Zentral blatt
für
Psychoanalyse.
Medizinische Monatsschrift für Seelenkunde.
Herausgeber:
Professor Dr. Sigm. Freud.
Schriftleitung:
Dr. Alfred Adler, Wien. — Dr. Wilhelm Stekel, Wien.
Unter Mitwirkung uon:
Dr. Karl Abraham, Berlin; Dr. A. A. Brill, Neiu-york; Dr. S. Ferenczi, Budapest;
Dr. E. Hitschmann, Wien; Dr. E. Jones, Toronto; Dr. Otto Juliusburger, Steglitz;
Dozent C. G. Jung, Zürich; Dr. F. S. Krauss, Wien; Professor August di Lutzen¬
berger, Neapel; Prof. Güstau Modena, Ancona; Dr. Alfons Mäder, Kreuzlingen;
Dozent N. Ossipow, Moskau; Dr. Oskar Pfister, Zürich; Otto Rank, Wien; Dr.
Franz Ricklin, Zürich; Dr. J. Sadger, Wien; Dr. A. Stegmann, Dresden; Dr.
M. Wulff, Odessa; Dr. Erich Wulffen, Dresden.
I. Jahrgang Heft 1/2.
Wiesbaden.
Verlag uon J. F. Bergmann.
1910.
Jährlich erscheinen 12 Hefte im Gesamt-Umfang uon 36 bis
40 Druckbogen ’-r. .,*»•» f«T M»rk.
* INSTITUTE
OF
PSYCHO-ANALYSIS
Verlag von J. F. Bergmann in Wiesbaden.
Soeben erschien:
- \
Diskussionen
des
Wiener psychoanalytischen Vereins.
Herausgegeben
von der Vereinsleitung.
L Heft.
• •
Uber den Selbstmord
insbesondere
den Schüler-Selbstmord.
Beiträge von:
Dr. Alfred Adler, Prof. S. Freud, Dr. J. K. Friedjung, Dr. Karl Molitor,
Dr. R. Reitler, Dr. J. Sadger, Dr. W. Stekel, Unus mnltorum.
Preis Mk. 1.35.
Zentralblatt
für
Psychoanalyse.
Medizinische Monatsschrift für Seelenkunde.
Herausgeber:
Professor Dr. Sigm. Freud»
Schriftleiter:
Dr. Wilhelm Stekel,
Wien I. Gonzagagasse 21.
Unter Mitwirkung uon:
Pr. Karl Abraham, Berlin; Dr. R. G. Assagioli, Florenz; Dr. Ludwig Binswanger,
Kreuzlingen; Dr. Poul Bjerre, Stockholm; Dr. A. A. Brill, New-York; Dr. M.
Eitingon, Berlin; Dr. D. Epstein, Kiew; Dr. S. Ferenczi, Budapest; Dr. Max Graf,
Wien; Dr. Magnus Hirschfeld, Berlin; Dr. E. Hitschmann, Wien; Dr. E. Jones,
Toronto; Dr. Otto Juliusburger, Steglitz; Dozent C. G. Jung, Zürich; Dr. F. S.
Krauss, Wien; Professor August u. Luzenberger, Neapel; Prof. Güstau Modena,
Ancona; Dr. Alfons Mäder, Zürich; Dr. Richard Nepalleck, Wien; Dozent N.
Ossipow, Moskau; Dr. Oskar Pfister, Zürich; Dr. James Putnam, Boston; Otto
Rank, Wien; Dr. R Reitler, Wien; Dr- Franz Riklin, Zürich; Dr. J. Sadger, Wien;
Dr. L. Seif, München; Dr. A. Stegmann, Dresden; Dr. M. Wulff, Odessa; Dr. Erich
Wulffen, Dresden.
I. Jahrgang Heft 1112.
Wiesbaden.
Verlag uon J. F. Bergmann.
1911.
Jährlich erscheinen 12 Heffe im Gesamt-Umfang uon 36
40 Druckbogen zum Jahrespreise uon 18 Mark.
Ein ausführliches Inhaltsverzeichnis und Autorenregister befindet sich am Schlüsse
An unsere Leser!
Schroffer denn je stehen die Gegensätze einander gegenüber. Die
Gegner der Psychoanalyse kämpfen mit allen ihnen zu Gebote stehenden
Mitteln: Spott, Satire, Ironie, unwissenschaftlicher Voreingenommenheit, und
voreingenommener Wissenschaft, Boykott und Anathem. Wie soll sich der
einzelne ein Urteil bilden in dem widerstrebenden Gemenge von Urteilen?
Wem soll er glauben ? Der alle Errungenschaften und Erkenntnisse negieren¬
den Kritik oder den weiteren Arbeiten Freuds und seiner Anhänger, die
von bemerkenswerten Erfolgen und ungeahnten Zusammenhängen erzählen ?
Die Literatur der neuen Wissenschaft war einst leicht zu übersehen:
Die epochalen „Studien über Hysterie“ von Freud und Breuer und die
weiteren Arbeiten Freuds. Jetzt ist es dem einzelnen gar nicht möglich,
der wachsenden Flut von Arbeiten gerecht zu werden und seinen orientieren¬
den Überblick über die komplizierte Wissenschaft der Psychoanalyse und
ihre Errungenschaften zu gewinnen. Das schon im zweiten Jahrgange er¬
scheinende „Jahrbuch für Psychoanalyse“ bringt in weiten Zwischen¬
räumen grössere Arbeiten, die wohl meist für den Vorgeschrittenen und
Wissenden bestimmt sind. „Das Zentralblatt für Psychoanalyse“
verfolgt einen im wesentlichen didaktischen Zweck. Es will nicht nur die
Anhänger und Gegner über die erscheinende Literatur rasch orientieren,
sondern auch durch Originalartikel einzelne psychoanalytische Probleme von
praktischer Bedeutung vertiefen und einem weiteren Kreise zugänglich machen.
So sollen „Jahrbuch“ und „Zentralblatt“ einander ergänzen.
Wir sehen unsere Aufgabe nicht in fruchtlosen Kämpfen einer —
wenn auch berechtigten — Kritik der Kritik. Wir wollen auch die Stimmen
unserer Gegner gewissenhaft registrieren und alle Meinungen zu Worte kommen
lassen. Wir wollen die Überzeugungen der Anhänger nicht nur durch Argumente,
sondern durch unsere ehrliche psychoanalytische Arbeit, durch unser Material,
durch unsere Erfolge gewinnen. So hoffen wir auch unsere Gegner zum
vornehmen Ton eines Kampfes der Tatsachen, nicht der Affekte heran¬
zubilden.
II
Der Kreis des psychoanalytischen Interesses ist ein ungeheuer grosser.
Er umfasst die gesamte Seelen künde nicht nur des Menschen, sondern der
Menschheit. Geschichte und Literatur, alles menschliche Schaffen, Folklore,
der Witz, die Mythen und die Märchen erleichtern uns das Verständnis des
Individuums. Andererseits kann die Psychoanalyse auf manche dieser Gebiete
ein überraschendes Licht werfen, wie es ja „Die Schriften zur ange¬
wandten Seelen künde“ beweisen. Auf alle diese Grenzgebiete wollen
wir nach Massnahme des Raumes Rücksicht nehmen. Auch der Pädagoge
und der Seelsorger, der Künstler und der Philosoph sollen zu Worte kommen,
sobald sie uns neue Erkenntnisse bringen können. Denn die Seelenkunde
darf sich nicht mit kleinlicher Engherzigkeit das Terrain ihrer Arbeitsleistung
abgrenzen.
Wir wollen nicht zu viel versprechen. Wie häufig bleibt das Erreichte
hinter dem Erstrebten zurück! Mit Rücksicht auf die grosse Zahl von Mit¬
arbeitern, die sich uns freudig zur Verfügung gestellt haben, hoffen wir
unsere Vorsätze in Tatsachen umzuwandeln.
Die Schriftleitimg.
Originalarbeiten
i.
Die zukünftigen Chancen der psychoanalytischen
Therapie.
Von Sigm. Freud.
(Vortrag, gehalten auf dem zweiten Privatkongress der Psychoanalytiker
zu Nürnberg 1910).
Meine Herren! Da uns heute vorwiegend praktische Ziele zu-
sammengeführt haben, werde auch ich ein praktisches Thema zum
Gegenstand meines einführenden Vortrages wählen, nicht Ihr wissen¬
schaftliches, sondern Ihr ärztliches Interesse anrufen. Ich halte mir
vor, wie Sie wohl die Erfolge unserer Therapie beurteilen, und nehme
an, dass die meisten von Ihnen die beiden Phasen der Anfängerschaft
bereits durchgemacht haben, die des Entzückens über die ungeahnte
Steigerung unserer therapeutischen Leistung und die der Depression
über die Grösse der Schwierigkeiten, die unseren Bemühungen im Wege
stehen. Aber an welcher Stelle dieses Entwicklungsganges sich die
einzelnen von Ihnen auch befinden mögen, ich habe heute vor Ihnen
zu zeigen, dass wir mit unseren Hilfsmitteln zur Bekämpfung der Neu¬
rosen keineswegs zu Ende sind, und dass wir von der näheren Zukunft
noch eine erhebliche Besserung unserer therapeutischen Chancen erwarten
dürfen.
Von drei Seiten her, meine ich, wird uns die Verstärkung kommen:
1. durch inneren Fortschritt,
2. durch Zuwachs an Autorität,
3. durch die Allgemeinwirkung unserer Arbeit.
Ad 1. Unter „innerem Fortschritt“ verstehe ich den Fort¬
schritt a) in unserem analytischen Wissen, b) in unserer Technik.
a) Zum Fortschritt unseres Wissens: Wir wissen natürlich lange
noch nicht alles, was wir zum Verständnis des Unbewussten bei unseren
Zentralblatt für Psychoanalyse. I. 1
2
Sigm. Freud,
Kranken brauchen. Nun ist es klar, dass jeder Fortschritt unseres
Wissens einen Machtzuwachs für unsere Therapie bedeutet. So lange
wir nichts verstanden haben, haben wir auch nichts ausgerichtet; je mehr
wir verstehen lernen, desto mehr werden wir leisten. In ihren Anfängen
war die psychoanalytische Kur unerbittlich und erschöpfend. Der
Patient musste alles selbst sagen, und die Tätigkeit des Arztes bestand
darin, ihn unausgesetzt zu drängen. Heute sieht es freundlicher aus.
Die Kur besteht aus zwei Stücken, aus dem, was der Arzt errät und
dem Kranken sagt, und aus der Verarbeitung dessen, was er gehört
hat, von Seiten des Kranken. Der Mechanismus unserer Hilfeleistung
ist ja leicht zu verstehen; wir geben dem Kranken die bewusste Er¬
wartungsvorstellung, nach deren Ähnlichkeit er die verdrängte unbewusste
bei sich auffindet. Das ist die intellektuelle Hilfe, die ihm die Über¬
windung der Widerstände zwischen Bewusstem und Unbewusstem erleichtert.
Ich bemerke Ihnen nebenbei, es ist nicht der einzige Mechanismus,
der in der analytischen Kur verwendet wird; Sie kennen ja alle den
weit kräftigeren, der in der Verwendung der „Übertragung“ liegt. Ich
werde mich bemühen, alle diese für das Verständnis der Kur wichtigen
Verhältnisse demnächst in einer,, Allgemeinen Methodik der Psychoanalyse“
zu behandeln. Auch brauche ich bei Ihnen den Einwand nicht zurück¬
zuweisen, dass in der heutigen Praxis der Kur die Beweiskraft für die
Richtigkeit unserer Voraussetzungen verdunkelt wird; Sie vergessen
nicht, dass diese Beweise anderswo zu finden sind, und dass ein thera¬
peutischer Eingriff nicht so geführt werden kann wie eine theoretische
Untersuchung.
Lassen Sie mich nun einige Gebiete streifen, auf denen wir Neues
zu lernen haben und wirklich täglich Neues erfahren. Da ist vor allem
das der Symbolik im Traum und im Unbewussten. Ein hart bestrittenes
Thema, wie Sie wissen I Es ist kein geringes Verdienst unseres Kollegen
W. Stekel, dass er unbekümmert um den Einspruch all der Gegner
sich in das Studium der Traumsymbole begeben hat. Da ist wirklich
noch viel zu lernen; meine 1899 niedergeschriebene „Traumdeutung“
erwartet vom Studium der Symbolik wichtige Ergänzungen.
Über eines dieser neuerkannten Symbole möchte ich Ihnen einige
Worte sagen: Vor einiger Zeit wurde es mir bekannt, dass ein uns
ferner stehender Psychologe sich an einen von uns mit der Bemerkung
gewendet, wir überschätzten doch gewiss die geheime sexuelle Bedeutung
der Träume. Sein häufigster Traum sei, eine Stiege hinauf zu steigen,
und da sei doch gewiss nichts Sexuelles dahinter. Durch diesen Ein¬
wand aufmerksam gemacht, haben wir dem Vorkommen von Stiegen,
Treppen, Leitern im Traum Aufmerksamkeit geschenkt und konnten bald
feststellen, dass die Stiege (und was ihr analog ist) ein sicheres Koitus¬
symbol darstellt. Die Grundlage der Vergleichung ist nicht schwer
Die zukünftigen Chancen der psychoanalytischen Therapie.
3
aufzufinden; in rhythmischen Absätzen, unter zunehmender Atemnot
kommt man auf eine Höhe und kann dann in ein paar raschen Sprüngen
wieder unten sein. So findet sich der Rhythmus des Koitus im Stiegen¬
steigen wieder. Vergessen wir nicht den Sprachgebrauch heranzuziehen.
Er zeigt uns, dass das „Steigen“ ohne weiteres als Ersatzbezeichnung
der sexuellen Aktion gebraucht wird. Man pflegt zu sagen, der Mann
ist ein „Steiger“, „nachsteigen“. Im Französischen heisst die Stufe der
Treppe la raarche; „un vieux marcheur“ deckt sich ganz mit unserem
„ein alter Steiger“. Das Traummaterial, aus dem diese neu erkannten
Symbole stammen, wird Ihnen seinerzeit von dem Komitee zur Sammel¬
forschung über Symbolik, welches wir einsetzen sollen, vorgelegt werden.
Über ein anderes interessantes Symbol, das des „Rettens“ und dessen
Bedeutungswandel, werden Sie im zweiten Band unseres Jahrbuches
Angaben finden. Aber ich muss hier abbrechen, sonst komme ich
nicht zu den anderen Punkten.
Jeder einzelne von Ihnen wird sich aus seiner Erfahrung über¬
zeugen, wie ganz anders er einem neuen Falle gegenübersteht, wenn er
erst das Gefüge einiger typischer Krankheitsfälle durchschaut hat.
Nehmen Sie nun an, dass wir das Gesetzmässige im Aufbau der ver¬
schiedenen Formen von Neurosen in ähnlicher Weise in knappe Formeln
gebannt hätten, wie es uns bis jetzt für die hysterische Symptombildung
gelungen ist, wie gesichert würde dadurch unser prognostisches Urteil.
Ja, wie der Geburtshelfer durch die Inspektion der Placenta erfährt,
ob sie vollständig ausgestossen wurde oder ob noch schädliche Reste
zurückgeblieben sind, so würden wir unabhängig vom Erfolg und je¬
weiligen Befinden des Kranken sagen können, ob uns die Arbeit endgiltig
gelungen ist, oder ob wir auf Rückfälle und neuerliche Erkrankung
gefasst sein müssen.
b) Ich eile zu den Neuerungen auf dem Gebiete der Technik, wo
wirklich das meiste noch seiner definitiven Feststellung harrt, und
vieles eben jetzt klar zu werden beginnt. Die psychoanalytische Technik
setzt sich jetzt zweierlei Ziele, dem Arzt Mühe zu ersparen und dem
Kranken den uneingeschränktesten Zugang zu seinem Unbewussten zu
eröffnen. Sie wissen, in unserer Technik hat eine prinzipielle Wandlung
statt gefunden. Zur Zeit der kathartischen Kur setzten wir uns die
Aufklärung der Symptome zum Ziel, dann wandten wir uns von den
Symptomen ab und setzten die Aufdeckung der „Komplexe“ — nach
dem unentbehrlich gewordenen Wort von Jung — als Ziel an die
Stelle; jetzt richten wir aber die Arbeit direkt auf die Auffindung und
Überwindung der „Widerstände“ und vertrauen mit Recht darauf, dass
die Komplexe sich mühelos ergeben werden, sowie die Widerstände
erkannt und beseitigt sind. Bei manchem von Ihnen hat sich seither
das Bedürfnis gezeigt, diese Widerstände übersehen und klassifizieren
1*
4
Sigm. Freud,
zu können. Ich bitte Sie nun, an Ihrem Material nachzuprüfen, ob Sie
folgende Zusammenfassung bestätigen zu können: Bei männlichen
Patienten scheinen die bedeutsamsten Kur widerstände vom Yater-
komplex auszugehen und sich in Furcht vor dem Vater, Trotz gegen
den Vater und Unglauben gegen den Vater aufzulösen.
Andere Neuerungen der Technik betreffen die Person des Arztes
selbst. Wir sind auf die „Gegenübertragung“ aufmerksam worden,
die sich beim Arzt durch den Einfluss des Patienten auf das un¬
bewusste Fühlen des Arztes einstellt, und sind nicht weit davon,
die Forderung zu erheben, dass der Arzt diese Gegenübertragung in
sich erkennen und bewältigen müsse. Wir haben, seitdem eine grössere
Anzahl von Personen, die Psychoanalyse üben und ihre Erfahrungen
untereinander austauschen, bemerkt, dass jeder Psychoanalytiker nur
soweit kommt, als seine eigenen Komplexe und inneren Widerstände
es gestatten, und verlangen daher, dass er seine Tätigkeit mit einer
Selbstanalyse beginne, und diese, während er seine Erfahrungen an
Kranken macht, fortlaufend vertiefe. Wer in einer solchen Selbst¬
analyse nichts zustande bringt, mag sich die Fähigkeit, Kranke ana¬
lytisch zu behandeln, ohne weiteres absprechen.
Wir nähern uns jetzt auch der Einsicht, dass die analytische Technik
je nach der Krankheitsform und je nach den beim Patienten vorherrschen¬
den Trieben gewisse Modifikationen erfahren muss. Von der Therapie
der Konversionshysterie sind wir ja ausgegangen; bei der Angsthysterie
(den Phobien) müssen wir unser Vorgehen etwas ändern. Diese Kranken
können nämlich das für die Auflösung der Phobie entscheidende
Material nicht bringen, so lange sie sich durch die Einhaltung der
phobischen Bedingung geschützt fühlen. Dass sie von Anfang der Kur
an auf die Schutzvorrichtung verzichten und unter den Bedingungen
der Angst arbeiten, erreicht man natürlich nicht. Man muss ihnen
also so lange Hilfe durch Übersetzung ihres Unbewussten zuführen,
bis sie sich entschliessen können, auf den Schutz der Phobie zu ver¬
zichten und sich einer, nun sehr gemässigten, Angst aussetzen. Haben sie
das getan, so wird jetzt erst das Material zugänglich, dessen Beherrschung
zur Lösung der Phobie führt. Andere Modifikationen der Technik, die
mir noch nicht spruchreif scheinen, werden in der Behandlung der
Zwangsneurosen erforderlich sein. Ganz bedeutsame, noch nicht geklärte,
Fragen tauchen in diesem Zusammenhänge auf, inwieweit den bekämpften
Trieben des Kranken ein Stück Befriedigung während der Kur zu ge¬
statten ist, und welchen Unterschied es dabei macht, ob diese Triebe
aktiver (sadistischer) oder passiver (masochistischer) Natur sind.
Ich hoffe, Sie werden den Eindruck erhalten haben, dass, wenn
wir all das wüssten, was uns jetzt erst ahnt, und alle Verbesserungen
der Technik durchgeführt haben werden, zu denen uns die vertiefte
Die zukünftigen Chancen der psychoanalytischen Therapie. 5
Erfahrung an unseren Kranken führen muss, dass unser ärztliches
Handeln dann eine Präzision und Erfolgsicherheit erreichen wird, die
nicht auf allen ärztlichen Spezialgebieten vorhanden sind.
Ad 2. Ich sagte, wir hätten viel zu erwarten durch den Zuwachs
an Autorität, der uns im Laufe der Zeit zufallen muss. Über die Be¬
deutung der Autorität brauche ich Ihnen nicht viel zu sagen. Die
wenigsten Kulturmenschen sind fähig, ohne Anlehnung an andere zu
existieren oder auch nur ein selbständiges Urteil zu fällen. Die Autoritäts¬
sucht und innere Haltlosigkeit der Menschen können Sie sich nicht arg
genug vorstellen. Die ausserordentliche Vermehrung der Neurosen seit
der Entkräftung der Religionen mag Ihnen einen .Massstab dafür geben.
Die Verarmung des Ich durch den grossen Verdrängungsaufwand, den
die Kultur von jedem Individuum fordert, mag eine der hauptsächlichsten
Ursachen dieses Zustandes sein.
Diese Autorität und die enorme von ihr ausgehende Suggestion
war bisher gegen uns. Alle unsere therapeutischen Erfolge sind gegen
diese Suggestion erzielt worden; es ist zu verwundern, dass unter solchen
Verhältnissen überhaupt Erfolge zu gewinnen waren. Ich will mich nicht
soweit gehen lassen, Ihnen die Annehmlichkeiten jener Zeiten, da ich
allein die Psychoanalyse vertrat, zu schildern. Ich weiss, die Kranken,
denen ich die Versicherung gab, ich wüsste ihnen dauernde Abhilfe
ihrer Leiden zu bringen, sahen sich in meiner bescheidenen Umgebung
um, dachten an meinen geringen Ruf und Titel und betrachteten mich
wie etwa einen Besitzer eines unfehlbaren Gewinnsystems an dem Ort
einer Spielbank, gegen den man einwendet, wenn der Mensch das kann,
so muss er anders aussehen. Es war auch wirklich nicht bequem,
psychische Operationen auszuführen, während der Kollege, der die Pflicht
der Assistenz gehabt hätte, sich ein besonderes Vergnügen daraus machte,
ins Operationsfeld zu spucken, und die Angehörigen den Operateur be¬
drohten, sobald es Blut oder unruhige Bewegungen bei der Kranken gab.
Eine Operation darf doch Reaktionserscheinungen machen; in der
Chirurgie sind wir längst gewöhnt daran. Man glaubte mir einfach
nicht, wie man heute noch uns allen wenig glaubt; unter solchen Be¬
dingungen musste mancher Eingriff misslingen. Um die Vermehrung
unserer therapeutischen Chancen zu ermessen, wenn sich das allgemeine
Vertrauen uns zuwendet, denken Sie an die Stellung des Frauenarztes in
der Türkei und im Abendlande. Alles, was dort der Frauenarzt tun
darf, ist, an dem Arm, der ihm durch ein Loch in der Wand entgegen¬
gestreckt wird, den Puls zu fühlen. Einer solchen Unzugänglichkeit des
Objektes entspricht auch die ärztliche Leistung; unsere Gegner im
Abendlande wollen uns eine ungefähr ähnliche Verfügung über das
Seelische unserer Kranken gestatten. Seitdem aber die Suggestion
der Gesellschaft die kranke Frau zum Gynäkologen drängt, ist dieser
6
Sigm. Freud,
der Helfer und Retter der Frau geworden. Sagen Sie nun nicht,
wenn uns die Autorität der Gesellschaft zu Hilfe kommt und unsere
Erfolge so sehr steigert, so wird dies doch nichts für die Richtigkeit
unserer Voraussetzungen beweisen. Die Suggestion kann angeblich alles,
und unsere Erfolge werden dann Erfolge der Suggestion sein und nicht
der Psychoanalyse. Die Suggestion der Gesellschaft kommt doch jetzt
den Wasser-, Diät- und elektrischen Kuren bei Nervösen entgegen, ohne
dass es diesen Massnahmen gelingt, die Neurosen zu bezwingen. Es
wird sich zeigen, ob die psychoanalytischen Behandlungen mehr zu
leisten vermögen.
Nun muss ich aber Ihre Erwartungen allerdings wieder dämpfen.
Die Gesellschaft wird sich nicht beeilen, uns Autorität einzuräumen.
Sie muss sich im Widerstande gegen uns befinden, denn wir verhalten
uns kritisch gegen sie; wir weisen ihr nach, dass sie an der Ver¬
ursachung der Neurosen selbst einen grossen Anteil hat. Wie wir den
•einzelnen durch die Aufdeckung des in ihm Verdrängten zu unserem
Feinde machen, so kann auch die Gesellschaft die rücksichtslose Bloss¬
legung ihrer Schäden und Unzulänglichkeiten nicht mit sympathischem
Entgegenkommen beantworten; weil wir Illusionen zerstören, wirft man
uns vor, dass wir die Ideale in Gefahr bringen. So scheint es also,
dass die Bedingung, von der ich eine so grosse Förderung unserer
therapeutischen Chancen erwarte, niemals eintreten wird. Und doch ist
die Situation nicht so trostlos, wie man jetzt meinen sollte. So mächtig
auch die Affekte und die Interessen der Menschen sein mögen, das
Intellektuelle ist doch auch eine Macht. Nicht gerade diejenige, welche
sich zuerst Geltung verschafft, aber um so sicherer am Ende. Die ein¬
schneidendsten Wahrheiten werden endlich gehört und anerkannt, nachdem
die durch sie verletzten Interessen und die durch sie geweckten Affekte
sich ausgetobt haben. Es ist bisher noch immer so gegangen, und die un¬
erwünschten Wahrheiten, die wir Psychoanalytiker der Welt zu sagen
haben, werden dasselbe Schicksal finden. Nur wird es nicht sehr rasch
geschehen; wir müssen warten können.
Ad 3. Endlich muss ich Ihnen erklären, was ich unter der „All¬
gemeinwirkung“ unserer Arbeit verstehe, und wie ich dazu komme,
Hoffnungen auf diese zu setzen. Es liegt da eine sehr merkwürdige
therapeutische Konstellation vor, die sich in gleicher Weise vielleicht
nirgendwo wiederfindet, die Ihnen auch zunächst befremdlich erscheinen
wird, bis Sie etwas längst Vertrautes in ihr erkennen werden. Sie wissen
doch, die Psychoneurosen sind entstellte Ersatzbefriedigungen von Trieben,
deren Existenz man vor sich selbst und vor den anderen verleugnen
muss. Ihre Existenzfähigkeit ruht auf dieser Entstellung und Ver¬
kennung. Mit der Lösung des Rätsels, das sie bieten, und der Annahme
dieser Lösung durch die Kranken werden diese Krankheitszustände
Die zukünftigen Chancen der psychoanalytischen Therapie.
7
existenzunfähig. Es gibt kaum etwas ähnliches in der Medizin; in den
Märchen hören Sie von bösen Geistern, deren Macht gebrochen ist,
sobald man ihnen ihren geheim gehaltenen Namen sagen kann.
Nun setzen sie an die Stelle des einzelnen Kranken die ganze
an den Neurosen krankende, aus kranken und gesunden Personen be¬
stehende Gesellschaft, an Stelle der Annahme der Lösung dort die
allgemeine Anerkennung hier, so wird Ihnen eine kurze Überlegung
zeigen, dass diese Ersetzung am Ergebnis nichts zu ändern vermag.
Der Erfolg, den die Therapie beim einzelnen haben kann, muss auch
bei der Masse eintreten. Die Kranken können ihre verschiedenen
Neurosen, ihre ängstliche Überzärtlichkeit, die den Hass verbergen soll,
ihre Agoraphobie, die von ihrem enttäuschtem Ehrgeiz erzählt, ihre
Zwangshandlungen, die Vorwürfe wegen und Sicherungen gegen böse
Vorsätze darstellen, nicht bekannt werden lassen, wenn allen Angehörigen
und Fremden, vor denen sie ihre Seelenvorgänge verbergen wollen,
der allgemeine Sinn der Symptome bekannt ist, und wenn sie selbst
wissen, dass sie in den Krankheitserscheinungen nichts produzieren,
was die anderen nicht sofort zu deuten verstehen. Die Wirkung wird
sich aber nicht auf das — übrigens häufig undurchführbare — Ver¬
bergen der Symptome beschränken; denn durch dieses Verbergenmüssen
wird das Kranksein unverwendbar. Die Mitteilung des Geheimnisses
hat die „ätiologische Gleichung“, aus welcher die Neurosen hervor¬
gehen, an ihrem heikelsten Punkte angegriffen, sie hat den Krankheits¬
gewinn illusorisch gemacht, und darum kann nichts anderes als die
Einstellung der Krankheitsproduktion die endliche Folge der durch die
Indiskretion des Arztes veränderten Sachlage sein.
Erscheint Ihnen diese Hoffnung utopisch, so lassen Sie sich daran
erinnern, dass Beseitigung neurotischer Phänomene auf diesem Wege
wirklich bereits vorgekommen ist, wenngleich in ganz vereinzelten
Fällen. Denken Sie daran, wie häufig in früheren Zeiten die Halluzi¬
nation der heiligen Jungfrau bei Bauernmädchen war. So lange eine
solche Erscheinung einen grossen Zulauf von Gläubigen, etwa noch die
Erbauung einer Kapelle am Gnadenorte zur Folge hatte, war der
visionäre Zustand dieser Mädchen einer Beeinflussung unzugänglich.
Heute hat selbst die Geistlichkeit ihre Stellung zu diesen Erscheinungen
verändert; sie gestattet, dass der Gendarm und der Arzt die Visionärin
besuchen, und seitdem erscheint die Jungfrau nur sehr selten. Oder
gestatten Sie, dass ich dieselben Vorgänge, die ich vorhin in die Zu¬
kunft verlegt habe, an einer analogen, aber erniedrigten und darum
leichter übersehbaren Situation mit Ihnen studiere. Nehmen Sie an,
ein aus Herren und Damen der guten Gesellschaft bestehender Kreis
habe einen Tagesausflug nach einem im Grünen gelegenen Wirtshaus
verabredet. Die Damen haben miteinander ausgemacht, wenn eine von
8
Sigm. Freud,
ihnen ein natürliches Bedürfnis befriedigen wolle, so werde sie laut
sagen: sie gehe jetzt Blumen pflücken; ein Boshafter sei aber hinter
dieses Geheimnis gekommen und habe auf das gedruckte und an die
Teilnehmer verschickte Programm setzen lassen: Wenn die Damen auf
die Seite gehen wollen, mögen sie sagen, sie gehen Blumen pflücken.
Natürlich wird keine der Damen mehr sich dieser Verblümung bedienen
wollen, und ebenso erschwert werden ähnliche neu verabredete Formeln
sein. Was wird die Folge sein? Die Damen werden sich ohne Scheu
zu ihren natürlichen Bedürfnissen bekennen, und keiner der Herren
wird daran Anstoss nehmen. Kehren wir zu unserem ernsthafteren
Falle zurück. So und so viele Menschen haben sich in Lebenskonflikten,
deren Lösung ihnen allzuschwierig wurde, in die Neurose geflüchtet
und dabei einen unverkennbaren, wenn auch auf die Dauer allzu kost¬
spieligen Krankheitsgewinn erzielt. Was werden diese Menschen tun
müssen, wenn ihnen die Flucht in die Krankheit durch die indiskreten
Aufklärungen der Psychoanalyse versperrt wird? Sie werden ehrlich
sein müssen, sich zu den in ihnen rege gewordenen Trieben bekennen,
im Konflikt Stand halten, werden kämpfen oder verzichten, und die
Toleranz der Gesellschaft, die sich im Gefolge der psychoanalytischen
Aufklärung unabwendbar einstellt, wird ihnen zu Hilfe kommen.
Erinnern wir uns aber, dass man dem Leben nicht als fanatischer
Hygieniker oder Therapeut entgegentreten darf. Gestehen wir uns ein,
dass diese ideale Verhütung der neurotischen Erkrankungen nicht allen
einzelnen zum Vorteil gereichen wird. Eine gute Anzahl derer, die
sich heute in die Krankheit flüchten, würde unter den von uns an¬
genommenen Bedingungen den Konflikt nicht bestehen, sondern rasch
zugrunde gehen oder ein Unheil anstiften, welches grösser ist als ihre
eigene neurotische Erkrankung. Die Neurosen haben eben ihre bio¬
logische Funktion als Schutzvorrichtung und ihre soziale Berechtigung;
ihr „Krankheitsgewinn“ ist nicht immer ein rein subjektiver. Wer
von Ihnen hat nicht schon einmal hinter die Verursachung einer Neu¬
rose geblickt, die er als den mildesten Ausgang unter allen Möglichkeiten
der Situation gelten lassen musste? Und soll man wirklich gerade der
Ausrottung der Neurosen so schwere Opfer bringen, wenn doch die
Welt voll ist von anderem unabwendbarem Elend?
