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Full text of "Zentralblatt für Psychoanalyse. Medizinische Monatsschrift für Seelenkunde I. Jahrgang 1911 Heft 1/2"

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Zentral blatt 

für 

Psychoanalyse. 

Medizinische Monatsschrift für Seelenkunde. 

Herausgeber: 

Professor Dr. Sigm. Freud. 

Schriftleitung: 

Dr. Alfred Adler, Wien. — Dr. Wilhelm Stekel, Wien. 

Unter Mitwirkung uon: 

Dr. Karl Abraham, Berlin; Dr. A. A. Brill, Neiu-york; Dr. S. Ferenczi, Budapest; 
Dr. E. Hitschmann, Wien; Dr. E. Jones, Toronto; Dr. Otto Juliusburger, Steglitz; 
Dozent C. G. Jung, Zürich; Dr. F. S. Krauss, Wien; Professor August di Lutzen¬ 
berger, Neapel; Prof. Güstau Modena, Ancona; Dr. Alfons Mäder, Kreuzlingen; 
Dozent N. Ossipow, Moskau; Dr. Oskar Pfister, Zürich; Otto Rank, Wien; Dr. 
Franz Ricklin, Zürich; Dr. J. Sadger, Wien; Dr. A. Stegmann, Dresden; Dr. 
M. Wulff, Odessa; Dr. Erich Wulffen, Dresden. 


I. Jahrgang Heft 1/2. 


Wiesbaden. 

Verlag uon J. F. Bergmann. 
1910. 


Jährlich erscheinen 12 Hefte im Gesamt-Umfang uon 36 bis 
40 Druckbogen ’-r. .,*»•» f«T M»rk. 


* INSTITUTE 

OF 

PSYCHO-ANALYSIS 




















Verlag von J. F. Bergmann in Wiesbaden. 


Soeben erschien: 

- \ 

Diskussionen 

des 

Wiener psychoanalytischen Vereins. 

Herausgegeben 

von der Vereinsleitung. 


L Heft. 


• • 

Uber den Selbstmord 

insbesondere 

den Schüler-Selbstmord. 


Beiträge von: 

Dr. Alfred Adler, Prof. S. Freud, Dr. J. K. Friedjung, Dr. Karl Molitor, 
Dr. R. Reitler, Dr. J. Sadger, Dr. W. Stekel, Unus mnltorum. 


Preis Mk. 1.35. 















Zentralblatt 

für 

Psychoanalyse. 

Medizinische Monatsschrift für Seelenkunde. 

Herausgeber: 

Professor Dr. Sigm. Freud» 

Schriftleiter: 

Dr. Wilhelm Stekel, 

Wien I. Gonzagagasse 21. 

Unter Mitwirkung uon: 

Pr. Karl Abraham, Berlin; Dr. R. G. Assagioli, Florenz; Dr. Ludwig Binswanger, 
Kreuzlingen; Dr. Poul Bjerre, Stockholm; Dr. A. A. Brill, New-York; Dr. M. 
Eitingon, Berlin; Dr. D. Epstein, Kiew; Dr. S. Ferenczi, Budapest; Dr. Max Graf, 
Wien; Dr. Magnus Hirschfeld, Berlin; Dr. E. Hitschmann, Wien; Dr. E. Jones, 
Toronto; Dr. Otto Juliusburger, Steglitz; Dozent C. G. Jung, Zürich; Dr. F. S. 
Krauss, Wien; Professor August u. Luzenberger, Neapel; Prof. Güstau Modena, 
Ancona; Dr. Alfons Mäder, Zürich; Dr. Richard Nepalleck, Wien; Dozent N. 
Ossipow, Moskau; Dr. Oskar Pfister, Zürich; Dr. James Putnam, Boston; Otto 
Rank, Wien; Dr. R Reitler, Wien; Dr- Franz Riklin, Zürich; Dr. J. Sadger, Wien; 
Dr. L. Seif, München; Dr. A. Stegmann, Dresden; Dr. M. Wulff, Odessa; Dr. Erich 

Wulffen, Dresden. 


I. Jahrgang Heft 1112. 


Wiesbaden. 

Verlag uon J. F. Bergmann. 

1911. 



Jährlich erscheinen 12 Heffe im Gesamt-Umfang uon 36 
40 Druckbogen zum Jahrespreise uon 18 Mark. 

Ein ausführliches Inhaltsverzeichnis und Autorenregister befindet sich am Schlüsse 





An unsere Leser! 


Schroffer denn je stehen die Gegensätze einander gegenüber. Die 
Gegner der Psychoanalyse kämpfen mit allen ihnen zu Gebote stehenden 
Mitteln: Spott, Satire, Ironie, unwissenschaftlicher Voreingenommenheit, und 
voreingenommener Wissenschaft, Boykott und Anathem. Wie soll sich der 
einzelne ein Urteil bilden in dem widerstrebenden Gemenge von Urteilen? 
Wem soll er glauben ? Der alle Errungenschaften und Erkenntnisse negieren¬ 
den Kritik oder den weiteren Arbeiten Freuds und seiner Anhänger, die 
von bemerkenswerten Erfolgen und ungeahnten Zusammenhängen erzählen ? 

Die Literatur der neuen Wissenschaft war einst leicht zu übersehen: 
Die epochalen „Studien über Hysterie“ von Freud und Breuer und die 
weiteren Arbeiten Freuds. Jetzt ist es dem einzelnen gar nicht möglich, 
der wachsenden Flut von Arbeiten gerecht zu werden und seinen orientieren¬ 
den Überblick über die komplizierte Wissenschaft der Psychoanalyse und 
ihre Errungenschaften zu gewinnen. Das schon im zweiten Jahrgange er¬ 
scheinende „Jahrbuch für Psychoanalyse“ bringt in weiten Zwischen¬ 
räumen grössere Arbeiten, die wohl meist für den Vorgeschrittenen und 
Wissenden bestimmt sind. „Das Zentralblatt für Psychoanalyse“ 
verfolgt einen im wesentlichen didaktischen Zweck. Es will nicht nur die 
Anhänger und Gegner über die erscheinende Literatur rasch orientieren, 
sondern auch durch Originalartikel einzelne psychoanalytische Probleme von 
praktischer Bedeutung vertiefen und einem weiteren Kreise zugänglich machen. 
So sollen „Jahrbuch“ und „Zentralblatt“ einander ergänzen. 

Wir sehen unsere Aufgabe nicht in fruchtlosen Kämpfen einer — 
wenn auch berechtigten — Kritik der Kritik. Wir wollen auch die Stimmen 
unserer Gegner gewissenhaft registrieren und alle Meinungen zu Worte kommen 
lassen. Wir wollen die Überzeugungen der Anhänger nicht nur durch Argumente, 
sondern durch unsere ehrliche psychoanalytische Arbeit, durch unser Material, 
durch unsere Erfolge gewinnen. So hoffen wir auch unsere Gegner zum 
vornehmen Ton eines Kampfes der Tatsachen, nicht der Affekte heran¬ 
zubilden. 


II 


Der Kreis des psychoanalytischen Interesses ist ein ungeheuer grosser. 
Er umfasst die gesamte Seelen künde nicht nur des Menschen, sondern der 
Menschheit. Geschichte und Literatur, alles menschliche Schaffen, Folklore, 
der Witz, die Mythen und die Märchen erleichtern uns das Verständnis des 
Individuums. Andererseits kann die Psychoanalyse auf manche dieser Gebiete 
ein überraschendes Licht werfen, wie es ja „Die Schriften zur ange¬ 
wandten Seelen künde“ beweisen. Auf alle diese Grenzgebiete wollen 
wir nach Massnahme des Raumes Rücksicht nehmen. Auch der Pädagoge 
und der Seelsorger, der Künstler und der Philosoph sollen zu Worte kommen, 
sobald sie uns neue Erkenntnisse bringen können. Denn die Seelenkunde 
darf sich nicht mit kleinlicher Engherzigkeit das Terrain ihrer Arbeitsleistung 
abgrenzen. 

Wir wollen nicht zu viel versprechen. Wie häufig bleibt das Erreichte 
hinter dem Erstrebten zurück! Mit Rücksicht auf die grosse Zahl von Mit¬ 
arbeitern, die sich uns freudig zur Verfügung gestellt haben, hoffen wir 
unsere Vorsätze in Tatsachen umzuwandeln. 


Die Schriftleitimg. 


Originalarbeiten 


i. 

Die zukünftigen Chancen der psychoanalytischen 

Therapie. 

Von Sigm. Freud. 

(Vortrag, gehalten auf dem zweiten Privatkongress der Psychoanalytiker 

zu Nürnberg 1910). 

Meine Herren! Da uns heute vorwiegend praktische Ziele zu- 
sammengeführt haben, werde auch ich ein praktisches Thema zum 
Gegenstand meines einführenden Vortrages wählen, nicht Ihr wissen¬ 
schaftliches, sondern Ihr ärztliches Interesse anrufen. Ich halte mir 
vor, wie Sie wohl die Erfolge unserer Therapie beurteilen, und nehme 
an, dass die meisten von Ihnen die beiden Phasen der Anfängerschaft 
bereits durchgemacht haben, die des Entzückens über die ungeahnte 
Steigerung unserer therapeutischen Leistung und die der Depression 
über die Grösse der Schwierigkeiten, die unseren Bemühungen im Wege 
stehen. Aber an welcher Stelle dieses Entwicklungsganges sich die 
einzelnen von Ihnen auch befinden mögen, ich habe heute vor Ihnen 
zu zeigen, dass wir mit unseren Hilfsmitteln zur Bekämpfung der Neu¬ 
rosen keineswegs zu Ende sind, und dass wir von der näheren Zukunft 
noch eine erhebliche Besserung unserer therapeutischen Chancen erwarten 
dürfen. 

Von drei Seiten her, meine ich, wird uns die Verstärkung kommen: 

1. durch inneren Fortschritt, 

2. durch Zuwachs an Autorität, 

3. durch die Allgemeinwirkung unserer Arbeit. 

Ad 1. Unter „innerem Fortschritt“ verstehe ich den Fort¬ 
schritt a) in unserem analytischen Wissen, b) in unserer Technik. 

a) Zum Fortschritt unseres Wissens: Wir wissen natürlich lange 
noch nicht alles, was wir zum Verständnis des Unbewussten bei unseren 

Zentralblatt für Psychoanalyse. I. 1 



2 


Sigm. Freud, 


Kranken brauchen. Nun ist es klar, dass jeder Fortschritt unseres 
Wissens einen Machtzuwachs für unsere Therapie bedeutet. So lange 
wir nichts verstanden haben, haben wir auch nichts ausgerichtet; je mehr 
wir verstehen lernen, desto mehr werden wir leisten. In ihren Anfängen 
war die psychoanalytische Kur unerbittlich und erschöpfend. Der 
Patient musste alles selbst sagen, und die Tätigkeit des Arztes bestand 
darin, ihn unausgesetzt zu drängen. Heute sieht es freundlicher aus. 
Die Kur besteht aus zwei Stücken, aus dem, was der Arzt errät und 
dem Kranken sagt, und aus der Verarbeitung dessen, was er gehört 
hat, von Seiten des Kranken. Der Mechanismus unserer Hilfeleistung 
ist ja leicht zu verstehen; wir geben dem Kranken die bewusste Er¬ 
wartungsvorstellung, nach deren Ähnlichkeit er die verdrängte unbewusste 
bei sich auffindet. Das ist die intellektuelle Hilfe, die ihm die Über¬ 
windung der Widerstände zwischen Bewusstem und Unbewusstem erleichtert. 
Ich bemerke Ihnen nebenbei, es ist nicht der einzige Mechanismus, 
der in der analytischen Kur verwendet wird; Sie kennen ja alle den 
weit kräftigeren, der in der Verwendung der „Übertragung“ liegt. Ich 
werde mich bemühen, alle diese für das Verständnis der Kur wichtigen 
Verhältnisse demnächst in einer,, Allgemeinen Methodik der Psychoanalyse“ 
zu behandeln. Auch brauche ich bei Ihnen den Einwand nicht zurück¬ 
zuweisen, dass in der heutigen Praxis der Kur die Beweiskraft für die 
Richtigkeit unserer Voraussetzungen verdunkelt wird; Sie vergessen 
nicht, dass diese Beweise anderswo zu finden sind, und dass ein thera¬ 
peutischer Eingriff nicht so geführt werden kann wie eine theoretische 
Untersuchung. 

Lassen Sie mich nun einige Gebiete streifen, auf denen wir Neues 
zu lernen haben und wirklich täglich Neues erfahren. Da ist vor allem 
das der Symbolik im Traum und im Unbewussten. Ein hart bestrittenes 
Thema, wie Sie wissen I Es ist kein geringes Verdienst unseres Kollegen 
W. Stekel, dass er unbekümmert um den Einspruch all der Gegner 
sich in das Studium der Traumsymbole begeben hat. Da ist wirklich 
noch viel zu lernen; meine 1899 niedergeschriebene „Traumdeutung“ 
erwartet vom Studium der Symbolik wichtige Ergänzungen. 

Über eines dieser neuerkannten Symbole möchte ich Ihnen einige 
Worte sagen: Vor einiger Zeit wurde es mir bekannt, dass ein uns 
ferner stehender Psychologe sich an einen von uns mit der Bemerkung 
gewendet, wir überschätzten doch gewiss die geheime sexuelle Bedeutung 
der Träume. Sein häufigster Traum sei, eine Stiege hinauf zu steigen, 
und da sei doch gewiss nichts Sexuelles dahinter. Durch diesen Ein¬ 
wand aufmerksam gemacht, haben wir dem Vorkommen von Stiegen, 
Treppen, Leitern im Traum Aufmerksamkeit geschenkt und konnten bald 
feststellen, dass die Stiege (und was ihr analog ist) ein sicheres Koitus¬ 
symbol darstellt. Die Grundlage der Vergleichung ist nicht schwer 


Die zukünftigen Chancen der psychoanalytischen Therapie. 


3 


aufzufinden; in rhythmischen Absätzen, unter zunehmender Atemnot 
kommt man auf eine Höhe und kann dann in ein paar raschen Sprüngen 
wieder unten sein. So findet sich der Rhythmus des Koitus im Stiegen¬ 
steigen wieder. Vergessen wir nicht den Sprachgebrauch heranzuziehen. 
Er zeigt uns, dass das „Steigen“ ohne weiteres als Ersatzbezeichnung 
der sexuellen Aktion gebraucht wird. Man pflegt zu sagen, der Mann 
ist ein „Steiger“, „nachsteigen“. Im Französischen heisst die Stufe der 
Treppe la raarche; „un vieux marcheur“ deckt sich ganz mit unserem 
„ein alter Steiger“. Das Traummaterial, aus dem diese neu erkannten 
Symbole stammen, wird Ihnen seinerzeit von dem Komitee zur Sammel¬ 
forschung über Symbolik, welches wir einsetzen sollen, vorgelegt werden. 
Über ein anderes interessantes Symbol, das des „Rettens“ und dessen 
Bedeutungswandel, werden Sie im zweiten Band unseres Jahrbuches 
Angaben finden. Aber ich muss hier abbrechen, sonst komme ich 
nicht zu den anderen Punkten. 

Jeder einzelne von Ihnen wird sich aus seiner Erfahrung über¬ 
zeugen, wie ganz anders er einem neuen Falle gegenübersteht, wenn er 
erst das Gefüge einiger typischer Krankheitsfälle durchschaut hat. 
Nehmen Sie nun an, dass wir das Gesetzmässige im Aufbau der ver¬ 
schiedenen Formen von Neurosen in ähnlicher Weise in knappe Formeln 
gebannt hätten, wie es uns bis jetzt für die hysterische Symptombildung 
gelungen ist, wie gesichert würde dadurch unser prognostisches Urteil. 
Ja, wie der Geburtshelfer durch die Inspektion der Placenta erfährt, 
ob sie vollständig ausgestossen wurde oder ob noch schädliche Reste 
zurückgeblieben sind, so würden wir unabhängig vom Erfolg und je¬ 
weiligen Befinden des Kranken sagen können, ob uns die Arbeit endgiltig 
gelungen ist, oder ob wir auf Rückfälle und neuerliche Erkrankung 
gefasst sein müssen. 

b) Ich eile zu den Neuerungen auf dem Gebiete der Technik, wo 
wirklich das meiste noch seiner definitiven Feststellung harrt, und 
vieles eben jetzt klar zu werden beginnt. Die psychoanalytische Technik 
setzt sich jetzt zweierlei Ziele, dem Arzt Mühe zu ersparen und dem 
Kranken den uneingeschränktesten Zugang zu seinem Unbewussten zu 
eröffnen. Sie wissen, in unserer Technik hat eine prinzipielle Wandlung 
statt gefunden. Zur Zeit der kathartischen Kur setzten wir uns die 
Aufklärung der Symptome zum Ziel, dann wandten wir uns von den 
Symptomen ab und setzten die Aufdeckung der „Komplexe“ — nach 
dem unentbehrlich gewordenen Wort von Jung — als Ziel an die 
Stelle; jetzt richten wir aber die Arbeit direkt auf die Auffindung und 
Überwindung der „Widerstände“ und vertrauen mit Recht darauf, dass 
die Komplexe sich mühelos ergeben werden, sowie die Widerstände 
erkannt und beseitigt sind. Bei manchem von Ihnen hat sich seither 
das Bedürfnis gezeigt, diese Widerstände übersehen und klassifizieren 

1* 


4 


Sigm. Freud, 


zu können. Ich bitte Sie nun, an Ihrem Material nachzuprüfen, ob Sie 
folgende Zusammenfassung bestätigen zu können: Bei männlichen 
Patienten scheinen die bedeutsamsten Kur widerstände vom Yater- 
komplex auszugehen und sich in Furcht vor dem Vater, Trotz gegen 
den Vater und Unglauben gegen den Vater aufzulösen. 

Andere Neuerungen der Technik betreffen die Person des Arztes 
selbst. Wir sind auf die „Gegenübertragung“ aufmerksam worden, 
die sich beim Arzt durch den Einfluss des Patienten auf das un¬ 
bewusste Fühlen des Arztes einstellt, und sind nicht weit davon, 
die Forderung zu erheben, dass der Arzt diese Gegenübertragung in 
sich erkennen und bewältigen müsse. Wir haben, seitdem eine grössere 
Anzahl von Personen, die Psychoanalyse üben und ihre Erfahrungen 
untereinander austauschen, bemerkt, dass jeder Psychoanalytiker nur 
soweit kommt, als seine eigenen Komplexe und inneren Widerstände 
es gestatten, und verlangen daher, dass er seine Tätigkeit mit einer 
Selbstanalyse beginne, und diese, während er seine Erfahrungen an 
Kranken macht, fortlaufend vertiefe. Wer in einer solchen Selbst¬ 
analyse nichts zustande bringt, mag sich die Fähigkeit, Kranke ana¬ 
lytisch zu behandeln, ohne weiteres absprechen. 

Wir nähern uns jetzt auch der Einsicht, dass die analytische Technik 
je nach der Krankheitsform und je nach den beim Patienten vorherrschen¬ 
den Trieben gewisse Modifikationen erfahren muss. Von der Therapie 
der Konversionshysterie sind wir ja ausgegangen; bei der Angsthysterie 
(den Phobien) müssen wir unser Vorgehen etwas ändern. Diese Kranken 
können nämlich das für die Auflösung der Phobie entscheidende 
Material nicht bringen, so lange sie sich durch die Einhaltung der 
phobischen Bedingung geschützt fühlen. Dass sie von Anfang der Kur 
an auf die Schutzvorrichtung verzichten und unter den Bedingungen 
der Angst arbeiten, erreicht man natürlich nicht. Man muss ihnen 
also so lange Hilfe durch Übersetzung ihres Unbewussten zuführen, 
bis sie sich entschliessen können, auf den Schutz der Phobie zu ver¬ 
zichten und sich einer, nun sehr gemässigten, Angst aussetzen. Haben sie 
das getan, so wird jetzt erst das Material zugänglich, dessen Beherrschung 
zur Lösung der Phobie führt. Andere Modifikationen der Technik, die 
mir noch nicht spruchreif scheinen, werden in der Behandlung der 
Zwangsneurosen erforderlich sein. Ganz bedeutsame, noch nicht geklärte, 
Fragen tauchen in diesem Zusammenhänge auf, inwieweit den bekämpften 
Trieben des Kranken ein Stück Befriedigung während der Kur zu ge¬ 
statten ist, und welchen Unterschied es dabei macht, ob diese Triebe 
aktiver (sadistischer) oder passiver (masochistischer) Natur sind. 

Ich hoffe, Sie werden den Eindruck erhalten haben, dass, wenn 
wir all das wüssten, was uns jetzt erst ahnt, und alle Verbesserungen 
der Technik durchgeführt haben werden, zu denen uns die vertiefte 



Die zukünftigen Chancen der psychoanalytischen Therapie. 5 

Erfahrung an unseren Kranken führen muss, dass unser ärztliches 
Handeln dann eine Präzision und Erfolgsicherheit erreichen wird, die 
nicht auf allen ärztlichen Spezialgebieten vorhanden sind. 

Ad 2. Ich sagte, wir hätten viel zu erwarten durch den Zuwachs 
an Autorität, der uns im Laufe der Zeit zufallen muss. Über die Be¬ 
deutung der Autorität brauche ich Ihnen nicht viel zu sagen. Die 
wenigsten Kulturmenschen sind fähig, ohne Anlehnung an andere zu 
existieren oder auch nur ein selbständiges Urteil zu fällen. Die Autoritäts¬ 
sucht und innere Haltlosigkeit der Menschen können Sie sich nicht arg 
genug vorstellen. Die ausserordentliche Vermehrung der Neurosen seit 
der Entkräftung der Religionen mag Ihnen einen .Massstab dafür geben. 
Die Verarmung des Ich durch den grossen Verdrängungsaufwand, den 
die Kultur von jedem Individuum fordert, mag eine der hauptsächlichsten 
Ursachen dieses Zustandes sein. 

Diese Autorität und die enorme von ihr ausgehende Suggestion 
war bisher gegen uns. Alle unsere therapeutischen Erfolge sind gegen 
diese Suggestion erzielt worden; es ist zu verwundern, dass unter solchen 
Verhältnissen überhaupt Erfolge zu gewinnen waren. Ich will mich nicht 
soweit gehen lassen, Ihnen die Annehmlichkeiten jener Zeiten, da ich 
allein die Psychoanalyse vertrat, zu schildern. Ich weiss, die Kranken, 
denen ich die Versicherung gab, ich wüsste ihnen dauernde Abhilfe 
ihrer Leiden zu bringen, sahen sich in meiner bescheidenen Umgebung 
um, dachten an meinen geringen Ruf und Titel und betrachteten mich 
wie etwa einen Besitzer eines unfehlbaren Gewinnsystems an dem Ort 
einer Spielbank, gegen den man einwendet, wenn der Mensch das kann, 
so muss er anders aussehen. Es war auch wirklich nicht bequem, 
psychische Operationen auszuführen, während der Kollege, der die Pflicht 
der Assistenz gehabt hätte, sich ein besonderes Vergnügen daraus machte, 
ins Operationsfeld zu spucken, und die Angehörigen den Operateur be¬ 
drohten, sobald es Blut oder unruhige Bewegungen bei der Kranken gab. 
Eine Operation darf doch Reaktionserscheinungen machen; in der 
Chirurgie sind wir längst gewöhnt daran. Man glaubte mir einfach 
nicht, wie man heute noch uns allen wenig glaubt; unter solchen Be¬ 
dingungen musste mancher Eingriff misslingen. Um die Vermehrung 
unserer therapeutischen Chancen zu ermessen, wenn sich das allgemeine 
Vertrauen uns zuwendet, denken Sie an die Stellung des Frauenarztes in 
der Türkei und im Abendlande. Alles, was dort der Frauenarzt tun 
darf, ist, an dem Arm, der ihm durch ein Loch in der Wand entgegen¬ 
gestreckt wird, den Puls zu fühlen. Einer solchen Unzugänglichkeit des 
Objektes entspricht auch die ärztliche Leistung; unsere Gegner im 
Abendlande wollen uns eine ungefähr ähnliche Verfügung über das 
Seelische unserer Kranken gestatten. Seitdem aber die Suggestion 
der Gesellschaft die kranke Frau zum Gynäkologen drängt, ist dieser 


6 


Sigm. Freud, 


der Helfer und Retter der Frau geworden. Sagen Sie nun nicht, 
wenn uns die Autorität der Gesellschaft zu Hilfe kommt und unsere 
Erfolge so sehr steigert, so wird dies doch nichts für die Richtigkeit 
unserer Voraussetzungen beweisen. Die Suggestion kann angeblich alles, 
und unsere Erfolge werden dann Erfolge der Suggestion sein und nicht 
der Psychoanalyse. Die Suggestion der Gesellschaft kommt doch jetzt 
den Wasser-, Diät- und elektrischen Kuren bei Nervösen entgegen, ohne 
dass es diesen Massnahmen gelingt, die Neurosen zu bezwingen. Es 
wird sich zeigen, ob die psychoanalytischen Behandlungen mehr zu 
leisten vermögen. 

Nun muss ich aber Ihre Erwartungen allerdings wieder dämpfen. 
Die Gesellschaft wird sich nicht beeilen, uns Autorität einzuräumen. 
Sie muss sich im Widerstande gegen uns befinden, denn wir verhalten 
uns kritisch gegen sie; wir weisen ihr nach, dass sie an der Ver¬ 
ursachung der Neurosen selbst einen grossen Anteil hat. Wie wir den 
•einzelnen durch die Aufdeckung des in ihm Verdrängten zu unserem 
Feinde machen, so kann auch die Gesellschaft die rücksichtslose Bloss¬ 
legung ihrer Schäden und Unzulänglichkeiten nicht mit sympathischem 
Entgegenkommen beantworten; weil wir Illusionen zerstören, wirft man 
uns vor, dass wir die Ideale in Gefahr bringen. So scheint es also, 
dass die Bedingung, von der ich eine so grosse Förderung unserer 
therapeutischen Chancen erwarte, niemals eintreten wird. Und doch ist 
die Situation nicht so trostlos, wie man jetzt meinen sollte. So mächtig 
auch die Affekte und die Interessen der Menschen sein mögen, das 
Intellektuelle ist doch auch eine Macht. Nicht gerade diejenige, welche 
sich zuerst Geltung verschafft, aber um so sicherer am Ende. Die ein¬ 
schneidendsten Wahrheiten werden endlich gehört und anerkannt, nachdem 
die durch sie verletzten Interessen und die durch sie geweckten Affekte 
sich ausgetobt haben. Es ist bisher noch immer so gegangen, und die un¬ 
erwünschten Wahrheiten, die wir Psychoanalytiker der Welt zu sagen 
haben, werden dasselbe Schicksal finden. Nur wird es nicht sehr rasch 
geschehen; wir müssen warten können. 

Ad 3. Endlich muss ich Ihnen erklären, was ich unter der „All¬ 
gemeinwirkung“ unserer Arbeit verstehe, und wie ich dazu komme, 
Hoffnungen auf diese zu setzen. Es liegt da eine sehr merkwürdige 
therapeutische Konstellation vor, die sich in gleicher Weise vielleicht 
nirgendwo wiederfindet, die Ihnen auch zunächst befremdlich erscheinen 
wird, bis Sie etwas längst Vertrautes in ihr erkennen werden. Sie wissen 
doch, die Psychoneurosen sind entstellte Ersatzbefriedigungen von Trieben, 
deren Existenz man vor sich selbst und vor den anderen verleugnen 
muss. Ihre Existenzfähigkeit ruht auf dieser Entstellung und Ver¬ 
kennung. Mit der Lösung des Rätsels, das sie bieten, und der Annahme 
dieser Lösung durch die Kranken werden diese Krankheitszustände 


Die zukünftigen Chancen der psychoanalytischen Therapie. 


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existenzunfähig. Es gibt kaum etwas ähnliches in der Medizin; in den 
Märchen hören Sie von bösen Geistern, deren Macht gebrochen ist, 
sobald man ihnen ihren geheim gehaltenen Namen sagen kann. 

Nun setzen sie an die Stelle des einzelnen Kranken die ganze 
an den Neurosen krankende, aus kranken und gesunden Personen be¬ 
stehende Gesellschaft, an Stelle der Annahme der Lösung dort die 
allgemeine Anerkennung hier, so wird Ihnen eine kurze Überlegung 
zeigen, dass diese Ersetzung am Ergebnis nichts zu ändern vermag. 
Der Erfolg, den die Therapie beim einzelnen haben kann, muss auch 
bei der Masse eintreten. Die Kranken können ihre verschiedenen 
Neurosen, ihre ängstliche Überzärtlichkeit, die den Hass verbergen soll, 
ihre Agoraphobie, die von ihrem enttäuschtem Ehrgeiz erzählt, ihre 
Zwangshandlungen, die Vorwürfe wegen und Sicherungen gegen böse 
Vorsätze darstellen, nicht bekannt werden lassen, wenn allen Angehörigen 
und Fremden, vor denen sie ihre Seelenvorgänge verbergen wollen, 
der allgemeine Sinn der Symptome bekannt ist, und wenn sie selbst 
wissen, dass sie in den Krankheitserscheinungen nichts produzieren, 
was die anderen nicht sofort zu deuten verstehen. Die Wirkung wird 
sich aber nicht auf das — übrigens häufig undurchführbare — Ver¬ 
bergen der Symptome beschränken; denn durch dieses Verbergenmüssen 
wird das Kranksein unverwendbar. Die Mitteilung des Geheimnisses 
hat die „ätiologische Gleichung“, aus welcher die Neurosen hervor¬ 
gehen, an ihrem heikelsten Punkte angegriffen, sie hat den Krankheits¬ 
gewinn illusorisch gemacht, und darum kann nichts anderes als die 
Einstellung der Krankheitsproduktion die endliche Folge der durch die 
Indiskretion des Arztes veränderten Sachlage sein. 

Erscheint Ihnen diese Hoffnung utopisch, so lassen Sie sich daran 
erinnern, dass Beseitigung neurotischer Phänomene auf diesem Wege 
wirklich bereits vorgekommen ist, wenngleich in ganz vereinzelten 
Fällen. Denken Sie daran, wie häufig in früheren Zeiten die Halluzi¬ 
nation der heiligen Jungfrau bei Bauernmädchen war. So lange eine 
solche Erscheinung einen grossen Zulauf von Gläubigen, etwa noch die 
Erbauung einer Kapelle am Gnadenorte zur Folge hatte, war der 
visionäre Zustand dieser Mädchen einer Beeinflussung unzugänglich. 
Heute hat selbst die Geistlichkeit ihre Stellung zu diesen Erscheinungen 
verändert; sie gestattet, dass der Gendarm und der Arzt die Visionärin 
besuchen, und seitdem erscheint die Jungfrau nur sehr selten. Oder 
gestatten Sie, dass ich dieselben Vorgänge, die ich vorhin in die Zu¬ 
kunft verlegt habe, an einer analogen, aber erniedrigten und darum 
leichter übersehbaren Situation mit Ihnen studiere. Nehmen Sie an, 
ein aus Herren und Damen der guten Gesellschaft bestehender Kreis 
habe einen Tagesausflug nach einem im Grünen gelegenen Wirtshaus 
verabredet. Die Damen haben miteinander ausgemacht, wenn eine von 


8 


Sigm. Freud, 


ihnen ein natürliches Bedürfnis befriedigen wolle, so werde sie laut 
sagen: sie gehe jetzt Blumen pflücken; ein Boshafter sei aber hinter 
dieses Geheimnis gekommen und habe auf das gedruckte und an die 
Teilnehmer verschickte Programm setzen lassen: Wenn die Damen auf 
die Seite gehen wollen, mögen sie sagen, sie gehen Blumen pflücken. 
Natürlich wird keine der Damen mehr sich dieser Verblümung bedienen 
wollen, und ebenso erschwert werden ähnliche neu verabredete Formeln 
sein. Was wird die Folge sein? Die Damen werden sich ohne Scheu 
zu ihren natürlichen Bedürfnissen bekennen, und keiner der Herren 
wird daran Anstoss nehmen. Kehren wir zu unserem ernsthafteren 
Falle zurück. So und so viele Menschen haben sich in Lebenskonflikten, 
deren Lösung ihnen allzuschwierig wurde, in die Neurose geflüchtet 
und dabei einen unverkennbaren, wenn auch auf die Dauer allzu kost¬ 
spieligen Krankheitsgewinn erzielt. Was werden diese Menschen tun 
müssen, wenn ihnen die Flucht in die Krankheit durch die indiskreten 
Aufklärungen der Psychoanalyse versperrt wird? Sie werden ehrlich 
sein müssen, sich zu den in ihnen rege gewordenen Trieben bekennen, 
im Konflikt Stand halten, werden kämpfen oder verzichten, und die 
Toleranz der Gesellschaft, die sich im Gefolge der psychoanalytischen 
Aufklärung unabwendbar einstellt, wird ihnen zu Hilfe kommen. 

Erinnern wir uns aber, dass man dem Leben nicht als fanatischer 
Hygieniker oder Therapeut entgegentreten darf. Gestehen wir uns ein, 
dass diese ideale Verhütung der neurotischen Erkrankungen nicht allen 
einzelnen zum Vorteil gereichen wird. Eine gute Anzahl derer, die 
sich heute in die Krankheit flüchten, würde unter den von uns an¬ 
genommenen Bedingungen den Konflikt nicht bestehen, sondern rasch 
zugrunde gehen oder ein Unheil anstiften, welches grösser ist als ihre 
eigene neurotische Erkrankung. Die Neurosen haben eben ihre bio¬ 
logische Funktion als Schutzvorrichtung und ihre soziale Berechtigung; 
ihr „Krankheitsgewinn“ ist nicht immer ein rein subjektiver. Wer 
von Ihnen hat nicht schon einmal hinter die Verursachung einer Neu¬ 
rose geblickt, die er als den mildesten Ausgang unter allen Möglichkeiten 
der Situation gelten lassen musste? Und soll man wirklich gerade der 
Ausrottung der Neurosen so schwere Opfer bringen, wenn doch die 
Welt voll ist von anderem unabwendbarem Elend? 

