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Full text of "Zeitschrift für psychoanalytische Pädagogik XI 1937 Heft 1"

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Xi. Jahrg. 



1937 



Heft 1 



Zeitsdirift für 

psychoanalytische 

Pädagogik 



Marie H. Bvießl . Die Rolle des Märchens in 

der Kleinkindererziehung 

Martin Grotjahn . Kinderanalyse und Erziehung 

im Rahmen der psydio- 
analytisdi orientierten Schule 

Th. Bergmann . . Versuch der Behebung einer 

Erziehungsschwierigkeit 

Emma berner. . . Eine Einschlafstörung aus 

Todesangst 

Beridite 



Preis dieses Heftes Mark 2' — 



Zeitschrift für psychoanalytische Pädagogik 

Begrüiiaet von Heinrich Meng und Ernst Schneider 



Herausgeber: 
August Aichhorn Dr. Paul Federn Anna Freud 

Wien V, Sdiönbmnners(rnße 110 Wien VI. KöBlkrgasse 7 Wien IX, Bcrggasse I«» 

Dr. Heinridi Meng Hans Z u 1 1 i g e r 

Basel, AngcnEtcinersfraSe 16 Ktltten bei Bern 

Sehr iftlei t e r : 

Dr. Wilhelm Hoffer, Wien, I., Dorotheergasse 7 



6 Hefte )ährlidi M. 10-— 
Einzelheft M. 1'— 

Gescharitlche Zuadu-iften bitlen wir zu rltfaten an 

Internationaler Psychoanalytisdier Verlag 

Wien IX, Berggasse 7 



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PoBtsdiedtkonti des „[nternationalen Psydioanalytisdien Verlages In Wien": 



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bekanntzugeben, denn die Äbonnentenkartei wird nach dem Ort und nidit nach dem 

Namen geführt. 



In Vorbereitung befinden sldi folgende Sonderhefte: „Kindliche Eß- 
störungen", ^Lern- und Denkstörungen", „Jugendliche Verwahrlosung 

und Kriminalitäf. 



ZEITSCHRIFT FÜR 

PSYCHOANALYTISCHE 

PÄDAGOGIK 

XI. JAHRGANG 1937 



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INTERNATIONAL 

PSYCHOANALYTIC 

UNIVERSITY 

DIE PSYCHOANALYTISCHE HOCHSCHULE IN BERLIN 




ZEITSCHRIFT FÜR 

PSYCHOANALYTISCHE 

PÄDAGOGIK 



HERAUSGEBER: 



AUGUST AICHHORN 

WIEN 



PAUL FEDERN 

WIEN 



ANNA FREUD 

WIEN 



HEINRICH MENG 

BASEL 



HANS ZULUGER 

BERN 



SCHRIFTLEITER: 

WILHELM HOFFER 

WIEN 



XI JAHRGANG 



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1937 



INTERNATIONALER PSYCHOANALYTISCH LR VERLAG, WIEN IX. 



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ALLE RECHTE, INSBESONDERE DIE DER ÜBERSETZUNG, 

VORBEHALTEN 



ZEITSCHRIFT FÜR PSYCHO- 
ANALYTISCHE PÄDAGOGIK 



XI. Jahrg. 1937 Heft 1 



' - * - 

Die Rolle des Märdiens in der 
Kleinkindererziehung *^ 

Von Marie H. Briehl 

Die Aufschlüsse, die uns die Psychoanalyse über die Psychologie 
des Kindes einerseits und über die Psychologie der Erzählungen, ins- 
besondere der A^olkssagen, Märchen, Mythen und Legenden anderer- 
seits gegeben hat, führen zu Problemen der Beziehung zwischen Mär- 
chenerzählen und Erziehen, die ich im folgenden erörtern möchte. 

Ehe sich die Psychoanalyse mit diesen Problemen befaßte, gab es 
in der Kontroverse, ob man den Kindern derlei Geschichten zugäng- 
lich machen solle oder nicht, zwei Parteien: die einen neigten zu einer 
oberflächlichen realistischen, die anderen zu einer romantischen Be- 
trachtungsweise. In der letzten Zeit gewannen die Realisten festeren 
Boden: das Maschinenzeitalter fördert die Ansicht, man solle die Kin- 
der in der Ansehauungsform ihrer Umgebung erziehen, um sie für das 
praktische Leben vorzubereiten; unsere technische Kultur biete ge- 
nügend Anregungen für die Phantasie, um die einfältige, wunder- 
liche, 3a oft läppische Vorstellungswelt der Märchen zu ersetzen. Die 
Romantiker hingegen verteidigen unser altes Erbgut an Sagen und 
Märchen, indem sie das psychologische Argument ins Treffen führen, 
daß diese Erzählungen eine Lücke in unserem Leben ausfüllen, eine 
Zuflucht aus dem lärmenden Alltag bieten und in unserem allzu prak- 
tischen und realen Dasein Wunscherfüllungen ermöglichen. Diese. 
Argumente sind so alt wie die Märchen selbst. Es gab früher, genau 
wie heute, Leute, die sagten, Märchen — wie etwa die „Mother Goose"- 
Reime — seien nicht gerade das Richtige für die Kinderstube; 
andere wieder — wie z. B. Sam Johnson — waren der Ansicht, Kin- 
der wollten nicht immer nur von Kindern hören, sondern hätten lieber 
Erzählungen über Riesen und Burgen und über Dinge, die spannend 
und anregend für ihren jugendlichen Geist seien. An beiden Feststel- 

^) Vortrag, gehalten vor den Lehrern der Waiden School, New York, 
1933; aus dem Englischen übersetzt von August Eeranek, Wien. 



] 



Marie H. Briehl 



lungen ist etwas Wahres. Das erste Argument verweist darauf, daß — 
ganz abgesehen von der Kulturstufe der betreffenden Nation oder 
Rasse — die Volksliteratur von Erwachsenen stamme. Der hervor- 
ragende Schriftsteller Oliver Goldemith war der Verfasser vieler 
populärer „Mother Goose"-'Reime, die aber nicht alle in ihrer ur- 
sprünglichen Form für Kinder geeignet waren, sondern erst im Ge- 
brauch modifiziert werden mußten. Das andere Argument macht gel- 
tend, dafi der Geist des Kindes doch über den kindlichen Bereich 
hinaus in die Welt der Erwachsenen hineinreiche. Eousseau wen- 
dete sich gegen die Märchen aus gerade jenen Gründen, die andere 
zu ihren Gunsten anführen — wegen ihres ethischen Gehaltes, ihrer 
Phantastik, ihres spielerischen Charakters, oder weil sie ein emotio- 
nales Erlebnis, eine Flucht aus der Eealität, eine geistige und künst- 
lerische Bereicherung oder eine Vorbereitung auf die Probleme des 
Lebens bedeuten. Die Puritaner und Didaktiker des XVIII. Jahr- 
hunderts versuchten, an Stelle der Märchen moralische und religiöse 
Erzählungen einzuführen, indem sie mit Recht darauf hinwiesen, 
daß im Märchen weit öfter das Schöne als das Gute den Sieg davon- 
trage. Die Fürsprecher der Märchen aber betonen wieder, wie wichtig 
es sei, die Moral gerade dort, wo sie zum Ausdruck komme, nicht zu 
sehr zu unterstreichen. 

Ich habe nicht die Absicht, die Kindergescbiehten von einer dieser 
Anschauungen aus zu beurteilen, die alle — ob sie nun von spekula- 
tiven oder moralischen Erwägungen ausgehen mögen — letzten Endes 
doch von unseren Vorurteilen diktiert sind. Ebensowenig geht es mir 
um eine ästhetische Kritik, etwa nach Phantasie, Form, Stil oder 
Sprache — ein Maßstab, der für Erzieher sicherlich angebracht und 
im Unterricht zur Pflege der Urteilsfähigkeit und des Formsinnes 
jedenfalls empfehlenswert ist. 

Ich will mich vielmehr bemühen, den Inhalt dieser Erzählungen 
von einem rein psychologischen Gesichtspunkt aus zu betrachten. Bis- 
her wurde der Inhalt einer Erzählung — in erster Linie ihr intellek- 
tueller Gehalt — mehr gefühlsmäßig nach der Einfachheit oder 
Kompliziertheit ihres Vorwurfes klassifiziert. Zu entscheiden, ob ihr 
seelischer Grundton dem Wesen des Kindes gemäß war, überließ man 
der Intuition und dem Gefühl des Erwachsenen. Wir dürfen aber 
unsere Geschichten hier nicht nur nach ihrer Form und nach ihrem 
intellektuellen Inhalt zuordnen, sondern müssen dem Wort „Gehalt" 
einen neuen begrifflichen Sinn geben: wir verstehen darunter nicht 
bloß die oberflächliche tatsächliche Bedeutung der Erzählung, 
sondern auch alle tieferen möglichen Bedeutungen, die sie für den 
kindlichen Geist erlangen kann. Die Psychoanalyse gibt uns dabei in 



Die Rolk- den Märchens in der Eleiiikindererzieliung 7 

zweierlei Richtung wichtige Anhaltspunkte: erstens für den Zustand 
des kindlichen Gefühlslebens auf bestimmten Altersstuien und zwei- 
tens für die psycliische Bedeutung der Erzählungen. Es scheint nun 
leicht zu sein, die Geschichten mit der betreffenden psychischen Ent- 
wicklungsstufe des Kindes in Einklang zu bringen. Nach der Psycho- 
analyse wird das Leben des Menschen durch diese Stufen auch zeitlich 
in etwa folgende Phasen gegliedert: 

— 3.— 5. Jahr; Triebperiode, Primat der oral- und analeroti- 
schen Zonen; 
5. — 6. Jahr: Ödipuskonflikt und dessen Untergang; 

6. — 12. — 13. Jahr: Latenzperiode, Sublimierung; 
14.— 18. Jahr: Pubertät. 

Vielleicht läßt sich nun ein neuer Einteilungsmaßstab ausarbeiten, 
der dem jeweiligen psychischen Zustand des Kindes auf diesen typi- 
schen Altersstufen besser gerecht wird, dabei aber natürlich genügend 
elastisch ist, um den individuellen Verschiedenheiten der Kinder 
Rechnung zu tragen. Ich habe z. B. Zusammenstellungen gesehen, die 
den „Pinocchio" als für 3— 7jährige Kinder geeignet angeben, während 
andere ein Alter von 10 — 11 Jahren fordern. 

Betrachten wir zuerst den psychischen Zustand des Kindes und 
nehmen wir als Beispiel die höchst wichtige Phase vom fünften bis 
zum sechsten Lebensjahr, in die der Übergang von der Kleinkind- 
periode zu der Latenzperiode fällt. Die wesentlichen Kennzeichen 
dieses Alters sind: 

1. der Ödipuskonflikt — sein Höhepunkt und seine Losung, 

2. Eintritt in die Latenzperiode, 

3. zahlreiche überbleibsei ans der Triebperiode, 

4. Verstärkung des Uber-Ichs, 

5. Aufrichtung der Realitätsbeziehungen des Ichs, 

6. Möglichkeiten zu Regressionen und Fixierungen. 

Die Unterschiede zwischen den Schulen alter Richtung und den 
modernen Reformechulen kann man an der verschiedenen Einstellung 
zu diesen sechs Punkten deutlich aufzeigen: der alten Schule ist die 
Ödipussituation des Kleinkindes unbekannt, sie muß deshalb den 
Ödipuskonflikt, seinen Höhepunkt und seine Lösung unbemerkt ab- 
seits von Erziehungshilfe und -einfluß sich abwickeln lassen (Punkt 1), 
das gleiche geschieht bei der Aufrichtung der Realitätsheziehung 
(Punkt 5); auch die Unkenntnis der Möglichkeiten von Regression und 
Fixierung schaltet jede Stellungnahme ans (Punkt 6); dafür verstärkt 
die alte Schule ganz entschieden ihre Anstrengungen bei der Aus- 
merzung der zahlreichen Überbleibsel aus der Triebperiode (Punkt 3) 
und wendet ihr Augenmerk hauptsächlich der Förderung des Eintritts 



a 



S Marie H. Briehl 



in die Latenzperiode und der Verstärkung des Über-Ichs zu. Indirekt 
und unbeabsichtigt fördert sie dabei wohl auch die Aufrichtung der 
Realitätsbeziehung des Ichs (Punkt 5). 

Im Gegensatz hiezu bemüht sich die moderne Reformschule, ganz 
besonders die realen Ich-Beziehungen zu fördern (Punkt 5) und dem 
Kinde jede erdenkliche Hilfe zur inneren Bewältigung des Ödipus- 
konfliktes, im Kampf gegen die Relikte aus der Triebperiode und zur 
Verstärkung des Über-Ichs zur Verfügung zu stellen; beim Übergang 
in die Latenzperiode (Punkt 2) wird sie versuchen, eine glatte Ab- 
wicklung zu erreichen, und vor allem die Möglichkeit der Regression 
und Fixierung sorgfältig berücksichtigen. 

Der Eindruck, den das Geschichtenerzählen bei Kindern hinterläßt, 
kann darnach bemessen werden, wie sie selbst Geschichten wieder- 
geben, wie sie solche erfinden und sieh dazu verhalten. Aus diesem 
Verhalten können wir auf die wirksamen Kausalzusammenhänge 
schließen; sie ordnen sich nach folgendem Schema: 

Es kann geschlossen werden, erstens auf einen wirklichen Fort- 
schritt im Sinne der Anforderungen, die den Eintritt in die Latenz 
und die Realitälsbeziehungen begünstigen (Fortschritt in bezug auf 
Punkt 2 und 5); zweitens auf einen Rückfall im Sinne von Regres- 
sionen auf eine bereits verlassene und überwundene Form der Trieb- 
befriedigung und Fixierung an diese (Punkt 6) ; drittens auf eine zu 
starke Betonung a) der Über-Ich-Bildung (Punkt 4), b) der Über- 
bleibsel der Triebperiode, oder c) des Konfliktes aus der Ödipus- 
situation. 

Es gibt keine Kinder, die nicht Konflikts- oder Regressionsmöglich- 
keiten ausgesetzt wären. Daher gilt unser Beurteilungsschema für alle 
Kinder, seien sie nun neurotisch oder normal, und ist als Grundlage 
eines Erziehungsprogrammes gedacht. 

Somit ist also eine Geschichte, die dem Kind auf der jeweiligen 
Stufe seiner Entwicklung gedanklich weiterhilft, für das Kind wert- 
voll. Wir wollen als Beispiel Walt Disneys Filmgeschichte von 
den „Drei kleinen Schweinchen" wählen. Psychoanalytisch gesehen 
ist der „große, böse Wolf" der gefürchtete, mächtige Vater. Er wird 
vom ältesten der Brüder besiegt und alle sind glücklich — besonders 
die beiden jüngeren Brüder, die jedoch ihre Angst nicht losgeworden 
sind, wie der Schluß beweist, wo der große Bruder sie neckt, indem 
er das Klopfen des Wolfs nachahmt. 

Nach meiner Beobachtung waren Fünf- bis Sechsjährige von dieser 
Geschichte restlos entzückt. Es ist dies das Alter, da die Beziehung zu 
den Eltern als Paar, wie zu jedem Teil dieses Paares, zum Vater 
sowohl als zur Mutter, sich von Grund auf verändert. Die Geschichte 



Die Rolle des Mäi-chens in der Kleinkinrfcrcrziohung 9 

verhalf diesen Kindern durch ihren Humor zu einer Verminderung des 
Schuldbewußtseins, das sie wegen ihrer negativen — bösen — Gefühle 
gegen den Vater hatten. „Wenn das große Schweinchen so seinem 
Vater eins versetzen darf, dann sind meine (unbewußten) Gefühle 
nicht so böse." Das Kind hatte tatsächlich durch die Geschichte die 
Möglichkeit, seine bösen Wünsche gegen den Vater an einem stellver- 
tretenden Objekt zu betätigen, und war nun nicht länger genötigt, sie 
unter Schuldgefühlen so tief zu verdrängen oder in der Realität auszu- 
leben. Kin Junge sagte: „Weißt du, mein Vater hat eine Stimme wie 
ein Wolf." Der Vater hielt dies für einen Scherz und erlaubte dem 
Kind eine Zeitlang, ihn zu schlagen und zu stoßen. Sobald dieses 
Agieren nachließ, trat eine Reihe von Identifizierungen mit dem 
Vater ein. Ich hörte von zahlreichen Kindern im Spiel Varianten des 
Liedes: „JTko's afraid of the Big Bad WoJf?" wie z. B.: „Who's afraid 
of the Big Bad Dad?" oder „M'ho's afraid of the Big Bad Teacher?" 

Nichtsdestoweniger beobachtete ich einen Vierjährigen und einige 
jüngere Kinder, die diese Geschichte in Schrecken versetzte. Bei diesen 
Kindern war der Ödipuskonflikt im Ansteigen begriffen. Das Er- 
schrecken vor dem Wolf überwog alles andere und sein Ende machte 
wenig Eindruck auf sie, denn sie hatten noch keine Erlebnisgrundlage 
dafür, den Untergang des Ödipuskonfliktes begreifen zu können. Des- 
halb war für sie der große, böse Wolf ein lebendiges Symbol ihrer 
Angst und Scheu. 

Ein anderes Beispiel eines kindlichen Mißverstehens der Vorgänge 
in einer Erzählung zeigt, daß nicht alle Geschichten in den Kindern 
angstzersetzend wirken: Ich meine das Märchen vom „Gestiefelten 
Kater", in dem der Kater durch eine List den Kiesen, der sich in eine 
Maus verwandelt hat, auffrißt. Das betreffende Kind war nun offen- 
bar der Schuld, die mit einer so vollständigen Vernichtung des Vaters 
verbunden ist, nicht gewachsen und griff deshalb zu der Fehlerinne- 
rung, „der Riese habe den Kater gefressen". Seine Furcht vor dem 
Vater war noch zu groß, als daß sie durch den über seine Alters- 
stufe zu sehr hinausgehenden Humor der Erzählung hätte verringert 
werden können. 

Der deutsche Volksbrauch vom Krarapua und Nikolaus ist das beste 
mir bekannte Beispiel einer Legendendarstellung, die ^ in gleicher 
Weise wie unsere soziale Haltung und die Einstellung der meisten 
Eltern und Lehrer — dazu beiträgt, die Ängste der Kinder andauern 
zu lassen und zu verstärken. Ich habe mehr Kinder durch den Krampus 
erschreckt als durch den guten St. Nikolaus beruhigt gesehen. Der 
Krampus ist eine teufelähnliche Figur, ganz rot und schwarz, die 
überall im deutschen Sprachgebiet zu dem anfangs Dezember statt- 



10 Marie H. Briehl 



findenden Fest erschemt, um die während des Jahres schlimm ge- 
M-esenen Kinder zu erschrecken. Zu diesem Zweck sind alle in den 
Geschäften feilgebotenen Nachbildungen dieser Figur, die als Scherz- 
artikel gekauft und den kleinen Kindern mitgebracht werden, mit 
einer Kute aus scharfen Zweigen oder einer Gabel und einem Korb 
versehen. Die Rute dient zur Züchtigung, der Korb dazu, die Kinder 
darin fortzutragen. Die Erwachsenen halten dies für SpaJl. Aber die 
Kinder — wenn sie überhaupt lachen — tun dies mit Furcht und 
Angst im Herzen. Sogar ältere Kinder erzählen ernsthaft, daß sie an 
den Krampus glauben. Der Nikolo hat seine Zeit vor Weihnachten 
und soll die braven Kinder belohnen; aber viele deutsche Kinder 
haben mir errötend gestanden, daß sie nicht Belohnung, sondern 
Strafe erwarteten. 

Wir haben da die unbewußte Vorstellung des Volkes von einem 
Vater vor uns, der einmal gut, einmal strafend vorgestellt wird. Der 
letztere ist der Starke, und dies ist offenbar der Sinn der Volks- 
legende, die darauf abzielt, erzieherisch zu wirken, in dem sie jene 
Tugenden kultiviert, deren Gesamtheit von der Religion als „Ge- 
wissen", von der Analyse als „Uber-Ich" xind von den Fürsorgern und 
öffentlichen Erziehern als „gutes Staatsbürgertum" bezeichnet wird. 
Daß das Schuldgefühl des Kindes wegen seiner Missetaten durch diese 
Legende gesteigert wird, läßt sich aus der Tatsache erkennen, daU 
Kinder, bei denen die Zeit der normalen Lösung des Ödipuskonfliktes 
bereits weit zurücklag, noch immer Angst vor dem Krampus hatten. 
Der Konflikt hatte über das Alter hinaus, in dem er hätte gelöst 
werden sollen, seine Fortsetzung gefunden. Man kann sieh die Angst 
vorstellen, die erst bei kleineren Kindern entstehen muß, die eben 
versuchen, ihre ödipussituatioo zu bewältigen. Es ist nicht weiter 
verwunderlich, daß das Volk diese Geschichten hervorgebracht und 
ihre Lebendigkeit bewahrt hat. Alle Eltern sind Krampusse und 
Nikolos — zuweilen mehr das eine als das andere. Alle Kinder werden 
durch die Identifizierung mit dem einen oder dem anderen später selbst 
solche Eltern. Auf diese Weise wird das neurotische Element ver- 
ewigt. Unsere Legende übersteigert den psychischen Konflikt im 
Kinde und damit die Gegensätze zwischen Eltern und Kindern. 

Andere Erzählungen zeigen weniger deutlich die Konfliktspuren, 
doch stellen sich viele Märehen im Lichte der Psychoanalyse als 
Wiedergabe des Konfliktes zwischen den Triebwünschen und dem 
Druck des Über-Ichs dar. Märclien sind Erbgut des Volkes, aber der 
Erwachsenen des Volkes. Sie verkörpern die Infantilen, unge- 
lösten Rückstände bei den Erwachsenen, die Reaktion der zensurie- 
renden und verurteilenden Erwachsenen auf ihre triebhafte — und 



i 



Die lloUe des Märchens in der Kleinkindererzielning 1 1 

daher böse — verflossene Kindheit; und es ist oft ein unnötig strenges 
Urteil. Märchen dieser Art steigern eine etwaige neurotische Tendenz 
beim Kinde, indem sie zu den in ihm schon vorhandenen neue Kon- 
fliktstoffe hinzufügen. 

Die Gefühlsreaktion auf den Sieg Jacks über den Kiesen hängt 
vom Alter und der psychischen Stufe des Kindes ab. Ist der eigene 
Konflikt bereits erfolgreich bewältigt, so wird das Kind die Emotion 
des Erwachsenen erleben: die Freude, den Vaterriesen überwunden 
zu haben. Dauert aber der Ödipuskonflikt noch an, so kann es zu einer 
Steigerung des Schuldgefühles kommen. 

Die moralisierenden Märchen lassen sich nicht tlurchwegs als Über- 
Ich-Er Zählungen deuten. Viele von ihnen entsprechen besonders dem 
Kind der Latenzperiode, vv'eil sie unbewußt an die Triebe appellieren. 
Es ist dies die Zeit, da sich das Kind mit der Welt der Erwachsenen 
zu identifizieren beginnt. Doch sind gewisse Konzessionen an die 
Triebe notwendig. Außerdem gibt es Märchen, die eine Nutzanwen- 
dung von einer etwas unbekümmerten Art lehren. So haben gute Men- 
schen den Märchen beispielsweise vorgeworfen, daß sie die Schlauheit 
des Fuchses als Muster eines erfolgreichen Verhaltens hinstellen. Ich 
glaube, daß sich Märchen dieser Art für die meisten Kinder in der 
Latenzperiode gut eignen, und zwar von einer realen Basis aus ge- 
sehen zu Zwecken der Aussprache, von einer unbewußten Basis aus 
als eine Konzession an die Triebneigungen. Es gibt noch andere Ge- 
schichten — wie die von „Epaminandes", die durch Humor eine Lehre 
zu geben suchen und die sogar beim Kind der Latenzzeit geeignet 
sind, die augenblicklicli verdrängten polymorph-perversen Triebe an- 
zusprechen. 

Die griechische Sagenwelt bildet ein Kapitel für sich. Im großen 
und ganzen macht sie ihre besondere Verstandesmäßigkeit für kleine 
Kinder ungeeignet. Die Symbolik ist mehr verhüllt, die Gefühle- 
dynamik eher kompliziert. Intellektuell betrachtet liegen die Erleb- 
nisse oft jenseits des kindlichen Auffassungsvermögens. Wenn sie 
irgend eine Anregung für die Vorstellungswelt des Kindes bieten, so 
nur die, daß sie seinen Sinn für das Geheimnisvolle steigern. 

Eines der grundlegenden Mysterien im Leben des Kindes ist be- 
kanntlich das Sexualleben der Erwachsenen; die Kinder haben zahl- 
reiche phantastische Theorien über diese Vorgänge entwickelt, und 
dies trotz aller rationalen Erklärungen, die ihnen von wohlmeinen- 
den und intelligenten Erwachsenen geboten werden. Solche Theorien 
beruhen im Kind auf einer biologisch-psychologischen Grundlage und 
bleiben, wo das seelische Wachstum durch ungelöste Konflikte autge- 
halten oder gestört wurde, bis ins erwachsene Leben bestehen. Mär- 



12 Marie H. Briehl 



chen und Sagen, Mythen und Legenden sind reich an solchen infantilen 
Sexualtheorien. 

„Der Wolf und die sieben Geißlein"ist einBeispiel für eine von ihnen: 
die Geburt durch Aufschneiden des Bauches und die Empfängnis durch 
Verschlingen. Die Geburt der Athene aus dem Gehirn des Zeus zeigt 
eine andere. Für kleine Kinder ist die Volkssage besser geeignet als 
die griechische Mythologie, deren Eigenart dazu angetan ist, im Kinde 
das große Fragezeichen, die dunklen, ungeklärten Stellen seines 
Geisteslebens zu vermehren, seine Phantasie und damit seine Angst 
zu steigern und zu fixieren. 

Die Sagen und Märchen lassen sich nach ihrem emotionalen. Gehalt, 
kurz zusammengefaßt, etwa in folgende Gruppen gliedern: 

1. moralische (Uber-Ich-)Erzählungen, 

2. ödipus- und Kastrationserzählungen (genital), 

a) konfliktsteigernd, 

b) konfliktüberwindend, 

3. prägeuitale Erzählungen, 

a) triebhaft, 

b) polymorpb-pervers, 

c) humoristisch. 

Wenn wir die Märchensymbolik übersetzen, sehen wir, daß einige 
die psychische Situation bewältigen helfen, andere die psychische 
Lösung hindern und den Eindruck der Neurose hinterlassen. In man- 
chen besteht der Kindheitskonflikt fort. In anderen wieder ist die Be- 
lastung durch den Intellekt der Erwachsenen zu groß, um vom Kind 
bewältigt und assimiliert zu werden, so daß sie den Eindruck einer 
Schuld hinterlassen. 

Märchen verursachen gewiß keine Neurosen oder sonstige Störun- 
gen, aber sie vervollständigen häufig deren Inhalt, wie dies beispiels- 
weise in den nächtlichen Schreckerlebnissen und Träumen des Kindes 
der Fall ist. Wo sie erzählt werden, ehe das Kind die entsprechende 
Reife erlangt hat, verschärfen sie die Angst durch Hinzufügen eines 
Erlebnisses, das für das Kind — wenn es auch nicht, primär wirkt, 
wie etwa Urszene, Kastrationsdrohungen usw. — jedenfalls realer ist 
als für den Erwachsenen. Erst viel später sagt das Kind: „Das ist 
nicht wahr. Das ist ja nur ein Märchen." Anfänglich hat eine solche 
Erzähhing für das Kind den gleichen Wirklichkeitscharakter wie irgend 
eine Erklärung, die man ihm über Personen oder Dinge seiner Um- 
welt gibt. Sogar in der späteren Kindheit, im 11., 12. und 13. Lebens- 
jahr, ist die Grenze zwischen Wirklichkeit und Phantasie recht un- 
scharf. In der frühen Kindheit verschwimmen Realität und Phantasie 
bisweilen völlig. Der Riese in „Jack und die Zauberbohne" ist genau 



Dio RüUe des Märchens in der Kleinkindererzieliuiig 



13 



so wirklich wie Kapitän B y r d auf dem Südpol. Die Geschichten, die 
z, B. die Ammen erzählen, werden von den Kindern als wahr hinge- 
nommen, mögen sie dem Erwachsenen auch noch so phantastisch er- 
scheinen. 

Mein Patient Benny hörte im Alter von drei Jahren eine sizilia- 
nische Volkssage, an die er, nunmehr neun Jahre alt, noch fest 
glaubte. Mit drei Jahren war dieser Glaube an die Realität gerecht- 
fertigt. Mit neun Jahren hätte aber die Grenze zwischen Phantasie 
und Wirklichkeit bereits gezogen sein müssen. Bei diesem unglück- 
lichen und kranken Jungen war dies jedoch nicht der Fall. Die Ge- 
schichte lautete folgendermaßen; „Alle guten Sizilier glauben, daß bei 
Vollmond ein Werwolf durch die Nacht wandert. Wenn ein Strahl des 
Mondlichtes durch dein Fenster auf dich fällt, wird er erscheinen und 
dich töten oder fortschleppen." Die Art der Alpträume dieses Jungen, 
die Träume von Hexen, sein Interesse an Märchen und seine Phan- 
tasien verraten eine Fülle von Vorstellungen, die sich von seinem un- 
gelösten Ödipuskomplex herleiten. Trotz des reichen Phantasielebens, 
über das der recht talentierte Junge verfügt, beweisen seine eigenen 
Schöpfungen nur sehr geringe Einbildungskraft. Diebe, Räuber, 
Gangster und Detektive spielen in ihnen eine Rolle; durch sie ver- 
sucht er, sein Problem in der Analyse zu bezwingen. Aber die Sagen- 
gestalten und -Phantasien geben der Neurose die Richtung. Es ist 
schwer, auf sie den Maßstab der Realität anzuwenden. Seine eigenen 
Schöpfungen sind prosaisch, obwohl der Junge viel Gefühl für Farbe, 
Form und Sprache hat. Seine Neurose, die sicherlich pittoresk genug 
ist, hat die Vorstellungsweise seines Denkens nicht beeinflußt, son- 
dern eher seine Begabungen gehemmt. 

Jean ist ein dJiijähriges Mädchen; sie verfügt über einen großen 
Vorrat an Seeräuber-, Hexen-, Wolfs- und Gespenstergeschichten, die 
ihr das Eindermädchen und ein älterer Bruder erzählt haben. In die 
Behandlung kommt sie zwecks Vorbereitung für eine Mandeloperation, 
die ihre Angst ausgelöst hatte. Sie ist schwer zu behandeln, hat 
Launen und ißt nicht ordentlich. In ihren Erzählungen fressen die 
Wölfe das kleine Mädchen „irgendwo an ihrem Körper", wie sie sagt. 
Die Seeräuber sind böse Menschen, die Toby, den Spaniel, fangen und 
verhungern lassen. Das ist kurz der Inhalt der Geschichte, die sie 
von daheim mitbringt. Die Strenge dieser strafenden Gestalten findet 
ihren Beifall, weil sie selbst „unartig und garstig und ein Ferkel" ist. 
Die Form der Strafe ist im allgemeinen Verhungern. Im Märchen vom 
„Rotkäppchen" frißt der Wolf dem Rotkäppchen das Essen weg, das 
es hei eich trägt. An der Geschichte von „Goldhaar" mißbilligt sie, 
daß Goldhaar dem kleinen Bären die Suppe wegißt. 



