Xi. Jahrg.
1937
Heft 1
Zeitsdirift für
psychoanalytische
Pädagogik
Marie H. Bvießl . Die Rolle des Märchens in
der Kleinkindererziehung
Martin Grotjahn . Kinderanalyse und Erziehung
im Rahmen der psydio-
analytisdi orientierten Schule
Th. Bergmann . . Versuch der Behebung einer
Erziehungsschwierigkeit
Emma berner. . . Eine Einschlafstörung aus
Todesangst
Beridite
Preis dieses Heftes Mark 2' —
Zeitschrift für psychoanalytische Pädagogik
Begrüiiaet von Heinrich Meng und Ernst Schneider
Herausgeber:
August Aichhorn Dr. Paul Federn Anna Freud
Wien V, Sdiönbmnners(rnße 110 Wien VI. KöBlkrgasse 7 Wien IX, Bcrggasse I«»
Dr. Heinridi Meng Hans Z u 1 1 i g e r
Basel, AngcnEtcinersfraSe 16 Ktltten bei Bern
Sehr iftlei t e r :
Dr. Wilhelm Hoffer, Wien, I., Dorotheergasse 7
6 Hefte )ährlidi M. 10-—
Einzelheft M. 1'—
Gescharitlche Zuadu-iften bitlen wir zu rltfaten an
Internationaler Psychoanalytisdier Verlag
Wien IX, Berggasse 7
Zahlungen für die „Zeitschrift fiir psychoanalytische Pädagogik" können — bei fremden
Währungen zum jeweiligen Bankkurs umgerechnet — geleistet werden durch Postanweisung,
Bankscheck oder durch Einzahhing auf eines der
PoBtsdiedtkonti des „[nternationalen Psydioanalytisdien Verlages In Wien":
Leipzig $J.112
Zürich VIII, 11-479
Wien yi.6)}
Paris C Iioo.^j
Prag 79. j 5/
Stockholm 44-49
Budapest fl.204
Zagreb 40.^00
^arszawa I^S'ßOJ
Riga }6.9}
s'Gravenhage I42.248
Kjöhenkavn 24.^^2
Bei Adressenänderungen bitten wir freundlidi, audi den bisherigen Wohnort
bekanntzugeben, denn die Äbonnentenkartei wird nach dem Ort und nidit nach dem
Namen geführt.
In Vorbereitung befinden sldi folgende Sonderhefte: „Kindliche Eß-
störungen", ^Lern- und Denkstörungen", „Jugendliche Verwahrlosung
und Kriminalitäf.
ZEITSCHRIFT FÜR
PSYCHOANALYTISCHE
PÄDAGOGIK
XI. JAHRGANG 1937
}•. '•■ \
INTERNATIONAL
PSYCHOANALYTIC
UNIVERSITY
DIE PSYCHOANALYTISCHE HOCHSCHULE IN BERLIN
ZEITSCHRIFT FÜR
PSYCHOANALYTISCHE
PÄDAGOGIK
HERAUSGEBER:
AUGUST AICHHORN
WIEN
PAUL FEDERN
WIEN
ANNA FREUD
WIEN
HEINRICH MENG
BASEL
HANS ZULUGER
BERN
SCHRIFTLEITER:
WILHELM HOFFER
WIEN
XI JAHRGANG
.■i'
1937
INTERNATIONALER PSYCHOANALYTISCH LR VERLAG, WIEN IX.
J i. -^1* X Jl % \ 3 V * L w.^ -^^ ^ * ~, ■* -■-»■
3fl " lTf.!/^/OIi:)Y '
.00 S
A
'^ >-!'.'■':.'■.'.
Kil« "^-M"^
ALLE RECHTE, INSBESONDERE DIE DER ÜBERSETZUNG,
VORBEHALTEN
ZEITSCHRIFT FÜR PSYCHO-
ANALYTISCHE PÄDAGOGIK
XI. Jahrg. 1937 Heft 1
' - * -
Die Rolle des Märdiens in der
Kleinkindererziehung *^
Von Marie H. Briehl
Die Aufschlüsse, die uns die Psychoanalyse über die Psychologie
des Kindes einerseits und über die Psychologie der Erzählungen, ins-
besondere der A^olkssagen, Märchen, Mythen und Legenden anderer-
seits gegeben hat, führen zu Problemen der Beziehung zwischen Mär-
chenerzählen und Erziehen, die ich im folgenden erörtern möchte.
Ehe sich die Psychoanalyse mit diesen Problemen befaßte, gab es
in der Kontroverse, ob man den Kindern derlei Geschichten zugäng-
lich machen solle oder nicht, zwei Parteien: die einen neigten zu einer
oberflächlichen realistischen, die anderen zu einer romantischen Be-
trachtungsweise. In der letzten Zeit gewannen die Realisten festeren
Boden: das Maschinenzeitalter fördert die Ansicht, man solle die Kin-
der in der Ansehauungsform ihrer Umgebung erziehen, um sie für das
praktische Leben vorzubereiten; unsere technische Kultur biete ge-
nügend Anregungen für die Phantasie, um die einfältige, wunder-
liche, 3a oft läppische Vorstellungswelt der Märchen zu ersetzen. Die
Romantiker hingegen verteidigen unser altes Erbgut an Sagen und
Märchen, indem sie das psychologische Argument ins Treffen führen,
daß diese Erzählungen eine Lücke in unserem Leben ausfüllen, eine
Zuflucht aus dem lärmenden Alltag bieten und in unserem allzu prak-
tischen und realen Dasein Wunscherfüllungen ermöglichen. Diese.
Argumente sind so alt wie die Märchen selbst. Es gab früher, genau
wie heute, Leute, die sagten, Märchen — wie etwa die „Mother Goose"-
Reime — seien nicht gerade das Richtige für die Kinderstube;
andere wieder — wie z. B. Sam Johnson — waren der Ansicht, Kin-
der wollten nicht immer nur von Kindern hören, sondern hätten lieber
Erzählungen über Riesen und Burgen und über Dinge, die spannend
und anregend für ihren jugendlichen Geist seien. An beiden Feststel-
^) Vortrag, gehalten vor den Lehrern der Waiden School, New York,
1933; aus dem Englischen übersetzt von August Eeranek, Wien.
]
Marie H. Briehl
lungen ist etwas Wahres. Das erste Argument verweist darauf, daß —
ganz abgesehen von der Kulturstufe der betreffenden Nation oder
Rasse — die Volksliteratur von Erwachsenen stamme. Der hervor-
ragende Schriftsteller Oliver Goldemith war der Verfasser vieler
populärer „Mother Goose"-'Reime, die aber nicht alle in ihrer ur-
sprünglichen Form für Kinder geeignet waren, sondern erst im Ge-
brauch modifiziert werden mußten. Das andere Argument macht gel-
tend, dafi der Geist des Kindes doch über den kindlichen Bereich
hinaus in die Welt der Erwachsenen hineinreiche. Eousseau wen-
dete sich gegen die Märchen aus gerade jenen Gründen, die andere
zu ihren Gunsten anführen — wegen ihres ethischen Gehaltes, ihrer
Phantastik, ihres spielerischen Charakters, oder weil sie ein emotio-
nales Erlebnis, eine Flucht aus der Eealität, eine geistige und künst-
lerische Bereicherung oder eine Vorbereitung auf die Probleme des
Lebens bedeuten. Die Puritaner und Didaktiker des XVIII. Jahr-
hunderts versuchten, an Stelle der Märchen moralische und religiöse
Erzählungen einzuführen, indem sie mit Recht darauf hinwiesen,
daß im Märchen weit öfter das Schöne als das Gute den Sieg davon-
trage. Die Fürsprecher der Märchen aber betonen wieder, wie wichtig
es sei, die Moral gerade dort, wo sie zum Ausdruck komme, nicht zu
sehr zu unterstreichen.
Ich habe nicht die Absicht, die Kindergescbiehten von einer dieser
Anschauungen aus zu beurteilen, die alle — ob sie nun von spekula-
tiven oder moralischen Erwägungen ausgehen mögen — letzten Endes
doch von unseren Vorurteilen diktiert sind. Ebensowenig geht es mir
um eine ästhetische Kritik, etwa nach Phantasie, Form, Stil oder
Sprache — ein Maßstab, der für Erzieher sicherlich angebracht und
im Unterricht zur Pflege der Urteilsfähigkeit und des Formsinnes
jedenfalls empfehlenswert ist.
Ich will mich vielmehr bemühen, den Inhalt dieser Erzählungen
von einem rein psychologischen Gesichtspunkt aus zu betrachten. Bis-
her wurde der Inhalt einer Erzählung — in erster Linie ihr intellek-
tueller Gehalt — mehr gefühlsmäßig nach der Einfachheit oder
Kompliziertheit ihres Vorwurfes klassifiziert. Zu entscheiden, ob ihr
seelischer Grundton dem Wesen des Kindes gemäß war, überließ man
der Intuition und dem Gefühl des Erwachsenen. Wir dürfen aber
unsere Geschichten hier nicht nur nach ihrer Form und nach ihrem
intellektuellen Inhalt zuordnen, sondern müssen dem Wort „Gehalt"
einen neuen begrifflichen Sinn geben: wir verstehen darunter nicht
bloß die oberflächliche tatsächliche Bedeutung der Erzählung,
sondern auch alle tieferen möglichen Bedeutungen, die sie für den
kindlichen Geist erlangen kann. Die Psychoanalyse gibt uns dabei in
Die Rolk- den Märchens in der Eleiiikindererzieliung 7
zweierlei Richtung wichtige Anhaltspunkte: erstens für den Zustand
des kindlichen Gefühlslebens auf bestimmten Altersstuien und zwei-
tens für die psycliische Bedeutung der Erzählungen. Es scheint nun
leicht zu sein, die Geschichten mit der betreffenden psychischen Ent-
wicklungsstufe des Kindes in Einklang zu bringen. Nach der Psycho-
analyse wird das Leben des Menschen durch diese Stufen auch zeitlich
in etwa folgende Phasen gegliedert:
— 3.— 5. Jahr; Triebperiode, Primat der oral- und analeroti-
schen Zonen;
5. — 6. Jahr: Ödipuskonflikt und dessen Untergang;
6. — 12. — 13. Jahr: Latenzperiode, Sublimierung;
14.— 18. Jahr: Pubertät.
Vielleicht läßt sich nun ein neuer Einteilungsmaßstab ausarbeiten,
der dem jeweiligen psychischen Zustand des Kindes auf diesen typi-
schen Altersstufen besser gerecht wird, dabei aber natürlich genügend
elastisch ist, um den individuellen Verschiedenheiten der Kinder
Rechnung zu tragen. Ich habe z. B. Zusammenstellungen gesehen, die
den „Pinocchio" als für 3— 7jährige Kinder geeignet angeben, während
andere ein Alter von 10 — 11 Jahren fordern.
Betrachten wir zuerst den psychischen Zustand des Kindes und
nehmen wir als Beispiel die höchst wichtige Phase vom fünften bis
zum sechsten Lebensjahr, in die der Übergang von der Kleinkind-
periode zu der Latenzperiode fällt. Die wesentlichen Kennzeichen
dieses Alters sind:
1. der Ödipuskonflikt — sein Höhepunkt und seine Losung,
2. Eintritt in die Latenzperiode,
3. zahlreiche überbleibsei ans der Triebperiode,
4. Verstärkung des Uber-Ichs,
5. Aufrichtung der Realitätsbeziehungen des Ichs,
6. Möglichkeiten zu Regressionen und Fixierungen.
Die Unterschiede zwischen den Schulen alter Richtung und den
modernen Reformechulen kann man an der verschiedenen Einstellung
zu diesen sechs Punkten deutlich aufzeigen: der alten Schule ist die
Ödipussituation des Kleinkindes unbekannt, sie muß deshalb den
Ödipuskonflikt, seinen Höhepunkt und seine Lösung unbemerkt ab-
seits von Erziehungshilfe und -einfluß sich abwickeln lassen (Punkt 1),
das gleiche geschieht bei der Aufrichtung der Realitätsheziehung
(Punkt 5); auch die Unkenntnis der Möglichkeiten von Regression und
Fixierung schaltet jede Stellungnahme ans (Punkt 6); dafür verstärkt
die alte Schule ganz entschieden ihre Anstrengungen bei der Aus-
merzung der zahlreichen Überbleibsel aus der Triebperiode (Punkt 3)
und wendet ihr Augenmerk hauptsächlich der Förderung des Eintritts
a
S Marie H. Briehl
in die Latenzperiode und der Verstärkung des Über-Ichs zu. Indirekt
und unbeabsichtigt fördert sie dabei wohl auch die Aufrichtung der
Realitätsbeziehung des Ichs (Punkt 5).
Im Gegensatz hiezu bemüht sich die moderne Reformschule, ganz
besonders die realen Ich-Beziehungen zu fördern (Punkt 5) und dem
Kinde jede erdenkliche Hilfe zur inneren Bewältigung des Ödipus-
konfliktes, im Kampf gegen die Relikte aus der Triebperiode und zur
Verstärkung des Über-Ichs zur Verfügung zu stellen; beim Übergang
in die Latenzperiode (Punkt 2) wird sie versuchen, eine glatte Ab-
wicklung zu erreichen, und vor allem die Möglichkeit der Regression
und Fixierung sorgfältig berücksichtigen.
Der Eindruck, den das Geschichtenerzählen bei Kindern hinterläßt,
kann darnach bemessen werden, wie sie selbst Geschichten wieder-
geben, wie sie solche erfinden und sieh dazu verhalten. Aus diesem
Verhalten können wir auf die wirksamen Kausalzusammenhänge
schließen; sie ordnen sich nach folgendem Schema:
Es kann geschlossen werden, erstens auf einen wirklichen Fort-
schritt im Sinne der Anforderungen, die den Eintritt in die Latenz
und die Realitälsbeziehungen begünstigen (Fortschritt in bezug auf
Punkt 2 und 5); zweitens auf einen Rückfall im Sinne von Regres-
sionen auf eine bereits verlassene und überwundene Form der Trieb-
befriedigung und Fixierung an diese (Punkt 6) ; drittens auf eine zu
starke Betonung a) der Über-Ich-Bildung (Punkt 4), b) der Über-
bleibsel der Triebperiode, oder c) des Konfliktes aus der Ödipus-
situation.
Es gibt keine Kinder, die nicht Konflikts- oder Regressionsmöglich-
keiten ausgesetzt wären. Daher gilt unser Beurteilungsschema für alle
Kinder, seien sie nun neurotisch oder normal, und ist als Grundlage
eines Erziehungsprogrammes gedacht.
Somit ist also eine Geschichte, die dem Kind auf der jeweiligen
Stufe seiner Entwicklung gedanklich weiterhilft, für das Kind wert-
voll. Wir wollen als Beispiel Walt Disneys Filmgeschichte von
den „Drei kleinen Schweinchen" wählen. Psychoanalytisch gesehen
ist der „große, böse Wolf" der gefürchtete, mächtige Vater. Er wird
vom ältesten der Brüder besiegt und alle sind glücklich — besonders
die beiden jüngeren Brüder, die jedoch ihre Angst nicht losgeworden
sind, wie der Schluß beweist, wo der große Bruder sie neckt, indem
er das Klopfen des Wolfs nachahmt.
Nach meiner Beobachtung waren Fünf- bis Sechsjährige von dieser
Geschichte restlos entzückt. Es ist dies das Alter, da die Beziehung zu
den Eltern als Paar, wie zu jedem Teil dieses Paares, zum Vater
sowohl als zur Mutter, sich von Grund auf verändert. Die Geschichte
Die Rolle des Mäi-chens in der Kleinkinrfcrcrziohung 9
verhalf diesen Kindern durch ihren Humor zu einer Verminderung des
Schuldbewußtseins, das sie wegen ihrer negativen — bösen — Gefühle
gegen den Vater hatten. „Wenn das große Schweinchen so seinem
Vater eins versetzen darf, dann sind meine (unbewußten) Gefühle
nicht so böse." Das Kind hatte tatsächlich durch die Geschichte die
Möglichkeit, seine bösen Wünsche gegen den Vater an einem stellver-
tretenden Objekt zu betätigen, und war nun nicht länger genötigt, sie
unter Schuldgefühlen so tief zu verdrängen oder in der Realität auszu-
leben. Kin Junge sagte: „Weißt du, mein Vater hat eine Stimme wie
ein Wolf." Der Vater hielt dies für einen Scherz und erlaubte dem
Kind eine Zeitlang, ihn zu schlagen und zu stoßen. Sobald dieses
Agieren nachließ, trat eine Reihe von Identifizierungen mit dem
Vater ein. Ich hörte von zahlreichen Kindern im Spiel Varianten des
Liedes: „JTko's afraid of the Big Bad WoJf?" wie z. B.: „Who's afraid
of the Big Bad Dad?" oder „M'ho's afraid of the Big Bad Teacher?"
Nichtsdestoweniger beobachtete ich einen Vierjährigen und einige
jüngere Kinder, die diese Geschichte in Schrecken versetzte. Bei diesen
Kindern war der Ödipuskonflikt im Ansteigen begriffen. Das Er-
schrecken vor dem Wolf überwog alles andere und sein Ende machte
wenig Eindruck auf sie, denn sie hatten noch keine Erlebnisgrundlage
dafür, den Untergang des Ödipuskonfliktes begreifen zu können. Des-
halb war für sie der große, böse Wolf ein lebendiges Symbol ihrer
Angst und Scheu.
Ein anderes Beispiel eines kindlichen Mißverstehens der Vorgänge
in einer Erzählung zeigt, daß nicht alle Geschichten in den Kindern
angstzersetzend wirken: Ich meine das Märchen vom „Gestiefelten
Kater", in dem der Kater durch eine List den Kiesen, der sich in eine
Maus verwandelt hat, auffrißt. Das betreffende Kind war nun offen-
bar der Schuld, die mit einer so vollständigen Vernichtung des Vaters
verbunden ist, nicht gewachsen und griff deshalb zu der Fehlerinne-
rung, „der Riese habe den Kater gefressen". Seine Furcht vor dem
Vater war noch zu groß, als daß sie durch den über seine Alters-
stufe zu sehr hinausgehenden Humor der Erzählung hätte verringert
werden können.
Der deutsche Volksbrauch vom Krarapua und Nikolaus ist das beste
mir bekannte Beispiel einer Legendendarstellung, die ^ in gleicher
Weise wie unsere soziale Haltung und die Einstellung der meisten
Eltern und Lehrer — dazu beiträgt, die Ängste der Kinder andauern
zu lassen und zu verstärken. Ich habe mehr Kinder durch den Krampus
erschreckt als durch den guten St. Nikolaus beruhigt gesehen. Der
Krampus ist eine teufelähnliche Figur, ganz rot und schwarz, die
überall im deutschen Sprachgebiet zu dem anfangs Dezember statt-
10 Marie H. Briehl
findenden Fest erschemt, um die während des Jahres schlimm ge-
M-esenen Kinder zu erschrecken. Zu diesem Zweck sind alle in den
Geschäften feilgebotenen Nachbildungen dieser Figur, die als Scherz-
artikel gekauft und den kleinen Kindern mitgebracht werden, mit
einer Kute aus scharfen Zweigen oder einer Gabel und einem Korb
versehen. Die Rute dient zur Züchtigung, der Korb dazu, die Kinder
darin fortzutragen. Die Erwachsenen halten dies für SpaJl. Aber die
Kinder — wenn sie überhaupt lachen — tun dies mit Furcht und
Angst im Herzen. Sogar ältere Kinder erzählen ernsthaft, daß sie an
den Krampus glauben. Der Nikolo hat seine Zeit vor Weihnachten
und soll die braven Kinder belohnen; aber viele deutsche Kinder
haben mir errötend gestanden, daß sie nicht Belohnung, sondern
Strafe erwarteten.
Wir haben da die unbewußte Vorstellung des Volkes von einem
Vater vor uns, der einmal gut, einmal strafend vorgestellt wird. Der
letztere ist der Starke, und dies ist offenbar der Sinn der Volks-
legende, die darauf abzielt, erzieherisch zu wirken, in dem sie jene
Tugenden kultiviert, deren Gesamtheit von der Religion als „Ge-
wissen", von der Analyse als „Uber-Ich" xind von den Fürsorgern und
öffentlichen Erziehern als „gutes Staatsbürgertum" bezeichnet wird.
Daß das Schuldgefühl des Kindes wegen seiner Missetaten durch diese
Legende gesteigert wird, läßt sich aus der Tatsache erkennen, daU
Kinder, bei denen die Zeit der normalen Lösung des Ödipuskonfliktes
bereits weit zurücklag, noch immer Angst vor dem Krampus hatten.
Der Konflikt hatte über das Alter hinaus, in dem er hätte gelöst
werden sollen, seine Fortsetzung gefunden. Man kann sieh die Angst
vorstellen, die erst bei kleineren Kindern entstehen muß, die eben
versuchen, ihre ödipussituatioo zu bewältigen. Es ist nicht weiter
verwunderlich, daß das Volk diese Geschichten hervorgebracht und
ihre Lebendigkeit bewahrt hat. Alle Eltern sind Krampusse und
Nikolos — zuweilen mehr das eine als das andere. Alle Kinder werden
durch die Identifizierung mit dem einen oder dem anderen später selbst
solche Eltern. Auf diese Weise wird das neurotische Element ver-
ewigt. Unsere Legende übersteigert den psychischen Konflikt im
Kinde und damit die Gegensätze zwischen Eltern und Kindern.
Andere Erzählungen zeigen weniger deutlich die Konfliktspuren,
doch stellen sich viele Märehen im Lichte der Psychoanalyse als
Wiedergabe des Konfliktes zwischen den Triebwünschen und dem
Druck des Über-Ichs dar. Märclien sind Erbgut des Volkes, aber der
Erwachsenen des Volkes. Sie verkörpern die Infantilen, unge-
lösten Rückstände bei den Erwachsenen, die Reaktion der zensurie-
renden und verurteilenden Erwachsenen auf ihre triebhafte — und
i
Die lloUe des Märchens in der Kleinkindererzielning 1 1
daher böse — verflossene Kindheit; und es ist oft ein unnötig strenges
Urteil. Märchen dieser Art steigern eine etwaige neurotische Tendenz
beim Kinde, indem sie zu den in ihm schon vorhandenen neue Kon-
fliktstoffe hinzufügen.
Die Gefühlsreaktion auf den Sieg Jacks über den Kiesen hängt
vom Alter und der psychischen Stufe des Kindes ab. Ist der eigene
Konflikt bereits erfolgreich bewältigt, so wird das Kind die Emotion
des Erwachsenen erleben: die Freude, den Vaterriesen überwunden
zu haben. Dauert aber der Ödipuskonflikt noch an, so kann es zu einer
Steigerung des Schuldgefühles kommen.
Die moralisierenden Märchen lassen sich nicht tlurchwegs als Über-
Ich-Er Zählungen deuten. Viele von ihnen entsprechen besonders dem
Kind der Latenzperiode, vv'eil sie unbewußt an die Triebe appellieren.
Es ist dies die Zeit, da sich das Kind mit der Welt der Erwachsenen
zu identifizieren beginnt. Doch sind gewisse Konzessionen an die
Triebe notwendig. Außerdem gibt es Märchen, die eine Nutzanwen-
dung von einer etwas unbekümmerten Art lehren. So haben gute Men-
schen den Märchen beispielsweise vorgeworfen, daß sie die Schlauheit
des Fuchses als Muster eines erfolgreichen Verhaltens hinstellen. Ich
glaube, daß sich Märchen dieser Art für die meisten Kinder in der
Latenzperiode gut eignen, und zwar von einer realen Basis aus ge-
sehen zu Zwecken der Aussprache, von einer unbewußten Basis aus
als eine Konzession an die Triebneigungen. Es gibt noch andere Ge-
schichten — wie die von „Epaminandes", die durch Humor eine Lehre
zu geben suchen und die sogar beim Kind der Latenzzeit geeignet
sind, die augenblicklicli verdrängten polymorph-perversen Triebe an-
zusprechen.
Die griechische Sagenwelt bildet ein Kapitel für sich. Im großen
und ganzen macht sie ihre besondere Verstandesmäßigkeit für kleine
Kinder ungeeignet. Die Symbolik ist mehr verhüllt, die Gefühle-
dynamik eher kompliziert. Intellektuell betrachtet liegen die Erleb-
nisse oft jenseits des kindlichen Auffassungsvermögens. Wenn sie
irgend eine Anregung für die Vorstellungswelt des Kindes bieten, so
nur die, daß sie seinen Sinn für das Geheimnisvolle steigern.
Eines der grundlegenden Mysterien im Leben des Kindes ist be-
kanntlich das Sexualleben der Erwachsenen; die Kinder haben zahl-
reiche phantastische Theorien über diese Vorgänge entwickelt, und
dies trotz aller rationalen Erklärungen, die ihnen von wohlmeinen-
den und intelligenten Erwachsenen geboten werden. Solche Theorien
beruhen im Kind auf einer biologisch-psychologischen Grundlage und
bleiben, wo das seelische Wachstum durch ungelöste Konflikte autge-
halten oder gestört wurde, bis ins erwachsene Leben bestehen. Mär-
12 Marie H. Briehl
chen und Sagen, Mythen und Legenden sind reich an solchen infantilen
Sexualtheorien.
„Der Wolf und die sieben Geißlein"ist einBeispiel für eine von ihnen:
die Geburt durch Aufschneiden des Bauches und die Empfängnis durch
Verschlingen. Die Geburt der Athene aus dem Gehirn des Zeus zeigt
eine andere. Für kleine Kinder ist die Volkssage besser geeignet als
die griechische Mythologie, deren Eigenart dazu angetan ist, im Kinde
das große Fragezeichen, die dunklen, ungeklärten Stellen seines
Geisteslebens zu vermehren, seine Phantasie und damit seine Angst
zu steigern und zu fixieren.
Die Sagen und Märchen lassen sich nach ihrem emotionalen. Gehalt,
kurz zusammengefaßt, etwa in folgende Gruppen gliedern:
1. moralische (Uber-Ich-)Erzählungen,
2. ödipus- und Kastrationserzählungen (genital),
a) konfliktsteigernd,
b) konfliktüberwindend,
3. prägeuitale Erzählungen,
a) triebhaft,
b) polymorpb-pervers,
c) humoristisch.
Wenn wir die Märchensymbolik übersetzen, sehen wir, daß einige
die psychische Situation bewältigen helfen, andere die psychische
Lösung hindern und den Eindruck der Neurose hinterlassen. In man-
chen besteht der Kindheitskonflikt fort. In anderen wieder ist die Be-
lastung durch den Intellekt der Erwachsenen zu groß, um vom Kind
bewältigt und assimiliert zu werden, so daß sie den Eindruck einer
Schuld hinterlassen.
Märchen verursachen gewiß keine Neurosen oder sonstige Störun-
gen, aber sie vervollständigen häufig deren Inhalt, wie dies beispiels-
weise in den nächtlichen Schreckerlebnissen und Träumen des Kindes
der Fall ist. Wo sie erzählt werden, ehe das Kind die entsprechende
Reife erlangt hat, verschärfen sie die Angst durch Hinzufügen eines
Erlebnisses, das für das Kind — wenn es auch nicht, primär wirkt,
wie etwa Urszene, Kastrationsdrohungen usw. — jedenfalls realer ist
als für den Erwachsenen. Erst viel später sagt das Kind: „Das ist
nicht wahr. Das ist ja nur ein Märchen." Anfänglich hat eine solche
Erzähhing für das Kind den gleichen Wirklichkeitscharakter wie irgend
eine Erklärung, die man ihm über Personen oder Dinge seiner Um-
welt gibt. Sogar in der späteren Kindheit, im 11., 12. und 13. Lebens-
jahr, ist die Grenze zwischen Wirklichkeit und Phantasie recht un-
scharf. In der frühen Kindheit verschwimmen Realität und Phantasie
bisweilen völlig. Der Riese in „Jack und die Zauberbohne" ist genau
Dio RüUe des Märchens in der Kleinkindererzieliuiig
13
so wirklich wie Kapitän B y r d auf dem Südpol. Die Geschichten, die
z, B. die Ammen erzählen, werden von den Kindern als wahr hinge-
nommen, mögen sie dem Erwachsenen auch noch so phantastisch er-
scheinen.
Mein Patient Benny hörte im Alter von drei Jahren eine sizilia-
nische Volkssage, an die er, nunmehr neun Jahre alt, noch fest
glaubte. Mit drei Jahren war dieser Glaube an die Realität gerecht-
fertigt. Mit neun Jahren hätte aber die Grenze zwischen Phantasie
und Wirklichkeit bereits gezogen sein müssen. Bei diesem unglück-
lichen und kranken Jungen war dies jedoch nicht der Fall. Die Ge-
schichte lautete folgendermaßen; „Alle guten Sizilier glauben, daß bei
Vollmond ein Werwolf durch die Nacht wandert. Wenn ein Strahl des
Mondlichtes durch dein Fenster auf dich fällt, wird er erscheinen und
dich töten oder fortschleppen." Die Art der Alpträume dieses Jungen,
die Träume von Hexen, sein Interesse an Märchen und seine Phan-
tasien verraten eine Fülle von Vorstellungen, die sich von seinem un-
gelösten Ödipuskomplex herleiten. Trotz des reichen Phantasielebens,
über das der recht talentierte Junge verfügt, beweisen seine eigenen
Schöpfungen nur sehr geringe Einbildungskraft. Diebe, Räuber,
Gangster und Detektive spielen in ihnen eine Rolle; durch sie ver-
sucht er, sein Problem in der Analyse zu bezwingen. Aber die Sagen-
gestalten und -Phantasien geben der Neurose die Richtung. Es ist
schwer, auf sie den Maßstab der Realität anzuwenden. Seine eigenen
Schöpfungen sind prosaisch, obwohl der Junge viel Gefühl für Farbe,
Form und Sprache hat. Seine Neurose, die sicherlich pittoresk genug
ist, hat die Vorstellungsweise seines Denkens nicht beeinflußt, son-
dern eher seine Begabungen gehemmt.
Jean ist ein dJiijähriges Mädchen; sie verfügt über einen großen
Vorrat an Seeräuber-, Hexen-, Wolfs- und Gespenstergeschichten, die
ihr das Eindermädchen und ein älterer Bruder erzählt haben. In die
Behandlung kommt sie zwecks Vorbereitung für eine Mandeloperation,
die ihre Angst ausgelöst hatte. Sie ist schwer zu behandeln, hat
Launen und ißt nicht ordentlich. In ihren Erzählungen fressen die
Wölfe das kleine Mädchen „irgendwo an ihrem Körper", wie sie sagt.
Die Seeräuber sind böse Menschen, die Toby, den Spaniel, fangen und
verhungern lassen. Das ist kurz der Inhalt der Geschichte, die sie
von daheim mitbringt. Die Strenge dieser strafenden Gestalten findet
ihren Beifall, weil sie selbst „unartig und garstig und ein Ferkel" ist.
Die Form der Strafe ist im allgemeinen Verhungern. Im Märchen vom
„Rotkäppchen" frißt der Wolf dem Rotkäppchen das Essen weg, das
es hei eich trägt. An der Geschichte von „Goldhaar" mißbilligt sie,
daß Goldhaar dem kleinen Bären die Suppe wegißt.
14 Marie H. Briehl
Die folgende kurze Darstellung soll nur andeuten» wie sie die Mär-
chen während der Behandlung in veränderter Form erzählt und aus-
SRhmückt. Eine von ihr selbst geschaffene Geschichte lautet folgender-
maßen: Der König (ich) ißt dem Jäger seine Mahlzeit auf. Das Zwerg-
lein (sie) sieht dies und schickt den Jäger zu dem König des Dschun-
gels (ebenfalls sie), der den König (mich) bestraft, indem er ihn
(mich) in einer Wüste verhungern läßt. Das heißt: weil ich das Essen
gestohlen hatte, wurde ich bestraft und mußte verhungern. Diese Dar-
stellung trifft den Kern ihrer Schwierigkeit. Der jüngere Bruder,
den sie, als er gestillt wurde, gesehen und beneidet hatte, war plötzlich
gestorben. Ihre Keaktion war ein gesteigertes Schuldgefühl wegen
ihres früheren Neides gewesen. Sie hatte wegen seiner Lust beim
Saugen böse Gedanken gegen ihn gehegt, und nun war er tot. Ihre
Erzählung offenbart somit ihr Verlangen nach der Nahrung neben
dem alten Thema der Bestrafung dieses Wunsches durch Verhungern.
