BAND: 3 HEFT: 3 4 (10/11) 1936
IEITSCHRIFT FÜR
POLITISCHE PSYCHOLOGIE
UND SEXUALÖKONOMIE
ORGAN DER SEXPOL
HERAUSGEBER: ERNST PARELL
INHALT«
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ZEITSCHRIFT FÜR
POLITISCHE PSYCHOLOGIE
UND SEXUALÖKONOMIE
BAND: III
Doppel-Heft: 3/4(10/11)
19 3 6
Du mä ikke sove!
Von Arnulf 0verland
.leg väknct en natt av en underlig dröm,
det var som en stemme lalte til mig,
fjern som en nnderjordisk ström — _
Og jeg reiste mig op: Hvad er det du vil mig?
Du mä ikke sove! Du mä ikke sove!
Du mä ikke tro at du bare liar drömt!
Igär blev jeg dornt.
lnatl har de reist skal'ottel i gärden.
De hentcr mig klokken fem imorgen!
Hele kjelleren her er lull,
og alle kaserner har kjeller pä kjcller.
Vi ligger og venler i slcnkolde eeller,
vi ligger og rätner i mörke hüll!
Vi vet ikke selv, hvad vi ligger og venter,
og hvem der kau bli den neste. de henter.
Vi stönner, vi skriker - men kan dere höre?
Kari derc absolut ingenting g.jöre?
I i
Ingen l'är se oss.
Ingen l'är vitc, hvad der skal skjc oss.
Ennu mer:
Ingen kan tro, hvad der daglig skjer!
Du mener, det kan ikke \;ere sank
sä onde kan ikke menneskene va-re.
Der l'ins vcl skikkelig t'olk iblandt?
Bror, du har ennu meget ä teere!
INTERNATIONAL
PSYCHOANALYTIC
UNIVERSITY
DIE PSYCHOANALYTISCHE HOCHSCHULE IN BERLIN
81
Arnulf 0verland
Man s;i : Du skal gi (litt liv, om det kreves.
Og im har du gilt dei forgjeves, forgjeves!
Verden har glemt oss! Vi er bedratt!
Du mä ikke sove iner inatt.
Du mä ikke gä til diu k.jöplnannskap
og lenke pä hvad der gir vinning og tap!
Du ma ikke skylde pä aker og fe
og at du har mer og nok med det!
Du ma ikke sitte trygt i ditt hjem
og si: Del er sörgelig, stakkars dem)
Du mä ikke tale sä inderlig vel
den urell som ikke rammer dig seh !
.leg roper med siste pusl av min stemme:
Du har ikke lov til ä gä og glemmc!
Tilgi dem ikke; de vel hvad de gjör!
De puster pä hatets og ondskapens glör!
De liker#ä drepe, de l'rydes ved Jammer,
de önsker ä se vär Verden i Hammer!
De önsker ä drukne oss alle i blöd !
Tror du det ikke? Du vet det jo!
/
Du vet jo al skolebarn er soldater,
som stimer med sang over torv og gater,
og opglödd av mödrenes fromme svik,
vil verge sit land og vil ga i krig!
Du kjenner det nedrige I'olkebedrag
med heltemot og med tro og a'ie
du vet at en hell, det vil harnet va-re,
du vet, hau vil vii'te med sabel og flagg!
i
Og sä skal hau üt i en skur av släl
og henge igjen i en piggträdsvase
og rätne for Hitlers ariske rase!
Du vet, det er menneskets mening og mal!
.Jcg skjönle det ikke. Nu er det l'orsent.
Min dorn er rettl'erdig. Min straff er t'orljenl.
.leg trodde pa l'remgang, jeg Irodde pa t'red,
pä arbeid, pä samhold, pä kjaudighet!
Men den som ikke vil dö i en llokk
t'är pröve alene, ])i\ böddelens blokk!
82
Du mä ikke sove!
Jeg roper i mörket — ä, künde du höre!
Der er en eneste ling ä gjöre:
Vcrg dig, mens du har frie hender!
Frels dine barn! Europa brenner!
Jeg skaket av frost. Jeg fikk pä mig kkcr.
Ute var glitrende stjerneva;r.
Bare en ulmende stripe i öst
varslet dct samme som drömmens röst:
Dag'en bakcnom jordens rand
steg med et skjajr av blöd og brand,
steg med en angst sä ändelös,
at det var som om selve sljernene frös!
Jeg lenkte: Nu er det noget som hender — .
Vär tid er forbi - Europa brenner!
Du sollst nicht schlafen!
(Wörtliche Übersetzung)
Ich erwachte eines Nachts von einem wunderlichen Traum. Es
war, als spräche eine Stimme zu mir, fern wie ein unterirdischer
Strom — und ich fuhr auf: »Was willst du von mir?«
— Du sollst nicht schlafen! Du sollst nicht schlafen! Du sollst
nicht glauben, du hättest bloss geträumt! Gestern bin ich verurteilt
worden. Heute Nacht haben sie das Schaffot im Hof aufgerichtet. Sie
holen mich morgen um fünf Uhr.
Der ganze Keller hier ist voll. Und alle Kasernen haben Keller
und Keller. Wir liegen und warten in steinkallen Zellen. Wir liegen
und faulen in schwarzen Löchern!
Wir wissen selbst nicht, wozu wir liegen und warten und wer der
Nächste sein kann, den sie holen. Wir stöhnen, wir schreien - - aber
könnt ihr es hören? Könnt ihr absolut nichts tun?
Niemand bekommt uns zu sehn. Niemand bekommt zu wissen,
was uns geschchn soll. Noch mehr: Niemand kann glauben, was täg-
lich geschieht !
Du meinst, das kann nicht wahr sein, so böse können Menschen
nicht sein? Es gibt wohl anständige Menschen zwischendurch?
Bruder, du hast noch viel zu lernen!
Man sagte: Du sollst Dein Leben hingeben, wenn es verlangt wird.
Und nun hast du's hingegeben, — vergebens, vergebens! Die Welt hat
uns vergessen! Wir sind betrogen! Du sollst nicht mehr schlafen
heute Nacht.
83
Arnulf 0verland Du mä ikke sove!
Du sollst nicht zu deiner Kaufmannschaft gelin und daran denken,
was Gewinn und Verlust gibt! Du sollst dich nicht auf Acker und
Vieh berufen und dass du damit mehr und genug hast ! Du sollst
nicht sieher zuhause sitzen und sagen: Das ist traurig, die Armen!
Du sollst nicht so innerlich gut das Unrecht dulden, das nicht dir
zugefügt wird! Ich rufe mit dem letzten Hauch meiner Stimme: Du
hast kein Recht zu vergessen !
Vergib ihnen nicht; sie wissen, was sie tun! Sic entfachen die
Gluten des Hasses und der Bosheit! Sic töten gerne und weiden sich
am Jammer. Sie wünschen, unsere Welt in Flammen zu sehn! Sie
wünschen, uns alle in Blut zu ertränken. Glaubst du es nicht? Du
weisst es ja !
Du weisst ,ia: dass Schulkinder Soldaten sind, die mit Gesang über
Markt und Strassen schwärmen und begeistert von der Mütter
frommem Betrug ihr Land verteidigen und in den Krieg ziehen wollen.
Du kennst den niedrigen Volksbetrug mit Heldenmut und mit
Treue und Ehre — ■ Du weisst, ein Held will das Kind sein, du weisst,
es will mit Säbel und Flagge fuchteln.
Nur, dann soll er hinaus in einen Schauer von Stahl und hängen
bleiben in einem Stacheldrahtgestrüpp und für Hillers arische Rasse
verfaulen! Du weisst, das ist Sinn und Ziel des Menschen!
Ich begriff das nicht. Nun ist es zu spät. Mein Urteil ist gerecht.
Meine Strafe ist verdient. Ich glaubte an Fortschritt, ich glaubte an
Frieden, an Arbeit, an Solidarität, an Liebe! Doch wer nicht in einer
Herde sterben will, kann es allein versuchen auf dem Block des
Henkers !
Ich schrei' in die Finsternis, — ah, könntest du hören ! Da ist
eine einzige Sache zu tun: Wehr' dich, so lang du freie Hände hast!
Rette deine Kinder! Europa brennt! —
Ich zitterte vor Frost. Ich warf mir Kleider über. Draussen war
flimmernder Sternenhimmel.
Nur ein lohender Streif im Osten kündigte das Gleiche an, wie die
Stimme des Traums:
Der Tag stieg hinter dem Rand der Erde empor mit einem Schein
von Blut und Brand, stieg empor mit einer Angst so atemlos, dass
es war, als ob selbst die Sterne frören! —
Ich dachte: Nun geschieht etwas. — Unsere Zeit ist vorbei —
Europa brennt!
84
I
Kulturkampf und Literatur
Von Sigurd Hoel
Vor kurzer Zeil kam im Europaverlag in Zürich ein Ruch heraus,
auf das ich aufmerksam machen möchte. Es heisst Dachau und ist
geschrieben von einem Mann, der sieh Walter Hornung nennt.
Der Verfasser seihst war Gefangener im Konzentrationslager in
Dachau und in dem Buch gibt er eine Schilderung des Lehens in die-
sem berüchtigten Gefangenenlager.
Ich möchte einen kleinen Abschnitt aus dem Buch zitieren. Hor-
nung erzählt, wie eine neue Abteilung Gefangener im Lager empfan-
gen wird.
»Die Zehnte Kompanie war noch nicht voll belegt. Sie wurde aufgefüllt, um
in der siebenten für Neuankommendc Platz zu machen. Auf einen Schlag kamen
wieder fünfundzwanzig an. Meist junge Leute, es waren aber auch ältere Manner
Zum Antreten der Kompanie marschierten sie gesondert auf, schwarz und
blau geschlagene Gesichter, noch nicht kahl geschoren. Als die Arbeitskommandos
abmarschiert waren, standen sie noch da. Das Schlägerkommando verblieb mit
ihnen auf der Wiese. Dort war Firuer mit seiner Kolonne beim Planieren.
Ein SS. gab dem kleinen Trupp Befehl: »Rechts schwenkt, marsch!« Er selbst
schritt voraus in der äussersten Ecke des Appellplatzes. Die übrigen SS. folgten,
unter ihnen Kannschuster, Schüttle, Dambaeh, Lutz. Der Wind trug die Kom-
mandos herüber: »Stillgestanden! Aufschliessen Wollt ihr laufen, ihr
Gesindel! Knie beugt! Arme streckt!«
Firner zählte und kam nicht auf dreissig, als er schon das Klatschen der
ersten Schläge vernahm. Dann hörte, einige Zeit das Brüllen und dazwischen das
Klatschen nicht mehr auf. ,
»Aufstehen — niederlegen! Aufstehn niederlegen!« Schneller, immer schnel-
ler Firner sah, wie die Stiefel in die Hüften, die Hintern, die Beine stiessen ; er
hörte die längst vertrauten Kosenamen der SS. sich in stupider Gemeinheit
wiederholen.
Die Gefangenen kamen nicht mehr hoch; sie krochen nur noch. Einer blieb
liegen, ein SS. stiess ihm das Gesicht in den Dreck.
Antreten, von einer Ecke in die andre im Laufschritt. Tritte ins Kreuz! Nun
wurden sie wieder in die hinterste Ecke kommandiert, mussten in zwei Reihen
antreten, die Gesichter einander zugekehrt: »Stillgestanden! Schlagt euch gegen-
seitig in die Fresse!«
Die Leute rührten sich nicht.
»Wird's bald?« . „,,..,
Die SS. stand hinter den Reihen. Als dem Befehl keine Folge', geleistet wurde,
stiessen die zwei Reihen gegeneinander, dass die Köpfe aufeinanderprallten. Die
Leute standen starr wie Marionetten.
Nun ging die SS. durch die Reihen und schlug jedem der Gefangenen ins
Gesicht. »So! Seht ihr, so geht das! Jetzt packt Euch mal schön ge-
nossenschaftlich an euren langen Haaren und zieht recht fest!«
Sie rührten sich nicht.
»Wirds bald?! Aber schleunigst!« Einige folgten zögernd dem Befehl.
»Da schreit ja keiner au!« Neue Schläge mit den Fäusten und Tritte mit den
benagelten Stiefeln in den Rücken.
»Spuckt euch ins Gesicht!« Die SS. hielten die entsicherten Pistolen. Die Ge-
fangenen bespuckten sieh.
»Das soll bespuckt sein? So! Da schaut her!« Ein SS. Kompanieführer
räusperte sich und spie einem der Gefangenen einen Batzen mitten ins Gesicht.
»So müsst ihr das machen !«
Die meisten der Gefangenen räusperten sich und spuckten sich an.
»Jetzt schleckt das Zeug wieder runter! Los!«
85
Sigurd Hoel
Einzelne SS. packten die Gefangenen bei den Haaren, drückten ihnen die Ge-
sichter aufeinander, zwangen sie, die Spucke abzulecken. Andere standen mit der
erhobenen Pistole und verfolgten laut lachend das sie belustigende Spiel.
Die Aufnahmeprüfung war damit beendet und alle fünfundzwanzig Mann
zum Nationalsozialismus bekehrt. Sie konnten abmarschieren. Das SS.-Schlag-
kommando verliess in vergnügter Stimmung den Schauplatz.« (»Dachau« S-
171—172.)
Ein guter Teil dieser fünfundzwanzig sind Intellektuelle. Ein guter
Teil der sechzigtausend Gefangenen in den Konzentrationslagern sind
Intellektuelle — Journalisten und Künstler, Akademiker verschieden-
ster Art, Schriftsteller. Und ich meine, es kann wert sein, sich zu
merken — in dieser Zeit, da es in vielen Kreisen modern ist, von den
Intellektuellen herabsetzend zu sprechen — dass gerade diese Intellek-
tuellen, Seite an Seite mit den Kommunisten, von den Nazis unter die
Unheilbaren gerechnet werden; die darum am besten in Gefangenen-
lagern liquidiert werden. Es gibt ja so viele Möglichkeiten, das zu
machen: Beim Fluchtversuch erschossen, Selbstmord, Nierenkrank-
heit, Herzkrämpfe.
Ich weiss, dass es viele als unbehaglich empfinden, an solche
Dinge erinnert zu werden. Sic möchten lieber an etwas anderes
denken.
Aber ich glaube, es ist äusserst notwendig, an diese Dinge zu
erinnern. Und insbesondere halte ich es für günstig, in der Einleitung
zu einem Vortrag über Kulturkampf und Literatur an die Tatsache
zu erinnern: So wie hier geschildert - und sehr oft viel schlimmer
so wird heute ein grosser Teil der Männer, die im geistigen Leben
eine Rolle spielten, behandelt in einem Land, das gar nicht so weit von
uns entfernt ist, und das wir stets für nahe mit uns verwandt und
uns in mancher Hinsicht überlegen gehallen haben.
Die wichtigste Aufgabe der Literatur ist es: Die Zeit zu spiegeln,
die Wirklichkeit zu zeigen, die Lügner zu durchleuchten und zu ent-
larven, den Schwindlern, die uns zum Narren halten ■ — und zugleich
uns selber unsere eigene Flucht vor der Wirklichkeit zu zeigen, die
Lügen, mit denen wir uns über die Niederlagen trösten, die falschen
Tagträume, mit denen wir uns selbst zum Narren halten, zu zeigen.
Oder wenn man will: Die Aufgabe der Literatur hier und jetzt ist,
die Freiheit, die wir noch haben, zu benützen, wenn möglich eine
weitere Einschränkung dieser Freiheit zu verhindern; zu verhüten,
dass sich ein »Dachau« auch bei uns verbreitet.
Man wird einwenden:
Das ist alles doch so weil weg!
So etwas kann niemals hier geschehen !
Wir haben so viele andere Fragen, welche wir lösen müssen.
Denkt an unsere nationale Eigenart, die noch lange nicht er-
forscht ist.
Denkt an unsere »finsteren Jahrhundertc«.
86
Kulturkampf und Literatur
Denkt an das »verborgene Norwegen«1).
' Und all das ist ausgezeichnet und sehr wichtig.
Doch unsere nationale Eigenart, grossartig wie sie ist, verhindert
trotzdem nicht, dass wir von der gleichen Art von Kugeln durchbohrt,
von der gleichen Art von Gas vergiftet werden, unter der gleichen Art
von Stahlruten schreien können, dass wir von der gleichen Art von
Redensarten verwirrt werden und in der gleichen Art von Gefängnis-
sen verkommen können, wie Menschen aus anderen, fremden
Nationen.
Darum lasse ich vorläufig die speziell norwegische Aufgabe der
Literatur in Frieden und halte mich an das, was für die Literatur in
allen Ländern gemeinsam ist.
Es herrscht innerhalb der meisten Parteien und Meinungsgrup-
pierungen eine gewisse Einigkeil darüber, das es eine ganz finstere
Kultursituation ist, in der wir uns befinden. Es gibt gewisse Anzeichen,
die dahin zu deuten scheinen, dass die Gegenwartskultur im Begriff
ist, in ihren eigenen Absonderungen umzukommen. Die Technik ent-
wickelt sich in rasendem Tempo und alle Kulturapparale mit ihr.
Doch gleichzeitig damit können wir eine ständig sich steigernde Ten-
denz in der Richtung auf etwas entdecken, was wir die Tyrannei der
Institution über den Menschen nennen können.
Überall sehen wir, wie sich die verschiedenen Kulturinstitutionen
mit rasender Geschwindigkeit dahin entwickeln, Grabmonumente der
Kultur zu werden, zu deren Lebenserhaltung sie gestiftet waren. Es
sieht fast aus, als wäre es zu einem Naturgesetz geworden, dass eine
Institution in dem Augenblick wo sie aufgerichtet wurde, um ein
Kulturgut zu bewahren und zu stärken, die Zeit für gegeben ansieht,
es zu verraten. Zu Ehren der Kultur werden herrliche Paläste mit
dicken Mauern errichtet, in denen die Kultur in einer Polsterzelle ein-
gesperrt wird.
Unser eigenes Nohclinstitut ist dafür typisch. Gestiftet, um der
Sache des Friedens zu dienen - sieht es in Wahrheit so aus, als
müsste man General, Kriegsminister, oder Aktionär der Rüstungs-
industrie sein: Andernfalls nützt es nichts, sich als Kandidat für den
Friedenspreis zu melden.
Am deutlichsten wird diese unheimliche Entwicklung in Deutsch-
land sichtbar. Da hat der am meisten umfassende Kulturapparat, der
Staat selbst, sich dazu entwickelt, ein menschenfressendes Ungeheuer
zu werden. Ungehemmt wird das neue Evangelium gepredigt: Dass
der Mensch nur existiert für den Staat, für den totalitären Staat (sym-
1) Anm. Die Entwicklung der norwegischen Literatur und des norwegischen Gei-
steslehcns Überhaupt ist entscheidend heeinflussl von der Tatsache, dass vom
17len bis zum Anfang des litten Jahrhunderts Norwegens politisches und gei-
stiges Lehen von einer dänischen Heamtenaristokratic bestimmt wurde, die
der Bevölkerung sogar eine ihr nicht gemässe Schriftsprache aufzwang. Erst
seit der politischen Trennung von Dänemark im Jahre 1814 hat die selb-
ständige Entwicklung Norwegens auf politischem, literarischem i. T. sogar
sprachlichem Gebiet eingesetzt. (Der Übersetzer.)
87
Sigurd Hoel
bolisiert in der Person des Führers). Und der totalitäre Staal — er-
klärt uns Ludcndorff sehr logisch — hat ein Ziel: Den totalitären
Krieg. Und worin der totalitäre Krieg resultieren inuss, das brauchen
wir nicht einmal zu fragen — er muss zur totalen Ausrottung der
Menschen führen.
Das Gefangenenlager in Dachau ist keine zufällige Ausschweifung.
So muss der totalitäre Staal logischer Weise gegen seinen natürlichen
Feind, den denkenden Menschen vorgehen. Vnd solange der Zustand
in Deutschland kein Ausnahmezustand in der Welt genannt werden
kann — solange wir ähnliche Zustände in Italien, Japan und einer
Reihe anderer Diktaturländer antreffen und solange dieser Gemüts-
und Gesellschaftszustand faktisch die Tendenz hat, sich ständig weiter
auszubreiten, solange muss es für uns, die wir diese Entwicklung für
das grösste von allen Unglücken halten, die wichtigste aller Aufgaben
sein, zu klären:
Warum ist das so?
Muss das so sein?
Ist diese Entwicklung ein unentrinnbares Schicksal, in das sich
die Welt finden muss, oder kann sie durch richtige Erkenntnis und
richtige Handlungen zum Stillstand gebracht und überwunden
werden? »
Wenn die Reaktion, wie sie es in den letzten Jahren in der Welt
getan hat, unaufhaltsam triumphiert, so entsteht in der Seele vieler
Menschen eine Niederlagenstimmung, die der Reaktion Wege zu neuen
Triumphen öffnet. Es entsteht ein circuhis vitiosus, ein bösartiger
Zirkel können wir es übersetzen — ein aus den verschiedensten
Lebensgebieten her bekanntes Phänomen, ein Phänomen, das einen
geradezu verleiten könnte, an ein »Prinzip des Bösen« hier in dieser
Welt zu glauben. Im folgenden werden wir oft auf diesen circuhis
vitiosus stossen.
Auf den Sieg der Reaktion reagieren sehr viele Menschen so, dass
sie denken:
»Das, was geschah und ständig geschieht, ist wohl unvermeidbar.
Es ist Schicksal.«
Oder sie denken verzweifelt: »Es muss doch wohl trotzdem irgend
etwas an dem dran sein, wenn es solchen Erfolg hat.«
Sic denken: »Es kann ja doch nichts nützen «
Und sie werden passiv, gottergeben, fatalistisch, legen die Hände
in den Schoss, lassen das Böse geschehn.
Es ist dieser fatalistische Gemütszustand, hervorgerufen von Nie-
derlagen, der vor allem den Weg zu neuen Niederlagen bahnt. Es ist
diese Unterwerfung unter das Schicksal, die das Schicksal schafft.
Und es bleibt die Frage: Ist diese Unterwerfung unumgänglich? Gibt
es kein Mittel dagegen? — Von unserer innern Antwort auf diese Frage
wird in Wirklichkeit unsere Haltung zu allen Problemen der Zeit
bestimmt.
88
L
Kulturkampf und Literatur
Vorläufig muss man sagen:
Dieses Niederlagcngefühl bringt mit sich, dass Ängstlichkeit und
somit Konservativismus in allen früher freisinnigen Lagern um sich
greifen. Denn was finden wir im Zentrum von allem Konservativis-
mus: Passivität, gebückte Haltung, Niederlagengefühl. (Nicht zufällig
sind es die Alten, die mit geschwächten Lebenskräften, die sozusagen
von Natur konservativ sind).
Die Konservativen denken:
So, wie es ist, ist es immer gewesen und so wird es immer bleiben.
Es nützt nichts, etwas dagegen zu tun. Es darf auch garnichts dagegen
getan werden, denn wenn es einmal so ist, so wird es wohl gut sein.
Und auf jeden Fall, zuerst und zuletzt: Es nützt nichts zu kämpfen.
Unter diesem Wahlspruch der Alten, dessen innerste Meinung ist:
»Der Tod nähert sieb, aber es nützt nichts, vor ihm davonzulaufen«
- unter diesem Wahlspruch sind unzählige Generationen von Jungen
um das Leben genarrt worden.
Eins ist gewiss: Beugen wir uns unter diesen Wahlspruch, so ver-
raten wir auf jeden Fall das Geistesleben. Aus Konservativismus, aus
Niederlagengefühl entsteht niemals ein Geistesleben. Die erste Voraus-
setzung alles Geisteslebens ist: Es kann etwas nützen.
Eine der gefährlichsten Folgen der Reaktion und ganz besonders
des Hitlcrsieges ist eine neue und wachsende Verachtung für die
Massen. Diese Verachtung greift in allen Lagern um sich, und bahnt
auf tückische Weisen den Weg für reaktionäre Gedankengänge. Ein
circulus vitiosus.
Hitler hat mit verblüffender Aufrichtigkeit dieser seiner Verach-
tung Ausdruck gegeben (wozu zu bemerken ist, dass er selbst ge-
fühlsmässig in hohem Grad ein »Massenmensch« ist). Er hat wieder
und wieder die Massen als »formbaren Lehm« bezeichnet, von Natur
passiv und weibisch, ausser Stand zu denken, aber wohl geeignet zu
fühlen, und mit einem unbewussten Wunsch in sich, brutalisiert,
kommandiert, am Nacken gefasst und geleitet zu werden
Hitlers Sieg scheint ihm recht zu geben.
Eine andre Folge des faschistischen und nationalsozialistischen
Sieges ist eine gesteigerte Verachtung der Frau, eine verschärfte anti-
feministische Hallung innerhalb vieler Lager. Wieder ein circulus
vitiosus.
Die Frau ist seit Jahrtausenden in allen Ländern, in aller Zeit, die
wir die patriarchalische Epoche zu nennen pflegen, mehr oder weniger
unterdrückt worden. Sechstausend Jahre ungefähr. Im letzten Men-
schenalter ist in einzelnen Ländern ein schwacher Versuch gemacht
worden, der Frau mehr Gleichstellung einzuräumen.
Was ist das Resultat?
Ich glaube, wir können schnell darüber einig werden, dass das
Resultat eine Enttäuschung gewesen ist.
Nicht überall ist die Enttäuschung so greifbar, wie neulich in
89
Sigurd Hoel
Spanien. Da setzten es die Linksparteien nach der Revolution durch,
dass die Frauen Stimmrecht haben sollten. Und bei der ersten Wahl
standen die Frauen zu Millionen auf und stimmten so, wie ihre Beicht-
väter ihnen gesagt hatten, dass sie stimmen sollten — d.h. in direktem
Streit mit ihren eigenen Interessen, für ihre eigene Unterdrückung,
gegen ihr eigenes Stimmrecht, gegen die Parteien, die dafür gearbeitet
hatten, ihnen einen Teil ihrer Menschenrechte zurückzugeben.
Das war in Spanien (wo die Frauen im übrigen bereits bei der
nächsten Wahl bereuten). Doch ich frage: Hat nicht jedes Land ähn-
liche Erfahrungen gemacht?
Dann denkt man in der ersten Enttäuschung:
Es kann nichts nützen, diesem Wesen Freiheit, Gleichstellung,
Rechte zu geben. Sie will es ja nicht haben! — Und die Reaktion
triumphiert.
Doch wir vergessen:
Jahrtausende hindurch hat diese Unterdrückung bestanden. Sie
hat ein sinnreiches System von Vorstellungen, Denkgewohnheiten und
Ansichten bei uns allen abgelagert. Diese Vorstellungen von der Un-
gleichheit von Mann und Frau sind ein organischer Teil von uns allen
geworden, Männern wie Frauen, sie haben uns vom Kopf bis zur Zehe
durchsäuert und haben uns verändert. Und dann sollte etwas so
Äusserlichcs wie ein Stimmrecht mit einem Schlag all das verändern?
Derjenige, der unterdrückt wird, muss auf die Dauer aus purer
Selbstverteidigung sich auf die Unterdrückung einrichten, ja wenn
möglich Vorteil aus ihr ziehn. Aber ans einem Zustand Vorteil ziehn,
besagt stets, dass man ihn bis zu einem gewissen Grad anerkennt.
Doch auch derjenige, der unterdrückt, wird verändert. Unter
anderm wird er abgestumpft, brutal und dumm.
Im Hinblick auf Mann und Frau ist all das besonders deutlich.
Man lasse eine Anzahl Männer zusammen kommen und sorge dafür,
dass sie aufrichtig miteinander reden. Und über alle Klassenunter-
scheidungen und Nationalitätsgrenzen hinweg werden sie sich dar-
über einig sein, dass die Frau schwach, falsch und verlogen ist. Und
lässt man ein paar vernünftige Frauen zusammenkommen, so werden
sie bald darin übereinkommen, dass der Mann gewiss stark sein kann
und gut um Ski zu springen und solche Dinge, aber gleichzeitig dumm
und leicht zum Narren zu halten. Auf diesem gegenseitigen Hass, auf
dieser gegenseitigen Geringschätzung baut sich die Liebe in unserer
Zeit auf. Und Geringschätzung erzeugt — beim Mann Brutalität.
Und Brutalität erzeugt — beim andern Partner — Schlauheit, Falsch-
heit und Lüge. Circulus vitiosus — zum Vorteil für alle Reaktion.
Wenn Menschen von frühster Kindheit an dazu erzogen werden,
einen grossen Teil ihrer natürlichen, an und für sich ganz unschul-
digen Wünsche, Triebe und Bedürfnisse zu fürchten, zu verabscheuen,
zu verurteilen und zu unterdrücken die wesentlichen Dinge, die
mit der Sexualität zu tun haben, - - und wenn diese Menschen durch
90
Kulturkampf und Literatur
diese Unterdrückung nach und nach innerlich so verkrüppelt werden,
dass sie freiwillig selber fortsetzen, auch wenn der äussere Zwang
aufgehört hat, so erinnern sie im Laufe der Zeit an einen Menschen,
der vor allem sogenannten Unreinen einen derartigen Schrecken hat,
dass er niemals wagt, in seinem Zimmer gründlich rein zu machen.
Er öffnet die Kellerlukc und in Hast, mit abgewandtem Blick kehrt
er alles Zweifelhafte in den Keller hinunter und schlägt die Luke
wieder zu. Was er hinunterkehrte, braucht gar nichts Unreines zu
sein. Doch wenn die Dinge da unten im Keller liegen bleiben und ver-
faulen, ohne Licht, Luft und Kontrolle, mit immer mehr Zuwachs
von der gleichen Art - da braut und kocht es sich in der Folge zu
einem Kraut von verbotenen Trieben zusammen, von unerfüllten Wün-
schen, Lüsten, unbewusstem Neid und Groll — bis die verdrängte
Natur dieser guten Menschen genau so schwül, ekelhaft und gefähr-
lich wird, wie sie glauben, dass die ganze Natur böser Menschen sei.
»Aftenposten« (die grösste konservative Zeitung Norwegens) ist
der Wächter der Moral hier zu Lande. Sie kämpft gegen »Pornogra-
phic und sexuelle Aufklärung« — diese beiden Dinge sind für sie fast
das Gleiche. Sie kämpft gegen die Befreiung der Jugend, gegen die
radikale Literatur, gegen das Entsetzliche, was sie das sexuelle Chaos
nennen und was entsteht, wenn man die sexuellen Verbote aufhebt.
Wir lachen darüber, oder ärgern uns, aber wir vergessen, dass von
ihrem Niveau und von einer unklaren Erkenntnis dieses Niveaus aus
Aftenposten auf seine Weise recht hat.
Aftcnpostcns Unterbewusslsein ist nämlich pornographisch
das geht aus dem Früheren hervor — und Aftenposten hat selbst eine
Ahnung davon. Es ist nämlich so, dass die Kellerklappe bei dieser
Art Menschen nicht absolut hermetisch schlicsst. Ein Duft steigt ab
und zu herauf in die gute Stube. Und die guten Menschen ahnen,
dass, wenn man dies zulässt, was dann !
Nein. Es ist kein Zufall, dass Aftenposten sich unter dem Begriff
erotische Freiheit bloss Roheit, Gewaltakte, Übergriffe, Untreue und
Chaos vorstellen kann. Es ist ganz richtig — wenn man plötzlich, mit
einem Schlag wie durch Zauberkünste alle die guten Menschen von
ihren sexuellen Hemmungen befreite, da würden böse Dinge ge-
schehen. Es würde so sein, als ob man von einem Tag zum andern
all die Tausend Sing-Sing Gefangenen auf freien Fuss setzte und ihnen
einen Revolver in die Hand gäbe und dann bitte sehr !
Da würden Gewalthandlungen und Chaos kommen.
Doch wir haben gar nicht daran gedacht, Aftenposten zu befreien,
ja verzeihen Sie, dass ich diesen Namen als Bezeichnung für ein gan-
zes Milieu brachte. Dieses Milieu muss im ganzen gesehn mit seinen
Gehrechen zugrunde gehn. Das, vorauf es ankommt, sind die jungen
Menschen und die kommenden Generationen, die Menschen, die noch
nicht ruiniert sind, die noch die Chance zu einem reicheren, freieren
und glücklicheren Leben haben.
91
Sigurd Hoel
Und auch dabei dürfen wir uns keine falschen Illusionen machen,
das würde sich an uns und an der Jugend rächen. Wir müssen uns
im Klaren darüber sein, dass unter der Arbeit für grössere Freiheit,
auf sozialem, ökonomischem, erotischem Gebiet auch chaotische Dinge
- vorkommen werden und müssen. Wir müssen uns daran erinnern,
dass ein Mensch von 20 Jahren schon ein langes Leben hinter sich
hat — was die Charakterstruktur an und für sieh angehl, hat er den
grössten Teil seines Lebens hinter sich. Und in unserer Gesellschaft
ist er dann bereits auf eine oder mehrere Arten zerbrochen und unter-
drückt — andernfalls würde er sich ja nicht in die Unterdrückung
finden und keiner Hilfe zur Befreiung bedürfen. Es werden chaotische
Dinge vorkommen, die Gelegenheit zu Geschrei und Agitation geben
werden. Wir müssen darüber nur klar sein. Wer über ein Gebirge
will, das den Weg versperrt, muss sich darein finden, eine Zeit lang
bergauf zu gehn.
Und nun zum zentralen Fragenkreis, bei dem die Reaktion ihre
meisten und besten Helfer findet:
Wir haben auf verschiedene Weise, bei lausenden von Gelegen-
heiten, direkt und indirekt zu hören bekommen: Immer besteht, im-
mer hat bestanden und wird bestehn ein schicksalsbestimmter und
unentrinnbarer, trauriger doch unvermeidbarer Gegensatz zwischen
Natur und Kultur. Geistige Arbeit entsteht, so heisst es im psychologi-
schen Jargon unserer Zeit, durch Sublimierung der Energie der pri-
mitiven Triebe. Also muss jede geistige Arbeit direkt oder indirekt
Energie aus diesen Trieben bezichn. Umgekehrt würden diese Natur-
triebe — und wohl gemerkt, ohne das Wort zu nennen, wird hier
immer der Sexualtrieb gemeint — umgekehrt würden diese Triebe,
befriedigte man sie vollkommen, Energie, Zeit und Interesse von der
geistigen Arbeit wegnehmen. Also sind sie kulturfeindlich.
Einzelne Kulturphilosophen, um ein Beispiel aus unserer Heimat
zu nennen, Sigurd Ibsen, sind noch einen Schritt weiter gegangen und
haben behauptet, dass alle Kultur sich auf sozialem Unrecht aufbauen
müsse, so traurig das auch ist, es muss doch so sein. Damit jemand
Zeit und Möglichkeit zu Kulturarbeit findet, müssen sich andere umso
härter, mit grober Arbeit und für geringeren Lohn plagen, damit ein
Übcrschuss für den bleibt, der sitzt und denkt. Ja, es ist traurig und
unser Gerechtigkeitssinn wird dabei einigermaßen in Aufruhr versetzt,
aber es ist so und ist immer so gewesen und muss immer so bleiben.
In späterer Zeit hat diese Kulturauffassung eine gewisse Stütze
durch Sigmund Freuds letzte Arbeiten erfahren.
Sigmund Freud wird ja für gewöhnlich als die Inkarnation des
Radikalismus im geistigen Leben selbst aufgefasst — man greift ihn
wegen seines auflösenden, umstürzenden, vergiftenden Radikalismus
an. Die wenigsten jedoch, die ihn angreifen, sind darauf aufmerksam,
dass sich Freud in den späteren Jahren auf verschiedenen wesent-
lichen Gebieten in nicht geringem Mass zu so etwas wie einem kon-
92
Kulturkampf und Liferatur
servativen alten Herrn entwickelt hat. Die Angreifer sind darauf nicht
aufmerksam. Sie haben nämlich zur Sicherheit Freud nicht gelesen.
Freud machtein seinem frühen Manncsaller grosse, bahnbrechende
Entdeckungen. Er entdeckte die kindliche Sexualität deren Existenz
kein Kundiger länger bestreitet. Er entdeckte ferner, dass das Verbot
gegen die natürliche Entfaltung dieser kindlichen Sexualität, ihre
Verdrängung, den Anlass gibt zu all den Neurosen, die die Welt wie
eine Pest plagen, und die gewiss alles in allem gesehn die unheim-
lichste, meist verbreitete, peinlichste und und für das Wohl und Glück
der Völker schicksalsschwerste Krankheit der Gegenwart sind.
Durch die Methoden, die er ausgearbeitet hat, konnte Freud diese
Neurosen im einzelnen Fall ganz oder teilweise heilen. Doch das war
eine Methode, die lange Zeit in Anspruch nahm und die niemals zu
einer Heilung im breiten Massenmasstab werden konnte. Was sollte
man tun, um den Massen gegen ihre Neurosen zu helfen?
Und lassen Sie mich gleichzeitig erwähnen: Die Untertänigkeit der
Massen, ihre Passivität, Ängstlichkeit und Autoritätsgläubigkeit, die
sie zu einer so leichten Beule für Hitler, Mussolini und andere De-
magogen macht, hat ihren Grund nicht allein in Armut und Mühe
und schlechten Wohnverhältnissen und all dem Gefühl von Minder-
wertigkeit, das damit verbunden ist, sie hat ihren Grund auch in der
Neurose, hervorgerufen durch eine Erziehung, die zum grossen Teil
davon ausgehl, grosse Teile der Lebenskraft zu unterdrücken und
einzukapseln.
Wir müssen fragen: Muss das so sein?
Müssen die Massen fortgesetzt unterdrückt, in Schmutz und
Lumpen und Armut niedergehalten werden, damit die Kultur be-
stehen kann?
Ein sehr hoher Prozentsatz der Frauen in Europa und Amerika
ist frigid, sexuell kalt, ihre zentrale Lebens- und Frcudequelle selbst
ist getötet, sie empfinden das erotische Zusammenleben mit dem Mann
als Last, als Plage, sie kommen dahin, dieses selbst und den ganzen
Mann zu hassen, sie machen das Zusammenleben zu einer Pest und
übertragen unwillkürlich ihre Angst und ihren Hass auf ihre Kinder.
Ursache davon ist teils Roheit und Unwissenheit auf Seiten des
Mannes, eine Unwissenheit, die von der Angst geschaffen und auf-
rechterhalten wird, teils ein früh erworbener Schrecken bei der Frau.
[)0Ch — so liegen die Dinge nun einmal. Früher rechnete man
damit, dass etwa die Hälfte der Frauen mehr oder minder frigid war.
Später, als diese Untersuchungen weiter ausgebaut wurden, ist man
zu bedeutend höheren Zahlen gekommen, man behauptet neunzig
Prozent geistige Invaliden, zerbrochen und verdorben in einem wesent-
lichen Teil ihrer Lebensnerven. Sollen sie also als Invaliden herum-
gehn, damit Sigurd Ibsen und seinesgleichen in ihrer Villa sitzen und
denken können?
Hier muss man sagen, dass Freud und seine Schule in einer ge-
93
Sigurd Hoel
wissen Weise und in steigendem Masse um den wesentlichen Punkt
herum gegangen sind. Man heilt den einzelnen Fall und nachdem
man das kranke, verschreckte Individuum von Angst erlöst und die
erotische Lebensenergie befreit hat, sucht man sie von neuem zu
binden. Nun ist sie da — doch wenn man sie zu dem ausnützen
wollte, wofür sie da ist — ja, hm, da könnte man in Konflikt mit
Sitte und Brauch geraten. Nein, jetzt muss sie sublimiert, - in geistige
Arbeit umgesetzt werden, zu Schönheitsfreude, sportlichen Lei-
stungen
Faktisch hat Freud in seinen spätem Arbeiten zu einem grossen
Teil der konservativen, christlichen, puritanischen, asketischen Be-
hauptung recht gegeben, dass die Kultur sich auf Kosten der Natur-
triebe aufbaut — dass Natur und Kultur in dieser Hinsicht Gegen-
sätze sind.
Doch andere Forscher haben Freud korrigiert und seine For-
schungen weitergeführt.
Unter diesen Jüngern Forschern muss in erster Linie Wilhelm
Reich genannt werden. Reichs Arbeilen behandeln die Tiefenpsycho-
logie und in dieser Hinsicht setzt er Freuds Arbeiten fort. Aber ausser-
dem hat er Arbeiten geliefert, in denen er die Tiefenpsychologie so-
ziologisch ausnützt und die unausweichlichen politischen Konsequen-
zen aus der neuen psychologischen Einsicht zieht. Ich nenne von
seinen Arbeiten:
Massenpsychologie des Faschismus
Einbruch der Sexualmoral
und das eben erschienene Buch
Die Sexualität im Kulturkampf
Drei Bücher, um die niemand herumkommt, der sich in unserer
Zeit mit Kulturproblemen gründlich vertraut machen will.
Diese jüngeren Forscher mit Reich an der Spitze, was sagen sie
nun zu dieser Behauptung über den notwendigen Gegensatz von Natur
und Kultur?
Ja — sagen sie - - es besteht wohl ein solcher Gegensatz zwischen
Natur und Kultur.
Aber welcher Kultur?
Der bürgerlichen, christlichen, kapitalistischen, patriarchalischen
Kultur.
Diese Kultur baut auf zwei Tatsachen auf: Auf ökonomischer Aus-
beutung und auf Sexualunterdrückung.
Und wozu ist die Sexualunterdrückung notwendig? Sie ist eines
der Mittel zur ökonomischen Ausbeutung.
Die Sexualunterdrückung ist ein Glied in der Erziehung, die alles
in allem darauf ausgeht, dem Kinde Angst einzujagen, ihm Schuld-
gefühl zu geben, ihm alle möglichen Verbote einzuhämmern und es
still, fromm, verschreckl und hörig zu machen.
94
■
Kulturkampf und Literatur
Das Sexualverbot ist das wichtigste dieser Verbote, das schicksals-
schwerste von ihnen, dasjenige, dessen Aufrechterhaltung die grösste
Kraft in Anspruch nimmt.
Es ist wirklich so: Der erwachsene freundliche, hörige, ver-
schrecklc, verbogene Mensch braucht einen wesentlichen Teil seiner
Lebenskraft dazu, um seine Lebenskraft zu unierdrücken im Ge-
horsam gegen die Hegeln, die ihm in frühen, peinvollen, vergessenen
Jahren eingebläut worden sind von Eltern, die selbst auf die gleiche
Weise unterdrückt worden sind und die, ohne es zu wissen, sich an
ihren Kindern gerächt haben für das Leid, durch das sie selbst als
Kinder hindurch mussten. Hier haben wir den circulus vitiosus in
seiner schlimmsten, seiner erschreckendsten Form.
Mit andern Worten: Es ist nicht so, dass die Unterdrückung von
Naturtrieben an und für sich die Kulturarbeit fördert. Hingegen dient
sie dazu, um eine ganz bestimmte soziale und kulturelle Situation
festzuhalten. Sie macht den Mann schwach, feig, abgestumpft und
dumm — doch zugleich macht sie ihn unsicher, voll von Schuldgefühl,
leicht zu leiten, leicht auszubeuten. Sie macht ihn zu einem Mitglied
der Masse, die zu Ton in der Hand rücksichtsloser Demagogen wird.
Oder — denken wir uns, dass er scheinbar aus der Masse hervor-
steigl. Er hat Glück oder Unglück - - und wird geistiger Arbeiter und
bildet sich vielleicht ein, ausserhalb und über dem Streit zwischen
Parteien und Klassen zu stehen, ein freier Mann, geleitet vom reinen
Denken, das er selbst hervorbringt. Bitte um Verzeihung! Das Heinzel-
männchen hat den Umzug mitgemacht. Die Sexualuntcrdrückung trägt
er von Kindheit an mit sich am Körper. Er ist voll von Hemmungen,
voll von Angst vor der vollen Lebensfreude - er selber bezeichnet
es als etwas anderes: Er ist erhaben über das Tierische in ihm selber
oder wie man es ausdrücken will. Sehr oft ist er auch oder wird er
mit den Jahren voll von Hass gegen diejenigen, welche sich die volle
Lebensfreude erlauben. Dies wird gerne so ausgedrückt, dass er für
Reinheit kämpft; — mit andern Worten: In all seiner geistigen Frei-
heit ist er ein gehorsamer Vollzieher und Weiterträger der Lebens-
angst, die ihm einmal aufgezwungen worden ist.
Hier haben wir, wenn wir genauer hinsehen, nicht nur einen
circulus vitiosus, sondern ganze Klassen, ganze Gruppen ineinander
und umeinandergreifend.
So kann man fragen:
Wird es also die Kultur überhaupt nicht .gefährden, wenn die
natürlichen Lehensinstinkte der Menschen Freiheit erhalten, sich zu
entfalten?
Gewiss. Die Kultur, die auf Unterdrückung und Angst aufbaut,,
die wird gefährdet werden. Die Kultur, die von Sklaverei lebt, die
Kultur, die eines Menschen Wohlstand, - nein, nicht einmal Wohl-
stand, sondern lästigen überfluss - - mit der Not von Hunderten von
Menschen erkauft, die wird gefährdet werden, wenn die natürliche
95
]
Sigurd Hoel
Lebenskraft der Menschen Freiheit erhält, sich zu entfalten in Spiel
und Lebenslust und in Kulturarbeit.
Kurz gesagt:
Der Kampf für ökonomische und der Kampf für sexuelle Be-
freiung, das sind nicht zwei verschiedene Arten Kampf. Es ist der
gleiche Kampf auf der gleichen Front.
Und ich glaube, man kann einen Schritt weiter gehen und sagen:
Zu einem effektiven Kampf gegen die Reaktion kommen wir nicht,
bevor diese Tatsache nicht wieder als Faktum erkannt worden ist —
sie war schon einmal erkannt worden und wurde zum Teil vergessen,
wurde wieder erkannt und wiederum teilweise vergessen.
Was ist also die Aufgabe der Literatur inmitten von all dem?
Die Aufgabe der Literatur ist, so wurde gesagt, die Zeit zu spiegeln
und neue Erkenntnisse zu vermitteln.
Doch ich will hinzufügen:
Wenn die Literatur, indem sie wiederspiegelt und vermittelt, ver-
gisst, die Sache des Schwächeren gegenüber dem Stärkeren zu ver-
treten, dann hat sie trotzdem ihre Aufgabe versäumt.
