a Oktober 1927 2 eh
NN
Zeitschrift für
| pschoanaiche |
Pädagogik
Unter Mitwirkung von
August Aichhorn / Lou Andreas-Salome& / Siegfried Bernfeld / Marie Bonaparte / Mary Chadwik
Wien Göttingen Berlin Paris London
M. D. Eder / Paul Federn / S. Ferenczi / Anna Freud / Josef K. 1 SCAjUnR / Albert Furrer |
London Wien Budapest Wien Zürich
Wilh. Hoffer / Karl Landauer / Barbara Low/C. NE Oxkai Pfister/ Jean Piaget
. Wien Frankfurt aM, London Berlin Zürich Neuchätel
. Vera Schmidt / A.J. Storfer / Alfhild Tamm / Fritz Wittels / M. Wulff / Hans Zulliger
Moskau Wien Stockholm ‚Wien Moskau BER neh
herausgegeben von
Dr. Meisrich Meng und Dr. Ernst Schneider
Arzt in Stuttgart | Universitätsprofessor in Riga
Inhalt: Meng: Psychoanalyse und Volk / Tamm:
Drei Fälle von Stehlen bei Kindern / Schneider:
Zur Psychologie des Lausbuben / Zulliger: Heilung
eines Prahlhanses / Boehm: Ein verlogenes Kind /
Friedjung: Wäschefetischismus bei einem Finjährigen /
Offene Halle (Psychoanalyse und Weltanschauung)
*
Verlag der Zeitschrift für psychoanalytische Pädagogik
Wien, VII, Andreasgasse 3
En en
Zeitschrift für psychoanalytische Pädagogik
12 Hefte jährlich: M. 10°- (schweiz. Frk. 1250). Der Jahrgang beginnt im Oktober
Einzelheft M. 1'- (schweiz. Frk. 1'25)
Alle geschäftlichen Zuschriften sind zu richten an den
„Verlag der Zeitschrift für psychoanalytische Pädagogik“
Wien, VIl., Andreasgasse 3,
alle für die Schriftleitung bestimmten Zuschriften, Manuskripte, Rezensionsexemplare an
Dr. med. Heinrich Meng, Stuttgart, Sonnenbergstraße 6D, oder an
Univ.-Prof. Dr. Ernst Schneider, Riga, Wisby-Prospekt 14, Waldpark
Mit diesem Heft beginnt der II. Jahrgang. Wir ersuchen unsere Abon-
nenten, insoferne sie es noch nicht getan haben, das Abonnement für
den II. Jahrgang (Okt. 1927 bis Sept. 1928), bzw. nach Belieben nur
für das erste Halbjahr des II. Jahrganges (Okt. 1927 bis März 1928) zu
begleichen. Zahlungen durch Postan weisung, Bankscheck oder durch
Einzahlung auf eines der
Postscheckkonti des „Internationalen
Psvchoanalytischen Verlages in Wien“:
Postscheck- Leipzig Zürich Wien Prag Budapest
Konto 95.112 VIII, 11.479 71.633 79.385 51.204
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abonnement 10 — 12'50 17 — 80 — 13'60
Halbjahresabonnement = die Hälfte obiger Beträge
Einzelheft M. I’— (schw. Frk. I'25)
a ee
Einbanddeken zum I. Jahrgang in Halbleder können vom „Verlag der
Zeitschrift für psychoanalytische Pädagogik“ zum Preise von Mark 3'20
(schw. Frk. 4’—) bezogen werden Ä
Preis des I. Jahrganges in Halbleder gebunden M. 13:60 (schw. Frk. I17’—
a
Diesem Heft ist ein Prospekt des Internationalen Psychoanalytischen Verlages in Wien über die Serie
„Imago-Bücher“ beigelegt, ferner einem Teil der Auflage ein Prospekt von Julius Klinkhardt, Verlags-
Buchhandlung in Leipzig, über die Schriftenreihe „Pädagogium“
/um zweiten Jahr
Mit dieser Nummer tritt unsere Zeitschrift ins zweite Jahr
(Oktober 1927 bis September I 928). Das Programm des neuen
Jahrganges sieht zwei Sonderhefte, ähnlich demjenigen über
„Sexuelle Au (fklärung“, vor. Das erste wird im Januar Arbeiten
über „Onanie“ bringen und das zweite im Sommer über „Stottern“
unterrichten. Das Sonderheft „Onan ie“ möchte die bekannte
„Diskussion der Wiener psychoanalytischen Vereinigung“ (ver-
öffentlicht bei Bergmann, Wiesbaden) aus dem Jahre 1912 fort-
setzen. Seither hat die Psychoanalyse bedeutende wissenschaft-
liche Fortschritte gemacht und die Erfahrungen sind reicher
geworden. Die damaligen Diskussionsredner sind eingeladen
worden, sich in unserer Sondernummer neuerdings zu äußern.
Auch unsere Mitarbeiter laden wir hiezu ein. Wer unter den
Lesern etwas Wertvolles zum genannten Thema zu sagen hat,
möge seine Einsendung bis Mitte November an Schneider, Riga,
gelangen lassen. — Wer Gelegenheit hatte oder noch hat,
Stotterer analytisch zu behandeln, ist gebeten, auch an das
zweite Sonderheft zu denken. Wir werden uns überhaupt bemühen,
die einzelnen Nummern möglichst einheitlich zu gestalten. So
behandelt die vorliegende erste des neuen Jahrganges vorzugs-
weise „Kinderfehler“. Zu einem Heft „Nacktheit und Erziehung“
liegen auch schon Beiträge vor.
Unsere Leser und Mitarbeiter bitten wir, das bisherige Interesse
auch auf den neuen Jahrgang der Zeitschrift zu übertragen und
ihr weitere Leser zuzuführen.
Schriftleitung und Verlag
Psychoanalyse und Volk
Von Dr. med. Heinrich Meng, Stuttgart
Siemund Freuds Einfluß auf die Einstellung der Einzelnen und der
Gemeinschaften zu ihrer menschlichen Niedrigkeit und Größe, zu ihrer
Dumpfheit und Leidenschaftlichkeit, zu ihrer Zwietracht und Einheit
wäre ein interessantes Problem der Untersuchung. Der Soldat, der Student,
der Arzt, der Pfarrer, der Lehrer, das Kind — vor dreißig Jahren, als
Freud anfıng, sein Werk aufzubauen — und jetzt! Ich schlage zehn
beliebige Bücher auf, sehe zwanzig Zeitschriften durch, frage dreißig
Menschen verschiedener Stände: In vier Büchern — einem Geschichtswerk,
einem soziologischen Buch, einer Novelle, einem Fachbuch für Ärzte —
nimmt man Stellung zu Freud oder schöpft aus ihm. In sieben Zeitschriften
wird Freud zitiert, kritisiert, abgeschrieben, anerkannt, überholt, lächerlich
gemacht, vertanden, Unter dreißig Zeitgenossen wissen dreizehn etwas von
Freud oder Psychoanalyse, haben sieben die Assoziation Sexualität, einer
murmelt etwas von Komplexlehre und Verdrängung; der nächste hat eine
Tante, die bei einem Freud-Schüler ihre Angstneurose verlor, — er zollt
dem Meister „alle Achtung“, — der zehnte ist ein Arzt, der meint, die
Wissenschaft hätte viel von Freud gelernt, nur solle der alte Herr die
Laienanalyse verdammen, statt sie gutzuheißen; eine junge Frau, die seit
der Lektüre von Freuds „Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse“
auf das Versprechen und Vergessen ihrer Freundinnen achtet, behauptet,
dadurch ohne weiteres die echten von unechten trennen zu können; der
zwölfte ist ein junger Pädagoge, der die Analyse anzuerkennen geruht, aber
die Synthese vermißt; eine Dame, die sehr erfüllt ist von einigen Vor-
trägen, die sie kürzlich über Freud gehört hat, mag nur das Wort „Psycho-
analyse“ nicht gerne, weil es „Seelenzerstörung“ heiße. Dann frage ich noch
meinen dreizehnjährigen Sohn, er antwortet kurz: ich schlage dir selbst eine
Psychoanalyse vor, während mein Vierjähriger Freuds Trieblehre bestätigt
und ohne Achtung vor dem Werturteil der Erwachsenen versucht, mittels
einer Gabel in das Innere eines Diwans zu dringen.
Die Frage, wieviel Freud beiträgt zur Lösung der nein Ängste
des Einzelnen, zur Bekämpfung des Faustrechtes in der Wissenschaft, der
Anarchie in der Wirtschaft und Politik, einer Pädagogik, welche in
der Diktatur der erwachsenen Kinder über die unerwachsenen besteht,
bedürfte einer umfassenden Bearbeitung. Die Spannung zwischen Freud
und den Lebenden ist so intensiv, daß sie als geschichtliche Wirkung
zutage treten muß. Die moralische Bloßstellung kleinlicher Gegner
und der Abfall, zu der sich einzelne aus Notwehr gedrängt fühlen, weil
sie Freuds Führerschaft nicht ertragen konnten und seine menschlichen
Schwächen nicht ertragen zu können glaubten, sind sehr verständliche
Vorkommnisse einer wissenschaftlichen Kriegs- und Nachkriegszeit. Der
Kampf um das Fundament der neuen Lehre vom Menschen ist jedoch
als beendigt anzusehen. Wir wissen noch nicht die Zahl und die Dimension
der Stockwerke, doch gibt uns Freud Hoffnung auf eine klare Architektur.
Noch hat aber Deutschland keine Professur der Medizin, der Pädagogik,
der Natur- und Geisteswissenschaften, von der aus Psychoanalyse vor-
getragen wird. In ärztlichen Gesellschaften, in pädagogischen Tagungen,
in politischen Diskussionsabenden, in Vorlesungen über Psychiatrie, in
Veranstaltungen der „Urania“, in Frauenklubs und wohl noch da und dort
hört man von Psychoanalyse. Soll das Volk — der Nichtarzt —
überhaupt davon hören? Wenn Nietzsche recht hat, daß
jeder sich selbst der Fernste ist, und wenn es richtig ist, daß Einsicht
und Einfühlung in uns selbst die Ferne mindern, dann ist es höchste Zeit,
daß ein „Laie“ sich außer um Essen, Musik, Baukunst, Tierzucht, Relativitäts-
theorie, Religion auch um Psychoanalyse kümmert, schon weil er Triebe
und Verstand besitzt und mit diesen Mann, Frau, Geliebte, Kinder zu eigen
nimmt und sie sein eigen nennt.
Als erster Versuch in Deutschland', durch systematische Vorlesungen
und Kolloquien Eltern, Ärzte, Lehrer, Pfarrer, Pädagogen einzuführen in
psychoanalytisches Denken und Wissen unter besonderer Berücksichtigung
der Pädagogik, wurde im August 1927 in Stuttgart eine sechs-
tägige „Psychoanalytische Woche“ veranstaltet. Sie stand unter
Leitung von Heinrich Meng (Stuttgart) und Ernst Schneider (Riga)
und unter Mitwirkung einzelner Mitarbeiter der „Aeitschrift für psycho-
analytische Pädagogik“ und des „Psychoanalytischen Volksbuches“. Wer kam?
72 Hörer, darunter ı2 Ärzte, 6 Schwestern und F ürsorgerinnen, 3 Studenten,
etwa 30 Berufserzieher wie Rektoren, Lehrer von höheren Schulen, Volksschulen,
Landerziehungsheimen, die übrigen 2ı waren Mütter, Väter, Künstler,
auch Menschen, welche analysiert waren und die Psychoanalyse in ihrer
weiteren Entwicklung verfolgen. Wie hatten die Hörer erfahren, daß ein
Kurs stattfand? Einer hatte sich ein Brot gekauft und das Einwickelpapier
studiert, das war ein verirrtes Kursprogramm, einer hatte durch den
Zimmernachbar davon gehört, ein anderer hatte den Lehrer seines Kindes
gefragt, was er ihm vorschlage, gegen gelegentliche Diebstähle seines
Kindes zu tun. Antwort: Hören Sie an, was Bernfeld über die Eltern
sagt, Sie selbst werden sich dann bessern und damit Ihr Kind! Die meisten
hatten aus der Fach- oder Tagespresse vom Kurs gehört. Die Hörer ver-
säumten keine der Vorlesungen, die täglich von 8 bis !/g2 Uhr stattfanden,
und besuchten in voller Zahl die Nachmittagskolloquien von 5 bis 7. Bern-
feld, Landauer, Meng, Pfister, Schneider, Zulliger trugen
in buntem Wechsel Theorie und Praxis vor: Dressur, Erziehung, Führung,
Psychoneurosen, Pubertätspsychologie, Psyche und innere Sekretion, Kinder-
ı) In der Schweiz wurden solche Kurse in den Jahren 1916—ı922 von Prof.
Schneider organisiert.
analyse, die Freud’schen Begriffe: Bewußtes, Unbewußtes, Ich, Über-Ich ;
tiefenpsychologische Schülerberatung, der Psychoanalytiker als Helfer, Führung
von Volksschulklassen nach psychoanalytischen Gesichtspunkten, das sind
einige Schlagworte aus den Vorträgen. Die Hörer zeigten das regste Inter-
esse und harrten bis zur letzten Stunde vollzählig aus. Die Kolloquien waren
mit wichtigen Fragen, wie Vererbung, Konstitution, Angst, Soziologie, Prügel-
strafe, Montessori-Erziehung, ausgefüllt.
Was machte die Tagespresse mit dem Kurs? Einzelne Zeitungen hatten
Korrespondenten, die — ein Unterschied zur Zeit vor zwanzig Jahren, in der
Freud meist verhöhnt und angepöbelt wurde — sachlich berichteten und
ihren Lesern anrieten, die Erziehung ihrer Kinder und die Richtung ihres
persönlichen und des allgemeinen kulturellen Fortschrittes auch der Kritik
Freudscher Anschauungen zu unterwerfen.