Sollen wir also unsere Bemühungen zur Aufklärung über den ge¬ 
heimen Sinn der Neurotik als im letzten Grunde gefährlich für den einzelnen 
und schädlich für den Betrieb der Gesellschaft aufgeben, darauf ver¬ 
zichten, aus einem Stück wissenschaftlicher Erkenntnis die praktische 
Folgerung zu ziehen? Nein, ich meine, unsere Pflicht geht doch nach 
der anderen Richtung. Der Krankheitsgewinn der Neurosen ist doch 
im ganzen und am Ende eine Schädigung für die einzelnen wie für 
die Gesellschaft. Das Unglück, das sich infolge unserer Aufklärungs- 


Die zukünftigen Chancen der psychoanalytischen Therapie. 


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arbeit ergeben kann, wird doch nur einzelne betreffen. Die Umkehr 
zu einem wahrheitsgemässeren und würdigeren Zustand der Gesellschaft 
wird mit diesen Opfern nicht zu teuer erkauft sein. Vor allem aber: 
alle die Energien, die sich heute in der Produktion neurotischer Sym¬ 
ptome im Dienste einer von der Wirklichkeit isolierten Phantasiewelt 
verzehren, werden, wenn sie schon nicht dem Leben zugute kommen 
können, doch den Schrei nach jenen Veränderungen in unserer Kultur 
verstärken helfen, in denen wir allein das Heil für die Nachkommenden 
erblicken können. 

So möchte ich Sie denn mit der Versicherung entlassen, dass 
Sie in mehr als einem Sinne Ihre Pflicht tun, wenn Sie Ihre Kranken 
psychoanalytisch behandeln. Sie arbeiten nicht nur im Dienste der 
Wissenschaft, indem Sie die einzige und nie wiederkehrende Gelegenheit 
ausnützen, die Geheimnisse der Neurosen zu durchschauen; Sie geben 
nicht nur Ihrem Kranken die wirksamste Behandlung gegen seine 
Leiden, die uns heute zu Gebote steht; Sie leisten auch Ihren Beitrag 
zu jener Aufklärung der Masse, von der wir die gründlichste Prophylaxe 
der neurotischen Erkrankungen auf dem Umwege über die gesellschaft¬ 
liche Autorität erwarten. 



II. 

Die psychische Behandlung der Trigeminusneuralgie. 

Von Dr. Alfred Adler, Wien. 

Die psychoanalytische Methode hat ihre strengen Indikationen und 
verlangt, vielleicht mehr wie jede andere Methode, eine genaue Ab¬ 
grenzung ihres Arbeitsgebietes. Dass sie bloss für psychogene Erkran¬ 
kungen Geltung hat, ist von vorneherein verständlich. Ebenso darf die 
Möglichkeit der psychischen Verarbeitung des gefundenen Materials 
nicht durch intellektuelle Störungen des Patienten, durch Verblödung, 
Schwachsinn, Delirien gestört sein. Ob und wieweit die Psychose durch 
Analyse beeinflussbar ist, bildet heute noch eine offene Frage; sicherlich 
aber ist sie der Analyse zugänglich, zeigt dieselben Grundlinien wie die 
Neurose und kann für das Studium abnormaler psychischer Ein¬ 
stellungen wertvolle Dienste leisten. 

Soll nun das Arbeitsgebiet der psychoanalytischen Methode voll 
ausgenützt werden, so muss in erster Linie die Möglichkeit gegeben 
sein, eine psychogene Krankheit zu erkennen. 

Bezüglich der typischen Psychoneurosen, der Hysterie und der 
Zwangsneurosen ist die wissenschaftliche Überzeugung von deren psycho¬ 
genem Ursprung so sehr gefestigt, dass Einwendungen zögernd und nur 
von zwei Seiten aus erhoben werden. Man betont entweder den kon¬ 
stitutionellen Faktor und versucht alle Erscheinungen unter den 
Gesichtspunkt der erblichen Degeneration zu bringen, funktionelle wie 
psychische Erscheinungen in gleicher Weise, ohne den Übergang 
aus der organischen M in der Wertigkeit zur neurotischen 
Psyche ins Auge zu fassen. Dass dieser Übergang nicht un¬ 
bedingt eintreten muss, und wie andere Übergänge zum Genie» 
zum Verbrechen, zum Selbstmord, zur Psychose führen, 
habe ich vor längerer Zeit nachgewiesen 1 ). Und ich bin in dieser und 

i) Adler, Studie über die Minderwertigkeit von Organen. 1907. Urban & 
Schwarzenberg, Berlin. 



Die psychische Behandlung der Trigeminusneuralgie. 


11 


anderen Arbeiten zu dem Schlüsse gelangt, dass eine angeborene Minder¬ 
wertigkeit von Drüsen- und Organsystemen zur neurotischen Disposition 
führt, wenn sie sich psychisch geltend macht, d. h. wenn sie in dem 
hereditär belasteten Kinde das Gefühl der Minderwertigkeit 
gegenüber seiner Umgebung erzeugt 1 ). So können äussere 
Degenerationszeichen, sobald sie zu Entstellungen und Hässlicheit Anlass 
geben, oder wenn sie äusserlich sichtbare Signale tiefersitzender Organ¬ 
minderwertigkeiten sind und sich mit diesen verbinden — verbildete 
Ohren mit angeborenen Gehörsanomalien, Farbenblindheit, Astigmatismus 
oder andere Brechungsanomalien mit Schielen etc. — abgesehen von 
ihren objektiven Symptomen ein Gefühl der Minderwertigkeit und Un¬ 
sicherheit in der Kindesseele hervorrufen. In der gleichen Weise wirken 
andere Organminderwertigkeiten, insbesondere wenn sie das Leben nicht 
bedrohen, sondern psychische Entwicklungsmöglichkeiten zulassen. Die 
Rhachitis kann das Längenwachstum stören, zu auffallender Kleinheit 
und Plumpheit Anlass geben; rhachitische Deformitäten — Plattfuss, 
X- und O-Beine, Skoliose etc. — können sowohl die Beweglichkeit als 
das Selbstgefühl des Kindes herabsetzen. — Ausfallserscheinungen 
der Nebennieren, der Schilddrüse, des Thymus, der Hypophyse, 
der inneren Genitalien, insbesondere die angeborenen Formen 
leichter Natur, deren Symptome oft mehr den Tadel der Umgebung als 
eine entsprechende Behandlung erfahren, werden nicht nur für die 
organische, sondern vor allem für die psychische Entwicklung verhängnis¬ 
voll, indem sie das Gefühl der Zurückgesetzheit und Minderwertigkeit 
wachrufen und unterhalten. So werden auch die exsudative Dia- 
these, der Status lymphatico-thymicus und der asthenische 
Habitus nach beiden Richtungen verderblich, ebenso der Hydro- 
cephalus und leichte Formen von Schwachsinn. Angeborene 
Minderwertigkeiten des Harn- und Ernährungsapparates 
schaffen objektive Symptome 2 ) in gleicher Weise wie subjektive Gefühle 
der Minderwertigkeit, oft auf dem Umweg über den Kindesfehler der 
Enuresis, der Incontinentia alvi, oder weil die körperliche Not, Furcht 
vor Strafe und Schmerzen, oft übertriebene Vorsicht beim Essen, 
Trinken und Schlafen 3 ) gebieten. 

1 ) Adler, Über neurotische Disposition. Jahrbuch Bleuler-Freud, 1909. 
I. Bd. Leipzig, Deuticke. 

2 ) Adler, Zur Ätiologie, Diagnostik und Therapie der Nepbrolithiasis. Wien, 
klin. Wochenschr. XX. Jahrg. Nr. 49 und 

Adler, Myelodysplasie oder Organminderwertigkeit? Wien. med. Wochenschr. 
1 909. Nr. 45. 

3 ) Jean Paul’s Scbmelzle schildert in ausgezeichneterWeise diese Furcht 
vor der Nacht, weist die später zu besprechenden „Sicherungstendenzen“ auf und 
lässt leicht die Minderwertigkeit des Harn- und Darmapparates erraten. 



12 


Dr. Alfred Adler, 


Die Betrachtungen und Nachweise dieser Art, objektive und sub¬ 
jektive Ausstrahlungen der Organminderwertigkeit betreffend, scheinen 
mir von grösster Wichtigkeit zu sein, denn sie zeigen uns die Ent¬ 
stehung neurotischer Symptome, insbesondere neurotischer 
Charakterzüge aus den angeborenen Organminderwertigkeiten 
und sind gleichermassen beweisend fiir die konstitutionelle Organminder¬ 
wertigkeit, wie für die psychogenen Faktoren als Quellen der Neurose. 
Die normale Basis für diese gespannteren Beziehungen zwischen Orga¬ 
nischem und Psychischem ist leicht zu erkennen: sie findet sich in der 
relativen Organminderwertigkeit des Kindes, auch des ge¬ 
sunden, gegenüber dem Erwachsenen und löst dort, wenn auch in 
erträglicherem Masse, das Gefühl der Minderwertigkeit und Unsicherheit 
aus, das bei fühlbarer absoluter Organminderwertigkeit zu den uner¬ 
träglichen Gefühlen der Minderwertigkeit führte, wie ich sie bei allen 
Neurotikern gefunden habe. Das Kind ist unter allen Umständen 
ein Gernegross und wird gerade von solchen Erfolgen phantasieren 
und träumen, die ihm von Natur aus schwierig gemacht sind. Es wird 
alles sehen wollen, wenn es kurzsichtig ist, alles hören wollen, wenn es 
Gehörsanomalien hat, wird immer sprechen wollen, wenn Sprach- 
schwierigkeiten oder Stottern vorhanden sind, und es wird immer 
riechen wollen, wenn angeborene Schleimhautwucherungen, Septumdevi- 
vationen oder adenoide Vegetationen das Schnuppern mit der Nase 
behindern 1 ). Schwerbewegliche, plumpe Kinder werden zeitlebens den 
Ehrgeiz haben, die ersten am Platz zu sein, ähnlich wie Zweit- und 
Spätgeborene. Wer als Kind an Flinkheit zu wünschen übrig Hess, 
wird stets von der Angst geplagt sein, sich zu verspäten und wird 
leicht bei anderen Anlässen zum Hasten und Jagen gedrängt. Der 
Wunsch zu fliegen wird am ehesten bei denjenigen Kindern ausgelöst, 
die schon beim Springen grosse Schwierigkeiten vorfinden. Diese Gegen¬ 
sätzlichkeit der organisch gegebenen Beeinträchtigungen und der Wünsche, 

i) Bei allen diesen Organminderwertigkeiten können durch „qu alif izierte 
Minderwertigkeit“ abgeänderte oder feinere Funktionsleistungen, wertvolle 
Steigerungen der Sinnesempfindungen oder erhöhte Empfindlichkeit, Kitzelgefühle in 
der Fühlsphäre zu finden sein, — als abgeänderte Technik des minderwertigen 
Organs. Der Fuss ist eine verkümmerte Hand, doch sind seine Mehrleistungen auf 
der Erde evident. — Kitzelgefühle in der Nase, im Rachen und in den Luftwegen, 
Verengerungen daselbst, Provokation von Sekretabsonderung durch verschärfte nasale 
Inspiration (Riechenwollen) spielen beim nervösen Asthma und bei Nieskrampf, 
wahrscheinlich auch beim Heuasthma, eine Hauptrolle. Eine schöne Schilderung 
nervöser, nasaler Reizzustände und des sich daran knüpfenden Minderwertigkeits¬ 
gefühls finden wir in Viscliers Roman „Auch Einer“. Die sekundäre Verwendung 
dieses „Fehlers“ zur Sicherung gegen die Ehe und gegen die Anknüpfung von 
gesellschaftlichen und Sexualbeziehungen sind so korrekt geschildert, dass die An¬ 
nahme berechtigt ist, der geistreiche Philosoph habe diese Vorgänge der Wirklichkeit 
abgelauscht. 



Die psychische Behandlung der Trigeminusneuralgie. 


13 


Phantasien nnd Träume, den psychischen Kompensationsbestrebungen 
also, ist eine derart durchgreifende, dass man daraus ein psycho¬ 
logisches Grundgesetz ableiten kann vom dialektischen 
Umschlag aus der Organminderwertigkeit über ein sub¬ 
jektives Gefühl der Minderwertigkeit in psychische Kompen- 
sations- und Über ko m pensati onsbestr ebungen. 

Das äussere Gebaren und innere psychologische Verhalten des 
also zur Neurose disponierten Kindes zeigt deutlich die Spuren dieses 
dialektischen Umschlags, und zwar in verhältnismässig früher Kindheit. 
Sein Verhalten, so verschieden es in jedem einzelnen Falle sein mag, 
lässt sich dahin verstehen, dass es in allen Beziehungen seines Lebens 
„auf der Höhe“ sein will. Ehrgeiz, Eitelkeit, alles verstehen 
wollen, überall mitreden wollen, körperliche Kraft, Schönheit, Kleidung 
betreffend, der erste in der Familie, in der Schule zu sein, die Auf¬ 
merksamkeit durch gute und böse Handlungen auf sich zu lenken, 
charakterisieren die ersten Phasen seiner abnormalen Entwicklung. 
Zeitweilig schlägt das Gefühl der Minderwertigkeit und Unsicherheit 
durch und äussert sich in Angst und Schüchternheit, welche beide 
als neurotische Charakterzüge fixiert werden können. Bei dieser Fixie¬ 
rung wird das Kind durch eine Tendenz geleitet, die dem Ehrgeiz nahe 
verwandt ist: man darf mich nicht allein lassen, jemand (Vater, 
Mutter) muss mir helfen, man muss mit mir freundlich, zärtlich 
sein, (zu ergänzen: denn ich bin schwach, minderwertig) wird zum Leit¬ 
motiv seiner psychischen Regungen. Eine dauernd gereizte Über¬ 
empfindlichkeit, Misstrauen und Wehleidigkeit wachen darüber, 
dass keine Zurücksetzung oder Beeinträchtigung Platz greifen 
könne. Oder das Kind wird bis aufs Äusserste scharfsichtig, wird vor¬ 
empfindlich, indem es alle Möglichkeiten einer Zurück¬ 
setzung austastet, mit der bestimmten Absicht, sich davor zu sichern, 
sei es durch aktives Eingreifen, positive Leistungen, Geistesgegenwart, 
Schlagfertigkeit oder durch Anlehnung an einen Stärkeren, durch Wecken 
des Mitleids und der Sympathie, durch Übertreibung etwaiger Leiden, 
durch Hervorrufen oder Simulation von Krankheiten, von Ohnmächten 
und Todeswünschen, die sich bis zu Selbstmordimpulsen verdichten 
können, immer in der Absicht, das Mitleid wach zu rufen oder Rache 
zu üben wegen einer Beeinträchtigung 1 ). 

Denn auch Hass- und Rachegefühle lodern auf, Jähzorn 
und sadistische Gelüste, Hang zu verbotenen Handlungen 
und fortwährende Störungen der Erziehungspläne, auch durch 
Indolenz, Faulheit und Trotz zeigen das disponierte Kind in seiner 
Auflehnung gegen vermeintliche oder wirkliche Unterdrückung. Solche 

0 Siehe Adler, Über den Selbstmord insbesondere im kindlichen Alter. 
Wiener psychoanalytische Diskussionen. Bergmann, Wiesbaden 1910. 



14 


Dr. Alfred Adler, 


Kinder machen aus dem Essen, Waschen, Ankleiden, Zähneputzen, 
Schlafengehen und Lernen eine Affaire, lehnen sich gegen die Erinne¬ 
rungen zur Defäkation und zum Urinlassen auf oder arrangieren Zu¬ 
fälle, Erbrechen, wenn man sie zum Essen zwingt oder zum Gang in 
die Schule drängt, Beschmutzungen auch mit Stuhl und Urin, Enuresis, 
damit man sich immer mit ihnen beschäftigt, sie nicht allein, allein 
schlafen lässt, allerlei Schlafstörungen, um Liebesbeweise zu provozieren, 
ins Bett der Eltern genommen zu werden, kurz, um durch ihren 
Trotz oder durch das Mitleid der Umgebung zur Geltung zu 
kommen. 

Meist liegen diese Tatsachen klar zutage und zeigen eine völlige 
Übereinstimmung, ob man sie nun aus dem Leben und aus den Charakter¬ 
zügen des disponierten Kindes oder aus der Anamnese des Neurotikers 
oder durch Aufhellung der Dynamik seiner Symptome gewinnt. Zuweilen 
hat man es aber scheinbar mit „Musterkindern“ zu tun, die einen er¬ 
staunlichen Gehorsam zeigen. Gelegentlich verraten sie sich aber doch 
auch durch einen unverständlichen Wutausbruch, oder es leitet ihre 
Überempfindlichkeit, stete Gekränktheit, reichlich fliessende Tränen oder 
Schmerzen ohne objektiven Befund (Kopfschmerzen, Bauchschmerzen, 
Fussschmerzen, Migräne, übertriebene Klagen wegen Hitze, Kälte, Müdig¬ 
keit) auf die richtige Spur. Und man versteht dann leicht, dass hier 
der Gehorsam, die Bescheidenheit, die ständige Bereit¬ 
schaft zur Unterwerfung nur zweckentsprechende Mittel sind, um 
sich Geltung zu verschaffen und Belohnungen, Liebesbeweise zu erhalten, 
ganz so, wie ich es in der Dynamik des Masochismus beim 
Neurotiker zeigen konnte 1 ). 

Eine Reihe von Erscheinungen beim disponierten Kinde muss ich 
noch erwähnen, die sich enge an die vorher geschilderten anschliessen. 
Sie verraten alle den Zug, durch trotziges Festhalten von ungehörigen 
oder störenden Betätigungen den Erziehern Ärgernis zu bereiten und 
die, wenn auch unwillige Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Hierher 
gehören Neigungen, die etwas Spielhaftes an sich haben, wie: sich 
taub, blind, lahm, stumm, ungeschickt, vergesslich, verrückt 
zu stellen, zu stottern, zu grimmassieren, zu fallen, sich zu 
beschmutzen. Auch normal veranlagte Kinder zeigen solche Anwand¬ 
lungen. Es gehört aber der krankhafte Ehrgeiz, der Trotz und Geltungs¬ 
drang des Disponierten dazu, um diese Spielereien und „Faxen“ länger 
festzuhalten und auszunützen. Ebenso können solche Kinder in boshafter 
und quälerischer Absicht, zuweilen freilich auch, um einer tyrannischen 
Bedrückung zu entgehen, einmal erlebte oder beobachtete Krankheits¬ 
symptome oder Unarten (Heiserkeit, Husten, Nägelbeissen, Nasenbohren, 


i) Der psychische Hermaphroditismus 1. c. 



Die psychische Behandlung der Trigeminusneuralgie. 


15 


Daumenlutschen, Berührungen der Genitalien, des Afters etc.) festhalten 
und oft lange Zeit ausüben. Ja auch die Schüchternheit und Angst 
können aus diesen Zwecken fixiert und zu Nutzeffekten (um nicht allein 
gelassen zu werden, um bedient zu werden) verwendet werden. Dabei 
spielt regelmässig die Inanspruchnahme eines entsprechenden minder¬ 
wertigen Organs eine Rolle, wie ich es in der „Studie“ (1. c.) gezeigt habe. 

Von allen diesen Eigenheiten des disponierten Kindes führen Über¬ 
gänge zu den Symptomen der Hysterie, der Zwangsneurose, der Unfall¬ 
neurose und -hysterie, der Neurasthenie, des Tic convulsif, der Angst¬ 
neurose und den scheinbar monosymptomatischen funktionellen Neurosen 
(Stottern, Obstipation, psychischer Impotenz etc.), die ich nach meinen 
Erfahrungen insgesamt als einheitliche Psychoneurose betrachten 
muss. Was in der Kindheit von diesen Erscheinungen, ohne volles 
Bewusstsein, auf Grund einer reflektorischen Einstellung 
angenommen wird, um die Linie des geringsten Widerstandes für 
den auf gespeicherten Aggressionstrieb zu gewinnen, wird 
vorbildlich, freilich meist überbaut und reichlich ausgestaltet im Sym¬ 
ptom des Neurotikers. Wie weit dabei die erhöhte Suggestibilität 
(Charcot, Strümpell), der hypnoide Zustand (Breuer), der halluzina¬ 
torische Charakter der neurotischen Psyche (Adler) in Frage kommt, 
soll an dieser Stelle nicht weiter untersucht werden. Sicher ist, dass 
der einzelne Anfall sowohl als auch die kontinuierlichen neurotischen 
Symptome sowie der bleibende neurotische Charakter in gleicher Weise 
unter dem Einfluss der untersuchten infantilen Einstellung zustande 
kommen, einer Einstellung, die durch kindliche Wunschphantasien und 
falsche Wertungen ins Abnorme geraten ist. 

Die Wunschphantasien des Kindes haben aber keineswegs nur 
platonischen Wert, sondern sind der Ausdruck eines psychischen An¬ 
triebs, der die Einstellung und damit die Handlungen des Kindes 
unumschränkt diktiert. Die Intensität des Antriebs ist graduell ver¬ 
schieden, wächst aber bei den disponierten Kindern — ihr verstärktes 
Minderwertigkeitsgefühl kompensierend — ins unermessliche. Die Analyse 
fördert zunächst Erinnerungen an Geschehnisse („infantiles Erlebnis, 
sexuelle Traumen“) zutage, bei denen das Kind eine bestimmte Stellung 
eingenommen hat. Ich habe bereits im „Aggressionstrieb“ (1. c.) darauf 
hingewiesen, dass „die Bedeutung des infantilen Erlebnisses in der 
Richtung zu reduzieren sei, dass in ihm der starke Trieb und 
seine Grenzen (als Wunsch und dessen Hemmung) zur 
Geltung kommen“, ferner, dass der Zusammenstoss mit der Aussen- 
welt, sei es in Form (dort: infolge) unlustbetonter Erfahrungen, sei es 
infolge der Ausbreitung des Verlangens auf kulturell verwehrte Güter, 
beim minderwertigen Organ mit unbedingter Gewissheit 
erfolgt und die TriebverWandlung erzwingt.“ Die stärkere 


16 


Dr. Alfred Adler, 


Triebausbreitung der disponierten Kinder geht dialektisch aus 
dem Gefühl der Minderwertigkeit hervor, die Tendenz zur Über¬ 
windung von Schwächen, die Sehnsucht nach Triumpf liegt in den 
Träumen und Wunschphantasien deutlich zutage, und die Einstellung 
auf eine Heldenrolle ist der Versuch einer Kompensation. 

In dieser tieferen neurotischen Schichtung deckt die Analyse 
regelmässig sexuelle Wünsche und Regungen auf, die 
deutlich inzestuöser Natur sind, nebenher aber auch Versuche 
und Sexualbetätigungen, gegenüber familienfremden Personen. Man 
wird diese Beobachtungen, die vor Freuds Analysen der 
Kinderpsychologie unbekannt waren, der Annahme von 
der unschuldsvollen Reinheit des Kindes auch in brüsker 
Weise ein Ende machen, dennoch verstehen, wenn man sich 
der oft tollen T rieb ausbreit ung erinnert, des kompensa¬ 
torischen Gegengewichts gegenüber dem Gefühl der Minder¬ 
wertigkeit beim disponierten Kinde. Auch in anderer Richtung als 
der sexuellen macht sich diese Aufpeitschung des Trieblebens geltend. 
Man erfährt von gesteigertem Fresstrieb, Schautrieb, 
Schmutztrieb, von sadistischen und verbrecherischen 
Neigungen, von Herrschsucht, Trotz, Jähzorn oder von 
eifrigem Büch er lesen und ausserordentlichen Bestre¬ 
bungen sich irgendwie auszuzeichnen. Alle diese Tendenzen 
werden erst ganz klar, wenn es gelingt, den Sinn der frühzeitig ge¬ 
weckten Sexualität und ihrer Manifestationen zu erfassen. 

Dieser Sinn lautet: Ich will ein Mann sein. Und er setzt 
sich bei Knaben wie bei Mädchen, vor allem bei disponierten Kindern, 
in so greller Weise durch, so dass man von vorneherein zur 
Vermutung gedrängt wird, diese Tendenz sei im Gegen¬ 
satz zu einer mit Unlustaffekt bedachten Empfindung, 
nicht männlich zu sein, hervorgebrochen. Und in der 
Tat zeigt sich die neurotische Psyche im Banne dieser 
Dynamik, die ich als psychischen Hermaphrodit i smus 
mit folgendem männlichen Protest beschrieben habe 1 ). 
Mit der Fixierung des Gefühls der Minderwertigkeit bei disponierten 
Kindern, das zur kompensatorischen Aufpeitschung des Trieblebens 
Anlass gibt, ist so der Anfang gegeben zu jener eigenartigen Entwick¬ 
lung der Psyche, die im übertriebenen männlichen Protest endet. Diese 
psychischen Vorgänge geben den Anstoss zu einer abnormalen Ein¬ 
stellung des Neurotikers zur Welt und prägen ihm — noch in verstärktem 
Masse — Charakterzüge auf wie die vorher geschilderten, die sich 

i) Adler, Der psychische Hermaphroditismus im Leben und in der Neurose. 
Zur Dynamik und Therapie der Neurosen — Fortschritte der Medizin, Leipzig, 
Thieme 1910, Heft 16. 



Die psychische Behandlung der Trigeminusneuralgie. 


17 


weder aus dem Sexualtrieb, noch aus den Ichtrieben 
allein ableiten lassen, sondern insgesamt als die Grössen¬ 
ideen des Neurotikers ins Auge fallen, zumeist den Sexualtrieb 
modifizieren und hemmen, und sich oft dem Selbsterhaltungstrieb ent¬ 
gegenstemmen. 

Dieser Gruppe von Charakterzügen gesellen sich andere bei, die 
den Zusammenstoss der schrankenlosen Triebausbreitung mit kulturell 
verwehrten Triebbefriedigungen als Schuldgefühle, Feigheit, 
Unentschlossenheit, Zagheit, oder auch Furcht vor Blamage 
und vor Strafe begleiten. Ich habe sie ausführlich in der 
Arbeit „Über neurotische Disposition“ (1. c.) beschrieben. Recht häufig 
findet man masochistische Regungen, übertriebenen 
Hang zum Gehorsam, zur Unterwerfung und zur Selbst¬ 
bestrafung, und kann aus diesen Charakterzügen auf die psychische 
Dynamik sowie auf die Vorgeschichte schliessen. Das stärkste Hemmnis 
für die Triebausbreitung ist offenbar die Erreichung der Inzestregung. 
Diese Konstellation wirkt als Memento und übernimmt fürderhin die 
Aufgabe, den Sexualtrieb und die anderen Organtriebe mit Hemmungen 
zu belasten. Der Neurotiker fühlt sich als Verbrecher, 
wird äusserst gewissenhaft und gerechtigkeitsliebend, 
seine Einstellung geschieht aber unter derFiktion, dass 
er eigentlich böse, mit unbändiger Sexualität bedacht, 
von schrankenloser Genusssucht erfüllt und jederMisse- 
tat, insbesondere sexueller Art fähig, daher zu besonderer 
Vorsicht verpflichtet sei. 

Das Arrangement dieser Fiktion ist ersichtlich übertrieben und 
dient der Hauptaufgabe des Neurotikers, sich zu sichern 1 ). 
Die Sicherungstendenzen des Neurotikers helfen eine dritte Gruppe von 
Charakterzügen aufbauen, die sämtlich dem Leitmotiv „Vorsicht“ an¬ 
gepasst sind. Misstrauen, Zweifelsucht springen wohl am deutlichsten 
hervor. Aber ebenso regelmässig finden sich übertriebener 
Hang zur Reinlichkeit und Ordnung, Sparsamkeit und 
fortwährendes Prüfen von Menschen und Dingen, so dass 
die Neurotiker meist nichts fertig bringen. 

Alle diese Charakterzüge hemmen den Unternehmungsgeist und 
schliessen sich so eng an die Zagheit infolge von Schuldgefühlen. 
Alles wird voraus bedacht, alle Folgen werden in Erwägung 
gezogen, immer ist der Neurotiker in gespannter Erwartung von 
Möglichkeiten, und stets wird seine Ruhe von Vermutungen und Be¬ 
rechnungen des Kommenden gestört. Ein grossartiges Sicherungssystem 

*) In dieser Hinsicht gleicht der Neurotiker jener Theaterfigur: „Wann ich 
amol anfaug’! — Ich fang’ aber nicht an!“ Er fürchtet sich vor seinem eigenen 
Tatendrang. S. auch „Zur neurotischen Disposition“ 1. c. 

Zentralblatt für Psychoanalyse. I. 


2 





18 


Dr. Alfred Adler, 


durchzieht sein Denken und Handeln, zeigt sich regelmässig in 
seinen Phantasien und Träumen, und wird recht häufig zu 
Verstärkungen gezwungen: durch das Aufs teilen eines Memen¬ 
tos, durch das unbewusste Arrangement von Niederlagen, 
Vergesslichkeit, Müdigkeit, Faulheit und schmerzhaften 
Sensationen aller Art. Eine ungeheure Rolle spielt in 
diesem Sicherungssystem die neurotische Angst, die in 
den verschiedenartigsten Auspr ägungen, als Phobie, 
Angsttraum, in der Hysterie und Neurasthenie direkt 
oder indirekt („beispielsweise“) als Hemmung vor die Ag¬ 
gression sich stellt. Das Training aller dieser Sicherungstendenzen 
fuhrt zuweilen eine erhebliche Steigerung des Ahnungsvermögens und 
des Scharfblicks herbei, zumindest aber den Schein einer solchen Steige¬ 
rung, worauf die Annahme eigener telepathischer Fähigkeiten, 
einer Art von Prädestination und suggestiver Kraft bei 
manchen Neurotikern beruht. In diesem Punkte berühren sich Charakter¬ 
züge dieser Gruppe mit solchen der ersten, die aus Grössenideen 
stammen, wie man andererseits die kompensa torische Aus¬ 
pr ägung der G rossen id een als Sicherung gegen das Gefühl 
der Minderwertigkeit anzusehen gezwungen ist. — Ich habe 
noch eine Anzahl anderer Sicherungen kennen gelernt, von denen ich 
hervorheben will: Masturbation als Sicherung gegen den 
Sexualverkehr und seine Folgen, desgleichen psychische 
Impotenz, Ejaculatio praecox, sexuelle Anästhesie und 
Vaginismus. In gleicher Weise erlangen Kinderfehler, funktionelle 
Erkrankungen und Schmerzen eine sekundäre Verwendung und Fixie¬ 
rung, wenn sie geeignet sind, den Neurotiker in seinem Zweifel zu 
bestärken und ihn von Betätigungen sexueller und kultureller Art 
abzuhalten, Recht häufig bringt die Frage einer Eheschliessung 
den Stein ins Rollen. Dann tritt die Sicherungstendenz bei den Dis¬ 
ponierten in krankhafter Weise hervor und arrangiert Warnungstafeln 
oft auf entlegenen Gebieten, so dass der Sinn und Zusammenhang zu 
fehlen scheint. Der Neurotiker aber handelt folgerichtig. Er fängt an, 
die Gesellschaft zu meiden, legt sich allerlei Schranken auf, hindert 
sich (durch Kopfschmerz z. B.) am Lernen und Arbeiten, malt sich die 
Zukunft in den düstersten Farben, beginnt deshalb auch zu sparen 
und lässt sich von einer geheimen Stimme warnen, die ihm zuraunt: 
Wie kann ein Mensch wie du, mit solchen Fehlern und Mängeln, mit 
solchen trüben Aussichten sich zu einer folgenschweren Tat entschliessen! 
Insbesondere was als Neurasthenie herumläuft, ist voll 
von solchen Arrangements und Sicherungs tendenzen, 
die aber bei keiner Neurose fehlen und uns den Kranken auf der 
Rückzugslinie zeigen. 


