BAND: 4 HEFT: 2 (13)
1937
f^
XEITSCHRIFT FÜR
POLITISCHE PSYCHOLOGIE
UND SEXUALÖKONOMIE
ORGAN DER SEXPOL
HERAUSGEBER: SIGURDHOEL
n
INHALT!
Jörgen Neergaard, gest. 2.2.37.
Rede bei der Beisetzung-
Leunbach - verdienter Lohnf
Aus der sexualökenomischen Lebensfonchung.
Der Orgasmusreflex-
Mitfeilung aus dem Int. Institut f. sexualök. Forsctiung-
Irrationalismus in Polifik und Geseilschaft-
Der Moskauer Prozess-
Aus dem chinesischen Patriarchat-
Sexpol-Bewegung-
Zur Entlassung unserer Kollegen Dr. Leunbach und Philipson-
Sexpol-Korrespondenz
Buchbesprechungen
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ZEITSCHRIFT FÜR
POLITISCHE PSYCHOLOGIE
UND SEXUALOKONOMIE
BAND 4
HEFT 2 f13)
19 3 7
1
Jörgen Neergaard
Gest. 2. Februar 1937
Die Sexpol ist eine junge Bewegung. Kaum den Kinderschuhen
entwachsen. Es gibt noch wenige verlässliche, umsichtige, die SexuaJ-
okonomie begreifende, unnachgiebige Mitarbeiter. J0rgen Neereaard
war emer von den wenigen. Er hatte ein Stück des Elends und Wider-
spruchs_ des Mittelstandes an sich selbst erlebt und wurde revolutionä-
rer Soziahst. Er warm hohem Masse und bisher unersetzbar geeignet
revolutionärer Mittelstandsf uhrer zu werden. Wir liebten und schätz-
ten ihn; er war ein guter Kamerad, der intensiv lernen und gleich-
zeitig selbständig denken konnte. Wir wussten, er war geeignet, die
schwersten Proben naturwissenschaftlicher Einsicht und revolutionärer
Entschlusskraft zu bestehen. Er hatte den Sinn und die eesellschaft
liehe Kraft unbeugsamen Wahrheitssuchens erfasst SeseJlschatt-
Wir werden ihn nicht vergessen!
Wilhelm Reich
Rede bei der Beisetzung
Gehalten von Arnulf 0verland
Plötzlich bekommt eine Redensart - schon ausgehöhlt vom Miss-
braueh -- ihre volle Bedeutung wieder: Wir erleiden einen vZluT
vielleicht emen unersetzlichen Verlust vermst —
^^ramS.J^fJf^^''""^ .^il"'^^* ]"' ^^"^- Theoretische Ausbildung,
ÄÄ.1^^^^^^^ t^berwindun^g
DÄ^..rT'T^?' ^'VI '^"^ ^^'^^^^ ^^tte. Da starb er.
WilSL iSlt ^'^^ Fundament für eine politische Psychologie ist von
Ser blS^^n "1^^ '^*''^^"- ^^^"^ '^h^«"^" ^^^^^ nicht auf dem
Meuw^r; ^^\r^^^" ^"^ Leben wirksam werden, damit sie
■-. ■niei eine politische Tätigkeit zu entfalten.
INTERNATIONAL
PSYCHOANÄLYTIC
UNIVERSITY
DIE PSYCHOANALYTISCHE HOCHSCHULE IN BERLIN
65
Arnulf 0verland
Was an praktisch organisatorischer Arbeit notwendig ist, um eine
Idee ins Leben umzusetzen, das muss von solchen geleistet werden, die
Bürgerrecht in dem Gemeinwesen haben, in dem sie wohnen. Zwar
sind auch die 'nordisehen Länder durch politische Grenzen geschieden;
aber diese Grenzen sind nicht unübersteigbar. Als Ganzes gesehen
sind die nordischen Länder eine Einheit. Und ob J0rgen Neergaard
sieh nun in Norwegen oder in Dänemark niedergelassen hätte — soweit
ich sehen kann, wäre er vor allen anderen der Mann gewesen, der einen
sexualpolitischen Massenkampf zu einem Faktor im Leben der nor-
dischen Gesellschaft hätte machen können.
So wenig er selbst zu seinen Lebzeiten seine Meinungen verhehlte
oder sich seiner Lebensaufgabe schämte, ebensowenig sollen sie hier
versehwiegen oder verleugnet werden.
Er wollte, dass der Mensch die Angst vor seinem eigenen Glücke
überwinde. Er wollte es uns klar machen, dass der Trieb nichts Nie-
driges oder Unreines ist, sondern des Lebens höchster Wert, — dass
die biologische Funktion die Quelle ist für die seelische Gesundheit des
Menschen, für seine Freiheit und sein inneres Gleichgewicht, — dass
sie Arbeitskraft, Freudigkeit, Verträglichkeit gibt, — dass sie eine
Voraussetzung ist für das Zusammengehörigkeitsgefühl unter den
Menschen, jenes Zusammengehörigkeitsgefühl, das dem Kriege Aller
gegen Alle ein Ende bereiten soll.
Er wusste, dies erreicht man nicht mit gefühlvoller Wohlberedsam-
keit, nicht durch Anrufung mystischer Kräfte, nicht durch die Ver-
kündung irgendeines Glaubens. So etwas haben wir durch Jahrtau-
tausende getan, bis wir nun diese unsere Gegenwart das Zeitalter der
Bürgerkriege und der Konzentrationslager nennen können!
Eine Änderung der menschlichen Lebensbedingungen und der
Gesellschafts Verhältnisse erreicht man nur durch methodische Arbeit
auf wissenschaftlicher Grundlage — auf marxistischer und sexualöko-
nomischer Grundlage. Auch Psychologie muss zu einer Naturwissen-
schaft werden, ehe sie politische Bedeutung, das heisst Bedeutung für
uns alle bekommen kann.
Es war J0rgen Neergaards Meinung und Vorsatz, dass sie solche
Bedeutung bekommen sollte. Pessimist war er nicht. Ohne Glauben
war er nicht. Er glaubte an die Menschen und er glaubte an das
Leben.
Er musste das tun. Denn so war er beschaffen. Selten habe ich
eine so unbeugsame, eine so unüberwindliche Vitalität gesehen.
Zum letzten Male sah ich ihn an einem Abend, unmittelbar nachdem
die Kopenhagener Ärzte Leunbach und Philipson, gewissenhafte und
tadelsfreie Männer, zu Gefängnis und zum Verluste des Kechtes zu
praktizieren verurteilt worden waren.
Wir waren zusammengekommen, um uns darüber zu unterhalten.
J0rgen Neergaard hatte durch viele Monate hindurch im Reichshospital
gelegen Nun war der todkranke Mann aufgestanden und zu dieser
Zusammenkunft gekommen. Und wenige Tage vor seinem Tode dik-
tierte er seine Broschüre über Leunbach, eine kleme Schrift, die in
ihrer einfachen und überzeugenden Klarheit ein Musterbeispiel lur
politisches Schrifttum ist.
66
Leunbach - verdienter Lohn?
Körperlich gesehen war er heinahe tot. Seit einem Jahr schon hatte
man mit seinem Tode rechnen müssen, wenn ihn nicht seine einzpg-
artige Energie aufrechterhalten hätte. , . , ,. ■ ,
Immer aktiv wie Jßrgen Neergaard war. hinterliess er viele
Freunde und — zu seinem T^be sei es gesagt — viele Femde. Mehr
noch wären es geworden, wenn er am Leben geblieben wäre. _ Denn
die Menschen betreten ungern den Weg des Fortschritts und sie sind
denen nicht immer dankbar, die sie dazu zwingen wollen, vorwärts zu
Seine Aufgabe hat er uns hinterlassen. Wir müssen versuchen sie
zu lösen m seinem Geiste - in seinem unbefangenen und sachhchen
Geiste.
Leunbach — verdienter Lohn?
Von Jörgen Neergaard
In den letzten Monaten haben der Vorschlag der dänischen Regierung
hinsichtlich Schwangerschaftsunterbrechung und mehrere grosse Pro-
zesse mit sensationellen Urteilen wieder eine wirbelnde Diskussion um
das Abortproblem hervorgerufen. Im Mittelpunkt dieses heissen Kamp-
fes standen zwei Personen, die in besonderem Grade zwei verschiedene
Gesichtspunkte repräsentierten. Justizminister Stemcke emerseits und
der Arzt J. H. Leunbadt andererseits. Beide wurden heftig angegriffen.
Beide wehrten sich mit Klauen und Zähnen.
Es sieht vorläufig so aus. als ob Stemcke, der sich öffentlich zum
«Gentleman-Ideal» bekannt hat, als Sieger dasteht. Sem Vorschlag
scheint durch den Reichstag zu gleiten und Gesetz zu werden, wahrend
Leunbach kein anderes Resultat aufzuweisen hat, als dass er zum Ver-
brecher gestempelt wurde, dass man ■ ihn zu drei Monaten Gefängnis
verurteilte und ihm seine bürgerlichen Ehrenrechte nahm wodurch ei
seine Erwerbsmöglichkeit als Arzt verhert.^ Er ist em Mann von 52
Jahren, somit kann kein Zweifel darüber sein, dass die Absicht ist, ihn
endgültig aus dem Felde zu schlagen. ^ , ^ . ,. , . , .^
Steincke ist den allermeisten bekannt. Er ist ^>» ^5^™- ^^^^J.^.^^J'
Scheinwerferlicht nicht entzieht. Von Lennbadiv^eiss die breite Öffent-
lichkeit nichts anderes, als dass er besonders bekannt ist durch Abtrei-
bungsprozesse und sexuelle Aufklärung, zwei Dinge die m den Augen
der meisten einen recht unbehaglichen Sehern an sich haben. Es gibt
sSieXh viele Menschen im Lande, die, wenn der Name Leunbach ge-
nannt wird, sich ein finsteres Individuum vorstellen. Auf viek Men-
schen wirkt das Gesicht des Mannes auf den Photographien verdachtig,
es isi Ttwas Fremdartiges an ihm - tatsächlich hat er auch Indianer-
blut in den Adern - und Vorstellungen von blutigen Operationen, leicht-
fertigen Frauen, die aus Faulheit od^r Vergnügungssucht nicht gebaren
67
Jsrgen Neergaard
mögen, unanständigen Arzthonoraren und gesellschaftszersetzender
Pornographie melden sich in schneller Reihenfolge. Alle braven und
besonnenen Menschen haben imwillkürlich die Auffassung bekommen,
dass Leunbach im Grunde doch wohl ein gottleugnender Volksverführer
ist, der die Jugend ins Verderben führen und die Volksmoral zerstören
will, so dass es zu chaotischen Zuständen im Lande kommt. Sie werden
also sicherlich verständnisvoll nicken, im Stillen das Urteil über Leun-
bach billigen und die Zeitung mit den Worten «Verdienter Lohn» zu-
sammenfalten.