14 Marie H. Briehl 



Die folgende kurze Darstellung soll nur andeuten» wie sie die Mär- 
chen während der Behandlung in veränderter Form erzählt und aus- 
SRhmückt. Eine von ihr selbst geschaffene Geschichte lautet folgender- 
maßen: Der König (ich) ißt dem Jäger seine Mahlzeit auf. Das Zwerg- 
lein (sie) sieht dies und schickt den Jäger zu dem König des Dschun- 
gels (ebenfalls sie), der den König (mich) bestraft, indem er ihn 
(mich) in einer Wüste verhungern läßt. Das heißt: weil ich das Essen 
gestohlen hatte, wurde ich bestraft und mußte verhungern. Diese Dar- 
stellung trifft den Kern ihrer Schwierigkeit. Der jüngere Bruder, 
den sie, als er gestillt wurde, gesehen und beneidet hatte, war plötzlich 
gestorben. Ihre Keaktion war ein gesteigertes Schuldgefühl wegen 
ihres früheren Neides gewesen. Sie hatte wegen seiner Lust beim 
Saugen böse Gedanken gegen ihn gehegt, und nun war er tot. Ihre 
Erzählung offenbart somit ihr Verlangen nach der Nahrung neben 
dem alten Thema der Bestrafung dieses Wunsches durch Verhungern. 
In unserer Dramatisierung war ich stets das böse Mädchen, das das 
Essen stahl, und sie die gestrenge Instanz, die mich dafür gerechter- 
weise verhungern ließ — eine Uber-Ich-Fabel zu dem Zweck, ihre 
Triebwünsche zu verdrängen. Eines Tages nahm sie heimlich eine 
Saugflasche und lutschte daran, wie es Säugling© tun; sie zeigte so, 
daß durch alle die Erzählungen hindurch, die ihr predigten, streng 
und unnachsichtig zu sein, wie sie es von der Mutter annahm, ihr 
reales Verlangen während der ganzen Zeit das nach der Nahrung des 
Säuglings gewesen war. Alle die früheren Märchen hatten ihr nicht 
zur Lösung ihres oralen Konfliktes verhelfen, sondern wurden von 
ihr im Gegenteil zur Verdrängung des Konfliktes und des ihm zu- 
grunde liegenden oralen Verlangens benützt, das sie für böse hielt. 
Alle ihre Märchen waren für sie ein erzieherischer Versuch, sie zur 
Strenge gegen sich und zur Mäßigung ihrer Wünsche zu bringen. Sie 
errichteten in ihr das, was wir als Uber-Ich bezeichnen. Statt aber dies 
in erfolgreicher Weise zu tun, verschärften sie nur den inneren Kampf 
gegen ihre unbefriedigten oralen Impulse. Als diese dann in der Ana- 
lyse von dem Druck befreit worden waren, war es ihr möglich, einen 
Schritt weiter zu gehen und die Schuld, für die sie sich bestraft hatte, 
— sowohl ihr orales Verlangen als ihre Angst zu verhungern — 
leichter zu nehmen. In den agierten Geschichten, die nun folgten, be- 
reiteten wir Kuchen und andere Speisen und aßen, soviel wir konnten, 
bis wir voll waren wie eine Boa constrictor. Es ist erlaubt zu essen, 
die Schlimmen brauchen nicht zu verhungern. In Wirklichkeit sind 
sie gar nicht mehr schlimm. 

An diesem Punkt der Analyse kam die Patientin, von ihrer Angst 
genügend befreit, zum Zwecke ihrer Operation ins Spital. Hernach 



Pic Eolic dt'F Märchens in der Kleinkindererzicliung 15 



kehrte sie in die Behandlung zurück. Die oralen Ängste waren mit 
der Operation verschwunden. Der ihrem Alter mehr entsprechende 
genitale Kastrationskomplex trat in den Vordergrund, doch endet 
hier unser Interesse. Nur ein Gespräch sei noch erwähnt, das die 
Lösung ihrer oralen Hemmungen zeigt: 

Patientin: „Ich mag diese Schokolade gern. Die Mutter läßt mir 
aber nicht drei Schokoladen." 

Analytikerin: „Soll ich deiner Muüer sagen, daß sie dir davon 
lassen soll, soviel du willst? Kleine Mädchen sollen ja Schokolade 
haben, sie ist gut für sie." 

P. (argwöhnisch): „Was meinst du mit ,gut'?" 

A.: „Ich meine, sie schmeckt gut. Es macht Spaß, sie zu essen." 

P.: „Ich habe geglaubt, du meinst, sie macht einen stark." 

A.: „Nein. Ich meine, sie ist ein Leckerbissen." 

P. (mit einem befriedigten Blick): „Freilieh!" 

Ein anderes Beispiel ist das eines Jungen, dessen Ängste eng mit 
Phantasievorstellungen von Hexen und ihrem Treiben verknüpft 
waren. Geschichten wie „Hansel und Grelel" sind Beispiele für diese 
Gattung, die vielleicht in Europa mehr verbreitet ist als in Amerika. 
Vielleicht steht die Verwendung von Märchen und Sagen in den euro- 
päischen Schulen und Familien überhaupt mehr im Vordergrund. Es 
wäre interessant zu untersuchen, ob die Charaklerunt erschiede 
zwischen europäischen und amerikanischen Kindern — ich meine, hin- 
sichtlich ihres Gehemmtseins und ihrer Freiheit — nicht in irgend- 
einer Beziehung zu dem Einfluß der Märchen stehen, der so regel- 
mäßig in die Frühentwicklung der europäischen Kinder, hingegen 
viel seltener und mehr zufällig in das Leben des amerikanischen Kin- 
des eingreift. 

Der Schwierigkeit dieses eher braven Jungen lag die Angst zu- 
grunde, „unter dem Gürtel" geschlagen zu werden. Sie war der Grund 
dafür, daß er öfter als andere Jungen Prügel bekam und daß er nie 
ein Spiel beenden konnte, olme über irgendeinen Punkt zu streiten 
und dann wegzulaufen. Er hatte auch andere Symptome, wie etwa 
Nägelbeißen und Nasenbohren. Verschiedene Träume von einer Hexe, 
die ihn in irgendeiner Weise erschreckte, deckte die Grundlage auf. 
Der Junge hatte Großmütter und eine Urgroßmutter. Die Mutter war 
streng und hatte sich stets um ihn geängstigt. Sehr früh war er zwei- 
mal am Penis operiert worden und einmal hatte ein Arzt an dieser 
Körperstelle eine brennende Salbe angewendet. Der Palient wollte 
dies keinesfalls noch einmal zulassen. Da ihm die Mutter solche 
Wiederholungen androhte, habe er jedes genitale Interesse verloren, 
was jedoch durchaus niclit der Wahrheit entsprach. Die Urgroßmutter 



16 Marie H. Briehl 



ging mit einem Stock wie eine Hexe. Der Eindruck all dieser weib- 
iichen Gestalten — der Mutter, der Großmütter, die mit ihm zusammen 
wohnten, und der Urgroßmutter — war in den symbolischen Märchen- 
gestalten der Hexen enthalten, die ihm lebhafte Angst verursachten. 
Die Auswahl der Märchen kann bei der Erziehung eines Jungen mit 
dieser psychischen Grundlage möglicherweise von Wichtigkeit sein, 
soferne diese Erziehung auf die Bedürfnisse des Kindes Rücksicht 
nehmen will. 

Solcherart sind die Einflüsse, die uns die Analyse enthüllt, sobald 
eine Schwierigkeit oder eine Neurose bereits entstanden ist. Die Er- 
ziehung aber übernimmt die Aiifgabe, das Leben des Kindes im voraus 
planmäßig zu gestalten, und zwar das ganze Leben — in körperlicher, 
geistiger und seelischer Hinsicht. Deshalb sollte das Märchenerzäb- 
len, das ja einen so wesentlichen Anteil am Phantasielebeu des Kindes 
hat, nicht einen zufälligen und rein gefühlsmäßigen Teil des Erzie- 
hungsprogramms bilden. Da die bisherige Einteilung der Erzählungen 
zuweilen aus Mangel an Verständnis für den tiefer liegenden psychi- 
schen Gehalt — sowohl der Erzählung selbst wie ihrer Bedeutung für 
das Kind — keineswegs entsprechend ist, sollten sich fortschrittliche, 
analytisch eingestellte Pädagogen der Arbeit unterziehen, eine der- 
artige Möglichkeit zur Auswahl von Erzählungen zu studieren. Die 
Schöpfungen von Kindern, welche niemals Märchen gehört haben, 
wären zu diesem Zweck ein interessantes Studienobjekt. Gerade wie 
die Kinderanalyse die seelischen Vorgänge während der Kindheit un- 
mittelbar aufdeckt im Vergleich zur Erwachsenenanalyse, die die 
Kindheit retrospektiv entschleiert, sind auch die Schöpfungen der 
Kinder interessant, weil sie die wirkliche Not zum Unterschied von 
der erinnerten und vielleicht entstellten Not des Erwachsenen bloß- 
legen. Wo Märchen — also Erzeugnisse Erwachsener — vermuten, daß 
das Kind eine Mahnung oder ein Beispiel braucht, weiß das Kind, daß 
es in Wirklichkeit eine grundlegende Betätigung nötig hat. Ein Bei- 
spiel dafür ist die Geschichte von den beiden Schwestern, deren eine 
von der Fee die Gabe erhält, daß ihr beim Sprechen Perlen und Edel- 
steine von den Lippen fallen, während der anderen, der bösen Schwe- 
ster, nur häßliche und ekelerregende Schlangen und Würmer aus dem 
Mund kommen. Wieviel orale Befriedigung in dieser Erzählung auch 
enthalten sein mag, sie ist doch begleitet von Straf- und Schuldge- 
fühlen des Erwachsenen. 

Ich habe einige Geschichten gesammelt, die von einem Kind ohne 
Beeinflussung selbst geschaffen wurden. Sie folgen einem Entwick- 
lungsgang vom äußersten Vergnügen an den perversen und trieb- 
haften Handlungen des phantasierten Helden zur Kritik an seinen 



Die Rolle des Märchens in der Kleinkindercrziehuiig 17 



bösen Taten und deren Unterscheidung von den guten, die man voll- 
bringen könne, und enden — nach einer langen Periode, in der 
die Taten des Helden immer mehr eingeschränkt werden — mit dessen 
völligem Untergang. Am Anfang seiner Phantasieschöpfung, im Alter 
von drei bis vier Jaliren, identifiziert sich das Kind gänzlich mit dem 
Helden, dem es den alliterierenden Namen Kibikabiyuba gibt. 
Nach und nach hört es auf, sich mit diesem Inbegriff der schlechten 
Eigenschaften zu identifizieren. Später leugnet es, jemals irgendeine 
Beziehung zu ihm gehabt zu Imben. Lange nach dem Untergang des 
Helden leugnet dessen Scliopfer, daß jener je existiert habe, und sagt 
schließlich, dies sei vor einer Million Jaliren gewesen. Die Taten und 
der Tod seines Helden laufen parallel zur natürlichen psychischen 
Entwicklung des Kindes: von der polymorph-perversen zur genitalen 
Phase, die von dem Ödipuskonflikt, der Identifizierung mit dem Vater 
begleitet ist, über die Lösung des Konfliktes zur schließlichen Unab- 
hängigkeit und Kealitätseinsieht. Von großem Interesse ist die Tat- 
sache, daß in dieser Geschichte — wenn man sie mit Märchen des 
gleichen Typus vergleicht — die strenge strafenden Gestalten fehlen. 
Eine andere Erzählung dieses Kindes Imndelt von einem herkules- 
älmlichen Helden namens Mustakik, der so stark ist, daß er die 
Welt aufheben kann. Es bandelt sich dabei um eine vom Kinde ge- 
schaffene Vatergestall ohne die gewöhnlichen angstauslösenden 
Kastrationsdrohungen, wie sie Märchen und Sagen enthalten. Beide 
E]-zählungen waren phantasievoU, erzählerisch interessant und an- 
regend.^) 

Einige andere Gesichtspunkte zum Thema des Märcbenerzählena, 
die nicht von mir stammen, sondern von anderen Analytikern hervor- 
gehoben wurden, betreffen die Zeit, den Ort und die Umstände, unter 
denen Geschichten erzählt werden, und den damit verbundenen Ein- 
druck auf das zuhörende Kind. Die Dunkelheit, die Schlafenszeit, die 
Gefühlsbeziehung zum Erzähler sind wichtige, einander ergänzende 
Faktoren, die für den psychischen Eindruck im Kinde ausschlag- 
gebend sind. Vor allem sind die Kindheilserlebnisse und die Familien- 
verhältnisse bestimmend. Sie lassen sich zwar in der Scluile nicht be- 
einflussen; man kann sie aber berücksichtigen, ihre Wirkungen be- 
obachten und vernünftig zu beurteilen suchen, ob sie für das einzelne 
Kind zuträglich oder abträglieh sind. 

Das Problem der Gruppe, in der es ein oder mehrere neurotische 
Kinder gibt, ist eine jener Fragen, die ich als wichtig und einer ge- 

') Ich beabsichtige, in einer anderen Ai'licit die Einzelheiten dieser s^pon- 
tan entstandenen Märclien mitzuteilen und dabei anf die Parallelen mit der 
Entwicklung des Kindes, von dem sie ersonnen wurden, liinzuweisen. 



Zeitschrift f. psa. Pfid., XI/1 



18 Marie H. Briehl 



sonderten Behandlung würdig betrachte. Bis zu welchem Ausmaß in 
der Gruppe die Märchen- und Phantasieschöpfungen zur Klarstellung 
der Schwierigkeiten eines Kindes herangezogen werden sollen, ist ein 
ernsthaftes soziales Problem. Der Erzieher steht vor der äußerst 
schwierigen Aufgabe, zwischen dem für das eine. Kind Nützlichen und 
der möglichen Empfindlichkeit der anderen die Waage zu halten. Es 
ist sicher richtig, daß die Schulklasse nicht der Ort ist, um mittels 
irgendeiner Methode eine Neurose aufzudecken. Dies ist Sache der 
individuellen Therapie, bei der keine Gefahr für die Entwicklung 
anderer Kinder entstehen kann, anders als in der Schule, wo bei jedem 
Kind in irgendwelchen infantilen Fixierungen eine Basis für ähnliches 
Reagieren bestehen kann. Es handelt sich hier um etwas anderes als 
um die gesunde Wechselwirkung zwischen Kindern von verschieden- 
artigem und veränderlichem Charakter und Gebaren, die einander im 
gegenseitigen sozialen Kontakt und Wettbewerb nur bereichern. Ich 
habe vor allem einerseits den schreckauslösenden Charakter vieler 
Märchen — das strenge Uber-lch — , andererseits ihre erlösende und 
kathartische Wirkung hervorgehoben. Ich bin dafür, es auf eine un- 
belastete (nämlich durch Erzählungen, Vorwürfe und Drohungen) und 
natürliche Uber-Ich-Entwicklung und — Hand in Hand damit — auf 
eine mehr realitätsgerechte Ich-Entwicklung ankommen zu lassen. Ich 
bin dafür, dem Kind genügend Gelegenheit zu Trieberlebnissen zu 
geben, was — wie ich annehme, auch nach der Theorie der Walden- 
Sehool — besonders für die Grundschule wichtig ist. Äußerst bedeu- 
tungsvoll für die Übergangszeit zwischen Grund- und Mittelschul& ist 
die Überlegung, daß die Schule im wesentlichen die Ich-Anlagen ent- 
wickelt und eine Gelegenheit zu richtiger Sublimierung an Stelle 
neurotischer Kompensationen und Eeaktionsbildungen darstellt. Dies 
ist auch der Grund, weshalb ich die psychische Entwicklungsstufe der 
Fünf- bis Sechsjährigen als Beispiel gewählt habe. 

Wenn ich Ihnen diese Betrachtungen vorlege, so gehe ich damit 
über die bisherigen Formulierungen von Psychoanalytikern über die 
Rolle der Märchen im Leben des Kindes hinaus. Ich habe versucht, für 
die Beurteilung ihrer Verwendbarkeit, ausgehend von den psycho- 
analytischen Befunden, einen spezifischen Maßstab zu bieten. Mein© 
Ausführungen sollen einen Appell an die Erzieher darstellen, da es die 
Analytiker mit ihrer Arbeit als Therapeuten nicht vereinen kön- 
nen, ein spezifisches Erziehungsprogramm vorzulegen, oder wenig- 
stens nicht in dem Maße wie die Pädagogen hiezu herufen sind. 
Analytiker haben auf die Vor- und Nachteile der Märchen vom Ge- 
sichtspunkt der Einzelanaiyee aus hingewiesen. Bisher wurde jedoch 
dieses Material nicht als Grundlage für eine pädagogische Reform im 



Die Rolle des Märchens in der Kleinkindei-erzichun" 



19 



Sinne des analytischen Wissensgutes benützt. Die Meinung der Ana- 
lytiker, die sich Über die Verwendung der Märchen geäußert haben, 
lautet dahin, daß eine Schädigung nicht zu erwarten ist, wenn nicht 
die Grundlagen dafür bereits vorhanden sind. Dies ist richtig, da, wie 
wir gesehen haben, der Keim des Neurosen- oder Verhaltensprobleras 
in der infantilen Triebentwicklung und in der Beziehung des Kindes 
zu seiner Familie liegt. Dennoch läßt sich nicht bestreiten, daß es in 
der Umwelt und auf dem Lebensweg des Individuums unendlich viele 
Einzelheiten gibt, welche die entstehenden Konflikte beeinflussen, 
steigern oder abschwächen können. Mit diesen Umweltfaktoren hat sich 
der Erzieher zu befassen. Den Analytiker mag die eigentliche Ursache 
der Neurose beschäftigen; den Lehrer aber geht die Umgebung des 
Kindes an, die er im Hinblick auf dessen seelisches Wohlergehen 
ebenso kontrolliert, wie dies der Lehrer früher im Hinblick auf die 
geistige Ertüchtigung und noch früher im Hinblick auf das körper- 
liche Wohlbefinden getan hat. 

Die Mitberücksichtigung der psychischen Stufen bei der Zuordnung 
des pädagogischen Stoffes, etwa bei der Auswahl von Erzählungen, ist 
keine Schutzmaßnahme, die die Lebenserfahrung des Kindes ein- 
schränken soll. Sie ist ein Schritt zu einem konstruktiven Programm 
im Gegensatz zu jener Haltung des Laissez-faire, die zwar immer vor- 
gibt, einen „handfesten Individualismus" auszubilden, die aber, wie 
wir wissen, oft Wertempfinden und Aufnahmebereitschaft abstumpft. 
Die Beachtung des psychischen Wachstums bei den Erziehungsmaß- 
nahmen ist ein wichtiger Schritt zur Verbesserung unserer heutigen 
pädagogischen Technik, 



2* 



Kinderanalyse und Erziehung 

im Rahmen der psydioanalylisdi orientierten Sdiuie ') 

Von Martin Grotjalin 

Wenn man den Einfluß der Erziehung auf die Kinder verstehen 
■will, ist es wichtig zu versuchen, die Jugendlichkeit in der Sprache 
der genetischen Psychologie zu erklären. Einige Hauptmerkmale der 
Jugend sind sogleich erkennbar. Das Verhalten des Kindes hat keine 
bestimmte Richtung, kein bestimmtes Ziel; seine Impulse, Gedanken, 
Gefühle und Affekte, seine Aufmerksamkeit und deren Einstellung 
sind raschem Wechsel unterworfen. Das Jungsein findet seinen besten 
und bezeichnendsten Ausdruck im Spiel, das sämtliche Züge der typi- 
schen jugendlichen Aktivität trägt. Spiel ist Betätigung ohne nütz- 
liehen Zweck — und dies mag der Grund dafür sein, weshalb jeder 
Beobachter des spielenden Kindes von dessen Harmlosigkeit übei- 
zeugt ist, als ob jede Absicht notwendigerweise etwas Schlechtes 
wäre. Jugendlich sein, heifit unfertig sein und doch schon die Anlage 
zur Reife in sieh tragen. Mit anderen Worten: die Fähigkeit, sich 
erziehen zu lassen und eine soziale Anpassung zu entwickeln, ist 
ein charakteristisches Kennzeichen des jungen Menschen. 

Die Definition der Jugendlichkeit ist in der Psychologie von 
größerer Bedeutung, weil keine andere Wissenschaft so sehr auf die 
Beachtung der Altersstufe angewiesen ist. In der Physiologie z. B. 
spielt das Alter eine weit weniger wichtige EoUe. Blutkreislauf, 
Atmung und Stoffwechsel sind vom Anfang bis zum Ende stets gleich- 
artige Vorgänge. Hingegen hat jedes Alter seinen eigenen psychi- 
schen Ausdruck und seine eigenen psyehopathologischen Probleme. 
Wir wissen nicht, ob sieh das Es mit dem Alter und den kulturellen 
Einflüssen ändert. Die Tatsache, daß das Es seinem Inhalt, seiner 
Dynamik und seiner Struktur nach bei den primitiven australischen 
Eingeborenen und bei ganz hoch zivilisierten Menschen durchaus ähn- 
lich zu sein scheint, ließe sich durch die Hypothese erklären, das Es 
bleibe möglicherweise auf allen Alters- und Kulturstufen dasselbe 
und die Unterschiede, die sich in der Psychologie der verschiedenen 
Altersstufen zeigen, seien nicht im Es, sondern in der Entwicklung 
des Uber-Ichs und des Ichs begründet. Die biologische und soziale 
Abhängigkeit des Kindes von seiner Umgebung, insbesondere von 
seinen Eltern, findet ihren psychischen Niederschlag in der Unreife 
und Schwäche des kindlichen Ichs und über-Iehs und in der Unbe- 
ständigkeit seiner Identifizierungen und Objektbeziehungen. 

*) Aus dem Englischen des „Bulletin of the Menninger Clinic", Bd. I, Nr. 5, 
Mai 1937, übersetzt von August Beranek, Wien. 



i 



Kiiideranalyse und Erziehung 



21 



Die Psychoanalyse versucht, das unbewußte Material in das Lieht 
des Bewußtseins zu rücken, die Verdrängung, welche die Symptom- 
bildung verursacht halte aufzuheben, neue Möglichkeiten zur Be- 
friedigung und Sublimierung der Triebe zu zeigen, zwischen Es, Ich 
und Uber-Ieh ein harmonisches Verhältnis herzustellen und dabei die 
Beziehungen zwischen der Person und der Objektwelt zu regeln. Die 
Xinderanalyse verfolgt dasselbe Ziel wie die Erwachsenenanalyse, 
nä.mlich einen „Neubeginn" einzuleiten. Da aber die Bedingungen bei 
fehlangepaßlen Kindern andere sind als bei neurotischen Erwachsenen, 
müssen auch die Methoden und Verhaltensweisen des Analytikers 
andere sein. 

Auf den ersten Blick mag die Erfolgsaussieht der Kinderanalyse 
recht günstig erscheinen: der Rückweg zur Fixierung ist kürzer, die 
Verdrängung ist nicht so tief, die Triebe sind leichter zu lenken, zu 
befriedigen und zu sublimieren. Aufgewecktheit und Wißbegierde 
des Kindes fördern eine erfolgreiche Analyse und verhüten etwaige 
Schwierigkeiten, wie sie sich aus der „geistigen Trägheit des durch- 
schnittlichen Erwachsenen" ergeben. Uber-lch und Ich des Kindes 
sind oft so prägsam, daß es relativ leicht fällt, sie zu verändern. 

Die Unfertigkeit der Ich- und Über-Ich-Bildung und die Abhängig- 
keit des Kiudes von seiner sozialen Situation verursachen jedoch — 
so vorteilhaft sie für die Erziehung sein mögen — , wenn die analyti- 
sche Behandlung eines Kindes zu Hause vorgenommen wird, die 
größte Schwierigkeit, weil der analytische Kampf gegen die Neurose 
oft zu einem Kampf gegen ungünstige Einflüsse seitens der Eltern 
des Kindes wird. Es gibt wirklieh nur selten eine Ausnahme von der 
Regel, daß das neurotische Kind neurotische Eltern hat. Diese Eltern 
sind es, die die übermäßige Triebverdränguag bei ihrem Kinde zuwege 
bringen und so für die Fixierung und die Neurose verantwortlich 
sind. Die Eltern müssen, wenn die Analyse an dem daheim lebenden 
Kind durchgeführt wird, das schrittweise Einsetzen der analytischen 
"Wirkungen mitansehen, die Befreiung der Triebe, die eintritt, ehe 
Sublimierung und Reaktionsbildung beginnen können. Sie müssen 
imstande sein, die Möglichkeit eines Zunehraens der Schwierigkeiten 
bei ihrem Kind während einer gewissen Zeit ins Auge zu fassen, und 
wenn sie nicht fähig sind, diese Probe zu bestehen, kann es sein, daß 
sie der Analyse ein vorzeitiges Ende bereiten. Der plötzliche Abbruch 
der Analyse ist aber für das Kind ein schweres Trauma mit dessen 
Folgen man nicht leicht fertig werden kann. Die erste Hilfe, die die 
Analyse leistet, wird von den Eltern unwirksam gemacht und die 
eben gewonnene Freiheit des Kindes wieder vernichtet. Es wird in 
neue und strenge Abwehrbildnngen gegen die auftauchenden Trieb- 



22 Martin Grotjahn 



gefahren hineingedrängt und antwortet mit gesteigerter Angst und 
neuerlicher neurotischer Symptombildung. Ein solches Kind wird 
daher kränker als vor der Analyse und kann nach einem derartigen 
Erlebnis zum Analytiker nie wieder Vertrauen fassen. Dieses Ergeb- 
nis ist so häufig und so bedauerlich, daU man es im vorhinein aus- 
schließen sollte, indem man das Kind für eine gewisse Zeit von den 
Eltern entfernt und in ein analytisches Milieu versetzt, wie es etwa 
eine psychoanalytisch orientierte Schule bietet; nur in dieser Situation 
kann es verhältnismäßig unabhängig von der elterlichen Neurose 
bleiben. Von dieser Regel sind bloß wenige Ausnahmen gerechtfertigt; 
wir befinden uns dabei in Übereinstimmung mit Anna Freud, die 
in einem der besten Bücher über Kinderanalyse zu folgenden Schluß- 
folgerungen gelangt: „Die Kinderanalyse gehört vor allem in das 
analytische Milieu, sie wird sich vorläufig auf die Kinder von Analy- 
tikern, von Analysierten oder von Eltern beschränken müssen, welche 
der Analyse ein gewisses Zutrauen und einen gewissen Respekt ent- 
gegenbringen."^) Unter analytischem Milieu verstehen wir ein Milieu, 
das von der praktischen Anwendung der Psychoanalyse beherrscht 
wird. So würden wir etwa eine Schule für Kinder mit Verhaltens- 
schwierigkeiten als psychoanalytisches Milieu bezeichnen, wenn die 
Erzieher Psychoanalytiker oder analytisch ausgebildete Personen 
sind und wenn alle, die mit der Schule im Zusammenhang stehen, 
analytisclies Wissen verwenden, um die Kinder zu analysieren und 
zu erziehen. 

Die Schwierigkeiten der Kinderanalyse sind nicht nur jene, die 
uns bei den Eltern begegnen, sondern auch gewisse Merkmale der 
kindlichen Persönlichkeit selbst, der die klassische Methode (für intelli- 
gente Erwachsene) angepaßt werden muß. Eine solche Schwierigkeit — 
sie tritt besonders zu Beginn einer Analyse auf — liegt in dem kind- 
lichen Mangel an Einsicht in seine Krankheit. Gerade wenn sich das 
Kind in einem Zustand der Depression befindet, weiß es nicht viel 
davon und seine neurotischen Symptome und schweren Fehleinstel- 
lungen werden von ihm oft nicht bewußt erfaßt. Das einzige, was: 
das Kind weiß und erlebt und was ihm Angst verursacht, ist die Tat- 
sache, daß die Eltern mit seinem Verhalten nicht zufrieden sind. Ein 
starker Wunsch, das Symptom zu überwinden, ist bei Kindern selten; 
er ist jedoch oft durch den Wunsch ersetzt, den Eltern Freude zu, 
machen, Dies kann zum einleitenden Motiv für die analytische Zu- 
sammenarbeit werden; es kann aber auch sein, daß ein solches Ver- 
langen nur anfangs wirksam ist und bald abflaut, besonders dann, 

=) Anna Freud: Einführung in die Technik der Kinderanalyse. 2. Aufl., 
Int. Psa. Verl., Wien, 1929, S. 83. 



Kinderaiiulyse und Erziehung 23 

wenn das Kind seine Eltern durch seine rasche Besserung erlreut. 
Dann setzt der Widerstand gegen die weitere Analyse verstärkt ein, 
wenn nicht das Verlangen, dem Analytiker Freude zu machen, einen 
neuen Ansporn bildet. 

Kinder sind auch nicht fähig, frei zu assoziieren, und selbst die 
Spielmethode von Melanie Klein ist weit davon entfernt, einen 
Ersatz für die freien Einfälle zu bieten. Es ist zwar richtig, daß die 
Spielanalyse nicht im Widerspruch zur psychoanalytischen Theorie 
steht. Spielen ist jedoch immer eine Beschäftigung m i t etwas. Das 
Kind spielt mit einem Objekt, und wenn das Objekt nicht mit ihm 
spielen will, wird es sein Spiel bald ermüdet und verstimmt abbrechen. 
Wenn Melanie Klein das Spiel mit der freien Assoziation vergleicht, 
dann müßte sie zwei verschiedene „freie Assoziationen" in Betracht 
ziehen — die des Kindes und die des Objekts. Das spielende Kind 
folgt nicht nur seinen freien Einfällen. Es ist nicht allein, wie es ein 
psychoanalytischer Patient auf dem Sofa ist. Es ist in der Gesell- 
schaft seines Spielobjekts. Das Verhalten des Kindes wird zum Teil 
durch die Art und das Verhalten des Spielobjektes gelenkt und moti- 
viert. Die Grundidee der Spielanalyse steht allerdings im Einklang 
mit der psychoanalytischen Theorie, nach der das Spiel ein Ausdruck 
des kindlichen Unbewußten ist, ganz ülmllch wie das Verhalten des 
Kindes in jeder sonstigen Situation des kindlichen Daseins — z. B. 
im Schulzimmer, während der Afalilzoilen oder bei irgendeiner der 
Beschäftigungen in der Gemeinschaft, in der es lebt. Die Spielanalyee 
ist daher nicht prinzipiell verschieden von den analytischen Fest- 
stellungen, die von geübten Beobachtern während des Tages gemacht 
werden. In diesem Sinne könnten wir von einer „Alllagsanalyse" 
sprechen. All dies sollte jedoch nicht „Psychoanalyse" genannt wer- 
den; der Ausdruck „Beobaelitmig im analytischen Milieu" ist vorzu- 
ziehen. Solchen Beobachtungen beim Spiel und in der Schule sollte 
bei jedem Versuch, das Unbewußte des Kindes zu erschließen, große 
Bedeutung beigemessen werden, weil es das hervorstechendste Merk- 
mal des Kindes ist, das Handeln dem Denken und Sprechen vorzu- 
ziehen, und weil sein Benehmen seine freieste und natürlichste Aus- 
drucksform ist. 

Das letzte und wichtigste sind die Bedingungen der Übertragung. 
Das Objekt der Übertragung, d. h. der Gegenstand der kindlichen 
Liebe, sind die 1 e b e n d e n Eltern und nicht wie bei den Erwachsenen 
die introjizierte Elternimago. Deshalb muß auch der Analytiker mit 
dem Kinde mitleben und virtuell die Elternrolle übernehmen. Er 
muß aktiv werden, wenn er die Übertragungssituation herzustellen 
wünscht, und muß mehr sein als bloß ein Interpret des Unbewußten. 



24 Martin Grotjalm 



Der Kinderanalytiker muß den gleichen starken und klaren Einfluß 
auf das Es, auf die Triebe und deren Sublimierung und Befriedigung 
nehmen wie eine introjizierte Elternimago und kann auf diese Weise 
die Erziehung und damit den wichtigen Kampf gegen die Vorbilder 
der Eltern und Kameraden führen. Der Analytiker wird zum Objekt 
der kindlichen Identifizierung und hier liegt einer der Gründe, wes- 
halb nur der Psychoanalytiker die nötige Übung zur Bewältigung 
der zahlreichen Aufgaben hat, die sich in dieser Situation ergeben; 
nur die analytische Kenntnis der eigenen wie der kindliehen unbe- 
wußten Bedürfnisse befähigt ihn dazu, auf die weitere Entwicklung 
des Kindes Einfluß zu nehmen. Das Kind kann sich sozial anpassen, 
wenn es seinen Analytiker liebt und wenn es lernt, keine Zweifel an 
dessen Liebe zu hegen. Die charakteristische Neigung des Kindes, 
mit Angst und Furcht zu reagieren, steigert sein Bedürfnis nach 
Sicherheit. Es ist gefährlich, sich zu therapeutischen Zwecken die 
Zweifel oder Ängste des Kindes, die es hinsichtlich der Liebe des 
Analytikers hegt, zunutze machen zu wollen, denn neurotische Kinder 
sind ambivalent und sehr leicht enttäuscht. Außerdem werden die 
Kinder auf Grund ihrer Erfahrungen mit ihren neurotischen Eltern 
allzuleicht in ihren masochislisehen Tendenzen bestärkt. Nur wenn 
die Übertragung stark genug wird, darf der Analytiker den Entzug 
seiner Liebe wie bei irgend einem anderen Erziehungsverfahren zur 
Erleichterung der Realilälsanpassung benützen. Der Analytiker würde 
einen Fehler begehen, wollte er die Tatsache übersehen, daß er auch 
gewisse Triebbefriedigungen verbieten muß. Die Erziehung muß sieh 
immer auch auf die Kontrolle der Triebe erstrecken, damit diese vom 
Kind zur Anpassung an die Gesellschaft verwendet werden. 