Die psychische Behandlung der Trigeminusneuralgie. 19 

Eine 4. Gruppe von verräterischen Zeichen einer neurotischen 
Einstellung kommt dadurch zustande, dass wie bei Gruppe I die Tendenz 
ein Mann zu sein in Handlungen, Phantasien, Träumen, oft in neben¬ 
sächlichen Details hervorbricht, aber in sexuellem Jargon redet. Ich 
habe in meinen Arbeiten „über neurotische Disposition“ und über 
„psychischen Hermaphroditismus“ (1. c.) ausführlicher darüber berichtet. 
Es ist das Schicksal der Neurotiker, dass sie aus einer 
Situation der Unsicherheit erwachsen sind, um nach 
Sicherungen zu streben. Die gleiche Unsicherheit deckt die 
Analyse bezüglich des Urteils über die eigene Geschlechtsrolle des 
disponierten Kindes auf. Viele meiner männlichen Neurotiker hatten 
in der Kindheit und oft über die Pubertät hinaus weibliche Gesichts¬ 
züge oder sekundäre Merkmale der Weiblichkeit, auf die sie nachträg¬ 
lich ihr Gefühl der Minderwertigkeit zurückführten. Oder sie zeigten 
Anomalien der äusseren Genitalien, Kryptorchismus, Verwachsungen, 
Hypoplasien und andere Wachstumsanomalien, auf die sie sich berufen 
zu können glaubten. Photographien und Bilder aus den frühen Kinder¬ 
jahren haben mich darüber belehrt, dass auch das über Jahre aus¬ 
gedehnte Tragen von Mädchenkleidern, Spitzen, Halsbändern, dass 
Locken und lange Haare das gleiche Gefühl der Unsicherheit und des 
Zweifels bei Knaben hervorrufen konnten. In gleichem Sinne wirkt 
die Beschneidung und Kastrationsdrohungen, sowie die Drohung vom 
Abfallen und Verfaulen des Penis, wie sie bei kindlichen Masturbanten 
'von den Erziehern angewendet werden. Denn des Kindes stärkste 
Tendenz ist und bleibt ein Mann zu werden, und diese Sehnsucht 
symbolisiert sich ihm in dem grossen Penis des Erwachsenen, des 
Vaters. Nun findet sich die gleiche Sehnsucht bei den Mädchen, bei 
denen vielleicht regelmässig ein Gefühl der Minderwertigkeit gegenüber 
den Knaben zu einer kompensatorischen männlichen Einstellung drängt. 
Nach und nach zerfällt den disponierten Kindern die ganze Welt der 
Begriffe, ja alle Beziehungen der Gesellschaft in männliche und weib¬ 
liche. Und stets drängt der Wunsch darnach, die männliche, die 
Heldenrolle zu spielen, sei es auch, wie bei den Mädchen, oft mit den 
sonderbarsten Mitteln. Jede Form von Aktivität und Aggression, 
Kratt, Reichtum, Triumpf, Sadismus, Ungehorsam und Verbrechen 
werden fälschlich als männlich gewertet, ganz so wie in der Gedanken¬ 
welt der meisten Erwachsenen. Als weiblich gilt das Dulden, Warten, 
Leiden, Schwäche und masochistische Regungen, die nie als 
Endziel aufgefasst werden dürfen, wenn sie sich in der 
Neurose durchsetzen, sondern stets nur — als Pseudo¬ 
masochismus — den Weg zum männlichen Triumpf, zur 
Geltungssucht der I. Gruppe ebnen sollen. Die begleitenden 
Charakterzüge dieser Gruppe sind solche des männlichen Protestes, 

2 * 


20 


Dr. Alfred Adler, 


zwangsmässige Übertreibungen des sexuellen Fühlens und Wollens, exhibi- 
tionistische und sadistische Regungen, sexuelle Frühreife und Zwangs¬ 
onanie, Nymphomanie, Abenteurerlust, starke sexuelle Begehrlichkeit, 
Narzissismus und Koketterie. Gleichzeitig auftretende weibliche Phan¬ 
tasien (Schwangerschafts-und Geburtsphantasien, masochistische Regungen 
und Minderwertigkeitsgefühle) dienen als Memento zur Verstärkung des 
männlichen Protestes oder zur Sicherung gegen die Folgen desselben, 
oft nach der Wiedervergeltungsformel: „Was du nicht willst, das man 
dir tu’, das füg’ auch keinem andern zu!“ 1 ) — Der Begriff des Zwanges 
wird ausserordentlich erweitert und auch der blosse Schein desselben 
unter stetem Kämpfen energisch abgewehrt, so dass ganz normale Be¬ 
ziehungen wie Liebe, Ehe, aber auch jede andere Einfügung als un¬ 
männlich d. h. weiblich empfunden und verworfen werden. Mit den 
ersten Sexualerkenntnissen beginnt bei den disponierten Kindern der 
männliche Protest sich in männliche Sexual wünsche zu verkleiden, legt 
bei Mädchen und Knaben den Grund zur Inzestphantasie 
mit der Mutter, damit bei Mädchen zu homosexuellen 
Regungen, oder bedient sich homosexueller Bilder und 
Wünsche bei Knaben, um die Überwältigung des Vaters 
geistig und körperlich anzudeuten. Unverträglichkeit des 
Mädchens mit der Mutter, des Sohnes mit dem Vater deutet nicht 
in erster Linie auf gegengeschlechtliche Inzestphantasien, sondern 
umgekehrt auf Sicherungstendenzen gegen passiv-homosexuelle Trieb¬ 
richtung als einem Ausdruck der Weiblichkeit. Die Eroberung des 
gegengeschlechtlichen Elternteils dagegen wird als männliche Regung 
empfunden, gleichwohl aber unter Gewissensregung und Schuldgefühl 
gehemmt. 

So bietet der Neurotiker eine bedeutende Anzahl von Cha¬ 
rakterzügen, die untereinander Zusammenhängen, sich fördern oder 
hemmen und einen Schluss auf seine abnorme Einstellung zu¬ 
lassen, sich in letzter Linie auf Übertreibungen und 
falsche Wertungen männlicher u nd we i blicher Züge zurück- 

i) In einem Falle von Asthma nervosum bei einem Manne, der nun durch 
die Psychoanalyse seit längerer Zeit von Anfällen frei ist, traten bewusste Schwanger¬ 
schaftsphantasien auf, sobald Patient an ein Unternehmen gehen wollte. Diese 
Schwangerschaftsphantasien, mit Oppressionsgefühlen in der Brust verbunden, liefen 
in Grössenideen aus: er wurde Millionär, der Wohltäter, der Retter des Landes usw. 
Dabei hastiges Atmen wiebei einem Wettlauf. Die dynamische Bedeutung 
der Schwangerschaftsphantasie war der Hinweis auf das Dulden und Leiden des 
Weibes, ein Selbstvorwurf und zugleich Aufstachelung: ,,Du bist ein Weib! Es ge¬ 
schieht dir recht, wenn du duldest!“ Daraufhin der männliche Protest. — Eine ver¬ 
stärkende Hilfskonstruktion bediente sich der Schwangerschaftsphantasie und des 
asthmatischen Leidens in der Art einer vorausgesandten Busse. Nun 
durfte er ein Mann sein und gegen jemanden feindlich auftreten. 



Die psychische Behandlung der Trigeminusneuralgie. 


21 


führen lassen. Wenn wir der obigen Aufstellung einen Vorwurf 
machen können, so ist es der, dass sie allzu schematisch ist, die über¬ 
reichlichen Verbindungen der einzelnen Charakterzüge lange nicht er¬ 
schöpfen kann und nur einen Teil, vielleicht den wesentlichen aus der 
Charakterologie des Neurotikers gibt. Immerhin habe ich mich 
überzeugt, dass von dieser Seite her die Prüfung auf den 
Bestand einer psychogenen Erkrankung zw T eckmässig ist 
u n d g e 1 i n g t. Und wenn ich mich nunmehr dem aufgeworfenen Problem 
zuwende, ist die Trigeminusneuralgie eine psychogene Er¬ 
krankung? so kann ich dies auf Grund gleichlautender Resultate be¬ 
jahen. Der psychische Aufbau und die psychische Dynamik der Trige¬ 
minusneuralgie ist in den von mir untersuchten 3 Fällen so einheitlich 
und ergibt die geschilderten Charakterzüge so deutlich, dass auch ein 
Hinweis auf die geringe Kasuistik sich von selbst erledigt. Und was 
gleichfalls für unsere Frage von grosser Bedeutung ist: nicht bloss die 
Erkrankung an Trigeminusneuralgie folgt den oben geschilderten Grund¬ 
linien der Neurose, sondern jeder einzelne Anfall stellt sich 
anstatt eines psychischen Geschehens ein. Ich will versuchen, 
diese Beziehungen der neurotischen Psyche und des neurotischen Cha¬ 
rakters zur Erkrankung und zum Anfall auseinanderzusetzen. 

Der Patient Baron 0. v. St., ein 26 jähriger Staatsbeamter, kam 
zu mir mit der Mitteilung, dass man ihm wegen einer Trigeminus¬ 
neuralgie eine Resektion vorgeschlagen habe. Die Erkrankung dauerte 
bereits 1 */2 Jahre, war eines Nachts auf der rechten Seite aufgetreten 
und zeigte sich seither in täglich mehrmaligen heftigen Anfällen. Seit 
einem Jahre sei er gezwungen, etwa jeden 3.—4. Tag bei besonders 
heftigen Schmerzen eine Morphiumeinspritzung zu machen. Dabei sei 
jedesmal Erleichterung eingetreten. Er habe verschiedene Behandlungen 
durchgemacht, medikamentöse mit Akonitin, Wärme- und elektrische 
Prozeduren, alle ohne Erfolg. Auch zwei Alkoholinjektionen habe er 
erhalten, die den Schmerz namhaft steigerten. Ein längerer Aufent¬ 
halt im Süden habe ihm einige Erleichterung gebracht, doch habe er 
auch dort täglich Anfälle gehabt. Derzeit sei er durch die unaufhörlichen 
Anfälle ganz entmutigt und sei, um seine Karriere nicht opfern zu 
müssen, zur Operation entschlossen. Nur weil ihm der gewissenhafte 
Chirurg sichere Heilung nicht in Aussicht stellen konnte, wolle er mich 
auch um meinen Rat fragen. 

Ich hatte zu dieser Zeit bereits umfangreiche Erfahrungen über 
die psychische Genese neuralgischer Anfälle und der Trigeminusneuralgie 
gesammelt und konnte dabei auch Beobachtungen aus älterem Material 
nachträglich verwerten. Die einheitliche Formel, zu der ich durch 
Analyse und durch den Vergleich der einzelnen Anfälle gekommen war, 
lautete: die Trigeminusneuralgie sowie die einzelnen An- 


22 


Dr. Alfred Adler, 


fälle treten regelmässig auf, wenn sich im Unbewussten 
der Affekt der Wut an ein Gefühl der Zurückgesetztheit 
anknüpft 1 ). Mit dieser Konstatierung hatte ich die Möglichkeit, die 
abnormale psychische Einstellung der Patienten mit Trigeminusneuralgie 
verstehen zu lernen und die davon abhängigen Krankheits¬ 
erscheinungen als Äquivalente von Affektvorgängen zu 
erkennen. Der massgebende Eindruck ergibt sich aus der bald ge¬ 
wonnenen Tatsache, dass der Patient die Herabsetzung er¬ 
wartet, auf sie lauert, dass er den Begriff der Herab¬ 
setzung ganz ungeheuer erweitert, und dass er — bei 
mancher Neurose mehr, bei mancher weniger — zuweilen 
Herabsetzungen sucht und solche arrangiert, — um 
daraus die Überzeugung abzuleiten, er müsse sich 
sichern, denn man würdige ihn nicht, er sei ein Pech¬ 
vogel usw. Diese Einstellung ist die allgemein neurotische 
und durchaus nicht für Trigeminusneuralgie charakteristisch. Reduziert 
man sie und führt man sie auf die kindliche pathogene Situation 
zurück, so erkennt man deutlich den psychischen Habitus des 
disponierten Kindes: ein Gefühl der Minderwertigkeit, 
kompensiert durch den männlichen Protest. Die Analyse 
förderte die Elemente dieser Situation zutage: 

I. Kryptorchismus — die Entdeckung desselben bei sich selbst 

— das Gefühl der Minderwertigkeit und die Unsicherheit, ob er mit 
diesem Defekt ein ganzer Mann werden könne. Dazu Erinnerungen aus 
dem 6.—8. Lebensjahre an sexuelle Attacken auf Mädchen in der 
Absicht, Aufklärungen über den Geschlechtsunterschied zu gewinnen. 
Affektvolle Erinnerung an Kinderspiele, in denen Patient ein Held, 
zumindestens aber ein General oder der Vater des Hauses war, was in 
diesem Falle zusammenfiel. 

II. Scheinbare oder wirkliche Bevorzugung des um 5 Jahre jüngeren 
Bruders, der im Schlafzimmer der Eltern schlafen durfte. Dazu Er¬ 
innerungen des Patienten an Versuche, auch ins Schlafzimmer der 
Eltern zu gelangen. Um dies zu erreichen, boten sich dem Patienten 
in seiner Kindheit mehrere Mittel. Erstens Angst, Angst vor dem allein- 
sein, die er gelegentlich so deutlich zu äussern vermochte (Pavor 
nocturnus), dass ihn die Mutter zu sich nahm. Zweitens Gehörs¬ 
halluzinationen, die auch Angst auslösen konnten (Angst als 
Sicherung), Geräusche, die er auf Einbrecher (Vater) bezog, immer aus 
der Richtung des Schlafzimmers kommend, so dass er nachsehen ging. 

— (Versuch zur Lösung des Geschlechtsproblems bei den Eltern). An 
dieser Stelle fügt sich auch das Generalspiel, den Vater spielen, gut ein 


i) S. die Formulierung im „Aggressionstrieb“ 1. c. 



Die psychische Behandlung der Trigeminusneuralgie. 


23 


als männlicher Protest gegen seine Unsicherheit in seiner Geschlechts¬ 
rolle, ebenso wie Inzestphantasien gegen die Mutter, letztere allerdings 
erst aus Traumanalysen während der Kur. Der Sinn dieses kindlichen 
Gebahrens, der häufigste Ausweg aus der pathogenen kindlichen Situation, 
spricht nun mit grosser Deutlichkeit: „Ich fühle mich unsicher, ich 
bin nicht auf der Höhe, habe keine genügende Geltung (siehe die Bevor¬ 
zugung des Bruders), man muss mir helfen, ich will wie der Vater 
werden, ich will ein Mann sein." Als Gegensatz zu einer — wie man 
sieht — falschen Wertung ist notwendig zu denken: „ich will kein 
Weib sein!" — Denn der Gedanke: „ich will ein Mann sein," ist für 
das Kind nur haltbar und gestützt durch den Gegengedanken: „ich 
könnte auch ein Weib sein" „oder ich will kein Weib sein". 1 ) — Ein 
drittes Mittel um die Bevorzugung des Bruders wett zu machen, den 
Vater zu imitieren, um Gleichberechtigung zu erlangen, und um seine 
Geschlechtsrolle vertreten zu lernen und sich dadurch seine Männlich¬ 
keit zu sichern, — was alles seine Sehnsucht nach dem Schlafzimmer 
der Eltern begreiflich macht, — bot sich im Kranksein, insbesondere 
bei Schmerzen. Die Analyse förderte, wie so häufig, Erinnerungen 
an wirkliche Schmerzen zutage, an Übertreibungen und Simulation von 
solchen. Unser Interesse wendet sich der Art der Schmerzen zu: es 
handelte sich fast regelmässig um Zahnschmerzen. An diesem 
Punkte der Analyse hat man zum ersten Male das Gefühl, dem Ver¬ 
ständnis näher gerückt zu sein, wie so i n d iesem Falle di e Neurosen¬ 
wahl auf Trigeminusneuralgie fiel. Patient war ein kräftiger, 
gesunder Junge, der kaum andere Schmerzen kannte, als Zahnschmerzen, 
allerdings aber auf andere Schmerzen aufmerksam wurde, als seine 
Mutter den jungen Bruder gebar, nämlich auf Geburtsschmerzen. 
Diese Erfahrung muss in die Zeit seiner Unsicherheit gefallen sein und 
seinen Antrieb ein Mann zu sein, verstärkt haben. Wir aber werden 
zur Annahme gedrängt, dass es im Leben des Patienten eine Phase 
gegeben hat, in der er eine Identifizierung vornahm: Schmerz — 
Gefühl der Minderwertigkeit — Weib. 

Nun liegt die Dynamik seiner pathogenen kindlichen Situation 
bloss: Die Möglichkeit, eine minderwertige, schmerzvolle, 2 ) w r eibliche 

J ) Unter den neueren Psychologen ist Julius Pikier von ganz andern Ge¬ 
sichtspunkten ausgehend zu ähnlichen Ergebnissen bezüglich der „Gegensätzlich- 
keit im Denken“ gekommen. 

2 ) Die Erfahrung, dass die Frau unter Schmerzen gebäre, wirkt auf die dis¬ 
ponierten Kinder regelmässig in der Richtung einer Verstärkung des Antriebs, ein 
Mann zu werden. Tn der Neurose werden reichliche, arrangierte und aggravierte 
Schmerzen als Memento gesucht, um die Sicherungstendenzen gegen Herabsetzung 
(= Weiblichkeit) zu verstärken. So lassen sich die Schwangerschafts-, Geburts¬ 
phantasien und -träume männlicher und weiblicher Neurotiker als Vorhalt verstehen, 
als auf dem Wege der Sicherung gelegen, zur Verhütung einer Niederlage (Nieder- 



Dr. Alfred Adler, 


21 

Rolle spielen zu müssen, hat dialektisch zu Übertreibungen seines 
männlichen Protestes geführt. Hier sind noch anzureihen: Trotz und 
Starrsinn, an die sich seine Mutter noch mit Schaudern erinnert. 
Von den mannigfachen Beziehungen, die dem kindlichem Trotz Gelegen¬ 
heit zur Betätigung geben, habe ich bereits das Essen, Waschen, 
Zähneputzen und Schlafengehen erwähnt. Es ist nun im 
höchsten Grade auffallend, dass alle Patienten mit Trigeminusneuralgie, 
deren ich mich entsinne, in Einklang mit den Schilderungen der Autoren 
die meisten Anfälle beim Essen, Waschen, Zähneputzen und Schlafen¬ 
gehen erlitten Oft treten Anfälle beim Schlucken ein. Die Analyse 
ergibt eine Anlehnung an den Begriff des „Herunterschluckens“ in über¬ 
tragenem Sinne. Ebenso Anfälle bei Kälte. Mein Patient hatte sich 
bald nach Ausbruch seiner Erkrankung aufs Land zu seiner Mutter 
zurückgezogen und so die alte Sehnsucht seiner Kindheit gestillt. Die 
Mutter übertrieb ihre Sorgsamkeit und Liebe für den kranken Sohn, 
überwachte ängstlich seine Speisen und sorgte stets für warmes Wasch¬ 
wasser. Wenn er während der Kur in Wien speisen musste, bekam er 
heftige Schmerzen, an den Tagen, wo er zuhause ass, blieben sie aus. 
Als er so weit war, dass er wieder ins Amt gehen konnte, musste er 
in Wien Wohnung nehmen. Als er sich am ersten Tage in seiner neuen 
Wohnung mit kaltem Wasser wusch, kam noch einmal ein Anfall. 

Eine andere Reihe von Anfällen hing mit seiner Geltungssucht 
in der Gesellschaft zusammen. Dabei konnten Anfälle auftreten 
auf wirkliche, auf vermeintliche oder auf befürchtete Herabsetzungen 
hin. Er musste immer die erste Rolle spielen, vertrug es nicht, wenn 
er gelegentlich aus der Unterhaltung ausgeschaltet war, oder wenn er 
Gespräche anderer Personen nicht hören konnte. Man erkennt leicht 
das Schema aus der kindlichen pathogenen Situation: Vater und Mutter, 
daneben er als minderwertige Person. Das Symptom der Gesellschafts¬ 
und Platzangst bei andern Neurotikern, wo die Sicherung durch 
die Angst bewerkstelligt wird, gelegentlich auch durch Erbrechen, 
Migräne etc., und wo in gleicher Weise Furcht vor Herabsetzung 
den Patienten leitet, ist in unserem Falle durch die Anfälle ersetzt, 

kunft?). Es ist, als ob sich der Neurotiker diese ersten Eindrücke der Unsicherheit 
immer wieder vor Augen führte („du bist schon einmal vor der Möglichkeit einer 
Niederlage, vor der Möglichkeit ein Weib zu werden, gestanden“), um sich vor 
weiteren Herabsetzungen zu behüten, um sich scharf zu machen und sich den (männ¬ 
lichen) Triumpf zu sichern. Ich habe behauptet, dass jeder Traum (wahr¬ 
scheinlich auch jedeHalluzination) diese zentrale Tendenz enthält, 
von der weiblichen Linie zur männlichen abzurücken, ebenso dass der 
Ehrgeiz des Künstlers und sein geistiges Training aus dem psychischen Hermaphrodi¬ 
tismus herzuleiten sind. Freud ist der Aufdeckung dieser Dynamik in seiner 
Studie über Leonardo wohl mit Unrecht ausgewichen. Die dort erwähnte Kind¬ 
heitserinnerung ist deutlich als eine weibliche zu erkennen. 



Die psychische Behandlung der Trigeminusneuralgie. 


25 


und man kann in anderen Fällen von Trigeminusneuralgien finden, 
wie sich die Kranken von jeder Gesellschaft abzuschliessen 
versuchen, allerdings unter Berufung auf die Schmerzen. 
In meinen anderen Fällen waren der Erkrankung an Trigeminusneuralgie 
andere Symptome vorausgegangen, wie Migräne, Üblichkeiten, allgemeine, 
scheinbar rheumatische Schmerzen *), Ischias, Erröten und Blutwallungen 
gegen das Gesicht. 1 2 ) 

In diesen die Anfälle auslösenden Dreieckssituationen spielen bei 
unserem Patienten sexuelle Bedingungen hervorragend mit. Sein sexuelles 
Verhalten ist vollkommen normal und befriedigend. Doch ist es ein 
auffallender Zug bei ihm, der für eine ganze Reihe von Neurotikern 
typisch ist, dass für ihn die Liebesleidenschaft nur dann stark wird, 
sobald ein Rivale vorhanden ist, d. h. sobald die Liebe sich 
an den männlichen Zug des Rauhens und Raufens anschliessen kann. 
Dieser Charakterzug zieht sich durch sein ganzes Liebesieben und 
spiegelt sichtlich die Dreiecksstellung aus der kindlichen pathogenen 
Situation wieder. Als er im Süden weilte, lernte er ein Mädchen 
kennen, um das er sich bewarb, bis er wahrnahm, dass ihre Mitgift 
gering sei. Dies genügte, um ihn entsagen zu lassen; doch wurde seine 
Liebe in dem Momente wieder aufgepeitscht, als ein anderer als Be¬ 
werber auftrat. In dem Masse nun, als seine Liebe wuchs, stellten sich 
wieder heftigere Schmerzen ein. So, wenn er die beiden allein 
sah, wenn das Mädchen dem anderen zulächelte usw. — 
Auch während der Kur konnten wir einzelne Anfälle auf dieses Ver¬ 
hältnis beziehen, z. B. wenn er Schmerzen bekam, als er in den Briefen 
des Mädchens las, sie habe sich in einer Gesellschaft gut unterhalten. 
Eine Zahl von Anfällen hing mit der Zeit der Briefübernahme zusammen, 
wo Gedanken auftauchten, warum das Mädchen solange nicht 
geschrieben habe, dass sie sich gewiss mit anderen unter¬ 
halte etc. — Auch Tagträume und Phantasien traten auf, das Mädchen 
erst heiraten zu lassen und dann zum Ehebruch zu verleiten. Dieser 
Charakterzug war allerdings kurz vor seiner Erkrankung durch einen 

1) Vgl. Henschens Theorie vom rheumatischen Ursprung der Trigeminus¬ 
neuralgie. 

2 ) Die Fälle von Trigeminusneuralgie im Alter, insbesondere bei weiblichen 
Personen, sind besonders kompliziert, insbesondere durch wirkliche und vermeintliche 
Zurücksetzungen, an denen das Alter die Schuld trägt. Dass unsere Gesellschaft 
die alternde Frau unmenschlich behandelt, ist eines der traurigsten Kapitel unserer 
Kultur. Bei meinen Patientinnen lösten Teilnahmslosigkeit, Furcht vor Spott, vor 
Bevorzugung anderer Personen, der Spiegel, die Kleiderwahl (ob man sie nicht aus¬ 
lachen könnte), und Geldausgaben, die ihre Ingerenz verringern, sie arm machen 
könnten, Anfälle aus. Ebenso Liebesbeziehungen und eheliche Verbindung ihrer 
Söhne, der Gedanke, mit anderen weiblichen Personen sich in der Liebe eines Sohnes 
teilen zu müssen. 



26 


Dr. Alfred Adler, 


bemerkenswerten Vorfall verstärkt worden. Während einer 
kleinen Reise hatte ein Kollege eine Geliebte des Patienten verführt. 
Er brütete Mord und Totschlag. In diese von Affekt erfüllte Phase fiel 
ein anderes Ereignis. Er hatte zu bemerken geglaubt, dass ihm die 
Frau eines Vorgesetzten Avancen mache. Aber auch der Gatte scheint 
dies bemerkt zu haben und begann ihn im Amte zu drangsalieren. 
Um seine Karriere nicht zu verderben, fügte er sich unter fortwährenden 
heimlichen Revolten. In der Nacht, bevor sein Vorgesetzter 
von einem Urlaub zurückkehren sollte, brach der erste 
Anfall seiner Trigeminusneuralgie mit solcher Heftigkeit los, 
dass er tobte und schrie und sich erst nach einer Morphium inj ektion ein 
wenig beruhigen konnte. Er betrat am nächsten Tage das Amt nicht 
wieder und nahm einen Krankheitsurlaub, um sich behandeln zu lassen. 
Bei allen Ärzten, auch bei mir, betonte er den Wunsch, wieder bald 
ins Amt zurückkehren zu können. Man versprach ihm, alles Mögliche 
aufzubieten. Insbesondere die Alkoholinjektion sollte ihn sofort arbeits¬ 
fähig machen. Wir sahen mit welchem Erfolge. Wir wissen aber auch 
warum sie verschlechternd wirkte: sein wahres, unbewusstes 
Streben ging dahin, nicht arbeitsfähig zu werden, nicht 
ins Amt zurückkehren zu müssen 1 ). Nur ein Gedanke liess sich 
nicht verdrängen, der Gedanke als Mann, als Sieger aus seiner Situation 
hervorzugehen, und er dachte diesen Gedanken im unverfälschten Sinne 
der kindlichen pathogenen Situation: „Ich will zur Mutter!“ — 
Bei ihr erst besserte sich sein Zustand ein wenig, er erholte sich, nicht 
ohne vorher durch gehäufte Anfälle insbesondere beim Essen die Lebens¬ 
gefährlichkeit seiner Erkrankung, den drohenden Hungertod zu demon¬ 
strieren und so seine Mutter durch Angst und Schrecken noch ge¬ 
fügiger zu machen. 

Die Analyse eines Traumes aus der Kur zeigt die wichtigsten 
Bedingungen seiner unbewussten falschen Einstellung und seiner Neurose. 
Er träumte: 

„Ich befinde mich nackt bei einer Geliebten im 
Zimmer. Sie beisst mich in den Schenkel. Ich schreie 
auf und erwache mit einem heftigen Anfall meiner 
N eu ralgie.“ 

Die Vorgeschichte dieses Traumes ereignete sich am Vorabend 
und war folgende: Patient hatte aus Graz eine Ansichtskarte erhalten, auf 
der sich neben anderen Unterschriften der Name seines Bruders und 
des im Traume erwähnten Mädchens befanden. Beim Abendessen 
schmeckte ihm nichts, und er hatte einen leichten Anfall. Zum Traum 

i) Man beachte an dieser Stelle die Übereinstimmung mit der Dynamik 
der Unfallsneurose und -hysterie, die ja gleichfalls nur bei Disponierten 
auftritt. 



Die psychische Behandlung der Trigeminusneuralgie. 


27 


erzählte er: Das Mädchen sei einige Zeit seine Geliebte gewesen. Doch 
sei er ihrer bald überdrüssig geworden und habe sich von ihr gänzlich 
losgesagt. Vor kurzer Zeit sei sein Bruder mit ihr bekannt geworden. 
Er habe ihn gewarnt — wie die gemeinsamen Unterschriften zeigten, 
ohne Erfolg. Dies verdriesse ihn um so mehr, als er auf den Bruder 
sonst grossen Einfluss habe, und, seit der Vater gestorben war, sozu¬ 
sagen dessen Stelle vertrete. 

„Nackt.“ Er habe eine Abneigung, sich vor Mädchen zu ent- 
blössen. Besonders vermeide er, seine Genitalien zu zeigen. Dies hänge 
ganz bestimmt mit seinem Kryptorchysmus zusammen. 

„Sie habe ihn in den Schenkel gebissen“ 1 ). Dazu bloss der 
Einfall: das Mädchen habe allerlei perverse Einfälle gehabt, ihn auch 
gebissen. Die teilweise suggestive Frage: ob er schon einmal gehört 
habe, dass jemand in den Schenkel gebissen worden sei, beantwortet 
er mit dem Hinw r eis auf die Storchfabel. 

„Ich schreie auf.“ Dies täte er bei heftigen Anfällen. Dann 
komme seine Mutter sofort aus dem Nebenzimmer, um ihn zu trösten, 
eventuell ihm eine Morphiuminjektion zu geben. 

Wir meinen, die Traumdeutung sei durchsichtig genug, und dies 
enthebt uns weitläufiger synthetischer Erörterungen. Er beantwortet 
ein Gefühl der Zurücksetzung mit einem Gedankengang, der ihm einen 
Anfall einträgt, ihn aber sein symbolisches Ziel erreichen lässt: zur 
Mutter zu kommen. Mit anderen Worten, er verwandelt sich 
aus einem Weib (er wird gebissen) in einen Mann. Dabei 
muss auch sein unmännliches Stigma fallen, der Kryptorchismus, und 
nun darf er sich nackt zeigen. Er ist ein Mann, braucht sich vor 
niemandem zu beugen, auch im Amte nicht, aber nur auf dem Umwege 
über die Schmerzen. Und er sichert sich dieses Gefühl der 
männlichen Überlegenheit — ganz wie in der kindlichen 
pathogenen Situation — durch Schmerzen 2 ). 

1) Dem erfahrenen Analytiker wird diese Stelle keine Schwierigkeiten machen. 
Wir haben es mit einem Patienten zu tun, dessen Krankheit danach an¬ 
getan ist, ihn den Schmerz fürchten zu lassen. Andere Erkundungen der 
Analyse ergaben seine frühe Kenntnis des Schmerzes beim Gebären. Und dieser 
Schmerz wurde ihm in der Kindheit wohl plausibel gemacht durch die Wendung: 
der Storch hat die Mutter ins Bein gebissen. „Sie habe ihn in den Schenkel ge¬ 
bissen“ 1 heisst hier so viel als: sie habe ihn zum Weib degradiert, durch 
das Verhältnis mit dem Bruder zurückgesetzt. — Ähnlich bei Neuro¬ 
tikern: von Hunden, von Insekten gebissen werden. 

2 ) d. h. mit scheinbar ,,weiblichen“ Mitteln. Ich habe auf diesen Mechanismus 
schon hingewiesen, der natürlich leicht verleiten kann, die Neurose im Ganzen als 
„weibliche Darbietung“ auffassen zu wollen. Eine Betrachtung der neurotischen 
Dynamik lässt diesen Irrtum nicht aufkommen. „Weibliche“ Endziele sind 
ebenso wie „masochistische“ unhaltbar und werden in der Neurose 



28 


Dr. Alfred Adler, 


So deutlich wie in diesem Fall findet man in anderen Träumen 
den Übergang aus dem Gefühl der unterliegenden Weiblichkeit zum 
männlichen Protest nicht immer. Insbesondere verleitet der Schein 
leicht zur Annahme primärer homosexueller Regungen. 
Die männliche Rolle d e s Neur otikers beiderlei Geschlechts, 
im Leben und im Traume, erklärt sich durch den männ¬ 
lichen Protest. Handelt es sich um Rivalen des gleichen 
Geschlechts, so wird der Sieg oft durch einen Sexualakt 
symbolisiert, in dem der Neurotiker, im Traum oder in der 
Phantasie, irgendwie eine männliche Rolle spielt. — Das 
Problem des aktiven Homosexuellen ist nach meiner Erfahrung in gleicher 
Weise aufzufassen; nur wird dabei der Sexualtrieb direkt (und nicht sym¬ 
bolisch) in den Dienst der Herrschsucht, des männlichen Protestes gestellt. 
Aber auch der Homosexuelle kommt aus einer Phase der Unsicherheit seiner 
Geschlechtsrolle zur Inversion. — Der passive Homosexuelle arrangiert 
vielmehr seinen Umfall ins Weibliche, um sich hinterher scharf zu 
machen, sich Geltung zu verschaffen durch Eifersüchteleien, Eroberungen 
oder — Erpressungen x ). — Anderseits ist das Grundproblem, in der 
Neurose und im Traum, der Ausgangspunkt des psychischen Herm¬ 
aphroditismus mit folgendem männlichen Protest dadurch verwischt, 
dass man es meist mit Bruchstücken aus dieser psychischen Dynamik 
zu tun hat, zu der man sich die Ergänzungen erst suchen muss. 

Die Behandlung ging unter einem günstigen Stern vor sich. Andere 
Kuren waren erfolglos geblieben, unterdess ging aber viel Zeit vorbei, 
und die Karriere des Patienten wurde immer mehr bedroht. Dazu 
kamen günstige Aussichten des Patienten, in ein anderes Amt versetzt 
zu werden, was seinem Gefühl der Beeinträchtigung gegenüber jenem 
Vorgesetzten gewiss Erleichterung verschaffte. Die Psychoanalyse schloss 
mit einem vorläufigen Erfolge ab, der nun schon einige Monate währt. 
Der gewesene Patient übt seine Tätigkeit in einem neuen Bureau aus und 
wohnt getrennt von der Mutter. Seine Freunde und Bekannten drücken 
öfters ihr Erstaunen darüber aus, dass seine frühere Heftigkeit, Hast 
und aufbrausende Natur sich so ganz gewandelt habe, dass er ruhiger 
und gefügiger geworden sei und die Beziehungen im Amte nicht mehr 

nur vorgeschoben, sind „weibliche“ Mittel zum „männlichen“ Protest. In 
einigen Fällen von psychisch erlm potenz konnte ich den Mangel an Erektions¬ 
fähigkeit aus der Einstellung auf Trotz und überstiegene Männlich¬ 
keit ableiten und zur Heilung bringen. 

i) Ganz so wie der früher erwähnte Masochist, der durch Unterwerfung um 
Liebe, d. h. in seinem Sinne um Geltung wirbt, die Sexualerregung der Frau hervor- 
rufen will. Von hier zweigt eine Reihe von Perversionen ab, wie Fellatio-, Urin- 
und Schweissfetischismus etc., wo es sich darum handelt, durch auffällige Über¬ 
schätzung der umworbenen Person deren Liebesleidenschaft zu erregen 
und damit über sie zu siegen. 



Die psychische Behandlung der Trigeminusneuralgie. 


29 


als Zwang empfinde. Für uns hat dies die besondere Bedeutung: dass 
seine frühere falsche Einstellung eine Korrektur erfahren 
hat, die nicht nur die früheren Anfälle, sondern auch andere Formen 
der Neurose auszuschliessen vermag. 