Die Hörerschaft warf in der Schlußstunde — in der übrigens als Ver-
treter der Teilnehmer ein beamteter Arzt den Dank aussprach — ein schwer
lösbares Problem auf, das der Arbeitsgemeinschaft der Hörer. Eine
solche Gemeinschaft, ein solcher „Verein“ hat noch keinerlei Geschichte,
noch keinerlei Technik der Zusammenarbeit. Wer von Psychoanalyse etwas
weiß, sieht ein, daß die disziplinierte Arbeitsweise von Freud der Welt ein
neues Raumgefühl gab. Freuds Ideen gewinnen nicht dadurch an Stoß-
kraft, daß sie als Theorien gläubig hingenommen werden. Der einzelne
Mensch muß seine Vorurteile analytisch verarbeiten, im psychoanaly-
tischen Prozeß die Entfernung von sich mindern und dann auch die 3 |
soziale Struktur der Jetztzeit ändern. Eine andere Aufgabe wäre, durch
gemeinschaftliche Arbeit dazu beizutragen, daß die berufliche Vorbereitung, 3 |
die Staat und Gemeinde bisher leisten, von der Psychoanalyse her geändert ;
wird. Der Lehrer, der Pfarrer, der Fürsorgeerzieher, der Arzt, der Gefängnis- 5
direktor, der Soziologe lassen in ihrer Vorbildung vieles vermissen, was
der moderne Mensch von ihnen fordern muß. Einzelne könnten zur
Anwendung der Psychoanalyse auf ihrem Fachgebiet im vielgestaltigen
Leben und in der zersplitterten Wissenschaft beitragen. Auch hier wird ;
man „vereinsmäßig“ etwas leisten können, Zunächst wird beschlossen,
daß die Hörer in der „Zeitschrift für psychoanalytische Pädagogik“ ihre
Meinung austauschen und entscheiden, ob und in welchen Abständen die
Kurse wieder stattfinden sollen. Es ist mit Freuds Psychoanalyse ähnlich 4
wie mit der Geschichte, sie trägt ihr Urteil in sich und kann nicht |
„gemacht“ werden. Der weise Novalis sagt: „Das graue Netz des rein 7
technischen Vielwissens macht die unendlich schöpferische Musik des
Weltalls zum einförmigen Klappern einer ungeheuren Mühle, vom Strom
des Zufalls getrieben und auf ihm schwimmend, eine Mühle an sich, ohne
Baumeister und Müller und eigentlich ein rechtes Perpetuum mobile, eine
sich selbst mahlende Mühle.“ =
Die Psychoanalyse beseelt die Maschinerie „an sich“ der technischen
Wissenschaften in neuem — sie ist selbst an eine Technik gebunden, |
— oo
macht keine wissenschaftliche Methode überflüssig und läßt jede einzelne
als beseelte — wenn auch unbewußt beseelte — Wiederholung einfacherer
menschlicher Mechanismen erkennen. Daß Freuds Werk ein idealistisches
und nicht mechanistisches ist, ist oft übersehen worden. Sein geistiger
Gehalt ist es, der die einzelnen und die Gemeinschaften in ihrer gesamten
Einstellung zu den Lebensproblemen zu ändern vermag.
Liste der Teilnehmer an der Stuttgarter Woche
ı) Dr. Beck, Degerloch
2) Dr. Fahrenkamp, Stuttgart
z) Frau Dr. Fahrenkamp, Stuttgart
4) Frau Dr. Leibowitsch, Stuttgart
5) Frl. Margarete Neubronner, EßBlingen
6) Dr. Gundert, Stuttgart
7) Frau Dr. Gundert, Stuttgart
8) Dr. Göhrum, Stuttgart
9) Frau Scholer, Stuttgart
ı0) Erich Beisbarth, Berlin
ı1) Frau Notz, Stuttgart
ı2) Frl. Dr. Heddaeus, Stuttgart
ı3) Dr. Breuninger, Stuttgart
14) Dr. Keibel, Ludwigshafen a. Rh.
15) Frl. Dr. Hohbaum, Stuttgart
ı6) Frau Mannheim, Frankfurt a. M.
ı7) Frau Geheimrat Vetter, Degerloch
ı8) Lehrer Wilh. Epple, Denkendorf
ı9) Dr. Berndt Götz, Berlin
20) Direktor W. Zuberbühler, Glarisegg-
Steckborn
2ı) Lehrer G. Hornberger, Stuttgart
22) Heilpädagoge Lange, Meißen
23) Lehrer K. Brösamle, Calw
24) Lehrer Chr. Barth, Birkenfeld
25) Oberlehrer Friedr. Schober, Ulm
26) Studienrat Konrad Mayer, Rottweil
27) Lehrer H. Steger, Einzingen
28) Frl. Paula Haas, Wiesbaden
29) Georg Bihler, Stuttgart
30) H. Trippiner, Holzgerlingen
31) Oberlehrer Hermann, Stuttgart-
Rohracker
32) Studienassessor Pfeffer, Göppingen
33) Dr. Zorn, Stuttgart
34) Frau Toni Haueisen, Cannstatt
35) Frau Julie Pöhler, Lehrerin, Ritter-
gut Uhenfels, Urach
36) Rektor Staubach, Bad Nauheim
37) Rektor Wirth, Echterdingen a. F.
38) Frau Lia Swarowsky, Wien
39) Schwester Erna Dreifuß, Stuttgart
*40) Gewerbeschulrat F. Haar
41) Frau Dr. Baisch, Stuttgart
42) Eisenmann, Sillenbuch
45) Frl.B. Grüninger, Lehrerin, Stuttgart
44) Hans Kalischer, Nordhausen
45) Frau Kalischer, Nordhausen
46) Oskar Fischer, Stuttgart
47) Studienreferendar Gotthilf Mayer,
Kirchheim-Teck
48) Frau Dr. Weimersheimer, Herrlingen
49) Lehrer Willy Haug, Feuerbach
50) Dr. Römer, Stuttgart
51) Hauptlehrer Scheible, Stuttgart
52) Lehrer Walter Bubeck, Stuttgart
53) Arthur Löwenstein, Stuttgart
54) Dipl. Landwirt Oskar Scheib, Heil-
bronn a.N.
55) Stadtschulrat M. Theile, Köln a. Rh.
56) Frl. Prutz, Stuttgart
57) Frl. Eugenie Thomä, Zuffenhausen
58) W. Leibersberger, Ludwigsburg
59) W. Senghaas, Stuttgart
60) Frl. Martha Falk, Bothnang
*6ı) Frl. Willich, Stuttgart
*62) Frl. Klingemann, Stuttgart
63) Dr. Otto Einstein, Stuttgart
*64) Ehrlicher, Bielstein
*65) Frl. Maybach, Cannstatt
66) Dr. Erwin Hirsch, Stuttgart
67) Frl. Uhland, Stuttgart
68) Frau Bergemann-Könitzer, Jena
69) Dr. Krauß, Stuttgart
70) Rudolf Wasser, Stuttgart
7ı) Oberlehrer Wurster, Korntal
*72) Koch, Stuttgart
*75) Münch, Stuttgart
(Die mit einem Stern * bezeichneten Teilnehmer werden ersucht, ihre genaue Anschrift dem
„Verlag der Zeitschrift für psychoanalytische Pädagogik“, Wien, VII., Andreasgasse ;,
gefl. bekanntgeben zu wollen)
Drei Fälle von Stehlen bei Kindern
Von Dr. Alfhild Tamm, Stockholm
Seit einigen Jahren bin ich an den Stockholmer Hilfsschulen als Ärztin
angestellt. Doch muß ich häufig auch Kinder aus den Normalklassen aus
verschiedenen Gründen beurteilen, z. B. wegen Vergehen allerlei Art,
meist wegen Diebstählen. Es handelt sich dabei gewöhnlich um Fälle von
wiederholtem Stehlen, die den Lehrern schwerbegreiflich erscheinen und
wo die gewöhnlichen erzieherischen Maßnahmen fehlschlagen. Die Frage,
die ich zu beantworten habe, ist gewöhnlich folgende: Ist das Kind als
verwahrlost zu betrachten oder kann das Vergehen auf irgendeiner Krank-
heit oder einer psychischen Abnormität beruhen? Nicht selten fragt man
mich um Rat, wenn ich im Begriff bin, nach Hause zu fahren. Es gilt,
schnell den Fall zu klären, und dabei handelt es sich meistens um ein
verzweifeltes oder trotziges Kind, welches schon mehreren peinlichen Ver-
hören unterworfen und wiederholt bestraft worden ist.
Fall ı
Mein erster Fall war eben dieser Art. Ein neunjähriger jüdischer Bub,
Hermann, wurde vorgeführt. Er hatte seit längerer Zeit — ungefähr
einem Jahr — wiederholt Geld aus den Taschen der Schulkameraden
genommen. Der Knabe war verdrießlich 'und trotzig, und ich wußte nicht,
wie ich an ihn herankommen könnte. Ich sprach mit der Mutter, erfuhr
aber fast nichts. Sie war nicht minder mißgestimmt als ihr Sohn. Außerdem
konnte sie sehr schlecht schwedisch sprechen, weil die Familie erst vor
wenigen Jahren aus Rußland nach Schweden gekommen war. Die Dieb-
stähle konnte sie nicht erklären. Bis vor einem Jahr sei der Bub ehrlich
gewesen. Sie gab an, daß er zu Hause nicht stehle. Sie meinte, es fehle
ihm nichts. Das einzige von Interesse, was ich erfuhr, war, daß er schlecht
schlief und viel träumte, Zu dieser Zeit war ich noch nicht analytisch
tätig. Ich kam aber doch auf den Gedanken, mir einen Traum erzählen
zu lassen, um zu sehen, ob ich dadurch eine Erklärung bekommen könnte.
Wie Freud ja gefunden hat, erfüllen die Kinder in ihren Träumen oft
ohne große Verhüllung ihre Wünsche. Ich sprach wieder mit dem
Knaben allein, erwähnte das Stehlen nicht, sondern unterhielt mich mit
ihm über verschiedene Dinge, die Knaben zu interessieren pflegen, bis er
etwas auftaute. Ich begann so über Träume zu sprechen und fragte, ob
er mir vielleicht einen solchen erzählen wollte. Darauf ging er sofort ein.
Offenbar war er stolz auf seine schönen Träume. Der Traum, den er
mir erzählte, war folgender: „Mama war mit der Großmutter zusammen.
Sie hatten große Flügel auf dem Rücken und so hübsche weiße Kleider
und sind zum Himmel hinaufgeflogen.“ Ich fragte nach der Großmutter
und erfuhr, daß sie vor einem Jahre gestorben war. Nach dieser Zeit
Br
hatten die Diebstähle angefangen. Die Mutter war im Traum mit der
Großmutter zusammen, also wahrscheinlich auch sie tot oder aus dem
Wege gedacht. Ich wagte dann die vielleicht etwas kühne Frage: „Warum
bist du so böse auf die Mama?“ Die Antwort kam rasch und lautete:
„Weil sie mir nicht erlaubt, mit dem Großvater zu gehen.“ Diese Worte
enthielten den Schlüssel zu dem ganzen Verhalten des Knaben. Durch
direkte Fragen erfuhr ich von der Mutter, daß der Knabe seit dem Tode
der Großmutter verdrießlich und unfreundlich vor allem gegen sie gewesen
sei, was sie früher verschwiegen hatte und wofür sie keine Erklärung
wußte. Als ich nach dem Großvater fragte, erfuhr ich, daß er ein Klein-
händler war, der von einem Ort zu dem andern zog. Als seine Frau starb,
nahm ihn seine Tochter zu sich und verschaffte ihm eine leichte, regel-
mäßige Beschäftigung in einer Bäckerei, denn sie hielt ihn für zu alt,
um mit dem alten Beruf fortzufahren. Bei den erwähnten Wanderungen
hatte er manchmal Hermann mitgenommen, was dieser als ein sehr großes
Vergnügen betrachtete. Als ich wieder mit ihm sprach, erfuhr ich von
ihm, daß er gegen die Mutter wütend war, weil er sie als die Ursache
des Aufhörens der Wanderungen betrachtete. Insgeheim hoffte er doch,
mit oder ohne den Großvater wieder damit beginnen zu können. Das
Geld, das der Bub aufbewahrt hatte, war offenbar als ein kleines Kapital
gemeint, wofür er Waren zu kaufen beabsichtigte. Ich erklärte ihm, der
Großvater wäre zu alt und zu schwach, um seine Wanderungen wieder
aufnehmen zu können, und er habe keinen Grund, deshalb auf die Mutter
böse zu sein. Selbst wäre er noch zu klein und könnte nicht allein gehen.
Vielleicht später, wenn er die Schule erledigt haben wird, falls er dann
noch Lust dazu hat. Er solle also nicht weiter das Geld der Kameraden
nehmen, um so mehr, als man mit dem Gelde anderer nicht Waren
kaufen darf. In der Schule erwähnte ich, was ich erfahren hatte, und
sagte, daß die Diebstähle wahrscheinlich auf der Lust nach Abenteuern
beruhten, die bei Kindern nicht selten ist. Ich riet, abzuwarten. Die Frage
war neuerlich aufgeworfen worden, den Buben in ein Heim für Ver
wahrloste überzuführen. Bei mehreren späteren Gelegenheiten frug ich in
der Schule nach dem Knaben, das letzte Mal zwei Jahre später. Sein
Benehmen war die ganze Zeit gut gewesen.
Es ist möglich, daß die Sache viel tiefer liegt, als ich erfuhr. Wenn
es mit dem Tatbestand übereinstimmte, daß er nur von den Kameraden
gestohlen hatte, liegt darin vielleicht auch eine Rache. Ich konnte darüber
nichts erfahren, aber es ist sehr wohl möglich, daß Hermann wegen seines
von dem gewöhnlichen schwedischen Typus abweichenden Aussehens und
der anfangs wohl eigentümlichen Sprache in der Schule geneckt wurde.
Wahrscheinlich sehnte er sich nach seiner Heimat. Die Wanderungen
waren vielleicht eine Art Befriedigung dieser Sehnsucht. Aber darüber
weiß ich nichts Sicheres. Was ich erfuhr, war genug, um den Knaben
aus dem betreffenden Konflikt zu befreien.
—
Fall 2
Ein elfjähriges Mädchen, Berit, hatte während ungefähr eines Jahres
wiederholt Geld, sowohl zu Hause als in der Schule, gestohlen, zusammen
mehr als 100 schwedische Kronen. Außerdem hatte sie in verschiedenen
Geschäften Süßigkeiten genommen. Sobald die Eltern von den Diebstählen .
erfuhren, wurde das Mädchen vom Vater geschlagen. In der Schule hatte
sie wiederholt Vorwürfe erhalten. Diese Maßnahmen hatten sich indessen
als vollkommen erfolglos gezeigt, und Diebstähle geschahen fast täglich.
Meist kaufte Berit Näschereien für das Geld, einmal Vorverkaufskarten für
die Straßenbahn, weiter kleine Schmuckgegenstände usw. Drei Tage vor
dem Besuch bei mir hatte sie wieder sowohl zu Hause als in der Schule
sehr strenge Vorwürfe erhalten. Trotzdem nahm sie unmittelbar darauf ein
Gesangbuch, das einer Schulkameradin gehörte. Damit zeigte sie sich
ganz offen bei dem nächsten Morgengebet. Der Lehrer fand ihr Benehmen
so merkwürdig, daß er denEltern den Rat gab, sich an mich zu wenden.
Er teilte mir mit, daß das Kind in der Schule nicht schlecht mitkam;
es sei aber schweigsam und in sich geschlossen. Sie spielte nicht mit den
Kameraden. Dagegen zeigte sie eine schwärmerische Zuneigung für eine
Seminaristin, die ihr Freundlichkeiten erwiesen hatte.
Der Vater erzählte, daß Berit Adoptivkind wäre. Er und seine Frau
hatten sie zu sich genommen, als sie drei Jahre alt war. Sie war ein
uneheliches Kind, der Vater unbekannt. Die Mutter starb, als sie zwei
Jahre alt war, und sie kam dann zu den Großeltern. Sie wurde schlecht
gepflegt, besonders nach dem Tode der Mutter. Als sie zu den Pflege-
eltern kam, war sie sehr scheu und konnte schlecht gehen und sprechen.