In unserer Dramatisierung war ich stets das böse Mädchen, das das
Essen stahl, und sie die gestrenge Instanz, die mich dafür gerechter-
weise verhungern ließ — eine Uber-Ich-Fabel zu dem Zweck, ihre
Triebwünsche zu verdrängen. Eines Tages nahm sie heimlich eine
Saugflasche und lutschte daran, wie es Säugling© tun; sie zeigte so,
daß durch alle die Erzählungen hindurch, die ihr predigten, streng
und unnachsichtig zu sein, wie sie es von der Mutter annahm, ihr
reales Verlangen während der ganzen Zeit das nach der Nahrung des
Säuglings gewesen war. Alle die früheren Märchen hatten ihr nicht
zur Lösung ihres oralen Konfliktes verhelfen, sondern wurden von
ihr im Gegenteil zur Verdrängung des Konfliktes und des ihm zu-
grunde liegenden oralen Verlangens benützt, das sie für böse hielt.
Alle ihre Märchen waren für sie ein erzieherischer Versuch, sie zur
Strenge gegen sich und zur Mäßigung ihrer Wünsche zu bringen. Sie
errichteten in ihr das, was wir als Uber-Ich bezeichnen. Statt aber dies
in erfolgreicher Weise zu tun, verschärften sie nur den inneren Kampf
gegen ihre unbefriedigten oralen Impulse. Als diese dann in der Ana-
lyse von dem Druck befreit worden waren, war es ihr möglich, einen
Schritt weiter zu gehen und die Schuld, für die sie sich bestraft hatte,
— sowohl ihr orales Verlangen als ihre Angst zu verhungern —
leichter zu nehmen. In den agierten Geschichten, die nun folgten, be-
reiteten wir Kuchen und andere Speisen und aßen, soviel wir konnten,
bis wir voll waren wie eine Boa constrictor. Es ist erlaubt zu essen,
die Schlimmen brauchen nicht zu verhungern. In Wirklichkeit sind
sie gar nicht mehr schlimm.
An diesem Punkt der Analyse kam die Patientin, von ihrer Angst
genügend befreit, zum Zwecke ihrer Operation ins Spital. Hernach
Pic Eolic dt'F Märchens in der Kleinkindererzicliung 15
kehrte sie in die Behandlung zurück. Die oralen Ängste waren mit
der Operation verschwunden. Der ihrem Alter mehr entsprechende
genitale Kastrationskomplex trat in den Vordergrund, doch endet
hier unser Interesse. Nur ein Gespräch sei noch erwähnt, das die
Lösung ihrer oralen Hemmungen zeigt:
Patientin: „Ich mag diese Schokolade gern. Die Mutter läßt mir
aber nicht drei Schokoladen."
Analytikerin: „Soll ich deiner Muüer sagen, daß sie dir davon
lassen soll, soviel du willst? Kleine Mädchen sollen ja Schokolade
haben, sie ist gut für sie."
P. (argwöhnisch): „Was meinst du mit ,gut'?"
A.: „Ich meine, sie schmeckt gut. Es macht Spaß, sie zu essen."
P.: „Ich habe geglaubt, du meinst, sie macht einen stark."
A.: „Nein. Ich meine, sie ist ein Leckerbissen."
P. (mit einem befriedigten Blick): „Freilieh!"
Ein anderes Beispiel ist das eines Jungen, dessen Ängste eng mit
Phantasievorstellungen von Hexen und ihrem Treiben verknüpft
waren. Geschichten wie „Hansel und Grelel" sind Beispiele für diese
Gattung, die vielleicht in Europa mehr verbreitet ist als in Amerika.
Vielleicht steht die Verwendung von Märchen und Sagen in den euro-
päischen Schulen und Familien überhaupt mehr im Vordergrund. Es
wäre interessant zu untersuchen, ob die Charaklerunt erschiede
zwischen europäischen und amerikanischen Kindern — ich meine, hin-
sichtlich ihres Gehemmtseins und ihrer Freiheit — nicht in irgend-
einer Beziehung zu dem Einfluß der Märchen stehen, der so regel-
mäßig in die Frühentwicklung der europäischen Kinder, hingegen
viel seltener und mehr zufällig in das Leben des amerikanischen Kin-
des eingreift.
Der Schwierigkeit dieses eher braven Jungen lag die Angst zu-
grunde, „unter dem Gürtel" geschlagen zu werden. Sie war der Grund
dafür, daß er öfter als andere Jungen Prügel bekam und daß er nie
ein Spiel beenden konnte, olme über irgendeinen Punkt zu streiten
und dann wegzulaufen. Er hatte auch andere Symptome, wie etwa
Nägelbeißen und Nasenbohren. Verschiedene Träume von einer Hexe,
die ihn in irgendeiner Weise erschreckte, deckte die Grundlage auf.
Der Junge hatte Großmütter und eine Urgroßmutter. Die Mutter war
streng und hatte sich stets um ihn geängstigt. Sehr früh war er zwei-
mal am Penis operiert worden und einmal hatte ein Arzt an dieser
Körperstelle eine brennende Salbe angewendet. Der Palient wollte
dies keinesfalls noch einmal zulassen. Da ihm die Mutter solche
Wiederholungen androhte, habe er jedes genitale Interesse verloren,
was jedoch durchaus niclit der Wahrheit entsprach. Die Urgroßmutter
16 Marie H. Briehl
ging mit einem Stock wie eine Hexe. Der Eindruck all dieser weib-
iichen Gestalten — der Mutter, der Großmütter, die mit ihm zusammen
wohnten, und der Urgroßmutter — war in den symbolischen Märchen-
gestalten der Hexen enthalten, die ihm lebhafte Angst verursachten.
Die Auswahl der Märchen kann bei der Erziehung eines Jungen mit
dieser psychischen Grundlage möglicherweise von Wichtigkeit sein,
soferne diese Erziehung auf die Bedürfnisse des Kindes Rücksicht
nehmen will.
Solcherart sind die Einflüsse, die uns die Analyse enthüllt, sobald
eine Schwierigkeit oder eine Neurose bereits entstanden ist. Die Er-
ziehung aber übernimmt die Aiifgabe, das Leben des Kindes im voraus
planmäßig zu gestalten, und zwar das ganze Leben — in körperlicher,
geistiger und seelischer Hinsicht. Deshalb sollte das Märchenerzäb-
len, das ja einen so wesentlichen Anteil am Phantasielebeu des Kindes
hat, nicht einen zufälligen und rein gefühlsmäßigen Teil des Erzie-
hungsprogramms bilden. Da die bisherige Einteilung der Erzählungen
zuweilen aus Mangel an Verständnis für den tiefer liegenden psychi-
schen Gehalt — sowohl der Erzählung selbst wie ihrer Bedeutung für
das Kind — keineswegs entsprechend ist, sollten sich fortschrittliche,
analytisch eingestellte Pädagogen der Arbeit unterziehen, eine der-
artige Möglichkeit zur Auswahl von Erzählungen zu studieren. Die
Schöpfungen von Kindern, welche niemals Märchen gehört haben,
wären zu diesem Zweck ein interessantes Studienobjekt. Gerade wie
die Kinderanalyse die seelischen Vorgänge während der Kindheit un-
mittelbar aufdeckt im Vergleich zur Erwachsenenanalyse, die die
Kindheit retrospektiv entschleiert, sind auch die Schöpfungen der
Kinder interessant, weil sie die wirkliche Not zum Unterschied von
der erinnerten und vielleicht entstellten Not des Erwachsenen bloß-
legen. Wo Märchen — also Erzeugnisse Erwachsener — vermuten, daß
das Kind eine Mahnung oder ein Beispiel braucht, weiß das Kind, daß
es in Wirklichkeit eine grundlegende Betätigung nötig hat. Ein Bei-
spiel dafür ist die Geschichte von den beiden Schwestern, deren eine
von der Fee die Gabe erhält, daß ihr beim Sprechen Perlen und Edel-
steine von den Lippen fallen, während der anderen, der bösen Schwe-
ster, nur häßliche und ekelerregende Schlangen und Würmer aus dem
Mund kommen. Wieviel orale Befriedigung in dieser Erzählung auch
enthalten sein mag, sie ist doch begleitet von Straf- und Schuldge-
fühlen des Erwachsenen.
Ich habe einige Geschichten gesammelt, die von einem Kind ohne
Beeinflussung selbst geschaffen wurden. Sie folgen einem Entwick-
lungsgang vom äußersten Vergnügen an den perversen und trieb-
haften Handlungen des phantasierten Helden zur Kritik an seinen
Die Rolle des Märchens in der Kleinkindercrziehuiig 17
bösen Taten und deren Unterscheidung von den guten, die man voll-
bringen könne, und enden — nach einer langen Periode, in der
die Taten des Helden immer mehr eingeschränkt werden — mit dessen
völligem Untergang. Am Anfang seiner Phantasieschöpfung, im Alter
von drei bis vier Jaliren, identifiziert sich das Kind gänzlich mit dem
Helden, dem es den alliterierenden Namen Kibikabiyuba gibt.
Nach und nach hört es auf, sich mit diesem Inbegriff der schlechten
Eigenschaften zu identifizieren. Später leugnet es, jemals irgendeine
Beziehung zu ihm gehabt zu Imben. Lange nach dem Untergang des
Helden leugnet dessen Scliopfer, daß jener je existiert habe, und sagt
schließlich, dies sei vor einer Million Jaliren gewesen. Die Taten und
der Tod seines Helden laufen parallel zur natürlichen psychischen
Entwicklung des Kindes: von der polymorph-perversen zur genitalen
Phase, die von dem Ödipuskonflikt, der Identifizierung mit dem Vater
begleitet ist, über die Lösung des Konfliktes zur schließlichen Unab-
hängigkeit und Kealitätseinsieht. Von großem Interesse ist die Tat-
sache, daß in dieser Geschichte — wenn man sie mit Märchen des
gleichen Typus vergleicht — die strenge strafenden Gestalten fehlen.
Eine andere Erzählung dieses Kindes Imndelt von einem herkules-
älmlichen Helden namens Mustakik, der so stark ist, daß er die
Welt aufheben kann. Es bandelt sich dabei um eine vom Kinde ge-
schaffene Vatergestall ohne die gewöhnlichen angstauslösenden
Kastrationsdrohungen, wie sie Märchen und Sagen enthalten. Beide
E]-zählungen waren phantasievoU, erzählerisch interessant und an-
regend.^)
Einige andere Gesichtspunkte zum Thema des Märcbenerzählena,
die nicht von mir stammen, sondern von anderen Analytikern hervor-
gehoben wurden, betreffen die Zeit, den Ort und die Umstände, unter
denen Geschichten erzählt werden, und den damit verbundenen Ein-
druck auf das zuhörende Kind. Die Dunkelheit, die Schlafenszeit, die
Gefühlsbeziehung zum Erzähler sind wichtige, einander ergänzende
Faktoren, die für den psychischen Eindruck im Kinde ausschlag-
gebend sind. Vor allem sind die Kindheilserlebnisse und die Familien-
verhältnisse bestimmend. Sie lassen sich zwar in der Scluile nicht be-
einflussen; man kann sie aber berücksichtigen, ihre Wirkungen be-
obachten und vernünftig zu beurteilen suchen, ob sie für das einzelne
Kind zuträglich oder abträglieh sind.
Das Problem der Gruppe, in der es ein oder mehrere neurotische
Kinder gibt, ist eine jener Fragen, die ich als wichtig und einer ge-
') Ich beabsichtige, in einer anderen Ai'licit die Einzelheiten dieser s^pon-
tan entstandenen Märclien mitzuteilen und dabei anf die Parallelen mit der
Entwicklung des Kindes, von dem sie ersonnen wurden, liinzuweisen.
Zeitschrift f. psa. Pfid., XI/1
18 Marie H. Briehl
sonderten Behandlung würdig betrachte. Bis zu welchem Ausmaß in
der Gruppe die Märchen- und Phantasieschöpfungen zur Klarstellung
der Schwierigkeiten eines Kindes herangezogen werden sollen, ist ein
ernsthaftes soziales Problem. Der Erzieher steht vor der äußerst
schwierigen Aufgabe, zwischen dem für das eine. Kind Nützlichen und
der möglichen Empfindlichkeit der anderen die Waage zu halten. Es
ist sicher richtig, daß die Schulklasse nicht der Ort ist, um mittels
irgendeiner Methode eine Neurose aufzudecken. Dies ist Sache der
individuellen Therapie, bei der keine Gefahr für die Entwicklung
anderer Kinder entstehen kann, anders als in der Schule, wo bei jedem
Kind in irgendwelchen infantilen Fixierungen eine Basis für ähnliches
Reagieren bestehen kann. Es handelt sich hier um etwas anderes als
um die gesunde Wechselwirkung zwischen Kindern von verschieden-
artigem und veränderlichem Charakter und Gebaren, die einander im
gegenseitigen sozialen Kontakt und Wettbewerb nur bereichern. Ich
habe vor allem einerseits den schreckauslösenden Charakter vieler
Märchen — das strenge Uber-lch — , andererseits ihre erlösende und
kathartische Wirkung hervorgehoben. Ich bin dafür, es auf eine un-
belastete (nämlich durch Erzählungen, Vorwürfe und Drohungen) und
natürliche Uber-Ich-Entwicklung und — Hand in Hand damit — auf
eine mehr realitätsgerechte Ich-Entwicklung ankommen zu lassen. Ich
bin dafür, dem Kind genügend Gelegenheit zu Trieberlebnissen zu
geben, was — wie ich annehme, auch nach der Theorie der Walden-
Sehool — besonders für die Grundschule wichtig ist. Äußerst bedeu-
tungsvoll für die Übergangszeit zwischen Grund- und Mittelschul& ist
die Überlegung, daß die Schule im wesentlichen die Ich-Anlagen ent-
wickelt und eine Gelegenheit zu richtiger Sublimierung an Stelle
neurotischer Kompensationen und Eeaktionsbildungen darstellt. Dies
ist auch der Grund, weshalb ich die psychische Entwicklungsstufe der
Fünf- bis Sechsjährigen als Beispiel gewählt habe.
Wenn ich Ihnen diese Betrachtungen vorlege, so gehe ich damit
über die bisherigen Formulierungen von Psychoanalytikern über die
Rolle der Märchen im Leben des Kindes hinaus. Ich habe versucht, für
die Beurteilung ihrer Verwendbarkeit, ausgehend von den psycho-
analytischen Befunden, einen spezifischen Maßstab zu bieten. Mein©
Ausführungen sollen einen Appell an die Erzieher darstellen, da es die
Analytiker mit ihrer Arbeit als Therapeuten nicht vereinen kön-
nen, ein spezifisches Erziehungsprogramm vorzulegen, oder wenig-
stens nicht in dem Maße wie die Pädagogen hiezu herufen sind.
Analytiker haben auf die Vor- und Nachteile der Märchen vom Ge-
sichtspunkt der Einzelanaiyee aus hingewiesen. Bisher wurde jedoch
dieses Material nicht als Grundlage für eine pädagogische Reform im
Die Rolle des Märchens in der Kleinkindei-erzichun"
19
Sinne des analytischen Wissensgutes benützt. Die Meinung der Ana-
lytiker, die sich Über die Verwendung der Märchen geäußert haben,
lautet dahin, daß eine Schädigung nicht zu erwarten ist, wenn nicht
die Grundlagen dafür bereits vorhanden sind. Dies ist richtig, da, wie
wir gesehen haben, der Keim des Neurosen- oder Verhaltensprobleras
in der infantilen Triebentwicklung und in der Beziehung des Kindes
zu seiner Familie liegt. Dennoch läßt sich nicht bestreiten, daß es in
der Umwelt und auf dem Lebensweg des Individuums unendlich viele
Einzelheiten gibt, welche die entstehenden Konflikte beeinflussen,
steigern oder abschwächen können. Mit diesen Umweltfaktoren hat sich
der Erzieher zu befassen. Den Analytiker mag die eigentliche Ursache
der Neurose beschäftigen; den Lehrer aber geht die Umgebung des
Kindes an, die er im Hinblick auf dessen seelisches Wohlergehen
ebenso kontrolliert, wie dies der Lehrer früher im Hinblick auf die
geistige Ertüchtigung und noch früher im Hinblick auf das körper-
liche Wohlbefinden getan hat.
Die Mitberücksichtigung der psychischen Stufen bei der Zuordnung
des pädagogischen Stoffes, etwa bei der Auswahl von Erzählungen, ist
keine Schutzmaßnahme, die die Lebenserfahrung des Kindes ein-
schränken soll. Sie ist ein Schritt zu einem konstruktiven Programm
im Gegensatz zu jener Haltung des Laissez-faire, die zwar immer vor-
gibt, einen „handfesten Individualismus" auszubilden, die aber, wie
wir wissen, oft Wertempfinden und Aufnahmebereitschaft abstumpft.
Die Beachtung des psychischen Wachstums bei den Erziehungsmaß-
nahmen ist ein wichtiger Schritt zur Verbesserung unserer heutigen
pädagogischen Technik,
2*
Kinderanalyse und Erziehung
im Rahmen der psydioanalylisdi orientierten Sdiuie ')
Von Martin Grotjalin
Wenn man den Einfluß der Erziehung auf die Kinder verstehen
■will, ist es wichtig zu versuchen, die Jugendlichkeit in der Sprache
der genetischen Psychologie zu erklären. Einige Hauptmerkmale der
Jugend sind sogleich erkennbar. Das Verhalten des Kindes hat keine
bestimmte Richtung, kein bestimmtes Ziel; seine Impulse, Gedanken,
Gefühle und Affekte, seine Aufmerksamkeit und deren Einstellung
sind raschem Wechsel unterworfen. Das Jungsein findet seinen besten
und bezeichnendsten Ausdruck im Spiel, das sämtliche Züge der typi-
schen jugendlichen Aktivität trägt. Spiel ist Betätigung ohne nütz-
liehen Zweck — und dies mag der Grund dafür sein, weshalb jeder
Beobachter des spielenden Kindes von dessen Harmlosigkeit übei-
zeugt ist, als ob jede Absicht notwendigerweise etwas Schlechtes
wäre. Jugendlich sein, heifit unfertig sein und doch schon die Anlage
zur Reife in sieh tragen. Mit anderen Worten: die Fähigkeit, sich
erziehen zu lassen und eine soziale Anpassung zu entwickeln, ist
ein charakteristisches Kennzeichen des jungen Menschen.
Die Definition der Jugendlichkeit ist in der Psychologie von
größerer Bedeutung, weil keine andere Wissenschaft so sehr auf die
Beachtung der Altersstufe angewiesen ist. In der Physiologie z. B.
spielt das Alter eine weit weniger wichtige EoUe. Blutkreislauf,
Atmung und Stoffwechsel sind vom Anfang bis zum Ende stets gleich-
artige Vorgänge. Hingegen hat jedes Alter seinen eigenen psychi-
schen Ausdruck und seine eigenen psyehopathologischen Probleme.
Wir wissen nicht, ob sieh das Es mit dem Alter und den kulturellen
Einflüssen ändert. Die Tatsache, daß das Es seinem Inhalt, seiner
Dynamik und seiner Struktur nach bei den primitiven australischen
Eingeborenen und bei ganz hoch zivilisierten Menschen durchaus ähn-
lich zu sein scheint, ließe sich durch die Hypothese erklären, das Es
bleibe möglicherweise auf allen Alters- und Kulturstufen dasselbe
und die Unterschiede, die sich in der Psychologie der verschiedenen
Altersstufen zeigen, seien nicht im Es, sondern in der Entwicklung
des Uber-Ichs und des Ichs begründet. Die biologische und soziale
Abhängigkeit des Kindes von seiner Umgebung, insbesondere von
seinen Eltern, findet ihren psychischen Niederschlag in der Unreife
und Schwäche des kindlichen Ichs und über-Iehs und in der Unbe-
ständigkeit seiner Identifizierungen und Objektbeziehungen.
*) Aus dem Englischen des „Bulletin of the Menninger Clinic", Bd. I, Nr. 5,
Mai 1937, übersetzt von August Beranek, Wien.
i
Kiiideranalyse und Erziehung
21
Die Psychoanalyse versucht, das unbewußte Material in das Lieht
des Bewußtseins zu rücken, die Verdrängung, welche die Symptom-
bildung verursacht halte aufzuheben, neue Möglichkeiten zur Be-
friedigung und Sublimierung der Triebe zu zeigen, zwischen Es, Ich
und Uber-Ieh ein harmonisches Verhältnis herzustellen und dabei die
Beziehungen zwischen der Person und der Objektwelt zu regeln. Die
Xinderanalyse verfolgt dasselbe Ziel wie die Erwachsenenanalyse,
nä.mlich einen „Neubeginn" einzuleiten. Da aber die Bedingungen bei
fehlangepaßlen Kindern andere sind als bei neurotischen Erwachsenen,
müssen auch die Methoden und Verhaltensweisen des Analytikers
andere sein.
Auf den ersten Blick mag die Erfolgsaussieht der Kinderanalyse
recht günstig erscheinen: der Rückweg zur Fixierung ist kürzer, die
Verdrängung ist nicht so tief, die Triebe sind leichter zu lenken, zu
befriedigen und zu sublimieren. Aufgewecktheit und Wißbegierde
des Kindes fördern eine erfolgreiche Analyse und verhüten etwaige
Schwierigkeiten, wie sie sich aus der „geistigen Trägheit des durch-
schnittlichen Erwachsenen" ergeben. Uber-lch und Ich des Kindes
sind oft so prägsam, daß es relativ leicht fällt, sie zu verändern.
Die Unfertigkeit der Ich- und Über-Ich-Bildung und die Abhängig-
keit des Kiudes von seiner sozialen Situation verursachen jedoch —
so vorteilhaft sie für die Erziehung sein mögen — , wenn die analyti-
sche Behandlung eines Kindes zu Hause vorgenommen wird, die
größte Schwierigkeit, weil der analytische Kampf gegen die Neurose
oft zu einem Kampf gegen ungünstige Einflüsse seitens der Eltern
des Kindes wird. Es gibt wirklieh nur selten eine Ausnahme von der
Regel, daß das neurotische Kind neurotische Eltern hat. Diese Eltern
sind es, die die übermäßige Triebverdränguag bei ihrem Kinde zuwege
bringen und so für die Fixierung und die Neurose verantwortlich
sind. Die Eltern müssen, wenn die Analyse an dem daheim lebenden
Kind durchgeführt wird, das schrittweise Einsetzen der analytischen
"Wirkungen mitansehen, die Befreiung der Triebe, die eintritt, ehe
Sublimierung und Reaktionsbildung beginnen können. Sie müssen
imstande sein, die Möglichkeit eines Zunehraens der Schwierigkeiten
bei ihrem Kind während einer gewissen Zeit ins Auge zu fassen, und
wenn sie nicht fähig sind, diese Probe zu bestehen, kann es sein, daß
sie der Analyse ein vorzeitiges Ende bereiten. Der plötzliche Abbruch
der Analyse ist aber für das Kind ein schweres Trauma mit dessen
Folgen man nicht leicht fertig werden kann. Die erste Hilfe, die die
Analyse leistet, wird von den Eltern unwirksam gemacht und die
eben gewonnene Freiheit des Kindes wieder vernichtet. Es wird in
neue und strenge Abwehrbildnngen gegen die auftauchenden Trieb-
22 Martin Grotjahn
gefahren hineingedrängt und antwortet mit gesteigerter Angst und
neuerlicher neurotischer Symptombildung. Ein solches Kind wird
daher kränker als vor der Analyse und kann nach einem derartigen
Erlebnis zum Analytiker nie wieder Vertrauen fassen. Dieses Ergeb-
nis ist so häufig und so bedauerlich, daU man es im vorhinein aus-
schließen sollte, indem man das Kind für eine gewisse Zeit von den
Eltern entfernt und in ein analytisches Milieu versetzt, wie es etwa
eine psychoanalytisch orientierte Schule bietet; nur in dieser Situation
kann es verhältnismäßig unabhängig von der elterlichen Neurose
bleiben. Von dieser Regel sind bloß wenige Ausnahmen gerechtfertigt;
wir befinden uns dabei in Übereinstimmung mit Anna Freud, die
in einem der besten Bücher über Kinderanalyse zu folgenden Schluß-
folgerungen gelangt: „Die Kinderanalyse gehört vor allem in das
analytische Milieu, sie wird sich vorläufig auf die Kinder von Analy-
tikern, von Analysierten oder von Eltern beschränken müssen, welche
der Analyse ein gewisses Zutrauen und einen gewissen Respekt ent-
gegenbringen."^) Unter analytischem Milieu verstehen wir ein Milieu,
das von der praktischen Anwendung der Psychoanalyse beherrscht
wird. So würden wir etwa eine Schule für Kinder mit Verhaltens-
schwierigkeiten als psychoanalytisches Milieu bezeichnen, wenn die
Erzieher Psychoanalytiker oder analytisch ausgebildete Personen
sind und wenn alle, die mit der Schule im Zusammenhang stehen,
analytisclies Wissen verwenden, um die Kinder zu analysieren und
zu erziehen.
Die Schwierigkeiten der Kinderanalyse sind nicht nur jene, die
uns bei den Eltern begegnen, sondern auch gewisse Merkmale der
kindlichen Persönlichkeit selbst, der die klassische Methode (für intelli-
gente Erwachsene) angepaßt werden muß. Eine solche Schwierigkeit —
sie tritt besonders zu Beginn einer Analyse auf — liegt in dem kind-
lichen Mangel an Einsicht in seine Krankheit. Gerade wenn sich das
Kind in einem Zustand der Depression befindet, weiß es nicht viel
davon und seine neurotischen Symptome und schweren Fehleinstel-
lungen werden von ihm oft nicht bewußt erfaßt. Das einzige, was:
das Kind weiß und erlebt und was ihm Angst verursacht, ist die Tat-
sache, daß die Eltern mit seinem Verhalten nicht zufrieden sind. Ein
starker Wunsch, das Symptom zu überwinden, ist bei Kindern selten;
er ist jedoch oft durch den Wunsch ersetzt, den Eltern Freude zu,
machen, Dies kann zum einleitenden Motiv für die analytische Zu-
sammenarbeit werden; es kann aber auch sein, daß ein solches Ver-
langen nur anfangs wirksam ist und bald abflaut, besonders dann,
=) Anna Freud: Einführung in die Technik der Kinderanalyse. 2. Aufl.,
Int. Psa. Verl., Wien, 1929, S. 83.
Kinderaiiulyse und Erziehung 23
wenn das Kind seine Eltern durch seine rasche Besserung erlreut.
Dann setzt der Widerstand gegen die weitere Analyse verstärkt ein,
wenn nicht das Verlangen, dem Analytiker Freude zu machen, einen
neuen Ansporn bildet.
Kinder sind auch nicht fähig, frei zu assoziieren, und selbst die
Spielmethode von Melanie Klein ist weit davon entfernt, einen
Ersatz für die freien Einfälle zu bieten. Es ist zwar richtig, daß die
Spielanalyse nicht im Widerspruch zur psychoanalytischen Theorie
steht. Spielen ist jedoch immer eine Beschäftigung m i t etwas. Das
Kind spielt mit einem Objekt, und wenn das Objekt nicht mit ihm
spielen will, wird es sein Spiel bald ermüdet und verstimmt abbrechen.
Wenn Melanie Klein das Spiel mit der freien Assoziation vergleicht,
dann müßte sie zwei verschiedene „freie Assoziationen" in Betracht
ziehen — die des Kindes und die des Objekts. Das spielende Kind
folgt nicht nur seinen freien Einfällen. Es ist nicht allein, wie es ein
psychoanalytischer Patient auf dem Sofa ist. Es ist in der Gesell-
schaft seines Spielobjekts. Das Verhalten des Kindes wird zum Teil
durch die Art und das Verhalten des Spielobjektes gelenkt und moti-
viert. Die Grundidee der Spielanalyse steht allerdings im Einklang
mit der psychoanalytischen Theorie, nach der das Spiel ein Ausdruck
des kindlichen Unbewußten ist, ganz ülmllch wie das Verhalten des
Kindes in jeder sonstigen Situation des kindlichen Daseins — z. B.
im Schulzimmer, während der Afalilzoilen oder bei irgendeiner der
Beschäftigungen in der Gemeinschaft, in der es lebt. Die Spielanalyee
ist daher nicht prinzipiell verschieden von den analytischen Fest-
stellungen, die von geübten Beobachtern während des Tages gemacht
werden. In diesem Sinne könnten wir von einer „Alllagsanalyse"
sprechen. All dies sollte jedoch nicht „Psychoanalyse" genannt wer-
den; der Ausdruck „Beobaelitmig im analytischen Milieu" ist vorzu-
ziehen. Solchen Beobachtungen beim Spiel und in der Schule sollte
bei jedem Versuch, das Unbewußte des Kindes zu erschließen, große
Bedeutung beigemessen werden, weil es das hervorstechendste Merk-
mal des Kindes ist, das Handeln dem Denken und Sprechen vorzu-
ziehen, und weil sein Benehmen seine freieste und natürlichste Aus-
drucksform ist.
Das letzte und wichtigste sind die Bedingungen der Übertragung.
Das Objekt der Übertragung, d. h. der Gegenstand der kindlichen
Liebe, sind die 1 e b e n d e n Eltern und nicht wie bei den Erwachsenen
die introjizierte Elternimago. Deshalb muß auch der Analytiker mit
dem Kinde mitleben und virtuell die Elternrolle übernehmen. Er
muß aktiv werden, wenn er die Übertragungssituation herzustellen
wünscht, und muß mehr sein als bloß ein Interpret des Unbewußten.
24 Martin Grotjalm
Der Kinderanalytiker muß den gleichen starken und klaren Einfluß
auf das Es, auf die Triebe und deren Sublimierung und Befriedigung
nehmen wie eine introjizierte Elternimago und kann auf diese Weise
die Erziehung und damit den wichtigen Kampf gegen die Vorbilder
der Eltern und Kameraden führen. Der Analytiker wird zum Objekt
der kindlichen Identifizierung und hier liegt einer der Gründe, wes-
halb nur der Psychoanalytiker die nötige Übung zur Bewältigung
der zahlreichen Aufgaben hat, die sich in dieser Situation ergeben;
nur die analytische Kenntnis der eigenen wie der kindliehen unbe-
wußten Bedürfnisse befähigt ihn dazu, auf die weitere Entwicklung
des Kindes Einfluß zu nehmen. Das Kind kann sich sozial anpassen,
wenn es seinen Analytiker liebt und wenn es lernt, keine Zweifel an
dessen Liebe zu hegen. Die charakteristische Neigung des Kindes,
mit Angst und Furcht zu reagieren, steigert sein Bedürfnis nach
Sicherheit. Es ist gefährlich, sich zu therapeutischen Zwecken die
Zweifel oder Ängste des Kindes, die es hinsichtlich der Liebe des
Analytikers hegt, zunutze machen zu wollen, denn neurotische Kinder
sind ambivalent und sehr leicht enttäuscht. Außerdem werden die
Kinder auf Grund ihrer Erfahrungen mit ihren neurotischen Eltern
allzuleicht in ihren masochislisehen Tendenzen bestärkt. Nur wenn
die Übertragung stark genug wird, darf der Analytiker den Entzug
seiner Liebe wie bei irgend einem anderen Erziehungsverfahren zur
Erleichterung der Realilälsanpassung benützen. Der Analytiker würde
einen Fehler begehen, wollte er die Tatsache übersehen, daß er auch
gewisse Triebbefriedigungen verbieten muß. Die Erziehung muß sieh
immer auch auf die Kontrolle der Triebe erstrecken, damit diese vom
Kind zur Anpassung an die Gesellschaft verwendet werden.
Es ist festzuhalten, daß die Hindernisse, die einer geregelten
psychoanalytischen Technik der Kinderanalyse im Wege stehen, in
einem analytischen Milieu bis zu einem gewissen Grad umgangen
werden können. Doch sind diese besonderen Schwierigkeiten nicht
die einzigen Gründe, die für eine Behandlung des neurotischen Kindes
in einer psychoanalytischen Schule sprechen. „Psychoanalytische
Einstellung" heißt, daß der Lehrer und der Arzt psychoanalytisches
Wissen anwenden, um einen Überblick über das unbewußte Material
zu erlangen und das analytische Ziel zu erreichen. Die Gefahr un-
günstiger Reaktion während des analytischen Vorganges ist in der
psychoanalytisch orientierten Schule stark verringert, weil es in ihr
keine neurotischen Eltern gibt, die auf neuerlichen Verdrängungen
bestehen. Günstige Ubertragungsbedingungen, Gelegenheiten zur
Triebbefriedigung und zu Identifizierungen mit unneurotischen Vor-
bildern, ungestörte Entwicklung in der Richtung zur Angepaßtheit.
