 3. Ab¬ 
norme Anlagen. 4. Kriminelle Anlagen. 5. Erforschung bestimmter Familien. 
6. Vererbungslehre und Soziologie. 7. Vererbung und Züchtung. 8. Regeneration. 

Medizinischesinteresse boten zunächst die Vorträge von Dr. F. Hammer (Stutt¬ 
gart) und Dr. Römer (lllenau). Hammer wies an einzelnen Krankheitsbildern die 
Bedeutung der Mendel’schen Vererbungslehre für den Menschen nach. So ent¬ 
spricht die Vererbung der Pigmente der Augen, des Haares und der Haut durchaus 
derjenigen bei den Tieren. Die dunklere Pigmentierung „dominiert“ über die hellere, 
der Albinismus lässt „rezessive Vererbung“ erkennen. Dominierend sind ferner Hypo- 
daktylie, bestimmte Formen des Stars, Teleangiektasie, Hypotrichosis, Diabetes 
insipidus u. a. Dominierend, aber auf ein Geschlecht beschränkt (wie die Hörner 
bei männlichen Tieren) sind Hämophilie, Farbenblindheit, Pseudohypertrophie der 
Muskeln. Römer hob die Bedeutung der Methodik für die psychiatrische Forschung 
hervor. Er behandelte die Forderungen, die von Irrenärzten an statistische Erhebungen 
gestellt werden müssen. Er betonte die Notwendigkeit des Ausbaus der Medizinal¬ 
abteilung bei den staatlichen statistischen Ämtern nach der psychiatrischen Seite 
hin und verlangte die Einrichtung einer psychiatrischen Abteilung im Reichsgesund¬ 
heitsamt. Als Grundlage für statistische Erhebungen demonstriert Römer ein Ein¬ 
teilungsschema der Psychosen, das in badischen Irrenanstalten eingeführt ist. 

Auch der Vortrag von Wilh. Ost wald ist erwähnenswert. Ostwald findet 
auch bei der Entwicklung der Genies die biologischen Vererbungsgrundsätze be¬ 
stätigt, nach denen sich in jedem Individuum die Eigenschaften seiner Vorfahren 
nicht durch die Kreuzung ständig ändern; es findet sich vielmehr stets eine endliche 
Zahl von bestimmten, ihrerseits fast unveränderlichen Elementen als Mosaik. Betz 
(Mainz) verbreitet sich über den Begriff des Durchschnittsmenschen und konstatiert, 
dass es fast unmöglich ist, einen Typus desselben zu umschreiben. 

Mehr auf empirischer Grundlage beruhten die Vorträge, die sich mit abnormen 
und kriminellen Anlagen befassten. Der Augenarzt Dr. Crzellitzer aus Berlin 
hat mittels seiner Familienkarte Erhebungen in den Familien von Augenkranken 
(Kurzsichtigkeit, hochgradige Übersichtigkeit, Schielen, Augenzittern und Star) an¬ 
gestellt. Bei 31 %> fand sich direkte Vererbung. Mit dem „Intensitätsindex“ gibt 
Crzellitzer den Grad der Häufung erblicher Krankheiten bei Geschwistern an. 
Dannenberger (Goddelau) beschreibt die bekannte Mikrozephalenfamilie Becker 
aus Bürgel. 

Erziehungsfragen bei abnormen Anlagen mit Rücksicht auf die Rassenhygiene 
behandelten Dannemann und Berliner (Giessen). Dabei wird vor allem der 
günstige Einfluss ärztlich geleiteter oder beaufsichtigter Spezialanstalten hervor- 
gehoben, nur weist Dannemann noch darauf hin, dass auch nach der Ent¬ 
lassung aus diesen Anstalten die Zöglinge im Auge behalten werden müssten, um 
eventuell ihre Fortpflanzung durch dauernde Internierung hintanzuhalten. Den 
radikaleren Vorschlägen Oberholzers (Breitenau b. Schaffhausen), der eine 
Sterilisierung bei gewissen psychiatrischen Krankenkategorien befürwortete, wurde 
indessen von allen Seiten lebhaft widersprochen. Berliner demonstrierte noch 


674 


Aus Vereinen und Versammlungen. 


Bilder aus der Arbeitslehrkolonie für Jugendliche, Steinmühle bei Homburg, deren 
konsultierender Arzt er ist. 

Von den Familien, fleren Stammbäume unter biologischen Gesichtspunkten 
erforscht wurden, seien die Habsburger und die Familie von Schillers Mutter er¬ 
wähnt. Bei den ersteren fand Strohmayer bestätigt, dass die morphologischen 
Merkmale der Habsburger (starke Unterlippe und Prognathismus inferior) Dominante 
im Sinne Mendels sind. Forst (Wien) hat die Ahnentafel des österreichischen 
Thronfolgers Franz Ferdinand bis in die 15. Generation verfolgt. Die theoretische 
Ahnenzahl beträgt in dieser 16848, in Wirklichkeit finden sich in ihr bei Franz 
Ferdinand nur 1514 Ahnen. „Ahnenverluste“, wie diese Differenz genannt wird, 
hat jeder Mensch, da ja die tatsächlich vorhandene Zahl von Menschen (z. Zt. Karls 
des Grossen z. B.) nicht für die theoretische Ahnenzahl genügen würde. Bei Inzucht 
wird der Ahnen Verlust naturgemäss grösser. Mit der Familie von Schillers Mutter 
beschäftigte sich Sommer (Giessen), der Blutsverwandte von ihr in Esslingen 
kennen gelernt und untersucht hat und bei einem Mädchen eine ganz ungewöhn¬ 
liche Übereinstimmung in der Gesichtsbildung mit Schiller fand. 