Sie entwickelte sich aber rasch und zeigte den Eltern warme Liebe, blieb
jedoch verschlossen, scheu und verträumt. Sie reagierte sehr heftig, wenn
sie getadelt wurde. Vor einem Jahre bekamen die Eltern ein eigenes Kind,
ebenfalls ein Mädchen, welchem Berit eine rührende Liebe zuwandte. Fast
unmittelbar nach seiner Geburt begannen indessen die Diebstähle. Zuerst
zu Hause, nachher auch in der Schule usw. Das erste Mal hatte sie
ungefähr fünf Kronen aus dem Portemonnaie der Hausgehilfin genommen,
angeblich zum Kauf von Garn, um der Schwester einen J umper zu stricken.
Der Vater beteuerte, daß Berit vollkommen wie ein eigenes Kind behandelt
wurde, und alles, was sie brauchte, erhielt. Er gab zu, sie nach dem Ent-
decken des Stehlens geschlagen zu haben, was früher nie geschehen wäre.
Das Mädchen, das ich schon kannte, weil ich sie wegen einer Hals-
entzündung behandelt hatte, wurde zu mir allein geschickt. Sie trug, wie
ich bereits bei früheren Gelegenheiten beobachtet hatte, ein auffallend
einfaches schwarzes Kleid ohne jede Zierde, während die meisten ihrer
Kameradinnen besonders hübsch angezogen waren.! Sie war verweint und
a ee al 9 2 an iin her ala aa a 2 at ae in Sn Ta
ı) Die Schule war eine Versuchsschule bei einem Seminar. Die Kinder gehörten
meist Familien an, die wohlhabend waren und sich sehr um ihre Kinder kümmerten.
22
ängstlich, blaß und mager, zeigte aber keine Symptome körperlicher
Krankheit. Die Diebstähle berührten wir zunächst nicht, sondern sprachen
über andere Sachen, z. B. über die kleine Schwester. Dabei belebte sich
ihr Gesicht, sie beschrieb mir, wie süß das Kind wäre und wie sie es
liebe. Als die Situation allmählich etwas gemütlicher geworden war, fragte
ich sie, wie sie schliefe und ob sie vielleicht Träume hätte. Sie erzählte
mir dann sofort folgenden Traum: „Ich habe das Kino besucht und der
Kinobesitzer gab mir Konfekt.“ Zu dem Kinobesitzer fiel ihr sofort der
Vater ein. Das entspricht der Regel, daß im Traum oft Könige, Kaiser
und andere hochgestellte Personen den Vater bedeuten. Für ein Kind
dürfte ein Kinobesitzer als ein sehr bedeutender Mensch betrachtet werden.
Es kamen keine anderen Einfälle.
Berit wollte also vom Vater Konfekt (= etwas Süßes) haben, und es
schien mir sofort wahrscheinlich zu sein, daß darin eine Erklärung des
Stehlens zu suchen sei.” Freud hat ıgı3 in „Zwei Kinderlügen“ (Internat.
Zeitschrift für Psychoanalyse) einen Fall beschrieben, wo ein siebenjähriges
Mädchen sich vom Vater anvertrautes Geld zugeeignet hatte. Bei diesem
Mädchen war „Geld von jemandem bekommen“, gleichwertig mit „eine
Liebesbeziehung zu dieser Person haben“. Alexander hat in einer
1922 publizierten Arbeit „Kastrationskomplex und Charakter“ (Internat.
Zeitschrift für Psychoanalyse) hervorgehoben, daß die für die Frau typische
Kleptomanie im Kastrationskomplex wurzelt. In einer Note zu dem
betreffenden Aufsatz teilt er mit, daß Abraham während eines Gespräches
ihn darauf aufmerksam gemacht hat, daß ein zwangsmäßiges Stehlen durch
einen Drang, die von den Eltern versagte Lust mit Gewalt zu nehmen,
determiniert ist. Bei dem bei Kindern allgemein verbreiteten Stehlen von
Süßigkeiten ist dies Motiv offenbar ausschlaggebend. In den tiefsten
Schichten kann man diese Motive weiter verfolgen, worauf ich indessen
hier nicht eingehe. Ich habe selbst mehrere Fälle beobachtet, bei denen
Stehlen von Süßigkeiten oder Geld, um Süßigkeiten zu kaufen, die
Aneignung von Liebesbeweisen symbolisierte. In vorliegendem Falle scheint
mir der Traum bestätigt zu haben, daß ein derartiges Motiv wirksam war.
Das Mädchen wünschte einen Liebesbeweis von seiten der Eltern, haupt-
sächlich vom Vater, den sie am meisten und sehr leidenschaftlich liebte,
Auffallend ist die Zärtlichkeit, welche sie der Schwester zeigte. Sie schien
für sie sorgen zu wollen, und lebte sich in den Gedanken hinein, die
Kleine wäre ihr Kind. Das erklärt den ersten Diebstahl, indem sie Geld
nahm, um für das Kind sorgen zu können. Wahrscheinlich wünschte sie
vom Vater ein Kind zu haben, und weil das unmöglich war, adoptierte
sie gleichsam die Schwester. Aus dieser Illusion, daß der Vater sie liebte,
wurde sie durch die Züchtigung in brutaler Weise geweckt.
Das Mädchen kam zehnmal zu mir, und obwohl wir keine regelrechte
1) Im Traum handelte es sich um ein Kino; alin um etwas Visuelles. Wie weit die
Schaulust beteiligt war, konnte ich nicht lihten,
u ©
Psychoanalyse unternehmen konnten, haben wir vom Traum aus eingehend
die Sache besprochen. Sowohl die Süßigkeiten als die Schmuckgegenstände
sollten das ersetzen, was sie von den Eltern nicht bekam. Sie verglich
ihre Kleider mit denen der Kameradinnen, und als sie den Unterschied
beobachtete, zog sie den Schluß, die Eltern liebten sie nicht. Zu dem
Wunsch, einen Liebesbeweis vom Vater zu bekommen, kam nun der
Drang, sich zu rächen. Als wir von dem gestohlenen Gesangbuch sprachen,
sagte sie mit Tränen in den Augen: „Meines war so häßlich.“ Die
erwähnte Seminaristin war ihr einziger Trost. Offenbar war sie ihr ein
„Mutterkomplement“, wie eine erwachsene Patientin sich hinsichtlich einer
gleichartigen Situation ausdrückte.
Der Lehrer bestätigte, daß Berit immer auffallend einfach angezogen
war und wahrscheinlich von den Eltern etwas strenge behandelt wurde.
Während der Behandlung erzählte das Kind noch zwei Träume. Der
eine lautet: „Es war eine Prinzessin, sie spielte und lachte und war so
hübsch.“ Wahrscheinlich ein einfacher Wunschtraum. Der andere Traum
handelte von einem Troll, der ein sehr kleines Kind nahm. Anfangs sagte
er, es könnte dort sein, wo es wolle. Aber statt dessen nahm er das Kind
und fraß es auf. Dieser Traum scheint mir das Verhältnis zu der Schwester
zu erklären. Gegen diese hatte sie offenbar eine ambivalente Einstellung.
Einerseits liebte sie sie und lebte sich in den Gedanken ein, die Kleine
wäre ihr Kind. Andererseits haßte sie sie und wünschte ihr den Tod, weil
sie die Ursache des Verlustes der Liebe von seiten der Eltern war. Mög-
licherweise ist der Traum so zu erklären: sie wünschte selbst vom Vater
gefressen (= geliebt) zu werden. Zu diesen Träumen kamen keine Einfälle.
Der Bericht hatte gelautet, daß Berit bei den Eltern sehr gut behandelt
werde. Die Träume sagten aus, wie sehr sie sich zurückgesetzt und unglück-
lich fühlte. Sie lebte in Phantasien und suchte sich selbst zu entschädigen.
Der Gedanke: Die Eltern lieben mich nicht, beherrschte sie vollständig.
Den Zusammenhang dieses Gedankens mit dem Zwang zu stehlen verstand
sie aber nicht in klarer Weise, Als ich ihr das erklärte, wurde sie sehr
erleichtert. Ich sagte ihr auch, die Eltern liebten sie sicherlich, daß aber
immer ein sehr kleines Kind mehr Fürsorge und Zärtlichkeit von seiten
der Eltern haben muß. Ich fügte zu, daß ich sie nicht als eine Diebin
betrachtete — dieses Wort hatte man ihr gegenüber gebraucht — und ich
hoffte, sie würde nichts mehr nehmen, weil sie jetzt alles wüßte. Weiter
habe ich ihr geraten, mit den Kameradinnen mehr zusammen zu sein.
Die erwähnte Seminaristin habe ich gebeten, sie dazu zu ermuntern. Den
Eltern, welche sicher wohlwollend waren und nichts davon ahnten, daß
sich Berit zurückgesetzt fühlte, erklärte ich alles und gab ihnen einen
Wink hinsichtlich der Kleidung des Kindes.
Neun Monate später schrieb mir der Lehrer, daß Berit nicht nur voll-
kommen aufgehört hatte, zu stehlen, sondern auch heiter und zugänglich
wie andere Kinder geworden war.
Fall 3
Helga, ıı Jahre alt, Volksschülerin, hatte in der Schule (während
drei Wochen aus dem Tisch der Lehrerin) bei mehreren Gelegenheiten
Geld genommen, zusammen 30 Kronen. Dafür hatte sie Süßigkeiten
gekauft und ein paarmal so viel gegessen, daß sie Erbrechen bekam.
Angeblich hatte sie zu Hause nichts genommen. Die Lehrerin hatte viel
Wesens daraus gemacht, die Familie besucht und dort dem Kinde heftig
vorgeworfen, sie sei eine Diebin und Verbrecherin, mit dem Resultat, daß
sowohl Helga als die Eltern ganz außer sich waren. Bei meinem Besuch in
der Schule fand ich ein kleines Mädchen mit ängstlichem, verträumtem
Aussehen, das einer Verbrecherin gar nicht ähnlich aussah. Nachdem ich
eine Weile mit dem Kinde geplaudert hatte, fragte ich nach ihren
Träumen, und sie erzählte folgendes: „Ich träumte gestern, daß mein
Brüderchen wieder hier war. Es lag bei der Mutter.“ Dabei fing sie an,
heftig zu weinen. Nachdem sie sich ein wenig beruhigt hatte, fügte sie
zu: „Es war auch, als ob es bei mir war und als ob es mein Bett
gewesen wäre.“ Ich erfuhr durch Nachfragen, daß der Bruder . Mitte
September in einem Alter von sechs Monaten gestorben war. Weil die
Mutter sehr beschäftigt war, hatte sie während des Sommers die Pflege
des Kleinen faßt völlig der Schwester überlassen. Sie sagte: „Helga war
ihm ganz und gar wie eine kleine Mutter.“ Als die Schule Ende August
wieder begann, wurde das Mädchen in die Klasse der erwähnten unfreund-
lichen Lehrerin versetzt. Kurz nachdem starb der Kleine. Ende September
begannen die Diebstähle. Es schien mir, daß der Zusammenhang zwischen
diesen und den anderen Ereignissen in diesem Falle nicht schwer zu
erörtern sei. Offenbar hatte sich das Kind mit der Mutter identifiziert, sich
an ihre Stelle versetzt und sich dabei glücklich gefühlt. Durch den Tod
des Kindes hatte alles ein trauriges Ende genommen. Mädchen haben, wie
Freud nachgewiesen hat, neben der Liebe zu der Mutter gewöhnlich
eine gehässige Einstellung, in Eifersucht begründet. Die Lehrerin war
wahrscheinlich eine Mutterimago geworden, auf welche sie diese negativen
Gefühle übertragen hatte, was erklären würde, daß sie eben von ihr das
Geld nahm. Wahrscheinlich sollten die Süßigkeiten Liebesbeweise von
seiten des Vaters und das Erbrechen eine Gravidität symbolisieren. Da ich
nicht die Möglichkeit hatte, das Kind zu analysieren, ging ich nicht
darauf ein. In der Schule sagte ich nur, daß das Stehlen wahrscheinlich
mit dem Tod des Bruders zusammenhänge und daß sie als Trostmittel
die Süßigkeiten gegessen hatte. Ich gab den Rat, das Kind in eine Klasse
zu versetzen, deren Lehrerin ich als eine sehr nette, mütterliche Person
kannte. Dem Kinde sagte ich nur, ich betrachte sie nicht als eine Diebin;
sie wäre nur unglücklich gewesen, weil sie das Brüderchen verloren hatte.
Ich verließ mich jetzt darauf, sie würde nichts mehr nehmen, da sie
jetzt alles verstehe und eine so freundliche Lehrerin bekommen hatte.
Ich habe nachher die Schule mehrmals besucht. Das Kind hat mich
jedesmal freudig begrüßt, ist freimütig und offen geworden. Jetzt ist fast
ein Jahr verflossen, ohne daß sich die Diebstähle wiederholt haben.
’
In den drei beschriebenen Fällen habe ich meiner Meinung nach durch
die Deutung der Träume der Kinder eine wesentliche Hilfe erhalten, um
die Motive ihrer Handlungsweise zu verstehen. Gegen diese Behauptung
wendet man vielleicht ein, daß man ohnedies ebensogut den Zusammen-
hang hätte begreifen können. Dagegen will ich bemerken, daß die Lehrer,
die ja gewöhnliche psychologische, aber nicht psychoanalytische Kenntnisse
hatten, trotz mehr oder weniger langwieriger Beobachtungen vollkommen
ratlos waren. Daß ich selbst ohne Einsicht in die Psychoanalyse die Fälle
verstanden hätte, bezweifle ich. Und vollkommen sicher ist es, daß es mir
nicht möglich gewesen wäre, so schnell in den Kern zu dringen. Die
Kinder haben gewöhnlich nichts dagegen, ihre Träume zu besprechen.
Die Deutung ist eine Überrumpelung des Kindes. Ohne Wissen und
Willen hat es mehr von sich verraten, als es selbst von sich wußte, und
findet sich auf einmal verstanden und sich selbst verständlich. Und eben
das ist wichtig, wenn es gilt, die Entharmlosung der Kinder zu vermeiden,
nichts ist so schädlich, wie peinliche Verhöre, Schikanen und unrichtig
angebrachte Strafen.
Natürlich kann man einwenden, daß die Analyse in den betreffenden
Fällen weder eingehend noch vollständig war. Die Umstände haben das
nicht erlaubt, und es war auch nicht notwendig, um die betreffenden
Situationen zu klären. Aber das ist ein Vorteil, den die psychoanalytischen
Kenntnisse mit sich bringen, daß sie manchmal eine genauere Analyse
überflüssig machen. In den betreffenden Fällen handelte es sich um aktuelle
Konflikte, ohne daß sich eine Neurose fixiert hatte. Es ist doch sehr
wahrscheinlich, daß aus diesen Konflikten Neurosen oder Kleptomanie sich
entwickelt hätten, wenn man den Kindern nicht zur rechten Zeit
geholfen hätte.
LUEHLIDTTTITTTTTTTTTETTTTTTTTTUTITETTT DPI PUPPE UIPPTTETTTETTUPTETTTTUTU EEE TETIT TUT EITTTTTTTTTT NNIINIKIINININIINITINININ
| IT IIIININNNNNINIANNINNN INNNIIIINNNNIINNNANNIIINENNNINNEINNNILNNNIIN
Zur Psychologie des Lausbuben
Von Ernst Schneider, Riga
Im Verlauf einer psychoanalytischen Behandlung beginnt ein 30jähriger
Analysand eines Tages Träume zu erzählen, aus denen klar hervorgeht,
daB er den Analytiker zur Zielscheibe von allerlei Lausbubenstreichen
erkoren hat. Das Material zu diesen Träumen entstammte den Tageserleb-
nissen und verschiedenen Vorgängen, die sich in der Schulzeit abspielten.