Auf den folgenden Seiten wollen wir nun versuchen, uns in grossen
Zügen ein Bild von diesem Mann Leunbach zu machen — und darüber,
wie er in die jetzige Situation geraten ist.
Es fing damit an, dass er ein ganz gewöhnlicher junger Arzt mit
Krankenhausausbildung war, und er unterschied sich kaum nennens-
wert von anderen Ärzten als dadurch, dass er sich etwas mehr für
das Studium sozialistischer Probleme von rein theoretischer Art inter-
essierte.'
Er schrieb kleine Artikel, beinahe von philosophischem Zuschnitt,
hauptsächlich in «Socialdemok raten», und er gab ein Buch über soziali-
stische Lebensanschauung heraus. Da er nun so ein netter junger
Mann war, der lesenswerte Artikel schrieb, dazu noch Arzt, so ergab
es sich ganz von selbst, dass man sich an ihn wandte, als eine Gruppe
Arbeiterfrauen einmal einen populären Vortrag über die sexuelle Frage
haben wollte. Leunbach hielt einen Vortrag und behandelte darin auch
die Frage vorbeugender Mittel. Er erzählte — was freilich nicht in
den medizinischen Lehrbüchern stand, sondern worüber er bei einem
seiner Lehrer gehört hatte — über das «Pessar», eine kleine Gummi-
schale, die leicht vor die Gebärmutter gesetzt werden kann und die
die Samen körperchen am Eindringen hindert, so dass man auf eine
vollständig unschädliche Weise dem Eintreten einer nicht erwünschten
Schwangerschaft vorbeugen kann.
Das interessierte die Arbeiterfrauen ausserordentlich und sie baten
Leunbach, ihnen mehr über diese Sache zu erzälilen. Nun ja, das Pessar
hat den Vorteil, dass es beim Geschlechtsakt nicht störend wirkt und
weit sicherer in seiner vorbeugenden Wirkung ist als das Gummimittel
«Kondom», das vom Manne gebraucht wird. Aber es ist notwendig,
dass die Frau die für sie richtige Pessargrösse zugepasst erhält. Daher
muss das Pessar beim ersten Mal von einem sachkundigen Arzt, von
einer Hebamme oder Krankenpflegerin eingesetzt werden.
Die Frauen waren begeistert. Das wird vielleicht die meisten ver-
wundern, aber diejenigen, die ein wenig vom täglichen Dasein von
Arbeiterfrauen wissen, werden es verstehen. Diese Tausende — sie
sind richtige, lebendige Menschen mit dem Bedürfnis nach Zärtlichkeit
und Liebe und einem natürlichen Verlangen danach, mit dem Mann,
den sie lieben, wirklich zu leben. Aber allzuoft werden sie gehemmt
von der Angst, Kinder zu bekommen, die sie nicht imstande sind zu
ernähren und denen man weder Obdach noch eine ordentliche Erziehung
unter den gegenwärtigen Gesellschaftsverhältnissen verschaffen kann.
Viele von ihnen sind ausserdem verbraucht von vielen Geburten. Die
Liebessehnsucht ist der Angst vor dem Manne gewichen, und dessen ■
68
Leunbach - verdienter Lohn?
mAvelch hohem Grade er «"«""""Xüna jedenfalls auf einem ein-
-kon^men ^nd em Pessar bdcf™^>> ^, er wohl imstande, einen
.nicht gedacht. W^e die meisten Arzte vmr er wo ^^^^getzen,
Wortrag über diese Dmge zu halten - aber sie ms i^
■ das war ja BUK etwas ganz anderes . jg^jg^ geben. Hat man
Aber die Franen wollten sich nicht ^f^^^^^ niemanden kannte,
A gesagt, muss ^^^^'^^^^ ^^Z'oTJ^cUo7ser^^^ einzugrei-
,an den er ^ ^^ä^^^^^^^^fwl mS mit d;m Stoff vertraut,
S sf^^'s^ t^^S^teS r^tsLmen mit den Arbei-
tTrfrlulä'tieU er K^ume - und J^. ^^ ^r'^fprob^m. Da kam
Es dauerte :akht lange, so ^f <^!^^:^'^^^^^^^ ein Pessar. Leun-
ein junges MädchBB yf^.^^^'^^^h^.^f ^'^^F^^^^^^^^^ war nicht die Spur
bach stutzte. Sie hatte kernen Rmg f^^Fm^*^;. ^ bedenkhch am Kopi:
verlobt und - ^bzel^ Jahi^^ Sie ^terhielten' sich über die Sache.
Sdlte er ihr ein Pessar s^ben? ^^^^^^f^^^^TreJtsiosen «ging»; sie hat-
Es zeigte s.ch. dass sie mit «"^«.«^^•'""^^^"/^^iten nicht, ob sie sie
ten nicht die Mittel um zu heiraten, und wussten J^^^ .
S^arhaben würdee. Ja, s^ ^ff ^^ ^^^ 'si h^lieTer t^
ingst davor, f --^^ ^^^^1%^^ L^ ^^^^ -^^' ^'^^
^'^S^^^t^^ — a/^Se körperlich voU entwickelt war.
etwas Ve^ächtiges ^-v^J^^^V" u"nd:rn au:h unverheiratete
denke mcht "^'r^^^^^'^^^^^g 'ende Mittel ausgeliefert; und die U.ute
junge Madchen ^^f ■^"J.^^fn^^^ war. Aber es hatte etwas
wussten nicht recht, ^f ^^^^,™ ^^^^, Schweinerei ^ denn so denken
mit dem Sexuellen zu tun. ^^^^^^ J/Es hen kamen zu Leunbach
^^'"tn" ""^^'^Atoc^^ns^tS. so netter Mensch _- aber was
und sagten: Sie S'"^J*^^^„,^,i,eiratete junge Mädchenb Leunbach,
ist das nun hier --- unu u" . , , gt^^s anderes getan
der auch jetzt ^^t bege e^„^ k^^^^^^
hatte, als was sich^s naturhche ho^ge s ^.^ Unverheirateten
ihnen nur ^'''■ZlT^.J ^eun^J einem oder anderem Grunde
, schwanger werden ^^f"'. pV^. Hi>r<-h?uführen'^ Ich weiss doch.
f"* ':^:,'^,TFm^^r^^^^r.t:^^t^^enn Gebären nicht
.^Sf^eiwmSÜte se.nv» und darn-t war Dr. l^unhach m.tten
'■■^'B^dt^r^fenSair e^ausl^worfel^rv^o. Hausw.rt .eUündi^,
t-
■' ■-"-
T
Jargcn Neergaard
mit voller Billigung des Mietsausscliusses, der sonst damals fast nie eine
Kündigung zuliess. Leunbach fand neue Räume und ging nun ganz
zur Arbeit für sexuelle Aufklärung und Anleitung zur Schwanger-
schaftsvorbeugung über. Er beteiligte sich an der Organisierung der
Arbeiterfrauen, aber nun kam er aus dem Regen in die Traufe. Denn
nun kam er in Konflikt mit den Politikern. Die Arbeiterfrauen began-
nen, sich gewaltig für die sexuelle Frage zu interessieren; aber weil
davon nichts in den Parteiprogrammen stand, meinten die Parteien,
dass das nur störend wirke. Schliesslich zerschlugen die Kommunisten
den Aufklärungsverband für Arbeiterfrauen, um Leunbachs Einfluß zu
begrenzen.
leunbach nahm den Kampf auf und betrieb nun systematisch SexucU-
volitik. I
Politik? — wieder ein hässliches Wort. Sich mit sexuellen Fragen
zu beschäftigen, ist an sich bedenklich genug, aber Sexualität und Poli-
tik auf einmaJ, das war eine noch schlimmere Kombination. Und Leun-
bach antwortete: «Ich bin auch kein richtiger Politiker, so einer mit
Valuta und Budgets, mit Taktik und Wahlspeck». Er gibt ehrHch zu,
dass er davon überhaupt nichts versteht. Er ist Arzt, er ist Fachmann,
und nur durch einen Zufall ist er in eine praktische Arbeit hinein-
gekommen, die ihm täglich all das Elend, all die Unwissenheit und Not
zeigt, die auf dem sexuellen Gebiet herrschen und zwar in viel breite-
ren Kreisen der Bevölkerung, als er sich hätte träumen lassen. Er sah
in seiner Praxis Tag. für Tag einen Aufmarsch verzweifelter Menschen,
der ihm klar machte, wie das natürliche Verlangen der Menschen nach
Liebe und Zärtlichkeit durch schlechte Wohnungsverhältnisse, engher-
zige Vorurteile und grenzenlose Unwissenheit zerstört und zu Angst.
Hass und Verwirrung verwandelt wurde. Er konnte es niclit lassen,
über aU dies nachzudenken. Er konnte es nicht lassen festzustellen,
dass wir es allesamt unendlich viel besser als jetzt haben könnten, wenn
gewisse Dinge sehr einfacher Art im Massenmasstab eingeführt wür-
den — ■ z. B., dass jeder erwachsene Mensch sein eigenes Zimmer be-
käme, jeder Frau die notwendigen Kenntnisse in vorbeugenden Mitteln
zuteil würden, und dass jeder Mensch erzogen würde in der Erkennt-
nis der Selbstverständlichkeit, seinem Drang nach Liebe und Zärtlich-
keit folgen 2U können.
Das ist in wenigen Worten Leunbachs «Politik» — und sein Ver-
brechen! Es ist nämlich äusserst unanständig, so zu denken. Und es
ist geradezu verbrecherisch, danach zu handeln — aber eben das tut
Leunbach.
Vor der grossen Öffentlichkeit steht Leunbach da als der Mann aus
den Abtreibungsprozessen, den Anklagebehörde und Presse gründlicli
besudelt haben als «Geschäftemacher», weil er so unverschämt war, an
seinen woJühah&nden Patienten Geld zu verdienen. Aber gerade unter
den armen Arbeiterfraiten und unter der Jugend kennt man seine täg-
liche aufreibende Wirksamkeit.
