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Full text of "Zeitschrift für politische Psychologie und Sexualökonomie Band III Heft 3/4 (10/11)"

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BAND:  3      HEFT:  3  4  (10/11)  1936 


IEITSCHRIFT  FÜR 
POLITISCHE  PSYCHOLOGIE 
UND  SEXUALÖKONOMIE 

ORGAN    DER    SEXPOL 
HERAUSGEBER:    ERNST    PARELL 


INHALT« 

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131 


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Wo  abonniere  ich 

die 

Zeitschrift  für  politische  Psychologie  und  Sexualökonomie 

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FRANKREICH: 

Dr.  Ernest  Strauss,  Paris,  15e,  2,  Square  Leon  Guillot 

HOLLAND: 

S.  P.  Boeken-Import,  Amsterdam,  Postbox  C.  363. 

JUGOSLAWIEN: 

Librairie  —  Edition  Breyer,  Zagreb  II,  Masarykova  5 

Deutsche  emigranten  und  fortschrittliche  jugoslawische  Literatur 

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ZEITSCHRIFT  FÜR 


POLITISCHE  PSYCHOLOGIE 
UND  SEXUALÖKONOMIE 


BAND:  III 
Doppel-Heft:  3/4(10/11) 
19     3     6 


Du  mä  ikke  sove! 

Von  Arnulf   0verland 

.leg  väknct  en  natt  av  en  underlig  dröm, 

det  var  som  en  stemme  lalte  til  mig, 

fjern   som   en  nnderjordisk   ström  — _ 

Og  jeg  reiste  mig  op:  Hvad  er  det  du  vil  mig? 

Du  mä  ikke  sove!   Du   mä  ikke  sove! 
Du  mä  ikke  tro  at  du  bare  liar  drömt! 
Igär  blev  jeg  dornt. 
lnatl  har  de  reist  skal'ottel  i  gärden. 
De  hentcr  mig  klokken  fem  imorgen! 

Hele  kjelleren  her  er  lull, 
og  alle  kaserner  har  kjeller  pä  kjcller. 
Vi  ligger  og  venler  i  slcnkolde  eeller, 
vi  ligger  og  rätner  i  mörke  hüll! 

Vi  vet  ikke  selv,  hvad  vi  ligger  og  venter, 
og  hvem  der  kau   bli  den  neste.  de  henter. 

Vi  stönner,  vi  skriker      -  men  kan  dere  höre? 
Kari   derc  absolut   ingenting  g.jöre? 

I  i 
Ingen  l'är  se  oss. 

Ingen   l'är  vitc,  hvad  der  skal   skjc  oss. 

Ennu  mer: 

Ingen    kan    tro,   hvad    der    daglig   skjer! 

Du   mener,  det   kan   ikke  \;ere  sank 
sä  onde  kan  ikke  menneskene   va-re. 
Der   l'ins  vcl  skikkelig  t'olk    iblandt? 
Bror,  du  har  ennu  meget  ä  teere! 


INTERNATIONAL 

PSYCHOANALYTIC 

UNIVERSITY 


DIE  PSYCHOANALYTISCHE  HOCHSCHULE  IN  BERLIN 


81 


Arnulf  0verland 

Man  s;i :   Du    skal  gi  (litt  liv,  om   det  kreves. 
Og  im  har  du  gilt  dei         forgjeves,  forgjeves! 
Verden   har  glemt   oss!  Vi  er  bedratt! 
Du   mä   ikke   sove   iner   inatt. 

Du   mä  ikke  gä  til   diu   k.jöplnannskap 

og   lenke    pä    hvad  der   gir  vinning  og   tap! 

Du   ma  ikke  skylde  pä  aker  og  fe 

og  at  du  har  mer  og  nok  med  det! 

Du   ma  ikke  sitte  trygt   i  ditt  hjem 

og  si:    Del  er  sörgelig,    stakkars  dem) 

Du  mä  ikke  tale  sä  inderlig  vel 

den    urell  som  ikke   rammer  dig  seh  ! 

.leg  roper  med  siste  pusl  av  min  stemme: 

Du  har  ikke  lov  til  ä  gä  og  glemmc! 


Tilgi  dem  ikke;  de  vel  hvad  de  gjör! 
De   puster  pä  hatets  og  ondskapens  glör! 
De  liker#ä  drepe,  de   l'rydes  ved  Jammer, 
de  önsker  ä  se  vär  Verden  i   Hammer! 
De  önsker  ä  drukne  oss  alle    i   blöd ! 
Tror  du  det  ikke?   Du  vet  det  jo! 


/ 


Du   vet  jo  al  skolebarn   er  soldater, 
som   stimer  med  sang  over  torv  og  gater, 
og  opglödd  av  mödrenes  fromme  svik, 
vil    verge   sit    land  og  vil  ga  i    krig! 

Du    kjenner    det    nedrige    I'olkebedrag 
med  heltemot  og  med   tro  og  a'ie 
du  vet  at  en  hell,  det  vil  harnet  va-re, 
du  vet,  hau  vil  vii'te  med  sabel  og  flagg! 

i 

Og  sä  skal  hau    üt   i  en   skur  av  släl 

og  henge  igjen  i  en   piggträdsvase 

og  rätne  for  Hitlers  ariske   rase! 

Du  vet,  det  er  menneskets  mening  og  mal! 


.Jcg  skjönle  det  ikke.  Nu  er  det   l'orsent. 

Min    dorn   er    rettl'erdig.    Min    straff  er    t'orljenl. 

.leg    trodde   pa    l'remgang,   jeg    Irodde    pa    t'red, 

pä  arbeid,   pä    samhold,    pä    kjaudighet! 

Men   den    som   ikke  vil    dö   i   en   llokk 

t'är  pröve   alene,  ])i\   böddelens  blokk! 


82 


Du   mä   ikke  sove! 

Jeg  roper  i  mörket  —  ä,  künde  du  höre! 
Der  er  en  eneste  ling  ä  gjöre: 
Vcrg  dig,  mens  du  har  frie  hender! 
Frels  dine  barn!   Europa  brenner! 

Jeg  skaket  av  frost.  Jeg  fikk  pä  mig  kkcr. 
Ute  var  glitrende  stjerneva;r. 

Bare  en  ulmende  stripe  i  öst 

varslet  dct  samme  som  drömmens  röst: 

Dag'en  bakcnom  jordens   rand 

steg  med  et  skjajr  av  blöd  og  brand, 

steg  med  en  angst  sä  ändelös, 

at  det  var  som  om  selve  sljernene  frös! 


Jeg  lenkte:  Nu  er  det  noget  som  hender  — . 
Vär  tid  er  forbi      -  Europa  brenner! 


Du  sollst  nicht  schlafen! 
(Wörtliche   Übersetzung) 

Ich  erwachte  eines  Nachts  von  einem  wunderlichen  Traum.  Es 
war,  als  spräche  eine  Stimme  zu  mir,  fern  wie  ein  unterirdischer 
Strom  —  und  ich  fuhr  auf:  »Was  willst  du  von  mir?« 

—  Du  sollst  nicht  schlafen!  Du  sollst  nicht  schlafen!  Du  sollst 
nicht  glauben,  du  hättest  bloss  geträumt!  Gestern  bin  ich  verurteilt 
worden.  Heute  Nacht  haben  sie  das  Schaffot  im  Hof  aufgerichtet.  Sie 
holen  mich  morgen  um  fünf  Uhr. 

Der  ganze  Keller  hier  ist  voll.  Und  alle  Kasernen  haben  Keller 
und  Keller.  Wir  liegen  und  warten  in  steinkallen  Zellen.  Wir  liegen 
und   faulen  in  schwarzen   Löchern! 

Wir  wissen  selbst  nicht,  wozu  wir  liegen  und  warten  und  wer  der 
Nächste  sein  kann,  den  sie  holen.  Wir  stöhnen,  wir  schreien  -  -  aber 
könnt  ihr  es  hören?  Könnt  ihr  absolut  nichts  tun? 

Niemand  bekommt  uns  zu  sehn.  Niemand  bekommt  zu  wissen, 
was  uns  geschchn  soll.  Noch  mehr:  Niemand  kann  glauben,  was  täg- 
lich geschieht ! 

Du  meinst,  das  kann  nicht  wahr  sein,  so  böse  können  Menschen 
nicht  sein?  Es  gibt  wohl  anständige  Menschen  zwischendurch? 
Bruder,  du  hast  noch  viel  zu  lernen! 

Man  sagte:  Du  sollst  Dein  Leben  hingeben,  wenn  es  verlangt  wird. 
Und  nun  hast  du's  hingegeben,  —  vergebens,  vergebens!  Die  Welt  hat 
uns  vergessen!  Wir  sind  betrogen!  Du  sollst  nicht  mehr  schlafen 
heute  Nacht. 

83 


Arnulf  0verland  Du  mä  ikke  sove! 


Du  sollst  nicht  zu  deiner  Kaufmannschaft  gelin  und  daran  denken, 
was  Gewinn  und  Verlust  gibt!  Du  sollst  dich  nicht  auf  Acker  und 
Vieh  berufen  und  dass  du  damit  mehr  und  genug  hast !  Du  sollst 
nicht  sieher  zuhause  sitzen  und  sagen:  Das  ist  traurig,  die  Armen! 
Du  sollst  nicht  so  innerlich  gut  das  Unrecht  dulden,  das  nicht  dir 
zugefügt  wird!  Ich  rufe  mit  dem  letzten  Hauch  meiner  Stimme:  Du 
hast  kein  Recht  zu  vergessen ! 

Vergib  ihnen  nicht;  sie  wissen,  was  sie  tun!  Sic  entfachen  die 
Gluten  des  Hasses  und  der  Bosheit!  Sic  töten  gerne  und  weiden  sich 
am  Jammer.  Sie  wünschen,  unsere  Welt  in  Flammen  zu  sehn!  Sie 
wünschen,  uns  alle  in  Blut  zu  ertränken.  Glaubst  du  es  nicht?  Du 
weisst  es  ja ! 

Du  weisst  ,ia:  dass  Schulkinder  Soldaten  sind,  die  mit  Gesang  über 
Markt  und  Strassen  schwärmen  und  begeistert  von  der  Mütter 
frommem  Betrug  ihr  Land  verteidigen  und  in  den  Krieg  ziehen  wollen. 

Du  kennst  den  niedrigen  Volksbetrug  mit  Heldenmut  und  mit 
Treue  und  Ehre  — ■  Du  weisst,  ein  Held  will  das  Kind  sein,  du  weisst, 
es  will  mit  Säbel  und  Flagge  fuchteln. 

Nur,  dann  soll  er  hinaus  in  einen  Schauer  von  Stahl  und  hängen 
bleiben  in  einem  Stacheldrahtgestrüpp  und  für  Hillers  arische  Rasse 
verfaulen!  Du  weisst,  das  ist  Sinn  und  Ziel  des  Menschen! 

Ich  begriff  das  nicht.  Nun  ist  es  zu  spät.  Mein  Urteil  ist  gerecht. 
Meine  Strafe  ist  verdient.  Ich  glaubte  an  Fortschritt,  ich  glaubte  an 
Frieden,  an  Arbeit,  an  Solidarität,  an  Liebe!  Doch  wer  nicht  in  einer 
Herde  sterben  will,  kann  es  allein  versuchen  auf  dem  Block  des 
Henkers ! 

Ich  schrei'  in  die  Finsternis,  —  ah,  könntest  du  hören !  Da  ist 
eine  einzige  Sache  zu  tun:  Wehr'  dich,  so  lang  du  freie  Hände  hast! 
Rette  deine  Kinder!   Europa  brennt!  — 

Ich  zitterte  vor  Frost.  Ich  warf  mir  Kleider  über.  Draussen  war 
flimmernder  Sternenhimmel. 

Nur  ein  lohender  Streif  im  Osten  kündigte  das  Gleiche  an,  wie  die 
Stimme  des  Traums: 

Der  Tag  stieg  hinter  dem  Rand  der  Erde  empor  mit  einem  Schein 
von  Blut  und  Brand,  stieg  empor  mit  einer  Angst  so  atemlos,  dass 
es  war,  als  ob  selbst  die  Sterne  frören!  — 

Ich  dachte:  Nun  geschieht  etwas.  —  Unsere  Zeit  ist  vorbei  — 
Europa  brennt! 


84 


I 


Kulturkampf  und  Literatur 


Von  Sigurd  Hoel 

Vor  kurzer  Zeil  kam  im  Europaverlag  in  Zürich  ein  Ruch  heraus, 
auf  das  ich  aufmerksam  machen  möchte.  Es  heisst  Dachau  und  ist 
geschrieben  von  einem  Mann,  der  sieh  Walter  Hornung  nennt. 

Der  Verfasser  seihst  war  Gefangener  im  Konzentrationslager  in 
Dachau  und  in  dem  Buch  gibt  er  eine  Schilderung  des  Lehens  in  die- 
sem berüchtigten  Gefangenenlager. 

Ich  möchte  einen  kleinen  Abschnitt  aus  dem  Buch  zitieren.  Hor- 
nung erzählt,  wie  eine  neue  Abteilung  Gefangener  im  Lager  empfan- 
gen wird. 

»Die  Zehnte  Kompanie  war  noch  nicht  voll  belegt.  Sie  wurde  aufgefüllt,  um 
in  der  siebenten  für  Neuankommendc  Platz  zu  machen.  Auf  einen  Schlag  kamen 
wieder  fünfundzwanzig  an.  Meist  junge  Leute,  es  waren  aber  auch  ältere  Manner 

Zum  Antreten  der  Kompanie  marschierten  sie  gesondert  auf,  schwarz  und 
blau  geschlagene  Gesichter,  noch  nicht  kahl  geschoren.  Als  die  Arbeitskommandos 
abmarschiert  waren,  standen  sie  noch  da.  Das  Schlägerkommando  verblieb  mit 
ihnen  auf  der  Wiese.   Dort   war  Firuer  mit   seiner  Kolonne  beim   Planieren. 

Ein  SS.  gab  dem  kleinen  Trupp  Befehl:  »Rechts  schwenkt,  marsch!«  Er  selbst 
schritt  voraus  in  der  äussersten  Ecke  des  Appellplatzes.  Die  übrigen  SS.  folgten, 
unter  ihnen  Kannschuster,  Schüttle,  Dambaeh,  Lutz.  Der  Wind  trug  die  Kom- 
mandos   herüber:    »Stillgestanden!    Aufschliessen    Wollt    ihr   laufen,    ihr 

Gesindel!    Knie  beugt!   Arme   streckt!« 

Firner  zählte  und  kam  nicht  auf  dreissig,  als  er  schon  das  Klatschen  der 
ersten  Schläge  vernahm.  Dann  hörte,  einige  Zeit  das  Brüllen  und  dazwischen  das 
Klatschen  nicht  mehr  auf.  , 

»Aufstehen  —  niederlegen!  Aufstehn  niederlegen!«  Schneller,  immer  schnel- 
ler Firner  sah,  wie  die  Stiefel  in  die  Hüften,  die  Hintern,  die  Beine  stiessen ;  er 
hörte  die  längst  vertrauten  Kosenamen  der  SS.  sich  in  stupider  Gemeinheit 
wiederholen. 

Die  Gefangenen  kamen  nicht  mehr  hoch;  sie  krochen  nur  noch.  Einer  blieb 
liegen,  ein  SS.    stiess   ihm   das  Gesicht  in    den   Dreck. 

Antreten,  von  einer  Ecke  in  die  andre  im  Laufschritt.  Tritte  ins  Kreuz!  Nun 
wurden  sie  wieder  in  die  hinterste  Ecke  kommandiert,  mussten  in  zwei  Reihen 
antreten,  die  Gesichter  einander  zugekehrt:  »Stillgestanden!  Schlagt  euch  gegen- 
seitig in  die  Fresse!« 

Die  Leute  rührten  sich  nicht. 

»Wird's  bald?«       .  „,,.., 

Die  SS.  stand  hinter  den  Reihen.  Als  dem  Befehl  keine  Folge',  geleistet  wurde, 
stiessen  die  zwei  Reihen  gegeneinander,  dass  die  Köpfe  aufeinanderprallten.  Die 
Leute  standen   starr  wie   Marionetten. 

Nun  ging  die  SS.  durch  die  Reihen  und  schlug  jedem  der  Gefangenen  ins 
Gesicht.  »So!  Seht  ihr,  so  geht  das!  Jetzt  packt  Euch  mal  schön  ge- 
nossenschaftlich  an  euren  langen   Haaren  und  zieht   recht  fest!« 

Sie   rührten   sich    nicht. 

»Wirds    bald?!    Aber   schleunigst!«    Einige    folgten    zögernd    dem    Befehl. 

»Da  schreit  ja  keiner  au!«  Neue  Schläge  mit  den  Fäusten  und  Tritte  mit  den 
benagelten   Stiefeln    in    den    Rücken. 

»Spuckt  euch  ins  Gesicht!«  Die  SS.  hielten  die  entsicherten  Pistolen.  Die  Ge- 
fangenen   bespuckten    sieh. 

»Das  soll   bespuckt  sein?  So!   Da   schaut   her!«  Ein   SS.   Kompanieführer 

räusperte  sich  und  spie  einem  der  Gefangenen  einen  Batzen  mitten  ins  Gesicht. 
»So  müsst  ihr  das  machen !« 

Die  meisten  der  Gefangenen    räusperten   sich    und  spuckten    sich   an. 

»Jetzt    schleckt   das    Zeug    wieder    runter!    Los!« 

85 


Sigurd  Hoel 

Einzelne  SS.  packten  die  Gefangenen  bei  den  Haaren,  drückten  ihnen  die  Ge- 
sichter aufeinander,  zwangen  sie,  die  Spucke  abzulecken.  Andere  standen  mit  der 
erhobenen   Pistole  und  verfolgten  laut  lachend  das  sie   belustigende  Spiel. 

Die    Aufnahmeprüfung   war  damit    beendet    und    alle    fünfundzwanzig  Mann 

zum  Nationalsozialismus  bekehrt.  Sie  konnten  abmarschieren.  Das  SS.-Schlag- 
kommando  verliess  in  vergnügter  Stimmung  den  Schauplatz.«  (»Dachau«  S- 
171—172.) 

Ein  guter  Teil  dieser  fünfundzwanzig  sind  Intellektuelle.  Ein  guter 
Teil  der  sechzigtausend  Gefangenen  in  den  Konzentrationslagern  sind 
Intellektuelle  —  Journalisten  und  Künstler,  Akademiker  verschieden- 
ster Art,  Schriftsteller.  Und  ich  meine,  es  kann  wert  sein,  sich  zu 
merken  —  in  dieser  Zeit,  da  es  in  vielen  Kreisen  modern  ist,  von  den 
Intellektuellen  herabsetzend  zu  sprechen  —  dass  gerade  diese  Intellek- 
tuellen, Seite  an  Seite  mit  den  Kommunisten,  von  den  Nazis  unter  die 
Unheilbaren  gerechnet  werden;  die  darum  am  besten  in  Gefangenen- 
lagern liquidiert  werden.  Es  gibt  ja  so  viele  Möglichkeiten,  das  zu 
machen:  Beim  Fluchtversuch  erschossen,  Selbstmord,  Nierenkrank- 
heit, Herzkrämpfe. 

Ich  weiss,  dass  es  viele  als  unbehaglich  empfinden,  an  solche 
Dinge    erinnert    zu    werden.    Sic    möchten     lieber    an    etwas    anderes 

denken. 

Aber  ich  glaube,  es  ist  äusserst  notwendig,  an  diese  Dinge  zu 
erinnern.  Und  insbesondere  halte  ich  es  für  günstig,  in  der  Einleitung 
zu  einem  Vortrag  über  Kulturkampf  und  Literatur  an  die  Tatsache 
zu  erinnern:   So  wie  hier  geschildert  -      und  sehr  oft  viel   schlimmer 

so  wird  heute  ein  grosser  Teil  der  Männer,  die  im  geistigen  Leben 

eine  Rolle  spielten,  behandelt  in  einem  Land,  das  gar  nicht  so  weit  von 
uns  entfernt  ist,  und  das  wir  stets  für  nahe  mit  uns  verwandt  und 
uns  in  mancher  Hinsicht  überlegen  gehallen  haben. 

Die  wichtigste  Aufgabe  der  Literatur  ist  es:  Die  Zeit  zu  spiegeln, 
die  Wirklichkeit  zu  zeigen,  die  Lügner  zu  durchleuchten  und  zu  ent- 
larven, den  Schwindlern,  die  uns  zum  Narren  halten  ■ —  und  zugleich 
uns  selber  unsere  eigene  Flucht  vor  der  Wirklichkeit  zu  zeigen,  die 
Lügen,  mit  denen  wir  uns  über  die  Niederlagen  trösten,  die  falschen 
Tagträume,  mit  denen  wir  uns  selbst  zum  Narren  halten,  zu   zeigen. 

Oder  wenn  man  will:  Die  Aufgabe  der  Literatur  hier  und  jetzt  ist, 
die  Freiheit,  die  wir  noch  haben,  zu  benützen,  wenn  möglich  eine 
weitere  Einschränkung  dieser  Freiheit  zu  verhindern;  zu  verhüten, 
dass  sich  ein  »Dachau«  auch  bei  uns  verbreitet. 

Man  wird  einwenden: 

Das  ist  alles  doch  so  weil  weg! 

So  etwas  kann  niemals  hier  geschehen ! 

Wir  haben  so  viele  andere  Fragen,  welche  wir  lösen  müssen. 

Denkt  an  unsere  nationale  Eigenart,  die  noch  lange  nicht  er- 
forscht ist. 

Denkt  an  unsere  »finsteren  Jahrhundertc«. 
86 


Kulturkampf   und   Literatur 


Denkt  an  das  »verborgene  Norwegen«1). 
'     Und  all  das  ist  ausgezeichnet  und  sehr  wichtig. 

Doch  unsere  nationale  Eigenart,  grossartig  wie  sie  ist,  verhindert 
trotzdem  nicht,  dass  wir  von  der  gleichen  Art  von  Kugeln  durchbohrt, 
von  der  gleichen  Art  von  Gas  vergiftet  werden,  unter  der  gleichen  Art 
von  Stahlruten  schreien  können,  dass  wir  von  der  gleichen  Art  von 
Redensarten  verwirrt  werden  und  in  der  gleichen  Art  von  Gefängnis- 
sen    verkommen     können,    wie     Menschen     aus     anderen,     fremden 

Nationen. 

Darum  lasse  ich  vorläufig  die  speziell  norwegische  Aufgabe  der 
Literatur  in  Frieden  und  halte  mich  an  das,  was  für  die  Literatur  in 
allen  Ländern  gemeinsam  ist. 

Es  herrscht  innerhalb  der  meisten  Parteien  und  Meinungsgrup- 
pierungen  eine  gewisse  Einigkeil  darüber,  das  es  eine  ganz  finstere 
Kultursituation  ist,  in  der  wir  uns  befinden.  Es  gibt  gewisse  Anzeichen, 
die  dahin  zu  deuten  scheinen,  dass  die  Gegenwartskultur  im  Begriff 
ist,  in  ihren  eigenen  Absonderungen  umzukommen.  Die  Technik  ent- 
wickelt sich  in  rasendem  Tempo  und  alle  Kulturapparale  mit  ihr. 
Doch  gleichzeitig  damit  können  wir  eine  ständig  sich  steigernde  Ten- 
denz in  der  Richtung  auf  etwas  entdecken,  was  wir  die  Tyrannei  der 
Institution  über  den  Menschen  nennen  können. 

Überall  sehen  wir,  wie  sich  die  verschiedenen  Kulturinstitutionen 
mit  rasender  Geschwindigkeit  dahin  entwickeln,  Grabmonumente  der 
Kultur  zu  werden,  zu  deren  Lebenserhaltung  sie  gestiftet  waren.  Es 
sieht  fast  aus,  als  wäre  es  zu  einem  Naturgesetz  geworden,  dass  eine 
Institution  in  dem  Augenblick  wo  sie  aufgerichtet  wurde,  um  ein 
Kulturgut  zu  bewahren  und  zu  stärken,  die  Zeit  für  gegeben  ansieht, 
es  zu  verraten.  Zu  Ehren  der  Kultur  werden  herrliche  Paläste  mit 
dicken  Mauern  errichtet,  in  denen  die  Kultur  in  einer  Polsterzelle  ein- 
gesperrt wird. 

Unser  eigenes  Nohclinstitut  ist  dafür  typisch.  Gestiftet,  um  der 
Sache  des  Friedens  zu  dienen  -  sieht  es  in  Wahrheit  so  aus,  als 
müsste  man  General,  Kriegsminister,  oder  Aktionär  der  Rüstungs- 
industrie sein:  Andernfalls  nützt  es  nichts,  sich  als  Kandidat  für  den 
Friedenspreis  zu  melden. 

Am  deutlichsten  wird  diese  unheimliche  Entwicklung  in  Deutsch- 
land sichtbar.  Da  hat  der  am  meisten  umfassende  Kulturapparat,  der 
Staat  selbst,  sich  dazu  entwickelt,  ein  menschenfressendes  Ungeheuer 
zu  werden.  Ungehemmt  wird  das  neue  Evangelium  gepredigt:  Dass 
der  Mensch  nur  existiert  für  den  Staat,  für  den  totalitären  Staat  (sym- 

1)  Anm.  Die  Entwicklung  der  norwegischen  Literatur  und  des  norwegischen  Gei- 
steslehcns  Überhaupt  ist  entscheidend  heeinflussl  von  der  Tatsache,  dass  vom 
17len  bis  zum  Anfang  des  litten  Jahrhunderts  Norwegens  politisches  und  gei- 
stiges Lehen  von  einer  dänischen  Heamtenaristokratic  bestimmt  wurde,  die 
der  Bevölkerung  sogar  eine  ihr  nicht  gemässe  Schriftsprache  aufzwang.  Erst 
seit  der  politischen  Trennung  von  Dänemark  im  Jahre  1814  hat  die  selb- 
ständige Entwicklung  Norwegens  auf  politischem,  literarischem  i.  T.  sogar 
sprachlichem    Gebiet    eingesetzt.    (Der    Übersetzer.) 

87 


Sigurd   Hoel 

bolisiert  in  der  Person  des  Führers).  Und  der  totalitäre  Staal  —  er- 
klärt uns  Ludcndorff  sehr  logisch  —  hat  ein  Ziel:  Den  totalitären 
Krieg.  Und  worin  der  totalitäre  Krieg  resultieren  inuss,  das  brauchen 
wir  nicht  einmal  zu  fragen  —  er  muss  zur  totalen  Ausrottung  der 
Menschen  führen. 

Das  Gefangenenlager  in  Dachau  ist  keine  zufällige  Ausschweifung. 
So  muss  der  totalitäre  Staal  logischer  Weise  gegen  seinen  natürlichen 
Feind,  den  denkenden  Menschen  vorgehen.  Vnd  solange  der  Zustand 
in  Deutschland  kein  Ausnahmezustand  in  der  Welt  genannt  werden 
kann  —  solange  wir  ähnliche  Zustände  in  Italien,  Japan  und  einer 
Reihe  anderer  Diktaturländer  antreffen  und  solange  dieser  Gemüts- 
und Gesellschaftszustand  faktisch  die  Tendenz  hat,  sich  ständig  weiter 
auszubreiten,  solange  muss  es  für  uns,  die  wir  diese  Entwicklung  für 
das  grösste  von  allen  Unglücken  halten,  die  wichtigste  aller  Aufgaben 
sein,  zu  klären: 

Warum  ist  das  so? 

Muss  das  so  sein? 

Ist  diese  Entwicklung  ein  unentrinnbares  Schicksal,  in  das  sich 
die  Welt  finden  muss,  oder  kann  sie  durch  richtige  Erkenntnis  und 
richtige  Handlungen  zum  Stillstand  gebracht  und  überwunden 
werden?  » 

Wenn  die  Reaktion,  wie  sie  es  in  den  letzten  Jahren  in  der  Welt 
getan  hat,  unaufhaltsam  triumphiert,  so  entsteht  in  der  Seele  vieler 
Menschen  eine  Niederlagenstimmung,  die  der  Reaktion  Wege  zu  neuen 
Triumphen  öffnet.  Es  entsteht  ein  circuhis  vitiosus,  ein  bösartiger 
Zirkel  können  wir  es  übersetzen  —  ein  aus  den  verschiedensten 
Lebensgebieten  her  bekanntes  Phänomen,  ein  Phänomen,  das  einen 
geradezu  verleiten  könnte,  an  ein  »Prinzip  des  Bösen«  hier  in  dieser 
Welt  zu  glauben.  Im  folgenden  werden  wir  oft  auf  diesen  circuhis 
vitiosus  stossen. 

Auf  den  Sieg  der  Reaktion  reagieren  sehr  viele  Menschen  so,  dass 
sie  denken: 

»Das,  was  geschah  und  ständig  geschieht,  ist  wohl  unvermeidbar. 
Es  ist  Schicksal.« 

Oder  sie  denken  verzweifelt:  »Es  muss  doch  wohl  trotzdem  irgend 
etwas  an  dem  dran  sein,  wenn  es  solchen  Erfolg  hat.« 

Sic  denken:  »Es  kann  ja  doch  nichts  nützen « 

Und  sie  werden  passiv,  gottergeben,  fatalistisch,  legen  die  Hände 
in  den  Schoss,  lassen  das  Böse  geschehn. 

Es  ist  dieser  fatalistische  Gemütszustand,  hervorgerufen  von  Nie- 
derlagen, der  vor  allem  den  Weg  zu  neuen  Niederlagen  bahnt.  Es  ist 
diese  Unterwerfung  unter  das  Schicksal,  die  das  Schicksal  schafft. 
Und  es  bleibt  die  Frage:  Ist  diese  Unterwerfung  unumgänglich?  Gibt 
es  kein  Mittel  dagegen?  —  Von  unserer  innern  Antwort  auf  diese  Frage 
wird  in  Wirklichkeit  unsere  Haltung  zu  allen  Problemen  der  Zeit 
bestimmt. 

88 


L 


Kulturkampf   und   Literatur 

Vorläufig  muss  man  sagen: 

Dieses  Niederlagcngefühl  bringt  mit  sich,  dass  Ängstlichkeit  und 
somit  Konservativismus  in  allen  früher  freisinnigen  Lagern  um  sich 
greifen.  Denn  was  finden  wir  im  Zentrum  von  allem  Konservativis- 
mus: Passivität,  gebückte  Haltung,  Niederlagengefühl.  (Nicht  zufällig 
sind  es  die  Alten,  die  mit  geschwächten  Lebenskräften,  die  sozusagen 
von  Natur  konservativ  sind). 
Die  Konservativen  denken: 

So,  wie  es  ist,  ist  es  immer  gewesen  und  so  wird  es  immer  bleiben. 
Es  nützt  nichts,  etwas  dagegen  zu  tun.  Es  darf  auch  garnichts  dagegen 
getan  werden,  denn  wenn  es  einmal  so  ist,  so  wird  es  wohl  gut  sein. 
Und  auf  jeden  Fall,  zuerst  und  zuletzt:  Es  nützt  nichts  zu  kämpfen. 
Unter  diesem  Wahlspruch  der  Alten,  dessen  innerste  Meinung  ist: 
»Der  Tod  nähert  sieb,  aber  es  nützt  nichts,  vor  ihm  davonzulaufen« 
-  unter  diesem  Wahlspruch  sind  unzählige  Generationen  von  Jungen 
um  das  Leben  genarrt  worden. 

Eins  ist  gewiss:  Beugen  wir  uns  unter  diesen  Wahlspruch,  so  ver- 
raten wir  auf  jeden  Fall  das  Geistesleben.  Aus  Konservativismus,  aus 
Niederlagengefühl  entsteht  niemals  ein  Geistesleben.  Die  erste  Voraus- 
setzung alles  Geisteslebens  ist:  Es  kann  etwas  nützen. 

Eine  der  gefährlichsten  Folgen  der  Reaktion  und  ganz  besonders 
des  Hitlcrsieges  ist  eine  neue  und  wachsende  Verachtung  für  die 
Massen.  Diese  Verachtung  greift  in  allen  Lagern  um  sich,  und  bahnt 
auf  tückische  Weisen  den  Weg  für  reaktionäre  Gedankengänge.  Ein 
circulus  vitiosus. 

Hitler  hat  mit  verblüffender  Aufrichtigkeit  dieser  seiner  Verach- 
tung Ausdruck  gegeben  (wozu  zu  bemerken  ist,  dass  er  selbst  ge- 
fühlsmässig  in  hohem  Grad  ein  »Massenmensch«  ist).  Er  hat  wieder 
und  wieder  die  Massen  als  »formbaren  Lehm«  bezeichnet,  von  Natur 
passiv  und  weibisch,  ausser  Stand  zu  denken,  aber  wohl  geeignet  zu 
fühlen,    und    mit    einem   unbewussten   Wunsch    in   sich,   brutalisiert, 

kommandiert,  am  Nacken  gefasst  und  geleitet  zu  werden 

Hitlers  Sieg  scheint  ihm  recht  zu  geben. 

Eine  andre  Folge  des  faschistischen  und  nationalsozialistischen 
Sieges  ist  eine  gesteigerte  Verachtung  der  Frau,  eine  verschärfte  anti- 
feministische   Hallung   innerhalb   vieler    Lager.    Wieder   ein    circulus 

vitiosus. 

Die  Frau  ist  seit  Jahrtausenden  in  allen  Ländern,  in  aller  Zeit,  die 
wir  die  patriarchalische  Epoche  zu  nennen  pflegen,  mehr  oder  weniger 
unterdrückt  worden.  Sechstausend  Jahre  ungefähr.  Im  letzten  Men- 
schenalter ist  in  einzelnen  Ländern  ein  schwacher  Versuch  gemacht 
worden,  der  Frau  mehr  Gleichstellung  einzuräumen. 

Was  ist  das  Resultat? 

Ich  glaube,  wir  können  schnell  darüber  einig  werden,  dass  das 
Resultat  eine   Enttäuschung  gewesen  ist. 

Nicht    überall   ist    die    Enttäuschung   so   greifbar,   wie   neulich   in 

89 


Sigurd   Hoel 

Spanien.  Da  setzten  es  die  Linksparteien  nach  der  Revolution  durch, 
dass  die  Frauen  Stimmrecht  haben  sollten.  Und  bei  der  ersten  Wahl 
standen  die  Frauen  zu  Millionen  auf  und  stimmten  so,  wie  ihre  Beicht- 
väter ihnen  gesagt  hatten,  dass  sie  stimmen  sollten  —  d.h.  in  direktem 
Streit  mit  ihren  eigenen  Interessen,  für  ihre  eigene  Unterdrückung, 
gegen  ihr  eigenes  Stimmrecht,  gegen  die  Parteien,  die  dafür  gearbeitet 
hatten,  ihnen  einen  Teil  ihrer  Menschenrechte  zurückzugeben. 

Das  war  in  Spanien  (wo  die  Frauen  im  übrigen  bereits  bei  der 
nächsten  Wahl  bereuten).  Doch  ich  frage:  Hat  nicht  jedes  Land  ähn- 
liche Erfahrungen  gemacht? 

Dann  denkt  man  in  der  ersten  Enttäuschung: 

Es  kann  nichts  nützen,  diesem  Wesen  Freiheit,  Gleichstellung, 
Rechte  zu  geben.  Sie  will  es  ja  nicht  haben!  —  Und  die  Reaktion 
triumphiert. 

Doch  wir  vergessen: 

Jahrtausende  hindurch  hat  diese  Unterdrückung  bestanden.  Sie 
hat  ein  sinnreiches  System  von  Vorstellungen,  Denkgewohnheiten  und 
Ansichten  bei  uns  allen  abgelagert.  Diese  Vorstellungen  von  der  Un- 
gleichheit von  Mann  und  Frau  sind  ein  organischer  Teil  von  uns  allen 
geworden,  Männern  wie  Frauen,  sie  haben  uns  vom  Kopf  bis  zur  Zehe 
durchsäuert  und  haben  uns  verändert.  Und  dann  sollte  etwas  so 
Äusserlichcs  wie  ein  Stimmrecht  mit  einem  Schlag  all  das  verändern? 

Derjenige,  der  unterdrückt  wird,  muss  auf  die  Dauer  aus  purer 
Selbstverteidigung  sich  auf  die  Unterdrückung  einrichten,  ja  wenn 
möglich  Vorteil  aus  ihr  ziehn.  Aber  ans  einem  Zustand  Vorteil  ziehn, 
besagt  stets,  dass  man  ihn  bis  zu  einem  gewissen  Grad  anerkennt. 

Doch  auch  derjenige,  der  unterdrückt,  wird  verändert.  Unter 
anderm  wird  er  abgestumpft,  brutal  und  dumm. 

Im  Hinblick  auf  Mann  und  Frau  ist  all  das  besonders  deutlich. 
Man  lasse  eine  Anzahl  Männer  zusammen  kommen  und  sorge  dafür, 
dass  sie  aufrichtig  miteinander  reden.  Und  über  alle  Klassenunter- 
scheidungen und  Nationalitätsgrenzen  hinweg  werden  sie  sich  dar- 
über einig  sein,  dass  die  Frau  schwach,  falsch  und  verlogen  ist.  Und 
lässt  man  ein  paar  vernünftige  Frauen  zusammenkommen,  so  werden 
sie  bald  darin  übereinkommen,  dass  der  Mann  gewiss  stark  sein  kann 
und  gut  um  Ski  zu  springen  und  solche  Dinge,  aber  gleichzeitig  dumm 
und  leicht  zum  Narren  zu  halten.  Auf  diesem  gegenseitigen  Hass,  auf 
dieser  gegenseitigen  Geringschätzung  baut  sich  die  Liebe  in  unserer 
Zeit  auf.  Und  Geringschätzung  erzeugt  —  beim  Mann  Brutalität. 
Und  Brutalität  erzeugt  —  beim  andern  Partner  —  Schlauheit,  Falsch- 
heit und  Lüge.  Circulus  vitiosus  —  zum  Vorteil  für  alle  Reaktion. 

Wenn  Menschen  von  frühster  Kindheit  an  dazu  erzogen  werden, 
einen  grossen  Teil  ihrer  natürlichen,  an  und  für  sich  ganz  unschul- 
digen Wünsche,  Triebe  und  Bedürfnisse  zu  fürchten,  zu  verabscheuen, 
zu  verurteilen  und  zu   unterdrücken  die  wesentlichen   Dinge,  die 

mit  der  Sexualität  zu  tun  haben,  -  -  und  wenn  diese  Menschen  durch 
90 


Kulturkampf  und   Literatur 


diese  Unterdrückung  nach  und  nach  innerlich  so  verkrüppelt  werden, 
dass  sie  freiwillig  selber  fortsetzen,  auch  wenn  der  äussere  Zwang 
aufgehört  hat,  so  erinnern  sie  im  Laufe  der  Zeit  an  einen  Menschen, 
der  vor  allem  sogenannten  Unreinen  einen  derartigen  Schrecken  hat, 
dass  er  niemals  wagt,  in  seinem  Zimmer  gründlich  rein  zu  machen. 
Er  öffnet  die  Kellerlukc  und  in  Hast,  mit  abgewandtem  Blick  kehrt 
er  alles  Zweifelhafte  in  den  Keller  hinunter  und  schlägt  die  Luke 
wieder  zu.  Was  er  hinunterkehrte,  braucht  gar  nichts  Unreines  zu 
sein.  Doch  wenn  die  Dinge  da  unten  im  Keller  liegen  bleiben  und  ver- 
faulen, ohne  Licht,  Luft  und  Kontrolle,  mit  immer  mehr  Zuwachs 
von  der  gleichen  Art  -  da  braut  und  kocht  es  sich  in  der  Folge  zu 
einem  Kraut  von  verbotenen  Trieben  zusammen,  von  unerfüllten  Wün- 
schen, Lüsten,  unbewusstem  Neid  und  Groll  —  bis  die  verdrängte 
Natur  dieser  guten  Menschen  genau  so  schwül,  ekelhaft  und  gefähr- 
lich wird,  wie  sie  glauben,  dass  die  ganze  Natur  böser  Menschen  sei. 
»Aftenposten«  (die  grösste  konservative  Zeitung  Norwegens)  ist 
der  Wächter  der  Moral  hier  zu  Lande.  Sie  kämpft  gegen  »Pornogra- 
phic und  sexuelle  Aufklärung«  —  diese  beiden  Dinge  sind  für  sie  fast 
das  Gleiche.  Sie  kämpft  gegen  die  Befreiung  der  Jugend,  gegen  die 
radikale  Literatur,  gegen  das  Entsetzliche,  was  sie  das  sexuelle  Chaos 
nennen  und  was  entsteht,  wenn  man  die  sexuellen  Verbote  aufhebt. 

Wir  lachen  darüber,  oder  ärgern  uns,  aber  wir  vergessen,  dass  von 
ihrem  Niveau  und  von  einer  unklaren  Erkenntnis  dieses  Niveaus  aus 
Aftenposten  auf  seine  Weise  recht  hat. 

Aftcnpostcns  Unterbewusslsein  ist  nämlich  pornographisch 
das  geht  aus  dem  Früheren  hervor  —  und  Aftenposten  hat  selbst  eine 
Ahnung  davon.  Es  ist  nämlich  so,  dass  die  Kellerklappe  bei  dieser 
Art  Menschen  nicht  absolut  hermetisch  schlicsst.  Ein  Duft  steigt  ab 
und  zu  herauf  in  die  gute  Stube.  Und  die  guten  Menschen  ahnen, 
dass,  wenn  man  dies  zulässt,  was  dann ! 

Nein.  Es  ist  kein  Zufall,  dass  Aftenposten  sich  unter  dem  Begriff 
erotische  Freiheit  bloss  Roheit,  Gewaltakte,  Übergriffe,  Untreue  und 
Chaos  vorstellen  kann.  Es  ist  ganz  richtig  —  wenn  man  plötzlich,  mit 
einem  Schlag  wie  durch  Zauberkünste  alle  die  guten  Menschen  von 
ihren  sexuellen  Hemmungen  befreite,  da  würden  böse  Dinge  ge- 
schehen. Es  würde  so  sein,  als  ob  man  von  einem  Tag  zum  andern 
all  die  Tausend  Sing-Sing  Gefangenen  auf  freien  Fuss  setzte  und  ihnen 
einen  Revolver  in  die  Hand  gäbe  und  dann  bitte  sehr ! 

Da  würden  Gewalthandlungen  und  Chaos  kommen. 

Doch  wir  haben  gar  nicht  daran  gedacht,  Aftenposten  zu  befreien, 
ja  verzeihen  Sie,  dass  ich  diesen  Namen  als  Bezeichnung  für  ein  gan- 
zes Milieu  brachte.  Dieses  Milieu  muss  im  ganzen  gesehn  mit  seinen 
Gehrechen  zugrunde  gehn.  Das,  vorauf  es  ankommt,  sind  die  jungen 
Menschen  und  die  kommenden  Generationen,  die  Menschen,  die  noch 
nicht  ruiniert  sind,  die  noch  die  Chance  zu  einem  reicheren,  freieren 
und  glücklicheren  Leben  haben. 

91 


Sigurd  Hoel 

Und  auch  dabei  dürfen  wir  uns  keine  falschen  Illusionen  machen, 
das  würde  sich  an  uns  und  an  der  Jugend  rächen.  Wir  müssen  uns 
im  Klaren  darüber  sein,  dass  unter  der  Arbeit  für  grössere  Freiheit, 
auf  sozialem,  ökonomischem,  erotischem  Gebiet  auch  chaotische  Dinge 
-  vorkommen  werden  und  müssen.  Wir  müssen  uns  daran  erinnern, 
dass  ein  Mensch  von  20  Jahren  schon  ein  langes  Leben  hinter  sich 
hat  —  was  die  Charakterstruktur  an  und  für  sieh  angehl,  hat  er  den 
grössten  Teil  seines  Lebens  hinter  sich.  Und  in  unserer  Gesellschaft 
ist  er  dann  bereits  auf  eine  oder  mehrere  Arten  zerbrochen  und  unter- 
drückt —  andernfalls  würde  er  sich  ja  nicht  in  die  Unterdrückung 
finden  und  keiner  Hilfe  zur  Befreiung  bedürfen.  Es  werden  chaotische 
Dinge  vorkommen,  die  Gelegenheit  zu  Geschrei  und  Agitation  geben 
werden.  Wir  müssen  darüber  nur  klar  sein.  Wer  über  ein  Gebirge 
will,  das  den  Weg  versperrt,  muss  sich  darein  finden,  eine  Zeit  lang 
bergauf  zu  gehn. 

Und  nun  zum  zentralen  Fragenkreis,  bei  dem  die  Reaktion  ihre 
meisten  und  besten  Helfer  findet: 

Wir  haben  auf  verschiedene  Weise,  bei  lausenden  von  Gelegen- 
heiten, direkt  und  indirekt  zu  hören  bekommen:  Immer  besteht,  im- 
mer hat  bestanden  und  wird  bestehn  ein  schicksalsbestimmter  und 
unentrinnbarer,  trauriger  doch  unvermeidbarer  Gegensatz  zwischen 
Natur  und  Kultur.  Geistige  Arbeit  entsteht,  so  heisst  es  im  psychologi- 
schen Jargon  unserer  Zeit,  durch  Sublimierung  der  Energie  der  pri- 
mitiven Triebe.  Also  muss  jede  geistige  Arbeit  direkt  oder  indirekt 
Energie  aus  diesen  Trieben  bezichn.  Umgekehrt  würden  diese  Natur- 
triebe —  und  wohl  gemerkt,  ohne  das  Wort  zu  nennen,  wird  hier 
immer  der  Sexualtrieb  gemeint  —  umgekehrt  würden  diese  Triebe, 
befriedigte  man  sie  vollkommen,  Energie,  Zeit  und  Interesse  von  der 
geistigen  Arbeit  wegnehmen.   Also  sind  sie  kulturfeindlich. 

Einzelne  Kulturphilosophen,  um  ein  Beispiel  aus  unserer  Heimat 
zu  nennen,  Sigurd  Ibsen,  sind  noch  einen  Schritt  weiter  gegangen  und 
haben  behauptet,  dass  alle  Kultur  sich  auf  sozialem  Unrecht  aufbauen 
müsse,  so  traurig  das  auch  ist,  es  muss  doch  so  sein.  Damit  jemand 
Zeit  und  Möglichkeit  zu  Kulturarbeit  findet,  müssen  sich  andere  umso 
härter,  mit  grober  Arbeit  und  für  geringeren  Lohn  plagen,  damit  ein 
Übcrschuss  für  den  bleibt,  der  sitzt  und  denkt.  Ja,  es  ist  traurig  und 
unser  Gerechtigkeitssinn  wird  dabei  einigermaßen  in  Aufruhr  versetzt, 
aber  es  ist  so  und  ist  immer  so  gewesen  und  muss  immer  so  bleiben. 

In  späterer  Zeit  hat  diese  Kulturauffassung  eine  gewisse  Stütze 
durch  Sigmund  Freuds  letzte  Arbeiten  erfahren. 

Sigmund  Freud  wird  ja  für  gewöhnlich  als  die  Inkarnation  des 
Radikalismus  im  geistigen  Leben  selbst  aufgefasst  —  man  greift  ihn 
wegen  seines  auflösenden,  umstürzenden,  vergiftenden  Radikalismus 
an.  Die  wenigsten  jedoch,  die  ihn  angreifen,  sind  darauf  aufmerksam, 
dass  sich  Freud  in  den  späteren  Jahren  auf  verschiedenen  wesent- 
lichen Gebieten  in  nicht  geringem  Mass  zu  so  etwas  wie  einem  kon- 

92 


Kulturkampf  und   Liferatur 

servativen  alten  Herrn  entwickelt  hat.  Die  Angreifer  sind  darauf  nicht 
aufmerksam.  Sie  haben  nämlich  zur  Sicherheit  Freud  nicht  gelesen. 
Freud  machtein  seinem  frühen  Manncsaller  grosse,  bahnbrechende 
Entdeckungen.  Er  entdeckte  die  kindliche  Sexualität  deren  Existenz 
kein  Kundiger  länger  bestreitet.  Er  entdeckte  ferner,  dass  das  Verbot 
gegen  die  natürliche  Entfaltung  dieser  kindlichen  Sexualität,  ihre 
Verdrängung,  den  Anlass  gibt  zu  all  den  Neurosen,  die  die  Welt  wie 
eine  Pest  plagen,  und  die  gewiss  alles  in  allem  gesehn  die  unheim- 
lichste, meist  verbreitete,  peinlichste  und  und  für  das  Wohl  und  Glück 
der  Völker  schicksalsschwerste  Krankheit  der  Gegenwart  sind. 

Durch  die  Methoden,  die  er  ausgearbeitet  hat,  konnte  Freud  diese 
Neurosen  im  einzelnen  Fall  ganz  oder  teilweise  heilen.  Doch  das  war 
eine  Methode,  die  lange  Zeit  in  Anspruch  nahm  und  die  niemals  zu 
einer  Heilung  im  breiten  Massenmasstab  werden  konnte.  Was  sollte 
man  tun,  um  den  Massen  gegen  ihre  Neurosen  zu  helfen? 

Und  lassen  Sie  mich  gleichzeitig  erwähnen:  Die  Untertänigkeit  der 
Massen,  ihre  Passivität,  Ängstlichkeit  und  Autoritätsgläubigkeit,  die 
sie  zu  einer  so  leichten  Beule  für  Hitler,  Mussolini  und  andere  De- 
magogen macht,  hat  ihren  Grund  nicht  allein  in  Armut  und  Mühe 
und  schlechten  Wohnverhältnissen  und  all  dem  Gefühl  von  Minder- 
wertigkeit, das  damit  verbunden  ist,  sie  hat  ihren  Grund  auch  in  der 
Neurose,  hervorgerufen  durch  eine  Erziehung,  die  zum  grossen  Teil 
davon  ausgehl,  grosse  Teile  der  Lebenskraft  zu  unterdrücken  und 
einzukapseln. 

Wir  müssen  fragen:  Muss  das  so  sein? 

Müssen  die  Massen  fortgesetzt  unterdrückt,  in  Schmutz  und 
Lumpen  und  Armut  niedergehalten  werden,  damit  die  Kultur  be- 
stehen kann? 

Ein  sehr  hoher  Prozentsatz  der  Frauen  in  Europa  und  Amerika 
ist  frigid,  sexuell  kalt,  ihre  zentrale  Lebens-  und  Frcudequelle  selbst 
ist  getötet,  sie  empfinden  das  erotische  Zusammenleben  mit  dem  Mann 
als  Last,  als  Plage,  sie  kommen  dahin,  dieses  selbst  und  den  ganzen 
Mann  zu  hassen,  sie  machen  das  Zusammenleben  zu  einer  Pest  und 
übertragen  unwillkürlich  ihre  Angst  und  ihren  Hass  auf  ihre  Kinder. 
Ursache  davon  ist  teils  Roheit  und  Unwissenheit  auf  Seiten  des 
Mannes,  eine  Unwissenheit,  die  von  der  Angst  geschaffen  und  auf- 
rechterhalten wird,  teils  ein  früh  erworbener  Schrecken  bei  der  Frau. 
[)0Ch  —  so  liegen  die  Dinge  nun  einmal.  Früher  rechnete  man 
damit,  dass  etwa  die  Hälfte  der  Frauen  mehr  oder  minder  frigid  war. 
Später,  als  diese  Untersuchungen  weiter  ausgebaut  wurden,  ist  man 
zu  bedeutend  höheren  Zahlen  gekommen,  man  behauptet  neunzig 
Prozent  geistige  Invaliden,  zerbrochen  und  verdorben  in  einem  wesent- 
lichen Teil  ihrer  Lebensnerven.  Sollen  sie  also  als  Invaliden  herum- 
gehn,  damit  Sigurd  Ibsen  und  seinesgleichen  in  ihrer  Villa  sitzen  und 
denken  können? 

Hier  muss  man  sagen,  dass  Freud  und  seine  Schule  in  einer  ge- 

93 


Sigurd   Hoel 

wissen  Weise  und  in  steigendem  Masse  um  den  wesentlichen  Punkt 
herum  gegangen  sind.  Man  heilt  den  einzelnen  Fall  und  nachdem 
man  das  kranke,  verschreckte  Individuum  von  Angst  erlöst  und  die 
erotische  Lebensenergie  befreit  hat,  sucht  man  sie  von  neuem  zu 
binden.  Nun  ist  sie  da  —  doch  wenn  man  sie  zu  dem  ausnützen 
wollte,  wofür  sie  da  ist  —  ja,  hm,  da  könnte  man  in  Konflikt  mit 
Sitte  und  Brauch  geraten.  Nein,  jetzt  muss  sie  sublimiert,  -  in  geistige 
Arbeit  umgesetzt  werden,  zu  Schönheitsfreude,  sportlichen  Lei- 
stungen   

Faktisch  hat  Freud  in  seinen  spätem  Arbeiten  zu  einem  grossen 
Teil  der  konservativen,  christlichen,  puritanischen,  asketischen  Be- 
hauptung recht  gegeben,  dass  die  Kultur  sich  auf  Kosten  der  Natur- 
triebe aufbaut  —  dass  Natur  und  Kultur  in  dieser  Hinsicht  Gegen- 
sätze sind. 

Doch  andere  Forscher  haben  Freud  korrigiert  und  seine  For- 
schungen weitergeführt. 

Unter  diesen  Jüngern  Forschern  muss  in  erster  Linie  Wilhelm 
Reich  genannt  werden.  Reichs  Arbeilen  behandeln  die  Tiefenpsycho- 
logie und  in  dieser  Hinsicht  setzt  er  Freuds  Arbeiten  fort.  Aber  ausser- 
dem hat  er  Arbeiten  geliefert,  in  denen  er  die  Tiefenpsychologie  so- 
ziologisch ausnützt  und  die  unausweichlichen  politischen  Konsequen- 
zen aus  der  neuen  psychologischen  Einsicht  zieht.  Ich  nenne  von 
seinen   Arbeiten: 

Massenpsychologie  des  Faschismus 
Einbruch  der  Sexualmoral 
und  das  eben  erschienene  Buch 

Die  Sexualität  im  Kulturkampf 

Drei  Bücher,  um  die  niemand  herumkommt,  der  sich  in  unserer 
Zeit  mit  Kulturproblemen   gründlich   vertraut   machen   will. 

Diese  jüngeren  Forscher  mit  Reich  an  der  Spitze,  was  sagen  sie 
nun  zu  dieser  Behauptung  über  den  notwendigen  Gegensatz  von  Natur 
und  Kultur? 

Ja  —  sagen  sie  -  -  es  besteht  wohl  ein  solcher  Gegensatz  zwischen 
Natur  und  Kultur. 

Aber  welcher  Kultur? 

Der  bürgerlichen,  christlichen,  kapitalistischen,  patriarchalischen 
Kultur. 

Diese  Kultur  baut  auf  zwei  Tatsachen  auf:  Auf  ökonomischer  Aus- 
beutung und  auf  Sexualunterdrückung. 

Und  wozu  ist  die  Sexualunterdrückung  notwendig?  Sie  ist  eines 
der  Mittel  zur  ökonomischen  Ausbeutung. 

Die  Sexualunterdrückung  ist  ein  Glied  in  der  Erziehung,  die  alles 
in  allem  darauf  ausgeht,  dem  Kinde  Angst  einzujagen,  ihm  Schuld- 
gefühl zu  geben,  ihm  alle  möglichen  Verbote  einzuhämmern  und  es 
still,  fromm,  verschreckl  und  hörig  zu   machen. 

94 


■ 


Kulturkampf   und    Literatur 

Das  Sexualverbot  ist  das  wichtigste  dieser  Verbote,  das  schicksals- 
schwerste von  ihnen,  dasjenige,  dessen  Aufrechterhaltung  die  grösste 
Kraft  in  Anspruch  nimmt. 

Es  ist  wirklich  so:  Der  erwachsene  freundliche,  hörige,  ver- 
schrecklc,  verbogene  Mensch  braucht  einen  wesentlichen  Teil  seiner 
Lebenskraft  dazu,  um  seine  Lebenskraft  zu  unierdrücken  im  Ge- 
horsam gegen  die  Hegeln,  die  ihm  in  frühen,  peinvollen,  vergessenen 
Jahren  eingebläut  worden  sind  von  Eltern,  die  selbst  auf  die  gleiche 
Weise  unterdrückt  worden  sind  und  die,  ohne  es  zu  wissen,  sich  an 
ihren  Kindern  gerächt  haben  für  das  Leid,  durch  das  sie  selbst  als 
Kinder  hindurch  mussten.  Hier  haben  wir  den  circulus  vitiosus  in 
seiner  schlimmsten,  seiner  erschreckendsten  Form. 

Mit  andern  Worten:  Es  ist  nicht  so,  dass  die  Unterdrückung  von 
Naturtrieben  an  und  für  sich  die  Kulturarbeit  fördert.  Hingegen  dient 
sie  dazu,  um  eine  ganz  bestimmte  soziale  und  kulturelle  Situation 
festzuhalten.  Sie  macht  den  Mann  schwach,  feig,  abgestumpft  und 
dumm  —  doch  zugleich  macht  sie  ihn  unsicher,  voll  von  Schuldgefühl, 
leicht  zu  leiten,  leicht  auszubeuten.  Sie  macht  ihn  zu  einem  Mitglied 
der  Masse,  die  zu  Ton  in  der  Hand  rücksichtsloser  Demagogen  wird. 

Oder  —  denken  wir  uns,  dass  er  scheinbar  aus  der  Masse  hervor- 
steigl.  Er  hat  Glück  oder  Unglück  -  -  und  wird  geistiger  Arbeiter  und 
bildet  sich  vielleicht  ein,  ausserhalb  und  über  dem  Streit  zwischen 
Parteien  und  Klassen  zu  stehen,  ein  freier  Mann,  geleitet  vom  reinen 
Denken,  das  er  selbst  hervorbringt.  Bitte  um  Verzeihung!  Das  Heinzel- 
männchen hat  den  Umzug  mitgemacht.  Die  Sexualuntcrdrückung  trägt 
er  von  Kindheit  an  mit  sich  am  Körper.  Er  ist  voll  von  Hemmungen, 
voll  von  Angst  vor  der  vollen  Lebensfreude  -  er  selber  bezeichnet 
es  als  etwas  anderes:  Er  ist  erhaben  über  das  Tierische  in  ihm  selber 
oder  wie  man  es  ausdrücken  will.  Sehr  oft  ist  er  auch  oder  wird  er 
mit  den  Jahren  voll  von  Hass  gegen  diejenigen,  welche  sich  die  volle 
Lebensfreude  erlauben.  Dies  wird  gerne  so  ausgedrückt,  dass  er  für 
Reinheit  kämpft;  —  mit  andern  Worten:  In  all  seiner  geistigen  Frei- 
heit ist  er  ein  gehorsamer  Vollzieher  und  Weiterträger  der  Lebens- 
angst, die  ihm  einmal  aufgezwungen  worden  ist. 

Hier  haben  wir,  wenn  wir  genauer  hinsehen,  nicht  nur  einen 
circulus  vitiosus,  sondern  ganze  Klassen,  ganze  Gruppen  ineinander 
und  umeinandergreifend. 

So  kann  man  fragen: 
Wird    es    also    die    Kultur    überhaupt    nicht  .gefährden,    wenn    die 
natürlichen   Lehensinstinkte  der  Menschen   Freiheit  erhalten,  sich  zu 
entfalten? 