Kindpranalyse und Erzieliuiig
25
die Möglichkeit zur freien Betätigung im Spiel und im Leben der
kindlichen Gemeinschaft lassen sich besser verwirklichen, wenn sich
das Kind im analytischen Milieu der Schule aufhält, als wenn es sieh
daheim oder in der etwas wirklichkeitsfremden Situation der analy-
tischen Befragimg, zu Hause oder in der Öprechstimde, befindet. Das
analytische Milieu bietet nicht nur die besten theoretischen Möglich-
keiten, sondern zeitigt auch die besten praktischen Ergebnisse.
Ich werde versuchen, an einem Beispiel einige der Möglichkeiten
zu zeigen, die das analytische Milieu bietet, wenn man Einblick in
das Unbewußte der Kinder erlangen will, — Möglichkeiten zur
Weckung des Ausdrucks ihrer unbewußten Nöte und Probleme und
zur Analyse und Erziehung durch Auswertung der Vorfälle, die sieh
in ihrer realen Umgebung ereignen. Die folgenden Beobachtungen
wurden in der mit der Menninger Clinic {Topeka, Kansas) verbun-
denen South ard Sehool angestellt.
Die Frau eines der Schulärzte war schwanger. Sie war beim Weih-
nachtsmahl anwesend, aber keines der Kinder schien etwas Unge-
wöhnliches an ihrer Erscheinung zu bemerken und niemand erwähnte
die Tatsache der Schwangerschaft. Einige Tage später fand außerhalb
der Schule eine Bescherung statt. Es schien klug, das Schweigen zu
brechen und den Kindern von der Bedeutung einer solchen Sache zu
erzählen. Die Kinder waren alle ganz erpicht darauf zuzuhören und
stellten unzählige Fragen. Sie kramten alle ihr bisheriges Wissen
aus, setzten ihre wohlbekannte „Ich bab's ja gesagf'-Miene auf und
gaben deutlich zu erkennen, daß sie beim WeihnachlsmabI ihre Beob-
achtungen angestellt hatten. Am nächsten Tag fragten sie weiter
über Geburt, Wehen, Schmerzen und das mutiuaßliche Geschlecht
des Babys.
Eine Woche später kam das Kind — ein Junge — zur Welt und
alle in der Gruppe waren froh, glücklich und aufgeregt. Sie nannten
das Kind „unser Baby" und spendeten jedes 5 Cents für ein Geschenk.
Ein kleiner Junge, der eben von daheim mit der Post die Nachricht
von der Geburt eines Schwesterchens erhalten hatte, gab 28 Cents.
Sie kauften eine Sparbüchse, taten das Geld hinein und gaben sie dem
Baby, damit es, wenn es einmal älter sei, ein großartiges Leben führen
und ins Kino gehen könne. Sie bestanden darauf, Mutter und Sohn
im Spital zu besuchen. Nur zwei Kinder weigerten sich: Delbert,
der zu ängstlich war hinzugehen, weil er sich vor Ärzten fürchtete,
besorgt, sie könnten ihn operieren und eine Frau aus ihm machen;
und A ra y, die älteste Schülerin der Southard Sehool, die auf Grund
einer Identifizierung mit der Frau des Arztes hysterische Symptome
produzierte. Sie klagte über Brechreiz, hatte Leibschmerzen und
26 Martin Grotjahn
wollte während der Nacht gepflegt werden. Sie wurde eifersüchtig
und niedergeschlagen.
Die anderen Kinder gingen ins Spital, wo ihr Verlangen, Kind und
Mutter zu sehen und alle Einzelheiten des Spitalbetriebes zu beob-
achten, erfüllt wurde. Sie waren ganz still und offensichtlich ergriffen.
Im Zimmer der Mutter schwiegen sie zunächst, ein wenig verlegen;
dann aber begannen sie ein kurzes und artiges Gespräch. Später
änderte sich das Bild vollständig und der Analytiker hatte reichlich
Gelegenheit, alle Arten von Reaktionen zu beobachten, die verständ-
lich und analysierbar waren und zum Vorteil der persönlichen Pro-
bleme jedes einzelnen Kindes verwertet werden konnten. Mark, ein
junger Bursche, der in einer idealistischen Liebesaffäre befangen
war, wollte keinerlei Konsequenzen der Sexualität wahrhaben und
verdrängte das ganze Ereignis. Sarah fragte, ob es für das Baby
nicht besser wäre, im Freien zu schlafen, die rauhe "Witterung würde
das Kind abhärten. Ein anderes Mädchen fragte; „Warum braucht
das Kind zwei verschiedene Dinge zum Urinieren?" (Sie meinte den
Penis und die Testes.) Ronald, ein durch einen Geburtsfehler ge-
hemmtes Kind, spielte mit Soldaten einer Armee, des Doktors Armee,
die er tötete. Während des Spielens auf dem Fußboden hob er eine
Figur auf und legte sie auf das Sofa neben eine Lehrerin; später
legte er sie der Lehrerin in den Schoß, sagte, das sei ihr Kind, und
nannte es mit dem Namen des Babys der Arztfamilie. Aus seiner Art,
wie er das Figürchen hielt und sorgsam behandelte, war ganz deutlich
zu ersehen, daß er gern selbst das Baby gewesen wäre.
Die heftigste Reaktion zeigte der neunjährige Charles. Er trat
mit dem Fuß gegen die Türen und erzählte dem Psychotherapeuten, er
glaube, daß seine Eltern sich mit sexuellem Spiel befaßten und sich
in versperrten Zimmern einander nackt zeigten — Handlungen, die
ihm verboten waren. Einen Monat früher hatte er erfahren, daß seine
Familie ein Schwesterchen als Zuwachs erhalten hatte. Er war sehr
böse darüber, daß sein Vater außer ihm noch ein anderes Kind haben
sollte. Er wollte seine Eltern mitsamt dem Kind umbringen. Nach dem
Spitalsbesuch stellte er zahlreiche Fragen, wie Kinder gezeugt und
geboren würden. Er hatte die gleiche Auskunft erhalten wie die
anderen Kinder. Nach einigen Tagen sagte er, er möchte am liebsten
alles zustopfen, besonders den „hagockno" (Anus) seiner Mutter,
sodaß kein Baby mehr auf die Welt kommen könne und er der einzige
Sohn wäre. Er schien sich dem Arzt gegenüber zu verschließen und
sagte schließlich, er möchte gerne etwas tun, damit der Doktor seine
Stelle verliere, sodaß er dem Baby nicht mehr helfen könne; das
würde dann sterben und er selbst könne seinen Platz einnehmen. Er
Kinderanalype und Erziehung
27
hatte allerlei Phantasien von Klistieren, die er erhielt, und daß er
den Ärzten dabei half, allen Mädchen und Lehrerinnen der Schule
Klistiere zu geben, was in seiner Vorstellung „ein Kind machen"
hieß. Eine andere dieser Phantasien war die, in ein Mädchen hinein-
zuschlüpfen, beim Anus hinein- und beim Mund herauszukommen.
Eines seiner Spiele war, in eine kleine dunkle Kammer zu kriechen,
die Tür zu schließen und dann zu bitten, daß man ihn herausnehme,
— nur um das Spiel von neuem zu beginnen. Zu jener Zeit geriet er
zufällig an einen Pelzmantel, der einem der Therapeuten gehörte.
Er streichelte und liebkoste ihn und nannte ihn „mummy". Er war
ganz glücklich und sagte: „Jetzt bin ich in ,mummy' drin! Jetzt werde
ich gleich auf die Welt kommen." Er wiederholte seine eigene Geburt
und machte später die Feststellung, er sei nun geboren und werde
sich in Hinkunft über den Besitz seiner Mutter freuen und überhaupt
so leben, daß er erwachsen werden und selbst Frau und Kinder haben
könne.
Alle diese Beobachtungen konnten vom Analytiker bei der Beschäf-
tigung mit den individuellen Problemen und Konflikten der einzelnen
Kinder nutzbringend verwertet werden. Viele solche Situationen, in
denen sich von geschulten Kinderpsychologen bezeichnende Fest-
stellungen machen lassen, ergeben sich ira Milieu einer psychoanaly-
tisch orientierten Schule. Die Psychoanalyse hat höchst wichtige Bei-
träge zur Erziehung beigesteuert und einer davon ist die analytische
Ausbildung der Pädagogen. Analyse eines Lehrers bedeutet Erziehung
des Erziehers, weil sie ihn von Tendenzen, seine eigenen unbewußten
Bedürfnisse im Verkehr mit den Kindern zu befriedigen, frei werden
hilft und damit einen unheilvollen Einfluß beseitigt, der oft so
schweren Schaden in der nichtanalylisclien Erziehung bewirkte.
Sowohl die inneren wie die äußeren Probleme der Kinder sind
gänzlich verschieden von denen der Erwachsenen; daher müssen auch
die analytischen Techniken jeweils andere sein. Ich habe zu zeigen
versucht, daß sieh diese notwendigen Änderungen auf unser psycho-
analytisches Wissen gründen und der psychoanalytischen Theorie
entsprechen müssen. Die Aufgabe des Kinderanalytikers besteht nicht
nur darin, das einzelne Kind zu analysieren, sondern erfordert die
Analyse und Regelung des gesamten Sehulmilieus und der Beziehung,
in der jedes einzelne Kind zu ihm steht.
28 Martin Grotjahn
LITERATUR:
Freud, Anna: Einführung in die Technik der Kinderanalyse. 2. verm. Aufl.,
Int. Psa. Verl., Wien, 1929.
Freud, Sigm.: Aus der Geschichte einer infantilen Neurose. Ges Sehr.,
Bd. VIII.
— Das Ich und das Es. Ges. Sehr., Bd. VI.
Klein, Melanie: Die Psychoanalyse des Kindes. Int. Psa. Verl., Wien, 1932.
B u y t e n d i i k, F. J. J. : Wesen und Sinn des Spiels. Kurt Wolff , Berlin, 1933.
Fenichel, Otto: Über Erziehungsmittel. Ztschr. i. psa. Päd., Bd. IX, 1935.
Bernfold, Siegfried: Die psychoanalytische Psychologie des Kleinkindes.
Ztschr. f. psa. Päd., Bd. VIII, 1934.
B u r li n g h a m, D. T.: Kinderanalyse und Mutter. Ztsclir. f, psa. Päd., Bd. VI,
1932.
Homburger, Erik: Die Zukunft der Aufklärung und die Psychoanalyse.
Ztschr. f. psa. Päd., Bd. IV., 1930.
Versudi der Behebung einer
Erziehungssdiwierigkeit
Von Th. Bergmann
Ich wurde von den Eltern der fast zehnjährigen Lisa gebeten, den
Nachhilfeunterricht zu übernehmen, um diesem überaus ängstlichen
Kind die Aufnahmsprüfling ins G-ymnasium zu ermöglichen. Schon bei
der ersten Zusammenkunft zeigte es sieh, daß die von der Mutter er-
wähnte Ängstlichkeit in der Schule real begründet war, denn dieses
Kind besaß nur sehr mangelhafte Kenntnisse. Ich beschloß, dieser Zu-
sammenarbeit eine Probezeit voranzuschieken, da ich nicht sicher war,
das Kind in dem zur Verfügung stehenden Zeitraum von dreieinhalb
Monaten zur Prüfung vorbereiten zu können. Dieses Ziel zn erreichen,
schien mir vor allem durch die ungewöhnlich schwere Schreibstörung
fast unmöglich, Als Grund dieser Störung wurde mir angegeben, daß
das kleine Mädchen Linkshänderin war und im Alter von ungefähr
sieben Jahren, anläßlich eines Schulwechsels, von der Lehrerin ge-
zwungen wurde, mit der rechten Hand zu schreiben. Die Eltern schil-
dern das Kind als unerhört ehrgeizig und ebenso faul, Lisa möchte,
ohne sich anstrengen zu müssen, immer die Erfolgreiche, Bewunderte
sein. Die Mutter bezeichnet das Kind in mancher Hinsicht als unintel-
ligent und bittet mich im Lauf der Besprechungen immer wieder, acht-
zugeben, ob an diesem Kind nicht etwas pathologisch Auffälliges
wäre. Als ganz kleines Kind soll Lisa von ungewöhnlicher Intelligenz
gewesen sein, so daß sie jedem dadurch auffiel und größte Bewunde-
rung erregte. Sie zeigte eine ausgesprochen logische Denkweise, in-
dem sie als Vierjährige fragt: „Warum sagt man eigentlich das blaue
Meer?" Auf die Antwort, daß sich der Himmel im Wasser spiegle
und so diese Bezeichnung bedinge, sagt die Kleine: „Komisch, wenn
ich ein rotes Kleid anhab' und in den Spiegel schau*, sagt man nicht
der rote Spiegel."
Aus diesem denklustigen und lebendigen Kind wurde plötzlich ein
scheues und zurückhaltendes und die Eltern bringen den Zeitpunkt
für die plötzliche Umwandlung mit der Erkrankung der um zwei
Jahre jüngeren Schwester, G r e t e r 1, in Zusammenhang, die ge-
zwungen war, während zwei Jahren in einem Gipsverband unbeweg-
lich zu liegen. Die damals fünfjährige Lisa war von besonderer Hilfs-
bereitschaft und Zärtlichkeit für die kleine, kranke Schwester erfüllt,
sie war unausgesetzt um diese bemüht und fast nicht zu bewegen»
auch nur für kurze Zeit einem eigenen Vergnügen nachzugehen. Auch
jetzt noch hängt sie mit der gleichen, innigen Liebe an der kleinen
Schwester, die dies als eine selbstverständliche, ihr zukommende Hui-
30 Th. Bergmann
digung hinnimmt und dafür die große Schwester gängelt und erzieht,
was diese sich, nach Angabe der Eltern, gern gefallen läßt. Die Mutter
erklärt, daß Greterl das unauffälligste Kind wäre, das man sich
vorstellen kann, daß es mit diesem überhaupt keine Schwierigkeiten
gäbe und daß die Kleine eben durch ihre reizende und selbstverständ-
liche Art immer eine bevorzugte Stellung einnähme; nicht nur bei
den nächsten Angehörigen wäre dies der Fall, sondern bei allen
Leuten stelle sie Lisa vollkommen in den Schatten. Ich höre, daß Lisa,
nicht genug damit, wie es scheint, bemüht ist, sich durch unkindliche,
kritische Art Zuneigungen zu verscherzen. Besonders die Mutter
sucht sie durch Kritik und Widerspruch zu treffen. Ich höre vom
Vater, daß die Mutter auch durch diese häufig provozierten Zwischen-
fälle nicht aus ihrer gleichmäßigen Ruhe zu bringen ist und daß Lisa
mit großer Verzweiflung auf dieses Verhalten reagiert, während er
selbst, wie er sagt, „gelegentlich unpädagogisch vorgeht und seinen
Arger deutlich zeigt", was Lisa nicht so tief trifft und die große
Liebe, mit der sie am Vater hängt, keineswegs trübt.
Erst nach dieser Vorstellung durch die Eltern, lerne ich die Kinder
persönlich kennen. Lisa ist ein ungewöhnlich zartes, blondes, schüch-
ternes, kleines Ding, die dunkelhaarige, dickliche Greterl macht nicht
nur einen in jeder Hinsicht auffallend gesunden Eindruck, sondern
es scheint auch, daß sie mit ebenso gesundem und ruhigem Ernst fest
und sicher im Leben steht und die an sie gestellten Anforderungen
mit Leichtigkeit und großer Anmut bewältigt.
Auf meine Frage, ob Lisa weiß, warum ich zu ihr gekommen bin,
antwortet sie mit Tränen in den Augen: „Ja, ich möcht' wirklich
lernen!" Und auf meine Frage, was sie am liebsten mit mir lernen
möchte, sagt sie nach langem Nachdenken: „Schreiben tu' ich am
schlechtesten". Sie zeigt mir dann ihre Hefte und macht mich auf die
Stellen aufmerksam, „die bißl schöner sind". Nachdem die Kinder wie-
der in ihr Zimmer geschickt worden waren, fragt die Mutter sofort:
„Nun, ist die Greterl nicht viel schöner?" Diese Äußerung ruft den
heftigsten Protest des Vaters hervor, dem ich mich anschließe, indem
ich sage, daß ich gerade Lisa besonders hübsch finde, da mir ihre Art
besondere gut gefällt, vielleicht auch darum, weil sie jetzt ein meiner
Fürsorge übergebenes Kind vorstellt.
Mir scheint, als ob wir drei Erwachsenen somit unsere Einstellung
Lisa gegenüber deutlich dokumentiert hätten. Die Mutter bevorzugt
das in ihren Augen schönere, also liebenswerte, jüngere Kind. Der
Vater versucht einen guten Kontakt auf freundschaftlicher Basis her-
zustellen, er ist aber Lisas Fehlern gegenüber nicht blind. Und ich
habe mich zum Anwalt Lisas bestellt.
Versuch der Behebung einer ErziohungsscJiwierigkeit 31
Lisa zeigt in den Stunden einen großen Fleiß, auch sie erzählt,
wieder mit Tränen in den Augen, daß sie so schlecht schreibt, weil sie
umlernen mußte, „was allen anderen Kindern erspart bleibt". Es zeigt
sich aber, daß sie nicht nur ihre Hefte verschmieren und verkritzeln
muß in einer Art, die in ihrem Alter bedenklich erscheint, sondern
daß sie auch noch technische Schwierigkeiten hat und einzelne Buch-
staben Überhaupt nicht kennt und sie dann entweder einfach ausläßt
oder in einer anderen Schreibart schreibt. Lisa aber ist bemüht, mit
sehr viel gutem Willen das Versäumte nachzuholen. Am auffallend-
sten ist die zitterige Schrift. „Ich muß immer so zittern, genau so wie
die Mutti, wenn sie schreibt", erklärt sie.
So sehr bemüht sieh Lisa, schön zu schreiben, daß die Mutter be-
hauptet, man könne glauben, ein anderes Kind habe dies geschrieben.
Dieses Lob der Mutter macht auf sie sichtlich einen großen Eindruck,
.sie ist stolz und glücklich, steht aber selbst ihren Leistungen sehr
kritisch gegenüber und lobt und tadelt jedes Wort, das sie schreibt.
Ich kann an die plötzliche Wandlung, besser zu schreiben, nicht recht
glauben, vor allem glaube ich, daß Lisa eine so große Energie auf-
wendet, um sauber zu achreiben, daß diese Besserung nicht von Dauer
sein kann. Um mit der von mir geforderten Arbeitsleistung nicht einen
zu großen Druck auf sie auszuüben, schlage ich ihr vor, ein Heft an-
zulegen, in das sie, was sie will und wie sie will, schreiben kann. Aber
mit Tränen in Augen und Stimme weist sie dies Anerbieten zurück und
sagt: „Aber ich will ja nur nett und sauber schreiben, wie kann ich
mir denn das andre abgewöhnen, wenn ich's doch tu!"
Ich erkläre ihr, daß wir doch alle, wenn wir auch überall schönste
Ordnung hielten, irgendwo gerne eine Lade oder einen Kasten hätten,
in die wir in Eile alles mögliche hineinwerfen. Lisa zeigt mir voll
Vergnügen ihre Kramlade und sagt: „Ich mach' so immer Ordnung,
aber die Resi macht die Wirtschaft, immer schmeißt sie alles hinein,
was sie findet; ich brauch' sie gar nicht!" Und so bleibt sie auch dabei,
ebenso unnötig ist ein Schmierheft.
Es fällt mir auf, daß Lisa auch während der kürzesten Unterbre-
chung des Schreibens, z. B. beim Umblättern, die Füllfeder zuschraubt,
hinlegt, ablöscht, umblättert, die Feder wieder aufschraubt und dann
weiterschreibt. Auf meine diesbezügliche Frage sagt sie: „Die Mutti
macht das auch so und hat gesagt, die Feder wird sonst kaputt." Ich
meine, es ist nicht gut, wenn Tinte eintrocknet, aber daß es bestimmt
nicht schadet, wenn sie für so kurze Zeit offen liegen bleibt. Dies
hätte wohl auch ihre Mutti gemeint, denn es müßte sie ja stören,
immer an die Feder zu denken. Trotzdem bleibt Lisa dabei, das Gebot
o^ Th. Bergroann
nach ihrer Auffassung strikte zu befolgen. Ich muß denken, welche
Mühe das Kind aufwenden muß, um den Anforderungen der Mutter
genügen zu können, und daß es sich dabei zwanghafter Angewohn-
heiten bedient; wie enttäuschend muß es aber auch empfunden wer-
den, daß trotz der aufgewendeten Mühe die Anerkennung der Mutter
ausbleibt; diese versteht das Bemühen Lisas noch nicht, sieht z. B. in
der Behandlimg der Füllfeder nur einen Zug von kleinlichem Geiz,
der mit der sonst gezeigten Freigebigkeit des Kindes in Widerspruch
steht.
Für die ungewöhnliche Art, schiecht zu schreiben, bekomme ich bald
von der Mutter eine neue Erklärung. Lisa ekelt sich vor allen Men-
sehen und macht nur mit der kleinen Schwester eine Ausnahme. Es ist
ihr nicht möglich, etwas aufzuessen, das bereits auf dem Teller von
Vater oder Mutter lag, oder aus einem Glas zu trinken, das vor ihr
sclion benützt worden war. Auch Gerüchen gegenüber verhält sie sich
ähnlich. So ist es ihr nicht möglich, mit einem anderen als silbernen
Besteck zu essen, und die Mutter ist immer gezwungen, darauf Rück-
sicht zu nehmen, da das Kind einen solchen Abscheu vor Metallgeruch
hat, daß es nicht imstande ist zu essen. Die Mutter erzählt auch, daß
Lisa einen so stark ausgeprägten Gernchsinn zeigt, daß sie ihr offen-
sichtlich während der Menstruation ausweicht.
Auf meine Frage nach der Reinlichkeitserziehung der kleinen Lisa
höre ich, daß diese ohne jede Schwierigkeit und vollkommen leicht
vonstatten gegangen sein soll. Doch zeigt Lisa eine sehr merkwürdige
Gewohnheit, die die Mutter bis jetzt an ihr noch nicht unterdrücken
konnte. Lisa muß, aus Ekel vor der Berührung mit jemand anderem,
den Deckel im Klosett dick mit Papier belegen. Kommt es einmal vor,,
daß nicht genügend Papier vorhanden ist, so zieht sie es vor, den
Stuhl auf den Boden abzusetzen. Auf den Verweis der Mutter reagiert
sie gar nicht und auf die Erklärung, Lisa könne doch niemanden zu-
muten, diese Schweinerei wieder in Ordnung zu bringen, geht sie
willig und wie die Mutter sagt, fast mit Vergnügen an die Arbeit alles
wieder sauber zu machen.
So höre ich auch, daß Lisa mit Vorliebe schmutzige Wäsche trägt,
daß es einen Kampf gibt, bevor sie frische Strümpfe anzieht, und daß
sie, obwohl die frische Wäsche vorbereitet wird, diese doch nicht
benützt. Lisa sieht in ihren hübschen Kleidern immer unordentlich
aus und ich muß ein wenig zweifeln daran, daß in dieser Hinsicht im
richtigen Maß für dieses Kind gesorgt würde. So schlage ich vor, Lisa
ein wenig mehr behilflich zu sein und in allen Dingen Sauberkeit und
Ordnung zu verlangen und genauest zu kontrollieren, aber ihr in
irgend einer Form Gelegenheit zu geben, eine schmutzige Arbeit zu
Vei-fiUph {]er Behebung einer Erzielmngsscliwieriskoit
33
verrichten, oder zu erlauben, in einer Art, aber nur in einer einzigen,
schmutzig sein zu dürfen. Die Mutter sagt: „Ach, ich verstehe, Sie
möchten irgendein Ventil schaffen, aber das wäre mir sehr unange-
nehm, wirklich das kann ich nicht." Und sie erzählt mir von ihren
Schwierigkeiten, von ihrer Vergeßlichkeit in Dingen, die ihre Person
und den Haushalt betreffen, daß sie gerade bei I^isa so viel Ähnlich-
keit bemerkt ^lnd daß sie alles tun will, um ihr Kind vor den Fehlern
zu bewahren, die sie an sich auch sieht und die sie so sehr stören. So
erzählt sie, daß sie als Kind eine Weidengerte fest in der Hand halten
mußte und tagträumend durch die Straßen und den Park ging. Immer
mußte solch eine Weidengerte in ihrem Besitze sein, und obzwar dies
merkwürdige Verhalten anderen bereits zur Belustigung diente,
konnte sie nichts daran ändern. Auch jetzt noch bemerkt sie Eigen-
heiten an sich, die sie an ilire Gewohnheit aus der Kinderzeit erin-
nern. Dies alles empfindet sie so arg, daß sie eben mit aller Macht
dagegen bei Lisa ankämpft.
Wir sehen, daß dieses Kind Symptome zeigt, wie sie nur in einer
analytischen Behandlung zur Auflösung gebracht werden können. Ich
bin vor die Aufgabe gestellt worden, das kleine Mädchen in drei
Mouaten zu einer Arbeitsleistung zu bringen, die ein durchschnittlich
begabtes Kind zu leisten imstande sein müßte. Mir seheint es ratsam,
es einer Behandlung zuzuführen und lieber ein Schuljahr zu opfern,
falls die Behandlung die intensive Prüfungsarbeit stören würde. Aber
die Mutter erklärte mir auf eine vorsichtige Anfrage, daß das „ins
Gymnasium-gehen und Prüfung-machen" für Lisa so viel bedeutet,
daß dieses empfindsame und vor allem unsichere Kind bei einem
Zurückstellen oder Versagen schwer geschädigt würde.
Es sind deutlich verschiedene Parallelen von Plus und Minus in
Lisas Verhalten zu beachten: Sie verfügt, wie sie selbst sagt, nur
über eine Schmierschrift und ist im Gegensatz dazu so sehr bemüht,
schön zu schreiben, daß sie meinen Vorschlag doch manchmal der
Schmierlust nachgeben zu wollen, mit Entrüstung zurückweist. Das
Schmutzigmaehen im Klosett wie ein kleines Kind und das Vergnügen
am Putzen und Saubermachen, zeigt dieselben zwei Tendenzen. Und
Echließlieh zeigt sie einerseits ein fast zwanghaft anmutendes Ver-
halten die Gebote der Mutter zu erfüllen und ebenso das Nachahmen
verschiedener Gewohnheiten, was einer liebevollen Anpassung ähn-
lich sieht, während sie andererseits den Geboten und Gewohnheiten
der Mutter mit einer kühlen und kritischen Beobachtung gegenüber-
steht.
Greterl, die kleine Schwester, bemüht sich sehr, während der Slun-
ZeitecLrift t. pea. Ffid., XI/1 3
34 Th. Bergmann
den zuhören zu dürfen. Obzwar es mit Lisas ausdrücklicher Erlaubnis
geschieht, bin ich nicht sicher, ob sie auch innerlich einverstanden
ist. Ich lasse mich nach der Stunde von Lisa begleiten und erkläre
ihr, daß ich nur zu ihr allein käme und frage sie, ob es ihr wirklich
angenehm ist, wenn die kleine Schwester all ihr Können und Nicht-
können so genau beobachtete. Nun bricht Lisa in Tränen aus und sagt
dann: „Natürlich will ich sie nicht da haben, aber was soll ich machen,
ich hab's ihr doch versprechen müssen!" Ich schlage vor, ich möchte
Greterl sagen, w^ir holen sie nach der Arbeit, um die letzte Viertel-
stunde etwas zu drilt zu spielen. Lisa ist mit dieser Lösung einver-
standen, die auch durchgeführt wird. Sie scheint durch dieses Ver-
sprechen Mut bekommen zu haben und sagt bald darauf der Mutter,
dio manchmal sehr interessiert während der Stunden zuhört: „Bitte,
Mutti, geh hinaus!" Die Mutter fügt sich diesem AVunsch wider-
spruchslos und als ich dann Gelegenheit hatte, der Mutter zu sagen,
wie lieb und richtig sie sich verhalten hatte, meinte sie lachend, daß
es 80 üblich wäre in diesem Haus, daß jeder so viel Rücksicht auf die
Seele des anderen nähme. In dieser Beleuchtung lassen sich nun auch
wieder Lisas Konflikte ein wenig erhellen. Das Rücksiehtnehmen geht
fast über ihre Kraft.
Ich will mir nun auch Lisas Zustimmung zu den häufigen Bespre-
chungen mit der Mutter holen und sage ihr, daß ich es nur mit ihrem
ausdrücklichen Einverständnis tun will. Sie sagt sofort: „Oh, das ist
mir sehr recht, denn Sie können ja der Mutti so raten!" Sie hat damit
gezeigt, daß sie verstanden hat, daß ich ihr helfen will und daß ich ihr
in ihren Schwierigkeiten, nur in einer einzigen Hinsicht helfen kann
und das ist, eine normalere Beziehung zwischen ihr und ihrer Mutter
herzustellen.
In diesen Besprechungen höre ich immer wieder von der Mutter,
daß Lisa sie nicht mag. In unzähligen kleinen Be%veisen versucht^die
Mutter mir dies zu illustrieren und ich erkläre ihr immer wieder dezi-
diert, daß gei-ade das Gegenteil der Fall zu sein scheint, daß Lisa
neben der reizenden kleinen Schwester einen sehr schweren Stand
hätte und daß jene Handlungen, die die Mutter als Beweis für die
geringe Zuneigung des Kindes zu ihr selbst auffaßt, nichts anderes
als ein ungeschicktes Werben um die Mutter und deren Liebe vor-
ßtellen. Es ist anzunehmen, daß eine Störung in der Beziehung zur
Mutter vorliegt, erstens durch Lisas frühkindliche Erlebnisse und
zweitens durch das Verhalten der Mutter verursacht; klar ersichtlich
sind jedenfalls die Bemühungen des Kindes, das mit allen ihm zu
Gebot stehenden Mitteln trachtet, seine ambivalente Beziehung zu
3corrigieren. Ich kann also der Mutter nur raten, gelegentlieh genau
Versuch der Behebung einer Erziehungsschwierigkeit 35
SO unpädagogisch wie der Vater vorzugehen und ihrem Ärger Luft
zu machen, statt durch kühles, gleichmäßiges Verhalten diesen Ärger
in kleiner Dosierung das Kind fühlen zu lassen. Und ich kann ihr auch
nur raten, die Werbungen Lisas zu beachten und anzunehmen.
Aber die Mutter bleibt vorläufig noch dabei, daß Lisa nur einen
Menschen wirklich zu lieben imstande sei und das wäre die kleine
Schwester. Bald aber kann ich der Mutter erklären, daß ich von dieser
so eindeutig scheinenden Liebe nicht so überzeugt bin und daß sich
Lisa in diesem Fall genau so wie jedes Kind normalerweise Geschwi-
stern gegenüber verhält, nämlich manchmal mit Zuneigung und
manchmal mit Abneigung.
Lisa besitzt bereits eine Nachtkastellampe, auf die sie sehr stolz
ist. Sie schenkt nun zu irgend einer Gelegenheit der Schwester die
gleiche Lampe, die aber im Vergleich mit ihrer eigenen, die eben
nicht mehr neu und unverbraucht ist, ihr mit Kecht viel schöner er-
scheint. Sie fragt die Mutter, ob sie die neue Lampe behalten und die
alte verschenken könnte. Die Mutter erklärt ihr, daß das unmöglich
wäre, findet aber nach einigen Tagen die verschenkte neue Lampe von
Lisa verkritzelt und beschädigt, ein Vorgang, der die Mutter empört.
Wenn es zu so einem Durchbruch von Aggression und Eifersucht
gegen die kleine Schwester kommen kann, müssen wir annehmen, daß
die sonst gezeigte Freundlichkeit und Geduld nur mit größtem Kraft-
aufwand möglich ist.
Ich mache Lisa während der Stunden aufmerksam, daß es mir so
scheint, daß das viele Verschreiben, das Vergessen der Buchstaben
usw. damit zu tun habe, daß Lisa Sorgen habe, mit denen sie sich sehr
beschäftige. Sie sagt: „Aber Kinder haben doch keine Sorgen!" „Ich
denke, Kinder haben auch Sorgen, andre als Erwachsene, aber sie
empfinden sie ebenso schwer." „Das ist eigentlich wahr", sagt sie.
„Vielleicht willst du einmal mit mir über deine Sorgen sprechen,
dann sag' es mir!"