Der Einwand kommt: Setzen wir hier nicht allzu enge, allzu pro-
grammatische Grenzen für die Literatur? Denk an- die Freiheit
Ja, Freiheit ist eine gute Sache. Und die Menschen, nicht zuletzt
die Schriftsteller, müssen ohne Zweifel ihr Selbstbestimmungsrecht
behalten.
Aber wenn einer sich hinsetzt und einen neuen extra patent-
schlauen Wascheimer ausspekuliert, gerade während das Haus über
seinem Kopf brennt — ja da greifen wir vielleicht nicht in sein Selbst-
bestimmungsrecht ein, aber wir denken ganz im Geheimen, dass mit
dem Mann etwas nicht in Ordnung sein muss.
Und wenn ein Schriftsteller in dieser Zeit sitzt und sich in exklu-
siven ästhetischen Problemen verliert — Kunst für die Kunst! da
müssen wir uns erlauben dürfen, zu sagen: Mit dem Schriftsteller
muss etwas los sein. Und wir müssen uns erlauben dürfen, uns für
seine ästhetischen Wascheimer etwas weniger zu interessieren.
In dieser Zeit, da die Kultur bedroht ist, unter Kulturapparaten
begr.aben zu werden, da Disziplin für das höchste Gut der Freiheit
erklärt wird, Salbaderei als Zeichen des Adels gepriesen und Mord
im grossen Stil zum wichtigsten Ziel des Lebens gemacht wird, in
dieser Zeit, glaube ich, hat die Literatur schwierigere und wichtigere
Aufgaben als jemals, sie hat ein salziges und beissendes Korrektiv
der Begebenheiten zu sein. Und ich glaube, dass die Schriftsteller
kraft ihrer besondern Eigenschaften im Guten wie im Bösen, die sie
und. ihre Arbeit prägen, ganz besonders dazu geeignet sind, Auf-
räumungsarbeit zu leisten.
Nicht weil sie höher stehen, als die meisten Leute, sondern weil
sie auf eine günstige Weise ein wenig anders sind.
Wir wissen:
96
Kulturkampf und Liferafur
Schriftsteller, das sind sehr oft Leute, die es schwer gehabt haben,
sich auf irgend einem Wandbrett der Gesellschaft zurechtzufinden.
Nun ja. Wenn ein Gegenstand nicht auf ein Wandbrett passt, dann
kann die Schuld am Wandbrett und sie kann am Gegenstand liegen.
Doch das kann soweit ein und dasselbe sein. Die Schriftsteller haben
den Vorteil, dass sie eine Art Wanderkörper sind, in der Gesellschaft,
die in Gefahr ist, allzu steif zu werden.
Weiter:
Der Schriftsteller ist relativ — ich sage relativ - - unabhängig von
den grossen Kulturapparaten. Die Schriftsteller — die Künstler über-
haupt _ stehen im Ruf, etwas weniger regierbar zu sein als Leute
für gewöhnlich. Sie können an schwierige Kinder erinnern.
Doch dieses Kindliche, das die Künstler für sich behalten haben
und das auch andere Menschen behalten haben, das aber allzu oft
von Ängstlichkeit und Furcht vor Konsequenzen verdeckt ist und von
Furcht vor dem, was der und der und der und der sagen und denken
wird, — das ist ja nichts anderes, als die ursprüngliche Natur in uns.
Und kraft dieser ursprünglichen Natur stellen die Künstler ihren
Kontakt mit den Menschen her. Und kraft dieser ursprünglichen,
noch lebenden Natur können wir auf eine Aufgabe der Literatur in
einer Welt hoffen, in der Logik und Technik sich in irrsinniger, lebens-
feindlicher Richtung entwickelt haben und über alle Grenzen wachsen
tind wachsen wie eine Krebsgeschwulst in einem kranken Körper.
Hier ist es, wo wir einen Schrei von einem dieser schwierigen
Kinder nötig haben. Das war ein solches schwieriges Kind, was ein-
mal rief: »Aber er hat ja gar keine Kleider an!«
Wir müssen uns daran erinnern:
Soll eine solche Literatur überhaupt irgend eine Berechtigung
haben, dann muss sie über die Grenzen dessen hinaus gehen, was als
passend angesehen wird. Die Begründung liegt im Wort selbst. Das
»Passende« — das ist das, was den Mächtigen und Tonangebenden
passt. Doch es kann niemals Aufgabe der Literatur werden, den Mäch-
tigen zu passen.
Wenn die Literatur wirklich diesen Teil ihrer Aufgabe besorgt —
wenn sie ernsthaft und unpassend ist, — dann wird sie unvermeid-
licherweise leichtsinnig und schweinisch gescholten werden. Es wird
gesagt werden, dass sie »das Heilige schändet«.
Wir werden uns damit trösten, dass sich kaum eine Schweinerei
findet, die nicht einmal als heilig erklärt worden ist. Und es gibt ge-
wiss keine ordentliche und anständige Sache, die nicht einmal für
schweinisch erklärt wurde.
Im ganzen gesehn:
Jeder, der etwas Positives in dieser Zeit will, muss sich darein
finden, negativ genannt zu werden. Und er wird mit einem gewissen
Recht so genannt. Denn das Verrenkte und Schiefe steht ja wirklich
da. Also ist jeder, der etwas aufbauen will, gezwungen, zunächst
97
Sigurd Hoel
etwas niederzureissen. Und jeder, der an etwas glaubt, — ich meine:
wirklich an etwas glaubt, — ist dazu gezwungen, zu kritisieren, zu
verspotten, zu verärgern.
In einer Zeit wie dieser, in der Fälschungen, übergriffe, Miss-
bräuche, Schwindeleien so grob sind und in der Dummheit, Leicht-
gläubigkeit und die Bereitschaft, sich zum besten halten und miss-
brauchen zu lassen, ebenso grob sind, da kann auch die Literatur
genötigt sein, grobe Mittel zu gebrauchen. Man schöpft aus einem
Düngerhaufen nicht mit einem Silberlöffel.
Wir müssen uns damit aussöhnen, dass wir eine Zeit lang in
Zukunft, vielleicht unser ganzes Leben lang, genötigt sein werden,
literarische Grobarbeit zu leisten, geprägt vom aktuellen Kampf, —
eine Arbeit ohne Chance auf eine lange Lebenszeit.
Das ist vielleicht traurig. Es ist traurig, dazu gezwungen zu sein,
immer wieder damit unbequem zu werden, dass zwei und zwei vier
ist, während wir viel lieber mit feinen Differential- und Integral-
gleichungen arbeiten würden.
Doch wir müssen es tun, wir müssen uns darein finden, so simpel
zu sein. Denn unsere Vorgänger waren etwas zu fein.
Unsere Vorgänger arbeiteten so entzückend mit feinen, exklusiven
Gleichungen, dass die ganze Welt in einem etwas zu hohen Grad ver-
gass, dass zwei und zwei noch immer vier ist. Wir müssen uns darein
finden, dafür zu bezahlen.
Und im übrigen ist es gar nicht so sicher, dass wir aus diesem Grund
weinen müssten. Die meisten Schriftsteller, die in ihrer Narrheit in
ihrem Elfenbeinturm sitzen und für die Ewigkeit schreiben, die er-
reichen nur, über ihre Narrheit ein ewiges Monument zu setzen. An-
deres Interesse hat diese Art Arbeit selten — nicht einmal für die
Gegenwart.
Ich fasse zusammen:
Es ist nicht wahr,
dass das, — was sollen wir sagen, — oft irrationelle Auftreten der
Frau ihre Minderwertigkeit beweist und dass die Frauenunter-
drückung demnach berechtigt gewesen ist.
Wahr hingegen ist, dass langdauernde Unterdrückung stets Min-
derwertigkeit mit sich bringt. Und es ist eine Aufgabe der Literatur,
dies zu zeigen.
Es ist nicht wahr,
dass Natur und Kultur notwendigerweise Gegensätze sind und dass
eine gewisse Unterdrückung der natürlichen Triebe, eine gewisse
Angst vor einem natürlichen Leben also eine Voraussetzung für gei-
stige Leistung sei.
Wahr hingegen ist, dass eine gesunde Lebensfreude die beste Basis
für geistige Arbeit ist. Und es ist eine der Aufgaben der Literatur,
dies zu zeigen. Im übrigen, Recht soll Recht bleiben, hat der Dichter
hier stets den richtigen Zusammenhang geahnt und ist für ihn ein-
98
Ha
Kulturkampf und Literatur
getreten, allerdings oft auf unklare Weise: Zurück zur Natur etc.,
•worunter stillschweigend verstanden wurde: Weg von der Kultur.
Während es vielmehr heissen sollte: Vorwärts zur Vereinigung von
Natur und Kultur.
Es ist nicht wahr,
dass die Massen immer passiv, empfangend sein müssen, ein form-
barer Ton, der geformt werden soll, dem sein Glaube, seine Meinun-
gen und Handlungen von den Wenigen und Auserwählten eingeflösst
und eingepresst werden sollen. So ist es, so ist es oft gewesen, doch
so muss es nicht immer sein ! Das ist nicht Schicksal, das ist ein Über-
gangszustand.
Und es ist auch nicht unabwendbares Schicksal, dass wir uns da-
vor zu beugen haben, dass Demagogen, die gemütskrank sind, gerade
kraft ihrer Krankheit mit dem Kranken in den Volksmassen Kontakt
finden und sich damit als »Führer« aufspielen können. Das ist ein
trauriger Übergangszustand. Und es ist eine der Aufgaben der Lite-
ratur, in der Übergangszeit beim Übergang mitzuhelfen.
Es ist im Ganzen nicht wahr,
dass das, was so ist und so gewesen ist, auch immer so bleiben
muss. Es ist nicht wahr, dass Unterdrückung in der einen oder andern
Form immer da sein muss und Hass erzeugen muss und damit Auf*g\
rühr und Rache und damit neue Unterdrückung und neuen Hass .,.. &&
Es ist nicht wahr, dass die Menschheit dazu verdammt ist, immejh
und ewig in diesem traurigen Zirkel von Angst und Unterdrückung^
von Hass und Rache und neuer Unterdrückung herumzutrotten. Maiig/
kann sich aus diesem Zirkel herausschlagen. Und die Waffe ist die
Erkenntnis, eine neue, klarere Erkenntnis.
Dies — die Vermittlung einer klareren, offeneren, weniger angst-
betonten Erkenntnis auf allen Gebieten — das ist die grosse Haupt-
aufgabe der Literatur. Diese Forderung, die einen gesteigerten An-
spruch auf Tendenz enthält, bedeutet nicht zuletzt eine Forderung an
das Ästhetische in der Ausführung.
Man muss darüber klar sein: Das bedeutet eine gesteigerte For-
derung an den Künstler.
Ich will ein kleines Beispiel geben:
In Oslo gibt es eine riesige Arbeiterkaserne, die »graabeingaardene«
(Graubeinhöfe) genannt wird.
Nun. Eine Schilderung des Lebens in den Graubeinhöfen, mit aller
möglichen »Kunst« dargestellt — mit grossem Wissen um die Tat-
sachen, mit allem möglichen Mitgefühl, und dazu mit der geheimen
Grausamkeit, die wir künstlerische Genauigkeit nennen und die eine
notwendige Sache in jedem Kunstwerk ist, — nun ja, eine solche
Schilderung, so gut sie gemacht sein mag, die kann von dem Gesichts-
punkt aus, zu dessen Sprecher ich mich gemacht habe, gleichgültig
bleiben, ja schlimmer als das, sie kann direkt schädlich werden, wenn
sie den Eindruck bei den Lesern hinterlässt, dass — dieses Elend
99
Gunnar Leisfikow
unüberwindlich sei, unvergänglich, notwendig, unentrinnbar, dass
nichts nützt. In diesem Fall trägt die Schilderung durch ihre Trost-
losigkeit selbst dazu bei, den Zustand ewig und unentrinnbar zu
machen.
Doch man kann es anders machen.
Die Graubeinhöfe sind von Rudolf Nielsen in seinem grössten Ge-
dicht geschildert worden. »Nr. 13« heisst es. Und es endet so — er
schildert die Nacht, die hereinbricht:
Men ennu vaker noen. Det er ganske
unge menn
SOID beict over 1)0 ker leter drumraen
frem igjen
slik den engang strälte om en vismanns
gylne penn.
Denne drum som natten avler og som
dagen slär ihjel
Om Atlantis, Utopia — om en bedre
lodd og de!
enn et liv hvor andre eier selv ens
hjerte og ens sjel.
Og det raser i de unge bitre hjerter:
Vaak og la?r
at du klart og na;rt og koldt gjennem
drommens gylne skjter
ser veien til et land hvor nr. 13 ikke er.
Aber noch ist jemand wach. Das sind
ganz junge Männer,
die gebeugt über Bücher wieder den
Traum hervorsuchen,
so wie er einmal um eines Weisen
goldene Feder strahlte.
Dieser Traum, den Nacht zeugt und der
Tag entzweischlägt
von Atlantis, Utopia — von einem
bessern Los und Teil
als einem Leben, wo andre selbst eines
Herz und Seele besitzen.
Und es rast in den jungen bittren
Herzen: Wache und lerne,
dass du klar, nahe und kalt durch die
goldenen Wolken des Traumes
hindurch
den Weg nach einem Land siehst, wo
Nr. 13 nicht mehr ixt! —
Ein Rufer in der Wüste und sein Ruf1)
Von Gunnar Leisiikow
I.
Lernen, lernen und nochmals lernen !
Lenin.
Über die Notwendigkeit einer dialektisch-materialistischen
Psychologie und ihre Aufgaben
Die wirtschaftliche Entwicklung der kapitalistischen Welt in den
beinahe siebzig Jahren seit dem Erscheinen des »Kapitals« hat Marx
in fast allen Punkten bestätigt. Das Kapital hat sich auf ganz wenig
Hände konzentriert, ein paar Riesentrusts und Monsterkonzerne
haben den Staatsapparat zu ihrem Exekutivorgan reduziert, die Ver-
elendung hat ein Ausmass erreicht wie noch nie, und die industriellen
Reservearmeen umfassen bereits bedrohlich grosse Teile der ge-
1) Dieser Artikel wurde Anfang 1935 für die »Neue Weltbühne« auf Anregung
ihrer Redaktion geschrieben. Seit Ablieferung des Manuskripts war es mir
trotz wiederholter brieflicher Anfragen nicht möglich, eine Äusserung der
Hedaktion dazu zu bekommen. Der Artikel wurde nicht gebracht, das Manu-
skript nicht zurückgeliefert und kein Brief beantwortet. G.L.
Ein Rufer in der Wüste und sein Ruf
samlcn Arbeiterschaft. Der Kapitalismus als Wirtschaftssystem hat
sich ausserstande gezeigt, die Produktion auch nur annähernd dein
Stand der Produktivkräfte anzugleichen, kaum die Hälfte der Produk-
tionskapazität der Weltwirtschaft wird ausgenützt. Das Kapitalmono-
pol ist wirklich zur »Fessel der Produktionsweise« geworden, die
mit und unter ihm aufgeblüht ist, die Zentralisation der Produktions-
mittel und die Vergesellschaftung der Arbeit haben den Punkt er-
reicht, »wo sie unverträglich werden mit ihrer kapitalistischen Hülle«.
Jedoch sind die Folgen ausser in Russland, wo sich besondere Ver-
hältnisse geltend machten, ausgeblieben. Die Expropriateure sind
nicht expropriiert worden, und es bestehen kaum Anzeichen, dass
die Stunde des kapitalistischen Privateigentums demnächst schlagen
wird. Die Massen sind nicht den Parolen der Revolution gefolgt, ja
wir haben es in vielen Ländern erlebt, dass es den Nutzniessern einer
überlebten Wirtschaftsform gelang, die Massen vor den Wagen des
Kapitalismus zu spannen, ohne dass diese Massen merkten, dass der
Passagier ein — allerdings gut eingepackter Sterbender ist.
Dass Menschen, die hungern, aufbegehren, nimmt uns nicht wunder»
dass aber — was weil häufiger vorkommt — Menschen sich schinden
lassen für einen Lohn, der zum Sterben zu gross, zum Leben zu gering
ist, ist eine Tatsache, wohl wert darüber nachzudenken. Wenn prole-
tarische Massen darüber hinaus für eine offenkundig im Kapitalisten-
sold stehende faschistische Partei stimmen oder den Anschluss des
Saargebietes an Thyssens und Röchlings Hitlerdeutschland durch-
setzen, kurz aktiv gegen ihre eigenen Interessen handeln, so stehen
wir vor Tatsachen, vor denen unser ganzes marxistisches Wissen ver-
sagt. Kein Wunder, denn es sind Fragen psychologischer Natur und
eine brauchbare marxistische Psychologie — die bürgerlich-idealisti-
sche wird uns hier wenig nützen — steht uns nicht zur Verfügung.
Seit Marx wissen wir, dass sich Materielles (das Sein) im Men-
schenkopf in Ideelles (das Bewusstsein) umsetzt. Wie dieser Um-
setzungsprozess vor sich geht, nach welchen Gesetzen und unter
welchen Bedingungen, wusslcn wir nicht, es interessierte wenig. Ent-
weder kümmerte man sich überhaupt nicht darum oder man nahm
an, dass diese Umsetzung so einfach und unkompliziert vor sich
ginge, wie in der Bank die Umwechslung der einen Gcldsorte in die
andere. Dass eine solche Annahme bürgerlich-idealistische Metaphysik
reinsten Wassers war, merkte nicht einmal der gewiefteste Marxist
(weil das bisherige gesellschaftliche Sein ihm diese Frage nicht nahe-
legte). Ebensowenig kam er auf die Idee, auf das psychische Ge-
schehen wie auf jedes andre biologische oder gesellschaftliche Gebiet
die Gesetze der Dialektik anzuwenden.
Erst die Reaktionen von hundcrtlausenden von Proletariern (um
von den Kleinbürgern ganz zu schweigen) auf die Lockungen der na-
tionalsozialistischen Propaganda liessen die Frage, wie denn eigentlich
die Umsetzung von Materiellem in Ideelles im Menschenkopf vor sich
101
Gunnar Leisfikow
geht, aktuelle politische Bedeutung gewinnen. Dass Goebbels lauter,
weil mit reichlicheren Geldquellen ausgestattet, schrie als die echten
Revolutionäre, ist keine Erklärung für die Frage, warum die Massen
an einem gewissen Zeitpunkt anfingen, zu den Nazis zu strömen;
denn er müsste ja, wenn er auch tausendmal so laut schrie, vergeblich
schreien, wenn nicht etwas in den Menschenköpfen bewirkte, dass
die Menschen gerade auf sein Gebrüll hörten. Das Problem ist also
ein psychologisches, und mit ihm tauchte das Bedürfnis nach einer
marxistischen Psychologie auf dialektisch-materialistischer Grundlage
zur Erklärung derartiger Fragen auf.
Welches sind nun die Grundbedingungen, die von marxistischer
Seite an eine solche Psychologie gestellt werden müssen?
Erstens, sie muss eine materialistische sein, das heissf zunächst,
dass sie sich der Biologie einordnen muss. Psychisches Geschehen trill
ja nur am lebenden Organismus auf, folglich müssen die Gesetze,
die für das physische Geschehen am menschlichen Organismus gelten,
auch für das psychische Geschehen Geltung haben. Physisch und
psychisch sind keine absoluten, sondern nur dialektische Gegensätz-
lichkeiten. Die Verabsoluticrung des Gegensatzes in der bürgerlichen
Wissenschaft ist, geschichtlich gesehen, ein Rest mittelalterlicher
Metaphysik, ein Derivat der theologischen Vorstellung von einer
Zweiteilung der Welt in anorganische Materie und in den über den
Wassern schwebenden Geist Gottes.
Doch mit dem Hinweis auf den naturwissenschaftlichen Cha-
rakter der marxistischen Psychologie ist deren materialistischer Ge-
halt nicht erschöpft. Das Seelenleben gebt hervor aus einem Zusam-
menspiel von Kräften, die zur Abfuhr drängen (Trieben) und solchen,
die die Abfuhr aufhallen. Da aber, wie die Biologie lehrt, die lebende
Substanz als solche nur nach Abfuhr drängende Kräfte kennt, müssen
die hemmenden Momente einem nicht-biologischen Bereich, nämlich
der Aussenwelt entstammen, beziehungsweise unter den Einflüssen
der Aussenwelt veränderte, entstellte Triebe sein. Welches sind nun
aber diese Einflüsse der Aussenwelt, die auf die Psyche des Menschen
ummodelnd einwirken? Es sind die Bedingungen, unter denen die
Bedürfnisse des Menschen befriedigt, beziehungsweise nicht befriedigt
werden, also Konsum- und Produktionsverhältnisse, äussere Gewalt,
Lebensbedingungen, kurz eben jene materiellen Verhältnisse, die sich
nach dem Wort von Marx im Menschenkopfe in Ideologie umsetzen.
Die zweite Bedingung, die wir an eine Psychologie, die sich mit
Fug marxistisch nennen will, stellen müssen, ist, dass sie die Gesetze
der Dialektik auf ihren Untersuchungsgegenstand anwendet und zwar
derart, dass sie alle Einzelerscheinungen der menschlichen Psyche,
alle psychischen Prozesse und alle innerhalb der Psyche sich formen-
den Gegensätze wie zwischen Bcwusstem und Unbcwusstcm, zwischen
rationalem und irrationalem Handeln von dem obengenannten Ur-
gegensatz zwischen Trieb-Ich und Aussenwelt ableitet.
102
Ein Rufer in der Wüste und sein Ruf
Nur eine Psychologie, die diese Bedingungen erfüllt, kann von
Marxisten crnstgenommen und angewendet werden. Aber auch nur
eine solche wird in der Lage sein, uns solche Rätsel zu lösen wie,
weshalb ein hungernder Mensch in einem unbewachten Augenblick
nicht Brot stiehlt, weshalb unterdrückte Proletarier sich nicht gegen
ihre Unterdrücker auflehnen, weshalb in katholischen Ländern die
reaktionäre Kirche mehr jugendliche Proletarier an sich zieht als
sozialistische Organisationen, weshalb die grossen Massen der Indu-
striearbeiter 1933 nicht den revolutionären Organisationen zuström-
ten, wie sie es zehn Jahre vorher taten, weshalb mit anderen Worten
ein' psychologisches Zurückbleiben der Revolutionierung des Prole-
tariats gegenüber der Entwicklung der ökonomischen Basis besteht.
Der Versuch, eine solche marxistische, naturwissenschaftliche
Psychologie auf dialektisch-materialistischer Grundlage zu begründen
ist bereits gemacht worden.
Zusatz 1936: Mancs Sperber machte mich darauf aufmerksam, dass in der
russischen Zeitschrift Psichologija andere Versuche gemacht worden seien. Da
es mir bis zur Drucklegung dieses Aufsatzes nicht möglich gewesen ist, mir diese
Zeitschrift zu beschaffen, bin ich leider gezwungen, von einer Gegenüberstellung
Abstand zu nehmen. G. L.
II.
Der Versuch Reichs, eine marxistische Psychologie zu gründen
Der erste und offenbar bisher einzige Versuch, die Methode des
dialektischen Materialismus auf das menschliche Seelenleben anzu-
wenden, ist der von Wilhelm Reich. Bisher ist Reich allerdings ein
Rufer in der Wüste geblieben.
Reichs psychologisches System hat seinen Ausgangspunkt in einem
Zwiespalt in der Ideologie des Proletariers, den Reich zum Haupt-
objekt seiner Untersuchungen macht. Dieser Zwiespalt besteht darin,
dass die Ideologie des Proletariers durch zwei ganz verschiedene Fak-
toren bestimmt ist, einerseits durch die materiellen Verhältnisse, in
denen er lebt (Ausbeutung, Unterernährung, Wohnungsnot usw.),
andererseits aber durch die Ideologie des Bürgertums, denn wie wir
von Marx wissen, ist die Ideologie der herrschenden Klasse die Ideolo-
gie der ganzen Gesellschaft, also auch des Proletariats. Die Menschen
unterliegen ihren Seinsverhältnissen auf doppelte Art: direkt der
unmittelbaren Einwirkung ihrer ökonomischen und sozialen Lage,
•und indirekt vermittels der ideologischen Struktur der Gesellschaft;
sie müssen also immer einen Widerspruch in ihrer psychischen Struk-
tur entwickeln, der dem Widerspruch zwischen der Einwirkung durch
ihre materielle Lage und der Einwirkung durch die ideologische Struk-
tur der Gesellschaft entspricht. Der Arbeiter etwa ist sowohl seiner
Klassensituation wie der allgemeinen Ideologie der bürgerlichen Ge-
sellschaft ausgesetzt1). Die Ideologie des Proletariers enthält also
Elemente, die für seine Klasse spezifisch sind und solche, die er mit
i) Massenpsychologie, S. 32.
103
Gunnar Leisfikow
Mitgliedern anderer Gesellschaftsklassen gemeinsam hat. Es ist ohne
weiteres klar, dass die aufwieglerischen und revolutionären Tenden-
zen des Arbeiters vorwiegend den erstcren entstammen, während die
letzteren auf diese auflehnenden Bestrebungen eine hemmende
Wirkung ausüben. Der durchschnittliche Arbeiter ist also weder ein-
deutig revolutionär, noch eindeutig reaktionär, sondern er trägt einen
Widerspruch von revolutionärer Einstellung und bürgerlicher Hem-
mung in sich; hierbei kann das Verhältnis von den vorwärtsdrän-
genden, rein proletarischen Ideologiecleincnlcn zu den hemmenden
bürgerlichen nicht nur bei verschiedenen Arbeitern verschieden sein,
sondern auch bei ein und demselben Arbeiter zu verschiedenen Zeit-
punkten, je nach den äusseren Einflüssen. Welch eine überragende
Bedeutung die Einsicht in diesen Tatbestand für die revolutionäre
Praxis haben kann, erhellt daraus, dass, wie wir von Marx und Engels
wissen, nicht nur die Ideologie von den materiellen Verhältnissen
bestimmt ist, sondern in dialektischer Wechselwirkung mit ihnen
steht und rückwirkend wiederum die ökonomische Basis verändert'),
dass also die politische Handlungsweise des einzelnen Arbeiters weit-
gehend von seiner Ideologie mitbestimmt ist. Doch bevor wir Schlüsse
für die Praxis ziehen, müssen wir uns zunächst darüber klar werden,
welches diese verschiedenen Elemente sind, und wie sie im Kopfe des
Arbeiters entstehen.
Die Herkunft der vorwärtsdrängenden Strukturelcmente der.
Ideologie des Arbeiters ist ohne weiteres verständlich; es ist die Klas-
senlage des Proletariers2). Weniger klar dagegen ist, wie die bürger-
lichen Elemente in seine Psyche eingedrungen sind. Fragen wir ihn
selbst, so -weiss er keine befriedigende Antwort zu geben; denn »die
eigentlichen Triebkräfte, die ihn bewegen, bleiben ihm unbekannt«,
»er imaginiert sich also falsche oder scheinbare Triebkräfte«3),
Nun gibt es aber eine Methode, unbewusste, seelische Inhalte be-
wusst zu machen. Diese Methode ist die psychoanalytische. Reich
wendet auch an dieser Stelle die Psychoanalyse an4) was vom
l) Am deutlichsten ausgesprochen von Kngels im. Brief an .1. Bloch vom 21. Scp-
temher 1890. Mit Hinblick auf diese Rückwirkung spricht Reich von der
»Ideologie als materieller Gewalt«.
-) Dort, wo es der Arbeiterklasse gelungen ist, ihre Lage soweit zu bessern, dass
sie materiell nicht schlechter steht als das Kleinbürgertum (hochbezahlte
Qualitätsarheiter im Zweiten Reich, USA, CSR, heute noch vielfach in der
Schweiz, Frankreich, Holland, Skandinavien), entstehen auch (kleiu)bürger-
liche Ideologieelemcnte aus der Klassenlage und können sogar entscheidende
politische Bedeutung erlangen (Neigung zu nichtrevolutionären Parteien, kon-
servative Tendenzen in den reformistischen Parteien in den genannten Län-
dern usw.).
3) Engels im Brief an Mehring vom 14. Juli 189."(.
■1) Reichs Arbeiten führten ihn längst über die Ergebnisse der Psychoanalyse
hinaus auf das Gebiet eigener Forschungen. Die Sexualökonomie, welche aus
der dialektisch-materialistischen Psychologie Reichs und seinen Forschungen
auf psysiologischen. Gebiet resultiert, hat sich so weit von der sich reaktionär
entwickelnden Psychoanalyse entfernt, dass eine absolute Trennung beider Ge-
biete notwendig ist. (Vgl. Überblick d. Zt.) (Die Reduktion.)
104
Ein Rufer in der Wüste und sein Ruf
marxistischen Standpunkt aus durchaus unbedenklich ist. Es
ist zwar in marxistischen Kreisen die Ansicht weit verbreitet, dass
die Psychoanalyse eine idealistische bürgerliche Wissenschaft sei,
doch diese Ansicht beruht auf einem Irrtum. Bei näherer Betrach-
tung ergibt sich, dass die Psychoanalyse, richtig gehandhabt, nichts
anderes tut, als seelische Erscheinungen als ein — dialektisches! —
Zusammenspiel von biologisch gegebenen Trieben und diese Triebe
modifizierenden Einflüssen der Aussemveit zu erklären. Sie erfüllt
also eben jene Bedingungen, die wir für eine marxistische Wissen-
schaft gestellt haben.
»Die Psychoanalyse weist zunächst alles »Moralische« im Men-
schen als historisch geworden nach, also als entstanden durch die
Einflussnahme der älteren Generation auf die heranwachsende jün-
gere wobei sie (die ältere Generation) sich bei solcher Einflussnahme
erstens von den eigenen Interessen und zweitens von der jeweiligen
gesellschaftlichen Ideologie und damit von der materiellen Basis, den
jeweiligen Produktionsverhältnissen, leiten lässt Die Psycho-
analyse weist aber darüber hinaus nach, dass die Kräfte, die die Moral
speisen, zu denen der biologischen Triebe nicht in einem absoluten,
sondern in einem dialektischen Gegensatz stehen. Die Moral ist aus
den Trieben selbst hervorgegangen, indem es der Umwelt gelang, einen
Teil der Triebenergie für ihre Zwecke einzufangen und gegen die ihr
unerwünschten Triebe zu lenken«. Einen Menschen psychoanalytisch
erforschen heisst also seine psychische Struktur historisch-genetisch
erforschen. Die Psychoanalyse ist nichts anderes »als eine materiali-
stische Geschichtsauffassung, mit der die Historik des Einzelnen be-
trieben wird«. Das ist bei Licht gesehen des Pudels Kern, und daran
vermag auch nicht die Tatsache etwas zu ändern, dass von bürger-
licher Seite mit der psychoanalytischen Wissenschaft eine ungeheure
Quacksalberei getrieben wird, von der sich der Marxist noch mehr
distanzieren muss als der bürgerliche Forscher. Den unheilvollsten
Wirrwarr stiftet diese Quacksalberei dort an, wo sie die Grenzen der
Psychologie überschreitet und sich an gesellschaftliche Tatbestände
heranwagt. Wenn »Psychoanalytiker« versuchen, den Kapitalismus
oder den Krieg mit menschlicher Habgier zu erklären, kann dabei
nur Unsinn herauskommen, denn der Kapitalismus ist Gegenstand
der Soziologie und nicht der Psychologie. Wie Reich sagt: Mit der
Psychologie erfassen wir das Verhalten der Arbeiter im Streik, nicht
aber den Streik selber. (Die Übertragung der psychoanalytischen Me-
thode auf soziologische Vorgänge muss natürlich auch dort abgelehnt
werden, wo sie von dem Schöpfer der Analyse selber vorgenommen
wird - »Unbehagen in der Kultur«, »Totem und Tabu«. Man muss
wie Reich sagt, unterscheiden, wo Freud »Naturwissenschaftler ge-
nialer Art« ist, wo »bürgerlicher Philosoph ältester Schattierung«.
Um sich äusserlich von der bürgerlichen Psychoanalyse zu distan-
zieren, verzichtet Reich auf den so arg missbrauchten und in Miss-
105
Gunnar Leisfikow
kredit geratenen Terminus »Psychoanalyse« und benennt sein Lehr-
gebäude — die dialektisch-materialistische Psychoanalyse — »Sexual-
ökonomie«.
Da die Psychoanalyse also (obgleich diese Tatsache Freud selbst
und vielen anderen bürgerlichen Psychoanalytikern unbekannt blieb),
eine dialektisch-materialistische Naturwissenschaft ist, so ist prin-
zipiell nichts dagegen einzuwenden, dass Reich sie und ihre klini-
schen Ergebnisse bei seinen Untersuchungen über die Ideologiebil-
dung im Menschenkopf anwendet.
III.
Die Anwendung der Psychoanalyse in der marxistischen Psychologie
Indem Reich die Psychoanalyse auf den Prozess der Ideologie-
bildung anwendet, zeigt es sich, dass auch die bürgerlichen Ideologie-
elemente, genau wie die spezifisch proletarischen, materiellen Be-
dürfnissen entspringen. Der einzige Unterschied zu den spezifisch
proletarischen Elementen ist der, dass es sich bei den bürgerlichen
nicht um eigene materielle Bedürfnisse des Inviduums handelt, son-
dern um materielle Bedürfnisse der herrschenden Klasse. Diese wer-
den in die Psyche des proletarischen Kindes hineingezwängt und zwar
dergestalt, dass das Kind sie unbewusst aufnimmt und sie sich
aneignet, als ob sie die eigenen Bedürfnisse des Kindes wären. Dieser
Prozess der Hineinzwängung geht auf mannigfache Art vor sich, in
der (bürgerlichen) Schule, innerhalb bürgerlicher, bzw. kirchlicher
Jugendorganisationen, in der Kirche und nicht zuletzt im proletari-
schen Elternhaus. Die Eltern des Kindes sind ja von ihrer eigenen
Jugend her auch bürgerlich-ideologisch verbaut, und ihre bürgerlichen
Ideologieelemente übertragen sie unbewusst auf das Kind, genau so
wie sie ihm ihre proletarischen Elemente übermitteln und dies um so
stärker, je mehr der Lebensstil der Eltern sich dem kleinbürger-
lichen nähert und umso weniger, je grösser die Not zuhause ist.
Es fragt sich nun, wie es möglich ist, dass das proletarische Kind
ihm fremde Bedürfnisse aufnimmt und sie sich so weitgehend an-
eignet, dass es sie wie seine eigenen empfindet. Um dies zu verstehen
müssen wir einen kleinen Abstecher in die Trieblehre machen.
Aus der bürgerlich-idealistischen Wissenschaft ist uns die Unter-
scheidung zwischen Nahrungs- (bzw. Selbsterhaltungs-) Trieb und
Geschlechts- (bzw. Arterhaltungs-) Trieb geläufig. Indessen, wie so
oft ist auch hier der Gegensatz kein absoluter (sondern ein dialekti-
scher). In Wirklichkeit gibt es nur eine Art Trieb: Drang zur Be-
seitigung eines durch physiologische Spannung entstandenen Reizes.
»Die Spannung im Magen, die sich psychisch als Hunger kundgibt,
treibt (»Trieb«) zum Essen und erhält so das Individuum; die
Spannung in den Sexualorganen, insbesondere im Genitale, die sich
psychisch als Sexualverlangen kundgibt, treibt zur sexuellen Betäti-
106
Ein Rufer in der Wüsfe und sein Rul
gung im Geschlechtsakt.«1) Wenn diese beiden Triebe genetisch auch
identisch sind, so verhalten sie sich jedoch verschieden in dem Falle,
dass Einflüsse der Aussenwelt eine Befriedigung verhindern. Während
der Hunger starr und unerbittlich bleibt, ist der Geschlechtstrieb ge-
schmeidiger, wandelbar, das ist eine Tatsache von grösster nicht nur
psychologischer sondern auch soziologischer Bedeutung2). Er ist im
Stande, andere Formen anzunehmen, wenn die natürliche Befriedigung
ausbleibt. Er wird dann aus dem Bewusstsein ausgestossen, »ver-
drängt« und taucht später entweder als neurotisches Symptom oder
als perverse Neigung wieder auf. Vielfach — allerdings nur in sehr
beschränktem Ausmass — lässt er sich in andere Energie formen, mit
nicht genitalem Ziel, in Phantasie; bzw. Arbeitsenergie umsetzen. In
derart umgewandelter Form lässt sich die Sexualenergie auch zur
gefühlsmässigen »Bindung« fremder Ideen, Gedankengänge und an-
derer durch die Sinnesorgane vermittelter Einflüsse verwenden. Letzte-
res ist bei der Aufnahme der bürgerlichen Ideologieelemente der Fall.
Fragen wir, welche Einflüsse der Aussenwelt es sind, die die na-
türliche Befriedigung vereiteln und damit die Umwandlung des
Sexualtriebes bewirken, so. sehen wir, dass es sich zunächst um Mass-
nahmen der Erzieher handelt, und dass sie bereits im allerfrühesten
Kindesalter einsetzen. Um eines der üblichsten Beispiele zu nennen:
unter dem Einfluss des weitverbreiteten Aberglaubens, dass Onanie
schädlich sei, stellt man dem Kinde schwere Strafen für seine
Masturbationen in Aussicht, droht etwa dem kleinen Knaben, man
werde ihm sein Glied abschneiden, oder sagt ihm, Gott, der alles sehe,
werde ihm diese »Sünde« nie verzeihen. So unterdrückt man die die-
ser Altersstufe adäquate natürliche Sexualbefriedigung und erreicht
dabei oft nichts anderes als eine krankhafte Kastrationsangst oder
einen religiös geprägten Masochismus. Denn das Kind muss ja das
Verbot übertreten, weil der Drang zur Onanie nicht nachlässt. Es
onaniert seltener und mit schlechtem Gewissen, die gestaute Sexual-
energie verwandelt sich in Angst3) und steigert die Angst vor der Strafe
(Realangst) ins ungemessene, krankhafte (Sexualangst oder neuroti-
sche Angst). Bei Jugendlichen hintertreibt man den Geschlechtsver-
kehr, indem man die Geschlechter von einander absondert und die
monogame Ehe als Geschlechtsbeziehung idealisiert; indem man die
Jungen in weniger beaufsichtigte Organisationen von Geschlechts-
genossen steckt, gibt man sie gleichzeitig der Versuchung preis, den
in der Pubertät besonders drängenden Trieb in homosexueller Weise
zu befriedigen. Doch mit Strafandrohung und Zwang allein ist es
nicht getan. Die Eltern und Erzieher können nicht immer die Zög-
linge im Auge haben; darum werden Ehrgefühl, Gottesfurcht, Eltern-
1) Reich, Der Einbruch der Sexualmoral, 2. Aufl. 1935, S. 107.
2) Das ändert nichts an der Tatsache, dass der Hunger der -wichtigste Motor des
gesellschaftlichen Geschehens ist. (Reich, Massenpsychologie S. 107.)
8) Angst ist die erste Zwischenstufe bei fast jeder Umwandlung von Sexual-
energie.
107
Gunnar Leistikow
liebe und andere emotionelle Faktoren in den Dienst der Sexualunter-
drückung gestellt. In Anknüpfung an jene komplizierten seelischen
Vorgänge, die die Psychoanalyse »Identifizierung« nennt, werden
nicht zur Auslösung gelangende Sexualcnergien zur Aufnahme und
zum Einhau der elterlichen Gc- und Verbote in der Psyche des Heran-
wachsenden mobilisiert. Es wird auf diese Weise jene psychische In-
stanz geschaffen, die wir unter dem Namen »Moral« kennen und die
den Einzelnen sein Leben lang begleitet und sein Sexualleben einengt,
auch wenn Ellern und Erzieher längst gestorben oder ausser Reich-
weite sind.
Es fragt sich jetzt: Warum tut die Sexualmoral dies? Welches
Interesse hat die herrschende Klasse an einer so weitgehenden Unter-
drückung des Geschlechtslebens, die ja nicht nur die beherrschten
Klassen, sondern auch sie selbst trifft?1)
Die gesellschaftliche Funktion der Sexualunterdrückung ist drei-
facher Art. In jedem einzelnen Fall bedeutet sie eine wirksame Stütze
der sozialen Unterdrückung und Ausbeutung der werktätigen Schich-
ten durch die herrschende Klasse.
Erstens bewirkt die Sexualunterdrückung eine erhebliche
Schwächung der Widerstandskraft der ausgebeuteten Klasse. Durch
die Behinderung des natürlichen Abflusses der Sexualenergie wird
für jeden einzelnen ein schwer zu bewältigendes Problem geschaffen,
das einen Grossteil seiner Energie beansprucht, das sonst dem Wider-
stand gegen die soziale Unterdrückung zugute gekommen wäre. Wie
enorm die Energiemenge ist, die auf diese Weise den Ausgebeuteten
abgezapft wird, zeigt am besten die Talsache, duss in den kapitalisti-
schen Ländern 98% aller Belletristik und aller Filme erotische Pro-
bleme und Konflikte zum Thema haben.
Zweitens wird darüber hinaus ein Teil der Sexualenergie der
Unterdrückten durch die Unterdrücker mobilisiert und auf deren Seite
gegen die Unterdrückten selbst in den Klassenkampf geführt, nämlich
jener Teil, der zur Aufnahme und Aneignung der sexualfeindlichen
und deshalb die Widerstandskraft der Unterdrückten untergrabenden
Sexualmoral verwendet wird.
Endlich führt diese Aneignung der bürgerlichen Sexualmoral nicht
nur zur Bejahung dieser Moral, sondern darüber hinaus auch zur Be-
jahung der sozialen Unterdrückung durch die Unterdrückten selbst.
Dies geschieht zum grossen Teil auf dem Umweg über die Religion.
Mit Hilfe eines wcileren Teiles der nicht zur Befriedigung kommenden
Scxualenergie wird im frühesten Kindesalter der Gottesglaube in der
i) Dass die Sexualunterdrückung keine natürliche Erscheinung ist, sondern eng
mit der Wirtschaftsorganisation des Privateigentums verknüpft ist, zeigt die
Tatsache dass primitive, noch in der Wirtschaftsform des Urkommunismus
und im Matriarchat lebende Stamme keine Unterdrückung des Geschlechts-
lebens der Kinder und Jugendlichen kennen, und deshalb auch weder Per-
versionen noch neurotische Erkrankungen. Vgl. Reich, Der Einbruch der
Sexaaiinoräl.
108
Ein Rufer in der Wüste und sein Ruf
menschlichen Psyche verankert. Auf diesem, schwer völlig zu entwur-
zelnden, weil mit verdrängter infantiler Sexualangst verknüpften
Gottesglauben baut später die Kirche die Religion auf, die mit Hilfe
des ebenfalls mittels Sexualangst verankerten Sündenbegriffs als
Geisscl den Heranwachsenden lehrt, ein treuer, demütiger Untertan
(\cv — bürgerlichen — Obrigkeit zu sein und ihm diese Lehre mit
einem Verrechnungsscheck auf die Ewigkeit akzeptabel macht.
Mit anderen Worten, mit Hilfe der bürgerlichen Sexualmoral
macht die Sexualunlerdrückung »ängstlich, scheu, auloritätsfürchtig,
gehorsam, im bürgerlichen Sinn brav und erziehbar; sie lähmt, weil
nunmehr jede aggressive Regung mit schwerer — neurotischer! —
Angst besetzt ist, die auflehnenden Kräfte im Menschen, setzt durch
das sexuelle Denkverbol eine allgemeine Denkhemmung und Kritik-
unfähigkeit; kurz, ihr Ziel ist die Herstellung des an die privateigen-
tümliche Ordnung angepassten, trotz Not und Erniedrigung sie dul-
denden Staatsbürgers«1). Am ausgeprägtesten finden wir diesen Typ
im Kleinbürgertum, da dieser Klasse die diesem Prozess entgegen-
wirkenden proletarischen Ideologieelemente völlig fehlen-). Da die
Sexualunterdrückung vor allem in der und durch die Familie voll-
zogen wird, wird diese somit zur »wichtigsten Ideologiefabrik« der
herrschenden Klasse. Wir verstehen jetzt, warum es den Reaktionären
aller Lager so sehr um das Wohlergehen dieses Gebildes, das ja einen
autoritären Staat in Taschenausgabe darstellt, zu tun ist.
Wir sind jetzt imstande zu verstehen, wieso das proletarische
Kind ihm fremde Bedürfnisse aufnimmt und sie wie seine eigenen
empfindet, ohne dass ihm ein Unterschied bewusst wird. Denn wir
haben gesehen, dass diese fremden Bedürfnisse, welche Bedürfnisse
der herrschenden Klasse sind, dem Kind durch die bürgerliche Moral
aufgezwungen und dann mittels umgewandelter Sexualenergie des
Kindes selbst von ihm assimiliert werden. Wir können jetzt auch fest-
stellen, was der Inhalt dieser aufoktroierten Bedürfnisse der herr-
schenden Klasse ist, nämlich: Verneinung des kindlichen, jugend-
lichen und ausserehelichen Geschlechtslebens, widerstandslose Hin-
nahme der Ausbeutung und darüber hinaus Bejahung der sexuellen
wie der sozialen Unterdrückung. Mit diesen Feststellungen haben wir
den Forderungen Genüge getan, die wir an eine marxistische Disziplin
stellten: wir haben klargelegt, dass unser Gegenstand materieller
Natur ist und wir haben die Gegensätze, in denen er uns entgegentrat,
auf den ersten Gegensalz zwischen Trieb-Ich und Umwelt zurück-
geführt.
i) Reich, Massenpsychologie, 1. Aufl. S. 50.
-•) d. h. soweit keine Proletarisierung dieser Klasse eingesetzt hat.
109
Gunnar Leisfikow
•IV.
Die Lehren der marxistischen Psychologie und die revolutionäre
Praxis. Einwände gegen Reich
Aus der Anwendung der Psychoanalyse bei der Untersuchung der
seelischen Struktur des Proletariers ergab sich, dass es vorwiegend
seine spezifisch proletarischen Ideologieelementc sind, die ihn vor-
wärtsdrängen, vom revolutionären Standpunkte aus gesehen also die
positiven, während die bürgerlichen den revolutionären Impulsen
hemmend entgegenwirken. Dabei werden diese, den Bedürfnissen der
herrschenden Klasse entsprungenen, fremden Ideologieelementc durch
umgewandelte Sexualenergien festgehalten und angeeignet.
