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Full text of "Zeitschrift für psychoanalytische Pädagogik X 1936 Heft 3"

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X. Jahrg. 



1936 



Heft 3 



Zeitschrift für 

psydio analytische 

Pädagogik 



Editha Sterba 



Schule 

und 

Erziehungsberatung 



Berichte 



Preis dieses Heftes Mark 2*— 



Zeitschrift für psychoanalytische Pädagogik 

Begründet von Heinrich Meng und Ernst Schneider 



August Aichhorn 

Wien V. Sdiöiibrunnerstraße 110 

. ^ Dr. HeinriA Meng 

Baseli Aiigensteinersiraßc 16 



Herausgeber: " '= 
Dr. Paul Federn 

Wien VI, Kö^llcrgas^e 7 

Prof. Dr. Ernst Schneider 

Stuttgart N, Kcicnbergsfr. lö 



Anna Freud 

Wien 1\, Bcrggasüe 19 



•TT- 



/ 



Ei^ns Zullig&f 

itllutc n bei Bern 



u 1- ; ■' 



Schriftleiter: 
Dr. Wilhelm Hoffer, Wien, I., Dorotheergasse 7 



6 Hefte tährllch M. lO'— , s<hw. Frk. 12-50, österr. S l?*— 
^^ Preis des Helres: M. 2— (sttw. Frk. 2*50, österr. S 3-40) -' 

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Internationaler Psychoanalytischer Verlag 

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Namen geführt. 



In Vorbereifung befinden sich folgende Sonderhefte: „Kindliche Eß- 
störungen", Xem-und DenkstÖrungen", „Jugendliche Verwahrlosung. 

und Kriminalifät". 



ZEITSCHRIFT FÜR PSYCHO- 
ANALYTISCHE PÄDAGOGIK 



X. Jahrg. 



193Ö 



Heft 3 



Sdiule und Erzieliungsberatung 
Von Editha Sterba, Wien 

Die psychologischen Erfahrungen, die man als Kinderanalytiker 
erwirbt, mehr Kindern ais den wenigen kleinen Analysanden zuteil 
werden zu lassen, ist das wichtigste Motiv, das den Kinderanalytiker 
dazu drängt, Erziehungsberatung zu treiben und auf diese Weise 
die analytischen Erkenntnisse der seelischen Vorgänge beim Kind 
und ihre Beeinflussungsmöglichkeiten in einer breiteren Schichte 
sozial wirksam zu machen. Es kann dann nicht ausbleiben, daß auch 
Erzieher den Berater aufsuchen und für diesen oder jenen Fall, 
der ihrer Einsicht und ihrer Tätigkeit Schwierigkelten bereitet, Rat 
und Weisung haben möchten. Solcher Rat, solche Weisung konnten oft 
nicht von einer einzigen Besprechung abhängen, mußten in ihrer 
Wirkung am Kinde kontrolliert, fallweise Modifikationen zugeführt, 
aus geänderter Situation durch andere ersetzt werden, kurz die ge- 
meinsame Arbeit mit dem Erzieher ergab die Notwendigkeit einer 
Reihe von Besprechungen. Wenn ich im folgenden einige der in ge- 
meinsamer Arbeit mit Lehrern geführten Fälle von Erziehungs- 
und Lemschwierigkeiten in der Schule mitteile, so geschieht dies, 
um die Art solcher Arbeit anschaulich zu machen und Technik und 
Ergebnis einem größeren Erzieherkreis darzustellen. 

Das Material der hier folgenden Berichte wurde mir von verschie- 
denen Lehrern freundlich zur Verfügung gestellt; alle den Berichten 
zugrundeliegenden Fälle liegen mehrere Jahre zurück und haben 
selbstverständlich die auch bei analytischen Krankengeschichten aus 
Diskretionsgründen übliche Veränderung erfahren. 

Bei dieser Art der Arbeit drängte sich dem Kinderanalytiker un- 
willkürlich der Vergleich mit der Kinderanalyse auf und erheischte 
eine eor^fältige Abgrenzung dieser beiden Arbeitsgebiete gegen- 
einander. Auf diese Abgrenzung soll am Schluß der hier publizierten 
Berichte ausführlieh eingegangen werden. 

ZeitBcbrift f. psn. Päd., X/3 



INTERNATIONAL 

PSYCHOANALYTIC 

UNIVERSITY 

DIE ''SYCHOANfllVTlSCHE HOCHSCHULE IN BERLIN 




142 Editha Sterba 



Wie immer bei Maßnahmen und Ratschlägen erziehungsberatender 
Natur konnten diese nicht auf den Erziehungsfall beschränkt bleiben, 
sondern mußten die Umgebung des Kindes, also vor allem die Ange- 
hörigen des Kindes in den Bereich der erzieherischen Tätigkeit ein- 
beziehen. An den dargestellten Fällen wird auch darüber zu berichten 
sein. 



Erster Bericht 

Die kleine zehnjährige Frida fiel der Lehrerin zu Beginn des 
Schuljahres durch eine merkwürdige Lernstörung auf. Sie kann 
absolut nichts nacherzählen, auch Fragen nur sehr schlecht beant- 
■(rorten, so daß man eigentlich gar kein Bild von ihren Kenntnissen 
bekommen kann. Diese Störung macht sich in allen Unterrichtsgegen- 
etänden sehr unangenehm bemerkbar und läßt es zweifelhaft erschei- 
nen, ob das Kind überhaupt fähig ist, die seinem Alter entsprechende 
Schulklasse zu besuchen. Bei genauerer Beobachtung sieht diese 
Störung, die man als Sprechhemmung bezeichnen könnte, so aus: 
Wenn Frida etwas nacherzählen soll, denkt sie vor jedem Satz so 
lange nach, daß die Lehrerin die Antwort nicht gut abwarten kann. 
Man kann dem Kind ansehen, daß es verzweifelt nach Worten sucht 
und alles vergessen hat. Wenn man lange genug wartet, kommen dann 
die Sätze stockend heraus. Sie macht dabei wie auch sonst ein ganz 
ausdrucksloses, versteinertes Gesicht, bei der geringsten Störung kann 
sie dann überhaupt nicht mehr weiterreden. Sogar bei den gewöhn- 
lichsten Fragen zögert sie so mit einer Antwort, daß man das 
Gefühl hat, sie habe die an sie gerichtete Frage gar nicht verstanden. 
Wenn sie gefragt wird: „Warum hast du das oder jenes vergessen?", 
zögert Frida unendlich lange und gibt dann etwa folgende auswei- 
chende Antwort: „Weil ich zu viel zu tun hatte." Man kann sich des 
Eindrucks nicht erwehren, daß sie eigentlich etwas ganz anderes ant- 
worten wollte. Auch sonst macht Frida einen sehr gestörten Eindruck. 
Sie ist still, ernst und verschlossen, hat nur spärlichen Kontakt mit 
anderen Kindern, will scheinbar von ihnen nichts wissen. Ebenso be- 
teiligt sie sich kaum am Unterricht, sie ist apathisch und interesselos. 

Bevor noch die Lehrerin mit dem Kind ausführlicher gesprochen 
hatte, bekam sie von den Eltern gelegentlich eines „Sprechtages" 
folgenden Bericht: Frida ist das einzige Kind, die Eltern leben in 
bescheidenen, aber auskömmlichen Verhältnissen und scheinen sich 
beide sehr um die Kleine zu kümmern. Besonderes Gewicht legen sie 
auf das Lernen und die Lernfortschritte. Der Vater macht einen intel- 



Schule und Erziehungsberatung I43 



ligenten Eindruck, er interessiert sich sehr für die häuslichen Auf- 
gaben des Kindes. Er scheint Frida dabei zu überwachen und weiß 
genau, wo die Sch-wierigkeiten des Kindes liegen. Er berichtet, daß 
sie sich viel mit der Schule beschäftigt, immer in den Schulbüchern 
liest. Zu Hauöfe ist Frida brav und folgsam, macht willig häusliche 
Arbeiten, treibt gern mit den Eltern Sport. Sie vergißt nur alles, meint 
der Vater tadelnd. Im Dunkeln und allein hat sie keine Angst. Als 
kleines Kind soll sie immer sehr schnell begriffen haben und sehr 
lebendig gewesen sein. Der Vater ist sehr enttäuscht über den schlech- 
ten Schulerfolg der letzten Zeit und kränkt sich sehr darüber, daß 
Frida keine bessere Schülerin ist. Er meint, dem Kind nur mit Strenge 
beikommen zu können, und empfiehlt auch der Lehrerin, äußerste 
Strenge dem Kind gegenüber. Die Mutter seheint viel weniger intel- 
ligent als der Vater, macht aber einen lieben und guten Eindruck. Sie 
kümmert sich sehr um das Kind und berichtet nur Gutes von ihm. 

Die Lehrerin ließ nun. einmal die Kleine nachmittags zu sieh in 
die Schule kommen, um mit ihr ausführlicher zu sprechen. Bei diesem 
verschlossenen Kind, das zu niemandem eine rechte Beziehung zu 
haben schien, und daa gerade im Sprechen besonders gehemmt war, 
ergab es sich als selbstverständlich, daß man bei der ersten Unter- 
redung sehr vorsichtig sein mußte. Außerdem vrollte die Lehrerin ja 
versuchen, den Schwierigkeiten des Kindes, über die sie sich zu 
diesem Zeitpunkt noch gar kein rechtes Bild machen konnte, inner- 
halb ihrer pädagogischen Arbeit beizukommen; so mußte sie alles 
Ton vornherein vermeiden, was das Kind stutzig oder mißtrauisch 
machen konnte. Sie fragte also ganz allgemein, warum Frida glaube, 
in der Schule nicht weiterzukommen, ohne ihre Schwierigkeit, das 
Nichtnacherzählenkönnen, auch nur zu erwähnen. Da antwortete 
Frida: „Ich trau mich nicht zu reden, weil mich die Kinder dann aus- 
lachen." Das sei doch nicht richtig, meinte die Lehrerin. Darauf sagte 
Frida: „Wenn ich es aber nicht richtig sagen kann, dann rede ich gar 
nicht." Die Lehrerin beruhigt sie und bespricht vorderhand mit ihr, 
daß sie vielleicht versuchen könnte, zu Hause laut etwas zu erzählen, 
um sicherer zu werden. Mit diesem Vorschlag schien die Lehrerin 
etwas Wichtiges im Kind berührt zu haben. Frida begann plötzlich 
zu sprechen: „Ja, zu Hause, das kann ich nicht, der Vater will es nicht 
und dann schimpft er. Oft darf ich gar nicht lernen, wenn ich es nicht 
gleich kann; dann sagt er, ich darf die Aufgabe nicht machen, dann 
komme ich ohne Aufgabe in die Schule; oft wirft er vor Zorn die 
Hefte auf den Boden, dann krieg' ich erst eine Strafe in der Schule, 
weil die Hefte verdrückt sind, und ich mag doch nicht sagen, daß es 
der Vater getan hat. In der Volksschule hat er sogar ein Heft zer- 



144 Editha Sterba 



rissen. Wenn ieh eine Aufgabe nicht zusammenbringe, sagt er immer, 
es ist eine Schande, daß man dir dabei helfen muß, laß mich in Ruhe, 
andere Kinder können das alles allein." Aber auch darüber berichtet 
sie zunächst unklar und in unvollständigen Sätzen, so daß man immer 
erst durch vieles Fragen herausbekommt, was sie eigentlich meint. 

Auf die Frage, wie die Mutter eich dabei verhalte, macht sie nur 
eine verächtliche Hand- und Mundbewegung: „Die schlagt immer und 
sagt dasselbe wie der Vater. Der Vater schimpft und die Mutter 
schlagt mich, miteinander sind sie gut, aber mit mir reden sie nichts. 
Ich red' auch nichts mit niemandem." — „Warum?" meint die Lehre- 
rin. „Ich hab ja niemanden", antwortet das Kind. Die Lehrerin meint 
hierauf: „Mit mir kannst du aber wirklich darüber sprechen und mir 
alles sagen, warum du glaubst, daß es dir in der Schule schlecht geht." 
Frida antwortet nicht, schaut der Lehrerin einen Augenblick ins 
Gesicht und scheint einverstanden. Auf die Frage, ob sie die Eltern 
denn nicht gern habe, verneint sie das energisch. Die Lehrerin er- 
zählt ihr darauf, wie nett der Vater von ihr gesprochen hätte. Sie 
zuckt wieder verächtlich mit dem Mund und meint: „Dann hätten mich 
die Eltern ja nicht weggegeben in ein Heim, wo ich gar nichts hätte 
lernen können, wenn dort nicht eine Lehrerin gewesen wäre." — 
Damit verhielt es sich nun so. In der Volksschule kam sie einmal 
während des Schuljahres in ein Erholungeheim. Sie habe das Weg- 
geschick twerden so aufgefaßt, als ob die Eltern sie weggegeben 
hätten, damit sie nicht lernen könne, dann könnten sie nachher wegen 
des schlechten Lernerfolges noch mehr schimpfen; es sei nur ein Zu- 
fall gewesen, daß sie dort lernen konnte, weil auch dort eine Lehrerin 
Unterricht gab. „Seit wann, meinst du", fragt die Lehrerin, „daß die 
Eltern dich nicht mögen?" — „Seit ich in die Schule gehe", lautet die 
Antwort. „In der ersten Klasse hab ich sehr gut gelernt (das stimmt 
mit ihren Schulzeugnissen überein) und dann ist es immer schlechter 
geworden und dann waren die Eltern so bös und haben beide ge- 
schimpft." 

„Und dann war die L i n a da und wegen der hab ich weg müssen."^ 
Unklar und stockend kommt dann weiter folgendes heraus: Als Frida 
die zweite Volksschulklasse besuchte, nahmen die Eltern ein armes 
Kind, dessen Eltern in bitterster Not lebten, aus Mitleid für eine Zeit- 
lang zu sich. Dieses Kind scheint besser gelernt zu haben als Frida, 
jedenfalls erzählte Frida: „Immer war ich an allem schuld, wenn ea 
auch nicht wahr war, immer hab ich die Prügel und Sehläge gekriegt 
und der Vater hat immer gesagt: ,Schau, wie gut die Lina lernt; sie 
war früher am Land in der Schule und hat keine so guten Lehrerin- 
nen wie du gehabt; es ist eine Sehand' und nicht notwendig, daß dui 



Schule und Erziehungsberatung 145 

SO schlecht in der Schule lernst.' Immer haben sie zur Lina gehalten 
und sie hat nur falsch über mich geredet und die Mutter hat auch nur 
zum Vater und zur Lina gehalten. Einmal hat die Lina wieder ge- 
logen und da hab ich sie blau geschlagen. Da haben mich die Eltern 
ins Heim gegeben und die Lina hat bleiben können. Seitdem rede ich 
nichts auf die Eltern mehr. Ich bin erst aus dem Heim zurück, wie die 
Lina fort war. Aber die Eltern waren dann genau so zu mir wie 
vorher." 

Die Lehrerin erfuhr später von den Eltern, daß Frida zwar nicht 
knapp nach diesem Vorfall, aber doch noch während der Zeit, als das 
Pflegekind im Haus war, von der Krankenkasse aus in ein Heim zur 
Erholung geschickt worden sei. Die Eltern behielten dann das arme 
Pflegekind aus Mitleid noch einige Zeit bei sich, weil ihr eigenes, 
wie sie meinten, gut versorgt war. 

Als die Lehrerin Frida vorschlägt, mit den Eltern zu reden und 
zwischen Kind und Eltern zu vermitteln, lehnte dies Frida so strikte 
ab, daß die Lehrerin auf diesen Versuch verzichten mußte. 

Man wird nicht fehlgehen mit der Annahme, daß die Tatsache, daß 
die Eltern Fridas ein Pflegekind zu sich nahmen, von Bedeutung in 
dem ganzen Konflikt des Kindes war; aus der Enttäuschung und der 
Zurücksetzung, die sie da erfahren hat, läßt sich wirklich ein Groß- 
teil ihrer Lernhemmung erklären. Wir können annehmen, daß sie 
böse auf die Eltern ist, weil sie sich nicht nur ein anderes Kind ge- 
nommen haben, sondern sie auch noch zu dieser Zeit allein in ein 
Heim gegeben haben; deshalb will sie mit ihnen und auch sonst mit 
niemandem etwas zu tun haben. Sie will nichts lernen und damit den 
Eltern etwas zuleide tun und sie ärgern. Darin ist wohl ein wichtiger 
Grund für die Lernstörung gefunden, aber die Form, in der die Lern- 
störung auftritt, ist damit noch nicht erklärt. Es wäre wohl sehr ver- 
lockend und einfach, den Vorfall mit dem Pflegekind für alles verant- 
wortlich zu machen und alle Schwierigkeiten Fridas ausschließlich 
von diesen Vorfällen aus zu erklären; dagegen aber muß uns bei 
näherer Untersuchung manches Bedenken aufsteigen. Gleich au die 
erste Aussprache, die das Kind mit der Lehrerin hatte, können wir 
folgende Fragen knüpfen: Warum kann Frida nur reden, wenn sie 
sicher weiß, daß das, was sie sagen will, richtig ist; warum ist Frida 
so aufgebracht darüber, daß der Vater über das schlechte Lernen 
schimpft, wo wir doch anzunehmen geneigt sind, sie lerne absichtlich 
nichts, um die Eltern zu ärgern? Das Schimpfen des Vaters sollte 
sie ja freuen, weil sie daran sieht, daß der Vater sich wirklich ärgert, 
was 3a in ihrer Absicht liegt. Wir haben auch wahrgenommen, daß sie 
nicht nur böse, sondern auch sehr eifersüchtig ist. „Die I-ina hat alles 



146 Editha Sterba 



besser gekonnt", betont sie immer wieder; die Mutter ist nett mit der 
Lina und mit dem Vater» nur mit ihr nicht. Auch kann man sich nach 
dem Verhalten der Eltern, wie es die Lehrerin in der Sprechstunde 
beobachten konnte, schwer vorstellen, daß sie sich wirklich so gegen 
Frida benommen hätten, wie es das Kind schildert. 

Das bisherige Material, so reichlich und wesentlich es auch ist, 
klärt uns über alle Ursachen der Störung des Kindes nicht auf. Es 
sagt uns nichts darüber aus, warum das kleine Mädchen gerade in der 
Art gestört ist, daß es verschlossen, beziehungslos, affektlos erseheint, 
mit niemandem reden will und beim Reden, bei den Antworten in der 
Schule, beim Nacherzählen eine deutliche Hemmung, eine Sprech- 
hemmung, aufweist. Wir hören wohl von Vorfällen, die zu diesem 
Verhalten beigetragen haben müssen; sie sind aber nicht imstande, 
uns das Verhalten Fridas völlig zu erklären. 

Was tat nun die Lehrerin in der ersten Unterredung mit Frida? 
Sie bot dem Kind ihre Hilfe an, indem sie sich in Gespräche über die 
Lernstörung einließ, und suchte sein Vertrauen zu erwerben und eine 
gute Beziehung zu dem Kind herzustellen. Die Kleine faßt tatsächlich 
Vertrauen zu der Lehrerin, berichtet ihr allerlei, was sie bewegt, und 
ist im Begriffe, eine gute Beziehung zu ihr zu bilden. 

Frida erwartete von der Lehrerin, daß sie nicht mit den Eltern 
redete, obwohl das wegen der schlechten Schulergebnisee dringend 
nötig gewesen wäre. Die Lehrerin brachte es aber auf Grund der 
guten Beziehung, die Frida zu ihr entwickelte, dahin, daß das Kind 
lernte und die Aufgaben machte, ohne sich sehr darum zu kümmern, 
ob der Vater über das Lernen böse sei oder nicht; außerdem wurde 
eine gute Schülerin dazu angestellt, mit ihr Aufgaben zu machen und 
zu lernen. Frida freut sich dabei, dem verhaßten Vater ein Schnipp- 
chen schlagen zu können, und meint: „Ich sag' dem Vater, wenn ich. 
keine Aufgabe bring' und nicht viel lern', dann krieg' ich Strafen in 
der Schule; dann muß er mich lernen lassen." 

In der nächsten Zeit erfährt die Lehrerin wenig Neues von Frida, 
das bisher Berichtete wird wiederholt. Manchmal taucht ein neues 
Detail auf. So erfährt die Lehrerin einmal folgendes: Frida stand 
eines Tages früh auf, um die Aufgaben zu machen, da sie am Tag 
vorher mit dem Vater hatte fortgehen müssen und daher nicht dazu- 
gekommen war. Der Vater war böse und wollte sie schlagen, weil sie 
wieder so lange arbeitete. „Das hat er auch immer getan", sagt Frida, 
„wie die Lina noch da war." Da hat sie in der Früh ohnehin nicht 
schlafen können, meint sie, „weil die Lina immer hat dürfen im Ehe- 
bett zwischen den Eltern liegen; dabei hätte es gar nicht sein müssen, 
denn es war so eine Ottomane da". Ihre Haßeinstellung gegen die 



Schule und Erziehungsberatung 147 

Eltern bleibt ganz unverändert, sie ■weist jeden Vermittlungsversuch 
ganz schroff zurück und will gar nichts von einem solchen hören. Die 
Aussprachen bestehen meist in kurzen Unterredungen während der 
Pause oder am Heimweg von der Schule. Fridas Vertrauen nimmt 
deutlich zu, was in erster Linie in immer häufigeren Klagen und Be- 
schuldigungen gegen die Eltern seinen Ausdruck findet. Sie fragt 
auch viel, auffallend erweise Dinge, von denen man annehmen muß, 
daß sie sie weiß, als ob sie dadurch Geduld und Freundlichkeit der 
Lehrerin auf die Probe stellen wollte. 

Im Lernen zeigen sich ganz große Fortschritte, sie arbeitet mit, 
denkt mit, kann nacherzählen, zuerst allerdings nur, wenn sie mit der 
Lehrerin allein ist. Vor der Klasse gibt sie aber auch schon auf 
schwierige Fragen richtige Antworten, ohne zu zögern und zu stocken. 
Ihr Gesichtsausdruck hat sich verändert, ist freier, aufgeschlossener, 
sie ist heiter und redefreudig, schaut der Lehrerin beim Abschied 
sogar bisweilen in die Augen, was vorher nie der Fall gewesen war. 
Zu den Mitschülerinnen hat sie allerdings noch keine Beziehung. Sie 
freut sich selbst sehr über ihre Lernfortschritte und weiß es zu er- 
zwingen, daß sie mit der Kollegin lernen darf, so oft sie will. Der 
Vater, gesteht sie, schimpfte auch nicht mehr so viel beim Lernen, und 
etwas später kommt dann einmal heraus, daß sie oft früher die Auf- 
gaben gar nicht gemacht hat. Sie erzählt das ganz fröhlich und schalk- 
haft lachend. „Der Vater ist drauf gekommen, weil die Lina immer 
Aufgaben gemacht hat", da hat sie dann zu Hause bleiben müssen, 
wenn der Vater mit der Lina fortgegangen ist. Sie verspricht der 
Lehrerin, jetzt nicht mehr zu schwindeln, die Lehrerin soll stolz auf 
sie sein können. 

Um die Weihnachtszeit ist Frida wieder sehr unglücklich. Sie ver- 
sichert der Lehrerin immer wieder, daß ihr die Eltern bestimmt nichts 
schenken werden. Es gelingt der Lehrerin, sie dazu zu bringen, daß 
sie irgendeine Kleinigkeit für die Eltern kauft. Nach Weihnachten 
stellt sich dann heraus, daß sie von den Eltern viel mehr Geschenke 
bekommen hat, als es eigentlich die Lehrerin selbst erwartet hatte. 

Kurz vor den Feiertagen hat sie ein schweres Schreckerlebnis. Ein 
gleichaltriger Vetter wollte mit ihr auf eine fahrende Straßenbahn 
aufspringen, er kam dabei unter die Schutzvorrichtung und wurde 
am Fuß schwer verletzt. Sie hängt besonders an dem Jungen, wohl 
auch, weil sie ihn zur Zeit, als Lina, das Pflegekind, im Hause war, 
immer gegen Lina zu Hilfe rufen konnte. Auf das schreckliche 
Erlebnis hin wird sie mit einem Schlag wieder ganz versteinert wie 
früher, redet nicht, nimmt gar nicht am Unterricht teil, und erst bis 
die Lehrerin das ganze Erlebnis mit ihr durchgesprochen hat und ihr 



148 Editha Sterba 



zeigt, daß sie jetzt aus Sehmerz um den Vetter sich vor allem ab- 
schUeJlen will, wird sie wieder freier und offener. Dabei berichtet sie 
wie zufällig, daß ihre Stimmung sonst immer durch ihre jeweiligen 
Träume bestimmt wird. Wenn sie was Lustiges geträumt hat, — daß 
sie jemanden pflanzt') oder sekkiert, — dann ist sie den ganzen Tag 
lustig. Wenn sie schlechte Träume hat, ist sie grantig und schlecht 
gelaunt. Schlechte Träume sind immer von der gleichen Art, daß 
jemand auf sie lossticht oder daß sie im Wasser untergeht und ein 
Tintenfisch sie frißt oder daß sie in die UöUe kommt. 

Bald darauf tritt ein Ereignis ein, das eine entscheidende Wendung 
bringt. Frida erzählt eines Tages, der Vater will nicht mehr erlauben, 
daß sie mit der Kollegin lerne, weil sie vom Lernen mit ihr zu spät 
nach Hause gekommen ist. Da sie aber von früher her noch so große 
Lücken besitzt, daß sie die Helferin unbedingt braucht, um in der 
Schule mitzukommen, muß die Lehrerin unbedingt mit dem Vater 
sprechen, um ihm die Notwendigkeit dieses gemeinsamen Lernens be- 
greiflich zu machen. Frida will zuerst wieder absolut nichts von einer 
Unterredung des Vaters mit der Lehrerin wissen, willigt dann aber 
doch ein unter der Bedingung, daß die Lehrerin ihr alles sage, was 
sie mit dem Vater gesprochen hat. Außerdem muß sie mit dem Vater 
fünf Punkte besprechen und Frida mitteilen, was der Vater dazu 
gesagt hat. Erstens, ob der Vater erlaubt, daß sie weiter mit der 
Helferin lernt, wenn sie ein Hefterl kauft, in dem der Vater des 
Mädchens, mit dem sie lernt, bestätigen wird, wie lange sie mitein- 
ander gelernt haben; zweitens, der Vater soll glauben, daß auch 
andere Kinder zu zweit lernen, drittens er soll glauben, daß sie sehr 
fleißig ist, viertens er soll glauben, daß sie nicht dumm ist und daß 
sie nur so lange beim Antworten überlegt, damit sie keine Fehler 
macht; fünftens, soll die Lehrerin versuchen, herauszubekommen, 
warum Frida das einzige Kind ist, und ob der Vater nicht lieber einen 
Buben gehabt hätte. 

Die Lehrerin geht darauf ein, auch der Vater ist damit einverstan- 
den, daß Frida erfährt, was er sagt. Er wollte Frida nur nicht mit 
der Helferin lernen lassen, weil er meinte, sie schreibe alles von ihr 
ab. Er beklagt sich bei der Gelegenheit, daß Frida in der letzten Zeit 
sehr frech und aggressiv wird. Er behauptet, sie nie zu schlagen, nur 
der Mutter rutscht manchmal die Hand aus, sagt er. Da haut Frida 
gleich zurück. Als Resultat der Unterredung bekommt Frida vom 
Vater nicht die erwarteten Schimpfer, sondern die Erlaubnis, an 
diesem Tage eislaufen zu gehen. 



}) Neckt, frozzelt. 



Schule und Erziehungsberatung 



149 



Befriedigt sagt sie der Lehrerin: „Icli hab' nämlich wegen dem 
Schreien so Angst gehabt. Ich schrei' jetzt immer zu Hause so zurück 
und brüll' mit allen, die nicht tun, was ich will. Ich hab' als kleines 
Kind auch immer meine Puppen auf die Erde gebaut und später die 
Lina fest verprügelt und schrecklich mit dem Vetter gerauft. Ich 
krieg' oft so einen Zorn, daß ich schreien muß, sonst zerplatz' ich 
vor Wut." 

Wenn wir diesen Abschnitt überblicken, sehen wir eine deutliche 
Wendung zum Bessern. Die Sprechhemmung hört auf, sie lernt besser 
und arbeitet in der Schule mit, ihr Aussehen hat sich verändert, sie 
zeigt Beziehungen zu anderen Kindern, vor allem zu dem Vetter, der 
verunglückte. Daneben aber werden Aggressionen frei, die sich im 
Verhalten gegen die Eltern zeigen, der Vater bezeichnet sie als frech, 
sie selbst erzählt, daß sie schreit und brüllt. Diese aggressiven Ten- 
denzen hatten sich bisher in den Träumen gezeigt, als passives oder 
aktives Traumerlebnis, sie träumt ja regelmäßig, daß sie andere 
pflanzt oder sekkiert, oder daß sie gestoßen oder von einem Tintenfisch 
gefressen wird oder in die Hölle kommt. Aus dem Material, das Frida 
der Lehrerin bringt, haben wir zunächst nicht viel Neues erfah- 
ren Aber an dem uns bisher Bekannten sind verschiedene Korrek- 
turen vorgenommen worden. Wir hören, daß der Vater nicht von 
vornherein ungerecht war und das Lernen verbot. Sie hat die Auf- 
gaben nicht gemacht, wie sie selbst berichtet, sie hat Wutanfalle, muß 
schreien, wenn sie ihren Y\^illen nicht durchsetzen kann. Sie tut also 
alles das, was sie in der ersten Etappe des Berichtes dem Vater vor- 
geworfen hat. Auch erfahren wir aus den Fragen, die die Lehrerin 
dem Vater stellen soll, daß ihr offenbar sehr viel an der Meinung 
des Vaters gelegen ist, er soll sie nicht für dumm und faul halten, 
er soll keine schlechte Meinung von ihr haben. 

Wir erfahren damit, daß das verstockte, versteinerte Aussehen, die 
scheinbare Beziehungslosigkeit des Kindes nur die Ausdrucksform 
des Trotzes war, in den das von der Umwelt am Ausleben seiner 
Aggressionen gehinderte Kind sieh geflüchtet hatte. Denn nachdem 
die Unterredungen mit der Lehrerin ihr gezeigt hatten, daß sie der 
Lehrerin alles sagen dürfe, ohne daß die Lehrerin böse wurde, konnte 
sie ihren Trotz aufgeben, und ihre Aggressionen traten als Wut, im 
Schreien, in ihrer Frechheit zutage. Vielleicht läßt sich auch verstehen, 
warum sie zunächst von einer Unterredung zwischen Lehrerin und 
Vater absolut nichts wissen wollte; sie will nicht, daß die Lehrerin, 
die ja eine gute Meinung von ihr hat, vom Vater aufgeklärt wird, daß 
Frida eigentlich zu Hause sehr böse ist und so wütend schreit und 



150 Editha Sterba 



schimpft. Sie will das Mitleid und die Liebe der Lehrerin behalten und 
fürchtet, sie zu verlieren, wenn der Vater über ihr Verhalten zu 
Hause erzählt. Wir sehen auch, wie wichtig es war, auf eine Unter- 
redung mit den Eltern bei Beginn der Beziehung zu verzichten. Frida 
hätte in diesem Falle bestimmt die Beziehung zur Lehrerin so trotzig 
gestaltet wie die zu den Eltern. Warum Frida aber so aggressiv und 
böse war, darüber wissen wir noch gar nichts, wir müssen es Wohl 
mit dem Pflegekind Lina in Zusammenhang bringen; aber die tieferen 
Gründe für Fridas Verhalten sind uns wohl unklar. 