Es ist festzuhalten, daß die Hindernisse, die einer geregelten 
psychoanalytischen Technik der Kinderanalyse im Wege stehen, in 
einem analytischen Milieu bis zu einem gewissen Grad umgangen 
werden können. Doch sind diese besonderen Schwierigkeiten nicht 
die einzigen Gründe, die für eine Behandlung des neurotischen Kindes 
in einer psychoanalytischen Schule sprechen. „Psychoanalytische 
Einstellung" heißt, daß der Lehrer und der Arzt psychoanalytisches 
Wissen anwenden, um einen Überblick über das unbewußte Material 
zu erlangen und das analytische Ziel zu erreichen. Die Gefahr un- 
günstiger Reaktion während des analytischen Vorganges ist in der 
psychoanalytisch orientierten Schule stark verringert, weil es in ihr 
keine neurotischen Eltern gibt, die auf neuerlichen Verdrängungen 
bestehen. Günstige Ubertragungsbedingungen, Gelegenheiten zur 
Triebbefriedigung und zu Identifizierungen mit unneurotischen Vor- 
bildern, ungestörte Entwicklung in der Richtung zur Angepaßtheit. 



Kindpranalyse und Erzieliuiig 



25 



die Möglichkeit zur freien Betätigung im Spiel und im Leben der 
kindlichen Gemeinschaft lassen sich besser verwirklichen, wenn sich 
das Kind im analytischen Milieu der Schule aufhält, als wenn es sieh 
daheim oder in der etwas wirklichkeitsfremden Situation der analy- 
tischen Befragimg, zu Hause oder in der Öprechstimde, befindet. Das 
analytische Milieu bietet nicht nur die besten theoretischen Möglich- 
keiten, sondern zeitigt auch die besten praktischen Ergebnisse. 

Ich werde versuchen, an einem Beispiel einige der Möglichkeiten 
zu zeigen, die das analytische Milieu bietet, wenn man Einblick in 
das Unbewußte der Kinder erlangen will, — Möglichkeiten zur 
Weckung des Ausdrucks ihrer unbewußten Nöte und Probleme und 
zur Analyse und Erziehung durch Auswertung der Vorfälle, die sieh 
in ihrer realen Umgebung ereignen. Die folgenden Beobachtungen 
wurden in der mit der Menninger Clinic {Topeka, Kansas) verbun- 
denen South ard Sehool angestellt. 

Die Frau eines der Schulärzte war schwanger. Sie war beim Weih- 
nachtsmahl anwesend, aber keines der Kinder schien etwas Unge- 
wöhnliches an ihrer Erscheinung zu bemerken und niemand erwähnte 
die Tatsache der Schwangerschaft. Einige Tage später fand außerhalb 
der Schule eine Bescherung statt. Es schien klug, das Schweigen zu 
brechen und den Kindern von der Bedeutung einer solchen Sache zu 
erzählen. Die Kinder waren alle ganz erpicht darauf zuzuhören und 
stellten unzählige Fragen. Sie kramten alle ihr bisheriges Wissen 
aus, setzten ihre wohlbekannte „Ich bab's ja gesagf'-Miene auf und 
gaben deutlich zu erkennen, daß sie beim WeihnachlsmabI ihre Beob- 
achtungen angestellt hatten. Am nächsten Tag fragten sie weiter 
über Geburt, Wehen, Schmerzen und das mutiuaßliche Geschlecht 
des Babys. 

Eine Woche später kam das Kind — ein Junge — zur Welt und 
alle in der Gruppe waren froh, glücklich und aufgeregt. Sie nannten 
das Kind „unser Baby" und spendeten jedes 5 Cents für ein Geschenk. 
Ein kleiner Junge, der eben von daheim mit der Post die Nachricht 
von der Geburt eines Schwesterchens erhalten hatte, gab 28 Cents. 
Sie kauften eine Sparbüchse, taten das Geld hinein und gaben sie dem 
Baby, damit es, wenn es einmal älter sei, ein großartiges Leben führen 
und ins Kino gehen könne. Sie bestanden darauf, Mutter und Sohn 
im Spital zu besuchen. Nur zwei Kinder weigerten sich: Delbert, 
der zu ängstlich war hinzugehen, weil er sich vor Ärzten fürchtete, 
besorgt, sie könnten ihn operieren und eine Frau aus ihm machen; 
und A ra y, die älteste Schülerin der Southard Sehool, die auf Grund 
einer Identifizierung mit der Frau des Arztes hysterische Symptome 
produzierte. Sie klagte über Brechreiz, hatte Leibschmerzen und 



26 Martin Grotjahn 



wollte während der Nacht gepflegt werden. Sie wurde eifersüchtig 
und niedergeschlagen. 

Die anderen Kinder gingen ins Spital, wo ihr Verlangen, Kind und 
Mutter zu sehen und alle Einzelheiten des Spitalbetriebes zu beob- 
achten, erfüllt wurde. Sie waren ganz still und offensichtlich ergriffen. 
Im Zimmer der Mutter schwiegen sie zunächst, ein wenig verlegen; 
dann aber begannen sie ein kurzes und artiges Gespräch. Später 
änderte sich das Bild vollständig und der Analytiker hatte reichlich 
Gelegenheit, alle Arten von Reaktionen zu beobachten, die verständ- 
lich und analysierbar waren und zum Vorteil der persönlichen Pro- 
bleme jedes einzelnen Kindes verwertet werden konnten. Mark, ein 
junger Bursche, der in einer idealistischen Liebesaffäre befangen 
war, wollte keinerlei Konsequenzen der Sexualität wahrhaben und 
verdrängte das ganze Ereignis. Sarah fragte, ob es für das Baby 
nicht besser wäre, im Freien zu schlafen, die rauhe "Witterung würde 
das Kind abhärten. Ein anderes Mädchen fragte; „Warum braucht 
das Kind zwei verschiedene Dinge zum Urinieren?" (Sie meinte den 
Penis und die Testes.) Ronald, ein durch einen Geburtsfehler ge- 
hemmtes Kind, spielte mit Soldaten einer Armee, des Doktors Armee, 
die er tötete. Während des Spielens auf dem Fußboden hob er eine 
Figur auf und legte sie auf das Sofa neben eine Lehrerin; später 
legte er sie der Lehrerin in den Schoß, sagte, das sei ihr Kind, und 
nannte es mit dem Namen des Babys der Arztfamilie. Aus seiner Art, 
wie er das Figürchen hielt und sorgsam behandelte, war ganz deutlich 
zu ersehen, daß er gern selbst das Baby gewesen wäre. 

Die heftigste Reaktion zeigte der neunjährige Charles. Er trat 
mit dem Fuß gegen die Türen und erzählte dem Psychotherapeuten, er 
glaube, daß seine Eltern sich mit sexuellem Spiel befaßten und sich 
in versperrten Zimmern einander nackt zeigten — Handlungen, die 
ihm verboten waren. Einen Monat früher hatte er erfahren, daß seine 
Familie ein Schwesterchen als Zuwachs erhalten hatte. Er war sehr 
böse darüber, daß sein Vater außer ihm noch ein anderes Kind haben 
sollte. Er wollte seine Eltern mitsamt dem Kind umbringen. Nach dem 
Spitalsbesuch stellte er zahlreiche Fragen, wie Kinder gezeugt und 
geboren würden. Er hatte die gleiche Auskunft erhalten wie die 
anderen Kinder. Nach einigen Tagen sagte er, er möchte am liebsten 
alles zustopfen, besonders den „hagockno" (Anus) seiner Mutter, 
sodaß kein Baby mehr auf die Welt kommen könne und er der einzige 
Sohn wäre. Er schien sich dem Arzt gegenüber zu verschließen und 
sagte schließlich, er möchte gerne etwas tun, damit der Doktor seine 
Stelle verliere, sodaß er dem Baby nicht mehr helfen könne; das 
würde dann sterben und er selbst könne seinen Platz einnehmen. Er 



Kinderanalype und Erziehung 



27 



hatte allerlei Phantasien von Klistieren, die er erhielt, und daß er 
den Ärzten dabei half, allen Mädchen und Lehrerinnen der Schule 
Klistiere zu geben, was in seiner Vorstellung „ein Kind machen" 
hieß. Eine andere dieser Phantasien war die, in ein Mädchen hinein- 
zuschlüpfen, beim Anus hinein- und beim Mund herauszukommen. 
Eines seiner Spiele war, in eine kleine dunkle Kammer zu kriechen, 
die Tür zu schließen und dann zu bitten, daß man ihn herausnehme, 
— nur um das Spiel von neuem zu beginnen. Zu jener Zeit geriet er 
zufällig an einen Pelzmantel, der einem der Therapeuten gehörte. 
Er streichelte und liebkoste ihn und nannte ihn „mummy". Er war 
ganz glücklich und sagte: „Jetzt bin ich in ,mummy' drin! Jetzt werde 
ich gleich auf die Welt kommen." Er wiederholte seine eigene Geburt 
und machte später die Feststellung, er sei nun geboren und werde 
sich in Hinkunft über den Besitz seiner Mutter freuen und überhaupt 
so leben, daß er erwachsen werden und selbst Frau und Kinder haben 
könne. 



Alle diese Beobachtungen konnten vom Analytiker bei der Beschäf- 
tigung mit den individuellen Problemen und Konflikten der einzelnen 
Kinder nutzbringend verwertet werden. Viele solche Situationen, in 
denen sich von geschulten Kinderpsychologen bezeichnende Fest- 
stellungen machen lassen, ergeben sich ira Milieu einer psychoanaly- 
tisch orientierten Schule. Die Psychoanalyse hat höchst wichtige Bei- 
träge zur Erziehung beigesteuert und einer davon ist die analytische 
Ausbildung der Pädagogen. Analyse eines Lehrers bedeutet Erziehung 
des Erziehers, weil sie ihn von Tendenzen, seine eigenen unbewußten 
Bedürfnisse im Verkehr mit den Kindern zu befriedigen, frei werden 
hilft und damit einen unheilvollen Einfluß beseitigt, der oft so 
schweren Schaden in der nichtanalylisclien Erziehung bewirkte. 

Sowohl die inneren wie die äußeren Probleme der Kinder sind 
gänzlich verschieden von denen der Erwachsenen; daher müssen auch 
die analytischen Techniken jeweils andere sein. Ich habe zu zeigen 
versucht, daß sieh diese notwendigen Änderungen auf unser psycho- 
analytisches Wissen gründen und der psychoanalytischen Theorie 
entsprechen müssen. Die Aufgabe des Kinderanalytikers besteht nicht 
nur darin, das einzelne Kind zu analysieren, sondern erfordert die 
Analyse und Regelung des gesamten Sehulmilieus und der Beziehung, 
in der jedes einzelne Kind zu ihm steht. 



28 Martin Grotjahn 



LITERATUR: 

Freud, Anna: Einführung in die Technik der Kinderanalyse. 2. verm. Aufl., 

Int. Psa. Verl., Wien, 1929. 
Freud, Sigm.: Aus der Geschichte einer infantilen Neurose. Ges Sehr., 

Bd. VIII. 
— Das Ich und das Es. Ges. Sehr., Bd. VI. 
Klein, Melanie: Die Psychoanalyse des Kindes. Int. Psa. Verl., Wien, 1932. 
B u y t e n d i i k, F. J. J. : Wesen und Sinn des Spiels. Kurt Wolff , Berlin, 1933. 
Fenichel, Otto: Über Erziehungsmittel. Ztschr. i. psa. Päd., Bd. IX, 1935. 
Bernfold, Siegfried: Die psychoanalytische Psychologie des Kleinkindes. 

Ztschr. f. psa. Päd., Bd. VIII, 1934. 
B u r li n g h a m, D. T.: Kinderanalyse und Mutter. Ztsclir. f, psa. Päd., Bd. VI, 

1932. 
Homburger, Erik: Die Zukunft der Aufklärung und die Psychoanalyse. 

Ztschr. f. psa. Päd., Bd. IV., 1930. 



Versudi der Behebung einer 
Erziehungssdiwierigkeit 

Von Th. Bergmann 

Ich wurde von den Eltern der fast zehnjährigen Lisa gebeten, den 
Nachhilfeunterricht zu übernehmen, um diesem überaus ängstlichen 
Kind die Aufnahmsprüfling ins G-ymnasium zu ermöglichen. Schon bei 
der ersten Zusammenkunft zeigte es sieh, daß die von der Mutter er- 
wähnte Ängstlichkeit in der Schule real begründet war, denn dieses 
Kind besaß nur sehr mangelhafte Kenntnisse. Ich beschloß, dieser Zu- 
sammenarbeit eine Probezeit voranzuschieken, da ich nicht sicher war, 
das Kind in dem zur Verfügung stehenden Zeitraum von dreieinhalb 
Monaten zur Prüfung vorbereiten zu können. Dieses Ziel zn erreichen, 
schien mir vor allem durch die ungewöhnlich schwere Schreibstörung 
fast unmöglich, Als Grund dieser Störung wurde mir angegeben, daß 
das kleine Mädchen Linkshänderin war und im Alter von ungefähr 
sieben Jahren, anläßlich eines Schulwechsels, von der Lehrerin ge- 
zwungen wurde, mit der rechten Hand zu schreiben. Die Eltern schil- 
dern das Kind als unerhört ehrgeizig und ebenso faul, Lisa möchte, 
ohne sich anstrengen zu müssen, immer die Erfolgreiche, Bewunderte 
sein. Die Mutter bezeichnet das Kind in mancher Hinsicht als unintel- 
ligent und bittet mich im Lauf der Besprechungen immer wieder, acht- 
zugeben, ob an diesem Kind nicht etwas pathologisch Auffälliges 
wäre. Als ganz kleines Kind soll Lisa von ungewöhnlicher Intelligenz 
gewesen sein, so daß sie jedem dadurch auffiel und größte Bewunde- 
rung erregte. Sie zeigte eine ausgesprochen logische Denkweise, in- 
dem sie als Vierjährige fragt: „Warum sagt man eigentlich das blaue 
Meer?" Auf die Antwort, daß sich der Himmel im Wasser spiegle 
und so diese Bezeichnung bedinge, sagt die Kleine: „Komisch, wenn 
ich ein rotes Kleid anhab' und in den Spiegel schau*, sagt man nicht 
der rote Spiegel." 

Aus diesem denklustigen und lebendigen Kind wurde plötzlich ein 
scheues und zurückhaltendes und die Eltern bringen den Zeitpunkt 
für die plötzliche Umwandlung mit der Erkrankung der um zwei 
Jahre jüngeren Schwester, G r e t e r 1, in Zusammenhang, die ge- 
zwungen war, während zwei Jahren in einem Gipsverband unbeweg- 
lich zu liegen. Die damals fünfjährige Lisa war von besonderer Hilfs- 
bereitschaft und Zärtlichkeit für die kleine, kranke Schwester erfüllt, 
sie war unausgesetzt um diese bemüht und fast nicht zu bewegen» 
auch nur für kurze Zeit einem eigenen Vergnügen nachzugehen. Auch 
jetzt noch hängt sie mit der gleichen, innigen Liebe an der kleinen 
Schwester, die dies als eine selbstverständliche, ihr zukommende Hui- 



30 Th. Bergmann 



digung hinnimmt und dafür die große Schwester gängelt und erzieht, 
was diese sich, nach Angabe der Eltern, gern gefallen läßt. Die Mutter 
erklärt, daß Greterl das unauffälligste Kind wäre, das man sich 
vorstellen kann, daß es mit diesem überhaupt keine Schwierigkeiten 
gäbe und daß die Kleine eben durch ihre reizende und selbstverständ- 
liche Art immer eine bevorzugte Stellung einnähme; nicht nur bei 
den nächsten Angehörigen wäre dies der Fall, sondern bei allen 
Leuten stelle sie Lisa vollkommen in den Schatten. Ich höre, daß Lisa, 
nicht genug damit, wie es scheint, bemüht ist, sich durch unkindliche, 
kritische Art Zuneigungen zu verscherzen. Besonders die Mutter 
sucht sie durch Kritik und Widerspruch zu treffen. Ich höre vom 
Vater, daß die Mutter auch durch diese häufig provozierten Zwischen- 
fälle nicht aus ihrer gleichmäßigen Ruhe zu bringen ist und daß Lisa 
mit großer Verzweiflung auf dieses Verhalten reagiert, während er 
selbst, wie er sagt, „gelegentlich unpädagogisch vorgeht und seinen 
Arger deutlich zeigt", was Lisa nicht so tief trifft und die große 
Liebe, mit der sie am Vater hängt, keineswegs trübt. 

Erst nach dieser Vorstellung durch die Eltern, lerne ich die Kinder 
persönlich kennen. Lisa ist ein ungewöhnlich zartes, blondes, schüch- 
ternes, kleines Ding, die dunkelhaarige, dickliche Greterl macht nicht 
nur einen in jeder Hinsicht auffallend gesunden Eindruck, sondern 
es scheint auch, daß sie mit ebenso gesundem und ruhigem Ernst fest 
und sicher im Leben steht und die an sie gestellten Anforderungen 
mit Leichtigkeit und großer Anmut bewältigt. 

Auf meine Frage, ob Lisa weiß, warum ich zu ihr gekommen bin, 
antwortet sie mit Tränen in den Augen: „Ja, ich möcht' wirklich 
lernen!" Und auf meine Frage, was sie am liebsten mit mir lernen 
möchte, sagt sie nach langem Nachdenken: „Schreiben tu' ich am 
schlechtesten". Sie zeigt mir dann ihre Hefte und macht mich auf die 
Stellen aufmerksam, „die bißl schöner sind". Nachdem die Kinder wie- 
der in ihr Zimmer geschickt worden waren, fragt die Mutter sofort: 
„Nun, ist die Greterl nicht viel schöner?" Diese Äußerung ruft den 
heftigsten Protest des Vaters hervor, dem ich mich anschließe, indem 
ich sage, daß ich gerade Lisa besonders hübsch finde, da mir ihre Art 
besondere gut gefällt, vielleicht auch darum, weil sie jetzt ein meiner 
Fürsorge übergebenes Kind vorstellt. 

Mir scheint, als ob wir drei Erwachsenen somit unsere Einstellung 
Lisa gegenüber deutlich dokumentiert hätten. Die Mutter bevorzugt 
das in ihren Augen schönere, also liebenswerte, jüngere Kind. Der 
Vater versucht einen guten Kontakt auf freundschaftlicher Basis her- 
zustellen, er ist aber Lisas Fehlern gegenüber nicht blind. Und ich 
habe mich zum Anwalt Lisas bestellt. 



Versuch der Behebung einer ErziohungsscJiwierigkeit 31 

Lisa zeigt in den Stunden einen großen Fleiß, auch sie erzählt, 
wieder mit Tränen in den Augen, daß sie so schlecht schreibt, weil sie 
umlernen mußte, „was allen anderen Kindern erspart bleibt". Es zeigt 
sich aber, daß sie nicht nur ihre Hefte verschmieren und verkritzeln 
muß in einer Art, die in ihrem Alter bedenklich erscheint, sondern 
daß sie auch noch technische Schwierigkeiten hat und einzelne Buch- 
staben Überhaupt nicht kennt und sie dann entweder einfach ausläßt 
oder in einer anderen Schreibart schreibt. Lisa aber ist bemüht, mit 
sehr viel gutem Willen das Versäumte nachzuholen. Am auffallend- 
sten ist die zitterige Schrift. „Ich muß immer so zittern, genau so wie 
die Mutti, wenn sie schreibt", erklärt sie. 

So sehr bemüht sieh Lisa, schön zu schreiben, daß die Mutter be- 
hauptet, man könne glauben, ein anderes Kind habe dies geschrieben. 
Dieses Lob der Mutter macht auf sie sichtlich einen großen Eindruck, 
.sie ist stolz und glücklich, steht aber selbst ihren Leistungen sehr 
kritisch gegenüber und lobt und tadelt jedes Wort, das sie schreibt. 
Ich kann an die plötzliche Wandlung, besser zu schreiben, nicht recht 
glauben, vor allem glaube ich, daß Lisa eine so große Energie auf- 
wendet, um sauber zu achreiben, daß diese Besserung nicht von Dauer 
sein kann. Um mit der von mir geforderten Arbeitsleistung nicht einen 
zu großen Druck auf sie auszuüben, schlage ich ihr vor, ein Heft an- 
zulegen, in das sie, was sie will und wie sie will, schreiben kann. Aber 
mit Tränen in Augen und Stimme weist sie dies Anerbieten zurück und 
sagt: „Aber ich will ja nur nett und sauber schreiben, wie kann ich 
mir denn das andre abgewöhnen, wenn ich's doch tu!" 

Ich erkläre ihr, daß wir doch alle, wenn wir auch überall schönste 
Ordnung hielten, irgendwo gerne eine Lade oder einen Kasten hätten, 
in die wir in Eile alles mögliche hineinwerfen. Lisa zeigt mir voll 
Vergnügen ihre Kramlade und sagt: „Ich mach' so immer Ordnung, 
aber die Resi macht die Wirtschaft, immer schmeißt sie alles hinein, 
was sie findet; ich brauch' sie gar nicht!" Und so bleibt sie auch dabei, 
ebenso unnötig ist ein Schmierheft. 

Es fällt mir auf, daß Lisa auch während der kürzesten Unterbre- 
chung des Schreibens, z. B. beim Umblättern, die Füllfeder zuschraubt, 
hinlegt, ablöscht, umblättert, die Feder wieder aufschraubt und dann 
weiterschreibt. Auf meine diesbezügliche Frage sagt sie: „Die Mutti 
macht das auch so und hat gesagt, die Feder wird sonst kaputt." Ich 
meine, es ist nicht gut, wenn Tinte eintrocknet, aber daß es bestimmt 
nicht schadet, wenn sie für so kurze Zeit offen liegen bleibt. Dies 
hätte wohl auch ihre Mutti gemeint, denn es müßte sie ja stören, 
immer an die Feder zu denken. Trotzdem bleibt Lisa dabei, das Gebot 



o^ Th. Bergroann 



nach ihrer Auffassung strikte zu befolgen. Ich muß denken, welche 
Mühe das Kind aufwenden muß, um den Anforderungen der Mutter 
genügen zu können, und daß es sich dabei zwanghafter Angewohn- 
heiten bedient; wie enttäuschend muß es aber auch empfunden wer- 
den, daß trotz der aufgewendeten Mühe die Anerkennung der Mutter 
ausbleibt; diese versteht das Bemühen Lisas noch nicht, sieht z. B. in 
der Behandlimg der Füllfeder nur einen Zug von kleinlichem Geiz, 
der mit der sonst gezeigten Freigebigkeit des Kindes in Widerspruch 
steht. 

Für die ungewöhnliche Art, schiecht zu schreiben, bekomme ich bald 
von der Mutter eine neue Erklärung. Lisa ekelt sich vor allen Men- 
sehen und macht nur mit der kleinen Schwester eine Ausnahme. Es ist 
ihr nicht möglich, etwas aufzuessen, das bereits auf dem Teller von 
Vater oder Mutter lag, oder aus einem Glas zu trinken, das vor ihr 
sclion benützt worden war. Auch Gerüchen gegenüber verhält sie sich 
ähnlich. So ist es ihr nicht möglich, mit einem anderen als silbernen 
Besteck zu essen, und die Mutter ist immer gezwungen, darauf Rück- 
sicht zu nehmen, da das Kind einen solchen Abscheu vor Metallgeruch 
hat, daß es nicht imstande ist zu essen. Die Mutter erzählt auch, daß 
Lisa einen so stark ausgeprägten Gernchsinn zeigt, daß sie ihr offen- 
sichtlich während der Menstruation ausweicht. 

Auf meine Frage nach der Reinlichkeitserziehung der kleinen Lisa 
höre ich, daß diese ohne jede Schwierigkeit und vollkommen leicht 
vonstatten gegangen sein soll. Doch zeigt Lisa eine sehr merkwürdige 
Gewohnheit, die die Mutter bis jetzt an ihr noch nicht unterdrücken 
konnte. Lisa muß, aus Ekel vor der Berührung mit jemand anderem, 
den Deckel im Klosett dick mit Papier belegen. Kommt es einmal vor,, 
daß nicht genügend Papier vorhanden ist, so zieht sie es vor, den 
Stuhl auf den Boden abzusetzen. Auf den Verweis der Mutter reagiert 
sie gar nicht und auf die Erklärung, Lisa könne doch niemanden zu- 
muten, diese Schweinerei wieder in Ordnung zu bringen, geht sie 
willig und wie die Mutter sagt, fast mit Vergnügen an die Arbeit alles 
wieder sauber zu machen. 

So höre ich auch, daß Lisa mit Vorliebe schmutzige Wäsche trägt, 
daß es einen Kampf gibt, bevor sie frische Strümpfe anzieht, und daß 
sie, obwohl die frische Wäsche vorbereitet wird, diese doch nicht 
benützt. Lisa sieht in ihren hübschen Kleidern immer unordentlich 
aus und ich muß ein wenig zweifeln daran, daß in dieser Hinsicht im 
richtigen Maß für dieses Kind gesorgt würde. So schlage ich vor, Lisa 
ein wenig mehr behilflich zu sein und in allen Dingen Sauberkeit und 
Ordnung zu verlangen und genauest zu kontrollieren, aber ihr in 
irgend einer Form Gelegenheit zu geben, eine schmutzige Arbeit zu 



Vei-fiUph {]er Behebung einer Erzielmngsscliwieriskoit 



33 



verrichten, oder zu erlauben, in einer Art, aber nur in einer einzigen, 
schmutzig sein zu dürfen. Die Mutter sagt: „Ach, ich verstehe, Sie 
möchten irgendein Ventil schaffen, aber das wäre mir sehr unange- 
nehm, wirklich das kann ich nicht." Und sie erzählt mir von ihren 
Schwierigkeiten, von ihrer Vergeßlichkeit in Dingen, die ihre Person 
und den Haushalt betreffen, daß sie gerade bei I^isa so viel Ähnlich- 
keit bemerkt ^lnd daß sie alles tun will, um ihr Kind vor den Fehlern 
zu bewahren, die sie an sich auch sieht und die sie so sehr stören. So 
erzählt sie, daß sie als Kind eine Weidengerte fest in der Hand halten 
mußte und tagträumend durch die Straßen und den Park ging. Immer 
mußte solch eine Weidengerte in ihrem Besitze sein, und obzwar dies 
merkwürdige Verhalten anderen bereits zur Belustigung diente, 
konnte sie nichts daran ändern. Auch jetzt noch bemerkt sie Eigen- 
heiten an sich, die sie an ilire Gewohnheit aus der Kinderzeit erin- 
nern. Dies alles empfindet sie so arg, daß sie eben mit aller Macht 
dagegen bei Lisa ankämpft. 

Wir sehen, daß dieses Kind Symptome zeigt, wie sie nur in einer 
analytischen Behandlung zur Auflösung gebracht werden können. Ich 
bin vor die Aufgabe gestellt worden, das kleine Mädchen in drei 
Mouaten zu einer Arbeitsleistung zu bringen, die ein durchschnittlich 
begabtes Kind zu leisten imstande sein müßte. Mir seheint es ratsam, 
es einer Behandlung zuzuführen und lieber ein Schuljahr zu opfern, 
falls die Behandlung die intensive Prüfungsarbeit stören würde. Aber 
die Mutter erklärte mir auf eine vorsichtige Anfrage, daß das „ins 
Gymnasium-gehen und Prüfung-machen" für Lisa so viel bedeutet, 
daß dieses empfindsame und vor allem unsichere Kind bei einem 
Zurückstellen oder Versagen schwer geschädigt würde. 

Es sind deutlich verschiedene Parallelen von Plus und Minus in 
Lisas Verhalten zu beachten: Sie verfügt, wie sie selbst sagt, nur 
über eine Schmierschrift und ist im Gegensatz dazu so sehr bemüht, 
schön zu schreiben, daß sie meinen Vorschlag doch manchmal der 
Schmierlust nachgeben zu wollen, mit Entrüstung zurückweist. Das 
Schmutzigmaehen im Klosett wie ein kleines Kind und das Vergnügen 
am Putzen und Saubermachen, zeigt dieselben zwei Tendenzen. Und 
Echließlieh zeigt sie einerseits ein fast zwanghaft anmutendes Ver- 
halten die Gebote der Mutter zu erfüllen und ebenso das Nachahmen 
verschiedener Gewohnheiten, was einer liebevollen Anpassung ähn- 
lich sieht, während sie andererseits den Geboten und Gewohnheiten 
der Mutter mit einer kühlen und kritischen Beobachtung gegenüber- 
steht. 

Greterl, die kleine Schwester, bemüht sich sehr, während der Slun- 

ZeitecLrift t. pea. Ffid., XI/1 3 



34 Th. Bergmann 



den zuhören zu dürfen. Obzwar es mit Lisas ausdrücklicher Erlaubnis 
geschieht, bin ich nicht sicher, ob sie auch innerlich einverstanden 
ist. Ich lasse mich nach der Stunde von Lisa begleiten und erkläre 
ihr, daß ich nur zu ihr allein käme und frage sie, ob es ihr wirklich 
angenehm ist, wenn die kleine Schwester all ihr Können und Nicht- 
können so genau beobachtete. Nun bricht Lisa in Tränen aus und sagt 
dann: „Natürlich will ich sie nicht da haben, aber was soll ich machen, 
ich hab's ihr doch versprechen müssen!" Ich schlage vor, ich möchte 
Greterl sagen, w^ir holen sie nach der Arbeit, um die letzte Viertel- 
stunde etwas zu drilt zu spielen. Lisa ist mit dieser Lösung einver- 
standen, die auch durchgeführt wird. Sie scheint durch dieses Ver- 
sprechen Mut bekommen zu haben und sagt bald darauf der Mutter, 
dio manchmal sehr interessiert während der Stunden zuhört: „Bitte, 
Mutti, geh hinaus!" Die Mutter fügt sich diesem AVunsch wider- 
spruchslos und als ich dann Gelegenheit hatte, der Mutter zu sagen, 
wie lieb und richtig sie sich verhalten hatte, meinte sie lachend, daß 
es 80 üblich wäre in diesem Haus, daß jeder so viel Rücksicht auf die 
Seele des anderen nähme. In dieser Beleuchtung lassen sich nun auch 
wieder Lisas Konflikte ein wenig erhellen. Das Rücksiehtnehmen geht 
fast über ihre Kraft. 

Ich will mir nun auch Lisas Zustimmung zu den häufigen Bespre- 
chungen mit der Mutter holen und sage ihr, daß ich es nur mit ihrem 
ausdrücklichen Einverständnis tun will. Sie sagt sofort: „Oh, das ist 
mir sehr recht, denn Sie können ja der Mutti so raten!" Sie hat damit 
gezeigt, daß sie verstanden hat, daß ich ihr helfen will und daß ich ihr 
in ihren Schwierigkeiten, nur in einer einzigen Hinsicht helfen kann 
und das ist, eine normalere Beziehung zwischen ihr und ihrer Mutter 
herzustellen. 

In diesen Besprechungen höre ich immer wieder von der Mutter, 
daß Lisa sie nicht mag. In unzähligen kleinen Be%veisen versucht^die 
Mutter mir dies zu illustrieren und ich erkläre ihr immer wieder dezi- 
diert, daß gei-ade das Gegenteil der Fall zu sein scheint, daß Lisa 
neben der reizenden kleinen Schwester einen sehr schweren Stand 
hätte und daß jene Handlungen, die die Mutter als Beweis für die 
geringe Zuneigung des Kindes zu ihr selbst auffaßt, nichts anderes 
als ein ungeschicktes Werben um die Mutter und deren Liebe vor- 
ßtellen. Es ist anzunehmen, daß eine Störung in der Beziehung zur 
Mutter vorliegt, erstens durch Lisas frühkindliche Erlebnisse und 
zweitens durch das Verhalten der Mutter verursacht; klar ersichtlich 
sind jedenfalls die Bemühungen des Kindes, das mit allen ihm zu 
Gebot stehenden Mitteln trachtet, seine ambivalente Beziehung zu 
3corrigieren. Ich kann also der Mutter nur raten, gelegentlieh genau 



Versuch der Behebung einer Erziehungsschwierigkeit 35 

SO unpädagogisch wie der Vater vorzugehen und ihrem Ärger Luft 
zu machen, statt durch kühles, gleichmäßiges Verhalten diesen Ärger 
in kleiner Dosierung das Kind fühlen zu lassen. Und ich kann ihr auch 
nur raten, die Werbungen Lisas zu beachten und anzunehmen. 

Aber die Mutter bleibt vorläufig noch dabei, daß Lisa nur einen 
Menschen wirklich zu lieben imstande sei und das wäre die kleine 
Schwester. Bald aber kann ich der Mutter erklären, daß ich von dieser 
so eindeutig scheinenden Liebe nicht so überzeugt bin und daß sich 
Lisa in diesem Fall genau so wie jedes Kind normalerweise Geschwi- 
stern gegenüber verhält, nämlich manchmal mit Zuneigung und 
manchmal mit Abneigung. 