Aus dieser Erkenntnis ergibt sich eine Fülle von Konsequenzen
für die revolutionäre Praxis. Da das Verhältnis zwischen den vor-
wärtsdrängenden und den hemmenden Elementen bei grösseren und
kleineren Gruppen sowie bei den Einzel menschen kein konstantes ist,
sondern erheblich je nach den äusseren Umständen schwanken kann,
so muss jede revolutionäre Propaganda darauf bedacht sein, die spe-
zifisch proletarischen Idcologieelemenle zu stärken und die bürger-
lichen zu untergraben und zu schwächen. Eine solche Untergrabung
ist jedoch keine einfache Sache. Da die Aufnahme der bürgerlichen
Ideologie ein unbewusster Prozess ist, und der Einbau derselben
emotionell geschützt ist, ist mit Logik und Unterredung allein herz-
lich wenig auszurichten. Um die — unbewussten — bürgerlichen
Idcologicelemcnte zu zerstören, muss man die ausserhalb der Partei
stehenden Massen auch gefühlsmässig an die revolutionäre Bewegung
binden, so wie es die Faschisten meisterhaft verstanden haben.
Diese Lehre ist die Sexualökonomie. Mit anderen Worten: man
muss der bürgerlichen Wissenschaft den Alleinbesitz der Psycho-
logie entreissen und die Führung in dieser Diziplin dem Proletariat
übergeben, so wie Marx und Engels der bürgerlichen Wissenschaft
den Alleinbesitz und die Führung in der Nationalökonomie und So-
ziologie entrissen haben.
Mit Hilfe sexualök. Erkenntnisse gilt es zunächst die Qualität
der revolutionären Propaganda zu heben und diese auf eine wissen-
schaftliche Basis zu stellen. Hier liegt, wie man weiss, vieles im
Argen. Auf dem letzten Ekki-Plenum der KI. wurde immer wieder
darauf hingewiesen, dass die kommunistische Propaganda, besonders
die Parteipresse nicht die »Sprache der Massen findet«. Hier Abhilfe
zu schaffen, alte Fehler zu erkennen und neue zu vermeiden, ist eine
der praktischen Hauptaufgaben der marxistischen Psychologie.
Reich gibt Vorschläge zur Lösung dieser Frage und Forderungen
für die revolutionäre Praxis. Das Alpha und Omega dieser Forderun-
gen ist, das Verlangen nach geschlechtlichen Befriedigungsmöglich-
keiten zu erheben unter gleichzeitiger Entlarvung der reaktionären
gesellschaftlichen Funktion der Scxualünlerdrückung und der bürger-
110
Ein Rufer in der Wüste und sein Ruf
liehen Sexualmoral. Von einer solchen Aktion erwartet Reich zwar
keine allgemeine sexuelle Befreiung des Proletariats — (eine solche
ist, da die Sexualform wie das gesamte gesellschaftliche Sein des Men-
schen durch die Wirtschaftsform bestimmt ist1), erst nach der prole-
tarischen Revolution und nach Abschaffung des Privateigentums an
den Produktionsmitteln möglich) er erwartet aber Folgen von alter-
grösster Bedeutung.
Nämlich:
Erstens Untergrabung und Auflösung der bürgerlichen Ideologie-
elemcnle und damit Unterhöhlung eines der Hauptpfciler des Herr-
schaftsgebäudes des Kapitalismus: der Bereitschaft der Massen, die
ihnen auferlegte soziale Unterdrückung und Ausbeutung zu ertragen
und darüber hinaus vielfach noch zu bejahen.
Zweitens: Lösung der psychischen Energien, die zur Verankerung
der bürgerlichen Sexualmoral und der Religion verwendet werden.
Ist die Religion das Opium des Volkes, so ist die Sexualmoral sein
Morphium. Die Entwöhnung der Massen von diesen einschläfernden
und lähmenden Rauschgiften würde ungeheure Mengen umgewandel-
ter Sexualcnergie frei machen, die weitgehend sublimiert und in den
Dienst des revolutionären Kampfes gestellt werden könnten.
Drittens: Möglichkeit eines erfolgreicheren Kampfes gegen Reli-
gion und Kirche. Da die Empfänglichkeit der Menschen für religiöses
Empfinden und damit für die sozial reaktionären Lehren' und For-
derungen der Kirchen — wie die psychoanalytische Praxis auf-
deckt — durch unbefriedigendes, gehemmtes Geschlechtsleben bedingt
ist, so bedeutet intensive Aktivierung sexualpolitischer Forderungen
eine Unterminierung der Kirche von ihrer empfindlichsten Seite her.
Viertens: Heranziehung unpolitischer und von der revolutionären
Bewegung abseits stehender Massen. Da nicht nur das Proletariat,
sondern ziemlich alle Volksschichten unter der sexuellen Unter-
drückung zu leiden haben, ist es möglich, mit einem weitgehenden
sexualpolitischen Programm Schichten heranzuziehen, die einer di-.
rekten Beeinflussung durch revolutionäre Forderungen auf ökonomi-
schem, und politischem Gebiet unzugänglich sind, und sie auf dem
Umweg über die Sexualpolitik allgemeinpolitisch zu beeinflussen. Das
gilt besonders von den sogenannt unpolitischen Menschen2) und von
demjenigen Teil des Kleinbürgertums, der wirtschaftlich proletari-
sierl, ideologisch aber noch ganz bürgerlich ist und der deshalb nicht
den Anschluss an die revolutionäre Bewegung findet. Welche un-
geheure Bedeutung diesem letzten Punkt zukommt, erhellt aus der
Erwägung, dass die Aufstellung der Forderung nach sexueller Be-
freiung als Programmpunkt es ermöglicht, auch an diejenigen Schich-
i) Reich, Massenpsychologie S. 247.
2) »Der unpolitische Mensch ist der in Sexualkonflikten absorbierte Mensch«
(Reich).
111
Gunnar Leisfikow
Ein Rufer in der Wüsfe und sein Ruf
ten heranzutreten, deren materielle Existenz der Faschismus bzw. die
bürgerliche Demokratie sichert, und die deshalb an der Autrechter-
haltung der kapitalistischen Produktionsweise interessiert sind. Gut-
bezahlte Polizisten und faschistische Garden vermag die revolutionäre
Bewegung durch Hinweise auf Verbesserung der Lage des werktätigen
Volks im sozialistischen Zukunftsstaat nicht für sich zu gewinnen.
Aber kasernierte Wachmänner und SS-Leute haben nicht weniger
unter der bürgerlichen Sexualunterdrückung zu leiden als das Prole-
tariat. Deshalb könnten die Revolutionäre durch Aktivierung der
Sexualfrage zeigen, dass sie auch ihnen etwas zu bieten haben, und so
die letzten Garden des Kapitals von ihrer empfindlichsten Seite her
korrumpieren.
Bisher ist Reich mit seinen Bemühungen nicht auf viel Gegenliebe
gestossen. Bei den bürgerlichen Psychoanalytikern ist er verfchmt,
weil er aus der Tatsache, dass die kapitalistische Gesellschaftsordnung
eine Massenprophylaxe der neurotischen Erkrankungen nicht zulässt,
als Arzt die Konsequenz gezogen hat, diese kapitalistische Gesell-
schaftsordnung abzulehnen und sich aktiv an dem revolutionären
Kampf gegen sie zu beteiligen. Damit hat er die Grenze zwischen
Wissenschaft und Politik überschritten, was bekanntlich mit der
Würde der erhabenen, über den profanen Zwistigkeiten des Alltags
schwebenden »reinen« Wissenschaft unvereinbar ist. Aber auch unter
den Marxisten geniesst dieser Rufer in der Wüste keinen guten Ruf.
Man wirft ihm idealistische Abweichungen von der Lehre Marx' und
Engels' vor, stellt seine sexualpolilischen Forderungen in Gegensatz
zu der Generallinie der Komintern und lehnt seine Kritik an der ab-
lehnenden Haltung hoher Parteiinstanzen als defaitistische Nör-
gelei ab.
Wenn die Reichsche Psychologie als idealistisch und unmarxistisch
empfunden wird, so ist das, wie wir gesehen haben, ein Irrtum, der
sich aus einer bei den meisten Marxisten leicht erklärbaren mangel-
haften Kenntnis der Psychoanalyse erklärt. Begründeter ist eine ge-
wisse Skepsis gegenüber manchen von Reichs praktischen Vor-
schlägen. Eine breite sexualpolitische Aktion wäre wohl in denjenigen
Ländern möglich, wo die revolutionären Parteien ein legales Dasein
führen, während sie in den faschistischen Ländern leicht zu einer
fatalen Zersplitterung der revolutionären Kräfte führen könnte. Doch
auch dort, wo es Möglichkeiten für eine solche Aktion gibt, wäre eine
planmässige Ausbildung von analytisch geschulten Aufklärern eine
kaum zu erfüllende, aber unbedingt notwendige Voraussetzung.
Reich versteht es nicht, seine Lehren dem mit den Erfahrungen der
Analyse nicht vertrauten Marxisten mundgerecht zu machen;
es ist ihm auch nicht gelungen, seine Kritik an der bisherigen massen-
psychologischen Praxis der Komintern in einer solchen Form zu
äussern, dass sie für die verantwortlichen Kreise akzeptabel wurde.
Wenn Reich sich darüber beklagt, dass man ihm nicht die nötige
112
Irma Kessel Kinder klagen an
Verständnisbereitschaft entgegenbringt, so vergisst er, dass auch die
höchsten Parteiinstanzen noch bürgerliche Ideologieelemente haben,
die sie genau wie die meisten bürgerlichen Politiker daran hindern,
völlig unbefangen über sexuelle Dinge zu urteilen. Als Marxist müsste
er sich sagen, dass diese gewisse Voreingenommenheit gegenüber
Gegenständen der Sexualwissenschaften bei manchen Marxisten ein
durch ihr gesellschaftliches Sein bedingter Reflex der bürgerlichen
Sexualmoral, ist, und als psychoanalytisch geschulter Psychologe
müsste er im Stande sein, Mittel und Wege zu finden, diese durch den
bisherigen Stand der Wissenschaft erklärliche Denkhemmung zu
überwinden.
Das ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass Reich sich grosse
Verdienste um die marxistische Wissenschaft erworben hat. Sein Ein-
satz um eine Begründung einer dialektisch-materialistischen Psycho-
logie und vor allem seine Enthüllung der reaktionären gesellschaft-
lichen Funktion der Sexualunterdrückung sind von bleibendem Wert.
Aber auch die revolutionäre Praxis, besonders die Massenpropaganda
und die Sexualpolitik, wird in der Zukunft schwerlich ohne Reich
und ohne genaues Studium der" Charakteranalyse auskommen. Reich
und seine Lehren aus diesem oder jenem Grunde in Bausch und
Bogen zu verwerfen, wäre mindestens ebenso verkehrt wie ihn kritik-
und vorbehaltlos nachzubeten. Es ist notwendig, von marxistischer
Seite aus systematisch an das Studium von Reich und Freud heran-
zugehen und in jedem einzelnen Falle zu unterscheiden, wo frucht-
bare dialektisch-materialistische Naturwissenschaft vorliegt und wo
bürgerlich-idealistische Überwucherungen.
Wir müssen wissenschaftlich-kritisch zu Werke gehen und uns
vor Verallgemeinerungen hüten, die uns auf Abwegen in theologisch-
metaphysisches Sumpfgelände führen. Denn was wir wollen, ist ja
Weiterentwicklung der marxistischen Wissenschaft und nicht Rück-
entwicklung des Sozialismus von der Wissenschaft zur Utopie.
Aus: „Kinder klagen an!"
Von Irma Kessel
(Aus einer demnächst erscheinenden Broschüre)
I.
Harri.
Harri stammt aus einem proletarischen Milieu. Seine Eltern haben
eine Portierloge.
Als ich ihn kennen lernte, war er 5 Jahre alt. Er machte den Ein-
druck eines verprügelten Hundes, der mit eingeklemmtem Schwanz
herumläuft. Den Kopf hielt er etwas vorgestreckt und die Augen sahen
113
Irma Kessel
niemals gerade aus, sondern immer von unten herauf gegen die Stirn,
wodurch Harri wie ein Verbrecher auf frisch entdeckter Tat wirkte.
Schon bevor er zu mir kam, hörte ich von seinen schlechten An-
lagen und all seinen Vergehen. Er stahl und log, er zündele überall
Feuer, machte Licht- und Wasserleitungen kapul, er naschte und
war faul. —
Er kam ins Kinderhaus mit der Einstellung, dass er auch hier das
schwarze Schaf sein werde, und wechselte aus dieser Einstellung her-
aus mit prahlerischer Grosstuerei und scheuer, verkrampfter Zurück-
haltung und Passivität.
Als er dann merkte, dass er für uns nicht der kleine Verbrecher
war, sondern ein vollwertiges Mitglied in unserer Gemeinschaft, fing
er an, aktiv zu werden und jeden Morgen das Kinderhaus sauber zu
machen. »Ich mache alles rein für Euch zur Freude«, sagte er mir
manchmal und hantierte mit Staub- und Wischtüchern, Besen,
Bohnerbesen und Schaufel. Dabei entwickelte er eine übersteigerte
Kameradschaftlichkeit. »Du, Heinz, bist du auch mein Freund? Otto
und Jürgen sind auch meine Freunde geworden. Nun habe ich schon
neun Freunde. Ach, es werden noch hundert!«
Es waci als breite sich der blasse, kleine, verkrampfte Junge immer
weiter aus, strecke einen Fühler nach dem andern in die Aussenweit
und^emesse die Erfahrung, dass ihm dieses Auftauen, dieses tastende
Versuchen keine Prügel einbringe.
Es kam eine Zeit, wo Harri auch nachmittags mit irgend einem
Vorwand kam. »Ich muss Dich was fragen. Ich muss Dir was be-
stellen!«
Und dann kam sogar eine Zeit, in der er klingelte und offen fragte:
»Kann ich ein bischen hier bleiben?« Er hielt lange Reden: »Kinder-
häuser müssen eigentlich den ganzen Tag offen sein, sonst wissen
die Kinder nachmittags doch garnicht, wohin sie sollen ; — ich meine,
— wenn sie nicht gerade nebenan wohnen wie ich!«
Aus dem verprügelten Hund wurde allmählich ein kleiner Mensch,
der Zutraun und Kontakt entwickelte.
Dann kam er in die Schule und nach wenigen Monaten »flog« er
und kam in die Hilfsschule. Denn er stahl wieder und log wieder und
war faul. —
Um diese Zeit hörte ich ihn in seiner Wohnung heulen wie ein
geprügeltes Tier und hörte von Nachbarn, dass seine Mutter ihn mit
einem Riemen blutig geschlagen hatte. Es wurde beim Jugendamt
Anzeige erstattet. Die Fürsorgerin kam und erkundigte sich. Alle
Zeugen sagten gegen die Mutter aus, die Harri auf die schändlichste
Weise quälte.
Die Fürsorgerin warnte die Mutter und ging fort.
114
Kinder klagen an
Dann hörte man Harri wieder heulen und wusste, dass er jetzt
umso mehr geprügelt wurde.
Und dann war Harri verschwunden. Das war mittags um zwölf
Uhr. — Um drei Uhr war Harri immer noch fort. —
Um sieben wurde überall nach ihm gefragt. —
Harri war fort! —
Abends gegen neun sah ich ihn in einer entlegenen Strasse an
einem Baugerüst stehen. Als ich zu ihm gehen wollte, lief er flucht-
artig fort. Ich versuchte, mich ihm zu nähern, rief, gestikulierte, be-
ruhigte ihn. Er Hess mich bis zu dreissig Meter herankommen, dann
floh er wieder. Das dauerte wohl eine halbe Stunde.
Ich rief: »Harri, ich tu dir doch nichts! Ich bring dich nicht nach
Hause! Ich will nur mit dir sprechen!« —
Endlich Hess er mich auf zehn Meter Entfernung herankommen.
Wir setzten uns auf die Bretter des Baugerüstes und ein grosser Ab-
stand war zwischen ihm und mir. Ich sprach mit ihm, aber ich bekam
keine Antworten.
»Hat Deine Mutter dich geschlagen?« —
»Hast Du Angst?« —
»Was willst Du weiter tun?«
»Wo willst Du denn schlafen?« —
»Ach die!«, war das Einzige, was er sprach und er machte dabei
eine wegwerfende Handbewegung.
»Was sagt denn Dein Vater? Schlägt der Dich auch?«
Wieder ein verächtliches: »Ach der!« —
»Harri! komm näher zu mir. Ich tu Dir doch nichts! Du kennst
mich doch, Harri!« — Es war nicht möglich. Wenn ich näher rückte,
rutschte er zurück.
Ich sagte: »Harri, wenn du fort willst, dann werde ich Dir helfen.
Wenn Du in ein Kinderheim willst, kann ich das machen. Ich kenne
viele Kinderheime.«
Da wurde er zutraulicher. »Ja, ich will in ein Kinderheim. Meine
Mutter prügelt mich immer. Ich geh' nicht mehr nach Hause. Wie
die fremde Frau heute da war, hat sie mich so geprügelt.«
Ich versuche, ihn zu überreden, diese Nacht noch nach Hause zu
gehen. Ich will seine Mutter warnen, ihn nicht zu prügeln und morgen
kümmere ich mich um ein Heim.
»Nein, nach Hause geh' ich nicht!« —
»Harri, dann findet dich die Polizei abends und sammelt Dich
auf.«
»Dann schlaf ich auf der Wache«, ist die einzige Antwort.
Ich will ihn mit zu mir nehmen; aber auch das lehnt er ab. Ich
bin auch einer »von denen«, nämlich ein Erwachsener, einer wie seine
Lehrer und seine Eltern, — ein bischen besser bin ich, mit mir redet
er noch, aber nur aus Entfernung. Man kann keinem von »denen«
trauen ! —
115
Irma Kessef
Aber gerade trauen soll er mir und ich halte mein Wort und gehe,
ohne die Lage gegen sein Einsehen im Sinne der Erwachsenen in.
Ordnung gebracht zu haben.
Er ist doch nach Hause gekommen, abends gegen elf Uhr. Und
ich hörte ihn heulen und seine Mutter schimpfen. Aber man öffnete
mir nicht auf mein Klingeln. —
Am andern Tage berichtete ich bei der Fürsorge. »Der Fall wird
geprüft werden«, lautete die Antwort.
Zwei Monate später kam die Fürsorgerin.
Aber sie ging nicht in die Portierloge, sondern kam in meinen
Kindergarten mit der Bestimmung: »Jüdische Kinder sollen nicht
mehr in den arischen Kindergärten geduldet werden, weil Sie verderb-
lichen Einfluss auf die deutschen Kinder ausüben.« —
Ich frage: »Was wird aus dem Fall »Harri«?« — »Harri kommt
nicht in ein Heim. Die Mutter hat einen Verweis bekommen und rich-
tige Vorschläge für Erziehungsmassnahmen.« —
Von jetzt an muss Harri arbeiten, er muss den Staubsauger hinter
der Mutter hertragen, muss staubwischen, Türklinken putzen und den
Hof fegen. Aber man sieht ihm an, er tut es nicht mehr »für uns zur
Freude«.
Er trägt den Kopf wieder vorgeschoben, die Brust eingezogen.
Wenn er mich sieht, geht er scheu vorbei; denn ihm ist streng ver-
boten worden, mit mir zu sprechen.
Der Staat hat keine Zeit, sich um die kleinen, verprügelten Harris
zu kümmern und für sie zu sorgen, denn der Staat muss dafür sorgen,
dass die jüdischen Kinder nicht die arischen verpesten! —
Der Staat hat kein Geld, die kleinen, verprügelten Harris in Heime
zu geben, denn der Staat muss Flugzeuge baun und aufrüsten !
Aber die kleinen verprügelten Harris reden eine deutliche
Sprache! —
Wann werden die Menschen ihre Ohren öffnen, dass sie das
Schreien der verprügelten Kinder hören, dass sie die grosse Anklage*
verstehen, die in einem »ach, die!« liegt?
II.
Dagmar.
Eine Dame bat um eine Freistelle für Dagmar im Kindergarten.
Die Familie sei in entsetzlicher Not; die Mutter sei so unterernährt,
dass sie immer ohnmächtig werde und die kleine dreijährige Dagmar
sei so lebhaft. —
Mehr weiss die Dame nicht.
Dagmar kommt. —
116
p
♦■•
'
Kinder klagen an
Sie ist so klein und zart wie ein knapp zweijähriges Kind, hat
einen zerbrechlichen Körper und ein durchsichtiges, bläuliches Ge-
sicht. Eigentlich besteht das ganze Kind aus Augen, grossen, un-
ruhigen, hungrigen Augen, die immer sagen: »Wo bekomme ich et-
was? Wo ist etwas für mich?«
Den ganzen Morgen läuft Dagmar wie ein Wiesel von einem Tisch
zum andern. Wo ein Kind frühstückt, steht sie bettelnd daneben. Alle
Bissen verschlingt sie wie ein Affe, gierig, vor dem Kunterschlucken
schon an den nächsten denkend. Wir sorgen dafür, dass Dagmar täg-
lich warmes Essen und Obst bekommt; aber der Hunger scheint so
in ihr ganzes Wesen übergegangen zu sein, dass er bleibt. Niemals hat
man den Eindruck, dass Dagmar wirklich satt ist. Sie kann nicht
spielen, kann nicht ruhig sitzen, immer ist sie auf der Suche nach
Brot. —
Eines Tages kommt die Mutter mit einem Kinderwagen, in dem
ein einjähriges Kind sitzt, ebenso zart und verhungert, ebenso unruhig,
mit einer schlechten, fettarmen Haut wie Dagmar. Es ist Dagmars
kleine Schwester. Errötend sagt die Mutter: »Ja, wir haben noch eins!
- Ja, es ist entsetzlich. — Und ich halt sie nicht aus! — Sie sind
beide so unruhig! — Nehmen Sie sie doch auch!« —
Ich spreche mit der Mutter. Nein, sie haben keinerlei Anspruch
auf Unterstützung. Der Mann hat Jagden gehabt, aber durch das
Goeringsche Jagdgesetz haben sie alles verloren.
Wir sprechen weiter. Da fängt sie an zu weinen: »Wissen Sie, ich
halte es nicht mehr aus ! — Nun bekomme ich noch ein drittes Kind !
— Ich halte das Leben einfach nicht mehr aus!« —
Die kleine Dagmar steht daneben und sieht ihre weinende Mutter
mit grossen Augen an.
Ich werde ärgerlich: »Wie können Sie auch so verantwortungslos
sein und nicht aufpassen. Die zwei werden schon nicht mehr satt und
nun noch ein Drittes.«
Da sagt sie: »Gerade! — Das ist ja gerade, damit wir wieder satt
werden ! Wenn wir drei Kinder haben, muss mein Mann ja angestellt
werden. Als was, wissen wir nicht. Aber das ist ja auch ganz egal!
Wenn es nur eine Arbeit ist. Und wissen Sie, vor allem die Unter-
stützung! Wenn wir die nur erst hätten! Für das dritte Kind zahlt
der Staat Unterstützung!«
Wieviel denn? i
»Im ersten Jahr dreissig Mark im Monat. Denken Sie, davon werden
die andern noch mit satt! Und nachher zwanzig Mark im Monat, bis
das Kind vierzehn ist. Und wenn es ein Junge ist, übernimmt der
Staat die militärische. Ausbildung für ihn. Und wenn's ein Mädchen
wird, — ach Gott, bis es so alt ist! Einstweilen haben wir doch den
Zuschuss !«
Sie hat sich in eine Aufregung hineingeredet. Man merkt, wie oft
117
Ke
Irma iSesse
am Tage sie es sich wiederholt: »Im ersten Jahr dreissig Mark und
dann zwanzig Mark jeden Monat.« Und sie streicht der kleinen
hungrigen Dagmar über das Haar: »Wenn das neue Baby da ist,
werden wir wieder alle satt!«
Eine traurige Mission hat das »neue Baby«, das mit so grosser
Sehnsucht erwartet wird, weil es einen Zuschuss bekommt, weil es
Nummer drei ist! Das neue Baby, das mit soviel Hass empfangen und
mit soviel Unlust ausgetragen wird, weil die zwei schon alles Brot
und alle Kraft weggenommen haben ! Als Baby soll es schon der Er-
nährer der Familie werden! Und später darf es den Rock des Vater-
landes tragen und als Kanonenfutter im Krieg sein Leben lassen. —
Es hat kein eigenes Leben zu führen, das neue Baby, denn die
andern werden ja schon nicht satt. —
Es darf sich nur auf diese Welt wagen, weil es diese Funktionen
vor der Geburt bereits erteilt bekam. —
Es wird noch blasser und hungriger sein als die kleine Dagmar
und ihre Schwester und wenn es einmal später erfahren wird, warum
man ihm das elende Leben schenkte, dann müssen die Eltern, dann
muss der Staat sich überlegen, wie sie sich verteidigen und recht-
fertigen wollen vor der Anklage dieses Menschen, dessen Leben schon
vor der Geburt zu Elend und Not und Hunger bestimmt wurde!
III.
Ruth.
Ruth ist das Kind jüdischer Eltern. Sie spielte im Kinderhaus die
Rolle der »Hausmutter«. Als sie mit knapp drei Jahren zu uns kam,
eroberte sie sich diese Position sehr bald durch ihre natürliche
Begabung zu allen praktischen Arbeiten. Sie hatte eine harmonische
Beziehung zu ihrem Körper, war manuell geschickt und daher machten
körperliche Arbeilen ihr Freude und wurden für sie "der selbst-
verständliche Weg, sich zu entwickeln. In der Sorge um die »kleinen
Kinder« bildete sie ein soziales Empfinden aus, was sie bald auch auf
das Kinderhaus erstreckte, für das sie sich verantwortlich fühlte.
Morgens sorgte sie für frische Blumen, gab den alten neues Wasser,
deckte die Frühstückstische, fegte und legte im Garten Beete an.
Ihre Entwicklung ging ruhig und gerade weiter. Kein unnatürlicher
Ehrgeiz autoritativer Erwachsener drängte sie vorwärts, sondern jede
neue Stufe entwickelte sich natürlich aus ihren eigenen Bedürfnissen.
Ruth fiel allen Besuchern des Kinderhauses auf durch die Harmonie
und Ausgeglichenheit, die sich in ihrem Wesen ausdrückte und bei
keinem Kinde hatte ich ein festeres Vertrauen auf seine gesunde Ent-
wicklung wie bei Ruth. —
Als die Machtergreifung durch den Nationalsozialismus kam, war
Ruth fünf Jahre alt. Sie schien wenig Notiz von der politischen Ver-
änderung zu nehmen und von Antisemitismus nichts zu merken.
118
Kinder klagen an
i
i
Aber als sie ungefähr fünfeinhalb Jahre alt war, nahm ihre Ent-
wicklung eine völlig andere, neue Richtung an: Innerhalb kurzer Zeit
verlor sie die ihr eigene Sicherheit, sich natürlich von einer Phase in
die andere treiben zu lassen und sich ihrer Entwicklung frei hin-
zugeben. Sie wurde ehrgeizig. Alles Interesse und alle Aktivität richte-
ten sich auf intellektuelles Gebiet. Rechnen- und Schreiben-Lernen
war das Streben, was sie zwanghaft wochenlang ausfüllte.
Gleichzeitig verlor sie den Charme der Ausgeglichenheit und ihr
Gesicht bekam den typischen Schulkinderausdruck. Ihre Augen war-
teten auf Lob und Anerkennung und Erfolg und ihre früheren, rhyth-
mischen, schönen Bewegungen wurden hart und unruhig. —
Dabei wurde sie blass und schmal und zeigte immer mehr ein
unfreundliches, launenhaftes Wesen. Das früher freundliche, auf-
geschlossene Kind zankte sich vor Übermüdung mit seinen Freunden
und fing bei dem kleinsten Konflikt an zu weinen.
Während in ihren ersten fünf Jahren die Entwicklung von natür-
lichen Bedürfnissen und Instinkten getrieben wurde, stand plötzlich
ihr ganzes Leben unter einem krampfhaften Ehrgeiz.
Ich stand dieser Wende einige Wochen verständnislos gegenüber.
Endlich brachte ein Gespräch mir Aufschluss.
Ruth plagte sich seit Tagen mit Üben mehrstelliger Zahlen. Man
merkte die Unlust, die dem intelligenten Kind das Auffassen schwer
machte. Aber ein Zwang Hess sie alle Ermüdungspausen, alle Ver-
lockungen zu Spielen mit andern Kindern überwinden und fesselte sie
an ihre Arbeit mit den Zahlen. —
Ich setzte mich neben sie und sprach von der Schule; denn ich
vermutete eine Schulangst hinter dieser Verwandlung. — Ruth ging
bereitwillig auf meine Unterhaltung ein. — Plötzlich sah sie mich
an wie in den früheren Jahren, offen, gerade und voll Vertrauen:
»Wird der Herr Lehrer sich wohl freuen, wenn ich schon so viel
kann?« —
»Wenn ich bis hundert schreiben kann, wird der Herr Lehrer es
dann dem Herrn Rektor sagen und wird der Herr Rektor sich dann
auch freuen?«
»Und wenn ich nun bis tausend schreiben kann und alle Buch-
slaben schreiben kann und alle Namen lesen kann, — meinst du, dass
Adolf Hitler mich dann wohl auch ein bischen lieb haben wird und
vergessen wird, dass ich ein Judenkind bin?« —
»Einmal hat eine Frau in der Bahn gesagt: »Kleines Judengör,
halt deine vorwitzige Klappe!«
»Mit Inge darf ich auch nicht mehr spielen, weil Inges Vater bei
der SA ist. Inges Mutter sagt, ich bin Inges liebste Freundin gewesen,
aber ich bin nun doch mal jüdisch und das kann ihnen schaden.«
»Die Juden müssen nun bald alle raus aus Deutschland. Adolf
Hitler hat nämlich eine lange Liste von allen Juden und dann jagt
er sie immer der Reihe nach raus. Ich habe solche Angst, wenn wir
119
Irma Kessel v- ■ , .
Isinder klagen an
rankommen. Und wenn nun keine Länder mehr Platz haben? Sie sind
nämlich schon alle überfüllt. Wo sollen wir dann hin?«
»Einmal habe ich auf der Strasse »Heil Hitler!« gemacht und da
hat ein SA Mann mir eine Ohrfeige gegeben und hat gesagt, ich soll
nach Palästina gehn, ich bin ein schmutziges Judenkind.«
»Eine Hakenkreuzfahne dürfen wir auch nicht haben. Adolf Hitler
hat das verboten. Ich möchte so gern, dass Adolf Hitler mich lieb hat
und dass ich ein deutsches Kind werden kann.
Vielleicht, wenn ich sehr artig bin und sehr gut lerne, erlaubt
Adolf Hitler es ja und wird mich auch lieb haben!«
Nein! Adolf Hitler und seine Rektoren und seine Lehrer werden
dich nie liebhaben, Ruth! Aber du musst lernen, auf ihre Liebe zu ver-
zichten. Du musst wissen, dass viele tausend jüdische Kinder wie du
abseits stehen und sehnsüchtig zu dem Hakenkreuz und den Uni-
formen sehen und darunter leiden, dass sie nicht dazugehören und
nicht mitgeliebt werden sollen.
Aber du musst auch wissen, dass man die Millionen deutscher
Kinder, die man unter der Hakenkreuzfahne mitmarschieren lässt,
mit falscher Disziplin und starren Vorurteilen um ihr wahres Leben
betrügt. Du musst wissen, dass das Schicksal all der andern Kinder,
die Adolf Hitler »lieb hat«, auch dasselbe ist wie deins. Denn auch
sie alle sind »Ausgestosscne«. Sie sind ausgestossen aus dem Leben
und der Entwicklung, die man dir in deinen ersten fünf Jahren gab
und Hess.
Sie alle müssen ihre ganze Entwicklung hindurch hinter einer Lüge
hermarschieren! —
Aber du sollst diese Lüge sehen und kennen! Du sollst wissen dass
dieser dein Hunger unbegründet ist! Du sollst nicht die Gemeinschaft
suchen mit denen, die eine Nation knechten und beherrschen nur
dadurch, dass sie jeden Lebenskeim drosseln!
Du sollst dich einreihen in die Gemeinschaft all der andern die
auch ausgestossen sind und hungern, denn die Ausgegossenen 'wer-
den einmal ein ganz neues Leben erobern! —
Mit ihnen sollst du marschieren, wenn sie die grosse Anklage aus-
schreien werden gegen alle, die versuchen, das Leben zu töten wie
man es bei dir jetzt tat, kleine Ruth —
120
_
'
Stimmungsbilder aus Frankreich
Diese kurzen Berichte sind Schilderungen eines Augenzeugen
;ms den bewegtesten 'lagen dieses gewaltigen Streikkampfes der
franz. Arbeiter in der Woche nach Pfingsten. Die Redaktion
behält sich die politische Stellungnahme zu diesem Artikel vor.
Während die grosse Streikbewegung kurz vor Pfingsten in den
meisten Betrieben abebbte und man überhaupt damit rechnete, dass
sie zu Ende sei, ist sie sofort nach Pfingsten mit erneuter Wucht in
Schwung gekommen. — Es zeigt sich, dass die Arbeiter lediglich Pfing-
sten zu Hause sein wollten, im übrigen aber gar nicht daran denken,
sich zufrieden zu geben.
Es ist offensichtlich, dass diese Massenbewegung entstanden ist
ohne Zutun der Arbeiterorganisationen, — die sich aber in jeder Weise
positiv und unterstützend zu ihr stellen.
Bekanntlich w:crden die Fabriken und Betriebe während des Streiks
nicht verlassen. Für Frankreich ist die Methode neu, die schon seit
Jahren in Polen praktiziert wird (in polnischen Gruben ist sie über-
haupt entstanden) und auch in anderen Ländern, Belgien, Amerika,
Spanien bereits angewandt wurde. Diese Kampfmethode hat ausser-
ordentlich viele Vorteile: Streikbrecher können nicht eingesetzt wer-
den, da die Streikenden praktisch den Betrieb besetzt halten, gleich-
zeitig aber bleibt die Masse der Streikenden zusammen, hat dauernden
Kontakt, engste Verbindung miteinander, wodurch bei längerer Dauer
des Streikes die eintretende Demoralisierung ganz bedeutend herab-
gemindert und überwunden wird. Dazu kommt die auf Grund der all-
gemeinen Umstände und ihrer konkreten Lage viel günstigere Beur-
teilung in der öffentlichen Meinung: sie sind tagelang in den Betrieben,
die armen Kerle, haben kein Bett und auch nicht die sonstigen Be-
quemlichkeiten — und sie wollen doch nur etwas mehr Lohn und
einige Forderungen, die den Reichen doch wirklich nicht so weh tun.
Ausserdem benehmen sie sich garnicht wie Rüpels, sondern wie an-
ständige Menschen, ohne die Maschinen zu beschädigen usw.
Erstaunlich ist tatsächlich die ausserordentliche Diziplin, mit der
der Kampf geführt wird, denn gerade die französischen Arbeiter sind
nur sehr schwer zu organisieren, sie sind am allerwenigsten zu
straffem Einsatz und Auftreten zu bewegen gewesen, und sie halten
jetzt eine so konsequente Disziplin in jeder Beziehung, dass dies fast
mit der ganzen traditionellen Einstellung und Einschätzung bricht.
Schon die gleiche Erscheinung bei den Wahlen und dem Zusammen-
halt sogar der Volksfront, die breiteste bürgerliche und kleinbürger-
liche Massen umfasst, zeigte, dass hier eine ganz entscheidende Wen-
dung in den Massen vor sich gegangen ist. Eine politische Wendung
zur Linken, die den unbedingten Kampfwillen gegen den Faschismus,
gegen den Kapitalismus, -»— die Reichen — und gegen den Krieg zum
Ausdruck bringt.
121
Stimmungsbilder aus Frankreich
Ohne Frage ist die jetzige Massenbewegung ein Ergebnis der Volks-
front und der Einheitsfrontpolitik. Ob die Initiatoren dies — und
dazu in der Form — überhaupt gewollt haben, ist eine andere Frage.
Die Kleinbürger, Gemüsehändler, Krämer, Milchhändler usw.
unterstützen mit Aufopferung die Streikenden. Sie spenden vor allem
Lebensmittel, Decken usw. und geben sich redlich Mühe, aktiv mit-
zuhelfen.
Als am Sonnabendabend vor Pfingsten Arbeiter aus den Renault-
werken nach Hause fuhren, waren sie in prächtiger Stimmung und
meinten, dass es erst jetzt richtig losgehen würde.
Eine Diskussion zwischen einem Direktor (direkt mit »freund-
lichem« Gesicht) und den an den Toren der Fabrik stehenden und
auf der Mauer sitzenden Arbeitern. Er redet auf sie ein, immer freund-
lichen Tones, und macht schliesslich an Einzelne konkrete Angebote.
Antwort aller Angeredeten, die sich solange alles schweigend, ja mit
gemütlichen Gesichtern anhörten: »Wenden Sie sich an unsere Dele-
gierten!«
Von einem Metallbctrieb in der Provinz, -300 Mann. Die Arbeiter
sitzen in der Frühstückpause vor der Fabrik. Ein Radfahrer kommt,
ein Arbeiter aus einer andern Fabrik. »Habt Ihr auch schon den Streik
angesagt?« fragt er. Die Arbeiter verneinen und fragen, warum. »Ja«,
meint der Radfahrer, »zu uns kam heute morgen die Mitteilung, dass
die Fabrik auch in Streik getreten ist - - und da haben wir es
auch getan.« — Die Arbeiter hören sich das an, stehen auf, brechen
ihre Frühstückspause ab, gehen in den Betrieb und erklären ebenfalls
Streik. Der Direktor, der sehr gut mit ihnen steht, erkundigt sich er-
staunt, warum sie denn streiken? »Das werden wir noch sehen«, ist
die Antwort, »vorerst wird erst mal Streik erklärt«.
In einem Metallbetrieb ist es gelungen, an einem Tage von 70 Ar-
beitern 63 neu gewerkschaftlich zu organisieren, während 6 schon
vorher organisiert waren.
Besonders auch die Verschmelzung der Gewerkschaften hat na-
türlich zu diesem neuen Kraftbewusstsein der Massen geführt.
Die Industriezentren von Lille, Lyon, Reims, Toulouse, Nantes,
Roubaix sind in die Streikfront eingereiht. — Auch in Paris wächst
die Streikfront, die Bewegung unaufhörlich. Wohl wurden noch
Zeitungen gedruckt, aber die Expedition streikte, so dass es an einigen
Tagen fast keine Zeitungen gab. In der Rue Montmartre, dem Sitz der
grossen Boulevardzeitung »Paris Soir«: Dicke Menschentrauben von
Streikenden hängen an den Toren, alles schwarz von diskutierenden
Gruppen, - - und Dutzende von Expeditionsautos stehen in der Strasse
und fahren nicht, die Chauffeure am Steuer.
Die Tiefe der Bewegung ist auch daraus ersichtlich, dass die Pro-
leten die Gewerkschaften einfach ignorieren, wo sie einer anderen
Meinung sind. Z. B. in der Frage der Wiederaufnahme des Streikes
nach Pfingsten. Die Gewerkschaften hatten vereinbart, dass die Arbeit
122
Stimmungsbilder aus Frankreich
wieder aufgenommen werde, danach sollten die Verhandlungen mit
den Unternehmern und mit dem Arbeitsministerium geführt werden.
Ohne sich darum zu kümmern wurde der Streik verstärkt wieder auf-
genommen. Verschiedentlich wird versucht, »Ausschreitungen« zu
konstruieren: man meint das zwangsweise Festhalten der Direktoren
und des gesamten leitenden Verwaltungs- und auch des technischen
Personals in vielen Betrieben. Leider (so heulen die Reaktionäre)
wird diesen Herrschaften nichts weiter angetan, als dass sie eben
nicht aus den Betrieben herausdürfen — bezw. auch nicht mehr
hinein, und sich mit der Verpflegung durch die kommunistischen Ge-
meinden und die sonstigen Spenden abfinden müssen.
Die fabelhafte Disziplin ist immer wieder hervorzuheben. Die Ar-
beiter halten die Fabrikräume tipp topp in Schuss, fegen aus, alles ist
fein sauber. Sie hegen und pflegen die Maschinen und legen eine Ruhe
und selbstbewusste Überlegenheit an den Tag, dass man einfach be-
geistert ist.
Die Arbeiter der Firma Thomson (Telefonapparate usw.) haben
viele Fahnen aus den Fenstern gehängt, rote in der Mehrzahl, aber
auch die Trikolore. Am Eingang sowie an den Parterrefenstern sind
grosse Sammelbüchsen aufgestellt. Und jedesmal, wenn etwas gegeben
wird, was sehr viel geschieht, ist grosses Hallo unter den Arbeitern
und sie rufen: »Wieder ein Mann, der uns verstanden hat.«
Eine Mitteilung aus den Renaultwerken besagt, dass von den dort
streikenden 30,000 Arbeitern bereits 20,000 in die Gewerkschaft und
2000 in die KP eingetreten sind, seitdem der Kampf im Gange ist.
Die Polizei ist fast nicht zu sehen. Sonst ist sie entweder ganz
friedlich und uninteressiert, oder sie unterhält sich sehr wohl-
wollend mit den Streikenden.
*
Obwohl dieser Kampf auch grosse politische Bedeutung hat und
im Gefolge der politischen Entwicklung ganz bestimmt erst in diesem
Umfange möglich wurde, sind die eigentlichen Forderungen doch
wirtschaftlicher und oft ganz lokaler Natur. Vor allem die Forderung
der Kollektivverträge steht an der Spitze, 40-Stundenwoche mit vollem
Lohnausgleich, das Koalitionsrecht, was in vielen Betrieben bis heute
nicht besteht, ausserordentlich viele Forderungen nach Einführung
hygienischer Einrichtungen, nach Arbeitsschutzvorrichtungen usw.
Noch eine der wichtigsten Forderungen, die des 8 — 14 tägigen bezahl-
ten Urlaubs, eine in Frankreich bis heute fast unbekannte Sache, die
weitgehend akzeptiert worden ist. Man hat ihnen sogar die Streiktage
bezahlt, um nur recht schnell zu Ende zu kommen.
In den Arbeitermassen herrscht nach den übereinstimmenden Be-
richten von den verschiedenen Seiten ausgesprochne Siegeszuversicht
123
Stimmungsbilder aus Frankreich
und eine ausgezeichnete Kampfstimmung, eine selbstbewusste Zuver-
sicht der Zukunft gegenüber.
Am 5. 6. traten die Pariser Warenhäuser in Streik. Die Angestell-
ten und Verkäuferinnen halten die Betriebe, wie überall, besetzt.
Ebenso die Einheitspreisgeschäfte, die, solange das noch möglich war,
so ziemlich bis auf das letzte Stück ausverkauft gewesen sein sollen.
Teilweise haben die Industriellen mit Beginn des Streikes gleich-
zeitig die Aussperrung erklärt. Sehr charakteristisch ist in dieser Be-
ziehung eine Erklärung des Verbandes der Baumwollspinner in Lille,
die sich an den Präfekten des Departementes Nord wendet, in der es
unter anderm heisst:
»Streiks von ausgesprochen rev. Charakter sind in diesen Tagen
in einer sehr grossen Zahl von Liller Spinnereien ausgebrochen. Sie
tragen einen Charakter von ausserordentlicher Schwere. Die Form,
die den Arbeiterforderungen gegeben wird, bedroht in der ernstesten
Weise die Disziplin und wir haben die Pflicht, in der energischsten
Weise gegen die Anwendung von illegalen und aufrührerischen Me-
thoden zu protestieren. Solche Methoden sind absolut unzulässig und
wir legen Wert darauf, Sie, Herr Präfekt wissen zu lassen, dass die
Liller Baumwollspinner jede Unterhaltung mit ihrem Personal ab-
lehnen, solange die Fabriken besetzt bleiben.«
Auch die Pariser Cafes haben den Streik begonnen, die Kellner
und Angestellten demonstrierten mit verschränkten Armen dastehend,
aber nach kurzer Zeit wurde er wieder eingestellt, weil alle, oft sehr
weitgehende Forderungen im Nu erfüllt wurden.
Bei den Renault-Werken hatten die Gewerkschaften einen der all-
bekannten, schändlichen Tricks versucht, die Arbeiter hereinzulegen.
Sie hatten vereinbart, dass nach Wiederaufnahme der Arbeit die Ver-
handlungen begonnen würden, und alles gut werden würde. Die Ar-
beiter begannen wieder zu arbeiten, und die Verhandlungen gingen
und gingen, aber heraus kam nichts. Die Proleten wurden ungeduldig,
und die Vertreter der Organisationen hatten alle Mühe, sie hin-
zuhalten und sie zu vertrösten. Höchste Gewerkschaftsfunktionäre
(Jouhaux) und kommunistische Abgeordnete gaben sich in dieser
Richtung die grösste Mühe. Aber die Proleten sahen nichts Reales,
und das interessierte sie einzig und allein. Auf einer erneuten Ver-
sammlung, auf der Jouhaux sprach, wurde er teilweise ausgepfiffen,
und es wurde der Beschluss gefasst, (als es nicht mehr zu ändern war,
unter aktiver Mithilfe der KP) den Streik wieder aufzunehmen, und
das geschah.
Die »Action Francaise« ist ausserordentlich aktiv, vertreibt ihre
Zeitungen mit dicken, den Forderungen der Arbeiter zustimmenden
Überschriften und Aufnahmen der Streikenden und fordert auf, sich
zu gelben Gewerkschaften zu organisieren usw. Natürlich können sie
bei den Proleten keinen Erfolg gewinnen. Im Gegenteil. Es ist mittags
in der Metro Alesia: ein grosser Menschenauflauf und viel Geschrei.
124
•
Stimmungsbilder aus Frankreich
»Populaire« übertönt in einem fort die Zeitungsausrufer der »Action
Franchise«. Aufgeregt diskutieren die Menschen und es sieht so aus,
als ob jeden Augenblick eine tolle Klopperei losgehen wird. Thema
der Diskutierenden: Soll man die Faschisten verschlagen oder nicht?
Darüber stritten sich die Leute heftig. Die einen wollen die »Mörder
Leon Blums« kurz und klein schlagen, die andern beschimpfen sie
als Provokateure, die nur Schlägereien und Krawalle hervorrufen
wollen, um der Rechten Wasser in die Mühlen zu leiten. Die Ersteren
waren meist junge Burschen, letztere durchweg Arbeiter.
