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Full text of "Zeitschrift für psychoanalytische Pädagogik IX 1935 Heft 4"

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IX. Jahrg. 



1935 



Heft 4 



Zeitschrift für 

psydioanalytisdie 

Pädagogik 



Frit^ ßedl ,.**.. Der Mechanismus der Strafwirkung 



Wilßelm Hof er 



Bericht über die Einleitung einer 
Kinderanalyse 



Heinricß Meng . ♦ . Strafen und Erziehen 



Berithte 



Preis dieses Heftes Mark 2'— 



Zeitschrift für psychoanalytisclie Pädagogik 

Begründet von Heinrich Meng und Ernst Schneider 



August A i c h h o r n 

Wien V, SdiOnbrunnerstrtiße 110 

Dr, (ieinridi M eng 

Basel, A nfjcnst ein erst raße 16 



ff er a u s g- e Ö e r ;" ' 
Dr. Paul Federn 

Wien VI« Köstlergasse 7 

Prof, Dr- Ernst Schneider 

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Hans Z ul liger 

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Schriftleiter: 
Dr^ Wilhelm Hoffer, Wien, L, Dorptheergasse 7 



6 Hefte |ährildi ÄL 1fr—, schw. Fit 12*50, österr- S 17 — 
Preis des Heftes: M, 2*— (»diw. Frk, 2'50, östeir, S 3 40) 

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Als Sonderheft des Jahrganges 1935 erscheint demnädist: ^Psychoanalyse 
und Pubertät'^ In Vorbereitung befinden sich femer die Sonderhefte: 
«Kindliche Eßstörungen**, „Lern- und DenkstÖrungen^, „Jugendliche 

Verwahrlosung und Kriminalist^ 



C,^^ f' 



ZEITSCHRIFT FÜR PSYCHO- 
ANALYTISCHE PÄDAGOGIK 



IX* Jahrg. 



1935 



Hert 4 



Der Mediaiiismus der Strafwirkung 
Von Fritz Reell, Wien 

Wer sich an das Sludium der Gedanken macht, die in Aufsätzen und 
Büchern über das Thema „Strafe**^ niedergelegt sind, wird sich zu- 
nächst dem Eindruck einer gewissen Verwirrung kaum entziehen 
können. Allzu bunt ist die Menge der Meinungen^ Vermutungen^ Be- 
hauptungen, die ilim entgegentreten, allzu groß die Fülle oder — sagen 
wir es gleich offen — das Durcheinander von GesiclUspunkten, unter 
denen dieses eine Problem betrachtet wird. Dabei scheinen sich ein- 
zelne Verfasser wenigstens von vornherein auf eine bestimmte Frage- 
stellung zu beschränken, schildern uns etwa die phylogenetische Ent- 
wicklung der Strafe aus sakralen Wurzeln, verfolgen die psychisclien 
Nebenmotive des Strafenden bis in die Regionen meines Unbe\^^ißten 
oder zeigen uns die verderblichen Auswüchse verfehlter Straf metho- 
den an Hand eindrucksvoller Beispiele, Besonders schwierig wird eä 
für den Leser aber dann, wenn alle erdenklichen Gesichtspunkte in 
ein und derselben Arbeit zur Anwendung kommen, ohne daß zwisclien 
ihnen ein Ausgleich erfolgt oder auch nur abzusehen wäre. 

Dem Erziehungspraktikerj besonders dem Tjehrer etwa, ist es nicht 
zu verdenken, wenn er die Straf literatur ein wenig ent lauscht und 
verbittert aus der Hand legt. Denn die bestfundierten theoretischen 
Ilnfersnchungen, die vollständigsten Beispiel Sammlungen von bösem 
Straf mißbrauch, bieten ihrn nicht das, was er so notwendig braucht, 
nämlich Kriterien, deren Anwendung auf seine eigene Erfahrung ilim 
neue Gesichtspunkte zur besseren Bewältigung seiner seliwierigou 
Aufgabe liefern könnte. 

Und doch ist in den pädagogischen xmd psychologischen Arbeiten 
über die Strafe so vieles enthaiteUj was auch für den Praktiker von 
unschätzbarem Werte sein müßte. Nur ist es vielfacli so sehr in die 
prinzipiellen Erör terungen verstrickt, oft sogar in Nebonbemerkungen 

*) Hinweise auf die iJ^yclioaiialytische Literatur fintien gich äöT Schlüsse 
dieser Arbeit* 

INTERNATIONAL 

PSYCHOANALYTIC 

UNIVERSITY 

DIE PSYCHOANALYTISCHE HOCHSCHULE IN BERLIN 




222 FrLtz Reril ^ „__ |} 

versteckt oder überhaupt nicht direkt ausgeführt, daß es dem Leser 
nicht so recht zugänglich werden kann. Versuchen wir einmal, vor , 
allem das herauszuholen, was für die Praxis des Lehrers von beson- 
derer Bedeutung sein dürfte, so brauchen wir nur in den Hintergrund 
zu schieben, was den theoretischen oder rein psychotherapeutischen 
Interessen der Verfasser entspringt, was ihrer Vorliebe für philo- 
sophisch-soziologische Spekulationen entstammt, oder was an affekt- 
getragenen Resten von weltanschaulichen Begeisterungen für oder 
gegen das Strafen mit in die Feder gelaufen sein mag. Wir können 
dann aus der vorliegenden Literatur über die Strafe etwa vier Arten 
von Fehlern angeben, an deren Vermeidung jedem Praktiker sehr ge- 
legen sein muß. 



Die Strafe als Versuch, das Verhalten des Kindes durch Zufügen 
von Unlust erzieherisch zu beeinflussen, ist nur eine unter vielen 
Erziehungsmöglichkeiten. Aus der Überschätzung dieses Mittels und 
seiner Wirksamkeit ergeben sich die bedenklichsten Fehlerquellen 
für die Beziehung des Erwachsenen zum Kind. Wer der Meinung ist, 
mit der Strafe eine Allerweltsmedizin in der Hand zu haben, deren 
Verordnung für alle Fälle von Krziehungsinißständen zu empfehlen 
wäre, gibt sich einem folgenschweren Irrtum hin. Tausende von Stra- 
fen sind völlig überflüssig. Ein freundliches Wort hätte die ganze 
Angelegenheit viel besser geregelt, wenn sie nicht überhaupt erst 
durch eine überhitzte Familien- oder Schulzimmeratmosphäre zum 
„Straf fair' gestempelt wurde. Doch aucii dann, wenn aus irgend einem 
Grunde die Einsetzung eines entschiedeueren Erziehungsmittels un- 
vermeidbar scheint, stehen dem Erzieher viole andere Möglichkeiten 
offen. Vor allem hat er ja die ganze Stufenleiter von Erziehungs- 
mitteln zur Hand, die sich auf der Linie „Belohnung" bewegen und in 
ihrer Wirksamkeit durchaus nicht unterschätzt werden sollten. Ob 
sie geeignet sind, und welches von ihnen in Betracht kommt, wird 
freilich auch erst eine genauere Überlegung entscheiden können.. 
Sicherlich wird dies von der Eigenart und der Entwicklungsstufe de^s 
Kindes abhängen, um das es sich handelt, von der Erziehungsweise, 
die bisher geübt wurde und an die das Kind gewöhnt ist, von der 
Eigenart der Erziehungsporsonen und nicht zuletzt von der Natur des 
vorliegenden oder zu verhütenden Vergehens. Auf alle Falle bietet 
die Handhabung der Belohnungsmittel dem Erzieher eine Menge wirk- 
samer Beeinflussungsmöglichkeiten, auf die er nicht zu bereitwillig 
verzichten sollte. Viel zu rasch wird oft die Entscheidung zugunsten 
der Strafe gefällt. „Strafe muß sein" rufen viele Pädagogen und 



f 



I 

\ 






Der Mechünii-inu.? der Slrafwirkunj 



223 



lll 



Ärzte mit dem Brustton der Überzeugung, ohne daß sie an der Tat- 
sache, daß sie ihre Meinimg erst durch Brustlöne bekräftigen müssen, 
merken würden, daß da offensichtlich etwas nicht stimmL Versuchen 
wir doch einmal, einem Arzt zuzurufen: „Operiert muß werden!*' Er 
wird uns mit Recht in unsere Schranken weisen und uns zu bedenken 
geben, daß man das docli nicht so allgemein .sagen könne; man müsse 
doch erst seilen, um was für einen Fall es sich handle, ob nicht andere 
Maßnahmen richtiger seien oder sicherer zum Ziele führen. 

Besonders auf einen Tatbestand hat uns die Psyclioanalyse und 
ihren Fußstapfen die gesamte übrige psychotherapeutische Literatur 
aufmerksam gemacht: Bei den meisten Erziehungsschwierigkeilen, die 
auf frühe Fehlentwicklungen oder passagere Konfliktsförnngen im 
Kinde zurückgelien, ist Strafe ungeeignet, wirkliche Abhilfe zu schaf- 
fen. Wohl erreicht sie oft ausgesprochen verblüffenden äußeren Er- 
folg. So gelingt es ihr etwa — um einen der häufigsten St raff alle zu 
zitieren — ohne Mühe, eine Trotzliandlung zu unterdrücken. Die 
Trotzposition eines Kindes aber aufzulösen, dazu bedarf es anderer 
Maßnahmen, Ja, auch wo die Strafe Erfolg zu liaben scheint, erreicht 
sie diesen vielfach nicht, ohne daß sie schwere innere Schädigungen 
verursacht, so daß ihr Sieg bestenfalls als ein Pyrrhussieg zu be- 
zeichnen iöL Ganz besonders aber dann, wenn ausgesprochen neu- 
rotische Zustände oder Charakterverbiidungen nachweisbar sind, 
pflegt sich die Verwendung von Straf mit (ein als äußerst unangebracht 
zu erweisen. Dieselbe Maßnahme, die beim „gesunden*' Kind vielleicht 
noch empfehlenswert sein könnte, jagt das neurotische nur noch mehr 
in Schwierigkeiten. Übrigens würde man ja auch dem Kind mit deui 
Herzklappenfehler nicht dieselben an sich recht heilsamen Turn- 
übungen zumuten wie seinem körperlich begünstigteren Kameraden, 

Alles, was die klinische Beobachtung an Beispielen anzuführen 
weiß, ist also Jedenfalls dazu geeignet, uns stutzig zu machen und 
uns zu ermahnen, daß beim schwierigen, weil fehlentwickelten, oder 
auch beim konfliktgestörten oder gar neurotischen Kind nicht Strafe, 
sondern Erziehungebehandlung, wenn nicht überhaupt analytische 
Therapie, in Betracht zu ziehen ist. Aber auch in einfacheren Fällen 
wird der Erzieher gut tun zu überlegen, ob ein Straffall überhaupt 
gegeben ist, ob sich nicht vielmehr andere erzieherische Maßnahm^ni 
empfehlen. 

Die Psychoanalyse leistet uns aber noch einen anderen Dienst. 
Sie lehrt uns verstehen, woher die Neigung zur Überschätzung der 
Strafe als Erziehungsmittel stammt. Man muß ja zwar nicht gerade 
gleich als Sadist Anlässe von kindlichem Fehlverhalten zum Vorwand 
der Triebbefriedigung benützen, aber mau tut gut, den tieferen Moti- 



224 



Fritz Redl 



Yen der Neigung zum Strafen ein wachsames Auge zusuwenden- Auch 
der Beherrschteste von uns straft oft nur deshalb so grimmig, weil 
er ähnliche Regungen, wie sie das Kind sich gestattet, bei sich selbst 
nur mühsam unterdrückt, oder weil ihm ihre Bewältigung jedenfalls 
in seiner eigenen Kindheit wesentlich zu schaffen gemacht hat. Das 
Ausmaß, in dem uns ein kindliches Fehlverhalten in Wut versetzt, 
ist nicht immer ein gutei* Gradmesser für seine wirkliche erzieheri- 
eche Relevanz, Der Zwang, in der eigenen Kindheit Erlebtes als Er- 
zieher aktiv mit vertauschten Rollen zu wiederholen, oder eigene 
Kindheitsfehler am Erziehungsobjekt „gutzumachen**, spielt uns oft 
übel mit. Es ist aber auch, viel gröber gesehen, leicht zu verstehen, 
wieso sich die Strafe so zäher Beliebtheit erfreut, Sie verdankt diesen 
Vorzug jedenfalls weniger ihrer wirkliehen Eignung, sich am Kinde 
günstig auszuwirken, sondern mehr ihrer Fähigkeit, dem Erwachse- 
nen Erleichterung zu bringen. Dem Vater, der voll Sorgen und er- 
müdet von seiner Arbeit heimkommt und nun erfahren muß, daß sich 
sein Sprößling infolge unverantwortlicher Schlamperei wieder einmal 
ein „Nichlgenügend** eingewirtsehaftet hat, dessen Beseitigung die 
paar mühsam ersparten Schillinge verschlingen wird, ist es wirklich 
nicht krumm zu nehmen, wenn er in Wut gerät. Kein Wunder, daß 
sich ihm jenes Erziehungsmittel am unmittelbarsten aufdrängt, das, 
in welcher Form immer, ihm gleichzeitig die Abfuhr seiner quälenden 
Erbitterung gestattet. Wir können es dem Armen nicht verargen, daß 
es ihn nach Erleichterung drängt. Wir können ihm aber auch den 
Hinweis auf die Tatsache nicht ersparen, daß er unzweckmäßig han- 
delt. Freilich, nicht deshalb, weil er straft. Ob sein Strafen falsch 
oder richtig ist, geht aus der Tatsache seines Affektbedürfnisses noch 
nicht hervor. Die erzieherische Wertigkeit der Strafe müßte ganz 
anderen Überlegungen unterzogen werden. Wer seiner Neigung zu 
Affektabfuhr folgt, handelt deshalb unzweckmäßig, weil ihn dieser 
Zustand nicht in die Lage versetzt, erzieherisch planmäßig überdachte 
Maßnahmen zu treffen, da für ihn die Erleichterung» die bestenfalls 
als Nebenwirkung sinnvoll wäre, zum ausschlaggebenden Motiv seines 
Verhaltens wird. 

Mit einem Wort: Strafe ist kein AllheilmitteL Für viele Arten von 
Erziehungsschwierigkeiten, das wissen wir schon heute, ist sie mit 
Bestimmtheit als ungeeignet zu bezeichnen, und für viel© andere wird 
sie sich vermutlich mit der Zeit als vermeidbar herausstellen. Unser 
Gefühl dafür, daß wir sie anwenden sollen, ist kein verläßlicher 
Wegweiser für zielsicheres erzieherisches Verhalten, an seinem Zu- 
standekommen sind allzuviele persönliche Interessen des Strafenden 
offen oder versteckt beteiligt. Eine sorgfältige Erwägung des jeweils 



Der Mechanismus der Strafwirkuns: 



225 



vorliegenden Falles, ein beträchtliches Ausmaß an Selbstbeobachtung 
und Selbstkritik sind die unerläßlichen Voraussetzungen, die uns vor 
dem Fehler der Überschätzung der Strafe schützen sollen. 

Das ist die erste Lehre, die uns die Psychologie gibt. Wir haben 
allen Gründe ihr dafür dankbar zu sein. Die Meinung mancher Psy- 
chologen allerdings, daß mit dem Hinweis auf alle die Fälle, in denen 
Strafe nicht angebracht ist, das Problem des Strafens gelöst wäre, 
können wir nicht teilen. Ja, wir neigen vielmehr zur Auffassung, daß 
das eigentliche Problem damit noch gar nicht einmal gestellt 
ist, doch wird ans die richtige Fragestellung, um die wir uns in dieser 
Arbeit bemühen wollen, umso eher gelingen, wenn wir vorher die 
eben geschilderten Gesichtspunkte berücksichtigt haben, 

IL 

Nehmen wir an, wir könnten die Aufgabe, dem Realitätsprinzip 
bei einem Kinde zur Durchsetzung zu verhelfen, einmal wirklich 
nicht ohne Anwendung von Straf mittein zu Wege bringen, dann 
müssen wir uns darauf besinnen, daß Strafe und Strafe zweierlei, ]a, 
vielerlei sein kann. Wir stehen dann vor der Aufgabe, uns über die 
Mannigfaltigkeit der zu Gebote stehenden Straf mittel klar zu werden, 
sie gegeneinander abzuwägen, uns für eines von ihnen zu entscheiden. 
Blinde Anwendung irgend eines Straf mittels ist auf alle Fälle von 
Unheil. Die Aufzählung der gebräuchlichsten Straf mittel erfolgt im 
allgemeinen auf Grund ihrer „Feinheit", mit dem gröbsten beginnend, 
zum verfeinertsten ansteigend. So kann man ein Kind schlagen, man 
kann es anschreien, schelten, tadeln. Man kann ihm auf die verschie- 
densten Arten Lust entziehen (Kinoverbot) oder direkt Unlust zu^ 
fügen (Abschreibaul'gaben), mau kann ihm schließlich auf weniger 
drastische Art zu wissen machen, daß man böse ist, gekränkt, belei- 
digt, ja, daß man sich entschlossen hat, ihm die Liebe wieder zu ent- 
ziehen, Die Einteilungsgründe^ die für die Aufzählung dieser Straf- 
mittel vielfach verwendet werden: Unlustzufügen durch Handlung 
(Schlagen), durch Reden (Tadeln, Schinipfen), durch sonstige Maß- 
nahmen (Kino verbot, Einsperren), durch Liebesentzug (Bösesein) 
verraten auf den ersten Blick, daß sie in den äußerlichsten Zufällig- 
keiten hängen bleiben, und sind daher geeignet, uns ein wenig stutzig 
zu machen. Sollte es keine sachgerechten Einteilungsgründe für die 
Strafmittel geben? Wir atmen erleichtert auf, wenn wir finden, daß 
die Reihung zugleich als Stufenleiter abnehmender Grausamkeit be- 
trachtet wird. Das wäre immerhin ein Einteilungsgrund, der mehr zur 
Sache spricht, doch bleibt uns die Enttäuschung nicht erspart, fest- 
stellen zu müssen, daß das nicht stimmt. Es ist nicht wahr, daß Körper- 



1 



226 Fritz Reell 



Strafen an sich grausainer sind als andere. Jeder Erziehungsberater 
kennt die Fälle, in denen dem Kopfstück keine allzugroße psychische 
liäelevanz zugesprochen av erden kann^ weiß aber auch ein Lied da- 
von zu singen, wie manche Eltern ihre Kinder durch raffinierte 
Methoden des Liebesentzuges bis zum Lebensüberdruß zu quälen ver- 
stehen. Wir vermuten liinter dem Mangel an einem sachentspruugenen 
Einteilungsgrund für die Straf mittel ein übersehenes Problem, das 
uns noch beschäftigen solL 

Auch sonst kann vom Gesichtspunkt des Praktikers die Art, wie 
die Straf mittel in der bestehenden Straf literatur diskutiert Averdeu, 
durchaus nicht als befriedigend bezeichnet werden. Am stärksten ver- 
blüfft der Mangel an Einheitlichkeit in ihrer Bewertung, In der 
Meinung, welches der möglichen Straf mittel das richtigste sei, wider- 
sprechen sich die einzelnen Autoren auf das entschiedenste. Die Ab- 
lehnung oder Anerkennung eines Strafmiiteis scheint jedenfalls meist 
ans Vor liebe oder Abneigung zu stammen, mehr auf der Zufälligkeit 
eigenen Erlebens aufgebaut zu sein als auf sachlichen Beweisgründen, 
Als häufigstes Argument für oder gegen ein Strafmittel taucht der 
Hinweis auf bestimmte Fälle aul Wir können uns nicht entschließen, 
die Zitierung von Einzelfällen, der wir gerne exemplifizierende Ge- 
walt zusprechen, als bindenden Beweis anzuerkennen. Daß z. B, der 
„Alisgangsentzug" im Falle A wirkungslos war, legt in keiner Weise 
nahe, daß er als Erziehungsmittel an sich wertlos sein muß, dies um- 
so weniger, als die meisten „Fälle" mit einer Ungenau igkeit berichtet 
sind, die uns staunen läßt. Meist w^erden nicht einmal die wesentlichsten 
psychologischen Daten angeführt, geschweige denn die zum Verständ- 
nis des Falles unerläßlichsten tiefenpsychologischen Kriterien. Da- 
gegen beschränken sich manche Autoren auf eine sehr allgemein 
gehaltene, daiür allerdings meist irgendwie betont humorvolle, her- 
zige oder aggressive Scliilderung der „Beispiele''. Wenn — auch bei 
sonst durchaus seriösen Autoren -- an einem bestimmten Punkte dem 
Affekt so bereitwillig Tür und Tor geöffnet wird, dann haben wnr 
wohl einige Berechtigung aufzuhorchen, und wir versprechen uns 
gerade von einer näheren Untersuchung dieser Zusammenhänge nicht 
unwesentliche Aufschlüsse. Am deutlichsten äußert sich dieser Um- 
stand bei dem Thema des Schiagens, der Körperstrafe. Auch die ruhig- 
sten Autoren pflegen hier die wissenschaftliche Zurückhaltung zu 
verlieren. Mit xm verkennbar er Deutlichkeit verwandelt sich an diesem 
Punkte die psychologische Untersuchung meist in eine Polemik gegen 
vorhandene oder fingierte Anhänger des Prügeins, eine Polemik, 
deren weltanschauliche Untermalung selten gut verborgen wird. In 
diesem Punkte wenigstens scheint unter den Psychologen größere 



I 



l>er IfoelianisiDUS der Straf Wirkung 227 

Einheitlichkeit erzielt worden zu sein. Es sei betont, daß uns Bicht 
einfällt, die B e r e e ii t i g ti n g dieser Polemik in Zweifel zu ziehen. 
Wir wollen uns über aueh durch die berechtigtsten Affektentladungen 
nicht an dem Verdaelite hindern lassen, daß sie im Grunde dazu be- 
stimmt sein könnten, einen Mangel an sclilagkraftigen Beweisgrün- 
den zu vertuschen. Ich will gerne gestehen, daß icli pei^sunlich die 
Ablehnung des Schiagens vollinhaltlich teile^ und doch kann ich weder 
die Aufzählung von Schauergeschichten und Schauer fällen, noch die 
Tatsache der bösen Nebenwirkungen, die das Sclilagen so leicht aus- 
lösen kann, als wissenschaftlich befriedigendes Argument betrachten- 
Ich meine, wenn wir nichts Wichtigeres anzuführen halten, dann wäre 
es um die pädagogische Beweiskraft unserer Gegnerschaft gegen die 
Prügelstrafe schlecht bestellt. Wir werden uns bemühen, bessere Ar- 
gumente zu finden. 

Versuchen wir xusamraenzu stellen, was sich an guten Lehren ans 
den verschiedenen Meinungen über den Wert der einzelnen Straf- 
ini ttel als allgemeingültig herauslesen läßt, so gelangen wir zur Aul- 
stellung folgender vier Forderungen: 

1. Anpassung des Strafinittels an die Natur des vorliegenden Vcr- 
geliens (Ansgjingsverbol nnlßte z. 11 im >^a!to vnit uiangelndeni Fleiß 
als adäquates, in einem Fall gehässigen Lügens als höchst unange- 
brachtes Straf mittel bezeichnet werden). 

2. Anpassung des Strafmittels an die EigenheiU den Entwicklungs- 
zustand und die bisherige Strafgewohnheit des Kindes. (Brutale 
Kinder müssen anders bestraft werden als überempfindliche; ver- 
schiedene Altersstufen fordern verschiedene Straf methodenj plötz- 
licher Stralüberfall bei sonst straf ungewohntem Kind erzeugt die Ge- 
fahr der Schockwirkung — e(c.)- 

3. Anpassung des Strafausmaßes an die Schwere des Vergehens, 
Eigenheit, Entwicklnngszustand und bisherige Straf gewohnheit des 
Kindes* 

4. Richtige Streuung und Auswertung der verwendeten Strafen 
(Cberhäufung mit Strafen erzeugt Abstumpfung oder Gegenwehr; 
unausgeführte Straf drohungen verraten Inkonsequenz und Scli wache 
— etc.). 

Diese vier Regeln für die Wahl und Verwendung der Straf mittel 
dürfen wohl als die grundlegendste Voraussetzung richtigen Strafens 
bezeichnet werden, Sie sind aucli so evidenl, geradezu selbstverständ- 
lich, daß sich ernstliche Einwände gegen sie wohl kaum erheben wer- 
den. Trotzdem dürfen wir uns von ihnen nicht allzuviel erwarten, Ihr 
Mangel liegt zwar nicht etwa darin, daß sie nicht richtig wären, son- 
dern darin, daß sie so schwier anzuwenden sind, Sie sind nämlicli. 



228 Fritz Kedi 



genau betrachtet, so weit und aUgemeiii gehalten, daß wir bei deui 
Versuch, sie unserem Verhalten zugrunde zu legen, dem Irrtum noch 
weite Gebiete offen lassen. Versuchen wir doch einmal, ein Strafmittel 
der „Eigeiiheit des Kindes'', seiner „Entwicklungsstufe" etc, richtig 
anzupassen! Wissen wir denn genau, was für die einzelnen Kinder- 
typen, was für bestimmte Entwicklungsstufen das Richtige ist? Es 
fehlt uns offenbar vieles, um unsere Regeln mit Sicherheit auswerten 
zu können. Wir müßten mehr über die psychische Wertigkeit der 
einzelnen Strafmittel wissen, ehe wir sagen können, ob sie für das 
Kind A, für das Entwicklungsstadium B, für das Vergehen C als ge- 
eignet anzusehen sind. Was uns die Psychologie in diesen Regeln 
zeigt, ist ein Verhaltens sc b e m a. Es mit konkretem Inhalt zu füllen 
ist eine Aufgabe^ die noch der Lösung harrt, 

IIL 

Außer diesen direkt auf die Wahl der Strafmittel gerichteten Be- 
lehrungen finden wir in der psychologischen und besonders wohl in 
der psychoanalytischen Literatur eine Reihe von Erkenntnissen, die 
sieh zwar nicht direkt auf die Tätigkeit des Praktikers beziehen, aber 
doch von solcher Wichtigkeit für ihn werden können, daß sie als 
wesentliche Bereicherung seines praktischen Könnens bezeichnet 
werden müssen. Es sind dies alle jene Randergebnisse, die sich nur der 
Forschung des Entwicklungspsychologen und des Therapeuten dar- 
bieten, die aber geeignet sind, auch die scheinbar unauffälligsten, 
sonst ganz übersehenen Einzelheiten plötzlich in ganz neuem Lichte 
erscheinen zu lassen. Hierher gehört ja eigentlich alles, was die psy- 
ehoanalytische Literatur an Untersuchungen über dieses Thema ge- 
leistet hat. An dieser Stelle seien mir drei Punkte hervorgehoben, 
deren Bedeutung ganz besonders hoch angeschlagen werden muß. 

Die genetische Betrachtung zeigt uns die Abkunft des Strafens aus 
dem Sakralen, dann aus dem Eachewesen. Es kann unserer Aufmerk- 
samkeit nicht entgehen, daß auch unsere moderne „Erziehungsstrafe" 
noch mehr als genug von jenen Wurzeln an sich trägt, Reste aus über- 
wundenen Zeiten, die sich dem sachrichtigen Gebrauch des Straf- 
mittels hindernd in den Weg stellen. Sie zu erfassen, bei sich und bei 
anderen rasch zu durchschauen, bedeutet für den Praktiker der Er- 
ziehung eine unschätzbare Fähigkeit. 

Zu den merkwürdigsten Funden der Psychoanalyse gehört wohl 
die Entdeckung, daß es tatsächlich so etwas gibt wie „Strafbedür{nis'\ 
Kinder mit solchen Regungen aber werden auch die bestaufgebauten 
Strafmaßnamen zunichte machen, indem sie sie ihres eigentlichen Sin- 
nes völlig entkleiden, ihre ursprüngliche Absicht umbiegen und ihren 



Der Mechanismus der Strafwirkuü^ 



229 



eigenen bewußten oder unbewußten Tendenzen dienstbar machen. 
Wenn es Kinder gibt, die darauf ausgehen, aus Straf maßnahmen maso- 
chis tischen Lust gewinn zu beziehen, oder die Bestrafung suchen, weil 
sie durch sie des quälenden Gewissensdruckes entledigt und zu 
neuen Untaten erst so recht befähigt werden, so wird sich der Er- 
zieher hüten müssen, auf die Praktiken dieser Kinder hineinzufallen. 
Er wird trotz Straffälligkeit besser daran tun, den Kindern die zu 
ihrer Befriedigung oder inneren Flucht so ersehnte Bestrafung vor- 
zuenthalten, sich ihre Verhaltensänderung auf anderem Wege zu 
erzwingen. Ein genaues Studium der in der analytischen Literatur 
angeführten Beispiele von solchen auffalligen Verhaltensweisen man^ 
eher Kinder wird dem Praktiker viele Mißerfolge und Enttäuschungen 
ersparen helfen. 

Der Erzieher und der Lehrer Iiaben es nicht inuncr direkt mit dem 
Kinde zu tun. Wie weit sie mit diesem Erfolg haben, hangt vielfach 
von ihrer Fähigkeit ab, seine Eltern richtig zu beurteilen und zu 
behandeln. Im Falle des Strafproblems aber ist die Beurteilung des 
Verhaltens der Eltern und Ihre Beeinflussung noch viel schwerer als 
in anderen Erziehungsfragen. In ganz besonderem Ausmaße sind da 
jene Mechanismen am Werk, die auch sonst daran beteiligt sind, wenn 
es gilt, über uneingestandenen Trieb wurzeln imposante Ideologien 
aufzubauen. So ist das^ was die Eltern als ihre Tlieorie der Strafe ent- 
wickeln, in vielen Fällen ganz besonders weit von dem entfernt, was 
sie wirklich tun. Was uns die Psychoanalyse über die Psychologie des 
Strafenden und die Psychologie der Theorienbildung zu sagen hat, 
wird sich demnach als besonders fruchtbar erweisen. 

Wir sind mit unserer Schilderung der Lehren, die der Erziehungs- 
praktiker aus der Literatur über die Strafe entnehmen kann, zu Ende, 
Wir erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit oder Dctailschilde- 
rung; uns war es um die Hervorhebung der wesentlichsten Fakten zu 
tun. Im großen und ganzen dürfte sich das meiste von dem hier Über- 
gangenen einem unserer Punkte unterordnen lassen, Ks ist nicht 
wenig, was uns die Psychologie an Belehrung über das Strafproblem 
au bieten hat, und wir würden noch leichter erkennen wie viel es ist, 
wenn wir uns nicht auf so kursorische Andeutung beschrankt hätten. 
Trotzdem tun wir gut daran, zu überlegen, was uns noch fehlt. Denn 
w^ena wir uns nun schon entschlossen haben, den Blick einmal auf die 
unmittelbare Fruchtbarkeit für die Erziehungspraxis einzustellen, so 
müssen wir frei gestehen, daß wir das Strafproblem trotz aller emp- 
fangenen Belehrungen nicht ganz ohne Mißvergnügen verlassen. Da- 
bei sind wir nicht so unvernünftig, der Psychologie zum Vorwurf zu 
machen, daß es ihr nicht gelungen ist, das Strafproblem zu lösen. 



230 Fritz Redl 



Aber — fragen wir uns einmal ganz kritisch: Ist es überhaupt schon 
gestellt? So gestellt, wie wir es als Praktiker wünschen würden? 
So interessant und fesselnd alles ist, was uns die Psychologen zu sagen 
haben — irgendwie können wir uns des Eindruckes nicht erwehren, 
daß einiges in ihren Fragestellungen gar nicht enthalten ist, was für 
uns doch das tägliche Brot bedeutet- 

Die Topik des Strafansatzes, 

Wenn an sich einwandfreie theoretische Formulierungen bei ihrer 
Anwendung auf die Praxis einen leeren Raum zurücklassen, uns die 
Kritik ablocken, daü sie „zwar sehr schön" seien, daß man mit ihnen 
aber ^,nichts Hechtes anfangen*' könne, dann hat dies immer einen und 
denselben Grund. Dann sind die Begriffe mit denen wir arbeiten, zu 
allgemein gehalten, bewegen sieh zu sehr in Äußerlichkeiten, haben 
den lebendigen Inhalt dessen, was sie meinen, noch nicht richtig er- 
fallt, Sie sind dann immer aalglatt, von bestechender Eleganz — zu 
schön, um wahr zu sein. 

Wir können uns des Verdachtes nicht erwehren, daß es sich mit 
dem Begriff der Strafe ganz ähnlich verhalte. Vor allem fällt uns 
eines auf: Wie kommt es eigentlich^ daß alle Autoren mit solcher 
Selbst verBtändlichkeit von „der vStrafe" sprechen, als ob es „die Strafe" 
überhaupt gäbe? Verallgemeinerungen dieser Art erregen unser be- 
rechtigtes Mißtrauen, In Wirklichkeit gibt es natürlich überhaupt 
nur ungezählte einzelne Strafakte. 5,Die Strafe'' ist eine Abstraktion. 
Solche Abstraktionen sind unvermeidlich, nachdem wir das Wesen 
einer Erscheinung erfaßt haben. Aber vorher? Sind wir gar so sicher, 
daß „Strafen** und „Strafen*' wirklich immer denselben Wesens Vor- 
gang bedeutet? Daß alle Unterschiede nur akzidenteller Natur sind? 
Wäre es nicht möglich, daß unter dem einen Wort von vornherein so 
heterogene Erscheinungen zusammengefaßt werden, daß unsere Aus- 
sagen gar nicht auf alles passen können? 

Die Definition des Straf ens als einer Förderung der Eealitätsan- 
passung der Kinder durch Zufügung von Unlust scheint diese Meinung 
zu unterstützen, denn sie paßt unweigerlich auf alle nur erdenklichen 
Strafakte. Was aber besagt dies schon? Diese Definition gibt nicht 
mehr an als den Zvveck der Strafe, über das Wesen des abrollenden 
Strafprozesses sagt sie gar nichts aus. Dieser Strafprozeß aber ist 
offenbar ein psychischer Akt. Sollte er da nicht derselben Mehr- 
deutigkeit» Mehr s c h i c h t i g k e i t unterliegen wie alles Psychische? 
Sollte nicht zum Beispiel der eine Vorgang des Straf ens sehr verschie- 
dene Vorzeichen bekommen je nachdem^ bei welcher Schicht unseres 



Der Mecliiniismus der Straf Wirkung 231 



Seelischen er ansetzt? Vielleicht können ein paar Schilderungen von 
typischen Strafarten etwas Licht in die Frage bringen. 

Fall A; Hans ist im Grunde ein recht braver Jimge. Etwas ver- 
wöhnt vielleicht, sehr hohe Anforderungen werden nicht an ihn ge- 
stellt. Der Vater ist häufig vom Hause fort, die Mutter läßt dem 
Kleinen ziemlich viele Möglichkeiten, seinen kindlichen Bedürfnissen 
zu leben. Er ist in dem Alter, in dem Lärmschi n gen zu den wesent- 
lichen Tätigkeiten glücklich verbrachter Stunden gehört. Hansens 
Vater ist ein wenig nervös. Er verträgt Lärm schlecht. Oft vergißt 
sich Hans, da weiß sein Valor, was das sicherste Mittel ist: Er führt 
ihn etwas unwirsch an, die sofortige Wirkung bleibt nicht aus. Dabei 
gerät er selbt gar niclit in Wut, er nimmt Hansens Schlimniheit keines- 
wegs tragisch. Er hat nur gemerkt, daß er durch einen etwas schär- 
feren Ton so prompte Wirkung erzielt. xn\d sich dieses Äüttel daher 

zu eigen gemacht, 

Fall B: Kurt hat schlechte Noten heimgebracht. „Was war denn 
wieder los mit dir, hast du solche Angst gehabt bei der Schularbeit?" 
„Nein, ich habe diesmal wirklich zu wenig gelernt. Vorgenommen 
habe ich mir's ohnedies inuiier, aber weißt du, das Wetter war halt 
gar zu schön!" Ein neues Fahrrad ist aber auch wirklich eine allzn- 
große Versuchung! „Na, weißt du, ich werde dir was sagen. Jetzt 
wirst da einmal eine Zeitlang nicht radfaliren gelien, bis du den ver- 
säumten Stoff wieder aufgeholt hast". Wir brauchen nicht mehr hin- 
zufügen, daß Kurt ein vernünftiges, einsichtsvolles Kind ist, freilich 
keines von den Uberbraven, die von vornherein gegen alle Vers\i- 
ehungsmöglichkeiten eingedecki sind. Aber auch sein Vater ist be- 
sonders vernünftig, Wir fürchten, daß dfi.s Beispiel keiner allzu- 
großen Zahl von wirklichen Fällen entspricht. 