Frida macht weiter gute Fortschritte im Lernen, es geht besser, 
sie wird sichtlich freier, ungezwungener, sie hat Freundinnen, die sie 
gerne sekkiert und „pflanzt". Ein neues Moment taucht in ihrem Ver- 
halten auf, sie beklagt sieh bitter bei der Lehrerin über einen Lehrer, 
der wie sie meint, einige Mädchen bevorzugt, und der in dem, was er 
sagt, nicht immer bei der Wahrheit bleibt. Sie will um jeden Preis 
dem Lehrer das sagen, ihm erklären, daß er unrecht hat, und läßt sich 
nur mit großer Mühe davon abbringen. Ähnlich ist ihr Verhalten in 
der Klasse. Wenn eines der Kinder einem anderen etwas getan hat, 
was natürlich jeden Tag vorkommt, wendet sie sich aufs schärfste 
dagegen, gibt nicht nach, bis sie festgestellt hat, wer Recht und wer 
Unrecht hat. Sie besteht immer auf gerechter Bestrafung des Schul- 
digen und gibt nie nach. Das wird so auffällig, daß es den Unterricht 
zu stören beginnt. Die Kinder können Fridas Gerechtigkeitsfanatis- 
mus nicht begreifen, sie lehnen sich dagegen auf, und sie wird oft 
ausgelacht und verspottet. Außerdem läßt sie keine Gelegenheit vor- 
beigehen, sieh öffentlich vor der ganzen Klasse bitter über die Unge- 
rechtigkeiten ihrer Eltern zu beklagen und immer wieder zu betonen, 
wie man sie beschimpft und schlecht behandelt. Die guten Fort- 
sehritte im Lernen und Aufgabenmaehen halten aber weiter an, sie 
hat jetzt ihre Lücken aufgefüllt und kann überall mitkommen. Neues 
Material, aus dem man mehr über ihre Störung entnehmen könnte, 
hat sie in der Zeit nicht gebracht, obwohl ihr zu Besprechungen mit 
der Lehrerin ebensoviel Zeit zur Verfügung stand wie früher. 

Ihr Verhalten in der Schule können wir wohl verstehen. Nachdem 
durch die Besprechungen mit der Lehrerin ihr Trotz sich zu Hause in 
Aggression und Wut zurückverwandelt hatte, beginnt sie nun auch 
in der Schule, den Boden für das Ausleben ihrer Aggressionen vorzu- 
bereiten. Denn wenn sie so pedantisch genau auf Recht und Unrecht 
besteht, Strafe für den Schuldigen fordert und das auch in deutlich 
herausfordernder Art den Lehrern gegenüber durchsetzen will, kön- 
nen wir uns leicht vorstellen, daß sie über kurz oder lang in Situa- 






Schule und Erziehungsberatung 



151 



tionen kommen muß, in denen sie selbst Unrecht bekommt; dann kann 
sie so wütend wie zu Hause sein, so wütend nämlich, daß sie wie zu 
Hause schreien und toben muß. Das wird aber den Schulbetrieb so 
stören, daß man gezwungen sein wird, sie empfindlieh einzuschrän- 
ken. Sie wird von der geliebten Lehrerin, der zuliebe sie scheinbar 
ihre Trotzeinstellung aufgegeben hat und bei der sie sich alles zu 
erlauben beginnt, sehr enttäuscht und gekränkt werden müssen, und 
wir werden annehmen dürfen, daß sich dann alles in der Schule genau 
so abspielen wird, wie es wohl seinerzeit zu Hause der Fall war. Es 
besteht also die Gefahr, daß Frida wieder ebenso trotzig und ver- 
schlossen werden wird wie am Anfang, als die Lehrerin sich mit ihr 
näher zu beschäftigen begann. 

Es ist eigentlich ganz verständlich, daß das Kind den Konflikt, der 
zu seiner Trotzeinstellung geführt hat, auf die Schule überträgt, wenn 
man die Trotzeinstellung des Kindes abzubauen beginnt, also das 
Triebgeschehen, das den Trotz als Endresultat zeigt, schrittweise 
zurückverfolgt und aufzulösen versucht. Es wäre natürlich die beste 
Lösung, diesen Abbau der Trotzeinstellung im Rahmen einer Analyse 
erfolgen zu lassen. Aber abgesehen davon, daß diese Möglichkeit doch 
nicht immer zur Verfügung steht, glaube ich, daß zumindest der Ver- 
such unternommen werden müßte, die oben geschilderte SituatioD im 
Eahmen der pädagogischen Arbeit zu erledigen, da sie ja auch durch 
die Einflußnahme der Lehrerin geschaffen worden war. Es wäre 
sicher auch für den Beginn einer Analyse ungünstig gewesen, wenn 
man das Kind zu dem Zeitpunkt, zu dem es seinen Konflikt in der 
Schule zu agieren begann, einer Analyse zugeführt hätte. Die Be- 
ziehung zur Lehrerin hätte in der Analyse sicher viele Konflikte 
und Schwierigkeiten ergeben. 

Es wird natürlich im Verlaufe einer Analyse oft vorkommen, daß 
ein Kind seine Konflikte in der eben geschilderten Art und Weise in 
der Schule zu agieren beginnt und die Schulsituation für die Dar- 
stellung seiner Triebwünsche und Konflikte ausnützt. Aber dann hat 
der Lehrer doch eine ganz andere Stellung dem Kind gegenüber, weil 
er selber das Agieren dieser Konflikte nicht vorbereitet und ermög- 
licht hat. 

Man mußte vor allem darauf bedacht sein, zu verhindern, daß die 
Lehrerin ebenso wie seinerzeit die Eltern gezwungen würde, das Kind 
beim Ausleben seiner Aggressionen empfindlich einzuschränken. Da 
man nicht genügend Materialkenntnis erlangt hatte, um dem Kind die 
Bedeutung des AuslebenwoUens der Aggressionen zu erklären und so 



152 Editha Storba 



auf die Triebäußerungen durch Einsicht und Selbsterkenntnis zu 
wirken, mußte man es mit anderen Mitteln versuchen. 

Man hätte ja dem Kind auch vorsichtig und schonend beibringen 
können, daß sein Verhalten über kurz oder lang zur Einschränkung 
von selten der Lehrerin führen müsse, aber dieser Weg hätte wieder 
zwei Nachteile gehabt: einerseits hätte die Gefahr bestanden, daß sich 
dann das Ausleben der Aggressionen zu Hause verstärkt hätte, weil 
das Kind im gegenwärtigen Zustande jede Andeutung einer Eindäm- 
mung seiner eben in der Schule beginnenden, zu Hause aber schon 
ausgeführten Aggressionen mit einer Verstärkung des Auslebeus zu 
Hause beantwortet hätte. Das Verhältnis zwischen Eltern und Kind 
wäre dadurch noch schwieriger und konfliktreicher geworden. Ander- 
seits hätte man sich aber dadurch den Zugang zu weiterem Material 
für lange, vielleicht für immer versperrt. Eine Möglichkeit, dem Kind 
Gelegenheit zur Sublimierung seiner Aggressionen zu geben, wäre 
wohl von Vorteil gewesen. Man mußte aber erkennen, daß diese 
Aggressionen zu sehr in der Neurose begründet waren, als daß sie 
sich so ohne weiteres hätten sublimieren lassen. 

Bie Lehrerin faßte also zu diesem Zeitpunkt den Entschluß, einen 
Versuch im Rahmen der Schule zu machen, der allen Schwierigkeiten 
dieser Situation gerecht werden sollte. Die Klasse, die Frida besuchte, 
hatte besonders in Stilübungen und Eechtschreiben manche Lücken 
aufzuweisen, so daß die Lehrerin, ohne daß es den Kindern auffiel, in 
diesem Arbeitsgebiet für die schlechten Schülerinnen eine besondere 
Übungsstunde ansetzen konnte. Für diese Übungsstunde wurde den 
schlechten Schülerinnen der Klasse, zu denen auch Frida gehörte, das 
Thema gestellt, die Geschichte eines kleinen Mädchens in beliebig 
vielen Kapiteln niederzuschreiben. Art, Form und Inhalt war den 
Kindern ganz überlassen. Die Geschichte jedes Kindes sollte dann von 
allen Kindern gemeinsam in Form des„Arbeitsunterrichtes"besproehen 
werden. Die Kinder beschlossen selbst, über das, was ihnen an den 
Aufsätzen -unverständlich war, Fragen zu stellen, die dann immer von 
der jeweiligen Verfasserin beantwortet werden sollten. 

Die Überlegung der Lehrerin bei der Wahl dieses Auswegs war 
folgende: Sie wollte dem Kind unauffällig Gelegenheit geben, ihre 
Aggressionen gegen die Eltern und die beginnenden Aggressionen 
gegen Lehrerin und Mitschülerinnen in Phantasiegeschichten auszu- 
leben; dabei hoffte sie, manches Neue von Frida zu erfahren. Sie 
hoffte, das öffentliche Schimpfen über die Eltern, die ewigen Nörge- 
leien in der Klasse wegen geschehenen Unrechts würden auf diese 
Weise in den Hintergrund treten. Diese Hoffnung erfüllte sich auch. 



Schule und Erziehungsberatang 



153 



Die Idee, eine Kindergeschichte zu schreiben, wurde für viele Wochen 
das Klassengespräch und erfüllte das Interesse aller Kinder in solchem 
Ausmaß, daß dadurch schon Fridas Nörgeleien ireniger beachtet 
wurden. 

Die Lehrerin hatte mit diesem Versuch noch etwas erreicht. Sie 
wollte sich dem Kind gegenüber viel passiver und farbloser verhalten 
als bisher, um nicht fortwährend durch die Nörgeleien wegen Recht 
und Unrecht der Lehrer und Eltern durch eine zu aktive und ent- 
scheidende Einstellung in Situationen gebracht zu werden, die mit der 
Stellung einer Lehrerin schwer in Einklang zu bringen sind. Durch 
die Arbeit mit der ganzen Klasse in Form des Arbeitsunterrichtes und 
im Zusammenhang mit den vielen Problemen, die jedes der Kinder 
im Anschluß an die Geschichte besprochen wissen wollte, wurde es 
nahezu selbstverständlich, daß die Lehrerin sicli nicht mehr aus- 
schließlich mit Frida befassen konnte. Fridas Roman fand dabei ohne- 
dies etwas mehr Beachtung als die Geschichten der anderen und Frida 
begnügte sich damit. Die Wirklichkeit wurde damit gleichzeitig eine 
Zeitlang absichtlich unberücksichtigt gelassen. Frida dachte auch nicht 
immer daran, die Lehrerin in aktuellen Konflikten zur Stellungnahme 
zu zwingen, weil ihr das Ausleben in den Phantasien, die sie in der 
Geschichte des kleinen Mädchens unterbrachte, wichtiger war. 

Die Geschichte, die Frida schrieb, wurde durch die Erklärungen^ 
die Frida selbst dazu gab, bis in die letzten Details verständlich. Die- 
Kinder selbst stellten viele eingehende und wichtige Fragen, die auch 
von Frida ganz naiv und unvoreingenommen beantwortet wurden. Die 
Lehrerin hätte nie versuchen können, solche Fragen zu stellen, ohne 
daß die Kinder mißtrauisch und stutzig geworden wären. Die Kinder 
selbst aber waren da ganz aufrichtig gegeneinander und vergaßen 
die Anwesenheit der Erwachsenen bei der Besprechung völlig, so 
beschäftigt waren sie mit dem Gedankenaustausch über Probleme, die 
ihnen allen gerade zu diesem Zeitpunkt ihrer Entwicklung so be- 
sonders am Herzen lagen. 

Die Geschichte Fridas ist im folgenden in den wichtigsten Kapiteln 
wörtlich wiedergeben. Fragen und Antworten der Kinder, die zur 
Erklärung der Geschichte sowohl wie der Probleme Fridas beitragen, 
sind nach den betreffenden Kapiteln angeschlossen. 

Zeitlich umfaßte diese Geschichte natürlich viele Ubungsstunden^ 
die sich über Wochen hinaus ausdehnten. Material und wichtige 
äußere Erlebnisse, die in diese Zeit fallen, werden nach der Geschichte 
berichtet, weil gerade die Geschichte alles viel besser verstehen läßt. 



154 Editha Sterba 



Maria. 

Ein Kindergeschichte. 

1. Kapitel 

^ Nach Seehausen kam eine schwarzgekleidete Frau mit einem dreijährigen 
Kind. Sie kam bei einem Gasthaus vorbei, es hieß „Zur weißen Taube". Da 
sie sehr müde war, setzte sie sich auf die Bank vor dem Gasthaus. Sie ging 
hinein in das Gasthaus und fragte, ob sie vielleicht ein kleines Zimmer zu 
vermieten hätten, da sie ganz allein mit dem Kinde sei. Der Wirt nahm sie 
mit ihrem Kind freudig auf und führte sie in das Zimmer. Es war sehr ein- 
fach, aber doch sehr rein gehalten. Die Einrichtung bestand aus einem Kasten, 
einem Bett, einem Waschtisch und einem Diwan. Die Aussicht ging in den 
dunklen Wald hinaus. Einstweilen war das kleine Mädchen eingeschlafen. Es 
hieß Lieselotte, seine Mutter Maria Hochberg. Am nächsten Tag ging Maria 
Hochberg in die Küche hinaus und besorgte ein Frühstück. Die Wirtin fragte 
Maria, wo sie hergekommen wäre und warum sie so traurig war. Frau Maria 
Hochberg erzählte, daß vor kurzer Zeit ihr Mann gestorben sei und sie des- 
wegen nach Seehausen gezogen sei. Einstweilen war Maria zu Lieselotte ge- 
gangen und schaute, ob sie schon aufgewacht wäre. Da sie schon wach war 
zog sie die Mutter an und ging in die Küche um das Frühstück. Sie tranken 
einen Kaffee mit einer Semmel. Die Wirtin fragte sie, ob sie sich nicht in die 
Laube setzen wollten, da heute so ein schöner Tag sei. Sie waren einverstan- 
den und setzten sieh hinaus. Die Wirtin hatte einen Sohn, der hieß Heinrich. 
Er unterhielt sich mit Lieselotte und schnitzte Tiere für Lieselotte. Sie waren 
ein paar Tage hier, da sahen sie einen Wagen konomen, da saß der König 
und die Königin und die Kinder. Sie (König und Königin) hatten einen Sohn 
mit 13 Jahren und ein Mädchen mit sieben Jahren. Sie hießen Hans und Lori 
Lieselotte hatte Freude an dem Wagen, der jeden Nachmittag vorbeifuhr. Lori 
war sehr stolz und sah Lieselotte gar nicht an. Hans lachte immer beim 
Fenster hinaus. Lori gab Lieselotte den Namen Bettelprinzeß, weil sie immer 
schmutzig und barfuß war. Wenn Hans Lieselotte zulächelte, so sagte Lori: 
„Du biet dumm, du lachst auf die schmutzige Bettelprinzeß." Hans war sehr 
traurig, daß Lori die Kleine so schimpfte. Maria war eine Malerin und schaute 
nicht auf Lieselotte. Da stand Lieselotte beim Zaun, wo das Tor offen war, 
lief hinaus und Maria sprang auf, wollte das Eind retten. Da fiel aber auch 
Maria und die Pferde traten auf den Kopf von Maria. Maria blieb tot liegen, 
aber die Lieselotte stand auf und wollte die Mutter aufheben. Sie hatte keine 
Kraft und mußte sie liegen lassen. Der König und die Königin stiegen aus 
<iem Wagen und Hans auch. Sie trugen Lieselottes Mutter in die „Weiße 
Taube" in ein Bett. Hans nahm die kleine Lieselotte und sagte: „Komm, bleibe 
bei mir, denn deine Mutter hat auf dem Kopf Weh-Weh." Der Kutscher mußte 
um einen Arzt gehen. Der kam und untersuehte Frau Maria Hochberg. Er 
sagte dann: „Die Maria hat Gehirnerschütterung und wird wahrscheinlich 
sterben müssen." Da sagt die Königin zu Maria: „Ich nehme Lieselotte zu 
uns, sie wird sehr brav werden." Dann rief Maria ihr Kind. Hans brachte sie 
herein, Lieselotte bekam noch einen Kuß, d»nn mußte sie gleich wieder hin- 



Schule und Erziehungsberatung 



155 



ausgehen. Kaum war Lieselotte bei der Tür draußen, schloß Maria die Augen. 
Der König und die Königin weinten sehr. Wirt und Wirtin waren sehr besorgt 
um Lieselotte, dann fuhr der König und die Königin mit Hans und Lieselotte 
in den Palast. Lori sah beim Fenster hinaus und sah, daß auf Loris Platz 
Lieselotte saß, Sie sagte gleich zu dem Kindermädchen: „Schauen Sie doch, 
auf meinem Platz sitzt die Bettelprinzeß." Dag Kindermädchen sah erstaunt, 
wie die Königin und der König mit Lieselotte in Loris Zimmer kamen. Lori 
sprach: „Was soll das heißen, daß Lieselotte in dem Wagen fahren kann und 
zu uns hergeführt wird." Der König schrie Lori an, daß sie gleich wieder 
ruhig war. Lori sagte jedem Diener, daß die Bettelprinzeß im Hause sei. 
Lori nahm Lieselotte als Dienerin, sie mußte die Schulbücher herrichten. Im 
Lernen war Lieselotte braver als Lori, Dann kamen Lieselotte und Lori in 
ein Heim und auch dort war Lieselotte im Lernen besser als Lori. Dort bekam 
Bcttelprinzeß viele Freundinnen. Bettelphnzeß war sehr musikalisch, der 
Singlehrer wollte haben, daß Lieselotte eine Sängerin werden sollte. Lori 
hatte einen Zorn auf sie, da der Singlehrer sie belohnt hatte. Da war einmal 
ein Test und Lieselotte mußte mitspielen. Sie hatte die Hauptrolle. Lori sollte 
nicht spielen. So verging die Zeit und Lieselotte und Lori mußten wieder 
nach Hause. 

2. Kapitel 

Nun war Lori zu Hause und Lieselotte war auch zu Hause. Der König 
hatte Lieselotte sehr gern, denn sie konnte mehr als Lori. Der König hatte 
Angst, wenn er Lieselotte weggebe, möchten sie (die Leute) den König hassen 
und so ließ er Lieselotte bei sich. Als er einmal mit ihr wegfuhr und Lori zu 
Hause bleiben mußte, hatte sie auf Lieselotte einen Zorn. Die Diener sprachen 
von der Bettelprinzeß, daß die jetzt das schönste Kind von der Stadt See- 
ha\isen wäre. Da sagte ein Diener Bettelprinzeß, was der König hörte. Er 
fragte, wer den Namen Bettelprinzeß aufgebracht hätte. Der Diener sagte, 
Lori habe es gesagt. Da ließ sie der König hereinrufen und sie mußte zur 
Strafe drei Tage zu Hause bleiben. Und jeder Diener sagte jetzt: die schöne 
Lieselotte ist die Schönste von Seehausen. So war ein Tag vergangen und es 
wurde Abend und Lori und Lieselotte mußten zu Bett gehen. 

3. Kapitel 

Am n&cbsten Tag blies ein Hörn, es war sechs Uhr früh. Lieselotte mußte 
zur Königin gehen und auch zu Lori und fragen, warum sie gestern auf 
mich einen Zorn hatte. Da diese sehr stolz war, gab sie vor Stolzheit keine 
Antwort und sagte zu ihr: „Schau, daß du hinauskommst, Bettelprinzeß." 
Sie kränkte sich sehr und ging zur Königin, die ließ die Lori rufen und die 
bekam Schelte. Da bekam Lori einen Zorn und sagte kein Wort mehr zu 
Lieselotte. 

4. Kapitel 

Nun waren Wochen vergangen. Lori ging an Lieselotte vorbei, als ob sie 
Lieselotte nicht kennte. Aber Lieselotte kränkte sich schon, daß Lori so 
garstig war, und sie immer Bettelprinzeß rief. Jetzt, seit der König das Wort 



156 Editha Sterba 



gehört hatte, war er mit den Dienern sehr garstig, bezahlte ihnen weniger 
Lohn ließ sie nachts draußen im Freien stehen. Auch die Diener waren zornig 
und beschlossen, den Dienst zu verlassen. Ein jeder ging zum König um die 
Entlassung, aber der König ließ strafweise keinen aus dem Dienst treten. Da 
bekam Lieselotte wieder Mut und war wieder fröhlich, daß der König sie so 
gern hatte und alles zuliebe für Lieselotte machte. So war ein Tag vergaogen 
und sie mußten zu Bette gehen. 

5. Kapitel 

Es wurde früh und Lieselotte stand auf. Sie ging in den Garten epazieren. 
Als es der Diener sah, daß Lieselotte spazieren ging und Blumen abriß, 
meldete er es der Lori. Sie schimpfte und lief zum Papa. Er machte keine 
Bemerkung, als liörte er es nicht. Sie merkte es und ging zornig hinaus, ließ 
die Tür hinter sich zuschlagen, daß das ganze Haus zitterte. 

6. K a p i t e 1 

Nun lief Lori zur Mama und erzählte ihr den Fall, daß Papa sie nicht 
anhören wollte. Sie ging erstaunt zu ihrem Mann und sprach mit ihm ernst. 
Allein er machte keine Bemerkung und ließ die Frau stehen. Nun erschrak 
auch sie sehr und ließ sich Diener herbeiholen und fragen, ob sie nicht ihren 
Mann gesehen hätten. Die Augen wurden immer kleiner von Lori und Mamas 
Augen waren rot vor Weinen. Da kam auf einmal ein Diener mit entsetzter 
Stimme: „Ich habe Herrn König gesehen, er ist im Garten und weint." Die 
Tochter eilte eiEstweilen in das Zimmer zu Mama. Sie kg auf dem Bette, die 
Augen geschlossen. Dann lief sie in den Garten hinaus und sah, wie Liese- 
lotte ihren Vater tröstete. Sie getraute sich aber nicht hin und lief zu Mutters 
Bett: „Komm Mama, der Vater sitzt draußen mit Lieselotte auf der Wiese." Die 
Diener mußten sie zum König führen. Dort angelangt, fragte Lori: „Vater, 
was hast du?" Er erschrak und gab zur Antwort: „Deinetwegen sollte ich 
Lieselotte weggeben." Sie (Lori) wurde blaß und fragte eich erstaunt: 
„Warum?", da fiel ihr endlich ein, daß sie doch immer tratschen ginge und 
daß das den Vater nervös mache. Sie versprach Papa, daß sie jetzt immer 
folgsam sein wird. Sie war ganz erstaunt, daß er ihretwegen Lieselotte weg- 
geben sollte. Nun versprach sie Papa, daß sie nicht mehr zu Lieselotte den 
Schimpfnamen Bettelprinzeß geben werde. Wie gesagt, so getan und sie wurde 
braver. Die Eltern wunderten sich, daß Lori sich so schnell änderte, und 
sio spielte auch mit Lieselotte und es gab keine Streitereien. Der König 
wunderte sich, daß sie sich so etwas zu Herzen nahm. Nun versprach er ihr, 
wenn sie so weiter brav sein werde, werde er wieder gut mit ihr werden. 
An dieser Stelle sind einige Fragen und Antworten zu erwähnen. 
Die Fragen stellten die Kinder, die Antworten stammen von Frida. 
Sie sind so aufschlußreich, daß man sofort daraus ersehen kann, wie- 
viel verborgene Wünsche und Gedanken Fridas in diesen Geschichten 
verarbeitet sind, ohne daß es ihr bewußt wird, welche Geheimnisse 
sie damit preisgibt. 



Schule und Erzichungsberatung 



157 



«r^Y^""""" ^^ ^^"'^ ""^^^^ Lieselotte sein eigenes Kind 
verstieß? (Nebenbei bemerkt, er tat es ja nicht wirklich, er drohte nur 
durch sein Verhalten zu Lori, aber diese Drohung wurde offensicht- 
lich von allen Kindern als ausgeführt empfunden.) 

Antwort: Weil Lori so boshaft war und die Tür zuhaute, wenn 
er etwas sagte und sie anschrie. Deshalb hatte er sie verstoßen 
Andere Väter würden es auch tun, wenn das Kind so undankbar wäre." 

Frage: Warum hat der Vater Lori so schlecht behandelt? 

Antwort: Vielleicht so, weil er Lori durch Strenge brav machen 
wollte. 

Darauf schreien alle Kinder im Chor: Dadurch wird sie erst boshaft. 

Frage: Warum Lori so boshaft war? 

Antwort: Weil der Vater sie verstoßen hatte. Kinder darauf: 
Wir wären nicht so gewesen, uns hätte das Kind leid getan, wo es 
doch die Eltern verloren hatte, es war sehr schön von den Königs- 
eltern. Darauf Frida; Die Erziehung hat Lori so verwöhnt, zuerst 
hat alles ihr gehört. Wenn ich Lori gewesen wäre, ich hätte bis am 
Abend gerauft. 

Frage Wie Lori früher war? Ob sie sich erst dann, wie Liese- 
lotte kam, verändert hat? 

Antwort: Sie war immer schlimm, die Erzieherin bat ihr alles 
Angehen lassen, sie ist immer arger geworden. 

Frage: Wieso die Eltern nicht bemerkt haben, daß Lori sich 
kränkt? 

A n t w r t: Sie hat es nicht gezeigt. Daraufhin rufen mehrere: Sie 
hat es Dicht gezeigt und war aus Kränkung trotzig und da waren die 
Eltern noch böser auf sie und Lori ist dann noch trotziger geworden. 

Frage: Waren die Eltern oder Lori schuld? 

Frida schweigt, die Kinder antworten selbst. Niemand war schuld. 
Die Eltern hatten es versprochen und müssen es halten und Lori hat 
sich gekränkt und war verzogen. Aber die Eltern oder jemand anderer 
hatte Lori aufklären sollen, wie das Ganze war, dann wäre es anders 
gewesen. 

7. Kapitel 

«a^t^P^n^*''"''' '''"' g^^^^ssert hatte, spielte sie immer mit Lieselotte und 
Z%r ^T^'-r "."*'" ""^' ^^"^^ Bettelprinzeß zu Lieselotte sagen. 
hatten trr W " I''"'" ""'' ""^ ''' ^'^"^^ ^^ ^^'^^^ angenommen 
fn« Th.T ^ T "f '"'' ''''''''■ ^'"° ^'^^e "- ^önig mit Lieselotte 

ms Tl^-ater und Lon mußte zu Hause bleiben. Die Diener sagten immer, daß 
L eselotte die Schönste von Seehausen sei und Lori die Zweitschönste. Liese- 
lotte bekam jetzt neue Kleider nnd brauchte nicht mehr bei Lori Bedienerin 
3U Bein. Jetzt bekamen Lori und Lieselotte Kammerzofen, die ihnen helfen 

.Zeitachrlft f. psa. Päd., X/3 



158 Edifha Stcrbii 



mußten beim Ausziehen. Beide waren die besten Freundinnen, sie stritten 
nicht mehr und aßen immer miteinander. Die Familie war sehr erstaunt über 
dio Freundscliaft von Lori und Lieselotte. Sie gingen immer miteinander in 
den Park spazieren und fuhren mit den Eitern in die Stadt. Die Menschen 
waren sehr erstaunt, daß der König noch eine Tochter besaß. Aber der König 
erzählte es dem Graf Franz von Lichtenstein. Es war eine große Erregung 
und es wurden Feste abgehalten. Lie.selottß bekam sehr viele Geschenke und 
auch ein großes Geschenk von Lori, einen großen Vogel namens Pipsi. Es 
war ein Papagei. Er konnte alles nachsprechen und wurde sehr heimlich und 
zutraulich. Er sprach alle Worte Loris und Lieselottes nach. Lieselotte freute 
sieh, daß Lori, ihre Pfiegeschwester. nicht auf sie vergaß. Sie bekam sehr viel 
Schätze und goldene Ringe und Armbänder und Halskettchen. Sie machte mit 
Söhnen von Grafen und Gräfinnen Bekanntschaft. Sie nahmen sich um Liese- 
lotte mehr an als um Lori, denn Lori war noch immer sehr boshaft und un- 
folgsam und unzufrieden. Darum wollten oft die Grafen nicht haben, daß sie ' 
mit Lori spielte, denn sie sei eo boshaft. Aber jetzt spielen alle Kreisspiele 
und unterhielten sich mit Mädchen und Burschen. Lori war sehr froh, daß 
Lieselotte so fein mit ihr umging, denn sie schenkte ihr einen Ring und eine 
Kette. Lori war sehr erfreut darüber und zeigte es dem König. Der fragte 
erstaunt, von wem sie den Ring und die Kette hätte. Sie gab zur Antwort, 
Lieselotte liätte ihn ihr gegeben. Er schickte Lori wieder hinaus. Nun spra- 
chen der König und die Königin darüber, ob das Kind folgsam sei und gut 
lerne. Die Königin war erstaunt, als der König ja zur Antwort gab, auch 
wurde gefragt, was Lori für ein Zeugnis hätte. Nun war der König sehr ver- 
zagt, als er sagen mußte, daß Lori einen Zweier hätte und Lieselotte mehr 
könnte als Lori. Sie waren alle erstaunt und fragten, wieso denn Lieselotte 
mehr könnte als Lori. Da schupfte der König die Achsel und gab keine Ant- 
wort. Die Grafen und Könige waren sehr erstaunt, daß Lori einen Zweier 
hätte und Lieselotte lauter Einser. Sie spielten mehrere Spiele und endlich 
kam die Stunde und sie sollten nach Hause fahren. Lori war sehr vergnügt 
bis zur letzten Minute, dann hieß ee in den Wagen einsteigen und nach Hause 
fahren. Lieselotte hatte sieh sehr schnell verabschiedet und bedankt. Nun 
wurde schnell eingestiegen und die Räder bewegten sich vorwärts. Es war 
sehr ruhig, nur die Pferdeschritte hörte man. Es ging in flottem Trott weiter. 
Einstweilen schliefen Lori und Lieselotte im Wagen ein, nur der König und 
die Diener waren wach. Endlich waren sie angelangt und die Diener mußten 
die Kinder in der Sänfte hineintragen, sie waren unterwegs eingeschlafen. 
Die Kammerzofe zog die Kinder aus und legte sie ins Bett. Sie sehliefen gut, 
dann fragten sie nach dem Frühstück. Einstweilen trat Loris Kammerzofe 
ein und brachte das Frühstück auch für Lieselotte, Dann mußten sie weiter- 
echlafen. Es schlug neun Uhr und sie wurden angekleidet. Sie durften dann 
in den Hof gehen. Dann mußten sie zum Mittagessen gehen. Dann fuhren sie 
mit den Dienern in die Stadt zur Schneiderin, denn beide bekamen ein neues 
Kleid und neue Schuhe. Als sie das Kleid bekamen, kostete es sechzig Schil- 
ling. Und sie mußten dann mit den Kleidern nach Hause fahren. Als sie dort 
angelangt waren, ließen sie sich ankleiden und von den Eltern anschauen. 



Schule und Erziehungsleratung i ka 



Es gefiel den Eltern gut und es wurden noch zwei Kleider bestellt Das eine 
wurde aus blauer Seide verfertigt, das andere aus rosa mit Gold bestickt Es 
sollte auch das andere so bestickt werden. Auch das war sehr schön Aber"das 
erste Kleid hatte Lieselotte und Lori besser gefallen. Nun mußten sie sich den 
Namen hineinsticken lassen, denn sonst kann man es nicht unterscheiden 
welches für Lon und welches für Lieselotte war. 

An einem Sonntagmorgen war Loris Geburtstag. Sie war heute 13 Jahre 
Lieselotte hatte in zwei Wochen auch Geburtstag. Sie durften die neuen 
Kleider anziehen und die neuen Schuhe auch. Es wurden Grafen und Könige 
eingeladen. Sie brachten Lori viele Geschenke mit, auch Lieselotte brachte 
Lori ein Geschenk. Sie war sehr erstaunt, daß ihre Freundin Lieselotte ein 
Geschenk brachte. Sie schenkte Lori einen kleinen Hund namens Flocki der 
war drei Monate alt und sah noch nicht. 