Die Arbeiterfrauen, die er kostenlos in der Benützung der richtigen
vorbeugenden Mittel unterwiesen hat. zählen nach Tausenden, und es
gibt nur wenige unbemittelte Menschen in Kopenhagen, die nicht wis-
sen, dass Leunbach niemals nach dem Honorar fragt, wenn man seiner
70
Leunbach - verdienter Lohn?
Hilfe "bedarf und kein Geld hat. An bestimmten Tagen hält er nämlich
Gratiskonsultationen für Unbemittelte — was man ihm wahrhaftig auch
vorgeworfen hat. Das ist ja nur Reklame, behauptet man; aber merk-
würdigerweise hat keiner seiner KoUegen daran gedacht, ihm diesen
Reklametrick nachzumachen. Bisher hat er aUein damit sein dürfen.
— Im letzten Jahr ist diese Aufklärungsarbeit unter der Bezeichnung
.^Sexualhilfen betrieben worden.
Für den der den neulich abgeschlossenen Prozess aus nächster Nähe
verfolgt hat musste es verblüffend wirken, wie wenig die Juristen im
Grunde die 'menschliehe Seite der Sache verstanden. Man merkte das
u a an der Art, wie man die weiblichen Zeugen behandelte. Der Ton
war' barsch und die Fragen galten hauptsächlich rem formellen Dingen
— besonders interessierte man sich ungeheuer für die Honorare.
Es sei gleich gesagt, dass in dieser Hinsicht Dr. Leunbach (und
ebenso Dr Philipson) nicht das Geringste vorgeworfen werden konnte.
Leunbach hatte z. B. nicht einen Pfennig an den Aborten verdient und
viele Unbemittelte hatten sogar die notwendige Untersuchung vor der
Überweisung ganz gratis bekommen. Nichtsdestoweniger versuchte der
Ankläger, einen Schein von Geschäft und Profit über ihn zu werfen,
und die Seheidelinie zwischen Leunbach auf der einen Seite und dem
o-eschäftsmässig eingesteUten Budde-Lund auf der anderen Seite trat
nicht deutlich hervor. Die Verteidigung, die eben von Juristen gefuhrt
wurde war nicht imstande, die grosse menschliche Tragödie hervorzu-
heben die die Zeugen darsteUten, und den Ideahsmus, dessen wirk-
licher Ausdruck die Arbeit für diese war. Tatsächlich verhielt es sich
so dass auch den Verteidigern diese Seite der Sache nicht klar vor
Augen stand. Auch unter dem Publikum herrschten viele Missver-
ständnisse hinsichtlich der Probleme, die im Bereiche der Arbeit Dr.
Leunbachs entstehen.
Daher wollen wir nun versuchen, ein typisches Beispiel zu schildern.
Mit Absicht haben wir kein seltenes oder ungewöhnliches Lebensschick-
sal gewählt. Im Gegenteil, wir greifen eines unter Tausenden heraus.
Das ist etwas, das täglich um uns vorgeht — aber im Verborgenen. ,
Klara ist ein grosses und kräftiges Bauernmädel, stralilend vor
Gesundlieit und frischem Mut. Zuhause in dem kleinen Dorf sind viele
"Geschwister und da sie nun erwachsen ist, muss sie hinaus, um selbst
zu verdienen. Mit dem Mut und der Energie einer Siebzehnjährigen
tritt sie als Hausgehilfin in Kopenhagen an. Zum ersten Male muss
. sie ohne Hilfe von daheim zurechtkommen und ihre grossen Fauste
müssen kräftig zupacken. — Frau Grosshändler Nielsen wiU ihrem
Mann und den drei lärmenden Söhnen im Gymnasiastenalter em nettes
und gemütliches Heim bieten. Aber Klara lässt sich nicht unterkrie-
gen und hat sogar noch Kraft übrig, am Abend einen Kursus zu be-
suchen. Hier lernt sie ihren Freund — Jens — kennen. Trotz schwie-
riger Lebensbedingungen — er lebt von Sozialunterstützung und wohnt
zuhause bei den Eltern — hat er den Humor nicht verloren, und jeder
Abend, an dem die Beiden zusammen sein können, ist ein strahlendes
^ Fest, 'sie fühlen beide, dass sie einander etwas bedeuten. Die Unter-
71
Jörgen Neergaarri
Haltung- geht so leicht und frei zwischen ihnen; das Leben scheint heller
und die Schwierigkeiten leichter zu tragen, wenn sie nur zueinander
halten. Früher war es oft so, dass sie sich einsam und verlassen vor-
kamen in der täglichen Tretmühle. Nun aber hatte das I^ben eine
andere Farbe bekommen. Wenn Klara beim Geschirrwaschen war,
sang sie, so dass alle die anderen Dienstmädchen in der Nachbarschaft
mit in gute Laune kamen; und wenn Jens zum Stempeln ging, war
es, als ob er zu einem Feste ginge und die Gesichter der Kameraden
hellten sich auf über seinem unverwüstlichen Lächeln. Wenn sie am
Abend zusammenkamen, war es ganz natürlich, dass sie sich verhielten,
wie es junge Menschen eben selbstverständhch tun; sie liebten sich
und wollten zueinander. Und gerade dieses Zusammenleben gab ihnen
ein Gepräge strahlender Frische, das die Aufmerksamkeit und Freude
ihrer Umgebung erweckte. Es gab dem sonst so grauen Leben Inhalt
und machte jeden Tag zu einem Sieg über alle düsteren Gedanken.
Eines Tages, als Jens in Klaras Zimmer heraufkam, strahlten ihm
nicht wie sonst immer ein Paar frohe Augen entgegen. Klara, die
sonst von Leben und Lebenslust leuchtete, sass auf der Bettkante mit
verschwollenem, tränenüberströmtem Gesicht, sie atmete schwer, ihr
war übel; sie hatte Angst. Sie konnte es Jens kaum zuflüstern: es war
sicherlich schief gegangen, was sollte sie tun? Jens setzte sich zu ihr
und versuchte ruhig zu sein, aber auch er war ernstlich betroffen. Das
war keine glückliche Lage; arbeitslos und zugleich Vater zu sein, ist
wahrhaftig keine vergnügliche Kombination. Aber nun einigten sie
darauf, dass sie zum Arzt gehen und sich untersuchen lassen sollte,
ob es wirklich schief gegangen war.
Eine Woche später sehen wir Klara, die nun weiss, dass sie schwan-
ger ist; sie ist kaum wiederzuerkennen. Sie steht vor Dr. I-,eunbach in
seinem Konsultationszimmer und erzählt ihre Geschichte:
(( - und nun ist er seit mehreren Tagen nicht bei mir gewesen
und zuhause bei ihm sagen sie, dass er in den letzten Nächten niclit
da war, und nun weiss ich nicht, was ich machen soll. Er ist einfach
weggelaufen und nun sitze ich ganz allein da. Können Sie mir denn
nicht helfen?»
Dr. Leunbach versteht, dass Jens verschwunden ist. Viele junge
Männer tun das in dieser Situation. Feige? Ja, Jens ist feige und
drückt sich vor seiner Verantwortung, doch Dr. Leunbach wird nicht
müde hinzuzufügen: «Aber allein verantwortlich ist er nicht. Mitver-
antwortiich sind alle die, die es immer noch zulassen, dass junge Män-
ner in einer Unwissenheit aufwachsen, die sie daran hindert, sich denen
gegenüber richtig zu verhalten, die sie lieben. Mitverantworthchsind
die, die immer noch dulden, dass Tausende von jungen Männern wie er
unter so elenden Verhältnissen leben müssen, dass sie nicht die einfach-
sten menschlichen Verpflichtungen erfüllen können.»
«Ja,» sagt er, «nun müssen wir ja sehen uns zu helfen, so gut wir
können. Haben Sie Ihren Eltern erzählt, wie sich die Sache verhalt?»
«Nein,» weint nun Klara wie gepeitscht, «das kann ich doch nicht,
denen dürfte ich nichts erzählen. Sie würden rasend werden und mich
sofort rausschmeissen. AUe in der Gemeinde würden mir den Rucken
72
Leunbach - verdienter Lohn?
kehren, wenn ich auf die Art heimkäme. O, Dr. Leunbach, Sie müssen
mir helfen. Können Sie es nicht weg-machen?»
«Ja, aber lassen Sie uns noch ein wenig- warten; es kann ja sein, dass
Sie einen Ausweg finden. Können Sie nicht mit Ihrer Herrschaft
reden? Versuchen Sie das und kommen Sie dann wieder, damit wir
weiter über die Sache sprechen können. Aber eins müssen Sie wissen:
An sich könnte ich Ihnen helfen. Es lässt sich machen, eine Frucht
abzutreiben, und ich verstehe vollkommen, wie unglücklich Sie sind,
aber ^ -».
«Ja, aber dann müssen Sie mir doch helfen! Ich weiss nicht, was
ich tue, wenn Sie mich im Stich lassen!»
«Nein, ich soll, richtiger ich darf ja gerade nicht, Klara! Ihre .Sache
ist leider durchaus kein Einzelfall, Es schneidet mir ins Herz, es
mitanzusehen, jedesmal, wenn ich dem wieder von neuem gegenüber-
stehe. Aber Hunderte von Frauen sind in der gleichen Lage wie Sie.
Sie sind von aUen verlassen und werden als Menschen zweiter Klasse
behandelt, obwohl alle gut genug wissen, dass sie nichts anderes getan
haben, als wozu jeder gesunde Mensch den Drang spürt, und dass das
Unglück: ausschliesslich von der Unwissenheit herrührt und von den
elenden Verhältnissen, unter denen sie leben müssen. Sie sind Opfer
unpraktischer und törichter Gesellschaftszustände. Nun müssen Sie
erst Ihren eigenen Kampf durchkämpfen — und kommen Sie dann und
helfen, diese Zustände zu verändern, so dass die Menschen in Zukunft
glücklicher werden können, als wir es sein durften.»
Wir wollen die Unterhaltung nicht weiter verfolgen, sondern gleich
hören, wie es geht, als Klara sich an die Frau das Hauses wendet. Die
Unterhaltung geht am nächsten Vormittag vor sich — wahrend die'
Kinder in der Schule sind. Frau Nielsen ist ungeheuer verständnisvoll.