Lisa besitzt bereits eine Nachtkastellampe, auf die sie sehr stolz 
ist. Sie schenkt nun zu irgend einer Gelegenheit der Schwester die 
gleiche Lampe, die aber im Vergleich mit ihrer eigenen, die eben 
nicht mehr neu und unverbraucht ist, ihr mit Kecht viel schöner er- 
scheint. Sie fragt die Mutter, ob sie die neue Lampe behalten und die 
alte verschenken könnte. Die Mutter erklärt ihr, daß das unmöglich 
wäre, findet aber nach einigen Tagen die verschenkte neue Lampe von 
Lisa verkritzelt und beschädigt, ein Vorgang, der die Mutter empört. 

Wenn es zu so einem Durchbruch von Aggression und Eifersucht 
gegen die kleine Schwester kommen kann, müssen wir annehmen, daß 
die sonst gezeigte Freundlichkeit und Geduld nur mit größtem Kraft- 
aufwand möglich ist. 

Ich mache Lisa während der Stunden aufmerksam, daß es mir so 
scheint, daß das viele Verschreiben, das Vergessen der Buchstaben 
usw. damit zu tun habe, daß Lisa Sorgen habe, mit denen sie sich sehr 
beschäftige. Sie sagt: „Aber Kinder haben doch keine Sorgen!" „Ich 
denke, Kinder haben auch Sorgen, andre als Erwachsene, aber sie 
empfinden sie ebenso schwer." „Das ist eigentlich wahr", sagt sie. 

„Vielleicht willst du einmal mit mir über deine Sorgen sprechen, 
dann sag' es mir!" 

„Ich weiß nicht", ist die Antwort. Ich versuche ihr noch zu er- 
klären, daß sie immer gestört würde durch eine zweite Lisa, die lieber 
schmieren möchte, aber sie ist so besonders lieb und brav, daß sie sieh 
dies nicht erlaubt, und daß es uns allen so geht, daß wir in uns streiten 
müssen. Darauf reagiert sie aber scheinbar nicht und im Verlaufe des 
Gesprächs lade ich sie ein, mich einmal zu besuchen, vielleicht wäre 
es ihr angenehmer, so über ihre Sorgen zu sprechen. Aber sie erklärt 
mir, daß ihr dies ganz egal wäre. Bei meinem Weggehen sagt sie 
schnell: „Kann ich also nächstesmal zu Ihnen kommen?" 

Wir treffen uns zur vereinbarten Zeit und Lisa fährt mit mir. Sie- 

8* 



36 Versuch der Behebung einer Erziehungsschwierigkeit 



ist wieder sehr still und gedrückt; das einzige, das sie mir mitteilt, ist, 
■wie traurig es ist, daß sie nicht Ausflüge machen kann, aber das geht 
nicht, da Greterl ja nicht viel gehen darf. Sie macht einen müden, 
resignierten Eindruck, öie hilft unaufgefordert die Jause richten und 
ich weiß, daß sie eine derartige Arbeit nur gezwungen und äußerst 
ungern verrichtet. Als ich sie nachher aufforderte, sich bei mir umzu- 
sehen und eventuell etwas von den Spielsachen zu holen, sagt sie: 
„Darum bin ich Ja eigentlich nicht hergekommen!'' Und auf meine 
Frage sagt sie: „Ja, wegen der Sorgen. Aber ich will doch schön 
schreiben, wie kann ich es denn, wenn ich mich nicht bemüh\ nur 
schön zu schreiben?" — „Ich glaube, deine Sorgen verhindern es, daß 
du nur schön schreiben kannst", sage ich. „Oh nein, das ist gar nicht 
so, wenn ich mich bemühe, schön zu schreiben . . . ich hab' keine Sor- 
gen." — „Wolltest du nicht von den Sorgen sprechen?" frage ich. 
„Oh, nein . . . das ist gar nicht so, wie Sie sagen — ich hab' keine Sor- 
gen." Und plötzlich sagt sie mit großem Affekt: „Schaun Sie, so ist f 
es, warum muß ich jetzt mit diesen Quastein spielen... immer stört 
mich etwas, ich ärgere mich so, aber ich muß es tun . . . auf der Straße 
muß ich aufpassen, daß ich nur auf die Steine tret' . . . Auto muß ich J 
zählen, ob es sich ausgeht, dann bin ich so aufgeregt, dann tu ich so ' 
zittern." 

Ich erinnere sie an ihre zitterige Schrift. „Das ist auch so", sagt 
sie nur. Auch hier zeigt sich wieder, wie sehr gestört dieses Kind ist,. i 

da es einem Zwang gehorchen muß, um die Angst zu bewältigen. Ich 
kann vielleicht ihre Stellung in der Familie ein wenig erklären und 
verbessern, ich kann ihre Schreibstörung und Intel ligenzhemraung ver- 
stehen und mit methodischen Mitteln ein wenig verbessern, ohne die 
eigentliche Störung, da ich ihre Ursache kennen gelernt habe, irgend- 
wie beeinflussen zu können. 

Lisa verlangt in der nächsten Stunde die Anwesenheit der kleinen 
Schwester. Ich stelle mich verwundert über die neue Anordnung und 
höre: „Warum soll sie nicht da sein?" — „Du sagtest doch, du woll- 
fest mit mir allein sein?" — „Oh, nein, das hab' ich nie gesagt!" 

Wir können Lisas veränderte Haltung gut verstehen: Sie fürchtet 
das Alleinsein mit mir und braucht die kleine Schwester als Schutz, 
um nicht noch mehr von sich preiszugeben. Xiciit verständlieh scheint 
uns zunächst, warum Lisa angeblich vergessen hat, daß sie vor kur- 
zem noch über die Anwesenheit der kleineu Schwester klagte und 
diese als aufgezwungen empfand. Im Anschluß daran erfahre ich von 
der Mutter, daß Lisa immer schon Dinge, die sie sich wünschte oder 
die nur in ihrer Phantasie vorhanden waren, als Realität darstellte 
und erlebte. Nun aber wäre eine Veränderung eingetreten, die die 



Versuch der Behebung eine r Erziehungsscliwierigkeit :^- 

Mutter sehr beunruhigte, Lisa lüge so offensichtlich und, wie die Mut- 
ter sagt, vor allem so dumm und ungeschickt, daß sie immer sofort 
entlarvt würde. Das Kind bleibt aber hartnäckig bei seiner Unwahr- 
heit und es scheint, als ob wieder das bereits etwas gebesserte Ver- 
hältnis zwischen Mutter und Kind empfindlieh gestört würde. 

So höre ich, daß Lisa eine von ihrer Schnlfreundin gemachte Zeich- 
nung als ihr eigenes Werk der Mutter zeigt und sich bewundern läßt. 
Die Mutter, die aber sofort Argwohn schöpft, fragt Greterl aus und 
erfährt die Wahrheit. Sie erklärt Lisa, mit einer Lügnerin könne sie 
nicht sprechen, da dies wohl das Abscheulichste wäre, wenn man nicht 
Vertrauen zueinander haben könne. Nach Tagen bittet Lisa die Mutter 
um Verzeihung, sie setzt aber sogleich ihr Verhalten fort. Die Mutter 
erzählt: Der Bub einer Freundin, um zwei Jahre älter als Lisa, wird 
von dieser sehr bewundert; er aber zieht ihr die viel leichter zugäng- 
liche Greterl vor. Lisa zeigt diesem Spielkameraden Greterls Stamm- 
buch, in das sie ein Herz gezeichnet hat. Es ist sehr gut gelungen und 
sie betont einigemale, daß sie es mit freier Hand gezeichnet hatte. 
Trotzdem sich der Bub skeptisch verhält und ihr das nicht glaubt, be- 
teuert sie ihre Leistung immer wieder. Als der Bub weiter im Stamm- 
buch blättert, fällt eine Schablone heraus die haargenau auf das an- 
geblich mit freier Hand gezeichnete Herz paßt. „Schau, Lisa", sagt er 
ihr, „warum lügst du so, ich hab dich doch gar nicht gefragt, du 
hättest mir das gar nicht sagen müssen!" Lisa weint vor Wut und 
Verzweiflung und bleibt bei ihrer Behauptung. 

Ich frage die Mutter, ob die Kinder autgeklärt wären und ob sie 
den Geschleohtsunterschied kennen. „Ja, sehen Sie", sagt sofort die 
Mutter, „das ist dieselbe Verlogenheit bei Lisa. Die Kinder haben 
einen Exhibitionisten gesehen, ja das haben wir alle genau so erlebt, 
nicht darum handelt es sieh, sondern Greterl erzählt sofort davon, 
Lisa sagt mir überhaupt nichts, sie schweigt auch weiter." 

Über all diese Dinge spreche ich mit Lisa niemals, sie ließe sich 
ihre Bedeutung auch nicht klar machen. Ich versuche nur, der Mutter, 
die jede Gelegenheit wahrnimmt, mit mir über ihre Kinder zu 
sprechen, an diesen Dingen zu zeigen, daß sie nichts anderes als eine 
selbstverständliche Folge von Lisas innerer Situation darstellen. 

Ich kann der Mutter nicht erklären, daß Lisa sich mit einer von ihr 
phantasierten Leistung vor dem Jungen zeigen wollte, um ihm gleich- 
zustehen; aber ich sage, sicher wollte Lisa diesem Jungen gefallen, 
so wie sie es immer wieder der Mutter gegenüber versucht und zu 
immer stärkeren Mitteln greifen muß, weil ihr das nicht gelingt, was 
der Greterl so leicht fällt. 



1 



38 Th. Bergmann 



Ich habe mich während der folgenden Zeit nur auf den Unterricht 
beschränkt und über die Konflikte des Kindes nicht melir mit diesem 
direkt, sondern nur mit der Mutter gesprochen. Ich tat dies, weil ich 
den Eindruck gewann, daß die Symptome des kleinen Mädchens, ihre 
gestörte Bezieilung zu Mensehen und Interessen in einer analytischen 
Behandlung beiioben werden müßten. 

Anna Freud beschreibt in ihrem Buch „Einführung in die 
Technik der Kinderanalyse" die Behandlung einer kleinen Zwangs- 
neurotikerin, die sich mit Hilfe ihrer Neurose gegen eine intensive 
Feindseligkeit gegen die Mutter auflehnte. Das kleine Mädchen mußte 
seine ganze Intelligenz und Energie dazu verwenden, um diese Regun- 
gen zu unterdrücken, und machte gewaltige Anstrengungen brav zu 
werden, um sich die Liebe der Mutter zu retten. Dieses Kind zeigt 
schließlich als Resultat seiner krankhaften Bemühungen das Bild 
einer eingeschränkten, kleinen Person, die über ihre Gefühle nicht 
mehr voll verfügen konnte. In der Analyse zeigte sie nach und nach ihr 
Bösesein. Es heißt dort'}: „Nur die langsame historisch-analytische 
Zersetzung dieses Über-Ich ermöglichte ein Fortschreiten meiner Be- 
freiungsarbeit". Und weiter: „In der Verminderung ihrer Forderun- 
gen an sieh selbst vollzog sie mit dem Gang der Analyse fortschreitend 
allmählich wieder die Einverleibung aller Strebungen, die sie vorher 
mit solchem Kraftaufwand von sich gewiesen hatte".') 

Bei Lisa hatte ich nach kurzer Zeit erlebt, welch schwierigen 
Widersland sie einer versuchten Auflockerung entgegensetzte. Ich 
sah, daß Deutungen auch oberflächlichster Art für den Moment un- 
überwindliche Beunruhigung, vielleicht auch eine ■\"erstärkung ihrer 
Symptome hervorgerufen hätten und darum ihre Bereitschaft, mit mir 
zu lernen, störten. Spreche ich mit der Mutter über Lisas Schwierig- 
keiten und verändert diese daraufhin ihre Einstellung zu dem Kind, 
was dieses deutlich gefühlt haben mag, so fallen diese Reaktionen bei 
Lisa weg. Sie wünscht ja, daß ich der Mutter rate. Wir sehen, wie 
bestrebt sie ist, mit der Mutter in Frieden auszukommen, ihr zu ge- 
fallen, sich ihrer Liebe zu vergewissern. Wir selien, wie sie die For- 
derungen der Mutter aufs genaueste erfüllt, und wovor sich das Kind 
fürchtet, ist, durch mich mit der Mutter, respektive mit den von ihr ge- 
stellten Anforderungen in offenen Konflikt zu geraten. Aber vielleicht 
kann Lisa eben mit Hilfe der Mutter ihre strengen Anforderungen ein 
wenig ermäßigen. 

Noch ein Grund war für mich maßgebend, vorwiegend durch die 
Mutter zu wirken: 



^) 2. verm. Auflage, Int. Psa. Verl., Wien, 1929, S. 95. 
") a. a. 0., S. 99. 



Versuch der Behebung einer Erzielrnngsscliwierigkcit 39 

Ich erfuhr immer wieder von Lisas guter Bezieliung zu mir und der 
Begeisterung, mit mir zu lernen. Diese von der Mutter siehtlich ohne 
jede Eifersucht gebrachten Mitteilungen zeigten mir sehr deutlich, 
daß ich mich doch gerade in diesem Fall besonders hüten muß, einen 
solchen Afleklausbruch hervorzurufen, da ich ja neben meiner didak- 
tischen Aufgabe nur ein Bestreben habe und keine andre KichUmg 
verfolgen will, als eine normalere Beziehung zwischen Mutter und 
Kind herzustellen. 

Die Mutter bevorzugt, Ihr niclit bewußt, das kleinere, in ihren 
Augen viel schönere Kind; es ist auffallend, wie sehr ihr Lisa ähnlich 
ist. Die Frau, die selbst gegen so vieles anzukämpfen bat, wird wahr- 
scheinlich die Unzufriedenheit, die sie mit sich empfindet, auf ihr Eben- 
bild übertragen. Der Vater sagte einmal zu seiner Frau: „Du weißt 
gar nicht, wie unduldsam du gegen Lisa bist!" An diese Äußerung 
und an die Einsicht der Mutter anschließend, konnte ich meine Be- 
hauptung immer wieder aufstellen, daß die Mutter ans diesen Grün- 
den zu viel von Lisa verlange. Ich könnte verstehen, daß sie ihr Kind 
schützen wolle vor Fehlern, die sie selbst drücken, aber gerade darum 
wäre es für sie unmöglich, diese Fehler objektiv zu sehen, die richtige 
Einstellung dafür 2u haben und den richtigen Ton zu finden. Ein der- 
artiger Verweis müßte ja Lisa besonders hart trelfen und für sie un- 
verständlich sein, wenn sie Eigenheiten der Mutter an sieh so getadelt 
sähe. In dem wirklich gutgemeinten Verhalten der Mutter mußte ich 
die liebevolle Fürsorge erkennen, mit der Eltern immer bestrebt sind 
ihren Kindern das Leben besser, schöner und vor allem leicliter zu ge- 
stalten, als es ihnen selbst erseheint. Diese ungewöhnlich scharf und 
richtig denkende Frau steht ihren eigenen Schwierigkeiten mit der 
größten Einsicht gegenüber; aber es fehlt ihr die analytische Ein- 
sicht, die nötig wäre, um ihr zu erklären, in welchem Maß sie ihre 
Schwierigkeiten gerade bei Lisa erledigt, ähnlich wie Kinder, die mit 
ihren eigenen Schwierigkeiten nicht fertig werden, sich zum Erzieher 
anderer Kinder bestellen, um dort in der Erziehung zu unterdrücken, 
was ihnen selbst nicht gelungen ist. 

Lisa, die in frühester Kindheit so überaus denklustig war, ist jetzt 
nur in einer Hinsicht imstande, diese Begabung auszunützen, nämlich 
in Kritik und Widerspruch gegen die Mutter. Und sie ist wirklich im- 
stande, diese damit zu kränken, da sie ja zutiefst die wunde Stelle der 
Mutter trifft. Ich kann der Mutter nur raten, die Fehler, die sie an 
sich selbst und Lisa sieht, weniger streng zu beurteilen und wenn 
möglieh gelegentlich zu übersehen. 

Lisa zeigt eine ungewöhnlich große Zuneigung zur kleinen Schwe- 
ster, die man nur verstehen kann, wenn man sie als Mittel ansieht, die 



40 Th. Bergmann 



eigentliche Aggression und Eifersucht zu verdecken. Ich sehe, mit 
welcher Resignation sie so vieles aufgeben muß, und ich habe Gelegen- 
heit, ein Spiel zu hören, das deutlich die Machtstellung der kleinen 
Schwester zeigt: Alles und alle werden klassifiziert. Greterl schätzt 
ihre Ehrlichkeit mit 1 — 2 und Lisa mit 2—3. Dies findet Greterl 
höchst ungerecht, mit ihrer eigenen Ehrlichkeit verglichen, und indem 
sie Lisa alle möglichen Unehrlichkeiten und Lügen vorhält, zwingt 
sie sie, sich ein 3 — 4 zu schenken, obzwar sie einen Vierer verdient. 

Man kann den Worten der Mutter, daß die Eeinlichkeitserziehung 
der kleinen Lisa ohne Störung verlaufen sei, Glauben schenken, denn 
I-iisa macht den Eindruck eines besonders gutartigen Kindes, das be- 
strebt ist, alles aufs genaueste zu erfüllen, was man von ihm verlangt. 
Doch zeigt sich noch jetzt die unerledigte Lust zu schmieren. Und um 
der Versuchung zu dieser Lust nicht nachgeben zu müssen, zeigt Lisa 
bereits eine Keaktionsbildung, nämlich Ekel. Aber gerade dieser 
Schutz wird für sie verhängnisvoll, denn gerade deshalb muß sie sich 
im Klosett wie ein kleines Kind benehmen, und so verschafft sie sich 
die verbotene Befriedigung doch. Mein Anerbieten, ein Schmierheft 
anzulegen, und meine Erklärung, wir alle, vor allem Kinder, haben 
manchmal das Verlangen, das Gegenteil von dem zu tun, was erlaubt 
wäre, mußten ihren heftigsten Protest hervorrufen, denn sie mußte 
diese Erlaubnis als eine Verführung erleben, die im Gegensalz zu dem 
stand, was die Mutter forderte. Sie lehnt dies mit großem Affekt ab, 
sie will ja unbedingt nur schön schreiben, das ist: sauber sein. Aber 
ich glaube, daß die Besserung der Schrift doch mit dieser, sie beruhi- 
genden Erklärung und Erlaubnis zusammenhängt. 

Sie erlaubt sich nur einmal einen im wahrsten Sinn des Wortes 
„freien Aufsatz": Einmal fuhr ein großes, schönes, stolzes Schiff in 
einen Hafen. Das war mit Hosen voll beladen. Als die Leute dies 
sahen, schrien sie: „Hurrah, die Hosen sind da". Jetzt habe ich einen 
großen Unsinn geschrieben, aber den wenigstens schön. 

Lisa schämt sich ihrer Schrift, sie selbst nennt sie eine Sehmier- 
schrift und ihr unglaublicher Eifer, sich eine andre Schrift anzu- 
eignen, zeigt deutlich den Zusammenhang mit ihrer Schmierlust und 
die große Energie, die aufgewendet werden muß, sich nicht zu ver- 
raten. Ich konnte die tiefe Ursache dieser Schreibstörung überhaupt 
nicht berühren, denn bewußt weigerte sich Lisa, auch nur die kleinste. 
Konzession zu gestatten, wahrscheinlich mit der berechtigten Angst, 
eine unaufhaltsame Triebäußerung dann nicht mehr unterdrücken zu 
können. Ich mußte Lisa Recht geben, die eigentliche Behebung der 
scheinbar sehr komplizierten Schreibstörung fällt nicht mehr in den 
Ralimen einer pädagogischen Arbeit. Ich habe Lisas Neigung, sich 



i 



Versuch der Behebung einer Erziehungsschwierigkeit 41 

einem Zwang zu fügen, ausgenützt, um eine Besserung der Schrift zu 
ermöglichen. Ich konnte damit nur erreichen, daß ihre Schrift nicht 
schön, aber als normale Kinderschrift beurteilt wurde. Ich habe eine 
.Schreibübung vorgenommen, die ich mit den Fingerübungen der 
Klavierspieler in ansteigendem Tempo verglichen habe: Zuerst wurde 
auf gekästeltes Papier geschrieben — jeder Buchstabe hat das Recht, 
ein eigenes Kasterl einzunehmen und ist genau gleich weit von seinem 
Kachbarn entfernt. Sofort wird dasselbe auf einfach liniertem Papier 
geschrieben und sofort wieder im selben Zug weiter auf glattem, un- 
liniertem. Das ausgesprochene Vergnügen, mit dem Lisa in dieser 
Weise arbeitete, zeigte mir, daß diese Schreibübung für sie dasselbe 
bedeutet wie das „nur zwischen die Striche treten dürfen" auf der ge- 
pflasterten Straße. Und das anschließende Schreiben auf unliniertem 
Papier war für sie vielleicht ein im selben Sehritt Weitergehen auf 
asphaltiertem Weg. 

In ähnlicher Weise suchte ich eine Methode zu finden, die diesem 
Kind das Erlernen der Grammatik ermöglichen und die Arbeit ein 
wenig erfreulicher machen sollte. Zum Beispiel wurde alles, was von 
■einem Ding ausgesagt werden kann, rot geschrieben — später wurde 
äie Satzaussage nur mehr rot unterstriehen. Safzgegenstand, Ergän- 
zung, Umstand usw., alle bekommen eine bestimmte Farbe, so daß 
sich für dieses Kind eine bestimmte Farbe mit einem bestimmten Be- 
griff verbinden mußte. Schließlich wurde dies Spiel auch in umge- 
kehrter Folge gemacht — es wurden rote, grüne, gelbe, blaue Striche 
.gezeichnet und darauf mehr oder weniger sinnvoll die einzelnen Satz- 
ieile eingesetzt. 

Lisa lügt nach Aussage ihrer Mutter offensichtlich und wenn ich 
auch der Mutter erkläre, daß dem Lügen der Wunsch zugrunde liegt, 
gefallen zu wollen, etwas zu zeigen, was man nicht besitzt, so ist das, 
glaube ich, nur ein Teil der Erklärung für dieses Verhalten, Ich höre, 
daß sie nur die Mutter anlügt, es wäre das erstemal gewesen, daß sie 
diesen kleinen Freund ebenso behandelt. Aber dies dürfte vielleicht 
Im Zusammenhang mit dem Exhibitionisten stehen und sie will viel- 
leicht dem kleinen Jungen sagen: Ich kann zeichnen wie du, besser 
gesagt: Ich bin genau so wie du, den ich so sehr beneide. Und sie 
sucht die Mutter zu kränken durch Lügen, die diese so abscheulich 
findet, daß sie tagelang nicht mit ihr spricht; aber vielleicht muß 
Lisa die Mutter anlügen, weil sie so böse auf sie ist, daß sie sie als 
Mädchen zur Welt kommen ließ. Doch das sind Vermutungen, die, 
wenn ich sie auch der Mutter erklären wollte, weder im Verhalten 
Lisas noch dem der Mutter irgendwelche Veränderungen herbei- 
führen können. Und so ist Lisa gezwungen, weiterzulügen und sich 



42 Th. Bergmann 



Eigenschaften anzudichten, weil sie eine unliebsame Erkenntnis nicht 
wahrhaben w^ill. 

Da die Situation eine vollkommen andere als in einer Analyse ist, 
kann ich derartiges Material nicht verwenden. 

Anders sieht das Verhalten der kleinen Schwester aus, die, mit den 
Augen der Mutter gesehen, als ganz unauffällig bezeichnet wer- 
den mußte; dieses Kind weist jede Problematik für sich zurück und 
scheint zufrieden. Sie erzählt, daß sie sich ganz genau erinnere, wie 
sie vor dem lieben Gott gestanden wäre — ganz genau könne sie be- 
schreiben, wie alles ausgesehen habe — und sie auf die Frage, wohin 
sie am liebsten möchte, eben ihre Mutti ausgesucht hätte. 

Mit dieser tiefen Zufriedenheit seheint das kleine Mädchen sich 
beweisen zu wollen, daß es sich mit Phantasien, wie es fast 3edes Kind 
im Familienroman erledigt, nicht abgeben darf, ebenso wie es sieh 
wahrscheinlich mit der Dankbarkeit und Einsicht über seine gute Wahl 
beweisen will, einverstanden mit dem zu sein, was die Mutti für es 
bestimmte — nämlich ein Mädchen zu sein. Und so ist es imsiande, 
anderen Wünschen und damit zusammenhängenden Konflikten aue 
dem Weg zu gehen. 

Ich habe Lisas Kenntnisse, so gut es in dieser kurzen Zeit ging, 
mit Hilfe der Mutter verbessert, so daß sie die Prüfung ohne große 
Schwierigkeit und vor allem ohne Angst bestehen konnte. Da mir die 
Identifizierung mit der Mutter so deutlich schien, habe ich trotz großer 
Hindernisse durchgesetzt, daß das Kind dasselbe Gymnasium besuchen 
kann, das die Mutter absolviert hat. Sie erledigte ihre Angst vor der 
neuen Schule, vor den fremden Lehrkräften und vor ihrem Nicht- 
können in dem Augenblick, als die neue Frau Professor sie fragte, ob 
sie sich an den Platz setzen wolle, den die Mutter innegehabt hatte. 
Dies erzählt sie mir voll Bewunderung über das gute Gedächtnis von 
Mutter und Lehrerin und ist selbst schon eine begeisterte und dank- 
bare Schülerin geworden. Ich habe auch in diesem Verhalten nur der 
Mutter gezeigt, mit welch rührender Anteilnahme das Kind alles er- 
lebt, was irgendwie mit der Mutter in Bezug steht. 

Ich habe versucht, auf der Basis einer analytisch-pädagogischen 
Arbeit die tiefen Ursachen, die die gezeigten Erziehungsschwierig- 
keiten hervorgerufen haben, zu erforschen und mit Hilfe dieses Wis- 
sens meine pädagogische Arbeit aufzubauen. Mit dieser Hilfe ist es 
mir gelungen, einerseits von außen her erzieherisch beeinflussend zu 
wirken, nämlich das schwankende Selbstbewußtsein des Kindes zu 
stützen und die Einflüsse seiner Umgebung ein wenig zu korrigieren. 
Andererseits versuchte ich, indem ich Lisas zwanghaftes Verhalten 
zu einer Arbeitsleistung führte, von innen her Einfluß zu nehmen: 



I 



Versuch der Behebung einer Erziehungsschwierigkeit 43 

Setze ich mit meiner Arbeitsleistung dort ein, wo sich Lisa sicher 
fühlt (in ihrem zwanghaften Verhalten), so überläßt sie mir willig 
und vertrauensvoll die Führung, sie aus der verwirrenden Situation 
herauszubringen. Der Gewinn ist ein doppelter, denn ich helfe dem 
Kind nicht nur über eine Erziehungsschwierigkeit hinweg, sondern 
ich gebe ihm auch die Möglichkeit, seine Realitätseinstellung zu ver- 
bessern. 

Um das Ziel zu erreichen, das ich mir vorgenomiuen hatte, ver- 
suchte ich, analytische Kenntnisse in meine unterrichtliche und erzie- 
herische Arbeit einzuflechten, um das Kind Deutungen auf diese 
Weise erleben zu lassen. Der Mutter gegenüber versuchte ich die Zu- 
sammenhänge zu erklären, allerdings in einer Art, wie wenn ich Lisa 
wäre, die um die Liebe der Mutter bewußt kämpft. Es ist wahrschein- 
lich, daß Deutungen in solcher Art gegeben, auf die Dauer nicht so 
tragfähig sein können, um vielleicht neu auftauchenden Schwierig- 
keiten standzuhalten. Doch sowohl Mutter als Kind haben die Er- 
kenntnis gewonnen, daß derartige Schwierigkeiten nicht unüber- 
windlich bleiben müssen, da es eine Möglichkeit gibt, sich von ihnen zu 
befreien — den Weg zu gehen, der offen ist — nämlich zur Analyse, 



Eine Einsdilafstörung aus Todesangst 

Von Emma Berner 

Psychoanalytisch orientierte Lehrer haben in den letzten Jahren 
-oftmals Gelegenheit gehabt, die Lern- und Erzielumgssehwierig- 
keiten, welche Kinder mit neurotischen Störungen im Elternhaus und 
in der Schule zeigten, mit Kinderanalytikern eingehend durchzube- 
sprechen. Inzwischen bereits revidierten Erwartungen entsprechend 
hoffte man früher, mit den psychoanalytischen Kenntnissen ausge- 
rüstet, direkt in schwierige Situationen des Kindes eingreifen und sie 
beheben zu können. Es zeigte sieh zwar, daß unter günstigen Um- 
ständen und bei geschicktem Vorgehen wichtige affektive Grund- 
lagen der Störung erfaßt wurden und eine günstige Beziehung zum 
Kind hergestellt werden konnte, daß aber die weiteren Schritte, die 
zur Behebung der Störung führen sollten, nur sehr selten gemacht 
werden konnten. Die Schulsiluation erlaubt es nicht, daß der Lehrer 
seiner Einsicht entsprechend durch Deutungen dem Kinde das mit- 
teilt, was er im affektiven Rapport mit ihm erfahren hat; schwere 
Konflikte müssen als in der Schulsituation unlösbar bestehen bleiben. 
Ein anderer positiver Weg, der sich uns eröffnete, führte dann zu 
einer psychoanalytiseh-therapeutischeii Kur in Form der Kinder- 
analyse. Diese kann aus den angedeuteten Gründen vom Lehrer, selbst 
wenn er therapeutisch ausgebildet wäre, nicht selbst durchgeführt 
^Verden; für die Arbeit mit dem Kinde in der Schule bedarf es einer 
gleichmäßigen, affektiv nicht sehr wechselnden Beziehung innerhalb 
des Unterrichts. Der Lehrer kann nur die Bemühungen um eine solche 
Behandlung unterstützen. Ist das erreicht, dann hat er die Aufgabe, 
sein Verhalten Eltern und Kindern gegenüber so einzurichten, daß 
Schule und Kinderanalyse im Interesse des kranken Kindes sich mög- 
lichst ergänzen und nicht einander stören. 

Die dritte und vielleicht wichtigste Aufgabe des psychoanalytisch 
orientierten Lehrers ist wohl in der Gestaltung der Unterrichtsein- 
teilung und der didaktischen Arbeit selbst zu sehen; sie muß den kind- 
lichen Bedürfnissen soweit angepaßt sein, daß einige Lern- und 
Arbeitsschwierigkeiten gar nicht erst entstehen können. 

Wenn ich trotzdem einem kleinen Mädchen, von dem ich hier 
berichten werde, in einer Situation zu helfen versucht habe, die ein- 
deutig eine neurotische Erkrankung befürchten ließ, so geschah es, 
weil ganz bestimmte Voraussetzungen gegeben waren, die zu diesem 
Eingreifen berechtigten. Hieven wird am Ende dieser Arbeit noch 
die Rede sein. 



Eine Einschlafstörung aus Todesangst 45. 



An nie, ein 8)^ jähriges Mädciien, kam im Herbst in meine Klasse. 
Sie ist ein auffallend hübsches, ruhiges und sehr ernstes Kind. Sie 
paßte sich schnell den Schulbedingungen unserer Klasse an, die anders 
■waren als die der Schule, die sie früher besucht hatte. Es fiel mir 
gleich auf, daß sie besonderes Interesse für Rechnen und Geographie 
zeigte, hingegen bei allen Arbeiten, bei denen sich Phantasie bemerk- 
bar machen konnte — in Aufsätzen und im Zeichnen — auffallend 
langsam und einfallsarm war. (Diese Abneigung hatte mir die Mutter 
bereits mitgeteilt, als Annie zur Schule kam.) Annie war so wohl- 
erzogen, daß sie nie widersprach, wenn sie eine solche Arbeit zu 
machen hatte. Aber man merkte ihre innere Anstrengung. Ihre erste 
geschlossene Arbeit auf diesem Gebiet war das Abschreiben eines- 
Buclies über Babypfiege, das sie reizend illustrierte. Das Mädchen 
hatte wenig Kontakt mit andern Kindern, es war ständig in seine 
Arbeit vertieft. 

Im dritten Schulmonat erkrankte sie an Scharlach, Da die Mutter 
sie zu Hause pflegte, mußte der Vater und der um zwei Jahre jüngere 
Bruder für die Zeit der Krankheit ausziehen, Die Erkrankung ver- 
lief ohne jede Komplikation. Es war seit langem das erste Mal, daß 
die Mutter Zeit hatte, sich nur um ihre kleine Tochter zu kümmern. 
So schien alles ohne Schädigung abzulaufen. Nur beim Einschlafen 
zeigten sich Störungen. Einmal äußert sie Gespensterangst, einmal 
hat sie Gewissensbisse, weil sie vor 2J^ Jahren den Vater in einer 
ganz unwichtigen Sache angelogen hat. Seit Annies Geburt führte 
ihre Mutter Tagebuch über das Kind, während der Krankheit fand 
sie Zeit, alles ziemlich genau aufzusehreiben, daher kann ich manch- 
mal Annies eigene Worte wiedergeben. 