Gewiss.  Die  Kultur,  die  auf  Unterdrückung  und  Angst  aufbaut,, 
die  wird  gefährdet  werden.  Die  Kultur,  die  von  Sklaverei  lebt,  die 
Kultur,  die  eines  Menschen  Wohlstand,  -  nein,  nicht  einmal  Wohl- 
stand, sondern  lästigen  überfluss  -  -  mit  der  Not  von  Hunderten  von 
Menschen  erkauft,  die  wird   gefährdet  werden,  wenn  die    natürliche 

95 


] 


Sigurd   Hoel 

Lebenskraft  der  Menschen  Freiheit  erhält,  sich  zu  entfalten  in  Spiel 
und  Lebenslust  und  in  Kulturarbeit. 

Kurz  gesagt: 

Der  Kampf  für  ökonomische  und  der  Kampf  für  sexuelle  Be- 
freiung, das  sind  nicht  zwei  verschiedene  Arten  Kampf.  Es  ist  der 
gleiche  Kampf  auf  der  gleichen  Front. 

Und  ich  glaube,  man  kann  einen  Schritt  weiter  gehen  und  sagen: 
Zu  einem  effektiven  Kampf  gegen  die  Reaktion  kommen  wir  nicht, 
bevor  diese  Tatsache  nicht  wieder  als  Faktum  erkannt  worden  ist  — 
sie  war  schon  einmal  erkannt  worden  und  wurde  zum  Teil  vergessen, 
wurde  wieder  erkannt  und  wiederum  teilweise  vergessen. 

Was  ist  also  die  Aufgabe  der  Literatur  inmitten  von  all  dem? 

Die  Aufgabe  der  Literatur  ist,  so  wurde  gesagt,  die  Zeit  zu  spiegeln 
und  neue  Erkenntnisse  zu  vermitteln. 

Doch  ich  will  hinzufügen: 

Wenn  die  Literatur,  indem  sie  wiederspiegelt  und  vermittelt,  ver- 
gisst,  die  Sache  des  Schwächeren  gegenüber  dem  Stärkeren  zu  ver- 
treten, dann  hat  sie  trotzdem  ihre  Aufgabe  versäumt. 

Der  Einwand  kommt:  Setzen  wir  hier  nicht  allzu  enge,  allzu  pro- 
grammatische Grenzen  für  die  Literatur?  Denk  an- die  Freiheit 

Ja,  Freiheit  ist  eine  gute  Sache.  Und  die  Menschen,  nicht  zuletzt 
die  Schriftsteller,  müssen  ohne  Zweifel  ihr  Selbstbestimmungsrecht 
behalten. 

Aber  wenn  einer  sich  hinsetzt  und  einen  neuen  extra  patent- 
schlauen Wascheimer  ausspekuliert,  gerade  während  das  Haus  über 
seinem  Kopf  brennt  —  ja  da  greifen  wir  vielleicht  nicht  in  sein  Selbst- 
bestimmungsrecht ein,  aber  wir  denken  ganz  im  Geheimen,  dass  mit 
dem  Mann  etwas  nicht  in  Ordnung  sein  muss. 

Und  wenn  ein  Schriftsteller  in  dieser  Zeit  sitzt  und  sich  in  exklu- 
siven ästhetischen  Problemen  verliert  —  Kunst  für  die  Kunst!  da 

müssen  wir  uns  erlauben  dürfen,  zu  sagen:  Mit  dem  Schriftsteller 
muss  etwas  los  sein.  Und  wir  müssen  uns  erlauben  dürfen,  uns  für 
seine  ästhetischen  Wascheimer  etwas  weniger  zu  interessieren.  

In  dieser  Zeit,  da  die  Kultur  bedroht  ist,  unter  Kulturapparaten 
begr.aben  zu  werden,  da  Disziplin  für  das  höchste  Gut  der  Freiheit 
erklärt  wird,  Salbaderei  als  Zeichen  des  Adels  gepriesen  und  Mord 
im  grossen  Stil  zum  wichtigsten  Ziel  des  Lebens  gemacht  wird,  in 
dieser  Zeit,  glaube  ich,  hat  die  Literatur  schwierigere  und  wichtigere 
Aufgaben  als  jemals,  sie  hat  ein  salziges  und  beissendes  Korrektiv 
der  Begebenheiten  zu  sein.  Und  ich  glaube,  dass  die  Schriftsteller 
kraft  ihrer  besondern  Eigenschaften  im  Guten  wie  im  Bösen,  die  sie 
und.  ihre  Arbeit  prägen,  ganz  besonders  dazu  geeignet  sind,  Auf- 
räumungsarbeit zu  leisten. 

Nicht  weil  sie  höher  stehen,  als  die  meisten  Leute,  sondern  weil 
sie  auf  eine  günstige  Weise  ein  wenig  anders  sind. 

Wir  wissen: 

96 


Kulturkampf  und   Liferafur 


Schriftsteller,  das  sind  sehr  oft  Leute,  die  es  schwer  gehabt  haben, 
sich  auf  irgend  einem  Wandbrett  der  Gesellschaft  zurechtzufinden. 

Nun  ja.  Wenn  ein  Gegenstand  nicht  auf  ein  Wandbrett  passt,  dann 

kann  die  Schuld  am  Wandbrett  und  sie  kann  am  Gegenstand  liegen. 

Doch  das  kann  soweit  ein  und  dasselbe  sein.  Die  Schriftsteller  haben 

den  Vorteil,  dass  sie  eine  Art  Wanderkörper  sind,  in  der  Gesellschaft, 

die  in  Gefahr  ist,  allzu  steif  zu  werden. 

Weiter: 

Der  Schriftsteller  ist  relativ  —  ich  sage  relativ  -  -  unabhängig  von 
den  grossen  Kulturapparaten.  Die  Schriftsteller  —  die  Künstler  über- 
haupt _  stehen  im  Ruf,  etwas  weniger  regierbar  zu  sein  als  Leute 
für  gewöhnlich.  Sie  können  an  schwierige  Kinder  erinnern. 

Doch  dieses  Kindliche,  das  die  Künstler  für  sich  behalten  haben 
und  das  auch  andere  Menschen  behalten  haben,  das  aber  allzu  oft 
von  Ängstlichkeit  und  Furcht  vor  Konsequenzen  verdeckt  ist  und  von 
Furcht  vor  dem,  was  der  und  der  und  der  und  der  sagen  und  denken 
wird,  —  das  ist  ja  nichts  anderes,  als  die  ursprüngliche  Natur  in  uns. 
Und  kraft  dieser  ursprünglichen  Natur  stellen  die  Künstler  ihren 
Kontakt  mit  den  Menschen  her.  Und  kraft  dieser  ursprünglichen, 
noch  lebenden  Natur  können  wir  auf  eine  Aufgabe  der  Literatur  in 
einer  Welt  hoffen,  in  der  Logik  und  Technik  sich  in  irrsinniger,  lebens- 
feindlicher Richtung  entwickelt  haben  und  über  alle  Grenzen  wachsen 
tind  wachsen  wie  eine  Krebsgeschwulst  in  einem  kranken  Körper. 

Hier  ist  es,  wo  wir   einen    Schrei  von   einem   dieser   schwierigen 
Kinder  nötig  haben.  Das  war  ein  solches  schwieriges  Kind,  was  ein- 
mal rief:  »Aber  er  hat  ja  gar  keine  Kleider  an!« 
Wir  müssen  uns  daran  erinnern: 

Soll  eine  solche  Literatur  überhaupt  irgend  eine  Berechtigung 
haben,  dann  muss  sie  über  die  Grenzen  dessen  hinaus  gehen,  was  als 
passend  angesehen  wird.  Die  Begründung  liegt  im  Wort  selbst.  Das 
»Passende«  —  das  ist  das,  was  den  Mächtigen  und  Tonangebenden 
passt.  Doch  es  kann  niemals  Aufgabe  der  Literatur  werden,  den  Mäch- 
tigen zu  passen. 

Wenn  die  Literatur  wirklich  diesen  Teil  ihrer  Aufgabe  besorgt  — 
wenn  sie  ernsthaft  und  unpassend  ist,  —  dann  wird  sie  unvermeid- 
licherweise leichtsinnig  und  schweinisch  gescholten  werden.  Es  wird 
gesagt  werden,  dass  sie  »das  Heilige  schändet«. 

Wir  werden  uns  damit  trösten,  dass  sich  kaum  eine  Schweinerei 
findet,  die  nicht  einmal  als  heilig  erklärt  worden  ist.  Und  es  gibt  ge- 
wiss keine  ordentliche  und  anständige  Sache,  die   nicht  einmal   für 
schweinisch  erklärt  wurde. 
Im  ganzen  gesehn: 

Jeder,  der  etwas  Positives  in  dieser  Zeit  will,  muss  sich  darein 
finden,  negativ  genannt  zu  werden.  Und  er  wird  mit  einem  gewissen 
Recht  so  genannt.  Denn  das  Verrenkte  und  Schiefe  steht  ja  wirklich 
da.    Also   ist  jeder,    der   etwas    aufbauen   will,    gezwungen,   zunächst 

97 


Sigurd  Hoel 

etwas  niederzureissen.  Und  jeder,  der  an  etwas  glaubt,  —  ich  meine: 
wirklich  an  etwas  glaubt,  —  ist  dazu  gezwungen,  zu  kritisieren,  zu 
verspotten,  zu  verärgern. 

In  einer  Zeit  wie  dieser,  in  der  Fälschungen,  übergriffe,  Miss- 
bräuche, Schwindeleien  so  grob  sind  und  in  der  Dummheit,  Leicht- 
gläubigkeit und  die  Bereitschaft,  sich  zum  besten  halten  und  miss- 
brauchen zu  lassen,  ebenso  grob  sind,  da  kann  auch  die  Literatur 
genötigt  sein,  grobe  Mittel  zu  gebrauchen.  Man  schöpft  aus  einem 
Düngerhaufen  nicht  mit  einem  Silberlöffel. 

Wir  müssen  uns  damit  aussöhnen,  dass  wir  eine  Zeit  lang  in 
Zukunft,  vielleicht  unser  ganzes  Leben  lang,  genötigt  sein  werden, 
literarische  Grobarbeit  zu  leisten,  geprägt  vom  aktuellen  Kampf,  — 
eine  Arbeit  ohne  Chance  auf  eine  lange  Lebenszeit. 

Das  ist  vielleicht  traurig.  Es  ist  traurig,  dazu  gezwungen  zu  sein, 
immer  wieder  damit  unbequem  zu  werden,  dass  zwei  und  zwei  vier 
ist,  während  wir  viel  lieber  mit  feinen  Differential-  und  Integral- 
gleichungen arbeiten  würden. 

Doch  wir  müssen  es  tun,  wir  müssen  uns  darein  finden,  so  simpel 
zu  sein.  Denn  unsere  Vorgänger  waren  etwas  zu  fein. 

Unsere  Vorgänger  arbeiteten  so  entzückend  mit  feinen,  exklusiven 
Gleichungen,  dass  die  ganze  Welt  in  einem  etwas  zu  hohen  Grad  ver- 
gass,  dass  zwei  und  zwei  noch  immer  vier  ist.  Wir  müssen  uns  darein 
finden,  dafür  zu  bezahlen. 

Und  im  übrigen  ist  es  gar  nicht  so  sicher,  dass  wir  aus  diesem  Grund 
weinen  müssten.  Die  meisten  Schriftsteller,  die  in  ihrer  Narrheit  in 
ihrem  Elfenbeinturm  sitzen  und  für  die  Ewigkeit  schreiben,  die  er- 
reichen nur,  über  ihre  Narrheit  ein  ewiges  Monument  zu  setzen.  An- 
deres Interesse  hat  diese  Art  Arbeit  selten  —  nicht  einmal  für  die 
Gegenwart. 

Ich  fasse  zusammen: 

Es  ist  nicht  wahr, 

dass  das,  —  was  sollen  wir  sagen,  —  oft  irrationelle  Auftreten  der 
Frau  ihre  Minderwertigkeit  beweist  und  dass  die  Frauenunter- 
drückung demnach  berechtigt  gewesen  ist. 

Wahr  hingegen  ist,  dass  langdauernde  Unterdrückung  stets  Min- 
derwertigkeit mit  sich  bringt.  Und  es  ist  eine  Aufgabe  der  Literatur, 
dies  zu  zeigen. 

Es  ist  nicht  wahr, 

dass  Natur  und  Kultur  notwendigerweise  Gegensätze  sind  und  dass 
eine  gewisse  Unterdrückung  der  natürlichen  Triebe,  eine  gewisse 
Angst  vor  einem  natürlichen  Leben  also  eine  Voraussetzung  für  gei- 
stige Leistung  sei. 

Wahr  hingegen  ist,  dass  eine  gesunde  Lebensfreude  die  beste  Basis 
für  geistige  Arbeit  ist.  Und  es  ist  eine  der  Aufgaben  der  Literatur, 
dies  zu  zeigen.  Im  übrigen,  Recht  soll  Recht  bleiben,  hat  der  Dichter 
hier  stets  den  richtigen  Zusammenhang  geahnt  und  ist  für  ihn  ein- 
98 


Ha 


Kulturkampf   und    Literatur 


getreten,   allerdings   oft  auf  unklare  Weise:   Zurück  zur  Natur  etc., 
•worunter  stillschweigend  verstanden  wurde:    Weg  von  der  Kultur. 
Während  es  vielmehr  heissen  sollte:   Vorwärts  zur   Vereinigung  von 
Natur  und  Kultur. 
Es  ist  nicht  wahr, 

dass  die  Massen  immer  passiv,  empfangend  sein  müssen,  ein  form- 
barer Ton,  der  geformt  werden  soll,  dem  sein  Glaube,  seine  Meinun- 
gen und  Handlungen  von  den  Wenigen  und  Auserwählten  eingeflösst 
und  eingepresst  werden  sollen.  So  ist  es,  so  ist  es  oft  gewesen,  doch 
so  muss  es  nicht  immer  sein !  Das  ist  nicht  Schicksal,  das  ist  ein  Über- 
gangszustand. 

Und  es  ist  auch  nicht  unabwendbares  Schicksal,  dass  wir  uns  da- 
vor zu  beugen  haben,  dass  Demagogen,  die  gemütskrank  sind,  gerade 
kraft  ihrer  Krankheit  mit  dem  Kranken  in  den  Volksmassen  Kontakt 
finden  und  sich  damit  als  »Führer«  aufspielen  können.  Das  ist  ein 
trauriger  Übergangszustand.  Und  es  ist  eine  der  Aufgaben  der  Lite- 
ratur, in  der  Übergangszeit  beim  Übergang  mitzuhelfen. 
Es  ist  im  Ganzen  nicht  wahr, 

dass  das,  was  so  ist  und  so  gewesen  ist,  auch  immer  so  bleiben 
muss.  Es  ist  nicht  wahr,  dass  Unterdrückung  in  der  einen  oder  andern 
Form  immer  da  sein  muss  und  Hass  erzeugen  muss  und  damit  Auf*g\ 
rühr  und  Rache  und  damit  neue  Unterdrückung  und  neuen  Hass  .,.. && 
Es  ist  nicht  wahr,  dass  die  Menschheit  dazu  verdammt  ist,  immejh 
und  ewig  in  diesem  traurigen  Zirkel  von  Angst  und  Unterdrückung^ 
von  Hass  und  Rache  und  neuer  Unterdrückung  herumzutrotten.  Maiig/ 
kann  sich  aus  diesem  Zirkel  herausschlagen.  Und  die  Waffe  ist  die 
Erkenntnis,  eine  neue,  klarere  Erkenntnis. 

Dies  —  die  Vermittlung  einer  klareren,  offeneren,  weniger  angst- 
betonten Erkenntnis  auf  allen  Gebieten  —  das  ist  die  grosse  Haupt- 
aufgabe der  Literatur.  Diese  Forderung,  die  einen  gesteigerten  An- 
spruch auf  Tendenz  enthält,  bedeutet  nicht  zuletzt  eine  Forderung  an 
das  Ästhetische  in  der  Ausführung. 

Man  muss  darüber  klar  sein:  Das  bedeutet  eine  gesteigerte  For- 
derung an  den  Künstler. 

Ich  will  ein  kleines  Beispiel  geben: 

In  Oslo  gibt  es  eine  riesige  Arbeiterkaserne,  die  »graabeingaardene« 
(Graubeinhöfe)   genannt  wird. 

Nun.  Eine  Schilderung  des  Lebens  in  den  Graubeinhöfen,  mit  aller 
möglichen  »Kunst«  dargestellt  —  mit  grossem  Wissen  um  die  Tat- 
sachen, mit  allem  möglichen  Mitgefühl,  und  dazu  mit  der  geheimen 
Grausamkeit,  die  wir  künstlerische  Genauigkeit  nennen  und  die  eine 
notwendige  Sache  in  jedem  Kunstwerk  ist,  —  nun  ja,  eine  solche 
Schilderung,  so  gut  sie  gemacht  sein  mag,  die  kann  von  dem  Gesichts- 
punkt aus,  zu  dessen  Sprecher  ich  mich  gemacht  habe,  gleichgültig 
bleiben,  ja  schlimmer  als  das,  sie  kann  direkt  schädlich  werden,  wenn 
sie   den  Eindruck  bei  den  Lesern   hinterlässt,   dass  —  dieses   Elend 

99 


Gunnar  Leisfikow 


unüberwindlich  sei,  unvergänglich,  notwendig,  unentrinnbar,  dass 
nichts  nützt.  In  diesem  Fall  trägt  die  Schilderung  durch  ihre  Trost- 
losigkeit selbst  dazu  bei,  den  Zustand  ewig  und  unentrinnbar  zu 
machen. 

Doch  man  kann  es  anders  machen. 

Die  Graubeinhöfe  sind  von  Rudolf  Nielsen  in  seinem  grössten  Ge- 
dicht geschildert  worden.  »Nr.  13«  heisst  es.  Und  es  endet  so  —  er 
schildert  die  Nacht,  die  hereinbricht: 


Men    ennu    vaker    noen.     Det    er   ganske 

unge  menn 
SOID    beict    over    1)0 ker    leter    drumraen 

frem  igjen 
slik  den  engang  strälte  om  en  vismanns 

gylne  penn. 
Denne    drum    som    natten    avler  og    som 

dagen  slär  ihjel 
Om    Atlantis,    Utopia   —   om    en    bedre 

lodd  og  de! 
enn    et    liv    hvor    andre    eier    selv    ens 

hjerte  og  ens  sjel. 
Og   det    raser   i   de    unge    bitre   hjerter: 

Vaak  og  la?r 
at   du   klart  og  na;rt   og  koldt  gjennem 

drommens  gylne   skjter 
ser  veien  til  et  land  hvor  nr.  13  ikke  er. 


Aber    noch    ist   jemand    wach.    Das    sind 

ganz  junge  Männer, 
die    gebeugt     über    Bücher    wieder    den 
Traum  hervorsuchen, 

so     wie    er     einmal     um     eines     Weisen 

goldene    Feder    strahlte. 
Dieser  Traum,  den  Nacht  zeugt  und  der 

Tag  entzweischlägt 
von     Atlantis,     Utopia    —    von     einem 

bessern  Los  und  Teil 
als  einem  Leben,  wo  andre  selbst  eines 

Herz  und  Seele  besitzen. 
Und     es     rast    in     den    jungen    bittren 

Herzen:    Wache    und   lerne, 

dass   du  klar,  nahe  und  kalt  durch   die 

goldenen   Wolken  des  Traumes 

hindurch 

den   Weg   nach   einem    Land   siehst,   wo 

Nr.  13  nicht  mehr  ixt!  — 


Ein  Rufer  in  der  Wüste  und  sein  Ruf1) 


Von   Gunnar  Leisiikow 


I. 


Lernen,   lernen   und   nochmals   lernen ! 

Lenin. 


Über  die  Notwendigkeit    einer  dialektisch-materialistischen 
Psychologie  und  ihre  Aufgaben 

Die  wirtschaftliche  Entwicklung  der  kapitalistischen  Welt  in  den 
beinahe  siebzig  Jahren  seit  dem  Erscheinen  des  »Kapitals«  hat  Marx 
in  fast  allen  Punkten  bestätigt.  Das  Kapital  hat  sich  auf  ganz  wenig 
Hände  konzentriert,  ein  paar  Riesentrusts  und  Monsterkonzerne 
haben  den  Staatsapparat  zu  ihrem  Exekutivorgan  reduziert,  die  Ver- 
elendung hat  ein  Ausmass  erreicht  wie  noch  nie,  und  die  industriellen 
Reservearmeen    umfassen    bereits    bedrohlich    grosse    Teile    der    ge- 


1)  Dieser  Artikel  wurde  Anfang  1935  für  die  »Neue  Weltbühne«  auf  Anregung 
ihrer  Redaktion  geschrieben.  Seit  Ablieferung  des  Manuskripts  war  es  mir 
trotz  wiederholter  brieflicher  Anfragen  nicht  möglich,  eine  Äusserung  der 
Hedaktion  dazu  zu  bekommen.  Der  Artikel  wurde  nicht  gebracht,  das  Manu- 
skript  nicht  zurückgeliefert    und   kein   Brief    beantwortet.  G.L. 


Ein   Rufer  in   der  Wüste   und   sein   Ruf 

samlcn  Arbeiterschaft.  Der  Kapitalismus  als  Wirtschaftssystem  hat 
sich  ausserstande  gezeigt,  die  Produktion  auch  nur  annähernd  dein 
Stand  der  Produktivkräfte  anzugleichen,  kaum  die  Hälfte  der  Produk- 
tionskapazität der  Weltwirtschaft  wird  ausgenützt.  Das  Kapitalmono- 
pol ist  wirklich  zur  »Fessel  der  Produktionsweise«  geworden,  die 
mit  und  unter  ihm  aufgeblüht  ist,  die  Zentralisation  der  Produktions- 
mittel und  die  Vergesellschaftung  der  Arbeit  haben  den  Punkt  er- 
reicht, »wo  sie  unverträglich  werden  mit  ihrer  kapitalistischen  Hülle«. 
Jedoch  sind  die  Folgen  ausser  in  Russland,  wo  sich  besondere  Ver- 
hältnisse geltend  machten,  ausgeblieben.  Die  Expropriateure  sind 
nicht  expropriiert  worden,  und  es  bestehen  kaum  Anzeichen,  dass 
die  Stunde  des  kapitalistischen  Privateigentums  demnächst  schlagen 
wird.  Die  Massen  sind  nicht  den  Parolen  der  Revolution  gefolgt,  ja 
wir  haben  es  in  vielen  Ländern  erlebt,  dass  es  den  Nutzniessern  einer 
überlebten  Wirtschaftsform  gelang,  die  Massen  vor  den  Wagen  des 
Kapitalismus  zu  spannen,  ohne  dass  diese  Massen  merkten,  dass  der 
Passagier  ein  —  allerdings  gut  eingepackter         Sterbender  ist. 

Dass  Menschen,  die  hungern,  aufbegehren,  nimmt  uns  nicht  wunder» 
dass  aber  —  was  weil  häufiger  vorkommt  —  Menschen  sich  schinden 
lassen  für  einen  Lohn,  der  zum  Sterben  zu  gross,  zum  Leben  zu  gering 
ist,  ist  eine  Tatsache,  wohl  wert  darüber  nachzudenken.  Wenn  prole- 
tarische Massen  darüber  hinaus  für  eine  offenkundig  im  Kapitalisten- 
sold stehende  faschistische  Partei   stimmen   oder   den   Anschluss   des 
Saargebietes   an    Thyssens    und    Röchlings    Hitlerdeutschland    durch- 
setzen, kurz  aktiv  gegen  ihre  eigenen  Interessen  handeln,  so  stehen 
wir  vor  Tatsachen,  vor  denen  unser  ganzes  marxistisches  Wissen  ver- 
sagt. Kein  Wunder,  denn  es  sind  Fragen  psychologischer  Natur  und 
eine  brauchbare  marxistische  Psychologie  —  die  bürgerlich-idealisti- 
sche wird  uns  hier  wenig  nützen  —  steht  uns  nicht  zur  Verfügung. 
Seit  Marx  wissen  wir,  dass  sich  Materielles    (das  Sein)   im  Men- 
schenkopf  in   Ideelles    (das  Bewusstsein)    umsetzt.    Wie   dieser   Um- 
setzungsprozess    vor    sich    geht,    nach    welchen    Gesetzen    und    unter 
welchen  Bedingungen,  wusslcn  wir  nicht,  es  interessierte  wenig.  Ent- 
weder kümmerte  man  sich  überhaupt  nicht  darum  oder  man  nahm 
an,    dass    diese   Umsetzung   so    einfach    und    unkompliziert   vor    sich 
ginge,  wie  in  der  Bank  die  Umwechslung  der  einen  Gcldsorte  in  die 
andere.  Dass  eine  solche  Annahme  bürgerlich-idealistische  Metaphysik 
reinsten   Wassers  war,  merkte  nicht  einmal   der  gewiefteste  Marxist 
(weil  das  bisherige  gesellschaftliche  Sein  ihm  diese  Frage  nicht  nahe- 
legte).   Ebensowenig   kam   er   auf   die    Idee,   auf   das   psychische   Ge- 
schehen wie  auf  jedes  andre  biologische  oder  gesellschaftliche  Gebiet 
die  Gesetze  der  Dialektik  anzuwenden. 

Erst  die  Reaktionen  von  hundcrtlausenden  von  Proletariern  (um 
von  den  Kleinbürgern  ganz  zu  schweigen)  auf  die  Lockungen  der  na- 
tionalsozialistischen Propaganda  liessen  die  Frage,  wie  denn  eigentlich 
die  Umsetzung  von  Materiellem  in  Ideelles  im  Menschenkopf  vor  sich 

101 


Gunnar  Leisfikow 

geht,  aktuelle  politische  Bedeutung  gewinnen.  Dass  Goebbels  lauter, 
weil  mit  reichlicheren  Geldquellen  ausgestattet,  schrie  als  die  echten 
Revolutionäre,  ist  keine  Erklärung  für  die  Frage,  warum  die  Massen 
an  einem  gewissen  Zeitpunkt  anfingen,  zu  den  Nazis  zu  strömen; 
denn  er  müsste  ja,  wenn  er  auch  tausendmal  so  laut  schrie,  vergeblich 
schreien,  wenn  nicht  etwas  in  den  Menschenköpfen  bewirkte,  dass 
die  Menschen  gerade  auf  sein  Gebrüll  hörten.  Das  Problem  ist  also 
ein  psychologisches,  und  mit  ihm  tauchte  das  Bedürfnis  nach  einer 
marxistischen  Psychologie  auf  dialektisch-materialistischer  Grundlage 
zur  Erklärung  derartiger  Fragen  auf. 

Welches  sind  nun  die  Grundbedingungen,  die  von  marxistischer 
Seite  an  eine  solche  Psychologie  gestellt  werden  müssen? 

Erstens,  sie  muss  eine  materialistische  sein,  das  heissf  zunächst, 
dass  sie  sich  der  Biologie  einordnen  muss.  Psychisches  Geschehen  trill 
ja  nur  am  lebenden  Organismus  auf,  folglich  müssen  die  Gesetze, 
die  für  das  physische  Geschehen  am  menschlichen  Organismus  gelten, 
auch  für  das  psychische  Geschehen  Geltung  haben.  Physisch  und 
psychisch  sind  keine  absoluten,  sondern  nur  dialektische  Gegensätz- 
lichkeiten. Die  Verabsoluticrung  des  Gegensatzes  in  der  bürgerlichen 
Wissenschaft  ist,  geschichtlich  gesehen,  ein  Rest  mittelalterlicher 
Metaphysik,  ein  Derivat  der  theologischen  Vorstellung  von  einer 
Zweiteilung  der  Welt  in  anorganische  Materie  und  in  den  über  den 
Wassern  schwebenden  Geist  Gottes. 

Doch  mit  dem  Hinweis  auf  den  naturwissenschaftlichen  Cha- 
rakter der  marxistischen  Psychologie  ist  deren  materialistischer  Ge- 
halt nicht  erschöpft.  Das  Seelenleben  gebt  hervor  aus  einem  Zusam- 
menspiel von  Kräften,  die  zur  Abfuhr  drängen  (Trieben)  und  solchen, 
die  die  Abfuhr  aufhallen.  Da  aber,  wie  die  Biologie  lehrt,  die  lebende 
Substanz  als  solche  nur  nach  Abfuhr  drängende  Kräfte  kennt,  müssen 
die  hemmenden  Momente  einem  nicht-biologischen  Bereich,  nämlich 
der  Aussenwelt  entstammen,  beziehungsweise  unter  den  Einflüssen 
der  Aussenwelt  veränderte,  entstellte  Triebe  sein.  Welches  sind  nun 
aber  diese  Einflüsse  der  Aussenwelt,  die  auf  die  Psyche  des  Menschen 
ummodelnd  einwirken?  Es  sind  die  Bedingungen,  unter  denen  die 
Bedürfnisse  des  Menschen  befriedigt,  beziehungsweise  nicht  befriedigt 
werden,  also  Konsum-  und  Produktionsverhältnisse,  äussere  Gewalt, 
Lebensbedingungen,  kurz  eben  jene  materiellen  Verhältnisse,  die  sich 
nach  dem  Wort  von  Marx  im  Menschenkopfe  in  Ideologie  umsetzen. 

Die  zweite  Bedingung,  die  wir  an  eine  Psychologie,  die  sich  mit 
Fug  marxistisch  nennen  will,  stellen  müssen,  ist,  dass  sie  die  Gesetze 
der  Dialektik  auf  ihren  Untersuchungsgegenstand  anwendet  und  zwar 
derart,  dass  sie  alle  Einzelerscheinungen  der  menschlichen  Psyche, 
alle  psychischen  Prozesse  und  alle  innerhalb  der  Psyche  sich  formen- 
den Gegensätze  wie  zwischen  Bcwusstem  und  Unbcwusstcm,  zwischen 
rationalem  und  irrationalem  Handeln  von  dem  obengenannten  Ur- 
gegensatz  zwischen  Trieb-Ich   und   Aussenwelt   ableitet. 

102 


Ein   Rufer  in  der  Wüste   und   sein   Ruf 

Nur   eine    Psychologie,    die   diese   Bedingungen   erfüllt,   kann   von 
Marxisten   crnstgenommen  und  angewendet  werden.   Aber  auch   nur 
eine  solche  wird  in   der   Lage  sein,  uns   solche  Rätsel  zu   lösen  wie, 
weshalb  ein  hungernder   Mensch   in   einem   unbewachten   Augenblick 
nicht  Brot  stiehlt,  weshalb  unterdrückte  Proletarier  sich  nicht  gegen 
ihre  Unterdrücker  auflehnen,  weshalb  in   katholischen   Ländern   die 
reaktionäre    Kirche   mehr   jugendliche    Proletarier    an    sich   zieht   als 
sozialistische  Organisationen,  weshalb  die  grossen  Massen  der  Indu- 
striearbeiter  1933  nicht  den  revolutionären  Organisationen  zuström- 
ten, wie  sie  es  zehn  Jahre  vorher  taten,  weshalb  mit  anderen  Worten 
ein'  psychologisches  Zurückbleiben  der  Revolutionierung  des  Prole- 
tariats gegenüber  der  Entwicklung  der  ökonomischen  Basis  besteht. 
Der    Versuch,    eine    solche    marxistische,    naturwissenschaftliche 
Psychologie  auf  dialektisch-materialistischer  Grundlage  zu  begründen 
ist  bereits  gemacht  worden. 

Zusatz  1936:  Mancs  Sperber  machte  mich  darauf  aufmerksam,  dass  in  der 
russischen  Zeitschrift  Psichologija  andere  Versuche  gemacht  worden  seien.  Da 
es  mir  bis  zur  Drucklegung  dieses  Aufsatzes  nicht  möglich  gewesen  ist,  mir  diese 
Zeitschrift  zu  beschaffen,  bin  ich  leider  gezwungen,  von  einer  Gegenüberstellung 
Abstand  zu   nehmen.    G.  L. 

II. 
Der  Versuch  Reichs,  eine  marxistische  Psychologie  zu  gründen 
Der  erste  und  offenbar  bisher  einzige  Versuch,   die  Methode   des 
dialektischen   Materialismus   auf   das   menschliche   Seelenleben    anzu- 
wenden, ist  der  von  Wilhelm  Reich.  Bisher  ist  Reich   allerdings  ein 
Rufer  in  der  Wüste  geblieben. 

Reichs  psychologisches  System  hat  seinen  Ausgangspunkt  in  einem 
Zwiespalt  in  der  Ideologie  des  Proletariers,  den  Reich  zum  Haupt- 
objekt seiner  Untersuchungen  macht.  Dieser  Zwiespalt  besteht  darin, 
dass  die  Ideologie  des  Proletariers  durch  zwei  ganz  verschiedene  Fak- 
toren bestimmt  ist,  einerseits  durch  die  materiellen  Verhältnisse,  in 
denen  er  lebt  (Ausbeutung,  Unterernährung,  Wohnungsnot  usw.), 
andererseits  aber  durch  die  Ideologie  des  Bürgertums,  denn  wie  wir 
von  Marx  wissen,  ist  die  Ideologie  der  herrschenden  Klasse  die  Ideolo- 
gie der  ganzen  Gesellschaft,  also  auch  des  Proletariats.  Die  Menschen 
unterliegen  ihren  Seinsverhältnissen  auf  doppelte  Art:  direkt  der 
unmittelbaren  Einwirkung  ihrer  ökonomischen  und  sozialen  Lage, 
•und  indirekt  vermittels  der  ideologischen  Struktur  der  Gesellschaft; 
sie  müssen  also  immer  einen  Widerspruch  in  ihrer  psychischen  Struk- 
tur entwickeln,  der  dem  Widerspruch  zwischen  der  Einwirkung  durch 
ihre  materielle  Lage  und  der  Einwirkung  durch  die  ideologische  Struk- 
tur der  Gesellschaft  entspricht.  Der  Arbeiter  etwa  ist  sowohl  seiner 
Klassensituation  wie  der  allgemeinen  Ideologie  der  bürgerlichen  Ge- 
sellschaft ausgesetzt1).  Die  Ideologie  des  Proletariers  enthält  also 
Elemente,  die  für  seine  Klasse  spezifisch  sind  und  solche,  die  er  mit 


i)   Massenpsychologie,   S.  32. 

103 


Gunnar  Leisfikow 

Mitgliedern  anderer  Gesellschaftsklassen  gemeinsam  hat.  Es  ist  ohne 
weiteres  klar,  dass  die  aufwieglerischen  und  revolutionären  Tenden- 
zen des  Arbeiters  vorwiegend  den  erstcren  entstammen,  während  die 
letzteren  auf  diese  auflehnenden  Bestrebungen  eine  hemmende 
Wirkung  ausüben.  Der  durchschnittliche  Arbeiter  ist  also  weder  ein- 
deutig revolutionär,  noch  eindeutig  reaktionär,  sondern  er  trägt  einen 
Widerspruch  von  revolutionärer  Einstellung  und  bürgerlicher  Hem- 
mung in  sich;  hierbei  kann  das  Verhältnis  von  den  vorwärtsdrän- 
genden, rein  proletarischen  Ideologiecleincnlcn  zu  den  hemmenden 
bürgerlichen  nicht  nur  bei  verschiedenen  Arbeitern  verschieden  sein, 
sondern  auch  bei  ein  und  demselben  Arbeiter  zu  verschiedenen  Zeit- 
punkten, je  nach  den  äusseren  Einflüssen.  Welch  eine  überragende 
Bedeutung  die  Einsicht  in  diesen  Tatbestand  für  die  revolutionäre 
Praxis  haben  kann,  erhellt  daraus,  dass,  wie  wir  von  Marx  und  Engels 
wissen,  nicht  nur  die  Ideologie  von  den  materiellen  Verhältnissen 
bestimmt  ist,  sondern  in  dialektischer  Wechselwirkung  mit  ihnen 
steht  und  rückwirkend  wiederum  die  ökonomische  Basis  verändert'), 
dass  also  die  politische  Handlungsweise  des  einzelnen  Arbeiters  weit- 
gehend von  seiner  Ideologie  mitbestimmt  ist.  Doch  bevor  wir  Schlüsse 
für  die  Praxis  ziehen,  müssen  wir  uns  zunächst  darüber  klar  werden, 
welches  diese  verschiedenen  Elemente  sind,  und  wie  sie  im  Kopfe  des 
Arbeiters   entstehen. 

Die  Herkunft  der  vorwärtsdrängenden  Strukturelcmente  der. 
Ideologie  des  Arbeiters  ist  ohne  weiteres  verständlich;  es  ist  die  Klas- 
senlage des  Proletariers2).  Weniger  klar  dagegen  ist,  wie  die  bürger- 
lichen Elemente  in  seine  Psyche  eingedrungen  sind.  Fragen  wir  ihn 
selbst,  so -weiss  er  keine  befriedigende  Antwort  zu  geben;  denn  »die 
eigentlichen  Triebkräfte,  die  ihn  bewegen,  bleiben  ihm  unbekannt«, 
»er  imaginiert  sich  also  falsche  oder  scheinbare  Triebkräfte«3), 
Nun  gibt  es  aber  eine  Methode,  unbewusste,  seelische  Inhalte  be- 
wusst  zu  machen.  Diese  Methode  ist  die  psychoanalytische.  Reich 
wendet    auch     an     dieser    Stelle    die    Psychoanalyse    an4)      was    vom 


l)  Am  deutlichsten  ausgesprochen  von  Kngels  im. Brief  an  .1.  Bloch  vom  21.  Scp- 
temher  1890.  Mit  Hinblick  auf  diese  Rückwirkung  spricht  Reich  von  der 
»Ideologie   als  materieller  Gewalt«. 

-)  Dort,  wo  es  der  Arbeiterklasse  gelungen  ist,  ihre  Lage  soweit  zu  bessern,  dass 
sie  materiell  nicht  schlechter  steht  als  das  Kleinbürgertum  (hochbezahlte 
Qualitätsarheiter  im  Zweiten  Reich,  USA,  CSR,  heute  noch  vielfach  in  der 
Schweiz,  Frankreich,  Holland,  Skandinavien),  entstehen  auch  (kleiu)bürger- 
liche  Ideologieelemcnte  aus  der  Klassenlage  und  können  sogar  entscheidende 
politische  Bedeutung  erlangen  (Neigung  zu  nichtrevolutionären  Parteien,  kon- 
servative Tendenzen  in  den  reformistischen  Parteien  in  den  genannten  Län- 
dern usw.). 

3)   Engels  im  Brief  an   Mehring  vom  14.   Juli   189."(. 

■1)  Reichs  Arbeiten  führten  ihn  längst  über  die  Ergebnisse  der  Psychoanalyse 
hinaus  auf  das  Gebiet  eigener  Forschungen.  Die  Sexualökonomie,  welche  aus 
der  dialektisch-materialistischen  Psychologie  Reichs  und  seinen  Forschungen 
auf  psysiologischen.  Gebiet  resultiert,  hat  sich  so  weit  von  der  sich  reaktionär 
entwickelnden  Psychoanalyse  entfernt,  dass  eine  absolute  Trennung  beider  Ge- 
biete   notwendig  ist.     (Vgl.    Überblick   d.  Zt.)  (Die  Reduktion.) 

104 


Ein   Rufer  in   der  Wüste   und   sein  Ruf 

marxistischen  Standpunkt  aus  durchaus  unbedenklich  ist.  Es 
ist  zwar  in  marxistischen  Kreisen  die  Ansicht  weit  verbreitet,  dass 
die  Psychoanalyse  eine  idealistische  bürgerliche  Wissenschaft  sei, 
doch  diese  Ansicht  beruht  auf  einem  Irrtum.  Bei  näherer  Betrach- 
tung ergibt  sich,  dass  die  Psychoanalyse,  richtig  gehandhabt,  nichts 
anderes  tut,  als  seelische  Erscheinungen  als  ein  —  dialektisches!  — 
Zusammenspiel  von  biologisch  gegebenen  Trieben  und  diese  Triebe 
modifizierenden  Einflüssen  der  Aussemveit  zu  erklären.  Sie  erfüllt 
also  eben  jene  Bedingungen,  die  wir  für  eine  marxistische  Wissen- 
schaft gestellt  haben. 

»Die  Psychoanalyse  weist  zunächst  alles   »Moralische«   im  Men- 
schen  als  historisch  geworden   nach,   also  als  entstanden   durch  die 
Einflussnahme  der  älteren  Generation  auf  die  heranwachsende   jün- 
gere wobei  sie  (die  ältere  Generation)  sich  bei  solcher  Einflussnahme 
erstens  von  den  eigenen  Interessen  und  zweitens  von  der  jeweiligen 
gesellschaftlichen  Ideologie  und  damit  von  der  materiellen  Basis,  den 
jeweiligen    Produktionsverhältnissen,    leiten    lässt  Die    Psycho- 
analyse weist  aber  darüber  hinaus  nach,  dass  die  Kräfte,  die  die  Moral 
speisen,  zu  denen  der  biologischen  Triebe  nicht  in  einem  absoluten, 
sondern  in  einem  dialektischen  Gegensatz  stehen.  Die  Moral  ist  aus 
den  Trieben  selbst  hervorgegangen,  indem  es  der  Umwelt  gelang,  einen 
Teil  der  Triebenergie  für  ihre  Zwecke  einzufangen  und  gegen  die  ihr 
unerwünschten  Triebe  zu  lenken«.  Einen  Menschen  psychoanalytisch 
erforschen  heisst  also  seine  psychische  Struktur  historisch-genetisch 
erforschen.  Die  Psychoanalyse  ist  nichts  anderes  »als  eine  materiali- 
stische Geschichtsauffassung,  mit  der  die  Historik  des  Einzelnen  be- 
trieben wird«.  Das  ist  bei  Licht  gesehen  des  Pudels  Kern,  und  daran 
vermag  auch  nicht  die  Tatsache  etwas  zu  ändern,  dass  von  bürger- 
licher Seite  mit  der  psychoanalytischen  Wissenschaft  eine  ungeheure 
Quacksalberei  getrieben  wird,  von  der  sich  der  Marxist  noch   mehr 
distanzieren    muss   als   der   bürgerliche   Forscher.   Den   unheilvollsten 
Wirrwarr  stiftet  diese  Quacksalberei  dort  an,  wo  sie  die  Grenzen  der 
Psychologie  überschreitet  und  sich  an  gesellschaftliche  Tatbestände 
heranwagt.   Wenn    »Psychoanalytiker«   versuchen,    den    Kapitalismus 
oder  den   Krieg  mit  menschlicher  Habgier   zu    erklären,   kann    dabei 
nur  Unsinn   herauskommen,   denn   der   Kapitalismus   ist   Gegenstand 
der  Soziologie  und  nicht  der  Psychologie.   Wie  Reich  sagt:   Mit  der 
Psychologie  erfassen  wir  das  Verhalten  der  Arbeiter  im  Streik,  nicht 
aber  den  Streik  selber.  (Die  Übertragung  der  psychoanalytischen  Me- 
thode auf  soziologische  Vorgänge  muss  natürlich  auch  dort  abgelehnt 
werden,  wo  sie  von  dem  Schöpfer  der  Analyse  selber  vorgenommen 
wird      -  »Unbehagen  in  der  Kultur«,   »Totem  und  Tabu«.  Man  muss 
wie  Reich  sagt,  unterscheiden,  wo  Freud   »Naturwissenschaftler   ge- 
nialer  Art«    ist,   wo    »bürgerlicher   Philosoph   ältester   Schattierung«. 
Um   sich  äusserlich  von   der  bürgerlichen   Psychoanalyse   zu   distan- 
zieren, verzichtet  Reich  auf  den   so  arg  missbrauchten  und  in  Miss- 

105 


Gunnar  Leisfikow 

kredit  geratenen  Terminus  »Psychoanalyse«  und  benennt  sein  Lehr- 
gebäude —  die  dialektisch-materialistische  Psychoanalyse  —  »Sexual- 
ökonomie«. 

Da  die  Psychoanalyse  also  (obgleich  diese  Tatsache  Freud  selbst 
und  vielen  anderen  bürgerlichen  Psychoanalytikern  unbekannt  blieb), 
eine  dialektisch-materialistische  Naturwissenschaft  ist,  so  ist  prin- 
zipiell nichts  dagegen  einzuwenden,  dass  Reich  sie  und  ihre  klini- 
schen Ergebnisse  bei  seinen  Untersuchungen  über  die  Ideologiebil- 
dung im  Menschenkopf  anwendet. 

III. 
Die  Anwendung  der  Psychoanalyse  in  der  marxistischen  Psychologie 

Indem  Reich  die  Psychoanalyse  auf  den  Prozess  der  Ideologie- 
bildung anwendet,  zeigt  es  sich,  dass  auch  die  bürgerlichen  Ideologie- 
elemente, genau  wie  die  spezifisch  proletarischen,  materiellen  Be- 
dürfnissen entspringen.  Der  einzige  Unterschied  zu  den  spezifisch 
proletarischen  Elementen  ist  der,  dass  es  sich  bei  den  bürgerlichen 
nicht  um  eigene  materielle  Bedürfnisse  des  Inviduums  handelt,  son- 
dern um  materielle  Bedürfnisse  der  herrschenden  Klasse.  Diese  wer- 
den in  die  Psyche  des  proletarischen  Kindes  hineingezwängt  und  zwar 
dergestalt,  dass  das  Kind  sie  unbewusst  aufnimmt  und  sie  sich 
aneignet,  als  ob  sie  die  eigenen  Bedürfnisse  des  Kindes  wären.  Dieser 
Prozess  der  Hineinzwängung  geht  auf  mannigfache  Art  vor  sich,  in 
der  (bürgerlichen)  Schule,  innerhalb  bürgerlicher,  bzw.  kirchlicher 
Jugendorganisationen,  in  der  Kirche  und  nicht  zuletzt  im  proletari- 
schen Elternhaus.  Die  Eltern  des  Kindes  sind  ja  von  ihrer  eigenen 
Jugend  her  auch  bürgerlich-ideologisch  verbaut,  und  ihre  bürgerlichen 
Ideologieelemente  übertragen  sie  unbewusst  auf  das  Kind,  genau  so 
wie  sie  ihm  ihre  proletarischen  Elemente  übermitteln  und  dies  um  so 
stärker,  je  mehr  der  Lebensstil  der  Eltern  sich  dem  kleinbürger- 
lichen nähert  und  umso  weniger,  je  grösser  die  Not  zuhause  ist. 

Es  fragt  sich  nun,  wie  es  möglich  ist,  dass  das  proletarische  Kind 
ihm  fremde  Bedürfnisse  aufnimmt  und  sie  sich  so  weitgehend  an- 
eignet, dass  es  sie  wie  seine  eigenen  empfindet.  Um  dies  zu  verstehen 
müssen  wir  einen  kleinen  Abstecher  in  die  Trieblehre  machen. 

Aus  der  bürgerlich-idealistischen  Wissenschaft  ist  uns  die  Unter- 
scheidung zwischen  Nahrungs-  (bzw.  Selbsterhaltungs-)  Trieb  und 
Geschlechts-  (bzw.  Arterhaltungs-)  Trieb  geläufig.  Indessen,  wie  so 
oft  ist  auch  hier  der  Gegensatz  kein  absoluter  (sondern  ein  dialekti- 
scher). In  Wirklichkeit  gibt  es  nur  eine  Art  Trieb:  Drang  zur  Be- 
seitigung eines  durch  physiologische  Spannung  entstandenen  Reizes. 
»Die  Spannung  im  Magen,  die  sich  psychisch  als  Hunger  kundgibt, 
treibt  (»Trieb«)  zum  Essen  und  erhält  so  das  Individuum;  die 
Spannung  in  den  Sexualorganen,  insbesondere  im  Genitale,  die  sich 
psychisch  als  Sexualverlangen  kundgibt,  treibt  zur  sexuellen  Betäti- 
106 


Ein   Rufer  in  der  Wüsfe  und  sein  Rul 


gung  im  Geschlechtsakt.«1)    Wenn  diese  beiden  Triebe  genetisch  auch 
identisch  sind,  so  verhalten  sie  sich  jedoch  verschieden  in  dem  Falle, 
dass  Einflüsse  der  Aussenwelt  eine  Befriedigung  verhindern.  Während 
der  Hunger  starr  und  unerbittlich  bleibt,  ist  der  Geschlechtstrieb  ge- 
schmeidiger, wandelbar,  das  ist  eine  Tatsache  von  grösster  nicht  nur 
psychologischer  sondern  auch  soziologischer  Bedeutung2).  Er  ist  im 
Stande,  andere  Formen  anzunehmen,  wenn  die  natürliche  Befriedigung 
ausbleibt.    Er  wird   dann    aus   dem    Bewusstsein   ausgestossen,    »ver- 
drängt« und  taucht  später  entweder  als  neurotisches  Symptom  oder 
als  perverse  Neigung  wieder  auf.  Vielfach  —  allerdings  nur  in  sehr 
beschränktem  Ausmass  —  lässt  er  sich  in  andere  Energie  formen,  mit 
nicht  genitalem  Ziel,  in  Phantasie;  bzw.  Arbeitsenergie  umsetzen.  In 
derart  umgewandelter  Form  lässt  sich  die  Sexualenergie  auch  zur 
gefühlsmässigen  »Bindung«  fremder  Ideen,  Gedankengänge  und  an- 
derer durch  die  Sinnesorgane  vermittelter  Einflüsse  verwenden.  Letzte- 
res ist  bei  der  Aufnahme  der  bürgerlichen  Ideologieelemente  der  Fall. 
Fragen  wir,  welche  Einflüsse  der  Aussenwelt  es  sind,  die  die  na- 
türliche   Befriedigung    vereiteln    und    damit    die    Umwandlung    des 
Sexualtriebes  bewirken,  so.  sehen  wir,  dass  es  sich  zunächst  um  Mass- 
nahmen der  Erzieher  handelt,  und  dass  sie  bereits  im  allerfrühesten 
Kindesalter  einsetzen.  Um  eines  der  üblichsten  Beispiele  zu  nennen: 
unter  dem  Einfluss  des  weitverbreiteten  Aberglaubens,   dass  Onanie 
schädlich    sei,    stellt   man    dem    Kinde    schwere    Strafen    für    seine 
Masturbationen  in  Aussicht,  droht  etwa  dem  kleinen  Knaben,  man 
werde  ihm  sein  Glied  abschneiden,  oder  sagt  ihm,  Gott,  der  alles  sehe, 
werde  ihm  diese  »Sünde«  nie  verzeihen.  So  unterdrückt  man  die  die- 
ser Altersstufe  adäquate  natürliche  Sexualbefriedigung  und  erreicht 
dabei  oft  nichts  anderes  als  eine  krankhafte  Kastrationsangst  oder 
einen  religiös  geprägten  Masochismus.  Denn  das  Kind  muss  ja  das 
Verbot  übertreten,  weil  der  Drang  zur  Onanie  nicht  nachlässt.    Es 
onaniert  seltener  und  mit  schlechtem  Gewissen,  die  gestaute  Sexual- 
energie verwandelt  sich  in  Angst3)  und  steigert  die  Angst  vor  der  Strafe 
(Realangst)  ins  ungemessene,  krankhafte  (Sexualangst  oder  neuroti- 
sche Angst).  Bei  Jugendlichen  hintertreibt  man  den  Geschlechtsver- 
kehr, indem  man  die  Geschlechter  von  einander  absondert  und  die 
monogame  Ehe  als  Geschlechtsbeziehung  idealisiert;  indem  man  die 
Jungen  in   weniger  beaufsichtigte   Organisationen   von   Geschlechts- 
genossen steckt,  gibt  man  sie  gleichzeitig  der  Versuchung  preis,  den 
in  der  Pubertät  besonders  drängenden  Trieb  in  homosexueller  Weise 
zu  befriedigen.    Doch  mit   Strafandrohung  und  Zwang   allein   ist  es 
nicht  getan.  Die  Eltern  und  Erzieher  können  nicht  immer  die  Zög- 
linge im  Auge  haben;  darum  werden  Ehrgefühl,  Gottesfurcht,  Eltern- 


1)  Reich,  Der  Einbruch  der  Sexualmoral,  2.  Aufl.   1935,   S.   107. 

2)  Das  ändert  nichts  an  der  Tatsache,  dass  der  Hunger  der  -wichtigste  Motor  des 
gesellschaftlichen   Geschehens    ist.    (Reich,   Massenpsychologie   S.    107.) 

8)   Angst   ist   die   erste   Zwischenstufe    bei   fast   jeder    Umwandlung   von    Sexual- 
energie. 

107 


Gunnar  Leistikow 

liebe  und  andere  emotionelle  Faktoren  in  den  Dienst  der  Sexualunter- 
drückung  gestellt.  In  Anknüpfung  an  jene  komplizierten  seelischen 
Vorgänge,  die  die  Psychoanalyse  »Identifizierung«  nennt,  werden 
nicht  zur  Auslösung  gelangende  Sexualcnergien  zur  Aufnahme  und 
zum  Einhau  der  elterlichen  Gc-  und  Verbote  in  der  Psyche  des  Heran- 
wachsenden mobilisiert.  Es  wird  auf  diese  Weise  jene  psychische  In- 
stanz geschaffen,  die  wir  unter  dem  Namen  »Moral«  kennen  und  die 
den  Einzelnen  sein  Leben  lang  begleitet  und  sein  Sexualleben  einengt, 
auch  wenn  Ellern  und  Erzieher  längst  gestorben  oder  ausser  Reich- 
weite sind. 

Es  fragt  sich  jetzt:  Warum  tut  die  Sexualmoral  dies?  Welches 
Interesse  hat  die  herrschende  Klasse  an  einer  so  weitgehenden  Unter- 
drückung des  Geschlechtslebens,  die  ja  nicht  nur  die  beherrschten 
Klassen,  sondern  auch  sie  selbst  trifft?1) 

Die  gesellschaftliche  Funktion  der  Sexualunterdrückung  ist  drei- 
facher Art.  In  jedem  einzelnen  Fall  bedeutet  sie  eine  wirksame  Stütze 
der  sozialen  Unterdrückung  und  Ausbeutung  der  werktätigen  Schich- 
ten durch  die  herrschende  Klasse. 

Erstens  bewirkt  die  Sexualunterdrückung  eine  erhebliche 
Schwächung  der  Widerstandskraft  der  ausgebeuteten  Klasse.  Durch 
die  Behinderung  des  natürlichen  Abflusses  der  Sexualenergie  wird 
für  jeden  einzelnen  ein  schwer  zu  bewältigendes  Problem  geschaffen, 
das  einen  Grossteil  seiner  Energie  beansprucht,  das  sonst  dem  Wider- 
stand gegen  die  soziale  Unterdrückung  zugute  gekommen  wäre.  Wie 
enorm  die  Energiemenge  ist,  die  auf  diese  Weise  den  Ausgebeuteten 
abgezapft  wird,  zeigt  am  besten  die  Talsache,  duss  in  den  kapitalisti- 
schen Ländern  98%  aller  Belletristik  und  aller  Filme  erotische  Pro- 
bleme und  Konflikte  zum  Thema  haben. 

Zweitens  wird  darüber  hinaus  ein  Teil  der  Sexualenergie  der 
Unterdrückten  durch  die  Unterdrücker  mobilisiert  und  auf  deren  Seite 
gegen  die  Unterdrückten  selbst  in  den  Klassenkampf  geführt,  nämlich 
jener  Teil,  der  zur  Aufnahme  und  Aneignung  der  sexualfeindlichen 
und  deshalb  die  Widerstandskraft  der  Unterdrückten  untergrabenden 
Sexualmoral  verwendet  wird. 

Endlich  führt  diese  Aneignung  der  bürgerlichen  Sexualmoral  nicht 
nur  zur  Bejahung  dieser  Moral,  sondern  darüber  hinaus  auch  zur  Be- 
jahung der  sozialen  Unterdrückung  durch  die  Unterdrückten  selbst. 
Dies  geschieht  zum  grossen  Teil  auf  dem  Umweg  über  die  Religion. 
Mit  Hilfe  eines  wcileren  Teiles  der  nicht  zur  Befriedigung  kommenden 
Scxualenergie  wird  im  frühesten  Kindesalter  der  Gottesglaube  in  der 

i)  Dass  die  Sexualunterdrückung  keine  natürliche  Erscheinung  ist,  sondern  eng 
mit  der  Wirtschaftsorganisation  des  Privateigentums  verknüpft  ist,  zeigt  die 
Tatsache  dass  primitive,  noch  in  der  Wirtschaftsform  des  Urkommunismus 
und  im  Matriarchat  lebende  Stamme  keine  Unterdrückung  des  Geschlechts- 
lebens der  Kinder  und  Jugendlichen  kennen,  und  deshalb  auch  weder  Per- 
versionen noch  neurotische  Erkrankungen.  Vgl.  Reich,  Der  Einbruch  der 
Sexaaiinoräl. 

108 


Ein   Rufer  in   der  Wüste   und   sein   Ruf 


menschlichen  Psyche  verankert.  Auf  diesem,  schwer  völlig  zu  entwur- 
zelnden, weil  mit  verdrängter  infantiler  Sexualangst  verknüpften 
Gottesglauben  baut  später  die  Kirche  die  Religion  auf,  die  mit  Hilfe 
des  ebenfalls  mittels  Sexualangst  verankerten  Sündenbegriffs  als 
Geisscl  den  Heranwachsenden  lehrt,  ein  treuer,  demütiger  Untertan 
(\cv  —  bürgerlichen  —  Obrigkeit  zu  sein  und  ihm  diese  Lehre  mit 
einem  Verrechnungsscheck  auf  die  Ewigkeit  akzeptabel  macht. 

Mit  anderen  Worten,  mit  Hilfe  der  bürgerlichen  Sexualmoral 
macht  die  Sexualunlerdrückung  »ängstlich,  scheu,  auloritätsfürchtig, 
gehorsam,  im  bürgerlichen  Sinn  brav  und  erziehbar;  sie  lähmt,  weil 
nunmehr  jede  aggressive  Regung  mit  schwerer  —  neurotischer!  — 
Angst  besetzt  ist,  die  auflehnenden  Kräfte  im  Menschen,  setzt  durch 
das  sexuelle  Denkverbol  eine  allgemeine  Denkhemmung  und  Kritik- 
unfähigkeit; kurz,  ihr  Ziel  ist  die  Herstellung  des  an  die  privateigen- 
tümliche Ordnung  angepassten,  trotz  Not  und  Erniedrigung  sie  dul- 
denden Staatsbürgers«1).  Am  ausgeprägtesten  finden  wir  diesen  Typ 
im  Kleinbürgertum,  da  dieser  Klasse  die  diesem  Prozess  entgegen- 
wirkenden proletarischen  Ideologieelemente  völlig  fehlen-).  Da  die 
Sexualunterdrückung  vor  allem  in  der  und  durch  die  Familie  voll- 
zogen wird,  wird  diese  somit  zur  »wichtigsten  Ideologiefabrik«  der 
herrschenden  Klasse.  Wir  verstehen  jetzt,  warum  es  den  Reaktionären 
aller  Lager  so  sehr  um  das  Wohlergehen  dieses  Gebildes,  das  ja  einen 
autoritären  Staat  in  Taschenausgabe  darstellt,  zu  tun  ist. 