Man ist doch so modern eingestellt: «Liebe Klara, das tut mir schreck-
lich leid. Ich gehöre wirklich nicht zu der Art törichter, altmodischer
Menschen, die die Jugend nicht verstehen, und ich will Ihnen gern auf
jede Weise helfen. Ich will mit meinem Mann sprechen und sehen,
was er für Sie tun kann. Aber — », Frau Nielsen sucht nach Worten
und sielit ein wenig aus dem Fenster, «Sie verstehen ja wohl auch,
dass ich gewisse Rücksichten zu nehmen habe; ich muss an mejne Kin-
der denken, das ist die erste Pfhcht einer Mutter. Ich bin keineswegs
kleinlich, aber meine Verantwortung meinen Kindern gegenüber zwingt
mich dazu, dass ich Sie bitten muss, sich eine andere Stelle zu suchen,
bis Sie Ihr Kind bekommen haben. Die Erziehung der Kinder muss ja
allem vorangehen und ich möchte sie doch gern aufwachsen sehen, ohne
dass sie in Berührung mit etwas kommen, was ihren reinen Sinn stören
könnte. Ich möchte sie in Übereinstimmung mit den Kulturidealen
bewahren, die wir in unserem Hause hochhalten — ■ — — »i
Klara muss ziehen, Klara ist allein, keiner will ihr ernsthaft helfen.
Sie läuft einige Wochen verwirrt herum, wird bleich und eingefallen.
überall empfängt man sie mit mitfühlendem «Verständnis» und schiebt
sie dann ab, sanft aber bestimmt. Sie ist allein, ganz allein, verlassen
von allen. Mit ihrem Heim wagt sie sich nicht in Verbindung zu setzen,
und ein wenig religiöse Einwirkung, die man ihr gegenüber da und
dort versucht, erhöht nur ihre Angst und das Gefühl von Verlassenheit.
73
<
'.■>>
/
iergen Necrgaard
Und was soll mit dem Kind geschehen? Soll sie in einer besonderen
Anstalt leben mit anderen «gefallenen» Frauen und als eine Sünderin
abgestempelt werden, weil sie Jens liebte und das auch ehrlich und
redlieh in ihrem Tun zei8"te? Die Angst schnürt ihr das Herz zusam-
men. Zugleich fühlt sie sich krank und elend, sie denkt daran, sich
das Leben zu nehmen — und landet zuletzt bei einer Quacksalberin, die
ihr eine giftige Losung in die Gebärmutter spritzt.
Das Ergebnis ist ein Zusammenbruch und wir finden sie in einer
Krankenhaus-Abteilung wieder. Dr. Leunbach hat von ihrem Schick-
sal gehört und sitzt an ihrem Bett.
Sie starrt ihn an mit matten, tiefliegenden Augen in einem leichen-
blassen Gesicht und vermag nicht einmal zu lächeln.
«Nun ist es überstanden», flüstert sie, «Aber glauben Sie, dass ich
wieder gesund werde?»
Dr. Leunbach schweigt. Er weiss, dass sie nun vielleicht invalide
auf Lebenszeit sein wird, und dass Gefahr vorhanden ist, dass die über-
standenen Leiden ihren Verstand verdunkeln können. Sie spricht hin
und wieder verwirrt, führt lange Gespräche mit Jens und verteidigt
sich gegen den Pfarrer und den Vater zuhause.
«Aber warum halfen Sie mir nicht, als ich Sie darum bat? Sie
wissen doch, dass dann all dies hätte vermieden werden können. Es
ist ein Verbrechen, einen Menschen so zu behandeln. Ich habe es in
der letzten Zeit elender gehabt als das ärmste Gewürm. Wie können
Sie das vor Ihrem Gewissen verantworten, wenn Sie die rechten Mittel
in der Hand haben, um auf ordentliche Weise zu helfen?»
Dr. Leunbach drückt ihr sanft die Hand und sagt leise wie für sich
selbst: «Sie haben Recht' mich anzuklagen. Ich bekenne mich hier
eines Verbrechens schuldig. Aber Sie müssen verstehen, dass die Gesell-
schaft, in der wir leben, die Sache anders ansieht. Sie stempelt mich
mit dem Verbrechernamen, nimmt mir meine Ehre und meinen Erwerb,
jagt mich ins Gefängnis und besudelt meinen Namen, falls ich das tue,
was mein Herz und meine Vernunft von mir verlangen. Die Gesell-
schaft verlangt, dass ich Ihr grausames Schicksal und das von Hunder-
ten anderer Frauen mit ansehe, ohne einen Finger zu rühren. Ich
gestehe, dass ich ab und zu in ähnlichen Fällen wie dem Ihrigen diese
sinnlosen Gesetze übertreten habe — und das mit besserem Gewissen
als wenn ich sie befolgt hätte, aber ich stehe praktisch ganz aEein und
habe es nie im I^ben für möglich gehalten, dass man so viel geistig-i
Niedrigkeit und Herzlosigkeit treffen könnte wie in diesem Kampf.»
Wir wollen Klaras Schicksal verlassen. Ihre Geschichte ist wahr, aber
so häufig passiert, dass sie beinahe banal ist. Desungeachtet ist es
schwierig, den Menschen begreiflich zu machen, wie ernst die Saciie
ist. Man schiebt es von sich; man hält es für Ausnahmen, wenn man
solchen Fällen begegnet und man hüllt das ganze Problem in das Schwei-
gen, mit dem man Probleme behandelt, die so peinlich sind, dass man
an sie nicht zu rühren wagt.
Aber Dr. Leunbach hat die Probleme nicht beiseite schieben können.
Er hat sie aufgenommen — und das Ergebnis kennen wir. Er ist auf
die abscheulichste Weise gebrandmarkt worden in der Presse der
«ordentHchen» Leute, der Verdächtigung und einer persönlichen Ver-
74
■,
Leunbach - verdienter Lohn?
folgung- ausgesetzt, die einzig dastehen. Nimmt er Honorar von seinen
wohlhabenden Patienten, heult man «Geschäftemacher» hinter ihm her,
obwohl ein einfacher Vergleich mit den Honoraren anderer Ärzte nur
zu Leunbachs Gunsten ausfallen würde. Aber darüber schweigen die
«ordentlichen» Leute. Gibt er jahrelang- Gratiskonsultationen und Rat-
schläge für Unbemittelte, so ist das auch verkehrt: das wird abwechselnd
als Reklametrick und als moralzersetzende Propagandatätigkeit bezeich-
net.
Und nicht genug damit, dass man ihn nun zu Getangnisstrafe verur-
teilt hat, sondern man hat sogar dem über fünfzig Jahre alten Arzt seui
Praxisrecht für fünf Jahre genommen, um damit seiner Tätigkeit
gründlich Halt zu gebieten. _
Lasst uns nun wieder die zwei Personen, die wir einleitend vorstell-
ten, einander gegenüberstellen: den hohen Justizminister Steincke und
den verurteilten Verbrecher Leunbach. Stellen wir sie vor einen neuen
Richterstuhl: den des Publikums! I^assen wir das Pubhkum darüber
urteilen, wer von ihnen die grösste Achtung und den grossten Respekt
unter den Menschen verdient.
Auf der einen Seite haben wir Justizminister Steincke. Er steht
in der Studenten- Vereinigung, bekennt sich stolz zum «Gentleman-
Ideal» und rühmt sich, ein Gesetz durchzubringen, das es einer Klara
noch schwerer macht, Hilfe zu erlangen. Er macht das Risiko für die
Abtreibung von Geburten aus sozialen Ursachen so gross, dass die Ärzte,
aus Furcht, Dr. Leunbachs, Schicksal zu erleiden, ganz unterlassen müs-
sen, den betroffenen Frauen zu helfen.
Er formuliert Gesetzesvorschläge, nach denen man annehmen soUte,
dass er den tragischen Hintergrund aller dieser Fragen überhaupt nicht
kennt. Es würde eine Rohheit sein zu glauben, dass er wirklich den
Hintergrund kennt. Er fordert in seinen Paragraphen zum Beispiel,
dass Klara, selbst wenn sie aus medizinischen Gründen operiert würde,
die ausdrückliche Einwilligung ihrer Eltern haben müsste. Kann denn
nicht jeder denkende Mensch verstehen, dass dies ein reiner Quacksal-
berparagraph ist? Er zimigt geradezu die Frauen, nicht die Ärzte
aufzusuchen; und sind sie schliesslich in Konflikt mit dem Gesetz ge-
kommen, so hat Steincke dafür gesorgt, dass solche Sachen nicht von
Geschworenen beurteilt werden, weil diese oft mehr menschlich als
juristisch auf die Frage gesehen haben — und Steincke ist Jimst.
Dr. Leunbach ist Memch and keineswegs Jurist. Im Gerichtssaal
hat man allzuleichtes Spiel mit ihm. Die Verantwortung, die er ge-
fühlt hat, beruhte nicht auf Gesetzesparagraphen, sondern auf semer
Kenntnis von Menschen in Not. Diese Verantwortung ist oft schwer;
in dieser Zeit ist sie noch schwerer gemacht worden, aber Dr. Leunbach
trägt sie wie ein Mann und setzt unverdrossen seinen Kampf fort, und
wird niemals müde hervorzuheben: «In erster Reihe sind es keineswegs die
Abtreibungen, die mich interessieren. Was ich will, ist, Aufklärung zu
geben, dass es möglich und richtig ist, ein glückliches Liebesleben zu
führen ohne Angst vor Schwangerschaft und blutigen Operationen oder
Not und Elend. Ich stehe auf der Seite des Lebens im Kampfe gegen
Dummheit und Heuchelei. Ich will die Bevölkerung lehren, die Abtrei-
75
y.
y
Wilhelm Reich
bungen zu bekämpfen durch Benütziing der richtigen Vorbeugungs-
mittel. und ich bin sicher dass ich schliesslich auf meine Seite bekomme
nicht nur die Arbeiterfrauen, die mir bisher treu gefolgt sind, sondern
alles was gesund und stark in der Jugend des Landes ist».
Wer ist zutiefst gesehen der wirklich Schuldige?
Der Gesetzgeber, der in Oberflächlichkeit die verzweifelten Verhält-
nisse verschärft und das Elend mit schönen Worten zudeckt _— oder
der Arzt, der gegen eine kurzsichtige Vereinigung von Vorurteilen und
Unwissenheit für Liebe und Lebensglück kämpft?
Aus der sexual -
ökonomischen Lebensforschung
Der Orgasmusreflex
Vorabdruck aus einer Abhandlung Über
charakteranalytische Vegetotherapie
Von Wilhelm Reich
Ich wähle zur Darstellung der direkten liJsung der sexuellen (vege-
tativen) Energien aus den krankhaften muskulären Haltungen einen
Fall, bei dem es besonders gut und rasch gelang, die orgastische Potenz
herzustellen. Ich möchte voranschicken, dass dieser Fall als Musterfall
nicht Anspruch erhebt, die durchschnittlichen grossen Schwierigkeiten
bei der Bewältigung der Orgasmusstörungen vorzuführen.