Dort wo die Kämpfe bereits beendet sind, wurden ausserordent-
liche Erfolge erzielt. Durchschnittlich 15% Lohnerhöhung, bis 33%,
bezahlter Urlaub, 40-Stunden-Woche, Kollektivvertrag mit der
Schaffung der ständigen Betriebsräte, viele hygienische und Arbeits-
schutzeinrichtungen. In einer kurzen Radiorede sagte Blum unter
anderm :
»Die Regierung wird sich schon morgen bei den Häusern des Parlaments vor-
stellen, aber heute schon will sie in Fühlung mit dem Lande treten. Ihr Programm
ist das Programm der Volksfront! Unter den Gesetzentwürfen, deren Einbringung
sie ankündigt, und deren Annahme sie von den beiden Kammern vor ihrem Aus-
einandergehen verlangen wird, befinden sich:
die 40-Stundenwoche,
die kollektiven Arbeitsverträge,
die bezahlten Urlaube.
Das heisst also, die hauptsächlichsten Reformen, die die Welt der Arbeit
gefordert hat.« (0. G.)
Teilweise machte sich leichte Angst mit dem Steigen der Gespannt-
heit der Streikbewegung bemerkbar, dass man die Arbeiter betrügen
will mit den vielen Zugeständnissen und Versprechungen, aber die
Arbeiter in den Betrieben blieben nach wie vor voller Siegeszuversicht
und voller Zukunftshoffnungen. Die Bewegung nahm stündlich einen
immer ernsteren Charakter an, die Stimmung wurde immer gespann-
ter und nervöser.
Z. B. eine Szene auf dem Boulevard Saint Michel, eine im Allge-
meinen von faschistischen Studenten beherrschte Strasse, wo sich
nebenbei mehrere leichte Schlägereien zwischen Verkäufern der
»Action Franchise« und der »L'Humanite« abspielten, bis mehr und
mehr Arbeiter kamen und zum Schluss die Faschisten ganz verjagten,
so dass man nur noch die Arbeiterzeitungen kaufen konnte, fanden
viele Diskussionen statt zwischen den Arbeitern und den Faschisten.
Die Studenten meinten, dass die Arbeiter doch eigentlich gegen ihre
»Volksfrontregierung« seien, da diese Regierung doch ihre Forderun-
gen zum Programm habe und sie trotzdem streiken Sehr gut
antworteten die Arbeiter, dass gerade das Gegenteil richtig sei. Ja-
wohl, das sei ihre Regierung, die einerseits von ihnen unterstützt
werde und die ihrerseits sie in ihrem Kampfe unterstütze. »Wir helfen
unserer Regierung nur, damit sie unsere Forderungen besser und
schneller durchführt«, war der Grundton ihrer Argumente.
125
Stimmungsbilder aus Frankreich
Polizei ist in der Nähe streikender Betriebe fast niemals zu sehen,
wohl aber seit einigen Tagen im Strassenbild etwas mehr. Auch Ver-
haftungen hat sie verschiedentlich vorgenommen, hei Schlägereien
usw., die aber sehr friedlich, teilweise sehr gemütlich vor sich gehen.
Im Grunde macht die Polizei einen sehr hilflosen Eindruck, sie weiss
nicht, wie sich verhallen soll, sie geht allem möglichst aus dem
Wege. —
Im Pariser Schlachthof hat ein reaktionärer Abgeordneter den
Streik ausgerufen und bis heute die Führung in der Hand. Das Per-
sonal, das verhältnismässig sehr gut verdient und sehr korrumpiert
sein soll, steht zum grösseren Teil zur Reaktion und zu den Faschisten.
Um die Roten zu verhöhnen, haben sie Ochsenköpfen die roten Fahnen
aufgesteckt.
Wirkliche Bewunderung muss immer wieder die grossartige
Disziplin erregen. In den Warenhäusern schlafen die Angestellten auf
den Böden und Bänken, keine Matratze, kein Bett, keine Decke, über-
haupt kein Stück wird angerührt!
Inzwischen hat man die Besetzung rationeller organisiert, es wur-
den mehrere Schichten organisiert, die sich ablösen, so dass immer
ein Teil zuhaus schlafen kann.
Die Frauen, die zu den Renault-Werken ihren Männern das Essen
bringen, dürfen nicht mehr oder weniger als genau 15 Minuten im
Betriebe bleiben. Streng ist alles organisiert und streng wird alles
eingehalten. Ein prächtiges Bild, wenn die Frauen mit der ganzen
Familie zur Fabrik gehen. Die Kinder tragen stolz und voller Eifer
eine Decke oder sonst einen Packen zu Vätern, und die Stimmung
ist prächtig. Auf den hohen Mauern sitzen die Arbeiter und lassen
Seile herunter, um die Körbe herüberzuholen und alles geht in einer
glänzenden Atmosphäre vor sich.
Der Zeitvertreib in den Betrieben ist ebenfalls sehr gut organisiert.
Musikkapellen und Sprechchöre der Jugendverbände und Kinder-
freunde besuchen sie, Spieltruppcn mit Chansons, Meetings werden
alle Augenblicke abgehalten, Gesellschaftsspiele, Karten werden ge-
kloppt, alles ist nach wie vor oben auf.
Differenziert wird berichtet über die Einstellung der Arbeiter zu
den Gewerkschaften und den andern Arbeiterorganisationen. Die einen
stellen fest, dass die einzelnen Betriebe vor allem selbst ihren eigenen
Leuten, die meistens nicht gewerkschaftlich organisiert sind in diesen
Fällen, die Streikführung überlassen wollen. Soweit die politischen
Parteien ihnen Unterstützung und Lebensmittel bringen, seien sie
ihnen sehr verbunden. Im übrigen aber wollen sie ganz in Ruhe ge-
lassen werden und ihre Sache schon allein durchkämpfen. Höchstens
die Gewerkschaften hätten Chancen, etwas Gehör zu finden.
Viele andere berichten, dass nach Beginn des Streikes die Gewerk-
schaften zu Hilfe gerufen waren und erfahrene Funktionäre dringend
gebraucht wurden, übrigens so viele, dass die Gewerkschaften den
126
Stimmungsbilder aus Frankreich
Anforderungen in keiner Weise gewachsen sind und nicht so viel
Kräfte zur Verfügung stellen können. Natürlich kommen in einem so
gewaltigen Klassenkampf wie diesem alle früheren teilweise verärgert
oder enttäuscht gewesenen Funktionäre wieder an die Oberfläche, ab-
gesehen von den vielen jungen Arbeitern, die überhaupt ganz neue
Funktionärkader in diesem grossen Ringen bereits gestellt haben, aus
den Betrieben heraus, mitten aus ihrem Kollegenkreis.
An den grossen Einheitspreisgeschäften stehen die Leute und lesen
entweder die mit ungelenken grossen Buchstaben und handschriftlich
gemalten Plakate und Zettel, auf denen sich die Streikenden herzlichst
für die Unterstützung durch die Bevölkerung des Stadtteiles bedan-
ken und über die Lage des Kampfes unterrichten. »Wir verteilen
unser Brot «, heisst es immer wieder auf diesen Zetteln, die
meistens ausserordentlich einfach und schlicht und grade dadurch so
eindrucksvoll formuliert sind.
Am 7. 6. hatte die SFIJ zu einer Kundgebung im Sportpalast auf-
gerufen, der sich die KP von sich aus in letzter Stunde anschloss. —
Schon Stunden vor Öffnung des Saales standen Tausende von
Menschen in den Strassen, trotz des leisen Regens. Die Stimmung war
grossartig. Alle Augenblicke ging die Internationale wie eine Welle
über die langen Mcnschenschlangen durch die Strassen, abgelöst von
Sprechchören: »Chiappe (Faschistischer Polizeipräsident von Paris)
an den Laternenpfahl!« »De la Roque (franz. »Hitler«) an den
Galgen!« — Als viele Polizeitruppen erschienen, wurden sie begrüsst
mit einem Sprechchor, der den augenblicklich hauptverantwortlichen
Vizepräsidenten von Paris betrifft: »Guichard ins Gefängnis«, »vor
1 die Tür«, »an den Galgen«.
Lange vor Beginn war die Halle, die regulär 20,000 Plätze hat,
überfüllt. Zehntausende standen draussen im Regen, um der ganzen
Veranstaltung beizuwohnen, die durch Lautsprecher auf die Strasse
übertragen wurde. In der Halle waren ca. 25,000 Menschen. Insgesamt
kann ohne Übertreibung mit mindestens 40,000 gerechnet werden. —
Die ganze Veranstaltung war ausgezeichnet organisiert und technisch
vollkommen auf der Höhe, auch propagandistisch war sie einfach
i vorbildlich.
Beginn: Einmarsch einer Delegation Kinderfreunde und sozialisti-
scher Jugend mit roten Fahnen und Bildern der Veteranen der franz.
Arbeiterbewegung. Hinter dem Einmarsch der Jugend die Fahnen:
nur rote Fahnen, von Riesenscheinwerfern beleuchtet. Die Massen
singen unaufhörlich die Internationale mit erhobener Faust und
rasen vor Begeisterung. Dahinter die sozialistischen Minister, die sich
auf einem grossen, mit rotem Tuch ausgeschlagcnen Podium vorstellen
und ebenfalls mit dem Faustgruss grüssen. Man kann einfach nicht
schildern, wie die Massen jubelten! Der Lautsprecher: »Zum ersten
Male gehen die Minister zum Volk, direkt zu den Massen. Zum ersten
Male in der Geschichte Frankreichs«. Viel Musik und wieder Sprech-
127
Stimmungsbilder aus Frankreich
chöre: »Thälmann frei.'«, »Es lebe die Volksfront! Es lebe die Volks-
front«, »Es lebe Blum« usw.
Die ganze Kundgebung war von Anfang bis Ende in gleicher
Spannung. Die Programmgestaltung ausserordentlich geschickt und
sehr eindrucksvoll. Jeder Redner wurde bcgrüsst mit der Internatio-
nale (stehend mit erhobener Faust, was dieser auf dem Podium
stehend erwiderte).
Die Regierung hat grosse Summen Sonderhilfe für die Gemeinden
ausgeworfen, deren Etat durch die Unterstützung der streikenden
Arbeiter stark mitgenommen und belastet worden ist! Im Pariser
Gemeinderat wurde beschlossen, unter schärfstem Protest der Reak-
tion, eine halbe Million Francs für Streikunterstützungen bewilligen.
In der Kammer hat Blum fünf dringliche Gesetzentwürfe einge-
bracht, deren schnellste Erledigung er mehrmals ausdrücklich ver-
langte. Sie betreffen die 40 Stunden-Woche ohne Kürzung der
Wochenlöhne, einen jährlichen bezahllen Urlaub von 14 Tagen sowohl
lur Handel wie für Industrie, für die freien Berufe, die Hausangestell-
ten und landwirtschaftlichen Berufe. Ein driller Entwurf enthüll
genaue Einzelheiten über die Anwendung der kollektiven Arbeitsver-
trage. Der vierte Gesetzentwurf betrifft die ehemaligen Frontkämpfer
die von der Steuer auf ihre Pensionen befreit werden : auf diesem Ge-
biete wird damit die Lage vor dem Erlass der Notverordnungen wieder
hergestellt. Der fünfte schliesslich bezieht sich auf die Gehälter und
Pensionen der Beamten der öffentlichen oder konzessionierten Dienst-
stellen, die ebenfalls durch die Notverordnungen hart betroffen
wurden.
In der Nähe eij;-,es grossen Rüstungsbetriebes fuhren die Faschisten
mit grossen Lastwagen Patrouille. Die Arbeiter beunruhigte das sehr.
Sie verstärkten den Wachtdienst und berieten, was zu tun wäre, wenn
es ernst werden würde. Einige schlugen vor, die Revolver von zu Haus
zu holen, was aber die meisten als lächerlich ablehnten. Wenn schon,
dann richtig, meinten die meisten, dann mit guten neuen Waffen!
Sie beschlossen sich mit den Arbeitern eines in der Nähe befindlichen
Arsenals zu verständigen, die ebenfalls im Streik standen. Es kam
schliesslich ein Koordinationskomilee der beiden Betriebe zustande
das für künftig ständig den Kontakt aufrecht erhalten soll.
Solche gemeinsamen Komitees sind an vielen Stellen entstanden.
Die verantwortlichen Delegierten beschäftigen sich ganz ernsthaft
damit, ob und wie sie eigentlich die Betriebe überhaupt übernehmen
können usw. Ganz offiziell beantragten die Arbeiter z. B. eines grossen
Flugzeugwerkes bei Paris, (die reaktionäre Presse tobte), dass, wenn
man zu keiner Verständigung gelangen könne, der Luftfahrtministcr
Pierre Cot, eben die Volksfrontregierung, die Betriebe in ihre Regie
übernehmen sollte
Die nervöse Spannung hat im Laufe des Kampfes etwas nachge-
128
J. H. Leunbach Das Sowjet-Gesetz gegen Abireibung
lassen, trotzdem war das Pariser Strassenbild immer noch sehr leb-
haft und bewegt. Streikunterstützungssammler sind überall zu sehen,
in ihrer Arbeitskleidung mit irgendeinem roten Zeichen, einer Blume,
einem Stückchen Stoff, improvisierten Armbinden usw. Zum Teil
fahren sie langsam auf alten abgeklapperten Autos mit Fahnen und
Schildern durch die Strassen. Die Solidarität hat nicht nachgelassen
>■ und man kann oft rührende Danksagungen an Fabriktoren und Ge-
schäftseingängen sehen.
»Den Kameraden den besten Dank, die den Bissen der Streiken-
den nicht vergessen haben«, heisst es an einem Tor, an dem durch
Kreide mitgeteilt wird, dass sie den neunten Tag streiken.
Die Diziplin wird bis zum letzten Augenblick, sogar verschärft,
durchgehalten. An dem sehr hartnäckigem Kampfe der Warenhäuser
nahm die Bevölkerung recht regen Anteil, wegen der Hundelöhne für
die Verkäuferinnen. Auf alle Fragen aber, die die früheren Arbeits-
bedingungen und die Löhne betreffen, wird überall einheitlich, und
in ausgesucht freundlichem Ton, es abgelehnt, direkt Auskunft zu
geben: »Seien Sie bitte so liebenswürdig, und erkundigen Sie sich bei
unserm verantwortlichen Delegierten«, wird geantwortet, manchmal
fügen sie hinzu, dass sie wilde Gerüchtcmacherei verhindern wollten
und man sich an die zuständigen Stellen wenden solle.
Das Sowjef-Gesetz gegen Abtreibung
Von J. H. Leunbach
Wir bringen hier eine Stellungnahme aus Sexpolkreisen zur sowjetistischen
Wendung in der Geburtenregelungsfrage. So sehr wir uns mit der Grundtendenz
dieses Diskussionsartikels einverstanden erklären, so sehr aegt uns auch daran,
festzustellen, dass nicht üherall die korrekteste und schlagkräftigste Argumenta-
tion gefunden wurde.
Wir ersuchen alle Leser, sich an dieser Diskussion zu beteiligen, d. h. ganz
klar und offen ihre Argumente gegen die neuesten sowjetistischen Massnahmen
auf sexualpolitischem Gebiete zu äussern.
Wir sind der Überzeugung, dass mit der Wiedereinführung reaktionärer
scxualpolitiseher Bestimmungen die Frage auch für die Sowjetunion lange nicht
erledigt ist. Der Kampf wird weiter gehen.
Wir werden in einer der kommenden Nummern diejenigen Argumente zu-
sammenfassen, die sich als unwiderleglich erweisen, wenn man sie gegen derartige
Richtungen und Massnahmen innerhalb der Arbeiterbewegung anwendet.
Zweifellos hat der Sturm, den der Gesetzesentwurf bereits in der Sowjetunion
in der Masse der Bevölkerung geweckt hat, bestätigt, wie kräftig die Teilnahme
und «las Interesse der Bevölkerung an derartigen Fragen sind, auch wenn sie teils
aus Unwissenheit, teils aus Sexualschcu ihrem wirklichen Fühlen und Wollen
nur sehr selten klaren Ausdruck zu verleihen vermag. Die Redaktion.
Als aufrichtiger Freund der Sowjet-Union hat man die Pflicht,
nicht nur für die S-U zu propagieren und zu arbeiten, sondern auch
die kulturelle Entwicklung des Arbeiterstaates kritisch zu beobachten
und solche Massnahmen der S-U, die man als Fachmann zu beurteilen
imstande ist, ehrlich und offen zu kritisieren. Der neue Gesetzentwurf
129
J. H. Leunbach
wurde öffentlich zur Diskussion gestellt. In diesem Falle könnte
ein Schweigen leicht wie ein Einverstandensein aufgefasst werden.
Die Wiedereinführung des Verbots des Abortus ist ein kultureller
Rückschritt, der nicht nur der S-U seihst, sondern der gesamten in-
ternationalen revolutionären Bewegung schweren Schaden zufügt.
Die blosse Tatsache, dass dieser Entwurf ausgearbeitet und veröffent-
licht wurde, wirkte schon als eine Katastrophe.
Erstens gilt es, die Ursachen aufzuspüren, weshalb die S-U den
kulturellen Fortschritt der Abschaffung des Gebärzwanges nun auf-
geben will. Dieser Fortschritt hat der S-U über die ganze Welt nicht
nur bei den Arbeitern, sondern auch in bürgerlichen liberalen Kreisen
die grösste Bewunderung geschaffen. Gibt es nun wirklich so zwin-
gende Gründe, dass dieser tatsächliche Rückschritt eine unbedingte
Notwendigkeit ist? Die Geburtenübcrschuss zeigt seit 1929 eine ab-
steigende Kurve von 3,8 Millionen im Jahre 1929 bis 2,6 Millionen
im Jahre 1933. Dieser beträchtliche Rückgang kann natürlich als
Vorwand für das Abortusverbol angewandt werden.
Als 1920 die Abtreibung freigegeben wurde, war die Begründung
die, dass der Staat noch nicht imstande war, die Existenz aller Kin-
der und Mütter zu garantieren und dass er deshalb kein Recht hatte,
von den Frauen die Austragung jeder Leibesfrucht zu verlangen. Das
Gelingen der Fünfjahrespläne und der Kollektivisicrung der Land-
wirtschaft hat jetzt zu dem Resultat geführt, dass die Versorgung der
neuen Generation tatsächlich gesichert ist. Doch dieses Argument ist
falsch !
Die für uns revolutionäre Sexualpolitiker schwerwiegende Be-
gründung der Straflosigkeit des Abortus, nämlich das Recht zur per-
sönlichen und sexuellen Freiheil, ist von den Sowjet-Behörden nie
anerkannt worden. Sie haben sich also nie prinzipiell dazu verpflich-
tet, das Abortus-Verbot nicht einmal wieder einzuführen.
Die Zahl der Aborte ist immer noch hoch und das erhoffte über-
flüssigwerden des Abortus scheint lange auf sich warten zu lassen.
In Leningrad gab es z. B. im Jahre 1928 39058 Geburten und 53562
Aborte. Auch die Pfuscherabortc und ihre Schädigungen sind noch
lange nicht verschwunden. Nun soll es also versucht werden, die
erhoffte Entwicklung durch ein neues Verbot zu stimulieren.
Das Gesetz besteht aus zwei Teilen, einem positiven und einem
negativen. Die positiven Vorschläge erhöhen und fördern die Mass-
nahmen, die die Geburt, die Erhaltung und Erziehung der Kinder er-
leichtern und das Kinderkriegen zu einem Segen anstatt einer Be-
lastung der Mütter machen.
Die Vorschläge wären an und für sich zu bejahen, wenn sie nicht
zu deutlich nur als Verschleierungen der sexualreaklionären Ten-
denzen aufgefasst werden müsslen und auch in einigen der positiven
Vorschläge stecken reaktionäre Tendenzen. Eigentlich sollten solche
Vorschläge überflüssig sein, weil die Massnahmen, die vorgeschlagen
130
_
Das Sowjet-Gesetz gegen Abtreibung
werden, in einer sozialistisch aufgebauten Gesellschaft ja selbstver-
ständlich sind. Zum Beispiel sollte jede Mutter für jedes Kind eine
passende Zulage erhalten. In dem Gesetzentwurf erhält die Mutter
beim achten Kind eine Prämie von 2000 Hubein jährlich, beim
zwölften Kind 5000 Kübel + 3000 R. jährlich. Brupbacher nennt
diese Massnahme sehr zutreffend: »eine Art Stachanowbewegung für
reichen Kindersegen«.
Ein weilerer Vorschlag erhöht die gerichtliche Strafe für Nicht-
zahlung von Alimenten und abändert die Gesetzgebung über die Ehe-
scheidung, die wieder schwieriger zu erreichen wird.
Das sozialistische Prinzip wäre die gesellschaftliche Versorgung
der neuen Generation anstatt der individuellen Unterhaltungspflicht.
An diesen Punkten wirkt der Gesetzentwurf direkt sexualfeindlich
und »kleinbürgerlich-moralisch«.
Der grösstc Mangel des positiven Teils ist jedoch wohl,
dass die empfängnisverhütenden Massnahmen überhaupt nicht er-
wähnt werden. In einer sozialistischen Gesellschaft sollte das Selbst-
beslimmungsrccht der Frau eine Selbstverständliehkeit und die Auf-
klärung über empfängnisverhütende Mittel deshalb auf breitester
Grundlage organisiert sein. Das ist in der S-U noch nicht der Fall.
Gegen den Abort ist die Verhütung ungewünschter Schwangerschaften
doch das wirksamste und einzig rationelle Mittel. Dass das neue Ge-
setz, das sonst viele an sich selbstverständliche Massnahmen vor-
schlägt, den Ausbau der Empfängnisverhütung völlig versäumt, muss
einen sehr peinlichen Eindruck erwecken und die sexualreaktionäre
Tendenz des Gesamtkomplexes noch deutlicher unterstreichen.
Die reaktionäre Tendenz tritt doch erst richtig ins Licht durch
die Wiedereinführung des Verbots und der Bestrafung der Abtreibung.
Die positiven Massnahmen haben den zu bejahenden Zweck, die
Schwangerschaftsunterbrechung — und auch die Bestrafung — über-
flüssig zu machen und dadurch zu beseitigen. Als Begründung eines
Verbots sollte man glauben, dass die sozialistischen Fortschritte un-
brauchbar wären. Sie müssen dennoch dazu dienen. So schreibt zum
Beispiel die »Deutsche Zentral-Zeitung« (DZZ) am 27. Mai: »In
keinem Lande der Welt geniesst die Frau als Mutter und Bürgerin
solche Achtung und solchen gesetzlichen Schutz wie in der
U. d. S. S. IL — — Nur unter den Bedingungen des Sozialismus
kann man den Kampf gegen den Abortus ernsthaft organi-
sieren, u. a. auch durch gesetzliches Verbot«. Und: »Einerseits die
erforderliche materielle Sicherstellung der Frauen und ihrer Kinder
andererseits das Verbot des Abortus «.
Der erste Teil des Gesetzes lautet:
Über das Verbot des Abortus
1) Im Zusammenhang mit der festgestellten Schädlichkeit des
Abortus wird seine Vornahme sowohl in Krankenhäusern und Spe-
131
J. H. Leunbach
zialhcilanstalten als auch in den Wohnungen von Ärzten und in den
Privatwohnungen von Schwangeren verboten. Die Vornahme des
Abortus wird ausschliesslich in den Fällen zugelassen, wo die Fort-
setzung der Schwangerschaft mit Lebensgefahr verbunden ist oder
die schwangere Frau mit einer schweren Schädigung ihrer Gesundheit
bedroht, und dann nur in Krankenhäusern und Entbindungsanstalten. *
2) Für die Vornahme des Abortus ausserhalb von Krankenhäusern
oder im Krankenhaus aber unter Verletzung der genannten Bedingun-
gen wird der Arzt, der den Abortus ausgeführt hat, strafrechtlich ver-
folgt, und zwar erhält er ein bis zwei Jahre Gefängnis. Für die Vor-
nahme des Abortus unter sanitätswidrigen Verhältnissen oder durch
Personen, die keine medizinische Spezialbildung besitzen, wird eine
Strafe von mindestens drei Jahren Gefängnis festgesetzt.
3) Für die Nötigung einer Frau zur Vornahme eines Abortus wird
als Strafe eine Gefängnishaft bis zu zwei Jahren festgesetzt.
4) Für schwangere Frauen, die einen Abortus unter Verletzung
des genannten Verbotes vornehmen, wird als Strafmass vorgesehen:
öffentlicher Verweis und bei wiederholter Verletzung des Gesetzes
über das Abortusverbot eine Geldstrafe bis zu 300 Rubel.
Das Verbot ist also sehr weitgehend. Zum Beispiel werden die
sogenannten »sozialen Indikationen« überhaupt nicht erwähnt. ,
Soziale Ursachen zur Unterbrechung einer Schwangerschaft gibt
es offenbar nach der Meinung der Gesetzgeber nicht mehr in der S-U.
Man fragt verwundert: Ist denn die Wohnungsnot zum Beispiel schon
völlig beseitigt? Die Gesetzgeber scheinen nicht zuzugeben, dass es
noch Familien gibt — auch kinderreiche Familien — die in schlechten
Einzimmerwohnungen hausen.
Selbst die vorsichtigsten Kritiker des Entwurfs scheinen darüber
einig zu sein, dass ein Abortus-Verbot jedenfalls »verfrüht« ist.
An und für sich ist es zu begrüssen, dass die sogenannte »soziale
Indikation« nicht anerkannt wird. Dadurch kommt die wirkliche
sexualfeindliche Tendenz des Gesetzes deutlicher zum Vorschein.
Was ist nämlich der wirkliche Grund des Verbots der Abtreibung?
In der S-U kann der eigentliche Zweck nur genau derselbe sein
wie in den kapitalistischen Ländern: die Sexualunterdrückung der (
Menschen, speziell der Frauen. Die Frage ist nur: Weshalb braucht
die S-U eine Unterdrückung der Sexualität?
Dass der kapitalistische Staat die Sexualität unterdrückt und alle
dazu dienenden Massnahmen aufrechterhalten muss, wissen wir schon
lange. Das wird in allen Büchern Wilhelm Reichs und in allen Num-
mern dieser Zeitschrift von verschiedenen Seiten beleuchtet. Aber in
der S-U?! Im Lande, wo die werktätigen Massen herrschen und wo
der Sozialismus aufgebaut wird?!
Mit dem ersten Ansturm der revolutionären Welle in 1017 — 18
ging auch eine weitgehende allgemeine Scxualbefreiung einher. Diese
Sexualbefreiung kommt zum Ausdruck in der neuen Ehegeselzgebung,
132
Das Sowjef Geselz gegen Abtreibung
in der Freigabe des Abortes und in der Abschaffung der meisten
Strafen wegen verschiedener Sexual vergehen. Die Sexualbefreiung er-
löst die bisher gebundene revolutionäre Energie der Menschen und
bedeutet eine mächtige Förderung der politischen und ökonomischen
Revolution.
Die Lenker der russischen Revolution haben aber nicht die Be-
deutung der Sexualbefreiung richtig einschätzen können. Sie haben
eher Angst vor der sexualrevolutionären Welle gehabt, weil sie sie
nicht verstanden haben und weil sie selbst in einer sexual feindlichen
Umwelt aufgezogen waren und durch diese Erziehung ihre psychische
Struktur erhallen hatten.
Dagegen ist gar nichts zu sagen - davon abgesehen, dass es eine
sehr bedauerliche Talsache ist, die die sozialistische Entwicklung viel-
leicht um Jahrzehnte verspätet hat.
Die volle Einsicht in die Bedeutung der Sexualität ist erst im- Laufe
der letzten 10 Jahre durch Wilhelm Reichs sexualökonomische Theo-
rien ans Licht getreten. Keiner kann zum Beispiel Lenin den Vorwurf
machen, dass er die damals noch nicht existierenden sexualökonomi-
schen Theorien nicht berücksichtigt oder dass er die bürgerlichen
Ideen Freuds abgelehnt hat. Nur müssen wir die Talsache feststellen,
dass die Bedeutung der Sexualbefreiung für die proletarische Revolu-
tion und den Aufbau des Sozialismus übersehen wurde, so wie die
kolossale Stütze, die die bürgerliche Gesellschaft und die Weltreak-
tion in der Sexualunterdrückung und in der durch die sexualfeind-
liche Erziehung entstandenen psychischen Struktur der Menschen hat.
Die erste revolutionäre Welle ist abgeklungen. Die heutigen Lenker
der S-U kehren immer mehr zu autoritären Methoden und Mitteln
zurück.
Wahrscheinlich wurde diese Entwicklung dadurch unvermeidlich,
weil die Weltrevolution versagte und es notwendig wurde, den Ver-
such zu machen, den Sozialismus »in einem Lande« aufzubauen. Dazu
kommt, dass es jetzt notwendig ist, die S-U und den Sozialismus gegen
eine feindliche militaristische Umwelt zu verteidigen.
Man darf auch nicht vergessen, dass Russland vor 1917 in kul-
tureller Hinsicht weit hinter Westeuropa stand. Seit der Revolution
haben gewaltige Fortschritte in der kulturellen Entwicklung statt-
gefunden. Es wäre aber nicht zu erwarten, dass die Forderungen zur
individuellen Freiheit, die von den am weitesten vorgeschrittenen
Russen und Westeuropäern gestellt werden, im Laufe von wenigen
Jahren nach dem Zarismus realisiert werden können.
Grosse Teile der Bevölkerung führten früher ein derartiges
Sklavendasein, dass das Mass von individueller Freiheit, das sie schon
errungen haben, ihnen als der Höhepunkt von dem, was Menschen
Überhaupt vertragen können, vorkommen muss. Es ist also sehr ver-
ständlich, wenn noch weiter gehende Forderungen an persönlicher
und sexueller Freiheit, Lösung der Familienbänder usw. in der S-U
133
J. H. Leunbach
aufgefasst werden können als Ausschläge einer verdorbenen bürger-
lichen Gedankenwelt, die nicht mit dem Sozialismus übereinstimmen
können.
Die Angst vor »zu viel Freiheil« ist ein typischer Bestandteil der
psychischen Struktur, die notwendigerweise durch die Erziehung
innerhalb der patriarchalischen Familie entstell l. Wenn diese Angst
kombiniert wird mit der festen Überzeugung, das höchste Mass von
erstrebenswerter Freiheil schon erreicht zu haben, ist es eigentlich
sehr verständlieh, wenn ein Teil der Bevölkerung der S-U mit einer
Einschränkung der sexuellen Freiheil einverstanden ist.
Am Anfang der Revolution waren die vorgeschrittensten bcwussl-
sozialistisch eingestellten Teile des Industrieproletariats führend.
Während der letzten Jahre fangen die Bauern und Landarbeiter an,
grösseren Einfluss auszuüben, auch auf die kulturelle Entwicklung
und auf die Gesetzgebung. In diesen Kreisen sind die palriarchalichen
Traditionen und die sexualverncinendc Struktur noch sehr fest ver-
ankert.
Eine weitere sehr bedauerliche Tatsache ist der geringe Kontakt
zwischen S-U und Westeuropa, die sich viel zu wenig gegenseitig
kennen und verstehen. Dieser geringe Kontakt ist vielleicht eine na-
türliche Folge der Feindschaft zwischen dem Sozialismus und dem
Kapitalismus. In der S-U hat man ein sehr begreifliches Misstrauen
Westeuropa gegenüber und die Neigung, westeuropäische Kritik und
Ideen als Ausschläge des verhassten Kapitalismus abzulehnen. Des-
halb können wir wohl kaum erwarten, dass die S-U-Bcvölkcrung ver-
stehen soll, welche katastrophale Bedeutung es für die revolutionäre
Bewegung hat, wenn die S-U die Bestrafung der Homosexuellen und
der Abtreibung einführt.
Wenn die redaktionelle Zensur und die Angst, seine Meinung
zu sagen, sicherlich auch eine Rolle spielt, ist es dennoch kaum rich-
tig, was jetzt in den Zeitungen behauptet wird, dass die grosse Mehr-
zahl der Bevölkerung sich begeistert hinter das neue Gesetz stellt.
Ein kultureller Rückschritt würde auch dadurch nicht in einen Forl-
schritt verwandelt.
Auf sexualpolitischem Gebiete — wenn überhaupt - - wäre es die |
Pflicht der revolutionären Avantgarde, sexualbejahend erzieherisch
und fördernd voranzugehen und nicht den reaktionären Tendenzen
der Bevölkerung nachzugeben.
In Reichs Buch: »Die Sexualität im Kulturkampf« ist eine ein-
gehende Analyse dieser Verhältnisse versucht worden. Hier genügt es
festzustellen, dass das Autoritätsprinzip überall in der S-U nach und
nach wieder eingeführt wird. Das Autoritätsprinzip fordert bei den
Untertanen des Staates eine autoritätsgetreue psychische Struktur.
Um eine solche Struktur aufzubauen und aufrechtzuerhalten, braucht
man in erster Linie Sexualunterdrückung.
Deshalb wird in der S-U wieder eingeführt die Bestrafung der
134
Das Sowjet-Gesetz gegen Abtreibung
Homosexuellen und jetzt das Verbot des Abortus. Gleichzeitig soll die
Familie befestigt werden.
Die Familie ist der Herd der autoritären Erziehung und der Un-
tertanenstruktur, die der autoritäre Staat braucht. Die asketische
sexualverneinende Moral soll gekräftigt werden. In der Diskussion in
der DZZ wird zum Beispiel gesagt: »Früher wurde von vielen Frauen
und Männern Leichtsinnig hin- und hergeheiratet«. Die Tendenz ist
sehr deutlich.
Mit der Festigung der Sowjet-Familie ist es offenbar ernst gemeint.
So schreib! zum Beispiel die DZZ: »Der proletarische Staat geht mit
diesem Gesetz daran, die Festigung der Familie, die in der bürger-
lichen Welt längst zum Untergang verurteilt ist, und die erst der So-
zialismus wieder zu neuem Leben, zu neuem Blühen führen kann,
fortzusetzen«.
Schliesslich muss die S-U natürlich selbst entscheiden, welche Ge-
setze sie braucht. Aber für uns, die in den kapitalistischen Ländern
den harten Kampf gegen die Abtreibungsbestrafung führen, ist der
neue Gesetzentwurf einfach katastrophal. Wir haben bisher auf die S-U
hinweisen können als das Musterland, wo der Abortus legalisiert war
und wo die Gefährlichkeit der Abtreibung dadurch zum Minimum
reduziert worden war. Die Unbilligkeit, die Statistiken aus den Sowjet-
Abortarien zu veröffentlichen, hat uns immer Schwierigkeiten be-
reitet, zum Beispiel, wenn es sich darum handelte, die Kiewer Mythe
von der Gefährlichkeit auch des legalisierten Abortus gründlich zu
widerlegen.
Das neue Gesetz gibt unseren Gegnern eine schwerwiegende Waffe
in die Hand, die sie mit verständlicher Begeisterung ergreifen. Die
revolutionären Sexualpolitiker der ganzen Welt müssen sich von der
S-U verraten fühlen.
Unser Kampf um eine Neugestaltung des Geschlechtslebens der
Menschen wird in der Zukunft noch schwieriger und dornenvoller
werden.
Interessant ist es, die verschiedenen Aussprachen von der S-U und
vom Ausland über den Gesetzentwurf zu vernehmen. Man ersieht
daraus, wie ungeheuer gross die Autorität der S-U auf die revolutio-
näre Welt wirkt, und wie unselbständig dieselben Menschen, die bisher
für die Freigabe des Abortus begeistert waren, jetzt ungefähr eben
so begeistert für das Verbot eintreten. Besonders interessant ist es
natürlich, solche Stimmen zu hören, die seit vielen Jahren in dem
Vordergrund des Kampfes gegen § 218 stehen.
Die alte dänische Kämpferin, Marie Nielsen, die »Babuschka« der
dänischen revolutionären Bewegung, schreibt in dem Organ der däni-
schen K. P. eine sehr scharfe Kritik und behauptet, dass ein Verbot
des Abortus nur ein Übel sein kann. Sie hebt sehr richtig die sexual-
feindliche Tendenz des Entwurfes hervor.
135
Wilhelm Reich
-
Die Ärztin Martha Ruben-Wolff, die jetzt in Moskau lebt, war sonst
immer bereit, alle Massnahmen der heissgeliebten S-U zu verteidigen.
Selbst ihr scheint doch der Entwurf eine zu bittere Pille zu sein. Sie
erwähnt den unerhörten Erfolg der Freigabe des Abortus für die Ge-
sundheit der Frauen und sagt: »Die Legalisierung des Abortus ist und
bleibt bis heute der grösste Triumph der sowjetischen Frauenheil-
kunde und erinnert an die Grosstat von Semmelweis«. Sie bringt sehr
schlagende Beweise dafür, dass bis auf den heutigen Tag sämtliche
Versuche, die sich in der Richtung des Verbots bewegten, zum
Pfuscherabortus führten. Sie endet mit den Worten: »Im Laufe dieser
Entwicklung wird der Abortus wohl überflüssig werden und nahezu
verschwinden, aber heute ist - so meine ich — ein derartiges Verbot
verfrüht«.
Gewiss eine sehr milde Verurteilung - - aber doch immerhin eine
Verurteilung.
Was soll man aber zu Friedrich Wolf sagen? War er doch einst
in Deutschland der zentrale Punkt im Kampfe gegen § 218, von den
grossen Massen bewundert, fast vergöttert. Jetzt schreibt er wörtlich:
»Ich bejahe also - - und zwar gerade als Bekämpfer des §.218 — das
neue Gesetz in einem sozialistischen Sowjet-Staat«. Nun, Ft. Wolf
hat ja auch eine schöne Stellung in der S-U und hätte wohl etwas zu
riskieren, wenn er sich unangenehm bemerkbar machen würde.
Der alte Ketzer lirupbacher lässt sich natürlich nicht irreführen.
Im Internationalen ärztlichen Bulletin schreibt er eine kurze aber
scharfe Kritik und behauptet zuletzt: »Die Begründungen sind so
fadenscheinig, dass sie uns einfach wie vorgeschobene Gründe vor-
kommen und wir einen kombiniert Marx-Frcud'schen Analytiker
beauftragen möchten, die wirklichen Gründe ausfindig zu machen«.
Mit den vorangehenden Zeilen habe ich den Versuch gemacht, ein
ganz kleines Stück einer sexualökonomischen Analyse zu geben.
Eine wirklich erschöpfende Analyse würde viele Zeilschriften-
nummern füllen können.
Charakter und Gesellschaft
(Vorgetragen in der Norwegischen Studentenorganisation
im Oslo am 18./IV. 36)
Von Wilhelm Reich
Ich muss, um mich im Zentralproblem verständlich zu machen,
mit einer kurzen historischen Übersicht über die Fragestellung der
Psychologie in der Wissenschaft beginnen. Sie ging aus sehr kompli-
zierten Entwicklungsprozessen innerhalb der wissenschaftlichen Be-
wegung hervor, die sich aus der mittelalterlichen mvstischen Atmos-
136
Charakter und Gesellschaff
phärc ergab. Zunächst entwickelte sich in der Wissenschaft mit dem
Beginn des Maschinenzeitalters der mechanistische Materialismus, der
dem menschlichen Denken entschieden neue Wege wies. So gross die
Errungenschaften der physikalischen Naturwissenschaften waren,
ihre Übertragung auf die Probleme der Psychologie und Philosophie
führte dazu, dass die Existenz einer Seele überhaupt geleugnet wurde.
Der Materialismus eines Büchner etwa musste, da die seelischen Tat-
bestände unmittelbar wahrzunehmen und nicht zu leugnen sind, als
Reaktion eine metaphysische Ideologie in Gang setzen, die in kom-
plettem Gegensatz zum mechanistischen Materialismus die Abhängig-
keit des Körpers von der Seele behauptete und die letzte ins Jenseits
versetzte. Es gibt noch heute verschiedene psychologische Schulen,
die die Probleme des Seelenlebens ohne Zusammenhang mit ihren
malericllen Grundlagen behandeln.
Die ersten korrekten Grundlagen zu einer naturwissenschaftlichen
Psychologie wurden von Freud gelegt. Er führte in die Psychologie
das geschichtliche und kausale Denken ein. Die Frage: Weshalb ist
es im Seelenleben so oder so? Wie entwickelte es sich? war damals
ungewohnt, doch sie gehört heute zu den Selbstverständlichkeiten des
psychologischen Denkens. Das Handeln des Menschen ans seiner
individuellen Entwicklung zu begreifen, bedeutete aber auch die wenn
auch unbewusste Anwendung des dialektischen Materialismus in der
Psychologie. Die Einführung des Begriffs der »psychischen Energie«
war bahnbrechend; doch Freud selbst war es noch nicht gelungen,
den Begriff der seelischen Energie anders als in Form eines Gleich-
nisses zu gebrauchen.
Alle bisherigen psychologischen Schulen machten an zwei Grenzen
halt. Die eine Grenze ist die gegen die Biologie hin; sie ist nicht sehr
scharf gezogen. Die Frage: Wie entwickelt sich das Seelische aus den
biologischen Funktionen heraus? schwebte ständig in der Luft der
psychoanalytischen Arbeit. Im Gegensatz dazu war und ist bei Freud
die Grenze gegen die marxistische Soziologie hin sehr scharf gezogen.
Ja, man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass ihre Über-
schreitung geradezu gefürchtet und mit allen Mitteln verhindert wird.
Wenige Jahrzehnte vor der Entwicklung der ersten Ansätze der
naturwissenschaftlichen Psychologie entstand die wissenschaftliche
Soziologie durch Marx, der die Abhängigkeit der menschlichen Tätig-
keit und der gesellschaftlichen Ideologie von den sozialen und ökono-
mischen Prozessen erkannte. Dieser Abhängigkeit fügte Freud eine
zweite an, die von unbewussten Trieben. In den letzten zwanzig Jahren
hatte sich im modernen Denken immer wieder die scheinbare Un-
gereimtheit dieser beiden Abhängigkeiten gezeigt. Auf der einen Seite
sollte das menschliche Sein von ökonomischen und sozialen Tatbe-
ständen, auf der anderen Seite von ewigen, biologischen Trieben ab-
hängig sein. Dazu kam, dass die Entwicklung der Freudschen Psycho-
logie immer mehr sowohl das Gesellschaftliche wie das Biologische
137
Wilhelm Reich
psychologisierle, d. h. miL Begriffen zu fassen suchte, die nur im
Rahmen des psychischen Seins gelten können. Zwar war Freud ur-
sprünglich vom Konflikt zwischen Aussenwell und Ich ausgegangen;
es war später nicht schwer, in dieser Aussenwell konkret die kapitali-
stische Gesellschaft zu erkennen. Doch es zeigte sich bald, dass dieser
so richtige Ansatzpunkt Freuds von einer biologistischen Anschauung
über die absolute und ewige Natur der Familie und des Unbcwussten
verschüttet und unbrauchbar gemacht wurde. Der Mangel psychologi-
schen Denkens im Marxismus hatte den Ökonomismus gezeitigt, kom-
plettes Unverständnis für psychologische Tatbestände und Prozesse,
das war eine der Hauptursachen des Sieges der politischen Reaktion
in Deutschland. Der Freudschcn Psychologie wieder fehlte das kon-
sequente soziologische Denken, d. h. das Bewusslscin der Abhängig-
keit alles Psychischen vom gesellschaftlichen Prozess. Aus diesen
zwei Mängeln ergaben sich nicht wenige Behinderungen der weiteren
Entwicklung sowohl der marxistischen Gesellschaftslehre wie der
Psychoanalyse.
In der Abwehr der falschen theoretischen Entwicklung der Psycho-
analyse und des Ökonomismus in der Arbeiterbewegung entwickelte
sich nun die dialektisch-materialistische Psychologie (Sexualökono-
mie und Politische Psychologie). Sic ist vor allem dadurch gekenn-
zeichnet, dass sie den Respekt vor dem überschreiten der beiden ge-
nannten Grenzen aufgegeben hat. Die Triebe und das Unbewusste sind
ihr nicht mehr etwas, was in der Luft hängt oder den Urgrund aller
Dinge darstellt, sondern sind von zwei Seiten her zu erfassen, nämlich
von der biologischen und von der gesellschaftlichen. Nur unter voller
Berücksichtigung dieser doppelten Abhängigkeit sind die Gesetze
korrekt zu begreifen, die innerhalb des Seelenlebens teils bereits auf-
gedeckt wurden, teils der weiteren Aufdeckung harren. Daraus folgen
zwei Fragestellungen grundsätzlicher Art: Erstens: Wie ist die Be-
ziehung zwischen Körperlichem und Seelischem beschaffen? Ohne
eine genaue naturwissenschaftliche Beantwortung dieser im wesent-
lichen noch ungelösten Frage ist die Dynamik des Seelenlebens, ins-
besondere des Affektlebens nicht derart zu fassen, dass sich daraus
menschliche Praxis entwickeln könnte. Auf diese Frage gehe ich heute
nicht ein. Zweitens: Wie hängt die psychische Struktur des Menschen
mit der gesellschaftlichen Struktur zusammen? Ich will versuchen,
in rohen Zügen einige dieser Beziehungen zu zeichnen.
Der Freudsche historische Kausal ismus ermöglichte uns zu be-
greifen, wie und aus welchen Gründen der individuellen Entwicklung
ein Mensch so und nicht anders geworden ist; doch das rein histori-
sche und individuelle Verstehen genügt nicht, um eine aktuelle Situa-
tion zu verändern. Ich kann wohl z. B. genau erheben, aus welchen
geschichtlichen Voraussetzungen sich der Faschismus entwickelt hat,
aber wenn ich noch so viele rein historische Voraussetzungen bei-
138
Charakter und Gesellschaft
sammen habe, so geht daraus noch nicht hervor, wie er zu über-
winden wäre.
Das gleiche gilt im Seelenleben. Wenn ein Mensch heute ein ge-
ducktes Wesen zeigt und ich historisch feststelle, dass sich dieses
Wesen aus schwerer Unterdrückung und seelischen Prügeln ableitet,
die der Betreffende in der frühen Kindheit erlitten hat, dann begreife
ich zwar jeden einzelnen Zug seiner Geducktheit, aber daraus ergibt
sich noch nicht von selbst die praktische Antwort auf die Frage, wie
er seine Geducktheit überwinden könnte. Wenn richtig festgestellt
ist, dass die Menschen kindlich reagieren, weil sie in bestimmten
Stadien ihrer Entwicklung hängen geblieben sind, dann bedarf es der
zusätzlichen Frage, was sie in dieser Kindlichkeit heute aktuell
festhält.