Einen wertvollen Beitrag über den Zusammenhang von Hereditätsforschung 
und Soziologie brachte Weinberg (Stuttgart). Der Einfluss des Milieus auf die 
Lebensersc^einungen der menschlichen Gesellschaft ist in neuerer Zeit gründlich 
studiert worden. Dadurch wurde die Vererbungslehre etwas in den Hintergrund 
gedrängt. In der Fruchtbarkeit der minderwertigen Elemente sieht Weinberg 
keine so grosse Gefahr, weil ihr die grössere Sterblichkeit derselben Elemente ent¬ 
gegensteht. Roller (Karlsruhe) gibt einen geschichtlichen Überblick über die Wand¬ 
lungen der Lebensdauer in Deutschland seit dem Mittelalter, die nach seiner Ansicht 
von Bedeutung für die rechtlichen und sozialen Zustände gewesen sind. Macco 
(Steglitz) hat die Archive von Aachen, Köln, Düsseldorf, Brüssel, Wetzlar etc. 
durchforscht und das Schicksal der Aachener Schöffenfamilien verfolgt, das ihm in 
soziologischer Hinsicht interessant und typisch zu sein schien. Das Anschwellen 
der Vermögen und der Beginn des Wohllebens führte in diesen Fällen meist rasch 
zum Verfall. 

Die Erfahrungen, die Gisevius (Giessen) bei der Tierzüchtung gesammelt 
hat, lassen erkennen, dass entgegen der allgemeinen Annahme, auch die Inzucht eine 
Steigerung wertvoller Eigenschaften und eine Regeneration bewirken kann. Voraus¬ 
setzung ist dabei aber, dass die Inzucht nicht wahllos, sondern mit Auslese erfolgt. 

Über die Bewegung, die in England zur Regeneration des Volkes eingesetzt 
hat, dem Eugenic movement unter Sir Francis Galton, wird durch einen 
Bericht dieser Gesellschaft, den Sommer zur Verlesung bringt, Kenntnis gegeben. 
Den Schlussvortrag hielt Sommer über Renaissance und Regeneration. Er weist 
darauf hin, dass abgesehen von einer grossen Reihe von Momenten, die zu einer 
solchen Kulturblüte führen, die sozialen und politischen Verhältnisse, der Land¬ 
schafts- und Volkscharakter usw. auch biologische Momente wesentlich mit- 
wirken: 1. Die Periodizität, die sich in der ganzen organischen Natur und be¬ 
sonders beim Menschen überall nachweisen lasse. Ganz besonders günstig für die 
Entstehung der Renaissance sei 2. die Vermischung von reingezüchteter Militär¬ 
aristokratie mit einer reingezüchteten Bürgeraristokratie in Florenz um die Mitte 
des 15. Jahrhunderts gewesen. 



Varia. 


675 


Varia. 

Zur Symbolik der Schlange und der Kravatte. Eine sehr bezeichnende 
Zeichnung überreichte eine 19 jährige Manische dem Anstaltsarzte: 



Die Verwendung der Kravatte als phallisches Symbol im Sinne der Freud- 
schen Ausführungen ist vollkommen klar. H. R. 


Der bekannte Lyriker und Arzt, Hugo Salus stellt uns das folgende, noch 
nicht veröffentlichte, Gedicht zur Verfügung: 

Der Knabe. 

Was ist’s nur, was des Knaben Auge bannt? 

Was zwingt ihn, vor der Mutter Bild zu stehn, 

Es trocknen Munds und keuchend anzusehn! 

Dies Bild King doch seit je an dieser Wand. 

Wo los’ das Kleid den weissen Hals umspannt, 

Wölbt sich ein Hügelpaar: das anzuseh’n, 

Drängt es den Knaben vor dem Bild zu stehn. 

Ach, wär’s nur nicht zu hoch für seine Hand! 

Wie oft er auch die eigne Brust berührt, 

Ob sie geheimnisvoll und weich und mild 
Zu Hügeln schwillt: nie hat er was verspürt! 

Da kommt die Mutter. Er umarmt sie stumm. 

Nie dacht’ er an die Mutter vor dem Bild! 

Nun schluchzt er auf und weiss doch nicht, warum . . . 


Psycho- Analyse Roosevelts. Unter den verschiedenen Würzen des jetzt 
in Amerika mit grösster Erbitterung geführten Kampfes um die Präsidentenwürde 
verdient eine unsere besondere Aufmerksamkeit. Es. wurde nämlich der Versuch 
gemacht, die Persönlichkeit des einen der beiden Vorkämpfer in die Beleuchtung der 
modernen Psychologie zu rücken. In der Wochenausgabe der „New York Times“ 






676 


Varia. 