„Ich weiß nicht", ist die Antwort. Ich versuche ihr noch zu er-
klären, daß sie immer gestört würde durch eine zweite Lisa, die lieber
schmieren möchte, aber sie ist so besonders lieb und brav, daß sie sieh
dies nicht erlaubt, und daß es uns allen so geht, daß wir in uns streiten
müssen. Darauf reagiert sie aber scheinbar nicht und im Verlaufe des
Gesprächs lade ich sie ein, mich einmal zu besuchen, vielleicht wäre
es ihr angenehmer, so über ihre Sorgen zu sprechen. Aber sie erklärt
mir, daß ihr dies ganz egal wäre. Bei meinem Weggehen sagt sie
schnell: „Kann ich also nächstesmal zu Ihnen kommen?"
Wir treffen uns zur vereinbarten Zeit und Lisa fährt mit mir. Sie-
8*
36 Versuch der Behebung einer Erziehungsschwierigkeit
ist wieder sehr still und gedrückt; das einzige, das sie mir mitteilt, ist,
■wie traurig es ist, daß sie nicht Ausflüge machen kann, aber das geht
nicht, da Greterl ja nicht viel gehen darf. Sie macht einen müden,
resignierten Eindruck, öie hilft unaufgefordert die Jause richten und
ich weiß, daß sie eine derartige Arbeit nur gezwungen und äußerst
ungern verrichtet. Als ich sie nachher aufforderte, sich bei mir umzu-
sehen und eventuell etwas von den Spielsachen zu holen, sagt sie:
„Darum bin ich Ja eigentlich nicht hergekommen!'' Und auf meine
Frage sagt sie: „Ja, wegen der Sorgen. Aber ich will doch schön
schreiben, wie kann ich es denn, wenn ich mich nicht bemüh\ nur
schön zu schreiben?" — „Ich glaube, deine Sorgen verhindern es, daß
du nur schön schreiben kannst", sage ich. „Oh nein, das ist gar nicht
so, wenn ich mich bemühe, schön zu schreiben . . . ich hab' keine Sor-
gen." — „Wolltest du nicht von den Sorgen sprechen?" frage ich.
„Oh, nein . . . das ist gar nicht so, wie Sie sagen — ich hab' keine Sor-
gen." Und plötzlich sagt sie mit großem Affekt: „Schaun Sie, so ist f
es, warum muß ich jetzt mit diesen Quastein spielen... immer stört
mich etwas, ich ärgere mich so, aber ich muß es tun . . . auf der Straße
muß ich aufpassen, daß ich nur auf die Steine tret' . . . Auto muß ich J
zählen, ob es sich ausgeht, dann bin ich so aufgeregt, dann tu ich so '
zittern."
Ich erinnere sie an ihre zitterige Schrift. „Das ist auch so", sagt
sie nur. Auch hier zeigt sich wieder, wie sehr gestört dieses Kind ist,. i
da es einem Zwang gehorchen muß, um die Angst zu bewältigen. Ich
kann vielleicht ihre Stellung in der Familie ein wenig erklären und
verbessern, ich kann ihre Schreibstörung und Intel ligenzhemraung ver-
stehen und mit methodischen Mitteln ein wenig verbessern, ohne die
eigentliche Störung, da ich ihre Ursache kennen gelernt habe, irgend-
wie beeinflussen zu können.
Lisa verlangt in der nächsten Stunde die Anwesenheit der kleinen
Schwester. Ich stelle mich verwundert über die neue Anordnung und
höre: „Warum soll sie nicht da sein?" — „Du sagtest doch, du woll-
fest mit mir allein sein?" — „Oh, nein, das hab' ich nie gesagt!"
Wir können Lisas veränderte Haltung gut verstehen: Sie fürchtet
das Alleinsein mit mir und braucht die kleine Schwester als Schutz,
um nicht noch mehr von sich preiszugeben. Xiciit verständlieh scheint
uns zunächst, warum Lisa angeblich vergessen hat, daß sie vor kur-
zem noch über die Anwesenheit der kleineu Schwester klagte und
diese als aufgezwungen empfand. Im Anschluß daran erfahre ich von
der Mutter, daß Lisa immer schon Dinge, die sie sich wünschte oder
die nur in ihrer Phantasie vorhanden waren, als Realität darstellte
und erlebte. Nun aber wäre eine Veränderung eingetreten, die die
Versuch der Behebung eine r Erziehungsscliwierigkeit :^-
Mutter sehr beunruhigte, Lisa lüge so offensichtlich und, wie die Mut-
ter sagt, vor allem so dumm und ungeschickt, daß sie immer sofort
entlarvt würde. Das Kind bleibt aber hartnäckig bei seiner Unwahr-
heit und es scheint, als ob wieder das bereits etwas gebesserte Ver-
hältnis zwischen Mutter und Kind empfindlieh gestört würde.
So höre ich, daß Lisa eine von ihrer Schnlfreundin gemachte Zeich-
nung als ihr eigenes Werk der Mutter zeigt und sich bewundern läßt.
Die Mutter, die aber sofort Argwohn schöpft, fragt Greterl aus und
erfährt die Wahrheit. Sie erklärt Lisa, mit einer Lügnerin könne sie
nicht sprechen, da dies wohl das Abscheulichste wäre, wenn man nicht
Vertrauen zueinander haben könne. Nach Tagen bittet Lisa die Mutter
um Verzeihung, sie setzt aber sogleich ihr Verhalten fort. Die Mutter
erzählt: Der Bub einer Freundin, um zwei Jahre älter als Lisa, wird
von dieser sehr bewundert; er aber zieht ihr die viel leichter zugäng-
liche Greterl vor. Lisa zeigt diesem Spielkameraden Greterls Stamm-
buch, in das sie ein Herz gezeichnet hat. Es ist sehr gut gelungen und
sie betont einigemale, daß sie es mit freier Hand gezeichnet hatte.
Trotzdem sich der Bub skeptisch verhält und ihr das nicht glaubt, be-
teuert sie ihre Leistung immer wieder. Als der Bub weiter im Stamm-
buch blättert, fällt eine Schablone heraus die haargenau auf das an-
geblich mit freier Hand gezeichnete Herz paßt. „Schau, Lisa", sagt er
ihr, „warum lügst du so, ich hab dich doch gar nicht gefragt, du
hättest mir das gar nicht sagen müssen!" Lisa weint vor Wut und
Verzweiflung und bleibt bei ihrer Behauptung.
Ich frage die Mutter, ob die Kinder autgeklärt wären und ob sie
den Geschleohtsunterschied kennen. „Ja, sehen Sie", sagt sofort die
Mutter, „das ist dieselbe Verlogenheit bei Lisa. Die Kinder haben
einen Exhibitionisten gesehen, ja das haben wir alle genau so erlebt,
nicht darum handelt es sieh, sondern Greterl erzählt sofort davon,
Lisa sagt mir überhaupt nichts, sie schweigt auch weiter."
Über all diese Dinge spreche ich mit Lisa niemals, sie ließe sich
ihre Bedeutung auch nicht klar machen. Ich versuche nur, der Mutter,
die jede Gelegenheit wahrnimmt, mit mir über ihre Kinder zu
sprechen, an diesen Dingen zu zeigen, daß sie nichts anderes als eine
selbstverständliche Folge von Lisas innerer Situation darstellen.
Ich kann der Mutter nicht erklären, daß Lisa sich mit einer von ihr
phantasierten Leistung vor dem Jungen zeigen wollte, um ihm gleich-
zustehen; aber ich sage, sicher wollte Lisa diesem Jungen gefallen,
so wie sie es immer wieder der Mutter gegenüber versucht und zu
immer stärkeren Mitteln greifen muß, weil ihr das nicht gelingt, was
der Greterl so leicht fällt.
1
38 Th. Bergmann
Ich habe mich während der folgenden Zeit nur auf den Unterricht
beschränkt und über die Konflikte des Kindes nicht melir mit diesem
direkt, sondern nur mit der Mutter gesprochen. Ich tat dies, weil ich
den Eindruck gewann, daß die Symptome des kleinen Mädchens, ihre
gestörte Bezieilung zu Mensehen und Interessen in einer analytischen
Behandlung beiioben werden müßten.
Anna Freud beschreibt in ihrem Buch „Einführung in die
Technik der Kinderanalyse" die Behandlung einer kleinen Zwangs-
neurotikerin, die sich mit Hilfe ihrer Neurose gegen eine intensive
Feindseligkeit gegen die Mutter auflehnte. Das kleine Mädchen mußte
seine ganze Intelligenz und Energie dazu verwenden, um diese Regun-
gen zu unterdrücken, und machte gewaltige Anstrengungen brav zu
werden, um sich die Liebe der Mutter zu retten. Dieses Kind zeigt
schließlich als Resultat seiner krankhaften Bemühungen das Bild
einer eingeschränkten, kleinen Person, die über ihre Gefühle nicht
mehr voll verfügen konnte. In der Analyse zeigte sie nach und nach ihr
Bösesein. Es heißt dort'}: „Nur die langsame historisch-analytische
Zersetzung dieses Über-Ich ermöglichte ein Fortschreiten meiner Be-
freiungsarbeit". Und weiter: „In der Verminderung ihrer Forderun-
gen an sieh selbst vollzog sie mit dem Gang der Analyse fortschreitend
allmählich wieder die Einverleibung aller Strebungen, die sie vorher
mit solchem Kraftaufwand von sich gewiesen hatte".')
Bei Lisa hatte ich nach kurzer Zeit erlebt, welch schwierigen
Widersland sie einer versuchten Auflockerung entgegensetzte. Ich
sah, daß Deutungen auch oberflächlichster Art für den Moment un-
überwindliche Beunruhigung, vielleicht auch eine ■\"erstärkung ihrer
Symptome hervorgerufen hätten und darum ihre Bereitschaft, mit mir
zu lernen, störten. Spreche ich mit der Mutter über Lisas Schwierig-
keiten und verändert diese daraufhin ihre Einstellung zu dem Kind,
was dieses deutlich gefühlt haben mag, so fallen diese Reaktionen bei
Lisa weg. Sie wünscht ja, daß ich der Mutter rate. Wir sehen, wie
bestrebt sie ist, mit der Mutter in Frieden auszukommen, ihr zu ge-
fallen, sich ihrer Liebe zu vergewissern. Wir selien, wie sie die For-
derungen der Mutter aufs genaueste erfüllt, und wovor sich das Kind
fürchtet, ist, durch mich mit der Mutter, respektive mit den von ihr ge-
stellten Anforderungen in offenen Konflikt zu geraten. Aber vielleicht
kann Lisa eben mit Hilfe der Mutter ihre strengen Anforderungen ein
wenig ermäßigen.
Noch ein Grund war für mich maßgebend, vorwiegend durch die
Mutter zu wirken:
^) 2. verm. Auflage, Int. Psa. Verl., Wien, 1929, S. 95.
") a. a. 0., S. 99.
Versuch der Behebung einer Erzielrnngsscliwierigkcit 39
Ich erfuhr immer wieder von Lisas guter Bezieliung zu mir und der
Begeisterung, mit mir zu lernen. Diese von der Mutter siehtlich ohne
jede Eifersucht gebrachten Mitteilungen zeigten mir sehr deutlich,
daß ich mich doch gerade in diesem Fall besonders hüten muß, einen
solchen Afleklausbruch hervorzurufen, da ich ja neben meiner didak-
tischen Aufgabe nur ein Bestreben habe und keine andre KichUmg
verfolgen will, als eine normalere Beziehung zwischen Mutter und
Kind herzustellen.
Die Mutter bevorzugt, Ihr niclit bewußt, das kleinere, in ihren
Augen viel schönere Kind; es ist auffallend, wie sehr ihr Lisa ähnlich
ist. Die Frau, die selbst gegen so vieles anzukämpfen bat, wird wahr-
scheinlich die Unzufriedenheit, die sie mit sich empfindet, auf ihr Eben-
bild übertragen. Der Vater sagte einmal zu seiner Frau: „Du weißt
gar nicht, wie unduldsam du gegen Lisa bist!" An diese Äußerung
und an die Einsicht der Mutter anschließend, konnte ich meine Be-
hauptung immer wieder aufstellen, daß die Mutter ans diesen Grün-
den zu viel von Lisa verlange. Ich könnte verstehen, daß sie ihr Kind
schützen wolle vor Fehlern, die sie selbst drücken, aber gerade darum
wäre es für sie unmöglich, diese Fehler objektiv zu sehen, die richtige
Einstellung dafür 2u haben und den richtigen Ton zu finden. Ein der-
artiger Verweis müßte ja Lisa besonders hart trelfen und für sie un-
verständlich sein, wenn sie Eigenheiten der Mutter an sieh so getadelt
sähe. In dem wirklich gutgemeinten Verhalten der Mutter mußte ich
die liebevolle Fürsorge erkennen, mit der Eltern immer bestrebt sind
ihren Kindern das Leben besser, schöner und vor allem leicliter zu ge-
stalten, als es ihnen selbst erseheint. Diese ungewöhnlich scharf und
richtig denkende Frau steht ihren eigenen Schwierigkeiten mit der
größten Einsicht gegenüber; aber es fehlt ihr die analytische Ein-
sicht, die nötig wäre, um ihr zu erklären, in welchem Maß sie ihre
Schwierigkeiten gerade bei Lisa erledigt, ähnlich wie Kinder, die mit
ihren eigenen Schwierigkeiten nicht fertig werden, sich zum Erzieher
anderer Kinder bestellen, um dort in der Erziehung zu unterdrücken,
was ihnen selbst nicht gelungen ist.
Lisa, die in frühester Kindheit so überaus denklustig war, ist jetzt
nur in einer Hinsicht imstande, diese Begabung auszunützen, nämlich
in Kritik und Widerspruch gegen die Mutter. Und sie ist wirklich im-
stande, diese damit zu kränken, da sie ja zutiefst die wunde Stelle der
Mutter trifft. Ich kann der Mutter nur raten, die Fehler, die sie an
sich selbst und Lisa sieht, weniger streng zu beurteilen und wenn
möglieh gelegentlich zu übersehen.
Lisa zeigt eine ungewöhnlich große Zuneigung zur kleinen Schwe-
ster, die man nur verstehen kann, wenn man sie als Mittel ansieht, die
40 Th. Bergmann
eigentliche Aggression und Eifersucht zu verdecken. Ich sehe, mit
welcher Resignation sie so vieles aufgeben muß, und ich habe Gelegen-
heit, ein Spiel zu hören, das deutlich die Machtstellung der kleinen
Schwester zeigt: Alles und alle werden klassifiziert. Greterl schätzt
ihre Ehrlichkeit mit 1 — 2 und Lisa mit 2—3. Dies findet Greterl
höchst ungerecht, mit ihrer eigenen Ehrlichkeit verglichen, und indem
sie Lisa alle möglichen Unehrlichkeiten und Lügen vorhält, zwingt
sie sie, sich ein 3 — 4 zu schenken, obzwar sie einen Vierer verdient.
Man kann den Worten der Mutter, daß die Eeinlichkeitserziehung
der kleinen Lisa ohne Störung verlaufen sei, Glauben schenken, denn
I-iisa macht den Eindruck eines besonders gutartigen Kindes, das be-
strebt ist, alles aufs genaueste zu erfüllen, was man von ihm verlangt.
Doch zeigt sich noch jetzt die unerledigte Lust zu schmieren. Und um
der Versuchung zu dieser Lust nicht nachgeben zu müssen, zeigt Lisa
bereits eine Keaktionsbildung, nämlich Ekel. Aber gerade dieser
Schutz wird für sie verhängnisvoll, denn gerade deshalb muß sie sich
im Klosett wie ein kleines Kind benehmen, und so verschafft sie sich
die verbotene Befriedigung doch. Mein Anerbieten, ein Schmierheft
anzulegen, und meine Erklärung, wir alle, vor allem Kinder, haben
manchmal das Verlangen, das Gegenteil von dem zu tun, was erlaubt
wäre, mußten ihren heftigsten Protest hervorrufen, denn sie mußte
diese Erlaubnis als eine Verführung erleben, die im Gegensalz zu dem
stand, was die Mutter forderte. Sie lehnt dies mit großem Affekt ab,
sie will ja unbedingt nur schön schreiben, das ist: sauber sein. Aber
ich glaube, daß die Besserung der Schrift doch mit dieser, sie beruhi-
genden Erklärung und Erlaubnis zusammenhängt.
Sie erlaubt sich nur einmal einen im wahrsten Sinn des Wortes
„freien Aufsatz": Einmal fuhr ein großes, schönes, stolzes Schiff in
einen Hafen. Das war mit Hosen voll beladen. Als die Leute dies
sahen, schrien sie: „Hurrah, die Hosen sind da". Jetzt habe ich einen
großen Unsinn geschrieben, aber den wenigstens schön.
Lisa schämt sich ihrer Schrift, sie selbst nennt sie eine Sehmier-
schrift und ihr unglaublicher Eifer, sich eine andre Schrift anzu-
eignen, zeigt deutlich den Zusammenhang mit ihrer Schmierlust und
die große Energie, die aufgewendet werden muß, sich nicht zu ver-
raten. Ich konnte die tiefe Ursache dieser Schreibstörung überhaupt
nicht berühren, denn bewußt weigerte sich Lisa, auch nur die kleinste.
Konzession zu gestatten, wahrscheinlich mit der berechtigten Angst,
eine unaufhaltsame Triebäußerung dann nicht mehr unterdrücken zu
können. Ich mußte Lisa Recht geben, die eigentliche Behebung der
scheinbar sehr komplizierten Schreibstörung fällt nicht mehr in den
Ralimen einer pädagogischen Arbeit. Ich habe Lisas Neigung, sich
i
Versuch der Behebung einer Erziehungsschwierigkeit 41
einem Zwang zu fügen, ausgenützt, um eine Besserung der Schrift zu
ermöglichen. Ich konnte damit nur erreichen, daß ihre Schrift nicht
schön, aber als normale Kinderschrift beurteilt wurde. Ich habe eine
.Schreibübung vorgenommen, die ich mit den Fingerübungen der
Klavierspieler in ansteigendem Tempo verglichen habe: Zuerst wurde
auf gekästeltes Papier geschrieben — jeder Buchstabe hat das Recht,
ein eigenes Kasterl einzunehmen und ist genau gleich weit von seinem
Kachbarn entfernt. Sofort wird dasselbe auf einfach liniertem Papier
geschrieben und sofort wieder im selben Zug weiter auf glattem, un-
liniertem. Das ausgesprochene Vergnügen, mit dem Lisa in dieser
Weise arbeitete, zeigte mir, daß diese Schreibübung für sie dasselbe
bedeutet wie das „nur zwischen die Striche treten dürfen" auf der ge-
pflasterten Straße. Und das anschließende Schreiben auf unliniertem
Papier war für sie vielleicht ein im selben Sehritt Weitergehen auf
asphaltiertem Weg.
In ähnlicher Weise suchte ich eine Methode zu finden, die diesem
Kind das Erlernen der Grammatik ermöglichen und die Arbeit ein
wenig erfreulicher machen sollte. Zum Beispiel wurde alles, was von
■einem Ding ausgesagt werden kann, rot geschrieben — später wurde
äie Satzaussage nur mehr rot unterstriehen. Safzgegenstand, Ergän-
zung, Umstand usw., alle bekommen eine bestimmte Farbe, so daß
sich für dieses Kind eine bestimmte Farbe mit einem bestimmten Be-
griff verbinden mußte. Schließlich wurde dies Spiel auch in umge-
kehrter Folge gemacht — es wurden rote, grüne, gelbe, blaue Striche
.gezeichnet und darauf mehr oder weniger sinnvoll die einzelnen Satz-
ieile eingesetzt.
Lisa lügt nach Aussage ihrer Mutter offensichtlich und wenn ich
auch der Mutter erkläre, daß dem Lügen der Wunsch zugrunde liegt,
gefallen zu wollen, etwas zu zeigen, was man nicht besitzt, so ist das,
glaube ich, nur ein Teil der Erklärung für dieses Verhalten, Ich höre,
daß sie nur die Mutter anlügt, es wäre das erstemal gewesen, daß sie
diesen kleinen Freund ebenso behandelt. Aber dies dürfte vielleicht
Im Zusammenhang mit dem Exhibitionisten stehen und sie will viel-
leicht dem kleinen Jungen sagen: Ich kann zeichnen wie du, besser
gesagt: Ich bin genau so wie du, den ich so sehr beneide. Und sie
sucht die Mutter zu kränken durch Lügen, die diese so abscheulich
findet, daß sie tagelang nicht mit ihr spricht; aber vielleicht muß
Lisa die Mutter anlügen, weil sie so böse auf sie ist, daß sie sie als
Mädchen zur Welt kommen ließ. Doch das sind Vermutungen, die,
wenn ich sie auch der Mutter erklären wollte, weder im Verhalten
Lisas noch dem der Mutter irgendwelche Veränderungen herbei-
führen können. Und so ist Lisa gezwungen, weiterzulügen und sich
42 Th. Bergmann
Eigenschaften anzudichten, weil sie eine unliebsame Erkenntnis nicht
wahrhaben w^ill.
Da die Situation eine vollkommen andere als in einer Analyse ist,
kann ich derartiges Material nicht verwenden.
Anders sieht das Verhalten der kleinen Schwester aus, die, mit den
Augen der Mutter gesehen, als ganz unauffällig bezeichnet wer-
den mußte; dieses Kind weist jede Problematik für sich zurück und
scheint zufrieden. Sie erzählt, daß sie sich ganz genau erinnere, wie
sie vor dem lieben Gott gestanden wäre — ganz genau könne sie be-
schreiben, wie alles ausgesehen habe — und sie auf die Frage, wohin
sie am liebsten möchte, eben ihre Mutti ausgesucht hätte.
Mit dieser tiefen Zufriedenheit seheint das kleine Mädchen sich
beweisen zu wollen, daß es sich mit Phantasien, wie es fast 3edes Kind
im Familienroman erledigt, nicht abgeben darf, ebenso wie es sieh
wahrscheinlich mit der Dankbarkeit und Einsicht über seine gute Wahl
beweisen will, einverstanden mit dem zu sein, was die Mutti für es
bestimmte — nämlich ein Mädchen zu sein. Und so ist es imsiande,
anderen Wünschen und damit zusammenhängenden Konflikten aue
dem Weg zu gehen.
Ich habe Lisas Kenntnisse, so gut es in dieser kurzen Zeit ging,
mit Hilfe der Mutter verbessert, so daß sie die Prüfung ohne große
Schwierigkeit und vor allem ohne Angst bestehen konnte. Da mir die
Identifizierung mit der Mutter so deutlich schien, habe ich trotz großer
Hindernisse durchgesetzt, daß das Kind dasselbe Gymnasium besuchen
kann, das die Mutter absolviert hat. Sie erledigte ihre Angst vor der
neuen Schule, vor den fremden Lehrkräften und vor ihrem Nicht-
können in dem Augenblick, als die neue Frau Professor sie fragte, ob
sie sich an den Platz setzen wolle, den die Mutter innegehabt hatte.
Dies erzählt sie mir voll Bewunderung über das gute Gedächtnis von
Mutter und Lehrerin und ist selbst schon eine begeisterte und dank-
bare Schülerin geworden. Ich habe auch in diesem Verhalten nur der
Mutter gezeigt, mit welch rührender Anteilnahme das Kind alles er-
lebt, was irgendwie mit der Mutter in Bezug steht.
Ich habe versucht, auf der Basis einer analytisch-pädagogischen
Arbeit die tiefen Ursachen, die die gezeigten Erziehungsschwierig-
keiten hervorgerufen haben, zu erforschen und mit Hilfe dieses Wis-
sens meine pädagogische Arbeit aufzubauen. Mit dieser Hilfe ist es
mir gelungen, einerseits von außen her erzieherisch beeinflussend zu
wirken, nämlich das schwankende Selbstbewußtsein des Kindes zu
stützen und die Einflüsse seiner Umgebung ein wenig zu korrigieren.
Andererseits versuchte ich, indem ich Lisas zwanghaftes Verhalten
zu einer Arbeitsleistung führte, von innen her Einfluß zu nehmen:
I
Versuch der Behebung einer Erziehungsschwierigkeit 43
Setze ich mit meiner Arbeitsleistung dort ein, wo sich Lisa sicher
fühlt (in ihrem zwanghaften Verhalten), so überläßt sie mir willig
und vertrauensvoll die Führung, sie aus der verwirrenden Situation
herauszubringen. Der Gewinn ist ein doppelter, denn ich helfe dem
Kind nicht nur über eine Erziehungsschwierigkeit hinweg, sondern
ich gebe ihm auch die Möglichkeit, seine Realitätseinstellung zu ver-
bessern.
Um das Ziel zu erreichen, das ich mir vorgenomiuen hatte, ver-
suchte ich, analytische Kenntnisse in meine unterrichtliche und erzie-
herische Arbeit einzuflechten, um das Kind Deutungen auf diese
Weise erleben zu lassen. Der Mutter gegenüber versuchte ich die Zu-
sammenhänge zu erklären, allerdings in einer Art, wie wenn ich Lisa
wäre, die um die Liebe der Mutter bewußt kämpft. Es ist wahrschein-
lich, daß Deutungen in solcher Art gegeben, auf die Dauer nicht so
tragfähig sein können, um vielleicht neu auftauchenden Schwierig-
keiten standzuhalten. Doch sowohl Mutter als Kind haben die Er-
kenntnis gewonnen, daß derartige Schwierigkeiten nicht unüber-
windlich bleiben müssen, da es eine Möglichkeit gibt, sich von ihnen zu
befreien — den Weg zu gehen, der offen ist — nämlich zur Analyse,
Eine Einsdilafstörung aus Todesangst
Von Emma Berner
Psychoanalytisch orientierte Lehrer haben in den letzten Jahren
-oftmals Gelegenheit gehabt, die Lern- und Erzielumgssehwierig-
keiten, welche Kinder mit neurotischen Störungen im Elternhaus und
in der Schule zeigten, mit Kinderanalytikern eingehend durchzube-
sprechen. Inzwischen bereits revidierten Erwartungen entsprechend
hoffte man früher, mit den psychoanalytischen Kenntnissen ausge-
rüstet, direkt in schwierige Situationen des Kindes eingreifen und sie
beheben zu können. Es zeigte sieh zwar, daß unter günstigen Um-
ständen und bei geschicktem Vorgehen wichtige affektive Grund-
lagen der Störung erfaßt wurden und eine günstige Beziehung zum
Kind hergestellt werden konnte, daß aber die weiteren Schritte, die
zur Behebung der Störung führen sollten, nur sehr selten gemacht
werden konnten. Die Schulsiluation erlaubt es nicht, daß der Lehrer
seiner Einsicht entsprechend durch Deutungen dem Kinde das mit-
teilt, was er im affektiven Rapport mit ihm erfahren hat; schwere
Konflikte müssen als in der Schulsituation unlösbar bestehen bleiben.
Ein anderer positiver Weg, der sich uns eröffnete, führte dann zu
einer psychoanalytiseh-therapeutischeii Kur in Form der Kinder-
analyse. Diese kann aus den angedeuteten Gründen vom Lehrer, selbst
wenn er therapeutisch ausgebildet wäre, nicht selbst durchgeführt
^Verden; für die Arbeit mit dem Kinde in der Schule bedarf es einer
gleichmäßigen, affektiv nicht sehr wechselnden Beziehung innerhalb
des Unterrichts. Der Lehrer kann nur die Bemühungen um eine solche
Behandlung unterstützen. Ist das erreicht, dann hat er die Aufgabe,
sein Verhalten Eltern und Kindern gegenüber so einzurichten, daß
Schule und Kinderanalyse im Interesse des kranken Kindes sich mög-
lichst ergänzen und nicht einander stören.
Die dritte und vielleicht wichtigste Aufgabe des psychoanalytisch
orientierten Lehrers ist wohl in der Gestaltung der Unterrichtsein-
teilung und der didaktischen Arbeit selbst zu sehen; sie muß den kind-
lichen Bedürfnissen soweit angepaßt sein, daß einige Lern- und
Arbeitsschwierigkeiten gar nicht erst entstehen können.
Wenn ich trotzdem einem kleinen Mädchen, von dem ich hier
berichten werde, in einer Situation zu helfen versucht habe, die ein-
deutig eine neurotische Erkrankung befürchten ließ, so geschah es,
weil ganz bestimmte Voraussetzungen gegeben waren, die zu diesem
Eingreifen berechtigten. Hieven wird am Ende dieser Arbeit noch
die Rede sein.
Eine Einschlafstörung aus Todesangst 45.
An nie, ein 8)^ jähriges Mädciien, kam im Herbst in meine Klasse.
Sie ist ein auffallend hübsches, ruhiges und sehr ernstes Kind. Sie
paßte sich schnell den Schulbedingungen unserer Klasse an, die anders
■waren als die der Schule, die sie früher besucht hatte. Es fiel mir
gleich auf, daß sie besonderes Interesse für Rechnen und Geographie
zeigte, hingegen bei allen Arbeiten, bei denen sich Phantasie bemerk-
bar machen konnte — in Aufsätzen und im Zeichnen — auffallend
langsam und einfallsarm war. (Diese Abneigung hatte mir die Mutter
bereits mitgeteilt, als Annie zur Schule kam.) Annie war so wohl-
erzogen, daß sie nie widersprach, wenn sie eine solche Arbeit zu
machen hatte. Aber man merkte ihre innere Anstrengung. Ihre erste
geschlossene Arbeit auf diesem Gebiet war das Abschreiben eines-
Buclies über Babypfiege, das sie reizend illustrierte. Das Mädchen
hatte wenig Kontakt mit andern Kindern, es war ständig in seine
Arbeit vertieft.
Im dritten Schulmonat erkrankte sie an Scharlach, Da die Mutter
sie zu Hause pflegte, mußte der Vater und der um zwei Jahre jüngere
Bruder für die Zeit der Krankheit ausziehen, Die Erkrankung ver-
lief ohne jede Komplikation. Es war seit langem das erste Mal, daß
die Mutter Zeit hatte, sich nur um ihre kleine Tochter zu kümmern.
So schien alles ohne Schädigung abzulaufen. Nur beim Einschlafen
zeigten sich Störungen. Einmal äußert sie Gespensterangst, einmal
hat sie Gewissensbisse, weil sie vor 2J^ Jahren den Vater in einer
ganz unwichtigen Sache angelogen hat. Seit Annies Geburt führte
ihre Mutter Tagebuch über das Kind, während der Krankheit fand
sie Zeit, alles ziemlich genau aufzusehreiben, daher kann ich manch-
mal Annies eigene Worte wiedergeben.
In der letzten Krankheitswoche bemerkte die Mutter, daß das Mäd-
chen gesteigert unruhig und ängstlich wurde. Einmal trank sie ein
Glas Wasser, das neben einer Flasche Lysol, das zur Desinfektion im
Zimmer war, gestanden hatte. Sie erschrak sehr, als sie im Wasser
Lysolgeschmack zu spüren meinte und das Giftzeichen an der Flasche
bemerkte. Sie hatte die Vorstellung, sich vergiftet zu haben, und
konnte vor Angst nicht einschlafen. Diese Aufregungszustände waren
so arg, daß der Kinderarzt Brom verschrieb. Es dauerte oft bis 1 Uhr
nachts, bis Annie endlich einschlafen konnte. Sie wiederholt zwang-
haft dieselben Worte, manchmal ganz leise, weil sie versuchte, sich
zu beherrschen. Oft war es ihr, als ob sie einen Knödel im Halse hätte,
und sie äußerte heftige Angst, daß etwasUnerwartetes geschehen könnte.
Wenige Tage nach der Befürchtung mit der Lysolflasche wurde
die Wohnung desinfiziert. Die Männer, die die Desinfektion durch-
führten, trugen Gasmasken, als sie die Fenster des Krankenzimmers
46 Emma Berner
Öffneten, das durch Dämpfe desinfiziert worden war. Wieder war
Annie voller Angst; denn in diesem Raum war sie ja sechs Wochen
krank gelegen. Sie hatte schwere Todesangst. Sie erinnerte sich auch
daran, daÜ vor einigen Jahren zwei kleine Mitschülerinnen ziemlich
plötzlich gestorben waren, und fürchtete, nun auch sterben zu müssen.