Die beiden anderen Fälle betrafen Patientinnen jenseits des Kli¬ 
makteriums, setzten heftig in einer Situation der Herabsetzung ein, 
waren aber ebenfalls seit der Kindheit disponiert. Organminderwertig¬ 
keit, das Gefühl der Minderwertigkeit und der männliche Protest ergaben 
sich in beiden Fällen analog der ersten Krankengeschichte. Ihr ganzes 
Leben war unter dem Wunsch verflossen: ich will ein Mann sein, und 
die Zurückführung auf eine Unsicherheit in der Geschlechtsrolle in der 
Kindheit war leicht ersichtlich. Im ganzen waren aber die Zusammen¬ 
hänge verwickelter und die Anlässe zu den Anfällen häufiger, weil es 
sich um weibliche Personen einer höheren Altersstufe handelte. Die 
Aussicht auf Verwirklichung irgend eines männlichen Protestes schien 
gering, sich zu fügen war keiner der Patientinnen leicht. Immerhin 
bewirkte die Kur eine starke Herabsetzung der Anfälle nach Zahl und 
Stärke, hob den Lebensmut in auffälliger Weise, und ich erwarte be¬ 
stimmt, in beiden Fällen durchzudringen. 

Dies das Material, das ich zum Beweise des psychogenen Ursprungs 
der Trigeminusneuralgie derzeit vorlegen kann, und ich empfehle die 
Prüfung jedes Falles nach diesen Gesichtspunkten der Charakterologie. 
Ich will nicht leugnen, dass gelegentlich ein Fall Vorkommen kann, 
dessen Ätiologie in pathologisch-anatomischen Veränderungen liegt. Aber 
sein Verlauf müsste anders sein, als der der uns geläufigen Fälle, ins¬ 
besondere dürfte die Auflösung des Anfalles in ein psychisches Ge¬ 
schehen nicht gelingen. Auch der Mangel der angegebenen Charakterzüge 
würde bald auf die richtige Spur leiten. 

Die zweite mit der psychogenen Theorie der Neurosen rivalisierende 
Annahme — die toxische Grundlage der Neurosen— kann ich 
mit dem gleichen Hinweis erledigen: die psychische Auflösbarkeit der 
Symptome widerstreitet ihr vollkommen. Wo sich Toxine welcher Art 
immer bei Neurosen oder Psychosen vorfinden, können sie nur wirksam 
werden durch die Verschärfung des aus der Kindheit stammenden 
Minderwertigkeitsgefühls 1 ) und folgende Aufpeitschung des männlichen 
Protests. Sie können also nur die Neurose bei Disponierten wecken, 
indem sie das Gefühl der Herabsetzung wachrufen, in gleicher Weise 
wie es der Unfall tut, sofern er zur Unfallneurose Anlass gibt. 


i) Erweckung eines Krankheitsgefühls und Aufdeckung von Insuffizienzen. 




III. 


Zur Psychologie des hysterischen Bladonnenkultus. 

Von Dr. Oskar Pfister, Pfarrer in Zürich. 

Nur ein Stücklein Kärrnerarbeit möchte ich vorlegen. Vielleicht 
gibt ihr gerade die Kleinheit einigen Reiz. Die grossen Meister¬ 
analysen, wie wir sie von Freud zu empfangen gewohnt sind, über¬ 
zeugen nur den, den aber auch vollständig, der sich in der psychoana¬ 
lytischen Technik eine bedeutende Gewandtheit errungen hat. Viele 
auf umfassende Studien gegründete Untersuchungen, wie z. B. Rank’s 
Abhandlung über den Mythus von der Geburt des Helden, oder 
Stekels neueste Beiträge zur Traumdeutung gewinnen ebenfalls nur 
den, der über eine Fülle ähnlicher Erfahrungen verfügt. Die Reich¬ 
haltigkeit der für die Deutung massgebenden assoziierten Einfälle 
verbietet ihre vollzählige Mitteilung. Dem unkundigen Schwätzer bleibt 
daher das wohlfeile Vergnügen, über die gewonnenen Ergebnisse ebenso 
zu spotten, wie der hinterpommersche Tagelöhner die Existenz fliegender 
Fische verlacht. Vielleicht ist dem lernbereiten Gegner der Psycho- 
analytik mit einer schlichten Kasuistik vor der Hand besser gedient, 
als mit schwierigen Fällen, die nur den Kenner entzücken. 

Nur unter diesem Gesichtspunkte wage ich es, den folgenden 
schlichten Fall, dessen Analyse eine einzige Sitzung in Anspruch nahm, 
der Öffentlichkeit anzuvertrauen. 

Ein Jahr vor unserer näheren Bekanntschaft klagte mir ein 
18 jähriger Holländer, dass er an heftigen Schmerzen, Zuckungen und oft 
an förmlicher Lähmung des rechten Armes leide, so dass ihm Schreiben 
und Klavier spielen grossenteils versagt seien. Das Leiden sei „nervös“. 

Auf Befragen gab er zu, dass er an schwerer Gemütsverstimmung 
leide. Das Problem des Selbstmordes beschäftige ihn lebhaft, besonders 
seitdem er Goethes „Werther“, Ibsens „Gespenster“ und einige ähn¬ 
liche düstere Literaturwerke gelesen habe. Doch wollte er keinen Selbst- 


Zur Psychologie des hysterischen Madonnenkultus. 31 

mordimp alsen unterworfen sein, was sich später als unwahre Behauptung 
herausstellte. 

Mein Anerbieten, zur Überwindung der seelischen Not behilflich 
zu sein, fand kein williges Gehör. ,,Ich will versuchen, mit mir selbst 
fertig zu werden“, lautete die Entgegnung. In der Tat quälte er sich 
ein volles Jahr vergeblich ab. Das Aussehen war oft beunruhigend, 
die Arbeitsfähigkeit sank gelegentlich für einige Wochen auf den Null¬ 
punkt. Trotzdem wies der Kranke die Bemühungen seines vertrauten 
Seelsorgers, sich von mir analysieren za lassen, rundweg ab und entzog 
sogar dem innig verehrten Mann einen Teil seines Vertrauens. 

Endlich benutzte ich einen Misserfolg, den sich der Patient durch 
sein krankhaftes Wesen zuzog, ihn schriftlich zur Analyse einzuladen. 
In der Tat nahm er mein Anerbieten an. Dem Brief, in welchem er 
seinen Besuch ankündigte, entnehme ich folgende Stellen: 

,,Ich gestehe offen, dass es wirklich in meinem Innern nicht 
aussieht, wie es aussehen sollte, und ich einfach keine Befriedigung, 
keinen Trost bei meiner jetzigen Religion finde. Und woher sollte ich 
denn sonst meinen innern Frieden schöpfen? Aus der Liebe? Aus 
der Musik? Der Literatur? Der Arbeit? Überall habe ich gesucht, 
aber immer noch kämpft etwas in meinem Innern und lässt mich nicht 
ruhen. 

Schon lange hätte ich mich von Herzen gern jemandem anvertraut; 
doch man verlangt von mir eine vertrauensvolle Aussprache dessen, 
was mich bedrückt. Aber was mich eigentlich so presst und plagt, 
das — weiss ich selbst nicht, sonst hätte ich ja gewiss schon dagegen 
gekämpft. Und eben aus dem Grunde, weil ich meine Ängste selbst 
nicht kenne, habe ich mich noch niemandem ganz anvertraut. 

0 dass ich beten könnte! Ich fühle, dass ich allein nur fraglich 
wieder zu einer inneren Harmonie gelangen kann, und wenn Sie sich 
wirklich mit mir abgeben wollten, so bin ich Ihnen von ganzem Herzen 
dankbar und will Ihnen mein volles, unbedingtes Vertrauen schenken.“ 

Wirklich gelang es dem Jüngling, seiner Widerstände gegen 
Analyse und Analytiker Herr zu werden. Die Exploration vom Symptom 
aus ging mit solcher Leichtigkeit von statten, dass die umständlichere, 
wenn auch bei schwereren Fällen meistens unvermeidliche, jedenfalls 
aber viel tiefer eindringende Widerstandsanalyse, bei welcher der Ana¬ 
lytiker seinem Patienten den Lauf des Gespräches fast ganz überlässt, 
umgangen werden konnte. 

Der Kranke gab an, dass er vor zwei Jahren Goethes Werther 
las, ohne den Grund seiner Lektüre zu kennen, wie er sofort spontan 
hinzufügte. Kurze Zeit später brachen einerseits heftige Schmerzen 
aus, die, beim Oberarm beginnend, den ganzen Arm durchzuckten, 


32 


Br. Oskar Pfister, 


andererseits Selbstmordimpulse, die ohne die Liebe zu den Eltern sich 
wohl in einer Tat der Verzweiflung entladen hätten. 

Selbstverständlich fand sich jener dunkel geahnte Grund der 
Identifikation mit dem leidenden Werther in einem unglücklichen 
Liebesverhältnis. Seit etwa 5 Jahren unterhielt der Jüngling platonische 
Beziehungen zu einem gleichaltrigen Mädchen, das ihn mächtig anzog 
und beglückte, aber auch durch Launen und angeblich übertriebene 
Zurückhaltung erzürnte. Beständig schwankte er zwischen freudvoll 
und leidvoll sein umher. Auf Zerwürfnisse, in denen das Dämchen 
seine Liebe optima forma auf kündigte, folgten süsse Versöhnungen. 
Die Wertherstimmung ging aus einer endgültigen Ablösung hervor, 
die nach der Behauptung des Analysanden daraus entsprungen war, 
dass das junge Mädchen, als es zu einem gemeinsamen Spaziergang 
mit dem Geliebten Gelegenheit hatte, sich auf unzärtliche und feige 
Weise zurückzog. Die Selbstmordimpulse entsprachen somit der ero¬ 
tischen Stauung. 

Todessehnsucht und Ablehnung des Suicidiums schlossen ein 
Kompromiss in zahlreichen Träumen, in denen der Lebensmüde ohne 
eigene Schuld ums Leben kam, z. B. aus dem Fenster stürzte. Der 
erotische Hintergrund ist aus dem typischen Symbol des Fallens noch 
deutlich kennbar. 

Während Patient die Schuld des Bruches auf die verabschiedete 
Freundin schob, verschwieg er das eigentliche Motiv und die brennende 
Selbstanklage. Erst die Analyse entlockte ihm das Geständnis, dass 
einige Kameraden ihm vorgehalten haben, jenes Mädchen besitze zu 
wenig Anmut und zu geringe Talente, er dürfe weit höhere Ansprüche 
erheben usw. Die ängstliche Haltung der einst so heiss Begehrten 
rechtfertigte ihre schroffe Ablehnung so wenig, dass er sich der Un¬ 
ritterlichkeit bezichtigen musste. Zu stolz, die abgeschnittenen Fäden 
wieder anzuknüpfen, entsagte er innerlich der Liebe zu einem Mädchen 
überhaupt und ergab sich dem Weltschmerz. Als Rächerin des ge¬ 
kränkten Amor stellte sich alsbald die Hysterie ein. 

Die Analyse der Schmerzen im Arm kam rasch zustande. Das 
Symptom ins Auge fassend, erinnerte sich der junge Mann, dass ihn 
der Vater bei einem Schmerzausbruch „in merkwürdig sanftem Ton“ 
gefragt habe, was ihm fehle. Damit verriet der Explorand seinen 
Vaterkomplex, der ihn jedenfalls häufig zur Hervorbringung des Sym¬ 
ptoms veranlasste, um Teilnahme zu erpressen. 

In zweiter Linie erinnerte sich der Patient, während sich unan¬ 
genehme Innervationen im Arm einstellten, an eine Szene, die er mit 
seinem geschätzten Musiklehrer erlebt hatte. Dieser sagte ihm nämlich 
vor mehreren Jahren wiegen schlechter Armhaltung beim Klavierspiel: 


Zur Psychologie des hysterischen Madonnenkultus. 


33 


„Ich hätte dich nicht für so ungeschickt gehalten“, wodurch sich der 
angehende Künstler in seinem Ehrgefühl verletzt glaubte. 

Endlich kam auch das massgebende Trauma zum Vorschein: 
Sieben Jahre vor der Analyse hatte der Analysand eines Tages mehrere 
Mädchen, die auf einer Mauer sassen, verjagt, indem er sie mit 
Sternchen bewarf, und sich selbst hinaufgesetzt. Nach einer Weile 
wollte er noch mehr Sternchen holen, fiel aber dabei so unglücklich, 
dass er das Schlüsselbein brach. Das Einziehen gelang erst am dritten 
Tage unter heftigen Schmerzen. 

Dieses Geständnis macht uns begreiflich, warum der Bruch mit 
der Freundin die hysterischen Phänomene im Arm hervorrief. Jener 
bekannte Identifikationsprozess, der sich in die Formel: „Es ist wieder 
wie damals“ fassen lässt, kam zustande. Hatte der elfjährige Knabe 
seine Schmerzen im Arm als eine gerechte Züchtigung für seine Un¬ 
ritterlichkeit gegen das schöne Geschlecht angesehen — der Unfall hat 
offenbar bereits den Sinn einer unabsichtlichen, wenn auch unterschwellig 
gewollten Selbstbestrafung—, so sah sich der 16 jährige Jüngling erst recht 
vor dem Richterstuhl seines Gewissens als unritterlich und brutal ge¬ 
brandmarkt. Die Erinnerung an das frühere Gottesgericht trat nicht 
klar ins Bewusstsein. Allein das Bedürfnis nach Sühne, das dem 
Treulosen mehr zu schaffen gab, als der Verlust des einst geliebten 
Mädchens, leistete sich Genugtuung durch Erzeugung des schmerzhaften 
Konversionssymptoms, das sich folglich auch hier als Wunscherfüllung 
zu erkennen gibt. Auf Selbstanklage deutet auch die Erinnerung an 
den Klavierlehrer, die besagen will: „Auch du warst kein Virtuos; wie 
könnte dir also die Talentlosigkeit deiner Freundin ein Recht geben, 
sie wegzujagen? Du bist ebenso im Unrecht, wie jenesmal bei dem 
Mäuerchen, als dich das Gericht ereilte.“ Die Hysterie repräsentiert folg¬ 
lich ebenso den Sühnekomplex, wie das Angstsymptom die Verrammelung 
der Erotik. 

Kurze Zeit nach dem Beginn der Selbstmordimpulse und der 
physischen Begleiterscheinungen, die sich, wie wir wissen, bis zur 
Lähmung steigerten, kam es zum Bruch mit dem Glauben an Gott. 
Diesem hatte er früher für seine Liebe zur Freundin heiss gedankt. Da 
sich das Geschenk als Täuschung erwies, musste auch der Geber fallen — 
ein psychologischer Vorgang, der sich nicht selten beobachten lässt, 
wo die erotische Störung zum Verzicht auf jegliche zur Ehe hinzielende 
Liebe führt. 

Wiederum nach Verlauf einer kurzen Spanne Zeit zerfiel der 
Jüngling innerlich mit dem Vater, der übrigens seinem Liebesverhältnis 
wenig gewogen gewesen war. Wenn nämlich der bedrängte Sohn durch 
Andeutungen seines Lebensüberdrusses sich gelegentlich Luft machte, 
so geriet der Vater in schreckliche Aufregung, nannte den Selbstmord 

Zentralblatt für Psychoanalyse. I. 3 


34 


Dr. Oskar Pfister, 


krankhaft und unvernünftig, ein Zeichen von mangelndem Gottesglauben 
und sittlicher Haltlosigkeit. Als einziges Heilmittel wusste er die Arbeit 
und das Gebet zu empfehlen. 

Es ging beinahe ein Jahr vorüber, da kamen dem jungen Atheisten, 
den sein Unglaube vollends niederdrückte, einige herrliche Madonnen¬ 
bilder in die Hände. Der Eindruck war so übergewaltig, dass er als¬ 
bald zu Maria zu beten begann. Sein gut reformiertes Gewissen, das 
durch den begeisternden Einfluss seines an kritischer Schärfe ebenso 
wie an Gemüt hervorragenden Religionslehrers ausgebildet war, be¬ 
schwichtigte er durch einen Fehlschluss: Da er kein Christ mehr sei 
und an keinen Gott mehr glaube, so brauche er sich keine Vorwürfe 
zu machen, wenn er nun sogar zur himmlischen Jungfrau sein Herz 
erhebe. Kurz vor dieser Sublimierung hatte ihn die Schwester der 
früheren Freundin überaus artig gegrüsst, wobei ihm die Ähnlichkeit 
der beiden auffiel und die edle Gesinnung des Mädchens eine geheime 
Sehnsucht einflösste, die Begierde nach einer idealen Schwester der 
verlorenen Braut. 

In dieser Madonnenverehrung manifestieren sich ebensosehr der 
Vater- als der Mutter- und der Brautkomplex. Die Sehnsucht nach 
der idealen Jungfrau tritt an die Stelle der Neigung zur früheren Ge¬ 
liebten. Maria, die herrliche, reine, makellose zu lieben, unterlag nicht 
der Gefahr späterer Enttäuschung und unzarter Einmischung von seiten 
des Vaters und der Freunde. Die Gottesmutter bot ferner mit ihrer 
grenzenlosen Liebe zum missverstandenen, leidenden Sohn einen Ersatz 
für die eigene Mutter, die den Ton liebevollen Trostes vermissen liess. 
Endlich aber vertrat die Himmelskönigin göttliche Herrlichkeit, ohne 
doch den fatalen Vaternamen zu tragen oder sonstwie an den herben, 
verständnislosen Vater zu erinnern. Im Hintergrund steckte natürlich 
auch die Lust, durch fromme Madonnenverehrung am Erzeuger, durch 
katholischen Kultus am streng protestantischen Vater sich zu rächen. 

So repräsentiert Maria die Geliebte, doch ohne leibliche und 
geistige Mängel, sie vertritt die Mutter, doch ohne menschliche Kurz¬ 
sichtigkeit, sie ersetzt den irdischen und himmlichen Vater, doch ohne 
quälende Strenge. 

Welch reichen Ersatz die göttliche Jungfrau dem zerrütteten 
Hysteriker bot, beweist folgendes Vorkommnis. Als die Schmerzen 
unerträglich wurden, fühlte sich der Kranke zur Reise nach Einsiedeln 
gezwungen. Er tritt vor den berühmten Altar der Maria und will seine 
Andacht verrichten, da ist mit einem Schlag der Schmerz verflogen. 
Kein Wunder! Der Leidende hat ja die Geliebte wiedergefunden, 
und zwar als gnadenreich vergebende. Seine Selbstanklagen sind damit 
grundlos geworden, er ist nicht mehr der Unritterliche, der die Ge¬ 
liebte roh im Stiche liess. 


Zur Psychologie des hysterischen Madonnenkultus. 


35 


Dass die Sublimierung trotzdem missglückte, beweisen die bald 
wieder zurückkehrenden physischen und psychischen Beschwerden. Müh¬ 
sam schleppte sich der Jüngling durchs Leben, seine Leistungen erlitten 
wesentliche Einbusse. 

Mehr als ein halbes Jahr blieb er unter dem Bann der Madonna. 
Da verliebte er sich in ein junges Mädchen, dem er bezeichnenderweise 
sofort von seinen Selbstmordgedanken Kenntnis gab. Die sublimierte 
libido, welche die Stauung der primären Erotik in himmlische Höhen 
emporgetrieben hatte, strömte dem neuen Objekt zu, und für Maria 
blieb nur ein bescheidenes Wohlwollen ohne nennenswerte Temperatur 
übrig. 

Dagegen blieb das Verhältnis zum Vater stets gespannt. Der 
nach Verständnis lechzende Sohn fühlte sich unbefriedigt. Deshalb war 
auch eine herzliche Stellung zu Gott als dem himmlichen Vater un¬ 
möglich. Wie es in solchen Fällen zu geschehen pflegt, konstruierte 
sich der Schmollende allerlei Einwände gegen Gottes Dasein und ver¬ 
schanzte sich hinter die Unergründlichkeit der Gottesidee, war aber 
von der Stichhaltigkeit seiner Einwände selbst wenig überzeugt und litt 
unter der inneren Öde, die wir ihn in seinem Briefe schildern hörten. 
Gelegentlich, so auch vor der Analyse, betete er zu einer höheren 
Macht, die er aber um keinen Preis Gott nennen wollte. Meine Aufgabe 
bestand weniger in der Überwindung der fadenscheinigen theoretischen 
Argumente, als in der beruhigenden und versöhnenden Besprechung 
des Verhältnisses zum wohlgesinnten Vater, dessen Fehler nicht grösser 
war, als derjenige tausender von Erziehern, denen jedes neurologische 
Verständnis abgeht. 

Drei Wochen vor unserer Besprechung war auch die Hysterie 
wieder aufgeflackert, wenn auch nur in geringer Intensität. Die 
Analyse förderte zutage, dass der verliebte Jüngling das eine Mal 
sehr schlecht musizieren hörte, das andere Mal eine unschöne Hand¬ 
schrift sah. Der Leser ahnt wohl bereits, dass die neue Freundin 
schlecht musiziert und schreibt, somit die Gefahr einer neuen Ablösung 
leise auftauchte. Die Entdeckung dieses Zusammenhangs war nicht 
nötig, um den Analysanden von der Richtigkeit unserer Deutung zu 
überzeugen, brachte aber immerhin eine überraschende und bei aller 
Komik ernst mahnende Bestätigung von schlagender Beweiskraft. 

Da noch einige Minuten zur Verfügung standen, erkundigte ich 
mich nach etwaigen weiteren Spuren von „Nervosität“. Es fand sich, 
dass der Jüngling heftig erschrak und in ein „unheimliches Zittern“ 
verfiel, wenn er plötzlich aufgerufen wurde. Als wichtigstes Trauma 
stellte sich heraus ein unwirscher Zuruf des Vaters, der nicht dulden 
wollte, dass sein Knabe sich mit seiner ersten Freundin zusammen auf 
der Strasse zeige. Heute fürchtet der Jüngling, sein Vater möchte auch 

3* 


36 


Dr. Oskar Pfister, 


in das neue Verhältnis störend, zerstörend eingreifen. Da ihm, wie so 
vielen Neurotikern, Vorgesetzte und Lehrer ein Vatersurrogat ausmachen, 
ist sein Schrecken leicht erklärlich. 

Die Wirkung der Besprechung, die bei ihrer Oberflächlichkeit den 
Namen einer Analyse kaum verdient, griff ungeahnt tief ein. Der junge, 
begabte Mann war erschüttert von dem Einblick in die kausale Ver¬ 
knüpfung der seelischen Vorgänge, die ihm so furchtbares Leid zugefügt 
hatten. Mit seinem Vater, dem er viel Kummer verursacht hatte, söhnte 
er sich in freiem Bekenntnis aus. Über die Bildungsmängel der Freundin, 
mit der er ein ideales Verhältnis pflegt, setzte er sich hinweg. Nach 
einer Woche berichtete er seinem früheren Seelsorger, dem er fortan 
wieder unbegrenztes Zutrauen entgegenbrachte, triumphierend, dass er 
nun den Frieden mit Gott gefunden habe und sich wieder als völlig 
glücklichen, gesunden und furchtlosen Menschen fühle. Dieser erfreu¬ 
liche Zustand hielt bis heute an, ein Zeichen dafür, dass auch eine 
etwas ordinäre und zur Nachahmung durchaus nicht zu empfehlende 
Symptom-Analyse bei der Abwesenheit von erheblichen Widerständen 
günstig wirken kann. 

Ich entschloss mich, vorstehenden kleinen Fall bekannt zu geben, 
weil meine früheren Darstellungen von hysterisch bedingtem Madonnen¬ 
kultus bei protestantischen Jünglingen 1 ) von allerdings ganz inkompe¬ 
tenter Seite beanstandet wurden. Auch wo hysterische Symptome fehlen, 
wird sich die unglückliche Liebe gerne zur himmlischen Jungfrau 
flüchten, die als Gottesmutter auch für die entbehrte Mutter Ersatz 
bietet. Bald bildet der Mutter-, bald der Brautkomplex das stärkere 
Motiv. In den mir bekannt gewordenen Fällen spielte aber auch aus¬ 
nahmslos ein Vaterkomplex mit, der verhinderte, dass sich die gestaute 
Erotik zur Gottesminne sublimierte. 

In analoger Weise wenden sich Mädchen und Frauen, deren pri¬ 
märer Liebesdrang auf unüberwindliche Hindernisse stösst, der Maria 
zu. Die von sexuellen Gefahren hart Bedrohte flüchtet sich zur reinen 
Magd, die von keiner Fleischeslust weiss und auf den neueren Dar¬ 
stellungen sogar keine äusserlichen Spuren ihrer Weiblichkeit trägt. 
Die Sehnsucht nach dem Kind erhebt ihre Hände zur Gottesmutter. 
Das frigide Weib, dem der Sexualverkehr mit dem Manne widerlich, 
sucht Schutz und Verständnis bei der Reinen, die kein Mann berührte 
und als jungfräuliche Idealfigur die höhere Würde der sexuellen Absti¬ 
nenz verkörpert — im Gegensatz zum Evangelium Jesu und der pro¬ 
testantischen Moral. 

Vom Standpunkt des Psychoanalytikers aus werden w 7 ir den 
Madonnenkultus nur dann als harmloses, ja unter Umständen sogar 


i) Evangel. Freiheit 1909 und 1910. 



Zur Psychologie des hysterischen Madonnenkultus. 


37 


wohltätiges Ventil begrüssen, wenn Maria nur einen vorläufigen Stapel¬ 
platz für die allerotische libido abgibt. Eine derartige Sublimierung 
kann in den seltenen günstigen Fällen eine gefährliche introversio, damit 
also Lebensüberdruss, Hysterie oder andere Psychoneurosen verhüten 
oder doch mildern. Allein ebenso gross ist die Gefahr, die Erotik so 
sehr auf das himmlische Objekt festzulegen, dass die primäre Ent¬ 
spannung unmöglich wird. Je mehr Madonna entzückt, desto verächt¬ 
licher und widerlicher wird das profane Liebesieben. Steigert sich dann 
die libido in dem Grade, dass die ideale Befriedigung nicht mehr ge¬ 
nügt, so bleibt für die überschüssigen Affekte nur noch der Ausweg in 
die Krankheit übrig. Daher die riesige Schar jener religiösen Ekstatiker, 
die wir vom Standpunkt der Pathologie aus direkt als Unglückliche 
bezeichnen müssen, wie sich auch eine gesunde Sittlichkeit und Reli¬ 
giosität nur mit Bedauern über sie aussprechen kann. 



Mitteilungen 


i. 

Der Neurotiker als Schauspieler. 

Es ist sehr auffallend, dass die Neurotiker so oft vom Theater 
träumen und auf der Bühne als Schauspieler agieren. Viele Szenen aus 
der Vergangenheit werden hartnäckig immer wieder auf einer Schau¬ 
bühne geträumt. Das Elternhaus als Theater ist ein häufiges Symbol. 
Besonders geeignet sind die Hoftheater und Stadttheater, das Eltern¬ 
haus bildlich darzustellen. Damit ist die Erscheinung aber noch lange 
nicht aufgeklärt. Jeder Neurotiker ist tatsächlich ein Schauspieler und 
scheint sich dessen halb bewusst zu sein. Er spielt nämlich mit seinen 
neurotischen Symptomen eine gewisse Szene. Oft eine infantile Szene; 
aber auch ebenso häufig eine Phantasieszene, wobei er mit Hilfe der 
Identifizierung die verschiedensten Rollen, Mann und Frau, Vater und 
Sohn usw. darstellen kann. Freud hat das ja in seiner Psychoanalyse 
des hysterischen Anfalles (Beiträge zur Neurosenlehre II. Folge) sehr 
überzeugend dargestellt. 

Ich will nun einige Beispiele (aus vielen) mitteilen, welche beweisen, 
wie sich der Neurotiker künstlich jene Szene schafft, die ihm Angst 
macht, die am meisten libidobesetzt erscheint, die eigentlich seine 
Krankheit ausmacht. Die meisten Angsthysteriker zeigen das Symptom 
des „Nichterreichens“. Die Strasse ist zu lang, der Weg zu gross, der 
Platz zu weit: er wird sein Ziel nicht erreichen. Oder die 
Zeit ist zu kurz, er wird zum Bahnhof nicht mehr zurecht kommen, 
der Zug wird ihm vor der Nase abfahren. 

Forscht man weiter, so erfährt man, dass die Patienten sich diese 
Situationen künstlich schaffen. Sie stellen die Bedingungen für die 
gespielte Szene her. Als ob sie die Kulissen aufstellen vmrden, um die 
Täuschung zu ermöglichen. Einer meiner Angsthysteriker soll zu mir 



Der Neurotiker als Schauspieler. 


39 


täglich um 4 Uhr kommen. Er könnte bequem um vom Hause 
Weggehen und müsste noch eine Viertelstunde warten bis er drankommt. 
Was macht aber der Kranke? Er sucht sich alle möglichen Vor¬ 
wände, um sich zu verspäten. Er schreibt einen (gar nicht dringenden) 
Brief, oder er bleibt mit einem Bekannten auf der Strasse stehen und 
spricht über die gleichgültigsten Dinge, nur um Zeit zu verlieren; er 
empfindet — und das ist ausserordentlich häufig — einen heftigen 
Stuhldrang, sitzt eine lange Weile auf dem Abort und fördert ausser 
einigen bescheidenen Winden nichts zutage; kurz, er hält sich auf jede 
mögliche Weise zurück, bis es schon 3 /4 4 wird. Dann sagt er sich: 
Du wirst natürlich wieder zu spät kommen und beginnt sich fürchter¬ 
lich zu hetzen. Dann hat er sein unbewusstes Verlangen durchgesetzt. 
Die Frage — werde ich es noch erreichen? — löst bei einigen ein 
Angstgefühl, bei anderen eine starke Libido aus, so dass die Patienten 
fast mit ihrer Angst onanieren. 

Ähnlich ergeht es einem andern Patienten mit dem Theater. Er 
gehört zu den unangenehmen Gesellen, die in jede Vorstellung zu spät 
kommen. Dann löst sich die Spannung und hinterlässt ein ziemlich 
starkes Unlustgefühl, das von ihm wie von den meisten der Kranken 
als „Enttäuschung“ bezeichnet wird. 

Die Erklärung ist sehr einfach. Die Kranken spielen eine be¬ 
stimmte Szene. Meistens handelt es sich um ein Sexualobjekt, das sie 
nicht erreichen können. Ist es eine ältere Person, die bald sterben 
kann, so ist die Angst, sie könnte sterben, ehe die Verbindung Tatsache 
geworden ist, die Ursache aller dieser künstlichen Hetzereien. Die 
Neurotiker spielen diese Szene, wobei der Arzt, das Theater, die Eisen¬ 
bahn die Rolle des Objektes übernehmen, das erreicht werden soll. Die 
Situation wird mit Hilfe von „zufälligen“ Hindernissen möglichst ähnlich 
gemacht. Es tritt das Angst- und Lustgefühl ein, das zur ursprünglich 
autochthonen Phantasie gehört. Ist das Spiel zu Ende, so erwacht das 
Bewusstsein, dass er gefoppt wurde. Symbol und Realität differenzieren 
sich und der Affekt der „Enttäuschung“ tritt ein. Die Täuschung führt 
logischerweise zur Enttäuschung. (Vgl. meine Bemerkung in „Beiträge 
zur Traumdeutung“ pag. 478. Jahrbuch. I. Jahrgang. II. Band.) 

In einem dritten Falle war es eine alte Gouvernante, die das 
unerreichbare Sexualobjekt des Neurotikers war. Dieser Mann hatte 
geradezu in genialer Weise alle Situationen des Tages dazu ausgenützt, 
um diese eine Szene zu spielen, in der er sie trotz aller Hindernisse 
doch erreichte. Las er ein spannendes Buch, so blickte er bei den 
letzten Kapiteln auf die Uhr und stellte sich einen recht knappen 
Termin, während dessen er das Werk zu Ende lesen wollte. Dabei 
schwur er sich, alle Punkte und Beistriche laut zu lesen (natürlich, um 
sich künstliche Barrieren, Hindernisse zu schaffen). Dann begann er 


40 


Der Schauspieler als Neurotiker. — Ein Beispiel von Versprechen. 


zu rasen und hatte zum Schluss, wenn die Fragen — werde ich es er¬ 
reichen? werde ich es nicht erreichen? — voller Zweifel einander be¬ 
drängten, eine Pollution. 

Das Buch war die Gouvernante. Er spielte mit dieser Szene die 
wichtigste Phantasie seines Lebens; und so lassen sich viele neurotische 
Symptome auf das Schaffen der Bedingungen durch Schiebung der psy¬ 
chischen Kulissen leicht erklären. Daher stammt meiner Ansicht nach bei 
den Neurotikern die Empfindung, sie wären Schauspieler. Häufig hört man 
den Ausspruch, sie hätten grosses Talent zur Bühne oder sie hätten zum 
Theater gehen sollen. Tatsächlich gibt es bei der Hysterie Erscheinungen, 
bei denen die Grenzen zwischen Schauspielkunst (d. h. bewusstem Spielen) 
und Krankheit (unbewusstem Schaffen) kaum zu ziehen sind. Der Neuro¬ 
tiker ist eben Akteur und Publikum in einer Person. 

Dr. Wilhelm Stekel. 


II. 

Ein Beispiel von Versprechen. 

(ei — bei — brei — blei). 

Ein an Platzangst Leidender sagt während der Analyse: „Wenn 
ich ein Thema anfange, so bleibe ich mit einer gewissen 
Hartnäckigkeit da bl ei.“ 

Dann, auf sein Versprechen aufmerksam gemacht, ergänzt er: 
„Ich habe wie ein Kind statt — „r“ — „1“ — gesagt, statt brei 
blei“ — und verspricht sich so ein zweites Mal. 

Dieses Versprechen muss eine grosse Bedeutung haben. Die 
Silben „bei — brei — blei“ sind Träger wichtiger Assoziationen. 