Nun hatte jeder ein großes Spielzeug, Lori den Flocki und Lieselotte den 
Pipsi. Sie spielten jeden Tag mit den Tieren, sie wollten oft nicht in die 
Schule gehen wegen der Tiere. Aber einmal kam der Lehrer und sagte, daß 
Lori und Lieselotte schon drei Tage nicht in der Schule waren. Da sagte der 
König: „Das lassen Sie meine Sache sein, denn jetzt müssen sie schon in die 
Schule gehen. Ich werde ihnen jetzt die Tiere wegnehmen und sie ihnen fünf 
Tage nicht geben." Als das der Lehrer hörte, ging er zufrieden weg. Am 
nächsten Tag mußten sie um acht Uhr aufstehen und in die Schule gehen, die 
war gleich im nächsten Stock. Endlich fing die Stunde an. Sie hatten zwei 
Stunden Rechnen. Lori hatte nichts gekonnt und Lieselotte sagte ihr die 
Rechnung ein, so daß sie es herausstieß vor lauter Freude. Der Lehrer hört© 
es und fragte, was geschehen sei. Keine sagte etwas und da sagte der Lehrer 
zu Lori, daß sie ein Dummkopf sei. Lori merkte sich das Wort und erzählte 
es ihrem Vater. Der schimpfte mit dem Hauslehrer, er sollte entlassen wer- 
den. Der Lehrer nahm sich das sehr zu Herzen und sagte es nie mehr zu den 
Prinzessinnen. Nun mußte er immer Durchlaucht sagen , , ." 

Im weiteren wird das glückliche Leben der beiden Freundinnen 
geschildert, wie man es sich von den Prinzessinnen im Märchen vor- 
stellt. Am Schluß des Kapitels hört man von der Ankunft einer Tante: 

Sie gingen in das Schlafzimmer mit dem König und sahen dort die Tante 
schlafen. 

8. K a p i t e 1 
Nun traten sie in das Schlafzimmer und sahen die Tante schlafen Sie 
erschrak, und als sie sah, daß es ihr Bruder war, lispelte sie ihm etwas zu 

i-l%.r'^? u"^ """"^ ^'° ^°"^^ ^'"^" ^°^°' "^^ß ^^ da^ abgehen ließ, daß 
die Schwester ihm etwas zulispelte. Sie ging ganz rot aus dem Zimmer, doch 

die Kinder machten mit der Mutter den Weg in das Schlafzimmer. Die Nacht 

ZltT T T.' '^' ""'"'^^ '"^^^° ^^" S=^"^^" Tag und Nacht hei 
Ihrer Mutter. Sie spielten jetzt miteinander, denn sie hatten jetzt einen Vogel 
Pipsi und einen Hund namens Flocki. Mit diesen spielten s e immer AI e 
sechs Uhr früh wurde, wurde der König wach, zog sich an und ging zu se ne 
Frau. Sie war wach, aber sie wollte haben, daß ihr Mann erschrecken soUte 



160 Editha Sterba 



Aber er setzte sieh neben ihr Bett und wartete, bis sie erwachen sollte. Dann 
mußten die Kinder weggehen in den Garten. Sie taten es und er setzte sich 
auf den Seseel. Endlich schlug sie die Augen auf und schaute. Der König war 
sehr froh und sagte ihr die Wahrheit, was denn seine Schwester gesagt hatte: 
„Sie wollte eben haben, daß du das Land verlassen eoUtest, denn sie möchte 
gerne in dem Lande herrschen und regieren." Er aber hatte auf eine Antwort 
gewartet. Sie gab keine und er verließ schweigend das Zimmer. Sie packte 
alle ihre Sachen und ohne Abschied fuhr sie weg. Sie hatte am Fuße einen 
Fleck, der durch die Strümpfe durchschimmerte. Am nächsten Tag wollte der 
König in ihr Zimmer gehen und nachsehen, was mit seiner Gattin geschehen 
sei. Als er die Ziramcrtür öffnete und sah, daß ein leeres Bett da war, er- 
schrak er heftig und bekam einen Anfall, So verging der zweite Tag. 

9. Kapitel 

Nun wurden die Kinder auch wach und zogen sich an und gingen zu Papa. 
Die Schwester hieß Elfrieda und ihr Bruder, der König, Karl, Karl sagte 
Elfi nichts, denn sie hätte darüber gelacht, wenn er sich kränkt. Er zeigte es 
auch nicht den Kindern. Da ging an einem Nachmittag Tante mit den Nichten 
spazieren, da kam ihr ein Diener entgegen und sagte, daß die Schwägerin 
fort war. Sie tat erst, als wäre sie ganz erschrocken, doch dann ging sie 
wieder nach Hause und war froh, daß ihre Schwägerin jetzt fort war. Die 
Kinder gingen erst um acht Uhr schlafen. Denn sie wollten es nicht Vater 
sagen, daß es der Diener ihnen gesagt hatte. Sie waren sehr verschwiegen, 
bis endlich Papa eintrat und sah, daß die zwei weinten. Er kam langsam 
näher und endlich ging er immer rascher herbei, bis er endlich bei Lori war. 
Er fragte sie ganz leise, was denn geschehen sei. Lieselotte deutete immer 
auf Lori und Lori auf die Lisi, Denn sie konnten es nicht sagen, sie waren 
Ja so erschrocken. Endlich ging Lieselotte hin und bot ihm einen Platz an. 
Er setzte sich gerne nieder, denn er war sehr gespannt und aufgeregt. Was 
Lori sagte, stimmte und Lisi war still. Endlich begann auch Lieselotte zu 
erzählen, was sie gesehen und gehört hatte. Sie sagte auch, daß sie gesehen 
hätte, wie die Königin zusammengepackt und beim Tor hinausgefahren sei. 
Er erschrak heftig und schloß manchmal die Augen vor Schmerz. Sie sagte, 
daß seine Frau gesagt hätte, wenn sie es verrate, wo sie hingefahren sei, 
bekäme ich nichts mehr von ihr und sie wirft sie hinaus. Er erhob sich vom 
Sessel und ging elend davon. 

10. Kapitel 

Jetzt waren die zwei Mädchen allein und Vater weggegangen. Er kam 
aber nochmals zu Lori und Lieselotte und übergab ihnen das Reich. Er nahm 
14 Diener mit und ließ sich sein Gewand einpacken und Geld, er ließ sich 
Pferde satteln und vor den Wagen spannen. Er stieg ein und fuhr davon. Die 
Tante lag im anderen Zimmer und hörte, was Lori and Lieselotte sagten: 
„Wir werden zu Tante sagen, sie soll unser Schloß verlassen und soll ihrem 
Bruder nachfahren." Sie .sagten es, wie sie es gedacht hatten. Auch Tante 
Elfriede verließ das Land, nahm sich Diener auf und Gewand, Pferde und 



Schule und Erziehungsberatung 



161 



ihr Geld. Sie wollte mit ihrem Bruder gehen und ihn zu ihrem Gemahl 
machen. Sie gab den Kindern noch zwei Kleider und Zuckerwaren. Sie nahm 
sich vier Diener, eine Kutsche und sechs Pferde mit. Sie gab ihnen noch 
ein Gedicht auf, das sie lernen sollten und immer sagen, so oft sie an Eltern, 
Tante, Onkel dachten. Lori aber hatte jetzt viel zu tun, denn sie mußte jetzt 
das Land regieren. Hans, ihr Bruder, war jetzt schon weit fort und sie wollte 
es ihm nicht schreiben. Hans durfte jetzt nicht mehr zu ihnen nach Hause, 
denn er war über der Grenze. Auch war er schon gewohnt, jetzt allein zu 
sein. Jetzt war jeder in seinem Zimmer und sie legten sich nieder. 

11. Kapitel 
Nächsten Morgen war Lori schon zeitlich aufgestanden und ging ins 
Zimmer von Lieselotte. Sie fragte immer Liesl, was für Gesetze sie geben 
und was sie in Versammlungen vorbringen sollte. Da kam Post, daß in der 
Nähe Krieg wäre. Sie war ganz erschrocken und wußte nicht, was sie machen 
eollte. Auch lief sie schnell zu Lis! und erzählte, daß in der Nähe Krieg 
w&re. Lieselotte erschrak auch und sie wußten nicht, was sie machen sollten. 
Lori ging zu einem Diener und er sollte sagen, daß die Leute so schnell 
als möglich zu einer Versammlung kommen sollten. Er mußte blasen und 
trommeln und laut rufen, daß die Leute alle zum König kommen sollten. In 
einer halben Stunde war alles beim Tor versammelt. Einer drängte den 
anderen auf das Gittertor. Der Diener lief dann in den Garten und fragte 
ob alle Menschen echou hinein dürfen. Lori und Lieselotte zogen sich schnell 
an und gingen in den Hof. Sie hatten die schönsten Kleider an und als die 
Leute sahen, daß die Königin und der König nicht heraustraten, sondern die 
zwei Mädchen, waren alle sehr entzückt und vergaßen ganz auf den Krieg. 

Im 12. Kapitel wird breit und ausführlich geschildert, wie die 
beiden Mädchen gemeinsam Krieg führen und wie schrecklich es 
dabei zugeht. 

13. K a p i t e 1 

Nach dem Krieg flüchteten Lori und Lieselotte nach Kärnten. Als sie 
zum Wegreisen fertig waren, gingen sie zum Bahnhof. Sie wurden sehr 
freundlich aufgenommen. Sic kauften sich ein Schloß und sie lebten glück- 
lich. In späterer Zeit hielt Lori Hochzeit, sie fuhr mit ihrem Gatten nach 
Wien. Sie fuhren nach Italien und Lieselotte mußte ganz allein im Schlosse 
bleiben. An einem Nachmittag ging Lieselotte spazieren, sie hatte Lori und 
ihren Gatten mit einem Auto gesehen. Sie lief bei dem Tor heraus. Nach 
späterer Zeit hielt auch Lieselotte Hochzeit. Sie lebten gut und Lieselotte 
kaufte sich dann ein Schloß. Und sie lebten sehr gut. 

14. Kapitel 

Lori fuhr mit ihrem Mann nach Asien und Lieselotte fuhr mit ihr Lori 
und Lieselotte hatten jetzt Kinder, es ging ihnen sehr gut. Ihren Kindera 
ging es gut, sie hatten Kindermädchen und einen Hauslehrer. Die Kinder 
waren jetzt sechs Jahre und sie gingen in die erste Klasse. Nach längerer 



162 Editha Storba 



Zeit waren sie in der Hauptschule und sie gingen mit dem Lehrer auf einen 
Ausflug. Nach längerer Zeit gingen sie nicht mehr in die Schule, 

Das Material dieser Geschichte ist deutlich und wir wollen zusam- 
menfassen, was wir über Fridas Schwierigkeiten daraus erfahren. 

Es fällt wohl sofort auf, daß im Zentrum dieser Geschichte die 
beiden Kinder Lieselotte und Lori stehen und daß dies deutlich der 
häuslichen Situation Fridas mit dem Pflegekind entspricht. Das kann 
als weiterer Beweis gelten, daß die wichtigsten Konflikte Fridas um 
diese Situation herum gruppiert sind. Vielleicht wird mancher fragen, 
ob es nicht. einfacher gewesen wäre, dem Kind gleich zu sagen, daß 
alle seine Schwierigkeiten Folgen der Aufnahme des Pflegekindes, 
der Kränkung darüber und der Eifersucht auf Lina gewesen wären. 
Man hätte sich die Gefahr des Auslebens der Aggressionen in der 
Schule ersparen können, man hätte die wochenlange, mühevolle 
Arbeit mit dieser Geschichte und die Erklärungen dazu vermeiden 
können, wenn man Frida diese Zusammenhänge gleich gezeigt hätte. 
Aber an zwei wichtigen Episoden im Verlaufe der Erzählung zeigt 
sich, daß dem ganzen Konflikt ein anderes, tieferes Problem Fridas 
zugrundelag. Erinnern wir uns an den Beginn des Romans. Zu Beginn 
der Geschichte stirbt Lieselottes Mutter. Wenn auch der Tod der 
Mutter nach der Erzählung die Voraussetzung für die Annahme des 
Pflegekindes ist, so muß man sich natürlich klar darüber sein, daß 
es unzählige andere Möglichkeiten gibt, die Frida sich hätte ausden- 
ken können, um die Aufnahme des Pflegekindes zu motivieren. Das- 
selbe Motiv wiederholt sich in einem späteren Kapitel. Da vertreibt 
die Schwester des Königs, die Tante der Kinder, die legale Königin, 
die Mutter. Der König folgt ihr zwar nach, aber zunächst wird doch 
wieder die Mutter beseitigt. Man erinnert sich daran, daß Frida immer 
besonders böse auf die Mutter war. „Sie haut gleich, mit dem Vater 
ist sie gut", sagt sie. Trotz des Böseseins gegen beide Eltern, sahen 
wir doch deutlich einen Unterschied in diesem Bösesein. Von der 
Mutter will Frida gar nichts wissen, auf den Vater ist sie bös, weil 
■er ihr das Pflegekind vorzieht und sie für dumm hält. Die Mutter soll 
also am liebsten gar nicht da sein, sie soll fort sein, wünscht sie, und 
dieser Wunsch erfüllt sich in der Geschichte. Interessant ist auch, daß 
•die Mutter im Anfang der Geschichte den Tod findet, weil' sie nicht 
gut genug auf das Kind aufgepaßt hat. Der Tod ist gleichsam die 
Strafe für ihr Verhalten zum Kind, was wir aus Fridas häuslicher 
Situation verstehen können. 

Im Vordergrund des ganzen Romans steht die Beziehung zwischen 
Lieselotte und Lori, die Fridas häuslicher Situation, zur Zeit als das 
Pflegekind Lina da war, entspricht. In der echten Prinzessin Lori 



Schule und Erziehungsberatuiig ]ß3 



Stellt Frida sich selbst dar, die Bettelprinzeß ist das Pflegekind Lina. 
Frieda identifiziert sich mit Lori, die sie alles erleben läßt, was sie 
selbst erlebt hat. Es fällt gleich zu Beginn der Geschichte auf, daß 
Frida für Lieselotte besonderes Interesse zeigt. Man merkt nur ganz 
am Anfang die Ablehnung, die sie in Wirklichkeit gegen das Pflege- 
kind hatte, und zwar da, wo Lori Lieselotte zur Dienerin nimmt. 
Später gibt eine Fehlleistung über ihre innere Stellung zu Lieselotte 
Aufschluß. Im. 3. Kapitel heißt es: „Lieselotte mußte zum König gehen 
und auch zu Lori und fragen, warum sie auf mich (es sollte heißen: 
auf sie) einen Zorn hatte.*' Wir sehen, Frida versetzt sich offenbar 
auch an Lieselottes Stelle, an die Stelle des Pflegekindes. Wenn wir 
uns Fridas Verhalten zu Anfang des Berichtes vergegenwärtigen, 
erscheint uns das nicht so unverständlich. Sie beneidet ja Lina so sehr 
xim ihre Ausnahmsstellung, um ihr gutes Lernen, sie will nur in der 
Schule antworten, wenn sie es sicher richtig weiß, möchte also alles 
richtig wissen. 

Einerseits identifiziert sie sich mit der schlimmen Lori, die all das 
Böse tut, was sie getan hat, die sehimpft, Bettelprinzeß sagt und die 
Türen zuhaut, daß alles zittert, der der Vater aber auch nicht Antwort 
gibt, wenn sie ihn etwas fragt. Anderseits identifiziert sie sich aber 
auch mit Lieselotte, in deren Schicksal sie alle ihre Wünsche dem 
Vater (König) gegenüber erfüllt. Denn wir wissen ja, daß er sie für 
gescheit und fleißig halten und sie loben soll. Und wenn der König 
sogar die Königin, ohne ein Wort mit ihr zu reden, stehen läßt, um 
sich von Lieselotte trösten zu lassen, so können wir daraus ent- 
nehmen, daß Frida noch mehr will als die bevorzugte Stellung des 
Pflegekindes Lina beim Vater. Frida will beim Vater auch die Mutter 
Terdrängen, sie will ihn allein für sich haben. Auch was sie mit dem 
Vater vorhat, können wir aus der Geschichte entnehmen. Wenn die 
Tante sich Pferde, Gewand, Geld und Diener nimmt, um ihren Bruder 
zu heiraten, zu ihrem Gemahl zu machen, wie es in der Geschichte 
heißt, so dürfen wir das gewiß auf Fridas Wünsche beziehen, die sie 
an der Tante in der Geschichte in Erfüllung gehen läßt. Denn die 
Tante will auch den König heiraten, nachdem sie die Mutter, die 
Königin, beseitigt hat. Wir dürfen die verbotene Heirat Bruder — 
Schwester zu den Wünschen, die Frida ihrem Vater gegenüber hegt, 
in Parallele setzen. Besonders hübsch ist die symbolische Darstellung, 
die diesen Vorfall einleitet. Die Schwester flüstert dem Bruder, dem 
König, ein Geheimnis zu, daraufhin wird die Königin so böse, daß 
sie fortgeht. Das Geheimnis ist die symbolische Darstellung des Ver- 
botenen zwischen König und Tante, was auch sofort von der Königin 
verstanden wird. 



164 Editha Sferba 



Aber auch im Verhalten des Königs zu Lieselotte zeigt Frida, wie 
eich der Vater nach ihren Wünschen zu ihr verhalten sollte. Der 
König liebt Lieselotte besonders, zahlt den Dienern weniger Lohn, 
weil sie Bettelprinzeß sagen, er nimmt alle Anklagen gegen Lieselotte 
nicht zur Kenntnis und zieht sie sogar seiner Frau vor. Wir sehen 
also, hinter Fridas Enttäuschung und Eifersucht wegen des Pflege- 
kindes Lina stecken viel tiefere, unerfüllbare Wünsche. Sie will die 
Mutter beseitigen und den Vater für sich allein haben. 

Bevor wir nun darauf eingehen, wieviel die Geschichte zum Ver- 
ständnis von Fridas Schwierigkeiten beiträgt, soll noch auf ein wich- 
tiges Moment hingewiesen werden, das im Verlaufe der ganzen Ge- 
schichte besonders deutlich wird. Wie erinnerlich, ist Lori zuerst mit 
den königlichen Eltern so böse und ungezogen, wie Frida es in Wirk- 
lichkeit auch noch zu der Zeit war, als sie den Roman zu schreiben 
begann. An einer Stelle des Romans, dort, wo es heißt: „Deinetwegen 
sollte ich Lieselotte weggeben", tritt eine entscheidende Wendung ein. 
Lori, also Frida, verspricht Besserung und hält ihr Versprechen. Es 
gibt nie mehr Streitereien zwischen den beiden und das Problem 
Frida-Lina mit all den tiefer liegenden Problemen der Beziehung zu 
Vater und Mutter scheint wirklich erledigt. Ja der Schluß der Ge- 
schichte, in dem beide Eltern in den Hintergrund treten, die Kinder 
selbst regieren, dann heiraten und eigene Kinder haben, scheint alle 
unsere Forderungen, die wir an eine normale Entwicklung eines Kin- 
des zum Erwachsenen stellen, zu erfüllen. Die konflikterzeugende 
Beziehung zu den Eltern versehwindet, der Analytiker würde sagen, 
der Ödipuskomplex scheint erledigt. Die kleine Frida hat eingesehen, 
ein kleines Mädchen kann den Platz der Mutter nicht einnehmen, sie 
kann sie nicht beseitigen und den Vater für sich beanspruchen, aber 
sie kann heiraten, wenn sie erwachsen ist und selbst Kinder haben. 

Es wird auch verständlich, warum die entscheidende Wendung in 
Loris Verhalten zu Lieselotte eintritt, nachdem der König gesagt 
hatte: „Deinetwegen sollte ich Lieselotte weggeben." Sie versteht 
plötzlich, daß sie bei Fortsetzung ihres bisherigen Verhaltens Gefahr 
läuft, die Liebe des Vaters gänzlich zu verlieren, es träte also gerade 
das Gegenteil von dem ein, was sie durch ihr Verhalten erreichen 
wollte, nämlich die Abwendung des Vaters vom Pflegekind und die 
Zuwendung zu ihr selbst. So wählt sie als Ausweg die Versöhnung 
mit dem Pflegekind, mit dem sie bisher rivalisiert hatte, und gleicht 
sich in ihrem Verhalten dem Pflegekind an, um auf dem Wege über 
diese Identifizierung die L-iebe des Vaters auf sich zu ziehen. Sie 
genießt dann in der Phantasie gemeinsam mit dem Pflegekind alles 
das, worum sie das Pflegekind vorher so beneidet hatte, ohne aber 



Schule und Erziehungsberatung 



165 



durch ihr Verhalten und ihre Rivalität zum Pflegekind den Vater zu 
kränken und sich zu entfremden. 

Die große Veränderung, die dem Verhalten Loris im Roman ent- 
sprach, ging auch äußerlich im Verhalten Fridas während und nach 
Abschluß dieses Romans vor sieh. Diese Änderung ist aber sicherlich 
nicht allein aus der Tatsache des Sich aussprechen- und Ausleben- 
könnens im Roman zu erklären. Um sie zu verstehen, muß noch 
einiges von den Begebenheiten dieser Zeit nachgetragen werden. 

Frida war Ordnerin. Eines Tages erschien sie bei der Lehrerin 
und sagte, eine andere möchte das Amt gerne übernehmen, sie über- 
läßt es ihr. Auf die Frage der Lehrerin, ob Frida sich nicht kränke, 
dieses Ehrenamt zu verlieren, schweigt sie trotzig: Da zeigt ihr nun 
die Lehrerin, wie sie wieder absichtlich dieselbe Situation wie zwi- 
schen sich und Lina zu Hause schafft, obwohl sie doch ihr Amt be- 
halten durfte. Es müsse einen Grund haben, daß sie es immer wieder 
darauf anlege, sich als Verdrängte zu fühlen und dann trotzig zu 
sein. „Ja", meint Frida da, „weil ich immer schlechtes Gewiesen hab', 
weil ich alles für mich will." Da konnte ihr nun die Lehrerin aus 
ihrer Kenntnis der ersten Kapitel des Romans zeigen, freilich ohne 
ihn ausdrücklich heranzuziehen, daß sie eben immer aus schlechtem 
Gewissen wegen ihrer Wünsche diese Situation herbeiführen wolle. 
Das wurde bei allen Gelegenheiten besprochen, die sich dazu boten. 
Frida verstand und verarbeitete diese Erklärungen, wie der weitere 
Verlauf des Romans zeigt. 

Ebenso wiederholte sie durch ihr Verhalten den Kindern gegen- 
über, durch ihre Eifersucht auf jedes Kind, das sie von der geliebten 
Lehrerin bevorzugt glaubte, ständig die Situation zu Hause mit der 
Pflegeschwester. Da sie durch ihre Nörgeleien, ihren Gereehtigkeits- 
fanatismus die ganze Klasse in Aufruhr brachte, konnte ihr die 
Lehrerin verständlich macheu, daß sie durch dieses Verhalten mit der 
Zeit Gefahr laufe, die Achtung und Zuneigung der Lehrerin zu ver- 
lieren, wie sie wohl auch zu Hause Liebe und Achtung des Vaters 
wegen ihres Benehmens gegen Lina eingebüßt hatte. Daß sie das ver- 
standen und verarbeitet hat, sehen wir auch im Verlauf des Romans. 
Lori wird brav, nachdem sie eingesehen hat, daß der Vater, der König, 
sie nicht mehr liebhaben kann, weil er ihretwegen beinahe Lieselotte 
weggeben muß. An dieser Stelle des Romans sehen wir ganz deutlich, 
wie stark Fridas eigenes Erleben an der Gestallung der Geschichte 
beteiligt ist. Es heißt dort: „Lori wurde blaß und fragte sich 
erstaunt, warum. Da fiel ihr endlich ein, daß sie doch immer tratschett 
ginge und daß das den Vater so nervös mache." 



166 Editha Stcrba 



Die grundlegende Änderung in Fridas Verhalten dürfen wir wohl 
auf die oft wiederholten Erklärungen der Lehrerin über die darge- 
stellten Zusammenhänge zurückführen. Alle Veränderungen zum 
Guten, die sich im Laufe der Geschichte zeigten, trafen dann auch in 
Wirklichkeit ein. Frida bleibt weiter eine gute Schülerin, ihr Ver- 
halten zu Hause und zu den Kolleginnen war genau wie das der brav 
gewordenen Lori im Roman. Sie zeigte offenbar kein Verlangen mehr, 
ihre Aggressionen in der Schule auszuleben, auch zu Hause eteilte 
sie sie ganz ein; sie war auch nicht mehr trotzig, und die Beziehung 
zur Lehrerin gestaltete sich am Schluß ganz natürlich. Die Lehrerin 
konnte sie ohne Schwierigkeiten wie ein normales Kind behandeln. 
Wir wollen nun untersuchen, welche Veränderungen im Triebleben 
des Kindes zu der Störung geführt haben, und wie diese Veränderun- 
gen im Verlauf der Arbeit mit dem Kind verstanden wurden. Der 
Trotz der kleinen Frida, die mit niemandem reden wollte, weil sie 
auf die Eltern so böse war, entstand vor allem dadurch, daß die Eltern 
alle Aggressionen des Kindes sehr streng unterdrückten. Es blieb 
Frida also nur der Ausweg in ein trotziges Sich-vön-der-ganzen- 
Welt-Abschließen. Warum war aber Frida so aggressiv? Die letzten 
Ursachen für das Entstehen dieser Aggressionen können wir aus dem 
vorliegenden Berieht nicht entnehmen, wir wissen nur, Frida war so 
böse, weil das Pflegekind ins Haus kam, in tieferer Schicht, weil sie 
die Mutter weg und den Vater für sich allein haben wollte. Dieser 
Wunsch mag bei dem einzigen Kind infolge großer Verwöhnung schon 
vor der Schulzeit sehr stark gewesen sein. Ich erinnere an eine Ant- 
wort, die Frida selbst gegeben hat: „Nur die Erzieherin war schuld, 
die hat Lori so verwöhnt." Gerade als zur Schulzeit die ersten Schwie- 
rigkeiten auftauchten, als die Eltern das Verwöhnen des Kindes, dessen 
schlechte Wirkung sie einzusehen begannen, abschwächen wollten, 
kommt das Pflegekind ins Haus. Welche Wirkung dieses Ereignis 
gerade zu diesem Zeitpunkt haben mußte, haben wir alle aus Fridas 
Bericht und aus der Geschichte entnommen. Frida ist wütend, zornig, 
aggressiv, lernt nichts. Da werden nun die Eltern ganz böse, sie 
wollen sofort mit Strenge alles beseitigen; überdies wird Frida zu 
dieser Zeit in ein Heim geschickt, was sie als besondere Lieblosigkeit 
und Strafe empfinden muß. 

Bevor ich zu all den Triebkonflikten des Kindes vom Standpunkt 
des Analytikers Stellung nehme, möchte ich noch mit ein paar Worten 
das Verhalten der Lehrerin und ihr Vorgehen zusammenfassen. Zu- 
erst war die Lehrerin nur freundlich und passiv, so daß dem Kind 
nach Herstellung einer guten Beziehung es ein leichtes war, seine 
Erlebnisse zu Hause in der Schulsituation zu wiederholen. Diese 



Schule und Erziehungsberatung 167 



Wiederholung der häuslichen Konflikte ging aber gleich mit einem 
Fortschritt Hand in Hand. Die freundliche Duldsamkeit der Lehrerin, 
die keine Spur von Strenge und Unterdrückung zeigt, holte die dem 
Trotz zugrundeliegenden. Aggressionen hervor. "Wesentliche weitere 
Fortschritte brachten das Schreiben des Romans und die Erklärungen, 
die daran geknüpft werden konnten. Damit gab die Lehrerin Frida 
einerseits Gelegenheit, viele Aggressionen in der Geschichte abzu- 
reagieren, anderseits gelang es ihr, durch das in der Geschichte ge- 
wonnene Material dem Kind wesentliche Ursachen seiner Konflikte 
zu zeigen und es dazuzubringen, die Konflikte in der dargestellten 
Art und Weisp zu erledigen. 

Vom Standpunkt des Analytikers muß ich zu dem Bericht dieses 
Falles aber sagen, daß man über die letzten Grundlagen dieser Lern- 
störung, über ihr Zustandekommen, nicht sehr viel erfahren hat. Wir 
können zwar als ziemlich sicher annehmen, daß das Kind sich von 
vornherein in einer sehr schwierigen Situation Vater und Mutter 
gegenüber befand und daß die Aufnahme des Pflegekindes zum Aus- 
bruch der Störung den letzten Anstoß gegeben hat. Ein Moment ist 
aber ganz ungeklärt geblieben, nämlich die zwanghaften Züge im 
Gerechtigkeitsfanatismus der kleinen Frida, in ihrem Trotz und ihren 
A'^gressionen, kurz in ihrem ganzen Verhalten. Zu deren Aufklärung 
hätte es wohl einer tiefergehenden Behandlung in Form einer Psycho- 
analyse bedurft. 

Vom Standpunkt der Lehrerin aus gesehen ist es aber unwichtig, 
zu erfahren, wie diese Störung zustandekam, weiche in früherer 
Kinderzeit etwa etablierten Konflikte daran beteiligt sein mögen. Für 
die Lehrerin genügte es vollkommen, zu erreichen, daß das Kind so 
-ut lernte und alle Schwierigkeiten zu Hause und in der Schule be- 
seitigt waren. Man muß aber bei einem solchen Vorgehen genau 
wissen ^vie und worin es sich von einer Analyse unterscheidet, man 
muß wissen, daß man die Konflikte des Kindes und die daraus ent- 
standenen Symptome durch die gegebenen Deutungen zwar oberfläch- 
lich beseitigt, daß aber all das, was in den Schwierigkeiten des Kindes 
ungeklärt und unverstanden geblieben ist, noch vorhanden ist. Die 
Behandlung, die die Lehrerin dem Kind zuteil werden lassen kann, 
hesteht also darin, daß sie ihm in seiner gegenwärtigen Lage den 
besten Ausweg aus den Schwierigkeiten zeigt und ihm hilft, diesen 
Weg erfolgreich zu gehen. 