Der Freudsche Begriff der Fixierung im Kindlichen beantwortet
diese Frage nicht, denn die Fixierung selbst ist nur eine Umschreibung
für den Tatbestand des Kindlich-Bleibens. Die Auskunft, dass es die
Verdrängung ist, die die Fixierung aufrechthalte, ist unbefriedigend,
denn: Was verleiht der Verdrängung die Dauer und Zähigkeit? Die
Antwort auf die gestellte Frage ist einfach. Die gleichen Lebensver-
hältnisse und Lebensumstände, die in der Kindheit, in der Familie
die Verdrängung und Fixierung in der Kindlichkeit hergestellt haben,
wirken fortlaufend durchs ganze Leben im Sinne der früherworbenen
Entwicklungshemmung ein. Es ist also nicht so, dass irgendeinmal
ein psychischer Zustand geschaffen wurde, der dann von sich aus
ohne äusseren Einfluss bestehen bliebe, sondern es ist so, dass der
entwicklungsbemmendc Einfluss der Gesellschaft dauernd das ganze
Leben hindurch wirkt. Die Fixierung an kindlichen Arten der Sexual-
lust kann sich nur dadurch halten, dass die Gesellschaft den Fort-
schritt zur aktuellen Sexualbefriedigung dauernd behindert und nicht
nur einmalig als äusserer Anlass einer seelischen Erkrankung.
Dadurch dringen wir unmittelbar in das Problem der gesellschaft-
lichen Struktur ein. Es folgt die Frage: Welches Interesse hat die Ge-
sellschaft daran, die Menschen in ihren kindlichen Positionen zu
halten, indem sie ihnen die Entfaltung des Liebeslebens versagt? Diese
Frage war nie vorher gestellt und korrekt beantwortet worden.
In diesem Zusammenhang möchte ich neuerdings versuchen, ein
stupides Missverständnis aufzuklären. In den Diskussionen über die
Rolle der Psychologie in der gesellschaftlichen Lehre hört man immer
wieder den typischen Einwand: »Ja, aber wo bleibt denn die Ökono-
mie?« Falsche Begriffe pflegen von einer unglaublichen Lebensdauer
zu sein. Es gibt keine falschere Fragestellung als diese. Das ökonomi-
sche Sein des Menschen kann seinem, psychischen Sein nicht gegen-
übergestellt werden. Es gibt keine Art von Sein, die sich nicht durch
das psychische Sein der Menschen hindurch auswirken würde.
Maschinen wirken nicht dadurch, dass sie irgendwo arbeiten,
sondern dadurch, dass die Menschen an ihnen produzieren und sich
139
Wilhelm Reich
t
dadurch strukturell verändern. Das Sein der Menschen im allgemeinen
und das gesellschaftliche im besonderen wirken sich einzig und allein
durch die Veränderungen aus, die die Struktur der Menschen unter
ihrem Einfluss erfährt, und durch die Tätigkeit, zu denen sie die
Menschen zwingen.
Nun zur Charakterbildung: Unter Charakter versteht die Sexual-
ökonomie die Form gewordene typische Reaktionsweise der Menschen.
Wenn Menschengruppen eine gemeinsame Reaktionsweise zeigen, wie
etwa die Arbeiterschaft, die Kaufmannschaft etc., so drückt sich darin
die Einwirkung einer typischen gemeinsamen gesellschaftlichen Situa-
tion auf die psychische Struktur unmittelbar aus. Der Charakter ist
in seiner Bildung das Ergebnis eines Zusammenpralls von vegetativen,
biologischen Triebenergien auf der einen und dem gesellschaftlichen
Sein auf der anderen Seite. Nun kommt es nicht darauf an, abstrakt
und. theoretisch festzustellen, dass Biologisches und Gesellschaftliches
im Zusammenprall die charakterliche Struktur bilden. Es kommt
vielmehr im Wesentlichen darauf an, dass die derart entstandenen
typischen Charakterzüge funktionell völlig identisch sind mit be-
stimmten Elementen der heutigen gesellschaftlichen Struktur und
Ideologie.
Das biologische Sein wird beherrscht von den Gesetzen der Ent-
wicklung, des Energieauf- und abbaus, von rhythmischem Wechsel
von Motorik und Ruhe, Betätigung und Nichtbctätigung. Der Wechsel
von Energieauf- und abbau wird unmittelbar verspürt als Wallung
und Strömung im Körper. Die charakteranalytische Technik vermag
heute Menschen, die vollkommen starr, unlebendig und affektleer er-
scheinen, Menschen, die nie Wut, Liebes- und Angstregungen gekannt
oder zugelassen haben, dazu zu bringen, diese Strömungen und
Wallungen wieder zu verspüren. Vorher beklagten sich die Kranken
darüber, dass sie sich nicht lebendig fühlten, dass sie wie abgestorben
wären etc. Durch Zerstörung der starren charakterlichen Haltungen,
die wie Panzerungen gefühlt werden, lassen sich also gebundene,
biologische Energien freimachen. Sie Hessen sich mit elektrischen
Ladungsprozessen im Körper identifizieren.
Das Gesagte ist für das Verständnis der Charakterbildung von
grundsätzlicher Bedeutung. Betrachten wir als Beispiel für den Zu-
sammenprall von vegetativer Triebregung und Gesellschaft die Rein-
lichkeitserziehung der Kinder in unseren Kulturkreisen. Wir wissen,
dass Kinder bis zum 3. und 4. Lebensjahre sehr lebendig sein können
und dann, etwa um das 5. Lebensjahr herum, zu erkalten beginnen,
oder wie man sich ausdrückt »brav« werden. Sie büssen das wesent-
lichste Stück ihrer Motorik ein. Dieser Verlust ist heute ganz wesent-
lich auf die Art der Reinlichkeitserziehung zurückzuführen. Gibt das
Kind seinen Regungen, sich schmutzig zu machen oder sonst natür-
liche Bedürfnisse der Motorik zu befriedigen, nach, so stösst es auf
die strengsten Verweise seitens der Erzieher. Es entsteht ein Konflikt
140
.
zwischen »Ich will« und »Ich darf nicht«. Zunächst wird es zwischen
Wunsch und Angst vor Strafe hin- und hergerissen. Diesen Zustand
kann es auf die Dauer nicht ertragen. Es muss sich gegen die eigenen
Impulse, gegen die Angst, aber auch gegen das Verbot wehren. Das
früher motorisch lebendige Kind beginnt auf sich selbst aufzupassen,
seine muskulären Haltungen verlieren an Natürlichkeit und werden
krampfhaft; es wird kalt, versteift sich, kurz, es wird ein »braves
Kind«, das sich der Erziehung und mithin der Gesellschaft angepasst
hat. Befand es sich vorher in einem regelmässigen biologischen
Wechsel von Spannung und Entspannung, so tritt nach dem Erkalten,
das es als inneres Absterben verspürt, ein Mechanismus auf, der von
entscheidender Bedeutung für die Herstellung der widerspruchsvollen
charakterlichen Struktur der Menschen aller bürgerlichen Kultur-
kreise und darüber hinaus der Kulturkreise des Patriarchats ist. Die
nun erworbene Kälte und Steifheit binden zwar ein Stück der vegeta-
tiven Energie, aber von den Energiequellen des körperlichen Apparats
her strömt ständig neue Energie hinzu. Diese wird jedoch nunmehr,
da eine Bremsung eingeschaltet ist, nicht mehr so glatt abgeführt wie
vorher. Das Kind ist gehemmter geworden, es entsteht ein immer
stärkerer Druck von innen her und mithin ein ständig wachsender
Zwang, diese Impulse zu bremsen. Den chronisch gewordenen Me-
chanismus der Bremsung nenne ich Panzerung. Sie ist sowohl charak-
terlich wie muskulär gegeben. Jeder kann an sich selber spüren, dass
zwischen ihm und der Welt eine Mauer steht. Sie äussert sich darin,
dass man nie den völlig unmittelbaren Kontakt zu den Mitmenschen
bekommt, dass sich unnatürliche Versuche; den Kontakt herzustellen,
herausbilden, dass man innerlich vereinsamt u. s. f.
Nach der Erkaltung setzt ein Widerspruch zwischen Trieb und
Bremsung (Moral oder Angst) ein, der vorher nicht vorhanden war,
denn das Kind kam ohne Moral zur Welt und regulierte sein Handeln
durch das biologische Prinzip der. Spannung und Entspannung. Zur
Verdeutlichung des Unterschiedes zwischen der natürlichen biologi-
schen und der moralischen Art der Regulierung des Trieblebens dient
am besten das Beispiel eines Stroms, den man in seinem natürlichen
Ablauf bremst. Der Strom, der früher ruhig dahinfloss und nur dem
natürlichen Gefälle und dem Wasserreichtum seiner Quelle ent-
sprechend sich verhielt, staut sich jetzt, er überflutet das Gelände,
und es entstehen eine Menge von Nebenläufen, die unter Umständen
schwere Zerstörungen anrichten können. Wir können dieses Beispiel
ohne weiteres auf das Triebleben übertragen. Die natürlichen Triebe
des Kindes, zu essen, zu lutschen, seine Muskulatur zu betätigen, Lust
am Genitale und am Darm zu gewinnen, bleiben solange sozial un-
schädlich und für die kindliche Entwicklung förderlich, solange die
Bremsung fehlt. Sie lösen einander im Laufe der Entwicklung ab;
an die Stelle eines Interesses, das vorher stärker war, tritt ein anderes,
bis auch dieses einem dritten weicht. Durch die erzieherische Brem-
141
Wilhelm Reich
sung jeder dieser Entwicklungsphasen entstehen immer wieder neue
künstliche, unnatürliche Bedürfnisse. Das Kind erwirbt einen schrof-
fen Gegensatz zwischen seinem natürlichen Wesen und dem, was die
Kultur in ihm erzeugt und einpflanzt. In diesem Gegensatz spiegelt
sich nichts anderes wieder als der in der heutigen Gesellschaft herr-
schende absolute Gegensatz von Kultur und Natur,- von Trieb und
Moral. An die Stelle der natürlichen Reaktion tritt der Zwang des
Gegensatzes von: »Das ist Pfui!« und »Das ist erlaubt und brav«. Ein
Kind mit starkem motorischem Drang in einem schönen, reinen
Kleidchen, das es für die Mutter zu einer Puppe macht, das es also
nicht »beschmutzen« darf, gehört zu den traurigsten Erscheinungen.
Unsere Erfahrungen lassen keinen Zweifel daran, dass derartige Be-
hinderungen der kindlichen Motorik zum Schädlichsten gehören, das
ein Kind erleben kann. Durch die Beherrschung, die sich das Kind,
unnotwendigerweise und nur dem Spleen einer verrotteten Kultur
zuliebe, auferlegen muss, erwirbt es anstelle eines natürlichen, aus-
geglichenen einen unökonomischen, unausgeglichenen Haushalt
seiner vegetativen Energie. Die angeführten Beispiele kann man auf
beliebigen Gebieten zahllos finden.
Ein zweites Beispiel von der Absperrung, die durch das Zusammen-
prallen von Trieb und Aussenwelt entsteht, ist die organische Lust-
angst, die sich während der Pubertät endgültig formiert. Die Jugend-
lichen sind mit 11, 12 und etwa 13 Jahren noch sehr lebendig oder
wieder lebendig geworden; mit etwa 16 — 17 Jahren verändern sie sich
wieder und erkalten genau so wie in der Kindheit. Mit Jugendlichen
von etwa 14 oder 15 Jahren kann man gelegentlich noch gut über
ihre Sexualität sprechen, nachher wird es schwierig, sie lehnen ab.
Dieser Wandel vom Lebhaften zum Kalten baut sich nun auf der
kindlichen Grundlage gleicher Erlebnisart auf.
Das allgemeinste Resultat für die Charakterbildung der Menschen
auf dieser Grundlage ist die gegenseitige Absperrung und die Er-
setzung der natürlichen menschlichen Beziehungen durch künstliche,
formelhafte Beziehungen. Man findet trotz kollektiven Lebens selten
Menschen, die nicht vereinsamt lebten oder leer und oberflächlich
wären. Aus dieser psychischen Situation entsteht die Sehnsucht nach
»Auslösung«, ja gelegentlich nach »Auflösung«' (vegetative bzw. or-
gastische Sehnsucht). Die Fähigkeit, sich im Leben frei strömen zu
lassen, ist verloren gegangen. Wenn sich die Menschen abgesperrt
fühlen, im Innern jedoch den Kern ihres lebendigen Wollens ver-
spüren, ohne ihren Lebenswillen nach aussen zum Ausdruck bringen
zu können, dann ist es nur selbstverständlich, dass sich eine unge-
heure bald sentimentale, bald träumerische, meist sehr verworrene
Sehnsucht nach dem »grossen Erlebnis« entwickelt, von der sie eine
Erlösung aus der Absperrung erhoffen. Darüber hinaus müssen Men-
schen, die über ihre lebendige Motorik nicht verfügen, lebensängstlich
werden, sich Ereignissen und Vorgängen gegenüber hilflos fühlen,
142
Charakter und Gesellschaft
denen sie unter natürlichen Bedingungen und mit den vorhandenen
Mitteln der Technik ohne weiteres gewachsen wären. Sie sind auf
der einen Seite an die vernichtenden Forderungen der sogenannten
Kultur allzugut angepasst, doch sie büssen meist die Fähigkeit ein,
wirkliche Schwierigkeiten zu überwinden, wenn Zeit, Verhältnisse,
gesellschaftliche Prozesse etc. sie vor schwierige Aufgaben stellen.
Man beachte etwa die üblichen Gespräche, die Menschen miteinander
auf der Strasse, in der Familie, in den Kaffeehäusern, auf den Markt-
plätzen etc. führen. Was sie sprechen, ist unglaublich oberflächlich,
geht an den wirklichen Fragen des Lebens und Seins vorbei, verrät
Kritiklosigkeit den stupidesten Ideologien gegenüber. Ja mehr, die
Gegenwart lässt keinen Zweifel darüber, dass der durchschnittliche
Mensch es nicht liebt, wenn man ihm mit den ernsten Lebensfragen
kommt. Im Hintergrunde ist deutlich Angst zu verspüren. Gesichts-
ausdruck und Haltung auf der. Strasse sind gedrückt, unlebendig; sie
spiegeln das Elend der Zeit und des Lebens.
Doch es wäre falsch, aus dieser Oberflächlichkeit den Schluss zu
ziehen, den die gottgesandten Führer von Millionenvölkern zu ziehen
pflegen, nämlich dass die Menschen so dumm wären, dass sie sich
eintrichtern lassen, was immer man ihnen eintrichtern will. Die
gleichen Menschen, die derart oberflächlich und dumm scheinen, ent-
hüllen in den analytischen Behandlungen regelmässig Eigenschaften,
Einstellungen und ein Denken, die nicht selten mit denen grosser
Denker konkurrieren können. Das ist nicht übertrieben. Die allgemeine
Hemmung der Lebensentwicklung spiegelt sich eben in den Hemmun-
gen der persönlichen Ausdrucksfähigkeit wieder. Die Menschen sind
nach aussen anders als nach innen, sie sind in guter freundschaft-
licher Beziehung anders als im offiziellen Leben, im Beruf anders als
im Privatleben,
Das Leben, dem wir begegnen, ist ein Ersatzleben. Das Buch »Vier-
zehn Tage vor Frostnächten« von Sigurd Hoel schildert dieses Ersatz-
leben in nicht zu übertreffender Weise. Es wäre nur zu wünschen,
dass die Literatur sich mehr derartigen Problemen des menschlichen
Seins zuwenden würde.
Versuchen wir nun zunächst ganz allgemein die Beziehungen zwi-
schen der ideologischen Struktur unserer heutigen Gesellschaft und
der psychischen Struktur der Menschen zu fassen : Der mechanisierten
Wirtschaft, diesem grundlegenden Kennzeichen unserer heutigen Zi-
vilisation, entspricht der mechanisierte Mensch. Der Typus dieses
Menschen ist in der so erfolgreichen Tragikomödie »Larsen« korrekt
erfasst; der Eindruck, den dieses Stück auf den Zuschauer ausübt,
entspricht durchaus der wirklichkeitsgetreuen Schilderung des öden
Lebens, das der heutige Fabrik- und Büromensch von seinem 16. bis
zu seinem 60. Lebensjahre führt.
Die Probleme, die hier gemeint sind, finden sich dort, wohin sich
die offizielle Wissenschaft nur sehr ungern begibt. Ich beobachte in
143
Wilhelm Reich
meiner Nachbarschaft seil Monaten folgendes Kullmhikl: Gegenüber
wohnt ein junger Beamter mit seiner Frau und einem kleinen Kind.
Jeden morgen pünktlich um 9 Uhr verlässt er sein Haus. Vor der
Treppe empfiehlt er sich von Frau und Kind mit einem oberfläch-
lichen Stirnkuss und winkt ihnen zu. Dann macht er 5 — 6 Schritte,
wendet sich nach links und macht wieder »winke, winke«. Wir
haben keinen Grund daran zu zweifeln, dass dieser Mensch das Gleiche
30 Jahre lang wiederholen wird. Man fragt sich, mittels welcher
Mechanismen ein Lebewesen eine derartige Automalur durchzuführen,
zu ertragen und nicht zur Kenntnis zu nehmen vermag. Die sexual-
ökonomische Klinik beantwortet nur einen Teil dieser Frage. Sie gibt
uns nur Auskunft über die Dynamik und den Mechanismus derartig
widernatürlichen Verhaltens. Sie sagt noch nichts über die gesell-
schaftliche Funktion dieser Erscheinung aus. Dass die Menschen
unserer Kulturkreise erkaltet, bei lebendigem Leibe gestorben, ge-
panzert sind, ist ein höchst wichtiges und interessantes klinisches
Phänomen. Doch welche Funktion erfüllt dies in der Gesellschaft?
Die dialektisch-materialistische Soziologie hat uns das Wesen und die
Funktionsweise der privaten Profitwirtschaft in eindringlichster
Weise vor Augen geführt. Wir wissen also, dass es eine Profitwirt-
schaft gibt und wie sie beschaffen ist, doch wie es kommt, dass die
Menschen sie ertragen können, sie nicht umzuwälzen vermögen, das
Leiden, das ihr entströmt, mit scheinbarer Ruhe tragen, lag bisher
nicht im Bereiche ihrer Fragestellungen. Die Menschen Averden in
grossen Massen unterdrückt und ausgebeutet. Gewiss, es gibt eine
Polizei, die nicht, wie ein französischer Prophet der Psychoanalyse
behauptete, die Funktion hat, ihr Strafbedürfnis zu befriedigen, son-
dern sie von praktisch wirksamen Protesten abzuhalten. Die Polizei ist
nur die Reserve, über die die ökonomisch Interessierten verfügen.
Entscheidend ist die Bescheidenheil und Kritiklosigkeit der charakter-
lichen Durchschnittsstruktur der Menschen. Von Kindheit auf werden
sie zur Bescheidenheit, zum Gehorsam und zur Abbremsung ihrer
natürlichen Triebkräfte erzogen. Askese und Pflicht im Dienste eines
sinnlosen »Altruismus« beherrschen die Ideologie der Gesellschaft.
Diesen Kernelcmentcn jeder reaktionären Weltanschauung entspricht
wieder eine Strukturtalsache im Menschen, nämlich die Lnstangst,
die er als Kind erwarb, und das Unvermögen, die Arbeit anders denn
als Pflicht, als Freude zu empfinden. Unsere charakterlichen Kennt-
nisse lassen keinen Zweifel darüber, dass Menschen, die die natür-
liche Freude an Betätigung und Arbeit einmal kennen und schätzen
lernten, unfähig werden, die heute übliche lustlose Pflichtarheit
zu erfüllen, ohne sich innerlich dagegen aufzulehnen. Doch diese Auf-
lehnung wäre die erste Voraussetzung der Umwälzung der Arbeit
selbst.
In der gesellschaftlichen Ideologie spielt der Gegensalz von Morali-
tät und Sexualität eine entscheidende Rolle. Dieser gesellschaftlichen
144
Charakter und Gesellschaft
Ideologie entspricht der Tatbestand, dass die wenigsten Menschen der
heutigen Kultur eine lustvolle Handlung begehen können, ohne be-
wussl oder unbewusst mit Schuldgefühl zu reagieren. Dem Gegensatz
von Sexualität und Moralitüt in der Ideologie entspricht der Gegensatz
von Sexualität und Moralität in der Struktur.
Ein anderes Beispiel, das jedem Denkenden wohl ohne weiteres
auffällt, ist, dass die Ideologie »Fürs Vaterland zu sterben« mit der-
artiger Pünktlichkeit, ja Hingegcbenhcit von einer breiten Masse Men-
schen erfüllt wird. Wie ist es möglich, müssen wir uns fragen, dass
eine so lebensfeindliche Forderung derart widerspruchslos akzeptiert
wird? Dass es derartige Rufer gibt, ist kein Problem; Problem ist,
weshalb talsächlich Millionen diesen Kufen nachkommen und für ein
Vaterland, dessen Brutalität und vernichtende Lebcnsgcstaltung ausser
Frage steht, sterben. Die übliche Antwort lautet: Die Menschen werden
durch die Maschinengewehre dazu gezwungen. Wenn man sich aber
das Verhalten der Masse vor dem Weltkrieg und auch jetzt ansieht,
muss man sagen: Das kann nicht stimmen, in den Menschen selbst
wirkt etwas, das den Rüstungsindustriellen und Kriegsspezialisten die
Anwendimg der Maschinengewehre erspart. Versuchen wir an einem
kleinen Beispiel zu begreifen, um was es hier geht.
Man stelle sich die Jugend zwischen 18 und 25 Jahren in einem
kleinen Orte irgendwo auf der Welt vor. Sie ist vereinsamt, ohne kul-
turelle und materielle Versorgung, in ihren natürlichen biologischen
Bedürfnissen unbefriedigt, nach Geschlechtern getrennt, von der Ar-
beit angeödet, im Ellernhause ungeheuer unterdrückt. Sie steht an
den Ecken und Strassen herum, ergeht sich in dummen Witzen und
in einer völlig widernatürlichen Art sexuellen Interesses. Sehnsucht
nach »dem grossen Erlebnis« muss zu einem zentralen Bestandteil
ihrer Struktur werden. Wir vergessen nicht, dass diese Sehnsucht
einen festen Boden in dem früher beschriebenen Verlangen nach Aus-
lösung von der Triebspannung findet. Wir durchleben jetzt Zeiten,
in denen sich die Ungeheuerlichkeit dieser Erscheinungen unzwei-
deutig darbietet. Der Krieg steht vor der Tür; alle fürchten ihn; alle
sprechen davon, doch alle haben den Eindruck, dass man dagegen
nichts unternehmen könnte; sie sind überzeugt, dass er wie ein
Fatum kommen muss und man ihm nicht entweichen kann. Es darf
ohne weiteres behauptet werden, dass die Angst vor dem Sterben,
Verstümmcltwerden etc., gewiss mächtig seiner biologischen Natur
nach, restlos übertönt wird von den Formen der Verödung des Lebens,
der Vereinsamung in geschlechtlicher Hinsicht und der daraus ent-
springenden Sehnsucht nach dem »grossen Erleben«. Italien bewies,
welche Kriegsbegeisterung dieser Sehnsucht entspringen kann. Es ist
völlig sinnlos, derartigen Tatbeständen allein mit dem Versuche zu
begegnen, Proklamationen gegen den Krieg zu erlassen. Die Ergebnisse
zeigen, dass die breiten Massen mehr oder minder nationalistisch ein-
gestellt sind, und von der trockenen Antikriegspropaganda nicht auf-
145
Wilhelm Reich
gerüttelt werden. Es kommt nicht darauf an, seine Antikriegsge-
sinnung zu bekunden, sondern im lebendigen Leben der Menschen
diejenigen Kräfte zu entbinden, die ihrem Wesen nach geeignet
wären, die vernichtende Rolle der unerfüllten vegetativen Sehnsucht
auszuschalten.
Betrachten wir kurz ein anderes Beispiel aus der Pathologie. Welch
grosse Rolle spielt doch der Alkoholgenuss im Leben der unterdrück-
ten Massen. Die Funktion des Alkohols im heutigen Leben der Gesell-
schaft enthüllt sich, wenn man die Voraussetzungen betrachtet, aus
denen der Mensch zum Alkoholgenuss getrieben wird. Ein wesent-
liches Stück der charakterlichen Panzerung besteht in der Erkaltung
des Ich-Gefühls und in einer panzerartig gefühlten Lähmung der peri-
pheren körperlichen Erregung. Der Alkohol erweitert die peripheren
Gefässe und löst dadurch vorübergehend die innere Spannung, ver-
setzt in eine gelöste Stimmung, lässt, wie man sagt, die Sorgen ver-
gessen. Wir leugnen nicht, dass dabei die Munderotik und Homo-
sexualität eine grosse Rolle spielen, doch wie unvergleichlich bedeut-
samer ist die Tatsache der seelischen Verödung und Erkaltung des
Massenmenschen, im Verhältnis zu den bisher akademisch erhobenen
Tatbeständen. Wir finden sie in keiner wissenschaftlichen Abhand-
lung gewürdigt.
Ein anderes Beispiel ist die Wirkung des Films. 98% aller heu-
tigen Filme sind Liebesfilme. Sie sind sämtlich nach folgendem
Schema angefertigt: Im ersten Teil locken sie im Zuschauer alle im
Leben unerfüllten Wünsche hervor und befriedigen sie illusionär
durch Darstellung auf der Leinwand. Erlebnisse ausserhalb der Ehe,
Liebesglück Unverheirateter, Verspottung des Spiessers etc. beherr-
schen den Beginn fast jedes Stückes. Doch ebenso wie jeder Liebes-
film mit Sexualbejahung beginnt, endet er mit der Verherrlichung
der sexual feindlichen Moral. Wir können an jedem Film ausnahmslos
feststellen, dass der Profitsinn die Lustsehnsucht der Menschen genau
begreift und auszubeuten versteht. Doch die Befriedigung darf keine
wirkliche sein. Lust- und Lebensverneinung, die Weckung von Schuld-
gefühl, die Darstellung von Strafen für genossene Lust beenden jede
derartige Handlung und vergraben das Problem wieder, das zunächst
aufgeworfen wurde — um viel Geld zu verdienen.
Wir dürfen sagen: Die Struktur der Menschen und ihre Wider-
sprüche passen zur Struktur der gesellschaftlichen Ideologie wie ein
Rad in das andere einer Maschine.
Der verselbständigte Staat reproduziert sich als Institution nicht
etwa hauptsächlich durch seine Gesetze, durch seine Polizei, durch
seine Bürokratie, sondern im wesentlichen dadurch, dass er sich in
der charakterlichen Struktur der breiten Masse der Bevölkerung eine
Basis schafft. Er schafft die politische Hilflosigkeit und das An-
lehnungsbedürfnis des durchschnittlichen Menschen mit Hilfe der
patriarchalischen Erziehung und der Sexualunterdrückung. Dieser
146
Charakter und Geseilschaft
durchschnittliche Mensch versteht von der grossen Politik überhaupt
nichts, er kennt nur sein kleines persönliches Leben und auch dieses
nur im geringsten Ausmass. Er benötigt Anlehnung, illusionäre Be-
friedigung, Hoffnung, nie erfüllte und erfüllbare Ideale, und dem ent-
spricht der heutige Staat in seinem Grundwesen. Die psychische
Struktur der Menschen und die politische ideologische Struktur des
Staates sind funktionell identisch.
Es ist demnach nicht so, dass das sogenannte Bewusstsein der
Menschen bloss eine Spiegelung der gesellschaftlichen Prozesse und
Tatbestände ist, sondern: Indem die Gesellschaft natürliche Triebe
unterdrückt, sie in asoziale Triebe verwandelt, die eine moralische
Bremsung notwendig machen etc., schafft sie eine charakterliche
Struktur, die ihr entspricht und in der sie sich verankern kann. Die
menschliche Charakterstruktur ist also Ergebnis der gesellschaft-
lichen Einwirkung und nicht umgekehrt die Gesellschaft das Besultat
der psychischen Struktur.
Es sind nicht natürliche, sondern im wesentlichen klassenmässige
Verhältnisse, die sich in der Struktur des Menschen verankern. Das
lässt sich an einer einfachen Tatsache demonstrieren:
Der deutsche Fabrikarbeiter steht seiner Struktur nach einem
französischen Industriearbeiter viel näher und ebenso der deutsche
Kapitalist dem französischen Kapitalisten, als der französische Ar-
beiter dem französischen Kapitalisten und der deutsche Arbeiter dem
deutschen Kapitalisten. Ich hatte das Glück, oder, wenn man will,
das Pech, in vielen verschiedenen Ländern Menschen charakterlich
zu durchforschen und zu finden, dass das, was sie natürlich unter-
scheidet, an Bedeutung und psychischem Wert restlos hinter dem ver-
schwindet, was sie strukturell gemeinsam haben. Wodurch unter-
scheidet sich denn den Lebensgesetzen nach ein weisses Baby von
einem schwarzen? Entwickeln und verändern sich nicht beide grund-
sätzlich in der gleichen Weise? Das, was beide an kindlicher Motorik,
kindlichem Denken, kindlicher Weltauffassung, kindlicher Sexualität
etc. gemeinsam haben, ist ungleich wichtiger und bedeutungsvoller als
das, was sie durch ihre spezifischen Kasseeigenschaften unterscheidet.
Nur solche Wissenschaftler, die den Anspruch auf diesen Namen
längst verwirkt haben, können es fertigbringen, derartige Tatbestände
nicht nur zu übersehen, sondern mit daran zu helfen, einem jeder
Vernunft spottenden, irrationalen Gedankengebäude die Vernichtung
des Lebens zu erleichtern.
Der heutige bürgerlich bzw. patriarchalisch erzogene Mensch be-
findet sich nun in einem ständigen und unter gewöhnlichen Umstän-
den unlösbaren Konflikt zwischen seiner psychischen Struktur und
seinem gesellschaftlichen Sein. Gelingt es therapeutisch, den Menschen
ihre natürliche Beziehung zu ihren Trieben, zu ihrem Ichgefühl, zu
ihrer Lust und zu ihrer Umgebung wiederzugeben, indem man zu-
nächst die Bremsung der natürlichen Lebenstriebe zerschlägt, dann
147
Wilhelm Reich
erübrigt sich automatisch die Notwendigkeit der moralischen Regu-
lierung. Dieser Tatbestand pflegt ebenso schwer verstanden zu werden
wie er einfach ist. Ein oft gebrauchtes Beispiel möge neuerdings der
Erläuterung dienen: Wenn man hungert, stellt sich automatisch der
Impuls zum Stehlen ein; wenn man stiehlt, droht der Kerker und
daher pflegt man den Stehlimpuls zu bremsen. Ist der Betreffende
satt geworden, dann fällt der Impuls zum Stehlen von vornherrein
weg; fehlt der Impuls, dann bedarf es auch keiner Bremsung. Es ist
leicht, dieses Beispiel auf die komplizierteren Verhältnisse der Sexuali-
tät zu übertragen. Wenn es gelingt, den natürlichen Sexualitätsan-
sprüchen wieder Geltung zu verschaffen und ihre Befriedigung zu
sichern, dann fällt der Antrieb zur Bildung asozialer Triebregungen
und mithin auch die Notwendigkeit der moralischen Bremsung weg.
Wer sexuell aus inneren oder äusseren Gründen unbefriedigt lebt,
leidet dauernd etwa an Vergewaltigungsphantasien, an perversen
Regungen etc.; erhält er die Fähigkeit der natürlichen Befriedigung,
dann verschwinden diese Impulse. Mit dem Verschwinden der patho-
logischen Impulse entfällt auch die Notwendigkeit ihrer moralischen
Bremsung. Derart lässt sich, zunächst nur individuell, der Gegensatz
von Trieb und Moral aufheben. Die moralische Regulierung wird
durch eine völlig andersartige Regelungsart des psychischen Organis-
mus ersetzt, die ich die sexualökonomische nenne. Hat man diese
Tatbestände einmal begriffen, dann reihen sie sich allen andern
Selbstverständlichkeiten an; doch es gibt dabei eine Schwierigkeit,
die nicht zu sehen und nicht zu überwinden viele der heutigen Wissen-
schaftler alle Mühe aufwenden: Schon in der Therapie des Einzelnen
stossen wir auf die Schranken, die die Gesellschaft dem Triebleben
setzt. Wenn Sie etwa ein Mädchen von 17 oder 18 Jahren, die an der
Unterdrückung ihrer Pubertätssexualität erkrankte, zum Bewusstsein
ihrer Notwendigkeiten bringen, dann gerät sie sofort in Konflikt mit
allem, was auf »gute Moral und Sitte« hält. Die wenigsten bilden sich
eine korrekle Vorstellung von den sozialen Schwierigkeiten, die einer
konsequenten charakterlichen Therapie heute im Wege stehen. Die
Perspektiven des Umbaus der psychischen Struktur vom moralischen
Regulierungsprinzip zum sexualökonomischen sind gross. Doch man
darf sich bezgl. ihrer Durchführung keinen Illusionen hingeben. Die
massenmässige Anwendung dieses Umbaus auf Grund einer konsc:
quenten lustbejahenden sexuellen Hygiene ist derzeit unmöglich. Das
ist leicht zu begreifen, denn es fehlt jede Voraussetzung dazu.
Ich habe darzustellen versucht, welche Bedeutung die heutige
charakterliche Struktur der Menschen für die heutige gesellschaftliche
Formation hat. Versucht man die Struktur der Menschen mit diesen
oder jenen Mitteln zu verändern, dann wehrt sich die Gesellschaft
mächtig. Sie wehrt sich wie ein Organismus, an dessen Lebensnerv
man greift. Es muss jedem aus seiner fachlichen Arbeit klar werden,
dass eine allgemeine Lösung der krankhaften menschlichen Wider-
148
Charakter und Gesellschaft
spüche die Lösung der heutigen gesellschaftlichen Widersprüche, d.h.
ihren Umbau zur ersten Voraussetzung hat.
Das Ineinandergreifen von Gesellschaftlichem und Charakter-
lichem reicht noch weiter. Die gesellschaftlichen Prozesse sind wider-
sprüchlich. Auf dem Gebiete der Wirtschaft steht Bremsendem, Kon-
servativem, Vorwärtstreibendes und Vorwärtswollendes gegenüber,
etwa den nationalen Zollgrenzen die Weltwirtschaft. Die kollektive
Betriebsarbeit ist gewiss ein grosser Fortschritt, doch die individuelle
Lebensweise und die individuelle Profitwirtschaft widersprechen ihr
in jedem Punkte. Man könnte beliebig fortfahren. In der Struktur
treffen wir ebenfalls Vorwärtslreibendes und Konservatives, Rück-
schrittliches. Dem Willen zum Kollektiv, zum lebendigen Leben, zum
Glück, zur unmittelbaren menschlichen Beziehung, zur freudvollen
produktiven Arbeit, stehen nicht nur die gesellschaftliche Struktur,
sondern auch im eigenen Innern die Angst vor dem Chaos, Gefühle
der Unfähigkeit, psychische Erstarrung, autoritäre Hörigkeit etc. ent-
gegen. Der Konservativismus in der Gesellschaft lebt im wesentlichen
von der Hemmung in den Menschen, lebt, wie etwa die Oxfordbewe-
gung und wie alles Mystische und Reaktionäre im Leben von der
vegetativen Energie, die sich auswirken will und nicht kann, darum
sich in widernatürlichen und lebensschädlichen Bahnen ergiesst und
lebensfeindlich ausgenützt wird. Im Gegensatz dazu steht das Prinzip
der sozialistischen Planwirtschaft, der wirtschaftlichen Ordnung, die
die Grundlage der vollen Lebensbejahung für die Masse darstellt.
Wenn ich den Sozialismus richtig verstanden habe, dann gehört zu
seinem Ziel die unmittelbare Beziehung der Menschen zueinander, die
Vermeidung der Abbiegung des Lebens, Förderung der natürlichen
Entfaltung der vegetativen Energie. Der gesellschaftliche Prozess
setzt nur den allgemeinen Naturprozess fort.
Die Masse der Menschen ist nicht nur »passiv«, nicht nur »dumm
und hörig«, sie pendeln in den schweren Widersprüchen zwischen
Lebensangst, Oberflächlichkeit, Scheindummheit, Kritiklosigkeit auf
der einen Seite und tiefem, wirklichen Verständnis der Lebensnot-
wendigkeiten auf der anderen. Jeder heutige Mensch trägt diese Dop-
pelnatur in sich, und die sozialistische Bewegung kann keine wich-
tigere Aufgabe haben als die positiven Seiten dieses Widerspruchs, als
Lebensnotwendigkeit bewusst zu machen und zur Entfaltung ' zu
bringen.
In diesem Zusammenhange möchte ich abschliessend einige Worte
über die Aufgabe der Naturwissenschaftler sagen. Wir verdanken
Marx eine sehr einfache Erklärung des Begriffs »radikal«. Radikal-
Sein bedeutet nichts anderes als die Dinge »an der Wurzel fassen«.
Dies ist die Aufgabe der Naturwissenschaftler. Jede Wissenschaft ist,
sofern sie sich ernst nimmt und ihre Aufgabe erfüllt, an sich radikal.
Streng genommen gibt es gar keine reaktionären Wissenschaften. Das,
was sich da Wissenschaft nennt und gleichzeitig im reaktionären
149
Unser Glückwunsch an Freud
Dienste stellt, entpuppt sich bei genauer Betrachtung als Nicht-
Wissenschaft, als Geisllosigkcil, Mystik, als Aberglaube. Vom Wissen-
schaftler und von der Wissenschaft sollte garnicht verlangt werden,
dass sie irgendwelche politischen Bekenntnisse ablegen; doch sie müs-
sen sich zum Radikalsein bekennen und den Dingen wir/dich auf den
Grund gehen. Die sozialistische Weltanschauung ist die wissenschaft-
liche Weltanschauung. Betreibt man die Wissenschaft korrekt und
konsequent, dann befindet man sich, ob man will oder nicht, ob man
es weiss oder nicht, mitten im Strom der internationalen revolutio-
nären Bewegung. Die Behinderung der wissenschaftlichen Arbeit von
heute ist ungeheuerlich. Die heutige Zeil ist spezifisch gekennzeichnet
durch Mystik, Hörigkeit und Blindheit in der breiten Masse der Be-
völkerung. Die Wissenschaft ist in grosser Gefahr, hunderte von For-
schern mussten Deutschland verlassen, weil sie Naturwissenschaftler
sind. Die wenigsten hatten etwas mit der sozialistischen Bewegung
zu tun, doch sie waren Naturwissenschaftler. Wenn Wissenschaftler
auf der Flucht sind und dem irrationalen Denken und Handeln nicht
mit Erkenntnis und Tat Einhalt geboten wird, dann werden sich sehr
bald noch mehr auf die Flucht begeben. Vorsichtig sein nützt nichts.
Es zeigte sich, dass auch solche in die Flucht gejagt wurden, die die
Konsequenzen ihrer Ansichten nicht zu Ende zu denken wagten. Dann
doch lieber konsequent sein. Die. absolute Unbekümmertheit und die
strikte Weigerung, sich von irgendwoher Schranken in der Forschung
auferlegen zu lassen, ist die einzig korrekte sozialistische Aufgabe, die
der Naturwissenschaftler zu erfüllen hat.
Der Krieg, der vor der Tür steht, wird unendlich viel umbauen und
heule unvorstellbare Umwälzungen zustande bringen. Wir können als
Wissenschaftler derzeit nichts Besseres tun, als alles für die Zeit vor-
zubereiten, wo der grosse Umbruch kommt. Soviele bemühen sich
darum, immer bessere und treffsichere Todesstrahlen zu erfinden;
hoffen wir, dass die Ereignisse es zustandebringen werden, die Wissen-
schaftler zu bewegen, endlich nach den Lebensstrahlen zu suchen.
Wir müssen parat und gerüstet sein, wenn eine rationelle Ordnung
des Lebens uns anfordern sollte, wenn alle, die arbeiten und ihr
Leben selbst bestimmen werden, uns benöligen.
Unser Glückwunsch an Freud
Wenn diese Zeilen die öffentlichkeit erreichen, wird der Lärm der
Feiern verklungen sein und die Gratulanten werden auf den neun-
zigsten und — wir hoffen es mit ihnen — den hundertsten Geburls-
tag Sigmund Freuds warten, um diesem Manne neuerdings ihre Ehr-
erbietung zu bekunden. Es werden wie diesmal viele Artikel er-
scheinen, die die Daten der »Geschichte der Psychoanalyse« aus der
150
Unser Glückwunsch an Freud
»Selbstdarstellung« Freuds sammeln und der breiten Öffentlichkeit
vorlegen werden. Andere werden wie diesmal die Hauptgedanken der
Freudschen Lehre darlegen und mit mehr oder weniger Überzeugung
von ihrem revolutionären Charakter sprechen. Dies ist erfreulich und
notwendig.
Uns musslen diese Feiern Anlass zu sehr ernsthaften Überlegungen
werden. So weit die Äusserungen der Well zugänglich waren, zeigte
sich mit unzweifelhafter Gewissheil, dass an keiner Stelle an das
Wesentliche des Problems »Freud und seine Umwelt« gerührt wurde.
Es ist noch nicht an der Zeit, in ausführlicher Weise darzustellen,
worin sich die Schicksalsgemeinschaft der Psychoanalyse von 1895
bis 1920 und der so jungen Sexualökonomie und der noch jüngeren
Scxpol-Bewegung ausdrückt. Doch der Anlass des achtzigsten Geburts-
tags Sigmund Freuds darf nicht vorübergehen, ohne korrekt aus-
gedeutet zu werden. Es ist unerlässlich, hervorzuheben, was eine ganze
Welt verschwieg.
Am sechsten Mai 1926 feierten die Mitglieder des Wiener psycho-
analytischen Kreises den 70. Geburtstag Freuds. Es gab viele Be-
teuerungen samt dazugehörigen Gratulanten, Blumen und Geschenken.
Sigmund Freud hielt eine kurze Ansprache an die anwesenden Schü-
ler, die unvergesslich bleiben wird; niemand wagte, sie der Welt mit-
zuteilen. Freud warnte. Man dürfte sich nicht täuschen lassen. Die
Lobpreisungen bewiesen garnichts. Die Welt hätte die Lehre nicht
akzeptiert. Sie stünde nach wie vor feindselig dazu. Einige Jahre vor-
her hatte Freud das Gleiche ausgedrückt, als er schrieb, die Well
akzeptierte hier und dort die Psychoanalyse, um sie zu zerstören.
Wir stellen uns voll und ganz auf den Standpunkt Freuds vom
6. Mai 1926. Eine Umschau in der Welt und ihren wichtigsten Institu-
tionen belehrt uns, dass es heute schlimmer aussieht als vor zehn
Jahren. Wir dürfen keinen Augenblick versäumen, auf der Hut zu
sein, denn das Schicksal, das ursprünglich der Psychoanalyse zuteil
wurde, bedroht unsere Arbeit in hundertfach verschärften Ausmassen.
Sich über dieses Schicksal ins klare zu kommen, ist die Voraussetzung
nicht nur der Bewahrung der historischen Gemeinschaft mit der
Lehre Freuds, sondern auch der eigenen korrekten Arbeit. Wir er-
leben momentan eine Periode tötlichen Schweigens der akademischen
und massgebenden Well. Doch es melden sich bereits Anzeichen einer
Methode wohlwollender Vernichtung. Die Sexualökonomie wird in
eine Reihe mit den Ablegern Jungs, Adlers, Stekels gestellt. Dummheit
und Kritiklosigkeit sind grenzenlos, ebenso wie Bösartigkeit. Wer die
Geschichte der psychoanalytischen Bewegung kennt, vermag auf den
ersten Blick den Unterschied zu sehen. Alle bisherigen Abzweigungen
von der Lehre Freuds kennzeichnen sich durch Verneinung der
Sexualität. Für Jung wurde die Libido ein verwaschener, nichtssagen-
der Allseelenbegriff, die beste Vorbereitung für die spätere Gleich-
schaltung im dritten Reich. Adler ersetzte die Sexualität durch den
151
Unser Glückwunsch an Freud
Willen zur Macht, Rank verleugnete die Existenz der kindlichen
Sexualität. Die Sexualökonomie dagegen knüpfte gerade an denjenigen
Kernelementen der Freudschen Lehre an, die ursprünglich die Wut
der Welt entfacht hatten. Sie entwickelte die Orgasmusthcoric, die sie
Vergehens dem psychoanalytischen Lehrgebäude als organisch dazu-
gehörig einzuverleiben versuchte. Sie präzisierte die Lehre von den
prägenitalen Sexualtrieben des Kindes, legte feste Fundamente für
eine Charakterlehre, die den Scxualprozess als deren Kernstück
voraussetzt. Die charakleranalytische Technik erfordert die volle
Anerkennung der Gesetze der sexuellen Ökonomie. Man könnte noch
reichlich mehr anfügen, um zu zeigen, weshalb die Lehre der Sexual-
ökonomie heute das alte Schicksal der Psychoanalyse zu spüren be-
kommt. Und sie muss, wenn sie sich ernst nehmen will, alles hin,
um die jüngsten Schicksale der Psychoanalyse, so laut die Welt auch
Begeisterung vortäuschen mag, zu vermeiden.
Es gibt heute keine offizielle Institution der Welt, sei es auf dem
Gebiete der Pädagogik, der Psychiatrie etc., die sich Freuds um-
stürzende Anschauungen ernsthaft zu eigen gemacht hätte. An
welcher Irrenanstalt wird in systematischer Weise die Verursachung
von Geisteskrankheiten durch die Schädigung des frühkindlichen
Sexuallebens durchforscht? An welcher Stelle akademischer Natur
wird der reiche Schatz analytischen Wissens, analytischer Forschung
gepflegt, in seiner unendlichen Überlegenheit anerkannt? An welcher
Stelle hat sich die umstürzende Erkenntnis Freuds konkret aus-
gewirkt? Wer würde es zuwegebringen, auf der einen Seite seiner
Überzeugung von der Grösse des Freudschen Werkes laut Ausdruck
zu geben und sich dann mit der tröstenden Auskunft zu begnügen, dass
ja Analytiker an Universitäten berufen sind und dort lehren? Nie-
mand würde sich ein derartiges Armutszeugnis ausstellen. Wer glaubt,
dass in einem Amerika von heute korrekte Sexualtheorie gelehrt
werden darf?