Fal 1 C: Sepp's Eltern leben in ewigem Streit um ihre Erziehungs- 
prinzipien. Der Vater ist streng. Er denkt mit Sorgen daran, was aus 
dem Buben einmal werden soll, wenn sein© Mutter fortfälirt, ihn s o zu 
verwöhnen! Sepp's Mutter ist mehr als weichlich. Sie hat freilich im 
Leben schon genug mitgemacht. Sepp's Brüderchen ist vor kurzem 
gestorben. Jetzt ist er das einzige, was ihr geblieben ist, denn mit 
ihrem Manne versteht sie sich nicht allzu gut. — Kurzum, Sepp hat an 
seiner Mutter einen unbedingten „Halt". Sie überlädt ihn mit Zärtlich- 
keiten, mag er sich auch noch so gehen lassen und lieblos, ja gemein 
gegen sie sein. Auch wenn sie sich vornimmt, ihn etwas strenger zu be- 
handeln, — wenns darauf ankommt, wird wieder nichts daraus. Selbst 
aus ihrem Bösesein weiß Sepp fein herauszuhören, daß sie innerlich 
eigentlich gar nicht auf i h n böse ist, sondern auf den Vater, auf die 
böse Schule, die so strenge Anforderungen stellt an ihr Herzchen, ihr 



232 Fritz Redl 



Uoldgosciierl . . . Nur manchmal überkommt sie die Angst. Da bittet 
sie selbst den Vater, Sepp zu strafen, hart zu strafen, denn so gehts 
nicht mehr weiter. Und dann steht sie doch wieder zitternd dabei, 
fällt dem Vater in die Arme, um ihr Kind an sich zu reißen und mit 
Zärtlichkeiten zu überhäufen wie einen Märtyrer. Der Vater steigert 
seine Strenge dabei in vernünftiger, nicht übertriebener Art, selbst 
merkend, daß die eigentliche Schuld an den Fehlern des Buben bei der 
Mutter liegt. — „Trotzdem" bleibt die Wirkung aus. ' : 

Die drei Beispiele sind keine Fallberichte. Sie sind natürlich „kon- 
struiert", aber nicht aus der Phantasie. Sie sind nach der Wirklichkeit 
gezeichnet, kein Strich ist in ihnen enthalten, der nicht tausendmal 
vorkäme, nicht jedem Erziehungsberater wohlbekannt sein müßte. 

Was liegt in den drei Fällen eigentlich vor? Sind sie wirklich nur 
durch die Wahl der Strafmittel und durch einige Besonderheiten von- 
einander verschieden? Wir behaupten nichts Geringeres, als daß sie 
grundverschieden seien, geradezu Paradigmata dreier völlig hete- 
rogener Straftypen, die wir topisch gliedern können und am besten 
mit unserer Schichtung des Seelischen in Es, Ich, Uber-Ich in Zusam- 
menhang bringen. 

Fall A: Hans ist eines jener Kinder, die durchaus normal ent- 
wickelt sind. Auch an seiner Über-Ich-Bildung ist nichts auszusetzen. 
Im großen ganzen braucht sein Vater nicht viel an ihm zu erziehen, 
er verhält sich „von selbst" so ziemlich richtig. In einer Hinsicht 
freilich hat er es nicht ganz leicht. Die Nervosität des Vaters zwingt 
ihn dazu, sich in puncto Krawallbedürfnis stärkere Einschränkungen 
aufzuerlegen, als für sein Alter leicht ist. Diese Mehrleistung an Ver- 
sagung will ihm nicht immer ganz gelingen. Er weiß zwar, daß er es 
von selbst zusammenbringen sollte, aber seinem über-Ich seheinen 
nicht immer die nötigen Energien zur Verfügung zu stehen, um dieser 
Einsicht zum vollen Durchbruch zu verhelfen. 

Es ist offenkundig, an welche Instanz sich die väterliche Mahnung 
wendet: Das Angefahrenwerden bedeutet einen unmittelbaren Suk- 
kurs für Hansens Über-Ich. Die durch diesen Vorgang aufgerufene 
frülikindliche Angst vor der väterlichen Allmacht wirkt mobilisierend. 
Einer „Begründung" des Kommandos bedarf es nicht. Die Angstaus- 
lösung genügt zur Mobilmachung der latenten Mächte des Über-Iehs. 
Wendet sich diese Art der „Strafe" unmittelbar an das Über-Ich des 
Kindes, so bezeichnen wir sie vielleicht am besten als „Uber-Ich- 
Strafe". Wem dieser Ausdruck zu gekünstelt erscheint, der mag sich 
mit der Bezeichnung „Autoritätsappell" begnügen. 

Fall B: Auch Kurt hat nicht aus Mangel an Erzogenheit seine 



Der Mechanismus der Straf Wirkung 233 

Aufgaben vernachlässigt. Im Gegenteil, wir müssen ihn sogar als noeh 
einsichtsvoller bezeiclmen als Hans. Er weiß, was er zu tun hat, es 
würde der väterlichen Ermahnung im allgemeinen gar nicht bedürfen. 
Er hat die Tatsache des Lernzwanges ebenso akzeptiert, wie die Ein- 
sicht in die Unzweckmäßigkeit des öichgehenlassens. Doch war die 
Versuchung ein wenig großer, als die seiner Vernunft zu Gebote 
stehenden Machtmittel. Er hat sich unter dem Drucke der Verlockung 
wenig zweckmäßig verhalten. Sein Vater aber kennt ihn. Was der 
Junge braucht, ist nicht Autoritätsappeil. Kurt tut von selbst, was er 
einmal als vernünftig erkannt liat. Wenn es Verlockungen gibt, die 
stärker sind als seine Vernunft, dann muß man diese Lustprämien 
eine Zeitlang ausschalten, man darf es auch der vernünftigsten Ein- 
sicht eines Menschen niclit allzuschwer machen. Kurt's Vater wii-d 
dabei nicht böse. Kurt selbst ist nicht zerknirscht oder verängstigt. 
Die Instanz, an die sich sein Vater wendet, ist ganz deutlich Kurt's 
Vernunft, deren Wirksamkeit er ein wenig ,, erleichtert". Was er tut, 
bewegt sich auf der Linie der Kealitätsvorwegnahme. Etwas von den 
Unannehmlichkeiten, die sieh Kurt durch fortgesetztes Niehtlernen zu- 
zöge, wird ihm im voraus verabreicht. Dies genügt, um seiner Einsicht 
genug Macht zu verschaffen. Kurt wird sich nun nicht in verärgertem 
Trotz träumend zum Schreibtisch setzen. Er wird von selbst 
arbeiten. 

Kurt's Vater wendet sich an sein Ich. Scheinbar steht Kurt's Leben 
bereits im Zeichen dieser Instanz; seine Eealitatsanpassung ist in 
hohem Grade vollzogen. Wir können diese Art der Bestrafung als 
Ich-Strafe bezeichnen. Denken wir daran, daß Kurt's Vater ein Stück 
Lebensnot als Straf mittel setzt, so können wir ihr auch den Namen 
„Ananke-S träfe" geben. 

Fall C; Warum hat Sepp's Vater mit seinen erzieherischen Ver- 
suchen so wenig Erfolg? Sollte er sich in der Wahl des richtigen 
Mittels vergriffen haben? Das ist kaum möglich, denn er hat schon 
alles versucht, was sich nur ausdenken läßt, vom freundlichen Zu- 
reden bis zu den Prügeln. Es hat alles nichts genützt, und ich glaube, 
wir können ihm voraussagen: Was immer er tun wird, es wird frucht- 
los bleiben. Sepp hängt noch so fest in der libidinösen Bindung an die 
Mutter, daß es reale Mächte neben ihr, wie etwa Gewissen oder Wirk- 
lichkeit, für ihn noch kaum gibt. Die ganze Welt hat für ihn noch 
jene sekundäre Bedeutung, die sie für das ganz kleine Kind hat, das 
sie kaum zur Kenntnis nimmt, soferne es sich nur im sicheren Besitz 
der mütterlichen Zärtlichkeit weiß. Sepp wäre nur auf einem Wege 
beizukommen: dadurch, daß seine Mutter ihn „verläßt'*. Wir meinen 



234 Fritz Redl 



natürlich, daß sie ihn innerlich im Stiche läßt, so daß er merkt, 
daß sie ihm ihre Liebe entzieht, wenn er sein Verhalten nicht ändert, 
daß sio sich mit dem identifiziert, was Schule und Vater fordern, und 
zwar wirklich damit identifiziert, nicht nur zum Schein, den Sepp 
natürlich rasch durchschauen würde. Gelingt ihr dies, dann steht Sepp 
plötzlich da, von jener ungeheuren, an Todesangst grenzenden Bang- 
nis befallen, die vermutlich vom kleinen Kind Besitz ergreift, wenn 
es sich plötzlich der Abwesenheit der Mutter im Dunkeln bewußt wird, 
von jenem Gefühl namenloser Hilflosigkeit, das auch den Erwach- 
senen noch beschleicht, wenn er sich unvermittelt als winzigen und 
unbedeutenden Bestandteil in der gewaltigen Größe des kosmischen 
Geschehens erfaßt. Nur diese Art von Angstdruck, also eine unmittel- 
bare Attacke auf das Es des Kindes, könnte diesem Buben helfen. 

Nennen wir diese Art der Strafe demgemäß die „Es-Strafe", so 
merken wir, daß wir ruhig auch gleich den Namen des verwendeten 
Straf mittels einsetzen können, da es dafür nur eines gibt: den L i e- 
b e s e n t z u g. 

Die drei Fälle, die wir eben betrachtet haben, sind also nicht bloß 
Beispiele für die Wahl verschiedener Straf mittel, sie unterscheiden 
sich durch ein wesentlicheres Merkmal. Es sind wirklich d r e i S t r a f- 
typen, Strafen und Strafen heißt wirklich nicht ganz dasselbe, je 
uaclidem, ob es sich um den Fall der Über-Icli-, der Es- oder Ich-Strafe 
handelt. Doch — da scheint uns ein Einwand naheliegend: Handelt es 
sich denn nicht bei allem Strafen um eine Attacke gegen das Es? Was 
hat es also für einen Sinn, von Ich- und Cber-Ich-Strafen überhaupt zu 
reden? Diesem Einwand aber ist leicht zu begegnen. Es ist zuzugeben, 
daß die Nebeneinanderreihung nicht ganz richtig ist. Natürlich richten 
' sich alle drei Straf typen gleicherweise gegen das Es, im Weg aber, 
den sie dazu einschlagen, liegt ein wesentlicher Unterschied. Nur die 
Es-Strafe geht das Es sozusagen direkt an. Durch den Liebes- 
entzug soll es unmittelbar „getroffen" und dazu veranlaßt werden, 
einen Teil seiner Ansprüche aufzugeben. Worin der Druck besteht, 
der da auf das Es ausgeübt wird, werden wir noch zu untersuchen 
haben. Die Über-Ich-Strafe dagegen hat die unmittelbare Attacke ge- 
gen das Es offensichtlich nicht nötig; sie sucht sich einen Ansatzpunkt 
in der Person des zu Bestrafenden, der sich ihrer Absicht bereitwillig 
zur Verfügung stellt. Oder besser gesagt: Sie leistet jener Instanz 
Sukkurs, die ohnedies schon vorhanden und mit der Aufgabe betraut 
ist, dem Es gegenüber bestimmt© Ansprüche zur Geltung zu bringen. 
In ganz gleicher Weise wendet sich die Anankestrafe an das Ich des 
Kindes, liefert diesem Verstärkung gegen das Es, wenn es solcher 
bedürftig erscheint. Das Unterscheidende dieser drei Straftypen — 



\ 



Der Mechanismus der Strafwjrkuut^ 



235 



der Einteil ungsgrund für misere Aufslei luiig — liegt also im p s y c h i- 
sehen Ansatzpunkt, den der Strafprozeß im Kinde sucht. 

Wenn diese Unterscheidung etwas Wesentliches trifft, also eine 
Bereicherung unseres Wissens vom Wesen des Straf ens bedeutet, dann 
muß sie sich als solche legitimieren können. Wir haben ja behauptet, 
daß die ,, allgemeinen Kichtlinien*' die uns die Psych ologie für das 
richtige Strafen geben kann, durch Einsichten in das Wesen des Straf- 
prozesses mit konkretem Inhalt erfüllt und dadurch für die Praxis 
verwertbarer gemacht würden. Versuchen wir unsere Vermutung 
über die topische Mehrschiehligkeit des Strafprozesses auszuwerten, 
so ergeben sich fünf Punkte, aus denen wir Belehrung für den Prak- 
tiker erlioffen können, 

1- Ordnen wir die Keibenfolge der Fälle ein wenig um, dann fühlen 
wir uns an Dinge erinnert, die uns aus der analytischen Literatur 
längst bekannt sind, und aus deren Bcrücksiclitigung wir schon man- 
cherlei gelernt haben. Es-, Über-lch und Ich-Strafe bedeuten kein 
bloßes Nebeneinander; sie lassen uns sofort an die genetische 
Entwicklung der Bedeutung der einzelnen psychisclien Schichten im 
Werdegang des jungen Menschen denken. Die l^eihung K.^-€ber-lch— 
Ich stellt offenbar Etappen in der Entwicklung des Kindes dar — sollten 
ihnen nicht also ebensoviele Etappen in der jeweils richtigeren Straf- 
art entsprechen? Dann wären wir in der angenehmen Lage, über die 
„Anpassung der Strafe an den jeweiligen Entwicklungszustand eines 
Kindes** konkretere Angaben zu machen! Und wirklieh finden wir das 
ganz kleine Kind in schlechth inniger Abhängigkeit von seinen libidi- 
nösen Bindungen, ohne irgendwelche Beziehung zur realen Außen- 
welt, unbeeindruckt durch so etwas wie Autorität oder Gewissen. 
Für dieses Stadium, die präödipale Zeit der restlosen Herrschaft des 
Es, w^erden wir den Eltern überhaupt nur die Es-Strafe empfehlen 
können. Kommt das Kind dann in ein Stadium, in dem es auf Grund 
seiner Identifizierung mit den Eltern so etwas wie ein „Gewissen" in 
sich mit konkreterem Inhalt zu füllen beginnt, dann werden wir von 
dem Typ der ^^Über-Ich-Strafe" erfolgreich Gebrauch machen können. 
Vernünftiges Zureden" ohne Autoritälsnachdruck wird für dieses 
^Iter ziemlich sinnlos bleiben, auch wenn der Verstand des Kindes 
gut entwickelt sein sollte. Die Meinung vieler intellektualisierender 
Theoretiker, richtige Strafe müsse immer nur, schon beim ganz klei- 
nen Kind, mit „Vernunftgründen** arbeiten, erscheint uns also entwick- 
lungspsychologisch völlig verfehlt Wollen wir uns an die „Vernunft" 
des Kindes wenden, dann muß diese nicht nur gut entwickelt sein, 
sondern es muß dieser Instanz im seelischen Haushalt des Kindes 
bereits so viel Macht eingeräumt sein, daß ihr auch dynamische Mittel 



236 Fritz Eedl 



genug zur Verfügung stehen, um das als richtig Erkannte durchzu- 
setzen. Vorher werden wir der Unterstreichung durch Übersieh- Appell 

kaum entbehren können. 

Dafür können wir aber beim entsprechend entwickelten Kind nun 
mit umso größerer Entschiedenheit Ijehaupten, daß sich der Straf - 
gebrauch seiner inneren Entwicklung anzupassen habe. Bas ichge- 
recht entwickelte Kind noch mit bloßen Autoritätsstrafen behandeln 
zu wollen, heißt wirklich, es auf eine Stufe herab drücken, die es 
schon verlassen hat^ macht es unter der Last einer zu „kindischen 
Behandlung'' leiden und läßt es störrisch werden. Wir können also mit 
einiger Bestimmtheit angeben, welche Straf typen flir verschiedene 
Lebensepochen die richtigen sind. 

2. Wir können aber etwas noch viel Wichtigeres. Niemand wird 
sich der Vermutung hingeben, daß die Herrschaft des Es, des Über-Ichs, 
des Ichs, eine einfache Aufeinanderfolge verschiedener Entwicklungs- 
strecken bedeute. Wir wissen längst, daß der eine Zustand nicht 
schwindet, wenn der andere einsetzt, daß es sich viel mehr um eine 
übereinanderlagerung handelt als um eine Sukzession, Die frühere 
Schicht bleibt auch in der nächsten erhalten, sie wird durch diese 
nicht verdrängt. Nun wissen w^ir aber ebenso, daß sich Kinder nicht 
gleichmäßig zu entwickeln pflegen, oft auch plötzliche Stauungen im 
Entwicklungsprozeß mitmachen oder nach längerer Zeit aus irgend- 
welchen Gründen auf eigentlich schon überwundene Entwicklungs- 
punkte zurückgeworfen werden. Diese Erwägung wird für den Er- 
Äielmngsberater von unschätzbarer AVichtigkeit sein. Denn wenn dies 
so ist, dann gibt es ja Kinder, die trotz vorgeschrittenem Alter noch 
weitgehend auf der Stufe der Es-Herrschaft, der Über-Ich-Herrschaft 
stehen geblieben sind, während andere wiederum die eine oder andere 
Stufe in besonderem Tempo erreichen. Tatsäelxlich weiß jeder Er- 
Ziehungsberater, wie häufig diese Fälle sind, |a, der Großteil des 
Materials, mit dem er zu tun hat, besteht aus ihnen. Dann aber darf er 
es als willkommenen Wink begrüßen, wenn er nun viel genauere An- 
gaben z\i machen weiß, wenn ihn Eltern über die richtigeren Straf- 
mittel befragen. Im Falle Sepp etwa hätte er dem Vater sofort sagen 
können, daß weder Zureden noch Schreien etwas nützen kann. Dem 
Vater des Hans hätte er, falls sich dieser etwa mit gutem Zureden 
begnügt hätte, den Hat gegeben, doch nicht ganz auf die Unterstrei- 
chung seines Redens durch autoritativere Maßnahmen zu verzichten. 
Nehmen wir dagegen an, Kurt wäre in die Hand eines seh reisücht igen 
Erziehers gekommen, wir liätten diesem mit unbedingter Sicherheit 
raten können, sich die aufgeregten Szenen zu schenken, ohne daß er 
darum Angst haben müßte, daß seine Maßnahmen dadurch v/eniger 



Der Mf^ehanismue der Strnfwirkung 237 



wirken würden. Wir können alles das mit ziemlicher Sicherheit, vor- 
aussagen, soferne es uns nur gelingt, den jeweiligen Zustand des be- 
treffenden Kindes auf die topisehe Prävalenz einer der drei 
psychischen Instanzen hin richtig einzuschätzen. Diese Fähigkeit 
aber bedeutet ohnehin eine der nnerläßlichsten Voraussetzungen für 
die Tätigkeit des Erzielmngsberaters. Inunerliin w^ären wir dem Ana- 
lytiker dankbar, wenn er uns einmal geordnet zusammenstellen würde, 
was er an Indizien zur sicheren Diagnose der top i sehen Prävaleuz 
von Ich, Über-Ich oder Es im seelischen Haushalt eines Kindes anzu- 
geben weiß. Dann wären wir in der Lage, h'atschläge zu erteilen, ohne 
auch in jedem einfachen Falle so langwierige Voruntersuchungen 
anstellen zu müssen wie \m schwersten. 

3. Das Vorherrschen von Ich, Über-Ich oder Es im Seelischen eines 
Kindes muß nicht immer Entwicklungshemmung oder Regression be- 
deuten. Es kann auch gewissermaßen zu den konstanten, kaum mehr 
wesentlich beeinfl ulibaren Eigenschaften eines Menschen gehören. 
Dann bestimmt es den t o p i s c h e n Typ, zu dem wir ihn rechnen 
müssen. Wir erkennen in den Kindern, für die entweder die Ich- oder 
die Es- oder Uber-Ich-Strafen vorwiegend passen, unschwer die be- 
kannten „libidinösen Typen*' Freuds, deren Aufsteilung er in aller 
Knappheit in seiner gleichnanngen Schrift") vorgenommen liat. Wenn 
wir vom „erotischen" Typ Freuds hören, daß er „die elementaren 
Triebansprüche des Es vertritt, dem die anderen psychischen Instanzen 
gefügig geworden sind", so werden wir bei Kindern dieses Typs 
sicherlich die Verwendung der Es-Strafe, des Liebesentzngs, für ange- 
bracht halten. Übrigens sind diese Kinder in der Scluilklasse leicht 
herauszufinden. Allzu auffällig verraten sie, was Freud für sie als 
charakteristisch bezeichnet: „Lieben, besonders aber Geliebt werden, 
ist ihnen das Wichtigste". Diese Kinder haben keine sehr entwickelten 
Sachinteressen, sind oft verträumt, verspielt und verwenden ilir Haupt- 
augenmerk darauf, ihr© Beziehungen zu den anderen Kindern und zum 
Lehrer so auszubauen, wie es ilire. seelische Konstellation erfordert. 
Störungen in diesen Beziehungen beseliäftigen sie sehr, ihre Haltung 
zur Arbeit selbst bereitet dem Lehrer viele Sorgen. Gelingt es, diesen 
Kindern auf dem Umweg über eine gute Beziehung zu seiner Person 
viel Arbeitsfreude zu verleihen, so leidet anderseits ihre Leistungs- 
fähigkeit darunter, daß sich 'J'riibungen in der libidinüsen Beziehung 
zum Lehrer sofort in Lerntrotz oder Gleichgültigkeit umsetzen. Auch 
sind diese Kinder in ihren Ansprüchen nicht leicht zu befriedigen da 
sie sich auch mit der Tatsache, nur ein kleiner Teil unter so vielen 
Gleichberechtigten zu sein, nur ung ern und nicht ohne Ressentiment 
') Ges, Sehr. Bd. XII. :..:^ — "~"~ 

Zeitficbrilt f, psa. TU., TX/-1 « 



238 Fritz Redl 



abfinden. In ihrem allgemeinen Verhalten haben diese Kinder das 
Talent, die Aufmerksamkeit des Lehrers an sich zu ziehen. Sie sind 
meist „herzig" und nicht ohne Anmut, man merkt, daß sie auf dem 
Gebiete des Eindruckmachens Routine liabeu und ihrer Wirkung 
sicher sind. In vielen Fällen verstehen sie es dadurch auch wirklich, 
sich anderen gegenüber in Vorteil zu setzen; sie erzielen für ihre 
Leistungen immer ein wenig bessere Ergebnisse, als diesen direkt 
entspräche, und machen es dem Lehrer auch sonst schwer, böse auf sie 
zu sein. Auch physiognomisch sind diese Kinder aus einer größeren 
Zahl sofort herauelesbar, nur ist e^ schwer anzugeben, worin ihre 
physiognomischen Eigenheiten bestehen. Eine sorgfältige experimen- 
telle Untersuchung dieser Art müßte zur Entdeckung ungeahnter 
diagnostischer Hilfen führen. 

Vom „Zwangstyp" sagt Freud, daß er sich ,, durch die Vorherr- 
schaft des ÜberJchs auszeichnet'', „Er wird von Gewissensangst be- 
herrscht an Stelle der Angst vor dem Liebesverlust, zeigt eine sozu- 
sagen innere Abhängigkeit anstatt der äußeren, entfaltet ein hohes 
Maß von Selbständigkeit". Unter den Schulkindern stellt dieser Typ 
die „braven*'; auch die Streber und „Weinberl" stehen ihm nahe. Es 
handelt sich um jene Schüler, die sehr eifrig bemüht sind» die Aner- 
kennung des Lehrers zu ergattern, gescheiter und besser dazustehen 
als die anderen. Sie sind demütig in ihren Umgangsformen, innerlich 
aber leisten sie sich ein unheimliches Ausmaß an Hochmut gegen ihre 
Kameraden. Das »O Herr, wie danke ich dir, daß ich nicht bin wie 
jener" kann man ihnen immer am Gesicht ablesen, sobald ein anderer 
etwas falsch macht, Sie sind innerlich meist auf Seite des Lehrers, 
besonders, wenn er straft, was nicht ausschließt, daß sie keine große 
Anhänglichkeit an seine Person zeigen. Er ist für sie nur wichtig, 
sofern er ihr Vorgesetzter ist- Tritt ein anderer au seine Stelle, so 
wird er ihnen ebenso bedeutsam, er nimmt seinen Platz lückenlos ein, 
auch wenn er persönlich einen ganz anderen Typ darstellt. An der 
Arbeit gewinnen diese Kinder nur insofern© Freude, als sie auch 
anerkannt wird. Unbeachtetheit läßt ihr Interesse bald erlahmen. 
Physiognomisch stellen diese Kinder meist einen hageren Typ von 
ziemlich scharfen Gesichtszügen dar; ihre Haltung hat etwas stets 
„Bereites" an sich, der Mund ist meist fester und geschlossener als 
bei anderen Kindern des gleichen Alters, Kommt es bei solchen Kin- 
dern vor, daß sie im Fleiße nachlassen oder schwierig werden, dann 
ist der Autoritätsappell das sicherste StrafmitteL 

Der Typ, dem wir die Ich-Strafe zuordnen möchten, wird von 
Freud „narzißtischer Typ" genannt- „Keine Spannung zwischen 
Ich und Über-Ich — man würde von diesem Typ her kaum zur Auf- 



Der Mechauismue der Strurwiii;uiig 239 



Stellung eines Über-Ichs gekommen sein — keine Übermacht der 
erotischen Bedürfnisse, das Hauptinteresse auf die Selbsterhaltung 
gerichtet, unabhängig und wenig eingeschüchtert".^) In der Schul - 
klasse bilden diese Kinder den guten Durchschnitt. Zu außerordent- 
lichen Leistungen fehlt es an Ehrgeiz, vor allzugroßer Vernachlässi- 
gung der Arbeit schützt sie ein gewisses natürliches Interesse an den 
meisten Dingen, ein beträchtlicher Betätigungsdrang. Sie machen ihre 
fachen gerne, ohne doch je von etwas zu „schwärineu". Arbeiten, deren 
Sinn und Zweck sie nicht recht einsehen, machen ihnen nicht viel 
Spaß. Merken sie, daß sie nicht sehr kontrolliert werden, so machen 
sie sichs leicht bequem; einem Lehrer „zuliebe" zu lernen, schiene 
ihnen komisch. Sic greifen dafür aber auch nicht zum Lernstreik, 
wenn sie der Lehrer schlechter behandelt, sondern stellen sicli mit 
einem gewissen natürlichen Selbsterhaltungsinstinkt zu den meisten 
Lehrern „richtig" ein. Man hat sie gerne, findet sie nur ein wenig 
langweilig, aber sehr verläßlich. Physiognoinisch haben sie breite, 
friedliche Gesichtszüge, sind relativ ruhig in ihren Bewegungen, etwas 
bequem und gleichgültig in ihrer Haltung. Der Lehrer verwendet sie 
gerne zu Hilfeleislungen, denn sie sind verläßlich ohne doch auf- 
dringlich zu werden. Auf die Klasse haben sie meist einen beträcht- 
lichen Einfluß, ohne sich sehr als Führer „aufzuspielen". 
Dies nur als ungefähre Charakteristika, sie sind übrigens aus Beob- 
achtungen an 10 — ISjährigen bezogen. Genauere Indizien über die 
Zuordnung von Kindern zu den drei Typen wären jedenfalls für die 
richtige erzieherische Behandlung von größter Bedeutung. Freud 
schildert uns übrigens auch die drei Mischtypen : Beim „erotischen 
Zwangstypus" scheint „die Übermacht des Trieblebens durch den 
Einfluß des Über-Ichs eingeschränkt. Die Abhängigkeit gleichzeitig 
von rezenten menschlichen Objekten und von Relikten der Eltern, Er- 
zieher und Vorbilder erreicht bei diesem Typus den höchsten Grad". 
Der „erotisch-narzißtische Typus" ist „vielleicht jener, 
dem man die größte Häufigkeit zusprechen muß. Er vereinigt Gegen- 
sätze, die sich in ihm gegenseitig ermäßigen können; man kann an 
ihm im Vergleich mit den beiden anderen erotischen Typen lernen, 
daß Aggression und Aggressivität in der Vorherrschaft des Narziß- 
mus zusammengehen". Der „narzißtische Z w a n g s t y p u s" 
endlich „ergibt die kulturell wertvollste Variation, indem er zur äuße- 
ren Unabhängigkeit und Beachtung der Gewissenstorderung die 
Fähigkeit zur kraftvollen Betätigung hinzufügt und das Ich gegen das 
Über-Ich verstärkt". Auch diese Typen können wir im Schulzimmer 
deutlich sehen, wir vermuten, daß sie auf dem Gebie te der Straftypen 
•) Trend, 1. o. ~~~ 



240 Fritz Redl 



ebenfalls Mi seh formen fordern würden, lassen uns aber nicht darauf 
ein, diese Gedanken weiter zu verfolgen. Jedenfalls lehrt uns das 
:^usammenhaUen der libidinösen Typen mit den Straftypen, daß wir 
die Möglichkeit suchen konnten, den Eltern sehr konkrete Anweisun- 
gen für die für ihre Kinder richtige Wahl der Strafmethoden zu 
geben. 

4. Wir können also genauere Angaben machen, welcher Straf typ 
bei bestimmten Altersstufen, bei bestimmten Kindern, in bestimmten 
Fällen von Erziehungsschwierigkeiten zu empfehlen ist. Wir haben 
damit viel gewonnen, aber wir befinden uns doch noch in großer 
praktischer Verlegenheit. Wir wissen es — wie aber machen wir es 
den Eltern begreiflich? Wir werden uns bemühen, ihnen verständlich 
zu machen, welches die Wesenheit der Ich-, Es-, Über-Ich-S träfe ist, 
ohne sie mit psychologischen Belehrungen oder gar Terminis zu be- 
lästigen. Wird uns das aber immer gelingen? Noch viel konkretere 
Angaben könnten wir machen, wenn wir ihnen sagen könnten, was 
sie eigentlich hören wollen: welcher Straf mittel sie sich bedienen 
Süllen. Wenn es an diesen Straf mittein auch nicht in erster Linie liegt* 
~ könnten wir ihnen nicht doch auch darüber Konkreteres sagen? 

Tatsächlich belehrt uns ein Blick auf die Eeihe von Strafmitteln, 
die wir früher angeführt haben, daß sich für sie doch ein etw^as 
wesenhafterer Einteilungsgrund finden lassen müßte, als der Ge- 
sichtspunkt, ob wir „mit der Hand'' oder „durch Worte" oder „durch 
Handlungen" etc, strafen. Wenden wir unsere Aufschlüsse über den 
topischen Ansatz hier an, so merken wir leicht, daß nicht alle Straf- 
mittel für alle Straftypen gleich geeignet sein dürften. So dürften die 
unmittelbar person gebundenen, wie Schlagen, Anschreien, Schelten, 
mehr dem Cber4ch-Typ zuzuordnen sein. Der Liebesentzug hat sich 
schon als typische Es-S träfe deklariert. Das Aussetzen realer, den 
Schädigungen des Lebens nachgebildeter Unlustprämien ist wohl das 
Mittel der „Anankestrafe'\ Diese Zuordnung von Strafmittel zu 
Straf typ ist aber nun nichts Äußerliches mehr, wir werden uns von 
ihr viel erhoffen dürfen. 

5, Wir reden ununterbrochen von Strafen, da dies nun schon 
einmal dem gewählten Thema entspricht. Dadurch könnte leicht der 
Anschein einer neuerlichen Überschätzung der Strafe erweckt werden, 
weshalb wir uns beeilen hinzuzufügen: Wir wissen natürlich^ daß die 
Strafe nur einen ganz geringen Raum in unserem erzieherischen Tun 
einzunehmen hat. Sie ist nur eines und ein recht derbes Mittel, dessen 
wir uns nicht allzugerne bedienen wollen. Gerade deshalb aber ist sie 
vielleicht mehr als manches andere geeignet, ans ihrem Mechanismus 
Geheimnisse zu verraten, die natürlich auch in den feineren Er- 



Der Mecliaiiisiuus der Strafwirkung 241 



zichungsmethoden Geltung haben, ohne daß sie aus ihnen mit solcher 
Deutlichkeit ablesbar wären. So gilt das hier Gesagte natürlich vor 
allem ebenso für alles Belohnen, Auch dort werden sich Es-, Ich- 
und Über-Ich-Belohniing voneinander unterscheiden, es werden sich 
die einzelnen Methoden des Belohnens als von verschiedener top i scher 
Valenz erweisen. Nicht weniger wird der Erzieher überhaupt gut tun, 
sorgfältig, und zwar vor dem Einsatz der Erssiehungshandlung, zu 
überlegen, ob er mehr an das Es, das Ich oder das Über-Ich zn appellie- 
ren hat- Auch die Wahl zwischen den einzelnen Erziehungsmitteln 
wird nicht ganz unbeeinflußt von topischen Gesichtspunkten vor- 
zunehmen sein. Alles dies sei hier nur angedeutet, es ins einzelne 
zu verfolgen, die ganze Erziehungspraxis einmal unter den Druck 
der topischen Betrachtung zu stellen, soll als vielversprechender Ver- 
such für später aufgespart bleiben, 

Wir eilen weiter. Wir haben unserer topischen Betrachtung genug 
zu verdanken. Wir haben unser Versprechen, durch Anwendung 
tiefenpsychologisclier Gesichtspunkte aus den vagen Schatten der 
psychologischen „Kegeln vom riclitigen Strafen", blutvolle und lebens- 
nahe Ratschläge zu machen, weitgehend eingehalten. Freilieh war uns 
von Anfang an darum zu tun, Kriterien zur eigenen Anwendung des 
Praktikers zu geben, nicht fertige Kezepie, 

Daß uns das Wesen des Strafprozesses in unseren Betrachtungen 
klar geworden wäre, können wir aber nicht behaupten. Geben wir 
uns keinen Illusionen hin! Wir wissen einiges nicht Uninteressante 
vom Straf ansät z. Was sich da nun aber eigentlich abspielt, wenn 
wir mit unseren Strafmelhoden bei Es, Ich oder Über-lch einsetzen, 
darüber sind wir nicht klüger als zuvor. Wir werden uns aber kaum 
zufrieden geben dürfen, ehe wir nicht auch davon wenigstens einiges 
erfaßt haben, 

Die D y n a m i k der Straf w i r k u n g. 

Die Frage, die jetzt zur Diskussion steht, betrifft die innerpsyehi- 
schen Vorgänge, die durch die Setzung der Straf unlu st ausgelöst wer- 
den, durch die die erwünschte Straf Wirkung erreicht werden soll. Was 
spielt sieh auf dieser langen und dunklen Wegstrecke vom Strafeinsatz 
bis zur Straf Wirkung eigentlich ab? Der Strafeinsatz ist uns noch 
völlig klar. Daß wir uns des Erzeugens von Unlust irgend einer Art 
bedienen, gehört zu den konstituierenden Merknmlen des Straf be- 
griff es. Auch das Ergebnis, das wir anstreben, kann kaum zweifelhaft 
sein. Wir wollen, daß bestimmte Handlungen unterbleiben, oder andere 
durchgeführt werden, obwohl das Kind von vornherein keine Neigung 



n 



242 Fritz Kedl 



zeigtj sich diese unsere Wünsche zu eigen zu machen. Auf welchem 
Wege erreicht die Strafe eigentlich das Wunder dieses Wandels? 

Die analytische Literatur befaßt sich mit dieser Frage nicht in 
derselben Ausführlichkeit^ wie mit anderen Teilfragen des Straf- 
problems. Am ausführlichsten setzt sich mit ihr, meines Wissens^ Melitta 
ö c h ni i d e b e r g in ihrer Arbeit j,Zur Dynamik der durch die Strafe 
ausgelösten psychischen Vorgänge'*^) auseinander. Sie sagt dort: j,Die 
Strafe bewirkt absichtlich Unlustgefühle und weckt dadurch Haß. Die 
Wirkung der Strafe scheint vom Schicksal dieses Hasses bestimmt: 
darf dieser Haß bewußt werden, weil er durch die erlittene Strafe 
gerechtfertigt erscheint, wird das Kind rebellisch. Meistens kann der 
Haß aber nicht ertragen werden, weil er zu stark ist, und er muß 
verdrängt werden. Daß dieser Ausgang der häufigere ist, dürfte da- 
durch zustande kouimen^ daß der durch die Strafe ausgelöste Haß den 
tieferen, verdrängten, aus dem Ödipuskomplex stammenden Haß akti- 
viert. Dadurch, daß die durch die Strafe verursachte Versagung die 
früheren Versagungen aktiviert, wird zugleich der Haß geweckt, der 
diese früheren Versagungen begleitet hat. Dieser Vorgang wird noch 
dadurch verstärkt, daß die strafende Person ein Elternteil oder ein 
Elternersatz ist, also die Person oder deren Image (Ersatz), von der 
auch die früheren Versagungen ausgingen. Der plötzlich auf diese 
Art geweckte Haß ist meist so intensiv und wird als so unerträglicli 
empfunden, daß das Kind sich seiner nur durch Verdrängung er- 
wehren kann. Der verdrängte Haß muß durch Liebe überkompensiert 
werden, und so wird das bestrafte Kind brav und folgsam, unter Um- 
ständen sogar zärtlich und liebesbedürftig, um sein Schuldgefühl 
wegen seines unbewußten Hasses zu beruhigen,..'' 

Obwohl wir meinen, daß diese Ausführungen genetisch betrachtet 
viel Richtiges enthalten, befremdet uns an ihnen doch einiges. Was 
uns vor allem auffällt ist, daß die Strafe auch hier als topisch einheit- 
licher Vorgang betrachtet wird, und wir vermuten, daß die Ausfüh- 
rungen der Verfasserin kaum für alle drei Straftypen, die wir auf- 
gestellt haben, in gleicher Weise passen werden. 

Am ehesten scheinen sie uns für die Uber-Ich-Strafe zu stimmen. 
Dagegen schiene es uns im Falle Kurt (Ich-Strafe) ein wenig ge- 
zwungen von „verdrängtem Haß" zu reden. Wir meinen nicht, daß 
das Verhalten von Kurts Vater zur Mobilisierung neuer oder alter 
Haßregungen allzu großen Anlaß gegeben hätte. Wenn eine Erklärung 
aber für einen der Straftypen besser paßt, als für einen anderen, dann 
regt sich mit Recht der Verdacht, daß daran die Provenienz der Beob- 
achtungen der Verfasserin aus Fällen des einen Typs schuld tragen 



^) Ztschr. 1 psa. Päd., Bd. V, 1931, S. 310. 