Wir  sind  jetzt  imstande  zu  verstehen,  wieso  das  proletarische 
Kind  ihm  fremde  Bedürfnisse  aufnimmt  und  sie  wie  seine  eigenen 
empfindet,  ohne  dass  ihm  ein  Unterschied  bewusst  wird.  Denn  wir 
haben  gesehen,  dass  diese  fremden  Bedürfnisse,  welche  Bedürfnisse 
der  herrschenden  Klasse  sind,  dem  Kind  durch  die  bürgerliche  Moral 
aufgezwungen  und  dann  mittels  umgewandelter  Sexualenergie  des 
Kindes  selbst  von  ihm  assimiliert  werden.  Wir  können  jetzt  auch  fest- 
stellen, was  der  Inhalt  dieser  aufoktroierten  Bedürfnisse  der  herr- 
schenden Klasse  ist,  nämlich:  Verneinung  des  kindlichen,  jugend- 
lichen und  ausserehelichen  Geschlechtslebens,  widerstandslose  Hin- 
nahme der  Ausbeutung  und  darüber  hinaus  Bejahung  der  sexuellen 
wie  der  sozialen  Unterdrückung.  Mit  diesen  Feststellungen  haben  wir 
den  Forderungen  Genüge  getan,  die  wir  an  eine  marxistische  Disziplin 
stellten:  wir  haben  klargelegt,  dass  unser  Gegenstand  materieller 
Natur  ist  und  wir  haben  die  Gegensätze,  in  denen  er  uns  entgegentrat, 
auf  den  ersten  Gegensalz  zwischen  Trieb-Ich  und  Umwelt  zurück- 
geführt. 


i)   Reich,   Massenpsychologie,  1.   Aufl.   S.  50. 

-•)   d.   h.   soweit  keine   Proletarisierung  dieser   Klasse  eingesetzt   hat. 


109 


Gunnar  Leisfikow 

•IV. 

Die  Lehren  der  marxistischen  Psychologie  und  die  revolutionäre 
Praxis.  Einwände  gegen  Reich 

Aus  der  Anwendung  der  Psychoanalyse  bei  der  Untersuchung  der 
seelischen  Struktur  des  Proletariers  ergab  sich,  dass  es  vorwiegend 
seine  spezifisch  proletarischen  Ideologieelementc  sind,  die  ihn  vor- 
wärtsdrängen, vom  revolutionären  Standpunkte  aus  gesehen  also  die 
positiven,  während  die  bürgerlichen  den  revolutionären  Impulsen 
hemmend  entgegenwirken.  Dabei  werden  diese,  den  Bedürfnissen  der 
herrschenden  Klasse  entsprungenen,  fremden  Ideologieelementc  durch 
umgewandelte  Sexualenergien  festgehalten  und  angeeignet. 

Aus  dieser  Erkenntnis  ergibt  sich  eine  Fülle  von  Konsequenzen 
für  die  revolutionäre  Praxis.  Da  das  Verhältnis  zwischen  den  vor- 
wärtsdrängenden und  den  hemmenden  Elementen  bei  grösseren  und 
kleineren  Gruppen  sowie  bei  den  Einzel  menschen  kein  konstantes  ist, 
sondern  erheblich  je  nach  den  äusseren  Umständen  schwanken  kann, 
so  muss  jede  revolutionäre  Propaganda  darauf  bedacht  sein,  die  spe- 
zifisch proletarischen  Idcologieelemenle  zu  stärken  und  die  bürger- 
lichen zu  untergraben  und  zu  schwächen.  Eine  solche  Untergrabung 
ist  jedoch  keine  einfache  Sache.  Da  die  Aufnahme  der  bürgerlichen 
Ideologie  ein  unbewusster  Prozess  ist,  und  der  Einbau  derselben 
emotionell  geschützt  ist,  ist  mit  Logik  und  Unterredung  allein  herz- 
lich wenig  auszurichten.  Um  die  —  unbewussten  —  bürgerlichen 
Idcologicelemcnte  zu  zerstören,  muss  man  die  ausserhalb  der  Partei 
stehenden  Massen  auch  gefühlsmässig  an  die  revolutionäre  Bewegung 
binden,  so  wie  es  die  Faschisten  meisterhaft  verstanden  haben. 

Diese  Lehre  ist  die  Sexualökonomie.  Mit  anderen  Worten:  man 
muss  der  bürgerlichen  Wissenschaft  den  Alleinbesitz  der  Psycho- 
logie entreissen  und  die  Führung  in  dieser  Diziplin  dem  Proletariat 
übergeben,  so  wie  Marx  und  Engels  der  bürgerlichen  Wissenschaft 
den  Alleinbesitz  und  die  Führung  in  der  Nationalökonomie  und  So- 
ziologie entrissen  haben. 

Mit  Hilfe  sexualök.  Erkenntnisse  gilt  es  zunächst  die  Qualität 
der  revolutionären  Propaganda  zu  heben  und  diese  auf  eine  wissen- 
schaftliche Basis  zu  stellen.  Hier  liegt,  wie  man  weiss,  vieles  im 
Argen.  Auf  dem  letzten  Ekki-Plenum  der  KI.  wurde  immer  wieder 
darauf  hingewiesen,  dass  die  kommunistische  Propaganda,  besonders 
die  Parteipresse  nicht  die  »Sprache  der  Massen  findet«.  Hier  Abhilfe 
zu  schaffen,  alte  Fehler  zu  erkennen  und  neue  zu  vermeiden,  ist  eine 
der  praktischen  Hauptaufgaben   der  marxistischen   Psychologie. 

Reich  gibt  Vorschläge  zur  Lösung  dieser  Frage  und  Forderungen 
für  die  revolutionäre  Praxis.  Das  Alpha  und  Omega  dieser  Forderun- 
gen ist,  das  Verlangen  nach  geschlechtlichen  Befriedigungsmöglich- 
keiten zu  erheben  unter  gleichzeitiger  Entlarvung  der  reaktionären 
gesellschaftlichen  Funktion  der  Scxualünlerdrückung  und  der  bürger- 
110 


Ein  Rufer  in   der  Wüste   und   sein   Ruf 

liehen  Sexualmoral.  Von  einer  solchen  Aktion  erwartet  Reich  zwar 
keine  allgemeine  sexuelle  Befreiung  des  Proletariats  —  (eine  solche 
ist,  da  die  Sexualform  wie  das  gesamte  gesellschaftliche  Sein  des  Men- 
schen durch  die  Wirtschaftsform  bestimmt  ist1),  erst  nach  der  prole- 
tarischen Revolution  und  nach  Abschaffung  des  Privateigentums  an 
den  Produktionsmitteln  möglich)  er  erwartet  aber  Folgen  von  alter- 
grösster  Bedeutung. 
Nämlich: 

Erstens  Untergrabung  und  Auflösung  der  bürgerlichen  Ideologie- 
elemcnle  und  damit  Unterhöhlung  eines  der  Hauptpfciler  des  Herr- 
schaftsgebäudes des  Kapitalismus:  der  Bereitschaft  der  Massen,  die 
ihnen  auferlegte  soziale  Unterdrückung  und  Ausbeutung  zu  ertragen 
und  darüber  hinaus  vielfach  noch  zu  bejahen. 

Zweitens:  Lösung  der  psychischen  Energien,  die  zur  Verankerung 
der  bürgerlichen  Sexualmoral  und  der  Religion  verwendet  werden. 
Ist  die  Religion  das  Opium  des  Volkes,  so  ist  die  Sexualmoral  sein 
Morphium.  Die  Entwöhnung  der  Massen  von  diesen  einschläfernden 
und  lähmenden  Rauschgiften  würde  ungeheure  Mengen  umgewandel- 
ter Sexualcnergie  frei  machen,  die  weitgehend  sublimiert  und  in  den 
Dienst  des  revolutionären  Kampfes  gestellt  werden  könnten. 

Drittens:  Möglichkeit  eines  erfolgreicheren  Kampfes  gegen  Reli- 
gion und  Kirche.  Da  die  Empfänglichkeit  der  Menschen  für  religiöses 
Empfinden  und  damit  für  die  sozial  reaktionären  Lehren'  und  For- 
derungen der  Kirchen  —  wie  die  psychoanalytische  Praxis  auf- 
deckt —  durch  unbefriedigendes,  gehemmtes  Geschlechtsleben  bedingt 
ist,  so  bedeutet  intensive  Aktivierung  sexualpolitischer  Forderungen 
eine  Unterminierung  der  Kirche  von  ihrer  empfindlichsten  Seite  her. 
Viertens:  Heranziehung  unpolitischer  und  von  der  revolutionären 
Bewegung  abseits  stehender  Massen.  Da  nicht  nur  das  Proletariat, 
sondern  ziemlich  alle  Volksschichten  unter  der  sexuellen  Unter- 
drückung zu  leiden  haben,  ist  es  möglich,  mit  einem  weitgehenden 
sexualpolitischen  Programm  Schichten  heranzuziehen,  die  einer  di-. 
rekten  Beeinflussung  durch  revolutionäre  Forderungen  auf  ökonomi- 
schem, und  politischem  Gebiet  unzugänglich  sind,  und  sie  auf  dem 
Umweg  über  die  Sexualpolitik  allgemeinpolitisch  zu  beeinflussen.  Das 
gilt  besonders  von  den  sogenannt  unpolitischen  Menschen2)  und  von 
demjenigen  Teil  des  Kleinbürgertums,  der  wirtschaftlich  proletari- 
sierl,  ideologisch  aber  noch  ganz  bürgerlich  ist  und  der  deshalb  nicht 
den  Anschluss  an  die  revolutionäre  Bewegung  findet.  Welche  un- 
geheure Bedeutung  diesem  letzten  Punkt  zukommt,  erhellt  aus  der 
Erwägung,  dass  die  Aufstellung  der  Forderung  nach  sexueller  Be- 
freiung als  Programmpunkt  es  ermöglicht,  auch  an  diejenigen  Schich- 


i)   Reich,  Massenpsychologie   S.   247. 

2)   »Der    unpolitische    Mensch    ist    der    in    Sexualkonflikten    absorbierte    Mensch« 
(Reich). 

111 


Gunnar   Leisfikow 


Ein   Rufer  in   der   Wüsfe   und  sein   Ruf 


ten  heranzutreten,  deren  materielle  Existenz  der  Faschismus  bzw.  die 
bürgerliche  Demokratie  sichert,  und  die  deshalb  an  der  Autrechter- 
haltung der  kapitalistischen  Produktionsweise  interessiert  sind.  Gut- 
bezahlte Polizisten  und  faschistische  Garden  vermag  die  revolutionäre 
Bewegung  durch  Hinweise  auf  Verbesserung  der  Lage  des  werktätigen 
Volks  im  sozialistischen  Zukunftsstaat  nicht  für  sich  zu  gewinnen. 
Aber  kasernierte  Wachmänner  und  SS-Leute  haben  nicht  weniger 
unter  der  bürgerlichen  Sexualunterdrückung  zu  leiden  als  das  Prole- 
tariat. Deshalb  könnten  die  Revolutionäre  durch  Aktivierung  der 
Sexualfrage  zeigen,  dass  sie  auch  ihnen  etwas  zu  bieten  haben,  und  so 
die  letzten  Garden  des  Kapitals  von  ihrer  empfindlichsten  Seite  her 
korrumpieren. 

Bisher  ist  Reich  mit  seinen  Bemühungen  nicht  auf  viel  Gegenliebe 
gestossen.  Bei  den  bürgerlichen  Psychoanalytikern  ist  er  verfchmt, 
weil  er  aus  der  Tatsache,  dass  die  kapitalistische  Gesellschaftsordnung 
eine  Massenprophylaxe  der  neurotischen  Erkrankungen  nicht  zulässt, 
als  Arzt  die  Konsequenz  gezogen  hat,  diese  kapitalistische  Gesell- 
schaftsordnung abzulehnen  und  sich  aktiv  an  dem  revolutionären 
Kampf  gegen  sie  zu  beteiligen.  Damit  hat  er  die  Grenze  zwischen 
Wissenschaft  und  Politik  überschritten,  was  bekanntlich  mit  der 
Würde  der  erhabenen,  über  den  profanen  Zwistigkeiten  des  Alltags 
schwebenden  »reinen«  Wissenschaft  unvereinbar  ist.  Aber  auch  unter 
den  Marxisten  geniesst  dieser  Rufer  in  der  Wüste  keinen  guten  Ruf. 
Man  wirft  ihm  idealistische  Abweichungen  von  der  Lehre  Marx'  und 
Engels'  vor,  stellt  seine  sexualpolilischen  Forderungen  in  Gegensatz 
zu  der  Generallinie  der  Komintern  und  lehnt  seine  Kritik  an  der  ab- 
lehnenden Haltung  hoher  Parteiinstanzen  als  defaitistische  Nör- 
gelei ab. 

Wenn  die  Reichsche  Psychologie  als  idealistisch  und  unmarxistisch 
empfunden  wird,  so  ist  das,  wie  wir  gesehen  haben,  ein  Irrtum,  der 
sich  aus  einer  bei  den  meisten  Marxisten  leicht  erklärbaren  mangel- 
haften Kenntnis  der  Psychoanalyse  erklärt.  Begründeter  ist  eine  ge- 
wisse Skepsis  gegenüber  manchen  von  Reichs  praktischen  Vor- 
schlägen. Eine  breite  sexualpolitische  Aktion  wäre  wohl  in  denjenigen 
Ländern  möglich,  wo  die  revolutionären  Parteien  ein  legales  Dasein 
führen,  während  sie  in  den  faschistischen  Ländern  leicht  zu  einer 
fatalen  Zersplitterung  der  revolutionären  Kräfte  führen  könnte.  Doch 
auch  dort,  wo  es  Möglichkeiten  für  eine  solche  Aktion  gibt,  wäre  eine 
planmässige  Ausbildung  von  analytisch  geschulten  Aufklärern  eine 
kaum  zu  erfüllende,  aber  unbedingt  notwendige  Voraussetzung. 
Reich  versteht  es  nicht,  seine  Lehren  dem  mit  den  Erfahrungen  der 
Analyse  nicht  vertrauten  Marxisten  mundgerecht  zu  machen; 
es  ist  ihm  auch  nicht  gelungen,  seine  Kritik  an  der  bisherigen  massen- 
psychologischen Praxis  der  Komintern  in  einer  solchen  Form  zu 
äussern,  dass  sie  für  die  verantwortlichen  Kreise  akzeptabel  wurde. 
Wenn  Reich  sich  darüber  beklagt,  dass  man  ihm  nicht  die  nötige 
112 


Irma   Kessel  Kinder  klagen   an 

Verständnisbereitschaft  entgegenbringt,  so  vergisst  er,  dass  auch  die 
höchsten  Parteiinstanzen  noch  bürgerliche  Ideologieelemente  haben, 
die  sie  genau  wie  die  meisten  bürgerlichen  Politiker  daran  hindern, 
völlig  unbefangen  über  sexuelle  Dinge  zu  urteilen.  Als  Marxist  müsste 
er  sich  sagen,  dass  diese  gewisse  Voreingenommenheit  gegenüber 
Gegenständen  der  Sexualwissenschaften  bei  manchen  Marxisten  ein 
durch  ihr  gesellschaftliches  Sein  bedingter  Reflex  der  bürgerlichen 
Sexualmoral,  ist,  und  als  psychoanalytisch  geschulter  Psychologe 
müsste  er  im  Stande  sein,  Mittel  und  Wege  zu  finden,  diese  durch  den 
bisherigen  Stand  der  Wissenschaft  erklärliche  Denkhemmung  zu 
überwinden. 

Das  ändert  jedoch  nichts  an  der  Tatsache,  dass  Reich  sich  grosse 
Verdienste  um  die  marxistische  Wissenschaft  erworben  hat.  Sein  Ein- 
satz um  eine  Begründung  einer  dialektisch-materialistischen  Psycho- 
logie und  vor  allem  seine  Enthüllung  der  reaktionären  gesellschaft- 
lichen Funktion  der  Sexualunterdrückung  sind  von  bleibendem  Wert. 
Aber  auch  die  revolutionäre  Praxis,  besonders  die  Massenpropaganda 
und  die  Sexualpolitik,  wird  in  der  Zukunft  schwerlich  ohne  Reich 
und  ohne  genaues  Studium  der"  Charakteranalyse  auskommen.  Reich 
und  seine  Lehren  aus  diesem  oder  jenem  Grunde  in  Bausch  und 
Bogen  zu  verwerfen,  wäre  mindestens  ebenso  verkehrt  wie  ihn  kritik- 
und  vorbehaltlos  nachzubeten.  Es  ist  notwendig,  von  marxistischer 
Seite  aus  systematisch  an  das  Studium  von  Reich  und  Freud  heran- 
zugehen und  in  jedem  einzelnen  Falle  zu  unterscheiden,  wo  frucht- 
bare dialektisch-materialistische  Naturwissenschaft  vorliegt  und  wo 
bürgerlich-idealistische   Überwucherungen. 

Wir  müssen  wissenschaftlich-kritisch  zu  Werke  gehen  und  uns 
vor  Verallgemeinerungen  hüten,  die  uns  auf  Abwegen  in  theologisch- 
metaphysisches Sumpfgelände  führen.  Denn  was  wir  wollen,  ist  ja 
Weiterentwicklung  der  marxistischen  Wissenschaft  und  nicht  Rück- 
entwicklung des  Sozialismus  von  der  Wissenschaft  zur  Utopie. 


Aus:  „Kinder  klagen  an!" 

Von  Irma  Kessel 
(Aus  einer  demnächst  erscheinenden  Broschüre) 

I. 
Harri. 

Harri  stammt  aus  einem  proletarischen  Milieu.  Seine  Eltern  haben 
eine  Portierloge. 

Als  ich  ihn  kennen  lernte,  war  er  5  Jahre  alt.  Er  machte  den  Ein- 
druck eines  verprügelten  Hundes,  der  mit  eingeklemmtem  Schwanz 
herumläuft.  Den  Kopf  hielt  er  etwas  vorgestreckt  und  die  Augen  sahen 

113 


Irma  Kessel 

niemals  gerade  aus,  sondern  immer  von  unten  herauf  gegen  die  Stirn, 
wodurch  Harri  wie  ein  Verbrecher  auf  frisch  entdeckter  Tat  wirkte. 
Schon  bevor  er  zu  mir  kam,  hörte  ich  von  seinen  schlechten  An- 
lagen und  all  seinen  Vergehen.  Er  stahl  und  log,  er  zündele  überall 
Feuer,  machte  Licht-  und  Wasserleitungen  kapul,  er  naschte  und 
war  faul.  — 

Er  kam  ins  Kinderhaus  mit  der  Einstellung,  dass  er  auch  hier  das 
schwarze  Schaf  sein  werde,  und  wechselte  aus  dieser  Einstellung  her- 
aus mit  prahlerischer  Grosstuerei  und  scheuer,  verkrampfter  Zurück- 
haltung und  Passivität. 

Als  er  dann  merkte,  dass  er  für  uns  nicht  der  kleine  Verbrecher 
war,  sondern  ein  vollwertiges  Mitglied  in  unserer  Gemeinschaft,  fing 
er  an,  aktiv  zu  werden  und  jeden  Morgen  das  Kinderhaus  sauber  zu 
machen.  »Ich  mache  alles  rein  für  Euch  zur  Freude«,  sagte  er  mir 
manchmal  und  hantierte  mit  Staub-  und  Wischtüchern,  Besen, 
Bohnerbesen  und  Schaufel.  Dabei  entwickelte  er  eine  übersteigerte 
Kameradschaftlichkeit.  »Du,  Heinz,  bist  du  auch  mein  Freund?  Otto 
und  Jürgen  sind  auch  meine  Freunde  geworden.  Nun  habe  ich  schon 
neun   Freunde.  Ach,  es  werden  noch  hundert!« 

Es  waci  als  breite  sich  der  blasse,  kleine,  verkrampfte  Junge  immer 
weiter  aus,  strecke  einen  Fühler  nach  dem  andern  in  die  Aussenweit 
und^emesse  die  Erfahrung,  dass  ihm  dieses  Auftauen,  dieses  tastende 
Versuchen   keine  Prügel  einbringe. 

Es  kam  eine  Zeit,  wo  Harri  auch  nachmittags  mit  irgend  einem 
Vorwand  kam.  »Ich  muss  Dich  was  fragen.  Ich  muss  Dir  was  be- 
stellen!« 

Und  dann  kam  sogar  eine  Zeit,  in  der  er  klingelte  und  offen  fragte: 
»Kann  ich  ein  bischen  hier  bleiben?«  Er  hielt  lange  Reden:  »Kinder- 
häuser müssen  eigentlich  den  ganzen  Tag  offen  sein,  sonst  wissen 
die  Kinder  nachmittags  doch  garnicht,  wohin  sie  sollen ;  —  ich  meine, 
—  wenn  sie  nicht  gerade  nebenan  wohnen  wie  ich!«  

Aus  dem  verprügelten  Hund  wurde  allmählich  ein  kleiner  Mensch, 
der  Zutraun  und  Kontakt  entwickelte. 


Dann  kam  er  in  die  Schule  und  nach  wenigen  Monaten  »flog«  er 
und  kam  in  die  Hilfsschule.  Denn  er  stahl  wieder  und  log  wieder  und 
war  faul.  — 

Um  diese  Zeit  hörte  ich  ihn  in  seiner  Wohnung  heulen  wie  ein 
geprügeltes  Tier  und  hörte  von  Nachbarn,  dass  seine  Mutter  ihn  mit 
einem  Riemen  blutig  geschlagen  hatte.  Es  wurde  beim  Jugendamt 
Anzeige  erstattet.  Die  Fürsorgerin  kam  und  erkundigte  sich.  Alle 
Zeugen  sagten  gegen  die  Mutter  aus,  die  Harri  auf  die  schändlichste 
Weise  quälte. 

Die  Fürsorgerin  warnte  die  Mutter  und  ging  fort. 
114 


Kinder  klagen  an 

Dann  hörte  man  Harri  wieder  heulen  und  wusste,  dass  er  jetzt 
umso  mehr  geprügelt  wurde. 

Und  dann  war  Harri  verschwunden.  Das  war  mittags  um  zwölf 
Uhr.  —  Um  drei  Uhr  war  Harri  immer  noch  fort.  — 

Um  sieben  wurde  überall  nach  ihm  gefragt.  — 

Harri  war  fort!  — 

Abends  gegen  neun  sah  ich  ihn  in  einer  entlegenen  Strasse  an 
einem  Baugerüst  stehen.  Als  ich  zu  ihm  gehen  wollte,  lief  er  flucht- 
artig fort.  Ich  versuchte,  mich  ihm  zu  nähern,  rief,  gestikulierte,  be- 
ruhigte ihn.  Er  Hess  mich  bis  zu  dreissig  Meter  herankommen,  dann 
floh  er  wieder.  Das  dauerte  wohl  eine  halbe  Stunde. 

Ich  rief:  »Harri,  ich  tu  dir  doch  nichts!  Ich  bring  dich  nicht  nach 
Hause!  Ich  will  nur  mit  dir  sprechen!«  — 

Endlich  Hess  er  mich  auf  zehn  Meter  Entfernung  herankommen. 
Wir  setzten  uns  auf  die  Bretter  des  Baugerüstes  und  ein  grosser  Ab- 
stand war  zwischen  ihm  und  mir.  Ich  sprach  mit  ihm,  aber  ich  bekam 
keine  Antworten. 

»Hat  Deine  Mutter  dich  geschlagen?«  — 

»Hast  Du  Angst?«  — 

»Was  willst  Du  weiter  tun?« 

»Wo  willst  Du  denn  schlafen?«  — 

»Ach  die!«,  war  das  Einzige,  was  er  sprach  und  er  machte  dabei 
eine  wegwerfende  Handbewegung. 

»Was  sagt  denn  Dein  Vater?  Schlägt  der  Dich  auch?« 

Wieder  ein  verächtliches:   »Ach  der!«  — 

»Harri!  komm  näher  zu  mir.  Ich  tu  Dir  doch  nichts!  Du  kennst 
mich  doch,  Harri!«  —  Es  war  nicht  möglich.  Wenn  ich  näher  rückte, 
rutschte  er  zurück. 

Ich  sagte:  »Harri,  wenn  du  fort  willst,  dann  werde  ich  Dir  helfen. 
Wenn  Du  in  ein  Kinderheim  willst,  kann  ich  das  machen.  Ich  kenne 
viele  Kinderheime.« 

Da  wurde  er  zutraulicher.  »Ja,  ich  will  in  ein  Kinderheim.  Meine 
Mutter  prügelt  mich  immer.  Ich  geh'  nicht  mehr  nach  Hause.  Wie 
die  fremde  Frau  heute  da  war,  hat  sie  mich  so  geprügelt.« 

Ich  versuche,  ihn  zu  überreden,  diese  Nacht  noch  nach  Hause  zu 
gehen.  Ich  will  seine  Mutter  warnen,  ihn  nicht  zu  prügeln  und  morgen 
kümmere  ich  mich  um  ein  Heim. 

»Nein,  nach  Hause  geh'  ich  nicht!«  — 

»Harri,  dann  findet  dich  die  Polizei  abends  und  sammelt  Dich 
auf.« 

»Dann  schlaf  ich  auf  der  Wache«,  ist  die  einzige  Antwort. 

Ich  will  ihn  mit  zu  mir  nehmen;  aber  auch  das  lehnt  er  ab.  Ich 
bin  auch  einer  »von  denen«,  nämlich  ein  Erwachsener,  einer  wie  seine 
Lehrer  und  seine  Eltern,  —  ein  bischen  besser  bin  ich,  mit  mir  redet 
er  noch,  aber  nur  aus  Entfernung.  Man  kann  keinem  von  »denen« 
trauen !  — 

115 


Irma   Kessef 

Aber  gerade  trauen  soll  er  mir  und  ich  halte  mein  Wort  und  gehe, 
ohne  die  Lage  gegen  sein  Einsehen  im  Sinne  der  Erwachsenen  in. 
Ordnung  gebracht  zu  haben. 

Er  ist  doch  nach  Hause  gekommen,  abends  gegen  elf  Uhr.  Und 
ich  hörte  ihn  heulen  und  seine  Mutter  schimpfen.  Aber  man  öffnete 
mir  nicht  auf  mein  Klingeln.  — 

Am  andern  Tage  berichtete  ich  bei  der  Fürsorge.  »Der  Fall  wird 
geprüft  werden«,  lautete  die  Antwort. 

Zwei  Monate  später  kam  die  Fürsorgerin. 

Aber  sie  ging  nicht  in  die  Portierloge,  sondern  kam  in  meinen 
Kindergarten  mit  der  Bestimmung:  »Jüdische  Kinder  sollen  nicht 
mehr  in  den  arischen  Kindergärten  geduldet  werden,  weil  Sie  verderb- 
lichen Einfluss  auf  die  deutschen  Kinder  ausüben.«  — 

Ich  frage:  »Was  wird  aus  dem  Fall  »Harri«?«  —  »Harri  kommt 
nicht  in  ein  Heim.  Die  Mutter  hat  einen  Verweis  bekommen  und  rich- 
tige Vorschläge  für  Erziehungsmassnahmen.«  — 

Von  jetzt  an  muss  Harri  arbeiten,  er  muss  den  Staubsauger  hinter 
der  Mutter  hertragen,  muss  staubwischen,  Türklinken  putzen  und  den 
Hof  fegen.  Aber  man  sieht  ihm  an,  er  tut  es  nicht  mehr  »für  uns  zur 
Freude«. 

Er  trägt  den  Kopf  wieder  vorgeschoben,  die  Brust  eingezogen. 
Wenn  er  mich  sieht,  geht  er  scheu  vorbei;  denn  ihm  ist  streng  ver- 
boten worden,  mit  mir  zu  sprechen. 

Der  Staat  hat  keine  Zeit,  sich  um  die  kleinen,  verprügelten  Harris 
zu  kümmern  und  für  sie  zu  sorgen,  denn  der  Staat  muss  dafür  sorgen, 
dass  die  jüdischen  Kinder  nicht  die  arischen  verpesten!  — 

Der  Staat  hat  kein  Geld,  die  kleinen,  verprügelten  Harris  in  Heime 
zu  geben,  denn  der  Staat  muss  Flugzeuge  baun  und  aufrüsten !  

Aber  die  kleinen  verprügelten  Harris  reden  eine  deutliche 
Sprache!  — 

Wann  werden  die  Menschen  ihre  Ohren  öffnen,  dass  sie  das 
Schreien  der  verprügelten  Kinder  hören,  dass  sie  die  grosse  Anklage* 
verstehen,  die  in  einem  »ach,  die!«  liegt? 


II. 

Dagmar. 

Eine  Dame  bat  um  eine  Freistelle  für  Dagmar  im  Kindergarten. 
Die  Familie  sei  in  entsetzlicher  Not;  die  Mutter  sei  so  unterernährt, 
dass  sie  immer  ohnmächtig  werde  und  die  kleine  dreijährige  Dagmar 
sei  so  lebhaft.  — 

Mehr  weiss  die  Dame  nicht. 

Dagmar  kommt.  — 

116 


p 


♦■• 


' 


Kinder  klagen  an 

Sie  ist  so  klein  und  zart  wie  ein  knapp  zweijähriges  Kind,  hat 
einen  zerbrechlichen  Körper  und  ein  durchsichtiges,  bläuliches  Ge- 
sicht. Eigentlich  besteht  das  ganze  Kind  aus  Augen,  grossen,  un- 
ruhigen, hungrigen  Augen,  die  immer  sagen:  »Wo  bekomme  ich  et- 
was? Wo  ist  etwas  für  mich?« 

Den  ganzen  Morgen  läuft  Dagmar  wie  ein  Wiesel  von  einem  Tisch 
zum  andern.  Wo  ein  Kind  frühstückt,  steht  sie  bettelnd  daneben.  Alle 
Bissen  verschlingt  sie  wie  ein  Affe,  gierig,  vor  dem  Kunterschlucken 
schon  an  den  nächsten  denkend.  Wir  sorgen  dafür,  dass  Dagmar  täg- 
lich warmes  Essen  und  Obst  bekommt;  aber  der  Hunger  scheint  so 
in  ihr  ganzes  Wesen  übergegangen  zu  sein,  dass  er  bleibt.  Niemals  hat 
man  den  Eindruck,  dass  Dagmar  wirklich  satt  ist.  Sie  kann  nicht 
spielen,  kann  nicht  ruhig  sitzen,  immer  ist  sie  auf  der  Suche  nach 
Brot.  — 

Eines  Tages  kommt  die  Mutter  mit  einem  Kinderwagen,  in  dem 
ein  einjähriges  Kind  sitzt,  ebenso  zart  und  verhungert,  ebenso  unruhig, 
mit  einer  schlechten,  fettarmen  Haut  wie  Dagmar.  Es  ist  Dagmars 
kleine  Schwester.  Errötend  sagt  die  Mutter:  »Ja,  wir  haben  noch  eins! 
-  Ja,  es  ist  entsetzlich.  —  Und  ich  halt  sie  nicht  aus!  —  Sie  sind 
beide  so  unruhig!  —  Nehmen  Sie  sie  doch  auch!«  — 

Ich  spreche  mit  der  Mutter.  Nein,  sie  haben  keinerlei  Anspruch 
auf  Unterstützung.  Der  Mann  hat  Jagden  gehabt,  aber  durch  das 
Goeringsche  Jagdgesetz  haben  sie  alles  verloren. 

Wir  sprechen  weiter.  Da  fängt  sie  an  zu  weinen:  »Wissen  Sie,  ich 
halte  es  nicht  mehr  aus !  —  Nun  bekomme  ich  noch  ein  drittes  Kind ! 
—  Ich  halte  das  Leben  einfach  nicht  mehr  aus!«  — 

Die  kleine  Dagmar  steht  daneben  und  sieht  ihre  weinende  Mutter 
mit  grossen  Augen  an. 

Ich  werde  ärgerlich:  »Wie  können  Sie  auch  so  verantwortungslos 
sein  und  nicht  aufpassen.  Die  zwei  werden  schon  nicht  mehr  satt  und 
nun  noch  ein  Drittes.« 

Da  sagt  sie:  »Gerade!  —  Das  ist  ja  gerade,  damit  wir  wieder  satt 
werden !  Wenn  wir  drei  Kinder  haben,  muss  mein  Mann  ja  angestellt 
werden.  Als  was,  wissen  wir  nicht.  Aber  das  ist  ja  auch  ganz  egal! 
Wenn  es  nur  eine  Arbeit  ist.  Und  wissen  Sie,  vor  allem  die  Unter- 
stützung! Wenn  wir  die  nur  erst  hätten!  Für  das  dritte  Kind  zahlt 
der  Staat  Unterstützung!« 

Wieviel  denn?  i 

»Im  ersten  Jahr  dreissig  Mark  im  Monat.  Denken  Sie,  davon  werden 
die  andern  noch  mit  satt!  Und  nachher  zwanzig  Mark  im  Monat,  bis 
das  Kind  vierzehn  ist.  Und  wenn  es  ein  Junge  ist,  übernimmt  der 
Staat  die  militärische.  Ausbildung  für  ihn.  Und  wenn's  ein  Mädchen 
wird,  —  ach  Gott,  bis  es  so  alt  ist!  Einstweilen  haben  wir  doch  den 
Zuschuss !« 

Sie  hat  sich  in  eine  Aufregung  hineingeredet.  Man  merkt,  wie  oft 

117 


Ke 


Irma   iSesse 


am  Tage  sie  es  sich  wiederholt:  »Im  ersten  Jahr  dreissig  Mark  und 
dann  zwanzig  Mark  jeden  Monat.«  Und  sie  streicht  der  kleinen 
hungrigen  Dagmar  über  das  Haar:  »Wenn  das  neue  Baby  da  ist, 
werden  wir  wieder  alle  satt!« 

Eine  traurige  Mission  hat  das  »neue  Baby«,  das  mit  so  grosser 
Sehnsucht  erwartet  wird,  weil  es  einen  Zuschuss  bekommt,  weil  es 
Nummer  drei  ist!  Das  neue  Baby,  das  mit  soviel  Hass  empfangen  und 
mit  soviel  Unlust  ausgetragen  wird,  weil  die  zwei  schon  alles  Brot 
und  alle  Kraft  weggenommen  haben !  Als  Baby  soll  es  schon  der  Er- 
nährer der  Familie  werden!  Und  später  darf  es  den  Rock  des  Vater- 
landes tragen  und  als  Kanonenfutter  im  Krieg  sein  Leben  lassen.  — 

Es  hat  kein  eigenes  Leben  zu  führen,  das  neue  Baby,  denn  die 
andern  werden  ja  schon  nicht  satt.  — 

Es  darf  sich  nur  auf  diese  Welt  wagen,  weil  es  diese  Funktionen 
vor  der  Geburt  bereits  erteilt  bekam.  — 

Es  wird  noch  blasser  und  hungriger  sein  als  die  kleine  Dagmar 
und  ihre  Schwester  und  wenn  es  einmal  später  erfahren  wird,  warum 
man  ihm  das  elende  Leben  schenkte,  dann  müssen  die  Eltern,  dann 
muss  der  Staat  sich  überlegen,  wie  sie  sich  verteidigen  und  recht- 
fertigen wollen  vor  der  Anklage  dieses  Menschen,  dessen  Leben  schon 
vor  der  Geburt  zu  Elend  und  Not  und  Hunger  bestimmt  wurde!  

III. 
Ruth. 

Ruth  ist  das  Kind  jüdischer  Eltern.  Sie  spielte  im  Kinderhaus  die 
Rolle  der  »Hausmutter«.  Als  sie  mit  knapp  drei  Jahren  zu  uns  kam, 
eroberte  sie  sich  diese  Position  sehr  bald  durch  ihre  natürliche 
Begabung  zu  allen  praktischen  Arbeiten.  Sie  hatte  eine  harmonische 
Beziehung  zu  ihrem  Körper,  war  manuell  geschickt  und  daher  machten 
körperliche  Arbeilen  ihr  Freude  und  wurden  für  sie  "der  selbst- 
verständliche Weg,  sich  zu  entwickeln.  In  der  Sorge  um  die  »kleinen 
Kinder«  bildete  sie  ein  soziales  Empfinden  aus,  was  sie  bald  auch  auf 
das  Kinderhaus  erstreckte,  für  das  sie  sich  verantwortlich  fühlte. 
Morgens  sorgte  sie  für  frische  Blumen,  gab  den  alten  neues  Wasser, 
deckte  die  Frühstückstische,  fegte  und  legte  im  Garten  Beete  an. 

Ihre  Entwicklung  ging  ruhig  und  gerade  weiter.  Kein  unnatürlicher 
Ehrgeiz  autoritativer  Erwachsener  drängte  sie  vorwärts,  sondern  jede 
neue  Stufe  entwickelte  sich  natürlich  aus  ihren  eigenen  Bedürfnissen. 
Ruth  fiel  allen  Besuchern  des  Kinderhauses  auf  durch  die  Harmonie 
und  Ausgeglichenheit,  die  sich  in  ihrem  Wesen  ausdrückte  und  bei 
keinem  Kinde  hatte  ich  ein  festeres  Vertrauen  auf  seine  gesunde  Ent- 
wicklung wie  bei  Ruth.  — 

Als  die  Machtergreifung  durch  den  Nationalsozialismus  kam,  war 
Ruth  fünf  Jahre  alt.  Sie  schien  wenig  Notiz  von  der  politischen  Ver- 
änderung zu  nehmen  und  von  Antisemitismus  nichts  zu  merken. 
118 


Kinder   klagen   an 


i 


i 


Aber  als  sie  ungefähr  fünfeinhalb  Jahre  alt  war,  nahm  ihre  Ent- 
wicklung eine  völlig  andere,  neue  Richtung  an:  Innerhalb  kurzer  Zeit 
verlor  sie  die  ihr  eigene  Sicherheit,  sich  natürlich  von  einer  Phase  in 
die  andere  treiben  zu  lassen  und  sich  ihrer  Entwicklung  frei  hin- 
zugeben. Sie  wurde  ehrgeizig.  Alles  Interesse  und  alle  Aktivität  richte- 
ten sich  auf  intellektuelles  Gebiet.  Rechnen-  und  Schreiben-Lernen 
war  das  Streben,  was  sie  zwanghaft  wochenlang  ausfüllte. 

Gleichzeitig  verlor  sie  den  Charme  der  Ausgeglichenheit  und  ihr 
Gesicht  bekam  den  typischen  Schulkinderausdruck.  Ihre  Augen  war- 
teten auf  Lob  und  Anerkennung  und  Erfolg  und  ihre  früheren,  rhyth- 
mischen, schönen  Bewegungen  wurden  hart  und  unruhig.  — 

Dabei  wurde  sie  blass  und  schmal  und  zeigte  immer  mehr  ein 
unfreundliches,  launenhaftes  Wesen.  Das  früher  freundliche,  auf- 
geschlossene Kind  zankte  sich  vor  Übermüdung  mit  seinen  Freunden 
und  fing  bei  dem  kleinsten  Konflikt  an  zu  weinen. 

Während  in  ihren  ersten  fünf  Jahren  die  Entwicklung  von  natür- 
lichen Bedürfnissen  und  Instinkten  getrieben  wurde,  stand  plötzlich 
ihr  ganzes  Leben  unter  einem   krampfhaften   Ehrgeiz. 

Ich  stand  dieser  Wende  einige  Wochen  verständnislos  gegenüber. 
Endlich  brachte  ein  Gespräch  mir  Aufschluss. 

Ruth  plagte  sich  seit  Tagen  mit  Üben  mehrstelliger  Zahlen.  Man 
merkte  die  Unlust,  die  dem  intelligenten  Kind  das  Auffassen  schwer 
machte.  Aber  ein  Zwang  Hess  sie  alle  Ermüdungspausen,  alle  Ver- 
lockungen zu  Spielen  mit  andern  Kindern  überwinden  und  fesselte  sie 
an  ihre  Arbeit  mit  den  Zahlen.  — 

Ich  setzte  mich  neben  sie  und  sprach  von  der  Schule;  denn  ich 
vermutete  eine  Schulangst  hinter  dieser  Verwandlung.  —  Ruth  ging 
bereitwillig  auf  meine  Unterhaltung  ein.  —  Plötzlich  sah  sie  mich 
an  wie  in    den   früheren   Jahren,  offen,  gerade   und  voll   Vertrauen: 

»Wird  der  Herr  Lehrer  sich  wohl  freuen,  wenn  ich  schon  so  viel 
kann?«  — 

»Wenn  ich  bis  hundert  schreiben  kann,  wird  der  Herr  Lehrer  es 
dann  dem  Herrn  Rektor  sagen  und  wird  der  Herr  Rektor  sich  dann 
auch  freuen?« 

»Und  wenn  ich  nun  bis  tausend  schreiben  kann  und  alle  Buch- 
slaben schreiben  kann  und  alle  Namen  lesen  kann,  —  meinst  du,  dass 
Adolf  Hitler  mich  dann  wohl  auch  ein  bischen  lieb  haben  wird  und 
vergessen  wird,  dass  ich  ein  Judenkind  bin?«  — 

»Einmal  hat  eine  Frau  in  der  Bahn  gesagt:  »Kleines  Judengör, 
halt  deine  vorwitzige  Klappe!« 

»Mit  Inge  darf  ich  auch  nicht  mehr  spielen,  weil  Inges  Vater  bei 
der  SA  ist.  Inges  Mutter  sagt,  ich  bin  Inges  liebste  Freundin  gewesen, 
aber  ich  bin  nun  doch  mal  jüdisch  und  das  kann  ihnen  schaden.« 

»Die  Juden  müssen  nun  bald  alle  raus  aus  Deutschland.  Adolf 
Hitler  hat  nämlich  eine  lange  Liste  von  allen  Juden  und  dann  jagt 
er  sie  immer  der  Reihe  nach  raus.  Ich  habe  solche  Angst,  wenn  wir 

119 


Irma  Kessel  v-    ■       , . 

Isinder   klagen   an 

rankommen.  Und  wenn  nun  keine  Länder  mehr  Platz  haben?  Sie  sind 
nämlich  schon  alle  überfüllt.  Wo  sollen  wir  dann  hin?« 

»Einmal  habe  ich  auf  der  Strasse  »Heil  Hitler!«  gemacht  und  da 
hat  ein  SA  Mann  mir  eine  Ohrfeige  gegeben  und  hat  gesagt,  ich  soll 
nach  Palästina  gehn,  ich  bin  ein  schmutziges  Judenkind.« 

»Eine  Hakenkreuzfahne  dürfen  wir  auch  nicht  haben.  Adolf  Hitler 
hat  das  verboten.  Ich  möchte  so  gern,  dass  Adolf  Hitler  mich  lieb  hat 
und  dass  ich  ein  deutsches  Kind  werden  kann. 

Vielleicht,  wenn  ich  sehr  artig  bin  und  sehr  gut  lerne,  erlaubt 
Adolf  Hitler  es  ja  und  wird  mich  auch  lieb  haben!«  


Nein!  Adolf  Hitler  und  seine  Rektoren  und  seine  Lehrer  werden 
dich  nie  liebhaben,  Ruth!  Aber  du  musst  lernen,  auf  ihre  Liebe  zu  ver- 
zichten. Du  musst  wissen,  dass  viele  tausend  jüdische  Kinder  wie  du 
abseits  stehen  und  sehnsüchtig  zu  dem  Hakenkreuz  und  den  Uni- 
formen sehen  und  darunter  leiden,  dass  sie  nicht  dazugehören  und 
nicht  mitgeliebt  werden  sollen. 

Aber  du  musst  auch  wissen,  dass  man  die  Millionen  deutscher 
Kinder,  die  man  unter  der  Hakenkreuzfahne  mitmarschieren  lässt, 
mit  falscher  Disziplin  und  starren  Vorurteilen  um  ihr  wahres  Leben 
betrügt.  Du  musst  wissen,  dass  das  Schicksal  all  der  andern  Kinder, 
die  Adolf  Hitler  »lieb  hat«,  auch  dasselbe  ist  wie  deins.  Denn  auch 
sie  alle  sind  »Ausgestosscne«.  Sie  sind  ausgestossen  aus  dem  Leben 
und  der  Entwicklung,  die  man  dir  in  deinen  ersten  fünf  Jahren  gab 
und  Hess. 

Sie  alle  müssen  ihre  ganze  Entwicklung  hindurch  hinter  einer  Lüge 
hermarschieren!  — 

Aber  du  sollst  diese  Lüge  sehen  und  kennen!  Du  sollst  wissen  dass 
dieser  dein  Hunger  unbegründet  ist!  Du  sollst  nicht  die  Gemeinschaft 
suchen  mit  denen,  die  eine  Nation  knechten  und  beherrschen  nur 
dadurch,  dass  sie  jeden  Lebenskeim  drosseln! 

Du  sollst  dich  einreihen  in  die  Gemeinschaft  all  der  andern  die 
auch  ausgestossen  sind  und  hungern,  denn  die  Ausgegossenen  'wer- 
den einmal  ein  ganz  neues  Leben  erobern!  — 

Mit  ihnen  sollst  du  marschieren,  wenn  sie  die  grosse  Anklage  aus- 
schreien werden  gegen  alle,  die  versuchen,  das  Leben  zu  töten  wie 
man  es  bei  dir  jetzt  tat,  kleine  Ruth  — 


120 


_ 


' 


Stimmungsbilder  aus  Frankreich 

Diese  kurzen  Berichte  sind  Schilderungen  eines  Augenzeugen 
;ms  den  bewegtesten  'lagen  dieses  gewaltigen  Streikkampfes  der 
franz.  Arbeiter  in  der  Woche  nach  Pfingsten.  Die  Redaktion 
behält    sich    die   politische    Stellungnahme    zu    diesem    Artikel    vor. 

Während  die  grosse  Streikbewegung  kurz  vor  Pfingsten  in  den 
meisten  Betrieben  abebbte  und  man  überhaupt  damit  rechnete,  dass 
sie  zu  Ende  sei,  ist  sie  sofort  nach  Pfingsten  mit  erneuter  Wucht  in 
Schwung  gekommen.  —  Es  zeigt  sich,  dass  die  Arbeiter  lediglich  Pfing- 
sten zu  Hause  sein  wollten,  im  übrigen  aber  gar  nicht  daran  denken, 
sich  zufrieden  zu  geben. 

Es  ist  offensichtlich,  dass  diese  Massenbewegung  entstanden  ist 
ohne  Zutun  der  Arbeiterorganisationen,  —  die  sich  aber  in  jeder  Weise 
positiv  und  unterstützend  zu  ihr  stellen. 

Bekanntlich  w:crden  die  Fabriken  und  Betriebe  während  des  Streiks 
nicht  verlassen.  Für  Frankreich  ist  die  Methode  neu,  die  schon  seit 
Jahren  in  Polen  praktiziert  wird  (in  polnischen  Gruben  ist  sie  über- 
haupt entstanden)  und  auch  in  anderen  Ländern,  Belgien,  Amerika, 
Spanien  bereits  angewandt  wurde.  Diese  Kampfmethode  hat  ausser- 
ordentlich viele  Vorteile:  Streikbrecher  können  nicht  eingesetzt  wer- 
den, da  die  Streikenden  praktisch  den  Betrieb  besetzt  halten,  gleich- 
zeitig aber  bleibt  die  Masse  der  Streikenden  zusammen,  hat  dauernden 
Kontakt,  engste  Verbindung  miteinander,  wodurch  bei  längerer  Dauer 
des  Streikes  die  eintretende  Demoralisierung  ganz  bedeutend  herab- 
gemindert und  überwunden  wird.  Dazu  kommt  die  auf  Grund  der  all- 
gemeinen Umstände  und  ihrer  konkreten  Lage  viel  günstigere  Beur- 
teilung in  der  öffentlichen  Meinung:  sie  sind  tagelang  in  den  Betrieben, 
die  armen  Kerle,  haben  kein  Bett  und  auch  nicht  die  sonstigen  Be- 
quemlichkeiten —  und  sie  wollen  doch  nur  etwas  mehr  Lohn  und 
einige  Forderungen,  die  den  Reichen  doch  wirklich  nicht  so  weh  tun. 
Ausserdem  benehmen  sie  sich  garnicht  wie  Rüpels,  sondern  wie  an- 
ständige Menschen,  ohne  die  Maschinen  zu  beschädigen  usw. 

Erstaunlich  ist  tatsächlich  die  ausserordentliche  Diziplin,  mit  der 
der  Kampf  geführt  wird,  denn  gerade  die  französischen  Arbeiter  sind 
nur  sehr  schwer  zu  organisieren,  sie  sind  am  allerwenigsten  zu 
straffem  Einsatz  und  Auftreten  zu  bewegen  gewesen,  und  sie  halten 
jetzt  eine  so  konsequente  Disziplin  in  jeder  Beziehung,  dass  dies  fast 
mit  der  ganzen  traditionellen  Einstellung  und  Einschätzung  bricht. 
Schon  die  gleiche  Erscheinung  bei  den  Wahlen  und  dem  Zusammen- 
halt sogar  der  Volksfront,  die  breiteste  bürgerliche  und  kleinbürger- 
liche Massen  umfasst,  zeigte,  dass  hier  eine  ganz  entscheidende  Wen- 
dung in  den  Massen  vor  sich  gegangen  ist.  Eine  politische  Wendung 
zur  Linken,  die  den  unbedingten  Kampfwillen  gegen  den  Faschismus, 
gegen  den  Kapitalismus,  -»—  die  Reichen  —  und  gegen  den  Krieg  zum 
Ausdruck  bringt. 

121 


Stimmungsbilder  aus   Frankreich 

Ohne  Frage  ist  die  jetzige  Massenbewegung  ein  Ergebnis  der  Volks- 
front und  der  Einheitsfrontpolitik.  Ob  die  Initiatoren  dies  —  und 
dazu  in  der  Form  —  überhaupt  gewollt  haben,  ist  eine  andere  Frage. 

Die  Kleinbürger,  Gemüsehändler,  Krämer,  Milchhändler  usw. 
unterstützen  mit  Aufopferung  die  Streikenden.  Sie  spenden  vor  allem 
Lebensmittel,  Decken  usw.  und  geben  sich  redlich  Mühe,  aktiv  mit- 
zuhelfen. 

Als  am  Sonnabendabend  vor  Pfingsten  Arbeiter  aus  den  Renault- 
werken nach  Hause  fuhren,  waren  sie  in  prächtiger  Stimmung  und 
meinten,  dass  es  erst  jetzt  richtig  losgehen  würde. 

Eine  Diskussion  zwischen  einem  Direktor  (direkt  mit  »freund- 
lichem« Gesicht)  und  den  an  den  Toren  der  Fabrik  stehenden  und 
auf  der  Mauer  sitzenden  Arbeitern.  Er  redet  auf  sie  ein,  immer  freund- 
lichen Tones,  und  macht  schliesslich  an  Einzelne  konkrete  Angebote. 
Antwort  aller  Angeredeten,  die  sich  solange  alles  schweigend,  ja  mit 
gemütlichen  Gesichtern  anhörten:  »Wenden  Sie  sich  an  unsere  Dele- 
gierten!« 

Von  einem  Metallbctrieb  in  der  Provinz,  -300  Mann.  Die  Arbeiter 
sitzen  in  der  Frühstückpause  vor  der  Fabrik.  Ein  Radfahrer  kommt, 
ein  Arbeiter  aus  einer  andern  Fabrik.  »Habt  Ihr  auch  schon  den  Streik 
angesagt?«  fragt  er.  Die  Arbeiter  verneinen  und  fragen,  warum.  »Ja«, 
meint  der  Radfahrer,  »zu  uns  kam  heute  morgen  die  Mitteilung,  dass 

die  Fabrik   auch  in  Streik  getreten  ist  -  -  und  da  haben  wir  es 

auch  getan.«  —  Die  Arbeiter  hören  sich  das  an,  stehen  auf,  brechen 
ihre  Frühstückspause  ab,  gehen  in  den  Betrieb  und  erklären  ebenfalls 
Streik.  Der  Direktor,  der  sehr  gut  mit  ihnen  steht,  erkundigt  sich  er- 
staunt, warum  sie  denn  streiken?  »Das  werden  wir  noch  sehen«,  ist 
die  Antwort,  »vorerst  wird  erst  mal  Streik  erklärt«. 

In  einem  Metallbetrieb  ist  es  gelungen,  an  einem  Tage  von  70  Ar- 
beitern 63  neu  gewerkschaftlich  zu  organisieren,  während  6  schon 
vorher  organisiert  waren. 

Besonders  auch  die  Verschmelzung  der  Gewerkschaften  hat  na- 
türlich zu  diesem  neuen  Kraftbewusstsein  der  Massen  geführt.  

Die  Industriezentren  von  Lille,  Lyon,  Reims,  Toulouse,  Nantes, 
Roubaix  sind  in  die  Streikfront  eingereiht.  —  Auch  in  Paris  wächst 
die  Streikfront,  die  Bewegung  unaufhörlich.  Wohl  wurden  noch 
Zeitungen  gedruckt,  aber  die  Expedition  streikte,  so  dass  es  an  einigen 
Tagen  fast  keine  Zeitungen  gab.  In  der  Rue  Montmartre,  dem  Sitz  der 
grossen  Boulevardzeitung  »Paris  Soir«:  Dicke  Menschentrauben  von 
Streikenden  hängen  an  den  Toren,  alles  schwarz  von  diskutierenden 
Gruppen,  -  -  und  Dutzende  von  Expeditionsautos  stehen  in  der  Strasse 
und  fahren  nicht,  die  Chauffeure  am  Steuer. 

Die  Tiefe  der  Bewegung  ist  auch  daraus  ersichtlich,  dass  die  Pro- 
leten die  Gewerkschaften  einfach  ignorieren,  wo  sie  einer  anderen 
Meinung  sind.  Z.  B.  in  der  Frage  der  Wiederaufnahme  des  Streikes 
nach  Pfingsten.  Die  Gewerkschaften  hatten  vereinbart,  dass  die  Arbeit 
122 


Stimmungsbilder  aus   Frankreich 

wieder  aufgenommen  werde,  danach  sollten  die  Verhandlungen  mit 
den  Unternehmern  und  mit  dem  Arbeitsministerium  geführt  werden. 
Ohne  sich  darum  zu  kümmern  wurde  der  Streik  verstärkt  wieder  auf- 
genommen. Verschiedentlich  wird  versucht,  »Ausschreitungen«  zu 
konstruieren:  man  meint  das  zwangsweise  Festhalten  der  Direktoren 
und  des  gesamten  leitenden  Verwaltungs-  und  auch  des  technischen 
Personals  in  vielen  Betrieben.  Leider  (so  heulen  die  Reaktionäre) 
wird  diesen  Herrschaften  nichts  weiter  angetan,  als  dass  sie  eben 
nicht  aus  den  Betrieben  herausdürfen  —  bezw.  auch  nicht  mehr 
hinein,  und  sich  mit  der  Verpflegung  durch  die  kommunistischen  Ge- 
meinden  und   die  sonstigen   Spenden  abfinden  müssen. 

Die  fabelhafte  Disziplin  ist  immer  wieder  hervorzuheben.  Die  Ar- 
beiter halten  die  Fabrikräume  tipp  topp  in  Schuss,  fegen  aus,  alles  ist 
fein  sauber.  Sie  hegen  und  pflegen  die  Maschinen  und  legen  eine  Ruhe 
und  selbstbewusste  Überlegenheit  an  den  Tag,  dass  man  einfach  be- 
geistert ist. 

Die  Arbeiter  der  Firma  Thomson  (Telefonapparate  usw.)  haben 
viele  Fahnen  aus  den  Fenstern  gehängt,  rote  in  der  Mehrzahl,  aber 
auch  die  Trikolore.  Am  Eingang  sowie  an  den  Parterrefenstern  sind 
grosse  Sammelbüchsen  aufgestellt.  Und  jedesmal,  wenn  etwas  gegeben 
wird,  was  sehr  viel  geschieht,  ist  grosses  Hallo  unter  den  Arbeitern 
und  sie  rufen:  »Wieder  ein  Mann,  der  uns  verstanden  hat.« 

Eine  Mitteilung  aus  den  Renaultwerken  besagt,  dass  von  den  dort 
streikenden  30,000  Arbeitern  bereits  20,000  in  die  Gewerkschaft  und 
2000  in  die  KP  eingetreten  sind,  seitdem  der  Kampf  im  Gange  ist. 

Die  Polizei  ist  fast  nicht  zu  sehen.  Sonst  ist  sie  entweder  ganz 
friedlich  und  uninteressiert,  oder  sie  unterhält  sich  sehr  wohl- 
wollend mit  den  Streikenden. 

* 

Obwohl  dieser  Kampf  auch  grosse  politische  Bedeutung  hat  und 
im  Gefolge  der  politischen  Entwicklung  ganz  bestimmt  erst  in  diesem 
Umfange  möglich  wurde,  sind  die  eigentlichen  Forderungen  doch 
wirtschaftlicher  und  oft  ganz  lokaler  Natur.  Vor  allem  die  Forderung 
der  Kollektivverträge  steht  an  der  Spitze,  40-Stundenwoche  mit  vollem 
Lohnausgleich,  das  Koalitionsrecht,  was  in  vielen  Betrieben  bis  heute 
nicht  besteht,  ausserordentlich  viele  Forderungen  nach  Einführung 
hygienischer  Einrichtungen,  nach  Arbeitsschutzvorrichtungen  usw. 
Noch  eine  der  wichtigsten  Forderungen,  die  des  8 — 14  tägigen  bezahl- 
ten Urlaubs,  eine  in  Frankreich  bis  heute  fast  unbekannte  Sache,  die 
weitgehend  akzeptiert  worden  ist.  Man  hat  ihnen  sogar  die  Streiktage 
bezahlt,  um  nur  recht  schnell  zu  Ende  zu  kommen. 


In  den  Arbeitermassen  herrscht  nach  den  übereinstimmenden  Be- 
richten von  den  verschiedenen  Seiten  ausgesprochne  Siegeszuversicht 

123 


Stimmungsbilder  aus   Frankreich 

und  eine  ausgezeichnete  Kampfstimmung,  eine  selbstbewusste  Zuver- 
sicht der  Zukunft  gegenüber. 

Am  5.  6.  traten  die  Pariser  Warenhäuser  in  Streik.  Die  Angestell- 
ten und  Verkäuferinnen  halten  die  Betriebe,  wie  überall,  besetzt. 
Ebenso  die  Einheitspreisgeschäfte,  die,  solange  das  noch  möglich  war, 
so  ziemlich  bis  auf  das  letzte  Stück  ausverkauft  gewesen  sein  sollen. 

Teilweise  haben  die  Industriellen  mit  Beginn  des  Streikes  gleich- 
zeitig die  Aussperrung  erklärt.  Sehr  charakteristisch  ist  in  dieser  Be- 
ziehung eine  Erklärung  des  Verbandes  der  Baumwollspinner  in  Lille, 
die  sich  an  den  Präfekten  des  Departementes  Nord  wendet,  in  der  es 
unter  anderm  heisst: 

»Streiks  von  ausgesprochen  rev.  Charakter  sind  in  diesen  Tagen 
in  einer  sehr  grossen  Zahl  von  Liller  Spinnereien  ausgebrochen.  Sie 
tragen  einen  Charakter  von  ausserordentlicher  Schwere.  Die  Form, 
die  den  Arbeiterforderungen  gegeben  wird,  bedroht  in  der  ernstesten 
Weise  die  Disziplin  und  wir  haben  die  Pflicht,  in  der  energischsten 
Weise  gegen  die  Anwendung  von  illegalen  und  aufrührerischen  Me- 
thoden zu  protestieren.  Solche  Methoden  sind  absolut  unzulässig  und 
wir  legen  Wert  darauf,  Sie,  Herr  Präfekt  wissen  zu  lassen,  dass  die 
Liller  Baumwollspinner  jede  Unterhaltung  mit  ihrem  Personal  ab- 
lehnen, solange  die  Fabriken  besetzt  bleiben.« 

Auch  die  Pariser  Cafes  haben  den  Streik  begonnen,  die  Kellner 
und  Angestellten  demonstrierten  mit  verschränkten  Armen  dastehend, 
aber  nach  kurzer  Zeit  wurde  er  wieder  eingestellt,  weil  alle,  oft  sehr 
weitgehende  Forderungen  im  Nu  erfüllt  wurden. 