Wie sieht es in der psychoanalytischen Bewegung selbst aus?
Die englische Schule ist ein sektiererischer, weltabgewandtcr, jedes
Kontaktes mit dem lebendigen Leben barer Kreis. Die Berliner deut-
sche Vereinigung versuchte die Gleichschaltung und ging kaputt. Sie
steht vor der Auflösung. Die ungarische Gruppe besteht nach den Be-
richten fast nur mehr aus Hausanalytikern reicher Leute, die weder
eine wissenschaftliche Entwicklung aufweisen, noch eine ernste Per-
spektive haben. Die Wiener Vereinigung steht unter dem Drucke der
politischen Reaktion und wird von einigen wissenschaftlich nicht
ernstzunehmenden Todeslriebtheoretikern beherrscht. Die französische
Gruppe sieht trostlos aus. Hat die sozialistische Bewegung die Psycho-
analyse akzeptiert? Hier und dort in Worten, weil Freud von der
politischen Reaktion gegen seinen Willen notabene ins Lager des
Kulturbolschewismus versetzt wurde. In der Sowjetunion ist die
Psychoanalyse seit Jahren ohne jede Entwicklung. Es gab so viel
152
Unser Glückwunsch an Freud
Gerede über die Bedeutung Freuds für die Arbeiterbewegung. An
welcher Stelle, fragen wir, ist diese Bedeutung sozialistische Praxis
geworden? Nirgends! Sozialisten empfehlen die Literatur reaktionärer
Analytiker der Arbeiterschaft als Leitfaden »sozialistischer Psycho-
logie«, wie etwa einen Artikel des Beaktionärs Boheim in einer ungari-
schen sozialistischen Zeitschrift. Bevolutionäre Sozialisten publizieren
Artikel zu Freuds Geburtstag, verraten aber komplette Unwissenheit
über den heissen Kampf, der seit zehn Jahren innerhalb der analyti-
schen Bewegung um die Problematik: Arbeiterbewegung und Psy-
chologie geführt wurde.
Im Lehrgebäude Freuds gibt es sehr verschiedenartige Fest-
stellungen. Neben der Lehre von der frühkindlichen Sexualität die
vom »Primärvorgang« im Unbewussten; neben der Lehre von der
Triebverdrängung die vom Todestrieb; neben der Aussage über die
Determiniertheit des psychischen Geschehens die über die »kulturelle
Triebverdrängung« etc. etc. Die Welt schreit nach Klarheit. Es gibt
Aussagen, die wir nie mehr entbehren können, andere, die nebensäch-
lich sind, schliesslich solche, die verwirren. Man möchte meinen, dass
eine wissenschaftliche Vereinigung, die die weltgeschichtliche Be-
deutung def Psychoanalyse so sehr beteuert, sich der schlagkräftigen,
zukunftssichernden Elemente der Lehre bemächtigt; das Gegenteil ist
der Fall. »Weg von der Hauptsache, wir lieben die Nebensache« ist
die unausgesprochene Parole. Sie wird am getreuesten von einigen
sich »Sozialisten« nennenden Psychoanalytikern befolgt; sie meiden
die »Hauptsache« wie die Pest, denn dann stünden sie unweigerlich
und augenblicklich mitten in dem Kampf, den wir führen und den
sie totschweigen. Sie tun alles, um klargestellte Fronten im Kultur-
kampf zu verwischen. Sie- sind gefährlich wie die Prediger der Klas-
senversöhnung. Sie usurpieren Lehrsätze und sabotieren deren Sinn.
Vor ihnen muss gewarnt werden!
Der Niedergang der psychoanalytischen Bewegung, ihre Anpassung
an die herrschenden Seinsverhältnisse und demzufolge die Sterilität
ihrer heutigen Fragestellungen sollen nicht Anlass persönlichen Vor-
wurfs sein. Wir haben es gelernt, die Abhängigkeit der Wissenschaft
und ihrer Entwicklung von den politischen Prozessen zu beachten.
Wir bekannten uns daher zur politisch bewussten Wissenschaft. Wir
dürfen sagen, dass wir die umwälzenden Erkenntnisse der Lehre
Freuds in sichere Obhut genommen haben. Das verpflichtet, sich
Kechenschaft über die aktuelle Situation und die Möglichkeiten zu
geben, die den weiteren Verlauf unserer Arbeit bestimmen werden.
Die allgemeine weltpolitische Situation, in der wir mit einer allen
heutigen Institutionen und offiziellen Anschauungen widersprechen-
den Sexualitätstheorie arbeiten, verspricht Schlimmes. Diese Welt
kann die Früchte unserer Arbeit weder anerkennen noch ausnützen.
Haben doch gerade wir nachweisen können, welchen Nutzen die poli-
tische Reaktion aus dem irrationalen Fühlen und Denken der Masse,
153
Unser Glückwunsch an Freud
ihrer Glückssehnsucht und gleichzeitigen Sexualscheu zieht. Die
verschiedenen sozialistischen Parteien sind teils in altem ökonomisti-
schem Denken befangen, teils derart mit den ungeheuren Problemen
der Jetztzeit beschäftigt, dass sie gar nicht die Möglichkeit haben, uns
anders als zunächst noch staunend oder abweisend gegenüberzutreten.
Dennoch ist manches in diesen schweren Jahren erreicht worden.
Doch das Erreichte ist weit entfernt von dem, was zur praktischen
Durchführung unserer Aufgaben unerlässlich ist. Neben diesen gesell-
schaftlichen Schwierigkeiten verdient wohl die Behinderung der Ar-
beit durch unsere eigene Struktur die allcrgrösste Aufmerksamkeit.
Unsere psychologische Kritik Freuds setzte mit der klinischen
Feststellung ein, dass das unbewusste Inferno des Menschen nichts
Absolutes, Ewiges, Unvergängliches ist; dass eine bestimmte gesell-
schaftliche Situation und Entwicklung die heutige unbewusste Struk-
tur der Menschen erzeugt hat und sich durch sie erhält. Wir erkannten
die Berechtigung der Angst vor dem »sexuellen Chaos«, doch wir be-
grenzten sie auf historische Perioden und überzeugten uns durch
unsere therapeutische Arbeit, dass es eine andere Art der Regelung
menschlichen Zusammenseins geben kann. Wir haben uns nie der
Illusion hingegeben, dass das Böse im Menschen von heute- auf morgen
zu verändern wäre. Wir gaben uns Rechenschaft über die ungeheuren
Schwierigkeiten, die eine politische Psychologie zu gewärtigen hat,
wenn sie sich vornimmt, die Umwälzung der menschlichen Struktur
durchzusetzen. Wir selbst, die wir uns derartige Ziele gesetzt haben,
sind nur allzusehr den Schwächen unserer Struktur unterworfen. Wir
haben es nicht leicht, mit ihr fertig zu werden, um besser gerüstet
zu sein, den Wirkungen des Irrationalen unserer Mitmenschen korrekt
zu begegnen.
Die Psychoanalyse ist eine Wissenschaft, die einmal an den Quellen
des Lebens arbeitete. Dass sie sich ihrer politischen Natur nicht be-
wusst wurde, trug ganz wesentlich zur Katastrophe bei. Daraus zogen
wir den korrekten Schluss: Eine Wissenschaft, die das lebendige
Leben selbst zum Gegenstand ihrer Forschung hat, muss in einer
reaktionären Umwelt sich entweder unterwerfen und sich selbst un-
treu werden, oder aber sie muss sich organisieren, d. h. sich die Or-
gane schaffen, die sie in der Zukunft sichern.
Die marxistische Wirtschaftslehre organisierte sich politisch. Auf
dem Gebiete der politischen Ökonomie weckt die politische Organisie-
rung der Wissenschaft kein Erstaunen. Anders auf anderen Gebieten.
Hier hat die Illusion von der unpolitischen Wissenschaft der Klarheit
viel geschadet. Die Wissenschaft vom Geschlechtsleben der Menschen
ist an sich politisch, ob sie will oder nicht, daher muss sie die Kon-
sequenz ziehen und sich zu ihrer politischen Natur bekennen. Aus
dem politischen Bekenntnis folgt die Notwendigkeit der Organisation.
Der Schatz an Erkenntnissen wird nicht mehr irgendwelchen Stadien
gesellschaftlicher Entwicklung ausgesetzt, sondern eingereiht in die-
154
Unser Glückwunsch an Freud
jenige politische Bewegung, die sich die Durchführung der wissen-
schaftlichen, rationalen Lenkung der Gesellschaft zum Ziele setzte.
Man mag das Wuchern des irrationalen Denkens innerhalb der so-
zialistischen Bewegung mit Sorge verfolgen, es steht ausser Frage,
dass die naturwissenschaftliche Psychologie und die korrekte Sexual-
wissenschaft ihren Platz einzig in dieser Bewegung haben. Daran wird
niemand zweifeln, der die Entwicklung des Mystizismus in Deutsch-
land und seinen Einfluss auf die naturwissenschaftliche Forschung
verfolgt hat. Wir können heute nicht wissen, in welchen Formen, sich
die Organisierung unserer wissenschaftlichen Arbeit in der breiten
Masse der Bevölkerung vollziehen wird. Doch an der Notwendigkeit,
sich eine Massenbasis zu schaffen, ist nicht zu zweifeln. Das wird nicht
nur ein Schutz gegen reaktionäre Einflüsse von aussen her sein,
sondern auch uns selbst vor Kompromissen mit der feindlichen Um-
welt bewahren. Wenn man ohne sozialen und politischen Einfluss
dasteht, dann erweist sich die Umwelt als die stärkere Macht. Haben
jedoch die Menschen, auf die es ankommt, den Wert einer wissen-
schaftlichen Arbeit für ihr Sein und ihre Zukunft erfasst, dann er-
leichtern sie den Kampf und verringern den Zwang der feindlichen
Welt. Niemand kann seiner selbst sicher sein, natürlich auch wir
nicht. Wenn wir in einer Zeit, die günstig war, etwa die Notwendig-
keit des befriedigenden Liebesfebens in der Pubertät vertreten haben,
so könnte eine andere Zeit es zuwegebringen, uns von dieser Behaup-
tung zu trennen und sie vielleicht sogar in das Gegenteil zu verkehren.
Wenn aber eine genügend grosse Masse von Jugendlichen unsere
Lehre über die Pubertät in sich aufgenommen hat und für sie ein-
zutreten bereit ist, dann bleibt uns ein Rückzug erspart. Unsere
wissenschaftliche Arbeit wird ihrer Bestimmung zugeführt. Dieses
Beispiel genüge, um zu illustrieren, was gemeint ist.
Die soziale Verankerung unserer wissenschaftlichen Arbeit ver-
spricht noch einen anderen Gewinn. Freud ging von der Physiologie
aus und entdeckte die Natur des Psychischen. Unsere Kritik an der
Psychoanalyse setzte an den gesellschaftlichen Auffassungen Freuds
an. Indem wir die Beziehungen des Gesellschaftlichen zum Psychi-
schen konsequent aufdeckten und verfolgten, ergaben sich reichliche
Früchte auch für die klinische Arbeit. Es entstand eine grundlegend
neue Art, die Gesetze des geschlechtlichen Lebens zu studieren. Die
Orgasmuslehre führte mit innerer Logik wieder in die Physiologie
und Biologie. Wir können noch nicht absehen, welcher Natur die end-
gültigen Resultate dieser Forschung sein werden. Die Entwicklung ist
in vollem Flusse, die Ergebnisse sind ungewohnt, die biophysiologische
Unterbauung der Psychologie scheint zu gelingen. Wir dürfen schon
heute sagen, dass wir eine der wichtigsten Erwartungen Freuds sich
erfüllen sehen: Die Lehre vom Seelenleben wird voraussichtlich auf
ein festes biologisches Fundament gestellt werden können. Allerdings
in einer anderen Weise, als man es sich gewöhnlich vorgestellt hatte.
155
Sexpol- Bewegung
Derart tragen wir eine doppelte Verpflichtung. Der Bewahrung
und der praktischen Durchsetzung der revolutionären Errungen-
schaften Freuds fügt sich die Sicherung unserer eigenen sexual-
ökonomischen Forschung an. Wenn wir es zuwegebringen werden,
der Masse der arbeitenden, darbenden, glücksberaubten Menschen
verständlich zu machen, woran wir arbeiten, und weshalb wir so
schwer zu kämpfen haben, dann daran ist nicht zu zweifeln
wird sie auch einmal für uns eintreten, als gesellschaftliche Macht
unsere Arbeit vor äusseren und inneren Gefahren schützen und selbst
die Früchte der Naturwissenschaft vom lebendigen Leben einheimsen.
Mögen die Auseinandersetzungen zwischen der Psychoanalyse und
der Sexualökonomie noch so schwer, ja kränkend gewesen sein. Es
wird nie den Grund bilden können, zu vergessen, was wir der Lebens-
arbeit Freuds verdanken. Denn niemand weiss besser als wir. niemand
erfährt schmerzlicher als wir, weshalb die Welt Freud seinerzeit ver-
dammte und heute der kämpferischen Wirklichkeit entrückt.
. Wilhelm Reich.
Sexpol-Beviegung
Die Sexpol in der internationalen Diskussion
Vorbemerkung: Diese Übersicht erhebt nicht Anspruch auf Vollständigkeit.
Leser und Freunde der Zeitschrift werden gebeten, liier nicht erwähnte Be-
sprechungen und Beurteilungen an uns einzusenden; falls sie nicht auf deutsch,
französisch, englisch oder skandinavisch abgefasst sind, womöglich mit beige-
fügter Übersetzung in eine dieser Sprachen. — Wir gebrauchen im Folgenden als
Abkürzungen: Mp. — Massenpsychologie des Faschismus, E. — Der Einbruch der
Sexualmoral, Sk. — Der sexuelle Kampf der Jugend, Char. - Charakteranalyse,
Kb. — ■ Was ist Klassenbewusstscin?, Dm. — Dialektischer Materialismus und
Psychoanalyse, Z. — Zeitschrift für politische Psychologie und Sexualökonomie,
Rkr. — Religion, Kirche, Rcligionsstrcit in Deutschland.
Tschechoslowakei. In der Neuen Weltbühne vom 7./XII. 191};} schrieb Ludwig
.Markuse eine recht zwiespältige Besprechung der Mp. Fr anerkennt den Wert
ihrer Fragestellung und empfiehlt die Lektüre, lehnt es aber ab, gewisse religiöse
und moralische Erscheinungen sexualpsyehologiscb aufzulösen, will sie vielmehr
als letzte Gegebenheiten hinnehmen.
Das Internationale ärztliche Bulletin (März/April 1934) hat in seiner Be-
sprechung der Mp. durch Heinrich Lind nicht diese Bedenken, zeigt jedoch bei
im ganzen positiver Stellungnahme Misstrauen gegen die sexualpolitischen Kon-
sequenzen. Positiv äussert sich auch »Freier Gedanke« (1. Juli 1934), allerdings
mit der typischer Weise ohne Begründung gegebenen Reserve: »Manches ist über-
spitzt, man kann nicht mit allem einverstanden sein.«
Dass der parteikommunistische »Gegenangriff«, nachdem ihm aus Versehen
ein freundlicher Hinweis auf die Mp. durchgerutscht war, am 7./I. 1934 (nach
Reichs Ausschluss aus der KPD) gegen die »abgedroschenen freudistischen
Phrasen« loszieht und über die »schrankenlose sexuelle Freiheit«, die in der Mp.
vertreten werde, ebenso entsetzt ist, wie über die Anerkennung des Mittelstandes
als eines zeitweilig selbständigen geschichtlichen Faktors, war nicht anders zu
erwarten.
In der Folge wurde in der C. S. R. erst wieder im Jahre 193(1 in der Februar-
numincr von »Liebe und Leben« unsere Literatur — diesmal Rkr. — sehr aner-
kennend besprochen.
156
Sexpol-Bewegung
Dänemark. Die dänische Diskussion begann bereits vor Reichs Übersiedlung
nach Kopenhagen mit einem kurzen, ausserordentlich empfehlenden Hinweis auf
»Sexualerregung und Sexualbefriedigung« von Reich in »Vi Gymnasiaster« (Wir
Gymnasiasten) vom Dezember 1932. Als Auftakt zu den Vorträgen, die Reich im
Februar 1933 In Kopenhagen hielt, schrieb Martin Ellehaugc einen aufsehen-
weckenden Artikel in der Februarnummer von »Studcnterbladet« unter der Über-
schrift »Moral og Yidenskab« (Moral und Wissenschaft), der an Hand von E.
und anderen Reich Sehen Schriften für unsere Gedanken eintritt.
Der Umsturz in Deutschland führte zur Übersiedlung sowohl von Reich als
auch des Sex-Polverlages nach Kopenhagen. Die Mp., die Oktober 1933 erschien,
hatte Reichs Ausschluss aus der KPD zur Folge, wie »Arbejderbladet«, das dänische
Parteiorgan, am 21./XI. 1933 schrieb »wegen parteifeindlichen und unkommunisti-
seben Verhaltens in einer Reihe von Fällen, wegen Herausgahe eines Buchs mit
konterrevolutionärem Inhalt « etc. In Arbc.jderbladcts Chronik vom l./XII.
1933 erschien dann eine ausführliche Stellungnahme zur Mp.. die versucht, diese
Behauptungen zu begründen. Doch nach Art solcher Stellungnahmen wird gar
nicht sachlich auf den Inhalt des Buchs eingegangen. Man hetzt bloss, indem
man mit aus dem Zusammenhang gerissenen Stellen sexualpsychologischen und
parteikritischen Inhalts auf Traditionsgebundenbeit und Sexualscheu des Durch-
schnittslesers spekuliert.
Einige Monate vorher hatte die kommunistische Zeitschrift »Plan« einen alten
Artikel von Reich aus der »Zeitschrift für psychoanalytische Pädagogik« aus dem
Jahre 1927 betitelt »Wohin führt die Nacktkultur?«, in einer allerdings sehr
schlechten Obersetzung abgedruckt. Dies führte zur Anklage und Verurteilung
des Redakteurs wegen Pornographie.
Doch es fehlte auch nicht an anerkennenden Besprechungen der Mp. in Däne-
mark — so in der damals noch der KPO nahestehenden Zeitschrift »Frem« (Dez.
1933). ferner in »Politiken« vom 15./II1. 1934 (durch Georg Gretorl.
Eine dänische Übersetzung eines Auszugs aus »Sexualerregung und Sexual-
befriedigung« sowie aus Sk. wurde unter dem Titel »Seksucl viden og kamp«
(Sexuelles Wissen und Kampf) in der Schriftenreihe der sozialistischen Mediciner
Anf. 1933 herausgegeben und zu tausend en vertrieben.
Deutschland. Hier haben wir die eigenartige Tatsache festzustellen, dass die
wissenschaftlichen Rezensionsorgaiie unsern fachliehen Publikationen durchaus
nicht völlig verschlossen sind.
Im »Zentralblatt für die gesamte Neurologie und Psychiatrie« 1934 bespricht
Göring (der Bruder des Ministers und bekannter nationalsozialistischer Psycho-
therapeut) die Charakteranalyse und findet dabei die bezeichnenden Sätze:
»Er (Reich) glaubt, dass das gesellschaftliehe System der Zeit vor der
nationalsozialistischen Revolution — denn in dieser Zeit ist das Buch ge-
schrieben - — nicht die Voraussetzungen in sich trage, um die Neurosenpro-
phylaxe durchzuführen, dass erst eine grundsätzliche Umstülpung der ge-
sellschaftlichen Institutionen und Ideologien, die von dem Ausgang der poli-
tischen Kämpfe unseres Jahrhunderts abhänge, die Voraussetzungen einer
umfassenden Neurosenprophylaxe schaffen werde. Die Umstülpung hat mit
einer gewaltigen Intensität begonnen, aber sicherlich nicht in der Form, die
der Verfasser sich gedacht hatte, sondern in entgegengesetzter. Das neue
Deutschland wehrt sich dagegen, dem sexuellen Triebleben die überragende
Bedeutung zuzugeben, die es von Freud und seinen Schülern erhalten hat.«
»Buch und Leben« (1935, H. 4/5) beklagt sich in einer Besprechung von E.
darüber, dass »der Verfasser ... jede Bedeutung individueller Rassewerte verkennt,
wenn er uns die Vorteile primitiver Trobriandcrerziehung empfiehlt.« Hingegen
bringt das oben genannte Zentralblatt (1935, Bd. 77/H. 1) ein sehr sachliches
Referat von »Psychischer Kontakt und vegetative Strömung« aus der Feder Grot-
jalins, ferner »Mitteilungen zur Geschichte der Medizin und Naturwissenschaften«
(1935,' Bd. 34/H. 3) ein ebensolches über K. von Buschan.
Frankreich, a) Emigrantenpresse. »Unser Wort« (Trotzkisten) vom Jan. 1934
und »Die neue Front« vom Fcb. 1934 widmen der Mp. beide kurze, sachlich
zurückhaltende Besprechungen, die jedoch den Wert der Anregungen und Pro-
bleme, die sie zur Diskussion stellt, anerkennen. Die Trotzkisten allerdings schei-
nen ihre Meinung inzwischen geändert zu haben. Es erfolgte einmal ein hämi-
scher Ausfall auf die Sexualpolitik (ohne Nennung unseres Namens) und im
157
• .4
Sexpol-Bewegung
März 1936 brachte »Unser Wort« eine völlig ablehnende und verständnislose
Kritik von Rkr., die auch scharfe Ausfälle gegen die Sexualökonomic überhaupt
enthielt.
Ein positiver Hinweis auf Sk. und Z. findet sich hingegen im »Pariser Tage-
blatt« vom 5./VIII. 1934 (unter dem Titel »Sexualprobleme«), ein ebensolcher
auf die Mp. im »Freidenker« (Strasbourg) Nr. 7 vom Sept. 1934.
b) französische Presse. In der freien sozialistischen Zeitschrift »Les
primaires« (Dez. 1934) setzt sich Simone Kahn in ausserordentlich positiver
Weise für unsere Gedanken ein und gibt im Zusammenhang damit ein ausführ-
liches Referat der Mp. Die anarchistische Zeitschrift »L'en dehors« bringt kurze
Hinweise: Februar 1935 auf E., dem in etwas unklarer Weise Mangel an ge-
nügenden Beweisen für die behauptete Sexualordnung der im Matriarchat lebenden
Primitiven vorgeworfen wird; ferner Oktober 1935 auf »La crise sexuelle«, der
im Verlag der Editions sociales internationales erschienenen Übersetzung von
»Geschlechtsreife, Enthaltsamkeit, Fhemorak und Dm.
»Le probleme sexuel«, eine ursprünglich der Weltliga nahestehende, an sich
gut redigierte Zeitschrift bringt in H. 5 (1935) eine völlig törichte Besprechung
von Dm. — offenbar aus der Feder eines kommunistischen Partcidogmatikers,
nach der sich »Reich augenblicklich im konterrevolutionären Lager zu befinden
scheint.« (Vgl. Stellungnahme dazu in Z. Nr. 7).
Holland ist wohl das Land, in dem unsere Literatur am eingehendsten öffent-
lich diskutiert wurde.
a) Sozialistische und verwandte Presse. Abgesehen von einem freundlichen
Hinweis auf die Z. in »Die Sammlung« (deutsche Emigrantenzeitschrift, August
1934) findet sich eine sehr ausführliche Diskussion von Z., Mp., Kb., E. und Dm.
in der Februar-, April-, Mai-, Juni-, Juli- und Oktobernummer der Zeitschrift
»Bevrijding« (Befreiung, vgl. Stellungnahme in Z. 8/9).
Eine interessante Diskussion bringt auch »De Vrijdenker« (der Freidenker).
Hier greift am 24.A7IIL 1935 Sal Tas die Sex-Pol als lumpenproletarische Schule
an, die ihre Politik auf unbewiesene Hypothesen gründen wolle. In einem spätem
Heft erwidert Jef Last. Er warnt vor Unterschälzung der Sexualität als politi-
schem Faktor, vertritt aber im Gegensatz zu uns die Auffassung, dass Sexualität
und Arbeit in einem naturgegebenen Widerspruch zu einander stehen, dass der
Sozialismus zwar nicht die bürgerliche Sexualmoral anerkennen könne, aber mit
einem neuen Arbeitsethos auch eine neue Sexualmoral schaffen werde.
»Fundament« (1935, Jahrg. 2, Nr. 10) bringt eine ausführliche, anerkennende
Besprechung von Mp., Kb., Dm. von W. Jochems.
Ablehnend verhielt sich im ganzen gesehen die Zeitschrift »De nieuwe Kern«.
In der Septemhernr. 1935 greift de Kadt Dm. von einem Standpunkt aus an, der
die Dialektik überhaupt als theologischen Hokus Pokus verwirft. In der Oktobernr. -
des gleichen Jahrgangs richtet Josine Content eine Reihe sachlich wenig begrün-
deter Angriffe auf uns (Wir idealisierten den Arbeiter, die Sexualunterdrückung
spiele heutzutage im Gegensatz zu früher überhaupt keine so wichtige Rolle mehr
etc.). Auf der andern Seite lässt man auf anerkennenswert sachliche Weise auch
die Sex-Pol selbst zu Worte kommen. Im Dezemberheft wird Reichs Artikel über
das Arbeitsgebiet der Sexualökonomie (aus Z. Bd. 2/H. 1) abgedruckt. Im Maiheft
1936 nimmt Sal Tas zum Kirchenstreit in Deutschland Stellung, geht dabei auch
mit einigen negativen Bemerkungen auf Rkr. ein.
Die pazifistische Zeitschrift »De Wapcns neder« bringt ein kurzes Referat
von Rkr., ferner einen Abdruck des Kriegsfilmartikels von Jonny aus Z. Bd. 2/1
(Mai 1936).
b) Die bürgerliche Presse hat uns gleichfalls mehrmals erwähnt. Nieuwe
Rotterdamschc Courant bringt am 24./I. 1935 einen kurzen, rein referierenden
Hinweis auf E., am 10./II. 1936 ein ausführliches Referat (ohne Stellungnahme)
von Rkr.
Indien. Im Organ der indischen Birthconlrol-Bewegung »Marriage Hygiene«
(Bombay) erschien 1934 (S. 281 ff.) eine Arbeit von J. H. Leunbach über »The
significance of marriage« (die Bedeutung der Ehe), die ganz auf dem Boden der
Sexualökonomie steht. In der gleichen Zeitschrift (1935, Vol. IL Nr. 2, S. 219)
empfiehlt Christoph Tietzc warm die Z. und verweist besonders auf Reichs Ar-
tikel über das Arbeitsgebiet der Sexualökonomic in Bd. 2/H. 1.
Norwegen. Hier fand die Sexualökonomie einen warmen Fürsprecher in
Ingjald Nissen, der sich in seinen Besprechungen in »Arbeiderbladet«, Oslo, dem
158
Sexpol-Bewegung
Organ der norwegischen Arbeiterpartei, für unsere Schriften einsetzte. Vgl.
20./X. 1934 (Char.), Herbst 1934 (Mp.). 12./III. 1935 (E.), 19./III. 1936 (Rkr.).
In der bürgerlich radikalen Zeitschrift »Fritt Ord« (freies Wort) tritt Sigurd
Hoel unter dem Titel »Du skal ikke« für die Mp. ein; der Artikel ist ein Muster
an klarer, populärer Einführung in unsere Gedanken für ein nicht fachlich oder
politisch vorgeschultes Publikum.
In ihrer Ausgabe vom 17./V. 1936 bringt »Mot Dag« (dem Tage entgegen),
das Organ einer einflussreichen marxistischen Intellektuellengruppe einen Artikel
»Hvem regerer Tyskland?« (wer regiert Deutschland?) von Hanns Vogt, der dort
u. a. mit ausdrücklicher und positiver Berufung auf Mp. die sexualpsychologi-
schen Wurzeln der nationalsozialistischen Ideologie behandelt; dies ist umso
bemerkenswerter, als Mot Dag der Sex-Pol bisher ablehnend gegenüber gestanden
hattc- , -
Ebenso druckt die der Arbeiterpartei nahestehende Zeitschrift »Kamp og
Kultur« (Kampf und Kultur) in ihrem Aprilheft 1936 unter dem Titel »Seksualitet
-og Kultur« das Kulturprogramm der Sex-Pol (aus H. 8/9 der Z.) ab. Dies hatte
einen wütenden Angriff von Digenes im kommunistischen Parteiorgan »Arbei-
deren« vom 22. u. 25. Mai zur Folge. Die Unfähigkeit, zwischen subjektivem Oe-
halt und objektiver Funktion einer Ideologie zu unterscheiden, führt zu — offen-
bar gewollt bösartigen — Missverständnissen. So bringt ihn z. B. die Tatsache,
dass wir die psychische Realität der Religion nicht leugnen, sondern in ihr oft
sogar verstellte Lebensbejahung entdecken, zur Auffassung, wir verteidigten die
Religion.
Doch auch die faschistische Presse hat zu unserer Arbeit nicht geschwiegen.
Reichs Vorlesungen an der Osloer Universität über »Trieb- und Charakterlehre«
(Winter 1934/35) hatten einen Angriff in »ABC«, der Zeitschrift der faschistischen
»Federlandslag« (Vaterländische Vereinigung) zur Folge, der in »Arbeidcrbladet«
eine entsprechende Zurückweisung erhielt. Doch seither werden die Faschisten
nicht müde, Reich — neben Trotzki und Hodann — als den »ausländischen Juden
und Sexualmarxisten« ab und zu besonders in der Tageszeitung der norwegischen
Hitlcrsektion »Fritt Folk« (freies Volk) ein paar freundliche Worte zu widmen.
Schweiz. Die erste Erwähnung, allerdings in Form eines ziemlich neutralen
Referats, bringt die nach dem Hitlerumsturz von Frankfurt nach Genf über-
siedelte »Zeitschrift für Sozialforschung« (Mp. u. Char. bespr. in Jahrg. 1934 H. 1
von Landauer).
Die Freidenkerpresse widmet uns mehrfach sehr freundliche Besprechungen:
Mp in »Freie Innerschweiz« vom 6./VI. 1934, Abdruck aus Mp. in »Freidenker«
vom 15./VL 1934. In einem Artikel »Die Kirche als sexualpolitisches Institut«
(Freidenker 15./XI. 1935) geht Hartwig von den Feststellungen der Mp. aus. Eine
eingehende 'und verständnisvolle Besprechung des gleichen Vf. über Rkr. erschien
in der gleichen Zeitschrift am 15./IV. 1936.
Die Fachpresse bringt eine anerkennende Besprechung der Char. von Bally
(Schweizer Archiv für Neurologie und Psychiatrie, Bd. 23, H. 1, 1934), der be-
sonders die technischen Gesichtspunkte hervorhebt. In einem Artikel über b. und
Mp in »Psyche« (Schweizer Monatsschrift für Psychologie, Heilpädagogik, Gra-
phologie) greift der Rezensent verständnisvoll die springenden Punkte heraus:
Den gesellschaftlich bedingten Widerspruch zwischen zur Heilung notwendiger
Genitalität und Moral (aus E.) und das Problem des unpolitischen Menschen
(aus Mp.); zu den von uns gegebenen Lösungen stellt er sich voll bejahend.
Die sozialistische Partcipressc hat von uns leider nur in einer kurzen, freund-
lichen Notiz über Kb. Notiz genommen (Arbeiterzeitung, Basel vom 29./XI. 1934).
Spanien. In »La Tierra« (16./IV. 1935) wird das hohe Niveau der Z. in einer
ausführlichen Besprechung gelobt, »Leviatan« (Madrid, Mai 1935) rezensiert die
Massenpsychologie ausführlich, macht jedoch Einwände vom individualpsycholo-
gischen Standpunkt (Vf. beide Male Augusto Salions).
Gründlich wird Mp. in der anarchistischen »Revista blanca« vom 8. u. 15./ AI.
1935 diskutiert (vgl. Stellungnahme in Z. 8/9).
Österreich. In »Psychotherapeutische Praxis« (März 1965) nimmt W. Mekel
zur Char Stellung. Er anerkennt ihren hohen Wert, wirft ihr jedoch Unkenntnis
der Traumdeutung vor. Im Januarheft 1936 greift Arthur Kronfeld in recht un-
sachlicher Weise »Psychischer Kontakt und vegetative Strömung« an: Reichs
Aggressionen machen Kooperation unmöglich, seine Genitalisierung der Glücks-
und Realitätsfähigkeit ist ein »gelatinöser Begriff«.
159
Sexpol-Bewegung
Die »Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse« und »Imago« sind nicht
lokal österreichische sondern internationale Organe. Trotzdem scheint uns ihre
Stellungnahme stark von den Auffassungen der Wiener Gruppe bestimmt — andere
Gruppen machen sich allerdings durch ihren Mangel an Protest für diese Stellung-
nahme mit verantwortlich. Im Rahmen dieser Übersicht können wir freilich
keine Auseinandersetzung mit den dort erschienenen Besprechungen geben sondern
bloss kurze Hinweise.
Die Besprechung von Char. in Intern. Zeitschr. (1934/3) beginnt mit. dem
massiven Satz:
»Als Ausgangspunkt für die Darstellung dient Reich die Leugnung einer
für uns feststehenden Tatsache der Triebpsychologie, die Leugnuug nämlich
der genuinen Triebambivalenz« (gemeint ist die Todestrielilehre).
Die ganze folgende Stellungnahme wird vom dogmatischen Festhalten an
dieser Lehre beherrscht.
Hingegen finden sich wesentlich positive Würdigungen der Char. in den Ar-
beiten von Kaiser (Probleme der Technik, Intern. Zeitschr. 1934) und Fenichi-1
(Zur Iheorie der psychoanalytischen Technik, Intern. Zeitschr. 1935/1).
Die ideologische Begründung für Reichs Ausschluss aus der IPV gibt Wälder
in »Imago« (1935/1). Er bespricht hier Z. Heft 1. Die Einheit von Theorie und
Praxis, die wir dort vertreten, wird schärfstens abgelehnt, ebenso die marxistische
Gesellschaftslehre als .Masstab für die Beurteilung, ob soziales Handeln rational
oder irrational ist. Er ist voll Unwillens über unsere Leugnung der Notwendigkeit,
die kindliche Sexualität in irgendeiner Form zu unterdrücken und schliesst mit
dem Satz:
»So muss denn in aller Klarheit gesagt werden, dass niemand, der Reich
auf seinem Weg folgt, mehr Recht hat, sich auf die Psychoanalyse zu be-
rufen, als andere Autoren, die ein Stück psychoanalytischen Gedankenguts
modifiziert und unter Eliminicrung anderer Motive für ihre Zwecke ver-
wenden.«
Diese Äusserung des offiziellen IPV^Organs mögen besonders all die beher-
zigen, die es nicht lassen können, sexualökonomische Auffassungen als psycho-
analytische zu vertreten.
U. S. A. In »Psycological abstract« (1935) wurde Dm. (Nr. 2253) und E. (Nr.
4292) kurz referiert. »International review« (Mai 1936) bringt eine Übersetzung
von Parells Artikel über »Streichers sadistische Pornographie« in Z. Heft 6, leider
— typischer Weise — mit Auslassung der dort angeführten praktischen Vor-
schläge zur Gegenpropaganda.
Es liegen ausserdem Besprechungen und Erwähnungen aus Italien, Jugoslawen,
Ungarn, Polen und Schweden vor. Auch in England und Amerika dürfte mehr
über uns geschrieben worden sein, als uns bisher bekannt ist. Wir berichten über
diese Diskussionen, sobald wir einige nähere Erkundigungen eingeholt haben.
Aus der Sowjetunion kamen unsere letzten Sendungen mit dem Vermerk
zurück: »Zurück, da Einfuhr durch die Drucksachenadministration Verboten«!
Abgeschlossen Mai 1936.
Eine „Revolution der Jugend" in Oslo
Die norwegischen Abiturienten heissen zur Zeit des Examens (Mai) »Russ«.
Mit lustigen roten Russemützen auf dem Kopf durchziehen Jungens und Mädels
in ausgelassenen Trupps die Strassen und feiern ihren Eintritt ins »Erwachsen-
sein« auch abends durch gemeinsames Saufen. Höhepunkt ist der norwegische
Nationalfeiertag (17. Mai), an dem auch alljährlich die »Russezeitung« erscheint.
Gymnasiasten stammen meist aus gut bürgerlichen Familien. Sie erlauben
sich in der Russezeit allerhand, was sonst nicht erlaubt ist, doch von einem
politisch bewussten Protest gegen die bürgerliche Moral ist nur bei den wenigsten
die Rede.
Trotzdem gab es in diesem Jahr zum ersten Mal in Oslo eine grosse öffent-
liche Diskussion über die »Russemoral«. Haben die Jungens und Mädels etwas
anderes getan, als in früheren Jahren? — Nein, aber sie protestierten in ihrer
Zeitung offener und hewusster gegen das moralische Muckertum als je zuvor.
Gereizt wurden sie dazu durch verschiedene vorhergegangene Angriffe der Reak-
tion, die mit der fortschreitenden Zersetzung der bürgerlichen Sexualmoral auch
in Norwegen immer empfindlicher und aggressiver wird.
160
Sexpol-Bewegung
Schon im Februar d. J. verkündete der reaktionäre Publizist Lars Eskeland
in einem öffentlichen Vortrag, 34% der Russemädchen von 1935 hätten an sich
Abortus provocatus vornehmen lassen. Heftige Diskussion. Eskeland weigert sich,
seine Quelle zu nennen. Doch schrumpfen die 34 Prozent im Feuer der Angriffe
bald zu 34 Russemädchen ein; und nicht einmal diese Zahl ist bewiesen. Es gibt
wüsten Zank, Klatsch, Dementis, Indiskretionen. Gulla Grundt (Vorstandsmitglied
einer grossen bürgerlichen Frauenorganisation) und Domprobst Hygen sind darin
verwickelt (vgl. die Anspielungen im Artikel »Blatt vom Mund« unten).
Neuer Aufruhr, da Hygen die Russenzeitung dieses Jahres wegen ihrer Unsitt-
lichkcit angreift. Gleichzeitig veröffentlicht Rektor Lodrup ein Schreiben, das
bereits 1934 vom Rektorkollegium in Aker (Schwesterstadt von Oslo) vertraulich
an das Kirchendepartement (= Unterrichtsministerium) gesandt worden war.
»Wir haben es schon vor 2 Jahren gewusst«, will er damit sagen. »Wer anders
ist an allem schuld als der Marxismus!« (Im Oktober sind in Norwegen Wahlen!)
Die Verteidiger der Russen haben niemals zwischen den wenigen Stellen der
Zeitung unterschieden, die wirklich pornographisch sind und denen, wo sich ge-
sunde jugendliche Opposition Luft macht. Doch gerade sie — besonders das unten
abgedruckte Gedicht — erregten Hygens Zorn.
Man wies besonders taktlose und rohe Formen zurück, die die -reaktionäre
Hetze angenommen hatte, distanzierte sich aber gleichzeitig auch von den »un-
gesunden Übertreibungen« der Russen selbst — statt ihnen zur Klarheit zu ver-
helfen. Man Hess die Jugend in ihrem von gesundem Übermut übersprudelnden
und doch hilflosen Kampf um Lebensbejahung — allein.
Wir bringen im folgenden das Schreiben des Rektorkollegiums sowie 2 Proben
aus der »Russezeitung 1936«.
Das Schreiben des Rektorkollegiums in Aker an das Kirchendepartement
Frühjahr 19U.
Das Rektorkollegium in Aker hat vom Domprobst ein Schreiben vom 30. April
ds. Js. erhalten, von dem eine Kopie beiliegt.
Das Rektorkollegium ist die ganze Zeit hindurch auf die bewusst nieder-
reisstinde Agitation gegen Schule, Religion und Moral aufmerksam gewesen, die
das Blatt »Vi Gymnasiaster« (Wir Gymnasiasten) treibt. Bei der Vorsprache bei
der Polizeikammer in Oslo erhielt man inzwischen die Aufklärung, dass die Polizei
gerade diesen Ausschweifungen machtlos gegenüberstehe. »Das Pressegesetz gibt
keine Grundlage zum Einschreiten.«
Von der Oberbehörde liegen bekanntlich keine Direktiven für ein Einschreiten
von Seiten der Schule in solchen Fällen vor. Dies kommt offenbar davon, dass
das Phänomen erst der neueren Zeit angehört. Vor bloss 10 Jahren wäre ein
solches Auftreten von Gymnasiasten als Korporation kaum denkbar gewesen. In
den letzten paar Jahren scheint das Unwesen unter Einwirkung von Studenten
mit mehr oder minder kommunistischem Anstrich stark um sich zu greifen. Die
nächstliegende Aufgabe für diese Menschen ist die oder führt in jedem Fall dahin,
die ehrwürdige Disziplin und Ordnung der Schule zu untergraben. Sie scheinen
auch ihr Ziel gar nicht zu verleugnen.
Es sieht jedoch nicht so aus, als hätte das Verhältnis des einzelnen Gym-
nasiasten in der Schule und zu ihr eine wesentliche Veränderung erlitten; doch
ist es aus vielen Gründen nicht leicht, Vergleiche zu ziehen. Aber die allgemeine
Meinung scheint zu sein, dass das Verhältnis im ganzen gesehen zu Klagen keinen
Anlass gibt. Wenn jedoch die Gymnasiasten geschlossen in Vereinen und auch in
ihren Blättern auftreten, scheint das Verhältnis anders zu sein. Respektlose
Äusserungen über Lehrer, Verhöhnung der Religion und der allgemeinen Ge-
schlechtsmoral kommen ständig zum Ausdruck. Auch bei Schülern in den niedri-
geren Schulklassen konnte dies ein neugieriges Interesse für diese Materien hervor-
rufen, für deren Verständnis sie ihrem Alter entsprechend keine Voraussetzung
haben. Auch in der Tagespressc sieht man, dass sich Gymnasiasten die Möglich-
keiten zu respektlosen Äusserungen über Lehrer schaffen, die ihnen nicht be-
hagen. Man erlaubt sich, auf Nummer 97 von »Tidens Tegn« (Zeichen der Zeit)
Freitag 27. April ds. Js. hinzuweisen, wo Gymnasiasten an der Riis-Schule in
hohem Grade herabsetzend über den Gymnastiklehrer der Schule sehreiben. Die
Beispiele können onnc Scnwlengkeit vermehrt werden. Man hat die Erfahrung
gemacht dass die ständigen Blasphemien die jungen Menschen abstumpfen und
161
Sexpol- Bewegung
verdummen. Dies kommt deutlich in dem Geist und Ton zum Vorschein, mit dem
über religiöse Werke gesprochen wird. Die Pfarrer der Stadt macheu diese Er-
fahrungen besonders in Gesprächen mit Konfirmanden aus Gymnasien, was in
früherer Zeit nicht der Fall gewesen ist.
Gefährlich scheint auch die Arbeit für die Verbreitung der modernen Lehre
über die sogenannte »Neue Geschlechtsmoral« zu sein. Aufforderungen von Leitern
ausserhalb des Kreises der Gymnasiasten, die das Natürliche und Vorteilhafte der
»Kameradschaftsehe« betreffen, Anleitung zum Gebrauch von Präventivmitteln
(Man weist auf die Anzeigen der Zeitschrift für sexuelle Aufklärung in »Vi Gym-
nasiaster« hin), all das scheint das Interesse der jungen Menschen zu wecken.
In wie hohem Grade diese neue Betrachtung der Gcschlechtsmoral in das Gemüt
der jungen Menschen Eingang gefunden hat und von ihnen auch praktiziert wird,
darüber kann man sich natürlich schwer aussprechen, man kann jedoch fest-
stellen, dass sie in verschiedenen Fällen nicht wirkungslos geblieben ist. Das im
Vergleich zu früher fortgeschrittenere Alter der höheren Schüler vergrössert die
Gefahr. Die Mädchen und ihre Eltern leiden in erster Linie Schaden. Sich in
Details einzulassen ist aus vielen Gründen peinlich und schwierig. Bei den Ärzten
erhält man generelle Auskünfte, die die obige Betrachtung zu bekräftigen scheinen.
Es ist eine grosse Frage, ob der gemeinsame Unterricht für junge Menschen in
diesem Alter und unter dem Einfluss, der sich jetzt verbreitet, nicht eine zu
grosse Belastung ist. Bei einem grösseren Schulbetrieb, wo dies ohne Schwierig-
keit möglich ist, wird es wahrscheinlich aus den genannten Gründen günstig sein,
zu getrenntem Unterricht durch Errichtung von Mädchenschulen überzugehen.
1.) Man ist der Meinung, dass die Gymnasiasten nicht genug Verantwortungs-
gefühl und zureichende Bcifc gezeigt hätten, um gedruckte oder hektographiertc
Zeitungen herauszugeben, die über das ganze Land versendet werden. Dies sollte
wenn möglich verboten werden.
2.) In den Schulen sollte es nicht erlaubt sein, Blätter agitatorischen Inhalts
zu verteilen.
3.) In den Gymnasialvercinen sollte es verboten sein, für diese Art Wirk-
samkeit Agitatoren von aussen herbeizurufen.
4.) Gymnasiasten, die bewiesenermassen dazu auffordern »die neue Ge-
schlechtsmoral« zu praktizieren, oder für Ungehorsam gegen die Vorgesetzten
agitieren, sollten vom Schulrat aus der Schule verwiesen werden können, wenn
2/3 der Mitglieder den Fall für qualifiziert hält.
Das Rektorkollegium in Akcr ist mit der Pfarrerschaft in Oslo darüber einig,
dass die genannten Vorgänge von so zerstörendem und beunruhigendem Charakter
sind, dass man in aller Hochachtung der Oberbehörde anheimstellen möchte, sich
der Sache mit den Mitteln anzunehmen, die zu ihrer Verfügung stehen.
Das Rektorkollegium ersucht, dass dieses Ansuchen mit Rücksicht auf die
Gymnasiasten jedenfalls vorläufig als konfidentiell betrachtet werden möge.
Aker, 7. Mai 1934.
Für das Rektorkollegium in Aker
Hans Lödrup (sign)
Nachbemerkung: Das Schreiben ist vom Ministerium niemals beantwortet
worden.
Russenlied 1936.
Die Nacht ist unser
Was ist ein Russ, der allein ist ?
Was ist ein Russ ohne Wein ?
Selbst Adam verstand schon in früher Zeit
soll es ein Fest sein, dann immer zu zweit!