(24. März 1912), einem der bedeutendsten amerikanischen Blätter, erschien ein aus¬ 
führlicher Artikel von Dr. Morton Prince unter dem Titel „Roosevelt, durch die 
neue Psychologie analysiert“ 1 ). Der Aitikel, der die erste Seite des Blattes einnimmt, 
hat wie zu erwarten stand, erhebliches Aufsehen erregt. Um europäische Leser 
mit dem Gegenstände vertraut zu machen, ist es notwendig, eine kurze Darstellung 
des Standes der Wahlkampagne zu geben. Eines der feststehendsten Regierungs- 
Prinzipien Amerikas ist von der Zeit Washington^ an stets das ungeschriebene 
Gesetz gewesen, dass kein Präsident öfter als zweimal dieses Amt innehaben soll. 
Da der Präsident grossen Einfluss auf die administrative Durchführung der Wahlen 
hat, ist es augenscheinlich der Zweck dieses Prinzips zu verhindern, dass irgend¬ 
wann ein Einzelner versuche, sich durch demagogische Mittel an das Volk zu wenden, 
um so zum tatsächlichen Diktator zu werden. Die Furcht vor einer Diktatur scheint 
in Amerika bemerkenswert stark zu sein und man geht von der Ansicht aus, dass 
jeder, der dem eben erwähnten Prinzipe nicht anhängt, ein Veräter der heiligsten 
Güter seines Landes sei und nicht mehr als Ehrenmann gelten könne. Zur Zeit als 
Roosevelts zweite Amtsdauer zu Ende ging, im Jahre 1908, kündigte er formell an, 
dass er „unter keinen Umständen nochmals als Kandidat auftreten werde“. Selbst¬ 
verständlich wurde er als künftiger Präsident nicht mehr in Rechnung gezogen, 
aber nach der Rückkehr von seiner berühmten afrikanischen Reise mischte er sich 
mehr und mehr in die Politik ein, und allmählich wurde es klar, dass er willens 
war, sich wiederum der Wahl zu unterziehen. Wie eben gesagt, geschah dies nur 
langsam und schrittweise. Abweisung nach Abweisung wurde verlautbart, während 
seine Freunde das Gefühl des Landes erforschten, um zu erfahren, ob es möglich 
wäre, das Volk zu einem Bruche mit dem 120 Jahre lang ununterbrochen gepflogenen 
Brauche zu bewegen, ohne dabei seine rebuplikanische Überzeugung allzusehr zu 
verletzen. Der gegenwärtige Präsident Taft war Roosevelts intimster Freund und 
als der letztere im Jahre 1908 zurücktrat, war es ausschliesslich sein Einfluss, durch 
den Taft als sein Nachfolger gewählt wurde. Seine Absicht scheint es gewesen 
zu sein, in absentia durch Taft zu regieren, der das von Roosevelt begonnene Werk 
zu Ende führen sollte. Taft zeigte jedoch unmittelbar nach seiner Wahl seine Un¬ 
abhängigkeit von seinem Vorgänger und folgte seinen eigenen Plänen, die ihm wo 
nicht die sensationelle Popularität Roosevelts, so doch das Vertrauen de3 amerika¬ 
nischen Volkes erworben haben. 

Roosevelt entrüstete sich bei seiner Rückkehr nach Amerika über Taft’s Politik, 
brach die frühere Freundschaft ab und begann bald ihn in ungemässigter Sprache an¬ 
zugreifen. Der Zwist der beiden wurde in letzter Zeit ungewöhnlich bitter und 
persönlich; so hat zum Beispiel Roosevelt in einer seiner letzten Reden Taft be¬ 
zeichnet wie folgt: „ein Undankbarer, ein Unterdrücker der Wahrheit, ein unehr¬ 
licher Freund und kein Gentleman“. Taft, obwohl er anfangs zu diesen Angriffen 
schwieg, begann zu erwidern und hat Roosevelt einen „Neurotiker“ und einen 
„Heuchler“ getauft. 

Dr. Prince geht auf diese persönlichen Beziehungen zwischen den beiden 
Antagonisten nicht oder doch nur oberflächlich ein, aber er versucht die Entwicklung 
von Roosevelt’s Gesinnungsänderung in der Frage einer dritten Amtsführung nach¬ 
zuweisen. Seine These ist, dass Rooseveit’s übermächtige Herrsucht anfänglich durch 
seinen Ehrsinn in Schach gehalten wurde, dass sie ihn aber nun mit Hilfe ver- 


i) Wir möchten bei dieser Gelegenheit betonen, dass wir mit der Tendenz, 
die Psychoanalyse zu Eingriffen in das Privatleben zu benützen, durchaus nicht ein¬ 
verstanden sind. Die Redaktion. 



Varia. 


677 


schiedener Freunde und unterstützt durch seinen Ärger über Taft’s Haltung, über¬ 
wältigt hat. Er meint, dass Roosevelt’s Wunsch ein drittes Mal Präsident zu werden, 
zuerst verdrängt war, dass er sich aber durch eine Anzahl von Handlungen verriet, 
welche jenen, die Freud in der „Psychopathologie des Alltaglebens“ beschreibt, 
durchaus analog sind. Der Widerstand und die Hemmungen wurden nach und nach 
besiegt, so dass der Wunsch schliesslich mittelst einer Reibe von Rationalisierungen 
mit den höheren Instanzen des vollen Bewusstseins vereinbart wurde. Die ver¬ 
schiedenen Stadien dieses Prozesses verfolgt er bis ins feinste Detail und manche 
der von ihm mitgeteilten Beispiele von Roosevelt’s Verlesen, Verdrehen, Missver¬ 
stehen, von seinen Spreeh- und Schreibfehlern etc. sind mit bemerkenswerter Gründ¬ 
lichkeit und Genauigkeit analytisch verwertet; natürlich waren sie durch den alles 
andere überwältigenden Wunsch determiniert, der schnell an die Oberfläche gelangte. 
Dr. Prinee verweist aus Höflichkeit manche Wünsche und Motive ins Unbewusste, 
die eher vorbewusst oder völlig bewusst waren; er gestand mir privat, dass er 
wirklich die letztere Ansicht für die richtige halte. Es ist jedoch wahrscheinlich, 
dass der Ehrgeizkomplex anfänglich einem gewissen Grade von Verdrängung unter¬ 
worfen war, bis die im Volke vorwaltende Gefühlseinstellung es möglich machte, 
ihn offen auszusprechen. Ernest Jones. 