Ein 27-jähriger Mann, Techniker, suchte mich wegen seiner exzes-
siven Trunksucht auf. Er litt darunter, dass er dem Drange, sich fast
täglich schwer zu besaufen, nachgeben musste; er befürchtete den voU-
'kommenen Ruin seiner Gesundheit und Arbeitsfähigkeit. Wenn er mit
seinen Freunden zusammenkam, war er rettung-slos dem Suff hinge-
geben. Er lebte in einer äusserst unglücklichen Ehe. Seine Frau war
eine recht komplizierte Hysterikerin, die ihm das Lehen nicht leicht
machte; es war sofort zu sehen, dass die Misere der Ehe ein wichtiges
Motiv der Flucht in den Alkoholismus bildete. Er beklagte sich fer-
ner, dass er «das Leben nicht fühlte». Trotz der unglücklichen Ehe
brachte er es nicht fertig, sieh mit einer anderen Frau zu liieren.
Seine Arbeit freute ihn gar nicht, er vollführte sie mechanisch, unle-
bendig, ohne jedes Interesse. Er behauptete, dass_ er, wenn das so
weiterginge, in Kürze zusammenbrechen müsste. Dieser Zustand dau-
erte bereits' viele Jahre und hatte sich in den letzten Monaten beträcht-
lich verschlechtert.
76
''I
Der Orgasmusreflex
Von ernsten pathologischen Eigenheiten fiel auf, dass er keiner
Aggression fähig war. Er spürte in sich den Zwang, immer »nett- und
höflich« zu sein, alles zu bejahen, was die Menschen sagten, auch wenn
es sich um völlig entgegengesetzte, einander widersprechende Meinun-
gen handelte. Er litt unter der Oberflächlichkeit, die ihn beherrschte.
Er konnte sich keiner Sache, keinem Gedanken, keiner Arbeit wirklich
ernst hingeben. Seine arbeitsfreie Zeit verbrachte er in Kaffeehäusern
und Restaurants mit Öden, nichtssagenden Gesprächen und Witzeleien.
Er spürte zwar, dass es sich, um eine krankhafte Haltung handelte,
doch zu diesem Zeitpunkt war ihm die krankhafte Bedeutung dieser
Züge noch nicht voll bewusst.
Sein Gesamtwesen fiel dadurch auf, dass er sich unsicher bewegte,
forciert breit einherschritt, so dass der Gang etwas Klobiges an sich
hatte. Die körperliche Haltung war nicht straff, sondern drückte Erge-
benheit aus, als ob er ständig auf der Hut wäre. Sein Gesichtsaiis-
druek war leer und ohne besondere Note. Die Haut des Antlitzes
glänzte leicht, war straff gespannt und wirkte wie eine Maske. Seine
Stirn schien »flach«. Der Mund wirkte klein, verkrampft und wurde
beim Sprechen kaum bewegt; die Lippen waren schmal wie zusammen-
gepresst. Die Augen waren ausdruckslos.
Trotz dieser offenbar schweren Schädigung seiner vegetativen Be-
weglichkeit spürte man ein sehr lebhaftes, intelligentes Wesen dahin-
ter. Dem war es wohl auch zuzuschreiben, dass er mit grosser Energie
die Beseitigung seiner Beschwerden durchzusetzen versuchte.
Die darauf folgende Behandlung dauerte im ganzen 4^ Monate bei
täglich einstündiger Sitzung. Ich will versuchen, die wichtigsten Etap-
pen des Verlaufs darzustellen:
Gleich in der ersten Sitzung stand ich vor der Frage, ob ich seine
psychische Zurückhaltung oder seinen sehr auffallenden Gesichtsaus-
druck zuerst zur Lösung vornehmen sollte. Ich entschloss mich, das
Zweite zu tun und es dem weiteren Gang der Behandlung zu überlas-
sen, wann und in welcher Form ich die IJisung seiner psycliischen
Zurückhaltung durchführen sollte. Nach konsequenter Beschreibung
der verkrampften Haltung seines Mundes stellte sich ein erst schwaches,
dann immer stärker werdendes klonisches Zittern der Lippen ein. Er
war von der Unwillkürliclikeit dieses Zitterns überrascht und wehrte
sich dagegen. Ich forderte ihn auf, jedem Impuls nachzueeben. Die
Lippen begannen daraufhin, sich rhythmisch vorzustülpen und in der
Vorstülpung wie in einem tonischen Krampf einige Sekunden zu ver-
harren. Dabei nahm sein Gesicht unverkennbar den Ausdruck __eines
Säuglings an. Der Patient wurde davon überrascht; er wurde ängst-
lich und fragte mich, wohin denn das führen könnte. Ich beruhigte
ihn und ersuchte ihn nur darum, jeder Regung konsequent nachzu-
geben und mir jede verspürte Hemmung eines Impulses mitzuteilen, _
■ In den nächstfolgenden Sitzungen wurden die verschiedenen Erschei-
nungen im Gesicht immer deutlicher und sie weckten allmählich, Üas
Interesse des Kranken. Das müsste doch etwas Besonderes zu bedeuten
haben, meinte er. Sehr merkwürdig war. dass er dabei psychisch^ nicht
berührt schien, vielmehr nach einer derart klonischen oder tonischen
Erregung seines Gesichts ruhig mit mir sprechen konnte. In einer
77
.•ditmUa,'
' 'i
\
Wilhelm Reich
der nächstfolgenden Stunden steigerte sich das Zucken des Mundes zu
verhaltenem Weinen. Er stiess dabei Laute aus, die wie das Aufbrechen
eines lange verhaltenen schmerzvollen Schluchzens klangen. Meine
stete Aufforderung, jeder muskulären Regung nachzugeben, hatte
Erfolg. Die beschriebene Aktivität des Gesichts komplizierte sich nun-
mehr. Sein Mund verzog sich zwar zu, einem kranipl haften Weinen;
doch dieser Ausdruck löste sich nicht in Weinen auf, sondern ging zu
unserer Überraschung in einen verzerrten Wutausdruck ülier. Dabei i
verspürte aber der Patient sonderbarerweise nicht die geringste Wut, j
obgleich er unmittelbar wusste, dass es Wut war.
Wenn sich diese muskulären Aktionen besonders steigerten, so da&s
z. B. das Gesicht blau wurde, dann wurde er ängstlich und unruhig.
Er wollte immer wieder wissen, wohin das führte und was wohl mit
ihm da geschähe. Ich begann nun, ihn darauf aufmerksam zu machen,
dass die Angst vor einem unerwarteten Geschehnis völlig seiner all-
gemein charakterlichen Haltung entsprach, dass er von einer unbe-
stimmten Angst vor Unerwartetem, plötzlich über ihn Hereinbrechen-
dem beherrscht war.
Da ich die konsequente Verfolgung einer einmal in Angriff genom-
menen Verhaltungsweise nicht preisgeben wollte, musste ich mir erst
klar darüber werden, in welcher Beziehung seine muskulären Gesichts-
aktionen zu seiner allgemeinen charakterlichen Abwehrhaltung standen.
Wäre die muskuläre Verkrampfung nicht so deutlich gewesen, hätte
ich zunächst die' charakterliche Abwehr bearbeitet, die sich mir in Form
seiner Zurückhaltung darbot. Mir drängte sich nun die Überlegung
auf, dass der psychische Konflikt, der ihn beherrschte, offenbar auf-
geteilt war. Die Abwehrfunktion war in diesem Zeitpunkt von seiner
allgemeinen psychischen Zurückhaltung ausgeübt, während das, was er
abwehrte, also die vegetative Erregung, sich in den Muskelaktionen
des Gesichts erschloss. Rechtzeitig genug fiel mir ein, dass ja schon
in der muskulären Haltung nicht nur der abgewehrte Affekt, sondern
auch die Abwehr repräsentiert war. .Die Kleinheit und Verkrampft-
heit seines Mundes konnte ja nichts anderes sein als der Ausdruck des
Gegenteils, des vorgestülpten, zuckenden, weinenden Mundes. Mir lag
nun daran, das Experiment der Zerstörung der Abwehrkräfte nicht von
der psychischen, sondern von, der muskulären Seite her konsequent
durchzuführen.
Ich bearbeitete also sämtliche Muskelhaltungen des Gesichts, von de-
nen ich annehmen durfte, dass sie Verkrampfungen, d. h. hypertonische
Abwehr der entsprechenden muskulären Aktionen darstellten. Es dau-
erte einige Wochen, bis sich die Aktionen der Gesichts- und der Hals-
muskulatur zu folgendem Bild steigerten: Die Verkrampfung des Mun-
des wich zunächst einem klonischen Zucken und ging dann in ein Mund-
spitzen über. Dieses Mundspitzen löste sich in ein Weinen auf, das
aber nicht voll ausbrach.' Das Weinen wieder machte einer ungeheuer
starken Wutreaktion im GesicJite Platz. Dabei verzerrte sich der Mund,
die Kiefermuskulatur wurde bretthart gespannt, die Zähne knirschten.
Es kamen weitere Ausdrucksbewegungen hinzu. Der Patient richtete
sich auf dem Sofa halb auf, schüttelte sich vor Wut, hob die Faust an
der hretthart gespannten rechten Hand wie zu einem Faustschlag hoch,
78
r
Der Orgas.musreflex
ohne jedoch den Schlag auszuführen. Dann sank er ermattet zurück,
weil ihm der Atem ausgegangen war, und das Ganze loste sich in wim-
merndes Weinen auf. Nachdem der Anfall abgeklungen war, sprach
"er seelenruhig, als ob nichts geschehen wäre, über das Vorgefallene.