Hör zu, was dein Blut verkündet,
es summt
ein Lied:
Refr. : Die Nacht ist unser,
geniessen wir sie zusammen, —
ertränken wir unsere Not
in der Freudenflut.
Die Nacht ist rot, —
die Sonnenglut
162
Sexpol-Beweg unjj
entzündet die Flammen.
Niemand sage: Ihr wart nicht bereit,
habt verpasst die Gelegenheit.
Das Leben ist kurz,
geniessen wir zusammen !
Die Nacht ist heiss,
warum sind wir kalt
Ein Fest ist das Leben, —
es soll keine Priester geben,
die sagen »Amen«
(Nein) geniessen wir's zusammen,
hingegeben der Freuden Gewalt !
Sollen wir löschen der Sinne Flammen,'
dass sie aufgehen in trübem Rauch
Schänden der Russenzeit Opal
mit alter verrosteter Moral
»Nur sehen und nicht berühren« —
wohin soll das führen —
Refr. : Nein, — die Nacht ist unser
geniessen wir sie zusammen
etc.
Blatt vom Mund.
Die Russenzeitung ist ein Unternehmen^ das von manchen ehrwürdigen Men-
schen als kriminell bezeichnet wird. Unter »ehrwürdig« sind Menschen aus der
etwas älteren Generation zu verstehen, insbesondere diejenigen von ihnen, die
leicht mit Moos bewachsen sind.
Unter diesen mehr oder minder verdrehten Dummköpfen ist moralische Ver-
stopfung ein weit verbreitetes Leiden. Für sie ist der Russ die Creme der Hülle
selbst, folglich ist auch jede Äusserung des Russen etwas Abscheuliches.
Eine Auffassung, die uns jedoch nicht hindern kann, weiter den breiten Weg
zu gehen. Wir gedenken, das Blatt vom Mund zu nehmen.
Der Russ ist in diesen Tagen Gegenstand zahlreicher Debatten. Eine Reihe
unserer heimischen, adernverkalkten Persönlichkeiten hat die Gelegenheit wahr-
genommen, ihre Anschauungen emporzurülpsen. Die Presse war ein kochender
Topf Klatsch. Die Moralisten haben mit ihrer Trommel gepoltert. Giftige Zungen
haben in allen Winkeln gezischt. Überall haben die Russenfresser sich gewälzt,
gespreizt, sich gasartig verbreitet.
Jede Äusserung jugendlicher Lebenskraft wird von den Alten mit Wehgeschrei
aufgenommen. Das kleinste Zeichen von Lebensentfaltung — und es erhebt sich
verärgertes Gebrüll von Seiten der Ausgelebten. Das kleinste Lebenszeichen und
die Zeitungen hallen wieder von:
Wir protestieren! Wir protestieren! Wir protestieren!
Hochachtungsvoll
Gesangbuch- und Slrumpfstrickergeneration.
Wir können sagen, dass die Russen ab und zu über den Strich hauen. Sich
gegen Moral und Anständigkeit und andere ausgefranste Begriffe versündigen.
Sich versündigen heisst leben.
Aber da kommt die Sündflut. Massendemonstration der Moralvogelscheuchen.
Protestchor von kleinbürgerlichen Brüllaffen und Altersheimaspiranten. Fanati-
sche Greise schleudern ihre gehässigen Behauptungen vom Redncrstuhl. Weibliche
Gerüchtemacher giessen ihren stinkenden Klatsch über die Öffentlichkeit aus.
Schlüpfrige Theologen werfen verkrüppelte Chroniken in die reaktionäre Presse.
Sic plappern scharenweise, diese mottenzerfressenen Moralisten. Sie wälzen
sich in der Wollust des Klatsches. Sie qualmen von Hass gegen alles Lebens-
tüchtige. Sie laufen um die Wette, um ihre eigenen Altersschwächen zu verherr-
lichen. Und wenn sich die öffentliche Meinung gegen sie wendet, streiten sie sich
darum, wer sich selbst besser als Märtyrer ausposaunen, wer sich besser in Selbst-
bemitleidung einpökeln kann.
163
Sexpol- Bewegung
— Wir sind die Wächter der Moral! brüllen sie. Die Jungen sind auf Ab-
wegen! Wir müssen sie retten. Wir müssen sie bei Zeiten ersticken. Wir müssen
sie mit unserer Moral kastrieren ! Wir sind die Wächter der Moral !
Und sie schlagen sich auf die Brust, dass es staubt.
Moral nennen sie es. Blutarmut ist das rechte Wort. Moralisten nennen sie
sich. Mumien ist das rechte Wort. Schutz der .lugend nennen sie es. Racheakt
ist das rechte Wort. Racheakt gegen die Jugend recht und schlecht, weil sie herum-
geht und jung ist. So ganz verflucht und unverschämt jung. So was darf man
nicht dulden!
Moral kann man definieren als die Haltung des Ausgelebten gegenüber dem
Lebenstüchtigen, Warmblütiges und Blutarmes kann nicht miteinander verglichen
werden. Es gibt einen Unterschied zwischen jungem und altem Blut, einen Unter-
schied zwischen dem jungen, heissen Blut und dem lauwarmen Himbeersaft in
den geborstenen Adern der Greise. — —
Sie sind rührend, die Alten, in ihrem Drang, ihre Brut zu beschützen. Gegen
die Gefahren der Bussenzeit. Gegen die Unmoral.
Rührend ist das. Aufrührend.
Lasst uns nun einen Appell an diese vertrockneten Lichlschnuppen richten.
Einen bescheidenen, kleinen Appell:
Krähwinkelapostel! Geht heim und zieht die Federdecke über den Kopf!
Ein „sozialistischer" Arzf über Freud
Meistens schweigen sich die sozialistischen Wissenschaftler gründlich über
Freud aus; man muss mit grösstem Interesse studieren, was geschrieben wird,
wenn endlich mal von sozialistischer Seite grundsätzlich zu Freud Stellung ge-
nommen wird; anlässlich des achtzigsten Geburtstags Freuds hat Dr. Otto
Fenichel, der die sogenannte marxistische Psychoanalyse repräsentieren soll, im
»Internationalen Ärztlichen Bulletin« einen Glüekwunschartikel verfasst. Er cha-
rakterisiert seinen Aufsatz als »einige Bemerkungen über die Bedeutung der
Psychoanalyse für uns sozialistische Ärzte«. Diese Bemerkungen sind wirklich
sehr interessant — ■ nicht so sehr wegen der Diuge, die drin stehen, sondern viel-
mehr deswegen, was nicht drin steht.
Es war immer eine Tradition der ernsten marxistischen Wissenschaft, dass
man nie Problemen und Konflikten von sachlicher Bedeutung aus konventionellen
oder taktischen Gründen entwich, sondern dass man selbst die schwerste Proble-
matik ohne Rücksicht angegriffen hat: Insofern Freud die marxistische Wissen-
schaft beeinflusst hat, trotz seiner bürgerlichen Weltanschauung — und das hat
er — war es gerade kraft seines unerschrockenen und vorurteilslosen Mutes, auf
die peinlichen Dinge loszugehen und Klarheit zu schaffen. In dieser Hinsicht
gehört Dr. Fenichel zu einem Flügel der sogenannten marxistischen Wissenschaft,
der mit dieser kämpferischen Tradition bricht, und sein Artikel über Freud ist
ein schönes Beispiel, wie dieser akademische Sozialismus aussieht. • Genau wie
jede bürgerliche Zeitschrift es tun könnte, stellt er Freuds Bedeutung für die
naturwissenschaftliche Psychologie fest, ohne ernsthaft auf die revolutionären
Momente seiner Entdeckungen einzugehen, erwähnt kühn seine antireligiöse Ein-
stellung, ohne seine moralischen Widersprüche zu erwähnen und stellt ihn in
Beziehung zum Virchow'schen Bationalismus, kurz, alles ist so schön und
akademisch, dass wir uns alle recht freuen können. Getreu dem Prinzip, sich
weder von der Scylla noch der Charybdis zerschmettern zu lassen, weist er nach,
wie Freud weder dem mechanischen Materialismus noch dem abstrakten Idealismus
(das Religiös-Magische) verfallen ist. Fr schliesst — damit wir doch nicht
vergessen, dass wir Marxisten sind — sehr pompös mit einem Zitat von Engels
— das Beste in Fenichels ganzem Artikel.
Die Stellung Freuds zum Marxismus? Taktvolles Schweigen. Die Auseinander-
setzung innerhalb und ausserhalb der psychoanalytischen Bewegung über die
Beziehung zur Arbeiterbewegung? Der Taktiker schweigt. Die auf den ursprüng-
lichen psychoanalytischen Auffassungen gebauten Untersuchungen über Massen-
neurosen? Hierüber findet sich eine armselige Parenthese, die die Unentbehrlich-
keit der Freudschen Neurosenlehre für diese Arbeit wohl bemerkt, ohne aber die
sexualökonomische Ausarbeitung auf marxistischer Grundlage überhaupt nur zu
erwähnen (vielleicht würde Fenichel damit an einen wunden Punkt in seiner
Vergangenheit erinnert werden). Und wenn Fenichel behauptet, dass die Tat-
164
J.
Sexpol-Bewegung
Sachen der kindlichen Sexualität »heute schon selbstverständlich« geworden sind,
dann ist das einfach falsch. Hätte er aber darüber nachgedacht, wäre er auf den
bösen Gedanken gekommen, dass es eine marxistische Bewegung Sexpol gibt, die
den Kampf um die praktische Anerkennung der infantilen Sexualität führt. Man
kann über Freuds Beziehung zum Sozialismus nicht sprechen, ohne auf die
sexualökonomische Schule einzugehen, die sich am konsequentesten bemüht bat,
die marxistische Durchführung der Freudseben Theorien zu leiten — diese
Schweigsamkeit ist charakteristisch für seine Taktik. Denn eine Erwähnung würde
so oder so zu einer klaren Stellungnahme führen müssen.
Wenn man als Sozialist über Freud aufklären will, nützt es nicht, blass und
kritiklos zu schreiben — auch nicht in einem Geburtstagsartikel. Besonders arg
ist es, wenn es um Freuds Person geht. Gerade wir haben ein Recht, darauf zu
verweisen. .dass Freud vor 40 Jahren den Kampf gegen eine ganze Welt mutig und
unerschrocken geführt hat, ohne Konzessionen, ohne Angst vor der Konsequenz,
wenn es die Arbeit erforderte. Die Fragen, um die es hier geht, sind so wichtig
und bedeutungsvoll, auch für die Zukunft der sozialistischen Arbeiterbewegung,
dass eine kritiklose Huldigung von Freud ohne die notwendigen Vorbehalte nicht
nur eine üble »Taktik« ist, sondern direkt schädlich und verwirrend. Besonders
krass und unsozialistisch wirkt es, wenn diese Taktik von dem »Sozialisten« Dr.
Feniehel geübt wird — denn er kann nicht behaupten, dass er schweigt, weil er
die Problematik nicht gekannt hat. ■»« J»-
Die Gegenarbeit nichf vergessen
Der in unserer Zeitschrift Heft 2 (fi) — 1935 erschienene Artikel von Ernst
Parell »Wie wirkt Streichers sadistische Pornographie?« wurde in verschiedenen
Zeitungen und Zeilschriften in mehreren Ländern nachgedruckt, u.a. in der
»International Review«, New York, und »Göteborgs Handels- och Sjöfarts-Tid-
ning«, Göteborg. Nicht übersetzt wurde gerade das Wesentliche: die positiven
Massnahmen, die Parell vorgeschlagen hatte, und die wir auf Grund ihrer Wich-
tigkeit nachfolgend noch einmal wiederholen, denn die Streicher gibt es überall,
nicht nur in Deutsehland.
Was ist zu tun?
Allgemein: Dieser reaktionären Schweinerei ist eine gut organisierte und
sachlich korrekte Aufklärung über den Unterschied zwischen kranker und ge-
sunder Sexualität entgegenzusetzen. Jeder durchschnittliche Mensch wird diesen
Unterschied sofort begreifen, weil er ihn selbst schon gefühlt hat. Jeder durch-
schnittliche Mensch schämt sich seiner perversen, krankhaften Scxualvorstcllungen
und sehnt sich nach Klarheit, Hilfe und natürlicher Sexualbefriedigung. Wir
müssen klären und helfen !! Einige konkrete Details:
1.) Alles Material sammeln, das den pornographischen Charakter des
Streicherismus ohne weiteres jedem vernünftigen Menschen klarlegt. In Flug-
blättern verteilen! Das Scxualintercssc der Masse muss in gesundem Sinne ge-
weckt, bewusst gemacht und gestützt werden.
2 ) Sammlung und Verbreitung jeden Materials, das der Bevölkerung zeigen
kann, dass Streicher und seine Komplizen selbst Psychopathen und Schwerver-
brecher an der Volksgesundheit sind !
3) Enthüllung des Geheimnisses der Wirkung Streichers auf die Masse: br
provoziert die krankhaften Phantasien.. Die Bevölkerung wird gutes Aufklärungs-
material mit Freuden abnehmen und lesen.
4.) Die krankhafte Sexualität, die den Boden für die Hitlersche Rassen-
theorie und die Streicherschen Verbrechen bildet, kann nur dadurch bekampit
werden, dass man ihr die natürlichen und gesunden Vorgänge und Vcrbaltungs-
weisen im Geschlechtsleben vor Augen hält. Die Bevölkerung wird den Unter-
schied sofort begreifen und brennendes Interesse dafür zeigen, wenn man ihr
klarmachen wird, was sie wirklich will und nur nicht auszusprechen wagt; unter
a) Gesundes und befriedigendes Geschlechtsleben setzt die Möglichkeit, mit
dem geliebten Partner allein und ungestört zu sein, unbedingt voraus. Also:
Wohnungsbau für alle, die es notwendig haben, auch die Jugend.
b) Die Sexualbefriedigung ist nicht identisch mit der Fortpflanzung. Der
gesunde Mensch hat im Leben etwa 3—4.000 Mal Geschlechtsverkehr, doch nur
165
Sexpol-Bewegung
höchstens zwei oder drei Kinder. Also Empfängnisverhütungsmittel sind unbe-
dingt notwendig für die sexuelle Gesundheit.
c) Die allermeisten Männer und Frauen sind durch die sexual unterdrückende
Erziehung sexuell gestört, d. h. sie bleiben beim Geschlechtsverkehr unbefriedigt.
Notwendig ist also Einrichtung genügender Krankenanstalten zur Behandlung der
sexuellen Störungen.
d) Die Jugend erkrankt an ihren Onaniekonflikten. Nur Selbstbefriedigung
ohne Schuldgefühl ist nicht gesundheitsschädlich. Die Jugend hat ein Recht auf
ein glückliches Geschlechtsleben unter den besten Bedingungen. Sexuelle Abstinenz
ist auf die Dauer unbedingt schädlich. Krankhafte Phantasien verschwinden nur
bei befriedigendem Geschlechtsleben.
Kämpft um dieses Recht!
Übersicht über die Studienarbeit in Oslo und Kopenhagen
Im Winter 1935/36 wurden von der Sex-Pol in Oslo und Kopenhagen eine
Reihe Studienkreise veranstaltet, an denen auch Mitglieder der Freundeskreise
und Sympathisierende teilnahmen. Von allen Seminarahenden wurden Protokolle
angefertigt und zwischen Oslo und Kopenhagen ausgetauscht, Es ist zu hoffen,
dass auch andere Freundeskreise ihre Arbeit in ähnlicher Weise organisieren und
ihre Protokolle mit uns austauschen werden.
In Oslo fanden statt:
1.) Ein zentrales Seminar mit etwas wechselnder Zusammensetzung (bedingt
durch das jeweilige Thema). Es wurden darin klinische Abende veranstaltet,
jedoch auch aktuelle Fragen unserer Arbeil diskutiert. Aus den zahlreichen
Themen nennen wir: Erfahrungen der Kopenhagener Sexualberalungsstelle, De-
monstration der clektrophysiologisehen Versuche, die Lage der holländischen
Sex-Polbewegung, Zusammenfassung der in der pädagogischen Arbeitsgemein-
schaft gewonnenen Resultate, unsere Stellung zur organisierten Arbeiterbewegung
u. s. w.
2.) Ein pädagogisches Seminar versuchte an Hand kritischer Durcharbeitung
der bisherigen Kleinkinderpädagogik eine eigene Stellung zu erarbeiten. Was
wir erstreben, trat immer klarer bei der Abgrenzung von allem Früheren hervor.
Im einzelnen wurden behandelt: Rousseau, Pestalozzi, Fröbel, Maria Mon-
tessori, Freuds 3 Abhandlungen zur Sexualtheorie, Anna Freuds Schriften, Vera
Schmidts Bericht über das Moskauer Kinderheimlaboratorium und Aichhorns
»Verwahrloste Jugend«. Dabei wurde das Positive eines jeden Pädagogen heraus-
gearbeitet, gleichzeitig jedoch der innere Widerspruch, das Stück Triebverneinung
aufgezeigt, das in jedem Fortschritt gleichzeitig enthalten ist.
3.) Ein Studienkreis über die Geschichte der Arbeiterbewegung unter Leitung
eines SAP-Genossen, der in den 3 Abenden, die bisher stattgefunden haben, be-
handelt hat: Die Utopisten, die sozialen Voraussetzungen für das Wirken von
Marx und Engels, Übersicht über die Marxsche Theorie. Für spätere Abende sind
vorgesehen u. a. Marx Lehen, Pariser Kommune, Vorkriegssozialdcmokralie, Rus-
sische Revolution, Entwicklung der Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik
und in Skandinavien.
In Kopenhagen fanden statt:
1.) Technische Abende.
2.) Eine Arbeitsgemeinschaft über den »Rriefwcchsel über dialektischen Ma-
terialismus« (vgl. H. 8/9), in dem der Briefwechsel und die dazugehörigen graphi-
schen Darstellungen ganz genau durchgearbeitet wurden.
Die Leitung der Sexpol sendet uns folgende Mitteilung':
»Es kommt immer wieder vor, dass Mitglieder der Internationalen Psycho-
analytischen Vereinigung, die in oder mit der Sexpol arbeiten, Theorien und An-
schauungen der Sexualökonomie unter der Bezeichnung »Psychoanalyse« ver-
treten. Es handelt sich um Ansichten und Erkenntnisse, die von der Organisation
der Psychoanalytiker immer bekämpft und zurückgewiesen wurden. Wir ersuchen
diese Freunde, zu begreifen, dass ihr Vorgehen unserer Sache schadet. Man sollte
sich des Ausdruckes »Sexualökonomie« nicht schämen und nicht Menschen und
Organisationen Stellungnahmen zuschreiben, deren sie sich schämen, die zu ver-
treten sie nicht bereit sind. Wir müssen in der heutigen schweren Situation auf
166
Sexpol-Korrespondenz
Arbeit Freunde teilnehmen zu lassen, die derart vorgehen.«
Kleine Notizen
Antragen die die Ausbildung in Sexualökonomie und politischer Psychologie
betreffen, sind zu richten an Postbox 3010, Oslo, Norwegen.
Die Sexpol behauptet, dass der gcfühlsmässige Hintergnwd /de* national-
sozialistischen Marxistenhasses die Angst vor der sexuellen Revolution ist.
£f dir mSSÜSSSZ* des Rassenpolitische» Amtes Sachsen in Meissen
WUrde u a. fo^end^g^tent: g .
Freiheilskampf«, Dresden.)
Viden Dank für Ihr Buch »Die Sexualität im Kulturkampf«. Es ist fein. Aber
warum wünscht kein englischer Verlag Sie zu publizieren? Ich fragte Gollancz . . .
aM WishSThatte eine Übersetzung Ihres »Jugendbuches« angekündigt, aber sie
stiessen mit Lawrence zusammen, welcher nur echten Kommunismus Pilgert,
und dn" Buch wurde von der Liste gestrichen. Die Freudinner Schemen e.ne Kon-
zile Über die Publikation hier zu haben. Einer von zwei leitenden fe»"*"
sitc zu mir, dass Sie nur ein Trotzkist seien und dessen Propaganda auf dem
psychologischen Gebiet machten. Unnotwendig zu sagen, dass sie keine Zeile
von Ihnen gelesen hatten
Sexpol-Korrespondenz
Briefwechsel mit einem Genossen aus der Sowjetunion
(Ans einem Brief aus der SU)
Und noch eine Frage: Was ist mit IL? Der Freund den Du uns damals
geschickt, sagte mir, dass er mit Dr. R. zusammenarbeitet? Wenn das stimmt,
dann wäre er ja sehr weit von uns weg, bez. auf der Seite der Gegner.
Wie ist das?
rAltr^Sw/^.'^id'dämit kann ich gleich eine Eurer Anfragen er-
ledigen. Ja, II. steht mit Willy R. in Verbindung und ich auch und noch eine ganze
An «hl Berliner Freunde (Zur Provinz habe ich keine Beziehungen) und ^ viele
Menschen in den revolutionären Bewegungen der ganzen Welt. \\ . R. bat .ein
Buch über »Massenpsychologie des Faschismus« geschrieben, das neben dem Buch
v^n Sternberg »Der Faschismus an der Macht« eines der ganz wenigen wissen-
de, aftl eben theoretischen Werke über den deutschen Faschismus ist Romane
gilt es in .Massen. Agitationsbroschüren noch mehr, aber marxistisch theore-
tische Werke gibt es kaum. In dem seinen beschäftigt er sich von seinem Beruf
ls Psychologe und Sexualökonom aus mit dem Problem ^ des »subjek iven hak-
tnrs« der die so unendlich wichtige, von uns immer übersehene Rolle spielte,
Hitler zur Macht zu verhelfen, obgleich die ökonomischen Voraussetzungen so
waren, dass alles nach links drängte, obgleich die linken Parteien zahlenmassig
in der Lage gewesen waren, den Kampf um die Macht aufzunehmen. Dieses Buch
ist eines der vielgeleseneu Fmigrantenwerke, es ist in wenigen Exemplaren auch
nach Deutschland gekommen, man reisst sich darum, es kursiert seit 2 Jahren,
167
Sexpol-Korrespondenz
immer zerlcscner, weiter und weiter und aus diesem Buch haben die deutschen
Genossen so viel gelernt, ihren Horizont so erweitert, dass es trotz aller Kritik,
die sachlich daran zu üben ist, einen der wenigen Fortschritte des Emigranten-
daseins und der Emigrantenliteratur bedeutet. Es ist keine der vielen Schilderun-
gen, die Grauen und Hass erwecken, man muss denken und sich auch selbst an-
sehn, wenn man es liest. Die zweite Auflage davon ist schon fast vergriffen. Vor
kurzem las ich eine Kritik darüber, die wichtige berliner Parteifunktionäre illegal
über die Grenze brachten und die eine der sachlichsten und besten Auseinander-
setzungen im positiven Sinn darstellt. Ihr schreibt »Gegner«: Was für eine sche-
matische Auffassung, was für eine abgegriffene Bezeichnung für einen andern,
der gleich Euch auf dem Boden des Marxismus unter konsequenter Anwendung
der dialektischen Methode arbeitet, wissenschaftlich arbeitet unter den schwersten
Bedingungen der Emigration.
Dr. Friedrich Wolf hat hier neulich einen schlechten Vortrag über Deutsch-
land und die SU gehalten. Er ist völlig ungetrübt von Wissen über das wirkliehe
Leben in Deutschland, er sprach wie einer der harmlosen, bürgerlichen, welt-
fremden und weitabgewandten Leute des andern Kontinents. Man langweilte sich,
die deutschen Emigranten waren empört — es war alles da, was irgendwie links
orientiert ist — ich war tief enttäuscht über seine belanglosen Anckdötchen und
Phrasen. Dafür solch ein Leben in Deutschland und in der Emigration, um nicht
mehr Verständnis zu finden, gerade bei denen, die es wissen müssten — nämlich
bei den Freunden in der SU. In was für einem Kinderparadies lässt man Euch
leben, ohne Euch richtig zu informieren! Er sprach begeistert über die ungeheuren
Möglichkeiten, die für Wissenschaftler und Künstler dort zur Verfügung stehen
— und ich glaube ihm, dass es so ist. Dagegen arbeitet W. R. an schwersten, weit-
gehendsten, revolutionierenden wissenschaftlichen Problemen, dauernd bedroht
von der Ausweisung, anerkannt in seinen wissenschaftlichen Ergebnissen, deren
sich die bürgerlichen Analytiker bedienen, ohne die politischen Erkenntnisse, die
sie in logischem Weiterdenken erbringen, mitzumachen, verschrieen als »Konter-
revolutionär«, nur gehalten von wenigen ehrlichen und einsatzbereiten sozialisti-
schen Ärzten und Wissenschaftlern. Persönlich (ich kenne ihn bereits seit langem
aus der Berliner Parteiarbeit) ehrlich, anständig, solidarisch, kämpfend für die
proletarische Revolution, für die sozialistische Gesellschaft, sein Wissen, seine
Erkenntnisse nur für die revolutionäre Arbeit zur Verfügung stellend und nur
für ihre erfolgreichere bessere Durchführung ständig arbeitend. Es mag vieles
neu, ungewohnt, abschreckend, noch unklar und nicht genügend durchgearbeitet
sein, ich kenne keinen Wissenschaftler, ausser in Eurem Land, der bewusster
Wissenschaft und Politik zusammenschweisst und ihre Wechselbeziehungen
aufzeigt.
Ich habe bei allen Berichten, die ich von Eurem Land direkt oder indirekt
höre, immer das Gefühl, als sieht man dort die Welt nur durch ein Bilderbuch,
wo auf der einen Seite der schwarze Mann »Faschismus« steht, und auf der
andern Seite der Engel des Proletariats, die »Demokratie«. Ich kenne hier von
früher und jetzt ziemlich viele Leute; Proleten aus Deutschland und von hier,
Ärzte, Schriftsteller, Pädagogen, Studenten, sie alle stehen zu uns, zur SU, aber
sie alle sind, wie die ganze Welt in eine heftige Diskussion geraten über das
Leben in der SU. Wahrscheinlich ist es Euch nicht bekannt, dass es eine inter-
nationale Diskussion gibt, dass sie reale Gründe hat und dass es wirklich zu
diskutierende Dinge sowohl innerpolitisch als auch hauptsächlich ausseupolitisch
gibt. Das sind keine »Gegner«, das sind keine »Konterrevolutionäre«, keine »Sek-
tierer«, das sind ehrliche, anständige, überzeugte und intelligente Freunde und
die Kritik entsteht aus ihrem ehrlichen Bemühen, das Leben dort zu verstehn,
den Menschen dort aber auch die internationalen Erfahrungen mitzuteilen, wie
sie sich abspielen und darstellen ausserhalb der Walze der »Basler Rundschau«.
Ich sehe Eure entsetzten Gesichter. Ihr seid traurig, getroffen und wohl auch
ein wenig gekränkt über einen so respektlosen Ton, über so ketzerische Ansichten,
über so abweichende Meinungen. Nicht nur ihr habt Euch verändert, sondern auch
ich, wir alle in Deutschland, die nicht absacken wollten unter dem Druck der
faschistischen Ideologie, in dem zermürbenden Alltag des dritten Reiches. Wir
sind mit wenigen Ausnahmen keine Treppenterrier mehr und keine Parteiwalzen
im alten Sinne, wir haben die Denklähmung, die seit dem sechsten Weltkongress
in der Partei um sich gegriffen hatte, abgeschüttelt, wir wagen es wieder, zu
kritisieren, selbst auf die Gefahr hin, von Euch als Abweichungen gestempelt zu
168
Sexpol-Korrespondenz
werden, wir haben gelernt, unabhängig von den Linien zu handeln, die sich
schneller änderten, als wir sie in Deutschland durchbekamen und selbständig auf
unsere eigenen Köpfe vertrauend zu arbeiten. Das klingt überheblich, disziplinlos
und sektiererisch. Lasst nur, wir haben ein so dickes Fell bekommen, weil wir
immer damit rechnen mussten und müssen, dass die Gestapo auf uns rum kloppt,
uns tut auch nicht mehr eine eingeleierte, mit erhobenem Zeigefinger geübte
Kritik weh. Wir hören auf alle, die uns in kameradschaftlicher ehrlicher Art
und ohne Übertreibung und ohne Unterschätzung mit wirklicher Kenntnis der
Verhältnisse sagen, was wir falsch machen und was besser gemacht werden
könnte. Aber gegen das Donnergebraus von Thesen sind wir abgehärtet, weil wir
sie meistens erst dann zu hören bekommen, wenn bereits neue heraus sind.
Ja die Welt ist aus den Fugen, es gibt nicht mehr eine alleinseligmachende
Führung, der man brav folgt. Es gibt eine klare, feste, unumstosshare Welt-
anschauung, für die wir in freiwilliger Disziplin ohne Zwang von oben oder unten
gemeinsam mit allen kämpfen, die wirklich kämpfen wollen. Und kämpfen wie
wir Mitglieder der Partei wollen auch alle die, die neben ihr stehn, die in andern
revolutionären Gruppen zusammengefasst sind und mit ihnen verbindet uns mehr,
als mit einer katholischen Jugend, die zwar gegen Hitler ist, aber nicht gegen
die kapitalistische Gesellschaftsordnung, die sie in ihrem Glauben selig werden
lässt.
Anarchisch, chaotisch durcheinander, meint ihr! Ich spreche nicht nur von
mir, ich weiss, dass alle Genossen, mit denen ich 3 Jahre zusammenarbeitete,
zusammen litt und mit denen ich draussen persönlich oder schriftlich wieder
zusammenkomme, ähnlich oder genau so denken und handeln. Wir sind keine
Parteimaschinen mehr, wir haben den Begriff des Mitgliedsbuches ebenso ver-
lernt, wie den Begriff der rechten oder linken »Abweichung«. Wir wissen, dass
in den Reihen der H. J. mehr revolutionäre Kräfte stecken, als in der bündischen,
bürgerlich konfessionellen Jugend, wir wissen, dass ein ausgeschlossener Kom-
munist mehr oder ebensoviel für die Bewegung arbeitet, als ein eingefleischter
SPD-Mann aus dem Vorstand der II. Internationale.
Antworf an Wilhelm Reich
Von Je* Last (Holland)
Genosse Reich nimmt in seinem Artikel »Der Kampf um die neue .Moral« in
Heft 3 (7) den Kampf auf mit der sogenannten »Reaktion«, und zwar an erster
Stelle mit der Reaktion auf sexuellem Gebiet im eigenen Lager. Ein unerhört
wichtiger Kampf, der aber nur dann zum Erfolg führen kann, wenn die Argu-
mente dieser reaktionären Richtung vollkommen richtig dargestellt werden.
Versteht aber Genosse Reich unter dieser »Reaktion« nicht nur gewisse »Fach-
leute« auf dem sexuellen Gebiet, sondern auch alle die, die ebenfalls in der
Kulturfront stehen, dann bin ich der Meinung, dass Genosse Reich sich in seinem
Artikel nur mit nebensächlichen Fragen auseinandersetzt, während er den eigent-
lichen Kernpunkt jener Reaktion garnicht erkannt hat.
»Die Reaktion behauptet, wenn man das Sexualleben unbedingt bejahe, käme
das Chaos.«
Das behauptet die Reaktion tatsächlich, aber Genosse Reich liebt Konkretisie-
rungen und also konkretisiert er auch, wie sich die Reaktion dieses Chaos vor-
stellt. Es ist die zügellose Herrschaft der unnatürlichen, asozialen und gemein-
gefährlichen Sexualentartungen, die als Folge einer Jahrhunderte existierenden
patriarchalischen Moral und kapitalistischen Ordnung entstanden sind.
Ohne Zweifel sind diese Argumente von bestimmten Gegnern der Sexpol hier
und da aufgestellt worden, aber es wäre vollkommen falsch, darin die eigent-
lichen Hauptargumente der Reaktion zu erblicken. Zur Erläuterung möchte ich
auf das ausserordentlich interessante Werk des englischen Schriftstellers Aldous
Huxley »This brave true world« hinweisen. Huxley führt in diesem Roman die
Gedankengänge der Sexpol eigentlich ad absurdum. Er zeichnet eine phantastische
Zukuuftsgesellschaft, in der alle Bindungen zwischen Fortpflanzung und Sexuali-
tät gelöst sind. Die Kinder werden in Staatslaboratorien ausgebrütet, der Sexual-
akt als Lust dagegen ist nicht nur stärkstens bejaht, sondern der Staat tut alles,
damit der sexuelle Trieb fortwährend hemmungslos und restlos befriedigt werden
kann. Auch in Huxleys Roman fordert man bereits die dreijährigen Kinder auf,
169
Sexpol-Korrespondenz
mit dem »Lulu« zu spielen; und bestraft werden nur diejenigen, die an sexuellen
Spielen kein Vergnügen haben. Das Ergebnis ist eine scheinbar vollkommen glück-
liche Welt, aus der (bei genügender materieller Versorgung) jede Unzufriedenheit
verschwunden ist und auch jede sexuelle Entartung.
Aber jetzt kommt die Anklage Huxleys.
In dieser vollkommen glücklichen Welt ist auch jede Spannung, jedes künst-
lerische Schaffen, jede geistige Mingabe und jede wirkliebe Wissenschaft ver-
schwunden.
Und das ist das eigentliche Argument des Gegners:
eine hemmungslose Bejahung des Trieblebens bedeute den Untergang aller
Kultur, da diese nur auf einer hewusslcn Eindämmung und Beherrschung der
Triebkräfte aufgebaut ist.
Dazu ist einiges zu sagen.
Ohne Zweifel sind Trinken und Wasserlassen ebenfalls natürliche Be-
dürfnisse. Jeder, der einmal mit einer Gruppe Kinder einen Ausflug gemacht hat,
weiss, wie bei jedem Bauernhof und hei jedem Brunnen erst ein kleinerer Teil
der Kinder, und dann gewöhnlieh alle das Bedürfnis verspüren, zu trinken. Man
kann das gut finden und auf diese Weise in der Gruppe jede Ordnung zerstören
— auch jede Selbsttliziplin.
Man kann auch ganz energisch sagen: die ersten zwei Stunden wird nicht
getrunken! Schaden werden die Kinder davon nicht erleiden, sie werden sogar
gar kein Bedürfnis haben zu trinken, und der Ausflug wirkt sich gleichzeitig
erzieherisch aus.
Dumm und gesundheitsschädlich wäre es, einem Kind zu verbieten, sein
Wasser zu lassen, oder diesen Vorgang als etwas hinzustellen, dessen es sich zu
schämen hat. Andererseits fordert man aber ein Kind nicht auf, an jeder Strassen-
ecke zu schiffen, sobald es auch nur das geringste Bedürfnis dazu verspürt. Ist
es wirklieb, innerhalb bestimmter Grenzen, falsch zu sagen: damit warte, bis Du
zu Hause bist?
Dieses Beispiel übertragen heisst die Frage richtig stellen:
Wie weit geht die Bejahung des Sexuallebens? Bedeutet sie fortwährende
sofortige Befriedigung, oder schlicsst sie nicht gewisse Beherrschung, eine gewisse
Einschränkung ein, also doch wieder eine Moral?
Jedoch wirkliehe Fragestellung geht noch tiefer! Warum bejahen wir die
sexuelle Lust? Weil sie natürlich ist? Ist das »Natürliche« schon an und für sich
das Gute? Ganz gewiss ist die Natur amoralisch. Muss nun der Mensch sieb der
Natur, oder die Natur sich dem Menschen unterwerfen? Ist der Mensch nicht
gerade Herrschaft über die Natur und ihre blinden Kräfte? Ist es nicht letzten
Endes Zweck und Sinn des Marxismus, dass der Mensch über die Natur herrschen
soll? Ein bekannter englischer Sexualforseher behauptete in dieser Zeitschrift,
der Mensch sei sexual biologisch polymorph-pervers. Öffnen wir nicht jeder Will-
kür die Tür, wenn wir jede sexuelle Eigenart, die uns nicht passt, einfach »un-
natürlich« nennen? Kommen Sadismus und Masochismus nur unter dem Ka-
pitalismus vor, oder auch bei Völkern, die noch nicht einmal die patriarchalische
Gesellschaftsform kennen? Existiert nicht vielleicht in jedem »natürlichen« Men-
schen, neben dem heterosexuellen, auch ein homosexueller Trieb, wie er ja bei
allen Völkern — unter sehr verschiedenen ökonomischen und gesellschaftlichen
Verhältnissen — zu finden ist?
Wahrscheinlich antwortet Genosse Beich:
Wir bejahen die sexuelle Lust, nicht weil sie natürlich ist, sondern weil sie
Glück bringt. Es ist aber zwischen Wollust und Glück ein sehr grosser Unter-
schied. Ohne Zweifel bereitet das Spielen mit Lulu der dreijährigen Ruth Wollust.
Bleibt sie aber auf dieser physischen Freude stehen und lernt niemals den Eros
kennen, lernt niemals die psychischen Freuden der Jagd danach, der Sehnsucht
danach, der Werbung kennen, wird sie dann nicht unglücklich werden?
Von Mathematik sind nur wenige glücklieh geworden, sagt Genosse Beich.
Ist aber damit die Mathematik schon verurteilt? Es ist eine Tatsache, dass die
tiefste Kunst aus einer offenen Wunde flicsst. Welcher Künstler aber wird seiner
Kunst fluchen, weil sie ihn nicht glücklich gemacht hat? Da sind vir wieder bei
der alten Frage der Beaktion:
Kann die Kultur, kann alles, was höher als das Glück steht: Kunst, Becht,
Wissenschaft, Wahrheit, bei bedingungsloser Bejahung der Sexualität gedeihen?
ich glaube, Genosse Beich, dass nur sehr wenige Holländer, die meine Schrif-
170
Sexpol-Korrespondena
ten kennen, mich zur »Reaktion« auf sexuellem Gebiet rechnen werden. Ich weiss,
welch unerhörtes Leid eine sinnlos gewordene, veraltete Scxualmoral für die
Massen bedeutet, wie reaktionär sie sich politisch auswirkt, ich weiss auch, dass
man die ganze Jugend verlieren würde, wenn man versuchen wollte, moralischer
als die Bourgeoisie zu werden. Ich weise jede Moral zurück, die nur auf »Staats«-
Interesse beruht, die jede Lebensfreude verneint, die nur abstrakte Verbote hat
für das, was uns glücklieb macheu kann und keinem schadet. Aber während ich
das Recht auf Essen anerkenne und fordere, leugne ich das Recht auf Fressen
und habe keine Sympathie für die Papuas, die, haben sie ein Stück geschossen,
so lange fressen, bis sie sich nicht mehr fortbewegen können und zwei Tage wie
tot daliegen. Ich bin ein Feind jeder Überspannung, aber Spannungen möchte ich,
auch im Sexuellen, nicht entbehren. Solche Spannungen entstehen aber nur aus
dem Willen, mit dem der Mensch seine, an und für sich blinden (natürlichen).
Triebe einer gewissen Ordnung unterwirft. Also doch wieder eine gewisse Moral?
Ja! lud zwar statt der bürgerlich-reaktionären eine proletarisch-revolu-
tionäre.
Was denken Sie zu folgenden Grundsätzen:
Erlaubt ist, was weder dem Partner, noch deiner Arbeit und deinem Kampf
für die sozialistische Gesellschaft und ihrer Kultur schallet?
Und dazu vielleicht noch ein zweiter Grundsatz, der, gerade weil er »roman-
tisch« ist, von der Jugend vielleicht besser verstanden wird als von den Alten:
Keine Sexualität ohne Liebe !
Wissenschaftlich ausgedrückt: wir bejahen (abgesehen natürlich von Not-
fällen, die aus dem Kapitalismus herrühren), die Befriedigung der sexuellen Lust
nur dann, wenn sie für beide Partner nicht nur physisch, sondern auch psychisch
ist. Denn insofern, Genosse Reich, bin ich »reaktionär«, dass ich den Geschlechts-
akt nicht nur als eine angenehme Drüsenentleerung betrachte, sondern, fast sym-
holisch, als die Vereinigung zweier Menschen, als die höchste Steigerung der
menschlichen Kameradschaft, Freundschaft und Liebe.
Antwort an Jef Last
Huxley schildert in seinem Roman »this true brave World« wirklich eine
»phantastische Zukunftsgesellschaft !«
Die Sexpol aber ist keine auf Phantasterei aufgebaute Spekulation, sondern
eine auf wissenschaftlicher Erkenntnis basierende Politik, welche sich nicht
damit begnügen kann. Schilderungen und Dichtungen einer Zukunftsgesellschaft
zu geben, sondern deren ganz konkretes Ziel es ist, die realen Schwierigkeiten der
Gegenwart zu erkennen, um über ihre Zerstörung hin den ersten Schritt zur Um-
strukturierung der Gesellschaft zu wagen. So kann die Sexpol sich nicht auf
spekulative Gedankengänge einlassen, sondern muss, — auf wissenschaftlicher
Basis fussend — den Weg gehen, der langsam von Schwierigkeit zu Schwierigkeit,
von Problem zu Problem vordringt. - Uns ist es noch nicht möglich, ein Bild
von einer »Zukunftsgesellschaft« zu entwerfen. Uns interessiert die Not unserer
gegenwärtigen Gesellschaft und die Aufgabe, die diese Not uns stellt, ist so gross,
dass wir keine Zeit haben, von Idealen zu träumen. Dass aber Huxleys Vorstellung
von der »Zukunftsgesellschaft« unwissenschaftlich und illusorisch ist, dass eine
Gesellschaft, in der Sexualität und Fortpflanzung von ihrer durch die patriarcha-
lische Moral geschlossenen Bindung gelöst, ein völlig anderes Bild zeigen muss,
als das von Huxley geschilderte, den Beweis haben die Forschungsergebnisse der
Charakteranalyse bereits gebracht.
Die wissenschaftliche Feststellung, dass Sexualität sich nicht in einem lang-
samen Pro/.ess, der in der Pubertät mit Erreichung der Fortpflanzungsfähigkeit
beendet ist, entwickelt, sondern dass die Sexualität ein biologischer Faktor ist,
mit dem wir non der Geburt des Menschen an zu rechnen haben, dass sie. als spe-
zifischer Lusltrieb mit dem Menschen geboren wird und wie jeder andere Trieb
nach Bedürfnisbefriedigung verlangt, — zwingt uns. die Frage nicht wie Huxley
im Detail zu sehen, sondern in ihrer Ganzheit zu behandeln.
Die Sexualität ist, wie die Forschung ergehen hat, ein natürlicher, biologi-
scher Lusttrieb, der von Geburt an im Menschen ist. Der erste Akt des Neuge-
borenen, noch hevor er die Mutterbrust bekommt und Nahrung zu sich nimmt,
ist der, an den Fingern zu lutschen, um sich Lust zu bereiten. - - Aber ein Jahr-
tausende dauernder Prozess hat die völlige Unterdrückung der seihständigen
und nur auf Luslgewiunung gegründeten Sexualität gefordert und die — was das
171
Sexpol- Korrespondenz
• »
Sexualleben betrifft entarteten und degenerierten - Menschen gezwungen, eine
Verkuppelung des Sexualtriebes mit dem Fortpflanzungstrieb vorzunehmen und
da, wo dies nicht möglich ist, — in der Kindheit — die Sexualität ganz zu leugnen.
Kein Trieb des Menschen aber ist, wenn er sieh gesund reguliert, so an den
rhythmischen Wechsel von Spannung und Entspannung gebunden wie gerade der
gesunde Geschlechtstrieb. Und kein Trieb des Menschen wirkt so befruchtend und
anregend auf seine Produktivität sowohl in Bezug auf künstlerisches Schaffen
als auf wissenschaftliche Arbeil wie der Geschlechtstrieb, der eine Bejahung
erlebt.
So würde die Sexpol, wenn sie "die Zukunftsgesellschaft schildern wollte,
gerade zu entgegengesetzten Schlüssen kommen wie Huxley:
Hie Mensehen, welche frei von Schuldgefühlen zu ihrem Sexualleben stehen
und unabhängig von wirtschaftlichen Miseren ihren gesunden, natürlichen Trieb
lustvoll befriedigen könnten, würden nicht wie bei Huxley, jede Spannung ent-
behren, sondern ihre Spannungen wie deren Lösungen bewusst erleben, Und aus
der bewussten Bejahung ihrer Bedürfnisse und deren Befriedigung würde eine
neue Kultur aufblühen. Kunst wäre nicht mehr Privileg einiger Auserwählter,
sondern die Masse würde fähig werden, sie zu gemessen !
Auch die Details wie die Geburten in Staatslaboratorien, — die Ermahnung
der Kinder, mit ihrem »Lulu« zu spielen, würden unter dem Gesichtswinkel des
biologischen Lusttriebcs genau umgekehrt aussehen: Denn auch Gebären kann
eine Lust sein und onanieren ist in einem bestimmten Alter ein natürlicher Vor-
gang, zu dem man nicht »aufzufordern« braucht. Und eine »Strafe, für diejenigen,
welche sieh nicht an sexuellen Spielen beteiligen wollen«, scheint den Faktor des
vorhandenen Triebes oder Bedürfnisses nach Lustgewinnung ganz übersehen zu
haben.
Die Stellung der Sexpol zur Befriedigung der Bedürfnisse gibt auch die Ant-
wort auf Jef Last's Beispiel mit dem Durst und dem Wasserlassen der Kinder
auf einem Ausflug. Wir sehen diese Fragen ungezwungener und wissen nicht,
warum Kinder ihren Durst nicht löschen sollen? Jef Last's Einwand, dass eine
völlige Freiheit der Bedürfnisbefriedigung »jede Ordnung in der Gruppe zerstören
würde«, ist die Einstellung der Menschen, welche das Vertrauen auf eine organi-
sche Regelung der Körperbedürfnisse verloren haben und an seine Stelle nun
äussert iche Ordnung und Disziplin stellen.
Wohl haben wir bei den heutigen Kindern noch mit Menschen zu rechnen,
deren Gleichgewicht schon gestört ist und die deswegen auf Freiheit oft erst mit
Unordnung und Chaos reagieren. Aber diese Unordnung ist nur der Übergang von
einer äusserlichcn, gezwungenen Ordnung zu einer wirklichen im Organismus
bedingten, natürlichen Regelung der Bedürfnisfragen.