Bei  den  Renault-Werken  hatten  die  Gewerkschaften  einen  der  all- 
bekannten, schändlichen  Tricks  versucht,  die  Arbeiter  hereinzulegen. 
Sie  hatten  vereinbart,  dass  nach  Wiederaufnahme  der  Arbeit  die  Ver- 
handlungen begonnen  würden,  und  alles  gut  werden  würde.  Die  Ar- 
beiter begannen  wieder  zu  arbeiten,  und  die  Verhandlungen  gingen 
und  gingen,  aber  heraus  kam  nichts.  Die  Proleten  wurden  ungeduldig, 
und  die  Vertreter  der  Organisationen  hatten  alle  Mühe,  sie  hin- 
zuhalten und  sie  zu  vertrösten.  Höchste  Gewerkschaftsfunktionäre 
(Jouhaux)  und  kommunistische  Abgeordnete  gaben  sich  in  dieser 
Richtung  die  grösste  Mühe.  Aber  die  Proleten  sahen  nichts  Reales, 
und  das  interessierte  sie  einzig  und  allein.  Auf  einer  erneuten  Ver- 
sammlung, auf  der  Jouhaux  sprach,  wurde  er  teilweise  ausgepfiffen, 
und  es  wurde  der  Beschluss  gefasst,  (als  es  nicht  mehr  zu  ändern  war, 
unter  aktiver  Mithilfe  der  KP)  den  Streik  wieder  aufzunehmen,  und 
das  geschah. 

Die  »Action  Francaise«  ist  ausserordentlich  aktiv,  vertreibt  ihre 
Zeitungen  mit  dicken,  den  Forderungen  der  Arbeiter  zustimmenden 
Überschriften  und  Aufnahmen  der  Streikenden  und  fordert  auf,  sich 
zu  gelben  Gewerkschaften  zu  organisieren  usw.  Natürlich  können  sie 
bei  den  Proleten  keinen  Erfolg  gewinnen.  Im  Gegenteil.  Es  ist  mittags 
in  der  Metro  Alesia:  ein  grosser  Menschenauflauf  und  viel  Geschrei. 
124 


• 


Stimmungsbilder   aus  Frankreich 

»Populaire«  übertönt  in  einem  fort  die  Zeitungsausrufer  der  »Action 
Franchise«.  Aufgeregt  diskutieren  die  Menschen  und  es  sieht  so  aus, 
als  ob  jeden  Augenblick  eine  tolle  Klopperei  losgehen  wird.  Thema 
der  Diskutierenden:  Soll  man  die  Faschisten  verschlagen  oder  nicht? 
Darüber  stritten  sich  die  Leute  heftig.  Die  einen  wollen  die  »Mörder 
Leon  Blums«  kurz  und  klein  schlagen,  die  andern  beschimpfen  sie 
als  Provokateure,  die  nur  Schlägereien  und  Krawalle  hervorrufen 
wollen,  um  der  Rechten  Wasser  in  die  Mühlen  zu  leiten.  Die  Ersteren 
waren  meist  junge  Burschen,  letztere  durchweg  Arbeiter. 

Dort  wo  die  Kämpfe  bereits  beendet  sind,  wurden  ausserordent- 
liche Erfolge  erzielt.  Durchschnittlich  15%  Lohnerhöhung,  bis  33%, 
bezahlter  Urlaub,  40-Stunden-Woche,  Kollektivvertrag  mit  der 
Schaffung  der  ständigen  Betriebsräte,  viele  hygienische  und  Arbeits- 
schutzeinrichtungen. In  einer  kurzen  Radiorede  sagte  Blum  unter 
anderm : 

»Die  Regierung  wird  sich  schon  morgen  bei  den  Häusern  des  Parlaments  vor- 
stellen, aber  heute  schon  will  sie  in  Fühlung  mit  dem  Lande  treten.  Ihr  Programm 
ist  das  Programm  der  Volksfront!  Unter  den  Gesetzentwürfen,  deren  Einbringung 
sie  ankündigt,  und  deren  Annahme  sie  von  den  beiden  Kammern  vor  ihrem  Aus- 
einandergehen  verlangen   wird,  befinden  sich: 

die   40-Stundenwoche, 

die  kollektiven  Arbeitsverträge, 

die    bezahlten    Urlaube. 
Das    heisst    also,   die    hauptsächlichsten    Reformen,    die    die   Welt    der    Arbeit 
gefordert  hat.«   (0.  G.) 

Teilweise  machte  sich  leichte  Angst  mit  dem  Steigen  der  Gespannt- 
heit der  Streikbewegung  bemerkbar,  dass  man  die  Arbeiter  betrügen 
will  mit  den  vielen  Zugeständnissen  und  Versprechungen,  aber  die 
Arbeiter  in  den  Betrieben  blieben  nach  wie  vor  voller  Siegeszuversicht 
und  voller  Zukunftshoffnungen.  Die  Bewegung  nahm  stündlich  einen 
immer  ernsteren  Charakter  an,  die  Stimmung  wurde  immer  gespann- 
ter und  nervöser. 

Z.  B.  eine  Szene  auf  dem  Boulevard  Saint  Michel,  eine  im  Allge- 
meinen von  faschistischen  Studenten  beherrschte  Strasse,  wo  sich 
nebenbei  mehrere  leichte  Schlägereien  zwischen  Verkäufern  der 
»Action  Franchise«  und  der  »L'Humanite«  abspielten,  bis  mehr  und 
mehr  Arbeiter  kamen  und  zum  Schluss  die  Faschisten  ganz  verjagten, 
so  dass  man  nur  noch  die  Arbeiterzeitungen  kaufen  konnte,  fanden 
viele  Diskussionen  statt  zwischen  den  Arbeitern  und  den  Faschisten. 
Die  Studenten  meinten,  dass  die  Arbeiter  doch  eigentlich  gegen  ihre 
»Volksfrontregierung«  seien,  da  diese  Regierung  doch  ihre  Forderun- 
gen zum  Programm  habe  und  sie  trotzdem  streiken    Sehr  gut 

antworteten  die  Arbeiter,  dass  gerade  das  Gegenteil  richtig  sei.  Ja- 
wohl, das  sei  ihre  Regierung,  die  einerseits  von  ihnen  unterstützt 
werde  und  die  ihrerseits  sie  in  ihrem  Kampfe  unterstütze.  »Wir  helfen 
unserer  Regierung  nur,  damit  sie  unsere  Forderungen  besser  und 
schneller  durchführt«,  war  der  Grundton  ihrer  Argumente. 

125 


Stimmungsbilder   aus  Frankreich 

Polizei  ist  in  der  Nähe  streikender  Betriebe  fast  niemals  zu  sehen, 
wohl  aber  seit  einigen  Tagen  im  Strassenbild  etwas  mehr.  Auch  Ver- 
haftungen hat  sie  verschiedentlich  vorgenommen,  hei  Schlägereien 
usw.,  die  aber  sehr  friedlich,  teilweise  sehr  gemütlich  vor  sich  gehen. 
Im  Grunde  macht  die  Polizei  einen  sehr  hilflosen  Eindruck,  sie  weiss 
nicht,  wie  sich  verhallen  soll,  sie  geht  allem  möglichst  aus  dem 
Wege.  — 

Im  Pariser  Schlachthof  hat  ein  reaktionärer  Abgeordneter  den 
Streik  ausgerufen  und  bis  heute  die  Führung  in  der  Hand.  Das  Per- 
sonal, das  verhältnismässig  sehr  gut  verdient  und  sehr  korrumpiert 
sein  soll,  steht  zum  grösseren  Teil  zur  Reaktion  und  zu  den  Faschisten. 
Um  die  Roten  zu  verhöhnen,  haben  sie  Ochsenköpfen  die  roten  Fahnen 
aufgesteckt. 

Wirkliche  Bewunderung  muss  immer  wieder  die  grossartige 
Disziplin  erregen.  In  den  Warenhäusern  schlafen  die  Angestellten  auf 
den  Böden  und  Bänken,  keine  Matratze,  kein  Bett,  keine  Decke,  über- 
haupt kein  Stück  wird  angerührt! 

Inzwischen  hat  man  die  Besetzung  rationeller  organisiert,  es  wur- 
den mehrere  Schichten  organisiert,  die  sich  ablösen,  so  dass  immer 
ein  Teil  zuhaus  schlafen  kann. 

Die  Frauen,  die  zu  den  Renault-Werken  ihren  Männern  das  Essen 
bringen,  dürfen  nicht  mehr  oder  weniger  als  genau  15  Minuten  im 
Betriebe  bleiben.  Streng  ist  alles  organisiert  und  streng  wird  alles 
eingehalten.  Ein  prächtiges  Bild,  wenn  die  Frauen  mit  der  ganzen 
Familie  zur  Fabrik  gehen.  Die  Kinder  tragen  stolz  und  voller  Eifer 
eine  Decke  oder  sonst  einen  Packen  zu  Vätern,  und  die  Stimmung 
ist  prächtig.  Auf  den  hohen  Mauern  sitzen  die  Arbeiter  und  lassen 
Seile  herunter,  um  die  Körbe  herüberzuholen  und  alles  geht  in  einer 
glänzenden   Atmosphäre  vor  sich. 

Der  Zeitvertreib  in  den  Betrieben  ist  ebenfalls  sehr  gut  organisiert. 
Musikkapellen  und  Sprechchöre  der  Jugendverbände  und  Kinder- 
freunde  besuchen  sie,  Spieltruppcn  mit  Chansons,  Meetings  werden 
alle  Augenblicke  abgehalten,  Gesellschaftsspiele,  Karten  werden  ge- 
kloppt, alles  ist  nach  wie  vor  oben  auf. 

Differenziert  wird  berichtet  über  die  Einstellung  der  Arbeiter  zu 
den  Gewerkschaften  und  den  andern  Arbeiterorganisationen.  Die  einen 
stellen  fest,  dass  die  einzelnen  Betriebe  vor  allem  selbst  ihren  eigenen 
Leuten,  die  meistens  nicht  gewerkschaftlich  organisiert  sind  in  diesen 
Fällen,  die  Streikführung  überlassen  wollen.  Soweit  die  politischen 
Parteien  ihnen  Unterstützung  und  Lebensmittel  bringen,  seien  sie 
ihnen  sehr  verbunden.  Im  übrigen  aber  wollen  sie  ganz  in  Ruhe  ge- 
lassen werden  und  ihre  Sache  schon  allein  durchkämpfen.  Höchstens 
die  Gewerkschaften  hätten  Chancen,  etwas  Gehör  zu    finden. 

Viele  andere  berichten,  dass  nach  Beginn  des  Streikes  die  Gewerk- 
schaften zu  Hilfe  gerufen  waren  und  erfahrene  Funktionäre  dringend 
gebraucht  wurden,  übrigens  so  viele,  dass  die  Gewerkschaften  den 
126 


Stimmungsbilder   aus   Frankreich 

Anforderungen  in  keiner  Weise  gewachsen  sind  und  nicht  so  viel 
Kräfte  zur  Verfügung  stellen  können.  Natürlich  kommen  in  einem  so 
gewaltigen  Klassenkampf  wie  diesem  alle  früheren  teilweise  verärgert 
oder  enttäuscht  gewesenen  Funktionäre  wieder  an  die  Oberfläche,  ab- 
gesehen von  den  vielen  jungen  Arbeitern,  die  überhaupt  ganz  neue 
Funktionärkader  in  diesem  grossen  Ringen  bereits  gestellt  haben,  aus 
den   Betrieben  heraus,  mitten  aus  ihrem  Kollegenkreis. 

An  den  grossen  Einheitspreisgeschäften  stehen  die  Leute  und  lesen 
entweder  die  mit  ungelenken  grossen  Buchstaben  und  handschriftlich 
gemalten  Plakate  und  Zettel,  auf  denen  sich  die  Streikenden  herzlichst 
für  die  Unterstützung  durch  die  Bevölkerung  des  Stadtteiles  bedan- 
ken und   über  die  Lage  des  Kampfes  unterrichten.    »Wir  verteilen 

unser   Brot  «,    heisst   es    immer   wieder    auf    diesen    Zetteln,    die 

meistens  ausserordentlich  einfach  und  schlicht  und  grade  dadurch  so 
eindrucksvoll  formuliert  sind. 

Am  7.  6.  hatte  die  SFIJ  zu  einer  Kundgebung  im  Sportpalast  auf- 
gerufen, der  sich  die  KP  von  sich  aus  in  letzter  Stunde  anschloss.  — 

Schon  Stunden  vor  Öffnung  des  Saales  standen  Tausende  von 
Menschen  in  den  Strassen,  trotz  des  leisen  Regens.  Die  Stimmung  war 
grossartig.  Alle  Augenblicke  ging  die  Internationale  wie  eine  Welle 
über  die  langen  Mcnschenschlangen  durch  die  Strassen,  abgelöst  von 
Sprechchören:  »Chiappe  (Faschistischer  Polizeipräsident  von  Paris) 
an  den  Laternenpfahl!«  »De  la   Roque    (franz.   »Hitler«)    an   den 

Galgen!«  —  Als  viele  Polizeitruppen  erschienen,  wurden  sie  begrüsst 
mit  einem  Sprechchor,  der  den  augenblicklich  hauptverantwortlichen 
Vizepräsidenten  von    Paris  betrifft:    »Guichard   ins   Gefängnis«,   »vor 
1  die  Tür«,  »an   den  Galgen«. 

Lange  vor  Beginn  war  die  Halle,  die  regulär  20,000  Plätze  hat, 
überfüllt.  Zehntausende  standen  draussen  im  Regen,  um  der  ganzen 
Veranstaltung  beizuwohnen,  die  durch  Lautsprecher  auf  die  Strasse 
übertragen  wurde.  In  der  Halle  waren  ca.  25,000  Menschen.  Insgesamt 
kann  ohne  Übertreibung  mit  mindestens  40,000  gerechnet  werden.  — 
Die  ganze  Veranstaltung  war  ausgezeichnet  organisiert  und  technisch 
vollkommen  auf  der  Höhe,  auch  propagandistisch  war  sie  einfach 
i  vorbildlich. 

Beginn:  Einmarsch  einer  Delegation  Kinderfreunde  und  sozialisti- 
scher Jugend  mit  roten  Fahnen  und  Bildern  der  Veteranen  der  franz. 
Arbeiterbewegung.  Hinter  dem  Einmarsch  der  Jugend  die  Fahnen: 
nur  rote  Fahnen,  von  Riesenscheinwerfern  beleuchtet.  Die  Massen 
singen  unaufhörlich  die  Internationale  mit  erhobener  Faust  und 
rasen  vor  Begeisterung.  Dahinter  die  sozialistischen  Minister,  die  sich 
auf  einem  grossen,  mit  rotem  Tuch  ausgeschlagcnen  Podium  vorstellen 
und  ebenfalls  mit  dem  Faustgruss  grüssen.  Man  kann  einfach  nicht 
schildern,  wie  die  Massen  jubelten!  Der  Lautsprecher:  »Zum  ersten 
Male  gehen  die  Minister  zum  Volk,  direkt  zu  den  Massen.  Zum  ersten 
Male  in  der  Geschichte  Frankreichs«.  Viel  Musik   und  wieder  Sprech- 

127 


Stimmungsbilder  aus  Frankreich 

chöre:  »Thälmann  frei.'«,  »Es  lebe  die  Volksfront!  Es  lebe  die  Volks- 
front«, »Es  lebe  Blum«   usw. 

Die  ganze  Kundgebung  war  von  Anfang  bis  Ende  in  gleicher 
Spannung.  Die  Programmgestaltung  ausserordentlich  geschickt  und 
sehr  eindrucksvoll.  Jeder  Redner  wurde  bcgrüsst  mit  der  Internatio- 
nale (stehend  mit  erhobener  Faust,  was  dieser  auf  dem  Podium 
stehend  erwiderte). 

Die  Regierung  hat  grosse  Summen  Sonderhilfe  für  die  Gemeinden 
ausgeworfen,  deren  Etat  durch  die  Unterstützung  der  streikenden 
Arbeiter  stark  mitgenommen  und  belastet  worden  ist!  Im  Pariser 
Gemeinderat  wurde  beschlossen,  unter  schärfstem  Protest  der  Reak- 
tion, eine  halbe  Million  Francs  für  Streikunterstützungen  bewilligen. 

In  der  Kammer  hat  Blum  fünf  dringliche  Gesetzentwürfe  einge- 
bracht, deren  schnellste  Erledigung  er  mehrmals  ausdrücklich  ver- 
langte. Sie  betreffen  die  40  Stunden-Woche  ohne  Kürzung  der 
Wochenlöhne,  einen  jährlichen  bezahllen  Urlaub  von  14  Tagen  sowohl 
lur  Handel  wie  für  Industrie,  für  die  freien  Berufe,  die  Hausangestell- 
ten und  landwirtschaftlichen  Berufe.  Ein  driller  Entwurf  enthüll 
genaue  Einzelheiten  über  die  Anwendung  der  kollektiven  Arbeitsver- 
trage. Der  vierte  Gesetzentwurf  betrifft  die  ehemaligen  Frontkämpfer 
die  von  der  Steuer  auf  ihre  Pensionen  befreit  werden :  auf  diesem  Ge- 
biete wird  damit  die  Lage  vor  dem  Erlass  der  Notverordnungen  wieder 
hergestellt.  Der  fünfte  schliesslich  bezieht  sich  auf  die  Gehälter  und 
Pensionen  der  Beamten  der  öffentlichen  oder  konzessionierten  Dienst- 
stellen, die  ebenfalls  durch  die  Notverordnungen  hart  betroffen 
wurden. 

In  der  Nähe  eij;-,es  grossen  Rüstungsbetriebes  fuhren  die  Faschisten 
mit  grossen  Lastwagen  Patrouille.  Die  Arbeiter  beunruhigte  das  sehr. 
Sie  verstärkten  den  Wachtdienst  und  berieten,  was  zu  tun  wäre,  wenn 
es  ernst  werden  würde.  Einige  schlugen  vor,  die  Revolver  von  zu  Haus 
zu  holen,  was  aber  die  meisten  als  lächerlich  ablehnten.  Wenn  schon, 
dann  richtig,  meinten  die  meisten,  dann  mit  guten  neuen  Waffen! 
Sie  beschlossen  sich  mit  den  Arbeitern  eines  in  der  Nähe  befindlichen 
Arsenals  zu  verständigen,  die  ebenfalls  im  Streik  standen.  Es  kam 
schliesslich  ein  Koordinationskomilee  der  beiden  Betriebe  zustande 
das  für  künftig  ständig  den   Kontakt  aufrecht  erhalten  soll. 

Solche  gemeinsamen  Komitees  sind  an  vielen  Stellen  entstanden. 
Die  verantwortlichen  Delegierten  beschäftigen  sich  ganz  ernsthaft 
damit,  ob  und  wie  sie  eigentlich  die  Betriebe  überhaupt  übernehmen 
können  usw.  Ganz  offiziell  beantragten  die  Arbeiter  z.  B.  eines  grossen 
Flugzeugwerkes  bei  Paris,  (die  reaktionäre  Presse  tobte),  dass,  wenn 
man  zu  keiner  Verständigung  gelangen  könne,  der  Luftfahrtministcr 
Pierre  Cot,  eben  die  Volksfrontregierung,  die  Betriebe  in  ihre  Regie 
übernehmen    sollte 

Die  nervöse  Spannung  hat  im  Laufe  des  Kampfes  etwas  nachge- 
128 


J.  H.  Leunbach  Das  Sowjet-Gesetz  gegen   Abireibung 

lassen,  trotzdem  war  das  Pariser  Strassenbild  immer  noch  sehr  leb- 
haft und  bewegt.  Streikunterstützungssammler  sind  überall  zu  sehen, 
in  ihrer  Arbeitskleidung  mit  irgendeinem  roten  Zeichen,  einer  Blume, 
einem  Stückchen  Stoff,  improvisierten  Armbinden  usw.  Zum  Teil 
fahren  sie  langsam  auf  alten  abgeklapperten  Autos  mit  Fahnen  und 
Schildern  durch  die  Strassen.  Die  Solidarität  hat  nicht  nachgelassen 
>■  und  man  kann  oft  rührende  Danksagungen  an  Fabriktoren   und  Ge- 

schäftseingängen  sehen. 

»Den  Kameraden  den  besten  Dank,  die  den  Bissen  der  Streiken- 
den nicht  vergessen  haben«,  heisst  es  an  einem  Tor,  an  dem  durch 
Kreide  mitgeteilt  wird,  dass  sie  den  neunten  Tag  streiken. 

Die  Diziplin  wird  bis  zum  letzten  Augenblick,  sogar  verschärft, 
durchgehalten.  An  dem  sehr  hartnäckigem  Kampfe  der  Warenhäuser 
nahm  die  Bevölkerung  recht  regen  Anteil,  wegen  der  Hundelöhne  für 
die  Verkäuferinnen.  Auf  alle  Fragen  aber,  die  die  früheren  Arbeits- 
bedingungen und  die  Löhne  betreffen,  wird  überall  einheitlich,  und 
in  ausgesucht  freundlichem  Ton,  es  abgelehnt,  direkt  Auskunft  zu 
geben:  »Seien  Sie  bitte  so  liebenswürdig,  und  erkundigen  Sie  sich  bei 
unserm  verantwortlichen  Delegierten«,  wird  geantwortet,  manchmal 
fügen  sie  hinzu,  dass  sie  wilde  Gerüchtcmacherei  verhindern  wollten 
und  man  sich  an  die  zuständigen  Stellen  wenden  solle. 


Das  Sowjef-Gesetz  gegen  Abtreibung 

Von  J.  H. Leunbach 

Wir  bringen  hier  eine  Stellungnahme  aus  Sexpolkreisen  zur  sowjetistischen 
Wendung  in  der  Geburtenregelungsfrage.  So  sehr  wir  uns  mit  der  Grundtendenz 
dieses  Diskussionsartikels  einverstanden  erklären,  so  sehr  aegt  uns  auch  daran, 
festzustellen,  dass  nicht  üherall  die  korrekteste  und  schlagkräftigste  Argumenta- 
tion  gefunden   wurde. 

Wir  ersuchen  alle  Leser,  sich  an  dieser  Diskussion  zu  beteiligen,  d.  h.  ganz 
klar  und  offen  ihre  Argumente  gegen  die  neuesten  sowjetistischen  Massnahmen 
auf  sexualpolitischem  Gebiete   zu  äussern. 

Wir  sind  der  Überzeugung,  dass  mit  der  Wiedereinführung  reaktionärer 
scxualpolitiseher  Bestimmungen  die  Frage  auch  für  die  Sowjetunion  lange  nicht 
erledigt  ist.   Der  Kampf  wird  weiter  gehen. 

Wir  werden  in  einer  der  kommenden  Nummern  diejenigen  Argumente  zu- 
sammenfassen, die  sich  als  unwiderleglich  erweisen,  wenn  man  sie  gegen  derartige 
Richtungen   und  Massnahmen   innerhalb   der  Arbeiterbewegung  anwendet. 

Zweifellos  hat  der  Sturm,  den  der  Gesetzesentwurf  bereits  in  der  Sowjetunion 
in  der  Masse  der  Bevölkerung  geweckt  hat,  bestätigt,  wie  kräftig  die  Teilnahme 
und  «las  Interesse  der  Bevölkerung  an  derartigen  Fragen  sind,  auch  wenn  sie  teils 
aus  Unwissenheit,  teils  aus  Sexualschcu  ihrem  wirklichen  Fühlen  und  Wollen 
nur  sehr  selten  klaren   Ausdruck  zu   verleihen  vermag.  Die  Redaktion. 

Als  aufrichtiger  Freund  der  Sowjet-Union  hat  man  die  Pflicht, 
nicht  nur  für  die  S-U  zu  propagieren  und  zu  arbeiten,  sondern  auch 
die  kulturelle  Entwicklung  des  Arbeiterstaates  kritisch  zu  beobachten 
und  solche  Massnahmen  der  S-U,  die  man  als  Fachmann  zu  beurteilen 
imstande  ist,  ehrlich  und  offen  zu  kritisieren.  Der  neue  Gesetzentwurf 

129 


J.  H.  Leunbach 

wurde    öffentlich    zur    Diskussion    gestellt.    In    diesem    Falle    könnte 
ein  Schweigen  leicht  wie  ein  Einverstandensein  aufgefasst  werden. 

Die  Wiedereinführung  des  Verbots  des  Abortus  ist  ein  kultureller 
Rückschritt,  der  nicht  nur  der  S-U  seihst,  sondern  der  gesamten  in- 
ternationalen revolutionären  Bewegung  schweren  Schaden  zufügt. 
Die  blosse  Tatsache,  dass  dieser  Entwurf  ausgearbeitet  und  veröffent- 
licht wurde,  wirkte  schon  als  eine  Katastrophe. 

Erstens  gilt  es,  die  Ursachen  aufzuspüren,  weshalb  die  S-U  den 
kulturellen  Fortschritt  der  Abschaffung  des  Gebärzwanges  nun  auf- 
geben will.  Dieser  Fortschritt  hat  der  S-U  über  die  ganze  Welt  nicht 
nur  bei  den  Arbeitern,  sondern  auch  in  bürgerlichen  liberalen  Kreisen 
die  grösste  Bewunderung  geschaffen.  Gibt  es  nun  wirklich  so  zwin- 
gende Gründe,  dass  dieser  tatsächliche  Rückschritt  eine  unbedingte 
Notwendigkeit  ist?  Die  Geburtenübcrschuss  zeigt  seit  1929  eine  ab- 
steigende Kurve  von  3,8  Millionen  im  Jahre  1929  bis  2,6  Millionen 
im  Jahre  1933.  Dieser  beträchtliche  Rückgang  kann  natürlich  als 
Vorwand  für  das   Abortusverbol   angewandt  werden. 

Als  1920  die  Abtreibung  freigegeben  wurde,  war  die  Begründung 
die,  dass  der  Staat  noch  nicht  imstande  war,  die  Existenz  aller  Kin- 
der und  Mütter  zu  garantieren  und  dass  er  deshalb  kein  Recht  hatte, 
von  den  Frauen  die  Austragung  jeder  Leibesfrucht  zu  verlangen.  Das 
Gelingen  der  Fünfjahrespläne  und  der  Kollektivisicrung  der  Land- 
wirtschaft hat  jetzt  zu  dem  Resultat  geführt,  dass  die  Versorgung  der 
neuen  Generation  tatsächlich  gesichert  ist.  Doch  dieses  Argument  ist 
falsch ! 

Die  für  uns  revolutionäre  Sexualpolitiker  schwerwiegende  Be- 
gründung der  Straflosigkeit  des  Abortus,  nämlich  das  Recht  zur  per- 
sönlichen und  sexuellen  Freiheil,  ist  von  den  Sowjet-Behörden  nie 
anerkannt  worden.  Sie  haben  sich  also  nie  prinzipiell  dazu  verpflich- 
tet, das  Abortus-Verbot  nicht  einmal  wieder  einzuführen. 

Die  Zahl  der  Aborte  ist  immer  noch  hoch  und  das  erhoffte  über- 
flüssigwerden des  Abortus  scheint  lange  auf  sich  warten  zu  lassen. 
In  Leningrad  gab  es  z.  B.  im  Jahre  1928  39058  Geburten  und  53562 
Aborte.  Auch  die  Pfuscherabortc  und  ihre  Schädigungen  sind  noch 
lange  nicht  verschwunden.  Nun  soll  es  also  versucht  werden,  die 
erhoffte  Entwicklung  durch  ein  neues  Verbot  zu  stimulieren. 

Das  Gesetz  besteht  aus  zwei  Teilen,  einem  positiven  und  einem 
negativen.  Die  positiven  Vorschläge  erhöhen  und  fördern  die  Mass- 
nahmen, die  die  Geburt,  die  Erhaltung  und  Erziehung  der  Kinder  er- 
leichtern und  das  Kinderkriegen  zu  einem  Segen  anstatt  einer  Be- 
lastung der  Mütter  machen. 

Die  Vorschläge  wären  an  und  für  sich  zu  bejahen,  wenn  sie  nicht 
zu  deutlich  nur  als  Verschleierungen  der  sexualreaklionären  Ten- 
denzen aufgefasst  werden  müsslen  und  auch  in  einigen  der  positiven 
Vorschläge  stecken  reaktionäre  Tendenzen.  Eigentlich  sollten  solche 
Vorschläge  überflüssig  sein,  weil  die  Massnahmen,  die  vorgeschlagen 

130 


_ 


Das  Sowjet-Gesetz   gegen  Abtreibung 

werden,  in  einer  sozialistisch  aufgebauten  Gesellschaft  ja  selbstver- 
ständlich sind.  Zum  Beispiel  sollte  jede  Mutter  für  jedes  Kind  eine 
passende  Zulage  erhalten.  In  dem  Gesetzentwurf  erhält  die  Mutter 
beim  achten  Kind  eine  Prämie  von  2000  Hubein  jährlich,  beim 
zwölften  Kind  5000  Kübel  +  3000  R.  jährlich.  Brupbacher  nennt 
diese  Massnahme  sehr  zutreffend:  »eine  Art  Stachanowbewegung  für 
reichen   Kindersegen«. 

Ein  weilerer  Vorschlag  erhöht  die  gerichtliche  Strafe  für  Nicht- 
zahlung von  Alimenten  und  abändert  die  Gesetzgebung  über  die  Ehe- 
scheidung, die  wieder  schwieriger  zu  erreichen  wird. 

Das  sozialistische  Prinzip  wäre  die  gesellschaftliche  Versorgung 
der  neuen  Generation  anstatt  der  individuellen  Unterhaltungspflicht. 
An  diesen  Punkten  wirkt  der  Gesetzentwurf  direkt  sexualfeindlich 
und   »kleinbürgerlich-moralisch«. 

Der  grösstc  Mangel  des  positiven  Teils  ist  jedoch  wohl, 
dass  die  empfängnisverhütenden  Massnahmen  überhaupt  nicht  er- 
wähnt werden.  In  einer  sozialistischen  Gesellschaft  sollte  das  Selbst- 
beslimmungsrccht  der  Frau  eine  Selbstverständliehkeit  und  die  Auf- 
klärung über  empfängnisverhütende  Mittel  deshalb  auf  breitester 
Grundlage  organisiert  sein.  Das  ist  in  der  S-U  noch  nicht  der  Fall. 
Gegen  den  Abort  ist  die  Verhütung  ungewünschter  Schwangerschaften 
doch  das  wirksamste  und  einzig  rationelle  Mittel.  Dass  das  neue  Ge- 
setz, das  sonst  viele  an  sich  selbstverständliche  Massnahmen  vor- 
schlägt, den  Ausbau  der  Empfängnisverhütung  völlig  versäumt,  muss 
einen  sehr  peinlichen  Eindruck  erwecken  und  die  sexualreaktionäre 
Tendenz  des  Gesamtkomplexes  noch  deutlicher  unterstreichen. 

Die  reaktionäre  Tendenz  tritt  doch  erst  richtig  ins  Licht  durch 
die  Wiedereinführung  des  Verbots  und  der  Bestrafung  der  Abtreibung. 
Die  positiven  Massnahmen  haben  den  zu  bejahenden  Zweck,  die 
Schwangerschaftsunterbrechung  —  und  auch  die  Bestrafung  —  über- 
flüssig zu  machen  und  dadurch  zu  beseitigen.  Als  Begründung  eines 
Verbots  sollte  man  glauben,  dass  die  sozialistischen  Fortschritte  un- 
brauchbar wären.  Sie  müssen  dennoch  dazu  dienen.  So  schreibt  zum 
Beispiel  die  »Deutsche  Zentral-Zeitung«  (DZZ)  am  27.  Mai:  »In 
keinem   Lande  der  Welt  geniesst  die  Frau   als  Mutter  und  Bürgerin 

solche  Achtung  und  solchen  gesetzlichen  Schutz  wie  in  der 

U.  d.  S.  S.  IL  —  —  Nur  unter  den  Bedingungen  des  Sozialismus 
kann  man  den  Kampf  gegen  den  Abortus  ernsthaft  organi- 
sieren, u.  a.  auch  durch  gesetzliches  Verbot«.  Und:  »Einerseits  die 
erforderliche  materielle  Sicherstellung  der  Frauen  und  ihrer  Kinder 
andererseits  das  Verbot  des  Abortus «. 

Der  erste  Teil  des  Gesetzes  lautet: 

Über  das  Verbot  des  Abortus 

1)  Im  Zusammenhang  mit  der  festgestellten  Schädlichkeit  des 
Abortus  wird    seine  Vornahme   sowohl   in    Krankenhäusern    und    Spe- 

131 


J.  H.  Leunbach 

zialhcilanstalten  als  auch  in  den  Wohnungen  von  Ärzten  und  in  den 
Privatwohnungen  von  Schwangeren  verboten.  Die  Vornahme  des 
Abortus  wird  ausschliesslich  in  den  Fällen  zugelassen,  wo  die  Fort- 
setzung der  Schwangerschaft  mit  Lebensgefahr  verbunden  ist  oder 
die  schwangere  Frau  mit  einer  schweren  Schädigung  ihrer  Gesundheit 
bedroht,  und  dann  nur  in  Krankenhäusern  und  Entbindungsanstalten.    * 

2)  Für  die  Vornahme  des  Abortus  ausserhalb  von  Krankenhäusern 
oder  im  Krankenhaus  aber  unter  Verletzung  der  genannten  Bedingun- 
gen wird  der  Arzt,  der  den  Abortus  ausgeführt  hat,  strafrechtlich  ver- 
folgt, und  zwar  erhält  er  ein  bis  zwei  Jahre  Gefängnis.  Für  die  Vor- 
nahme des  Abortus  unter  sanitätswidrigen  Verhältnissen  oder  durch 
Personen,  die  keine  medizinische  Spezialbildung  besitzen,  wird  eine 
Strafe  von  mindestens  drei  Jahren  Gefängnis  festgesetzt. 

3)  Für  die  Nötigung  einer  Frau  zur  Vornahme  eines  Abortus  wird 
als  Strafe  eine  Gefängnishaft  bis  zu  zwei  Jahren  festgesetzt. 

4)  Für  schwangere  Frauen,  die  einen  Abortus  unter  Verletzung 
des  genannten  Verbotes  vornehmen,  wird  als  Strafmass  vorgesehen: 
öffentlicher  Verweis  und  bei  wiederholter  Verletzung  des  Gesetzes 
über  das  Abortusverbot  eine  Geldstrafe  bis  zu  300  Rubel. 

Das  Verbot  ist  also  sehr  weitgehend.  Zum  Beispiel  werden  die 
sogenannten    »sozialen   Indikationen«   überhaupt   nicht  erwähnt.  , 

Soziale  Ursachen  zur  Unterbrechung  einer  Schwangerschaft  gibt 
es  offenbar  nach  der  Meinung  der  Gesetzgeber  nicht  mehr  in  der  S-U. 
Man  fragt  verwundert:  Ist  denn  die  Wohnungsnot  zum  Beispiel  schon 
völlig  beseitigt?  Die  Gesetzgeber  scheinen  nicht  zuzugeben,  dass  es 
noch  Familien  gibt  —  auch  kinderreiche  Familien  —  die  in  schlechten 
Einzimmerwohnungen  hausen. 

Selbst  die  vorsichtigsten  Kritiker  des  Entwurfs  scheinen  darüber 
einig  zu  sein,  dass  ein  Abortus-Verbot  jedenfalls  »verfrüht«   ist. 

An  und  für  sich  ist  es  zu  begrüssen,  dass  die  sogenannte  »soziale 
Indikation«  nicht  anerkannt  wird.  Dadurch  kommt  die  wirkliche 
sexualfeindliche  Tendenz  des  Gesetzes  deutlicher  zum  Vorschein. 
Was  ist  nämlich  der  wirkliche  Grund  des  Verbots  der  Abtreibung? 

In  der  S-U  kann  der  eigentliche  Zweck  nur  genau  derselbe  sein 
wie  in   den   kapitalistischen   Ländern:    die  Sexualunterdrückung   der  ( 

Menschen,  speziell  der  Frauen.  Die  Frage  ist  nur:  Weshalb  braucht 
die  S-U  eine  Unterdrückung  der  Sexualität? 

Dass  der  kapitalistische  Staat  die  Sexualität  unterdrückt  und  alle 
dazu  dienenden  Massnahmen  aufrechterhalten  muss,  wissen  wir  schon 
lange.  Das  wird  in  allen  Büchern  Wilhelm  Reichs  und  in  allen  Num- 
mern dieser  Zeitschrift  von  verschiedenen  Seiten  beleuchtet.  Aber  in 
der  S-U?!  Im  Lande,  wo  die  werktätigen  Massen  herrschen  und  wo 
der  Sozialismus  aufgebaut  wird?! 

Mit  dem  ersten  Ansturm  der  revolutionären  Welle  in  1017 — 18 
ging  auch  eine  weitgehende  allgemeine  Scxualbefreiung  einher.  Diese 
Sexualbefreiung  kommt  zum  Ausdruck  in  der  neuen  Ehegeselzgebung, 

132 


Das  Sowjef  Geselz  gegen   Abtreibung 

in  der  Freigabe  des  Abortes  und  in  der  Abschaffung  der  meisten 
Strafen  wegen  verschiedener  Sexual  vergehen.  Die  Sexualbefreiung  er- 
löst die  bisher  gebundene  revolutionäre  Energie  der  Menschen  und 
bedeutet  eine  mächtige  Förderung  der  politischen  und  ökonomischen 
Revolution. 

Die  Lenker  der  russischen  Revolution  haben  aber  nicht  die  Be- 
deutung der  Sexualbefreiung  richtig  einschätzen  können.  Sie  haben 
eher  Angst  vor  der  sexualrevolutionären  Welle  gehabt,  weil  sie  sie 
nicht  verstanden  haben  und  weil  sie  selbst  in  einer  sexual  feindlichen 
Umwelt  aufgezogen  waren  und  durch  diese  Erziehung  ihre  psychische 
Struktur  erhallen  hatten. 

Dagegen  ist  gar  nichts  zu  sagen  -  davon  abgesehen,  dass  es  eine 
sehr  bedauerliche  Talsache  ist,  die  die  sozialistische  Entwicklung  viel- 
leicht um  Jahrzehnte  verspätet  hat. 

Die  volle  Einsicht  in  die  Bedeutung  der  Sexualität  ist  erst  im- Laufe 
der  letzten  10  Jahre  durch  Wilhelm  Reichs  sexualökonomische  Theo- 
rien ans  Licht  getreten.  Keiner  kann  zum  Beispiel  Lenin  den  Vorwurf 
machen,  dass  er  die  damals  noch  nicht  existierenden  sexualökonomi- 
schen Theorien  nicht  berücksichtigt  oder  dass  er  die  bürgerlichen 
Ideen  Freuds  abgelehnt  hat.  Nur  müssen  wir  die  Talsache  feststellen, 
dass  die  Bedeutung  der  Sexualbefreiung  für  die  proletarische  Revolu- 
tion und  den  Aufbau  des  Sozialismus  übersehen  wurde,  so  wie  die 
kolossale  Stütze,  die  die  bürgerliche  Gesellschaft  und  die  Weltreak- 
tion  in  der  Sexualunterdrückung  und  in  der  durch  die  sexualfeind- 
liche Erziehung  entstandenen  psychischen  Struktur  der  Menschen  hat. 

Die  erste  revolutionäre  Welle  ist  abgeklungen.  Die  heutigen  Lenker 
der  S-U  kehren  immer  mehr  zu  autoritären  Methoden  und  Mitteln 
zurück. 

Wahrscheinlich  wurde  diese  Entwicklung  dadurch  unvermeidlich, 
weil  die  Weltrevolution  versagte  und  es  notwendig  wurde,  den  Ver- 
such zu  machen,  den  Sozialismus  »in  einem  Lande«  aufzubauen.  Dazu 
kommt,  dass  es  jetzt  notwendig  ist,  die  S-U  und  den  Sozialismus  gegen 
eine  feindliche  militaristische  Umwelt  zu  verteidigen. 

Man  darf  auch  nicht  vergessen,  dass  Russland  vor  1917  in  kul- 
tureller Hinsicht  weit  hinter  Westeuropa  stand.  Seit  der  Revolution 
haben  gewaltige  Fortschritte  in  der  kulturellen  Entwicklung  statt- 
gefunden. Es  wäre  aber  nicht  zu  erwarten,  dass  die  Forderungen  zur 
individuellen  Freiheit,  die  von  den  am  weitesten  vorgeschrittenen 
Russen  und  Westeuropäern  gestellt  werden,  im  Laufe  von  wenigen 
Jahren  nach  dem  Zarismus  realisiert  werden  können. 

Grosse  Teile  der  Bevölkerung  führten  früher  ein  derartiges 
Sklavendasein,  dass  das  Mass  von  individueller  Freiheit,  das  sie  schon 
errungen  haben,  ihnen  als  der  Höhepunkt  von  dem,  was  Menschen 
Überhaupt  vertragen  können,  vorkommen  muss.  Es  ist  also  sehr  ver- 
ständlich, wenn  noch  weiter  gehende  Forderungen  an  persönlicher 
und  sexueller  Freiheit,  Lösung   der  Familienbänder  usw.  in    der   S-U 

133 


J.  H.  Leunbach 

aufgefasst  werden  können  als  Ausschläge  einer  verdorbenen  bürger- 
lichen Gedankenwelt,  die  nicht  mit  dem  Sozialismus  übereinstimmen 
können. 

Die  Angst  vor  »zu  viel  Freiheil«  ist  ein  typischer  Bestandteil  der 
psychischen  Struktur,  die  notwendigerweise  durch  die  Erziehung 
innerhalb  der  patriarchalischen  Familie  entstell l.  Wenn  diese  Angst 
kombiniert  wird  mit  der  festen  Überzeugung,  das  höchste  Mass  von 
erstrebenswerter  Freiheil  schon  erreicht  zu  haben,  ist  es  eigentlich 
sehr  verständlieh,  wenn  ein  Teil  der  Bevölkerung  der  S-U  mit  einer 
Einschränkung  der  sexuellen    Freiheil   einverstanden    ist. 

Am  Anfang  der  Revolution  waren  die  vorgeschrittensten  bcwussl- 
sozialistisch  eingestellten  Teile  des  Industrieproletariats  führend. 
Während  der  letzten  Jahre  fangen  die  Bauern  und  Landarbeiter  an, 
grösseren  Einfluss  auszuüben,  auch  auf  die  kulturelle  Entwicklung 
und  auf  die  Gesetzgebung.  In  diesen  Kreisen  sind  die  palriarchalichen 
Traditionen  und  die  sexualverncinendc  Struktur  noch  sehr  fest  ver- 
ankert. 

Eine  weitere  sehr  bedauerliche  Tatsache  ist  der  geringe  Kontakt 
zwischen  S-U  und  Westeuropa,  die  sich  viel  zu  wenig  gegenseitig 
kennen  und  verstehen.  Dieser  geringe  Kontakt  ist  vielleicht  eine  na- 
türliche Folge  der  Feindschaft  zwischen  dem  Sozialismus  und  dem 
Kapitalismus.  In  der  S-U  hat  man  ein  sehr  begreifliches  Misstrauen 
Westeuropa  gegenüber  und  die  Neigung,  westeuropäische  Kritik  und 
Ideen  als  Ausschläge  des  verhassten  Kapitalismus  abzulehnen.  Des- 
halb können  wir  wohl  kaum  erwarten,  dass  die  S-U-Bcvölkcrung  ver- 
stehen soll,  welche  katastrophale  Bedeutung  es  für  die  revolutionäre 
Bewegung  hat,  wenn  die  S-U  die  Bestrafung  der  Homosexuellen  und 
der  Abtreibung  einführt. 

Wenn  die  redaktionelle  Zensur  und  die  Angst,  seine  Meinung 
zu  sagen,  sicherlich  auch  eine  Rolle  spielt,  ist  es  dennoch  kaum  rich- 
tig, was  jetzt  in  den  Zeitungen  behauptet  wird,  dass  die  grosse  Mehr- 
zahl der  Bevölkerung  sich  begeistert  hinter  das  neue  Gesetz  stellt. 
Ein  kultureller  Rückschritt  würde  auch  dadurch  nicht  in  einen  Forl- 
schritt verwandelt. 

Auf  sexualpolitischem  Gebiete  —  wenn  überhaupt  -  -  wäre  es  die  | 

Pflicht  der  revolutionären  Avantgarde,  sexualbejahend  erzieherisch 
und  fördernd  voranzugehen  und  nicht  den  reaktionären  Tendenzen 
der  Bevölkerung  nachzugeben. 

In  Reichs  Buch:  »Die  Sexualität  im  Kulturkampf«  ist  eine  ein- 
gehende Analyse  dieser  Verhältnisse  versucht  worden.  Hier  genügt  es 
festzustellen,  dass  das  Autoritätsprinzip  überall  in  der  S-U  nach  und 
nach  wieder  eingeführt  wird.  Das  Autoritätsprinzip  fordert  bei  den 
Untertanen  des  Staates  eine  autoritätsgetreue  psychische  Struktur. 
Um  eine  solche  Struktur  aufzubauen  und  aufrechtzuerhalten,  braucht 
man  in  erster  Linie  Sexualunterdrückung. 

Deshalb    wird    in    der    S-U    wieder    eingeführt    die    Bestrafung    der 

134 


Das   Sowjet-Gesetz  gegen   Abtreibung 

Homosexuellen  und  jetzt  das  Verbot  des  Abortus.  Gleichzeitig  soll  die 
Familie  befestigt  werden. 

Die  Familie  ist  der  Herd  der  autoritären  Erziehung  und  der  Un- 
tertanenstruktur, die  der  autoritäre  Staat  braucht.  Die  asketische 
sexualverneinende  Moral  soll  gekräftigt  werden.  In  der  Diskussion  in 
der  DZZ  wird  zum  Beispiel  gesagt:  »Früher  wurde  von  vielen  Frauen 
und  Männern  Leichtsinnig  hin-  und  hergeheiratet«.  Die  Tendenz  ist 
sehr  deutlich. 

Mit  der  Festigung  der  Sowjet-Familie  ist  es  offenbar  ernst  gemeint. 
So  schreib!  zum  Beispiel  die  DZZ:  »Der  proletarische  Staat  geht  mit 
diesem  Gesetz  daran,  die  Festigung  der  Familie,  die  in  der  bürger- 
lichen Welt  längst  zum  Untergang  verurteilt  ist,  und  die  erst  der  So- 
zialismus wieder  zu  neuem  Leben,  zu  neuem  Blühen  führen  kann, 
fortzusetzen«. 

Schliesslich  muss  die  S-U  natürlich  selbst  entscheiden,  welche  Ge- 
setze sie  braucht.  Aber  für  uns,  die  in  den  kapitalistischen  Ländern 
den  harten  Kampf  gegen  die  Abtreibungsbestrafung  führen,  ist  der 
neue  Gesetzentwurf  einfach  katastrophal.  Wir  haben  bisher  auf  die  S-U 
hinweisen  können  als  das  Musterland,  wo  der  Abortus  legalisiert  war 
und  wo  die  Gefährlichkeit  der  Abtreibung  dadurch  zum  Minimum 
reduziert  worden  war.  Die  Unbilligkeit,  die  Statistiken  aus  den  Sowjet- 
Abortarien  zu  veröffentlichen,  hat  uns  immer  Schwierigkeiten  be- 
reitet, zum  Beispiel,  wenn  es  sich  darum  handelte,  die  Kiewer  Mythe 
von  der  Gefährlichkeit  auch  des  legalisierten  Abortus  gründlich  zu 
widerlegen. 

Das  neue  Gesetz  gibt  unseren  Gegnern  eine  schwerwiegende  Waffe 
in  die  Hand,  die  sie  mit  verständlicher  Begeisterung  ergreifen.  Die 
revolutionären  Sexualpolitiker  der  ganzen  Welt  müssen  sich  von  der 
S-U  verraten  fühlen. 

Unser  Kampf  um  eine  Neugestaltung  des  Geschlechtslebens  der 
Menschen  wird  in  der  Zukunft  noch  schwieriger  und  dornenvoller 
werden. 

Interessant  ist  es,  die  verschiedenen  Aussprachen  von  der  S-U  und 
vom  Ausland  über  den  Gesetzentwurf  zu  vernehmen.  Man  ersieht 
daraus,  wie  ungeheuer  gross  die  Autorität  der  S-U  auf  die  revolutio- 
näre Welt  wirkt,  und  wie  unselbständig  dieselben  Menschen,  die  bisher 
für  die  Freigabe  des  Abortus  begeistert  waren,  jetzt  ungefähr  eben 
so  begeistert  für  das  Verbot  eintreten.  Besonders  interessant  ist  es 
natürlich,  solche  Stimmen  zu  hören,  die  seit  vielen  Jahren  in  dem 
Vordergrund  des  Kampfes  gegen  §  218  stehen. 

Die  alte  dänische  Kämpferin,  Marie  Nielsen,  die  »Babuschka«  der 
dänischen  revolutionären  Bewegung,  schreibt  in  dem  Organ  der  däni- 
schen K.  P.  eine  sehr  scharfe  Kritik  und  behauptet,  dass  ein  Verbot 
des  Abortus  nur  ein  Übel  sein  kann.  Sie  hebt  sehr  richtig  die  sexual- 
feindliche  Tendenz   des   Entwurfes  hervor. 

135 


Wilhelm  Reich 


- 


Die  Ärztin  Martha  Ruben-Wolff,  die  jetzt  in  Moskau  lebt,  war  sonst 
immer  bereit,  alle  Massnahmen  der  heissgeliebten  S-U  zu  verteidigen. 
Selbst  ihr  scheint  doch  der  Entwurf  eine  zu  bittere  Pille  zu  sein.  Sie 
erwähnt  den  unerhörten  Erfolg  der  Freigabe  des  Abortus  für  die  Ge- 
sundheit der  Frauen  und  sagt:  »Die  Legalisierung  des  Abortus  ist  und 
bleibt  bis  heute  der  grösste  Triumph  der  sowjetischen  Frauenheil- 
kunde und  erinnert  an  die  Grosstat  von  Semmelweis«.  Sie  bringt  sehr 
schlagende  Beweise  dafür,  dass  bis  auf  den  heutigen  Tag  sämtliche 
Versuche,  die  sich  in  der  Richtung  des  Verbots  bewegten,  zum 
Pfuscherabortus  führten.  Sie  endet  mit  den  Worten:  »Im  Laufe  dieser 
Entwicklung  wird  der  Abortus  wohl  überflüssig  werden  und  nahezu 
verschwinden,  aber  heute  ist  -  so  meine  ich  —  ein  derartiges  Verbot 
verfrüht«. 

Gewiss  eine  sehr  milde  Verurteilung  -  -  aber  doch  immerhin  eine 
Verurteilung. 

Was  soll  man  aber  zu  Friedrich  Wolf  sagen?  War  er  doch  einst 
in  Deutschland  der  zentrale  Punkt  im  Kampfe  gegen  §  218,  von  den 
grossen  Massen  bewundert,  fast  vergöttert.  Jetzt  schreibt  er  wörtlich: 
»Ich  bejahe  also  -  -  und  zwar  gerade  als  Bekämpfer  des  §.218  —  das 
neue  Gesetz  in  einem  sozialistischen  Sowjet-Staat«.  Nun,  Ft.  Wolf 
hat  ja  auch  eine  schöne  Stellung  in  der  S-U  und  hätte  wohl  etwas  zu 
riskieren,  wenn  er  sich  unangenehm  bemerkbar  machen  würde. 

Der  alte  Ketzer  lirupbacher  lässt  sich  natürlich  nicht  irreführen. 
Im  Internationalen  ärztlichen  Bulletin  schreibt  er  eine  kurze  aber 
scharfe  Kritik  und  behauptet  zuletzt:  »Die  Begründungen  sind  so 
fadenscheinig,  dass  sie  uns  einfach  wie  vorgeschobene  Gründe  vor- 
kommen und  wir  einen  kombiniert  Marx-Frcud'schen  Analytiker 
beauftragen   möchten,  die  wirklichen  Gründe  ausfindig  zu   machen«. 

Mit  den  vorangehenden  Zeilen  habe  ich  den  Versuch  gemacht,  ein 
ganz  kleines  Stück  einer  sexualökonomischen  Analyse  zu  geben. 

Eine  wirklich  erschöpfende  Analyse  würde  viele  Zeilschriften- 
nummern füllen  können. 


Charakter  und  Gesellschaft 

(Vorgetragen   in   der  Norwegischen   Studentenorganisation 
im  Oslo   am   18./IV.  36) 

Von   Wilhelm   Reich 

Ich  muss,  um  mich  im  Zentralproblem  verständlich  zu  machen, 
mit  einer  kurzen  historischen  Übersicht  über  die  Fragestellung  der 
Psychologie  in  der  Wissenschaft  beginnen.  Sie  ging  aus  sehr  kompli- 
zierten Entwicklungsprozessen  innerhalb  der  wissenschaftlichen  Be- 
wegung hervor,  die  sich  aus  der  mittelalterlichen  mvstischen  Atmos- 
136 


Charakter   und   Gesellschaff 

phärc  ergab.  Zunächst  entwickelte  sich  in  der  Wissenschaft  mit  dem 
Beginn  des  Maschinenzeitalters  der  mechanistische  Materialismus,  der 
dem  menschlichen  Denken  entschieden  neue  Wege  wies.  So  gross  die 
Errungenschaften  der  physikalischen  Naturwissenschaften  waren, 
ihre  Übertragung  auf  die  Probleme  der  Psychologie  und  Philosophie 
führte  dazu,  dass  die  Existenz  einer  Seele  überhaupt  geleugnet  wurde. 
Der  Materialismus  eines  Büchner  etwa  musste,  da  die  seelischen  Tat- 
bestände unmittelbar  wahrzunehmen  und  nicht  zu  leugnen  sind,  als 
Reaktion  eine  metaphysische  Ideologie  in  Gang  setzen,  die  in  kom- 
plettem Gegensatz  zum  mechanistischen  Materialismus  die  Abhängig- 
keit des  Körpers  von  der  Seele  behauptete  und  die  letzte  ins  Jenseits 
versetzte.  Es  gibt  noch  heute  verschiedene  psychologische  Schulen, 
die  die  Probleme  des  Seelenlebens  ohne  Zusammenhang  mit  ihren 
malericllen  Grundlagen  behandeln. 

Die  ersten  korrekten  Grundlagen  zu  einer  naturwissenschaftlichen 
Psychologie  wurden  von  Freud  gelegt.  Er  führte  in  die  Psychologie 
das  geschichtliche  und  kausale  Denken  ein.  Die  Frage:  Weshalb  ist 
es  im  Seelenleben  so  oder  so?  Wie  entwickelte  es  sich?  war  damals 
ungewohnt,  doch  sie  gehört  heute  zu  den  Selbstverständlichkeiten  des 
psychologischen  Denkens.  Das  Handeln  des  Menschen  ans  seiner 
individuellen  Entwicklung  zu  begreifen,  bedeutete  aber  auch  die  wenn 
auch  unbewusste  Anwendung  des  dialektischen  Materialismus  in  der 
Psychologie.  Die  Einführung  des  Begriffs  der  »psychischen  Energie« 
war  bahnbrechend;  doch  Freud  selbst  war  es  noch  nicht  gelungen, 
den  Begriff  der  seelischen  Energie  anders  als  in  Form  eines  Gleich- 
nisses zu  gebrauchen. 

Alle  bisherigen  psychologischen  Schulen  machten  an  zwei  Grenzen 
halt.  Die  eine  Grenze  ist  die  gegen  die  Biologie  hin;  sie  ist  nicht  sehr 
scharf  gezogen.  Die  Frage:  Wie  entwickelt  sich  das  Seelische  aus  den 
biologischen  Funktionen  heraus?  schwebte  ständig  in  der  Luft  der 
psychoanalytischen  Arbeit.  Im  Gegensatz  dazu  war  und  ist  bei  Freud 
die  Grenze  gegen  die  marxistische  Soziologie  hin  sehr  scharf  gezogen. 
Ja,  man  kann  sich  des  Eindrucks  nicht  erwehren,  dass  ihre  Über- 
schreitung geradezu  gefürchtet  und  mit  allen  Mitteln  verhindert  wird. 

Wenige  Jahrzehnte  vor  der  Entwicklung  der  ersten  Ansätze  der 
naturwissenschaftlichen  Psychologie  entstand  die  wissenschaftliche 
Soziologie  durch  Marx,  der  die  Abhängigkeit  der  menschlichen  Tätig- 
keit und  der  gesellschaftlichen  Ideologie  von  den  sozialen  und  ökono- 
mischen Prozessen  erkannte.  Dieser  Abhängigkeit  fügte  Freud  eine 
zweite  an,  die  von  unbewussten  Trieben.  In  den  letzten  zwanzig  Jahren 
hatte  sich  im  modernen  Denken  immer  wieder  die  scheinbare  Un- 
gereimtheit dieser  beiden  Abhängigkeiten  gezeigt.  Auf  der  einen  Seite 
sollte  das  menschliche  Sein  von  ökonomischen  und  sozialen  Tatbe- 
ständen, auf  der  anderen  Seite  von  ewigen,  biologischen  Trieben  ab- 
hängig sein.  Dazu  kam,  dass  die  Entwicklung  der  Freudschen  Psycho- 
logie  immer  mehr  sowohl   das   Gesellschaftliche  wie   das   Biologische 

137 


Wilhelm   Reich 

psychologisierle,  d.  h.  miL  Begriffen  zu  fassen  suchte,  die  nur  im 
Rahmen  des  psychischen  Seins  gelten  können.  Zwar  war  Freud  ur- 
sprünglich vom  Konflikt  zwischen  Aussenwell  und  Ich  ausgegangen; 
es  war  später  nicht  schwer,  in  dieser  Aussenwell  konkret  die  kapitali- 
stische Gesellschaft  zu  erkennen.  Doch  es  zeigte  sich  bald,  dass  dieser 
so  richtige  Ansatzpunkt  Freuds  von  einer  biologistischen  Anschauung 
über  die  absolute  und  ewige  Natur  der  Familie  und  des  Unbcwussten 
verschüttet  und  unbrauchbar  gemacht  wurde.  Der  Mangel  psychologi- 
schen Denkens  im  Marxismus  hatte  den  Ökonomismus  gezeitigt,  kom- 
plettes Unverständnis  für  psychologische  Tatbestände  und  Prozesse, 
das  war  eine  der  Hauptursachen  des  Sieges  der  politischen  Reaktion 
in  Deutschland.  Der  Freudschcn  Psychologie  wieder  fehlte  das  kon- 
sequente soziologische  Denken,  d.  h.  das  Bewusslscin  der  Abhängig- 
keit alles  Psychischen  vom  gesellschaftlichen  Prozess.  Aus  diesen 
zwei  Mängeln  ergaben  sich  nicht  wenige  Behinderungen  der  weiteren 
Entwicklung  sowohl  der  marxistischen  Gesellschaftslehre  wie  der 
Psychoanalyse. 

