VIII. Jahr^.
Mai— August 1934
Nr. 5-8
Zeitschrift für
psydioanalytisdie
Pädagogik
SONDERHEFT
ZUM XIII. INTERNATIONALEN
PSYCHOANALYTISCHEN KONGRESS IN LUZERN
Steff Bornstein Eine Tedinik der Rinderanalyse bei
Kindern mit Lemlienimungen
Fritst Redl Zum Begriff der „Lemstörung"
Kata L€v^ Vom Bettnässen des Kindes
Melitta Scßmideber^ . . Die Spielanalyse eines dreijährigen
Mädchens
Änn'^ Än^el Aus der Analyse einer Bettnässerin
Bectßa Bornstein .... Enuresis und Kleptomanie
als passageres Symptom
£ditß Büxbaum Über einen Fall von exliibitio-
nistisdier Onanie
Heinricß Meng Zur Psychologie der Strafe
und des Strafens
H. Cßristoffel Zur Biologie der Enuresis
Berichte
Prager Brief - Kurs über psychische Hygiene in Schweden
Büdier - Zeitschriften
Preis dieses Heftes Mark 4" —
Zeitschrift für psychoanalytische Pädagogik
Begründet von Heinrich Meng und Ernst Sciineider
August Aichhorn
Wien V. SdiönbrunncrBtraße 110
Dr. Heinridi Meng
BaBcl, Angenstelnerstraße 16
Herausgeber:
Dr. Paul Federn
Wien VI, Köstlcrgasse 7
Prof. Dr. Lrnst Schneider
Waldcrziehungshelm
Stadtroda, Thüringen
Anna Freud
WlenIX,Bergga«e„
Hans ZuUiger
Ittigen bei Bern
Schriftleiter:
Dr. Wilhelm Hoffer, Wien, L, Dorotheergasse 7
6 Doppelhefte |ährlidi M. 10'-, sdiw. Frk. 12-50, österr. S IT-
Preis des Doppelheftes: M. 2'- (sdiw. Frk. 2-50, Österr. S 3*40)
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bekanntzugeben, denn die Abonnentenlcartel wird nadi dem Ort und nidit nadi dem
Namen geführt.
In Vorbereitung befinden sidi folgende Sonderhefte: „Lern- und
Denkstörungen", Jugendlidie Verwahrlosung und Kriminalität",
»Pubertätsprobleme".
ZEITSCHRIFT FÜR PSYCHO
ANALYTISCHE PÄDAGOGIK
VÜI. Jahrg.
Mai— August 1934
Heft 5-8
Eine Technik der Kinderanalyse bei Kindern
, mit Lernhemmungen
Von Steff ßoriistein, Prag
ly^ ^:Z'T'^r- ?'' '''"'"■ ■"" Le-'>e.,„u„gen a.a-
Kinde a >f dl G °,l, i^""'^"', ""' ™g«""äi"ger Arbeit mit den,
«ie verst c hen ^"^^ '" '"" ^'"''^ Schwierigkeiten bereiten; „der
Einblick in d"; IZT, V'T '"""' "°' '"'="'"="^' gründlichen
halten Sie ^ , '^""'''" ""' ''""' S'''"'"""'™ Gebiete zu be-
cer Ue,,t^ T ." t" ""="' "''■ "'^ '"^ ^■-'^^'' ""-h Aufdeckung
-a:?rr;s;^-rii:dt:;;^:---
daß .ie schon au d" G™ d ."',' "n™ '" '° '^""^"S™ ^^^'g-^.
Darstellung dieser Meü öd! ."h "T!''' '" '™''''™ ™"''™'- ^ine
geboten. KLeranai;tiktrii,;,' """ ""^ ™'"=™" G™'«"'"
- Kinder ^ekü^ll^t:" dt^ r C::::^ ^iu^l^ Z' S"
ebenso unter die Lupe nehmen wie seine nnbewulen 'ftiebko.^ H te
rrt^tS^kTinr'' ™"."'r' ™" "-'"«eweihteL™ ^B^nt^e 1;
Darstellung unseZ T ch .ik wi d n'- f "°"°"""' '" "'«"''™- °'^
nicht einen „Ersatz" und ' i t überzeugen, daB wir mit ihr
suchen, sondern daß w T T "^'"•"»''^^«"'"g" ^er Analyse Ver-
den Dienst des"ar,t;"hrxCeSerstler"' ■"'' '■™' '^'-'^ '"
veS- ^^^t:?r ^- r ;r:^?;^ "-^ '-T' - '■-
vorschreitenden organischen El r Lnn. fer i. ' "'f f'"""""
die psychischen Motive, krank zu s ° 12^' " ''''"' '"'"""«>
zu sein, genommen werden. Im all-
ZoilKhrlft f. r.!«. PIM,, V1II/5-S
»
INTERNATIONAL
PSYCHOANALYTIC
UNIVERSITY
DIE PSYCHOANALYTISCHE HOCHSCHULE IN BERLIN
142 Steff BoriisteUi
gemeinen aber lassen wir die neurotischen und daneben organisch
erkrankten Patienten nicht ohne ärzdiclie Hilfe, auch wenn wir von
der analytischen Hilfe sehr viel erwarten, nämlich die Stärkung des
Gesundungswillens des Patienten und eine Garantie für die richtige
Anwendung der ärzHichen Therapie. Die Kinderanalytiker, deren
Technik hier ^cschÜdejl werden soll, meinen: wie die kranke Lunge
und der kranke Zaiin unserer analytischen Palienten zu ihrer Ge-
sundung neben der Analyse einen Spezialarzt brauchen, so ist auch
das erkrankte, in seinen Funktionen gehemmte Ich des Kindes zu
schwach, als daß das Kind ohne die wichtige Hille mit seiner Hem-
numg kämpfen könnte. Die Ich-Hemnuingcn haben außerdem mit man-
chen organischen Krankheiten gemein, daß sie sich vertiefen, je langer
sie dauern. Mit unserer Technik glauben wir den therapeutischen
Prozeß zu steigern und zu verhindern, daß die Hemmung in ihrem
ganzen Umfang bis zur Beendigung der Analyse anhält.
Die zu beschreibende Technik soll an einigen Beispielen aufgezeigt
werden. Ich wandte sie zuerst bei dem GV^Jährigen Niels an, der
mein erster analytischer Patient wurde. Ich hatte ihn als Schüler über-
nommen, mit der Aufgabe, ihn in mögliehst kurzer Zeit schulfähig
zu machen. Bereits in den ersten Wochen entwickelte sich die an
unsere Arbeitsstunde regelmäßig sich anschließende „Gesprächs-
stunde" zur korrekten Analyse. Da ich erkannte, daß dem nicht nur
lerngehenimten, sondern auch sonst schwer neurotischem Kinde nur
mit der Analyse zu helfen war, übernahm ich ihn als Patienten. Aber
ich zögerte, der Analyse wegen die Arbeitsstunde, deren Verlauf mich
sehr interessierte, aufzugehen, meinte, das hätte Zeit, wenn sie an-
finge, der Analyse hinderlieh zu werden. Sie ist es bis znm Schluß der
Analyse nicht geworden, auch in sieben anderen Fällen, in denen ich
mich bei Kindern, die ich analysierte, um ihre Schularbeiten küm-
merte, wurde durch diese Arbeit die Analyse nicht in Frage gestellt.
Im' Falle Niels benahm ich mich als seine Lehrerin nicht viel
anders, als ich mich als seine Analytikerin zu benehmen hatte: passiv,
nicht zu einem von mir geforderten Resultat drängend, gleichmäßig
freundlich, sn zum Arbeilen ermutigend wie in der Analysenstunde
zum Sich-Mitteilen. mit dem gleichen psychologisclien Interesse die
Ergebnisse und das Verhalten beim Lernen betrachtend wie danach
die Mitteilungen der Analysenstunde. Eine einerseits so passive, ander-
seits so entschieden auf Ermutigung gerichtete Haltung wäre aber
auch, wenn man bloß mit dem Kinde lernen und es nicht daneben ana-
lysieren wollte, richtig gewesen. Das war nämlich schon nach dem
oberflächlichen Einblick in den Lernwiderstand und das gesamte Ver-
halten des Kindes zu erkennen: die Schule, das Lernen von Schreiben
Technik <]er Kindcü-analysc bei Kindern mit Leriiliommimgüii 143
iiiKl Lesen hatte das Kind bis dahin als ein Sichhineinbegeben in angst-
ciTegende Situationen erlebt, den Druck der Schule und der bei den
Schularbeiten helfenden Mutter und Hauslehrerin als Äußerungen
ihrer Feindseligkeit gegen ihn. Fühlte er sich in der Schule gefoltert
so erregte der Zwang des Hauses, sich in die Folterqual zu begeben,'
seinen Haß und seine Aggressionen. Er schützte sich mit hysterischen
Erkrankungen gegen den Besuch der Schule, rächte sich mit Nieht-
begreifen und Unleidlichkeit für den Zwang zur Schularbeit. Wollte
ich also das Kind zu einer neuen Beziehung zum Lernen bringen, so
mußte ich alles vermeiden, was an die bisherige. Schule und den
Arbeitsdruck der Mutter und der Hauslehrerin erinnerte. Ich sagte
also dem Kinde: „Ich werde deiner Mutetr raten, dich aus der Schule,
die du so nicht leiden kannst, herauszunehmen. Ich empfehle ihr eine
Schule, in der alles ganz anders und viel schöner ist. Deine Mutter
imd deine Lehrerin sollen dich nicht mehr mit dem Lesen und Schrei-
ben und Rechnen quälen. Deine Fibel kannst du in den Schrank ein-
sperren. Wir wollen alles, was nötig ist, allein lernen und ohne die
Fibel, und ohne daß ich dich zwingen werde. Mir wird es ganz gleich
sein, was und wieviel du an einem Tag liest oder schreibst, mich
interessiert bloß, warum du nicht schreiben und lesen willst. Ich
glaube, dir so helfen zu können, daß du es bald willst und gerne tust."
Analysiert man ein Kind, so hat man die Möglichkeil, früher oder
später im Verlauf der Analyse zu erfahren, wodurch und inwieweit
eine außeranalytische Maßnahme, etwa wie hier die Überredung, ge-
wirkt hat. Mein Nichtbewerten, sondern Ernstnehmen seiner Lern-
unlust, die Betonung seiner Hilfsbereitschaft an Stelle des ihm ge-
wohnten Zuredens „jeder Mensch muß doch schreiben können", ver-
führten das Kind zu einem Vertrauen zu mir, das ihn die Arbeit mit
mir gern versuchen ließ und das zugleich für die erste analytische
Arbeit förderlich war. Geschickte Pädagogen wissen, daß man ein
schwer behandelbares Kind vor allem anders anfassen muß, als es
gewohnt ist; tut man das weitgehend, während man das Kind zugleich
analysiert, so hindert man trotz solcher nichtanalytischen Maßnahmen
nicht, daß man zur Übertragungsperson wird. Wir treten zwar für das
Bewußtsein des Kindes in die Reihe seiner bisherigen Erzieher, wir
benehmen uns aber so anders als seine anderen Erzieher es taten, daß
ein Verhalten des Kindes, das als Reaktion auf die bisherigen Er-
ziehungsmaßnahmen verständlich ist, uns gegenüber wiederholt leicht
als ein von früheren Erfahrungen her auf uns übertragenes dem
Kinde deutlich zu machen ist.
Aus dem Verlauf der Zusammenarbeit soll einiges in chronologi-
scher Reihenfolge wiedergegeben werden. Wir entdeckten in d°er
u*
144
Steff Bornsteiii
ersten Arbeitsstunde, daß der Junge das Zusammensetzen von Lauten
zu Silben noch nicht wirklieh begriffen Iiatte. So hat er sich, ohne daß
es bemerkt wurde, halb verstehend und halb mechanisierend lesend,
durch die halbe Fibel durchgequält. Er hat also gleich zu Beginn des
Lernens mit seinem Verständnis versagt. Ich verstand noch nicht den
Grund dieses ersten Versagens, den die spätere Analyse erst auf-
deckte, wir begriffen aber, daß man auf Lticken nicht aufbauen kann.
In einer Stunde war die Lücke aufgefüllt, allerdings ließ ich ihn auf
eine andere Methode als seine bisherige Scliule erfassen, daß 1— a „la"
und 1-i „li" heißt. P:r zeigte nun ein Stück der Freude, die ein durch-
schnittlich gesundes Kind beim ersten Lesenlernen zu entwicKem
pflegt. Er schrieb nun auf meinen Vorschlag die Silben oder die Worte,
die ihm Spaß machten, wieder etwas anderes als in der bcliuie, wo er
reihenweise immer das gleiche und vom Lehrer vorgeschriebene Wort
schreiben mußte. Wir entdeckten dabei, daß ihm die Benennung der
Konsonanten Schwierigkeiten macht. Er möchte mich gern auf die
Probe stellen und kündet mir an, er werde jetzt das Wort „Popo"
schreiben. Er müßte nach dem bereits Begriffenen genau wissen, wie
das Wort geschrieben wird, hat aber ungeheure Mühe dabei, weil er
es im Stillen buchstabiert: „Peitsche p, o. Peitsche p, o", also für die
mutige Absicht, ein verbotenes Wort zu sehreiben, zwei Peitschen
drohen sieht. Aber nicht eine tiefe Deutung läßt nns das begreifen,
sondern die Aufdeckung, daß seine Lehrerin verzweifelt, weil er so
scliwer lernte, ihm die Konsonanten in einem besonderen Gewand an-
bot, um sie „kindgemäfler" zu machen: P war „das Peitsehen-P"
B „der Bläser", F „das Feuer" und so weiter. Wenn also Niels da&
Wort „dof" schreiben wollte, worauf er sich wie auf einen hohen
Genuß freute, war ihm die Freude bald verdorben, denn er muß buch
stabioren: „Dach-D, o, Feuer-f", und da er unter Gewitteräugsten l^J
geriet er in Unruhe und wollte für das „Feuer-f" den „Bläser-b'*
schreiben. Hätten wir darauf gewartet, bis die Analyse die neurnti
sehen Wurzeln solcher Verwirrung zerstreute, so hätte Niels erst viel ^
Monate später das Wort „dof" schreiben können. Wir faßten es als
eine Aufgabe unserer Arbeitsstunde auf, die Konsonanten von ihren
unsinnigen Attributen zu befreien. Ich zeigte Njelg mein Verständnis
dafür, daß das Lesen kein Vergnügen sein kann, wenn die Phantasie
auf unangenehme Nebenwege verführt wird. Mit solchem Arbeiten an
der Oberfläche entfernten wir ein Hindernis nach dem anderen uinj
erreichten, daß die Arbeitsstunde nicht mehr an die Pein seiner ersten
Lernerlebnisse erinnerte. Er schreibt Worte von Dingen, die er gern
hat, oder von Dingen, die er nicht leiden kann, Namen von angenehmen,
Namen von unangenehmen Leuten, ausgedaclite Worte, verkelirfe
Technik der Kinderanalyse bei Kindern mit Lernhommun gcn 145
Worte usw., später ganze Gedanken. Bas unruhige Kind lernt es sich
zu entspannen und darauf zu achten, welcher Zweck ihm in den'sinn
kommt, lernt, ohne es zu merken, etwas, was ihm dann in der 4na-
lysenstundo die freilaufende Mitteilung erleichtert.
Das Schreiben hat für ihn nichts mehr von einer auferzwungenen
Pflicht, wird ihm als ein Mittel zur Mitteilung von Gedanken inter-
essant. Immer wieder verwechselt er die Konsonanten „b — p, d — t
k — g" mit anderen, nicht miteinander, sondern wahllos mit irgend
einem anderen Buchslaben, meist mit „r". Wenn er sich besinnt, hält
er alle diese Buchslaben auseinander, aber er wird unruhig, sobald
einer von ihnen vorkommt. Als er einmal wieder sich nicht erinnert,
wie der Buchstabe D geschrieben wird (er schrieb damals Block-
schrift), schlage ich ihm vor, irgend etwas hinzuschreiben, was die
Hand gerade will und was gar nicht ein Buchstabe zu sein braucht. Er
malt nun zwei gedruckte, aber umgekehrte „D" nebeneinander, die
ovalen Striche nach außen gerichtet, die Steilstriche nebeneinan-
der. Genau so hat er aber am Tag vorher das Gesäß eines Man-
nes gezeichnet, und ich kann ihm nun sagen: „Vielleicht stören
dich die Popo-Gedanken, den richtigen Buchstaben zu finden, vielleicht'
unterhalten wir uns in der Gesprächsstunde darüber, weshalb sie dich
stören." Er ist sofort begeistert einverstanden, „ja, b — p, d — t, k — g
das sind alles Popo-Buchstaben". Zu meiner großen Überraschung
verwechselt er sie von dieser Stunde an nicht mehr, freut sich einige
Tage lang, wenn sie vorkommen, gibt erst nach einigen Tagen die
Bezeichnung „Popo-Buchstabe" auf, aus Angst, sie könnte ihm auch
in der Schule herausrutschen. Etwas später bekennt er, die Schreib-
schrift sei ihm lieber als die Druckschrift, weil er bei der Druck-
schrift an das „Drucken" denken müsse, was sein Wort für Defäzieren
ist. Erst zwei Monate später, als er bereits ohne Schwierigkeiten
schreiben konnte, und als in der Analyse ein bedeutsames Stück seiner
Kastrationsängste zur Besprechung kam (er bangte nicht nur um seinen
Penis, sondern auch um den Verlust seines Kots), brachte er seine
Aufklärung dafür, wieso jene sechs Konsonanten zu Vertretern^ des
verbotenen und Angst machenden Analen wurden und daher von ihm
abgewehrt wurden. Er zeigte mir seine Fibel, um die ich mich bisher
nicht gekümmert hatte, und sagte, jetzt könne er ruhig die Seiten
lesen, „wo die früher sogenannten Popobuchstaben stehen". Diese
Seiten hatten als Illustrationen Bilder von Tieren, die zu den Objekten
seiner Tierphobie gehörten. Der Buchstabe „r", der häufigste Ersatz-
buchstabe, stand auf einer Seite mit einem ihn sehr beruhigenden Bild
und das Wort „Ruhe" auf dieser Seite gefiel ihm ungemein, als ver-
spreche es ihm Ruhe vor den beängstigenden Phantasien, Wir wußten
146 Steff Eornstein
damals bereits, daß er in seinen verdrängten Phantasien fürelitete,
daß Tiere seinen Kot fressen und ihn dabei kastrieren würden; des-
halb war es ihm also immöglich, die Seiten seiner ITibel in Ruhe auf-
zunehmen.
Es zeigte sieh bei Niels immer wieder bis in die letzte Zeit seiner
Analyse: weder die zuerst ganz verschüttete und nun mit Hilfe der
Analyse freigelegte Sublimierimgsbereitschalt des Knaben, noch die
von der neuen Schule geweckte Lust zu Leistungen reichten aus, um
ihm diese Leistungen zu ermöglichen. Die geraeinsame Arbeitsstunde
war nun der Ort, an dem er einen Teil der Forderungen seines Trieb-
lebens, den Teil nämlich, der bereits in Arbeit und Produktivität ab-
geführt werden konnte, mit den Forderungen der durch die Schule
repräsentierten Realität vereinigen lernte. Er war wie jemand der
die größte Lust hat, sich mit anderen zu verständigen, deren Sprache
aber nicht kennt. Er war ja bereits 3 bis 4 Jahre ein neurotisches
Kind, war von der neu rolisehen Mutter für Bewältigung von iSehwieri»-
keilen nicht im mindesten vorbereitet, wußte nicht, wie man lernt
und lernte es nicht spontan wie ein gesundes und gut vorbereitetes
Kind. .; . ,
Niels beginnt eine Arbeitsstunde mit der Absicht, eine Geschichte,
die er selbst erfanden hat, aufzusehreiben. Er hat Schwierigkeiten
dabei, die ich beobachte, über die er selbst aber keine Auskunft
geben konnte. Die meisten Erwacliseneu könnten hinterher in der
Analyse berichten: „Es ist mir nicht gelungen zu schreiben, ich
konnte mich nicht konzentrieren, ich mußte auf jedes Geräusch hin-
horchen, so wie ich es immer zu Hause tue, um zu hören, was meine
Mutter im Nebenzimmer spricht." Ein Kind besitzt selten eine solche
Fähigkeit zur Selbstbeobachtung. Niels weiß nicht, daß zu seiner
inneren Ruhe und Konzentrierllieit aiich eine äußere Rulie gehört.
Erst als ich ihm diese verschaffte, lernt er aus eigener Erfahrung
zwischen guten und schlechten Arbeitsbedingungen zu unterscheiden.
Erst dann hebt es sich für seine Selbslwahrnehnmng ab: „wenn ich
allein bin, lausche ich ängstlich auf alle Siimmon im Hanse", und
erst dann kann die Analyse an seine Angst herantreten, die ihn das
tun läßt.
Sehe ich in der Arbeitsstunde, wie Niels schreibt, so kann ich
erfassen, was er selbst auch nicht angeben könnte, woran es liegt,
daß er drei- bis viermal so langsam schreibt wie seine Schulkamera-
den. Er kommt von einem Wort nicht los, wiederholt es, während er
schon das nächste schreibt. Er denkt durcheinander an den geschrie-
benen Satz und an den zu schreibenden und an die zu erwartende
Wirkung bei dem Lehrer und an sein Frühstück. In der ersten Zeit
<
Technik der Kinderaiialyse bei Kindern mit Lernliemmiingcn 147
kann ich nichts tun als durch meine eigene Eulie und Interessiertheit
an dem von ihm gewünschten Ziel seine Unruhe etwas lindern. Vor-
übergehenden Erfolg habe ich, wenn ich mal sage: „Laß das alte
Wort los, das neue tut dir auch nichts." Aber das Verfahren des ängst-
lichen Festhaltens an bereits Geschriebenem verschwindet ganz, als
in der Analyse die Gründe seines Sichanklammerna an die Mutter
zur Sprache kommen und ich ihm mm sagen kann: „Du trennst dich
beim Lesen und Schreiben ebenso schwer von dem, was zuerst isl,
wie du dich von der Mutter schwer getrennt hast, als du ins Kinder-
heim kamst. Dabei sind doch Worte keine Muttis und man braucht
auch vor neuen Worten keine Angst zu haben wie vor den fremden
Frauen iin Kinderheim, als du ganz klein warst." So wird durch die
gemeinsame Arbeit diese rascher desexualisiert, als wenn sie außer-
halb der Analyse und somit nur ungenau in ihren Störungen bekannt,
sich vollzöge.
Niels erfährt zwar aus seiner Analyse, daß er den Anspruch hat,
das einzige Kind seiner Mutter zu sein, immer die Hilfe der Mutter
zu bekommen, daß er gern der Kleine und Hilfsbedürftige ist. Ich
lenke zwar beim Deuten in der Analyse seine Aufmerksamkeit darauf,
daß er auch bei seinem Lernen eine seinem Alter und seinen Fähig-
keiten nicht mehr entsprechende Tendenz zum Unselbständigsein und
Sichhelfenlassen zeigt. Aber diese Einsicht hängt so lange für ihn
in der Luft und bleibt unwirksam, bis er es in der Arbeitsstunde
erlebt, daß er unglücklich ist und nichts zu tun imstande ist, wenn
ich es ihm versage, ihm da zu helfen, wo er sich sclion selbst helfen
kann. Kommt dann der Hinweis von mir: „So spielst du auch bei
unserer Arbeit ein kleines Kind und bist böse, wenn ich niicli um
dich nicht kümmere, das isl das, was wir schon aus der Gesprächs-
stunde wissen", so ist die Wirkung gleich da: er beginnt selbständig
zu arbeiten, lernt es zu ertragen, daß ich, während er arbeitet, meinen
eigenen Arbeiten im Nebenzinuner nachgehe, beginnt auch allmäh-
lich, hei sich zu Hause allein zu arbeilen.
Aus der Analyse weiß ich, daß seine Unkonzentriertheit und moto-
rische Unruhe eine Flucht vor seinen Pbaniasien und seinen Angst-
gesiehten bedeutet, und beobachte tatsäelilich, daß er um so ruhiger
wird, je mehr die Analyse seine Phantasien bewußt macht und ihnen
das Schreckliche ninniit. Aber es kommt vor, daß er manche Arbeits-
stunde in einer besonderen Unruhe beginnt, unentwegt und gedankeu-
flüchtig redet. Dann weiß ich, daß etwas Neues im Gang ist, oder daß
er etwas Besonderes erlebt hat. Wir unterbrechen dann die Stunde
und schieben die Analysenstunde dazwisclien. Danach arbeitet er
ruhig und zielbewußt. So erlebt er die Beziehung zwischen der Ana-
148
Steff Bornstein
lyse und seinem Tagesleben und erhält einen bedeutenden Motor für
die Analyse.
Die Ausführlichkeit, mit der Eiuzelheiten aus der Zusammenarbeit
mit Niels geschildert werden, soll nicht nur das Ineinandergreifen
von Analyse und dieser Arbeit deutlich machen, sondern vor allem
zeigen: die Lernhemmung des Kindes muß miterlebt werden, um ver-
standen zu werden. Und man muß sie auch in ihrer Oberfläche ver-
stehen, um sie abbauen zu können. Niels verstand in einem späteren
Stadium seiner Analyse, weshalb er gleich bei Schulbeginn versagt
hatte; damals war er mit unbewußter Angst angefüllt, weil ihm der
Schulbesuch eine gefährliche Trennung vou der Mutter bedeutete
weil er die Wiederholung eines früheren und von ihm nicht bewäif '
ten Erlebnisses fürchtete, die Mutier könnte iu seiner Abwesenhff
ein neues Kind bekommen. Dieses Verstehen seiner ersten Schul
ängste liätle aber nicht seniigf, um ihn richtig lesen und schreiben
zu lassen, wenn die Grundlagen seiner Kenntnisse bereits so lücken-
haft und verworren waren wie oben geschildert. Allerdings hätte aber
auch die Korrektur der Grundlagen, wie sie unseren Arbeitsstunden er-
folgte, nicht genügt, um Niels schulfühig zu machen. Denn seine
Ablehnung der Schule Iialto ihre liefen Wurzeln in nicht erledigten
früh-infantilen Konflikten nud solche sind nur analytisch und nicht
mit freundlicher Pädagogik zu lösen.
IL Handhabung der Übertragung bei dieser
Technik. t
Die Art des Arbeitens mit einem Kind mit Lernliemmungen ist
selbstverständlich von Fall zu Fall verschieden. Verschieden gehe ich
auch vor, wenn der Widerstand des Kindes gegen die gemeinsame
Arbeit gelegenllieh so groß ist, daß es sich weigert, die verabredete
Arbeitsstunde einzuhalten. Er war zwar, als wir die Verabredung
trafen, sehr einverstanden, daß ich ihm helfe, es hatte auch begriffen,
daß ich ihm anders helfen will als seine sonstigen Erzieher, daß wir
durch die gemeinsame Arbeit besser verstehen wollen, warum er nicht
arbeiten mag. Aber diese intellektuelle Einsicht hindert nicht, daß das
Kind manclimal eine unüberwindbare Unlust gegen die Arbeit spürt.
Selten ist es in solchen Fällen richtig, starr auf die Einhaltung der
Arbeitsstunde zu bestellen. Niels erklärte zu Beginn einer Stunde
trotzig; „Heute werde ich nichts tun, nicht schreiben, nicht lesen,
nicht rechnen, nichts." Er gibt keiuen Grund an, wiederholt nur: „ich
lasse mich nicht zwingen, du kannst machen, was du willst, du kannst
mich nicht zwingen." Ich betone, daß ich nicht daran denke, ihn zu
etwas zu zwingen, „aber wenn du die ganze Stunde nichts tust und
Technik der Kindcraiialys e bei Kindern mit Lern hemmuu gen 149
vielleicht darauf wartest, ob ich dich nicht doch — wie alle anderen
bisher — zwingen will, so werde ich dich die ganze Stunde sitzen
lassen und bedauern, daß ich heute nichts davon verstehen kann,
weshalb du vor dem Sehreiben Angst hast." Nach einer Weile erklärt
Niels, er hätte es sich überlegt, er wolle mit den Buntstiften, die ich
ihm einstweilen spitzte, schreiben, aber gerade jedes Wort mit einer
anderen Farbe. Er hatte mich zu Gewaltmaßnahmen provozieren wol-
len, wie er es mit seiner Mutter zu tun pflegte, er stellte sich mir
mit der passiven Resistenz entgegen, die er allen seinen Erziehungs-
personen entgegenbrachte, er betonte schließlich seinen eigenen
"Willen, ,, jedes Wort mit einer anderen Farbe zu schreiben", als er
den Widerstand aufgab, als er merkte, daß ich seinen Willen nicht
erdrücken wolle. Wenn die Weigerung des Kindes, mit mir zu arbeiten,
sehr häufig als ein Zeichen negativer Übertragung leicht deutlich
wird, so pflegt sich diese zu gleicher Zeit in der Analysenstunde breit
zu machen. Nicht immer äußern Kinder ihre negative Übertragung
in der Arbeitsstunde auf diese Weise, daß sie nicht arbeiten. Niels
erklärte eine Zeitlang, er brauche mich nicht, er brauche überhaupt
keine Frau, er arbeite allein, für seinen Lehrer, ein Mann für einen
Mann. Ich zeigte mich erfreut über seine Absicht, selbständig zu
arbeiten und wußte, welche augenblickliche Übertragungssituation
uns in der Analyse beschäftigen wird. Während die Analyse zeigte,
wie er nach Enttäuschungen bei der Mutter sich dem Valer zuwandte
und um ihn warb, machte sein Verhalten in den Arbeitsstunden deut-
lich, daß seine Zuwendung zum Mann seine Impulse zur Selbständig-
keit besser stützte als seine Anlehnung an die Frau.
Der 7K Jahre alte Tom verlangt in der Arbeitsstunde, daß ich ihm
auf eine besondere Art Lust zum Schreiben machen solle. Er möchte,
daß ich neben ihm sitze und nach jeder Zeile zärtlich sage: „Kannst
du nicht noch ein bißchen?" Er macht lange Pausen zwischen den
Zeilen. Zwei Tage später erzählt er in der Analyse, daß er sehr lange
und in kleinen Kotbällchen defäziere und erinnert sich an seine Groß-
mutter, die ihm zuredete, als er noch auf dem Tbpfchen saß, daß er
noch' etwas machen solle. Ich deutete ihm, daß er in der Arbeits-
stunde ein Spiel mit mir spielen wolle: „Großmutter quält das Kind auf
dem Töpfehen und das Kind macht extra langsam." Tom antwortet, er
wisse schon, was ich damit meine, und schlägt mir am nächsten Tag
in der Arbeitsstunde vor: „Großmutter, laß mich heute allein im Zim-
mer, ich schreibe heute allein." Er hatte dann seine Rekordleistung
vorzuweisen, er hatte m 20 Minuten 4 Seiten sehr gut geschrieben und
zum Schluß die stolzen Worte; „Das habe ich allein geschrieben, Steff
ist mit Absicht aus dem Zimmer rausgegangen."
150
Sieff Bornsteiii
Man kann fragen, wie es möglieh ist, daß die Aktivität des Ana-
lytikers, die bei dieser Technik doch entfaltet wird, nicht hindert, daß
man t^bertragungsperson bleibt. Unsere Aktivität hat einen anderen
Charakter als die der Erziehiingspersonen. Da wir das Kind zu gleiciier
Zeit analysiei-en, also seinen Reaktionen, gleichgültig, ob sie uns be-
quem oder unbequem sind, das gleiche aufmerksame Interesse ent-
gegenbringen, ist es leicht für uns, dem Kind nicht böse zu sein, wenn
es anders will, als wir es uns dachten. Das Kind fühlt, daß wir seinem
Widerstand gegenüber nicht hilflos sind, und daß es bei uns und an
unserer Person manches abladen kann, was es bei seinen sonstigen
(eile geliebten, teils gehaßten Menschen zurückhalten muß. Die Über-
tragung, die das Kind in der Arbeitsstunde äußert, wird in der gleich-
zeitigen Analyse aufgefangen und analysiert, nicht nur, wenn sie sieh
als Trotzwidersland in der Arbeitsstunde breit machte, sondern auch,
wo sie als scheinbar positive Übertragung die allzu große Anlehnung
an die hilfsbereite Mutter wiederholte und das Kind bei der Arbeit
keine selb.5tändige Initiative ergreifen ließ.
Die erziehliche Aufgabe, die wir bei dieser Technik übernehmen,
widerspricht nicht unserer analytischen Aufgabe. Wenn wir das Kind
zu einem Kampf mit seinen Hemmungen bringen und das Kind bei
diesem Kampf mit unserer Hilfe stützen, so lehren wir damit das Kind,
sich mit den zwei Prinzipien, die in ihm im Streit sind, au seinander nu-
setzen: dem Lust- und dem Realitätsprinzip. Wenn ich mit dem Kind
auf eine pädagogisch geschicktere, den psychologischen Möglichkeiten
des Kindes entsprecliendere Art arbeite, als es seine anderen Lehrer
taten, so zeige ich ihm damit: auch die unhistvoUe Realität kann man
sich lustvoller gestalten; und wenn das Ich des Kindes stärker gewor-
den ist: auch die unUistvolIe Realität gehört zum Leben und sie zu
bewältigen, zur Aufgabe des gesunden Menschen. Es ist aber auch
die Aufgabe der psychoanalytischen Behandlung, den Patienten zu
einem Gleichgewicht zwischen seinen Lustbedürfnissen und der An-
passung an die Realität zu bringen.
Selbstverständlich ist es, daß man bei der Zusanmienarbeit mit dem
Kind nur die Hilfe gibt, die es wirklich braucht, nur die Verführungen
anwendet, die unbedingt nötig sind, um das Kind dazu zu b)-ingcn,
gerade das, was es phobisch meidet, zu versuchen. Sehr liäufig erlebt
man, wenn man die Dosis des Hilfsaufwands verringert, weil das Kind
bereits sich allein weiter helfen kann, daß dann eine stürmische nega-
tive Übertragung einsetzt. Das Kind fühlt sich von der hilfsbereiten
und als allmächtig erachteten Mutter in Stich gelassen, fühlt sich ohne
ihre sichtbare Anteilnahme ganz hilflos und erlebt einen Rückfall in
seine Hemmung. In solchen Fällen führte manchmal die Analyse dieser
Technik der Kinderanalyse bei Kindern mit Lernhemmungen 151
SO erlebten Übertragung zu den tiefsten Wurzeln der Hemmung. Das
KinA glaubte nichts zu können, weil es nicht genng von der Mutter
bekommen zu haben glaubte.
Es ist für die Kinderanalytiker kein Geheimnis, daß die Gegen-
übertragung, die Beziehung des Analytikers zum Patienten, in der
Kinderanalyse vor schwereren Problemen steht als in der Analyse der
Erwaehseuen, Kinder stellen sowohl an die Liebesbereitschaft als auch
an die Maehtwünsche und die sadistischen Regungen des Erwachsenen
höhere Ansprüche als es die Erwachsenen im Verkehr miteinander
tun. Das wissen alle, die mit Kindern zu tun haben oder Mensehen
beobachten, die sich Kindern widmen. Kinder locken die Affektivität
des Analytikers leichter heraus als die erwachsenen Patienten. Der
Kinderanalytiker kann zwar beobachten, wie ihm mit Hilfe dieser dem
Kinde gegenüber größer werdenden Labilität der Affekllage die Ein-
fühlung in das Kind leichter gelingt, wie sie ihm hilft, einen Kontakt
zwischen dem Kind nnd sich herzustellen; er kann zwar auf Grund
eigenen Analysierlseins seine Affekte leichter kontrollieren und sie
den von ihm gewünschten Zielen dieuslbar machen; dennoch wird er
beobachten, daß die Bewältigung der Gegenüberlragung gelegentlich
die Summe der technischen Schwierigkeiten der ICinderanalyse ver-
größert. Jo weniger ich mit dem Kinde außerhalb der Analysenstunde
verkehre, je weniger aktiv ich in .sein bewußtes Leben eingreife, um
so geringer sind die Schwierigkeiten bei der Meisterung der Gegen-
übertragung.
IIL Andere Beispiele und Begründungen.
Nicht immer ist eine gleich analysierbare Uberlragnng der Grund
dafür daß das lerngehemmte Kind mit uns nicht lernen mag. Tom
zum Beispiel ging zu Beginn der Verhandlung bereitwillig auf meinen
Vorsehlag ein, täglich vor der Analysenstunde etwas zu schreiben,
damit ich seine ihn sehr ärgernde Schrift besser verstünde und das
Rätsel seiner Schreibunlust auflöse. Trotzdem hat er oft zu Beginn
große Schwierigkeiten, die Abmachung einzuhalten. Noch sprach nichts
dafür, daß dies als Ausdruck der Übertragung zu deuten wäre. Man
mußte in solchen Fällen daran denken, daß diese Kinder infolge des
Verstriektseins ihrer Energien in den Kampf mit dem zu Verdrängen-
den tatsächlich ein geschwächtes Ich haben, mit weniger Kraft für
die Bewältigung der an sie gestellten Forderungen ausgerüstet sind
als andere unneurolische Kinder. Das äußert sich dann als geringere
Intelligenz oder Arbeitsscheu oder Mangel an Ausdauer; das Arbeiten
fällt diesen Kindern tatsächlich schwer nnd ermüdet sie leicht. Sie
sind außerdem oft so labil, daß sie schon bei geringen Störungen des
152
Sleff Bornslein
inneren Gleichgewichtes ihr an sich schon geringes Interesse an den
Objekten und den Aufgaben der Außenwelt gleich zurückziehen, bei
A^'ersagungen oder Enttäuschungen des Alltags etwa, die ein gesundes
Kind mit flüchtiger Trauer oder einem Zornausbrucli erledigen würde.
Es genügt nicht dann, daß ich danach forsche: was hat dicli geärgert?
Es scheint mir auch nicht wichtig, darauf zu warten, daß durch die
psychoanalytische Betrachtung, durch die Auflösung der unerledigten
Triebkonflikte des Kindes sein Ich sich für die Erfüllung der Auf-
gaben seines Alltags stärke. In Analysen Erwachsener bleibt uns
nichts anderes übrig als solches geduldige Warten; wir wissen aber
auch, wie resistent Hemmungen der Ich-Funktionen sich verhalten,
Wie lange Zeitstrecken zu ilirer Beseitigung erforderlich sind. Bei
Kindern möchten wir verhüten, daß sie sich an ihr Versagen im
Lebenskampf gewöhnen, es für selbstverständlich nehmen, gar einen
Nebengewinn aus ihm herausholen lernen. Obwohl wir wissen, daß
die ganze Hemmung zuverlässig erst durch ihre gründliche Analyse
verschwinden wird, scheint es uns richtig, das Kind gleich in einen
Kampf gegen sie einzuspannen. Um das zu erreichen, versuche ich
dem Kind den Kampf, für den es noch zu schwach ist, zu erleichtern.
Wie ich das tue, hängt von dem Kinde, seiner augenblicklichen Situa-
tion, meinem Geschick ab. Mit T o m zum Beispiel, der sehr gern vor-
gelesen bekam, aber seiner Schreibstörungen wegen ein Übermaß
Zeit für eine geschriebene Heftseite brauchte, vorabrede ich, daß " h
ihm für jede in einer bestimmten Zeit gesciiriebenen Seite fünf Seil
aus einem Buch vorlese. Freut ihn das Buch, so sehreibt Tom zwe"
und drei Seiten, damit ich ihm zehn und fünfzehn Seiten vorlese Und
es zeigt sich, daß die Analyse seiner Schreibstörung besser voran-
schreitet, wenn er sclireibt. Einmal verführe ich Tom, der wegen
eines aktuellen Ärgers tief verstimmt ist und nicht sehreiben will
mit dem Vorschlag: „Wie wäre es, wenn du alle Ärgernisse der Welt
von denen du weißt, in das Heft einsehriebest?" Ein anderes Mal, als
er auf seinen Lehrer wütend ist und deshalb nichts vom Schreiben
wissen will, stimme ich ihn, der Fremdworle liebt, mit dem Vorschlag
um: „Du könntest eine ganze Seite Beleidigungen und Anklagen
gegen deinen Lehrer schreiben, das heißt dann ein Pamplüet." Ver-
weise ich mit einem solchen Vorschlag auf das Schreiben als auf ein
erlaubtes Mittel, Aggressionen auszudrücken, so entlaste ich damit
Toms Schreiben von den unbewußten Schuldgefühlen, die er mit der
Schreibtätigkeit verknüpft. Denn ich weiß aus einem in der ersten
Analysenstunde gebrachten Traum, daß für sein Unbewußtes das
Schreiben eine Aggression gegen den Vater bedeutet und vermute, daß
er es deshalb meidet. Ihm das damals zu sagen, wäre sinnlos gewesen.
Technik der Kiiideranalyse bei Kin tleni mit Lenihemmuiigeii 153
er hätte die Deutung nicht begriffen. Er e r 1 e b t aber die aggressiven
Tendenzen, die sich in seiner Schrift entladen, als er in der Stunde
bei mir schreibt und auf meinen Vorschlag mir seine Gedanken er-
zählt, die ihm während des Schreibens einfallen. Tom sehreibt näm-
lich so: er wirft mit einem bösen Gesichlsausdruck die Buchstaben
einzeln aufs Papier, ganz ohne Druck, macht dann an den Buch-
staben Verzierungen, trennt die Worte durch sorgfältig gemalte
Kleckse, verliert bald die Lust, weiter zu sehreiben, weil ihm die
Heftseite unschön und verschmutzt vorliommt. Er erzählt mir nun beim
Sehreiben, daß er in der linken Hand einen König der Unlust, in der
rechten einen König der Lust, der am Schreiben Lust hätte, gefangen
hielte. Die Buchstaben seien Schwerter oder Kämpfer des Lustkönigs,
aber die Kleckse .seien die Kanonenhomben des Königs der Unlust, die
dieser zwischen die Soldaten des Lustkönigs werfe. Natürlich be-
kommen die Soldaten Angst und mögen nicht mehr ins Feld. Ich sagte
dazu: „Mir schien, daß der König die Unlust nicht Kanonenbomben,
sondern Spatzen aus Dreck in dein Heft warf. Vor Dreck schienen
mir deine Soldaten Angst zu haben." Diese Aufmunterung, sich zum
Analen zu bekennen, nimmt Tom begeistert auf. Mehrmals läßt er
jetzt den König der Unlust dem König der Lust Spatzen aus Dreck
vor die Füße werfen. Ich erkläre, nachdem er eine Weile so sich
amüsierte: „Mir seheint jetzt, der König der Lust hat Dreck ganz
gern, sonst ließe er sich das vom König der Unlust nicht gefallen."
Nach dieser Deutung schmiert Tom nicht mehr in sein Heft. Drei
Tage danach macht er mich auf die nunmehr ganz veränderten korrek-
ten Formen seiner Buchstaben aufmerksam. Früher konnte er sie
nicht leiden, jetzt imponieren sie ihm als richtige Buchstabe]]. Was
hat sich vollzogen? Die Schrift, der ich scheinbar einen dualen Sinn
zu haben gestattete, wurde nicht mehr um dieses Sinnes willen ge-
fürchtet. Sie hat die allzu deutlich sich verdrängende, aber ihm
unbewußte sexuelle Nebenbedeutung verloren, wurde dem König der
Lust, den Ich-Kräften, Untertan. Die Angst aber, die beim Schreiben
der da durchbrechenden anal-sadistischen Sexualität galt, brachte in
gleicher Zeit Tom in die Analyse.
Mehrere Wochen später schrieb er in sein Geschichtenheft folgende
Geschichte:
„Der König hatte ein Volk. Das hieß Schreibevolk. Das war gar
nicht mit seiner Regierung zufrieden, weil seine Regierung Qnatseh
machte. Die Einwohner waren nämlich alle Buchstaben und der König
spielte immer mit den Buchstaben. Das gefiel ihnen gar nicht: und da
wurden die Wörter T.-üst und sinnlos oder das Wort falsch. Und der
'König spielte immer mit den Einwohnern. Schließlich ging es nicht
154
Steff Boniätein
mehr so weitei-. Die wurden Immer wüster, der König wütend darüber,
daß sie wüst wurden. Sie wollten ihn nicht mehr haben und er wollte
nichts von ihnen wissen. Das ist schon aber lange her. Jetzt ist alles
Dreck geworden."
Nie hätte Tom die Sexualisierung seiner Schrift so glänzend
charakterisieren, d. h. sie so echt erleben können, wenn ich darauf
verzichtet hätte, mit ihm zu schreiben. Unsere Schreibstunde drängte
das zu ihr gehörige Material in die Analyse. Tom erinnerte sich, daß
er bei seinen ersten Schreib versuchen den Ehrgeiz hatte, gleich so
schnell wie sein Vater zu sehreiben. Und als es nicht ging, war er
enttäuscht und böse. Das Bösesein muüte er verdrängen, denn das
EnttäuscUungsgelühl: „ich kann doch nicht so gut wie Papa" rührte
an eine Wunde, die er seit Jahren zu verdrängen suchte, an seine
Eifersucht auf das größere Glied des Vaters und an seine Angstvor-
stellungen, daß ihm wegen seiner früheren Onanie die Kastration
drohe. Wenn dann Tom in der Analyse sehr frühe Erinnerungen repro-
duzierte und uns verriet, wie er als Zweijähriger Vater und Mutter
trennte, indem er nachts einkotete und schrie, so konnten wir ihm
sagen: „Daran erinnern noch die Kleckse, mit denen du beim Schreiben
die einzelnen Worte trennst." Er wußte jetzt aus eigenen frischen
Erlebnissen, daß wir recht hatten, wenn wir ihm zeigen, daß bei
seinem Schreiben seine verdrängten Wünsche ans Lieht drangen: sein.
Wunsch, so groß wie der Vater zu sein und alles wie er zu können
eingekleidet in die Phantasie, ein „König des Schreibens" zu sein und
Könige gefangen zu halten, die er Krieg spielen lassen könne; die ver-
drängte Wut gegen den Vater, nun aber an seinen eigenen Buchstaben
ausgelebt; der verdrängte Wunsch, wie ihm beliebt, zu onanieren (er
spielt mit den Buchstaben, wie er mag, und nicht, wie er soll). Die
Abwehr seines strengen Uber-Ichs gegen alle diese verbotenen Regun-
gen äußerte sich bei Tom darin, daß seine Buchstaben hauchdünn
und ohne Druck wurden, daß ihm seine häßlichen Heftseiten Ekel
verursachten, und daß er überhaupt nicht schreiben mochte. So konnte
er seine Schreibhemmung vor allem als einen Protest gegen die sich
beim Schreiben vordrängenden Phantasien erfassen.
Zeigten die Beispiele aus der Arbeit mit Niels, wie wir eine Hem-
mung des Kindes besser verstehen, wenn wir sie bei unserer Technik
miterleben, so sollen die Beispiele aus der Arbeit mit Tom zeigen,
wie das Kind unsere analytischen Deutungen seiner Hemmung besser
verstehen kann, wenn es sie neben uns erlebt.
.•* =
Zum Begriff der „Lernstörung"
Von Fritz Redl, Wien
Terminologische Untersuchungen erfreuen sieh keiner großen Be-
liebtheit. Man nimmt sie bestenfalls als notwendiges übel von Zeit
zu Zeit in Kauf und ärgert sich immer ein wenig über den, der sie
einem aufdrängt. Manche Wissenschaftler lehnen sie völlig ab. Sie
linden sie lächerlich, dürr, immer ein wenig prätentiös, erörtern sie
doch mit großer Wichtigkeit starre begriffliche Details, denen jeder
Bezug zur Praxis zu fehlen scheint. Sie erwecken leicht den Anschein
des Spielens mit leeren Formen, manchmal sieht es geradezu so aus,
als ob sie die Form wichtiger nähmen, als den Inhalt.
Mit diesem Vorwurfe aber geschieht den terminologischen Unter-
suclumgen unrecht. Nur wo sie zu früh auftauchen, wo sie am Anfang
eines jungen Wissenschaftsbetriebes stehen, wirken sie so blutleer,
übereilt. In dem Ausmaß, in dem sich der Arbeitsrahmen des Wissen-
schaftlers mit konkretem Inhalt füllt, werden sie dringlicher, unent-
behrlicher. Ihre Vernachlässigung beim Vorhandensein eines großen
Tatsachenmaterials ist sogar ein ausgesprochener Mangel, Denn wenn
sie auch selbst nichts Neues hinzufügen können zu den gesammelten
Erfahrungen, so haben sie doch eine unleugbare Bedeutung für ihre
zweckmäßige Verwertung.
Die Wissenschaft der psychotherapeutischen Pädagogik im weite-
sten Sinne des Wortes, wie sie der Erziehungsberater treibt, ist in
dem Stadium angelangt, in dem es angemessen scheint, die praktische
Arbeit gelegentlich durch rein begriffs-theoretische Untersuchungen
zu unterbrechen. Denn wir sind doch gezwungen, alles zu benennen,
was wir darstellen und mitteilen wollen. Und wenn wir mit diesen
Benennungen anfangs auch nicht allzu vorsichtig sein müssen, so-
lange sie uns nur beim Finden unserer Ergebnisse unentbehrlich wer-
den, für die Zwecke der Darstellung und Mitteilung müssen wir uns
größerer Exaktheit befleißigen. Denn wie leicht ergibt sich der Fall,
daß ein Terminus auf verschiedenen Seiten gleichzeitig auftaucht,
ohne daß wir die Sicherheit hätten, daß seine Bedeutung in allen diesen
Fällen dieselbe ist. Oft ändert sich auch die Bedeutung eines Terminus
im Gebrauche, er rückt immer weiter von seinem ursprünglichen
Wortsinne ab und füllt sieh ganz unmerklich mit neuem Inhalt. In
solchen Fällen ist eine besonders vorsichtige kritische Besinnung
am Platz.
■ Ich glaube, daß wir mit dem Terminus „Lernstörung" auf diesem
Punkte angelangt sind, . '• ■■
156 FritK Redl
"Wie könnten wir den Begriff der Lernstöning definieren? Der
erste Gedanke, der sich da aufdrängt, ist wohl der, als sein konsti-
tuierendes Merkmal das Ausbleiben des Selnilerfolges anzusetzen
Legt uns die Praxis der Erziehungsberatung diesen Gedanken nicht
sogar nahe? Wann werden denn Kinder in die Beratung gebracht?
Kaum jemals bevor sich nicht böse Miilerfolge gezeigt haben.' Aber
sind wir berechtigt, für den Begritf der Lerustörung als wesentliches
Merkmal anzusetzen, was sich in der Praxis der Erziehungsberatung
als auffällig erweist? Gibt es nicht Fälle, in denen der Schulerfolg
ausbleibt, ohne daß wir eigentlich von „Lernslörungen" reden könn-
ten? Und muß umgekehrt in allen Fällen von „Lernstörnngen" ein
„Versagen" des Kindes eintreten? Diese Fragen müssen wir erst be-
antworten, ehe wir es wagen dürfen, den Begriff der Lernstörung zu
dem des Mißerfolges in eine konstante Relation zu setzen.
I. Störung, Insuffizienz und S c h u 1 e r f o 1 g.
Rollen wir zunächst die erste Frage auf: Gibt es ein „Versagen"-
in der Schule, ohne daß wir von „Lernstörnngen" sprechen könnten?
Wir beantworten diese Frage olmeweiteres mit „ja" und begründen
dies durch eine Erörterung des Begriffes der „Störung",
Da muß uns denn vor allem eines stutzig machen: in der landläufi-
gen Ausdrucksweise, wie sie unter Ijclirern und auch sonst im päd-
agogischen Gespräche gebräuchlich ist, kommt das Wort „Störung''
gar nicht vor!
Sofern man sich vom Versagen eines Kindes tiberlianpt Rechen-
schaft gibt, liegen die Erklärungsversuche in zweifacher Richtung
Entweder wir setzen den Mißerfolg eines Kindes auf das Konto seiner
„Dummheit". Etwas feiner ausgedrückt: wir schreiben ihn seinein
Mangel an Begabung zu. Oder aber wir meinen, daß die intellektuellen
Fähigkeiten zwar in Ordnung seien, daß es das betreffende Erziehungs-
objekt aber an dem nötigen Fleiß fehlen lasse, daß wir also „Faul-
heit" als Ursache seines Versagens zu betrachten haben. Dabei bilden
„Dummheit" und „Faulheit" die Endpunkte einer Reihe, Je nach dem
Ausmaß, in dem der eine Faktor am Zustandekouuiien des Mißerfolges
beteiligt ist, braucht der andere nicht mehr zu Hilfe gerufen zu wer-
den und umgekehrt. Ich wähle dabei absichtlich die derberen Aus-
drücke an Stelle der liebenswürdigeren Unisehreibungsforiuen für den
eigentlich gemeinten Sachverhalt. Doch wollen wir schärfer festlegen
was das laienhafte Denken mit diesen beiden Feststellungen eigent-
lich meint: „Dummheit" heißt so viel wie Fehlen der Begabung, d^^
man eben mitbringen muß, um eine Aufgabe überhaupt leisten zu kön-
nen. Unter „Faulheit" versteht man das Fehlen des enl.'^preclienden
Zum Begriff der „Lerjistdrting" jgy
Willens zur Lernarbeit, ohne den bekanntlich die beste Begabun-
nutzlos bleibt, * ®
Gegen diese populäre Auffassung von Begabungsmangel und Man-
gel an Lermvillen als Erklärungsweisen für Schulmißerfolg ist nun
aber die moderne Pädagogik" sturmgelanfen. Es ist so weit gekom-
men, daß kein Lehrer mehr von ihnen spricht, wenn er nicht riskieren
will, als volhg veraltet und unmodern gebrandmarkt zu werden Die
modernere Auffassung zielt nämlich in anderer RiclKung. Ihr zufolge
ist ee nicht das Fehlen von Begabung, was den Mißerfolg aiisnmch't.
Man vermutet vielmehr meist viel latente Begabung in den Kindern,
man meint nur, daß sie daran gehindert werde, sich auszuwirken. Sie
ist gehemmt, aus den verschiedensten Gründen in ihrer Entfaltung
beeinträchtigt. Gelingt es, den hindernden Damm abzugraben, darm
kann der Strom kindlicher Begabung frei fließen. Die Redewendung
„es geht ihm der Knopf auf" zeigt übrigens, daß diese Auffassung
auch dem laienhaften Denken nicht ganz fremd ist. Auch an Stelle des
Vorwurfes, daß es einem Kinde am Willen zur Arbeit fehle, tritt
gerne die Klage, daß es diesen Willen zwar in höchstem Ausmaße be-
sitze, daß es ihn aber nicht zur Entfaltung bringen könne. E? habe
zwar die besten Absichten zu lernen, sei aber durch Unkonzentrier-
barkeit, VerLränmtheit usw. so sehr gestört, daß es „bei bestem Wil-
len" nichts weilerbringe. Man müsse ihm nur diese Sehranken hinweg-
i'äumen helfen, die es daran hindern, auch zu können, was es will,
dann sei der Mißerfolg mit einem Schlage beseitigt.
Beide Auffassungen, die des „Fehlens" von Begabung und Lern-
willen und die der bloßen „Gestörlheit", beide stehen einander heute
noch ziemlich unversöbnlich gegenüber. Der moderne Psychologe ent-
scheidet sich ziemlieh ausschließlich für die letztere. Es spricht zwei-
fellos viel für sie. Nur eines macht (nich stutzig, nändich das betrüehf-
liche Ausmaß an Verachtung und Entrüstung, das er für die andere,
„veraltete" Auffassung übrig hat. Ich meine, man tut gut, gegen
Affekte in wissenschaftlichen Fragen innner mißtrauiscli zu sein, auch
dann, wenn sie beim Psychologen auftauchen, ja, dann vielleicht ganz
besonders!
Tatsächlich zeigt uns ein ruhiger Blick auf die Sachlage, daß beide
Auffassungen gar keinen so schweren Widerspruch enthalten, wie
jaan gemeinhin annimmt. Wie immer in solchen Fällen stammt der
scheinbare Widerspruch aus einer terminologischen Unklarheit. Tat-
sächlich nämlich decken die umgangssprachlichen Ausdrücke „Dumm-
heit" und „Faulheit", aus denen die ganze Frage ja erwachsen ist
beide Sachverhalte. Sowohl dem Kinde, dem es an Begabung sichtlicii
fehlt als auch dem, das nur zeitweise an der Verwertung seiner geisti-
ZcitEchrilt f. psa. TM., Vni/5-ß
158
Fritz Redl
gen Kräfte gehindert ist, werfen wir gleicherweise „Dumraheil vor,
dfi wir ja auch zunächst gar kein sicheres Unlerscheidungsmittel in
lier Hand haben. Erst nachdem einmal dem einen Kinde „der Knopf
aufgegangen ist", ändern wir unsere Diagnose. Auch mit der Faulheit
steht es nicht anders. Das Kind, das nicht arbeiten will, unterscheidet
sich zunächst durch nichts von dem, das nicht arbeiten kann — es
bringt seine Aufgaben ebensowenig, wie dieses.