In der letzten Krankheitswoche bemerkte die Mutter, daß das Mäd- 
chen gesteigert unruhig und ängstlich wurde. Einmal trank sie ein 
Glas Wasser, das neben einer Flasche Lysol, das zur Desinfektion im 
Zimmer war, gestanden hatte. Sie erschrak sehr, als sie im Wasser 
Lysolgeschmack zu spüren meinte und das Giftzeichen an der Flasche 
bemerkte. Sie hatte die Vorstellung, sich vergiftet zu haben, und 
konnte vor Angst nicht einschlafen. Diese Aufregungszustände waren 
so arg, daß der Kinderarzt Brom verschrieb. Es dauerte oft bis 1 Uhr 
nachts, bis Annie endlich einschlafen konnte. Sie wiederholt zwang- 
haft dieselben Worte, manchmal ganz leise, weil sie versuchte, sich 
zu beherrschen. Oft war es ihr, als ob sie einen Knödel im Halse hätte, 
und sie äußerte heftige Angst, daß etwasUnerwartetes geschehen könnte. 

Wenige Tage nach der Befürchtung mit der Lysolflasche wurde 
die Wohnung desinfiziert. Die Männer, die die Desinfektion durch- 
führten, trugen Gasmasken, als sie die Fenster des Krankenzimmers 



46 Emma Berner 



Öffneten, das durch Dämpfe desinfiziert worden war. Wieder war 
Annie voller Angst; denn in diesem Raum war sie ja sechs Wochen 
krank gelegen. Sie hatte schwere Todesangst. Sie erinnerte sich auch 
daran, daÜ vor einigen Jahren zwei kleine Mitschülerinnen ziemlich 
plötzlich gestorben waren, und fürchtete, nun auch sterben zu müssen. 
Waa immer Annie nun in diesen letzten Tagen, bevor sie zur Schule 
durfte, tat oder sah, brachte sie irgendwie mit ihren Todesphantasien 
in Verbindung. Wenn die Mutter auf Annies besonderen Wunsch mit 
ihr Blei goß, erinnerte sie sich plötzlich, daß Kanonenkugeln, die 
töten, auch aus Blei sind. Fand sie im Essen ein kleines Körnchen, so 
fürchtete sie, das Essen könnte vergiftet sein, und konnte nicht weiter 
essen. Unterdessen waren Vater und Bruder nach Hause zurückge- 
kommen. Trotz großer Freude kann sie am Abend wieder nicht ein- 
schlaEen. Sie hat Angst, zu erblinden. 

Am Tag bevor Annie die Schule wieder besuchen sollte, suchte mich 
ihre Mutter auf, um sich Rat zu holen. Sie hatte während des langen 
Alleinseins mit der Kleinen Gelegenheit gehabt, oft und ausführlich 
mit ihr zu sprechen. Annie war ziemlich weitgehend aufgeklärt, die 
Mutter hatte bisher alle ihre Fragen beantwortet, war aber nicht 
sicher, wieviel sie ihr bei zu erwartenden Fragen über die Konzeption 
sagen sollte. Annie hatte während des Scharlachs eine Phantasie 
erzählt, die sehr deutlich ihre Konzeptionsgedanken zeigte und ihre 
Beziehung zur Mutier beleuchtete und die in einem späteren Zusam- 
menhang noch sehr wichtig wird. 

Annie erzählt (die Mutter schrieb in ihr Tagebuch „gesteht"), daß 
sie sich ein Märchen ausdenkt, in dem sie ein ehemaliges Bärenkind 
ist, ein Männchen, denn sie wäre lieber ein Bub; sie hatte einen 
Zwillingsbruder und hat tote Menschen aus Gräbern gefressen. Zur 
Strafe wurde sie von einem Riesen in einen Punkt verzaubert und 
kam so in den Bauch der Mutter. Das war aber, obwohl es ihre Mutter 
war, eine böse Mutter, eine Stiefmutter. In einer anderen Version 
"^vird ihr zur Strafe die Schnauze weggezaubert. 

Annie hat Gewissensbisse, weil sie die Mutter so schlecht macht. 
Nach langem Zögern sagt sie ihr, „wie Unrecht sie der Mutter tut". 
Im Verlauf des Gespräches sagt ihr die Mutter, daß es nicht so war, 
wie sie in ihren Bauch kam. Sie erzählt Annie von den Eierstöcken 
und erwähnt die Öffnung, durch die das Kind herauskommt. Ich riet 
der Mutter, Annies weitere Fragen abzuwarten und erst dann ihr 
weiter so ruhig und genau Auskunft zu geben wie bisher. Von den 
Ängsten und Einschlafschwierigkeiten erzählte mir die Mutter bei 
ihrem damaligen Besuch noch nichts. Sie dachte, daß sie am ehesten 
Tergehen würden, wenn man das Kind nicht zu sehr beachte. 



Eine Einschlafstörung aus Todesangst 47 

Annie kam ziemlich unverändert zur Schule zurück. Zu Hause 
aber hatte sich ihre Situation kompliziert. Der Vater, der, als er aufier 
Haus war, eine leichte Erkrankung nicht gut genug gepflegt hatte, 
wurde ernstlicher krank. Trotz der Bemühung der Mutter mußte der 
Unterschied in der Liebeszuwendung gegenüber der Zeit des Schar- 
lachs, in der ihre ganze Sorge nur Annie gegolten hatte, stark hervor- 
treten. Nach zwei Tagen Schulbesuch berichtete mir die Mutter ver- 
zweifelt, daß es in der Früh' nicht möglich sei, Annie zur Zeit fertig 
zu kriegen. Sie wollte sich wie ein kleines Kind anziehen lassen; 
wenn man sich nicht darauf einließ, schrie sie zornig. In diesem Zu- 
sammenhang entschloß sich die Mutter auch, mir von den Einschlaf- 
ßchwierigkeiten, die sich in den letzten Tagen gehäuft hatten, zu 
erzählen. Annie weinte laut und fragte ständig, ob man an dem oder 
jenem nicht sterben könne. Daher war sie am Morgen so müde und 
schlecht gelaunt. Da ich bereits wußte, daß die Mutter sehr bereit; 
war, Hilfe in Erziehungsfragen anzunehmen, bat ich sie um ihr Ein- 
verständnis, mit Annie über diese Schwierigkeiten sprechen zu dürfen, 
falls sich dazu Gelegenheit ergeben würde. Ich erwartete eigentlich 
nicht, daß es zu einem ausführlichen Gespräch kommen würde. Ich 
hatte ja die Angstzustände nicht selbst gesehen und in der Schule 
ereignete sich nichts Auffallendes, das eine Anknüpfung ergeben 
hätte. Da die Mutter sich so geschickt bei den Aufklärungsfragen be- 
nommen hatte, erschien es mir eigentlich auch besser, wenn auch 
weiterhin sie die Gespräche mit Annie führen könnte. Aber die Mutter 
war zu ermüdet und durch neue Sorgen beladen, um Annies Ängsten 
und Trotz gegenüber objektiv und ruhig genug zu bleiben. Deshalb 
übernahm ich es, mit dem Kind zu sprechen. Allerdings wollte ich 
mich von vornherein darauf beschränken, zu versuchen, Annie un- 
mittelbar zu beruhigen, also nicht ihre Äußerungen zu sammeln und 
zu deuten. 

Da Annie noch nicht mit den anderen Kindern in der Pause im 
Garten spielen wollte, fand ich Gelegenheit, sie allein in der Klasse 
zu sprechen. Ich bedauerte sie sehr, daß sie wegen der dummen Krank- 
heit so lange von allem abgesondert sein mußte, dann erzählte ich 
ihr, daß mir ihre Mutter gesagt hatte, wie unangenehm ihr das Auf- 
stehen in der Früh' sei. Darauf begann sie sofort, von den Einschlaf- 
schwierigkeiten zu erzählen, und berichtete zu meinem größten Er- 
staunen selbst alles genau so, wie es mir die Mutter bereits mitgeteilt 
hatte. Auch die Bärenphantasie erzählte sie mir; allerdings in der 
zweiten Version mit der weggezauberten Schnauze. Die Geschichte 
ginge ihr sehr oft durch den Kopf, sagte sie mir. Bei der Erzählung 
der Ängste lächelte sie und schien par distance alles nicht so arg zu 



48 Emma Berner 



finden. Ich fragte sie, wovor sie sich eigentlich fürchte, und erfuhr, 
daß sie große Angst hätte, einzuschlafen, aber nicht mehr aufzu- 
wachen. „Wenn man tot ist, kann man nicht in warmen, schönen 
Zimmern sitzen, sondern liegt eingenagelt in vier Brettern in der 
Erde". Ich erklärte ihr, daß nur ganz alte Leute, deren Herz nicht 
mehr richtig arbeitet, manchmal so plötzlich sterben, daß das bei 
Kindern aber nie vorkommt, und versuchte sie überhaupt zu beruhigen. 

Ich erkundigte mich auch, wie es denn jetzt zu Hause sei, ob der 
"Vater schon wieder gesund wäre. Dazu erzählte Annie nichts Neues. 
Ich konnte ihr aber in ein paar Worten sagen, daß sie sich bestimmt 
große Sorgen mache, weil der Vater doch, während er ihrethalben 
nicht zu Hause wohnte, krank geworden sei, und unterstützte ihre 
Hoffnung auf baldiges Gesundwerden. (Tatsächlich mußte der Vater 
aber einige Tage später für kurze Zeit ins Krankenhaus.) 

Ich verabredete schließlieh mit ihr, daß sie mir erzählen würde, 
wenn sie wieder große Angst hätte. Abends verständigte mich die 
Mutter, daß Annie zum ersten Mal ruhig eingeschlafen war. Nach 
zwei schulfreien Tagen traten die Ängste wieder auf, unter anderem 
die Furcht, blind aufzuwachen, da sie sieh zuerst in die Nase gefahren 
war und dann die Augen berührt hatte. Als ich Annie wieder sah, 
erzählte sie mir, daß sie unter einem Portrait des kleinen Bruders 
schliefe und Angst habe, mit den Farben in Berührung zu kommen, 
denn eine davon könnte ja giftig sein. 

An diesem Tag las ich einen Teil eines Manuskripts einer Tier- 
geschichte vor, das mir der Autor mit der Bitte gegeben hatte, sie den 
Kindern vorzulesen und ihnen vorzuschlagen, sie fortzusetzen. Er 
erwartete davon Anregungen über die Art des Verständnisses und 
über die Wünsche und Erwartungen der Kinder. Annie, die vor ihrer 
Erkrankung so ungern schrieb, rief sofort, daß sie auch eine Fort- 
setzung schreiben wollte. Die Erzählung, die ich vorlas, endete mit 
der Flucht eines kleinen Fuchses (Hinardo) aus dem Käfig seiner 
Eltern im Zoo. Sein jüngster Bruder hatte ihm geholfen, den Riegel 
aufzukriegen. Nun überlegte er, was er weiter machen sollte. Annie 
schrieb : 

Ah Rinardo aber näher kam zum Käfig der Ellern, sah er, daß die Mutter 
einen offenen, aber Gott sei Danf: leeren Sarg neben sich hatte, aber der Vater 
war nicht so weichherzig, sondern hatte zwei Prügel. Der eine war schon ein wenig 
schlecht, weil Rinardo schon zu oft mit dem Prügel gekaut worden war. Bei 
diesem Anblick fufir ihm der Schreck in alle Glieder. Denn er wußte, um was es 
sich handelte: nämlich um seinen kleinsten Bruder, der sollte auch geprügelt 
werden und hatte alles sicher ganz umgedreht, so daß Rinardo nicht schuld war. 



4 



Eine Einechlaletörung aus Todofiangst 49 

Da hatte er einen neuen Plan, daß er des Flamingofräulein aufsuchen wird. Und 
nun, gesagt, getan. 

Aus dieser Geschichte wurde mir ganz klar, daß neben der eigenen 
Todesangst Schuldgefühle gegen den kleinen Bruder eine Rolle 
spielen mußten. Ich sagte ihr daher, daß es wohl sehr schwer sei, 
nach der langen Krankheit, während der man so verwöhnt wurde, jetzt 
wieder die große nachgiebige und vernünftige Schwester zu sein. An 
diesem Abend sehlief sie wieder ruhiger. Nach einigen Tagen — 
Annie war unterdessen angstfrei eingeschlafen — kam in der Schule 
das Gespräch auf Radium. Die Kinder wußten sowohl von der Heil- 
kraft wie von der besonderen Gefährlichkeit des Radiums und icli 
erzählte ihnen auf die Frage mehrerer Kinder, die davon einiges 
wußten, wie die armen Uhrmacherinnen, die die ersten Radiuniziffern 
auf Uhren malten, den Pinsel mit Radium an ihren Lippen befeuch- 
teten und schwer erkrankten; daß man aber sofort alle Maßnahmen 
zum Schutze der mit Radium arbeitenden Menschen ergriffen liat. Ich 
dachte einen Augenblick daran, daß dieses Gespräch wieder eine neue 
Todesangst bei Annie auslösen könnte, mußte aber den etwas un- 
klaren und noch ärgeren Voi'Stellungen der anderen Kinder von den 
Gefahren des Radiums entgegentreten. 

Abends rief mich die Mutter an, scliickte mir Annie zum Telepiion, 
die mich sprechen wollte, und bat mich, ihr zu sagen, daß sie sich nicht 
vor Radium fürchten müsse. Annies Stimme war ganz verstört. Ich 
konnte nichts tun als ihr versichern, daß alles Radium unserer Stadt 
in Bleikammern aufgehoben sei und daß sie ruhig einschlafen könne, 
denn bei ihnen gebe es ja nicht einmal eine leuchtende Uhr und die 
sei ja auch ganz ungefährlich. Bei diesem Gespräch hatte ich die 
Kraft dieser Angst aus der Stimme der Kleinen zum ersten Mal selbst 
gespürt. In dieser Zeit beobachtete die Mutter heftige Gewissensbisse 
wegen ganz geringfügiger Unwahrheiten vor einem Jahr und pein- 
lichste Bemühung, ganz wahrheitsgemäß zu antworten. Annie sagt, 
es ängstigt sie, „daß sich immer neue Wege zum Tod bahnen". 

Nach zwei Tagen fragte ich Annie, ob sie mir Neues zu erzälilen 
hätte und wie es mit dem Einschlafen ginge. Da antwortete sie 
lachend: „Ich schlaf wie zwei junge Hunde!" 

Damit war meine Aufgabe fürs erste beendet. Die Kleine schlief 
wieder ungestört und daher beruhigten sich die Sorgen der Mutter. 
Ich war entschlossen, falls sieh die Ängste noch einmal zeigten, der 
Mutter zu raten, einen Analytiker zu konsultieren, denn es war klar, 
daß ich nur unmittelbar beruhigt, aber nicht die Ängste aufgelöst 
hatte. Als ich nach einigen Tagen wieder mit der Mutter sprach, er- 
zählte sie mir, daß die Ängste nicht wiedergekommen waren, daß 

Zeitschrift f. pea. P£d., XI/1 4 



1 



50 Emma ßerner 



Annie sich aber jetzt heftig gegen sie wende. Sie befürchtete, man 
könnte die Mutter „minder" finden. Es war aus vielem deutlich, daß 
sie gar nicht zufrieden war, ein Mädchen zu sein, und daher auch 
nicht zugeben wollte, daß eine erwachsene Frau ebenso tüchtig und 
angesehen sein könnte wie ein Mann. Aus dieser Zeit berichtet 

das Tagebuch der Mutter: „Bei einem gerinstügigen Konflikt bei Tisch schreit 
sie: Jch will nicht essen! Ich will nicht hier sein! Ich will unier der Erde ver- 
schwinden!' Dann bittet sie sofort um Verzeihung. Abends kann sie sich wieder 
nicht zum Auslöschen entschließen; klagt über ein bißchen Angst vor Krank- 
heilen; erzählt mir, daß sie sich nach Erkrankung ihres Vetters an Scharlach 
(einige Monate vor ihrer eigenen Erkrankung) den Scharlach gewünscht hat, vor 
allem wegen des Speibens' J. Das spielt sie mit den Puppen. Sie hat nicht gern, 
wenn man sagt, daß sie ein Fräulein ist. In der Nacht Wacht sie auf und hat 
Angsl. Sie hört ein Geräusch, als ob man einen Menschen zersägte. Ich muß sie 
zur Beruhigung zu mir ins Bett nehmen, dann geht sie aber ruhig zurück und 
schläft gut." 

Ich hatte schon lange vor, Annie einmal in mehr Ruhe als in der 
Schule sprechen zu können, und lud sie ein, mich einmal nach der 
Schule zu besuchen. Sie kramte unter meinen Büchern und fand eine 
Bildergeschichte, die sie sehr amüsierte. Sie fragte mich, ob ich noch 
etwas Nettes zum Anschauen hätte. Ich zeigte ihr einige Bücher auf 
meinem Schreibtisch; dort stand ein Buch mit Bildern unserer Stadt 
und — absichtlich von mir dorthingestellt — ein kleines Buch für 
Kinder „Woher die Kinder kommen". Annie nahm auch dieses Büch- 
lein und ich ermunterte sie, darin zu blättern. Ich hatte schon bei ver- 
schiedenen Kindern durch die ausgezeichneten Bilder des Buches An- 
knüpfungspunkte für Gespi'äche gefunden. Annie sah ein Bild zweier 
in Kopulation begriffener Käfer und erinnerte sieh, das schon sehr 
oft gesehen zu haben. Ich erklärte ihr den Sinn. Auch die Bestäubung 
beim Haselstrauch — männliche und weibliche Blüten — verstand 
sie sofort. Sie fragte weiter: „Aber wie kommt der Same in den Men- 
schen?" Ich antwortete ihr möglichst einfach und hatte eine sehemati- 
sche Zeichnung von Penis und Vagina zur Hilfe. Daran zeigte ich 
Annie, wie gut die Natur es eingerichtet hat, daß diese Teile so genau 
zusammenpassen, und zeigte ihr gleich darauf ein Schema der inneren 
Organe der Frau und eins des Mannes. Ich wies sie besonders darauf 
hin, daß die Frau viel mehr innere Organe habe als der Mann, und 
erklärte ihr den Grund. Das tat ich vor allem deshalb, weil durch 
viele Einzelheiten deutlich geworden war, daß sie alle Frauen „min- 
der" fand. Daher wollte ich ihr zeigen, wie viele wichtige spezifisch 

*) Dialektausdruck für Erbrechen. 



Eine Einschlafstörung aus Todesangst 51 

weibliche Funktionen es gebe und wie schon der Körperbau der Frau 
iür diese Funktionen vorbereitet sei. 

Für diesen Tag findet sich folgendes im Tagebuch der Mutter ein- 
getragen: 

Besuch bei der Lehrerin: „Mutti, wir haben vom Kinderbekommen gesprochen. 
Sie hat mir ein Buch gegeben, da ist es aufgezeichnet Es ist wie bei den Käfern. 
Ein männliches and ein weibliches. Aber bei den Menschen müßt' man das doch 
sehen. Jetzt Weiß ich, warum man keine Kinder kriegt, wenn man nicht ver- 
heiratet ist. Aber wie war das bei der Kathi?" (Hausgehilfin mit unehelichem 
Kind.) 

Das Tagebuch fährt fort: 

Seither ist Annie geheilt. Sie spricht nicht mehr von der Fortpflanzung. In 
die Schule gehl sie gern, auch in der Früh sind keine Szenen mehr und sie 
brodelt weniger. 

Seit diesem Gespräch gab es tatsächlich keine auffälligen Schwie- 
rigkeiten mehr. Annie ist zu Hause wieder vergnügt und ausge- 
glichen und benimmt sich in der Schule viel freier, Sie schreibt mit 
großem Vergnügen Aufsätze und Geschichten und hat reizende Ein- 
fälle beim Zeichnen. Was hat diese Änderung hervorgerufen? Über 
die komplizierten Mechanismen ihrer Persönlichkeit bin ich kaum 
informiert. Ich beschränkte mich in meiner Hilfeleistung auf die un- 
mittelbaren Konflikte — milderte die Angst, erzählte ihr, daß ich aus 
eigener Erfahrung wisse, wie schwer es ist, die ältere Schwester zu 
sein, und versuchte ihr zu zeigen, daß sie als Frau auch ein intakter 
Mensch sei. Ich deutete ihr dadurch ein wenig an, daß ich ihre, teils 
unausgesprochenen Regungen zu verstehen suche. 

Weshalb traute ich mich, das in diesem Fall zu tun? Es gehören 
dazu einige unerläßliche Voraussetzungen: 

Erstens war der Kontakt zwischen Elternhaus und Schule ein sehr 
guter, die Mutter suchte meine Hilfe und schenkte mir ihr ganzes 
Vertrauen. Ich konnte also die Arbeit der Mutter fortsetzen. 

Dann begann Annie unerwartet schnell zu erzählen, ich kam daher 
mit der geringen Zeit, die man im Sehulbetrieb für ein einzelnes 
Kind übrig haben kann, aus. 

Das Wesentlichste war aber, daß ich aus der Beobachtung des 
Kindes vor der Krankheit annehmen konnte, daß es nicht wirklich 
neurotisch war. Annie hatte wohl einige Charakterschwierigkeiten — 
Verschlossenheit, Hemmung der Phantasie, — die zeigten, daß ihre 
innere Situation nicht sehr einfach war. Aber sie hatte einen guten 
Weg gefunden, sich nicht ernsthaft in ihrer Leistungsfähigkeit stören 
zu lassen. Daher konnte ich annehmen, daß sie vielleicht mit einer 
kleinen Hilfe wieder ihre alte Beziehung zur Realität finden würde. 



52 Emma Beraer 



Und das muß ja das Entscheidende für uns Lehrer bei der Frage sein, 
ob wir zn einer Behandlung raten oder nicht: daß das Kind sowohl 
den intellektuellen als sozialen Anforderungen der Schule gut nach- 
kommt und sieh zu Hause ohne allzugroße Konflikte zurechtfindet 
Beides ist im Augenblick bei Annie vorhanden. Es ist wohl möglieh, 
daß sie auf einen neuerlichen größeren Schock wieder schlecht 
reagieren könnte. 

Diesmal scheint das Zusammentreffen der Komplizierung in den 
Beziehungen au jedem einzelnen der Familienmitglieder durch die 
Erkrankung ganz besonders ungünstig gewesen zu sein. Es blieb für 
Annie innerlich nichts an seinem alten Platz. Man versteht, daß die 
Rückkehr in die alte Realität Anforderungen stellte, auf die das Kind 
neurotisch reagieren mußte. 

Schließlich war keine besonders starke Beziehung des Kindes zu 
mir nötig, um das alles zu erreichen. Ich mußte daher nicht nach der 
unmittelbaren Hilfeleistung mein Interesse für sie merklich verringern 
und sie so enttäuschen. Jetzt gilt mein Interesse eben wieder ihren 
Leistungen und nicht ihren Ängsten. 

Wodurch können Annies Schwierigkeiten ausgelöst worden sein 
lind welche Vorgänge haben den inneren Konflikt soweit gelöst, daß 
Annie nunmehr wieder wie ein normales Kind funktionieren kann? 
Eine erschöpfende Antwort können wir darauf nicht geben, die Frage 
nach der Entstehungsgeschichte dieser Einschlafstörung und Todes- 
befürchtung muß für den individuellen Fall ungelöst bleiben, wir 
müssen uns mit einer Teilantwort zufrieden geben. 

Als kleines Mädchen hatte sich Annie einmal stark ihrem Vater zu- 
gewendet, da gleichzeitig mit der natürlichen ersten Ablösung von 
der Mutter der kleine Bruder geboren wurde, bekam diese Zuwen- 
dung zum Vater damals für Annie noch eine besondere Wichtigkeit. 
Nun wird die Bedingung dieser Beziehung zu den Eltern durch Annies 
Erkrankung aufgehoben. Wieder ist sie, wie vor der Geburt des Bru- 
ders mit der Mutter aliein und genießt deren volle Zuwendung und 
Sorge. Was sich nun bei Annie an Ängsten und Phantasien über den 
Sinn und die reale Gefährlichkeit ihrer Krankheit bemerkbar macht, 
scheint ganz zu dieser Kleinkindsituation zu passen; mit der Erkran- 
kung und Isolierung von Vater und Bruder wurde sie tatsächlich aus 
einem recht selbständigen Schulkind ein viel abhängigeres Kleinkind. 
Die durch den Eintritt in die Latenzperiode bereits erworbenen Fähig- 
keiten werden durch die Erkrankung teilweise wieder rückgängig 
gemacht oder in ihrer Haltbarkeit erschüttert. Alles deutet darauf 



i 



Eine Einschlafstörung aus Todesangst 53 

hin, daß Annie mit der Einschlaf angst ihre Todesangst, die Angst vor 
dem Sterben meint, und diese kann wiederum als befürchtete Strafe 
für „kleine Vergehen" gelten. Bewußt versteht sie darunter lang 
zurückliegende Lügen, auf die andere Kinder mit einer viel gerin- 
geren Gewissensreaktion zu antworten pflegen. 

Wie stark ihr Schuldgefühl und ihr unbewußtes Strafbedürfnia ist, 
zeigen die häufigen Selbstanklagen. Wegen einer kleinen Lüge gegen- 
über dem Vater vor zweieinhalb Jahren kommt sie sich jetzt sehiecht 
vor; „...denn Lügen ist tausendmal ärger als Nichtfolgen". Durch 
die Erkrankung des Vaters scheinen ihre Schuldgefühle in besonderem 
Maße mobilisiert worden zu sein; wahrscheinlich, weil die Erkran- 
kung den Gedanken an den Tod des Vaters nahelegt und der Verlust 
seiner Person und damit seiner Liebe die ärgste Strafe für die ver- 
schiedenen Sünden wäre. Daß die geringfügige Erkrankung des 
Vaters bei ihr doch Phantasien über seinen Tod hervorgerufen haben, 
erkläre ich mir damit, daß sie ja bei sich selbst kleinste Anlässe als 
Todesdrohung empfinden konnte. Da der Vater nach kurzer Zeit 
wiederhergestellt war, konnte dann die Ermäßigung des Konfliktes 
von selbst eintreten. 

Die Wendung Annies gegen die Mutter trat erst während der Er- 
krankung des Vaters auf, sie setzt sie herunter, um ihn umso höher 
stellen zu können, sie macht so das gute Einvernehmen rückgängig, 
das sich während der Erkrankung mit der Mutter hergestellt hatte. 
Sie ist nur mit der Mutter böse, sagt auch, daß sie selbst kein Mädchen 
sein will, daß alle Frauen „minder" sind. 

Meine Mitarbeit bei der Behebung der Einschlafstörung ist leicht 
zu umschreiben: Ich habe beruhigt teils direkt durch Worte, teils 
indirekt durch Vervollständigung der sexuellen Aufklärung. Außer- 
dem scheint Annie mein Bemühen um das Verständnis ihrer Ängste 
und Schwierigkeiten angenehm empfunden zu haben. Günstig war 
auch der Zeitpunkt der sexuellen Aufklärung gewählt, diese wirkte 
darum hier beruhigend, während sie sonst bekanntlich auch angst- 
steigernd wirken kann. Auch fand das Kind bei mir Hilfe gerade in 
dem Moment, als die Mutter sich von ihr abwenden und dem kranken 
Vater zuwenden mußte. Als Frau habe ich die ßoUe der Mutter über- 
nommen, als Schulleiterin aber eher eine Rolle gespielt, die mit dem 
selbständigen, verantwortungsvollen Beruf des Vaters vergleichbar ist. 



miiiiiiiiiiiiiMiiiiiiiiiiiiiiraiiiiiiiiiiuiiitiiiiH^^ 

B E R I C HTE 



Eine Richtigstellung 

Von Ernst Sdineider 

Es ißt gewöhnlich nicht üblich, einer Buchbesprechung eine Entgegnung 
folgen zu lassen. Ich würde eine solche auch unterlassen haben, wenn die 
Aufnahme der Beurteilung meines „Psychodiagnostischeu Praktikums" durch 
"W. Marseille in der letzten Nummer dieser Zeitschrift nicht leicht miß- 
verstanden werden könnte. 

Der Kernpunkt der Kritik ist die Behauptung, die Rorschachsche Arbeit 
sei auf dem Boden der Psychoanalyse gewachsen und müsse auch von hier 
aus zur Darstellung gebracht werden, während mein Praktikum „diesen nicht 
mir histori.cch, sondern vor allem sachlich bedeutsamen Zusammenhang gänz- 
lich vermissen lasse". Demgegenüber muß festgehalten werden, daß es die Ver- 
fahren der experimentellen Psychologie waren, nach denen Rorschach seine 
Methodik aufbaute, seine Teste eichte und die Vereuchsergebnisse verarbei- 
tete. In meiner Einführung wählte ich den gleichen Weg des Aufbaues zu 
einem Praktikum, wie ich es als Seminarübungen mit meinen Studenten der 
Psychologie und Pädagogik, ihnen angepaßt, durchführte. Wenn man R o r- 
schachs Diagnostik durchgeht, wird man feststellen können, daß die Termino- 
logie, soweit sie nicht eine eigene ist, der experimentellen Psychologie und 
der Psychiatrie Bleulers entstammt, sich auch an Jung anlehnt (intro- 
versive und extratensive Einstellung). 

Das psychologische Denken geht auf Anregungen der experimentellen 
Psychologie und der Psychoanalyse zurück. Der Anstoß zu den Forschungen 
kam nicht von einer analytischen Fragestellung, Ich lese in einem Brief Ror- 
schachs aus dem Jahro 1921: „Ausgegangen ist der Versuch eigentlich von. 
Untersuchungen über RefJexhalluzinationen. Daß die ganze psychiatrische 
Auffassung und die psychologische Denkweise auf die Einflüsse Bleulers und 
seiner Schriften zurückgeht, ist natürlich richtig." - mnn 

Der Psychoanalyse widmet Rorschach in seiner Psychodiagnostik zwei 
Seiten und betont dort den diagnostischen Wert seines Versuchs für den 
Analytiker, bemerkt aber weiter: „Komplexdeutungen, die unbewußte, ver- 
drängten affektgeladenen Komplexen entstammende Inhalte ans Tageslicht 
bringen, sind auffallend selten." — „Als Methode, um ins Unbewußte einzu- 
dringen, kommt der Versuch somit nicht in Betracht; zum mindesten steht er 
hinter den tiefcnpsychologi sehen Methoden, Traumdeutung, Assoziations- 
experiment usw. weit zurück. Das ist aus dem Grunde verständlich, daß der 
Versuch ja nicht ein Frei-aus-dem-Unbewußten-sch äffen hervorbringt, son- 
dern eine Anpassung an gegebene äußere Reize verlangt, eine Aktion der 
,fonction du r^el'." Was liier Rorschach verneint, das bejaht Marseille, 
und er geht sogar so weit, zu verlangen, daß man die „grundsätzliche Ver- 
wandtschaft des Rorschach sehen Test Verfahrens mit der Methode der freien 
Einfälle bei einer einführenden Darstellung des Rorschach tests zum leitenden 



Berichte 55 



Gesichtspunkt zu machen" habe. Es mag hier ein anderer Auszug au8 einem* 
Briefe Rorschaehs folgen: „Die Arbeit ist aus zweierlei psychologischem 
Denken entstanden, aus analytischem und fachpsychologisehem. Nun ist die 
Folge, daß der Fachpsychologe elo als zu analytisch empfindet und der Ana- 
lytiker vielfach darum nichts davon versteht, weil er am Inhalt der Deutungen 
kleben bleibt und keinen Sinn für das Formale hat." Marseille wendet sich 
dagegen, daß aueli in meinem Praktikum das Formale zum Ausgangspunkt 
der Diagnose genommen wird. Ich hätte das Hauptgewicht „mehr auf die Er- 
läuterung der Auswertung der einzelnen Antworten an einer Reihe von 
besonders eindrucksvollen Beispielen" legen sollen. Ich bleibe aber aus ver- 
schiedenen Gründen Rorschach treu und nehme den formalen Befund zur 
Grundlage einer Diagnose, und es ist besonders für den Anfänger wichtig, 
daß er diesen „historischen und sachlichen" Anschluß an Rorschach gewinnt. 
Fortgeschrittene und besonders analytisch Erfahrene werden mit Vorteil zu 
einem weiteren Herausarbeiten des diagnostischen Bildes an die Untersuchung 
der Inhalte der Deutungen und ihres Zusammenhanges gehen. Einer solchen 
Fortentwicklung seines Versuches hat sich Roreehach wenige Monate vor 
seinem Tode zugewandt, besonders angeregt durch einen nichtanalytischen 
Kollegen, dem er schrieb: „Was haben Sie seither mit den Inhaltsanalysen 
weiter gemacht? Ich habe allerlei noch Unklares beieinander." Aus einem 
Brief, den er mir kurz vor seinem Tode schrieb, ist zu entnehmen, daß er zu 
positiven Ergebnissen gekommen war. Es zeigte sich nämlich, daß man wahr- 
scheinlich aus einem Vergleich zwischen Inhalten und Formal psych ogramui 
ziemlich weit in unbewußte Vorgänge hineinselien könne. Um die Frage aber 
weiter zu verfolgen, würden besondere Klexbilder notwendig sein. 