Der Kranke heisst Brei—er. Er ist ein Brei—er. Er isst 
nämlich nur Brei. Er hat eine Angst vor allen festen Speisen, die 
wie Blei im Magen liegen blei — ben. Er möchte aber auch der 
Blei — er sein. So heisst ein alter Freund in Karlsbad. Nach Karlsbad 
sollte er aber längst fahren. Seine Neurose wurde für ein organisches 
Magenübel gehalten (Atonia ventriculi); eine Kur in Karlsbad wurde 
ihm wärmstens empfohlen. Er hat aber Angst vor Eisenbahnen und 
Fahren und konnte diesen Rat nicht befolgen. 

Der erste verdrängte Gedanke bezieht sich auf die Kur: Du hast 
vielleicht doch ein organisches Leiden. Fahre nach Karlsbad. Aber 
du bist schon so ein Mensch. Da kannst dich von Dr. Stekel nicht 
trennen. Wenn du ein Thema anfängst, dann bleibst du schon dabei.“ 

An „Blei“ knüpfen sich wichtige Gedanken. Blei ist giftig. 
Die Bleivergiftung gehört zu seinen quälendsten Angstvorstellungen. 



Ein Beispiel von Versprechen. 


41 


Ein jeder Setzer, der eine Zeitung druckt, ist ihm ein dem Tode 
Geweihter. Die Setzer sind blass, graufarben; das Blei ist graufarben 
und schmutzig. „Ich kann“ — sagt er — „keinen Bleistift in den Mund 
stecken. Ich kann Graphit nicht leiden. Es enthält Blei. Auch Tinte 
ist mir ekelhaft. Die Tinte enthält einen Stoff aus Galläpfeln. Von 
Galle kann ich nicht reden hören. Die Mutter hat an Gallen¬ 
steinen gelitten und sollte nach Karlsbad fahren. Sie musste in 
Wien Karlsbader Wasser trinken. So lange der Vater lebte, konnten 
sie ihn nicht allein lassen, wir mussten in Wien bleiben. Nun der 
Vater gestorben ist, habe ich diese schreckliche Angst vor dem Fahren. 
So müssen wir wieder in Wien bleiben.“ 

„Können Sie die Mutter nicht allein fahren lassen?“ ,,Ja — wer 
soll mir dann meine breiigen Speisen zu bereiten? Die kann nur 
die Mutter machen/ 4 

Hier kommt ein zweiter unbewusster Gedanke. Er macht sich 
Vorwürfe, dass die Mutter da blei—ben muss. Sie muss dabei 
sein. Er kann ohne ihre Pflege nicht auskommen. Das hat wieder 
Gründe, die mit Blei zusammen hängen. Er fürchtet eine Bleiver¬ 
giftung durch essigsaures Blei. Wenn die Glasur in den Töpfen 
springt, so kann man eine Bleivergiftung bekommen. Er isst deshalb nie 
eine Speise, die mit Essig zubreitet ist (z. B. Salat). Ja — er kann 
in einem Restaurant oder Kaffeehause nichts zu sich nehmen, weil dort 
Kupfergeschirr da ist, an dem Grünspan haften könnte. Er fürchtet 
also, in fremden Gasthäusern vergiftet zu werden. 

Er hatte einmal eine schwere Vergiftung mitgemacht. Er war 
als Kind Jongleur und spielte mit Kugeln. Er verletzte sich an 
der Hand, die Wunde infizierte sich, so dass er mehrere Wochen krank 
war. Er hat seit damals eine heillose Angst vor Infektionen. 
Er fürchtet auch die Syphilis und lebt schon seit 2 Jahren 
vollkommen abstinent. Von der Syphilis erhält man Bubonen, 
Kugeln, die im Volksmund Pauken heissen. Mit Pauken und 
Granaten ist er bei einer Prüfung durchgefallen. Er hatte immer 
Angst vor Prüfungen. Er wollte sich einmal erschiessen. Auch im 
vorigen Jahre dachte er an Selbstmord und wollte sich einen Revolver 
kaufen. 

Er denkt an ein Lied: 

Das Mass meiner Sünden ist voll, 

Drum kaufe ich mir ein’ Pistol 
Und lade mit Pulver und mit Blei 
Und schiess mein armes Herz entzwei. 

Mit dieser Angst kann er nicht mehr leben. Er will auf der 
Gasse weitergehen. Plötzlich werden seine Beine schwer wie Blei 
Er fühlt sich wie gelähmt (Bleilähmung). 


42 


Ein Beispiel von Versprechen. 


Er ist zu schwach, um zu Frauen zu gehen. Obwohl ihm Frauen 
sehr gut gefallen. Besonders wenn der Busen rund wie eine Kugel 
ist. Er hat schon als Jüngling aus Angst vor der Infektion immer 
onaniert. Er hat schon als Kind zuviel mit dem Penis (Bleistift!) ge¬ 
spielt (Jongleur!) Deshalb hat er so schlaffe Hoden. (Brei! —Kugeln!) 

Der Vater hat ihn als Knaben vor der Onanie gewarnt. Er hatte 
immer bleigraue Ringel um die Augen. Der Vater hatte ihm gesagt, 
man dürfe nicht da unten spielen, sonst werde man schwer krank 
und müsse sterben. 

Weitere Bedeutungen von Kugeln gehen auf den Mutterleibs¬ 
komplex. Das Wort „Leib“ kann er nicht hören. Bei der Mutter 
fühlt er sich am wohlsten. Das Wichtigste: Er fürchtet sich vor dem 
Beischlaf. (Schon vor dem Versprechen hatte er mir erzählt, dass er 
diese Nacht sehr tief geschlafen habe. (Bleierner Schlaf.) 

Hier stossen die Assoziationen auf die Inzestgedanken, der 
Mutter beizuschlafen, sie im Schlafe aufzusuchen usw., dem Psycho¬ 
analytiker wohlbekannte Komplexe, deren weitere Erörterung für die 
Analyse dieses Beispieles überflüssig erscheint. Das Versprechen kam 
nach einer Erzählung. Er habe einem Herrn eine halbe Stunde lang 
klargemacht, dass das Grundprinzip des Lebens „Hinein und Heraus“ 
darstellt. Für Hinein und Heraus hat er schier zahllose Beispiele 
augeführt. Bezeichnenderweise eines nicht: den Beischlaf. 

Am Abend vor dem Versprechen war er im Prater. Der Himmel 
war grau, bleiern. Er fürchtete ein Gewitter. Er hatte keine Angst 
vor dem Gewitter. Nur dachte er fortwährend, was wird die Mama 
für Angst ausstehen, wenn er in solchem Wetter nicht zu Hause ist. 
Er ging schon seit Jahren nicht des Abends aus. Auch gestern hatte 
Mama ihm gesagt, er solle d ab lei — ben. Er fuhr mit der Elek¬ 
trischen nach Hause. Die Elektrische ist seine grosse Angst. Er 
steigt nur in den schon fahrenden Wagen ein. Das hat einen bestimmten 
Grund. Er fürchtet, die Mutter könnte ihm bald abfahren (Gallen¬ 
steine!). Er will noch den letzten Moment benutzen, um einzusteigen. 

Zu Hause macht er sich die heftigsten Vorwürfe. Er hätte nicht 
fahren sollen. Es wurde ihm schlecht. (Warnung: er wird dabei 
schlecht fahren!) 

Die Vorwürfe bezogen sich natürlich auf die Inzestphantasie. 
Weitere Beziehungen ergaben sich noch von Bey zu Harem und zu 
Phantasien von Orgien, zu denen seine strenge mehrjährige Abstinenz 
den direkten Gegensatz bildet. Auch die Kugeln haben noch die Be¬ 
deutung der grossen und kleinen Hemisphären, die seine fetischistisch 
betonten erogenen Zonen darstellen. 

Am wichtigsten erweist sich jedoch die Silbe ,,ei u . Er hat eine 
Idiosynkrasie gegen Ei —er. Er kann keine Eier essen, er kann nicht 


Ein Beispiel von Versprechen. 


43 


einmal einen andern Eier essen sehen, ohne Ekel zu empfinden. Er 
kann das Wort Eiweiss nicht aussprechen. 

Alle Worte, die mit ei enden, sind ihm unangenehm. So: Drucker— e i 
oder Selcherei. Er kann keine Selcherei sehen. Er bekommt sofort Angst 
und Ekel. Sie kommt ihm wie ein Grab vor. Wie eine Toten kämm er. 

Natürlich denkt er in seinem Unbewussten und auch manchmal 
bewusst bei Druckerei an das Ei des Druckers. (Vergleiche Blei und 
Bleivergiftungsangst) Bei Selcherei an das Ei des Selchers. 

Der Vater lag eine Zeitlang in der Totenkammer des Spitals. 
Er war ganz ausgemergelt vor dem Tode. Es war gar kein Fleisch 
an ihm. Nur Haut und Knochen. Es fiel ihm bei dem kranken Mann 
die Grösse der Testikel auf. Sie sahen aus wie geselcht. 

Die Totenkammer führt zum Vater-, Grab- und Mutterleibs¬ 
komplex. Dort ist man nur von Fleisch umgeben. Aus einem Ei¬ 
chen entsteht der ganze Mensch. Bei der Silbe „Ei“ muss er immer 
an Befruchtung, Schwangerschaft, Geburt und den Tod denken. 

So zeigt sich die Reihe „bei — brei — blei“ vielfach determiniert. 
Die kleine Symptomhandlung gestattet einen unerwarteten Einblick in 
seine unbewussten Gedanken. 

Nach dieser Analyse konnte er das erste Mal nach langer Zeit, 
wieder fahren. Er fuhr mit der Elektrischen (ohne Angst!) nach Hause 
— und telephonierte mir freudig dies Ereignis. Allerdings stieg er nicht 
in den Beiwagen (in Wien der dem Motorwagen angehängte zweite 
Wagen) ein. Dr. Wilhelm Stekel. 


III. 

Beispiele des Verrats pathogener Phantasien hei 

Neurotikern. 

I. Ich sah kürzlich einen etwa 20 jährigen Kranken, der ein un¬ 
verkennbares, auch von anderer Seite agnosziertes Bild einer Dementia 
praecox (Hebephrenie) bot. In den Anfangsstadien des Leidens hatte 
er periodischen Stimmungswechsel gezeigt, eine erhebliche Besserung 
erreicht und wurde in einem solchen günstigen Zustand von den Eltern 
aus der Anstalt geholt und durch etwa eine Woche zur Feier seiner 
vermeintlichen Herstellung mit allerlei Vergnügungen regaliert. An diese 
Festwoche schloss sich die Verschlimmerung unmittelbar an. In die 
Anstalt zurückgebracht, erzählte er, der konsultierende Arzt habe ihm 
den Rat gegeben, „mit seiner Mutter etwas zu kokettieren". Es ist 
nicht zweifelhaft, dass er in dieser wahnhaften Erinnerungstäuschung der 
Erregung Ausdruck gegeben, welche durch das Beisammensein mit der 
Mutter in ihm hervorgerufen wurde, und die der nächste Anlass seiner 
Verschlimmerung war. 



44 


Beispiele des Verrats pathogener Phantasien bei Neurotikern. 


II. Vor länger als zehn Jahren, zu einer Zeit, da die Ergebnisse 
und Voraussetzungen der Psychoanalyse nur wenigen Personen vertraut 
waren, wurde mir von verlässlicher Seite folgender Vorfall berichtet. 
Ein junges Mädchen, Tochter eines Arztes, war an Hysterie mit lokalen 
Symptomen erkrankt; der Vater verleugnete die Hysterie und liess ver¬ 
schiedene somatische Behandlungen einleiten, die wenig Nutzen brachten. 
Eine Freundin stellte einmal an die Kranke die Frage: Haben Sie 
denn noch nie daran gedacht, den Dr. F. zu Rate zu ziehen? Darauf 
antwortete die Kranke: Wozu sollte ich das tun? Ich weiss ja, er 
würde mich fragen: Haben Sie schon die Idee gehabt, mit Ihrem Vater 
geschlechtlich zu verkehren? — Ich halte es für überflüssig, ausdrücklich 
zu versichern, dass ich eine solche Fragestellung weder damals geübt 
habe noch heute übe. Man wird aber aufmerksam darauf, dass gerade vieles, 
was die Patienten als Äusserungen oder Handlungen der Ärzte erzählen, 
als Verrat ihrer eigenen pathogenen Phantasien verstanden werden darf. 

Dr. Sigm. Freud. 


IV. 

Typisches Beispiel eines verkappten Ödipustraumes. 

Ein Mann träumt: Er hat ein geheimes Verhältnis mit einer Dame, 
die ein anderer heiraten will. Er ist besorgt, dass dieser andere das 
Verhältnis entdecken könnte, so dass aus der Heirat nichts würde, und 
benimmt sich darum sehr zärtlich gegen den Mann; er schmiegt sich 
an ihn an und küsst ihn. 

Die Tatsachen im Leben des Träumers berühren den Inhalt dieses 
Traumes “ nur in einem Punkte. Er unterhält ein geheimes Verhältnis 
mit einer verheirateten Frau, und eine vieldeutige Äusserung ihres 
Mannes, mit dein er befreundet ist, hat den Verdacht bei ihm geweckt, 
dass dieser etwas gemerkt haben könnte. Aber in der Wirklichkeit 
spielt noch etwas anderes, dessen Erwähnung im Traume vermieden 
wird, und das doch allein den Schlüssel zum Verständnis des Traumes 
gibt. Das Leben des Ehemannes ist durch ein organisches Leiden 
bedroht. Seine Frau ist auf die Möglichkeit seines plötzlichen Todes 
vorbereitet, und unser Träumer beschäftigt sich bewusst mit dem Vor¬ 
sätze, nach dem Hinscheiden des Mannes die junge Witwe zur Frau 
zu nehmen. Durch diese äussere Situation findet sich der Träumer in 
die Konstellation des Ödipustraumes versetzt; sein Wunsch kann den 
Mann töten, um die Frau zum Weib zu gewinnen; sein Traum gibt 
diesem Wunsch in heuchlerischer Entstellung Ausdruck. Anstatt des 
Verheiratetseins mit dem anderen setzt er ein, dass ein anderer sie 
erst heiraten will, was seiner eigenen geheimen Absicht entspricht, und 



Zur Differentialdiagnose organischer und psychogener Erkrankungen. 45 

die feindseligen Wünsche gegen den Mann verbergen sich hinter demon¬ 
strativen Zärtlichkeiten, die aus der Erinnerung an seinen kindlichen 
Verkehr mit dem Vater stammen. Dr. Sigm. Freud. 


V. 

„Zur Differeiitiakliagiiose organischer und 
psycliogener Erkrankungen . 4 4 

Von einem Kollegen wurde mir Herr N. B., als ein Fall von 
hysterischer Amnesie zur psychoanalytischen Behandlung überwiesen. 
N. B., ein Reisender, 32 Jahre alt, war in S. in seinem Hotel von den Be¬ 
diensteten bewusstlos am Boden seinen Zimmers aufgefunden worden. 
Man telegraphierte nach seiner Frau, die zwei Tage nach dem Anfall 
eintraf. Aus der Bewusstlosigkeit hatte sich Herr N. B. bald erholt. 
Er war aber vollkommen desorientiert und sprach wirr. Er erkannte 
seine Gattin nicht. Erst nach zirka 10 Tagen wurde es ihm klar, dass 
seine Pflegerin seine Frau war. Er kam dann nach Wien. Ich sah ihn 
zirka 4 Wochen nach dem Anfall. Es bestand vor dem Anfall und die 
erste Zeit nach dem Anfall vollkommene Amnesie. Die Diagnose einer 
Neurose war nicht schwer zu stellen. Es bestand eine deutliche Angst¬ 
hysterie infolge längere Zeit fortgesetztem Coitus interruptus und 
psychischer Konflikte in der Ehe. Der Mann litt schon längere Zeit 
an nervösen Magenschmerzen, gegen die selbst Morphium vollkommen 
wirkungslos war. Es ist dies ein wichtiges Symptom bei psychogenen 
Schmerzen. Die gebräuchlichsten schmerzlindernden Mittel versagen 
meistens oder wirken nur in grossen Dosen, wenn sie einen Rausch 
erzeugen. So ist der hysterische Kopfschmerz durch Pyramidon, Anti- 
pyrin usw. sehr selten zu beeinflussen. 

Nun erfahre ich, dass der Kranke von einem Magenspezialisten 
Atropin erhalten hatte. Dies Mittel würde ihm bestimmt helfen. Er 
hatte das Atropin während der ganzen Reise, auch am Tage des An¬ 
falls genommen. Daran erinnert er sich noch ganz genau. Von da an 
setzt die Amnesie aus. 

Die Diagnose war nicht schwer: Es handelte sich um eine Atro¬ 
pinvergiftung, die eine solche wochenlang dauernde Verwirrtheit, selbst 
schwere psychische Zustände hervorzurufen vermag. 

Ich lehnte die Psychoanalyse ab; der beschriebene Zustand klang 
selber in einer Woche ab. 

Der zweite Fall ist noch wichtiger. Eine 34 jährige, schon 12 Jahre 
verheiratete Dame wurde wegen „psychogener Depression“ von einem 
Kollegen an mich gewiesen, um durch Psychoanalyse geheilt zu werden. 
Die Dame kam gerade aus einem Sanatorium, in das sie von einem 



46 


Zur Differentialdiagnose organischer und psychogener Erkrankungen. 


Neurologen, Dozenten X. mit der Diagnose „ Melancholie“ gewiesen worden 
war. Da ich selbst zu beschäftigt war, übergab ich sie einem Kollegen, 
der gerade die Psychoanalyse bei mir lernte. Er berichtete mir, der 
Fall gäbe gute Chancen. Die Konflikte seien ziemlich klar. Sie sei 
ihrem Manne gegenüber gleichgültig, empfinde im Gegenteil eher Ab¬ 
neigung, während sie einen Bruder vergöttere, und nur von ihm, seinen 
Talenten, seiner Güte und seiner Schönheit schwärme. Bald jedoch 
teilte er mir mit, dass die Dame Selbstmordabsichten habe, die ihn in 
Schrecken setzten. Er fürchtete sich, die Verantwortung bei einem so 
schweren Fall zu übernehmen. 

Ich liess die Dame zu mir kommen und wollte sie persönlich 
behandeln. Die ersten Tage verwendete ich auf eine genaue Durch¬ 
forschung der anamnestischen Daten. Dabei erfuhr ich, was sie bisher 
dem Manne verschwiegen hatte, dass sie schon mit dem 18. Lebens¬ 
jahre die Menstruation verloren hatte. Seit zwei Jahren bestand eine 
leichte Glykosurie, gegen die jede Diät machtlos war. Bei Aufregung 
trat Zucker im Urin auf, der in ruhigen Zeiten bis auf Spuren ver¬ 
schwinden konnte. Ausserdem fiel mir eine blaue Farbe ihres Teints 
auf. Sie gestand, dass sich in den letzten Jahren ein unangenehmer 
Haarwuchs im Gesicht gezeigt habe. Sie reisse sich täglich die Haare 
mit einer feinen Pinzette aus. Während sie in den ersten Jahren der 
Ehe sehr leidenschaftlich gewesen, könne sie jetzt zu keiner Libido mehr 
gelangen. Sie schiebt die Schuld auf die mangelnde Potenz des Mannes. 
Aber sie muss zugeben, dass auch andere Versuche, onanistische Akte ohne 
Befriedigung, ohne Auslösung eines libidinösen Gefühles verlaufen sind. 
Es ist etwas in ihr abgestorben. 

Die psychischen Symptome sind: Ziemliche Unruhe und Erregtheit. 
Sie macht sich die bekannten Vorwürfe der Melancholischen: Sie habe 
Fehler begangen, sie sei zu nichts nutz auf der Welt. Sie bedauert 
ihren armen Mann, der eine solche nutzlose Frau habe. Sie ist wieder¬ 
holt schlaflos und weint sehr leicht. Sie trägt sich mit Selbstmord¬ 
ideen. Sie will jedoch ihrem Manne und besonders ihrem Bruder diese 
Schande nicht antun. 

Die Diagnose war nicht schwer: Diabetes, Hypertrichosis, Ame¬ 
norrhoe, Änderung des Sexualgefühls, Impotenz, psychische Störungen, 
deuten in ihrer Gesamtheit auf die Hypophyse. Ihr Mann bestätigt, 
dass sich das Gesicht leicht verändert habe. Die Lippen und die Zunge 
seien vielleicht grösser geworden. Die Röntgenaufnahme ergibt eine Ver- 
grösserung und Verbreiterung der Sella turcica. Diagnose: Hypo¬ 
physentumor. 

Mit Rücksicht auf die Trostlosigkeit des Zustandes und die 
schönen Erfolge der Wiener Chirurgen bei diesem Leiden wurde der 


Referate, Kritiken und Grenzgebiete. 


47 


Patientin die Operation empfohlen. Über den weiteren Verlauf will ich 
gelegentlich berichten. 

Beide Fälle beweisen, wie wichtig die genaue Kenntnis der orga¬ 
nischen Erkrankungen und Störungen für die Psychotherapeuten ist. 
Auch weist uns die Ähnlichkeit der Erscheinungen der Neurosen mit 
gewissen Intoxikationen durch Alkaloide und innere Drüsensekrete ge¬ 
bieterisch auf den Zusammenhang zwischen dem Organischen und Psy¬ 
chischen hin. Hier wird die biologische Forschung der Zukunft die 
Brücke schlagen müssen. 

Dr. Wilhelm Stekel. 


Referate, Kritiken und Grenzgebiete. 


Die dorische Knabenliebe. (Ihre Ethik und ihre Idee.) Von Prof. E. Bethe 
in Leipzig. Rheinisches Museum für Philologie. Neue Folge. Band 
62. 1907. 

Eine bisher wenig beachtete Arbeit eines Philologen, welche sich 
durch seltene Freimütigkeit auszeichnet und sehr lesenswert ist. Der 
Verfasser führt den Nachweis, dass die Knabenliebe im Hellas von den 
„Doriern“ eingeführt wurde. Wenngleich sich Spuren der Knabenliebe 
auch bei den Ioniern finden, so wurde sie, wie das Rittertum in 
Griechenland durch die „Dorier“ zur Mode. Sie war nur dem freien 
Manne, dem Ritter Vorbehalten, dem Sklaven (oft bei Todesstrafe!) ver¬ 
boten. Diese Liebe war in festen Formeln geregelt und eine staatliche 
Institution. In Sparta, Kreta, Theben beruhte die Erziehung zur aQeTrj 
in der Herrenkaste auf Päderastie. „In Sparta waren die Liebhaber für 
die Geliebten, die vom zwölften Jahre an mit ihnen verkehrten, so 
sehr verantwortlich, dass für eine unschamhafte Handlung ihres Geliebten 
sie, nicht dieser gestraft wurden.“ „Das Schlachtfeld von Chaironeia 
deckten die Liebespaare der heiligen Schaar derThebaner Mann für Mann.“ 
In Kreta ging die Liebes wähl des Knaben in der Form des Brautraubes 
vor sich. Der Liebhaber kündigte der Familie den Raub an. War diese 
mit der Wahl nicht einverstanden, so trachtete sie den Raub zu ver¬ 
hindern. Je höher der Liebende stand, desto grösser die Ehre 
für die Familie und den Knaben. Der Erwählte wurde dann von seinem 
Gönner bei seiner Rückkehr aus dem fremden Hause mit einer Kriegs¬ 
rüstung, Becher und Rind beschenkt. 

Ja in Theben, Thera und in Kreta entbehrte diese Vereinigung 
nicht der religiösen Weihe. „Die Verlobung oder vielmehr die fleisch¬ 
liche Vereinigung am heiligen Orte selbst unter dem Schutze eines 



48 


Referate, Kritiken und Grenzgebiete. 


Gottes oder Heros steht bei Thera und für Theben sicher. In Thera 
reden eine nicht missverständliche Sprache die hocharchaiischen Fels¬ 
inschriften doch wohl des siebenten Jahrhunderts, mit gewaltigen Buch¬ 
staben eingemeisselt auf den Götterberg unmittelbar nahe der Stadt, 
in 50—70 Meter vom Tempel des Apollon Karneios und an den 
heiligen Stätten des Zeus. Da heisst es: „An heiliger Stätte, unter 
Anrufung des Zeus hat hier Krimon seine Verbindung mit dem Sohne 
des Bathykles vollzogen und er hat sie stolz der Welt verkündet und 
ihr ein unverwüstliches Denkmal gesetzt. Und viele Theräer mit ihm 
und nach ihm haben an derselben heiligen Stelle denselben heiligen 
Bund mit ihren Knaben geschlossen.“ 

In Kreta galt es für eine Schande, wenn ein Knabe aus „ritter¬ 
lichem“ Hause keinen Liebhaber fand. Umgekehrt galt es als Ehre, 
wenn sehr viele Männer sich um ihn bewarben. 

Dieses Verhältnis hatte für Liebhaber und Knaben die besten 
Folgen. Jeder wollte das Höchste leisten, um seine Tüchtigkeit zu be¬ 
weisen und als äya&ög ävrjQ dazustehen. Selbst die Heldensagen mussten 
auf diese Liebe Rücksicht nehmen. Die Ruhmestaten eines Herakles 
geschahen dem männlichen Liebling Eurystheus zu Ehren. Die Abwei¬ 
sung eines werbenden Mannes galt als Schmach, welche die Ehre 
befleckte. Plutarch erzählt die Geschichte, wie Aristodamus einen sich 
widersetzenden Knaben mit dem Schwerte niederstösst. „Man gerät 
unwillkürlich in die Sprache unseres ritterlichen Ehrenkomments“ — 
sagt Bethe. 

Durch diesen Akt übertrug der Ritter seine Ritterlichkeit (dQezrj) 
auf den Knaben. Das hatte einen symbolischen Sinn. Bei den Spartanern 
hiess der Päderast eloTcvrjkag, der etwas einbläst (von donvslv). Was 
aber hauchte der Geliebte dem Knaben ein — wohl nur das nvevua , die 
Seele, ein Glaube, der von den ältesten Zeiten (Bibel!) bis ins Christen¬ 
tum hinein lebendig war. Die Seele des Menschen waren jedoch nach 
primitiver Anschauung seine verschiedenen Se- und Exkrete. In Urin, 
Kot, Blut, Samen, steckte die Lebenskraft und ein grosser Zauber. 
Mit dem männlichen Samen also flösste der Dorier -seinem Knaben die 
Heldenkraft ein. (Ähnlich wie die Wilden in Neuguinea den Urin des 
Häuptlings trinken, um seine Kraft und Tapferkeit zu erwerben. Eine 
Menge ähnlicher Beispiele führt Bethe an.) Der Samen wurde als 
Seele angesehen. 

(Bethe weist darauf hin, dass die Leber, das Herz und besonders 
der Phallus ebenfalls als Seele aufgefasst wurden. Näheres ist beim 
Autor nachzulesen!) 

Die sonderbare Vorstellung, seine Seele a posteriori einzuflössen, 
führt der Autor auf die primitiven Anschauungen zurück. Die Tiere 
hatten keinen Widerwillen gegen diese Liebesopferungen und Menschen, 


Referate, Kritiken und Grenzgebiete. 


49 


die dem Urin und dem Kote zauberhafte Wirkungen zuschrieben, 
könnten keine Ekelvorstellungen haben. Wenn der Anus als Eingangs¬ 
pforte für böse Dämon gegolten habe, warum sollte nicht der gute 
Zauber der Heldenkraft da hinein schlüpfen können? 

„Die Idee, aus der sich die Päderastie als staatliche Institution 
bei den Doriern entwickelt hatte, konnte sich auf die Dauer nicht halten. 

Sie musste mit ihnen zusammenbrechen. Aber es blieb die 

Knabenliebe als die allgemein geübte Lust und galt durch das ganze 
Altertum und im ganzen weiten hellenischen Kulturgebiet geradezu als 
ein notwendiges Element des dezenten, griechisch gebildeten Lebens. 
Erst die christliche Kirche, die von jeher gegen dieses Heidenlaster be¬ 
sonders geeifert, hat die Päderastie aus der christlichen Gesellschaft 
verbannt und da sie es nicht durch geistige Mittel vermochte, im 
Jahre 342 ihre kriminelle Bestrafung durchgesetzt . u 

So weit der Philologe, der noch betont, dass in der vordorischen 
Zeit (z. B. bei Homer) sich keine Anhaltspunkte für die Institution der 
Knabenliebe finden. 

Von besonderem Interesse ist die symbolische Gleichstellung 
von Seele, Luft, Sperma, Blut, Urin und Kot. Sie entspricht der „sym¬ 
bolischen Gleichung“, die ich in meinen Traumanalysen der Neurotiker 
wiederholt gefunden habe. Derartige Bestätigungen symbolischer Werte 
durch kulturhistorische Parallelen haben geradezu beweisenden Wert. 

Dr. W. Stekel. 

Dr. Willi. Neutra, Briefe an nervöse Frauen. Zweites Tausend. Verlag 
von Heinrich Minden, Dresden und Leipzig, 1909. 

Es sollte als ein erfreuliches Zeichen für das erwachende Interesse 
der Leser für die Psychotherapie gelten dürfen, dass von diesem Buche 
in so kurzer Zeit eine zweite Auflage notwendig geworden ist. Leider 
können wir das Buch selbst nicht als eine erfreuliche Erscheinung 
begrüssen. Der Verfasser, Assistenzarzt der Wasserheilanstalt Gain- 
farn bei Wien, hat die Form von Oppenheims „Psychotherapeutischen 
Briefen“ aufgenommen und diese Form mit psychoanalytischem Inhalt 
erfüllt. Dies ist im gewissen Sinne ein Missgriff, denn die Psycho¬ 
analyse lässt sich mit der Oppenheim sehen oder, wenn man will, 
Dubois’schen Überredungskunst nicht gut vereinigen; sie sucht ihre 
therapeutische Wirkung auf ganz anderen Wegen. Schwerer ins Ge¬ 
wicht fällt aber, dass der Autor die Vorzüge seines Vorbildes, Takt und 
sittlichen Ernst, nicht erreicht, und dass er beim Vortrag der psycho¬ 
analytischen Lehren häufig in hohle Deklamation verfällt, auch manches 
unrichtig angibt. Immerhin ist vieles geschickt und zutreffend gesagt; 
man kann die Schrift als populäre Lektüre gelten lassen. In einer 
ernsten, wissenschaftlichen Darstellung hätte der Autor mit grösserer 

Zentralblatt für Psychoanalyse. I. 4 


50 


Referate, Kritiken und Grenzgebiete. 


Gewissenhaftigkeit auf die Quellen seiner Anschauungen und Behaup¬ 
tungen hinweisen müssen. Freud. 

Professor Ed. Claparede und die Psychoanalyse. Im letzten 
Heft des „Archives des Psychologie (Nr. 36) präzisiert Claparede, 
im Anschluss an eine Mitteilung von ihm selbst über die Salzburger 
Vereinigung und von Mae der über die Nürnberger Vereinigung, 
seinen Standpunkt zur Psychoanalyse folgendermassen: „Was mich 
an den Freud sehen Erklärungen anlockt, ist das, dass sie einer 
biologischen Auffassung psychischer Vorgänge entsprechen. Freud 
zeigt uns, wie das Bewusstsein sich gegen bestimmte unangenehme 
Vorstellungen wehrt; dieser Gedanke erscheint mir sehr richtig. Ich 
bewundere auch denVersuch des eminenten Wiener Neurologen, die genaue 
Determinierung der Zwangsgedanken und anderer pathologischen Er¬ 
scheinungen festzustellen, indem er auf die individuelle Geschichte des 
Kranken eingeht. Wenn auch gewisse Auffassungen der Anhänger 
Freuds mir als sinnreich und wahrscheinlich richtig erscheinen, muss 
ich auf der anderen Seite sagen, dass viele mir sehr gekünstelt Vorkommen. 
Es ist hier nicht der Ort, über <Jiese Fragen zu diskutieren. Mit 
einem Wort, ich habe zur zeit noch keine feststehende Ansicht über 
den Wert der verschiedenen Theorien Freuds, ich finde aber, dass 
sie verdienen unparteiisch betrachtet zu werden.“ Ref. beabsichtigt ge¬ 
legentlich auf den biologischen Standpunkt des Genfer Psychologen 
näher einzugehen. Viele seiner Begriffe lassen sich ohne weiteres in 
die Sprache der Psychoanalytiker übersetzen. 

A. Maeder. 

Maeder Alf., La langue d’un aliene (Archives de Psychologie. 
Geneve. Tome IX. 1910). 

Verfasser hat die Kunstsprache („sekundäre Sprache“) eines 
Paranoiden durch Psychoanalyse untersucht. Patient ist 41 Jahre 
alt, seit 15 Jahren interniert; die Kunstsprache hat sich im Laufe der 
letzten 17 Jahre entwickelt und scheint beim ersten Blick sinnlos. 
Eine eingehende Untersuchung konnte Verf. das Gegenteil lehren. 
Patient musste auf jedes einzelne Wort frei assoziieren, Verf. liess 
ihn auch verschiedene Gegenstände, Bilder beschreiben, vorgelesene 
Fabeln wieder erzählen. Es wurde so möglich, den bestimmten 
fixierten Sinn einer grossen Anzahl von Neologismen festzustellen, 
einen Wortschatz der Sprache des Kranken zu erhalten unh dadurch 
den Inhalt des Wahnes zu erfahren. Wortneubildungen haben nur 
bei gefühlsbetonten Vorstellungen (Komplexen) stattgefunden, sie 
beziehen sich auf die Wunscherfüllungen, Grössenideen, Befürchtungen, 
Verfolgungen des Patienten. Die Sprache selbst heisst die „Salisjour“ 
(„im Deutschen Exzellenzsprache“), von dem schweizerischen adeligen 


Referate, Kritiken und Grenzgebiete. 


51 


Geschlecht Salis; sie ist die Umgangssprache der „besseren Leute“ und 
ist dem Bedürfnis entsprungen, sich gewählt und gelehrt auszusprechen. 
Ausdrücke, um das Hohe, Gute, Reiche, Mächtige, Vornehme, Intellek¬ 
tuelle, Wissenschaftliche auszusprechen, sind besonders zahlreich. Die 
Salisjour ist das Organ der Guten, der Menschen, der Partei des Kranken 
und des lb. Gottes. 