Es war klar- an irgendeiner Stelle musste die Verbmdxmg zwischen
seiner vegetativen muskulären Erregung und der psychischen Empfin-
dung dieser Erregung unterbrochen sein. Ich besprach mit ihm natur-
lich ständig nicht nur die Folge und den Inhalt seiner muskulären
Aktionen, sondern auch die merkwürdige Erscheinung semer psychi-
schen Verschlossenheit demgegenüber. Was uns beiden besonders aui-
fiel war dass er trotz der psychischen Unangegriffenheit unmittelbar
die 'Funktion und den Sinn seiner Anfälle begriff. Ich brauchte sie
ihm gar nicht zu deuten. Im Gegenteil, er überraschte mich immer
wieder durch Aufklärungen über seine Anfälle, die ihm immittelbar
evident waren. Dieser Tatbestand war sehr erfreulich. Ich erinnerte
mich an die vielen Jahre mühevoller Symptomdeutungsarbeit, m denen
man aus EintaUen oder aus Symptomen eine Wut oder eine Angst er-
schloss und dann durch Monate und Jahre versuchte, sie dem Kranken
auch nur einigermassen nahezubringen. Wie selten und wie wenig
effektiv gelang es doch damals, über ein bloss intellektuelles Verständ-
nis hinauszukommen. Ich durfte mich also freuen, dass der Kranke ohne
iede Erklärung meinerseits ganz unmittelbar den Sinn seiner Aktion
spürte Er wusste, dass er eine ungeheure Wut zum Ausdruck braclite,
die er jahrzehntelang in sich verschlossen hatte. Die psychische Ge-
fühlssperre fiel, als ein Anfall die Erinnerung an seinen alteren Bru-
der der ihn als Kind sehr beherrscht und malträtiert hatte, hervornet.
Er 'verstand nun ganz von selbst, dass er damals seine Wut gegen sei-
nen Bruder der von seiner Mutter besonders geliebt worden war, unter-
- drückt hatte. Er entwickelte zur Abwehr eine Nettigkeit und eine
Liebe zum Bruder die mit seinen wahren Empfindungen m heftig-
stem Streite standen. Er hatte sich's mit der Mutter nicht verderben
■ woUen Die Wut nun, die damals nicht zum Ausbruch gekommen war,
stieg jetzt in den Aktionen auf, als ob die Jahrzehnte ihr nichts
hätten anhaben können. .
An dieser Stelle müssen wir einen Augenblick verweilen und uns die
psvchisclie Situation klarmachen, mit der wir es hier zu tun haben.
Analytiker, die noch die alte Symptomdeutungs-Techmk ausüben, wis-
sen dass sie an den psychischen Erinnerungen angreifen, und es mehr
oder minder dem Zufall überlassen müssen, ob
1) auch die entsprechenden Erinnerungen an frühere Erlebnisse aut-
tauchen, , . , , . . - ■ j ' „
2) die auftauchenden Erlebnisse auch tatsächlich diejenigen sind an
denen sich die heftigsten und für das künftige Leben wesentlich-
sten Erregungen entfacht hatten.
Es ist bekannt, dass der Angriff von den psychischen Ennnerungen
aUein her diese Aufgabe in einem höchst unvollständigen Masse leistet;
man erkennt, dass sich die Mühe an Zeit und Energie nicht lohnt, wenn
man am Ende einer jahrelangen Behandlung dieser Art die Verände-
rungen des Patienten betrachtet. Die FäUe, bei denen es gelingt, un-
mittelbar an die muskuläre Bindung der vegetativen Sexualenergie
79
f
Wilhelm Reich
heranzukommen, produzieren den Affekt, e/ie sie wissen, um welchen
Affekt es sich handelt. Dazu kommt ferner, dass sich die Erinnerung
an das Erlebnis, das den Affekt zuerst produzierte, automatisch ohne
jede Bemühung nachträglich einstellt; wie etwa in unserem Fall die
Erinnerung an die Situation mit dem Bruder, der von der Mutter vor-
gezogen wurde. Auf diesen Tatbestand kann nicht eindringlich genug
hingewiesen werden; er ist ebenso wichtig wie typisch: Ks ist nicht
so, dass eine Erinnerung unter Umstände-n einen Affekt nach sich zieht,
sondern die Konzentration einer vegetativen Erregung und deren Durch-
bruch rex/rodimert die Erinnerung. Freud betonte imn:er, dass man
in der Analyse nur mit «Abkömmlingen des Unbewussten» zu tun
hätte, dass sich das Unbewusste wie ein «Ding an sich» verhalte, d. h.
nicht wirklich fassbar wäre. Diese Behauptung war richtig, doch nicht
absolut. Wir müssen hinzufügen, dass mit der damals ausgeübten Me-
thode das Unbewusste nur in seinen Abkömmlingen zu erschliessen und
nicht in seiner eigentlichen Gestalt zu fassen war. Heute gelingt es
uns, mit dem direkten Angriff auf die Bindung der vegetativen Ener-
gie, das Unbewusste nicht in seinen Abkömmlingen, sondern in seiner
Wirklichkeit zu erfassen. Unser Patient erschloss nicht etwa aus ver-
schwommenen, wenig affektbesetzten Einfällen seinen Hass gegen den
Bruder, sondern er benahm sich so, wie er sich damals in der Situation
hätte benehmen müssen, wenn seinem Hass gegen den Bruder nicht die
Angst vor dem Verlust der Mutterliebe entgegengestanden hätte. Mehr:
Wir wissen, dass es kindliche Erlebnisse gibt, die niemals bewusst ge-
worden waren. Aus der späteren Analyse unseres Patienten geht her-
vor, dass ihm wohl intellektuell sein Neid auf den Bruder bewusst
gewesen war, niemals jedoch das Ausmass und die Intensität der Wut,
die er in Wirklichkeit in sich mobilisiert hatte. Nun ist ein psychisches
Erlebnis in seinen Wirkungen nicht durch seinen Inhalt bestimmt, son-
dern durch das- Mass an vegetativer Energie, das durch dieses Erlebnis
mobilisiert wird. Bei der Zwangsneurose etwa sind sogar Inzestwünsche
bewusst, aber wir behaupten dennoch, dass sie «unbewusst» wären,
denn sie haben ja den Affektgehalt verloren; und wir haben alle er-
fahren, dass es bei der Zwangsneurose auf die übliche Art nicht gelingt,
den Inzestwunsch anders als in intellektueller Form bewusst zu machen.
Das bedeutet aber in Wahrheit, dass die Behebung der Verdrängung
rächt gelang. Um das Gesagte zu illustrieren, wenden wir uns den
weiteren Vorkommnissen in dieser Behandlung zu.
Je intensiver die muskulären Aktionen des Gesichts wurden, desto
mehr breitete sich die körperliche Erregung, noch immer unter voll-
kommener Absperrung von' der psychischen Bearbeitung, gegen Brust
und Bauch hin aus. Nach einigen Wochen berichtete der Patient, dass
er im Verlaufe der Zuckungön und Verkrampfungen der Brust, beson-
ders aber wenn sich diese lösten, Ströme nach dem Unterbauch hin ver-
spürte. In diesen Tagen zog er von seiner Frau weg in der Absicht,
sich mit einer anderen Frau zu liieren. Doch im Verlaufe der nächsten
Wochen zeigte es sich, dass die beabsichtig-te Liierung ausblieb. Das
fiel dem Kranken zunächst gar nicht auf. Erst als ich ihn darauf auf-
merksam machte, versuchte er nach einigen harmlos scheinenden Erklä-
rungen, sich dafür zu interessieren; doch man merkte deutlich, dass
SO
Der Orgas.musreflex
er einer inneren Sperrung unterworfen war, diese Frage auch -wirklich
affektiv zu behandeln. Da es in der charakteranalytischen Arbeit nicht
übhch ist, Themen, auch wenn sie sehr aktuell sind, zu behandeln, wenn
der Kranke nicht von selbst mit voller Affektivität dazu gelangt, schob
ich die Angelegenheit auf und verfolgte weiter die Unie, die die Aus-
breitung seiner muskulären Aktionen mir vorschrieb.
Der tonisehe Krampf bretthart werdender Muskulatur breitete sich
also auf Brust und Oberbauch aus. Es war, als ob ihn in solchen
Anfällen eine innere Kraft gegen seinen Willen von der Unterlage weg
hoch hob und hochhielt. Es war eine ungeheure Anspannung der
Bauciidecken- und Brustniuskulatur. Es dauerte ziemlich lange, bis
ich verstand, weshalb eine weitere Ausbreitung nach unten ausblieb.
Ich hatte erwartet, dass die vegetative Erregung nunmehr vom Bauch
her auf das Becken übergreifen würde, doch das blieb aus. An dessen
Stelle traten lebhafte klonische Zuckungen der Beinmuskulatur auf und
eine ungeheure Steigerung des Patellarreflexes. Zu meinem grössten
Erstaunen teilte mir der Patient mit, dass er die Zuckungen der
Beinmuskulatur äusserst angenehm empfand. Ich musste dabei unwill-
kürlich an die epileptischen lüonismen denken, und fand meine Auf-
fassung bestätigt, dass es sich bei den epileptischen und epilepti formen
Muskel Zuckungen um Angstlösungen handelt, die nur angenehm (lust-
voll) empfunden werden können. Es gab Zeiten in der Behandlung
meines Kranken, in den ich nicht ganz sicher war, ob ich nicht eine
richtige Epilepsie vor mir hatte. Äusserlich zumindest waren die An-
fälle des Patienten, die tonisch anfingen und sich gelegentlich klonisch
auflösten, nur sehr wenig von den epileptischen AnfäEen zu unter-
scheiden. Ich hebe hervor, dass in diesem Stadium nach etwa drei-
monatiger Behandlung die Muskulatur des Kopfes, der Brust und des
Oberbauches mobilisiert waren, ebenso die der Beine, besonders Knie-
und Oberschenkelmuskulatur. Unterbauch und Becken waren und blie-
ben unbewegt. Auch die Spaltung zwischen den muskulären Aktionen
und ihrer Wahrnehmung durch das Ich hielt sich konstant. Der Patient
wusste vom Anfall. Er konnte dessen Bedeutung erfassen, aber er
spürte den Affekt des Anfalls nicht. Die Hauptfrage war nun wie
früher: Was steht dazwischen? Es wurde immer klarer, dass der
Patient sich dagegen wehrte, das Ganze in allen seinen Teilen zu erfas-
sen. Wir wussten beide: Sein Ich war sehr vorsichtig. Die Vorsicht
äusserte sich nicht nur in seiner psychischen Haltung. Nicht nur darin,
dass er mit seiner Nettigkeit und seiner Anpassung an die Erforder-
nisse der Arbeit immer nur bis zu einer bestimmten Grenze ging und
sich irgendwie abweisend oder kalt machte, wenn die Arbeit bestimmte
Grenzen überschritt. Diese «Vorsicht» war auch in seiner muskulären
Aktivität enthalten, also sozusagen doppelt festgehalten. Er selbst
beschrieb und erfasste den Tatbestand in der Weise, dass er eineii
Knaben darstellte, den ein Mann verfolgte und prügeln wollte. Dabei
machte er einige ausweichende Schritte, sah dabei ängstlich nach hin-
ten und zog das Gesäss nach vorn, wie um es dem Verfolger zu ent-
ziehen. In üblicher analytischer Sprache hätte man da gesagt: Hinter
dem Prügeln steht wohl die Angst vor dem homosexuellen Angriff.