Waa immer Annie nun in diesen letzten Tagen, bevor sie zur Schule
durfte, tat oder sah, brachte sie irgendwie mit ihren Todesphantasien
in Verbindung. Wenn die Mutter auf Annies besonderen Wunsch mit
ihr Blei goß, erinnerte sie sich plötzlich, daß Kanonenkugeln, die
töten, auch aus Blei sind. Fand sie im Essen ein kleines Körnchen, so
fürchtete sie, das Essen könnte vergiftet sein, und konnte nicht weiter
essen. Unterdessen waren Vater und Bruder nach Hause zurückge-
kommen. Trotz großer Freude kann sie am Abend wieder nicht ein-
schlaEen. Sie hat Angst, zu erblinden.
Am Tag bevor Annie die Schule wieder besuchen sollte, suchte mich
ihre Mutter auf, um sich Rat zu holen. Sie hatte während des langen
Alleinseins mit der Kleinen Gelegenheit gehabt, oft und ausführlich
mit ihr zu sprechen. Annie war ziemlich weitgehend aufgeklärt, die
Mutter hatte bisher alle ihre Fragen beantwortet, war aber nicht
sicher, wieviel sie ihr bei zu erwartenden Fragen über die Konzeption
sagen sollte. Annie hatte während des Scharlachs eine Phantasie
erzählt, die sehr deutlich ihre Konzeptionsgedanken zeigte und ihre
Beziehung zur Mutier beleuchtete und die in einem späteren Zusam-
menhang noch sehr wichtig wird.
Annie erzählt (die Mutter schrieb in ihr Tagebuch „gesteht"), daß
sie sich ein Märchen ausdenkt, in dem sie ein ehemaliges Bärenkind
ist, ein Männchen, denn sie wäre lieber ein Bub; sie hatte einen
Zwillingsbruder und hat tote Menschen aus Gräbern gefressen. Zur
Strafe wurde sie von einem Riesen in einen Punkt verzaubert und
kam so in den Bauch der Mutter. Das war aber, obwohl es ihre Mutter
war, eine böse Mutter, eine Stiefmutter. In einer anderen Version
"^vird ihr zur Strafe die Schnauze weggezaubert.
Annie hat Gewissensbisse, weil sie die Mutter so schlecht macht.
Nach langem Zögern sagt sie ihr, „wie Unrecht sie der Mutter tut".
Im Verlauf des Gespräches sagt ihr die Mutter, daß es nicht so war,
wie sie in ihren Bauch kam. Sie erzählt Annie von den Eierstöcken
und erwähnt die Öffnung, durch die das Kind herauskommt. Ich riet
der Mutter, Annies weitere Fragen abzuwarten und erst dann ihr
weiter so ruhig und genau Auskunft zu geben wie bisher. Von den
Ängsten und Einschlafschwierigkeiten erzählte mir die Mutter bei
ihrem damaligen Besuch noch nichts. Sie dachte, daß sie am ehesten
Tergehen würden, wenn man das Kind nicht zu sehr beachte.
Eine Einschlafstörung aus Todesangst 47
Annie kam ziemlich unverändert zur Schule zurück. Zu Hause
aber hatte sich ihre Situation kompliziert. Der Vater, der, als er aufier
Haus war, eine leichte Erkrankung nicht gut genug gepflegt hatte,
wurde ernstlicher krank. Trotz der Bemühung der Mutter mußte der
Unterschied in der Liebeszuwendung gegenüber der Zeit des Schar-
lachs, in der ihre ganze Sorge nur Annie gegolten hatte, stark hervor-
treten. Nach zwei Tagen Schulbesuch berichtete mir die Mutter ver-
zweifelt, daß es in der Früh' nicht möglich sei, Annie zur Zeit fertig
zu kriegen. Sie wollte sich wie ein kleines Kind anziehen lassen;
wenn man sich nicht darauf einließ, schrie sie zornig. In diesem Zu-
sammenhang entschloß sich die Mutter auch, mir von den Einschlaf-
ßchwierigkeiten, die sich in den letzten Tagen gehäuft hatten, zu
erzählen. Annie weinte laut und fragte ständig, ob man an dem oder
jenem nicht sterben könne. Daher war sie am Morgen so müde und
schlecht gelaunt. Da ich bereits wußte, daß die Mutter sehr bereit;
war, Hilfe in Erziehungsfragen anzunehmen, bat ich sie um ihr Ein-
verständnis, mit Annie über diese Schwierigkeiten sprechen zu dürfen,
falls sich dazu Gelegenheit ergeben würde. Ich erwartete eigentlich
nicht, daß es zu einem ausführlichen Gespräch kommen würde. Ich
hatte ja die Angstzustände nicht selbst gesehen und in der Schule
ereignete sich nichts Auffallendes, das eine Anknüpfung ergeben
hätte. Da die Mutter sich so geschickt bei den Aufklärungsfragen be-
nommen hatte, erschien es mir eigentlich auch besser, wenn auch
weiterhin sie die Gespräche mit Annie führen könnte. Aber die Mutter
war zu ermüdet und durch neue Sorgen beladen, um Annies Ängsten
und Trotz gegenüber objektiv und ruhig genug zu bleiben. Deshalb
übernahm ich es, mit dem Kind zu sprechen. Allerdings wollte ich
mich von vornherein darauf beschränken, zu versuchen, Annie un-
mittelbar zu beruhigen, also nicht ihre Äußerungen zu sammeln und
zu deuten.
Da Annie noch nicht mit den anderen Kindern in der Pause im
Garten spielen wollte, fand ich Gelegenheit, sie allein in der Klasse
zu sprechen. Ich bedauerte sie sehr, daß sie wegen der dummen Krank-
heit so lange von allem abgesondert sein mußte, dann erzählte ich
ihr, daß mir ihre Mutter gesagt hatte, wie unangenehm ihr das Auf-
stehen in der Früh' sei. Darauf begann sie sofort, von den Einschlaf-
schwierigkeiten zu erzählen, und berichtete zu meinem größten Er-
staunen selbst alles genau so, wie es mir die Mutter bereits mitgeteilt
hatte. Auch die Bärenphantasie erzählte sie mir; allerdings in der
zweiten Version mit der weggezauberten Schnauze. Die Geschichte
ginge ihr sehr oft durch den Kopf, sagte sie mir. Bei der Erzählung
der Ängste lächelte sie und schien par distance alles nicht so arg zu
48 Emma Berner
finden. Ich fragte sie, wovor sie sich eigentlich fürchte, und erfuhr,
daß sie große Angst hätte, einzuschlafen, aber nicht mehr aufzu-
wachen. „Wenn man tot ist, kann man nicht in warmen, schönen
Zimmern sitzen, sondern liegt eingenagelt in vier Brettern in der
Erde". Ich erklärte ihr, daß nur ganz alte Leute, deren Herz nicht
mehr richtig arbeitet, manchmal so plötzlich sterben, daß das bei
Kindern aber nie vorkommt, und versuchte sie überhaupt zu beruhigen.
Ich erkundigte mich auch, wie es denn jetzt zu Hause sei, ob der
"Vater schon wieder gesund wäre. Dazu erzählte Annie nichts Neues.
Ich konnte ihr aber in ein paar Worten sagen, daß sie sich bestimmt
große Sorgen mache, weil der Vater doch, während er ihrethalben
nicht zu Hause wohnte, krank geworden sei, und unterstützte ihre
Hoffnung auf baldiges Gesundwerden. (Tatsächlich mußte der Vater
aber einige Tage später für kurze Zeit ins Krankenhaus.)
Ich verabredete schließlieh mit ihr, daß sie mir erzählen würde,
wenn sie wieder große Angst hätte. Abends verständigte mich die
Mutter, daß Annie zum ersten Mal ruhig eingeschlafen war. Nach
zwei schulfreien Tagen traten die Ängste wieder auf, unter anderem
die Furcht, blind aufzuwachen, da sie sieh zuerst in die Nase gefahren
war und dann die Augen berührt hatte. Als ich Annie wieder sah,
erzählte sie mir, daß sie unter einem Portrait des kleinen Bruders
schliefe und Angst habe, mit den Farben in Berührung zu kommen,
denn eine davon könnte ja giftig sein.
An diesem Tag las ich einen Teil eines Manuskripts einer Tier-
geschichte vor, das mir der Autor mit der Bitte gegeben hatte, sie den
Kindern vorzulesen und ihnen vorzuschlagen, sie fortzusetzen. Er
erwartete davon Anregungen über die Art des Verständnisses und
über die Wünsche und Erwartungen der Kinder. Annie, die vor ihrer
Erkrankung so ungern schrieb, rief sofort, daß sie auch eine Fort-
setzung schreiben wollte. Die Erzählung, die ich vorlas, endete mit
der Flucht eines kleinen Fuchses (Hinardo) aus dem Käfig seiner
Eltern im Zoo. Sein jüngster Bruder hatte ihm geholfen, den Riegel
aufzukriegen. Nun überlegte er, was er weiter machen sollte. Annie
schrieb :
Ah Rinardo aber näher kam zum Käfig der Ellern, sah er, daß die Mutter
einen offenen, aber Gott sei Danf: leeren Sarg neben sich hatte, aber der Vater
war nicht so weichherzig, sondern hatte zwei Prügel. Der eine war schon ein wenig
schlecht, weil Rinardo schon zu oft mit dem Prügel gekaut worden war. Bei
diesem Anblick fufir ihm der Schreck in alle Glieder. Denn er wußte, um was es
sich handelte: nämlich um seinen kleinsten Bruder, der sollte auch geprügelt
werden und hatte alles sicher ganz umgedreht, so daß Rinardo nicht schuld war.
4
Eine Einechlaletörung aus Todofiangst 49
Da hatte er einen neuen Plan, daß er des Flamingofräulein aufsuchen wird. Und
nun, gesagt, getan.
Aus dieser Geschichte wurde mir ganz klar, daß neben der eigenen
Todesangst Schuldgefühle gegen den kleinen Bruder eine Rolle
spielen mußten. Ich sagte ihr daher, daß es wohl sehr schwer sei,
nach der langen Krankheit, während der man so verwöhnt wurde, jetzt
wieder die große nachgiebige und vernünftige Schwester zu sein. An
diesem Abend sehlief sie wieder ruhiger. Nach einigen Tagen —
Annie war unterdessen angstfrei eingeschlafen — kam in der Schule
das Gespräch auf Radium. Die Kinder wußten sowohl von der Heil-
kraft wie von der besonderen Gefährlichkeit des Radiums und icli
erzählte ihnen auf die Frage mehrerer Kinder, die davon einiges
wußten, wie die armen Uhrmacherinnen, die die ersten Radiuniziffern
auf Uhren malten, den Pinsel mit Radium an ihren Lippen befeuch-
teten und schwer erkrankten; daß man aber sofort alle Maßnahmen
zum Schutze der mit Radium arbeitenden Menschen ergriffen liat. Ich
dachte einen Augenblick daran, daß dieses Gespräch wieder eine neue
Todesangst bei Annie auslösen könnte, mußte aber den etwas un-
klaren und noch ärgeren Voi'Stellungen der anderen Kinder von den
Gefahren des Radiums entgegentreten.
Abends rief mich die Mutter an, scliickte mir Annie zum Telepiion,
die mich sprechen wollte, und bat mich, ihr zu sagen, daß sie sich nicht
vor Radium fürchten müsse. Annies Stimme war ganz verstört. Ich
konnte nichts tun als ihr versichern, daß alles Radium unserer Stadt
in Bleikammern aufgehoben sei und daß sie ruhig einschlafen könne,
denn bei ihnen gebe es ja nicht einmal eine leuchtende Uhr und die
sei ja auch ganz ungefährlich. Bei diesem Gespräch hatte ich die
Kraft dieser Angst aus der Stimme der Kleinen zum ersten Mal selbst
gespürt. In dieser Zeit beobachtete die Mutter heftige Gewissensbisse
wegen ganz geringfügiger Unwahrheiten vor einem Jahr und pein-
lichste Bemühung, ganz wahrheitsgemäß zu antworten. Annie sagt,
es ängstigt sie, „daß sich immer neue Wege zum Tod bahnen".
Nach zwei Tagen fragte ich Annie, ob sie mir Neues zu erzälilen
hätte und wie es mit dem Einschlafen ginge. Da antwortete sie
lachend: „Ich schlaf wie zwei junge Hunde!"
Damit war meine Aufgabe fürs erste beendet. Die Kleine schlief
wieder ungestört und daher beruhigten sich die Sorgen der Mutter.
Ich war entschlossen, falls sieh die Ängste noch einmal zeigten, der
Mutter zu raten, einen Analytiker zu konsultieren, denn es war klar,
daß ich nur unmittelbar beruhigt, aber nicht die Ängste aufgelöst
hatte. Als ich nach einigen Tagen wieder mit der Mutter sprach, er-
zählte sie mir, daß die Ängste nicht wiedergekommen waren, daß
Zeitschrift f. pea. P£d., XI/1 4
1
50 Emma ßerner
Annie sich aber jetzt heftig gegen sie wende. Sie befürchtete, man
könnte die Mutter „minder" finden. Es war aus vielem deutlich, daß
sie gar nicht zufrieden war, ein Mädchen zu sein, und daher auch
nicht zugeben wollte, daß eine erwachsene Frau ebenso tüchtig und
angesehen sein könnte wie ein Mann. Aus dieser Zeit berichtet
das Tagebuch der Mutter: „Bei einem gerinstügigen Konflikt bei Tisch schreit
sie: Jch will nicht essen! Ich will nicht hier sein! Ich will unier der Erde ver-
schwinden!' Dann bittet sie sofort um Verzeihung. Abends kann sie sich wieder
nicht zum Auslöschen entschließen; klagt über ein bißchen Angst vor Krank-
heilen; erzählt mir, daß sie sich nach Erkrankung ihres Vetters an Scharlach
(einige Monate vor ihrer eigenen Erkrankung) den Scharlach gewünscht hat, vor
allem wegen des Speibens' J. Das spielt sie mit den Puppen. Sie hat nicht gern,
wenn man sagt, daß sie ein Fräulein ist. In der Nacht Wacht sie auf und hat
Angsl. Sie hört ein Geräusch, als ob man einen Menschen zersägte. Ich muß sie
zur Beruhigung zu mir ins Bett nehmen, dann geht sie aber ruhig zurück und
schläft gut."
Ich hatte schon lange vor, Annie einmal in mehr Ruhe als in der
Schule sprechen zu können, und lud sie ein, mich einmal nach der
Schule zu besuchen. Sie kramte unter meinen Büchern und fand eine
Bildergeschichte, die sie sehr amüsierte. Sie fragte mich, ob ich noch
etwas Nettes zum Anschauen hätte. Ich zeigte ihr einige Bücher auf
meinem Schreibtisch; dort stand ein Buch mit Bildern unserer Stadt
und — absichtlich von mir dorthingestellt — ein kleines Buch für
Kinder „Woher die Kinder kommen". Annie nahm auch dieses Büch-
lein und ich ermunterte sie, darin zu blättern. Ich hatte schon bei ver-
schiedenen Kindern durch die ausgezeichneten Bilder des Buches An-
knüpfungspunkte für Gespi'äche gefunden. Annie sah ein Bild zweier
in Kopulation begriffener Käfer und erinnerte sieh, das schon sehr
oft gesehen zu haben. Ich erklärte ihr den Sinn. Auch die Bestäubung
beim Haselstrauch — männliche und weibliche Blüten — verstand
sie sofort. Sie fragte weiter: „Aber wie kommt der Same in den Men-
schen?" Ich antwortete ihr möglichst einfach und hatte eine sehemati-
sche Zeichnung von Penis und Vagina zur Hilfe. Daran zeigte ich
Annie, wie gut die Natur es eingerichtet hat, daß diese Teile so genau
zusammenpassen, und zeigte ihr gleich darauf ein Schema der inneren
Organe der Frau und eins des Mannes. Ich wies sie besonders darauf
hin, daß die Frau viel mehr innere Organe habe als der Mann, und
erklärte ihr den Grund. Das tat ich vor allem deshalb, weil durch
viele Einzelheiten deutlich geworden war, daß sie alle Frauen „min-
der" fand. Daher wollte ich ihr zeigen, wie viele wichtige spezifisch
*) Dialektausdruck für Erbrechen.
Eine Einschlafstörung aus Todesangst 51
weibliche Funktionen es gebe und wie schon der Körperbau der Frau
iür diese Funktionen vorbereitet sei.
Für diesen Tag findet sich folgendes im Tagebuch der Mutter ein-
getragen:
Besuch bei der Lehrerin: „Mutti, wir haben vom Kinderbekommen gesprochen.
Sie hat mir ein Buch gegeben, da ist es aufgezeichnet Es ist wie bei den Käfern.
Ein männliches and ein weibliches. Aber bei den Menschen müßt' man das doch
sehen. Jetzt Weiß ich, warum man keine Kinder kriegt, wenn man nicht ver-
heiratet ist. Aber wie war das bei der Kathi?" (Hausgehilfin mit unehelichem
Kind.)
Das Tagebuch fährt fort:
Seither ist Annie geheilt. Sie spricht nicht mehr von der Fortpflanzung. In
die Schule gehl sie gern, auch in der Früh sind keine Szenen mehr und sie
brodelt weniger.
Seit diesem Gespräch gab es tatsächlich keine auffälligen Schwie-
rigkeiten mehr. Annie ist zu Hause wieder vergnügt und ausge-
glichen und benimmt sich in der Schule viel freier, Sie schreibt mit
großem Vergnügen Aufsätze und Geschichten und hat reizende Ein-
fälle beim Zeichnen. Was hat diese Änderung hervorgerufen? Über
die komplizierten Mechanismen ihrer Persönlichkeit bin ich kaum
informiert. Ich beschränkte mich in meiner Hilfeleistung auf die un-
mittelbaren Konflikte — milderte die Angst, erzählte ihr, daß ich aus
eigener Erfahrung wisse, wie schwer es ist, die ältere Schwester zu
sein, und versuchte ihr zu zeigen, daß sie als Frau auch ein intakter
Mensch sei. Ich deutete ihr dadurch ein wenig an, daß ich ihre, teils
unausgesprochenen Regungen zu verstehen suche.
Weshalb traute ich mich, das in diesem Fall zu tun? Es gehören
dazu einige unerläßliche Voraussetzungen:
Erstens war der Kontakt zwischen Elternhaus und Schule ein sehr
guter, die Mutter suchte meine Hilfe und schenkte mir ihr ganzes
Vertrauen. Ich konnte also die Arbeit der Mutter fortsetzen.
Dann begann Annie unerwartet schnell zu erzählen, ich kam daher
mit der geringen Zeit, die man im Sehulbetrieb für ein einzelnes
Kind übrig haben kann, aus.
Das Wesentlichste war aber, daß ich aus der Beobachtung des
Kindes vor der Krankheit annehmen konnte, daß es nicht wirklich
neurotisch war. Annie hatte wohl einige Charakterschwierigkeiten —
Verschlossenheit, Hemmung der Phantasie, — die zeigten, daß ihre
innere Situation nicht sehr einfach war. Aber sie hatte einen guten
Weg gefunden, sich nicht ernsthaft in ihrer Leistungsfähigkeit stören
zu lassen. Daher konnte ich annehmen, daß sie vielleicht mit einer
kleinen Hilfe wieder ihre alte Beziehung zur Realität finden würde.
52 Emma Beraer
Und das muß ja das Entscheidende für uns Lehrer bei der Frage sein,
ob wir zn einer Behandlung raten oder nicht: daß das Kind sowohl
den intellektuellen als sozialen Anforderungen der Schule gut nach-
kommt und sieh zu Hause ohne allzugroße Konflikte zurechtfindet
Beides ist im Augenblick bei Annie vorhanden. Es ist wohl möglieh,
daß sie auf einen neuerlichen größeren Schock wieder schlecht
reagieren könnte.
Diesmal scheint das Zusammentreffen der Komplizierung in den
Beziehungen au jedem einzelnen der Familienmitglieder durch die
Erkrankung ganz besonders ungünstig gewesen zu sein. Es blieb für
Annie innerlich nichts an seinem alten Platz. Man versteht, daß die
Rückkehr in die alte Realität Anforderungen stellte, auf die das Kind
neurotisch reagieren mußte.
Schließlich war keine besonders starke Beziehung des Kindes zu
mir nötig, um das alles zu erreichen. Ich mußte daher nicht nach der
unmittelbaren Hilfeleistung mein Interesse für sie merklich verringern
und sie so enttäuschen. Jetzt gilt mein Interesse eben wieder ihren
Leistungen und nicht ihren Ängsten.
Wodurch können Annies Schwierigkeiten ausgelöst worden sein
lind welche Vorgänge haben den inneren Konflikt soweit gelöst, daß
Annie nunmehr wieder wie ein normales Kind funktionieren kann?
Eine erschöpfende Antwort können wir darauf nicht geben, die Frage
nach der Entstehungsgeschichte dieser Einschlafstörung und Todes-
befürchtung muß für den individuellen Fall ungelöst bleiben, wir
müssen uns mit einer Teilantwort zufrieden geben.
Als kleines Mädchen hatte sich Annie einmal stark ihrem Vater zu-
gewendet, da gleichzeitig mit der natürlichen ersten Ablösung von
der Mutter der kleine Bruder geboren wurde, bekam diese Zuwen-
dung zum Vater damals für Annie noch eine besondere Wichtigkeit.
Nun wird die Bedingung dieser Beziehung zu den Eltern durch Annies
Erkrankung aufgehoben. Wieder ist sie, wie vor der Geburt des Bru-
ders mit der Mutter aliein und genießt deren volle Zuwendung und
Sorge. Was sich nun bei Annie an Ängsten und Phantasien über den
Sinn und die reale Gefährlichkeit ihrer Krankheit bemerkbar macht,
scheint ganz zu dieser Kleinkindsituation zu passen; mit der Erkran-
kung und Isolierung von Vater und Bruder wurde sie tatsächlich aus
einem recht selbständigen Schulkind ein viel abhängigeres Kleinkind.
Die durch den Eintritt in die Latenzperiode bereits erworbenen Fähig-
keiten werden durch die Erkrankung teilweise wieder rückgängig
gemacht oder in ihrer Haltbarkeit erschüttert. Alles deutet darauf
i
Eine Einschlafstörung aus Todesangst 53
hin, daß Annie mit der Einschlaf angst ihre Todesangst, die Angst vor
dem Sterben meint, und diese kann wiederum als befürchtete Strafe
für „kleine Vergehen" gelten. Bewußt versteht sie darunter lang
zurückliegende Lügen, auf die andere Kinder mit einer viel gerin-
geren Gewissensreaktion zu antworten pflegen.
Wie stark ihr Schuldgefühl und ihr unbewußtes Strafbedürfnia ist,
zeigen die häufigen Selbstanklagen. Wegen einer kleinen Lüge gegen-
über dem Vater vor zweieinhalb Jahren kommt sie sich jetzt sehiecht
vor; „...denn Lügen ist tausendmal ärger als Nichtfolgen". Durch
die Erkrankung des Vaters scheinen ihre Schuldgefühle in besonderem
Maße mobilisiert worden zu sein; wahrscheinlich, weil die Erkran-
kung den Gedanken an den Tod des Vaters nahelegt und der Verlust
seiner Person und damit seiner Liebe die ärgste Strafe für die ver-
schiedenen Sünden wäre. Daß die geringfügige Erkrankung des
Vaters bei ihr doch Phantasien über seinen Tod hervorgerufen haben,
erkläre ich mir damit, daß sie ja bei sich selbst kleinste Anlässe als
Todesdrohung empfinden konnte. Da der Vater nach kurzer Zeit
wiederhergestellt war, konnte dann die Ermäßigung des Konfliktes
von selbst eintreten.
Die Wendung Annies gegen die Mutter trat erst während der Er-
krankung des Vaters auf, sie setzt sie herunter, um ihn umso höher
stellen zu können, sie macht so das gute Einvernehmen rückgängig,
das sich während der Erkrankung mit der Mutter hergestellt hatte.
Sie ist nur mit der Mutter böse, sagt auch, daß sie selbst kein Mädchen
sein will, daß alle Frauen „minder" sind.
Meine Mitarbeit bei der Behebung der Einschlafstörung ist leicht
zu umschreiben: Ich habe beruhigt teils direkt durch Worte, teils
indirekt durch Vervollständigung der sexuellen Aufklärung. Außer-
dem scheint Annie mein Bemühen um das Verständnis ihrer Ängste
und Schwierigkeiten angenehm empfunden zu haben. Günstig war
auch der Zeitpunkt der sexuellen Aufklärung gewählt, diese wirkte
darum hier beruhigend, während sie sonst bekanntlich auch angst-
steigernd wirken kann. Auch fand das Kind bei mir Hilfe gerade in
dem Moment, als die Mutter sich von ihr abwenden und dem kranken
Vater zuwenden mußte. Als Frau habe ich die ßoUe der Mutter über-
nommen, als Schulleiterin aber eher eine Rolle gespielt, die mit dem
selbständigen, verantwortungsvollen Beruf des Vaters vergleichbar ist.
miiiiiiiiiiiiiMiiiiiiiiiiiiiiraiiiiiiiiiiuiiitiiiiH^^
B E R I C HTE
Eine Richtigstellung
Von Ernst Sdineider
Es ißt gewöhnlich nicht üblich, einer Buchbesprechung eine Entgegnung
folgen zu lassen. Ich würde eine solche auch unterlassen haben, wenn die
Aufnahme der Beurteilung meines „Psychodiagnostischeu Praktikums" durch
"W. Marseille in der letzten Nummer dieser Zeitschrift nicht leicht miß-
verstanden werden könnte.
Der Kernpunkt der Kritik ist die Behauptung, die Rorschachsche Arbeit
sei auf dem Boden der Psychoanalyse gewachsen und müsse auch von hier
aus zur Darstellung gebracht werden, während mein Praktikum „diesen nicht
mir histori.cch, sondern vor allem sachlich bedeutsamen Zusammenhang gänz-
lich vermissen lasse". Demgegenüber muß festgehalten werden, daß es die Ver-
fahren der experimentellen Psychologie waren, nach denen Rorschach seine
Methodik aufbaute, seine Teste eichte und die Vereuchsergebnisse verarbei-
tete. In meiner Einführung wählte ich den gleichen Weg des Aufbaues zu
einem Praktikum, wie ich es als Seminarübungen mit meinen Studenten der
Psychologie und Pädagogik, ihnen angepaßt, durchführte. Wenn man R o r-
schachs Diagnostik durchgeht, wird man feststellen können, daß die Termino-
logie, soweit sie nicht eine eigene ist, der experimentellen Psychologie und
der Psychiatrie Bleulers entstammt, sich auch an Jung anlehnt (intro-
versive und extratensive Einstellung).
Das psychologische Denken geht auf Anregungen der experimentellen
Psychologie und der Psychoanalyse zurück. Der Anstoß zu den Forschungen
kam nicht von einer analytischen Fragestellung, Ich lese in einem Brief Ror-
schachs aus dem Jahro 1921: „Ausgegangen ist der Versuch eigentlich von.
Untersuchungen über RefJexhalluzinationen. Daß die ganze psychiatrische
Auffassung und die psychologische Denkweise auf die Einflüsse Bleulers und
seiner Schriften zurückgeht, ist natürlich richtig." - mnn
Der Psychoanalyse widmet Rorschach in seiner Psychodiagnostik zwei
Seiten und betont dort den diagnostischen Wert seines Versuchs für den
Analytiker, bemerkt aber weiter: „Komplexdeutungen, die unbewußte, ver-
drängten affektgeladenen Komplexen entstammende Inhalte ans Tageslicht
bringen, sind auffallend selten." — „Als Methode, um ins Unbewußte einzu-
dringen, kommt der Versuch somit nicht in Betracht; zum mindesten steht er
hinter den tiefcnpsychologi sehen Methoden, Traumdeutung, Assoziations-
experiment usw. weit zurück. Das ist aus dem Grunde verständlich, daß der
Versuch ja nicht ein Frei-aus-dem-Unbewußten-sch äffen hervorbringt, son-
dern eine Anpassung an gegebene äußere Reize verlangt, eine Aktion der
,fonction du r^el'." Was liier Rorschach verneint, das bejaht Marseille,
und er geht sogar so weit, zu verlangen, daß man die „grundsätzliche Ver-
wandtschaft des Rorschach sehen Test Verfahrens mit der Methode der freien
Einfälle bei einer einführenden Darstellung des Rorschach tests zum leitenden
Berichte 55
Gesichtspunkt zu machen" habe. Es mag hier ein anderer Auszug au8 einem*
Briefe Rorschaehs folgen: „Die Arbeit ist aus zweierlei psychologischem
Denken entstanden, aus analytischem und fachpsychologisehem. Nun ist die
Folge, daß der Fachpsychologe elo als zu analytisch empfindet und der Ana-
lytiker vielfach darum nichts davon versteht, weil er am Inhalt der Deutungen
kleben bleibt und keinen Sinn für das Formale hat." Marseille wendet sich
dagegen, daß aueli in meinem Praktikum das Formale zum Ausgangspunkt
der Diagnose genommen wird. Ich hätte das Hauptgewicht „mehr auf die Er-
läuterung der Auswertung der einzelnen Antworten an einer Reihe von
besonders eindrucksvollen Beispielen" legen sollen. Ich bleibe aber aus ver-
schiedenen Gründen Rorschach treu und nehme den formalen Befund zur
Grundlage einer Diagnose, und es ist besonders für den Anfänger wichtig,
daß er diesen „historischen und sachlichen" Anschluß an Rorschach gewinnt.
Fortgeschrittene und besonders analytisch Erfahrene werden mit Vorteil zu
einem weiteren Herausarbeiten des diagnostischen Bildes an die Untersuchung
der Inhalte der Deutungen und ihres Zusammenhanges gehen. Einer solchen
Fortentwicklung seines Versuches hat sich Roreehach wenige Monate vor
seinem Tode zugewandt, besonders angeregt durch einen nichtanalytischen
Kollegen, dem er schrieb: „Was haben Sie seither mit den Inhaltsanalysen
weiter gemacht? Ich habe allerlei noch Unklares beieinander." Aus einem
Brief, den er mir kurz vor seinem Tode schrieb, ist zu entnehmen, daß er zu
positiven Ergebnissen gekommen war. Es zeigte sich nämlich, daß man wahr-
scheinlich aus einem Vergleich zwischen Inhalten und Formal psych ogramui
ziemlich weit in unbewußte Vorgänge hineinselien könne. Um die Frage aber
weiter zu verfolgen, würden besondere Klexbilder notwendig sein.
Seine letzten Funde hat Rorschach leider mit sich in Grab genommen, und
wir haben auch bei der heutigen Sachlage noch keine Veranlassung, gerade
den Anfänger vor die genannten Aufgaben zu stellen. Mein Praktikum enthält
zerstreut mancherlei Hinweise; es mahnt aber auch zur Vorsiclit. Zu einer
Einführung in den Versuch von der Psychologie des freien Einfalls aus steht
mein Praktikum niclit im Wege.
Daß der Klexversuch überhaupt diese Tiefe und Breite erreichen konnte
und daß er sich besonders zur Diagnostik der Neurosen eignet, verdankt er
sicher psychoanalytischem Wissen und Denken. Eine Darstellung des Ver-
suches, wie sie auch immer aufgebaut ist, nimmt diese Anteile ohne weiteres
mit. Nun schreibt aber Marseille, nachdem er über die Mögliclikeit diagno-
stischer Erhebungen im Sinne der analytischen Neurosenlehre gesprochen
hat: „Ist es auf die fachliche Einengung des analytischen Interesses zurück-
zuführen, wenn man die Vernachlässigung dieser und iihniicher Befunde so
stark als Mangel des Buches empfindet?" Ich hätte die Begabungsdiagnosen
ungebührlich bevorzugt. Ich biete in meinem Praktikum 20 diagnostische
Beispiele. Darunter sind 8 Diagnosen von Begabten, Unbegabten und Schwach-
sinnigen, 8 von neurotischen, 2 von depressiven, eine von einer psychopathi-
schen und eine von einer schizophrenen Versuchsperson. Dabei sind die krank-
haften Erscheinungen so geschaut, wie uns dies die Psychoanalyse gelehrt
hat. Die gegebenen Beispiele lassen sich gewiß weiter ausfülircii, und man
56 Berichte
kann insofern von einer „Einengung" sprechen, als ich mir Beschränkung
auferlegte und nur mit Vorsieht ins Gebiet neurotischer und psychotischer
fragen eintrat, um mir nicht den Vorwurf zuzuziehen, ich leite Psychologen
zu einer Diagnostik an, die dem Arzte vorbehalten sei. Hat doch ein Verlag
die Herausgabe abgelehnt, weil er schon in der vorliegenden Fassung einen
Einspruch von medizinischer Seite befürchtete. Im übrigen muß ich wieder
betonen, daß das Rorschachsche Verfahren ein diagnostisches und kein thera-
peutisches, insbesondere psychoanalytisches ist. Eino Kritik hätte sich die
Frage vorzulegen, ob die von mir gebotenen Diagnosen auf Grund der Ver-
suchsprotokolle richtig seien oder nicht. Das ist das Entscheidende.