Nichts ist nun aber falscher, als nLir die eine oder die andere Aus-
legung des mit dem Worte „Dummheit'* bzw. „Faulheit" gemeinten
Sachverhaltes gellen lassen zu wollen. Übersieht die laienhafte Auf-
fassung die Miiglicbkeit der Gestörtheit vorhandener Begabung oder
Arbeitswilligkeit vollständig, so neigt die psychologische Auf-
fassung nicht weniger einseitig dem anderen Fehler zu. Sie vergißt
nämlich allzu leicht, daß es einem Kinde einmal wirklich an der
nötigen Begabung fehlen kann, oder daß es einmal tatsächlich aus
bestimmten Gründen nicht arbeiten will. Mag sein, daß diese Fälle
psychologisch nicht so interessant sind, wie die der Gestörtheit ~~
was ich übrigens bezweifein möchte — , zur Klarstellung des Begriffes
der Lernstörung ist die gleichmäßige Berücksichtigung aller Möglich-
keiten unerläßlich. Wir wollen also daran festhalten, daß es beides
gibt: das Fehlen von Begabung und l.ernwillen, wie auch ihre Ge-
störlheit bei latentem Vorhandensein,
Doch — wir verwendien schon allzu liäufig den Ausdruck „Be-'
gabung", als daß es nicht angezeigt schiene, ihn einer näheren Würdi-
gung zu unterziehen. Ist doch keine andere Begriffsmarke so sehr
geeignet, Unklarheit und Streit in Diskussionen hineinzutragen wie
gerade diese! Niemand darf natürlich verlangen, daß es in dieser
Untersuchung in Angriff genommen werde, dieses so verwickelte Pro-
blem einer Lösung zuzuführen. Was wir hier vorhaben, ist nichts
anderes als der Versuch, klar und eindeutig festzulegen, was hier mit
diesem Terminus gemeint sein soll.
Die zudringlichste Frage, die sich an alle Erwähnungen des Wortes
„Begabung" zu heften pflegt, ist die nach Erworbenheit oder An-
geborensein. Ich stehe nicht an, zu behaupten, daß diese Frage lür
unseren Problemkreis unwichtig ist. Sie mag für den Psychologen von
hohem Interesse sein, der Lehrer oder Erziehungsberater hat von ihrer
Entscheidung nicht viel zu erhoffen. Für ihn bleibt ja immer nur ein
heuristisches Prinzip in allen Fällen: das Veränderliche an einem Zu-
stand herauszufinden und es zu ändern. Mag der Theoretiker dann den
unveränderbar bleibenden Itest als „angeboren" bezeichnen oder als
irgendeinmal entstanden, für den Praktiker bleibt dies eme Frage
.^.ckundärcr Bedeutung. Ja, wir gehen noch weiter: der Begntt von
•\i t-
Zum Begriff der „Lcrnstörung"
159
dem, was man zu praktischen Zwecken kurz als „Begabung" be-
zeichnen könnte, läßt sich ohne Schaden ganz variabel halten, je nach
dem Standpunkt des Betrachters. Es ist keinem Zweifel unterworfen,
daß jeder Lehrer oder Berater in dem Augenblick, in dem er mit einem
Kinde zu tun bekommt, ein gewisses Ausmaß von schon mitgebrachten
Arbeitsvoraussetzungen, von solchen, die deullich erst von außen er-
worben wurden, unterscheiden kann. Für ihn ist nun dieser schon
mitgebrachte Teil von Arbeitsvoraussetzungen die „Begabung" zum
Unterschiede von dem sichtlich durch Lernen Erworbenem. Wenn ich
etwa als Lehrer eine Gruppe von Zehnjährigen in Latein zu unter-
weisen habe, dann werde ich, relativ gesprochen, die Fähigkeit, die
sie zeigen, sich In den Bau dieser Sprache einzuleben, als ihre „Be-
gabung" für den Gegenstand ansprechen. Ob sie diese Begabung von
Geburt aus besessen oder etwa durch besonders günstige Entwick-
lungsbedingungen als Dreijährige erworben haben, bleibt prinzipiell
gleichgültig.
Ich behaupte damit, wohlgemerkt, nicht, daß damit das ßegabungs-
problem auch nur im geringsten einer Lösung zugeführt sei. Ich be-
haupte aber wohl, daß, neben dem rein psychologischen, ein eigener
Begabungsbegriff verwertbar zu sein scheint, den wir den praktischen
nennen könnten. Wir verstehen somit hier unter Begabung: die Summe
aller funktionsrelevanten Voraussetzungen, die ein Kmd zur Voll-
bringung einer geforderten Leistung miibringt. Setzen wir diesen
variabel gehaltenen Begabungsbegriff nun in unsere Auseinander-
setzungen ein, so können wir unmißverständlich angeben, was wir
berechtigterweise unter dem Ausdruck „Dummheit" verstanden wissen
wollen: Er bezieht sich nämlich ganz deutlieh auf die funktionsrele-
vanten Voraussetzungen der Lernarbeit. Doch vom Leistenkonnen
zur tatsächlich vorliegenden Leistung ist noch ein weiter ^^ eg, auf
ihm liegen alle die Voraussetzungen, die man als leistungsrelevant
bezeichnen könnte (also etwa: Arbeitswille, Energiebereitstellung etc.).
Wir merken leicht, daß das Wort Faulheit im Grunde auf eben diese
Voraussetzungen zielt. Stellen wir nun. um ein Übriges zu tun, noch
die beiden als Gegensätze sieh gebärdenden, in Wirklichkeit aber
nehengeordneten Erklärungsweisen für Dummheit und Faulheit neben-
einander, so landen wir bei folgender Formulierung des gesamten
Sachverhaltes:
Die Ursache für das Versagen eines Kindes kann bei den f unktions-
relevanten oder bei den leistungsrelevanten Voraussetzungen gesucht
^verden. Dabei unterscheiden wir scharf: oh diese Voraussetzungen
fehlen, oder ob sie zwar latent vorhanden, zur Zeit aber an ihrer Ent-
faltung gehindert sind. Nur den zweiten Fall dürfen wir als „Störung"
12'
-.CQ —• Fritz Red]
ansprechen. Für den ersten Fall besilzen wir kein Wort. Ich schlage.
bis sich ein besseres findet, den Ausdruck „Insuffizienz" vor. Ich
scheide also Insuffizienz (Begabungsnmngel und iM^hlen des nötigeu
l^ernwillens) von Störung (gehenniite Denk- oder Leistungsfähigkeit)
und habe damit auch die Möglichkeit gewonnen, den so unfruchtbaren
Streit tim die BereehligLing der „Dummlieit-Faulheits"-Dii\gnoseu
gegenüber den Störungsdiagnosen auf ein fruchtbareres Gebiet über-
zuleiten. Denn was im einzelnen Fall vorliegt, Insuffizienz oder Stö-
rung, ist talsächlich schwer zu entscheiden. Von außen sehen ja beide
einander zum Verwechseln ähnlich. Auch welche Art der Schulschvirie-
rigkeiten die häufigere ist, kann noch lange nicht mit Sicherheit ent-
schieden werden. Erst auf Grund vieler empirischer Untersuchungen
wird man dieser Frage irgendeininal nahertreten können. Wenn dei-
Psychologe augenblicklich der Störung sympathisierender gegenüber-
steht als der Insuffizienz, und diese ebenso gerne vom Sehauplata
verschwinden lassen möchte, wie es der Laie mit der Störung so lang&
erfolgreich getan hat, dann haben beide dazu dasselbe Motiv. Der
Psychologe weiß nämlich mit den Insuffizienzen so wenig anzufangen,
wie der Laie mit den seinem Denken ganz zuwiderlaufenden Störun-
gen. Ein prinzielles Bedenken gegen die Behandelbarkeit der Insuffi-
zienzen sehe ich darin aber nicht. *,
■ Welches Mittel aber haben wir, zwischen Insuffizienz und Störung
nicht nnr begrifflich, sondern auch im einzelnen Fall zu unterscheiden?
Wann tun wir gut von dem einen, wann von dem anderen zu reden?
Greifen wir, um in dieser Frage mehr Licht zu gewinnen, die andere
Frage auf, die wir noch offen gelassen haben. Wir haben nämlich bis-
her zwar gefunden, daß das A'^ersagen in der Schule nicht immer auf
Störungen zurückzugehen braucht, daß es auch Insuffizienzen gibt.
Fragen wir weiter: gibt es, umgekehrt, auch Fälle von Störungen, die
sich im Sehulerfolg nicht auswirken?
Zunächst scheint es wichtig zn sein, daran zu erinnern, daß Ei-folg
auch im Schulleben kein absoluter, sondern ein sehr relativer Begriff
ist. Was für den einen als hoher Erfolg bezeichnet werden muß, mag
dem anderen als Mißerfolg erscheinen, ist doch das, was wir Erfolg
nennen, ganz von dem Maßstäbe abhängig, mit dem wir messen. Doch
— über diesen Mißstand könnten wir uns noch hinweghelfen. Wir
müssen ja nicht von einem starren Erfolgsmaßstabe ausgehen, sondern
könnten die Verwendung des Terminus „Erfolg" an den Schritt vom
besseren zum schlechteren Beurleilungsergebnis binden. Dann könn-
ten wir mit Recht, im Falle eines Vorzugssehülers etwa, bei Zurück-
gehen auch nur einiger Noten auf einsetzende Lernslörungen schließen,
während wir etwa das Hinzutreten einer negativen Note bei schon
Zum Begriff der „Leruslörung"
161
vorhaadenen mehreren schlechten Beurteilungen nicht' sehr bedenk-
lich finden müßten.
Wir haben aber gegen die Verwertung des Erfolges als Maßstab für
Lei-ngestörtheit ein viel schwerer wiegendes Bedenken auf Lager. Wenn
wir nämlich schon daran dachten, die „Gestörtheit" am Erfolg zu
messen — woran messen wir diesen? Erfolg oder Mißerfolg drückt sieh
3a unmittelbar durch die Noten aus, beziehungsweise durch die Be-
urteilung, die das Kind durch die Lehrer erfährt. Was wir aber messen
niüssei5, um von Gestörtheit reden zu können, ist die Leistung.
Zwischen Erfolg und Leistung aber ist eine große Spannweite. Wer
kennt nicht die Tatsache, daß man bei hohen Leistungen durch Pech
oder sonstige widrige Umstände — zu denen oft nur Ausdrucks-
ungeschicklichkeit, gar nicht immer böser Wille des beurteilenden
l^ehrers gehört ■— sehr leicht geringen Erfolg erzielen kann, während
es dem „Geschickteren" oft mit geringem Leistungsaufwand gelingt,
gute Erfolge buchen zu können? Was nämlich nolwenilig ist, um es bei
bestimmten Leistungen auch zum Erfolge zu bringen, ist in der Schule
wie im Leben noch eine Summe von anderen Voraussetzungen, die mit
den zur guten Leistung unerläßlichen durchaus nicht zusammenfallen
müssen. Nennen wir sie kurz: erfolgsrelevant*). Wie zwischen Be-
gabung und Leistung die leislungsrelevanten, so schieben sieh zwischen
Leistung und Erfolg die ertolgsrelevanten Eigenschaften eines Men-
schen ein. Diese Erkenntnis aber macht den Erfolg ganz unbrauchbar
dazu, als Maßstab zu dienen für Störungen im Lernen selbst und wir
tun gut, auf diese dem landläufigen Denken scheinbar so naheliegende
Hilfe ganz zu verzichten.
Was aber kann uns sonst dienlich sein, um Insuffizienz von Störung
im gegebenen Falle unterscheiden zu können? Mit dieser Frage stoßen
wir übrigens auf den Grund dafür, daß der Begriff der Störung über-
haupt dem vorpsychologischen Denken so große Schwierigkeiten be-
reitet. Aus dem einzelnen Fall heraus läßt sich nämlich bisher wirklich
kein Merkmal zur Trennung von Insuffizienz und Störung ersieh! lieh
machen. Das lateinschwache Kind zum Beispiel — sofern es nicht aus
Eaulheit lateinschwach ist — wird bei jeder Lateinprüfung denselben
idiotischen Eindruck machen. Selbst wenn es uns Jahre nachher ge-
lungen sein mag, seine Lateinschwächen zu beheben — damals hat es
sich von den auch später unfähig Gebliebenen durch nichts unter-
schieden. Was uns dazu verhelfen kann, Insuffizienz von Störung zu
trennen, ist nur der Schritt zu anderen Beobachtungen desselben Kin-
des entweder nach langen Zeitstrecken oder auf anderen, aber struktur-
ähnlichen Leistungsgeb ieten.
•) Zu diesem Begriff siehe die interessante Schrift von I c li li r i a e r : ,. Kritik Jfis Kr-
folges". Leipzig, C. L. Hirschfeld, 193U.
162
Fritz Ro<]l
Merken wir nämlich, daß sich sein Verhalten znm Gegenstand nach
längerer Zeit ändert oder daß es in anderen strnklurähn^klien Lei-
stiingsgebieten keinerlei Schwierigkeiten hat, dann liegt die Diagnose
Störung auf der Hand. Denn würden die fnnktionsrelevanten Voraus-
setzungen tatsächlich lehlen, dann müßte sich dieses Fehlen ja aneh
auf dem anderen, strukturverwandten Leistungsgebiete fühlbar machen.
Überall also, wo es uns gelingt, eine solche Längsschnitt- oder Quer-
sehnittergänznng unserer Beobachtungen durchzuführen, sind wir in
der Lage, Insuffizienzen von Störungen leidlich auseinauderzuhallen.
Wo- uns aus technischen Gründen solche Beobachtungsvergleiche nicht
oder noch nicht möglich sind, stehen wir heute noch vor unlösbaren
Schwierigkeiten.
Zusammenfassend können wir jedenfalls feststellen: wir sprechen
von Störungen immer dann, wenn die tatsächlich beobachtete
Leistung eines Kindes schlechter ausfällt, nls die auf Grund ander-
weitiger Beobachtungen erwartete Leistung aussehen müßte. Di©
Diskrepanz zwischen tatsächlicher und (auf Grund anderer Beobach-
tungen) zu erwartender Leistung ist also der springende Punkt für
die Verwendung des Storungsbegriffes. Das Ausmaß dieser Dis-
krepanz gibt zugleich den Grad der „Gestörtheit" an.
Ja, unsere Formulierungen ließen sich vielleicht sogar noch dahin
erweitern, daß wir auch dann von Störungen sprechen könnten, wenn
die tatsächlichen Leistungen besser ausfallen, als die zu erwartenden.
Vorausgesetzt nämlich, daß wir uns nicht einlach in unseren Erwar-
tungen verrechnet haben, kann der Fall eintreten, daß ein Kind nur
auf Grund schwerer Gestörtheit einen solchen Leistungsgrad erzielt.
Viele — nicht alle! — Musterkinder gehören hieher. Sie erweisen sich
später oft als gar nicht sehr leistungsfähige Schüler, ihre zeitweiligen
Glanzleistungen verdankten sie nur schwerer seelischer Gestörtheit,
indem nämlich die leistungsrelevanten Voraussetzungen etwa infolge
zwangsneurotischer Zustände in so hypertrophem Ausmaße entwickelt
waren, daß sie auch ohne funktionsrelevaule Voraussetzungen Glanz-
leistungen produzieren konnten. Auch Fälle verzögerter Pubertät
lassen sich oft in ähnlicher Weise erkennen: zu einer Zeit, wo die
leistungsrelevanten Voraussetzungen des normal entwickelten Kindes
beträchtlich gestört sein müssen, funktionieren diese Kinder .aoch
tadellos, so daß sie vor den anderen im Lernen einen bedenklichen
Vorsprung erreichen, für den sie dann allerdings meist bald schwei-e
Buße zahlen müssen.
Doch wie weit wir tatsächlich aus diesen Fällen die Konsequenz
ziehen sollen, den Begriff der Lerngestörtheit so weit auszudehnen.
Zum Begriff der „Lernstörung" 163
oder ob wir uns nicht doch lieber aui den üblichen Gebrauch be-
schränken sollen, muß hier nicht entschieden werden.
Dagegen scheinen unsere ßetraehlungen in anderer Hinsicht er-
gänzungsbedürftig. Denn in allen unseren Erwägungen haben wir bis-
her immer nur die Fälle von Störungen oder Insulfizienzen gemeint,
von denen man gewöhnlich spricht, in denen es sich also um ein Fehlen
oder eine Hemmung der funktionsi-elevanten Voraussetzungen handelt.
Sie allein sind offiziell als „Schulsehwierigkeiten" anerkannt. Tat-
sächlich aber scheint mir ein vorhin eingeführter Terminus nahe-
zulegen, den Begriff der Schulschwierigkeiten noch ein wenig zu er-
weitern. Man hört von den hier gemeinten Fällen allerdings wenigei-,
da sie nicht auf Kosten der sachlichen Arbeitsbedingungen zu setzen
sind, sondern ihren Grund in ungern eingestandeneu Unvollkommen-
heiten der menschlichen Gesellschaft, beziehungsweise im Mangel an
Offenheit der Menschen in ihrem Zusammenleben haben. Wie im
Berufsleben, genügt nämlich auch in der Schule eine Schädigung
in den erfoigsrelevanten Eigenschaften, um bei größter Begabung oder
ausgiebigstem Fleiß erfolglos zu scheitern. Es ist bekannt genug,
wie manches Kind nur auf Grund großer Ausdrucksgewandtheit und
geschickten Auftretens, auf Grund einer Kunst, sich die Herzen der
Menschen im Fluge zu erobern, eine weit höhere Erfolgsquote zu
verzeichnen hat, als manches andere, in Wirklichkeit tüchtigere,
dem es an den nötigen erfoigsrelevanten Qualitäten mangelt, das sich
nie recht zur Gellung zu bringen versteht, oder sich durch sein
unglückseliges Naturell die Sympathien der Menschen oft unbeab-
sichtigt verscherzt.
Fassen wir all dies zusammen, so können wir zur eindeutigen
Festlegung der zulässigen Yerwendungsweise des Begriffes „Stö-
rung" kurz folgendes sagen:
1. Nicht alle Kinder, die wegen mangelnden Schulerfolges der
erziehungsberaterischeu Hilfe bedürfen, gehören zu den Fällen von
„Geslörtheit". Wir kennen daneben auch den Fall der „Insuffizienz",
der psychologisch und schul technisch allerdings vermutlich großen-
teils auf anderer Ebene liegt.
2. Nicht alle Fälle von „Gestörtheif* drücken sieh ohneweiteres
in Mißerfolg in der Schule aus. Manchmal mag sogar ein hohes Aus-
jnaß von Schulerfolg trotz — vielleicht gelegentlich sogar wegen —
schwerer GestÖrtheit von funktionsrelevanten Voraussetzungen be-
stehen bleiben.
3. Die Tatsache des Erfolges oder Mißerfolges ist überhaupt nicht
von den vom Psychologen fast ausschließlich in Betracht gezogenen
funktionsrelevanten und leistungsrelevauten Voraussetzungen ab-
164 ■■' '" P'i^'tz itpdi
hängig, sondern sie wird durcli eine )\'eihc aiidei-er, hier nur an-
gedeuteter Eigenschaften hedingt, die wir als „erfolgsrelevanle Vor-
aussetzungen" erziehimgsberaleriscli in Reclinnng setzen müssen.
II. S y m p t o m a t o 1 o g i s c h e und ä ( i o 1 o g i s c h e Typen.
Mit der Scheidung zwischen „Störung" und „Insuffizienz" und mit
ihrer Loslösung von den Fragen des Schulcrfnlges haben wir eigent-
lich erst den negativen Teil unserer Aufgabe erfüllt. Wir haben
unseren Begriff nach außen hin abgegrenzt, um zu vermeiden, daß
er mit Naheliegendein verwechselt werde. Weit schwieriger ist ea
nun, ihn auch mit positivem Inhalt zu füllen, genau anzugeben, was
wir mit dem Worte Lernstörungen, um die es sich ja in erster Linie
handeln soll, eigentlich meinen.
Auf den ersten Blick allerdings siehl es so aus, als ob in der ersten
Silbe dieses Wortes sein näherer [nhalt ohnedies angedeutet väre.
Bei näherem Zusehen aber entpuppt sich dieses „lern-" als leeres
Wort, beziehungsweise zeigt sich, daß wir den Ausdruck sehr un-
vorsichtig und voreilig für Verschiedenartigstes verwenden, ohne
auf seinen eigentlichen Sinn viel Kücksichl zu neliuieti. Rechnen wir
elwa ein Kind mit .schwerer Trüfungsangst nicht meist auch zu den
„lerngestörten"? Und doch ist bei solchen Kindern gerade das Lernen
oft die einzige Funktion, die eben nicht gestört erscheint! Wir
mei-ken schon, wie es zu diesem Ausdruck überhaupt gekonuuen sein
dürfte. Er stammt ans der umgangssprachiichon Verweiulungsweise
des Wortes „Lernen" für alles, was irgendwie mit der Schule zu-
sammenhängt. Vermutlich ist er zunäcbsl überhaupt nur dazu da,
um anzudeuten, daß es „mit dem Lernen nicht recht geht". So sehen
wir uns gezwungen, diese erste Silbe zunächst wieder wegzulassen.
Bleiben wir noch etwas länger beim Begriffe der „Störung" und
sehen wir zu, was in den Fällen, die wir als „lerngestört" zu be-
zeichnen pllegen, wirklich als „gestört" betrachtet werden kann.
Dabei sehen wir uns allerdings in die peinlichste Lage versetzt.
Vermögen wir es denn überhaupt anzugeben, was in dem einzelnen
Fall gestört sein kann? Kommt aber nicht anderseits gerade alles
darauf an, daß wir die richtige Wahl des konstituierenden Merkmals
für unsere Lernstörungen treffen? Handell es sich doch ganz deutlich
zunächst um die Aufgabe, die Lernstörungen einzuteilen. Zu diesem
Zwecke aber geht man jedenfalls am besten so vor, daß man Gleich-
artiges zusammenfaßt, mit einem Namen belegt und von anderem.
Ahnlichem und doch Unterschiedlichem, abgrenzl. Wo aber finden
wir das Merkmal, nach dem wir unsere Einteilung überhaupt auf,
bauen können?
I
41
Zum Begriff der „Lornstörung" 165
Sclicinbai- können wir an zwei Punkton am leichtesten angreifen.
"Wir können von der Erforschung der Erscheinungsweisen des als
„Störung" Empfundenen ausgehen, dann gelangen wir zu symptomato-
logiechen Typen. Oder aber wir können zusammentragen, was wir
als häufigste Ursache in den einzelnen Fällen gefunden haben,
dann erlialten wir ätiologische Typen. Was immer wir zuerst in
Angriff nehmen wollen, wichtig ist jedenfalls, daß unsere „Typen"
rein symptomatologisch oder rein ätiologisch sind. Die vorwissen-
schafllichen Typisierungen nun, mit denen das laienhafte Denken
Arbeitet, sind dies durchaus nicht. In der Erziehungsberatung aber
spuken diese Typisierungen, mehr oder weniger anspruchsvoll als
echte Typen frisiert, noch allzu unbehindert umher. Tatsächlich be-
ziehen wir ja unsere Terminologie zunächst aus der allgemein
üblichen pädagogischen Laienspraehe. Dies ist oft genug ein Vorteil,
besonders da, wo es darauf ankommt, sich dem Laien auch leicht
wieder verständlich zu machen. Denken wir aber an die Verwasehen-
heit der meisten „landläufigen Ausdrücke", dann muß uns das Be-
denkliche dieses Verfahrens bald auffallen.
In unserem Falle zeigt sich diese Verwischtheit des Sprachgebrau-
ches besonders störend. So sprechen wir etwa vom Typus des „ver-
träumten Kindes", womit wir deutlich eine syinptomatologische Typi-
sierung versuchen. Wir stellen ihm dann etwa den des „ängstlichen
Kindes" gegenüber, der aber bestimmt in die Ebene der ätiologischen
Typisierungsversuche gehört, denn Angst wird ja nicht als Lern-
störung selbst angesprochen, sondern als deren Ursache.
Manchmal reden wir auch vom „trotzigen Kind" im Zusammen-
hang mit Lernstörungen, wobei es dem Belieben des Zuhörers über-
lassen bleibt, ob er dabei an die symplomatologische Bedeutung des
Wortes denken will, oder ob er die Bezeichnung ätiologisch als Er-
klärungsversuch für die beobachteten Lernschwierigkeiten verstehen
soll.
Praktisch mögen sich solche Typisierungsversuche nicht immer
vermeiden lassen. Sie entstehen ofl aus Überschriften über Fall-
schilderungen, bei denen man auf Ähnliches ja kaum verzichten kann.
Wissenschaftlich sind sie wertlos, denn das beschriebene Gebiet kommt
durch sie nicht in geordneteren Znstand. Eine Systematik — und
nichts anderes sucht man, eingestanden oder nicht, überall da, wo man
VAi typisieren beginnt — , kann nur dann in wünschenswerter Form zu-
stande kommen, wenn man sich reinlich ein und desselben Aufstel-
hingsgrundes für die „Typen" bedient.
Wollten wir mit dieser Aufforderung ernst machen, so müßten
WITT folgerichtig zwei sauber getrennte „Typenreihen" erhalten, von
166
Flitz Real
denen die eine (symploinatologieehe) den Lehrer, die andere (ätio-
logische) den Analytiker in erster Linie interessieren würde. Tat-
sächlich aber fehlen uns alle Anhaltspunkte, um auch nur eine der
beiden mit Erfolg zu versuchen. Immerhin könnte ich mir die sym-.
ptomatologische Typenreihe in einigen Funkten ausfüllbar vorstellen.
Am auffälligsten begegnen uns ja die Falle, die wir als „Verlräuiut-
heit", Konzentralionfinnfähigkeit, Unfähigkeit, die nötige Arbeits-
energie zur Verfügung zii stellen, Zerfahrenheit etc. bezeichnen.
Doch sind dies nur einige Punkte, sie fügen sicii noch lange nicht
in ein System, es fehlt uns ja der Einblick in den die Einteilung-
zusammenhaltenden Einfeilungsgrund, da ^vir das Wesen der 7,\\^
grundeliegenden Symptomatik noch lange nicht übersehen.
Die Aufstellung ätiologischer Typen würde sicherlich als einen
der wichtigsten Punkte das Kapitel enthalten: „durch den Kastra-
tionskomplex verursachte Lernstöningen", neben solchen präödipaler
Verursachung usw. Vielleicht ließe sich hier übrigens schon ein©
systematisierendere Einteilung vorschlagen, leb würde dazu neigen,
die Lernstörungen, die als Folge von „Störungen in der Triebentwiek-
hing" auftreten, also vor allem als Folge von Fixierungen der ver-
schiedensten Art, von solchen zu trennen, die man etwa als „Störun-
gen in der Ich -Entwicklung" bezeichnen könnte. Darunter würde ich
die Fälle verstehen, in denen sich das Es oder das Uber-Ich eines
Kindes hypertroph auf Kosten des anderen Teiles entwickelt hat, oder
sich zeitweise überstarker Energiebesetzungen erfreut (Verwahr-
losung, Zwangsneurose). Doch all diese Vorschläge sind wohl über-
eilt, sie sind systematisch, ehe noch der Inhalt des zu gewinnenden
Systems klar genug erfaßbar ist und das Material reichlich genug
zur Verfügung steht.
Sollen wir darum unseren Versuch hier abbrechen? Der Zustand,
in dem sich unsere junge Wissenschaft befindet, scheint noch weit
von dem Punkte entfernt zu sein, in dem es ratsam ist, systematische
Typologien aufzustellen. Oder brauchen wir vielleicht gerade für die
Wegstrecke bis zu diesem Punkte einer logischen Hilfe? Einer Hilfe,
die freilich den Stempel des Vorläufigen und Unbefriedigenden an sich
tragen muß, die uns aber doch in der schwer übersehbaren Fülle des
auf uns einströmenden Materials zu leiten imstande wäre?
in. HeuristischeKategorien.
Am naheliegendsten wäre es wohl, daß wir uns bei der Bemühung,
Gesichtspunkte zur scharfen Formulierung des Begriffes der „Lern-
störungen" zu finden, an die Psychologie wendeten. Denn die Frag^^
was im einzelnen Falle gestört ist, müßte sich doch durch die B©^
Zum Begriff der „Lernstörung" 167
nennung der einzelnen psychischen Funktionen beantworten lassen,
die zur geforderten Leistung nötig sind. Doch da sind wir zunächst
nicht viel besser daran als vorher. Denn auch die Psychologie ist
kaum imstande, die einzelnen psychischen Tätigkeiten, die zu dem
gehören, was wir jeweils als „lernen" bezeichnen, mit der nötigen
Exaktheit zu besehreiben, vor allem aber, %vas uns als Therapeuten
besonders schwer trifft, sie ist nicht imstande, sie entsprechend zu
isolieren. Falls wir uns aber wirklich entschließen könnten, von den
psj'chologischen Einteilungen auszugehen, was hätten wir davon für
die Praxis gewonnen? Da müßten wir etwa Störungen der Empfin-
dungen von solchen des Denkablaufes, des Vorstellungaablaufes usw.
unterscheiden. Wir werden später sehen, daß uns diese Unterschei-
dung gelegentlich sehr wichtig sein kann, zur zweckmäßigen Ordnung
des Gesamtgebietes für die Tätigkeit des Erziehungsberaters taugt sie
sicherlich nicht. Ein anderer Vorschlag wäre der, die Störungen ein-
fach nach den Schulbetätigungen zu benennen, in denen sie sich am
empfindlichsten auswirken. Darnach pflegen wir übrigens auch jetzt
schon in manchen Zusammenhängen von „Schreibstörungen", „Lese-
störungen" usw. zu reden, doch wird es uns auch hier wieder schwer
fallen, entsprechend scharfe Bezeichnuiigstrennungen zu finden und
die einzelnen Schultätigkeiten gut voneinander zu isolieren. Viel
schwerwiegender aber ist der Einwand, daß durchaus nicht alle Schul-
betätigungen für das Forlkommen in der Schule gleich bedeutsam
sind. Und wenn wir auch den Begriff der Störung zunächst unab-
hängig von dem des Schulerfolges aufstellen zu müssen meinten, so
dürfen wir uns doch der Tatsache nicht verschließen, daß wir zum
Zwecke der erziehungsberaterischen Praxis Formulierungen brauchen,
die der Bedeutung des Schulerfolges gerecht werden. Zwischen den
einzelnen Schulbetäligungen aber und 'dem Schulerfoig besieht keine
feste Relation. Anders ausgedrückt: die einzelnen Funktionen können
verschiedene Schulrelevanz erhallen, je nach der Struktur des jeweils
in Kraft stehenden Schulwesens. So ist etwa, um ein Beispiel zu geben,
eine besonders schöne Schrift kein unbedingtes Erfordernis in unseren
Mittelschulen. In gewissem Grade werden sich Schreibstörungen ja
immer erfolgsstörend auswirken, jeder weiß aber, welch großer Spiel-
raum in der Praxis da gesteckt ist. Tatsächlich kommen sehr schwer
schreibgestörle Kinder in unseren Mittelschulen oft ganz gut weiter.
Auch ein Stotterer mag, wenn er auf Verständnis stößt, in einer
gewöhnlichen Mittelschule ganz gut reüssieren. In einer Schauspiel-
schule dagegen wäre er ganz unmöglich, so wie auch das schreib-
gestörte Kind plötzlich ganz versagen müßte, wenn durch eine Ver-
ordnung in diesem Punkte an unserem Schulsystem etwas geändert
las Fritz RcLil
würde. Mit einem Woi'L: in dem Augenblick, wo unser Schulwesen in
seiner Struktur durch einen Erlaß in irgend einem Punkte wesentlich
geändert würde, wären unsere Krziehungsberafnngsstellen plötzlich
mit ganz anderen Kindern gelülll! Wir (un daher gut, für den Begriff
der Lernstörungen keine Merkmale ztiaulassen, die der Tatsache der
variablen Schulrelevanz vieler Funktionen nicht Rechnung trügen.
Wo aber nehmen wir andere Gesichtspunkte her? Vielleicht hilft
uns der Vergleich mit dem Mediziner auf die Spur, dessen Aufgabe
iSich ja so weitgehend mit der unsrigen deckt! Freilich, was er zu
leisten versteht, nämlich — im günstigen Falle wenigstens — auf
die Frage nach einer Krankheit mit einer genauen Beschreibung z^
antworten, vermögen wir nicht ohneweiters. Doch verschieben wir
die Situation ein wenig — auch der Patient kann das nicht und doch
tritt ihm der Arzt mit der Frage entgegen: „Wo fehlt's?" Vielleicht
sind wir da einfach noch in derselben Lage, in der in unserem Ver-
gleiclisbeispiel der Patient sich befindet? Dann aber müßte uns das
analoge Verhallen wenigstens ausder ersten Verlegenheit retten können.
Was erwartet sich übrigens der Arzt auf seine Frage? Keine Ein-
ordnung der Krankheit in sein System, weder eine nach symptomatolo-
gischen noch eine nach ätiologischen Gesichtspunkten. Trotzdem ist
ihm die Antwort sehr behilflich, sie ist zunächst nicht vielmehr als
eine vage Lokalisation, eine ungefähre Angabe, die etwa besagt,
daß sich das Leiden am Kopf, am Rumpf, an den Extremitäten bemerk-
bar macht. Immerhin besser, als nichts, genug Vorarbeit wird durch
soiche Angaben erspart. Nehmen wir den Fall eines besoiiders intelli-
genten Patienten, dann wird er etwa auch die Angabe hinzufüge!^
können, ob es sich tira eine Organ-, Knochen-, Muskelverletzung usw.
handelt.
Was wir nämlich zunächst brauchen, sind gar nicht exakte Krank-
iieitsschilderungen, sondern Hilfsangaben, die unser eigenes Nach-
denken in groben Zügen leiten und in richtige Uabnen louken können
sofern sie das offene Fragengebiet wenigstens einengen. Soviel be-
sitzen wir aber noch nicht. Weder eine Schülcrmulter noch ein Lehrer
Tioch meistens wir selbst sind imstande, in ähnlicher Art vorzugehen
wie im beschriebenen Fall der Mediziner. Es fehlen uns die gröbsten
Kategorien, unter denen wir das Beobachtete ordnend beschreiben und
mitteilen könnten.
Ein solches kategoriales Hilfsmittel für den ersten Anhieb niin,
heuristische Kategorien sozusagen, muß sich aber finden lassen. Sie
müßten sich nichtnurbeimAufsuchen derjeweilsvorliegendenStörungs,
art, sondern auch beim Ausscheiden des nicht in Frage Kommenden und
beim darstellenden Ordnen sehr nützlich erweisen. Was wir hiej-
Zum Begriff iler „Lernstörung" 1^
suchen, sind nieiit Typen! Es braucht weder symplomalologisch noch
ätiologisch einwandfrei zu sein. Echte Typen lassen sich nie im An-
fange eines jungen WissensehaÜsgebietes aufstellen, gegen ihre AuE-
stelhmg wehrt sich auch der Praktiker mit Recht. Sie sind wirklich
erst auf Grund einer eingehenden Erforschung des vorliegenden Wirk-
liehkeitsbereiches sinnvoll, wenn nämlich ihi- Einteiltingsgrad aTis der
Kpiinlnifi dieses Bereiches bezogen wird. Der Einteiluiigsgruud für
die Aufstellung unserer „heuristischen Kategorien" aber ist dies ab-
sichtlich nicht. Er ist vielmehr aus dem systemisierenden Denken
bezogen und der Wirklichkeit sozusagen snppontert, um sie leichter
fassen und bewältigen zu können. Der Einleihmgsgnmd für unsej-e
Kategorien ist, mit einem Wort, kein sachrelevanter, sondern ein
methodisch relevanter. Wir suchen nach demjenigen Einteilungsgrund
für unsere „Störungen", der der praktischen Arbeit des Erziehungs-
beraters die größte Hilfe verspricht.
Um ihn zu linden, greifen wir am besten auf unsere Definition der
„Störung" zurück. Wir verwendeten diesen Terminus nur für solche
Fälle, in denen die tatsächlichen Leistungen hinter dem zurückbleiben,
was sich nach den gegebenen Voraussetzungen eigentlich als Lei-
stung hätte erwarten lassen sollen.
Wir stellen uns die Sachlage also so vor, als ob bestimmte Leistungs-
voraussetzungen da seien, die in ihrer Auswirkung zeitweise gehemmt
sein können.
AVelche Voraussetzungen aber sind dies"? Doch ehe wir diese
Frage beantworten können, fällt uns ein anderer Sachverhalt ins
Ange. Sind denn Lernstörungen eigentlich ein so gesondertes Kapüel,
d-aß aus ihrem Begriff heraus sozusagen alle Einteilang-^gründe be-
zogen werden brauchten? Das sind sie doch wohl nur für den Psycho-
logen! Für den Lehrer sind sie nur ein kleiner Teil eines viel um-
fangreicheren Gebietes, das sich mit dem „Versagen" von Kindern
überhaupt befaßt. Denn ganz abgesehen von den Insuffizienzen, die
wir hier als Ergänzung eigentlich überall miterwähnen müßten —
auch das Versagen des Kindes, das nicht als insuffizienl oder gestört
bezeichnet werden kann, auch der „normale" Fall des Schulmißerfolges
gehört sicherlich hieher. Für den Psychologen kommt der allerdings
nicht sehr in Frage, für den Lehrer aber bedeutet auch er ein nicht
geringeres Problem. Ja, gerade der — vom Psychologen aus gesehen
— „normale" Fall des Versagens bietet dem Lehrer die größten Auf-
gaben, die sich zur Frage der richtigen Didaktik auf allen Gebieten
verdichten. Wir merken auch schon, warum die Psychologie so oft
vergeblich nach Luft schnappt, weil sie sich manchmal im Netz ihrer
Sonderfälle fangen läßt und ganz vergißt, daß die Falle ihres Auf-
«
170
Fritz Redl
gabenkreises eingebettet sind in Aufgaben lue ise weiterer Natur, aus
denen heraus sie an manchen Punkten richtig verstanden werden
können. Es ist richtig, diese weiteren Aufgabenkreise des „Lehrers"
machen vor den psychologischen Problemen vielfach Halt. Der Psycho-
loge geht von dort meist erst aus, wo der Lehrer zu fragen aufhören
muß. Er tut recht damit, aber er sollte auch dorthin wieder zurück-
kehren, von wo er ausgegangen ist, sonst hat derjenige nichts mehr
von seiner Tätigkeit, der ihn ursprünglich so dringend um seine Hilfe
gebeten hat! Machen wir hier mit dieser Forderung ernst, so müssen
wir ein Stück sehr „unpsychoingischer" Erwägung mitzugehen bereit
sein. Wir folgen einer — psychologisch gesehen — sehr banalen Über-
legung über die häufigsten Arten des Versagens in der Schute über-
haupt und gelangen so unauffällig am ehesten ans Ziel.
IV. System der Schulschwierigkeiten.
Wenn wir wissen wollen, w^orin Kinder am häufigsten versagen,
so fragen wir am besten die Schule, was sie von den Kindern fordert.
Wir brauchen nur ein gewöhnliches Schulzeugnis anzusehen, um zw^i
Zusammenhangsbereiche sorgfältig voneinander zu trennen. Wir finden
da nämlich eine doppelte Notenskala, eine für den Fortgang und eine
für das Betragen. Wir dürfen also gleich erwarten, daß wir zuerst
einmal hier einen scharfen Trennungsstrich werden ziehen müssen,
denn in beiden Zusammenhängen kann sich ein Kind getrennt be-
währen oder unmöglich machen. Die Erwähnung dieser Tatsache
scheint nur deshalb so banal, weil sie so allgemein bekannt ist. Wir
tragen ihr aber wohlweislich Rechnung, indem wir die Fälle von
Versagen, die auf schlechtem Forlgang zurückgehen, sehr wohl von
denen scheiden, an denen das „Betragen" im weitesten Sinuc, das man
am besten als „Verhalten zu den Lehrpersonen, bestimmte Verhaltens-
weisen gegen die Kameraden und eine bestimmte Art sozialer Ein-
fügbarkeit in den gemeinsamen Unterrichtsbetrieb" bezeichnen wür-
den, schuld ist. Dementsprechend unterscheiden wir grundlegend
zwischen:
A. Fortgangsstörungen und
B. Verhaltensstörungen.
Daß diese Unterscheidung kein leeres Wortspiel mit ohnedies
längst Bekanntem ist, merken wir sofort, wenn wir irgend einen be-
liebigen konkreten Fall einer in Beratung gebrachten „Lernstörung"
heranziehen. Selten nämlich sind die Faktoren, die wirklich zum
Mißerfolg geführt haben, klar zu überblicken. Einen klaren Fall von
Verhaltensstörung („Entsprechend" im Betragen bei gutem Schul-
fortgang etwa) werden wir natürlich leicht erkennen und für das
Zum BegriS der „Lernstörung"
171
Kapitel der eigentlichen „Lernstörungeii" nicht mehr in Betracht
ziehen. Ist es aber umgekehrt auch so? Ordnet die schlechte Forl-
gangsnote den Schüler ohneweiters in die Klasse der am Fortgang
Versagenden ein? Keineswegs! Jeder Erziehungsberater kennt die
Fälle zur Genüge, in denen sich bald als eigentliche Verhaltensstörung
entpuppt, was unter der Devise FortgangsslÖrung in die Beratung
gebracht wurde! Wie oft ist auch am schlechten Lernerfolg nicht die
Lermmfähigkeit, sondern das „Verhallen" des Kindes in der Schule
beteiligt! Jedenfalls muß es als wichtigste erste Aufgabe erscheinen,
die von daher stammenden Elemente sorgfältig zu erfassen, getrennt
zu behandeln und erst das Übriggebliebene einer weiteren Erwägung,
die nun allerdings unter der Überschrift „Fortgangsstörung" stehen
darf, zu unterziehen. Leicht wird die Diagnose nicht immer fallen,
doch sind die Voraussetzungen, die zum Fortgang nötig sind, von
denen, die im Verhallen liegen und zum Erfolg unentbehrlich bleiben,
relativ leicht zu sondern. Wenden wir unsere oben eingeführte Ter-
minologie an, dann können wir noch hinzufügen: Das Kapitel „Ver-
haltensstörungen" hat es mit den erfolgsrelevanten Voraussetzungen
zu tun. Diese erfolgsrelevanten Verhaltensqualiläten und ihr Mangel
machen sich aber nicht immer rein in der dazu bestimmten Betragens-
note geltend, sondern können sich ebenso gut auf die For gangs-
note auswirken. Um zu entscheiden, was an der schlechten Fortgangs-
note wirklich indizierend für die Diagnose „Fortgangsstorung ist,
muß erst eine gründliche Ausschaltung aller derjenigen Einflüsse
vorgenommen werden, die auf die Störung der erfolgsrelevanten
Voraussetzungen zurückgehen.
Doch vergessen wir nicht, es war uns ja ursprünglich um die
richtige Ansetzung des Begriffes „Lernstörungen" zu tun. Nun, soviel
können wir mit Sicherheit sagen: unter den Verhaltensstörungen
werden wir ihn nicht suchen dürfen, nichts ist klarer, als daß er
sich im Kapitel „Fortgangsstörungen" finden lassen muß. Fällt er
aber mit diesen zusammen?
Der tatsächliche Gebrauch des Wortes ließe das vermuten, ja,
der Ausdruck „Fortgangsstörung" mag vielen so fremd erscheinen,
daß sie ungeduldig fragen dürften, warum man nicht gleich den
Terminus „Lernstörungen" hier einsetzt. Wie unrecht wir damit
täten, kann ich leicht zeigen, wenn ich bloß an die schon einmal
herangezogenen Fälle von Prüfungsangst erinnere. Ein Kind mit
Prüfungsangst leidet sicherlich an einer empfindlichen „Störung".
Trotzdem ist es bestimmt nicht sein „Lernen", das da gestört ist.
Es muß also unter den Versagern, die sich im Fortgang auswirken,
noch weitere Unterarten geben. Wir finden sie, wenn wir an die
I'j?2 Fritz Rctll
beiden Faktoren denken, die an jeder Leistung beteiligt sein müssen^
und die auch getrennt gestört erscheinen können,
Es bedarf dazu nämlich eines gewissen „Könnuns", das selbst wieder
Resultat von Begabung und früherer Lcj-narbeit ist. Dieses „Können"
aber genügt allein nicht. Es muß sich, uin meßbar zu werden,
in aktuelle Leistung umsetzen. Nun kann aber ganz deutlich bei vor-
handenem „Können" (in manchen Zusammenhangen erscheint dieses
Können einfacher als „Wissen") eine Störung beim Unisetzunga-
prozeß iu Leistung vorliegen. Es gibt Kinder, die intelligent sind,
aufmerksam, eifrig, arbeitswillig — und trotzdem versagen sie in
dem Augenblick, in dem man sie vor ein Schvilarbeitenheft setzt oder
zur Tafel ruft. Ihr „Können" ist also in Ordnung, auch am richtigen
Lernen fehlt es meistens nicht. Woran sie kranken, ist die Unfähig-
keit, ihr Können in adäquate Leistung umzusetzen.
Diese Kinder nennen wir, sofern dieser Mangel unter unserem
Stöningsbegril^ subsummierbar ist, leistungsgestörl, und trennen sie
sorgfältig von den lerngestörten im eigculliehen Sinne. Wenden wir
unsere Terminologie auf sie an, so müssen wir gestehen, daß sie in
die Klasse derer gehören, mit deren leistungsrelevanlen Voraus-
setzungen etwas nicht in Ordnung ist. Erst wenn wir alle diese Vor-
aussetzungen auf ihre Intaktheit liin untersucht haben, können wir
von „Lernstörimgen" im echten Sinne zu reden beginnen.
Damit haben wir uns allerdings von der schulgebräuchlichen Ter-
minologie längst entfernt. Wir müssen dies noch einen Schritt weiter
tun, wenn wir bis zur letzten Teilungsiiiögliclikeit gelangen wollen.
Denn auch das, was wir mit Recht unter „Lernen" verstehen, kann
weiter in zwei Komponenten zerlegt werden. Zunächst gehört dazu
jener unerläßliche, kaum weiter auf Komponenten rücktührbare Rest
an intellektuellen (auf anderen Gebieten anderen — Kunst!) Voraus-,
Setzungen, die wir als „Begabung" zu bezeichnen gewohnt sind. Doch
auch sie allein macht nicht den Lernerfolg aus. Es gibt Kinder, denen!
es daran nicht fehlt, die auch leiatungs- und erfolgtüchtig sind. Da-j
gegen fehlt ihnen die Fähigkeit zur richtigen Art der Arbeit, diej
geleistet werden muß, wo sich Begabung auf ihren Stoff wirft. Di©
Prozesse der Aufmerksamkeilsbereitstellung, der Energieverwendung
usw. können so schwer gestört erscheinen, daß auch ein begabtes!
Kind daran zu seheitern vermag. Die gemeinhin als „verträumt" undJ
„zerfahren" Bezeichneten gehören vielfach hieher. Unserer Ter-j
minologie zufolge finden wir diese Störungeart auf das bezogen, waaj
wir als „funktionsrelevant" bezeichnet haben. Daß die Scheidung von]
„Begabungestörung" und „Arbeitsstörung" praktisch nicht ganz un-
bedeutend ist, luag durch die Erwähnung erhärtet werden, daß di(
Zum Begriff der „Leinstörung"
173
„Arbeitsstörungen" selbst wieder doppelter Natur sein können. Sie
wirken sich nämlich manchmal mehr so aus, daß sie sieh deutlich
auf die Arbeit zu Hause beziehen, in anderen Fällen wieder sind sehr
heimfleißige Kinder zur Mitarbeit in der S e li u 1 e nur sehr schwer
zu bewegen. Tatsächlich entspricht dem auch eine psychologisch tiefer
begründete Verschiedenheit in der von diesen Kindern verlangten
Leistung; in der Schule erfordert die Mitarbeit besonders jene Art
der Aufmerksamkeit, die in der Bereitstellung der geistigen Kräfte
zur Stoffaiifnahnie liegt, außerdem im Hahmen einer Gruppe. Was
von den Kindern an Arbeit „zu Hause" verlangt wird, geht meist in
AbSchließung von den anderen, beziehungsweise in einem anderen
Gruppengefüge vor sieh, und betrifft außerdem eine andere Art von
„Aufmerksamkeit", nämlich die der Fähigkeit aur Versenkung hei
der Stoffverarbeitung. Die Scheidung dieser Fälle in der Praxis wird
freilich erst dann mit besserem Erfolg gelingen, wenn die Lehrer
selbst diesem Punkte mehr Aufmerksamkeit zuwenden werden. Nur
ihnen ist ja die direkte Beobachtung der hiehergehörigen Leistungs-
komponenteu möglieh.
Damit hallen wir als letzten nicht mehr analysierbaren Rest von für
das Versagen eines Kindes maßgeblichen Faktoren diejenigen in der
Hand, die im Falle der Gestörlheit zu „Begabungsstörungen" führen.
Für diesen Begriif fürchte ich den schärfsten AViderstand und verweise
darum zunächst gleich wieder auf das eingangs übe]- die Trennung
von „Störung" und „Insuffizienz" Gesagte. Ich wiederhole — wir
kommen zu diesem Begriff immer erst, wenn wir alle früheren Punkte
sorgfältig erwogen und das dorthin Gehörige ausgeschieden haben.
Wir halten hier also scheinbar bei einem unauflösbaren Rest, der aber
leider auch unbesehreibbar bleibt. Denn was wir, nach Abzug alles
vorher Erwähnten, unter dieser „Begabung" verstehen, ist in psycho-
logisch brauchbaren Terminis kaum mehr anzugeben. Ich würde daher
auch das bieher Gehörige mit zu den „fimktionsrelevanten" Voraua-
setzungen zählen, und nicht, wie es eigentlich konsequenterweise
geschehen müßte, zwischen „arheitsrelevanten" und im engeren Sinne
„fnnktionsrelevanten" Voraussetzungen scheiden.
Übrigens isl leicht zu merken, warum wir bei diesem Punkte in so
großer darstellerischer Verlegenheit sind. Während nämlich alle frühe-
ren Bezeichnungen deutlieh auf mehr-weniger direkt Wahrnehmbares
bezoo"eii waren — Verhalten, Leistung läßt sich von außen, geistiges
Arbeiten von innen beobachten — , haben wir es bei der Begabung
unweigerlich mit einem Hilfsbegriff zu tun. Ihre Existenz und ihr
Fehlen läßt sich nicht wahrnehmen, sondern nur aus ihren Auswir-
kun'^en oder deren Ausbleiben erschließen.
ZeilE'-.hriri r. psn. Päd., VTII/Ö-E
US
174
Fritz Rodl
Für die Praxis ergibt sich dabei als heuristisches Prinzip, mit dem
Begriff der Begabungsslörung so wenig voreilig einzusetzen, wie mit
dem der Begabung überliaupt: ihn nur als Verlegenheitslösung zu-
Äulasaen für alles das, was sich unserer Erfassung bisher noch ent-
zieht. Um so mehr aber brauchen wir einen solchen Begriff, um alles
das, was sieh wirklich fassen und in Angriff nehmen läßt, Um so
greifbarer davon abheben zu können. Man mag gegen solche Hilfs-
begriffe polemisieren. Wenn sie mit der entsprechenden Vorsicht ge-
braucht werden, scheinen sie mir ungefährlich. Es ist auch besser, den
Teufel beim Namen zu nennen und ihm die ihm gebührende Stelle
im System zuzuweisen, als ihn abzuleugnen und dafür in Kauf zu
nehmen, daß er sich störend überall dazwischen drängt, wo wir ihn
am wenigsten vermuten und am sciUechtesten vertragen können.
Ordnen wir die erlangten Kategorien in einer Tafel, so trennen
wir zunächst sorgfältig prinzipiell alle
Schulschwierigkeiten in
Insuffizienzen und Störungen.
Führen wir nur die Unterteilung der letzteren weiter aus, so er-
halten wir:
Schuislörungen
Fortgangsstörungen
Verhaltensstörungen
Lernstörungen Leistungsstörungen
Arbeitsstörungen
Begabungsstörnngen
(„Aufnahms-" „Verarbeituugs-")
Störungen
(Denk-, Vorstellungs-, Wahrnehmungsstörungen)
Zur Diskussion unserer Kategorientafel sei noch kurz folgendes
hervorgehoben:
1. Lassen wir die — für die Praxis eher verwirrende — logische
Gliederung einmal beiseite, ordnen wir die gefundenen, nicht reduzier-
baren Störungsarten einfach nebeneinander, dann erhalten wir: Ver-
Zum Begriff der „Lernstörung"
175
haltensstörungen, Leistungsstörungen, Arbeitsstörungen, Begabungs-
störungen. Die Anordnung ist aber keine zufällige, der logische Schritt
ist in ihr erhalten — oder, was noch besser ist, er ist in einen
heuristisch bedeutsamen verwandelt worden.
Die Reihenfolge nämlich, in der die Störungsarien aufgezählt sind,
entspricht genau der Reihenfolge, in der die Fragen des Erziehungs-
beraters nach der Natur eines bestimmten Falles zu stellen sind. An-
ders ausgedrückt: in der die in Betracht kommenden anderen Fak-
toren ausgeschieden werden müssen, um zum Falle der reinen Lern-
störung vorzuschreiten. Sind nicht doch etwa Anteile aus dem Ver-
halten am Mißerfolg beteiligt, liegt der Fehler vielleicht im Schritte
vom Können zur Leistung? Falls auch das nicht zutrifft, ist es
vielleicht an der Arbeitsweise gelegen, daß das Kind versagt? So
ungefähr ist die praktische Handhabung dieses kalegorialen Schemas
gemeint.
2. Und wenn wir schließlich bei den ßegabungsstörungen angelangt
sind, können wir uns hier nicht weiterhelfen? Tatsächlich scheint
ein früher verworfener Einteilungsvorgang hier verwertbar zu wer-
den. Ändert sich doch das, was jeweils als „Begabung" angesprochen
werden kann, je nach dem Leistungsgebiet, um das es sich handelt!
So werden wir hier vielleicht die psychologische Teilung einsetzen
lassen dürfen und weiter fragen: ist es der Denkprozeß, der gestört
erscheint, mangelt es im Vorstellungsablauf, sind Wabrnehmungs-
(Empfindungs-) Gebiete nicht intakt? Damit haben wir tatsächlich
das, war wir zuerst nur ganz roh als „Begabung" gefaßt haben, um
die Allgemeingültigkeit für die verschiedensten Sachgebiete nicht zu
treffen, in. eine Reihe neuer Gebiete aufgelöst, wobei wir übrigens
auf alte Bekannte stoßen. Neigt man doch dazu, das ganze Gebiet
als „Denkstbrungen" zu bezeichnen! Hier haben die so häufigen und
so beliebten endlich ihren Platz gefunden, allerdings nichts als allein
Thronende, sondern neben den anderen Begabungsmängeln, die sich
in anderen Sachzusammenhängen nicht minder empfindlich aus-
wirken können, als die Denkstörungen in den durch unser Bildungs-
wesen so arg bevorzugten intellektuellen Leistungssphären.
3. Selbstverständlich ist diese ganze Einteilung — dies sei noch
einmal ausdrücklich hervorgehoben — nicht so gemeint, als ob sich
nun Fälle tatsächlich unter die einzelnen Kategorien zwanglos sub-
sumieren ließen. Wer sie als starre „Tafel" betrachtet, verkennt
ihren Sinn. Nie will sie mehr sein, als vorläufiges Denkgerüst, das
Erfahrung nie ersetzen, sondern nur helfend unterstützen soll, nie
mehr, als heuristisches Rüstzeug. Wie wichtig solches kategoriales
Rüstzeug allerdings sein kann, scheint mir dann besonders klar zu
13"
17g Fritz Redl
werden, wenn wir bedenken, wie schwer aieh symptomatologisch
die einzelnen Störungsarten heute noch voneinander unterscheiden
lassen. Wie oft gebärdet sich eine ausgesprocliene Verhaltensstörung
wie Begabungsmangel.
Nicht seilen kommt auch das Umgekehrte vor, insbesondere seit
die Popularisierung der Individualpsychologie so viele Lehrer dazu
verleitet, in allem „bloße Verhaltensstörungen" sehen zu wollen.
Eine gut ausgearbeitete Symptomatologie wird natürlich — und
hoffentlich recht bald — unsere Kategorien auch als Hilfsgebilde
überflüssig, ja, lächerlich erscheinen lassen. Ich meine aber, wir sind
noch nicht so weit.