In  der  Abwehr  der  falschen  theoretischen  Entwicklung  der  Psycho- 
analyse und  des  Ökonomismus  in  der  Arbeiterbewegung  entwickelte 
sich  nun  die  dialektisch-materialistische  Psychologie  (Sexualökono- 
mie  und  Politische  Psychologie).  Sic  ist  vor  allem  dadurch  gekenn- 
zeichnet, dass  sie  den  Respekt  vor  dem  überschreiten  der  beiden  ge- 
nannten Grenzen  aufgegeben  hat.  Die  Triebe  und  das  Unbewusste  sind 
ihr  nicht  mehr  etwas,  was  in  der  Luft  hängt  oder  den  Urgrund  aller 
Dinge  darstellt,  sondern  sind  von  zwei  Seiten  her  zu  erfassen,  nämlich 
von  der  biologischen  und  von  der  gesellschaftlichen.  Nur  unter  voller 
Berücksichtigung  dieser  doppelten  Abhängigkeit  sind  die  Gesetze 
korrekt  zu  begreifen,  die  innerhalb  des  Seelenlebens  teils  bereits  auf- 
gedeckt wurden,  teils  der  weiteren  Aufdeckung  harren.  Daraus  folgen 
zwei  Fragestellungen  grundsätzlicher  Art:  Erstens:  Wie  ist  die  Be- 
ziehung zwischen  Körperlichem  und  Seelischem  beschaffen?  Ohne 
eine  genaue  naturwissenschaftliche  Beantwortung  dieser  im  wesent- 
lichen noch  ungelösten  Frage  ist  die  Dynamik  des  Seelenlebens,  ins- 
besondere des  Affektlebens  nicht  derart  zu  fassen,  dass  sich  daraus 
menschliche  Praxis  entwickeln  könnte.  Auf  diese  Frage  gehe  ich  heute 
nicht  ein.  Zweitens:  Wie  hängt  die  psychische  Struktur  des  Menschen 
mit  der  gesellschaftlichen  Struktur  zusammen?  Ich  will  versuchen, 
in  rohen  Zügen  einige  dieser  Beziehungen  zu  zeichnen. 

Der  Freudsche  historische  Kausal ismus  ermöglichte  uns  zu  be- 
greifen, wie  und  aus  welchen  Gründen  der  individuellen  Entwicklung 
ein  Mensch  so  und  nicht  anders  geworden  ist;  doch  das  rein  histori- 
sche und  individuelle  Verstehen  genügt  nicht,  um  eine  aktuelle  Situa- 
tion zu  verändern.  Ich  kann  wohl  z.  B.  genau  erheben,  aus  welchen 
geschichtlichen  Voraussetzungen  sich  der  Faschismus  entwickelt  hat, 
aber  wenn  ich  noch  so  viele  rein  historische  Voraussetzungen  bei- 
138 


Charakter  und   Gesellschaft 

sammen   habe,   so   geht    daraus   noch   nicht  hervor,   wie   er   zu    über- 
winden  wäre. 

Das  gleiche  gilt  im  Seelenleben.  Wenn  ein  Mensch  heute  ein  ge- 
ducktes Wesen  zeigt  und  ich  historisch  feststelle,  dass  sich  dieses 
Wesen  aus  schwerer  Unterdrückung  und  seelischen  Prügeln  ableitet, 
die  der  Betreffende  in  der  frühen  Kindheit  erlitten  hat,  dann  begreife 
ich  zwar  jeden  einzelnen  Zug  seiner  Geducktheit,  aber  daraus  ergibt 
sich  noch  nicht  von  selbst  die  praktische  Antwort  auf  die  Frage,  wie 
er  seine  Geducktheit  überwinden  könnte.  Wenn  richtig  festgestellt 
ist,  dass  die  Menschen  kindlich  reagieren,  weil  sie  in  bestimmten 
Stadien  ihrer  Entwicklung  hängen  geblieben  sind,  dann  bedarf  es  der 
zusätzlichen    Frage,    was    sie    in    dieser    Kindlichkeit    heute    aktuell 

festhält. 

Der  Freudsche  Begriff  der  Fixierung  im  Kindlichen  beantwortet 
diese  Frage  nicht,  denn  die  Fixierung  selbst  ist  nur  eine  Umschreibung 
für  den  Tatbestand  des  Kindlich-Bleibens.  Die  Auskunft,  dass  es  die 
Verdrängung  ist,  die  die  Fixierung  aufrechthalte,  ist  unbefriedigend, 
denn:  Was  verleiht  der  Verdrängung  die  Dauer  und  Zähigkeit?  Die 
Antwort  auf  die  gestellte  Frage  ist  einfach.  Die  gleichen  Lebensver- 
hältnisse und  Lebensumstände,  die  in  der  Kindheit,  in  der  Familie 
die  Verdrängung  und  Fixierung  in  der  Kindlichkeit  hergestellt  haben, 
wirken  fortlaufend  durchs  ganze  Leben  im  Sinne  der  früherworbenen 
Entwicklungshemmung  ein.  Es  ist  also  nicht  so,  dass  irgendeinmal 
ein  psychischer  Zustand  geschaffen  wurde,  der  dann  von  sich  aus 
ohne  äusseren  Einfluss  bestehen  bliebe,  sondern  es  ist  so,  dass  der 
entwicklungsbemmendc  Einfluss  der  Gesellschaft  dauernd  das  ganze 
Leben  hindurch  wirkt.  Die  Fixierung  an  kindlichen  Arten  der  Sexual- 
lust kann  sich  nur  dadurch  halten,  dass  die  Gesellschaft  den  Fort- 
schritt zur  aktuellen  Sexualbefriedigung  dauernd  behindert  und  nicht 
nur  einmalig  als  äusserer  Anlass  einer  seelischen  Erkrankung. 

Dadurch  dringen  wir  unmittelbar  in  das  Problem  der  gesellschaft- 
lichen Struktur  ein.  Es  folgt  die  Frage:  Welches  Interesse  hat  die  Ge- 
sellschaft daran,  die  Menschen  in  ihren  kindlichen  Positionen  zu 
halten,  indem  sie  ihnen  die  Entfaltung  des  Liebeslebens  versagt?  Diese 
Frage  war  nie  vorher  gestellt  und  korrekt  beantwortet  worden. 

In  diesem  Zusammenhang  möchte  ich  neuerdings  versuchen,  ein 
stupides  Missverständnis  aufzuklären.  In  den  Diskussionen  über  die 
Rolle  der  Psychologie  in  der  gesellschaftlichen  Lehre  hört  man  immer 
wieder  den  typischen  Einwand:  »Ja,  aber  wo  bleibt  denn  die  Ökono- 
mie?« Falsche  Begriffe  pflegen  von  einer  unglaublichen  Lebensdauer 
zu  sein.  Es  gibt  keine  falschere  Fragestellung  als  diese.  Das  ökonomi- 
sche Sein  des  Menschen  kann  seinem,  psychischen  Sein  nicht  gegen- 
übergestellt werden.  Es  gibt  keine  Art  von  Sein,  die  sich  nicht  durch 
das  psychische  Sein  der  Menschen  hindurch  auswirken  würde. 

Maschinen  wirken  nicht  dadurch,  dass  sie  irgendwo  arbeiten, 
sondern  dadurch,  dass  die  Menschen  an  ihnen  produzieren  und  sich 

139 


Wilhelm  Reich 


t 


dadurch  strukturell  verändern.  Das  Sein  der  Menschen  im  allgemeinen 
und  das  gesellschaftliche  im  besonderen  wirken  sich  einzig  und  allein 
durch  die  Veränderungen  aus,  die  die  Struktur  der  Menschen  unter 
ihrem  Einfluss  erfährt,  und  durch  die  Tätigkeit,  zu  denen  sie  die 
Menschen  zwingen. 

Nun  zur  Charakterbildung:  Unter  Charakter  versteht  die  Sexual- 
ökonomie die  Form  gewordene  typische  Reaktionsweise  der  Menschen. 
Wenn  Menschengruppen  eine  gemeinsame  Reaktionsweise  zeigen,  wie 
etwa  die  Arbeiterschaft,  die  Kaufmannschaft  etc.,  so  drückt  sich  darin 
die  Einwirkung  einer  typischen  gemeinsamen  gesellschaftlichen  Situa- 
tion auf  die  psychische  Struktur  unmittelbar  aus.  Der  Charakter  ist 
in  seiner  Bildung  das  Ergebnis  eines  Zusammenpralls  von  vegetativen, 
biologischen  Triebenergien  auf  der  einen  und  dem  gesellschaftlichen 
Sein  auf  der  anderen  Seite.  Nun  kommt  es  nicht  darauf  an,  abstrakt 
und.  theoretisch  festzustellen,  dass  Biologisches  und  Gesellschaftliches 
im  Zusammenprall  die  charakterliche  Struktur  bilden.  Es  kommt 
vielmehr  im  Wesentlichen  darauf  an,  dass  die  derart  entstandenen 
typischen  Charakterzüge  funktionell  völlig  identisch  sind  mit  be- 
stimmten Elementen  der  heutigen  gesellschaftlichen  Struktur  und 
Ideologie. 

Das  biologische  Sein  wird  beherrscht  von  den  Gesetzen  der  Ent- 
wicklung, des  Energieauf-  und  abbaus,  von  rhythmischem  Wechsel 
von  Motorik  und  Ruhe,  Betätigung  und  Nichtbctätigung.  Der  Wechsel 
von  Energieauf-  und  abbau  wird  unmittelbar  verspürt  als  Wallung 
und  Strömung  im  Körper.  Die  charakteranalytische  Technik  vermag 
heute  Menschen,  die  vollkommen  starr,  unlebendig  und  affektleer  er- 
scheinen, Menschen,  die  nie  Wut,  Liebes-  und  Angstregungen  gekannt 
oder  zugelassen  haben,  dazu  zu  bringen,  diese  Strömungen  und 
Wallungen  wieder  zu  verspüren.  Vorher  beklagten  sich  die  Kranken 
darüber,  dass  sie  sich  nicht  lebendig  fühlten,  dass  sie  wie  abgestorben 
wären  etc.  Durch  Zerstörung  der  starren  charakterlichen  Haltungen, 
die  wie  Panzerungen  gefühlt  werden,  lassen  sich  also  gebundene, 
biologische  Energien  freimachen.  Sie  Hessen  sich  mit  elektrischen 
Ladungsprozessen  im  Körper  identifizieren. 

Das  Gesagte  ist  für  das  Verständnis  der  Charakterbildung  von 
grundsätzlicher  Bedeutung.  Betrachten  wir  als  Beispiel  für  den  Zu- 
sammenprall von  vegetativer  Triebregung  und  Gesellschaft  die  Rein- 
lichkeitserziehung der  Kinder  in  unseren  Kulturkreisen.  Wir  wissen, 
dass  Kinder  bis  zum  3.  und  4.  Lebensjahre  sehr  lebendig  sein  können 
und  dann,  etwa  um  das  5.  Lebensjahr  herum,  zu  erkalten  beginnen, 
oder  wie  man  sich  ausdrückt  »brav«  werden.  Sie  büssen  das  wesent- 
lichste Stück  ihrer  Motorik  ein.  Dieser  Verlust  ist  heute  ganz  wesent- 
lich auf  die  Art  der  Reinlichkeitserziehung  zurückzuführen.  Gibt  das 
Kind  seinen  Regungen,  sich  schmutzig  zu  machen  oder  sonst  natür- 
liche Bedürfnisse  der  Motorik  zu  befriedigen,  nach,  so  stösst  es  auf 
die  strengsten  Verweise  seitens  der  Erzieher.  Es  entsteht  ein  Konflikt 

140 


. 


zwischen  »Ich  will«  und  »Ich  darf  nicht«.  Zunächst  wird  es  zwischen 
Wunsch  und  Angst  vor  Strafe  hin-  und  hergerissen.  Diesen  Zustand 
kann  es  auf  die  Dauer  nicht  ertragen.  Es  muss  sich  gegen  die  eigenen 
Impulse,  gegen  die  Angst,  aber  auch  gegen  das  Verbot  wehren.  Das 
früher  motorisch  lebendige  Kind  beginnt  auf  sich  selbst  aufzupassen, 
seine  muskulären  Haltungen  verlieren  an  Natürlichkeit  und  werden 
krampfhaft;  es  wird  kalt,  versteift  sich,  kurz,  es  wird  ein  »braves 
Kind«,  das  sich  der  Erziehung  und  mithin  der  Gesellschaft  angepasst 
hat.  Befand  es  sich  vorher  in  einem  regelmässigen  biologischen 
Wechsel  von  Spannung  und  Entspannung,  so  tritt  nach  dem  Erkalten, 
das  es  als  inneres  Absterben  verspürt,  ein  Mechanismus  auf,  der  von 
entscheidender  Bedeutung  für  die  Herstellung  der  widerspruchsvollen 
charakterlichen  Struktur  der  Menschen  aller  bürgerlichen  Kultur- 
kreise  und  darüber  hinaus  der  Kulturkreise  des  Patriarchats  ist.  Die 
nun  erworbene  Kälte  und  Steifheit  binden  zwar  ein  Stück  der  vegeta- 
tiven Energie,  aber  von  den  Energiequellen  des  körperlichen  Apparats 
her  strömt  ständig  neue  Energie  hinzu.  Diese  wird  jedoch  nunmehr, 
da  eine  Bremsung  eingeschaltet  ist,  nicht  mehr  so  glatt  abgeführt  wie 
vorher.  Das  Kind  ist  gehemmter  geworden,  es  entsteht  ein  immer 
stärkerer  Druck  von  innen  her  und  mithin  ein  ständig  wachsender 
Zwang,  diese  Impulse  zu  bremsen.  Den  chronisch  gewordenen  Me- 
chanismus der  Bremsung  nenne  ich  Panzerung.  Sie  ist  sowohl  charak- 
terlich wie  muskulär  gegeben.  Jeder  kann  an  sich  selber  spüren,  dass 
zwischen  ihm  und  der  Welt  eine  Mauer  steht.  Sie  äussert  sich  darin, 
dass  man  nie  den  völlig  unmittelbaren  Kontakt  zu  den  Mitmenschen 
bekommt,  dass  sich  unnatürliche  Versuche;  den  Kontakt  herzustellen, 
herausbilden,  dass  man  innerlich  vereinsamt  u.  s.  f. 

Nach  der  Erkaltung  setzt  ein  Widerspruch  zwischen  Trieb  und 
Bremsung  (Moral  oder  Angst)  ein,  der  vorher  nicht  vorhanden  war, 
denn  das  Kind  kam  ohne  Moral  zur  Welt  und  regulierte  sein  Handeln 
durch  das  biologische  Prinzip  der.  Spannung  und  Entspannung.  Zur 
Verdeutlichung  des  Unterschiedes  zwischen  der  natürlichen  biologi- 
schen und  der  moralischen  Art  der  Regulierung  des  Trieblebens  dient 
am  besten  das  Beispiel  eines  Stroms,  den  man  in  seinem  natürlichen 
Ablauf  bremst.  Der  Strom,  der  früher  ruhig  dahinfloss  und  nur  dem 
natürlichen  Gefälle  und  dem  Wasserreichtum  seiner  Quelle  ent- 
sprechend sich  verhielt,  staut  sich  jetzt,  er  überflutet  das  Gelände, 
und  es  entstehen  eine  Menge  von  Nebenläufen,  die  unter  Umständen 
schwere  Zerstörungen  anrichten  können.  Wir  können  dieses  Beispiel 
ohne  weiteres  auf  das  Triebleben  übertragen.  Die  natürlichen  Triebe 
des  Kindes,  zu  essen,  zu  lutschen,  seine  Muskulatur  zu  betätigen,  Lust 
am  Genitale  und  am  Darm  zu  gewinnen,  bleiben  solange  sozial  un- 
schädlich und  für  die  kindliche  Entwicklung  förderlich,  solange  die 
Bremsung  fehlt.  Sie  lösen  einander  im  Laufe  der  Entwicklung  ab; 
an  die  Stelle  eines  Interesses,  das  vorher  stärker  war,  tritt  ein  anderes, 
bis  auch  dieses  einem  dritten  weicht.  Durch  die  erzieherische  Brem- 

141 


Wilhelm  Reich 


sung  jeder  dieser  Entwicklungsphasen  entstehen  immer  wieder  neue 
künstliche,  unnatürliche  Bedürfnisse.  Das  Kind  erwirbt  einen  schrof- 
fen Gegensatz  zwischen  seinem  natürlichen  Wesen  und  dem,  was  die 
Kultur  in  ihm  erzeugt  und  einpflanzt.  In  diesem  Gegensatz  spiegelt 
sich  nichts  anderes  wieder  als  der  in  der  heutigen  Gesellschaft  herr- 
schende absolute  Gegensatz  von  Kultur  und  Natur,-  von  Trieb  und 
Moral.  An  die  Stelle  der  natürlichen  Reaktion  tritt  der  Zwang  des 
Gegensatzes  von:  »Das  ist  Pfui!«  und  »Das  ist  erlaubt  und  brav«.  Ein 
Kind  mit  starkem  motorischem  Drang  in  einem  schönen,  reinen 
Kleidchen,  das  es  für  die  Mutter  zu  einer  Puppe  macht,  das  es  also 
nicht  »beschmutzen«  darf,  gehört  zu  den  traurigsten  Erscheinungen. 
Unsere  Erfahrungen  lassen  keinen  Zweifel  daran,  dass  derartige  Be- 
hinderungen der  kindlichen  Motorik  zum  Schädlichsten  gehören,  das 
ein  Kind  erleben  kann.  Durch  die  Beherrschung,  die  sich  das  Kind, 
unnotwendigerweise  und  nur  dem  Spleen  einer  verrotteten  Kultur 
zuliebe,  auferlegen  muss,  erwirbt  es  anstelle  eines  natürlichen,  aus- 
geglichenen einen  unökonomischen,  unausgeglichenen  Haushalt 
seiner  vegetativen  Energie.  Die  angeführten  Beispiele  kann  man  auf 
beliebigen  Gebieten  zahllos  finden. 

Ein  zweites  Beispiel  von  der  Absperrung,  die  durch  das  Zusammen- 
prallen von  Trieb  und  Aussenwelt  entsteht,  ist  die  organische  Lust- 
angst, die  sich  während  der  Pubertät  endgültig  formiert.  Die  Jugend- 
lichen sind  mit  11,  12  und  etwa  13  Jahren  noch  sehr  lebendig  oder 
wieder  lebendig  geworden;  mit  etwa  16 — 17  Jahren  verändern  sie  sich 
wieder  und  erkalten  genau  so  wie  in  der  Kindheit.  Mit  Jugendlichen 
von  etwa  14  oder  15  Jahren  kann  man  gelegentlich  noch  gut  über 
ihre  Sexualität  sprechen,  nachher  wird  es  schwierig,  sie  lehnen  ab. 
Dieser  Wandel  vom  Lebhaften  zum  Kalten  baut  sich  nun  auf  der 
kindlichen  Grundlage  gleicher  Erlebnisart  auf. 

Das  allgemeinste  Resultat  für  die  Charakterbildung  der  Menschen 
auf  dieser  Grundlage  ist  die  gegenseitige  Absperrung  und  die  Er- 
setzung der  natürlichen  menschlichen  Beziehungen  durch  künstliche, 
formelhafte  Beziehungen.  Man  findet  trotz  kollektiven  Lebens  selten 
Menschen,  die  nicht  vereinsamt  lebten  oder  leer  und  oberflächlich 
wären.  Aus  dieser  psychischen  Situation  entsteht  die  Sehnsucht  nach 
»Auslösung«,  ja  gelegentlich  nach  »Auflösung«'  (vegetative  bzw.  or- 
gastische Sehnsucht).  Die  Fähigkeit,  sich  im  Leben  frei  strömen  zu 
lassen,  ist  verloren  gegangen.  Wenn  sich  die  Menschen  abgesperrt 
fühlen,  im  Innern  jedoch  den  Kern  ihres  lebendigen  Wollens  ver- 
spüren, ohne  ihren  Lebenswillen  nach  aussen  zum  Ausdruck  bringen 
zu  können,  dann  ist  es  nur  selbstverständlich,  dass  sich  eine  unge- 
heure bald  sentimentale,  bald  träumerische,  meist  sehr  verworrene 
Sehnsucht  nach  dem  »grossen  Erlebnis«  entwickelt,  von  der  sie  eine 
Erlösung  aus  der  Absperrung  erhoffen.  Darüber  hinaus  müssen  Men- 
schen, die  über  ihre  lebendige  Motorik  nicht  verfügen,  lebensängstlich 
werden,   sich   Ereignissen  und   Vorgängen   gegenüber   hilflos   fühlen, 

142 


Charakter  und  Gesellschaft 


denen  sie  unter  natürlichen  Bedingungen  und  mit  den  vorhandenen 
Mitteln  der  Technik  ohne  weiteres  gewachsen  wären.  Sie  sind  auf 
der  einen  Seite  an  die  vernichtenden  Forderungen  der  sogenannten 
Kultur  allzugut  angepasst,  doch  sie  büssen  meist  die  Fähigkeit  ein, 
wirkliche  Schwierigkeiten  zu  überwinden,  wenn  Zeit,  Verhältnisse, 
gesellschaftliche  Prozesse  etc.  sie  vor  schwierige  Aufgaben  stellen. 
Man  beachte  etwa  die  üblichen  Gespräche,  die  Menschen  miteinander 
auf  der  Strasse,  in  der  Familie,  in  den  Kaffeehäusern,  auf  den  Markt- 
plätzen etc.  führen.  Was  sie  sprechen,  ist  unglaublich  oberflächlich, 
geht  an  den  wirklichen  Fragen  des  Lebens  und  Seins  vorbei,  verrät 
Kritiklosigkeit  den  stupidesten  Ideologien  gegenüber.  Ja  mehr,  die 
Gegenwart  lässt  keinen  Zweifel  darüber,  dass  der  durchschnittliche 
Mensch  es  nicht  liebt,  wenn  man  ihm  mit  den  ernsten  Lebensfragen 
kommt.  Im  Hintergrunde  ist  deutlich  Angst  zu  verspüren.  Gesichts- 
ausdruck und  Haltung  auf  der.  Strasse  sind  gedrückt,  unlebendig;  sie 
spiegeln  das  Elend  der  Zeit  und  des  Lebens. 

Doch  es  wäre  falsch,  aus  dieser  Oberflächlichkeit  den  Schluss  zu 
ziehen,  den  die  gottgesandten  Führer  von  Millionenvölkern  zu  ziehen 
pflegen,  nämlich  dass  die  Menschen  so  dumm  wären,  dass  sie  sich 
eintrichtern  lassen,  was  immer  man  ihnen  eintrichtern  will.  Die 
gleichen  Menschen,  die  derart  oberflächlich  und  dumm  scheinen,  ent- 
hüllen in  den  analytischen  Behandlungen  regelmässig  Eigenschaften, 
Einstellungen  und  ein  Denken,  die  nicht  selten  mit  denen  grosser 
Denker  konkurrieren  können.  Das  ist  nicht  übertrieben.  Die  allgemeine 
Hemmung  der  Lebensentwicklung  spiegelt  sich  eben  in  den  Hemmun- 
gen der  persönlichen  Ausdrucksfähigkeit  wieder.  Die  Menschen  sind 
nach  aussen  anders  als  nach  innen,  sie  sind  in  guter  freundschaft- 
licher Beziehung  anders  als  im  offiziellen  Leben,  im  Beruf  anders  als 
im  Privatleben, 

Das  Leben,  dem  wir  begegnen,  ist  ein  Ersatzleben.  Das  Buch  »Vier- 
zehn Tage  vor  Frostnächten«  von  Sigurd  Hoel  schildert  dieses  Ersatz- 
leben in  nicht  zu  übertreffender  Weise.  Es  wäre  nur  zu  wünschen, 
dass  die  Literatur  sich  mehr  derartigen  Problemen  des  menschlichen 
Seins  zuwenden  würde. 

Versuchen  wir  nun  zunächst  ganz  allgemein  die  Beziehungen  zwi- 
schen der  ideologischen  Struktur  unserer  heutigen  Gesellschaft  und 
der  psychischen  Struktur  der  Menschen  zu  fassen :  Der  mechanisierten 
Wirtschaft,  diesem  grundlegenden  Kennzeichen  unserer  heutigen  Zi- 
vilisation, entspricht  der  mechanisierte  Mensch.  Der  Typus  dieses 
Menschen  ist  in  der  so  erfolgreichen  Tragikomödie  »Larsen«  korrekt 
erfasst;  der  Eindruck,  den  dieses  Stück  auf  den  Zuschauer  ausübt, 
entspricht  durchaus  der  wirklichkeitsgetreuen  Schilderung  des  öden 
Lebens,  das  der  heutige  Fabrik-  und  Büromensch  von  seinem  16.  bis 
zu  seinem  60.  Lebensjahre  führt. 

Die  Probleme,  die  hier  gemeint  sind,  finden  sich  dort,  wohin  sich 
die  offizielle  Wissenschaft  nur  sehr  ungern  begibt.  Ich  beobachte  in 

143 


Wilhelm   Reich 

meiner  Nachbarschaft  seil  Monaten  folgendes  Kullmhikl:  Gegenüber 
wohnt  ein  junger  Beamter  mit  seiner  Frau  und  einem  kleinen  Kind. 
Jeden  morgen  pünktlich  um  9  Uhr  verlässt  er  sein  Haus.  Vor  der 
Treppe  empfiehlt  er  sich  von  Frau  und  Kind  mit  einem  oberfläch- 
lichen Stirnkuss  und  winkt  ihnen  zu.  Dann  macht  er  5 — 6  Schritte, 
wendet   sich  nach   links  und   macht  wieder  »winke,  winke«.  Wir 

haben  keinen  Grund  daran  zu  zweifeln,  dass  dieser  Mensch  das  Gleiche 
30    Jahre    lang   wiederholen    wird.    Man    fragt    sich,    mittels   welcher 
Mechanismen  ein  Lebewesen  eine  derartige  Automalur  durchzuführen, 
zu  ertragen  und  nicht  zur  Kenntnis  zu  nehmen  vermag.  Die  sexual- 
ökonomische  Klinik  beantwortet  nur  einen  Teil  dieser  Frage.  Sie  gibt 
uns  nur  Auskunft  über  die  Dynamik  und  den  Mechanismus  derartig 
widernatürlichen    Verhaltens.    Sie   sagt   noch   nichts   über   die   gesell- 
schaftliche   Funktion    dieser    Erscheinung    aus.    Dass    die    Menschen 
unserer    Kulturkreise    erkaltet,    bei    lebendigem    Leibe    gestorben,    ge- 
panzert  sind,   ist  ein   höchst   wichtiges   und    interessantes   klinisches 
Phänomen.    Doch  welche  Funktion   erfüllt  dies   in   der  Gesellschaft? 
Die  dialektisch-materialistische  Soziologie  hat  uns  das  Wesen  und  die 
Funktionsweise     der    privaten     Profitwirtschaft    in    eindringlichster 
Weise  vor  Augen  geführt.  Wir  wissen  also,  dass  es  eine   Profitwirt- 
schaft gibt  und  wie  sie  beschaffen  ist,  doch  wie  es  kommt,  dass  die 
Menschen  sie  ertragen   können,  sie  nicht  umzuwälzen   vermögen,  das 
Leiden,   das    ihr   entströmt,  mit   scheinbarer   Ruhe   tragen,    lag   bisher 
nicht   im   Bereiche   ihrer  Fragestellungen.    Die   Menschen   Averden   in 
grossen   Massen   unterdrückt  und   ausgebeutet.    Gewiss,   es   gibt   eine 
Polizei,  die  nicht,  wie   ein   französischer  Prophet  der   Psychoanalyse 
behauptete,  die  Funktion  hat,  ihr  Strafbedürfnis  zu  befriedigen,  son- 
dern sie  von  praktisch  wirksamen  Protesten  abzuhalten.  Die  Polizei  ist 
nur   die   Reserve,   über   die   die   ökonomisch    Interessierten    verfügen. 
Entscheidend  ist  die  Bescheidenheil  und  Kritiklosigkeit  der  charakter- 
lichen Durchschnittsstruktur  der  Menschen.  Von  Kindheit  auf  werden 
sie  zur   Bescheidenheit,   zum   Gehorsam    und   zur   Abbremsung   ihrer 
natürlichen  Triebkräfte  erzogen.  Askese  und  Pflicht  im  Dienste  eines 
sinnlosen    »Altruismus«    beherrschen    die    Ideologie    der    Gesellschaft. 
Diesen  Kernelcmentcn  jeder  reaktionären  Weltanschauung  entspricht 
wieder   eine   Strukturtalsache   im    Menschen,   nämlich   die   Lnstangst, 
die  er  als  Kind  erwarb,  und  das  Unvermögen,  die  Arbeit  anders  denn 
als  Pflicht,  als  Freude  zu  empfinden.  Unsere  charakterlichen  Kennt- 
nisse lassen  keinen  Zweifel  darüber,  dass  Menschen,   die  die  natür- 
liche Freude  an  Betätigung  und  Arbeit  einmal  kennen  und  schätzen 
lernten,    unfähig    werden,    die    heute    übliche    lustlose     Pflichtarheit 
zu  erfüllen,  ohne  sich  innerlich  dagegen  aufzulehnen.  Doch  diese  Auf- 
lehnung wäre   die   erste   Voraussetzung   der    Umwälzung    der    Arbeit 
selbst. 

In  der  gesellschaftlichen  Ideologie  spielt  der  Gegensalz  von  Morali- 
tät  und  Sexualität  eine  entscheidende  Rolle.  Dieser  gesellschaftlichen 

144 


Charakter   und   Gesellschaft 

Ideologie  entspricht  der  Tatbestand,  dass  die  wenigsten  Menschen  der 
heutigen  Kultur  eine  lustvolle  Handlung  begehen  können,  ohne  be- 
wussl  oder  unbewusst  mit  Schuldgefühl  zu  reagieren.  Dem  Gegensatz 
von  Sexualität  und  Moralitüt  in  der  Ideologie  entspricht  der  Gegensatz 
von   Sexualität  und  Moralität  in    der  Struktur. 

Ein  anderes  Beispiel,  das  jedem  Denkenden  wohl  ohne  weiteres 
auffällt,  ist,  dass  die  Ideologie  »Fürs  Vaterland  zu  sterben«  mit  der- 
artiger Pünktlichkeit,  ja  Hingegcbenhcit  von  einer  breiten  Masse  Men- 
schen erfüllt  wird.  Wie  ist  es  möglich,  müssen  wir  uns  fragen,  dass 
eine  so  lebensfeindliche  Forderung  derart  widerspruchslos  akzeptiert 
wird?  Dass  es  derartige  Rufer  gibt,  ist  kein  Problem;  Problem  ist, 
weshalb  talsächlich  Millionen  diesen  Kufen  nachkommen  und  für  ein 
Vaterland,  dessen  Brutalität  und  vernichtende  Lebcnsgcstaltung  ausser 
Frage  steht,  sterben.  Die  übliche  Antwort  lautet:  Die  Menschen  werden 
durch  die  Maschinengewehre  dazu  gezwungen.  Wenn  man  sich  aber 
das  Verhalten  der  Masse  vor  dem  Weltkrieg  und  auch  jetzt  ansieht, 
muss  man  sagen:  Das  kann  nicht  stimmen,  in  den  Menschen  selbst 
wirkt  etwas,  das  den  Rüstungsindustriellen  und  Kriegsspezialisten  die 
Anwendimg  der  Maschinengewehre  erspart.  Versuchen  wir  an  einem 
kleinen  Beispiel  zu  begreifen,  um  was  es  hier  geht. 

Man  stelle  sich  die  Jugend  zwischen  18  und  25  Jahren  in  einem 
kleinen  Orte  irgendwo  auf  der  Welt  vor.  Sie  ist  vereinsamt,  ohne  kul- 
turelle und  materielle  Versorgung,  in  ihren  natürlichen  biologischen 
Bedürfnissen  unbefriedigt,  nach  Geschlechtern  getrennt,  von  der  Ar- 
beit angeödet,  im  Ellernhause  ungeheuer  unterdrückt.  Sie  steht  an 
den  Ecken  und  Strassen  herum,  ergeht  sich  in  dummen  Witzen  und 
in  einer  völlig  widernatürlichen  Art  sexuellen  Interesses.  Sehnsucht 
nach  »dem  grossen  Erlebnis«  muss  zu  einem  zentralen  Bestandteil 
ihrer  Struktur  werden.  Wir  vergessen  nicht,  dass  diese  Sehnsucht 
einen  festen  Boden  in  dem  früher  beschriebenen  Verlangen  nach  Aus- 
lösung von  der  Triebspannung  findet.  Wir  durchleben  jetzt  Zeiten, 
in  denen  sich  die  Ungeheuerlichkeit  dieser  Erscheinungen  unzwei- 
deutig darbietet.  Der  Krieg  steht  vor  der  Tür;  alle  fürchten  ihn;  alle 
sprechen  davon,  doch  alle  haben  den  Eindruck,  dass  man  dagegen 
nichts  unternehmen  könnte;  sie  sind  überzeugt,  dass  er  wie  ein 
Fatum  kommen  muss  und  man  ihm  nicht  entweichen  kann.  Es  darf 
ohne  weiteres  behauptet  werden,  dass  die  Angst  vor  dem  Sterben, 
Verstümmcltwerden  etc.,  gewiss  mächtig  seiner  biologischen  Natur 
nach,  restlos  übertönt  wird  von  den  Formen  der  Verödung  des  Lebens, 
der  Vereinsamung  in  geschlechtlicher  Hinsicht  und  der  daraus  ent- 
springenden Sehnsucht  nach  dem  »grossen  Erleben«.  Italien  bewies, 
welche  Kriegsbegeisterung  dieser  Sehnsucht  entspringen  kann.  Es  ist 
völlig  sinnlos,  derartigen  Tatbeständen  allein  mit  dem  Versuche  zu 
begegnen,  Proklamationen  gegen  den  Krieg  zu  erlassen.  Die  Ergebnisse 
zeigen,  dass  die  breiten  Massen  mehr  oder  minder  nationalistisch  ein- 
gestellt sind,  und  von  der  trockenen  Antikriegspropaganda  nicht  auf- 

145 


Wilhelm  Reich 

gerüttelt  werden.  Es  kommt  nicht  darauf  an,  seine  Antikriegsge- 
sinnung  zu  bekunden,  sondern  im  lebendigen  Leben  der  Menschen 
diejenigen  Kräfte  zu  entbinden,  die  ihrem  Wesen  nach  geeignet 
wären,  die  vernichtende  Rolle  der  unerfüllten  vegetativen  Sehnsucht 
auszuschalten. 

Betrachten  wir  kurz  ein  anderes  Beispiel  aus  der  Pathologie.  Welch 
grosse  Rolle  spielt  doch  der  Alkoholgenuss  im  Leben  der  unterdrück- 
ten Massen.  Die  Funktion  des  Alkohols  im  heutigen  Leben  der  Gesell- 
schaft enthüllt  sich,  wenn  man  die  Voraussetzungen  betrachtet,  aus 
denen  der  Mensch  zum  Alkoholgenuss  getrieben  wird.  Ein  wesent- 
liches Stück  der  charakterlichen  Panzerung  besteht  in  der  Erkaltung 
des  Ich-Gefühls  und  in  einer  panzerartig  gefühlten  Lähmung  der  peri- 
pheren körperlichen  Erregung.  Der  Alkohol  erweitert  die  peripheren 
Gefässe  und  löst  dadurch  vorübergehend  die  innere  Spannung,  ver- 
setzt in  eine  gelöste  Stimmung,  lässt,  wie  man  sagt,  die  Sorgen  ver- 
gessen. Wir  leugnen  nicht,  dass  dabei  die  Munderotik  und  Homo- 
sexualität eine  grosse  Rolle  spielen,  doch  wie  unvergleichlich  bedeut- 
samer ist  die  Tatsache  der  seelischen  Verödung  und  Erkaltung  des 
Massenmenschen,  im  Verhältnis  zu  den  bisher  akademisch  erhobenen 
Tatbeständen.  Wir  finden  sie  in  keiner  wissenschaftlichen  Abhand- 
lung gewürdigt. 

Ein  anderes  Beispiel  ist  die  Wirkung  des  Films.  98%  aller  heu- 
tigen Filme  sind  Liebesfilme.  Sie  sind  sämtlich  nach  folgendem 
Schema  angefertigt:  Im  ersten  Teil  locken  sie  im  Zuschauer  alle  im 
Leben  unerfüllten  Wünsche  hervor  und  befriedigen  sie  illusionär 
durch  Darstellung  auf  der  Leinwand.  Erlebnisse  ausserhalb  der  Ehe, 
Liebesglück  Unverheirateter,  Verspottung  des  Spiessers  etc.  beherr- 
schen den  Beginn  fast  jedes  Stückes.  Doch  ebenso  wie  jeder  Liebes- 
film mit  Sexualbejahung  beginnt,  endet  er  mit  der  Verherrlichung 
der  sexual  feindlichen  Moral.  Wir  können  an  jedem  Film  ausnahmslos 
feststellen,  dass  der  Profitsinn  die  Lustsehnsucht  der  Menschen  genau 
begreift  und  auszubeuten  versteht.  Doch  die  Befriedigung  darf  keine 
wirkliche  sein.  Lust-  und  Lebensverneinung,  die  Weckung  von  Schuld- 
gefühl, die  Darstellung  von  Strafen  für  genossene  Lust  beenden  jede 
derartige  Handlung  und  vergraben  das  Problem  wieder,  das  zunächst 
aufgeworfen  wurde  —  um  viel  Geld  zu  verdienen. 

Wir  dürfen  sagen:  Die  Struktur  der  Menschen  und  ihre  Wider- 
sprüche passen  zur  Struktur  der  gesellschaftlichen  Ideologie  wie  ein 
Rad  in  das  andere  einer  Maschine. 

Der  verselbständigte  Staat  reproduziert  sich  als  Institution  nicht 
etwa  hauptsächlich  durch  seine  Gesetze,  durch  seine  Polizei,  durch 
seine  Bürokratie,  sondern  im  wesentlichen  dadurch,  dass  er  sich  in 
der  charakterlichen  Struktur  der  breiten  Masse  der  Bevölkerung  eine 
Basis  schafft.  Er  schafft  die  politische  Hilflosigkeit  und  das  An- 
lehnungsbedürfnis des  durchschnittlichen  Menschen  mit  Hilfe  der 
patriarchalischen    Erziehung   und    der    Sexualunterdrückung.    Dieser 

146 


Charakter  und  Geseilschaft 


durchschnittliche  Mensch  versteht  von  der  grossen  Politik  überhaupt 
nichts,  er  kennt  nur  sein  kleines  persönliches  Leben  und  auch  dieses 
nur  im  geringsten  Ausmass.  Er  benötigt  Anlehnung,  illusionäre  Be- 
friedigung, Hoffnung,  nie  erfüllte  und  erfüllbare  Ideale,  und  dem  ent- 
spricht der  heutige  Staat  in  seinem  Grundwesen.  Die  psychische 
Struktur  der  Menschen  und  die  politische  ideologische  Struktur  des 
Staates  sind  funktionell  identisch. 

Es  ist  demnach  nicht  so,  dass  das  sogenannte  Bewusstsein  der 
Menschen  bloss  eine  Spiegelung  der  gesellschaftlichen  Prozesse  und 
Tatbestände  ist,  sondern:  Indem  die  Gesellschaft  natürliche  Triebe 
unterdrückt,  sie  in  asoziale  Triebe  verwandelt,  die  eine  moralische 
Bremsung  notwendig  machen  etc.,  schafft  sie  eine  charakterliche 
Struktur,  die  ihr  entspricht  und  in  der  sie  sich  verankern  kann.  Die 
menschliche  Charakterstruktur  ist  also  Ergebnis  der  gesellschaft- 
lichen Einwirkung  und  nicht  umgekehrt  die  Gesellschaft  das  Besultat 
der  psychischen  Struktur. 

Es  sind  nicht  natürliche,  sondern  im  wesentlichen  klassenmässige 
Verhältnisse,  die  sich  in  der  Struktur  des  Menschen  verankern.  Das 
lässt  sich  an  einer  einfachen  Tatsache  demonstrieren: 

Der  deutsche  Fabrikarbeiter  steht  seiner  Struktur  nach  einem 
französischen  Industriearbeiter  viel  näher  und  ebenso  der  deutsche 
Kapitalist  dem  französischen  Kapitalisten,  als  der  französische  Ar- 
beiter dem  französischen  Kapitalisten  und  der  deutsche  Arbeiter  dem 
deutschen  Kapitalisten.  Ich  hatte  das  Glück,  oder,  wenn  man  will, 
das  Pech,  in  vielen  verschiedenen  Ländern  Menschen  charakterlich 
zu  durchforschen  und  zu  finden,  dass  das,  was  sie  natürlich  unter- 
scheidet, an  Bedeutung  und  psychischem  Wert  restlos  hinter  dem  ver- 
schwindet, was  sie  strukturell  gemeinsam  haben.  Wodurch  unter- 
scheidet sich  denn  den  Lebensgesetzen  nach  ein  weisses  Baby  von 
einem  schwarzen?  Entwickeln  und  verändern  sich  nicht  beide  grund- 
sätzlich in  der  gleichen  Weise?  Das,  was  beide  an  kindlicher  Motorik, 
kindlichem  Denken,  kindlicher  Weltauffassung,  kindlicher  Sexualität 
etc.  gemeinsam  haben,  ist  ungleich  wichtiger  und  bedeutungsvoller  als 
das,  was  sie  durch  ihre  spezifischen  Kasseeigenschaften  unterscheidet. 
Nur  solche  Wissenschaftler,  die  den  Anspruch  auf  diesen  Namen 
längst  verwirkt  haben,  können  es  fertigbringen,  derartige  Tatbestände 
nicht  nur  zu  übersehen,  sondern  mit  daran  zu  helfen,  einem  jeder 
Vernunft  spottenden,  irrationalen  Gedankengebäude  die  Vernichtung 
des  Lebens  zu  erleichtern. 

Der  heutige  bürgerlich  bzw.  patriarchalisch  erzogene  Mensch  be- 
findet sich  nun  in  einem  ständigen  und  unter  gewöhnlichen  Umstän- 
den unlösbaren  Konflikt  zwischen  seiner  psychischen  Struktur  und 
seinem  gesellschaftlichen  Sein.  Gelingt  es  therapeutisch,  den  Menschen 
ihre  natürliche  Beziehung  zu  ihren  Trieben,  zu  ihrem  Ichgefühl,  zu 
ihrer  Lust  und  zu  ihrer  Umgebung  wiederzugeben,  indem  man  zu- 
nächst die   Bremsung  der  natürlichen  Lebenstriebe  zerschlägt,   dann 

147 


Wilhelm  Reich 

erübrigt  sich  automatisch  die  Notwendigkeit  der  moralischen  Regu- 
lierung. Dieser  Tatbestand  pflegt  ebenso  schwer  verstanden  zu  werden 
wie  er  einfach  ist.  Ein  oft  gebrauchtes  Beispiel  möge  neuerdings  der 
Erläuterung  dienen:  Wenn  man  hungert,  stellt  sich  automatisch  der 
Impuls  zum  Stehlen  ein;  wenn  man  stiehlt,  droht  der  Kerker  und 
daher  pflegt  man  den  Stehlimpuls  zu  bremsen.  Ist  der  Betreffende 
satt  geworden,  dann  fällt  der  Impuls  zum  Stehlen  von  vornherrein 
weg;  fehlt  der  Impuls,  dann  bedarf  es  auch  keiner  Bremsung.  Es  ist 
leicht,  dieses  Beispiel  auf  die  komplizierteren  Verhältnisse  der  Sexuali- 
tät zu  übertragen.  Wenn  es  gelingt,  den  natürlichen  Sexualitätsan- 
sprüchen wieder  Geltung  zu  verschaffen  und  ihre  Befriedigung  zu 
sichern,  dann  fällt  der  Antrieb  zur  Bildung  asozialer  Triebregungen 
und  mithin  auch  die  Notwendigkeit  der  moralischen   Bremsung  weg. 

Wer  sexuell  aus  inneren  oder  äusseren  Gründen  unbefriedigt  lebt, 
leidet  dauernd  etwa  an  Vergewaltigungsphantasien,  an  perversen 
Regungen  etc.;  erhält  er  die  Fähigkeit  der  natürlichen  Befriedigung, 
dann  verschwinden  diese  Impulse.  Mit  dem  Verschwinden  der  patho- 
logischen Impulse  entfällt  auch  die  Notwendigkeit  ihrer  moralischen 
Bremsung.  Derart  lässt  sich,  zunächst  nur  individuell,  der  Gegensatz 
von  Trieb  und  Moral  aufheben.  Die  moralische  Regulierung  wird 
durch  eine  völlig  andersartige  Regelungsart  des  psychischen  Organis- 
mus ersetzt,  die  ich  die  sexualökonomische  nenne.  Hat  man  diese 
Tatbestände  einmal  begriffen,  dann  reihen  sie  sich  allen  andern 
Selbstverständlichkeiten  an;  doch  es  gibt  dabei  eine  Schwierigkeit, 
die  nicht  zu  sehen  und  nicht  zu  überwinden  viele  der  heutigen  Wissen- 
schaftler alle  Mühe  aufwenden:  Schon  in  der  Therapie  des  Einzelnen 
stossen  wir  auf  die  Schranken,  die  die  Gesellschaft  dem  Triebleben 
setzt.  Wenn  Sie  etwa  ein  Mädchen  von  17  oder  18  Jahren,  die  an  der 
Unterdrückung  ihrer  Pubertätssexualität  erkrankte,  zum  Bewusstsein 
ihrer  Notwendigkeiten  bringen,  dann  gerät  sie  sofort  in  Konflikt  mit 
allem,  was  auf  »gute  Moral  und  Sitte«  hält.  Die  wenigsten  bilden  sich 
eine  korrekle  Vorstellung  von  den  sozialen  Schwierigkeiten,  die  einer 
konsequenten  charakterlichen  Therapie  heute  im  Wege  stehen.  Die 
Perspektiven  des  Umbaus  der  psychischen  Struktur  vom  moralischen 
Regulierungsprinzip  zum  sexualökonomischen  sind  gross.  Doch  man 
darf  sich  bezgl.  ihrer  Durchführung  keinen  Illusionen  hingeben.  Die 
massenmässige  Anwendung  dieses  Umbaus  auf  Grund  einer  konsc: 
quenten  lustbejahenden  sexuellen  Hygiene  ist  derzeit  unmöglich.  Das 
ist  leicht  zu  begreifen,  denn  es  fehlt  jede  Voraussetzung  dazu. 

Ich  habe  darzustellen  versucht,  welche  Bedeutung  die  heutige 
charakterliche  Struktur  der  Menschen  für  die  heutige  gesellschaftliche 
Formation  hat.  Versucht  man  die  Struktur  der  Menschen  mit  diesen 
oder  jenen  Mitteln  zu  verändern,  dann  wehrt  sich  die  Gesellschaft 
mächtig.  Sie  wehrt  sich  wie  ein  Organismus,  an  dessen  Lebensnerv 
man  greift.  Es  muss  jedem  aus  seiner  fachlichen  Arbeit  klar  werden, 
dass  eine   allgemeine   Lösung   der  krankhaften   menschlichen    Wider- 

148 


Charakter  und  Gesellschaft 

spüche  die  Lösung  der  heutigen  gesellschaftlichen  Widersprüche,  d.h. 
ihren  Umbau  zur  ersten  Voraussetzung  hat. 

Das  Ineinandergreifen  von  Gesellschaftlichem  und  Charakter- 
lichem reicht  noch  weiter.  Die  gesellschaftlichen  Prozesse  sind  wider- 
sprüchlich. Auf  dem  Gebiete  der  Wirtschaft  steht  Bremsendem,  Kon- 
servativem, Vorwärtstreibendes  und  Vorwärtswollendes  gegenüber, 
etwa  den  nationalen  Zollgrenzen  die  Weltwirtschaft.  Die  kollektive 
Betriebsarbeit  ist  gewiss  ein  grosser  Fortschritt,  doch  die  individuelle 
Lebensweise  und  die  individuelle  Profitwirtschaft  widersprechen  ihr 
in  jedem  Punkte.  Man  könnte  beliebig  fortfahren.  In  der  Struktur 
treffen  wir  ebenfalls  Vorwärtslreibendes  und  Konservatives,  Rück- 
schrittliches. Dem  Willen  zum  Kollektiv,  zum  lebendigen  Leben,  zum 
Glück,  zur  unmittelbaren  menschlichen  Beziehung,  zur  freudvollen 
produktiven  Arbeit,  stehen  nicht  nur  die  gesellschaftliche  Struktur, 
sondern  auch  im  eigenen  Innern  die  Angst  vor  dem  Chaos,  Gefühle 
der  Unfähigkeit,  psychische  Erstarrung,  autoritäre  Hörigkeit  etc.  ent- 
gegen. Der  Konservativismus  in  der  Gesellschaft  lebt  im  wesentlichen 
von  der  Hemmung  in  den  Menschen,  lebt,  wie  etwa  die  Oxfordbewe- 
gung und  wie  alles  Mystische  und  Reaktionäre  im  Leben  von  der 
vegetativen  Energie,  die  sich  auswirken  will  und  nicht  kann,  darum 
sich  in  widernatürlichen  und  lebensschädlichen  Bahnen  ergiesst  und 
lebensfeindlich  ausgenützt  wird.  Im  Gegensatz  dazu  steht  das  Prinzip 
der  sozialistischen  Planwirtschaft,  der  wirtschaftlichen  Ordnung,  die 
die  Grundlage  der  vollen  Lebensbejahung  für  die  Masse  darstellt. 
Wenn  ich  den  Sozialismus  richtig  verstanden  habe,  dann  gehört  zu 
seinem  Ziel  die  unmittelbare  Beziehung  der  Menschen  zueinander,  die 
Vermeidung  der  Abbiegung  des  Lebens,  Förderung  der  natürlichen 
Entfaltung  der  vegetativen  Energie.  Der  gesellschaftliche  Prozess 
setzt  nur  den  allgemeinen  Naturprozess  fort. 

Die  Masse  der  Menschen  ist  nicht  nur  »passiv«,  nicht  nur  »dumm 
und  hörig«,  sie  pendeln  in  den  schweren  Widersprüchen  zwischen 
Lebensangst,  Oberflächlichkeit,  Scheindummheit,  Kritiklosigkeit  auf 
der  einen  Seite  und  tiefem,  wirklichen  Verständnis  der  Lebensnot- 
wendigkeiten auf  der  anderen.  Jeder  heutige  Mensch  trägt  diese  Dop- 
pelnatur in  sich,  und  die  sozialistische  Bewegung  kann  keine  wich- 
tigere Aufgabe  haben  als  die  positiven  Seiten  dieses  Widerspruchs,  als 
Lebensnotwendigkeit  bewusst  zu  machen  und  zur  Entfaltung '  zu 
bringen. 

In  diesem  Zusammenhange  möchte  ich  abschliessend  einige  Worte 
über  die  Aufgabe  der  Naturwissenschaftler  sagen.  Wir  verdanken 
Marx  eine  sehr  einfache  Erklärung  des  Begriffs  »radikal«.  Radikal- 
Sein  bedeutet  nichts  anderes  als  die  Dinge  »an  der  Wurzel  fassen«. 
Dies  ist  die  Aufgabe  der  Naturwissenschaftler.  Jede  Wissenschaft  ist, 
sofern  sie  sich  ernst  nimmt  und  ihre  Aufgabe  erfüllt,  an  sich  radikal. 
Streng  genommen  gibt  es  gar  keine  reaktionären  Wissenschaften.  Das, 
was    sich    da    Wissenschaft    nennt    und    gleichzeitig    im    reaktionären 

149 


Unser   Glückwunsch   an   Freud 

Dienste  stellt,  entpuppt  sich  bei  genauer  Betrachtung  als  Nicht- 
Wissenschaft,  als  Geisllosigkcil,  Mystik,  als  Aberglaube.  Vom  Wissen- 
schaftler und  von  der  Wissenschaft  sollte  garnicht  verlangt  werden, 
dass  sie  irgendwelche  politischen  Bekenntnisse  ablegen;  doch  sie  müs- 
sen sich  zum  Radikalsein  bekennen  und  den  Dingen  wir/dich  auf  den 
Grund  gehen.  Die  sozialistische  Weltanschauung  ist  die  wissenschaft- 
liche Weltanschauung.  Betreibt  man  die  Wissenschaft  korrekt  und 
konsequent,  dann  befindet  man  sich,  ob  man  will  oder  nicht,  ob  man 
es  weiss  oder  nicht,  mitten  im  Strom  der  internationalen  revolutio- 
nären Bewegung.  Die  Behinderung  der  wissenschaftlichen  Arbeit  von 
heute  ist  ungeheuerlich.  Die  heutige  Zeil  ist  spezifisch  gekennzeichnet 
durch  Mystik,  Hörigkeit  und  Blindheit  in  der  breiten  Masse  der  Be- 
völkerung. Die  Wissenschaft  ist  in  grosser  Gefahr,  hunderte  von  For- 
schern mussten  Deutschland  verlassen,  weil  sie  Naturwissenschaftler 
sind.  Die  wenigsten  hatten  etwas  mit  der  sozialistischen  Bewegung 
zu  tun,  doch  sie  waren  Naturwissenschaftler.  Wenn  Wissenschaftler 
auf  der  Flucht  sind  und  dem  irrationalen  Denken  und  Handeln  nicht 
mit  Erkenntnis  und  Tat  Einhalt  geboten  wird,  dann  werden  sich  sehr 
bald  noch  mehr  auf  die  Flucht  begeben.  Vorsichtig  sein  nützt  nichts. 
Es  zeigte  sich,  dass  auch  solche  in  die  Flucht  gejagt  wurden,  die  die 
Konsequenzen  ihrer  Ansichten  nicht  zu  Ende  zu  denken  wagten.  Dann 
doch  lieber  konsequent  sein.  Die.  absolute  Unbekümmertheit  und  die 
strikte  Weigerung,  sich  von  irgendwoher  Schranken  in  der  Forschung 
auferlegen  zu  lassen,  ist  die  einzig  korrekte  sozialistische  Aufgabe,  die 
der  Naturwissenschaftler  zu  erfüllen  hat. 

Der  Krieg,  der  vor  der  Tür  steht,  wird  unendlich  viel  umbauen  und 
heule  unvorstellbare  Umwälzungen  zustande  bringen.  Wir  können  als 
Wissenschaftler  derzeit  nichts  Besseres  tun,  als  alles  für  die  Zeit  vor- 
zubereiten, wo  der  grosse  Umbruch  kommt.  Soviele  bemühen  sich 
darum,  immer  bessere  und  treffsichere  Todesstrahlen  zu  erfinden; 
hoffen  wir,  dass  die  Ereignisse  es  zustandebringen  werden,  die  Wissen- 
schaftler zu  bewegen,  endlich  nach  den  Lebensstrahlen  zu  suchen. 

Wir  müssen  parat  und  gerüstet  sein,  wenn  eine  rationelle  Ordnung 
des  Lebens  uns  anfordern  sollte,  wenn  alle,  die  arbeiten  und  ihr 
Leben  selbst  bestimmen  werden,  uns  benöligen. 


Unser  Glückwunsch  an  Freud 

Wenn  diese  Zeilen  die  öffentlichkeit  erreichen,  wird  der  Lärm  der 
Feiern  verklungen  sein  und  die  Gratulanten  werden  auf  den  neun- 
zigsten und  —  wir  hoffen  es  mit  ihnen  —  den  hundertsten  Geburls- 
tag Sigmund  Freuds  warten,  um  diesem  Manne  neuerdings  ihre  Ehr- 
erbietung zu  bekunden.  Es  werden  wie  diesmal  viele  Artikel  er- 
scheinen, die  die  Daten  der  »Geschichte  der  Psychoanalyse«  aus   der 

150 


Unser  Glückwunsch   an   Freud 

»Selbstdarstellung«  Freuds  sammeln  und  der  breiten  Öffentlichkeit 
vorlegen  werden.  Andere  werden  wie  diesmal  die  Hauptgedanken  der 
Freudschen  Lehre  darlegen  und  mit  mehr  oder  weniger  Überzeugung 
von  ihrem  revolutionären  Charakter  sprechen.  Dies  ist  erfreulich  und 
notwendig. 

Uns  musslen  diese  Feiern  Anlass  zu  sehr  ernsthaften  Überlegungen 
werden.  So  weit  die  Äusserungen  der  Well  zugänglich  waren,  zeigte 
sich  mit  unzweifelhafter  Gewissheil,  dass  an  keiner  Stelle  an  das 
Wesentliche  des  Problems  »Freud  und  seine  Umwelt«  gerührt  wurde. 
Es  ist  noch  nicht  an  der  Zeit,  in  ausführlicher  Weise  darzustellen, 
worin  sich  die  Schicksalsgemeinschaft  der  Psychoanalyse  von  1895 
bis  1920  und  der  so  jungen  Sexualökonomie  und  der  noch  jüngeren 
Scxpol-Bewegung  ausdrückt.  Doch  der  Anlass  des  achtzigsten  Geburts- 
tags Sigmund  Freuds  darf  nicht  vorübergehen,  ohne  korrekt  aus- 
gedeutet zu  werden.  Es  ist  unerlässlich,  hervorzuheben,  was  eine  ganze 

Welt  verschwieg. 

Am  sechsten  Mai  1926  feierten  die  Mitglieder  des  Wiener  psycho- 
analytischen Kreises  den  70.  Geburtstag  Freuds.  Es  gab  viele  Be- 
teuerungen samt  dazugehörigen  Gratulanten,  Blumen  und  Geschenken. 
Sigmund  Freud  hielt  eine  kurze  Ansprache  an  die  anwesenden  Schü- 
ler, die  unvergesslich  bleiben  wird;  niemand  wagte,  sie  der  Welt  mit- 
zuteilen. Freud  warnte.  Man  dürfte  sich  nicht  täuschen  lassen.  Die 
Lobpreisungen  bewiesen  garnichts.  Die  Welt  hätte  die  Lehre  nicht 
akzeptiert.  Sie  stünde  nach  wie  vor  feindselig  dazu.  Einige  Jahre  vor- 
her hatte  Freud  das  Gleiche  ausgedrückt,  als  er  schrieb,  die  Well 
akzeptierte  hier  und  dort  die  Psychoanalyse,  um  sie  zu  zerstören. 