Ich habe mich in meinem Praktikum bemüht, die vielen medizinischen und
andere dem Pädagogen weniger verständliehen Fachausdrucke zu verdeut-
schen. Das veranlaßt Marseille zu schreiben: „Auch die Sprache, deren sich
Schneider in seiner Darstellung bedient, ist der typischen Denkweise des
gebildeten Lehrers angepaßt; in ihrer Terminologie appelliert sie an die
psychologische Allgemeinbildung, wie sie gegenwärtig bei einem Akademiker
in Deutschland voriius gesetzt werden kann." Was den Vorwurf betrifft, ich
hätte meinen Ausführungen die Psychologien verschiedener Forscher zu-
grundegelegt, so sagt Rorschach selber, daß seiner Arbeit verschiedene
Psychologien Gevatter gestanden sind, und sie wird auch diese Tatsache bei
aller Verdeutschung nicht verleugnen können. So ist es eben nicht möglich,
sie restlos für die Psychoanalyse zu beanspruchen, wie Marseille das tut,
wenn er schreibt: „Wenn Schneider jene bedeutsamen diagnostisclien Fragen
nach der psychischen Struktur behandelt, so geschieht es in Anlehnung an
die Denkweise und die Terminologio anderer psychologischer und charaktero-
logischer Schulen, nicht im Sinne der von der Psychoanalyse entwickelten
Gesichtspunkte. Dafür nur ein Beispiel: das Verdrängte und seine Wirksam-
keit wird dem Leser in der Terminologie Krelschmera als .energetisches
Nehenzentrum' vorgestellt."
Nehmen wir an, Marseille hätte recht, Rorschach hätte sein Kind aus
einem psychoanalytischen Gedankenkreise zur Well gebracht und ich würde
nun absichtlich mein Praktikum den psychologischen und pädagogischen Insti-
tuten, für die es in erster Linie berechnet ist (stehe Einleitung), angepaßt
haben, so wäre es doch begreiflich, daß ich die Sprache derjenigen sprechen
würde, die ich zu Gast einlade'? Man wird mir entgegenhalten, einen
solchen Brückenbau dürfen andere vornehmen, nicht ich, der ich in der Zeit-
schrift für psychoanalytische Pädagogik mitzeichne. Nun hat aber Rorschach
mit dem Handwerkszeug der psychologischen Institute gearbeitet. Seine
IJestrebungen, sie zu bewegen, den Versuch zu übernehmen, auszuprobieren und
weiterzubilden (Berufsberatung) scheiterten, weil mau dort der Ansicht war,
eeine Diagnostik sei für medizinische Zwecke zugeschnitten. Mein Praktikum
knüpft an jene Bestrebungen an und gibt den genannten Instituten in der
Arbeit Rorschachs das mit reichlichen Zugaben wieder, was er von ihnen
bezogen hat.
Mit dem Praktikum entstand eine allgemeine Psychologie unter der Über-
Berichte 57
Schrift „Psychologie der Person". Ich entwarf hicfür ein Bezugsgerüst und
suchte für die hypothetischen Fragen einen entsprechenden „metapsycholo-
gischen" Standpunkt zu gewinnen, um die psycliologischen Tatsachen, die
psychoanalytischen inbegriffen, einbauen zu können. In meiner Arbeit
„Psychoanalyse und Pädagogik" (Manns Päd. Magazin. Heft 1303. 1930) habe
ich gezeigt, daß die psychoanalytischen Tatsachen, ohne daß ihnen Gewalt
Angetan wird, in das von mir entworfene Bezugsgerüst der Person eingebaut
werden können. Vor die Aufgabe gestellt, eine allgemeine Psychologie zu
vertreten und zu lehren, reichten die Bezugsschemata der Psychoanalyse noch
nicht aus, und bei meiner Bemühung um die Terminologie konnte ich viele
■auf dem Boden der Neurosenlehre gewachsenen Ausdrücke, die dort sinnvoll
sind, nicht einfach übernehmen. Darauf habe ich vor längerer Zeit in einem
Vortrage in der Versammlung der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft
in Dresden hingewiesen. Sohjelderup, der vor der gleichen Aufgabe stand,
half sich, indem er in seiner Psychologie der Psychoanalyse ein besonderes
Kapitel unter der Überschrift „Die Persönlichkeit und ihre Konflikte" wid-
mete, sonst aber seine Terminologie auf Experimentalpsychologie und Beha-
■viorismus abstellte.
Bei der Bestimmung der „Charakterstruktur" im Rorschachschen Versuch
könnte man etwa von den libidinösen Typen Freuds ausgehen, um den For-
derungen Marseilles zu genügen. Doch finden wir bei Eorschach ein weiter
umfassendes und mehr differenziertes charakterologisches Bezugsgerüst, in
das sieh jene Typen leiciit einbauen lassen, ein Gerüst, das auch einer aus
der allgemeinen Psychologie entwickelten Charakterologie besser dient. Wir
entwerfen ein dreidimensionales Koordinatensystem. Die erste Achse stellt
die „L e b e n s b re i t e" dar, das Hineingestelltsein der Person in den Zu-
sammenhang Innen-Außen. Hier können wir den Standpunkt bestimmen, von
dem aus die Person gewohnheitsmäßig ihr Gleichgewicht zu gewinnen und zu
erhalten sucht, und wir gelangen so zu den Rorschachschen Typen des Extra-
tensiven, Introversiven, Ambiaequalen und den extremen Zustandsformen des
Extravertierten und Introvertierten. Die zweite Achse ist die der ,,Lebens-
länge". Sie steht für das Eingespannteein der Person zwischen die Pole
Tod und Leben. Hier können wir die Menschen einordnen nach dem typischen
Verhältnis von Einstellungs- und Umstellungsfähigkeit, der Tendenz des Ver-
harrens und des Veränderns, der Stabilität, Festigkeit, Stereotypisierung und
Lockerung und wie die von Rorschach gebrauchten Ausdrücke alle heißen. Die
dritte Achse steht für die „E r le b n i s w e i t e". Hier lassen sich die Typen
nach den von Rorschach geprägten Begriffen der Koartation (Einengung) und
Dilatiemng (Ausweitung) einsetzen. Es kommen noch weitere Achsen dazu,
wie etwa die der mann- weiblichen Differenzierung. In diesem Bezugsgerüst
lassen sich die charakterologischen Orte der Gesunden, Neurotiker, Psycho-
tiker, als der Ort, wo sich die typischen Achsen Her Person schneiden, be-
stimmen. Hier finden die libidinösen Typen Freuds mit ihrer Orientierung
an Es, Ich, Über-Ich und Außenwelt ihren Platz und ebenso andere Typen-
aufstellungen. Ich glaube nicht „in Anlelmung an die Denkweise und die
Terminologie anderer psychologischer und chaiakterologischer Schulen" ge-
58 Bericlite
schrieben zu Laben, ebensowenig „im Sinne der von der Psychoanalyse ent-
wickelten Gesichtspunkte", sondern einfach im Sinne von Rorschach.
Und nun greife ich noch das von Marseille ausdrücklich gegen mich
ins Feld geführte Beispiel des „energetischen Nebenzentrums" auf. Unter
„Person und Charakter" gebe ich in meinem Praktikum eine sehr gedrängte
Darstellung des „Gefüges der Person" und entwickle das entworfene Bezugs-
gerüst der allgemeinen Psychologie. Ein Abschnitt beschäftigt sich mit dem
seelischen Konflikt, der, entstanden aus Handlung und Gegenhandlung, durch
einen dritten Handlungszug zur Verdrängung gebracht wird. Handlung ist
für mich das psychologische Element, in dem die Person lebt, so wie die Zelle
der biologische Baustein ist. Nun suchte ich für das durch die Verdrängung
entstandene Gebiet der Person einen Namen, wie ihn auch die übrigen Hand-
iungsgefüge erhielten. Aber ich fand keinen passenden. „Das Verdrängte"
schließt das Verdrängende nicht ein, ist also zu eng. „System UBW" ist zu
weit, denn es gibt noch andere Handlungsgefüge, die unbewußt wirksam sind.
Dem von Schilder verwendeten Ausdruck „Sphäre" fehlt die Eigenschaft
„unbewußt"; auch umfaßt er mehr als die Verdrängungeerscheinungen. Nun
hat Kret Schmer die Bezeichnung „energetisches Nebenzentrum" vorge-
schlagen. Sie liegt mir nicht, weil sie zu stark physiologisch durchtränkt ist,,
aber sie scheint mir von allen bisher vorgebrachten den Sachverhalt am an-
schaulichsten wiederzugeben. Die besondere Aktivität drückt sich im Wort
„energetisch" aus. Das „Neben" kann zwei Bedeutungen wiedergeben- Di©
erste Handlung kann nicht zu Ende geführt werden, sie wird gehemmt und
auf ein „Nebengeleise" geschoben und bildet dort „neben" der Erfahrung^-
grundlage, „System VBW", ein Sondergebiet. Aus „Zentrum" mag man die
Wichtigkeit herauslesen. Da ich mit der Fassung Kretschmers nur bedingt
einig gehe, setze ich sie in Klammern. Den Sachverhalt der Verdrängung
glaube ich richtig wiedergegeben zu haben, und das dürfte das Wesentliche
sein.
m
x*^*n
Über die Erziehung der Kinder
„Oll tbc bringiiig up «f childrcn" by Pive Psycho-Aiialysts (Susan Isaacs,
Melanie Klein, Mcrcll P. Middlemore, Niua Scarl, Ella Frccman Sbarpe).
Editcd by John Rickman. London 1936, ICcgan Panl.
Das vorliegende Buch ist aus einer Reihe von Vorträgen entstanden, die
von verschiedenen Londoner Analytikern für Eltern und Erzieher gehalten
wurden. John Rickman, der Herausgeber, hat dazu eine Einleitung ge-
schrieben. Er stellt die Pädagogik in den großen Zusammenhang unserer
Kultur ein, indem er ihre Abhängigkeit von Wissenschaft und Gesellschaft
aufzeigt.
„Hinter dem großen Umschwang in der Pädagogik, der zu Beginn unseres
Jahrhunderts stattfand, standen Kräfte, die teils wissenscfiaftlicher, teils sozialer
Natur waren. Die Forschungen Darwins und seiner Zeitgenossen halten neue
Lebensaspekte eröffnet; eine Theorie, die ursprünglicfi nur für Pflanzen und
niedere Tiere Geltung haben sollte, drang in alle Zweige des biologischen und
sozialen Denkens ein. zerstreute den Glauben an die Unwandelbarkeit der Arten,
bis sie schließlich auch alle Ideen über die Potentialiiät der Spezies Mensch
selbst revolutionierte. Die Frauen waren in ihrem Denken selbständiger geworden
und wagten es nun, ifire Kinder als Menschen anzusehen, die wertvoll und
interessant waren wegen der in ihnen vorhandenen EnlwicklungsmSglichkeiten;
früher hingegen hatte die Tendenz bestanden, sie einfach als eine unfertige
Abart der Erwachsenen zu betrachten, die man nach dem Ebenbild der Eltern
oder der Gesellschaftsklasse, in die sie nach dem Willen Gottes hineingeboren
waren, zu formen hatte. Solange die Erziehung mehr eine Angelegenheit der
Tradition als der Wissenschaft war, d. h. solange sie auf allgemeinen Gesichts-
punkten der Konvention, nicht aber auf individueller Beobachtung beruhte, gab
es keine Anhäufung von Wissen über diesen Gegenstand. Zu Beginn unseres
Jahrhunderts brach die Erziehung mit der Tradition; die Lehrer begannen auf
eine neue Art zu beobachten und halfen bei der Emanzipation des Kindes, indem
sie den Eltern zeigten, wie sie den Jungen bei der Aufgabe des Aufwachsens und
Erwachsens behilflich sein konnten, — Disziplin der Disziplin wegen wurde ver-
worfen. Jedoch — so wertüotl dieser Fortschritt war, Eltern und Lehrer hätten
keine gründliche Veränderung der Erziehung zustande gebracht. Dies wurde erst
möglich, als ein neues Forschungsinslrument auftauchte, das tiefer und weiter
in den Geist des Kindes einzudringen vermochte." (S, VII ff).
Dieses Forschungeinstrunient ist die Psychoanalyse. Auch in diesem Falle,
wie bei Darwin, hat eine Wissenschaft weit größere Gebiete als ursprüng-
lich beabsichtigt, in ihren Bereich gezogen, u. a. auch dio Pädagogik. Die
Psychoanalyse hat dio Kenntnis vom Wesen des Kindes um das Wissen vom
Unbewußten erweitert, gleichzeitig aber auch wesentlich kompliziert. „Die
Entwicklung der kindlichen Psyche ist viel komplizierter als man früher ange-
nommen hat und man kann dieser Entwicklung großen Schaden zufügen, wenn
60 über die Erziehung der Kinder
7710« eine Erziehungsmethode anwendet, die diese Komplexität unterschätzt.
Wenn man diese Zusammengesetztheit versteht, hat man keinen Grund, sie zu
fürchten. Die Menschen haben sich wohl im Laufe der Zeiten mehr durch vor-
eilige Vereinfachungen geschadet als durch die Verwirrung, in die sie durch die
Komplexität einer Erscheinung geraten sind; Vereinfachungen nämlich haben
die Menschen glauben lassen, daB sie ein Problem beherrschen, während sie in
Wirklichkeit nur bei Schlagwörtern und Formeln Zuflucht gefanden haben "
/S. IX.)
Auch die Psychoanalyse ist der Gefahr von seilen jener, die sie, nur halb
verstunden, zu vereinfachen suchten, nicht immer entgangen; Eltern und
Erzieher wurden oft genug enttäuscht durch unzureichenden ßat, begründet,
aber nicht entschuldigt durch mangelhaft g Kenntnisse. „Enthusiastische Ge-
folgschaft, die doch nicht genau genug folgt" schadet der Sache, ebenso wie
diejenigen, die sie zu vertreten vorgeben, aber nur Halb- und Mißverstan-
denes verbreiten. Eines dieser Mißverständnisse ist der falsche Schluß, es gäbe
keine neurotischen Kinder, wenn nur die Eltern sie richtig behandelten. Man
tut dabei den Eltern Unrecht und neigt dazu, Schwierigkeiten, die in der
Psyche des Kindes begründet sind, zu übersehen.
Als erste dieser immanenten psychischen Schwierigkeiten, die neurosen-
bildend wirken können, nennt Rickman das Schuldgefühl des Kindes.
Der bedeutendste Faktor der Erzieliung ist die allgemeine Haltung der
Eltern und die Art, wie die Details des täglichen Lebens sieh abspielen. Dinge,
die dem Erwachsenen unwichtig scheinen, sind für das Kind von großer Be-
deutung und umgekehrt. Das gute Benehmen des Kindes im erwachsenen
Sinn sollte nicht auf Kosten der guten Beziehung zu den Erziehern erzwun-
gen werden. Der Kontakt mit den Eltern und deren Beziehung untereinander
sind das Vorbild, nach dem das Kind sich und sein künftiges Leben formt.
„Abschließend noch ein Wort über den sogenannten Einbruch der Wissen'
Schaft ins Heim. Manche Leute behaupten, der elterliche Instinkt geniige als
Führer bei der Erziehung; sie geben damit der allgemeinen Meinung Ausdruck,
Intuition und bewußtes Wissen seien unvereinbar. Das ist doch ein schwerer
Irrtum. Da die Wissenschaft vernünftig ist, kann sie zwar nicht das letzte Wort
bei der Führung menschlicher Angelegenheiten beanspruchen, aber gerade weil
sie vernünftig ist, sollte sie das vorletzte haben. Kein noch so großer Denftauf-
wand kann die Liebe ersetzen; wenn die gefühlsmäßige Haltung nicht in Ordnung
ist, kann die V erstand eshaltung scfiwer eine aasgeglichene Einstellung zur Welt
aufrechterhalten." fS. XV.)
Die Psychoanalyse macht die Pädagogik erst wirklich fähig, sich in man-
chem von der Tradition zu lösen; sie ist mehr als intellektuelles Wissen, da-
durch, daß sie hilft, das Kind besser zu verstehen und mittels dieses Wissens
eine bessere Beziehung zwischen Eltern und Kindern herzustellen.
Was B ick man einleitend von einer weiteren Perspektive her zusammen-
gefaßt hat, ist ungefähr der Umriß dessen, was in den einzelnen Kapiteln
.ausgeführt wird.
über die Erziehung der Kinder Qi
Ella Freeman Sharpe beginnt das Kapitel
„Planning tor Siabilily"
(Das Sireben nach einem konsequenten Erziehungsplan)
mit der Frage, ob die Psychoanalyse, die bisher mir negative Weisungen
gegeben hat, indem sie zeigte, welche Erziehungsfehler man vermeiden soll,
auch imstande ist, positive Ratschläge zu geben. Sie behandelt die Frage zu-
nächet aügeraein.
Das Kind ist in eine existierende Gesellschaft hineingeboren, dor es sich
anpassen muß. „Seine nächste Gemeinschaft umfaßt die Persönlichkeiten der
Eitern, ihre Beziehungen zueinander und die von ihnen ausgehende Atmosphäre
des Heims". (S. 2). Sharpe unterscheidet au. sd rücklieh zwischen Persönlich-
keit und Charaliter. „Ein Mensch kann vom erwachsenen Standpunkt aus ein
wanderbarer Charakter sein, wenn wir darunter seine sozial wertvollen Eigen'
Schäften, wie Ehrlichkeit und Willensstärke, verstehen. Diese Züge aber sind
durchaus vereinbar mit Mangel an Phantasie and Herzenskälte. Für das Baby
aber zählt die ganze emotionelle Persönlichkeit und nickt die kristallisierten
Tugenden des erwachsenen Menschen." (S. 3.) Dies gilt insbesondere für die
Mutter, mit der das Kind in seinen ersten Monaten in innigster Gemeinsamkeit
lebt. Es kommt in dieser Beziehung weniger auf die bewußten Absichten der
Mutter oder auf die ausgesprochenen Worte an, als vielmehr und ausschließ-
lich auf ihre ganze Persönlielikeit, die in ihrer Haltung dem Kind gegenüber
zum Auedruck kommt und die das Kind fühlt. Erziehungsfehler sind oft be-
deutungslos, wenn die Gesamthallung der Mutter güni^tig iet. Dio ausgedaelit
fehlerfreieste Erziehung führt zu Mißerfolg bei den Kindern, wenn die Ge-
samthaltung nicht in Ordnung ist.
Die Gesamlhaltung der Mutter zu ihrem Kind ist als Spiegelbild ihrer Be- '
Ziehung zu ihren eigenen Eltern zu verstehen. „Die Frau, die starke Reaktions-
bildungen aufgerichtet hat oder ihre unbewußte Feindseligkeit gegen die eigene
Mutter verdrängt hat, wird dem Ausdruck von Ärger und Wut bei ihrem Kind
mit verständnisloser Sirenge begegnen; sie wird kindliche Eigenheiten ah ab-
norm betrachten." (S. 4.) Sie fürchtet in ihren Verdriingiingen durch die Trieb-
üußerungen des Kindes gestört zu werden. „Sic hat nicht nur Angst vor der
Aggression des Kindes, sondern auch vor ihrer eigenen, das Kind fühlt das und
dadurch steigert sich seine Angst vor der eigenen Macht." (S. 4.)
Neben der Mutter -Kindbeziehung ist die Umgebung des Kindes im ganzen
von Bedeutung. Sharpe betont, daß die Beziehung der Eltern zueinander
die Schablone für die künftigen Beziehungen des Kindes ist, „seine Zukunft
ist durch Art und Stärke seiner Identifizierungen determiniert". Hierlier gehört
auch die Stellungnalime der Eltern in Erziehungefragen, ihre Einigkeit oder
Uneinigkeit in diesem Punkte, die das Kind spürt und sich zunutze macht,
dio Bevorzugung des ältesten oder jüngsten Kindes, des Jungen oder des
Mädchens.*)
") Sharpe beschäftigt sich hier besonders mit den Erziehungsplänen.
Die Vortragsreihe, deren ursprünglich erster Vortrag der von Sharpe war,
führte den gemeinsamen Titel; Can up-bringing be planned? (Kann man nach
einem Plan erziehen?)
62 über die Erziehung der Kinder
Pläne, die die Zukunft der Kinder aus traditioiK-llcn oder ehrgeizigen Moti-
ven der Eltern im voraus bestimmen wollen, sind in den meisten Fällen für
die Entwicklung des Kindes schädlich; dies ist allen, die sich über die kind-
liche Individualität Gedanken machen, klar. Weniger selbstverständlich, aber
von mindestens ebenso großer Bedeutung, ist der Hinweis Sharp es, daß
auch andere Erziehungsmaßnahmen, auch die sogenannt wissenschaftlichen,
dem Kind schaden können: „Ernährung und Erziehung. Regulierung von Zeit.
-Dauer und Anzahl der Mahlzeilen können nach wissenschaftlichen Prinzipien
bestimmt werden. Und dennoch können alle diese .Plane' fehlgehen. Wenn die
Eltern dabei nicht die Individualität des Kindes in Betracht ziehen und die
Pläne nicht mit Einsicht, vor allem aber mit Liebe sorgfällig prüfen. Das Bewußt-
sein, daß auch in Ellern möglicherweise eine unbewußte Feindseligkeit gegen die
geliebten Kinder vorhanden sein kann, sollte dazu veranlassen, sich Rechenschaft
zu geben über die eigenen Motive für jene Pläne und Experimente, die man an
den Kindern ausführen will. Sogar der Ernährungsplan, der auf höchst glaub-
würdiger physiologischer Erfahrung basiert, kann verhängnisvoll wirken, wenn er
zu hartnäckig und unbeugsam festgehalten wird, ohne das individuelle Kind
und seine Ängste mit in Betracht zu ziehen". fS. 8}.
So wie bei den bisher aufgezählten Sciiwierigkeiten die unbewußten Motive
der Eltern eine Rolle spielen, „können es dieselben Motive sein, die die Eltern
dazu veranlassen, jede fremde Hilfe abzulehnen, aus Angst, sie könnte ihre
Pläne, die sie .zum Besten des Kindes getroffen haben, stören. Es gibt aber Fach-
leute, wie Ärzte, Psychologen und Erzieher, deren Erfahrung alle Eltern zu irgend
einem Zeitpunkt brauchen. Die Anregungen dieser können, richtig verwendet, oft
helfen, eine bessere Beziehung zwischen Eltern und Kindern herzustellen. Eltern,
die imstande sind, ihr eigenes Unbewußtes zu prüfen, werden dabei zwei Extreme
vermeiden: die ganze Verantwortung auf den Fachmann abzuschieben oder —
feden Rat des Fachmanns von vornherein abzulehnen". (S. JO.j
Nur jene Erziehungspläne, die gewisse Tatsachen, die die Psychoanalyse
erschlossen hat, einbeziehen und auf ihnen basieren, haben Aussieht auf Erfolg.
yyte wichtigste dieser Tatsachen ist, daß das Kind a.uf dem Wege vom Säug-
ling zum Erwachsenen eine Reihe von psychischen und physischen Entwick-
lungsstufen durchmachen muß; jeder Versuch, die Entwicklung zu beschleuni-
gen, stört sie aufs empfindlicliste. — Psychisch und physisch ist das Kind von
der Umgebung abhängig. Die psychische Gesundlieit wieder hängt von der
physischen in hohem Grado ab, ebenso aber von der Einstellung der Um-
gebung zum Körper und den körperlichen Funktionen. Sharpe zählt einige
von den Störungen auf, die die ruhige Entwicklung des Kindes unterbrechen
können: „Zu starke Licht- und Geräuschreize; Ablenkung durch neue Menschen
und deren Aufmerksamkeil; übertriebene Anstrengungen der Eltern, Zeichen
von Liebe und Intelligenz hervorzurufen; das Drängen nach Leistungen irgend-
einer Art, bevor das Kind so weit ist; zu häufiger Wechsel der Umgebung, bevor
das Kind die bisherige verarbeiten konnte; zu starres Festhalten an Regeln
betreffs Ernährung und Reinlichkeit, z. B. das Aufwecken der Kinder zum
Urinieren. Auch ein Wechsel von verschiedenen Erziehungspersonen zwischen
Kleinkindzeit und dem Alter von 4 — 5 Jahren kann, wenn das Kind ihnen ganz
über die Erziehung der Kinder g3
anuerfrauf ist, yon schwerwiegenden Folgen für rfie Entwicklung des Kindes sein.
Zunächst bedeutetes eine unstabile Umgebung in einer Zeil, in der das Kind selbst
in einer Periode größter physischer und emotioneller Unruhe ist und in der es den
Rückhalt an der Ruhe und Stabilität der Umgebung am meisten brauchen würde,
niexu kommen die verschiedenen Temperamente der Erzieherinnen und ihre ver-
schiedenen Maßstäbe und Forderungen in bezug auf gutes Benehmen; besonders
aber die verschiedene Handhabung der Reinlichkeitserziehung ist für ein Kind,
das mitten in dieser Entwicklungsphase steht, äußerst verwirrend". (S. 13.)
Zu diesen wichtigen Situationen, die man lieber vermeiden sollte, gehört
auch die, das Kind im Schlafzimmer der Eltern schlafen zu lassen. Die Beob-
achtung des elterlichen Koitus ist für das Kind beängstigend und dies umso
mehr, wenn es dadurch etwa aus dem Schlaf geweckt wird. Pavor uoctiiruus
und Schlafstörungen bis zur Schlaflosigkeit können in diesen Situationen
begründet sein. i
Allzu lang andauernde Beschäftigung mit dem Körper des Kinder;, auch
gut rationalisiert durch dio Sorgi> um Gesundlieit und Körperpflege, können
schwere psycho-physisehe Störungen in späteren Jahren verursachen.
So wie das Kind die Sprache ohne Dressur, nur durch Hören und Nach-
machen erlernt, ist es auch imstande, gutes Benehmen dadurch zu erwerben,
daß ihm die Umgebung das gute Beispiel bietet. Ohne dieses allerdings wird
alle Mühe vergeblieh sein.
Die Eltern können zwar dem Kind seine Aufgabe, sich zu entwickeln, nicht
abnehmen, wohl aber sie ihm durch Verständnis erleichtern. Die Saugperiode
ist für das Kind eine grundlegende Erfahrung, sein Ausgangsiiunkt hei der
Zuwendung zur Welt; ist diese Situation befriedigend gewesen, .so ist damit
eine positive Voraussetzung für seine spätere Entwicklung gegeben.
„Stabilität und Vertrauen werden langsam erworben; doch wenn man das
Rohmaterial an Trieben betrachtet, die dem Kind in seinen Entwicklungsjahren zur
Verfügung stehen, muß man staunen über das Maß an KuHarerwerbungen eines
Dreijährigen. Zuerst kennt der Säugling nur Lust und Unlust. Schmerzliche
Reize von außen, wachsende Spannung von innen werden als lebensbedrohende
Gefahren aufgefaßt, die von der Umgebung gegen ihn gerichtet sind und auf die
er entsprechend reagiert. Man muß sich daran erinnern, daß das Baby weder
Zeitgefühl noch Erfahrung hat. Es weiß nicht, daß die Spannung aufgehoben
wird, daß der Schmerz vergeht, es weiß auch zunächst nicht, daß die Brust, die
ihm jetzt gerade nicht gegeben wird, jemals zurückkommen wird. Das Ertragen
von Aufschub der Befriedigung wird nur langsam erlernt". (S. 19).
„Die Psychoanalyse hat entdeckt, daß Angst, verbunden mit Aggression, auch
bei sehr jungen Kindern von Phantasien begleitet ist, die ihre heftigen Gefühle
und ihren verworrenen, unbeständigen Kontakt mit der Umgebung ausdrücken
und je nach dem Stand ihrer Entwicklung charakterisiert sind." (S. 20.) Das
Kind phantasiert schreckliche Dinge und liat Angst, sie könnten wirklicli ge-
schehen, weil es Phantasie und Wirklichkeit nicht zu unterscheiden gelernt liat.
„Es kommt schließlich dazu, seine eigenen Triebe zu fürchten und sucht, um sie
zu beherrschen. Hilfe bei der Außenwelt. Aggressive Gedanken sind eine der
Ursachen für die Abhängigkeit des Kindes". (S. 20).
64 über die Erziehung der Einder
Sharp e weist im folgenden auf Situationen im Leben von 3— 4jährigen
Kindern hin: Krankheit und Operation, Geburt und Tod sind Erlebnisse des
Kindes, die die besondere Aufmerksamkeit der Eltern erfordern. Je jünger
das Kind ist, umso erschreckender sind solctie Ereignisse, zumal wenn mehrere
davon zusammentreffen. Sliarpe stellt zwei Beispiele aus der Analyse Er-
waelisener dar: die Schwierigkeiten des erwachsenen Patienten waren kristal-
lisiert in einem Trauma, das er mit 4 Jahren erlebte: „Auf demselben Spazier-
gang mit seiner Kinderhau fiel ein Mann von einer fiofien Leiter zu seinen
Füßen toi hin und auf dem Heimweg wurde sein kleiner Hand überlafiren"^
(S. 22). — Ein anderer Patient hatte den Vater mit 3 Jahren verloren:
„Freunde der Familie und Verwandte sprachen damals mit ihm davon, daß er
den Vater für die Mutler ersetzen, sie umsorgen und trösten müsse", (S. 23.) Er
war erdrückt von der unerfüllbaren Aufgabe und litt auch als Erwachsener
noch an denselben Unzulängliehkeitsgefühlen wie damals. Sharpe macht darauf
.aufmerksam, daß die Eltern die Kinder mit ihrem Unglück übermäßig belasten
und dadurch das Schuldgefühl der Kinder — in diesem Fall über den Tod des.
Vaters — allzusehr eleigern.
Dies führt Sharpe zur Besprechung der ödipussituation und der se-
xuellen Entwicklung. Die Analyse hat nachgewiesen, daß die sexuelle Ent-
wicklung in der Kleinkindzeit und nicht erst in der Pubertät einsetzt. Es ist.
für die Gesundheit, Liebes- und Leistungefähigkeit von größter Bedeutung,
daß diese Entwicklung ebenso ungestört bleibt wie die der früheren Phasen..
„Gewöfinlich ist ein Mensch in seinem Beruf nicht durch iniellefituelle Defekte
sondern durch psychische Konflikte gehemmt; und diese Konflikte zentrieren sich
im sexuellen Problem". (S. 25). Daher braucht das Kind für seine sexuelle
Entwicklung, „auch wenn sie sich in sexuellem Spiel und Benehmen zeigt",
dasselbe Verständnis und dieselbe Toleranz wie bei allen andern Entwick-
lungen.
„Eine ernstliche Störung, verbunden mit der Sexualität des Kindes, kann sich
auf verschiedene Weise zeigen, z. B. in andauernder Launenhaftigkeit oder Sich-
unglücklich-füklen, in Spiel- and Lernhemmang, in übermäßigem Ungehorsam,
oder auch im Gegenteil, passivem Bravsein, Gehorsam und Sanftmut, All diese
Störungen gehen letzten Endes auf sexuelle Phantasien und Konflikte zurück.
Mit diesem Problem ist die Frage nach den Formen der andauernden, heim-
lichen, körperlichen Befriedigung untrennbar verknüpft. Entsprechende Formen
der körperlichen Befriedigung sind eine Notwendigkeit, und Eltern, die das
wissen, begegnen ihr mit Spielen, Turnen, rhythmischen Bewegungen, Tanzen^
Musik u. s. w. Überdies aber wird jedes normale Kind sich selbst untersuchen
und sich gelegentlich durch Masturbation befriedigen. Das damit verbundene
Schuldgefühl und die andauernde masiurbatorische Betätigung (die den Mangel
an Interessen sozialer Art verursacht) erfordern das Eingreifen des Fachmanns.