168 Editha Sterba 



Zweiter Bericht 

Die zwölfjährige Suse besucht die ihrem Alter entsprechende- 
Schulklasse und gilt als eine durchschnittlich intelligente und gute- 
Schülerin; sie fiel niemals irgendwie auf. Sie lernte ganz brar 
und aufmerksam, hatte guten Kontakt mit den Mitschülerinnen und 
hielt in allem das Mittelmaß der Klasse. Gelegentlich einer Eltern- 
versammlung klagte die Mutter des Mädchens einer Lehrerin, wie 
sehr sie zu Hause unter den Ängsten des Kindes zu leiden habe, und 
daß das ganze Familienleben dadurch gestört würde. Bei näherem 
Eingehen auf diese, die Mutter sehr bedrückende Angst des kleinen 
Mädchens erfährt man, daß es sieh nicht nur vor der Dunkelheit, son- 
dern auch vor verschiedenen Tieren fürchtet. Am quälendsten, meint 
die Mutter, sei die Angst des Kindes um die Mutter selbst. Das Kind 
droht ununterbrochen, es werde sieh umbringen, wenn der Mutter nur 
das Geringste passieren würde. Gefragt, wieso das Kind solche Angst. 
um die Mutter habe, meint diese: „Ja, wenn es mit dem Vater wegen 
dem fünfzehnjährigen Bruder zu Streitigkeiten kommt, gehe ick 
immer fort, wenn's mir zu arg wird. Da wirft sich dann die Kleine 
auf die Knie, bittet mich, ich soll sie mitnehmen und nicht zurück- 
lassen." Sie mag auch den Vater nicht, von dem die Szenen oft aus- 
gehen, sie findet, daß er die Mutter gemein behandelt. Die Kleine^ 
meint die Mutter weiter, hat auch beim Schwimmen Angst, obwohl sie 
eine sehr gute Schwimmerin ist. Sie fürchtet immer, sie könnte in den 
Schlingpflanzen steckenbleiben und ertrinken; dasselbe befürchtet sie 
aber auch für den älteren Bruder, der ganz besonders gut schwimmen 
kann. Früher wollte das Mädchen auch bei Tag nicht einmal allein 
ausgehen und etwas besorgen oder sonst etwas außerhalb der 
elterlichen Wohnung unternehmen. Als sie in der vierten Volksschul- 
klasse war, gab es einmal mit dem Bruder wegen irgendeiner Nichtig- 
keit einen Streit, der besonders heftig wurde. Die Mutter sagte: 
„Macht euch das allein untereinander aus, ich geh' fort." Suse fiel 
gleich auf die Knie, beschwor die Mutter, dazubleiben, gab dem Bru- 
der sofort in allem nach und war seitdem mit dem Bruder immer ver- 
träglieh. Von da an aber hatte sie große Angst vor der Dunkelheit; 
vor Tieren fürchtete sie sich schon seit dem zweiten Lebensjahr. Die^ 
Mutter bringt die Angst auch mit den Prügelstrafen, die der ältere 
Bruder erhält, in Zusammenhang. Das Mädchen selbst wird nie ge- 
straft, dazu gibt sie ja keinen Anlaß. Soweit der Bericht der Mutter. 

Die Lehrerin gab mm dem kleinen Mädchen Gelegenheit, ihr von 
ihrer Angst zu erzählen, was sie ohne Widerstände mit sichtlicher 
Erleichterung tut. Sie berichtet gleich, daß sie immer meint, jemand. 



Schule und Erziehungsberatung 169 



ein Unbekannter, gehe hinter ihr. Vielleicht ist es im Dunkeln einer 
mit dem Revolver, der auf sie schießen könnte. Sie hört im Finstern 
in der Nacht immer seltsame Geräusche, etwas krabbelt, meint sie. 
Wenn es am Tag Streit gegeben hat, schläft sie dann in der Nacht 
■darauf sehr unruhig und träumt von den Streitszenen. Sehr oft, so 
erzählt sie, träumt sie auch von Feuer und Flammen. Wenn die Mutter 
am Abend nicht zu Hause ist, kann sie aus Angst gar nicht ein- 
schlafen. Aber oft kann sie auch aus Angst, daß ihr selbst etwas pas- 
eieren könnte, nicht einschlafen. Unaufgefordert erzählt sie gleich bei 
der ersten Unterredung drei Erinnerungen aus der Kinderzeit, vreil 
ihr die so einen besonderen Eindruck gemacht haben, wie sie sagt. 

1. Mit sechs Jahren hat sie einen Spielkameraden gehabt, sie haben miteinander einen 
Papierwurstel in die Ehebetten der Eltern gelegt und ihn so lang als möglich auseinander- 
gezogen; 

2. mit fünf Jahren hatlen die Großeltern silberne Hochzeit, der ältere Bruder durfte 
sich auf der Violine produzieren, es gab eine gute Mehlspeise mit viel Schlagobers; 

j. mit vier Jahren hat sie bei einem Elfenreigen im Kindergarten mitgetanzt, da hat 
sie ein Spielhoserl angehabt, wie ein Bub. Sie war überhaupt nur mit Buben zusammen. 

Gleich danach kommt sie auf das Feuer zurück. Die Mutter hat 
auch einmal, als sie in die vierte Klasse ging, beim Kochen Feuer 
gefangen, so daß sie ganz in Flammen gehüllt war. In der Nacht hat 
sie große Angst vor Feuer, sie sieht immer zwei rote Tupferin*). Sie 
malt sich dann aus, wie ihr Zimmer verbrennt, wie sich alle retten. 
Mit besonderem Vergnügen stellt sie sich vor, wie sie selbst zuerst ins 
Sprungtuch springt. An dieser Stelle endet die erste Aussprache mit 
der Lehrerin, diese hat schweigend zugehört, nur am Schluß versucht 
sie dem Kind zu zeigen, daß doch alle diese Ängste mit den wirklichen 
Vorgängen in der Außenwelt nichts zu tun hätten und also offenbar 
mit verschiedenen, dem Kind selbst unbekannten Gedanken zusam- 
menhängen müßten. Die Neugierde Susis für diese „unbekannten 
Gedanken" zu wecken, ist das Ziel, das die Lehrerin in den Unter- 
redungen verfolgt. 

Als das Kind nach einigen Tagen Gelegenheit hat, ein paar Worte 
mit der Lehrerin zu wechseln, erklärt es, die Angst habe schon sehr 
abgenommen. Trotzdem wird nach gründlicher Besprechung dieser 
Ängste mit dem Kinderanalytiker das Kind in eine analytische 
Behandlung geschickt, in der es gelang, die störenden Symptome auf- 
zuheben. 

Nun soll uns das Problem, das dieser Fall bietet, beschäftigen. 
Warum wurde der Lehrerin geraten, das Kind in eine Analyse zu 
schicken? Was veranlaßte uns, diesen Schluß aus den Beobachtungen 

1) Punkte. 



170 Editha Sterba 



und Mitteilungen zu ziehen? Wenn wir uns zunächst die Mitteilungen, 
die wir in den Aussprachen mit Mutter und Kind erhielten, vor Augen 
halten, scheint diese Lösung durchaus nicht sofort gegeben; es sei 
denn, man wäre der Meinung, man solle Kinder mit solchen Ängsten 
überhaupt von vornherein nur in psychoanalytische Behandlung 
schicken. Überlegen wir einmal: Mutter und Kind haben eine gute 
Beziehung zur Lehrerin. Das Kind lernt so gut, daß eine Störung 
im Unterricht auch bei irgendeiner Veränderung im Verhalten der 
Lehrerin nicht zu befürchten wäre. Mutter und Kind wollen sich gerne 
helfen lassen, und wir haben außerdem so viel anscheinend klares, 
analytisches Material vorliegen, daß wir uns über die inneren Kon- 
flikte des Kindes gut ein Bild machen können. Warum sollte also die 
Ijehrerin nicht versuchen, sieb innerhalb des Rahmens der pädagogi- 
schen Arbeit ein wenig mit dem Kind zu beschäftigen und ihm auf 
diese Weise helfen? Überlegen wir, was sich aus dem Material mit 
Sicherheit schließen läßt. 

Was die Angst des Kindes um die Mutter betrifft, so wissen wir, 
daß hinter einer solchen Angst meist böse Wünsche verborgen sind, 
die sich gegen das Leben der Mutter richten. Wir erfahren dazu, daß 
die Kleider der Mutter einmal beim Kochen in Brand geraten sind, so 
daß sie ganz in Flammen stand; sie war also beinahe wirklich ver- 
brannt. Wenn die Kleine einerseits Angst vor dem Feuer hat, anderer- 
seits das Verbrennen des Zimmer und ihre Eettung durch den Sprung 
ins Sprungtuch phantasiert, so verstehen wir, daß ihre Feuecangst 
mit der Angst vor der Verwirklichung ihrer bösen Wünsche gegen 
die Mutter zusammenhängt, die wirklich in Feuersgefahr gewesen 
war. Auch fürchtet sie, daß ihr selbst zur Strafe für ihre bösen 
Wünsche das zustoßen könnte, was sie der Mutter vrünscht. Wenn 
Suse die Mutter nicht fortläßt und sich aus Angst um die Mutter selbst 
umbringen will und ftlrchtet, ihr selbst könnte in der Dunkelheit 
etwas geschehen, so werden wir darin die Angst vor der Verwirk- 
lichung der bösen Wünsche sehen; diese drohen ja in Erfüllung zu 
gehen, wenn die Mutter fortgehen oder sich umbringen will. Wie böse 
sie auch auf den Bruder ist, der durch seine Streitereien immer die 
Drohung der Mutter, fortzugehen, auslöst, sehen wir aus ihrer Angst, 
er könnte beim Schwimmen in Schlingpflanzen steckenbleiben, obwohl 
sie weiß, daß er besonders gut schwimmt; Susis Befürchtung, ihr 
könnte, wohl aus Strafe für diese bösen Wünsche, dasselbe zustoßen, 
fassen wir als Vergeltungsangst auf. Die Beziehung zum Bruder ist . 
allerdings unklar; wir hören, in der frühkindlichen Zeit spielte sie 
viel mit Buben, hatte ein Spielhoserl an wie die Buben, wollte offen.- 
bar ein Bub sein. Auf Beobachtungen am Bruder oder an den Ge- 



Schule und Erziehungsberatung 



171 



spielen, vielleicht sogar am Vater, deutet auch der Papierwurstel hin, 
den die Kinder möglichst in die Länge ziehen. Daß sie oft Gelegenheit 
zu nächtlichen Beobachtungen hatte, ivissen wir auch; in der Nacht, 
im Finstern, hört sie unbestimmbare Geräusche, etwas krabbelt. Sie 
ahnt wohl auch, was da vorgeht; wir dürfen dies aus ihrer Angst vor 
dem Verfolger im Dunkeln entnehmen. 

Man könnte vielleicht noch sagen, die Kleine ist auf den Bruder 
böse, weil sie ihn um seinen Mehrbesitz beneidet, er durfte bei der 
silbernen Hochzeit der Eltern Violine spielen, und sie als kleines, 
unbedeutendes Mädchen bekam offenbar nur die gute Mehlspeise; nur 
in der Spielhose im Kindergarten, beim Elfenreigen als Bub, durfte sie 
sich auch produzieren, zeigen darf sich also nur ein Bub. Man könnte 
auch noch weiter vermuten, sie sei böse auf den Bruder, weil die 
Mutter ihn vorzieht und sie sich dadurch als Mädchen benachteiligt 
fühlt. Wäre es also nicht bedeutend einfacher gewesen, dem Mädchen, 
das so zutraulich und offenherzig war, diese Erklärungen als Deu- 
tung in einer natürlich ihrem Verständnis angepaßten Form mitzu- 
teilen und zu sehen, ob die Angst nicht dadurch soweit gemildert 
worden wäre, daß man ohne das schwierige und langwierige Instru- 
ment einer analytischen Behandlung ausgekommen wäre? Wenn diese 
Mitteilungen nichts genützt hätten, hätte man dann danach das Kind 
doch noch immer in Analyse schicken können! Stellen wir uns einmal 
vor die Lehrerin hätte dem kleinen Mädchen gezeigt, es sei böse auf 
die Mutter, es sehe sie immer in Flammen gehüllt wie damals in der 
Küche, sie möchte eigentlich, daß die Mutter verbrennen soll, darum 
habe sie solche Angst um sie, und sie fürchte sich so sehr, es könne 
ihr selber etwas zustoßen, weil sie das als Strafe für ihre bösen 
Wünsche erwarte, was sie der Mutter wünscht. Und ebenso beim 
Bruder. Sie sei böse auf ihn, deshalb solle er nur in den Schling- 
pflanzen steckenbleiben, darum aber habe sie auch solche Angst, ihr 
könnte zur Strafe dasselbe widerfahren. 

Wie hätte das Kind sich daraufhin verhalten? Wenn man glaubt, 
daß das Kind sich durch diese Erklärungen, die uns den Kernpunkt 
der ganzen Ängste zu treffen scheinen, erleichtert gefühlt hätte, ging© 
man wohl sehr fehl. Das Kind wäre entsetzlich erschrocken, hätte die 
"Erklärungen in irgendeiner Form von sich gewiesen und wahrschein- 
lich nie mehr mit der Lehrerin über diese Dinge reden wollen. Die 
gute Beziehung zur Lehrerin wäre auf jeden Fall zerstört gewesen, 
das Kind hätte im Lernen nachgelassen, weil es, wie wir später be- 
gründen werden, eine ablehnende Haltung gegen die Lehrerin einge- 
nommen hätte, und wenn es nach dieser Deutung die früher geschil- 
derten Ängste nicht mehr gezeigt hätte, wäre vielleicht in der Schule 



172 Editha Sterba 



beim Lernen Angst aufgetreten, hätte Suse eventuell in einem oder 
mehreren Gegenständen ganz versagt oder irgendwelche andere Sym- 
ptome produziert. Auch an die Möglichkeit peinlicher Folgen für die 
Lehrerin, wenn das Kind den Eltern von diesen Erklärungen berichtet 
hätte, sollten wir an dieser Stelle denken. 

Ich will hier zuerst einen Einwand entkräften, der bei der Schil- 
derung der voraussichtlichen Wirkung einer solchen Deutung sofort 
auftauchen muß. Man könnte einwenden, die Deutung, wie ich sie hier 
mitteilte, sei viel zu grob und müsse darum auf jeden Fall abgelehnt 
werden. Auch in einer psychoanalytischen Behandlung wähle man die 
Worte, die den Inhalt unbewußter Regungen dem noch nicht ganz 
gewonnenen Ich des Kranken ausdrücken sollen, sehr vorsichtig und 
mit Bedachtnahme auf die zu erwartenden Widerstände. Man könnte 
meinen, Suse solle Zeit haben, sieh an die Todeswünsche gegen die 
Mutter zu gewöhnen. Ich glaube nicht, daß dieser Einwand entschei- 
dend widerlegen kann, daß die an sich richtige Deutung in der gege- 
benen Situation zweckmäßig gewesen wäre. 

Wir werden die Wirkung einer solchen tiefen Deutung nur unter 
Zuhilfenahme theoretischer Kenntnisse verstehen können: Wünsche, 
mit deren Erfüllung ein Teil unserer Persönlichkeit nicht einver- 
standen sein kann und darf, werden gewöhnlich unterdrückt, ver- 
drängt. Wir wollen nun überlegen, was bei dem kleinen Mädchen 
vorgegangen sein mag; versuchen wir also, den Ablauf des Trieb- 
geschehens, als dessen Endresultat wir die Angst, es könnte der 
Mutter etwas passieren, zu sehen bekommen, rückläufig zu ver- 
folgen. Wir nehmen an, sagte ich, daß dieses Kind der Mutter Böses 
wünscht, sogar Wünsche gehabt hat, die zum Inhalt hatten, die Mutter 
möchte wirklich bei jenem Vorfall in der Küche verbrannt sein. Gibt 
■es im Material überhaupt einen Anhaltspunkt, der uns ein Bösesein 
des Kindes auf die Mutter anzunehmen erlaubt? Könnte ein Kind, 
dessen Mutter wirklich einmal fast verbrannt ist, nicht einfach wirk- 
lich Angst um diese Mutter haben, wenn sie immer mit Fortgehen 
•droht? Wir wissen, daß die Trennungsangst von dem geliebten Objekt 
bei allen Kindern in einem gewissen Lebensalter eine ganz große 
Kolle spielt. 

Die große Angst des Mädchens um die Mutter brach nach einem 
-Streit mit seinem Bruder aus. Wegen dieses Streites war die Mutter 
auf Suse sehr böse und drohte mit Fortgehen. Das Kind bat sie darauf- 
bin kniefällig, dazubleiben und erreichte das auch dadurch, daß es 
sofort aufhörte, mit dem Bruder zu streiten. Dies war nicht nur 
«inmal, sondern nach den Berichten der Mutter öfters der Fall, bis die 
.Icleine Suse schlechthin ganz zu streiten aufhörte und gegen den 



Schule und Erziehungsberatung 173 

Bruder immer still und gefügig war. Das Kind mußte mm schon allein 
deswegen gegen die Mutter aggressive Tendenzen entwickeln, weil 
diese es durch ihre Drohung, fortzugehen, zwang, im Streit mit dem 
Bruder nachzugeben. Die Aggression gegen den Bruder aber mußte 
Suse daraufhin unterdrücken und verhalten. Sie durfte also wohl nie 
eine Aggression ausleben, da die Mutter in Erkenntnis der Wirksam- 
keit ihrer Worte gleich bei Entwicklung eines Streites mit Fortgehen 
drohte. Aus Angst, die Mutter zu verlieren, gab Suse dann in ihrem 
Streit mit dem Bruder gleich nach. Einerseits dürfen wir wohl aus 
diesem Verhalten auf eine besonders starke Bindung an die Mutter 
sehließen, die zu verlieren sie so fürchtet, auf der anderen Seite aber 
muß sie natürlich auf diese Mutter böse sein, da sie jede ihrer Aggres- 
sionen gegen den Bruder durch die Drohung unterdrückt. 

Wir sehen bei Suse, wie so oft bei kindlichen Triebeinstellungen, 
Liebe und Haß in der Beziehung zur Mutter ganz nahe beieinander. 
Sie erinnert sieh, daß die Mutter fast verbrannt wäre, hat große Angst, 
sie zu verlieren, von ihr getrennt zu werden, phantasiert aber zu- 
gleich, daß im Zimmer alles verbrennt und sie sieh als Erste ins 
Sprungtuch rettet. Andererseits aber wissen wir auch, daß sich das 
Mädchen diese bösen Wünsche nicht gestattet, denn sie folgt nicht nur 
der Mutter, wenn diese im Streit mit Fortgehen droht, weil sie Angst 
um die Mutter hat, sie hat, wie wir aus ihrer sonstigen Bravheit auf 
allen Gebieten erschließen können, sieher ein sehr strenges Gewissen, 
das Wünsche gegen die Mutter aufs schärfste verurteilt; sie muß 
solche also mit aller Kraft unterdrücken und umso mehr unterdrückt 
halten, als das Fortgehen der Mutter beim Streit zwischen Vater und 
Bruder und der wirklich vorgefallene Brandunfall die Verwirklichung 
der bösen Wünsche so sehr ins Bereich der Möglichkeit rücken. 

Weil das Mädchen also eine so große Angst um die Mutter hat, daß 
sie im Streit immer nachgibt, sooft die Mutter mit Fortgehen droht und 
damit die Erfüllung seiner bösen Wünsche ganz nahegerückt erscheint, 
kann und darf man annehmen, daß diesen intensiven bösen Wünschen 
eine ebenso starke und intensive Abwehr gegenübersteht. Wie intensiv 
die Verurteilung dieser Wünsche ist, geht ja daraus hervor, daß das 
Mädchen sogar an Selbstmord denkt, falls der Mutter je etwas pas- 
sieren würde. 

Was geschieht nun in diesem Triebverlauf, in dem sich der Haß 
gegen die Mutter auf der einen Seite und die Angst um sie und das 
Schuldgefühl wegen der bösen Wünsche auf der anderen Seite halb- 
wegs die Waage halten, wenn wir dem Kind plötzlich den Haß gegen 
die Mutter zeigen, ihn Suee bewußt machen, wo er ihr ja, wie gerade 
ans der Offenherzigkeit hervorgeht, völlig unbekannt und unbewußt 

Zeilsehrift f. psa. Pad., X/3 g 



174 Eclitha Sterba 



ist. Wir machen dem Kinde zwar damit etwas bewußt, was sicher 
irgendwo in ihm vorhanden ist, aber wir vergessen völlig dabei, daß 
wir es beim Versuch einer therapeutisch wirksamen Bewußt- 
machung dieser Todeswiinsche nicht nur mit einer Deutung ihres 
Vorhandenseins zu tun haben, sondern daß wir eine Verschiebung von 
seelischen Kräften erzielen müssen, wenn die Aufnahme der ihnen 
zugrundeliegenden Triebkräfte ins Ich bewirkt werden soll. Wir kön- 
nen nicht erwarten, daß das Kind zugibt, auf die Mutter so böse zu 
sein, daß sie ihr das Verbrennen wünscht, solange die Energien, mit 
denen diese Wünsche niedergehalten werden, nicht durch eine lange 
und mühevolle Arbeit ermäßigt sind. Mit anderen Worten: erst wenn 
es geglückt ist, dem Kind Form, Wesen und Ursache seiner Abwehr- 
maßuahmen gegen unbewußte Gedanken klar und verständlich zu 
machen, kann man erwarten, daß die Kräfteverteilung im Triebleben 
dieses Kindes eine solche wird, daß es fähig ist, den Inhalt des Abge- 
wehrten, also die Todeswünsehe, in sein Bewußtsein aufzunehmen. 
Abgesehen davon, daß wir also schon jetzt einsehen, daß die mühe- 
volle Arbeit, das Wesen einer solchen Abwehrform zu ergründen, 
niemals im Eahmen einiger Besprechungen möglich sein kann, wer- 
den wir auch berücksichtigen müssen, daß die psychische Umstellung, 
die für eine solche Arbeit nötig ist, unfehlbar dazu führen muß, daß 
die Person, die diese Kräfteverschiebung einleitet und dirigiert, in 
Wirken und Wechselspiel dieser Kräfteverschiebung einbezogen wird 
gleichsam als Mitspieler in diesem Kampf auftreten muß, was im 
Rahmen der didaktischen Arbeit einer Lehrperson zu unerwünschten 
Erschwerungen der pädagogischen Arbeit führen muß. Ebenso aber 
werden wir auch verstehen, daß der bloße Versuch der Deutung des 
dem Kinde unbewußten Inhaltes der bösen Wünsche keine solche Um- 
stellung hervorrufen kann, sondern gleichfalls von den Kräften, die 
eich dem Bewußtwerden dieser Wünsche widersetzen, abgewehrt wer- 
den muß. Dabei kann es dazu kommen, daß dieser Versuch der Lehr- 
person als Verführung zum Bösen aufgefaßt wird, was die gute Be- 
ziehung zur Lehrerin zerstören müßte; oder aber es kann die gegen- 
wärtige Form, in der das Verdrängte sich erkennbar zeigt, also die 
Phantasie vom brennenden Zimmer und von dem, was der Mutter alles 
passieren kann, nach einer solchen Deutung neuerlich ganz unter- 
drückt werden und das Verdrängte in anderer Form, als eine andere 
Angst oder Hemmung, wieder zum Vorschein kommen. Beide Möglich- 
keiten müssen wir für das Kind als sehr ungünstig bezeichnen, da 
man ihm dabei voraussichtlich mehr geschadet als genützt hätte. 

Es wird also verständlich, warum sich gerade aus diesem so klaren 
und eindeutigen Material die Notwendigkeit ergab, das Kind einer 



Schule und Erziehungsberatung 175 

regelrechten analytischen Behandlung zuzuführen, die allein es mög- 
lich machte, auf alle die nötigen Eräfteverschiebungen Rücksicht zu 
nehmen und all die Schichtungen des Materials durchzuarbeiten, bis 
das Kind so weit war, daß man ihm die Inhalte seiner bösen Wünsche 
zeigen, d. h. deuten konnte. 

Ich glaube, daß sich gerade aus der Besprechung dieses so beson- 
ders deutlichen und klar strukturierten Materials ein wichtiger 
Gesichtspunkt für die Arbeit der Lehrer unter Zuhilfenahme der 
analytischen Erkenntnisse gewinnen lassen kann. 

Vor allem hat uns dieser Fall gezeigt, daß der Pädagoge diese 
klaren und durchsichtigen Mitteilungen innerhalb seiner Arbeits- 
möglichkeit zuerst nur zur Kenntnis nehmen kann, ja daß es gefähr- 
lich sein kann, wenn er sich gerade durch solche scheinbar so primitive 
und leicht verständliche Mitteilungen, z. B. hier über die Angst, daß 
der Mutter etwas passieren könnte, zu einer Deutung verleiten ließe. 

Man kann sich die Frage stellen, ob und in welchen Fällen man 
solches Material überhaupt in der pädagogischen Arbeit verwerten 
soll. Da es sich bei den Störungen immer um Kräfteverschiebungen im 
Triebhaushalt handelt, als deren Resultate wir die Störungen des 
Kindes zu sehen bekommen, kann diese Frage nur für jeden einzelnen 
Fall beantwortet werden. Aus der Betrachtung dieses Falles können 
wir folgendes ableiten: Wir müssen immer versuchen, aus dem uns 
gebotenen Material auf G-rund unserer theoretischen Kenntnisse und 
unter Zuhilfenahme unserer analytischen Erfahrung die Kräftever- 
schiebungen, deren Resultat wir in den Störungen der Kinder zu sehen 
bekommen, zu verstehen, indem wir ihren Ablauf rückgehend ver- 
folgen. Nur aus diesem Verstehen der Genese, also der Verursachun- 
gen der Trieb Verschiebungen wird sich uns die jeweils beste Möglich- 
keit ergeben, wie mau einer Schwierigkeit des Kindes im Rahmen der 
pädagogischen Arbeit beikommen kann. Das uns gebotene Material 
soll uns in erster Linie dazu dienen, die Vorgänge im Triebleben des 
Kindes zu verfolgen und zu verstehen. Erst wenn wir annehmen 
dürfen, daß wir sie richtig verstanden haben, können wir in einem 
oder den anderen Fall auch daran denken, diese Einsichten in unserer 
pädagogiachen Arbeit direkt mitzu verwerten. .. ■- ■ - 



8* 



176 Editha Sterba 



DritterBericht d 

Ein kleines sechsjähriges Mädchen, E 1 s i, !ällt durch ihr sonder- 
bares Verhalten gleich zu Beginn des Schuljahres der Lehrerin auf. 
Die Eleine selbst ist nie mit ihren eigenen Leistungen und Aufgaben 
zufrieden, obwohl die Lehrerin keinen Grund hatte, sie zu tadeln. 
Wenn ihre Aufgabe auch ganz fehlerfrei ist und die Lehrerin dem 
Kind versichert, daß alles sehr gut und ganz richtig sei, zeigt die 
Kleine die Aufgabe immer wieder weinend der Lehrerin mit den j 

Worten: „Aber das da hier, das da hier." Dabei deutet sie etwa auf I 

einen kleinen Kratzer am Heft oder auf ein kaum sichtbares Strichlein 
oder Pünktchen. Diese kleinen Mängel konnte man einerseits nicht 
recht als Fehler bezeichnen, es war aber andererseits auch nicht mög- 
lich, sie auszubessern. Auch sonst war das Verhalten der kleinen 
Elsi sehr sonderbar. Sie sprach kaum mit der Lehrerin, mit den i 

Kindern überhaupt nicht. Auf mündliche Fragen gab sie nie Ant- 
worten, die Lehrerin konnte also ihre Leistungen nur nach den schrift- J 
liehen Aufgaben beurteilen. Der einzige Kontakt zwischen Lehrerin ' 
und Kind bestand längere Zeit nur darin, daß Elsi ihre tadellosen 
Aufgaben der Lehrerin weinend und mit Selbstvorwürfen wegen der 
erwähnten Mängel überreichte. 

Die Mutter beklagte sieh sehr über das Kind. Die Mutter hat noch 

zwei kleinere Töchter, die ganz normal sein sollen. Besonders die um 

zwei Jahre jüngere Schwester Elsis, F r i t b i, ist ein außerordentlich 

reizendes und liebenswürdiges Kind, das in allem mit Elsi rivalisiert 

und die Eltern durch ihr Wesen für den Kummer, den ihnen, wie die 

Mutter sagt, Elsi bereitet, entschädigt. Denn beide Eltern kränken 

sich sehr über die Lieblosigkeit und Unfreundlichkeit ihrer kleinen 

Tochter, die jeden Menschen, der ihr nicht paßt, vollkommen ablehnt. 

Elsi war immer sehr schwierig, sie ist besonders unfreundlich, spricht 

auch im Haus und auf Besuch bei Verwandten nur mit den Leuten, die 

ihr zusagen. Jahrelang hat sie mit der Großmutter, die sie nicht mag, 

kein Wort geredet, nicht einmal zum Grüßen konnte man sie bringen' 

Wird etwas von ihr mit Nachdruck verlangt, so brüllt sie derart, daß' 

die Leute im Hause aufmerksam werden. Besonders klagt die Mutter 

darüber, daß sie zwei Stunden und noch länger bei Elsi sitzen muß, 

weil diese die Aufgaben nicht allein machen will, die Aufgabe immer 

wieder mit viel Weinen zerreißt und von vorn anfängt, weil sie sie 

nicht schön genug findet. Ängstlich soll Elsi nie gewesen sein. 

Waschen war nur gegen ihr Widerstreben durchzusetzen. Sie will' 

eich auch vor niemandem ausziehen und in der Wanne badet sie nur^ 

wenn sie mit einem Hemd bekleidet sein darf. 



Schule und Erziehuiigsberatung 177 

■ Auch in ihrem Aussehen, in ihren Bewegungen und in ihrer ganzen 
Art bietet Elsi deutlich den Anblick eines schwer gehemmten, ver- 
schüchterten Kindes, obwohl sie für ihr Alter gut entwickelt, hübsch 
und sorgfältig gepflegt ist. Die Lehrerin faßt nach den von der Mutter 
erhaltenen Auskünften den Beschluß, das Kind in die Erzielmngs- 
beratung zu bringen, um es einer Analyse zuzuführen. Die Mutter 
geht auch bereitwilligst in die Erziehungsberatung. Aber das Kind 
weigert sich hinzugehen, sie will mit einem Fremden überhaupt nicht 
reden. So spricht also zuerst nur die Mutter mit der Erziehungs- 
beraterin und sagt ihr dasselbe wie der Lehrerin. Die Mutter macht 
einen geplagten und müden Eindruck; sie berichtet mit großem 
Affekt, wieviel Opfer sie schon für ihre Kinder habe bringen müssen. 
Sie mußte bei allen drei Kindern die ganze Zeit der Schwangerschaft 
hindurch liegen, da es ihr sonst unmöglich gewesen wäre, die Kinder 
auszutragen. Wir erfahren daraus, daß Elsi es zweimal mitmachen 
mußte, daß die Mutter monatelang zu Bette lag und sich wenig um 
sie kümmern konnte. Als die Mutter mit der um zwei Jahre jüngeren 
Schwester Elsis schwanger war, sollen sich auch die ersten Schwierig- 
keiten bei Elsi gezeigt haben. 

Nach vielen Überredungsversuchen gelang es dann der Lehrerin, 
Elsi doch in die Erziehungsberatung zu bringen. Sie kam selbst mit 
dem Kinde hin. Elsi sprach kein Wort, schien sich aber zuerst im 
Warteraum der Erziehungsberatung ganz wohl zu fühlen. Als sie zur 
Beraterin hereinkommen sollte, begann sie bitterlich zu weinen und 
mußte von der Lehrerin sozusagen ins Beratungszimmer geschleppt 
werden. Dort blieb sie ganz unbeweglich stehen, rührte sich nicht, 
grüßte nicht, sprach kein Wort, schluchzte nur ganz verzweifelt. Die 
Beraterin stellte Elsi sofort anheira, das Zimmer zu verlassen, wenn 
sie nicht dableiben wolle; Elsi machte einen Schritt auf die Tür zu, 
blieb dann aber doch im Zimmer stehen. Sobald man Elsi anschaut, 
schluchzt sie jämmerlich, schaut man weg, hört sie sofort auf zu 
weinen. Schließlich geht sie mit einem überlegenen, triumphierenden 
Gesichtsausdruck aus dem Zimmer. 