Sollen wir also unsere Bemühungen zur Aufklärung über den ge¬
heimen Sinn der Neurotik als im letzten Grunde gefährlich für den einzelnen
und schädlich für den Betrieb der Gesellschaft aufgeben, darauf ver¬
zichten, aus einem Stück wissenschaftlicher Erkenntnis die praktische
Folgerung zu ziehen? Nein, ich meine, unsere Pflicht geht doch nach
der anderen Richtung. Der Krankheitsgewinn der Neurosen ist doch
im ganzen und am Ende eine Schädigung für die einzelnen wie für
die Gesellschaft. Das Unglück, das sich infolge unserer Aufklärungs-
Die zukünftigen Chancen der psychoanalytischen Therapie.
9
arbeit ergeben kann, wird doch nur einzelne betreffen. Die Umkehr
zu einem wahrheitsgemässeren und würdigeren Zustand der Gesellschaft
wird mit diesen Opfern nicht zu teuer erkauft sein. Vor allem aber:
alle die Energien, die sich heute in der Produktion neurotischer Sym¬
ptome im Dienste einer von der Wirklichkeit isolierten Phantasiewelt
verzehren, werden, wenn sie schon nicht dem Leben zugute kommen
können, doch den Schrei nach jenen Veränderungen in unserer Kultur
verstärken helfen, in denen wir allein das Heil für die Nachkommenden
erblicken können.
So möchte ich Sie denn mit der Versicherung entlassen, dass
Sie in mehr als einem Sinne Ihre Pflicht tun, wenn Sie Ihre Kranken
psychoanalytisch behandeln. Sie arbeiten nicht nur im Dienste der
Wissenschaft, indem Sie die einzige und nie wiederkehrende Gelegenheit
ausnützen, die Geheimnisse der Neurosen zu durchschauen; Sie geben
nicht nur Ihrem Kranken die wirksamste Behandlung gegen seine
Leiden, die uns heute zu Gebote steht; Sie leisten auch Ihren Beitrag
zu jener Aufklärung der Masse, von der wir die gründlichste Prophylaxe
der neurotischen Erkrankungen auf dem Umwege über die gesellschaft¬
liche Autorität erwarten.
II.
Die psychische Behandlung der Trigeminusneuralgie.
Von Dr. Alfred Adler, Wien.
Die psychoanalytische Methode hat ihre strengen Indikationen und
verlangt, vielleicht mehr wie jede andere Methode, eine genaue Ab¬
grenzung ihres Arbeitsgebietes. Dass sie bloss für psychogene Erkran¬
kungen Geltung hat, ist von vorneherein verständlich. Ebenso darf die
Möglichkeit der psychischen Verarbeitung des gefundenen Materials
nicht durch intellektuelle Störungen des Patienten, durch Verblödung,
Schwachsinn, Delirien gestört sein. Ob und wieweit die Psychose durch
Analyse beeinflussbar ist, bildet heute noch eine offene Frage; sicherlich
aber ist sie der Analyse zugänglich, zeigt dieselben Grundlinien wie die
Neurose und kann für das Studium abnormaler psychischer Ein¬
stellungen wertvolle Dienste leisten.
Soll nun das Arbeitsgebiet der psychoanalytischen Methode voll
ausgenützt werden, so muss in erster Linie die Möglichkeit gegeben
sein, eine psychogene Krankheit zu erkennen.
Bezüglich der typischen Psychoneurosen, der Hysterie und der
Zwangsneurosen ist die wissenschaftliche Überzeugung von deren psycho¬
genem Ursprung so sehr gefestigt, dass Einwendungen zögernd und nur
von zwei Seiten aus erhoben werden. Man betont entweder den kon¬
stitutionellen Faktor und versucht alle Erscheinungen unter den
Gesichtspunkt der erblichen Degeneration zu bringen, funktionelle wie
psychische Erscheinungen in gleicher Weise, ohne den Übergang
aus der organischen M in der Wertigkeit zur neurotischen
Psyche ins Auge zu fassen. Dass dieser Übergang nicht un¬
bedingt eintreten muss, und wie andere Übergänge zum Genie»
zum Verbrechen, zum Selbstmord, zur Psychose führen,
habe ich vor längerer Zeit nachgewiesen 1 ). Und ich bin in dieser und
i) Adler, Studie über die Minderwertigkeit von Organen. 1907. Urban &
Schwarzenberg, Berlin.
Die psychische Behandlung der Trigeminusneuralgie.
11
anderen Arbeiten zu dem Schlüsse gelangt, dass eine angeborene Minder¬
wertigkeit von Drüsen- und Organsystemen zur neurotischen Disposition
führt, wenn sie sich psychisch geltend macht, d. h. wenn sie in dem
hereditär belasteten Kinde das Gefühl der Minderwertigkeit
gegenüber seiner Umgebung erzeugt 1 ). So können äussere
Degenerationszeichen, sobald sie zu Entstellungen und Hässlicheit Anlass
geben, oder wenn sie äusserlich sichtbare Signale tiefersitzender Organ¬
minderwertigkeiten sind und sich mit diesen verbinden — verbildete
Ohren mit angeborenen Gehörsanomalien, Farbenblindheit, Astigmatismus
oder andere Brechungsanomalien mit Schielen etc. — abgesehen von
ihren objektiven Symptomen ein Gefühl der Minderwertigkeit und Un¬
sicherheit in der Kindesseele hervorrufen. In der gleichen Weise wirken
andere Organminderwertigkeiten, insbesondere wenn sie das Leben nicht
bedrohen, sondern psychische Entwicklungsmöglichkeiten zulassen. Die
Rhachitis kann das Längenwachstum stören, zu auffallender Kleinheit
und Plumpheit Anlass geben; rhachitische Deformitäten — Plattfuss,
X- und O-Beine, Skoliose etc. — können sowohl die Beweglichkeit als
das Selbstgefühl des Kindes herabsetzen. — Ausfallserscheinungen
der Nebennieren, der Schilddrüse, des Thymus, der Hypophyse,
der inneren Genitalien, insbesondere die angeborenen Formen
leichter Natur, deren Symptome oft mehr den Tadel der Umgebung als
eine entsprechende Behandlung erfahren, werden nicht nur für die
organische, sondern vor allem für die psychische Entwicklung verhängnis¬
voll, indem sie das Gefühl der Zurückgesetzheit und Minderwertigkeit
wachrufen und unterhalten. So werden auch die exsudative Dia-
these, der Status lymphatico-thymicus und der asthenische
Habitus nach beiden Richtungen verderblich, ebenso der Hydro-
cephalus und leichte Formen von Schwachsinn. Angeborene
Minderwertigkeiten des Harn- und Ernährungsapparates
schaffen objektive Symptome 2 ) in gleicher Weise wie subjektive Gefühle
der Minderwertigkeit, oft auf dem Umweg über den Kindesfehler der
Enuresis, der Incontinentia alvi, oder weil die körperliche Not, Furcht
vor Strafe und Schmerzen, oft übertriebene Vorsicht beim Essen,
Trinken und Schlafen 3 ) gebieten.
1 ) Adler, Über neurotische Disposition. Jahrbuch Bleuler-Freud, 1909.
I. Bd. Leipzig, Deuticke.
2 ) Adler, Zur Ätiologie, Diagnostik und Therapie der Nepbrolithiasis. Wien,
klin. Wochenschr. XX. Jahrg. Nr. 49 und
Adler, Myelodysplasie oder Organminderwertigkeit? Wien. med. Wochenschr.
1 909. Nr. 45.
3 ) Jean Paul’s Scbmelzle schildert in ausgezeichneterWeise diese Furcht
vor der Nacht, weist die später zu besprechenden „Sicherungstendenzen“ auf und
lässt leicht die Minderwertigkeit des Harn- und Darmapparates erraten.
12
Dr. Alfred Adler,
Die Betrachtungen und Nachweise dieser Art, objektive und sub¬
jektive Ausstrahlungen der Organminderwertigkeit betreffend, scheinen
mir von grösster Wichtigkeit zu sein, denn sie zeigen uns die Ent¬
stehung neurotischer Symptome, insbesondere neurotischer
Charakterzüge aus den angeborenen Organminderwertigkeiten
und sind gleichermassen beweisend fiir die konstitutionelle Organminder¬
wertigkeit, wie für die psychogenen Faktoren als Quellen der Neurose.
Die normale Basis für diese gespannteren Beziehungen zwischen Orga¬
nischem und Psychischem ist leicht zu erkennen: sie findet sich in der
relativen Organminderwertigkeit des Kindes, auch des ge¬
sunden, gegenüber dem Erwachsenen und löst dort, wenn auch in
erträglicherem Masse, das Gefühl der Minderwertigkeit und Unsicherheit
aus, das bei fühlbarer absoluter Organminderwertigkeit zu den uner¬
träglichen Gefühlen der Minderwertigkeit führte, wie ich sie bei allen
Neurotikern gefunden habe. Das Kind ist unter allen Umständen
ein Gernegross und wird gerade von solchen Erfolgen phantasieren
und träumen, die ihm von Natur aus schwierig gemacht sind. Es wird
alles sehen wollen, wenn es kurzsichtig ist, alles hören wollen, wenn es
Gehörsanomalien hat, wird immer sprechen wollen, wenn Sprach-
schwierigkeiten oder Stottern vorhanden sind, und es wird immer
riechen wollen, wenn angeborene Schleimhautwucherungen, Septumdevi-
vationen oder adenoide Vegetationen das Schnuppern mit der Nase
behindern 1 ). Schwerbewegliche, plumpe Kinder werden zeitlebens den
Ehrgeiz haben, die ersten am Platz zu sein, ähnlich wie Zweit- und
Spätgeborene. Wer als Kind an Flinkheit zu wünschen übrig Hess,
wird stets von der Angst geplagt sein, sich zu verspäten und wird
leicht bei anderen Anlässen zum Hasten und Jagen gedrängt. Der
Wunsch zu fliegen wird am ehesten bei denjenigen Kindern ausgelöst,
die schon beim Springen grosse Schwierigkeiten vorfinden. Diese Gegen¬
sätzlichkeit der organisch gegebenen Beeinträchtigungen und der Wünsche,
i) Bei allen diesen Organminderwertigkeiten können durch „qu alif izierte
Minderwertigkeit“ abgeänderte oder feinere Funktionsleistungen, wertvolle
Steigerungen der Sinnesempfindungen oder erhöhte Empfindlichkeit, Kitzelgefühle in
der Fühlsphäre zu finden sein, — als abgeänderte Technik des minderwertigen
Organs. Der Fuss ist eine verkümmerte Hand, doch sind seine Mehrleistungen auf
der Erde evident. — Kitzelgefühle in der Nase, im Rachen und in den Luftwegen,
Verengerungen daselbst, Provokation von Sekretabsonderung durch verschärfte nasale
Inspiration (Riechenwollen) spielen beim nervösen Asthma und bei Nieskrampf,
wahrscheinlich auch beim Heuasthma, eine Hauptrolle. Eine schöne Schilderung
nervöser, nasaler Reizzustände und des sich daran knüpfenden Minderwertigkeits¬
gefühls finden wir in Viscliers Roman „Auch Einer“. Die sekundäre Verwendung
dieses „Fehlers“ zur Sicherung gegen die Ehe und gegen die Anknüpfung von
gesellschaftlichen und Sexualbeziehungen sind so korrekt geschildert, dass die An¬
nahme berechtigt ist, der geistreiche Philosoph habe diese Vorgänge der Wirklichkeit
abgelauscht.
Die psychische Behandlung der Trigeminusneuralgie.
13
Phantasien nnd Träume, den psychischen Kompensationsbestrebungen
also, ist eine derart durchgreifende, dass man daraus ein psycho¬
logisches Grundgesetz ableiten kann vom dialektischen
Umschlag aus der Organminderwertigkeit über ein sub¬
jektives Gefühl der Minderwertigkeit in psychische Kompen-
sations- und Über ko m pensati onsbestr ebungen.
Das äussere Gebaren und innere psychologische Verhalten des
also zur Neurose disponierten Kindes zeigt deutlich die Spuren dieses
dialektischen Umschlags, und zwar in verhältnismässig früher Kindheit.
Sein Verhalten, so verschieden es in jedem einzelnen Falle sein mag,
lässt sich dahin verstehen, dass es in allen Beziehungen seines Lebens
„auf der Höhe“ sein will. Ehrgeiz, Eitelkeit, alles verstehen
wollen, überall mitreden wollen, körperliche Kraft, Schönheit, Kleidung
betreffend, der erste in der Familie, in der Schule zu sein, die Auf¬
merksamkeit durch gute und böse Handlungen auf sich zu lenken,
charakterisieren die ersten Phasen seiner abnormalen Entwicklung.
Zeitweilig schlägt das Gefühl der Minderwertigkeit und Unsicherheit
durch und äussert sich in Angst und Schüchternheit, welche beide
als neurotische Charakterzüge fixiert werden können. Bei dieser Fixie¬
rung wird das Kind durch eine Tendenz geleitet, die dem Ehrgeiz nahe
verwandt ist: man darf mich nicht allein lassen, jemand (Vater,
Mutter) muss mir helfen, man muss mit mir freundlich, zärtlich
sein, (zu ergänzen: denn ich bin schwach, minderwertig) wird zum Leit¬
motiv seiner psychischen Regungen. Eine dauernd gereizte Über¬
empfindlichkeit, Misstrauen und Wehleidigkeit wachen darüber,
dass keine Zurücksetzung oder Beeinträchtigung Platz greifen
könne. Oder das Kind wird bis aufs Äusserste scharfsichtig, wird vor¬
empfindlich, indem es alle Möglichkeiten einer Zurück¬
setzung austastet, mit der bestimmten Absicht, sich davor zu sichern,
sei es durch aktives Eingreifen, positive Leistungen, Geistesgegenwart,
Schlagfertigkeit oder durch Anlehnung an einen Stärkeren, durch Wecken
des Mitleids und der Sympathie, durch Übertreibung etwaiger Leiden,
durch Hervorrufen oder Simulation von Krankheiten, von Ohnmächten
und Todeswünschen, die sich bis zu Selbstmordimpulsen verdichten
können, immer in der Absicht, das Mitleid wach zu rufen oder Rache
zu üben wegen einer Beeinträchtigung 1 ).
Denn auch Hass- und Rachegefühle lodern auf, Jähzorn
und sadistische Gelüste, Hang zu verbotenen Handlungen
und fortwährende Störungen der Erziehungspläne, auch durch
Indolenz, Faulheit und Trotz zeigen das disponierte Kind in seiner
Auflehnung gegen vermeintliche oder wirkliche Unterdrückung. Solche
0 Siehe Adler, Über den Selbstmord insbesondere im kindlichen Alter.
Wiener psychoanalytische Diskussionen. Bergmann, Wiesbaden 1910.
14
Dr. Alfred Adler,
Kinder machen aus dem Essen, Waschen, Ankleiden, Zähneputzen,
Schlafengehen und Lernen eine Affaire, lehnen sich gegen die Erinne¬
rungen zur Defäkation und zum Urinlassen auf oder arrangieren Zu¬
fälle, Erbrechen, wenn man sie zum Essen zwingt oder zum Gang in
die Schule drängt, Beschmutzungen auch mit Stuhl und Urin, Enuresis,
damit man sich immer mit ihnen beschäftigt, sie nicht allein, allein
schlafen lässt, allerlei Schlafstörungen, um Liebesbeweise zu provozieren,
ins Bett der Eltern genommen zu werden, kurz, um durch ihren
Trotz oder durch das Mitleid der Umgebung zur Geltung zu
kommen.
Meist liegen diese Tatsachen klar zutage und zeigen eine völlige
Übereinstimmung, ob man sie nun aus dem Leben und aus den Charakter¬
zügen des disponierten Kindes oder aus der Anamnese des Neurotikers
oder durch Aufhellung der Dynamik seiner Symptome gewinnt. Zuweilen
hat man es aber scheinbar mit „Musterkindern“ zu tun, die einen er¬
staunlichen Gehorsam zeigen. Gelegentlich verraten sie sich aber doch
auch durch einen unverständlichen Wutausbruch, oder es leitet ihre
Überempfindlichkeit, stete Gekränktheit, reichlich fliessende Tränen oder
Schmerzen ohne objektiven Befund (Kopfschmerzen, Bauchschmerzen,
Fussschmerzen, Migräne, übertriebene Klagen wegen Hitze, Kälte, Müdig¬
keit) auf die richtige Spur. Und man versteht dann leicht, dass hier
der Gehorsam, die Bescheidenheit, die ständige Bereit¬
schaft zur Unterwerfung nur zweckentsprechende Mittel sind, um
sich Geltung zu verschaffen und Belohnungen, Liebesbeweise zu erhalten,
ganz so, wie ich es in der Dynamik des Masochismus beim
Neurotiker zeigen konnte 1 ).
Eine Reihe von Erscheinungen beim disponierten Kinde muss ich
noch erwähnen, die sich enge an die vorher geschilderten anschliessen.
Sie verraten alle den Zug, durch trotziges Festhalten von ungehörigen
oder störenden Betätigungen den Erziehern Ärgernis zu bereiten und
die, wenn auch unwillige Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Hierher
gehören Neigungen, die etwas Spielhaftes an sich haben, wie: sich
taub, blind, lahm, stumm, ungeschickt, vergesslich, verrückt
zu stellen, zu stottern, zu grimmassieren, zu fallen, sich zu
beschmutzen. Auch normal veranlagte Kinder zeigen solche Anwand¬
lungen. Es gehört aber der krankhafte Ehrgeiz, der Trotz und Geltungs¬
drang des Disponierten dazu, um diese Spielereien und „Faxen“ länger
festzuhalten und auszunützen. Ebenso können solche Kinder in boshafter
und quälerischer Absicht, zuweilen freilich auch, um einer tyrannischen
Bedrückung zu entgehen, einmal erlebte oder beobachtete Krankheits¬
symptome oder Unarten (Heiserkeit, Husten, Nägelbeissen, Nasenbohren,
i) Der psychische Hermaphroditismus 1. c.
Die psychische Behandlung der Trigeminusneuralgie.
15
Daumenlutschen, Berührungen der Genitalien, des Afters etc.) festhalten
und oft lange Zeit ausüben. Ja auch die Schüchternheit und Angst
können aus diesen Zwecken fixiert und zu Nutzeffekten (um nicht allein
gelassen zu werden, um bedient zu werden) verwendet werden. Dabei
spielt regelmässig die Inanspruchnahme eines entsprechenden minder¬
wertigen Organs eine Rolle, wie ich es in der „Studie“ (1. c.) gezeigt habe.
Von allen diesen Eigenheiten des disponierten Kindes führen Über¬
gänge zu den Symptomen der Hysterie, der Zwangsneurose, der Unfall¬
neurose und -hysterie, der Neurasthenie, des Tic convulsif, der Angst¬
neurose und den scheinbar monosymptomatischen funktionellen Neurosen
(Stottern, Obstipation, psychischer Impotenz etc.), die ich nach meinen
Erfahrungen insgesamt als einheitliche Psychoneurose betrachten
muss. Was in der Kindheit von diesen Erscheinungen, ohne volles
Bewusstsein, auf Grund einer reflektorischen Einstellung
angenommen wird, um die Linie des geringsten Widerstandes für
den auf gespeicherten Aggressionstrieb zu gewinnen, wird
vorbildlich, freilich meist überbaut und reichlich ausgestaltet im Sym¬
ptom des Neurotikers. Wie weit dabei die erhöhte Suggestibilität
(Charcot, Strümpell), der hypnoide Zustand (Breuer), der halluzina¬
torische Charakter der neurotischen Psyche (Adler) in Frage kommt,
soll an dieser Stelle nicht weiter untersucht werden. Sicher ist, dass
der einzelne Anfall sowohl als auch die kontinuierlichen neurotischen
Symptome sowie der bleibende neurotische Charakter in gleicher Weise
unter dem Einfluss der untersuchten infantilen Einstellung zustande
kommen, einer Einstellung, die durch kindliche Wunschphantasien und
falsche Wertungen ins Abnorme geraten ist.
Die Wunschphantasien des Kindes haben aber keineswegs nur
platonischen Wert, sondern sind der Ausdruck eines psychischen An¬
triebs, der die Einstellung und damit die Handlungen des Kindes
unumschränkt diktiert. Die Intensität des Antriebs ist graduell ver¬
schieden, wächst aber bei den disponierten Kindern — ihr verstärktes
Minderwertigkeitsgefühl kompensierend — ins unermessliche. Die Analyse
fördert zunächst Erinnerungen an Geschehnisse („infantiles Erlebnis,
sexuelle Traumen“) zutage, bei denen das Kind eine bestimmte Stellung
eingenommen hat. Ich habe bereits im „Aggressionstrieb“ (1. c.) darauf
hingewiesen, dass „die Bedeutung des infantilen Erlebnisses in der
Richtung zu reduzieren sei, dass in ihm der starke Trieb und
seine Grenzen (als Wunsch und dessen Hemmung) zur
Geltung kommen“, ferner, dass der Zusammenstoss mit der Aussen-
welt, sei es in Form (dort: infolge) unlustbetonter Erfahrungen, sei es
infolge der Ausbreitung des Verlangens auf kulturell verwehrte Güter,
beim minderwertigen Organ mit unbedingter Gewissheit
erfolgt und die TriebverWandlung erzwingt.“ Die stärkere
16
Dr. Alfred Adler,
Triebausbreitung der disponierten Kinder geht dialektisch aus
dem Gefühl der Minderwertigkeit hervor, die Tendenz zur Über¬
windung von Schwächen, die Sehnsucht nach Triumpf liegt in den
Träumen und Wunschphantasien deutlich zutage, und die Einstellung
auf eine Heldenrolle ist der Versuch einer Kompensation.
In dieser tieferen neurotischen Schichtung deckt die Analyse
regelmässig sexuelle Wünsche und Regungen auf, die
deutlich inzestuöser Natur sind, nebenher aber auch Versuche
und Sexualbetätigungen, gegenüber familienfremden Personen. Man
wird diese Beobachtungen, die vor Freuds Analysen der
Kinderpsychologie unbekannt waren, der Annahme von
der unschuldsvollen Reinheit des Kindes auch in brüsker
Weise ein Ende machen, dennoch verstehen, wenn man sich
der oft tollen T rieb ausbreit ung erinnert, des kompensa¬
torischen Gegengewichts gegenüber dem Gefühl der Minder¬
wertigkeit beim disponierten Kinde. Auch in anderer Richtung als
der sexuellen macht sich diese Aufpeitschung des Trieblebens geltend.
Man erfährt von gesteigertem Fresstrieb, Schautrieb,
Schmutztrieb, von sadistischen und verbrecherischen
Neigungen, von Herrschsucht, Trotz, Jähzorn oder von
eifrigem Büch er lesen und ausserordentlichen Bestre¬
bungen sich irgendwie auszuzeichnen. Alle diese Tendenzen
werden erst ganz klar, wenn es gelingt, den Sinn der frühzeitig ge¬
weckten Sexualität und ihrer Manifestationen zu erfassen.
Dieser Sinn lautet: Ich will ein Mann sein. Und er setzt
sich bei Knaben wie bei Mädchen, vor allem bei disponierten Kindern,
in so greller Weise durch, so dass man von vorneherein zur
Vermutung gedrängt wird, diese Tendenz sei im Gegen¬
satz zu einer mit Unlustaffekt bedachten Empfindung,
nicht männlich zu sein, hervorgebrochen. Und in der
Tat zeigt sich die neurotische Psyche im Banne dieser
Dynamik, die ich als psychischen Hermaphrodit i smus
mit folgendem männlichen Protest beschrieben habe 1 ).
Mit der Fixierung des Gefühls der Minderwertigkeit bei disponierten
Kindern, das zur kompensatorischen Aufpeitschung des Trieblebens
Anlass gibt, ist so der Anfang gegeben zu jener eigenartigen Entwick¬
lung der Psyche, die im übertriebenen männlichen Protest endet. Diese
psychischen Vorgänge geben den Anstoss zu einer abnormalen Ein¬
stellung des Neurotikers zur Welt und prägen ihm — noch in verstärktem
Masse — Charakterzüge auf wie die vorher geschilderten, die sich
i) Adler, Der psychische Hermaphroditismus im Leben und in der Neurose.
Zur Dynamik und Therapie der Neurosen — Fortschritte der Medizin, Leipzig,
Thieme 1910, Heft 16.
Die psychische Behandlung der Trigeminusneuralgie.
17
weder aus dem Sexualtrieb, noch aus den Ichtrieben
allein ableiten lassen, sondern insgesamt als die Grössen¬
ideen des Neurotikers ins Auge fallen, zumeist den Sexualtrieb
modifizieren und hemmen, und sich oft dem Selbsterhaltungstrieb ent¬
gegenstemmen.
Dieser Gruppe von Charakterzügen gesellen sich andere bei, die
den Zusammenstoss der schrankenlosen Triebausbreitung mit kulturell
verwehrten Triebbefriedigungen als Schuldgefühle, Feigheit,
Unentschlossenheit, Zagheit, oder auch Furcht vor Blamage
und vor Strafe begleiten. Ich habe sie ausführlich in der
Arbeit „Über neurotische Disposition“ (1. c.) beschrieben. Recht häufig
findet man masochistische Regungen, übertriebenen
Hang zum Gehorsam, zur Unterwerfung und zur Selbst¬
bestrafung, und kann aus diesen Charakterzügen auf die psychische
Dynamik sowie auf die Vorgeschichte schliessen. Das stärkste Hemmnis
für die Triebausbreitung ist offenbar die Erreichung der Inzestregung.
Diese Konstellation wirkt als Memento und übernimmt fürderhin die
Aufgabe, den Sexualtrieb und die anderen Organtriebe mit Hemmungen
zu belasten. Der Neurotiker fühlt sich als Verbrecher,
wird äusserst gewissenhaft und gerechtigkeitsliebend,
seine Einstellung geschieht aber unter derFiktion, dass
er eigentlich böse, mit unbändiger Sexualität bedacht,
von schrankenloser Genusssucht erfüllt und jederMisse-
tat, insbesondere sexueller Art fähig, daher zu besonderer
Vorsicht verpflichtet sei.
Das Arrangement dieser Fiktion ist ersichtlich übertrieben und
dient der Hauptaufgabe des Neurotikers, sich zu sichern 1 ).
Die Sicherungstendenzen des Neurotikers helfen eine dritte Gruppe von
Charakterzügen aufbauen, die sämtlich dem Leitmotiv „Vorsicht“ an¬
gepasst sind. Misstrauen, Zweifelsucht springen wohl am deutlichsten
hervor. Aber ebenso regelmässig finden sich übertriebener
Hang zur Reinlichkeit und Ordnung, Sparsamkeit und
fortwährendes Prüfen von Menschen und Dingen, so dass
die Neurotiker meist nichts fertig bringen.
Alle diese Charakterzüge hemmen den Unternehmungsgeist und
schliessen sich so eng an die Zagheit infolge von Schuldgefühlen.
Alles wird voraus bedacht, alle Folgen werden in Erwägung
gezogen, immer ist der Neurotiker in gespannter Erwartung von
Möglichkeiten, und stets wird seine Ruhe von Vermutungen und Be¬
rechnungen des Kommenden gestört. Ein grossartiges Sicherungssystem
*) In dieser Hinsicht gleicht der Neurotiker jener Theaterfigur: „Wann ich
amol anfaug’! — Ich fang’ aber nicht an!“ Er fürchtet sich vor seinem eigenen
Tatendrang. S. auch „Zur neurotischen Disposition“ 1. c.
Zentralblatt für Psychoanalyse. I.
2
18
Dr. Alfred Adler,
durchzieht sein Denken und Handeln, zeigt sich regelmässig in
seinen Phantasien und Träumen, und wird recht häufig zu
Verstärkungen gezwungen: durch das Aufs teilen eines Memen¬
tos, durch das unbewusste Arrangement von Niederlagen,
Vergesslichkeit, Müdigkeit, Faulheit und schmerzhaften
Sensationen aller Art. Eine ungeheure Rolle spielt in
diesem Sicherungssystem die neurotische Angst, die in
den verschiedenartigsten Auspr ägungen, als Phobie,
Angsttraum, in der Hysterie und Neurasthenie direkt
oder indirekt („beispielsweise“) als Hemmung vor die Ag¬
gression sich stellt. Das Training aller dieser Sicherungstendenzen
fuhrt zuweilen eine erhebliche Steigerung des Ahnungsvermögens und
des Scharfblicks herbei, zumindest aber den Schein einer solchen Steige¬
rung, worauf die Annahme eigener telepathischer Fähigkeiten,
einer Art von Prädestination und suggestiver Kraft bei
manchen Neurotikern beruht. In diesem Punkte berühren sich Charakter¬
züge dieser Gruppe mit solchen der ersten, die aus Grössenideen
stammen, wie man andererseits die kompensa torische Aus¬
pr ägung der G rossen id een als Sicherung gegen das Gefühl
der Minderwertigkeit anzusehen gezwungen ist. — Ich habe
noch eine Anzahl anderer Sicherungen kennen gelernt, von denen ich
hervorheben will: Masturbation als Sicherung gegen den
Sexualverkehr und seine Folgen, desgleichen psychische
Impotenz, Ejaculatio praecox, sexuelle Anästhesie und
Vaginismus. In gleicher Weise erlangen Kinderfehler, funktionelle
Erkrankungen und Schmerzen eine sekundäre Verwendung und Fixie¬
rung, wenn sie geeignet sind, den Neurotiker in seinem Zweifel zu
bestärken und ihn von Betätigungen sexueller und kultureller Art
abzuhalten, Recht häufig bringt die Frage einer Eheschliessung
den Stein ins Rollen. Dann tritt die Sicherungstendenz bei den Dis¬
ponierten in krankhafter Weise hervor und arrangiert Warnungstafeln
oft auf entlegenen Gebieten, so dass der Sinn und Zusammenhang zu
fehlen scheint. Der Neurotiker aber handelt folgerichtig. Er fängt an,
die Gesellschaft zu meiden, legt sich allerlei Schranken auf, hindert
sich (durch Kopfschmerz z. B.) am Lernen und Arbeiten, malt sich die
Zukunft in den düstersten Farben, beginnt deshalb auch zu sparen
und lässt sich von einer geheimen Stimme warnen, die ihm zuraunt:
Wie kann ein Mensch wie du, mit solchen Fehlern und Mängeln, mit
solchen trüben Aussichten sich zu einer folgenschweren Tat entschliessen!
Insbesondere was als Neurasthenie herumläuft, ist voll
von solchen Arrangements und Sicherungs tendenzen,
die aber bei keiner Neurose fehlen und uns den Kranken auf der
Rückzugslinie zeigen.
Die psychische Behandlung der Trigeminusneuralgie. 19
Eine 4. Gruppe von verräterischen Zeichen einer neurotischen
Einstellung kommt dadurch zustande, dass wie bei Gruppe I die Tendenz
ein Mann zu sein in Handlungen, Phantasien, Träumen, oft in neben¬
sächlichen Details hervorbricht, aber in sexuellem Jargon redet. Ich
habe in meinen Arbeiten „über neurotische Disposition“ und über
„psychischen Hermaphroditismus“ (1. c.) ausführlicher darüber berichtet.
Es ist das Schicksal der Neurotiker, dass sie aus einer
Situation der Unsicherheit erwachsen sind, um nach
Sicherungen zu streben. Die gleiche Unsicherheit deckt die
Analyse bezüglich des Urteils über die eigene Geschlechtsrolle des
disponierten Kindes auf. Viele meiner männlichen Neurotiker hatten
in der Kindheit und oft über die Pubertät hinaus weibliche Gesichts¬
züge oder sekundäre Merkmale der Weiblichkeit, auf die sie nachträg¬
lich ihr Gefühl der Minderwertigkeit zurückführten. Oder sie zeigten
Anomalien der äusseren Genitalien, Kryptorchismus, Verwachsungen,
Hypoplasien und andere Wachstumsanomalien, auf die sie sich berufen
zu können glaubten. Photographien und Bilder aus den frühen Kinder¬
jahren haben mich darüber belehrt, dass auch das über Jahre aus¬
gedehnte Tragen von Mädchenkleidern, Spitzen, Halsbändern, dass
Locken und lange Haare das gleiche Gefühl der Unsicherheit und des
Zweifels bei Knaben hervorrufen konnten. In gleichem Sinne wirkt
die Beschneidung und Kastrationsdrohungen, sowie die Drohung vom
Abfallen und Verfaulen des Penis, wie sie bei kindlichen Masturbanten
'von den Erziehern angewendet werden. Denn des Kindes stärkste
Tendenz ist und bleibt ein Mann zu werden, und diese Sehnsucht
symbolisiert sich ihm in dem grossen Penis des Erwachsenen, des
Vaters. Nun findet sich die gleiche Sehnsucht bei den Mädchen, bei
denen vielleicht regelmässig ein Gefühl der Minderwertigkeit gegenüber
den Knaben zu einer kompensatorischen männlichen Einstellung drängt.