Der Mecbaiiismus der Straf wirkling 243 

könnte. Was wir aber suchen, ^väre eine Einsieht in das Wesen allen 
Stratens überhaupt, in der die Verschiedenheiten der drei Typen ver- 
schwinden^ aufgehen müßte. Nicht weniger stört uns der Versuch, 
den Segen der Strafwirkung allein von der Tatsache der „Verdrän- 
gung'* der Haßregungen zu erwarten. Wir haben das Gefühl, daß 
darin zwar vennullicli ein häufiges und wichtiges, aber kaum das 
pädagogisch relevante Moment beim Strafprozeß verborgen sein kann, 
ohne daß wir frei lieh so rasch angeben könnten, was uns an dieser 
Formulierung so unzufrieden macht. 

Auf der Suche nach weiteren Einsichten in die Natur des Straf- 
prozesses werden wir gut tun, von einer scharfen Fragestellung aus- 
zugehen, und gelangen dabei zu folgenden Vermutungen: 

Die Frage, die uns am meisten interessiert, ist zunächst die, welche 
Mächte die Strafe eigen tlicli einzusetzen hat, um so Unerwünschtes 
und Unbequemes vom Eb zu — - erpressen» Daß es Triebkräfte sein 
müssen, haben wir erwartet, es seheint auch nicht schwer, sie anzu- 
geben. Es sind ganz offenkundig Aggressionen, Eegungen des 
Destruktionstriebes, die da mobilisiert werden. Auch die einfachste 
Beobachtung lehrt uns dies, ja wir können sogar die N a t u r bei ihren 
Straf methoden verfolgen, und dürfen vermuten, daß der Erzieher so 
ganz andersartige Mechanismen kaum zur Verfügung haben wird, 
auch wo er sich scheinbar ganz verschiedener Mittel bedient. Die 
Natur oder das ,, Leben" erzieht ihre Kiiider, indem sie sie an ihren 
eigenen Ungeschicklichkeiten leiden läßt. Sehen wir uns nur das 
kleine Kind an, das sich infolge seiner ungeschickten Bewegungen an 
der Tischkante stüßl: Es selilagt mit einem nicht geringen Auf- 
wand von Wut auf diese Tisehkante, olme daß es freilich Anlaß hätte, 
diese Wut zu verbergen. Wir meinen übrigens, daß es auch keinen 
Grund hat, eine Verdrängung vorzunehmen, und doch scheint die 
,,Strafe'* ihre Wirksamkeit nicht zu verfehlen! Jedenfalls zeigt uns 
schon dieses Beispiel deutlich, daß wir an die Tatsache, daß die Strafe 
inimer von Personen verabreicht wird, nicht als an das Aller wesent- 
lichste im Strafprozeß denken sollen, weshalb wir auch lieber von 
Aggressionen reden wollen, als von „Haß'\ 

Wir haben also Aggressionen hervorgerufen, indem wir dem jun- 
gen Wesen Unlust zufügten, — auf erlebte Unlust mit Aggression zu 
reagieren, ist wohl das Normalste, Unmitlelbarste, das wir kennen. 
Was aber nun? 

Die zweite Frage, die uns wesentlich interessiert, ist wohl die nach 
dem Schicksal dieser Aggressionen, Es wird offenbar alles darauf 
ankommen, was das Kind mit diesen ausgelösten Aggressionen an- 
fängt. Und da merken wir auch schon, daß uns an vielen Betrachtun- 



244 Fritz Kedl 



gen der Strafe noch etwas stört: daß sie auf diesen Punkt zu wenig 
f'ücksicht nehmen, daß sie überhaupt von der Strafe als etwas Selbst- 
verständlichem reden. Sollte aber die erfolgreiche Strafe denselben 
Mechanismus haben wie die erfolglose? Tatsächlich scheinen viele 
Auffassungen dahinzugehen, daß sich die Unterschiede der Wirksam- 
keit nur aus der Wahl und Ausführung der Strafmittel herleiten. 

Wir können uns des Verdachtes nicht erwehren, daß uns gerade 
dieser Unterschied Wesentliches sagen müßte, und finden imsere Ver- 
mutung auch wirklich gleich bestätigt. Sehen wir uns zunächst die 
wirkungslose Strafe an oder, besser, die erfolglose, deren Wirkung 
dem Sinne des Strafenden zuwiderläuft. Das unrichtig bestrafte Kind 
sehen wir oft zurückschlagen, in Wut geraten, sich bockig zeigen. 
tla, auch, wo es diese Äußerungen unterdrücken gelernt hat, bekommen 
wir in der Folgezeit einen vermehrten Erzielumgswidei^stand zu 
spüren. Auch die falsche Strafe erzeugt also Aggressionen des Kindes, 
aber — gegen den Strafenden. Auch das Schicksal dieser 
Aggressionen kann verschieden sein. Das eine Kind wird sie unverhüUt 
in Gegenaktionen umsetzen, das andere wird sie im Weinkrampf ver- 
beißen, das dritte vielleicht unterdrücken, aber für spätere Eache 
vorbehalten, ein viertes wird vielleicht in ohnmächtiger Wut sogar 
&inB Verdrängung vornehmen. Was aber gescliieht im richtigen Fall? 

Im richtigen Fall wendet das Kind die freigewordenen Aggressio- 
nen nicht gegen den Strafenden, sondern : gegen sich selbst. 
Wir hätten ku dieser Einsicht tibrigcns kaum der Belraehtung bedurft, 
wir hätten sie ebensogut aus dem ablesen können, was uns Freud 
über die ersten Ansätze zur über-Ich-Bildung sagt: Das Grewissen 
entsteht durch die Unlerdrüekung einer Aggression. Mit der Unter- 
drückung allein ist es aber natürlich nicht getan: die unverwendbar 
gewordenen Aggressionsmengen wendet das Kind gegen sich selbst. 
Nicht Verdrängung also, sondern das andere der von F r e u d 
in „Trieb und Triebschicksale"^) angegebenen Triebschicksale trifft 
hier zu: Wendung gegen die eigene Person, Richtungsänderung. 

Tatsächlich scheint dies der pädagogisch relevanteste Punkt zu 
sein. Es ist nicht zu bestreiten, daß außerdem noch Teile der aggressi- 
ven Regungen verdrängt werden können oder nicht, das Schicksal 
aber, das für die Straf Wirkung von entscheidender Bedeutung ist, ist 
die Wendung nach innen. 

Was aber verursacht diese? Offenbar kommt nun alles darauf 
an, daß wir diese Frage beantworten können, von ihr hängt nichts 
Geringeres ab, als die Einsicht in das, was wir tun können und 
müssen, um einer Strafe zum Erfolg zu verhelfen. All© unsere Ein- 

*) Ges. Sehr, Bd. V. ^ "^ ~~ ^ " 



Der Mechanismus der Strafwirkun^ 



245 



sichten über Zuordnung der Straf mittel etc- treten in den Hintergrund 
vor dieser Frage. Wir mögen es sonst noch so schlau anstellen und 
alles berücksichtigen, was die Psychologie uns lehrt, es wäre ver- 
gebens, wenn uns die Wendung der Aggressionsriehtung nicht gelingt. 
Wir haben da einen Punkt entdeckt, dessen Berücksichtigung offenbar 
für den Straferfolg von größter Bedeutung ist. Da er neu zu dem be- 
reits Erwähnten hinzutritt, müssen wir zunächst eine Benonming für 
ihn suchen, um ihn von den übrigen Gesichtspunkten klar abgrenzen 
zu können. Nennen wir demnach, um der dringendsten Verlegenheit 
KU entgehen, einstweilen die ICigcnarl ei3ier Slrafhandlung, zur Hich- 
tungsurukehrung der Aggressionen zu zwingen, ihre „d yn a m i s c h e 
V a i n z'\ 

Es wird nun offenbar alles darauf ankommen, daß es uns gelingt, 
nülior zu bestimmen, worin diese besteht, und welche Eigenschaften 
der Strafhandlung gewährleistet sein müssen, um sie zu erzielen. 

Es fällt uns auch nicht schwer, zwei Momente zu entdecken, die 
für die »^dynamische Valenz" einer Strafe ausschlaggebend sind: 

1. Zunächst besinnen Avir uiii^ auf eine Antwort, die wir längst ver- 
muten konnten; Die Entfaltung der Angst wird nicht unwesentlich 
an diesem Prozeß der Aggressionswenduag beteiligt sein. Aus Angst 
wagt das Kind nicht, die Gegenaggression zu betätigen. Freilich 
werden wir zu Recht vermuten, daß es nicht immer dieselbe Art Angst 
ist, die da mobil gemaelit wird, beziehungsweise deren Mobilisierung 
ihrerseits die Kichtungsänderung der Gegenaggression bestimmt. Im 
Falle der Über-lch-S träfe z. B. haben wir es mit Kastrationsangst 
in Reinkultur zu tun.^ Der durch die Strafe ausgelöste Zuzug an 
früheren, verdrängten Angstbereitschaften darf hier sicherlich be- 
sonders hoch eingeschätzt werden. Darum wird es auch nicht an der 
äußerlichen Fürchterlichkeit der Strafdrohung liegen, ob sie Erfolg 
hat, sondern daran, wieweit sie latente Ängste rezent zu machen ver- 
steht. Die Angst der Es-Straf e wiederum dürfte präödipalen Ursprungs 
sein, vergleichbar jener Angst, die das Kind im Dunkeln erlebt, lange 
bevor ödipale Kastrat ionsängste in Betracht kommen. Die Angst der 
Ich-Strafe dagegen wird im wesentlichen Realangst sein, wenngleich 
diese praktisch wohl immer durch die anderen Angslarten untermalt 
sein dürfte. Bezeichnen wir nun noch der einfacheren Orientierung 
halber die B'ähigkeit einer Strafe, Angst zu mobilisieren, als ihre 



^) Für den analytischen Laien sei bemerkt, daß die psychoanalytische 1] 
Zeichnung „Kastrationsangst" genetischer und tiefenpsycholoi^isclicr 
Natur ist. Es^ wird dabei niomaly behauptet, daB im bewußten Erleben des 
Kindot^ ?o v\\x:i^ wie Fureht vor einer Kastration cm illi allen f^ei! 



Be- 
er 



246 Fritz Redl 



.^Druckkraft*' oder als „Angstdruck", so haben wir damit offenbar 
einen wesentlichen Hebel für die Strafwirkung erfaßt. 

2. Und doch scheint die Angstmobilisierung allein nicht immer zu 
genügen. Erinnern wir uns an unser Beispiel mit dem ganz kleinen 
Kind, das wütend die Tischkante schlägt, an der es sich gestoßen hat, 
— was ist schuld daran, daß es sich so falsch verhält? Es würde sich 
offenbar richtiger verhalten, wenn es einen Einblick in den wahren 
Sachverhalt hätte, wenn es wüßte, daß nicht die Tischkante die wirk- 
liche Ursache seiner Unlust ist, sondern daß es für diese seine eigene 
Ungeschicklichkeit, also einen Mangel seiner eigenen Person ver- 
antwortlich zu machen hat. Es richtet, wie zu erwarten steht^ seine 
Gegenaggression gegen das, was es als Ursache seiner Unlust erlebt. 
Was ihm zur richtigen Verwendung seiner Gegenaggressionen fehlt, 
ist offenbar: daß es nicht sich als die wahre Ursache der erlebten 
Unlust erkennt. Bezeichnen wir die Tatsache, daß an zustandegekom- 
mener Unlust nicht fremde Personen oder Vorgänge außer uns ver- 
antwortlich zu machen sind, sondern daß wir uns selbst als eigentliche 
Ursache zu betrachten haben, als Schuld, dann können wir leicht 
angeben, was dem kleinen Kind die so unzweckmäßige Verwendung 
seiner Gegenaggressionen ermöglicht hat: sein Mangel an Schul d- 
einsicht. Sollte etwas von solcher „Einsicht" am Ende bei allem 
Strafen eine gewisse Rolle spielen? Freilich dürfen wir dabei nicht 
an Einsicht im gewöhnlichen Sinne denken, vor allem natürlich an 
nichts, was irgendwie mit bewußter „Erkenntnis" zu tun hat. Doch 
wir müssen zugeben, daß es für das Schicksal der kindlichen Gegen- 
aggressionen nicht gleichgültig sein kann» ob es den Strafenden oder 
sich selbst als Ursache erlebt; wir meinen also auch im Moment der 
Schuldeinsicht eine unerläßliche Bedingung für das Eintreten 
der richtigen Straf Wirkung festgelegt zu haben, neben der oben er- 
wähnten Angstmobilisierung. 

Wir vermuten auch, daß es wieder besondere Eigenschaften 
der Strafbehandlung sein werden, von denen es abhängt, ob die 
Erweekung von Schuldeinsicht gelingt, und sind besonders bedacht 
dflrauf, diese kennenzulernen. Wir müssen auch nicht lange suchen; 
einer der häufigsten Fehler im Strafen verrät uns auf den ersten 
Blick, worauf es ankommt, nämlich die sogenannten „ungerechten** 
Strafen. Woran liegt es, daß diese nicht nur ihre Wirkung ver- 
fehlen, sondern vielmehr so bösen Sehaden anrichten? Das ist gar 
nicht so selbstverständlich, wie es scheint. Ein Vater ist gerade 
schlecht aufgelegt. Er erfährt von einem Unfug seines Kindes; voll 
Grimm nimmt er eine entschiedene Strafhandlung vor. Nachher stellt 
sich heraus, daß der Schnldanteil des Kindes in keinem Verhältnis 



ii 



per Mechanismtie der Straf Wirkung 247 

zur väterlichen Reaktion steht, daß er auf die Strafe vermutlich über- 
haupt verzichtet hätte, wenn er weniger „fuchtig'* gewesen wäre und 
die Sachlage vorher ruhiger geprüft hätte. Tatsächlich werden in 
Foichen Fällen ja fast immer auch sonstige schwere Fehler in der 
titrafteclmik begangen. So fällt etwa das Strafausmaß zu hart aus, 
die Wahl des Straf mittels mißlingt, kurz, die ,, ungerechten'' Strafen 
haben meist so viele Fehler an sich, daß wir versiicht sind, sie i h v e t- 
we ge n für verfehlt zu halten. Und doch könnten wir uns prinzipiell 
auch „ungerechte** Strafen vorstellen, die straf technisch vollkommen 
einwandfrei aufgebaut sind. Lassen wir einen A^ater sein Kind, das 
eine Vase zerschlagen hat, weil es sein Bruder gezwickt hat, noch so 
„vernünftig'* bestrafen: ohne Wutgebrüll, ohne Schläge, etwa durch 
einen der kindlichen Leistungskraft angepaßten Sclmdenteilersatz, so 
wird von der bösen Wirkung der Bestrafung doch nichts wegfallen. Die 
Tatsache, daß das Kind sich keinen Schuldanteil an der erlebten Straf- 
unlust zuschreiben kann, wird die Bewältigung der ausgelösten Ge- 
genaggressionen durch Richtuugsänderung absolut verhindern. Die 
,jUngerechte" Strafe verfehlt also ihren Zweck, auch wenn sie sonst 
noch so gut aufgebaut war, weil es ihr nicht gelingt, das unerläßliche 
Moment der Schuldeinsicht zu erzielen. Wir gehen einen Schritt weiter 
und bemerken luit Erschrecken, wieviele „gerechte** Strafen an dem- 
selben Mangel leiden. Da mag alles in Ordnung sein, das Kind sogar 
schuldig, seinem Typ oder Entwicklungszustand nach auch wirklich 
strafreif sein ~ wird die Strafe so ausgeführt, daß es sie für persön- 
liche Rache des Strafenden halten muß, dann wird sie unweigerlich 
ihre Wirkung verfehlen. Und damit fällt es uns nicht mehr schwer 
anzugeben, worauf es ankommt, daß das unerläßliche Moment der 
Schuldeinsicht gewährleistet ist: Die Strafe muß so aufgebaut sein, 
daß sie das Kind trotz ihrer unlusterregenden Wii^kung nicht 
als Aggressionsäußerung der strafenden Person erlebt, sondern als 
indirekte Folge seiner eigenen Schuld. Wir nennen diese Eigenschaft 
einer Strafe, nicht als „Rache" oder „Aggression'' erlebt, sondern als 
objektive Erziehungsmaßnahme erfaßt zu werden, ihre „S a c h h a 1- 
t i g k e i t" und haben damit unsere Liste der wirkungsrelevanten 
Straf eigenschaften um einen wichtigen Punkt bereichert. Nur „sach- 
haltige'* Strafen können die richtige Wirkung erzielen. Fehlt ihnen 
diese wichtige Bedingung, so sind sie verfehlt, mögen sie straftecli- 
niseh noch so raffiniert aufgebaut sein und alle übrigen Bedingungen 
erfüllen, die wir bereits kennengelernt haben. Wir hoffen, daß es 
uns bald gelingt, genauer anzugeben» was alles dazugehört, um eine 
Strafe „sachhaltig" sein zu lassen, 

Stellen wir die beiden wichtigen Eigenschaften der Strafe, die wir 



248 ' Fritz ßedi 



eben gefunden haben nebeneinander, nämlich ihre Druckkraft 
und ihre S ac h h a 1 1 i g k e i t, so merken wir mit Staunen, daß sie 
eigentlich Gegensätze darstellen, obwohl sie doch als Bedingungen 
füj* ein und dasselbe Moment in den innerpsychischen Straf Vorgängen 
zu betrachten sind, nämlich für die Erzeugung der „dynamischen 
Valenz", Wenn zwei Merkmale eines und desselben übergeordneten 
Begriffes Gegensätzlichkeit zeigen, dann kann dies nur so zu erklären 
sein, daß sie Endpunkte einer H e i h e sind, selbst gewissermaßen 
Gronzbegriffe, die in ihrer vollen Reinheit in der Praxis selten auf- 
zufinden sind, deren verschiedenhaltige Mischung den Normalzustand 
bedeutet. Wir würden dann vermuten, daß wir auch die Strafen je 
nach dem Ausmaß, in dem Druckkraft und S a c h h a 1 t i g k e i t 
in ihnen vorwiegen in einer kontinuierlichen Heihe anordnen könn- 
ten, wohei der reine Angstdrnck ohne Schuldeinsicht den einen, die 
reine Schuldeinsicht ohne Angstdruck den anderen Endpunkt dar- 
stellen würden. Das erste würden wir noch nicht als „Strafe" be- 
zeichnen, es gehört in die Gruppe reiner Eache- oder, bestenfalls, 
Zweckhandlungen, denen ernste Erziehungsabsicbten nicht zuzu- 
schreiben sind. Der zweite Fall könnte nicht mehr als „Strafe** 
bezeichnet werden, sondern würde den reinen Fall des „Erziehens" 
ohne Unlustdruck dars teilen. Wir meinen also, daß der Anteil von 
Angstdruck und Schuldeinsicht am Zustandekommen der Strafwirkung 
jeweils sehr verschieden angesetzt werden kann, daß aber keines von 
beiden fehlen darf, wenn wir den Terminus „Strafe' für angebracht 
erklären wollen. 

Wie stehen nun unsere topischen Straftypen hinsichtlich der Be- 
teiligung von Angstdruck und Schuldeinsicht am Zustandekommen 
der dynamischen Valenz? Sind wirklich bei allen drei Typen beide 
Momente anzutreffen? 

Auf den ersten Blick scheint dies höchst unwahrscheinlich zu sein. 
Können wir nicht die ÜberJch-Strafe als den reinen Fall von Angst- 
niobilisierung bezeichnen? Bedarf es bei ihr eigentlich der Schuld- 
einsicht, um die Strafwirkung zu erreichen, erfolgt diese nicht einfach 
aus der Mobilisierung der Angst von selbst? Schaltet die Auslösung 
gl üßerer Mengen von Kastrationsangst die Möglichkeit einer Gegen- 
aggression nicht von vornherein so absolut aus, daß es des Einsichts- 
momentes als Unterstützung gar nicht bedarf? Noch merkwürdiger 
scheint uns die Forderung von „Sachhai tigkeit*' (Fähigkeit, Schuld- 
einsicht zu erwecken) bei den Es-Strafen. Bauen diese doch ihre Wir- 
kung so deutlich auf die Beziehung zur Person auf, daß es geradezu 
widerspruchsvoll klingen muß, da überhaupt von „Sachhaltigkeit" 
zu reden! Dagegen scheinen die Ich-Strafen den anderen Gegenpol 



I 



I 



Der Mecbaiiisiiiijs der Strafwirkiing 



249 



darzustellen. Im Verhalten von Kurts Vater finden wir so wenig von 
Angstdruckj daß es kaum der Erwähiumg wert scheint; selbst was an 
Realangst mobilisiert wird, ist nicht viel. Jedenfalls scheint hier das 
Einsichtsmoment in erster Linie beteiligt zu sein. Und doch — wenn 
es ganz allein ausschlaggebend wäre — hätte es da der Strafe über- 
haupt bedurft? 

Unsere erste Vermutung, daß Angstdruck und Schuldeinsicht in 
Jedem Ötraffall unentbelirüch sind, gewinnt wieder an Bedeutung, 
wenn wir ein paar Gedankenexperiniente durchführen; stellen wir 
uns nur einmal einen solchen Greuzfall vor: den Vater, der sehr hart 
und sehr über-ich-betont straft, also den in Wut prügelnden Familien- 
t;^ rannen. Das Kind wird sicherlich von Angst so sehr tiberschwemmt 
werden, daß es weder an bewußte Gegenaggression, noch an sichtliche 
Gegenwehr denkt; es wird sich fügen und folgen. Wird diese Folg- 
samkeit aber in allen Fällen als gleicliwertig zu befrachten sein? 
Stellen wir uns einmal vor, der Vater strafe außerdem nocli so, daß 
nicht der wirkliche Schuldgehalt des kindlichen Verhaltens^ sondern 
allein die zufällige Erregtheit des Vaters für seine Straf handlungen 
maßgebend ist, dann dürfen wir kaum zweifeln, daß wir nur einen 
Teil der Gegenaggressionen zur Unterdrückung der verpönten Hand- 
lungsweise verwendet, gegen das eigene Icli gerichtet finden werden, 
gerade so viel, als genügt, um die verpönte Handlung in Zukunft zu 
verhindern. Ein großer Teil aber wird dabei nicht gegen das Ich 
gewendet werden, sondern andere Verwendung finden: sei es in Form 
der stillen Gegenwut, der unterdrückten Trotzphantasie, der Wut- 
stauung in Form aufgeschobener Rache, sei es in Form von Ver- 
drängung, die zur Erzeugung unbewußten Widerstandes führt. 
Nicht anders liegt es im Falle des Liebesentzuges. Die Mutter, die ihr 
Kind nur aus Laune bald mehr, bald weniger liebt, wird Gegenwut, 
Gereiztheit erzielen. Nur wenn der Liebesentzug zum Schuldausniaß 
des Kindes in vernünftige Eelation gesetzt wird, die vom Kind auch 
als solche erfaßt werden kann, wird eine erzieherische Verwen- 
dung der Gegenaggressionen eintreten können. (jbrigens sei zur Tech- 
nik des Liebesentzuges hier noch vermerkt, daß die entzogene Libido- 
menge freibleiben muß. Wird sie bei anderen Objekten untergebracht, 
dann reagiert das Kind ebenfalls mit Gegenwut, Kachegelüsten oder 
Entwertung- Nur die freischwebende, gewissermaßen wieder rück- 
eroberbare entzogene Libido ist pädagogisch fruchtbar zu maclien. 

Der Denkfehler, der uns zu unserer Vermutung, es gäbe reine 
Person- und reine Sachstrafen verleitet hat, ist übrigens leicht 
aufzudecken: Es ist zuzugeben, daß bei Über-Tch- und Es-Strafe 
die Person weit mehr im Vorder gründe steht, als bei der Icli- 



250 Frirz Eedl 



Strafe. Aber sie steht im Vordergründe im Sinne des Mittels, 
dessen sich die Strafe bedient. Sie ist der E insa t z^ um den es geht. 
Daß die Person aber einmal eingesetzt wird und einmal nicht, das 
wiederum darf nicht persönliche, das muß rein saeh liehe Gründe haben. 
Unsere Bemerkung vom Sachgehalt der Strafe bezieht sich also auf 
den Strafanlaß, nicht auf die straf ausführende Person, Fassen 
wir zusammen: Zur Erzielung der dynamischen Valenz der Strafe 
bedarf es des Angstdruckes und der Schuldeinsicht; Druckkraft und 
Sachhaltigkelt sind zwei Endpunkte einer Reihe, deren Anteil am 
Zustandekommen der dynamischen Valenz bei den verschiedenen 
Straftypen verschieden ist, die aber doch beide jederzeit beteiligt 
sein müssen; die Endpunkte dieser Eeihe bilden Rache ohne eigent- 
liche erzieherische Wertigkeit und reine Erziehungshandlung, die 
nicht mehr ins Kapitel „Strafe" fällt, auch wenn wir dieses Kapitel 
im %veitesten Sinne des Wortes meinen. Übrigens sei, um Mißverständ- 
nissen vorzubeugen, an dieser Stelle noch einmal daran erinnert, daß 
sich diese Untersuchung das Ziel setzt, für den P r ak t i k er frucht- 
bar zu machen, was sich an psychologischen und psychoanalytischen 
Einsichten über den Strafprozeß gewinnen läßt. Es soll aber ganz 
besonders betont sein, daß diese Untersuchung keinen Anspruch 
darauf erhebt, das Problem der Strafwirkung analytisch einwand- 
frei zu lösen oder auch nur darzustellen- An diesem Punkt z, B, müßte 
der berechtigte Einw^and des Analytikers dahin lauten, daß Angst- 
druck und Schuldeinsicht zwar pädagogisch nebeneinandergestellt 
werden können, daß sie g e n e t i s c h gesehen aber nicht auf gleicher 
Ebene liegen. Denn natürlich bezieht auch die „Schuldeinsicht" ihre 
Kraft, Gegenaggressionen zur Richtungsänderung zu zwingen, nur 
daraus/ daß sie ihrerseits frühere Ängste mobilisiert, wodurch 
den aus der unmittelbaren Angsterregung stammenden dynamischen 
Quanten eine Verstärkung zufließt Einsicht an sich kann keine Ver- 
stärkung der Angstmobilisierung bedeuten; erst dadurch, daß sie eben 
Schuld einsieht ist, das heißt auf frühere Angsterlebnisse ähnlicher 
Art zurückgeht, erhält sie ihre dynamische Fähigkeit. Trotz dieser 
bedeutsamen Unterschiede verharren wir bei der Nebeneinanderstel- 
lung von Angstdruck auf der einen und Schuldeinsicht auf der anderen 
Seite, da uns in der Darstellung für den Praktiker mehr um den Un- 
terschied dieser beiden Angstarten zu tun ist. Daß sich hinter der 
Schuldeinsicht selbst wieder andersschichtige Angstsukkurse verstek- 
ken, kann für die Praxis ruhig unerwähnt bleiben. Wir haben neue 
Fachausdrücke eingeführt, wir können auch nicht behaupten, daß die 
Sachlage im Laufe unserer Untersuchung viel einfacher geworden 
ist. Wenn wir so umständliche Umwege machen, dann muß sich dies 



i 



Der Mechanismus der Straf Wirkung 251 



dadurcli rechtfertigen, daß die Anwendung unserer Formulierungen 
in ähnlicher Weise einer erweiterten praktischen Verwertbarke it ent- 
sprichtj wie wir dies bei der Aufstellung der topiechen Straftypen 
feststellen konnten. Versuchen wir also einen ähnlichen Gedanken- 
gang, 

1. Schalten wir wieder einmal die genetische Betrachtungsweise 
ein, so werden wir die Beteiligung von Angstdruck und Schuldeinsiclit 
für die verschiedenen Entwicklungsetappen verschieden aufteilen. 
Wir werden demnach den Erzieher der präödipalen Zeit auf die Be- 
deutung der durch Liebesentzug jeweils ausgelösten Angstmenge auf- 
merksam machen, die richtige Dosierung des Liebesentzuges bei 
sachrichtigen Anlässen zur Bedingung stellen. Für das Kind in der 
Zeit der Gewissensherrschaft bei geringer Vernunftentwicklung wer- 
den wir das Vorwiegen des Angstdruckes ebenfalls anraten dürfen, 
aber die Bedingung stellen, daß die Strafe so vorgenommen werde, 
daß der Bildung der richtigen Scliuldeinsicht nebenher freier Raum 
bleibt, da sie zur erzieherischen Wirksamkeit der Strafe unerläß- 
lich ist. Für die Zeit der Ich-Erstarkung werden wir das Zurück- 
treten des Angstdruckes, der ein immer mehr zu überwindendes Mini- 
nmm darzustellen hat, verlangen, und die Hinwendung der Strafe zum 
Typ des reinen, angstdruckfreien Einsiehtsappells anstreben. Die 
Praktik des Strafens der einzelnen Altersstufen wird in einer kon- 
sequenten Berücksichtigung dieser Gesichtspunkte w^eit gehende Er- 
leichterungen finden. 

% Der Erziehungsberater wird aus der Art der vorliegenden Fehl- 
bildung eines Kindes das Ausmaß, das er der Verwendung vou Angst- 
druck und Schuldeinsicht zuzuwenden hat, ohne weiteres ablesen kön- 
nen. Je nachdem, ob es im präödipalen, im ödipalen Stadium hängen 
geblieben ist, oder auf einer Stufe der späteren Zeit, wird er seine 
Ratschläge an die Eltern verschiMen einrichten. 

S. Der Erzieher und Lehrer wird bei richtiger Typenerfassung 
der Kinder seine Zöglinge, individuell abgestuft, mehr auf Angst- 
druck oder mehr auf Einsicht behandeln und wird der jeweiligen 
Dosierung von beiden die größte Sorgfalt zuwenden. Denn er weiß ja: 
Alles kann richtig sein an einer Strafe, Strafmittel, Strafansatz und» was 
sonst an psychohygienischen Bedingungen in Betracht gezogen wer- 
den muß; fehlt er aber in puncto Strafdynamik, dann war alle Mühe 
vergebens, 

4. Wieder sind wir neugierig darauf, ob wir nicht vielleicht doch 
auch für die Verwendung der einzelnen Straf mittel aus unserer 
dynamischen Betrachtung etwas gewinnen können. Damit wäre uns 
für die Praxis am meisten gedient. 



252 l^i«t2 Redl 



Tatsüclilich scheint sich gerade die dynamische Betrachtung an 
diesem Punkte besonders fruchtbar zu erweisen. Denn schon ein kur- 
zer Blick unter diesem Gesichtswinkel lehrt uns^ dail wir jetzt endlich 
ein Kriterium in der Hand haben, über den Wert oder Unwert des 
einen oder anderen Straf mittels ein entscheidendes Urteil zu fällen: 
So zeigt sich vor allem das Straf mittel des Schiagens von diesem 
Standpunkt aus als besonders verdächtig- Wir haben ja zur Bedingung 
gestellt, daß das Moment der Schuldeinsicht nicht vernachlässigt 
werde. Die Strafe nuiii so aufgebaut sein, daß es dem Kind gelingt, 
] lieht den Strafenden, sondern sich selbst als eigentliche Ursache der 
erlittenen Strafunlust zu erleben. Auch da, wo sich die Strafe nicht 
auf diese Einsicht allein verläßt^ sondern die Unler Streichung durch 
Angstdruck vorzieht, muß doch die Gelegenheit, diese Einsicht wenig- 
stens außerdem zu gewinnen, als erzielierisch ausschlaggebend be- 
trachtet werden. Damit aber haben wir jeder Körperstrafe das Ur- 
teil gesprochen. Denn eine körperliche Aggression wird vom 
Kind so sehr als Persönlichstes erlebt, daß auch der vielleicht 
vorhandene Sachgehalt der Strafe dahinter vollkommen verschwinden 
muß. Im Moment des Geschlagenwerdens zu erfassen, daß „nicht der 
Schlagende, sondern das eigene unbeherrschte Innere eigentliche Un- 
lustursache ist'', ist wohl eine Zumutung, die mit den Tatsachen 
menschlichen Erlebens nicht rechnet. Die Körperstrafe verlockt das 
Kind eo sehr» sie bewußt oder unbewußt als Raehehandlung mißzu- 
verstehen, daß das wesentliche Moment der Einsicht in ihr nie voll 
erreicht werden kann. 

Darum bezeichnen wir sie als falsch, sprechen ihr die Fähigkeit 
Erziehungsmittel zu sein, völlig ab. Ich meine, wir haben damit erst 
ein Argument in der Hand, das sich wirklich auf ihre pädagogische 
Kelevanz bezieht- Alle anderen Argumente entstammen ethisch-welt- 
anschaulichen oder sentimental-gefühlsmäßigen Gründen, Wir mögen 
diese als noch so berechtigt anerkennenj zur wissenschaftlichen Wider- 
legung der Körperstrafe werden wir uns lieber auf sachhaltigere Ar- 
gumente stützen. Wir meinen darum auch, daß die Körperstrafe von 
jedem Erzieher abgelehnt werden müßte, gleichgültig, ob er sich zu 
einem passiv-sentimentalen oder einem heroisch-aktiven Weltbild 
bekennt, — abgelehnt, weil sie vom immanenten Standpunkt der Straf- 
t e c h n i k aus ungeeignet ist. 

Ein einziger Einwand scheint mir möglich, den es zu widerlegen 
gilt, Haben wir nicht vorhin selbst die Natur, das Leben als Muster 
herangezogen und behauptet, daß sich der Erzieher — innerhalb ge- 
wisser Grenzen natürlich — gelegentlich ein Beispiel an ihr nehmen 
darf? Die Natur aber kennt Körperstrafen in gewaltigstem Umfang; 






i 



Der Mechanismus der Straf Wirkung 



253 



wer sich ihren Gesetzen nicht fügt, den bestraft sie auch bedenkenlos 
mit dem Tode. Wieder brauchen wir keine weltanschaulichen Argu- 
mente, nm die Unhaltbarkeit dieses Einwandes zu erweisen Ks genügt 
uns, den psychologischen Unterschied im Bestraftwerden durch dte 
Ananke und durch die Person eines Erziehers zu betonen Denn ab- 
gesehen davon, daü wir den Naturstrafen niaclitlos gegenüberstehen 
und die Fragestellung, ob die Natur es psychologisch richtig macht 
oder falsch, eigentlich müßig erseheinen muß: Wenn zwei dasselbe 
tun, so ist es noch lange nicht dasselbe. Wenn mich das Schicksal 
schlägt, dann ist es eine unpersönliche Macht. Schlägt midi der Vater, 
dann wird der ganze Konflikt heraufbeschworen, der aus dem ödipus- 
und Kastrationskomplex stammt. Wo magische Ausdeutung der Natur- 
vorgänge vorliegt, wie etwa beim kleinen Kind, wird ja tatsächlich 
auch die Naturstrafe nicht weniger bedenkliche Wirkungen auslösen 
als ein ungeschickt angebrachtes Stratmittel sonst. Der Blitz, der im 
Moment des schlechten Gedankens niedersaust, hat dieselbe Schock- 
wirkung, wie der wütende Schlag des empörten Vaters; nur haben 
wir keine Möglichkeit, ihn zu vermeiden. Wo wir dagegen die Natur- 
strafe als das empfinden, was sie ist, als unerbittliche Äußerung der 
Ananke, da wird alle Gegenaggression so „sinnlos", daß uns auf die 
Dauer aucli bei größtem Widerstreben nichts übrigbleibt als die Eück- 
wendung gegen unsere eigene Person, als Selbsterziehung. Freilich 
dürfen wir der Natur den Vorwurf nicht ersparen, daß sie nicht immer 
ganz zweckmäßig straft, sie hat sich tiefenpsychologische Gesichts- 
punkte scheinbar nicht zu eigen gemacht. Denn ob wir die Kraft auf- 
bringen, aus ihren Strafen die richtigen Konsequenzen der Selbst- 
anpassung zu ziehen, oder ob wir an den psychischen Traumen, die 
sie uns zufügt, zugrundegehen, danach fragt sie nicht. Für den Er- 
zieher aber darf das keine Ausrede sein! 

: Nehmen wir das nächstfolgende Strafmittel unter die Lupe — zu 
dem es in der Natur allerdings kein Äquivalent mehr gibt, — das „An- 
schreien", Anbrüllen, Schelten usw., so wird auch dieses nicht geeignet 
sein, uns zu begeistern. Es besteht kein Zweifel, daß der Sinn des An- 
schreiens in der Auslösung des Angstdnicke.s liegt. Wir haben gegen 
diesen an sieh nichts einzuwenden. Die Fälle, in denen wir ihn nicht 
enthehren können, sind jedem Praktiker bekannt genug. Erwägungen, 
daß es „unfein" sei, die armen Kindlein zu ärgern usw., wollen wir als 
nicht sachrelGvant nicht gelten lassen. Dagegen scheint uns eines von 
Bedeutung: Auch diese Straf mittel — sofern sie nicht überhaupt 
weniger Straf mittel, denn Vorwegnahmen solcher sind, — müssen 
unserer Forderung nach Saehhaltigkeit entsprechen, seheinen aber 
wenig dazu geeignet, dies zu tun. Wer vom erzürnten Vater ange- 

ZeiUchrift f. psa. Päd., IX/4 



254 Fritz Redl 



brüllt wird, erlebt auch das schwer als Äachliche Reaktion auf ein 
imrichtiges Verhalten» sondern eher als die persönlichste Aggression, 
deren Plötzlichkeit die Einsicht in die eigentlichen Motive zum An- 
schreien völlig vergessen läßt. Das Bild des er^.ttrnt schreienden 
Vaters ha( für das Kind vor allem eine schwere genetische Belastung. 
Für das kleine Kind, in seiner Ohnmacht und Verständnislosigkeit, 
muß zunächst diese Art der Behandlung als reine Aggression erfaßt 
worden sein und ungeheure sinnlose Angst ausgelöst haben. Wieviel 
von dieser Angstanslösung auch im Erwachsenen noch steckt, geht 
ans der Üherlegung hervor, wie sehr sich viele sonst vernünftige und 
mutige Menschen oft einschüchtern lassen, wenn es jeinand nur ver- 
steht, sie richtig anzuschreien. 