Die Eltern waren beide für eine analytische Behandlung einge- 
nommen, da ihnen die Schwierigkeiten des Kindes große Sorgen 
bereiteten. Es wurde aber in vollem Einvernehmen zwischen Lehrerin 
und Erziehungsberatung beschlossen, zu diesem Zeitpunkt von einer 
Analyse abzusehen. Es sollte vielmehr der Versuch gemacht werden, 
die kleine Elsi der Lehrerin zu einer Beobachtung zu übergeben. Maß- 
gebend für diesen Beschhiß war die Erwägung, daß Elsi im allge- 
meinen so gehemmt und scheu war. Es hatte Wochen gebraucht, um 
so weit zu kommen, daß sie mit der Lehrerin nur wenige Worte 



1 

1 



178 Editha Sterba 



sprach, obwohl sie eben mit dieser Lehrerin täglich mehrere Stunden 
beisammen war. Nun war die Beziehung des Kindes zur Lehrerin so 
■weit gediehen, daß sie mit der Lehrerin reden konnte. Wenn man das 
Kind in Analyse gab, lief man Gefahr, daß die Analytikerin vom Kind 
zunächst abgelehnt würde, und es hätte Wochen, ja Monate dauern 
können, bis das Kind sich zum Sprechen entschlossen hätte. Man hatte 
umso mehi; Grund, diesem ablehnenden Verhalten Elsis bei dem Be- 
schluß, von einer Analyse vorläufig Abstand zu nehmen, Rechnung 
zu tragen, als sie z. B. nicht einmal dem Vater gestattete, in ihre Auf- 
gaben Einsicht zu nehmen, obwohl er immer freundlich und lieb zu 
ihr war und ihr niemals irgendwelche Vorwürfe gemacht hatte. Bei 
der Schwierigkeit Elsis, mit irgendeiner fremden Person in Kontakt 
zu treten, hätte man also von vornherein bei einer Analyse auf eine 
besonders lange Vorbereitungs- oder Einleitungsperiode rechnen 
müssen, ein Erfolg der Analyse hätte sich also in der Schule erst nach 
sehr langer Zeit einstellen können. Elsis Nicht-reden-woUen in der 
Schule aber bedurfte dringend der Abhilfe in einer möglichst kurzen 
Zeitspanne. So wollte man also zuerst abwarten, was die Lehrerin auf 
Grund der guten Beziehung, die sie zu Elsi hatte, ausrichten würde 
■ Da Elsi viel zu gehemmt war, um sieh in der Schule, in der Pause 
oder am Heimweg mit ihr zu befassen, wollte die Lehrerin sie einige 
Male wöchentlich nachmittags zu sich in die Wohnung kommen lassen 
Das zu erreichen, war sehr schwierig. Nach vielem ablehnendem 
Kopfschütteln von Seiten Elsis auf die Aufforderung der Lehrerin, 
Sie zu besuchen, war die Lehrerin gezwungen, einen starken Druck 
auszuüben. Sie fragte Elsi: „Ist es dir denn ganz gleich, ob du 
ein gutes oder schiechtes Zeugnis bekommst? Ich weiß ja überhaupt 
nicht, ob du lesen oder nacherzählen kannst. In der Schule hab' ich 
nicht soviel Zeit für dich allein, komm doch am Nachmittag zu mir, 
ich muß einmal sehen, was du überhaupt kannst." Daraufhin erst 
nickte Elsi bejahend. * 

Sie erschien das erste Mal pünktlich mit der Mutter bei der Lehre- 
rin, grüßte aber nicht, wollte auch trotz vielen Zuredens von Seiten 
der Mutter der Lehrerin nicht die Hand geben. Sie nahm am Tisch bei 
der Lehrerin Platz, sprach kein Wort und schaute sich nicht im 
Zimmer um, obwohl man ihr ansah, daß sie sich für alles interessierte. 
Die Lehrerin brachte ihr eine Holzfigur, einen dicken Mann, den man 
in der Mitte auseinanderschrauben konnte und in dem kleines Puppen- 
geschirr aufbewahrt wurde. Da sprach Elsi die ersten Worte: „Soviel 
hat er gegessen?" Danach stellte sie das kleine Puppengeschirr, alles 
fein säuberlich geordnet, der Reihe nach auf. Damit war die erste 
Unterredung beendet, die Mutter berichtete der Lehrerin am nächsten 



Schule und Erzicliungsberatung 179 



Tag, Elsi habe ihr gesagt, sie könne es kaum erwarten, wieder zur 
Lehrerin zu kommen. 

Wir sahen, Elsi verhielt eich trotz der guten, längere Zeit dauern- 
den Beziehung zur Lehrerin zuerst ganz ablehnend und wollte nichts 
sprechen. Wenn sie dann bei der Holzfigur, die im Bauch kleines 
Geschirr beherbergte, zum Sprechen kommt, so können wir vermuten, 
daß ihr Interesse durch diese Figur so gefesselt wurde, daß sie ihre 
trotzige Ablehnung aufgab. Denn daß sie aus Trotz nicht reden will, 
zeigt deutlich das geschilderte Verhalten des Kindes in der Erz.e- 
hungsberatung- Daß die Figur mit dem dicken Bauch das Geschirr 
aufgegessen haben soll, gibt uns einen Hinweis darauf, daß EIsi meint, 
vom Essen besonderer Dinge wird man so dick. Sie bringt das also 
offenbar mit dem dicken Bauch der Mutter, mit ihrer Schwangerschaft 
in irgendeinen Zusammenhang. Wie die Phantasien genauer ausseheu. 
die sie in bezug auf die Schwangerschaft hat. erfahren wir freilich 
noch nicht. Wir müssen uns nur merken, daß sie gerade bei diesem 
Thema zu reden beginnt. Das genaue, reihenweise Aufstellen des 
kleinen Puppengeschirrs dürfen wir vielleicht in Zusammenhang 
br^gen mit der Pedanterie, die Elsi ihre Aufgaben nie schon genug 

^'''rTs nächste Mal wiederholt sich lange dasselbe Spiel mit der Holz- 
fiffur dann zeigt die Lehrerin Elsi Papierpuppen, die sie noch aus 
ihrer' eigenen Kinderzeit aufbewahrt hat. Jede dieser Pap.erpuppen 
hat einen Namen am Rücken aufgeschrieben. Elsi wird es freigestellt, 
die Namen auszuradieren und den Puppen neue zu geben. Von einer 
Puppe sagt sie: „Die hat ein schönes Kleid und noch eins , die be- 
nennt sie dann Elsi. Von den anderen sagt sie: „Aber die ist so herzig , 
die bekommt den Namen Fritzi, den Namen ihrer um zwei Jahre jün- 
geren, so besonders liebenswürdigen Schwester. Dann zieht sie wieder 
die Puppen, ohne ein Wort zu sprechen, immerfort an und aus. 
Wannn waschen sich die Puppen denn nicht, bevor sie schlafen 
gehen?" fragt die Lehrerin. Elsi gibt keine Antwort darauf. Die 
Lehrerin kann nur beobachten, daß sie, wenn sie beim An- und Aue- 
kleiden auch nur eine Kleinigkeit an den Papierpuppen zerreißt, sicht- 
lich erschrickt und unglücklich darüber ist. Dann fragt die Lehrerin 
weiter, ob Elsi sich auch nicht wäscht, wenn sie schlafen geht oder 
aufsteht. Elsi antwortet wieder nicht. 

Auch aus diesen Kleinigkeiten können wir einiges entnehmen, 
wenn wir uns dabei immer alles das, was wir von Elsi früher gehört 
und an ihr beobachtet haben, vor Augen halten. Elsi bringt sich und 
die jüngere Schwester, ihre besondere Rivalin, ins Spiel. Beide wer- 
den pedantisch unaufhörlich aus- und angezogen. Wir wissen, Elsi 



1 80 Editha Sterba 



will sich vor niemandem ausziehen, also auch da kommt wieder eines 
ihrer Probieme ins Spiel. Auch beim Waschen verhält sie sich beson- 
ders neurotisch, wie wir gehört iiaben; darum wohl will sie der Lehre- 
rin, wie wir sahen, darüber nichts mitteilen. 

Erst beim fünften Besuch begann Elsi sich bei der Lehrerin ein 
wenig umzusehen und taute etwas auf. Sie aß auch ein Zuckerl. Dann 
wurden auf Vorschlag der Lehrerin Puppen aus Plastelin gemacht. 
Altes, hartes Plastelin gefiel Elsi besonders gut. Die Lehrerin sprach 
davon, neues zu besorgen, weil man das alte so lange kneten mußte 
und es so bröselig war. Elsi wollte davon nicht wissen. „Gott ist das 
gut", sagte sie immer wieder begeistert, während sie eifrig das harte 
Plastelin knetete. Sie machte zuerst ein Wickelkind: „Ist das die Lily, 
deine jüngste Schwester?" fragte die Lehrerin. Elsi lachte und meinte' 
„Dann müssen wir auch eine Fritzi und eine Elsi machen." Dann 
machte die Lehrerin eine Elsi und Elsi selbst machte eine Fritzi. Auf 
Angabe Elsis mußte die Plastelinpuppe Elsi blonde Ilaare und blaue 
Augen bekommen. Elsi bewunderte dann ihr Ebenbild und sagte: 
„Jöh, wie herzig ist sie", darauf gleich; „Wie blöd die Fritzi ist". 
Sofort danach ließ Elsi das Spiel mit den Plastelinpuppen stehen, nach- 
dem sie der Lehrerin noch erklärt hatte, daß Fritzi blond und blau- 
äugig sei. Elsi selbst aber ist dunkel und schwarzhaarig. 

JWir sahen schon früher, daß Elsi weiß, wie geschätzt ihre liebens- 
würdige Schwester ist. Nun erfahren wir noch etwas dazu. Sie selbst 
möchte so blond und blauäugig sein wie die Rivalin. Sie lehnt aber 
doch die Rivalin ab mit den Worten: „Wie blöd die Fritzi ist" und 
läßt das ganze Spiel mit den Plastelinpuppen nach dieser Feststel- 
lung stehen. 

Mit der Zeit erfährt man einige neue Details von Elsis Mutter. 
Elsi quält die Mutter maßlos. Sie trinkt jeden Abend ein Glas Wasser; 
für jeden Schluck Wasser muß die Mutter ein frisches Glas Wasser 
holen gehen. Elsi schläft mit einem älteren Vetter in einem Zimmer 
Fritzi und Baby schlafen mit den Eltern. Elsi hat nie Angst beim 
Schlafen, sie bleibt auch ohne weiteres allein in der Wohnung. Von 
der Reinlichkeitserziehung Elsis erzählt die Mutter, daß man mit sechs 
Jlouaten damit begann, aber daß es sehr schwierig war. Erst mit zwei 
Jahren, also knapp vor der Geburt des nächsten Kindes, gelang es 
Elsi rein zu bekommen, aber gleich danach war Elsi selbst auch so 
pedantisch, daß die geringste Unreinlichkeit zur Katastrophe wurde. 
Von Zeit zu Zeit ist es notwendig, Elsi ein Abführmittel zu verab- 
reichen, weil sie etwas an Verstopfung leidet. Das ist dann immer ein 
furchtbarer Kampf, weil sie das Mittel absolut nicht nehmen will. An- 
läßlich einer Erkrankung verordnete der Arzt Elsi einen Einlauf. Sie 



Schule und Erzieliungsberatung 181 

wollte sich den Einlauf absolut nicht gefallen lassen und es gab ein 
langes Hin und Her. Da die Mutter ihr nicht beikommen konnte, 
«rklärte sich eine befreundete Hausschneiderin bereit, Elsi den Ein- 
lauf zu verabreichen. Die Mutter verließ die Wohnung, weil sie sich 
den Aufregungen nicht mehr gewachsen fühlte. Die Schneiderin soll 
Elsi angebunden haben und ihr dann gewaltsam den Einlauf verab- 
reicht haben. Elsi behielt dann den Einlauf eine Stunde lang, weil sie 
absolut keinen Stuhl haben wollte. Schließlich erzwang die Mutter 
doch, daß Elsi Stuhl hatte, sie machte aber das ganze Bett schmutzig 
und wurde von der Mutter verprügelt. 

■ Der Bericht von Elsis Reinlichkeitserziehung ist für uns sehr auf- 
schlußreich. Wir werden in der Annahme nicht fehlgehen, daß die 
Mutter Elsis Reinlichkeitserziehung, die so lange Zeit brauchte, knapp 
vor der Ankunft des nächsten Kindes sehr energisch beschleunigt 
haben wird, um nicht für zwei Kinder Windeln zu benötigen. Daß 
dabei besondere Strenge aufgewendet werden mußte, können wir aus 
dem Geschilderten entnehmen. 

In den Besprechungen bei der Lehrerin spielt Elsi jetzt ständig 
weiter mit dem harten Plastelin, sie sehreibt damit auf dem Tisch, 
zerreibt es, erwärmt und erweicht es auf dem Ofen, um dann immer 
begeistert zu rufen: „Wie gut, wie gut". Die Papierpuppen zieht sie 
wieder fleißig an und aus. Sie geht jetzt auch mindestens einmal 
bei der Lehrerin aufs Klosett, ebenso in der Schule, was sie früher 
absolut nicht tun wollte. 

In der .Schule geht eine große Wandlung vor sich. Elsi spricht 
zwar immer noch nicht, sodaß sie sogar einmal vom Oberlehrer für 
ganz dumm und zurückgeblieben gehalten wird, sie weint aber nicht 
mehr über ihre schlechten Aufgaben. Im Gegenteil: die Aufgaben 
sind in der äußeren Form gar nicht mehr tadellos, die Hefte sind 
fleckig, schmutzig und bekommen zerrissene Ecken. Eines Tages 
berichtet die Mutter voll Entsetzen: Elsi hat seelenruhig ihr Heft, 
ohne ein Löschblatt einzulegen, zugeklappt und wie die Mutter empört 
auffährt, sagt sie nur: „Das macht gar nichts". 

Diese unerwünschte Veränderung in der Schule können wir leicht 
verstehen. Wir hören, Elsi wollte sich nicht zur Reinlichkeit 
bequemen, sie zeigte schon als Säugling besondere Freude am Be- 
sehmutzen, also stark anale Züge. Nach der strengen Reinlichkeits- 
erziehung schlägt ihre plötzlich scharf unterdrückte Schmutzlust ins 
Gegenteil um. Sie duldet auch nicht die leiseste Unreinlichkeit in den 
Aufgaben. Sie weigert sich überhaupt Stuhl abzusetzen, denn es ist 
sieher ein Zeichen ihrer trotzigen analen Haltung, wenn sie nach der 
Eeinlichkeitser Ziehung an Verstopfung zu leiden beginnt. Wenn sie 



182 Editha Sterba 



dann einmal ihre Besehmutzungslust, wie beim Einkoten des Bettes 
nach dem gewaltsam verabreichten Einlauf durchbrechen läßt, wird 
sie besonders bestraft, man prügelt sie. So hat sie alle Ursache, trotzig 
und ablehnend zu werden. Sie rächte sich für die allzustrenge Ein- 
schränkung ihrer Triebbefriedigung in der Schmiitzlust, indem sie 
ihre trotzige Ablehnung auf Waschen und Auskleiden ausdehnt und 
sich dabei ein Stück Befriedigung ihrer Schmutzlust verschafft, wenn 
sie das Waschen verweigert. 

Nun kommt Elsi zur Lehrerin, die lieb und gut ist und ihr soweit 
entgegenkommt, daß sie ihr im Spiel mit dem Plastelin die verbotene 
Befriedigung der Säuglingszeit bietet. Elsi macht reichlich davon 
Gebrauch, schmiert fleißig mit dem Plaslelin, ihre übermäßige Rein- 
lichkeitsforderung verwandelt sich in die ursprüngliche Besehmut- 
zungslust, die in den Aufgabenheften störend bemerkbar wird. 

Wenn wir nunmehr vieles vom Verhalten des Kindes erklären und 
verstehen können, so müssen wir uns doch klar darüber sein, daß es 
für die Stellung der Lehrerin Elsi gegenüber nicht unbedenklich war, 
da sie in der Schule so schlampig und unrein zu werden begann. 
Denn die Lehrerin hatte Elsi ja den Weg zur Freimachung ihrer 
alten, gewaltsam unterdrückten Beschmutzungslust gezeigt, sie konnte 
leicht von Elsis Gewissenansprüchen als Verführerin angesehen und 
später vielleicht sogar als solche von dem strengen Gewissen Elsis 
aus abgelehnt und verurteilt werden. Wir dürfen ja nicht vergessen, 
daß Elsi nicht nur automatisch die strengen Reinlichkeitsgebote ihrer 
Mutter vollzog, sie selbst hatte diese strengen Forderungen verinner- 
licht, wenn sie trotz Versicherung von Mutter und Lehrerin behaup- 
tete, die Aufgaben seien nicht schön. 

Die Lehrerin mußte also dieser Schwierigkeit zuvorkommen. Sie 
erklärte Elsi genau: „Ich weiß, daß du gern schmierst. Das kannst 
du immer Nachmittag bei mir mit Plastelin und Tinte machen, soviel 
du willst. In der Schule aber bei den Aufgaben mußt du weiter sauber 
bleiben". Diese oft und gründlich gegebene Erklärung befriedigte 
Elsis Gewissensansprüche. Das Schmieren bei der Lehrerin dauerte 
noch eine Weile an, in der Schule aber war Elsi daraufhin wieder 
sauber und rein. 

Nach einer Unterbrechung der Arbeit mit der Lehrerin durch 
Ferien und eine Krankheit Elsis bringt die Mutter das Kind mit neuen 
Klagen zur Lehrerin. Elsi besitzt nur ein Kleid, weil sie sich weigert, 
zur Schneiderin zu gehen, da sie sich doch auch dort nicht ausziehen 
will. Dieses einzige Kleid muß am Abend gewaschen und zeitig früh 
gebügelt werden, damit sie es dann wieder in die Schule anziehen 
kann. Oft ist das Kleid noch nicht trocken; dann gibt es großes 



Schule und Erziehungsboratung 1 83 

Geschrei und Geheul, Elsi hat schreckliche Angst, nicht in die Schule 
gehen zu können. Die Lehrerin gibt der Mutter den Rat, das einzige 
Kleid überhaupt nicht mehr waschen zu lassen, damit Elsi schmutzig 
zur Lehrerin oder in die Schule kommen muß. Dabei erkundigt sich 
die Lehrerin, ob vielleicht einmal jemand etwas Spöttisches über den 
Körperbau Elsis gesagt habe. Daraufhin erzählt merkwürdigerweise 
die Mutter eine Stunde von sieh selbst, wie sie sich selbst geschämt hat, 
daß sie so dick ist. Sie sei oft überhaupt nicht zur Schneiderin ge- 
gangen, sodaß sie sich alles, was ihr zu eng wurde, mit Nadeln 
zusammenstecken mußte. Elsi, meint die Mutter, könne davon nichts 
gewußt haben. Die Mutter sagte ihr nur einmal: „Steck den Bauch 
nicht so heraus, das ist nicht schön". 

Um diese Zeit spielt Elsi bei der Lehrerin wieder fleißig mit 
Plastelinpuppen, für die sie mit dem Matador-Baukasten eine Zimmer- 
eini-ichiung macht. Einteilen der Schlafgelegenheiten spielt eine 
große Rolle. Elsi bekommt um diese Zeit ein Lotterbett und ist sehr 
befriedigt darüber. Sie spielt immer so, daß alles ihr gehört. „Fritzi" 
meint sie, „muß nicht immer alles haben, alles macht sie mir kaput, 
alles muß ich ihr geben. Will ich die Puppe haben, gleich hat sie sie, 
soll doch die Puppe aufgehoben bleiben". Sie traut sich auch, einen 
Nachttopf aus Plastelin zu machen und damit zu spielen. Elsi macht 
eich jetzt selbst zu Hause Papierpuppen mit vielen Kleidern und 
bringt sie der Lehrerin mit. Die Lehrerin soll ihr auch Kleider und 
Hüte von ihren Ankleidepuppen schenken. Sie erzählt: „Meine Cousine 
hat zu Hause eine Frau Lehrerin gemacht, so was Blödes". Die 
Lehrerin fragt: „Warum blöd?" „So mager war sie" meint Elsi". 
„Das magst du nicht?" fragt die Lehrerin, „weil deine Lehrerin auch 
nicht sehr mager ist, oder hast du Angst vor dem Dicksein? Das ist 
ja gar nicht so wichtig, ob dick oder mager, mir ist es Recht, daß ich 
60 bin und dir auch". 

Kurz darauf berichtet die Mutter, daß Elsi anstandslos zur Schnei- 
derin gegangen ist, sie soll überhaupt viel freier sein, spielt gerne 
und öfter mit Puppen, was sie früher nie tun wollte. 

Wir hörten, die Mutter schämte eich selbst besonders wegen ihres 
Dickseins, vor allem in der Schwangerschaft. Die Mutter sagte auch 
noch zu Elsi: „Steck nicht den Bauch heraus, es ist nicht schön". 
Elsi mußte es also für eine Schande halten, einen dicken Bauch zu 
haben und ihn beim Auskleiden bei der Schneiderin zu zeigen. Sie 
lehnte das Dicksein und damit die Schwangerschaft der Mutter ab, 
aber weil ihre Lehrerin das Dicksein nicht ablehnt und ihr andeutet, 
daß es ihr, Elsi, ja in Wirklichkeit nicht auf die Tatsache des Dick- 
seins, sondern auf die Schwangerschaft ankommt, fällt die Hemmung, 



184 Editha Sterba 



zur 



— Schneiderin zu gehen, fort, mit der sie die Schwangerschaften 
der Mutter abgelehnt hatte. Die Ablehnung gegen das neue Kleid ist 
aber gleichzeitig wohl auch der Ausdruck ihres zwanghaften Behal- 
tenwoUens. 

Elsi spricht jetzt in der Schule auch unaufgefordert, sie beant- 
wortet alle Fragen, die Sprechhemmung ist ganz behoben. Während 
der Sommerferien lernt sie sogar schwimmen. In der zweiten Klasse 
bekommt Elsl eine neue Lehrerin, sie weint zuerst, gewöhnt sich _« 
dann aber rasch und leicht ein, ist nach Angabe der neuen Lehrerin 1 
ein ganz normales Schulkind. Die Mutter berichtet, außer über Un- I 
freundhchkeit fremden Leuten gegenüber hätte sie über nichts zu ] 

Jflagen. bie halt nunmehr auch eine Analyse des Kindes für ganz ' 

unnötig Man hat also jetzt weiter gar keine Möglichkeit, sich mit 
1.131 ZU befassen, und muß es dem Zufall überlassen, wie sich ihre 
weitere Entwicklung gestalten wird. ■ 

Wenn wir uns nun rückblickend überlegen, wie die Schwierig- 
keiten Jilsis aussahen, wie man sie zu behandeln versuchte und wie 
der i^rfolg dabei zustandekam, fällt vor allem eines auf: Elsis Sprech- 
hemmung erschien von vornherein so ausgebreitet und so schwer 
ttLr ^.^'''^. Wirkliche Beseitigung dieser Hemmung im Rahmen 
praktisch-pädagogischer Arbeit zuerst gar nicht gedacht werden 
konnte. Die eigentliche Schwierigkeit des Kindes, seine absolute Ab- 
lehnung jeder fremden Person und die trotzige Verweigerung des 
bprechens, ihr Symptom, brachte es mit sich, daß man zuerst von einer 
Behandlung absehen und den Versuch einer Beobachtung im Rahmen 
der der Lehrerin zur Verfügung stehenden Mittel machen mußte 
Dieser Versuch gelang so gut, daß Elsis Schwierigkeiten "R^enigstens 
äußerlich fast völlig behoben schienen. 

Wir wollen untersuchen, welche Veränderungen im Triebhaushalt 
dieses Kindes vor sich gegangen sind und wie wir sie aus dem uns 
zur Beurteilung vorliegenden Material erklären können. Dabei wollen 
wir damit beginnen, uns daran zu erinnern, was wir von Elsis frühe- 
ster Kindheit erfuhren. Knapp vor der Geburt der zwei Jahre 
jüngeren Schwester mußte Elsi eine auf besonders intensive Ver- 
drängung ihrer damals bestehenden Beschmutzungslust angelegte 
ßeinlichkeitserziehung durchmachen, eine Eeinlichkeitserziehung die 
durch monatelangea Liegen der Mutter, die Erlebnisse der mütter- 
lichen Schwangerschaft und die daran schließende Anwesenheit der 
kleinen Schwester, der gehaßten Rivalin, besonders verschärft wurde 
Wie alle zu streng und zu rasch zur Reinlichkeit erzogenen Kinder 
reagierte Elsi mit trotzigem Behaltenwollen, als wollte sie sagen: 
,,Wenn ich mich in meinen Ausscheidungsfunktionen ganz nach den 



Schule und ErziehungsTjeratung 185 



Forderungen der Erwachsenen richten muß, dann stelle ich diese 
Funktionen einfach ganz ein". 

Elsi wird obstipiert, sie verweigert Medikamente, die das beheben 
sollen, und anläßlich einer Krankheit kommt es dann zu dem trau- 
matisch wirkenden Erlebnis mit dem gewaltsam verabreichten Ein- 
lauf. Elsi will sich ihren Stuhl aber nicht gewaltsam entreißen lassen, 
es gelingt ihr, den Einlauf eine volle Stunde zu halten, was eine 
ganz respektable Leistung und ein Beweis ihrer starken analen 
Retentionslust ist. Schließlich trägt der Erwachsene doch den Sieg 
davon, sie muß nachgeben, beschmutzt aber dafür das ganze Bett, 
worauf sie Prügel bekommt. Daraufhin ist ihre Lust am Zurück- 
halten endgültig unterdrückt, sie entwickelt eine pedantische Rein- 
lichkeit auf allen Gebieten, die dann zu Beginn des Schulbesuches 
zu den geschilderten Symptomen führt. Wenn Elsi aber nie mit ihren 
Aufgaben zufrieden ist, sehen wir darin auch den Ausdruck ihres 
übermäßig strengen Gewissens. Sie hat sich die strengen Forderun- 
gen der Mutter restlos zu eigen gemacht, quält sich selbst jetzt mit 
Reinlichkeitsforderungen, wie sie früher von der Mutter damit ge- 
quält wurde. Auch sonst sehen wir in allen ihren pedantischen und 
zwangsneurotischen Charakteraügen das Resultat der allzustrengen 
Unterdrückung aller analen Lustbefriedigung. 

Aber wir wissen, ein Trieb läßt sich nie spurlos und völlig unter- 
drücken, seine Energie kommt in veränderter Form wieder zum Vor- 
schein. Wenn also Elsi sieh nicht wäscht, weil sie zu schamhaft ist, 
sich zu entblößen, oder wenn sie im Hemd badet, wenn sie nicht zur 
Schneiderin geht, aus Angst, sich ausziehen zu müssen, so befriedigt 
sie scheinbar ihr strenges Gewissen, daneben aber bricht im Nicht- 
waschenwoUen und darin, daß sie immer dasselbe Kleid trägt, ihre 
Schmutzlust und ihr Be.haltenwollen wieder durch. 

Wenn sie auf der einen Seite scheinbar alle Forderungen ihrer 
Erzieher erfüllt, so verkriecht sie sich auf der anderen trotzig in 
eine ganz ablehnende Haltung. Sie will von den meisten Menschen 
nichts wissen, sie lehnt sie trotzig ab. Sie will die Worte nicht aus- 
lassen, mit denen sie ja den Menschen freundliche Beziehung und 
Zuneigung schenken könnte. Sie muß eben doch etwas haben, was 
man ihr nicht entreißen kann, was sie behalten und nach ihrem Gut- 
dünken verwenden darf. Damit befriedigt sie gleichzeitig ihre rach- 
süchtigen Strebungen und ihre aggressiven Tendenzen. Wir haben 
ja oft Gelegenheit, zu beobachten, daß die Aggression der Kinder, 
die unterdrückt gehalten wird, oder unter Trotz verborgen ist, an 
Quantität jener Strenge in der Erziehung, die man In Anwendung 
gebracht hat, entspricht. 



Was geht nun in der Behandlung, die die Lehrerin mit Elsi vor- 
nimmt, vor sich? Zuerst bemüht sich die Lehrerin, eine gute Be- 
ziehung herzustellen. Für Elsi heißt das: man ist nicht nur nicht 
streng, man hilft ihr sogar gegen ihr eigenes, allzustrenges Gewissen. 
Sie fühlt sieh nicht unterdrückt, fühlt, daß ihr die Lehrerin nichts 
entreißen, rauben will, tann also sprechen, ihr Worte geben und 
schenken. Die Lehrerin zeigt Verständnis für die Probleme, die Elsi 
beschäftigen. Und wenn man ihm auch keine direkten Deutungen gibt 
so fühlt das Kind deutlich, daß die Lehrerin alle seine Gedanken über 
Dick- und Magereein versteht und nicht böae darüber ist, wie die 
Mutter, die sagte: „Streck den Bauch nicht so heraus, das ist nicht 



schon, wahrend die Mutter selbst doch einen dicken Bauch hatte und 
deswegen besonders gepflegt und befürsorgt wurde. Aus der Identifi 
zierung mit der gütig verstehenden Lehrerin wird ein großes Stück 
Angst vor der gewaltsamen Unterdrückung und auch Trotz beseitigt 

sie wirf? fT-oiöT. TT-n^ -r^ — ; 1 i «'scii.JSi, 



sie Wird freier und weniger gehemmt. 

Aber die Lehrerin tut noch mehr, sie gestattet, nicht nur im Spiel 
den Haß gegen die wegen ihrer Liebenswürdigkeit besonders ge- 
halste facfawester zu äußern, sie gestattet auch die ungehemmte Be- 
iriedigung der Schmutzlust im Spiel mit dem Plastelin. Man darf 
cei ibr den Tisch beschmieren, sich selbst beschmieren, alles be- 
schmutzen. Man darf aber auch ungestraft Spielsachen zerreißen 
also seine Aggressionen nicht nur in Worten, sondern auch in der 
ia ausleben. Das Auslebendürfen ihrer Schmutzlust macht die 
trotzige Zurückhaltung ihrer Worte überflüssig, auch hat sie keine 
Angst mehr vor einem gewaltsamen Einlauf und geht ruhig 2„r 
Schneiderin. Damit hat sich bei ihr die Angst sowohl vor dem Sich 
ausziehen wie vor der Wiederholung des Einlaufs durch die Schnei" 
denn auf ein praktisch sehr werfvolles Maß ermäßigt. Sie muß ihr^. 
Schmutzlust nicht daxlurch befriedigen, daß sie sich nicht wäscht im 
Hemd badet und das Kleid nicht wechselt, sie kann darauf verzichten 
und benimmt sich in allen diesen Dinger normaler 

..Zu ^'"^,f'f° !°^ Triebhaushalt Elsis vor? Die allzurasche und 
|ewaltsame Unterdrückung ihrer analen Triebe ist offenbar durch 
die reichlich gewährte anale Befriedigung, soweit wir aus den Er 
-folgen entnehmen konnten, teilweise gutgemacht worden, d h ein 
leil von Elsis zwangsneurotischen Symptomen ist in eine den Forde- 
rungen der Umwelt besser angepaßte Form verwandelt worden denn 
wenn wir auch sicher sind, daß nicht alle zwangsneurotischen Sym- 
ptome geschwunden sein können, so ist es uns doch gelungen, Elsis 
Schwierigkeiten gegenwärtig so zu beseitigen, daß sie, die Schule 
und die iamilie nicht mehr darunter zu leiden haben. 



Schule und Erzichungsbcratung ] 87 

Vierter Bericht 

Die zwölfjährige Martha zeigt ein so sonderbares Benehmen 
in der Schule, daß die Lehrerin gezwungen ist, sieh besonders mit 
Ihr zu beschäftigen. 'Sie ist still und verschlossen, sondert sich dabei 
völlig von allen Eindern ab, weist jede Annäherung zurück; außer- 
dem ist sie ständig beleidigt, will sieh mit keiner Mitschülerin ver- 
tragen, so daß sie sieh nur unwillig dem Zwang fügt, mit einem 
anderen Mädchen in einer Schulbank zu sitzen. 