Es stellte sich dann heraus, daß der Analysand mich, den Analytiker, in
die Reihe jener Lehrer stellte, denen gegenüber es ihm ein besonderes
Vergnügen bereitete, wenn er sie irgendwie frozzeln konnte. Er war als
Schulbube immer dabei, wenn es galt, was auszuhecken, um bestimmte
Lehrer „hineinlegen“ und sich dann über ihre „Dummheit“ lustig machen
zu können. Nachdem dem Analysanden klar geworden war, daß seine
Träume sogenannte Übertragungsträume sind, daß er also in der analy-
tischen Situation eine Wiederholung früherer Erlebnisse anstrebte, da
tauchten peinliche Erinnerungen aus der frühen Kindheit auf. Damals war
die Situation eine umgekehrte. Er war der von seinen Eltern, besonders
von seinem Vater Gehänselte. Bei verschiedenen Anlässen lachte man ihn
als einen „dummen Jungen“ aus. Etwa, wenn er das Bettchen näßte
oder seine Kleider unrein waren, oder wenn ihm irgend etwas mißglückte.
Gelegentlich leisteten sich die Eltern den Spaß, ihn zu etwas zu ermun-
tern, um ihn dann auszulachen, wenn er scheiterte. Unter anderm wurde
unter starkem Affekt folgender Vorfall erinnert: Er wünschte sich einmal
ein unmögliches Spielzeug. Das wurde ihm zu seinem Geburtstage, ein
halbes Jahr später, versprochen. Der Vater schrieb einen Brief an den
Fabrikanten in der Stadt. Den Brief warf der Knabe selbst in den Post-
kasten. Das Geld wurde durch Zahlkarte überwiesen. Nun wartete der
Knabe Tag um Tag auf das.große Ereignis, entfernte jeden Tag ein Blatt
des Abreißkalenders und freute sich dabei, daß das Geburtstagsblatt um
eines weniger überdeckt war. Nun war der ersehnte Tag da! Was geschah?
Der Knabe wurde ausgelacht: Siehst du, was du für ein dummer Junge bist!
Die Erziehung im Elternhaus war darauf bedacht, alles Kindliche, so
auch das Spiel, zu unterdrücken und den Knaben als kleinen Erwachsenen
zu behandeln, der möglichst früh lesen lernen und den Schulstoff bewältigen
sollte. Seine Ansprüche als Kind verwirklichte er dann in der Phantasie.
Da ließ er der Allmacht der Gedanken weiten Raum und verwendete sie
als Spielzeuge. Auf die Kränkungen durch das Hänseln des Vaters reagierte
er mit Vergeltungsphantasien, in denen er diesen in der Rolle des dummen
Jungen sah. Im täglichen Leben war er das brave Kind, und zwar solange,
bis er das Elternhaus verließ und in der Stadt das Gymnasium bezog.
Bald war er der Lausbube und Anführer in allen Streichen, wenn es galt,
die Lehrer an der Nase herumzuführen. Die Eltern waren entsetzt und
schrieben selbstverständlich diese Veränderung den schlechten Einflüssen
der Mitschüler zu. Wir können aber deutlich erkennen, daß die Schul-
streiche eine Verwirklichung der auf die Eltern gerichteten Rachephantasien
bedeuteten. Die Schulautorität, an der das Mütchen gekühlt wurde, war
ein Ersatz für die elterliche Autorität. Dieser gegenüber war das Kind auf
Gehorsam eingestellt. Der Gehorsam war aber ein affekthafter. Er war
diktiert durch ein starkes Schuldgefühl, das dem Ödipuskomplex entstammte.
Die Entfernung aus dem Elternhause wurde in dieser Hinsicht als
Befreiung empfunden. Den autoritativen Ersatzpersonen gegenüber bestand
noch keine schuldhafte Bindung. Dann war der Knabe ein Glied einer
Masse geworden, auf die sich die Schuld verteilen konnte. Im fernern
wurde er als Held von den Mitschülern gefeiert, so daß er einen Ausgleich
für die im Elternhaus als dummer Junge erlittenen Kränkungen finden
konnte.
So sehr man vom Standpunkt der Schulordnung aus diesen Lausbuben
verurteilen mußte, so sehr muß ich ihn mit Rücksicht auf seine spätere
Entwicklung in Schutz nehmen. Der Lausbube bedeutete für den
intelligenten Knaben den ersten Schritt von der passiven Lebenshaltung und
dem Verträumtsein zu einer aktiven und bejahenden Lebenseinstellung.
Er wurde ein tüchtiger Mensch. In seinem Entwicklungsgang, der ihn
stark vom Elternhaus entfernte, bewirkten die infantilen Bindungen
Störungen, und diese führten ihn in die Analyse. Da wurde ihm in der
Übertragungssituation die Geschichte des in ihm steckenden Lausbuben
klar, und wenn die Psychologie des Lausbuben seinen Lehrern verständlich
gewesen wäre, so hätten sie weniger unter ihm zu leiden gehabt, weil
sie pädagogisch mit ihm hätten fertig werden können.
F)
y | Tg N aaainis N 1 | | | | |
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j I | | | | | U |
Heilung eines Prahlhanses
Von Hans Zulliger, Ittigen (Bern)
Es befand sich unter den neu ins 7. Schuljahr eingetretenen Knaben
einer mit Namen August, der alsbald durch seine Prahlereien auffiel.
Diese standen im umgekehrten Verhältnis zu seinen Leistungen. Im
Unterrichte zeigte er nur im Geographiefache eine ungefähr normale
Begabung, und er war schon um ein Schuljahr sitzen geblieben, Die Prah-
lereien äußerten sich ganz besonders in den Zeiten, da die Schüler frei mit-
einander verkehren durften, also in gewissen Unterrichtsdisziplinen, beim
Spielen im Freien, bei Ausflügen und bei „freien“ Aufsätzen.
In den Pausen versammelte August immer eine Schar jüngerer (er war
infolge seines Verhocktseins ja um ein Jahr älter als seine Klassengenossen)
Kameraden um sich her und schwatzte ihnen mit lauter Stimme etwas vor.
Zeichneten wir draußen nach der Natur, so drückte er sich zu den Gruppen,
wo nicht gerade der Lehrer stand, kritisierte mit schallender Stimme, lieh
dies und das und schimpfte wie ein Rohrspatz über die Geizkragen, die
sich nicht von ihren Farbstiften und Gummis trennen wollten, Ganz
besonders zeigte sich bei ihm das Mißverhältnis zwischen Reden und Voll-
bringen in den Spielstunden.
Wir machten häufig Korbballspiel. Die zwei besten Spieler wurden von
der Klasse bezeichnet. Diese verlosten dann die übrigen Schüler, indem
sie sie ihrer Fähigkeit nach bald zu dieser, bald zur andern Partei beriefen,
August wurde immer als einer der allerletzten „gewählt“. Dann schimpfte
er mit dem Führer der Gegenpartei, daß ihn dieser nicht schon eher aus-
erkoren hatte. Begann das Spiel, so kritisierte er mit heulender Stimme
die Spieleraufstellung. Machte jemand in seiner Partei einen Fehler, dann
vergaß er sich so, daß er alle möglichen Tiernamen über den Spielplatz ertönen
ließ. Bekam er den Ball einmal nicht zugeworfen, wenn ihm der Augen-
blick günstig schien, dann hagelte es „Kalb, Ochs, Esel, Kamel, Lümmel!“
Bekam er den Ball, dann verfehlte er ihn, er verfehlte die Abgabe durch
Zögern, er ließ sich überholen von jemand aus der Gegenpartei, er machte
verfehlte Würfe, er stieß den Ball mit dem Fuße (was als Spielfehler einen
Freistoß der Gegner zur Folge hat), oder aber er stolperte und fiel um,
wenn der Ball zu ihm kam; das praktizierte er am häufigsten.
Riefen ihm dann seine Parteileute zu, er solle sich beeilen, dann schrie
er erbost: „Wenn ich umgefallen bin — was kann ich dafür — übrigens
hätte man den Ball besser dem und jenem zugeworfen — ihr versteht
nichts vom Spiel!“ usw.
„Er macht alles mit dem Maul!“ war das Urteil der Klasse, und so
war es auch. Es folgen nun einige seiner freien Aufsätze, in denen er
stereotyp etwas prahlte, was bei genauerem Befragen ganz anders aussah
oder überhaupt zusammengelogen war.
Ein Lustspiel
Als ich noch klein war, da machte ich einmal mit Marie (seiner älteren
Schwester) Spiel. Da sagte ich ihr, sie sei eine dumme Kuh. Sie wurde zornig
und sprang mir nach. Ich ging zweimal ums Haus und dann sprang ich über
das Bord hinab. Als sie ganz nahe kam mit Rennen, da legte ich mich auf
den Boden, und Marie stolperte sich an mir und fiel kopfüber und streckte die
Beine in die Höhe. Es war gerade zwölf Uhr, und die Arbeiter gingen unten
durch, sie mußten laut auflachen. Sie schrien hinauf, ich habe es recht ge-
macht und müsse einen Batzen haben, und ich bekam einen. Aber seitdem sprang
mir Marie nicht mehr sobald nach. Besonders nicht über’s Bord nach.
An der Geschichte ist wahr, daß der Junge von seiner älteren Schwester
verfolgt wurde, daß er vor Angst — beileibe nicht aus List und Ab-
sicht — zusammenfiel und sie über ihn stolperte, jedoch nicht umfiel.
Ein Bauernknecht hatte zugesehen und später dem Jungen gesagt, er solle,
wenn er von seiner Schwester verfolgt werde, abliegen, damit sie über ihn
weg stürze, und wenn er das einmal so recht schön bewerkstellige, so gebe
er, der Knecht, ihm einen Batzen.
Auf dem Markt
Gestern mußte ich auf den Markt. Da kam ich zu einem Italiener, der
hielt allerlei Früchte feil. Ich sagte: „Gib mir ein Pfund Kirschen für
35 Rappen !”
Er machte mir mit vieler Mühe ein Pfund bereit. Als er fertig war, sagte
ich zu ihm: „Du kannst sie behalten, ich habe das Geld vergessen. Da kann
ich sie doch nicht mitnehmen !“
Da sagte er: „Ja, ich merke dich schon, wenn du sie nicht nimmst, so er-
hältst du Schläge!“
Bis er hinter seinem Stand hervorgekommen war, machte ich mich davon.
Da ging ich noch zu einem andern :
„Sind die Kirschen gut? Süß ?“
„Ja, du kannst versuchen !“ sagte er.
Ich aß rasch. Er hatte gerade viel zu tun, es war eine Schar Frauen
dort, die wollten Kirschen. Dann sagte ich: „Gib mir ein Pfund!“
Er machte ein Pfund bereit. Da sagte ich: „Kannst sie behalten, ich habe
jetzt schon genug gegessen!“ Und ich sprang davon. Er rief mir nach,
ich solle ihm nicht nochmals unter die Augen kommen, sonst könne ich dann
sehen, wie es mir ergehe. |
An der Geschichte ist tatsächlich wahr, daß August auf den Markt
gegangen und bei einem Italiener zwei Kirschen versucht hatte. Dann
hatte er ihm gesagt, er habe kein Geld. Der gute Mann gab ihm dann
noch eine kleine Handvoll — August kommt immer in sehr zerlumpten
Kleidern daher, er hatte wohl Mitleid erweckt — und schickte ihn weg.
Auf dem Heimwege besprach er die Geschichte mit einem jüngeren Bruder;
die beiden kamen überein, daß man sich auf die Art, wie er dann im
Aufsatze niederlegte, auf dem Markt mit Kirschen sattessen könnte.
Wir wollten mit den Fahrrädern eine kleine Fahrt an den Bielersee
machen. August prahlte, er habe schon zwölf Franken für den Ausflug
zusammengespart — niemand hatte so viel Geld wie er.
Der Tag der Reise kam. August besaß nicht nur keinen Rappen Geld,
er hatte kein Stückchen Brot, weder Messer noch Löffel, noch ein Gefäß
für die Suppe und den Tee bei sich, rein gar nichts. Als wir abgekocht
hatten, mußten ihm Kameraden alles geben oder leihen.
„Ich habe zu Hause nichts bekommen“, meinte er verlegen.
„Und deine zwölf Franken?“ fragte jemand.
Da lachte er. „Habt ihr das wirklich geglaubt? Ihr seid noch rechte
Kanarienvögel !“ |
Schon auf der Heimfahrt hatte er die Klassengenossen mit einer anderen
Geschichte zu Narren gehalten. Ihre Marie sei jetzt in Frankreich,
prahlte er, und sie habe einen ganz reichen Bauern geheiratet. Die Familie
besäße sechzig Kühe, acht Pferde und viele Schweine, und die Kühe würden
elektrisch gemolken. Er könne zu ihr in die Ferien gehen.
An dieser Geschichte war kein wahres Wort. Das Mädchen war irgend-
wo bei einem Bauern, wo es als Magd diente.
Der Junge stammte, wie bereits angedeutet wurde, aus einer sehr armen
und kinderreichen Familie. Der Vater war oft krank, und zu Hause
regierte eigentlich die robuste Mutter. Die jüngeren Geschwister suchten
die älteren so viel als möglich zu übertölpeln, wie uns der Aufsatz „Ein
Lustspiel“ leicht erraten läßt. In der Klasse machte sich August durch
seine Prahlereien die meisten Kameraden zu Feinden. Die Feindschaft zeigte sich
nicht in Tätlichkeiten. Man ließ ihn gewähren, aber er zählte nicht mehr mit.
Das hätte man bei Augusts lautem Munde nicht leicht beobachten können.
Nur bei näherem Zusehen merkte man, daß seine Stimme im Rate nichts
— 16 —
galt, niemand nahm davon Notiz, man machte nicht, was er vorschlug und
beachtete es nicht weiter, wenn er dann nachher die Mitschüler zu „Affen-
gesichtern“ oder „Mondkälbern“ machte.
Einmal klagten mir Erwachsene, der Bursche prahle so. Sie fragten mich,
ob er wirklich mich, seinen Lehrer, im Schwimmen übertreffe, wie er
behauptet hätte. Ich antwortete, davon wüßte ich nichts, es sei jedoch nicht
ganz unmöglich.
Da man mich als guten Schwimmer kennt, so erklärte man mir nun,
was der Knabe sagte, sei offenbare Aufschneiderei, und es gehöre ihm eine
tüchtige Ohrfeige.
Gelegentlich mache ich es in der Schule ähnlich wie unsere Irren-
anstalten. Diese nehmen einen Kranken nur dann auf, wenn er selbst-
oder gemeingefährlich wird oder öffentliches Ärgernis erregt. Solange ein
Junge, der mit einem Fehler behaftet ist, sich selber und die anderen nicht
schädigt, greife ich nicht ein.