Wieder werden wir also sagen: Wenn schon das Anschreien 
nicht so völlig persongetränkt ist wie das Schlagen, so enthält es doch 
allzuviel des Allzupersönlichen, als daß es vom Gesichtspunkt des 
Einsichtsmomentes als sehr geeignet betrachtet werden könnte. Frei- 
lich tun wir vielleicht gut, zwischen „Anschreien" und „Anfahren" 
zu unterscheiden: Lehnen wir jenes als wütende, hart an der Grenz© 
des Angreif ens liegende Aggression ab, so werden wir das „Anfahren" 
eher dulden können. Wir wollen darunter den Fall verstehen, in dem 
ein Erzieher dem Kinde einen saehrichtigen Tatbestand mitteilt, die- 
sen aber durch die Gebärdensprache des Böseseins unterstreicht, Sol- 
ehe Mittel sind zwar erzieherisch nicht besonders tragt ähig^ sind aber 
manchmal, wo es auf rasche Wirkung ankommt, nicht ganz von der 

Hand zu weisen. 

Einen besonders unerquicklichen Sonderfall des „Anschreiens" 
stellt das „Nörgeln" dar, das auf den ersten Blick gar nicht so 
leicht als solcher zu erkennen ist. Es verzichtet jedenfalls auf Stimm- 
intensität — eine „Schonung", auf die der Nörgelnde zu unrecht 
stolz ist! — und ersetzt diese durch Ausdauer in der Wiederholung 
des Vorhaltens längst vergangener und in jeder Hinsicht erledigter 
gchuldhafter Handlungsweisen. Da die vom Nörgelnden zitierte 
frühere „Schuld*' mit der vorliegenden oft so gut wie gar nichts zu 
tun hat, entsteht für das Kind der Eindruck der Ungerechtigkeit- Wer 
bei jeder kleinen Unachtsamkeit des Kindes sämtliche verjährte Sün- 
den auffahren läßt, der erreicht dadurch nur, daß das Kind die momen- 
tane Schuldlosigkeit so sehr in den Mittelpunkt seines Erlebens legt, 
daß der wirkliche Scliuldgehali des vorliegenden Vergehens dahinter 
verblaßt. Darin liegt die Ursache, daß der nörgelnde Erzieher seine 
Wirkung meist verfehlt, nicht so sehr darin, daß sich das Kind an das 
Nörgeln „gewöhnt". Von einer solchen Gewöhnung habe ich selten 
etwas gemerkt, vieiraehr fand ich, daß die Kinder unter dieser Eigen- 



I 



Der MecIianiBinup der Str.ifwirku 



"ff 



255 



Schaft regelmämg sehr leiden, auch wenn sie aus ihr den sekundären 
Grewmn dor Schuldabschiebung raffiniert zu beziehen verstehen 

Die übrigen Stratmittel: Schelten, Zafügung lebensgerechter Ua- 
annehmhchkeiten (Ivmoverbot, Ausgangsentzug usw.) usw. scheinen 
an sich einwandfrei, denn sie widersprechen ihrer Struktur nach der 
Möglichkeit, dem Momente der Schuldeinsieht Rechnung zu tragen 
keinesfalls. Trotzdem aber scheint die Möglichkeit der Schuldeinsichi 
auch bei Ihnen nicht von vornherein gewährt, vielmehr kennt jeder Er- 
zieher die Fälle, wo sie sich deutlich genug weigert, sich einzustellen 
Wenn es aber möglich ist, daß auch bei sonst „sachhaltigen'- oder 
wenigstens zur Sachhaltigkeit geeigneten Strafmitteln die Erweckung 
der Schuldeinsicht ausbleibt, dann muß es außer der Struktur des 
Straf mittels noch ein Moment geben, von dem seine sachhaltige Wir- 
kung abhängt. Es wird von großer Wichtigkeit sein, es zu finden. Es 
wird dann offenbar nicht im Strafmittel selbst gelegen sein können, 
sondern in der H a 1 1 u n g des Strafenden, und ist leicht zu entdecken! 
Wir haben die Körperstrafe abgelehnt, weil sie uns ungeeignet 
erschien dem so wesentlichen Moment der Schuldeinsicht Raum zu ge- 
währen. Wir haben für die anderen Straf mittel eine so weitgehende 
Entscheidung nicht aufrechterhalten können, dagegen können wir 
einen Begleitumstand angeben, der geeignet ist, auch das an sich beste 
Strafmittel zum schlechtesten zu stempeln: Das ist die Entfaltung von 
persönlicher W n 1, die Strafe im A f f e k t. Der Erzieher, der in W u t 
straft, kann noch so sachrichtig strafen, die Tatsache, daß er selbst in 
Wut ist, wird genügen, um dem Kinde den Weg zur Einsicht in die 
Kichtigkeit des Straf fall es zu verrammeln. Wut löst ebenso unmittel- 
bar persönlichst gerichtete Gegenwut aus wie körperliches Sehlagen. 
Selbst wenn die Strafe immerhin noch so weit richtig ist, daß sie 
wirkt, werden -also durch die Wut des Strafenden doch so viele 
Gegenaggressionen geweckt, daß deren völlige Urakehrung nach 
innen nicht gelingen kann. Sie bleiben dann als Widerstandsstoff für 
spater zurück und sind somit äußerst unbequeme Nebenprodukte der 
Strafe im Affekt. Ist der Affekt aber sehr stark, so genügt er, um jede 
Sachrichtigkeit völlig zum Sehwinden zu bringen. Trotz großem 
Angstdruck wird dann ein großer Teil der persönlichen Gegenaggres- 
sion persongebunden bleiben, mag er auch im Augenblick unterdrückt 
oder sogar verdrängt werden. Das war ja der Grund, warum das An- 
schreien als so wenig geeignet erkannt wurde. Der Affekt des 
Strafenden ist es aber auch, der sich bei allen übrigen Straf mittein 
einmengen kann. Hätte Kurt's Vater den Buben beim Heimkommen 
wütend angebrüllt und ihm unter den Zeichen sichtlicher Erregung 
das Radfahren verboten, so hätte er nicht mehr erreicht, sondern nur 



256 Fritz Eedl 



unnütze Nebenschwierigkeiten erzeugt. Diese Erkenntnis von der 
Schädlichkeit des Affekts beim Strafen hat wohl mit dem stärksten 
Widerstand beim Praktiker zu rechnen, was wir aus seiner Psycho- 
logie heraus gut verstehen können, denn sie stellt vielleicht die 
schwerste von allen Anforderungen, die wir im Laufe unserer Unter- 
suchung kennengelernt haben, den Verzicht auf die erleichternde 
Nebenwirkung, die das affektgetragene Strafen für den Strafenden 
hat Es ist zuzugeben, daß diese Einsicht unerwünscht ist, an ihrer 
Richtigkeit läßt sich darum freilich nicht rütteln. 

Fassen wir zusammen: Wir haben uns gew^ünscht, nähere Angaben 
darüber machen zu können, wovon es abhängt, ob eine Strafe als 
„sachhaltig" wirkt oder nicht. Einiges meinen wir sagen zu können: 
Ein gewisser Grad von Sachhaltigkeit ist diversen Strafmitteln sozu- 
sagen strukturimmanent. Wir haben ja versucht, sie nach 
diesem Gesichtspunkt zu reihen. Abgesehen von dem immanenten Grad 
von Sachhaltigkeit, der im Straf mittel liegt, haben wir noch das, was 
an Wirkung aus der Haltung der strafenden Person hinzukommt, 
zu überlegen. Durch ein Eindringen der persönlichen-allzupersönli- 
chen Strafmotivo des Erziehers in die Straf handlung w^ird deren imma- 
nete Sachhaltigkeit reduziert oder ganz aufgehoben. Auch die Strafe, 
die allen Punkten entspricht und wirklich als Strafe berechtigt und 
richtig aufgebaut war, kann durch das ungeschickte Verhalten der 
strafenden Person auf das Kind als reine Rache wirken, und dann 
ist es um den erzieherischen Straferfolg natürlich geschehen. Die 
Gefährlichkeit des A f f e k t e s beim Strafen hat hier ihren logischen 
Platz gefunden. 

Besinnen wir uns, ehe wir die etwas unübersichtlich gewordene 
Untersuchung zu Ende führen, noch einmal des letzten Wegstückes, 
das wir zurückgelegt haben, und zerlegen wir zu diesem Zwecke den 
Strafprozeß in seine pädagogisch wichtigsten Bestandteile, so können 
wir folgende Punkte ansetzen: 

1. Das Erlebnis der Strafunlust (verursacht durch die Strafhand- 
lung). 

2. Die Auslösung von Aggressionen im Kind als unmittelbare 
Reaktion auf die erlebte Straf unlu st, 

3, Die Suche nach der Richtung, aus der die Aggression kam, also 
nach der ,, Ursache*' der erlebten Strafunlust, 

4, Die „Erkenntnis'*, daß nicht die strafende Person, sondern das 
eigene unbeherrschte Innere eigentlich „schuld" hat an der erlebten 
Strafunlust, unterstrichen durch die durch den Strafvorgang ausge- 
löste Angst, 






Der Mochauismus der Strafwirkun"- 



257 



^ J" n '" i^''"^"S^, ^f J Aggressionen gegen das eigene Innere, unter 
dem Druck von Sclmldeinsicht und Strafangsl. 

BedlTiLlT""^^' '"r Aufstellung natürlich nur eine systematische 
Bedeutung haben will, verlockt uns übrigens sofort, eine Reihe von 
den Belehrungen ordnungsgemäß unterzubringen, die wir aus den 
Ausfuhrungen der Psychologen über diverse Straffehler schon ken- 
nengelernt haben, ohne daß wir bisher hätten sagen können, wohin 
sie eigentlich gehören. 

So wird zweifellos in Punkt 1 alles einzusetzen sein, was die I n- 
tensität der Strafmaßnahmen betrifft. Bei zu geringer „Straf- 
unlust" wird die Straf Wirkung vermutlich ausbleiben; bei zu'inten- 
siver dagegen werden die unerwünschten Nebenwirkungen eintreten, 
vor denen uns die Psychologen so eindringlich gewarnt haben. 

Aus Punkt 2 werden wir ablesen können, was uns der Analytiker 
für die A r t der jeweils zu erzeugenden Unlusterlebnisse an hygieni- 
schen Ratschlägen geben kann. So werden Ünlusterweckungen. die 
geeignet sind, erotisch-sexuelle Komponenten zum Mitschwingen zu 
bringen, der libidiuösen Befriedigung dienen, anstatt Gegenaggressio 
nen auszulösen. Darum sind sie nicht nur vom gesamterzieheri- 
schen Standpunkt aus unerwünscht, sondern auch straf technisch als 
falsch zu bezeichnen (z. B. Schlagen auf die Nates, etc.). Aus der in- 
dividuellen Variabilität dessen, was für verschiedene Kinder libidinös 
befriedigend werden kann, folgt für den Erziehimgsberater eine sorg- 
fältige analytische Überlegung, bevor er Katschläge über zu wählende 
oder zu vermeidende Strafunlustarten erteilt. 
^ Punkt 5 belehrt uns darüber, was das pädagogische Ziel alles 
richtigen Strafens ist: einen Akt der Selbsterzieh iing auszu- 
lösen. Denn von dem Moment der Wendung der Aggressionen gegen 
das eigene Innere an handelt es sich offenbar um denselben Prozeß, 
den wir auch sonst als „Erziehung" zu bezeichnen pflegen, diesmal 
eben angeregt durch eine Strafhandlung. Auch an diesem Punkte 
werden übrigens eine Menge von hygienischen Betrachtungen einzu- 
setzen haben. So wird es bestimmt nicht gleichgültig sein, ob diese 
^\endung der Aggressionen gegen die eigene Person darin besteht, 
daß wirkhchkeits-richtigeres Verhalten ausgelöst wird, oder daß sich 
gesteigertes Schuldgefühl erzeugt, das zu fruchtlosem Grübelzwang 
oder zu depressiven Selbstvorwürfen führt. Wir könnten die Eignun- 
einer Strafe, zu einer richtigen Verwendung der nach innen ge* 
richteten Gegenaggressionen zu führen, als ihre psychohygienische 
Wertigkeit bezeichnen, fürchten aber, daß wir über diesen Punkt 
einstweilen so wenig praktisch brauchbare Andeutungen machen 



258 Fritz Redl 



köBnen, daß die Einführung eines neuen Teoninus nicht als gerecht- 
fertigt erschiene. 

Unser Hauptinteresse gebührt nach wie vor den Punkten 3 und 4» 
die wir als die pädagogisch relevantesten erkannt haben, 
hängt es doch vor allem von ihnen ab, ob eine Strafe „E r f ol g" hat 
oder nicht. Wir dürfen hier die Ergebnisse unseres letzten Kapitels 
einsetzen; Der Erfolg einer Strafe hängt davon ab, ob sie iuistande 
ist, jene Wendung der kindlichen Aggressionen auf die eigene Person 
zu erzwingen, Ihre Eigenschaft, dies zu können, nannten wir dyna- 
mische Valenz und fanden, daß zwei Momente im irmerpsychischen 
Ablauf des Straf mechanismus gegeben sein müssen, um sie zu garati- 
tieren: die Auslösung von Angst und die Erzeugung eines gewissen 
Minimums an Schuldeinsicht, Die Eigenschaften der Straf- 
handlung, Angst zu mobilisieren und Sehn Ideinsich t auszulösen, nann- 
ten wir ihre Druckkraft oder ihren Angstdruck auf der einen, ihre 
Sachhaltigkeit auf der anderen Seite. Angst druck und Sachhaltigkeit 
bilden die Endpunkte einer Reihe, Eine Untersuchung über die Eignung 
unserer top i sehen Straf typen, die beiden Erfolgsbedingungen der 
Strafe zu gewährleisten, lieferte uns eine Reihe wichtiger Belehrun- 
gen» die wir durch die Betrachtung über die strukturimraanente Wer- 
tigkeit der Straf mittel und über die Bedeutung der Straf haltung des 
Erziehers noch bereichern konnten. 

Es ist merkwürdig. Die dynamische und die topische Betrachtung 
haben uns eine Menge von Geheimnissen des Straf ens verraten, unsere 
Vorstellungen über praktische Straf ratseh läge sind bestimmt konkre- 
ter geworden, als sie vor ihrer Anwendung waren. Ganz zufrieden 
aber sind wir noch immer nicht. Wir meinen, daß wir über einen 
Punkt noch zu wenig Aufschlüsse erhalten haben. Wir wissen mehr 
darüber, wie wir strafen sollen. Wann aber liegt die Situation 
, .Strafe*' überhaupt vor? Zugegeben, daß dies eine Grenzfrage des 
Themas Strafe bildet, — für den Praktiker ist sie von unleugbarer 
Bedeutung, und wir würden vom Straf problem nicht gerne Abschied 
nehmen, ehe wir über diesen Punkt genauere Auskünfte haben. Umso 
erstaunter sind wir, feststellen zu müssen, daß die psychologische 
Literatur Angaben dieser Art mit merkwürdiger Einheitlichkeit aus- 
zuweichen scheint. Was sich in oder hinter den Auffassungen vieler 
Psychologen mehr oder weniger deutlich verbirgt, ist eine nicht miß- 
zuverstehende Ablehnung des Strafens überhaupt. Die Strafe wird im 
Stillen als etwas betrachtet, das , »eigentlich gar nicht da sein sollte ', 
viele For scher tun sie überhaupt mit einigen ärgerlichen Nebenbemer- 
kungen aK Es scheint fast, sie fürchten durch ausführlichere Be- 
merkungen über die Strafe zu den veralteten Menschen gezählt zu 



Dei- Mecliaiiisiiius der Slralwiikung 



259 



werden, die sich solelj^r Überholter Mittel bedienen. Aber aiieii wo 
dieses Ausweichen vor dem Slrafproblem nicht ao deutlich zu merken 
ißt, finden wir immer nur eine Besprechung der Fälle, in denen falsch 
gestraft wurde, und solcher, in denen richtig erzogen wurde. Die 
beiden Arten von Fällen werden so nebeneinander gestellt, als ob 
sie reine Gegensätze bedeuten würden. Wie man riclitig strafen soll, 
erfährt der Praktiker selten, das Wort „soll" sclieint dem Psycho- 
logen im Zusammenhang mit Strafe unheimlich zu sein. 

Wir verlassen darum die Psychologie auf eine Weile und sehen uns 
ein wenig auf dem Gebiete des tatsächlichen Straf geh rauches um, wie 
er sich täglich abspielt, unberührt — leider etwas zu unberührt ~ 
von den Ergebnissen psychologischer Forschung. Vielleicht kann uns 
ein solcher Exkurs noch einige Aufschlüsse bringen. 

Kritik des Straf gebrauche s. 

Von zwei Arten des Straf gebrauche» sehen wir hier von vorn- 
lierein ab: Der Prügel pädagoge, der den harmlosesten Vorfall als 
Strafanlaß mißbraucht, weil er sadistische Triebkoraponenten zu be- 
friedigen hat oder einfach iiicht gelernt hat, sicli zu belierrschen, ge- 
hört ebensowenig in unser Kapitel wie der Akrobat der straffreien 
Erziehung, von dem der Psychologe schwärmt. Was der erstere tut, 
verdient noch nicht eimiial den Namen Strafe, Denn auch In ihrer 
unerquicklichsten Form ist Strafe ein erzieherisches Handeln. 
In dem erwähnten Falle aber gehört es in das Gebiet der Rache und 
hat nichts mit Itlr Ziehung zu tun. Die Tätigkeit des straffreien Er- 
ziehers aber gehört nicht mehr in dieses Gebiet, denn wir haben wenig 
Hoffnung, daß wir das Wesen des Strafgebrauches aus jenen Fällen 
allein erraten können, in denen auf ihn verzichtet wird. Was uns an 
dieser Stelle interessiert, ist das breite Feld des erzieherischen All- 
tags, in dem wirklich gestraft wird, sei es nun mit mehr oder 
weniger Geschick, mit mehr oder weniger Erfolg. Wir meinen übri- 
gens, damit auch den praktisch häufigsten Fall genannt zu haben. 

Wann aber ist der Fall zum Straf eji gegeben? 

Die Definition der Strafe als Mittel zur Durchsetzung des Reali- 
tätsprinzips beim Kind läßt uns vermuten, daß wir immer dann mit 
Strafe einsetzen werden — vorausgesetzt, daß andere Mittel als un- 
zureichend befunden werden, — wenn etwas in der Struktur des kind- 
lichen Über- Ichs, bzw. Ichs nicht ganz in Ordnung ist, denn die Strafe 
hat deutlich die Aufgabe, den Tendenzen des Über- Ichs und des Ichs 
sozusagen „nachzuhelfen". Dabei füllt uns aber auf, daß wir mit dieser 
Auffassung offenbar eine Einseitigkeit begehen. Liegt es denn wirk- 
lich immer am kindlichen Übei'-lch oder Ich, wenn es sich irgend- 



260 Fritz ßedl 



welchen ReaUtätsf orderungen unzugänglich erweist? Gibt es nicht 
atich den umgekehrten Fall, daß die Realitätsforderungen aus irgend- 
eineio Grunde auch dem gesündesten Kinde unrichtig, zu schwer, un- 
annehmbar, zu plötzlich und überraschend erscheinen, so daß es sich 
eigentlich mit einem gewissen Recht dagegen wehrt? Sind es nur die 
schlimmen Kinder, die die Strafe brauchen, oder brauchen sie gelegent- 
lich auch die braven? 

Unter dem Drucke dieser Überlegung fällt uns auf, daß unsere 
Definition das Ziel der Strafe offenbar ebenfalls nur sehr ungenau 
angibt, so wie wir ihr ja schon Mehrdeutigkeit hinsichtlich des Straf- 
begriffes vorwerfen mußten, Durchsetzung des Realitätsprin^ips 
kann nämlich zweierlei heißen: 

Dauernde Veränderung des kindlichen Über-Ichs oder Ichs um 
den ReaUtätsf orderungen gerocht zu w erden, oder momentane Anpas- 
sung an irgend eine, vielleicht nicht einmal sehr richtige aber un- 
ausweichliche Situation, die keinen Aufschub zuläßt, obwohl sie an 
sich nicht als Wesensforderung der Realität zu betrachten ist. 

Nur im ersten Falle sprechen wir von „Erziehung'* im engeren 
Sinne des Wortes — in diesem Sinne hat unser Strafen ein wichtiges 
ZieL Wir werden vermuten, daß zu dieser Leistung einer Beeinflus- 
sung der Über-Ich-Bildung und des Ich-Aufbaues überhaupt andere 
Mittel besser dienen werden. Sofern wir aber doch Strafen dazu brau- 
chen, werden sie nach allen im vorigen gefundenen Regeln der Straf- 
technik aufgebaut, sorgfältigst angewendet werden müssen. Vor allem 
wird nie e i n e Strafe genügen, um das Ziel einer solchen Erziehung 
zu besserer Realitätsanpassung im weitesten Sinne des Wortes zu er- 
reichen, sondern es wird sich um eine ganze Reihe sorgfältig dosierter 
und richtig gestreuter Straf- und Erziehungsmaßnahmen handeln müs- 
sen. Diese Art des Strafens können wir im engsten Sinne des Wortes 
als „E r z i e h u n g s s t r a f e" bezeichnen, von ihr und ihren Schwie- 
rigkeiten haben wir eben gehört. •'' •' ' - . - * ^ 

Es ist unrecht, daß die Psychologie fast ausschließlich an diese Art 
des Strafens denkt. Die lebendige Strafwirklichkeit hat ihr als nicht 
weniger häufig und unvermeidlich eine ganz andere an die Seite zu 
stellen: Tausende von Strafen werden nicht zu dem Zwecke ver- 
hängt, erzieherisch in diesem höheren Sinne des Wortes zu wirken, 
sondern haben einen viel banaleren, allerdings nicht gut wegdisku- 
tierbaren Anlaß, Sie dienen der unmittelbaren Lebensnot, aus der sie 
stammen, Sie wollen keine dauernde Veränderung der kindlichen 
Person. Sie wollen nur eines und müssen es wollen: irgend eine be- 
stimmte Handlung im Moment um jeden Preis zu unterdrückeTi oder 
zu erzwingen. Es bedarf keiner besonderen Beweisführung, daß es 



Der Mechanismus der Strafwirkuns: 



261 



das gibt. Der Praktiker, für den diese Zeilen ja gedaclit sind, wird 
sofort hunderte von Beispielen für diesen Fall zu erwähnen wissen. 
Schon wenn 10 Kinder in einem Boot sitzen, die noch nicht in dieser 
Lage waren und gerade recht gut aufgelegt sind, wird es gelegentlich 
des Strafdruckes bedürfen, um das Entstehen gefahrvoller Situationen 
unbedingt zu vermeiden. Das Kind, das ich scharf anfahre, wenn es 
unvorsichtig aufspringt, will ich durchaus nicht besser machen, nicht 
einmal realitätsangepaßter. Dazu werden nachher angebrachte ver- 
nünftige Besprechungen über die Gefahr des Bootfahrens usw, viel 
bessere Dienste tun, dazu brauche ich wirklich keine Strafe, Wenn 
ich es trotzdem anfahre, sobald es aufstehen will, so geschieht dies 
nur deshalb, weil die momentane Situation die Unterdrückung der 
gefährlichen Handlung mit solchem Nachdruck fordert, daß ich nicht 
warten kann, bis sich erzieherisch richtigere und bessere Mittel er- 
geben, und nicht riskieren kann, daß ein richtigeres aber wirkungs- 
schwächeres Mittel fehlschlägt. Ein Fehlschlagen darf in diesem Falle 
eben überhaupt nicht in Betracht kommen, selbst auf die Gefahr hin, 
daß das exemplarisch angefahrene Kind eine erzieherisch nicht er- 
wünschte Schockwirkung davonträgt Aber auch sonst gibt es tausend 
Situationen im Tag, in denen in ähnlicher Weise an sich unwichtige 
Dinge plötzlich von einer solchen Wichtigkeit werden, daß sie durch 
scharfen Druck unmittelbar durchgesetzt werden müssen. Dient diese 
Art des Strafens nicht der „Er^^iehung" im verfeinerten Sinne des 
Wortes, so ist sie doch nicht weniger wichtig» als die wichtigste Er- 
ziehungsstrafe. Ja, umgekehrt, wir vermuten mit Hecht, daß wir auf 
Erziehungsstrafen eher verzichten können, da wir in diesen Fällen 
ja Zeit und Raum haben, nach besseren Mitteln zu suchen. Was uns 
die Not des Augenblickes aber zu tun zwingt, läßt uns keine WahL 
Nennen wir diese Art der Strafe die D r e s s u r s t r a f e — da sie nur 
das Unterlassen oder Durchführen momentan wichtiger Handlungen 
unter Druck — ganz egal, ob Einsicht vorliegt oder nicht — anstrebt, 
so sehen wir, daß wir es in der Praxis eigentlich mit einem sehr ver- 
schiedenen Verhalten zu tun haben, das wir nicht ganz zu Recht mit 
dem einen Wort „Strafe'' zusammenfassen. Wir stellen darum fest: 
1. Handelt es sich um Erziehungsstrafe, dann wird alles in Kraft 
treten, was wir im vorigen festgestellt haben. Dann werden wir in 
erster Linie zu erwägen haben, ob wir des Strafmittels überhaupt be- 
dürfen, werden es so verfeinert wie möglich hallen. Die Regel wird 
sein: Maximum an Einsiehtsmoment mit einem Minimum an Straf- 
druck — denn nur so weichen wir den gefährlichen Nebenwirkungen, 
die der Strafe als erzieherische Gewaltmaßnahme nun einmal anhaf- 
ten, mit Sicherheit aus. Handelt es sich aber 



262 Fritz Kedl 



2, um den Fall, daü ans irgendeinem Grunde die „Dressur- 
s tra f e" unvermeidlich wurde, dann müssen wir anderen Überlegun- 
gen folgen. Offenbar wird es dabei vor allem die raselie Wirkung 
sein, auf die wir ausgelieuj denn nur, wenn es auf eine solche an- 
kommt, wollen wir ja den Fall der Dressur strafe als gegeben ansetzen. 
Dann aber kann uns nicht an der „Feinheit*', das heißt an der erziehe- 
rischen Wertigkeit des Straf mittels gelegen sein, sondern nur an seiner 
Durchschlagskraft. Unsere Formel wird dann lauten: Maxi- 
mum an Durchschlagskraft, wobei wir auf das Einsichtsmoment wenig 
Hücksicht nehmen können. 

Es entgeht uns nicht, daß wir damit eine unerquickliche Art der 
Strafe ernst nehmen, von der sich viele Autoren zu schweigen vorge- 
nommen haben. Ist dasj was wir eben als Dressurstrafe bezeichnen, 
nicht eben das, was wir im bisherigen als falsch erkannt haben? Sollen 
wir dem Fehler Tür und Tor aufs neue offnen, wenn wir sie ihm gerade 
sorgfältig zu versperren trachteten? Dieser Einwand erledigt sich von 
selbst, wenn wir uns besinnen, worum es sich hier handelt. Wir sind 
uns ja bewußt, daß wir das Thema der „Erziehung'' im engeren Sinne 
verlassen, wenn wir von der Dressurstrafe reden. Sofern wir uns in 
ihm bewegen, bleibt natürlich alles in Geltung, was wir soeben be- 
sprochen haben. Daß wir es verlassen, geschieht unter dem Drucke 
der Wirklichkeit. Wir behaupten, daß in dieser auch nach Hinweg- 
fallen des Problems der Erziehungsstrafe, das Problem der Dressur- 
Strafe weiter bestehen bleibt- Vogel-Strauß-Politik hilft gegen diese 
Tatsache Blehts. Wir können der Psychologie den Vorwurf nicht ganz 
ersparen, daß sie sich über diesen Sachverhalt meist schweigend hin- 
wegsetÄt. Sie hat uns dadurch ein wichtiges Wirklichkeitsfeld zu un- 
recht unterschlagen. Die bösen Folgen dieser Vertuschung haben sich 
auch gezeigt. Illusionen fordern immer ihre Opfer. Aus dieser Fehler^ 
quelle stammt z. B. die Tatsache, daß der Pädagoge der straffreien 
Erziehung n u r in der Theorie besteht, in der Praxis verbalten sich 
auch die schwärmerischesten Anhänger dieses Erziehungsideals dem 
eigenen Kind gegenüber, oder falls sie Lehrer sind, ihren eigenen 
Klassen gegenüber, sehr viel anders, mögen sie auch noch so geschickt 
dissimulieren. 

Wir machen ihnen das nicht zum Vorwurf — wir sehen in jenen 
Fällen, in denen sich die Theorie nicht mit der Praxis deckt, den 
Fehler immer auch ein wenig auf Seite der erster en — im Gegenteil, 
wir können diesen meist als so „bedauerlich*' beklagten Umstand nun 
erst recht verstehen, ja wir finden ihn gar nicht mehr so bedauerlich, 
Die Frage, wie die Lrziehungssirafe aussehen müsse, ist eben nicht 
die einzig wichtige. Hinter ihr erhebt sich eine andere Frage: wann 



Der Mechanismus der Strafwirkung 



263 



können wir mit der Erzieliungsstrafe überhaupt einsetzen, oder wann 
behaupten wir mit Recht, uns des durehschlagskräf tigeren, aber er 
zieherisch so bedenklichen und fehlervollen Mittels der Dressurstrafe 
bedienen zu müssen? 

Ist das gelegentliche Einsetzen der Dressurstrafe eine biologische 
Notwendigkeit, dann kommt offenbar alles darauf an, daß wir uns ihr 
nicht verschließen, daß wir, statt sie zu bedauern, unsere Aufmerk- 
samkeit darauf richten, wann die Situation dazu gegeben ist. 

Die Fälle, in denen wir mit ruhiger Sieherlieit sagen können: hier 
mußte so und so gestraft werden, hier konnte nicht abgewartet 
werden, hier »,hätte ein erzieherisch besseres Mittel besser gewirkt" 
aber es wäre kein solches möglich gewesen, sind, wie jeder Praktiker 
bestätigen wird, so häufig, daß es schwer fallen muß, sie zu ordnen, 
aus ihnen allgemeine Richtlinien abzulesen. Aber vi olleicht mag uns 
gerade die Häufigkeit dieser Fälle das Verständnis des Praktikers 
soweit sichern, daß wir uns darauf beschränken dürfen, kurz drei 
Arten herauszuheben, wobei es sich freilich nicht um eine erschöpfen- 
de, sondern nur um eine exemplifizierende Darstellung handeln kann. 

Nennen wir die Summe von vorangegangenen Ereignissen und 
wirkenden Umständen, die uns zu einer Strafhandlung zwingen, die 
Straf Situation, so sehen wir leicht, daß für diese Straf Situation folgen- 
des von ausschlaggebender Bedeutung ist: 

1. Die äußere Konstellation der Umstände, Sie bedingt ja den 
Spielraum, der uns im praktischen Leben für unser Handeln ge- 
währt ist- Haben wir Zeit und Raum, so müssen wir unsere Foi"de- 
rungen an Erziehungsfechnik gewaltig hinaufschrauben, Fehlen uns 
diese, so nützt es nichts, diesen Umstand in Randbemerkungen zu be- 
klagen und zu sagen, wie wir erziehen müßten, „wenn", sobald keine 
Aussicht vorhanden ist, daß wir jemanden finden, der dieses Wenn 
herbeischafft. Ein zehnjähriges Kind hat das Recht auf Bewegungs- 
freiheit und Lärmniachen. Es ist also falsch, es durch Strafen in diesem 
Rechte zu verkürzen, denn das ist ja sein gesundes Bedürfnis. Wenn 
dieses Kind aber mit drei anderen ein Zimmer teilt, die gleichzeitig 
schwierige Aufgaben zu erledigen haben, dann kann der Erzieher 
nicht warten, bis es der Entwickhmgsrhythmus des Kindes erlaubt, es 
ohne schädigende Nebenwirkungen durch reinen Einsichtsappell zu 
einer Beschränkung seiner natürlichen Bewegungsimpulse zu bringen. 
Dann wird es vorkommen, daß der Erzieher „energisch" eingreifen 
muß, um die Störung der anderen zu verhindern, auch wenn die Ein- 
sicht des Kindes zu wenig weit gediehen isl, so daß es einen Teil 
seiner Gegenaggression in Wut auf den Erzieher umsetzen wird. Es 
muß dann genügen, wenn das Kind seine störenden A^erhaltensweiscu 



264 



Fritz Redi 



einfach unterläßt. Es ist zuzugeben, daß das Getane eigentlich „falsch'' 
ist- Aber es ist nicht falsch an sich (falsch an sich ist es, wenn es 
außerdem mit technisch unrichtigen Mitteln unternommen wird!), 
sondern der Fehler liegt darin, daß es zu dieser Situation überhaupt 
kommt. Alle Grenzen, die Baum, Geld usw, tatsächlich setzen, sind als 
Bedingungen für die Anwendung von Dressurstrafen an Stelle von 
Erziehungsstrafen zu betrachten, wobei das Bestreben nach einem 
Minimum an Schädigung und einer Veränderung der Bedingungen, 
die zu so ungünstigen Maßnahmen zwingen, bestehen bleiben muß. Es 
soll übrigens nicht vergessen werden, daß auch die Widerstandskraft 
der Nerven des Erziehers — seinen besten Einsatz an gutem Willen vor- 
ausgesetzt — unter diese Konstellation aufzunehmen ist. 

2. Unter der „inneren Konstellation" verstehen wir die genetische 
Vorgeschichte des Kindes, die Libidoverteilung, die es nun einmal 
vorgenommen hat, und die auch meist als ..Faktum" festeht. Es ist 
richtig, daß man psychische Konstellationen durch Strafen nicht 
ändern kann. Wer das versucht^ begeht einen schweren Fehler. Für 
den Erziehungsberater gibt es also in diesem Falle keine andere Mög- 
lichkeit, als auf die Notwendigkeit einer Erziehungsbehandlung zu 
indizieren. Praktisch kommt diese Möglichkeit aber nur selten in 
Frage, Der E r z i e li e r oder Lehrer des Kindes wird von dieser 
Fragestellung nicht sehr viel haben. Es wird ihm nichts übrigbleiben, 
als das %, B, zu aggressive Kind nun mit solchen Strafen zu behandeln, 
die seine Einordnung in den Lebensraum, in den es nun einmal ge- 
bannt ist, gewährleisten. Freilich ist ihr Verhalten „an sich" betrachtet 
falsch. Es ist aber unrecht vom Psychologen, sie deshalb im Stiche zu 
lassen und von ihren Nöten keine Notiz zu nehmen. Der Berater wird 
sich bemühen, für sie wenigstens die wirkungsrichtigeren und relativ 
schädigungsfreien Strafmittel ausfindig zu machen- Wir wissen davon 
leider heute sehr wenig, weil wir unseren Rat fast immer auf die 
Feststellung beschränken, was nach pädagogischen Regeln geschehen 
j,müiite**, auch wenn wir betrübt und verärgert zugeben, daß es nicht 
geschehen kann. Ich glaube, aus dieser Tatsache stammt die stärkste 
Verstimmung des Praktikers gegen den Psychologen, auch des Lehrers 
gegen die Institution der Erziehungsberatung. Wir meinen, an diesen 
Mißverständnissen ist er nicht allein schuld! 

3* Trotz aller Betonung der Bedeutung massenpsychologischer Mo> 
mente in allen Zusammenhängen des Lebens ist eine praktische Aus- 
wertung dieser Gesichtspunkte auf die Praxis nur selten festzustellen. 
Gerade in unserem Zusammenhange aber ist ganz offenkundig der 
gruppenpsychologische Raum, in dem sich eine Erziehungsszene ab- 
spielt, von so ausschlaggebender Bedeutung, daß es kaum verständlich 



Der Mechanismus der Strafwirkung 



265 



ist, wie sieh die psychologische Theorie dieser Tatsache so sehr ver- 
schlieBen konnte. Wir meinen damit natürlich nicht den Unterschied 
im sozialen Milieu^ der ist ja in unserer Rubrik „äußer© und innere 
Konstellation" mitenthalten. Wir meinen die Einordnung des Kindes 
in eine Gruppenbeziehung. Ist es die Situation „Familie*\ steht es in 
dieser als einziges Kind oder unter Geschwistern — oder vor allem: 
handelt es sich um die Kamerad Schaftsgruppe, um die Schulklasse? 