Die Kenntnis der Eltern auch auf diesem Gebiet hilft dem Kind hierin zu einer
angstfreien Haitang. Wenn das Kind bedroht oder bestraft wird, so oft es bei
einer sexuellen Betätigung entdeckt wird, werden seine Schwierigkeiten enorm
gesteigert, hemmende Kräfte werden in Gang gesetzt, die die weitere Entwicklung
verhindern können". (S. 26),
über die Erziehung der Kinder 65
In jeder einzelnen Phase hat das Kind die ihm entsprechenden Befriedi-
guiigs- und Lustinöglichkeitcn, „Mehr Versagang als es ertragen kann, ruft die
Aggression des Kindes hervor, die in ihm durch Phantasien ausgedrückt ist,
worin die, die es ärgern, erschlagen werden". fS. 27/
Das Abstillen
behandelt Melanie Klein. Die Anulyse hat entdeckt, daß in der frühesten
Kindheit entstandene Geriilile und Phantasien auch beim Erwachsenen noch
wirksam sein können. Zu den ersten Befriedigungen des Kindes gehört das
Trinken an der Mutterbrust, seine erogene Leitzono ist zu der Zeit der Mund,
sein erslos Liebesobjekt die Mutterbrust. Melanie Klein hält die Gefühle,
Bezielmiigen und Phantasien dieser ersten Kindheitsperiode für vorbildlich
für das ganze Leben und stellt sie in ihrer Bedeutung höher als alle spateren
Erlebnisse des Menschen.
„Das Baby reagiert auf unlustvoUe Reize, auf Versagen der Lust, mit Ge-
fühlen von Haß und Aggression. Diese Gefühle von Haß sind gegen dasselbe
Objekt gerichtet wie die lustvollen, nämlich gegen die Mutlerbrast. Die analyti-
sche Arbeit hat erwiesen, daß Säuglinge von wenigen Monaten sicherlich phanta-
sieren. Ich glaube, daß dies die primitivste geistige Aktivität ist and daß Phan-
tasien beinahe von Geburt an im Kind vorbanden sind. Es scheint, daß das Kind
auf jeden Reiz, den es empfängt, sofort mit Phantasien reagiert, and zwar auf
unlnstvolle Reize, einschließlich bloßer Versagang, mit aggressiven Phantasien,
bei lastvoUen Reixen mit lustvollen Phantasien". (S. 32).
Die Phantasien des Kindes beschäftigen sich nur mit einem Teil der
Mutter, nämlich der Brust; „der Grund dafür ist darin zu suchen, daß das Kind
ein äußerst gering entwickeltes Wahrnehmungsvermögen in physischem und
geistigen Sinn auf dieser Stufe hat". Es ist ein Wesen, das nur auf Lust und
Unlust eingestellt ist. „Die Brust der Mutter, die Befriedigung gibt oder sie
verweigert, wird für das Kind der Inbegriff des Guten und ßösen . . , Die böse
Brust wird zum Prototyp des Bösen, Verfolgenden. Das ist dadurch zu erklären,
daß das Kind, wenn es seinen Haß gegen die verweigernde, ,bÖse' Brust wendet,
dieser seinen eigenen, aktiven Haß zuschreibt — ein Vorgang, den man Pro-
jektion nennt.
Gleichzeitig geht ein andrer Prozeß von großer Bedeutung vor sich, der der
Inirojektion. Darunter versteht man jene psychische Tätigfieit des Kindes, durch
die es in seiner Phantasie alles, was es in der Außenwelt erfaßt, in sich auf-
nimmt. Wie bekannt, gewinnt das Kind zu dieser Zeit seine Hauptbefriedigung
durch den Mund, der dadurch zum Hauptfianal wird, durch den es nicht nur
Nahrung, sondern, in der Phantasie, auch die Außenwelt in sich aufnimmt. Nicht
nur der Mund, bis zu einem gewissen Grad der ganze Körper mit allen Sinnen
und Funktionen, führt diesen Prozeß des Insichaufnehmens durch — z. B.: das
Kind atmet ein, nimmt auf durch Augen, Ohren, Berührung usw. — Zunächst
ist die Mutterbrust das Objekt seiner ständigen Sehnsucht, sie ist daher das
Erste das introjizieri wird. In der Phantasie saugt das Kind die Brust in sich
hinein, zerkaut sie and schluckt sie; so fühlt es nun, daß es sie hat, daß es die
Mutterbrust nun in steh besitzt, sowohl die gute, als auch die böse.
ZeitBchrift I. psa. Päd., XI '1 5
66 über die Erziehung der Kinder
Die Beziehung des Kindes zu nur einem Teil der Person ist für dieses frühe
Entwicklun^sstadium charakteristisch und in hohem Grade die Ursache für die
phantastische und unrealistische Art seiner Beziehungen zu allem, z. B. zu Teilen
seines eigenen Körpers, zu Menschen, unbelebten Objefiten, die es zunächst alle
nur unklar wahrnimmt. Man könnte die Objektwelt des Kindes in den ersten
2 — 3 Lebensmonaten beschreiben als eine Welt, bestehend aus befriedigenden
oder feindlichen und verfolgenden Teilen der wirklichen Welt". Erst nach dieser
Zeil beginnt es, ganze Meneelien zu erfassen.
„Nach wenigen Wochen kann man bemerken, daß das Baby beginnt, sich
seines wachen Lebens zu erfreuen; wenn man nach dem Aussehen urleilen will,
fühlt es sich zu Zeilen sogar ganz glücklich". (S. 32 ff). Es ist weniger eoip-
findlieli gegen äußere und innere Reize und daher elier imstande, einen Auf-
schub der Befriedigung zu ertragen.
Mit fortschreitender Objektbezieliung überträgt das Kind seine ambivalenlo
Einstellung, die ursprünglich nur den einzelnen Teilen des Objektes galt,
nun auf die ganze Por.son der Mutter. Das Kind entwickelt nun Schuldgefüiile,
„die mit seinen eigenen destruktiven Impulsen verbunden sind; seine Angst hält
diese Impulse nun für eine Gefahr gegenüber dem geliebten Objeftt" . . . „Uner-
klärliche und abnorme Depressionen" sind es nach Melanie Klein, die in diesen
Kchweren Konflikten zwischen Liebe und Haß begründet sind. Als Reaktion
auf sein Schuldgefühl und die Vernichtungswünsche der Mutter gegenüber
„entwickelt das Kind den Wunsch, wieder gut zu machen, der sich in unzähligen
Retlungsphanlasien und verschiedenen anderen Arien von Wiederherstellungs-
phantasien ausdrückt. Ich habe in den Analysen von kleinen Kindern gefunden,
daß diese Tendenzen zar Wiedergutmachung die treibenden Kräfte zu allen
konstruktiven handlangen und Interessen sowie auch zur sozialen Entwicklung
sind." Aus den aufgezählten Tätigkeiten kann der Leser schließen, daß das
Alter dieser kleinen Kinder ungefähr zwischen 5 Monaten und 2 Jahren liegt:
Steine aufeinandertürmen, aber auch „das Spielen mit den Fingern, etwas
wiederfinden, was weggerollt ist. Aufstehen und alle Arten von willkürlichen
Bewegungen — all dies ist. scheint es, mit Pfiantasien verknüpft, in welchen dos
Element des Wiederher slellens bereits vorhanden ist." (S. 38 ff). Dieselben
Phantasien von Vernichten und Wiederherstellen werden mit den Exkre-
menten verbunden. Analysen der Ein- bis Zweijährigen (S. 38), werden dafür
als Belege angeführt. — Das Kind, das solche haßerfüllte, vernichtende Ten-
denzen und Phantasien hat, kann nur durch das Erlebnis einer liebevollen und
freundlichen Realität allmählich mit sich und der Welt versöhnt werden. Dies
ist nach Auffassung der Autorin die Aufgabe der Erziehung, respektive der
Mutter-Kind-Beziehung.
Die Ängsto und Schuldgefühle des Kindes werden durch das Abstillen
reaktiviert, da dies für das Kind den endgültigen Verlust der Mutterbrust
bedeutet. Es fürchtet damit, die „gute Mutter" in der Realität and in sieh zu
verlieren.
Melanie Klein wendet eich nun von der Theorie der Praxis zu und gibt Im
folgenden eine Reihe von praktischen Ratschlägen zur Säuglings- und Klein-
kinderziehung":
über die Erziehung der Kinder 67
Die Art, wie das Baby an die Brust gelegt wird, ist wichtig; ist die Mutter
dabei ungeschickt oder ungeduldig, so entwickelt das Kind leicht Trink- und
später vielleicht Eßsehwierigkeiten. Im allgemeinen ist zwar Regelmäßigkeit
der Mahlzeiten einzuhalten; wenn aber das Kind größere Zwischenräume
zwischen den Mahlzeiten schlecht verträgt, soll man öfter füttern oder etwa
Zuckerwasser und ähnliches dazwischen geben.
Die Gefahren des Lutschers scheinen leichter zu überwinden als die
Schwierigkeiten, wenn man ihn dem Kind verweigert. Das Kind nimmt, wenn
es keinen Lutscher bekommt, die Finger, die ihm jederzeit zur Verfügung
stehen, sodaß die Abgewöhnung dadurch schwieriger wird. Sowohl die ge-
waltsame Entwöhnung vom Lutschen als auch das fortgesetzte Lutschen ent-
halten die Gefahr einer übermäßigen oralen Fixierung, Die Aufgabe des
Erziehers ist es, zu versuchen zwischen dieser Scylla und Charybdis durch-
zukommen; dies wird erreiclit durch milde Versagung zur richtigen Zeit —
d. h., wenn entweder das Kind imstande ist, der Mutter zuliebe auf dieses
Vergnügen zu verziehten, oder durch Ersatzbefriedigungen, wie Süßigkeiten,
Obst und dergl.
Die Reinlichkeitserziehung soll erst nach dem Abstillen systematisch
begonnen werden, um dem Kind nicht zuviel Vereagung auf einmal zuzufügen;
die Reinlichkeiteerziehung soll niemals streng sein.
Die Sexualität des Kindes ist sehr bald schon mit dem Genitale verbunden;
auch in dieser Entwicklung soll das Kind ebenso wenig wie sonst gestört
werden. Wenn dio Masturbation exzessiv wird, ist dies Zeichen einer Störung,
die die Eltern dazu veranlassen sollte, Hilfe bei Fachkundigen zu suchen. Die
Haltung der Eltern gegenüber den sexuellen Äußerungen des Kindes, ob sie
sich auf oralem, analem oder genitalem Gebiete ausdrücken, ist wichtig für
seine spätere Einstellung zu sich und den Objekten. Die Mutter speziell hat
die Aufgabe, die Liebesäußerungen des Kindes freundlich anzunehmen, ohne
doch allzu große Befriedigungen zu gewähren. Sie muß ihre eigenen eroti-
schen Bedürfnisse in der Beziehung zum Kind kennen und beherr-cclien.
Damit soll aber nicht gemeint sein, daß sie das Kind nicht küssen, strei-
cheln und auf den Schoß nehmen darf — denn auch das braucht das Kind
dringend. Zu den sexuellen Aufregungen, die man vermeiden soll, gehört das
Selilafen im Schlafzimmer der Eltern,
Melanie Klein schließt mit einigen Ratschlägen bezüglich der Entwöhnung;
wenn man z. B. das Kind mit 8 — 9 Monaten entwöhnt haben will, soll man
mit 5—6 Monaten eine Brustmahlzeit durch die Flasche ersetzen und jeden
Monat eine Flasche mehr geben. Gleichzeitig soll man anfangen, andere Nah-
rung zu geben, und wenn das Kind daran gewöhnt ist, mit der Entwöhnung
von der Flasche anfangen. Das Kind soll nicht gezwungen werden, mehr zu
essen, als es will, oder etwas zu essen, das es nicht will; es soll die Nahrung
bekommen, die es gern hat, und ohne jeden Versuch, ihm gute Tischmanieren
beizubringen.
Kinder, die ganz mit der Flasche aufgezogen sind, zeigen manchmal keine
besonderen Schwierigkeiten, doch ist in der Analyse immer eine tiefe Sehn-
sucht nach der nie genossenen Brust festzustellen. „Erfolgreiche Brustnahrung
68
über die Erziehung der Kinder
ist immer ein wichtiges Fundament der Entwicklung; einige Kinder entwickeln
sich, auch wenn sie diesen grundlegend günstigen Einfluß nicht erlebt haben,
sehr gut." — Das Abstillen bedeutet nicht nur die Entwöhnung von der Brust
und die Gewöhnung an andere Nahrung, sondern wichtiger iils dies ist, daß
das Kind mit seinen inneren KoHflikten fertig wird und lernt, Versagung
zu ertragen; „damit aber wird es erst aufnahmslähig für alle jene Quellen von
Genuß und Befriedigung, die man braucht, um ein volles, reiches und glück-
liches Leben aufzubauen".
MereU P. Middleniore behandelt das Kapitel
„The US e s of sensualit y",
vrobei sie als „sensuality" (Sinnlichkeit) jede Lust an Körpergefühlen definiert.
Wir werden wieder an das ursprüngliche Thema erinnert: es handelt sich
um die Frage, wie man es durch Überlegung einrichten könnte, daß das Kind
sich seiner Körpergefühie ohne Öchuldgefühi und Angst erfreue. Damit wäre
die Grundlage für eine günstige Entwicklung gegeben. Middlemore unter-
scheidet drei verschiedene Typen von Sinneserfahrung:
1. Die Öinnesempfindung (Sensualttät) einer einzigen unabhängigen Zone,
z. B. des Mundes;
2. Die Sinnesempfindung (Sensualität), die durch Koordination einer Zone
mit einer andern charakterisiert ist, z. B. Muskel- und Tastsinn der Hand mit
Auge und Ohr;
3. Die Sinnesempfindung (Sensualität). die z. T. von einer lokalisierten
Genitillempfindung kommt, z. T. von der Gesamtreaktion des Körpers auf
den Kontaktreiz mit andern Menschen.
Für jeden einzelnen Typus gilt es herauszufinden, welchen sofortigen
Nutzen diese Form der Sensualität. für die Entwicklung hat.
Ad 1) Das Lutschen hat den Zweck, die Spannung des Kindes zu lösen,
indem es ein lustvolles Körpergefühl erzeugt. Das ist besonders deutlich dann
zu sehen, wenn das Kind Schmerzen hat, z. B. beim Zahnen, aber auch bei
jeder andern Art von Unlust. Es stellt durch das lustvolle Saugen ein gewisses
Gleichgewicht zu seiner momentanen Unlust her. Es ist anzunehmen, daß der
Rhythmus des Saugens dabei von besonderer Bedeutung ist, weil dadurch die
angenelime Erinnerung an das Saugen an, der -Brust mit den damit verbun-
denen Phantasien hervorgerufen wird.
So wie das Lutschen den Sinn hat, das Gleichgewicht zwischen Lust und
Unlust wieder herzustellen, entwickelt das Kind auch noch andere körper-
liche Lustgefühle, die es befähigen, eich von einer Spannung zu befreien.
Die Erwachsenen haben nichts anderes zu tun, als es dabei nicht zu stören.
Für das Kind ebenso natürlich wie das Lutschen ist die Onanie. Man soll ee
darin nicht stören. In beiden Fällen soll man dem Kind mit Spielsachen,
Essen u. s, w. auch andere Befriedigungsmöglicbkeiten bieten. Ein gesundes
Kind wird davon Gebrauch machen — tut es das nicht, so sind entweder die an-
gebotenen Betätigungen nicht die richtigen oder es liegt bereits eine Störung
vor. Ob man aber Lutschen oder Onanie aus irgendwelchen Gründen ein-
schränken will, es soll mit aller Liebe und Geduld geschehen, denn gerade
über die Erziehung der Kinder 69
wenn man dem Kind so eine Versagung auferlegt, soll es in der Liebe der
Erziehungspereon eine Kompensation für den Verzicht finden.
Auch unangenehme Sensationen sind von Bedeutung für die Entwicklung
des Kindes: das Kind lernt Teile des Körpers als zu sich gehörig erkennen,
lernt die Grenzen seiner Kraft kennen; Sehmerz und die Erfahrung, etwas
nicht zu können, helfen, seine Kealitätskenntnis aufzubauen. Dasselbe gilt
für alle Dinge, mit welchen das Kind in Berührung kommt. Es ist daher
wichtig, daß die Eltern ihm nur die notwendigsten Grenzen der Erfaiirung
setzen; jedes Spielzeug soll in jeder Art, die das Kind versucht, benützt
werden dürfen und es soll möglichst mannigfaltig sein. Das berührt die Frage,
ob man das Kind überreizen kann, indem man ihm zuviel bietet. Middlemore
verneint dies entschieden. Das Kind soll müglichst viele Dinge kennenlernen
können, allerdings obno daß der Erwachsene sie ihm aufzwingt. Sie sollen
da sein, es soll sie benützen, zerstören oder unbeachtet lassen dürfen, wio
es will. Jedes Material wird dem Kind neue Gefühle und Empfindungen ver-
mitteln und wird dazu benützt, seine Phantasien auszudrücken.
Ad 2) Das Sprechenlernen biete ein Beispiel für Muskellust: das Kind
bettiti'^t bei seinen Sprechversuchen Muskelpartien des Mundes, der Lippen,
des Gaumens, die es bisher wenig benützt hat. Es fühlt ein körperliohea
Behagen dabei; dazu kommt noch das Hören und schließlich das Vergnügen,
sich verständlich xu machen. Manche für das Kind lustvolle Betätigungen
seiner Muskulatur sind für die Eltern unangenebni oder umgekehrt: Die
Mutter möchte vielleicht gerne, daß das Kind gehl — das Kind hat aber daran
noch gar kein Vergnügen. Hingegen macht es ihm Spaß, mit irgend etwas
Krach zu schlagen — was wieder der Mutter nicht gefällt. Und doch ist es
wichtig, es daran nicht zu hindern, außer wenn es unbedingt notwendig ist:
„'Wenn die Mutter das Kind daran hindert, mit seiner Klapper rhythmisch ^egen
das Bettchen zu schlagen, ist ihm die Lusi daran genommen. Es meint, die
Matter verbiete ihm jede Art von Schlagen und sie verstehe und verurteile die
Phantasien, die es mit diesem Schlagen ausdrückt; es ist sehr leicht möglich, daß
es weder diese Art von Muskellust, das Krachschlagen, wieder aufnehmen wird,
noch seine aggressiven Phantasien später auf die für das Kind nächstliegende
Art ausdrücken wird". (S. 77).
„Zunächst müssen wir feststellen, daß das Kind in diesen ersten Monaten
seine wichtigsten Reaktionen an der Brust der Mutler, in ihren Armen, auf ihrem
Schoß zeigt — an einem Ort, der ihm viel sinnlichen Anreiz bietet. Manches,
was es hier tut, wie ruhiges Trinken, ist angenehm; anderes bringt es zur Ver-
zweiflung; da sind die Stöße und das Sichwinden, womit es seinen Arger aus-
drückt und das sich rasch in eine Art Ringkampf mit der Matter verwandelt.
Andere Funktionen, wie die exkretorischen, sind, je nach der Laune des Kindes,
haßerfüllt oder liebevoll betont. Wenn es bÖse ist, will es die Mutter mit dem
Stuhl verletzen; ist es guter Laune, so ist er ein Geschenk an sie. In jeder
Stimmung aber, ob böse oder freundlich, ist die Entladung von Energie mit inten-
siven Gefühlen verbunden, die zwar /oÄai beginnen können, sich aber sofort über
den ganzen Körper ausbreiten. Ich möchte besonders die plötzlichen Gesamt-
reaktionen des kleinen Kindes betonen. Der rasche Wechsel in Gesichtsfarbe
70 Über die Erziehung: tier Kinder
und Ausdruck zeigt wie rasch die Änderung seiner Laune vor sich geht, sein
plötzliches Schreien und seine plötzlichen Bewegungen lassen annehmen, daä es
auf jeden Reiz sofort und stark reagiert. Es gehört zu den Gesamtreaktionen,
wenn das Kind harten Stuhl absetzt im Verlauf einer allgemeinen Muskelkontrak-
tion des ganzen Körpers; manchmal schaudert es zusammen, wenn es uriniert,
und wenn es schreit, kämpft es mit dem ganzen Körper mit. Mit 3 Monaten ist
der ganze Körper an jeder Tätigkeit viel mehr beteiligt als ein Jahr später, wenn
bereits einzelne Muskelgruppen bewußt beherrscht werden.
Es erscheint mir wichtig, daß der Ort, wo das Kind diesen plötzlichen und
heftigen Wechsel von Spannungen and Empfindungen erlebt, ein angenehmer ist,
and zwar, wie bereits erwähnt, ist dies der Körper der Muller, vielmehr ihre
Umarmung. Angenehm in dem Sinn, daß der Ort dem gequälten Kind Trost und
Last bietet, so daS seine Wut und Angst rasch in erträglichere Gefühle ver-
wandelt werden können; angenehm in dem Sinn, daß der Ort friedlich ist, auch
wenn das Kind noch so böse ist; angenehm schließlich, weil der Ort nicht zu viel
Reiz bietet — das Kind hat nämlich genug damit zu tun. seine eigene Spannung
zu entladen, es braucht daher keine Erhöhung der Spannung, etwa dadurch, daß
man es kitzelt oder es in der Luft tanzen läßt. Ich meine also, daß der früheste
Gewinn, den das Kind aus der Lust am Körper der Mutter ziehen kann, darin
besieht, daß sie das Medium darstellt, durch das ein stetiges Gleichgewicht
zwischen Lust und Unlust gehalten wird, ohne den Wechsel der Gefühle des
Kindes zwischen Extremen noch zu verschärfen."
Im 2. Lebensjiilir hat das Kind bereits andere Möglichkeiten, seine Ängste
und Erregungen auszudrücken: es beginnt, sich mit den Personen seiner Um-
gebung zu identifizieren, es kann sich ihnen entziehen, wenn es sie fürchtet
— beidos wird ihm diidurcli möglich, daß es um diese Zeit die volle Muskel-
koordination erwirbt. Middlemore hält diesen Zeitpunkt, wo das Kind eine
gewisse Selbstündigkeit erreicht hat, für geeignet, ihm größere Veränderun-
gen, wie etwa die Geburt eines Geechwisterchens, zuzumuten.
Jeden Fortschritt, jede Sublimierung macht das Kind den Eltern zuliebe
und fordert dafür seinen Tribut an Anerkennung und Zärtlichkeit. Die Zärt-
lichkeit jedoch muß sich den Ansprüchen des Kindes und nicht dem Bedürfnis
der unbefriedigten Erwnch,senen anpassen. Die Bedürfnisse des Kindes sind
aber manchmal für die Erwachsenen unangenehm, besonders in seinen aggres-
siven Phasen; verbietet man ihm seine aggressiven Liebkosungen, so kann man
eine schwere Hemmung für später setzen; verbietet man nicht und läßt es
weitgehend gewähren, so kann es sein, daß das Kind übermäßig aggressiv
wird und die Eltern schließlich doch böse werden. (Oft genug wird auch das
Kind verletzt oder verletzt sich selbst.) Middlemore schlägt ein Kompromiß
vor: die Eltern sollen nur das mitspielen, was sie gerne mitspielen. Auch das
Vergnügen der Eltern am Spiel gehört zu den wichtigsten Erlebnissen des
Kindes.
Alle diese Erfahrungen der Lust am eigenen Körper und in der Beziehung
zu andern sind von großer Bedeutung für die Weiterentwicklung des Kindes:
„Wenn das Kind in seinen frühen Liebesbeziehungen frei bandeln kann und die
entsprechende Reaktion erlebt, wird es auch späterhin erwarten: zu lieben und
über die Erziehung der Kinder 71
geliebt zu werden, zu vertrauen und selbst Vertrauen einzuflößen; und wenn es
einmal körperliche Lust im Kontakt mit anderen erlebt hat, wird es darauf vor-
bereitet sein, diese Lust wieder zu finden — dies ist die glückliche sexuelle Ent~
Wicklung, die wir für unsere Kinder wünschen .
Wälirend die bisherigen Kapitel Probleme behandelt haben, die nur für
bestimmte Phasen aktuell sind, behandelt Nina Seari in dem Kapitel
„Fragen und Antworten"
ein Problem, das für alle Erwachsenen aller sozialen Schicliten, die mit Kin-
dern zu tun haben, ständig aktuell ist.
Nicht jede Frage zeigt bereits ein Problem an. Erst die Art des Fragens,
sowie die Art, wie die Antwort aufgenommen oder nicht uufgonommcn wird,
läßt erkennen, daß die Frage mehr als nur eine Frage ist.
Die Fragen des Kindes unterscheiden sich in solche, die aus Interesse und
andere, die aus Neugier geelellt werden. Andere Motive lassen sich diesen
beiden leicht unterordnen. Fragen, die aus Interesse gestellt werden, sind
ruhig, relativ angstfrei, etwa zu charakterisieren durch „ioh möchte das gerne
verstehen". Im Zustand der Neugier ist das fragende Kind unruhig, zweifelnd,
zögernd, dann wieder draufgängerisch, ängsllicli, es sagt gewissermaüen:
Ich m u ß es wissen, sonst werde ich Angst haben". In diesem Zustande ist
das Kind nicht einmal imstande, die gegebene Aufklärung zu erfassen.
S o a r 1 zeigt die Hintergründe solcher K inderfragen an Beispielen aus der
psychoanalytischen Praxis:
„In meinem Kinderanalyse-Zimmer habe ich einen elektrischen Ofen. Im Ver-
laufe von 12 Jahren, in welchen ich versucht habe, mehr und besser zu verstehen,
was die Fragen der Kinder bedeuten, um sie für sie befriedigender zu beanl'
Worten, habe ich allmählich verstanden, was alles hinter solchen Fragen steckt,
was einem Erwachsenen für gewohnlich gpr nicht einfiele. Auch wenn der Er'
wachsene nicht viel von Elektrizität verstünde, würde er den Begriff irgendwo
eingeordnet haben, so daß jedes noch vorhandene Interesse für diese, im übrigen
vertraute Sache sich darum drehen würde, wie die Elefttrizität in diesem Fall
arbeitet, inwiefern sie sich von andern Kräften and Objekten unterscheidet —
es wäre eine gefühlsmäßig völlig unbetonte Situation. Kleine Kinder aber, die
nicht imstande sind, die einfachste Erklärung Über Elektrizität aufzufassen, kom-
men mit ihren Gedanken und Gefühlen immer wieder auf ifire Fragen zurück —
sie haben das Bedürfnis zu wissen, wie sieher sie sich in der Nähe eines Dinges,
das so schmerzhafte and gefährliche Möglichkeiten in sich birgt, fühlen dürfen.
Sie werden ungeduldig and böse, weil sie die bloße Beschreibung anbefriedigt
läßt; sie versuchen, den Ofen and die Elektrizität mit andern Dingen und Situa-
tionen in Verbindung zu bringen, die in Funktion, Gefühl and Empfinden diesen
ähnlich sind. Sie wollen z. B. wissen, warum die Hitze so gehorsam and ruhig
kommt und geht, wieso man sie so einfach durch das Knipsen am Schalter be-
herrschen kann, im Gegensalz zu einem Kohlenfeuer — und so vielem in ihrem
Leben and auch in ihrer eigenen, kleinen Person. Sie möchten wissen, wofier die
Hitze kommt und wohin sie geht. Der Ofen scheint lebendig, aber auch gefährlich
heiß und killreich warm, wenn er angeschaltet ist, er acheint sicher, aber lieblos
72 über die Erziehung der Kinder
kali, wenn er abgeschaltet ist. Sie wissen nicht, ob es sicher ist, jemandem mit
so einer Macht über Leben und Tod zu vertrauen, ob die Macht, die über be-
stimmte Vor- und Nachteile gebietet, nun Personen oder Öfen zukommt. In einer
tieferen Schichte ihres Unbewußten denken sie manchmal, der Ofen ist eine Art
stiller Vorwurf gegen sie, sie sollten rot vor Scham werden, wenn sie so gefährlich
sind und so viel Schmerz verursachen können wie der Ofen oder wenn sie nicht
so sauber, hilfreich, ruhig und gehorsam sind wie er. Sie vergleichen ihn mit dem
Kohlenfeuer und verstehen nicht, wieso er Hitze geben und .brennen' kann, ohne
etwas zu verbrennen. Sie sind nicht sicher. Sie sind nicht sicher, ob etwas mit
einer so offensichtlichen Gier zu brennen und zu verbrennen, wenn es die Gele-
genheit dazu hat, ein sicherer Gefährte sein kann, wenn er die Gelegenheit zu
brennen gerade nicht hat — sie fühlen mehr als sie denken, der Ofen könnte sich
benehmen wie ein wildes, unzufriedenes Tier oder ein hungriges Kind. Das
Kohlenfeuer andrerseits verzehrt schmutzige Kohle und könnte vielleicht auch
schmutzige Kinder bedrohen; es lebt aber nur so lange wild, als man es genügend
füttert, und es stirbt still nieder, wenn man es ohne Nahrung läßt. Der elektrische
Ofen ist rein, immer gleich und ereignislos. Das Kohlenfeuer ist schmutzig, aber
viel interessanter und schön. In Ausdrücken, die ihnen am meisten vertraut sind
— die sie selbst und ihre eigene Erfahrung betreffen — scheint ihnen das zu
bedeuten, daß das braue, saubere Kind im Vergleich zu dem schmutzigen ein
langweiliges Leben führt Die Möglichkeit der leichten Beherrschbarkeif und das
Vergnügen daran ziehen die Waage der Vorteile wieder auf die Seite von elek-
trischem Ofen und reinem Kind. Vom Standpunkt der Empfindung sind die
.heißen Elemente' wie die Körperteile, in welchen die Empfindungen sehr stark
sind — die Genitalien. Die Sicherheit, die sie durch die Tatsache gewonnen haben,
daß das .Element' brennt, ohne verzehrt zu werden, geht wieder verloren, wenn
es kracht und Kurzschluß eintritt, jedenfalls scheint es nur für Erwachsene be-
nutzbar, da ja auch die Öfen selbst nie den Kindern, sondern den Erwachsenen
gehören. Durch ihre Neugier Und Beherrschung des Ofens versuchen die Kinder
ihre Neugierde und ihren Wunsch nach Beherrschung jener Teile des Körpers der
Erwachsenen zu befriedigen, ebenso aber auch die verborgenen und manchmal
drohenden Gefühle der Erwachsenen und ihrer selbst zu beherrschen. Kurz, ein
vollständiges Verständnis der Frage über den Ofen stellt ihre Verbindung mit den
wichtigsten und schwierigsten Erlebnissen der Kinder her. Kein noch so großer
Aufwand an Fragen und Antworten über Öfen und ihre Wirkung kann diesen
Teil der Fragen beantworten, der ganz andere Dinge als nur den .elektrischen
Ofen betrifft und der auch nach Befriedigung, Sicherkeit und nach Beherrschung
von etwas ganz anderem strebt, wenn auch in der Sprache des Interesses für den
elektrischen Ofen." (S. 91 ff.J
Das Spiel des Kindes geht in drei Schichten vor sich. Die bewußte Schichte
ist in elastiecliem Kontakt mit der Umwelt; das Kind benützt alle Dinge, die
ee findet, als darstellende Elemente in der von ihm phantasierten Situation, die
weitgehend von seinen momentanen Gefühlsbedürfnissen bestimmt ist. Die
zweite, vorbewußte Schichte kommt nicht ins Bewußtsein ohne Hinzufügen
eines Reizes (in Form von Hinweis auf erlebte, traumatische Situationen).
Die dritte Schichte ist noch weiter vom Bewußtsein entfernt (ihr Inhalt ist
"über die Erziehung der Kinder 73
dem Patienten völlig unbewußt und muß erst durcb Deutung erschlossen
werden).
Das Spiel des Kindes kommt aus zwei verschiedenen Quellen; die eine steht
mit der äußeren, die andere mit der inneren" Welt in Verbindung. Dasselbe
gilt von den Kinderfragen, deren Impuls Inhalt und gefühlsmäßige Note zwar
aus verschiedenen Situationen und verschiedenen Bewußtseinssebichten stam-
men mögen, die aber letzten Endes sieh doch immer auf die Sicherheit dea
Kindes in seiner Beziehung zu einer geliebten Person beziehen. Wenn es diese
Sicherheit fühlt, bewegt es sich vertrauensvoll durch eine Welt voll von
unbekannten Gefahren. Wo es sie nicht fühlt, fühlt es sich unsicher, auch in
der ganz vertrauten und gewohnten Situation. Doch wenn die Beziehung
gerade sehr gut ist, zeigt sich eine Neigung zu feindseligen Gefühlen, so daß
das Gefühl von Unsicherheit in dem Kind sofort erwacht bei jedem Gedanken
oder Gefühl, das, in Handlung umgesetzt, zu Verlust oder Verletzung von ge-
liebten Menschen führen könnte oder zum Verlust ihrer Liebe und ihrer
Fähigkeit, das Kind zu lieben. Daher ist die Sicherheit des Kindes sowohl den
inneren als auch den äußeren Störungen unterworfen; wenn es ans äußeren
Gründen ängstlich zu sein scheint, tun wir gut daran uns zu erinnern: es
fürchtet die Macht seiner eigenen Gedanken und Gefühle. Seine Schlimmheit
und seine Kunststücke widersprechen dem nicht, sie sind eine Bestätigung
dafür, Sie entspringen der Schwierigkeit, diese verlorene oder bedrohte Be-
ziehung, die Liebe und Sicherheit gewährt, leicht und sicher wieder herzu-
stellen. Wir müssen darauf vorbereitet sein, daß das Kind mehr Sicherungen
braucht als der Erwachsene, weil es mehr unter Unsicherheit leidet. Dem ent-
sprechend braucht es zur B.eantwortung seiner Fragen das intuitive Ver-
ständnis, das die Schichten des Seeienlebens in Betracht zieht, aus denen sie
kommen und die Art von Angst, die sie besänftigen soll.*)
Die Wahl der Personen, an die das Kind seine Fragen ricljtet, ist ebenso
sinnvoll wie der Inhalt der Fragen selbst.