Im Falle Augusts war der Augenblick jedoch jetzt, wie mir schien,
gekommen. Man würde nachforschen, ob der Lehrer dem Schüler die
Prahlhanserei „durchgelassen“ habe oder nicht. Ob er, der Lehrer,
„schwach“ gewesen sei. Und die Ohrfeige, die dem Jungen gehörte, konnte
ihn von einer anderen Hand als der des Lehrers treffen. Es war also in
jeder Beziehung angemessen, gegen die Prahlsucht etwas vorzunehmen.
Der Junge wurde vor der versammelten Klasse gefragt, ob er wirklich
glaube, er schwimme besser als ich.
„Ich bin vor einer Woche so und so weit geschwommen !“ kam die
indirekte, ausweichende und unsichere Antwort, nachdem schon eingestanden
worden war, daß August auf der Straße wirklich geprahlt hatte, er schwimme
besser als der Lehrer.
„Gut. Wir werden also mal ein Wettschwimmen veranstalten !“
Er bestand nicht. Die Zuschauer lächelten. August war geknickt und
doch trotzig.
„Es wäre recht, wenn man den Lehrer überträfe. Eigentlich sollte es
so sein!“ sagte ich. Und zu August gewendet: „Wenn du dir noch recht
Mühe gibst, so wirst du mich sicher einmal übertreffen. Wenn du einst
auch ein Mann bist. Jetzt bin ich halt noch der Kräftigere, und du hast
auch noch die kürzeren Glieder als ich !“ ' |
Er sagte nichts zu meinem Zuspruch. Aber doch merkte ich, daß dieser
ihn ermuntert hatte. In der Folge kam er oft zu mir, so in den Pausen,
auf dem Schulwege, in Zwischenzeiten, und sprach mit mir. N ach und nach
öffnete er sich, und ich sah seinen großen Ehrgeiz und seine Minder-
wertiekeitsgefühle. {
„Der Vater ist so klein“, meinte er einst. „Und beständig krank.
Und auch Mutter ist nicht gerade groß. Aber die Marie ist groß und
stark und der Paul auch. Wie kann man größer werden als Vater und
Mutter ?“
„Du möchtest auch gern größer werden ?“
„Ja! Drum turne ich so gern. Mein früherer Lehrer hat gesagt, er sei
noch als bald Zwanzigjähriger zehn Zentimeter gewachsen, nur weil er
turnte !“
Dann kam einmal in den „freien“ Aufsätzen ein Traumbericht :
„Mir träumte, ich fahre in einem Weidling einen Fluß herunter. Es war
ziemlich starke Strömung. Dann landete ich, Da war ein ganz schönes Haus,
und ein großer Mann und eine große, schöne Frau kamen und gaben mir
Kleider und zu essen. Denn ich war ganz nackt. Dann fragten sie mich,
ob ich bei ihnen bleiben wolle. Dann erwachte ich.“
Wenn noch irgend ein Zweifel über den inneren Grund der Prahlsucht
Augusts bestand, dann war er jetzt behoben. Ganz gleichgültig, ob der
„Traum“ wirklich ein geträumter Traum oder nur eine „gemachte“ Phantasie
des Jungen war.
Der Traum erinnerte den Knaben an einen Feriensonntag, an dem er
mit dem Fahrrad einen kleinen Ausflug gemacht und gebadet hatte. Da lag
am Ufer ein Kahn und er trieb sich darin herum. In der Nähe
war ein vornehmes Haus mit einem großen Garten mit Blumen und
Bäumen drin. Der Junge hatte eine Zeitlang Angst, der Herr, der mit
einer Dame im Garten herumspazierte, jage ihn aus dem Kahne fort, denn
der Kahn gehöre der Herrschaft, dachte August. Aber man ließ ihn unbe-
helligt, und als er sich anzog, übergab man ihm einige Roggenäpfel, die
von einem Bäumchen heruntergefallen waren. Dann war er heimzu
gefahren und hatte gedacht, dort hätte er bleiben mögen, da hätte man
es schön.
„Ja, glaubst du, sie hätten dich gewollt?“ lächelte ich ihm freund-
schaftlich zu.
„Mm, vielleicht hatten sie kein Kind !“
„Und?“
„Man vernimmt doch hie und da, daß reiche Leute ein Kind annehmen,
wenn sie keines haben !“
„Möchtest du denn von zu Hause weg?“
„Wenn ich an einen so vornehmen Platz käme, warum nicht ?— Wenn
ich aus der Schule bin, so muß ich sowieso fort!“
Der Junge beschäftigte sich mit „Gänseliesel“-Phantasien. Aus Analogien
mit anderen analysierten Träumen dürften wir annehmen, daß es sich bei
dem Traume Augusts um einen Geburtstraum handelt. Er wünscht sich
heftig andere vornehmere und größere, imponierende Eltern. Sein Traum
gab ihm sie, indem er sich an das Erlebnis am Feriensonntag anlehnte,
Seine häuslichen Verhältnisse bedrückten ihn dermaßen, daß er sich bei
seiner geringen Schulleistungsfähigkeit durch Prahlen ein innerliches
Gegengewicht schaffen mußte, um sich aufrecht zu halten.
Die „alte Schule“ unterdrückte die Prahlereien, indem sie ihnen
mit hämischem Spott, Verachtung, Drohungen und einer reichhaltigen
— 18 —
Stufenleiter von empfindlichen Strafen begegnete. Jede Form von Zwang
und Abschreckung war gerade gut genug. Die Prahler wurden durch
Abscheu und offen geäußertes Mißtrauen erniedrigt und gequält: Mißtrauen
der Erzieher wird vom Kinde immer als tiefste Beleidigung empfunden,
und wo ein Kind noch nicht „gebrochen“ ist, da rächt es sich dafür
meist so, daß es Taten begeht, die es des Mißtrauens würdig machen.'
Solchermaßen dürfte nicht vorgegangen werden !
Statt mit Drohungen oder Strafen gegen Augusts Prahlhanserei dreinzu-
fahren, mußte das Selbstbewußtsein des Jungen gestärkt werden. Es galt, ihn
beim geringsten Fortschritt zu rühmen, aufzumuntern, ihm Freude an
seiner Arbeit angedeihen zu lassen: so konnte er immer mehr dahin
kommen, seine Sehnsucht, seine Wünsche durch Arbeit wirklich zu machen,
statt durch Prahlen und Lügen eine Scheinwelt aufzubauen.
Dadurch, nämlich indem der Lehrer sich väterlich und freundschaftlich
seiner annahm, konnte August seine Sehnsucht nach einem gesellschaftlich
höher gestellten Vater — dem väterlichen Lehrer — einigermaßen stillen.
Das sind die innerpsychischen Gründe, weshalb August in den zwei
Jahren, die er noch zur Schule ging, nach und nach ein ganz anderer
wurde und jedenfalls das Prahlen ganz beiseite ließ.
Das mitgeteilte Beispiel dürfte zeigen, daß es dem psychoanalytisch
orientierten Lehrer gelingt, beginnende Fehlentwicklungen
rechtzeitig abzubrechen und richtigzustellen, auch
wenn er keine eigentlichen Analysen vornimmt. Er
erkennt die Zusammenhänge der Erscheinungen besser, richtet seine
Erziehungsmaßnahmen darnach ein und verschlimmert den Schaden nicht
durch Anwendung unangepaßter Gewaltmittel. Solchen gelingt oft wohl
Unterdrückung, nicht aber Erziehung, was soviel als Entwicklung und Ablauf
bedeutet. Mit der Unterdrückung wird meist viel rascher das gleiche äußer-
liche Bild erreicht, als mit mühereicherer, geduldiger Erzieherarbeit, zuge-
geben. Aber es kommt bei der Erziehung nicht so sehr auf den raschen
und augenfälligen „Erfolg“ an — der oft kaum ein Scheinerfolg ist —
als auf die innere Weiterentwicklung und Reifung, auf das seelische Wachsen.
Man muß das immer und immer wieder betonen. Denn die Erzieher
haben auch ihren Berufsehrgeiz, der sie manchmal ungeduldig werden und
Mittel anwenden läßt, die eben nur äußerlich, dafür aber rasch und augen-
fällig wirken. Ein angeketteter Zuchthäusler vollbringt keinen Bankraub
mehr, ein Wolf im Käfig überfällt keine Herde. Es ist jedoch durchaus
nicht sicher, daß der einmal freigelassene Räuber durch das Zwangsmittel
der Ankettung so abgeschreckt werde, daß er nicht mehr raubt, und daß
der Wolf, wenn man ihn laufen läßt, nun Gras fresse.
ı) Jüngst wurde ich Zeuge, wie eine Mutter ihren siebenjährigen Sohn verdächtigte,
im Garten Birnen gestohlen zu haben. Der Junge verteidigte sich schließlich folgender-
maßen: „Wenn du glaubst, ich habe Birnen gestohlen, und esist
nicht wahr, dann stehleichdasnächstemal, aber sicher!“ —
— 0 —
Di u (RR
“rn
Mein Vergleich hinkt ja ein bißchen: ein Wolf bleibt eben ein Wolf,
wird man mir entgegenhalten. Gewiß. Eine Unart, eine falsche Entwick-
lung, ein durchbrechender Trieb könnte vielleicht mit dem reißenden Tiere
verglichen werden. Durch erzieherische Zwangmittel gelingt es, das Tier
an Ketten, hinter Gitter zu legen. Aber es zieht einen Schafspelz an und
ist so verwandlungsfähig, daß es entweicht und herumgeht und erst dann
wieder erkannt wird, wenn neuer Schaden durch es entstanden ist. Das
kann ein wirklicher Wolf nicht und insofern hinkt der Vergleich.
Dennoch glaube ich, mich deutlich genug ausgedrückt zu haben, um
den Unterschied zwischen Erziehung als eines seelischen Ablaufes und der
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E
I
6:
Unterdrückung als eines seelischen Stillstandes darzustellen. — Aus dem E
reißenden Wolfe — so könnte man unseren Vergleich weiterführen —
entwickelte sich der gezähmte Hund. —
Die Kenntnis der Lehre Freuds gibt dem Lehrer die Mittel zur Hand,
auch dort noch ruhig zu erziehen, wo der Kollege, der die Psychoanalyse E: RE
nicht kennt, in Angst und Unruhe gerät und mit Zwangsmitteln abzu-
gewöhnen versucht — ein Unterfangen, das infolge der Verwandlungs-
fähigkeit alles Seelischen fast immer mißrät.
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Fin verlogenes Kind
Von Dr. Felix Boehm (Berlin)
Vor mehreren Jahren wurde ich von einer jüngeren verlobten Dame
um meine Hilfe gebeten, weil sie sich vor ihren Schuldgefühlen nicht
mehr retten konnte. Sie hatte sich kleine Veruntreuungen in ihrem Beruf
zu schulden kommen lassen, dieselben ihrem Chef gestanden, und dieser
hatte ihr ganz und aufrichtig verziehen. Trotzdem konnte sie ihres Lebens
nicht mehr froh werden. Die von mir eingeleitete psychoanalytische
= “ä Br;
ee, .
Behandlung zeigte sehr bald, daß die Patientin seit etwa ihrem sechsten
Lebensjahr an einer Zwangsneurose litt. Es ist bekannt, daß zwangs-
neurotische Menschen stark von Schuldgefühlen gequält werden, welche u R |
sie aber nicht davor bewahren können, immer wieder in zwanghafter
Weise von ihnen verurteilte und neue Schuldgefühle verursachende
Handlungen auszuführen. Meine Patientin war von früher Kindheit trotz
härtester und erniedrigender Strafen immer wieder der Versuchung unter- ER
legen, sich ihr nicht gehörende Gegenstände anzueignen, aber gewöhnlich “2
in so ungeschickter Weise, daß die Strafe auf dem Fuße folgte. Sie litt,
um einen psychoanalytischen terminus technicus zu gebrauchen, unter =
einem Geständniszwang und Strafbedürfnis;' dasselbe eigenartige Verhalten
ı) Reik: „Geständniszwang und Strafbedürfnis.“ Internat, Psychoanalyt. Bibliothek, = E
Nr. XVII, 1925.
hatte sie bei zahllosen kleinen Lügen gezeigt, welche sie besonders oft
gebrauchen mußte, um ihr fortgesetztes, stets von ihr unter tausend Vor-
sätzen bekämpftes Zuspätkommen zu entschuldigen.
Die Tendenz, die Unwahrheit zu sprechen, war bei ihr früher auf-
getreten, als die häufigen Vergehen an fremdem Eigentum; gegen beide
Neigungen hatte sie seit frühester Jugend einen vergeblichen verzweifelten
Kampf geführt. Ohne auf ihre unbewußten Motive des Stehlens näher
einzugehen, will ich nur bemerken, daß sie zum Stehlen u. a. durch das
Sprichwort: „Wer lügt, der stiehlt auch“, gedrängt worden ist. Der Hang
zum Lügen war bei ihr verstärkt worden durch das Sprichwort: „Wer
einmal lügt, dem glaubt man nicht, und wenn er auch die Wahrheit
spricht.“ Meine Patientin hatte die Auffassung gewonnen, daß ihr überall, .
zu Hause, in der Schule, insbesondere im Religionsunterricht, und später
im öffentlichen Leben Lügen und Stehlen als die schlimmsten, ent-
ehrendsten Vergehen hingestellt worden wären.
Alle, was das unsichere Selbstgefühl dieses unter Schuldgefühlen
leidenden Kindes zu verringern imstande gewesen war, hatte seine Wider-
standsfähigkeit gegen die von ihm bekämpften Neigungen abgeschwächt.
Wie meine zwangsneurotische Patientin zum Zwang zur Lüge, zum
Zwang, dieselbe zu gestehen, gekommen ist, will ich in diesem kleinen
Bruchstück einer Krankengeschichte psychoanalytisch aufzuhellen versuchen.
Zuerst schildere ich den Lebenslauf der Patientin, wie er ihr immer
bewußt gewesen war: Wenige Wochen nach ihrer Geburt starb die
Mutter; der Vater, in nicht sehr glänzenden Verhältnissen lebend, übergab
das kleine Mädchen wohlhabenderen, kinderlosen Verwandten seiner ver-
storbenen Frau in einem anderen Orte. Im neuen Heim fand das Kind
eine herzliche Aufnahme und vergaß seinen Vater vollständig. Im fünften
Lebensjahre meiner Patientin starb die Pflegemutter, von der sie sehr
geliebt und sehr verzogen worden war; ihr Pflegevater heiratete bald dar-
auf eine andere Frau, welche für das Kind wenig Liebe, aber um so mehr
Prinzipien übrig hatte. Von ‘dem Zeitpunkt an wurde das Kind „unartig“,
trotzig und begann zur Lüge und zum Stehlen zu neigen. Als heran-
wachsendes junges Mädchen wurde es, als unerziehbar, gewissermaßen zur
Strafe, wegen seiner zahlreichen Vergehen gegen das siebente und achte
Gebot zum inzwischen auch wiederverheirateten Vater zurückgeschickt; bei
der Gelegenheit erfuhr es erst, daß es nicht das leibliche Kind seines
Pflegevaters war; nach diesem sehnte es sich von da ab unentwesgt,
während es im Hause des eigenen Vaters gar nicht heimisch werden
konnte.