Beim Sprung von einer gruppenpsychologischen Struktur in die 
andere ändert sich so ungeheuer viel, daß kaum abzusehen ist, was 
wir alles unterschlagen, wenn wir diese Tatsache für das Strafpro- 
blem unberücksichtigt lassen. Wie häufig ist doch etwa der Fall, daß 
ein Kind zu Hause ausgezeichnet „straffrei*' funktioniert, sich in der 
Schule aber so ungebärdig zeigt, daß auch der ruhigste Lehrer mit 
Strafen einsetzen muß- Da ist es dann unrichtig zu sagen: „Da 
eieht man wieder! Wenn es zu Hanse geht, so müßte doch der Lehrer 
auch mit dem Kinde auskommen können, wenn er nur wollte!" Diese 
Auffassung ist völlig falsch. Daß ein Kind im Strukturgebilde A 
richtig funktioniert^ weil dieses so gebaut ist, daß es dort seine libidi- 
nösen und aggressiven Beziehungen richtig unterbringen kann, besagt 
gar nichts über sein Verhalten im Strukturgebilde B. Aus dem einen 
folgt nichts für das andere. Darum gilt natürlicli auch der umgekehrte 
Fall: Es kommt wiederholt vor, daß vielbestrafte Kinder, in eine gut- 
geführte Schulklasse oder in eine Jugendgruppe gebracht, plötzlich 
völlig straffrei funktionieren , daß es dort scheinbar ganz von selbst 
geht Es ist dann unrichtig zu sagen: „Sehen Sie, wenn er bei mir folgt, 
so müßte es bei llmeu doch auch gehen! Sie nmchen's eben nur nicht 
richtig, maehen Sie es auch so wie ich," Diese Auflassung, die auf 
dem Wahn beruht, daß das straffreie Funktionieren immer den richti- 
geren Erziehung.^rauni voraussetzt, ist falsch. Gruppenslrukturen 
lassen sich nicht einfach gegeneinander austauschen. 

Auf die Arbeit des Lehrers angewendet^ heißt das also; Die Situation 
„Klasse" bedeutet eine so arge Verschlechterung des erzieherischen 
Spielraums, daß kaum zu erwarten ist, daß sich dasselbe Kind, das zu 
Hause oder beim Einzellehrer gut funktioniert, ebenso richtig ver- 
halten wird- Außerdem ergeben sich auch für das an sich gut funk- 
tionierende Kind aus der NotAvendigkeit des Arbeitsdruckes, der die 
Schulstunde beherrscht, wiederholt Situationen, die das Einsetzen des 
Strafdruckes erfordern. Um nur ein Beispiel zu geben: Der Schüler 
X wird plötzlich in meine Klasse versetzt. Ich kenne ihn seit langem, 
weiß viel von ihm, weiß genau, wie ich ihn behandeln muß. Jetzt auf 
einmal wird aus diesem „behandeln muß^' ein bloßes „behandeln 
müßte'*. Denn der Spielraum, den ich brauche, ist nicht' mehr da. 
Erstens ist X gewohnt, seine Aufgaben nicht zu machen, und sieh nur 



266 Fritz Redl 



I 



dann zur Arbeit zu setzen, wenn ihm Jemand seine ganze Aufmerk- 
samkeit zuwendet. Aus Wut darüber, daß er sie nun mit 45 anderen 
teilen muß, bringt er mir die Aufgaben nicht. Ich weiß genau, was 
ich tun müßte. Ich weiß vor allem, daß Strafe die Situation nur 
schlimmer, seinen Enttäuschungs widerstand nur größer macht. Und 
trotzdem muß ich ihn wegen der niehtgebraehten Aufgabe ebenso 
belangen oder bestrafen, wie die 45 anderen — das bedarf doch wohl 
keiner Begründung! Ich muß also bewußt zu einer „an sich" falschen 
Maßnahme greifen, weil die Situation Schalklasse dieses Verhalten 
bedingt. Mein Verhalten wird darum nicht richtiger, aber es wird auch 
nicht vermeidlicher dadurch, daß es vermutlich in psychologischen 
Arbeiten als Beispiel dafür auftauchen würde, wie falsch der Knabe 
X behandelt wurde, und wie sich nur mit Liebe bei ihm etwas hätte 
erreichen lassen * . . 

Doch — wir wollen in unseren Vermutungen nicht zu weit gelien. 
Es ist nicht richtig, daß die Gruppensituation sozusagen immer eine 
Niveausenkung für die zu verwendenden Erziehungsmittel bedeutet, 
daß sie in allen Fällen zur Kegression von der Erziehungsstraf© 
auf die Dressurstrafe nötigt. Es darf nicht vergessen werden, daß 
dies nur bei der mangelhaft durchorganisierten, erzieherisch farblosen 
Crruppe der Fall ist. Handelt es sich um eine nach erzieherischen Ge- 
sichtspunkten aufgebaute Gemeinschaft, dann ergeben sich im 
Rahmen dieser wiederum neue Erziehungsmittel, die der Einzel- 
erziehung gar nicht zu Gebote stehen und die Regression auf primi- 
tivere Straf mittel völlig überflüssig machen. In solchen Gruppen wird 
der Appell an das Zusammengehörigkeitsgefühl, an Gruppengeist, 
Kameradschaftlichkeit usw. Erziehungsmittel bedeuten, hinter denen 
sich auch die derbsten Strafmittel an Wirkungskraft verstecken kön^ 
nen. Daß unsere Schulklassen zu erzieherisch wohlkonstruierten Ganz^ 
heiten werden mögen, ist der Wunsch jedes Lelirers, Der Durch- 
sehnittssituation entspricht dieser Zustand allerdings nicht. 

Und noch eine andere Einschränkung haben wir unseren Zuge- 
ständnissen an die gelegentliche Unvermeidlichkeit der Regression 
auf an sich wertlose Strafmittel hinzuzufügen: Mag sein, daß die 
Situation A uns zwingt, uns pädagogisch falsch, aber situationsge- 
recht zu verhalten. Niemals ist dies eine Entschuldigung dafür, daß 
wir bei diesem Verhalten auch stehenbleiben! Ja, im Gegenteil: j 
Je öfter wir in die Lage kommen, pädagogisch zweifelhafte Straf mittel 
verwenden zu müssen» desto mehr müssen wir uns bemühen, ihre un- | 
erwünschten Nebenwirkungen durch nachher einsetzende sorgfältige 
Erziehungsmaßnahmen wieder gutzumachen. Es ist wahr, wir müssen 
manchmal bedenkenlos handeln — wir dürfen bei dieser Bedenken- 
los igkeit aber nicht stehenbleiben, oder sie gar, wie es viele Anhänger 






^ 



Der Mechanismu.s fler Stnifwiikiin^ 



267 



des Straf ens tun, mm einfach zum Prinzip erheben. Je falscher die 
ErÄiehnngssittmtionen sind, in die wir Kinder nun einmal pressen 
müssen, umso mehr Hilfsmaßnalmien werden wir zur WiederhersteU 
hing des erzieherischen Gleichgewichten brauchen. Um auf unser Bei- 
spiel zurückzugreifen: Es ist richtig, ich mußte den Schüler X für 
seine Faulheit bestrafen. Ich werde es aber nicht dabei bewenden 
lassen. Ich werde ihn nach der Stunde kommen lassen und versuchen, 
ihm die Notwendigkeit einer Verhaltensändernng seinerseits auf 
anderen Wegen akzeptabel zu machen. Sollte sich auch das mit meiner 
Rolle als aufgabenfordernderu Lehrer uiclit vereinbaren lassen, dann 
werde ich ihn — zum Krziehnngsberalcr f^chicken. Eben weil der 
Lehrer sich nicht immer richtig verhalten kann und nicht einmal 
immer richtig verhalten darf, ist die Institnlion des Beraters eine 
so unerläßliche Voraussetzung, eine Tatsache, der die pädagogische 
Öffentlichkeit frei lieh noch zieiulich ahnungslos gegenübersteht. 

Kehren wir mm nach diesem Exkurs ins Gebiet der Strafpraxis zu 
unseren eigentlich psychologischen Problemen zurück, so finden wir, 
daß wir einen neuen Gesich Ispunk 1 zur Lehre vom richtigen Strafen 
als Bereicherung mitgebracht haben. Wir werden feststellen: 

Für die Frage^ wann zu strafen ist oder nicht, ferner für die 
Frage, ob es sich um die Anwendung von Erziehungsstrafeu oder 
Dressnrstrafen handeln kann, ist die jeweils vorliegende Strafsituation 
entscheidend. Je größer der uns gewälvrte Spielraum» umso mehr wird 
die Strafe auf erzieherische Wertigkeit eingestellt sein müssen (vor- 
wiegendes Einsichtsmomenl; und sorgfältigste ^^ermeidung aller 
Nebenfehler), je geringer er ist, ie beengter die Situation, in der wir 
zu erziehen, oder je größer die Nebenaufgaben, die wir zu bewältigen 
haben (Lernen), desto mehr wird das Gewicht auf die Durchschlags- 
kraft der Strafe fallen (Vorwiegen des Angstdruckes), sofern wir nicht 
überhaupt dort Straf mittel verwenden, wo wir sonst ohne solclie aus- 
kommen könnten. 

Wir nehmen also zur Kenntnis, daß die Strafe neben allen bisher 
geforderten Qualitäten auch die Eigenschaft haben muß, daß sie 
situationsgerecht ist, und nehmen uns vor, in Zukunft der 
näheren Bestimmung dessen, was alles dazugehört, um die Straf- 
situation rasch und richtig zu überblicken, größeres Augenmerk zu- 
zuwenden. 

Wir haben damit unsere Untersuchung eigentlich beendet. Wir 
sehen kein© Aussicht, ans weiteren Spekulationen vorläufig neue 
Winke für den Praktiker ableiten zu können, AVas er an erwünschten 
und bisher völlig mangelnden Einsichten braucht, muß die konkrete 
Arbeit an vielen konkreten Beralungsfällen mit der Zeit ergänzen, 
eine Arbeif, die sich durch keine theoretische Spekulation ersetzen 



268 



Frits Redl 



läßt. Wir wollen nur noch versuchen, die praktischen Lehren, die wir 
bisher ziehen zu können meinten, noch einmal in übersichtlicher 
Weise zusammenzustellen, wobei es ohne Gewaltsamkeiten freilich 
nicht abgehen kann. Wir erhalteii dabei folgende 

Tafel der Fehler im Strafen, 
I. Fehler in der Straf wähl; 

1. Fehler im Ansatz eines Straf falles: '' ' 

a) Straffall statt Einsichtsappell, 

b) Straffall statt Belohnungsfall, 

c) Straf fall statt Erziehungsbehandlnng oder Analyse; 

2, Fehler in der Einschätzung der Straf Situation : 

a) mangelhafte Berücksichtigung der äuUeren Konstellation, 

b) mangelhafte Berücksichtigung der inneren Konstellation, 

c) mangelhafte Berücksichtigung des gruppenpsychologischen 
Momentes, 

d) an sich unvermeidliche Regression anf wertlose Strafmittel ohne 
nachher ige Korrektur durch ErziehungsmaJlnahmen (Beratung). 

IL Fehler in der Slraf struktur- 

1, topische Fehler (Fehler im Strafansatz) : 

a) mangelhafte Berücksichtigung der Entwicklungsperiode, 

b) mangelhafte Berücksichtigung der vorliegenden Fehlbildung, 

c) mangelhafte Berücksichtigung des libidinösen Typs; 

2. dynamische Fehler (mangelhafte dynamische Valenz) : 

a) Fehler im Angst druck, 

b) Fehler in der Sacbhaltigkeit, 

c) falsches Mischungsverhältnis von Angstdruck und Sachhaltigkeit. 
ITL Fehler in der Straf t e ch n i k: 

1, Fehler in der Wahl des Strafmittels, 

2, Fell 1er in gewissen psychohygienischen Momenten der Straf durch* 
fülirung (unerwünschte Nebenwirkungen), 

3, Fehler in der Strafintensität und Streuung. 

Diese Tafel der Straffehler selbst ist natürlich wieder nur ein 
Schema, dessen Ausfüllung zu einer großen Mannigfaltigkeit von 
Einzelratschlägen, Einsichten, Belehrungen führen müßte, deren Ord- 
nung nach systematischen Gesichtspunkten sieh aber als unzweck- 
mäßig erweisen würde, Sie gibt sozusagen nur die logischen Punkte 
an» an denen die einzelnen, dem Praktiker genugsam bekannten Straf - 
fehler angesetzt werden müBten, Eine Darstellung dieser Fehler selbst 
hätte nur in unmittelbarem Zusammenhang mit praktischen Beispielen 
Sinn und würde eine Aufgabe für sieh bedeuten. Nur eines mag dieser 
'J'afel der Straf fehler noch hinzugesetzt werden: Sie zeigt wohl auch 
in ihrer schematischen, mageren Ausführung deutlieh, daß „Strafen*' 
keinesfalls eine so einfache Erziehungsmaßnahme ist, wie viele Prak- 
tiker und Theoretiker der Erziehung meinen. Strafen gehört, im 



Der McchanismuB der SlrafM irkün! 



269 



Gegenteil, 2u den weittragendBten, einschneidendsten Erziehungsmaß^ 
nahmen, die wir kennen, es ist, wenn eine Parallele mit der Medizin 
erlaubt sein soll, eher mit einem chirurgischen p:ingriff zu vergleichen 
der sich von anderen Heil maßnahmen immer durch eine gesteigerte 
Gefährlichkeit unterscheidet, vor allem aber auch dadurch, daß er 
nie mehr ganz rückgängig zu nmehen ist, wie immer er ausfiel. So 
sollte auch die Strafhaudhuig dem Erzieher nicht leicht im Hand- 
gelenk sitzen, sondern nur auf Grund sorgfältiger Überlegungen an- 
gesetzt werden. Auch sonst erweist sich der Vergleich des Strafenden 
mit dem Chirurgen als recht tragfäliig. Wie dieser, bedarf er wohl 
eines gewissen Geschickes, das nicht lernbar ist; aber auch einer gün- 
stigen psychopliysischen Verfassung. Wer mit gesch wollenen Zornes- 
adern straft, gleicht dem Arzt^ der mit zitternden Händen operiert, 

wir werden uns in beiden Fällen kein besonders gltickliches Resultat 
versprechen. Andererseits kommt der Strafende wie der Operateur mit 
Gesciiicklichkeit und Talent nicht aus- Wir würden auch dem begab- 
testen Chirurgen keinen Körper unters Messer liefern, ehe er uns be- 
wiesen hätte, daß er über dessen Aufbau und Funktion gründliche 
Kenntnisse besitzt und auch mit den Gesetzen der Asepsis wirklich 
vertraut isL m daß wir scliädigende Nebenwirkungen seiner Tätigkeit 
nicht zu befürciUen brauchen. Im Falle der Erziehung sind wir freilich 
nicht so kritisch. Es ist recht erstaunlich, daß auch die Menschen, die 
sonst viel von der Seele halten uml ihre Über Wertigkeit über den 
Körper gar nicht genug betonen können, in diesem Punkte zu einer 
Gleichgültigkeit neigen, die man im Ralimen des Körperlichen nur 
als Leichtsinn bezeichnen konnte. Die Wissenschaft vom — konkret — 
richtigen Erziehen und die Praxis des ji cht igen Strafens scheinen 
einstweilen ins Reich der Utopie gezählt /Ji werden, jeden- 
falls ist die Kunst von der riclitigen Behandlung der Seelen noch weit 
davon entfernt, sich der Anerkennung zu erfreuen, die der Medizin 
längst allgemein zugebilligt wird. Übrigens sei auch hervorgehoben, 
daß uns nicht einfällt, den Vergleich zwischen pädagogisclier Praxis 
und Medizin etwa zu überspannen. Jeder Vergleich hat nur solange 
Sinn, als man das Jerlium eomparationis'^ nielit aus den Augen ver- 
liert. Einer durchgängigen Älmlichkeit der Pädagogik mit der Medizin 
oder gar einer Möglichkeit, sie in Medizin oder auch nur in Psycho- 
logie, aufzulösen, soll hier in keiner Weise das Wort gesprochen wer- 
den. Wer solches aus diesen Zeilen herauslesen zu können meint, der 
möge sich bei Homer informieren, der bekannt! icli Acliilles mit einem 
Löwen verglichen hat, ohne daß wir ihm deshalb zumuten würden, er 
hätte ernstlich geglaubt, Achill müsse auch eine Mähne, und ein 
gelbes Fell gehabt und als König der Tiere in der Wüste geherrscht 
haben. 



ZeitsHirin T. p.^a. Päd., lX/4 



270 



Fritz ICedl 



Ausblick. 

Meng beginnt seine Betrachtungen über die Erziehungssträfe — 
der Terminus ist hier in seiner weiteren Bedeutung gebraucht — mit 
Ausführungen über das Strafen im Rahmen der menschlichen G-esell- 
Schaft überhaupt, vor allem über die Kechtsstrafe, Seine Untersuchun- 
gen liefern ihm eine Reihe von wertvollen Einsichten über Ursprung 
und Ziel des Strafens, sie« erweisen sich überhaupt auch für die Er* 
wägungen über das Thema Erziehungsstrafe als überaus fruchtbar. 

Sollte sich nicht auch der umgekehrte Versuch, aus den Ergebnissen 
unserer Betrachtungen über die Erziehungsstrafe auch über die 
Rechtsstrafe einiges zu erfahren, als durchführbar erweisen? Es wäre 
verlockend, einen solchen Versuch zu wagen. 

Ich glaube, wir können zu den meisten Punkten aus den Abschnit- 
ten Strafwahl, Straf struktur, Straftechnik ohne Mühe Problem- 
parallelen auf dem Gebiete der Rechtsstrafe finden. Und über- 
haupt: Sollte das verwirrende Durcheinander von polemischen Mei- 
nungen, von dem das Gebiet der Reehtsstrafe nicht weniger beherrscht 
wird, als das der Erziehungsstrafe, nicht am Ende ähnliche Ursachen 
aufweisen, sich also ähnlichen Ordnungsversuchen fügen können? 

Vielleicht stammen die meisten Meinungsverschiedenheiten auch 
auf diesem Gebiet daher, daß Mehrdimensionales in eine Dimension 
ausammengedrängt erscheint! Dann aber müßten sie sich auch den 
Denkmitteln fügsam erweisen, deren Anwendung uns auf dem Gebiete 
der Erziehungsstrafe offensichtliche Dienste geleistet hat. Die Durch- 
führung dieses vielversprechenden Unternehmens müssen wir dem 
Fachmann überlassen, wir können ihn nur auf das Denkrüstzeug auf- 
merksam machen, dessen wir uns bedient habem Es ist das typische 
Denkrüstzeug der Psychoanalyse: die Anwendung der genetischen, 
topischen, dynamischen und ökonomischen Betrachtungsweise auf das 
Seelische. Auch der Versuch einer möglichst eindeutigen Fragest©!, 
lung und besondere einer scharfen Formulierung des Begriffes des 
Strafzieles und der Strafsituation dürfte sich auf dem Gebiete der 
Rechtsstrafe bewährem 

Literatur: 

S, Bernfeld: Die Tantaliissituation, Imago, Bd. XVII, 1931. 

Sigm. Freud: Triebe und Triebachicksale, Ges, Sehr. Bd. V,: Über lib^ 
dinoee Typen, Ges. Sehr. Bd. XIL; Die Verbrecher aus Scbuldbewiißtsein, 
Ges. Sehr- Bd. X-; Das Unbehagen in der Kultur, Ges. Sehr. Bd. XII. 
H. Meng: Strafen und Erziehen, Verlag Hans Iluber, Bern, 1934. 
K Sterba: Zur Theorie der Erziehungsmittel, Imago, Bd. XVIII, 1932, 
Zeitschrift für psychoanalytische Pädagogik, V. Jahrg., 1931, Heft 8/9, 
Sonderheft ,,Strafen" mit Beiträgen von Aichhorn, Berofeld, Weiß, Hitseh- 
mann, Böhm, Yates, Schinideberg. Tamm. Pipal, Gräber, Mannheim. 






Beridit über die Einleitung einer Kinderanaiyse 

Von Wilhelm Hoffer, M'ien 

Die Notwendigkeit, vor der EröffDung einer Kinderanalyse eine 

1927 in Ihrer „Einführung in die Technik der Kinderanaivse" begrün- 
det; darnach ist die Einleitungsphase durch die Aufgabe gekenn- 
ze.ehnet, das Kind „analysierbar" zu machen. Wie drese Äe 
gelost wird, wie beim Kinde eine Krankheitseinsieht entsteht wie 
es zur Analyse Zutrauen faßt und der Entschluß aus einem äußeren 
zu emem inneren wird, das wurde dort an sechs Beispielen gezeigt 
Nachfolgende Darstellung einer solchen Einleitnngsphase handelt 
von einem jener Kinder, welche allen denen sehr gut bekannt sind 
die es als Erzieher mit der Altersstufe zwischen 6 und 12 zu tun 
haben. Ich meine solche Kinder, die durch ihre Ängstlichkeit auch dem 
Erzieher, nicht bloß den Eltern auffallen, ihren Zustand aber immer- 
hin so gut beherrschen können, daß sie nicht gerade als abnorm gelten' 
Sie zeigen jedenfalls eine relativ gelungene Anpassung an die Wirk- 
lichkeit, sie fallen unter Umständen durch Ehrgeiz, Bravheit und 
Folgsamkeit auf, suchen Vertrauensstellungen in der Schulklasse und 
bilden im allgemeinen ein sozial günstiges Element. Im Elternhaus 
sind sie, wenn eingeschüchtert, meist unauffällig, sonst liebesbe- 
dürftig, launenhaft, gelten als aufrichtig und wahrheitsliebend. Als 
Kleinkinder zeigten sie verschiedene neurotische Symptome, Pavor 
nocturnus, ander© Angstzustände, Eßstörungen. Nur wenige Menschen 
wissen von ihren Ängsten, oft können sie sie überhaupt verbergen. 
Sie fürchten sich abends vor dem Schlafengehen, jedem Besuch, jeder 
Reise, jedem Fest; alle Veränderungen des Alltags können sie mit 
einer Steigerung ihrer Angst beantworten, Krankheiten genau so wie 
ein Geburtstagsfest. 

In die psychoanalytische Behandlung bringen solche Kinder — ich 
denke hier immer an Kinder der Latenzperiode ~ verschiedene 
i;^rwartungsvorstellungen mit, die sich an die bisherigen Versuche der 
Erzieher, die Angst zu beseitigen, anlehnen. In der häuslichen Erzie- 
hung, m der Schule, beim Schwimmunterricht oder sonstwo hat man 
es immer - humane Einstellung zum Kind vorausgesetzt - mit der 
Beruhigung versucht. Als Vorbild dient die Beruhigung ganz kleiner 
Kxnder in ihren Schreianfällen; sie setzt dort ein, wo der Tngst 
zustand, nicht aber der Angstanlaß wahrgenommen wird Fürchte 
dich nicht", heißt es „ich weiß zwar nicht warum du 1ng!t hast 
aber ich beschütze dich, obwohl ich dich nicht versteht' lolange 



272 Wilhelm Hoffer 



das Kind diesen Schutz ohne Vorwurf und Beschämung erhält, wird 
es ihn gern annehmen. Es stimmt nicht immer, wenn man meint, die 
Kinder seien über ihre Angst hinausgewachsen, in Wirklichkeit haben 
sie oft nur gelernt, sie geschickter zu verbergen. Andere Kinder 
zeigen ein anderes Verhalten; Sie verstecken die Angst nicht nur vor 
den Mitmenschen, sondern auch vor sich selbst, versuchen es wenig- 
stens, wenn es auch nicht völlig gelingt. Sie tun so, als w^ären sie nicht 
auf den Schutz der Erwachsenen angewiesen, überzeugen sich gern 
selbst von der Ungefährliehkeit einer Situation, Sie bekämpfen die 
Angst nach dem Vorbild ihrer Erzieher mit dem Verstand und sie 
sind auch angstfrei, soweit sein Einfluß reicht. Für eine Gruppe 
dieser Kinder hat die Angst dann die Funktion eines Spielzeugs, sie 
spielen bloß mit ihr; aber wir müssen uns sagen, daß dem Verstand 
oft enge Grenzen gesetzt sind, und daß Spiel auch gern in Ernst 
umschlägt. 

Für den Analytiker sind die kindlichen Ängste zuerst Rätsel, welche 
in der Behandlung gelöst werden sollen; man muß sie in allen Details 
kennen lernen, muß sich für sie interessieren, darf nicht mit der 
Beruhigung arbeiten. Die richtige Einstellung zur analytischen Arbeit 
von Seiten des Kindes muß sorgfältig vorbereitet werden. In der 
Haltung des Analytikers erlebt das Kind eine völlig neue Situation. 
Es erfaßt, daß die Analyse mit den üblichen Beschwichtigungsver- 
suchen nichts zu tun hat- Darum betrachtet es das Verhalten des 
Analytikers als Aufforderung: „Erzähle nur von deiner Angst, ich 
werde dich schon verstehen/* Der erste sichtbare Erfolg dieses gegen- 
seitigen Verstehens ist dann ein Nachlassen der Scheu und Zurück- 
haltung, die das Kind anfangs jedem Fremden, auch dem Ana- 
lytiker ' entgegenbringt. Das fördert wiederum neue Mitteilungen, 
neue Ängste zutage, die dann die weitere analytische Verarbeitung 
direkt herausfordern und ermöglichen. Ist diese Phase erreicht und 
gesichert, so kann die Einleitungsphase der Behandlung als abge^ 
schlössen betrachtet werden, wir können dann vom Kind erwarten, 
daß es aus eigenem für die Analyse seiner Ängste Verständnis hat. 

T, Vorgeschichte 

Mein Bericht liandelt von dem neun Jahre und sieben Monate alten Rudi, der 
von seiner Mutter auf dringliches Anraten des Hausarztes in Analyse gebracht 
wurde. Die Mutter berichtet ungefähr folgendes: 

,,Das Kind leidet seit jeher unter Angstzuständen, besonders abends beim 
Einschlafen; deshalb hat der Haiisarzt sclion vor zwei Jahren empfohlen, 
doch einen Versuch mit der Analyse zu machen- Erst ]ctzt konnten wir uns 
dazu entschließen. In den vergangenen drei Wochen kam nämlich Rudi einige- 



Berieht über die Einleitung ehinr Kinderanaly 



so 



273 



mal eingenäßt aus der Schule nach Ihiu.o, und unter dem Eindruck dieser 
neuerlichen Störung haben wir beschlossen. Rudi behandeln zu bissen 

I^di ist das einzige Kind. Bei der Geburl war er untergewichtig genähri 
^urde er mit der Fhi.ehe. AI. Säugling wurde er einige Wochen hindurch 
ausgiebig mit Kaltwa.sf.er behandelt, der Kinderars^t vorsprach .ich davon eine 
Förderung der körperliehen Entwicklung. Laufen und Sprechen lernte das 
rii 1?' übli^*i<^" Zeit; bis zu seinem 2^ten Lebensjahr konnten wir nichts 
AuffallendeB bomerkeiu 

Damals traten die ersten Ang^izustände in Form von Schrei- und An-'^t^ 
anfallen auf. Verwandte hatten einen Hund aus Stoff mitgebracht und Ihn 
auf das Kinderbett gelegt. Als Rudi seiner ansichtig wurde, verfärbte sich 
sein Gesiebt und die Angst nahm ihm tkni Atem, bis sich die gaoi^.e Spannung in 
4^inen Sehreianfall auflöste. J)urch drei Monate kam es dann bei Tag und 
Nacht wiederholt zu solchen Anfüllen. Tn dieser Zeit trat auch Stottern auf, 
das fünf Jahre lang anhielt (big 5!um 7M. Lebenslahr). Dann zwischen dem 
dritten und vierten Lebensjahr iiiiderte sieh Rudis Verhiiltcn. die Ängstlich- 
keit trat in den Hintergrund, dafür aber machte sich ein Zustand bemerkbar, 
der uns schließlieh an Rudis Verstand zweifeln ließ. Er begann zu „blödeln^ 
grimassierle, sprang wild umher und redete sinnlose Worte; zwischen solchen 
anfallsartigen Zuständen benahm er sich dann meist unauffällig. (Beim Essen, 
Defäzieren usw. wurden keine Störungen beobachtet; eine fieberhafte Er- 
krankung, die eventuell an eine organische Verursachung hätte denken 
lassen, ist diesen Zuständen nicht vorausgegangen.) Der Kinderarzt konnte 
nur zum Zuwarten ermuntern. 

Man machte den Ver.sucli, das Kiiul im Kindergarten zu halten, doch schrie 
er dort fort wahrend „Motter, Mutter*', so daß das Experiment bald aufge^ 
geben wurde. Der Zustand des „Blödeins" und Grimnssicrens verschwand, an 
seine Stelle aber traten sehr heftige Angstanfälle nach dem Einschlafen; dabei 
rief Rudi: ,,Mutti, borst du den Hund bellen?" Um jiede Aufregung bintanzu- 
halten, trachteten wir am Abend vor dem Schlafengehen jedes Geräusch zu 
vermeiden, eine Maßnahme, die sich bis heute erhalten hat." 

Soweit der Bericht der Mutter, der nun durch einige Einzelheiten (Schlaf- 
zimmersituationen, Schule, Mitbewohner) ergänzt werden soll. Rudi schlir-f 
bis zum Alter von 3J4 Jahren im Schlafzimmer der Eltern, hierauf in einem 
eigenen Kinderzimmer. Um die Zeit des Zimmerwechsels soll das ,, Blödeln'* 
aufgetreten sein. Ein Jahr später, als Rudi VA Jahre all war, starb sein 
Vater, mit dem er in besonders guter Beziehung gestanden sein soll, an den 
Folgen einer Bliiiddarmoperation. Rudi sollte weder von der Erkrankung des 
Vaters, noch von der Operation und schließlich vom Tode des Vaters etwas 
erfahren, er wurde außer Haus gebracht und längere Zeit bei Verwandten 
gehalten. Die Mutter hatte die Absicht, dieses einschneidende Erlebnis dem 
Kinde zu verheimlichen, und lange wollte sie nicht glauben, daß die Ver- 
änderung im Hause, die Trauerkleidung, die Kondolenzen der Bekannten der 
Beobachtung des kleinen Jungen nicht entgangen waren. Erst bis ihr Rudi 
ein halbes Jahr später gesagt haben soll: „Mutti, da^ werd^ ich dir nie ver- 
gessen, daß du mir das vom Papi nicht gesagt hast", konnte sie sich der Er^ 



274 Wühelii] Hoffer 



kenntnis nicht mehr verschließen. Als sicher steht fest, daß die Ängstlichkeit 
lim die Zeit des Todes des Vaters wieder im Zunehmen war. Doch konnte die 
Mi]tter nicht angeben, ob der Pavor noctnrnus vor der Operation ihres Mannes 
aufgetreten ist, was dann auf eine Belanscbungsszene schließen ließe, oder 
erst nacli dessen Ableben, als Rudi ins Schlafzimmer zurückgekehrt war. (Rudi 
schlief in seinem Kinderbett, während die Schwester der Mntter in dem des 
Verstorbenen schlief.) 

Schließlich berichtete die Mutter noch über ein Angstsymptom, das sieh 
um dieselbe Zeit entwickelte. Rudi wagte nicht den Hausgarten zu betreten, 
wenn er sich nicht vorher überzeugt hatte, daß die Spritzanlage außer Betrieb 
war*), (An dieser Stelle weist die Mutter spontan auf wiederholte Einlaufe 
hin, welche rteui Knaben zwischen iJ^ und 2 Jahren gemacht worden waren.) 
Überhaupt konnte er das Haus ohne Begleitung der Mutter nicht verlassen. 

Im Verlauf der ersten fünf Lebensjahre hatten sich somit hei Rudi fol^ 
-ende Symptome gezeigt: Schreckhaftigkeit und Seh reianf alle, Stottern, „Blö- 
deln'*, Pavor nocturnus und schließlich die Angst vor dem Gartenschlauch, 
Die Angsl, allein das Haus zu verlassen, machte sieh in diesem Alter wohl 
noch nicht störend bemerkbar. Sie ist im Gegenteil sehr gut geeignet, beiden, 
der Mutter und dem Kind, die Notwendigkeit eines ständigen Beisammenseins 
zu beweisen, stellt somit im Dienst des sekundären Krankheitsgewinnes, 

Mit Beginn des Schulbesuches normalisierte sich das Leben des Knaben. 
Den Schulweg bezog er in seine Angst, ohne die Mutter das Haus verlassen zu 
müssen, nicht ein. Er gilt als talentierter Schüler, war immer einer der besten 
in der Klasse, Erst im letzten Halbjahr verschlechterte sich der Schulfort- 
gang, Die Mutter ist geneigt, die Störungen in der Konzentration, die Ver- 
schlechterung der Schrift und das Einnässen in den vergangenen drei Wochen 
auf den schlechten Einfluß des Klassenlehrers, eines jungen, noch uner^ 
falirenen Pädagogen zurück zu führen. Solange Rudi eine von ihm sehr ge- 
liebte Lehrerin gehabt habe, wäre dae alles nicht vorgekommen. Aus diesem 
Grunde hatte die Mutter den Entschluß gefaßt, so bald als möglich Rudi 
wieder zu der früheren Lehrerin, welche die Parallelklasse unterrichtete, 
s^urück zubringen: sie hatte, als sie bei mir erschien, bereits die Umschulung 
beim Direktor der Schule durchgesetzt. So kam Rudi mit Beginn der Behand^ 
lung zu seiner früheren Lehrerin zurück und in eine Klasse, in der es mehr 
Mädchen als Knaben gab. So kam es auch, daß wir das Symptom des Ein- 
nässens nicht mit Beibehaltung der Situation, in welcher es aufgetreten war, 
studieren konnten; Rudi hat in den nächsten vier Monaten, bis zum Übertritt 
ins Gymnasium, nicht mehr eingenäßt. Da er. wie wir zeigen werden, anfangs 
die Angst gut verbergen konnte, war ein wichtiges Symptom, das auch ein 
Neunjähriger nicht leicht bagatellisieren konnte, der analytischen Betrachtung 
durch eine außeranalytische Maßnahme entzogen worden. 

Nun noch einige Bemerkungen über die Mitbewohner des Einfamilien- 
hauses, in dem Rudi wohnt. Rudis Mutter ist eine 30jährige, wie wir gesehen 
haben, um das Wohl des Knaben überaus besorgte Frau, Ihre Ehe stellt sie 

*) Vergleiche die gleiche Angst vor dem Gartenschlauch, Sprengwagen, 
Sprayapparat bei Editha Sterha: „Ein abnormes Kind*'. Ztschr, f. psa. Päd,, 
Bd, VIL, 1933, S. 25, 



Bericht über die EiDleitung eiper Kind erapalyse 275 

al.^ eine sehr glückliche dar. Nach dem Tod ihres Mannes nahm sie dessen 
alten, kränkelnden Vater zu sich ins Haus, Bald erkrankte der alte Mann -in 
Anfällen von Angina pectoris, später traten auch die Zeichen einer senilen 
Demenz in Erecheiirnng. Rudis Mutter schildert eindringlich, wie viele Sorgen 
ihr der Sohn und der Schwiegervater machten; in der Nacht schrie einmai der 
eine in seinen Angstanfällen, das andere Mal der andere während der Herz^ 
attacken. Der Hausarzt glanbt, daß Rudis Angst vom Großvater aus einen 
bedeutenden Zuschuß erhalten habe. In der von mir zu berichtenden Ein. 
leitungsphase spielt der Großvater aber noch keine Rolle. Dieser starb, als 
Rudi acht Jahre alt war. 

Eine etwas ältere Schwester der Mutter hatte ehenfalls nach dem 'J'ode 
von Rudis Vater die Wohnung mitbexogen. Sie ist unverheiratet und berufs- 
tätig. Für Rudi ist sie eine zweite Mutter. 

Bis vor einem Jahr lebte Rudis Mutter fast ausschließlich für ihn; daiuals 
lernte sie einen Mann kennen, mit dem sie sich demnächst nunmehr zu ver- 
heiraten beabsichtigt. Seit einem halben Jahr wohnt er im Gartentrakt des 
Hauses. Rudi steht mit ihm auf bestem Fuß, er nennt ihn den Onkeh Die 
Mutter will vor Einzug des Onkels in die Wohnung Rudi ausführlicli tiher 
ihre Heiratsabsichten informiert haben, Obgleicli die Übersiedlung in das 
Kinderzimmer — vor einem halben Jahr — mit dem Einzug des Onkels zu- 
sammenfiel, will die Familie keine Änderung Im Benehmen des Knaben be- 
merkt haben. Einen Einfluß auf den Schulfortgang, der sich ja um die gleiche 
Zeit verschlechterte, lehnt die Mutter mit Berufung auf die anderen, oben 
angeführten Ursachen (Lehrerwechsel) ab. Daß Rudi zu Hause keinerlei 
Reaktion verriet, beweist eben nur, wie gut er sich beherrschen kann. Wir 
dürfen daher gleich annehmen, daß Rudi wie manches Kind in Analyse seine 
Familienangelegenheiten erst recht spät zur Besprechung bringt, wozu hei Rudi 
noch als erschwerend folgendes Moment kommt. Er weiß, daß der Hausarzt 
— was ja dann auch bei der Übersiedlung des Onkels geschah — darauf ge- 
drungen hat, daß er sein eigenes Zimmer beziehe. Was soll er sicli bei dieser 
Häufung von Beeinträchtigungen durch Männer vorerst von den Gesprächen 
mit mir erhoffen? 

Rudi hatte schon öfter und lange vorher gehört, daß gegen seine Angst 
etwas unternommen werden müsse, es wurden auch schon alle möglichen er- 
ziehlichen Maßnahmen versucht. Ich einigte mich daher mit der Mutter, sie 
würde ihm sagen, er solle zu einem Doktor mitkommen, mit dem er über 
die Angst sprechen werde. 

II. Rudis Verhalten bis zum ersten Geheimnis 

In dem damals fast 9% jährigen Rudi lernte ich einen überaus ge- 
pflegten, gut genährten, in seinem Benehmen ganz und gar nicht ge- 
hennuten Knaben kennen. Bei der ersten Begegnung verriet er durch 
nichts, daß etwas in ihm mit seiner sonstigen Persönlichkeit nicht in 
Übereinstimmung sei, er wirkte für sein Alter gesetzt, dabei aber nicht 
gerade unkindlich, nichts ließ auf Drill öchließen. Er hatte etwas 



276 Wilhrlm Hoffrr 



Würdevolles an sich, wenn er sich setzte und die Beine kreuzte, seine 
Wohlgenährtheit gab ihm dabei ein etwas l^omisches Aussehen. 