Die Neologismen sind entweder modifizierte deutsche Wörter 
(modifiziert in der Bedeutung, wie Machenschaft für Fähigkeit Rezepte 
zu verschreiben, oder in der Form wie Doktorurie, Dingung) oder neue 
Zusammengesetze Wörter, wie Bilderbuchherr, modifizierte französische 
oder sonstige Fremdwörter (Agadation, proderiat, mandrez, cameration, 
stellima, conce, dolyis, orthodixe Garsche . . . .) oder rein pathologische 
Neubildungen (wie zuvor vorjujugeb undbeachten). — Der Satz bau 
zeigt eine ausgesprochene Vereinfachung, er enthält viele Hauptwörter, 
sehr wenige Adjektiva und Pronomina, wenige Verba, welche meistens 
im Infinitivum sind. Die Interpunktion ist willkürlich, die meisten 
Wörter haben grosse Anfangsbuchstaben; jedes gefühlsbetonte Wort 
ist von einem Ausrufungszeichen begleitet. Der Satz verliert da¬ 
durch jede Nuancierung; er hat etwas Starres und Infantiles. 
Die Entstehung von dem Pat. eigenen Begriffen zeigt eine auf¬ 
fallende Ähnlichkeit mit dem gleichen Prozess bei Kindern. Verf. 
macht aufmerksam auf die Verwandtschaft dieser Kunstsprache mit der 
„Indianersprache“ der Kinder, mit den höheren Formen der Glossolalie. 
Nur dass beim Pat. die Sprachneubildungen einen auffallend indi¬ 
viduellen und autoerotischen Charakter zeigen. Die zwei hervor¬ 
stechendsten Punkte der Untersuchung sind die Bedeutung der 
Affektivität und der Infantilismen für die Entstehung einer 
solchen Sprache. Autoreferat. 

J. Yareinlonck. Les Ideals d'enfants. Archiv de Psychol. Geneve. 
Tome VII. 

Die Arbeit V.’s ist im Jahre 1908 erschienen; Verf. hat sie ihres 
Interesses wegen für Psychoanalytiker hervorgeholt, sie dürfte im 
deutschen Sprachgebiete nur wenig bekannt sein. Das Problem der 
Ideale der Kinder (hier von einem Pädagogen behandelt) gehört zu den 
Hauptfragen der Übertragung und der Bedeutung der Eltern 
für die kindliche Psyche. Verfasser hat sein wertvolles Material an 
745 Kindern der belgischen Schulen gewonnen. Es schliesst aus seiner 
Enquete, welche unter der Form der Anfrage: A quelle personne que 
vous connaissez par vos etudes ou par la conversation, voudriez-vous 
ressembler? an Kindern zwischen 7—16 Jahren gestellt war, folgendes: 

I. Die kleinen Kinder wählen ihre Eltern als Ideal, diese Tendenz 
nimmt mit dem Alter beständig ab, und zwar bei beiden Geschlechtern. 

4* 


52 


Referate, Kritiken und Grenzgebiete. 


II. Andere Personen der Umgebung wirken bei Knaben und 
Mädchen verschieden. Als Ideale werden sie gewählt in 10 °/o der 
Fälle bei Knaben, 29 % bei Mädchen. Das Maximum bei den ersteren 
ist mit 11 Jahren erreicht, bei letzteren mit dem 13. Lebensjahre. 

III. Bei Knaben wird das Ideal sehr häufig unter berühmten 
Männern (Schriftsteller, Kriegsleute, Könige, Entdecker...) gewählt; 
bei Mädchen ist das sehr selten (Gegensatz zu II. Siehe im Original 
die lehrreichen Kurven). 

Verf. macht die für ihn sehr überraschende Beobachtung, dass 
die Knaben sehr selten, nach dem 12. Jahre überhaupt nicht mehr, ihr 
Ideal beim weiblichen Geschlecht wählen, während die Mädchen meistens 
Helden des anderen Geschlechtes anschwärmen. ,,Les petits gargons 
aimeraient volontiers ressembler ä leur mere, et les filles ä leur pere, 
ce qui semble assez naturel. Mais tandis que chez les premiers cette 
tendance va s'affaiblissant, pour les dernieres le desir de ressembler ä 
leur pere se transforme bientot en un desir de ressembler ä un homme 
qui n’est plus de la famille; parfois c’est gargon qui partage leurs 
jeux et souvent c’est un monsieur de leur entourage, mais rarement 
on voit apparaitre la figure d’ un homme celebre.“ Verf. ist nicht 
auf die richtige Deutung dieser Tatsache gekommen; er bedauert sie 
und führt sie auf die schlechte Zusammensetzung der Lesebücher für 
Mädchen zurück. [Ref. Die Kenntnis der Wahl des Sexualobjektes 
und der Sublimierungsfähigkeit des männlichen Geschlechtes lässt noch 
eine tiefere Erklärung zu. Der Faktor der Sublimierung zeigt sich 
noch darin tätig, dass der Einfluss der materiellen Interessen auf die 
Wahl der Ideale sich bei Knaben viel weniger lang und weniger in¬ 
tensiv zeigt wie bei Mädchen]. — Mit 11 Jahren traten zum ersten 
Male altruistische Regungen auf, und zwar ziemlich parallel bei 
beiden Geschlechtern. Ref. möchte die Frage anregen, ob nicht ein 
Zusammenhang zwischen diesen altruistischen Gefühlen und dem in 
diesem Alter stärker hervortretenden Alloerotismus besteht. — Folgender 
Satz gibt in groben Zügen die Sukzession der Übertragungen bei nor¬ 
maler Entwickelung: „Un enfant qui, apres avoir eu le culte de sa mere 
idealise ensuite ses freres et soeurs, puis successivement le leader de la 
bande, des personnes plus ou moins haut placees qu’il frequente, l’insti- 
tuteur, les autorites locales et enfin les celebrites de Thistoire, cet 
enfant se developpe de fagon normale.“ A. Mae der. 

D. KatzarofF. Qu’est-ce que les enfants dessinent? Arch. de 
Psych. Geneve Tome IX. 1910. 

Eine Untersuchung über das Zeichnen der Kinder. Als erstes 
Resultat ergibt sich die Überlegenheit des spontanen freien Zeichnens 
über das Zeichnen nach Vorschrift. Eine Bestätigung des Prinzipes 


Referate, Kritiken und Grenzgebiete. 


53 


der freien Entwickelung des Kindes und der Bedeutung des Interesses 
in der Pädagogik. Die Wahl der Objekte zeigt die Bedeutung des 
Milieu für den Reichtum der Vorstellungen des Kindes. In 22 °/o der 
Fälle (über 2062 Zeichnungen) werden Gegenstände der unmittelbaren 
Umgebung, wie Möbelstücke, Fenster, Gläser... als Objekt gewählt. 
Auffallend ist ferner die Uniformität der Zeichnungen. Z. B. alle 
Häuser mit Gärten werden gleich gezeichnet, was den Einfluss der 
allerersten Modelle deutlich zeigt. „Tout cela prouve que l’enfant se 
debarrasse tres difficilement, non seulement des idees et des habitudes, 
mais aussi des formes qui lui ont ete, pour ainsi dire, suggerees pour la 
premiere fois. Les images se dich ent tres vite dans sa petite tete.“ 
[Ref.: die Bedeutung der ersten 5 Jahre für die spätere Entwickelung 
des Kindes!] Interessant ist, zu konstatieren, dass die Kinder sozu¬ 
sagen ausschliesslich Erwachsene (in 0,5 °/o auch Kinder) als Objekt 
wählen; es entspricht dem mächtigen Wunsche des Kindes gross zu 
sein. Der Geschlechtsunterschied markiert sich in der Auswahl 
der Objekte: Gegenstände der Umgebung werden gewählt in 17 °/o 
der Fälle bei Knaben, in 27 % der Mädchen, Menschen in 10 °/° bei 
Kn., 7 % bei Md.; Häuser 15,5 °/o bei Kn., 20 % bei Md.; Blumen 
3,5 bei Kn., 14 °/o bei Md.; Tiere 10% bei Kn., 4% bei Md.; Land¬ 
schaften 5% bei Kn., 1% bei Md.; Szenen aus dem Leben 5,5% 
bei Kn., 2 % bei Md.; Schiffe 5 °/o bei Kn., 1 % bei Md. 

A. M aeder. 

Charles Baudelaire, Toximane et Opiomane par les dd. Royer- 
Dupouy. (Annales medico-psy chologiques.) Tome XI. 1910. 

Der Verfasser wendet sich ziemlich scharf gegen den bekannten 
Kritiker der ,,Revue des Deux Mondes, F. Brunetiere, welcher Baude¬ 
laire nicht nur einen schlechten Poeten, sondern auch einen „Mystifica- 
teur“ nannte. Noch mehr! Einen Poseur, einen „geborenen Lügner.“ 
Dem widerspricht der Verfasser. Er führt Zeugen, dass sich der Dichter 
mit keiner Pose interessant machen wollte: Th. Gautier, der selber 
Haschischesser gewesen, C a b an e s, der eine Arbeit über den Sadismus bei 
Bandelaire (Chronique medical. 15. XI. 1909) verfasst, und Anthe- 
aume et Dromard,- die alle einen mässigen Opium- und Haschisch¬ 
genuss zugeben. Das Gefühl des Abgrundes („Sensation du gouffre“), 
an dem B. moralisch und physisch (!) gelitten, führt Dupouy 
nicht auf Intoxikation, sondern auf die Psychasthenie zurück. Nicht 
weil er Toximane war, wurde er krank, sondern er wurde Toximane, 
weil er litt. Bandelaire warnte vor dem Haschisch, das keine 
neue Sensation bringe: „Haschisch enthüllt dem Menschen nichts als 
den Menschen.“ B. ist kein Apostel des Lasters und der Orgien. Er 
ist ein Seelenkranker, der aller Welt sein zerrissenes Herz zeigt und 
vor seinem Tod das erschütternde Geständnis machte: Fleissige Arbeit, 


54 


Referate, Kritiken und Grenzgebiete. 


selbst wenn sie schlecht ist, wiegt alle Träumereien auf!“ — Die an¬ 
geblichen Siegesschreie des Lüstlings waren nur die klagenden Seufzer¬ 
laute eines Gefolterten... Dupouy vertritt also die Ansicht, die alle 
unsere Analysen immer wieder ergeben: Zum Morphium, Alkohol, 
Opium, Kokain usw. greifen die Menschen fast nie wegen körperlicher 
Leiden. Die Qualen der Neurose sind es, welche nach Betäubung des 
Bewusstseins verlangen. Dr. W. St ekel. 

Sigm. Freud: Eine Kindheits erinnerung des Leonardo da 
Vinci. (Schriften zur angewandten Seelenkunde. VII. Heft.) Franz 
Deut icke. Wien und Leipzig 1910. 

„Jeder grosse Mensch hat eine rückwirkende Kraft: alle Geschiche 
wird um seinetwillen wieder auf die Wage gestellt und tausend Ge¬ 
heimnisse der Vergangenheit kriechen aus ihren Schlupfwinkeln — 
hinein in seine Sonne. Es ist gar nicht abzusehen, was alles einmal 
noch Geschichte sein wird. Die Vergangenheit ist vielleicht immer 
noch wesentlich unentdeckt! Es bedarf noch so vieler rückwirkender 
Kräfte!“ 

An dieses „Historia abscondita“ betitelte Aphorisma Nietzsches 
(Fröhliche Wissenschaft. Erstes Buch Nr. 34) musste ich denken, als 
ich das jüngste Werk Freuds gelesen. Aus einer kleinen Kindheits- 
erinnerung des Leonardo, „ein Geier wäre zu ihm herabgekommen, habe 
mit dem Schwänze den Mund geöffnet und viele Male mit diesem Schwänze 
gegen die Lippen gestossen“ baut Freud ein kühnes — aber logisch sicher 
fundiertes Gebäude und macht uns die Individualität des Künstlers, 
seine Unfähigkeit ein Werk zu beenden, seinen rastlosen Forschertrieb, 
seine Kälte schönen Frauen gegenüber und seine Neigung zu wohl¬ 
gestalteten Schülern verständlich. 

Für den Psychoanalytiker enthält diese geistreiche Arbeit manche 
wertvolle Anregung. Zum ersten Male versucht Freud die Schicksale 
der infantilen Sexual forschung nach ihrer Verdrängung in Typen zu 
fassen. Er führt drei Ausgangsformen dieser Verdrängung an. 1. Die 
neurotische Hemmung. Die erworbene Denkschwäche leistet dem Aus¬ 
bruch einer neurotischen Erkrankung Vorschub. 2. Die Umwandlung 
in Grübelzwang, wobei das Grübeln analog dem resultatlosen Ergebnis 
der Kinderforschung endlos ist und das entspannende Gefühl der ge¬ 
fundenen Lösuug nie anhält. 3. Die Sublimierung der sexuell infantilen 
Wissbegierde zu einem rastlosen Forschertrieb. Also Hemmung, Zwangs¬ 
neurose und Forschung als die Endprodukte missglückter infantiler 
Sexualforschung. 

Leonardo stellt uns den dritten Typus dar. Er wird durch 
eine überzärtliche Mutter ein Homosexueller. Er läuft Knaben nach, 
um Frauen davon zu laufen. Er identifiziert sich mit der Mutter und 


Referate, Kritiken und Grenzgebiete. 


55 


sucht sich selbst. Aber auch die Identifizierung mit dem Vater hatte 
verhängnisvolle Folgen. Er war ein uneheliches Kind, um das der 
Vater sich nicht zuviel bekümmerte. In ähnlich herzloser Weise behandelt 
Leonardo die Kinder seiner Muse. 

Es war mir hier nur vergönnt, einige Brocken aus dem Gerichte 
aufzulesen, das uns Freud vorgesetzt hat. Die Bücher dieses Forschers 
sind kondensierte Extrakte und vertragen eigentlich keine weitere 
Eindickung. Mit den wässerigen Lösungen könnte und wird auch 
mancher Arbeiter „hüben und drüben“ seine Suppe bereiten. 

Dr. Wilhem Stekel. 

Die Transvestiten. (Eine Untersuchung über den erotischen Ver¬ 
kleidungstrieb.) Dr. Magnus Hirschfeld. (Medizinischer Verlag 
Alfred Pulvermacher u. Co., Berlin 1910.) 

Aus der reichen Fülle der Sexualprobleme hat Hirschfeld eine 
bisher wenig beobachtete Form der Bisexualität herausgegriffen und in 
einer umfangreichen Arbeit zu erschöpfen versucht. „Transvestiten“ 
nennt er Menschen, „bei welchen ein heftiger Drang vorhanden ist, in 
der Verkleidung desjenigen Geschlechtes zu leben, dem die Betreffenden 
ihren Körperbau nach nicht angehören“. Die Tracht ihrer eigenen 
Geschlechtes empfinden sie als etwas Fremdes. Sie fühlen sich in ihr 
eingeengt, unfrei und gedrückt. Sehr zutreffend charakterisiert 
diese Empfindungen ein Transvestite: „Ich fühle mich in männlicher 
Kleidung wie vergewaltigt, und flüchte gewissermassen in meinem 
eigenen Ich umher, um aus dem Zustande herauszukommen. Erblicke 
ich mich aber im weiblichen Anzug, werde ich vollständig ruhig; der 
ganze Organismus funktioniert gleichmässig, es ist wie ein Ausruhen, 
wie ein Heimatsgefühl der ganzen Individualität in der Rolle der Frau.“ 
Ein andrer betont das Triebhafte des Verlangens, indem er meint, dass 
es wie Hunger und Durst Befriedigung heische. 

Hirschfeld zeigt uns in seinen Krankengeschichten, die sich 
manchmal wie weltfremde Romane lesen, in welche unangenehme Kon¬ 
flikte dieser Verkleidungstrieb die „Transvestiten“ verwickelt. Die Mehr¬ 
zahl führt ein eigenartiges Doppelleben. Tagsüber in dem Berufe und 
Geschäfte als Mann und abends im Heime als Frau und bei Frauen umgekehrt. 
Das Merkwürdige erscheint bei oberflächlicher Betrachtung die Beobach¬ 
tung von Hirschfeld, dass es sich meist um Individuen handelt, die 
homosexuelle Empfindungen vollkommen leugnen. Zwischen dem Ver¬ 
kleidungstrieb und der Homosexualität bestünden nur... Beziehungen. 
Aber dieser Trieb sei ein Symptom einer selbständigen Varietät des Ge¬ 
schlechtslebens. Auf diese Voraussetzung baut Hirschfeld das Buch 
auf, indem er ausser den Krankengeschichten noch einen vollkommen 
erschöpfenden Überblick über die bisher bekannten, gewissermassen 


56 


Referate, Kritiken und Grenzgebiete. 


historischen Transvestiten und ihre Darstellung in der Literatur in 
einwandfreier, geradezu musterhafter Weise bietet. Und doch will es 
mich bedünken, dass er das Problem nicht bis auf seine Tiefen erschöpft 
und allzu grosses Gewicht auf die Aussagen seiner Transvestiten gelegt 
hat. Wir wissen es aus unsern Psychoanalysen, wie häufig Kranke zu 
uns kommen mit der dezidierten Behauptung, sie hätten keine Spur 
von Homosexualität in sich; die Analyse ergibt als Ursache der Krank¬ 
heit: eine überstarke homosexuelle Komponente. 

Hirschfeld weiss noch nicht, welche ungeheure Rolle der „psy¬ 
chische Hermaphroditismus“ im Leben der Neurotiker spielt 1 ). Ich 
verweise ihn diesbezüglich auf die interessante Arbeit des Kollegen 
Alfred Adler: „Der psychische Hermaphroditismus.“ 

Seine Transvestiten mögen keine homosexuellen Neigungen zeigen. 
Sie haben eine Verschiebung vom Körperlichen auf das Symbol vor¬ 
genommen: Statt der homosexuellen Objektliebe tritt die Identifizierung 
mit dem andern Geschlechte durch gewisse sekundäre neurotische 
Geschlechtsmerkmale, wie es das Kleid ist, auf. Wie sind diese wunder¬ 
lichen Menschen zu diesen wunderlichen Verschiebungen gekommen? 
Wie wird man ein Transvestite? Ich komme damit auf einen wunden 
Punkt. Was dem Buche von Hirschfeld fehlt, ist die gründ¬ 
liche Psychoanalyse seiner Fälle. Er bietet uns wohl einen 
genauen psychischen Status, das heisst er berichtet uns getreulich 
alles, was der Kranke bewusst weiss; aber von den unbewussten 
Regungen seiner Transvestiten vernehmen wir sehr wenig. Doch 
das Wenige mahnt uns Erfahrene zur Vorsicht. Gleich der erste 
Fall, der wohl von hübschen Damen träumt, aber einmal sich im Traume 
als Dame erblickt; im Momente als er sich den Schleier umbinden 
will, erfolgt eine Pollution. Das beweist ja, die starke Identifizierung 
dieses Mannes mit einer Frau und lässt fast auf eine Deflorations¬ 
phantasie schliessen. („Mit dem Gürtel mit dem Schleier reisst der 
holde Wahn entzwei.“) Offenbar ist in diesem Traume die Defloration 
in der Umkehrung dargestellt. In coitu macht dieser Herr gern den 
„Succubus.“ Auch ist uns Psychoanalytikern verdächtig, dass es ihm 
übey alle Massen fatal und widerwärtig war, wenn ihm, sobald er 
als Fräulein verkleidet war, die Herren nachstiegen. Wir fühlen uns 
verleitet, diesen Ekel leicht in das Gegenteil und in einen verdrängten 
Wunsch aufzulösen. Fall II gibt an, dass er erst nach dem 20. Lebens¬ 
jahr den ersten Koitus ausgeführt und dazu seine „ganze Schüchtern¬ 
heit und seine Abneigung gegen alles körperlich Sexuelle“ mit Alkohol 
betäuben musste. Diese scheinbare Geschlechtskälte lässt darauf schliessen, 
dass die Frau offenbar nicht sein entsprechendes Sexualobjekt gewesen. 


A ) Fortschritte der Medizin 1910. Nr. 16. 



Referate, Kritiken und Grenzgebiete. 


57 


Wenn er sagt, „zu Männern habe ich nie Neigung verspürt; bloss als 
Dame verkleidet habe ich gerne mit ihnen kokettiert und gespasst“, so 
werden wir nicht ohne Berechtigung den Akzent auf den Nachsatz 
legen und den Vordersatz als Zeichen von Verdrängung auffassen'. 

Auch Fall III behauptet, der Gedanke an homosexuellen Verkehr 
sei ihm „zuwider u ; er wünschte aber als Weib geboren zu sein. Also 
wieder der verdächtige Ekel, der auf starke Homosexualität schliessen 
lässt. Weitere Aussagen dieses Mannes, wie: er habe sogar das starke 
Begehren nach einer Schwangerschaft gehabt und es sei ihm aufgefallen, 
dass er in coitu gern den „succubus“ gespielt habe, bestätigen 
unsern Verdacht. Uns ist es nicht merkwürdig, dass ihm seine Frau 
jetzt männlich vorkommt. Wir sehen darin die einzige Möglichkeit 
der Ehe: Seine Frau spielt den Mann, während er sich mit einem 
Weibe identifiziert. Wichtige Aufschlüsse wären allerdings über diesen 
Modus der Identifizierung zu geben. Welche Rolle spielt der Trans- 
vestite? Ist es die Mutter, ist es eine Schwester, ist es eine Gouver¬ 
nante oder ist es nur der Wunsch nach jener infantilen libido, die der 
Mann gehabt hat, als er noch ein Kleidchen trug? Die letztere Hypo¬ 
these würde allerdings den weiblichen Transvestiten nicht erklären. 
Doch gehen wir in unserer Analyse weiter. 

Fall IV kann keinen Congressus ausüben, ohne sich selbst dabei 
als Weib vorzustellen. Seine Frau muss die Nägel in seine Ohrläppchen 
pressen, um bei ihm das Gefühl hervorzurufen, als besässe er Ohr¬ 
gehänge, und ihn mit den Armen sehr stark an sich drücken. Dieser 
Mann konnte in den ersten 3 Wochen der Ehe keinen Congressus zu¬ 
stande bringen. 

Auch Fall IX gibt „Ekel“ vor Homosexualität an, verachtet 
Urninge und weibliche Männer sehr tief; masturbiert im Kostüme; 
dabei führt er einen Koitus mit sich selber aus, mit Wachskerzen und 
Zigarren, also in vollständiger Phantasie ein Weib zu sein. 

Fall XII macht eine offene Schwankung zu Homosexualität durch, 
die nach Hirschfeld nur eine scheinbare, eine Selbsttäuschung 
war. Fall XIV liebt nur männliche Frauen, denen er sich gegenüber 
als Weib fühlen will. Er spielte beim ersten Congressus den Succubus. 
In vier Jahren eines Zusammenlebens mit einer Frau führt er ein 
einziges Mal (!) den Congressus aus. Diese Zurückhaltung beweist, 
dass sein Sehnen nach anderen Objekten geht. Das Spielen mit 
einem Kinde ersetzt ihm alle andere libido. Er möchte am liebsten 
sich als Kindermädchen verdingen (Identifizierung mit seinem Kinder¬ 
mädchen?). Fall XIV hat eine Frau, die sehr energisch ist usw. 

Ich glaube, aus dieser flüchtigen Umschau ergibt sich schon ein 
Material, das für Homosexualität spricht und zur genauen psychoana¬ 
lytisch n Durchforschung dieser Fälle auffordert. Infolge dieser meiner 


58 


Referate, Kritiken und Grenzgebiete. 


Überzeugung will ich auf die Klassifizierung Hirschfelds nicht zu 
ausführlich eingehen. Er möchte dem Verkleidungstriebe eine besondere 
wissenschaftliche Marke geben, weil er ihm als eine besondere Form 
der Zwischenstufen ansieht. Ich glaube, dass es sich nur um eine der 
Ausdrucksformen des ,,psychischen Hermaphroditismus“ handelt, bei 
dem das Sexualbegehren von dem Körper auf das Kleid, also auf das 
Symbol verschoben wurde. Zukünftige Psychoanalysen, die Hirschfeld 
wohl selber vornehmen wird, werden ja diese Streitfrage sicherlich ent¬ 
scheiden. Hirsehfeld gebührt Anerkennung und Dank, dass er ein 
so interessantes Kapitel der Sexualpathalogie in so klarer und über¬ 
sichtlicher Weise, mit so grossem Fleisse und mit dem ihm zu Gebote 
stehenden Scharfsinn bearbeitet hat. Wir können die Lektüre dieses 
Buches nur aufs wärmste empfehlen. Vom Verfasser erhoffen wir uns 
bald eine Fortsetzung dieser Arbeit, welche uns über das geheime 
Seelenleben dieser Menschen die unentbehrlichen Aufschlüsse geben 
wird. Er wäre gewiss dazu geeignet, die Frage des Verkleidungstriebes 
endgültig zu lösen. Dr. Wilhelm Stekel. 

Die Epilepsie im Kindesalter mit besonderer Berücksichtigung er¬ 
zieherischer, unterrichtlicher und forensischer Fragen, dargestellt 
von Professor Dr. Heinrich Vogt. S. Karger, Berlin 1910. 
225 Seiten. 

Bis vor kurzem war die Lehre von der Epilepsie in ätiologischer 
und anatomischer Beziehung der Tummelplatz mutiger Hypothesen¬ 
schmiede, unsere therapeutischen Bemühungen aber vom grauesten Pes¬ 
simismus befangen. Auch in dieses Gebiet hat die Forschung der 
letzten Jahre etwas Licht gebracht, und wir dürfen hoffen, den Begriff 
der Epilepsie mehr und mehr des Geheimnisvollen zu entkleiden. Es 
war ein guter Griff des um den Gegenstand verdienten H. Vogt, uns 
den gegenwärtigen Stand der Lehre in einer flott geschriebenen Mono¬ 
graphie darzustellen. Eine grosse eigene Erfahrung — zahlreiche in¬ 
struktive Belege für seine Ausführungen geben davon Zeugnis — eine 
genaue Kenntnis der Literatur — ihr verdanken wir ein ausführliches, 
praktisch zusammengestelltes Verzeichnis am Schlüsse des Buches — 
und die pathologisch-anatomische Kontrolle als unverrückbare Basis 
liefern ihm das Material zu seiner lichtvollen Darstellung. 

Die Epilepsie ist ein Sammelnamen für ein klinisch überaus mannig¬ 
faltiges Bild verschiedenen Ursprungs und Ausgangs. Es ist jetzt schon 
möglich, eine Anzahl pathologischer Einheiten aus diesem Sammelbegriff 
herauszuschälen und das Gebiet der geheimnisvollen ,,genuinen“ Epilep¬ 
sie mehr und mehr einzuengen. So wird die Spasmophilie abgegrenzt, 
die „organische“ Epilepsie (Trauma, akut-entzündliche Erkrankungen, 
Tumor), die Epilepsie auf syphilitischer Basis, die tuberöse Sklerose, 


Referate, Kritiken und Grenzgebiete. 


59 


eine hydrozephalische Epilepsie, die Ansätze zur Formulierung einer 
Stoffwechselepilepsie erörtert. Für den an der Psychoanalyse Interes¬ 
sierten ist die Scheidung der Hysterie und Epilepsie, die Vogt aus¬ 
führlich bespricht, von grosser Wichtigkeit, dann aber auch mancher 
wertvolle Hinweis auf das psychische Verhalten des Epileptikers, das 
bisher auch nur deskriptiv, aber noch nicht analytisch behandelt wurde. 
Besonders wertvoll scheint mir der Abschnitt über die Therapie. Immer 
wieder verlangt der Verfasser die exakteste klinische Untersuchung und 
Beobachtung. Nur so gelingt es, den Einzelfall richtig ‘zu erfassen, seine 
Prognose zu klären und die Indikationen für seine Therapie, die dem 
sorgfältigen Beobachter manchen schönen Erfolg bringen kann, zu 
gewinnen. Vogt ist aber auch ein warmfühlender Mensch, und so 
vertieft er sich in die Fragen der Erziehung, des Unterrichtes, der 
Berufswahl des Epileptikers, bespricht die Aufgaben, die der sozialen 
Fürsorge zu seinem Schutz und zum Schutze der Gesellschaft vor ihm 
erwachsen, und schliesslich, selbst ein vielerfahrener Gutachter, die 
Schwierigkeiten, die dem ärztlichen Sachverständigen vor Gericht bei 
der Beurteilung von Straftaten erwachsen, die von Epileptikern oder 
der Epilepsie Verdächtigen begangen wurden. Aus diesen Ausführungen 
wäre manche wertvolle Anregung für die Verwaltung und Gesetzgebung 
zu holen. Friedjung. 

Vorlesungen über die Psychopathologie des Kindesalters für Medi¬ 
ziner und Pädagogen von Dr. Wilhelm Strohmayer, Privat¬ 
dozenten an der Universität und Spezialarzt für Nervenkranke in Jena. 
Tübingen, H. Laupp, 1910. 

Ein fesselndes, lehrreiches Buch soll hier besprochen werden, dessen 
Lektüre und Studium ich den Hausärzten und Kinderärzten eindringlich 
empfehlen möchte. Dass es sich an Pädagogen zugleich wendet, bedeutet 
keine der Gründlichkeit abträgliche Popularisierung; Strohmayer, 
der das Wirken der modernen Heilpädagogik aus eigener mehrjähriger 
Beobachtung kennen und schätzen gelernt hat, ist vielmehr bemüht, der 
Pädagogik ihre natürlichen Grenzen zu ziehen und den Arzt, freilich 
den psychiatrisch und psychologisch gut vorgebildeten, in seine Rechte 
einzusetzen. — Das Buch ist in 12 Vorlesungen gegliedert fliessend 
geschrieben und mit 84 nach der Art mancher guter alter Lehrbücher 
in den Text eingeflochtenen Krankengeschichten wirksam illustriert. 
Die reiche eigene Erfahrung, auf die sich der Autor in allen Kapiteln 
stützt, gibt dem Buche eine anregend persönliche Färbung. Er behan¬ 
delt folgende Gegenstände: Psychiatrie und Pädagogik, allgemeine 
Ätiologie und Prophylaxe kindlicher Nervosität, die psychopathischen 
Konstitutionen des Kindesalters, Neurasthenie und Chorea beim Kinde, 
Behandlung konstitutionell psychopathischer und neurasthenischer Kin¬ 
der, die Hysterie im Kindesalter, ihre Pathogenese, Symptomatologie, 


60 


Referate, Kritiken und Grenzgebiete. 


paroxystische Krankheitserscheinungen und Behandlung, die Epilepsie im 
Kindesalter, ihre Symptomatologie, Diagnose, Ätiologie, Prophylaxe und 
Behandlung, die Ursachen und die Symptomatologie des angeborenen 
Schwachsinns, die Behandlung und Fürsorge beim jugendlichen Schwach¬ 
sinn, Moral insanity, die wichtigsten akuten Geisteskrankheiten des 
Kindesalters. Ein wertvoller Literaturnachweis schliesst das Werk. 

Strohmayer hat in die Seele des Kindes einen tiefen Blick 
getan; das vorurteilslose Studium der Arbeiten Freuds und seiner 
Schule hat ihn - dazu ganz besonders befähigt, und darin liegt zum 
guten Teil sein Fortschritt gegenüber älteren und neueren Autoren, die 
über Systematik und Beschreibung der klinischen Bilder nicht weit 
hinausgekommen sind. Freud hat uns viele von ihnen verstehen gelehrt 
und in Strohmayer begrüssen wir den ersten Kinderarzt, der den 
Mut gehabt hat, der Sexualität die ihr in der Pathologie gebührende 
Rolle zuzuerkennen. Namentlich bei der Besprechung der allgemeinen 
Ätiologie und Prophylaxe der kindlichen Nervosität und der psycho¬ 
pathischen Konstitutionen findet sich manche schöne Beobachtung, 
mancher dankenswerte Wink auf diesem Boden erwachsen. Von Einzel¬ 
heiten möchte ich beispielsweise die Besprechung der körperlichen 
Züchtigung nennen, die er bei krankhaft gesteigerter Affektreaktion 
generell verwirft, und deren Bedeutung für künftige Perversionen an 
einem Beispiel schön veranschaulicht wird, und die Bedeutung der Ver¬ 
drängung sexueller Regungen für die Entwickelung der Neurosen. Wenn 
der Autor aber hier zwei Typen unterscheidet, die Schüchternen, 
Schamhaften, die sich später zu frigiden Naturen entwickeln, weil sie 
alles Sexuelle ablehnen, und die von abnorm starker Sexualität Heim¬ 
gesuchten, so dürfte eine eingehende Analyse erweisen, dass eine solche 
Trennung nicht aufrecht zu erhalten, dass die übermässige Ablehnung 
vielmehr nur eine Abwehr des mächtigen Trieblebens ist. Und hier 
darf ich wohl nach so reichlichem, wohlverdienten Lob meine Aus¬ 
stellungen anknüpfen. Strohmayer scheint mir nicht konsequent 
genug in der Verwertung der Freudschen Lehren; gar manche der 
von ihm ausführlich geschilderten Erscheinungen psychopathischer Kon¬ 
stitutionen lassen sich leicht auf ihre psychosexueile Wurzel zurück¬ 
führen, wie es mir z. B. erst kürzlich bei der Berührungsidiosynkrasie 
eines 12jährigen Knaben gelungen ist. Nicht minder wert einer solchen 
Untersuchung scheinen mir die von Str ohmayer geschilderten Krank¬ 
heitsbilder der Dementia hebephrenica, der Pubertätsmanie, der akuten 
halluzinatorischen Verwirrtheit; schon die kurzen Krankengeschichten 
verlangen dringend nach einer derartigen Erweiterung, überall drängt 
sich das psycho-sexuelle Moment mehr oder weniger aufdringlich vor, 
und es gilt hier nur, den Bahnen Jungs zu folgen. Bei einer kon¬ 
sequenteren Beobachtung dieses Gesichtspunktes wird vielleicht auch 


Referate, Kritiken und Grenzgebiete. 