V. Zusammenfassung.
Versuchen wir, unsere Gedankenwege zusamnK;ii fassend zu über-
blicken, so seheint mir, ohne das Vorhergehende ganx überflüssig zu
machen', eine weitere Vereinfachung unseres Resultales möglich, und
zwar wieder auf Grund des eingangs eingeführten Begriffes der
„Relevanz", der sich schon mehrmals hilffeich erwiesen hat. Wir
wollen übrigens nicht im Unklaren darüber bleiben, warum dieser
Begriff so besonders anwendungsfähig zu sein scheint, wo es sich
um Probleme handelt, die in die Praxis so sehr eingreifen, wie die
unsrigen. Auf den ersten Blick ist er eher geeignet, unser Mißtrauen
zu erwecken. Was verstehen wir unter „Relevanz"? Ist dieser Begriff
nicht eigentlich leer? Wir merken aber leiehl, daß wir ihm damit
unrecht tun, indem wir Leere mit absichtlicher Unbestimmtheit nach
dem Inhalt verwechseln. Gerade in dieser inhaltlichen Variabilität
des Begriffs liegt für den Praktiker der Vorteil, ihn arbeitatechnisch
ausnützen zu können. Wie verschieden ist doch auf jedem einzelnen
Leistungsgebiet, ja, jedem einzelnen Lehrer gegenüber, was jeweils
als „leistungs-" oder gar als „erfolgs"relevant zu bezeichnen sein
wird! Wollten wir diese Besonderheit jedesiual luitberücksichtigen,
wir kämen damit nicht zu Rande. Mit dem Begriffe der Relevanz aber
können wir über die Zufälligkeit des einzelnen hinaus das allgemeine
Grundgesetz erfassen und auf eine klare Form bringen. Wenden -wir
ihn noch ausgiebiger an als bisher und greifen wir auch auf denj
ersten Teil unserer Untersuchung zurück, so können wir folgendi
als ihr Ergebnis festhalten;
Zur eindeutigen Bestimmung der Art von Schulsehwierigkeit, diftj
jeweils vorliegt, beziehungsweise zur Auffindung der Komponenten,^
die an ihrem Zustandekommen vorwiegend beteiligt sind, ist einj
doppelter Gedankenschritt unerläßlich: ,
1. Liegt überhaupt „Störung" vor, oder handelt es sieh um Insnffj^
Zum Begriff der „Lernstörung"
177
zienz? (Fehlen oder Gehemmtheit der relevanten Voraus-
setzungen?)
2. Um welche Art von Voraussetzungen handelt es sich dabei:
um die erfolgsrelevanten?
(Verhaltensstörungen) ;
um die leistungsrelevanten?
(Leistungsstörungen) -,
um die funktionsrelevanten?
(Arbeitsstörungen und Begabungsstörungen, unter diesen wie-
der vor allem die Denkstörungen).
In diesen begrifflichen Rahmen muß sich alles einspannen, mit
seiner Hilfe muß sich alles ordnen lassen, was im Bereiche der Schul-
schwierigkeiten überhaupt möglich ist. , -c, . ^
Damit sind wir am Ende unserer Untersuchung angelangt. Es ist
uns nicht daran gelegen, das Mögliche philosophisch weiter zu
phantasieren, sondern uns war nur darum zu tun, den Rahmen abzu-
.stecken, in den das Tatsächliche eingetragen werden soll.
Seine Ausfüllung vorzunehmen aber ist Aufgabe der erziehungs-
beraterischen Einzelarbeit. _ ■ '
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f^* ■> ■ ■■- ' ■''
-- lyT-i ;■.
Vom Bettnässen des Kindes
Von Kata Lt^^vy, Budapest
Gegenüber jener älteren ärztlichen Auffassung, welche die Enuresis
für ein körperliches Leiden hält und sie als solclies behandelt, be-
gegnen wir der Auffassung der Angehörigen des Kindes, die das Bett-
nässen als „schlechte Gewohnheil" werten, hinler welcher sich Trotz
und feindliche Tendenz verstecken und Erziehungsmaßnahmen in Form
von Strenge, Strafe und Beschämung nötig njacheii.
Diese volkstümliche Auffassung soll hier niclit weiter diskutiert
werden; die Darstellung einiger ärztlicher Ansichten ist aber nötig,
weil sie teils zur analytischen Auffassung hinüberleiten, teils schon
den Einfluß der Psychoanalyse auf das ärztlielie Denken verraten. An
einigen Beispielen sollen dann jene feineren Mechanismen beschrieben
werden, die bei Entstehung von Enuresis mitspielen; daraus lassen sich
dann einige Schlußfolgerungen für die Vorbeugung und Behandlung
des Bettnässens ableiten.
I.
Sowohl in der ärztlichen als in der heilpädagogischen Literatur
finden wir in Bezug auf die Ätiologie der Enuresis die verschieden-
sten Auffassungen: die vom extrem organischen sowohl als auch die
vom extrem psychogenen Ursprung.
Zapper t') behandelt sie als Symplom der Blasen-Neurose und
sondert sie damit schon von dem unwillkürlichen Harnlassen, das die
organischen Erkrankungen begleitet, ab (Inkontinenz). Zappert hält
die Fuchs'sche Theorie, nach welcher Entwicklungs-Anomalien in
der Verknöcherung des Rückgrates (Spina bifida) die Ursache der
Enuresis sind, für nicht genügend begründet, da bei 25 Prozent der
Klnderenuresis der Röntgenbefund nornml ist.
Homburger^) meint, daß Spina bifida und Enuresis äußere
Degenerationszeichen seien, welche miteinander vergesellschaftet oder
jedes für sich in Erscheinung treten können. Für die Enuresis als
Degenerationszeichen spreche auch, daß sie eine fast unausbleibliche
Begleiterscheinung schwerer Schwachsinnsfälle ist.
Marcuse*) ist geneigt, sogar die mit Enuresis einhergehenden
ij J. Zappert: EDureeis. ErpielmieRn der inntrpn Mmti/.iii und Kinde rlicilkundt?, Bd. XVITI.
2) Aug. Huiuljurger: I'Hydinpnlhulugio di-B Kindesiiltprs, Bi'rliii. SpiiiiKBr 192C.
.!''■'} A. Marcnee; Höndwürlerbuch der SexualwiesenBoliifl, >
Vom Bettnässeti des Kiiules 179
organischen Veränderungen als biologisches Substrat psychogener
Funktionsstörungen zu betrachten. Neben dieser Ätiologie unter-
scheidet er jedoch uoch die essentielle, d. h, die jedes organischen
Untergrundes bare Form der Enuresis nocturna, die er als sexuelles
Äquivalent betrachtet.
Zu erwähnen ist hier noch, daß Adler seine „Organminderwertig-
keitstheorie" von dem Urethralapparat ableitet und die Enuresis der
mangelhaften, embryonalen Funktion dieses in seiner Gänze minder-
wertigen Organs zuschreibt.
Nach Freud*) entspricht die Enuresis nocturna, „wo sie nicht
einen epileptischen Anfall darstellt, einer Pollution". Anatomische
und physiologische Untersuchungen und Krankenbeobachiungen haben
die relative Identität von Pollution und Enuresis gleichfalls bestätigt
(M. Porosz, L. K. Müller). Die Erektion des männlichen Säug-
lings bei Beginn des Urinierens deutet ebenfalls auf die ursprüng-
liche Zusammengehörigkeit des Urethral- und Genitalapparates, deren
Trennung sich erst in der Pubertät vollzieht und in der getrennten
Absonderung von Urin und von Sperma sich bemerkbar macht. Das
ist auch die Erklärung jener, dou Pädagogen bekannten Erscheinung,
daß die Pubertät oft der bis dahin allen Erziehungsmaßnahmen
trotzenden essentiellen Enuresis ohne weiteres ein Ende bereitet.
Diese Beobachtimg konnte leicht dazu verleiten, als Ursache des Auf-
hörens der Enuresis die seelische Umstellung der Puberltit anzu-
nehmen, wie dies z. B. Homburger auch tut. Es handelt sieh aber
offenbar um koordinierte psychische Entwicklungsmomente. ■;
Bekannt sind die für die Psychoanalyse grundlegenden Feststel-
lungen Freuds, daß die genitale Sexualität des Erwachsenen aus
der Summierung von Partialtrieben entsteht und daß in verschiede-
nen Abschnitten des Kindesalters eine zeitweilige Alleinherrschaft
dieser Partialtriebo zu beobachten ist. Wir sehen den Säugling in der
Phase der oralen Libido, wir sehen das Kleinkind in seinen Urethral-
und Analfunktionen Befriedigung finden. Diese Partialtriebe müßten
in der Genital-Zone, nachdem diese zur Entwicklung und Vorherr-
schaft gelangt ist, restlos aufgegangen sein. Die Erfahrung zeigte
jedoch, daß dort, wo ein Partialtrieb zu stark betont war, diese ideale
Verschmelzung nicht zustande kommt. Man könnte sagen, die Ver-
schmelzung gehe dann mit einer Narbenbildung einher; es entwickeln
sich Eeaktionsbildungen und Charaktereigenschaften, die den über-
betonten Partialtrieben entgegenwirken. In diesem Sinne kann man
von oralen, analen und urethralen Cliarakteren sprechen"). Oft wird
*) Sjgm. Freud: Drei Abliandlmigen Kiir RcxunlÜinurie. ]9(Ü. Gcs, Pchrirteil Bd. V, ,
3) Vgl. Karl Abraham: Psydioanalylisfiia Ptuilien zur Chnrakterliildung. 192ü. ^i
180
Rata Levjr
der überbeLonte PartiaUi-Leb im Laufe der sexuellen iOntwicklung
fixiert, so daß das Individiiuiii im späteren Leben, z. B. unter der Ein-
wirkung eines psychischen Traumas von der späteren auf die frühere
Stufe zu regredieren geneigt ist.
Sadger") widmet der Holle der Urethralerotik eine grundlegende
Ötudie, und weist nachdrücklich darauf hin, welche Bedeutung die
Urethralerotik des Kindesalters für das ganze, spätere sexuelle Leben
bekommen kann. Ist die Urethralerotik überstark, so kann sie sich
auch in irgend einer Störung der Harnfunktion bemerkbar machen.
Sie kann als Folge individueller oder Familiendisposition betrachtet
werden oder durch eine Überbetonung, eventuell andere Erziehungs-
fehler verursacht sein. Wenn z. B. das Urinieren bei einem Kind mit
gesteigerter Urethralerotik ein Lustgefühl ausliist, so wird das Kind
seine Blase nicht auf einmal entleeren, in der Absieht, öfters zum
Genuß zu kommen. Auf diesem Wege kann Pollakisurie (häufiges
Harnlassen) entstehen. Nach Sadger tritt auch Enuresis nur dort
.auf, wo gesteigertes Lustgefühl vorhanden ist, welches entweder
durch den Akt des Urinierens selbst oder durch das Benässen des
eigenen Körpers hervorgerufen sein kann. In letzterem Falle wäre
die Erogeneität der Hautoberfläche, die Badger bei Enuretikern
gesteigert fand, determinierend. Nach Sadger offenbaren sich in
sexuellen Störungen des Mannesaltei's Störungen der Harnfunktion im
Kindesalter: so betrachtet er die psychische Impotenz und die Ketentio
urinae als zusammengehörig'). Als wahrscheinlichen Grund der Re-
tention kann man annehmen, daß das Iiintleeren der Blase nach vor-
hergehendem Zurückhalten ein gesteigertes Jjustgefühl hervorruft.
Die Neigung zu Penis-Exhibition ist auch oft auf die im Kindesalter
empfundene Befriedigung über die vollbrachte Leistung des Urinie-
rens zurückzuführen. Dem Kinde, das noch keine andere geschlecht-
liche Ausscheidung kennt, bedeutet der Harn ein geschlechtliches
Produkt. E.S ist eine typische kindliche VorsleUung des Koitus, daß
der Vater in die Mutter uriniert oder sie honäßt. Der Wunsch dies
nachzuahmen, kann auch Enuresis verursachen. Sadger berichtet
von einigen interessanten diesbezüglichen Fällen. Es ist klar, daß, je
lebhafter die Sexualität des Kindes ist, es umso später zimmer-
rein wird.
Wenn die Urethralerotik vorherrscht und darum die Genitalzone
auch später im Erwachsenenalter nicht die ihr zukonmiende führende
KoUe erlangt, also das Kind in seiner Libidoentwicklung urethral
fixiert wurde, so kann als typische Störung des Sexuallebens: E ja-
8) Sadger: Über Urethra1f,rotik. .I.ilirb. f- psa a l.sy.'liopatl.. Fjjrechunßon. 1910. 2/11.
7J Auch F B r e n c K i und Jo n a a woieen auf dioBO Zueamnionliange nia.
Vom Bettuässen des Kindeä 181
culatio praecox eintreten. Die Verwandtschaft dieser Störung mit der
Enuresis des Kindesalters hat Abraham") festgestellt. Nach seiner
Ansicht kann die Ejaculatio praecox als eine Verquickung zweier
Prozesse aufgefaßt werdent „Hinsichtlieh des entleerten Stoffes ist
sie eine Ejakulation, hinsichtlich des Modus der Ausstoßung dagegen
eine Miktion'* (Blasenentleerung). Die Anamnese der an Ejaculatio
praecox Leidenden zeigt, daß sie im Kindesalter an Enuresis gelitten
und dabei auf beinahe jeden Eeiz mit Harndrang reagiert haben.
In den angeführten Fällen von Harnstörungen sowohl, wie bei
Ejaculatio praecox haben wir es daher mit dem Persistieren eines
Partialtriebes, der Urethralerotik, zu tun. Die Bedeutung der Urethral-
erotik im Geschlechtsleben des erwachsenen Mannes würdigt Reich
in seinem Buch „Die Funktion des Orgasmus".
Kitsch mann«) fand Symptome von Urethralerotik bei Zwangs-
neurotikern, die lange Zeit an Enuresis gelitten hatten oder noch
sporadisch Bettnässer waren oder Träume von Pollution m Verbin-
dung mit Bettnässen hatten. Bei manchen dieser Personen weist das
Symptom des Waschzwanges auch auf den Znsammenhang zwischen
Urethralerotik xmd Zwangsneurose.
Hitschmann und andere Autoren haben die Beziehung der Urethral-
erotik zum Urethralcharakter mit der von Analerotik und Anal-
charakter - in Anlehnung an F r e u d s Arbeit „Charakter und AnaN
erotik'"") verglichen. Der Analcharakter ist durch die drei Eigen-
schaften: Pedanterie, Geiz und Eigensinn gekennzeichnet; der Ure-
thralcharakter zeichnet sich durch Freigebigkeit und Mitteilsamkeit
aus Es fällt aber auf, daß die urethralen Charakterzüge seltener
so deutlich wie die analen beobachtet werden können; das mag daher
kommen, daß Partialtriebe bei einunddemselben Kind fortbestehen
und die Analerotik als die entwicklungsgeschichtlich ältere Libido-
stufe das Übergewicht behält; doch werden dann die analen durch die
urethralen Charakterzüge eingeengt.
Nach Jones") kennzeichnet den Urethralerotiker vor allem der
Ehrgeiz Dies führt Jones auf den Wettstreit der kleinen Jungen
beim Urinieren zurück, der sich oft im Mannesalter auf dem Gebiete
der sexuellen Leistungsfähigkeit wiederholt. Jones erkannte bei
einem Zwangsneurotiker, daß dessen krankhafte Sucht, sich m allen
Lebenslagen hervorzutun, auf diesen Ursprung zurückgehe.
Ehrgeiz und großsprecherisches Wesen fiel mir bei enuretischen
8) K. Abraham: Über Ejaculatio prae.os. Ii>L Zeitsohrf f. «"/'■ P^y,''''?,''"»!."';: If"'^
8) E HitäClimann; Uretbralerotik und Zwanssneurose. Int. Zeilsclir. f. Pwi- 13^0, i. Halt.
. 10) Gesammeita SchrittöU Band V. . „ -, , t ■■ „ n ,ri,- -a er (,
11) E. Jöiiea; Uretbral erotik und Elirgeiz. Int, Zeitschr. f. uratl. Psa. 191a. 6. Uclt.
ig2 »'tii-jT Kata L^vy
Schuljungen auf. Sie machten den Eindruck, als wollten sie ihrem
kleinkindhaften Defekt gegenüber ihr intellektuelles Erwachsensein
umsoioehr betonen. Ihr Ehrgeiz müßte demnach nicht so sehr als Re-
aktion auf ihre Urethralerotik, als eher — sekundär — auf ihre
Enuresis angesehen werden.
Roh ei m") konnte bei den Eingeborenen von Zentral-Australien
einen charakterhildenden Einfluß der Urethralerotik feststellen. Die-
ses Volk äußert seine Urethrallusl, indem es den Geruch des Harns
in Gesängen, Mythen und in der Realität als Stimulanz dienen läßt.
Es besorgt die Harnfunktion ohne sedes Schamgefühl im Gehen,
Stehen, Sitzen. In ihren Riten äußert sich ihre Urethralerotik durch
Penis-Exhibition und andere urethrale Beziehungen (z. B. trinken
des Harns), In ihrem Charakter durch maßlose Schenk freudigkeit.
F e r e n c z i") hat bei einem Neurotiker sowohl die direkte ure-
thrale Triebäußerung, als auch die zum Chai-akterzug gewordene
Reaktionsbildung festgestellt. Er zeigt uns in der Pyromanie eine
(psychotische) Reaktionsbildung der Urethralerotik und folgt dem
Wege ihrer Entstehung über den Ehrgeiz. Es ist die Sehnsucht nach
herostratischem Ruhm, die der Brandstifter durch seine Tat befriedigt.
Wir erkennen in ihm den einstigen Ennretiker. Ferenczi fand in
einer kriminologischen Sammlung von Brandstiftungsfällen solche, in
denen die Brandstifter ihr Bett in Brand gesteckt hatten, womit sie
den enuretischen Ursprung ihres pyromanischen Charakterzuges ver-
rieten. Analysen und unmittelbare Beobachtungen an Kindern zeigten,
daß die Lust der Kinder am Spiel mit Zündhölzchen u. dgl. urethral-
erotische Reaktionsbildung darstellt (Bestätigung eines alten Ammen-
glaubens). Ferenczi sieht die Berufswahl eines Arztes — einstigen
Enuretikers — der die Urologie als Spezialfach erwählte, als durch
seine Urethralerotik determiniert an. Auch seine Liebhaberei, der
freiwillige Feuerwehrdienst, entstammt solcher Verarbeitung.
Derartige Äußerungen der Urethralerotik sind als Sublimierungen
aufzufassen, da sich in ihnen die Urethralerotik in sozial nützlicher
Weise ausleben kann. Auch bei S a d g e r finden wir Hinweise auf die
Snblimierung von urethraler Libido in beniflicher Tätigkeit, bei der
das Hantieren mit Wasser eine Rolle spielt, ferner im Wassersport und
in der künstlerischen Darstellung, wie man sie oft an Brunnen und
Springbrunnen findet. Auch die Lust des Kindes am Spielen mit Was-
ser, am Plantschen hat denselben Ursprung. Dies ist ein Hinweis für
12] G. Riheim; Die Psychoanalyse primiliver Kulturen, luiago. 3932. 5/4.
»3} Ferenczi: MlBcligebilde vun erotisclien Und ClinrnktarKÜgen. Bnueteine zur Psyclioanalyse.
Band 2. Int. Psa. Verlag, Wien, 1927.
Vom Bettnässen des Kindes
183
den Pädagogen: besonders betonten Partialtrieben bei seinen Zög-
lingen Gelegenheit zur Sublimierung zu bieten").
Eine Beobachtung H i t s c h m a n n s") an einem vierjährigen Mäd-
chen, dessen spoi-adisehes Bettnässen betreffend, scheint dieser Auf-
fassung zu widersprechen, gilt jedoch gewiß nur als Ausnahme. Das
kleine Mädchen wurde schon kurze Zeit nach Erlangung seiner
„Zimmerreinheit" vorübei-gehend rückfällig, als es beim Wäschean-
feueliten geholfen hatte. Im Alter von vier Jahren anläßlich eines
Bootausfkiges näßt sie wieder ein und wiederholt dies in der nächsten
Nacht. Die Beschäftigung mit Wasser hatte die sonst schon längst ver-
gessene Form der Befriedigung wieder ausgelöst.
Zahlreiche Beobachtungen bestätigen, daß das kleine Kind seinen
Harn ebenso wertet und geliebten Personen ebenso als Zeichen seiner
Liebe widmet wie seinen Kot. So sehen wir, daß das von Hand zu
Hand gehende Baby und das im Familienkreise von einem Schoß zum
anderen krabbelnde Kleinkind fast immer dieselben Personen benäßt,
jene, die es am meisten liebt. Aus seinen Analysen teilt auch S a d g e r
zutreffende Beobachtungen mit.
Ich hatte Gelegenheit einen fünfjährigen .Tungen, ein „Pflege-
kind'', zu beobachten, das von einer ganz lieblosen, alten Pflegemutter
in günstigere Verhältnisse, in die Pflege einer lieben, jungen Frau
kam, mit der er im selben Bette schlief und an die er sich immer zärt-
licher anschloß. Nach einigen Monaten begann der Junge seine Pfle-
gerin allnächtlich zu benässen. Dies war offenbar ein von seinem
Willen ganz unabhängiger, potlutionsartiger Vorgang. Auch dieser
Fall bekräftigt die vorhin erwähnte Feststellung Freuds, die wir
bei Mareuse in der prägnanten Formel finden; „Die Enuresis dea
Unerwachsenen ist häufig nichts anderes als eine Pollution des Un-
reifen." Dies auf Erwachsene anwendend, nennt er deren Enuresis
„eine neurotische Form, eine Umformung der Pollution". Bei Neu-
TOtikern kommt es häufig vor, daß den Pollutionen Träume urethralen
Inhaltes vorangehen.
Oft zu beobachten ist auch die Koinzidenz des Bettnässens mit
Träumen*" von Urinieren, wobei der Traum eine Reaktion auf den
Harndrang ist, und als „Bequemlichkeitstrauni"'') das ungestörte-
") Hier woUbh wir die instinktive Äußerung einer Mutler nnfUliren. die, als sie in einem un
eeptlegten, niulit begosaeuen Garten das Bettieug eines jugcndliclien Enurctikere zum Lüften aiia
pebreitot erblickte, ausrief: ..Hätte laan den Jungen docli lieber den Gniten begießen lassen, dann
hatte er sicher weniger ins Bett genHßi!"
15) E. Hitsclimann : Über einen sporadischen Rückfall ins Bellnüsscn. Int. Zeitselir. f. ärztl.
Psa. 191Ü. 2.
>ö) Mareuse 1. i^. erwälinl eine Mitteilung aus dem XVIIl. Jahrliundert, welche den ZuRnmmen-
hang zwischen Beltnaesen und vesikalen Träumen hervorhebt.
IT) Freud: Die Traumdeutung. Ges. Sehriften Ed. 11 und lil.
184
Kala L6vy
Weiterschlafen zu sichern trachteP). Noch häatiffer finden wir in
Träumen die symbolische Darstellung der Harnfunktion, oder des
Harndranges. Manchmal stellen immer größere Wassermassen den sich
steigernden Drang vor, der schließlich den Träumenden weckt (Harn-
drang- Wecktraum). -''■■, :.i
Rank") zeigt uns sehr klar, daß diesem Harndrang als urethraler,
infantiler Triebäußerung, bei dem erwachsenen Trimmenden in einer
anderen psychischen Schicht und damit auch in der Traumsymbolik
ein genitaler sexueller Keiz entspricht. Er teilt eine Serie von vier-
undzwanzig Träumen einer zweifellos stark urethralerotischen Frau
mit. Aus iedem dieser Träume erwachte sie mit Harndrang.
Bei Kindern begegnen wir oft Träumen, die von baden, fischen,
glitschen im Schnee usw. handeln, aus denen das Kind entweder nach
Bettnässen oder mit Angst erwacht.
Ein achtjähriger schwer enuretischer Junge erzählte mir seinen
typisch wiederkehrenden Traum, in welchem er aus der Höhe ins
Wasser, ins Meer fällt, und wenn er erwacht, habe er ins Bett genäßt.
Dieser Traum wird entsprechend ergänzt durch den Bericht der Mutter
über die eigentümliche, gesteigerte Erotik, mit welcher das Kind sich
ihr nähert.
Solche Träume drücken die Sehnsucht nach dem „nassen Element"
aus. Mit dem Bettnässen wird diese auch befriedigt. Damit gibt der
Träumende jedoch nicht nur seiner Sehnsucht nach dem glücklichen
Säuglingsalter Ausdruck. Die Symbolik des Ins-Wasser-fallens zwingt
uns noch einen Schritt weiter zurückzugehen.
Ferenczi*") hat darin die Sehnsucht, in das feuchte Element, in
den Mutterleih zurückzukehren, erkannt. In seiner Genilaltheorie
stellte er in Parallele zu dieser regressiven Äußerung des indivi-
duellen Ijebens die phylogenetische Erscheinung des „thalassalen
Kegressionszugs".
II.
Wenn wir uns mit einem Enuretiker beschäftigen, müssen wir
vor allem feststellen, ob wir es mit einer Störung der Entwicklung
oder mit einer Regression auf eine frühere Entwicklungsstufe nach
vorheriger normaler Entwicklung zu tun haben. Jm allgemeinen kön-
nen wir annehmen, daß in ersterem Falle, den ich primäre Enuresis
nennen möchte, die Disposition eine größere Rolle spielt, als im letz-
teren Falle, in dem das Kind bereits einige Zeit hindurch Beweise
seiner Fähigkeit zur Zimmerreinheit erbrach t hat.
isT^in'fUnfiälirigBs MäddielTeräühirberiirETwnoJicn u^rScIilmlijon den ungewoiinten Un-
fall: „ApIi ^futter, ich traunitB, ich sei in der Wiiiinn . . . KloJacs und Grnflesi
1») 0. Rank: Dia Symbnl Schichtung im Wecktrauni U9W, Jahrb. f. pM. u. paycliopath. For-
^"^ "of Fereuczi: Versuch einor GeDitaltbautie. Int. Psa. Vorlag. 1K4.
Vom Bettnässen des Kindes 185
"Wir wissen, daß neben der verschiedenartigen Ausbildung der ein-
zelnen erogenen Zonen, die bevorzugte Ausbildung der einzelnen
Quellen zur Sexualerregung als differenzierende Faktoren der Sexual-
iionstitution zu betrachten sind"^). Und die Feststellung Freuds, daß
die Neurosen ihre grüßten Leistungen jedesmal zustande bringen,
wenn Konstitution und Erlebnis in demselben Sinne zusammenwirken,
gilt auch von der Enuresis.
Schon S a d g e r betont sehr richtig — neben der ererbten Dis-
position — die Fehler von Erziehung und Milieu. Besonders das über-
flüssige Berühren des kindlichen Genitales, übermäßige Beachtung
dieses Organs und seiner Funktion. Den Fehler der Mütter, die über
die physiologisch begründete Altersgrenze hinaus ihrem Söhnchen bei
Erledigung seiner körperlichen Bedürfnisse manuelle Hilfe leisten
usw. Ans den Berichten von Neurotikern wissen wir, welchen unver-
geßlichen Eindruck manche gewohnte Geste der Mutter bei ihnen her-
vorrief und welche Konsequenzen dies hatte. So erzählt ein Zwangs-
neurotiker, der als Kind Enuretiker war, wie angenehm es ihm war,
wenn die Mutter um sich zu überzeugen, ob das Kind trocken sei, die
Hand in das Höschen steckte. Wie sehr er das Interesse seiner KHeni
schätzte, die seine Harnfunklion mit einem — auf den Namen des
Jungen reimenden — Verslein quittierten und, daß er es als eine
narzißtische Kränkung empfand, als man ihm auf der Promenade
(las Urinieren verwies. Dieselbe Mutter machte bei ihrem Jungen
dem Bettnässen mit der Drohung ein Ende, daß sie sein Genitale ab-
schneiden würde. Damit erreichte sie wohl den angestrebten Zweck,
legte aber damit auch den Grund zu der späteren, neurotischen Er-
krankung des Knaben. Sadger berichtete aus der Analyse eines
Homosexuellen über die schlechte Wirkung der spezifischen Gewohn-
heiten der Eltern, und deren Übertragung durch Erziehung: die Mnl-
ler, die das Kind immer fragt, ob es kein Bedürfnis habe, pflegt selbst
plötzlich nach ihrem Genitale zu greifen, und hinauszulaufen. Der
Vater hatte Harnbeschwerden und pflegte sich zum Harnlassen nackt
hinzustellen. Beide Eltern gewährten dem Kinde viel Gelegenheit zu
Beobachtungen. Bei dem Knaben entwickelte sich später unter an-
derem die Perversion, kleinere Jungen beim Urinieren beobachten
zu wollen.
F 6 r 6 n c z i=') macht darauf aufmerksam, daß wir, wenn von
Heredität die Rede ist, bedacht sein müssen, echte von „Pseudohere-
dität'* auseinanderzuhalten. Bei letzterer sehen wir neurotische Eltern
21) Freud: Drei AbhandiungPü zur RexuaHheorip.
K) Fprenfii: Psycl)OReiuplli; InipoteoK beim Manne. Bausteine zur Pea. Band 2.
186
Kata L6vy
eben infolge ihres eigenen abnormen Wesens ibre Kinder unrichtig
behandeln und falsch erziehen.
Das kleine Kind benülzt das Bedürfnis zu urinieren oft dazu daß
seiue Eltern ihm helfen, sich um es kümmern und es berühren; es
pflegt sie nachts zu rufen, nur um ihre Liebe zu fühlen. Die Enuresis
dient oft demselben Zwecke, in einem Alter, da die Eltern von dem
Kinde schon verlangen, daß es seine Bedurfnisse selbständig be-
sorgt. So fragte ich den schon erwähnten achtjährigen Jungen, ob es
ihm nicht sehr peinlich sei, daß er allnächtlich ins Bett nässe, worauf
er meine Worte gleichsam berichtigend antwortete; „...meinen
Eltern. Sie kümmern sich s o um mich. Es ist so schwer für Mutter
mein Bett nachts in Ordnung zu bringen, weil ich sehr tief schlafe."
Dies konnte ich als Geständnis betrachten (er beeilte sich auch es
abzuändern), wonach es ihm nur angenehm sei, wenn die Mutter ihn
nachts trockenlege. Im Laufe des Gespräches meinte er auch, er sehne
sich gar nicht danach, erwachsen zu sein.
Disposition, unrichtiges Verhalten der Eltern, oft zufolge eigener
Disposition kann zu einem Stillstand in der Entwicklung führen, die
sich auch in Enuresis äußert. Bei der zweiten Gruppe der Enuretiker,
bei jenen, die die Stufe der urethralen Organisation bereits über-
schritten hatten und dann wieder auf diese regredierten, müssen wir
nach anderen Faktoren, Erlebnissen suchen, die diesen Rückfall ver-
ursachten. Solche Fälle bestätigen immer die Feststellung Freuds,
daß für das Wiederauftreten der sexuellen Betätigung eines Partial-
triebes innere Ursachen und äußere Anlässe maßgebend seien. Beide
sind in neurotischen Erkrankungsfällen aus der Gestaltung der
Symptome zu erraten und durch die psychoanalytische Forschung mit
Sicherheit aufzudecken.
Eine häufige Ursache der Regression bei kleinen Kindern ist der zeit-
weilige oder dauernde Verlust einer geliebten Person. Auch hier spielen
verschiedene Motive und Mechanismen mit. Das Kleinkind verzichtet
auf die Befriedigung eines Partialtriebes nur um der Liebe willen,
die ihm als Entgelt geboten wird. Diese Liebe aber ist bis zu einem
gewissen Alter noch sehr an eine bestimmte Person gebunden. Wenn
das Kind diese Person verliert, so gibt es die schon erreichte Kultur-
stufe auf, und ist nicht geneigt auf die unmittelbare Befriedigung zu
verzichten. Nebst anderen ist dies die Hauptursache der häufigen Ver-
wahrlosung solcher Pflegekinder, die von einer Pflegestelle zur an-
deren wandern. H. D e u t s c h") teilt den Fall eines zweijährigen
Knaben mit, der auf das plötzliche, ohne Abschied erfolgte Verschwin-
den seiner ersten Kinderfrau unter anderen Symptomen (Verweige-
M) H. Deutacli: Der erste Lieboskummor eiues Knaben. Int. Zeltschr. f. arztl. Pea. 1919. ii^~'
Vom Bettnässen dea Kindes 187
rung der Nahrungsaufnahme, Pavor nocturnus) mit Bettnässen
reagierte, obwohl er vorher schon zur vollständigen Reinlichkeit ge-
langt war. Später liefert er ausschließlich seiner Mutter auf die ge-
wünschte Art und Welse das kostbare Naß: „Nur für Mami!"
Drei Mitteilungen von B a u d o u i n'*) zeigen an verschiedenen
Kegressionsfällen dieselbe, durch das Bettnässen ausgedrückte Ten-
denz: wieder ein kleines Kind zu werden, das die Liebe und Fürsorge
der Mutter genießt. In einem der Fälle, bei einem sechsjährigen Kna-
ben, würkt der Tod der Mutler als Trauma, auf welches das Kind mit
verschiedeneu Symptomen reagiert. Sein Nachtwandeln z. B. bedeutet,
daß es aufsteht, um zu seiner Mutter zu gehen. Seine Träume, in
denen es ins Wasser fällt, sind typische Enuretikerträume, ihr Sinn
ist uns bekannt. Dieselbe Sehnsucht, in den Mutterleib zurückzukehren,
findet B a u d o u i n bei einem kleinen Mädchen, das im Alter von vier
Jahren auf den Tod der Mutter mit Enuresis reagiert, die bis zum
vierzehnten Jahre anhält. Ein zwanzig Monate altes Mädchen wird
eifersüchtig auf das Neugeborene, als es dieses nach einigen Monaten
als Rivalen zu empfinden beginnt. Zu diesem Zeitpunkt gibt es die
fast schon erreichte Reinlichkeit wieder auf. In dem kleinen Mädchen
bestand von allem Anfang die Bereitschaft, das Kleine als eigenes
Kind zu betrachten. Als die Umgebung ihm diese erwachsene Rolle
durch Verständnis und aus Anlaß eines Umzuges durch ein „erwach-
senes Bett" möglich macht, gibt das Kind von einem Tag zum anderen
seine Enuresis auf, und mit ihr auch ein begleitendes neurotisches
Symptom; einen Tic.
Schneide r^"*) teilt ausführlich die Analyse eines sechseinhalb-
Jährigen enuretischen Mädchens mit. Er fand in der enuretischen Ver-
anlagung der Familie das dispositionelle Moment zur Regression. Die
durch den Kriegsdienst bedingte Abwesenheit des Vaters verursachte
Angst. In den Fällen, wo Objektverlust Regression verursacht, finden
wir meistens, wie in diesem Falle, neben Enuresis auch das Symptom
des Pavor nocturnus. Die Angst trägt auch dazu bei, daß das Kind die
Geborgenheit seines Bettehens nicht verlassen will. Die Angstgefühle
dieses Kindes wurden noch gesteigert durch die Beobachtungen, die
es im Schlafzimmer seiner Eltern machte. Als zweites Moment in der
Herheiführung der Regression erscheint die Geburt eines zweiten
Kindes. In seiner Eifersucht wünscht das kleine Mädchen dieselbe
Behandlung wie sie für den Säugling notwendig ist und wird so zur
Bettnässerin.
2»J Ch. Baudouin: Leidvoller Verlust und Eegression. Zeitschr. f. psa. Pädagog. III. Jalir-
gang. Ein FaU vod Bettnässen. — Beitnässen und Geschwisterkoiuplex. Zeitsctir. f. psa. Pädagog.
V. Jahrgang.
*">) K. Schoeider: Ein Fall von BettDiUsea. Zeitscbr. f. paa. Pädagog.. I. Jahrg.
188
Kala Levy
Mehrfach determiniert erseheint eine mit gehwacher Zwangsneurose
einhergehende Enuresis (nocturna et diurna), welche bei einem klei-
nen Mädchen seit dem Tode des Vaters vom drilten bis zum zehnten
Jahre dauerte. Das gut entwickelte und an Reinlichkeit gewöhnte
kleine Mädchen, das den Vater in ungewöhnlichem Maße geliebt hatte,
zeigte nach seinem Tode Rückbildungen im Sprechen, es ließ nach
in bereits erworbenen Fertigkeiten beim Waschen und Ankleiden,
wollte auf dem Arm getragen werden wie ein Baby und begani
wieder sicli zu benässen. Der Objektverlust traf das Kind in einem^
Alter, in dem die Bereitschaft zu der unvergessenen primär anto-
orotisehen Befriedignngsweise zurückzukehren noch sehr stark ist,^
Seine heftige Onanie und Enuresis sind zum Teil von hieraus zu erJ
klären. Eine zweite Determinante bildete ein spezifisch weiblichei
Zug, der Penisneid, der sich bei dein kleinen Mädchen auffällig äußertj
als es eineinhalbjährig auf das Genitale des kleinen Bruders auf-^
merksam wird. So oft das kleine Mädchen den Unterleib des Brüder-
leins erblickt, bricht es in Schreien und Weinen aus, das so lange
dauert, bis der Säugling wieder zugedeckt wird.
Kleine Mädchen pflegen im allgemeinen die Mutter für ihr anato-
misches Mißgeschick verantwortlich zu machen. Wenn in spätere]
Jahren dieses kleine Mädchen in wildem Eifersnchtskanipf mit dei
Bruder steht, und es seine Mutter beschuldig!, den Bruder zu bevor-i
zugen, so ist dies schon Wiederholung und Ausdruck der Gefühle, dei
ersten Kindheit. In dieser Zeit ist die unmiKelbare Reaktion die, dal
es auf die Mutter — die sowohl bei Mädchen wie bei Knaben das erst«
Gefühlsobjekt ist — böse wird, sich von ihr abwendet und seine ganz«
Sehnsucht nach Liebe sich an den Vater knüpft. Die Liebe des Vaters^
kann das kleine Mädchen für seine Minderwertigkeit entschädigen.
Solange es diese Liebe hat, ist ihm die Rivalität mit dem kleinen
Bruder nicht wichtig. Jetzt will das kleine Mädchen nicht mehr den
Penis, sondern das Baby, das es vom Vater bekommen möchte. X\
heftigen Ödipuskonflikt trifft sie der Tod des Vaters.
Es ist begreiflich, daß die Kleine unter dem Eindrucke dieses Ver-
lustes danach strebt, die frühere zärliiche Beziehung zur Muttej
wieder herzustellen. Dies gelingt aber nur unvollständig; die Gefühls-
einstellung zur Mutter wird ambivalent. Gteiclizeitig nimmt sie dei
Wettstreit mit dem kleinen Bruder wieder auf, und nun erst gewinnt
der Penianeid Macht über sie. Das im Wettstreit des Urinierens^'jJ
unterliegende kleine Mädchen gibt all ihr auf Reinlichkeit gerichtetes
s*) A. Bälint berichtel in der ..PavilmaiialyBe dee Kinde izimiiiers'' von einem sy^iübriso ■
Uüdchen, dus inmitler einer Loi-be tli'liriiil fiililiuhi;!: ..Srmti, Hiiuii werd« h*1i aiitb Kleii.
inaciien köncen, wie die J\inpeii . . ." 'ues
Vom Bettnässen cic-s Kimlcs 1S9
Streben auf, indem es die Verantwortuug der Mutter zuschiebt, die
es mit einem so mangelhaften Organ versehen habe. So ist die Enu-
resis als Zeichen der Regression infolge des erlittenen Traumas
hier zu verstehen. Daß die Enuresis des Kindes häufig, wie auch in
unserem Fall im Kastrationskomplex wurzelt, zeigt uns ein charak-
teristisches Symptom. Solche Kinder manifestieren — nebst ihrer Enu-
resis diurna — eine demonstrativ scheinende läppische Ungeschick-
lichkeit beim Verrichten ihrer Bedürfnisse. Sie machen sich, das
W. C, den Boden oder die Kleider naß. Andere wieder müssen sich
zu ungelegenster Zeit, in der Schule während des Unterrichtes, im
Theater, am Beginn oder inmitten der Vorstellung hinausbegeben.
Ein zwölfjähriges Mädchen läßt bei einem Ausfluge in Knabengesell-
schaft den Harn einfach im Gehen von sich. Diese spezifische Unge-
schicklichkeit ist einerseits, wie ein ständiger Vorwurf an die Adresse
der Person gerichtet, die für diese Unfähigkeit verantwortlieh ge-
macht wird (Mutter oder auch Vater). Andererseits ist sie die dem
Analytiker'"") bekannte Manifestation des Kastrationskomplexes —
eine Art von Passivität oder Gehemmtsein — wie sie oft bei Frauen
als angstbedingte Reaktion ihrer auf Männlichkeit gerichteten
aggressiven Wünsche erscheint. Dieser überkompensierte Verzicht
kann sieh auch in der Unfähigkeit zu jeder, auch nur im Entferntesten
männlich erscheinenden Betätigung äußern. "Wir begegnen aber auch
bei Männern, nach einem Kastrationstrauma solchen Hem-
mungen und Ungeschicklichkeiten in Verbindung mit Enuresis").
Wir dürfen natürlich nicht vergessen, daß solche Motive den han-
delnden Personen nicht bewußt sind. Es sind dies Ergebnisse von un-
bewußten Vorgängen in tiefen, seelischen Schichten, als deren mani-
festes Symptom die Enuresis hervorquillt. Ursache und Sinn konnte
auch in dem hier beschriebenen Falle nur psychoanalytische Be-
handlung aufhellen.
In unserem Falle stand das mehrfach determinierte Symptom der
Enuresis noch im Dienste von weiteren seelischen Mechanismen, und
zwar von Schuldgefühl und daraus hervorgegangenem Strafbedürfnis.
Die eine Ursache des Schuldgefühls der Kleinen war ihre gegen
Mutter und Bruder gerichtete Aggression, die andere ihre Onanie.
Wir sehen oft, daß Kinder aus Schuldgefühl, besonders wenn es der
Onanie entstammt, „nicht ruhen, bis sie nicht ihre Prügel bekommen
haben*', wie dies die Umgebung auszudrücken pflegt. Nachher ist ihr
20'iJ Sign) Froud: Über die weililiclie Poxii.ililüt. Ges. fidiiifteii B,i. 12.
Verlag.
Zeitschrift 1 psa. Päd.. Vin,5— 8 14
190
Kala L&vy
Betragen merkwürdig ausgeglichen, ruhig und heiter. Das kleine
Mädchen bediente sich zu einer Zeit des Bettnässens sowohl als Kampf-
mittel, als auch als Mittel der Selbstbestrafung, mit dem es ihr am
leichtesten gelang, ihre Umgebung gegen sich aufzubringen, und ein
Besehämtwerden herbeizuführen. Vor ihrem kleinen Bruder beschämt
zu werden, gab gleichzeitig ihren aschenbrödelhaften, masochisti-
schen Phantasien Nahrung.
Dieser Fall ist deshalb so lehrreich, weil sozusagen alle Ursachen,
die bei essentieller Enuresis einzeln vorzukommen pflegen, hier als
Faktoren wirksam sind. Die Wahl des Symptoms ist durch die Ure-
thralerotik des Kindes mitdeterminiert. Von Zügen des Urethral-
charakters traten Ehrgeiz, Freigebigkeit und Mitteilsamkeit hervor.
Die Enuresis der Kleinen trotzte allen ärztlichen Maßnahmen:
Entziehung der Flüssigkeit usw. Auch erzieherische Einwirkung
hatte bei ihr keinen Erfolg. Der Psychoanalyse gelang es durch Auf-
decken der tieferen Zusammenhänge die Enuresis auf eine ganz spo-
radische zu reduzieren. Das vollkommene Aufhören wurde durch
zeitweises Entfernen aus dem — immer Stoff zu neuen Konflikten
bietenden — häuslichen Milieu bewirkt.
Man begegnet Fällen, in welchen jene Rolle der Enuresis in viel
gröüerera Maße zur Geltung kommt, die ich „Kampfmittel" genannt
habe. Wir müssen aber in der Beurteilung sehr vorsichtig sein. Denn
selbst bei dem aus Trotz und Erbitterung beltnässenden Kinde finden
wir jede Schattierung des Überganges von der bewußten Absicht zu
der vollkommen unbewußten. Ein Beispiel: Eine neunjährige vaterlose
Halbwaise, deren starke Urethrallibido schon zu Hause zu sporadi-
schem Bettnässen führte, wird zur ständigen Bettnässerin von dem
Tage an, da sie in ein Waisenhaus kommt. Nun löst dieses Waisen-
haus das für Erziehungsanstalten so schwierige Problem der Enuresis
auf die Art, daß es die Kinder, denen Krankenhausbehandlung nicht
hilft, ausschließt. Das kleine Mädchen wird im Krankenhaus in einigen
Tagen „geheilt". Auf das Anstaltsleben, in dem ihr die Leiterin keine
Mutterliebe bieten kann, reagiert sie wieder mit Enuresis. So kommt
die Kleine schließlich zur Mutter zurück. Wenn wir nur bewußte
Motive gelten ließen, müßten wir sagen, die Kleine habe das Bett-
nässen absichtlich vollführt, um zu ihrer Mutter zurückgebracht zu'
werden. Andere Umstände widersprachen dieser Annahme. Das Bett-
nässen war vielmehr eine Triebreaktion des Kindes auf die frostige
Waisenhausatmosphäre; es reagierte wie ein Kind, das sich nach einer-
Liebesenttäuschung gekränkt zurückzieht und in der Onanie Trost
sucht. Der Kleinen war diese Art der Befriedigimg schon geläufig,
ihre triebhafte Reaktion fand in der Enuresis schon gebahnte Wege.
Vom Bettnässen des Kindes ]91
In Fürsorgeerziehungsanstalten und Gefängnissen tritt Enuresis
sehr oft als dissozialer Zug in Erscheinung. Es ist dies ein Zurück-
weisen der Kultlirforderungen von Seiten des antisozialen Individuums,
das durch keine libidinösen Fäden an die Vertreter dieser Forderun-
gen geknüpft ist, das entweder niemals Objektbindungen machen
konnte oder seine Objekte verloren hatte und sie durch keine neuen
ersetzen konnte. Auch hier ist die Enuresis als Symptom zu vrerten
und auch hier finden wir im Hintergrunde die spezifische Disposition.
Nach Hanselman n-'^) gehört der größte Teil der Enuretiker zu den
schwererziehbaren Kindern. 25 hie 30 Prozent der Hilfssehtiler und
Fürsorgezöglinge sind Enuretiker. Die Statistik des Bettnässens in
der Erziehungsanstalt kann uns mitunter auch über die Persönlich-
keit des Vorstehers und die zwischen ihm und den Zöglingen ent-
standene Gefühlsbindung Aufschluß geben. Homburger teilt Daten
aus dem Heidelberger städtischen Kinderheim für psychopathische
Kinder mit, die über das Bettnässen der — in vernachlässigtem Zu-
stande aufgenommenen — Kinder durch statistische Aufzeichnungen
gewonnen wurden. Während eines Winters, da die alte, bewährte
Vorsteherin auf Krankenurlaub war, vermehrten sich die Fälle von
Bettnässen selbst mit Berücksichtigung anderer Faktoren, sehr auf-
fallend.
III.
Wenn wir nun fragen, was sich aus dem Vorangegangenen für die
praktische Lösung des Problems der Enuresis ergibt, so müssen wir
vorerst zwei Gesichtspunkte trennen, den der Prophylaxe von dem
der Therapie.
Entwicklungsfehlern, wie die primäre Enuresis es ist, kann man
bekanntlich leichter vorbeugen, als sie heilen. Wir sahen, welche
Rolle bei deren Zustandekommen die Fehler der Eltern spielen. Einige
dieser Fehler sind als übergroße Zuvorkommenheit dem Triebleben
des Kindes gegenüber zu betrachten. Ebensowenig angebracht sind
jene Maßregeln der übergroßen Strenge, welche oft erstaunlicherweise
eben dieselben Eltern der bereits bestehenden Enuresis gegenüber
anwenden.
Die Fehler, die in der Trieberziehung überhaupt begangen wer-
den, sind — wie A i c h h o r n-*) prägnant ausdrückt — meistens nichts
anderes, als unrichtige Dosierung von Gewähren und Versagen. Den-
kende Eltern könnten sich oft vor die Frage gestellt sehen, womit sie
ihr Kind mehr schädigen, wenn sie seinen Trieb äußerungen freien
Lauf lassen oder wenn sie diese verbieten. Wesentlich ist, daß Eltern
i*) H, Hanselraann: Eiiifülirung in die Hpilpädagoijilr. Zürich. Rotapfe! -Verlag. 111.33.
2B) A. Aiclihorn: Lolin oder Strafe als Erziehungsmiffel. Zeitschr. f. psa. Pndag. V. Jaiirg.
W
192
Kata Lövy
af fektfrej dieser Frage gegenüber stehen, denn dann werden sie den
Grad der Triebversagung erkennen, bis zu welchem ihr Kind schadlos
belastet werden kann und werden dann auch die zur Erziehung not-
wendige Konsequenz aufbringen können. Je heftiger der Wunsch des
Kindes nach Triebbefriedigung ist, umso schwerer wird es den Eltern
fallen jene Linie zu halten, die sie zwischen Gewähren und Versagen
gezogen haben, aber umso wichtiger ist es für die Entwicklung des
Kindes, daß sie es tun. Dies bezieht sich vor allem auf jene Be-
schränkungen, die wir als notwendig erachten, um die Sexualität
des Kindes nicht überflüssigen Reizen auszusetzen, und nicht auf
das Durchsetzen von Forderungen dem Kleinkind gegenüber.
Konsequenz könnte da leicht mit Ungeduld und Härte verwechselt
werden, die bei der Reinlichkeitsgewöhnung die schädlichsten Mittel
sind. Es muß dem Kinde Zeit gelassen werden seine UrethraUust auch
auszuleben, denn sonst bekommt der Erzieher die ganze Opposition
und den Trotz des Kindes zu spüren. Die Bekämpfung einer Trieb-
befriedigungsart — ein Erziehungsgebiet — wird dann zum Kampf-
gebiet, wenn die eigene Affektlage der Erziehungsperson es dazu
macht. Wenn das Kind, trotz geduldiger und lange Zeit hindurch ohne
besondere Betonung und Strenge gemachter Gewöhnungsversuche sich
gegen die Reinlichkeitsforderung sträubt, so muß Umschau gehalten
werden, ob nicht in den Lebensgewohnheiten des Kindes oder eeiner
Umgebung Faktoren zu finden sind, die den erzieherischen Bemühun-
gen entgegengesetzt wirken. Dies wäre eine argo Inkonsequenz in der
Auffassung des Erziehungsvorganges. So zeigen manche Eltern z. B.
die Inkonsequenz ihrer erzieherischen Anschauungen darin, daß sie
einerseits ihr Kind durch das Schlafen im elterlichen Schlafzimmer
beständiger sexueller Erregung aussetzen, andererseits jedoch die
„Unschuld" des Kindes vor der geschlechtliclien Aufklärung bewahren
wollen. Auch dann noch, wenn der unruhige Schlaf des Kindes sie
veranlaßt, die Erziehungsberatung aufzusuchen.
, Von welcher Wichtigkeit der separierte Schlafplatz des Kindes spe-
ziell für die Enuresis ist, dazu bringt A. B ä 1 i n t'") einen sehr inter-
essanten Beitrag: die Eltern eines siebenjährigen Mädchens beobachte-
ten, daß das Bettnässen jede Nacht mit Ausnahme jener Woche erfolgte,
in welche die Menstruation der Mutter fiel! So sehr hatte das „schlafende
Kind" an dem Geschlechtsleben der Eltern teilgenommen. Schlafzimmer-
erfahrungen ebnen der Enuresis auch den spezifischen Weg über die
Vateridentifizierung. Andere Fälle zeigten uns die schädlichen Folgen
von Gewohnheiten Erwachsener, die das Kind ständig Zeuge der Er-
ledigung körperlicher Bedürfnisse sein lassen. Nicht nur davor sollte
3") A. BÄliDt; Die Psychoanalyse dea Kinderzimmers. Zeitsohr. f. psu. FuJag. VI. Jahrg. '
Vom Bettnässen des Kindes '1'93
es bewahrt werden. Es ist auch ratsam, daß das Kind ermuntert werde,
seine eigenen Bedürfnisse, sobald es dazu fähig ist, so wie die Er-
wachsenen hinter geschlossenen Türen, ohne Assistenz zu erledigen.
Es darf dem Kinde nicht gelingen, durch Störungen seiner Körper-
funktionen oder durch körperliche Indispositionen zu erreichen, daß
die Eltern sich in überflüssiger Weise mit ihm beschäftigen. Manche
beginnende Enuresis wurde dadurch stabilisiert, daß es dem Kinde
behagte, sich durch sie in den Mittelpunkt des Interesses zu bringen.
Eltern, die schon inkonsequent in ihren erzieherischen Anschau-
ungen sind, werden es gewiß auch in ihrem erzieherischen Verhalten
sein. Es kommt einer Irreführung des Kindes gleich, wenn es in dem
— durch Erfahrung gewonnenen Glauben — aufwächst, es könne mit
der notwendigen Ausdauer durch bitten und fordern die Erfüllung
jedes Wunsches erreichen. Denn so kann es geschehen, daß das Kind
zum ersten Male in seinem Leben einem endgültigen und unerschütter-
lichen Nein begegnen wird, wenn es gilt, seinen allerheftigsten Trieb-
ansprüchen, z. B. seinem Ödipuswunsch zu entsagen. Je weniger es
sich bis dahin einer unabänderlichen Versagung gegenüb erfand, umso
schwerer wird es sein, das Kind gerade hierin zu einem Verzicht zu
bringen. Wenn ihm in solcher Situation dann unerwartet das Verbot
aufgezwungen wird, so kann das Kind das ungewohnte Verhalten der
Eltern als schweres Unrecht empfinden und mit Neurose darauf
reagieren. Wir wissen: am schwersten erziehbar sind jene Kinder, die
mit ihrem ödipuswunsch nicht fertig werden können. Unter den Pro-
blemen, vor welche uns die Erziehung dieser Kinder stellt, finden
wir auch die Enuresis.
Der gesunde Entwicklungsgang ist der, daß das Kind um die Liebe
der Erziehungsperson zu erlangen, auf die direkte Triebbefriedigung
verzichtet. Dies geht nicht immer glatt vor sich. Es gibt Kinder, die
den Liebesentzug erleben müssen, bevor sie es zur Triebbeherrschung
bringen. Das Kind zieht es vor, die Liebe ohne Gegenleistung zu be-
kommen. Manche, besonders die verwöhnten Kinder, nehmen es nur
zweifelnd und ungern zur Kenntnis, daß Liebe an Bedingungen ge-
knüpft sein könne. Dies illustrierte der Ausruf eines etwas schwer an
Reinlichkeit zu gewöhnenden kleinen Jungen: die Mutter belobt das
Kind und versichert es ihrer Liebe, weil es „trocken" aufgewacht sei
und seine Bedürfnisse in Ordnung erledige. „Deshalb hast du mich
lieb, Mutti, wegen dieses bißchen Kleines?" fragt erstaunt das
Kind. Selbstverständlich müssen für den Trieb, dem direkte Befriedi-
gung entzogen ist, durch entsprechende Beschäftigung Sublimierungs-
mögliehkeiten geschaffen werden.
Die bis jetzt üblichen Methoden gegen die schon entwickelte Ena-
194 Kala L6vy '
resis sind bekannt. Als „erzieherische" Maßnahmen; Auf-
wecken des Nachts, Strafe, Einschüchtern, Beschämung. Somati-
sche Heilverfahren: Entziehung der Flüssigkeit, Medikamente
Anwendung von heilmechanischen Apparaten (Wecker), Elektrisieren.
Von psychischen Heilverfahren wurde bisher die Wach-
suggestion und Milieuveränderung angewendet. In den meisten Län-
dern gibt es auch eigene Heime für Enuretiker.
Es kann nicht Aufgabe des Psychoanalytikers sein, ein Urteil Über
die Nützlichkeit dieser Verfahren zu fällen. Es muß nur gegen die
Schädlichkeit einzelner Verfahren Stellung genommen werden.
Im Interesse der psychischen Gesundheit des Kindes müssen wir
jedes Vorgehen verurteilen, dessen Wirkung, wenn sie überhaupt er-
zielt wird, auf Abschrecken oder Einschüchtern beruht. Solch ein
Vorgehen wäre: erzieherische Strenge, Beschämung, Bangemachen
Elektrisieren „bis an die Grenze des Erträglichen". In vielen Fällen
ißt die Enuresis ohnehin eine Reaktion des Kindes auf Angst Ein
Äquivalent der F er enc z i'sehen**) „Angstpoilution" ist das Bett-
nässen aus Angst. Daß Kleinkinder, nach einem Schrecken schnell
„gesetzt" werden, um die Angstwirkung gleichsam prompt abzuleiten
brachte F e r e n c z i hiemit in Verbindung. Es hieße den Teufel mjt
Beizebub austreiben, wollten wir eine Angst mit der anderen be-
kämpfen! Wo es durch Einechüchterung oder sonstige drastische Mit-
tel gelungen ist, eine Enuresis zum Verschwinden zu bringen, dort
kommt an deren Stelle, wie die analytische Praxis täglich zeigt, ein
anderes neurotisches Symptom zum Vorschein.
Nicht viel besser als die oben angeführten Maßnahmen ist das Über-
treiben der FlüBsigkeitsentziehung bis zum Grade einer „Durstkur".