Auch Marthas Schulerfolge lassen zu wünschen übrig, sie lernt 
in den meisten Gegenständen nichts, paßt meist gar nicht auf und 
vergißt an lalle häuslichen Aufgaben. Dabei kann man Marthas 
Intelligenz, ihre gute Beobachtung, ihre kritische Begabung sowohl 
im mündliehen Unterricht wie aus den Streitigkeiten mit den Mit- 
schülerinnen entnehmen. Martha ist ein nicht unhübsches, ihrem 
Alter entsprechend entwickeltes Mädchen, das nach einer schweren 
Mittelohrentzündung an leichter Schwerhörigkeit leidet, die sich aber 
beim Unterricht gar nicht als störend erweist. Sie hat auch einen 
leichten Aussprachefehler; sie stößt mit der Zunge bei einzelnen 
Worten ein wenig an. Sie wird von den Kindern wegen dieses als 
„Zuzeln" bezeichneten Sprachfehlers oft gehänselt und verspottet, 
was den Streitereien auch immer neu© Nährung gibt. 

Die Mutter steht ihrem einzigen Kind eher kritisch gegenüber. 
Sie meint, Martha sei im Lernen zu Hause immer faul, sie will nie 
mit Freundinnen fortgehen und dabei bat sie doch eine ganz große 
Unrast in sich. Sie will sich über nichts freuen, sie ist immer auf- 
geregt und nervös und schrickt leicht zusammen. 

Zu Hause herrschen in Marthas Umgebung trostlose Verhältnisse. 
Die Mutter, aus sehr ärmlichen Verhältnissen stammend, hatte es 
trotz größter Entbehrungen durchgesetzt, Bürgerschule und Handels- 
schule besuchen au können. Sie war immer eine sehr gute Schülerin 
gewesen, macht auch einen sehr intelligenten und gebildeten Ein- 
druck, interessiert sich für alles und ist, wie sich später herausstellt, 
allen Familienmitgliedern an Intelligenz weit überlegen. Sie ist ver- 
wachsen, hat einen Buckel, sonst aber schöne Haare und Augen, ist 
besonders rein und nett. Trotz ihrer großen Notlage infolge jahre- 
langer Arbeitslosigkeit ihres Mannes ist das Hauswesen in guter 
Ordnung und es ist ihr immer geglückt, ohne beträchtliche Schulden 
auszukommen. Bei der Besprechung mit der Mutter läßt sich ersehen, 
daß diese sehr stolz und verschlossen ist, sie schließt sich ganz von 
ihren Mitmenschen ab, weil sie sie für falsch und tratschsüchtig hält. 



188 Editha Sterba 



I 

I 



Sie beklagt sich, wenn auch nur in Andeutungen, daß sie immer von 
allen Seiten enttäuscht "wird. 

Marthas Mutter berichtet auch, daß sie heiraten mußte, weil sie 
das Kind erwartete. Sonst hätte sie Marthas Vater, der ein Trinker 
ist und aus einer Trinkerfamilie stammt, nie geheiratet. Seinen besten 
Posten hat er wegen Trunksucht verloren und bekommt jetzt wohl ' 

auch nie mehr einen. Sie schildert den Mann als grob, faul und inter- 
esselos, nur wenn er nicht betrunken ist, soll er gutmütig und leicht 
zu behandeln sein. Martha, meint sie, ähnelt in all ihren schlechten 
Eigenschaften durchaus dem Vater. Dieser gibt dem Kind in allem ^ 

nach, verwöhnt es sehr und macht immer die strengen Erziehungs- 
maßnahmen der Mutter zunichte. 

Trotz all dem scheint nach dem Bericht der Mutter die Beziehung 
zwischen den Eltern nicht gar so schlecht zu sein. Der Mann weiß 
was er an seiner Frau hat. Diese wieder betrachtet ihn als Kind das 
man nicht voll nehmen kann, das zeitweise krank ist — nämlich dann 
wenn er trinkt — und dessen Fehler von seiner schlechten Erziehung 
herrühren. Ihn trifft keine Schuld, meint sie, man muß ihn eben 
fuhren, 

Streitigkeiten gibt es vorwiegend mit dem Bruder des Vaters der 
im gememsamen Haushalt mit ihnen lebt und von seinem kargen 
behalt Martha und die Eltern erhalten muß. Dieser Onkel hält Martha 
immer die Auslagen vor, die sie ihm verursacht, mischt sich in alle 
Erziehungsfragen ein und beschimpft vor allem Marthas Mutter aufs 
gröblichste, daß sie und das Kind überhaupt vorhanden seien. Martha 
haßt den Onkel, ist gegen ihn immer besonders verschlossen uncl 
trotzig. 

Nach Schilderung der Mutter, deren gute und sorgfältige Beob 
achtungen über das Verhalten des Kindes sich in allen Besprechungen 
als richtig erweisen, hängt das Kind mehr an der Mutter als am 
"Vater. Die Mutter kränkt sich sehr, wenn der Vater betrunken ist 
weint dann viel. Da stellt sich das Kind immer auf Seite der Mutter 
und verurteilt den Vater. Besonders arg waren diese Trunkenheits- 
exzesse des Vaters in Marthas frühester Kindheit, als der Vater 
noch selbst Geld verdiente. Da war er fast jede Nacht betrunken, 
machte große Szenen, stieß sogar einmal den Kinderwagen um. 

Das alles muß das Kind sehr nervös gemacht haben, meint die 
Mutter. Im zweiten Lebensjahr hatte Martha furchtbare Zornaus- 
brUche, sie wurde blau vor Wut, bekam Schreikrämpfe, wenn sie 
iliren Willen nicht sofort durchsetzen konnte. Vom dritten bis zum 
sechsten Lebensjahr besserten sich diese Wutanfälle zwar, sie blieb 
aber sehr jähzornig und man mußte ihr viel nachsehen, weil sie zu 



Schule und Erzi ehungsberatiing 1 S9 

dieser Zeit viel krank war. Sie stampfte mit den Füßen vor dem 
Vater und, wenn dieser nicht sofort nachgeben wollte, verrichtete sie 
dann aus Rache ihre Notdurft mitten im Zimmer gerade vor dem 
Vater. Sie lutschte noch stark Daumen, als sie in die Schule kam, 
hatte aber noch keinen Sprachfehler. Mit dem Beginn des Schul- 
besuchs verschwanden Jähzorn und Wutanfälle ganz, sie hörte auch 
zu lutschen auf, sie war sehr eingeschüchtert, wurde aber dabei — 
wie die Mutter sagt — sehr nervös und bald zeigte sich auch der 
Sprachfehler. Die erste Lehrerin wußte, nach Angabe der Mutter, 
das eingeschüchterte Kind nicht richtig einzuschätzen; sie bezeichnete 
das Kind als „zurückgeblieben", „schwachsinnig" und wollte es in 
die Hilfsschule schicken. Martha mußte immer nachsitzen und wurde 
oft im Klassenzimmer allein eingesperrt. Als sie dann zu einer 
anderen Lehrerin kam, fand sie mehr Verständnis, aber ihr einge- 
schüchtertes Wesen und ihre Verschlossenheit blieben unverändert, 
ja im Gegenteil, sie wurde sogar immer trotziger. 

Marthas Mutter hat das Kind — wie sie unaufgefordert berichtet 
— gleich bei den ersten Anzeichen von sexuellem Interesse in früher 
Kindheit gründlich aufgeklärt. Sie berichtet auch von einem Erlebnis, 
das Martha mit zehn Jahren hatte. Ein Mädchen wollte Martha ver- 
leiten, mit ihr in einen Park zu geben, wo sie Männer treffen wollten, 
die ihnen Geld versprachen, wenn die Mädchen mit ihnen unter ein 
Haustor gehen würden. Martha lehnte ab, doch scheint sie dieser 
Vorfall — meint die Mutter — sehr lange in Gedanken beschäftigt 
zu haben. 

Wie schon aus diesen sorgfältigen Beobachtungen der Mutter her- 
vorgeht, stand diese dem Kind sehr verständnisvoll gegenüber und 
war ständig bemüht, die Schwierigkeiten des Kindes zu begreifen, 
vm ihnen dadurch besser begegnen zu können. Daher war sie auch 
sehr erfreut, als die Lehrerin ihr eröffnete, sie wolle sich mit Martha 
außerhalb der Schule ein wenig befassen. Sie machte sich spontan 
erbötig, die Lehrerin bei ihrer Hilfeleistung nach Kräften zu unter- 
stützen, und versprach, alle Vorschläge der Lehrerin genau zu be- 
:folgen. Selbstverständlich hatte die Lehrerin gleich bei der ersten 
Unterredung mit der Mutter ihren brennenden Wunsch nach einer 
besseren sozialen und intellektuellen Position durchschaut und war 
zum Zwecke der Herstellung einer positiven Beziehung zu sich auf 
diesen Wunsch der Mutter besonders eingegangen, so daß die Bereit- 
willigkeit der Mutter daraus vollkommen verständlich erscheint. 

Martha selbst ist bei der ersten Aussprache mit der Lehrerin, die 
an einem schulfreien Nachmittag stattfindet, zuerst sehr verschlossen 
imd ablehnend. Sie kann und will nicht verstehen, warum die Lehrerin 

Zeitschrift f. paa. Püd., X/3 1 



190 Editha Sterta 



allein mit ihr sprechen will, und auch Versuche, etwas über ihre 
Schwierigkeiten in der Schule zu erfahren, sind ganz vergeblich, 
man kann nicht einmal aus ihr herausbekommen, warum sie in ein- 
zelnen Gegenständen etwas besser, in anderen wieder gar nichts 
lernt. Es seheint 'ihr auch ganz gleichgültig zu sein, daß sie immer 
an Hefte und Aufgaben vergißt. 

Etwas mehr Interesse zeigt sich, als sich die Lehrerin bei Martha 
nach den Schulkolleginnen erkundigt. „Ich bin ganz ausgestoßen", 
sagt das Kind, „keine mag mich, alle gehn auf mich los und machen 
sich lustig über mich wegen dem Zuzeln". In diesem Zusammenhang 
erwähnt sie auch: „Das Lernen freut mich gar nicht, weil eh alles 
schlecht ist und ich nie Erfolg habe". Darum interessiert sie keine 
Aufgabe, sie vergißt alles, weil sie niemand mag und sie niemand 
versteht. 

Erst nach einigen Unterredungen entschließt sich Martha, etwas 
von zu Hause mitzuteilen. Sie empfindet die häuslichen Verhältnisse 
ebenso wie die Mutter deutlich als Schande: „Man redet doch über 
solche Sachen nicht gerne", sagt sie wiederholt. Es stellt sich dann 
heraus, daß Martha im Grunde genommen mehr an der Mutter hängt 
als an dem Vater, obwohl sie der Vater viel nachgiebiger behandeU 
als die Mutter. Sie sieht vollkommen ein, daß alle Forderungen der 
Mutter berechtigt sind, aber sie wünscht sich doch, daß die Mutter 
„ihr auch eine gute Stunde machen soll" wie der Vater. Damit meint 
sie, die Mutter soll nicht nur schimpfen, fordern, tadeln, wenn sie 
etwas schlecht macht, sie soll auch einmal lieb sein wie der Vater 
Dann wird sie nicht so trotzig und frech sein. 

Dem Vater gegenüber hat Martha ganz dieselbe Einstellung wie 
die Mutter. Sie ist ihm trotz seiner vielen schlechten Eigenschaften 
nicht böse. „Man muß ihn lassen, wie er ist", meint sie, „er kann eh 
nichts dafür, wenn er nüchtern ist, ist er sowieso ganz gut". 

Sie beurteilt die Fehler des Vaters ganz richtig und hat eine 
durchaus mütterliche, verstehende Einstellung zu ihm. 

Viel klagt Martha aber über den Onkel, den Bruder ihres Vaters,, 
der die ganze Familie von seinem kargen Lohn erhalten soll. Immer- 
fort gibt es bittere Streitigkeiten und Konflikte mit ihm, er sähe die 
ganze Familie am liebsten gestorben und vernichtet, und alle Streitig- 
keiten nehmen immer von ihm ihren Ausgang. 

Alle diese Berichte Marthas werden von der Lehrerin verständnis- 
voll teilnehmend zur Kenntnis genommen. Während dieser Zeit be- 
müht eich die Lehrerin allerdings in der Schule, soweit es in ihrem 
Wirkungsbereich möglich ist, das Eind ohne Strafen und Drängen 
zur Mitarbeit heranzuziehen und ihr hie und da eine kleine Auf- 



Schule und Erziehungsberatung \Q\ 



munterung oder, wenn möglieh, ein Lob zuteil werden zu lassen. 
Dadurch wird die Vertrauenseinstellung des Kindes zur Lehrerin ge- 
stärkt, Martha wird jn ihren Mitteilungen offener und gibt Material 
preis, das Einblick in das Wesen ihrer Schwierigkeiten vermittelt. 

So erfährt man wieder einmal von Martha: „Immer war ich aus- 
gestoßen, auch schon mit drei Jahren". Da hatte sie die schwere 
Mittelohrentzündung, außerdem noch Scharlach, irgendein Augen- 
leiden, das sie halb blind machte. Als sie einmal mit den Kindern des 
Eauses, besonders mit den Buben spielen wollte, nannten sie die 
Buben „blinde Kuh" und verhöhnten und verspotteten sie außerdem 
wegen ihres schlechten Hörens. Seitdem wollte sie nie mehr auf die 
Gasse hinuntergehen, um mit anderen Kindern zu spielen. Die Buben 
necken sie auch noch heute. Sie deutet der Lehrerin an, daß sie sich 
ständig ausgestoßen und häßlich fühlt. „Bei mir selbst ist alles 
anders", betont sie immer wieder, „auch zu Hause ist alles anders 
wie bei anderen Leuten, der Vater und der Onkel". Darunter, daß 
bei Ihr „alles anders ist" meint sie, wie der Lehrerin zu diesem Zeit- 
punkt von der Mutter mitgeteilt wird, daß sie schon seit längerer 
Zeit befürchtet, keine richtige Frau werden zu können. Sie gesteht 
dann der Lehrerin auch, daß sie meint, man hatte sie in der Schule 
so ausgestoßen, weil sie noch keine Brustentwicklung und auch noch 
keine Periode habe wie die meieten der Klaseenkameradinnen. Auch 
kränkt sie sich sehr darüber, daß die Buben auf der Straße gar keine 
Notiz von ihr nehmen, während alle ihre Kameradinnen schon 
„Freunde" und „Verehrer" haben, die nach der Schule auf sie warten 
und dann im Park mit ihnen Spazierengehen. Aber dieses Geständnis 
wird gleich widerrufen. „Ich mach mir doch nichts aus den Buben, 
ich will ja nie heiraten, aus mir wird nie eine Frau. Wenn ich doch 
eine Freundin hätte", meint sie, „aber mit mir will ja niemand etwas 
zu tun haben". 

Für die Lehrerin wäre es gewiß verlockend gewesen, auf die 
tieferen Ursachen von Marthas Menschenscheu einzugehen, an zahl- 
reichen Stellen, bei der Familiensituation wie bei den sexuellen Erleb- 
nissen wäre hiezu leicht ein Anknüpfungspunkt gefunden worden. 
Die Lehrerin bespricht aber zuerst nur das Oberflächlichste und 
Nächstliegende mit dem Kind. Bereitwillig läßt Martha vor der Leh- 
rerin alle ihre Kolleginnen Kevue passieren und bespricht ihr Aus- 
seben, ihr Verhalten zur Umwelt und ihre häuslichen Verhältnisse. 
Dabei muß das Kind zu ihrem eigenen Erstaunen feststellen, daß 
viele ihrer Mitschülerinnen noch ärmlichere, traurigere häusliche 
Verhältnisse haben als sie selbst, und bei der Besprechung des Aus- 
sehens ihrer Schulkolleginnen muß sie selbst bei verschiedenen Mäd- 



192 Editha Sterta 



chen Mängel feststellen, die sie selbst in Erstaunen versetzen. „Das 
hätte ich mir nie gedacht", meinte sie, „vielleicht bin ich doch nicht 
die häßlichste oder es kommt mir nur alles so vor". Sie ist glück- 
strahlend, als ihr die Lehrerin bestätigt, auch sie meine, Martha käme 
es nur so vor, wie wenn, sie die häßlichste und verachtetste in der 
ganzen Klasse wäre. U 

Martha erscheint sichtlich befreit nach dieser Aussprache, ihr 1 

zunehmendes Vertrauen zur Lehrerin zeigt sich auch darin, daß sie ' 

jetzt beginnt, ihr offen von den Streitigkeiten daheim zu berichten. 
Sie beklagt sich bitter, wie qualvoll es sei, immer den Vorwurf hören 
zu müssen, daß sie den Onkel zu viel Geld koste, daß er nur für 
andere arbeiten müsse u. s. w. Wenn sie sich gegen diese ständigen 
Vorwürfe wehrt und frech wird und sagt, „ich kann doch nichts 
dafür, daß mein Vater keine Arbeit findet", bekommt sie Ohrfeigen 
vom Onkel und er versichert ihr immer wieder, daß alles leichter 
wäre, wenn sie nicht auf der Welt wäre oder wenn wenigstens statt 
ihrer ein Bub gekommen wäre. Nun weiß ja die Lehrerin, daß nie- 4 
mand die ständige Quelle dieser Reibereien beseitigen kann, sie möchte 
Martha aber doch Gelegenheit geben, ihren Aggressionen, die sich 
in ihr gegen den Onkel anhäufen müssen, Luft zu verschaffen. Sie 
rät also dem Kind, dem Onkel keine wie immer geartete Antwort 
auf seine Vorwürfe zu geben, ihm aus dem Weg zu gehen und ihn 1 
gar nicht zu beachten. Martha greift diesen Vorschlag begeistert 1 
auf, sie malt sich gleich in allen Farben aus, wie der Onkel „zer- ' 

springen'* wird, wenn sie ihm keine Antwort gibt und sich nicht um ' 

ihn kümmert. Sie berichtet dann nach kurzer Zeit, daß sie jetzt nie 
mehr Ohrfeigen bekommt und der Onkel sich gar nicht um sie küm- 
mert. Sie selbst ist überzeugt, daß er über ihre Nichtbeachtung wütend 
ist, und freut sich ungemein, daß sie ihm nach ihrer Meinung alles 
heimzahlt. 

Um Marthas Schulschwierigkeiten möglichst rasch abzuhelfen, 
versucht die Lehrerin, dem Kind ein Amt zu übertragen, das ihr eine 
geringe Überlegenheit über die anderen Kinder verschafft, Streitig- 
keiten von vornherein ausschließt und doch Martha zu einem ge- 
wissen Kontakt mit den Kindern zwingt Martha wird zur Heftord- 
nerm ernannt. Martha ist sehr stolz auf ihr Ehrenamt, sie wird 
unbemerkt dabei zu Pünktlichkeit und Ordnung erzogen und kann 
schwer nunmehr ihre eigenen Hefte zu Hause vergessen, weil sie als 
Aufsichtsperson über die Hefte der anderen doch nicht am unordent- 
lichsten sein kann. Sie lernt ihre Aggressionen und ungerechten Vor- 
würfe wegen angeblicher Zurücksetzung durch ihre Mitschülerinnen 
zurückzustellen, jetzt, wo sie sieht, daß alle anderen auch Fehler 



Schule und Erziehungsberatuog 193 

haben. Hefte vergessen, es ihr eingestehen müssen und sie um Für- 
sprache oder Strafaufschub bei der Lehrerin bitten müssen. Mit der 
Zeit sieht sie dann auch immer mehr ein, wie grundlos manche Be- 
schuldigungen gegen die Kameradinnen "w^aren, wie sich in ihren 
Augen alles nur so darstellte, daß sie sich ständig verfolgt und bedroht 
vorkam. Bei den alle vierzehn Tage stattfindenden Klassenbespre- 
chungen wird unter anderem auch Marthas Verhalten in der Gemein- 
schaft gelobt oder getadelt. Sie sieht bei diesen Aussprachen, daß 
die Kinder sie genau so beurteilen wie alle Mitschülerinnen, daß sie 
also nicht nur lauter Feinde um sich hat, die sie ausstoßen wollen 
und verfolgen. Auch den Mitschülerinnen Marthas wird gelegentlich 
ihrer Abwesenheit von Marthas Schwierigkeiten erzählt, die Kinder 
begrüßen ihre Fortschritte und sind voll Eifer, sie darin weiter zu 
unterstützen. 

Der zwangsweise Umgang mit den Kameradinnen bleibt nicht ohne 
fruchtbare Wirkung. Martha sieht, daß alle ihre Kameradinnen unter- 
einander Freundschaften geschlossen haben, sie sieht die Vorteile 
dieser Freundschaften, fühlt sich allein und 'bespricht mit der Lehrerin, 
daß sie auch gerne eine Freundin haben möchte. Bei der Gelegenheit 
erzählt sie auch, warum sie bisher keine Freundin haben wollte. „Alle 
Mädchen sind unverläßlich und tratsch sucht ig, man soll sich am besten 
jeden Menschen fernhalten". Auf die Frage nach Marthas Erfahrung 
auf diesem Gebiet gesteht sie: „Ich hab das nicht aus eigener Erfah- 
rung, aber ich sehe es bei den anderen und die Mutter hat es immer 
so erlebt. Sie macht es auch so". 

In der weiteren Besprechung mit der Lehrerin gewinnt Martha 
neue Einsichten. Sie beginnt, zu verstehen, daß sie in ihren Streitig- 
keiten und in ihrer Einbildung, sich wegen ihrer häuslichen Ver- 
hältnisse verfolgt zu fühlen, eigentlich die Mitschülerinnen für Dinge 
verantwortlich machen will, an denen die Mädchen unschuldig sind. 
Keine der Mitschülerinnen verspottet sie, weil sie in so ärmlichen 
Verhältnissen lebt, weil sie in ihrer Kindheit Krankheiten hatte, und 
weil es jetzt zu Hause solche Streitigkeiten gibt, weil der Vater ein 
Trinker ist, nur sie selbst glaubt sich deswegen verspottet, weil 
sie meint, jemanden, dem das passiert ist, kann man nur verspotten 
und hänseln. 

Sie sieht allmählich ein, daß sie Unrecht hat, sie wählt sich auch 
bald darauf eine Freundin, allerdings ein armes verschüchtertes 
Ding, die ganz abseits steht und der sie hilfreich an die Hand geht, 
an der sie Mutterstelle vertritt. Sie hat sich die Freundin so ausge- 
sucht, daß sie sicher sein kann, wegen ihrer häuslichen Verhältnisse 
und sonstigen Mängel nicht verspottet zu werden. 



194 Editha Sterba 



Im Zusammenhang mit der Besprechung dieser Beziehung zu den 
Mitschülerinnen taucht immer wieder ein Ausspruch auf, der jetzt 
von der Lehrerin aufgegriffen und besprochen wird. Jeder zweite 
Satz Marthas lautet: „Ich bin da ganz wie die Mutter". Die Lehrerin 
V&M nun das Kind selbst herausfinden, wie sie sieh in allem und 
jedem völlig mit der Mutter vergleicht, wie sie das Mißtrauen der 
Mutter gegen die Menschen, die Abgeschlossenheit wiederholen 
möchte, wie sie sogar dem Vater gegenüber dieselben Worte ge- 
braucht wie die Mutter: „Er ist ja schließlich ganz gut, man muß ihn 
halt nur lassen!" Sie nimmt diese auffallende Ähnlichkeit ohne beson- 
deres Erstaunen zur Kenntnis. 

Ihr Vertrauen zur Lehrerin nimmt ständig zu, sie bespricht jetzt 
alle ihre häueliehen Konflikte, ihre Streitereien mit Freundinnen 
und Mitschülerinnen mit der Lehrerin und sie fühlt sich nach diesen 
Aussprachen immer wohler und freudiger. Sie beginnt immer mehr 
einzusehen, daß nicht ihre körperlichen Mängel, ihre schlechte häus- 
liche Situation an diesen Konflikten schuld sind. Sonst, meint sie 
jetzt selbst, müßten alle Kinder, denen ähnliches zustößt, so werden 
wie sie ist. Sie versteht, daß die Ursachen des Verhaltens tiefer liegen 
müssen. Die Lehrerin beginnt mit ihr darüber zu sprechen, wie Kinder 
überhaupt zu ihren Eigenschaften kommen und wie ihr Weltbild 
entsteht. Die Kleine kommt im Verlaufe des Gespräches von selbst 
darauf. In erster Linie meint Martha, erbt man verschiedene Eigen- 
schaften von den Eltern; die guten Eigenschaften hat sie von der 
Mutter geerbt, die schlechten, wie Schlamperei, Vergeßlichkeit, Zer- 
streutheit vom trunksüchtigen Vater. Dann aber ineint sie, bildet sich 
ein Kind nach dem Vorbild der Eltern. Beide Eltern hat sie sich als 
Vorbild genommen. Die Mutter als Vorbild liebt sie "besonders in 
ihrem Arbeitseifer, wegen ihrer vielen Interessen, ihrer Genauigkeit 
und Korrektheit. Den Vater als Vorbild erwähnt sie nur nebenbei. 
Der Onkel, 'meint sie, wäre kein Vorbild, er streitet zu viel. 

Nun ist es für die Lehrerin leicht, dem Kind zu zeigen, daß sie 
von frühester Kindheit an immer genau wie die Mutter gefühlt und 
gehandelt hat. Da Martha keinen richtigen körperlichen Defekt auf- 
weisen konnte wie die Mutter mit ihrem Buckel, mußte sie ihren 
Aussprachfehler vergrößern, sich häßlich und verlacht vorkommen. 
Sie klagt über ihre mangelnde Brustentwicklung und tut so, wie 
Tvenn sie nie Brüste bekommen könnte, weil sie hört, daß die Mutter 
auch wegen ihrer Magerkeit und körperlichen Gebrechlichkeit be- 
dauert wird. „Bei mir ist alles anders, mir ist mit diesen körperlichen 
Mängeln nicht zu helfen", war ja ihr wiederholter Ausspruch. Sie 
kränkt sich über die Nichtbeachtung seitens der Buben, will nicht 



Schule und Erziehungsberatung 195 

glauben, daß sich das ändern kann, denn die Mutter meinte ja immer 

eine Bucklige müßte schließlich froh sein, von einem Trunkenbold 

geheiratet zu werden", wenn man das Schicksal der Mutter sieht, ist 
es besser, den Männern ganz aus dem Weg zu gehen. ,,Ich mach' mir 
nichts aus den Buben", sagt Martha, „ich will ja nie heiraten!" Aus 
Menschenscheu und Mißtrauen, die sie einlach von der Mutter über- 
nommen hatte, konnte und wollte Martha auch nie eine Freundschaft 
schließen und sah sich leicht von allen Kindern verfolgt, verspottet 
und gebaßt. Am Schluß, meint die Lehrerin, jetzt, wo Martha ver- 
stünde, woher ihre ganze Einstellung den Kindern gegenüber her- 
stamme, solle sie versuchen, eine eigene, ihrem Wesen entsprechen- 
dere Einstellung zur Welt und zu den Mensehen zu bekommen. Martha 
ist zuerst erstaunt, dann befreit und beglückt über diese Erklärung. 
„So ist das alles nicht von mir, bin ich froh", meint sie erfreut. 

Die guten Folgen dieser Erklärung zeigen sich bald. Martha hat 
bald darauf einem älteren und stärkeren Jungen im Haus, vor dem 
sie sich seit ihrer Kindheit fürchtete, einfach eine Ohrfeige gegeben, 
als er sie wieder verspottete. Die anderen Buben klatschten Beifall, 
sie gewann mit der Zeit Freunde und erzählt strahlend der Lehrerin: 
„Ich führ mich nimmer so ausgestoßen wie die Mutter und werd' halt 
doch mit den Leuten reden!" 

In weiteren Aussprachen erfährt die Lehrerin, daß die frühere 
Freundin jetzt durch ein nettes, freundliches und normales Madchen 
ersetzt worden ist, mit der sieh Martha sehr gut versteht. Es kommt 
auch zu einer ausführlichen Besprechung ihrer Stellung als Mäd- 
cben, also als Frau, von der sie bisher nichts sagen wollte. Sie findet 
jetzt im allgemeinen Buben viel netter als früher, obwohl sie sich 
noch nicht richtig für die Buben interessiert. Sie weiß aber schon 
genau, daß ihre frühere Einstellung zu den Buben mit ihrer Stellung 
zur Mutter zusammenhängt, die in jedem Mann einen ebenso schlech- 
ten Kerl und Trunkenbold sieht, wie ihr Mann es ist. Sie weiß auch, 
daß sie von den Buben nichts halten kann, weil sie an ihrem Vater 
nur ein Vorbild hatte, das sie von jedem Mann abschrecken mußte. 
Die Mutter ist mit Marthas Verhalten jetzt sehr einverstanden. 
Sie berichtet, daß Martha zu menstruieren begonnen habe, daß sie 
jetzt immer gut aufgelegt ist, weil sie keine Angst mehr hat, keine 
richtige Frau werden zu können. Auch mit Marthas häuslichem Fleiß 
ist die Mutter zufrieden, den Streitereien mit dem Onkel geht sie 
weiter aus dem Wege, obwohl sich die häuslichen Verhältnisse gar 
nicht gebessert haben. 

In der Schule wird der bessere Lernerfolg Marthas allgemein 



196 Editiia Sterba 



bemerkt. Sie ist nicht mehr unverträglich, nicht verschlossen und 
ordnet sich unauffällig der Gemeinschaft ein. 

Marthas Schwierigkeiten in ihrer Beziehung zu ihren Mitschüler- 
innen waren uns vielleicht von vornherein aus den trostlosen häus- 
lichen Verhältnissen heraus und aus der Tatsache ihrer Organminder- 
wertigkeit, des „Zuzelns" und der Schwerhörigkeit, verständlich 
Aber die ganz auffallende Übereinstimmung des Wesens Marthas 
mit dem ihrer Mutter, die als Krüppel in einer ganz unglücklichen 
Ehe nur mehr Mißtrauen gegen Mitmenschen und Haß gegen Männer 
kennt, geben uns neue Einsichten. Wir sehen weiter, Marthas Mutter 
ist dm einzige führende Persönlichkeit in der ganzen Umgebung des 
Kindes. Sie beherrscht Kind und Mann völlig und der Onkel, der ein- 
zige Familienerhalter, darf sich nur im Streit Luft machen. Schon 
in frühester Kindheit sehen wir, wie Martha die Mutter nachahmt, 
wenn sie den Vater zwingt, ihr immer nachzugeben. In der SchulJ 
wird sie dann wegen ihres kleinen Ausspracbfehlers verspottet, die 
Mutter tröstet sie damit, daß es ihr auch so geht, daß alle Menschen 
schlecht und böse sind, und das Kind zieht sich ganz zurück in sieh 
selbst. Sie wird in dem, was ihr die Mutter ankündigt, noch bestärkt, 
die Lehrerin hält das eingeschüchterte Kind für zurückgeblieben' 
behandelt es schlecht. ' 

Diese ersten Erlebnisse in der Schule werden für ihre Beziehung 
zur Schule bestimmend; als sie die erste verständnisvolle Lehrerin 
fmdet, ist sie bereits abweisend geworden: sie vergißt alles, „weil 
sie niemand mag und sie niemand versteht". 