Der Patient war tatsächlich etwa 1 Jahr in einer Symptomdeutungs-
81
Wilhelm Reich
■,
analyse gewesen, in der ständig seine passive Homosexualität gedeutet
worden war. «An sich» war das richtig gewesen, doch vom Standpunkt
der heutigen Einsichten muss man sich sagen, dass dieses Deuten kei-
nen Sinn gehabt hatte; denn wir sehen, was alles bisher im Patienten
einer wirklich affektiven Erfassung dieses Tatbestandes widersprach.
Seine charakterliche Vorsicht und die muskuläre Bildung seiner Ener-
gie, die ja noch lange nicht gelöst waren. Ich fing nun an, seine Vor-
sicht nicht vom Psychischen her, wie ich sonst in der Charakteranalyse
es zu tun pflege, sondern vom Körperlichen her zu behandeln; so z. B.
zeigte ich ihm immer wieder, dass er zwar seine Wut in seinen musku-
lären Aktionen zum Ausdruck brachte, aber niemals die Aktion fort-
setzte, niemals die geballte und erhobene Faust auch wirklich nieder-
sausen liess. Es zeigte sich einige Male, dass in dem gleichen Augen-
blick, v/Gnn die Faust aufs Sofa niedersausen wollte, die Wut ver-
schwunden war. Ich konzentrierte nunmehr die Arbeit auf die Bremsung
der Vollendung der muskulären Aktion, immer von dem Gesichtspunkt
geleitet, dass er in dieser Bremsung eben seine Vorsicht zum Ausdruck
brachte. Nach einigen Stunden konsequenter Bearbeitung der Ab\\'ehr
der muskulären Aktion fiel ihm plötzlich folgende Episode aus seinem
5. Lebensjahre ein; Als kleiner Junge wohnte er an einem felsigen
Strand, der steil zum Meere abfiel. Er war äusserst lebhaft damit
beschäftigt, am Rande des Felsens ein Feuer anzulegen, und spielte
derart selbstvergessen damit, dass er in Gefahr stand, ins Meer zu
stürzen. Die Mutter erschien in der Türe des einige Meter entfern-
ten Hauses, erblickte was er tat, erschrak und versuchte ihn vom Felsen
wegzubringen. Sie kannte ihn als motorisch äusserst lebhaften Jungen
und war gerade deshalb sehr ängstlich. Sie lockte ihn nun mit den
freundhchsten Tönen und mit Versprechungen, ihm Süssigkeiten zu
geben, an sich heran. Als er dem nachgab, verprügelte sie ihn furcht-
bar. Dieses Erlebnis hatte auf ihn früher einen grossen Eindruck
gemacht, doch jetzt verstand er es im Zusammenhang mit seiner
abwehrenden Haltung Frauen gegenüber und seiner Vorsicht, die er
in der Behandlung darbot. Doch damit war die Sache nicht erledigt.
Die Vorsicht blieb wie sie war. Eines Tages erzählte er in der Pause
zwischen zwei Anfällen humorvoll folgenden Tatbestand. Er war ein
sehr versierter Forellenfänger. Er beschrieb die Lust beim Forellen-
fangen sehr eindrucksvoll; er vollführte die entsprechenden Bewegun-
gen, beschrieb, wie man die Forelle erblickt, wie man die Angel aus-
wirft, und hatte dabei einen ungeheuer gierigen, fast sadistischen Aus-
druck im Gesicht. Es fiel auf, dass er zwar den gesamten Vorgang
genau besehrieb, doch ein Detail ausliess, nämlich den Augenblick, in
dem die Forelle in die Angel hineinbeisst. Ich verstand den Zusammen-
hang, sah jedoch, dass ihm die Auslassung nicht auffiel. In üblicher
analytischer Technik hätte man ihm den Zusammenhang mitgeteilt,
oder ihn dazu ermuntert, ihn selbst zu erfassen. Doch mir lag gerade
daran, das Nichtschildern des Gefangenwerdens und die Motive der
. Auslassung zunächst herauszubekommen. Es dauerte ungefähr vier
Wochen, bis sich folgendes abspielte: Die Zuckungen im Körper ver-
loren immer mehr den krampfhaften tonisehen Charakter. Auch der
Klonus wujde geringer und es traten eigenartige Zuckungen am Bauch
82
Der Orgasmusreflex
auf; sie waren mir nicht neu, denn ich hatte sie bei vielen anderen
Patienten gesehen, doch nicht in dem Zusammenhang, der sich mir nun
erschloss. Der Oberkörper zuckte nach vom, die Mitte des Bauches
blieb ruhig und der Unterkörper zuckte gegen den. Oberkörjier hin. In
aolchen Anfällen richtete sich der Patient plötzlich halb auf, während
der Unterkörper nach oben fuhr. Das Ganze war eine organische, ein-
heitliche Bewegung-. Es gab Stunden, in denen sie unausgesetzt er-
folgten. Abwechselnd mit diesen Zuckungen des Gesamtkörpers traten
Strömungsempfindung-en im Körper auf, besonders in den Beinen und
im Bauch, die er als angenehm empfand. Die Mund- und Gesichts-
haltung veränderte sich ein wenig; in einem solchen Anfall bekam sein
Gesicht völlig den Ausdruck eines Fisches. Der Patient sagte völlig
unaufgefordert, noch ehe ich ihn darauf aufmerksam gemacht hatte,
«Ich fülüe mich wie ein Urtier» und bald danach «Ich fühle mich wie
ein Fisch». Was lag also vor? Ohne eine Ahnung davon zu haben,
ohne einen Zusammenhang durch Assoziationen erarbeitet zu haben,
stellte der Patient in seinen Körperbewegungen einen — offenbar
gefangenen — zappelnden Fisch dar. In analytischer Deutungssprache
ausgedrückt würde man sagen; Er «agierte» die gefangene Forelle.
Es war alles vorhanden, um dem Ausdruck zu verleihen. Der Mund
war krampfhaft nach vorne gestreckt, starr und verzerrt. Der Körper
zuckte von den Schultern bis zu den Beinen. Der Rücken war brett-
hart. Nicht ganz verständlich war in dieser Phase, dass der Patient
beim Zucken eine Zeitlang auch die Arme wie in einer Umarmung mit
einer Person nach vorne schlug. Ich erinnere nicht mehr, ob ich den
Patienten auf den Zusammenhang mit der Forellen geschichte aufmerk-
sam machte, oder ob er es selbst erfasste (es ist in diesem Zusammenhange
auch nicht sehr wichtig); doch er fühlte den Zusammenhang immittel-
bar und hatte nicht den geringsten Zweifel daran, dass er sowohl den
Forellenfänger wie die Forelle darstellte. Natürlich hatte das Ganze
eine unmittelbare Beziehung zu den Enttäuschungen an der Mutter.
Sie hatte ihn als Kind von einem bestimmten Zeitpunkt an vernach-
lässigt, schlecht behandelt, oft geschlagen. Es war oft passiert, dass
er von ihr etwas sehr Schönes, Gutes, erwartet hatte, und dass das
gerade Gegenteil davon eintraf. Seine Vorsicht wurde nun begreiflich.
Er vertraute niemand, er wollte sich nicht fangen lassen. Es war de]-
tiefste Grund seiner Oberflächlichkeit, seiner Angst vor Hingabe, sach-
licher Verpflichtung etc. Als wir diesem Zusammenhang aufarbeite-
ten, veränderte sich sein Wesen in einer auffallenden Weise. Seine
Oberflächlichkeit wich, er wurde ernst. Der Ernst trat ganz plötzlich
in einer Stunde auf. Der Patient sag-te wörtlich folgendes: «Ich
verstehe nicht; es ist alles plötzlich so toternst geworden». Er hatte
also nicht etwa die ernsthafte Gefühlshaltung aus einer bestimmten
Zeit der Kindheit erinnert, sondern er veränderte sich tatsächhch vom
Oberflächlichen zum Ernsthaften. Es wurde klar, dass seine krank-
hafte Beziehung zu Frauen, d. h. seine Angst, sich mit Frauen zu
liieren, sich Frauen hinzugeben, mit dieser charakterlichen, striiktur-
gewordenen Angst zusammenhing. Er war ein sehr umworbener Mann
und hatte dennoch merkwürdig wenig Gebrauch davon gemacht.
Von nun an verstärkten sich die körperlichen Ström ungsempfindun-
83
Wühdm Reich
fc^
geh zunächst im Bauch, dann auch in den Beinen und im Oberkörper
zusehends und rasch. Er beschrieb die Empfindungen nicht nur als
Strömen, Sondern auch als wollustvoll, «süsslieh». Dies war besonders
dann der Fall, wenn er seine Bauchzuckungen stark, lebhaft und rasch
aufeinanderfolgend produziert hatte.
An dieser Stelle müssen wir einen Augenblick verweilen, um uns
die Situation klarzumachen, in der sich der Patient befand.