Wir  stellen  uns  voll  und  ganz  auf  den  Standpunkt  Freuds  vom 
6.  Mai  1926.  Eine  Umschau  in  der  Welt  und  ihren  wichtigsten  Institu- 
tionen belehrt  uns,  dass  es  heute  schlimmer  aussieht  als  vor  zehn 
Jahren.  Wir  dürfen  keinen  Augenblick  versäumen,  auf  der  Hut  zu 
sein,  denn  das  Schicksal,  das  ursprünglich  der  Psychoanalyse  zuteil 
wurde,  bedroht  unsere  Arbeit  in  hundertfach  verschärften  Ausmassen. 
Sich  über  dieses  Schicksal  ins  klare  zu  kommen,  ist  die  Voraussetzung 
nicht  nur  der  Bewahrung  der  historischen  Gemeinschaft  mit  der 
Lehre  Freuds,  sondern  auch  der  eigenen  korrekten  Arbeit.  Wir  er- 
leben momentan  eine  Periode  tötlichen  Schweigens  der  akademischen 
und  massgebenden  Well.  Doch  es  melden  sich  bereits  Anzeichen  einer 
Methode  wohlwollender  Vernichtung.  Die  Sexualökonomie  wird  in 
eine  Reihe  mit  den  Ablegern  Jungs,  Adlers,  Stekels  gestellt.  Dummheit 
und  Kritiklosigkeit  sind  grenzenlos,  ebenso  wie  Bösartigkeit.  Wer  die 
Geschichte  der  psychoanalytischen  Bewegung  kennt,  vermag  auf  den 
ersten  Blick  den  Unterschied  zu  sehen.  Alle  bisherigen  Abzweigungen 
von  der  Lehre  Freuds  kennzeichnen  sich  durch  Verneinung  der 
Sexualität.  Für  Jung  wurde  die  Libido  ein  verwaschener,  nichtssagen- 
der Allseelenbegriff,  die  beste  Vorbereitung  für  die  spätere  Gleich- 
schaltung im   dritten    Reich.  Adler   ersetzte   die   Sexualität    durch    den 

151 


Unser   Glückwunsch   an   Freud 

Willen  zur  Macht,  Rank  verleugnete  die  Existenz  der  kindlichen 
Sexualität.  Die  Sexualökonomie  dagegen  knüpfte  gerade  an  denjenigen 
Kernelementen  der  Freudschen  Lehre  an,  die  ursprünglich  die  Wut 
der  Welt  entfacht  hatten.  Sie  entwickelte  die  Orgasmusthcoric,  die  sie 
Vergehens  dem  psychoanalytischen  Lehrgebäude  als  organisch  dazu- 
gehörig einzuverleiben  versuchte.  Sie  präzisierte  die  Lehre  von  den 
prägenitalen  Sexualtrieben  des  Kindes,  legte  feste  Fundamente  für 
eine  Charakterlehre,  die  den  Scxualprozess  als  deren  Kernstück 
voraussetzt.  Die  charakleranalytische  Technik  erfordert  die  volle 
Anerkennung  der  Gesetze  der  sexuellen  Ökonomie.  Man  könnte  noch 
reichlich  mehr  anfügen,  um  zu  zeigen,  weshalb  die  Lehre  der  Sexual- 
ökonomie heute  das  alte  Schicksal  der  Psychoanalyse  zu  spüren  be- 
kommt. Und  sie  muss,  wenn  sie  sich  ernst  nehmen  will,  alles  hin, 
um  die  jüngsten  Schicksale  der  Psychoanalyse,  so  laut  die  Welt  auch 
Begeisterung  vortäuschen  mag,  zu  vermeiden. 

Es  gibt  heute  keine  offizielle  Institution  der  Welt,  sei  es  auf  dem 
Gebiete  der  Pädagogik,  der  Psychiatrie  etc.,  die  sich  Freuds  um- 
stürzende Anschauungen  ernsthaft  zu  eigen  gemacht  hätte.  An 
welcher  Irrenanstalt  wird  in  systematischer  Weise  die  Verursachung 
von  Geisteskrankheiten  durch  die  Schädigung  des  frühkindlichen 
Sexuallebens  durchforscht?  An  welcher  Stelle  akademischer  Natur 
wird  der  reiche  Schatz  analytischen  Wissens,  analytischer  Forschung 
gepflegt,  in  seiner  unendlichen  Überlegenheit  anerkannt?  An  welcher 
Stelle  hat  sich  die  umstürzende  Erkenntnis  Freuds  konkret  aus- 
gewirkt? Wer  würde  es  zuwegebringen,  auf  der  einen  Seite  seiner 
Überzeugung  von  der  Grösse  des  Freudschen  Werkes  laut  Ausdruck 
zu  geben  und  sich  dann  mit  der  tröstenden  Auskunft  zu  begnügen,  dass 
ja  Analytiker  an  Universitäten  berufen  sind  und  dort  lehren?  Nie- 
mand würde  sich  ein  derartiges  Armutszeugnis  ausstellen.  Wer  glaubt, 
dass  in  einem  Amerika  von  heute  korrekte  Sexualtheorie  gelehrt 
werden  darf? 

Wie  sieht  es  in  der  psychoanalytischen  Bewegung  selbst  aus? 
Die  englische  Schule  ist  ein  sektiererischer,  weltabgewandtcr,  jedes 
Kontaktes  mit  dem  lebendigen  Leben  barer  Kreis.  Die  Berliner  deut- 
sche Vereinigung  versuchte  die  Gleichschaltung  und  ging  kaputt.  Sie 
steht  vor  der  Auflösung.  Die  ungarische  Gruppe  besteht  nach  den  Be- 
richten fast  nur  mehr  aus  Hausanalytikern  reicher  Leute,  die  weder 
eine  wissenschaftliche  Entwicklung  aufweisen,  noch  eine  ernste  Per- 
spektive haben.  Die  Wiener  Vereinigung  steht  unter  dem  Drucke  der 
politischen  Reaktion  und  wird  von  einigen  wissenschaftlich  nicht 
ernstzunehmenden  Todeslriebtheoretikern  beherrscht.  Die  französische 
Gruppe  sieht  trostlos  aus.  Hat  die  sozialistische  Bewegung  die  Psycho- 
analyse akzeptiert?  Hier  und  dort  in  Worten,  weil  Freud  von  der 
politischen  Reaktion  gegen  seinen  Willen  notabene  ins  Lager  des 
Kulturbolschewismus  versetzt  wurde.  In  der  Sowjetunion  ist  die 
Psychoanalyse  seit  Jahren  ohne  jede  Entwicklung.  Es  gab  so  viel 
152 


Unser  Glückwunsch  an  Freud 

Gerede  über  die  Bedeutung  Freuds  für  die  Arbeiterbewegung.  An 
welcher  Stelle,  fragen  wir,  ist  diese  Bedeutung  sozialistische  Praxis 
geworden?  Nirgends!  Sozialisten  empfehlen  die  Literatur  reaktionärer 
Analytiker  der  Arbeiterschaft  als  Leitfaden  »sozialistischer  Psycho- 
logie«, wie  etwa  einen  Artikel  des  Beaktionärs  Boheim  in  einer  ungari- 
schen sozialistischen  Zeitschrift.  Bevolutionäre  Sozialisten  publizieren 
Artikel  zu  Freuds  Geburtstag,  verraten  aber  komplette  Unwissenheit 
über  den  heissen  Kampf,  der  seit  zehn  Jahren  innerhalb  der  analyti- 
schen Bewegung  um  die  Problematik:  Arbeiterbewegung  und  Psy- 
chologie geführt  wurde. 

Im  Lehrgebäude  Freuds  gibt  es  sehr  verschiedenartige  Fest- 
stellungen. Neben  der  Lehre  von  der  frühkindlichen  Sexualität  die 
vom  »Primärvorgang«  im  Unbewussten;  neben  der  Lehre  von  der 
Triebverdrängung  die  vom  Todestrieb;  neben  der  Aussage  über  die 
Determiniertheit  des  psychischen  Geschehens  die  über  die  »kulturelle 
Triebverdrängung«  etc.  etc.  Die  Welt  schreit  nach  Klarheit.  Es  gibt 
Aussagen,  die  wir  nie  mehr  entbehren  können,  andere,  die  nebensäch- 
lich sind,  schliesslich  solche,  die  verwirren.  Man  möchte  meinen,  dass 
eine  wissenschaftliche  Vereinigung,  die  die  weltgeschichtliche  Be- 
deutung def  Psychoanalyse  so  sehr  beteuert,  sich  der  schlagkräftigen, 
zukunftssichernden  Elemente  der  Lehre  bemächtigt;  das  Gegenteil  ist 
der  Fall.  »Weg  von  der  Hauptsache,  wir  lieben  die  Nebensache«  ist 
die  unausgesprochene  Parole.  Sie  wird  am  getreuesten  von  einigen 
sich  »Sozialisten«  nennenden  Psychoanalytikern  befolgt;  sie  meiden 
die  »Hauptsache«  wie  die  Pest,  denn  dann  stünden  sie  unweigerlich 
und  augenblicklich  mitten  in  dem  Kampf,  den  wir  führen  und  den 
sie  totschweigen.  Sie  tun  alles,  um  klargestellte  Fronten  im  Kultur- 
kampf zu  verwischen.  Sie- sind  gefährlich  wie  die  Prediger  der  Klas- 
senversöhnung. Sie  usurpieren  Lehrsätze  und  sabotieren  deren  Sinn. 
Vor  ihnen  muss  gewarnt  werden! 

Der  Niedergang  der  psychoanalytischen  Bewegung,  ihre  Anpassung 
an  die  herrschenden  Seinsverhältnisse  und  demzufolge  die  Sterilität 
ihrer  heutigen  Fragestellungen  sollen  nicht  Anlass  persönlichen  Vor- 
wurfs sein.  Wir  haben  es  gelernt,  die  Abhängigkeit  der  Wissenschaft 
und  ihrer  Entwicklung  von  den  politischen  Prozessen  zu  beachten. 
Wir  bekannten  uns  daher  zur  politisch  bewussten  Wissenschaft.  Wir 
dürfen  sagen,  dass  wir  die  umwälzenden  Erkenntnisse  der  Lehre 
Freuds  in  sichere  Obhut  genommen  haben.  Das  verpflichtet,  sich 
Kechenschaft  über  die  aktuelle  Situation  und  die  Möglichkeiten  zu 
geben,  die  den  weiteren  Verlauf  unserer  Arbeit  bestimmen  werden. 

Die  allgemeine  weltpolitische  Situation,  in  der  wir  mit  einer  allen 
heutigen  Institutionen  und  offiziellen  Anschauungen  widersprechen- 
den Sexualitätstheorie  arbeiten,  verspricht  Schlimmes.  Diese  Welt 
kann  die  Früchte  unserer  Arbeit  weder  anerkennen  noch  ausnützen. 
Haben  doch  gerade  wir  nachweisen  können,  welchen  Nutzen  die  poli- 
tische Reaktion  aus  dem  irrationalen  Fühlen  und  Denken  der  Masse, 

153 


Unser  Glückwunsch  an  Freud 

ihrer  Glückssehnsucht  und  gleichzeitigen  Sexualscheu  zieht.  Die 
verschiedenen  sozialistischen  Parteien  sind  teils  in  altem  ökonomisti- 
schem  Denken  befangen,  teils  derart  mit  den  ungeheuren  Problemen 
der  Jetztzeit  beschäftigt,  dass  sie  gar  nicht  die  Möglichkeit  haben,  uns 
anders  als  zunächst  noch  staunend  oder  abweisend  gegenüberzutreten. 
Dennoch  ist  manches  in  diesen  schweren  Jahren  erreicht  worden. 
Doch  das  Erreichte  ist  weit  entfernt  von  dem,  was  zur  praktischen 
Durchführung  unserer  Aufgaben  unerlässlich  ist.  Neben  diesen  gesell- 
schaftlichen Schwierigkeiten  verdient  wohl  die  Behinderung  der  Ar- 
beit durch  unsere  eigene  Struktur  die  allcrgrösste  Aufmerksamkeit. 

Unsere  psychologische  Kritik  Freuds  setzte  mit  der  klinischen 
Feststellung  ein,  dass  das  unbewusste  Inferno  des  Menschen  nichts 
Absolutes,  Ewiges,  Unvergängliches  ist;  dass  eine  bestimmte  gesell- 
schaftliche Situation  und  Entwicklung  die  heutige  unbewusste  Struk- 
tur der  Menschen  erzeugt  hat  und  sich  durch  sie  erhält.  Wir  erkannten 
die  Berechtigung  der  Angst  vor  dem  »sexuellen  Chaos«,  doch  wir  be- 
grenzten sie  auf  historische  Perioden  und  überzeugten  uns  durch 
unsere  therapeutische  Arbeit,  dass  es  eine  andere  Art  der  Regelung 
menschlichen  Zusammenseins  geben  kann.  Wir  haben  uns  nie  der 
Illusion  hingegeben,  dass  das  Böse  im  Menschen  von  heute- auf  morgen 
zu  verändern  wäre.  Wir  gaben  uns  Rechenschaft  über  die  ungeheuren 
Schwierigkeiten,  die  eine  politische  Psychologie  zu  gewärtigen  hat, 
wenn  sie  sich  vornimmt,  die  Umwälzung  der  menschlichen  Struktur 
durchzusetzen.  Wir  selbst,  die  wir  uns  derartige  Ziele  gesetzt  haben, 
sind  nur  allzusehr  den  Schwächen  unserer  Struktur  unterworfen.  Wir 
haben  es  nicht  leicht,  mit  ihr  fertig  zu  werden,  um  besser  gerüstet 
zu  sein,  den  Wirkungen  des  Irrationalen  unserer  Mitmenschen  korrekt 
zu  begegnen. 

Die  Psychoanalyse  ist  eine  Wissenschaft,  die  einmal  an  den  Quellen 
des  Lebens  arbeitete.  Dass  sie  sich  ihrer  politischen  Natur  nicht  be- 
wusst  wurde,  trug  ganz  wesentlich  zur  Katastrophe  bei.  Daraus  zogen 
wir  den  korrekten  Schluss:  Eine  Wissenschaft,  die  das  lebendige 
Leben  selbst  zum  Gegenstand  ihrer  Forschung  hat,  muss  in  einer 
reaktionären  Umwelt  sich  entweder  unterwerfen  und  sich  selbst  un- 
treu werden,  oder  aber  sie  muss  sich  organisieren,  d.  h.  sich  die  Or- 
gane schaffen,  die  sie  in  der  Zukunft  sichern. 

Die  marxistische  Wirtschaftslehre  organisierte  sich  politisch.  Auf 
dem  Gebiete  der  politischen  Ökonomie  weckt  die  politische  Organisie- 
rung der  Wissenschaft  kein  Erstaunen.  Anders  auf  anderen  Gebieten. 
Hier  hat  die  Illusion  von  der  unpolitischen  Wissenschaft  der  Klarheit 
viel  geschadet.  Die  Wissenschaft  vom  Geschlechtsleben  der  Menschen 
ist  an  sich  politisch,  ob  sie  will  oder  nicht,  daher  muss  sie  die  Kon- 
sequenz ziehen  und  sich  zu  ihrer  politischen  Natur  bekennen.  Aus 
dem  politischen  Bekenntnis  folgt  die  Notwendigkeit  der  Organisation. 
Der  Schatz  an  Erkenntnissen  wird  nicht  mehr  irgendwelchen  Stadien 
gesellschaftlicher  Entwicklung  ausgesetzt,  sondern  eingereiht  in  die- 

154 


Unser  Glückwunsch  an  Freud 


jenige  politische  Bewegung,  die  sich  die  Durchführung  der  wissen- 
schaftlichen, rationalen  Lenkung  der  Gesellschaft  zum  Ziele  setzte. 
Man  mag  das  Wuchern  des  irrationalen  Denkens  innerhalb  der  so- 
zialistischen Bewegung  mit  Sorge  verfolgen,  es  steht  ausser  Frage, 
dass  die  naturwissenschaftliche  Psychologie  und  die  korrekte  Sexual- 
wissenschaft ihren  Platz  einzig  in  dieser  Bewegung  haben.  Daran  wird 
niemand  zweifeln,  der  die  Entwicklung  des  Mystizismus  in  Deutsch- 
land und  seinen  Einfluss  auf  die  naturwissenschaftliche  Forschung 
verfolgt  hat.  Wir  können  heute  nicht  wissen,  in  welchen  Formen,  sich 
die  Organisierung  unserer  wissenschaftlichen  Arbeit  in  der  breiten 
Masse  der  Bevölkerung  vollziehen  wird.  Doch  an  der  Notwendigkeit, 
sich  eine  Massenbasis  zu  schaffen,  ist  nicht  zu  zweifeln.  Das  wird  nicht 
nur  ein  Schutz  gegen  reaktionäre  Einflüsse  von  aussen  her  sein, 
sondern  auch  uns  selbst  vor  Kompromissen  mit  der  feindlichen  Um- 
welt bewahren.  Wenn  man  ohne  sozialen  und  politischen  Einfluss 
dasteht,  dann  erweist  sich  die  Umwelt  als  die  stärkere  Macht.  Haben 
jedoch  die  Menschen,  auf  die  es  ankommt,  den  Wert  einer  wissen- 
schaftlichen Arbeit  für  ihr  Sein  und  ihre  Zukunft  erfasst,  dann  er- 
leichtern sie  den  Kampf  und  verringern  den  Zwang  der  feindlichen 
Welt.  Niemand  kann  seiner  selbst  sicher  sein,  natürlich  auch  wir 
nicht.  Wenn  wir  in  einer  Zeit,  die  günstig  war,  etwa  die  Notwendig- 
keit des  befriedigenden  Liebesfebens  in  der  Pubertät  vertreten  haben, 
so  könnte  eine  andere  Zeit  es  zuwegebringen,  uns  von  dieser  Behaup- 
tung zu  trennen  und  sie  vielleicht  sogar  in  das  Gegenteil  zu  verkehren. 
Wenn  aber  eine  genügend  grosse  Masse  von  Jugendlichen  unsere 
Lehre  über  die  Pubertät  in  sich  aufgenommen  hat  und  für  sie  ein- 
zutreten bereit  ist,  dann  bleibt  uns  ein  Rückzug  erspart.  Unsere 
wissenschaftliche  Arbeit  wird  ihrer  Bestimmung  zugeführt.  Dieses 
Beispiel  genüge,  um  zu  illustrieren,  was  gemeint  ist. 

Die  soziale  Verankerung  unserer  wissenschaftlichen  Arbeit  ver- 
spricht noch  einen  anderen  Gewinn.  Freud  ging  von  der  Physiologie 
aus  und  entdeckte  die  Natur  des  Psychischen.  Unsere  Kritik  an  der 
Psychoanalyse  setzte  an  den  gesellschaftlichen  Auffassungen  Freuds 
an.  Indem  wir  die  Beziehungen  des  Gesellschaftlichen  zum  Psychi- 
schen konsequent  aufdeckten  und  verfolgten,  ergaben  sich  reichliche 
Früchte  auch  für  die  klinische  Arbeit.  Es  entstand  eine  grundlegend 
neue  Art,  die  Gesetze  des  geschlechtlichen  Lebens  zu  studieren.  Die 
Orgasmuslehre  führte  mit  innerer  Logik  wieder  in  die  Physiologie 
und  Biologie.  Wir  können  noch  nicht  absehen,  welcher  Natur  die  end- 
gültigen Resultate  dieser  Forschung  sein  werden.  Die  Entwicklung  ist 
in  vollem  Flusse,  die  Ergebnisse  sind  ungewohnt,  die  biophysiologische 
Unterbauung  der  Psychologie  scheint  zu  gelingen.  Wir  dürfen  schon 
heute  sagen,  dass  wir  eine  der  wichtigsten  Erwartungen  Freuds  sich 
erfüllen  sehen:  Die  Lehre  vom  Seelenleben  wird  voraussichtlich  auf 
ein  festes  biologisches  Fundament  gestellt  werden  können.  Allerdings 
in  einer  anderen  Weise,  als  man  es  sich  gewöhnlich  vorgestellt  hatte. 

155 


Sexpol- Bewegung 

Derart  tragen  wir  eine  doppelte  Verpflichtung.  Der  Bewahrung 
und  der  praktischen  Durchsetzung  der  revolutionären  Errungen- 
schaften Freuds  fügt  sich  die  Sicherung  unserer  eigenen  sexual- 
ökonomischen  Forschung  an.  Wenn  wir  es  zuwegebringen  werden, 
der  Masse  der  arbeitenden,  darbenden,  glücksberaubten  Menschen 
verständlich  zu  machen,  woran  wir  arbeiten,  und  weshalb  wir  so 
schwer  zu   kämpfen  haben,  dann  daran  ist  nicht  zu   zweifeln 

wird  sie  auch  einmal  für  uns  eintreten,  als  gesellschaftliche  Macht 
unsere  Arbeit  vor  äusseren  und  inneren  Gefahren  schützen  und  selbst 
die  Früchte  der  Naturwissenschaft  vom  lebendigen  Leben  einheimsen. 

Mögen  die  Auseinandersetzungen  zwischen  der  Psychoanalyse  und 
der  Sexualökonomie  noch  so  schwer,  ja  kränkend  gewesen  sein.  Es 
wird  nie  den  Grund  bilden  können,  zu  vergessen,  was  wir  der  Lebens- 
arbeit Freuds  verdanken.  Denn  niemand  weiss  besser  als  wir.  niemand 
erfährt  schmerzlicher  als  wir,  weshalb  die  Welt  Freud  seinerzeit  ver- 
dammte und  heute  der  kämpferischen  Wirklichkeit  entrückt. 

.    Wilhelm  Reich. 


Sexpol-Beviegung 

Die  Sexpol   in  der  internationalen   Diskussion 

Vorbemerkung:  Diese  Übersicht  erhebt  nicht  Anspruch  auf  Vollständigkeit. 
Leser  und  Freunde  der  Zeitschrift  werden  gebeten,  liier  nicht  erwähnte  Be- 
sprechungen und  Beurteilungen  an  uns  einzusenden;  falls  sie  nicht  auf  deutsch, 
französisch,  englisch  oder  skandinavisch  abgefasst  sind,  womöglich  mit  beige- 
fügter Übersetzung  in  eine  dieser  Sprachen.  —  Wir  gebrauchen  im  Folgenden  als 
Abkürzungen:  Mp.  —  Massenpsychologie  des  Faschismus,  E.  —  Der  Einbruch  der 
Sexualmoral,  Sk.  —  Der  sexuelle  Kampf  der  Jugend,  Char.  -  Charakteranalyse, 
Kb.  — ■  Was  ist  Klassenbewusstscin?,  Dm.  —  Dialektischer  Materialismus  und 
Psychoanalyse,  Z.  —  Zeitschrift  für  politische  Psychologie  und  Sexualökonomie, 
Rkr.  —   Religion,  Kirche,   Rcligionsstrcit   in    Deutschland. 

Tschechoslowakei.  In  der  Neuen  Weltbühne  vom  7./XII.  191};}  schrieb  Ludwig 
.Markuse  eine  recht  zwiespältige  Besprechung  der  Mp.  Fr  anerkennt  den  Wert 
ihrer   Fragestellung  und  empfiehlt  die  Lektüre,  lehnt  es   aber  ab,  gewisse  religiöse 

und  moralische  Erscheinungen  sexualpsyehologiscb  aufzulösen,  will  sie  vielmehr 
als   letzte  Gegebenheiten   hinnehmen. 

Das  Internationale  ärztliche  Bulletin  (März/April  1934)  hat  in  seiner  Be- 
sprechung der  Mp.  durch  Heinrich  Lind  nicht  diese  Bedenken,  zeigt  jedoch  bei 
im  ganzen  positiver  Stellungnahme  Misstrauen  gegen  die  sexualpolitischen  Kon- 
sequenzen. Positiv  äussert  sich  auch  »Freier  Gedanke«  (1.  Juli  1934),  allerdings 
mit  der  typischer  Weise  ohne  Begründung  gegebenen  Reserve:  »Manches  ist  über- 
spitzt, man   kann   nicht   mit  allem   einverstanden   sein.« 

Dass  der  parteikommunistische  »Gegenangriff«,  nachdem  ihm  aus  Versehen 
ein  freundlicher  Hinweis  auf  die  Mp.  durchgerutscht  war,  am  7./I.  1934  (nach 
Reichs  Ausschluss  aus  der  KPD)  gegen  die  »abgedroschenen  freudistischen 
Phrasen«  loszieht  und  über  die  »schrankenlose  sexuelle  Freiheit«,  die  in  der  Mp. 
vertreten  werde,  ebenso  entsetzt  ist,  wie  über  die  Anerkennung  des  Mittelstandes 
als  eines  zeitweilig  selbständigen  geschichtlichen  Faktors,  war  nicht  anders  zu 
erwarten. 

In  der  Folge  wurde  in  der  C.  S.  R.  erst  wieder  im  Jahre  193(1  in  der  Februar- 
numincr  von  »Liebe  und  Leben«  unsere  Literatur  —  diesmal  Rkr.  —  sehr  aner- 
kennend   besprochen. 

156 


Sexpol-Bewegung 

Dänemark.  Die  dänische  Diskussion  begann  bereits  vor  Reichs  Übersiedlung 
nach  Kopenhagen  mit  einem  kurzen,  ausserordentlich  empfehlenden  Hinweis  auf 
»Sexualerregung  und  Sexualbefriedigung«  von  Reich  in  »Vi  Gymnasiaster«  (Wir 
Gymnasiasten)  vom  Dezember  1932.  Als  Auftakt  zu  den  Vorträgen,  die  Reich  im 
Februar  1933  In  Kopenhagen  hielt,  schrieb  Martin  Ellehaugc  einen  aufsehen- 
weckenden Artikel  in  der  Februarnummer  von  »Studcnterbladet«  unter  der  Über- 
schrift »Moral  og  Yidenskab«  (Moral  und  Wissenschaft),  der  an  Hand  von  E. 
und    anderen    Reich  Sehen   Schriften    für  unsere   Gedanken    eintritt. 

Der  Umsturz  in  Deutschland  führte  zur  Übersiedlung  sowohl  von  Reich  als 
auch  des  Sex-Polverlages  nach  Kopenhagen.  Die  Mp.,  die  Oktober  1933  erschien, 
hatte  Reichs  Ausschluss  aus  der  KPD  zur  Folge,  wie  »Arbejderbladet«,  das  dänische 
Parteiorgan,  am  21./XI.  1933  schrieb  »wegen  parteifeindlichen  und  unkommunisti- 
seben    Verhaltens   in   einer   Reihe    von    Fällen,    wegen    Herausgahe    eines    Buchs    mit 

konterrevolutionärem    Inhalt  «    etc.     In    Arbc.jderbladcts    Chronik    vom    l./XII. 

1933  erschien  dann  eine  ausführliche  Stellungnahme  zur  Mp..  die  versucht,  diese 
Behauptungen  zu  begründen.  Doch  nach  Art  solcher  Stellungnahmen  wird  gar 
nicht  sachlich  auf  den  Inhalt  des  Buchs  eingegangen.  Man  hetzt  bloss,  indem 
man  mit  aus  dem  Zusammenhang  gerissenen  Stellen  sexualpsychologischen  und 
parteikritischen  Inhalts  auf  Traditionsgebundenbeit  und  Sexualscheu  des  Durch- 
schnittslesers spekuliert. 

Einige  Monate  vorher  hatte  die  kommunistische  Zeitschrift  »Plan«  einen  alten 
Artikel  von  Reich  aus  der  »Zeitschrift  für  psychoanalytische  Pädagogik«  aus  dem 
Jahre  1927  betitelt  »Wohin  führt  die  Nacktkultur?«,  in  einer  allerdings  sehr 
schlechten  Obersetzung  abgedruckt.  Dies  führte  zur  Anklage  und  Verurteilung 
des   Redakteurs   wegen    Pornographie. 

Doch  es  fehlte  auch  nicht  an  anerkennenden  Besprechungen  der  Mp.  in  Däne- 
mark —  so  in  der  damals  noch  der  KPO  nahestehenden  Zeitschrift  »Frem«  (Dez. 
1933).   ferner  in  »Politiken«  vom   15./II1.   1934   (durch  Georg  Gretorl. 

Eine  dänische  Übersetzung  eines  Auszugs  aus  »Sexualerregung  und  Sexual- 
befriedigung« sowie  aus  Sk.  wurde  unter  dem  Titel  »Seksucl  viden  og  kamp« 
(Sexuelles  Wissen  und  Kampf)  in  der  Schriftenreihe  der  sozialistischen  Mediciner 
Anf.    1933   herausgegeben    und    zu    tausend en    vertrieben. 

Deutschland.  Hier  haben  wir  die  eigenartige  Tatsache  festzustellen,  dass  die 
wissenschaftlichen  Rezensionsorgaiie  unsern  fachliehen  Publikationen  durchaus 
nicht  völlig  verschlossen  sind. 

Im  »Zentralblatt  für  die  gesamte  Neurologie  und  Psychiatrie«  1934  bespricht 
Göring  (der  Bruder  des  Ministers  und  bekannter  nationalsozialistischer  Psycho- 
therapeut)  die   Charakteranalyse  und  findet   dabei   die  bezeichnenden   Sätze: 

»Er  (Reich)  glaubt,  dass  das  gesellschaftliehe  System  der  Zeit  vor  der 
nationalsozialistischen  Revolution  —  denn  in  dieser  Zeit  ist  das  Buch  ge- 
schrieben - —  nicht  die  Voraussetzungen  in  sich  trage,  um  die  Neurosenpro- 
phylaxe durchzuführen,  dass  erst  eine  grundsätzliche  Umstülpung  der  ge- 
sellschaftlichen Institutionen  und  Ideologien,  die  von  dem  Ausgang  der  poli- 
tischen Kämpfe  unseres  Jahrhunderts  abhänge,  die  Voraussetzungen  einer 
umfassenden  Neurosenprophylaxe  schaffen  werde.  Die  Umstülpung  hat  mit 
einer  gewaltigen  Intensität  begonnen,  aber  sicherlich  nicht  in  der  Form,  die 
der  Verfasser  sich  gedacht  hatte,  sondern  in  entgegengesetzter.  Das  neue 
Deutschland  wehrt  sich  dagegen,  dem  sexuellen  Triebleben  die  überragende 
Bedeutung  zuzugeben,  die   es   von   Freud    und  seinen   Schülern   erhalten   hat.« 

»Buch  und  Leben«  (1935,  H.  4/5)  beklagt  sich  in  einer  Besprechung  von  E. 
darüber,  dass  »der  Verfasser  ...  jede  Bedeutung  individueller  Rassewerte  verkennt, 
wenn  er  uns  die  Vorteile  primitiver  Trobriandcrerziehung  empfiehlt.«  Hingegen 
bringt  das  oben  genannte  Zentralblatt  (1935,  Bd.  77/H.  1)  ein  sehr  sachliches 
Referat  von  »Psychischer  Kontakt  und  vegetative  Strömung«  aus  der  Feder  Grot- 
jalins,  ferner  »Mitteilungen  zur  Geschichte  der  Medizin  und  Naturwissenschaften« 
(1935,'  Bd.  34/H.  3)    ein   ebensolches  über  K.  von   Buschan. 

Frankreich,  a)  Emigrantenpresse.  »Unser  Wort«  (Trotzkisten)  vom  Jan.  1934 
und  »Die  neue  Front«  vom  Fcb.  1934  widmen  der  Mp.  beide  kurze,  sachlich 
zurückhaltende  Besprechungen,  die  jedoch  den  Wert  der  Anregungen  und  Pro- 
bleme, die  sie  zur  Diskussion  stellt,  anerkennen.  Die  Trotzkisten  allerdings  schei- 
nen ihre  Meinung  inzwischen  geändert  zu  haben.  Es  erfolgte  einmal  ein  hämi- 
scher   Ausfall    auf    die    Sexualpolitik     (ohne    Nennung    unseres    Namens)     und    im 

157 


•  .4 


Sexpol-Bewegung 

März  1936  brachte  »Unser  Wort«  eine  völlig  ablehnende  und  verständnislose 
Kritik  von  Rkr.,  die  auch  scharfe  Ausfälle  gegen  die  Sexualökonomic  überhaupt 
enthielt. 

Ein  positiver  Hinweis  auf  Sk.  und  Z.  findet  sich  hingegen  im  »Pariser  Tage- 
blatt« vom  5./VIII.  1934  (unter  dem  Titel  »Sexualprobleme«),  ein  ebensolcher 
auf  die  Mp.  im  »Freidenker«    (Strasbourg)    Nr.   7  vom   Sept.   1934. 

b)  französische  Presse.  In  der  freien  sozialistischen  Zeitschrift  »Les 
primaires«  (Dez.  1934)  setzt  sich  Simone  Kahn  in  ausserordentlich  positiver 
Weise  für  unsere  Gedanken  ein  und  gibt  im  Zusammenhang  damit  ein  ausführ- 
liches Referat  der  Mp.  Die  anarchistische  Zeitschrift  »L'en  dehors«  bringt  kurze 
Hinweise:  Februar  1935  auf  E.,  dem  in  etwas  unklarer  Weise  Mangel  an  ge- 
nügenden Beweisen  für  die  behauptete  Sexualordnung  der  im  Matriarchat  lebenden 
Primitiven  vorgeworfen  wird;  ferner  Oktober  1935  auf  »La  crise  sexuelle«,  der 
im  Verlag  der  Editions  sociales  internationales  erschienenen  Übersetzung  von 
»Geschlechtsreife,   Enthaltsamkeit,    Fhemorak    und    Dm. 

»Le  probleme  sexuel«,  eine  ursprünglich  der  Weltliga  nahestehende,  an  sich 
gut  redigierte  Zeitschrift  bringt  in  H.  5  (1935)  eine  völlig  törichte  Besprechung 
von  Dm.  —  offenbar  aus  der  Feder  eines  kommunistischen  Partcidogmatikers, 
nach  der  sich  »Reich  augenblicklich  im  konterrevolutionären  Lager  zu  befinden 
scheint.«    (Vgl.  Stellungnahme  dazu  in  Z.  Nr.  7). 

Holland  ist  wohl  das  Land,  in  dem  unsere  Literatur  am  eingehendsten  öffent- 
lich diskutiert  wurde. 

a)  Sozialistische  und  verwandte  Presse.  Abgesehen  von  einem  freundlichen 
Hinweis  auf  die  Z.  in  »Die  Sammlung«  (deutsche  Emigrantenzeitschrift,  August 
1934)  findet  sich  eine  sehr  ausführliche  Diskussion  von  Z.,  Mp.,  Kb.,  E.  und  Dm. 
in  der  Februar-,  April-,  Mai-,  Juni-,  Juli-  und  Oktobernummer  der  Zeitschrift 
»Bevrijding«    (Befreiung,   vgl.   Stellungnahme   in   Z.   8/9). 

Eine  interessante  Diskussion  bringt  auch  »De  Vrijdenker«  (der  Freidenker). 
Hier  greift  am  24.A7IIL  1935  Sal  Tas  die  Sex-Pol  als  lumpenproletarische  Schule 
an,  die  ihre  Politik  auf  unbewiesene  Hypothesen  gründen  wolle.  In  einem  spätem 
Heft  erwidert  Jef  Last.  Er  warnt  vor  Unterschälzung  der  Sexualität  als  politi- 
schem Faktor,  vertritt  aber  im  Gegensatz  zu  uns  die  Auffassung,  dass  Sexualität 
und  Arbeit  in  einem  naturgegebenen  Widerspruch  zu  einander  stehen,  dass  der 
Sozialismus  zwar  nicht  die  bürgerliche  Sexualmoral  anerkennen  könne,  aber  mit 
einem   neuen   Arbeitsethos  auch   eine  neue   Sexualmoral   schaffen   werde. 

»Fundament«  (1935,  Jahrg.  2,  Nr.  10)  bringt  eine  ausführliche,  anerkennende 
Besprechung  von  Mp.,  Kb.,  Dm.  von   W.  Jochems. 

Ablehnend  verhielt  sich  im  ganzen  gesehen  die  Zeitschrift  »De  nieuwe  Kern«. 
In  der  Septemhernr.  1935  greift  de  Kadt  Dm.  von  einem  Standpunkt  aus  an,  der 
die  Dialektik  überhaupt  als  theologischen  Hokus  Pokus  verwirft.  In  der  Oktobernr.  - 
des  gleichen  Jahrgangs  richtet  Josine  Content  eine  Reihe  sachlich  wenig  begrün- 
deter Angriffe  auf  uns  (Wir  idealisierten  den  Arbeiter,  die  Sexualunterdrückung 
spiele  heutzutage  im  Gegensatz  zu  früher  überhaupt  keine  so  wichtige  Rolle  mehr 
etc.).  Auf  der  andern  Seite  lässt  man  auf  anerkennenswert  sachliche  Weise  auch 
die  Sex-Pol  selbst  zu  Worte  kommen.  Im  Dezemberheft  wird  Reichs  Artikel  über 
das  Arbeitsgebiet  der  Sexualökonomie  (aus  Z.  Bd.  2/H.  1)  abgedruckt.  Im  Maiheft 
1936  nimmt  Sal  Tas  zum  Kirchenstreit  in  Deutschland  Stellung,  geht  dabei  auch 
mit  einigen   negativen  Bemerkungen   auf  Rkr.   ein. 

Die  pazifistische  Zeitschrift  »De  Wapcns  neder«  bringt  ein  kurzes  Referat 
von  Rkr.,  ferner  einen  Abdruck  des  Kriegsfilmartikels  von  Jonny  aus  Z.  Bd.  2/1 
(Mai   1936). 

b)  Die  bürgerliche  Presse  hat  uns  gleichfalls  mehrmals  erwähnt.  Nieuwe 
Rotterdamschc  Courant  bringt  am  24./I.  1935  einen  kurzen,  rein  referierenden 
Hinweis  auf  E.,  am  10./II.  1936  ein  ausführliches  Referat  (ohne  Stellungnahme) 
von  Rkr. 

Indien.  Im  Organ  der  indischen  Birthconlrol-Bewegung  »Marriage  Hygiene« 
(Bombay)  erschien  1934  (S.  281  ff.)  eine  Arbeit  von  J.  H.  Leunbach  über  »The 
significance  of  marriage«  (die  Bedeutung  der  Ehe),  die  ganz  auf  dem  Boden  der 
Sexualökonomie  steht.  In  der  gleichen  Zeitschrift  (1935,  Vol.  IL  Nr.  2,  S.  219) 
empfiehlt  Christoph  Tietzc  warm  die  Z.  und  verweist  besonders  auf  Reichs  Ar- 
tikel über  das  Arbeitsgebiet  der  Sexualökonomic  in  Bd.  2/H.    1. 

Norwegen.  Hier  fand  die  Sexualökonomie  einen  warmen  Fürsprecher  in 
Ingjald  Nissen,  der  sich   in   seinen  Besprechungen  in  »Arbeiderbladet«,   Oslo,   dem 

158 


Sexpol-Bewegung 


Organ  der  norwegischen  Arbeiterpartei,  für  unsere  Schriften  einsetzte.  Vgl. 
20./X.    1934    (Char.),   Herbst   1934    (Mp.).   12./III.   1935   (E.),   19./III.    1936    (Rkr.). 

In  der  bürgerlich  radikalen  Zeitschrift  »Fritt  Ord«  (freies  Wort)  tritt  Sigurd 
Hoel  unter  dem  Titel  »Du  skal  ikke«  für  die  Mp.  ein;  der  Artikel  ist  ein  Muster 
an  klarer,  populärer  Einführung  in  unsere  Gedanken  für  ein  nicht  fachlich  oder 
politisch   vorgeschultes   Publikum. 

In  ihrer  Ausgabe  vom  17./V.  1936  bringt  »Mot  Dag«  (dem  Tage  entgegen), 
das  Organ  einer  einflussreichen  marxistischen  Intellektuellengruppe  einen  Artikel 
»Hvem  regerer  Tyskland?«  (wer  regiert  Deutschland?)  von  Hanns  Vogt,  der  dort 
u.  a.  mit  ausdrücklicher  und  positiver  Berufung  auf  Mp.  die  sexualpsychologi- 
schen Wurzeln  der  nationalsozialistischen  Ideologie  behandelt;  dies  ist  umso 
bemerkenswerter,  als  Mot  Dag  der  Sex-Pol  bisher  ablehnend  gegenüber  gestanden 

hattc-  ,    - 

Ebenso    druckt    die    der    Arbeiterpartei    nahestehende    Zeitschrift    »Kamp    og 

Kultur«  (Kampf  und  Kultur)  in  ihrem  Aprilheft  1936  unter  dem  Titel  »Seksualitet 
-og  Kultur«  das  Kulturprogramm  der  Sex-Pol  (aus  H.  8/9  der  Z.)  ab.  Dies  hatte 
einen  wütenden  Angriff  von  Digenes  im  kommunistischen  Parteiorgan  »Arbei- 
deren«  vom  22.  u.  25.  Mai  zur  Folge.  Die  Unfähigkeit,  zwischen  subjektivem  Oe- 
halt  und  objektiver  Funktion  einer  Ideologie  zu  unterscheiden,  führt  zu  —  offen- 
bar gewollt  bösartigen  —  Missverständnissen.  So  bringt  ihn  z.  B.  die  Tatsache, 
dass  wir  die  psychische  Realität  der  Religion  nicht  leugnen,  sondern  in  ihr  oft 
sogar   verstellte   Lebensbejahung   entdecken,  zur  Auffassung,   wir  verteidigten  die 

Religion. 

Doch  auch  die  faschistische  Presse  hat  zu  unserer  Arbeit  nicht  geschwiegen. 
Reichs  Vorlesungen  an  der  Osloer  Universität  über  »Trieb-  und  Charakterlehre« 
(Winter  1934/35)  hatten  einen  Angriff  in  »ABC«,  der  Zeitschrift  der  faschistischen 
»Federlandslag«  (Vaterländische  Vereinigung)  zur  Folge,  der  in  »Arbeidcrbladet« 
eine  entsprechende  Zurückweisung  erhielt.  Doch  seither  werden  die  Faschisten 
nicht  müde,  Reich  —  neben  Trotzki  und  Hodann  —  als  den  »ausländischen  Juden 
und  Sexualmarxisten«  ab  und  zu  besonders  in  der  Tageszeitung  der  norwegischen 
Hitlcrsektion  »Fritt  Folk«  (freies  Volk)  ein  paar  freundliche  Worte  zu  widmen. 
Schweiz.  Die  erste  Erwähnung,  allerdings  in  Form  eines  ziemlich  neutralen 
Referats,  bringt  die  nach  dem  Hitlerumsturz  von  Frankfurt  nach  Genf  über- 
siedelte »Zeitschrift  für  Sozialforschung«  (Mp.  u.  Char.  bespr.  in  Jahrg.  1934  H.  1 
von    Landauer). 

Die  Freidenkerpresse  widmet  uns  mehrfach  sehr  freundliche  Besprechungen: 
Mp  in  »Freie  Innerschweiz«  vom  6./VI.  1934,  Abdruck  aus  Mp.  in  »Freidenker« 
vom  15./VL  1934.  In  einem  Artikel  »Die  Kirche  als  sexualpolitisches  Institut« 
(Freidenker  15./XI.  1935)  geht  Hartwig  von  den  Feststellungen  der  Mp.  aus.  Eine 
eingehende  'und  verständnisvolle  Besprechung  des  gleichen  Vf.  über  Rkr.  erschien 
in  der  gleichen  Zeitschrift  am  15./IV.   1936. 

Die  Fachpresse  bringt  eine  anerkennende  Besprechung  der  Char.  von  Bally 
(Schweizer  Archiv  für  Neurologie  und  Psychiatrie,  Bd.  23,  H.  1,  1934),  der  be- 
sonders die  technischen  Gesichtspunkte  hervorhebt.  In  einem  Artikel  über  b.  und 
Mp  in  »Psyche«  (Schweizer  Monatsschrift  für  Psychologie,  Heilpädagogik,  Gra- 
phologie) greift  der  Rezensent  verständnisvoll  die  springenden  Punkte  heraus: 
Den  gesellschaftlich  bedingten  Widerspruch  zwischen  zur  Heilung  notwendiger 
Genitalität  und  Moral  (aus  E.)  und  das  Problem  des  unpolitischen  Menschen 
(aus  Mp.);   zu  den  von  uns  gegebenen  Lösungen  stellt  er  sich  voll  bejahend. 

Die  sozialistische  Partcipressc  hat  von  uns  leider  nur  in  einer  kurzen,  freund- 
lichen Notiz  über  Kb.  Notiz  genommen  (Arbeiterzeitung,  Basel  vom  29./XI.  1934). 
Spanien.  In  »La  Tierra«  (16./IV.  1935)  wird  das  hohe  Niveau  der  Z.  in  einer 
ausführlichen  Besprechung  gelobt,  »Leviatan«  (Madrid,  Mai  1935)  rezensiert  die 
Massenpsychologie  ausführlich,  macht  jedoch  Einwände  vom  individualpsycholo- 
gischen Standpunkt   (Vf.  beide  Male  Augusto  Salions). 

Gründlich  wird  Mp.  in  der  anarchistischen  »Revista  blanca«  vom  8.  u.  15./ AI. 
1935  diskutiert  (vgl.  Stellungnahme  in  Z.  8/9). 

Österreich.  In  »Psychotherapeutische  Praxis«  (März  1965)  nimmt  W.  Mekel 
zur  Char  Stellung.  Er  anerkennt  ihren  hohen  Wert,  wirft  ihr  jedoch  Unkenntnis 
der  Traumdeutung  vor.  Im  Januarheft  1936  greift  Arthur  Kronfeld  in  recht  un- 
sachlicher Weise  »Psychischer  Kontakt  und  vegetative  Strömung«  an:  Reichs 
Aggressionen  machen  Kooperation  unmöglich,  seine  Genitalisierung  der  Glücks- 
und  Realitätsfähigkeit   ist  ein  »gelatinöser   Begriff«. 

159 


Sexpol-Bewegung 

Die  »Internationale  Zeitschrift  für  Psychoanalyse«  und  »Imago«  sind  nicht 
lokal  österreichische  sondern  internationale  Organe.  Trotzdem  scheint  uns  ihre 
Stellungnahme  stark  von  den  Auffassungen  der  Wiener  Gruppe  bestimmt  —  andere 
Gruppen  machen  sich  allerdings  durch  ihren  Mangel  an  Protest  für  diese  Stellung- 
nahme mit  verantwortlich.  Im  Rahmen  dieser  Übersicht  können  wir  freilich 
keine  Auseinandersetzung  mit  den  dort  erschienenen  Besprechungen  geben  sondern 
bloss  kurze  Hinweise. 

Die  Besprechung  von  Char.  in  Intern.  Zeitschr.  (1934/3)  beginnt  mit.  dem 
massiven  Satz: 

»Als  Ausgangspunkt   für  die  Darstellung  dient  Reich   die   Leugnung  einer 
für   uns   feststehenden   Tatsache  der  Triebpsychologie,   die   Leugnuug   nämlich 
der  genuinen    Triebambivalenz«    (gemeint    ist   die    Todestrielilehre). 
Die    ganze    folgende    Stellungnahme    wird    vom    dogmatischen    Festhalten    an 
dieser  Lehre  beherrscht. 

Hingegen  finden  sich  wesentlich  positive  Würdigungen  der  Char.  in  den  Ar- 
beiten von  Kaiser  (Probleme  der  Technik,  Intern.  Zeitschr.  1934)  und  Fenichi-1 
(Zur    Iheorie   der  psychoanalytischen  Technik,  Intern.  Zeitschr.   1935/1). 

Die  ideologische  Begründung  für  Reichs  Ausschluss  aus  der  IPV  gibt  Wälder 
in  »Imago«  (1935/1).  Er  bespricht  hier  Z.  Heft  1.  Die  Einheit  von  Theorie  und 
Praxis,  die  wir  dort  vertreten,  wird  schärfstens  abgelehnt,  ebenso  die  marxistische 
Gesellschaftslehre  als  .Masstab  für  die  Beurteilung,  ob  soziales  Handeln  rational 
oder  irrational  ist.  Er  ist  voll  Unwillens  über  unsere  Leugnung  der  Notwendigkeit, 
die  kindliche  Sexualität  in  irgendeiner  Form  zu  unterdrücken  und  schliesst  mit 
dem   Satz: 

»So  muss  denn  in  aller  Klarheit  gesagt  werden,  dass  niemand,  der  Reich 
auf  seinem  Weg  folgt,  mehr  Recht  hat,  sich  auf  die  Psychoanalyse  zu  be- 
rufen, als  andere  Autoren,  die  ein  Stück  psychoanalytischen  Gedankenguts 
modifiziert  und  unter  Eliminicrung  anderer  Motive  für  ihre  Zwecke  ver- 
wenden.« 

Diese  Äusserung  des  offiziellen  IPV^Organs  mögen  besonders  all  die  beher- 
zigen, die  es  nicht  lassen  können,  sexualökonomische  Auffassungen  als  psycho- 
analytische zu  vertreten. 

U.  S.  A.  In  »Psycological  abstract«  (1935)  wurde  Dm.  (Nr.  2253)  und  E.  (Nr. 
4292)  kurz  referiert.  »International  review«  (Mai  1936)  bringt  eine  Übersetzung 
von  Parells  Artikel  über  »Streichers  sadistische  Pornographie«  in  Z.  Heft  6,  leider 
—  typischer  Weise  —  mit  Auslassung  der  dort  angeführten  praktischen  Vor- 
schläge zur  Gegenpropaganda. 

Es  liegen  ausserdem  Besprechungen  und  Erwähnungen  aus  Italien,  Jugoslawen, 
Ungarn,  Polen  und  Schweden  vor.  Auch  in  England  und  Amerika  dürfte  mehr 
über  uns  geschrieben  worden  sein,  als  uns  bisher  bekannt  ist.  Wir  berichten  über 
diese   Diskussionen,  sobald  wir  einige  nähere  Erkundigungen  eingeholt  haben. 

Aus  der  Sowjetunion  kamen  unsere  letzten  Sendungen  mit  dem  Vermerk 
zurück:    »Zurück,   da   Einfuhr  durch    die   Drucksachenadministration    Verboten«! 

Abgeschlossen  Mai   1936. 

Eine  „Revolution  der  Jugend"   in  Oslo 

Die  norwegischen  Abiturienten  heissen  zur  Zeit  des  Examens  (Mai)  »Russ«. 
Mit  lustigen  roten  Russemützen  auf  dem  Kopf  durchziehen  Jungens  und  Mädels 
in  ausgelassenen  Trupps  die  Strassen  und  feiern  ihren  Eintritt  ins  »Erwachsen- 
sein« auch  abends  durch  gemeinsames  Saufen.  Höhepunkt  ist  der  norwegische 
Nationalfeiertag    (17.  Mai),  an  dem   auch    alljährlich  die   »Russezeitung«   erscheint. 

Gymnasiasten  stammen  meist  aus  gut  bürgerlichen  Familien.  Sie  erlauben 
sich  in  der  Russezeit  allerhand,  was  sonst  nicht  erlaubt  ist,  doch  von  einem 
politisch  bewussten  Protest  gegen  die  bürgerliche  Moral  ist  nur  bei  den  wenigsten 
die  Rede. 

Trotzdem  gab  es  in  diesem  Jahr  zum  ersten  Mal  in  Oslo  eine  grosse  öffent- 
liche Diskussion  über  die  »Russemoral«.  Haben  die  Jungens  und  Mädels  etwas 
anderes  getan,  als  in  früheren  Jahren?  —  Nein,  aber  sie  protestierten  in  ihrer 
Zeitung  offener  und  hewusster  gegen  das  moralische  Muckertum  als  je  zuvor. 
Gereizt  wurden  sie  dazu  durch  verschiedene  vorhergegangene  Angriffe  der  Reak- 
tion, die  mit  der  fortschreitenden  Zersetzung  der  bürgerlichen  Sexualmoral  auch 
in    Norwegen    immer  empfindlicher   und    aggressiver  wird. 

160 


Sexpol-Bewegung 

Schon  im  Februar  d.  J.  verkündete  der  reaktionäre  Publizist  Lars  Eskeland 
in  einem  öffentlichen  Vortrag,  34%  der  Russemädchen  von  1935  hätten  an  sich 
Abortus  provocatus  vornehmen  lassen.  Heftige  Diskussion.  Eskeland  weigert  sich, 
seine  Quelle  zu  nennen.  Doch  schrumpfen  die  34  Prozent  im  Feuer  der  Angriffe 
bald  zu  34  Russemädchen  ein;  und  nicht  einmal  diese  Zahl  ist  bewiesen.  Es  gibt 
wüsten  Zank,  Klatsch,  Dementis,  Indiskretionen.  Gulla  Grundt  (Vorstandsmitglied 
einer  grossen  bürgerlichen  Frauenorganisation)  und  Domprobst  Hygen  sind  darin 
verwickelt  (vgl.  die  Anspielungen  im  Artikel  »Blatt  vom  Mund«  unten). 

Neuer  Aufruhr,  da  Hygen  die  Russenzeitung  dieses  Jahres  wegen  ihrer  Unsitt- 
lichkcit  angreift.  Gleichzeitig  veröffentlicht  Rektor  Lodrup  ein  Schreiben,  das 
bereits  1934  vom  Rektorkollegium  in  Aker  (Schwesterstadt  von  Oslo)  vertraulich 
an  das  Kirchendepartement  (=  Unterrichtsministerium)  gesandt  worden  war. 
»Wir  haben  es  schon  vor  2  Jahren  gewusst«,  will  er  damit  sagen.  »Wer  anders 
ist  an  allem  schuld  als  der  Marxismus!«  (Im  Oktober  sind  in  Norwegen  Wahlen!) 

Die  Verteidiger  der  Russen  haben  niemals  zwischen  den  wenigen  Stellen  der 
Zeitung  unterschieden,  die  wirklich  pornographisch  sind  und  denen,  wo  sich  ge- 
sunde jugendliche  Opposition  Luft  macht.  Doch  gerade  sie  —  besonders  das  unten 
abgedruckte  Gedicht  —  erregten  Hygens  Zorn. 

Man  wies  besonders  taktlose  und  rohe  Formen  zurück,  die  die  -reaktionäre 
Hetze  angenommen  hatte,  distanzierte  sich  aber  gleichzeitig  auch  von  den  »un- 
gesunden Übertreibungen«  der  Russen  selbst  —  statt  ihnen  zur  Klarheit  zu  ver- 
helfen. Man  Hess  die  Jugend  in  ihrem  von  gesundem  Übermut  übersprudelnden 
und   doch  hilflosen  Kampf  um  Lebensbejahung  —  allein. 

Wir  bringen  im  folgenden  das  Schreiben  des  Rektorkollegiums  sowie  2  Proben 
aus  der  »Russezeitung  1936«. 

Das  Schreiben  des  Rektorkollegiums  in  Aker  an  das  Kirchendepartement 

Frühjahr  19U. 

Das  Rektorkollegium  in  Aker  hat  vom  Domprobst  ein  Schreiben  vom  30.  April 
ds.  Js.  erhalten,  von  dem  eine  Kopie  beiliegt. 

Das  Rektorkollegium  ist  die  ganze  Zeit  hindurch  auf  die  bewusst  nieder- 
reisstinde  Agitation  gegen  Schule,  Religion  und  Moral  aufmerksam  gewesen,  die 
das  Blatt  »Vi  Gymnasiaster«  (Wir  Gymnasiasten)  treibt.  Bei  der  Vorsprache  bei 
der  Polizeikammer  in  Oslo  erhielt  man  inzwischen  die  Aufklärung,  dass  die  Polizei 
gerade  diesen  Ausschweifungen  machtlos  gegenüberstehe.  »Das  Pressegesetz  gibt 
keine  Grundlage  zum  Einschreiten.« 

Von  der  Oberbehörde  liegen  bekanntlich  keine  Direktiven  für  ein  Einschreiten 
von  Seiten  der  Schule  in  solchen  Fällen  vor.  Dies  kommt  offenbar  davon,  dass 
das  Phänomen  erst  der  neueren  Zeit  angehört.  Vor  bloss  10  Jahren  wäre  ein 
solches  Auftreten  von  Gymnasiasten  als  Korporation  kaum  denkbar  gewesen.  In 
den  letzten  paar  Jahren  scheint  das  Unwesen  unter  Einwirkung  von  Studenten 
mit  mehr  oder  minder  kommunistischem  Anstrich  stark  um  sich  zu  greifen.  Die 
nächstliegende  Aufgabe  für  diese  Menschen  ist  die  oder  führt  in  jedem  Fall  dahin, 
die  ehrwürdige  Disziplin  und  Ordnung  der  Schule  zu  untergraben.  Sie  scheinen 
auch  ihr  Ziel  gar  nicht  zu  verleugnen. 

Es  sieht  jedoch  nicht  so  aus,  als  hätte  das  Verhältnis  des  einzelnen  Gym- 
nasiasten in  der  Schule  und  zu  ihr  eine  wesentliche  Veränderung  erlitten;  doch 
ist  es  aus  vielen  Gründen  nicht  leicht,  Vergleiche  zu  ziehen.  Aber  die  allgemeine 
Meinung  scheint  zu  sein,  dass  das  Verhältnis  im  ganzen  gesehen  zu  Klagen  keinen 
Anlass  gibt.  Wenn  jedoch  die  Gymnasiasten  geschlossen  in  Vereinen  und  auch  in 
ihren  Blättern  auftreten,  scheint  das  Verhältnis  anders  zu  sein.  Respektlose 
Äusserungen  über  Lehrer,  Verhöhnung  der  Religion  und  der  allgemeinen  Ge- 
schlechtsmoral kommen  ständig  zum  Ausdruck.  Auch  bei  Schülern  in  den  niedri- 
geren Schulklassen  konnte  dies  ein  neugieriges  Interesse  für  diese  Materien  hervor- 
rufen, für  deren  Verständnis  sie  ihrem  Alter  entsprechend  keine  Voraussetzung 
haben.  Auch  in  der  Tagespressc  sieht  man,  dass  sich  Gymnasiasten  die  Möglich- 
keiten zu  respektlosen  Äusserungen  über  Lehrer  schaffen,  die  ihnen  nicht  be- 
hagen. Man  erlaubt  sich,  auf  Nummer  97  von  »Tidens  Tegn«  (Zeichen  der  Zeit) 
Freitag  27.  April  ds.  Js.  hinzuweisen,  wo  Gymnasiasten  an  der  Riis-Schule  in 
hohem  Grade  herabsetzend  über  den  Gymnastiklehrer  der  Schule  sehreiben.  Die 
Beispiele  können  onnc  Scnwlengkeit  vermehrt  werden.  Man  hat  die  Erfahrung 
gemacht    dass    die    ständigen    Blasphemien    die    jungen    Menschen    abstumpfen    und 

161 


Sexpol- Bewegung 

verdummen.  Dies  kommt  deutlich  in  dem  Geist  und  Ton  zum  Vorschein,  mit  dem 
über  religiöse  Werke  gesprochen  wird.  Die  Pfarrer  der  Stadt  macheu  diese  Er- 
fahrungen besonders  in  Gesprächen  mit  Konfirmanden  aus  Gymnasien,  was  in 
früherer  Zeit  nicht  der  Fall  gewesen  ist. 

Gefährlich  scheint  auch  die  Arbeit  für  die  Verbreitung  der  modernen  Lehre 
über  die  sogenannte  »Neue  Geschlechtsmoral«  zu  sein.  Aufforderungen  von  Leitern 
ausserhalb  des  Kreises  der  Gymnasiasten,  die  das  Natürliche  und  Vorteilhafte  der 
»Kameradschaftsehe«  betreffen,  Anleitung  zum  Gebrauch  von  Präventivmitteln 
(Man  weist  auf  die  Anzeigen  der  Zeitschrift  für  sexuelle  Aufklärung  in  »Vi  Gym- 
nasiaster« hin),  all  das  scheint  das  Interesse  der  jungen  Menschen  zu  wecken. 
In  wie  hohem  Grade  diese  neue  Betrachtung  der  Gcschlechtsmoral  in  das  Gemüt 
der  jungen  Menschen  Eingang  gefunden  hat  und  von  ihnen  auch  praktiziert  wird, 
darüber  kann  man  sich  natürlich  schwer  aussprechen,  man  kann  jedoch  fest- 
stellen, dass  sie  in  verschiedenen  Fällen  nicht  wirkungslos  geblieben  ist.  Das  im 
Vergleich  zu  früher  fortgeschrittenere  Alter  der  höheren  Schüler  vergrössert  die 
Gefahr.  Die  Mädchen  und  ihre  Eltern  leiden  in  erster  Linie  Schaden.  Sich  in 
Details  einzulassen  ist  aus  vielen  Gründen  peinlich  und  schwierig.  Bei  den  Ärzten 
erhält  man  generelle  Auskünfte,  die  die  obige  Betrachtung  zu  bekräftigen  scheinen. 
Es  ist  eine  grosse  Frage,  ob  der  gemeinsame  Unterricht  für  junge  Menschen  in 
diesem  Alter  und  unter  dem  Einfluss,  der  sich  jetzt  verbreitet,  nicht  eine  zu 
grosse  Belastung  ist.  Bei  einem  grösseren  Schulbetrieb,  wo  dies  ohne  Schwierig- 
keit möglich  ist,  wird  es  wahrscheinlich  aus  den  genannten  Gründen  günstig  sein, 
zu  getrenntem   Unterricht   durch   Errichtung  von   Mädchenschulen    überzugehen. 