Vor allem bemüht sich die Lehrerin, Marthas Vertrauen zu ge- 
winnen, um von ihr mehr über ihre Schwierigkeiten zu erfahren 
Obwohl Martha der Lehrerin bald mitteilt, wie ausgestoßen und be- 
nachteiligt sie sei, daß nie eine richtige Frau aus ihr werden könne 
und sich nie ein Bub um sie kümmern werde, wird ihr die tiefere 
l-rundlage dieser Einstellung doch erst gezeigt, nachdem sie selbst 
Ihr Verhalten der Umwelt gegenüber verstehen und ändern gelernt 
hat. Martha beginnt selbst in den Aussprachen mit der Lehrerin über 
Ihr Verhalten, ihre Streitigkeiten mit den Kameradinnen nachzu- 
denken und sich Gedanken zu machen, woher ihr Wesen und ihre 
auffallendsten Charakterzüge herstammen. Und so ergibt es sich 
denn ganz von selbst ohne Zureden oder Uberredungsversuch von 
Seiten der Lehrerin, daß Martha zur Einsicht kommt, daß ihre Ein- 
stellung, ..mir ist nicht zu helfen, weil ich so benachteiligt bin und 
nie eine vollwertige Frau werden kann", direkt von der Mutter 
übernommen ist. Diese Einstellung gehört gar nicht zu ihrem Wesen 
das Kind habe alle eigenen ähnlichen Erlebnisse nach der Lebens- 



Schule und Erzieimngsberatung 197 

auffassiing der Mutter gedeutet und verarbeitet. Mit dieser Einsicht 
war die Schwierigkeit behebbar, Martha macht sich von der Identifi- 
zierung mit der Mutter frei und gewinnt eine eigene, normale Lebens- 
auffassung. 



193 Edilha Sterba 



Schlußbemerlcung 

Wer die ICinderanalyse nicht ihrer Technik und dynamischen Wirk- 
samkeit nach genauer kennt und als Erzieher noch nicht durch 
nnraittelbaren Kontakt mit Kinderanalytikern Einblick in die Arbeits- 
weise der Kinderanalyse bekommen hat, der könnte versucht sein, die 
hier beschriebene Arbeit der Lehrpersonen einem Stück Kinder- 
analyse gleichzusetzen. Deshalb erscheint es nicht unnötig, in der nun 
folgenden Darstellung an den einzelnen Fällen das hier wiederge- 
gebene pädagogische Verfahren gegen die Kinderanalyse abzugrenzen. 
Bleiben wir gleich bei einer Ähnlichkeit, die leicht als Gemeinsam- 
keit beider Arbeitsrichtungen angesehen werden könnte, beim Ver- 
halten der Lehrerin der kleinen Frida gegenüber, wie wir es im 
ersten Bericht geschildert haben. Die Lehrerin begegnet der 
kleinen Frida, die nichts nacherzählen kann und trotzig und ver- 
schlossen ist, nicht mit der sonst üblichen Aktivität des wohlwollenden 
Erziehers, sie versucht weder ihr den Trotz auszureden, noch ihn zu 
„brechen". Sie vermeidet jeden Schein einer affektiven Gegeneinstel- 
lung, d. h. sie ärgert sich nicht und kritisiert nicht, wie es der Erzieher 
im allgemeinen wohl tut oder tun muß. Vielmehr gibt sie der Kleinen 
zunehmend zu verstehen, daß sie ihr trotziges Verhalten sowohl ver- 
steht wie begreiflich findet. Sie ist passiv, duldsam, freundlich und 
eröffnet damit dem Kind die Möglichkeit, aus sich herauszugehen und 
Tieferliegendes aus seinem Innern zu offenbaren. Soweit ist das Ver- 
halten der Lehrerin dem des Kinderanalytikers ähnlich, aber die Ver- 
schiedenheiten der beiden Situationen bedingen von da an deutlichere 
Unterschiede. Der Kinderanalytiker würde sich weiterhin abwartend 
verhalten, relativ unbekümmert um die äußere Situation und zunächst 
nur darauf bedacht, vom Kinde etwas zu erfahren, wenn selbst dieses 
Erfahren, etwa durch Wiederholung, das Kind auch in schwierige 
äußere Sitnationen bringen muß. Der Lehrer hat andere Ziele vor 
Augen und er muß sie auf kürzestem Wege zu erreichen trachten 
Die Lehrerin weiß wohl, daß dafür ein Stück Einsicht in das eigene 
Verhalten beim Kinde notwendig ist, aber sie braucht diese Einsicht 
nur soweit, als es für die Zielerreichung, nämlich die Aktivierung der 
Lernfähigkeit, unbedingt notwendig ist. Dieses Stück Einsiebt er- 
reicht sie durch ihr Verhalten dem Kind gegenüber und durch einen 
Kunstgriff, der wiederum der Technik der Kinderanalyse entnommen 
ist, durch die Anregung der Phantasiebildung. Indem sie diese for- 
ciert, umgeht sie auch ein in der Kinderanalyse wichtiges Stadium, 
namhch die anfängliche Verbreiterung der Kenntnisse über die ge- 
nauen Inhalte des Alltags und der häuslichen Konflikte. Die Lehrerin 



Schule und Erziehungäberatung 109 



müßte ja auch sonst fürchten, daß Frida ihre häusliche Situation allzu 
sehr durch Agieren in der Schule darstellen und dadurch mit den dis- 
ziplinaren Anforderungen in der Schule in Konflikt geraten könnte. Die 
dadurch notwendigen Zurcht Weisungen im Sinne des Tadels oder des 
Verweises müßte Frida dann als Bestätigung für die Richtigkeit 
ihres früheren passiven Verhaltens ansehen und ihre positive Be- 
ziehung zur Lehrerin ebenso rasch in eine negative verwandeln. Da 
sich diese Phantasiebildungen aber in der Massensitualion der Schul- 
klasse abspielen, ist auch außerhalb des analytischen Abbaues der 
moralischen Instanz eine Ermäßigung des Schuldgefühls soweit mög- 
lich, daß eine Entspannung der Triebkonflikte die Folge ist. Die 
Phantasieproduktion brachte dem Kind die wichtigste Erkenntnis, 
nämlich daß die Aufnahme der Pflegetochter in die Familie nur etwas 
zur Auslösung brachte, was schon in hohem Maße vorgebildet war, 
nämlich die Eifersucht auf die Mutter und den Wunsch nach Alleiu- 
hesitz des Vaters. 

Gerade der zweite Fall, der der kleinen Suse, die um das 
"Wohlergehen ihrer Mutter so besorgt ist und so an ihr hängt, daß sie 
Selbstmord zu begehen droht, wenn der Mutter etwas passiert, 
ist für den Unterschied zwischen Kinderanalyse und der hier geschil- 
derten Technik der Erziehungshilfe beispielgebend. Nie- 
mand wird annehmen, daß der Analytiker ablehnen wird, die tieferen 
Motive der Angst der kleinen Suse dem Kinde zum Bewußtsein zu 
bringen, aber es wird dafür einer Voraussetzung bedürfen, die nur 
in der Kinderanalyse, niemals aber in der Schulsituation geschaffen 
werden kann, nämlich der Ermäßigung der Abwehr der aggressiven 
Wünsche gegen die Mutter. Die Gefahren, die ein solcher Versuch 
innerhalb der Schulsituation mit sich gebracht hätte, haben wir bereits 
hei der Darstellung des Falles hervorgehoben. 

Auch beim dritten Fall, bei Elsi, die auf mündliche Fragen 
nie antwortet, mit den Kameradinnen überhaupt nicht spricht, nie mit 
der eigenen Leistung zufrieden ist und Lob und Anerkennung immer 
.als unverdient zurückweist, ist das Verhalten der Lehrperson zum 
Beginne der intensiveren Beschäftigung mit dem Kinde mehr dem 
des Kinderanalytikers angeglichen als dem des durchschnittlichen 
Erziehers; dieser hätte wohl das Nichtsprechen des Kindes als trotzig 
gerügt und dadurch Elsis eigene Selbstkritik verschärft oder er hätte 
■es auf Unkenntnis bezogen und so dem Kind Unrecht getan. Elsis 
Lehrerin aber ist verstehend, duldsam, rezeptiv und macht es dem 
Kind dadurch nach längerer Zeit möglich, die Haßregungen gegen die 
bevorzugte Schwester zu gestehen und gleichzeitig die trotzige ab- 
lehnende Haltung, die ja eine Folge der unterdrückenden, aggressiven 



200 Editha Sterba 



1 



Einstelhmg der Umgebung gegen das Kind ist, fallen zu lassen. Aber 
die Ähnlichkeiten im Verhalten von Kinderanalytiker und Erzieher 
gehen nicht weiter als bis hierher. Der Analytiker hätte im Anschluß, 
daran die Haßregungen des Kindes gegen die Schwester mit ihm be- 
sprochen sie weiter verfolgt, in der Analyse abreagieren lassen, wozu 
m der Behandlung durch die Lehrerin weder Zeit gegeben war, noch 
Gelegenheit geboten werden durfte, da solches Ausleben der Schul- 

wlüerrderv/'" \'^^"^'" ""T' ^'' ^""^^-^^^^ unternahm aber im 
Sndes ein. IT-^- ''^^^'^ ^^' unterdrückten Triebtendenzeu des- 
Knd Pi^?. -f ',^"''^''''^^"'^^^^^' ^'' verschaffen. Sie gab dem 

.Sl. V '''"'.""* 'r '' '"'^ beschmutzen konnte, und litß'esi" 
p!r!Lfl? -f ""f Schmutzlust ausleben. Da sie dies als autoritative 
Fr^r '^'''' ' "' ^'^^^^'^ '^t' ^»-^^i^hte sie damit eine gewaU ge 
Ermaßiguiig der Gewissensansprüche der kleinen Elsi. Der Kinder! 
analytiker hätte dieses Gewähren einer eingehenden Bespre hun^ 

in! vse deT ""^r '". ""t^ ^^' Gewissensstrenge des Kindes durch 
Anaijse der moralischen Instanz ermäßigt 

ist n7i ' ^.\^ ^ ° ^ ^ 1 1' bei der kleinen Martha, die so verschlossen 
GrundLo'Jt ^ l P^'"'^^' "^'^ zurückgesetzt fühlt, hätte di^ 
S auf Ihn, 'f y^^^^^l^ens, nämlich die Identifizierung mit der Mut- 
weid n könn u^m;" ^\^\\° ^^^^ Kinderanalyse zutage gefördert 
währendTn efnpA , '\^^''' ''^ "'" grundlegender Unterschied: 
dasK nd nersTbritt r, ^'f "^^',^^ ^'^^^^^ -'-^' ^^^^^^^ Material 
mit der MutL. se "m UT '' T '"' ^^^^«^^^^^ die Identifizierung- 

Verhaltens der Senen in dertbT ^^^^^^^^"^^ ^*-- Q-"^ ^^ 
aer Voraussicht, dTlT ^^^:^'Z:^l^S'^''''\ ^^ 

freundliche Einstellung der Lehrerin, die es ermögl chte daß di; 

Emder schon nach kurzer Zeit ihre Abwehr ermäßigten und den ge 

licimen Tnebwünschen freieren Ausdruck ließen. Solche EinsteUunt 

war der Lehrerin allerdings nur durch ihre eigene Analyse m^ 

Stuckweise wurden neben pädagogischen Eingriffen, die immer vot 

analytischer Einsieht geleitet waren, Deutungen erteilt. Es muß nicht 

gesagt werden, daß im Vergleich zu einer Kinderanalyse diese Deu 

tungen allesamt unvollkommen und allzusehr situationsfaezo-en- 

waren. Die dynamischen Veränderungen aber, die in der Folge dieser 

Deutungen auftraten, zeigen, daß sie trotz ihrer Unvollkommenheit 

im bmne des Angestrebten doch wirksam und ausreichend waren Für 



1 



Schule und Erziehungaberatung 201 



die Zielsetzungen des Lehrers, die in den zur Rede stehenden Fällen 
die ausschlaggebenden sind, reichen sie hin. Man wird sich freilich 
hüten und nicht meinen, so erzogene Kinder „analysiert" zu nennen. 
Es wui-den lediglich einige Einsichten in die aktuelle Symptomatik 
gewonnen, genügende allerdings, um dem Kind das Fortkommen in 
der Schule und die Einordnung in das häusliche Milieu zu erleichtern, 
oft sogar zu ermöglichen. 

Die Fruchtbarkeit solcher gemeinsamer Arbeit des analysierten 
Erziehers mit dem Kinderanalytiker erscheint aus dem Dargestellten 
nicht mehr anzweifelbar. 



IINIIIIIIIIIIÜIIIIIlllllillllllllllllllllll Illllilllllll 



1 



iIlillll<l!lllilliiiNllill!lliilllIiiliilll!!:!l!ililllitlll!llli!III!lillI|]lll!lllll!iliillllJ!Jlii!ill!l^ 

BERICHTE 



Beridit aus Chicago 
Vor kurzem veröffentliclife das Instiute for P s y e h o a nalys i s 
in Chicago seinen dritten Jahresbericht, der wiederum in übersichtlicher ] 

Weise ein Bild von der Ausbildungstätigkeit und den Problemen der am 
Institut betriebenen Forschung berichtet. Die Stellungnahme des Instituts zu 
den Problemen der Kinderanalyse und der Zusammenarbeit mit den Erziehern 
geht aus drei Abschnitten hervor, die wir im folgenden in einer Übersetzung 
nach dem Origlnalberieht wiedergebea: 

1. Kinderanalyse 

Seit der Gründung des Institutes haben wir die Hoffnung, unsere thera 
lieutische und wissenschaftliche Arbeit auch auf Kinder auszudehnen Wie 
fl-ir schon im letzten Jahresbericht ausführten, ist die vorbeugende 
Anwendung der Psychoanalyse wahrscheinlich in der Zukunft ihr 
nichtigstes Anwendungsgebiet. Des Kindes seelisches Wachs- 
tum sollte durch die Vermeidung von solchen pathogenen Einflüssen, die wir 
Jiir dio spätere Entwicklung von Psychoneurosen und Psvchosen als verant 
wortlich anzunehmen gelernt haben, in gesunde Bahnen geleitet werden. 

Da Beiträge zur Errichtung einer Kinderabtoilung bereits 

gesichert sind, so hoffen wir, einen oder mehrere Kinderanalytiker anstellen 

zu können; diese können dann zur Lösung jener Probleme beitragen die di^ 

Anwendung der Analyse in der Erziehung betreffen. Gleichzeitig halten es 

i . die Kuratoren und die Mitarbeiter des Institutes nicht für richtig den Wir 

■ kungsbereich zu schnell oder zu weit auszudehnen. Es ist von großer Wiehtir 

f keif, daß dio bereits im Gang befindlichen Arbeiten .sich langsam entwickel 

können und damit der gesunde Aufbau sieh festigen und stärken kann «" 

daß die Weiterentwicklung des Programms sich ansehließt. ' ^'^ 

Gleichwolil wäch.?t das Bedürfnis nach einem Kindoranalytiker im Wf 
ni-beilerkreis des Institutes. Durch Material, welches mit der Teclmik ' 
K.nderanalyse gefunden wurde, wollen wir unsere Befunde ergänzen die tT 
Material aus Erwaeh.scnenanalysen stammen. Ein Beispiel für dies Bedürfnis 
zeigt sicli in unseren Studien über die äthiologischen Faktoren des A^'thmas 
In vielen Fällen liegt der Beginn der Asthmaanfälle in der frühen Kindheit' 
Der Gefühlskonfiikt zeigt sich in diesen frühen Jahren in einer so einfachen 
und offenen Form, so daß es für unsere Forschungen von unschätzbarem Wert 
wäre, diejenigen Konfliktsituationen direkt zu beobachten, die wir später 
m der Erwachsenenanalyse nur r e k o n s t r u i e r e n können. Dasselbe gilt 
für die Erforschung von Hautevkrankungen, wie Ekzeme und Urthicaria die 
häufig in früher Kindheit auftreten. Man hat auch Asthmnfälle beobachtet, 
bei denen gewisse Hauterkrankungen in der Kindheit den Asthmaanfällen 
des späteren Lebens vorausgegann-en waren. 



Berichte aus Chicago 203 



Die Mimleetkosteii. um einen erfahrenen Kinderanalytiker anzustellen und 
ein begrenztes Programm durchzuführen, würden für das erste Jahr 9000. — 
Dollar, für die folgenden 8000. — Dollar betragen. 

2. Psychiatric Social Workere 

(Psychiatrisch arbeitende Fürsorger) 

Die ständige Forderung der „Psychiatric Social Workers" nach psycho- 
analytischer Unterweisung ist eine Frage von großer praktischer Bedeu- 
tung. Diese Forderung, die sieh im Laufe vieler Jahre verstärkt hat, kann 
nicht einfach vernachlässigt werden. Durch das mangelhafte Interesse und 
die Ungecignethoit der Schulmedizin, sicli mit den psychologischen Problemen 
ihre Patienten zu befassen, und namentlich durcli die überwiegend somatische 
Orientierung der älteren Medizinergenoration bleibt eine große Zahl von 
Patienten, die an Psychoneuroscn leiden, ohne zweckdienliche ärztliche Hilfe. 
"Wir denken dabei besonders an die große Gruppe von p-sychoneurolisch Er- 
krankten, die nicht so gestört sind, daß sie psychiatrische Kliniken aufsuchen. 
Obgleich viele dieser Personen in großer materieller Nol und unter schwie- 
rigen äußeren Bedingungen leben, ist doch ihre desorganisierte Lebens- 
situation häufig die Folge ihrer Psychoneurose. Es scheint uns natürlich, daß 
diese Leute Hilfe suclien, wo immer sie sie finden. Nur eine kleine Gruppe 
kann in Obhut eines Analytikers oder psychologisch geschulten Psychiaters 
kommen. Die schnelle und ausgedehnte Verbreitung von oberflächlichen und 
unwirksamen psychotherapeutischen Methoden kann als das natürliche 
EesuUat dieser Situation aufgefaßt werden. 

Ein keineswegs befriedigendes, aber doch gesünderes Symptom dieser Ent- 
wicklung ist der neue Psychotherapeutentypus in der Gestalt der Psychiatric 
Social Workers. Zahlreiche Vertreter dieser Fürsorgearbeit haben ein crnst- 
l-.aftcs Interesse für Psychoanalyse, weil sie fühlen, daß die Analyse ihnen 
die Richtlinien geben könnte, die sie in ihrer luglichen Arbeit brauchen'). 

Psychiatrie und Psychotherapie werden von der Schulmedizin als ihre 
Domäne beansprucht. Dementsprechend fordert die Schulmedizin, daß dem 
Unterricht in Psychoanalyse ein ausgedehntes Medizinstudium vorangegangen 
sei und daß nur medizinisch Graduierte in Psychoanalyse ausgebildet werden. 
Die Frage einer zweckdienlichen psychiatrischen Fürsorge in großem Maß- 
stabe trifft hier auf unüberwindliche Hindernisse. Die begrenzte Anzahl 
kompetenter Lehrer, die kostspielige und zeitraubende Art des psychoanalyti- 
schen Unterrichts sorgen dafür, daß nur eine ungenügende Zahl von Aus- 
gebildeten dem weitverbreiteten Bedürfnis nach derartiger psychiatrischer 
Hilfe gegenübersteht. 

Die Schulmedizin fordert ilir Recht auf die Psychotherapie und ist nicht 
imstande, und wir müssen es zugeben, jetzt auch nicht gewillt, der Psycho- 

1) Die Lage der Psychiatric Social Workersin ihrem Zusammenhang mit 
der Psychoanalyse wurde durch Boatrice Levey auf der letzten Ver- 
Bammhmg der Illinois Mental Hygiene Society in ihrem Referat 
„Psychiatric Social Work" dargestellt. 



204 Berichte aus Chicaso 



therapie in der medizinischen Ausbildung den ihr gebührenden Platz einzu- 
räumen. Auf Grund dieses Sachverhaltes kann man die Arbeit der Psychiatric 
Social WoTkers nicht einfach mit dem Argument abtun, sie seien mangelhaft 
medizinisch geschult. In Wirklichkeit füllen sie eine Lücke aus und werden 
ein wichtiger Faktor in der praktischen psychiatrischen Fürsorge bleiben, 
so lange es keine bessere psychiatrische Hilfe, d. h. so lange es nicht genügend 
analytisch ausgebildete Ärzte gibt, um den dringendsten Bedarf zu decken. 
In diesem Sinn wird der Psychiatric Social Worker zum Ersatz für den medi- 
zinisch geschulten Psychotherapeuten. Anstatt diese Situation unkontrolliert 
fortbestehen zu lassen, wäre es eine erwünschtere Lösung für die medizinische 
Schulung und Überwacliung der Psychiatric Social Workers zu sorgen. 

Dieses Problem, das so tief in der ganzen materiellen und sozialen Struk- 
tur unseres Landes verwurzelt ist, kann natürlich praktisch nicht von einem 
einzelnen Institut gelöst werden. Mit Rücksicht auf die unabänderlichen Tat- 
sachen haben wir eine kleine ausgewählte Gruppe von Psychiatric Social 
Workera mit den Grundtatsachen der Persönlichkeitsentwicklung vertraut 
gemacht. Wir beabsichtigen nicht, sie zu Psychotherapeuten heranzuziehen 
wir wollten ihnen nur einige Grundbegriffe der Psychoanalyse vermitteln' 
Dies sollte ihnen in ihrer Alltagsarbeit, die sie so oft vor psychiatrische 
Probleme stellt, helfen. 

Es ist offenkundig, daß dies nicht viel zur Lösung des Gesamtproblems 
beitragen kann. Wir glauben, daß die klinische Psychiatrie in Zukunft von 
der Mitarbeit geschulter Psychiatric Social Workers mehr und mehr Gebrauch 
machen wird. Viele soziale Organisationen, Spitäler und Universitäten=) hc 
schaftigen sich mehr und mehr mit der Rolle, die die Psychiatric Social 
Workers spielen. Sie glauben, daß die gesunde Zueammenarheit zwischen 
Psychiatern und Social Workers von der Ausbildung der letzteren in Psv 
cliialne und besonders in Psychoanalyse abhängt. Wahrscheinlich wird ab«r 
noch einige Zeit vergehen, ehe alle Schulen für Social Workers, alle öffent- 
liehen und privaten Institutionen und vielleicht sogar die psychiatrischen 
Abteilungen in den Spitälern in ilirera Mitarbeiterstab psychoanalytisch aus- 
gebildete Psychiater Iiaben werden. 

3. Lehrer 

Die Bitte der Lehrer um Unterweisung in der Psychoanalyse ist gegen- 
wärtig lange nicht so allgemein oder nachdrücklich wie die der psj'chiatrisch 
arbeitenden Social Workers Der Durchschnittslehrer ist vor allem damit 
beschäftigt, sein und seiner Schüler Wissen und Fähigkeiten zu vergrößern, 
er fühlt sieh weder verpflichtet noch geeignet, sich mit den Führungsschwie- 
rigkeifen der Kinder zu beschäftigen. 

Trotzdem dio Psychoanalyse kaum in der Lage ist, heute schon einfache 
und praktische Leitlinien der Ergiehungsgrund.sälz e zu formulieren, so ist es 

=)Dr. FranzAlexander hielt im Schuljahr 1930/1931 an der S o c i a 1 
Service School der Universität Chicago einen Eiuführungskurs 
für Social Workers. Dr. Thom as Fre nch hielt 1930/31 an der Universität 
CJiieago einen psychiatrischen Kurs. 



Bücher 



205 



doch offenkundig, daß das Wissen von den Grundtatsachen der Persönlich- 
keiteentwickJung für den Lehrer eine unschätzbare Hilfe bedeutet, besonders 
wenn er mit Bchwierigen Kindern zu tun hat. Anna Freuds Arbeit mit 
Erziehern in Wien hat gezeigt, daß analysierte Lehrer mit schwierigen 
oder schwererziehbaren Kindern viel erfolgreicher umgehen können. Ihre 
eigene Analyse ermöglicht ihnen das Veretändnie der psychischen Grundlagen 
des kindlichen Verhaltens. 

Im ganzen gibt es also hie jetzt keine systematische Einführung psycho- 
analytischer Gesichtspunkte in die Erziehung. Die Frage nach der Wirkung 
der Schule auf die persönliche Entwicklung des Schülers und die Anwendung 
psychoanalytischer Theorien auf die pädagogisehe Forschung können jetzt 
vom Institut nicht unternommen ■werden, es sind zu komplexe und zu weite 
Problemkreise. Wenn die Pläne für eine Kinderabteilung durchge- 
führt werden, wird es für da-s Institut möglich sein, ein Forschungs- und 
Untersuchungsprogramra aufzustellen, das den Interessen und Problemen der 
Lehrer direkt Rechnung trögt. Jetzt begnügen wir uns damit, von Zeit zu 
Zeit einen besonders qualifizierten Lehrer in Analyse zu nehmen und ausge- 
wählten Lehrergruppen eine elementare Einführung in die Grundlagen der 
Psychoanalyse zu geben. 



Büdier 

Emile Lobet: A Propos De L'Orienfation Professionelle. (Zur Frage 
der Berufsberatung.) Documents p^dotechniques pubHSs par la Socifit^ Beige 
de P^dotechnie avec la collaboration de l'Institut J. J. Rousseau, de Gen^ve. 
Bruielles 1934. 

Für die belgische öffentlichkeit bestimmtes Plädoyer für die Notwendig- 
keit der Berufsberatung. Es werden Beruf sbera tu ngsämter vorgeschlagen, die 
von allen gewerblichen Verbänden Informationen bekommen und sie den Eat- 
puchenden mitteilen sollen. Ein System von Tests soll zur Begutachtung der 
Berufseignung zur Verfügung stehen. P. B. 

Ludwig Münz und Viktor Löwenfeld: Plastische Arbeiten Blin- 
der. Verlag Rudolf Rohrer, Brunn, 1935. 

Das Buch enthält Bildermaterial der Plastiken, die Blinde unter Leitung 
Prof. Viktor Löwenfelds geschaffen haben, und einen theoretischen 
Teil von Ludwig Münz. 

Münz referiert eingangs die bisherigen blindenpsychologischen Theorien. 
Diese lassen sich im wesentlichen zwischen zwei Extremen anordnen: die 
eine, im 18. Jahrhundert durch Herder vertreten, schreibt den Blinden ein 
spezifisches, durch das Tasten erworbenes Raumerlebnis zu, das qualitativ 
wesensverschieden von dem Eaumerlebnis der Sehenden ist (Glücklich ope- 
rierte Blinde stehen der Sehwelt erst ganz hilflos gegenüber.) Demgegen- 
über haben einige Experimentalpsychologen dee 19. Jahrhunderts die Raum- 
uuffassung der Blinden nicht anders als eine Minusvariante von der normalen 

Zeitschrift f. psa. Päd., X/3 



206 



Bücher 



aus verstehen wollen. Sie nennen das Abweichen der Gestaltung der Blinden 
vom naturalistisch Richtigen „fehlerhaft", „Surrogatvorstellungen". Etwa seit 
1900 hat es freies Modellieren bei Blinden gegeben. Der Unterricht bestand 
darin, daß man die möglichst naturgetreue Nachahmung der Tastwahrneh- 
mung übte. Auch mit Erfolg; allerdings meist mit erst spät Erblindeten. 

Das erstemal hat nun Viktor Löwenfeld versucht. Blinde ganz frei 
und unbeeinflußt arbeiten zu lassen. Er verlangt keine Natur-, sondern Ge- 
fühlswidergabe. Er arbeitet hauptsächlich mit Geburteblinden. Das Resultat 
ist überraschend. Der Blinde hat eine andere Arbeitsweise und Icommt zu 
anderen Eesultaten als der erwachsene Visuelle unserer Zeit. Aber seine 
Plastiken sind auch durchaus keine Tastwiedergaben. Plastiken Blinder sind 
einansichtig, ein Gemisch von Relief und Vollrundplastik (der Hinterkopf 
z. B. ist fast immer vernachlässigt und flach). Einzelne Gesichtszüge und 
Körperteile sind in Größe und Ausdruck überbetont und dann trotzdem zu 
einer Ganzheit zusammengeschlossen. Jede empfindungsmäßig wichtige Form 
wird für sich gemacht und dann mit den anderen zusammengefügt; und zwar 
baut der Blinde seine Plastiken von innen her. Er macht erst die Augenhöhle, 
legt dann die Augenkugel hinein und zieht das Lid darüber, macht die Mund- 
höhle, Zunge, Zähne (eventuell im Schmerz zusammengepreßt) und legt die 
Lippen darauf, legt die Nase auf den Atmungskanal usw. Die einzelnen Reprä- 
sentanten sind nach ihrer jeweiligen Wichtigkeit ausgewählt und betont (2. B. 
bei der Hand des Rauchers sind nur die zwei die Zigarre haltenden Finger 
gebildet). Die Formen sind vereinfacht, man merkt den Duktus der Tast- 
bewegung. Die Tastqualität des Körpers spielt eine große Rolle. Weiches wird 
weggelassen, ganze Skeletteile, die ertastbar sind (Rippen, Wirbelsäule), 
liegen frei. Bei starkem Gefühlsausdruck werden tiefe Muskelpartien heraus- 
gearbeitet, die weder sieht- noch tastbar, sondern bei diesem mimischen Aus- 
druck stark beteiligt sind, und die man fühlt. Diese innere Empfindung von 
Muskelbewegungen beherrscht die ganze Darstellung, ist ausschlaggebend für 
sie und macht sie packend, wahr und stark. Zeitgetrennte Vorgänge werden 
bei Blinden oft durch räumliches Nebeneinander gegeben, z. B. Lippenzittern 
durch wellenförmige Einkerbungen um den Mund. Wenn der Blinde auch 
jeden Teil für sich macht, geht er planmäßig von einer Ganzheitsvorstellung 
aus, nach der er sie ordnet. Er arbeitet autoplastisch nach dem inneren Gefühl 
von eich (trifft nur so Proportionen, z. B. gleiche Arme). Proportionsver- 
Bchiebungen sind demnach nicht als fehlerhaft zu werten, wie die Psychologie 
nach Herder es getan hat, sondern sie sind eben anders vorstcUungsbe- 
dingt. Der Blinde arbeitet bilateral, weil er mit beiden Händen tastet. Er 
arbeitet einansichtig, weil in seiner Vorstellung nicht das Vorne und Rück- 
wärts ist, sondern das Vom- und Zum-Objekt. Der Aufgabe, ein Profil zu 
schaffen, kommt der Blinde nach, indem er an einem ^n face-Gesicht nur die 
eine Hälfte ausführt. Und so stark ist die unbewußte Autoplastik, daß der 
gerade gewachsene Blinde immer seine Plastiken symmetrisch modelliert, der 
schiefe mit verschobenen Achsen. 

Der Außenraum wird nur gemacht, wo er das Ich berührt, z. B. wo der 
Fuß aufsteht, wird ein Tonstück unterlegt usw. Will der Blinde Entfernung 



Bücher 



207 



zwischen zwei Menschengestalten, symbolisiert er sie durch ein Tonstück 
lias er dazwischen legt. ' 

Was man bisher die „Surrogatvorstellung« der Blinden nannte, erweist 
sich eben als die spezifisch andere, die Tastraumvorstellung; und zwar ist 
das im großen und ganzen so zu verstehen, daß die Vorstellung der Form und 
Mimik von innen heraus aus dem Muskel- und Körpergefühl entsteht nicht 
durch einzelne informative Tastakte; eventuell spielt die Erinnerung an 
solche mit. 

Wenn wir Kunstwerke primitiver Völker mit den Blindenarbeiten ver- 
gleichen, zeigt sich das interessante Ergebnis, daß sie weitgehende Über- 
einstimmung aufweisen. Man kann die gemeinsame Grundlage „Urvorstellung" 
nennen. Auch der Primitive übertreibt die für seine Vorstellung wichtigen 
Zuge und läßt fast alles andere weg. (Die Hand des Rauchers hat nur die 
zwei Finger, die er zum Halten der Zigarre braucht, wie heim Blinden, der 
Kopf ist als Wichtigstes riesengroß usw.) Das Vermengen von Zeit und Raum 
kommt ebenso vor. Eine Indianerzeichnung will einen Fliehenden darstellen: 
sein Laufen wird als Linie vor ihn hingeschlängelt. Auch bei den Primitiven 
gibt es Einansichtigkeit, dieselbe Vermengung von Relief und Plastik wio 
beim Blinden, Hinterköpfe usw. sind auch da vernachlässigt. Ihre Darstel- 
lungen sind immer bilateral; sie sind auch rein au toplast ischen Vorstellungen 
entsprungen. Der Arbeitsvorgang ist natürlich ein anderer, aber das Resultat 
ist sehr ähnlich. 