Seine letzten Funde hat Rorschach leider mit sich in Grab genommen, und 
wir haben auch bei der heutigen Sachlage noch keine Veranlassung, gerade 
den Anfänger vor die genannten Aufgaben zu stellen. Mein Praktikum enthält 
zerstreut mancherlei Hinweise; es mahnt aber auch zur Vorsiclit. Zu einer 
Einführung in den Versuch von der Psychologie des freien Einfalls aus steht 
mein Praktikum niclit im Wege. 

Daß der Klexversuch überhaupt diese Tiefe und Breite erreichen konnte 
und daß er sich besonders zur Diagnostik der Neurosen eignet, verdankt er 
sicher psychoanalytischem Wissen und Denken. Eine Darstellung des Ver- 
suches, wie sie auch immer aufgebaut ist, nimmt diese Anteile ohne weiteres 
mit. Nun schreibt aber Marseille, nachdem er über die Mögliclikeit diagno- 
stischer Erhebungen im Sinne der analytischen Neurosenlehre gesprochen 
hat: „Ist es auf die fachliche Einengung des analytischen Interesses zurück- 
zuführen, wenn man die Vernachlässigung dieser und iihniicher Befunde so 
stark als Mangel des Buches empfindet?" Ich hätte die Begabungsdiagnosen 
ungebührlich bevorzugt. Ich biete in meinem Praktikum 20 diagnostische 
Beispiele. Darunter sind 8 Diagnosen von Begabten, Unbegabten und Schwach- 
sinnigen, 8 von neurotischen, 2 von depressiven, eine von einer psychopathi- 
schen und eine von einer schizophrenen Versuchsperson. Dabei sind die krank- 
haften Erscheinungen so geschaut, wie uns dies die Psychoanalyse gelehrt 
hat. Die gegebenen Beispiele lassen sich gewiß weiter ausfülircii, und man 



56 Berichte 



kann insofern von einer „Einengung" sprechen, als ich mir Beschränkung 
auferlegte und nur mit Vorsieht ins Gebiet neurotischer und psychotischer 
fragen eintrat, um mir nicht den Vorwurf zuzuziehen, ich leite Psychologen 
zu einer Diagnostik an, die dem Arzte vorbehalten sei. Hat doch ein Verlag 
die Herausgabe abgelehnt, weil er schon in der vorliegenden Fassung einen 
Einspruch von medizinischer Seite befürchtete. Im übrigen muß ich wieder 
betonen, daß das Rorschachsche Verfahren ein diagnostisches und kein thera- 
peutisches, insbesondere psychoanalytisches ist. Eino Kritik hätte sich die 
Frage vorzulegen, ob die von mir gebotenen Diagnosen auf Grund der Ver- 
suchsprotokolle richtig seien oder nicht. Das ist das Entscheidende. 

Ich habe mich in meinem Praktikum bemüht, die vielen medizinischen und 
andere dem Pädagogen weniger verständliehen Fachausdrucke zu verdeut- 
schen. Das veranlaßt Marseille zu schreiben: „Auch die Sprache, deren sich 
Schneider in seiner Darstellung bedient, ist der typischen Denkweise des 
gebildeten Lehrers angepaßt; in ihrer Terminologie appelliert sie an die 
psychologische Allgemeinbildung, wie sie gegenwärtig bei einem Akademiker 
in Deutschland voriius gesetzt werden kann." Was den Vorwurf betrifft, ich 
hätte meinen Ausführungen die Psychologien verschiedener Forscher zu- 
grundegelegt, so sagt Rorschach selber, daß seiner Arbeit verschiedene 
Psychologien Gevatter gestanden sind, und sie wird auch diese Tatsache bei 
aller Verdeutschung nicht verleugnen können. So ist es eben nicht möglich, 
sie restlos für die Psychoanalyse zu beanspruchen, wie Marseille das tut, 
wenn er schreibt: „Wenn Schneider jene bedeutsamen diagnostisclien Fragen 
nach der psychischen Struktur behandelt, so geschieht es in Anlehnung an 
die Denkweise und die Terminologio anderer psychologischer und charaktero- 
logischer Schulen, nicht im Sinne der von der Psychoanalyse entwickelten 
Gesichtspunkte. Dafür nur ein Beispiel: das Verdrängte und seine Wirksam- 
keit wird dem Leser in der Terminologie Krelschmera als .energetisches 
Nehenzentrum' vorgestellt." 

Nehmen wir an, Marseille hätte recht, Rorschach hätte sein Kind aus 
einem psychoanalytischen Gedankenkreise zur Well gebracht und ich würde 
nun absichtlich mein Praktikum den psychologischen und pädagogischen Insti- 
tuten, für die es in erster Linie berechnet ist (stehe Einleitung), angepaßt 
haben, so wäre es doch begreiflich, daß ich die Sprache derjenigen sprechen 
würde, die ich zu Gast einlade'? Man wird mir entgegenhalten, einen 
solchen Brückenbau dürfen andere vornehmen, nicht ich, der ich in der Zeit- 
schrift für psychoanalytische Pädagogik mitzeichne. Nun hat aber Rorschach 
mit dem Handwerkszeug der psychologischen Institute gearbeitet. Seine 
IJestrebungen, sie zu bewegen, den Versuch zu übernehmen, auszuprobieren und 
weiterzubilden (Berufsberatung) scheiterten, weil mau dort der Ansicht war, 
eeine Diagnostik sei für medizinische Zwecke zugeschnitten. Mein Praktikum 
knüpft an jene Bestrebungen an und gibt den genannten Instituten in der 
Arbeit Rorschachs das mit reichlichen Zugaben wieder, was er von ihnen 
bezogen hat. 

Mit dem Praktikum entstand eine allgemeine Psychologie unter der Über- 



Berichte 57 



Schrift „Psychologie der Person". Ich entwarf hicfür ein Bezugsgerüst und 
suchte für die hypothetischen Fragen einen entsprechenden „metapsycholo- 
gischen" Standpunkt zu gewinnen, um die psycliologischen Tatsachen, die 
psychoanalytischen inbegriffen, einbauen zu können. In meiner Arbeit 
„Psychoanalyse und Pädagogik" (Manns Päd. Magazin. Heft 1303. 1930) habe 
ich gezeigt, daß die psychoanalytischen Tatsachen, ohne daß ihnen Gewalt 
Angetan wird, in das von mir entworfene Bezugsgerüst der Person eingebaut 
werden können. Vor die Aufgabe gestellt, eine allgemeine Psychologie zu 
vertreten und zu lehren, reichten die Bezugsschemata der Psychoanalyse noch 
nicht aus, und bei meiner Bemühung um die Terminologie konnte ich viele 
■auf dem Boden der Neurosenlehre gewachsenen Ausdrücke, die dort sinnvoll 
sind, nicht einfach übernehmen. Darauf habe ich vor längerer Zeit in einem 
Vortrage in der Versammlung der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft 
in Dresden hingewiesen. Sohjelderup, der vor der gleichen Aufgabe stand, 
half sich, indem er in seiner Psychologie der Psychoanalyse ein besonderes 
Kapitel unter der Überschrift „Die Persönlichkeit und ihre Konflikte" wid- 
mete, sonst aber seine Terminologie auf Experimentalpsychologie und Beha- 
■viorismus abstellte. 

Bei der Bestimmung der „Charakterstruktur" im Rorschachschen Versuch 
könnte man etwa von den libidinösen Typen Freuds ausgehen, um den For- 
derungen Marseilles zu genügen. Doch finden wir bei Eorschach ein weiter 
umfassendes und mehr differenziertes charakterologisches Bezugsgerüst, in 
das sieh jene Typen leiciit einbauen lassen, ein Gerüst, das auch einer aus 
der allgemeinen Psychologie entwickelten Charakterologie besser dient. Wir 
entwerfen ein dreidimensionales Koordinatensystem. Die erste Achse stellt 
die „L e b e n s b re i t e" dar, das Hineingestelltsein der Person in den Zu- 
sammenhang Innen-Außen. Hier können wir den Standpunkt bestimmen, von 
dem aus die Person gewohnheitsmäßig ihr Gleichgewicht zu gewinnen und zu 
erhalten sucht, und wir gelangen so zu den Rorschachschen Typen des Extra- 
tensiven, Introversiven, Ambiaequalen und den extremen Zustandsformen des 
Extravertierten und Introvertierten. Die zweite Achse ist die der ,,Lebens- 
länge". Sie steht für das Eingespannteein der Person zwischen die Pole 
Tod und Leben. Hier können wir die Menschen einordnen nach dem typischen 
Verhältnis von Einstellungs- und Umstellungsfähigkeit, der Tendenz des Ver- 
harrens und des Veränderns, der Stabilität, Festigkeit, Stereotypisierung und 
Lockerung und wie die von Rorschach gebrauchten Ausdrücke alle heißen. Die 
dritte Achse steht für die „E r le b n i s w e i t e". Hier lassen sich die Typen 
nach den von Rorschach geprägten Begriffen der Koartation (Einengung) und 
Dilatiemng (Ausweitung) einsetzen. Es kommen noch weitere Achsen dazu, 
wie etwa die der mann- weiblichen Differenzierung. In diesem Bezugsgerüst 
lassen sich die charakterologischen Orte der Gesunden, Neurotiker, Psycho- 
tiker, als der Ort, wo sich die typischen Achsen Her Person schneiden, be- 
stimmen. Hier finden die libidinösen Typen Freuds mit ihrer Orientierung 
an Es, Ich, Über-Ich und Außenwelt ihren Platz und ebenso andere Typen- 
aufstellungen. Ich glaube nicht „in Anlelmung an die Denkweise und die 
Terminologie anderer psychologischer und chaiakterologischer Schulen" ge- 



58 Bericlite 



schrieben zu Laben, ebensowenig „im Sinne der von der Psychoanalyse ent- 
wickelten Gesichtspunkte", sondern einfach im Sinne von Rorschach. 

Und nun greife ich noch das von Marseille ausdrücklich gegen mich 
ins Feld geführte Beispiel des „energetischen Nebenzentrums" auf. Unter 
„Person und Charakter" gebe ich in meinem Praktikum eine sehr gedrängte 
Darstellung des „Gefüges der Person" und entwickle das entworfene Bezugs- 
gerüst der allgemeinen Psychologie. Ein Abschnitt beschäftigt sich mit dem 
seelischen Konflikt, der, entstanden aus Handlung und Gegenhandlung, durch 
einen dritten Handlungszug zur Verdrängung gebracht wird. Handlung ist 
für mich das psychologische Element, in dem die Person lebt, so wie die Zelle 
der biologische Baustein ist. Nun suchte ich für das durch die Verdrängung 
entstandene Gebiet der Person einen Namen, wie ihn auch die übrigen Hand- 
iungsgefüge erhielten. Aber ich fand keinen passenden. „Das Verdrängte" 
schließt das Verdrängende nicht ein, ist also zu eng. „System UBW" ist zu 
weit, denn es gibt noch andere Handlungsgefüge, die unbewußt wirksam sind. 
Dem von Schilder verwendeten Ausdruck „Sphäre" fehlt die Eigenschaft 
„unbewußt"; auch umfaßt er mehr als die Verdrängungeerscheinungen. Nun 
hat Kret Schmer die Bezeichnung „energetisches Nebenzentrum" vorge- 
schlagen. Sie liegt mir nicht, weil sie zu stark physiologisch durchtränkt ist,, 
aber sie scheint mir von allen bisher vorgebrachten den Sachverhalt am an- 
schaulichsten wiederzugeben. Die besondere Aktivität drückt sich im Wort 
„energetisch" aus. Das „Neben" kann zwei Bedeutungen wiedergeben- Di© 
erste Handlung kann nicht zu Ende geführt werden, sie wird gehemmt und 
auf ein „Nebengeleise" geschoben und bildet dort „neben" der Erfahrung^- 
grundlage, „System VBW", ein Sondergebiet. Aus „Zentrum" mag man die 
Wichtigkeit herauslesen. Da ich mit der Fassung Kretschmers nur bedingt 
einig gehe, setze ich sie in Klammern. Den Sachverhalt der Verdrängung 
glaube ich richtig wiedergegeben zu haben, und das dürfte das Wesentliche 
sein. 






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x*^*n 



Über die Erziehung der Kinder 

„Oll tbc bringiiig up «f childrcn" by Pive Psycho-Aiialysts (Susan Isaacs, 

Melanie Klein, Mcrcll P. Middlemore, Niua Scarl, Ella Frccman Sbarpe). 

Editcd by John Rickman. London 1936, ICcgan Panl. 

Das vorliegende Buch ist aus einer Reihe von Vorträgen entstanden, die 
von verschiedenen Londoner Analytikern für Eltern und Erzieher gehalten 
wurden. John Rickman, der Herausgeber, hat dazu eine Einleitung ge- 
schrieben. Er stellt die Pädagogik in den großen Zusammenhang unserer 
Kultur ein, indem er ihre Abhängigkeit von Wissenschaft und Gesellschaft 
aufzeigt. 

„Hinter dem großen Umschwang in der Pädagogik, der zu Beginn unseres 
Jahrhunderts stattfand, standen Kräfte, die teils wissenscfiaftlicher, teils sozialer 
Natur waren. Die Forschungen Darwins und seiner Zeitgenossen halten neue 
Lebensaspekte eröffnet; eine Theorie, die ursprünglicfi nur für Pflanzen und 
niedere Tiere Geltung haben sollte, drang in alle Zweige des biologischen und 
sozialen Denkens ein. zerstreute den Glauben an die Unwandelbarkeit der Arten, 
bis sie schließlich auch alle Ideen über die Potentialiiät der Spezies Mensch 
selbst revolutionierte. Die Frauen waren in ihrem Denken selbständiger geworden 
und wagten es nun, ifire Kinder als Menschen anzusehen, die wertvoll und 
interessant waren wegen der in ihnen vorhandenen EnlwicklungsmSglichkeiten; 
früher hingegen hatte die Tendenz bestanden, sie einfach als eine unfertige 
Abart der Erwachsenen zu betrachten, die man nach dem Ebenbild der Eltern 
oder der Gesellschaftsklasse, in die sie nach dem Willen Gottes hineingeboren 
waren, zu formen hatte. Solange die Erziehung mehr eine Angelegenheit der 
Tradition als der Wissenschaft war, d. h. solange sie auf allgemeinen Gesichts- 
punkten der Konvention, nicht aber auf individueller Beobachtung beruhte, gab 
es keine Anhäufung von Wissen über diesen Gegenstand. Zu Beginn unseres 
Jahrhunderts brach die Erziehung mit der Tradition; die Lehrer begannen auf 
eine neue Art zu beobachten und halfen bei der Emanzipation des Kindes, indem 
sie den Eltern zeigten, wie sie den Jungen bei der Aufgabe des Aufwachsens und 
Erwachsens behilflich sein konnten, — Disziplin der Disziplin wegen wurde ver- 
worfen. Jedoch — so wertüotl dieser Fortschritt war, Eltern und Lehrer hätten 
keine gründliche Veränderung der Erziehung zustande gebracht. Dies wurde erst 
möglich, als ein neues Forschungsinslrument auftauchte, das tiefer und weiter 
in den Geist des Kindes einzudringen vermochte." (S, VII ff). 

Dieses Forschungeinstrunient ist die Psychoanalyse. Auch in diesem Falle, 
wie bei Darwin, hat eine Wissenschaft weit größere Gebiete als ursprüng- 
lich beabsichtigt, in ihren Bereich gezogen, u. a. auch dio Pädagogik. Die 
Psychoanalyse hat dio Kenntnis vom Wesen des Kindes um das Wissen vom 
Unbewußten erweitert, gleichzeitig aber auch wesentlich kompliziert. „Die 
Entwicklung der kindlichen Psyche ist viel komplizierter als man früher ange- 
nommen hat und man kann dieser Entwicklung großen Schaden zufügen, wenn 



60 über die Erziehung der Kinder 



7710« eine Erziehungsmethode anwendet, die diese Komplexität unterschätzt. 
Wenn man diese Zusammengesetztheit versteht, hat man keinen Grund, sie zu 
fürchten. Die Menschen haben sich wohl im Laufe der Zeiten mehr durch vor- 
eilige Vereinfachungen geschadet als durch die Verwirrung, in die sie durch die 
Komplexität einer Erscheinung geraten sind; Vereinfachungen nämlich haben 
die Menschen glauben lassen, daB sie ein Problem beherrschen, während sie in 
Wirklichkeit nur bei Schlagwörtern und Formeln Zuflucht gefanden haben " 
/S. IX.) 

Auch die Psychoanalyse ist der Gefahr von seilen jener, die sie, nur halb 
verstunden, zu vereinfachen suchten, nicht immer entgangen; Eltern und 
Erzieher wurden oft genug enttäuscht durch unzureichenden ßat, begründet, 
aber nicht entschuldigt durch mangelhaft g Kenntnisse. „Enthusiastische Ge- 
folgschaft, die doch nicht genau genug folgt" schadet der Sache, ebenso wie 
diejenigen, die sie zu vertreten vorgeben, aber nur Halb- und Mißverstan- 
denes verbreiten. Eines dieser Mißverständnisse ist der falsche Schluß, es gäbe 
keine neurotischen Kinder, wenn nur die Eltern sie richtig behandelten. Man 
tut dabei den Eltern Unrecht und neigt dazu, Schwierigkeiten, die in der 
Psyche des Kindes begründet sind, zu übersehen. 

Als erste dieser immanenten psychischen Schwierigkeiten, die neurosen- 
bildend wirken können, nennt Rickman das Schuldgefühl des Kindes. 

Der bedeutendste Faktor der Erzieliung ist die allgemeine Haltung der 
Eltern und die Art, wie die Details des täglichen Lebens sieh abspielen. Dinge, 
die dem Erwachsenen unwichtig scheinen, sind für das Kind von großer Be- 
deutung und umgekehrt. Das gute Benehmen des Kindes im erwachsenen 
Sinn sollte nicht auf Kosten der guten Beziehung zu den Erziehern erzwun- 
gen werden. Der Kontakt mit den Eltern und deren Beziehung untereinander 
sind das Vorbild, nach dem das Kind sich und sein künftiges Leben formt. 

„Abschließend noch ein Wort über den sogenannten Einbruch der Wissen' 
Schaft ins Heim. Manche Leute behaupten, der elterliche Instinkt geniige als 
Führer bei der Erziehung; sie geben damit der allgemeinen Meinung Ausdruck, 
Intuition und bewußtes Wissen seien unvereinbar. Das ist doch ein schwerer 
Irrtum. Da die Wissenschaft vernünftig ist, kann sie zwar nicht das letzte Wort 
bei der Führung menschlicher Angelegenheiten beanspruchen, aber gerade weil 
sie vernünftig ist, sollte sie das vorletzte haben. Kein noch so großer Denftauf- 
wand kann die Liebe ersetzen; wenn die gefühlsmäßige Haltung nicht in Ordnung 
ist, kann die V erstand eshaltung scfiwer eine aasgeglichene Einstellung zur Welt 
aufrechterhalten." fS. XV.) 

Die Psychoanalyse macht die Pädagogik erst wirklich fähig, sich in man- 
chem von der Tradition zu lösen; sie ist mehr als intellektuelles Wissen, da- 
durch, daß sie hilft, das Kind besser zu verstehen und mittels dieses Wissens 
eine bessere Beziehung zwischen Eltern und Kindern herzustellen. 

Was B ick man einleitend von einer weiteren Perspektive her zusammen- 
gefaßt hat, ist ungefähr der Umriß dessen, was in den einzelnen Kapiteln 
.ausgeführt wird. 



über die Erziehung der Kinder Qi 

Ella Freeman Sharpe beginnt das Kapitel 
„Planning tor Siabilily" 
(Das Sireben nach einem konsequenten Erziehungsplan) 

mit der Frage, ob die Psychoanalyse, die bisher mir negative Weisungen 
gegeben hat, indem sie zeigte, welche Erziehungsfehler man vermeiden soll, 
auch imstande ist, positive Ratschläge zu geben. Sie behandelt die Frage zu- 
nächet aügeraein. 

Das Kind ist in eine existierende Gesellschaft hineingeboren, dor es sich 
anpassen muß. „Seine nächste Gemeinschaft umfaßt die Persönlichkeiten der 
Eitern, ihre Beziehungen zueinander und die von ihnen ausgehende Atmosphäre 
des Heims". (S. 2). Sharpe unterscheidet au. sd rücklieh zwischen Persönlich- 
keit und Charaliter. „Ein Mensch kann vom erwachsenen Standpunkt aus ein 
wanderbarer Charakter sein, wenn wir darunter seine sozial wertvollen Eigen' 
Schäften, wie Ehrlichkeit und Willensstärke, verstehen. Diese Züge aber sind 
durchaus vereinbar mit Mangel an Phantasie and Herzenskälte. Für das Baby 
aber zählt die ganze emotionelle Persönlichkeit und nickt die kristallisierten 
Tugenden des erwachsenen Menschen." (S. 3.) Dies gilt insbesondere für die 
Mutter, mit der das Kind in seinen ersten Monaten in innigster Gemeinsamkeit 
lebt. Es kommt in dieser Beziehung weniger auf die bewußten Absichten der 
Mutter oder auf die ausgesprochenen Worte an, als vielmehr und ausschließ- 
lich auf ihre ganze Persönlielikeit, die in ihrer Haltung dem Kind gegenüber 
zum Auedruck kommt und die das Kind fühlt. Erziehungsfehler sind oft be- 
deutungslos, wenn die Gesamthallung der Mutter güni^tig iet. Dio ausgedaelit 
fehlerfreieste Erziehung führt zu Mißerfolg bei den Kindern, wenn die Ge- 
samthaltung nicht in Ordnung ist. 

Die Gesamlhaltung der Mutter zu ihrem Kind ist als Spiegelbild ihrer Be- ' 
Ziehung zu ihren eigenen Eltern zu verstehen. „Die Frau, die starke Reaktions- 
bildungen aufgerichtet hat oder ihre unbewußte Feindseligkeit gegen die eigene 
Mutter verdrängt hat, wird dem Ausdruck von Ärger und Wut bei ihrem Kind 
mit verständnisloser Sirenge begegnen; sie wird kindliche Eigenheiten ah ab- 
norm betrachten." (S. 4.) Sie fürchtet in ihren Verdriingiingen durch die Trieb- 
üußerungen des Kindes gestört zu werden. „Sic hat nicht nur Angst vor der 
Aggression des Kindes, sondern auch vor ihrer eigenen, das Kind fühlt das und 
dadurch steigert sich seine Angst vor der eigenen Macht." (S. 4.) 

Neben der Mutter -Kindbeziehung ist die Umgebung des Kindes im ganzen 
von Bedeutung. Sharpe betont, daß die Beziehung der Eltern zueinander 
die Schablone für die künftigen Beziehungen des Kindes ist, „seine Zukunft 
ist durch Art und Stärke seiner Identifizierungen determiniert". Hierlier gehört 
auch die Stellungnalime der Eltern in Erziehungefragen, ihre Einigkeit oder 
Uneinigkeit in diesem Punkte, die das Kind spürt und sich zunutze macht, 
dio Bevorzugung des ältesten oder jüngsten Kindes, des Jungen oder des 
Mädchens.*) 

") Sharpe beschäftigt sich hier besonders mit den Erziehungsplänen. 
Die Vortragsreihe, deren ursprünglich erster Vortrag der von Sharpe war, 
führte den gemeinsamen Titel; Can up-bringing be planned? (Kann man nach 
einem Plan erziehen?) 



62 über die Erziehung der Kinder 



Pläne, die die Zukunft der Kinder aus traditioiK-llcn oder ehrgeizigen Moti- 
ven der Eltern im voraus bestimmen wollen, sind in den meisten Fällen für 
die Entwicklung des Kindes schädlich; dies ist allen, die sich über die kind- 
liche Individualität Gedanken machen, klar. Weniger selbstverständlich, aber 
von mindestens ebenso großer Bedeutung, ist der Hinweis Sharp es, daß 
auch andere Erziehungsmaßnahmen, auch die sogenannt wissenschaftlichen, 
dem Kind schaden können: „Ernährung und Erziehung. Regulierung von Zeit. 
-Dauer und Anzahl der Mahlzeilen können nach wissenschaftlichen Prinzipien 
bestimmt werden. Und dennoch können alle diese .Plane' fehlgehen. Wenn die 
Eltern dabei nicht die Individualität des Kindes in Betracht ziehen und die 
Pläne nicht mit Einsicht, vor allem aber mit Liebe sorgfällig prüfen. Das Bewußt- 
sein, daß auch in Ellern möglicherweise eine unbewußte Feindseligkeit gegen die 
geliebten Kinder vorhanden sein kann, sollte dazu veranlassen, sich Rechenschaft 
zu geben über die eigenen Motive für jene Pläne und Experimente, die man an 
den Kindern ausführen will. Sogar der Ernährungsplan, der auf höchst glaub- 
würdiger physiologischer Erfahrung basiert, kann verhängnisvoll wirken, wenn er 
zu hartnäckig und unbeugsam festgehalten wird, ohne das individuelle Kind 
und seine Ängste mit in Betracht zu ziehen". fS. 8}. 

So wie bei den bisher aufgezählten Sciiwierigkeiten die unbewußten Motive 
der Eltern eine Rolle spielen, „können es dieselben Motive sein, die die Eltern 
dazu veranlassen, jede fremde Hilfe abzulehnen, aus Angst, sie könnte ihre 
Pläne, die sie .zum Besten des Kindes getroffen haben, stören. Es gibt aber Fach- 
leute, wie Ärzte, Psychologen und Erzieher, deren Erfahrung alle Eltern zu irgend 
einem Zeitpunkt brauchen. Die Anregungen dieser können, richtig verwendet, oft 
helfen, eine bessere Beziehung zwischen Eltern und Kindern herzustellen. Eltern, 
die imstande sind, ihr eigenes Unbewußtes zu prüfen, werden dabei zwei Extreme 
vermeiden: die ganze Verantwortung auf den Fachmann abzuschieben oder — 
feden Rat des Fachmanns von vornherein abzulehnen". (S. JO.j 

Nur jene Erziehungspläne, die gewisse Tatsachen, die die Psychoanalyse 
erschlossen hat, einbeziehen und auf ihnen basieren, haben Aussieht auf Erfolg. 
yyte wichtigste dieser Tatsachen ist, daß das Kind a.uf dem Wege vom Säug- 
ling zum Erwachsenen eine Reihe von psychischen und physischen Entwick- 
lungsstufen durchmachen muß; jeder Versuch, die Entwicklung zu beschleuni- 
gen, stört sie aufs empfindlicliste. — Psychisch und physisch ist das Kind von 
der Umgebung abhängig. Die psychische Gesundlieit wieder hängt von der 
physischen in hohem Grado ab, ebenso aber von der Einstellung der Um- 
gebung zum Körper und den körperlichen Funktionen. Sharpe zählt einige 
von den Störungen auf, die die ruhige Entwicklung des Kindes unterbrechen 
können: „Zu starke Licht- und Geräuschreize; Ablenkung durch neue Menschen 
und deren Aufmerksamkeil; übertriebene Anstrengungen der Eltern, Zeichen 
von Liebe und Intelligenz hervorzurufen; das Drängen nach Leistungen irgend- 
einer Art, bevor das Kind so weit ist; zu häufiger Wechsel der Umgebung, bevor 
das Kind die bisherige verarbeiten konnte; zu starres Festhalten an Regeln 
betreffs Ernährung und Reinlichkeit, z. B. das Aufwecken der Kinder zum 
Urinieren. Auch ein Wechsel von verschiedenen Erziehungspersonen zwischen 
Kleinkindzeit und dem Alter von 4 — 5 Jahren kann, wenn das Kind ihnen ganz 



über die Erziehung der Kinder g3 

anuerfrauf ist, yon schwerwiegenden Folgen für rfie Entwicklung des Kindes sein. 
Zunächst bedeutetes eine unstabile Umgebung in einer Zeil, in der das Kind selbst 
in einer Periode größter physischer und emotioneller Unruhe ist und in der es den 
Rückhalt an der Ruhe und Stabilität der Umgebung am meisten brauchen würde, 
niexu kommen die verschiedenen Temperamente der Erzieherinnen und ihre ver- 
schiedenen Maßstäbe und Forderungen in bezug auf gutes Benehmen; besonders 
aber die verschiedene Handhabung der Reinlichkeitserziehung ist für ein Kind, 
das mitten in dieser Entwicklungsphase steht, äußerst verwirrend". (S. 13.) 

Zu diesen wichtigen Situationen, die man lieber vermeiden sollte, gehört 
auch die, das Kind im Schlafzimmer der Eltern schlafen zu lassen. Die Beob- 
achtung des elterlichen Koitus ist für das Kind beängstigend und dies umso 
mehr, wenn es dadurch etwa aus dem Schlaf geweckt wird. Pavor uoctiiruus 
und Schlafstörungen bis zur Schlaflosigkeit können in diesen Situationen 
begründet sein. i 

Allzu lang andauernde Beschäftigung mit dem Körper des Kinder;, auch 
gut rationalisiert durch dio Sorgi> um Gesundlieit und Körperpflege, können 
schwere psycho-physisehe Störungen in späteren Jahren verursachen. 

So wie das Kind die Sprache ohne Dressur, nur durch Hören und Nach- 
machen erlernt, ist es auch imstande, gutes Benehmen dadurch zu erwerben, 
daß ihm die Umgebung das gute Beispiel bietet. Ohne dieses allerdings wird 
alle Mühe vergeblieh sein. 

Die Eltern können zwar dem Kind seine Aufgabe, sich zu entwickeln, nicht 
abnehmen, wohl aber sie ihm durch Verständnis erleichtern. Die Saugperiode 
ist für das Kind eine grundlegende Erfahrung, sein Ausgangsiiunkt hei der 
Zuwendung zur Welt; ist diese Situation befriedigend gewesen, .so ist damit 
eine positive Voraussetzung für seine spätere Entwicklung gegeben. 

„Stabilität und Vertrauen werden langsam erworben; doch wenn man das 
Rohmaterial an Trieben betrachtet, die dem Kind in seinen Entwicklungsjahren zur 
Verfügung stehen, muß man staunen über das Maß an KuHarerwerbungen eines 
Dreijährigen. Zuerst kennt der Säugling nur Lust und Unlust. Schmerzliche 
Reize von außen, wachsende Spannung von innen werden als lebensbedrohende 
Gefahren aufgefaßt, die von der Umgebung gegen ihn gerichtet sind und auf die 
er entsprechend reagiert. Man muß sich daran erinnern, daß das Baby weder 
Zeitgefühl noch Erfahrung hat. Es weiß nicht, daß die Spannung aufgehoben 
wird, daß der Schmerz vergeht, es weiß auch zunächst nicht, daß die Brust, die 
ihm jetzt gerade nicht gegeben wird, jemals zurückkommen wird. Das Ertragen 
von Aufschub der Befriedigung wird nur langsam erlernt". (S. 19). 

„Die Psychoanalyse hat entdeckt, daß Angst, verbunden mit Aggression, auch 
bei sehr jungen Kindern von Phantasien begleitet ist, die ihre heftigen Gefühle 
und ihren verworrenen, unbeständigen Kontakt mit der Umgebung ausdrücken 
und je nach dem Stand ihrer Entwicklung charakterisiert sind." (S. 20.) Das 
Kind phantasiert schreckliche Dinge und liat Angst, sie könnten wirklicli ge- 
schehen, weil es Phantasie und Wirklichkeit nicht zu unterscheiden gelernt liat. 
„Es kommt schließlich dazu, seine eigenen Triebe zu fürchten und sucht, um sie 
zu beherrschen. Hilfe bei der Außenwelt. Aggressive Gedanken sind eine der 
Ursachen für die Abhängigkeit des Kindes". (S. 20). 



64 über die Erziehung der Einder 



Sharp e weist im folgenden auf Situationen im Leben von 3— 4jährigen 
Kindern hin: Krankheit und Operation, Geburt und Tod sind Erlebnisse des 
Kindes, die die besondere Aufmerksamkeit der Eltern erfordern. Je jünger 
das Kind ist, umso erschreckender sind solctie Ereignisse, zumal wenn mehrere 
davon zusammentreffen. Sliarpe stellt zwei Beispiele aus der Analyse Er- 
waelisener dar: die Schwierigkeiten des erwachsenen Patienten waren kristal- 
lisiert in einem Trauma, das er mit 4 Jahren erlebte: „Auf demselben Spazier- 
gang mit seiner Kinderhau fiel ein Mann von einer fiofien Leiter zu seinen 
Füßen toi hin und auf dem Heimweg wurde sein kleiner Hand überlafiren"^ 
(S. 22). — Ein anderer Patient hatte den Vater mit 3 Jahren verloren: 
„Freunde der Familie und Verwandte sprachen damals mit ihm davon, daß er 
den Vater für die Mutler ersetzen, sie umsorgen und trösten müsse", (S. 23.) Er 
war erdrückt von der unerfüllbaren Aufgabe und litt auch als Erwachsener 
noch an denselben Unzulängliehkeitsgefühlen wie damals. Sharpe macht darauf 
.aufmerksam, daß die Eltern die Kinder mit ihrem Unglück übermäßig belasten 
und dadurch das Schuldgefühl der Kinder — in diesem Fall über den Tod des. 
Vaters — allzusehr eleigern. 