Die Analyse beschäftigte sich längere Zeit mit der Aufhellung vieler
Kindheitserlebnisse und ihrer Wirkungen, wie z. B. des 'Todes der ersten
Pflegemutter, der Wiederverheiratung des Pflegevaters, der Geburt von
Stiefgeschwistern im Hause der Pflegeeltern, welche von der Patientin alle
so erzählt und mit meiner Hilfe so gedeutet wurden, wie wenn das Kind
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bis zur Pubertät nichts von der Existenz des eigenen Vaters geahnt hätte, =
wobei der Einfluß der Wiederverheiratung des Pflegevaters auf die Ent-
stehung der Unarten weitgehend aufgedeckt wurde. |
Erst nach längerer gemeinsamer Arbeit erinnerte sich meine Patientin, E
daß ihr Vater zur Beerdigung der ersten Pflegemutter eingetroffen war
und an derselben teilgenommen hatte; bald darauf brachte sie die =
Erinnerung, kurz nach der Beerdigung geäußert zu haben: „Den hier
nenne ich ‚Papa‘ und jenen dort ‚Vater‘.“ Nun kam Erinnerung auf
Erinnerung an periodische Besuche des Vaters im Hause ihrer Pflegeeltern —
und an von ihm mitgebrachte Geschenke; aber damit nicht genug: Meine
Patientin erinnerte sich immer deutlicher, auch selbst ihren Vater wieder- a
holt in den ersten Lebensjahren besucht zu haben, bis bald nach seiner
Wiederverheiratung, welche zeitlich ungefähr mit der zweiten Heirat des
Pflegevaters zusammenfiel, ungefähr im sechsten Lebensjahr der Patientin. en
Von diesem Zeitpunkt ab wurde, wie ich berichtet habe, unser Kind -
„unartig“, und es zeigte sich bald, daß die Wiederverheiratung des Vaters
auf die ungünstige Veränderung des Charakters des Kindes von viel :
größerem Einfluß gewesen war als die Wiederverheiratung des Peg 2
Die Frage, warum darf ich meinen Vater jetzt nicht mehr ber 1
dürfte wohl einen unlösbaren Konflikt in dem Kinde ausgelöst haben, da
es aller Wahrscheinlichkeit nach nicht gewagt hat, diese Frage an seine
Pflegeeltern zu richten. Wahrscheinlich, weil das Kind, wie die Analyeniil
ergeben hat, sich im Hause der Pflegeeltern niemals hatte anmerken
lassen, daß es seinen leiblichen Vater geliebt, sich nach ihm geschnt 3 E \
hatte. „Ich konnte meinen Pflegeeltern doch nie zeigen, was mir mein
Vater bedeutete“ lautete ein hierher gehörender Einfall. Die Gründe 2 |
hierfür will ich später zu schildern versuchen. So führte das Kind viele > E
Jahre lang ein Doppelleben: Fühlte sich anscheinend im Hause der wohl- 3
habenden und freundlichen Pflegeeltern ganz wie zu Hause, sehnte sich ’ = &
aber doch unausgesetzt nach dem leiblichen Vater und verbarg diese
Sehnsucht konsequent vor den Pflegeeltern und wohl auch immer stärker
vor sich selber; d. h. es belog sich selber andauernd. Wie wäre es sonst F |
möglich gewesen, daß meine Patientin mehr als ein Jahrzehnt überzeugt
gewesen war, ihren Vater erst in der Pubertät kennen gelernt zu haben?
Es liegt auf der Hand, daß das Kind seinem geliebten und verehrten
Pflegevater, dem es so viel zu verdanken hatte, nicht wehtun wollte,
indem es ihm zeigte, daß ihm der leibliche Vater doch mehr bedeutete,
Von größerer Bedeutung jedoch war, daß meine Patientin auch vor sich
selber ihre Neigung zum eigenen Vater verbergen, oder besser gesagt, 3
dieselbe ins Unbewußte verdrängen mußte: Die bei allen Kindern ihren
Eltern gegenüber früh auftretenden sinnlichen Regungen durften ihr nicht
bewußt werden infolge der Wirksamkeit der Inzestscheu, welche uns
durch Freuds” Forschungen bekannt geworden ist. Nur einmal lief die
ı) S. insbesondere: „Totem und Tabu“. Gesammelte Schriften, B4..5. er.
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Gefahr, sich ihrer Sinnlichkeit in bezug auf den leiblichen Vater bewußt
zu werden: Als ihr Vater sie in ihrem zwölften Lebensjahr besuchte,
d. h. in ihrer Frühpubertät, schenkte er ihr eine Puppe und nahm sie
bei der Gelegenheit auf den Schoß, wie wahrscheinlich auch schon bei
früheren Besuchen; dabei verspürte sie eine Sensation in der Genitalzone,
erschrak — und verdrängte ihre Zuneigung endgültig. So war das ganze
Leben des Kindes ein fortgesetzter Betrug an sich und an seiner ganzen
Umgebung, von dem aber nichts in sein Bewußtsein drang; folglich
mußten auch die Folgen des Betruges, die Schuldgefühle, unbewußt
bleiben. Seit Freud uns auf dem Psychoanalytischen Kongreß in Berlin
im Jahre ı922 in seinem Vortrag „Etwas vom Unbewußten“ auf die
Rolle dr unbewußten Schuldgefühle hingewiesen hat,! ist uns
manches Rätsel in der Neurosenbildung, manches Rätsel im Leben
anscheinend ganz gesunder Menschen, wie z. B. ein plötzlicher Mißerfolg
oder eine Reihe systematischer Rückschläge im Leben erfolgreicher
Menschen klar geworden. Reik (siehe oben) und Alexander? haben
dieses Kapitel der Neurosenlehre systematisch ausgebaut. Wir wissen heute,
daß unbewußte Schuldgefühle ein unbewußtes Strafbedürfnis erzeugen, das
sich z. B. in einem gelegentlichen Mißerfolg, einer Demütigung _ ‚oder
einer konsequenten Wiederholung. von Selbstschädigungen. "manifestieren
kann. Ein typisches Beispiel ist der erfolgreiche Großkaufmann, der immer
wieder bankerott macht. Ein anderes häufiges Beispiel ist der gewiegte
Verbrecher, welcher fast unverständliche Unvorsichtigkeiten begeht und so
zur Aufdeckung seiner strafbaren Handlung beiträgt: sein Schuldbewußt-
sein ließ ihm keine Ruhe, bis er entdeckt und bestraft wurde. Jedem
Pädagogen ist wohl ein Vorgang im Schulleben bekannt, der sich in den
verschiedensten Formen abspielen kann; z. B. folgendermaßen: Ein gut
angeschriebener und gewissenhafters Schüler, dessen Leistungen im Durch-
schnitt mit der Note „zwei“ bewertet werden, erhält ausnahmsweise für
eine Arbeit die beste Note („eins“) und hat das quälende Empfinden einer
unverdienten Einschätzung über Gebühr. Sein Gewissen läßt ihm keine
Ruhe, er arbeitet von da ab weniger, bis er einmal die Note „drei“ erhält;
dann hat er das Gefühl, der Gerechtigkeit sei Genüge getan; sein Gewissen
ist wieder rein. Vielleicht ist es zweckmäßig, zu betonen, daß sich der
ganze Vorgang im Unbewußten des Schülers abspielt.
Da im Unbewußten alle primitiven Gesetze wirksam sind, muß hier
auch das Gesetz des Talion, der Wiedervergeltung, sich durchsetzen, d.h.
eine unbewußte Schuld kann nur durch eine entsprechende Strafe abge-
golten werden. Nun fangen wir an, zu verstehen, warum sich bei unserem
Kinde der Zwang zur Lüge, besser gesagt zur ungeschickten Lüge, aus-
ı) Der Inhalt dieses Vortrages ist dann in der Schrift „Das Ich und das Es“
aufgegangen. (Ges. Schriften, Bd. VI.) |
2) „Kastrationskomplex und Charakter“, Internat. Zeitschr. f. PsA. VIII (1922) und
„Psychoanalyse der Gesamtpersönlichkeit“, Internat. PsA. Bibl. XXII, 1927.
—19 —
bilden mußte. Das ganze Leben desselben war auf eine nicht bewußt
leiblichen Vater gegenüber, aufgebaut; die hieraus resultierenden unbe-
wußten Schuldgefühle riefen nach einer Sühne, und das Kind richtete es
so ein, daß es ständig für ihm bewußte kleine Lügen von der Umgebung
bestraft und gedemütigt wurde; ein dauernder, leider erfolgloser Versuch,
das schlechte Gewissen zu entlasten.
*
Für diejenigen Leser, welche sich für die Technik der Psychoanalyse
interessieren sollten, will ich schildern, auf welchem Wege ich zu der
Erkenntnis der oben geschilderten Zusammenhänge zwischen unbewußtem
Erleben und der Manifestierung derselben gekommen bin. Selbstverständ-
lich durch die Erzählungen und freien Einfälle der Patientin; wesentlich
erleichtert wurde mir meine Aufgabe jedoch durch die Erscheinungen der
„Übertragung“ der Kranken; unter „Übertragung“ verstehen wir mit
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werdende Lüge, nämlich auf die zur Schau getragene Gleichgültigkeit dem
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Freud! „eine Übertraeune von Gefühlen auf die Person des Arztes, weil
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wir nicht glauben, daß die Situation der Kur eine Entstehung solcher
Gefühle rechtfertigen könne. Vielmehr vermuten wir, daß die ganze BR
Gefühlsbereitschaft anderswoher stammt, in der Kranken vorbereitet war : ir
und bei der Gelegenheit der analytischen Behandlung auf die Person des se
Arztes übertragen wird“. Meine Patientin zeigte nun in der psychoanaly-
tischen Behandlung, welche vom Patienten verlangt, daß er jeden ihm
einfallenden Gedanken sofort in unveränderter Form ausspricht, folgendes
bemerkenswerte Verhalten: Einerseits brauchte sie oft Wochen und Monate, ne
um eine ihr bewußte falsche Darstellung einer wichtigen Begebenheit
korrigieren zu können; andererseits war sie bei Erzählungen belangloser |
Ereignisse eifrigst bestrebt, jede Nuance absolut richtig wiederzugeben,
litt dauernd unter der Vorstellung, sie könnte sich nicht ganz korrekt ©:
ausgedrückt, ich sie infolgedessen mißverstanden haben. „Nein, nein, so
war es nicht,“ wiederholte sie oft in höchstem Affekt, wenn ich den Sinn
des von ihr Gesagten ihrer Auffassung nach nicht ganz richtig wieder-
gegeben hatte. Außerdem regten sich bei meiner Patientin sehr bald
Gefühle einer stürmischen Zuneigung, die sich u. a. auch in einer in |
gar keinem Verhältnis zu meinen Leistungen stehenden Anerkennung u x |
alles dessen äußerte, was mit meiner Person zusammenhing. Hingegen SE
suchte sie jedes wärmere Gefühl für ihren Bräutigam, jede Anerkennung e
desselben zu verheimlichen; vermied, wenn es ging, jedes Gespräch über
ihn. Es ließ sich bald nachweisen, daß ich sie in vielen Beziehungen an
‘ihren Pflegevater erinnerte, der Bräutigam aber große Ähnlichkeit mit 3
ihrem leiblichen Vater hatte. Aus den hier geschilderten Übertragungs- B:
erscheinungen erriet ich die in dieser kleinen Krankengeschichte
ı) Freud: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, $. 517, und
„Gesammelte Schriften“, Bd. VII.
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beschriebenen Zusammenhänge zwischen einem Lebensschicksal und dem
Hang zur Lüge wesentlich früher, als es mir durch die Wiedererweckung
von Kindheitserinnerungen möglich war.
Es würde allen Pädagogen ihre Aufgabe erleichtern, wenn sie wüßten, ı
wieviel von den ihnen von ihren Schülern entgegengebrachten Gefühlen,
sei es Liebe oder Haß, nicht der Person des Lehrers gilt, sondern eine
Erscheinung der Übertragung ist.
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BEOBACHTUNGEN AN KINDERN
INN
Wäsche-Fetischismus bei einem Finjährigen
Von Josef K. Friedjung, Wien
Das Kind ist nach Freud polymorph-pervers veranlagt und daher aller
möglichen Perversionen fähig, wenn die Gelegenheit zu ihrer Aktivierung
gegeben ist. Reich sind bereits unsere Erfahrungen auf diesem Gebiete;
dennoch glaube ich mit der Mitteilung der folgenden Beobachtung etwas
Neues zu bieten:
Ein ı6 Monate alter Knabe erkrankt an Keuchhusten. Seine tobende
Abwehr des Arztes bei der Untersuchung und das ängstliche Gehaben der
Eltern kennzeichnen mir alsbald das neurotische Milieu. Die Eltern sind
deutsche Musiker, Vater bedeutend älter als die Mutter. Aus der ersten Ehe
des Vaters ist ein siebenjähriger Junge im Hause. Patient neun Monate an
der Brust der nervösen Mutter, mäßig gediehen. Sehr verwöhnt. Wenn die
Mutter daheim ist, will er immer über sie verfügen. Gibt man ihm nicht
nach, wird er sehr „zornig‘. Wird jeden Morgen zu den Eltern ins Bett
genommen, Seit einigen Monaten (vielleicht schon seit der „Entwöhnung“,
wie die Mutter auf Befragen sagt) hat er eine eigenartige Einschlafbedingung:
Man muß ihm einen von der Mutter abgelegten Strumpf oder solch ein
Miederleibchen reichen. Diesen Gegenstand preßt er dann zwischen beide
Hände, steckt den einen Daumen zum Ludeln in den Mund und schläft
rasch ein. Wenn die Eltern nachts nach Hause kommen, erwacht der Kleine
jedesmal. Wenn nun die Mutter beim Entkleiden ihr Miederleibchen ablegt,
verlangt er danach und schläft damit bald wieder ein. Verweigerung ruft
einen Zornanfall hervor. Frische, ungebrauchte Wäschestücke oder solche, die
der Vater benützt hat, lehnt er ab. — Die Mitteilung dieser Dinge verdanke
ich nur dem Umstande, daß ich im Bette des Kindes einen nach dem Brauche
vieler Hausfrauen „invaginierten“, offenbar aber schon gebrauchten Frauen-
strumpf fand und verwundert nach seinem Herkommen fragte. Ich hebe dies
hervor, um zu zeigen, wie sehr wir in solchen Fällen vom Zufalle abhängen.
Darum beweist die Einzigartigkeit dieser Beobachtung noch nicht ihre
Vereinzeltheit, Noch zu wenige haben die Augen für Triebäußerungen der
Kinder offen. Immerhin haben wir seit der „Psychopathia sexualis‘ von
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Krafft-Ebing, in der von einem Bauernburschen eine ähnliche Trieb-
befriedigung berichtet wird, bis zu dieser Beobachtung an einem einjährigen
Durchschnittskinde unter Freuds Führung eine beträchtliche Wegstrecke
der Erkenntnis menschlichen Trieblebens zurückgelegt. |
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Nachtrag. Eine Woche später erfahre ich noch von der Großmutter
und einer älteren Hausgehilfin in Abwesenheit der Eltern folgendes: Begonnen
hat das Spiel vor vielen Monaten mit dem von der Mutter abgelegten
Nachthemde. (Diesen Fetisch hatten mir die Eltern verschwiegen.) Auch jetzt
spielt es noch manchmal neben den zwei anderen W äschestücken die alte
Rolle. Sehr anschaulich schildert die Großmutter, wie schön das Kind ee
seinen Fetischen tut: „Ganz animalisch“, so drückt sie sich au, — Die 1
Hausgehilfin fügt hinzu, jetzt gebe es dem Strumpfe den Vorzug. Auch beim =:
Abendbrot, das sie ihm in der Abwesenheit der Mutter reicht, muß er ihn 5
haben, sonst ißt er nicht. — Allen Beteiligten ist die Psychoanalyse Han
gänzlich fremd.