Diese Mittel erwecken oder steigern nur den Widerstand des Kindeg]
und führen zu Unaufrichtigkeit. Denn ein Kind, dem es so seh-wer
fällt, den einen Trieb zu bändigen, daß es darüber zum Enuretiker
wird, wird die Beschränkung eines anderen Triebes auch nicht ruhig
hinnehmen. Im Geheimen wird es umso mehr trinken. Die Vermin-
derung der Flüssigkeitszufuhr ist nur so weit zu empfehlen, als dies
in der Verabreichung flüssigkeitsarmer Nahrung unauffällig durch-
zuführen ist. Überhaupt bedarf es zur Lösung der die Enuresis be-
treffenden Erziehungs- und Milieuprobleme großen pädagogischen i
Taktes. In vielen Fällen der Enuresis besteht die Aufgabe der Heii.l
erziehung darin, daß sie das „Erwachsenwerden" des Kindes fördert \
dem Kinde hiezu Lust macht, Motive findet, denen zuliebe es demj
Kinde lohnt das zweifellos schwere Opfer der Triebentsagung g^j
*i) Ferenczir Pollnlion ohne orgaetischen Traum uew. BauEteine 11. Bei der Kriegsenur^T j
dürfte die durch Angst bewirkte EegreeBion eine große Rolle spielen, Zappert (1. c.J Trii^B*]
diesen Fülen eina längere Studie. -^esj
i
Vom Bettnässen des Kindes ]95
bringen. Wo dies durch unbewußte Tendenzen behindert wird, kann
ein Bewußtmachen der seelischen Situation des Kindes den ge-
wünschten Anstoß geben. Dies kann gefördert werden durch vor-
sichtige Sexualaufklärung, die dem Überhandnehmen von Phantasien
den Boden entzieht. Ergibt sich nun im Heilungsverlauf der Enuresis,
daß den Angehörigen, die um das Kind bemüht sind, die onanistische
Betätigung auffällt, so müssen sie dazu gebracht werden, darin ein
Zeichen der fortschreitenden Entwicklung zu sehen.
Ein günstiges Ergebnis kann nur durch engstes Zusammenwirken
mit der Umgebung des Kindes erzielt werden. Manches Kind wird
durch sein Milieu geradezu verhindert, sieh psychisch fortzuent-
wickeln. Viele Mütter wissen selbst gar nicht, wie sehr sie bestrebt
sind ihr Kind als Baby zu erhalten. Vergessen wir nicht, daß beim
nächtlichen Aufnehmen oder Trockenlegen, dessen Genuß das Kind
oft an die Enuresis fixiert, zwei Menschen beteiligt sind. "VVir wollen
das Kind zur Änderung seines Standpunktes bewegen, wir müssen
aber auch den Partner des Kindes für diese Umstellung gewinnen.
Es ist schwer den Ton, die täglichen Gewohnheiten in der Familie
des Kindes, seine Position in dieser von heute auf morgen zu ändern.
Mit einer zeitweiligen Milieuveränderung ist dies leichter zu er-
reichen. Ein Resultat können wir auch hiemit nur erzielen, wenn das
provisorische Heim, sowie auch nach Rückkehr das alte Heim sich
zielbewußt zu ihrer Aufgabe einstellen.
Es wird auch Fälle geben, in welchen die Methode der bewußten
Vernachlässigung zum Ziele führen kann. Hier sind ein Gummi-
bettuch und Ignorieren die Verteidigungswaffen gegen den enareti-
schen Angriff; doch darf nicht übersehen werden, daß mit dem Ver-
schwinden der Enuresis durch diese Methode bloß die Belästigung der
Erzieher, nicht aber die kindlichen Konflikte aufgehört haben.
In jenen Fällen, die über das „heilpädagogische Maß" hinaus-
gehen, in denen die Enuresis schon Symptom einer kompletten Neu-
rose oder Verwahrlosung ist, wird die psychoanalytische Behandlung
des Grundübels angezeigt sein.
Wir sehen also, daß gegenüber den oben angeführten Verfahren,
welche die Enuresis bald somatisch, bald auf Grund oberflächlicher
psychologischer Ansichten symptomatisch behandeln, der Psycho-
analytiker sieh bemüht, durch Aufhellung des seelischen Hintergrundes,
durch Klarlegen der mitwirkenden psychischen Mechanismen, durch
Aufdecken von Konflikten und durch Beeintlussen der Umgebung,
das Kind erzieherischen Einwirkungen zugänglich zu machen. Wo
dies nicht ausreicht, wird er zur psychoanalytischen Behandlung
greifen.
KINDERANA LYSE
Die Spielanalyse eines dreijährigen Mäddiens^
Von Melitta Sclimicleberg, London
Um das Verständnis des folgenden Berichtes über die Analyse!
eines kleinen Kindes für den der Praxis der Spielanalyse unkun-l
digen Leser zu erleichtern, möchte ich mit einigen allgemeinen Be-|
merkungen beginnen. Das analytische Material unterscheidet sich von]
dem bei Erwachsenen in verschiedenen Punkten: Unbewußte Phan-<
tasien werden oft erstaunlich offen geäußert. Vorbewußte Phantasie^'
spielen eine verhältnismäßig geringe Eolle. Die Ich-Interessen und-
die Realität sind sicherlich niclit weniger bedeutungsvoll als beim'
Erwachsenen, aber sie sind andersartige. Die Healilätsbeziehung einesi
kleinen Kindes ist begrenzter, aber intensiver; Gegenstände, Klei-
dung, Essen, Spielsachen usw. spielen eine große Eolle. Die Ich-Inter-
essen sind noch wenig differenziert; die individuellen Unterschieden
im analytischen Material von Dreijährigen sind natürlich sehr viel
geringer, als in dem von Erwachsenen. Vom Standpunkte des be-
wußten Ich ist das analytische Material eines kleinen Kindes ziemlich
monoton, da seine bewußten Interessen noch primitiver und begrenz-
ter sind. Andererseits zeigt sich beim kleinen Kinde eine schnellere
und oft abruptere Änderung der Einstellung als beim durchschnitt-
lichen erwachsenen Neurotiker; dies ist vor allem durch die mehr
akute Angst des kleinen Kindes bedingt, die es ihm unmöglich macht,
eine bestimmte Einstellung längere Zeit hindurch aufrechtzuerhalten.
Aber auch die Tatsache, daß seine Interessen und Tätigkeiten noch
ungenügend organisiert und konsolidiert sind, trägt hierzu bei. Das
Vorwiegen der symbolischen Darstellung im analytischen Material
scheint dadurch bedingt zu sein, daß die Objektbeziehungen noch
weitgehend auf der Partialstufe sich abspielen (mehr Körperteilen
als Personen gelten), während bei Individuen mit besser entwickelter
Realitätsbeziebung und reiferem Ich die unbewußten Phantasien mehr
in Zusammenhang mit wirklichen Personen und in realitätsange-
paßter Weise geäußert werden.
Um zusammenzufassen: in der Analyse eines kleinen Kindes wer-
den unbewiißte Phantasien freier geäußert; die Symbolik spielt eine
größere, die vorbewußte Phantasietätigkeit eine geringere Rolle;
•) Die vorliegende Arbeit ist eine verkürzte Fassung der vtiiii Institute of l^syoho-AtialvsiB~
Londun. mit dem Klinisclien Treia 1933 auagezeiehneten Arbeit, die gleichzeilig iu Tlie Inter'
nalionfll Journal of Tsyclio-Analysis erscheint.
Die Spielanalyse eines dreijährigen Mädchens
197
die Eeftlität und die Ich-Interessen sind primitivere; die akutere Angst
bewirkt selmellere Veränderungen der unbewußten Einstellung^).
Die Darstellung der Spielanalyse eines kleinen Kindes wird nicht
nur durch diese Eigenart des Materials erschwert, sondern sie unter-
liegt auch all den Schwierigkeiten und Einschränkungen, die wir von
der Darstellung von Erwachsenenanalysen her kennen. Es ist be-
kanntlich unmöglich, selbst über eine relativ kurze Analyse einen
vollständigen Bericht zu geben und dadurch, daß man zahlreiche Ein-
zelheiten übergehen muß, kann die Analyse nicht so plastisch und
überzeugend dargestellt werden, wie der Analytiker selbst sie erlebt.
Andererseits wirkt die ÜberlüUe der Einzelheiten und die vielfache
Detenninierlheit jeder Handlung und jedes Symptoms leicht ver-
wirrend.
V i V i a n=) wurde im Alter von zwei Jahren und elf Monaten wegen
hysterischen Erbrechens, Eßschwierigkeiten, Obslipation und Angst
in Analyse gegeben. Obgleich sie ungewöhnlich hübsch war, machte
sie doch keinen sehr netten Eindruck; sie war ein altkluges und früh-
reifes Kind, unverträglich mit andern Kindern. Sie wollte immer ge-
rade das haben, was man ihr nicht gab, war nie mit dem zufrieden, was
sie besaß und war nur auf sich selbst bedacht. Schon als Säugling
eigensinnig, steigerte dieser Charakterzug sich im zweiten und dritten
Lebensjahre so sehr, daß die Eltern nicht mehr wußten, was sie mit
ihr anfangen sollten. Folgender Vorfall wurde mir als charakteri-
stisch berichtet: Vivian wacht mitten in der Nacht auf und verlangt
in die im andern Stockwerk befindliche Küche geführt zu werden.
AZs ihr Wunsch nicht erfüllt wird, schreit sie eine Stunde lang.
Schließlich gibt die Mutter nach und geht mit ihr hinunter. Auf der
Treppe macht Vivian kehrt und erklärt, daß sie doch lieber im Schlaf-
zimmer bleiben wolle.
Vivian ist das einzige, sehr verwöhnte Kind von jüdischen, dem
Kleinbürgertum angehörenden Eltern. Die Mutter fürchtet sich vor
ihren Anfällen von Eigensinn, gibt nach und lügt, um diese zu ver-
meiden, und wenn alles nichts nützt, schlägt sie sie. Alles wird vor
ihr besprochen und sie wird dauernd bewundert. Zweifellos ist ihr
altkluges Wesen weitgehend durch das Verhalten der Eitern bedingt.
Vivian wurde im Alter von sechs Wochen entwöhnt. Mit drei Mo-
naten zeigte sie starke Angst vor Männern und Geräuschen. Mit vier
Monaten begann sie zu erbrechen. Eigensinn und andere Charakter-
schwierigkeiten zeigten sich schon im ersten Jahr und steigerten sich
zunehmend. Sie war in jeder Hinsicht überaus frühreif.
1) Einzelheiten über die Technik der Spielanalyse und Bruelislücke aus Analysen klainar
Kinder sielie bei M. Klein: ,,Die Psychoanalyse des Kindes". Int. Fsa. V. 1932.
2) Zu Vivians Analyse siehe auch Z, t. psa. Päd. Jahrg. 1933, Saite 210 f.
198
Melitta Schmideberg
Vivian blieb mit mir allein, ohne die geringste Angst zu zeigen.
Anfangs erzählte sie immer, sie wisse, daß ich eben noch geschlafen
hätte. Von jedem, den sie nicht sah, behauptete sie, er schlafe. Auch
von sich selbst sagte sie, sie hätte geschlafen, auch wenn es nicht
der Fall war. Nach einiger Zeit erklärte sie aber, sie hätte gesehen,
daß ich im andern Zimmer mit dem .Doktor' gekämpft hätte, — wir
hätten uns gegenseitig auf den Kopf geschlagen. Sie behauptete auch,
der , Doktor' im Nebenzimmer foltere die Patientin. In diesen und an-
deren Behauptungen äußerte sich Vivians sadistische Auffassung
vom elterlichen Koitus. Die mit diesen Vorstellungen verknüpfte
Angst hatte sie bewältigt, indem sie sie leugnete: Die Eltern kämpfen
nicht miteinander, sondern sie schlafen; Vivian beobachtet sie nicht,
sondern schläft. Tatsächlich hatte Vivian, die schon früh an starker
Angst litt, nie Pavor nocturnus gehabt. Dieser trat erst im Verlauf
der Analyse auf. Diese Verleugnung der mit Angst verknüpften
Situationen und Vorstellungen bildete die Grundlage für ihre intel-
lektuelle Hemmung. Da ihre sadistische Auffassung von den Bezie-
hungen der Eltern auch für ihre sonstigen Vorstellungen grund-
legend war, ihre Angst sich immer mehr ausbreitete und sie die Angst
durch Aufgeben ihrer Interessen, durch „Schlafen" bewältigen mußte,
ließ sich voraussehen, daß sich ohne Analyse wohl eine sehr starke
Hemmung entwickelt hätte. Nach mehreren Wochen Analyse kam es
zu einer völligen Charakteränderung: das sehr gehemmte Kind
wurde überlebhaft, aggressiv, unruhig und wißbegierig.
Diese Charakteränderung war dadurch bedingt, daß sie nun ihre
Angst anders bewältigte. Früher verleugnete oder vermied sie das
Angstobjekt, jetzt wollte sie es genau kennenlernen. Früher hatte sie
verlangt, ich solle den elektrischen Ofen (den brennenden Penis) aus
dem Zimmer entfernen; nun beruhigte sie ihre Angst, indem sie genau
wissen wollte, wie er funktioniere. Ihr Gehemmtsein war vorwiegend
durch die Hemmung ihrer. Männliehkeitswünsche bedingt. Ihre Angst
galt dem sadistischen, die Mutter zerstörenden Vater. Als sie einmal
Musik hörte, sagte sie zur Mutter: „Bringe mich schnell weg von hier,
sie zerbrechen das Haus" (nämlieh durch die Musik). Nach einem
Stück Analyse identifizierte sie sich mit dem sadistischen, die Mutter
durch Lärm zerbrechenden Vater, wurde nun aktiv und aggressiv,
außerordentlich lärmend und unruhig.
Einmal erklärte sie im Spiel, aus dem Kamin käme eine Maus. Erst
zeigte sie Angst vor der Maus, fürchtete, sie werde sie beißen, dann
schreckte sie mich mit der Maus. Dann spielte sie aber, daß sie selbst
die Maus sei, wollte mich beißen und von allen Seiten augreifen, Sie
lief auch heraus, um der im Wartezimmer sitzenden Mutter gegen-
Die Spielanalyse eines dreijährigen Mädchens 199
Über die Rolle der Maus zu spielen und sie zu sehrecken. Diese Iden-
tifizierung mit dem Angstobjekt beruhte zunächst auf dem Bestreben,
das Angstobjekt zu vernichten. Einmal zeigte sie Angst vor der
Maus, dann erklärte sie, die Maus sei weg und im nächsten Moment
war sie selbst zur Maus geworden (sie hatte sie aufgegessen). Die
angebliche Maus kam aus dem Kamin. Aus diesem entnahm sie auch
Euß, von dem sie behauptete, er sei „Babys Ovaltine" oder den sie mir
auf einen Baustein gelegt als „Toast" anbot. Der Kamin bedeutete den
Leib der Mutter, der Exkremente (Ruß) und den väterlichen Penis
(Maus) enthält. Bann spielte sie, wir schliefen zusammen, und plötz-
lich kam aus meinem oder ihrem Rücken eine Maus heraus, oder ich
selbst verwandelte mich in eine Maus. Aus diesem und weiteren
Material ging hervor, daß die Maus den Penis des Vaters im Leibe
(oder Anus) der Mutter darstellte.
Vivian sagte immer wieder in überlegener und altkluger Weise,
ihre Mutti kaufe ihr alles, was sie wolle, ihre Mutti komme wieder,
wenn sie weggegangen ist usw. Sie hatte auch nie Angst gezeigt,
wenn die Mutter sie allein ließ. Im Verlauf der Analyse trat eine
recht heftige Angst davor auf ohne die Mutter zu sein. Zugleich
zeigte Vivian zum ersten Mal Herzlichkeit der Mutter gegenüber. Sie
hatte mit ihrer Kritik, ihrer Aggression und ihren Zweifeln zusam-
men auch ihre Liebe zu ihr verdrängt. In der Analyse wurden ihre
Haß- und Angstregungen der Mutter gegenüber bewußt; teils indem
sie selbst im Spiel die „böse Mutter" darstellte, die ihr Kind (nnch)
mißhandelt, teils in direkter Form: so spielte sie z. B., daß ihre Puppe
kein Kleid habe und „so friere" und fügte hinzu: „Als ich ein Baby
war, hatte ich keine Decke und mußte so frieren." Dann beklagte sie
eich' weiter über die Mutter, erzählte, wie sie sie bestraft hätte usw.
Während Vivian immer wieder erklärte, wie gut ihre Mutti sei,
war sie aber mit nichts, was die Mutter ihr je gab, wirklich zufrieden.
Sie zeigte überhaupt ein paradoxes Verhalten. Sie hatte große Eß-
Schwierigkeiten, weil sie das Essen als schmutzig empfand, Exkre-
menten gleichsetzte; zugleich aß sie aber Schmutz. Sie sagte, die Seife
sei schmutzig, und „reinigte" den Fußboden mit Schmutz. Sie hielt
etwas zum Feuer, um es zu „waschen" und etwas unter die Wasser-
leitung, um es zu „verbrennen". Das Gute war für sie schlecht, und
das Schlechte gut; das Schmutzige rein und das Reine schmutzig.
Ihrer Auffassung nach gab ihr die Mutter das Böse, vortäuschend es
sei das Gute, und verweigerte ihr das Gute, behauptend es sei das
Schlechte. Dieser Vorwurf entsprang ihrem oralen Neide: die Mutter
besitzt den guten Penis des Vaters, die gute Nahrung usw. und gibt
ihr nur das Schlechte. Weiterhin entstand er durch die Projektion
200
Melitta Sclimidcberg
ihres Sadismus. Sie selbst wollte der Mutter das Böse geben, um i^]
zu schaden und das Gute für sich behalten; sie lauschte Liebe voi
und empfand Haß. So mußte sie von der Mutler die gleiche Einstel,
Jung erwarten.
Ähnlich erwies sich ihr Vorwurf, die Mutter hätte ihr d.
Penis verweigert oder sie kastriert weitgehend als P r o j e k-l
tion ihrer eigenen Kastrationswünsche. Z. B. warf sie mir eirunalj
heftig vor, ich hätte ihr schönes Spielauto (das bei ihr immer den]
Penis darstellte) weggenommen. Tatsache war aber, daß sie selbst!
den Tag vorher mir ein Auto weggenommen hatte. (Diesen Mechaais-
mus fand ich auch in anderen Fällen.)
Dieses Mißtrauen der Mutter gegenüber bestimmte ihr ganze^
Verhalten. Sie konnte eigensinnig eine Stunde schreien, weil'
sie einen Gegenstand wollte, und wenn sie ihn dann bekam, nahm sie
ihn oft nicht an, weil ihr der Umstand, daß die Mutter ihn ihr gab
bewies, daß es doch etwas Schlechtes sei. Die Mutter ließ ihr gewöhn-
lich die Wahl, was sie essen wolle; wenn Vivian die gewünscht©
Speise erhielt, konnte sie sie dann nicht essen. Diese Einstellung war
auch der Grund für ihre Unersättlichkeit und Unzufriedenheit: immer
war der Gegenstand, den sie nicht haben konnte, der ,Gute', der, den
sie besaß, der »Schlechte*. . ;'
Ihr schlechtes Verhältnis zur Mutter war auch weitgehend dadurch
bedingt, daß sie die homosexuelle Einstellung nicht einnehmen durfte
weil sie sich dann mit dem sadistischen (die Mutter durch Lärm zer'
brechenden, folternden usw.) Vater identifiziert hätte. Dadurch wäre
sie auch in eine Konkurrenzeinstellung mit dem Vater geraten: sie
konnte die Brust, das Essen, die Liebe der Mutter nur erhalten, wenn
sie die Mutter dem Vater raubte. Ihr Wunsch, die Mutter für sich
allein zu haben, mit den damit verknüpften Regungen von Eifersucht
Haß und Angst agierte sie in der Übertragungssituation sehr deut-
lich, wobei sie meine andern Patienten und den „Doktor" als Rivalen
auffaßte. Als sie in einer späteren Phase der Analyse spielte, sie
bereite das Essen für den Vater, so diente diese Identifizierung mit
der „guten Mutter" z. T. auch der Wiedergutmachung ihrer eifersüch-
tigen Wünsche, die gute Mutter dem Vater wegzunehmen. Vivian
wollte immer etwas Neues haben und nichts befriedigte sie wirklich
Ihre Unersättlichkeit agierte sie in der Analyse; lange 2eit
ging sie nie von mir weg, ohne etwas mitzunehmen. Sie nahm den
Ball, den Besen, Spielsachen mit, einmal wollte sie eine Tasse Seifen-
wasser nacbhause nehmen usw. Die Gegenstände, die sie verlangte
bedeuteten für sie unbewußt Teile des Vaters oder der Mutter. Einmal
wollte sie alle meine Kleidungsgegenstände der Reihe nach w^eg-
Die Spielaiialyse eines dreijährigen Müdclieiie
201
nehmen, dann begann sie meinen Jumper, meine Schuhe, Strümpfe
usw. zu beißen. Plötzlich hörte sie damit auf und sagte: „Ich will
dich doch nicht foltern." Meine Kleidungsstücl^e stellten einen Ersatz
für meine Körperteile dar; sie wollte mich in Stücke beißen, meine
Brust abbeißen usw. Es stellte sich heraus, daß sie jeden Tag einen
Gegenstand mitnahm, weil sie jeden Gegenstand im Zimmer, das
ganze Zimmer, eigentlich aber mich selbst nachhause nehmen wollte.
Als ich ihr nun sagte, sie halte mich für die gute Mufter, die sie mit-
nehmen wolle, damit ich sie gegen die „böse" Mutter, ihre eigene
Mutter beschütze, klagte sie traurig: „Ich habe kein gutes Bett zu-
hause." Der Deutung, sie meine, sie hätte keine gute Mutter zuhause,
stimmte sie bei.
Zur Zeit, als sie Angst bekam, wenn die Mutter nicht bei ihr war,
konnte sie nur durch ein Geschenk beruhigt werden. Das Geschenk
bedeutete einen Ersatz für die Mutter (oder einen Körperteil der
Mutter) und bewies ihr gleichzeitig, daß die Mutter gut sei. Ihre Un-
ersättlichkeit bedeutete weitgehend eine Regression auf die Stufe der
Partialliebe; diese Regression erfolgte, wenn die Mutter sie in Wirk-
lichkeit verlassen hatte, oder wenn sie psychisch aus Angst die Be-
ziehung zur Mutter als Person nicht aufrechterhalten konnte. Als sie
ein besseres Verhältnis zur Mutter gewann, brauchte sie weniger Ge-
schenke; als sie die Mutter in der Phantasie besitzen konnte, brauchte
sie nicht so viel Gegenstände, die einen Ersatz für die Mutter be-
deuteten; als ihr Vertrauen zur Mutter sich verstärkt hatte, mußte
sie nicht dauernd Beweise für ihre Güte haben; als sie in der Objekt-
liebe und in Phantasievorstellungen mehr Befriedigung und Trost zu
finden vermochte, konnte sie leichter verzichten.
Zufolge ihrer intensiven Ambivalenz wurde das, was sie besaß, für
sie sehr schnell zu etwas Bösem; und dann mußte sie gleich wieder
etwas Neues, Gutes erhalten. Sie wünschte sich immer Essen und
Süßigkeiten, konnte diese aber dann nicht verzehren und bei sich
behalten. Sie erbrach, weil sie in ihrer Vorstellung zu etwas „Bösem"
geworden waren. Als ihr Glaube an die Güte der Mutter sich ver-
stärkte, glaubte sie auch eher, daß der Inhalt ihres eigenen Körpers
gut sei. Nun konnte sie das, was sie besaß, schätzen und behalten und
hatte ein geringeres Bedürfnis nach neuem Besitz. Indem sie sieh
nun mit der guten, nährenden Mutter identifizierte, wurde sie frei-
gebiger, bereit zu schenken.
Das Mitnehmen der verschiedenen Gegenstände aus meinem Zim-
mer bedeutete einen oralen Angriff auf den Leib der Mutter und
dessen Inhalt; Exkremente (den Euß aus dem Kamin, den sie als
„Toast", als „Babys Ovaltine" bezeichnete; einmal sagte sie, sie
202 Melitta Sehmideherg
wolle den mitern Teil des Klosetts nachimuse nehmen); Urin (Seifen-
\vasser); Milch (Seifenwasser); Brust (meinen Jumper); den Penig
des Vaters und der Kinder. Einmal erklärte sie, oben weine ein Baby,
In Wirklichkeit war dies nicht der Fall, aber über Vivians Wohnung
befand sich ein Baby. Daran anschließend spielte sie, meine Kissen
seien Babys und beim Nachhausegehen erklärte sie, sie müsse ihre
Babys doch mitnehmen. Die phallische Bedeutung des Besens und
des Balles ging auch daraus hervor, daß sie sie in den Mund oder
ins Genitale zu stecken versuchte, — sie oral oder genital einverleiben
wollte. Einmal sagte sie, sie nehme mir meine Nase weg, dann werde
sie zwei Nasen haben und fügte hinzu, wer mir wohl die Nase gg.
geben hätte, ob der Doktor? (Der Vater gab der Mutter den Penis.')
Ihre aggressiven Regungen waren sekundär durch verschiedene
Momente verstärkt worden. Sie begründete ihren Wunsch, das Spiel-
zeug der andern Kinder mitzunehmen, damit, ihr eigenes sei schlecht
oder kaputt (ihre Kastrationswünsche waren durch die Angst ein be-
.■^ehädigtes oder minderwertiges Genitale zu besitzen, verstärkt wor-
den). Einmal verletzte sie ihren Finger und verlangte nun so hartnäckig
den Besen nachhause nehmen zu dürfen, daß ich nachgab. Der Besen
der große Finger sollte einen Ersatz für den beschädigten Finger -■
bilden. .-i-;; •: 11
Der „gute" Penis stellte einen Schutz gegen das „böse" introjizierte
Objekt dar. Diesem galt ihre tiefste Angst: durch den Besitz eines
gewünschten Gegenstandes konnte ihre Angst gemildert werden
Wenn sie den Gegenstand aber nicht bekam und ihre Angst sehr stark
war, erbrach sie (um sich vom gefährlichen Objekt zu befreien). Sie
wollte immer das Spielzeug der andern Kinder haben (jedes Kind hat
sein Spielzeug in einem besondern, abgesperrten Kasten) und sagte,
sie werde in der Nacht kommen, um es zu stehlen. Deshalb fürchtete
sie nun als Vergeltung, daß die andern Kinder ihr Spielzeug stehlen
würden und wollte es nachbause nehmen, um es vor ihnen zu sichern
(Sie muß den „guten" Penis haben, um ihn vor der sadistischen Mut-
ter zu schützen, die ihn als Vergeltung für ihre Aggression zerstören
will.) Nach einiger Zeit nahm sie die Gegenstände nicht mehr nach-
hause, sondern übergab sie im Wartegimmer der kleinen Joyce, — ,
der Patientin, die nach ihr kam, — die sie dann mir überreichte. Auf
diese Art wollte sie Joyce, die für sie eine Mutterimago darstellte
a) versöhnen, b) ihren Neid erwecken. Sie mußte das „Gute" also auch
haben, damit sie es der Mutter geben könne und damit sie den Keid
der Mutter wecke.
Vivians primärer Wunsch nach dem „guten Penis" („Kastrations-
kompiex") wurde also durch verschiedene Momente verstärkt: 1, J;«
I
Die Spielanalyse eines dreijährigen Mädchens 203
bildete einen Schutz gegen den „bösen" Penis. 2. Sie konnte nicht
glauben, daß es ihrer sei, daß er wirklich gut sei ustt. und mußte
deshalb immer Trieder konkrete Dinge haben, die einen Penisersatz
bedeuteten. 3. Sie wollte ihn besitzen, um ihn vor der sadistischen
Mutter zu schützen. 4. Er half ihr, ihr eigenes beschädigtes Genitale
wiederherzustellen. 5. Sie mußte ihn besitzen, um in der Lage zu sein,
ihn der Mutter zurückzuerstatten. 6. Dadurch konnte sie über die
Mutter Macht gewinnen, ihren Neid und ihre Angst wecken.
Vivian war sehr unverträglich mit andern Kindern; diese
bedeuteten für sie Elternimagines, deren Besitz beneidete Körper-
teile oder Besitzstücke der Eltern. Einmal spielte sie in der Analyse
— nachdem sie mit Euss gespielt hatte — sie werfe (imaginären)
Sand auf (imaginäre) Kinder; dies pflegte sie in Wirklichkeit zu
tun. Diese Handlung bildete einen Ersatz für einen analen Angriff
gegen die Eltern. An andern Kindern rächte sie sich auch für das,
was ihre Eltern ihr zugefügt hatten. Einmal hatte Vivians Mutter
die Stunde dadurch gestört, daß sie an der Türe klopfte; in der darauf-
folgenden Stunde klopfte Vivian sehr aggressiv an die Tür, um Joyce
(meine andere kleine Patientin) zu stören. Vivian wollte das Zimmer
gewöhnlich nicht verlassen oder alles Begehrenswerte mitnehmen,
weil sie es Joyce nicht gönnte. War ich mit Joyce allein, bedeuteten
wir für Vivian die vereinigten Eltern, die miteinander ein Geheimnis
haben und die sie nicht stören darf. Dabei befürchtete sie, daß wir
uns als Strafe für ihre Aggression gegen sie verbünden; Vivian
hatte Angst vor Joyce, obzwar Joyce schwächer und kleiner war.
Diese Angst verstärkte ihren Haß und Neid. Sie lieh z. B. andern Kin-
dern kein Spielzeug, weil sie fürchtete, daß diese es ihr beschädigen
würden, als Vergeltung dafür, daß sie deren Besitz zerstören wollte.
Vivian pflegte meine andern Kinderpatienten zu verleumden;
sie behauptete von ihnen meist Dinge, die sie selbst angestellt halte
oder anstellen wollte. Sie projizierte ihre verpönten Triebregungen
auf die andern Kinder, und identifizierte sich mit dem verurteilenden
Über-Ich, um meine Liebe und Bewunderung zu erringen. Ähnlich
bat sie mich anfangs, Spielfiguren zu zerbrechen und nachher be-
klagte sie sich bei der Mutter deswegen. Diese Vorstellungen gingen
auf die sadistische Auffassung des Koitus zurück; die schlimmen
I^inder stellten die sadistischen Eltern dar. Indem sie ihre Aggression
auf den Vater projizierte, wollte sie der Mutter beweisen, daß sie
(Vivian) besser sei, und die Mutter sie deshalb dem Vater vorziehen
solle. Das Gleiche wollte sie meinen andern Patienten gegenüber
erreichen.
Vivians Angst vor Musik erwies sich als ein hartnäckiges
204 Melitta Schmideberg
Symptom, Die Analyse hatte ergeben, daß sie Lärm mit der Vorstel-
lung des sadistischen Vaters verknüpfte {die Männer zerbrechen das
Haus) und auch mit dem Geräusch beim Urinieren und Defäzieren
assoziierte. Aber ihre Angst schwand erst, als sie einmal klagte, si©
hätte schreckliche Kopfschmerzen, weil ihr Baby so geschrien hatte
und ich ihr nun deutete, sie selbst hätte als Baby so geschrien, damit
die Mutter Kopfschmerzen bekomme (sie wollte ihr durch das Schreien
den Kopf zerbrechen); nun fasse sie Musik und Lärm als Vergeltunff
hierfür auf^). Als sie nun am nächsten Tag Musik hörte, zeigte sie *
keine Angst, spielte aber, die Puppe sei krank, weil sie Musik gehört
hatte. Als ihre Angst sich vermindert hatte, konnte sie durch das
Spiel bewältigt werden. Zu dieser Zeit zeigte sie Angst, wenn sie die
Mutter nicht im Wartezimmer vorfand; sie unterdrückte ihr Weinen
machte aber „Musik", die einen Ersatz für das Weinen darstellte und
wirklich jämmerlich klang. Nun war der genaue Zusammenhang z-ppi,
sehen „Musik" und dem Weinen klar.
Vivian projizierte ihre eigene, im Schreien sich äußernde Aggres-
sion auf den Vater. Dadurch entstand ihre Vorstellung vom sadisti-
schen, die Mutter durch Lärm zerbrechenden Vater. Durch Identi-
fizierung mit diesem sadistischen Vater verstärkte sich wiederum
ihre primäre Aggression.
Einmal spielte sie, sie sei der Doktor, der mir in den Hals schaue,
und mir dabei etwas Böses, das „chii" mache (schreie) herausnehme! kj
Das was in mir schrie, — die eigene Aggression, — die sie dem bösen* *
die Menschen durch Lärm zerbrechenden Vater gleichsetzte, machte
sie also krank. Wenn sie Musik hörte, die sie als Vergeltung für ihp fli
Schreien empfand, erbrach sie oft. Einmal sagte sie mir lachend
„iß das Feuer", während sie mit Wasser pantschte. Im nächsten 'M^l
ment klagte sie über Haare im Mund und bekam intensive Angst
Hätte ich sie damals nicht nachhause gehen lassen, hätte sie zweifel-
los erbrochen. Sie kratzte mich einmal und am nächsten Tag war sie
sehr unwohl und litt an Erbrechen. Als sie beim Arzt war, der dieses
Symptom für hysterisch hielt, zeigte sie ihm einen kleinen Kratzer
am Finger. Weil sie mich gekratzt hatte, fürchtete sie, etwas Gefähr-
liches, Kratzendes in sich zu haben, — dies versuchte sie zu erbre-
chen. Diese Angst wollte sie durch das Vorhandensein eines äußer-
lich sichtbaren Kratzers beruhigen und so beweisen, daß nicht sie s-a
kratzt hätte, sondern daß sie gekratzt worden war. Es wiederholte sich
viermal in zwei Wochen, daß sie mir gegenüber aggressiv wurde und
s
3] AuL-!i die Worte der Mutter faßta eio als Vergoltuti); ihrer iici ^,^„ „u-ucrnri
AggrcBeinn auf. Jbre UnftilgMinkoil, ilir „Niflit-Hören"' bmltulyte eine VerlcugnunR dos An« *^
l=i.-lireien eh-h fiiEenidt
... ... _ Verleugnung dos An^e
obiektee, ein NicIit-zur-KenDtnis-Neluiien der Worte der Sliitler.
Die Spiehiiiiilyse eines [iroiiäiirigeii Mädchens 205
prompt darauf ein hysterisches Symplora bekara^). Sie spielte öfters
die Puppe sei krank, wei) sie Schmutz gegessen hätte. Das Er-
brechen bedeutete einen Versuch sich vom brennenden, haarigen
Penis, von etwas Schreiendem, Kratzendem, Gefährlichem, Schmutzi-
gem zu befreien. Wenn sie aggressiv war, wurde das verinnerlichte
Objekt in ein böses verwandelt, von dem sie sich befreien mußte.
Vivian hatte zuerst im Alter von drei Monaten AngstvorMän-
nern, vor allem vor dem bärtigen Großvater gezeigt. Im Alter von
vier Monaten begann sie zu erbrechen. Die Angst vor Männern galt
dem Vater. Manifest halte sie aber nie Angst vor dem Vater gezeigt.
Die Angst vor dem Vater war teilweise durch Verdrängung ihrer
libidinösen, auf den Vater gerichteten Wünsche bedingt, teilweise
durch ihre Kaslrationswünsche hervorgerufen. Sie spielte z. B., ich
sei ein „Säugling in der Wiege", und wolle jemandem den Finger ab-
beißen; dann schreie ich aber vor Angst, weil ein bärtiger Mann mir
den Finger absehneiden wolle. Ihre Angst vor dem Vater war auch
durch die sadistische Vorstellung des Koitus bedingt. Sie projizierte
ihre eigene Feindseligkeit auf den Vater, aus dem Wurisehe, er solle
der Mutter weh tun, und nun fürchtete sie, er würde ihr das Gleiche
antun. Sie erklärte, daß der Doktor die Patientin foltere; zu einer
späteren Zeit sprach sie aber davou, daß sie selbst mich foltere. Diese
Projektion verursachte ihre Angst vor dem Arzt. Mit dem Forlsehrei-
ten der Analyse und dem Bewulitwerden ihrer Aggression trat die
sadistische Vorstellung des Vaters zurück und die liebende Einstel-
lung wurde deutlicher.
Eine „Unart" Vivians war, daß sie sich weigerte, sich die
l^ägelschneiden zu lassen. In der Analyse spielte sie öfters,
daß sie mir die Nägel schneide, — tat dies aber so, daß sie mir dabei
den Finger niitabgesehnitten hätte, wenn ich sie nicht daran gehindert
hätte. Das Nägelschncidcn faßte sie als Strafe für das Kratzen auf,
fürchtete aber, daß die Mutler ihr nicht nur die Nägel, sondern auch
die Finger abschneide. Als passageres Symptom trat Hinken auf.
Eines Tages konnte sie plötzlich nicht gehen. Es zeigte sich, daß dies
die Strafe dafür war, daß sie mich am Vortage gestampft hatte und
daß sie den Spielfiguren Arme und Beine abzubrechen pflegte. Fol-
gende Bemerkung ergab aber erst den Schlüssel dazu: Joyce (meine
andere kleine Patientin) stand den Tag vorher mit am Rücken ver-
schränkten Armen da, und Vivian sagte beim Hinausgehen: „Joyce
hat ihre Hände verloren." Zur Strafe dafür, daß Joyce ihre Hände
*) Ein Syinpliirii, das als Reuktiim auf ilira AggresBiuii niirtnil, w;ir U r t i i' a i' i n. (Sie be-
ksra zienilieli Iiiiufig Urlinarin.) Reitilem. ir^li in die£eni ZiiEiminienliang die iin!>Gwiißte EodeMUing,
die dieser AiisHchlag für sie iialte (vnr allem eine Nni:l[-Außeii-Vei]ea:iiiig des „Bösen", Bren-
nenden, Koti;T]) analysiert Jintte, ist er niehl mehr aufgetreten,
Zeitschrift 1. pen. Päd., VITI/5-8 . &
!
206 Melitta Schmideberg . .,_.,<)■: .; |
—^^^..^ - - I
verloren hatte, — nämlich weil Vivian sie ihr abbrechen wollte
verlor sie nun ihr Bein, d. h. hinkte. Nach dieser Stunde sehwand <Jqo
Symptom, trat aber noch vorübergehend auf, als sie im Wartezimu^Q-
Joyce begegnete. Als sie wieder auf der Straße war, konnte sie aber
schon normal gehen.
Vivian sträubte sich oft, wenn die Mutter sie ankleide^g
Einmal setzte sie mir ihren Hut auf und erklärte dann lachend: „Jetzt
ist eine Maus auf deinem Kopf, die wird dich beißen." Manchmal behielt
sie in der Analyse den Hut auf und erklärte, es sei „Schabbes". Xia.-
durch, daß sie den Hut aufbehielt, wurde sie ein Mann; der Hut stellte
den begehrten Penis dar. Wenn sie meinte, der Hut verwandle sich in
eine Maus, so symbolisierte er den gefährlichen, beißenden Penis
Kleidungsstücke bedeuteten für sie Liebesbeweise (die Lieblosigkeit
der Mutter illustrierte sie durch die Behauptung, die Mutter hätte sie
frieren lassen), Kleidungsstücke sind gute Dinge, die sie ■wärmen.
schützen, verschönern; andererseits können sie auch gefährlich sein.
daher ihr Sträuben beim Ankleiden. Das Anziehen eines Kleidungg,
stükes setzte sie der Einverleibung dieses gleich.
Ich erwähnte schon, daß Vivian vor der Analyse nicht an P a v o r
nocturnuB gelitten hatte, dieser aber im Verlauf der Beliandlung
auftrat. Dieses Symptom war weitgehend durch ihre Vorstellung vom
sadistischen Verkehr der Eitern bedingt. Sie hatte sowohl Angst um
die Eltern, als auch Angst vor ihren Angriffen (als Vergeltung ftir
ihre Aggression). Sie wollte z. B. in der Nacht kommen und das Spiel-
zeug der andern Kinder stehlen; ähnlich wollte sie die Eltern in der
Nacht angreifen und ihre Genitalien stehlen. Ich erinnere hier auch
an ihr Spiel, daß wir zusammenschlafen und eine Maus aus meiuem
Rücken herauskommt und sie beißt oder ich selbst mich in eine Maus
verwandle. Vivians Puppe konnte nicht schlafen, weil sie fürchtete,
aus dem Bett geworten zu werden. Dies war die Strafe für die analoge
Aggression. Vivian war sehr gehemmt und unselbständig, als sie in
Analyse kam; sie kletterte z. B. nie auf einen Stuhl, weil sie fürchtete,
daß ich sie hinunterstoßen könnte. Mit Vorliebe warf sie aber kleine
Spielfiguren — die Eltern — um, brach ihnen die Beine ab und pro-
bierte dann, ob sie noch stehen könnten. Sie klagte, wenn sie ein-
schlafen sollte, daß sie nichts sehe, wenn sie die Augen schließe, gj^
fürchtete 1. daß ihre Augen als Strafe für ihr aggressives Schauen
beschädigt würden, 2. daß sie nicht sehen könne, was vor sich geht
und 3. daß sie ihre Augen nie mehr werde öffnen können. Diese Änggj-ä
waren jedoch noch nicht genügend analysiert, als Vivian mit der ßo-'
handluug aufjiörte.
Vivians Angst vor dem Zug klärte sich folgendermaßen aufj
Die Spielanalyse eines dreijährigen Mädchens 207
Einmal spielte sie, sie fahre im Zug. Sie halte den Tisch umgedreht
und war hineingekrochen. Plötzlich fürchtete sie, sie werde nicht
mehr herauskönnen. Aus den Einzelheiten ging hervor, daß das Innere
des Tisches das Innere des Mutterleibes bedeutete, in das sie ein-
dringe, aus dem sie aber nicht mehr herauskönne. Bemerkenswert ist,
daß es ihr in dieser Stunde, in der sie am deutlichsten ihre Angst, im
Mutterleib gefangen zu sein, agiert hatte, zum ersten Mal gelang
selbst die Türe zu öffnen. Ihre Angst vor dem Zug war auch durch
das Geräusch des Zuges und den Dampf bedingt. Im Zug konnte sie
nicht urinieren, und wenn sie doch einnäßte, fürchtete sie als Strafe
dafür vom Dampf (dem Urin der Lokomotive) verbrüht zu werden.
Der Zug bedeutete für Vivian den lärmenden, urinierenden, brennen-
den, rauchenden Vater. Ihre Angst vor dem Rauch ging auf das Rau-
chen des Vaters zurück. In späteren Phasen der Analyse spielte sie
gerne, daß sie im Zug zur Großmutter fährt. Ich sollte eine schöne
Station bauen und aulpassen, daß der Zug die Station nicht zerstöre;
sie wollte sich versichern, daß der elterliche Verkehr (das Fahren des
Zuges) nicht gefährlich sei, nicht die Station (die Mutter) beschädige,
daß der Zug sie nicht an gefährliche Orte (in das gefährliche Innere
des Mutterleibes) bringe, sondern zu ihrer Großmutter.
Solange Vivian mir beweisen wollte, daß sie brav sei, vermied sie
es mit Wasser zu spielen. Als die vorhin beschriebene Gharakter-
änderung einsetzte, identifizierte sie sich mit dem sadistischen Vater
und nun pflegte sie Wasser auf den Boden zu gießen. Sie wollte das
Zimmer überschwemmen. Sie meinte, ich könnte auf dem nassen
Boden ausrutschen und erzählte mir von jemandem, der sich auf diese
Art den Fuß gebrochen hatte. Sie wollte Wasser auf mich gießen,
damit ich eine Erkältung bekomme. Die Analyse des Zusaninienhan-
ses zwischen diesen urethralsadistisehen Phantasien und den E r-
kältungskrank heilen bewirkte, daß die Anfälligkeit von
Vivian, — die früher jedesmal, wenn sie bei schlechtem Wetter
draußen war, eine Erkältung bekam, — sich wesentlich verminderte.
Einmal ließ sie Wasser fließen und sagte, es sei „Wiwi". Ein ander-
mal hielt sie etwas unter die Wasserleitung, um es zu „verbrennen".
Beim Waschen des Fußbodens erklärte sie, das „Baby" — nämlich das
Staubtuch, aus dem ich öfter ein Baby gemacht hatte — mache Wiwi.
Auf meine Deutung, sie selbst wollte auf den Fußboden Wiwi machen,
lacht sie erst und sagt dann, sie schlägt das Baby, weil es Wiwi ge-
macht hat. Ich erkläre, die Mutter hätte sie geschlagen, wenn sie naß
gemacht hat. Darauf sagte Vivian klagend: „Ja, und sie schlägt
so fest."
Vivian war erst gegen Ende des zweiten Jahres unter großen
15'
208 MeVilUi Schmideberg
Schwierigkeiten sauber geworden. In der Analyse trat wieder Näs-
sen auf, das teilweise durch das stärkere Agieren der urethral
sadistischen Phantasien, teilweise aber auch dadurch bedingt -war
daß sie die gefährliche Handlung agieren mußte, um zu sehen ob
diese wirklich so gefährliche Folgen nach sich zieht, wie sie he-
füchtete. Das Auftreten passagerer Symptome, deren unbewußter Xn-
halt vorwiegend sadistische Phantasien sind, scheint häufig durch
diesen Mechanismus verursacht zu werden. Durch das Bewußtwerden
der urethralsadistischen Phantasien in der Analyse wurde der XJrin
von Vivian in stärkerem Maße als etwas Gefährliches empfunden, yq«
dem sie sich durch Nässen zu befreien suchte.
Besonders im späteren Verlauf der Analyse traten auch die mit dem
Nässen und Waschen verknüpften libidinösen Phantasien und Wieder-
gutmachungstendenzen deutlicher hervor. Nun wusch sie immer wie-
der die Möbelstücke und den Fußboden, wobei sie ihr eigenes Taschen-
tuch {Ersatz für ihren Körper) verwenden mußte, — um die vorher
agierten Beechmutzungs- und Zerstürungstendenzen gutzumachen
Gleichzeitig wusch sie sich selbst, ihr Taschentuch, wollte ihre Klei-
dung waschen usw. Auf diese Art bewältigle sie nun ihre Angst
daß etwas Gefährliches, Schmutziges in ihr sei, — eine
Angst, die früher zum Erbrechen geführt hatte oder die sie nur durch
ihr Alles-Haben-Wollen beruhigen gekonnt hatte. Das hysterische
Symptom wurde durch eine Sublimierung ersetzt. Sie knüpfte allerlei
Grübeleien daran; fragte, welche Farbe die Seife hat, ob nun das
Wasser die gleiche Farbe haben wird, nb das Wasser nur den Sehmuta
oder auch die Farbe aus dem Tasehenluch herausnehmen wird usw I
— ob das Wasser heilsam oder schädlich sei, eine Frage, die aur
Befürchtungen beim sadistisch aufgefaßten Koitus, sowie bei deri
Onanie zurückging. Sie schloß z. B. an ihre Grübeleien, ob das Wasser
nicht die Farbe herausnehme, plötzlich die besorgte Frage, wieso in:]
der Seife ein Loch sei? (Sie hatte kurz vorher eine Höhlung gemacht >
Sie äußerte auf diese Art (sowie durch anderes Material) die Bp_'
sorgnis die Vagina sei ein zufolge der Onanie entstandenes Loci
im Körper.
Vivian litt seit dem Alter von zwei M^ochen an Obstipatio
Alle Motive, die ihre geizige Einstellung, ihre Unfähigkeit zu schen-^
ken bedingten, verursachten auch ihre Verstopfung. Ihr Trotz und ihr
Wunsch, alles Gute für sich zu behalten, wurden durch Angst noch
verstärkt. Weil sie das Spielzeug der andern Kinder wegnehinen
wollte, weil sie in der Nacht deren Besitz stehlen wollte, versteckte aia.i
ihren Besitz, um ihn vor den andern zu schützen. Vivian befürehte+p.
daß die Mutter sie angreifen würde und mußte deshalb die „gute
Die Spleliinalyse oines dreijährigen Mädchens 20^
Exkremente" und den Penis des Vaters vor ihr geheimhalten. Inso-
ferne sie mit dem Defäzieren aber sadistische Phantasien verband
und die Exkremente als gefährliche Waffen aulfaßte, führte die Ver-
drängung dieser Phantasien zur Obstipation. Im späteren Verlauf
der Analyse konnte sie freier mit dem Defäzieren sowohl sadistische
als auch iibidinöse Phantasien verbinden und eich hierbei mit dem
potenten Vater und der guten spendenden Mutter identifizieren. Zu-
gleich wollte sie nun durch das Defäzieren beweisen, daß sie „gute
Exkremente" besitze und so den Neid der Mutter wecken.
Vivians Eßschwierigkeiten waren eng mit ihrer Bezie-
hung zur Mutter verknüpft. Sie wollte die Mutter im Ganzen oder in
Stücken verzehren. Sie agierte dies in der Analyse, indem sie nieme
Kleidungsstücke biß und mich selbst „foltern" (beißen) wollte. Ihre
Eßsehwierigkeiten galten vor allem fester Nahrung und waren durch
ihre Beißhemmung bedingt. Das Essen stellte einen Ersatz für die
Mutterbrust dar und war ein Liebesbeweis. Diesen konnte sie aber
nicht annehmen, a) aus Schuldgefühl der Mutter gegenüber, b) wei
die homosexuelle Einstellung zu starke sadistische Elemente enthiel
und eine Identifizierung mit dem sadistischen Vater bedeutet^e, c) weil
sie die Rivalitätseinstellung zum Vater vermeiden wollte, d) weil sie
zufolge der Projektion ihrer eigenen Aggression die Mutter a s
schlecht und schmutzig empfand and das Essen, das sie ihr gab, als
Exkremente und Urin auffaßte. (Ich erwähnte früher, daß sie Wass r
als Wiwi" bezeichnete und mir Ruß als „Babys Ovaltine und „ loast
anbot) Ich habe ihr Mißtrauen der Mutter gegenüber ausführlich be-
schrieben; dieses führte dazu, daß sie das Essen, das die Mutter ihr
^ab als schmutzig empfand, in Wirklichkeit dabei aber Schmutz aß.
"^ Vivian war ein „trinkfauler" Säugling gewesen. Dies erklärte sich
zum Teil dadurch, daß bei der Geburt (es war eine Zangengeburt ge-
wesen) ihre Lippe verletzt worden war. Sie saugte aber, nacli-
dem die Lippe geheilt war, auch nicht besser. Vivians Sauge- und EU-
Schwierigkeiten waren vorwiegend durch die Abwehr gegen den
oralen Sadismus bedingt. Der Umstand, daß Vivian zunächst zufolge
der Verletzung nur schlecht saugen konnte, nur wenig Befriedigung
fand, dürfte den oralen Sadismus gesteigert haben und dies scheint
wieder eine Störung der Nahrungsaufnahme bedingt zu haben. Im Alter
von sechs Wochen wurde Vivian entwöhnt, mit drei Monaten zeigte
sich starke Angst vor Männern, mit vier Monaten trat hysterisches
Erbrechen auf. Die Entwöhnung verstärkte ihren oralen Sadismus
und Neid und bewirkte eine Zuwendung zum Vater. Da aber der Vater
ihre libidinösen Wünsche auch nicht befriedigte, richtete sich ihr
Sadismus — und in der Projektion: die Angst — gegen diesen. (Vgl.
210 Melitta Sehmideborg
das Spiel, wo der Säugling den Finger abbeißen will, S. 205.) t)^^
das seit dem Alter von vier Monaten auftretende Erbrechen auf ^
Angst vor dem bösen introjizierten Objekt zurückging, habe ich scho^
ausgeführt.
Vivian war schon im Alter von sechs Monaten fast sauber, ß-
Mutter beging nun den Fehler, sie auf einem Stuhl mit eingebautem
Topf sitzen zu lassen, so daß das Kind wieder verlernte zu bestimmte
Zeiten zu urinieren. Erst gegen Ende des zweiten Jahres gelang gg
der Mutter mit großer Mühe unter Anwendung häufiger Strafe
Vivian an Reinlichkeit zu gewöhnen. Es scheint zweifellos, daß dies
doppelte Reinlichkeitsgewöhnung ungünstig wirkte und auch dazu
beitrug, Vivians Glauben, daß die Mutter ihr immer das Schlechte
gebe, von ihr das Verkehrte verlange, ihren guten Willen nicht »
erkenne usw. verstärkte. Vivians Symptome und Charakterfehler
(Eigensinn, Unersättlichkeit, Unzufriedenheit usw.) bestanden schon
im ersten Lebensjahre, verstärkten sich aber im zweiten und dritten
Jahre noch. Hierzu trug sicherlich auch der Umstand bei, daß ^^
durch, daß das Nässen im zweiten Jahr aufhörte, die bisher im Nässe«
befriedigten Tendenzen auf die andern Symptome verschoben wurd^«
und diese verstärkten. "
Bei der Untersuchung der Struktur dieses Falles habe ich ana-^
nommen daß die unbewußten Determinierungen der Symptome, it
die Analyse im Alter von drei Jahren aufdeckte, auch schon zu der
Zeit, als die Symptome zum ersten Mal auftraten, wirksam waren
Diese Annahme kann nicht bewiesen werden. Es ist aber die gleich.
Annahme, die die Psychoanalyse machte, als sie aus Erwachsenen
analysen auf die frühe Kindheit dieser Patienten RückschlüsT«
machte. So wie diese Rückschlüsse aber erst durch direkte BeX
achtungen an kleinen Kindern gesichert werden konnten, köunen
Rückschlüsse auf das Säuglingsalter erst durch weitere Analysen
kleiner Kinder, deren Symptome auf das Säuglingsalter zurückgehen
und durch direkte Beobachtungen über das Verhalten und die N^y
rosen von Säuglingen wahrscheinlich gemacht werden.
Vivians Fall beweist die Bedeutung konstitutioneller Faktoren-
es bestand bei ihr eine frühreife Ich-Entwicklung und Triebentwick"
lung, ein frühes Einsetzen der genitalen Kegungen und des Ödipug"
konfliktes in Beziehung zu realen Personen. Es wird häufig ane
nommen, daß jüdische Kinder in jeder Hinsicht frühreifer sind, do(^
■wurde diese Auffassung bis jetzt noch nicht im Lichte der psych
analytischen Ergebnisse untersucht. Weitere konstitutionelle Fakt^'
ren in diesem Falle waren: Unfähigkeit, Spannung und Angst zu e^'
tragen, starke Ambivalenz und besondere intensive Triebregungel"
Die Spielanalyse eines dreijährigen Mädchens 211
vor allem eine Verstärkung des Oralsadjsmus. Diese verschiedenen
konstitutionellen Faktoren seheinen sich gegenseitig zu beinflussen
und als Reaktion auf bestimmte äußere Erlebnisse verstärkt zu wer-
den. Z. B, dürfte der Umstand, daß Vivian zufolge der Lippenver-
letzung nicht gut saugen konnte sowie die frühe Entwöhnung eine
Steigerung des Oralsadismus bewirkt zu haben. Andererseits führt
ein starker oraler Sadismus — wie wir wissen — zu einer verfrühten
Ich-Entwicklung und einem vorzeitigen Einsetzen der genitalen Re-
gungen. Die Tatsache, daß Vivian wenig oral-erotische Befriedigung
erhielt, dürfte ihre Unfähigkeit, Spannungen zu ertragen, verstärkt
haben.
Dieser Fall zeigt zugleich airch die Bedeutung der äußeren Er-
lebnisse im Säuglingsalter. (Die Lippenverletzung, die frühe Entwöh-
nung, das Verhalten des Vaters und die doppelte Reinlichkeitsgewöh-
nung.) Die Neurose dieses Kindes hatte sich im ersten Lebensjahr
entwickelt und war sowohl durch konstitutionelle Faktoren als auch
durch die psychischen Reaktionen auf bestimmte äußere Erlebnisse
bedingt. Die Neurose steigerte sich im zweiten und dritten Jahre. In
diesem Alter ereigneten sich keine bestimmten, traumatisch wirkenden
Erlebnisse. Aber die Summation der täglichen Ereignisse ist sicher-
lieh nicht weniger wichtig. Icli erwähnte schon, daß Vivians Um-
gebung sie übermäßig verwöhnte und zu ihrem allklugen Wesen stark
beitrug Vivians Mißtrauen der Mutter gegenüber war teilweise die
Reaktion auf die ambivalente Einstellung der Mutter. Die Mutter hatte
eine gewisse Neigung zu Lügen und Ausreden zu machen. Zu-
gleich war sie aber eine gute Mutter, wie auch überhaupt Vivians
Umgebung sicherlieh nicht ungünstiger war, als die Mehrzahl der
Familien in diesen Kreisen. Die Tatsache, daß Vivian ihren Vater
wochentags kaum sah, verstärkte ihren Glauben, daß die Mutter ihr
alles Gute, also auch den Vater vorenthalte.
*
Ich möchte in diesem Rahmen darauf verzichten, aus dieser Analyse
theoretische Folgerungen zu ziehen und nur kurz darauf hinweisen,
daß dieser Fall verschiedene neuere theoretische Annahmen bestätigt.