Dies führt Sharpe zur Besprechung der ödipussituation und der se- 
xuellen Entwicklung. Die Analyse hat nachgewiesen, daß die sexuelle Ent- 
wicklung in der Kleinkindzeit und nicht erst in der Pubertät einsetzt. Es ist. 
für die Gesundheit, Liebes- und Leistungefähigkeit von größter Bedeutung, 
daß diese Entwicklung ebenso ungestört bleibt wie die der früheren Phasen.. 
„Gewöfinlich ist ein Mensch in seinem Beruf nicht durch iniellefituelle Defekte 
sondern durch psychische Konflikte gehemmt; und diese Konflikte zentrieren sich 
im sexuellen Problem". (S. 25). Daher braucht das Kind für seine sexuelle 
Entwicklung, „auch wenn sie sich in sexuellem Spiel und Benehmen zeigt", 
dasselbe Verständnis und dieselbe Toleranz wie bei allen andern Entwick- 
lungen. 

„Eine ernstliche Störung, verbunden mit der Sexualität des Kindes, kann sich 
auf verschiedene Weise zeigen, z. B. in andauernder Launenhaftigkeit oder Sich- 
unglücklich-füklen, in Spiel- and Lernhemmang, in übermäßigem Ungehorsam, 
oder auch im Gegenteil, passivem Bravsein, Gehorsam und Sanftmut, All diese 
Störungen gehen letzten Endes auf sexuelle Phantasien und Konflikte zurück. 
Mit diesem Problem ist die Frage nach den Formen der andauernden, heim- 
lichen, körperlichen Befriedigung untrennbar verknüpft. Entsprechende Formen 
der körperlichen Befriedigung sind eine Notwendigkeit, und Eltern, die das 
wissen, begegnen ihr mit Spielen, Turnen, rhythmischen Bewegungen, Tanzen^ 
Musik u. s. w. Überdies aber wird jedes normale Kind sich selbst untersuchen 
und sich gelegentlich durch Masturbation befriedigen. Das damit verbundene 
Schuldgefühl und die andauernde masiurbatorische Betätigung (die den Mangel 
an Interessen sozialer Art verursacht) erfordern das Eingreifen des Fachmanns. 
Die Kenntnis der Eltern auch auf diesem Gebiet hilft dem Kind hierin zu einer 
angstfreien Haitang. Wenn das Kind bedroht oder bestraft wird, so oft es bei 
einer sexuellen Betätigung entdeckt wird, werden seine Schwierigkeiten enorm 
gesteigert, hemmende Kräfte werden in Gang gesetzt, die die weitere Entwicklung 
verhindern können". (S. 26), 



über die Erziehung der Kinder 65 

In jeder einzelnen Phase hat das Kind die ihm entsprechenden Befriedi- 
guiigs- und Lustinöglichkeitcn, „Mehr Versagang als es ertragen kann, ruft die 
Aggression des Kindes hervor, die in ihm durch Phantasien ausgedrückt ist, 
worin die, die es ärgern, erschlagen werden". fS. 27/ 

Das Abstillen 

behandelt Melanie Klein. Die Anulyse hat entdeckt, daß in der frühesten 
Kindheit entstandene Geriilile und Phantasien auch beim Erwachsenen noch 
wirksam sein können. Zu den ersten Befriedigungen des Kindes gehört das 
Trinken an der Mutterbrust, seine erogene Leitzono ist zu der Zeit der Mund, 
sein erslos Liebesobjekt die Mutterbrust. Melanie Klein hält die Gefühle, 
Bezielmiigen und Phantasien dieser ersten Kindheitsperiode für vorbildlich 
für das ganze Leben und stellt sie in ihrer Bedeutung höher als alle spateren 
Erlebnisse des Menschen. 

„Das Baby reagiert auf unlustvoUe Reize, auf Versagen der Lust, mit Ge- 
fühlen von Haß und Aggression. Diese Gefühle von Haß sind gegen dasselbe 
Objekt gerichtet wie die lustvollen, nämlich gegen die Mutlerbrast. Die analyti- 
sche Arbeit hat erwiesen, daß Säuglinge von wenigen Monaten sicherlich phanta- 
sieren. Ich glaube, daß dies die primitivste geistige Aktivität ist and daß Phan- 
tasien beinahe von Geburt an im Kind vorbanden sind. Es scheint, daß das Kind 
auf jeden Reiz, den es empfängt, sofort mit Phantasien reagiert, and zwar auf 
unlnstvolle Reize, einschließlich bloßer Versagang, mit aggressiven Phantasien, 
bei lastvoUen Reixen mit lustvollen Phantasien". (S. 32). 

Die Phantasien des Kindes beschäftigen sich nur mit einem Teil der 
Mutter, nämlich der Brust; „der Grund dafür ist darin zu suchen, daß das Kind 
ein äußerst gering entwickeltes Wahrnehmungsvermögen in physischem und 
geistigen Sinn auf dieser Stufe hat". Es ist ein Wesen, das nur auf Lust und 
Unlust eingestellt ist. „Die Brust der Mutter, die Befriedigung gibt oder sie 
verweigert, wird für das Kind der Inbegriff des Guten und ßösen . . , Die böse 
Brust wird zum Prototyp des Bösen, Verfolgenden. Das ist dadurch zu erklären, 
daß das Kind, wenn es seinen Haß gegen die verweigernde, ,bÖse' Brust wendet, 
dieser seinen eigenen, aktiven Haß zuschreibt — ein Vorgang, den man Pro- 
jektion nennt. 

Gleichzeitig geht ein andrer Prozeß von großer Bedeutung vor sich, der der 
Inirojektion. Darunter versteht man jene psychische Tätigfieit des Kindes, durch 
die es in seiner Phantasie alles, was es in der Außenwelt erfaßt, in sich auf- 
nimmt. Wie bekannt, gewinnt das Kind zu dieser Zeit seine Hauptbefriedigung 
durch den Mund, der dadurch zum Hauptfianal wird, durch den es nicht nur 
Nahrung, sondern, in der Phantasie, auch die Außenwelt in sich aufnimmt. Nicht 
nur der Mund, bis zu einem gewissen Grad der ganze Körper mit allen Sinnen 
und Funktionen, führt diesen Prozeß des Insichaufnehmens durch — z. B.: das 
Kind atmet ein, nimmt auf durch Augen, Ohren, Berührung usw. — Zunächst 
ist die Mutterbrust das Objekt seiner ständigen Sehnsucht, sie ist daher das 
Erste das introjizieri wird. In der Phantasie saugt das Kind die Brust in sich 
hinein, zerkaut sie and schluckt sie; so fühlt es nun, daß es sie hat, daß es die 
Mutterbrust nun in steh besitzt, sowohl die gute, als auch die böse. 

ZeitBchrift I. psa. Päd., XI '1 5 



66 über die Erziehung der Kinder 

Die Beziehung des Kindes zu nur einem Teil der Person ist für dieses frühe 
Entwicklun^sstadium charakteristisch und in hohem Grade die Ursache für die 
phantastische und unrealistische Art seiner Beziehungen zu allem, z. B. zu Teilen 
seines eigenen Körpers, zu Menschen, unbelebten Objefiten, die es zunächst alle 
nur unklar wahrnimmt. Man könnte die Objektwelt des Kindes in den ersten 
2 — 3 Lebensmonaten beschreiben als eine Welt, bestehend aus befriedigenden 
oder feindlichen und verfolgenden Teilen der wirklichen Welt". Erst nach dieser 
Zeil beginnt es, ganze Meneelien zu erfassen. 

„Nach wenigen Wochen kann man bemerken, daß das Baby beginnt, sich 
seines wachen Lebens zu erfreuen; wenn man nach dem Aussehen urleilen will, 
fühlt es sich zu Zeilen sogar ganz glücklich". (S. 32 ff). Es ist weniger eoip- 
findlieli gegen äußere und innere Reize und daher elier imstande, einen Auf- 
schub der Befriedigung zu ertragen. 

Mit fortschreitender Objektbezieliung überträgt das Kind seine ambivalenlo 
Einstellung, die ursprünglich nur den einzelnen Teilen des Objektes galt, 
nun auf die ganze Por.son der Mutter. Das Kind entwickelt nun Schuldgefüiile, 
„die mit seinen eigenen destruktiven Impulsen verbunden sind; seine Angst hält 
diese Impulse nun für eine Gefahr gegenüber dem geliebten Objeftt" . . . „Uner- 
klärliche und abnorme Depressionen" sind es nach Melanie Klein, die in diesen 
Kchweren Konflikten zwischen Liebe und Haß begründet sind. Als Reaktion 
auf sein Schuldgefühl und die Vernichtungswünsche der Mutter gegenüber 
„entwickelt das Kind den Wunsch, wieder gut zu machen, der sich in unzähligen 
Retlungsphanlasien und verschiedenen anderen Arien von Wiederherstellungs- 
phantasien ausdrückt. Ich habe in den Analysen von kleinen Kindern gefunden, 
daß diese Tendenzen zar Wiedergutmachung die treibenden Kräfte zu allen 
konstruktiven handlangen und Interessen sowie auch zur sozialen Entwicklung 
sind." Aus den aufgezählten Tätigkeiten kann der Leser schließen, daß das 
Alter dieser kleinen Kinder ungefähr zwischen 5 Monaten und 2 Jahren liegt: 
Steine aufeinandertürmen, aber auch „das Spielen mit den Fingern, etwas 
wiederfinden, was weggerollt ist. Aufstehen und alle Arten von willkürlichen 
Bewegungen — all dies ist. scheint es, mit Pfiantasien verknüpft, in welchen dos 
Element des Wiederher slellens bereits vorhanden ist." (S. 38 ff). Dieselben 
Phantasien von Vernichten und Wiederherstellen werden mit den Exkre- 
menten verbunden. Analysen der Ein- bis Zweijährigen (S. 38), werden dafür 
als Belege angeführt. — Das Kind, das solche haßerfüllte, vernichtende Ten- 
denzen und Phantasien hat, kann nur durch das Erlebnis einer liebevollen und 
freundlichen Realität allmählich mit sich und der Welt versöhnt werden. Dies 
ist nach Auffassung der Autorin die Aufgabe der Erziehung, respektive der 
Mutter-Kind-Beziehung. 

Die Ängsto und Schuldgefühle des Kindes werden durch das Abstillen 
reaktiviert, da dies für das Kind den endgültigen Verlust der Mutterbrust 
bedeutet. Es fürchtet damit, die „gute Mutter" in der Realität and in sieh zu 
verlieren. 

Melanie Klein wendet eich nun von der Theorie der Praxis zu und gibt Im 
folgenden eine Reihe von praktischen Ratschlägen zur Säuglings- und Klein- 
kinderziehung": 



über die Erziehung der Kinder 67 

Die Art, wie das Baby an die Brust gelegt wird, ist wichtig; ist die Mutter 
dabei ungeschickt oder ungeduldig, so entwickelt das Kind leicht Trink- und 
später vielleicht Eßsehwierigkeiten. Im allgemeinen ist zwar Regelmäßigkeit 
der Mahlzeiten einzuhalten; wenn aber das Kind größere Zwischenräume 
zwischen den Mahlzeiten schlecht verträgt, soll man öfter füttern oder etwa 
Zuckerwasser und ähnliches dazwischen geben. 

Die Gefahren des Lutschers scheinen leichter zu überwinden als die 
Schwierigkeiten, wenn man ihn dem Kind verweigert. Das Kind nimmt, wenn 
es keinen Lutscher bekommt, die Finger, die ihm jederzeit zur Verfügung 
stehen, sodaß die Abgewöhnung dadurch schwieriger wird. Sowohl die ge- 
waltsame Entwöhnung vom Lutschen als auch das fortgesetzte Lutschen ent- 
halten die Gefahr einer übermäßigen oralen Fixierung, Die Aufgabe des 
Erziehers ist es, zu versuchen zwischen dieser Scylla und Charybdis durch- 
zukommen; dies wird erreiclit durch milde Versagung zur richtigen Zeit — 
d. h., wenn entweder das Kind imstande ist, der Mutter zuliebe auf dieses 
Vergnügen zu verziehten, oder durch Ersatzbefriedigungen, wie Süßigkeiten, 

Obst und dergl. 

Die Reinlichkeitserziehung soll erst nach dem Abstillen systematisch 
begonnen werden, um dem Kind nicht zuviel Vereagung auf einmal zuzufügen; 
die Reinlichkeiteerziehung soll niemals streng sein. 

Die Sexualität des Kindes ist sehr bald schon mit dem Genitale verbunden; 
auch in dieser Entwicklung soll das Kind ebenso wenig wie sonst gestört 
werden. Wenn dio Masturbation exzessiv wird, ist dies Zeichen einer Störung, 
die die Eltern dazu veranlassen sollte, Hilfe bei Fachkundigen zu suchen. Die 
Haltung der Eltern gegenüber den sexuellen Äußerungen des Kindes, ob sie 
sich auf oralem, analem oder genitalem Gebiete ausdrücken, ist wichtig für 
seine spätere Einstellung zu sich und den Objekten. Die Mutter speziell hat 
die Aufgabe, die Liebesäußerungen des Kindes freundlich anzunehmen, ohne 
doch allzu große Befriedigungen zu gewähren. Sie muß ihre eigenen eroti- 
schen Bedürfnisse in der Beziehung zum Kind kennen und beherr-cclien. 
Damit soll aber nicht gemeint sein, daß sie das Kind nicht küssen, strei- 
cheln und auf den Schoß nehmen darf — denn auch das braucht das Kind 
dringend. Zu den sexuellen Aufregungen, die man vermeiden soll, gehört das 
Selilafen im Schlafzimmer der Eltern, 

Melanie Klein schließt mit einigen Ratschlägen bezüglich der Entwöhnung; 
wenn man z. B. das Kind mit 8 — 9 Monaten entwöhnt haben will, soll man 
mit 5—6 Monaten eine Brustmahlzeit durch die Flasche ersetzen und jeden 
Monat eine Flasche mehr geben. Gleichzeitig soll man anfangen, andere Nah- 
rung zu geben, und wenn das Kind daran gewöhnt ist, mit der Entwöhnung 
von der Flasche anfangen. Das Kind soll nicht gezwungen werden, mehr zu 
essen, als es will, oder etwas zu essen, das es nicht will; es soll die Nahrung 
bekommen, die es gern hat, und ohne jeden Versuch, ihm gute Tischmanieren 
beizubringen. 

Kinder, die ganz mit der Flasche aufgezogen sind, zeigen manchmal keine 
besonderen Schwierigkeiten, doch ist in der Analyse immer eine tiefe Sehn- 
sucht nach der nie genossenen Brust festzustellen. „Erfolgreiche Brustnahrung 



68 



über die Erziehung der Kinder 



ist immer ein wichtiges Fundament der Entwicklung; einige Kinder entwickeln 
sich, auch wenn sie diesen grundlegend günstigen Einfluß nicht erlebt haben, 
sehr gut." — Das Abstillen bedeutet nicht nur die Entwöhnung von der Brust 
und die Gewöhnung an andere Nahrung, sondern wichtiger iils dies ist, daß 
das Kind mit seinen inneren KoHflikten fertig wird und lernt, Versagung 
zu ertragen; „damit aber wird es erst aufnahmslähig für alle jene Quellen von 
Genuß und Befriedigung, die man braucht, um ein volles, reiches und glück- 
liches Leben aufzubauen". 

MereU P. Middleniore behandelt das Kapitel 
„The US e s of sensualit y", 

vrobei sie als „sensuality" (Sinnlichkeit) jede Lust an Körpergefühlen definiert. 
Wir werden wieder an das ursprüngliche Thema erinnert: es handelt sich 
um die Frage, wie man es durch Überlegung einrichten könnte, daß das Kind 
sich seiner Körpergefühie ohne Öchuldgefühi und Angst erfreue. Damit wäre 
die Grundlage für eine günstige Entwicklung gegeben. Middlemore unter- 
scheidet drei verschiedene Typen von Sinneserfahrung: 

1. Die Öinnesempfindung (Sensualttät) einer einzigen unabhängigen Zone, 
z. B. des Mundes; 

2. Die Sinnesempfindung (Sensualität), die durch Koordination einer Zone 
mit einer andern charakterisiert ist, z. B. Muskel- und Tastsinn der Hand mit 
Auge und Ohr; 

3. Die Sinnesempfindung (Sensualität). die z. T. von einer lokalisierten 
Genitillempfindung kommt, z. T. von der Gesamtreaktion des Körpers auf 
den Kontaktreiz mit andern Menschen. 

Für jeden einzelnen Typus gilt es herauszufinden, welchen sofortigen 
Nutzen diese Form der Sensualität. für die Entwicklung hat. 

Ad 1) Das Lutschen hat den Zweck, die Spannung des Kindes zu lösen, 
indem es ein lustvolles Körpergefühl erzeugt. Das ist besonders deutlich dann 
zu sehen, wenn das Kind Schmerzen hat, z. B. beim Zahnen, aber auch bei 
jeder andern Art von Unlust. Es stellt durch das lustvolle Saugen ein gewisses 
Gleichgewicht zu seiner momentanen Unlust her. Es ist anzunehmen, daß der 
Rhythmus des Saugens dabei von besonderer Bedeutung ist, weil dadurch die 
angenelime Erinnerung an das Saugen an, der -Brust mit den damit verbun- 
denen Phantasien hervorgerufen wird. 

So wie das Lutschen den Sinn hat, das Gleichgewicht zwischen Lust und 
Unlust wieder herzustellen, entwickelt das Kind auch noch andere körper- 
liche Lustgefühle, die es befähigen, eich von einer Spannung zu befreien. 
Die Erwachsenen haben nichts anderes zu tun, als es dabei nicht zu stören. 
Für das Kind ebenso natürlich wie das Lutschen ist die Onanie. Man soll ee 
darin nicht stören. In beiden Fällen soll man dem Kind mit Spielsachen, 
Essen u. s, w. auch andere Befriedigungsmöglicbkeiten bieten. Ein gesundes 
Kind wird davon Gebrauch machen — tut es das nicht, so sind entweder die an- 
gebotenen Betätigungen nicht die richtigen oder es liegt bereits eine Störung 
vor. Ob man aber Lutschen oder Onanie aus irgendwelchen Gründen ein- 
schränken will, es soll mit aller Liebe und Geduld geschehen, denn gerade 



über die Erziehung der Kinder 69 

wenn man dem Kind so eine Versagung auferlegt, soll es in der Liebe der 
Erziehungspereon eine Kompensation für den Verzicht finden. 

Auch unangenehme Sensationen sind von Bedeutung für die Entwicklung 
des Kindes: das Kind lernt Teile des Körpers als zu sich gehörig erkennen, 
lernt die Grenzen seiner Kraft kennen; Sehmerz und die Erfahrung, etwas 
nicht zu können, helfen, seine Kealitätskenntnis aufzubauen. Dasselbe gilt 
für alle Dinge, mit welchen das Kind in Berührung kommt. Es ist daher 
wichtig, daß die Eltern ihm nur die notwendigsten Grenzen der Erfaiirung 
setzen; jedes Spielzeug soll in jeder Art, die das Kind versucht, benützt 
werden dürfen und es soll möglichst mannigfaltig sein. Das berührt die Frage, 
ob man das Kind überreizen kann, indem man ihm zuviel bietet. Middlemore 
verneint dies entschieden. Das Kind soll müglichst viele Dinge kennenlernen 
können, allerdings obno daß der Erwachsene sie ihm aufzwingt. Sie sollen 
da sein, es soll sie benützen, zerstören oder unbeachtet lassen dürfen, wio 
es will. Jedes Material wird dem Kind neue Gefühle und Empfindungen ver- 
mitteln und wird dazu benützt, seine Phantasien auszudrücken. 

Ad 2) Das Sprechenlernen biete ein Beispiel für Muskellust: das Kind 
bettiti'^t bei seinen Sprechversuchen Muskelpartien des Mundes, der Lippen, 
des Gaumens, die es bisher wenig benützt hat. Es fühlt ein körperliohea 
Behagen dabei; dazu kommt noch das Hören und schließlich das Vergnügen, 
sich verständlich xu machen. Manche für das Kind lustvolle Betätigungen 
seiner Muskulatur sind für die Eltern unangenebni oder umgekehrt: Die 
Mutter möchte vielleicht gerne, daß das Kind gehl — das Kind hat aber daran 
noch gar kein Vergnügen. Hingegen macht es ihm Spaß, mit irgend etwas 
Krach zu schlagen — was wieder der Mutter nicht gefällt. Und doch ist es 
wichtig, es daran nicht zu hindern, außer wenn es unbedingt notwendig ist: 
„'Wenn die Mutter das Kind daran hindert, mit seiner Klapper rhythmisch ^egen 
das Bettchen zu schlagen, ist ihm die Lusi daran genommen. Es meint, die 
Matter verbiete ihm jede Art von Schlagen und sie verstehe und verurteile die 
Phantasien, die es mit diesem Schlagen ausdrückt; es ist sehr leicht möglich, daß 
es weder diese Art von Muskellust, das Krachschlagen, wieder aufnehmen wird, 
noch seine aggressiven Phantasien später auf die für das Kind nächstliegende 
Art ausdrücken wird". (S. 77). 

„Zunächst müssen wir feststellen, daß das Kind in diesen ersten Monaten 
seine wichtigsten Reaktionen an der Brust der Mutler, in ihren Armen, auf ihrem 
Schoß zeigt — an einem Ort, der ihm viel sinnlichen Anreiz bietet. Manches, 
was es hier tut, wie ruhiges Trinken, ist angenehm; anderes bringt es zur Ver- 
zweiflung; da sind die Stöße und das Sichwinden, womit es seinen Arger aus- 
drückt und das sich rasch in eine Art Ringkampf mit der Matter verwandelt. 
Andere Funktionen, wie die exkretorischen, sind, je nach der Laune des Kindes, 
haßerfüllt oder liebevoll betont. Wenn es bÖse ist, will es die Mutter mit dem 
Stuhl verletzen; ist es guter Laune, so ist er ein Geschenk an sie. In jeder 
Stimmung aber, ob böse oder freundlich, ist die Entladung von Energie mit inten- 
siven Gefühlen verbunden, die zwar /oÄai beginnen können, sich aber sofort über 
den ganzen Körper ausbreiten. Ich möchte besonders die plötzlichen Gesamt- 
reaktionen des kleinen Kindes betonen. Der rasche Wechsel in Gesichtsfarbe 



70 Über die Erziehung: tier Kinder 



und Ausdruck zeigt wie rasch die Änderung seiner Laune vor sich geht, sein 
plötzliches Schreien und seine plötzlichen Bewegungen lassen annehmen, daä es 
auf jeden Reiz sofort und stark reagiert. Es gehört zu den Gesamtreaktionen, 
wenn das Kind harten Stuhl absetzt im Verlauf einer allgemeinen Muskelkontrak- 
tion des ganzen Körpers; manchmal schaudert es zusammen, wenn es uriniert, 
und wenn es schreit, kämpft es mit dem ganzen Körper mit. Mit 3 Monaten ist 
der ganze Körper an jeder Tätigkeit viel mehr beteiligt als ein Jahr später, wenn 
bereits einzelne Muskelgruppen bewußt beherrscht werden. 

Es erscheint mir wichtig, daß der Ort, wo das Kind diesen plötzlichen und 
heftigen Wechsel von Spannungen and Empfindungen erlebt, ein angenehmer ist, 
and zwar, wie bereits erwähnt, ist dies der Körper der Muller, vielmehr ihre 
Umarmung. Angenehm in dem Sinn, daß der Ort dem gequälten Kind Trost und 
Last bietet, so daS seine Wut und Angst rasch in erträglichere Gefühle ver- 
wandelt werden können; angenehm in dem Sinn, daß der Ort friedlich ist, auch 
wenn das Kind noch so böse ist; angenehm schließlich, weil der Ort nicht zu viel 
Reiz bietet — das Kind hat nämlich genug damit zu tun. seine eigene Spannung 
zu entladen, es braucht daher keine Erhöhung der Spannung, etwa dadurch, daß 
man es kitzelt oder es in der Luft tanzen läßt. Ich meine also, daß der früheste 
Gewinn, den das Kind aus der Lust am Körper der Mutter ziehen kann, darin 
besieht, daß sie das Medium darstellt, durch das ein stetiges Gleichgewicht 
zwischen Lust und Unlust gehalten wird, ohne den Wechsel der Gefühle des 
Kindes zwischen Extremen noch zu verschärfen." 

Im 2. Lebensjiilir hat das Kind bereits andere Möglichkeiten, seine Ängste 
und Erregungen auszudrücken: es beginnt, sich mit den Personen seiner Um- 
gebung zu identifizieren, es kann sich ihnen entziehen, wenn es sie fürchtet 
— beidos wird ihm diidurcli möglich, daß es um diese Zeit die volle Muskel- 
koordination erwirbt. Middlemore hält diesen Zeitpunkt, wo das Kind eine 
gewisse Selbstündigkeit erreicht hat, für geeignet, ihm größere Veränderun- 
gen, wie etwa die Geburt eines Geechwisterchens, zuzumuten. 

Jeden Fortschritt, jede Sublimierung macht das Kind den Eltern zuliebe 
und fordert dafür seinen Tribut an Anerkennung und Zärtlichkeit. Die Zärt- 
lichkeit jedoch muß sich den Ansprüchen des Kindes und nicht dem Bedürfnis 
der unbefriedigten Erwnch,senen anpassen. Die Bedürfnisse des Kindes sind 
aber manchmal für die Erwachsenen unangenehm, besonders in seinen aggres- 
siven Phasen; verbietet man ihm seine aggressiven Liebkosungen, so kann man 
eine schwere Hemmung für später setzen; verbietet man nicht und läßt es 
weitgehend gewähren, so kann es sein, daß das Kind übermäßig aggressiv 
wird und die Eltern schließlich doch böse werden. (Oft genug wird auch das 
Kind verletzt oder verletzt sich selbst.) Middlemore schlägt ein Kompromiß 
vor: die Eltern sollen nur das mitspielen, was sie gerne mitspielen. Auch das 
Vergnügen der Eltern am Spiel gehört zu den wichtigsten Erlebnissen des 
Kindes. 

Alle diese Erfahrungen der Lust am eigenen Körper und in der Beziehung 
zu andern sind von großer Bedeutung für die Weiterentwicklung des Kindes: 
„Wenn das Kind in seinen frühen Liebesbeziehungen frei bandeln kann und die 
entsprechende Reaktion erlebt, wird es auch späterhin erwarten: zu lieben und 



über die Erziehung der Kinder 71 



geliebt zu werden, zu vertrauen und selbst Vertrauen einzuflößen; und wenn es 
einmal körperliche Lust im Kontakt mit anderen erlebt hat, wird es darauf vor- 
bereitet sein, diese Lust wieder zu finden — dies ist die glückliche sexuelle Ent~ 
Wicklung, die wir für unsere Kinder wünschen . 

Wälirend die bisherigen Kapitel Probleme behandelt haben, die nur für 
bestimmte Phasen aktuell sind, behandelt Nina Seari in dem Kapitel 

„Fragen und Antworten" 
ein Problem, das für alle Erwachsenen aller sozialen Schicliten, die mit Kin- 
dern zu tun haben, ständig aktuell ist. 

Nicht jede Frage zeigt bereits ein Problem an. Erst die Art des Fragens, 
sowie die Art, wie die Antwort aufgenommen oder nicht uufgonommcn wird, 
läßt erkennen, daß die Frage mehr als nur eine Frage ist. 

Die Fragen des Kindes unterscheiden sich in solche, die aus Interesse und 
andere, die aus Neugier geelellt werden. Andere Motive lassen sich diesen 
beiden leicht unterordnen. Fragen, die aus Interesse gestellt werden, sind 
ruhig, relativ angstfrei, etwa zu charakterisieren durch „ioh möchte das gerne 
verstehen". Im Zustand der Neugier ist das fragende Kind unruhig, zweifelnd, 
zögernd, dann wieder draufgängerisch, ängsllicli, es sagt gewissermaüen: 
Ich m u ß es wissen, sonst werde ich Angst haben". In diesem Zustande ist 
das Kind nicht einmal imstande, die gegebene Aufklärung zu erfassen. 

S o a r 1 zeigt die Hintergründe solcher K inderfragen an Beispielen aus der 
psychoanalytischen Praxis: 

„In meinem Kinderanalyse-Zimmer habe ich einen elektrischen Ofen. Im Ver- 
laufe von 12 Jahren, in welchen ich versucht habe, mehr und besser zu verstehen, 
was die Fragen der Kinder bedeuten, um sie für sie befriedigender zu beanl' 
Worten, habe ich allmählich verstanden, was alles hinter solchen Fragen steckt, 
was einem Erwachsenen für gewohnlich gpr nicht einfiele. Auch wenn der Er' 
wachsene nicht viel von Elektrizität verstünde, würde er den Begriff irgendwo 
eingeordnet haben, so daß jedes noch vorhandene Interesse für diese, im übrigen 
vertraute Sache sich darum drehen würde, wie die Elefttrizität in diesem Fall 
arbeitet, inwiefern sie sich von andern Kräften and Objekten unterscheidet — 
es wäre eine gefühlsmäßig völlig unbetonte Situation. Kleine Kinder aber, die 
nicht imstande sind, die einfachste Erklärung Über Elektrizität aufzufassen, kom- 
men mit ihren Gedanken und Gefühlen immer wieder auf ifire Fragen zurück — 
sie haben das Bedürfnis zu wissen, wie sieher sie sich in der Nähe eines Dinges, 
das so schmerzhafte and gefährliche Möglichkeiten in sich birgt, fühlen dürfen. 
Sie werden ungeduldig and böse, weil sie die bloße Beschreibung anbefriedigt 
läßt; sie versuchen, den Ofen and die Elektrizität mit andern Dingen und Situa- 
tionen in Verbindung zu bringen, die in Funktion, Gefühl and Empfinden diesen 
ähnlich sind. Sie wollen z. B. wissen, warum die Hitze so gehorsam and ruhig 
kommt und geht, wieso man sie so einfach durch das Knipsen am Schalter be- 
herrschen kann, im Gegensalz zu einem Kohlenfeuer — und so vielem in ihrem 
Leben and auch in ihrer eigenen, kleinen Person. Sie möchten wissen, wofier die 
Hitze kommt und wohin sie geht. Der Ofen scheint lebendig, aber auch gefährlich 
heiß und killreich warm, wenn er angeschaltet ist, er acheint sicher, aber lieblos 



72 über die Erziehung der Kinder 



kali, wenn er abgeschaltet ist. Sie wissen nicht, ob es sicher ist, jemandem mit 
so einer Macht über Leben und Tod zu vertrauen, ob die Macht, die über be- 
stimmte Vor- und Nachteile gebietet, nun Personen oder Öfen zukommt. In einer 
tieferen Schichte ihres Unbewußten denken sie manchmal, der Ofen ist eine Art 
stiller Vorwurf gegen sie, sie sollten rot vor Scham werden, wenn sie so gefährlich 
sind und so viel Schmerz verursachen können wie der Ofen oder wenn sie nicht 
so sauber, hilfreich, ruhig und gehorsam sind wie er. Sie vergleichen ihn mit dem 
Kohlenfeuer und verstehen nicht, wieso er Hitze geben und .brennen' kann, ohne 
etwas zu verbrennen. Sie sind nicht sicher. Sie sind nicht sicher, ob etwas mit 
einer so offensichtlichen Gier zu brennen und zu verbrennen, wenn es die Gele- 
genheit dazu hat, ein sicherer Gefährte sein kann, wenn er die Gelegenheit zu 
brennen gerade nicht hat — sie fühlen mehr als sie denken, der Ofen könnte sich 
benehmen wie ein wildes, unzufriedenes Tier oder ein hungriges Kind. Das 
Kohlenfeuer andrerseits verzehrt schmutzige Kohle und könnte vielleicht auch 
schmutzige Kinder bedrohen; es lebt aber nur so lange wild, als man es genügend 
füttert, und es stirbt still nieder, wenn man es ohne Nahrung läßt. Der elektrische 
Ofen ist rein, immer gleich und ereignislos. Das Kohlenfeuer ist schmutzig, aber 
viel interessanter und schön. In Ausdrücken, die ihnen am meisten vertraut sind 
— die sie selbst und ihre eigene Erfahrung betreffen — scheint ihnen das zu 
bedeuten, daß das braue, saubere Kind im Vergleich zu dem schmutzigen ein 
langweiliges Leben führt Die Möglichkeit der leichten Beherrschbarkeif und das 
Vergnügen daran ziehen die Waage der Vorteile wieder auf die Seite von elek- 
trischem Ofen und reinem Kind. Vom Standpunkt der Empfindung sind die 
.heißen Elemente' wie die Körperteile, in welchen die Empfindungen sehr stark 
sind — die Genitalien. Die Sicherheit, die sie durch die Tatsache gewonnen haben, 
daß das .Element' brennt, ohne verzehrt zu werden, geht wieder verloren, wenn 
es kracht und Kurzschluß eintritt, jedenfalls scheint es nur für Erwachsene be- 
nutzbar, da ja auch die Öfen selbst nie den Kindern, sondern den Erwachsenen 
gehören. Durch ihre Neugier Und Beherrschung des Ofens versuchen die Kinder 
ihre Neugierde und ihren Wunsch nach Beherrschung jener Teile des Körpers der 
Erwachsenen zu befriedigen, ebenso aber auch die verborgenen und manchmal 
drohenden Gefühle der Erwachsenen und ihrer selbst zu beherrschen. Kurz, ein 
vollständiges Verständnis der Frage über den Ofen stellt ihre Verbindung mit den 
wichtigsten und schwierigsten Erlebnissen der Kinder her. Kein noch so großer 
Aufwand an Fragen und Antworten über Öfen und ihre Wirkung kann diesen 
Teil der Fragen beantworten, der ganz andere Dinge als nur den .elektrischen 
Ofen betrifft und der auch nach Befriedigung, Sicherkeit und nach Beherrschung 
von etwas ganz anderem strebt, wenn auch in der Sprache des Interesses für den 
elektrischen Ofen." (S. 91 ff.J 

Das Spiel des Kindes geht in drei Schichten vor sich. Die bewußte Schichte 
ist in elastiecliem Kontakt mit der Umwelt; das Kind benützt alle Dinge, die 
ee findet, als darstellende Elemente in der von ihm phantasierten Situation, die 
weitgehend von seinen momentanen Gefühlsbedürfnissen bestimmt ist. Die 
zweite, vorbewußte Schichte kommt nicht ins Bewußtsein ohne Hinzufügen 
eines Reizes (in Form von Hinweis auf erlebte, traumatische Situationen). 
Die dritte Schichte ist noch weiter vom Bewußtsein entfernt (ihr Inhalt ist 




"über die Erziehung der Kinder 73 

dem Patienten völlig unbewußt und muß erst durcb Deutung erschlossen 
werden). 