Nach und nach zerfällt den disponierten Kindern die ganze Welt der
Begriffe, ja alle Beziehungen der Gesellschaft in männliche und weib¬
liche. Und stets drängt der Wunsch darnach, die männliche, die
Heldenrolle zu spielen, sei es auch, wie bei den Mädchen, oft mit den
sonderbarsten Mitteln. Jede Form von Aktivität und Aggression,
Kratt, Reichtum, Triumpf, Sadismus, Ungehorsam und Verbrechen
werden fälschlich als männlich gewertet, ganz so wie in der Gedanken¬
welt der meisten Erwachsenen. Als weiblich gilt das Dulden, Warten,
Leiden, Schwäche und masochistische Regungen, die nie als
Endziel aufgefasst werden dürfen, wenn sie sich in der
Neurose durchsetzen, sondern stets nur — als Pseudo¬
masochismus — den Weg zum männlichen Triumpf, zur
Geltungssucht der I. Gruppe ebnen sollen. Die begleitenden
Charakterzüge dieser Gruppe sind solche des männlichen Protestes,
2 *
20
Dr. Alfred Adler,
zwangsmässige Übertreibungen des sexuellen Fühlens und Wollens, exhibi-
tionistische und sadistische Regungen, sexuelle Frühreife und Zwangs¬
onanie, Nymphomanie, Abenteurerlust, starke sexuelle Begehrlichkeit,
Narzissismus und Koketterie. Gleichzeitig auftretende weibliche Phan¬
tasien (Schwangerschafts-und Geburtsphantasien, masochistische Regungen
und Minderwertigkeitsgefühle) dienen als Memento zur Verstärkung des
männlichen Protestes oder zur Sicherung gegen die Folgen desselben,
oft nach der Wiedervergeltungsformel: „Was du nicht willst, das man
dir tu’, das füg’ auch keinem andern zu!“ 1 ) — Der Begriff des Zwanges
wird ausserordentlich erweitert und auch der blosse Schein desselben
unter stetem Kämpfen energisch abgewehrt, so dass ganz normale Be¬
ziehungen wie Liebe, Ehe, aber auch jede andere Einfügung als un¬
männlich d. h. weiblich empfunden und verworfen werden. Mit den
ersten Sexualerkenntnissen beginnt bei den disponierten Kindern der
männliche Protest sich in männliche Sexual wünsche zu verkleiden, legt
bei Mädchen und Knaben den Grund zur Inzestphantasie
mit der Mutter, damit bei Mädchen zu homosexuellen
Regungen, oder bedient sich homosexueller Bilder und
Wünsche bei Knaben, um die Überwältigung des Vaters
geistig und körperlich anzudeuten. Unverträglichkeit des
Mädchens mit der Mutter, des Sohnes mit dem Vater deutet nicht
in erster Linie auf gegengeschlechtliche Inzestphantasien, sondern
umgekehrt auf Sicherungstendenzen gegen passiv-homosexuelle Trieb¬
richtung als einem Ausdruck der Weiblichkeit. Die Eroberung des
gegengeschlechtlichen Elternteils dagegen wird als männliche Regung
empfunden, gleichwohl aber unter Gewissensregung und Schuldgefühl
gehemmt.
So bietet der Neurotiker eine bedeutende Anzahl von Cha¬
rakterzügen, die untereinander Zusammenhängen, sich fördern oder
hemmen und einen Schluss auf seine abnorme Einstellung zu¬
lassen, sich in letzter Linie auf Übertreibungen und
falsche Wertungen männlicher u nd we i blicher Züge zurück-
i) In einem Falle von Asthma nervosum bei einem Manne, der nun durch
die Psychoanalyse seit längerer Zeit von Anfällen frei ist, traten bewusste Schwanger¬
schaftsphantasien auf, sobald Patient an ein Unternehmen gehen wollte. Diese
Schwangerschaftsphantasien, mit Oppressionsgefühlen in der Brust verbunden, liefen
in Grössenideen aus: er wurde Millionär, der Wohltäter, der Retter des Landes usw.
Dabei hastiges Atmen wiebei einem Wettlauf. Die dynamische Bedeutung
der Schwangerschaftsphantasie war der Hinweis auf das Dulden und Leiden des
Weibes, ein Selbstvorwurf und zugleich Aufstachelung: ,,Du bist ein Weib! Es ge¬
schieht dir recht, wenn du duldest!“ Daraufhin der männliche Protest. — Eine ver¬
stärkende Hilfskonstruktion bediente sich der Schwangerschaftsphantasie und des
asthmatischen Leidens in der Art einer vorausgesandten Busse. Nun
durfte er ein Mann sein und gegen jemanden feindlich auftreten.
Die psychische Behandlung der Trigeminusneuralgie.
21
führen lassen. Wenn wir der obigen Aufstellung einen Vorwurf
machen können, so ist es der, dass sie allzu schematisch ist, die über¬
reichlichen Verbindungen der einzelnen Charakterzüge lange nicht er¬
schöpfen kann und nur einen Teil, vielleicht den wesentlichen aus der
Charakterologie des Neurotikers gibt. Immerhin habe ich mich
überzeugt, dass von dieser Seite her die Prüfung auf den
Bestand einer psychogenen Erkrankung zw T eckmässig ist
u n d g e 1 i n g t. Und wenn ich mich nunmehr dem aufgeworfenen Problem
zuwende, ist die Trigeminusneuralgie eine psychogene Er¬
krankung? so kann ich dies auf Grund gleichlautender Resultate be¬
jahen. Der psychische Aufbau und die psychische Dynamik der Trige¬
minusneuralgie ist in den von mir untersuchten 3 Fällen so einheitlich
und ergibt die geschilderten Charakterzüge so deutlich, dass auch ein
Hinweis auf die geringe Kasuistik sich von selbst erledigt. Und was
gleichfalls für unsere Frage von grosser Bedeutung ist: nicht bloss die
Erkrankung an Trigeminusneuralgie folgt den oben geschilderten Grund¬
linien der Neurose, sondern jeder einzelne Anfall stellt sich
anstatt eines psychischen Geschehens ein. Ich will versuchen,
diese Beziehungen der neurotischen Psyche und des neurotischen Cha¬
rakters zur Erkrankung und zum Anfall auseinanderzusetzen.
Der Patient Baron 0. v. St., ein 26 jähriger Staatsbeamter, kam
zu mir mit der Mitteilung, dass man ihm wegen einer Trigeminus¬
neuralgie eine Resektion vorgeschlagen habe. Die Erkrankung dauerte
bereits 1 */2 Jahre, war eines Nachts auf der rechten Seite aufgetreten
und zeigte sich seither in täglich mehrmaligen heftigen Anfällen. Seit
einem Jahre sei er gezwungen, etwa jeden 3.—4. Tag bei besonders
heftigen Schmerzen eine Morphiumeinspritzung zu machen. Dabei sei
jedesmal Erleichterung eingetreten. Er habe verschiedene Behandlungen
durchgemacht, medikamentöse mit Akonitin, Wärme- und elektrische
Prozeduren, alle ohne Erfolg. Auch zwei Alkoholinjektionen habe er
erhalten, die den Schmerz namhaft steigerten. Ein längerer Aufent¬
halt im Süden habe ihm einige Erleichterung gebracht, doch habe er
auch dort täglich Anfälle gehabt. Derzeit sei er durch die unaufhörlichen
Anfälle ganz entmutigt und sei, um seine Karriere nicht opfern zu
müssen, zur Operation entschlossen. Nur weil ihm der gewissenhafte
Chirurg sichere Heilung nicht in Aussicht stellen konnte, wolle er mich
auch um meinen Rat fragen.
Ich hatte zu dieser Zeit bereits umfangreiche Erfahrungen über
die psychische Genese neuralgischer Anfälle und der Trigeminusneuralgie
gesammelt und konnte dabei auch Beobachtungen aus älterem Material
nachträglich verwerten. Die einheitliche Formel, zu der ich durch
Analyse und durch den Vergleich der einzelnen Anfälle gekommen war,
lautete: die Trigeminusneuralgie sowie die einzelnen An-
22
Dr. Alfred Adler,
fälle treten regelmässig auf, wenn sich im Unbewussten
der Affekt der Wut an ein Gefühl der Zurückgesetztheit
anknüpft 1 ). Mit dieser Konstatierung hatte ich die Möglichkeit, die
abnormale psychische Einstellung der Patienten mit Trigeminusneuralgie
verstehen zu lernen und die davon abhängigen Krankheits¬
erscheinungen als Äquivalente von Affektvorgängen zu
erkennen. Der massgebende Eindruck ergibt sich aus der bald ge¬
wonnenen Tatsache, dass der Patient die Herabsetzung er¬
wartet, auf sie lauert, dass er den Begriff der Herab¬
setzung ganz ungeheuer erweitert, und dass er — bei
mancher Neurose mehr, bei mancher weniger — zuweilen
Herabsetzungen sucht und solche arrangiert, — um
daraus die Überzeugung abzuleiten, er müsse sich
sichern, denn man würdige ihn nicht, er sei ein Pech¬
vogel usw. Diese Einstellung ist die allgemein neurotische
und durchaus nicht für Trigeminusneuralgie charakteristisch. Reduziert
man sie und führt man sie auf die kindliche pathogene Situation
zurück, so erkennt man deutlich den psychischen Habitus des
disponierten Kindes: ein Gefühl der Minderwertigkeit,
kompensiert durch den männlichen Protest. Die Analyse
förderte die Elemente dieser Situation zutage:
I. Kryptorchismus — die Entdeckung desselben bei sich selbst
— das Gefühl der Minderwertigkeit und die Unsicherheit, ob er mit
diesem Defekt ein ganzer Mann werden könne. Dazu Erinnerungen aus
dem 6.—8. Lebensjahre an sexuelle Attacken auf Mädchen in der
Absicht, Aufklärungen über den Geschlechtsunterschied zu gewinnen.
Affektvolle Erinnerung an Kinderspiele, in denen Patient ein Held,
zumindestens aber ein General oder der Vater des Hauses war, was in
diesem Falle zusammenfiel.
II. Scheinbare oder wirkliche Bevorzugung des um 5 Jahre jüngeren
Bruders, der im Schlafzimmer der Eltern schlafen durfte. Dazu Er¬
innerungen des Patienten an Versuche, auch ins Schlafzimmer der
Eltern zu gelangen. Um dies zu erreichen, boten sich dem Patienten
in seiner Kindheit mehrere Mittel. Erstens Angst, Angst vor dem allein-
sein, die er gelegentlich so deutlich zu äussern vermochte (Pavor
nocturnus), dass ihn die Mutter zu sich nahm. Zweitens Gehörs¬
halluzinationen, die auch Angst auslösen konnten (Angst als
Sicherung), Geräusche, die er auf Einbrecher (Vater) bezog, immer aus
der Richtung des Schlafzimmers kommend, so dass er nachsehen ging.
— (Versuch zur Lösung des Geschlechtsproblems bei den Eltern). An
dieser Stelle fügt sich auch das Generalspiel, den Vater spielen, gut ein
i) S. die Formulierung im „Aggressionstrieb“ 1. c.
Die psychische Behandlung der Trigeminusneuralgie.
23
als männlicher Protest gegen seine Unsicherheit in seiner Geschlechts¬
rolle, ebenso wie Inzestphantasien gegen die Mutter, letztere allerdings
erst aus Traumanalysen während der Kur. Der Sinn dieses kindlichen
Gebahrens, der häufigste Ausweg aus der pathogenen kindlichen Situation,
spricht nun mit grosser Deutlichkeit: „Ich fühle mich unsicher, ich
bin nicht auf der Höhe, habe keine genügende Geltung (siehe die Bevor¬
zugung des Bruders), man muss mir helfen, ich will wie der Vater
werden, ich will ein Mann sein." Als Gegensatz zu einer — wie man
sieht — falschen Wertung ist notwendig zu denken: „ich will kein
Weib sein!" — Denn der Gedanke: „ich will ein Mann sein," ist für
das Kind nur haltbar und gestützt durch den Gegengedanken: „ich
könnte auch ein Weib sein" „oder ich will kein Weib sein". 1 ) — Ein
drittes Mittel um die Bevorzugung des Bruders wett zu machen, den
Vater zu imitieren, um Gleichberechtigung zu erlangen, und um seine
Geschlechtsrolle vertreten zu lernen und sich dadurch seine Männlich¬
keit zu sichern, — was alles seine Sehnsucht nach dem Schlafzimmer
der Eltern begreiflich macht, — bot sich im Kranksein, insbesondere
bei Schmerzen. Die Analyse förderte, wie so häufig, Erinnerungen
an wirkliche Schmerzen zutage, an Übertreibungen und Simulation von
solchen. Unser Interesse wendet sich der Art der Schmerzen zu: es
handelte sich fast regelmässig um Zahnschmerzen. An diesem
Punkte der Analyse hat man zum ersten Male das Gefühl, dem Ver¬
ständnis näher gerückt zu sein, wie so i n d iesem Falle di e Neurosen¬
wahl auf Trigeminusneuralgie fiel. Patient war ein kräftiger,
gesunder Junge, der kaum andere Schmerzen kannte, als Zahnschmerzen,
allerdings aber auf andere Schmerzen aufmerksam wurde, als seine
Mutter den jungen Bruder gebar, nämlich auf Geburtsschmerzen.
Diese Erfahrung muss in die Zeit seiner Unsicherheit gefallen sein und
seinen Antrieb ein Mann zu sein, verstärkt haben. Wir aber werden
zur Annahme gedrängt, dass es im Leben des Patienten eine Phase
gegeben hat, in der er eine Identifizierung vornahm: Schmerz —
Gefühl der Minderwertigkeit — Weib.
Nun liegt die Dynamik seiner pathogenen kindlichen Situation
bloss: Die Möglichkeit, eine minderwertige, schmerzvolle, 2 ) w r eibliche
J ) Unter den neueren Psychologen ist Julius Pikier von ganz andern Ge¬
sichtspunkten ausgehend zu ähnlichen Ergebnissen bezüglich der „Gegensätzlich-
keit im Denken“ gekommen.
2 ) Die Erfahrung, dass die Frau unter Schmerzen gebäre, wirkt auf die dis¬
ponierten Kinder regelmässig in der Richtung einer Verstärkung des Antriebs, ein
Mann zu werden. Tn der Neurose werden reichliche, arrangierte und aggravierte
Schmerzen als Memento gesucht, um die Sicherungstendenzen gegen Herabsetzung
(= Weiblichkeit) zu verstärken. So lassen sich die Schwangerschafts-, Geburts¬
phantasien und -träume männlicher und weiblicher Neurotiker als Vorhalt verstehen,
als auf dem Wege der Sicherung gelegen, zur Verhütung einer Niederlage (Nieder-
Dr. Alfred Adler,
21
Rolle spielen zu müssen, hat dialektisch zu Übertreibungen seines
männlichen Protestes geführt. Hier sind noch anzureihen: Trotz und
Starrsinn, an die sich seine Mutter noch mit Schaudern erinnert.
Von den mannigfachen Beziehungen, die dem kindlichem Trotz Gelegen¬
heit zur Betätigung geben, habe ich bereits das Essen, Waschen,
Zähneputzen und Schlafengehen erwähnt. Es ist nun im
höchsten Grade auffallend, dass alle Patienten mit Trigeminusneuralgie,
deren ich mich entsinne, in Einklang mit den Schilderungen der Autoren
die meisten Anfälle beim Essen, Waschen, Zähneputzen und Schlafen¬
gehen erlitten Oft treten Anfälle beim Schlucken ein. Die Analyse
ergibt eine Anlehnung an den Begriff des „Herunterschluckens“ in über¬
tragenem Sinne. Ebenso Anfälle bei Kälte. Mein Patient hatte sich
bald nach Ausbruch seiner Erkrankung aufs Land zu seiner Mutter
zurückgezogen und so die alte Sehnsucht seiner Kindheit gestillt. Die
Mutter übertrieb ihre Sorgsamkeit und Liebe für den kranken Sohn,
überwachte ängstlich seine Speisen und sorgte stets für warmes Wasch¬
wasser. Wenn er während der Kur in Wien speisen musste, bekam er
heftige Schmerzen, an den Tagen, wo er zuhause ass, blieben sie aus.
Als er so weit war, dass er wieder ins Amt gehen konnte, musste er
in Wien Wohnung nehmen. Als er sich am ersten Tage in seiner neuen
Wohnung mit kaltem Wasser wusch, kam noch einmal ein Anfall.
Eine andere Reihe von Anfällen hing mit seiner Geltungssucht
in der Gesellschaft zusammen. Dabei konnten Anfälle auftreten
auf wirkliche, auf vermeintliche oder auf befürchtete Herabsetzungen
hin. Er musste immer die erste Rolle spielen, vertrug es nicht, wenn
er gelegentlich aus der Unterhaltung ausgeschaltet war, oder wenn er
Gespräche anderer Personen nicht hören konnte. Man erkennt leicht
das Schema aus der kindlichen pathogenen Situation: Vater und Mutter,
daneben er als minderwertige Person. Das Symptom der Gesellschafts¬
und Platzangst bei andern Neurotikern, wo die Sicherung durch
die Angst bewerkstelligt wird, gelegentlich auch durch Erbrechen,
Migräne etc., und wo in gleicher Weise Furcht vor Herabsetzung
den Patienten leitet, ist in unserem Falle durch die Anfälle ersetzt,
kunft?). Es ist, als ob sich der Neurotiker diese ersten Eindrücke der Unsicherheit
immer wieder vor Augen führte („du bist schon einmal vor der Möglichkeit einer
Niederlage, vor der Möglichkeit ein Weib zu werden, gestanden“), um sich vor
weiteren Herabsetzungen zu behüten, um sich scharf zu machen und sich den (männ¬
lichen) Triumpf zu sichern. Ich habe behauptet, dass jeder Traum (wahr¬
scheinlich auch jedeHalluzination) diese zentrale Tendenz enthält,
von der weiblichen Linie zur männlichen abzurücken, ebenso dass der
Ehrgeiz des Künstlers und sein geistiges Training aus dem psychischen Hermaphrodi¬
tismus herzuleiten sind. Freud ist der Aufdeckung dieser Dynamik in seiner
Studie über Leonardo wohl mit Unrecht ausgewichen. Die dort erwähnte Kind¬
heitserinnerung ist deutlich als eine weibliche zu erkennen.
Die psychische Behandlung der Trigeminusneuralgie.
25
und man kann in anderen Fällen von Trigeminusneuralgien finden,
wie sich die Kranken von jeder Gesellschaft abzuschliessen
versuchen, allerdings unter Berufung auf die Schmerzen.
In meinen anderen Fällen waren der Erkrankung an Trigeminusneuralgie
andere Symptome vorausgegangen, wie Migräne, Üblichkeiten, allgemeine,
scheinbar rheumatische Schmerzen *), Ischias, Erröten und Blutwallungen
gegen das Gesicht. 1 2 )
In diesen die Anfälle auslösenden Dreieckssituationen spielen bei
unserem Patienten sexuelle Bedingungen hervorragend mit. Sein sexuelles
Verhalten ist vollkommen normal und befriedigend. Doch ist es ein
auffallender Zug bei ihm, der für eine ganze Reihe von Neurotikern
typisch ist, dass für ihn die Liebesleidenschaft nur dann stark wird,
sobald ein Rivale vorhanden ist, d. h. sobald die Liebe sich
an den männlichen Zug des Rauhens und Raufens anschliessen kann.
Dieser Charakterzug zieht sich durch sein ganzes Liebesieben und
spiegelt sichtlich die Dreiecksstellung aus der kindlichen pathogenen
Situation wieder. Als er im Süden weilte, lernte er ein Mädchen
kennen, um das er sich bewarb, bis er wahrnahm, dass ihre Mitgift
gering sei. Dies genügte, um ihn entsagen zu lassen; doch wurde seine
Liebe in dem Momente wieder aufgepeitscht, als ein anderer als Be¬
werber auftrat. In dem Masse nun, als seine Liebe wuchs, stellten sich
wieder heftigere Schmerzen ein. So, wenn er die beiden allein
sah, wenn das Mädchen dem anderen zulächelte usw. —
Auch während der Kur konnten wir einzelne Anfälle auf dieses Ver¬
hältnis beziehen, z. B. wenn er Schmerzen bekam, als er in den Briefen
des Mädchens las, sie habe sich in einer Gesellschaft gut unterhalten.
Eine Zahl von Anfällen hing mit der Zeit der Briefübernahme zusammen,
wo Gedanken auftauchten, warum das Mädchen solange nicht
geschrieben habe, dass sie sich gewiss mit anderen unter¬
halte etc. — Auch Tagträume und Phantasien traten auf, das Mädchen
erst heiraten zu lassen und dann zum Ehebruch zu verleiten. Dieser
Charakterzug war allerdings kurz vor seiner Erkrankung durch einen
1) Vgl. Henschens Theorie vom rheumatischen Ursprung der Trigeminus¬
neuralgie.
2 ) Die Fälle von Trigeminusneuralgie im Alter, insbesondere bei weiblichen
Personen, sind besonders kompliziert, insbesondere durch wirkliche und vermeintliche
Zurücksetzungen, an denen das Alter die Schuld trägt. Dass unsere Gesellschaft
die alternde Frau unmenschlich behandelt, ist eines der traurigsten Kapitel unserer
Kultur. Bei meinen Patientinnen lösten Teilnahmslosigkeit, Furcht vor Spott, vor
Bevorzugung anderer Personen, der Spiegel, die Kleiderwahl (ob man sie nicht aus¬
lachen könnte), und Geldausgaben, die ihre Ingerenz verringern, sie arm machen
könnten, Anfälle aus. Ebenso Liebesbeziehungen und eheliche Verbindung ihrer
Söhne, der Gedanke, mit anderen weiblichen Personen sich in der Liebe eines Sohnes
teilen zu müssen.
26
Dr. Alfred Adler,
bemerkenswerten Vorfall verstärkt worden. Während einer
kleinen Reise hatte ein Kollege eine Geliebte des Patienten verführt.
Er brütete Mord und Totschlag. In diese von Affekt erfüllte Phase fiel
ein anderes Ereignis. Er hatte zu bemerken geglaubt, dass ihm die
Frau eines Vorgesetzten Avancen mache. Aber auch der Gatte scheint
dies bemerkt zu haben und begann ihn im Amte zu drangsalieren.
Um seine Karriere nicht zu verderben, fügte er sich unter fortwährenden
heimlichen Revolten. In der Nacht, bevor sein Vorgesetzter
von einem Urlaub zurückkehren sollte, brach der erste
Anfall seiner Trigeminusneuralgie mit solcher Heftigkeit los,
dass er tobte und schrie und sich erst nach einer Morphium inj ektion ein
wenig beruhigen konnte. Er betrat am nächsten Tage das Amt nicht
wieder und nahm einen Krankheitsurlaub, um sich behandeln zu lassen.
Bei allen Ärzten, auch bei mir, betonte er den Wunsch, wieder bald
ins Amt zurückkehren zu können. Man versprach ihm, alles Mögliche
aufzubieten. Insbesondere die Alkoholinjektion sollte ihn sofort arbeits¬
fähig machen. Wir sahen mit welchem Erfolge. Wir wissen aber auch
warum sie verschlechternd wirkte: sein wahres, unbewusstes
Streben ging dahin, nicht arbeitsfähig zu werden, nicht
ins Amt zurückkehren zu müssen 1 ). Nur ein Gedanke liess sich
nicht verdrängen, der Gedanke als Mann, als Sieger aus seiner Situation
hervorzugehen, und er dachte diesen Gedanken im unverfälschten Sinne
der kindlichen pathogenen Situation: „Ich will zur Mutter!“ —
Bei ihr erst besserte sich sein Zustand ein wenig, er erholte sich, nicht
ohne vorher durch gehäufte Anfälle insbesondere beim Essen die Lebens¬
gefährlichkeit seiner Erkrankung, den drohenden Hungertod zu demon¬
strieren und so seine Mutter durch Angst und Schrecken noch ge¬
fügiger zu machen.
Die Analyse eines Traumes aus der Kur zeigt die wichtigsten
Bedingungen seiner unbewussten falschen Einstellung und seiner Neurose.
Er träumte:
„Ich befinde mich nackt bei einer Geliebten im
Zimmer. Sie beisst mich in den Schenkel. Ich schreie
auf und erwache mit einem heftigen Anfall meiner
N eu ralgie.“
Die Vorgeschichte dieses Traumes ereignete sich am Vorabend
und war folgende: Patient hatte aus Graz eine Ansichtskarte erhalten, auf
der sich neben anderen Unterschriften der Name seines Bruders und
des im Traume erwähnten Mädchens befanden. Beim Abendessen
schmeckte ihm nichts, und er hatte einen leichten Anfall. Zum Traum
i) Man beachte an dieser Stelle die Übereinstimmung mit der Dynamik
der Unfallsneurose und -hysterie, die ja gleichfalls nur bei Disponierten
auftritt.
Die psychische Behandlung der Trigeminusneuralgie.
27
erzählte er: Das Mädchen sei einige Zeit seine Geliebte gewesen. Doch
sei er ihrer bald überdrüssig geworden und habe sich von ihr gänzlich
losgesagt. Vor kurzer Zeit sei sein Bruder mit ihr bekannt geworden.
Er habe ihn gewarnt — wie die gemeinsamen Unterschriften zeigten,
ohne Erfolg. Dies verdriesse ihn um so mehr, als er auf den Bruder
sonst grossen Einfluss habe, und, seit der Vater gestorben war, sozu¬
sagen dessen Stelle vertrete.
„Nackt.“ Er habe eine Abneigung, sich vor Mädchen zu ent-
blössen. Besonders vermeide er, seine Genitalien zu zeigen. Dies hänge
ganz bestimmt mit seinem Kryptorchysmus zusammen.
„Sie habe ihn in den Schenkel gebissen“ 1 ). Dazu bloss der
Einfall: das Mädchen habe allerlei perverse Einfälle gehabt, ihn auch
gebissen. Die teilweise suggestive Frage: ob er schon einmal gehört
habe, dass jemand in den Schenkel gebissen worden sei, beantwortet
er mit dem Hinw r eis auf die Storchfabel.
„Ich schreie auf.“ Dies täte er bei heftigen Anfällen. Dann
komme seine Mutter sofort aus dem Nebenzimmer, um ihn zu trösten,
eventuell ihm eine Morphiuminjektion zu geben.
Wir meinen, die Traumdeutung sei durchsichtig genug, und dies
enthebt uns weitläufiger synthetischer Erörterungen. Er beantwortet
ein Gefühl der Zurücksetzung mit einem Gedankengang, der ihm einen
Anfall einträgt, ihn aber sein symbolisches Ziel erreichen lässt: zur
Mutter zu kommen. Mit anderen Worten, er verwandelt sich
aus einem Weib (er wird gebissen) in einen Mann. Dabei
muss auch sein unmännliches Stigma fallen, der Kryptorchismus, und
nun darf er sich nackt zeigen. Er ist ein Mann, braucht sich vor
niemandem zu beugen, auch im Amte nicht, aber nur auf dem Umwege
über die Schmerzen. Und er sichert sich dieses Gefühl der
männlichen Überlegenheit — ganz wie in der kindlichen
pathogenen Situation — durch Schmerzen 2 ).
1) Dem erfahrenen Analytiker wird diese Stelle keine Schwierigkeiten machen.
Wir haben es mit einem Patienten zu tun, dessen Krankheit danach an¬
getan ist, ihn den Schmerz fürchten zu lassen. Andere Erkundungen der
Analyse ergaben seine frühe Kenntnis des Schmerzes beim Gebären. Und dieser
Schmerz wurde ihm in der Kindheit wohl plausibel gemacht durch die Wendung:
der Storch hat die Mutter ins Bein gebissen. „Sie habe ihn in den Schenkel ge¬
bissen“ 1 heisst hier so viel als: sie habe ihn zum Weib degradiert, durch
das Verhältnis mit dem Bruder zurückgesetzt. — Ähnlich bei Neuro¬
tikern: von Hunden, von Insekten gebissen werden.
2 ) d. h. mit scheinbar ,,weiblichen“ Mitteln. Ich habe auf diesen Mechanismus
schon hingewiesen, der natürlich leicht verleiten kann, die Neurose im Ganzen als
„weibliche Darbietung“ auffassen zu wollen. Eine Betrachtung der neurotischen
Dynamik lässt diesen Irrtum nicht aufkommen. „Weibliche“ Endziele sind
ebenso wie „masochistische“ unhaltbar und werden in der Neurose
28
Dr. Alfred Adler,
So deutlich wie in diesem Fall findet man in anderen Träumen
den Übergang aus dem Gefühl der unterliegenden Weiblichkeit zum
männlichen Protest nicht immer. Insbesondere verleitet der Schein
leicht zur Annahme primärer homosexueller Regungen.
Die männliche Rolle d e s Neur otikers beiderlei Geschlechts,
im Leben und im Traume, erklärt sich durch den männ¬
lichen Protest. Handelt es sich um Rivalen des gleichen
Geschlechts, so wird der Sieg oft durch einen Sexualakt
symbolisiert, in dem der Neurotiker, im Traum oder in der
Phantasie, irgendwie eine männliche Rolle spielt. — Das
Problem des aktiven Homosexuellen ist nach meiner Erfahrung in gleicher
Weise aufzufassen; nur wird dabei der Sexualtrieb direkt (und nicht sym¬
bolisch) in den Dienst der Herrschsucht, des männlichen Protestes gestellt.
Aber auch der Homosexuelle kommt aus einer Phase der Unsicherheit seiner
Geschlechtsrolle zur Inversion. — Der passive Homosexuelle arrangiert
vielmehr seinen Umfall ins Weibliche, um sich hinterher scharf zu
machen, sich Geltung zu verschaffen durch Eifersüchteleien, Eroberungen
oder — Erpressungen x ). — Anderseits ist das Grundproblem, in der
Neurose und im Traum, der Ausgangspunkt des psychischen Herm¬
aphroditismus mit folgendem männlichen Protest dadurch verwischt,
dass man es meist mit Bruchstücken aus dieser psychischen Dynamik
zu tun hat, zu der man sich die Ergänzungen erst suchen muss.
Die Behandlung ging unter einem günstigen Stern vor sich. Andere
Kuren waren erfolglos geblieben, unterdess ging aber viel Zeit vorbei,
und die Karriere des Patienten wurde immer mehr bedroht. Dazu
kamen günstige Aussichten des Patienten, in ein anderes Amt versetzt
zu werden, was seinem Gefühl der Beeinträchtigung gegenüber jenem
Vorgesetzten gewiss Erleichterung verschaffte. Die Psychoanalyse schloss
mit einem vorläufigen Erfolge ab, der nun schon einige Monate währt.
Der gewesene Patient übt seine Tätigkeit in einem neuen Bureau aus und
wohnt getrennt von der Mutter. Seine Freunde und Bekannten drücken
öfters ihr Erstaunen darüber aus, dass seine frühere Heftigkeit, Hast
und aufbrausende Natur sich so ganz gewandelt habe, dass er ruhiger
und gefügiger geworden sei und die Beziehungen im Amte nicht mehr
nur vorgeschoben, sind „weibliche“ Mittel zum „männlichen“ Protest. In
einigen Fällen von psychisch erlm potenz konnte ich den Mangel an Erektions¬
fähigkeit aus der Einstellung auf Trotz und überstiegene Männlich¬
keit ableiten und zur Heilung bringen.
i) Ganz so wie der früher erwähnte Masochist, der durch Unterwerfung um
Liebe, d. h. in seinem Sinne um Geltung wirbt, die Sexualerregung der Frau hervor-
rufen will. Von hier zweigt eine Reihe von Perversionen ab, wie Fellatio-, Urin-
und Schweissfetischismus etc., wo es sich darum handelt, durch auffällige Über¬
schätzung der umworbenen Person deren Liebesleidenschaft zu erregen
und damit über sie zu siegen.
Die psychische Behandlung der Trigeminusneuralgie.
29
als Zwang empfinde. Für uns hat dies die besondere Bedeutung: dass
seine frühere falsche Einstellung eine Korrektur erfahren
hat, die nicht nur die früheren Anfälle, sondern auch andere Formen
der Neurose auszuschliessen vermag.