Er kommt mit der Einstellung eines Prüfungskandidaten zu mir, 
der 8ich seiner guten Vorbereitung und seines ausgezeichneten Er- 
folges sicher ist. Er spricht eine Sprache, die mich sehr überrascht. 
Er kommt doch aus der Vorstadt, nach den A^orbesprechungen mit der 
Mutter habe ich nicht erwartet, daß er in einem reinen Schriftdeutsch 
mit mir sprechen würde. Im Laufe der ersten Unterhaltung fragt er 
auch, ob ich französisch spreche (niemand zu Hanse spricht franzö- 
sich), er zieht ein Buch aus einem Fach mit französischen Büchern 
heraus (natürlich liatte er vorher gefragt, ob er dürfe); er lerne näm- 
lich seit einem Jahr französisch, hauptsächlich Grammatik, jetzt aber, 
wenn er zu mir käme, hätte er die Stunden aufgeben müssen. „Aber 
es macht mir nichts'', fügt er beruhigend hinzu. Ich glaube, mit einem 
solchen Jungen könne man sehr bald in ein ernstes, unseren Absichten 
dienendes Gespräch kommen, und ich frage ihn, was ihm die Mutter 
als Grund seines Kommens angegeben habe. Rudi sagt; „Nun ja, das 
wegen der Angst abends, aber seitdem ich die Susi habe, braucht sie 
|a nicht mehr zum Bett kommen . ,. und das wegen der Schule, das 
bißchen , . . Jetzt bin ich ja wieder bei meinem alten Fräulein - . /' (Er 
zählt so seine wichtigsten Symptome selbst auf, sagt aber gleich dazu, 
mit welchen Mitteln man sie bekämpft,) Der kleine Rudi zeigt kaum 
eine Erregung, alles kann er beherrschen, nur die intensive Kötung 
der Wangen verrät, daß wir uns auf einem ihm keineswegs gleich- 
gültigen Gebiet befinden. Er eilt auch sofort zum Fenster meines 
Arbeitsziimmers, wie wenn er von einer Sorge getrieben wäre, „Das 
ist eine enge Gasse, in der Sie wohnen", meint er, ,,da wird es im 
Sommer staubig von den Autos sein!** Er erzählt von seiner luftigen 
Vorstadtwohnung, vom beginnenden Frühling, daß er gerade heute 
den ersten Schmetterling gefangen habe, „ , - . aber ich habe ihn nicht 
angeschaut, um die Flügel nicht zu verletzen*'. 

Wir haben von seinen ersten Angstanfällen im dritten Lebensjahr 
im Zusammenhang mit einem Stoffhund gehört; sein langjähriges 
Angsttiert ist jetzt in seinem Hund „Susi" zum Schutztier geworden. 
Die Mutter erzählte, daß er Hunde Jetzt besonders liebe und keine 
Angst vor ilinen mehr habe. Von seiner Mutter hat er gehört, daß ich 
einen Hund besitze, er bittet, ihn sehen zu dürfen; Rudi wird rot und 
verlegen, als ich seinem Wunsch nachgebe und den Hund in das Zim^^ 
mer hole. Rudi drückt sich scheu an den Schreiblisch, beruhigt sieh 
aber selbst mit den Worten: „Gott, der schaut so brav, er tut sicher 
niemandem etwas/' Als ich scherzend sage: „Das kann man nicht 
wissen, wer weiß» was sich so ein Hund denkt, wenn er einen Fremden 



1 



Bericht über die Einleitung einer KindornnalysG 277 

im Zimmer sieht'\ steigert er seine schon vom Anfang der Unter- 
redung so deutlich Angstabwehr und stürzt sich mit Selbstver- 
achtung in eine wilde Spielerei mit dem Hund, Inzwischen habe ich 
,,Knips" zu spielen begonnen, Rudi reagiert auf meine Aufforderung 
sich zu beteiligen nur zaghaft und sagt: „Die Mutter will sonst nicht» 
daß ich Karten oder Schach spiele, das lenkt mich vom Lernen ab/' 
Ich sage ihm darauf, in den Vorbesprechungen, die ich mit der Mutter 
gehabt habOj habe sie mir gegenüber nie hefürchtet, Rudi sei ein 
Spieler, im Gegenteil: wie brav er sei, und wie er selbst immer an 
seine Aufgaben denke und sich Sorgen mache, ob sie aucli richtig 
seien, nur daß er sehr lange für die Fertigstellung der Aufgaben 
brauche und manchmal gar nicht fertig werde. Während wir noch 
darüber sprachen, spielte er schon mit mir. Als Antwort auf das Ge- 
spräch meint er noch, da ich doch Doktor sei, könne ich ihm auch er- 
lauben Tee zu trinken; er trinke so gern Tee, die Mutter gebe ihm 
aber keinen, weil es ungesund für die Nerven sei, jetzt überlasse sie 
es mir, ich solle entscheiden. (Ich antworte, ich habe nie gehört, daß 
eine Tasse Tee einem Menschen schaden könnte.) 

In der Folge nun erfahre ich einiges von ihm selbst über seine 
Angst; aber man hört aus seinen Mitteilungen mehr heraus, wie sehr 
er sich wegen der Angst schämt, wie gern er sie verkleinern möchte. 
Über die Angst selbst erzählt er, daß sie nur abends auftrete, er 
fürchte, ein Räuber könne das Fenster einschlagen und in das Zim- 
mer schießen, auch das Haus könne man anzünden oder im Zimmer 
ein Feuer legen. 

Zwischen der ersten und zweiten Stunde berichtet mir dann die Müller, 
daß Eudi abends, als er ins Bett ging, sein offenes Taschenmesser neben das 
Bett legte, ^^as sie bisher nie beobachtet liatte. Am Morgen kam er zur Mutler 
ins Bett („er ist so lieb dabei, daß icli nicht nein sagen kann, obwolil es der 
Hausarzt vor ein paar Monaten energisch verboten hat") und fragt ganz un- 
vermittelt: „Hast du den Onkel lieber oder mich?" Daraufhin will sie ihm 
wieder alle möglichen Beruliigungen über ilire Olelühle gegeben haben, aber 
eine gewisse Niedergeschlagenheit blieb dennoch bestehen. Die Erkundigun- 
gen bei der Mutter belehrten mich, daß sie abends hin und wieder — „aber 
mit Rücksicht auf die Schwester nicht häufig'* — ihren Bräutigam in dessen 
Zimmer besucht. Daß Rudi von diesen Besuchen, wiewolil die Tür zu ihrem 
Schlafzimmer niemals ganz geschlossen war, etwas gemerkt haben soll, stelll 
sie als unwahrscheinlich hin^ Sie ergänzt noch ihre früheren Angaben Über 
Rudis Harmlosigkeit und Reinheit; er sei zwar vollkommen aufgeklärt, aber 
er benehme sich immer wieder so. als hätte sie ihm niemals etwas erzählt, Als^ 
sie ihm einige Tage später, als er wieder bei ihr im Bett war, sagte: „Dein 
altes Gitterbett wird verkauft, weil die Frau vom Friseur ein Kind bekommt 
und es braucht", fragte Rudi ganz harmlos: „Woher weiß sie das?" Sie meint 
noch, diese echte Unschuld, an der nichts Gespieltes sei, bringe sie in \ er- 



1 



278 Wilhelm Hoffer 



legenbeit, denn sie wiese eehr wohl, ilaß Kinder in diesem Alter schon alles 
wissen und wissen sollen j und erst in Rudis Schule, in der Vorstadt, werde 
tioch gewiß alles genau besprochen. Unlängst fragte er, als gewaschene 
]\fonatsbinden im Garten zum Trocknen lagen, wozu das sei, und als sie ihm 
antwortete, sei er, ohne Interesse zu nehmen, zu seinem Hund gelaufen. Als 
sie ihrem Bräutigam erzählte, ich hätte sie nach Beobachtungen über Rudis 
Onanie gefragt, und sie hätte mit gutem Gewissen solche in Abrede stellen 
können, sei sie sehr ausgelacht worden, denn so oft er Rudi beim Lernen oder 
Spielen angetroffen hätte, hätte er die Hände beim Sack gehabt, und er ließe 
sie auch dort, wenn man mit ihm spreche. 

Die zweite Stunde mit Rudi verlief eher kühler als die erste. Beim 
Knipsspiel benahm sieh Rudi überaus scheu und so ungeschickt» daÜ 
es mir mir mit Mühe gelang, ihn gewinnen zu lassen. Er warf mir 
offenbar freiwillig hin, was ich seiner Meinung nach hätte von ihm 
haben wollen. 

Erst nach und nach gelang es^ diese ängstliche Zurückhaltung» die 
ihm gewiß als solche nicht bewußt war, abzubauen: Wir begannen ein 
ITbersetzungsspiel und veränderten an der Hand eines „Wörterbuches 
des Wiener Dialekts" seine hochdeutschen Wendungen in die Wiener 
Umgangssprache. Er konnte mir so meine Fehler, die ich bei der Über- 
setzung seiner Sätze gemacht hatte, an der Hand des Wörterbuches 
beweisen, und so fand er allmählich selbst in die Sprechweise wieder 
hinein, die ihm als Umgangssprache geläufig war. Nach der fünften 
Stunde begann er ein Schachbrett zu zeichnen, um mit mir „Barne" 
zu spielen. Nun begann er sich selbst zu interessieren, warum er so 
leicht verliere, aber er versuchte, das Problem auf einfache Weise zu 
lösen: Er schlug vor, „die andere Art" zu spielen, jene Form, bei der 
jener Spieler gewinnt, der zuerst alle Steine verloren hat. Bei dieser Art 
des Spiels — also eigentlich in der Form des „Verlierens** — ent- 
wickelt er eine auffällige Geschicklichkeit und Anteilnahme, die ihn 
alle Vorteile ausnützen läßt. Rasch hat er herausgefunden, daß jener 
Spieler eine bessere Gewinnchance hat, der den ersten Zug macht, und 
er will nunmehr — ohne ein Gefühl von Kücksichtnahme auf den 
Spielpartner zu zeigen — immer beginnen. 

Wenn Rudi hastig beim Damespiel seine Züge mit den Steinen 
machte, begleitete er sie zuerst selten, dann häufiger durch grun- 
zende Laute, manchmal auch mit einem Quietschen; später — es war 
in der siebenten Stunde ~ konnte ich dann einzelne sinnlose Worte 
heraushören. Wenn ich versuchen wollte, diese Laute festzuhalten, so 
würde das Ergebnis so aussehen: Prrrrr, ft, ft, ft, ft, tsehsch, tschsch, 
tsehsch, krkrkrkrhoopuftuschum tseh bumbumbrumbrumbumbumbrum. 
Er setzte diese Mitteilungen in ,Form einer Art von Selbstgespräch 
über das Ende des eigentlichen Damespieles hinaus fort, bis er unver- 



Bericht über die Einl eitung einer Kinderanalyee 279 

mittelt sich mit Worten direkt an mich wendete: „Raten Sie,., no 
raten Sie...", aber bevor ich noch dazu kam, sagte er: „Ich hab' in 
der Schule krachen lassen," Und nun schilderte er mir im Flüsterton 

das erste Geheimnis. 
„In der Schule haben wir eine Lehrerin und es sind — das wissen 
Sie ja schon von mir — Buben und Mädeln dort. Und wir haben die 
Lehrerin und die Mädchen erschrecken wollen, da haben ein paar 
Buben eine Knallerbse hingelegt und da hat es einen Krach 
gegeben . . . und da hat die Lehrerin auf uns geschimpft/' Rudi ändert 
sein Verhalten wieder, wird ernster^ läuft zum Fenster und fragt, 
ob der Großvater^) nicht schon unten wartet. Als er dann mein 
Zimmer verlassen hatte^ merkte ich, daß seine Füllfeder auf meinem 
Sehreibtisch lag. Ich konnte die Mutter nur noch telephonisch 
verständigen lassen, sie solle nicht glauben, Rudi habe sie verloren. 

IIL Vom ersten zum zweiten Geheimnis 
Rudi hat in rascher Aufeinanderfolge drei wichtige Mitteilungen 
gemacht, von denen ihm nur die mittlere als Mitteilung bewußt ist. 
Die erste Mitteilung geschah in Form von sinnlosen Geräuschen und 
schließlich von Wortbildungen, sie wirkte eher wie ein laut gewor- 
denes Selbstgespräch; die zweite war» wie gesagt, direkt an mich ge- 
richtet und enthielt ein Geständnis, eine Prahlerei und eine dem 
äußeren Ansehein nach aggressive Regung gegen die Lehrerin; die 
dritte Mitteilung schließlich schloß sich dieser zweiten an, es war die 
Fehlleistung. Schon die erste Äußerung sinnloser Laute muß uns an 
jene Phase im dritten bis vierten Lebensjahr erinnern, in der das 
„Blödeln" oder, wie es die Mutter jetzt auch nennt, das „Kasperl- 
spielen" auftrat. Rudi weiß gewiß nicht, was er damit mitteilt, und in 
unserer Deutung, die wir ihm natürlich nicht mitteilen, sind wir vor- 
läufig noch auf Vermutungen angewiesen. (Über den Zeitpunkt der 
wirksamen Deutung vergleiche %. B, Jenny Wälder: „Analyse eines 
Falles von Pavor nocturnus'*, Ztschr, f. psa. Päd., Bd. IX, 1935, S. 15.) 
Aber die Aneinanderreihung von drei solchen Mitteilungen legt die 
Vermutung nahe, daß es sich um drei zusammengehörige Gedanken 
handelt, von denen zwei unbewußt geblieben sind. Wir meinen: Rudi 
\\dX einmal eine Szene miterlebt, gesehen oder nur mit an gehört, die 
ihm unverständlich geblieben ist; er hat die Jetzt unbewußte Vorstel- 
lung empfangen oder gebildet, daß dabei etwas Schlimmes geschieht, 
worüber jemand erschrecken muß; auch wird dabei geschimpft. Das 
Liegenlassen der Ftillfeder würde hier den Verlust des beteiligten 
mä nnlichen Organs darstellen. Von Ru di hörte ich drei Wochen später 

~'^) „Der Großvater", der gewODDUcli Kudi zu mir begleitet, ist der Vater 
von Rudis Mutter. 



1 



280 Wilhelm Hoffer 



folgendes: „Die Mutter läßt mich nicht mit der Füllfeder schreiben, 
sie sagt, ich ruiniere mir die Schrift" (was wohl für Rudis Unbe^ 
wüßtes heißt, daß auch das durch die Füllfeder repräsentierte Organ 
bei Benützung Schaden leiden kann). 

Die Mitteilungen gewähren uns aber auch Einblick in seine über- 
tragungssituation, zeigen, daß er mir nunmehr mehr vertraut als 
früher und daß er mich als Mann nimmt, als Verbündeten gegen die 
Frauen, wahrscheinlich die gefährlichen Frauen, die sieh anderseits 
sü leicht von kleinen Burschen schrecken lassen. Dieses Thema „Wir 
starken Männer werden es schon den Weibern zeigen'* verläßt er auch 
im folgenden Abschnitt nicht. Vorerst aber erscheint Rudis Mittei- 
lungsdrang nach dem ersten Geheimnis erschöpft. Er verlangt Karton, 
Klebestotf und Messer und beginnt eine ausgedehnte Fabrikation von 
Lampions, wie man sie bei Festen im Freien verwendet. Später er- 
klärt er sie — in Anspielung auf das folgende zweite Gelieimnis — 
als Lampen für eine altdeutsche Stube. Er arbeitete eine Zeitlang 
stumm und eifrig, dann sorge ich dafür, daß er sich nicht ausschließ* 
lieh in der Arbeit verliert und vergißt, daß er zu einem bestimmten 
Zweck und nicht zur Übung in Handfertigkeiten zu mir gekommen 
ist. Aber ich dränge noch nicht und vermeide alles, was ihn annehmen 
lassen könnte» die Mitteilung eines Geheimnisses berechtige mich, nach 
weiteren zu forschen. Ich achte wieder mehr auf die Art wie er Mit- 
teilungen macht, finde, er spricht nun nicht mehr streng hochdeutsch, 
aber auch nicht wienerisch, sondern in einem kindlichen, werbend- 
vorsichtigen Ton, sagen wir, er spricht bewußt kindlich zu einem Er- 
wachsenen. Ich denke mir, solange er nicht wieder „Kasperl zu spie- 
len** beginnt, werde ich nichts Neues erfahren. Sobald Rudi mit der 
Arbeit aussetzt, sei es nun, daß er sich müde fühlt oder ein Werkzeug 
wechselt, läuft er zum Fenster, versucht hinunter zu schauen, er öffnet 
auch das Fenster, Da es draußen regnet, wartet sein Großvater im 
Wartezimmer, so fällt seine frühere Motivierung — „ich halte nach 
dem Großvater Ausschau'' — weg. Stück für Stück gibt er mir nun 
folgende Erklärung: „Ich habe Angst die Rettuugsgesellschaft steht 
unten , _ sie könnte im Haus sein ... wenn ich runter gehe, könnte 
man eine Tragbahre über die Stiegen tragen. , , die Mama hat gesagt, 
vor drei Jahren waren wir — sie und ich — im Haus in der . , . .gasse, 
dort haben wir auf der Stiege die Rettungsgesellschaft gesehen, eine 
Tragbahre, auf der einer gelegen ist ... seither furcht' ich mich vor 
der Rettung . , , mich werden S' (hier verfällt er schon sehr deutlich in 
den Wiener Dialekt) net dazu bringen, daß i allan über d' Stiegen 
geh', na, kumman S' mir net damit:" 

Rudi braucht wohl vor allem eine Beruhigung für seine Angst» ich 



Bericht über die Einleitung einer Kinderanalyse 281 

könnte ihm seine Befürchtungen durch Ratschläge, Anweisungen oder 
Befehle austreiben wollen, vielleicht hat er derartiges zu Hause ge- 
hört? Hier spielt "vvohl auch wieder der Hausarzt herein, der die 
Trennung der Betten angeregt hat. Sobald ich seine Angst als für ihn 
berechtigt erkläre, dies, indem ich sie nicht durch Ratschläge be- 
kämpfe, wird er wieder zutraulich, wechselt Sprechart, Stimme und 
Thema und blättert, j^^ährend ich ihm meine Stellung zur Angst der 
Kinder erkläre, in einem Schmetterlingsbuch. 

Ich habe den Eindruck, es wäre verfehlt, von den Inhalten — den 
bewußten oder gar den unbewußten — seiner Angst %n sprechen, weil 
er noch nicht genügend vorbereitet ist, den Angstschutz als solchen 
zu erkennen; wer diesen Angstschutz angreifen würde, würde in 
diesem Moment gegen Rudi eine feindselige Handlung unternehmen; 
in diesem Fall ist die Schutzvorrichtung das Vermeiden, allein die 
Stiege betreten zu müssen, und da Kudi nunmehr weiß, daß ihm von 
mir nichts derartiges droht, beruhigt er sich von selbst. Es hat wohl 
wenig Aussicht auf Erfolg, wenn man in einer solchen Einleitungs- 
sitnation Neugierde zeigen wnirde; man weckt dadurch höchstens Eeue 
über zu große Freigebigkeit und das Kind wird bei den Mitteilungen 
das nächste Mal viel vorsichtiger und zurückhaltender sein. In der 
jetzigen Situation schien mir nichts leichter^ als Kudi einen Anlaß zur 
Flucht aus der Behandlung zu geben. Seine Mutter hätte sieb jetzt 
gewiß von der Nutzlosigkeit seines Kommens überzeugen lassen, falls 
Rudi erklärt hätte, nicht mehr zu mir kommen zu wollen. Die Auf- 
nahmeprüfung sollte in wenigen Wochen gemacht werden und die 
für Rudi sehr ehrgeizige Mutter zeigte jetzt schon mehr Angst davor, 
als Kudi später, knapp vor der Prüfung, aufbringen konnte; auch war 
das Einnässen seit zwei Wochen verschwunden, außerdem war die 
tägliche Fahrt in die Stadt umständlich, 

Rudis Mitteilungen können von nun ab nicht mehr bloß an der 
Oberfläche seines Alltags bleiben, immer wieder gleitet er in persön- 
liche Mitteilungen hinein, aus denen er sieh durch schnellen Wechsel 
der Sprache ins Hochdeutsche wie an einem Seil herauszieht. Er be- 
richtet von seiner Beziehung zum weibliehen Geschlecht, indem er 
vom Dienstmädchen Lily erzählt: daß sie alles falsch mache, daß die 
Mutter mit ihr nur schimpfen müsse, daß sie sie nur ärgere, sie habe 
die Füllfederpipette zerbrochen, so daß er jetzt jeden Tag bei mir die 
Füllfeder füllen müsse; sie sei so dumm wie die Mädchen in der 
Schule, immer tuschle sie (tausche Geheimnisse aus). Wenn er sehr 
zornig wird, so grimassiert er, stößt unverständliche Laute aus, 
spricht so, als würde er in einer fremden Sprache schimpfen. Einmal, 
als Lily ihn statt des Großvaters begleitet, fragte sie bei Kudi an, ob 



282 Wilhelm Hoffei 



er nicht ein Stückchen allein auf der Straßenbahn fahren wolle, sie 
wollte noch etwas besorgen; darauf wird er besonders heftig: „Sie 
will mich nicht nach Hause bringen ... sie will, ich soll allein fahren 
... ich hah' Angst, der Kinderräuber könnt kommen. . . die haben die 
Kinder vielleicht ganz gern ... sie werden spielen mit ihnen . . . aber 
sie nehmen sie den Eltern weg und sperren sie ein." (Wahrscheinlich 
liegen dieser Angst Erlebnisse mit anderen Dienstmädchen, erlebte 
oder phantasierte Drohungen zugrunde.) So reiht sich Angstvorstel- 
lung an Angstvorstellung und liefert uns Argumente für später, wenn 
sein Drang zur Mitarbeit und sein Gesundungswille einmal versagen 
sollte. 

Einmal fragt er, offenbar um mich auf den Grad meiner Überein- 
stimmung mit dem Hausarzt zu prüfen: „Wieso ist es nicht gut, daß 
die Kinder bei der Mama im Bett schlafen? ... ich hab' das Gitterbett 
noch , . . vielleicht braucht sie es (gemeint ist die Friseuriu, vgl. 
Seite 277) ... ich weiß, daß sie keins hat . . . glauben Sie, ich möcht* 
zu kurz kommen? . . ." So spricht er unvermittelt von Dingen, über die 
wir niemals Worte gewechselt hatten, vielleicht setzt er Gespräche 
mit mir fort, die er zu Hause begonnen hat oder führen wollte. 

Man könnte Rudis bisherige bewußte Mitteilungen in drei Gruppen 
einteilen; Zur ersten Gruppe gehören jene, welche Rudi als gefälligen 
jungen Mann zeigen; es sind die indifferenten Mitteilungen, die er in 
ähnlicher Situation jedem Fremden gegenüber auch gemacht hätte, 
z. B. daß er am Sonntag mit der Mutter im Theater war. Die zweite 
Gruppe setzt sieh aus solchen zusammen, durch die er mich in seine 
Familie einbezieht, mich wie ein nahestehendes Familienmitglied be- 
handelt; z. B. die Gespräche über Lily, die Angst vor der Rettungs- 
gesellschaft. Die dritte Gruppe besteht aus den eigentlichen, ihm be- 
wußten aber von ihm geheim gehaltenen Intimitäten in der Art des 
ersten Geheimnisses. Von ihnen wissen höchstens einige Freunde 
oder Mitschüler, vor den Autoritäten und der Mutter werden sie ge- 
heimgehalten. 

Während Rudi in der Analysenstunde auf Lily und die Mädchen 
schimpft, von Plänen mit den Mitschülern erzählt, wie man die Mäd- 
chen in der Schule VOräChtlich mätht, höre ich, daß er zu Hause 
"Wieder „das Kasperl spielt" und insbesondere beim Hauslehrer blödelt. 
Er äußert den Wunsch, so lange nicht zu mir fahren zu müssen, so- 
lange der Großvater krank ist; er lehnt die Begleitung Lilys ab. Er 
fürchte, in der Straßenbahn könne ihm jemand etwas wegnehmen, 
tiberall könne man doch lesen „Vor Taschendieben wird gewarnt". Was 
könne man ihm wegnehmen? „Die Uhr... die Füllfeder... der Kin- 
derräuber die Zuckerln..." Als ich Rudi sage, daß die Mutter mir 



^___ Bericht über die Einleitun g ein^r Kinderanalyse 283 

heute vom Kasperlspielea berichtet hat, reagiert er wie auf eine Auf- 
forderung. Er unterbricht nunmehr für einige Stunden seine Karton- 
arbeit, redet durch die Nase, macht Tierstimmen nach, verwendet 
tschechische Worte und geht wiederholt in das Summen eines Vers- 
maßes über. Dann fügt er auch AVorte hinzu; unter anderem sagt er 
unvermittelt: „Was will denn der teppete Dokter, wos hot er denn, doß 
1 net drin schiefen derf"®). Bewußt denkt Rudi an den Hausarzt, den er 
für den Zimraerwechsel verantwortlich macht. Er meint natürlich den 
Onkel, bei dessen Einzug in die Wohnung Rudi ja das Schlafzimmer 
der Mutter verließ. Meine Erklärung, warum der Hausarzt dafür sei^ 
daß ein großer Junge allein schläft, nimmt er scheinbar reaktions- 
los hin. 

Dann fragt er, ob er ein Gedicht aufsagen dürfe ... ein Geheimnis- 
gedicht, von dem er den dritten Vers selbst gedichtet habe, in der an- 
deren Klasse, und jetzt kenne es seine neue Klasse auch schon. Das 
Gedicht bezieht sich auf einen Lehrer, der den Spitznamen „ Kap seh i'* 
trägt; „Kapschi" bemüht sich bei den Kindern Interesse für Volks- 
bräuche und -lieder zu wecken. Hier das zweite Geheimnis: 
Kaum hat die Glock' geklungen, 
kommt der Kapschi in die Klass' gesprungen, 
er hängt den Mantel an den Haken 
und fängt was Klassisches an zu quaken. 

Wiederum folgt der gleiche Vorgang wie frühen Rudi wird un- 
ruhig, spricht hochdeutsch kindlich-werbend von gleichgültigen Din^ 
gen, stürzt sich in die Arbeit^ es sind die altdeutschen Leuchter für 
die Bauernstuben! Er kann es nicht in Worte fassen, aber es drückt 
ihn das schlechte Gewissen: „Jetzt denkst du SlClW, dftY Vflld lUicll 
verraten", sage ich. Er mißtraut mir noch, kann es nicht fassen, fragt, 
ob ich zur Beichte gehe, ob ich auch zu einem Doktor gehen würde, 
wenn ich Angst hätte. Darauf sagt er: „Was denken Sie sich über 
das Gedicht; jetzt bin ich der Doktor!" Beim Weggehen sperrt er den 
Kasten, in dem die Lampen liegen, ab und sagt: „Adieu, Herr Angst- 
patient"*). Eudi steckt den Schlüssel ein und bringt ihn erst am näcli- 
sten Tag wieder. 

Eine Übersicht über diese Behandlungßphase ergibt folgendes; 

Zuerst vertieft sich Rudi in die Kartonarbeit und lehnt persönliclien 

Kontakt eher ab; die Angst vor dem Erscheinen der Rettungsgesell- 
Schaft bekämpft er zuerst durch die Versicherung , der Großvater sei 

*) ,,Was will tlemi der blöde Doktor, was hat er denn daß mh ni^Kt a^:^ 
(bei der Mutter) schlafen darf." ' ^^ '"^^ ^'^^* firinnen 

*) Ber Begriff ,,Patienr ist Rudi aus dem Geschäft aptischer Artikel das 
Beme Mutter betreibt, geläufig. ^^nvi j^^rüKci, uas 



2S4 Wilholm Hoffer 



in der Nähe, dann erst teilt er sie mit. Dabei äußert er eine über- 
Iragungsphantasie, nämlich die, ich könnte ihn veranlassen, aliein 
über die Stiege zu gehen. Er verfällt dabei in den Wiener Dialekt, 
was offenbar heißt: Wenn ich schlimm bin, dann rede ich wie und 
Avas ich wilL 

Die Frage, ob die Kinder nicht bei der Mutter im Bett liegen kön- 
nen, scheint direkt eine Aufforderung zu sein, es ihm zu erlauben. 
Eine Antwort wie „da würdest du ja wieder viel Angst bekommen'' 
schien mir in diesem Stadium noch zu. weitgehend zu sein. Aber wie 
sich zeigt, hat meine Zurückhaltung auch Nachteile; Rudi verlegt sein 
Kasperlspiel wieder nach Hause, zur gleichen Zeit erzählt er von der 
Angst auf der Elektrischen, also, es könnte ihm auf der Fahrt zu mir 
etwas gestohlen werden. Erst auf meine Aufforderung kommt dann 
das Spottgedicht zum Vorschein, in w^elchem wohl nicht der Lehrer 
allein, sondern auch ich, wahrscheinlich alle Männer gemeint sind. 
Ich glaube, Kudi sagt: „Jetzt habe ich schon so viel mitgeteilt und 
schon gesagt, was ich nicht w eiü, aber gern wissen mochte, ich mache 
mich über die Männer lustig, weil sie nicht wissen, was einen Buben 
interessiert/* Würde man ihm diese Übersetzung seiner unbewußten 
Mitteilungen anbieten, würde er mit gesteigerter Angst reagieren. 

Am nächsten Tag lä£t er die Kartonarheit unberührt, beginnt dafür 
mit einer neuen Klebearbeit, einem Theater; er erklärt, die Mutter 
lasse ihn zu Hause nie Papierarbeit machen, das nehme ihm Zeit vom 
Lernen. Nunmehr erfolgt eine Unterbrechung, da Rudi an einer 
Angina erkrankt war. 

IV, RudisdrittesGeheimnis 

Nach der Erkrankung setzt Rudi die Arbeit fort und zwar so, als 
w äre sie nie unterbrochen worden. Er hat Papiersoldaten mitgebracht, 
schneidet sie aus, erklärt eine Kaserne aus Karton dazubauen zu 
wollen. Auch „der Onkel" — den er, wie ich glaube, zum erstenmal 
erwähnt — habe solche Häuser gebaut und dann mit roter \Volle 
Flammen gemacht, so daß man glaubte, die Häuser brennen! „Der Onkel 
hat die Hänser auch angezündet, aber mir erlaubt es die Mama nicht/* 
Hier erinnern wir uns an Rudis Angst vor dem Einbrecher, der das 
Haus anzünden könnte. Seine Sprache durch Symbole wird immer 
deutlicher. 

Bald aber findet Rudi an der Arbeit nicht mehr die gleiche Freude 
wie früher. Er läuft im Zimmer herum und manchmal kommt er ins 
Torkeln, als würde er einen Betrunkenen nachahmen. Er beginnt 
auch zu „blödeln'*, spricht durch die Nase und fremde Worte, etwa 
tschechische. Ich höre und sehe diesem Spiel ruhig zu, sage gelegent- 



I 






Berichl iiber die Ein loituiig einer Kluderanalysn 285 

lieh, wenn «ein Blick an mir haften bleibt: ,,Wenn ich nur wüßte, was 
für Geheimnisse mir RiuH jetzt sagen will , . . soll es etwas von einem 
Besoffenen'') sein?_. oder wub?'' Wenn ich so nutzlos rate, lacht er 
mich natürlich aus und genießt die Geheimnisse, die er vor mir 
verbergen kann. So verlaufen zwei Stunden, 

Bisher hat Rudi von dem Sofa in meinem Zimmer nur einmal Notiz 
genommen: Gleich in einer der ersten Stunden erklärte ich ihm den 
Zweck des Sofas, den er scheinbar unberührt zur Kenntnis nahm. 
Damals aber sagte er seiner Mutter: „Der Dr. Hoff er sagt, die größeren 
Patienten legen sieh aufs Sofa . , . da kann er lang warten, bis ich 
mich hinlege." Als nun Rudi in der dritten Stunde nach der Erkran- 
kung wieder sehr heftig in seine vollkommen unverständliche Art der 
Mitteilung verfiel, warf er sich mit einem Ruck auf das Sofa, und 
steigerte womöglich noch die als „Blödeln" bezeichnete Art der Mit- 
teilung. Manchmal wendete er sich um und sprach mich in der unver- 
etändlichen Art an, etwa so: „Wura niua tschiapu lamota mauzta 
broppapa lamanussi garamoz tscheehoslorakonta usw," Anfangs ver- 
suchte ich es noch mit der Neugierde, also mit einer Form des gütigen 
Zuredens. Als er aber rückwärts gewendet immer wieder in mich 
eiiiBpracli, begann ich plötzlich seine Spraclie nachzuahmen, und ich 
hatte wohl in kurzer Zeit nach wenigen Sätzen eine gewisse Fertigkeit 
darin. Rudi schien mein Verhalten sehr willkommen, seine Mienen 
wurden sehr lebhaft und wir sprachen bis zum Ende der Stunde. Wir 
verabschiedeten uns auch in dieser Sprache und setzten das Spiel am 
nächsten Tag fort. Mittendrin sprach Rudi dann wieder deutsch, was 
uiir nicht unlieb war, und lehrte mich eine Geheiiusprache, wie sie 
in den Schulen üblich ist. Dann warf er sich bald wieder aufs Sofa und 
redete „tschechoslowakisch'*. 

Nun machte mir die Mutter folgende Mitteilung: Die Lehrerin hätte 
eine ärztliche Untersuchung der Klasse angekündigt, und Rudi wollte 
Bieh mit einigen anderen Knaben keinesfalls vor den Mitschülerinnen 
untersuchen lassen'); allen Einw ei\diuigeTi und Versicherungen 




ZtllQchriti f. pEa. TM., lK/4 



286 



Wilhelm Hoffer 



gegenüber sei er heute beim Mittagessen unzugänglich gewesen, sie 
bitte um meine Hilfe, Rudi erklärte mir energisch, von einer ärztlichen 
Untersuchung vor den Mädchen der Klasse könne keine Rede sein und 
damit basta- Er spricht sofort wieder durch die Nase, sagt: ,jWürden 
Sie sich vor den Mädchen ausziehen?" Worauf ich ihm antwortete: 
„Wenn ich solche Angst davor hätte wie Du, nicht!'' Er ergeht sich 
nun in Beschimpfungen gegen die Lehrerin und Lily, spricht dann 
wieder „tschechoslowakisch'', verstummt dann, legt den Finger an 
den Mund, wie wenn er mir Schweigen gebieten würde, und geht auf 
den Fußspitzen zu meiner Schreibmaschine. Durch Gesten zeigte er 
seinen Wunsch zu sehreiben an. Von dieser Stunde an — es war 
die 30. Analysenstunde — verkehrte Rudi durch mehrere Stunden 
— bis zur 36- — fast ausschließlich schriftlich mit mir- Sein 
Schreiben auf der Schreibmaschine hatte zuerst den Charakter einer 
Übung, denn er hatte bisher noch nie auf einer Maschine geschrieben, 
Nur zwischendurch verließ er seinen Platz an der Maschine und sprach 
mit mir, natürlich hochdeutsch und von ganz gleichgültigen Dingen, 
wie z. B. der Vorbereitung für die Aufnahrasprüfung, Alles Wichtige 
bis über das „dritte Geheimnis" hinaus teilte er mir schriftlich mit. 
Ich lasse nun unsere schriftlichen Auseinandersetzungen folgen: 

IN DER LOBAU 
IN N 
INN 

IN DER LOBAU 

HEUTE DE N 

in 

In 

In der Lobau 
Heute den 15. A ril ist die BindiLLLLLLL 

In der Lobau 
In dieser Übung im Schreiben ist eine Mitteilung enthalten: Die 
Mitschüler erzählen von der Binder Mimi, daß sie mit Buben in die 

Lobau^) gehe. 

Ichbin 



Ich bin 16 Ich bin bq 
lieh bin 10 Jahre alt 



Herr Doktor es dem Fräulein gesagt hat, dann darf sie es nicht befehlen, daß 
wir uns vor den Mädchen ausziehen." Er phantasiert also einen männhehen 
Schutz gegen die gefährlichen Frauen, genau so, wie er früher nur vom Groß- 
vater und nicht von Lily begleitet sein wollte. 

^) Ein Gelände an der Donau, wo frei gebadet wird. 



Bericht über die Einleitung einer Kinderanalyse 287 



Wiederholt deutet Rudi an, daß ich nicht sprechen dürfe; am Ende 
der Stunde schrieb ich folgendes: „Auf Wiedersehen am Montag!" 
(Rudi deutet auf die Schreibmaschine, die soll ins Wartezimmer 
kommen, bis die Mutter, die ihn heute abholt, hier ist. Dort schreibt 
er:) „Meine Mutter ist nicht hier, aber sie wird bald kommen! Der 
Herr Doktor ist ein so freundlicher herr und sagt ichbin qwertzuiop." 
Auffallend ist, daß er allein und unbeobachtet viel besser schreibt 
und an der Stelle, an der er im G-espräch „blödelt", mechanisch auf die 
Tasten der Maschine drückt (qwertzuiop). 

Montag beginnt Rudi selbst sofort zu schreiben: 
R.: „Der Herr Doktor ist ein so lieber Herr und sagt, ich sage ihm 
nicht alle Geheimnisse, ich aber habe ihm schon Geheimnisse gesagt 
und er hat es nicht gemerkt." 