INN.
BERICHLE
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Bücher
AUGUST AICHHORN: Verwahrloste Jugend. (Internationale Psycıo-
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analytische Bibliothek Nr. XIX.) Internationaler Psychoanalytischer Verlag, Wien. we
Aichhorn veröffentlicht hier zehn einführende Vorträge über das Thema: Die i N
Psychoanalyse in der Fürsorgeerziehung. Er stützt seine Ausführungen auf eine viel- we
jährige Tätigkeit als Leiter von Fürsorgeerziehungsanstalten und einer Wiener 2
Erziehungsberatungsstelle. A 23
Einleitend gibt Aichhorn eine Definition des Begriffes Fürsorgeerziehung und eine E\
knappe Einführung in die Grundtatsachen der Psychoanalyse. Wesentliche Gebiete
der Theorie der Psychoanalyse sind später in außerordentlich anschaulicher Weise > S:
an praktischen Beispielen erläutert. i N
Fürsorgeerziehung setzt ein, „wenn es der Erziehung nicht gelungen ist, dem es |
Kinde oder Jugendlichen die seiner Altersstufe normal entsprechende Kulturfähigkeit et
zu vermitteln“, (16/ı7.) Im weiteren wird ausgeführt, was die Psychoanalyse der =
Fürsorgeerziehung an neuen Blickpunkten gebracht hat. Dieses ist: „. . . vertiefte 5 IR
psychologische Erkenntnis, aber was besonders wichtig ist, genaueren Einblick in us
die Struktur des Ichs und damit die Möglichkeit, die Beziehungen der Verwahrlosung ai ei
zu dessen Strukturveränderungen zu studieren, dann sicheres Erfassen der durch die Be: '
Fürsorge zu lösenden Aufgaben und schließlich erhöhtes technisches Können“, ($. 28,) Bi:
Psychoanalytisch betrachtet, bedeutet der Begriff „Verwahrlosung“, „daß in einem En |
Individuum die das soziale Handeln bedingenden Mechanismen nicht mehr normal ER
ablaufen“, (S. 61.) Anzeichen für diese Strukturveränderung sind die Verwahrlosungs-
erscheinungen, wie Vagieren, Stehlen usw. Aichhorn wendet sich dagegen, daß man
glaubt, die Verwahrlosung behoben zu haben, wenn man durch irgendwelche Erziehungs-
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maßnahmen eines dieser Anzeichen unterdrückt hat. Ihm kommt es darauf an, die
Verwahrlosung psychisch zu beheben. „Die Verwahrlosungsäußerungen haben nur
diagnostische Bedeutung, zu behandeln ist die Verwahrlosung.“ (S. 63.) Um dieser
Anforderung gerecht zu werden, braucht der Fürsorgeerzieher die Hilfe der Psycho-
analyse. Einerseits, weil der analysierte Pädagoge vorurteilsfreier an das Kind heran-
gehen kann als jeder andere. Andererseits, weil die theoretische Kenntnis der Psycho-
analyse ihm hilft, die Kindesseele wirklich in ihrer Struktureigentümlichkeit zu er-
fassen und die gegebenen psychischen Situationen zur Heilung auszunutzen, Hierbei
spielt die Übertragung dieselbe große Rolle wie in der Analyse. Sie gibt die nötige
Bindung an den Erzieher und ermöglicht es dem Kinde, der vom Erzieher gestellten
Aufgabe gerecht zu werden. Diese Aufgabe besteht in dem „. ... Nachholen jenes
Stückes der individuellen Entwicklung, das dem Verwahrlosten zur vollen Kultur-
fähigkeit gemangelt hat“. (S. 290.) Aus seiner Praxis zeigt Aichhorn, wie der Er-
zieher die Herstellung der positiven Übertragung — denn auf diese kommt es natürlich
nur an — in die Wege leiten kann, In der Erziehungsberatung kommt es meist darauf
an, sofort in diese Situation zu kommen, da der Berater hier auch sofort handeln
soll. In der Anstalt dagegen kann sich der Erzieher schon eher eine Weile abwartend
verhalten. Jedenfalls aber muß er im Gegensatz zum Analytiker von sich aus dem
Kind den Weg zur positiven Übertragung ebnen. Für die volle Ausnützung der Über-
tragungssituation und fast mehr noch für die darauffolgende Ablösung des Zöglings
vom Erzieher ist natürlich die analytische Vorbildung des Pädagogen unerläßlich.
Jedes Beispiel, das Aichhorn gibt, zeigt das aufs eindringlichste.
Nicht nur dem Fürsorgeerzieher, sondern jedem Pädagogen zeigt Aichhorn hier
einen ganz neuen Weg. Im Interesse aller Kinder, nicht nur der Verwahrlosten, ist
zu hoffen, daß viele ihn gehen werden.
Professor Freud hat zu diesem Buch ein Vorwort geschrieben, in dem er die
Meinung vertritt, daß die Pädagogik eines der wichtigsten Anwendungsgebiete der
Psychoanalyse ist. Er stellt die Forderungen auf, daß ı) der Erzieher selbst analysiert
und mit der Theorie der Psychoanalyse voll vertraut sein soll, und daß 2) psycho-
analytische Erziehung nicht mit Psychoanalyse des Kindes verwechselt werden darf.
Ferner betont Professor Freud auch hier wieder, daß nichts dagegen spräche, dem
Pädagogen — d.h. dem medizinischen Laien — in bestimmten Fällen die Ausübung
der Psychoanalyse freizugeben. Lizi Bonwitt-Hepner
HANS ZULLIGER: Gelöste Fesseln. Alwin Huhle Verlag, Dresden.
Zulligers Buch „Gelöste Fesseln“ ist als Band 3 der Sammlung „Künftige
Ernten“ erschienen. Die Leser dieser Zeitschrift kennen Zulliger bereits durch
mehrere Artikel, die in das vorliegende Buch aufgenommen wurden. Einzeln betrachtet,
sind diese Artikel interessante Beobachtungen eines gescheiten Lehrers, der die
Augen offen hat und die psychoanalytische Lehre kennt. Das Buch aber ist
unendlich viel mehr als etwa nur eine Zusammenstellung solcher Beobachtungen.
Das Buch ist ein Wegweiser für alle die, die wirklich „neue Pädagogik“ suchen.
Nicht als „Rezept“, — das betont Zulliger immer wieder, ist doch das Motto des
Buches: „Eines schickt sich nicht für alle...“ Dennoch ist es Genuß und Belehrung
zugleich, diesen Erzieher durch das Buch bei seiner Arbeit zu sehen. So lebendig
ist das Ganze geschrieben, daß man die Kinder mit ihren Nöten und Sorgen einzeln
zu kennen meint und bei jedem Erfolg ihres Führers eine ganz persönliche Freude
hat. Um solcher Freude willen sei das Buch jedem empfohlen, der Kinder lieb hat.
es Pflicht, zu untersuchen, was das Wesen dieser Wissenschaft und ihrer Methodik ist, e
Aber darüber hinaus wird soviel pädagogisch Wissenswertes unaufdringlich gebote, :
daß auch dadurch die Lektüre wertvoll wird. Be
Wenn man bedenkt, daß seit Jahren in Deutschland alte und junge Pädagogen
Richtungen eine Unmenge Arbeitskraft darauf verwenden, Wert und Unwert der
verschiedenen Schulsysteme zu erforschen, ist es fast wie eine Befreiung, daß hier
einmal ganz klar bewiesen wird, wie wenig es darauf ankommt, daß das einzige
Entscheidende immer nur das Verhältnis des Schülers zum Lehrer ist. Wenn ı .--
den günstigen Bedingungen etwa eines Landerziehungsheimes ein Lehrer seine:
Schülern mehr gibt als nur Wissensübermittlung und ihnen wirklich Erzieher w
Führer ist, so bedeutet das für den Einzelnen viel, für die große Masse fi
behandelter Kinder gar nichts. Wenn aber Zulliger in einer Volksschulklasse von
30 Kindern während der beiden letzten Schuljahre — Kinder, die zu unbegabt fü r
eine höhere Schulgattung sind und fast alle aus ärmlichen, oft sozial unendlich
traurigem Milieu stammen — wenn er diesen Kindern durch seine Erziehertätigkeit
hilft, eine gesunde statt eine verkrampfte Einstellung zum Leben zu bekommen,
so ist das wirklich ein neuer Weg. Wie eng die Fühlungnahme zwischen ihm und
den Kindern ist, wird durch eine von ihm nur gelegentlich gestreifte Tatsache
ersichtlich: bei den meisten von seinen Sorgenkindern berichtet er von Karten oc
Briefen, die er später — oft nach Jahren — von ihnen erhielt. Wieviel Lehrer,
auch solche, die „sich Mühe gaben“, können das von sich sagen?
Zulliger steht auf dem Standpunkt, daß die Psychoanalyse vielleicht einmal
die Pädagogik wichtiger sein wird als für die Medizin, Er hätte wohl recht dan w
wenn man sicher wäre, daß jeder analysierte Pädagoge, der sich außerdem
theoretisch informiert hat, Persönlichkeit genug ist, um ebenso lebendige Arbeii
über diesem Unterbau zu entwickeln. Wenn man daran aber auch zweifeln mag, so sieht
man doch auf jeder Seite dieses Buches, wie unschätzbar groß die Hilfe ist, ur =
Pädagoge durch seine eigene Analyse haben kann. Zulliger betont immer wieder,
daß überhaupt nur der analysierte Pädagoge absolut vorurteilsfrei an die Kinds
herangehen kann. Daß es aber gerade diese Vorurteilslosigkeit ist, die Zullig
Einstellung und damit seine Erfolge gewährleistet, das zeigt jedes einzelne Kapite y.
aufs neue. Dieses erscheint um so wichtiger, als man heute vielfach die merkwürdige
Ansicht hört, der Pädagoge müsse natürlich theoretisch über die Psychoanı ö
orientiert sein, während man die praktische Analyse weiter nur als Mittel &
Heilung Kranker ansieht. Zulligers Buch, das kaum Theorie und doch soviel neu e
Erkenntnisse bringt, beweist sehr klar, daß für den Pädagogen vor aller theoretischer :
Beschäftigung mit der Psychoanalyse die eigene praktische Analyse stehen muß, E
Lizi Bonwitt-Hepner
HEINZ HARTMANN: Die Grundlagen der Psychoanalyse. Georg
Thieme, Leipzig 1927. E.
Es ist ein erfreuliches Zeichen für die Psychoanalyse, daß aus ihrem Kreise ei n
derartiges Buch möglich ist; denn es zeigt, daß nicht mehr die Notwendigkeit besteht,
sie in ihrer Existenz überhaupt oder auch nur als Wissenschaft zu verteidigen, so
wenig es etwa erwiesen werden muß, daß Psychologie nötig ist, Dann aber wurdasg
Ist sie Naturwissenschaft oder Geisteswissenschaft ? Sucht sie zu verstehen oder erklä rk
sie? Dieser Aufgabe hat sich Hartmann in seinem Buche unterzogen, und ı 3
entscheidet sich im Sinne naturwissenschaftlicher Erklärung, Zu einer derartigen
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Untersuchung muß man sowohl eine gründliche Beherrschung der Psychoanalyse in
Theorie und Praxis als auch der philosophischen Methodik mitbringen. H. verfügt
darüber, dazu über eine klare Sprache, die es gestattet, ihm bei seinen schwierigen
Gedankengängen zu folgen. Mag man auch in philosophischem Bezuge, etwa beim
Problem Evidenz — Erklären, oder im analytischen Bereich, z. B. bei der Fassung des
Begriffes Unbewußtes — H. folgt hier nicht Freud, sondern Schilder — anderer
Meinung sein, so wird man es ihm doch danken, daß er als erster Kenner sich auf
dieses Gebiet vorgewagt und auf ihm Wesentliches aufgeklärt hat. Die ganze Struktur
des Werkes erlaubt kein kurzes Referat, macht es auch ungeeignet für den, der sich
nur oberflächlich mit Psychoanalyse vertraut macht. Wohl aber muß jedem, der sich
eingehend mit ihr befaßt, sein genaues Studium dringend empfohlen werden.
Dr. Landauer (Frankfurt a. M.)
Zeitschriften
Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse. (Herausgegeben
von Sigm. Freud.) XL Band, 1927, Heft 2 und 3, Internat. Psychoanalyt.
Verlag, Wien.
Aus dem Inhalt: Reich, Zur Technik der Deutung und der Widerstandsanalyse.
_ Sterba, Über latente negative Übertragung. — Fen ichel, Einige noch nicht
beschriebene infantile Sexualtheorien. — Lampl- de Groot, Zur Entwicklungs-
geschichte des Ödipuskomplexes der Frau. — Ra d6, Eine ängstliche Mutter, —
Wulff, Phobie bei einem anderthalbjährigen Kinde. — Searl, Ein Fall von
Stottern bei einem Kinde. |
Imago, Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf Natur- und Geistes-
wissenschaften. (Herausgegeben von Sigm. Freud.) XIII. Band, 1927, Heft 2/3/4.
Sonderheft: Glaube und Brauch. Internat. Psychoanalyt. Verlag, Wien.
Inhalt: Daly, Hindu-Mythologie und Kastrationskomplex. — Jones, Das
Mutterrecht und die sexuelle Unwissenheit der Wilden. — Fromm, Der Sabbath.
_Fromm-Reichmann, Das jüdische Speiseritul. — Reik, Dogma und
Zwangsidee. — Chadwick, Die Gott-Phantasie bei Kindern. — Rorschach,
Zwei schweizerische Sektenstifter (Binggeli—Unternaehrer), — Röh eim, Mond-
mythologie und Mondreligion. — Zulliger, Totemmahl eines fünfeinhalbjährigen
Knaben. — Freud, Nachtrag zur Arbeit über den Moses des Michelangelo.
Internationale Zeitschrift für Individualpsychologie.
(Herausgeber: Alfred Adler.) V/3. Juni 1927.
Künkel, „Die Kritik der Triebe“ — gedeiht in Kap. „VI. Seelische Strukturen“
bis zur völligen Ablehnung der naturwissenschaftlichen Psychologie überhaupt (also
auch der Psychoanalyse); ist aber zugleich auch eine Polemik gegen die Individual-
“psychologie. Was sagt Adler zu dieser Ablehnung weiter Gebiete seiner Lehre?
— Kap. „VII. Die geisteswissenschaftliche Umformung der Probleme“ untersteht _
der Kritik durch Philosophie, nicht durch Psychoanalyse, die eben nicht wie Künkels
anmaßende Geisteswissenschaft „erst dann berechtigt ist, wenn sie den Sinn der
Weltgeschichte erfaßt“, sondern sehr zufrieden ist, einen Teil der seelischen Vorgänge
naturwissenschaftlich zu begreifen.