Die beiden anderen Fälle betrafen Patientinnen jenseits des Kli¬
makteriums, setzten heftig in einer Situation der Herabsetzung ein,
waren aber ebenfalls seit der Kindheit disponiert. Organminderwertig¬
keit, das Gefühl der Minderwertigkeit und der männliche Protest ergaben
sich in beiden Fällen analog der ersten Krankengeschichte. Ihr ganzes
Leben war unter dem Wunsch verflossen: ich will ein Mann sein, und
die Zurückführung auf eine Unsicherheit in der Geschlechtsrolle in der
Kindheit war leicht ersichtlich. Im ganzen waren aber die Zusammen¬
hänge verwickelter und die Anlässe zu den Anfällen häufiger, weil es
sich um weibliche Personen einer höheren Altersstufe handelte. Die
Aussicht auf Verwirklichung irgend eines männlichen Protestes schien
gering, sich zu fügen war keiner der Patientinnen leicht. Immerhin
bewirkte die Kur eine starke Herabsetzung der Anfälle nach Zahl und
Stärke, hob den Lebensmut in auffälliger Weise, und ich erwarte be¬
stimmt, in beiden Fällen durchzudringen.
Dies das Material, das ich zum Beweise des psychogenen Ursprungs
der Trigeminusneuralgie derzeit vorlegen kann, und ich empfehle die
Prüfung jedes Falles nach diesen Gesichtspunkten der Charakterologie.
Ich will nicht leugnen, dass gelegentlich ein Fall Vorkommen kann,
dessen Ätiologie in pathologisch-anatomischen Veränderungen liegt. Aber
sein Verlauf müsste anders sein, als der der uns geläufigen Fälle, ins¬
besondere dürfte die Auflösung des Anfalles in ein psychisches Ge¬
schehen nicht gelingen. Auch der Mangel der angegebenen Charakterzüge
würde bald auf die richtige Spur leiten.
Die zweite mit der psychogenen Theorie der Neurosen rivalisierende
Annahme — die toxische Grundlage der Neurosen— kann ich
mit dem gleichen Hinweis erledigen: die psychische Auflösbarkeit der
Symptome widerstreitet ihr vollkommen. Wo sich Toxine welcher Art
immer bei Neurosen oder Psychosen vorfinden, können sie nur wirksam
werden durch die Verschärfung des aus der Kindheit stammenden
Minderwertigkeitsgefühls 1 ) und folgende Aufpeitschung des männlichen
Protests. Sie können also nur die Neurose bei Disponierten wecken,
indem sie das Gefühl der Herabsetzung wachrufen, in gleicher Weise
wie es der Unfall tut, sofern er zur Unfallneurose Anlass gibt.
i) Erweckung eines Krankheitsgefühls und Aufdeckung von Insuffizienzen.
III.
Zur Psychologie des hysterischen Bladonnenkultus.
Von Dr. Oskar Pfister, Pfarrer in Zürich.
Nur ein Stücklein Kärrnerarbeit möchte ich vorlegen. Vielleicht
gibt ihr gerade die Kleinheit einigen Reiz. Die grossen Meister¬
analysen, wie wir sie von Freud zu empfangen gewohnt sind, über¬
zeugen nur den, den aber auch vollständig, der sich in der psychoana¬
lytischen Technik eine bedeutende Gewandtheit errungen hat. Viele
auf umfassende Studien gegründete Untersuchungen, wie z. B. Rank’s
Abhandlung über den Mythus von der Geburt des Helden, oder
Stekels neueste Beiträge zur Traumdeutung gewinnen ebenfalls nur
den, der über eine Fülle ähnlicher Erfahrungen verfügt. Die Reich¬
haltigkeit der für die Deutung massgebenden assoziierten Einfälle
verbietet ihre vollzählige Mitteilung. Dem unkundigen Schwätzer bleibt
daher das wohlfeile Vergnügen, über die gewonnenen Ergebnisse ebenso
zu spotten, wie der hinterpommersche Tagelöhner die Existenz fliegender
Fische verlacht. Vielleicht ist dem lernbereiten Gegner der Psycho-
analytik mit einer schlichten Kasuistik vor der Hand besser gedient,
als mit schwierigen Fällen, die nur den Kenner entzücken.
Nur unter diesem Gesichtspunkte wage ich es, den folgenden
schlichten Fall, dessen Analyse eine einzige Sitzung in Anspruch nahm,
der Öffentlichkeit anzuvertrauen.
Ein Jahr vor unserer näheren Bekanntschaft klagte mir ein
18 jähriger Holländer, dass er an heftigen Schmerzen, Zuckungen und oft
an förmlicher Lähmung des rechten Armes leide, so dass ihm Schreiben
und Klavier spielen grossenteils versagt seien. Das Leiden sei „nervös“.
Auf Befragen gab er zu, dass er an schwerer Gemütsverstimmung
leide. Das Problem des Selbstmordes beschäftige ihn lebhaft, besonders
seitdem er Goethes „Werther“, Ibsens „Gespenster“ und einige ähn¬
liche düstere Literaturwerke gelesen habe. Doch wollte er keinen Selbst-
Zur Psychologie des hysterischen Madonnenkultus. 31
mordimp alsen unterworfen sein, was sich später als unwahre Behauptung
herausstellte.
Mein Anerbieten, zur Überwindung der seelischen Not behilflich
zu sein, fand kein williges Gehör. ,,Ich will versuchen, mit mir selbst
fertig zu werden“, lautete die Entgegnung. In der Tat quälte er sich
ein volles Jahr vergeblich ab. Das Aussehen war oft beunruhigend,
die Arbeitsfähigkeit sank gelegentlich für einige Wochen auf den Null¬
punkt. Trotzdem wies der Kranke die Bemühungen seines vertrauten
Seelsorgers, sich von mir analysieren za lassen, rundweg ab und entzog
sogar dem innig verehrten Mann einen Teil seines Vertrauens.
Endlich benutzte ich einen Misserfolg, den sich der Patient durch
sein krankhaftes Wesen zuzog, ihn schriftlich zur Analyse einzuladen.
In der Tat nahm er mein Anerbieten an. Dem Brief, in welchem er
seinen Besuch ankündigte, entnehme ich folgende Stellen:
,,Ich gestehe offen, dass es wirklich in meinem Innern nicht
aussieht, wie es aussehen sollte, und ich einfach keine Befriedigung,
keinen Trost bei meiner jetzigen Religion finde. Und woher sollte ich
denn sonst meinen innern Frieden schöpfen? Aus der Liebe? Aus
der Musik? Der Literatur? Der Arbeit? Überall habe ich gesucht,
aber immer noch kämpft etwas in meinem Innern und lässt mich nicht
ruhen.
Schon lange hätte ich mich von Herzen gern jemandem anvertraut;
doch man verlangt von mir eine vertrauensvolle Aussprache dessen,
was mich bedrückt. Aber was mich eigentlich so presst und plagt,
das — weiss ich selbst nicht, sonst hätte ich ja gewiss schon dagegen
gekämpft. Und eben aus dem Grunde, weil ich meine Ängste selbst
nicht kenne, habe ich mich noch niemandem ganz anvertraut.
0 dass ich beten könnte! Ich fühle, dass ich allein nur fraglich
wieder zu einer inneren Harmonie gelangen kann, und wenn Sie sich
wirklich mit mir abgeben wollten, so bin ich Ihnen von ganzem Herzen
dankbar und will Ihnen mein volles, unbedingtes Vertrauen schenken.“
Wirklich gelang es dem Jüngling, seiner Widerstände gegen
Analyse und Analytiker Herr zu werden. Die Exploration vom Symptom
aus ging mit solcher Leichtigkeit von statten, dass die umständlichere,
wenn auch bei schwereren Fällen meistens unvermeidliche, jedenfalls
aber viel tiefer eindringende Widerstandsanalyse, bei welcher der Ana¬
lytiker seinem Patienten den Lauf des Gespräches fast ganz überlässt,
umgangen werden konnte.
Der Kranke gab an, dass er vor zwei Jahren Goethes Werther
las, ohne den Grund seiner Lektüre zu kennen, wie er sofort spontan
hinzufügte. Kurze Zeit später brachen einerseits heftige Schmerzen
aus, die, beim Oberarm beginnend, den ganzen Arm durchzuckten,
32
Br. Oskar Pfister,
andererseits Selbstmordimpulse, die ohne die Liebe zu den Eltern sich
wohl in einer Tat der Verzweiflung entladen hätten.
Selbstverständlich fand sich jener dunkel geahnte Grund der
Identifikation mit dem leidenden Werther in einem unglücklichen
Liebesverhältnis. Seit etwa 5 Jahren unterhielt der Jüngling platonische
Beziehungen zu einem gleichaltrigen Mädchen, das ihn mächtig anzog
und beglückte, aber auch durch Launen und angeblich übertriebene
Zurückhaltung erzürnte. Beständig schwankte er zwischen freudvoll
und leidvoll sein umher. Auf Zerwürfnisse, in denen das Dämchen
seine Liebe optima forma auf kündigte, folgten süsse Versöhnungen.
Die Wertherstimmung ging aus einer endgültigen Ablösung hervor,
die nach der Behauptung des Analysanden daraus entsprungen war,
dass das junge Mädchen, als es zu einem gemeinsamen Spaziergang
mit dem Geliebten Gelegenheit hatte, sich auf unzärtliche und feige
Weise zurückzog. Die Selbstmordimpulse entsprachen somit der ero¬
tischen Stauung.
Todessehnsucht und Ablehnung des Suicidiums schlossen ein
Kompromiss in zahlreichen Träumen, in denen der Lebensmüde ohne
eigene Schuld ums Leben kam, z. B. aus dem Fenster stürzte. Der
erotische Hintergrund ist aus dem typischen Symbol des Fallens noch
deutlich kennbar.
Während Patient die Schuld des Bruches auf die verabschiedete
Freundin schob, verschwieg er das eigentliche Motiv und die brennende
Selbstanklage. Erst die Analyse entlockte ihm das Geständnis, dass
einige Kameraden ihm vorgehalten haben, jenes Mädchen besitze zu
wenig Anmut und zu geringe Talente, er dürfe weit höhere Ansprüche
erheben usw. Die ängstliche Haltung der einst so heiss Begehrten
rechtfertigte ihre schroffe Ablehnung so wenig, dass er sich der Un¬
ritterlichkeit bezichtigen musste. Zu stolz, die abgeschnittenen Fäden
wieder anzuknüpfen, entsagte er innerlich der Liebe zu einem Mädchen
überhaupt und ergab sich dem Weltschmerz. Als Rächerin des ge¬
kränkten Amor stellte sich alsbald die Hysterie ein.
Die Analyse der Schmerzen im Arm kam rasch zustande. Das
Symptom ins Auge fassend, erinnerte sich der junge Mann, dass ihn
der Vater bei einem Schmerzausbruch „in merkwürdig sanftem Ton“
gefragt habe, was ihm fehle. Damit verriet der Explorand seinen
Vaterkomplex, der ihn jedenfalls häufig zur Hervorbringung des Sym¬
ptoms veranlasste, um Teilnahme zu erpressen.
In zweiter Linie erinnerte sich der Patient, während sich unan¬
genehme Innervationen im Arm einstellten, an eine Szene, die er mit
seinem geschätzten Musiklehrer erlebt hatte. Dieser sagte ihm nämlich
vor mehreren Jahren wiegen schlechter Armhaltung beim Klavierspiel:
Zur Psychologie des hysterischen Madonnenkultus.
33
„Ich hätte dich nicht für so ungeschickt gehalten“, wodurch sich der
angehende Künstler in seinem Ehrgefühl verletzt glaubte.
Endlich kam auch das massgebende Trauma zum Vorschein:
Sieben Jahre vor der Analyse hatte der Analysand eines Tages mehrere
Mädchen, die auf einer Mauer sassen, verjagt, indem er sie mit
Sternchen bewarf, und sich selbst hinaufgesetzt. Nach einer Weile
wollte er noch mehr Sternchen holen, fiel aber dabei so unglücklich,
dass er das Schlüsselbein brach. Das Einziehen gelang erst am dritten
Tage unter heftigen Schmerzen.
Dieses Geständnis macht uns begreiflich, warum der Bruch mit
der Freundin die hysterischen Phänomene im Arm hervorrief. Jener
bekannte Identifikationsprozess, der sich in die Formel: „Es ist wieder
wie damals“ fassen lässt, kam zustande. Hatte der elfjährige Knabe
seine Schmerzen im Arm als eine gerechte Züchtigung für seine Un¬
ritterlichkeit gegen das schöne Geschlecht angesehen — der Unfall hat
offenbar bereits den Sinn einer unabsichtlichen, wenn auch unterschwellig
gewollten Selbstbestrafung—, so sah sich der 16 jährige Jüngling erst recht
vor dem Richterstuhl seines Gewissens als unritterlich und brutal ge¬
brandmarkt. Die Erinnerung an das frühere Gottesgericht trat nicht
klar ins Bewusstsein. Allein das Bedürfnis nach Sühne, das dem
Treulosen mehr zu schaffen gab, als der Verlust des einst geliebten
Mädchens, leistete sich Genugtuung durch Erzeugung des schmerzhaften
Konversionssymptoms, das sich folglich auch hier als Wunscherfüllung
zu erkennen gibt. Auf Selbstanklage deutet auch die Erinnerung an
den Klavierlehrer, die besagen will: „Auch du warst kein Virtuos; wie
könnte dir also die Talentlosigkeit deiner Freundin ein Recht geben,
sie wegzujagen? Du bist ebenso im Unrecht, wie jenesmal bei dem
Mäuerchen, als dich das Gericht ereilte.“ Die Hysterie repräsentiert folg¬
lich ebenso den Sühnekomplex, wie das Angstsymptom die Verrammelung
der Erotik.
Kurze Zeit nach dem Beginn der Selbstmordimpulse und der
physischen Begleiterscheinungen, die sich, wie wir wissen, bis zur
Lähmung steigerten, kam es zum Bruch mit dem Glauben an Gott.
Diesem hatte er früher für seine Liebe zur Freundin heiss gedankt. Da
sich das Geschenk als Täuschung erwies, musste auch der Geber fallen —
ein psychologischer Vorgang, der sich nicht selten beobachten lässt,
wo die erotische Störung zum Verzicht auf jegliche zur Ehe hinzielende
Liebe führt.
Wiederum nach Verlauf einer kurzen Spanne Zeit zerfiel der
Jüngling innerlich mit dem Vater, der übrigens seinem Liebesverhältnis
wenig gewogen gewesen war. Wenn nämlich der bedrängte Sohn durch
Andeutungen seines Lebensüberdrusses sich gelegentlich Luft machte,
so geriet der Vater in schreckliche Aufregung, nannte den Selbstmord
Zentralblatt für Psychoanalyse. I. 3
34
Dr. Oskar Pfister,
krankhaft und unvernünftig, ein Zeichen von mangelndem Gottesglauben
und sittlicher Haltlosigkeit. Als einziges Heilmittel wusste er die Arbeit
und das Gebet zu empfehlen.
Es ging beinahe ein Jahr vorüber, da kamen dem jungen Atheisten,
den sein Unglaube vollends niederdrückte, einige herrliche Madonnen¬
bilder in die Hände. Der Eindruck war so übergewaltig, dass er als¬
bald zu Maria zu beten begann. Sein gut reformiertes Gewissen, das
durch den begeisternden Einfluss seines an kritischer Schärfe ebenso
wie an Gemüt hervorragenden Religionslehrers ausgebildet war, be¬
schwichtigte er durch einen Fehlschluss: Da er kein Christ mehr sei
und an keinen Gott mehr glaube, so brauche er sich keine Vorwürfe
zu machen, wenn er nun sogar zur himmlischen Jungfrau sein Herz
erhebe. Kurz vor dieser Sublimierung hatte ihn die Schwester der
früheren Freundin überaus artig gegrüsst, wobei ihm die Ähnlichkeit
der beiden auffiel und die edle Gesinnung des Mädchens eine geheime
Sehnsucht einflösste, die Begierde nach einer idealen Schwester der
verlorenen Braut.
In dieser Madonnenverehrung manifestieren sich ebensosehr der
Vater- als der Mutter- und der Brautkomplex. Die Sehnsucht nach
der idealen Jungfrau tritt an die Stelle der Neigung zur früheren Ge¬
liebten. Maria, die herrliche, reine, makellose zu lieben, unterlag nicht
der Gefahr späterer Enttäuschung und unzarter Einmischung von seiten
des Vaters und der Freunde. Die Gottesmutter bot ferner mit ihrer
grenzenlosen Liebe zum missverstandenen, leidenden Sohn einen Ersatz
für die eigene Mutter, die den Ton liebevollen Trostes vermissen liess.
Endlich aber vertrat die Himmelskönigin göttliche Herrlichkeit, ohne
doch den fatalen Vaternamen zu tragen oder sonstwie an den herben,
verständnislosen Vater zu erinnern. Im Hintergrund steckte natürlich
auch die Lust, durch fromme Madonnenverehrung am Erzeuger, durch
katholischen Kultus am streng protestantischen Vater sich zu rächen.
So repräsentiert Maria die Geliebte, doch ohne leibliche und
geistige Mängel, sie vertritt die Mutter, doch ohne menschliche Kurz¬
sichtigkeit, sie ersetzt den irdischen und himmlichen Vater, doch ohne
quälende Strenge.
Welch reichen Ersatz die göttliche Jungfrau dem zerrütteten
Hysteriker bot, beweist folgendes Vorkommnis. Als die Schmerzen
unerträglich wurden, fühlte sich der Kranke zur Reise nach Einsiedeln
gezwungen. Er tritt vor den berühmten Altar der Maria und will seine
Andacht verrichten, da ist mit einem Schlag der Schmerz verflogen.
Kein Wunder! Der Leidende hat ja die Geliebte wiedergefunden,
und zwar als gnadenreich vergebende. Seine Selbstanklagen sind damit
grundlos geworden, er ist nicht mehr der Unritterliche, der die Ge¬
liebte roh im Stiche liess.
Zur Psychologie des hysterischen Madonnenkultus.
35
Dass die Sublimierung trotzdem missglückte, beweisen die bald
wieder zurückkehrenden physischen und psychischen Beschwerden. Müh¬
sam schleppte sich der Jüngling durchs Leben, seine Leistungen erlitten
wesentliche Einbusse.
Mehr als ein halbes Jahr blieb er unter dem Bann der Madonna.
Da verliebte er sich in ein junges Mädchen, dem er bezeichnenderweise
sofort von seinen Selbstmordgedanken Kenntnis gab. Die sublimierte
libido, welche die Stauung der primären Erotik in himmlische Höhen
emporgetrieben hatte, strömte dem neuen Objekt zu, und für Maria
blieb nur ein bescheidenes Wohlwollen ohne nennenswerte Temperatur
übrig.
Dagegen blieb das Verhältnis zum Vater stets gespannt. Der
nach Verständnis lechzende Sohn fühlte sich unbefriedigt. Deshalb war
auch eine herzliche Stellung zu Gott als dem himmlichen Vater un¬
möglich. Wie es in solchen Fällen zu geschehen pflegt, konstruierte
sich der Schmollende allerlei Einwände gegen Gottes Dasein und ver¬
schanzte sich hinter die Unergründlichkeit der Gottesidee, war aber
von der Stichhaltigkeit seiner Einwände selbst wenig überzeugt und litt
unter der inneren Öde, die wir ihn in seinem Briefe schildern hörten.
Gelegentlich, so auch vor der Analyse, betete er zu einer höheren
Macht, die er aber um keinen Preis Gott nennen wollte. Meine Aufgabe
bestand weniger in der Überwindung der fadenscheinigen theoretischen
Argumente, als in der beruhigenden und versöhnenden Besprechung
des Verhältnisses zum wohlgesinnten Vater, dessen Fehler nicht grösser
war, als derjenige tausender von Erziehern, denen jedes neurologische
Verständnis abgeht.
Drei Wochen vor unserer Besprechung war auch die Hysterie
wieder aufgeflackert, wenn auch nur in geringer Intensität. Die
Analyse förderte zutage, dass der verliebte Jüngling das eine Mal
sehr schlecht musizieren hörte, das andere Mal eine unschöne Hand¬
schrift sah. Der Leser ahnt wohl bereits, dass die neue Freundin
schlecht musiziert und schreibt, somit die Gefahr einer neuen Ablösung
leise auftauchte. Die Entdeckung dieses Zusammenhangs war nicht
nötig, um den Analysanden von der Richtigkeit unserer Deutung zu
überzeugen, brachte aber immerhin eine überraschende und bei aller
Komik ernst mahnende Bestätigung von schlagender Beweiskraft.
Da noch einige Minuten zur Verfügung standen, erkundigte ich
mich nach etwaigen weiteren Spuren von „Nervosität“. Es fand sich,
dass der Jüngling heftig erschrak und in ein „unheimliches Zittern“
verfiel, wenn er plötzlich aufgerufen wurde. Als wichtigstes Trauma
stellte sich heraus ein unwirscher Zuruf des Vaters, der nicht dulden
wollte, dass sein Knabe sich mit seiner ersten Freundin zusammen auf
der Strasse zeige. Heute fürchtet der Jüngling, sein Vater möchte auch
3*
36
Dr. Oskar Pfister,
in das neue Verhältnis störend, zerstörend eingreifen. Da ihm, wie so
vielen Neurotikern, Vorgesetzte und Lehrer ein Vatersurrogat ausmachen,
ist sein Schrecken leicht erklärlich.
Die Wirkung der Besprechung, die bei ihrer Oberflächlichkeit den
Namen einer Analyse kaum verdient, griff ungeahnt tief ein. Der junge,
begabte Mann war erschüttert von dem Einblick in die kausale Ver¬
knüpfung der seelischen Vorgänge, die ihm so furchtbares Leid zugefügt
hatten. Mit seinem Vater, dem er viel Kummer verursacht hatte, söhnte
er sich in freiem Bekenntnis aus. Über die Bildungsmängel der Freundin,
mit der er ein ideales Verhältnis pflegt, setzte er sich hinweg. Nach
einer Woche berichtete er seinem früheren Seelsorger, dem er fortan
wieder unbegrenztes Zutrauen entgegenbrachte, triumphierend, dass er
nun den Frieden mit Gott gefunden habe und sich wieder als völlig
glücklichen, gesunden und furchtlosen Menschen fühle. Dieser erfreu¬
liche Zustand hielt bis heute an, ein Zeichen dafür, dass auch eine
etwas ordinäre und zur Nachahmung durchaus nicht zu empfehlende
Symptom-Analyse bei der Abwesenheit von erheblichen Widerständen
günstig wirken kann.
Ich entschloss mich, vorstehenden kleinen Fall bekannt zu geben,
weil meine früheren Darstellungen von hysterisch bedingtem Madonnen¬
kultus bei protestantischen Jünglingen 1 ) von allerdings ganz inkompe¬
tenter Seite beanstandet wurden. Auch wo hysterische Symptome fehlen,
wird sich die unglückliche Liebe gerne zur himmlischen Jungfrau
flüchten, die als Gottesmutter auch für die entbehrte Mutter Ersatz
bietet. Bald bildet der Mutter-, bald der Brautkomplex das stärkere
Motiv. In den mir bekannt gewordenen Fällen spielte aber auch aus¬
nahmslos ein Vaterkomplex mit, der verhinderte, dass sich die gestaute
Erotik zur Gottesminne sublimierte.
In analoger Weise wenden sich Mädchen und Frauen, deren pri¬
märer Liebesdrang auf unüberwindliche Hindernisse stösst, der Maria
zu. Die von sexuellen Gefahren hart Bedrohte flüchtet sich zur reinen
Magd, die von keiner Fleischeslust weiss und auf den neueren Dar¬
stellungen sogar keine äusserlichen Spuren ihrer Weiblichkeit trägt.
Die Sehnsucht nach dem Kind erhebt ihre Hände zur Gottesmutter.
Das frigide Weib, dem der Sexualverkehr mit dem Manne widerlich,
sucht Schutz und Verständnis bei der Reinen, die kein Mann berührte
und als jungfräuliche Idealfigur die höhere Würde der sexuellen Absti¬
nenz verkörpert — im Gegensatz zum Evangelium Jesu und der pro¬
testantischen Moral.
Vom Standpunkt des Psychoanalytikers aus werden w 7 ir den
Madonnenkultus nur dann als harmloses, ja unter Umständen sogar
i) Evangel. Freiheit 1909 und 1910.
Zur Psychologie des hysterischen Madonnenkultus.
37
wohltätiges Ventil begrüssen, wenn Maria nur einen vorläufigen Stapel¬
platz für die allerotische libido abgibt. Eine derartige Sublimierung
kann in den seltenen günstigen Fällen eine gefährliche introversio, damit
also Lebensüberdruss, Hysterie oder andere Psychoneurosen verhüten
oder doch mildern. Allein ebenso gross ist die Gefahr, die Erotik so
sehr auf das himmlische Objekt festzulegen, dass die primäre Ent¬
spannung unmöglich wird. Je mehr Madonna entzückt, desto verächt¬
licher und widerlicher wird das profane Liebesieben. Steigert sich dann
die libido in dem Grade, dass die ideale Befriedigung nicht mehr ge¬
nügt, so bleibt für die überschüssigen Affekte nur noch der Ausweg in
die Krankheit übrig. Daher die riesige Schar jener religiösen Ekstatiker,
die wir vom Standpunkt der Pathologie aus direkt als Unglückliche
bezeichnen müssen, wie sich auch eine gesunde Sittlichkeit und Reli¬
giosität nur mit Bedauern über sie aussprechen kann.
Mitteilungen
i.
Der Neurotiker als Schauspieler.
Es ist sehr auffallend, dass die Neurotiker so oft vom Theater
träumen und auf der Bühne als Schauspieler agieren. Viele Szenen aus
der Vergangenheit werden hartnäckig immer wieder auf einer Schau¬
bühne geträumt. Das Elternhaus als Theater ist ein häufiges Symbol.
Besonders geeignet sind die Hoftheater und Stadttheater, das Eltern¬
haus bildlich darzustellen. Damit ist die Erscheinung aber noch lange
nicht aufgeklärt. Jeder Neurotiker ist tatsächlich ein Schauspieler und
scheint sich dessen halb bewusst zu sein. Er spielt nämlich mit seinen
neurotischen Symptomen eine gewisse Szene. Oft eine infantile Szene;
aber auch ebenso häufig eine Phantasieszene, wobei er mit Hilfe der
Identifizierung die verschiedensten Rollen, Mann und Frau, Vater und
Sohn usw. darstellen kann. Freud hat das ja in seiner Psychoanalyse
des hysterischen Anfalles (Beiträge zur Neurosenlehre II. Folge) sehr
überzeugend dargestellt.
Ich will nun einige Beispiele (aus vielen) mitteilen, welche beweisen,
wie sich der Neurotiker künstlich jene Szene schafft, die ihm Angst
macht, die am meisten libidobesetzt erscheint, die eigentlich seine
Krankheit ausmacht. Die meisten Angsthysteriker zeigen das Symptom
des „Nichterreichens“. Die Strasse ist zu lang, der Weg zu gross, der
Platz zu weit: er wird sein Ziel nicht erreichen. Oder die
Zeit ist zu kurz, er wird zum Bahnhof nicht mehr zurecht kommen,
der Zug wird ihm vor der Nase abfahren.
Forscht man weiter, so erfährt man, dass die Patienten sich diese
Situationen künstlich schaffen. Sie stellen die Bedingungen für die
gespielte Szene her. Als ob sie die Kulissen aufstellen vmrden, um die
Täuschung zu ermöglichen. Einer meiner Angsthysteriker soll zu mir
Der Neurotiker als Schauspieler.
39
täglich um 4 Uhr kommen. Er könnte bequem um vom Hause
Weggehen und müsste noch eine Viertelstunde warten bis er drankommt.
Was macht aber der Kranke? Er sucht sich alle möglichen Vor¬
wände, um sich zu verspäten. Er schreibt einen (gar nicht dringenden)
Brief, oder er bleibt mit einem Bekannten auf der Strasse stehen und
spricht über die gleichgültigsten Dinge, nur um Zeit zu verlieren; er
empfindet — und das ist ausserordentlich häufig — einen heftigen
Stuhldrang, sitzt eine lange Weile auf dem Abort und fördert ausser
einigen bescheidenen Winden nichts zutage; kurz, er hält sich auf jede
mögliche Weise zurück, bis es schon 3 /4 4 wird. Dann sagt er sich:
Du wirst natürlich wieder zu spät kommen und beginnt sich fürchter¬
lich zu hetzen. Dann hat er sein unbewusstes Verlangen durchgesetzt.
Die Frage — werde ich es noch erreichen? — löst bei einigen ein
Angstgefühl, bei anderen eine starke Libido aus, so dass die Patienten
fast mit ihrer Angst onanieren.
Ähnlich ergeht es einem andern Patienten mit dem Theater. Er
gehört zu den unangenehmen Gesellen, die in jede Vorstellung zu spät
kommen. Dann löst sich die Spannung und hinterlässt ein ziemlich
starkes Unlustgefühl, das von ihm wie von den meisten der Kranken
als „Enttäuschung“ bezeichnet wird.
Die Erklärung ist sehr einfach. Die Kranken spielen eine be¬
stimmte Szene. Meistens handelt es sich um ein Sexualobjekt, das sie
nicht erreichen können. Ist es eine ältere Person, die bald sterben
kann, so ist die Angst, sie könnte sterben, ehe die Verbindung Tatsache
geworden ist, die Ursache aller dieser künstlichen Hetzereien. Die
Neurotiker spielen diese Szene, wobei der Arzt, das Theater, die Eisen¬
bahn die Rolle des Objektes übernehmen, das erreicht werden soll. Die
Situation wird mit Hilfe von „zufälligen“ Hindernissen möglichst ähnlich
gemacht. Es tritt das Angst- und Lustgefühl ein, das zur ursprünglich
autochthonen Phantasie gehört. Ist das Spiel zu Ende, so erwacht das
Bewusstsein, dass er gefoppt wurde. Symbol und Realität differenzieren
sich und der Affekt der „Enttäuschung“ tritt ein. Die Täuschung führt
logischerweise zur Enttäuschung. (Vgl. meine Bemerkung in „Beiträge
zur Traumdeutung“ pag. 478. Jahrbuch. I. Jahrgang. II. Band.)
In einem dritten Falle war es eine alte Gouvernante, die das
unerreichbare Sexualobjekt des Neurotikers war. Dieser Mann hatte
geradezu in genialer Weise alle Situationen des Tages dazu ausgenützt,
um diese eine Szene zu spielen, in der er sie trotz aller Hindernisse
doch erreichte. Las er ein spannendes Buch, so blickte er bei den
letzten Kapiteln auf die Uhr und stellte sich einen recht knappen
Termin, während dessen er das Werk zu Ende lesen wollte. Dabei
schwur er sich, alle Punkte und Beistriche laut zu lesen (natürlich, um
sich künstliche Barrieren, Hindernisse zu schaffen). Dann begann er
40
Der Schauspieler als Neurotiker. — Ein Beispiel von Versprechen.
zu rasen und hatte zum Schluss, wenn die Fragen — werde ich es er¬
reichen? werde ich es nicht erreichen? — voller Zweifel einander be¬
drängten, eine Pollution.
Das Buch war die Gouvernante. Er spielte mit dieser Szene die
wichtigste Phantasie seines Lebens; und so lassen sich viele neurotische
Symptome auf das Schaffen der Bedingungen durch Schiebung der psy¬
chischen Kulissen leicht erklären. Daher stammt meiner Ansicht nach bei
den Neurotikern die Empfindung, sie wären Schauspieler. Häufig hört man
den Ausspruch, sie hätten grosses Talent zur Bühne oder sie hätten zum
Theater gehen sollen. Tatsächlich gibt es bei der Hysterie Erscheinungen,
bei denen die Grenzen zwischen Schauspielkunst (d. h. bewusstem Spielen)
und Krankheit (unbewusstem Schaffen) kaum zu ziehen sind. Der Neuro¬
tiker ist eben Akteur und Publikum in einer Person.
Dr. Wilhelm Stekel.
II.
Ein Beispiel von Versprechen.
(ei — bei — brei — blei).
Ein an Platzangst Leidender sagt während der Analyse: „Wenn
ich ein Thema anfange, so bleibe ich mit einer gewissen
Hartnäckigkeit da bl ei.“
Dann, auf sein Versprechen aufmerksam gemacht, ergänzt er:
„Ich habe wie ein Kind statt — „r“ — „1“ — gesagt, statt brei
blei“ — und verspricht sich so ein zweites Mal.
Dieses Versprechen muss eine grosse Bedeutung haben. Die
Silben „bei — brei — blei“ sind Träger wichtiger Assoziationen.