Dr. L. H. Eisenstadt veröffentlicht in den „Deutschen Nachrichten“ vom 
28. April und vom 4. Mai 1912 einen Aufsatz: „Über die Sterblichkeit der Post- 
und Eisenbahnbeamten“, dem wir folgende für uns wertvolle Stelle entnehmen. 
„Hier bekommen wir auch einen Schlüssel zum Verständnis für das massenhafte 
Auftreten der Nervenkrankheiten und namentlich der Neurasthenie bei den Post¬ 
beamten. Für die Anhänger der Lehren des Wiener Nervenarztes Prof. S. Freud 
bleibt es recht zweifelhaft, ob die ungeheuere Verbreitung dieser Krankheiten bei 
den Beamten, Lehrern, Lehrerinnen, Beamtinnen, weiblichen kaufmännischen An¬ 
gestellten als ein Zeichen fortschreitender angeborener Degeneration des Nerven¬ 
systems zu deuten ist. Sondern es handelt sich meist um rein erworbene Zustände, 
die auf die starken von unserer Kultur verlangten Hemmungen des Trieblebens 
zurückzuführen sind. Prof. Freud 1 ) sagt zwar von seinen Lehren, dass kein 
deutscher Psychiater sie anerkenne. Aber weshalb strömen ihm aus den Reihen 
der praktischen Ärzte immer mehr Anhänger zu? Weil sie aus der Praxis heraus 
sich von der Wahrheit seiner Anschauungen über die Entstehung der Neurose über¬ 
zeugen. Es ist ja auch zu bedenken, dass die Postbeamten, wenn auch nicht so 
peinlichst ausgewählt wie die Lokomotivführer, dennoch sämtlich vor dem Eintritt 
in ihre Laufbahn ärztlich untersucht und gewiss bei vorhandenen schweren Nerven¬ 
erkrankungen gar nicht zu ihrer Laufbahn angenommen werden.“ 


Med.-Rat. Prof. Dr. P. Näcke, Bemerkungen zu den Freud’sehen Symbolen. 
H. Gross’ Archiv Bd. 47, kleinere Mitteilungen. 

Vieles an den „sog. Symbolen“ Freud’s, „d. h. Bildern, Worten, die den innern 
und speziell den sexuellen Komplex mehr oder weniger sicher anzeigen“, hält Verf. für 
richtig, meint aber, es werde darin, wie auch sonst in den Freud’schen Theorien, 
alles masslos übertrieben. Und er empfiehlt, das „Phantastische, rein Willkürliche der 
Traumdeutungen“ bei Freud, Steckei, Bl euler nachzulesen. In Bleulers Dem. 
praecox wird behauptet, das Träumen von Schlangen, Rüben, Degen usw. bedeute 
stets den Penis. Weil Näcke selbst und seine Umgebung nicht von Schlangen 


*) Über Psychoanalyse F. Deuticke 1912. 



678 


Varia. 


träumt, hält er SchlangeDträume überhaupt für sehr selten! Was übrigens nichts 
gegen die von der Freud sehen Schule behauptete symbolische Bedeutung beweisen 
würde. Allein der Verf. hat einen besseren Gegenbeweis. Ihm träumte, er sehe 
auf seinem linken Oberschenkel, etwa in der Mitte, nach oben eine längliche, ovale, 
sich bewegende Geschwulst. Er betrachtet sie mit Neugier und sieht wie sie sich 
öffnet und daraus ein langes, irgendwie gefärbtes Bing in Windungen sich ent¬ 
wickelt. Er verfolgt das Ende und findet richtig, ganz nahe dem Knie zustrebend, 
einen Scblangenkopf. 

Die sexuelle Natur dieses Traumes bestreitet Verf., da er dabei nichts Sexuelles 
träumte oder fühlte und „die Schlange ausserdem mit dem Kopf nach aussen, nicht 
nach dem Körper sich wandte.“ 

Den ersten Teil seiner Begründung hätte sich Näcke gewiss erspart, wenn 
er an seine eigene Definition für das Wort Symbol gedacht hätte; jeder Freud’sehe 
Abc-Schüler wird darüber lächeln; denn wenn der Traum seinen sexuellen Inhalt 
direkt darstellen wollte, wozu brauchte er denn noch ein Symbol? Und was den 
zweiten Teil anbetrifft, so bleibt, da Näcke ja keine Frau ist, nicht einzusehen, 
warum die Schlange sich mit dem Kopf nicht nach aussen, sondern dem Körper 
zu hätte wenden müssen, wenn sie ein Symbol für den Penis sein wollte. Nach 
dieser Begründung dürfen wir wohl mit Näcke, wenn auch in umgekehrtem Sinne, 
fortfahren und sagen: So wird es sich gewiss auch in vielen anderen Fällen verhalten! 
Hübsch ist übrigens in der Traumerzählung die genauere Ortsbestimmung für das 
Phänomen: „etwa in der Mitte“. 

Verf. erwähnt noch kurz die Angstträume und das Beschmieren mit Kot bei 
Geisteskranken. Er beschränkt sich hier auf die Behauptung, dass die sexuelle 
Deutung häufig nicht zutreffe und verzichtet auf Beweise. 

Dr. Mary Stegmann. 

Zur Genealogie des „Feigenblattes“. Dass gerade das Feigenblatt zum 
Verhüllen der Scham teile benützt wird, findet in der symbolischen Identifizierung 
des Genitales mit einer Feigenfrucht seine Erklärung. Siehe dazu folgendes Distichon 
des Archilochos: 

„Recht gutherzige Feige am Fels, eine Speise für viele 
Krähen: die Fremden den Schoss öffnende Pasiliphe.“ 

(Zit. nach „Ars Amandi“ v. Richard Nordhausen. S. 30.) Ferenczi. 

Metaphysik = Metajjsyeliologie. 

„Hoch iiber’m Firmament sucht ich die Quelle 
Von Vorbestimmung, Paradies und Hölle. 

Da sprach mein weiser Lehrer: Freund, in dir 
Allein sind Kismet, Paradies und Hölle“. 

Sinnspruch 0 m ar’s d es Zeltenmachers [geb. 1025—1050, gest. 1123]. Deutsche 

Verlagsanstalt, 1909.) Ferenczi. 

Paracelsus an die Arzte. „ . . . Und lasst euch das keinen Scherz sein, 
ihr Ärzte, ihr kennt die Kraft des Willens nur zum kleinsten Teil. Denn der 
Wille ist ein Erzeuger solcher Geister, mit welchen die Vernunft 
nichts zu schaffen hat.“ [Paraselcus, Paramirum, Tract. IV. cap. 8.] (Dieser 
Spruch enthält die Vorahnung des Unbewussten, dem man rationell nicht beikommen 
kann.) Ferenczi. 