61 


die Erörterung der Therapie in Strohmayers Buch manche wert¬ 
volle Ergänzung erfahren können. — In der Frage der Erblichkeit stellt 
sich der Verfasser, offenbar ohne es zu wissen, auf den Boden der 
Minderwertigkeitslehre Adlers. Besonders hervorheben möchte ich 
zum Schlüsse noch die zwei Vorlesungen über Epilepsie, die sich auf 
eine Fülle von interessanten eigenen Beobachtungen stützen und auch 
dem Kenner der Materie manches Neue bringen. Hoffentlich erlebt 
das Buch bald eine neue Auflage, in der der geschätzte Autor den 
Umbau der Psychopathologie des Kindesalters auf moderner Grundlage 
weiterführt. Friedjung. 

The Hygiene of the Soul. Von Gustav Pollak. (New York-Dodd, 
Mead and Company 1910.) 

Das ziemlich umfangreiche Werk ist dem Andenken des 
grossen Arztes und Psychotherapeuten Feuchtersieben gewidmet. 
Es ist symptomatisch von gewisser Bedeutung, da es ein neuer Beweis 
ist, welch grosses Interesse man in Amerika der Psychotherapie ent¬ 
gegenbringt. Es enthält ausser einer Würdigung des grossen Denkers 
und Arztes Feuchtersieben, die wichtigsten Stellen aus der Diätetik 
der Seele und eine Reihe von Aphorismen, welche Pollak den bedeu¬ 
tendsten Leistungen dieser Art, wie den Aphorismen von Marc Aurel, 
Pascal und Goethe gleichstellt. 

Tatsächlich ist Feuchtersieben entschieden der bedeutendste 
Vorläufer der modernen Psychotherapie; seine ärztliche Seelenkunde 
ist jedenfalls eine ausserordentliche Leistung und interessiert den mo¬ 
dernen Arzt nicht nur als historische Quelle, sondern als Fundgrube 
wichtiger psychologischer Erkenntnisse. Als Beispiel von der grossen 
Übersetzungskunst Pollaks will ich hier folgenden Vers in seiner 
Fassung mitteilen: 

„Eure Hausmoral ist eine 
Exzellente Wissenschaft, 

Gibt uns Stelzen, raubt uns Beine, 

Leiht uns Krücken, stiehlt uns Kraft.“ 

(„Queer, indeed, your practice pious, 

Queer the Science you reveal! 

Stilts and crutches you supply us, 

But our legs, our strength, you steal.) 

Dieser Vers war eine Antwort auf die Ausführungen Adalbert 
Stifters, welcher als Heilmittel für alle Seelenschmerzen das 
schrankenlose Unterwerfen unter die strengste Moral predigte. 

Dr. W. St. 

Über traumartige und verwandte Zustände. Von S. Löwenfeld, 
München. (Zentralblatt für Nervenheilkunde und Psychiatrie, neue 
Form, 20. Band 1909.) 


62 


Referate, Kritiken und Grenzgebiete. 


Im Gegensätze zn der bekannten Erscheinung des „de ja vu“, 
die von verschiedenen Psychologen eingehend studiert wurde, ist das 
Gefühl des Fremden und Traumartigen bisher sehr wenig gewürdigt 
worden. Es scheint mir sehr verdienstvoll, dass Löwenfeld an 
12 Fällen eine Analyse dieses Zustandes versucht. Ich sage versucht, 
weil ich die Empfindung habe, dass Löwenfeld das Problem in seiner 
Gänze noch nicht erschöpft hat. Immerhin hat er bei der Betrachtung 
dieser Zustände auf ein wesentliches Moment aufmerksam gemacht, 
nämlich auf die Begleitung eines starken Affektes und 
zwar meist eines Angstaffektes. — Wir müssen, sagt der Autor, 
den Angstzuständen einen wesentlichen Anteil an der Hervorrufung des 
Fremdartigen und Traumartigen des Automatismus zuerkennen. Zum 
Beispiel, ein Patient klagt über das Gefühl, das ihn beständig verfolge 
und belästige. Es ist ihm, als ob er, der doch Familie hat, allein auf 
der Welt stände. Wenn er auf der Strasse geht, erscheint ihm alles 
eigenartig fremd. Wenn seine Frau mit ihm spricht, oder Freunde 
sich mit ihm unterhalten, hat er ebenfalls das Gefühl des Fremd¬ 
artigen. Die Stimme aller Personen seiner Umgebung kommt ihm ver¬ 
ändert, fremdartig vor und wenn eines seiner Kinder auf ihn zuläuft, 
erscheint es ihm ebenfalls als fremd. Auf der Strasse leidet er unter 
inhaltlosen Angstzuständen. Seit einiger Zeit zeigt sich bei ihm auch 
eine gewisse geistige Apathie. In einem zweiten Falle beschränkt sich 
dieses Gefühl des Fremdartigen auf die Mutter. Es ist dem Kranken, 
(löjähriger Knabe) als ob er die Mutter erst suchen müsste, als ob 
seine Mutter eine ihm fremde Person sei. Andere Kranke haben dieses 
Gefühl des Fremden auch in Bezug auf leblose Objekte, auf die Woh¬ 
nung, auf die Strasse, durch die sie gehen und die sie verändert finden, 
insbesondere in Bezug auf Richtung und Anordnung. Diesen Zuständen 
ähnlich, aber meiner Ansicht nach durchaus nicht identisch sind jene 
Zustände, in denen der Neurotiker — um solche handelt es sich ja 
immer in diesen Fällen — die Empfindung bat, er lebe in einem Traume, 
sei nicht das wirkliche Leben, in dem er sich befinde. 

Löwenfeld bemerkt mit Recht, dass die bisherigen Erklärungen 
dieses Zustandes nicht ausreichen. Raymond und Jan et nehmen 
eine Funktion des Reellen an und führen natürlich diese Störung auf 
eine Schädigung oder einen Verlust dieser Funktion des 
Reellen zurück. Die Kranken befänden sich in einem Zustande der 
„herabgesetzten psychologischen Spannung“. Strohmayer fasst den Zu¬ 
stand als Mangel des Hervortretens des Ichgefühles im Ablaufe der Ideen- 
Assoziationen auf, also als eine Störung deslchgefühls. Am tiefsten 
in der Erkenntnis dieses Zustandes ist J u n g gekommen, der sich darüber 
folgendermassen äussert: „Wenn wir von einem Komplexe beherrscht sind, 
so haben bloss die Komplexvorstellungen Farbentöne, das heisst, volle 


Referate, Kritiken und Grenzgebiete. 


63 


Deutlichkeit. Alle anderen, von innen oder aussen stammenden Trenn¬ 
ungen unterliegen der Hemmung, wodurch sie undeutlich werden, das 
heisst, den Gefühlston verlieren. Das ist die Grundlage, auf der es zur 
Unvollständigkeit der Tätigkeitsgefühle und schliesslich zur Affektlosig- 
keit kommt. Diese Störungen bedingen ohne weiteres das Gefühl der 
F r emdartigkeit.“ 

Löwenfeld macht nun mit Recht darauf aufmerksam, dass auch 
ein Affekt durch Einengung des Bewusstseinfeldes dieses Gefühl des 
Fremden erzeugen kann und führt das Bekanntheitsgefühl auf zwei 
Faktoren zurück. Erstens: „Die Deutlichkeit der Wahr¬ 
nehm u n g“ und zweitens: „d i e R e p r o d u k t i o n“. Ist die Deut¬ 
lichkeit der Wahrnehmung gestört, so entsteht das Gefühl der Inkon¬ 
gruenz des Gefühles, der frühere Eindruck, das Objekt scheint verändert 
und fremdartig. Ist die Reproduktion beeinträchtigt, so erscheint das 
Objekt nur neu und unbekannt aber nicht verändert. Seine Beob¬ 
achtungen weisen darauf hin, dass bei beiden Modalitäten die Beein¬ 
trächtigung des Bekanntseinsgefühles vorkommt. Nun scheint bei dieser 
Erscheinung der Angstaffekt, wenn ich Löwenfeld recht verstehe, 
eine wichtige Rolle zu spielen, offenbar dadurch, dass er die Deutlich¬ 
keit der Wahrnehmung oder auch der Reproduktion stört. Der Autor 
gibt aber selber zu, die Rätsel des Fremdartigen und Traumartigen 
damit nicht gelöst zu haben. 

Einige eigene Analysen solcher Fälle scheinen mir eine präzisere 
Erklärung dieses Phänomens zu gestatten. Sicher ist es, dass ein Affekt 
dabei die Hauptrolle spielt, aber dass es nicht der Angstaffekt allein 
ist, erscheint mir klar. Man wird den Angstaffekt in solchen Fällen 
wohl nie vermissen, aber mehr als Ausdruck der Verdrängung, das 
heisst, einer unterdrückten libido. Der Angstaffekt ist meiner Ansicht 
nach nicht die Ursache, sondern eine der Begleiterscheinungen dieses 
Zustandes. Es handelt sich nicht um ein Nacheinander, sondern um 
ein Nebeneinander. Ich behalte mir vor, demnächst auf dieses für die 
Psychopathologie der Neurose so wichtige Problem ausführlich zurück¬ 
zukommen. Dr. W. St. 

Über den Gegensinn der Urworte. So betitelt sich eine sehr 
interessante Schrift von Karl Abel 1 ). Wie oft werfen uns Gegner der 
Traumdeutung vor, dass es nicht angehe, die Worte und Handlungen 
ins Gegenteil zu verkehren, um einen Sinn heraus zu bekommen. 

Nun — der alte Schuber th, dessen Buch „Die Symbolik des 
Traumes“ noch 1840 erschienen ist, hat diesen Gegensinn schon 
gekannt. Man kann ihn ruhig als einen Vorläufer Freuds bezeichnen, 
so tief ist er in manche Probleme der Traumdeutung eingedrungen! 


*) Vergleiche das Referat von Prof. Freud: Jahrbuch II. Band. 



64 


Referate, Kritiken und Grenzgebiete. 


Doch lassen wir Schuberth das Wort. 

Aus dem Werke „Die Symbolik des Traumes“ 1 ): 

„Eine neuere, tiefer gehende Sprachforschung hat jene alte Ver¬ 
wechslung selbst überall in der artikulierten Sprache und der Ver¬ 
wandtschaft ihrer Worte unter einander nachgewiesen. Zuerst zeigt 
sich häufig, dass die Worte, welche ganz entgegengesetzte Be¬ 
griffe bezeichnen, aus einer und derselben Wurzel hervor, 
gehen, als wenn die sprechende Seele anfangs mit den Worten nicht 
die äusserlichen, einander entgegengesetzten Erscheinungen, sondern das 
(doppelsinnige) Organ bezeichnet hätte, das zum Auffassen dieser Klasse 
von Erscheinungen geeignet ist. So sind die Worte, welche warm 
und kalt bezeichnen, nicht nur noch jetzt in mehreren Sprachen 
gleichlautend: z. B. Caldo, das im Italienischen warm bedeutet, ist 
gleichlautend mit unserem kalt; sondern selbst in einer und derselben 
Sprache gehen die Worte für kalt und warm aus einer und derselben 
Wurzel hervor (gelu, gelidus, Kälte, kalt, mit caldo, calidus, warm), 
und der Gott des heissen Südens ist aus dem kalten Norden geboren. 
So wie sehr häufig in Mythus und Sprache die gute Gottheit mit dem 
Bösen verwechselt und wiederum das Böse als Gutes genommen wird, 
so entspringt auch im Persischen, wo doch sonst der Mythus beide 
entgegengesetzte Prinzipien scharf voneinander zu halten scheint, der 
Name des bösen Ahriman und des Lichtgottes Orim-Asdes aus einer 
Wurzel, eben so wie (Liebe) und Zwist, und in verschiedenen 
Sprachen die Worte für Einigkeit nnd Vereinigen und für den Feind 
und entzweien (fast auf dieselbe Weise, wie nach Schwedenborg 
aus sinnlicher Liebe jenseits der grimmigste Hass geboren wird.) Auch 
Licht (das Symbol der Wahrheit), und Lug und Lüge entspringen in 
verschiedenen Sprachen aus einer Wurzel, weil das Licht, (der schöne 
Morgenstern wie es anderwärts heisst) indem es sich zur sengenden 
Flamme entzündete, der verzehrende Wolf und der böse Loghe geworden, 
der als Hund und Hündin auch anderwärts in unreiner Bedeutung 
erscheinet. Jene zweifache (brennende und leuchtende) Natur des 
Lichtes, begegnet sich in der Sprache und im Mythus allenthalben. 
Das Blut erscheint ebenfalls in beiden unter der Bedeutung des 
Giftes, des Zornes, des rasenden Grimmes, und unter jener der 
Versöhnung, Besänftigung, Belebung, Raserei und ruhige 
Besinnung, Finsternis und Licht, das schwere Metall und der leichte 
Vogel, Luft und Eisen, die Bezeugungen der Freude und der Trauer, 
niedrig und hoch, sinnliche Lust und Entmannung und 
alle in ihrer Bedeutung noch so entgegengesetzt scheinenden Worte 
gehen auf dieselbe Weise aus gemeinschaftlicher Quelle hervor, und das 


*) Leipzig, F. A. Brockhaus 1840. 



Referate und Kritiken. 


65 


Lamm, sowie der Widder, welche öfters Symbole des schaffenden Wortes 
sind, erscheinen als Bock anfangs als Ausdruck des zeugenden Prinzips, 
dann der gröbsten Wollust (auch hier Lamm und Flamme aus einer 
Wurzel), oder als Schlange, in einer bald wohltätigen, bald furchtbaren 
Bedeutung. 

Auf eine merkwürdige Weise lässt sich nicht selten noch in der 
Sprache und im Mythus der Weg deutlich nachweisen, auf welchem 
die Worte von der einen Bedeutung in die andere ganz entgegen¬ 
gesetzte übergegangen sind. Wir wollen auch hier nur einige wenige 
Beispiele hervorheben. Die Verwandtschaft des Erkennens und Zeugens 
ist schon von Franz Baader auf eine merkwürdige Weise dargetan 
worden. Auch in der Sprache und im Mythus ist die Taube, welche 
als heiliger Lebensgeist das Lebenswasser der Schöpfung, so wie den 
erkennenden Menschengeist bewegt, mit dem Vogel Phönix und der 
Palme gleichbedeutend Die Palme, so wie die Blume der Nacht am 
Lebensquelle, oder anderwärts die Eiche, Weinstock, Feigenbaum, wird 
hierauf zum Baume der Erkenntnis, welcher zugleich Baum des Haders 
ist. Endlich so wird der Baum der Erkenntnis zum Lingam, zum 
Werkzeuge und Symbole sinnlicher Geschlechtslust. Auf dieselbe Weise 
wird auch das erkennende Auge (der Brunnen des Lichts, das Wort) 
auf der einen Seite zur bauenden, schaffenden Hand, auf der anderen, 
zugleich mit der Hand, gleichbedeutend mit dem Organe der körper¬ 
lichen Erzeugung. Das belebende Auge wird nun zugleich tötend, die 
Wahrheit bezeugende, schwörende Hand wird die täuschende, Lügen 
verkündende, zaubernde. So ist denn jene keusche Jungfrau des 
Mythos, die nie von dem Hauche einer sinnlichen Lust berührt worden, 
zu der unkeuschen Göttin der ausgelassensten wildesten Wollust gewor¬ 
den, das schaffende, geistig erkennende Wort ist nun durch eine furcht¬ 
bare Verwechselung unter dem Bilde des gräulichen Bockes Mendes 
angeschaut worden, dessen Kultus alle Schandtaten der ausgeartetsten 
tierischen Wollust in sich vereinte, aus dem Fische und der Fisch¬ 
schlange der sinnlichen Lust 1 ) ist aber auch jenes furchtbare Gift 
gekommen, welches die Welt und das Leben vergiftet hat. Das Wort 
der Liebe, der heilige Name, das Gesetz sind zur Strafe, zum Zorne, 
zur Rache geworden. 1 ) 

Ebenso wie sich durch jene grosse Sprachenkatastrophe das Gute 
ins Böse, das Licht in die Finsternis verkehrt hat, so verstellt sich 
umgekehrt das Böse ins Gute, und in häufigen Beispielen, wozu sich 


i) Merkwürdig ists, dass selbst noch in einer Branche der Traumsprache die 
Schlange Sinnlichkeit bezeichnet. Man erinnert sich dabei an Schwedenborgs 
Traumgeisterwelt. „Das körperliche Sinnliche“, sagt er irgendwo, „wird im andern 
Leben durch Schlangen vorgestellt.“ 

Zentralblatt für Psychoanalyse. 


5 



CG 


Referate und Kritiken. 


schon die obenangeführten gebrauchen lassen, erscheint, in Mythos und 
Sprache, das Böse und Giftige, täuschend, in lieblicher Gestalt, als 
Gutes und Heilbringendes. Dr W. St. 

Zur Psychologie von Tot und Lebendig. Nicht ganz ohne 
Bemerkung möchte ich hier eine Stelle aus Grillparzers Tage¬ 
büchern anführen. 

„Die Magd bei Fröhlich erzählte, dass, als ihr Y T ater gestorben, 
,,den sie gar so lieb gehabt“, und sie beim Waschen und An¬ 
kleiden des Leichnams mitgeholfen, sei ihr die starre Kälte desselben 
entsetzlich gewesen. Da habe sie gedacht, wenn eine „junge und gesunde 
Person“ sich zu ihm lege, vielleicht könne die Wärme ihn wieder zu 
sich bringen. Als daher nachts alles schlief, sei sie aufgestanden, habe 
sich zu ihrem Vater ins Bett gelegt und so die ganze Nacht bei ihm 
ausgehalten. Am Morgen vermisst und überall gesucht, wurde sie end¬ 
lich bei dem Leichname halb erstarrt gefunden. Eine tüchtige Tracht 
Schläge war der Lohn für den allopathischen Heilversuch. Es liegt 
etwas Grässliches, aber auch Heroisches in dieser liebevollen Albernheit.“ 

Was ging hier vor sich? Aus meinen Traumanalysen habe ich 
die Kenntnis dieses psychischen Mechanismus gewonnen. Es handelt 
sich um eine Identifizierung vom Menschen und seinem Phallus. Der 
Tote ist in den Träumen sehr häufig der tote d. h. nicht erigierte 
Penis der durch Feuer, Wärme, Berührung lebendig wird, — was wieder 
eine Erektion bedeutet. Diese Identifizierung des Menschen mit seinem 
Geschlechtsteile ist ungemein häufig und eine versteckte Wurzel vieler 
neurotischer Symptome. Die „Leiche“ ist im Volksbewusstsein nicht 
immer der Tote. 

Rudolph Kleinpaul sagt: 

„Leiche ist von Haus aus ziemlich dasselbe wie Leib und nicht 
notwendig etwas Totes. Es ist ein allgemeiner Ausdruck für die 
äussere Erscheinung und die Gestalt eines Menschen, was wir mit einem 
sehr edlen und schönen alten Begriffe: ein Mannsbild oder ein Weibs¬ 
bild nennen. Jedermann hat eine Leiche, bereits bei Lebzeiten : stimmt 
unsere Leiche mit der Leiche eines anderen überein, so sind wir dem 
anderen g-leich, will sagen : kon-form. Besitzt ein Individuum die Leiche 
eines Mannes, so ist es männ-lich, englisch: man-like, d. h.: einem 
Manne ähnlich. Das Wort bildet eines der wichtigsten, lebendigsten 
Formelemente unserer Sprache. Und weil im Tode vom Menschen nur 
die äussere Erscheinung wie ein Wachsbild übrig bleibt, deshalb hat 
man das Wort Leiche auf den Kadaver eingeschränkt.“ (Die Leben¬ 
digen und die Toten in Volksglauben, Religion und Sage. Leipzig, 
G. J. Göschen sehe Verlagshandlung 1898, Seite 7 bis 8, 1. c.). 

Dr. W. St. 



Referate und Kritiken. 


67 


Rechts und links» 

Über die Symbolik von rechts und links habe ich in den „Bei¬ 
trägen zur Traumdeutung" (Jahrbuch I) neue Erfahrungen mitgeteilt. 
Auch Dr. Alfred Adler hat in seinem Vortrage „Der psychische 
Hermaphroditismus“ betont, dass die rechte Seite als die männliche, 
die linke als die weibliche empfunden wird. Wir bringen zu diesem 
interessanten Thema folgende wichtige Ausführungen, welche sich in 
dem Buche „Fuss- und Schuh-Symbolik und -Erotik“ von Dr. Aigre- 
mont finden 1 ). 

„Schon in frühen Zeiten sind rechte wie linke Seite, rechter wie 
linker Fuss von der Symbolik der Völker umsponnen worden. Die 
Bevorzugung der rechten Körperhälfte (Hand, Fuss) ist uralt, man 
denke an die jahrtausend lange Wirkung auf die linke Hirnhälfte. — 
Man setzte die beiden Geschlechter den beiden Seiten gleich, und sah 
in der rechten Seite das aktive, erwerbende männliche Prinzip, in der 
linken das aktive, erhaltende weibliche; die rechte ist die zeugende, 
die linke die empfangende Seite. Wir haben genügende und hinläng¬ 
lich deutliche Zeugnisse, dass das Altertum die Weiblichkeit lediglich 
auf die linke Seite verlegte. Plutarch (Symp. 8, 8 und 5, 7) gibt die 
weit verbreitete Ansicht wieder: die Knaben würden aus dem rechten, 
die Mädchen aus dem linken Hoden gezeugt. Plinius (7, 7) berichtet 
von den sagenhaften Machlyern, die als vollkommene Zwitter sich 
wechselseitig bald als Mann bald als Weib begatten konnten: Archi- 
stoles fügte hinzu, dass ihre rechte Brust männlich, ihre linke weib¬ 
lich sei. — Besonders bei dem Fusse tritt diese Unterscheidung 
zu Tage: der rechte Fuss gilt als männlich, der linke als weiblich. 
Der linke ist der mütterlichen Erdgottheit, der tellurischen Weiblich¬ 
keit geweiht. Der ein beschuhte Jason trägt die Sandale an dem rechten 
Fusse, die linke verliert er im Sumpfe, d. h. mit dem nakten linken 
Fuss schreitet der erdbefruchtete Dämon durch die gebärende Erd¬ 
materie, der verlorene linke Schuh ist das Symbol ihrer Erdfruchtbarkeit, 
ihrer Kteis, die der Dämon begattet. Im Anschluss an Jasons 
nackten linken Fuss bemerkt der Scholialist zu Pyth. 4, 133: dass 
auch die Ätoler mit naktem linken Fuss in die Schlacht zögen, und 
Macrobius berichtet, dass jene Sitte die Herniker in Italien von 
den Atolern übernommen hätten. Diese Entblösung beruht, wie 
Bachofen (Mutterrecht 159) klarlegt, nicht in einem praktischen 
Grunde zweckmässiger Kriegsbewaffnung, sondern in der Entblössung 
des linken Fusses liegt die Darbringung des linken Schuhs an die 
Muttergottheit. Es sind also Überreste uralten Matriarchats, Herniker 
und Ätoler zeigten sich als Sprösslinge und Verehrer des grossen 

J) Leipzig, Deutsche Verlags-Aktien Gesellschaft, 1909. 

5* 



68 


Referate und Kritiken. 


weiblichen Naturprinzipes. Als solch ein Ätoler zieht auch Meleager, 
wie auch Euripides in seiner gleichnamigen Tragödie besonders 
hervorhebt, mit nacktem linken Fuss in den Eberkampf. Auch noch 
heute gilt der linke Fuss als weiblich, ähnlich wie im Kinderspiel der 
rechte Zeigefinger als Gatte des linken weiblichen gilt. Als Symbol des 
weiblichen Prinzips mischt die südungarische Wanderzigeunerin einige 
Blutstropfen des linken Fusses mit den Haupthaaren des Burschen und 
kocht sie mit Quittenkernen zu einem Brei, den sie im Munde kaut 
(Am Urquell III, 1.— 

Im allgemeinen galt der rechte Fuss als der tatkräftige männliche 
bei den Griechen wie bei den Römern, auch bei den modernen Kultur¬ 
völkern als der Glück verheissende. Man soll mit dem rechten Fuss 
seinen Gang, Marsch, seine Reise, seine wichtigen Gänge beginnen. 
Im Deutschen heisst es zum Beispiel: man soll die Schwelle zuerst 
mit dem rechten Fuss überschreiten, wenn man Glück in einer wich¬ 
tigen Sache haben will. Bei den Türken betritt die Braut das Haus 
des Bräutigams mit dem rechten Fuss, damit sie in der Ehe glücklich 
werde, — Wenn man nun trotzdem die linke Seite (bezw. den linken 
Fuss) als die gute, glückbringende im Altertum angesehen findet, so 
ist dieser Umstand aus der Idee des weiblichen Tellurismus, des frucht¬ 
baren und daher segenspendenden Weibtums, dem die linke Seite ge¬ 
heiligt war, zu erklären. Der linken, weiblichen „guten“ Seite wird der 
Vorzug in der Religion wie in der Familie zuerkannt (Pult, quaest. 
rom. 78). In der Anschauung moderner Völker ist dieser dunkle 
Hintergrund geschwunden: die linke ungeschickte Seite, speziell der 
linke Fuss bringen wenig Glück. So heisst es: wer mit dem linken 
Fuss fehltritt, muss sich auf Enttäuschungen gefasst machen; wer ver- 
driesslich ist, steht wieder auf dem „linkeren“ Fusse; wer mit dem 
linken Fuss zuerst aus dem Bette tritt, wird an dem Tage Missgeschick 
erfahren. Freilich heisst es auch (vielleicht ein Nachklang jener obigen 
uralten Vorstellungen): wer mit dem linken Fuss die Schwelle über¬ 
schreitet , wird Glück in seinen Angelegenheiten haben (czechisch); 
wer mit dem linken Fusse stolpert, wird Freude erleben (deutsch).“ 

Dr. W. St. 


Die Frage der Abstinenz. 

Über Schaden und Nutzen der Onanie gehen die Ansichten der 
meisten Ärzte aus einander. Viele sprechen nur von einem Schaden 
und leugnen jeglichen Nutzen. Es wird unsere Leser interessieren, die 
Ansichten eines sehr klugen Arztes der alten Schule zu vernehmen, 
der unbekümmert um die Schulweisheit seinen eigenen Weg gegangen 
ist. Jedenfalls bildet das Buch: „Dreissig Jahre Praxis“ von H. L. 



Referate und Kritiken. 


69 


von Guttceit (Wien 1873, Wilhelm Braumüller) (Seite 331—332) 
einen sehr wichtigen Beitrag zur Frage der Abstinenz. Er sagt: 

„Sehr viel hängt auch hier vom Temperamente und von den 
Lebensverhältnissen ab. Mädchen, welche von Natur ein feuriges Tem¬ 
perament haben — und oft gehören hiezu die sittsamst aussehenden 
Blondinen — sowie solche die von ihrer Kindheit an schon viel mit 
jungen Leuten anderen Geschlechts zusammenkamen, fühlen das Er¬ 
wachen des Geschlechtstriebes früher und stärker, als phlegmatische 
und von der Männerwelt getrennt aufgewachsene Jungfrauen. Bei ersteren 
pflegt die Menstruation sich frühe, in meinem Wirkungskreise oft schon 
im 12. Jahre einzustellen. Gelangen solche Mädchen, ohne mit Onanie 
bekannt zu sein und ohne, wie es bei den niedren Klassen gewöhnlich 
ist, den Geschlechtstrieb natürlich befriedigt zu haben, bis zum 18., 
19. Lebensjahre, so beginnt die bis jetzt regelmässige Menstruation 
allerhand Abnormitäten zu zeigen. Gewöhnlich wird sie allmählich 
parca; häufig auch dolorata und dann nicht selten discolorata. Infolge 
dieser Menstruationsabnormitäten leiden die Mädchen viel. Glücklich, wenn 
bald eine Heirat ohne besondere Abneigung oder Widerwillen gegen denEhe- 
mann zustande kommt. Gut,wennlnstinkt oder Unterweisung das 
Mädchen mit der Selbstbefriedigung bekannt macht; ver¬ 
zeihlich, wenn ein Liebhaber als bestes und angenehmstes 
Heilmittel gewählt wird. Unglücklich aber, wenn diese 
natürlichen Wege zur Heilung nicht betreten werden; 
schlecht, wenn falsch verstandene Religiosität oder ver¬ 
kehrte Meinung die Selbstbefriedigung als etwas Sündhaftes 
oder Schädliches verwirft; unverzeihlich, wenn ärztliche 
Ignoranz mit Emmenagogis, Nervinis, Ferruginosis und künstlichen 
Blutentleerungen da Hilfe schaffen will, wo diese nur in der 
Befriedigung des Naturtriebes gefunden werden kann. 
Die Folgen solchen Unheilverfahrens sind gewöhnlich gründliche Zer¬ 
störung der Verdauung, hypochondrische Gemütsstimmung, Kongestionen 
zu Kopf und Brust, krankhafte Reizbarkeit mit Neigung, in ver¬ 
schiedene Gemütskrankheiten: Erotomanie, Pyromanie, Mania furibunda 
und Insanitas religiöse zu verfallen.“ 

Dr. W. St. 


Schopenhauer über den Wahnsinn. 

Mitgeteilt von Otto Rank (Wien). 

In den Br euer-Fr eudschen „Studien über Hysterie“ ist als eine 
der Bedingungen für die Akquirierung von Hysterie die absichtliche 
Verdrängung einer peinlichen Vorstellung aus dem Bewusst¬ 
sein postuliert, eine Formel, welche spätere Forschungen dahin ergänzen 



70 


Referate und Kritiken. 


konnten, dass solche Verdrängungen zu den normalen psychischen Akten ge¬ 
hören und dass nur ihr Missglücken zur Konstituierung des neurotischen 
Symptoms führt. Es findet sich nun in Schopenhauers Hauptwerk: 
„Die Welt als Wille und Vorstellung“, im 2. Bande, der Nachträge und 
Ergänzungen zu den einzelnen Kapiteln des ersten Bandes enthält, 
beim Versuch einer Erklärung des Wahnsinns 1 ), dem nach des Philo¬ 
sophen Darlegung die Unfähigkeit einer vollkommenen und verlässlichen 
Rückerinnerung zugrunde liegt, eine ganz ähnliche Auffassung vom 
psychischen Mechanismus der Geistesstörung. Es heisst dort (Band 2, 
Kapitel 32): „Die im Texte (Band 1, § 36) gegebene Darstellung der Ent¬ 
stehung des Wahnsinns wird fasslicher werden, wenn man sich erinnert, 
wie ungern wir an Dinge denken, welche unser Interesse, unsern Stolz, 
oder unsere Wünsche stark verletzen, wie schwer wir uns entschliessen, 
Dergleichen dem eigenen Intellekt zu genauer und ernster Untersuchung 
vorzulegen, wie leicht wir dagegen unbewusst davon wieder abspringen, 
oder abschleichen, wie hingegen angenehme Angelegenheiten ganz von 
selbst uns in den Sinn kommen und, wenn verscheucht, uns stets wieder 
beschleichen, daher wir ihnen stundenlang nachhängen. In jenem 
Widerstreben des Willens, das ihm Widrige in die Be¬ 
leuchtung des Intellekts kommen zu 1 assen, liegt dieStelle, 
an welcher derWahnsinn auf den Geist einbrechen kann 2 ). 
Jeder widrige neue Vorfall nämlich muss vom Intellekt assimiliert 
werden, d. h. im System der sich auf unsern Willen und sein Interesse 
beziehenden Wahrheiten eine Stelle erhalten, was immer Befriedigenderes 
er auch zu verdrängen haben mag. Sobald dies geschehen ist, schmerzt 
er schon viel weniger: aber diese Operation selbst ist oft sehr schmerz¬ 
lich, geht auch meistens nur langsam und mit Widerstreben vonstatten. 
Inzwischen kann nur sofern sie jedesmal richtig vollzogen 
worden, die Gesundheit des Geistes bestehen. Erreicht hin¬ 
gegen, in einem einzelnen Fall, das Widerstreben und Sträuben des 
Willens wider die Aufnahme einer Erkenntnis den Grad, dass jene 
Operation nicht rein durch geführt wird, werden demnach dem 
Intellekt gewisse Vorfälle oder Umschläge völlig unterschlagen, weil 
der Wille ihren Anblick nicht ertragen kann; wird alsdann, 
des notwendigen Zusammenhangs wegen, die dadurch entstandene Lücke 
beliebig ausgefüllt; — so ist der Wahnsinn’ da. Denn der Intellekt hat 
seine Natur aufgegeben, dem Willen zu gefallen: der Mensch bildet 

1) Zweifellos begreift Schopenhauer unter dem Namen „Wahnsinn“ auch 
die Fälle von Psychoneurose, die oft den Psychosen so ähnlich sehen und nament¬ 
lich was das Detail der psychologischen Struktur betrifft, zu seiner Zeit noch nicht 
von eigentlichen Wahnsinn geschieden waren. 

2) Die Hervorhebungen, welche die Übereinstimmung deutlicher machen 
sollen, stammen nicht von Schopenhauer. 



Referate und Kritiken. 


71 


sich jetzt ein, was nicht ist. Jedoch wird der so entstandene Wahn¬ 
sinn jetzt der Lethe unerträglicher Leiden: er war das letzte Hilfsmitte 
der geängstigten Natur, d. i. des Willens. 