Vor allem: die frühe Entwicklung des Ödipuskomplexes und der Über-
Ich-Bildung^); das Vorhandensein von Serien von ödipuskernsituatio-
nen«); die Komplexität der sogenannten „phallischen Phase'); die
Rolle der Vagina in der fr ühen Kindheit^); die psychologische Be-
51 Moinnic K I B i »■ Die pBVchottnaK'Be ilea Kindes. I. V. V. 1932.
B Edward Glover: Zur Itlologfe d.r Sucht Inl ZtBd^. t Psa. m) und A Psyclm-
Analvtic Approach to the ClossilionlioD of Mental Dieorders. The Joiarn. of Med. t-'nence. 1932.
i-xxvin
i) Erneet Jones: The Phallic Phase: Int. Jonrn. of Fe. A. 1933. XIV,
B) Horcey, Klein. Müller: Literatur sielie bei Jones.
212 Melitta Sclimideberg
deutung des Schreiens*); die Rolle der Kleidung in der Überwindun
der paranoiden Angst"). ®
Vivians Symptome waren vorwiegend durch ihre sadistischen Tm
pulse (Schreien, Beißen, Stampfen, oral-, anal- und urethralsadistische
Regungen) verursacht; doch dürfen die libidinösen Faktoren hierh "
nicht übersehen werden. Überdies hatten die aggressiven Reguue
auch ein libidinöses Ziel, — sie waren auf die libidinöse Befriedig^^"
seitens des Vaters oder der Mutter oder den Besitz des Penis gericht f
Wenn auch zweifellos in der Hysterie die libidinösen Faktoren ej^ '
größere Rolle spielen, als in andern Erkrankungen ~ was auch ^ ^^
aus hervorgeht, daß die Konversionssymptome sich am Körper »b"
spielen und meistens mit den erogenen Zonen verknüpft sind
zeigt dieser Fall doch, daß das Moment der Aggression für ri^*^
Ätiologie der Hysterie bedeutungsvoller ist, «1^
bisher angenommen wurde. '
Introjektions- und Projektionsmechanismen spielten in diesem Fall
eine größere, die Verschiebung und Regression eine geringere Ron
als in den bisher beschriebenen Fällen von Hysterie. Vivians K.o^'
versionssymptome (die z. T. auch als „Funktionsstörungen" mfJL
faßt werden können) bezogen sich auf die Körperteile, mittels de^t
sie die Eltern angreifen wollte (Mund, Urethra, Anus. Fuß) oder w M
die die den Körperteilen der EUern eutsprachen, die sie angreifen ''
wollte (Kopf Fuß). Das frühe Auftreten ihrer Konversionssymptom^
macht es wahrscheinlich, daß sie nur zum geringen Teil durch ^1
gression bedingt waren, - wenn ich diesen Faktor auch nicht galt
ausschließen möchte. Da bei Vivian schon in den ersten Leb^ ' M
monaten genitale Regungen wirksam zu sein schienen, besteht d' '
Möglichkeit, daß schon in diesem Alter die orale Introjektion und
Ausstoßung (das Erbrechen) zum Teil einen Ersatz für die vagin ",
Introjektion und für die urethrale Exkretion darstellte. Insofern^
diese Symptome durch Regression zustandekamen, bestand auch ei«^
Verschiebung (Mund für Vagina und UretJira). Trotzdem müaa
aber diese frühen Symptome mehr vom Standpunkt der Progressi^'*
und Fixierung als der Regression und Verschiebung betrachtet w ^"
den. Auf das wichtige Problem, welche Struktunmterschiede zwischl^
der Hysterie in der frühen Kindheit und im Erwachsenenalter K "
stehen, möchte ich hier nicht näher eingehen. ^
*
Durch was für Veränderungen im seelischen Haushalt war h-
I
N'. M. Sea r 1: Tlie Paycliology of ScrMining. Int. Journ. of Pa. A. 1933. XIV. "^^^
1") tdward G 1 V ö r: On tho Aeliolopy uf Drug-AdJictiuu. Int. J^urn. of Ps. A. 1932
Die Spielaiialysc eines dreijährigen Mädchens 213
Analyse imstande, Vivians Symptome zu beseitigen und ihre Charak-
tei'schwierigkeiten zu vermindern?
Vor der Analyse versuchte Vivian ihre Angst und Aggression zu
leugnen, zu „schlafen", brav und gehemmt zu sein. Dieser Vorgang
gelang indessen nur unvollkommen: in den immer wieder auftreten-
den Anfällen von ,Schlimmheit' kamen die unterdrückten Affekte und
die Angst in vehementer Form zum Durchbruch, — in ihren Phobien
war die noch manifeste Angst lokalisiert. Es war auffallend, wie sehr
in so frühem Alter die Angst schon in der ungünstigen Charakter-
entwicklung verarbeitet war. Die wichtigste, durch die Analyse be-
wirkte Änderung bestand darin, daß sie nun imstande war, ihre Angst,
ihre Aggression und ihre Konflikte zu ertragen, weil deren Intensität
durch die Analyse gemildert worden war. Zufolge der verminderten
Intensität konnten die Triebregungen besser sublimiert werden und
dadurch, daß sie in der Sublimierung einen ich-gerechten Ausweg
fanden, verringerte sich wiederum ihre Vehemenz. Die Befriedigung,
die sie nun in der Phantasie und im Spiel zu finden vermochte (sie war
früher sehr phantasiegehemmt gewesen: dies bildete die Hauptursache
für ihr altkluges Wesen), ermöglichte ihr auch den für die Anpassung
notwendigen Verzicht. Ich erwähnte, daß sie einmal meinen Besen
nachhause nahm; in einer analogen Situation zi. einem späteren Zeil-
penkt zeichnete sie einen. Nun genügte ihr die halluzinatorische Be-
friedigung Ich beschrieb, wie ihre Unersättlichkeit und Unfähigkeit
zu verzichten durch Störungen der Objektbeziehung bedingt warei^
und sich mit diesen zusammen milderten.
Die Angst und Triebregungen, die sie erst durch Hemmung oder
Symptome abwehrte, vermochte sie später durch Sublimierungen und
im Spiel zu bewältigen. Während ihre Angst vor dem gefährlichen
introjizierten Objekt früher zum Erbrechen oder Nässen geführt hatte,
konnte sie diese Angst nun dadurch bewältigen, daß sie z. B. ihr
Taschentuch wusch (aus diesem, d. h. aus ihrem Körper den Sehmutz
entfernte). Ich erwähnte vorhin, wie sie ihre durch die Musik ge-
weckte Angst — die früher Erbrechen verursacht hatte — durch das
Pflegen des Puppenkindes bewältigte; ein anderes Spiel, das in ana-
loger Weise ihre Angst beruhigte, war das Bauen eines Kranken-
hauses. Die Ärzte und Pflegerinnen im Krankenhaus stellten die guten
Eltern dar, die sie gesund machen; das Bauen des Krankenhauses be-
deutete das Herstellen ihres Körpers. Als sie mir einmal erzählte, sie
hätte Leibschmerzen gehabt und erbrochen, fragte ich sie, wo sie
Schmerzen gehabt hätte. Da wies sie auf die Schachtel mit den Bau-
steinen und sagte: da. Die Schachtel mit Inhalt setzte sie ihrem Kör-
per und dessen Inhalt gleich. Wenn sie aus der Schachtel und den ein-
214 Melitta Sehmideberg
zelnen darin enthaltenen Stücken ein Krankenhaus (ein ,gutes' Hai \
bauen konnte, hatte sie — unbewußt — aus ihrem zerbrochenen l^Jl
ein gutes Ganzes gemacht.
Ihre Angst und hysterischen Symptome waren weitgehend dureh
die Angst vor dem gefährlichen einverleibten Objekt bedingt. Die
Angst beruhte auf dem Gegensatz zwischen dem Ich und dem ei^v ^*
leibten Objekt. Als dieses stärker libidinisiert wurde, konnte es bess ^
mit dem Ich verschmelzen, d. h. A^ivian konnte sich mit dem sadiftf-'^
sehen Vater identifizieren. Auf diese Art wurde ihre Hemmung dur h
Aggression, ihre Geräuschangst dureh ein lärmendes Verhalten k
gelöst; durch weitere Libidinisierung wurde die Aggression zu Akf"
vität und Wißbegierde, das Lärmen zu Singen modifiziert. ^*
Während sie früher aus Angst vor dem sadistischen Vater H'
heterosexuelle Einstellung nicht einnehmen konnte, vermochte sie **
nun, nachdem der Vater für sie mehr zu einem , guten' Objekt ^*
worden war. Gleichzeitig verstärkte sich auch ihr Glaube an f^
„gute" Mutter, mit der sie sich nun identifizieren konnte, — *^
meiner Ansicht nach für die normale heterosexuelle Einstellu ^^
grundlegendes Moment. Zufolge der Verringerung ihrer Angst ka"^
sie nun sowohl die heterosexuelle, als auch die homosexuelle Einst^r
lung besser einnehmen, — sie hat zu beiden Eltern ein herzlir^i,^
Verhältnis. ^^öes
*
Vivians Analyse umfaßte siebzig bis achtzig Stunden. Die Anali.
erstreckte sich über sieben Monate. Seitdem sind eineinviertel jÄ^
vergangen. Vor acht Monaten wurde ihr eine kleine Schwester t'*
boren. Ihre Symptome: Angst, Eßschwierigkeiten, Obstipation ,f^
fassen haben aufgehört. Sie hat noch eine gewisse Schwieri^w^
beim Einschlafen, wenn sie aber einmal eingeschlafen ist, schläft ^ !■
die Nacht durch. Ihre Charakterschwierigkeilen haben sich so Lr''
vermindert, daß die Eltern sie für ein verändertes Kind erklären t^
hat eine sehr gute und liebevolle Einstellung zur Mutter, bemuttt't
und hebt die kleine Schwester, vergöttert den Vater. Ihre Anfälle l
Eigensinn haben aufgehört und sie ist ein leicht zu behandelndes .T*"^
einsichtsvolles Kind. Intellektuell ist sie sehr gut entwickelt u^t
Ihrem Alter weit voraus. Sie spielt gerne und verträgt sich gut ^t A ,
andern Kindern. Zweimal, als sie körperlich krank war, zeigte '
stärkere Angst und „Nervosität", die sich aber nach einiger Zeit w^*^
der gaben. Die Geburt der Schwester bewirkte keine Verändern,!^
Interessant sind folgende Beobachtungen der Mutter: Während Viv'
von Geburt an ein schwieriges und nervöses Kind war, das ni^^°
zufriedengestellt werden konnte, ist die kleine Schwester v j'
Die Spielanalyse eines dreijährigen Mädchens 215
kommen verschieden, zufrieden, angetfrei und leicht behandelbar. Die
Mutter erklärt diesen Unterschied damit, daß sie während Vivians
Schwangerschaft mehreremale erschreckt worden und die Geburt
schwierig war").
itv; l«:
iua- .1'
* ■ *
"] Seit Fertigstellung diesoe BprichtPS sind flinfzchn Uonate vergniigeo, Vjvian Lat eich in
dieser Zeit weiter recht aufriedcnBlellend eotwickelt.
; Aus der Analyse einer Bettnässerin
Von Anny Angel, Wien
- _ Die Analyse der kUiiien Hilie, die ürh im folgenden wieda-m,'^
üt leider imvotlendet geblieben. Das Bruchstück der ^rbeif-
ihr eruiü-ht aber durch die gelungene üyniptomheiUing vicZiJ^
trotzdem Anspruch auf ebi gewisses Interesse. "-'-»«ci'lf
Hilde kam mit zwölf Jahren zu mir: ein für ihr Alter ungew-öh
lieh großes, entwickelt und erwachsen aussehendes Kind. Sie ■«,-»
hübsch und auffallend, ihr Benehmen abwechselnd geniert und drei-i
Die Vorgeschichte, die ich von der Mutter erfuhr, war traurig ß"-^
zum dritten Jahr war das Kind angeblich gesund und völlig saub *"
gewähnt. Damals weilte die Familie in Jugoslavien bei der Groß''
mutter. Die Eltern waren genötigt für einige Zeit zu verreisen und
ließen das kleine Mädchen in Obhut der Großmutter. Als sie zurü k
kehrten hatte die Kleine inzwischen eine rätselhafte und schwe
Erkrankung durchgemacht. Niemand wußte, was es war, noch wie -^
entstand. Sie hatte sehr viel und heftig erbrechen müssen und angeblf'f
auch gefiebert. Seit dieser Krankheit bestand Bettnässen und zwa
jede Nacht ohne Ausnahme. Von der energischen und besore-i^'"
Mutter wurde alles versucht. Strenge und Milde, Schläge und V*.
sprechungen, alles umsonst. Nach Wien zurückgekehrt wanderte «,*"'
mit der Kleinen von Arzt zu Arzt. Alle Katschläge wurden oi.,!*
sprechungen, alles umsonst. Nach Wien zurückgekehrt wanderte
mit der Kleinen von Arzt zu Arzt. Alle Katschläge wurden ,
Ausnahme befolgt. Alle Arten von Diäten wurden eingehalten
minimale Quantitäten Flüssigkeit genommen, sie mußte Mo
Ausnahme befolgt. Alle Arten von Diäten wurden eingehalten n.
minimale Quantitäten Flüssigkeit genommen, sie mußte Mona.
schwer unter Durst leiden. Schlafmittel und Narkotika, eiskat
Bäder, Drohungen, wieder Schläge, und Versprechungen. Als all t
nichts half, wurde das Kind mit neun Jahren in eine Bettnässeransia^!
aufgenommen. Wieder ähnliche Prozeduren, wieder Durst und Xi\
und jeden Abend wurde überdies angeblich das Genitale mit Chlorätvl k\
vereist. Das Kind blieb zwei Monate in der Anstalt ohne den gerins-
eten Erfolg. Der Chefarzt erklärte schließlich, hier sei nichts
machen, es bestehe Hoffnung, daß das Symptom mit Eintritt der Menses
schwinden werde, wenn auch das nicht der Fall sei, könne vielleicht
eine Operation versucht werden. Die Mutter wußte nicht anzugeben
welcher Eingriff gemeint sein könnte. Hilde hatte aber von der drohe '
den Operation gehört und lebte seit diesem Tag in ständiger Ane-i
davor. Nun waren die Menses vor drei Monaten eingetreten, das Sym^
tom verschärfte sich eher noch statt sich zu verringern. Eben
steigerte sich Hildes Angst. Sie war zu keinem Arzt mehr zu bringe ^
Den Eintritt der Menses hatte sie mit Depression und Verzweiflun^'
aufgenommen. Sie war zu Hause schwer zu behandeln, trotzig, wein ^
lieh, in der Schule zerstreut, verträumt und Ubcrouipfindlicti, iiumer
in Angst, man könnte von ihrer Sehamle (ihrem Symptom) erfahren.
Der Lernerfolg war trotz ihrer augenscheinlichen Begabung naiiirlich
sehr mäßig. Der Zeitpunkt für den Beginn einer Analyse war günslig,
denn die Mutter hatte wirklich alles versucht und setzte ihre letzte
Hoffnung auf eine psychische Behandlung. Hilde war ihr einziges
Kind, trotz ärmlicher, kleinbürgerlicher Verhältnisse, halle das Kind
niemals unter Mangel leiden müssen, war immer gut crnähri, .sauber
und hygienisch aufgezogen worden. Die energische Müller spielte die
Hauptrolle in der Familie, während der Vater, der unimelligeni.
ziemlieh .stumpf und ungebildet war, in die Krziehung der Kleinen
bis dahin wenig eingegriffen hatte.
Hilde mußte erst lange überredet werden, bevor sie mich aufsuchte.
Sie fürchtete in einen Hinterhalt gelockt und docli noch operiert zu
werden. Im Gespräch mit mir beschwichtigte sicli ihre Ang.^i aber
bald, als sie erfuhr, daß ich gegen jeden arztlichen Eingriff in Bezug
auf ihr Bettnässen sei, solange sie sich bei mir in Behandlung be-
finde. Sie war sehr dankbar und erzählte bereitwillig alles, was sie
von ihrem Symptom wußte, aber das war sehr wenig. Das Betlnässen
komme jede Nacht ohne Ausnahme, sie schlafe so fest, daß sie meist
davon gar nicht wach werde. Wecken und urinieren hei Knchl hatte
nichts geholfen, denn vor- oder nachher sei das Belt doch inuner naß
geworden. An besondere Träume könne sie sich nicht erinnern, sie
wisse aber, daß sie sehr viel träume, denn sie rede oft aus dem Schlaf.
Sie habe oft Angst, besonders allein in der Wohnung und habe auch
Ekel tmd Angst vor Schlangen und Kegenwürmern. Sie kmu luuuer
mehr ins zutrauliche Plaudern, berichtete von der Lehrerin und ihren
Schulschwierigkeiten. Eine Bekannte der Mutter hiitte neulich gesagt,
nur die Buben seien gescheit genug, um zu studieren, da halte sie eich
so geärgert, daß sie sich vornahm, doch noch ins Gymim.'^ium zu
gehen, aber mit einem Dreier in Deutsch werde das schworlicb geben.
Die Schulaufsätze wollten immer nicht recht gelingen. Diesmal hätten
sie die Aufgabe, ein oder mehrere Oslermärchen zu erfinden. Ich
forderte Hilde auf, sie mir zu erzählen und tUgo sie hier wörtlich an;
/. „Wie der Osterhase zu so einem kurzen Schtvauzerl kam." Er hatte
früher einmal eine?i langen großen Schwanz, da kam der Uhc Jdßcr
und schoß ihn ihm weg, da wurde es ein ganz kleines Srumpfrrl.
2. Der Vater Osterhase macht Ostereier und schimpß sehr viel, die
Mutter kocht Chokolade, Wutzli-Putzli der Sohn ist sehr schlimm, er
nascht von der Chokolade. Kr soll dann die Eier austragen und J'äUt
mit den Eiern hin, die sind alle zerbrochen und dabei hat rr sich das
Scbwanzerl abgebrochen.
218 Aniiy Angel
;. Die neugierige Grefe belauscht den Osterhasen, wie er die Eier
malt und die Gluckhenne wie sie zusammen sprechen. Ihr Bruder kommt
dazu und gibt ihr einen Stoß, daß sie in den Farbtopf füllt und da
hat sie eine grüne Nase und den Hasen, den hat sie dabei verletzt, der
hat sein Schweif erl abgebrochen und die Gluckhenne hat sie zur Strafe
verlassen, ist mit dem Osterhasen weggezogen.
Das vierte Märchen hatte sie nur so zum Vergnügen ausgedacht.
es hat nichts zu tun mit Ostern. Es ist sehr ähnlich dem Rumpel-
stilzchen, eine deutliche Nachdichtung, nur gibt es vier Teufelchen
und Patzli-Mur ist einer der vier, deren Beschäftigung es ist, Kinder
in den Wald zu verführen, die dort ihre Seele dem Teufel verkaufen
sollen.
In diesen Märehen hatte Hilde schon viel von ihrem Geheimnis
verraten. In der ersten Geschichte ist ein böser Mann schuld, daß sie
ein so verstümmeltes Genitale hat. Im zweiten Märchen gibt sie ein
getreues Familienbild, denn ihr Vater sehimpft zu Hause so viel
herum, besonders mit ihr und die fleißige und arbeitsame Mutter
muß sie immer in Schutz nehmen. Aber Verbotenes, heimliches Naschen
des Kindes dieser Familie wird schwer bestraft. Ein Unfall ver-
stümmelt es. Hier hat das Kind sich die Strafe selbst zugezogen. Im
dritten Märchen erfahren wir noch mehr über ihre eigene Schuld an
der Versttimmehmg und dem Sehandfleck. Neugier ist schuld, sie hat
eine nicht für sie bestimmte Szene belauscht und beobachtet und wird
deshalb bestraft. Im vierten endlich spielt ein böser Teufel, der ein
Kmd verführt, eine Rolle.
Einige Wochen später brachte Hilde einen Traum, der uns wieder
um ein wichtiges Stück dem Verständnis näher brachte. Er lautet:
Sie geht mit der ganzen Schule auf der Straße, die Lehrerin ist auch
dabei. Da kommen angeheiterte Burschen ihnen in den Weg und rauben
: „^ /z.Ar^« sie in ein Haus in eine Rumpelkammer. Sie solle ihnen
die Wirtschaft führen, Sie stellt sich so, als wäre sie gerne da, damit
man sie herausläßt in den Garten und dann lauft sie davon. Aber am
nächsten lag kommt sie als Pfadfinderin gekleidet wieder und die
Burschen maciren ihr Vorwürfe, daß sie davon ist. Aber sie ist dann
wieder weg m der Schule, bei der Lehrerin und dem Herrn Lehrer und
macht ihnen Vorwurfe, daß sie so wenig Acht auf sie gegeben haben.
Zu diesem Traum wollte Hilde nichts einfallen. Ich fragte sie ein-
dringlich nach Einzelheiten. Sie zuckle nur die Achseln. Dann fragte
sie plötzlich: „Was ist das ein Kreuzverhör? Ich habe es in der
Zeitung gelesen." Auf meine Erklärung sagte sie: „Ich kann mir
nicht denken, wieso diese Mörder und Unholde sich verraten! Ich
Aus der Analyse einer Bettnäsaerin 219
würde einfach immer auf alles sagen: Jch weiß nicht!' Da könnte
man mich nie überführen."
Nun wußte ich, warum sie nur mit den Achseln gezuckt hatte,
offenbar gab es etwas in ihrem Leben, das sie angestellt hatte,
worüber sie auf keinem Fall Auskunft geben wollte, und das sie mit
allergrößter Hartnäckigkeit leugnen würde. Im Inhalt des Traumes
mußte aber etwas davon enthalten sein. Sie wird geraubt und ver-
führt, aber man sieht aus dem Traum, daß sie ja einen Anteil daran
hatte, nachher aber macht sie den Aufsichtspersonen Vorwürfe, daß
sie nicht besser auf sie achtgegeben haben. An dieser Stelle konnte
man schon vermuten, daß diese Vorwürfe sich gegen die Eltern
richteten, die sie damals mit drei Jahren allein ließen, und es wurde
wahrscheinlich, daß sich damals während der Abwesenheit der Eltern
etwas Traumatisches im Leben der kleinen Hilde ereignet haben
mußte, an dem sie selbst schuld zu haben meinte.
In den nächsten Wochen gab Hilde mir Gelegenheit, mit ihr über
sexuelle Probleme zu sprechen. Der Anlaß war ein wenig merk-
würdig. Die Lehrerin hatte verlangt, die Kinder sollten Worte sagen,
die mit der Silbe „Ver" beginnen. Hilde hatte sich gemeldet und hatte
rasch herausgeschrien: „Verliebt, verlobt, verführt, vergewaltigt.'*
Sie stellte sich dabei auch noch mir gegenüber so, als hätte sie keine
Ahnung vom Sinn dieser Worte. Der Schwindel war so plump, daß
sie ihn selbst bald durchschauen mußte, und dies führte zur Be-
sprechung dessen, was sie über sexuelle Vorgänge wußte, nur daß sie
dabei etwas plumper vorgab, nichts zu wissen, als andere Kinder dies
zu tun pflegen. So behauptete sie natürlich, vom Geschlechtsunter-
schied gar nichts zu wissen und erklärte schließlich: „Ach, natürlich,
ich hab' ja vergessen, man muß die Säuglinge bei der Geburt bloß
gleich röntgenisieren und dann kommt man wohl darauf." Dieser
Sehwindel verriet, daß sie besondere Angst hatte zuzugeben, daß sie
vom dem Genitale schon zu viel wisse. Es stellte sich auch bald her-
aus, daß Hilde nicht weniger als drei Exhibitionisten gesehen hatte,
und daß vor vier Jahren ein Tischler einen Betastungsversuch an ihr
vorgenommen hatte, dem sie sich durch wilde Flucht in panischer
Angst entzogen hatte. Es brauchte also nicht mehr zu überrascheu, daß
sie mich in der nächsten Stunde über den Sinn und Gebrauch der
Präservativs ausfragte, und schließlich kam die Frage nach dem Sinn
der Menstruation. Hier zeigte sich ihr Unwillen, daß sie ein Mädchen
sei und so etwas haben müsse, während es doch den Buben so viel
besser gehe.
Nun folgte eine lange Widerstandsphase, in der sie immer wieder
erklärte, sie wolle zu den Ferien nicht nach Jugoslawien fahren
220 Anny Angel
(derselbe Ort, an dem sie erkrankt war iiTid den sie in den Ferien
fast jedes Jahr wieder besuchte). Als Gnmd gab sie an, weil sie doch
heuer nnwohl sei, und wenn sie zu dieser Zeit nicht ins Bad gehe,
dann würden der Vater und der Onkel es wissen, und das könne sie
nicht ertragen. Und nun brach die große Wut gegen die Männer los,
Sie könne keine mehr sehen. Auch den Vater nichl. Sie sind doch alle
nichts wert, schrie sie. Man sagte, sie sind das starke „Glied" (sie
meinte Geschlecht) der Familie und das schwache Geschlecht ist die
Frau. Sie will das nicht wahr haben, sie möchte gerne die Mutter
beschützen und mit dem Vater darin konkiirrieren; wenn der Vater
darauf mit Necken reagiert, was oft in höchst ungeschickter Form
geschieht, weint Hilde bitterlich. Und sie gedenkt der Zeiten, als sie
als ganz kleines Kind immer weinerlich war und gar nicht anders
als mit klagender Stimme sprechen konnte.
Inzwischen gab es allerlei aktuelle Erlebnisse. Hilde, die für ihr
Alter besonders groß und erwachsen aussah, war schon öfters auf der
Straße angesprochen worden. Diese Erlebnisse begannen sich nun in
auffallender Weise zu häufen. Es gab kaum einen Tag, an dem ihr so
etwas nicht zustieß, und es war ganz klar, daß sie diese Erlebnisse
provozierte. Mir berichtete sie von allen Ereignissen immer voll
größter Empörung über die Männer, die es wagten, Kinder wie sie
zu belästigen. Nun provozierte Hilde auch zu Hause einen Konflikt.
Sie begann der Mutter in besonders kecker Weise ihre gesamten, bei
mir erworbenen Sexualkenntnisse und eine Menge nicht bei mir er-
worbener unter die Nase zu reiben. Als die Mutter, die sich ja mir
gegenüber schon früher mit einer sexuellen Aufklärung Hildes voll-
kommen einverstanden erklärt hatte, darauf zu wenig reagierte, er-
klärte sie, sie werde sehr bald einem Manne angehören; daran sei
gar nichts, auch wenn man nicht verheiratet sei. Kurz, sie tat, was
in ihren Kräften stand, um die Mutter und mich zu entzweien und die
Mutter zu veranlassen, sie aus der Behandlung zu nehmen, die sie
ja 80 verderbe. Eines Tages, als sie wieder angesprochen wurde, wies
sie den betreffenden Mann nicht wie sonst ab, sondern blieb stehen
und ließ sieh in ein Gespräch ein. Hier mußte ich ihrem Agieren und
Provozieren Einhalt tun, da zu befürchten war, daß ihr Agieren sehr
weit gehen könnte. Da ich aber den Sinn der Aktionen noch nicht
verstand, ihr deshalb mit direkter Deutung noch nicht beikommen
tonnte, erklärte ich ihr, ich sei sehr überrascht, ich hätte doch
gemeint, sie habe die sexuelle Aufklärung von mir haben wollen,
weil sie unsicher und beunruhigt gewesen sei, so Vieles, daß sie sehr
interessierte, nur halb und ungenau zu wissen, und ich hätte ihr ja
mit meiner Erklärung und diesen Gesprächen zu wirklichem Wissen
Aus der Analyse einer Bettnässerin
221
len
verhelfen und sie von der Angst und Unsicherheit befreien wollte
und hätte doch nicht gemeint, sie solle das nun alles gleich aus-
probieren. Die Folge meiner Erklärung war klar und vorauszusehen.
Hatte ich doch mit einem Mal ganz die Rolle der verbietenden Mutter
übernommen. Hilde wurde gedrückt, verärgert und verschlossen
gegen mich, es folgten die Sommerferien und das Kind verließ mich
noch in diesem Widerstand. Und auch nach dem Sommer gelang es
erst nach einigen Wochen und mit großer Mühe sie zu veranlassen,
ihrem Aerger über mich Luft zu machen. Dann erst verstand sie
richtig, daß sie ja alles denken dürfe und mir alles sagen solle, nur
noch nicht tun, damit müsse sie noch etwas warten. Aber es dauerte
ziemlich lange, bis ich Hildes Mißtrauen, ich stecke doch mit der
Mutter unter einer Decke und werde sie verraten, behoben war und
die Analyse ihren ungestörten Fortgang nehmen konnte.
Sie füllte nun ihre Stunden mit Phantasien aus, wie es wohl sein
würde, wenn ich ein männlicher Arzt wäre, und erzählte schließlich
unter großen Widerständen von ihren Wünschen, schon erwachsen
zu sein, Kleider zu tragen wie die Mutter, ?.n heiraten und einen
eigenen Mann zu haben. AH das brachte sie unter sländiger Angst
vor, die Mutter könnte es hören. Sie muß oft nachdenken, ob alle
Mädchen in ihrem Alter schon von Burschen träumen, oder ob sie ein
Sonderling sei. Ja, das sei sie jedenialls und ein Unglücksrabe dazu,
weil sie diese Krankheit habe. Manchmal, sie weiß selbst nicht
warum, muß sie denken, der Vater sei schuld daran, denn entweder
wäre sie nicht auf der Welt, wenn sie einen anderen Vater hätte, oder
6ie hätte die Krankheit nicht. Sie weiß selbst nicht, warum sie den
Vater so beschuldigen muß. Im allgemeinen denkt sie wenig an die
Krankheit, wenn sie aber durch die Analyse nicht gesund wird, so
kann sie nur Klosterschwester werden, um so nie mit einem Mann
zu tun zu bekommen.
Eine neue Reihe von Straßenerlebnissen geben uns Gelegenheit,
ihre Neugierde zu besprechen. Sie meint selbst, diese sei so stark, daß
sie immer gemeint habe, einmal durch sie zu Schaden zu kommen. Sie
erkennt, daß diese Neugierde besonders auf das männliche Genitale
gerichtet ist und der Neid und Zorn den Männern gegenüber wird ihr
bewußt. In dieser Zeit verträgt sie sich besonders schlecht mit dem
Vater, was, wie die Mutter mir berichtet, nicht allein an Hilde liegt.
Hildes Vater ist nicht gesund und sehr leicht erregbar. - • •
Nun beginnt ein Schwimmeister, der Hilde ein wenig den Hof
macht, in ihren Phantasien und Träumen eine große Rolle zu spielen.
In dem einen Traum trifft sie diesen Schwimmeister beim Eislaufen,
fällt dann aber hin, bekommt eine Gehirnerschütterung und muß ins
Zeilfichrift f. pea. Püd.. Vni/5-8
16
222 Aony Angel
Spital gebracht werden, wo sie ein Arzt sofort operieren will. Der
Begegnung mit dem Manne folgt also im Traum die Bestrafung sofort
nach. In einer anderen Traumphantasie geht sie mit dem Schwimm-
meister nach Amerika durch; sie heiratet ihn und er vergewaltigt
sie auf einer Wiese. Dann bekommt sie ein Kind, schreibt der Mutter
und kehrt zurück. Die Mutter ist aber böse und boshaft, redet den
Mann von ihr ab und zwingt sie, sich scheiden zu lassen. Sie gesteht
hiezu, daß der Schwimmeister sie wirklich in ein Zimmer gelockt
und dort von ihr einen Kuß verlangt habe; sie hatte den Kuß zwar
verweigert, sali aber ein, daß sie ihm doch merkwürdig bereitwillig
in ein Zimmer gefolgt war, obwohl sie natürlich wußte, welche Ab-
sichten er hatte. Es folgt noch eine ganze Serie von Träumen, in denen
Hilde meist von einem Fremden vergewaltigt und dann von der
Mutter bestraft und in den Tod getrieben wird. In dieser Zeit ver-
ändert sich ihr Wesen stark, sie kann der Mutter und mir nicht in
die Augen schauen. Nun spreche ich Hilde gegenüber die Vermutung
aus, daß sie irgendeininal etwas angestellt haben mußte, oder ihr
irgendeinmal etwas geschehen sei, daß sie für ganz schrecklich hielt
und weswegen sie sich vor der Mutter so fürcliten müsse und immer
ein schlechtes Gewissen habe. Sofort fällt ihr darauf die Zeit in
Jugoslawien ein, als sie drei Jahre alt war, und sie beginnt in merk-
würdiger Aufregung zu erzählen; Dort habe es einen Zigeuner
gegeben, den sie so geliebt habe, er sei so schön gewesen, und nach-
denklich meint sie dann, ihre Krankheit habe doch gerade zu jener
Zeit begonnen. Seit damals habe sie doch immer die Vorstellung,
etwas in ihr sei nicht in Ordnung, der Harn und das Menstruations-
blut kämen bei ihr aus derselben Oeffnung, diese sei größer als bei
anderen Mädchen. Sie habe oft die Phantasie, wenn sie nur Ge-
schlechtsverkehr mit einem Burschen hätte, würde irgendeine Ver-
änderung mit ihr vorgehen, so daß sie gesund werden würde. Sie
stellt sich das vor, wie ein Wunder. Dieser Wunderglaube Hildes, sie
könnte durch Geschlechtsverkehr gesund werden, ließ leicht die Ver-
mutung zu, daß ihr Symptom durch einen geschlechtlichen Vorgang
ausgelöst worden sein mußte. Zu dieser Zeit exazerbierte das Sym-
ptom, sie näßte zwei bis drei Mal in einer Nacht das Bett.
Wieder führt uns ein Traum weiter. Er lautet:
Sie hat ein Geheimnis mit dem Herrn Lehrer. Kr nimmt sie in seine
Klasse, um sie zu bevorzugen. Die Direktorin kommt darauf und schickt
den Lehrer und sie fort, jeden wo anders hin.
Hilde klagt im Anschluß an den Traum, daß sie nicht mir und nicht
der Mutter und auch der Lehrerin nicht in die Augen schauen könne.
Sie habe ein ständig schlechtes Gewissen, als verberge sie etwas. Sie
Aus der Analyse einer Bettnässerin 223
wisse aber nicht was. Aber im näehstien Augenblick taucht wieder
der Zigeuner auf. Der Gedanke an ihn kommt jetzt sehr oft, immer
daß er so schön gewesen sei. Und überhaupt an Jugoslawien müsse
sie nun fortwährend denken. Auch damals, als kleines Kind, als sie
nach Wien zurückgefahren waren und sie so sehr weinerlich und
verraunzt war, mußte sie immer an Jugoslawien denken. Die Mutter
hatte ihr verboten, mit dem Zigeuner zusammen zu sein, aber sie lief
doch immer wieder zu ihm. Sie fühlt nun plötzlich selbst, daß damal.«^
mit dem Zigeuner etwas Wichtiges vorgegangen war, und wenn sie
es wüßte, wäre sie gesund. Es müsse etwas Aehnliches vorgefallen
sein, wie sie damals vom Schwimmeister geträumt, überhaupt sei das
Amerika ihrer Träume Jugoslawien. Es kommen ihr undeutliche
Bilder ins Gedächtnis, wie sie damals beim Zigeuner stand und er
Mandoline spielte oder Tee kochte. Hildes Angst besteht nur vor
Männern, der Mutter und Aerzten. Vor Männern, weil die trauma-
tische Szene mit einem Mann stattfand, vor der Mutter, weil sie dafür
Strafe erwartete, und vor Aerzten, weil sie den Gedanken nicht los
wurde, ein Arzt, der sie am Genitale untersuche, müsse etwas ent-
decken, daß bei ihr nicht stimme, irgendetwas sei nicht an seinem
Platz, jedenfalls anders als bei anderen Mädchen. Es folgen nun eine
ganze Reihe von Träumen, in denen das Kind vom Krampus oder
irgendeinem Manne geschlagen wird, und wenn sie sich bei der Mutter
darüber beklagt, will diese nichts von ihr wissen. Sie überträgt ihre
große Angst vor der Mutter und das Schuldgefühl auf mich. Es wird
Hilde zu dieser Zeit außerordentlich schwer, mir Geständnisse zu
machen. Sie wird aufgeregt und schlaflos, endlich wird es ihr möglich
über ihre Onanie zu sprechen. Aber vorerst ist es die Vergangenheit,
die sie beschäftigt. Sie erinnert sich, schon mit drei Jahren „gespielt"
zu haben. Es gab damals ein Doktorspiel, das sie in einer einsamen
Scheune mit einer kleinen Freundin spielte. Das eine Kind war krank
und sollte operiert werden, das andere Mädchen war der Doktor, hatte
ein Stäbchen als Messer in der Hand und reizte damit das Genitale.
Und nun folgen gleich Bedenken, ob sie sich nicht damals selbst ver-
letzt haben könnte.
Wir sehen nun, welche Rolle die Doktorangst und -phantasie in
Hildes Leben gespielt hatte. Jeder Arzt war für sie der Mann mit dem
gefährlichen Penis, der ihr dasselbe Trauma, das sie schon einmal
erlebt, neuerlich zufügen würde. Wir erinnern uns auch an ihre
Phantasie, sie würde geheilt sein, wenn sie dasselbe Trauma noch
einmal erlebte. Eine Onaniephantasie, die sie mir später berichtete,
war: sie werde geraubt, erkälte sich aber dabei und komme zu einem
Doktor. Dieser klopfe sie dann überall ab, auch am Genitale. Hierher
16*
224 Anny Angel
gehörten auch die schon erwähnten Vorstellungen, wie es wäre, wenn
ich ein männlicher Arzt wäre. Oft hatte sie gedacht, sie könne nur
einen Doktor heiraten, der schon von ihrer Krankheit wisse. Der
Arzt in der Bettnässeranstalt sei ganz wie der Zigeuner, so schwarz
gewesen. Wäre ich ein männlicher Arzt, wären Angst und Scham
größer, so meinte sie. Aber sie könnte rascher gesund werden. (Zu
ergänzen wäre hier; „wenn ich das Trauma mit ihr wiederholen
würde.") Hildes Onanie war eine vaginale, was eine Verführung von
vorneherein sehr wahrscheinlich machte. Sie hatte immer geglaubt,
die Öffnung an der sie onaniere, sei auch die nämliche, aus der der
Harn fließe. Sie konnte sich gut erinnern, auch schon mit drei Jahren
auf diese Weise „gespielt" zu haben, doch hatte sie damals ständig
Angst, sich dabei weh zu tun. Hier nun erkläre ich Hilde, daß Kinder
in diesem Alter allein nicht darauf kämen, auf diese Art zu spielen
und daß es ihr wohl von jemandem gezeigt worden sei. Zuerst wurde
Hilde auf diese Deutung hin außerordentlich böse auf mich, sie wolle
überhaupt nichts mehr denken, doch gestand sie bald, daß ihr sofort
der Zigeuner eingefallen sei, ein deutliches Bild, wie sie mit ihm in
einem dunklen Raum sitze. In der Nacht, nach dieser Stunde träumt
sie den wichtigsten Traum der Analyse:
Sie ist ganz klein, hat nur ein Hemdchen an und macht Purzelbäume.
Der Zigeuner lacht sie selir aus. Und einen zweiten TrB.um: Die Mutter
ist so böse auf sie, daß sie sie zwingt, wieder krank zu werden, nach-
dem ich sie heimlich gesund gemacht habe. Soviel war nun klar: der
Zigeuner hatte sie in einen dunklen Raum gelockt, sie dort veranlaßt,
ihr Genitale zu zeigen und sie ausgelacht. Sie hatte sich ihrer Penis-
losigkeit schämen müssen. Nach diesem Traum setzte das Bettnässen
zum ersten Mal seit zehn Jahren drei Tage lang aus. Hilde begann
nun, die Großmutter, die inzwischen nach Wien gezogen war, über
die damaligen Erlebnisse mit dem Zigeuner auszufragen. Die Groß-
mutter erinnerte sich bloß, wie merkwürdig es gewesen sei, daß sie
den Zigeuner zuerst so sehr geliebt habe, daß man sie gar nicht hin-
dern konnte, zu ihm zu laufen und daß sie plötzlich eines Tages nicht
mehr zu ihm gehen wollte. Bald tauchte eine angebliche Erinnerung
auf, die Großmutter habe sie abends einmal etwas holen geschickt,
da habe ihr ein Mann sein Glied gezeigt, damit gespielt und sie ver-
sprechen lassen, es auch so zu machen. Ob es der Zigeuner war oder
ein anderer Mann, ob das eine Erinnerung oder eine Phantasie war,
konnten wir nicht genau feststellen. Das Symptom war inzwischen
wiedergekehrt, doch schien es erschüttert, es kehrte nicht mehr so
regelmäßig jede Nacht wieder.
Nun trat in der Behandlung heftigster Neid gegen mich und die
Aus der Analyse einer Bettnässerin 225
Mutter auf: Diese habe alles, was sie nicht haben dürfe. Sie mißgönne
ihr alles. Was die Multer haben und tun dürfe, ließe sie sie nicht
machen, auch das Sexuelle. Neid und Eifersucht, die sich in ihren
Träumen deutlich zeigen, steigern sich zur Wut. Aber auch auf die
Männer ist sie wieder zornig. Es folgen bald Phantasien, sie hätte ein
Glied gehabt, wie diese, das sei ihr aber zur Strafe genommen wor-
den, wie dem armen Häslein in ihren Ostergeschichten. Nun treten
nachts richtige Angstanfälle auf, und zwar jedesmal, wenn sie Ver-
suche machen will aus dem Bett zu steigen, um ein Nachtgeschirr
au benützen.
Hilde schläft von jeher im Schlafzimmer der Eitern. Wir sprechen
von diesem Umstand und ich bekomme nun mehr Material über den
Vater zu hören, der bis jetzt in ihren Berichten nur die Rolle eines
Wauwaus und Ruhestörers gespielt hatte. Der Vater war der Mutter
zweimal untreu gewesen, hatte eine Geliebte gehabt. Die Mutter
■wollte sich jedesmal scheiden lassen. Wenn nun der Vater zu Hause
jetzt oft schlecht gelaunt ist, fürchtet Hilde, es könnte wieder so sein
wie damals. Sie hätte es nicht ertragen können, daß die Mutler sich
hätte scheiden lassen. Nun erkennt sie, daß sie den Vater doch viel
lieber haben müsse, als sie sich bis jetzt eingestanden. Sie weiß sich
2u erinnern, wie sie als ganz kleines Mädchen um ihn geworben und
immer wollte, er solle zu ihr genau so lieb sein wie zur Mutter. Aber
immer hätte sie zugleich vor ihm Angst gehabt. Sie hätte niemals im
Bett neben ihm liegen wollen, wahrscheinlich weil sie die böse Er-
fahrung mit einem Mann schon hatte, das er zuerst lieb sei und einem
dann plötzlich etwas tue. Nach diesem Gespräch verringerte sich ihre
Angst bei Nacht, ihre Abwehr in der Außenwelt wird besonders stark.
Sie hat keine Erlebnisse mehr mit Männern auf der Straße. In der
Schule wird sie keck und schlimm wie ein Lausbub und phantasiert,
wie es wäre, wenn sie selbst ein junger Mann wäre und den Mädeln
<Jen Hof machen würde. Sie selbst, versichert sie immer wieder, wolle
mit Burschen nichts zu tun haben, ihre Angst vor ihnen sei allzu-
groß. Diese Ablehnung des Mannes und Angst steigerten sich bei ihr
immer zur Wut.
Nun trat durch eine lange Erkrankung der Mutter, die Hilde zu
Hause brauchte, eine längere Pause in der Analyse ein. Nach längerer
Unterbrechung kam sie dann in der Behandlung wieder auf ihr^
Onanieangst zu sprechen. In der Schule reden die Mädchen darüber
nnd meinen ,,raan würde geschlechtskrank'*. Ihre Krankheit aber sei
doch auch so eine „Geschlechtskrankheit". Immer wieder müsse sie
daran denken, sie habe sich verletzt, ihre Genitalöffnung erweitert
oder aufgerissen und ein Arzt könnte das konstatieren. Wenn ihr ab
226 Aüiiy Angel
1
und zu der Gedanke kam, ein Mann könnte ihr das zugefügt haben,
folgte jedesmal ein Angetanfall.
Nun folgt ein Traum, aus dem deutlich hervorgeht, daß Hilde den
Zigeuner beschuldigt, sie um den Besitz des männlichen Gliedes ge-
bracht zu haben. Auch wird es immer wahrscheinlicher, daß der
Zigeuner sie mit Drohungen abgehalten hatte, ihn zu verraten, über-
haupt wurde sie nach dem Erlebais ein angsterfültles Kind, das vor
allen Zigeunern davonlief. Auch ihre merkwürdige Erkrankung
damals erkannte Hilde als Folge ihres Erlebnisses. Wieder hat sie
die Vorstellung, sie müsse noch einmal so krank gemacht werden,
dann würde sie erst gesund werden. Hier konnte ich ihre Phantasie
deuten. Daraals habe der Zigeuner etwas mit ihr gemacht, ihr den
Penis genommen, da sei sie krank geworden, jetzt solle wieder ein
Mann so etwas mit ihr machen, dabei werde sie ihm den Penis weg-
nehmen, sich ihn zurückerobern und dadurch wieder gesund werden.
Naeh dieser Deutung tritt der Drang, Männerbekanntschaffen zu
machen, der bei Hilde so heftig war und recht gefährlich schien, völlig
zurück. Ihre Keckheit, Aggression und Schlagfertigkeit, die sie dabei
gezeigt hatte, verloren sich und machen Angst und Verlegenheit
Männern gegenüber Platz. Zugleich zeigt sich ein heftiges Schuld-
gefühl Frauen gegenüber. Ob der Zigeuner nur nicht verheiratet war,
dann wäre ihre Sünde besonders groß, dann wäre sie doch eine Ehe-
brecherin. Auch vor mir empfindet sie wieder Angst, plötzlich könnte
ich sie doch strafen, wenn ich erst alles wüßte. Sie mobilisiert sogar
Lehrerin und Katechet gegen die Analyse, kommt aber dann selbst
auf ihre Zweifel an der Religion zu sprechen. Besonders an die un-
befleckte Empfängnis habe sie niemals glauben können. Während sie
davon spricht, fällt ihr plötzlich ein, daß sie eben die Menstruation
habe und welche Angst sie das erste Mal dabei ausgestanden. Sie
war von ihren Schulkolleginnnen schon genau informiert gewesen.
Kaum bemerkte sie das Menstruationsblut, begann sie zu fürchten,
die Mutter werde nun erkennen, daß sie sich selbst bei der Onanie
verletzt habe, oder daß ihr durch einen andern eine Verletzung zu-
gefügt worden sei. Sie stellte sich erst, als wüßte sie von nichts, als
aber dann die Mutter bedauernd meinte, sie habe das so sehr jung
schon bekommen, rief sie schnell: Bei den andern Kindern sei das
schon mit elf Jahren eingetreten. Sie benahm sich, als wollte sie damit
einen Verdacht von sich abwälzen. Hier schlössen sich bald angst-
volle Fragen über die Jungfernhaut, ihre Lage und Bedeutung an
und die Furcht, daß diese verletzt worden sein konnte. Dann aber
kam plötzlich eine Vorstellung, wie der Zigeuner sie verlockte mit
ihm zu geben, er werde ihr etwas Schönes zeigen und es sei sein
Aus der Analyse einer Bettnässerin 227
Penis gewesen, den er ihr gezeigt. Abei- bis heute habe sie die Vor-
stellung, daß der Mann eigentlich zwei Penisse habe, einen kleinen
dicken zum Urinieren und einen großen und langen für die Frau.
An dieser Phantasie konnte Hilde deutlich bewiesen werden, daß sie
von der Erektion Kenntnis haben mußte. Nach dieser Deutung wurde
im Zusammenhang damit ihre Schlangen- und Regenwürmer angst be-
sprochen, die daraufhin völlig zurücktrat.
Es kamen nunmehr andeutungsweise Phantasien und Träume, der
Zigeuner habe sie mit Sperma vergiftet, darum habe sie in ihrer
Krankheit damals so erbrechen müssen. Sie habe zugleich wieder
Angst vor der Mutter, diese kömile auf alle Sünden draufkommen.
Zugleich aber tritt Zorn gegen Mutter und Analytikerin auf, diese
dürften alles tun und ihr sei alles verboten.
Zu dieser Zeit wurde eine ärztliche Untersuchung bei Hilde nötig,
die ständig an Schnupfen und Erkältung litt. Sie begab sieh völlig
angstfrei und ohne Begleitung iler Mutter '/ur Untersuchung, während
sie sonst in Anwesenheit der Mutter immer das kleine ängstliche Kind
hatte spielen müssen.öie beschloß, sich die Wucherungen, die fest-
gestellt worden waren, in Abwesenheit der Mutter operieren zu
lassen und führte das tatsächlich durch. Sie hatte ihre Angst vor
Ärzten und Operationen verloren, Zu dieser Zeit rekonstruierte Hilde
das stattgefundene traumatische Erlebnis wie folgt:
Der Zigeuner habe sie zu sich in seine Kammer gelockt, sie habe
ihm auf seine Aufforderung hin ihre Kunst in Purzelbäumen gezeigt
und sich dabei entblößt, sein Lachen habe sie als Verhöhnung emp-
funden. Er habe ihr sein Glied gezeigt, sie aufgefordert, es zu be-
rühren und dann an ihrem Genitale gespielt. Daran, meinte sie, habe
sieh bei ihr die Vorstellung angeschlossen, ohne Glied, mit einem so
defekten Genitale, könne man doch den Harn nicht mehr halten, und
er müsse gegen ihren Willen ausfließen.
Hildes Mutter war zu dieser Zeit mit dem Erfolg der Behandlung
leider allzu zufrieden geworden. Die Lernschwierigkeiten des Kin-
des waren behoben, ja sie hatte sich als so lernbegabt erwiesen, daß
ihr der Übertritt von der Hauptschule in die Mittelschule ermöglicht
wurde. Das Bettnässen fand noch ab und zu in ganz geringen Mengen
statt, um nach den nun folgenden Ferien völlig zu verschwinden. Die
Mutter war zufrieden und nahm das Kind aus der Behandlung. So
mußte diese Analyse leider ein Bruchstück bleiben. Es war nicht mehr
möglich, die aktuelle Onanie, die damit verbundenen Phantasien und
die ödipussituation zu analysieren. Die präoedipalen Vorgänge, die
in diesem Falle sicher eine besonders große Rolle gespielt haben,
waren völlig ungeklärt geblieben. Aber durch die wahrscheinlich nur
228 Aiiny Angei
teilweise Aufhellung der Amnesie für eine traumatische Szene, konnte
üas Symptom zum Schweigen gebracht werden. Die Katamnese be-
trägt nun drei Jahre und ist insoweit günstig, als das Symptom nie
wieder auftauchte. Doch behielt Hilde eine sehr labile Stimmung,
ein Schwanken zwischen Depression und Lustigkeit, zwischen Be-
fangenheit und Dreistigkeit, das weit über das in der Pubertät übliche
Maß hinausgeht.
Enuresis und Kleptomanie als passageres Symptom
Von Berta Bornstein, Wien
Obwohl die Enuresis der Kinder ein verbreitetes Symptom darstellt,
gegen welches sowohl die Erzieher als auch die Kinder selbst einen
heftigen Kampf führen, gelangen Kinder gerade dieses Symptoms
wegen relativ selten in analytische Behandlung. Man verläßt sich
darauf, daß das Symptom des Einnässens irgendwann durch irgendeine
Maßnahme schwinde, oft genug auch mit der Zeit ohne irgendeinen
Eingriff von außen. Übersehen wird bei dieser Einstellung zur
Enuresis, welche schwerwiegenden Folgen gerade dieses Symptom für
die spätere Sexual- und Charakterenlwicklung zu haben pflegt. Aus
den Erwachsenenanalysen wissen wir, daß die Ejaculatio praecox
häufig auf der kindlichen Enuresis aufgebaut ist. Menschen, die als
Kinder an Enuresis litten, werden die damals erworbenen Minder-
wertigkeitsgefühle schwer los. Menschenscheu, das Gefühl der Hoff-
nungslosigkeit, starke Passivität, aber auch ganz andere Haltungen
und Eigenschaften, z. B. unstillbarer Rededrang, Verlogenheit, sind
häufig Überreste einer zwar aufgegebenen, aber in ihren Quellen nicht
erledigten Enuresis.
Am geläufigsten ist uns die Auffassung, die Enuresis sei ein Onanie-
äquivalent, welches häufig nach Unterdrückung der Onanie auf-
tauche.*) Wie in der Onanie die verschiedensten Sexualwünsche ihre
Abfuhr finden, so geschieht dies auch bei der Enuresis. In der Identifi-
zierung mit dem jüngeren neugeborenen Geschwister beginnt häufig
das ältere Kind einzunässen und sagt damit, daß es von der Mutter
ebenso geliebt und gepflegt sein wolle wie das Baby. Bei beiden Ge-
schlechtern spielt der Trotz gegen die Reinlichkeitserziehung und die
Auflehnung gegen die vermeintlich von der Mutter verschuldete Be-
schaffenheit des Genitales eine Rolle. Die frühkindliche Sexualtheorie,
nach der ein Koitus irgendwie mit dem Urinieren zusammenhängt,
findet oft Ausdruck in der Enuresis.
Der kleine Knabe verrät manchmal durch dieses Symptom seine
passiv-femininen Wünsche. Er dirigiert nicht seinen Urinstrahl,
sondern läßt ihn ziellos fließen imd erlebt zuweilen dieses ziellose
Fließen als besonders lustvoll. Dagegen finden wir in der Enuresis
der Mädchen die maskulinen Tendenzen vorherrschen.
In der Analyse eines ÖJ^jährigen Mädchens tauchte das Einnässen
als passageres Symptom auf und ließ sich in statu nascendi beobachten.
i) Einige psj'chisehe Folgen des anatomischen Gesohleclitsuntersi'liiedes. Freud Ges Sehr
Bd. XI.
230 Eerta Bornstein
Die Kleine hatte einen um vier Jahre älteren Bruder, zu dem sie
bewundernd aufschaute, und den sie heimlich beneidete. Zur Zeit der
Analyse lebt sie vom Bruder getrennt. Sie hat aber im Kindergarten
Gelegenheit, mit gleichaltrigen Buben zu spielen und ihre weiteren
Beobachtungen über den Geschlechtsunterschied dort zu machen. Si&
hatte sich einem gleichaltrigen Buben in Freundschaft angeschlossen
und geriet in Trauer und ohnmächtige Wut, als dieser plötzlich mit
seiner Männlichkeit zu protzen begann, weil er stärker sei als sie^
längere Beine habe und mehr und schneller gehen könne als sie und
deshalb lieber mit einem etwas älteren Buben spiele als mit ihr.
Ihre Sucht, groß und erwachsen zu sein, nimmt auffallende Formen
an. Sie weigert sich eine kurze Zeit hindurch, mit Kindern zusammen
zu kommen, die älter sind als sie, und obwohl sie über den Durch-
schniit weit begabt ist, fürchtet das sonst selbstsichere Kind, hinter
anderen zurückstehen zu müssen. Daneben entwickelt sie, wenn sie
allein ist, einen heimlichen Ehrgeiz, sich in der Welt der Erwachsenen
zu orientieren, das Lesen und Schreiben zu erlernen, wie es der Bruder
und jener Kindergartenfreund schon können. Plötzlich zeigt sie sieh,
die bis dahin zähe und geduldig Kenntnisse zu erwerben verstand,
deainteressiert am Erlernen des Lesens und Schreibens. Es ist ihr
durch das Gefühl verleidet, nie die Buben einholen zu können. Einmal
findet man sie bei ihrem Bad, wie sie mit gespanntem Gesichtsaus-
druck ihr Genitale inspiziert. Befragt, was sie denn suche, antwortet
sie scheu: „Da ist etwas, und manchmal ist es nicht da. Und niemand
kann mir dabei helfen, ich muß alles allein herausfinden." Aus dieser
Bemerkung ist zu entnehmen, daß dem Kinde Klitorisaensationen
bekannt sein müssen, daß sie wahrscheinlich die erigierte Klitoris
für ein dem Penis gleichwertiges Organ halte und nicht verstehen
könne, daß es manchmal verschwindet.
"Um diese Zeit machen sich exhibitionistische Neigungen bei ihr
bemerkbar. Sie pflegt sich zum Essen mit gespreizten Beinen an den
Tisch zu setzen und an das Genitale zu greifen. In der Analyse will
sie mir einmal ein neuerstandenes Hoserl zeigen, streift es ab und
steht so mit entblößtem Genitale vor mir, womit sie mir zeigt, daß das
Herzeigen ihres Genitales wichtiger für sie ist als das Zeigen der
Höschen.