Varia. 


679 


Goethe über den Realitätswert der Phantasie beim Dichter. „Es scheint, 
da wir Dichter bey der Theilung der Erde zu kurz gekommen sind, uns ein wich¬ 
tiges Privilegium geschenkt zu seyn, dass uns nämlich unsere Thorheiten bezahlt 
werden/ [Brief an Schiller v. 15. Dez. 1795. Reclam Nr. 4148—4150. S. 168.] 

Ferenczi. 

Frank Wedekind hat der Neuauflage seiner Novellensammlung „Feuerwerk“, die 
kürzlichbeiGeorgMüllerin München erschienen ist, eine Einleitung „üb er Er otik“ 
vorausgeschickt, der wir einige Stellen entnehmen, welche sich mit unserer Auf¬ 
fassung des Themas in weitgehendem Masse decken. „Unsere Jugend hat es nun 
aber meiner Ansicht nach gar nicht in erster Linie nötig, sexuell aufgeklärt zu 
werden. Eine genauere Aufklärung über Vorgänge und Gefahren der Sexualität 
hätte jedenfalls nicht das Haus, sondern die Schule zu besorgen. Das Haus, die 
Familie aber hat die heranwachsende Jugend vor allem darüber aufzuklären, dass 
es in der Natur überhaupt gar keine unanständigen Vorgänge gibt, sondern nur 
nützliche und schädliche, vernünftige und unvernünftige. Dass es in der Natur 
aber unanständige Menschen gibt, die über diese Vorgänge nicht anständig reden, 
oder die sich bei diesen Vorgängen nicht anständig benehmen können. Die Be¬ 
fürchtung, dass ernste Gespräche über Erotik und Sexualität der heran wachsenden 
Jugend Schaden zufügen können, ist das Ergebnis einer grossen Selbsttäuschung. 
Die Eltern vermeiden solche Gespräche nicht etwa, wie sie sich einreden, aus Furcht, 
ihren Kindern damit zu schaden, sondern weil sie selber unter sich über erotische 
Fragen nicht sprechen können, weil sie ernst darüber zu sprechen nicht gelernt 
haben . . . Denn auf keinem anderen Gebiete wuchert so viel Aberglauben, auf keinem 
anderen Gebiete sind so viel grundfalsche „Wahrheiten“ im Umlauf, um uns zu den 
widersinnigsten Tollheiten zu verleiten, wie auf dem der Erotik und Sexualität . . . 
Aber gerade die rohen zotigen Menschen unter uns sind die unversöhnlichsten, 
hartgesottensten Feinde einer ernsten ehrfurchtsvollen Ergründung erotischer Fragen, 
weil sie dadurch um ihre billigsten, beliebtesten Wirkungen gebracht werden. . . . 
Der erste Ertrag der sexuellen Aufklärung der Jugend wird sich dann darin zeigen, 
dass wir nicht mehr für unanständig halten, was nicht nur den allerfeinsten, aller¬ 
abgeklärtesten Anstand erfordert, sondern was zugleich neben unserem Broterwerb 
vielleicht das allerwichtigste Gebiet unseres irdischen Daseins repräsentiert. Nach¬ 
her werden wir auch ohne Schwindelanfälle und Herzbeklemmungen ermessen 
können, wie wenig oder wie viel wir Kindern davon mitteilen können, die sich in 
ihrer Unwissenheit innig danach sehnen, ernst und ehrfurchtsvoll über ihre Uranfänge 
sprechen zu hören.“ 

Schliesslich sei noch ein Ausspruch des Dichters vermerkt, der wie aus tiefer 
psychoanalytischer Einsicht, oder was dem ungefähr nahekommt, aus unvorein¬ 
genommener Ansicht der wirklichen Lebensverhältnisse heraus geprägt scheint: „Die 
Familie ist ein Bündnis, in dem aus purer Angst, dass es scheitern könnte, über 
die Gefahren, die ihm drohen, immer erst dann offen gesprochen werden darf, wenn 
es daran gescheitert ist.“ (Rank.) 

Diderot schreibt gelegentlich einer Kritik von Thomas: Essai sur le caractere, 
les moeurs et l’esprit des femmes dans les differentes siecles (1772) in Grimms 
Correspondance: „Das Weib trägt ein Organ in sich, welches der furchtbarsten 
Krämpfe fähig ist und in seiner Phantasie Wahnbilder aller Art hervorruft. In der 
hysterischen Raserei sind ihm Vergangenheit und Zukunft gegenwärtig. Alle ausser¬ 
ordentlichen Vorstellungen gehen beim Weib von der Gebärmutter aus. Nichts 



680 


Offener Sprechsaal. 


ist verwandter als die Ekstase, die Vision, die Prophetie, die Offen¬ 
barung, die sprudelnde Poesie und die Hysterie. Das von ihr ergriffene 
Weib empfindet etwas Höllisches oder Himmlisches.“ (Rank). 

E. T. A. Hoffmann bemerkt in seiner auch sonst psychologisch interessanten 
novellistischen Erzählung (Reclam Nr. 5274): Rat Krespel (S. 107): „Nicht einen 
Augenblick zweifelte ich daran, dass Krespel wahnsinnig geworden sei, der Pro¬ 
fessor behauptete jedoch das Gegenteil. „Es gibt Menschen,“ sprach er, „denen die 
Natur oder ein besonderes Verhängnis die Decke wegzog, unter der 
wir anderen unser tolles Wesen unbemerkbar treiben. Sie gleichen 
dünn gehäuteten Insekten, die im regen sichtbaren Muskelspiel missgestaltet er¬ 
scheinen, ungeachtet sich alles bald wieder in die gehörige Form fügt. Was bei 
uns Gedanke bleibt, wird dem Krespel alles zur Tat. — Den bitteren 
Hohn, wie der in das irdische Tun und Treiben eingeschachtete Geist ihn woiil oft 
bei der Hand hat, führt Krespel aus in tollen Gebärden und geschickten Ha«en- 
sprüngen. Das ist aber sein Blitzableiter. Was aus der Erde steigt, gibt er wieder 
der Erde, aber das Göttliche weiss er zu bewahren; und so steht es mit seinem 
inneren Bewusstsein recht gut, glaub’ ich, un erachtet der schein¬ 
baren, nach aussen herausspringenden Tollheit.“ (Rank.) 