1. Das Kind, das mit einer gewissen Projektionsbereitschaft zur Analyti-
kerin kommt, stellt seine Fragen an sie, weil es seine Beziehung zu andern
Menschen auf sie übertrügt, gleichzeitig aber Verständnis für seine Schwierig-
keiten fühlt.
2. Ein anderes Kind versucht mit seinen Fragen das Interesse der Erwach-
senen für sich zu gewinnen, „Macht über sie zu gewinnen", zwei geliebte
Personen voneinander zu trennen, indem es seine Person durch ein bestimmtes,
den Erwachsenen abgespürtes Interesse dazwischenschiebt.
3. Wieder ein anderes Kind sclieint seine Fragen nur aus Aggression an
eine bestimmte Person zu richten; es will den Betreffenden quglen, in Ver-
legenheit setzen; andrerseits aber sucht es nach einem Beweis, daß der Er-
wachsene es trotz seiner offensichtlichen Unart weiter liebt. '^
4. Schließlich richtet das Kind Fragen, die ihrem Inhalt nach beschämend
oder verboten sind, wenn es deren Beantwortung wirklich wünscht, an jene
^) Fragen — jedenfalls die, die nicht dem Zwangetypus angehören — zeigen
eine gewisse Freiheit des Geistes; Mangel an Fragen kann Zeichen einer
Denkhemraüng sein.
74 über die Erziehung der Kinder
Personen, von denen es die geringste Ablehnung erwartet. Dalier kommt es,
daß die Kinder so häufig bei andern Kindern oder Dienstleuten Aufklärung
suchen und zumeist finden, wenn auch oft nicht in der besten Form. M'ün-
Hchenswert wäre, daß die Beziehung zwischen Eltern und Kindern so wäre,
diiß die Kinder ihre Fragen ungescheut an die Eltern richten könnten.
Aus dem Bisherigen ergibt sich für den Analytiker die Notwendigkeit der
eigenen Analyse. Eltern werden im allgemeinen bei der Beantwortung der
Frügen ihrer Kinder leicht jene Fehler begehen, die aus ihrer eigenen Unge-
wißheit und Neurose, ihrer bewußten oder unbewußten Einstellung zum Kind
sowie ihrer Unkenntnis der kindlichen Psyche entspringen. Zu sehr oder zu
.wenig auf die Fragen eingehen, allzu beunruhigt oder zu gleichgültig
sein, vor allem aber die eigene, unangenehme Reaktion auf sogenannte pein-
liche Fragen zu zeigen, sind einige von den üblichen Fehlern der Erwachsenen,
die S e a r 1 aufzählt. Ein besonderer Abschnitt ist noch der sexuellen Auf-
klärung gewidmet; Soarl zeigt darin, aus welchen Gründen Kinder oft die
gegebene Aufklärung ablehnen und wieder zu den Ammenmärchen zurück-
kehren. Wieder ist es das Wichtigste, zwischen zu viel und dalier beängsti-
gender Aufklärung und ungenügender Aufklärung die richtige Mitte zu
halten. Dazu gehört auch, daß der Erwachsene über die rein biologische Er-
klärung hinausgellt und dem Kind die Lustfaktoren, die ihm durch die Onanie
bis zu einem gewissen Grad bekannt sind, nicht verbirgt. Searl warnt, solchen
Themen auszuweichen, denn keine Antwort ist auch eine Antwort und zwar
eine sehr dezidierte; dieses Verhalten der Eltern kann die Ursache für
schwere Hemmungen, Ängste und Schuldgefühle werden.
■ Wichtig ist gerade im Bahmen dieses Vortrags der Hinweis auf das Privat-
leben des Kindes: die Eltern, die meinen, bei ihren Kindern ,, Komplexe" zu
entdecken, mögen nicht versuchen, die geheimen Gedanken, Triebe und
M^Unsche ihrer Kinder herauszufinden; das Kind hat dasselbe Recht auf sein
Inneres wie der Erwachsene, Elternschaft berechtigt nicht zur Indiskretion.
Mit solchem Forschen tun die Eltern nichts für das Kind, wenn sie ihm nicht
schaden — ihre eigene ,, Neugier", in Searls Sinn, können sie dadurch nicht
befriedigen und ihre eigenen Ängste dadurch nicht beruhigen.
Susan I saacs behandelt die Gewohnheiten,
Habits,
des Kindes im Schlafen, Essen u. s. w., mit besonderer Berücksichtigung der
Reinlichkeitserziehung. Sie zeigt, daß jede Art von Gewöhnung, die auf
Dressur allein beruht, leicht wieder verloren geht; daß die Erleichterungen,
die die Mutter oder die Nurse dadurch gewinnt, durch schwere Belastung,
bisweilen durch Schädigungen des Kindes erreicht werden. Sie wendet —
schon im Titel angezeigt — ihr besonderes Augenmerk der Reinlichketts-
erziehung des Kindes zu. leaacs stellt drei Gesichtspunkte auf; 1) das Ziel,
dem die Mutter zustrebt, und allgemeine Anschauungen, wie dieses Ziel zu
erreichen ist. 2) Wie diese Frage vom Kind aus aussieht, und die Schwierig-
keiten des Kindes, 3) Ratschläge zur Analyse der Reinlichkeitserziehung.
Der Wunsch der Mutter, das Kind an Reinlichkeit zu gewöhnen, ist sd
über die Erziehung der Kinder 75
und für sich durchaus gerechtfertigt. Ihr Zuviel oder Zuwenig an Bemühun-
gen, ihre Beschämung über das eventuelle Mißlingen derselben, ihre Un-
geduld, kurz alle Ihre unrationellen Reaktionen sind in ihren eigenen Schwie-
rigkeiten begründet, wie Sharpe bereits ausgeführt liat.
Es werden in den gebräuchlichen Büchern über Kleinkinderorziehung
dieselben fehlerhaften Metboden anempfohlen, die die Mütter machen, sie
stärken sie noch mit ärztlicher oder psychologisclier Autorität. Wir wissen,
daß die Eeinlichkeitserziehung in angelsächsischen Ländern besonders früh
begonnen und uns oft als vorbildlich hingestellt wird. Isaacs Kritik und Argu-
mente dagegen sind beweisend für die Schädlichkeit dieses Vorgehens. Trotz
der in Europa üblichen Bewunderung für die englische Kleinkinderziehung
werden die von Isaacs kritisierten Methoden doch nur sehr ausnahmsweise
bei uns angewendet. Man fängt nicht „bald nacli der Geburt" mit der Rein-
lichkeitserziehung an, verwendet erfreulicherweise nicht so häufig wie an-
sciieinend dort Zäpfchen und Einführung des Darmrohres, um das Kind an
Ordnung zu gewöhnen. Dennoch wird auch bei uns häufig genug zu großer
Wert darauf gelegt, daß das Kind möglichst bald sauber wird.
In dem zweiten Teil ihrer Ausführungen schildert Isaacs ausführlich,
in welcher Weise die zu bald sauber gewöhnten Kinder auf diese Gewalt-
methoden reagieren, wie häufig sie eines Tages die bereits erlernte Fähigkeit
wieder aufgeben und wie schwer sie sie dann wieder gewinnen. Wir lesen mit
Verwunderung Berichte, in denen Kinder von 4 Monaton an keine schmutzigen
Windeln mehr liaben, über das Entsetzen der Mütter, wenn ihre Kinder mit
10 Monaten noch nicht sauber sind.
Isaacs stellt nun die Frage, wo die Schwierigkeiten des Kindes bei
Erwerbung der Keinliclikeit liegen. Sic befaßt sich zunächst mit dem physi-
schen Problem: „Das Kind maß eine technische Geschicklichkeit erwerben, deren
Schwierigkeiten und Kompliziertheit wir ständig unterschätzen. In den ersten
Lebenslagen sind die Sphinkter des Kindes relativ entspannt. Später bekommen
sie mehr muskuläre Spannung, sind normalerweise kontrahiert, entspannen sich
wieder unter dem Reiz des inneren Druckes von Urin und Fäzes; und bald
darauf wird dieser innere Druck koordiniert mit dem Reiz von Kontakt oder Tem-
peratur oder mit einer bestimmten Körperlage, während die Mutier das Kind
hält. Zunächst muB das Kind lernen, den Inhalt von Blase und Darm zurückzu-
halten, vielleicht sogar unter einem beträchtlichen inneren Druck, und dann die
Muskeln zu bestimmter Zeil, an bestimmtem Ort wieder zu entspannen. Diese Ab-
wechslung von Spannung und Entspannung, in Beziehung zu Zeit und Ort sowie
den Wünschen der Muller. verlangt ein hohes Maß an Beherrschung komplexer
Koordinationen; es sieht oft so aus, als wäre das Kind, nachdem es Urin und Kot
eine Weile zurückgehalten hat, außerstande, die Muskeln sofort tu entspannen,
wenn es nun dutch Zeit und Ort dazu aufgefordert wird. Erst später wird das
alles mehr-weniger automatisch. Abgesehen aber von dem Problem, einen Muskel-
komplex mit inneren Bedingungen und äußerer Situation zu koordinieren, muß
man auch die Körperstellung als Ganzes in Betracht ziehen. Zu Anfang geben
wir dem Kind für gewöhnlich reichliche Stütze oder halten es über einen Topf
ab. In einem bestimmten Alter, manchmal fiurze Zeit, nachdem es ein mühsames.
76 tlber die Erziehung der Kinder
körperliches Gleichgewicht erworben hat and noch recht schlecht gehen kann,
erwarten wir von ihm, daß es sich ohne Hilfe auf dem unbequemen (oft zu hohen),
Rand eines Topfes im Gleichgewicht hält, und dies zur gleichen Zeit, wo es die
komplizierte Koordination von äußeren und inneren Muskeln zustande bringen
soll. Wir verlangen also von ihm eine komplexe Muskelkoordination in der
Haltung, Spannung bestimmter Teile, and gleichzeitige Entspannung der
Sphinkter". (S. 141 ff.)
Aus dieser Schilderung ergibt sieh die Notwendigkeit, Keinlichkeit von
dem Kind nicht elier zu verlangen, als bis das Kind imstande ist, seine
Muskeln und Bewegungen zu beherrschen.
Die zweite Schwierigkeit der Reinlichkeitserziehung, resp. des Hergebens
und Zurückhaltens von Kot und Urin, liegt in den damit verbundenen Phanto-
sien. Die Ausführungen Isaacs sind die konsequente Fortsetzung der Aus-
führung Melanie Klein's über das Trinken an der Mutterhrust und die Eiu-
Verleihung von Gutem und Bösem. Dementsprechend sind die Produkte des
Kindes, Urin und Kot, zerstörende und feindliche, ein ander Mai freundliche
Gaben an die Mutter. Das Kind ist oft beunruhigt und gekränkt, wenn die
Mutter seine kostbaren Gaben mit Ekel aufnimmt und, was allerdings immer
der Fall ist, wegwirft.
In dem dritten Teil gibt Isaacs nun die Katsehläge, die ihr geeignet
scheinen, die Schwierigkeit in der Eeinlichkeiteerziehung zu vermeiden:
wichtig ist die Geduld und die Liebe der Umgehung, die den Funktionen des
Kindes nicht zu viel und nicht zu wenig Interesse zuwendet. Die Eltern
müssen ihre eigenen Schwierigkeiten und Heaktionsbildungen kennen und
Dicht dem Kind oktroyieren; d. h., sie müssen imstande sein, ihre Forderungi;n
in richtiger Weise erst dann zu stellen, wenn das Kind physisch und psychisch
imstande ist, sie zu erfüllen. Wenn man einmal mit der Reinlichkeitser-
ziehung begonnen hat, soll man sie fortsetzen, aber nicht allzu strikt, was
gerade hier, dem Ursprungsgebiet der Pedanterie, eine große Gefahr ist.
Zur Warnung vor gewaltsamen Maßnahmen erwähnt Isaacs einen Fall, wo.
ein kleiner, SJ^jähriger Junge zur Abgewöhuung des nächtlichen Nässens —
tagsüber war er rein — von der ehrgeizigen Nurse jede Stunde der Nacht
geweckt wurde. Das Resultat war, daß er binnen 6 Wochen rein war, aber
eine schwere Schlafstörung bekam und zu stottern begann.
In dem letzten Kapitel
„The N ur s e r y as a Community
(Das Kinderzimmer als Gemeinschaft)
behandelt Susan Isaacs die Probleme von Disziplin und Autorität und
die Spiele mit andern Kindern.
Auch diese Arbeit basiert völlig auf Melanie Klein's Theorie. Sie beginnt
mit einer zusammenfassenden Wiederholung der vorangegangenen Kapitel
und zeigt dann einige typische Arten, wie das Kind seinen Konflikt zwischen
Liebe und Haß demselben Objekt gegenüber zu lösen versucht. Introjektion
und Projektion werden uns noch einmal vor Augen geführt und wir haben
ijoch deutlicher, als bisher den Eindruck, daß dies die Mechanismen sind, die
über die Erziehung der Kinder 77
in dieser Theorie über die kindliche Entwicklung die entscheideode EoUe
spielen. »* .c:tij h-^iit^- -- - -ö- ^^■\ o
Isaaes führt uns die Tendenz des Kindes vor, die eben erst gewonnene
Einheit des Objekts wieder in ein Gutes und in ein Böses aufzuspalten. Sie
meint, dies sei eine der Ursachen, warum das kleine Kind so oft bei der
Nurse oder Mutter allein funktioniert, nicht aber wenn beide zusammen sind:
sein Versuch, den einen Teil zum Repräsentanten des Guten, den andern zu
dem des Bösen zu machen, scheitert an dem gleichzeitigen Vorhandensein
beider. Dabei spielen auch Liebe und Eifersucht eine Rolle.
Dasselbe spielt sicli in seinen Beziehungen zu Vater und Mutter ab.
„In der zweiten Hälfte des ersten Jahres und typisch in der zweiten Hälfte des
vierten Jahres fühlt sich das Kind zum Vater hingezogen und sacht seine Liebe".
fS. 180). Die Enttäuschung an der Mutter, die sie zur ..bösen, verfolgenden"
macht, läßt das Kind von ihr fliehen und sicii dem Teii, der ilim weniger Ver-
sagungen auferlegt bat und „den es daher noch nickt angegriffen hat", zu-
wenden, um bei ihm flilfe zu finden, „Manchmal muß es rasch von einem zum
andern wechseln, weil jeder von beiden abwechselnd (stellt es sich vor) ver-
letzt und zerstört wurde durch seine erneuten Bedürfnisse und seine Wut".
Auch die Enttäuschung über das nouo Gescbwistercher und die ecliließliche
Versöhnung mit seiner Existenz wird auf die Beziehungen des Kindes zur
_„bösen und guten Mutter" zurückgeführt; „Andrerseits gewinnt das Kind oft
groBen Trost durch die Ankunft des neuen Kindes, weil diese der sicherste
Beweis ist, daß seine eigene, reale oder phantasierte Aggression der Mutier nicht
wirklich geschadet oder sie endgültig vom Vater getrennt hat".
Die Tendenz des Kindes, Spielzeug zu zerstören, das Zerstörte aber dann
zu meiden, wird mit Aggression und Schuldgefühl über die Zerstörung er-
klärt.
In der Proiektion sieht Isaacs die Ursache für Phobien und Pavor noc-
turnus.
Die Phantasien und Spiele des Kindes, größer und mächtiger zu sein
als die Erwachsenen, alles zu können, ohne es erst lernen zu müssen, sind
Ausdruck seiner UnzulängMchkeitsgefüble infolge seiner aggressiven Im-
pulse gegen die Mutter, die nur zur Zerstörung führen, die es aber unfähig
zum Aufbauen und Wiedergutmachen erscheinen lassen. Eines der Mittel,
dieses Gefühl der Unzulänglichkeit für das Kind zu mildern, ist das Er-
lernen von allerlei Geschicklichkeiten; auch die Gesellschaft von Gleich-
altrigen kann dazu beitragen, führt Isaaes aus.
Über die sexuellen Spiele der Kinder und die mutuellc Onanie meint Isaacs:
„Wir werden oft gefragt, ob man den Kindern sexuelle Spiele, das Betrachten
ihrer nacftten Körper, Beschauen and Berühren der Genitalien, sowie das Doktor-
Spiel und Mutter-Kind-Spiel gestatten soll.
Das ist schwer zu beantworten und es gibt darüber keine Regeln. Das sexuelle
Erlebnis kann schaden, wenn es dem einen Kind von dem anderen aufgezwungen
wird oder wenn eines der beiden Kinder älter ist. Eine Verführung durch ein
älteres Kind kann psychologisch dieselben Folgen haben wie die Verführung
durch einen Erwachsenen. Man kann daher keine allgemein gültigen Ratschläge
T8 Ubt-r die Erziehung der Kinder
geben; sicher ist, daß grobes Eingreifen in die Spiele und Forschungen des Kindes
es von allen Formen körperlicher Liebe abschrecken kann, so daß es in seinem
späteren Leben unfähig wird, zur Ausübung der normalen Sexualität und außer-
stande, sozialen Kontakt herzustellen . . .
Vielleicht ist es am besten, sich in bezug auf derartige Gespräche und Spiele
der Kinder blind zu stellen und es ihnen zu überlassen, wie sie damit fertig
werden, außer das sexuelle Element wird so lärmend, aufdringlicfi und an den
Erwachsenen gerichtet, daß es deutlich ist, das Kind wünscht die Aufmerksamkeit
der Erwachsenen auf sich zu lenken, weil es ein Verbot wünscht oder Hilfe sucht
gegen seine Ängste". (S. 217).
In dem vorliegenden Buche behandelt jeder Mitarbeiter sein Thema zuerst
von einem allgemein theoretisclien, dann erst vom praktisch pädagogischen
Standpunkt. Die Theorien, auf die sich die Autoren hier stützen, werden
aber nicht von allen Vertretern der Psychoanalyse geteilt. Uns fällt besonders
auf, daß der Kastrattonskomplex des Kindes, dem doch die Psychoanalyse die
allergrößfo Bedeutung in der Entwicklung beimißt, hier sehr vernachlässigt
oder in anderem Sinne gedeutet wurde. Die Angst vor dem Zerschnitten-
werden, die Tendenz Spielzeug zu zerstören, das Zerstörte dann zu meiden,
Phobien und Pavor nocturnus, Phantasien des Inhalts größer und mächtiger
zu sein als die Erwachsenen, sind unserer Erfahrung nach zum größten Teil
auf den Kastrationskoniples des Kindes zurück zu ftihren. Die zentrale Be-
deutung der Kastrationpungst hat sich in allen Aaalysen mit größter Leben-
digkeit nachweisen lassen; wir vermissen hier ihre Erwähnung vollkommen.
An jenen Stellen, wo wir diese Deutung erwarten würden, werden Phantasien
mitgeteilt, die ihrem Ursprung nach in die früheste Lebenszeit, bis in die
Säuglingszeit zurückverlegt werden; wir meinen, für die Gültigkeit solcher
Phantasien wird auch in diesen Beiträgen kein Beweis erbracht.*) Inwieweit
diesen Beweis die Analysen 1— 2jähriger erbringen könnten, entziclit sich
unserer Beurteilung, da das Material dieser Analysen bisher nicht veröffent-
licht wurde und wir über derartige Erfahrungen nicht verfügen.
Die Annahme der Autoren, Ödipuskomplex und genitale Strebungen seien
schon in den ersten Lebensjahren in volleui Ausmaße vorhanden, führt para-
doierweise in der Darstellung zu einem Zurücktreten beider für die Ent-
wicklung lies Kindes. Da auch das Uber-Ich des Kindes bereits im 1. Lebens-
jahr in voller Stärke vorhanden sein soll, spielt der Kastrationskomplex und
der damit verbundene Untergang des Ödipuskomplexes in der Entstehung des
"Über-Ichs keine Rolle mehr.
Während die prägenitale Libidoentwicklung ausführlich behandelt wird,
die orale und anale Pliuse in speziellen Kapiteln dargestellt sind, vermissen
wir eine ebenso eingehende Behandlung der phänischen und genitalen Phase.
Besonders hervorgehoben werden in diesem Buch die Aggressionen der
iJütter gegen die Kinder. Es wird gezeigt, wie diese Aggression selbst
*) Vgl. hiezu: Robert Wälder: Zur Frage des psychischen Konflikte
im frühen Lebensalter. Int. Ztschr. f. Psa., Bd. XXII, 1936.
"über die Erziehung der Kinder 79
wiederum aus der eigeuen Beziehung der Mütter zu ihren Eltern (Müttern)
stammt. Dies erinnert uns an zahlreiche Stellen in August Aichhorns
Schriften und Vortragen, in denen er dieses Tliema eingehend und vielseitig
beliamlelt. So hat er z. B. wiederholt gezeigt, wie manche Mütter jene Aggres-
sion den Kindern gegenüber empfinden, die sie dem bewußt geliebten Mann
gegenüber verdrängen müssen. Auch auf eine dieser entgegengesetzten
Form der störenden Beüiehung zum Kinde hat er in diesem Zusammenhang
verwiesen: so auf die überzUrtlichen Mütter, die ihren Kindern alles und mehr
gewähren wollen, als ihnen gut tut, aber dafür mehr verlangen, als Kinder
an Gegenliebe leisten können; die Ursachen sind im unbefriedigten Zärtlich-
keitsbedürfnis, in der unbefriedigten Sexualität überhaupt zu finden. Die
Beziehung zwischen Mutter und Kind ist zwar — für die Mutter gesehen —
die tiefste, aber sie setzt sieh aus positiven und negativen Gefühlen zusam-
men und ist im Laufe der Entwicklung und des Lebens von anderen Be-
zielmngen überdeckt und mit ihnen verquiekt worden, so daß auch diese, in
die „Persönlichkeit" der Mutter aufgenommen, nunmehr in der Haltung gegen-
über dem Kinde zum Ausdruck kommen müssen.
Wer vor Berufserziehern, Müttern und gebildeten Laien Vorträge über die
Probleme der psychoanalytischen Erzielmng gelialten hat, der kennt gewöhn-
lich alle jene Schwierigkeiten die dem Vortragenden gerade wegen der be-
eonderen Anforderungen, die die Psychoanalyse an den Zuhörer stellt, aus
dem Hörerkrois entgegenwirken. Die Lektüre dieses Buches läßt die Frage
laut werden, wie und ob der analytisch ungeseliulto Leser die hier niederge-
legten Theorien aufnehmen mag.
Die praktischen Anweisungen hingegen, vor allem in bezug auf Stillen,
Ernähren, Reinlichkeitserziehung sowie die Einstellung zur Onanie enthalten
wertvolle einleuchtende Anregungen; auch die Wichtigkeit der guten Be-
ziehung der Eltern zu den Kindern und die Bedeutung des Milieus im allge-
meinen wird leicht verstanden und befolgt werden können.
E. B u X b a u m.
ZeitsArift für paydio analytische Pacla^jo^Mk, XI. Jahrganfj, Heft 1
INHALT:
M ii i- i B II. B r i o h 1: Dio Hiille riod Miircheiis in der liU-hikindeierxieliung 5
St a r t i II G r o t i B h n: Kiudorunulj'tie und ICr^icliuiig im Riilirauii dar jiisyiilioaiialjtiBuh
ork'iitierleii Scliulo 20
Th, Bü r K ni an n: Versiic-h der Behebung einer Evziehungsschwierigkoit 29
Emma B e r n e r; Eine EinsclilafflGning aus Todesangst 44
BERICHTE:
Ernst Schneider; Eine Richtigstellung 61
Ober die EwiehTing der Kinder. „On the hringing up o{ ohildren". By Fjve Peyoho-AualyBta
(E. Buxbaum) 59
In Lieferungen erscheint das
HANDWÖRTERBUCH
DER
PSYCHOANALYSE
VON
DR. RICHARD STERBA
Gesamtumfang etwa 4OO Seiten Preis pro Lieferung Ö. S. j'fO
Das Werk, dem ein faksimilierter Geleitbrief Prof. Sigm. Freuds voran-
gestellt ist, erscheint in etwa 12 Teillieferungen in Lexikonformat von je
32 Seilen. Ausführliche Prospekte auf Wunsch kostenfrei durch den Verlag.
INTERNATIONALER PSYCHOANALYTISCHER VERLAG
IN WIEN, IX., BERGGASSE 7
BÜCHER DES WERDENDEN
HerausaegeDen von PäUl redarn, Wien, und Heinrich Mens. BaeeJ
Band VIII
ANNA FREUD
EINFÜHRUNG IN DIE PSYCHOANALYSE
FÜR PÄDAGOGEN
ZiveiLe Auflage
Aus dem Inhalt:
Das Vergessen von Kindheitsprlejjiiisseii, TrieLleli;n, Vorpubcrtut
und Reifung, Psychoanalyse und PädHgogik.
„Anna Freud vermittelt allen EriiphimgsbeHiEse!ieii aus der Seelen-
lelire ihres Vaters das, was ilineji hei ihrer Arbeit helfeij Icaniu nämlich
die seelische und eniehorische Auswertung frühester, ins Uiibeiviißte ver-
sunkener Kiudheitserlebnisse, die in ihren Answirliungen aber den Cha-
rakter und die Erziehbarkeit entscheidend heeiuflussen. Sie begnügt sich
nicht mit den si::htbaren seelischen , Leistungen' der 7.Ögliiige, sondern
benutzt die Analyse zur Dechiffrierimg vun Charaklerauliennigen, die
uns ohne Zurückgehen auf ihr erstes ZListandekummcn oft rätselhaft und
iHsammenhaiiglos erscheinen und die Erziehung ersühweron, wenn sie
unerkannt bleiben." Eisfeld/r Zi^iiung,
Leinen RM 3.70
Band X
HANS ZU LLI GER
SCHWIERIGE SCHÜLER
Acht Kapitel zur Theorii- und Praxis der tiefen psycho logisehen Er-
ziehnngsberatung nnd Erzichungshilfc
Aus dem. Inhalt:
I. Einleitung, Einteilungen, Fragestellungen, Übersichten. II. Unter-
scheidungen. Dissoiiales Symptom und dissoiiale Grundlage; Dressur und
Erziehung; iVlJlieuwechscl als heileriieherisches Mittel. III. Diskussion
des Mittels „Milieuwechsel". Vom Aufbau der seelischen Persönlichkeit,
Zivilisierung und Kultivierung. IV, Die Freud'sche Psychologie in der
Praxis der Erziehungshilfe. V. HersteUung der günstigen Übertragung.
Assoiiations- und Spieltechnik. VI. Einbezug des Rorschach'schen Test-
versuchs ins Arbeitsfeld des Erziehungsberaters und -helfers. Abgrenzung
seiner Leistungen im Vergleich mit der pSdanalytischen Methode. VII. Zu-
sammen fassung. Paar-Beiiehnng und das Verhältnis von Gemeinschaft
und Führer, Gefahren der Bindung' das nichtbewuDle, passive Erleiden
und das bewußte, aktive Handhaben der Übertragung, VIII. Über den
Bereich der psychoanalytischen Erziehungsberatung und -hilfe.
Leinen RM 7^0
VERLAG HANS HUBER IN BERN
Elecntüinei, Hernuigebcr und Verleaer: Inlemationnler Piychoanalyti ich er Verlag, Gesellschoft m-b-H., Wien IX. Berg-
gaiw 7. — Veränlivorllichcr Redakteur: Dr, Wilhelm Hoffer. Wien I, Dorolhccrg, 7, llruck vnn Emil M, Kngel,
Druckerei und VerlaHranstHlT. Wien I, In der QJ>r4e.
Printed in Au Stria
I
I
I
I
BÜCHER DES WERDENDEN
HeraueaegaQen von Paul Fadarn, Wien, und Hainrioh Meng, Basel
Band VIII
ANNA FREUD
EINFÜHRUNG IN DIE PSYCHOANALYSE
FÜR PÄDAGOGEN
Aus dein Inhalt:
Zi Veite Attflage
Das Vergessen vor Kiiidheitscrlt-bnisseii, Ti'ieblebca, Vorpubertüt
und Reifung, Psychoanalyse und Pädngogik.
„Anna I''reud vermittelt allen Erziehuiigsbeflisseiien aus der Seelen-
lehre ihres Vaters das, was ihnen bei ihrer Arbeit helfen kann: nämiicb
die seelische und erzieherische Auswertung frühester, ins unbewußte ver-
sunkener Kindheitserlehnisse, die in ihren Auswirkungen über den Cha-
rakter und die Eriiehbarkeit entscheidend beeinflussen. Sie begnügt sich
nicht mit den sichtbaren seelischen ,Leisinngen' der Zöglinge, sondern
benutit die Analyse iiir üechiffrierung von ChEirakleräuliernngen, die
uns ohne Zurückgehen auf ihr erstes Zustandekummen oft rätselhaft und
lusammenhiinglos erscheinen und die Erziehung erschweren, wenn sie
unerkannt bleiben." Eisfeidtr Zeitung.
Leinen RM 3.70
Band X
HA N S Z U ULI GER
SCHWIERIGE SCHÜLER
Acht Ka|iitcl ztir Theoi'ir und Praxis der tiefen psychologischen Er-
ziehungsberiitung und Er^iiehnngshille
Aus dem Inhalt:
I. Einleitung, Einteilungen, fr a gesteil un gen, Übersichten. II. Unter-
scheidungen. Dissoiiales Sjmptom und dissoziale Grundlage; Dressur und
Eriiehung; Milieuwechsel als heileriieherisches Mittel. III. Diskussion
des Mittels „Milieuwechsel". Vom Aufhau der seelischen Persönlichkeit.
Zivilisierung und Kultivierung. IV, Die Freud'sche Psychologie in der
Praxis der Erziehungshilfe. V. Herstellung der günstigen Übertragung.
Assoziations- und Spieltechnik, VI. Einbeiug des Rorscb ach 'sehen Test-
versuchs ins Arbeitsfeld dos Eniehungsberaters und -helfers. Abgrenzung
seiner Leistungen im Vergleich mit der pädanalyti sehen Methode. VII. Zu-
sammenfassung. Paar-Beiiehung und das Verhältnis von Gemeinschaft
und Führer, Gefahren der Bindung' das niehtbevl'uSte, passive Erleiden
und das bewtißte, aktive HandhabeTi der Übertragimg. VIII. Über den
Bereich der psychoanalytischen Erzieliungsberatung und -hilfe.
Leinen RM 7.80
VERLAG HANS HUBER IN BERN
XI. Jahrg.
1937
Heft 1 ;
t\
I.
Eigentümer, Hernusgebpr und Verlfjger: Intetnatioiialer Paychoanalyti^chcr Vorlag, Gesellschaft in,b.H,, Wien IX, Berg-
gAKt 7. — Verani wörtlicher Redakleür : Dr, Wilhelm Hoffer, Wien I, DDrolheerg. 7. Druck von Eaii\ M, E^nftcJ,
Druckerei und Terlaeianslall, Wien 1, In rier ^örse.
Ptinted in Austrie
Zeitschrift für
psydioanalytische
Pädagogik
Marie H. Btiehl . Die Rolle des Märdiens in
der Kleinkindererziehung
Martin Grotjaßn . Kinderanalyse und Erziehung
im Rahmen der psydio-
analytisdi orientierten Schule
Tß. Bergmann . . Versuch der Behebung einer
Erzi ehun gsschwierigkeit
Emma Berner. . . Eine Einschlafstörung aus
Todesangst
Berichte
Preis dieses Heftes Mark 2' —