Oft spricht sie davon, was für ein häßliches Gesicht sie habe, und
daß man sie deswegen nicht lieben könne. Dabei weiß sie, daß sie als
hübsches Kind gilt und ist auch im Grunde von ihren Reizen über-
zeugt, jedoch hat sie auf ihr Gesicht das Mißfallen an ihrem Genitale
verschoben, Gespräche darüber, ob ich ihr Gesicht schön oder häßlich
finde, führte sie mit mir, indem sie sich auf den Boden legte und beide
Enuresis und Kleptomanie als passagferes Symptom 231
Beine gespreizt in die Luft hielt. Als sie einmal eine Diskussion mit
mir führte, warum Väter ihre Töchter nicht heiraten können und über
die Lösung dieser Frage in ihrer eigenen Familie nachdachte, geriet
sie plötzlich wieder in diese Stellung und sagte: „Ich glaube, mein
Vati würde mich nie heiraten wollen, ich habe ein viel zu häßliches
Gesicht für ihn."
Nachdem dieses Material immer wieder auftauchte, wurde dem Kinde
gedeutet, daß ihr Bösesein auf den ursprünglich begehrten Freund von
einer Enttäuschung über ihn stamme, weil sie sich eines Buben wegen
von ihm zurückgesetzt fühle, daß sie eifersüchtig sei auf den Penis
der Buben und das sie auch so ein Glied haben wolle. Ihre plötzliche
Desintereseiertheit am Lernen, ihre Ablehnung älterer Kinder, ihr
Verhältnis zu ihrer eigenen Person, ihr Gefühl, ein häßliches Gesicht
zu haben, wurden ihr schrittweise im Zusammenhang mit ihrer Fenis-
iosigkeit und ihrem Penisneid gedeutet. Es wurde versucht, ihr klar
zu machen, daß ihre Reaktionen im Kindergarten vom Bruder lier
Übertragen seien.
Das Kind hatte auf alle diese Aufklärungen in der ihm eigenen
freundlich-trotzigen Art reagiert: „Alles, was du sagst, ist gar nicht
einmal wahr und ganz falsch", ein Ausspruch, den sie bevorzugte,
wenn sie sich getroffen fühlte.
Gerade in dieser Phase der Analyse trat als passagferes Symptom
eine Enuresis auf. Die kleine Patientin wachte eines Nachts mit ängst-
lichem Aufschreien auf. Sie hatte geträumt, ihre Katze hätte ihre zwei
schönsten Kugeln aus dem Säckchen gestohlen, welches sie einige Tage
zuvor von der Mutter geschenkt bekommen hatte. Sie ließ sich schwer
davon überzeugen, daß sie nur geträumt habe, wachte später noch
einmal mit Weinen auf, zählte ihre Kugeln und blieb bei der Be-
hauptung, zwei seien gestohlen, wahrscheinlich von der Katze. Noch
ein drittes Mal wachte das sonst gut schlafende Kind auf. Man fand
sie verzweifelt weinend neben ihrem Bettchen stehen mit nasser Pysama-
hose, die sie bereits abgestreift hatte. Sie behauptete, mit so starkem
Harndrang erwacht zu sein, daß es nicht gelungen wäre, bis zum Topf
zu kommen.
An den nächsten zwei Tagen wachte das Kind wieder vorzeitig
auf und machte sich wieder stehend naß. Sie war danach verzweifelt
und beschämt, obwohl ihr keinerlei Vorwürfe gemacht wurden. Am
dritten Tage wurde die Kleine von der Mutter aufgefordert, mir von
ihrem Mißgeschick Mitteilung zu machen, vielleicht könne ich ihr
helfen. Bis dahin hatte sie ihr Einnässen mit keinem Wort in der
Analyse erwähnt, wohl aber den Traum von den gestohlenen Kugeln
berichtet. Als wichtigste Assoziation zum Traume brachte sie, daß ich
232 -. Berta Bornstein
eben jenem beneideten Kindergartenfreund einige Kugeln geschenkt
hätte. Sie begann dann, wie unter einem Zwang stehend, ihre mit-
gebrachten Kugeln bei mir zu zählen, stürzte sich auf die mir ge-
hörenden Kugeln, zählte diese, verlangte einige von ihnen zum Ge-
schenk. Sie erhielt sie, blieb aber unbefriedigt, steigerte ihre An-
sprüche auf immer mehr Kugeln, bis ich mit dem Bemerken stoppte:
Es hätte keinen Sinn, ihr sämtliche Kugeln zu schenken. Uns würden
sie in der Stunde zum Spielen fehlen, und sie würden diese Kugeln
auch gar nicht froh machen können, wie sie selbst merken müsse. Es
scheine sich gar nicht um Spielkugeln zu handeln, die von sie mir wolle.
Wirklich wolle sie ja ein Glied wie der Bruder und der Spielkamerad
mit einem Sackerl und den zwei Kugeln darin.-) (Die Existenz des
Hodensacks und der Hoden war dem Kinde bekannt.) Dieses Saekerl
und diese Kugeln könne man ihr aber gar nicht schenken. So wie sie
jetzt sei, sei sie auf die Welt gekommen. Und wenn ich auch ihrem
Freunde einige Kugeln geschenkt hätte, so sei ich doch nicht wie die
Katze in ihrem Traume, die etwas raubte, um es den Buben zu schen-
ken. In Wirklichkeit könne weder eine Katze, noch ihre Mutter noch
sonst irgendwer auf der Welt etwas nehmen, was zu ihrem Körper
gehöre. Ihre Antwort darauf war: „Aber ich, ich bin ein Dieb und
stiehl dir deine Kugeln, wenn du sie mir nicht gibst", und ließ diesen
Worten die Tat folgen,
Mit dieser Aktion zeigte sie, was als unbewußter Wunsch den Traum
gebildet hatte. Sie möchte der Mutter etwas nehmen, weil diese dem
Bruder etwas gab, was ihr selber fehlte. Als schließlich ihr morgend-
liches Mißgeschick, das Naßniachen, in die Analyse kam, sagte ich
ihr, daß dieses mit all ihren Gedanken über das Problem des Ge-
schleehtsunterschiedes zusammenhängen müsse. Sie wies, obwohl ja
alles für ihre Wünsche sprach, ein Knabe sein zu wollen, meine
Deutungen in dieser Richtung ab. Mit ernstem Gesicht erklärte sie
immer wieder, mit ihrer Rolle als Mädchen zufrieden zu sein. „Ich
bin ganz zufrieden, daß ich ein Mädchen bin; meine Mutti ist ja auch
zufrieden, daß sie eine Frau ist. Und was macht mir das, daß ich ein
Mädel bin? So kann ich doch wenigstens ein Baby haben, bis ich groß
bin." Es war gewiß nicht bloße Verlogenheit, die die Kleine so reden
ließ. Neben ihren lebhaften Peniswünschen bereitete sich vielleicht ge-
rade wegen der nahenden Erkenntnis, sie müsse auf das Glied verzich-
ten, eine echte passiv-feminine Einstellung vor, die einige Zeit später in
der Analyse und besonders im Verhalten zum Vater deutlich wurde.
»] In einer tiBteren bewuGtHeinsferneren Sciiioht stehen die Kugeln als Symbol für die Brüate.
Ein hfiuligor im Unbewußten tieHtehendar Vorwurf und Groll der MSdchen gegen die MoUnr bat
uen Inhalt, die Mutter hätte ihnen nicht lange genug die Brust gereiclit und sie dadurch um dea
Penis gebracht.
Enuresis und Kleptomanie als passageres Symptom 233
Noch aber war sie nicht entschieden. Die damals von ihr ersehnte
Lösung kleidete sie in die Worte: „Ich möchte ein Bub sein und zwei
80 herzige kleine Bnben haben wie Franzi und Gert." Als ich ihr ver-
sicherte, daß auch die Erwachsenen manchmal mit ihrem Schicksal
nicht zufrieden wären, daß es sogar Buben gebe, die mit der Tatsache,
als Bub auf die Welt gekommen zu sein, nicht einverstanden sind,
meinte sie: „Wenn ich aber ein Bub wäre, dann möchte ich es mein
Leben lang bleiben und dann wäre mir alles in der Welt recht."
Nach diesem Geständnis begann sie bereitwillig die Hintergründe
ihrer beginnenden Enuresis aufzudecken. Sie erzählte, daß sie schon
vor dem Katzen-Kugeltraum manchmal die Absicht gehabt hätte,
stehend wie ein Bub zu urinieren, daß sie diese Absicht aber immer
wieder hinausgeschoben hätte. Der Traum scheint nun zu verraten,
warum sie den ihr bewußten Wunsch, stehend zu urinieren, nicht ira
Wachen ausgeführt hatte.
Sie hatte Angst vor der Durchführung. Als wenn sie gedacht hätte:
Wenn ich das tue, ohne einen Penis, mit dem ich den Urinstrahl diri-
gieren könnte, mache ich mich ja naß, und um das zu tun, bin ich
bereits zu gesittet. Da aber der Wunsch sehr stark ist, träumt sie,
das männliche Genitale zu stehlen. Danach uriniert sie stehend, noch
im Schlaf befangen, im Grenzzustand zwischen Schlafen und Wachen.
Die Traumzensur ist noch stark genug wirksam, um sie erwachen
zu lassen, wenn sie den Harndrang spürt. Sie kann mit Recht zu ihrer
Entschuldigung sagen: ich wollte aufs Töpfchen, ich wollte sauber
bleiben. Das Einnässen zwischen Schlafen und Wachen zeigt, daß sie
niit ihrem Wunsch einzunässen, noch kämpft. Wir vermuten, daß sie
mit diesem Wunsch noch kämpfen kann, weil er nicht wirklieh ver-
drängt ist, sondern der Erwachsenenmoral zuliebe von ihr abgewehrt
wird.
An dieser Stelle muß nachgeholt werden, daß die Kleine mehrere
Monate vor Beginn der Analyse einmal in Wut und scheinbar absicht-
lich auf den Boden uriniert hatte. Es war dies nach einem Konflikt
mit der Mutter. Als wollte die Kleine damals sagen: Du tust nicht,
was ich will, du liebst mich also nicht. Das weiß ich schon lange, sonst
hättest du mir ja auch wie meinem Bruder ein Glied gegeben. Warte,
aber daiin trotze ich dir und ärgere dich so, wie du mich ärgerst, und
mache naß.
Daß der Kleinen ein halbes Jahr später dieser Ausgang, ira offenen
Trotz einzunässen, nicht mehr zur Verfügung stand, zeigt, daß ein
Stück Ichentwicklung vor sich gegangen ist.
Nach Aufdeckung all dieser Zusammenhänge trat das Einnässen
nicht mehr auf. Keineswegs waren aber damit die Konflikte des Kin-
V
234 Berta Bornstein
des erledigt. Sondern diese verschafften sich Ausdruck in einem
weiteren passag^ren Symptom. Die Enuresis war durch eine Klepto-
manie ersetzt worden. Dieses Symptom trat nur in der Analysen-
stunde auf und erwies sich als ausgesprochenes Ubertragungssymptom.
Sie brauchte es scheinbar, um alle Seiten ihres Konflikts zur Dar-
stellung zu bringen. Sie stahl vor allem Bleistifte, aber auch Kugeln,
kleines Holzspielzeug, einmal den Rüssel eines Elefanten, den sie ab-
gebrochen hatte. Daneben verlangte sie gierig nach Näschereien und
nahm sie sich trotzig, wenn ich sie ihr nicht sofort gab; die kleinen
und fast wertlosen Gegenstände verlor sie meistens bald oder warf
sie in Mißachtung fort. Naschwerk, das sie sich nahm, aß sie oft gar
nicht sondern zerkrümelte es auf den Boden.
Interessant war die Haltung ihres bewußten Ichs zu diesen Taten,
die sie zwanghaft ausführte, Sie hatte ja schon bei Beginn der Be-
sprechung ihres Penisneides geäußert, daß sie ein Dieb sei und sich
hole, was man ihr verweigere. Es erscheint ihr selbstverständlich,
daß sie sich mit Gewalt holt, was ihr freiwillig nicht gegeben wird.
Zwar weiß sie, daß Stehlen etwas Unerlaubtes ist, sie weiß es aus
Anpassung an die Erwachsenen. Aber sie besteht, wenn sie eich
frei gibt, auf ihr gutes Recht zu nehmen. Dieb sein erscheint ihr ein
Beruf wie jeder andere, ja sie neigt dazu, diesem Beruf den Vorzug
vor anderen zu geben, weil er so viel Klugheit und Mut erfordere,
„wenn man mit den Polizeimännern kämpft".
Diese Hochschätzung für den kämpfenden Dieb erwarb sie am Bei-
spiel des älteren Bruders, der mit seinen Räuber- und Indianer-
spielen ihr imponierte. Dieb sein ist für sie fast gleichbedeutend mit
Mann sein. Ist sie ein Dieb, so hat sie die Aussicht, unter die Männer
eingereiht zu werden. So versucht sie in trotziger Bejahung ihres
Stehlens die unbewußten Schuldgefühle zu betäuben, die sie über-
fallen, wenn sie mir Gegenstände stiehlt, die als Penissymbole zu er-
kennen sind.
Wenn sie in der Analyse mir im Spiele die Rolle des Diebes zu-
weist, mich dann nie entkommen läßt, sondern dafür plädiert, daß die
Polizei mich streng bestrafe, mich womöglich töte, so zeigt sie damit,
daß sie das Stehlen doch als ein bestrafungswürdiges Verbrechen er- .
lebt.
Denn in Wirklichkeit geht es ihr nicht um den Besitz der kleinen
Dinge, die sie mir fortnimmt. Worum es ihr geht, zeigt sie im Spiel,
wenn sie mich, in der Rolle des Diebes, kleine Kinder aus den Armen
schlafender Mütter stehlen läßt. Die Kinder werden malträtiert und
letzten Endes unter Zubilligung des Königs getötet. Der König ver-
bietet den Müttern traurig zu sein.
Enuresis und Kleptomanie als passageres Symptom 235
Mit diesem Spiel greift sie auf ein vor Monaten behandeltes Thema
zurück. Damals ging es darum, ihr unbewußtes Schuldgefühl zu ver-
stehen, das sie zu Aggressionen gegen sich selbst und gegen andere
zwang. Dieses Schuldgefühl war mit dem plötzlichen Tode eines
jüngeren Bruders verknüpft, der erfolgte, als sie erst IK Jahre alt
■WSkT.
Sie hatte in der Analyse im Spiel dargestellt, wie sie Kinder aus
dem Fenster werfe. Aber um diese Zeit lehnte sie sich selber so un-
vorsichtig aus dem Fensler, daß man ihr zeigen mußte, daß sie aus
Schuldgefühlen sich selber aus dem Fenster stürzen möchte. Ihre
Antwort damals war: „No, was macht mir das, wenn ich tot bin, und
wenn ich aus dem Fenster falle? Ich will ja tot sein. O, und Vati und
Mutti werden sich eben ein neues Kind machen. Ich bin ja ohnehin
so dumm und habe ein häßliches Gesicht."
Greift sie jetzt bei Besprechung ihres Stehlens im Zusammenhang
mit dem Penisneid auf das alte Spiel zurück mit einem neuen Detail,
nämlich des Malträtierens der kleinen Kinder, so deutet sie damit an,
daß sie vielleicht schon damals vor Erreichung des zweiten Jahres dem
kleinen Bruder nicht nur die Brust der Mutter sondern auch den Besitz
des Penis mißgönnt hat. Ihr Penisneid mochte dann immer wieder durch
den Anblick des vier Jahre älteren Bruders und der männlichen Spiel-
kameraden erregt worden sein.
Wenn den gestohlenen Kindern im Spiel Arme, Beine, Hände, ja,
Glied für Glied abgebrochen werden sollen, so dürfen wir wohl an-
nehmen, daß sie im Spiel die Aggression darstellt, die gegen den Penis
der Brüder gerichtet war. Den Brüdern solt fortgerissen werden, was
sie nicht besitzt, und worauf sie Anspruch zu haben glaubt.
Und da sie auch in einer späteren Phase der Analyse den Müttern
Arme und Beine im Spiel ausreißen läßt, und da sie, in der Über-
tragung agierend, mir Gegenstände mit symbolischer Penisbedeutung
stiehlt, deute ich ihr, daß sie trotz ihres jetzigen besseren Wissens
neben diesem Wissen, doch noch die Meinung habe, die großen Frauen
hätten auch ein Glied wie die Buben und hallen es ihr nur vor-
enthalten.
Nun stehle sie; aber auch wenn sie jeden Tag einen neuen Bleistift
«teble, so könne sie damit doch nicht froh werden. Sie verliere und
werfe die gestohlenen Sachen auch deshalb wahrscheinlich fort, weil
sie spüre, ein Bleistift ist doch eben nur ein Bleistift und nicht das
Glied, daß sie wirklich wolle. So wie sie mir aber oft heimlich die
Bleistifte stehle, und so wie sie im Spiele heimlich den schlafenden
Müttern das Liebste, was sie haben, das kleine Kind, aus den Armen
stehle, so möchte sie in Wirklichkeit am liebsten der Mutti heimlich
236 Berta Bornstein
das Glied fortnehmen. — Und ich erinnere sie an die Beschädigungen,
die sie — wenn auch unabsichtlich — an den Sachen der Mutter vor-
genommen hatte. Auch an ihr selbstgediehtetes Lied, das sie gesungen
hatte, als sie einmal die Mutter nackt sah: „Ich sehe deinen kleinen
schmutzigen Schwanz."
Einige Tage später — das Stehlen hatte sie inzwischen eingestellt
— sagte sie, nachdem ich ihr das Grimmsche Märchen „Vom Fischer und
syner Fru" erzählt hatte, aus tiefen Gedanken: „Ich glaube, die Frau
vom Fischer ist dumm, ich glaube, sie will immer mehr werden und
■will immer mehr haben, bloß weil sie ein Zipferl haben will. Und da
ist sie nicht zufrieden, wenn sie König wird und Kaiser. Sie soll lieber
Königin sein wollen oder Kaiserin. Das kann sie auch mit ihrem
Babyloch ohne Zipferl."
Diese Geschichte ließ sie sich immer wieder erzählen, knüpfte
etliche Male ähnliche Bemerkungen daran und zeigte damit, wie sie
dabei war, ihren Penisneid zu verarbeiten.
Es wäre reizvoll darzustellen, wie sie im Verlauf der nächsten
Wochen — während sie in verschiedenen Formen ihre Reaktionen auf
ihren Penisneid auslebte — zu einer weiblichen Haltung gelangte.
Ihr Lied vom „kleinen, schmutzigen Schwanz" hatte uns den Weg
über das Anale gewiesen, So äußert sie einmal: „Ich weiß ganz genau,
daß die Mutti kein Zipferl hat, aber sie hat so viele Sachen und einen
King mit dem schönen Stein." Schon früher in der Analyse hatte sie
mit der Mutter um den Besitz rosafarbener Höschen gekämpft. Und sie
träumte danach, daß sie vom Vater einen Kofler mit lauter rosa
Wäsche- und Kleidungsstücken bekommen hätte. Die Analyse des
Traumes zeigte, daß sie die Mutter um den Besitz eines Ringes mit
einem rosaschimmernden Stein beneidete, den die Mutter vom Vater
als Geschenk bekommen hatte. Was der Vater der Mutter gab, soll
diese ihr weitergeben. Die Enttäuschung darüber, daß die Mutter
diesen Wunsch nicht erfüllt, führt sie zu einer stärkeren Zuwendung
zum Vater.
Ihr Wunsch, ein Mann zu sein, geht in den Wunsch über, etwas vom
Mann zu bekommen. Das ist oft der Weg, wie ein Mädchen von
ihrem Männlichkeitswunsch zu ihrem Wunsch nach dem Manne und
nach seinen -Gesehenken gelangt, wie sie ihren Peniswunsch gegen
den Wunsch nach dem Kinde eintauscht.
Der Sinn dieser kleinen Mitteilung ist, an einem leicht darstellbaren
Beispiel die Hintergründe der Enuresis und der Kleptomanie aufzu-
decken. Die hier aufgezeigten Zusammenhänge sind dem Psychoana-
lytiker gut bekannt. Von Interesse dürfte die Ablösung des einen
Enuresis und Kleptomanie als pa ssagferes Symptom 237
Symptoms, der Enuresis, durch ein anderes, das Symptom der Klepto-
manie, sein.
Bei beiden Symptomen ist uns die Bedeutung des Peniswunsehes
bekannt. Während aber in der Enuresis die Urethralerotik sich aus-
lebt, sehen wir in der Kleptomanie das anal-sadistische Element deut-
licher in "Wirksamkeit. Wir wissen auch sonst, daß im Hintergrunde
des Urethralen das tiefer abgewehrte Anale sich verbirgt.
Der Peniswunsch der kleinen Patientin konnte besser verstanden
werden, als das in tieferer Schichte mit ihm verknüpfte orale Element
des „Auch-haben-wollens" und das anal-sadistische des Nehmens, Be-
haltens in die Analysen kamen.
Das Ineinandergreifen von Tendenzen, die verschiedenen Stufen
der Entwicklung zugehören, zeigt sich in dieser Analyse der Fünf-
jährigen in besonders klarem Licht: die Männlichkeitswünsche und
die Identifizierungsversuche mit dem Mann neben dem weiblichen
Wunsch, vom Vater geliebt zu werden und ein Kind von ihm zu be-
kommen, genitale Tendenzen neben prägenitalen.
-. ' , ■ i .
Zeiteclirjlt i. pea. Püd., Vlll/ä— 6
17
über einen Fall von exhibitionistisdier Onanie
Von Edith Buxbaum, Wien
I.
Poldi kam mit zehn Jahren zu mir in Behandlung. Er war für sein
Alter groß und sehr kräftig, gut proportioniert, ohne besonderen Fett-
polster oder sonstige Auffälligkeiten. Sein Gesicht zeigte ein tick-
artiges Zucken, ein Zwinkern, Rümpfen der Nase, Zucken des Mun-
des, das sich in Momenten der Erregung bis zum Grimmassieren
steigerte. In solchen Augenblicken kam noch etwas hinzu: er trippelte
ununterbrochen auf den Zehenspitzen von einem Fuß auf den andern,
gleichzeitig schloß und öffnete er die Hände krampfartig, indem er
beide Arme einmal vorne, dann wieder hinter dem Rücken zusammen-
brachte. Dieser Zustand konnte durch jede unbedeutende Erregung
ausgelöst werden, so daß Poldi sich eigentlich in ständiger motori-
scher Unruhe befand.
Zu diesem ohnedies außergewöhnlichen Zustand kamen noch andere
Symptome hinzu, die die Eltern dazu veranlaßten, immer wieder Hilfe
bei den Ärzten zu suchen: Poldi war von ständiger Angst gequält,
die es ihm unmöglich machte auch nur für kurze Zeit allein zu blei-
ben. Dies war für die Mutter, eine Proletarierin, äußerst störend.
Auch war er nicht imstande, sich irgendwie zu beschäftigen, weder
allein, noch mit jemand anderem. Er onanierte in exzessiv-exhibitioni-
stischer "Weise und war deshalb schon aus Kindergarten und Schulen
ausgeschlossen worden.
Er war manuell besonders ungeschickt, auch seine Ausdrucksweise
und sein "Wortschatz entsprachen keineswegs seinem Alter. Besondere
Schwierigkeiten hatte er im Rechnen; er konnte nur mit Hilfe der
Finger addieren und subtrahieren und auch dies nur mangelhaft; das
mechanische Multiplizieren fiel ihm leichter, jede Art von Textrech-
nung war ihm unmöglich.
Poldi wurde einer gründlichen organischen und neurologischen
Untersuchung unterzogen. Der Eindruck, daß es sich um eine Er-
krankung auf organischer Grundlage handle, ließ sich weder ein-
deutig bestätigen, noch aussehließen. Das Kinderspital, in das er mit
sechs Jahren sechsWochen zur Untersuchung aufgenommen war, schloß
in dem Gutachten einen cerebralen Defekt nicht aus. Eine mit zwölf
Jahren während der Analyse gemachte privatärztliehe Untersuchung
schloß aus dem Rorsehachschen Test auf eine abgelaufene Encephalitis.
Dazu würde die Aussage der Mutter stimmen, die behauptete, daß
über einea Fall von exbib itionistiscber Onanie 239
Poldis krampfartige Bewegungen nach einer mehrtägigen Fieber-
attaeke unbekannten Ursprungs im Alter von zwei Jahren aufgetreten
seien.
Trotz des Verdachtes, daß es sich um eine Kombination psychisch
und organisch bedingter Symptome handeln könnte, habe ich den Ver-
such einer Behandlung unternommen und darüber im Seminar zur
Technik der Kinderanalyse von Anna Freud berichtet. Ich wollte
sehen, ob und wieweit Poldis Symptome einer psychischen Beein-
flussung zugänglich seien; wenn die Angst etwa ganz neurotisch
oder neurotisch verstärkt war, mußte es gelingen, sie durch Analyse
zu vermindern oder zu beseitigen. Falls ein Zusammenhang zwischen
seiner Angst und seiner motorischen Unruhe bestehen sollte, so mußte
auch dieses Symptom beeinflußbar sein. Auch war zu erwägen, ob
seine übermäßige Angst seine geringe Intelligenz nicht noch über-
dies hemmte und so den Eindruck einer geistigen Zurückgebliebenheit
hervorrief. Die psychischen Determinanten seiner krampfartigen Be-
wegungen aufzusuchen, schien zwar sehr verlockend, doch hatte ich
wenig Hoffnung, darüber etwas zu erfahren; der Verlauf der Be-
handlung gab mir mit dieser Vermutung recht.
Poldis Behandlung konnte nicht in der Form einer Kinderanalyse,
die seinem Alter entsprochen hätte, geführt werden. Das verhinderte
seine geringe Intelligenz und der große, sekundäre Krankheits-
gewinn, den er aus seiner Krankheit bezog.
Unser Bestreben in der Analyse geht immer dahin, den Kranken
zur Krankheitseinsicht zu bringen, wenn er sie nicht in die Behand-
lung mitbringt. Er muß verstehen, daß die Nachteile, die er durch
seine Krankheit hat, größer sind als die Vorteile, die er sich dadurch
seiner Umwelt gegenüber verschafft. Mit Hilfe dieser Einsicht for-
dern wir dann von ihm Mitarbeit an der Beseitigung der unbewußten
Widerstände, die den primären Krankheitsgewinn, die Ersatzbefrie-
digung im Symptom, festzuhalten bestrebt sind. Wir appellieren an
seine Vernunft, an seinen Wunsch, ein gesunder, glücklicher Mensch
zu werden, an seinen Willen, an sein Ich. Dieses muß unser Ver-
bündeter gegen seine Krankheit sein. Auch in der Erwachsenen-
Analyse müssen wir diese Einsicht, den Willen zur Mitarbeit, immer
wieder herbeirufen und stärken, da er in Zeiten des Widerstandes
teilweise oder ganz verloren geht, als Krankheitswille selbst ein
Widerstand wird. In der Kinderanalyse ist dies noch viel mehr der
Fall. Das Kind kommt nur in seltenen Ausnahmsfällen aus eigenem
Antrieb in die Behandlung, für gewöhnlich wird es vollkommen gegen
seinen Willen halb mit List, halb mit Gewalt zu uns gebracht. Es
leidet bewußt weniger an seiner Krankheit als die Umgebung. Wir
17*
240 Edith Buxbaum
brauchen eine mehr oder weniger lange Vorbereitungszeit, um in dem
Kind selbst die Krankheitseinsicht hervorzurufen und dieser Zeit-
punkt fällt nicht notwendigerweise mit der Entstehung des Gene-
sungswunsches zusammen*). Erst dann, wenn das Kind unsere Hilie
anruft, um es von seinen Ängsten, seinen Dummheiten, seinem
Schlimmsein, oder wie es selbst seine Krankheit benennen mag, zu
befreien, ist es mit den Mitteln der Erwachsenen-Analyse analysierbar
geworden. Es fängt an, bewußte Mitteilungen zu machen, es arbeitet
mit, das Wort tritt an die Stelle des Agierens. Auch diese Entwicklung
hat ihre Parallele in der Erwachsenen- Analyse: das Agieren außer-
halb der Analyse und das Benehmen in der Analyse müssen erst
allmählich und in jeder Phase neu durchgearbeitet werden, damit der
Patient Distanz dazu gewinnt und bereit ist, sein Verhalten zu analy-
sieren. Diese Phasen aktiver Mitarbeit des Kindes sind von Wider-
etandephasen unterbrochen, in denen es wieder zu seinen früheren
Mitteilungsformen, Spiel und Agieren zurückgreift; ist der Wunsch
zur Gesundung und damit die Lust zur Mitarbeit aber einmal dage-
wesen, so ist es verhältnismäßig leicht, sie wieder hervorzurufen, ihr
Verschwinden ist dann ein Widerstand wie jeder andere.
Poldis Krankheitseinsicht war nur in seltenen Augenblicken vor-
handen. Seine geringe Intelligenz war zur Mithilfe kaum heranzu-
ziehen, der sekundäre Krankheitsgewinn war so groß, daß er ihn nicht
aufgeben wollte: infolge seine Krankheit war die Mutter gezwungen,
bei ihm zu bleiben; er wünschte daran auch für die Zukunft festzu-
halten, die Mutter sollte immer für ihn sorgen, er wollte Kind bleiben
und auf alles verzichten, wenn er nur immer von ihr erhalten würde.
In dieser Beziehung erinnert Poldi an die Rentenneurosen; da diese
Kranken ihre Rente im Falle ihrer Gesundung verlieren würden,
verzichten sie darauf, gesund zu werden. Dieser Gedanke, den Poldi
im Laufe der Analyse entwickelte, ist nicht als Rationalisierung auf-
zufassen, sondern als Ausdruck seiner Kleinkinderangst, von der
Mutter verlassen zu werden und zu verhungern. Überdies schützte
ihn die Krankheit vor den Anforderungen der Schule, da man ihn doch
als Kranken glimpflich behandelte. Er konnte, durch die Mutter ge-
schützt, ungestört seinen lustvollen Phantasien nachhängen, die er
— wie jeder Patient — nicht gerne gegen eine meist unlustvolle
Realität vertauschen wollte.
Da ich also auf Poldis freiwillige Mitarbeit so gut wie ganz ver-
zichten mußte, mußte ich hauptsächlich sein Spiel und sein Agieren
in der Behandlung als Material benützen. Ich mußte mehr und auf
weniger gesicherter Basis als wir es sonst in der Kinderanalyse tun,
i) Vgl. Anna Freud: Einführung in die Technik der Kinderanalyee. Erste Vorlesung.
.r
über einen Fall von exhib ittonistlscber Onanie 241
deuten. Waren meine Deutungen richtig, so reagierte er darauf zu-
meist mit Aggression und brachte durch verändertes Spiel und Agie-
ren neues Material.
Poldi zeigt alle Schwierigkeiten, die die Kinderanalyse auch sonst
kennt, in sehr verstärktem Maße: dieses quantitative Moment hat mich
zu einer Veränderung der Technik gezwungen, die bei näherem Zu-
sehen auch nur eine quantitative Veränderung ist, eben zu den ge-
häuften, nicht immer mit Tatsachen und Erinnerungen belegten Deu-
tungen. Dennoch versuchte ich, so wie es in den Kinderanalysen aus
Anna Freuds Schule üblich ist, das Material, das mir bewußtseins-
nahe schien, zuerst zu deuten, also von der Oberfläche her in die
Tiefe des Unbewußten einzudringen, die Schichtung des Material zu
berücksichtigen.
II.
Poldis Eltern waren intelligente Proletarier. Die Mutter hatte durch
den Beruf, den sie vor ihrer Ehe ausgeübt hatte, zu gebildeten Mittel-
etandskreisen Beziehungen gehabt, die sie hoffen ließen, selbst ein-
mal durch eine Heirat in diese Kreise aufgenommen zu werden. Tief
enttäuscht hatte sie sich zu der Ehe mit einem Proletarier entschlos- |
sen, durch die sie sich ständig deklassiert vorkam. Sie entwickelte
dem Manne gegenüber eine tiefe Sexualabneigung. Häufig kam es
vor, daß er sich den Verkehr durch Szenen erzwang. Poldi, der im
Schlafzimmer der Eltern schlief, sah dies mit an. Die Frau setzte ihre
ganze Hoffnung in das einzige Kind, das sie für ihr unglückliches
Leben und ihre unglückliche Ehe entschädigen sollte. Solange Poldi
klein war und ein gesundes, normales Baby, schien alles gut. Mit
seiner Krankheit wuchs ihre Enttäuschung immer mehr. Besonders
unerträglich war der sexualablehnenden Frau seine exhibitionistisch-
exzessive Onanie. Befragt, ob sie ihm jemals mit Abschneiden, Weg-
nehmen oder ähnlichem gedroht habe, leugnete sie, wie das Eltern
gewöhnlich tun. Einmai aber sagte sie in vollem Affekt: „Wissen
Sie, Frau Doktor, wenn ich ihn so seh', tat' ich ihm am liebsten alles
abschneiden!" Was sie mir im Affekt gesagt hat, hat sie sicherlich
auch ihm gesagt, ihm sicher häufig mit Kastration gedroht. Wegen
seiner motorischen Unruhe, die wirklich quälend und für sie schwer
zu ertragen war, hat sie ihn nach Aussagen des Vaters in voller Wut
häufig geschlagen. Vielleicht war sie so besonders gereizt, weil sie
seine Unruhe unbewußt als Onanieäquivalent verstand.
Der Vater war durch die Verhältnisse in seinem Beruf behindert,
war selbst in seinem Ehrgeiz gekränkt und fühlte dies doppelt durch
die Vorwürfe, die ihm seine Frau machte. Sie warf ihm ständig vor,
daß er zu wenig Geld verdiene, es zu nichts bringe und daß sie etwas
242 Edith Buxbaum
Besseres hätte haben können. Auch er hatte gehofft, daß sein Sohn
seine unerreichten Ziele erreichen würde und daher konnte er ihm
seine mangelnde Intelligenz, sein schlechtes Lernen in der Schule
nicht verzeihen. Er lernte mit ihm, was für Vater und Sohn eine Qua!
war; dabei schlug ihn der Vater häufig nach Angaben der Mutter.
Beide Eltern gaben nur zu, daß der andere Teil den Buben geschlagen
habe und beschuldigten einander, ihn „dumm geschlagen" zu haben.
Übereinstimmend berichteten sie, daß das Schlagen auf Rat des
Lehrers eingestellt wurde, bis auf „seltene" Male. Auch Poldis neu-
rotische Angst war ein Quelle schwerster narzißtischer Kränkung
für den Vater, der sich eines so feigen, unmännlichen Sohnes schämte.
Durch seine brutale Strenge brachte er es auch wirklich so weit, daß
Poldi aus Angst vor ihm seine ängstliche Unruhe und die Onanie
verbarg, ja sogar allein die Stiege hinunterging, wozu er sonst nicht
zu bringen war.
Als Poldi zu mir kam, war er vollkommen verschüchtert und sprach
kein Wort. Einige Tage hindurch saß er in einer Ecke des Zimmers
und schaute Bilder an, ich saß am anderen Ende des Zimmers, schein-
bar ohne mich um ihn zu kümmern. Anfangs war er so ängstlich, daß
er auch die Bilder nicht ansah, sondern nur hastig die Seiten des
Buches umblätterte. Als ich bemerkte, daß er sich an meine Anwesen-
heit soweit gewöhnt hatte, daß ihn die Bilder wirklich zu interessieren
begannen, fragte ich, was das eine oder andere bedeute, worauf er mir
mit Fliisterstimme den darunter stehenden Text vorlas. Es dauerte
noch einige Zeit, bis ich es wagen konnte, die räumliche Entfernung
zwischen Poldi und mir zu verringern. Erst nach etwa sechs Wochen
fing er an, das Zimmer und die darin befindlichen Dinge näher zu
besichtigen, wobei er schließlich auch einige Spiele entdeckte. Er
wählte ein paar Papierpuppen, mit welchen wir Theater zu spielen
begannen. Der Inhalt des ersten Stückes war folgender: Poldis Mann
begegnet dem meinigen. Er stoßt ihn an, provoziert einen Streit, aus
dem schließlich eine Rauferei wird. Poldis Puppe bringt meine um;
sie muß aber wieder lebendig werden und seine Puppe umbringen;
das gegenseitige Umbringen setzt sich solange fort, bis Poldi er-
klärt, meine Puppe dürfe jetzt nicht mehr auferstehen; auf diese
Weise beherrscht er als Sieger das Feld.
Die Grundform dieses Spieles wurde beibehalten, die Details
variiert. Häufig wurde die Szene auf den Friedhof verlegt, wobei
Poldi die auferstandenen Gespenster noch einmal tötete, so daß ihnen
die Lust zum Auferstehen verging. Um die Krampuszeit (6. Dezember)
nahm sein Feind die Gestalt des Teufels an; aber er fürchtete ihn
nicht, forderte ihn vielmehr zum Kampf heraus und schlug
"über einen Fall von exhibitionistischer Onanie 243
ihn in die Flucht. Die Mutter berichtete, daß der als Krampus ver-
kleidete Vater den vierjährigen Poldi einmal sehr erschreckt habe
und daß Poldi seitdem am Abend ängstlich aufhorcht, wenn er glaubt,
den Schritt des Vaters im Stiegenhaus zu hören. In einer anderen
Phantasie begann Poldi den Kampf auf dem Klosett, verfolgte seinen
Feind durch die Kanäle bis an die Donau; dort entpuppte sich der
Verfolgte als Teufel. Da Poldi eine Wette, wer von ihnen besser
angeln könne, gewinnt, zerspringt der Teufel unter „Gestank und
Geschrei". In Wirklichkeit bestand Poldis schönstes Vergnügen darin,
mit dem Vater an die Donau zu gehen, um zu angeln. Die Mutter be-
stätigte, daß er besser angle als der Vater.
Nach diesem Material konnte Poldi gedeutet werden, daß seine
Aggression dem Vater gelte. Der Vater schlug ihn, zwang ihn zum
Lernen, schalt mit ihm, er hatte Grund genug, ihn als den bösen Vater
zu fürchten und zu hassen. Da seine Angst vor dem Vater aber aus
Angst vor dessen Rache — wenn Poldi ihn erschlagen wollte, könnte
der Vater ihn selbst dafür töten — übergroß war, traute er sich nur
in der Phantasie mit seiner Aggression hervor, während er in Wirk-
lichkeit vor dem Vater zitterte. Sein Todeswunsch wurde ihm in der
negativen Form gedeutet: „Du möchtest ja niemanden töten, denn
dann hättest du Angst, selbst umgebracht zu werden." Poldi war über
die Deutung so böse, daß er nicht mehr zu mir kommen wollte, wie
mir die Mutter berichtete. Er beklagte sich ihr gegenüber darüber,
daß ich „ibm so viel einrede, was gar nicht wahr sei". Ich berichtete
ihm was mir die Mutter gesagt hatte und bat ihn, mir selbst zu
eagen was er gegen mich habe. Er war nicht dazu zu bringen. End-
lich nach vielem Zureden und wiederholter Versicherung, daß ich
nicht böse sein und ihn nicht strafen werde, schrieb er folgendes auf:
Sie reden oft in mich hinein wie ein altes Nasch markt weib. Dann
sind Sie eine angeschissener Buxbaum. Alte Hei (Hexe), verdammte,
Dich soll der Teufel holen."
Der erste Teil seiner Beschimpfung enthielt seine bewußte Klage.
Wobei ich hinzufügen möchte, daß die zitierte Deutung die erste und
einzige war, auch nur einmal gegeben, die er von mir bekommen
hatte. Der zweite Teil zeigte die Richtung seiner Aggressionen ins
Anale, die sich in der Folgezeit noch sehr verstärkte. Die anale Be-
schimpfung war ambivalent, wie sich später herausstellte, sie enthielt
die anale Liebeserklärung. Dies läßt uns auch den Kampf mit dem
männlichen Gegner, den er die ganze Zeit dargestellt hatte, in seiner
tieferen Bedeutung ahnen. Er zeigte darin nicht nur seine Feindselig-
keit gegen den Vater, sondern dieser Kampf ist wahrscheinlich über-
dies eine Darstellung des sadistisch aufgefaßten Koitus, den zu sehen
244 Edith Buxbaum
er häufig Gelegenheit hatte, der oft mit Kampf und Streit zwischen
den Eltern verbunden war. Welche Kolle er in seiner Phantasie dabei
spielt, die männliche, weibliche oder beide, können wir vorläufig
noch nicht erkennen. Von dieser ti,eferen Bedeutung der Beschimpfung
und des Spieles wurde ihm nichts gedeutet. .,.,,,
Nach diesem ersten Durchbruch der Aggression traute sich Foldi
immer mehr damit heraus. Zunächst mir gegenüber: er lebte sich in
analen Ausdrücken sowie in Flatuleszenz als Ausdruck seiner Ag-
gression aus. Allmählich wagte er seine Aggression in gemäßigter
Form auch zu Hause seiner Mutter gegenüber zu äußern, während er
dem Vater gegenüber noch lange damit zurückhielt. Allerdings hatte
er reale Ursachen genug, sich vor dem Vater zu fürchten. Ich bemühte
mich, Poldi klar zu machen, daß er seine Aggressionen auch dem
Vater gegenüber zeigen könne, ohne sich dadurch in allzu große
Gefahr zu begeben. Der Vater aber schlug ihn beim geringsten Ver-
such eines Widerstandes oder einer Kritik. Die Mutter war darin viel
einsichtiger: ihr konnte ich begreiflich machen, daß Poldi Gelegen-
heit haben müsse, die Irrealität seiner Ängste zu erkennen. Als°ich
schließlich sehen mußte, daß meine Argumente beim Vater auf
keinerlei Verständnis stießen, daß er nicht gewillt war, etwas von
seiner angsterzeugenden Stellung Poldi gegenüber aufzugeben, griff
ich zu einem Pressionsmittel, indem ich erklärte, wenn Poldi weiter
geschlagen würde, müßte ich die Behandlung aufgeben. Diese Drohun-
hatte schließlich den gewünschten Erfolg. Der Vater verzichtete
darauf, Poldi zu schlagen, nicht ohne sich in der Erfindung anderer
Strafen genial zu zeigen. Immerhin war die ständige Ursache von
Poldis größter Angst aus dem Wege geschafft und er war nun im-
stande, seine Kritik am Vater sowohl mir als auch dem Vater ge<^en-
(iber etwas freier zu äußern. 0^=«"
Das Aufhören der Prügel hat gewiß an und für sich eine Herab-
setzung der Realangst bewirkt. Ebenso wichtig aber war das Stück
Befreiung seiner Aggression, die nun nach außen abgeführt werden
konnte. Daß die gehemmte Aggression gegen sich selbst gerichtet
wurde, ließ sich aus einem bereits damals auftretenden Spiel sehen
das wir das „Zirkusspiel" nannten. Er machte dabei als Clown und
Akrobat alle möglichen Kunststücke. Vor allem liebte er es, von
irgendwo herunterzuspringen und sich der Länge nach hinzuwerfen,
wobei er sich manchmal wirklich weh tat. Den tiefereu Sinn des
Spieles konnte ich erst später erkennen, die Selbstschädigungstendenz
darin wurde schon zu dieser Zeit deutlich. — wurde aber nicht ge-
deutet. Ich begnügte mich, wie oben erwähnt, mit der Deutung seines
Hasses und seiner Wut, die er aus Angst vor Strafe nicht äußerte.
über einen Fall von exhibitionistischer Onanie 245
Seine Angst verringerte sich wesentlich, als er imstande war, seine
Aggression in Worten und Taten zu äußern: er schimpfte gegen mich,
die Mutter, den Vater, den Lehrer. Er ging gegen meine Sachen los,
was ihm als Aggression gegen mich gedeutet wurde und daher wieder
die Aggression auf mich lenkte. Dies war nicht immer angenehm und
es war nicht immer leicht, ihn dazu zu bringen, an Stelle der agierten
Aggression seine Angriffe in Worten auszudrücken. Er begann, allein
auf die Straße zu gehen und spielte stundenlaug mit den Buben Fuß-
ball — ebenfalls eine Ablenkung seiner Aggression. Mit Einbruch der
Dunkelheit kehrte er allerdings ängstlich zur Mutter zurück. Wir
wissen, die Nacht ist die Zeit, in der sich die angsterregende Szene
zwischen den Eltern abspielt, wo seine Erregung und daher seine
Angst gesteigert ist; es dauerte noch einige Zeit, bis wir diese
spezielle Angst in der Analyse besprechen konnten. Immerhin war die
Mutter glücklich darüber, daß sie für ein paar Stunden des Tages
von ihm befreit war. Außerdem kam er nun auch allein zu mir, was
früher unmöglich gewesen wäre. Dies war insofern erfreulich als
es die einzige Möglichkeit war, Poldi in der Behandlung zu behalten,
da die Mutter die Zeit, ihn zu bringen und auf ihn zu warten, auf die
Dauer nicht zur Verfügung gehabt hätte. Diese Phase, in der das
Hervortreten der Aggression, die sich hauptsächlich gegen den Vater
richtete das wichtigste Moment war, dauerte etwa zwei Monate. Mit
einem neuen Spiel begann dann eine neue Phase der Analyse
Er kam eines Tages mit zwei Stöcken, einem großen und einem
kleinen, in die Stunde und begann mir, auf „seiner Geige" etwas vor-
zuspielen, indem er leise und mit Unterbrechungen ohne Worte dazu
«ane Durch meine Aufforderungen ermutigt, sang er lauter und nach
zwei" bis drei Tagen war schließlich die ganze Stunde von diesem
Geigenspiel erfüllt. Es waren Bruchstücke von wenigen lakten aus
Schlagern, Operetten, Opern, klassischer Musik. Diese Melodien waren
von unartikulierten Lauten, Prusten, Ächzen, Stöhnen und ganz hohen
Locktönen, wie von einem Vogel, flötenartigen Tönen und Schreien
unterbrochen. Je länger er spielte, umsomehr traten diese Geräusche
hervor das ganze Spiel bestand schließlich nur mehr daraus, ohne
Melodien; dabei kam er in eine ungeheure sexuelle Erregung, wurde
rot im Gesicht und machte deutliche Koitusbeweguugen. Mein Be-
streben dieses Spiel ohne Worte, in dem er deutlich eine Koitus-
szene darstellte, in ein Spiel mit Worten zu verwandeln, war lange
Zeit vergeblich; bis mir einfiel, daß er alle diese Melodien aus dem
Radio kennen mußte und ich mich dementsprechend als Eadiohörer
benahm. Ich regulierte ein fiktives Kadio, behauptete, schlecht zu
hören — da waren einzelne Worte verständlich — und nach einigen
246 Edith Buxbaum
weiteren Versuchen, besser zu hören, sprach mein „Radio" deutlich
in Worten. Nun verwandelte sich das Geigenspiel in ein Theater-
spielen, dessen Höhepunkt a'ber auch weiterhin jene unartikulierten
Laute und koitusartigen Bewegungen blieben. Das Theaterspiel selbst
war von der Art, wie Kinder sonst spielen, weitgehend verschieden.
Sowie sein Geigenspiel aus Bruchstücken von Melodien bestand, be-
stand sein Theaterspiel aus Gesprächsfetzen, Redensarten, Ausrufen,
die ebenfalls vollkommen unzusammenhängend schienen. Man mußte
die Darstellung zu verstehen suchen wie die scheinbar sinnlosen,
unzusammenhängenden Teile eines Traumes. Ich wurde allmählich
zur unentbehrlichen Partnerin in diesem Spiel. So lud er mich z. B.
schriftlich ein, bestimmt zu seinem Konzert zu kommen: „Verehrtes
Titterl! Ich lade Sie ein, ins Raimund theater zu kommen, es spielt
der Verschwender. Das fängt um 8 Uhr abends an und hört um 10,S0
auf. Bitte heute um 8 Uhr. Eintrittskarte 1.50 S, Balkon 2.20 S. Ich
gehe heute um 2 Uhr nach Hause, niemand sagen."
Den Namen „Titterl" hat er mir in Anlehnung an meinen Namen
PMith, Ditta, gegeben. Im übrigen klingt es an den Vulgärausdruek
für Brust „Tutterl" an. Seine Einladung bedeutet: „Wir wollen von
8 bis 2 Uhr nachts zusammen spielen und das soll unser Geheimnis
sein." Wobei „spielen" im sexuellen Sinn zu verstehen ist. Indem ich
u. a. die Rolle einer Sekretärin annahm, gelang es mir, einige seiner
Stücke aufzuschreiben. Vieles mußte ich auslassen, da ich ihn nicht
verstand; er sah darauf, daß ich auch seine Melodien in Noten auf-
schrieb. Ich will eines dieser Stücke zur Illustration hier anführen.
Sie sind im Dialekt, ich übersetze sie soweit als möglich ins Hoch-
deutsche.
„Polenblut"
„1. Bild. Ho, hoho, makulasch, joi, die alten Leut, Kracher sind da.
Da muß man sich tummeln und ein Bier dazu und ein kleines Glaserl
Wein. Bist so schön, muß man sieh ja freuen!
Jetzt kommen wir wieder! Jetzt haben wir schon gewartet, jetzt
kommt die Alte, das hab ich mir nicht gedacht. Bist du besoffen?
Ich nicht. Was singst du denn? Meine alten Wiener Gstanzeln. Das
darfst du nicht.
2. Bild. Heraus aus der Butten! Wer hat denn die Gstanzeln?
Jetzt hah ich gestampft mit mehr Pfeifen. Jetzt geh ich wieder au
meinen Gstanzeln. Greuel ist da, nicht!? (Machen Sie Rufzeichen und
Fragezeichen.) 3. Bild — nein, streichen Sie aus. Es pfeift. Holla,
Kölner Junge! Wer schreit denn da? Mein Glaserl Wein will ich. Da
muß ich warten, denn ich verdiene noch nicht. Du wirst schon schön
über einea Fall von exhibitionistischer Onanie 247
gepflanzt. Die Kracher sind schon da, da muß man schaun bei der
Nacht.
Pause
3, Bild. Was macht die Possa? Die Trr! ch, rr, ch (er macht
Schlafen und Schnarchen nach). Ch . . . (unartikulierte Laute). Die
alten Kracherleut. (Wieder unartikulierte Laute, er spuckt und gei-
fert, macht Koituebewegungen.) Alte Leut sind wir da! Rrr! Herein!"
Dieses Stück allein wäre wohl vollständig unverständlich für mich
geblieben. Da aber die anderen Stücke ähnliche Redewendungen und
Szenen Verbindungen aufwiesen, mußte ich die typischen Kombina-
tionen schließlich als das Wesentliche erkennen. Ich wußte bereits,
daß das Geigenspiel ein Onanieäquivalent war; er stellte eine be-
lauschte S/ene dar. Dasselbe galt für das Theaterspiel. Er spielte mir
vor was er gfhört und gesehen hatte. Er wurde dadurch erregt, und
wünschte selbst mitzuspielen. Die „alten Kracherleut" in diesem Stück
sind die Leute, die Alten, die Krach machen, d. h. Lärm - was sich
sowohl auf die Geräusche beim Verkehr beziehen kann, als au".h auf
den Krach, Streit, der nach Anagben der Mutter dem Verkehr häufig
voranging. Wir wissen überdies, daß Kinder den Verkehr als einen
Kampf .K]-ach", auffassen. „Da muß man zuschaun bei der Nacht . ist
der deutliche Einweis auf die nach der Pause geschilderte nächtliche
Szene Fs war zunächst nicht klar, mit welchem der beiden Eltern er
eich identifizierte, welche Rolle er übernehmen wollte. In einem an-
deren Stück „Czardasfürstin" spielte er im ersten Akt den Baron, im
zweiten die Braut - was er dann abänderte mit der Bemerkung:
Nein es muß ein Mann sein, also ein Sklave!" Er versuchte zwar, die
weibliche Rolle abzulehnen, dennoch setzte sich der passiv-masochi-
ßtische Wunsch soweit durch, daß die neue Gestalt, mit der er sich
identifizierte, zwar ein Mann, aber der Gefesselte, Geschlagene war.
Erst im dritten Akt fand er wieder zur Männlichkeit zurück; indem
er die Rolle des Prinzen für sich wählte, überhöhte er die Männlich-
keit gewissermaßen um seine vorangegangene Passivität zu über-
decken Er schwankte in seiner Wahl, wies aber die weibliche Rolle
aus Angst vor der drohenden Kastration ab. Ich erinnere an das erste
Spiel das er in der Behandlung spielte: die zwei einander bekämpfen-
den Männer, von denen bald der eine, bald der andere unterlag. Seine
puppe, in diesem Spiel er selbst, mußte schließlich doch siegen aus
Angst vor der Vernichtung. Es ist dasselbe Thema, dort wie hier.
Ein anderes Moment, das immer mit der Darstellung der Szene in
Verbindung gebracht wird, ist das Essen und Trinken. Dieses Motiv
fand einige Zeit später eine weitgehende Aufklärung. Als ich zu
Ostern für einige Tage wegfuhr und ihm dies mitteilte, fragte er, ob
N.;
248 Edith Buxbaum
ich „nur mit Frauen" wegfahre. Auf meine Gegenfrage, ob er nicht
möchte, daß ich mit Männern wegfahre, wollte er mir mit seinea
Geigenstöcken unter den Rock fahren. Er zeigte mir damit, daß er
nun aus dem Spiel Ernst machen wollte; er wollte das mit mir tun,
was nach seiner Vorstellung die Männer, mit denen ich wegfuhr, mit
mir machen würden, dasselbe, was der Vater mit der Mutter tat. Nach-
dem ich ihm dies gesagt hatte, wollte er mir zunächst die Röcke auf-
heben und schauen. Ich verwehrte ihm dies, versprach aber, ihm zu
sagen, was er wissen wollte. Darauf zeichnete er ein Bild, auf dem ein
Arzt einen Spiegel in den Mund einer Frau einführt und fragte:
„Wieweit kann er hinunter?" Er sagte mir mit diesem Bild, daß er
meinte, daß der Vater nicht nur unten etwas einführte, sondern das-
selbe auch beim Mund tat; es war dieselbe Verbindung von genitalen
und oralen Vorstellungen wie in seinen Theaterstücken, wo das Essen
und Trinken immer eine so große Rolle spielte. Diese stereotype Ver-
bindung konnte eine Verschiebung auf Grund einer oralen Fixierung
sein; ebenso aber war es möglieh, daß er auch hierin in seiner Aus-
drucksweise, im Theaterspiel und im Bild, reproduzierte, was er ge-
sehen hatte. Die Vermutung, daß er eine Fellatio gesehen haben
könnte, bestätigte die Mutter auf meine diesbezügliche Frage. Die
Frage, ob außerdem eine orale Fixierung bestand, ist damit keines-
wegs ausgeschaltet, im Gegenteil — dieses Erlebnis ist sicher ein ge-
waltiger Zuschuß zu einer oralen Fixierung, sei sie nun primär oder
durch Regression wiederbelebt. Der Spiegel, nach seiner Erklärung
em zahnärztlicher - als Penissymbol, ist der Ausdruck einer Ver°-
dichtuug von genitalen und Schau wünschen: sowie der Zahnarzt mit
dem Spiegel m den Mund der Frau hineinsieht, will Poldi den Penis
in das Genitale der Frau einführen. Nachdem ihm das Ansehauen des
Genitales sowie vorher der Koitus verboten worden war, zeichnete er
dieses Bild, in dem er das Motiv des Schauens in die Darstellung der
Szene, der er zusah, mit übernahm. Ich befriedigte einen Teil seiner
Wünsche, indem ich ihm nun die gewünschte Aufklärung über das
weibliche Genitale in Wort und Zeichnung gab.
In den Spielen bisher, wieder durch etwa zwei Monate hindurch,
hatte Poldi vorwiegend die männliche Rolle gespielt, mit ängstlicher
Ablehnung der weiblichen. Nun trat ein Umschwung ein. Er hatte
schon seit einiger Zeit im Wartezimmer offen onaniert, wie mir von
Patienten berichtet wurde. Eines Tages kam er mit offener Hose in
das Behandlungszimmer und konnte nicht Theater spielen. Er zeigte
mir sein Glied statt Theater zu spielen, eine Aufforderung an mich,
das, was er mir sonst vorspielte, wirklich mit ihm zu tun. Überdies
aber fürchtete er, ich könnte über seine Unanständigkeit böse sein
über einen Fall von exhibitionistischer Onanie 249
wie die Mutter oder der Vater. Nur diese Angst wurde mit ihm be-
sprochen. Trotzdem kam er am nächsten Tag nicht. Als er wiederkam
wiederholte ich die Deutung, daß er Angst habe, ich könnte böse sein.
Nun begann er wie zu Anfang des Geigenspieles wortlos zu geigen.