A.: „Weil ich den Rudi noch zu wenig verstanden habe, darum habe 
ich es nicht bemerkt, wenn der Rudi mir nur helfen möchte und es mir 
nochmals aufschreiben oder sagen möchte, was für Geheimnis das 
war!" 

R. zuckt mit der Schulter. 

A.: „Ich will Dir noch etwas sagen, Rudi! Du hast mir ein Geheimnis 
gesagt, als Du auf dem Sofa gelegen bist. Ich hab' es aber üieht 
verstanden. Sag' es mir noch einmal, ich sage es niemandem weiter 
und möchte es nur wissen, weil ich Dir dann besser helfen kann, die 
Angst ganz wegzubringen; ich möcht' Dir helfen, ich bin kein Kinder- 
räuber!" 

R.: „Lieber Herr Doktor ich (das ganze durchgestrichen) 
„Sie müssen mir aber versprechen, nicht mit mir darüber zu 
sprechen!!!!! Ja?????) 

A.: „Lieber Rudi, ich verspreche Dir nicht mit Dir darüber zu 
sprechen, wenn Du mir alles schreibst." 

R.: „Ich habe nur noch 1 Geheimnis und zwar Ich halt© das 

6. Gebot nicht !" 

(Ein Moment gespannter Erwartung!) 

A.: „Jetzt muß ich Dir doch eine Antwort geben, wenn Du mir Dein 
Geheimnis aufgeschrieben hast! Sag' Rudi, wenn Da das 6. Gebot 
nicht hältst, so fürchtest Du doch eine Strafe, nicht i*" 

R.: „LIEBER HERR DOKTOR . . ' 

Ich brauche mich ja nichL zu fürchten, weil sie es ja nicht verraten!" 

A.: „Da hast Du recht, lieber Rudi, ich meine nicht, daß Du von mir 

eine Strafe fürchtest, sondern von jemandem anderen, z. B. vom lieben 

Gott oder vielleicht vom Onkel oder der Mama, wenn sie es wüßten." 

R. zuckt mit der Schulter. 

A.: „Du sagst, wie soll ich mich fürchten, wenn sie es nicht wissen. 



n* 



288 T?ilhelio Hoffer 



Ich glaube, Du fürchtest doch, daß sie es entdecken, und daß sie Dich 

K.: ,,Wo sollen sie es denn entdecken?'' 

A.i „Wo? Das weiß ich noch nicht, weil ich noch nicht weiß, wieso 
Du nnkeusch bist — aber wenn Du an das 6. Gebot denkst, dann denk&t 
Dn auch, der liebe Grott weiß alles und er könnte das auch wissen. 
Was glaubst Du, tut man mit Buben, die das tun?" 

ü,: ????? (von Rudi geschrieben!) 

A.; 5,Das möcht ich auch wissen, denn ich glaube, deswegen hast 
Du oft Angst, weil Du Dich vor der Strafe fürchtest wegen der 
Unkeusehheit- Ich werde Dir aber helfen, daß Du keine Angst haben 
mußt; ich möcht das mit der Unkeuschheit genau mit Dir aufschreiben. 
Ich denke Du nennst etwas unkeusch, was alle Buben machen??? 
Kannst Du mir aufschreiben, w a s es ist?" 

Ki „Ich weiß niclit was alle hüben machen????" 

A.: „Hältst Du das 6. Gebot nicht, weil Du was Unkeusches tust 
oder Dir ausdenkst??" 

R,: ,Ja! Aber ich weiß nicht was die anderen machen/' 

A,; „Tust Du oder denkst Du das ünkeusche?*' 

R.: ,,B«ides!!*' 

A.: „Jetzt weiß ich schon ein bißchen besser, woher die Angst beim 
Rttdi kommt, und ich denke, wir werden sie schon ganz wegbringen. 
Für heute Adieu" usw. 

Nächste Stunde, da ich nicht sofort bei der Schreibmaschine Platx 
nehme, schreibt Rudi zuerst: 

R.: „Wenn sie nicht sitzen bleiben, werde ich sie anbinden!!!" 

A,: „Wenn ich sitzen bleiben muß, so sehe ich, daß Du Dich noch 
ein bißchen vor mir fürchtest!!'' 

E-: „Ich möchte zuerst Avissen, was die anderen machen," 

A.: „Lieber Rudi, ich werde Dir immer alles sagen, w a s Du 
willst, aber immer mußt Du mir zuerst sagen, was Du Dir 
denkst, dann sag' ich Dir was Du wissen willst. Du mußt mir also 
auch zuerst sagen, was Du glaubst, daß die anderen Buben tun?'' 

K-: „Wer die anderen,???" (fragt Rudi zurück und fahrt fort) 
„. -. Sie, die Mutti, die Tante u. v. a," (worauf ich antworte:) 

A.; ,,Das versteh' ich nicht, ich hab' Dich doch um Dein Geheimnis 
gefragt und Dir versprochen, niemandem etwas zu sagen, und ich 
halte auch mein Versprechen/' 

R.: „Ich möchte lieber von den anderen die Geheimnisse wissen/* 
Ä.: „Was für Geheimnisse meinst Du, was haben sie für Geheim- 
^aisse vor Dir?" 

R,: „Das weiß ich nicht, ich möchte es Ja wissen. . /' 



i 

< 



* 



Bericht über d ie Einleitung einer Kindoranalyse 289 

. A,: „Wann hat die Mama ein Geheimnis vor Dir? — '' 
R.: ,Jch weiB es ja — — nicht/' 

A,: „Wann glaubst Du, daß sie ein Greheimnis vor Dir hat? — " 
R-: „Z,, b. Sie hat ein geheimnis von der unkeuachheit . , — " 
A,: „Ja, lieber Rudi, das ist doch eigentlich kein Geheimnis und 
warum nennst Du es unkeusch?" 
R.: „Sie wissen ja gar nicht was!!!" 

A.; „Da war ich ein schöner Doktor zum Angstwegmachen, wann 
ich nicht wüßte, was Du meinst!! Aber wir können ruhig darüber 
sprechen! (Rudi deutet mit zusammengepreßten Lippen auf die 
Sehreibmaschine,) Ich soll es Dir aufsehreiben? — Nein, lieber Rudi, 
das tu ich nicht; zuerst muß mir immer das Kind sagen, was es sieh 
denkt, und dann kann ich ihm sagen, was es wirklich wissen will. 
Wenn Du Dich vor mir fürchtest und mir die Unkeuschheit der Mama 
nicht sagen kannst^ dann hat es auch keinen Sinn, daß ich es Dir sage. 
Sonst gehst Du wieder nach Hause und sagst: Ein schöner Doktor, 
was er für Sachen mit mir redet!!! — Ich bin doch dazu da, den 
Kindern die Angst wegzubringen, und da muß ich mit ihnen über alles 
reden, deshalb bin ich doch ein Doktor/' 

In dieser Stunde, die hiemit beendet war, sind wir um ein wichtiges 
Stück weitergekommen. Es ist gelungen, Rudis Neugierde, die wir uns 
gar nicht groß genug vorstellen können, so weit 9.\i beruhigen, daß sie 
nicht in Verstimmung und Ärger umsehlug; wir konnten ihm dann so 
viel von seinem sorgsam verborgenen Wissen herauslocken, daß wir 
von den Geheimnissen der anderen zur Unkeuschheit der Mutter vorge^ 
drungen sind. Mit der wachgehaltenen Neugierde sichern wir uns die 
Rückkehr Rudis in die Analyse, und wir benötigen jetzt einen Antrieb, 
zu uns zu kommen, weil wir von dem Gedanken um die Unkeuschheit 
der Mutter her auf eine stärkere Angstentwicklung rechnen dürfen. 

In der nächsten Stunde ist Rudi zuerst ganz passiv, er spricht 
nicht, setzt sich auch nicht an die Schreibmaschine, So beginne ich auf 
der Maschine zu schreiben, 

A/: „Wollen wir fortsetzen, wo wir aufgehört haben oder willst Du 
was anderes mit mir sprechen?*' 

R,: „wie sie wollen herr Doktor????" 

A.: „Deine Mutti hat mir heute telephoniert, daß Du gestern Kaie- 
schmerzen^) gehabt hast, wenn wir heute gescheit sind, können wir 
herausfinden, warum Da gestern Knieschmerzen gehabt hast! Wenn 
rK '^ **^*^^^!^Ild Hausarzt informierten mich bei ErheVülig dJFVo^^^ 

über merkwürdige, medizinisch ungeklärte Knieschmeifon J ^V*^^^^^^^^'^^^^'* 



290 Wilhelm Hoff er 



man hier gescheit ist und mit dem Doktor sich anstrengt, dann weiB 
man immer, warum etwas ist" 

R.: „Nein lieber Herr Doktor lieber nicht! Ja??" 

A.: ,,"Wenn Du Dich heute ftirehtest mit mir darüber zu schreiben, 
so warte ich auch, bis Du Dich weniger fürchtest — ein anderesmal, 
lieber Rudi, wirst Du Dich weniger fürchten, dann werden wir darüber 
weiterschreiben, 3a? Aber Du mußt wissen, daß wir die Angst nicht 
vertreiben werden, wenn wir darüber nicht alles gesehrieben haljen!!*^ 

E,; „Sie — ! haben mir aber versprochen ni — eh nicht mit mir 
darüber zu sprechen! NICHT?'' 

A.: „Ich habe versprochen, nicht mit Dir darüber zu reden, wenn 
Du mir alles aufschreibst, aufschreiben müssen wir alles, wenn 
wir die Angst wegbringen wollen" •" ^ f^ rti. / •- 

E.: „ICH WILL ABER AUCH NICHT SCHREIBEN! ! ! ! ! 

§ XleNein ! !! ! !" 

A.: Lieber Rudi, weil Du mit mir nicht darüber schreiben willst, 
deshalb brauchst Du ja nicht die Schreibmaschine schlecht behandeln. 
Die Mama hat mir heute telephoniert, daß Du mit manchen Menschen 
so frech bist, z, B, mit dem Großvater, weißt Du das?" 

R,: „Ja!" 

A,: „Das ist gut, daß Du es weißt! Weil Du mir das vom 6. Gebot 
gesagt hast, darum hast Du jetzt weniger Angst, und Du bist auch 
frecher-" 

R.: „LLDie anderen sagen mir ja auch nich ihre geheimnisse." 

A.: „Ich möchte noch genauer wissen, was die Buben in der Schule 
über die Sachen sprechen." 

R.: „Über was für Sachen?" 

A-: ,,Du stellst Dich jetzt, als würdest Du nicht verstehen, was für 
Sachen ich meine. Wenn Du etwas nicht verstehen willst, dann stellst 
Du Dich dumm." 

E.: „Meinen sie über das Pudern?"®) 

A,; „Natürlich! — wir wollen hier auch über die Sachen sprechen, 
Tiber die man draußen nicht spricht, für die sich aber die Kinder auch 
so interessieren wie die Großen!'' 

R.: „ißWiso die Großen?" 

A,: „Glaubst Du die großen Menschen denken nicht auch ans 
t^udern?*' 

An dieser Stelle dreht Rudi mit einem Ruck das Papier in der 

Maschine weiter, so daß ich mit dem Schreiben aufhören muß; er deutet 

mir dann stumm mit dem Kopf an, daß ich doch weiterschreiben soll. 

A,: „Ich will aber von Dir wissen, was die Buben in der Schule 



*) Vulgärbezeicbnung fiäv den Geschlechtsverkehr. 



Bericht über die Einleitung einer Kinde ranaly so 291 

denken und sagen, das willst Du mir nicht sagen, darum hast Du das 
Papier ausgespannt. Wenn Du mit mir nicht darüber sprichst, so wirst 
Du doch sehr oft daran denken." 

ß.: „Kinder kann das Mädchen kriegen. Nicht?" 

A.: „Wenn das Mädchen schon groß ist und der Bub auch, dann 
schon, aber Buben und Mädchen aus der 4. Klasse Yolkssehule können 
noch keine Kinder kriegen." 

R.: „Wenn es kinder aus der 4. KL sind?" 

A.: „Ja, wenn es Kinder aus der 4. Hauptschule sind, dann ist es 
etwas anderes." 

Schlußbemerkung 

Nach diesem Satz verläßt Rudi die Schreibmaschine und kehrt nicht 
mehr zu ihr zurück, er setzt die bisherige müli selige Unterhaltung in 
einfacherer Form fort und entbindet mich somit praktisch von dem 
Gelöbnis, nicht darüber zu sprechen. Hiemit war Rudi wieder zu jener 
Mitteilungsform zurückgekehrt, welche in der Analyse die übliche 
ist. Rudis mündliche Mitteilungen, die also unmittelbar an diese sieben 
Stunden anschlössen, beinhalten kurz lolgendes: In der Schule gibt 
es die Binder, die macht es schon mit ihrem 13 Jahren alten Bruder, 
es tun es überhaupt viele in der Schule mit Mädchen, aber sie bekommen 
noch keine Kinder. Es gibt auch zwei Mädchen in der Klasse, die 
möchten gern mit ihm sprechen, aber er spricht mit keinem Mädchen. 
Er spricht nur mit gescheiten ... d. h., korrigiert er sich dann . . . mit 
anständigen Mädchen. Mit der Binder, mit der raöcht er schon sprechen. 

Rudi setzt so jenes Thema fort, das er bei Beginn des Schreib- 
maschinenschreibens angedeutet hatte; jetzt ist die Angstspannung so 
weit ermäßigt, daß ihn die moralische Yenirteilung der Binder wie 
sein Wunsch, mit ihr zu sprechen, gleichzeitig bewußt sind. Er weiß 
wirklich nicht, ob er sich für das eine oder für das andere entscheiden 
eolL Er sagt dann, er werde den Kindern in der Schule auch die Angst 
wegnehmen, wenn er wissen werde, wie man das macht. Wer ihm das 
verbieten könnte! Das gehe die Lehrerin und den Direktor nichts an, 
was er mit den Kindern spreche. Daran schloß sich ein Gespräch, in 
welchem ich ihm auseinandersetzte, daß das die T^ehrer keinesfalls 
dulden würden, weil es viele Eltern nicht gern sähen, wenn ihre Kinder 
keine Angst haben, weil sie glauben, daß sie mit Angst braver sind. 
Bei ihm habe die Mutter ausdrücklich gewünscht, daß er in der 
Behandlung über alles, auch darüber spreche, weil das auch zur 

Behandlung gehört. Darauf meint l^^idi, er habe der Mutter schon 

erklärt, warum er „blödelt"; „sie soll wissen, daß ich auch mit ihr 
darüber sprechen will". Es ist hier noch nicht möglich, Rudi den 
libidinösen Charakter dieses Wunsches — etwas mit der Mutter zu 



292 Wilhelm Koffei 



besprechen, was man mit ilir nicht tun darf — nachzuweisen; darum 
vereinbare ich mit der Mutter, daß sie Um gegebenenfalls an mich 
weisen soll, wenn sie sich seinen Fragen nicht mehr gewachsen fühlt; 
so wollte ich auch verhindern, daß Kudi neuerdings eine traumatische 
Versagung erlebe. Ihm erkläre icli, da werde ihm bald die Lust ver- 
gehen, mit mir darüber zu sprechen, wenn er mit anderen Leuten das 
Gleiche wie hier bei mir tun wolle; die werden ihm schon wieder Angst 
machen! Damit hatte ich seinem Agieren vorgebeugt, und als Antwort 
brachte er dann Material, das ihn mitten in seine Konfliktsituation 
führte: Er begann zuerst mit Fragen nach dem Motiv der tJbersiedlung 
des Onkels in die Wohnung. 

In dieser Phase erzählt die Mutter, sie müsse sich erst an die ihr 
bisher ungewohnte Haltung ihres Kindes gewöhnen; „nicht daß er 
freeh ist, er ist so selbstbewußt, so ganz umgetauscht, ich fürchte nur 
einen Rückschlag (ganz mit Recht, wie der Analytiker ihr versichern 
konnte), dann wird er wieder zähueklappe]-nd dasitzen und weinen*'. 
Sonntag ging J^udi mit Lily allein ins Kino und nachher ganz allein 
auf den nahen Fußballplatz; die Familie ist noch unentschieden, ob 
sie sich darüber freuen oder die Selbständigkeil bekämpfen soll. 
Natürlich gibt es immer wieder Situationen, in welchen die alte Angst 
aufflackert, dann kann die Mutter ohne ihn mitzunehmen, das Haus 
nicht verlassen, dann muß sie abends das Licht brennen lassen. 

Mit der Mitteilung des dritten Geheimnisses während der Schreib- 
niaschinenarbeit war Rudi aus der Einleitungsphase in die eigentliche 
Eröffnungsphase der Analyse übergegangen. Vorher hätte ich niemals 
mit Bestimmtheit voraussagen können, daß Rudi am nächsten Tag bei 
mir erscheinen werde, ich dachte, er könne doch plötzlich entschieden 
erklären, es sei aus und er gehe nicht mehr zu mir, oder er könnte 
Bedingungen steilen, die unrealisierbar wären wie etwa die, die Mutter 
müsse ihn begleiten. Jetzt war von solchen Bedenken kaum mehr die 
Rede, Ich hatte eine Vertrauensstellung bekommen und von ihm 
Geheimnisse erfahren, die in seinen Augen wohl die gefährlichsten 
Dinge der Welt überhaupt sind. Die erwartete Verurteilung und 
Bestratimg trat nicht ein, ich wurde ihm unheimlich und mächtig 
zugleich. Die einmal wirklich hergestellte Bindung ermöglicht erst 
die eigentliche Analyse, sie kann dann allen möglichen Belastungen 
ausgesetzt werden, um schließlich in der letzten Phase der weiteren 
Behandlung selbst wieder Gegenstand des analytischen Prozesses zu 
werden. Wenn das gelingen soll, so wird Rudi allmählich auch in der 
mir zugedachten Rolle des allmächtigen Beschützers jene Vorbilder 
wieder erkennen müssen, nach denen er mein Bild in der Einleitungs- 
phase gestaltet hatte. 



B E R I C HTE 

(tnuiiiiiiiniiiiiiiiiuiiiiiuiiiii^^ 

Strafen und Erziehen 

Von Heinrich Meng, Basel 

Dieser Vortrag wurde in einer Feranstaltun^ 
des ScJmlarjitts der Stadt Zürich gehalten; 
er erschien ifn Vorabdruck in ^Gesundheit 
und JVtthlfahri^^ Jahrgang 193)'^ Hefi j. 
Verlag O* Füssli^ Xilrich^ und ist von dein 
in ^.Ztschr.ßpsa. Pad.^% Bd. IX^ l^^S^S 2l6 
besprochenen gleichnamigin Buch des Autors 
unabhängige 

Die Erziehung in Elternhaus und Schule bezueckt, den Heranwachsenden 
so vorzubereiten, daß er seinen späteren Lebensaufgaben gewachsen ist. Unter 
den Erziehungsmaßnahnicn spielt das Strafen seit jeher eine vordringliche 
Rolle, ja, es gibt leider Menschen, für die Erziehen und Strafen die gleichen 
Begriffe sind. Die Art der Straf maßnahmen wf clisclt je nach Volksstamm, 
Weltanschauung und Zeitepoehe, aber im Grund werden sie stets als Erzie- 
hungseingriffe durchgeführt, um bei bestimmten Vergehen dem Kind durch 
Zufügung von körperlichen oder seelischen Schmerzen beizubringen, daß 
seine Verhaltensweise schlecht, falsch oder unerwünscht sei und daß es bei 
Wiederholung Gefahr laufe, immer wieder bestraft zu werden. 

Strafen im pädagogischen Sinn ist Ausdruck eines erzieheri- 
schen Willens, Wir erkennen nicht jjene Eingriffe als Rtrafe atl, die " off en- 
kundig aus Rache, Laune oder Überreiztheit stattfinden. Wir wissen aber, 
daß der Erzieher verhältnismäßig oft, ohne sich dieser Regungen bewußt zu 
sein, zur Beute seiner Laune, persönlichen Enttäuschung an sich und an 
anderen oder einer „nervösen" Überreiztheit wird. Nicht selten gibt der 
Erzieher beim Strafen seine Selbstkritik und Selbstbeherrschung auf, er mag 
dabei oft als kalter Verstandesmensch handeln, freilich noch öfters als heißer, 
unüberlegter Instinkt* und Gefühlsmensch» Umsomehr besteht die Forderung, 
daß der Erzieher, der straft, selbst erzogen, selbstbeherrscht und reif sein 
muß; das ist ebenso selbstverständlich wie cUe Forderung, daß ein Chirurg 
beim operativen Eingriff gut ausgebildet, zielsicher und selbstbeherrscht zu 
sein hat. Über das Spezialfach hinaus soll er aber auch durch gründliehe 
Kenntnisse des ganzen Menschen auf seine verantwortungsvolle Aufgabe vor^ 
bereitet sein. Das Gleiche gilt für den Erzieher des Menschen. Er bedarf nicht 
nur der Einfühlung in die Natur des Kindes, sondern auch eines wirklichen 
Wissens, von dessen leiblicher und seelischer Natur und von den Gesetz- 
mäßigkeiten der natürlichen Entwicklung. Er soll die Erfahrungen, welche 
die alte und die neue Pädagogik gesammelt haben, durch eigenes Erfahren 
ergänzen und verstehen. Diese Notwendigkeit wird oft nicht so leicht einge- 
sehen, wie es für andere Gebiete praktischer Artjeit oder Hilfsarbeit selbst- 



294 Heinrich Meng 



verständlich ist, vor allem dann, wenn sie sich an lebendem, sich entwickelnden 
Material betätigt. Es sei nur an Gärtnerei und Tierzucht erinnert. Das komint 
daher, daß unsere Wissenschaft von} Kind und dem werdenden Menschen 
überhaupt noch jungen Datums ist und viele Meinungsverschiedenheiten, ja 
Meinungsgegensätze und Weltanschauungskämpfe sich hier geltend machen. 
Viele meinen, daß das Beibringen einer bestimmten Weltanschauung das 
Wichtigste sei, daß ihr Mutterwitz und die persönliche Erfahrung aus der 
eigenen Erziehung genügen müssen, um ein Kind für seine Lebensaufgaben 
vorzubereiten. So nützlich das ist, so sehr das gute Beispiel aller Erziehung 
Fundament ist, so bedarf es keiner Begründung, daß der gewissenhafte 
Erzieher die über alle Meinungsdifferenzen gesicherteji und feststehenden 
Kenntnisse der Erziehungs- und Seelenkunde zum Besten des Kindes und zur 
Beruhigung des eigenen Gewissens kennen und benützen soll. 

Jedes Kind ist bei der Geburt verschieden von anderen 
und ist ihnen doch sehr nahe im Wesen verwandt. Es bringt 
durch seine urmensehliehe Erbmasse Bereitschaften mit, die es. soweit es 
gesund ist, befähigen, auf den erzieherischen Eingriff anzusprechen. Seine 
Abhängigkeit in den ersten Leben.s|ahren verstärkt das Bedürfnis aller junger 
Lebewesen nach Leitung und Führung, Was die einzelnen Kinder voneinander 
nnterscheidet, ist u. a. ihr verschiedenes Temperament, ihre unterschiedliche 
Empfänglichkeit oder Reaktionsfähigkeit auf die Eingriffe der Umwelt. Aber 
sehr früh schon beginnen auch die gleichen angeborenen Eigenarten ver- 
ecbieden zu werden , weil ihre weitere Entwicklung völlig abhängig ist von 
der Art, in der die Eltern mit den Kindern umgehen, ob sie z. B. Unarten 
des Kindes strenge oder mild begegnen, ob sie Humor haben, ob sie als eine 
einheitliche Umgebung wirken, oder ob die Kinder auch fremden Erziehungs- 
einflüssen anvertraut sind. Dies erklärt eine wichtige Tatsache, die erst in 
den letzten Jahrzehnten gefunden wurde: Der spätere Charakter eines 
Menschen ist nur teilweise angeboren, zum anderen Teil wird er in den ersten 
fünf Jahren des Lebens, in der Frühkindheit erworben und das vorwiegend 
am Beispiel der Umgebung und an deren Verhaltensweisen bei Strafen und 
Belohnen. Es liegt in der menschlichen Natur und wurde durch die Psycho- 
analyse gefunden und seither immer wieder allseits, Insbesondere auch durch 
die Individualpsyehologie bestätigt, daß ledes Kind später als Erwachsener 
aktiv so zu handeln versucht, wie es ihm beim Erleben von Handlungen als 
Kind, also passiv, eingeprägt wurde. Man meinte früher oft, daß das streng 
behandelte Kind durch die Strenge ein folgsamer und braver Mensch würde, 
der milder Behandelte durch die Milde verweichlichen müsse. Wir wissen 
heilte, daß unnachgiebige Härte und Strenge, auch ihre Gegenspieler, rück- 
gratlose Milde und Nachsicht, trotzige Charaktere erzeugen können. Vor allem 
gteht fest, daß grausame Härte die Willenskraft zu brechen vermag und daß 
gleichmäßige Milde eher starke und konsequente Charaktere entwickeln läßt. 

Ein Kind, das oft körperlich bestraft VfUtüe, neigt dazu, als Erwachsener 
Analoges anderen zu tun, es wird hart und grausam, unter ungünstigen 
Bedingungen bleibt es besonders stark im Handeln gehemmt- Der Grund ist, 
daß es während seiner Entwicklung durch die oft erlebte Kürperstrafe an 




Strafen und Er^ieliei} 295 



ungemein starke Motive und Reize für sein Handeln gewöhnt wurde und 
flamm schwer aus eigenem Antrieb handeln kann. Manche Menschen werden 
ganz in die Passivität getrieben, andere schwanken zwischen beiden Extremen. 
Es gibt auch Ausnahmen von dieser Regel, wenn die Stärke der Charakter- 
anlage dennoch die genügende Willensstärke entstehen läßtj zumal wenn die 
strafende Erzieh ungsperson selbst als gutes Vorbild günstig wirkt Gefährlich 
sind vor allem Körperstrafen, zu welchen willensschwache Eltern in Unge- 
duld greifen, weil sie sich nicht anders zu helfen wissen. 

Sehr vieles, was in der Frühkindheit geschieht, bleibt aber nicht im 
Bewußtsein und in der Erinnerung- Viele unbewußte Kegungen, die ein 
Erwachsener als Nachwirkung aus der Frühkindheit hat, erscheinen selbst- 
verständlich und natürlich, ihre Starre ist schwer durch Einsieht und 
Belehrung zu ändern. 

Das Kind ist in den ersten Jahren überliaupt kein Ver- 
standeswesen, sondern bloß Trieb wesen. Nur ganz allmählich 
entwickelt sich das Denken, wie es der Erwachsene braucht und hilft dem 
Kind seine Leidenschaften und triebhaften Strebungen kulturgeraäß zu 
beherrschen. Diese Tatsache macht verständlich, warum bei kleinen Kindern 
die Erziehung durch das begründete Wort und durch vernünftige Erklärung 
völlig zurücktritt gegenüber einer Erziehung durch Vorbild, Beispiel Spiel 
und Übung. Diese Wertung des Vorbilds hat auch ihre Kehrseiten. Niclit 
wenige Kinder, deren Verhalten von unserem Verstand als unartig bezeichnet 
wird, ahmen nur Dinge nach, die ihm die Umwelt vorgemacht hat, ohne über- 
haupt zu wissen, daß ihr Tun vom Erwachsenen als beabsichtigte Unart 
aufgefaßt, d. h, mißverstanden werden könnte. Auch treten in den verschie- 
denen Jahren der Frühkindheit manche, und zwar bestimmte „Unarten" 
besonders häufig auf, sie vergehen von selbst, wenn die Erwachsenen keinen 
^.Streitgegenstand" aus ihnen machen, sondern höchstens durch Ablenkung 
keine „üble Gewohnheit" auftauchen lassen. Es gehen nämlich stets von 
den Organen, die starker wachsen, gleichzeitig auch starke Triebreize aus, 
welche durch eine längere Periode der Entwickking eine besondere Eigenart 
des Kindes bedingen. Wenn der Erzieher das nicht weiß, so muß er oft in 
seinem Urteil unsicher sein, ob das Kind böse oder unartig ist oder vielleicht 
darum verstört, weil es gerade in einer solchen schweren Entwicklungsphase 
steckt. Am bekanntesten ist die sogenannte Trotzphase, also jene Zeit 
zwischen dem dritten und fünften Lebensjahr, in der jedes gesunde Kind 
zwischen den Forderungen der Umwelt und den Strebungen eines sich auf- 
bauenden, eigenwilligen Ichs steht und straffällig erscheint, ohne daß es in 
dem Sinn dafür verantwortlich ist, wie manche Erzieher meinen. Die Beob- 
achtung, daß falsch erzogene Einzelkinder oder Kinder, die schon vor der 
Trotzphase zu pedantisch erzogen wurden, ein besonders schweres und lang 
dauerndes Trotzalter durchmachen müssen, spricht dafür, daß an allen 
Äußerungen und am späteren Verhalten des Kindes die Folgen von früheren 
Geschehnissen beteiligt sind. Salzmann spricht in seinem „Ameisenbüchlein*' 
davon, daß der Erzieher bei allen Fehlern und Untugenden seiner Zöglinge 
zunächst den Grund in sich selbst suchen müsse, nicht deshalb, meint Sakraann, 



296 HeiDrich Meng 



weil er beim Suchen immer finden werde, daß er der allein Schuldige sei» 
gcmdern weil der Erzieher bei scharfer Selbstkritik rocht oft entdecke, wieviel 
Fehler er selbst dem Kinde beigebracht hat. 

Es wird oft vergessen, und die Psychologie der letzten Jahrzehnte hat 
viele Beweise dafür erbracht, daß das Kind viel mehr aos der Umwelt unbe- 
wußt aufnimmt und verarbeitet, als er unmittelbar äußert. Man darf es mit 
der photographischen Platte vergleichen, die erst hei einer späteren Ent- 
wicklung verrät, welche Eindrücke sich in ihr eingeprägt haben. Besonders 
empfindlich und empfänglich ist das Kind für die Aufnahme von Gescheh- 
nissen, die es zwar nicht versteht, die es aber sinnlich reizen, z. B, Sehädi^ 
gungen durch Miterleben von sexuellen Szenen und unbeherrschtes Verhalten 
der Umwelt oder Disziplinlosigkeit. Treffen diese Schädigungen gerade in 
jene Phasen der Entwicklung, in denen die in jedem Kind sieli entwickelnde 
Frühsexualität zu erzieherischen Schwierigkeiten Anlaß gibt, so entwickeln 
sich oft Unarten, deren Bewältigung nur möglich sein wird, wenn der Erzieher 
den Triobkonflikt des Kindes zu erkennen und zu lösen vermag, 

Dasbißher Gesagte fassen wir dahin zusammen, daß, wer 
aus pädagogischen Gründen strafen will, es nur tun darf, wenn er darüber 
Bescheid weiß, was in dem Kind vorgeht, das ihm straffällig erscheint. Immer 
wird das Kind unter den erzieherischen Forderungen Unruhezustände durch- 
machen und erst allmählich bildet sich ein sicher arbeitendes Gewissen, das 
ihm von innen her vorschreibt, was es tun darf und was es nicht tun darf. 
Als Auedruck dieser Unruhe und als Folge einer Überstrengen oder über- 
ärztlichen Erziehung ergeben sich viele sogenannte Unarten, das Kind ist 
unfolgsam, lügt, nascht, ist frech oder trotzig. Zu dieser Unruhe des Kindes 
soll nicht die nervöse Unruhe seiner Erzieher hinzukommen, sonst wird die 
Situation in der Kinderstube geradezu chaotisch, das Strafen der Kinder wird 
zu einer Gewohnheit und bewirkt das Gegenteil dessen, was eine Erziehung, 
die nicht nur dem Augenblick dient, sondern dem Leben, erstrebt. Auch 
bedenke man, daß die Kindheit nicht lediglich eine Vorbereitung des Erwach- 
^^cnseins ist, sondern einen Eigenwert in sich trägt, den das Kind in Spiel und 
Piiantasie auszukosten trachtet. Es bedarf eijier besonders geschickten 
Führung, damit das Kind seine Eigenwelt genießen kann und doch von ihr 
weg und emporstrebt. Auch der hierdurch bedingte Zwiespalt macht das kleine 
Lebewesen oft schwer erziehbar, nervös oder unartig. 

Unsere Stellungnahme zur Frage der Praxis der Strafe in der 
Erziehung ergibt sich aus den bisher mitgeteilten Voraussetzungen, Sie soll 
noch da und dort ergänzt werden. Da wir uns bemühen, das von Natur zwie- 
spältige Kind zu einem einheitlichen Miesen zu erziehen, sollten alle Erzieher 
eines Kindes einheitlich und nicht widersprechend ihre Erziehungsmittel, wie 
z. B. Strafen, anwenden. Das Kind ist außerordentlich empfindlich für die 
mangelnde Harmonie seiner Umwelt und nützt sie bewußt und unbewußt in 
seinem eigenen Verhalten aus. Wer sich erst durch Strafen Autorität ver- 
schaffen will, erreicht das GegenteiL Strafen kommt nur dann nh Erziehungs^ 
mittel zur Wertung, wenn bereits ein autoritativ^es Verhältnis besteht uud 
das Kind fähig ist, durch eine starke Gelühlsbindung an den Eraieher sich ia 



Strafen und Erziehen 297 



dessen Absichten und Denkweise so weit einzufühlen, daß es in seinem eigenen 
Ich zum Bundes^ genossen inid Helfer des Erwachsenen allmählich wird. Vor 
diesem Stadium muß das Kind eine Zeitlang durch eine Art Dressur, die 
ähnlich wie eine Strafe wirkt, gewisse Verhaltensweisen leinen, vor allem die 
zum Selbstschutz, „Gebranntes Kind scheut das Feuer" ist für diese „Natur- 
strafe'' Leitmotiv. Die Erfahrung lehrt, daß bei einer vernünftigen Erziehung 
die Dressurzeit und die Epoche der Natnrstrafe sehr kurz sind und daß der 
Gehorsam aus Seibstbeherrschung sich nie auf Dressurmethoden aufbaut. Das 
lehren u, a, auch die Erfahrungen der Tierdressur und der Tiererziehung, die 
Hagenbeck und andere veranlaßt haben, die üblichen Strafmethoden der allen 
Tierbändiger völlig zu verlassen und die Selbsterziehung eines Tieres schon 
ganz früh anzuregen. Die „Straffälligkeit'' der heranwachsenden und erwach- 
senen Tiere hat sich unter diesen Methoden der neuen Er-z-iehung erstaunlich 
vermindert und der geistige Rapport zwischen Tier und Mensch verstärkt und 
vergeistigt. 

Wer vom Strafen spricht, denkt vorwiegend an die Körperstrafe, Tn 
der Tat spielt sie in derErziehungsgescliichte der Menschheit eine überragende 
Rolle, obwohl zu allen Zeiten, auch lieute noch, es Volksstämme gab, bei 
denen die Körperstrafe eine geringe oder keine Rollespielt, 'z. B, bei den Eskimos 
und einzelnen Indianerstämme. Und doch sind die Erziehungsergebnisse bei 
diesen Völkern nicht schlechter als die der anderen. Wir können das Für 
und Wider der Körperstrafe hier im einzelnen nicht durchsprechen, aber 
betonen, daß viele Beweise dafür vorliegen, daß eine Kindererziehung ohne 
Körperstrafe möglich und dringend wünschenswert ist. Es wird nitdit 
bezweifelt, daß nicht wenige Menschen, die sich als den Anforderungen des 
Lebens gewachsen erwiesen haben, als Kind geschlagen wurden; aber das 
beweist ebensowenig wie die Tatsache, daß trotz Hungers während des Welt- 
kriegs viele Mütter gesunde Kinder zur Welt brachten. 

Würde man die „normalen" Erwachsenen nicht nur in Bezug auf ihre 
Erfolge und ihre Energie, sondern auch in Bezug auf die feineren Qualitäten 
der Persönlichkeit, auf das eigentlich „Menschliche", z. B. Frohsinn, Freiheit 
im Denken, Weite des Gesichts- und Urteilfeldes untersuchen, so würde man 
die üblen Folgen des Strafens kennen lernen* 

Es wäre auch zu untersuchen, unter welchen inneren Kämpfen eine große 
Anzahl Erwachsener äußerlich den Lebenskampf bestanden haben, während 
sie sich innerlich aufreiben mußten, weil sie in ihrer Kindheit gespalten und 
liebesunfähig wurden. Es handelt sich yi hier nicht darum, festzustellen, wes- 
halb ausnahmsweise eine Erziehung gelingt, oder — um von einem anderen 
Gebiet 2u sprechen — wie ein Beethoven werden konnte, obwohl Ver- 
erbung und Alkohol ismus des Erzeugers schwere Schäden setzten, also trotz 
schlechter Erbmasse und trotz schlechten Milieus, sondern darum, für durch- 
schnittliche Verhalten praktische Richtlinien zu geben. Gegen die Körper- 
strafe spricht, daß sie die Autorität des Erziehers meist erschüttert und das 
Schamgefülil vieler Kinder abstumpft, auch das Selbstgefühl und das Ver- 
trauen, die notwendigen Stützen der Selbsterziehung. Die Körperstrafe IfA 
ein Gewaltmittel, es verführt den Strafenden und Bestraften leicht dazu, 



298 Heinrich Meng 



Macht und Gewalt hölier zu stellen als Gerechtigkeit, begründete Autorität 
und sosjiale Hilfe. 