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5
„Alfred Adler über Amerika.“ Der „Triumphzug“ der Individualpsychologie
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(Adler hielt 300 Vorträge) ist den Amerikanern gut bekommen: „... die Lösung
der pädagogischen Frage scheint den Amerikanern nun viel einleuchtender und
leichter als bisher.“ Gleichzeitig gewannen sie einen begeisterten Lobpreiser im 85
Philosophen des Gemeinschaftsgefühls, was Amerika sehr freuen kann; es lernt die Be
Güte seines sozialen Verschleierungsarrangements kennen. Was aber sagt der Marsist
Rühle dazu? Be
Seelmann, „Verhütung von Schwererziehbarkeit in der Schule.“ — Schildert E:;
eine sympathische, autoritäts- und strafenlose Disziplin in einer Volksschulklasse, deren E:
Erfolge wohl glaubwürdig sind. Weniger einsichtig wird die viel zu einfache Formel: a |
„schwererziehbarkeit ist nur eine Folge von Entmutigung und Bedrückung.“ ee;
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Umschau
Das Berliner Psychoanalytische Institut (Poliklinik und Lehranstalt) der Deutschen
Psychoanalytischen Gesellschaft e. V. (Berlin W 35, Potsdamerstraße 29) veröffentlicht
das Verzeichnis der Lehrkurse im Herbstquartal ı927. Wer sich |
für die Zusammenstellung der obligatorischen und fakultativen Kurse sowie der ae
Seminare für Anfänger und Fortgeschrittene sowie für die öffentlichen Vorträge |
interessiert, bestelle das Verzeichnis bei obiger Adresse.
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Psychoanalyse und Lehrerschaft. Die 52. Vertreterversammlung des Sächsischen
Lehrervereines nahm eine Reihe von Leitsätzen: „Erziehungsmaßnahmen in
der allgemeinen Volksschule“ an. Der elfte lautet folgendermaßen: „Dem Lehrer
muß in Zukunft Gelegenheit gegeben werden, die Erkenntnisse über die Kindes-
natur und die Erziehungsvorgänge, wie sie die Psychologie einschließlich ihrer
neuen Richtungen — Psychoanalyse, Individualpsychologie u. a. — gewonnen haben,
kennenzulernen.“
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Die Erfurter erziehungswissenschaftliche Herbsttagung findet vom 14. bis ı8. Oktober
1927 in der Oberrealschule in Erfurt statt. Das Thema, das in den verschiedenen
Vorträgen von erfahrenen Pädagogen auf mannigfaltige Weise abgewandelt werden
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soll, lautet: „Das Jugendalter, sein Wesen und seine Bildsamkeit« Ba:
Dienstag, den ı8. Oktober, ist die Zeit von ı6 bis 20 Uhr der Psychoanalyse Be
gewidmet (Dr. Hans Prinzhorn, Frankfurt a. M.: Psychoanalyse und Führerprobllem
— Dr. Arthur Hoffmann, Erfurt: Psychoanalyse und Erziehung). Programme sind a
zu erhalten von der Geschäftsstelle: Erfurt, Blumentalstraße 7, Dr. Hoffmann, B- F
| + ie
„Das Kind und die Psychoanalyse“ lautet das Thema, das am ee
1. Dezember 1927 Dr. med. Heinrich Meng, Stuttgart, auf Einladung des „Groupe E
@’Etudes Philosophiques et Scientifiques“ an der Sorbonne in Paris behandeln wird.
Die Leser der Zeitschrift in Paris werden gebeten, falls sie den Vortragenden
sprechen wollen, sich nach dem Vortrag an ihn zu wenden. Dr, Meng wird außerdem
am 2. und 3. Dezember über psychoanalytische und ärztliche Themen noch in zwei
wissenschaftlichen französischen Gesellschaften vortragen, hierfür erfolgen persönliche
Einladungen. Wünsche zum Besuch vermittelt die Schriftleitung unserer Zeitschrift,
Das Kinderheim der Frauenschule Margaretenheim in Königsfeld im Badischen
Schwarzwald nimmt Kinder über drei Jahre auf, die erholungsbedürftig sind, und solche,
die irgendwelche Schwierigkeiten haben oder bereiten und deshalb einen Wechsel
ihrer Umgebung und besonders angepaßte Erziehung brauchen (Kinder mit EBß-,
Verdauungs-, Schlafstörungen, Angstleiden, Hemmungslosigkeiten, Gehemmtheiten,
Sprachstörungen usw.). Ausführlichen Prospekt verlange man von der Leitung des
Kinderheims.
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OTEFENE HALLE
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Psychoanalyse und Weltanschauung
Aus einem Briefe an die Schriftleitung:
„Ich bitte Sie, mich als Teilnehmer für die pädagogische Woche zur Einführung
in die psychoanalytische Pädagogik zu vermerken.
Vor wenigen Tagen wurde in der Besprechung eines Vortrages von Oberamts-
arzt Dr. St. in O. über Psychoanalyse auf der hiesigen Bezirksschulversammlung, die
sämtliche Lehrer von Amts wegen besuchen müssen und auf der auch eine ganze
Anzahl Ortsvorsteher und andere vertreten sind, von einem Professor des hiesigen
Lehrerseminars der Psychoanalyse Freudscher Richtung der Vorwurf gemacht, daß
sie auf einer niedrigen (auch dem Werte nach: niedrigen) Weltanschauungsgrund-
lage aufbaue, nämlich auf sinnlichen ungeistigen Trieben, daß sie unvermittelt dann
den Begriff der Sublimierung einführe, um nicht dauernd auf ihrer niedrigen Grund-
lage, die sie doch nicht verlasse, verweilen zu müssen, und daß er gerade wegen
ihrer ganz bedenklichen weltanschaulichen Grundlagen und ihres Anspruches, selbst
wieder weitgehend Weltanschauung zu werden und alles in ihrem Sinne zu deuten, die
eine naturalistische sei, — er hätte ebenso gut materialistische sagen können, — die
Lehrer und Erzieher nur davor warnen könne, sich im Vertrauen auf irgendwelche
Autoritäten, die sie ihr empfehlen, gutgläubig anzunehmen. -
Vielleicht gibt sich auf der pädagogischen Woche Gelegenheit, auch auf
diesen Punkt — weltanschauliche Grundlage der Psychoanalyse und die Befähigung
und Grenzen der Psychoanalyse selbst wieder in der Bildung der Weltanschauung
mitzuwirken — einzugehen.
K., den 2ı. Juli 1927. Hochachtungsvoll E., Schulrat.“
Wir laden zur Diskussion über die aufgeworfene Frage ein! Hier nur drei
Bemerkungen: |
ı) Auf dem Stuttgarter Kurs wurde die Frage nach der weltanschaulichen Fand?
lage der Psychoanalyse nicht gestellt, obschon viele Fragen im Anschluß an die Vor-
träge einliefen. Das dürfte damit zusammenhängen, daß den Kursteilnehmern aus
den Vorträgen klar geworden ist, daß die Psychoanalyse eine wissenschaftliche
Forschungsmethode ist, und deren Ergebnisse Bausteine zum Gebäude der Wissen-
schaft sind, und daß sie ferner in der Hand des medizinischen und des pädagogischen
Praktikers zu einem therapeutischen und einem Erziehungsverfahren wird. In seinem
Schlußwort suchte Professor Schneider das den Kursteilnehmern aufgefallene Inein-
andergreifen und Ergänzen der verschiedenen Vorträge zu erklären. Er führte dies
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darauf zurück, daß die Psychoanalyse wissenschaftliche Tatsachenforschung ist und
daß die Referenten, die aus allen Richtungen der Windrose, mit verschiedenen Welt-
und Lebensanschauungen und aus verschiedenen Arbeitsgebieten in Stuttgart zusammen-
kamen, sich auf Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung stützen, wie sie sie bei
einem genialen Beobachter, Sigmund Freud, der nie etwas anderes denn Forscher Bi:
sein wollte, gelernt haben. Es besteht die Tendenz, die Psychoanalyse zu einer Welt Bi:
anschauung zu stempeln. Zu Ergebnissen der wissenschaftlichen Forschung muß man
sachlich Stellung nehmen, Weltanschauungen kann man als Privatangelogvi 3
betrachten, Hinter den Versuchen, die Psychoanalyse als Weltanschauug zu ben-i cha
liegt das offenbare Bestreben, einen Grund zu suchen, um sich nicht mit
beschäftigen zu müssen oder sie von vornherein als unbequem ablehnen zu
können. ee
2) Sigmund Freud in seiner Schrift: Hemmung, Symptom BE
Angst, Seite ıg: En
„Ich bin überhaupt nicht für die Fabrikation von Weltanschauungen. Die über-
Is man den Philosophen, die eingestandermaßen die Lebensreise ohne einen solchen
Bädeker, der über alles Auskunft gibt, nicht ausführbar finden. Nehmen wir demütig die
Verachtung auf uns, mit der die Philosophen vom Standpunkt ihrer höheren Bedürf- 3
tigkeit auf uns herabschauen. Da auch wir unseren narzißtischen Stolz nicht ver- r
leugnen können, wollen wir unseren Trost in der Erwägung suchen, daß alle diese
‚Lebensführer‘ rasch veralten, daß es gerade unsere kurzsichtig beschränkte Klein- 3
arbeit ist, welche deren Neuauflagen notwendig macht, und daß selbst die modernsten
dieser Bädeker Versuche sind, den alten, so bequemen und vollständigen Katechismus“ Rt
zu ersetzen. Wir wissen genau, wie wenig Licht die Wissenschaft bisher über die Rätsel e: |
dieser Welt verbreiten konnte, alles Poltern der Philosophen kann daran nichts
ändern, nur geduldige Fortsetzung der Arbeit, die alles der einen Forderung nach _ Ba:
Gewißheit unterordnet, kann langsam Wandel schaffen, Wenn der Wanderer u
der Dunkelheit singt, verleugnet er seine Ängstlichkeit, aber er sieht darum um ze
nichts heller.“ e
3) Zuletzt sei noch auf den Artikel in Nr. ı des ersten Jahrganges dieser Zeit Bi
schrift: „Geltungsbereich der Psychoanalyse für die Pädagogik@&
hingewiesen, wo am Schlusse steht: „Nach alledem können wir sagen: Die Psycho.
analyse dient dem Pädagogen als „Wissenschaft vom Unbewußt-Seelischen“ und
erweitert die für ihn notwendigen psychologischen Kenntnisse, und dann schenkt sie = E
ihm ein neues Erziehungsmittel, ein Verfahren, das imstande ist, durch Eingriffe ins Unbe- x: z
wußte seelische Ordnung herbeizuführen. Ihre Geltung erstreckt sich somit hauptsächlich
auf das Gebiet der pädagogischen Methodologie. Ob und wie weit sie in der Frageza
der Zielbestimmung mitsprechen kann, das ist nicht so leicht zu entscheiden. Diesaz
Aufgabe greift weit über das Gebiet der Psychologie und damit auch das der Peychazzg
analyse hinaus.“
NN |
Herausgeber: Dr. Heinrich Meng, Arzt in Stuttgart
und Universitätsprofessor Dr. Ernst Schneider in Riga
Eigentümer, Verleger und Herausgeber für Österreich: Adolf Josef Storfer, Wien, VII, Andreasgasse z
(„Verlag der Zeitschrift für psychoanalytische Pädagogik“). — Verantwortlicher Redakteur: Dr. Pa
Federn, Wien, I., Riemergasse 1. — Druck : Elbemühl Papierfabriken und Se rg Industrie A.-G,
Wien, TIE- Rüdengasse ıı (Verantwortlicher Druckereileiter : Karl Wrba, Wien),
Internationaler Psychoanalytischer Verlag
Wien, VII., Andreasgasse 3
Soeben erschien:
ALMANACH IO28
(Mit 4 Kunstbeilagen)
Ganzleinen RM. 3°—, Halbleder RM. Ya
Aus dem Inhalt:
Sigm. Freud: Der Humor -— Sigm. Freud: Fetischismus
Lou Andreas-Salome: Was daraus folgt, daß es nicht die
Frau gewesen ist, die den Vater totgeschlagen hat
Fritz Wittels: Das Sakrament der Ehe
Karen Horney: Die monogame Forderung
Wilhelm Reich: Die Spaltung der Geschlectlichkeit
$. Ferenczi: Obszöne Worte — S. Ferenczi: Sonntags-
neurosen
Felix Boehm: Bemerkungen zu Balzacs Liebesleben
Franz Alexander: Fin Fall von masodistishem Trans-
vestitismus als Selbstheilungsversuch
Theodor Reik: Zweifel und Hohn in der Dogmenbildung
Prof. Bernhard Alexander: Spinoza und die Psychoanalyse
Ernest Jones: Der Mantel als Symbol
Eckart von Sydow: Primitive Kunst und Sexualität
und andere Beiträge
Paul Federn-Wien und Heinrich Meng:Stuttgart
geben heraus die:
Bücher des-Werdenden BandTl
Edward Carpenter
Wenn die Menschen reif
zur Liebe werden
Einzige autorisierte deutsche Ausgabe von Dr. KarlFedern
Capeter wird der klassische Aufklärer unserer Jugend bleiben. Mit dem
ruhigen Ernst des Forschers vereinigt er den leidenschaftlichen Schwung
des Propheten. — /n Leinen Rm. 5’ —
Bücher des Werdenden Band II
Das psychoanalytische
Volksbuch
Herausgegeben von Dr. Paul Federn-Wien und Dr. Heinrich Meng-
Stuttgart unter Mitarbeit von 15 bewährten Ärzten und Erziehern
Besonders wichtige Abschnitte:
Hygiene des Kindes / Kinderfehler, Entstehung und Behandlung / Zwang
und Freiheit in der Schulerziehung / Schutz durch sexuelle Aufklärung / Körper-
liche und seelische Hygiene des Geschlechtslebens / Die psychoanalytische
Heilmethode / Fehlleistungen im täglichen Leben / Die Gemütserkrankungen /
Pflege des Geisteskranken / Psychoanalyse und Sittlichkeit
550 Seiten, I1 Bilder, Größe 8°, broschiert Rm. 750, Ganzleinen Rm. 950
Bücher des Werdenden Band iti-
Fritz Wittels
Die Befreiung des Kindes
13= Seelenleben des Kindes folgt seinen eigenen Gesetzen, die schwer
erforschbar sind, weil die Erwachsenen nicht mehr wissen, wie sie als
kleine Kinder gefühlt und gedacht haben. So erweist sich die Erziehung
als eine sehr schwere Aufgabe, der sich Erwachsene nur selten gewachsen
zeigen. Eher wäre es möglich, daß die Kinder uns erzögen, als wir sie. —
Das Buch von Wittels rückt die Erziehung ins Licht der modernen Seelenkunde
und gibt Eltern und Erziehern im weiteren Sinne sehr wertvolle Richtlinien
254 Seifen, 8°, broschiert Rm. 5—, in Leinen Rm. T—
Hippokrates-Verlag / Stuttgart / Berlin / Zürich