Der Kranke heisst Brei—er. Er ist ein Brei—er. Er isst
nämlich nur Brei. Er hat eine Angst vor allen festen Speisen, die
wie Blei im Magen liegen blei — ben. Er möchte aber auch der
Blei — er sein. So heisst ein alter Freund in Karlsbad. Nach Karlsbad
sollte er aber längst fahren. Seine Neurose wurde für ein organisches
Magenübel gehalten (Atonia ventriculi); eine Kur in Karlsbad wurde
ihm wärmstens empfohlen. Er hat aber Angst vor Eisenbahnen und
Fahren und konnte diesen Rat nicht befolgen.
Der erste verdrängte Gedanke bezieht sich auf die Kur: Du hast
vielleicht doch ein organisches Leiden. Fahre nach Karlsbad. Aber
du bist schon so ein Mensch. Da kannst dich von Dr. Stekel nicht
trennen. Wenn du ein Thema anfängst, dann bleibst du schon dabei.“
An „Blei“ knüpfen sich wichtige Gedanken. Blei ist giftig.
Die Bleivergiftung gehört zu seinen quälendsten Angstvorstellungen.
Ein Beispiel von Versprechen.
41
Ein jeder Setzer, der eine Zeitung druckt, ist ihm ein dem Tode
Geweihter. Die Setzer sind blass, graufarben; das Blei ist graufarben
und schmutzig. „Ich kann“ — sagt er — „keinen Bleistift in den Mund
stecken. Ich kann Graphit nicht leiden. Es enthält Blei. Auch Tinte
ist mir ekelhaft. Die Tinte enthält einen Stoff aus Galläpfeln. Von
Galle kann ich nicht reden hören. Die Mutter hat an Gallen¬
steinen gelitten und sollte nach Karlsbad fahren. Sie musste in
Wien Karlsbader Wasser trinken. So lange der Vater lebte, konnten
sie ihn nicht allein lassen, wir mussten in Wien bleiben. Nun der
Vater gestorben ist, habe ich diese schreckliche Angst vor dem Fahren.
So müssen wir wieder in Wien bleiben.“
„Können Sie die Mutter nicht allein fahren lassen?“ ,,Ja — wer
soll mir dann meine breiigen Speisen zu bereiten? Die kann nur
die Mutter machen/ 4
Hier kommt ein zweiter unbewusster Gedanke. Er macht sich
Vorwürfe, dass die Mutter da blei—ben muss. Sie muss dabei
sein. Er kann ohne ihre Pflege nicht auskommen. Das hat wieder
Gründe, die mit Blei zusammen hängen. Er fürchtet eine Bleiver¬
giftung durch essigsaures Blei. Wenn die Glasur in den Töpfen
springt, so kann man eine Bleivergiftung bekommen. Er isst deshalb nie
eine Speise, die mit Essig zubreitet ist (z. B. Salat). Ja — er kann
in einem Restaurant oder Kaffeehause nichts zu sich nehmen, weil dort
Kupfergeschirr da ist, an dem Grünspan haften könnte. Er fürchtet
also, in fremden Gasthäusern vergiftet zu werden.
Er hatte einmal eine schwere Vergiftung mitgemacht. Er war
als Kind Jongleur und spielte mit Kugeln. Er verletzte sich an
der Hand, die Wunde infizierte sich, so dass er mehrere Wochen krank
war. Er hat seit damals eine heillose Angst vor Infektionen.
Er fürchtet auch die Syphilis und lebt schon seit 2 Jahren
vollkommen abstinent. Von der Syphilis erhält man Bubonen,
Kugeln, die im Volksmund Pauken heissen. Mit Pauken und
Granaten ist er bei einer Prüfung durchgefallen. Er hatte immer
Angst vor Prüfungen. Er wollte sich einmal erschiessen. Auch im
vorigen Jahre dachte er an Selbstmord und wollte sich einen Revolver
kaufen.
Er denkt an ein Lied:
Das Mass meiner Sünden ist voll,
Drum kaufe ich mir ein’ Pistol
Und lade mit Pulver und mit Blei
Und schiess mein armes Herz entzwei.
Mit dieser Angst kann er nicht mehr leben. Er will auf der
Gasse weitergehen. Plötzlich werden seine Beine schwer wie Blei
Er fühlt sich wie gelähmt (Bleilähmung).
42
Ein Beispiel von Versprechen.
Er ist zu schwach, um zu Frauen zu gehen. Obwohl ihm Frauen
sehr gut gefallen. Besonders wenn der Busen rund wie eine Kugel
ist. Er hat schon als Jüngling aus Angst vor der Infektion immer
onaniert. Er hat schon als Kind zuviel mit dem Penis (Bleistift!) ge¬
spielt (Jongleur!) Deshalb hat er so schlaffe Hoden. (Brei! —Kugeln!)
Der Vater hat ihn als Knaben vor der Onanie gewarnt. Er hatte
immer bleigraue Ringel um die Augen. Der Vater hatte ihm gesagt,
man dürfe nicht da unten spielen, sonst werde man schwer krank
und müsse sterben.
Weitere Bedeutungen von Kugeln gehen auf den Mutterleibs¬
komplex. Das Wort „Leib“ kann er nicht hören. Bei der Mutter
fühlt er sich am wohlsten. Das Wichtigste: Er fürchtet sich vor dem
Beischlaf. (Schon vor dem Versprechen hatte er mir erzählt, dass er
diese Nacht sehr tief geschlafen habe. (Bleierner Schlaf.)
Hier stossen die Assoziationen auf die Inzestgedanken, der
Mutter beizuschlafen, sie im Schlafe aufzusuchen usw., dem Psycho¬
analytiker wohlbekannte Komplexe, deren weitere Erörterung für die
Analyse dieses Beispieles überflüssig erscheint. Das Versprechen kam
nach einer Erzählung. Er habe einem Herrn eine halbe Stunde lang
klargemacht, dass das Grundprinzip des Lebens „Hinein und Heraus“
darstellt. Für Hinein und Heraus hat er schier zahllose Beispiele
augeführt. Bezeichnenderweise eines nicht: den Beischlaf.
Am Abend vor dem Versprechen war er im Prater. Der Himmel
war grau, bleiern. Er fürchtete ein Gewitter. Er hatte keine Angst
vor dem Gewitter. Nur dachte er fortwährend, was wird die Mama
für Angst ausstehen, wenn er in solchem Wetter nicht zu Hause ist.
Er ging schon seit Jahren nicht des Abends aus. Auch gestern hatte
Mama ihm gesagt, er solle d ab lei — ben. Er fuhr mit der Elek¬
trischen nach Hause. Die Elektrische ist seine grosse Angst. Er
steigt nur in den schon fahrenden Wagen ein. Das hat einen bestimmten
Grund. Er fürchtet, die Mutter könnte ihm bald abfahren (Gallen¬
steine!). Er will noch den letzten Moment benutzen, um einzusteigen.
Zu Hause macht er sich die heftigsten Vorwürfe. Er hätte nicht
fahren sollen. Es wurde ihm schlecht. (Warnung: er wird dabei
schlecht fahren!)
Die Vorwürfe bezogen sich natürlich auf die Inzestphantasie.
Weitere Beziehungen ergaben sich noch von Bey zu Harem und zu
Phantasien von Orgien, zu denen seine strenge mehrjährige Abstinenz
den direkten Gegensatz bildet. Auch die Kugeln haben noch die Be¬
deutung der grossen und kleinen Hemisphären, die seine fetischistisch
betonten erogenen Zonen darstellen.
Am wichtigsten erweist sich jedoch die Silbe ,,ei u . Er hat eine
Idiosynkrasie gegen Ei —er. Er kann keine Eier essen, er kann nicht
Ein Beispiel von Versprechen.
43
einmal einen andern Eier essen sehen, ohne Ekel zu empfinden. Er
kann das Wort Eiweiss nicht aussprechen.
Alle Worte, die mit ei enden, sind ihm unangenehm. So: Drucker— e i
oder Selcherei. Er kann keine Selcherei sehen. Er bekommt sofort Angst
und Ekel. Sie kommt ihm wie ein Grab vor. Wie eine Toten kämm er.
Natürlich denkt er in seinem Unbewussten und auch manchmal
bewusst bei Druckerei an das Ei des Druckers. (Vergleiche Blei und
Bleivergiftungsangst) Bei Selcherei an das Ei des Selchers.
Der Vater lag eine Zeitlang in der Totenkammer des Spitals.
Er war ganz ausgemergelt vor dem Tode. Es war gar kein Fleisch
an ihm. Nur Haut und Knochen. Es fiel ihm bei dem kranken Mann
die Grösse der Testikel auf. Sie sahen aus wie geselcht.
Die Totenkammer führt zum Vater-, Grab- und Mutterleibs¬
komplex. Dort ist man nur von Fleisch umgeben. Aus einem Ei¬
chen entsteht der ganze Mensch. Bei der Silbe „Ei“ muss er immer
an Befruchtung, Schwangerschaft, Geburt und den Tod denken.
So zeigt sich die Reihe „bei — brei — blei“ vielfach determiniert.
Die kleine Symptomhandlung gestattet einen unerwarteten Einblick in
seine unbewussten Gedanken.
Nach dieser Analyse konnte er das erste Mal nach langer Zeit,
wieder fahren. Er fuhr mit der Elektrischen (ohne Angst!) nach Hause
— und telephonierte mir freudig dies Ereignis. Allerdings stieg er nicht
in den Beiwagen (in Wien der dem Motorwagen angehängte zweite
Wagen) ein. Dr. Wilhelm Stekel.
III.
Beispiele des Verrats pathogener Phantasien hei
Neurotikern.
I. Ich sah kürzlich einen etwa 20 jährigen Kranken, der ein un¬
verkennbares, auch von anderer Seite agnosziertes Bild einer Dementia
praecox (Hebephrenie) bot. In den Anfangsstadien des Leidens hatte
er periodischen Stimmungswechsel gezeigt, eine erhebliche Besserung
erreicht und wurde in einem solchen günstigen Zustand von den Eltern
aus der Anstalt geholt und durch etwa eine Woche zur Feier seiner
vermeintlichen Herstellung mit allerlei Vergnügungen regaliert. An diese
Festwoche schloss sich die Verschlimmerung unmittelbar an. In die
Anstalt zurückgebracht, erzählte er, der konsultierende Arzt habe ihm
den Rat gegeben, „mit seiner Mutter etwas zu kokettieren". Es ist
nicht zweifelhaft, dass er in dieser wahnhaften Erinnerungstäuschung der
Erregung Ausdruck gegeben, welche durch das Beisammensein mit der
Mutter in ihm hervorgerufen wurde, und die der nächste Anlass seiner
Verschlimmerung war.
44
Beispiele des Verrats pathogener Phantasien bei Neurotikern.
II. Vor länger als zehn Jahren, zu einer Zeit, da die Ergebnisse
und Voraussetzungen der Psychoanalyse nur wenigen Personen vertraut
waren, wurde mir von verlässlicher Seite folgender Vorfall berichtet.
Ein junges Mädchen, Tochter eines Arztes, war an Hysterie mit lokalen
Symptomen erkrankt; der Vater verleugnete die Hysterie und liess ver¬
schiedene somatische Behandlungen einleiten, die wenig Nutzen brachten.
Eine Freundin stellte einmal an die Kranke die Frage: Haben Sie
denn noch nie daran gedacht, den Dr. F. zu Rate zu ziehen? Darauf
antwortete die Kranke: Wozu sollte ich das tun? Ich weiss ja, er
würde mich fragen: Haben Sie schon die Idee gehabt, mit Ihrem Vater
geschlechtlich zu verkehren? — Ich halte es für überflüssig, ausdrücklich
zu versichern, dass ich eine solche Fragestellung weder damals geübt
habe noch heute übe. Man wird aber aufmerksam darauf, dass gerade vieles,
was die Patienten als Äusserungen oder Handlungen der Ärzte erzählen,
als Verrat ihrer eigenen pathogenen Phantasien verstanden werden darf.
Dr. Sigm. Freud.
IV.
Typisches Beispiel eines verkappten Ödipustraumes.
Ein Mann träumt: Er hat ein geheimes Verhältnis mit einer Dame,
die ein anderer heiraten will. Er ist besorgt, dass dieser andere das
Verhältnis entdecken könnte, so dass aus der Heirat nichts würde, und
benimmt sich darum sehr zärtlich gegen den Mann; er schmiegt sich
an ihn an und küsst ihn.
Die Tatsachen im Leben des Träumers berühren den Inhalt dieses
Traumes “ nur in einem Punkte. Er unterhält ein geheimes Verhältnis
mit einer verheirateten Frau, und eine vieldeutige Äusserung ihres
Mannes, mit dein er befreundet ist, hat den Verdacht bei ihm geweckt,
dass dieser etwas gemerkt haben könnte. Aber in der Wirklichkeit
spielt noch etwas anderes, dessen Erwähnung im Traume vermieden
wird, und das doch allein den Schlüssel zum Verständnis des Traumes
gibt. Das Leben des Ehemannes ist durch ein organisches Leiden
bedroht. Seine Frau ist auf die Möglichkeit seines plötzlichen Todes
vorbereitet, und unser Träumer beschäftigt sich bewusst mit dem Vor¬
sätze, nach dem Hinscheiden des Mannes die junge Witwe zur Frau
zu nehmen. Durch diese äussere Situation findet sich der Träumer in
die Konstellation des Ödipustraumes versetzt; sein Wunsch kann den
Mann töten, um die Frau zum Weib zu gewinnen; sein Traum gibt
diesem Wunsch in heuchlerischer Entstellung Ausdruck. Anstatt des
Verheiratetseins mit dem anderen setzt er ein, dass ein anderer sie
erst heiraten will, was seiner eigenen geheimen Absicht entspricht, und
Zur Differentialdiagnose organischer und psychogener Erkrankungen. 45
die feindseligen Wünsche gegen den Mann verbergen sich hinter demon¬
strativen Zärtlichkeiten, die aus der Erinnerung an seinen kindlichen
Verkehr mit dem Vater stammen. Dr. Sigm. Freud.
V.
„Zur Differeiitiakliagiiose organischer und
psycliogener Erkrankungen . 4 4
Von einem Kollegen wurde mir Herr N. B., als ein Fall von
hysterischer Amnesie zur psychoanalytischen Behandlung überwiesen.
N. B., ein Reisender, 32 Jahre alt, war in S. in seinem Hotel von den Be¬
diensteten bewusstlos am Boden seinen Zimmers aufgefunden worden.
Man telegraphierte nach seiner Frau, die zwei Tage nach dem Anfall
eintraf. Aus der Bewusstlosigkeit hatte sich Herr N. B. bald erholt.
Er war aber vollkommen desorientiert und sprach wirr. Er erkannte
seine Gattin nicht. Erst nach zirka 10 Tagen wurde es ihm klar, dass
seine Pflegerin seine Frau war. Er kam dann nach Wien. Ich sah ihn
zirka 4 Wochen nach dem Anfall. Es bestand vor dem Anfall und die
erste Zeit nach dem Anfall vollkommene Amnesie. Die Diagnose einer
Neurose war nicht schwer zu stellen. Es bestand eine deutliche Angst¬
hysterie infolge längere Zeit fortgesetztem Coitus interruptus und
psychischer Konflikte in der Ehe. Der Mann litt schon längere Zeit
an nervösen Magenschmerzen, gegen die selbst Morphium vollkommen
wirkungslos war. Es ist dies ein wichtiges Symptom bei psychogenen
Schmerzen. Die gebräuchlichsten schmerzlindernden Mittel versagen
meistens oder wirken nur in grossen Dosen, wenn sie einen Rausch
erzeugen. So ist der hysterische Kopfschmerz durch Pyramidon, Anti-
pyrin usw. sehr selten zu beeinflussen.
Nun erfahre ich, dass der Kranke von einem Magenspezialisten
Atropin erhalten hatte. Dies Mittel würde ihm bestimmt helfen. Er
hatte das Atropin während der ganzen Reise, auch am Tage des An¬
falls genommen. Daran erinnert er sich noch ganz genau. Von da an
setzt die Amnesie aus.
Die Diagnose war nicht schwer: Es handelte sich um eine Atro¬
pinvergiftung, die eine solche wochenlang dauernde Verwirrtheit, selbst
schwere psychische Zustände hervorzurufen vermag.
Ich lehnte die Psychoanalyse ab; der beschriebene Zustand klang
selber in einer Woche ab.
Der zweite Fall ist noch wichtiger. Eine 34 jährige, schon 12 Jahre
verheiratete Dame wurde wegen „psychogener Depression“ von einem
Kollegen an mich gewiesen, um durch Psychoanalyse geheilt zu werden.
Die Dame kam gerade aus einem Sanatorium, in das sie von einem
46
Zur Differentialdiagnose organischer und psychogener Erkrankungen.
Neurologen, Dozenten X. mit der Diagnose „ Melancholie“ gewiesen worden
war. Da ich selbst zu beschäftigt war, übergab ich sie einem Kollegen,
der gerade die Psychoanalyse bei mir lernte. Er berichtete mir, der
Fall gäbe gute Chancen. Die Konflikte seien ziemlich klar. Sie sei
ihrem Manne gegenüber gleichgültig, empfinde im Gegenteil eher Ab¬
neigung, während sie einen Bruder vergöttere, und nur von ihm, seinen
Talenten, seiner Güte und seiner Schönheit schwärme. Bald jedoch
teilte er mir mit, dass die Dame Selbstmordabsichten habe, die ihn in
Schrecken setzten. Er fürchtete sich, die Verantwortung bei einem so
schweren Fall zu übernehmen.
Ich liess die Dame zu mir kommen und wollte sie persönlich
behandeln. Die ersten Tage verwendete ich auf eine genaue Durch¬
forschung der anamnestischen Daten. Dabei erfuhr ich, was sie bisher
dem Manne verschwiegen hatte, dass sie schon mit dem 18. Lebens¬
jahre die Menstruation verloren hatte. Seit zwei Jahren bestand eine
leichte Glykosurie, gegen die jede Diät machtlos war. Bei Aufregung
trat Zucker im Urin auf, der in ruhigen Zeiten bis auf Spuren ver¬
schwinden konnte. Ausserdem fiel mir eine blaue Farbe ihres Teints
auf. Sie gestand, dass sich in den letzten Jahren ein unangenehmer
Haarwuchs im Gesicht gezeigt habe. Sie reisse sich täglich die Haare
mit einer feinen Pinzette aus. Während sie in den ersten Jahren der
Ehe sehr leidenschaftlich gewesen, könne sie jetzt zu keiner Libido mehr
gelangen. Sie schiebt die Schuld auf die mangelnde Potenz des Mannes.
Aber sie muss zugeben, dass auch andere Versuche, onanistische Akte ohne
Befriedigung, ohne Auslösung eines libidinösen Gefühles verlaufen sind.
Es ist etwas in ihr abgestorben.
Die psychischen Symptome sind: Ziemliche Unruhe und Erregtheit.
Sie macht sich die bekannten Vorwürfe der Melancholischen: Sie habe
Fehler begangen, sie sei zu nichts nutz auf der Welt. Sie bedauert
ihren armen Mann, der eine solche nutzlose Frau habe. Sie ist wieder¬
holt schlaflos und weint sehr leicht. Sie trägt sich mit Selbstmord¬
ideen. Sie will jedoch ihrem Manne und besonders ihrem Bruder diese
Schande nicht antun.
Die Diagnose war nicht schwer: Diabetes, Hypertrichosis, Ame¬
norrhoe, Änderung des Sexualgefühls, Impotenz, psychische Störungen,
deuten in ihrer Gesamtheit auf die Hypophyse. Ihr Mann bestätigt,
dass sich das Gesicht leicht verändert habe. Die Lippen und die Zunge
seien vielleicht grösser geworden. Die Röntgenaufnahme ergibt eine Ver-
grösserung und Verbreiterung der Sella turcica. Diagnose: Hypo¬
physentumor.
Mit Rücksicht auf die Trostlosigkeit des Zustandes und die
schönen Erfolge der Wiener Chirurgen bei diesem Leiden wurde der
Referate, Kritiken und Grenzgebiete.
47
Patientin die Operation empfohlen. Über den weiteren Verlauf will ich
gelegentlich berichten.
Beide Fälle beweisen, wie wichtig die genaue Kenntnis der orga¬
nischen Erkrankungen und Störungen für die Psychotherapeuten ist.
Auch weist uns die Ähnlichkeit der Erscheinungen der Neurosen mit
gewissen Intoxikationen durch Alkaloide und innere Drüsensekrete ge¬
bieterisch auf den Zusammenhang zwischen dem Organischen und Psy¬
chischen hin. Hier wird die biologische Forschung der Zukunft die
Brücke schlagen müssen.
Dr. Wilhelm Stekel.
Referate, Kritiken und Grenzgebiete.
Die dorische Knabenliebe. (Ihre Ethik und ihre Idee.) Von Prof. E. Bethe
in Leipzig. Rheinisches Museum für Philologie. Neue Folge. Band
62. 1907.
Eine bisher wenig beachtete Arbeit eines Philologen, welche sich
durch seltene Freimütigkeit auszeichnet und sehr lesenswert ist. Der
Verfasser führt den Nachweis, dass die Knabenliebe im Hellas von den
„Doriern“ eingeführt wurde. Wenngleich sich Spuren der Knabenliebe
auch bei den Ioniern finden, so wurde sie, wie das Rittertum in
Griechenland durch die „Dorier“ zur Mode. Sie war nur dem freien
Manne, dem Ritter Vorbehalten, dem Sklaven (oft bei Todesstrafe!) ver¬
boten. Diese Liebe war in festen Formeln geregelt und eine staatliche
Institution. In Sparta, Kreta, Theben beruhte die Erziehung zur aQeTrj
in der Herrenkaste auf Päderastie. „In Sparta waren die Liebhaber für
die Geliebten, die vom zwölften Jahre an mit ihnen verkehrten, so
sehr verantwortlich, dass für eine unschamhafte Handlung ihres Geliebten
sie, nicht dieser gestraft wurden.“ „Das Schlachtfeld von Chaironeia
deckten die Liebespaare der heiligen Schaar derThebaner Mann für Mann.“
In Kreta ging die Liebes wähl des Knaben in der Form des Brautraubes
vor sich. Der Liebhaber kündigte der Familie den Raub an. War diese
mit der Wahl nicht einverstanden, so trachtete sie den Raub zu ver¬
hindern. Je höher der Liebende stand, desto grösser die Ehre
für die Familie und den Knaben. Der Erwählte wurde dann von seinem
Gönner bei seiner Rückkehr aus dem fremden Hause mit einer Kriegs¬
rüstung, Becher und Rind beschenkt.
Ja in Theben, Thera und in Kreta entbehrte diese Vereinigung
nicht der religiösen Weihe. „Die Verlobung oder vielmehr die fleisch¬
liche Vereinigung am heiligen Orte selbst unter dem Schutze eines
48
Referate, Kritiken und Grenzgebiete.
Gottes oder Heros steht bei Thera und für Theben sicher. In Thera
reden eine nicht missverständliche Sprache die hocharchaiischen Fels¬
inschriften doch wohl des siebenten Jahrhunderts, mit gewaltigen Buch¬
staben eingemeisselt auf den Götterberg unmittelbar nahe der Stadt,
in 50—70 Meter vom Tempel des Apollon Karneios und an den
heiligen Stätten des Zeus. Da heisst es: „An heiliger Stätte, unter
Anrufung des Zeus hat hier Krimon seine Verbindung mit dem Sohne
des Bathykles vollzogen und er hat sie stolz der Welt verkündet und
ihr ein unverwüstliches Denkmal gesetzt. Und viele Theräer mit ihm
und nach ihm haben an derselben heiligen Stelle denselben heiligen
Bund mit ihren Knaben geschlossen.“
In Kreta galt es für eine Schande, wenn ein Knabe aus „ritter¬
lichem“ Hause keinen Liebhaber fand. Umgekehrt galt es als Ehre,
wenn sehr viele Männer sich um ihn bewarben.
Dieses Verhältnis hatte für Liebhaber und Knaben die besten
Folgen. Jeder wollte das Höchste leisten, um seine Tüchtigkeit zu be¬
weisen und als äya&ög ävrjQ dazustehen. Selbst die Heldensagen mussten
auf diese Liebe Rücksicht nehmen. Die Ruhmestaten eines Herakles
geschahen dem männlichen Liebling Eurystheus zu Ehren. Die Abwei¬
sung eines werbenden Mannes galt als Schmach, welche die Ehre
befleckte. Plutarch erzählt die Geschichte, wie Aristodamus einen sich
widersetzenden Knaben mit dem Schwerte niederstösst. „Man gerät
unwillkürlich in die Sprache unseres ritterlichen Ehrenkomments“ —
sagt Bethe.
Durch diesen Akt übertrug der Ritter seine Ritterlichkeit (dQezrj)
auf den Knaben. Das hatte einen symbolischen Sinn. Bei den Spartanern
hiess der Päderast eloTcvrjkag, der etwas einbläst (von donvslv). Was
aber hauchte der Geliebte dem Knaben ein — wohl nur das nvevua , die
Seele, ein Glaube, der von den ältesten Zeiten (Bibel!) bis ins Christen¬
tum hinein lebendig war. Die Seele des Menschen waren jedoch nach
primitiver Anschauung seine verschiedenen Se- und Exkrete. In Urin,
Kot, Blut, Samen, steckte die Lebenskraft und ein grosser Zauber.
Mit dem männlichen Samen also flösste der Dorier -seinem Knaben die
Heldenkraft ein. (Ähnlich wie die Wilden in Neuguinea den Urin des
Häuptlings trinken, um seine Kraft und Tapferkeit zu erwerben. Eine
Menge ähnlicher Beispiele führt Bethe an.) Der Samen wurde als
Seele angesehen.
(Bethe weist darauf hin, dass die Leber, das Herz und besonders
der Phallus ebenfalls als Seele aufgefasst wurden. Näheres ist beim
Autor nachzulesen!)
Die sonderbare Vorstellung, seine Seele a posteriori einzuflössen,
führt der Autor auf die primitiven Anschauungen zurück. Die Tiere
hatten keinen Widerwillen gegen diese Liebesopferungen und Menschen,
Referate, Kritiken und Grenzgebiete.
49
die dem Urin und dem Kote zauberhafte Wirkungen zuschrieben,
könnten keine Ekelvorstellungen haben. Wenn der Anus als Eingangs¬
pforte für böse Dämon gegolten habe, warum sollte nicht der gute
Zauber der Heldenkraft da hinein schlüpfen können?
„Die Idee, aus der sich die Päderastie als staatliche Institution
bei den Doriern entwickelt hatte, konnte sich auf die Dauer nicht halten.
Sie musste mit ihnen zusammenbrechen. Aber es blieb die
Knabenliebe als die allgemein geübte Lust und galt durch das ganze
Altertum und im ganzen weiten hellenischen Kulturgebiet geradezu als
ein notwendiges Element des dezenten, griechisch gebildeten Lebens.
Erst die christliche Kirche, die von jeher gegen dieses Heidenlaster be¬
sonders geeifert, hat die Päderastie aus der christlichen Gesellschaft
verbannt und da sie es nicht durch geistige Mittel vermochte, im
Jahre 342 ihre kriminelle Bestrafung durchgesetzt . u
So weit der Philologe, der noch betont, dass in der vordorischen
Zeit (z. B. bei Homer) sich keine Anhaltspunkte für die Institution der
Knabenliebe finden.
Von besonderem Interesse ist die symbolische Gleichstellung
von Seele, Luft, Sperma, Blut, Urin und Kot. Sie entspricht der „sym¬
bolischen Gleichung“, die ich in meinen Traumanalysen der Neurotiker
wiederholt gefunden habe. Derartige Bestätigungen symbolischer Werte
durch kulturhistorische Parallelen haben geradezu beweisenden Wert.
Dr. W. Stekel.
Dr. Willi. Neutra, Briefe an nervöse Frauen. Zweites Tausend. Verlag
von Heinrich Minden, Dresden und Leipzig, 1909.
Es sollte als ein erfreuliches Zeichen für das erwachende Interesse
der Leser für die Psychotherapie gelten dürfen, dass von diesem Buche
in so kurzer Zeit eine zweite Auflage notwendig geworden ist. Leider
können wir das Buch selbst nicht als eine erfreuliche Erscheinung
begrüssen. Der Verfasser, Assistenzarzt der Wasserheilanstalt Gain-
farn bei Wien, hat die Form von Oppenheims „Psychotherapeutischen
Briefen“ aufgenommen und diese Form mit psychoanalytischem Inhalt
erfüllt. Dies ist im gewissen Sinne ein Missgriff, denn die Psycho¬
analyse lässt sich mit der Oppenheim sehen oder, wenn man will,
Dubois’schen Überredungskunst nicht gut vereinigen; sie sucht ihre
therapeutische Wirkung auf ganz anderen Wegen. Schwerer ins Ge¬
wicht fällt aber, dass der Autor die Vorzüge seines Vorbildes, Takt und
sittlichen Ernst, nicht erreicht, und dass er beim Vortrag der psycho¬
analytischen Lehren häufig in hohle Deklamation verfällt, auch manches
unrichtig angibt. Immerhin ist vieles geschickt und zutreffend gesagt;
man kann die Schrift als populäre Lektüre gelten lassen. In einer
ernsten, wissenschaftlichen Darstellung hätte der Autor mit grösserer
Zentralblatt für Psychoanalyse. I. 4
50
Referate, Kritiken und Grenzgebiete.
Gewissenhaftigkeit auf die Quellen seiner Anschauungen und Behaup¬
tungen hinweisen müssen. Freud.
Professor Ed. Claparede und die Psychoanalyse. Im letzten
Heft des „Archives des Psychologie (Nr. 36) präzisiert Claparede,
im Anschluss an eine Mitteilung von ihm selbst über die Salzburger
Vereinigung und von Mae der über die Nürnberger Vereinigung,
seinen Standpunkt zur Psychoanalyse folgendermassen: „Was mich
an den Freud sehen Erklärungen anlockt, ist das, dass sie einer
biologischen Auffassung psychischer Vorgänge entsprechen. Freud
zeigt uns, wie das Bewusstsein sich gegen bestimmte unangenehme
Vorstellungen wehrt; dieser Gedanke erscheint mir sehr richtig. Ich
bewundere auch denVersuch des eminenten Wiener Neurologen, die genaue
Determinierung der Zwangsgedanken und anderer pathologischen Er¬
scheinungen festzustellen, indem er auf die individuelle Geschichte des
Kranken eingeht. Wenn auch gewisse Auffassungen der Anhänger
Freuds mir als sinnreich und wahrscheinlich richtig erscheinen, muss
ich auf der anderen Seite sagen, dass viele mir sehr gekünstelt Vorkommen.
Es ist hier nicht der Ort, über <Jiese Fragen zu diskutieren. Mit
einem Wort, ich habe zur zeit noch keine feststehende Ansicht über
den Wert der verschiedenen Theorien Freuds, ich finde aber, dass
sie verdienen unparteiisch betrachtet zu werden.“ Ref. beabsichtigt ge¬
legentlich auf den biologischen Standpunkt des Genfer Psychologen
näher einzugehen. Viele seiner Begriffe lassen sich ohne weiteres in
die Sprache der Psychoanalytiker übersetzen.
A. Maeder.
Maeder Alf., La langue d’un aliene (Archives de Psychologie.
Geneve. Tome IX. 1910).
Verfasser hat die Kunstsprache („sekundäre Sprache“) eines
Paranoiden durch Psychoanalyse untersucht. Patient ist 41 Jahre
alt, seit 15 Jahren interniert; die Kunstsprache hat sich im Laufe der
letzten 17 Jahre entwickelt und scheint beim ersten Blick sinnlos.
Eine eingehende Untersuchung konnte Verf. das Gegenteil lehren.
Patient musste auf jedes einzelne Wort frei assoziieren, Verf. liess
ihn auch verschiedene Gegenstände, Bilder beschreiben, vorgelesene
Fabeln wieder erzählen. Es wurde so möglich, den bestimmten
fixierten Sinn einer grossen Anzahl von Neologismen festzustellen,
einen Wortschatz der Sprache des Kranken zu erhalten unh dadurch
den Inhalt des Wahnes zu erfahren. Wortneubildungen haben nur
bei gefühlsbetonten Vorstellungen (Komplexen) stattgefunden, sie
beziehen sich auf die Wunscherfüllungen, Grössenideen, Befürchtungen,
Verfolgungen des Patienten. Die Sprache selbst heisst die „Salisjour“
(„im Deutschen Exzellenzsprache“), von dem schweizerischen adeligen
Referate, Kritiken und Grenzgebiete.
51
Geschlecht Salis; sie ist die Umgangssprache der „besseren Leute“ und
ist dem Bedürfnis entsprungen, sich gewählt und gelehrt auszusprechen.