Der obigen Darstellung zufolge kann man also den Ursprung des 
Wahnsinns ansehen als ein' gewaltsames „Sich aus dem Sinn 
schlagen“ irgend einer Sache, welches jedoch nur möglich ist 
mittelst des „Sich in den Kopf setzen“ irgend einer andern. Seltener 
ist der umgekehrte Hergang, dass nämlich das „Sich in den Kopf 
setzen“ das erste und das „Sich aus dem Sinn schlagen“ das zweite 
ist. Er findet jedoch statt in den Fällen, wo einer den Anlass, über 
welchen er verrückt geworden, beständig gegenwärtig behält und nicht 
davon loskommen kann: so z. B. bei manchem verliebten Wahnsinn, 
Erotomanie, wo dem Anlass fortwährend nachgehangen wird; auch bei 
dem aus Schreck über einen plötzlichen, entsetzlichen Vorfall ent¬ 
standenen Wahnsinn. Solche Kranke halten den gefassten Gedanken 
gleichsam krampfhaft fest, so dass kein anderer, am wenigsten ein ihm 
entgegenstehender, aufkommen kann. Bei beiden Hergängen bleibt 
aber das wesentliche des Wahnsinns dasselbe, nämlich die Unmöglich¬ 
keit einer gleichförmig zusammenhängenden Rückerinnerung, wie solche 
die Basis unserer gesunden, vernünftigen Besonnenheit ist. — Vielleicht 
könnte der hier dargestellte Gegensatz der Entstehungsweise, wenn 
mit Urteil angewandt, einen scharfen tiefen und Einteilungsgrund des 
eigentlichen Irrwahns abgeben. 

Übrigens habe ich nur den psychischen Ursprung des Wahnsinns 
in Betracht genommen, also den durch äussere, objektive Anlässe 
herbeigeführten. Öfter jedoch beruht er auf rein somatischen Ur¬ 
sachen . Jedoch werden beiderlei Ursachen des Wahnsinns 

meistens von einander partizipieren, zumal die psychische von der 
somatischen. Ich habe die psychische Entstehung des Wahn¬ 

sinns dargelegt, wie sie bei dem, wenigstens allem Anschein nach, 
Gesunden durch ein grosses Unglück herbeigeführt wird. Bei dem 
somatisch bereits stark dazu Disponierten wird eine sehr geringe 
Widerwärtigkeit dazu hinreichend sein. Bei entschiedener körper¬ 

licher Anlage bedarf es, sobald diese zur Reife gekommen, gar keines 
Anlasses. Der aus bloss psychischen Ursachen entsprungene Wahnsinn 
kann vielleicht, durch die ihn erzeugende, gewaltsame Verkehrung des 
Gedankenlaufs, auch eine Art Lähmung oder sonstige Depravation 
irgend welcher Gehirnteile herbeiführen, welche, wenn nicht bald ge¬ 
hoben, bleibend wird; daher Wahnsinn nur im Anfang, nicht aber 
nach längerer Zeit heilbar ist.“ 






72 


Referate und Kritiken. 


Zur Psychologie der Inzestliebe. 

Aus Baudelaire Briefe 1841—1866 (Verlag J. C. C. Bruns, Minden) 

(Seite 204). 

„Was liebt das Kind so leidenschaftlich in seiner Mutter, in seiner 
Wärterin, in seiner Lieblingsschwester? Ist es einfach nur das Wesen, 
das es nährt, kämmt, wäscht und wiegt? Es ist auch die Zärtlich¬ 
keit und die sinnliche Wollust. Dem Kinde wird diese Zärtlichkeit 
ohne Wissen der Frau durch ihre ganze weibliche Anmut offenbar. 
So liebt es seine Mutter, seine Schwester, seine Amme wegen des an¬ 
genehmen Kitzels der Seide und des Pelzwerks, liebt den Duft ihres 
Halses und ihrer Haare, das Klirren des Geschmeides, das Spiel der 
Bänder und so weiter .... diesen ganzen mundus muliebris, der beim 
Hemd anfängt und sich in den Möbeln ausdrückt, denen die Frau das 
Gepräge ihres Geschlechtes verleiht“. Dr. W. St. 

Wilhelm Strohmayer (Jena): Zur Analyse und Prognose psycho- 
neurotischer Symptome. Zeitschr. f. Psychother. und med. Psychol. 
II, 2, 1910; S, 75—92. 

Unter Hinweis auf seine Arbeit „über die ursächlichen Beziehungen 
der Sexualität zu Angst- und Zwangszuständen“ (Journ. f. Psychol. und 
Neurol., Bd. 12, S. 69 ff., 1908) betont Strohmayer nochmals, dass 
sich auf Grund der Psychoanalyse vieler Fälle Beziehungen zwischen 
Angst- und Zwangszuständen einerseits und gewissen schädlichen Formen 
des aktuellen Sexuallebens oder komplizierten psychosexuellen Ursachen 
konstitutioneller Art andererseits nachweisen Hessen. Die Aufdeckung 
der pathogenen psychosexuellen Komplexe sei manchmal sehr schwer 
und der Nachweis ihrer konstituierenden Kraft im Krankheitsbild nicht 
weniger. Als Wege der Psychoanalyse benützt er entweder die direkte 
wahllose Erzählung der Einfälle oder die indirekten der Traumdeutung 
Freuds und des Assoziationsexperimentes Jungs. 

In der vorliegenden Arbeit bespricht Stroh mayer den Heiler¬ 
folg durch die Aufdeckung der sexuellen Genese psychoneurotischer 
Symptome (Angst- und Zwangszustände, hysterische Krankheitserschei¬ 
nungen). 

Bei Masturbation und anderen „Sexualdeiikten in der Anamnese 
von Psychoneurotikern und Vorwürfen darüber erkennt auch Stroh¬ 
mayer einen seelischen Zwist um den Angelpunkt eines unerträglichen 
Vorwurfsgedankens herum und bezeichnet als Grundaufgabe der Be¬ 
handlung seine Lösung. Manchmal genügt dazu eine offene Aussprache 
vor dem Arzt, wie ein Beispiel zeigt. 

Bei einer zweiten Gruppe von Zwangsneurotikern ist nach S. trotz 
Aufdeckung der zweifellos sexuellen Genese jede psychologische Belehrung 


Referate und Kritiken. 


73 


über den Zusammenhang der Verdrängung der Sexualhandlung und der 
neurotischen Symptome ohne irgend einen therapeutischen Erfolg, was 
nach ihm immer dann der Fall sein wird, wenn es nicht gelingt, das 
Missverhältnis von Libido (Sexualforderung) und Sexualablehnung (mora¬ 
lischer Konstitution) auszugleichen. Auch dies wird an einem Falle 
illustriert. 

In einer dritten Gruppe von Fällen von Angst- und Zwangsneurose 
scheitert die Therapie nach St. ebenfalls. Trotzdem ausser etwa Ma¬ 
sturbation und dem damit verknüpften schuldhaften Vorwurfsaffekte kein 
anderer seelischer Kampf dem Patienten bewusst ist und man sich 
alle Mühe gibt beruhigend auf ihn zu wirken wegen seiner vermeint¬ 
lichen Schuld an der Krankheit durch Onanie, kommt es zu keiner 
Heilung auf die Dauer. Gewöhnlich handelt es sich dann nach St. um 
verdrängte Perversionen, in denen die oberflächlich sichtbare 
Masturbation verankert ist. In diesen Fällen sind St. Assoziations¬ 
experiment und Traumdeutung treffliche Führer geworden. 

Ausführlicher teilt St. einen Fall einer typischen Angstneurose 
mit Erwartungsangst, Topophobien und leichter Zweifelsucht mit, in 
deren Ätiologie die Masturbation eine Rolle spielt. 

Das vollständig gegebene Assoziationsexperiment nach Jung 
lieferte St. den Schlüssel zum Verständnis der Neuropsychose; der 
Patient liess 3 Hauptkomplexe erkennen, den stark emotiven Mastur- 
bationskomplex, eine ausgesprochene homosexuelle Neigung und eine 
abnorm starke Gefühls- (Sexual-) Übertragung auf die eigene 
Mutter. In der unbewussten Homosexualität fand St. eine Wurzel 
der masturbatorischen Autoerotik und einen Hinderungsgrund für ihre 
Bekämpfung und ihren Ersatz durch normalen Sexualverkehr. 

Auch in einigen recht durchsichtigen Träumen liess sich die 
homosexuelle Komponente und die Übertragung auf die Mutter klar 
erkennen. 

Über den Heilerfolg auf Grund der Psychoanalyse in solchen 
Fällen spricht sich St. etwas skeptisch aus: die freimütigste theoretische 
Erörterung in der Psychoanalyse schaffe hier oft keine normalen Ver¬ 
hältnisse. 

Über die Grenzen der therapeutischen Möglichkeiten der psych- 
analytischen Behandlungsmethodik lässt sich nach Ansicht von Ref. 
heute wohl schwerlich schon etwas Abschliessendes sagen. Die vor¬ 
liegende Arbeit bringt aber namentlich in ihrem letzten Falle einen 
interessanten Beitrag zur Einsichtsgewinnung in die psychologische 
Struktur einer Neurose auf psychoanalytischem Wege. 

Stockmayr (Tübingen). 



74 


Referate und Kritiken. 


Aus der ungarischen neurologisclien-i)sycliiatrisclien 

Literatur. 

Doz. Dr. J. Salgo, Über Zwangsvorstellungen und Wahn¬ 
ideen. (Gyögyaszat 1908.) 

Eine nicht uninteressante Zusammenfassung der bis zur Psycho¬ 
analyse allein herrschenden Ansichten über diese Themen; der deskriptive 
Teil der Abhandlung enthält auch viele gute eigene Beobachtungen. In¬ 
folge Nichtbeachtung der analytischen Psychologie bleiben aber die Er¬ 
klärungen des Autors dunkel undunzureichend. „Was uns nie bewusst 
gewesen ist, existiert für uns gar nicht“ .... und „was dem Bewusst¬ 
sein entfallen ist, spielt im Seelenleben keine Rolle“. Kein Wunder, dass 
ein solche Geringschätzung des Unbewussten den Autor zum irrigen 
Glauben führt, dass bei einer Zwangsvorstellung das Angstgefühl vom 
begleitenden Vostellungsinhalt ganz unabhängig ist, dass in der Patho¬ 
genese nebst der Konstitution Ermüdung und körperliche Krankheiten 
die Hauptrolle spielen und dass die Prognose der Zwangsneurose — was 
die Heilung anbelangt — eine schlechte ist. 

Dr. J. Hollös und Dr. K. Eisenstein (Szeged). Tuberkulose und 
Menstruation (Gyögyaszat 1908). 

Die Autoren versuchten in grossem Massstabe und bei den ver¬ 
schiedensten, auch nervösen Zuständen das S p e n g 1 e r sehe Tuberkulose- 
Serum und fanden es besonders bei dysmenorrhoischen Zuständen 
ausserordentlich häufig von günstiger Wirkung. (Da gerade diese Zu¬ 
stände bei neurotischen Patientinnen so häufig Vorkommen, ist es gut, 
auch die von den Autoren etwas einseitig betonte Möglichkeit: latente 
Tuberkulose, in Betracht zu ziehen. Ref.) 

Dr. A. Inselt, Züchtung der sexuellen Neurasthenie 
(Gyögyaszat 1908). 

Der Autor, obzwar selbst Urologe, zieht mit anerkennenswerter 
Objektivität gegen die lokaltherapeutische Polypragmasie seiner engeren 
Kollegen zu Felde und beschreibt deren verheerende Folgen für das 
Gemütsleben der Patienten. 

Dr. S. Ferenczi (Budapest), Das manisch-depressive Irresein 
in subjektiver Beleuchtung (Gyögyaszat 1908). 

Ein noch recht mangelhafter Versuch die Symptome einer Psychose 
analytisch zu deuten. Der intelligente Patient (Arzt) war nach ein¬ 
getretener Heilung seiner psjchatrischen Anfälle in der Lage die psychi¬ 
schen Determinanten seiner in den Anstaltsprotokollen als „motorische 
Unruhe“, „Verbigeration“ etc. verzeichneten Handlungen und Reden an¬ 
zugeben. (Übrigens hat der Autor inzwischen auch seine Ansicht über 
die Diagnose dieses und ähnlicher Fälle ändern müssen; er folgt auch 


Referate und Kritiken. 


75 


darin Freud, dass er nicht mehr recht an die Existens eines von andern 
Neurosen und Psychosen unabhängigen manisch-depressiven Irreseins im 
Sinne Kraeplins glaubt und hält den Fall für eine cyklothymisch 
gefärbte Dementia praecox.) Autoreferat. 

Prof. l)r. J. Donath (Budapest), Über hysterische lethargische 
Zustände (Orvosi Hetilap 1908). 

Der Autor beschreibt einen schönen Fall von hysterischer Narko¬ 
lepsie; da er aber auf die Analyse verzichtet, vermehrt er ohne ersicht¬ 
lichen wissenschaftlichen Gewinn das Raritätenkabinett hysterischer 
Zustandsbilder. Donath ist sicher im Unrechte, wenn er in seinem Falle 
die Autohypnose aus dem Grunde ausschliessen zu können glaubt, weil 
die Patientin während der lethargischen Anfälle nicht suggestibel ist. Die 
Unempfänglichkeit für äussere Einflüsse ist eher ein Argument für das 
Bestehen einer autohypnotischen Verzücktkeit. 

Dr. J. Zsakö (Kolozsvar), Über graphologische Diagnose (Orvosi 
Hetilap 1908). 

Interessante Schriftproben und Zeichnungen aus dem Irrenhause, 
die der analytischen Deutung würdig wären. (Es wäre überhaupt an der 
Zeit, dass psychologisch geschulte Kollegen sich dieses ergiebigen Themas 
bemächtigten und die Schrift- und Zeichendeutung bei Geisteskranken, 
bei spiritistischen Medien, bei den verschiedenen Charaktertypen etc. 
mit Hilfe der Analyse auf festere Grundlagen stellten. Ref.) 

Dr. S. Ferenczi (Budapest), Über die Bedeutung der Ejaculatio 
praecox (Budapesti Orvosi Ujsäg 1908). 

Verf. hebt die ungemein häufige Kombination: neurasthenischer 
Mann, angstneurotische Frau hervor. Er behauptet, dass auch die nicht- 
neurasthenischen Männer, also das ganze männliche Geschlecht im Ver¬ 
hältnis zur Frau an Ejaculatio praecox leiden und ein sehr hoher 
Prozentsatz der Frauen überhaupt nie sexuell befriedigt werde, jeden 
sexuellen Akt geradezu als unangenehme Zugabe des Ehelebens betrachte. 
Es sei oft schwer zu sagen, ob es sich um zu rasch eintretenden Orgasmus 
des Mannes, oder um Orgasmus tardivus der Frau handle. Merkwürdiger¬ 
weise habe dieselbe Schädlichkeit, die Onanie, beim Manne verfrühten, 
beim Weibe verspäteten Orgasmus zur Folge. Unter den psychischen 
Ursachen des Orgasmus tardivus beim Weibe komme Erziehungseinflüssen 
die grösste Bedeutung zu. Die weibliche Erziehung sei zu sehr auf die 
Triebverdrängung aufgebaut, und diese gelingt in sehr vielen Fällen zu 
gut: die inneren Widerstände bleiben auch nach Aufhören der äusseren 
Hindernisse der sexuellen Befriedigung bestehen, die Frau wird an- 
aesthetisch. Der Unterschied in der Höhe des auf dem Sexualleben beider 
Geschlechter lastenden Druckes sei offenbar zu gross und das sei die 


76 


Referate und Kritiken. 


Hauptursache des orgastischen Dyschronismus, eines sozialen 
Übels von nicht zu unterschätzender Bedeutung. 

Dr. S. Ferenczi (Budapest): Über Psychoneurosen (Aus 
dem Vortrags-Zyklus des Budapester Ärzte-Vereins 1908). Der Vortr. 
plädiert zunächst für die Aufrechterhaltung der Scheidung der nur 
introspektiv-psychologisch zugänglichen Psychoneurosen von den 
Aktualneurosen, die er Physioneurosen nennen möchte. Diese 
dualistische Behandlungsweise sei die einzig ehrliche, während die an¬ 
geblich anatomisch-physiologische oder energetische Behandlung psycho¬ 
logischer oder psychopathologischer Fragen nur die Einkleidung intro¬ 
spektiv gewonnener Kesultate in eine naturwissenschaftliche Terminologie 
sei. Infolge dieser seit langem herrschenden Verirrung sei die reine 
Psychologie und Psychopathologie in die Hände der belletristischen 
Schriftsteller geraten, die zwar mit vielen Irrtümern gemengte, aber doch 
die offenkundige Wahrheit predigten, während die wissenschaftliche 
Psychologie sich in sogen, exakten, in Wirklichkeit aber inhaltsleeren 
Experimenten verlor. Freuds Verdienst sei es, dass er das noch 
unzeitgemässe Experiment fallen liess und zur Beobachtung 
zurückkehrte. 

Vortragender geht dann im Einzelnen auf die von Freud gefun¬ 
denen „Mechanismen“ (Konversion, Substitution, Projektion, Interesse- 
Entziehung) ein und erklärt an der Hand derselben die Symptome der 
Hysterie, der Zwangsneurose, der Paranoia und der Dementia praecox, 
und versucht dann mit Hilfe dieser bisher in der Wissenschaft un- 
gekannten psychischen Prozesse auch die innerhalb der „Normal-Breite“ 
zu konstatierenden Charaktertypen zu erklären. Nach kurzem Streifen 
der Frage nach den konstitutiven- und Erziehungsfaktoren in der 
Genese der Psychoneurosen geht er ausführlicher auf die der Therapie 
ein. Die körperliche Kräftigung (z. B. Überernährung) des 
Neurotiker sei höchstens etwa als Adjuvans der Psychotherapie von 
Wert. Ortsveränderung wirke meist günstig, weil die Patienten 
dadurch aus dem für sie differenten Milieu flüchten (Nachahmung des 
Verdrängungsmechanismus); der Rückfall stelle sich beim ersten Konflikt 
zu Hause prompt ein. Hypnose und Suggestion seien verkappte 
„Übertragungsmassnahmen“ und als solche mehr—minder vorübergehend 
wirksam. Verblasst die Autorität und der Zauber des Hypnotiseurs, 
so wird der Patient rezidiv. Das Sanatorium sei die Kombination 
von Heimflucht und Suggestion; die grösste Heilpotenz im Sanatorium 
sei die energische oder liebenswürdige Persönlichkeit des Anstaltsleiters, 
zu dem die Patienten (und Patientinnen) immer wieder zurückkehren. 
(Sanatoriumsucht.) Ganz wirkungslos findet dagegen Vortrageuder 
die angeblich erklärende in der Tat aber nur moralisierende „Thera- 


Referate und Kritiken. 


77 


p i e“ von D u b o i s , die die Patienten entweder auslachen oder als 
Verhöhnung ihres Zustandes auslegen. 

Die Beschäftigungkuren seien gut nach vollendeter Heilung 
zum Erlernen der Sublimierung der Triebe; floride Neurosen sind 
gegen diese Art Ablenkung refraktär. 

Die physikalischen Heilmethoden wirken als Suggestions¬ 
vehikel vorübergehend gut; sie seien zum Teil verkappte Lustbefrie¬ 
digungen und wirken als solche entspannend. Doch weder von diesen, 
noch von den hunderterlei Medikamenten könne in schweren Fällen 
die Heilung erwartet werden. 

Nach Ausschluss all dieser Methoden weist der Vortragende auf 
die als einzig rationelle übrigbleibende analytische Psychotherapie hin, 
bei der die Heilung auf die eingehende und meist schwierige Diagnose 
des psychischen Zustandes gegründet ist, während die übrigen thera¬ 
peutischen Methoden „im Finstern“ arbeiten und die eingeklemmten 
Komplexe — wie der schlechte Chirurg eine inkarzerierte Hernie — 
„en masse“ reponieren wollen. 

Zum Schluss berührt Vortragender die Frage nach der Prophylaxe 
der Psycho-Neurosen. Durch die Analysen werden seiner Ansicht nach 
auch die erzieherischen und sonstigen sozialen Schäden aufgedeckt, 
deren Abschaffung einer wirksamen Prophylaxe der Neurosen gleichkomme. 

(Autoreferat). 

Dr. J. Holles, Budapest. Über psychische Kompensation. 

(Gyogyaszat 1909.) 

Auf Grund eigener Beobachtungen kommt der Verfasser dieser 
Arbeit zu Schlüssen, die die Psychoanalyse, insbesondere die diesbezüg¬ 
lichen Untersuchungen Adlers längst als richtig erwiesen haben. Wir 
wissen längst, dass Psychoneurotiker und Psychopathen sich selbst 
behandeln und wenn sie der schwachen Punkte ihres Gemüts oder 
ihrer Intelligenz bewusst werden, sich den Konflikten mit der Aussen- 
welt durch kompensatorische Änderung ihrer Lebensweise und ihrer 
Umgebung zu entziehen suchen. Auch die Arbeiten von Anton und 
0. Gross haben den Begriff der psychischen Kompensation in klarer 
und geistvoller Weise präzisiert. Der Verfasser ergänzt diese Fest¬ 
stellungen durch eigene gute Beobachtungen. Er hat sicherlich Recht, 
wenn er die meisten aus den Anstalten entlassenen Patienten nicht für 
„geheilt“, sondern für „kompensiert“ ansieht. 

Dr. 31. Farkas (Budapest). Über die Kombination von Hydro¬ 
und Psychotherapie. (Budapesti Orvosi Ujsag 1909.) 

Verfasser beklagt sich zunächst darüber, dass die Patienten mit 
immer mehr medizinischen Kenntnissen zum Arzte kommen, was 
dem Effekt der Hydrotherapie abträglich sei. Ohne einzugestehen, dass 


78 


Referate und Kritiken. 


die Wasserprozeduren hauptsächlich psychisch wirken, gibt er der 
Überzeugung Ausdruck, dass Hydro- und Psychotherapie Hand in 
Hand gehen müssten. Bezüglich der zu wählenden psychotherapeutischen 
Methode verhält er sich eklektisch, lässt aber den Lehren Freuds 
und der Psychoanalyse Gerechtigkeit widerfahren. Minder gelungen 
sind die theoretischen Einwände gegen die Analyse, sie zeigen, dass 
der Verfasser noch nicht genug praktische Erfahrung in dieser For¬ 
schungsmethode gesammelt hat. Ferenczi. 

Psychische Grenzzustände von Dr. Karl Pelmann. 2. Auflage, 
Fr. Cohen Bonn 1910 {316 S.). 

Ein Buch des bekannten Psychiaters, für gebildete Laien ge¬ 
schrieben. Grosse ärztliche Erfahrung, ein überragendes kultur-histori¬ 
sches Interesse und ein sicheres Auge für die Grenzgebiete der Patho¬ 
logie charakterisieren seine Arbeit. Sprachgewandt und geistreich in der 
Betrachtung seiner Probleme verfolgt er die Fäden, die sich vom Seelen¬ 
leben des Normalen zu den pathologischen Erscheinungen spinnen, ver¬ 
folgt sie auch bis zu jener tieferen Schicht, wo das Unbewusste und die 
organische Minderwertigkeit sich geltend machen. Vielfach sind ihm 
Vererbungstendenzen ausschlaggebend, ohne dass ihre subjektive 
Seite, das Gefühl der Minderwertigkeit, in Rechnung gezogen 
wird. So bleibt auch die Dynamik der ,,Grenzer“, ihr 
zwangsmässiger männlicher Protest, im Dunkel und wird 
nur als Eigenschaft, angeboren und fast unkorrigierbar, betrachtet. 
Das Affekt- und Triebleben wird gleichwohl stets in Rechnung gestellt 
und die Bedeutung des Sexualtriebs hervorgehoben. Und der Autor 
versteht seine Beobachtungen und Erfahrungen so umsichtlich und auf¬ 
bauend zu entwickeln, dass sie als Material für Psychologen, Pädagogen 
und für den Psychoanalytiker grossen Wert erlangen. 

Die Bedeutsamkeit des behandelten Stoffes zeigt das reiche Inhalts¬ 
verzeichnis an. Der Autor behandelt alle Probleme, die für die psycho¬ 
analytische Wissenschaft so wertvolles Untersuchungsmaterial abgegeben 
haben: Der Verbrecher — Selbstmord — Königsmörder — 
Cäsarenwahnsinn — Sexuelle Abnormitäten — Trinker — Lum¬ 
pen, Bummler und Vagabunden — Lügner, Queralanten — Affekte 
und Leidenschaften — Geiz und Eifersucht — Sonder¬ 
linge und Narren — Zwangsvorstellungen — Hypnotismus — 
Das Genie — Mystik und Ekstase — Seher und Propheten — 
Hexen und Besessene — Psychische Volkskrankheiten. 

Gegenüber diesem mit Scharfsinn und Umsicht geordneten 
Material, mit überreichlichen historischen Einzelheiten ausgestattet, 
möchte sich Referent erlauben, auf den von ihm aufgedeckten Mecha¬ 
nismus des „psychischen Hermaphroditismus mit folgen- 


Dichters teilen. 


79 


dem männlichen Protest“ hinzuweisen, dem sich alle Grenzfälle, 
einschliesslich der Neurosen, fügen. Die Übertreibung des männlichen 
Protestes kann sich im Wollen, Denken, Phantasteren oder Handeln 
zeigen und lässt uns die Zielvorstellung als abnormal empfinden. Oder 
es gelangen ausserordentlich übertriebene „Sicherungstendenzen“ 
gegen die Zielvorstellung an die Oberfläche, dass man daraus den Ein¬ 
druck des „Absonderlichen“ gewinnt. — Das Kapitel über „Zwangs¬ 
vorstellungen“ wird den psychoanalytischen Arzt vor allem interessieren. 
Pelmann geht mannhaft aufs „Unbewusste“ los und weist auch auf 
ähnliche Erscheinungen im Bereich des Normalen hin. Die vorgelegte 
Kasuistik ist reich und wertvoll, und lässt den erwähnten „Zwangs¬ 
mechanismus“ allenthalben durchblicken, insbesondere die männlichen 
Linien in ihrer Steigerung zum Zwang. Die Entwickelung des 
Zwangsneurotikers aus dem psychischen Herrnaphroditen 
ist zuw r eilen greifbar zum Ausdruck gebracht, so insbesondere in dem 
prächtigen Zwangsgrübler Meschedes, der unter anderem frägt: ob 
man auch Zwitter produzieren könne, ob es auch beim weiblichen 
Geschlecht schlechte Waden gebe, und ob man sie durch Zucht ver¬ 
bessern könne. Adler. 


Dichterstellen. 

Man merkt sehr häufig in der Psychoanalyse, dass die Kranken 
auf die Angstzustände nicht verzichten wollen, weil sie ihre libidinösen 
Begungen vorstellen und sie ohne dieselben nicht leben können: 

„Der Mensch gibt ebenso schwer eine Furcht auf, wie eine 

Hoffnung“ 

sagt Otto Ludwig in: „Zwischen Himmel und Erde“. 

Zum Kapitel Traum und Dichtung (aus Friedrich Hebbel): 

a) In den Dichtern träumt die Menschheit. 

b) „Man kann sich aufs Dichten so wenig vorbereiten, wie aufs 
Träumen.“ 

c) „Die Höhe der Kultur ist die einzige, zu der viele Schritte 
hinauf führen und nur ein einziger herunter.“ 

Zum Thema der Identifizierung (Hebbel): 

„Lieben heisst in dem andern sich selbst erobern.“ 

Zum Thema der Psychoanalyse und zur Psychologie ihrer Gegner. 

a) Menschliche Verhältnisse haben nur so lange Peinliches für 
mich, als ich sie nicht durchschaut, als ich nicht erkannt habe, 
dass sie auf die Natur basiert sind. 


80 


Dichterstellen. 


b) Menschen, die in ihrer Tugend einen Freibrief zur Jagd auf die 
Laster der andern sehen, sind nur tugendhaft geblieben, um 
Scharfrichter vorstellen zu können. 

Friedrich Hebbel „Tagebücher“. 

Zum gleichen Thema (Nietzsche): 

a) „Wissend reinigt sich der Leib; mit Wissen versuchend erhöht 
er sich; dem Erkennenden heiligen sich alle Triebe; dem Er¬ 
höhten wird die Seele fröhlich.“ 

b) Für seinen Eigner ist nämlich alles Eigene gut versteckt; und 
von allen Schatzgruben wird die eigene am spätesten aus¬ 
gegraben. 

c) Aber die Menschheit ist schwer zu tragen! Das macht, er 
schleppt zu vieles Fremde auf seinen Schultern. Dem Kamele 
gleich kniet er nieder und lässt sich Gut aufladen. 

d) Der Mut schlägt auch den Schwindel tot an Abgründen und 
wo stünde der Mensch nicht an Abgründen! Ist Sehen nicht 
selber — Abgründe sehen? 

e) Was gross ist, dafür ist das Auge des Feinsten heute grob. 

Aus „Also sprach Zarathustra“ 
Dr. W. St. 


V a r i a. 

Die „Wiener Psyhoanaly tische Vereinigung“ hat ihre wissenschaft¬ 
liche Tätigkeit am 5. Oktober im Vortragssaale des „Wiener mediz. 
Doktoren-Kollegiums“ mit einer Diskussion über „Das einzige Kind“ 
begonnen. Referenten waren die Kollegen Dr. Sa dg er und Dr. Fried¬ 
jung. Wir werden über die Arbeiten der Vereinigung fortlaufend 
referieren. 


An unsere Mitarbeiter! Die Fülle des eingelaufenen Materials 
zwingt uns, die geehrten Mitarbeiter zu ersuchen, ihre Originalarbeiten 
womöglich nicht über einen Druckbogen auszudehnen. Autoreferate 
andernorts erschienener Arbeiten werden möglichst rasch erbeten. 

Dr. Alfred Adler, Dr. Wilhelm Stekel, 

Wien II, Praterstrasse 42. Wien I, Gonzagagasse 41. 





Verlag von J. F. Bergmann in Wiesbaden. 


Sexualleben und Nervenleiden. 


Die nervösen Störungen sexuellen Ursprungs. 

Von 

Dr. Leopold Loewenfeld, 

Spezialarzt für Nervenkrankheiten in München. 

Vierte, völlig umgearbeitete und sehr vermehrte Auflage. 

Preis M. 7,—. Gebunden M. 8.—. 

Über das 

Eheliche Glück. 

Erfahrungen, Reflexionen und Ratschläge eines Arztes. 

Von Dr. med. L. Loewenfeld in München. 

Zweite Auflage . — Biegsam gebunden. 

Preis gebunden Mk . 5 .—. 

• • 

Uber die Dummheit. 

Eine Umschau 

im Gebiete menschlicher Unzulänglichkeit. 

Von 

Dr. Leopold Loewenfeld, 

Spezialarzt für Nervenkrankheiten in München. 

Preis kartonniert Mk. 5 .—. 

Grundriss 

der 

Stoffwechselkrankheiten 
und Konstitutionsanomalien 

unter besonderer Berücksichtigung ihrer 
physikalisch-diätetischen Behandlung. 
Von Dr. med. Arnold Wilke, 

leitendem Arzte des Sanatoriums „Kurhaus Taunusblick“ zu Königstein im Taunus. 
Mk. 6. —, gebunden Mk. 7 .—. 













Inhalts-Verzeichnis des I/II. Heftes. 

Seite 

An unsere Leser. . I 

Originalarbeiten: 

I. Die zukünftigen Chancen der psychoanalytischen Therapie. Von Sie gm. 

Freud. 1 

II. Die psychische Behandlung der Trigeminusneuralgie. Von Dr. Alfred 

Adler in Wien. 10 

III. Zur Psychologie des hysterischen Madonnenkultus. Von Dr. Oskar 

Pfister, Pfarrer in Zürich.80 

3iitteilungen: 

I. Der Neurotiker als Schauspieler. Von Dr. Wilhelm St ekel. . 38 

II. Ein Beispiel von Versprechen, (ei — bei — brei — blei.) Von Dr. 
WilhelmStekel .40 

III. Beispiele des Verrats pathogener Phantasien bei Neurotikern. Von 

Sigm. Freud . 43 

IV. Typisches Beispiel eines verkappten Ödipustraumes. Von S i gm. Freud 44 

V. Zur Differentialdiagnose organischer und psychogener Erkrankungen. 

Von Dr. Wilhelm Stekel .45 

Referate. Kritiken und Grenzgebiete: 

Bethe, Die dorische Knabenliebe .47 

Neutra, Briefe an nervöse Krauen.49 

Claparede, Die Psychoanalyse. 50 

Maeder, La langue d’un aliene ..50 

Varendonck, Les Ideals d’enfants. 51 

Katzaroff, Qu’est-ce que les enfants dessinent.52 

Royer-Dupouy, Charles Bandelaire.53 

Freud, Leonardo da Vinci.54 

Hirschfeld, Die Transvestiten.55 

Vogt, Die Epilepsie im Kindesalter. 58 

Strohmayer, Psychopathologie des Kindesalters.59 

Pollak. The Hygiene of the Soul.61 

Löwenfeld, Traumartige Zustände.61 

Schubert, Gegensinn der Urworte.63 

Grillparzer, Tagebuchstelle. 66 

Aigr emo nt, Rechts und links.67 

Guttceit, Abstinenz .'. 68 

Schopenhauer, Über deu Wahnsinn.*.69 

Baudelaire, Über Inzestliebe.72 

Strohmayer, Psychoneurotische Symptome.72 

Sa Igo, Zwangsvorstellungen.74 

Hol lös und Eisenstein, Tuberkulose und Menstruation .... 74 

In seit, Sexuelle Neurasthenie.74 

Ferenczi, Manisch-depressives Irresein.74 

Donath, Lethargische Zustände.75 

Zsakö, Graphologische Diagnose .75 

Ferenczi, Ejaculatio praecox . . 75 

Ferenczi, Psychoneurosen. 76 

Holles, Psychische Kompensation.77 

Farkas, Hydro- und Psychotherapie. 77 

Pelmann, Psychische Grenzzustände. 78 

Dicht erstellen: Otto Ludwig, Hebbel, Nietzsche.79 

Varia:.80 


Druck der Königl. ünivereitätsdruckerei H. Stürtz A. G., Würzburg.