1.)  Man  ist  der  Meinung,  dass  die  Gymnasiasten  nicht  genug  Verantwortungs- 
gefühl und  zureichende  Bcifc  gezeigt  hätten,  um  gedruckte  oder  hektographiertc 
Zeitungen  herauszugeben,  die  über  das  ganze  Land  versendet  werden.  Dies  sollte 
wenn  möglich  verboten  werden. 

2.)  In  den  Schulen  sollte  es  nicht  erlaubt  sein,  Blätter  agitatorischen  Inhalts 
zu  verteilen. 

3.)  In  den  Gymnasialvercinen  sollte  es  verboten  sein,  für  diese  Art  Wirk- 
samkeit  Agitatoren  von   aussen   herbeizurufen. 

4.)  Gymnasiasten,  die  bewiesenermassen  dazu  auffordern  »die  neue  Ge- 
schlechtsmoral« zu  praktizieren,  oder  für  Ungehorsam  gegen  die  Vorgesetzten 
agitieren,  sollten  vom  Schulrat  aus  der  Schule  verwiesen  werden  können,  wenn 
2/3  der  Mitglieder  den   Fall  für  qualifiziert   hält. 

Das  Rektorkollegium  in  Akcr  ist  mit  der  Pfarrerschaft  in  Oslo  darüber  einig, 
dass  die  genannten  Vorgänge  von  so  zerstörendem  und  beunruhigendem  Charakter 
sind,  dass  man  in  aller  Hochachtung  der  Oberbehörde  anheimstellen  möchte,  sich 
der  Sache  mit  den  Mitteln  anzunehmen,  die   zu    ihrer  Verfügung  stehen. 

Das  Rektorkollegium  ersucht,  dass  dieses  Ansuchen  mit  Rücksicht  auf  die 
Gymnasiasten   jedenfalls  vorläufig   als   konfidentiell   betrachtet   werden   möge. 

Aker,  7.  Mai  1934. 

Für  das  Rektorkollegium   in  Aker 
Hans   Lödrup   (sign) 

Nachbemerkung:  Das  Schreiben  ist  vom  Ministerium  niemals  beantwortet 
worden. 

Russenlied  1936. 

Die     Nacht     ist     unser 

Was  ist  ein  Russ,  der  allein  ist ? 

Was   ist  ein   Russ  ohne  Wein ? 

Selbst  Adam  verstand  schon  in   früher  Zeit 
soll  es  ein   Fest  sein,   dann   immer  zu   zweit! 
Hör  zu,   was   dein  Blut   verkündet, 
es  summt 
ein  Lied: 

Refr. :  Die  Nacht   ist   unser, 

geniessen  wir  sie  zusammen,  — 
ertränken  wir  unsere  Not 
in   der   Freudenflut. 
Die  Nacht  ist  rot,  — 
die    Sonnenglut 

162 


Sexpol-Beweg  unjj 

entzündet   die    Flammen. 

Niemand    sage:   Ihr  wart  nicht   bereit, 

habt  verpasst  die  Gelegenheit. 

Das   Leben   ist   kurz, 

geniessen   wir  zusammen ! 

Die   Nacht    ist   heiss, 

warum    sind   wir    kalt 

Ein  Fest  ist  das   Leben,  — 
es   soll   keine   Priester   geben, 

die   sagen    »Amen« 

(Nein)    geniessen   wir's  zusammen, 
hingegeben   der    Freuden    Gewalt ! 

Sollen   wir  löschen   der   Sinne   Flammen,' 

dass   sie   aufgehen   in   trübem    Rauch 

Schänden  der  Russenzeit   Opal 

mit   alter  verrosteter   Moral 

»Nur  sehen   und  nicht  berühren«  — 
wohin  soll   das  führen  — 

Refr. :  Nein,  —  die   Nacht   ist  unser 

geniessen   wir   sie   zusammen 

etc. 

Blatt  vom  Mund. 

Die  Russenzeitung  ist  ein  Unternehmen^  das  von  manchen  ehrwürdigen  Men- 
schen als  kriminell  bezeichnet  wird.  Unter  »ehrwürdig«  sind  Menschen  aus  der 
etwas  älteren  Generation  zu  verstehen,  insbesondere  diejenigen  von  ihnen,  die 
leicht  mit  Moos  bewachsen  sind. 

Unter  diesen  mehr  oder  minder  verdrehten  Dummköpfen  ist  moralische  Ver- 
stopfung ein  weit  verbreitetes  Leiden.  Für  sie  ist  der  Russ  die  Creme  der  Hülle 
selbst,  folglich  ist   auch  jede  Äusserung  des   Russen  etwas  Abscheuliches. 

Eine  Auffassung,  die  uns  jedoch  nicht  hindern  kann,  weiter  den  breiten  Weg 
zu  gehen.  Wir  gedenken,  das  Blatt  vom  Mund   zu   nehmen. 

Der  Russ  ist  in  diesen  Tagen  Gegenstand  zahlreicher  Debatten.  Eine  Reihe 
unserer  heimischen,  adernverkalkten  Persönlichkeiten  hat  die  Gelegenheit  wahr- 
genommen, ihre  Anschauungen  emporzurülpsen.  Die  Presse  war  ein  kochender 
Topf  Klatsch.  Die  Moralisten  haben  mit  ihrer  Trommel  gepoltert.  Giftige  Zungen 
haben  in  allen  Winkeln  gezischt.  Überall  haben  die  Russenfresser  sich  gewälzt, 
gespreizt,   sich    gasartig  verbreitet. 

Jede  Äusserung  jugendlicher  Lebenskraft  wird  von  den  Alten  mit  Wehgeschrei 
aufgenommen.  Das  kleinste  Zeichen  von  Lebensentfaltung  —  und  es  erhebt  sich 
verärgertes  Gebrüll  von  Seiten  der  Ausgelebten.  Das  kleinste  Lebenszeichen  und 
die   Zeitungen   hallen  wieder  von: 

Wir  protestieren!    Wir  protestieren!    Wir  protestieren! 

Hochachtungsvoll 
Gesangbuch-   und  Slrumpfstrickergeneration. 

Wir  können  sagen,  dass  die  Russen  ab  und  zu  über  den  Strich  hauen.  Sich 
gegen  Moral  und  Anständigkeit  und  andere  ausgefranste  Begriffe  versündigen. 
Sich   versündigen  heisst  leben. 

Aber  da  kommt  die  Sündflut.  Massendemonstration  der  Moralvogelscheuchen. 
Protestchor  von  kleinbürgerlichen  Brüllaffen  und  Altersheimaspiranten.  Fanati- 
sche Greise  schleudern  ihre  gehässigen  Behauptungen  vom  Redncrstuhl.  Weibliche 
Gerüchtemacher  giessen  ihren  stinkenden  Klatsch  über  die  Öffentlichkeit  aus. 
Schlüpfrige  Theologen  werfen  verkrüppelte   Chroniken   in   die   reaktionäre   Presse. 

Sic  plappern  scharenweise,  diese  mottenzerfressenen  Moralisten.  Sie  wälzen 
sich  in  der  Wollust  des  Klatsches.  Sie  qualmen  von  Hass  gegen  alles  Lebens- 
tüchtige. Sie  laufen  um  die  Wette,  um  ihre  eigenen  Altersschwächen  zu  verherr- 
lichen. Und  wenn  sich  die  öffentliche  Meinung  gegen  sie  wendet,  streiten  sie  sich 
darum,  wer  sich  selbst  besser  als  Märtyrer  ausposaunen,  wer  sich  besser  in  Selbst- 
bemitleidung  einpökeln  kann. 

163 


Sexpol- Bewegung 

—  Wir  sind  die  Wächter  der  Moral!  brüllen  sie.  Die  Jungen  sind  auf  Ab- 
wegen! Wir  müssen  sie  retten.  Wir  müssen  sie  bei  Zeiten  ersticken.  Wir  müssen 
sie  mit   unserer  Moral  kastrieren !   Wir  sind  die  Wächter  der   Moral ! 

Und   sie  schlagen  sich   auf  die  Brust,  dass  es   staubt. 

Moral  nennen  sie  es.  Blutarmut  ist  das  rechte  Wort.  Moralisten  nennen  sie 
sich.  Mumien  ist  das  rechte  Wort.  Schutz  der  .lugend  nennen  sie  es.  Racheakt 
ist  das  rechte  Wort.  Racheakt  gegen  die  Jugend  recht  und  schlecht,  weil  sie  herum- 
geht und  jung  ist.  So  ganz  verflucht  und  unverschämt  jung.  So  was  darf  man 
nicht   dulden! 

Moral  kann  man  definieren  als  die  Haltung  des  Ausgelebten  gegenüber  dem 
Lebenstüchtigen,  Warmblütiges  und  Blutarmes  kann  nicht  miteinander  verglichen 
werden.  Es  gibt  einen  Unterschied  zwischen  jungem  und  altem  Blut,  einen  Unter- 
schied zwischen  dem  jungen,  heissen  Blut  und  dem  lauwarmen  Himbeersaft  in 
den   geborstenen   Adern    der  Greise.  —  — 

Sie  sind  rührend,  die  Alten,  in  ihrem  Drang,  ihre  Brut  zu  beschützen.  Gegen 
die    Gefahren    der    Bussenzeit.    Gegen    die    Unmoral. 

Rührend  ist  das.  Aufrührend. 

Lasst  uns  nun  einen  Appell  an  diese  vertrockneten  Lichlschnuppen  richten. 
Einen  bescheidenen,  kleinen  Appell: 

Krähwinkelapostel!    Geht   heim   und  zieht  die  Federdecke   über  den  Kopf! 

Ein   „sozialistischer"  Arzf   über   Freud 

Meistens  schweigen  sich  die  sozialistischen  Wissenschaftler  gründlich  über 
Freud  aus;  man  muss  mit  grösstem  Interesse  studieren,  was  geschrieben  wird, 
wenn  endlich  mal  von  sozialistischer  Seite  grundsätzlich  zu  Freud  Stellung  ge- 
nommen wird;  anlässlich  des  achtzigsten  Geburtstags  Freuds  hat  Dr.  Otto 
Fenichel,  der  die  sogenannte  marxistische  Psychoanalyse  repräsentieren  soll,  im 
»Internationalen  Ärztlichen  Bulletin«  einen  Glüekwunschartikel  verfasst.  Er  cha- 
rakterisiert seinen  Aufsatz  als  »einige  Bemerkungen  über  die  Bedeutung  der 
Psychoanalyse  für  uns  sozialistische  Ärzte«.  Diese  Bemerkungen  sind  wirklich 
sehr  interessant  — ■  nicht  so  sehr  wegen  der  Diuge,  die  drin  stehen,  sondern  viel- 
mehr deswegen,  was  nicht  drin    steht. 

Es  war  immer  eine  Tradition  der  ernsten  marxistischen  Wissenschaft,  dass 
man  nie  Problemen  und  Konflikten  von  sachlicher  Bedeutung  aus  konventionellen 
oder  taktischen  Gründen  entwich,  sondern  dass  man  selbst  die  schwerste  Proble- 
matik ohne  Rücksicht  angegriffen  hat:  Insofern  Freud  die  marxistische  Wissen- 
schaft beeinflusst  hat,  trotz  seiner  bürgerlichen  Weltanschauung  —  und  das  hat 
er  —  war  es  gerade  kraft  seines  unerschrockenen  und  vorurteilslosen  Mutes,  auf 
die  peinlichen  Dinge  loszugehen  und  Klarheit  zu  schaffen.  In  dieser  Hinsicht 
gehört  Dr.  Fenichel  zu  einem  Flügel  der  sogenannten  marxistischen  Wissenschaft, 
der  mit  dieser  kämpferischen  Tradition  bricht,  und  sein  Artikel  über  Freud  ist 
ein  schönes  Beispiel,  wie  dieser  akademische  Sozialismus  aussieht.  •  Genau  wie 
jede  bürgerliche  Zeitschrift  es  tun  könnte,  stellt  er  Freuds  Bedeutung  für  die 
naturwissenschaftliche  Psychologie  fest,  ohne  ernsthaft  auf  die  revolutionären 
Momente  seiner  Entdeckungen  einzugehen,  erwähnt  kühn  seine  antireligiöse  Ein- 
stellung, ohne  seine  moralischen  Widersprüche  zu  erwähnen  und  stellt  ihn  in 
Beziehung    zum    Virchow'schen    Bationalismus,  kurz,    alles    ist    so    schön     und 

akademisch,  dass  wir  uns  alle  recht  freuen  können.  Getreu  dem  Prinzip,  sich 
weder  von  der  Scylla  noch  der  Charybdis  zerschmettern  zu  lassen,  weist  er  nach, 
wie  Freud  weder  dem  mechanischen  Materialismus  noch  dem  abstrakten  Idealismus 
(das  Religiös-Magische)  verfallen  ist.  Fr  schliesst  —  damit  wir  doch  nicht 
vergessen,  dass  wir  Marxisten  sind  —  sehr  pompös  mit  einem  Zitat  von  Engels 
—  das  Beste  in  Fenichels  ganzem   Artikel. 

Die  Stellung  Freuds  zum  Marxismus?  Taktvolles  Schweigen.  Die  Auseinander- 
setzung innerhalb  und  ausserhalb  der  psychoanalytischen  Bewegung  über  die 
Beziehung  zur  Arbeiterbewegung?  Der  Taktiker  schweigt.  Die  auf  den  ursprüng- 
lichen psychoanalytischen  Auffassungen  gebauten  Untersuchungen  über  Massen- 
neurosen?  Hierüber  findet  sich  eine  armselige  Parenthese,  die  die  Unentbehrlich- 
keit  der  Freudschen  Neurosenlehre  für  diese  Arbeit  wohl  bemerkt,  ohne  aber  die 
sexualökonomische  Ausarbeitung  auf  marxistischer  Grundlage  überhaupt  nur  zu 
erwähnen  (vielleicht  würde  Fenichel  damit  an  einen  wunden  Punkt  in  seiner 
Vergangenheit    erinnert    werden).     Und    wenn    Fenichel    behauptet,    dass    die    Tat- 

164 


J. 


Sexpol-Bewegung 

Sachen  der  kindlichen  Sexualität  »heute  schon  selbstverständlich«  geworden  sind, 
dann  ist  das  einfach  falsch.  Hätte  er  aber  darüber  nachgedacht,  wäre  er  auf  den 
bösen  Gedanken  gekommen,  dass  es  eine  marxistische  Bewegung  Sexpol  gibt,  die 
den  Kampf  um  die  praktische  Anerkennung  der  infantilen  Sexualität  führt.  Man 
kann  über  Freuds  Beziehung  zum  Sozialismus  nicht  sprechen,  ohne  auf  die 
sexualökonomische  Schule  einzugehen,  die  sich  am  konsequentesten  bemüht  bat, 
die  marxistische  Durchführung  der  Freudseben  Theorien  zu  leiten  —  diese 
Schweigsamkeit  ist  charakteristisch  für  seine  Taktik.  Denn  eine  Erwähnung  würde 
so  oder  so  zu  einer  klaren  Stellungnahme    führen   müssen. 

Wenn  man  als  Sozialist  über  Freud  aufklären  will,  nützt  es  nicht,  blass  und 
kritiklos  zu  schreiben  —  auch  nicht  in  einem  Geburtstagsartikel.  Besonders  arg 
ist  es,  wenn  es  um  Freuds  Person  geht.  Gerade  wir  haben  ein  Recht,  darauf  zu 
verweisen. .dass  Freud  vor  40  Jahren  den  Kampf  gegen  eine  ganze  Welt  mutig  und 
unerschrocken  geführt  hat,  ohne  Konzessionen,  ohne  Angst  vor  der  Konsequenz, 
wenn  es  die  Arbeit  erforderte.  Die  Fragen,  um  die  es  hier  geht,  sind  so  wichtig 
und  bedeutungsvoll,  auch  für  die  Zukunft  der  sozialistischen  Arbeiterbewegung, 
dass  eine  kritiklose  Huldigung  von  Freud  ohne  die  notwendigen  Vorbehalte  nicht 
nur  eine  üble  »Taktik«  ist,  sondern  direkt  schädlich  und  verwirrend.  Besonders 
krass  und  unsozialistisch  wirkt  es,  wenn  diese  Taktik  von  dem  »Sozialisten«  Dr. 
Feniehel  geübt  wird  —  denn  er  kann  nicht  behaupten,  dass  er  schweigt,  weil  er 
die  Problematik  nicht  gekannt   hat.  ■»«  J»- 

Die  Gegenarbeit    nichf  vergessen 

Der  in  unserer  Zeitschrift  Heft  2  (fi)  — 1935  erschienene  Artikel  von  Ernst 
Parell  »Wie  wirkt  Streichers  sadistische  Pornographie?«  wurde  in  verschiedenen 
Zeitungen  und  Zeilschriften  in  mehreren  Ländern  nachgedruckt,  u.a.  in  der 
»International  Review«,  New  York,  und  »Göteborgs  Handels-  och  Sjöfarts-Tid- 
ning«,  Göteborg.  Nicht  übersetzt  wurde  gerade  das  Wesentliche:  die  positiven 
Massnahmen,  die  Parell  vorgeschlagen  hatte,  und  die  wir  auf  Grund  ihrer  Wich- 
tigkeit nachfolgend  noch  einmal  wiederholen,  denn  die  Streicher  gibt  es  überall, 
nicht  nur   in    Deutsehland. 

Was  ist  zu  tun? 

Allgemein:  Dieser  reaktionären  Schweinerei  ist  eine  gut  organisierte  und 
sachlich  korrekte  Aufklärung  über  den  Unterschied  zwischen  kranker  und  ge- 
sunder Sexualität  entgegenzusetzen.  Jeder  durchschnittliche  Mensch  wird  diesen 
Unterschied  sofort  begreifen,  weil  er  ihn  selbst  schon  gefühlt  hat.  Jeder  durch- 
schnittliche Mensch  schämt  sich  seiner  perversen,  krankhaften  Scxualvorstcllungen 
und  sehnt  sich  nach  Klarheit,  Hilfe  und  natürlicher  Sexualbefriedigung.  Wir 
müssen   klären  und  helfen !!    Einige  konkrete  Details: 

1.)  Alles  Material  sammeln,  das  den  pornographischen  Charakter  des 
Streicherismus  ohne  weiteres  jedem  vernünftigen  Menschen  klarlegt.  In  Flug- 
blättern verteilen!  Das  Scxualintercssc  der  Masse  muss  in  gesundem  Sinne  ge- 
weckt, bewusst   gemacht   und  gestützt  werden. 

2  )  Sammlung  und  Verbreitung  jeden  Materials,  das  der  Bevölkerung  zeigen 
kann,  dass  Streicher  und  seine  Komplizen  selbst  Psychopathen  und  Schwerver- 
brecher an  der  Volksgesundheit  sind ! 

3)  Enthüllung  des  Geheimnisses  der  Wirkung  Streichers  auf  die  Masse:  br 
provoziert  die  krankhaften  Phantasien..  Die  Bevölkerung  wird  gutes  Aufklärungs- 
material   mit    Freuden    abnehmen    und    lesen. 

4.)  Die  krankhafte  Sexualität,  die  den  Boden  für  die  Hitlersche  Rassen- 
theorie und  die  Streicherschen  Verbrechen  bildet,  kann  nur  dadurch  bekampit 
werden,  dass  man  ihr  die  natürlichen  und  gesunden  Vorgänge  und  Vcrbaltungs- 
weisen  im  Geschlechtsleben  vor  Augen  hält.  Die  Bevölkerung  wird  den  Unter- 
schied sofort  begreifen  und  brennendes  Interesse  dafür  zeigen,  wenn  man  ihr 
klarmachen  wird,  was  sie  wirklich  will  und  nur  nicht  auszusprechen  wagt;  unter 

a)  Gesundes  und  befriedigendes  Geschlechtsleben  setzt  die  Möglichkeit,  mit 
dem  geliebten  Partner  allein  und  ungestört  zu  sein,  unbedingt  voraus.  Also: 
Wohnungsbau  für  alle,   die  es   notwendig  haben,   auch   die  Jugend. 

b)  Die  Sexualbefriedigung  ist  nicht  identisch  mit  der  Fortpflanzung.  Der 
gesunde   Mensch   hat  im   Leben   etwa   3—4.000   Mal    Geschlechtsverkehr,   doch    nur 

165 


Sexpol-Bewegung 

höchstens   zwei  oder  drei   Kinder.   Also   Empfängnisverhütungsmittel    sind    unbe- 
dingt notwendig   für  die   sexuelle  Gesundheit. 

c)  Die  allermeisten  Männer  und  Frauen  sind  durch  die  sexual  unterdrückende 
Erziehung  sexuell  gestört,  d.  h.  sie  bleiben  beim  Geschlechtsverkehr  unbefriedigt. 
Notwendig  ist  also  Einrichtung  genügender  Krankenanstalten  zur  Behandlung  der 
sexuellen    Störungen. 

d)  Die  Jugend  erkrankt  an  ihren  Onaniekonflikten.  Nur  Selbstbefriedigung 
ohne  Schuldgefühl  ist  nicht  gesundheitsschädlich.  Die  Jugend  hat  ein  Recht  auf 
ein  glückliches  Geschlechtsleben  unter  den  besten  Bedingungen.  Sexuelle  Abstinenz 
ist  auf  die  Dauer  unbedingt  schädlich.  Krankhafte  Phantasien  verschwinden  nur 
bei   befriedigendem   Geschlechtsleben. 

Kämpft   um   dieses   Recht! 

Übersicht  über  die  Studienarbeit  in  Oslo  und   Kopenhagen 

Im  Winter  1935/36  wurden  von  der  Sex-Pol  in  Oslo  und  Kopenhagen  eine 
Reihe  Studienkreise  veranstaltet,  an  denen  auch  Mitglieder  der  Freundeskreise 
und  Sympathisierende  teilnahmen.  Von  allen  Seminarahenden  wurden  Protokolle 
angefertigt  und  zwischen  Oslo  und  Kopenhagen  ausgetauscht,  Es  ist  zu  hoffen, 
dass  auch  andere  Freundeskreise  ihre  Arbeit  in  ähnlicher  Weise  organisieren  und 
ihre    Protokolle    mit    uns    austauschen    werden. 

In  Oslo  fanden  statt: 

1.)  Ein  zentrales  Seminar  mit  etwas  wechselnder  Zusammensetzung  (bedingt 
durch  das  jeweilige  Thema).  Es  wurden  darin  klinische  Abende  veranstaltet, 
jedoch  auch  aktuelle  Fragen  unserer  Arbeil  diskutiert.  Aus  den  zahlreichen 
Themen  nennen  wir:  Erfahrungen  der  Kopenhagener  Sexualberalungsstelle,  De- 
monstration der  clektrophysiologisehen  Versuche,  die  Lage  der  holländischen 
Sex-Polbewegung,  Zusammenfassung  der  in  der  pädagogischen  Arbeitsgemein- 
schaft gewonnenen  Resultate,  unsere  Stellung  zur  organisierten  Arbeiterbewegung 
u.  s.  w. 

2.)  Ein  pädagogisches  Seminar  versuchte  an  Hand  kritischer  Durcharbeitung 
der  bisherigen  Kleinkinderpädagogik  eine  eigene  Stellung  zu  erarbeiten.  Was 
wir  erstreben,   trat   immer  klarer  bei    der  Abgrenzung   von    allem    Früheren  hervor. 

Im  einzelnen  wurden  behandelt:  Rousseau,  Pestalozzi,  Fröbel,  Maria  Mon- 
tessori,  Freuds  3  Abhandlungen  zur  Sexualtheorie,  Anna  Freuds  Schriften,  Vera 
Schmidts  Bericht  über  das  Moskauer  Kinderheimlaboratorium  und  Aichhorns 
»Verwahrloste  Jugend«.  Dabei  wurde  das  Positive  eines  jeden  Pädagogen  heraus- 
gearbeitet, gleichzeitig  jedoch  der  innere  Widerspruch,  das  Stück  Triebverneinung 
aufgezeigt,  das  in    jedem    Fortschritt  gleichzeitig  enthalten    ist. 

3.)  Ein  Studienkreis  über  die  Geschichte  der  Arbeiterbewegung  unter  Leitung 
eines  SAP-Genossen,  der  in  den  3  Abenden,  die  bisher  stattgefunden  haben,  be- 
handelt hat:  Die  Utopisten,  die  sozialen  Voraussetzungen  für  das  Wirken  von 
Marx  und  Engels,  Übersicht  über  die  Marxsche  Theorie.  Für  spätere  Abende  sind 
vorgesehen  u.  a.  Marx  Lehen,  Pariser  Kommune,  Vorkriegssozialdcmokralie,  Rus- 
sische Revolution,  Entwicklung  der  Arbeiterbewegung  in  der  Weimarer  Republik 
und  in   Skandinavien. 

In   Kopenhagen  fanden   statt: 

1.)     Technische  Abende. 

2.)  Eine  Arbeitsgemeinschaft  über  den  »Rriefwcchsel  über  dialektischen  Ma- 
terialismus« (vgl.  H.  8/9),  in  dem  der  Briefwechsel  und  die  dazugehörigen  graphi- 
schen   Darstellungen    ganz   genau    durchgearbeitet    wurden. 

Die  Leitung  der  Sexpol  sendet  uns  folgende  Mitteilung': 
»Es  kommt  immer  wieder  vor,  dass  Mitglieder  der  Internationalen  Psycho- 
analytischen Vereinigung,  die  in  oder  mit  der  Sexpol  arbeiten,  Theorien  und  An- 
schauungen der  Sexualökonomie  unter  der  Bezeichnung  »Psychoanalyse«  ver- 
treten. Es  handelt  sich  um  Ansichten  und  Erkenntnisse,  die  von  der  Organisation 
der  Psychoanalytiker  immer  bekämpft  und  zurückgewiesen  wurden.  Wir  ersuchen 
diese  Freunde,  zu  begreifen,  dass  ihr  Vorgehen  unserer  Sache  schadet.  Man  sollte 
sich  des  Ausdruckes  »Sexualökonomie«  nicht  schämen  und  nicht  Menschen  und 
Organisationen  Stellungnahmen  zuschreiben,  deren  sie  sich  schämen,  die  zu  ver- 
treten sie   nicht   bereit   sind.    Wir  müssen   in  der  heutigen    schweren    Situation    auf 

166 


Sexpol-Korrespondenz 

Arbeit   Freunde  teilnehmen  zu  lassen,  die  derart  vorgehen.« 

Kleine  Notizen 
Antragen     die   die    Ausbildung   in  Sexualökonomie    und    politischer    Psychologie 
betreffen,  sind  zu   richten  an  Postbox  3010,  Oslo,  Norwegen. 

Die    Sexpol     behauptet,    dass    der    gcfühlsmässige    Hintergnwd /de*     national- 
sozialistischen  Marxistenhasses   die  Angst  vor  der  sexuellen   Revolution   ist. 

£f  dir    mSSÜSSSZ*    des    Rassenpolitische»    Amtes    Sachsen    in    Meissen 
WUrde  u    a.  fo^end^g^tent:  g  . 

Freiheilskampf«,   Dresden.) 

Viden  Dank  für  Ihr  Buch  »Die  Sexualität  im  Kulturkampf«.  Es  ist  fein.  Aber 
warum  wünscht  kein   englischer  Verlag  Sie  zu  publizieren?   Ich  fragte  Gollancz  . . . 

aM  WishSThatte  eine  Übersetzung  Ihres  »Jugendbuches«  angekündigt,  aber  sie 
stiessen  mit  Lawrence  zusammen,  welcher  nur  echten  Kommunismus  Pilgert, 
und  dn"  Buch  wurde  von  der  Liste  gestrichen.  Die  Freudinner  Schemen  e.ne  Kon- 
zile Über  die  Publikation  hier  zu  haben.  Einer  von  zwei  leitenden  fe»"*" 
sitc  zu  mir,  dass  Sie  nur  ein  Trotzkist  seien  und  dessen  Propaganda  auf  dem 
psychologischen  Gebiet  machten.  Unnotwendig  zu  sagen,  dass  sie  keine  Zeile 
von   Ihnen  gelesen   hatten 

Sexpol-Korrespondenz 

Briefwechsel   mit  einem  Genossen   aus  der  Sowjetunion 
(Ans  einem  Brief  aus  der  SU) 

Und  noch  eine  Frage:  Was  ist  mit   IL?  Der   Freund    den   Du  uns  damals 

geschickt,  sagte  mir,  dass  er  mit  Dr.  R.  zusammenarbeitet?  Wenn  das  stimmt, 
dann  wäre  er  ja  sehr  weit  von  uns  weg,  bez.  auf  der  Seite  der  Gegner. 

Wie  ist  das? 

rAltr^Sw/^.'^id'dämit  kann  ich  gleich  eine  Eurer  Anfragen   er- 
ledigen. Ja,  II.  steht  mit  Willy  R.  in  Verbindung  und  ich  auch  und  noch  eine  ganze 
An «hl    Berliner   Freunde    (Zur   Provinz    habe   ich    keine   Beziehungen)    und ^  viele 
Menschen    in    den    revolutionären    Bewegungen    der  ganzen   Welt.     \\ .    R.   bat .ein 
Buch  über  »Massenpsychologie  des  Faschismus«  geschrieben,  das  neben  dem  Buch 
v^n   Sternberg   »Der    Faschismus    an    der   Macht«    eines    der   ganz   wenigen    wissen- 
de, aftl  eben     theoretischen    Werke    über    den    deutschen    Faschismus    ist     Romane 
gilt     es    in    .Massen.    Agitationsbroschüren     noch    mehr,    aber    marxistisch     theore- 
tische  Werke   gibt  es  kaum.   In   dem   seinen    beschäftigt  er   sich    von    seinem    Beruf 
ls   Psychologe   und   Sexualökonom   aus  mit   dem   Problem ^  des   »subjek  iven    hak- 
tnrs«     der    die    so    unendlich    wichtige,    von    uns    immer    übersehene    Rolle    spielte, 
Hitler   zur   Macht   zu    verhelfen,    obgleich    die    ökonomischen    Voraussetzungen    so 
waren,    dass    alles    nach    links   drängte,   obgleich    die    linken    Parteien    zahlenmassig 
in   der  Lage  gewesen   waren,  den  Kampf  um   die  Macht  aufzunehmen.  Dieses  Buch 
ist   eines   der  vielgeleseneu   Fmigrantenwerke,  es    ist    in    wenigen    Exemplaren    auch 
nach    Deutschland    gekommen,    man    reisst    sich    darum,    es    kursiert    seit    2    Jahren, 

167 


Sexpol-Korrespondenz 

immer  zerlcscner,  weiter  und  weiter  und  aus  diesem  Buch  haben  die  deutschen 
Genossen  so  viel  gelernt,  ihren  Horizont  so  erweitert,  dass  es  trotz  aller  Kritik, 
die  sachlich  daran  zu  üben  ist,  einen  der  wenigen  Fortschritte  des  Emigranten- 
daseins  und  der  Emigrantenliteratur  bedeutet.  Es  ist  keine  der  vielen  Schilderun- 
gen, die  Grauen  und  Hass  erwecken,  man  muss  denken  und  sich  auch  selbst  an- 
sehn, wenn  man  es  liest.  Die  zweite  Auflage  davon  ist  schon  fast  vergriffen.  Vor 
kurzem  las  ich  eine  Kritik  darüber,  die  wichtige  berliner  Parteifunktionäre  illegal 
über  die  Grenze  brachten  und  die  eine  der  sachlichsten  und  besten  Auseinander- 
setzungen im  positiven  Sinn  darstellt.  Ihr  schreibt  »Gegner«:  Was  für  eine  sche- 
matische Auffassung,  was  für  eine  abgegriffene  Bezeichnung  für  einen  andern, 
der  gleich  Euch  auf  dem  Boden  des  Marxismus  unter  konsequenter  Anwendung 
der  dialektischen  Methode  arbeitet,  wissenschaftlich  arbeitet  unter  den  schwersten 
Bedingungen  der  Emigration. 

Dr.  Friedrich  Wolf  hat  hier  neulich  einen  schlechten  Vortrag  über  Deutsch- 
land und  die  SU  gehalten.  Er  ist  völlig  ungetrübt  von  Wissen  über  das  wirkliehe 
Leben  in  Deutschland,  er  sprach  wie  einer  der  harmlosen,  bürgerlichen,  welt- 
fremden und  weitabgewandten  Leute  des  andern  Kontinents.  Man  langweilte  sich, 
die  deutschen  Emigranten  waren  empört  —  es  war  alles  da,  was  irgendwie  links 
orientiert  ist  —  ich  war  tief  enttäuscht  über  seine  belanglosen  Anckdötchen  und 
Phrasen.  Dafür  solch  ein  Leben  in  Deutschland  und  in  der  Emigration,  um  nicht 
mehr  Verständnis  zu  finden,  gerade  bei  denen,  die  es  wissen  müssten  —  nämlich 
bei  den  Freunden  in  der  SU.  In  was  für  einem  Kinderparadies  lässt  man  Euch 
leben,  ohne  Euch  richtig  zu  informieren!  Er  sprach  begeistert  über  die  ungeheuren 
Möglichkeiten,  die  für  Wissenschaftler  und  Künstler  dort  zur  Verfügung  stehen 
—  und  ich  glaube  ihm,  dass  es  so  ist.  Dagegen  arbeitet  W.  R.  an  schwersten,  weit- 
gehendsten, revolutionierenden  wissenschaftlichen  Problemen,  dauernd  bedroht 
von  der  Ausweisung,  anerkannt  in  seinen  wissenschaftlichen  Ergebnissen,  deren 
sich  die  bürgerlichen  Analytiker  bedienen,  ohne  die  politischen  Erkenntnisse,  die 
sie  in  logischem  Weiterdenken  erbringen,  mitzumachen,  verschrieen  als  »Konter- 
revolutionär«, nur  gehalten  von  wenigen  ehrlichen  und  einsatzbereiten  sozialisti- 
schen Ärzten  und  Wissenschaftlern.  Persönlich  (ich  kenne  ihn  bereits  seit  langem 
aus  der  Berliner  Parteiarbeit)  ehrlich,  anständig,  solidarisch,  kämpfend  für  die 
proletarische  Revolution,  für  die  sozialistische  Gesellschaft,  sein  Wissen,  seine 
Erkenntnisse  nur  für  die  revolutionäre  Arbeit  zur  Verfügung  stellend  und  nur 
für  ihre  erfolgreichere  bessere  Durchführung  ständig  arbeitend.  Es  mag  vieles 
neu,  ungewohnt,  abschreckend,  noch  unklar  und  nicht  genügend  durchgearbeitet 
sein,  ich  kenne  keinen  Wissenschaftler,  ausser  in  Eurem  Land,  der  bewusster 
Wissenschaft  und  Politik  zusammenschweisst  und  ihre  Wechselbeziehungen 
aufzeigt. 

Ich  habe  bei  allen  Berichten,  die  ich  von  Eurem  Land  direkt  oder  indirekt 
höre,  immer  das  Gefühl,  als  sieht  man  dort  die  Welt  nur  durch  ein  Bilderbuch, 
wo  auf  der  einen  Seite  der  schwarze  Mann  »Faschismus«  steht,  und  auf  der 
andern  Seite  der  Engel  des  Proletariats,  die  »Demokratie«.  Ich  kenne  hier  von 
früher  und  jetzt  ziemlich  viele  Leute;  Proleten  aus  Deutschland  und  von  hier, 
Ärzte,  Schriftsteller,  Pädagogen,  Studenten,  sie  alle  stehen  zu  uns,  zur  SU,  aber 
sie  alle  sind,  wie  die  ganze  Welt  in  eine  heftige  Diskussion  geraten  über  das 
Leben  in  der  SU.  Wahrscheinlich  ist  es  Euch  nicht  bekannt,  dass  es  eine  inter- 
nationale Diskussion  gibt,  dass  sie  reale  Gründe  hat  und  dass  es  wirklich  zu 
diskutierende  Dinge  sowohl  innerpolitisch  als  auch  hauptsächlich  ausseupolitisch 
gibt.  Das  sind  keine  »Gegner«,  das  sind  keine  »Konterrevolutionäre«,  keine  »Sek- 
tierer«, das  sind  ehrliche,  anständige,  überzeugte  und  intelligente  Freunde  und 
die  Kritik  entsteht  aus  ihrem  ehrlichen  Bemühen,  das  Leben  dort  zu  verstehn, 
den  Menschen  dort  aber  auch  die  internationalen  Erfahrungen  mitzuteilen,  wie 
sie  sich  abspielen  und  darstellen  ausserhalb  der  Walze  der  »Basler  Rundschau«. 
Ich  sehe  Eure  entsetzten  Gesichter.  Ihr  seid  traurig,  getroffen  und  wohl  auch 
ein  wenig  gekränkt  über  einen  so  respektlosen  Ton,  über  so  ketzerische  Ansichten, 
über  so  abweichende  Meinungen.  Nicht  nur  ihr  habt  Euch  verändert,  sondern  auch 
ich,  wir  alle  in  Deutschland,  die  nicht  absacken  wollten  unter  dem  Druck  der 
faschistischen  Ideologie,  in  dem  zermürbenden  Alltag  des  dritten  Reiches.  Wir 
sind  mit  wenigen  Ausnahmen  keine  Treppenterrier  mehr  und  keine  Parteiwalzen 
im  alten  Sinne,  wir  haben  die  Denklähmung,  die  seit  dem  sechsten  Weltkongress 
in  der  Partei  um  sich  gegriffen  hatte,  abgeschüttelt,  wir  wagen  es  wieder,  zu 
kritisieren,   selbst  auf  die   Gefahr  hin,    von   Euch   als   Abweichungen   gestempelt  zu 

168 


Sexpol-Korrespondenz 

werden,  wir  haben  gelernt,  unabhängig  von  den  Linien  zu  handeln,  die  sich 
schneller  änderten,  als  wir  sie  in  Deutschland  durchbekamen  und  selbständig  auf 
unsere  eigenen  Köpfe  vertrauend  zu  arbeiten.  Das  klingt  überheblich,  disziplinlos 
und  sektiererisch.  Lasst  nur,  wir  haben  ein  so  dickes  Fell  bekommen,  weil  wir 
immer  damit  rechnen  mussten  und  müssen,  dass  die  Gestapo  auf  uns  rum  kloppt, 
uns  tut  auch  nicht  mehr  eine  eingeleierte,  mit  erhobenem  Zeigefinger  geübte 
Kritik  weh.  Wir  hören  auf  alle,  die  uns  in  kameradschaftlicher  ehrlicher  Art 
und  ohne  Übertreibung  und  ohne  Unterschätzung  mit  wirklicher  Kenntnis  der 
Verhältnisse  sagen,  was  wir  falsch  machen  und  was  besser  gemacht  werden 
könnte.  Aber  gegen  das  Donnergebraus  von  Thesen  sind  wir  abgehärtet,  weil  wir 
sie  meistens  erst  dann  zu   hören  bekommen,  wenn   bereits  neue   heraus   sind. 

Ja  die  Welt  ist  aus  den  Fugen,  es  gibt  nicht  mehr  eine  alleinseligmachende 
Führung,  der  man  brav  folgt.  Es  gibt  eine  klare,  feste,  unumstosshare  Welt- 
anschauung, für  die  wir  in  freiwilliger  Disziplin  ohne  Zwang  von  oben  oder  unten 
gemeinsam  mit  allen  kämpfen,  die  wirklich  kämpfen  wollen.  Und  kämpfen  wie 
wir  Mitglieder  der  Partei  wollen  auch  alle  die,  die  neben  ihr  stehn,  die  in  andern 
revolutionären  Gruppen  zusammengefasst  sind  und  mit  ihnen  verbindet  uns  mehr, 
als  mit  einer  katholischen  Jugend,  die  zwar  gegen  Hitler  ist,  aber  nicht  gegen 
die   kapitalistische   Gesellschaftsordnung,   die   sie   in    ihrem   Glauben    selig   werden 

lässt. 

Anarchisch,  chaotisch  durcheinander,  meint  ihr!  Ich  spreche  nicht  nur  von 
mir,  ich  weiss,  dass  alle  Genossen,  mit  denen  ich  3  Jahre  zusammenarbeitete, 
zusammen  litt  und  mit  denen  ich  draussen  persönlich  oder  schriftlich  wieder 
zusammenkomme,  ähnlich  oder  genau  so  denken  und  handeln.  Wir  sind  keine 
Parteimaschinen  mehr,  wir  haben  den  Begriff  des  Mitgliedsbuches  ebenso  ver- 
lernt, wie  den  Begriff  der  rechten  oder  linken  »Abweichung«.  Wir  wissen,  dass 
in  den  Reihen  der  H.  J.  mehr  revolutionäre  Kräfte  stecken,  als  in  der  bündischen, 
bürgerlich  konfessionellen  Jugend,  wir  wissen,  dass  ein  ausgeschlossener  Kom- 
munist mehr  oder  ebensoviel  für  die  Bewegung  arbeitet,  als  ein  eingefleischter 
SPD-Mann    aus   dem   Vorstand   der   II.    Internationale. 

Antworf  an   Wilhelm   Reich 

Von  Je*  Last  (Holland) 

Genosse  Reich  nimmt  in  seinem  Artikel  »Der  Kampf  um  die  neue  .Moral«  in 
Heft  3  (7)  den  Kampf  auf  mit  der  sogenannten  »Reaktion«,  und  zwar  an  erster 
Stelle  mit  der  Reaktion  auf  sexuellem  Gebiet  im  eigenen  Lager.  Ein  unerhört 
wichtiger  Kampf,  der  aber  nur  dann  zum  Erfolg  führen  kann,  wenn  die  Argu- 
mente   dieser    reaktionären    Richtung   vollkommen    richtig    dargestellt    werden. 

Versteht  aber  Genosse  Reich  unter  dieser  »Reaktion«  nicht  nur  gewisse  »Fach- 
leute« auf  dem  sexuellen  Gebiet,  sondern  auch  alle  die,  die  ebenfalls  in  der 
Kulturfront  stehen,  dann  bin  ich  der  Meinung,  dass  Genosse  Reich  sich  in  seinem 
Artikel  nur  mit  nebensächlichen  Fragen  auseinandersetzt,  während  er  den  eigent- 
lichen   Kernpunkt  jener  Reaktion   garnicht   erkannt  hat. 

»Die  Reaktion  behauptet,  wenn  man  das  Sexualleben  unbedingt  bejahe,  käme 
das  Chaos.« 

Das  behauptet  die  Reaktion  tatsächlich,  aber  Genosse  Reich  liebt  Konkretisie- 
rungen und  also  konkretisiert  er  auch,  wie  sich  die  Reaktion  dieses  Chaos  vor- 
stellt. Es  ist  die  zügellose  Herrschaft  der  unnatürlichen,  asozialen  und  gemein- 
gefährlichen Sexualentartungen,  die  als  Folge  einer  Jahrhunderte  existierenden 
patriarchalischen   Moral   und  kapitalistischen   Ordnung  entstanden   sind. 

Ohne  Zweifel  sind  diese  Argumente  von  bestimmten  Gegnern  der  Sexpol  hier 
und  da  aufgestellt  worden,  aber  es  wäre  vollkommen  falsch,  darin  die  eigent- 
lichen Hauptargumente  der  Reaktion  zu  erblicken.  Zur  Erläuterung  möchte  ich 
auf  das  ausserordentlich  interessante  Werk  des  englischen  Schriftstellers  Aldous 
Huxley  »This  brave  true  world«  hinweisen.  Huxley  führt  in  diesem  Roman  die 
Gedankengänge  der  Sexpol  eigentlich  ad  absurdum.  Er  zeichnet  eine  phantastische 
Zukuuftsgesellschaft,  in  der  alle  Bindungen  zwischen  Fortpflanzung  und  Sexuali- 
tät gelöst  sind.  Die  Kinder  werden  in  Staatslaboratorien  ausgebrütet,  der  Sexual- 
akt als  Lust  dagegen  ist  nicht  nur  stärkstens  bejaht,  sondern  der  Staat  tut  alles, 
damit  der  sexuelle  Trieb  fortwährend  hemmungslos  und  restlos  befriedigt  werden 
kann.   Auch    in    Huxleys    Roman   fordert  man   bereits   die   dreijährigen    Kinder   auf, 

169 


Sexpol-Korrespondenz 

mit  dem  »Lulu«  zu  spielen;  und  bestraft  werden  nur  diejenigen,  die  an  sexuellen 
Spielen  kein  Vergnügen  haben.  Das  Ergebnis  ist  eine  scheinbar  vollkommen  glück- 
liche Welt,  aus  der  (bei  genügender  materieller  Versorgung)  jede  Unzufriedenheit 
verschwunden   ist   und  auch  jede   sexuelle   Entartung. 

Aber  jetzt  kommt   die   Anklage   Huxleys. 

In  dieser  vollkommen  glücklichen  Welt  ist  auch  jede  Spannung,  jedes  künst- 
lerische Schaffen,  jede  geistige  Mingabe  und  jede  wirkliebe  Wissenschaft  ver- 
schwunden. 

Und   das   ist  das   eigentliche    Argument    des    Gegners: 

eine  hemmungslose  Bejahung  des  Trieblebens  bedeute  den  Untergang  aller 
Kultur,  da  diese  nur  auf  einer  hewusslcn  Eindämmung  und  Beherrschung  der 
Triebkräfte  aufgebaut    ist. 

Dazu  ist  einiges  zu  sagen. 

Ohne  Zweifel  sind  Trinken  und  Wasserlassen  ebenfalls  natürliche  Be- 
dürfnisse. Jeder,  der  einmal  mit  einer  Gruppe  Kinder  einen  Ausflug  gemacht  hat, 
weiss,  wie  bei  jedem  Bauernhof  und  hei  jedem  Brunnen  erst  ein  kleinerer  Teil 
der  Kinder,  und  dann  gewöhnlieh  alle  das  Bedürfnis  verspüren,  zu  trinken.  Man 
kann  das  gut  finden  und  auf  diese  Weise  in  der  Gruppe  jede  Ordnung  zerstören 
—  auch  jede    Selbsttliziplin. 

Man  kann  auch  ganz  energisch  sagen:  die  ersten  zwei  Stunden  wird  nicht 
getrunken!  Schaden  werden  die  Kinder  davon  nicht  erleiden,  sie  werden  sogar 
gar  kein  Bedürfnis  haben  zu  trinken,  und  der  Ausflug  wirkt  sich  gleichzeitig 
erzieherisch    aus. 

Dumm  und  gesundheitsschädlich  wäre  es,  einem  Kind  zu  verbieten,  sein 
Wasser  zu  lassen,  oder  diesen  Vorgang  als  etwas  hinzustellen,  dessen  es  sich  zu 
schämen  hat.  Andererseits  fordert  man  aber  ein  Kind  nicht  auf,  an  jeder  Strassen- 
ecke  zu  schiffen,  sobald  es  auch  nur  das  geringste  Bedürfnis  dazu  verspürt.  Ist 
es  wirklieb,  innerhalb  bestimmter  Grenzen,  falsch  zu  sagen:  damit  warte,  bis  Du 
zu  Hause  bist? 

Dieses  Beispiel  übertragen  heisst  die    Frage   richtig  stellen: 

Wie  weit  geht  die  Bejahung  des  Sexuallebens?  Bedeutet  sie  fortwährende 
sofortige  Befriedigung,  oder  schlicsst  sie  nicht  gewisse  Beherrschung,  eine  gewisse 
Einschränkung    ein,    also    doch   wieder   eine    Moral? 

Jedoch  wirkliehe  Fragestellung  geht  noch  tiefer!  Warum  bejahen  wir  die 
sexuelle  Lust?  Weil  sie  natürlich  ist?  Ist  das  »Natürliche«  schon  an  und  für  sich 
das  Gute?  Ganz  gewiss  ist  die  Natur  amoralisch.  Muss  nun  der  Mensch  sieb  der 
Natur,  oder  die  Natur  sich  dem  Menschen  unterwerfen?  Ist  der  Mensch  nicht 
gerade  Herrschaft  über  die  Natur  und  ihre  blinden  Kräfte?  Ist  es  nicht  letzten 
Endes  Zweck  und  Sinn  des  Marxismus,  dass  der  Mensch  über  die  Natur  herrschen 
soll?  Ein  bekannter  englischer  Sexualforseher  behauptete  in  dieser  Zeitschrift, 
der  Mensch  sei  sexual  biologisch  polymorph-pervers.  Öffnen  wir  nicht  jeder  Will- 
kür die  Tür,  wenn  wir  jede  sexuelle  Eigenart,  die  uns  nicht  passt,  einfach  »un- 
natürlich« nennen?  Kommen  Sadismus  und  Masochismus  nur  unter  dem  Ka- 
pitalismus vor,  oder  auch  bei  Völkern,  die  noch  nicht  einmal  die  patriarchalische 
Gesellschaftsform  kennen?  Existiert  nicht  vielleicht  in  jedem  »natürlichen«  Men- 
schen, neben  dem  heterosexuellen,  auch  ein  homosexueller  Trieb,  wie  er  ja  bei 
allen  Völkern  —  unter  sehr  verschiedenen  ökonomischen  und  gesellschaftlichen 
Verhältnissen  —  zu  finden   ist? 

Wahrscheinlich    antwortet    Genosse    Beich: 

Wir  bejahen  die  sexuelle  Lust,  nicht  weil  sie  natürlich  ist,  sondern  weil  sie 
Glück  bringt.  Es  ist  aber  zwischen  Wollust  und  Glück  ein  sehr  grosser  Unter- 
schied. Ohne  Zweifel  bereitet  das  Spielen  mit  Lulu  der  dreijährigen  Ruth  Wollust. 
Bleibt  sie  aber  auf  dieser  physischen  Freude  stehen  und  lernt  niemals  den  Eros 
kennen,  lernt  niemals  die  psychischen  Freuden  der  Jagd  danach,  der  Sehnsucht 
danach,  der   Werbung  kennen,    wird    sie  dann    nicht    unglücklich    werden? 

Von  Mathematik  sind  nur  wenige  glücklieh  geworden,  sagt  Genosse  Beich. 
Ist  aber  damit  die  Mathematik  schon  verurteilt?  Es  ist  eine  Tatsache,  dass  die 
tiefste  Kunst  aus  einer  offenen  Wunde  flicsst.  Welcher  Künstler  aber  wird  seiner 
Kunst  fluchen,  weil  sie  ihn  nicht  glücklich  gemacht  hat?  Da  sind  vir  wieder  bei 
der  alten  Frage  der  Beaktion: 

Kann  die  Kultur,  kann  alles,  was  höher  als  das  Glück  steht:  Kunst,  Becht, 
Wissenschaft,    Wahrheit,    bei    bedingungsloser    Bejahung    der    Sexualität    gedeihen? 

ich  glaube,  Genosse   Beich,  dass  nur  sehr  wenige  Holländer,  die  meine  Schrif- 

170 


Sexpol-Korrespondena 


ten  kennen,  mich  zur  »Reaktion«  auf  sexuellem  Gebiet  rechnen  werden.  Ich  weiss, 
welch  unerhörtes  Leid  eine  sinnlos  gewordene,  veraltete  Scxualmoral  für  die 
Massen  bedeutet,  wie  reaktionär  sie  sich  politisch  auswirkt,  ich  weiss  auch,  dass 
man  die  ganze  Jugend  verlieren  würde,  wenn  man  versuchen  wollte,  moralischer 
als  die  Bourgeoisie  zu  werden.  Ich  weise  jede  Moral  zurück,  die  nur  auf  »Staats«- 
Interesse  beruht,  die  jede  Lebensfreude  verneint,  die  nur  abstrakte  Verbote  hat 
für  das,  was  uns  glücklieb  macheu  kann  und  keinem  schadet.  Aber  während  ich 
das  Recht  auf  Essen  anerkenne  und  fordere,  leugne  ich  das  Recht  auf  Fressen 
und  habe  keine  Sympathie  für  die  Papuas,  die,  haben  sie  ein  Stück  geschossen, 
so  lange  fressen,  bis  sie  sich  nicht  mehr  fortbewegen  können  und  zwei  Tage  wie 
tot  daliegen.  Ich  bin  ein  Feind  jeder  Überspannung,  aber  Spannungen  möchte  ich, 
auch  im  Sexuellen,  nicht  entbehren.  Solche  Spannungen  entstehen  aber  nur  aus 
dem  Willen,  mit  dem  der  Mensch  seine,  an  und  für  sich  blinden  (natürlichen). 
Triebe  einer  gewissen  Ordnung    unterwirft.    Also  doch    wieder  eine   gewisse  Moral? 

Ja!  lud  zwar  statt  der  bürgerlich-reaktionären  eine  proletarisch-revolu- 
tionäre. 

Was  denken   Sie  zu  folgenden  Grundsätzen: 

Erlaubt  ist,  was  weder  dem  Partner,  noch  deiner  Arbeit  und  deinem  Kampf 
für   die   sozialistische    Gesellschaft    und    ihrer  Kultur  schallet? 

Und  dazu  vielleicht  noch  ein  zweiter  Grundsatz,  der,  gerade  weil  er  »roman- 
tisch«   ist,    von   der  Jugend   vielleicht    besser   verstanden    wird    als   von    den    Alten: 

Keine    Sexualität    ohne   Liebe ! 

Wissenschaftlich  ausgedrückt:  wir  bejahen  (abgesehen  natürlich  von  Not- 
fällen, die  aus  dem  Kapitalismus  herrühren),  die  Befriedigung  der  sexuellen  Lust 
nur  dann,  wenn  sie  für  beide  Partner  nicht  nur  physisch,  sondern  auch  psychisch 
ist.  Denn  insofern,  Genosse  Reich,  bin  ich  »reaktionär«,  dass  ich  den  Geschlechts- 
akt nicht  nur  als  eine  angenehme  Drüsenentleerung  betrachte,  sondern,  fast  sym- 
holisch,  als  die  Vereinigung  zweier  Menschen,  als  die  höchste  Steigerung  der 
menschlichen    Kameradschaft,    Freundschaft    und    Liebe. 

Antwort  an  Jef  Last 

Huxley  schildert  in  seinem  Roman  »this  true  brave  World«  wirklich  eine 
»phantastische   Zukunftsgesellschaft !« 

Die  Sexpol  aber  ist  keine  auf  Phantasterei  aufgebaute  Spekulation,  sondern 
eine  auf  wissenschaftlicher  Erkenntnis  basierende  Politik,  welche  sich  nicht 
damit  begnügen  kann.  Schilderungen  und  Dichtungen  einer  Zukunftsgesellschaft 
zu  geben,  sondern  deren  ganz  konkretes  Ziel  es  ist,  die  realen  Schwierigkeiten  der 
Gegenwart  zu  erkennen,  um  über  ihre  Zerstörung  hin  den  ersten  Schritt  zur  Um- 
strukturierung der  Gesellschaft  zu  wagen.  So  kann  die  Sexpol  sich  nicht  auf 
spekulative  Gedankengänge  einlassen,  sondern  muss,  —  auf  wissenschaftlicher 
Basis  fussend  —  den  Weg  gehen,  der  langsam  von  Schwierigkeit  zu  Schwierigkeit, 
von  Problem  zu  Problem  vordringt.  -  Uns  ist  es  noch  nicht  möglich,  ein  Bild 
von  einer  »Zukunftsgesellschaft«  zu  entwerfen.  Uns  interessiert  die  Not  unserer 
gegenwärtigen  Gesellschaft  und  die  Aufgabe,  die  diese  Not  uns  stellt,  ist  so  gross, 
dass  wir  keine  Zeit  haben,  von  Idealen  zu  träumen.  Dass  aber  Huxleys  Vorstellung 
von  der  »Zukunftsgesellschaft«  unwissenschaftlich  und  illusorisch  ist,  dass  eine 
Gesellschaft,  in  der  Sexualität  und  Fortpflanzung  von  ihrer  durch  die  patriarcha- 
lische Moral  geschlossenen  Bindung  gelöst,  ein  völlig  anderes  Bild  zeigen  muss, 
als  das  von  Huxley  geschilderte,  den  Beweis  haben  die  Forschungsergebnisse  der 
Charakteranalyse    bereits    gebracht. 

Die  wissenschaftliche  Feststellung,  dass  Sexualität  sich  nicht  in  einem  lang- 
samen Pro/.ess,  der  in  der  Pubertät  mit  Erreichung  der  Fortpflanzungsfähigkeit 
beendet  ist,  entwickelt,  sondern  dass  die  Sexualität  ein  biologischer  Faktor  ist, 
mit  dem  wir  non  der  Geburt  des  Menschen  an  zu  rechnen  haben,  dass  sie.  als  spe- 
zifischer Lusltrieb  mit  dem  Menschen  geboren  wird  und  wie  jeder  andere  Trieb 
nach  Bedürfnisbefriedigung  verlangt,  —  zwingt  uns.  die  Frage  nicht  wie  Huxley 
im    Detail  zu  sehen,  sondern   in    ihrer  Ganzheit  zu   behandeln. 

Die  Sexualität  ist,  wie  die  Forschung  ergehen  hat,  ein  natürlicher,  biologi- 
scher Lusttrieb,  der  von  Geburt  an  im  Menschen  ist.  Der  erste  Akt  des  Neuge- 
borenen, noch  hevor  er  die  Mutterbrust  bekommt  und  Nahrung  zu  sich  nimmt, 
ist  der,  an  den  Fingern  zu  lutschen,  um  sich  Lust  zu  bereiten.  -  -  Aber  ein  Jahr- 
tausende dauernder  Prozess  hat  die  völlige  Unterdrückung  der  seihständigen 
und  nur  auf  Luslgewiunung  gegründeten  Sexualität  gefordert    und  die  —  was   das 

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Sexpol- Korrespondenz 

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Sexualleben  betrifft  entarteten  und  degenerierten  -  Menschen  gezwungen,  eine 
Verkuppelung  des  Sexualtriebes  mit  dem  Fortpflanzungstrieb  vorzunehmen  und 
da,  wo  dies  nicht  möglich  ist,  —  in  der  Kindheit  —  die  Sexualität  ganz  zu  leugnen. 

Kein  Trieb  des  Menschen  aber  ist,  wenn  er  sieh  gesund  reguliert,  so  an  den 
rhythmischen  Wechsel  von  Spannung  und  Entspannung  gebunden  wie  gerade  der 
gesunde  Geschlechtstrieb.  Und  kein  Trieb  des  Menschen  wirkt  so  befruchtend  und 
anregend  auf  seine  Produktivität  sowohl  in  Bezug  auf  künstlerisches  Schaffen 
als  auf  wissenschaftliche  Arbeil  wie  der  Geschlechtstrieb,  der  eine  Bejahung 
erlebt. 