Der Symbolist. 

Ein kleines Gedicht von Frank- Wedekind, das ein autoerotisches Geständ¬ 
nis enthält, verdient weitere Verbreitung in psychoanalytischen Kreisen: 

Eine mondbestrahlte blasse Hand 
Wand sich nachts aus seinen Decken, 

Dass, gelähmt in stummem starrem Schrecken, 

Er nur mühsam sich hinweggewandt. 

Jene blasse, mcndbestrahlte Hand 

Kehrte manchmal wieder — und im Weichen 

Schrieb sie sich in geisterhaften Zeichen 

In sein schreckensbleiches Nachtgewand. St ekel. 


Offener Spreclisaal. 

Ich bitte die analytisch tätigen Kolegen, bei ihren Patienten solche Träume, 
deren Deutung zum Schlüsse berechtigt, dass die Träumer in frühen Kinder¬ 
jahren Zuschauer sexuellen Verkehrs gewesen sind, zu sammeln und 
sorgfältig zu analysieren. Es bedarf gewiss nur einer Andeutung, um verstehen zu 
lassen, dass diesen Träumen ein ganz besonderer Wert in mehr als einer Hinsicht zu¬ 
kommt. Es können als beweisend natürlich nur solche Träume in Betracht kommen, 
die in den Kinderjahren selbst vorgefallen sind uud aus ihnen erinnert werden. 

Freud. 

Psychoanalytische Bibliothek. 

Die Züricher Gruppe der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung hat 
im abgelaufenen Winter eine kleine psychoanalytische Bibliothek gegründet. Der 
Vorstand der Lokalgruppe wendet sich hiermit höflichst an alle psychoanalytischen 
Forscher, mit der Bitte um Zusendung von Separat-Abdrucken ihrer Arbeiten. 



Offener Sprechsaal. 681 

Es ist das Interesse eines jeden Analytikers, dass seine Arbeiten allen anderen zu¬ 
gänglich seien. 

Vielleicht entschlossen sich alle Lokalgruppen zu einem ähnlichen Schritte. 
Damit wäre die Frage am klarsten geregelt. Ein jeder Forscher würde dann ohne 
weiteres so viel Separat-Abzüge, als es Lokalgruppen gibt, für die Bibliotheken re¬ 
servieren. 

März 1912. A. Maeder. 

Wie sollen wir es mit den Separatabdrücken halten? Ich finde den 
Vorschlag von Maeder „Psychoanalytische Bibliotheken“ zu schaffen ausgezeichnet. 
Ich habe einen identischen Antrag in der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung 
gestellt. Besonders wichtig erscheint mir die Sammlung von Separat-Abdrücken und 
Zeitungsartikeln, die manche wertvolle Anregung oder bedeutende Beiträge zur 
Charakteristik unserer Gegner enthalten können. Es sollte jedes Mitglied der Inter¬ 
nationalen Vereinigung einer jeden Ortsgruppe jede seiner Arbeiten einschicken. 
Natürlich sind von dieser Massregel grössere Bücher ausgenommen, weil diese von 
den Ortsgruppen aus eigenen Mitteln angeschafft werden. 

Ich bin aber entschieden dagegen, dass wir Mitglieder der Internationalen 
Vereinigung uns die Separata aller jener Arbeiten zusenden, die im Jahrbuch oder 
im Zentralblatt erschienen sind, da wir doch wissen, dass alle Mitglieder im 
Besitze dieser Periodika sind. In anderen Blättern erscheinende Artikel sind nach 
Möglichkeit den Bekannten zuzusenden. Ich muss leider gestehen, dass bei mil¬ 
der gute Wille immer vorhanden ist, aber mir zur Ausführung dieser Wünsche die 
Zeit mangelt. Ich bitte daher alle Kollegen um Verzeihung, wenn ich ihnen keine 
Separata zusende. Ich will sie fürder immer an die einzelnen Ortsgruppen senden. 

St ekel. 

In welcher pädagogischen Heilanstalt kann man einen Jungen von 
etwas zurückgebliebener Intelligenz zu massigem Preise unterbringen? 

Dr. Wladimar Lasersohn, Lodz, Petrikowerstr. 37. 

Zur Rubrik Literatur. Die Literaturübersicht des Zentralblattes möchte alle 
Leser über alle psychoanalytischen Arbeiten im laufenden erhalten. Dies geht nur, 
wenn alle Leser an dieser Rubrik mitarbeiten. Wir ersuchen um Angaben über 
wissenschaftliche Arbeiten und Aufsätze in den Journalen, welche die Psychoana¬ 
lyse betreffen. Die Autoren ersuchen wir zur Erleichterung des Referierens um Über¬ 
sendung der Separatabdrücke an die Redaktion. Auch die Rubrik Varia, die sich 
bei unseren Lesern einer solchen Beliebtheit erfreut, wird fortgesetzt. Alle Leser 
sind uns als Mitarbeiter willkommen. Die Redaktion. 


Druckfehlerberichtigung. 

Seite 514, Zeile 20 von oben statt hintern lies hindern. 

„ 515, „ 5 „ „ „ Fu rchtbarkeit lies Fruchtbarkeit. 

„ 515, Zeichnung oben rechts, statt Türme lies Türen. 