Ausdrücke, um das Hohe, Gute, Reiche, Mächtige, Vornehme, Intellek¬
tuelle, Wissenschaftliche auszusprechen, sind besonders zahlreich. Die
Salisjour ist das Organ der Guten, der Menschen, der Partei des Kranken
und des lb. Gottes.
Die Neologismen sind entweder modifizierte deutsche Wörter
(modifiziert in der Bedeutung, wie Machenschaft für Fähigkeit Rezepte
zu verschreiben, oder in der Form wie Doktorurie, Dingung) oder neue
Zusammengesetze Wörter, wie Bilderbuchherr, modifizierte französische
oder sonstige Fremdwörter (Agadation, proderiat, mandrez, cameration,
stellima, conce, dolyis, orthodixe Garsche . . . .) oder rein pathologische
Neubildungen (wie zuvor vorjujugeb undbeachten). — Der Satz bau
zeigt eine ausgesprochene Vereinfachung, er enthält viele Hauptwörter,
sehr wenige Adjektiva und Pronomina, wenige Verba, welche meistens
im Infinitivum sind. Die Interpunktion ist willkürlich, die meisten
Wörter haben grosse Anfangsbuchstaben; jedes gefühlsbetonte Wort
ist von einem Ausrufungszeichen begleitet. Der Satz verliert da¬
durch jede Nuancierung; er hat etwas Starres und Infantiles.
Die Entstehung von dem Pat. eigenen Begriffen zeigt eine auf¬
fallende Ähnlichkeit mit dem gleichen Prozess bei Kindern. Verf.
macht aufmerksam auf die Verwandtschaft dieser Kunstsprache mit der
„Indianersprache“ der Kinder, mit den höheren Formen der Glossolalie.
Nur dass beim Pat. die Sprachneubildungen einen auffallend indi¬
viduellen und autoerotischen Charakter zeigen. Die zwei hervor¬
stechendsten Punkte der Untersuchung sind die Bedeutung der
Affektivität und der Infantilismen für die Entstehung einer
solchen Sprache. Autoreferat.
J. Yareinlonck. Les Ideals d'enfants. Archiv de Psychol. Geneve.
Tome VII.
Die Arbeit V.’s ist im Jahre 1908 erschienen; Verf. hat sie ihres
Interesses wegen für Psychoanalytiker hervorgeholt, sie dürfte im
deutschen Sprachgebiete nur wenig bekannt sein. Das Problem der
Ideale der Kinder (hier von einem Pädagogen behandelt) gehört zu den
Hauptfragen der Übertragung und der Bedeutung der Eltern
für die kindliche Psyche. Verfasser hat sein wertvolles Material an
745 Kindern der belgischen Schulen gewonnen. Es schliesst aus seiner
Enquete, welche unter der Form der Anfrage: A quelle personne que
vous connaissez par vos etudes ou par la conversation, voudriez-vous
ressembler? an Kindern zwischen 7—16 Jahren gestellt war, folgendes:
I. Die kleinen Kinder wählen ihre Eltern als Ideal, diese Tendenz
nimmt mit dem Alter beständig ab, und zwar bei beiden Geschlechtern.
4*
52
Referate, Kritiken und Grenzgebiete.
II. Andere Personen der Umgebung wirken bei Knaben und
Mädchen verschieden. Als Ideale werden sie gewählt in 10 °/o der
Fälle bei Knaben, 29 % bei Mädchen. Das Maximum bei den ersteren
ist mit 11 Jahren erreicht, bei letzteren mit dem 13. Lebensjahre.
III. Bei Knaben wird das Ideal sehr häufig unter berühmten
Männern (Schriftsteller, Kriegsleute, Könige, Entdecker...) gewählt;
bei Mädchen ist das sehr selten (Gegensatz zu II. Siehe im Original
die lehrreichen Kurven).
Verf. macht die für ihn sehr überraschende Beobachtung, dass
die Knaben sehr selten, nach dem 12. Jahre überhaupt nicht mehr, ihr
Ideal beim weiblichen Geschlecht wählen, während die Mädchen meistens
Helden des anderen Geschlechtes anschwärmen. ,,Les petits gargons
aimeraient volontiers ressembler ä leur mere, et les filles ä leur pere,
ce qui semble assez naturel. Mais tandis que chez les premiers cette
tendance va s'affaiblissant, pour les dernieres le desir de ressembler ä
leur pere se transforme bientot en un desir de ressembler ä un homme
qui n’est plus de la famille; parfois c’est gargon qui partage leurs
jeux et souvent c’est un monsieur de leur entourage, mais rarement
on voit apparaitre la figure d’ un homme celebre.“ Verf. ist nicht
auf die richtige Deutung dieser Tatsache gekommen; er bedauert sie
und führt sie auf die schlechte Zusammensetzung der Lesebücher für
Mädchen zurück. [Ref. Die Kenntnis der Wahl des Sexualobjektes
und der Sublimierungsfähigkeit des männlichen Geschlechtes lässt noch
eine tiefere Erklärung zu. Der Faktor der Sublimierung zeigt sich
noch darin tätig, dass der Einfluss der materiellen Interessen auf die
Wahl der Ideale sich bei Knaben viel weniger lang und weniger in¬
tensiv zeigt wie bei Mädchen]. — Mit 11 Jahren traten zum ersten
Male altruistische Regungen auf, und zwar ziemlich parallel bei
beiden Geschlechtern. Ref. möchte die Frage anregen, ob nicht ein
Zusammenhang zwischen diesen altruistischen Gefühlen und dem in
diesem Alter stärker hervortretenden Alloerotismus besteht. — Folgender
Satz gibt in groben Zügen die Sukzession der Übertragungen bei nor¬
maler Entwickelung: „Un enfant qui, apres avoir eu le culte de sa mere
idealise ensuite ses freres et soeurs, puis successivement le leader de la
bande, des personnes plus ou moins haut placees qu’il frequente, l’insti-
tuteur, les autorites locales et enfin les celebrites de Thistoire, cet
enfant se developpe de fagon normale.“ A. Mae der.
D. KatzarofF. Qu’est-ce que les enfants dessinent? Arch. de
Psych. Geneve Tome IX. 1910.
Eine Untersuchung über das Zeichnen der Kinder. Als erstes
Resultat ergibt sich die Überlegenheit des spontanen freien Zeichnens
über das Zeichnen nach Vorschrift. Eine Bestätigung des Prinzipes
Referate, Kritiken und Grenzgebiete.
53
der freien Entwickelung des Kindes und der Bedeutung des Interesses
in der Pädagogik. Die Wahl der Objekte zeigt die Bedeutung des
Milieu für den Reichtum der Vorstellungen des Kindes. In 22 °/o der
Fälle (über 2062 Zeichnungen) werden Gegenstände der unmittelbaren
Umgebung, wie Möbelstücke, Fenster, Gläser... als Objekt gewählt.
Auffallend ist ferner die Uniformität der Zeichnungen. Z. B. alle
Häuser mit Gärten werden gleich gezeichnet, was den Einfluss der
allerersten Modelle deutlich zeigt. „Tout cela prouve que l’enfant se
debarrasse tres difficilement, non seulement des idees et des habitudes,
mais aussi des formes qui lui ont ete, pour ainsi dire, suggerees pour la
premiere fois. Les images se dich ent tres vite dans sa petite tete.“
[Ref.: die Bedeutung der ersten 5 Jahre für die spätere Entwickelung
des Kindes!] Interessant ist, zu konstatieren, dass die Kinder sozu¬
sagen ausschliesslich Erwachsene (in 0,5 °/o auch Kinder) als Objekt
wählen; es entspricht dem mächtigen Wunsche des Kindes gross zu
sein. Der Geschlechtsunterschied markiert sich in der Auswahl
der Objekte: Gegenstände der Umgebung werden gewählt in 17 °/o
der Fälle bei Knaben, in 27 % der Mädchen, Menschen in 10 °/° bei
Kn., 7 % bei Md.; Häuser 15,5 °/o bei Kn., 20 % bei Md.; Blumen
3,5 bei Kn., 14 °/o bei Md.; Tiere 10% bei Kn., 4% bei Md.; Land¬
schaften 5% bei Kn., 1% bei Md.; Szenen aus dem Leben 5,5%
bei Kn., 2 % bei Md.; Schiffe 5 °/o bei Kn., 1 % bei Md.
A. M aeder.
Charles Baudelaire, Toximane et Opiomane par les dd. Royer-
Dupouy. (Annales medico-psy chologiques.) Tome XI. 1910.
Der Verfasser wendet sich ziemlich scharf gegen den bekannten
Kritiker der ,,Revue des Deux Mondes, F. Brunetiere, welcher Baude¬
laire nicht nur einen schlechten Poeten, sondern auch einen „Mystifica-
teur“ nannte. Noch mehr! Einen Poseur, einen „geborenen Lügner.“
Dem widerspricht der Verfasser. Er führt Zeugen, dass sich der Dichter
mit keiner Pose interessant machen wollte: Th. Gautier, der selber
Haschischesser gewesen, C a b an e s, der eine Arbeit über den Sadismus bei
Bandelaire (Chronique medical. 15. XI. 1909) verfasst, und Anthe-
aume et Dromard,- die alle einen mässigen Opium- und Haschisch¬
genuss zugeben. Das Gefühl des Abgrundes („Sensation du gouffre“),
an dem B. moralisch und physisch (!) gelitten, führt Dupouy
nicht auf Intoxikation, sondern auf die Psychasthenie zurück. Nicht
weil er Toximane war, wurde er krank, sondern er wurde Toximane,
weil er litt. Bandelaire warnte vor dem Haschisch, das keine
neue Sensation bringe: „Haschisch enthüllt dem Menschen nichts als
den Menschen.“ B. ist kein Apostel des Lasters und der Orgien. Er
ist ein Seelenkranker, der aller Welt sein zerrissenes Herz zeigt und
vor seinem Tod das erschütternde Geständnis machte: Fleissige Arbeit,
54
Referate, Kritiken und Grenzgebiete.
selbst wenn sie schlecht ist, wiegt alle Träumereien auf!“ — Die an¬
geblichen Siegesschreie des Lüstlings waren nur die klagenden Seufzer¬
laute eines Gefolterten... Dupouy vertritt also die Ansicht, die alle
unsere Analysen immer wieder ergeben: Zum Morphium, Alkohol,
Opium, Kokain usw. greifen die Menschen fast nie wegen körperlicher
Leiden. Die Qualen der Neurose sind es, welche nach Betäubung des
Bewusstseins verlangen. Dr. W. St ekel.
Sigm. Freud: Eine Kindheits erinnerung des Leonardo da
Vinci. (Schriften zur angewandten Seelenkunde. VII. Heft.) Franz
Deut icke. Wien und Leipzig 1910.
„Jeder grosse Mensch hat eine rückwirkende Kraft: alle Geschiche
wird um seinetwillen wieder auf die Wage gestellt und tausend Ge¬
heimnisse der Vergangenheit kriechen aus ihren Schlupfwinkeln —
hinein in seine Sonne. Es ist gar nicht abzusehen, was alles einmal
noch Geschichte sein wird. Die Vergangenheit ist vielleicht immer
noch wesentlich unentdeckt! Es bedarf noch so vieler rückwirkender
Kräfte!“
An dieses „Historia abscondita“ betitelte Aphorisma Nietzsches
(Fröhliche Wissenschaft. Erstes Buch Nr. 34) musste ich denken, als
ich das jüngste Werk Freuds gelesen. Aus einer kleinen Kindheits-
erinnerung des Leonardo, „ein Geier wäre zu ihm herabgekommen, habe
mit dem Schwänze den Mund geöffnet und viele Male mit diesem Schwänze
gegen die Lippen gestossen“ baut Freud ein kühnes — aber logisch sicher
fundiertes Gebäude und macht uns die Individualität des Künstlers,
seine Unfähigkeit ein Werk zu beenden, seinen rastlosen Forschertrieb,
seine Kälte schönen Frauen gegenüber und seine Neigung zu wohl¬
gestalteten Schülern verständlich.
Für den Psychoanalytiker enthält diese geistreiche Arbeit manche
wertvolle Anregung. Zum ersten Male versucht Freud die Schicksale
der infantilen Sexual forschung nach ihrer Verdrängung in Typen zu
fassen. Er führt drei Ausgangsformen dieser Verdrängung an. 1. Die
neurotische Hemmung. Die erworbene Denkschwäche leistet dem Aus¬
bruch einer neurotischen Erkrankung Vorschub. 2. Die Umwandlung
in Grübelzwang, wobei das Grübeln analog dem resultatlosen Ergebnis
der Kinderforschung endlos ist und das entspannende Gefühl der ge¬
fundenen Lösuug nie anhält. 3. Die Sublimierung der sexuell infantilen
Wissbegierde zu einem rastlosen Forschertrieb. Also Hemmung, Zwangs¬
neurose und Forschung als die Endprodukte missglückter infantiler
Sexualforschung.
Leonardo stellt uns den dritten Typus dar. Er wird durch
eine überzärtliche Mutter ein Homosexueller. Er läuft Knaben nach,
um Frauen davon zu laufen. Er identifiziert sich mit der Mutter und
Referate, Kritiken und Grenzgebiete.
55
sucht sich selbst. Aber auch die Identifizierung mit dem Vater hatte
verhängnisvolle Folgen. Er war ein uneheliches Kind, um das der
Vater sich nicht zuviel bekümmerte. In ähnlich herzloser Weise behandelt
Leonardo die Kinder seiner Muse.
Es war mir hier nur vergönnt, einige Brocken aus dem Gerichte
aufzulesen, das uns Freud vorgesetzt hat. Die Bücher dieses Forschers
sind kondensierte Extrakte und vertragen eigentlich keine weitere
Eindickung. Mit den wässerigen Lösungen könnte und wird auch
mancher Arbeiter „hüben und drüben“ seine Suppe bereiten.
Dr. Wilhem Stekel.
Die Transvestiten. (Eine Untersuchung über den erotischen Ver¬
kleidungstrieb.) Dr. Magnus Hirschfeld. (Medizinischer Verlag
Alfred Pulvermacher u. Co., Berlin 1910.)
Aus der reichen Fülle der Sexualprobleme hat Hirschfeld eine
bisher wenig beobachtete Form der Bisexualität herausgegriffen und in
einer umfangreichen Arbeit zu erschöpfen versucht. „Transvestiten“
nennt er Menschen, „bei welchen ein heftiger Drang vorhanden ist, in
der Verkleidung desjenigen Geschlechtes zu leben, dem die Betreffenden
ihren Körperbau nach nicht angehören“. Die Tracht ihrer eigenen
Geschlechtes empfinden sie als etwas Fremdes. Sie fühlen sich in ihr
eingeengt, unfrei und gedrückt. Sehr zutreffend charakterisiert
diese Empfindungen ein Transvestite: „Ich fühle mich in männlicher
Kleidung wie vergewaltigt, und flüchte gewissermassen in meinem
eigenen Ich umher, um aus dem Zustande herauszukommen. Erblicke
ich mich aber im weiblichen Anzug, werde ich vollständig ruhig; der
ganze Organismus funktioniert gleichmässig, es ist wie ein Ausruhen,
wie ein Heimatsgefühl der ganzen Individualität in der Rolle der Frau.“
Ein andrer betont das Triebhafte des Verlangens, indem er meint, dass
es wie Hunger und Durst Befriedigung heische.
Hirschfeld zeigt uns in seinen Krankengeschichten, die sich
manchmal wie weltfremde Romane lesen, in welche unangenehme Kon¬
flikte dieser Verkleidungstrieb die „Transvestiten“ verwickelt. Die Mehr¬
zahl führt ein eigenartiges Doppelleben. Tagsüber in dem Berufe und
Geschäfte als Mann und abends im Heime als Frau und bei Frauen umgekehrt.
Das Merkwürdige erscheint bei oberflächlicher Betrachtung die Beobach¬
tung von Hirschfeld, dass es sich meist um Individuen handelt, die
homosexuelle Empfindungen vollkommen leugnen. Zwischen dem Ver¬
kleidungstrieb und der Homosexualität bestünden nur... Beziehungen.
Aber dieser Trieb sei ein Symptom einer selbständigen Varietät des Ge¬
schlechtslebens. Auf diese Voraussetzung baut Hirschfeld das Buch
auf, indem er ausser den Krankengeschichten noch einen vollkommen
erschöpfenden Überblick über die bisher bekannten, gewissermassen
56
Referate, Kritiken und Grenzgebiete.
historischen Transvestiten und ihre Darstellung in der Literatur in
einwandfreier, geradezu musterhafter Weise bietet. Und doch will es
mich bedünken, dass er das Problem nicht bis auf seine Tiefen erschöpft
und allzu grosses Gewicht auf die Aussagen seiner Transvestiten gelegt
hat. Wir wissen es aus unsern Psychoanalysen, wie häufig Kranke zu
uns kommen mit der dezidierten Behauptung, sie hätten keine Spur
von Homosexualität in sich; die Analyse ergibt als Ursache der Krank¬
heit: eine überstarke homosexuelle Komponente.
Hirschfeld weiss noch nicht, welche ungeheure Rolle der „psy¬
chische Hermaphroditismus“ im Leben der Neurotiker spielt 1 ). Ich
verweise ihn diesbezüglich auf die interessante Arbeit des Kollegen
Alfred Adler: „Der psychische Hermaphroditismus.“
Seine Transvestiten mögen keine homosexuellen Neigungen zeigen.
Sie haben eine Verschiebung vom Körperlichen auf das Symbol vor¬
genommen: Statt der homosexuellen Objektliebe tritt die Identifizierung
mit dem andern Geschlechte durch gewisse sekundäre neurotische
Geschlechtsmerkmale, wie es das Kleid ist, auf. Wie sind diese wunder¬
lichen Menschen zu diesen wunderlichen Verschiebungen gekommen?
Wie wird man ein Transvestite? Ich komme damit auf einen wunden
Punkt. Was dem Buche von Hirschfeld fehlt, ist die gründ¬
liche Psychoanalyse seiner Fälle. Er bietet uns wohl einen
genauen psychischen Status, das heisst er berichtet uns getreulich
alles, was der Kranke bewusst weiss; aber von den unbewussten
Regungen seiner Transvestiten vernehmen wir sehr wenig. Doch
das Wenige mahnt uns Erfahrene zur Vorsicht. Gleich der erste
Fall, der wohl von hübschen Damen träumt, aber einmal sich im Traume
als Dame erblickt; im Momente als er sich den Schleier umbinden
will, erfolgt eine Pollution. Das beweist ja, die starke Identifizierung
dieses Mannes mit einer Frau und lässt fast auf eine Deflorations¬
phantasie schliessen. („Mit dem Gürtel mit dem Schleier reisst der
holde Wahn entzwei.“) Offenbar ist in diesem Traume die Defloration
in der Umkehrung dargestellt. In coitu macht dieser Herr gern den
„Succubus.“ Auch ist uns Psychoanalytikern verdächtig, dass es ihm
übey alle Massen fatal und widerwärtig war, wenn ihm, sobald er
als Fräulein verkleidet war, die Herren nachstiegen. Wir fühlen uns
verleitet, diesen Ekel leicht in das Gegenteil und in einen verdrängten
Wunsch aufzulösen. Fall II gibt an, dass er erst nach dem 20. Lebens¬
jahr den ersten Koitus ausgeführt und dazu seine „ganze Schüchtern¬
heit und seine Abneigung gegen alles körperlich Sexuelle“ mit Alkohol
betäuben musste. Diese scheinbare Geschlechtskälte lässt darauf schliessen,
dass die Frau offenbar nicht sein entsprechendes Sexualobjekt gewesen.
A ) Fortschritte der Medizin 1910. Nr. 16.
Referate, Kritiken und Grenzgebiete.
57
Wenn er sagt, „zu Männern habe ich nie Neigung verspürt; bloss als
Dame verkleidet habe ich gerne mit ihnen kokettiert und gespasst“, so
werden wir nicht ohne Berechtigung den Akzent auf den Nachsatz
legen und den Vordersatz als Zeichen von Verdrängung auffassen'.
Auch Fall III behauptet, der Gedanke an homosexuellen Verkehr
sei ihm „zuwider u ; er wünschte aber als Weib geboren zu sein. Also
wieder der verdächtige Ekel, der auf starke Homosexualität schliessen
lässt. Weitere Aussagen dieses Mannes, wie: er habe sogar das starke
Begehren nach einer Schwangerschaft gehabt und es sei ihm aufgefallen,
dass er in coitu gern den „succubus“ gespielt habe, bestätigen
unsern Verdacht. Uns ist es nicht merkwürdig, dass ihm seine Frau
jetzt männlich vorkommt. Wir sehen darin die einzige Möglichkeit
der Ehe: Seine Frau spielt den Mann, während er sich mit einem
Weibe identifiziert. Wichtige Aufschlüsse wären allerdings über diesen
Modus der Identifizierung zu geben. Welche Rolle spielt der Trans-
vestite? Ist es die Mutter, ist es eine Schwester, ist es eine Gouver¬
nante oder ist es nur der Wunsch nach jener infantilen libido, die der
Mann gehabt hat, als er noch ein Kleidchen trug? Die letztere Hypo¬
these würde allerdings den weiblichen Transvestiten nicht erklären.
Doch gehen wir in unserer Analyse weiter.
Fall IV kann keinen Congressus ausüben, ohne sich selbst dabei
als Weib vorzustellen. Seine Frau muss die Nägel in seine Ohrläppchen
pressen, um bei ihm das Gefühl hervorzurufen, als besässe er Ohr¬
gehänge, und ihn mit den Armen sehr stark an sich drücken. Dieser
Mann konnte in den ersten 3 Wochen der Ehe keinen Congressus zu¬
stande bringen.
Auch Fall IX gibt „Ekel“ vor Homosexualität an, verachtet
Urninge und weibliche Männer sehr tief; masturbiert im Kostüme;
dabei führt er einen Koitus mit sich selber aus, mit Wachskerzen und
Zigarren, also in vollständiger Phantasie ein Weib zu sein.
Fall XII macht eine offene Schwankung zu Homosexualität durch,
die nach Hirschfeld nur eine scheinbare, eine Selbsttäuschung
war. Fall XIV liebt nur männliche Frauen, denen er sich gegenüber
als Weib fühlen will. Er spielte beim ersten Congressus den Succubus.
In vier Jahren eines Zusammenlebens mit einer Frau führt er ein
einziges Mal (!) den Congressus aus. Diese Zurückhaltung beweist,
dass sein Sehnen nach anderen Objekten geht. Das Spielen mit
einem Kinde ersetzt ihm alle andere libido. Er möchte am liebsten
sich als Kindermädchen verdingen (Identifizierung mit seinem Kinder¬
mädchen?). Fall XIV hat eine Frau, die sehr energisch ist usw.
Ich glaube, aus dieser flüchtigen Umschau ergibt sich schon ein
Material, das für Homosexualität spricht und zur genauen psychoana¬
lytisch n Durchforschung dieser Fälle auffordert. Infolge dieser meiner
58
Referate, Kritiken und Grenzgebiete.
Überzeugung will ich auf die Klassifizierung Hirschfelds nicht zu
ausführlich eingehen. Er möchte dem Verkleidungstriebe eine besondere
wissenschaftliche Marke geben, weil er ihm als eine besondere Form
der Zwischenstufen ansieht. Ich glaube, dass es sich nur um eine der
Ausdrucksformen des ,,psychischen Hermaphroditismus“ handelt, bei
dem das Sexualbegehren von dem Körper auf das Kleid, also auf das
Symbol verschoben wurde. Zukünftige Psychoanalysen, die Hirschfeld
wohl selber vornehmen wird, werden ja diese Streitfrage sicherlich ent¬
scheiden. Hirsehfeld gebührt Anerkennung und Dank, dass er ein
so interessantes Kapitel der Sexualpathalogie in so klarer und über¬
sichtlicher Weise, mit so grossem Fleisse und mit dem ihm zu Gebote
stehenden Scharfsinn bearbeitet hat. Wir können die Lektüre dieses
Buches nur aufs wärmste empfehlen. Vom Verfasser erhoffen wir uns
bald eine Fortsetzung dieser Arbeit, welche uns über das geheime
Seelenleben dieser Menschen die unentbehrlichen Aufschlüsse geben
wird. Er wäre gewiss dazu geeignet, die Frage des Verkleidungstriebes
endgültig zu lösen. Dr. Wilhelm Stekel.
Die Epilepsie im Kindesalter mit besonderer Berücksichtigung er¬
zieherischer, unterrichtlicher und forensischer Fragen, dargestellt
von Professor Dr. Heinrich Vogt. S. Karger, Berlin 1910.
225 Seiten.
Bis vor kurzem war die Lehre von der Epilepsie in ätiologischer
und anatomischer Beziehung der Tummelplatz mutiger Hypothesen¬
schmiede, unsere therapeutischen Bemühungen aber vom grauesten Pes¬
simismus befangen. Auch in dieses Gebiet hat die Forschung der
letzten Jahre etwas Licht gebracht, und wir dürfen hoffen, den Begriff
der Epilepsie mehr und mehr des Geheimnisvollen zu entkleiden. Es
war ein guter Griff des um den Gegenstand verdienten H. Vogt, uns
den gegenwärtigen Stand der Lehre in einer flott geschriebenen Mono¬
graphie darzustellen. Eine grosse eigene Erfahrung — zahlreiche in¬
struktive Belege für seine Ausführungen geben davon Zeugnis — eine
genaue Kenntnis der Literatur — ihr verdanken wir ein ausführliches,
praktisch zusammengestelltes Verzeichnis am Schlüsse des Buches —
und die pathologisch-anatomische Kontrolle als unverrückbare Basis
liefern ihm das Material zu seiner lichtvollen Darstellung.
Die Epilepsie ist ein Sammelnamen für ein klinisch überaus mannig¬
faltiges Bild verschiedenen Ursprungs und Ausgangs. Es ist jetzt schon
möglich, eine Anzahl pathologischer Einheiten aus diesem Sammelbegriff
herauszuschälen und das Gebiet der geheimnisvollen ,,genuinen“ Epilep¬
sie mehr und mehr einzuengen. So wird die Spasmophilie abgegrenzt,
die „organische“ Epilepsie (Trauma, akut-entzündliche Erkrankungen,
Tumor), die Epilepsie auf syphilitischer Basis, die tuberöse Sklerose,
Referate, Kritiken und Grenzgebiete.
59
eine hydrozephalische Epilepsie, die Ansätze zur Formulierung einer
Stoffwechselepilepsie erörtert. Für den an der Psychoanalyse Interes¬
sierten ist die Scheidung der Hysterie und Epilepsie, die Vogt aus¬
führlich bespricht, von grosser Wichtigkeit, dann aber auch mancher
wertvolle Hinweis auf das psychische Verhalten des Epileptikers, das
bisher auch nur deskriptiv, aber noch nicht analytisch behandelt wurde.
Besonders wertvoll scheint mir der Abschnitt über die Therapie. Immer
wieder verlangt der Verfasser die exakteste klinische Untersuchung und
Beobachtung. Nur so gelingt es, den Einzelfall richtig ‘zu erfassen, seine
Prognose zu klären und die Indikationen für seine Therapie, die dem
sorgfältigen Beobachter manchen schönen Erfolg bringen kann, zu
gewinnen. Vogt ist aber auch ein warmfühlender Mensch, und so
vertieft er sich in die Fragen der Erziehung, des Unterrichtes, der
Berufswahl des Epileptikers, bespricht die Aufgaben, die der sozialen
Fürsorge zu seinem Schutz und zum Schutze der Gesellschaft vor ihm
erwachsen, und schliesslich, selbst ein vielerfahrener Gutachter, die
Schwierigkeiten, die dem ärztlichen Sachverständigen vor Gericht bei
der Beurteilung von Straftaten erwachsen, die von Epileptikern oder
der Epilepsie Verdächtigen begangen wurden. Aus diesen Ausführungen
wäre manche wertvolle Anregung für die Verwaltung und Gesetzgebung
zu holen. Friedjung.
Vorlesungen über die Psychopathologie des Kindesalters für Medi¬
ziner und Pädagogen von Dr. Wilhelm Strohmayer, Privat¬
dozenten an der Universität und Spezialarzt für Nervenkranke in Jena.
Tübingen, H. Laupp, 1910.
Ein fesselndes, lehrreiches Buch soll hier besprochen werden, dessen
Lektüre und Studium ich den Hausärzten und Kinderärzten eindringlich
empfehlen möchte. Dass es sich an Pädagogen zugleich wendet, bedeutet
keine der Gründlichkeit abträgliche Popularisierung; Strohmayer,
der das Wirken der modernen Heilpädagogik aus eigener mehrjähriger
Beobachtung kennen und schätzen gelernt hat, ist vielmehr bemüht, der
Pädagogik ihre natürlichen Grenzen zu ziehen und den Arzt, freilich
den psychiatrisch und psychologisch gut vorgebildeten, in seine Rechte
einzusetzen. — Das Buch ist in 12 Vorlesungen gegliedert fliessend
geschrieben und mit 84 nach der Art mancher guter alter Lehrbücher
in den Text eingeflochtenen Krankengeschichten wirksam illustriert.
Die reiche eigene Erfahrung, auf die sich der Autor in allen Kapiteln
stützt, gibt dem Buche eine anregend persönliche Färbung. Er behan¬
delt folgende Gegenstände: Psychiatrie und Pädagogik, allgemeine
Ätiologie und Prophylaxe kindlicher Nervosität, die psychopathischen
Konstitutionen des Kindesalters, Neurasthenie und Chorea beim Kinde,
Behandlung konstitutionell psychopathischer und neurasthenischer Kin¬
der, die Hysterie im Kindesalter, ihre Pathogenese, Symptomatologie,
60
Referate, Kritiken und Grenzgebiete.
paroxystische Krankheitserscheinungen und Behandlung, die Epilepsie im
Kindesalter, ihre Symptomatologie, Diagnose, Ätiologie, Prophylaxe und
Behandlung, die Ursachen und die Symptomatologie des angeborenen
Schwachsinns, die Behandlung und Fürsorge beim jugendlichen Schwach¬
sinn, Moral insanity, die wichtigsten akuten Geisteskrankheiten des
Kindesalters. Ein wertvoller Literaturnachweis schliesst das Werk.
Strohmayer hat in die Seele des Kindes einen tiefen Blick
getan; das vorurteilslose Studium der Arbeiten Freuds und seiner
Schule hat ihn - dazu ganz besonders befähigt, und darin liegt zum
guten Teil sein Fortschritt gegenüber älteren und neueren Autoren, die
über Systematik und Beschreibung der klinischen Bilder nicht weit
hinausgekommen sind. Freud hat uns viele von ihnen verstehen gelehrt
und in Strohmayer begrüssen wir den ersten Kinderarzt, der den
Mut gehabt hat, der Sexualität die ihr in der Pathologie gebührende
Rolle zuzuerkennen. Namentlich bei der Besprechung der allgemeinen
Ätiologie und Prophylaxe der kindlichen Nervosität und der psycho¬
pathischen Konstitutionen findet sich manche schöne Beobachtung,
mancher dankenswerte Wink auf diesem Boden erwachsen. Von Einzel¬
heiten möchte ich beispielsweise die Besprechung der körperlichen
Züchtigung nennen, die er bei krankhaft gesteigerter Affektreaktion
generell verwirft, und deren Bedeutung für künftige Perversionen an
einem Beispiel schön veranschaulicht wird, und die Bedeutung der Ver¬
drängung sexueller Regungen für die Entwickelung der Neurosen. Wenn
der Autor aber hier zwei Typen unterscheidet, die Schüchternen,
Schamhaften, die sich später zu frigiden Naturen entwickeln, weil sie
alles Sexuelle ablehnen, und die von abnorm starker Sexualität Heim¬
gesuchten, so dürfte eine eingehende Analyse erweisen, dass eine solche
Trennung nicht aufrecht zu erhalten, dass die übermässige Ablehnung
vielmehr nur eine Abwehr des mächtigen Trieblebens ist. Und hier
darf ich wohl nach so reichlichem, wohlverdienten Lob meine Aus¬
stellungen anknüpfen. Strohmayer scheint mir nicht konsequent
genug in der Verwertung der Freudschen Lehren; gar manche der
von ihm ausführlich geschilderten Erscheinungen psychopathischer Kon¬
stitutionen lassen sich leicht auf ihre psychosexueile Wurzel zurück¬
führen, wie es mir z. B. erst kürzlich bei der Berührungsidiosynkrasie
eines 12jährigen Knaben gelungen ist. Nicht minder wert einer solchen
Untersuchung scheinen mir die von Str ohmayer geschilderten Krank¬
heitsbilder der Dementia hebephrenica, der Pubertätsmanie, der akuten
halluzinatorischen Verwirrtheit; schon die kurzen Krankengeschichten
verlangen dringend nach einer derartigen Erweiterung, überall drängt
sich das psycho-sexuelle Moment mehr oder weniger aufdringlich vor,
und es gilt hier nur, den Bahnen Jungs zu folgen. Bei einer kon¬
sequenteren Beobachtung dieses Gesichtspunktes wird vielleicht auch
Referate, Kritiken und Grenzgebiete.