Als auch ich wie zu Anfang des Geigenspieles „das Radio regulierte",
um ihn zum Sprechen zu bringen, erstarrte er plötzlich, wurde sehr
blaß und sprang dann auf mit dem Ruf: „Ich bin das Greuel!" Er ging
aggressiv auf mich los und „wollte mich umbringen". Er warf sein
Messer so auf den Boden, daß es mit der Spitze stecken blieb und
nannte bei jedem Stoß einen meiner Körperteile, den er getroffen zu
haben vorgab: Arm, Bein, Bauch, Kopf, schließlich „Arsch"; damit
hörte er auf, indem er befriedigt konstatierte: „Jetzt sind Sie eh' schon
ganz zerfetzt!" Als ich ihn fragte, warum er so böse auf mich sei,
sagte er: „Weil Sie mich beleidigt haben." In derselben Stunde spielte
er bald darauf mit besonderer Wildheit und der deutlichen Absicht
sieh zu verletzen, Zirkus; er rief dazu: „Ich bin das Greuel, ich bin
ein Krüppel!" Meine Deutung, daß er jetzt an sieh selbst dasselbe
mache, was er vorher an mir tun wollte, wehrte er damit ab, daß
er so wild gegen mich losging, daß ich ihn aus dem Zimmer entfernen
mußte. Gleichzeitig bestätigte er dadurch in seiner gewohnten Weise
meine Deutung. Am nächsten Tag spielte er Polizei, und zwar war
er der Verbrecher und verlangte von mir, dem Polizisten, daß ich ihn
ins Gefängnis bringe, schlage, „massakriere". Als ich das ablehnte,
bat er: „Wenigstens kitzeln." Auf meine neuerliche Weigerung wollte
er wieder so aggressiv werden wie tags vorher, aber es gelang mir
diesmal, dies durch die Deutung zu verhindern. Diese zwei aufein-
anderfolgenden Stunden zeigen den Kernkomplex dieser Neurose
deutlich auf.
Poldis Exhibitionismus, eines der Symptome, derentwegen er in
Behandlung gebracht worden war, hatte sich mir gegenüber in der
Übertragung zunächst im Geigenspiel und Theaterspielen gezeigt.
Schließlich war er dazu übergegangen, direkt genital zu exhibieren.
"Wir konnten auf Grund des vorangegangenen Materials diese Ex-
hibition als einen Verführungsversuch verstehen, als eine Über-
tragung dessen, was er zu Hause der Mutter gegenüber ständig machte.
Ich hatte ihn, wenn auch in äußerst schonender Form, aber doch ab-
gewiesen, ich hatte ihn „beleidigt", wie er in der folgenden Stund©
eagte. Deshalb war er böse auf mich; sein Bösesein verband sich mit
seinen sexuellen Wünschen, er wollte mich nun vernichten, und zwar
genital. Er stach in der Phantasie in mich, in meinen „Arsch" —
sein Ausdruck für das weibliche Genitale — mit dem Messer hinein,
wie der Vater mit dem Penis in die Mutter hineinslach. Dabei nannte
250 Edith Buxbaum
er sich „das Greuel" — in dem zitierten Stück hatte er sich vor der
Darstellung der Koitusszene, im „2. Bild" ebenfalls als „das Greuel"
bezeichnet. Es mag sein, daß die Mutter den Vater in den erwähnten
Auseinandersetzungen wegen des geforderten Verkehrs so bezeichnete,
vielleicht auch hatte sie es zu dem onanierenden Kind gesagt — das
wissen wir nicht; sicher aber ist, daß Poldi sich und den Vater so
nannte, wenn er, resp. der Vater eine sexuelle Aggression vorhatten.
Dieser Höhepunkt der Aggression ist von der Wendung der Ag-
gression gegen sich selbst gefolgt: er will sich vernichten, wie er
mich vernichten wollte, indem er sich zum Krüppel macht. „Ich bin
das Greuel, bin ein Krüppel", heißt, weil er ein Greuel war, muß er
nun zum Krüppel werden.
Die nächste Stunde zeigt, daß seine Kastrationsangst auch den
Kastrationswunsch enthält. Der Polizist, uns bekannt als Vaterimago,
ich in der Übertragung, soll ihn für sein sexuelles Verbrechen strafen
und ihm durch die Strafe, das Kitzeln, zur Befriedigung verhelfen.
Die Kastration soll gleichzeitig der Liebesbeweis sein, er will als
Kastrierter vom Vater geliebt werden. Dies ist die zweite Kompo-
nente seines Exhibitionismus: wenn ihn die Mutter nicht liebt, will
er durch die Exhibition den Vater dazu reizen, ihm das Glied zu
nehmen und ihn als Frau zu lieben. Dieselben zwei Komponenten ent-
hält auch seine Onanie; einerseits ist sie der Ausdruck seiner Aggres-
sion gegen die Mutter, andrerseits will er durch die Onanie sein Glied
vernichten, um dann vom Vater geliebt zu werden. Beide Strebungen
kommen in der folgenden Zeit voll heraus: die Mutter berichtet, daß
er direkt genital aggressiv gegen sie ist, als ich mit ihm davon
spreche, wiederholt er dasselbe bei mir. Nach meiner Zurückweisung
spielt er Zirkus, d. h. er will sich selbst verletzen; er beendet das
Spiel und will nun das tun, was ich gerade mache, also etwa nähen
oder stricken. Diese Reihenfolge von genitaler Aggression, Selbst-
kastration und Identifizierung mit mir, d. i. in der Übertragung mit
der Mutter, wiederholte sieh einige Zeit hindurch, ohne daß die Deu-
tung etwas fruchtete. Schließlich verbot ich die sexuelle Aggression
auf mich, indem ich ihm erklärte, daß er so seine Angst nicht ver-
lieren könne. Er meinte darauf, dann wolle er lieber seine Angst be-
halten und das weitermachen; worauf ich hinzufügte, daß es mir nicht
gefällt und daß es mir unangenehm ist. Am nächsten Tag eröffnete
er die Stunde damit, daß er erklärte: „Ich bin entlassen worden." Da
ich ihn als sexuellen Partner abgelehnt hatte, stellte er nun auch sein
Geigenspiel, das Werbung und Verführung war, ein, da es zwecklos
geworden war — er war als Geiger entlassen, weggeschickt. Damit
war diese Periode der sexuellen Aggression beendet.
über einen Fall von exhibitionistischer Onanie 251
Infolge der endgültigen Abweisung verzichtete er nun vollkommen
auf die männliche Rolle; er wollte nur mehr so sein wie ich — in
meinem Sessel sitzen, an meinem Schreibtisch, meine Dinge haben —
und versuchte dies durch gesteigerte Selbstsehädigungstendenzen
zu erreichen. Schließlich gelang es ihm eines Tages, sieh bei jenem
hiezu benützten Zirkusspielen wirklich zu verletzen. Er erschrak
maßlos, weinte, schrie, war nicht zu beruhigen, bis er vor Erschöpfung
einschlief. Am anderen Tag brachte er mir eine Reihe von Zeichnun-
gen mit, die er mir erklärte. Sie enthielten u. a. auch solche, die Teile
des Zirkuspiels erklärten: ein Bild zeigte ein Kind in einem Gitter-
bett, das auf die Ehebetten schaute, „wie die Eltern spielten". Ein
anderes zeigte ein Kind, das auf dem Bettrand stand und ein zweites
Kind, das auf jemanden fiel, eine Krankenschwester stand mit drohend
erhobenem Finger daneben. Poldi erzählte, daß das Sichhinwerfen ein
beliebtes Spiel im Spital gewesen sei, das die Schwester immer ver-
boten habe. Wir sehen, das Sichhinwerfen hat wieder verschiedene
Determinanten: er wirft sich auf jemand — wie der Vater auf die
Mutter. Die Schwester droht strafend Verletzung an — sei es nuu in
Identifizierung mit ihr oder um der Strafe zu entgehen, er wirft sich
hin, um sich zu strafen und zu verletzen; überdies aber, um seine
Erektion, für die man bestraft wird, zu verbergen.
Dies war eines der wenigen Male, wo Poldi bereit war, sich von
mir helfen zu lassen. Wir verstehen, daß er sich vor seinen gegen sich
gerichteten Kastrationstendenzen schützen wollte, daher brachte er
auch bewußt Erinnerungsmaterial. Es wundert uns nicht zu erfahren,
daß er in dieser nun abgelaufenen Phase der Selbstkastration wieder
mehr Angst gehabt hatte. Mit der Deutung des Zirkusspieles ver-
schwand das Spiel aus der Analyse wie das Geigenspiel und seine
Angst wurde wieder geringer.
Da der Sommer herankam und Poldi zur Erholung in ein Kinder-
heim kommen sollte, war es notwendig, daß er das Exhibieren nach
außen hin einschränke. Ich versuchte ihn nach einer nochmaligen zu-
sammenfassenden Deutung zur Einstellung der exhibitionistisehen
Onanie zu bringen. Ich erklärte ihm aber ausdrücklich, daß er ona-
nieren dürfe, nur sollte es niemand sehen. Ich schenkte ihm für sein
Versprechen einen langersehnten Fahrplan, dessen Bedeutung mir
erst bei der Wiederaufnahme der Behandlung nach den Ferien klar
wurde. Zu meiner großen Überraschung war er imstande, sein Ver-
sprechen zu halten. Die Deutung seiner Exhibition war keineswegs
vollständig gewesen. Sie umfaßte in jener Zeit die Deutung seiner
sexuellen Aggression gegen die Mutter und seinen Wunsch, vom
Vater kastriert zu werden, jener beiden Tendenzen, die sich im Geigen-
252 Edith Buxbauni
spiel und Zirkusspiel mit dem nachfolgenden Agieren und Erzählen
klar herausgestellt hatten. Sie genügten anscheinend, um seinen Ex-
hibitionismus beherrschbar zu machen. Dazu kam noch, daß ich der
Mutter verboten hatte, nach ihm zu sehen, wenn er onanierte. Ich tat
(lies, da ich wußte, daß ihr Stören, wie sie es meinte, für ihn die Be-
friedigung eines Teiles seiner Wünsche war, denn sie kam und schaute
ihn an. Da sie nicht mehr zu ihm kam, war der Exhibition ihr gegen-
über ein Hauptmotiv entzogen. Sein Wunsch, vom Vater kastriert zu
werden, war im Zusammenhang mit dem Zirkusspiel gedeutet worden;
seine Aggression gegenüber dem Vater, für die er fürchtete und
wünschte, selbst kastriert zu werden, war zu Beginn der Behandlung
besprochen worden. Die Exhibition dem Manne gegenüber konnte da-
her eingeschränkt werden. Schließlieh hatte ich ihn mit der Erlaubnis,
heimlich zu onanieren, zu einer Situation zurückgeführt, die ja auch
lustvoll für ihn war: er hatte mit mir ein Geheimnis — und eine ge-
meinsame Phantasie, die sich um den Fahrplan zentrierte.
Als wir nach zehnwöehiger Unterbrechung die Behandlung wieder
aufnahmen, verhielt sich Poldi wieder genau so wie zu Beginn der
Analyse. Er wiederholte im Laufe von sechs Wochen alle Phasen der
Behandlung des vergangenen Jahres, vom Schweigen angefangen bis
zur Exhibition. Die einmalige Wiederholung der damals gegebenen
Deutung, manchmal auch nur eine Andeutung davon, genügte, um
ihn in die nächstfolgende Phase zu treiben. Dabei kamen einige er-
gänzende Details: anläßlich eines Kurzschlusses während der Stunde
entwickelte er eine Phantasie, die seine Angst im Dunkel enthielt:
Kinder, die er „Nachtgespenster" nennt, sind unartig, werden dafür
vom Vater erstochen, werden aber immer wieder lebendig. — Das
Erstochen- und wieder Lebendigwerden ist dasselbe wie in der ersten
Phantasie in der Analyse, in der zwei Männer einander umbrachten
und wieder lebendig wurden. Dieser Kampf spielte sich in manchen
Spielen auf dem Friedhof zwischen Mann und Gespenst ab. Jetzt
spielte sich dasselbe zwischen Kind und Vater, also ihm selbst und
dem Vater ab. Das „Nachtgespenst" — er selbst, der in der Nacht
herumgeistert, d. h. lauscht und schaut, was die Eltern machen, wird
dafür bestraft und erlebt gleichzeitig in der Identifizierung mit der
Mutter das Erstochenwerden durch den Vater, das uns aus der Greuel-
ezene bekannt ist.
Ein anderes Detail war, daß er bei einer Puppe die Stelle des
Genitales küßte. Auch versuchte er, seine Beine auf meine Schultern
zu legen — ein weiterer Beweis, daß er die Fellatio deutlieh gesehen
hatte.
Schließlich kamen wir zu neuem Material, das teilweise unbe-
über einen Fall von exliibiüoiiistischer Onanie 253
eprochenes Material aus der Zeit vor den Ferien war. Es zei^t sich
in einer neuen Phantasie, die mit dem Fahrplan zusammenhängt
einem neuen Symptom, und zwar einem Stehlzwang, und dem Wieder-
auftreten der Exhibition.
Den Wunsch, einen Fahrplan zu haben, äußei-te er zum ersten
Mal nach Ostern; damals war ich weggefahren. Es schien, als hinge
sein Wunsch, einen Fahrplan zu besitzen mit dem Wunsch, mit mir
wegzufahren, zusammen. Als ich ihm den Fahrplan dann schenkte,
spielte er, wie die Mutter berichtete, die ganze Zeit damit. Es war
wieder ein Theaterspiel, das die Erklärung für seine phantasierten
Reisen brachte: nach einem Streit, in dem die Mutter vom Vater
Geld verlangte, reist der Vater mit der Mutter nach Hamburg; dort
erschlägt er alle Leute, die ihn an der Ausführung von irgend etwas
Unbestimmtem hindern wollen. — Wir erkennen in dieser Phantasie
unschwer dieselben Elemente wie in den früheren Theaterstücken:
den Streit zwischen den Eltern identifizieren wir mit dem „Krach";
die Reise nach Ham-burg ist die Reise nach der Stadt, in der man
„Harn" — in der Kindersprache Essen — bekonmit. Der Kampf mit
den Leuten, die den Vater aufhalten wollen, ist der Streit zwischen
dem Vater und den Kindern, die den Verkehr der Eltern verhindern
wollen. — Die Reise ist ein neues Element in der Phantasie, sie zeigt
uns die Verbindung zu dem leidenschaftlich betriebenen Fahrplan-
spiel, das sichtlich die Stelle des Geigenspiels vertritt. Die Phantasie
enthält wieder die gcnital-orale Verbindung im Namen Ham-burg, wir
sehen die darin enthaltene Urseene; die Syrabolbedentiing des Eisen-
bahnfahrens ist nur eine weitere willkommene Bestätigung dafür.
Der Streit um Geld war eine Reproduktion der Vorkommnisse zu
Hause; daß er aber von den vielen Streitigkeiten zu Hause gerade
diese herausgriff, wies darauf hin, daß er noch etwas anderes damit
ausdrücken wollte. Doch war es erst einige Zeit später möglich, dies
zu verstehen.
Im Laufe der Wiederholung der Phasen aus der Zeit vor den
Ferien war auch das Thema Sehen und Gesehenwerden wieder auf-
getreten. Dieses aber blieb trotz der Wiederholung der bereits gege-
benen Deutungen bestehen, ein Beweis, daß es noch nicht vollständig
gedeutet war und daß uns noch wichtige Determinanten zu seinem
Verständnis fehlten. — Wie schon früher wollte er zu dieser Zeit
überall hineinsehen, alle Kasten, Laden und Taschen Öffnen; nach
der Deutung, daß er sehen wolle, wie es in mir ausschaue, reagierte
er darauf in seiner gewohnten Weise, indem er mir wirklich unter
die Röcke schauen wollte. Als ich ihm dies verwehrte, aber mit ihm
über das weibliche Genitale sprach, stellte es sieh heraus, daß er
■^
Zeitschrift i. pM. Pfid,, VTlI/5— 8
18
254 Edith Buxbaum
Überzeugt davon war, daß ich und die Mutter ein „Zipferl", einen
Penis, hätten, wenn er auch wußte, daß die anderen Frauen es nicht
hätten. Meine Aufklärung hatte keine "Wirkung, weil er sie nicht
glaubte, er wollte sich selbst davon überzeugen. Seine fortgesetzte
Exhibition war eine Aufforderung an mich, ihm doch ebenfalls mein
Glied zu zeigen. Die Deutung, daß er nicht wissen wolle, daß die
Frauen kein Glied haben, weil er fürchtete, daß auch er sonst seines
verlieren könnte, traf sichtlich nicht das Richtige.
Gleichzeitig mit der verstärkten Exhibition trat das Stehlen immer
mehr in den Vordergrund. Er hatte nach Angaben der Mutter früher
nie gestohlen. In der letzten Zeit vor den Ferien hatte er begonnen,
der Mutter Geld zu stehlen; in der Behandlung hatte er oft ge-
beten, ein Spiel oder Buch mitnehmen zu dürfen und hatte es trotz
meiner Weigerung oft davongetragen. Nun aber steigerte sich das
Stehlen in der Stunde immer mehr. Es gab nichts, was er mir nicht
wegnehmen wollte, dabei war er äußerst geschickt und ich konnte
ihn oft nicht daran hindern. Auf dem Höhepunkt der Exhibition aber
legte er auf das Verbergen seines Diebstahls keinen Wert mehr, er
stahl vollkommen offen — und steckte den gestohlenen Gegenstand in
den Hosenschlitz. Er zeigte mir dadurch, was und wozu er stehlen
mußte.
Das Verbot der Exhibition und des Stehlens zwang ihn dazu, statt
zu agieren in Wort und Spiel Material zu bringen. Ich hatte zwar
immer wieder versucht, dies zu erreichen, aber ohne Erfolg. Es
scheint, daß das Kind erst zu dieser Verbindung der beiden zueinander
gehörigen Symptome kommen mußte, bevor es imstande war, mir
Mitteilungen zu machen an Stelle des unklar drängenden Tuns. —
Er beklagte sieb nun darüber, daß er nicht dasselbe tun könne wie die
anderen Kinder, weil ihm die Mutter nicht gab, was er brauchte,
Sehlittschuhe. Fußball usw.; als ich mich bereit erklärte, ihm einen
Fußball zu schenken, lehnte er ab, er wollte ihn nicht. Damit zeigte
er, daß er nicht diese Dinge meinte, sondern daß ihm etwas Anderes
fehlte. Ale er mir wieder Bücher und Geld wegnehmen wollte und
ich ihm dies verbot, sagte er „er habe ein Recht darauf" und „er
werde mir alles wegnehmen, was er wolle". Auf meine Frage, wieso
er ein Recht auf meine Sachen habe, sagte er; „Weil Sie mir auch
was weggenommen haben!"
Schließlich brachte er mir die Erklärung für sein Stehlen in seiner
gewohnten Form, einem Theaterstück, das eine Erweiterung des
Stückes von der Reise nach Hamburg war: er verlangt im Stück
Geld von mir, ich gebe es ihm. er steigert seine Forderung und ich
gebe ihm so viel er verlangt. Mit dem Geld geht er zum „Bratwurst-
über einen Fall von exhibitionistisclier Onanie
255
glöckerl" und ißt dort „stinkerte Würstel", tanzt mit einer Frau
und fährt mit ihr nach Hamburg, wo er alle Leute erschlägt, die ihm
in den Weg treten. Während des Spiels sagt er: „Die Haar muß man
einzeln ausreißen und sich selber einsetzen, dann hat man's". In
diesem Satz, der mit dem Stück nicht in logischem Zusammenhang
steht, spricht Poldi die Bedeutung des Stückes und des Stehlens aus.
Er vermutet, wie wir bereits wissen, daß auch die Frau einen Penis
hat, wahrscheinlich glaubt er ihn hinter der Genitalhehaarung ver-
borgen. Das Geld, die Bücher und Spiele, die er von mir haben will,
sind Symbole für den Penis, den er von mir verlangt und nicht be-
kommt; seine Diebstähle bei der Mutter haben dieselbe Bedeutung. —
Das Geld ist aber auch das Mittel, mit dem man sieh etwas kaufen
kann — und zwar wieder den ersehnten Penis, in der Form des
„stinkerten Würsteis". Poldi pflegte an seiner Hand zu riechen,
wenn er sein Glied berührt hatte. „Stinkerte Würstel" sind aber auch
schlechte, verdorbene Würstel; es könnte sein, daß Poldi das nervöse
Erbrechen der Mutter am Morgen mit der nachts beobachteten Fellatio
in Zusammenhang brachte und dachte, die Mutter erbreche, weil sie
das „stinkerte Würstel" des Vaters in den Mund genommen hatte.
Vielleicht hatte er das In-den-Mund-nehmen des Penis als eine Be-
drohung des Vaters aufgefaßt. In seiner Stellung zum Vater ist zwar
nichts, das darauf hinwiese, daß Poldi meinte, der Vater habe sein
Glied verloren, sei kastriert durch die Mutter. Der Vater war in
seinen Äugen viel zu mächtig, als daß ihm so etwas passieren konnte.
Nur der Kampf der beiden Männer zu Beginn der Behandlung, in dem
wir auch die Darstellung einer Coitusseene erkannt haben, läßt durch
seinen ungleichen Ausgang die Möglichkeit durchscheinen, daß auch
der Vater in diesem Kampfe unterliegen könnte. Auch der Kampf mit
dem lächerlichen Teufel, der „unter Gestank und Geschrei" zer-
springt, weist darauf hin, daß der Vater-Teufel doch auch besiegt
werden kann. Die Fellatio wäre dann die Rache der Mutter am Vater,
wobei sie ihm seine Waffe, den Penis, mit dem er sie besiegte, wegaß.
In seinen Phantasien machte Poldi dasselbe mit der Mutter wie
der Vater, fürchtete aber, daß ihm das wirklich geschehen war, was
dem Vater nur drohte, wogegen er sich aber erfolgreich schützte.
Ihm selbst hatte die Mutter sein großes Glied weggenommen, sodaß er
nur ein kleines, unzureichendes übrigbehielt. Wahrscheinlich wurde
diese Annahme dadurch gestützt, daß er Gelegenheit hatte, das
erigierte Glied vor dem Verkehr mit dem klein gewordenen nachher
zu vergleichen. Überdies war dies die phantasierte Ausführung der
von der Mutter angedrohten Kastration. Sie hatte es ihm gestohlen.
Was sie ihm gestohlen hatte, konnte er sich „mit Recht" zurück-
256 Edith Buxbaum
Stehlen, dann „hätte er es", könnte mit der Mutter tanzen und nach
Hamburg fahren, könnte ein Mann sein wie der Vater.
Mit dieser Deutung hörte sein Exhibieren aul nach kurzer Zeit und
wiederholter Deutung auch das Stehlen. Ein Gespräch über Babys,
„bei denen man erst nach drei bis vier Monaten wissen könne, ob es
ein Bub oder ein Mädel wird", führte zu Erinnerungen aus seiner
Kleinkinderzeit. Er erzählte, wie er damals Nudeln mit den Händen
gegessen habe; ich deutete ihm, daß er meine, deshalb sei er ein Bub
geworden, man bekomme das Glied durch Essen, so wie es die Mutter
jetzt habe, weil sie es ihm weggegessen habe.
Nach einiger Zeit holte er sich von mir die die Deutung ergänzende
Aufklärung, indem er wieder wissen wollte, wie ich, respektive die
Mutter gebaut sei. Er vermutete, daß der Penis doch irgendwo ver-
steckt sein müsse: „Zwischen den Brüsten — oder vielleicht geht er
vom Nabel aus in den Bauch — oder er steckt im Loch". Er zeigte mit
diesen Überlegungen, daß er nicht nur das Wegnehmen des Gliedes
durch den Mund, sondern auch durch die Seheide fürchtete. Als ich
dies Alles verneinte und ihm die Anatomie dieser Körperteile erklärte,
war er zufrieden und kam auf dieses Thema nicht mehr zurück.
Poldis Befürchtung, das Glied könne durch die Scheide wegge-
nommen werden, war weitaus geringer und daher leichter zu zer-
streuen, als seine Angst vor dem Wegessen. Dies dürfte wohl mit
seiner oralen Fixierung zusammenhängen, vielleicht war es die Rache
der Mutter für sein Trinken und Beißen an der Brust, Die Brust war
für ihn ein Gegenstand großen Interesses, er griff der Matter häufig
liebkosend an die Brust, benannte mich „Titterl", was für ihn Brust
hieß. Doch ist dieses Stück nicht in die Analyse gekommen. — Diese
Phase der Behandlung dauerte von ihren ersten Anfängen bis zur
vollen Deutung und bis zum Verschwinden des Symptoms etwa ein
halbes Jahr.
In der letzten Periode der Behandlung brachte Poldi Phantasien,
die seine Rivalitätseinstellung zum Vater zeigten. Ein Beispiel da-
für: Poldi und ich bauen uns ein Haus mit einem hohen Turm, wir
erwarten einen Überfall des „wilden Indianers". Da Poldi meint, der
würde den Turm sofort einreißen, wenn er ihn sähe, reißt er ihn lieber
selber ein — Das Selbsteinreißen des Turmes ist die Darstellung der
Selbstkastration durch die Onanie. Andere Spiele zeigten Poldis
Besorgnis, sein Glied durch die Onanie geschädigt zu haben; die
Onanie war zu dieser Zeit das Mittel, sich immer wieder seiner
Intaktheit zn versichern. - Schließlich erkundigte sich Poldi beim
Vater, als er ihn nackt sah, ob sein Glied auch einmal so groß werden
würde, wie das des Vaters. Diese direkte Anfrage an den Vater ist
Übpr einen Fall von exhibitiopistischer On^inie 257
gewissermaßen als eine Frage, ob der Vater nichts dagegen hätte
aufzufassen; sie zeigt, daß Poldi seine Angst vor dem kastrierenden
Vater weitgehend überwunden hatte und — trotz noch vorhandener
gegenteiliger Tendenzen — doch in die überwiegend männliche Rolle
gekommen war.
Wie weit dieser Vorstoß zur Genitalität der Behandlung zuzu-
schreiben ist, wie weit er die natürliche Folge des Einsetzens der
Pubertät ist, ist schwer zu entscheiden. Es werden wohl beide Momente
zu dieser Entwicklung beigetragen haben. Vor allem aber ist insofern
ein großer Fortschritt festzustellen, als Poldi mit dieser Anfrage an
den Vater nicht nur sichtlich seine Angst überwunden hat, sondern
sich auch realitätsangepaßt zeigt. Während er sich sonst unter Ver-
leugnung der Realität in seinen Phantasien verlor und darin den
großen Mann spielte, schob er nun seine Wünsche, ein Mann zu sein,
auf die Zukunft auf und trug der Tatsache, daß er noch ein kleiner
Junge war und daher auch ein kleineres Glied als der Vater hatte,
Kechnung.
Zu dieser Zeit wurde die Behandlung abgebrochen. Poldi hatte
Exhibition und Stehlen aufgegeben, seine Angst war bedeutend herab-
gesetzt, so daß sie ihn und die Mutter nicht mehr wesentlich störte,
seine Onanie war auf ein normales Maß reduziert. Die Mutter war mit
seinem Zustand so zufrieden, daß sie keinen Grund mehr sah, die Be-
handlung fortzusetzen. Infolge dieses äußeren Umstandes ist dieAnalyse
ein Bruchstück geblieben, so daß wir nicht mit Bestimmtheit sagen
können, ob nicht doch auch die restlichen Symptome, Tick, krampf-
artige Bewegungen, sowie das Stück Angst, das er behalten hat, durch
eine weitere Behandlung zu lösen gewesen wären. Ebensowenig
können wir wissen, wieweit seine unanalysierte, orale Fixierung
an die Mutter und die anal-passive Fixierung an den Vater seine
weitere Entwicklung stören werden.
III.
Die erste sichtbare Herabsetzung der Angst war eingetreten, als
Poldi seine Aggression äußern konnte. Wir müssen uns fragen, wie
Angst und Aggression bei ihm zusammenhängen.
Während er in seinen Spielen und Phantasien wild und aggressiv
war, fürchtete er sich in der Wirklichkeit vor den siegreich be-
kämpften Gestalten seiner Phantasien. Wenn das Spiel zu realitats-
oahe wurde, fürchtete er sich auch im Spiel. So konnte er z. B. im
Spiel nicht verlieren; erst in der letzten Phase der Behandlung, als
er sich in die angstfreiere Konkurrenzeinstellung zum Vater begeben
hatte, verlangte er von mir, daß ich spiele, so gut ich könne, er wollte
258 EiHth Buxbaum
„sich nichts schenken lassen" — im Gegensatz zu früher, wo er eine
drohende Niederlage nicht ertragen konnte.
Weil er in der Phantasie seinen Gegner, den Vater, mit Haß ver-
folgte, fürchtete er die Rache des Vaters in der Realität. Ein Teil
dieser Angst war Realangst, den Poidi hatte oft genug vom Vater
Böses in der Form von Strafen erlebt. Dieser Teil der Angst mußte
von dem strafenden Vater selbst zurückgenommen werden, der Vater
selbst mußte ihm zeigen, daß er ihn nicht zu fürchten habe. Dies war
die "Wirkung der Einstellung der Prügel. Nun erst konnten wir zu den
neurotischen Quellen der Angst kommen.
Im Zirkusspiel strafte sich Poldi selbst. 1. um der Strafe des Vaters
zu entgehen, 2. in Identifizierung mit dem strafenden Vater, 3. in
Identifizierung mit der Mutter, die vom Vater so wie er bestraft wurde,
4. um des Vaters Liebe in Identifizierung mit der Mutter zu gewinnen.
Je weniger Poldi seiner Aggression Ausdruck geben konnte, umso-
mehr sammelte sie sich in ihm an, umsomehr mußte er den Vater
hassen. Mit dem steigenden Haß steigerte sich die Phantasie von der
zu erwartenden Rache des Vaters. Je grausamer die Vorstellungen
von der Rache des Vaters wurden, umso größer wurde seine Angst vor
ihm, umso größer wurden aber auch seine Selbstbestrafungstendenzen,
in welchen er die phantasierte Strafe selbst an sich vollzog. Die Ag-
gression, die ursprünglich gegen den Vater gerichtet war, wendete
sich gegen ihn selbst. Die Angst war also die Angst vor der gegen
sich selbst gerichteten Aggression. Als die Aggression einen Abfluß
nach außen bekam, verringerte sich die im Inneren angesammelte,
gegen sich selbst gerichtete Aggression und die Angst wurde geringer.
Andrerseits konnten wir beobachten, wie Poldi auf die Zurück-
weisung seiner sexuellen Aggressionen damit reagierte, daß er seine
männlich-aktive Rolle aufgab und — nachdem er sich symbolisch
kastriert hatte — die entgegengesetzte, passiv-weibliche Rolle agierte,
indem er sich mit mir, aus der "Übertragung mit der Mutter, identi-
fizierte. Das, was er nicht haben konnte, wollte er nun selbst sein.
Während er zu dieser Zeit seine Bestrebungen, sich zu kastrieren, im
Spiel voll zum Ausdruck brachte, steigerte sich gleichzeitig seine
Angst in der Realität. Er hatte Angst, seine Kastrationswünsche, den
Wunsch, sich einem Mann, dem Vater, als Frau hinzugeben, zu reali-
sieren. Seine Angst schützte ihn vor der gewünschten Kastration.
Wir sind erstaunt, daß Poldi zunächst anal exhibiert, statt, seinem
Symptom entsprechend, genital, daß auch seine Aggression sich zu-
nächst anal äußert.
Aus der Analyse sind uns jene Patienten zur Genüge bekannt, die
uns zu Beginn der Behandlung mit sexuellen Geständnissen über-
Über einen Fall von cxhibitionisÜFcIier Onanie
259
schütten. Wir schreiben diesem Material sekundäre Bedeutung zu und
nehmen es als vorgeschoben an. Der Patient will die Toleranz des
Analytikers ausprobieren, bevor er sich ihm gewissermaßen preise
gibt. Das Material, das er zu diesem Zweck benützt, entstammt einer
tieferen Schichte.
In der Vorpubertät und zu Beginn der Pubertät können wir bei-
nahe regelmäßig die Erfahrung machen, daß die Kinder ihre sexuellen
Interessen hinter analen Witzen verbergen. Erst nachdem sie sich
davon überzeugt haben, daß man bereit ist, auch diese Dinge ernst zu
nehmen und sie dafür nicht zu bestrafen, kommen sie mit den gefähr-
lichen sexuellen Gedanken hervor.
Das anale Material, das Poldi bringt, ist von diesen beiden Gesichts-
punkten aus zu verstehen: er zeigt etwas, das zwar auch verboten,
aber mit geringeren Gefahren für ihn verbunden ist, als die genitale
Aggression und Exhibition, für die er die Strafe der Kastration
fürchtet. Er probiert mich damit aus. Gleichzeitig aber gibt er Material
einer tieferen Libido- und Fixierungsstufe preis; aber auch dieses ist
noch doppelt geschichtet, indem das Anal-Aktive das Anal-Passive
überdeckt. Dieses Überdecken der passiven Strehungen durch die akti-
ven ist in allen Phasen der Behandlung typisch; seine überlaut betonte
Aggression soll seine Passivität verbergen und ihn davor schützen.
So hat seine genitale Aggression den Sinn, die Frau zu erstechen
(Greuelszene) ; soweit sie sich gegen den Vater richtet, den Vater zu
töten und zu kastrieren. Masochistisch wünscht er selbst vom Vater
kastriert zu werden. Da er auch bei der Mutter ein Glied vermutet,
will er auch ihr das Glied wegnehmen, das sie, wie er meint, ihm weg-
genommen hat.
Das Wegnehmen vollzieht sich nicht nur genital, sondern, wie wir
gesehen haben, hauptsächlich oral. Er will essen und trinken, Fellatio
ausüben, d. h. das Glied abbeißen, und wünscht, daß man bei ihm das-
selbe tut. (Die Puppe an der Steile des Genitales küssen, mir die Beine
auf die Schultern legen wollen.)
Das Vorwiegen der Aggression, die sich auf allen Libidoslufen
zeigt, läßt vermuten, daß das erste traumatische Erfassen der Szene
sich in der anal-sadistischen Phase abgespielt hat. Der Koitus wurde
eicher als Kampf aufgefaßt, wahrscheinlich auch als ein Hinein-
defäzieren in den Partner. (Beschissener Buxbaum, stinkerte Würste.)
Die Beobachtung der Fellatio wurde ebenfalls sadistisch, als Abbeißen,
interpretiert. Das Essen des stinkerten Würsteis weist darauf hin, daß
anale und orale Vorstellungen sich hier verbinden. Es scheint, daß
durch die Beobachtung der Fellatio, die bereits verlassene orale
Libidostufe regressiv wieder besetzt wurde, wobei die neu erwor-
60 Edith Buxbaum
benen sadistisch-aggressiven Mechanismen auf die oi-ale Stufe mit-
genommen und zur Verstärkung der oral-sadistischen Triebe ver-
wendet wurden.
Sowie sich neben der sadistisch-analen die passiv-anale Einstellung
entwickelte, zeigt sich parallel dazu neben der sadistisch-oralen auch
die passiv-orale Einstellung in der Vorstellung, das eigene Glied
durch Abbeißen zu verlieren.
Der Penis ist für Poldi das Ausdrucksmittel der oralen und analen
ji ggressionen, er hat nur scheinbar die genitale Stufe erreicht, ist
in Wirklichkeit prägenital fixiert. Erst zu Ende der Behandlung
macht er einen Vorstoß zur Genitalität, der aber sicherlich, wie es in
der Pubertät gewöhnlich und bei ihm infolge der passiv-analen Ein-
stellung zum Vater besonders zu erwarten ist, noch vielen Schwan-
kungen unterworfen sein wird.
Mit dieser frühen Fixierung scheint auch Poldis Exhibitionismus
zusammenzuhängen. Seine Exhibition weist auch die bekannten Kom-
ponenten auf: er zeigt sein Glied, um dadurch zu verführen, um sich
und andere — gegenüber seiner Angst, ein geschädigtes Glied zu
haben — von seinem Vorhandensein und seiner Intaktheit zu über-
zeugen. Vor allem aber ist die Exhibition seine Mitteihmgsform: er
zeigt im Theaterspiel, was er gesehen hat; er zeigt sein Glied als
Aufforderung an den andern, ihn dasselbe sehen zu lassen. Auf Deu-
tung reagiert er zumeist so, daß er das Gedeutete, das er bisher sym-
bolisch getan hat, nun in Realität ausführen will, als wollte er damit
sagen: „Ja, das will ich tun!" Er setzt die Aktion an die Stelle der
verbalen Mitteilung. Sein Exhibitionismus ist ein Teil dieser agierten
Mitteilung. Es könnte sein, daß dem sehr kleinen Kind zur Zeit, als es
zum ersten Mal eine Szene als Trauma erlebte, die Worte gefehlt
haben, so daß es das erlebte, überwältigende Erlebnis nicht anders
verarbeiten konnte, als das ihm passiv Widerfahrene nun aktiv zu
wiederholen. Sowie er an das Trauma in seiner Libidoentwicklung
fixiert blieb, war er auch an der Mitteilungsform von damals fixiert
geblieben. Diese Annahme läßt sich dadurch stützen, daß Poldi die
Exhibition aufgab, als ihre Bedeutung verstanden und in Worten
ausdrückbar geworden war.
Auch Poldis Ich-Entwicklung ist auf einer sehr niedrigen Stufe.
Er ist leicht dazu bereit, seinen Trieben freien Lauf zu gewähren.
Nur die Angst vor Strafe hält ihn im allgemeinen zurück, von einem
inneren Verbot weiß er nichts.
Wenn man annehmen will, daß er in Libido- und Ich-Entwicklung
auf jener Stufe fixiert ist, auf der er war, als er das fixierende Trauma
erlebte, so könnte man vermuten, daß auch seine intellektuelle Zu-
Über einen Fall von exhibi tiopistischer Oiianie Oßl
rückgebliebenheit einer Fixierung der intellektuellen Entwicklunff
auf der damaligen Stufe gleichkommt. Doch scheint diese Erklärung
nicht ausreichend zu sein. Trotzdem Poldi die Exhibtion aufgab, die
Angst soweit zurückging, daß sie ihn praktisch nicht mehr störte,
hat sich an seinem intellektuellen Zustand nichts geändert. Auffal-
lend erscheint, daß den Wortspielereien und Wortassoziationen ein
breiter Raum zukommt. Poldi bildet eine Menge von Unsinns werten,
deren Bedeutung vollkommen unverständlich bleibt, manche scheinen
aus Silben gehörter Wörter zusammengestellt. Schließlich finden
sich einige Assoziationen, deren Verbindung mehr durch die laut-
liche als die sachliche Ähnlichkeit gegeben scheint, wie z. B.: Gstan-
zeln — Stampfen, Dilta — Titterl, Greuel — Krüppel, Ham— bürg.
Manchmal hatte es den Anschein, als ob Poklis unverständliche Worte
eine fremde Sprache imitieren sollten, wie das Kinder manchmal im
Spiel tun. Befragt, was er da sage, war er manchmal bereit, das
Kauderwelsch für mich ins Deutsche zu übersetzen. Es war eine Ge-
heimsprache, die er gegen mich zur Wahrung seiner Geheimnisse
benützte. Doch war dies sicher nicht immer der Fall. Oft war es nur
ein Spielen mit Lauten, in der Art ganz kleiner Kinder.
Die geistige Zurüekgebllebenheit im Zusammenhang mit dieser
Eigenheit läßt weiterhin eine über die Neurose hinausgehende und
neben ihr bestehende Störung vermuten.
Poldis Tick und krampfartige Bewegungen waren bei Abbruch
der Behandlung selten geworden, da die sie auslösenden Erregungs-
zustände infolge der verminderten Angst ebenfalls seltener geworden
waren. Ihre Form aber war unverändert geblieben — auch hier muß
wohl an ein Mitspielen von organischer Seite her gedacht werden, da
wegen des vorzeitigen Abbruchs der Behandlung dies nicht mit voller
Sicherheit auszuschließen ist.
BERICHTE
Zur Psydiologie der Strafe und des Strafens
Von Heinrich Meng, Basel
fon Dr. Heinrich Meng erscheint soeben ein Buch: y^Strajen
und Erziehen", nus welchen wir — mit Genehmigurig des
Verlages Hans Huher, Bern — das j. Kapitel zum Abdruck
bringen. Mit dieser Schrift wird die Reibe ^Bücher des
Werdenden, Herausgegeben von Paul Fevern wid Heinrich
Meng'' fortgesetzt.
Was ist Strafe? — Die Entwii-klnnp des kindlidien Ichs und des Gewi^■aenB. — Bestraft werden
Tind SelballMBtrafen des Kindee. — Analociö znm Priniitiven. — Das Schuldeefülil. — Naturstrafe,
Dreaaur und ErzieliungEstrafe. — Der Konflikt des Ödipua als normale Entwicklungsstufe. —
Beispiele — Uae Alter des Kindee und die Entwicklung seines logischen Denkens andern den Ein-
fluß des Strafens — Anakgio zwiEclien den Stufen des einzelnen Kindes und denen der Mensch-
heit. — Schnidgefühl, StrafbedilrfuiH und Geetiindniazwang. — Reifa Eur Strafe.
Strafe ist die bewußte ZufÜgung eines tl'bels wegen Übertretens irgend-
welcher Vorschriften ethischer und auch niclit etliischer Norraen, durch eine
bestimmte Persönlichkeit. Die Bereitschaft zum Strafen, Bestraflwerden und
Sichse]bstbe.strafen wird in der gleichen Zeit im Kind erweckt und aufgebaut,
in der es von den Erziehern die ersten sittlichen Gebote empfängt. Mit ihnen
zugleich erfährt es von der Strafgewalt der Erzieher und der Forderung, so
zu handeln, daß die Strafe vermieden wird. Es gleicht sieh seinen Erziehern
an und „identifiziert" sich mit ihnen, d. h. es übernimmt Eigenschaften und
Verhaltensweisen von ihnen. Das geschieht zuerst unbewußter- und allmäh-
lich bewußterweiee aus dem natürlichen Bedürfnis nach Kontakt und Anleh-
nung, der Vorform des Autoritätsbedürfnisses, aber auch aus
N o t und Angst vor Liebesentzug und Strafe — und aus Liebe.
Das Kind nimmt in diesem Verähnlichungs- oder Assimilationsprozeß das Be-
dürfnis nach Erziehung und nach Strafe als aktive Strebung in seine eigene
Persönlichkeit auf. Es erlebt aber auch gleichzeitig in seiner leibliehen und
Beelisciien Hilfslosigkeit passiv Erziehung und Strafe. Die Spannung zwischen
seinem Icli un(i der erziehenden und strafenden Umwelt wird zum AnUvft zu
einer Spannung im Ich des Kindes; sein triebhaftes Ich spaltet — als Nieder-
schlag der Erzieher in seiner Seele — einen Teil des Ichs ab, gleichsam einen
Verbündeten der Erzieher. Das Ergebnis ist, daß je nach seinen biologischen,
sozialen und seelischen Bedingungen das Kind sich bald als das wollende
Ich, bald als das eigene Trieb- Ich fühlt und handelt. Ersteres ver-
tritt die strafenden Erzieher, welche im Sinn von Recht, Moral und Kultur
eingreifen, letzteres das primitive, unsoziale Triebhafte, das sich gegen
fremde Eingriffe wehrt. Gewöhnlich sind beide Richtungen des Ichs gleich-
zeitig vorhanden und kämpfen gegeneinander. Um der Strafe zu entgehen,
verbietet sich das Kind allmählich seihst Unerlaiibtes, ja. es wird bei be-
stimmten Erzieliungsmetlioden und bei bestimmten Erziehern oft ein viel
1
Zur Psychologie der Strafe und des Strafens 263
gtreugerer Richter gegen sich selbst als der Erwachsene, dem es sieh gleich-
gesetzt hat. Überstrenge und au große Weieliheit desselben Erziehers sind
daher Extreme, die sich in einer ihrer Wirkungen auf das Kind — Selbst-
gtrenge und Verweichlichung — berühren. Je mehr einerseits das Kind ver-
weichlicht und daher seinem Triebhaften und „Kriminellen", von dem es be-
dräng* wird, nachgibt, und je stärker und härter andererseits von auUen da-
gegen gekämpft wird, um so unerbittlicher baut sich sein Gewissen auf.
go wird das unbewußte und bewußte Verhalten des Kindes beeinflußt und
gesteuert.
Spaltung im Seelenleben des Erziehers oder des Lehrers, Zwiespalt zwi-
Bcben den Eltern oder zwischen Eltern und Schule rufen bei der Aufwühl-
barkeit des Kindes in ihm ein reichhaltiges, unliarmonisches Echo hervor,
während Geschlossenheit der Personen und einheitliche Umwelt die Reifung
und gute charakterliche Entwicklung begünstigen. Von der Umwelt hängt
in hohem Maße ab, welche Forderungen aus Anlehnung oder durch Ab-
, ßyjig das Kind sicii als eigene Moral stellt. Bei dem seelischen Waclistum
enielt nicht nur das objektiv Wahrgenommene des Kindes, sondern auch die
Phantasie eine Rolle. Es gibt eine magische Entwicklungsstufe
des Kindes, die mit der des erwachsenen Primitiven zu vergleichen ist.
Greifen wir aus dieser Verwandtschaft nur folgendes heraus; Das Kind
renzt nur langsam sein individuelles Ich von der Umwelt ab. Es ist mit ihr
rschinolzen, also mit Personen, Tieren, Pflanzen und Sachen. Die mangelnde
Abeegrcnztheit des kindlichen Ichs von der Du- und Sachwelt erleichtert
,. Identifizierung und die wechselnde pliantastische Veränderung des Ichs,
vor allem seine Neigung zur Spaltung. Wie es je nach Erfahrung und Wunsch
. gute" und „böse" Mutter kennt, sie liebt und haßt, so spricht es auch
sich als von einem bösen und guten Kind. Ein bezeichnendes Beispiel er-
"hlt S c u p i n in seinem Tagebuch, es gibt auch einen Hinweis auf eine Art
^glbstbestrafungi
Als der Bubi sicli in sein Fläschchen eigenmächtig Tee gegossen hatte
A nicht ganz sieher war, wie wir das aufnelimen würden, sagte er zaghaft:
Per Bubi hat mir Tinte gegeben!', redete also von sich gleichzeitig in der
rsten und dritten Person. Kurz darauf fanden wir ihn bitterlich weinend vor,
und auf unsere bestürzte Frage, was denn geschehen sei, stammelte der
Schein] hervor: ,Dee Bubi hat mich gesieht an Haardel' (Haare), und recht
drastisch zupfte er sich noch einmal am eigenen Haar. In fast keinem Beispiel
. ^ gich so klar, daß das Kind zwei Personen in sich unterscheidet, ein
cTites, braves ,Ic]i' und einen bösen ,Bubi', dem alle Entgleisungen und Un-
arten in die Schuhe geschoben werden, der stets nur das Böse will und sein
besseres ,Ich' foppt und ärgert."
Bis das Kind die Wirklichkeit erkennt im Sinne ob,iektiver Beobachtung
und Wertung, plianlasiert e.s die Erfüllung eigener Wünsche in Spiel und
Unart". Dem Primitiven und gewissen Geisteskranken verwandt, liest es
instinktiv unbewußte Vorgänge seiner Umweltpersonen stärker ab als der
erwachsene Kulturmensch; es schließt oft aus Gesten und Bewegungen der
Zustimmung oder Ableliuung mehr als aus den Worten der Erwachsenen,.
264 Heinrich Meng
welche Sympathie- oder Antipathiegefühle ihm entgegengebracht werden, es
steigert seine Enttäuschungen oft zu explosiven Aktionen, die von den Er-
ziehern als böswillige Unart aufgefaßt und bestraft werden. Aber auch das
objektive und durch die fünf Sinnesorgane aufgenommene Verhalten der Er-
zieher wirkt auf ein Kind ähnlich wie das Verhalten von Tieren, in deren
Rolle es sich im Spiel gerne hineinphantasiert, im Rollenspiel
(Ch, Bühler). Mit dem Wesen dieser Vorbilder versclimilzt es zeitweise
ähnlich wie der Primitive mit seinem Totemtier. Eine Beobachtung, die Otto
Rühle mitteilt, „Wie Nesthäkchen der Vater war", verdeutlicht, was ge-
meint ist.
„Bei einer befreundeten Familie war ich zu Gaste. Wir waren sechs Per-
sonen zu Tische, wodurch die gewohnte Tischordnung verschoben wurde. Auf
des Vaters Platze saß Nesthäkchen, ein munteres Guck-in-die-Welt mit
Schelmenaugen.
Der Vater, etwas nervös, hatte die Gewohnheit, beim Sprechen immerfort
mit dem Kneifer zu hantieren. Bald setzte er ihn auf die Nase, bald nahm er
ihn herunter. Dabei zwinkerte er mit dem linken Auge und zog den Mund-
winkel nach dem Ohr. Man hätte nicht sagen können, daß sein Gesicht da-
durch gewonnen hätte, aber niemand hatte ihn bisher darauf aufmerksam
gemacht. Die Gattin nicht, aus Güte und verstehender Rücksieht; die Kinder
nicht, weil sie es nicht wagten.
Bei Tische nun fiel mir auf, daß die Kleine plötzlich zu schielen begann,
die Augen zusammenkniff und schließlich mit Eifer Gesichter schnitt. Bald
traf sie ein verweisender Blick der Mutter. Das half nichts, auch ein kurzer,
halblauter Zuruf war erfolglos.
,Na, was soll das heißen', fragte endlich streng die Mutter. ,Was sind das
für Grimassen bei Tisch?'
Da schaute der kleine Schalk der Mutter keck ins Gesicht und erklärte
mit dem Brustton der Überzeugung: ,Ich bin doch heute der Vadder!'
Wir lachten hellauf, die Mutter nicht ohne peinliche Verlegenheit. Auch
der Vater besaß Humor genug, die kleine Lektion mit Heiterkeit zu quittieren.
Das Gesichterschneiden hatte er sich daraufhin abgewöhnt."
Wir sprachen von der Spannung im Ich des Kindes zwischen
seinem Trieb-Ich und dem Ich-Teil, der, aufgebaut auf der ererbten Anlage
zur Gewissensbildung, sich als Nachahmer und Verbündeter der Erzieher
formt. Er wird zum eigenen Gewissen des Kindes. In der Spannung zwischen
beiden ruht und wirkt der Keim der Schuldgefühle. Eine ihrer für Erziehung
und Charakterbildung bedeutsamen Funktionen ist — ihre normale Entwick-
lung vorausgesetzt — überstarke Triebforderungen einzudämmen. Je mehr
das Kind allmählich auch die Forderungen der Gesellscltaft kennenlernt, bildet
es sein der Familie angepaßtei^, kindliches Gewissen zum sozialen aus, woraus
oft zwei voneinander wohl unterschiedene Gewisscnsriclitungen entstellen.
Eine Vorform der menschlichen Erzieliungsstrafe als instruktiven Ver-
such, dem heranwachsenden Lebewesen gefahrbringende Erfahrungen zu er-
sparen, wird von Tierforschern bei zahlreichen Vögeln und Säugetieren be-
schrieben, z. B. von B e n g t Berg. Die menschliche Erziehuugsstrafe ahmt
Zur Psychologie der Strafe und des Strafen;
265
das Wirken unpersönlicher Natnrkräfte nach und tut das uinsomehr, je ver-
nünftiger sie gehandliabl wird. Durch eigene Erfalirung und fremde Ein-
wirkung hat das Kind aUmählich den Zusammenhang zwischen Feuer und
Verbrennen des Fingers unter Schniera begriffen. Das ist eine Art Dressur.
Zur Vermeidung von Schmerz und Not verzichtet es auf manchen M'unseh,
wenn seine Erfüllung ähnlich „straft" wie das Feuer.
Die weitere biologische, seelische und gesellschaftliche Entwicklung des
Kindes versetzt es immer wieder in solche Zwangslagen. Beim Versuch, ihnen
zu entgehen, findet es zwei Wege offen. Der eine ist das Streben, klein und
damit unverantwortlicli für eigenes Tun wie das Neugeborene zu bleiben, der
andere aber ist das Streben, rasch erwachsen zu werden, auszureifen und als
eigener Richter zu walten. Dieser Zv^iespalt wird gesteigert durch die sieh
widersprechenden Eindrücke der strafenden und belohnenden Erzieher, der
strengen und der gütigen Mutter. So wtichst das Kind heran, bald vorwärts
stürmend, bald zurückweichend. Ein hartes und unerbittliches Gewissen ist
entstanden und schafft Schuldgefühle, fordert Strafen. Es entsteht das un-
bewußte Strafbeürfnis des Erwachsenen, weil das viele „Böse-wollen" und
„Gutes-wollen" des Kindes mit der weiteren Entwicklung aus dem Bewußt-
sein verdrängt worden ist. Anlaß zu Konflikten ergeben sich schon ganz früh.
Viele sind und bleiben unbewußt, sie hinterlassen kaum Spuren in dem Be-
wußtsein des Kindes. Gut bekannt — aus der Psychoanalyse — ist die man-
gelhafte Bewältigung der triebhaften sinlichen Bindung an die Eltern in Liebe
und Haß — die ö d i p u s s i t u a t i o n.
Diese Entwicklungsstufe wird auch von Forschern anerkannt, welche wie
Homburger und Benjamin der Psychojinalyse fernstehen und sie durch
eigene Beobachtungen bestätigt sehen.
Im Mythus aller Völker kommt die Ödipussituation zum Ausdruck, Der
Vater, bzw. die Mutter werden als „Nebenbuhler" gehaßt, denn der Knabe hat
zu Mutter und Schwester und das Mädchen zu Vater und Bruder eine stärkere
Beziehung als zu den gleichgeschlechtlichen Familiengliedern. Többen
zeigte an umfassendem geschichtlichen Material, daß der Inzest biologiscii
tief verankert ist. Er wies darauf hin, daß in Irland. Ägypten, Persien und
anderen alten Kullurländern die Geschwisterehc und die Ehe des Vaters mit
der Tochter selbstverständlich war, ein Inkakönig mußte die eigene Schwester
stets zur Frau nehmen, um für heilig zu gelten. Bei den Persern steht fest,
daß vierzehn Herrscher hintereinander die Inzestehe führten und daß erst in
späteren Kulturstufen der Abschen vor dem Inzest sich als Reaktion aus-
bildete. Wie tief die Ödipusbindung die Menschenscele beherrscht, geht auch
aus der schöngeistigen Literatur hervor. In Henrik Ibsens ,, Gespenster" liebt
Oswald Alwin seine St ief. seh wester Regine, olme das Verwandtschaftsver-
hältnis zu kennen. Hunderte von Dichtern der alten und neuen Zeitepoche,
unbeeinflußt von psychologischen oder pädagogischen Tendenzen und lange
vor der Freud'schen Entdeckung der elementaren Bedeutung der Ödipiis-
eituation für Charakter und Schicksal, haben dieses Motiv für Drama, Sage,
Legende und Dichtung benützt. Bei Sophokles, Calderon, Lope de
Vega, Shakespeare, Richard Wagner, Ibsen und vielen von ge-
266 Heinrich Meng
ringerer Bedeutung sind von Otto Rank die Inzcstmotive durch ihre ge-
eamto Produktion verfolgt worden. Auch die kiminalistische Literatur
spricht eine deutliche Sprache. Sie erbringt den Nachweis, wie oft beim
Kulturmenschen unter Rückfall in urmenschliche Verhaltensweisen die
Neigung zum Inzest es zum Versuch oder zur Tat kommen laßt. Beim sozial
und neurotisch gestörten Mensehen kommen Anlagen zur Entwicklung, die
beim Normalen latent sind. Schmidt stellte auf Grund der Akten unter achtzig
Fürsorgefällen vierzigmal wirklichen Inzest fest, ähnliche Zahlen werden
von anderen Unlersuchern beigebracht. Eine so stark biologisch und psycho-
logisch gegebene Triebriclitung muß sieh auch in der Latenz bei dem nor-
malen Kinde des Kulturmenschen bemerkbar machen. Das Kind wird aber
durch die Umwelt gezwungen, seine ödipusbildung zu enfsinnlichen und
die Kräfte, die sich in ihr auswirken, zu vergei.=tigcn. Bei der Stärke ripr
Triebe und ihrer biologischen Verankerung in der Erbmasse hat es das Kind oft
schwer, den Wandlungsprozeß ohne allzu große Störung seiner Ich- und Ge-
wissensentwicklung zu bewältigen.
In der schwierigen Kampfpliase zwischen drei und fünf Jahren ist diese
Situation Quelle vieler Unarten und steigert und erweckt Schuldge-
fühle, durch die das Kind oft geneigt wird, Strafen zu provozieren, um innere
Spannungen zu lösen. Kaum eine andere Feststellung der Tiefenp-sychologie
hat bei den Erziehern so viel Kopfzerbrechen und Ablehnung verursacht wie
die Betonung der Bedeutung der ödipu.ssituation für die Erziehung. Aus ihr
entstehen zahlreiche Anlässe, in denen die Erwachsenen ein eigensinniges
Verhalten des Kindes mit Strafe belegen, vor allem dadurch angeregt, daß
die meisten Konflikte im Reifevorgang zwisclien drei und sechs Jahren als
Trotzerscheinungen sich bemerkbar maclien. Das einzige Kind erlebt
die Ödipusbindung besonders stark, es hat meist große Schwierigkeiten,
sich in die Gesellschaft einzuordnen. Freud und einige seiner Schüler, wie
Sadger, haben wictitigo Charakter-Untersuchungen durchgeführt über die
Entwicklung des Kindes in der Reihe der Geschwister, auch über die Be-
dingungen, unter denen sie die ödipusbindung bewältigen, sich gegenseitig
erzieherisch fördern oder stören. Benjamin gibt ein Beispiel für die
Ödipussituation:
„H. M., 4,2 Jahre alt, ist einziges Kind. Der Vater ist zwanzig Jahre älter
als die Mutter und die Ehe augenscheinlich überaus unglücklich. Als Säug-
ling hat sich H. gut entwickelt, nur lernte er erst spät sprechen. Mit zwei
Jahren wäre das Kind unglaublich eigensinnig gewesen. So hätte es 2. B.
abends so lange dröhnend mit dem Kopfe gegen das Gitter seines Bettchens
geschlagen, bis er sein Ziel, ins elterliche Schlafzimmer zu kommen, erreichte.