Das Spiel des Kindes kommt aus zwei verschiedenen Quellen; die eine steht 
mit der äußeren, die andere mit der inneren" Welt in Verbindung. Dasselbe 
gilt von den Kinderfragen, deren Impuls Inhalt und gefühlsmäßige Note zwar 
aus verschiedenen Situationen und verschiedenen Bewußtseinssebichten stam- 
men mögen, die aber letzten Endes sieh doch immer auf die Sicherheit dea 
Kindes in seiner Beziehung zu einer geliebten Person beziehen. Wenn es diese 
Sicherheit fühlt, bewegt es sich vertrauensvoll durch eine Welt voll von 
unbekannten Gefahren. Wo es sie nicht fühlt, fühlt es sich unsicher, auch in 
der ganz vertrauten und gewohnten Situation. Doch wenn die Beziehung 
gerade sehr gut ist, zeigt sich eine Neigung zu feindseligen Gefühlen, so daß 
das Gefühl von Unsicherheit in dem Kind sofort erwacht bei jedem Gedanken 
oder Gefühl, das, in Handlung umgesetzt, zu Verlust oder Verletzung von ge- 
liebten Menschen führen könnte oder zum Verlust ihrer Liebe und ihrer 
Fähigkeit, das Kind zu lieben. Daher ist die Sicherheit des Kindes sowohl den 
inneren als auch den äußeren Störungen unterworfen; wenn es ans äußeren 
Gründen ängstlich zu sein scheint, tun wir gut daran uns zu erinnern: es 
fürchtet die Macht seiner eigenen Gedanken und Gefühle. Seine Schlimmheit 
und seine Kunststücke widersprechen dem nicht, sie sind eine Bestätigung 
dafür, Sie entspringen der Schwierigkeit, diese verlorene oder bedrohte Be- 
ziehung, die Liebe und Sicherheit gewährt, leicht und sicher wieder herzu- 
stellen. Wir müssen darauf vorbereitet sein, daß das Kind mehr Sicherungen 
braucht als der Erwachsene, weil es mehr unter Unsicherheit leidet. Dem ent- 
sprechend braucht es zur B.eantwortung seiner Fragen das intuitive Ver- 
ständnis, das die Schichten des Seeienlebens in Betracht zieht, aus denen sie 
kommen und die Art von Angst, die sie besänftigen soll.*) 

Die Wahl der Personen, an die das Kind seine Fragen ricljtet, ist ebenso 
sinnvoll wie der Inhalt der Fragen selbst. 

1. Das Kind, das mit einer gewissen Projektionsbereitschaft zur Analyti- 
kerin kommt, stellt seine Fragen an sie, weil es seine Beziehung zu andern 
Menschen auf sie übertrügt, gleichzeitig aber Verständnis für seine Schwierig- 
keiten fühlt. 

2. Ein anderes Kind versucht mit seinen Fragen das Interesse der Erwach- 
senen für sich zu gewinnen, „Macht über sie zu gewinnen", zwei geliebte 
Personen voneinander zu trennen, indem es seine Person durch ein bestimmtes, 
den Erwachsenen abgespürtes Interesse dazwischenschiebt. 

3. Wieder ein anderes Kind sclieint seine Fragen nur aus Aggression an 
eine bestimmte Person zu richten; es will den Betreffenden quglen, in Ver- 
legenheit setzen; andrerseits aber sucht es nach einem Beweis, daß der Er- 
wachsene es trotz seiner offensichtlichen Unart weiter liebt. '^ 

4. Schließlich richtet das Kind Fragen, die ihrem Inhalt nach beschämend 
oder verboten sind, wenn es deren Beantwortung wirklich wünscht, an jene 

^) Fragen — jedenfalls die, die nicht dem Zwangetypus angehören — zeigen 
eine gewisse Freiheit des Geistes; Mangel an Fragen kann Zeichen einer 
Denkhemraüng sein. 



74 über die Erziehung der Kinder 

Personen, von denen es die geringste Ablehnung erwartet. Dalier kommt es, 
daß die Kinder so häufig bei andern Kindern oder Dienstleuten Aufklärung 
suchen und zumeist finden, wenn auch oft nicht in der besten Form. M'ün- 
Hchenswert wäre, daß die Beziehung zwischen Eltern und Kindern so wäre, 
diiß die Kinder ihre Fragen ungescheut an die Eltern richten könnten. 

Aus dem Bisherigen ergibt sich für den Analytiker die Notwendigkeit der 
eigenen Analyse. Eltern werden im allgemeinen bei der Beantwortung der 
Frügen ihrer Kinder leicht jene Fehler begehen, die aus ihrer eigenen Unge- 
wißheit und Neurose, ihrer bewußten oder unbewußten Einstellung zum Kind 
sowie ihrer Unkenntnis der kindlichen Psyche entspringen. Zu sehr oder zu 
.wenig auf die Fragen eingehen, allzu beunruhigt oder zu gleichgültig 
sein, vor allem aber die eigene, unangenehme Reaktion auf sogenannte pein- 
liche Fragen zu zeigen, sind einige von den üblichen Fehlern der Erwachsenen, 
die S e a r 1 aufzählt. Ein besonderer Abschnitt ist noch der sexuellen Auf- 
klärung gewidmet; Soarl zeigt darin, aus welchen Gründen Kinder oft die 
gegebene Aufklärung ablehnen und wieder zu den Ammenmärchen zurück- 
kehren. Wieder ist es das Wichtigste, zwischen zu viel und dalier beängsti- 
gender Aufklärung und ungenügender Aufklärung die richtige Mitte zu 
halten. Dazu gehört auch, daß der Erwachsene über die rein biologische Er- 
klärung hinausgellt und dem Kind die Lustfaktoren, die ihm durch die Onanie 
bis zu einem gewissen Grad bekannt sind, nicht verbirgt. Searl warnt, solchen 
Themen auszuweichen, denn keine Antwort ist auch eine Antwort und zwar 
eine sehr dezidierte; dieses Verhalten der Eltern kann die Ursache für 
schwere Hemmungen, Ängste und Schuldgefühle werden. 

■ Wichtig ist gerade im Bahmen dieses Vortrags der Hinweis auf das Privat- 
leben des Kindes: die Eltern, die meinen, bei ihren Kindern ,, Komplexe" zu 
entdecken, mögen nicht versuchen, die geheimen Gedanken, Triebe und 
M^Unsche ihrer Kinder herauszufinden; das Kind hat dasselbe Recht auf sein 
Inneres wie der Erwachsene, Elternschaft berechtigt nicht zur Indiskretion. 
Mit solchem Forschen tun die Eltern nichts für das Kind, wenn sie ihm nicht 
schaden — ihre eigene ,, Neugier", in Searls Sinn, können sie dadurch nicht 
befriedigen und ihre eigenen Ängste dadurch nicht beruhigen. 

Susan I saacs behandelt die Gewohnheiten, 

Habits, 
des Kindes im Schlafen, Essen u. s. w., mit besonderer Berücksichtigung der 
Reinlichkeitserziehung. Sie zeigt, daß jede Art von Gewöhnung, die auf 
Dressur allein beruht, leicht wieder verloren geht; daß die Erleichterungen, 
die die Mutter oder die Nurse dadurch gewinnt, durch schwere Belastung, 
bisweilen durch Schädigungen des Kindes erreicht werden. Sie wendet — 
schon im Titel angezeigt — ihr besonderes Augenmerk der Reinlichketts- 
erziehung des Kindes zu. leaacs stellt drei Gesichtspunkte auf; 1) das Ziel, 
dem die Mutter zustrebt, und allgemeine Anschauungen, wie dieses Ziel zu 
erreichen ist. 2) Wie diese Frage vom Kind aus aussieht, und die Schwierig- 
keiten des Kindes, 3) Ratschläge zur Analyse der Reinlichkeitserziehung. 

Der Wunsch der Mutter, das Kind an Reinlichkeit zu gewöhnen, ist sd 



über die Erziehung der Kinder 75 

und für sich durchaus gerechtfertigt. Ihr Zuviel oder Zuwenig an Bemühun- 
gen, ihre Beschämung über das eventuelle Mißlingen derselben, ihre Un- 
geduld, kurz alle Ihre unrationellen Reaktionen sind in ihren eigenen Schwie- 
rigkeiten begründet, wie Sharpe bereits ausgeführt liat. 

Es werden in den gebräuchlichen Büchern über Kleinkinderorziehung 
dieselben fehlerhaften Metboden anempfohlen, die die Mütter machen, sie 
stärken sie noch mit ärztlicher oder psychologisclier Autorität. Wir wissen, 
daß die Eeinlichkeitserziehung in angelsächsischen Ländern besonders früh 
begonnen und uns oft als vorbildlich hingestellt wird. Isaacs Kritik und Argu- 
mente dagegen sind beweisend für die Schädlichkeit dieses Vorgehens. Trotz 
der in Europa üblichen Bewunderung für die englische Kleinkinderziehung 
werden die von Isaacs kritisierten Methoden doch nur sehr ausnahmsweise 
bei uns angewendet. Man fängt nicht „bald nacli der Geburt" mit der Rein- 
lichkeitserziehung an, verwendet erfreulicherweise nicht so häufig wie an- 
sciieinend dort Zäpfchen und Einführung des Darmrohres, um das Kind an 
Ordnung zu gewöhnen. Dennoch wird auch bei uns häufig genug zu großer 
Wert darauf gelegt, daß das Kind möglichst bald sauber wird. 

In dem zweiten Teil ihrer Ausführungen schildert Isaacs ausführlich, 
in welcher Weise die zu bald sauber gewöhnten Kinder auf diese Gewalt- 
methoden reagieren, wie häufig sie eines Tages die bereits erlernte Fähigkeit 
wieder aufgeben und wie schwer sie sie dann wieder gewinnen. Wir lesen mit 
Verwunderung Berichte, in denen Kinder von 4 Monaton an keine schmutzigen 
Windeln mehr liaben, über das Entsetzen der Mütter, wenn ihre Kinder mit 
10 Monaten noch nicht sauber sind. 

Isaacs stellt nun die Frage, wo die Schwierigkeiten des Kindes bei 
Erwerbung der Keinliclikeit liegen. Sic befaßt sich zunächst mit dem physi- 
schen Problem: „Das Kind maß eine technische Geschicklichkeit erwerben, deren 
Schwierigkeiten und Kompliziertheit wir ständig unterschätzen. In den ersten 
Lebenslagen sind die Sphinkter des Kindes relativ entspannt. Später bekommen 
sie mehr muskuläre Spannung, sind normalerweise kontrahiert, entspannen sich 
wieder unter dem Reiz des inneren Druckes von Urin und Fäzes; und bald 
darauf wird dieser innere Druck koordiniert mit dem Reiz von Kontakt oder Tem- 
peratur oder mit einer bestimmten Körperlage, während die Mutier das Kind 
hält. Zunächst muB das Kind lernen, den Inhalt von Blase und Darm zurückzu- 
halten, vielleicht sogar unter einem beträchtlichen inneren Druck, und dann die 
Muskeln zu bestimmter Zeil, an bestimmtem Ort wieder zu entspannen. Diese Ab- 
wechslung von Spannung und Entspannung, in Beziehung zu Zeit und Ort sowie 
den Wünschen der Muller. verlangt ein hohes Maß an Beherrschung komplexer 
Koordinationen; es sieht oft so aus, als wäre das Kind, nachdem es Urin und Kot 
eine Weile zurückgehalten hat, außerstande, die Muskeln sofort tu entspannen, 
wenn es nun dutch Zeit und Ort dazu aufgefordert wird. Erst später wird das 
alles mehr-weniger automatisch. Abgesehen aber von dem Problem, einen Muskel- 
komplex mit inneren Bedingungen und äußerer Situation zu koordinieren, muß 
man auch die Körperstellung als Ganzes in Betracht ziehen. Zu Anfang geben 
wir dem Kind für gewöhnlich reichliche Stütze oder halten es über einen Topf 
ab. In einem bestimmten Alter, manchmal fiurze Zeit, nachdem es ein mühsames. 



76 tlber die Erziehung der Kinder 

körperliches Gleichgewicht erworben hat and noch recht schlecht gehen kann, 
erwarten wir von ihm, daß es sich ohne Hilfe auf dem unbequemen (oft zu hohen), 
Rand eines Topfes im Gleichgewicht hält, und dies zur gleichen Zeit, wo es die 
komplizierte Koordination von äußeren und inneren Muskeln zustande bringen 
soll. Wir verlangen also von ihm eine komplexe Muskelkoordination in der 
Haltung, Spannung bestimmter Teile, and gleichzeitige Entspannung der 
Sphinkter". (S. 141 ff.) 

Aus dieser Schilderung ergibt sieh die Notwendigkeit, Keinlichkeit von 
dem Kind nicht elier zu verlangen, als bis das Kind imstande ist, seine 
Muskeln und Bewegungen zu beherrschen. 

Die zweite Schwierigkeit der Reinlichkeitserziehung, resp. des Hergebens 
und Zurückhaltens von Kot und Urin, liegt in den damit verbundenen Phanto- 
sien. Die Ausführungen Isaacs sind die konsequente Fortsetzung der Aus- 
führung Melanie Klein's über das Trinken an der Mutterhrust und die Eiu- 
Verleihung von Gutem und Bösem. Dementsprechend sind die Produkte des 
Kindes, Urin und Kot, zerstörende und feindliche, ein ander Mai freundliche 
Gaben an die Mutter. Das Kind ist oft beunruhigt und gekränkt, wenn die 
Mutter seine kostbaren Gaben mit Ekel aufnimmt und, was allerdings immer 
der Fall ist, wegwirft. 

In dem dritten Teil gibt Isaacs nun die Katsehläge, die ihr geeignet 
scheinen, die Schwierigkeit in der Eeinlichkeiteerziehung zu vermeiden: 
wichtig ist die Geduld und die Liebe der Umgehung, die den Funktionen des 
Kindes nicht zu viel und nicht zu wenig Interesse zuwendet. Die Eltern 
müssen ihre eigenen Schwierigkeiten und Heaktionsbildungen kennen und 
Dicht dem Kind oktroyieren; d. h., sie müssen imstande sein, ihre Forderungi;n 
in richtiger Weise erst dann zu stellen, wenn das Kind physisch und psychisch 
imstande ist, sie zu erfüllen. Wenn man einmal mit der Reinlichkeitser- 
ziehung begonnen hat, soll man sie fortsetzen, aber nicht allzu strikt, was 
gerade hier, dem Ursprungsgebiet der Pedanterie, eine große Gefahr ist. 
Zur Warnung vor gewaltsamen Maßnahmen erwähnt Isaacs einen Fall, wo. 
ein kleiner, SJ^jähriger Junge zur Abgewöhuung des nächtlichen Nässens — 
tagsüber war er rein — von der ehrgeizigen Nurse jede Stunde der Nacht 
geweckt wurde. Das Resultat war, daß er binnen 6 Wochen rein war, aber 
eine schwere Schlafstörung bekam und zu stottern begann. 

In dem letzten Kapitel 

„The N ur s e r y as a Community 
(Das Kinderzimmer als Gemeinschaft) 
behandelt Susan Isaacs die Probleme von Disziplin und Autorität und 
die Spiele mit andern Kindern. 

Auch diese Arbeit basiert völlig auf Melanie Klein's Theorie. Sie beginnt 
mit einer zusammenfassenden Wiederholung der vorangegangenen Kapitel 
und zeigt dann einige typische Arten, wie das Kind seinen Konflikt zwischen 
Liebe und Haß demselben Objekt gegenüber zu lösen versucht. Introjektion 
und Projektion werden uns noch einmal vor Augen geführt und wir haben 
ijoch deutlicher, als bisher den Eindruck, daß dies die Mechanismen sind, die 



über die Erziehung der Kinder 77 

in dieser Theorie über die kindliche Entwicklung die entscheideode EoUe 
spielen. »* .c:tij h-^iit^- -- - -ö- ^^■\ o 

Isaaes führt uns die Tendenz des Kindes vor, die eben erst gewonnene 
Einheit des Objekts wieder in ein Gutes und in ein Böses aufzuspalten. Sie 
meint, dies sei eine der Ursachen, warum das kleine Kind so oft bei der 
Nurse oder Mutter allein funktioniert, nicht aber wenn beide zusammen sind: 
sein Versuch, den einen Teil zum Repräsentanten des Guten, den andern zu 
dem des Bösen zu machen, scheitert an dem gleichzeitigen Vorhandensein 
beider. Dabei spielen auch Liebe und Eifersucht eine Rolle. 

Dasselbe spielt sicli in seinen Beziehungen zu Vater und Mutter ab. 
„In der zweiten Hälfte des ersten Jahres und typisch in der zweiten Hälfte des 
vierten Jahres fühlt sich das Kind zum Vater hingezogen und sacht seine Liebe". 
fS. 180). Die Enttäuschung an der Mutter, die sie zur ..bösen, verfolgenden" 
macht, läßt das Kind von ihr fliehen und sicii dem Teii, der ilim weniger Ver- 
sagungen auferlegt bat und „den es daher noch nickt angegriffen hat", zu- 
wenden, um bei ihm flilfe zu finden, „Manchmal muß es rasch von einem zum 
andern wechseln, weil jeder von beiden abwechselnd (stellt es sich vor) ver- 
letzt und zerstört wurde durch seine erneuten Bedürfnisse und seine Wut". 

Auch die Enttäuschung über das nouo Gescbwistercher und die ecliließliche 
Versöhnung mit seiner Existenz wird auf die Beziehungen des Kindes zur 
_„bösen und guten Mutter" zurückgeführt; „Andrerseits gewinnt das Kind oft 
groBen Trost durch die Ankunft des neuen Kindes, weil diese der sicherste 
Beweis ist, daß seine eigene, reale oder phantasierte Aggression der Mutier nicht 
wirklich geschadet oder sie endgültig vom Vater getrennt hat". 

Die Tendenz des Kindes, Spielzeug zu zerstören, das Zerstörte aber dann 
zu meiden, wird mit Aggression und Schuldgefühl über die Zerstörung er- 
klärt. 

In der Proiektion sieht Isaacs die Ursache für Phobien und Pavor noc- 

turnus. 

Die Phantasien und Spiele des Kindes, größer und mächtiger zu sein 
als die Erwachsenen, alles zu können, ohne es erst lernen zu müssen, sind 
Ausdruck seiner UnzulängMchkeitsgefüble infolge seiner aggressiven Im- 
pulse gegen die Mutter, die nur zur Zerstörung führen, die es aber unfähig 
zum Aufbauen und Wiedergutmachen erscheinen lassen. Eines der Mittel, 
dieses Gefühl der Unzulänglichkeit für das Kind zu mildern, ist das Er- 
lernen von allerlei Geschicklichkeiten; auch die Gesellschaft von Gleich- 
altrigen kann dazu beitragen, führt Isaaes aus. 

Über die sexuellen Spiele der Kinder und die mutuellc Onanie meint Isaacs: 

„Wir werden oft gefragt, ob man den Kindern sexuelle Spiele, das Betrachten 
ihrer nacftten Körper, Beschauen and Berühren der Genitalien, sowie das Doktor- 
Spiel und Mutter-Kind-Spiel gestatten soll. 

Das ist schwer zu beantworten und es gibt darüber keine Regeln. Das sexuelle 
Erlebnis kann schaden, wenn es dem einen Kind von dem anderen aufgezwungen 
wird oder wenn eines der beiden Kinder älter ist. Eine Verführung durch ein 
älteres Kind kann psychologisch dieselben Folgen haben wie die Verführung 
durch einen Erwachsenen. Man kann daher keine allgemein gültigen Ratschläge 



T8 Ubt-r die Erziehung der Kinder 



geben; sicher ist, daß grobes Eingreifen in die Spiele und Forschungen des Kindes 
es von allen Formen körperlicher Liebe abschrecken kann, so daß es in seinem 
späteren Leben unfähig wird, zur Ausübung der normalen Sexualität und außer- 
stande, sozialen Kontakt herzustellen . . . 

Vielleicht ist es am besten, sich in bezug auf derartige Gespräche und Spiele 
der Kinder blind zu stellen und es ihnen zu überlassen, wie sie damit fertig 
werden, außer das sexuelle Element wird so lärmend, aufdringlicfi und an den 
Erwachsenen gerichtet, daß es deutlich ist, das Kind wünscht die Aufmerksamkeit 
der Erwachsenen auf sich zu lenken, weil es ein Verbot wünscht oder Hilfe sucht 
gegen seine Ängste". (S. 217). 

In dem vorliegenden Buche behandelt jeder Mitarbeiter sein Thema zuerst 
von einem allgemein theoretisclien, dann erst vom praktisch pädagogischen 
Standpunkt. Die Theorien, auf die sich die Autoren hier stützen, werden 
aber nicht von allen Vertretern der Psychoanalyse geteilt. Uns fällt besonders 
auf, daß der Kastrattonskomplex des Kindes, dem doch die Psychoanalyse die 
allergrößfo Bedeutung in der Entwicklung beimißt, hier sehr vernachlässigt 
oder in anderem Sinne gedeutet wurde. Die Angst vor dem Zerschnitten- 
werden, die Tendenz Spielzeug zu zerstören, das Zerstörte dann zu meiden, 
Phobien und Pavor nocturnus, Phantasien des Inhalts größer und mächtiger 
zu sein als die Erwachsenen, sind unserer Erfahrung nach zum größten Teil 
auf den Kastrationskoniples des Kindes zurück zu ftihren. Die zentrale Be- 
deutung der Kastrationpungst hat sich in allen Aaalysen mit größter Leben- 
digkeit nachweisen lassen; wir vermissen hier ihre Erwähnung vollkommen. 
An jenen Stellen, wo wir diese Deutung erwarten würden, werden Phantasien 
mitgeteilt, die ihrem Ursprung nach in die früheste Lebenszeit, bis in die 
Säuglingszeit zurückverlegt werden; wir meinen, für die Gültigkeit solcher 
Phantasien wird auch in diesen Beiträgen kein Beweis erbracht.*) Inwieweit 
diesen Beweis die Analysen 1— 2jähriger erbringen könnten, entziclit sich 
unserer Beurteilung, da das Material dieser Analysen bisher nicht veröffent- 
licht wurde und wir über derartige Erfahrungen nicht verfügen. 

Die Annahme der Autoren, Ödipuskomplex und genitale Strebungen seien 
schon in den ersten Lebensjahren in volleui Ausmaße vorhanden, führt para- 
doierweise in der Darstellung zu einem Zurücktreten beider für die Ent- 
wicklung lies Kindes. Da auch das Uber-Ich des Kindes bereits im 1. Lebens- 
jahr in voller Stärke vorhanden sein soll, spielt der Kastrationskomplex und 
der damit verbundene Untergang des Ödipuskomplexes in der Entstehung des 
"Über-Ichs keine Rolle mehr. 

Während die prägenitale Libidoentwicklung ausführlich behandelt wird, 

die orale und anale Pliuse in speziellen Kapiteln dargestellt sind, vermissen 

wir eine ebenso eingehende Behandlung der phänischen und genitalen Phase. 

Besonders hervorgehoben werden in diesem Buch die Aggressionen der 

iJütter gegen die Kinder. Es wird gezeigt, wie diese Aggression selbst 

*) Vgl. hiezu: Robert Wälder: Zur Frage des psychischen Konflikte 
im frühen Lebensalter. Int. Ztschr. f. Psa., Bd. XXII, 1936. 



"über die Erziehung der Kinder 79 



wiederum aus der eigeuen Beziehung der Mütter zu ihren Eltern (Müttern) 
stammt. Dies erinnert uns an zahlreiche Stellen in August Aichhorns 
Schriften und Vortragen, in denen er dieses Tliema eingehend und vielseitig 
beliamlelt. So hat er z. B. wiederholt gezeigt, wie manche Mütter jene Aggres- 
sion den Kindern gegenüber empfinden, die sie dem bewußt geliebten Mann 
gegenüber verdrängen müssen. Auch auf eine dieser entgegengesetzten 
Form der störenden Beüiehung zum Kinde hat er in diesem Zusammenhang 
verwiesen: so auf die überzUrtlichen Mütter, die ihren Kindern alles und mehr 
gewähren wollen, als ihnen gut tut, aber dafür mehr verlangen, als Kinder 
an Gegenliebe leisten können; die Ursachen sind im unbefriedigten Zärtlich- 
keitsbedürfnis, in der unbefriedigten Sexualität überhaupt zu finden. Die 
Beziehung zwischen Mutter und Kind ist zwar — für die Mutter gesehen — 
die tiefste, aber sie setzt sieh aus positiven und negativen Gefühlen zusam- 
men und ist im Laufe der Entwicklung und des Lebens von anderen Be- 
zielmngen überdeckt und mit ihnen verquiekt worden, so daß auch diese, in 
die „Persönlichkeit" der Mutter aufgenommen, nunmehr in der Haltung gegen- 
über dem Kinde zum Ausdruck kommen müssen. 

Wer vor Berufserziehern, Müttern und gebildeten Laien Vorträge über die 
Probleme der psychoanalytischen Erzielmng gelialten hat, der kennt gewöhn- 
lich alle jene Schwierigkeiten die dem Vortragenden gerade wegen der be- 
eonderen Anforderungen, die die Psychoanalyse an den Zuhörer stellt, aus 
dem Hörerkrois entgegenwirken. Die Lektüre dieses Buches läßt die Frage 
laut werden, wie und ob der analytisch ungeseliulto Leser die hier niederge- 
legten Theorien aufnehmen mag. 

Die praktischen Anweisungen hingegen, vor allem in bezug auf Stillen, 
Ernähren, Reinlichkeitserziehung sowie die Einstellung zur Onanie enthalten 
wertvolle einleuchtende Anregungen; auch die Wichtigkeit der guten Be- 
ziehung der Eltern zu den Kindern und die Bedeutung des Milieus im allge- 
meinen wird leicht verstanden und befolgt werden können. 

E. B u X b a u m. 



ZeitsArift für paydio analytische Pacla^jo^Mk, XI. Jahrganfj, Heft 1 

INHALT: 

M ii i- i B II. B r i o h 1: Dio Hiille riod Miircheiis in der liU-hikindeierxieliung 5 

St a r t i II G r o t i B h n: Kiudorunulj'tie und ICr^icliuiig im Riilirauii dar jiisyiilioaiialjtiBuh 

ork'iitierleii Scliulo 20 

Th, Bü r K ni an n: Versiic-h der Behebung einer Evziehungsschwierigkoit 29 

Emma B e r n e r; Eine EinsclilafflGning aus Todesangst 44 

BERICHTE: 

Ernst Schneider; Eine Richtigstellung 61 

Ober die EwiehTing der Kinder. „On the hringing up o{ ohildren". By Fjve Peyoho-AualyBta 

(E. Buxbaum) 59 



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DER 
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DR. RICHARD STERBA 

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und Reifung, Psychoanalyse und PädHgogik. 

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lelire ihres Vaters das, was ilineji hei ihrer Arbeit helfeij Icaniu nämlich 
die seelische und eniehorische Auswertung frühester, ins Uiibeiviißte ver- 
sunkener Kiudheitserlebnisse, die in ihren Answirliungen aber den Cha- 
rakter und die Erziehbarkeit entscheidend heeiuflussen. Sie begnügt sich 
nicht mit den si::htbaren seelischen , Leistungen' der 7.Ögliiige, sondern 
benutzt die Analyse zur Dechiffrierimg vun Charaklerauliennigen, die 
uns ohne Zurückgehen auf ihr erstes ZListandekummcn oft rätselhaft und 
iHsammenhaiiglos erscheinen und die Erziehung ersühweron, wenn sie 
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scheidungen. Dissoiiales Symptom und dissoiiale Grundlage; Dressur und 
Erziehung; iVlJlieuwechscl als heileriieherisches Mittel. III. Diskussion 
des Mittels „Milieuwechsel". Vom Aufbau der seelischen Persönlichkeit, 
Zivilisierung und Kultivierung. IV, Die Freud'sche Psychologie in der 
Praxis der Erziehungshilfe. V. HersteUung der günstigen Übertragung. 
Assoiiations- und Spieltechnik. VI. Einbezug des Rorschach'schen Test- 
versuchs ins Arbeitsfeld des Erziehungsberaters und -helfers. Abgrenzung 
seiner Leistungen im Vergleich mit der pSdanalytischen Methode. VII. Zu- 
sammen fassung. Paar-Beiiehnng und das Verhältnis von Gemeinschaft 
und Führer, Gefahren der Bindung' das nichtbewuDle, passive Erleiden 
und das bewußte, aktive Handhaben der Übertragung, VIII. Über den 
Bereich der psychoanalytischen Erziehungsberatung und -hilfe. 

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lehre ihres Vaters das, was ihnen bei ihrer Arbeit helfen kann: nämiicb 
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rakter und die Eriiehbarkeit entscheidend beeinflussen. Sie begnügt sich 
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uns ohne Zurückgehen auf ihr erstes Zustandekummen oft rätselhaft und 
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Zivilisierung und Kultivierung. IV, Die Freud'sche Psychologie in der 
Praxis der Erziehungshilfe. V. Herstellung der günstigen Übertragung. 
Assoziations- und Spieltechnik, VI. Einbeiug des Rorscb ach 'sehen Test- 
versuchs ins Arbeitsfeld dos Eniehungsberaters und -helfers. Abgrenzung 
seiner Leistungen im Vergleich mit der pädanalyti sehen Methode. VII. Zu- 
sammenfassung. Paar-Beiiehung und das Verhältnis von Gemeinschaft 
und Führer, Gefahren der Bindung' das niehtbevl'uSte, passive Erleiden 
und das bewtißte, aktive HandhabeTi der Übertragimg. VIII. Über den 
Bereich der psychoanalytischen Erzieliungsberatung und -hilfe. 

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XI. Jahrg. 



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Heft 1 ; 



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Zeitschrift für 

psydioanalytische 

Pädagogik 



Marie H. Btiehl . Die Rolle des Märdiens in 

der Kleinkindererziehung 

Martin Grotjaßn . Kinderanalyse und Erziehung 

im Rahmen der psydio- 
analytisdi orientierten Schule 

Tß. Bergmann . . Versuch der Behebung einer 

Erzi ehun gsschwierigkeit 

Emma Berner. . . Eine Einschlafstörung aus 

Todesangst 

Berichte 



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