61
die Erörterung der Therapie in Strohmayers Buch manche wert¬
volle Ergänzung erfahren können. — In der Frage der Erblichkeit stellt
sich der Verfasser, offenbar ohne es zu wissen, auf den Boden der
Minderwertigkeitslehre Adlers. Besonders hervorheben möchte ich
zum Schlüsse noch die zwei Vorlesungen über Epilepsie, die sich auf
eine Fülle von interessanten eigenen Beobachtungen stützen und auch
dem Kenner der Materie manches Neue bringen. Hoffentlich erlebt
das Buch bald eine neue Auflage, in der der geschätzte Autor den
Umbau der Psychopathologie des Kindesalters auf moderner Grundlage
weiterführt. Friedjung.
The Hygiene of the Soul. Von Gustav Pollak. (New York-Dodd,
Mead and Company 1910.)
Das ziemlich umfangreiche Werk ist dem Andenken des
grossen Arztes und Psychotherapeuten Feuchtersieben gewidmet.
Es ist symptomatisch von gewisser Bedeutung, da es ein neuer Beweis
ist, welch grosses Interesse man in Amerika der Psychotherapie ent¬
gegenbringt. Es enthält ausser einer Würdigung des grossen Denkers
und Arztes Feuchtersieben, die wichtigsten Stellen aus der Diätetik
der Seele und eine Reihe von Aphorismen, welche Pollak den bedeu¬
tendsten Leistungen dieser Art, wie den Aphorismen von Marc Aurel,
Pascal und Goethe gleichstellt.
Tatsächlich ist Feuchtersieben entschieden der bedeutendste
Vorläufer der modernen Psychotherapie; seine ärztliche Seelenkunde
ist jedenfalls eine ausserordentliche Leistung und interessiert den mo¬
dernen Arzt nicht nur als historische Quelle, sondern als Fundgrube
wichtiger psychologischer Erkenntnisse. Als Beispiel von der grossen
Übersetzungskunst Pollaks will ich hier folgenden Vers in seiner
Fassung mitteilen:
„Eure Hausmoral ist eine
Exzellente Wissenschaft,
Gibt uns Stelzen, raubt uns Beine,
Leiht uns Krücken, stiehlt uns Kraft.“
(„Queer, indeed, your practice pious,
Queer the Science you reveal!
Stilts and crutches you supply us,
But our legs, our strength, you steal.)
Dieser Vers war eine Antwort auf die Ausführungen Adalbert
Stifters, welcher als Heilmittel für alle Seelenschmerzen das
schrankenlose Unterwerfen unter die strengste Moral predigte.
Dr. W. St.
Über traumartige und verwandte Zustände. Von S. Löwenfeld,
München. (Zentralblatt für Nervenheilkunde und Psychiatrie, neue
Form, 20. Band 1909.)
62
Referate, Kritiken und Grenzgebiete.
Im Gegensätze zn der bekannten Erscheinung des „de ja vu“,
die von verschiedenen Psychologen eingehend studiert wurde, ist das
Gefühl des Fremden und Traumartigen bisher sehr wenig gewürdigt
worden. Es scheint mir sehr verdienstvoll, dass Löwenfeld an
12 Fällen eine Analyse dieses Zustandes versucht. Ich sage versucht,
weil ich die Empfindung habe, dass Löwenfeld das Problem in seiner
Gänze noch nicht erschöpft hat. Immerhin hat er bei der Betrachtung
dieser Zustände auf ein wesentliches Moment aufmerksam gemacht,
nämlich auf die Begleitung eines starken Affektes und
zwar meist eines Angstaffektes. — Wir müssen, sagt der Autor,
den Angstzuständen einen wesentlichen Anteil an der Hervorrufung des
Fremdartigen und Traumartigen des Automatismus zuerkennen. Zum
Beispiel, ein Patient klagt über das Gefühl, das ihn beständig verfolge
und belästige. Es ist ihm, als ob er, der doch Familie hat, allein auf
der Welt stände. Wenn er auf der Strasse geht, erscheint ihm alles
eigenartig fremd. Wenn seine Frau mit ihm spricht, oder Freunde
sich mit ihm unterhalten, hat er ebenfalls das Gefühl des Fremd¬
artigen. Die Stimme aller Personen seiner Umgebung kommt ihm ver¬
ändert, fremdartig vor und wenn eines seiner Kinder auf ihn zuläuft,
erscheint es ihm ebenfalls als fremd. Auf der Strasse leidet er unter
inhaltlosen Angstzuständen. Seit einiger Zeit zeigt sich bei ihm auch
eine gewisse geistige Apathie. In einem zweiten Falle beschränkt sich
dieses Gefühl des Fremdartigen auf die Mutter. Es ist dem Kranken,
(löjähriger Knabe) als ob er die Mutter erst suchen müsste, als ob
seine Mutter eine ihm fremde Person sei. Andere Kranke haben dieses
Gefühl des Fremden auch in Bezug auf leblose Objekte, auf die Woh¬
nung, auf die Strasse, durch die sie gehen und die sie verändert finden,
insbesondere in Bezug auf Richtung und Anordnung. Diesen Zuständen
ähnlich, aber meiner Ansicht nach durchaus nicht identisch sind jene
Zustände, in denen der Neurotiker — um solche handelt es sich ja
immer in diesen Fällen — die Empfindung bat, er lebe in einem Traume,
sei nicht das wirkliche Leben, in dem er sich befinde.
Löwenfeld bemerkt mit Recht, dass die bisherigen Erklärungen
dieses Zustandes nicht ausreichen. Raymond und Jan et nehmen
eine Funktion des Reellen an und führen natürlich diese Störung auf
eine Schädigung oder einen Verlust dieser Funktion des
Reellen zurück. Die Kranken befänden sich in einem Zustande der
„herabgesetzten psychologischen Spannung“. Strohmayer fasst den Zu¬
stand als Mangel des Hervortretens des Ichgefühles im Ablaufe der Ideen-
Assoziationen auf, also als eine Störung deslchgefühls. Am tiefsten
in der Erkenntnis dieses Zustandes ist J u n g gekommen, der sich darüber
folgendermassen äussert: „Wenn wir von einem Komplexe beherrscht sind,
so haben bloss die Komplexvorstellungen Farbentöne, das heisst, volle
Referate, Kritiken und Grenzgebiete.
63
Deutlichkeit. Alle anderen, von innen oder aussen stammenden Trenn¬
ungen unterliegen der Hemmung, wodurch sie undeutlich werden, das
heisst, den Gefühlston verlieren. Das ist die Grundlage, auf der es zur
Unvollständigkeit der Tätigkeitsgefühle und schliesslich zur Affektlosig-
keit kommt. Diese Störungen bedingen ohne weiteres das Gefühl der
F r emdartigkeit.“
Löwenfeld macht nun mit Recht darauf aufmerksam, dass auch
ein Affekt durch Einengung des Bewusstseinfeldes dieses Gefühl des
Fremden erzeugen kann und führt das Bekanntheitsgefühl auf zwei
Faktoren zurück. Erstens: „Die Deutlichkeit der Wahr¬
nehm u n g“ und zweitens: „d i e R e p r o d u k t i o n“. Ist die Deut¬
lichkeit der Wahrnehmung gestört, so entsteht das Gefühl der Inkon¬
gruenz des Gefühles, der frühere Eindruck, das Objekt scheint verändert
und fremdartig. Ist die Reproduktion beeinträchtigt, so erscheint das
Objekt nur neu und unbekannt aber nicht verändert. Seine Beob¬
achtungen weisen darauf hin, dass bei beiden Modalitäten die Beein¬
trächtigung des Bekanntseinsgefühles vorkommt. Nun scheint bei dieser
Erscheinung der Angstaffekt, wenn ich Löwenfeld recht verstehe,
eine wichtige Rolle zu spielen, offenbar dadurch, dass er die Deutlich¬
keit der Wahrnehmung oder auch der Reproduktion stört. Der Autor
gibt aber selber zu, die Rätsel des Fremdartigen und Traumartigen
damit nicht gelöst zu haben.
Einige eigene Analysen solcher Fälle scheinen mir eine präzisere
Erklärung dieses Phänomens zu gestatten. Sicher ist es, dass ein Affekt
dabei die Hauptrolle spielt, aber dass es nicht der Angstaffekt allein
ist, erscheint mir klar. Man wird den Angstaffekt in solchen Fällen
wohl nie vermissen, aber mehr als Ausdruck der Verdrängung, das
heisst, einer unterdrückten libido. Der Angstaffekt ist meiner Ansicht
nach nicht die Ursache, sondern eine der Begleiterscheinungen dieses
Zustandes. Es handelt sich nicht um ein Nacheinander, sondern um
ein Nebeneinander. Ich behalte mir vor, demnächst auf dieses für die
Psychopathologie der Neurose so wichtige Problem ausführlich zurück¬
zukommen. Dr. W. St.
Über den Gegensinn der Urworte. So betitelt sich eine sehr
interessante Schrift von Karl Abel 1 ). Wie oft werfen uns Gegner der
Traumdeutung vor, dass es nicht angehe, die Worte und Handlungen
ins Gegenteil zu verkehren, um einen Sinn heraus zu bekommen.
Nun — der alte Schuber th, dessen Buch „Die Symbolik des
Traumes“ noch 1840 erschienen ist, hat diesen Gegensinn schon
gekannt. Man kann ihn ruhig als einen Vorläufer Freuds bezeichnen,
so tief ist er in manche Probleme der Traumdeutung eingedrungen!
*) Vergleiche das Referat von Prof. Freud: Jahrbuch II. Band.
64
Referate, Kritiken und Grenzgebiete.
Doch lassen wir Schuberth das Wort.
Aus dem Werke „Die Symbolik des Traumes“ 1 ):
„Eine neuere, tiefer gehende Sprachforschung hat jene alte Ver¬
wechslung selbst überall in der artikulierten Sprache und der Ver¬
wandtschaft ihrer Worte unter einander nachgewiesen. Zuerst zeigt
sich häufig, dass die Worte, welche ganz entgegengesetzte Be¬
griffe bezeichnen, aus einer und derselben Wurzel hervor,
gehen, als wenn die sprechende Seele anfangs mit den Worten nicht
die äusserlichen, einander entgegengesetzten Erscheinungen, sondern das
(doppelsinnige) Organ bezeichnet hätte, das zum Auffassen dieser Klasse
von Erscheinungen geeignet ist. So sind die Worte, welche warm
und kalt bezeichnen, nicht nur noch jetzt in mehreren Sprachen
gleichlautend: z. B. Caldo, das im Italienischen warm bedeutet, ist
gleichlautend mit unserem kalt; sondern selbst in einer und derselben
Sprache gehen die Worte für kalt und warm aus einer und derselben
Wurzel hervor (gelu, gelidus, Kälte, kalt, mit caldo, calidus, warm),
und der Gott des heissen Südens ist aus dem kalten Norden geboren.
So wie sehr häufig in Mythus und Sprache die gute Gottheit mit dem
Bösen verwechselt und wiederum das Böse als Gutes genommen wird,
so entspringt auch im Persischen, wo doch sonst der Mythus beide
entgegengesetzte Prinzipien scharf voneinander zu halten scheint, der
Name des bösen Ahriman und des Lichtgottes Orim-Asdes aus einer
Wurzel, eben so wie (Liebe) und Zwist, und in verschiedenen
Sprachen die Worte für Einigkeit nnd Vereinigen und für den Feind
und entzweien (fast auf dieselbe Weise, wie nach Schwedenborg
aus sinnlicher Liebe jenseits der grimmigste Hass geboren wird.) Auch
Licht (das Symbol der Wahrheit), und Lug und Lüge entspringen in
verschiedenen Sprachen aus einer Wurzel, weil das Licht, (der schöne
Morgenstern wie es anderwärts heisst) indem es sich zur sengenden
Flamme entzündete, der verzehrende Wolf und der böse Loghe geworden,
der als Hund und Hündin auch anderwärts in unreiner Bedeutung
erscheinet. Jene zweifache (brennende und leuchtende) Natur des
Lichtes, begegnet sich in der Sprache und im Mythus allenthalben.
Das Blut erscheint ebenfalls in beiden unter der Bedeutung des
Giftes, des Zornes, des rasenden Grimmes, und unter jener der
Versöhnung, Besänftigung, Belebung, Raserei und ruhige
Besinnung, Finsternis und Licht, das schwere Metall und der leichte
Vogel, Luft und Eisen, die Bezeugungen der Freude und der Trauer,
niedrig und hoch, sinnliche Lust und Entmannung und
alle in ihrer Bedeutung noch so entgegengesetzt scheinenden Worte
gehen auf dieselbe Weise aus gemeinschaftlicher Quelle hervor, und das
*) Leipzig, F. A. Brockhaus 1840.
Referate und Kritiken.
65
Lamm, sowie der Widder, welche öfters Symbole des schaffenden Wortes
sind, erscheinen als Bock anfangs als Ausdruck des zeugenden Prinzips,
dann der gröbsten Wollust (auch hier Lamm und Flamme aus einer
Wurzel), oder als Schlange, in einer bald wohltätigen, bald furchtbaren
Bedeutung.
Auf eine merkwürdige Weise lässt sich nicht selten noch in der
Sprache und im Mythus der Weg deutlich nachweisen, auf welchem
die Worte von der einen Bedeutung in die andere ganz entgegen¬
gesetzte übergegangen sind. Wir wollen auch hier nur einige wenige
Beispiele hervorheben. Die Verwandtschaft des Erkennens und Zeugens
ist schon von Franz Baader auf eine merkwürdige Weise dargetan
worden. Auch in der Sprache und im Mythus ist die Taube, welche
als heiliger Lebensgeist das Lebenswasser der Schöpfung, so wie den
erkennenden Menschengeist bewegt, mit dem Vogel Phönix und der
Palme gleichbedeutend Die Palme, so wie die Blume der Nacht am
Lebensquelle, oder anderwärts die Eiche, Weinstock, Feigenbaum, wird
hierauf zum Baume der Erkenntnis, welcher zugleich Baum des Haders
ist. Endlich so wird der Baum der Erkenntnis zum Lingam, zum
Werkzeuge und Symbole sinnlicher Geschlechtslust. Auf dieselbe Weise
wird auch das erkennende Auge (der Brunnen des Lichts, das Wort)
auf der einen Seite zur bauenden, schaffenden Hand, auf der anderen,
zugleich mit der Hand, gleichbedeutend mit dem Organe der körper¬
lichen Erzeugung. Das belebende Auge wird nun zugleich tötend, die
Wahrheit bezeugende, schwörende Hand wird die täuschende, Lügen
verkündende, zaubernde. So ist denn jene keusche Jungfrau des
Mythos, die nie von dem Hauche einer sinnlichen Lust berührt worden,
zu der unkeuschen Göttin der ausgelassensten wildesten Wollust gewor¬
den, das schaffende, geistig erkennende Wort ist nun durch eine furcht¬
bare Verwechselung unter dem Bilde des gräulichen Bockes Mendes
angeschaut worden, dessen Kultus alle Schandtaten der ausgeartetsten
tierischen Wollust in sich vereinte, aus dem Fische und der Fisch¬
schlange der sinnlichen Lust 1 ) ist aber auch jenes furchtbare Gift
gekommen, welches die Welt und das Leben vergiftet hat. Das Wort
der Liebe, der heilige Name, das Gesetz sind zur Strafe, zum Zorne,
zur Rache geworden. 1 )
Ebenso wie sich durch jene grosse Sprachenkatastrophe das Gute
ins Böse, das Licht in die Finsternis verkehrt hat, so verstellt sich
umgekehrt das Böse ins Gute, und in häufigen Beispielen, wozu sich
i) Merkwürdig ists, dass selbst noch in einer Branche der Traumsprache die
Schlange Sinnlichkeit bezeichnet. Man erinnert sich dabei an Schwedenborgs
Traumgeisterwelt. „Das körperliche Sinnliche“, sagt er irgendwo, „wird im andern
Leben durch Schlangen vorgestellt.“
Zentralblatt für Psychoanalyse.
5
CG
Referate und Kritiken.
schon die obenangeführten gebrauchen lassen, erscheint, in Mythos und
Sprache, das Böse und Giftige, täuschend, in lieblicher Gestalt, als
Gutes und Heilbringendes. Dr W. St.
Zur Psychologie von Tot und Lebendig. Nicht ganz ohne
Bemerkung möchte ich hier eine Stelle aus Grillparzers Tage¬
büchern anführen.
„Die Magd bei Fröhlich erzählte, dass, als ihr Y T ater gestorben,
,,den sie gar so lieb gehabt“, und sie beim Waschen und An¬
kleiden des Leichnams mitgeholfen, sei ihr die starre Kälte desselben
entsetzlich gewesen. Da habe sie gedacht, wenn eine „junge und gesunde
Person“ sich zu ihm lege, vielleicht könne die Wärme ihn wieder zu
sich bringen. Als daher nachts alles schlief, sei sie aufgestanden, habe
sich zu ihrem Vater ins Bett gelegt und so die ganze Nacht bei ihm
ausgehalten. Am Morgen vermisst und überall gesucht, wurde sie end¬
lich bei dem Leichname halb erstarrt gefunden. Eine tüchtige Tracht
Schläge war der Lohn für den allopathischen Heilversuch. Es liegt
etwas Grässliches, aber auch Heroisches in dieser liebevollen Albernheit.“
Was ging hier vor sich? Aus meinen Traumanalysen habe ich
die Kenntnis dieses psychischen Mechanismus gewonnen. Es handelt
sich um eine Identifizierung vom Menschen und seinem Phallus. Der
Tote ist in den Träumen sehr häufig der tote d. h. nicht erigierte
Penis der durch Feuer, Wärme, Berührung lebendig wird, — was wieder
eine Erektion bedeutet. Diese Identifizierung des Menschen mit seinem
Geschlechtsteile ist ungemein häufig und eine versteckte Wurzel vieler
neurotischer Symptome. Die „Leiche“ ist im Volksbewusstsein nicht
immer der Tote.
Rudolph Kleinpaul sagt:
„Leiche ist von Haus aus ziemlich dasselbe wie Leib und nicht
notwendig etwas Totes. Es ist ein allgemeiner Ausdruck für die
äussere Erscheinung und die Gestalt eines Menschen, was wir mit einem
sehr edlen und schönen alten Begriffe: ein Mannsbild oder ein Weibs¬
bild nennen. Jedermann hat eine Leiche, bereits bei Lebzeiten : stimmt
unsere Leiche mit der Leiche eines anderen überein, so sind wir dem
anderen g-leich, will sagen : kon-form. Besitzt ein Individuum die Leiche
eines Mannes, so ist es männ-lich, englisch: man-like, d. h.: einem
Manne ähnlich. Das Wort bildet eines der wichtigsten, lebendigsten
Formelemente unserer Sprache. Und weil im Tode vom Menschen nur
die äussere Erscheinung wie ein Wachsbild übrig bleibt, deshalb hat
man das Wort Leiche auf den Kadaver eingeschränkt.“ (Die Leben¬
digen und die Toten in Volksglauben, Religion und Sage. Leipzig,
G. J. Göschen sehe Verlagshandlung 1898, Seite 7 bis 8, 1. c.).
Dr. W. St.
Referate und Kritiken.
67
Rechts und links»
Über die Symbolik von rechts und links habe ich in den „Bei¬
trägen zur Traumdeutung" (Jahrbuch I) neue Erfahrungen mitgeteilt.
Auch Dr. Alfred Adler hat in seinem Vortrage „Der psychische
Hermaphroditismus“ betont, dass die rechte Seite als die männliche,
die linke als die weibliche empfunden wird. Wir bringen zu diesem
interessanten Thema folgende wichtige Ausführungen, welche sich in
dem Buche „Fuss- und Schuh-Symbolik und -Erotik“ von Dr. Aigre-
mont finden 1 ).
„Schon in frühen Zeiten sind rechte wie linke Seite, rechter wie
linker Fuss von der Symbolik der Völker umsponnen worden. Die
Bevorzugung der rechten Körperhälfte (Hand, Fuss) ist uralt, man
denke an die jahrtausend lange Wirkung auf die linke Hirnhälfte. —
Man setzte die beiden Geschlechter den beiden Seiten gleich, und sah
in der rechten Seite das aktive, erwerbende männliche Prinzip, in der
linken das aktive, erhaltende weibliche; die rechte ist die zeugende,
die linke die empfangende Seite. Wir haben genügende und hinläng¬
lich deutliche Zeugnisse, dass das Altertum die Weiblichkeit lediglich
auf die linke Seite verlegte. Plutarch (Symp. 8, 8 und 5, 7) gibt die
weit verbreitete Ansicht wieder: die Knaben würden aus dem rechten,
die Mädchen aus dem linken Hoden gezeugt. Plinius (7, 7) berichtet
von den sagenhaften Machlyern, die als vollkommene Zwitter sich
wechselseitig bald als Mann bald als Weib begatten konnten: Archi-
stoles fügte hinzu, dass ihre rechte Brust männlich, ihre linke weib¬
lich sei. — Besonders bei dem Fusse tritt diese Unterscheidung
zu Tage: der rechte Fuss gilt als männlich, der linke als weiblich.
Der linke ist der mütterlichen Erdgottheit, der tellurischen Weiblich¬
keit geweiht. Der ein beschuhte Jason trägt die Sandale an dem rechten
Fusse, die linke verliert er im Sumpfe, d. h. mit dem nakten linken
Fuss schreitet der erdbefruchtete Dämon durch die gebärende Erd¬
materie, der verlorene linke Schuh ist das Symbol ihrer Erdfruchtbarkeit,
ihrer Kteis, die der Dämon begattet. Im Anschluss an Jasons
nackten linken Fuss bemerkt der Scholialist zu Pyth. 4, 133: dass
auch die Ätoler mit naktem linken Fuss in die Schlacht zögen, und
Macrobius berichtet, dass jene Sitte die Herniker in Italien von
den Atolern übernommen hätten. Diese Entblösung beruht, wie
Bachofen (Mutterrecht 159) klarlegt, nicht in einem praktischen
Grunde zweckmässiger Kriegsbewaffnung, sondern in der Entblössung
des linken Fusses liegt die Darbringung des linken Schuhs an die
Muttergottheit. Es sind also Überreste uralten Matriarchats, Herniker
und Ätoler zeigten sich als Sprösslinge und Verehrer des grossen
J) Leipzig, Deutsche Verlags-Aktien Gesellschaft, 1909.
5*
68
Referate und Kritiken.
weiblichen Naturprinzipes. Als solch ein Ätoler zieht auch Meleager,
wie auch Euripides in seiner gleichnamigen Tragödie besonders
hervorhebt, mit nacktem linken Fuss in den Eberkampf. Auch noch
heute gilt der linke Fuss als weiblich, ähnlich wie im Kinderspiel der
rechte Zeigefinger als Gatte des linken weiblichen gilt. Als Symbol des
weiblichen Prinzips mischt die südungarische Wanderzigeunerin einige
Blutstropfen des linken Fusses mit den Haupthaaren des Burschen und
kocht sie mit Quittenkernen zu einem Brei, den sie im Munde kaut
(Am Urquell III, 1.—
Im allgemeinen galt der rechte Fuss als der tatkräftige männliche
bei den Griechen wie bei den Römern, auch bei den modernen Kultur¬
völkern als der Glück verheissende. Man soll mit dem rechten Fuss
seinen Gang, Marsch, seine Reise, seine wichtigen Gänge beginnen.
Im Deutschen heisst es zum Beispiel: man soll die Schwelle zuerst
mit dem rechten Fuss überschreiten, wenn man Glück in einer wich¬
tigen Sache haben will. Bei den Türken betritt die Braut das Haus
des Bräutigams mit dem rechten Fuss, damit sie in der Ehe glücklich
werde, — Wenn man nun trotzdem die linke Seite (bezw. den linken
Fuss) als die gute, glückbringende im Altertum angesehen findet, so
ist dieser Umstand aus der Idee des weiblichen Tellurismus, des frucht¬
baren und daher segenspendenden Weibtums, dem die linke Seite ge¬
heiligt war, zu erklären. Der linken, weiblichen „guten“ Seite wird der
Vorzug in der Religion wie in der Familie zuerkannt (Pult, quaest.
rom. 78). In der Anschauung moderner Völker ist dieser dunkle
Hintergrund geschwunden: die linke ungeschickte Seite, speziell der
linke Fuss bringen wenig Glück. So heisst es: wer mit dem linken
Fuss fehltritt, muss sich auf Enttäuschungen gefasst machen; wer ver-
driesslich ist, steht wieder auf dem „linkeren“ Fusse; wer mit dem
linken Fuss zuerst aus dem Bette tritt, wird an dem Tage Missgeschick
erfahren. Freilich heisst es auch (vielleicht ein Nachklang jener obigen
uralten Vorstellungen): wer mit dem linken Fuss die Schwelle über¬
schreitet , wird Glück in seinen Angelegenheiten haben (czechisch);
wer mit dem linken Fusse stolpert, wird Freude erleben (deutsch).“
Dr. W. St.
Die Frage der Abstinenz.
Über Schaden und Nutzen der Onanie gehen die Ansichten der
meisten Ärzte aus einander. Viele sprechen nur von einem Schaden
und leugnen jeglichen Nutzen. Es wird unsere Leser interessieren, die
Ansichten eines sehr klugen Arztes der alten Schule zu vernehmen,
der unbekümmert um die Schulweisheit seinen eigenen Weg gegangen
ist. Jedenfalls bildet das Buch: „Dreissig Jahre Praxis“ von H. L.
Referate und Kritiken.
69
von Guttceit (Wien 1873, Wilhelm Braumüller) (Seite 331—332)
einen sehr wichtigen Beitrag zur Frage der Abstinenz. Er sagt:
„Sehr viel hängt auch hier vom Temperamente und von den
Lebensverhältnissen ab. Mädchen, welche von Natur ein feuriges Tem¬
perament haben — und oft gehören hiezu die sittsamst aussehenden
Blondinen — sowie solche die von ihrer Kindheit an schon viel mit
jungen Leuten anderen Geschlechts zusammenkamen, fühlen das Er¬
wachen des Geschlechtstriebes früher und stärker, als phlegmatische
und von der Männerwelt getrennt aufgewachsene Jungfrauen. Bei ersteren
pflegt die Menstruation sich frühe, in meinem Wirkungskreise oft schon
im 12. Jahre einzustellen. Gelangen solche Mädchen, ohne mit Onanie
bekannt zu sein und ohne, wie es bei den niedren Klassen gewöhnlich
ist, den Geschlechtstrieb natürlich befriedigt zu haben, bis zum 18.,
19. Lebensjahre, so beginnt die bis jetzt regelmässige Menstruation
allerhand Abnormitäten zu zeigen. Gewöhnlich wird sie allmählich
parca; häufig auch dolorata und dann nicht selten discolorata. Infolge
dieser Menstruationsabnormitäten leiden die Mädchen viel. Glücklich, wenn
bald eine Heirat ohne besondere Abneigung oder Widerwillen gegen denEhe-
mann zustande kommt. Gut,wennlnstinkt oder Unterweisung das
Mädchen mit der Selbstbefriedigung bekannt macht; ver¬
zeihlich, wenn ein Liebhaber als bestes und angenehmstes
Heilmittel gewählt wird. Unglücklich aber, wenn diese
natürlichen Wege zur Heilung nicht betreten werden;
schlecht, wenn falsch verstandene Religiosität oder ver¬
kehrte Meinung die Selbstbefriedigung als etwas Sündhaftes
oder Schädliches verwirft; unverzeihlich, wenn ärztliche
Ignoranz mit Emmenagogis, Nervinis, Ferruginosis und künstlichen
Blutentleerungen da Hilfe schaffen will, wo diese nur in der
Befriedigung des Naturtriebes gefunden werden kann.
Die Folgen solchen Unheilverfahrens sind gewöhnlich gründliche Zer¬
störung der Verdauung, hypochondrische Gemütsstimmung, Kongestionen
zu Kopf und Brust, krankhafte Reizbarkeit mit Neigung, in ver¬
schiedene Gemütskrankheiten: Erotomanie, Pyromanie, Mania furibunda
und Insanitas religiöse zu verfallen.“
Dr. W. St.
Schopenhauer über den Wahnsinn.
Mitgeteilt von Otto Rank (Wien).
In den Br euer-Fr eudschen „Studien über Hysterie“ ist als eine
der Bedingungen für die Akquirierung von Hysterie die absichtliche
Verdrängung einer peinlichen Vorstellung aus dem Bewusst¬
sein postuliert, eine Formel, welche spätere Forschungen dahin ergänzen
70
Referate und Kritiken.
konnten, dass solche Verdrängungen zu den normalen psychischen Akten ge¬
hören und dass nur ihr Missglücken zur Konstituierung des neurotischen
Symptoms führt. Es findet sich nun in Schopenhauers Hauptwerk:
„Die Welt als Wille und Vorstellung“, im 2. Bande, der Nachträge und
Ergänzungen zu den einzelnen Kapiteln des ersten Bandes enthält,
beim Versuch einer Erklärung des Wahnsinns 1 ), dem nach des Philo¬
sophen Darlegung die Unfähigkeit einer vollkommenen und verlässlichen
Rückerinnerung zugrunde liegt, eine ganz ähnliche Auffassung vom
psychischen Mechanismus der Geistesstörung. Es heisst dort (Band 2,
Kapitel 32): „Die im Texte (Band 1, § 36) gegebene Darstellung der Ent¬
stehung des Wahnsinns wird fasslicher werden, wenn man sich erinnert,
wie ungern wir an Dinge denken, welche unser Interesse, unsern Stolz,
oder unsere Wünsche stark verletzen, wie schwer wir uns entschliessen,
Dergleichen dem eigenen Intellekt zu genauer und ernster Untersuchung
vorzulegen, wie leicht wir dagegen unbewusst davon wieder abspringen,
oder abschleichen, wie hingegen angenehme Angelegenheiten ganz von
selbst uns in den Sinn kommen und, wenn verscheucht, uns stets wieder
beschleichen, daher wir ihnen stundenlang nachhängen. In jenem
Widerstreben des Willens, das ihm Widrige in die Be¬
leuchtung des Intellekts kommen zu 1 assen, liegt dieStelle,
an welcher derWahnsinn auf den Geist einbrechen kann 2 ).
Jeder widrige neue Vorfall nämlich muss vom Intellekt assimiliert
werden, d. h. im System der sich auf unsern Willen und sein Interesse
beziehenden Wahrheiten eine Stelle erhalten, was immer Befriedigenderes
er auch zu verdrängen haben mag. Sobald dies geschehen ist, schmerzt
er schon viel weniger: aber diese Operation selbst ist oft sehr schmerz¬
lich, geht auch meistens nur langsam und mit Widerstreben vonstatten.
Inzwischen kann nur sofern sie jedesmal richtig vollzogen
worden, die Gesundheit des Geistes bestehen. Erreicht hin¬
gegen, in einem einzelnen Fall, das Widerstreben und Sträuben des
Willens wider die Aufnahme einer Erkenntnis den Grad, dass jene
Operation nicht rein durch geführt wird, werden demnach dem
Intellekt gewisse Vorfälle oder Umschläge völlig unterschlagen, weil
der Wille ihren Anblick nicht ertragen kann; wird alsdann,
des notwendigen Zusammenhangs wegen, die dadurch entstandene Lücke
beliebig ausgefüllt; — so ist der Wahnsinn’ da. Denn der Intellekt hat
seine Natur aufgegeben, dem Willen zu gefallen: der Mensch bildet
1) Zweifellos begreift Schopenhauer unter dem Namen „Wahnsinn“ auch
die Fälle von Psychoneurose, die oft den Psychosen so ähnlich sehen und nament¬
lich was das Detail der psychologischen Struktur betrifft, zu seiner Zeit noch nicht
von eigentlichen Wahnsinn geschieden waren.
2) Die Hervorhebungen, welche die Übereinstimmung deutlicher machen
sollen, stammen nicht von Schopenhauer.
Referate und Kritiken.
71
sich jetzt ein, was nicht ist. Jedoch wird der so entstandene Wahn¬
sinn jetzt der Lethe unerträglicher Leiden: er war das letzte Hilfsmitte
der geängstigten Natur, d. i. des Willens.