Meist habe H, bei den Eltern geschlafen, wäre bei allen elterlichen Szenen
zugegen und er benehme sich der Mutter gegenüber wie ein Liebhaber. Er
streichle ihre Brust, führe wahre Liebesszenen auf, wolle sie keine Minute
entbehren, brülle sinnlos, wenn sie sich ihm versage, und es hätte sieh all-
mählich eine ausgesprochene Eifersucht auf den Vater, den er auch gelegent-
lich tätlieh angegriffen habe, entwickelt. Dieser unterstütze die Bindung des
Knaben an die Mutter, weil sie ihm scheinbar zu einer Lustquelle geworden
Zur Psychologie der Str afe und des Strafens 267
ist und weil er iindererseits durch die t^einer Frau auüerlpgte Binduno- einer
Befriedigung seiner Eifersucht findet. Scliließlich sei der Zustand dei5 Kindes
so bedenklich geworden, daß der Arzt an eine Psychose gedacht habe. Die
Mutter hätte immer das Unheilvolle dieser Erziehung gesehen, sie sei aber
zu nachgiebig gewesen, um sich den brutalen Forderungen des Vaters zu ent-
ziehen, der z. B. auch aus den erwähnten Gründen den Besuch eines Kinder-
gartens Ptreiige verboten hätte. So sei H., ohne mit Altersgenossen zusammen-
gekommen zu sein, aufgewachsen. Im Laufe der letzten zwei Jahre wäre das
Kind im großen und ganzen ruhiger geworden, immerliin wären aucli heute
noch erhebliche Erzlehungs,schwierigkeilen vorhanden, die sich vor allem in
Trotz, Selbstsucht und großer Unselbständigkeit äußern. Reinlieh sei H. erst
mit drei Jahren geworden. Er schlüge auch heute nocli mit dem Kopf an das
Gitter des Bettes, wenn er ins elterliche Schlafzimmer kommen wolle, er
onaniere, zupfte an den Lippen, erbräche willkürlich und klage oft grundlos
über Bauchschmerzen."
Bevor wir die Frage des Schuldgefühls und ihre pädagogische Auswertung
weiter verfolgen, erinnern wir noch jin zwei Tatsachen, die uns das Ver-
ständnis des Kindes und des Erziehers im Erziehungsprozeß erleichtern: Das
eine ist, daß das Kind in seiner Entwicklung geraume Zeit braucht, bis es
im Sinne des Erwachsenen geordnet denkt und wie dieser seine Gefühle und
Triebregungen reguliert. Bis dahin bestehen für das Kind gunz anders
logisf^be Zusammenhänge zwischen Schuld und Strafe. Die andere wohlbe-
kannte Tateache ist, daß aus biologischen Gründen das Alter, in dem eine
Maßiti^hme erlebt wird, über üire Wirkung entscheidet. Ob ein Kind vier oder
zehn Jahro ist, bedeutet einen großen Unterschied. W. Stern gibt eine Ana-
logie, sie entspricht zwar nicht jni einzelnen der Wirklichkeit, deutet aber die
Wichtigkeit der Entwicklungsphase für die Wirkung unserer
Maßnahmen an:
„Das menschliche Individuum steht in seinen ersten Lebensmomenten als
,Säugling' mit dem Vorwiegen der niederen Sinne, des dumpfen Trieb- und
Eeflexlebens, auf dem Stadium des Säugetieres, erreicht im ersten halben
Jahr mit der Tätigkeit des Greifens und des vielseitigen Nachahmens das
Stadium der höchsten Säugetiere, der Affen, und erlebt im zweiten Halbjahr
durch Erwerbung des aufrechten Ganges und der Sprache die eigentliebe
Menschwerdung. In den n,*ichsten fünf Jahren des Spiels und des Märchens
steht es auf der Stufe der Naturvölker. Sodann folgt der Eintritt in die Schule,
die straffe Eingliederung in ein soziales Ganzes mit festen Pflichten, die
scharfe Scheidung von Arbeit und Muße — es ist die ontogenetisehe Parallele
zum Eintritt des Menschen in die Kultur mit ihren staatlichen und ökonomi-
schen Organisationen. In den ersten Jahren des Schulalters sind die einfachen
Verhältnisse der Antike und des Alten Testaments dem kindlichen Geist am
adäquatesten, die mittleren Jahre bringen die schwärmerischen Züge der
christlichen Kultur und erst die Zeit um die Pubertät herum erreicht jene
geistige Kultur, Differenziertheit, die dem Kulturstand der neueren Zeit ent-
spricht. Hat man doch oft genug das Pubertätsaiter selbst als die .Aufklä-
rungszeit' des Individuums bezeichnet." , ..
268 Heinrich Meng
Der Erzieher kanii einerseits von diesem Gepielitspunkt aus abscliätzoii,
wie Strafen und Belohnen hietoriseli verankert sind und wie sich ihre Wirk-
lichkeit gewandelt haben, andererseit auch verstehen, daß für das Kind Schuld
ujjd Strafe etwas anderes sind als für den reifen Menschen.
Nicht wenige Kinder erleben das Bestrafen anderer Kinder so
heftig mit, daß ihr eigenes Schuldgefühl sich dadurch mehrt. Das Kind zeigt
als Folge oft ein sinnlos schlimmes Verhalten. Es reizt unbewußt den Er-
zieher dazu, es selbst körperlich zu bestrafen, es tut das aus dem schon er-
wähnten unbewußten Stralbedürfnis heraus. Aber keine Strafe kann zur
echten Sühne und Heilung führen, wenn sie nicht die inneren Quälereien löst,
sondern es entsteht merkwürdigerweise Lust und Reiz zu neuer Kebellion und
neuer Gewissensqual. Das Kind macht sich aus ihm unbewußten Gründen
unbeliebt.
Weil es sich selbst verachtet und gleiche Verachtung von den Erziehern
schon erwartet, will es unbewußt Strafe, um danach wieder liebenswert zu
sein und geliebt zu werden. Daher sind die Reaktionen von Kindern, die durch
eigene oder fremde Bestrafung gereizt werden, paradox, gemessen an der Er-
wartung jener Erzieher, die Fe r n w i r k u n g v o n Strafen auf die Cha-
rakterentwicklung nicht auch die Tatsache der Leidenslust (Masoehismus)
berücksichtigen. Was sonst als Strafe Unlust erzeugen müßte, erregt bei
vielen Kindern physische und psychische Lust. Wer darauf aufmerksam ge-
macht worden ist, kann das unschwer selbst bestätigen. Der unbewußte Selbst-
vorrat des Kindes in Sprechen und Spiel ist oft deutlich. In die Sprache des
Erwaebseuen übersetzt, teilt das Kind mit: so sieht es in mir aus, ich bitte,
mieli ernst zu nehmen und anzuhören, mich zu strafen, oder mich ohne Strafe
zu lieben. Alle Ausdrucksformen, Mimik, Motorik, Wortpprache stellen sieb in
den Dienst der verpönten triebhaften Kegungen und gleichzeitig des strafen-
den Gewissens. Aber Herkunft und Inhalt des Geständnisses sind dem Kind
unbewußt, es handelt zwanghaft. Das Kind leidet unter dem Schulgefühl und
gleichzeitig auch unter der Angst vor Strafe. Um solche Schuldgefühle, Straf,
bedürfnisse und Geständniszwänge entstehen zu lassen, muß eine starke ge-
fühlsmäßige Bindung zwischen Ehern und Kindern vorhanden sein. Das Kind
ist, wenn es den andern liebt, mit einem Teil seiner Persönlichkeit an den
anderen gebunden. Es liat ein Bündnis mit dem Erzieher geschlossen, es
identifiziert sich mit ihm und erlebt das Leid, das es dem Erzieher durch die
Unart angetan hat, als eigenes. Daraus folgt, daß jede Erziehung und jede
Strafe viel tiefer wirksam sind, wenn die Liebe des Kindes aktiviert ist. Sie
ist der Kern der erzieherischen Beeinflussung überhaupt, der autoritativen
Verständigung mit dem kindlichen Trieb — und mit seinem Gewissens-Ich
— dem ,,Ü b e r-I c h" Freuds. Die Liebe des Kindes muß richtig entwickelt
und allmählich zur angstlosen Verbindung verwandelt werden. Jeder vom
Triebhaften angeregte Vorgang strebt danach, sich Affekten und Hand-
lungen zu entladen. Das Schuldgefühl treibt schon nach den ersten Erleb-
nissen des Lobes und des Tadels zu einer spontanen Entladung in Wort und
Tat. R e i k erkannte diesen Geständniszwang als Ausdruck der Ten-
denz zur Befriedigung des Strafbedürfnisses.
Zur Psychologie der Strafe und des Strafens 269
Id den ersten Formen der Selbstbestrafung ist noch kein bewußtes Streben
nach Sühne erkennbar, es ist aber bereits eine Vorform der Sühne gegeben.
Schon beim Zweijährigen ist die Selbstbestrafung deutlich wirksam. Das Kind
muß also bereits die Erfahrung gemacht liaben, daß eine bestimmte Handlung
Strafe nach sich zieht und schon danach denken und handeln. Bei der Selbst-
bestrafung ist das Ich des Kindes bereits Subjekt und Objekt des Vergeltungs-
irapulses, des Talionprinzips. W. Stern bringt folgendes Beispiel; „Wenn
Hilde {2—2%) trotzig ist, weint oder schreit, wird sie immer noch ins andere
Zimmer oder in die Ecke gestellt. Manchmal kommt es aber vor, daß sie in
solchen Fällen selber verlangt: Ecke stellen. Neulich, als sie diesen Wunsch
weinend äußerte und sich wirklich von selbst in einen W'inkel begab, fragte
ich: Ist denn Hilde unartig? Antwort: Ja. Nach einer Weile rief sie gewöhn-
lich mit sanfter Stimme: Mama, Mama. Ich fragte; Will die Hilde artig sein?
Antwort Ja. Ich erlaubte ihr herauszukommen, und mit den Worten: K.onimt
die atje Hilde, lief sie vergnügt herbei."
Der Autor nimmt au, daß die Empfänglichkeit für Strafen als
Subjekt und Objekt drei Stufen durchlaufe: die Wirkung der Strafe wurzelt
in der mit der Tat assoziierten Unlust, dann wird die Strafe als die aus der
Handlung natürlich hervorgehende Konsequenz erlebt und dann wird allmäh-
lich der Sühnecharakter in der erlebten Strafwirkung bewußt. Diesem seelisch
ablaufenden Prozeß entspricht biologisch der uralte Vergellungstrieb und die
dämonische Scheu vor der Allmacht der Umwelt, der realen und der phanta-
sierten. Das Kind ist davon überzeugt — und hier verwandt dem Primi-
tiven — , daß man seine Gedanken sehen könne, ja, daß man sie ihm weg-
nehmen könne (Piaget). Im Konflikt zwischen Triebhaftem und Forde-
rungen der Umwelt zwingt sich das Kind zur Aufrichtung einer eigenen
Eechfssphäre, in der es bald selber Urteile fällt und vollzieht oder wenn es
aus irgend welchen Gründen damit zögert, den Erzieher aufmerksam macht,
daß es „traffällig" sei. Es gibt reichlich Beispiele aus der früheren und
späteren Kindheit, die den Geständniszwang demonstrieren. Wir entnehmen
eines den Beobachtungen von Eeik:
„Mein Sohn Arthur, acht Jahre alt, spielt eines Tages Polizeimann und ver-
hört dabei Verbrecher, die seine Phantasie geschaffen hatte. Zuletzt redete er
einen solchen Verbrecher mit Arthur au und sagt: ,Ah, ich weiß schon. Du
hast einen Eevolver gestohlen, du wirst eingesperrt.' Als die Erzielierin ihn
fragt, was mit dem Verbrecher Arthur sei, zieht der Junge einen Blech-
revolver aus der Tasche, den er vorher in seiner Schule entwendet hatte."
Der Autor untersucht im einzelnen und allgemeinen die Lage seines Kna-
ben und die anderer Kinder in ähnlichen Situationen und kommt dann zu dem
Schluß: Der Effekt, den das Spiel hatte, lasse unzweifelhaft einen Rückschluß
auf sein Motiv zu. Das Spiel wird zu einem Ersatz der Beichte; das Ge-
ständnis erfolgt ja dann wirklich. Die verborgene, aber doch sich offenbarende
Bedeutung des Spieles auch anderer Kinder zeigt, daß viele Kinderspiele un-
bewußt dargestellte Geständnisse sind. Sie verstehen lernen, das ist eine der
wichtigsten Forderungen an den Erzieher zur Beurteilung von Eichten und
Erziehen.
Zaitscliriff f. psa. Pfid., VIII/5-8 j.
270 H. Christoffel
Die kuUureile Anpassung des Kindes ist unmögiich, wenn nicht eine Reihe
von Verboten sein Verhalten modifizieren. Jedermann muß lernen, natürliche
Reaktionen zu unterdrücken und bei vielen Handlungen den Verstand, statt
das Gefühl vorherrschen za lassen. Jeder erworbenen Reaktion liegt eine an-
geborene zu Grund, die durch Milieueinflüsae verändert wird. Die Frage ist:
wie weckt man im Kind lebensnützliche Reaktionen und die selbständige
Fähigkeit zu verantwortungsvollem und lebensfreudigem Handeln? Meist wird
das Mittel der Strafe eingesetzt. Bevor wir unsere Stellung zn der Zweck-
mäßigkeit dieses Verfahrens festlegen, müssen wir aus der pädagogischen
Erfahrung und der pädagogischen Psychologie einige Kenntnisse zu Rate
sieben. ■• ■' ■-
Zur Biologie der Enuresis
Von H. Christoffel, Basel
Unter obigem Titel veröffentlicht Verf. eine ausführliche
Studie, die in der neugegrilndeteii ^Zeitschrift für Kinder-
psychiatrie — Journal dt Psychiatrie infantile" nachgelesen
werden kann. Mit Rücksicht auf die Arbeiten von K. Levy,
A. Angel und S. Bornstein im vorliegenden Heft unserer
Zeitschrift veröffentlichen wir auszugsweise die Studie
H. Christoffels.
„Wiewohl der Enuresis geheißene Symptomenkomples ein ärztliches AUtags-
problem ist, kann nicht behauptet werden, daß es gelöst sei. Und wenn der
Versuch einer Klarstellung gewagt werden soll, so zeigt sich die Notwendig-
keit einesteils auf vernachlässigte Einzelheiten des unmittelbaren Tatbestan-
des einzugehen, andernteils die Enuresis in größerm Rahmen als üblich zu
betrachten. Die Psychologie ist bei solcher Betrachtung ebenso wichtig wie
die Physiologie. Nur im Verein beider Methoden können Lebensvorgänge er-
forscht werden; wenn ich also von Psyehophysiologie oder Physiopsychologie
spreche, so meine ich Biologie. Die vorliegende Untersuchung beschäftigt sich
mit der Biologie der Miktion (Harnentleerung) und ist zentriert um deren
Enuresis geheißene Störung. Enuresis ist eine psychogene Miktionsstörung,
eine somatische Dysergie bei körperlicher Integrität." — „Zwar hat die soma-
tische Mythologie mit ihren lokalistischen Deutungen und dementsprechonden
Eingriffen allmählich mehr psychischer Auffassung bei maßgebenden Autoren
weichen müssen. Doch sind die psychologischen Ansätze zum Verständnis der
Enuresis meistenteils dürftig. Der Nur-Somatismus ist noch lange nicht er-
ledigt. Vom Cerebrum bis zum Praeputium pflegt jede Verursachung für die
Enuresis in Betracht gezogen zu werden, eine Ganzheitsbetrachtung, oder
auch nur die Ansätze dazu, aber zu fehlen."
Im ersten Teil beschäftigt sich nun der Autor mit den Zusammenhängen
von körperlichen Erkrankungen und Störungen der Miktion (Harnlassen);
es wird vorwiegend der Zusammenhang von Bewußtheitszustand und Ver-
Zur Biologie der Enuresis o?!
halten der Blaseninnervation untereucht. Diese Erörleruflgen bewegen sieh
vorwiegend im Gebiete der Physiologie und anatomiBchen Pathologie.
Der zweite Teil der Arbeit beschäftigt sich mit den Abhängigkeiten und
Wechselwirkungen von Miktion und Schlaf. Um das Problem der Enuresis
besser abgrenzen zu können, stellt der Verfasser eine zusammenfassende Be-
trachtung der Harnsammlung und -ausscbeidung voraus. Eine Harnsekretion
findet schon intrauterin statt. Eine Exkretion erst während oder unmittel-
bar nach der Geburt. Die tägliche Harnmenge beträgt bei gesunden Männern
ungefähr 1500 bis 2000 ccm, bei Frauen nur 1000 bis 1500 ccm. Die Spannung
der Harnblasenwand ist mehr oder weniger unabhängig von der Füllung der
Harnblase, trotzdem löst eine Füllung von 300 bis 500 ccm normalerweise das
Bedürfnis nach Entleerung aus. Diese Tafsachen sind deshalb wichtig für
den hier behandelten Zusammenhang, weil die Enuresis eine vorwiegend
männliche Erkrankung ist. Auf Grund unserer heutigen Kenntnis über die
Psycho-Physiologie des Harnapparates dürfen wir vermuten, daß die Blnsen-
wandspannung die körperliche Repräsentanz dessen ist, was wir psychisch
als Harndrang bezeichnen. In Perioden des Wachseins uriniert der Säugling
in Abständen von wenigen Minuten und setzt dann im Schlaf für Stunden aus.
Stiernimann („Das erste Erleben des Kindes", Huber & Co., Frauenfeldt,
1933, Seite 155) hält es für „unrichtig, die Säuglingsmiktion einfach als
Automatismus zu bezeichnen; psycliische Faktoren spielen von Anfang an
mit und können z. B. den Säugling veranlassen, den Urin bis zu zwölf Stun-
den zurückzubehalten, wenn er Angst vor Schmerzen bei der Entleerung hat,
wie wir dies regelmäßig nach der Erweiterung der Vorhaut Verengerung sehen".
Die Anatomie belehrt uns, daß beim männlichen Gesehloeht der Blasen-
verschluß in seinen glattmuskeligen und quergestreiften Teilen mehr ausge-
baut und voluminöser ist wie beim weihlichen. Anatomisch betrachtet wäre
also „Blasenschwäche" ein Stigma des weiblichen Geschlechtes und trotzdem
kommen nach Noeggerath-Eekstein auf eine weibliche Enuresis zwei männ-
liche. Aus diesen Tatsachen ergibt sich die Folgerung, daß Inkontinenz und
Enuresis in keinen ursächlichen Zusammenhang zu bringen sind. Bei den
Untersuchungen über Enuresis fehlen Beobachtungen über die Beziehung
zwischen Schlaf und Miktion. Pfaundlers Handbuch vertritt die Meinung,
daß der Tiefsehlaf, der den Bettnässer an der Wahrnehmung seines Harn-
reizes verhindert, für die „automatische" Entleerung verantwortlieh zu
machen sei. Dem widerspricht Bernfelds Beobachtung („Psychologie des
Säuglings", Julius Springer, Wien, 1925), der nachweist, daß man beim Säug-
ling nur „ganz kurze Perioden unbezweifelbaren Vollwachseins und nicht
viel längere Perioden sicheren Tiefschlafs unterscheiden könne" (Seite 15),
Die physiologische Enuresis des Säuglings ist mit der nächtlichen Enuresis
nicht in direkte Beziehung zu bringen. Denn der Säugling näßt nicht im
Schlaf, sondern im Erwachen. Gegenbeweise für die von Pfaundler vertretene
Auffassung bieten auch die Erfahrungen einer Schweizer Enuresisstation.
Die dort gemachten Beobachtungen lehren, daß die nächtliche Enuresis dann
am geringsten ist, wenn die Kinder durch einen längeren Naelimittags-
spaziergang ermüdet sind. Auch eine Diskussion in der Schweizer Gesell-
272 H. Christoffel
Bcliaft für Pädiatrie führte zu dem Ergebnis, „daß Tiefschlaf nur zu Unrecht
als Ursache der Enuresis angegeben werde".
Ein psychologisches Teilproblem ist in diesem Zusammenhang die schwere
Erweckbarkeit der Enuretiker. Wäre Enuresis als rein somatisches Phänd-
tnen aufzufassen, so müßte wohl der Harnreiz als spezifischer Weckreiz wir-
ken. Die Erfahrung lehrt, daß der Enuretiker nur sehr schwer zu wecken ist
und sich in dieser Beziehung völlig anders verhält wie etwa ein Nieren-
kranker, den man zum Zwecke des Urinlassens weckt. Enuretiker pflegen
den Bemühungen der Erziehungsumgebung einen energischen Widerstand
entgegenzustellen,
Verständnis für die psychologische Seite des Schlafproblems und für den
Hüter des Schlafes, den Traum, bahnen Freuds Untersuchungen an. Im
Anschluß an diese Untersuchungen und Freuds Auffassung vom Denken
als Probehandeln, kommt Verfasser zu der Ansicht, die „Enuresis nocturna
als die häufigste motorische Schlafhandlung zu bezeichnen". Klinisch rückt
damit die Enuresis nocturna in die Nähe von Schlafwandeln und Schlaftiks,
die einem „partiellen Wachsein" gleichkommen, so daß man in Fortführung
dieses Gedankenganges wie Troemmer es auch tut, von einem ,.rein
motorischen Erwachen" sprechen kann. Ebenso wie boi Tik oder Schlafwan-
deln ist auch für die Enuresis die morgendliche Amnesie typisch.
Im dritten Teil seiner Arbeit bemüht sich der Verfasser um die psycholo-
gischen Einsichten in das Enuresisproblem. Er betont nochmals, daß unser
Wissen um die Enuresis im umgekehrten Verhältnis zu ihrer Häufigkeit
steht. Den ersten Schritt zum Verständnis bahnt die Tierbeobachtung. Nicht
mehr ganz junge, männliche Hunde zeigen die bekannte Hundepollakurie, die
also ebenso wie die menschliche Enuresis das -männliche Geschlecht bevor-
zugt. Brunstnässen findet sich besonders bei Hauskatern. Eine merkwürdige
Analogie zu Kinderbeobachtungen zeigt der ausführlich beschriebene Fall
eines Hauskalers. Nach der Rückkunft von den Ferien und der dadurch er-
folgten Trennung von einer Katze kam der Kater in eine mehr wiSch entliehe
Unreinlichkcitspliase. Die erhöhte Aufmerksamkeit und die gehäuften Liebes-
beweise, die die Umgebung dann dem Tiere zuteil werden ließ, brachten die Un-
reinlicbkeit völlig »■um Verschwinden. Nach Brehm werden Urinspiele von
Ziegen, Kühen und Affen zitiert. Urinverhalten zeigen Bauernpferde der
Freiberger Rasse und andere, so daß man im Gegensatz zur Hundepollakurie
von einer Oligakurie (Harnverhaltung) der Pferde sprechen kann.
Die Folklore beleuchtet das Problem von der psychischen Seite. Verfasser
erwähnt zuerst Koheims Beobachtungen bei den Zentralaustraliern. „Ein
immer wiederkehrender Zug des Rituale besteht... darin, daß die Männer ihr
eigenes Blut auf den Boden fließen lassen, und das Blut, mit dem dies ge-
schiebt, stammt aus der Subinzisionswunde der Urethra. Ich konnte auch
beobachten, daß während und nach der Zeremonie viel häufiger uriniert
wurde als sonst" (Seite 423). „In Liedern. Mythen und auch in der Realität
erscheint der Geruchsinn als sexuelles Stimulans." Im Anschluß an eine Er-
fahrung aus der ärztlichen Praxis verweist der Verfasser dann auf die Riech-
Zur Biologie der Enuresis 273
lust aJs Teilerscheinung der Urophilie. Auch in unserem Kulturkreie sind
primitive Reaktioaen Erwachsener, wie die Beobachtungen in HallenBcbwimm-
bädern u. a. erweisen, keineswegs selten. Auch dabei läßt sich ein Über-
wiegen des männlichen Geschlechtes feststellen. Männliche Eedürfnisanstalten
sind häufiger als weibliche. Knabenspiele, die als Iniliationsritus dienen oder
solche ohne diese Motivierung, enden of im Anpissen unter bestimmten Be-
dingungen. Als Abschluß dieser Beobachtungen erwähnt Verfasser das be-
rühmte Männeken-Pies in Brüssel und einen bis im 19. Jahrhundert in der
Luzerner Gegend erhaltenen Weihnachtsbrauch, wo für die „Bettseiher"
öffentlich gebetet wird. In Anlelinung an Freuds „Drei Abhandlungen zur'
Sexualtheorie" vertritt Verfasser die Ansicht, die Harnerotik als AUgemein-
erscheinung aufzufassen, die in unterschiedlicher Stärke vorkommt. Im End-
effekt wäre die Enuresis eine Wiederherstellung des intrauterinen Zustandes
im Annäherungswert. Wenn Enuresis "bei älteren Kindern, z. B. Jiach der Ge-
burt eines Geschwisters auftritt — .wäre diese nicht nur als üegreesion, sop:;
dem auch als Säuglingsiraitation aufzufassen. Vom Widerstand des Säug-
lings gegen das Abheben bis zum Harnstotter und Harnverhalten von emi-
retischem Typ finden sich alle Übergänge. „Das Kind gibt seinen Urin und
seinen Stuhl demjenigen ab, zu welchem es Zuneigung hat. Es versagt Beine
Ausscheidungen anderen." — „Das Kind wird dann auf Enuresis verzichten,
wenn es seine Umwelt liebt. Damit es das kann, benötigt es aber Liebe und ^
Verständnis von selten dieser Umwelt." Die Erfahrungen, die man in Er- ""x
ziehungsanstaltea und Waisenhäusern machte, bestätigen die Annahme des
Verfassers. Wenn man das besondere Regime für die Enuretiker aufgibt und
sie auch sonst liebevoll behandelt, so war es nach den jahrelangen Erfahrun-
gen einer Schweizer Anstalt möglich, den Prozentsatz von 40% auf 4% her-
unterzudrücken und zeitweise auch bei den Dauernässern eine vollkommene
Reinlichkeit zu erzielen. Für das erste Lebensjahr muß die Enuresis als Norm
gelten. Während des zweiten Lebensjahre.': wird das Kind rein. Wälirend des
dritten und vierten Lebensjahres, also in der Zeit der ödipussituation und mit
beginnender Pubertät, zeigt der Knabe leicht Rückfälle. Als Entwicklungs-
störung muß man es bezeichnen, wenn ein Kind vor der ödipnsphase kein
Stadium der Reinlichkeit erreicht bat, oder wenn während der ödipuszeit
ein bis zur Pubertät fortgesetzter Dauerzustand von Einnässung eintritt. ■
Die Enuresis als Onanieäquivalent zeigt die besonders engen Zusammen-
hänge zwischen genitalen und urethralen Regungen. Klinische Erfahrung lehrt
z. B., daß beginnender Orgasmus durch plötzlichen Harndrang abgelöst wer-
den kann. ' •
Häufiger als der ausgeprägten Form der Enuresis begegnet man der
Pollakurie. Pollakurie oft in Verbindung mit häufigem Stuhldrang und an-
fallsweisen Diarrhöen finden sich bei Angstneurotikeru. Die Arbeiten der
Freud sehen Schule zeigen die Zusammenhänge zwischen Urethralerotik und
Charakterbildung und zwischen Enuresis und Ejaculatio praecox. Pavor noo-
turnus wird in Verfolgung dieser Probleme als' ein Bewältigungsversueh
enuretischen Dranges aufgefaßt.
274 Prager Brief
' .. - Prager Brief
Im November 1933 wurde in Prag auf Initiative einiger Kindergärtnerin-
nen unter der Leitung von Steff Bornstein ein psychoanalytisch-pädago-
gischcs Seminar begonnen, an dem auch eine größere Anzahl von Ärzten und
Ärztinnen teilnahm. Die Teilnehmerzahl wuchs im Laufe der zwei Semester
von 20 auf 40, ein Zeichen für das große Bedürfnis nach Erweiterung analy-
tischer Kenntnisse, das unter den Prager Pädagogen und Eltern besteht. Die
Sitzungen fanden einmal wöchentlich statt. Das Ziel der Arbeitsgemeinschaft
bestand darin, analytisch Interessierten, aber nicht Vorgebildeten, ilie Grund-
lagen der analytischen Kinderpsychologie an praktischen Fällen zu vermit-
teln. Meistens bericliteten Kindergärtnerinnen oder Mütter über Schwierig-
keiten, die ihnen ein Kind bereitete. Es gelang der Leiterin, die Teilnehmer
zur offenen Aussprache zu ermutigen und sie einerseits zum wirklichen Ver-
ständnis, andererseits zur Überzeugung von der Anwendbarkeit der Analyse
für die praktische Pädagogik zu bringen*).
Am ausführlichsten kamen die Schwierigkeiten der Kinder im dritten Jahr
zur Darstellung. Es wurde über den Trotz des Kleinkindes diskutiert und im
AnschluA daran wurde die aoal-sadistische Triebentwicklung und die Probleme
der Reinlichkeitserziehung erörtert. Fälle von Fragezwang führten zur gründ-
lichen Aussprache über sexuelle Aufklärung. Es wurde an Beispielen das
frühkindliche Zwangssymptom und Zeremoniell erörtert und der Mechanis-
mus des neurotischen Symptoms geklärt. Außerdem wurde über die kindliche
Onanie, über Eßschwierigkeiten, über nächtliche Ängste, über Nägelknabbern,
über Märchen und anderes diskutiert. — Im zweiten Semester wurden mehrere
Abende folgenden Themen gewidmet; Probleme der Pubertät, Homosexualität,
Probleme der Gemeinschaltsbildung, das Unbewußte des Erziehers in der
Erziehung.
Da eine Gruppe das Bedürfnis nach Erweiterung ihrer theoretischen Er-
kenntnisse äußerte, bildete sich ein Kreis von zehn Teilnehmern, der in
18 Kursstunden die „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie" durcharbeitete.
Aus dem Gebiet der analytischen Pädagogik wurden außerdem folgende
öffentliche Vorträge gebalten: Steff Bornstein sprach an einem Eltern-
abend einer Schule über „Eßstörungen und Schlafstörungen des Kindes". Teil-
nehmerzahl etwa 150. Edith Glück sprach in dem Volksbildungshaus
Urania über das Thema: „Das Märchen vom Glück der Kindheit". Teilnehraer-
zahl etwa 50. Dr. A n n ie Re i ch sprach über das Thema: „Ängste der Kin-
der und Neurosen der Erwachsenen". Teilnehmer etwa 75. Steff Born-
stein sprach in einer Loge über das Thema: „Das Unbewußte der Eltern
in der Erziehung der Kinder. Teilnehmerzahl 70. Steff Bornstein wurde
außerdem nach Teplitz zu einem Vortrag „Über infantile Sexualität" ein-
geladen. ^^- Kichard Karpe.
t) Die Im letzten Heft erscliienene Arbeit von Liselotte Gero: „Pa yc ho anaLyt lache Geapricha
mit einem kteinen Kinde" ging auf diesem SemlDar berver.
Bücher
275
Kurs über psydiisdie Hygiene des Kintlesalters in Schweden
Die schwedische Zeitschrift für Kinder- und Jugendforschung (Tidskrift
för Barnavard och Ungdomsskydd) berichtet in Nr. 5/1933 über die Sommer-
kurse, welche der Hcktor derSiljansskolan (des bekannten schwedischen Land-
erziehungsheims) Harald Alm alljährlich veranstaltet. Die Kurse waren
in diesem Sommer von 125 Teilnehmern aus allen Teilen der Welt besucht;
fünf verschiedene Kurse wurden veranstaltet. Nach den beiden ersten wurde
ein zweiwöchiger Kurs über psychische Hygiene des Kindes- und Jugend-
alters gehalten und hiezu Dr. med. et phil. Wilhelm Hoffer aus Wien
als Vortragender verpflichtet. Das überaus rege Interesse der Teilnehmer,
vorwiegend skandinavische Pädagogen, eimöglichle es in Vorträgen und
Seminaren die Grundlagen der psychischen Hygiene zu besprechen, einzelne
Teilnehmer widmeten sieh außerdem noch der Durchsicht der einschlägigen
Literatur. Nach Besprechung biologischer und medizinischer Fragen. Erb-
lichkeit, Disposition und einiger soziologischer Grundbegriffe ging der Vor-
tragende zur Darstellung der psychoanalytischen Grundbegriffe Über, wobei
die Anfänge des Werkes Sigm. Freuds ausführlich besprochen wurden.
An der Hand von Beispielen aus der Erziehungsberatung und Kinderanalyse
wurden die Charakterentwicklung, die Konflikte, die Neurosen und Verwahr-
losungen behandelt. Der zweite Teil des Kurses war für die Besprechung der
Organisation und Arbeitsweise der Erziehungsberatung reserviert. Nunmehr
konnte auch die Psychologie der Erzieher eingehend besprochen werden, da
sie für die psychische Hygiene ebenso wichtig ist wie die Psychologie des
Kindes. — Manchen der Hörer war die Psychoanalyse infolge der Pionier-
arbeit von Alfhild Tamm (Stockholm) nicht mehr ganz neu; wenn man
bedenkt, daß es unter den Hörern solche gab, welche an einsamen Land-
schulen wirken, so darf man erwarten, daß die skandinavischen Pädagogen
sich bald eingehender mit der Psychologie und Psychoanalyse werden be-
schäftigen wollen; den Weg hiezu geebnet zu haben, ist Harald Alms
Verdienst.
Büdier
Dr. Jeanne Stephani Cberbaliez, Le sexe a ses raisons. Librairie Payot &,
Cie. 1933, 263 S.
Die Arbeit wendet sich an alle Eltern und Erzieher, die „guten Willens"
sind; sie will belehren und Anregungen für eine sexuelle Erziehung geben.
Die Verfasserin betont die sexuelle Unfreiheit der Elterngeneration und geht
den Ursachen dieses Sachverhaltes nach. Sie macht die unrealisierbaren, ethi-
schen Forderungen der Religion, den Alkohol und die Legislatur dafür ver-
antwortlich. Sie schildert die Folgen dieser Situation; das Vertrauen zwischen
Eltern und Kindern wird gestört, der Mangel an Aufrichtigkeit demoralisiert
und die Konflikte des Abwehrkampfes stoßen das Kind in die Neurose. Da
die Eitern in sexuellen Dingen meist selbst gehemmt und zwiespältig sind, so
müsse man versuchen an Stelle der Einzelaufklärung die Kollektivaufklärung
in der Schule, etwa im Anschluß an den Naturgeschichtsunterricht zu setzen.
276 Büdher
Wünschenswert und für die Kinder günstiger wäre die Aufklärung durch' die
Mutter. Im idealen Fall würde sich die Aufklärung als ein wesentlicher Be-
standteil der gesamten, durch das Elternhaus zu leistenden Erziehungsarbeit
einfügen. . '. ■' ■
Die Ratschläge und Beispiele, die die Verfasserin im Sehlußteil ihrer
Arbeit gibt, sind nicht immer glücklich. Die Erfahrungen der letzten Jahre
haben den Beweis erbracht, daß eine Aufklärungsarbeit in der Schule, wie es
der Verfasserin vorschwebt, nicht durchführbar ist. Das Problem liegt nicht
auf der Linie,. auf der es die Verfasserin sieht. Sexuelle Aufklärung ist ja nur
ein Sonderfall in dem ganzen Problemenkreis, der die Beziehung zwischen
Kind und Erwachsenen einerseits und die Entwicklung des kindlichen Trieb-
lebens andererseits umfaßt. Eltern und Erzieher, die um das infantile Trieb-
leben wissen und dieses Wissen auch verarbeitet haben, werden auf jeden
Fall eine pädagogisch und psychologisch richtige Form finden.
H. Hoffer-Schaxel.
Dr. Edith Klamroth. Mutter und Tochter. Ein Beilrag zur Psychologie des
reifenden Mädchens. Friedrich Manns pädagogisches Magazin. 169 pag.. Her-
mann Beyer & Söhne, Langensalza. 1934,
Die Verfasserin versucht den Ablösungeprozeß des reifenden Mädchens
von der Mutter psychologisch zu ergründen. Problemstellung und Problem-
beantwortung basieren auf W. Sterns Arbeiten über den Personalismue und
beziehen von M. Schelers Werk über „Wesen und Formen der Sympathie"
mancherlei Anregung. Das Material umfaßt 24 schriftliche Berichte von Müt-
tern, das Ergebnis eines Fragebogens; und 24 Äußerungen junger Mädchen,
die durch Überlassung von Tagebüchern oder Briefwechseln der Verfasserin
zugänglich wurden. Die Autorin glaubt folgende typische Gestaltung fest-
stellen zu können: aus der ursprünglichen un geschiedenen Wir-Welt der
Familie, in der Mutter und Kind im „Mitvollzug der Akte" wesenhaft ver-
bunden waren, löst sich das Mädchen allmählich in der Ausgestaltung einer
eigenen personalen Welt, die sich von der der Mutter mehr oder weniger
Unterscheidet, Entscheidend für den Ablösungsprozeß der Jugendlichen von
ihrer Mutter ist die Entwicklung der individuellen Wertstruktur. Sie stellt
.cjch dar: a) in der zunehmenden Beschäftigung mit dem eigenen Ich; b) in
der Idealbildung; c) in der Errichtung autonomer Gegensätze (p. 164).
Das ungleichartige und ungleichwertige Material wird nur schlagwort-
artig mitgeteilt; dadurch wird jede ernsthafte Auseinandersetzung mit den
gestreiften. Problemen selir erschwert. H, Hoffer-Schaxel.
j)r- Ij. Szondi Konstitutionsanalyse psychisch abnormer Kinder. Fünf Vor-
lesungen. Mit 55 Abbildungen im Text, 1933, Verlag Carl Marhold, Halle-Saale.
Der Leiter" des Staatlichen Laboratoriums für Pathologie und Therapie
au der Hochschule für Heilpädagogik in Budapest veröffentlicht hier fünf
Vorlesungen, die er im Februar 1932 in Holland gehalten hat. Ihr Studium setzt
biologische und medizinische Schulung voraus, sie werden niemanden ent-
täuscheü, wenn man sich ihnen aus Vorliebe für saubere wissenschaftliche
,4rbeit und nicht aus Hoffnung auf praktische Kutznieflung widmet. Für die
Blichet
277
Praxis des Heilpädagogen bietet die wissenschaftliche Konstitutionsanalyse
Szondis bloß eine Handhabe: die objektive Prognostik der Bildungsfähig-
keit Ton Schwachsinnigen. „Welche krankmachenden Faktoren beeinträchtigen
am meisten die Bildungsfähigkeit der Schwachsinnigen und welche am wenig-
sten? Wir versuchten die Antwort auf diese Frage auf den vier Wegen der
biologischen Forschung zu suchen. Erstens forschten wir, ob in der Ätiologie
der bildungsunfähigen Schwachsinnigen andere pathogenetische Faktoren zu
finden sind als in der Ätiologie der bildungsfähigen. So gelangten wir zu
den generellen „pathogenetischen Grundlagen" der kinderpsychiatrischen
Prognostik. Zweitens untersuchten wir, ob wir aus der genealogischen, erb-
biologischen Struktur der Familie auf die Bildungsfühigkeit des schwach-
sinnigen Probanden irgendwelche Schlüsse ziehen können. So gelangten wir
zu der „genealogischen Grundlage" unserer Prognostik. Drittens fragten wir,
ob die biologische Analyse des Prohanden, also sein Ahweiehungsquantum von
der Norm- zur Grundlage der Bildungsfähigkeit dienen kann. So gelangten
■wir zur prognostischen Bedeutung des „biologischen Abweichungsquantums"
des Probanden. Schließlich prüften wir, ob das Verhalten des Probanden in
der Schule, in der Familie und in der Gesellschaft, also sein Behaviour, als
Grundlage der Bildungsfähigkeit zu verwenden ist." Von den Antworten auf
diese Fragen will ich einige hervorheben, weil sie geeignet sind, Vorurteile
auch bei dem zu zerstreuen, der sieh beruflich nicht mit Schwachsinnigen be-
seliäftigt: vergleicht man nach Szondi in einer Gruppe Schwachsinniger
die Fälle „rein endogenen" Ursprungs (Schwachsinn, Psychosen und andere
Abnormitäten in der Sippscliaft) mit denen „rein exogenen" Ursprungs (Lues,
anatomisches Geburtstrauma, abgelaufene Hirn- respektive Hirnhautentzün-
dung), so überwiegen die Fälle exogenen Ursprungs (13,2% endogen, 59%
exogen, der Kest gemischt). Die Bildungsfähigkeit einer solchen Gruppe ist
umso größer, je weniger exogene Fälle in ihr vertreten sind, oder „je größer
die Endogenität, umso größere Bildungsfähigkeit". — „Die Bildungsunfähigkeit
der Probanden ist umso wahrscheinlicher, je weniger psychisch extrem
abnorme Familienmitglieder durchschnittlich auf jeden Probanden einer
Schwachsinnigengruppe entfallen." Gehirn- oder Hirnhautentzündung (exo-
gener Faktor) beeinträchtigen am meisten die Bildungsfähigkeit der Pro-
banden. Das Verhalten eines Schwachsinnigen kann nicht als objektiv
verwendbare Basis zur Beurteilung der Bildungslähigkeit dienen. Schwach-
sinn ist mehr als intellektuelle Schwäche, er ist die Verkümmerung der Gp-
samtpersönlichkeit.
Alle anderen praktischen Folgerungen, insbesondere solche aus der vom
Verfasser vertretenen Pathogenese des Stotfcerns wären voreilig und wohl
nicht in der Absicht des Autors gelegen. Dieser vertritt ja bloß die Meinung,
daß die Krankheitsbereitschaft des Stotterns ererbt sei, daß der Konstiliitions-
bereitschaft bei der Entwicklung des Stotterns eine fördernde Rolle zuzu-
schreiben ist. Erbbedingte oder konstitutionelle Bereitschaft zu einer Krank-
heit schließt nicht aus, daß ihre Manifestationen durch eine entsprechende
Trieben! Wicklung verstärkt oder vermindert, kompliziert oder vereinfaclit
werden. Verfasser hat Recht, wenn er meint, die Kenntnis wissenschaftlicher
278 Zeitschriften
Ergebnlese, z. ß. die Kenntnis von der konstitutionellen Grundlage vieler
Fälle von Stottern wird den Blick des Heilerziehers nur schärfen und seine
Methoden verbessern helfen. Auch bei der Erklärung der psychischen Abnor-
mitäten, mit denen sich die psychoanalytische Therapie beschäftigt und die
abseits der Forschung Szondis liegen, greifen wir oft auf den Begriff vom
„konstitutionellen Faktor" zurück. Wenn S z o n d i und die wissenschaftliche
Konstitutionsforschung objektive Maßstäbe dafür schafft, so kann man das
nur warm begrüßen. Und von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet ist das
Studium seiner Vorlesungen lohnend und genußreich. W. Hoffer.
Zeitsdiriften
Zeitschrift für Kinderpsychiatrie — Journal de Psychiatrie Infantile —
redigiert und herausgegeben von Dr. M. Tramer, Priv.-Doz. der Univ. Bern
uuter Mitwirkung von H. W. Meier, E. Glanzmann, A. Repond, F. Braun,
J. Wintech, H. Christoffel. 1. Jahrgang, 1. Heft, April 1934. Verlag Benno-
Schwabe, Basel, jährlieh 6 Hefte ä 32 Seiten. Preis schw. Fr. 12.—.
In dieser neuen Zeitschrift wird der Versuch unternommen, eine Kinder-
psychiatrie von Psychiatrie und Pädiatrie abzugrenzen. Dieses Unternehmen
hat wohl alle Aussicht auf Erfolg, es ist ein Ergebnis der entwicklunge-
psychologischen Richtung in der modernen Psychiatrie, aus wissenschaftlichen
und humanen Gründen begrüßenswert. Ein programmatischer Entwurf des.
Herausgebers, M. T r a m e r, skizziert die K. Ps. (Kinderpsychiatrie) und
rechtfertigt ihre Sonderstellung in der Medizin wie folgt: 1. durch die Be-
Sonderheit der für Kindheit und Jugend spezifischen psychiatrischen Unter-
suchungsmethoden, 2. durch die Strukturdifferenzen der kindlichen Neurosen,
Psychopathien und Psychosen gegenüber denen der Erwachsenen, 3. durch die
Modifikationen der Therapie und schließlich 4. durch die Besonderheit der
Prognosenstellung, welche nach Tramer „Entwickhmgsprognostik" sein muß.
Die weitere Entwicklung wird zeigen, ob die Abgrenzung einer K. Ps. von
Pädiatrie und Psychiatrie tatsächlich ein fruchtbares Arbeitsgebiet für ärzt-
liche Forschung und Praxis schaffen wird, wie Herausgeber und Mitarbeiter
erwarten. Es darf wohl nicht übersehen werden, daß die Kinderpsychiatrie
Anleihen bei der Heilpädagogik und Fürsorgeerziehung wird aufnehmen
müssen; beide Disziplinen reichen mit einem Sektor in die K. Ps. hinein, sie
decken sich aber keineswegs mit praktisch-medizinischer Tätigkeit. Es ist
zu hoffen, daß die fruchtbare Arbeitsgemeinschaft zwischen Medizin und Heil-
pädagogik durch die K. Ps. eher gestärkt als geschwächt werde. Da die K. Ps.
die kindlichen Neurosen, Charaktorschwierigkeiten, leichtere Formen der
Psychopathien, die milieubedingten Verwahrlosungen und Pubertätskonfliktfr
in ihre wissenschaftliehe und praktische Arbeit einbeziehen will, wird sie di&
Auseinandersetzung mit der Kinder- und Verwahrloslenanalyse nicht um-
gehen können. Die Psychoanalyse ist ja von den ersten Anfängen an Psycho-
pathologie des Kindesalters gewesen, sie verfügt über ein Erfahrungsmaterial,
dem keine Psychologie ähnliches zur Seite stellen kann. Wird die K. Ps. diese
Stütze ihres Fundaments nicht bloß würdigen? Wird sie auch auf ihr ruhen?
Zertschriften
279
II. Behn-Escheiibur g, Küsnacht-Züricli, nimmt „Zur Frage der Kinder-
neurosen" Stellung. Er will dem psy^choanaly tischen Laien das Verständnis
der Kinderneurosen von den Neurosen der Erwachseneft her näher bringen
und dem Satz Sigra. Freuds: „Keine Erwachsenenneurose ohne vorher-
gehende Kinderneurose" allgemeine AnefkennuTig verschaffen. Verfasser
geht von Gedanken aus, welche Freud „Über die zwei Prinzipien des seeli-
schen Geschehens" ausgesprochen hat und zeigt, daß der Erwachsene in seiner
Neurose selbst noch ein Stück Kindheit agiert, weil er schon als Kind beim
Übergang vom Lustprinzip zum Realitätsprinzip gesciieilert ist und am man-
gelhaft bewältigten Konflikt erkranken mußte. B. E. meint, die medizinische
Psychologie beschäftigt sich mit den mißglückten Formen der Realanpassung.
die pädagogische mit den Bedingungen, unter denen die geglückte Anpassung
erreicht werden kann; an den praktischen Zielsetzungen gemessen wäre die
erste Neurosentherapie, die zweite Neurosenprophylaxe zu nennen. „Kinder-
psychiatrie und Erziehung" von Rutishauer handelt von den ärztlichen
und pädagogischen Arbeitsprinzipien im ärztlichen Landerziehungsheim Er-
mattingen; Ermattingen ist eines der vier ältesten ärztlichen Landerziehungs-
heime des deutschen Sprachgebietes. Als ärztlicher Helfer benützt R, „ein-
zeln oder kombiniert die Heilmethoden, die Forel, Dubois, Breuer und die
Psychoanalytiker aufgestellt haben, natürlich je nach Indikation und aktueller
Situation". Wer die psychoanalytische Therapie aus eigener Erfahrung genau
kennt, findet gewöhnlich Legierungen der Psychoanalyse mit anderen psycho-
therapeutischen Methoden für überflüssig; wo Modifikationen der Technik in-
folge der besonderen seelischen Struktur der Kranken nötig sind, bemüht sieh
die psychoanalytische Forschung um solche; es sei hier auf die besondere
Technik der Kinderanalyse (Anna Freud, Melanie Klein) und der
Verwahrlostenanalyse (August Aichliorn) hingewiesen, den Boden der
analytischen Technik (TTbertragungs- und Widerstandsanalyse) wird der
Analytiker ebenso ungern verlassen wie der Chirurg den der Asepsis seihst
■bei dringlichen Operationen ungern verläßt. H. Chrietoffel veröffentlicht
den ersten Teil einer Arbeil „Zur Biologie der Enuresis", die wir in vor-
liegendem Heft ausführlich referieren. — Über eine Insolationsencephnlitis
mit schizophrenem Krankheitsbild berichtet J- Lutz (aus der psychiatrischen
Poliklinik für Kinder und Jugendliche in Zürich). Eine zehnjährige Patientin
zeigte am l^eginn der Krankheit ein kataton-schizophrenes Krankheitsbild:
später traten extrapyramidalo Störungen auf, der Liquorbefund und die
Anamnese (vier Wochen vorher intensive Besonnung des Kopfea bei einer
Turnvorführung) erhärteten die Diagnose: HirnontzUnduug. M. Tramer
berichtet über den sehr interessanten Verlauf von „freiwilligen Schweigen'*
bei einem oben schulpflichtigen Knaben; die Schweigsamkeit beschränkt sieh
„auf den Verkehr mit einem (wenn auch unbewußt) ausgewählten, umschrie-
benen Kreis von Personen", weshalb der Autor dafür den Terminus „Elek-
tiver Mutismus" vorschlägt. Tramers Fall von Mutismus verlief in folgender
Weise: ein Knabe war mit Eintritt in die Schule dem Lehrer gegenüber nicht zum
Reden zu bringen; während er sich zu Hause nach wie vor wie ein normales
Kind benahm, verstummte er Fremden gegenüber völlig. Die psychotherapeu-
280 Zeitschriften
tischen Methoden schlugen bei ihm fehl; weder die Persuasion (vom Vater^
Lehrer und dem Arzt angewendet) noch die Drohung, er werde nicht mit der
Klasse aufsteigen, verfingen. Erst zu Beginn des dritten Schuljahres, das der
Knabe in der zweiten Klasse verbringen sollte, trat ein Umschwung ein; jetzt
ist der Knabe nach zwei Jahren ein in jeder Hineicht normaler Schüler. Leider
muß die Dynamik der Heilung dieses Falles ungeklärt bleiben. Der Autor läßt
PS offen, ob die Drohung und ihre Verwirklichung in der zweiten Klasse zu
verbleiben das freiwillige Schweigen brach, ob es ein Lehrerwechsel war oder
ob es nicht vielleicht doch die Wirkung von „gesegnetem Wachs" war,
das die Mutter auf Anraten eines Kapuziners dem Knaben zu essen gab. „In
den Osterferien 1931 hatte die Mutter, wie sie der Fürsorgerin im Jahre 1932
berichtete, von einem Kapuziner, dem sie darüber geklagt hatte, gesegnetes
Wachs bekommen, von dem sie dem Knaben zu essen geben oder es in seine
Weste einnähen sollte." „Am ersten neuen Schulfage sprach der Knabe nichts,
obwohl ihm obiges (nämlich in der zweiten Klasse verbleiben) eröffnet wurde.
Er blieb daher in der zweiten Klasse, wobei noch zu erwähnen ist, daß zu-
fälligerweise auch ein Lehrerwechsel stattfand. Die Mutter gibt an, sie habe
vergessen, ihm an diesem Tage, wie sie es in Aussicht genommen, von dem
gesegneten Wache zu geben. Am folgenden Tage holte sie es nach. Er habe
das Wachs „mit Freude genommen. In der Schule habe er an diesem Tage ge-
Rproehen, wenn auch bloß leise. Von da an ging es vorwärts. Nach drei
Wochen, während der nur ein schwacher Rückfall sich gezeigt hatte, konnte-
er in die dritte Klasse versetzt werden und ist jetzt nach Angabe des Lehrers
Fein bester Schüler". — Bei der Erklärung dieses so prägnanten Krankheits-
bildes geht Tramer von der kindlichen Scheu überhaupt aus, sieht in ihr
wohl mit Recht eine archaische Reflcxform aus der Kategorie der Abwelir--
reflexe, die im vorliegenden Fall durch einen Zuschuß von Trotz zu dem
Krankheitsbild führten. Wie in der Katatonie dürften hier archaische Tod-
steil- und Sehfiinfodreflexe wirksam sein. An diese Deutung der Scheu als
archaische Reflexform möchte Referent folgende Bemerkung anschließen; den
arcliaisehen Sinn des Redens und Schweigens bestätigt auch die Traum-
Symbolik. Das Sprechen wird zur Darstellung des Lebens, das Schweigen für
das Totsein benützt. Doch würde unser Kausalitätsbedürfnis eher befriedigt
werden, wenn bei der Deutung des „Elektiven Mutismus" ebenso wie bei der
kindlichen Scheu das „Rezente Material" mehr berücksichtigt worden wäre. Die
vorliegende Krankengeschichte muß im Verhältnis zu dem Material, auf das
wir unsere analytische Deutungsarbeit aufzubauen gewohnt sind, zwar dürftig-
genannt werden, aber es läßt immerhin vermuten, daß der elektive Mutis--
mus ähnlich wie der hysterische Mutismus durch einen Konflikt zwischen
Triebleben und Außenwelt (introjoziert als Uber-Ieh) zustandekommt (selbst--
verständlich mit regressiver Belebung archaischer Denk- und Darstellungs-
forraen). W. Hoffer.
Zeitsdirift für psyAoanalytisdie Pädagogik, VIII. Jahrgans Heft 5— 8
INHALT:
SteH Bernstein: Eine Technik der Kinderanaiyae bei Kindero mit Lernhemraungen 141
Fritz Eedl: Zum Begriff der „LernatBrung" jgg
Eata L6vy: Vom Bettnässen des Kindes 1^
Melitta Sclimideborg; Dio Spielanolyse eines droijBhrigcn Mädchens iflß
Aany Angel; Aus der Analyse einer Bettniisserjn 216
Berts Bornstein: Enuresis und Kleptomanie als passag&res Symptom 239
Edith Buxbaum: Über einen Fall von exhibi t ion ist is eher Onanie 238
BEHICHTE
Heinrich Meng: Zur Psychologie der Strafe und des Strafens .262
H. Christoffel: Zur Biologie der Enuresis 270
Präger Brief 274
Kurs über psychische Hygiene des Kindesalters in Schir-eden 275
BUCHER UND ZEITSCHRIFTEN
Dr. Jeanne Stophani Cherbuliez: Le soxe a ses raisons (Hoffer-Sckaxel) ... 275
Dr. Edith Klamroth: Mutter und Tochter iHoffer-Schaxct) 276
Dr. L. Saondi: Konstitutionsanalyae psychisch abnormer Kinder {^Hoffer) 276
Zeitschrift für Kindei-psyehialrie (Hofferj 278
BEIHEFTE ZUR „INTERNATIONALEN ZEITSCHRIFT
FÜR PSYCHOANALYSE" UND ZUR „IMAGO" NUMMER I:
I
IMRE HERMANN
DIE PSYCHOANALYSE
ALS METHODE
Großoktav. 114 Seiten. Geheftet KM 6.50
Aus dem Inhalt:
Das Bewußte und das Unbewußte / Die psycho-
analytische Konstellation. Die Beschaffung des
Materials iDie Grundregel — Die Rolle der Auf-
nierksainkeit; Die ruhige Selbstbeobachtung. —
Das Lebendigwerden der Vergangenheit; Die Ab-
leitung der Affekte in Worte. — Das Geheimnis;
Die rezeptive Einstellung des Analytikers; Die
"Widerstände; Die Grundstimmnng. — Affekt- und
Konfliktübertragung; Sicherung der freien Asso-
ziation; Niveau- und Schlichtung der Assoziations-
ketten) / Die Verarbeitung des gesponnenen Ma-
terials (Das psychoanalytisch Sinnvolle. — See-
lische Kontinuität und Determinismus; Zur Konti-
nuität der seelischen Geschehnisse; Spielraum. Zu-
falL Kausalität; Die Sinngebung in der Praxis. Die
Funktion des „Sinn-Organs") / Die Kontrolle.
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