Die Körperstrafe als Erziehungsmittel verführt nicht wenige Eltern dasu, 
ohne T;beiiegimg re?;eptmäßig zu handeln und die Sofortwirkung der Strafe, 
die oft auffällig ist, höher zu stellen, als ihre Fernwirkung, über die man sieh 
selten Gedanken macht. Die Strafe als Rechtsmittel dürfte älter sein als die 
Strafe als Erziehungsmittel, jedenfalL^ stimmen Juristen und Pädagogen i 

darin über ein, daß je mehr die Straf Justiz sich der uralten Justiz nähert, bei 
der der Körper in Mitleidenschaft gezogen wurde, die Straffälligkeit sieh ^ 

umso mehr steigert und bei der durchschnittlichen Veranlagung des Menschen 
Hachegedanken erweckt, die jede wirkliche Erziehung verhindern. Die 
körperliche Reizung bestimmter Körperteile durch Schlagen verstärkt die 
Triebhaftigkeit vieler Kinder und provoziert nicht selten eine vorschnelle 
sexuelle Entwicklung. Ein solches Kind wird schwer erziehbar. 

Von der Fernwirkung wurde früher gesprochen, nämlich von der Tatsache, ^ 
daß der Mensch geneigt ist, was er passiv erlebt hat, später aktiv anderen 
aiizutun. Für unsere ablehnende Beurteilung der Körperstrafe sprechen auch 
die Erfahrungen, die oft gemacht werden bei der Erziehung verwahrloster, 
seelisch gestörter und schwer erzieh barer Kindor. Der langjährige Erzie- 
hungsleiter der Wiener Fürsorgeanstal t A i c h h o r n hat in der Praxis den 
Beweis erbracht, daß man ohne körperliche Bestrafung die schwierigsten 
Individuen zweckmäßig erziehen kann und schneller einen befriedigenden 
Erfolg erreicht mit weniger Aufwand an Kraft und Mühe und daß dabei ein 
menschenwürdiges Zusammensein und ein edles Verhältnis zwischen Leitern 
und Geleiteten entsteht Ferner liegen aus Amerika nicht wenige Veröffent^ 
Mehungen vor, die zeigen, daß in dem Maß die Dlstisipllnarverfahren sich ver- 
ringern, als in undisziplinierten Klassen unter Verzieht auf jede Körperstrafe 
verständnisvolle Lehrer den X^nterricht und die Erziehung in die Hand 
nehmen. Auch Friedrieh Wilhelm Förster hat in seiner Jugendlehre inter- 
essante Beispiele darüber publiziert. Es darf ferner nicht vergessen werden, 
wie groß die Zahl der „nervösen'* Eltern ist und wie gerade die nervöse 
Reizbarkeit eine geordnete Erziehung überhaupt, vor allem eine mit einem so 
zweischneidigen Instrument wie es die Körperstrafe ist, erschwert^). 

Nun taucht bei manchen die Frage auf, was soll denn 
geschehen, wenn Kinder straffällig werden und mit großer 
Wahrscheinlich keit irgendein Strafeingriff erziehe- 
risch notwendig ist. Wohl dürfen alle jene Versuche fehlschlagen, den 
Erziehern eine Art Rezeptkunde in die Hand zu geben für einzelne Unarten, 
y^. B. für Lügen, Stehlen oder Frechsein, Vielmohr ist in jedem Fall das Durch- 
führen von Maßnahmen anzuraten, die dem Fehlgang, welcher die Erziehung 
bereits genommen hat, ein Ende setzen. Im allgemeinen gilt aber, daß hei 
jedem Kind, das in immer verstärkendem Maß straffällig wird, Erziehungs^ 
fehler früheren oder neueren Datums vorliegen, ohne deren Erkenntnis und 

7 P^® ^Fragen sind u. a, behandelt in Fritz W i 1 1 e 1 s „Die Welt ohne 
Zuchthaus' (Hans Huber, Bern) und Aichhorn ..Verwahrloste Jugend" 
(Int. Psychoanalyt Verlag, Wien). 



Strafen und Erziehen 299 



Beseitigung Strafen zwecklos ist. Cum grano salis darf dem Eezepts acht igen*) ■ 
Folgendes zur Erwägung gesagt sein: 

1. Man muß den Tatbestand der Unart klarstellen und die Motive des 
Kindes zu verstehen verBucben. 

2. Ist die Unart schon oft wiederholt und kann man die Bedingungen für 
die Wiederholungen finden, oder ist sie ganz neuartig? 

3. Gegen wen richtet sich die Unart und was %^eranlaßt das Kind, gegen 
einen bestimmten Menschen schlimm oder unartig zu sein? 

4. Das Kind soll selbst zu seiner Tat iStellung nehmen und sieb fragen, ob 
es diese Unart bejaht oder verneint* 

5. Gelingt es, das Kind zu veranlassen, seine Unart einzusehen, sind auch 
andere Schuldige, z, B. Erwachsene, die ein schlechtes Beispiel gaben, zu 
dieser Einsieht bereit? 

Jeder Straf eingriff soll auch gegen das Motiv und gegen die auslösenden 
Bedingungen wirksam erscheinen. Jedenfalls soll Strafen — von außerge- 
wöhnlichen Anlässen abgesehen — stets das Ergebnis einer Untersuchung 
sein und nicht einfaches Diktat des Großen gegen den Kleinen, 

Die Erfahrung lehrt, daß es notwendig ist, darauf aufmerksam zu machen, 
daß bei bestimmten körperlich bedingten Leiden, z. B, Störungen der Sinnes- 
organe, wie Schwerhörigkeit oder sich lang hinziehender englischer Krank- 
heit, eigenartige, scheinbar straffällige Verhaltensweisen der Kinder auf- 
treten, die nicht durch Strafe, sondern durch Behandlung zu bekämpfen sind. 
Das Gleiche gilt für schwere Zustände von Kinderneurosen, also jener 
Entwicklungsstörungen im Ich, Gewissens- und Trieblehen des Kindes, die 
es unsozial und unartig machen, weil seine Seele gespalten ist. Wie für das 
schwerhörige Kind, ist für das neurotische Kind eine sachgemäße Behandlung 
selbstverständlich. 

Wenn man die nicht körperüchen Strafen in Betracht zieht, so sei von 
vornherein bemerkt, daß auch ihre Verwendung ein volles Verständnis der 
menschlichen Natur voraussetzt. Als Strafe kommt Liehesentzug und Entzie- 
hung von Freuden, Begünstigungen und Freiheiten in Betracht. Der Liebes- 
entzug als Strafe kann unter Umständen ahnlich schwer und eingreifend 
wirken wie eine schmerzhafte Körperstrafe. Schlechte Methoden sind aber 
das Nichternstnehmen eines Kindes, seine Verächtlichmachung und überhaupt 
alle jene geistigen Eingriffe, die seine Ehre wirklich oder in der Phantasie 
des Kindes aufs Tiefste treffen. 

Gewiß muß jede Strafe das Ehrgefühl und das Schamgefühl des Bestraften 
wecken, aber diese Beschämung sollte möglichst nur vor dem Erzieher und 
dem eigenen Selbst erfolgen, nicht vor der öffentlichkeit. Diese Regel kann 
nicht immer befolgt werden, nicht in der Schule und auch nicht immer zu 
Hause. Aber die öffentliche Beschämung soll nie angestrebt werden, sondern 
nur als unvermeidliche, unerwünschte Straf Verschärfung vom Kind als Tat- 

^) Dem Autor wurde anläßlich einzelner Pressekritiken seines Buches 
,,S t r a f e n und Erziehen" (Verlag IL Huber, Bern 1934) vorgeworfen, 
es fehle eine Art „Rezeptkunde des Straf ens": dieser Vortrag zeigt, warum 
Strafen und Erziehen nach Rezept unmöglich ist; wer doch eine Anleitung 

wünscht, soll sie aus den 5 Ratschlägen herausholen. 



ö' 



►00 Heinrich Meng 



^Mhe der Wirklichkeit, aufgefaßt werden, Afan .soll auch nicht das Strafen xum 
wichtigsten Teil des gemeinsamen Leidens und zur Sensation machen. 

Eine Voraussetzung für alle diese MaÜnahmen muß 
auch die sein, daß nach jeder Strafe eine volle Verzei- 
hung der Untat vom Erzielier selbstverständlich ist, 
nicht in einem Gnudenakt, so daß das Kind das sichere Gefühl hat, daß es 
Möglichkeiten gibt zur wirkliehen Sühne und zur wirklichen Entlastung. 
Verhältnismäßig leicht lassen sich ,iene Strafmaßnahmen zur Selbsterziehung 
handhaben, bei denen das Kind durch Verzicht auf ein Vergnügen erlebt, wie 
sehr ein falsches Verhalten den sozialen Zusammenhang mit den anderen 
BChädigt und spürt, daß es im Verzicht eine Selbsterziehung erreicht. Das 
Wiedergutmachen eines Schadens und die Mehrleistung für das, was zerstört 
wurde, kommen als Erziehungsstrafen ernstlich in Betracht, wobei vermieden 
werden muß, daß das Arbeiten selbst als Strafe erlebt wird. Der Entzug von 
Freiheit, die soziale Isolierung und das Schweigegebot können vor allem 
wenn das Kind geistig den Strafprozeß als berechtigt erlebt, zu Erziehungs- 
mitteln werden. 

Es liegt in der Entwicklung der Erziehungsstrafe, daß sie sich selbst über- 
flüssig macht. Durch eine geordnete Früherziehung wird die Straffälligkeit 
stark herabgesetzt, dabei erwirbt das Kind in der Verbundenheit mit Macht 
und Liebe der Erwachsenen schon früh die Fähigkeit zur Selbstbeherrschung. 
Pas Kind, das unter einer gesunden sozialen Ordnung bei einem selbster- 
scogenen Elternpaar aufwächst, gibt wenig Anlaß zu Strafen, vor allem, wenn 
es schon früh seine Kräfte in Spiel und Leistung üben kann. Der Erwachsene 
muß aber seinen Er ziehungs willen an der Eigenart des Kindes formen. Das 
Kind wird ihm dafür als Bundesgenosse mithelfen und so seine Straffälligkeit 
treibet vermindern auf |enes Minimum, das Schicksal des Mensch werdens und 
des Mensch Seins ist* 

Kurse in Basel und Züridi 

Im Winter 1935/36 finden außer an der Basler Volkshochschule noch fol- 
gende kürzere Vorlesungsreihen über Fragen der Psychologie und Pädagogik 
statt. Im Institut für neuzeitliche Erziehung (Basler Schulausetellung) wird 
im November vorgetragen über ,,Die Lehensphasen als psycho^ 
logische und pädagogische Probleme" (achtstündig). Im Heil- 
pädagogischen Seminar der Universität Zürich auf Einladung von Professor 
ITanselmann anfangs 1936 über .,W e I e h e E r g e h n i s s e d e r psycho- 
analytischen Theorie und Praxis sind für den Lehrer in 
der Volksschule und für den Erzieher schwer erzieh- 
harer Kinder und Jugendlicher in Anstalten von Bedeu- 
tung (vierstündig). Vortragender Dr. Heinrich Meng, Basel. 



liiNiiiiiiiiiiiiMiiiiiiiitiiitiiiiniiitH 



Bücher 301 

Büdier 

Walter Yon Baeyerr Zur Genealogie psychopathiseher SchwiDdler 
uad Lügner. (Band 7 der Samml, psychopatholog, und neuro!, Einzeldar^ 
Stellungen herausgegeben von Bostroera und Lange), Verlag Georg Thieme, 
Leipzig, 1935, 234 S. (Aus dem Kaiser-Wilhelm-Institiit für Genealogie und 
iJemographie der Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie in München). 

Dio Untersuchung nimmt ihren Ausgang von 125 Lügnern und Schwind- 
lern, welche an der Heidelberger Psychiatrisch-neurologischen Klinik und an 
der Münchner Psychiatrischen und Nervenklinik begutachtet wurden — die 
meisten im Laufe eines Gerichtsverfahrens. Ziel der Untersuchung war die 
Durchforschung der Sippen, der Eltern, der Großeltern, Kinder, Geschwister, 
Stiefgeschwister, Onkel und Tanten, der Neffen und Nichten, Vettern und 
Basen auf jene Wesenszüge, welche den psych opathi sehen Lügner und 
Schwindler charakterisieren. 

Welche Wesenszüge sind nun nach der Untersuchung v. Baeyers so charak- 
teristisch, daß sie — gleichsam als gemeinsamer Nenner — bei den Lügnern 
und Schwindlern einerseits, bei den Sippenangehörigen anderseits gefunden 
werden können? Das Lügen und Schwindeln selbst? Wir bekommen schon 
hier eine sehr interessante Antwort: ,jDer psychopathisebc Lügner und 
Schwindler, und im ganz besonderen Maße der eigentliche Pseudologe, er- 
wächst aus einem Anlagekomplex, der in seiner besonderen Zusammen- 
gesetztheit in den Sippen meist nur einmalig vertreten ist/' — ,,Das psychia- 
trische Bild der Pseudologia phantastica als solches, als klinisch-psycholo^ 
gieche Einheit vererbt sieh nicht/* — Audi andere, vielleicht naheliegende 
Annahmen werden entkräftet. Bloß vier von den 125 Lügnern und Schwindlern 
konnten nach genauer Prüfung der Krankengeschichten als Prozeßpsychosen, 
also als eigentliche Geisteskranke angesprochen werden, bloß zwei erweckten 
Verdacht auf eine organische Krankheit als Ursache der Verwahrlosung, sie 
,,M^UTden jedoch in dem Material (der psychopathischen Lügner und Schwind- 
ler) belassen, aus der Erwägung heraus, daß eine organische Hirnkrank- 
heit wie die Epilepsie und eine pseudologische Charakterveranlagung sclir 
wohl unabhängig voneinander infolge eines zu fall igen Zusammentreffens bei 
ein und demselben Menschen vorkommen können und daß nicht anzunehmen 
war, daß in den fraglichen Fällen der pseudologisehe Wesenszng durch eine 
epileptische Hirnveränderung "bedingt wurde''. Auch unter den Geschwistern 
findet man nicht mehr Schizophrene, Paralytiker, Epileptiker und Schwach- 
sinnige, als dem Durchschnitt solcher Befunde in der Bevölkerung entspricht. 
In der Kriminalität zeigt sich kein irgendwie auffälliger Unterschied, es ist 
keine Häufung der Trunksucht, der Neigung zum Selbstmord feststellbar. Nur 
die Zahl der asylierten Psychopathen erseheint gesteigert, wobei als „iisyliert" 
gilt, wer einmal in einer Klinik oder Anstalt eingeliefert war: gegenüber 
der Norm von 0,8% (des Bevölkerungsdurchschnittes) auf 4,2%; ebenso ist 
die Zahl der ,,zykloiden Persönlichkeiten" gesteigert und — wie in den 
Sippen der Lügner und Schwindler überhaupt — so auch bei den Geschwistern 
die „ungebundenen Charaktere". Dieser Begriff „umfaßt gleichsam als Unter- 
;irfen willenlose, bzw. abnorm beeinflußbare, hultlos-süehlige, geltungsbedüri- 

Zeitecljrjlt f. psa. Päd., TK/4 ^ 



302 Bücher 

tig-auechte (hysterische) phantastische PersönlK»likeitcn'*; die ,,Anhige zum 
trnpjobxuiclenen Wesen in der Gesamthc^it der Eiiizelmanife?taüonen dürfte 
isiiion vererbbaren Faktor darstellen'* ( S. 109). Diese Annahme — raeint v, 
Baoyer — wird duroh die Tatsache gestützt, d:iß die Kinder von ungebun- 
denen Eltern häufiger selbst wiederum ungebunden sind als die Kinder von 
nicht ungebundenen Ellern, Doch muß der Autor bekennen: ,,Die Möglichkeit 
eines Hincinspielens ungünstiger Krziehungseinflüsse von selten der Eltern, 
bzw, von Nachabmuiigs- und IdentifikationE^tendonzen von seilen der Kinder 
kann freilich nicht von vornherein abgelohnt werden/' 

Die Eiuzeluntersuclumg der Eltern von Lügnern und Scliwindlcrn ergibt 
ülmliche Befunde wie bei den Geschwistern, Es- können keine neuen Tatsachen 
eruiert werden, welche die Annahme einer groben erblichen Belastung recht- 
fertigen würden. — Bei der Schilderung der Elfern werden viele Wesenszüge 
beschrieben, Avelcho uns als charakteristische Beitrüge der Eltern für die 
Prägung des Bildes der Psychoneurosen^bekannt sind. So sehr v, Baeyer auch 
bemüht ist, durch geechicktc Korrelationen diesem Teil seines Materials 
brauchbare Resultate abzugewinnen, so will ihm d^s doch niolit reehl gelingen. 
So errechnete er z. B, bei den „sozial gescheiterten Lügnern und Schwindlern'' 
©ine viel höhere Zahl psychotischer Eltern und eine doppelt so große Zahl 
„ungebundener Clmraklerc'* als bei den Eltern .^sozial günstig verlaufener 
Fälle von Lügen und Schwindeln*'; hei den Geschwistern sind aber die Ver- 
hälfcnigzahlen gerade umgekehrt: die Geschwi^tc]' der günstig verlaufenen 
Fälle zeigen mehr Charakteranomalien überhaupt und doppelt ,so viele ,, un- 
gebundene Charaktere" als die der ungünstig verlaufenen Fälle. — ,, Worauf 
diese Unjkchr zurückzuführen ist, vermögen wir hier nicht zu entscheiden", 
meint v, Baeyer und kommt dann zu einer Schlußfolgerung, welche weit- 
gehende Verbreitung bei den Erziehungsbehörden, Jugendrichtern und Päd- 
agogen verdienen würde: „über die prognostische Verwertung der genealo- 
gischen Befunde bei den abnormen Lügnern und Scli windlern kann deshalb 
noch nichts Widerspruchsfreies ausgesagt werden/' 

Besondere Beachtung verdienen auch die Untersuchungen der Vettern und 
Basen. An ihnen ließen sich die von Milieueinflüssen unabhängigen Anlage- 
faktoren leichter eruieren, gehören die Vettern und Basen doch nielit mehr 
zur engeren biologischen Familie, die gewöhnlich auch soziologische Familie 
zugleich ist. „Hält man alle Befunde zusammen, die bei Vettern und Basen der 
echten Pseudologen und der atypischen Schwindler hinsichtlich des Vor- 
kommens charakterologischer Abweicliungen gesammelt werden konnten, so 
gelangt man zur Feststellung, daß wesentliche, greifbare Abweichungen vom 
Durchschnitt nicht vorhanden sind/' Im gleichen Sinne vorsichtig und zurück- 
haltend ist auch die Schlußfolgerung bezüglich der eugenischen Nutzanwen- 
dung der erhobenen Befunde. 

So erscheinen die Lügner und Schwindler auch im Lichte genealogischer 
Forschung als eine noch Avcnig durchsichtige und schwer verstehbare Men- 
schengruppe. 

Manche Berührungspunkte mit psychoanalytischen Gedankengängen lassen 
sich an der Arbeit v. Baeyers nachweisen. Der Begriff der „Gefahrdungs- 



Bücher 303 

struktur'', dem eine große Becleuiiing zukommt, deckt sich M^eiigeliond mit 
dem von August Aiehhorn formulierten der „latenten Verwahrlosung"; 
ijiajiche Elemente, die zur Begriffsbestimmung des ,,Unechten'' und ,, Unge- 
bundenen" führten, würden durch die Arbeiten von Helene Deutsch (,,Über 
einen Typus der Pseiidoaffektivität — Als ob" und „über die phatologische 
Lüge — Pseudologia phantastica") psychologische Vertiefung und Einord- 
nung in unsere Vorstellungen vom Ganzen der seelischen Entwicklung finden. 
Doch bleibt Verf. an der Oberfläche der Erscheinungen und begnügt sich bei 
seinen Erklärungen mit der Phantasie, dein abnormen Geltungsbedürfnis u. ä, 
— Der Wert seiner Untersuchung ist in der Erbbjologie, nicht in der Psycho- 
logie fundiert; dort wird sie durch die Neuartigkeit und Präzision imponieren, 
mit der ein ungewöhnlich verstreutes, unübersichtliclies und sclnver erfaß- 
bares Material aus dem Problemkreis der Psychopathien gesammelt und 
geordnet wurde, W, H o f f e r. 

Julius Bahnsen; Beiträge seur Charakterologie- Mit besonderer Be- 
rücksichtigung pädagogischer Fragen, mit Zusätzen aus dem handschriftlichen 
Nachlaß neu herausgegeben und eingeleitet von Dr, Johannes Rudert. 
Johann Ambrosius Barth, Leipzig 1932. 2 Bände, 856 Seiten. 

Klage s, Kronfeld, Banmg arten und andere pädagogisch inter- 
essierte Psychologen berufen sich neuerdings des öfteren auf den 1881 ver- 
storbenen Gymnasiallehrer und Philosophen Bahnsen, In der Tat ver- 
dient es Bahnsen, gelesen zu werden, es gebührt dem Verlag und dem Heraus- 
geber daftir Dank, diese zwei Bände erscheinen zu lassen. Die philosophische 
Einstellung ruht auf Schopenhauer und Hegel sie ist nicht Gegen- 
stand unserer Besprechung, vielmehr vorwiegend die Beziehung der Päd- 
agogik Bahnsens zur Psychoanalyse. Sie besteht mehrfach, schon im Grund- 
sätzlichen. Unser Autor macht damit Ernst, „an jedem Punkt und im kleinsten 
Detail die Beziehung zwischen Einzelerscheinung und Grundwesen nachzu- 
weisen**. Bei seiner Charakterforsehung gehl Bahnsen davon aus, daß das 
Gemüt als Mutterboden der Gefühle, Stimmungen, Affekte und Leidenschaften 
das Wesentlichste für die Charakterforsehung sei. Dann nimmt Bahnsen eine 
bemerkenswerte fortschrittliche Stellung zum Phänomen des Traumes ein^). 
So heißt es u, a bei Bahnsen; „Auf die Frage: .WaR zeigen uns die Träume 
an?' ist gerade vermöge ihrer Unbestimmtheit, zunächst wenigstens die Ant- 
wort unbestreitbar richtig: ,Was in uns ist*, und ebenso unleugbar, daß 
das Individuum im Traume reiner auf sich und seinen inneren Gehalt gestellt 
ist als beim Wachen, insofern ist also der Traum sehr geeignet die Selbst- 
erkenntnis auf ihre elementarsten Faktoren zu rüde zuführen. Deswegen liefert 
er auch, wie nicht leicht etwas anderes, Belege für ein uns selbst oft Über- 
raschendes Sichgleichgebliebenes unseres geheimsten Wollen^. Im Traume 
sehen wir, wessen wir unter Umsiänden fähig sein würden." 

In seinem Handexemplar fügt Bahnsen noch bei: , .Insbesondere werden wir 
uns durch unsere Träume der Konstanz unserer posodynischen Eigentüm- 
lichkeit bewußt, sovie] auch dessen abgezogen werden muß, was Wirkung der 

^} Sein Name fehlt unter den Autoren Freuds in meiner ^.Traumdeutung". 



304 Bücher 

polarischen Katiir des Traumlebens überhaupt ist» Manchen entschädigt für 
flie Qualen tiefer Dyskolie der Vorzug, daß ihm seine Träume umsomehr 
Wonnen vorzaubern, je weniger ihm die Wirklichkeit an Freuden bietet. Aber 
aisdann bleibt sich seine Natur doch getreu in der Weise, wie er sich zu der 
erträumten Seligkeit verhält: nämlich zweifelnd an ihrem Bestände, fürchtenä 
für ihre Fortdauer, so daß er, noch innerhalb des Traumes selber, schon etwas 
von der Enttäuschung antipiziert, welche seiner beim Erwachen barrt." 

Unter Posodynik versteht der Autor die Lehre von den Graden der 
Kapazität für Schmers und Lust, die Dyskolie ist ein Ausdruck aus der 
Temperamentsieh re, dessen Diskussion uns hier nicht interessiert. Bahnsen 
rechnet den Traum zu den Quellen charakterologischer Erkenntnis. In seiner 
Pädagogik empfiehlt er mehrfach das gründliche Studium der „Levana" von 
Jean Paul; interessant sind die Vorschläge zur Behandlung von jugendlichen 
Untugenden. Vom Eigensinn heißt es: j,Um den Versuch, ihn zu brechen, 
wird es meistens ein mißlich Ding sein; gemeiniglich reicht man weiter bei ihm 
mit dem Stab Sanft als mit dem Stab Wehe: denn eine Natur, die keinen Zwang 
leiden will, verhärtet sich am ehesten, wo sie eine auf solchen hinzielende 
Absicht gewahrt. Aber andererseits ist jede unweise Nachgiebigkeit ebenso 
verkehrt, denn sie reicht dem Eigensinn das Futter des , Verzeih ens' und 
,Verwöhnens*. Also ohne auf das bedenkliche: ,Die Wahrheit wird wohl in 
der Mitte liegen*, unseren Rückzug zu nehmen, müssen wir doch eine Mischung 
von Strenge und Sanftmut empfehlen — schon weil die Erfahrung lehrt, daß 
kluge Mütter allemal besser mit den , eigensinnigen Rangen' fertig werden 
als jähzornige Väter! Geduld: ist auch hier das Zauberwort,./* 

In seiner Psychologie des Subjektivismus und Ob|ektivismus, anschließend 
an die Besprechung der Antinomien des Gemüts sei folgende Stelle hervor^ 
gehoben; „Daß freilich der Wille nicht der allmächtige , Zauberer' sei, der 
alles heraufbeschwören könne, was ihm beliebt, daß gerade das Geliebteste 
sich oft am schwersten reproduzieren lasse, — das wissen wir schon; aus 
der Betrachtung der Antinomien der Erinnerung kennen wir jene geheime 
Polizei im Willen, welche von gewissen Häfen den Deckel nicht will abtun 
lassen und darum den Bemühungen der Sehnsucht versteckt entgegenarbeitet 
mit einem unbewußten NiehtwoUen der Aufregung und Beunruhigung, die 
dem Gelingen der erstrebten Reproduktion nachfolgen könnte und welche 
deshalb anderen, von außen wirkenden, Motiven zu anderer Reproduktion das 
"Übergewicht gibt; — so daß es also doch schließlich wieder die Spontanität 
selber ist, was in einem Konflikt seiner eigenen Strebungen sich neutralisiert/' 

In seiner Abhandlung über den Arzt fordert er für jede Lehranstalt einen 
Arzt als Beirat, 

Bahnsen zitiert das Schillersche Wort: „Wer keinen Menschen machen 
kann, der kann auch keinen lieben" und schließt seinen Abschnitt über das 
„Verhältnis des Sexualtriebes zum Erziehen**, — ,,Die Hierodulen der Venus 
vulvivaga mit ihrem sclinöden Gewerbe sind nicht tofo genere unterschieden 
von Dichtern keuschester Schwärmerei wie Hölty — und was Jean Paul so 
gerne als ,Simultantriebe' beschreibt, ist potenziell identisch mit der Lüstern- 
heit sentimentaler Handlungsdiener, die sich in jede Schürze verlieben" 



Bücher 305 

In der Psycliologio der Frauen als Erzieher interessiert eine Stelle über 
die Stiefmutter; „Darauf beruht die Gefahr, von welcher der Volksmund weiß; 
daß Kinder leicht zugleich mit der Mutter den Vater verlieren, oder mit 
einer Stiefmutter zugleich einen Stiefvater bekommen — letzteres nämlich, 
wenn der Vater zu einer zweiten Gattin innigere Liebe faßt als zu der ersten, 
was nach dem ,nur der Lebende hat recht' phänomenalUer noch öfter der Fall 
sein wird, als realUer; denn mit den Jahren wird bei vielen die kapriziöse 
Auswahl laxer und somit eine Fehlwahl wahrscheinlicher — sind doch beim 
Eingehen einer zweiten Ehe der Kegel nach ganz andere Rücksichten ent- 
scheidend, ganz andere Requisiten maßgebend, als bei der ersten/' 

Der Leser wird noch aus vielen Abschnitten, wie dem über Völkerpsycho- 
logie, Anregung haben. Der Versuch, Bahnsens Beobachtungen und Folge- 
rungen unter dem Gesichtspunkt heutiger Forschung zu werten, würde 
hier zu weit führen, eines scheint uns sicher: Bahnsen ist ein origineller 
Tat Sachenmensch mit hoher sprachschöpferischer Qualität, er ragt über die 
pädagogischen Wissenschaftler seiner Zeit heraus. — Der Herausgeber hat 
durch ein Wort- und Sachregister das Werk Bahnsens leicht, zugänglich ge^ 
macht und mit Verständnis auch für die Psychologie des 20. Jahrhunderte die 
Ergänzungen und Nachträge verwertet und kommentiert, H, Meng, 

W. Eliasberg: Rechtspflege und Psychologie. Eine Einführung in die 

Wissenschaften vom seelischen Leben der Menschen für die an der Rechts- 
verwirklichung Mitwirkenden: Richter, Rechtsanwälte, Staatsanwälte, Sach- 
verständige, Gerichtshelfer, Strafvollzug und Fürsorge, Presse und öffent- 
lichkeit. Carl Heymanns Verlag, Berlin 1933, 

Es gibt ansclieiuend einige Analogien in den heutigen Situationen von 
Rechtswissenschaft und Pädagogik, Beiden bietet sich die Psychologie eifrig 
als notwendige Grundlage an, aber das Bedürfnis nach einem solchen Unter- 
bau scheint aus irgendwelchen Gründen in beiden nicht übermächtig zu sein. 
Man handelt nach historisch gewordenen Normen, deren Entstehung und 
soziale Zweckhaftigkeit im Dunkel gelassen wird. Manche Ziele, die sich 
Pädagogen und Rechtspflcger in ihren Ideologien stellen, erreichen sie nur 
in geringem Maße, Dagegen scheinen in der Ausübung dieser Berufstätig- 
keiten genug an anderen abgelenkten Triebzielen befriedigt werden zu können, 
um über manchen geringen objektiven Erfolg tröstend hinwegzutäuschen. 

Das Buch Eliasbergs, das innerhalb der Rechtspflege für Psychologie 
interessieren will, zeichnet sich — zumindest gegenüber ähnlich gemeinten 
Einführungen für Pädagogen — durch eine umfassende Systematik und eine 
erstaunliche Heranziehung der verschiedensten Wißsenschaften und Wissen^ 
Schaftsrichtungen aus. Auch der Psychoanalyse steht der Autor freundlich 
und verständnisvoll gegenüber. Allerdings richten sich seine Kritiken, For- 
derungen, Wünsche im wesentlichen an die konkrete Rechtswelt, wie sie vor 
einigen Jahren in Deutschland war. Daß diese durch Einführung einiger 
analytischer Fremdkörper beeinflußt werden soll, wünschen wir ebenso- 
wenig wie Eliasberg. Wir würden uns nichts besonderes vom Analytiker 
als Sachverständigen in Strafprozessen oder von einem analytisch geführten 



306 Bücher 

Indizienbeweis versprechen, solange der Rech tsr ahmen unverändert bleibt. 
Etwas anderes ist es mit den Zuknnftsmöglichkeiten der Analyse in einer 
psychologisch ganz anders eingestellten Rechtspflege, was aber nicht zum 
Thema Eliasbergs gehört. Dort wären Forderungen wie etwa die Psycho- 
therapie des neurotischen Delinquenten^ oder daß der den Neurotiker Be- 
urteilende analysiert sei, denkbar* Wir haben ja auch für die Pädagogik 
derlei Utopien im Vorrat. 

Eliasberg will die Aufmerksamkeit des Richters vor allein auf jene Dauer- 
haltungen lenken, die im Angeklagten oder Zeugen durch seine mitmensch- 
lichen Beziehungen wie Beruf, soziale Schichte und Gruppe entstehen. Er 
nennt sie „Motivationen". In der Pädagogik haben wir im allgemeinen mit 
solchen Motivationen weniger zu tnn^ da sie sich erst mit dem Festsetzen des 
Menschen in einer Gruppe bilden. In der Psychoanalyse beschäftigen wir uns 
auch nur selten mit ihnen, aber wir können manchmal beobachten, daß durch 
das Befreien verdrängter allgemein menschlicher Schichten solche Motiva- 
tionen von ihrer Starrheit verlieren oder erst möglich werden. 

Der Pädagoge mag bei der Lektüre dieses Buches an mancher Stelle 
nachdenklich werden: so wenn ihm, der manchmal in seiner Beziehung guni 
Zögling Partei, Zeuge, Staatsanwalt und Richter zugleich ist, die Bedeutsam- 
keit des strengen Unterscheidens zwischen solch verschiedenen Einstellungen 
zu Bewußtsein gebracht wird. Auch mag er sich wundern, wie selten im Ver- 
gleich zur Rechtspflege in seinem Bereich das Bedürfnis nach Befragung 
eineß Sachverständigen empfunden wird. P. B, 



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Sigm« Freud - Nachschrift 1955. Nachtragr ^^l^ 

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Sigm. Freud * - * Die Feinheit einer Fehlhandlung 

Sigm. Freud Thomas Mann zum 60. Geburtstag 

Edoardo Weiss (Rom) ,..-.,.. Aus einer Einführung in die Psycho* 

analyse 

Theodor Reik fHaag) Über wechselseitige Erhellung und 

wiederholte Spiegelung 

Sandor Rado (New York) Die ängstliche Mutter 

Harold D, Lasswell (Chicago) . . . Das Priuxip des dreifachen Appells 

Ives Hendrick (Boston) Die Stärke und Tragfähigkeit des Ichs 

Heinz Hart mann (Wien) Psychoanalyse und Weltanschaimng 

Gregory Zilhoorg (New York) , /. Zum Selbstmordproblem 
Karl A. Menninger (Topeka, Kansas) Provozierte Unfälle als Ausdruck von 

Selbstvernichtungstendenxen 

Raffaele Cantarella (Neapel) , , . . Psychoanalytische Elemente in der 

griechischen Tragödie 

Richard Sterba (Wien) .,,,.., Über zwei Verse von Schiller 

Karin Michaelis (Kopenhagen) . . - Edgar Poe — im Lichte der Psycho- 
analyse 

Franz Alexander (Chicago) Diesseits und jenseits der Gefängnis- 

mauern 

P, Lowtzky (Paris) Die Wiederholung bei Kierkegaard 

Edmund Bergler (Wien) Das Rätsel der Bewußtheit des 

Ödipuskomplexes 

Heinrich Meng (Basel) _..... Zwang und Strafe als Problem der 

seelischen Hygiene 

Jenny Wälder (Wien) , . Aus der Analyse eines Falles von 

nächtlichem Aufschrecken 

Hans Zulliger (Ittigen) Milieuwechsel als heilerzieherisches 

Mittel 
Friedrich Eckstein (Wien) . , . . , Ältere Theorien des Unbewußten 

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20) Seiten 

Der Zweck dieses Buches ist, Beobachtungen und 
Ergebnisse aus der Erziehungspraxis darzustellen, damit, 
wer zur Strafe als Erziehungsmittel greifen will, sieh 
zuvor unterrichten kann über ihren Ursprung, ihre 
Wirkung und psychologieche Einordnung, Das Buch 
wendet sich an alle Jugend- und Menschheitserzieher, 
insbesondere an Lehrer, Erzieher und Eltern, sowie an 
Ärzte und Psychologen. 

Aus dem Inkalt.- 

I.Ursprung und Entwicklung desStrafens. II. Grund 
^ und Zweck des Strafens. Die Strafrechtstheorien. Das 
Erziehen durch Strafe. IIL Zur Psychologie der Strafe 
und des Strafens. IV. Wirkung des Bestraftwerdens. 
V. Die Körperstrafe bei verschiedenen Völkern. Die 
eeelische Wirkung der Körperstrafe. VI. Erziehen und 
Strafen in den ersten Kinderjahren. VII. Das Strafen im 
Schulalter. VIII. Die richtige Behandlung scheinbar 
straffälliger Kinder. Autorität und Verantwortung. 
IX. „Straffreie" Erziehung und Selbstzucht. X. Richten, 
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lehre ihres Vaters das, was ihnen bei ihrer Arbeit helfen kann: nämlich 
die seelische und erzieherische Auswertung frühester, ins Unbewußte ver- 
sunkener Kindheitserlebnisse, die in ihren Auswirkungen aber den Cha- 
rakter und die Erziehbarkeit entscheidend beeinflussen. Sie beg^niigt sich 
nicht mit den sichtbaren seelischen , Leistungen' der Zö^ling^^ sondern 
benutzt die Analyse zur Dechiffrierung von GhaTakteräußerungen, die 
uns ohne Zurückgehen auf ihr erstes Zustandekommen oft rätselhaft und 
zusammenhanglos erscheinen und die Erziehung erschweren, wenn sie 
unerkannt bleiben." Eisfelder Zeitung. 

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zieh ungsberatung und Erziehungshilfe 

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L Einleitung, Einteilungen, Fragestellungen, Übersichten. IL Unter- 
scheidungen. Dissoziales Symptom und disso^iale Grundlage- Dressur und 
Erziehung; Milieuwechsel ak heil erziehen seh es Mittel. III, Diskussion 
des Mittels „Milieuwechsel. Vom Auf hau der seelischen Persönlichkeit. 
Zivilisierung und Kultivierung. IV, Die Freud'sche Psychologie in der 
Praxis der Erzieh nngshilfe. V. Herst elhmg der günstigen Übertragung* 
Assoziations- und Spieltechnik. VL Einbezug des Korse hach' sehen Test- 
versuchs ins Arbeitsfeld des Erziehungsberaters und -helfers. Abgrenzung 
seiner Leistungen im Vergleich mit der pädanaly tischen Methode. VIL Zu- 
sammenfassung, Paar-Beziehung und das Verhältnis von Gemeinschaft 
und Führer. Gefabren der Bindung: das nichtbewußte, passive Erleiden 
und das bewußte, aktive Handhaben der Übertragung. VllL Über den 
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