Der obigen Darstellung zufolge kann man also den Ursprung des
Wahnsinns ansehen als ein' gewaltsames „Sich aus dem Sinn
schlagen“ irgend einer Sache, welches jedoch nur möglich ist
mittelst des „Sich in den Kopf setzen“ irgend einer andern. Seltener
ist der umgekehrte Hergang, dass nämlich das „Sich in den Kopf
setzen“ das erste und das „Sich aus dem Sinn schlagen“ das zweite
ist. Er findet jedoch statt in den Fällen, wo einer den Anlass, über
welchen er verrückt geworden, beständig gegenwärtig behält und nicht
davon loskommen kann: so z. B. bei manchem verliebten Wahnsinn,
Erotomanie, wo dem Anlass fortwährend nachgehangen wird; auch bei
dem aus Schreck über einen plötzlichen, entsetzlichen Vorfall ent¬
standenen Wahnsinn. Solche Kranke halten den gefassten Gedanken
gleichsam krampfhaft fest, so dass kein anderer, am wenigsten ein ihm
entgegenstehender, aufkommen kann. Bei beiden Hergängen bleibt
aber das wesentliche des Wahnsinns dasselbe, nämlich die Unmöglich¬
keit einer gleichförmig zusammenhängenden Rückerinnerung, wie solche
die Basis unserer gesunden, vernünftigen Besonnenheit ist. — Vielleicht
könnte der hier dargestellte Gegensatz der Entstehungsweise, wenn
mit Urteil angewandt, einen scharfen tiefen und Einteilungsgrund des
eigentlichen Irrwahns abgeben.
Übrigens habe ich nur den psychischen Ursprung des Wahnsinns
in Betracht genommen, also den durch äussere, objektive Anlässe
herbeigeführten. Öfter jedoch beruht er auf rein somatischen Ur¬
sachen . Jedoch werden beiderlei Ursachen des Wahnsinns
meistens von einander partizipieren, zumal die psychische von der
somatischen. Ich habe die psychische Entstehung des Wahn¬
sinns dargelegt, wie sie bei dem, wenigstens allem Anschein nach,
Gesunden durch ein grosses Unglück herbeigeführt wird. Bei dem
somatisch bereits stark dazu Disponierten wird eine sehr geringe
Widerwärtigkeit dazu hinreichend sein. Bei entschiedener körper¬
licher Anlage bedarf es, sobald diese zur Reife gekommen, gar keines
Anlasses. Der aus bloss psychischen Ursachen entsprungene Wahnsinn
kann vielleicht, durch die ihn erzeugende, gewaltsame Verkehrung des
Gedankenlaufs, auch eine Art Lähmung oder sonstige Depravation
irgend welcher Gehirnteile herbeiführen, welche, wenn nicht bald ge¬
hoben, bleibend wird; daher Wahnsinn nur im Anfang, nicht aber
nach längerer Zeit heilbar ist.“
72
Referate und Kritiken.
Zur Psychologie der Inzestliebe.
Aus Baudelaire Briefe 1841—1866 (Verlag J. C. C. Bruns, Minden)
(Seite 204).
„Was liebt das Kind so leidenschaftlich in seiner Mutter, in seiner
Wärterin, in seiner Lieblingsschwester? Ist es einfach nur das Wesen,
das es nährt, kämmt, wäscht und wiegt? Es ist auch die Zärtlich¬
keit und die sinnliche Wollust. Dem Kinde wird diese Zärtlichkeit
ohne Wissen der Frau durch ihre ganze weibliche Anmut offenbar.
So liebt es seine Mutter, seine Schwester, seine Amme wegen des an¬
genehmen Kitzels der Seide und des Pelzwerks, liebt den Duft ihres
Halses und ihrer Haare, das Klirren des Geschmeides, das Spiel der
Bänder und so weiter .... diesen ganzen mundus muliebris, der beim
Hemd anfängt und sich in den Möbeln ausdrückt, denen die Frau das
Gepräge ihres Geschlechtes verleiht“. Dr. W. St.
Wilhelm Strohmayer (Jena): Zur Analyse und Prognose psycho-
neurotischer Symptome. Zeitschr. f. Psychother. und med. Psychol.
II, 2, 1910; S, 75—92.
Unter Hinweis auf seine Arbeit „über die ursächlichen Beziehungen
der Sexualität zu Angst- und Zwangszuständen“ (Journ. f. Psychol. und
Neurol., Bd. 12, S. 69 ff., 1908) betont Strohmayer nochmals, dass
sich auf Grund der Psychoanalyse vieler Fälle Beziehungen zwischen
Angst- und Zwangszuständen einerseits und gewissen schädlichen Formen
des aktuellen Sexuallebens oder komplizierten psychosexuellen Ursachen
konstitutioneller Art andererseits nachweisen Hessen. Die Aufdeckung
der pathogenen psychosexuellen Komplexe sei manchmal sehr schwer
und der Nachweis ihrer konstituierenden Kraft im Krankheitsbild nicht
weniger. Als Wege der Psychoanalyse benützt er entweder die direkte
wahllose Erzählung der Einfälle oder die indirekten der Traumdeutung
Freuds und des Assoziationsexperimentes Jungs.
In der vorliegenden Arbeit bespricht Stroh mayer den Heiler¬
folg durch die Aufdeckung der sexuellen Genese psychoneurotischer
Symptome (Angst- und Zwangszustände, hysterische Krankheitserschei¬
nungen).
Bei Masturbation und anderen „Sexualdeiikten in der Anamnese
von Psychoneurotikern und Vorwürfen darüber erkennt auch Stroh¬
mayer einen seelischen Zwist um den Angelpunkt eines unerträglichen
Vorwurfsgedankens herum und bezeichnet als Grundaufgabe der Be¬
handlung seine Lösung. Manchmal genügt dazu eine offene Aussprache
vor dem Arzt, wie ein Beispiel zeigt.
Bei einer zweiten Gruppe von Zwangsneurotikern ist nach S. trotz
Aufdeckung der zweifellos sexuellen Genese jede psychologische Belehrung
Referate und Kritiken.
73
über den Zusammenhang der Verdrängung der Sexualhandlung und der
neurotischen Symptome ohne irgend einen therapeutischen Erfolg, was
nach ihm immer dann der Fall sein wird, wenn es nicht gelingt, das
Missverhältnis von Libido (Sexualforderung) und Sexualablehnung (mora¬
lischer Konstitution) auszugleichen. Auch dies wird an einem Falle
illustriert.
In einer dritten Gruppe von Fällen von Angst- und Zwangsneurose
scheitert die Therapie nach St. ebenfalls. Trotzdem ausser etwa Ma¬
sturbation und dem damit verknüpften schuldhaften Vorwurfsaffekte kein
anderer seelischer Kampf dem Patienten bewusst ist und man sich
alle Mühe gibt beruhigend auf ihn zu wirken wegen seiner vermeint¬
lichen Schuld an der Krankheit durch Onanie, kommt es zu keiner
Heilung auf die Dauer. Gewöhnlich handelt es sich dann nach St. um
verdrängte Perversionen, in denen die oberflächlich sichtbare
Masturbation verankert ist. In diesen Fällen sind St. Assoziations¬
experiment und Traumdeutung treffliche Führer geworden.
Ausführlicher teilt St. einen Fall einer typischen Angstneurose
mit Erwartungsangst, Topophobien und leichter Zweifelsucht mit, in
deren Ätiologie die Masturbation eine Rolle spielt.
Das vollständig gegebene Assoziationsexperiment nach Jung
lieferte St. den Schlüssel zum Verständnis der Neuropsychose; der
Patient liess 3 Hauptkomplexe erkennen, den stark emotiven Mastur-
bationskomplex, eine ausgesprochene homosexuelle Neigung und eine
abnorm starke Gefühls- (Sexual-) Übertragung auf die eigene
Mutter. In der unbewussten Homosexualität fand St. eine Wurzel
der masturbatorischen Autoerotik und einen Hinderungsgrund für ihre
Bekämpfung und ihren Ersatz durch normalen Sexualverkehr.
Auch in einigen recht durchsichtigen Träumen liess sich die
homosexuelle Komponente und die Übertragung auf die Mutter klar
erkennen.
Über den Heilerfolg auf Grund der Psychoanalyse in solchen
Fällen spricht sich St. etwas skeptisch aus: die freimütigste theoretische
Erörterung in der Psychoanalyse schaffe hier oft keine normalen Ver¬
hältnisse.
Über die Grenzen der therapeutischen Möglichkeiten der psych-
analytischen Behandlungsmethodik lässt sich nach Ansicht von Ref.
heute wohl schwerlich schon etwas Abschliessendes sagen. Die vor¬
liegende Arbeit bringt aber namentlich in ihrem letzten Falle einen
interessanten Beitrag zur Einsichtsgewinnung in die psychologische
Struktur einer Neurose auf psychoanalytischem Wege.
Stockmayr (Tübingen).
74
Referate und Kritiken.
Aus der ungarischen neurologisclien-i)sycliiatrisclien
Literatur.
Doz. Dr. J. Salgo, Über Zwangsvorstellungen und Wahn¬
ideen. (Gyögyaszat 1908.)
Eine nicht uninteressante Zusammenfassung der bis zur Psycho¬
analyse allein herrschenden Ansichten über diese Themen; der deskriptive
Teil der Abhandlung enthält auch viele gute eigene Beobachtungen. In¬
folge Nichtbeachtung der analytischen Psychologie bleiben aber die Er¬
klärungen des Autors dunkel undunzureichend. „Was uns nie bewusst
gewesen ist, existiert für uns gar nicht“ .... und „was dem Bewusst¬
sein entfallen ist, spielt im Seelenleben keine Rolle“. Kein Wunder, dass
ein solche Geringschätzung des Unbewussten den Autor zum irrigen
Glauben führt, dass bei einer Zwangsvorstellung das Angstgefühl vom
begleitenden Vostellungsinhalt ganz unabhängig ist, dass in der Patho¬
genese nebst der Konstitution Ermüdung und körperliche Krankheiten
die Hauptrolle spielen und dass die Prognose der Zwangsneurose — was
die Heilung anbelangt — eine schlechte ist.
Dr. J. Hollös und Dr. K. Eisenstein (Szeged). Tuberkulose und
Menstruation (Gyögyaszat 1908).
Die Autoren versuchten in grossem Massstabe und bei den ver¬
schiedensten, auch nervösen Zuständen das S p e n g 1 e r sehe Tuberkulose-
Serum und fanden es besonders bei dysmenorrhoischen Zuständen
ausserordentlich häufig von günstiger Wirkung. (Da gerade diese Zu¬
stände bei neurotischen Patientinnen so häufig Vorkommen, ist es gut,
auch die von den Autoren etwas einseitig betonte Möglichkeit: latente
Tuberkulose, in Betracht zu ziehen. Ref.)
Dr. A. Inselt, Züchtung der sexuellen Neurasthenie
(Gyögyaszat 1908).
Der Autor, obzwar selbst Urologe, zieht mit anerkennenswerter
Objektivität gegen die lokaltherapeutische Polypragmasie seiner engeren
Kollegen zu Felde und beschreibt deren verheerende Folgen für das
Gemütsleben der Patienten.
Dr. S. Ferenczi (Budapest), Das manisch-depressive Irresein
in subjektiver Beleuchtung (Gyögyaszat 1908).
Ein noch recht mangelhafter Versuch die Symptome einer Psychose
analytisch zu deuten. Der intelligente Patient (Arzt) war nach ein¬
getretener Heilung seiner psjchatrischen Anfälle in der Lage die psychi¬
schen Determinanten seiner in den Anstaltsprotokollen als „motorische
Unruhe“, „Verbigeration“ etc. verzeichneten Handlungen und Reden an¬
zugeben. (Übrigens hat der Autor inzwischen auch seine Ansicht über
die Diagnose dieses und ähnlicher Fälle ändern müssen; er folgt auch
Referate und Kritiken.
75
darin Freud, dass er nicht mehr recht an die Existens eines von andern
Neurosen und Psychosen unabhängigen manisch-depressiven Irreseins im
Sinne Kraeplins glaubt und hält den Fall für eine cyklothymisch
gefärbte Dementia praecox.) Autoreferat.
Prof. l)r. J. Donath (Budapest), Über hysterische lethargische
Zustände (Orvosi Hetilap 1908).
Der Autor beschreibt einen schönen Fall von hysterischer Narko¬
lepsie; da er aber auf die Analyse verzichtet, vermehrt er ohne ersicht¬
lichen wissenschaftlichen Gewinn das Raritätenkabinett hysterischer
Zustandsbilder. Donath ist sicher im Unrechte, wenn er in seinem Falle
die Autohypnose aus dem Grunde ausschliessen zu können glaubt, weil
die Patientin während der lethargischen Anfälle nicht suggestibel ist. Die
Unempfänglichkeit für äussere Einflüsse ist eher ein Argument für das
Bestehen einer autohypnotischen Verzücktkeit.
Dr. J. Zsakö (Kolozsvar), Über graphologische Diagnose (Orvosi
Hetilap 1908).
Interessante Schriftproben und Zeichnungen aus dem Irrenhause,
die der analytischen Deutung würdig wären. (Es wäre überhaupt an der
Zeit, dass psychologisch geschulte Kollegen sich dieses ergiebigen Themas
bemächtigten und die Schrift- und Zeichendeutung bei Geisteskranken,
bei spiritistischen Medien, bei den verschiedenen Charaktertypen etc.
mit Hilfe der Analyse auf festere Grundlagen stellten. Ref.)
Dr. S. Ferenczi (Budapest), Über die Bedeutung der Ejaculatio
praecox (Budapesti Orvosi Ujsäg 1908).
Verf. hebt die ungemein häufige Kombination: neurasthenischer
Mann, angstneurotische Frau hervor. Er behauptet, dass auch die nicht-
neurasthenischen Männer, also das ganze männliche Geschlecht im Ver¬
hältnis zur Frau an Ejaculatio praecox leiden und ein sehr hoher
Prozentsatz der Frauen überhaupt nie sexuell befriedigt werde, jeden
sexuellen Akt geradezu als unangenehme Zugabe des Ehelebens betrachte.
Es sei oft schwer zu sagen, ob es sich um zu rasch eintretenden Orgasmus
des Mannes, oder um Orgasmus tardivus der Frau handle. Merkwürdiger¬
weise habe dieselbe Schädlichkeit, die Onanie, beim Manne verfrühten,
beim Weibe verspäteten Orgasmus zur Folge. Unter den psychischen
Ursachen des Orgasmus tardivus beim Weibe komme Erziehungseinflüssen
die grösste Bedeutung zu. Die weibliche Erziehung sei zu sehr auf die
Triebverdrängung aufgebaut, und diese gelingt in sehr vielen Fällen zu
gut: die inneren Widerstände bleiben auch nach Aufhören der äusseren
Hindernisse der sexuellen Befriedigung bestehen, die Frau wird an-
aesthetisch. Der Unterschied in der Höhe des auf dem Sexualleben beider
Geschlechter lastenden Druckes sei offenbar zu gross und das sei die
76
Referate und Kritiken.
Hauptursache des orgastischen Dyschronismus, eines sozialen
Übels von nicht zu unterschätzender Bedeutung.
Dr. S. Ferenczi (Budapest): Über Psychoneurosen (Aus
dem Vortrags-Zyklus des Budapester Ärzte-Vereins 1908). Der Vortr.
plädiert zunächst für die Aufrechterhaltung der Scheidung der nur
introspektiv-psychologisch zugänglichen Psychoneurosen von den
Aktualneurosen, die er Physioneurosen nennen möchte. Diese
dualistische Behandlungsweise sei die einzig ehrliche, während die an¬
geblich anatomisch-physiologische oder energetische Behandlung psycho¬
logischer oder psychopathologischer Fragen nur die Einkleidung intro¬
spektiv gewonnener Kesultate in eine naturwissenschaftliche Terminologie
sei. Infolge dieser seit langem herrschenden Verirrung sei die reine
Psychologie und Psychopathologie in die Hände der belletristischen
Schriftsteller geraten, die zwar mit vielen Irrtümern gemengte, aber doch
die offenkundige Wahrheit predigten, während die wissenschaftliche
Psychologie sich in sogen, exakten, in Wirklichkeit aber inhaltsleeren
Experimenten verlor. Freuds Verdienst sei es, dass er das noch
unzeitgemässe Experiment fallen liess und zur Beobachtung
zurückkehrte.
Vortragender geht dann im Einzelnen auf die von Freud gefun¬
denen „Mechanismen“ (Konversion, Substitution, Projektion, Interesse-
Entziehung) ein und erklärt an der Hand derselben die Symptome der
Hysterie, der Zwangsneurose, der Paranoia und der Dementia praecox,
und versucht dann mit Hilfe dieser bisher in der Wissenschaft un-
gekannten psychischen Prozesse auch die innerhalb der „Normal-Breite“
zu konstatierenden Charaktertypen zu erklären. Nach kurzem Streifen
der Frage nach den konstitutiven- und Erziehungsfaktoren in der
Genese der Psychoneurosen geht er ausführlicher auf die der Therapie
ein. Die körperliche Kräftigung (z. B. Überernährung) des
Neurotiker sei höchstens etwa als Adjuvans der Psychotherapie von
Wert. Ortsveränderung wirke meist günstig, weil die Patienten
dadurch aus dem für sie differenten Milieu flüchten (Nachahmung des
Verdrängungsmechanismus); der Rückfall stelle sich beim ersten Konflikt
zu Hause prompt ein. Hypnose und Suggestion seien verkappte
„Übertragungsmassnahmen“ und als solche mehr—minder vorübergehend
wirksam. Verblasst die Autorität und der Zauber des Hypnotiseurs,
so wird der Patient rezidiv. Das Sanatorium sei die Kombination
von Heimflucht und Suggestion; die grösste Heilpotenz im Sanatorium
sei die energische oder liebenswürdige Persönlichkeit des Anstaltsleiters,
zu dem die Patienten (und Patientinnen) immer wieder zurückkehren.
(Sanatoriumsucht.) Ganz wirkungslos findet dagegen Vortrageuder
die angeblich erklärende in der Tat aber nur moralisierende „Thera-
Referate und Kritiken.
77
p i e“ von D u b o i s , die die Patienten entweder auslachen oder als
Verhöhnung ihres Zustandes auslegen.
Die Beschäftigungkuren seien gut nach vollendeter Heilung
zum Erlernen der Sublimierung der Triebe; floride Neurosen sind
gegen diese Art Ablenkung refraktär.
Die physikalischen Heilmethoden wirken als Suggestions¬
vehikel vorübergehend gut; sie seien zum Teil verkappte Lustbefrie¬
digungen und wirken als solche entspannend. Doch weder von diesen,
noch von den hunderterlei Medikamenten könne in schweren Fällen
die Heilung erwartet werden.
Nach Ausschluss all dieser Methoden weist der Vortragende auf
die als einzig rationelle übrigbleibende analytische Psychotherapie hin,
bei der die Heilung auf die eingehende und meist schwierige Diagnose
des psychischen Zustandes gegründet ist, während die übrigen thera¬
peutischen Methoden „im Finstern“ arbeiten und die eingeklemmten
Komplexe — wie der schlechte Chirurg eine inkarzerierte Hernie —
„en masse“ reponieren wollen.
Zum Schluss berührt Vortragender die Frage nach der Prophylaxe
der Psycho-Neurosen. Durch die Analysen werden seiner Ansicht nach
auch die erzieherischen und sonstigen sozialen Schäden aufgedeckt,
deren Abschaffung einer wirksamen Prophylaxe der Neurosen gleichkomme.
(Autoreferat).
Dr. J. Holles, Budapest. Über psychische Kompensation.
(Gyogyaszat 1909.)
Auf Grund eigener Beobachtungen kommt der Verfasser dieser
Arbeit zu Schlüssen, die die Psychoanalyse, insbesondere die diesbezüg¬
lichen Untersuchungen Adlers längst als richtig erwiesen haben. Wir
wissen längst, dass Psychoneurotiker und Psychopathen sich selbst
behandeln und wenn sie der schwachen Punkte ihres Gemüts oder
ihrer Intelligenz bewusst werden, sich den Konflikten mit der Aussen-
welt durch kompensatorische Änderung ihrer Lebensweise und ihrer
Umgebung zu entziehen suchen. Auch die Arbeiten von Anton und
0. Gross haben den Begriff der psychischen Kompensation in klarer
und geistvoller Weise präzisiert. Der Verfasser ergänzt diese Fest¬
stellungen durch eigene gute Beobachtungen. Er hat sicherlich Recht,
wenn er die meisten aus den Anstalten entlassenen Patienten nicht für
„geheilt“, sondern für „kompensiert“ ansieht.
Dr. 31. Farkas (Budapest). Über die Kombination von Hydro¬
und Psychotherapie. (Budapesti Orvosi Ujsag 1909.)
Verfasser beklagt sich zunächst darüber, dass die Patienten mit
immer mehr medizinischen Kenntnissen zum Arzte kommen, was
dem Effekt der Hydrotherapie abträglich sei. Ohne einzugestehen, dass
78
Referate und Kritiken.
die Wasserprozeduren hauptsächlich psychisch wirken, gibt er der
Überzeugung Ausdruck, dass Hydro- und Psychotherapie Hand in
Hand gehen müssten. Bezüglich der zu wählenden psychotherapeutischen
Methode verhält er sich eklektisch, lässt aber den Lehren Freuds
und der Psychoanalyse Gerechtigkeit widerfahren. Minder gelungen
sind die theoretischen Einwände gegen die Analyse, sie zeigen, dass
der Verfasser noch nicht genug praktische Erfahrung in dieser For¬
schungsmethode gesammelt hat. Ferenczi.
Psychische Grenzzustände von Dr. Karl Pelmann. 2. Auflage,
Fr. Cohen Bonn 1910 {316 S.).
Ein Buch des bekannten Psychiaters, für gebildete Laien ge¬
schrieben. Grosse ärztliche Erfahrung, ein überragendes kultur-histori¬
sches Interesse und ein sicheres Auge für die Grenzgebiete der Patho¬
logie charakterisieren seine Arbeit. Sprachgewandt und geistreich in der
Betrachtung seiner Probleme verfolgt er die Fäden, die sich vom Seelen¬
leben des Normalen zu den pathologischen Erscheinungen spinnen, ver¬
folgt sie auch bis zu jener tieferen Schicht, wo das Unbewusste und die
organische Minderwertigkeit sich geltend machen. Vielfach sind ihm
Vererbungstendenzen ausschlaggebend, ohne dass ihre subjektive
Seite, das Gefühl der Minderwertigkeit, in Rechnung gezogen
wird. So bleibt auch die Dynamik der ,,Grenzer“, ihr
zwangsmässiger männlicher Protest, im Dunkel und wird
nur als Eigenschaft, angeboren und fast unkorrigierbar, betrachtet.
Das Affekt- und Triebleben wird gleichwohl stets in Rechnung gestellt
und die Bedeutung des Sexualtriebs hervorgehoben. Und der Autor
versteht seine Beobachtungen und Erfahrungen so umsichtlich und auf¬
bauend zu entwickeln, dass sie als Material für Psychologen, Pädagogen
und für den Psychoanalytiker grossen Wert erlangen.
Die Bedeutsamkeit des behandelten Stoffes zeigt das reiche Inhalts¬
verzeichnis an. Der Autor behandelt alle Probleme, die für die psycho¬
analytische Wissenschaft so wertvolles Untersuchungsmaterial abgegeben
haben: Der Verbrecher — Selbstmord — Königsmörder —
Cäsarenwahnsinn — Sexuelle Abnormitäten — Trinker — Lum¬
pen, Bummler und Vagabunden — Lügner, Queralanten — Affekte
und Leidenschaften — Geiz und Eifersucht — Sonder¬
linge und Narren — Zwangsvorstellungen — Hypnotismus —
Das Genie — Mystik und Ekstase — Seher und Propheten —
Hexen und Besessene — Psychische Volkskrankheiten.
Gegenüber diesem mit Scharfsinn und Umsicht geordneten
Material, mit überreichlichen historischen Einzelheiten ausgestattet,
möchte sich Referent erlauben, auf den von ihm aufgedeckten Mecha¬
nismus des „psychischen Hermaphroditismus mit folgen-
Dichters teilen.
79
dem männlichen Protest“ hinzuweisen, dem sich alle Grenzfälle,
einschliesslich der Neurosen, fügen. Die Übertreibung des männlichen
Protestes kann sich im Wollen, Denken, Phantasteren oder Handeln
zeigen und lässt uns die Zielvorstellung als abnormal empfinden. Oder
es gelangen ausserordentlich übertriebene „Sicherungstendenzen“
gegen die Zielvorstellung an die Oberfläche, dass man daraus den Ein¬
druck des „Absonderlichen“ gewinnt. — Das Kapitel über „Zwangs¬
vorstellungen“ wird den psychoanalytischen Arzt vor allem interessieren.
Pelmann geht mannhaft aufs „Unbewusste“ los und weist auch auf
ähnliche Erscheinungen im Bereich des Normalen hin. Die vorgelegte
Kasuistik ist reich und wertvoll, und lässt den erwähnten „Zwangs¬
mechanismus“ allenthalben durchblicken, insbesondere die männlichen
Linien in ihrer Steigerung zum Zwang. Die Entwickelung des
Zwangsneurotikers aus dem psychischen Herrnaphroditen
ist zuw r eilen greifbar zum Ausdruck gebracht, so insbesondere in dem
prächtigen Zwangsgrübler Meschedes, der unter anderem frägt: ob
man auch Zwitter produzieren könne, ob es auch beim weiblichen
Geschlecht schlechte Waden gebe, und ob man sie durch Zucht ver¬
bessern könne. Adler.
Dichterstellen.
Man merkt sehr häufig in der Psychoanalyse, dass die Kranken
auf die Angstzustände nicht verzichten wollen, weil sie ihre libidinösen
Begungen vorstellen und sie ohne dieselben nicht leben können:
„Der Mensch gibt ebenso schwer eine Furcht auf, wie eine
Hoffnung“
sagt Otto Ludwig in: „Zwischen Himmel und Erde“.
Zum Kapitel Traum und Dichtung (aus Friedrich Hebbel):
a) In den Dichtern träumt die Menschheit.
b) „Man kann sich aufs Dichten so wenig vorbereiten, wie aufs
Träumen.“
c) „Die Höhe der Kultur ist die einzige, zu der viele Schritte
hinauf führen und nur ein einziger herunter.“
Zum Thema der Identifizierung (Hebbel):
„Lieben heisst in dem andern sich selbst erobern.“
Zum Thema der Psychoanalyse und zur Psychologie ihrer Gegner.
a) Menschliche Verhältnisse haben nur so lange Peinliches für
mich, als ich sie nicht durchschaut, als ich nicht erkannt habe,
dass sie auf die Natur basiert sind.
80
Dichterstellen.
b) Menschen, die in ihrer Tugend einen Freibrief zur Jagd auf die
Laster der andern sehen, sind nur tugendhaft geblieben, um
Scharfrichter vorstellen zu können.
Friedrich Hebbel „Tagebücher“.
Zum gleichen Thema (Nietzsche):
a) „Wissend reinigt sich der Leib; mit Wissen versuchend erhöht
er sich; dem Erkennenden heiligen sich alle Triebe; dem Er¬
höhten wird die Seele fröhlich.“
b) Für seinen Eigner ist nämlich alles Eigene gut versteckt; und
von allen Schatzgruben wird die eigene am spätesten aus¬
gegraben.
c) Aber die Menschheit ist schwer zu tragen! Das macht, er
schleppt zu vieles Fremde auf seinen Schultern. Dem Kamele
gleich kniet er nieder und lässt sich Gut aufladen.
d) Der Mut schlägt auch den Schwindel tot an Abgründen und
wo stünde der Mensch nicht an Abgründen! Ist Sehen nicht
selber — Abgründe sehen?
e) Was gross ist, dafür ist das Auge des Feinsten heute grob.
Aus „Also sprach Zarathustra“
Dr. W. St.
V a r i a.
Die „Wiener Psyhoanaly tische Vereinigung“ hat ihre wissenschaft¬
liche Tätigkeit am 5. Oktober im Vortragssaale des „Wiener mediz.
Doktoren-Kollegiums“ mit einer Diskussion über „Das einzige Kind“
begonnen. Referenten waren die Kollegen Dr. Sa dg er und Dr. Fried¬
jung. Wir werden über die Arbeiten der Vereinigung fortlaufend
referieren.
An unsere Mitarbeiter! Die Fülle des eingelaufenen Materials
zwingt uns, die geehrten Mitarbeiter zu ersuchen, ihre Originalarbeiten
womöglich nicht über einen Druckbogen auszudehnen. Autoreferate
andernorts erschienener Arbeiten werden möglichst rasch erbeten.
Dr. Alfred Adler, Dr. Wilhelm Stekel,
Wien II, Praterstrasse 42. Wien I, Gonzagagasse 41.
Verlag von J. F. Bergmann in Wiesbaden.
Sexualleben und Nervenleiden.
Die nervösen Störungen sexuellen Ursprungs.
Von
Dr. Leopold Loewenfeld,
Spezialarzt für Nervenkrankheiten in München.
Vierte, völlig umgearbeitete und sehr vermehrte Auflage.
Preis M. 7,—. Gebunden M. 8.—.
Über das
Eheliche Glück.
Erfahrungen, Reflexionen und Ratschläge eines Arztes.
Von Dr. med. L. Loewenfeld in München.
Zweite Auflage . — Biegsam gebunden.
Preis gebunden Mk . 5 .—.
• •
Uber die Dummheit.
Eine Umschau
im Gebiete menschlicher Unzulänglichkeit.
Von
Dr. Leopold Loewenfeld,
Spezialarzt für Nervenkrankheiten in München.
Preis kartonniert Mk. 5 .—.
Grundriss
der
Stoffwechselkrankheiten
und Konstitutionsanomalien
unter besonderer Berücksichtigung ihrer
physikalisch-diätetischen Behandlung.
Von Dr. med. Arnold Wilke,
leitendem Arzte des Sanatoriums „Kurhaus Taunusblick“ zu Königstein im Taunus.
Mk. 6. —, gebunden Mk. 7 .—.
Inhalts-Verzeichnis des I/II. Heftes.
Seite
An unsere Leser. . I
Originalarbeiten:
I. Die zukünftigen Chancen der psychoanalytischen Therapie. Von Sie gm.
Freud. 1
II. Die psychische Behandlung der Trigeminusneuralgie. Von Dr. Alfred
Adler in Wien. 10
III. Zur Psychologie des hysterischen Madonnenkultus. Von Dr. Oskar
Pfister, Pfarrer in Zürich.80
3iitteilungen:
I. Der Neurotiker als Schauspieler. Von Dr. Wilhelm St ekel. . 38
II. Ein Beispiel von Versprechen, (ei — bei — brei — blei.) Von Dr.
WilhelmStekel .40
III. Beispiele des Verrats pathogener Phantasien bei Neurotikern. Von
Sigm. Freud . 43
IV. Typisches Beispiel eines verkappten Ödipustraumes. Von S i gm. Freud 44
V. Zur Differentialdiagnose organischer und psychogener Erkrankungen.
Von Dr. Wilhelm Stekel .45
Referate. Kritiken und Grenzgebiete:
Bethe, Die dorische Knabenliebe .47
Neutra, Briefe an nervöse Krauen.49
Claparede, Die Psychoanalyse. 50
Maeder, La langue d’un aliene ..50
Varendonck, Les Ideals d’enfants. 51
Katzaroff, Qu’est-ce que les enfants dessinent.52
Royer-Dupouy, Charles Bandelaire.53
Freud, Leonardo da Vinci.54
Hirschfeld, Die Transvestiten.55
Vogt, Die Epilepsie im Kindesalter. 58
Strohmayer, Psychopathologie des Kindesalters.59
Pollak. The Hygiene of the Soul.61
Löwenfeld, Traumartige Zustände.61
Schubert, Gegensinn der Urworte.63
Grillparzer, Tagebuchstelle. 66
Aigr emo nt, Rechts und links.67
Guttceit, Abstinenz .'. 68
Schopenhauer, Über deu Wahnsinn.*.69
Baudelaire, Über Inzestliebe.72
Strohmayer, Psychoneurotische Symptome.72
Sa Igo, Zwangsvorstellungen.74
Hol lös und Eisenstein, Tuberkulose und Menstruation .... 74
In seit, Sexuelle Neurasthenie.74
Ferenczi, Manisch-depressives Irresein.74
Donath, Lethargische Zustände.75
Zsakö, Graphologische Diagnose .75
Ferenczi, Ejaculatio praecox . . 75
Ferenczi, Psychoneurosen. 76
Holles, Psychische Kompensation.77
Farkas, Hydro- und Psychotherapie. 77
Pelmann, Psychische Grenzzustände. 78
Dicht erstellen: Otto Ludwig, Hebbel, Nietzsche.79
Varia:.80
Druck der Königl. ünivereitätsdruckerei H. Stürtz A. G., Würzburg.