Noch näher stehen die Blindenplastiken der Volkskunst, weil ihr das 
Eeligiös-Stairfornielhafte der Primitiven fehlt. 

Dasselbe ergibt sich beim Vergleich mit Kinderarbeiten. Das Kind kennt, 
wenn es halbwegs gesund und von keinem „Kunstunterricht" verdorben ist, 
kein Sehen, es arbeitet rein aus der Vorstellung, setzt auch wichtige Figuren 
riesengroß neben kleine, hat also eine Wertperepektive, nicht eine Sehper- 
spektive. 

Sehr hübsch erklärt Münz eine Wirkung des Kinos aus dem Zurück- 
gehen auf die „Urvorstellungen", wie sie in unmittelbarer Aufeinanderfolge 
von Großaufnahmen und kleinen Bildern wieder aufleben. 

Aus den Ausführungen dieses wichtigen Buches von Münz kann man: 
folgendes schließen; Das ursprüngliche Erfassen der Außenwelt beim ich- 
gebundenen" Kind, Primitiven und Blinden vollzieht sich durch Tasten (und 
tastähnlichem Erfassen mit Auge oder Körpergefühl). Das perspektivisch 
richtige Sehen, das 3a wirklich erst sehr spät in die Sehgeschichte der Men- 
schen voll eingebaut worden ist, scheint ein mit Intellektfunktionen verbun- 
dener Aufbau auf der Grundlage des primitiven, vorstellungemäßigen Er- 
fassens. , . ,,,.„.. . 

Auch alles schöpferische Gestalten dürfte aus dem primitiv Vorstellun-s- 
mäßigen entspringeiK Nur dann kann das Phänomen eintreten, daß ein Künst- 
ler die altbekannte Welt neu und anders „sieht" und gestaltet. ■ J. L. 

ff» 



208 Bücher 

Herman Nohl: Die pädagogische Bewegung in Deutschland und ihre 
Theorie. Zweite, durchgesehene und mit einem Nachwort versehene Auflage. 
Verlag G. Schulte-Bulmke, Frankfurt a. M., 1935. 

Ein Versuch des hervorragenden Theoretikers der Pädagogik, Nohl. die 
Gedanken und Wertungen der deutschen pädagogischen Bewegung von ehe- 
mals in die gegenwärtige Epoche hinüberzuerhalten. Der Autor verbirgt 
nicht seine leidenschaftliche Anteilnahme an dem Schicksal dieser Bewegung. 
In der Darstellung ihrer Persönlichkeiten, ihrer Kämpfe und Ziele, erhebt 
sich seine Sprache fast ständig über den üblichen Berichtston, erreicht über 
lange Strecken hinweg einen gehobenen Festredenton. 

Wir bekommen in der ersten Hälfte des Buches einen Überblick über die 
vielfältigen Erregungen und AMuhrversuche des Kulturbereiches „Pädagogik" 
(im weitesten Sinne) in Deutschland, seit der Krise des 19. Jahrhunderts, die 
mit der erschütternden Veränderung der Lebensbedingungen der Volksmehr- 
iieit eingesetzt hat (Industrialisierung, Verstädterung usw.). Es ist in der 
Tat viel und viel bedeutsam Neues, was uns N o h 1 s Überblick wieder sehen 
läßt, und doch staunt man am Ende wohl am meisten über die Macht des 
Stabilitätsprinzips, die selbst in so labilen Zeiten und auf einem so unsicher 
fundierten Gebi6t all die pädagogischen Teilbewegungen zu kleinen Minder- 
heitsbewegungen stempelt, ihnen elastisch ausweicht, um sie dann spurlos 
verpuffen zu lassen, oder mit ihnen als unbedeutenden Komponenten eine neue 
Eeaultierende bildet, in der die Richtung des neuen Impulses kaum mehr 
kenntlich ist. Das günstigste Schicksal seheint noch der Jugendbewegung 
zuteil geworden zu sein: ihre äußeren Formen haben sich durchgesetzt, nicht 
nur in Deutschland, sondern auch anderwärts; ihre ursprüngliebe innere 
Haltung ist fast vollständig in Vergessenheit geraten. Andre Bewegungen 
sind weit minder erfolgreich gewesen; etwa die Bewegungen für Arbeits 
echule, Kunsterziehung, Schulgemeinden, Landerziehungsheime. Nohl bemüht 
eich, die Tatsächlichkeit und Natürlichkeit aller Richtungen neuer Pädagogik 
als notwendige Versuche nachzuweisen, Ersatz zu bieten für all das, was 
durch die Entwicklung der Gesamtkultur verloren gegangen ist: die selbst- 
verständliche Verwurzelung in Familie, Beruf, Heimat, Geschmack, Sitte 
Weltanschauung. In dieser lebendigen Antwort auf eine Einheit, die krisen' 
hafte Kulturveränderung, liege die Einheit der so vieles umfassenden groüen 
pädagogischen Bewegung. Wir erfahren dabei, daß man auch die psycho 
analytische Bewegung als einen Teil aller um die Charaktererziehung be' i 

rauhten Remedurbewegungen auffassen kann. „Auch hier ist die Voraussetzung 
.ein pathologischer Zustand der Gegenwart, die Auswirkung der Kulturkrise 
auf die Einzelseele. die ihre Spaltung, Wurzellosigkeit und Vereinsamung 
zur Folge hat." Kach diesem Buche zu schließen, ist übrigens die Vertraut- 
heit des Autors mit der Psychoanalyse nur mittelmäßig, im Vergleich mit der 
sonstigen Ideenkenntnis N o h 1 s nur geringfügig zu nennen. Noch bevor sich 
Nohl im zweiten Hauptteil seines Buches theoretischen Begründungen zu- 
wendet, schließt er den ersten Teil mit einem persönlichen Bekenntnis zur 
praktisch drängendsten und drückendsten Frage der pädagogischen Bewe- 
gung: ihrem Verhältnis zu den Mächten, und Gemeinschaften, die im Namen 



rr. ^^''''^'' 209 

von Weltanschauungen das Recht der Erziehung für sich formen Die 
Pädagogik wird den Spieß umdrehen dürfen und fragen, ob eine Weltanschau- 
ung nicht erst die ewigen Wahrheiten des autonomen pädagogischen Wesens 
in sich aufnehmen müßte, wenn man sie als Erzieher beiahen können soll 
Aber es ist die Frage, oh jede Weltanschauung die einheimischen Begriffe 
der Pädagogik ohne Inkonsequenz in sich aufnehmen kann. Die gesamte 
Dogmatil! des Pädagogen beginnt mit einer radikalen Gläubigkeit an das 
Gesetz seiner Lebensarbeit. Der Mut, es jeder Macht der Welt gegenüber zu 
vertreten, auch wenn man ihr gleichzeitig in Ehrfurcht ergeben ist, ist das 
Herz jedes echten Erziehers der Gegenwart." 

Die ewigen Wahrheiten des autonomen pädagogischen Wesens — N o h 1 
wendet sich im zweiten Teil des Buches sogleich der recht komplizierten, 
unsichern Problematik zu, die der sicher klingende Ausdruck benennt. Gibt 
es in der Pädagogik eine allgemein gültige Theorie, unabhängig von der 
geschichtlich konkreten Lage und den „Weltanschauungen"? Gibt es ein 
„autonomes pädagogisches Kulturgebiet", ähnlich etwa der Kunst, der Wissen- 
schaft? Nohl bejaht beide Fragen im wesentlichen, lehnt aber zwei nahe- 
liegende und auch häufig gegebene Begründungsversuehe ab: 1. Den durch 
Ausgang von Zweckminimen, gewissen Fertigkeiten, Interessenfähigkeiten 
etwa, oder einem soziologischen Minimum, Erhaltung der Gemeinschaft, oder 
einem biologischen Minimum körperlicher, seelischer Gesundheit. 2. Den durch 
<Jie naturalistische Psychologie manchmal angebotenen Begründungsversuch, 
nämlich Darstellung des menschlichen Entwicklungeganges und der Wirkun- 
gen verschiedener Beeinflussungen auf diesen, mit der Annahme einer Skala, 
an der ein Optimum ablesbar wäre. Beides als unzureichend einzuschätzen, 
scheint uns Nohl alles Recht zu haben, beides gänzlich abzulehnen, scheint 
uns Unrecht. Hier ist allerdings nicht der Ort zur Diskussion der verwickel- 
ten Frage. Dagegen kann man wohl sagen, daß die Grundlegung, die Nohl 
auf der „gegebenen Erz iehungs Wirklichkeit" vornehmen will, mehr psycho- 
logisch als logisch verständlich ist. Es ist doch nur eine Scheinlösung, wenn 
jnan erklärt, daß das pädagogisch© Erlebnis und die pädagogischen Objekti- 
vationen eben tatsächlich für die zunehmende Autonomie der Pädagogik 
zeugten. Auch das zur Verdeutlichung herangezogene Beispiel, die Verselb- 
Etändigung der Kulturfunktion „Recht", ist nicht plausibel. Die Pädagogik ist 
Dicht mit der Wissenschaft auf eine Stufe zu stellen, ihre Beziehung zur 
Wissenschaft ist vielfach, nie ist sie ihr neben geordnet. Sie ist ebenso wie 
das Recht abhängig von vielen Mächten, gewußten und ungewußten- diese 
Mächte zu finden und zu zeigen, ist wichtig, es würde aber durch die unklare 
Theorie von der „gegebenen Erziehungswirklichkeit" erschwert werden 

Der die letzten Abschnitte des Buches bildende Versuch Nohls Allgemein 
Theoretisches zur Pädagogik zu geben, hat. wie viele ähnliehe V rtuche ^u 

ließe. Noh.s Arbeit vermittelt einen ör^^^ZJ^:^::: 
vollen, idealistischen Persönl chkeit des Autor=t ».h<>T,.« ^-u^raKier- 



'210 Bücher 

eigenwillig zusammengestellte, etwas unsystematische Terminologie die Fülle 
von Beobachtungen minder leicht dem Gedächtnis einprägbar macht. Auf 
Originalität in der Wissenschaft lieben Terminologie ist wohl kein Wert zu 
legen. 

N h 1 schließt mit einer Auseinandersetzung über die ewige Spannung 
zwischen „sokratischer" Pädagogik, die vom Individuum ausgeht, und der von 
tier Gemeinschaft ausgehenden „platonischen". Die Hinwendung zur plato- 
nischen Seite erscheint ihm als Kennzeichen der neuesten Entwicklung, daß 
das Sokratische nicht dabei verloren gehe, dafür wirbt und wirkt sein Buch, 
unserer Schätzung nach eine hochachtbare Leistung der deutschen pädagogi- 
schen Wissenschaft. Die Psychoanalyse als nicht wertende Naturwissenschaft 
vom Menschen sieht in der „sokratisch-platonichen Antinomie" keine Sonder- 
schwierigkeit. Sie geht vom Individuum aus und sucht die Gegebenheiten des 
Gemeinschaftslebens in ihrem Sinn für die Individuen zu erfassen. Das ist 
wohl auch der Sinn des Satzes, den Freud in den „Neuen Vorlesungen" 
geschrieben hat: „Streng genommen gibt es ja nur zwei Wissenschaften, 
Psychologie, reine und angewandte, und Naturkunde." P. B. 

Vilhelm Rasmussen: Ruth. Tagebuch über die Entwicklung eines 
Mädchens von der Geburt bis zum 18. Lebensjahre. K. Oldenbourg, 
München, 1934. 

Wie in jeder jungen Wissenschaft, die auf die Verarbeitung von Beoh- 
achtungsmaterial angewiesen ist, so bestand — und besteht auch heute noch 
in gewissem Sinne — in den Anfängen der Kinderpsychologie eine deutliche 
Diskrepanz zwischen der Fülle der neu auftretenden Ideen und Theorien und 
dem Beobachtungsmaterial, an dem diese Ideen aufgezeigt und diese Theorien 
bewiesen werden konnten. In den Anfängen der Jugendpsychologie wurden 
Tagebücher von Jugendlichen gesammelt und publiziert, mit dem wachsenden 
Interesse an der Psychologie des Säuglings- und Kleinkind alters wurden von 
psychologisch interessierten Eltern die über ihre Kinder geführten Tage- 
bücher veröffentlicht. Es erschienen — um nur die bekanntesten zu nennen — 
das Tagebuch der Eltern Scupin über ihren Sohn, die Aufzeichnungen der 
Amerikanerin Miss S h i n n über ihre "Nichte u. a. m. 

Aufzeichnungen dieser Art dienten dann sowohl als Tatsachenmaterial 
psychologischer Monographien wie auch als Kontrollmaterial zu weiteren 
entwicklungs- und experimentalpsychologischen Arbeiten, ein ausreichender 
Grund, um sich an dieser Stelle mit der wissenschaftlichen Dignität der Tage- 
Tjuch auf Zeichnungen auseinanderzusetzen. 

Es besteht kein Zweifel über den Wert von Tagebuchaufzeichnungen für 
die Erfassung eines individuellen Entwicklungsganges, vorausgesetzt, daß 
«s sich um die vorurteilsfrei angestellte und möglichst vollständigen Beob- 
achtungen eines geschulten Beobachters handelt. Problematisch wird ihr Wert 
aber immer dann, wenn diese Bedingungen nicht erfüllt werden oder Deutung 
und Verallgemeinerung ohne entsprechende Grundlage hinzutreten. 

Das vorliegende Werk ist meines Wissens das einzige von einem Berufs- 
-psychologen veröffentlichte Tagebuch — Hasmussen ist an der Lehrer- 
hochschule in Kopenhagen tätig und Verfasser mehrerer psychologischer 



Bücher 



211 



Monographien über das Säuglings-, Kleinkind- und Schulaltor — erscheint 
also iür eine weitergehende Auseinandersetzung besonders geeignet- 

Das Tagebuch über Euth wird aber weder den positiven noch den nega- 
tiven Forderungen immer gerecht. Die Blickrichtung des Beobachters ist 
keine unbedingt freie und uneingeschränkte. Rasmussen sieht klar und- 
deutlich, was er zu sehen erwartet, und erkennt nichts von dem, was er aus 
seiner ganzen Einstellung heraus nicht kennen kann oder ablehnen müßte. 
So liefert uns das Tagebuch zwar eine besonders klare und lebendige Schil- 
derung der intellektuellen Entwicklung dieses außerordentlich begabten Kin- 
des. Die Sprachentwieklung ist klar zu ersehen, wird durch ein Inventar der 
am Ende des zweiten Lebensjahres beherrschten Worte ergänzt. Jeder intel- 
lektuelle Fortschritt wird genau und liebevoll registriert, durch wiederholte 
Durchführung der B i n e t sehen Testaufgaben belegt. Reproduktionen von 
Zeichnungen zeigen uns die Entwicklung der besonders guten zeichnerischen 
Begabung. Auch die Charakterschilderung gelingt in vielen Zügen sehr gut: 
ihr stark entwickeltes Pflichtgefühl, ihr Hang zur Selbständigkeit und ihre 
Vorlieho für intellektuelle Betätigung treten klar hervor. 

Neben diesen oft ganz ausgezeichneten Darstellungen fällt es als schwer- 
wiegende UnVollständigkeit auf, daß wir fast nichts über die frühe Trieb- 
ontwicklung dieses Kindes erfahren. Die wenigen Tatsachen, die der Beob- 
achtung des Verfassers nicht entgingen, werden durch unzutreffende Deutung- 
fast bis zur Unkenntlichkeit verschleiert. Das ganze Werk hindurch behält 
der Verfasser eine Art der Klassifikation des Beobachtungsmaterials bei. die, 
was die Phänomene intellektueller Entwicklung betrifft, meist recht zutref- 
fend ist, jedoch verwirrend wird, sobald sie auf Triebgeschehen, besonders 
der frühen Kindheit, angewendet wird. 

Die Berichte über Nahrungsaufnahme und Eeinlichkeitsgewöhnung des 
Kindes sind außerordentlich dürftig. Die geringe Reaktion der 3,1 Jahre alten 
Euth auf die Geburt ihrer Schwester erscheint uns unwahrscheinlich, da im 
weiteren Verlauf Eifersucht und Rivalität als konstante Charaktereigen- 
schaften fungieren. Der beobachtende Vater kann nur „hartnäckige Logik 
ihrer Einwendungen" konstatieren, als sie nach der Geburt der Schwester 
darauf beharrt, zum Vater geführt zu werden. Wenige Tage später stellt der 
Vater mit Befriedigung fest, daß Ruth, die sehr zärtlich zu ihrer kleinen 
Schwester ist und „sie nicht als Mitbewerber bei der elterlichen Liebe be- 
trachtet". 

Die Darstellung der Beobachtungen über die Latenzzeit ist bedeutend 
befriedigender. Wissensdrang und Erwachen der Selbständigkeit treten klar 
aus der Schilderung hervor. 

In dem Teil des Tagebuches, der die Beobachtungen über die Pubertät 
enthalt, werden bemerkenswerte offene Schilderungen über die erwachende" 
Sexualität Kuths gegeben - der Psychologe erwartet Sexualität in der 
Pubertät, daher gelingt es ihm auch, sie zu sehen und zu beschreiben und so 
wenigs ens der Forderung nach größerer Eeiehhaltigkeit gerecht zu werden. 
Doch bleibt der Wert .für eme eventuelle Diagnosestellung weiterhin proble- 



matisch, da die Schilderung der einzelnen Episoden zuearamenh anglos bleibt 
und Erklärungen, wo sie zum Verständnis notwendig wären, fast gänzlich 
fehlen oder unzutreffend erscheinen. 

Wenn es doch gelingen sollte, aus dem vorliegenden Bericht ein Bild über 
die Triebentwicklung Ruths zu entwerfen, so nur dadurch, daß die geschil- 
derten Einzeltatsachen ihres Beiwerkes entkleidet, mit den psychoanalytischen 
Erkenntnissen über mögliche Entwicklungsformen in Einklang gebracht 
werden. Ein solches Vorgehen könnte aber nachträglicher Deutungen nicht 
entraten, es müßte schematisch lückenhaft und durchaus nicht unanfechtbar 
bleiben. E. Sylvester. 

A. M, Smits-Jenart; Le Systfeme P^dagogiqnc do Winnetka. (Das 
pädagogische System von Winnetka.) Documents pedotechniques publies par 
la Soci(5t4 Beige de P^dotechnie avec la eollaboration de l'Institut J, J, Rous- 
seau, de Genfeve. Bruxelles 1934. 

Winnetka ist ein Villenvorort Chicagos. Dort hat sich seit etwa 20 Jahren 
ein System „Neuer Erziehung" durchgesetzt; an einigen hundert anderen 
Orten, meist Amerikas, sind Methoden und Materialien Winnetkas gegen- 
wärtig eingeführt. 

Jedes Kind trotz der Gruppenbildung durch die Schule individuell zu 
unterrichten, ist der Kerngedanke des Winnetka-Systems. Kein Schüler soll 
schneller, als er fassen kann, zur Aufnahme des Stoffes gezwungen werden, 
kein Begabter soll warten müssen, bis der Durchschnitt der Klasse ihn er- 
reicht hat. Diesem zentralen Stück Theorie sind eine Menge didaktischer 
Einzelmethoden untergeordnet, teilweise fein und natürlich wirkende, manche 
dem Fernstehenden etwas erkünstelt, gezwungen erscheinend. Sie alle sind 
aber nicht das Wesentliche, die didaktischen Methoden wechseln auch noch 
immer in den Winnetkaschulen, werden immer wieder versuchsweise gegen 
andre eingetauscht. Unverändert dagegen bleibt das Ziel der individuellen 
Lernmethoden und notwendigerweise auch die große Bedeutung, die dabei 
dem Lernmaterial und den Prüfungetests zukommt. Solche Materialien und 
Tests sind für sämtliche Gegenstände der ersten acht Schuljahre in für euro- 
päische Verhältnisse kaum glaublicher Menge hergestellt worden. Der Lehrer 
hat im allgemeinen nur die Stellung eines Wegweisenden, Beobachters und 
Zielrichters, Nur wenn sich Schwierigkeiten dem Fortschritt entgegenstellen» 
hilft er in der altüblichen Weise nach. Das Zeugnis, das er dem Schüler aus- 
stellt, besteht in der Anzeichnung derjenigen Punkte auf dem ünterrichts- 
programm, über dio ein gelungener Test abgelegt wurde, Keben dem obligaten 
Lehrstoff, der ohne strenge Jahreseinfeilung in den Klassen individuell er- 
arbeitet wird, lernen die Kinder zahlreiche Gegenstände freiwillig in „verti- 
kalen" Kursen, die von Kindern verschiedenen Alters je nach Interesse und 
Fähigkeiten besucht werden. 

Zum Winnetka-System gehört aber nach dem vorliegenden Bericht nicht 
minder wesentlich als die bis zum äußersten individualisierte Lernmethode 
noch eine Entfaltung gesellschaftlicher Aktivität durch die Kinder, der man 
viel Schulzeit einzuräumen bereit ist. Klassen- und Schulgemeinden und 



~n 



Bücher 



213 



Zweckgruppen diskutieren und übernehmen mehr oder minder ernste Auf- 
gaben in und außerhalb der Schule. 

Die Lehrer werden durch Fürsorger, Erziehungsberater und Ärzte unter- 
stützt, die in Wiunetka zum Personal der Schulen gehören. Unter dem Schlag- 
wort „Mental Hygiene" (seelische Hygiene) wird die Intellekt- und Char.ikter- 
entwicklung der Kinder zu beobachten gelehrt. Innerhalb der Bemühungen 
um „Mental Hygiene" räumt man aucii der Psyclioanalyse einen Platz ein. Wir 
in Mitteleuropa sind allerdings so gewöhnt, daß die Psychoanalyse als Fremd- 
körper im Schulsystem empfunden wird, daß wir etwas erstaunt sind über ihre 
anstands- und unterschiedslose Aufnahme unter die andern guten und schönen 
Methoden der „Mental Hygiene". Wir argwöhnen eiu wenig, daß darin eine 
Verkennung ihrer Sonderstellung und ihres Fe rinentchar akters liegt. 

Auffallenderweise erwähnt die vorliegende Monographie weder den Namen 
Montessoris, noch andre Namen von Erziehern, deren Anregungen man 
in Winnetka verwertet glaubt. Hat man doch den Eindruck, daß wohl die 
Materialien und didaktischen Einzelheiten all dieser Systeme Neuer Erziehung 
verschieden sein mögen, daß sie aber im wesentlichsten Punkt Übereinstim- 
men: in der aus dem Zentrum herausgerückten Stellung dee Lehrers. Als eine 
ihrer Konsequenzen müßte mit der Zeit ein neuer Typus von Lehrern mit 
andern durchschuittlichen Ansprüchen und Erwartungen, bewußten und unbe- 
wußten entstehen. Eine zweite Konsequenz wäre ein rationalerer und subli- 
loierterer Typus der Massenbildung der Kinder, den sie möglicherweise als 
Herangewachsene beibehalten. 

Bedauerlicherweise gibt das sonst auch in administrativen Dingen sehr 
ausführliche Buch nichts über die finanziellen Erfordernisse des Winnetka- 
Systems an, weder absolute noch Vergleich szif fern, etwa mit amerikanischen 
Schulen andrer Systeme. Wenn aucli keineswegs das finanzielle Argument 
bei der Ablehnung der Methoden Neuer Erziehung auf dem europäischen 
IContinent eine Hauptrolle spielt, so sollten doch die Interessierten darüber 
nicht im unklaren gelassen werden. P. B. 



SOEBEN ERSCHIEN 




ANNA FREUD 

Das Ich 

und 

die Abwehrmechanismen 

208 Selten / Bposchieri RM 4'50 / In Leinen RM 6'— 

INHALT 

A. THEORIE DER ABWEHRMECHANISMEN 

I. Das Ich als Stätte der Beobachtung 
II. Die Verwertung der analytischen Technik zum Stu- 
dium der psychischen Instanzen 

III. Die Ah w ehrtätigt eit des Ichs als Objekt der Analyse 

IV. Die Abwehrmechanismen 

V. Orientierung der AbwehrvorgängenachAngstu. Gefahr 

B.BEISPIELE FÜR DIE VERMEIDUNG VON 
REALUNLUST UND REALGEFAHR 
(VOKSTUFEN DER ABWEHR) 

VI. Die Verleugnung in der Phantasie 
VIL Die Verleugnung in Wort und Handlung 
VIIL Die Ich-Einschränkung 

C. ZWEI BEISPIELE FÜR ABWEHRTYPEN 

IX. Die Identifizierung mit dem Angreifer 
X. Eine Form von Altruismus 

D. ABWEHR AUS ANGST VOR DER TRIEBSTÄRKE 
(DARGESTELLT AM BEISPIEL DER PUBERTÄT) 

XL Ich und Es in der Pubertät 
XII. Triebangst in der Pubertät 

Schlußbemerkung 




Zeits<hrift lür psydioanalytisdie Pädagogik, X. Jahrgang, Heft 3 

INHALT: 

Edillm SlL-rba: Schule und Eniehungsberatung . , 141 

BERICHTE: 
Berichte aus Chicago 202 

BÜCHER : 

Emile Lobet: A Propos De L' Orientali oii ProfiiS'iodelle (P. B.) 205 

Ludwig Münz unii Viktor Löwenftld: Plastische Arheil^ii Hlindcr (J. L.) 205 

Hermann Nahl; Die pädagogische lieweguiig in Deutschland und ihre Theorie (P. Ji.) . . 208 

VJlhelm Rasiiiusseii: ]\ulh [E. Sylm-slcr) 210 

A, M. Smits- Jenart: Le Syslöme Pcdafiogique de Wiiinetka (P. B.) 212 



In Lieferungen erscheint das 

HANDWÖRTERBUCH 



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gestelll ist,ersclieint in etwa 12 Teillieferungen in Lexikonformat von je 52 

Seiten. Die erste Lieferung (Abasie-Angst) ist bereits erschienen. Ausführliche 
Prospekte mit Probeseite auf Wunsch kostenfrei durch den Verlag. 

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Band VIII 

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FÜR PÄDAGOGEN 

Zu/eite Auflage 
Aus dem Inhalt: 

Das Vergessen von Kindhcitscrlcbnisscii, Triebleben, Vorpnbertät 
und Reifung, Psychoanalyse und Pädagogik. 

„Anna Freud vermittelt allen. Erziehungsbeflissenen aus der Seelen- 
lehre ihres Vaters das, was ihnen hei ihrer Arheit helfen kann: nämlich 
die seelische und erzieherische Auswertung frühester, ins Unhewußte ver- 
sunkener Kindheitserlebnisse, die in ihren Auswirkung'en aher den Cha- 
rakter und die Erjiehbarkeit entscheidend beeinflussen. Sie begnügt sich 
nicht mit den sichtbaren seelischen .Leistungen' der Zöglinge, sondern . 
henutit die Analyse zur Dechiffrierung von Charakteräußerungen, die 
uns ohne Zurückgehen auf ihr erstes Zustandekommen oft rätselhaft und 
iLisammenhanglos erscheinen und die Erziehung erschweren, wenn sie 
unerkannt bleiben." Eisfelder Zeitung. 

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Acht Kapitel zur Theorie und Praxis der fiefcnpsychologiaciien Er- 
zieliungsbcratung und Erziehnagshilfe 

Ata dem Inhalt: 

I. Einleitung, Einteilungen, Fragestellungen, Übersichten. XI. Unter- 
scheidimgen. Dissoziales Symptom und dissoziale Grundlage; Dressur und 
Eriiehung; MiHeuwechsel als heilerzieherisches Mittel. IIL Diskussion 
des Mittels „Milieuwectisel". Vom Aufbau der seelischen Persönlichkeit. 
Zivilisierung und Kultivierung. IV. Die Freud'sche Psychologie in der 
Praxis der Erziehungshilfe. V. Herstellung der günstigen Übertragung. 
Assozintions- und Spieltechnik. VL Einheiug des Rorsch ach 'sehen Test- 
yersuchs ins Arbeitsfeld des Erziehungsberaters und -helfers. Abgrenzung 
seiner Leistungen im Vergleich mit der pädanaly tischen Methode. VII. Zu- 
sammenfassung. Paar-Beiiehung und das Verhültnis von Gemeinschaft 
und Führer. Gefahren der Bindung: das nichlbeivußte, passive Erleiden 
und das bewußte, aktive Handhaben der Übertragung. Vllf. Über den 
Bereich der psychoanalytischen Erziehungsberatung und -hilfe. 

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FÜR PÄDAGOGEN 

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Aus dem Inhalt: 

Das Vergessen van Kindhcifserlebnisscii, Trieblolien, Vorpubertät 
und Reifung, Psychoanalyse und Pädagogik. 

„Anna Freud vermittelt allen Eni ehungs beflissenen aus der Seelen- 
lehre ihres Vaters das, was ihnen hei ihrer Arbeit helfen kann: nämlich 
die seelische und erzieherische Auswertung frühester, ins Unbewußte ver- 
sunkener Kindheitserlebnisse, die in ihren Auswirkungen aber den Cha- 
rakter und die Eriiehbarkeit entscheidend beeinflussen. Sie begnügt sich 
nicht mit den sichtbaren seelischen .Leistungen' der Zöglinge, sondern . 
benutzt die Analyse zur DechifTrieruiig von Charakteräußerungen, die 
uns ohne Zurückgehen auf ihr erstes Zustandekommen oft rätselhaft und 
lusammenhanglos erscheinen und die Erziehung erschweren, wenn sie 
unerkannt bleiben." Eisfelder Zeitung. 

Lvinca RH 3.70 



Band X 

HANS ZU LLI GER 

SCHWIERIGE SCHÜLER 

Acht Kapitel zur Theorie und Praxis der tiefcnpsychologischen £r> 
zivliuugsberatung und Erziehungshille 

Aus dem Inhalt: 

I. Einleitung, Einteilungen, Fragestellungen, Übersichten. 11. Unter- 
scheidungen. Uissoiialcs Symptom und dissoiiale Gnmdlage; Dressur und 
Erziehung; Milieuwechsel als heileriieherisches Mittel. III. Diskussion 
des Mittels „Milieuwechsel". Vom Aufbau der seelischen Persönlichkeit, 
Zivilisierung und Kultivierung. IV. Die Freud'sche Psychologie in der 
Praxis der Erziehungshilfe. V. Herstellung der günstigen Übertragung. 
Asso'iiations- und Spieltechnik. VI. Einbezug des Rorsch ach 'sehen Test- 
yersuchs ins Arbeitsfeld des Erziehungsberaters und -helfers. Abgrenzung 
seiner Leistungen im Vergleich mit der p ä da naly tischen Methode. VII. Zu- 
sammenfassung. Paar-Beziehung und das Verhältnis von Gemeinschaft 
und Führer. Gefahren der Bindung; das nichtbewußte, passive Erleiden 
und das bewußte, aktive Handhaben der Übertragung. VIII. Über den 
Bereich der psychuaualjtischen Eriiehungsbe ratung und -bilfe. 

Leinen RM 7.80 



VERLAG HANS HUBER [N BERN 



X. Jahrg. 



1936 



Heft 3 



Zeitschrift für 

psydioanalytisdie 

Pädagogik 



Editha Sterba 



\i 



Schule 

und 

Erziehungsberatung 



Berichte 



Eig»ntüitiei,Hrramg5b*rund Verleger: InlemaäonaltrPiTchoanfllylischcr Verlas. Gesellschaft in.h H Wl»n IX Bcre- 

eaiie 7. — VerantwortUch« Redakteur: Dr. Wilhelm Hoffer, Wien I, Dorotheerg. f. Druck von Emil M. Ensel 

Druckerei mid TerlaeMimali. Wim I, In der BBrie. 

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