Das neue Buch von St ekel „Die Träume der Dichter“ ist soeben im 
Verlage von J. F. Bergmann erschienen. Es enthält eine vergleichende Untersuchung 
der Dichterträume und versucht aus den Träumen Rückschlüsse auf die Anlagen und 
Triebkräfte der Dichter zu ziehen. Es enthält zahlreiche interessante Beiträge 
lebender Dichter und eine ausführliche Analyse der in den Tagebüchern veröffent¬ 
lichten Träume Friedrich Hebbels. 




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Literatur. 


Freud’s „Psychopathologie des Alltagslebens“ ist soeben in vierter 
vermehrter Auflage (Verlag S. Karger, Berlin) erschienen. Es bringt neue Beiträge 
von Freud, Ferenczi, Rank, Dattner, Sachs, Jones, Stekel und vielen 
andern. 


Literatur. 

Karl Julius Müller: Das Traumleben der Seele (L. Froeben, Berlin SW 1912). — 
Emilio Padovani: Maupassant e il suicidio (Rassaegna di Studi Psichiatrici. Vol. II. 
Fase. 3). — Hoche: Dementia paralytica. Handbuch der Psychiatrie (Franz Deuticke 
1912). — Spielmayer: Die Psychosen des Rückbildungs- und Greisenalters (Ibidem). 
Ebbinghaus: Abriss der Psychologie. IV. Auflage (Veit & Comp., Leipzig 1912). — 
Emile Boutroux: William James. Autorisierte deutsche Ausgabe von Dr. Bruno 
Jordan (ibidem). — M. A. Schall: Die Ursachen des Selbstmordes (Wissenschaftl. 
Rundschau. Heft 20. 1912). — Emerson: Psychoanalysis et social Service 
(Physician and surg. XXXIII). — Kostileff: La psychoanalyse appliquee ä 
l’dtude objective de l’imagination (Rev. philos. April 1912). — Babinski et 
Dagnan-Bouveret: Emotion et hysterie (J. de psychol. April 1912). — Mayer: Der 
Zweifel (Zeitschr. f. Religionspsychologie. Bd. 6 . H. 1). — Nagy: Psychologie des 
kindlichen Interesses (Leipzig, Otto Nemnich, 1912). — Nagel: Experimentelle Unter¬ 
suchungen über Grundfragen der Assoziationslehre (Arch. f. die ges. Psychol. Bd. 23. 
H. 1/2) — Naecke: Zur Kinderpsychologie (H. Gross’ Archiv. Bd. 47. Heft 1/2. 
1912). — Tannenbaum: True Neurasthenia frora the Freudian Point of 
View (Critic and Guide. July 1912). — Brill: A Few Remarks on the Tech¬ 
nique of Psychoanalysis (Med. Review of Reviews. April 1912). — A. Mc Laue 
Hamilton, M. D.: The Pathogeny of mental Disease; with special reference to the 
minor psychoses (Medical Record. March 23. 1912 [81: 551—561]). — A. A. Brill, M. D.: 
Hysterical Dreamy States, their Psychological mechanism (N. Y. 
Medical Journal. May 25. 1912. — C. M. Campbell, M. D.: The Application of 
Psycho-analysis to Insanity (N. Y. Medical Journal. May 25. 1912). — 
S. J. Franz, M. D.: The Present Status of Psychology in Medical Edu- 
cation and Practice (The Journal of the Am. Med. Ass. March 30. 1912.) — 
A. Meyer, M. D.: The Value of Psychology in Psychiatry (ibidem). — J. D. Watson, 
M. D.: Content of a Course in Psychology for medical Students (ibidem). — M. Prince, 
M. D.: The New Psychology and Therapeutics (ibidem). — J. 0. Jankins, 
M. D.: Climacteric Neurosis in Women (Kentucky Medical Journal [Louisville, Ky.]. 
April 1912.) — E. Novak, M. D.: Neurasthenia and Hysteria, Gynecological Aspects 
{Amer. Journ. of Surgery (April 1912). — J. V. Haberman, M. D.: Hysteria (Me¬ 
dical Review of Rewiews [N.Y.], June 1912 [18:373—379]). — M. Allen Starr, M. D.: 
Neuroses Dependent upon Errors of Internal Secretion of the Ductless Glands (Medical 
Record [N. Y.]. June 29. 1912. — W. E. Paul, M. D.: Freud’s Psychology as 
Applied to Children (Boston Med. and Surg. Journ. April 4, 1912). — R. Reed, 
M. D.: Sexual Education of the Child (N. Y. Medical Record. Apl. 6. 1912). — 31. D. 
Eder: Freud’s Theory of Dreams. A Paper read before the Psycho-Medical- 
Society (Transactions of the Psycho-Medical-Society. Vol. III. Part. III. 1912). — 
Furtmüller: Ethik und Psychoanalyse (Reinhardt, München 1912). — Stekel: 
Die Träume der Dichter (J. F. Bergmann. 1912). — Das II. Heft der Dis¬ 
kussionen der „Wiener Psychoanalytischen Vereinigung* ist er¬ 
schienen. Es betitelt sich „Über Onanie“ und enthält vierzehn 
Beiträge von Dattner, Federn, Ferenczi, Freud, Friedjung, Hitscli- 
mann, Rank, Reitler, Rosenstein, Sachs, Sadger, Steiner, Stekel 
und Tausk. 




Verlag von J. F. Bergmann in Wiesbaden. 


Soeben erschien: 

Über den 

nervösen Charakter. 

Grundzüge 

einer vergleichenden Indiviclual- 
Psychologie und Psychotherapie. 

Von 

Dr. Alfred Adler, 

Wien. 

Preis Mk. 6.50, gebunden Mk. 7.70 


Inhaltsverzeichnis. 

Vorwort. 

Theoretischer Teil: Einleitung. — I. Kapitel: Ursprung und Entwicke¬ 
lung des Gefühls der Minderwertigkeit und dessen Folgen. — II. Kapitel: Die 
psychische Kompensation und ihre Vorbereitung. — III. Kapitel: Die verstärkte 
Fiktion als leitende Idee in der Neurose. 