So  würde  die  Sexpol,  wenn  sie  "die  Zukunftsgesellschaft  schildern  wollte, 
gerade    zu   entgegengesetzten    Schlüssen   kommen    wie   Huxley: 

Hie  Mensehen,  welche  frei  von  Schuldgefühlen  zu  ihrem  Sexualleben  stehen 
und  unabhängig  von  wirtschaftlichen  Miseren  ihren  gesunden,  natürlichen  Trieb 
lustvoll  befriedigen  könnten,  würden  nicht  wie  bei  Huxley,  jede  Spannung  ent- 
behren, sondern  ihre  Spannungen  wie  deren  Lösungen  bewusst  erleben,  Und  aus 
der  bewussten  Bejahung  ihrer  Bedürfnisse  und  deren  Befriedigung  würde  eine 
neue  Kultur  aufblühen.  Kunst  wäre  nicht  mehr  Privileg  einiger  Auserwählter, 
sondern  die   Masse  würde   fähig  werden,   sie  zu   gemessen ! 

Auch  die  Details  wie  die  Geburten  in  Staatslaboratorien,  —  die  Ermahnung 
der  Kinder,  mit  ihrem  »Lulu«  zu  spielen,  würden  unter  dem  Gesichtswinkel  des 
biologischen  Lusttriebcs  genau  umgekehrt  aussehen:  Denn  auch  Gebären  kann 
eine  Lust  sein  und  onanieren  ist  in  einem  bestimmten  Alter  ein  natürlicher  Vor- 
gang, zu  dem  man  nicht  »aufzufordern«  braucht.  Und  eine  »Strafe,  für  diejenigen, 
welche  sieh  nicht  an  sexuellen  Spielen  beteiligen  wollen«,  scheint  den  Faktor  des 
vorhandenen  Triebes  oder  Bedürfnisses  nach  Lustgewinnung  ganz  übersehen  zu 
haben. 

Die  Stellung  der  Sexpol  zur  Befriedigung  der  Bedürfnisse  gibt  auch  die  Ant- 
wort auf  Jef  Last's  Beispiel  mit  dem  Durst  und  dem  Wasserlassen  der  Kinder 
auf  einem  Ausflug.  Wir  sehen  diese  Fragen  ungezwungener  und  wissen  nicht, 
warum  Kinder  ihren  Durst  nicht  löschen  sollen?  Jef  Last's  Einwand,  dass  eine 
völlige  Freiheit  der  Bedürfnisbefriedigung  »jede  Ordnung  in  der  Gruppe  zerstören 
würde«,  ist  die  Einstellung  der  Menschen,  welche  das  Vertrauen  auf  eine  organi- 
sche Regelung  der  Körperbedürfnisse  verloren  haben  und  an  seine  Stelle  nun 
äussert iche  Ordnung   und    Disziplin    stellen. 

Wohl  haben  wir  bei  den  heutigen  Kindern  noch  mit  Menschen  zu  rechnen, 
deren  Gleichgewicht  schon  gestört  ist  und  die  deswegen  auf  Freiheit  oft  erst  mit 
Unordnung  und  Chaos  reagieren.  Aber  diese  Unordnung  ist  nur  der  Übergang  von 
einer  äusserlichcn,  gezwungenen  Ordnung  zu  einer  wirklichen  im  Organismus 
bedingten,    natürlichen    Regelung   der   Bedürfnisfragen. 

Dazu  wollen  wir  als  Beweis  den  Versuch  bringen,  der  im  letzten  Sommer  in 
einem  Kinderheim  an   der  Nordsee  gemacht   wurde: 

Den  27  Kindern  im  Alter  von  3 — 7  Jahren  wurde  keinerlei  Zwang  bezüglich 
Bedürfnisbefriedigung  geboten.  Sie  konnten  essen,  trinken,  wieviel  oder  wenig  sie 
wollten,  in  der  See  baden,  sooft  und  so  lange  sie  wollten,  aufstehen  und  Schlafen- 
gehen, wann  sie  wollten.  — -  Eine  knappe  Woche  herrschte  eine  allgemeine  Un- 
ordnung und  Unregelmässigkeit  in  dem  Kinderheim,  dann  bekam  ein  Kind  nach 
dem  anderen  ein  Gefühl  und  eine  Stellung  zu  seinen  Bedürfnissen  und  Eigenarten, 
es  lernte  seine  Befriedigung  verstehen  und  kontrollieren  und  fand  einen  eigenen 
Rhythmus.  Nach  ungefähr  2  Wochen  hatte  man  nicht  mehr  den  Eindruck,  lauter 
einzelne  Individuen  vor  sich  zu  haben,  die  jeder  ihren  eigenen  Rhytmus  leben, 
sondern  es  bildete  sieh  eine  lockere  Ordnung,  die  jedem  eine  gewisse  Freiheit 
liess  und  doch    eine    Gemeinschaft  aus   den    Individuen    machte. 

Von  den  Kindern,  die  durch  keinerlei  Zwang  gebunden  waren,  war  nicht  eines 
krank,  keines  benahm  sich  so  »undiziplinicrt«,  dass  es  als  asozial  empfunden 
wurde,  sondern  fremde  Badegäste  wurden  aufmerksam  auf  die  »eigenartige  Har- 
monie«,  die   diese    Kiniler    schon    nach   wenigen    Wochen    ausdrückten. 

Die  Beantwortung  der  beiden  obigen  Fragen  schliesst  eigentlich  schon  die 
Antwort  der  dritten  Frage  in  sich,  der  Frage  nach  der  Bejahung  des  Geschlechts- 
lebens, ihrer  »sofortigen  fortwährenden  Befriedigung«  oder  »Beherrschung  und 
Einschränkung«. 

Wir  bejahen  die  sexuelle  Lust  nicht  nur,  weil  sie  »natürlich  ist«,  Jef  Last, 
wir  bejahen  sie,  weil  sie  Lust  ist  und  lehnen  es  ab,  uns  mit  irgendeiner  Begrün- 
dung,  Lust   zu    bejahen,   zu   entschuldigen.    Sie   haben    Angst,    dass    »Sehnsucht    und 

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Sexpol-Korrespondenz 

Werbung«  verloren  gehen,  wenn  man  »auf  der  physischen  Freude  stehen  bleibt«. 
Sie  fürchten,  dass  man  »den  Eros  niemals  kennen  lernt,  wenn  man  nicht  seine 
Triebe  einer  gewissen  Ordnung  unterwirft«.  Sehnsucht  und  Werbung  entstehen 
nicht  durch  eine  moralische  Schranke,  die  der  Mensch  sich  setzt,  sondern  aus 
dem  Gegenspiel  der  Partner,  deren  Bedürfnisse  ja  nicht  immer  gleich  zu  sein 
brauchen.  Eros  ist  nicht  auf  Verzicht  und  Versagung  angewiesen,  sondern  bei 
einem  gesunden  Geschlechtsleben  bringt  jede  sexuelle  Lust  auch  eine  Liebes- 
bindung  und  jede   Liebe   den  Wunsch    nach   sexueller  Vereinigung   mit   sich. 

Trotz  dieser  Talsache  lehnen  wir  es  ab,  einen  »Grundsatz«  wie  den  von  Ihnen 
vorgeschlagenen  »Keine  Sexualität  ohne  Liehe«  aufzustellen.  Bei  Jugendlichen  ist 
es  ein  ganz  natürlicher  Prozess,  der  sich  auch  im  späteren  Leben  hei  Partncr- 
wcchsel  zuweilen  vollzieht,  dass  der  Partner  oft  gewechselt  und  nicht  immer  mit 
Anspruch  auf  Dauer  gelieht  werden  muss.  Dies  ist  ein  Übergang,  der  sich  längere 
oder    kürzere    Zeit    hinziehen    kann. 

Der  einzige  Grundsatz,  den  man  im  Sexualleben  gelten  lassen  könnte,  —  wenn 
es  unbedingt  Grundsätze,  sein  müssen,  —  wäre,  dass  man  seine  Bedürfnisse  so 
befriedigt,  dass   für  beide  Partner  die   grösstmögliche   Lust  entsteht. 

Wir  öffnen  mit  unserer  Einstellung  zur  Frage  des  Sexuallebens  nicht  »jeder 
Willkür  die  Tür«,  -  sondern  die  Ergebnisse  der  charakteranalytischen  Praxis 
beweisen  bereits  heute,  dass  —  wo  es  gelingt,  die  durch  bürgerliche  Sexualmoral 
in  Jahrtausenden  aufgebauten  Panzerungen  zu  durchbrechen  —  sich  im  gesunden 
Menschen  eine  Fähigkeit  zur  »sexualökonomischen  Selbststeuerung«,  zur  Regu- 
lierung des  Verhältnisses  zwischen  Befriedigungs&edürfjiis  und  Befriedigangs/öhip- 
keit  herausbildet  und  dass,  wenn  die  gesunde  Genitalität  im  Menschen  freigelegt 
ist,  sein  sexueller  Haushalt  sich  durch  seine  vegetativen  Ansprüche  selbst  regelt, 
ohne  die  Moral   in  Anspruch  zu  nehmen. 

Wir  empfehlen  Jef  Last  das  Studium  von  Dr.  Wilhelm  Reichs  letztem  Buch: 
»Die   Sexualität    im    Kulturkampf«. 

Anmerkung  der  Redaktion: 

In  den  vorn  gedruckten  Vorträgen  von  Wilhelm  Reich  und  Sigurtl  Hoel  wird 
speziell  auf  das  von  Jef  Last  aufgeworfene  Problem:  »Sexualität  und  Kultur« 
eingegangen. 

Die  psychoanalytische  Bewegung  in  Ungarn 
Die  ungarische  psychoanalytische  Gruppe,  die  unter  Leitung  des  verstorbenen 
Dr.  Alexander  Ferenczi  stand,  hat  immer  eine  grosse  Bedeutung  in  der  Psa- 
Bewegung  gehabt  und  es  wird  nicht  ohne  Interesse  sein,  ihre  jetzige  Stellung- 
nahme kennenzulernen.  Wir  dürfen  hei  dieser  Frage  nicht  ausser  acht  lassen,  dass 
Ungarn  zu  den  wenigen  Ländern  gehört,  deren  herrschende  politische  Richtung 
eine    innere,    seelische    Zusammengehörigkeit    mit    Hitler-Deutschland    anstrebt. 

Nach  der  Stellungnahme  der  deutschen  Psychoanalytiker,  vertreten  durch 
Herrn  Müller-Braunschweig,  kann  die  ungarische  als  Dokument  dafür  dienen,  wie 
weit  die  psychoanalytische  Bewegung,  respektive  ihre  offiziellen  Vertreter  von 
den   Grundprinzipien   der  Fsa.   entfernt   sind. 

Die  offizielle  ungarische  Auffassung  wurde  jetzt  schriftlich  dokumentiert 
durch  die  Rezension  des  ersten  ungarischen  Buches,  welches  die  Auffassung  der 
Sexpol  zu  vertreten  bestrebt  ist.  Es  handelt  sich  um  das  Buch  Bela  Szekely's 
»Über  die  sexuelle  Entwicklung  der  Kinderjahre«.  In  seinem  Buche  will  der  Ver- 
fasser mit  grossem  wissenschaftlichem  Ernst  und  Gründlichkeit  den  Ungarisch- 
I.escnden  nahebringen,  dass  die  Sexualität  des  Kindes  in  der  Linie  der  normalen 
Entwicklung  liegt.  Es  ist  die  Folge  einer  gesellschaftlichen  Unterdrückung,  dass 
der  Weg  dieser  normalen  sexuellen  Entwicklung  abbiegt  und  die  Sexual-Ncurose 
als  Gruppenerscheinung  entsteht.  Sz.  betont,  dass  nur  die  sexuelle  Befreiung  der 
Jugend  im  Zusammenhang  mit  der  wirtschaftlichen  eine  soziale  Befreiung  der 
Gesellschaft  vorbereiten  kann.  Jede  Erziehung  kann  also  nur  eine  sexuelle  Er- 
ziehung  sein.  Die  bekannte  Sexual-Ethik  eines  Förster  und  Konsorten  bestrebt 
eine  ascxuelle,  die  Sexualität  verneinende  Erziehung  der  Jugend.  Der  Verfasser 
nimmt  psychologisch  wie  soziologisch  wohlbegründet  Stellung  gegen  diese  Auf- 
fassung und  betont,  dass  nur  eine  gesunde  Sexualität  ethisch  sein  kann,  in  einer 
solchen  Gesellschaft,  in  welcher  nicht  die  herrschende  Klasse,  sondern  die  ganze 
Sozietät    bestimmt,   was    ethisch    und   was    sozial    ist.    Die    Erkennung    der    Realität 

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Sexpol-Korrespondenz 

der  jetzigen  Gesellschaft  bedeutet  keine  Unterwerfung,  sondern  die  reale  Be- 
strebung dazu,  dass  der  Mensch  diese  beherrsche  und  gesund  ändere.  In  diesem 
Sinne  muss    auch    das   Freud'sche    Realitätsprinzip   erkannt    und    verwertet    werden. 

Es  ist  klar,  dass  die  psychoanalytische  Erziehung  nur  zwischen  zwei  Mög- 
lichkeiten zu  wählen  hat.  Entweder  stellt  sie  sich  in  den  Dienst  der  gegebenen 
Gesellschaftsordnung,  deren  psychologische  Basis  die  sexuelle  Unterdrückung  ist, 
wodurch  sie  die  Grundprinzipien  ihrer  eigenen  Erkenntnisse  desavouiert,  —  oder 
will  sie  ihre  Erfahrung  und  Theorie  in  den  Dienst  der  gesunden  Erziehung  stellen, 
so    gerät    sie    notwendigerweise    in    Zusammenstoss    mit    der    herrschenden    Klasse. 

Nun  fühlt  sich  die  ungarische  Psychoanalylikerin,  eine  Schülerin  Aiehhorns, 
Frau  Rata  Lewy,  berechtigt,  im  Namen  der  offiziellen  Psychoanalyse  zu  sprechen, 
indem  sie  gegen  »die  Verstellung  der  Freud'schen  wissenschaftlichen  Feststellun- 
gen« protestiert.  Sie  bezeichnet  es  als  ein  »vollkommen  eigenmächtiges  Vorgehen 
des  Verfassers,  dass  er  die  Freud'sche  psychologische  Forschung  mü  der  Kritik 
der  herrschenden  gesellschaftlichen  Ordnung  in  Verbindung  bringt.«  Für  sie  ist 
es  eine  »unverständliche«,  »stylarische«  Wendung  des  Verfassers,  mit  welcher  er 
die  einfache  und  alte  Feststellung,  dass  die  Erziehung  von  dem  Kinde  im  Gebiete 
der  Sexualität  überflüssige  und  übertriebene  Verdrängungen  wünscht,  mit  —  dem 
gesellschaftlichen  Kampf  motiviert.  Sie  protestiert  dagegen,  dass  man  Freuds 
Namen  »als  Schild  zu  einem  solchen  falschen  Spiel  verwendet«,  welches  von  der 
Psychoanalyse   die   sexuelle    Befreiung   erwartet. 

Eigentlich  ist  zu  dieser  Stellungnahme  jeder  Kommentar  überflüssig.  Man 
kann  wirklich  nicht  darüber  debattieren,  ob  es  de  facto  »eigenmächtiges  Vor- 
gehen« ist,  die  Freud'sche  Theorie  soziologisch  zu  werten,  indem  man  sie  mit 
der  Kritik  der  herrschenden  Gesellschaftsordnung  in  Verbindung  bringt.  Frau 
Lewys  Auffassung  nach  gibt  es  nur  ein  Frcud'schcs  Dogma,  das  für  sich  seihst 
steht  und  jede  weitere  wissenschaftliche  Arbeit  ist  nichts  anderes  als  eigenmäch- 
tiges Vorgehen  und  Verstellung.  Es  ist  auch  nicht  schwer  festzustellen,  wer  mit 
der  Psychoanalyse  falsches  Spiel  treibt:  diejenigen,  die  durch  die  Verwertung 
der  psychoanalytischen  Kenntnisse  in  der  Erziehung  die  sexuelle  Befreiung  er- 
streben oder  jene,  welche  die  Freud'sche  Lehre  in  den  Dienst  einer  solchen  Ge- 
sellschaft stellen,  deren  psychologische  Grundlage  eben  die  sexuelle  Unterdrückung 
ist.  Es  mag  sein,  dass  die  »unverfälschte«  Psychoanalyse  eben  die  letztere  ist, 
dann  ist  es  aber  sehr  verständlich,  dass  alle,  die  die  naturwissenschaftliche  For- 
schungsarbeit Freuds  an  der  Stelle  fortsetzen  wollen,  wo  diese  »gutgesinnten« 
Psychoanalytiker  ihr  untreu  geworden  sind  —  sich  von  der  offiziellen  Bewegung 
lossagen  müssen. 

Frau  Kata  Lewy  beruft  sich  auf  die  Erkenntnisse  derer,  die  ihre  eigene 
Analyse  vor  30 — 40  Jahren  durchgemacht  haben  und  wohl  wissen,  was  die  Angst 
vor  der  Triebverdrängimg  bedeutet.  Sie  begründet  nämlich  die  Stellungnahme 
des  Verfassers  für  die  sexuelle  Befreiung  der  Jugend  eben  durch  diese  Angst. 
Wir  kennen  aber  auch  die  Natur  der  Angst  vor  der  Befreiung  der  eigenen  sexuel- 
len Triebe.  Es  ist  zu  fürchten,  dass  eine  so  alte  und  approbierte  Analytikerin 
wie  Kata  Lewy  in  der  analytischen  Lage  dieser  seinerzeit  ungelöst  gebliebenen 
Angst   vor   der   eigenen    sexuellen    Befreiung   zu    ihrer   Stellungnahme   gelangt    ist. 

Dr.  B.  N. 


Bericht   über  das  Leben   in   Moskau 

Bei  der  Berichterstattung  handelt  es  sich  um  eine  Deutsche,  anscheinend  nicht 
parteiangehörig,  Frau  eines  deutschen'  Juristen,  der  im  Moskau  als  Sachverstän- 
diger für  faschistisches  Hecht  arbeitet.  Es  wurde  nicht  ein  Beferat  gehalten, 
sondern  durch  Fragenbeantwortung  versucht,  ein  Bild  von  dem  Leben  in  Moskau 
zu  bekommen.  Grundton  aller  Erklärungen  dieser  Frau  war:  mau  fühle  sich  dort 
zufrieden  und  glücklich  und  zwar  hauptsächlich  durch  die  Tatsache,  dass  jeder 
seinen  Arbeitsplatz  habe  und  sich  als  nützliches  und  notwendiges  Glied  dieser 
Gesellschaft  empfinde.  Die  Parole  vom  glücklichen  und  guten  Leben  wird  nicht 
als  eine  von  der  Partei  an  die  Massen  von  aussen  herangetragene  empfunden,  da 
wirklich  eine  reale  und  sich  ständig  steigernde  Verbesserung  des  Lebensstandards 
erlebt  wird,  so   dass  es  sich   also  nicht  um   eine    illusionäre   Befriedigung   handelt. 

Aufgefallen  ist  der  Frau  eine  weit  verbreitete  Nervosität,  die  sie  als  eine  Aus- 
wirkung des  gesteigerten    Lebens-    und   Arbeitstempos   erklärt.    Es   wird    weitgehend 

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mit  hypnotischer  Behandlung  gearbeitet  (Trinkerkuren  usw.)  und  die  behan- 
delten Patienten  sind  mit  dem  Erfolg  zufrieden.  Auch  Gchurtshilfe  wird  unter 
Anwendung  von  Hypnose  geleistet.  Ausserdem  glaubt  die  Berichterstattcrm  auch, 
dass  es  sich  um  eine  Nachwirkung  der  vergangenen  schweren  Jahre  handelt.  Die 
15 — 17  jährigen  seien   sehr  gesund. 

Es  gibt  jetzt  Uberfluss  an  Lebensmitteln  und  die  Läden  sind  immer  voll  damit 
und  überfüllt  von  Käufern;  es  wird  unheimlich  viel  .gegessen.  Die  Preise  sind 
wesentlich  gefallen,  aber  immer  noch  hoch,  was  aber  ausgeglichen  wird  durch 
die  ausserordentlich  niedrigen  Mietspreise.  Der  Verdienst  ist  im  allgemeinen  gut 
und  wird  durch  das  Prämiensystcm  noch  erhöht.  Die  Bekleidung  hat  sich  eben- 
falls sehr  verbessert,  allerdings  lässt  Geschmack  und  Farbenwahl  für  westliche 
Begriffe  noch  zu  wünschen  übrig.  Kleidermodelle  werden  durch  einen  Trust 
herausgebracht,  der  sie  auf  Modenschauen  in  den  Betrieben  vorführen  und  ent- 
scheiden lässt,  welche  Modelle  am  meisten  zusagen.  Da  der  Trust  selbst  noch 
nicht  die  Gesamtherstellung  der  verlangten  Kleider  leisten  kann,  kann  man  sie 
nach  seinen  Modellen  von  selbst  gekauftem  Stoff  in  dazu  eingerichteten  Nahstuben 
anfertigen  lassen.  Auch  das  Schuhwerk,  das  noch  vor  ca.  1  Jahr  sehr  schwer  zu 
haben  war  —  so  dass  fast  alle  Leute  in  weissen  leichten  Schuhen  herumliefen  — 
ist  jetzt  wesentlich  mehr  zu  kaufen. 

Die  Wohnungsnot  ist  noch  gross,  aber  auch  hier  sind  bereits  weitere  wesent- 
lich Fortschritte  in  der  Behebung  dieser  Schwierigkeit  zu  verzeichnen.  Diese 
Wohnungsknappheit  bringt  es  immer  noch  mit  sich,  dass  die  Jugendlichen  für 
ihr  Alleinsein  auf  Hausflure  angewiesen  sind.  Es  wird  jedoch  immer  weiter  sehr 
viel  gebaut,  so  dass  jetzt  schon  Stachan.  und  andere  qualifizierte  Arbeiter  als 
Arbeitsbelohnung  eigene  Wohnungen  zugewiesen  erhalten.  Die  Ausstattung  dieser 
und  auch  anderer  Wohnungen  ist  ziemlich  standardisiert  u.  zw.  nach  einem  für 
westliche  Begriffe  ziemlich  zurückgebliebenen  Schema.  Der  Arbeiter  kauft  sich 
ein  Sofa  mit  schönem  Umbau,  einen  Norm-Schrank,  einen  Tisch  mit  4  Stühlen, 
die  möglichst  gedrehte  und  geschweifte  Beine  haben.  In  der  Kulturabteilung  der 
Warenhäuser  ersteht  er  dann  die  erforderliehen  Gipsbüsten  von  Lenin,  Stalin 
und  anderen  bekannten  Persönlichkeiten,  sowie  Vasen  mit  Massen  von  künstlichen 
Blumen  und  einen  Lampenschirm  aus   Seide  mit   Fransen  und  mit  Blumen  bemalt 

Pergamentschirme   werden   als  poplig   angesehen. 

Im  Baustil  bekämpft  man  den  Formalismus,  es  wird  viel  Schmuck  an  den 
Gebäuden  angebracht,  viel  Marmor  und  noch  mehr  Säulen  verwendet,  auf  die. 
Dächer  werden  Vasen  und  Skulpturen  gesetzt.  »Die  glatten  Häuser  zeigen  nicht 
unseren  Wohlstand  und  unser  wohlhabendes  Leben,  wie  gut  es  uns  geht,  rauss 
sich  in  unseren  Bauten  demonstrieren.«  Im  Wohnbau  stellt  man  sich  hauptsäch- 
lich   auf  die    Herstellung  von    Einzelwohnungen    ein. 

In  Moskau  entwickelt  sich  ein  sehr  starkes  Familienleben.  Gleichzeitig  zeigt 
sich  Gesellschaft  und  Vergnügen  dem  Westen  angenähert.  In  jedem  grösseren 
Betrieb   gibt  es  Zirkel   für  westliche    Tänze. 

Kaminski  (Gesundheitskommissar)  hat  zum  ersten  Mai  einen  Artikel  über 
Gesundheitsfragen  und  dabei  über  die  Abortiragc  geschrieben.  Er  sagte  u.  a.: 
»wir  nähern  uns  dem  Zeitpunkt,  wo  wir  den  Abort  verbieten  müssen  und  schwer 
bestrafen  werden«.  Man  sei  prinzipiell  eigentlich  immer  gegen  den  Abort  gewesen. 
Der  Abort  sei  nicht  ein  Vorrecht  der  Reichen,  daher  früher  die  Abgrenzung  von 
den  bürgerlichen  Auffassungen;  jetzt  sei  das  Leben  froh  und  schön  geworden, 
die  Notwendigkeit,  keine  Kinder  zu  bekommen,  sei  im  Verschwinden,  man  werde 
sich  nur  noch  auf  die  medizinische  Indikation  einstellen.  Anscheinend  gibt  es  - 
soweit  dieser  Frau  selbst  bekannt  —  in  den  Abortkliniken  keine  Aufklarung  über 
den  Gebrauch  von  Verhütungsmitteln,  hingegen  sind  solche  Mittel  reichlich  und 
billig  überall  zu  kaufen.  (Der  Artikel  steht  in  den  Moscou  News,  englische  Aus- 
gabe, die  hier  nicht  zu  haben  ist.)  _  _ 

Die  Kinder  leben  ausserordentlich  frei  und  ungebunden  und  terrorisieren  die 
canze  Familie.  Sie  sprach  von  geradezu  fantastischer  Ungezogenheit.  Unter  den 
Kindern  herrscht  erstens  Begeisterung  für  schnelles  Fahren,  -  sie  bauen  sich 
selbst  viele  Fahrzeuge  und  mit  Rädern  fahren  sie  durch  die  ganze  \\ohnung  — 
zweitens  möglichst  viel  Lärm  dabei,  wenn  es  geht  ungefähr  3  Klingeln  an  jedem 
Fahrzeug.  Niemand  denkt  daran,  den  Kindern  irgendetwas  zu  verbieten,  Er- 
wachsene  wie  Kinder  sind  ehrlich  entrüstet,  wenn  etwa  Deutsche  den  vergeblichen 
Versuch   machen,  um   Ruhe  zu   ersuchen. 

Finerseils    herrscht    grosse    Prüderie,    andererseits    werden    massenweise    Zoten 

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Besprechungen 

kolportiert.  Es  wird  draussen  nackt  gebadet,  aber  streng  nach  Geschlechtern  ge- 
trennt. Die  Militärbewunderung  ist  ausserordentlich  gross.  Bei  der  Röten  Armee 
finden  sich  durchweg  gutaussehende  Leute,  sie  werden  ganz  besonders  gut  gepflegt: 
und  erhalten  eine  sehr  vielseitige  militärische  und  kulturelle  Aasbildung.  Be- 
sondere Begeisterung  ist  für  den  Aushau   des  Flugwesens  vorhanden. 

In  den  Fragen  der  Aussenpolitik  besteht  völlige  Einheit  mit  der  Regierung. 
Man  weiss,  dass  man  sich  zur  Ahwehr  rüsten  muss,  hofft  aber,  den  Krieg  mög- 
lichst lange  hinausschieben  zu  können.  Dass  die  Friedenspolitik  der  S.U.  ehrlich 
ist,  begegnet  keinem  Zweifel,  aber  man  vertraut  vielleicht  allzu  weitgehend  der 
Friedenssicherung    durch    das    Litwinoff'sche    Paktsystem. 

Es  besieht  volle  innere  Zustimmung  zu  den  .Massnahmen  und  Äusserungen 
der  Regierung,  da  man  durchaus  in  der  Regierung  und  der  Partei  die  ausrührenden 
Organe  des  Willens  der  Massen  sieht.  Man  hat  unbedingtes  Vertrauen  zu  Stalins 
Führerqualifikationen  und  diese  werden  praktisch  nirgends  bestritten.  Dieses 
Vertrauen  wird  gestärkt  durch  die  Tatsache,  dass  Regierung  und  Partei  den  Massen 
bestimmte  Verbesserungen  ihrer  Lebenshaltung  versprochen  und  dass  diese  Ver- 
sprechen volle  Einlösung  gefunden  haben.  Die  Formel:  Stalin  ist  der  Führer  der 
Sowjetvölker,  findet  absolute  Zustimmung.  Man  fühlt  sich  nicht  im  Sinne  anderer 
Länder  geführt,  weil  man  sich   mit  der  Führung  identifiziert. 

Die  Bürokratie  wird  stark  kritisiert,  aber  nicht,  weil  sie  ein  Fremdkörper  oder 
Unterdrückungsinstrument  sei,  sondern  nur  im  Hinblick  auf  Einzelfälle,  bürokra- 
tische Langsamheit  und  Umständlichkeit;  Atteste,  Legitimationen,  Papierchen  und 
Stempel    sind    immer  noch    Fetische. 


Besprechungen 

Theoretische    Entwürfe    über  Autorität    und    Familie:   Sozialpsychologischer  Teil     -    von 
Emil     Fromm.    In:    .Studien    über    Autorität    und    Familie".    Forschungsberichte  aus   dem 
Institut   für   Sozialforschung. 
Librairie   Felix   Alcan,   Paris  1936 

Wie  bringt  es  der  Verfasser  fertig,  zwei  in  so  hohem  Masse  gesellschafts- 
kritische Methoden,  wie  Psychoanalyse  und  Marxismus  bei  der  Behandlung  seines 
Themas  zu  kombinieren  und  sich  dennoch  von  jeder  politischen  Stellungnahme, 
jeder   Andeutung   einer    praktischen    Konsequenz    fernzuhalten V 

Zunächst  durch  die  Wahl  der  Beispiele!  Im  ersten  Abschnitt  »Mannigfaltig- 
keit der  Autoritätserscheinungen«  werden  alle  möglichen  Situationen  beschrieben; 
doch  von  den  Autoritätserscheinungen,  die  den  Faschismus  prägen,  kein  Wort. 
Überhaupt  ist  von  ihm  in  der  ganzen  Arbeit  nur  unter  der  akademisch-neutralen 
Bezeichnung    »autoritärer   Staat«   die   Rede. 

Die  autoritäre  Einstellung  erklärt  F.  in  der  Folge  im  Anschluss  an  Freud 
aus  der  Verinnerlichung  der  elterlichen  Autorität.  Doch  habe  Freud  übersehen, 
dass  diese  Autorität  nicht  einer  jeweils  zufälligen  individuellen  Situation  ent- 
springt, sondern  aufs  engste  mit  dem  gesellschaftlichen  Inhalt  der  Familien- 
institution   überhaupt   zusammenhängt.    In    unserer  Gesellschaft    würde 

»eine  Fügsamkeit,  die  nur  auf  der  Angst  vor  realen  Zwangsmitteln  be- 
ruhte    einen  Apparat  erfordern,  dessen  Grösse  auf  die  Dauer  zu  kost- 
spielig wäre  (S.  84)  Es  ergibt  sich,  dass,  wenn  äussere  Gewalt  die  Ge- 
fügigkeit der  Massen  bedingt,  sie  doch  in  der  Seele  des  Einzelnen  ihre  Qualität 
verändern    muss.    Die    hierbei    entstehende    Schwierigkeit    wird    teilweise    durch 

Überichbildung    gelöst    (S.   84)    

In  dem  relativ  determinierenden  Charakter  der  Kindheitserlebnisse  liegt 
der  Grund  dafür,  dass  bestimmte  psychische  Strukturen  oft  über  die  gesell- 
schaftliche   Notwendigkeit   hinaus    ihre    Kräfte   behalten«    (S.    85). 

Richtig!  Doch  diese  Gedanken  standen  bereits  Herbst  1933  in  der  »Massen- 
psychologie des  Faschismus«  —  vgl.  besonders  den  von  Reich  in  die  marxistische 
Gesellschaftslehre  eingeführten  Begriff  »psychische  Struktur«.  Warum  unterlässt 
es  Fromm,  Mps.  zu  zitieren? 

Doch  wie  wird  diese  Struktur  individuell  verankert?  Durch  das  von  der 
gleichen   Struktur  geprägte  Verhalten  des   Erwachsenen,  antwortet   F.    ganz   richtig. 

176 


Besprechunger» 

»Es  ist  also  nicht  in  erster  Linie  die  biologische  Hilflosigkeit  des  kleinen 
Kindes,  die  ein  starkes  Bedürfnis  nach  strenger  Autorität  erzeugt;  die  aus 
der  biologischen  Hilflosigkeit  sich  ergebenden  Bedürfnisse  können  von  einer 
dem  Kinde  freundlich  zugewandten  und  nicht  einschüchternden  Instanz  er- 
füll! werden.  Es  ist  vielmehr  die  soziale  Hilflosigkeit  des  Erwachsenen,  die 
der  biologischen  Hilflosigkeit  des  Kindes  ihren  Stempel  aufdrückt.« 
Aber  Fromm  verschweigt,  dass  es  sich  hier  vor  allem  um  sexuelle  Bedürfnisse 
handelt  und  umgebt  so  mit  bewundernswertem  Geschick  das  ganze  Problem  der 
gesellschaftlich    bedingten    Sexualunterdrückung. 

Besonders  grotesk  wirkt  in  diesem  Zusammenhang  der  Hinweis  auf  die 
mutterrechtliche  Gesellschaft,  in  der  von  einem  Ödipuskomplex  im  Freudsehen 
Sinne  nicht  gesprochen  werden  kann.  Was  ist  aber  in  dieser  Gesellschaft  anders? 
Werden  die  Kinder  sexuell  nicht  eingeschränkt?  wie  Malinowski  uns  bekanntlich 
berichtet.  —  Nein.  Nach  F.  besteht  der  entscheidende  Unterschied  darin,  dass  die 
beiden  Funktionen  des  allmächtigen  sexuellen  Rivalen  und  der  allmächtigen 
Autorität  »z.  B.  in  einer  Reihe  von  primitiven  Stämmen  auf  den  Multerbruder 
und  den  Vater  verteilt«  sind. 

Im  Abschnitt  über  »Autorität  und  Verdrängung«  finden  sich  eine  Reihe  kluger 
Beobachtungen.  Auch  die  Bedeutung  der  ungehemmten  genitalen  Sexualität  für 
eine  gesunde  Entwicklung  wird  scheinbar  anerkannt.  Doch  Sexualbcfricdigung 
schaffe  nicht  schon  an  sich  ein  starkes  Ich,  was  wir  an  den  Primitiven  beobachten 

können.  - 

»MUSS  auf  Grund  der  Veränderung  der  ökonomischen  Bedingungen  mehr 
Energie  auf  die  Beherrschung  der  Natur  verwandt  werden,  so  wird  im  Gegen- 
teil die  neue  Lebenspraxis  und  der  damit  verbundene  Prozess  des  Ich- 
wachstums  Einschränkungen  der  Sexualität  notwendig  machen  und  diese 
Sexualunterdrückung  kann  zu   einer  Bedingung   der   Ich-Entwicklung    werden.« 

In  diesem  Gedankengang  steckt  vielleicht  als  einziger  richtiger  Kern,  dass 
bestimmte  durch  Sexualunterdrückung  entstandene  Strukturen  zu  bestimmten 
Arbeiten  in  der  kapitalistischen  Produktion  besonders  geeignet  machen.  Subjektiv 
können  solche  Strukturen  dem  Individuum  heute  nützlich  sein,  objektiv  bedeuten 
sie  eine  Einbusse  an  Arbeitskraft  und  Lebensfreude,  eine  Einbusse.  die  eine  so- 
zialistische Gesellschaft  durch  entsprechende  Organisation  der  Arheit  überflüssig 
machen  wird.  Nur  die  kapitalistische  Gesellschaft  bedarf  zur  Bewältigung  der 
Naturmächte   sexuell   gestörter  Menschen. 

Im  Sehlussabsebnitt  beschreibt  F.  die  sadistisch-masoehistische  Durchschnitts- 
struktur des  Menschen  unserer  Gesellschaft.  Reichs  Masoehismuslheorie  wird 
wegen  »physiologistischer  Überschätzung  des  sexuellen  Faktors«  abgelehnt.  Darum 
fehlt  auch  leider  jede  tiefere  psychologische  Begründung  für  die  verschiedenen 
Vcrhaltungsweisen,  in  denen  F.  diese  Struktur  ausgedrückt  findet.  Doch  ihre 
Beschreibung  au  sich   ist  geistvoll   und  lehrreich,  leider  in   der   Anordnung  etwas 

unsvstematisch.  ,-,,,„  i 

Autorität  wird  es  nach  F.  im  Interesse  geordneter  Wirtschaftsführung  auch, 
in  einer  auf  Interessensolidität  aufgebauten  Gesellschaft  geben,  allerdings  nur 
mehr  eine  rationale.  In  der  Erziehung  wird  sie  in  einer  solchen  Gesellschaft  aus- 
schliesslich der  Entfaltung   des   Kindes   dienen. 

»soweit  sie  die  Unterdrückung  bestimmter  Triebregungen  fordern  muss, 
ist  auch  diese  triebeinsebränkende  Funktion  verschieden  (von  der  im  Kapi- 
talismus, d.  Ref.),  weil  sie  im   Interesse    der  Gesamtpersönlichkeit  des    Kindes 

liegt«    (S.    135). 

Doch  eine  solche  Entfaltung  mit  Triebeinschränkung  wurde  notwendig  zu 
irrationaler  Autoritätsbereitschaft  führen,  also  F.s  eigenes  Programm  gefährden. 
F.  kennt  eben  nicht  den  erst  von  der  Sexualökonomie  herausgearbeiteten   Begriff 

der  Selbststeuerung.  .    ,     _    , 

Kehren  wir  zur  Frage  zurück,  von  der  wir  ausgegangen  sind.  F.  kann  zu 
keinen  politischen  Konsequenzen  gelangen,  weil  er  einerseits  in  viel  zu  hohen 
Abstraktionen  ohne  Kontakt  mit  den  Bedürfnissen  der  politischen  und  pädagogi- 
schen Praktiker  an  theoretischer  Klärung  arbeilet.  Doch  ein  solcher  Forscher 
sollte  sich  dann  lieber  nicht  Marxist  nennen  oder  sich  zu  einer  neuen  Art  Marxis- 
mus bekennen,  der  sich  vom  wirklichen  durch  Trennung  von  Theorie  und  I  raxis 
unterscheidet.  Wesentlicher  noch  ist  es,  dass  F.,  statt  den  Weg  der  Scxualokonomie 
zu    gehen,    die    sexualverneinende    Wendung    der    analytischen     lheorie    mitmacht 

177 


Besprechungen 

und  sich  damit  den  Ausblick  auf  die  Wichtigste  Praxis  versperrt,  zu  der  der 
Einbau  der  Tiefenpsychologie  in  den  Marxismus  führt:  Nämlich  die  Praxis  der 
Sexualpolitik    und    sexualökonomischen    Massenpsychologie. 

Sein  Beispiel  zeigt,  wie  in  der  unkritischen  Kombination  »Marxismus  + 
Psychoanalyse«  die  letztere  zu  einem  praktisch  überflüssigen  Zierrat  werden  oder 
sogar  direkt  zu  einer  anlisozialistischcn  Verbiegung  der  revolutionären  Theorie 
führen   kann.  jf,  ■]'. 

Lorimer,  Frank   and   Osborn,  Frederick:   Dynamics  of   Population 

Social   and   Biological   Significance   of   Changing   Birth   Rates   in  (he   United   States 

(The  Macmillan  Company,  New  York,  1934,  460  S.) 

Unter  den  Schlagwortes  »Hasse«  und  »Bevölkeruhgspolitilt«.  hat  das  Dritte 
Reich  eine  Reihe  schwerer  Angriffe  auf  die  Lebenshaltung  und  Lebensführung 
der  Werktätigen  unternommen.  Deshalb  besteht  in  der  Arbeiterbewegung  ein 
wohlbegründetes  Misstrauen  gegen  alles,  was  mit  diesen  Begriffen  zusammen- 
hängt. Um  so  erfreulicher  ist  es,  wenn  sich  Gelegenheit  bietet,  ein  Buch  zu  be- 
sprechen, dem  gegenüber  dieses  Misstrauen  nicht  am  Platze  ist,  dessen  Autoren 
sich  vielmehr  um  absolute  Objektivität  bemühen  und  dadurch  eine  Arbeit  ge- 
schaffen haben,  die  gewiss  für  lange  Zeit  ein  Standardwerk  der  amerikanischen 
und    darüber    hinaus    der    internationalen    Bevölkerungs-wissenschaft    bleiben    wird. 

Der  erste  Teil  des  Buches  behandelt  die  innerhall)  der  U.  S,  A.  festgestellten 
Unterschiede  der  Bevölkerungsbewegung.  Diese  sind  sehr  beträchtlich,  ebenso  gross 
wie  zwischen  den  einzelnen  europäischen  Staaten.  Der  Abstand  etwa  zwischen 
dem  kinderreichen  Utah  und  dem  kinderarmen  Kalifornien  entspricht  annähernd 
dem  zwischen  England  und  Ostpolen.  Zwischen  Stadt  und  Land  besteht  ebenfalls 
eine  grosse  Differenz:  Während  die  Landbevölkerung  noch  immer  genug  Kinder 
hat,  um  sich  in  jeder  Generation  um  die  Hälfte  zu  vermehren,  bleiben  die  grossen 
Städte  —  nach  den  Zahlen  für  1930  —  um  20  bis  25  Prozent  unter  dem  Lrhaltungs- 
minimum,  sind  also  auf  Zuzug  von  aussen  angewiesen.  Was  endlich  den  Kinfluss 
der  sozialen  Lage  anlangt,  so  ist  festzuhalten,  dass  die  niedrigsten  Geburtenziffern 
bei  den  freien  Berufen,  Angestellten  und  Geschäftsleuten  zu  finden  sind,  dass  aber 
der  Typus  dvv  »Kleinfamilie«  bis  weit  in  die  Kreise  «1er  qualifizierten  Arbeiter 
vorgedrungen  ist.  Neben  der  landwirtschaftlichen  Bevölkerung  sind  nur  die  Berg- 
leute und  einige  Gruppen  ungelernter  Arbeiter  als  relativ  kinderreich  zu  be- 
zeichnen. 

Es  kann  keine  Rede  davon  sein,  dass  der  moderne  Geburtenrückgang  durch 
ein  natürliches  Nachlassen  der  Fortpflanzungsfähigkeit,  durch  ein  »Altern«  oder 
»Vergreisen«  der  abendländischen  Völker  verursacht  sein  könnte.  Unfruchtbarkeit 
als  krankhafte  Erscheinung  kommt  heute  kaum  öfter  vor  als  1880.  Mit  Recht 
suchen  Lorimer  und  Osborn  die  Ursache  der  Fruchtbarkeitsunterschiede  im  Wirt- 
schaftlichen, in  der  Sorge  um  das  tägliche  Broi.  um  den  gehobenen  Lebensstandard, 
um  die  Zukunft  der  Kinder.  Line  grosse  Rolle  spielt  auch  die  lange  Ausbildungs- 
zeit in  vielen  Berufen,  die  erst  spät  zu  einem  entsprechenden  Einkommen  führen. 
Demgegenüber  treten  die  früher  viel  beachteten  religiösen  Momente  in  den  Hinter- 
grund. Gewiss,  der  fromme  Katholik,  der  protestantische  Fundamentalist,  der 
orthodoxe  Jude,  alle  verpönen  jedes  Kingreifen  in  den  Willen  Gottes,  der  in  der 
natürlichen  Fruchtbarkeit  des  Menschen  zum  Ausdruck  kommt.  Aber  auch  in 
Amerika  ist  die  Zahl  der  wahlhaft  Frommen,  die  den  Geboten  ihrer  Kirche  un- 
bedingt und  unter  allen  Umständen  Folge  leisten,  klein  geworden.  Geburten- 
regelung hat  heute  auch   in   Kreisen  Eingang  gefunden,  die  sonst  konservativ  sind. 

Für  die  nächsten  Jahrzehnte  ist  eine  fortschreitende  Angleichnng  der  Ge- 
burtenziffern wenigstens  innerhalb  der  Stadtbevölkerung  zu  erwarten,  wie  sie  in 
Europa    schon    vielerorts    beobachtet    wurde. 

Ein  weiterer  Abschnitt  des  Buches  beschäftigt  sich  mit  den  Intelligenzprüfun- 
gen (Tests)  die  von  einer  Reihe  von  Forschern  an  vielen  Tausenden  von  Kindern 
vorgenommen  worden  sind.  In  übereinstimmender  Weise  haben  diese  Unter- 
suchungen eine  Überlegenheit  der  Weissen  über  die  Neger  ergeben  und  einen  noch 
grosseren  Unterschied  zwischen  den  Kindern  der  Gebildeten  und  Wohlhabenden 
einerseits  und  Arbeiter-  und  Bauernkindern  andererseits.  Selbstverständlich  han- 
delt es  sich  dabei  nur  um  Durchschnittswerte;  die  »Überschneidungen«  sind  sehr 
gross.  Mit  diesen  Zahlen  ist  ein  unerhörter  Missbrauch  getrieben  worden.  In  kri- 
tikloser Weise  wurden   sie  zu    dem  Versuche   verwendet,  die  kapitalistische  Gesell- 

178 


Besprechungen 

Schaftsordnung  »biologisch«  zu  roch Ifcrt igen.  Lorimer  und  Oshorn  untersuchen 
das  Problem,  ob  bei  diesen  Tests  wirklich  die  angeborene,  ererbte  Intelligenz 
gemessen  wurde,  an  Hand  eines  einwandfreien  sfat  ist  ischen  Materials.  Sie  stellen 
dar,  dass  die  Unterschiede,  deren  Existenz  sich  nicht  leugnen  liisst,  in  erster 
Linie  und  in  ihrer  Hauptsache  als  Kolgen  äusserer  Einflüsse  -u  betrachten  sind, 
als  Produkte  des  verschiedenen  kulturellen  Milieus,  das  seihst  wieder  vor  allem 
durch  die  soziale  und  wirtschaftliche  Lage  bestimmt  wird. 

Trotzdem  sind  die  grossen  Unterschiede  der  Fortpflanzung  nicht  gleichgültig. 
Es    ist    sicher  nicht    gut  vor   allem    auch    für   die    betreffenden    Kinder   nicht   — 

wenn  ein  unverhältnismässig  grosser  Teil  des  Nachwuchses  ans  in  jeder  Beziehung 
zurückgebliebenen  Teilen  des  Landes  und  aus  den  ärmsten  Schichten  der  städti- 
schen Bevölkerung  stammt  und  so  allen  körperlichen,  geistigen  und  seelischen 
Schäden  einer  denkbar  ungünstigen  Umwelt  unterworfen  ist.  bine  wirksame  Ab- 
hilfe ist  freilieh  erst  in  einer  Gesellschaft  zu  erwarten,  die  in  ganz  anderer  Weise 
für  ihre  Kinder —  und  ihre  Erwachsenen  sorgt,  als  es  heuie  in  ('.S.A.  der  Fall  ist. 

G.  r. 

Enid,  Charles:   The  Twilight   oi  Parenthood 
(Watts  &   Co.,  London   1934,226   Seiten) 

17!KS  erschien  die  erste  Auflage  der  klassischen  Schrift  des  Thomas  R.MalthuS, 
der  berühmte  »Versuch  über  das  Bevölkerungsgesetz«.  Obwohl  der  englische 
Reverend  sein  Buch  als  eine  Streitschrift  wider  die  sozialistischen  Ideen  seines 
Landsmanns  (iodwin  hatte  erscheinen  lassen,  wurde  die  Vorstellung  von  der 
drohenden  Übervölkerung  der  Erde  mit  ihr  Zeit  immer  mehr  zum  geistigen  Be- 
sitztum linksgerichteter  Kreise  und  damit  auch  breiter  Arbeiterschichten  in  vielen 
Ländern.  Karl  Marx  freilieb  und  die  andern  sozialistischen  Führer  haben  die 
Malthus'sche  Lehre  slets  energisch  zurückgewiesen.  Enid  Charles,  die  der  revolu- 
tionären Arbeiterbewegung  nahesteht,  zeigt  in  ihrem  Buch,  dessen  Titel  man  wohl 
am  besten  mit  »Klternschaflsdämineruiig«  übersetzen  könnte,  (lass  heute  weniger 
denn  je  Grund  für  die  Befürchtung  vorhanden  ist.  es  müsse  in  absehbarer  Zeit 
der  Bevölkerung  unseres  Planeten  an  Nahrung  mangeln.  Die  Fortschritte  der 
modernen  landwirtschaftlichen  Technik  und  Chemie,  namentlich  auf  dem  Gebiete 
tlvr  Schädlingsbekämpfung,  würden  es  ohne  weiteres  gestatten,  den  Ertrag  des 
bebauten  Hodens  auf  mehr  als  das  Doppelte  zu  steigern.  Dazu  kommen  Hunderte 
Millionen    Hektar,   die    noch    auf   den    Pflug    warten. 

Im  Lauf  dos  neunzehnten  .lahrhundeiis  hat  sieb  die  Kopfzahl  der  Menschheit 
mindestens  um  100  Prozent  vergrössert.  Heule  ist  das  Wachstum  kein  so  unbän- 
diges mehr.  Der  Geburtenrückgang,  der  seinerzeit  auf  Frankreich  beschränkt  er- 
schien, hat  grosse  Fortschritte  gemacht;  viele  Länder  haben  Frankreich  in  dieser 
Hinsicht  längst  überholt.  In  fast  allen  Staaten,  in  denen  die  kapitalistische  Wirt- 
schaftsform voll  entwickelt  ist,  in  Nordwesteuropa  ebenso  wie  in  U.  S.A.,  reicht 
die  Zahl  der  Geborenen  nicht  mehr  aus.  den  blossen  Bestand  dev  Bevölkerung  auf 
die  Dauer  zu  sichern.  Nur  dem  abnormalen  Altersaufbau  dieser  Länder  ist  es 
zuzuschreiben,  dass  heule  noch  fast  überall  ein  wenn  auch  kleiner  (ieburlenüber- 
schuss  besteht.  In  ein  bis  zwei  .lahrzehntcn  aber  wird  sich  diese  Abnormalität 
ausgeglichen  haben;  dann  muss  das  Wachstum  der  Bevölkerung  zum  Stillstand 
kommen  und  einer  zunächst  ganz  langsamen,  bald  aber  immer  rascher  werdenden 
und  sehr  ausgiebigen  Abnahme  Platz  machen.  In  einigen  Staaten,  in  England, 
Österreich,  Schweden  und  Norwegen,  wahrscheinlich  auch  in  Deutschland  ist  das 
Zweikindersystem  nicht  nur  völlig  verwirklicht,  sondern  bereits  überschritten. 
\uch  die  restlose  Liquidierung  der  gesamten  Kindersterblichkeit  —  ein  sicher 
unerreichbares  Ideal  -  wäre  hier  nicht  imstande,  dem  Pevölkerungsschwuml  Fin- 
gebieten, wenn    nicht    die    Geburtenziffer   wieder    ansteigt.    Das    aber  dieses 


zu 


Ereignis  bald  eintreten  könnte,  dafür  besteht  nicht  der  geringste  Anhaltspunkt. 
Die  Kräfte,  die  den  Geburtenrückgang  verursacht  haben,  wirken  weiter  und 
zeigen  eher  eine  Tendenz,  immer  stärker  wirksam  zu  werden.  Sie  entspringen  dem 
Wesenskern  des  Kapitalismus,  (k-v  somit  nicht  imstande  ist.  den  Weiterbestand 
seines  eigenen  physischen  Substrats  zu  garantieren.  Eine  solche  Gesellschafts- 
ordnung ist  dem  Untergang  geweiht  und  muss  abtreten.  Die  sozialistische  Welt 
aber,  die  alle  Produktivkräfte  (\vr  menschlichen  Gesellschaft  befreien  und  dem 
ganzen    Leben  einen  neuen,  höheren  Sinn   geben  soli.  wird  weder  die  Übervölkerung 


der    Erde,    noch    das    Schreckgespenst    des    Völkertodes    zu    fürchten    brauchen. 

<:.  r. 


179 


Besprechungen 

Professor,  Dr.  Hugo  llfis:  Der  Mythos  von  Blut  und  Rasse 
(Verlag   Rudolf   Harand,  Wien   1936,80  Seiten   mit  30   Bildern) 

Eine  mutige,  zielklare  Kampfschrift  des  bekannten  Brünner  Gelehrten,  eine 
rücksichtslose  Entlarvung  der  hakenkreuzlerischcn  PseudoWissenschaft.  Mit 
grossein  Geschick  und  viel  Temperament  zerpflückt  litis  die  »Argumente«  der 
Rassetheorie  und  vergisst  dabei  auch  nicht  die  wirtschaftlichen  und  politischen 
Hintergründe  zu  beleuchten,  von  denen  man  nicht  spricht.  »Edelrasse«  sagt  man 
und  »Ausbeutung«  meint  man;  hinter  der  »Einheitsfront  der  Nordischen  Hasse« 
verbirgt  sich,  krassester  neudeutscher  Imperialismus  und  hinter  der  »heldischen 
Artung«  lauert  die  Fratze  des  Giftgaskrieges.  Alle  berechtigten  und  unberechtigten 
Minderwertigkeitsgefühle  des  deutschen  Volkes  werden  von  den  Rassisten  in 
gigantischster  Weise  überkompensiert,  eine  Massenneurose  allergrössten  Umfangs 
künstlich  erzeugt.  Möge  die  vorliegende  kleine  Schrill  ihren  Teil  dazu  beitragen 
die  übrige  Menschheit  gegen  die  gefährliche  und  ansteckende  seelische  Erkrankung, 
genannt  »Rassenwahn«,  zu  immunisieren.  <:.  '/'. 

„Das   braune   Netz" 

Wie   Hitlers  Agenten   im   Auslande   arbeiten   und   den   Krieg   vorbereiten 

(Edition   du   Carrefour,  Paris) 

Eine  Materialsammlung  über  die  Arbeil  der  hitl ersehen  Gestapo  mit  ihren 
25.000  Agenten  und  Informatoren  im  Ausland  und  über  die  lange  Reihe  der  Nazi- 
Auslandsorganisationen.    Ein    nützlicher  Anschauungsunterricht    auch    darüber,    was 

ein  •einheitlich  geleiteter  I'ropagandaapparal  ausrichten  kann.  Das  Buch  ist  mit 
seinen  nahezu  400  Seilen  zu  langatmig  und  wiederholt  oft.  Als  Handbuch  für  die 
aktiven  Hitlergegner  müsste  es  viel  konkreter  sein.  Da  es  vor  allein  für  Bürger 
im  Ausland  geschrieben  ist,  wird  zu  viel  geschwafelt.  Trotzdem  muss  jeder  Hitler- 
gegner es  kennen.  — /. 

Will   Schaber:   Kolonialware   macht   Weltgeschichte 
(Romanitas   Verlag,  Zürich) 

Schaher  hat  interessante  Betrachtungen  darüber  geschrieben,  wie  Safran  und 
Kakao.  Gewürze,  Tee  und  Kautschuk.  Chilesalpeter,  Baumwolle  und  Kaffee,  Reis, 
Opium  und  Zelluloid,  ahessinische  Schätze  und  Zuckerrohr  »Weltgeschichte« 
machen.  Er  enthüllt  diu  Kolonialunterdrückung  und  stellt  sieh  ganz  auf  die  Seite 
der  Befreiungskämpfe  der  Kolonialsklaven.  Aber  so  ehrlich  er  auch  diese  Stellung 
bezieht,  bleibt  doch  das  ganze  Buch  etwas  in  der  Luft  hängen,  da  es  in  idealisti- 
sche Formeln  gehüllt  ist.  Gleich  einleitend  heissl  es  sozusagen  programmatisch 
darüber:  »Es  war  das  Schicksal  fast  aller  bisherigen  Kulturen,  dass  das  Aussen 
durch  das  Innen  dementiert,  dass  die  Macht  des  Geistes  durch  den  («eist  der  Macht, 
die  Form  durch  den  Stoff,  der  Inhalt  durch  das  Dekorum  verdrängt  wurde«.  Und 
für  das  Morgen  stellt  er  als  Programm:  »Alle  Materie  wird  dem  Geist  Untertan«. 
Kr  sieht  in  der  Materie  das  Böse,  im  (ieist  das  höhere  Morgen.  Er  steht  darum 
nicht  mit  beiden  Beinen  auf  der  Erde,  von  der  aus  die  »Aufhebung  aller  äusseren 
und   inneren   Kolonialschande«,  die  auch    er  erstrebt,  zu   vollziehen   ist.  — •'. 

An   alle   Freunde  und   Leser! 

Wir  ersuchen  alle  Freunde  und  Leser  der  Zeitschrift,  alles  Mate- 
rial, das  über  uns  erscheint,  zu  sammeln  und  der  Redaktion  einzu- 
senden. 

Manuskripte 

sind   an   Postbox  3010,  Oslo.   Norwegen,   maschinengeschrieben    und   völlig   druck- 

fei'lig  zu  schicken.  Manuskripte  mit  unleserlichen,  handschriftlichen  Korrekturen 
werden  zurückgeschickt.  Die  Autoren  erhalten  -  vorläufig  noch  -  kein  Honorar, 
haben  jedoch  Anspruch .  auf  5  (iratisexemplare  der  betreffenden  Zeitschrift  für 
Originalartikel  Gute  Artikel  und  Berichte  von  i>ölli<i  mittellosen  Autoren  werden 
demnächst  aus  dem  Sexpol-Fond  honoriert  werden.  Solche  Autoren  mögen  sich  an 
die     Redaktion    der   Zeitschrift     um    Honoricrung    wenden. 

180 


Wilhelm  Reich 

Die  Sexualität  im   Kulturkampf 

Zur  sozialistischen  Umstrukturierung  des  Menschen 

II.  erweiterte  Auflage 
von  „Geschlechtsreife,  Enthaltsamkeit,  Ehemoral" 

Preis:  Kart.  Dan.  Kr.  10.-,  in  Leinen  geb.  Dan.  Kr.  12.-. 


Inhaltsverzeichnis: 


. 


ERSTER  TEIL: 

Das  Fiasko  der  Sexualmoral 

I.Kapitel:     Die     klinischen     Grundlagen     der     sexualpoli- 
tischen    Kritik 

II.  Kapitel:     Die    Misere    der    Sexualreform 

III.  Kapitel:     Die     Eheinstitution     als     Grundlage     von     Wi- 
dersprüchen    des     bürgerlichen     Sexuallebens 

IV.  Kapitel:     Der     Einfluss     der    bürgerlichen  Sexualmoral 

V.  Kapitel :      Die      bürgerliche      Familie      als      Erziehungs- 
apparat 

VI.  Kapitel :     Das    Problem     der    Pubertät 

VII.  Kapitel :     Ehe     und     sexuelle     Dauerbeziehung 

ZWEITER  TEIL: 

Der  Kampf  um  das  »neue  Leben«  in  der  Sowjetunion 

I.  Kapitel :     Die     »Aufhebung     der     Familie« 
IL  Kapitel :     Die     sexuelle     Revolution 

III.  Kapitel:     Die    Bremsung    der    Sexualrevolution 

IV.  Kapitel :     Befreiung     und     Bremsung     in     der     Geburten- 
regelung   und    der     Homosexualität 

V.  Kapitel :    Die     Bremsung    in    den    Jugendkommunen 
VI.  Kapitel :     Einige    Probleme     der    kindlichen     Sexualität 
VII.  Kapitel:     Was     folgt     aus     dem     sowjetistischen     Kampf 
um     das     »Neue      Leben«? 


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Verleger:  Verlag  für  Sexualpolitik,  Kopenhagen,  Postbox  827 

Verantwortlich  f.    d.   Redaktion«    Dr.  J.   H.  Leunbach,   Kopenhagen 
Gedruckt  bei  Univeraal  Trykkerlet  -  Kopenhagen  -  Rfeenigade  21 


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