Dazu wollen wir als Beweis den Versuch bringen, der im letzten Sommer in
einem Kinderheim an der Nordsee gemacht wurde:
Den 27 Kindern im Alter von 3 — 7 Jahren wurde keinerlei Zwang bezüglich
Bedürfnisbefriedigung geboten. Sie konnten essen, trinken, wieviel oder wenig sie
wollten, in der See baden, sooft und so lange sie wollten, aufstehen und Schlafen-
gehen, wann sie wollten. — - Eine knappe Woche herrschte eine allgemeine Un-
ordnung und Unregelmässigkeit in dem Kinderheim, dann bekam ein Kind nach
dem anderen ein Gefühl und eine Stellung zu seinen Bedürfnissen und Eigenarten,
es lernte seine Befriedigung verstehen und kontrollieren und fand einen eigenen
Rhythmus. Nach ungefähr 2 Wochen hatte man nicht mehr den Eindruck, lauter
einzelne Individuen vor sich zu haben, die jeder ihren eigenen Rhytmus leben,
sondern es bildete sieh eine lockere Ordnung, die jedem eine gewisse Freiheit
liess und doch eine Gemeinschaft aus den Individuen machte.
Von den Kindern, die durch keinerlei Zwang gebunden waren, war nicht eines
krank, keines benahm sich so »undiziplinicrt«, dass es als asozial empfunden
wurde, sondern fremde Badegäste wurden aufmerksam auf die »eigenartige Har-
monie«, die diese Kiniler schon nach wenigen Wochen ausdrückten.
Die Beantwortung der beiden obigen Fragen schliesst eigentlich schon die
Antwort der dritten Frage in sich, der Frage nach der Bejahung des Geschlechts-
lebens, ihrer »sofortigen fortwährenden Befriedigung« oder »Beherrschung und
Einschränkung«.
Wir bejahen die sexuelle Lust nicht nur, weil sie »natürlich ist«, Jef Last,
wir bejahen sie, weil sie Lust ist und lehnen es ab, uns mit irgendeiner Begrün-
dung, Lust zu bejahen, zu entschuldigen. Sie haben Angst, dass »Sehnsucht und
172
1
Sexpol-Korrespondenz
Werbung« verloren gehen, wenn man »auf der physischen Freude stehen bleibt«.
Sie fürchten, dass man »den Eros niemals kennen lernt, wenn man nicht seine
Triebe einer gewissen Ordnung unterwirft«. Sehnsucht und Werbung entstehen
nicht durch eine moralische Schranke, die der Mensch sich setzt, sondern aus
dem Gegenspiel der Partner, deren Bedürfnisse ja nicht immer gleich zu sein
brauchen. Eros ist nicht auf Verzicht und Versagung angewiesen, sondern bei
einem gesunden Geschlechtsleben bringt jede sexuelle Lust auch eine Liebes-
bindung und jede Liebe den Wunsch nach sexueller Vereinigung mit sich.
Trotz dieser Talsache lehnen wir es ab, einen »Grundsatz« wie den von Ihnen
vorgeschlagenen »Keine Sexualität ohne Liehe« aufzustellen. Bei Jugendlichen ist
es ein ganz natürlicher Prozess, der sich auch im späteren Leben hei Partncr-
wcchsel zuweilen vollzieht, dass der Partner oft gewechselt und nicht immer mit
Anspruch auf Dauer gelieht werden muss. Dies ist ein Übergang, der sich längere
oder kürzere Zeit hinziehen kann.
Der einzige Grundsatz, den man im Sexualleben gelten lassen könnte, — wenn
es unbedingt Grundsätze, sein müssen, — wäre, dass man seine Bedürfnisse so
befriedigt, dass für beide Partner die grösstmögliche Lust entsteht.
Wir öffnen mit unserer Einstellung zur Frage des Sexuallebens nicht »jeder
Willkür die Tür«, - sondern die Ergebnisse der charakteranalytischen Praxis
beweisen bereits heute, dass — wo es gelingt, die durch bürgerliche Sexualmoral
in Jahrtausenden aufgebauten Panzerungen zu durchbrechen — sich im gesunden
Menschen eine Fähigkeit zur »sexualökonomischen Selbststeuerung«, zur Regu-
lierung des Verhältnisses zwischen Befriedigungs&edürfjiis und Befriedigangs/öhip-
keit herausbildet und dass, wenn die gesunde Genitalität im Menschen freigelegt
ist, sein sexueller Haushalt sich durch seine vegetativen Ansprüche selbst regelt,
ohne die Moral in Anspruch zu nehmen.
Wir empfehlen Jef Last das Studium von Dr. Wilhelm Reichs letztem Buch:
»Die Sexualität im Kulturkampf«.
Anmerkung der Redaktion:
In den vorn gedruckten Vorträgen von Wilhelm Reich und Sigurtl Hoel wird
speziell auf das von Jef Last aufgeworfene Problem: »Sexualität und Kultur«
eingegangen.
Die psychoanalytische Bewegung in Ungarn
Die ungarische psychoanalytische Gruppe, die unter Leitung des verstorbenen
Dr. Alexander Ferenczi stand, hat immer eine grosse Bedeutung in der Psa-
Bewegung gehabt und es wird nicht ohne Interesse sein, ihre jetzige Stellung-
nahme kennenzulernen. Wir dürfen hei dieser Frage nicht ausser acht lassen, dass
Ungarn zu den wenigen Ländern gehört, deren herrschende politische Richtung
eine innere, seelische Zusammengehörigkeit mit Hitler-Deutschland anstrebt.
Nach der Stellungnahme der deutschen Psychoanalytiker, vertreten durch
Herrn Müller-Braunschweig, kann die ungarische als Dokument dafür dienen, wie
weit die psychoanalytische Bewegung, respektive ihre offiziellen Vertreter von
den Grundprinzipien der Fsa. entfernt sind.
Die offizielle ungarische Auffassung wurde jetzt schriftlich dokumentiert
durch die Rezension des ersten ungarischen Buches, welches die Auffassung der
Sexpol zu vertreten bestrebt ist. Es handelt sich um das Buch Bela Szekely's
»Über die sexuelle Entwicklung der Kinderjahre«. In seinem Buche will der Ver-
fasser mit grossem wissenschaftlichem Ernst und Gründlichkeit den Ungarisch-
I.escnden nahebringen, dass die Sexualität des Kindes in der Linie der normalen
Entwicklung liegt. Es ist die Folge einer gesellschaftlichen Unterdrückung, dass
der Weg dieser normalen sexuellen Entwicklung abbiegt und die Sexual-Ncurose
als Gruppenerscheinung entsteht. Sz. betont, dass nur die sexuelle Befreiung der
Jugend im Zusammenhang mit der wirtschaftlichen eine soziale Befreiung der
Gesellschaft vorbereiten kann. Jede Erziehung kann also nur eine sexuelle Er-
ziehung sein. Die bekannte Sexual-Ethik eines Förster und Konsorten bestrebt
eine ascxuelle, die Sexualität verneinende Erziehung der Jugend. Der Verfasser
nimmt psychologisch wie soziologisch wohlbegründet Stellung gegen diese Auf-
fassung und betont, dass nur eine gesunde Sexualität ethisch sein kann, in einer
solchen Gesellschaft, in welcher nicht die herrschende Klasse, sondern die ganze
Sozietät bestimmt, was ethisch und was sozial ist. Die Erkennung der Realität
173
Sexpol-Korrespondenz
der jetzigen Gesellschaft bedeutet keine Unterwerfung, sondern die reale Be-
strebung dazu, dass der Mensch diese beherrsche und gesund ändere. In diesem
Sinne muss auch das Freud'sche Realitätsprinzip erkannt und verwertet werden.
Es ist klar, dass die psychoanalytische Erziehung nur zwischen zwei Mög-
lichkeiten zu wählen hat. Entweder stellt sie sich in den Dienst der gegebenen
Gesellschaftsordnung, deren psychologische Basis die sexuelle Unterdrückung ist,
wodurch sie die Grundprinzipien ihrer eigenen Erkenntnisse desavouiert, — oder
will sie ihre Erfahrung und Theorie in den Dienst der gesunden Erziehung stellen,
so gerät sie notwendigerweise in Zusammenstoss mit der herrschenden Klasse.
Nun fühlt sich die ungarische Psychoanalylikerin, eine Schülerin Aiehhorns,
Frau Rata Lewy, berechtigt, im Namen der offiziellen Psychoanalyse zu sprechen,
indem sie gegen »die Verstellung der Freud'schen wissenschaftlichen Feststellun-
gen« protestiert. Sie bezeichnet es als ein »vollkommen eigenmächtiges Vorgehen
des Verfassers, dass er die Freud'sche psychologische Forschung mü der Kritik
der herrschenden gesellschaftlichen Ordnung in Verbindung bringt.« Für sie ist
es eine »unverständliche«, »stylarische« Wendung des Verfassers, mit welcher er
die einfache und alte Feststellung, dass die Erziehung von dem Kinde im Gebiete
der Sexualität überflüssige und übertriebene Verdrängungen wünscht, mit — dem
gesellschaftlichen Kampf motiviert. Sie protestiert dagegen, dass man Freuds
Namen »als Schild zu einem solchen falschen Spiel verwendet«, welches von der
Psychoanalyse die sexuelle Befreiung erwartet.
Eigentlich ist zu dieser Stellungnahme jeder Kommentar überflüssig. Man
kann wirklich nicht darüber debattieren, ob es de facto »eigenmächtiges Vor-
gehen« ist, die Freud'sche Theorie soziologisch zu werten, indem man sie mit
der Kritik der herrschenden Gesellschaftsordnung in Verbindung bringt. Frau
Lewys Auffassung nach gibt es nur ein Frcud'schcs Dogma, das für sich seihst
steht und jede weitere wissenschaftliche Arbeit ist nichts anderes als eigenmäch-
tiges Vorgehen und Verstellung. Es ist auch nicht schwer festzustellen, wer mit
der Psychoanalyse falsches Spiel treibt: diejenigen, die durch die Verwertung
der psychoanalytischen Kenntnisse in der Erziehung die sexuelle Befreiung er-
streben oder jene, welche die Freud'sche Lehre in den Dienst einer solchen Ge-
sellschaft stellen, deren psychologische Grundlage eben die sexuelle Unterdrückung
ist. Es mag sein, dass die »unverfälschte« Psychoanalyse eben die letztere ist,
dann ist es aber sehr verständlich, dass alle, die die naturwissenschaftliche For-
schungsarbeit Freuds an der Stelle fortsetzen wollen, wo diese »gutgesinnten«
Psychoanalytiker ihr untreu geworden sind — sich von der offiziellen Bewegung
lossagen müssen.
Frau Kata Lewy beruft sich auf die Erkenntnisse derer, die ihre eigene
Analyse vor 30 — 40 Jahren durchgemacht haben und wohl wissen, was die Angst
vor der Triebverdrängimg bedeutet. Sie begründet nämlich die Stellungnahme
des Verfassers für die sexuelle Befreiung der Jugend eben durch diese Angst.
Wir kennen aber auch die Natur der Angst vor der Befreiung der eigenen sexuel-
len Triebe. Es ist zu fürchten, dass eine so alte und approbierte Analytikerin
wie Kata Lewy in der analytischen Lage dieser seinerzeit ungelöst gebliebenen
Angst vor der eigenen sexuellen Befreiung zu ihrer Stellungnahme gelangt ist.
Dr. B. N.
Bericht über das Leben in Moskau
Bei der Berichterstattung handelt es sich um eine Deutsche, anscheinend nicht
parteiangehörig, Frau eines deutschen' Juristen, der im Moskau als Sachverstän-
diger für faschistisches Hecht arbeitet. Es wurde nicht ein Beferat gehalten,
sondern durch Fragenbeantwortung versucht, ein Bild von dem Leben in Moskau
zu bekommen. Grundton aller Erklärungen dieser Frau war: mau fühle sich dort
zufrieden und glücklich und zwar hauptsächlich durch die Tatsache, dass jeder
seinen Arbeitsplatz habe und sich als nützliches und notwendiges Glied dieser
Gesellschaft empfinde. Die Parole vom glücklichen und guten Leben wird nicht
als eine von der Partei an die Massen von aussen herangetragene empfunden, da
wirklich eine reale und sich ständig steigernde Verbesserung des Lebensstandards
erlebt wird, so dass es sich also nicht um eine illusionäre Befriedigung handelt.
Aufgefallen ist der Frau eine weit verbreitete Nervosität, die sie als eine Aus-
wirkung des gesteigerten Lebens- und Arbeitstempos erklärt. Es wird weitgehend
174
Sexpol-Korrespondenz
mit hypnotischer Behandlung gearbeitet (Trinkerkuren usw.) und die behan-
delten Patienten sind mit dem Erfolg zufrieden. Auch Gchurtshilfe wird unter
Anwendung von Hypnose geleistet. Ausserdem glaubt die Berichterstattcrm auch,
dass es sich um eine Nachwirkung der vergangenen schweren Jahre handelt. Die
15 — 17 jährigen seien sehr gesund.
Es gibt jetzt Uberfluss an Lebensmitteln und die Läden sind immer voll damit
und überfüllt von Käufern; es wird unheimlich viel .gegessen. Die Preise sind
wesentlich gefallen, aber immer noch hoch, was aber ausgeglichen wird durch
die ausserordentlich niedrigen Mietspreise. Der Verdienst ist im allgemeinen gut
und wird durch das Prämiensystcm noch erhöht. Die Bekleidung hat sich eben-
falls sehr verbessert, allerdings lässt Geschmack und Farbenwahl für westliche
Begriffe noch zu wünschen übrig. Kleidermodelle werden durch einen Trust
herausgebracht, der sie auf Modenschauen in den Betrieben vorführen und ent-
scheiden lässt, welche Modelle am meisten zusagen. Da der Trust selbst noch
nicht die Gesamtherstellung der verlangten Kleider leisten kann, kann man sie
nach seinen Modellen von selbst gekauftem Stoff in dazu eingerichteten Nahstuben
anfertigen lassen. Auch das Schuhwerk, das noch vor ca. 1 Jahr sehr schwer zu
haben war — so dass fast alle Leute in weissen leichten Schuhen herumliefen —
ist jetzt wesentlich mehr zu kaufen.
Die Wohnungsnot ist noch gross, aber auch hier sind bereits weitere wesent-
lich Fortschritte in der Behebung dieser Schwierigkeit zu verzeichnen. Diese
Wohnungsknappheit bringt es immer noch mit sich, dass die Jugendlichen für
ihr Alleinsein auf Hausflure angewiesen sind. Es wird jedoch immer weiter sehr
viel gebaut, so dass jetzt schon Stachan. und andere qualifizierte Arbeiter als
Arbeitsbelohnung eigene Wohnungen zugewiesen erhalten. Die Ausstattung dieser
und auch anderer Wohnungen ist ziemlich standardisiert u. zw. nach einem für
westliche Begriffe ziemlich zurückgebliebenen Schema. Der Arbeiter kauft sich
ein Sofa mit schönem Umbau, einen Norm-Schrank, einen Tisch mit 4 Stühlen,
die möglichst gedrehte und geschweifte Beine haben. In der Kulturabteilung der
Warenhäuser ersteht er dann die erforderliehen Gipsbüsten von Lenin, Stalin
und anderen bekannten Persönlichkeiten, sowie Vasen mit Massen von künstlichen
Blumen und einen Lampenschirm aus Seide mit Fransen und mit Blumen bemalt
Pergamentschirme werden als poplig angesehen.
Im Baustil bekämpft man den Formalismus, es wird viel Schmuck an den
Gebäuden angebracht, viel Marmor und noch mehr Säulen verwendet, auf die.
Dächer werden Vasen und Skulpturen gesetzt. »Die glatten Häuser zeigen nicht
unseren Wohlstand und unser wohlhabendes Leben, wie gut es uns geht, rauss
sich in unseren Bauten demonstrieren.« Im Wohnbau stellt man sich hauptsäch-
lich auf die Herstellung von Einzelwohnungen ein.
In Moskau entwickelt sich ein sehr starkes Familienleben. Gleichzeitig zeigt
sich Gesellschaft und Vergnügen dem Westen angenähert. In jedem grösseren
Betrieb gibt es Zirkel für westliche Tänze.
Kaminski (Gesundheitskommissar) hat zum ersten Mai einen Artikel über
Gesundheitsfragen und dabei über die Abortiragc geschrieben. Er sagte u. a.:
»wir nähern uns dem Zeitpunkt, wo wir den Abort verbieten müssen und schwer
bestrafen werden«. Man sei prinzipiell eigentlich immer gegen den Abort gewesen.
Der Abort sei nicht ein Vorrecht der Reichen, daher früher die Abgrenzung von
den bürgerlichen Auffassungen; jetzt sei das Leben froh und schön geworden,
die Notwendigkeit, keine Kinder zu bekommen, sei im Verschwinden, man werde
sich nur noch auf die medizinische Indikation einstellen. Anscheinend gibt es -
soweit dieser Frau selbst bekannt — in den Abortkliniken keine Aufklarung über
den Gebrauch von Verhütungsmitteln, hingegen sind solche Mittel reichlich und
billig überall zu kaufen. (Der Artikel steht in den Moscou News, englische Aus-
gabe, die hier nicht zu haben ist.) _ _
Die Kinder leben ausserordentlich frei und ungebunden und terrorisieren die
canze Familie. Sie sprach von geradezu fantastischer Ungezogenheit. Unter den
Kindern herrscht erstens Begeisterung für schnelles Fahren, - sie bauen sich
selbst viele Fahrzeuge und mit Rädern fahren sie durch die ganze \\ohnung —
zweitens möglichst viel Lärm dabei, wenn es geht ungefähr 3 Klingeln an jedem
Fahrzeug. Niemand denkt daran, den Kindern irgendetwas zu verbieten, Er-
wachsene wie Kinder sind ehrlich entrüstet, wenn etwa Deutsche den vergeblichen
Versuch machen, um Ruhe zu ersuchen.
Finerseils herrscht grosse Prüderie, andererseits werden massenweise Zoten
175
Besprechungen
kolportiert. Es wird draussen nackt gebadet, aber streng nach Geschlechtern ge-
trennt. Die Militärbewunderung ist ausserordentlich gross. Bei der Röten Armee
finden sich durchweg gutaussehende Leute, sie werden ganz besonders gut gepflegt:
und erhalten eine sehr vielseitige militärische und kulturelle Aasbildung. Be-
sondere Begeisterung ist für den Aushau des Flugwesens vorhanden.
In den Fragen der Aussenpolitik besteht völlige Einheit mit der Regierung.
Man weiss, dass man sich zur Ahwehr rüsten muss, hofft aber, den Krieg mög-
lichst lange hinausschieben zu können. Dass die Friedenspolitik der S.U. ehrlich
ist, begegnet keinem Zweifel, aber man vertraut vielleicht allzu weitgehend der
Friedenssicherung durch das Litwinoff'sche Paktsystem.
Es besieht volle innere Zustimmung zu den .Massnahmen und Äusserungen
der Regierung, da man durchaus in der Regierung und der Partei die ausrührenden
Organe des Willens der Massen sieht. Man hat unbedingtes Vertrauen zu Stalins
Führerqualifikationen und diese werden praktisch nirgends bestritten. Dieses
Vertrauen wird gestärkt durch die Tatsache, dass Regierung und Partei den Massen
bestimmte Verbesserungen ihrer Lebenshaltung versprochen und dass diese Ver-
sprechen volle Einlösung gefunden haben. Die Formel: Stalin ist der Führer der
Sowjetvölker, findet absolute Zustimmung. Man fühlt sich nicht im Sinne anderer
Länder geführt, weil man sich mit der Führung identifiziert.
Die Bürokratie wird stark kritisiert, aber nicht, weil sie ein Fremdkörper oder
Unterdrückungsinstrument sei, sondern nur im Hinblick auf Einzelfälle, bürokra-
tische Langsamheit und Umständlichkeit; Atteste, Legitimationen, Papierchen und
Stempel sind immer noch Fetische.
Besprechungen
Theoretische Entwürfe über Autorität und Familie: Sozialpsychologischer Teil - von
Emil Fromm. In: .Studien über Autorität und Familie". Forschungsberichte aus dem
Institut für Sozialforschung.
Librairie Felix Alcan, Paris 1936
Wie bringt es der Verfasser fertig, zwei in so hohem Masse gesellschafts-
kritische Methoden, wie Psychoanalyse und Marxismus bei der Behandlung seines
Themas zu kombinieren und sich dennoch von jeder politischen Stellungnahme,
jeder Andeutung einer praktischen Konsequenz fernzuhalten V
Zunächst durch die Wahl der Beispiele! Im ersten Abschnitt »Mannigfaltig-
keit der Autoritätserscheinungen« werden alle möglichen Situationen beschrieben;
doch von den Autoritätserscheinungen, die den Faschismus prägen, kein Wort.
Überhaupt ist von ihm in der ganzen Arbeit nur unter der akademisch-neutralen
Bezeichnung »autoritärer Staat« die Rede.
Die autoritäre Einstellung erklärt F. in der Folge im Anschluss an Freud
aus der Verinnerlichung der elterlichen Autorität. Doch habe Freud übersehen,
dass diese Autorität nicht einer jeweils zufälligen individuellen Situation ent-
springt, sondern aufs engste mit dem gesellschaftlichen Inhalt der Familien-
institution überhaupt zusammenhängt. In unserer Gesellschaft würde
»eine Fügsamkeit, die nur auf der Angst vor realen Zwangsmitteln be-
ruhte einen Apparat erfordern, dessen Grösse auf die Dauer zu kost-
spielig wäre (S. 84) Es ergibt sich, dass, wenn äussere Gewalt die Ge-
fügigkeit der Massen bedingt, sie doch in der Seele des Einzelnen ihre Qualität
verändern muss. Die hierbei entstehende Schwierigkeit wird teilweise durch
Überichbildung gelöst (S. 84)
In dem relativ determinierenden Charakter der Kindheitserlebnisse liegt
der Grund dafür, dass bestimmte psychische Strukturen oft über die gesell-
schaftliche Notwendigkeit hinaus ihre Kräfte behalten« (S. 85).
Richtig! Doch diese Gedanken standen bereits Herbst 1933 in der »Massen-
psychologie des Faschismus« — vgl. besonders den von Reich in die marxistische
Gesellschaftslehre eingeführten Begriff »psychische Struktur«. Warum unterlässt
es Fromm, Mps. zu zitieren?
Doch wie wird diese Struktur individuell verankert? Durch das von der
gleichen Struktur geprägte Verhalten des Erwachsenen, antwortet F. ganz richtig.
176
Besprechunger»
»Es ist also nicht in erster Linie die biologische Hilflosigkeit des kleinen
Kindes, die ein starkes Bedürfnis nach strenger Autorität erzeugt; die aus
der biologischen Hilflosigkeit sich ergebenden Bedürfnisse können von einer
dem Kinde freundlich zugewandten und nicht einschüchternden Instanz er-
füll! werden. Es ist vielmehr die soziale Hilflosigkeit des Erwachsenen, die
der biologischen Hilflosigkeit des Kindes ihren Stempel aufdrückt.«
Aber Fromm verschweigt, dass es sich hier vor allem um sexuelle Bedürfnisse
handelt und umgebt so mit bewundernswertem Geschick das ganze Problem der
gesellschaftlich bedingten Sexualunterdrückung.
Besonders grotesk wirkt in diesem Zusammenhang der Hinweis auf die
mutterrechtliche Gesellschaft, in der von einem Ödipuskomplex im Freudsehen
Sinne nicht gesprochen werden kann. Was ist aber in dieser Gesellschaft anders?
Werden die Kinder sexuell nicht eingeschränkt? wie Malinowski uns bekanntlich
berichtet. — Nein. Nach F. besteht der entscheidende Unterschied darin, dass die
beiden Funktionen des allmächtigen sexuellen Rivalen und der allmächtigen
Autorität »z. B. in einer Reihe von primitiven Stämmen auf den Multerbruder
und den Vater verteilt« sind.
Im Abschnitt über »Autorität und Verdrängung« finden sich eine Reihe kluger
Beobachtungen. Auch die Bedeutung der ungehemmten genitalen Sexualität für
eine gesunde Entwicklung wird scheinbar anerkannt. Doch Sexualbcfricdigung
schaffe nicht schon an sich ein starkes Ich, was wir an den Primitiven beobachten
können. -
»MUSS auf Grund der Veränderung der ökonomischen Bedingungen mehr
Energie auf die Beherrschung der Natur verwandt werden, so wird im Gegen-
teil die neue Lebenspraxis und der damit verbundene Prozess des Ich-
wachstums Einschränkungen der Sexualität notwendig machen und diese
Sexualunterdrückung kann zu einer Bedingung der Ich-Entwicklung werden.«
In diesem Gedankengang steckt vielleicht als einziger richtiger Kern, dass
bestimmte durch Sexualunterdrückung entstandene Strukturen zu bestimmten
Arbeiten in der kapitalistischen Produktion besonders geeignet machen. Subjektiv
können solche Strukturen dem Individuum heute nützlich sein, objektiv bedeuten
sie eine Einbusse an Arbeitskraft und Lebensfreude, eine Einbusse. die eine so-
zialistische Gesellschaft durch entsprechende Organisation der Arheit überflüssig
machen wird. Nur die kapitalistische Gesellschaft bedarf zur Bewältigung der
Naturmächte sexuell gestörter Menschen.
Im Sehlussabsebnitt beschreibt F. die sadistisch-masoehistische Durchschnitts-
struktur des Menschen unserer Gesellschaft. Reichs Masoehismuslheorie wird
wegen »physiologistischer Überschätzung des sexuellen Faktors« abgelehnt. Darum
fehlt auch leider jede tiefere psychologische Begründung für die verschiedenen
Vcrhaltungsweisen, in denen F. diese Struktur ausgedrückt findet. Doch ihre
Beschreibung au sich ist geistvoll und lehrreich, leider in der Anordnung etwas
unsvstematisch. ,-,,,„ i
Autorität wird es nach F. im Interesse geordneter Wirtschaftsführung auch,
in einer auf Interessensolidität aufgebauten Gesellschaft geben, allerdings nur
mehr eine rationale. In der Erziehung wird sie in einer solchen Gesellschaft aus-
schliesslich der Entfaltung des Kindes dienen.
»soweit sie die Unterdrückung bestimmter Triebregungen fordern muss,
ist auch diese triebeinsebränkende Funktion verschieden (von der im Kapi-
talismus, d. Ref.), weil sie im Interesse der Gesamtpersönlichkeit des Kindes
liegt« (S. 135).
Doch eine solche Entfaltung mit Triebeinschränkung wurde notwendig zu
irrationaler Autoritätsbereitschaft führen, also F.s eigenes Programm gefährden.
F. kennt eben nicht den erst von der Sexualökonomie herausgearbeiteten Begriff
der Selbststeuerung. . , _ ,
Kehren wir zur Frage zurück, von der wir ausgegangen sind. F. kann zu
keinen politischen Konsequenzen gelangen, weil er einerseits in viel zu hohen
Abstraktionen ohne Kontakt mit den Bedürfnissen der politischen und pädagogi-
schen Praktiker an theoretischer Klärung arbeilet. Doch ein solcher Forscher
sollte sich dann lieber nicht Marxist nennen oder sich zu einer neuen Art Marxis-
mus bekennen, der sich vom wirklichen durch Trennung von Theorie und I raxis
unterscheidet. Wesentlicher noch ist es, dass F., statt den Weg der Scxualokonomie
zu gehen, die sexualverneinende Wendung der analytischen lheorie mitmacht
177
Besprechungen
und sich damit den Ausblick auf die Wichtigste Praxis versperrt, zu der der
Einbau der Tiefenpsychologie in den Marxismus führt: Nämlich die Praxis der
Sexualpolitik und sexualökonomischen Massenpsychologie.
Sein Beispiel zeigt, wie in der unkritischen Kombination »Marxismus +
Psychoanalyse« die letztere zu einem praktisch überflüssigen Zierrat werden oder
sogar direkt zu einer anlisozialistischcn Verbiegung der revolutionären Theorie
führen kann. jf, ■]'.
Lorimer, Frank and Osborn, Frederick: Dynamics of Population
Social and Biological Significance of Changing Birth Rates in (he United States
(The Macmillan Company, New York, 1934, 460 S.)
Unter den Schlagwortes »Hasse« und »Bevölkeruhgspolitilt«. hat das Dritte
Reich eine Reihe schwerer Angriffe auf die Lebenshaltung und Lebensführung
der Werktätigen unternommen. Deshalb besteht in der Arbeiterbewegung ein
wohlbegründetes Misstrauen gegen alles, was mit diesen Begriffen zusammen-
hängt. Um so erfreulicher ist es, wenn sich Gelegenheit bietet, ein Buch zu be-
sprechen, dem gegenüber dieses Misstrauen nicht am Platze ist, dessen Autoren
sich vielmehr um absolute Objektivität bemühen und dadurch eine Arbeit ge-
schaffen haben, die gewiss für lange Zeit ein Standardwerk der amerikanischen
und darüber hinaus der internationalen Bevölkerungs-wissenschaft bleiben wird.
Der erste Teil des Buches behandelt die innerhall) der U. S, A. festgestellten
Unterschiede der Bevölkerungsbewegung. Diese sind sehr beträchtlich, ebenso gross
wie zwischen den einzelnen europäischen Staaten. Der Abstand etwa zwischen
dem kinderreichen Utah und dem kinderarmen Kalifornien entspricht annähernd
dem zwischen England und Ostpolen. Zwischen Stadt und Land besteht ebenfalls
eine grosse Differenz: Während die Landbevölkerung noch immer genug Kinder
hat, um sich in jeder Generation um die Hälfte zu vermehren, bleiben die grossen
Städte — nach den Zahlen für 1930 — um 20 bis 25 Prozent unter dem Lrhaltungs-
minimum, sind also auf Zuzug von aussen angewiesen. Was endlich den Kinfluss
der sozialen Lage anlangt, so ist festzuhalten, dass die niedrigsten Geburtenziffern
bei den freien Berufen, Angestellten und Geschäftsleuten zu finden sind, dass aber
der Typus dvv »Kleinfamilie« bis weit in die Kreise «1er qualifizierten Arbeiter
vorgedrungen ist. Neben der landwirtschaftlichen Bevölkerung sind nur die Berg-
leute und einige Gruppen ungelernter Arbeiter als relativ kinderreich zu be-
zeichnen.
Es kann keine Rede davon sein, dass der moderne Geburtenrückgang durch
ein natürliches Nachlassen der Fortpflanzungsfähigkeit, durch ein »Altern« oder
»Vergreisen« der abendländischen Völker verursacht sein könnte. Unfruchtbarkeit
als krankhafte Erscheinung kommt heute kaum öfter vor als 1880. Mit Recht
suchen Lorimer und Osborn die Ursache der Fruchtbarkeitsunterschiede im Wirt-
schaftlichen, in der Sorge um das tägliche Broi. um den gehobenen Lebensstandard,
um die Zukunft der Kinder. Line grosse Rolle spielt auch die lange Ausbildungs-
zeit in vielen Berufen, die erst spät zu einem entsprechenden Einkommen führen.
Demgegenüber treten die früher viel beachteten religiösen Momente in den Hinter-
grund. Gewiss, der fromme Katholik, der protestantische Fundamentalist, der
orthodoxe Jude, alle verpönen jedes Kingreifen in den Willen Gottes, der in der
natürlichen Fruchtbarkeit des Menschen zum Ausdruck kommt. Aber auch in
Amerika ist die Zahl der wahlhaft Frommen, die den Geboten ihrer Kirche un-
bedingt und unter allen Umständen Folge leisten, klein geworden. Geburten-
regelung hat heute auch in Kreisen Eingang gefunden, die sonst konservativ sind.
Für die nächsten Jahrzehnte ist eine fortschreitende Angleichnng der Ge-
burtenziffern wenigstens innerhalb der Stadtbevölkerung zu erwarten, wie sie in
Europa schon vielerorts beobachtet wurde.
Ein weiterer Abschnitt des Buches beschäftigt sich mit den Intelligenzprüfun-
gen (Tests) die von einer Reihe von Forschern an vielen Tausenden von Kindern
vorgenommen worden sind. In übereinstimmender Weise haben diese Unter-
suchungen eine Überlegenheit der Weissen über die Neger ergeben und einen noch
grosseren Unterschied zwischen den Kindern der Gebildeten und Wohlhabenden
einerseits und Arbeiter- und Bauernkindern andererseits. Selbstverständlich han-
delt es sich dabei nur um Durchschnittswerte; die »Überschneidungen« sind sehr
gross. Mit diesen Zahlen ist ein unerhörter Missbrauch getrieben worden. In kri-
tikloser Weise wurden sie zu dem Versuche verwendet, die kapitalistische Gesell-
178
Besprechungen
Schaftsordnung »biologisch« zu roch Ifcrt igen. Lorimer und Oshorn untersuchen
das Problem, ob bei diesen Tests wirklich die angeborene, ererbte Intelligenz
gemessen wurde, an Hand eines einwandfreien sfat ist ischen Materials. Sie stellen
dar, dass die Unterschiede, deren Existenz sich nicht leugnen liisst, in erster
Linie und in ihrer Hauptsache als Kolgen äusserer Einflüsse -u betrachten sind,
als Produkte des verschiedenen kulturellen Milieus, das seihst wieder vor allem
durch die soziale und wirtschaftliche Lage bestimmt wird.
Trotzdem sind die grossen Unterschiede der Fortpflanzung nicht gleichgültig.
Es ist sicher nicht gut vor allem auch für die betreffenden Kinder nicht —
wenn ein unverhältnismässig grosser Teil des Nachwuchses ans in jeder Beziehung
zurückgebliebenen Teilen des Landes und aus den ärmsten Schichten der städti-
schen Bevölkerung stammt und so allen körperlichen, geistigen und seelischen
Schäden einer denkbar ungünstigen Umwelt unterworfen ist. bine wirksame Ab-
hilfe ist freilieh erst in einer Gesellschaft zu erwarten, die in ganz anderer Weise
für ihre Kinder — und ihre Erwachsenen sorgt, als es heuie in ('.S.A. der Fall ist.
G. r.
Enid, Charles: The Twilight oi Parenthood
(Watts & Co., London 1934,226 Seiten)
17!KS erschien die erste Auflage der klassischen Schrift des Thomas R.MalthuS,
der berühmte »Versuch über das Bevölkerungsgesetz«. Obwohl der englische
Reverend sein Buch als eine Streitschrift wider die sozialistischen Ideen seines
Landsmanns (iodwin hatte erscheinen lassen, wurde die Vorstellung von der
drohenden Übervölkerung der Erde mit ihr Zeit immer mehr zum geistigen Be-
sitztum linksgerichteter Kreise und damit auch breiter Arbeiterschichten in vielen
Ländern. Karl Marx freilieb und die andern sozialistischen Führer haben die
Malthus'sche Lehre slets energisch zurückgewiesen. Enid Charles, die der revolu-
tionären Arbeiterbewegung nahesteht, zeigt in ihrem Buch, dessen Titel man wohl
am besten mit »Klternschaflsdämineruiig« übersetzen könnte, (lass heute weniger
denn je Grund für die Befürchtung vorhanden ist. es müsse in absehbarer Zeit
der Bevölkerung unseres Planeten an Nahrung mangeln. Die Fortschritte der
modernen landwirtschaftlichen Technik und Chemie, namentlich auf dem Gebiete
tlvr Schädlingsbekämpfung, würden es ohne weiteres gestatten, den Ertrag des
bebauten Hodens auf mehr als das Doppelte zu steigern. Dazu kommen Hunderte
Millionen Hektar, die noch auf den Pflug warten.
Im Lauf dos neunzehnten .lahrhundeiis hat sieb die Kopfzahl der Menschheit
mindestens um 100 Prozent vergrössert. Heule ist das Wachstum kein so unbän-
diges mehr. Der Geburtenrückgang, der seinerzeit auf Frankreich beschränkt er-
schien, hat grosse Fortschritte gemacht; viele Länder haben Frankreich in dieser
Hinsicht längst überholt. In fast allen Staaten, in denen die kapitalistische Wirt-
schaftsform voll entwickelt ist, in Nordwesteuropa ebenso wie in U. S.A., reicht
die Zahl der Geborenen nicht mehr aus. den blossen Bestand dev Bevölkerung auf
die Dauer zu sichern. Nur dem abnormalen Altersaufbau dieser Länder ist es
zuzuschreiben, dass heule noch fast überall ein wenn auch kleiner (ieburlenüber-
schuss besteht. In ein bis zwei .lahrzehntcn aber wird sich diese Abnormalität
ausgeglichen haben; dann muss das Wachstum der Bevölkerung zum Stillstand
kommen und einer zunächst ganz langsamen, bald aber immer rascher werdenden
und sehr ausgiebigen Abnahme Platz machen. In einigen Staaten, in England,
Österreich, Schweden und Norwegen, wahrscheinlich auch in Deutschland ist das
Zweikindersystem nicht nur völlig verwirklicht, sondern bereits überschritten.
\uch die restlose Liquidierung der gesamten Kindersterblichkeit — ein sicher
unerreichbares Ideal - wäre hier nicht imstande, dem Pevölkerungsschwuml Fin-
gebieten, wenn nicht die Geburtenziffer wieder ansteigt. Das aber dieses
zu
Ereignis bald eintreten könnte, dafür besteht nicht der geringste Anhaltspunkt.
Die Kräfte, die den Geburtenrückgang verursacht haben, wirken weiter und
zeigen eher eine Tendenz, immer stärker wirksam zu werden. Sie entspringen dem
Wesenskern des Kapitalismus, (k-v somit nicht imstande ist. den Weiterbestand
seines eigenen physischen Substrats zu garantieren. Eine solche Gesellschafts-
ordnung ist dem Untergang geweiht und muss abtreten. Die sozialistische Welt
aber, die alle Produktivkräfte (\vr menschlichen Gesellschaft befreien und dem
ganzen Leben einen neuen, höheren Sinn geben soli. wird weder die Übervölkerung
der Erde, noch das Schreckgespenst des Völkertodes zu fürchten brauchen.
<:. r.
179
Besprechungen
Professor, Dr. Hugo llfis: Der Mythos von Blut und Rasse
(Verlag Rudolf Harand, Wien 1936,80 Seiten mit 30 Bildern)
Eine mutige, zielklare Kampfschrift des bekannten Brünner Gelehrten, eine
rücksichtslose Entlarvung der hakenkreuzlerischcn PseudoWissenschaft. Mit
grossein Geschick und viel Temperament zerpflückt litis die »Argumente« der
Rassetheorie und vergisst dabei auch nicht die wirtschaftlichen und politischen
Hintergründe zu beleuchten, von denen man nicht spricht. »Edelrasse« sagt man
und »Ausbeutung« meint man; hinter der »Einheitsfront der Nordischen Hasse«
verbirgt sich, krassester neudeutscher Imperialismus und hinter der »heldischen
Artung« lauert die Fratze des Giftgaskrieges. Alle berechtigten und unberechtigten
Minderwertigkeitsgefühle des deutschen Volkes werden von den Rassisten in
gigantischster Weise überkompensiert, eine Massenneurose allergrössten Umfangs
künstlich erzeugt. Möge die vorliegende kleine Schrill ihren Teil dazu beitragen
die übrige Menschheit gegen die gefährliche und ansteckende seelische Erkrankung,
genannt »Rassenwahn«, zu immunisieren. <:. '/'.
„Das braune Netz"
Wie Hitlers Agenten im Auslande arbeiten und den Krieg vorbereiten
(Edition du Carrefour, Paris)
Eine Materialsammlung über die Arbeil der hitl ersehen Gestapo mit ihren
25.000 Agenten und Informatoren im Ausland und über die lange Reihe der Nazi-
Auslandsorganisationen. Ein nützlicher Anschauungsunterricht auch darüber, was
ein •einheitlich geleiteter I'ropagandaapparal ausrichten kann. Das Buch ist mit
seinen nahezu 400 Seilen zu langatmig und wiederholt oft. Als Handbuch für die
aktiven Hitlergegner müsste es viel konkreter sein. Da es vor allein für Bürger
im Ausland geschrieben ist, wird zu viel geschwafelt. Trotzdem muss jeder Hitler-
gegner es kennen. — /.
Will Schaber: Kolonialware macht Weltgeschichte
(Romanitas Verlag, Zürich)
Schaher hat interessante Betrachtungen darüber geschrieben, wie Safran und
Kakao. Gewürze, Tee und Kautschuk. Chilesalpeter, Baumwolle und Kaffee, Reis,
Opium und Zelluloid, ahessinische Schätze und Zuckerrohr »Weltgeschichte«
machen. Er enthüllt diu Kolonialunterdrückung und stellt sieh ganz auf die Seite
der Befreiungskämpfe der Kolonialsklaven. Aber so ehrlich er auch diese Stellung
bezieht, bleibt doch das ganze Buch etwas in der Luft hängen, da es in idealisti-
sche Formeln gehüllt ist. Gleich einleitend heissl es sozusagen programmatisch
darüber: »Es war das Schicksal fast aller bisherigen Kulturen, dass das Aussen
durch das Innen dementiert, dass die Macht des Geistes durch den («eist der Macht,
die Form durch den Stoff, der Inhalt durch das Dekorum verdrängt wurde«. Und
für das Morgen stellt er als Programm: »Alle Materie wird dem Geist Untertan«.
Kr sieht in der Materie das Böse, im (ieist das höhere Morgen. Er steht darum
nicht mit beiden Beinen auf der Erde, von der aus die »Aufhebung aller äusseren
und inneren Kolonialschande«, die auch er erstrebt, zu vollziehen ist. — •'.
An alle Freunde und Leser!
Wir ersuchen alle Freunde und Leser der Zeitschrift, alles Mate-
rial, das über uns erscheint, zu sammeln und der Redaktion einzu-
senden.
Manuskripte
sind an Postbox 3010, Oslo. Norwegen, maschinengeschrieben und völlig druck-
fei'lig zu schicken. Manuskripte mit unleserlichen, handschriftlichen Korrekturen
werden zurückgeschickt. Die Autoren erhalten - vorläufig noch - kein Honorar,
haben jedoch Anspruch . auf 5 (iratisexemplare der betreffenden Zeitschrift für
Originalartikel Gute Artikel und Berichte von i>ölli<i mittellosen Autoren werden
demnächst aus dem Sexpol-Fond honoriert werden. Solche Autoren mögen sich an
die Redaktion der Zeitschrift um Honoricrung wenden.
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Wilhelm Reich
Die Sexualität im Kulturkampf
Zur sozialistischen Umstrukturierung des Menschen
II. erweiterte Auflage
von „Geschlechtsreife, Enthaltsamkeit, Ehemoral"
Preis: Kart. Dan. Kr. 10.-, in Leinen geb. Dan. Kr. 12.-.
Inhaltsverzeichnis:
.
ERSTER TEIL:
Das Fiasko der Sexualmoral
I.Kapitel: Die klinischen Grundlagen der sexualpoli-
tischen Kritik
II. Kapitel: Die Misere der Sexualreform
III. Kapitel: Die Eheinstitution als Grundlage von Wi-
dersprüchen des bürgerlichen Sexuallebens
IV. Kapitel: Der Einfluss der bürgerlichen Sexualmoral
V. Kapitel : Die bürgerliche Familie als Erziehungs-
apparat
VI. Kapitel : Das Problem der Pubertät
VII. Kapitel : Ehe und sexuelle Dauerbeziehung
ZWEITER TEIL:
Der Kampf um das »neue Leben« in der Sowjetunion
I. Kapitel : Die »Aufhebung der Familie«
IL Kapitel : Die sexuelle Revolution
III. Kapitel: Die Bremsung der Sexualrevolution
IV. Kapitel : Befreiung und Bremsung in der Geburten-
regelung und der Homosexualität
V. Kapitel : Die Bremsung in den Jugendkommunen
VI. Kapitel : Einige Probleme der kindlichen Sexualität
VII. Kapitel: Was folgt aus dem sowjetistischen Kampf
um das »Neue Leben«?
Zu beziehen durch:
Sexpol-Verlag, Kopenhagen/Dänemark, Postbox 827
| Kopenhagen 30302
Postgirokonto J ^ 78?90 (Jorgen Neerflaard)
Vit^empfehlen der Beachtung unserer Leser;
W. REICH:
MASSENPSYCHOLOGIE DES FASCHISMUS
II. verbesserte Auflage
Zur Sexualpolitik der pol. Reaktion und zur proletarischen Sexualpolitik
Preis: Broschiert dänische Kr. 8. — , gebunden dänische Kr. 9.—
W. REICH:
DER SEXUELLE KAMPF DER JUGEND
Eine Kampfschrift zur Politisierung der sexuellen Frage der Jugend
Preis: Kartoniert dänische Kr. 2.45, gebunden dänische Kr. 4.25
W. REICH:
EINBRUCH DER SEXUALMORAL
ZUR GESCHICHTE DER SEXUELLEN ÖKONOMIE.
Neuauflage 1934 bedeutend erweitert — Eine wissenschaftliche Unter-
suchung über die Funktion der Sexualmoral im gesellschaftlichen Prozess
Preis: Kartoniert dänische Kr. 6. — , gebunden dänische Kr. 8.—
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CHARAKTERANALYSE / Ihre Technik und Grundlagen
Eine bedeutende Zusammenfassung klinischer Erfahrungen mit grundle-
genden techn.-therapeutischen Ausführungen z. Thema: Charakterologie
Preis: Broschiert dänische Kr. 11.26, gebunden dänische Kr. 12.80
W. REICH:
DIALEKTISCHER MATERIALISMUS UND
PSYCHOANALYSE
Erste zusammenfassende Schrift über die Anwendung der Psychoanalyse
in der Geschichtsforschung und des dialektischen Materialismus auf
psychologischem Gebiet. 60 Seiten. Preis: dän. Kr. 2.70
ERNST PARELL:
WAS IST KL ASSENBEWUSSTSEIN?
Eine wegweisende Studie zur Frage Psychologie des Massenindividuums, '
zum Problem Masse-Staat, Partei-Masse. — Preis: Brosch. dän. Kr. 1.30
KARLTESCHITZ: (Neuerscheinung!)
RELIGION, KIRCHE, RELIGIONSSTREIT
IN DEUTSCHLAND
Eine Darstellung des Religionskampfes in Deutschland und eine Unter-
suchung über die Grundlagen der Religion. — Preis: dän. Kr, 3.50
r
Verleger: Verlag für Sexualpolitik, Kopenhagen, Postbox 827
Verantwortlich f. d. Redaktion« Dr. J. H. Leunbach, Kopenhagen
Gedruckt bei Univeraal Trykkerlet - Kopenhagen - Rfeenigade 21
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