Praktischer Teil: I. Kapitel: Geiz. — Misstrauen. — Neid. — Grausam¬ 
keit. — Herabsetzende Kritik des Nervösen. — Neurotische Apperzeption. — 
Altersneurosen. — Formen- und Intensitätswandel der Fiktion. — Organjargon. 

— II. Kapitel: Neurotische Grenzerweiterung durch Askese, Liebe, Reisewut, 
Verbrechen. — Simulation und Neurose. — Minderwertigkeitsgefühl des weib¬ 
lichen Geschlechts. — Zweck des Ideals. — Zweifel als Ausdruck des psychi¬ 
schen Hermaphroditismus. — Masturbation und Neurose. — Der „Inzestkom¬ 
plex“ als Symbol der Herrschsucht. — Das Wesen des Wahns. — III. Kapitel: 
Nervöse Prinzipien. — Mitleid, Koketterie, Narzissismus. — Psychischer Herm¬ 
aphroditismus. — Halluzinatorische Sicherung. — Tugend, Gewissen, Pedanterie, 
Wahrheitsfanatismus. — IV. Kapitel: Entwertungstendenz. — Trotz und Wild¬ 
heit. — Sexualbeziehungen des Nervösen als Gleichnis. — Symbolische Ent¬ 
mannung. — Gefühl der Verkürztheit. — Der Lebensplan der Manngleichheit. 
—- Simulation und Neurose. — Ersatz der Männlichkeit. — Ungeduld, Unzu¬ 
friedenheit, Verschlossenheit. — V. Kapitel: Grausamkeit — Gewissen. — Per¬ 
version und Neurose. — VI. Kapitel: Oben—Unten. — Berufswahl. — Mond¬ 
sucht. — Gegensätzlichkeit des Denkens. — Erhöhung der Persönlichkeit durch 
Entwertung Anderer. — Eifersucht. — Neurotische Hilfeleistung. — Autorität. 

— Denken in Gegensätzen und männlicher Protest. — Zögernde Attitüde und 
Ehe. — Die Attitüde nach aufwärts als Symbol des Lebens. — Masturbations- 
zwang. — Nervöser Wissensdrang. — VII. Kapitel: Pünktlichkeit. — Der Erste 
sein wollen. — Homosexualität und Perversion als Symbol. — Schamhaftigkeit 
und Exhibition. — Treue undUntreue. — Eifersucht. — VIII. Kapitel: Furcht 
vor dem Partner. — Das Ideal in der Neurose. — Schlaflosigkeit und Schlaf¬ 
zwang. — Neurotischer Vergleich von Mann und Frau. — Formen der Furcht 
vor der Frau. — IX. Kapitel: Selbstvorwürfe, Selbstquälerei, Bussfertigkeit und 
Askese. — Flagellation. — Neurosen bei Kindern. — Selbstmord und Selbst, 
mordideen. — X. Kapitel: Familiensinn des Nervösen. — Trotz und Gehorsam. 

— Schweigsamkeit und Geschwätzigkeit. — Die Umkehrungstendenz. — Schluss. 

— Zitierte Schriften des Autors. 






Inhalts-Verzeichnis des XII. Heftes. 


Originalarbeiten: 

I. Drei Romane in Zahlen. Von Dr. Marcinowski . 

II. Experimentelle Träume. Von phil. Dr. Karl Sehrötter . . . 


Mitteilungen: 

I. Selbstbestrafung wegen Abortus. Von Dr. J. E. G. von Emden . 
II. Ein Fall von „dejä vu“. Von Dr. S. Ferenczi 

III. Ein Fall von Namenvergessen. Von Frau Dr. Mary. Stegmann 

IV. Zwei Versprechen, von denen das zweite das erste deutet. Von Dr. 

Rudolf Reitler ..* • • • • • • * 

V. Psychische Beeinflussung der Menstruation. Von Ernst Marcus 


Referate und Kritiken: 

Bleuler: Schizophrenie.. * 

Drs. Menzerat et Ley: L’etude experimentale des associations d idees 

dans les maladies mentales. 

Psychische Studien ... • .... 

Psiche“ .. 

Dr. C. Widmer: Die Rolle der Psyche bei der Bergkrankheit und der 

psychische Faktor bei Steigermüdungen.. 

Dr. J. Mourly Vold: „Über den Traum“ Experimental-psychologische 

Untersuchungen. 

Prof. H Vogt: Über Erziehung der Gefühle. 

Dr. Oskar Simon: Die Karlsbader Kur im Hause.• • • 

Jan Nelken: Psychologische Untersuchungen an Dementia praecox-Kranken 

Dr M. Fried mann: Über die Psychologie der Eifersucht. 

Dr K. Birnbaum: Krankhafte Eifersucht und Eifersuchtswahn . . . . 

Freud: Über einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und 

der Neurotiker... 

Otto Rank: Der Sinn der Griseldafabel. 

Dr. E. Hitschmann: Zum Werden des Romandichters ..'• 

-Dr. Oskar Pfister: Anwendungen der Psychanalyse in der Pädagogik 

und Seelsorge. 

Otto Rank und Dr. Hans Sachs: Entwicklung und Ansprüche der 

Psychoanalyse.. 

J. Storfer: Zwei Typen der Märchenerotik. 

Dr. Alfred Robitsek: Symbolisches Denken in der chemischen F orschung 
F. Karsch-Haak: Das gleichgeschlechtliche Leben der Naturvölker . . 

Dr. Stefan von Mäday: Psychologie des Pferdes und der Dressur . . 

Ernst Trömner: Über motorische Schlafstörungen (speziell Schlaftic, 
Somnambulismus, Enuresis nocturna). 

Aus Vereinen und Versammlungen.. 


Varia. 

Offener Sprechsaal. 

Inhaltsverzeichnis und Autorenregister 


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Druck der KönigU Universitätsdruckerei H. Stürtz A. G., Würzburg.