Die Bauchzuckungen waren nichts anderes als der Ausdruck davon,
dass die tonische Spannung der Bauchdeckenmuskulatur sich löste. Das
Ganze arbeitete wie ein Reflex. Wenn man leicht auf die Bauchdecke
schlug, löste sich sofort das Zucken aus. Nach einigen Zuckungen war
die Bauchdecke weich und tief eindrückbar; vorher war sie hart, ge-
spannt und zeigte eine Erscheinung, die ich noch unverbindlich die
Banchabivehr nennen möchte. Sie ist an ausnahmslos allen neurotisch
erkrankten Menschen festzustellen, wenn man die Kranken tief ausat-
men lässt und .dabei die Bauchdecke an der Öffnung der beiden Rippen-
bogen etwa 3 cm. unterhalb des Endes des zentralen Brustknorpels
leicht eindrückt; dann verspürt man entweder eine heftige ^Resistenz
im Innern des Bauches oder aber die Kranken äussern Schmerz ähnlich
dem beim Druck auf den Hoden. Ein Blick auf die Lage der Bauchein-
geweide und des Plexus solaris, des Sonnengeflechts des vegetativen
Nervensystems, zeigt uns im Zusammenhang mit noch weiter zu nen-
nenden Erscheinungen, dass die Bauchspannung die Funktion hat,
den Plexus solaris zu umscliliessen. Es ist ein Druck, der von der
Bauchdecke her auf den Plexus ausgeübt wird. Die gleiche Funktion
erfüllt das gespannte nmi tief gestellte Zwerchfell. Auch dieses Symp-
tom ist typisch. Aumahmslos bei allen einigermassen neurotisch er-
Icrankte-n Menschen kann vian eine tonische Kontraktur des ZwerchfeUf;
feststellen; sie drückt sieh darin aus, dass die Patienten flach und nur
abgehackt ausatmen können. Bei der Ausatmung wird das Zwerchfell
hocligehoben, es verändert sich der Druck auf die darunterliegenden
Organe, d. h. auch auf den Plexus solaris. Nun ist mit der I^ockerung
des Zwerchfells und der Bauchdeckenmuskulatur offenbar eine Befrei-
ung des vegetativen Geflechts von dem auf ihm lastenden Druck ver-
bunden. Das äussert sich darin, dass sich dann ein Empfinden einstellt,
wie man es beim Schaukeln, beim Fahrstuhlabwärtsfahren, beim Fallen
im Oberbauch empfindet. Ich muss auf Grund meiner Erfahrungen
annehmen, dass es sich hier um eine äusserst wichtige Erscheinung
handelt. Die allermeisten Patienten erinnern, dass sie als Kinder sich
darin geübt haben, diese Empfindungen im Oberbauch, die bei Wut oder
Angst besonders intensiv auftreten, niederzuhalten und zu unterdrük-
ken; sie lernen es spontan in der Weise, dass sie den Atem, aniiialten
und den Bauch einziehen,. Das Verständnis der Solarisspannung ist für
das des weiteren Verlaufs der Behandlung unseres Patienten unerläss-
lich. Was nunmehr erfolgte, stand durchaus im Einklang mit der oben
beschriebenen Annahme und bestätigte sie. Je intensiver ich den Pati-
enten die Haltung der Muskulatur in der oberen Bauchgegend beob-
achten und beschreiben liess, desto intensiver wurden die Zuckungen,
desto stärker wurden die Strömungsempfindungen nach dem Aufhören
der Zuckung, desto mehr breiteten sich die wellenförmigen, schlangen-
I
-vs
{
%
84
Der OrgasmusrefleJi
artigen Bewegungen des Körpers aus. Doch das Becken blieb noch
immer steif, bis ich daran ging, dem Kranken die Verkrampfung der
Beckenmuskulatur bewusst zu machen. Bei den Zuckungen stiess der
gesamte Unterkörper nach vorn. Das Becken blieb dabei ruhig. Ich
forderte nun den Kranken auf, die Hemmung, die das das Becken behin-
derte, zu beachten. Es dauerte ungefähr zwei Wochen, bis er seine
muskuläre Bremsung im Becken vollkommen erfasst und die Hemmung-
überwunden hatte. Er lernte es allmählich, das Becken in die Zuckung
miteinzu beziehen. N-un trat auch im Genitale ein Sirövnmgfiempfinden
auf, das er vorher nie gekannt hatte. Er bekam in der Stunde Glied-
steifungen und hatte den mächtigen Impuls, zur Ejakulation zu gelan-
gen. Es war ganz klar: Die Zuckungen des Beckens, des Oberkörpers
und des Bauches waren nunmehr die gleichen, die man im wgastischen
Klonus -produziert uwi erlebt. Von nun an konzentrierte sich die Arbeit
darauf, die Haltung des Patienten beim Geschlechtsakt genauestens be-
schreiben zu lassen. Es stellte sieh heraus, was man nicht nur bei allen
Neurotikern, sondern bei der überwiegenden Mehrzahl aller Menschen
beiderlei Geschlechts findet: Die Bewegung im Geschlechtsakt ist künst-
lich forciert, ohne dass die Betreffenden es ivisse^i. Bewegt wird ge-
wöhnlich nicht das Becken für sich, sondern Bauch, Becken und Ober-
schenkel in einem Stuck. Das entspricht nicht der natürlichen vegeta-
tiven Becken Bewegung beim Geschlechtsakt, sondern ist im Gegenteil
eine Bremsung des orgastischen Reflexes. Sie ist willkürlich im Gegen-
satz zum reflektorischen Akt. Sie hat die Funktion, die orgastische
Strömungssensation im Genitale herabzusetzen oder gänzlich zu unter-
binden. Von diesen Erfahrungen ausgehend, konnte ich nun mit dem
Patienten rasch vorwärtskommen. Es zeigte sich, dass er den Becken-
boden ständig hochgespannt hielt. Erst bei diesem Fall verstand ich
einen Irrtum, dem ich vorher verfallen war. Ich hatte bis dahin bei den
Versuchen, die orgastischen Henmiungen zu beseitigen, wohl die Kon-
traktur des Beckenbodens behandelt und zu lösen versucht, doch es hatte
sich mir immer wieder der Eindruck aufgedrängt, dass das nicht ge-
nügte, dass das Ergebnis irgendwie unvollständig war. Jetzt begriff
ich: Das Zwerchfdl drückte auf den Plexus von oben, die Bauchdecken
drückten von vorne wid die Kontraktion des gesamten Beckenhod^n^
hatte den Zweck, von unten her den Bauchraiim erheblich zu verengen.
Auf die Bedeutung dieser Tatbestände für die Verursachung und Fest-
haltu^ng neurotischer Situationen komme ich später zurück.
Nach einigen weiteren Wochen gelang die Lösung der muskulären
Panzerung des Patienten vollkommen. In dem Masse, in dem sicli die
strömenden Empfindungen im Genitale verstärkten^ nahmen die isolier-
ten Bauclizuckungen ab. Die Ernsthaftigkeit seines Gefühlslebens
wuchs. In diesem Zusammenhang erinnerte er ein Erlebnis etwa im
zweiten Lebensjahre. Er ist allein mit der Mutter in einem Somnier-
aufenthaltsort. Es ist helle Sternennacht. Die Mutter schläft und
atmet tief; von draussen her hört er den regelmässigen Wellenschlag
des Meeres. Es war die gleiche tiefernste, etwas traurig- wehmütige
Stimmung, die er jetzt verspürte. Wir dürfen sagen, er erinnerte eine
der Situationen aus der allerfruhesten Kindheit, in denen er seine vege-
tative (orgastische) Sehnsucht noch zuliess. Nach der Enttäuschung
85
^
Wilhelm Reich
an der Mutter, die in seinem fünften Lebensjahr sich vollzog, kämpfte
er gegen sein vegetatives Vollerleben an, wurde kalt, oberflächlich, kurz
er entwickelte den Charakter, den er zu Beginn der Analyse darbot.
Von nun an verstärkte sich das Gefühl eines «sonderbaren Kontaktes
mit der Welt». Er versicherte mir die völlige Identität des Geluhlsern-
stes, der ihn jetzt beherrschte, mit dem Empfinden, das er als ganz klei-
nes Kind bei der Mutter, besonders in jener Nacht gehabt hatte. Er
beschrieb es wie folgt: «Ich bin wie mit der Welt unmittelbar ver-
bunden. Es ist, als ob alles in mir und ausserhalb von mir schwingen
würde. Es ist, als ob alle Reize viel langsamer wie in Wellen heraus-
kämen. Es ist wie eine schützende Hülle um ein Kind herum. Es ist
unglaublich, wie ich die Tiefe der Welt jetzt spüre.» Ich brauchte ihm
nicht erst mitzuteilen, weil er es spontan erfasste: Die VerbundeTÜteit
mit der Mutter ist dieselbe vAe die mit der Natur. Die Gleichsetzung
von Mutter und Erde oder Weltenraum erhält einen tieferen Sinn, wenn
man sie von dem vegetativen Gleichklang von Ich und Welt her be-
greift. An einem der nächsten Tage erlebte der Patient einen schweren
Angstanfall. Er fuhr mit schmerzhaft aufgesperrtem Mund auf; auf
der Stirn standen Schweisstropfen; seine Muskulatur war bretthart
gespannt. Er halluzinierte ein Tier, einen Affen; dabei hatte seine
Hand völlig die Haltung einer gekrümmten Affenhand, und er stiess
Töne hervor, aus der Tiefe der Brust, «wie ohne Stimmbänder», sagte
er nachher. Es war ihm, als wenn ihm jemand ganz nahe kam und
ihn bedrohte. Dann rief er wie in Trance «sei nicht böse, ich will
ja nur saugen». Der Angstanfall klang ab, der Patient beruhigte sich,
und in den weiteren Stunden arbeiteten wir es durch. Dabei erinnerte
er unter vielem anderen, dass er etwa zwei Jahre alt — erfassbar durch
eine bestimmte Wohnungssituation — Brehms Tierleben zum ersten Mal
gesehen hatte. Er erinnerte nicht, damals die gleiche Angst produziert
zu haben. Doch die Angst entsprach zweifellos dem damaligen Erleben:
Er hatte eiTien Gorüla mit grosser Bewunderung und grossem Erstaunen
betrachtet.
Die damals nicht zur Entwicklung gekommene Angst hatte ihn den-/
noch das ganze Leben lang beherrscht. Jetzt war sie zum Ausbruch
■ gekommen. Der Gorilla stellte den Vater dar, die bedrohende Gestalt,
die ihn am Saugen verhindern wollte. Seine Beziehung zur Mutter war
also fixiert geblieben und in Form der saugenden Mundbewegungen
gleich im Anfang der Behandlung durchgebroclien, doch erst nach Dui'ch-
arbeitung seiner gesamten muskulären Panzerung wnrde sie ihm spon-
tan verständlich.. Es war nicht notwendig, fünf Jahre lang an Hand
von Erinner ungsspuren nach dem Saugeerlebnis aus jener Zeit zu
suchen. Er war aktuell in der Behandlung ein Säugling mit dem Ge-
sichtsausdruck eines solchen und den erlebten Äng'sten.
Ich kann nun die Schilderung abkürzen. Nach Lösung der zwei
Hauptfixierungen an kindliche Situationen, seiner Enttäuschung an
der Matter und seiner Hingabeangst, steigerte sich die genitale Erre-
gung rasch. Es dauerte nur wenige Tage, da lernte er eine hübsche
junge Frau kennen, mit der er sich leicht und widerspruchslos befreun-
dete. Nach dem zweiten oder dritten Akl kam er strahlend in die
Behandlung und berichtete ganz erstaunt, dass sich das Becken dabei
86
L
Der Orgasmusreflex
«so merkwürdig- von selbst» bewegt hätte. Es zeigte sich bei der ge-
nauen Darstellung, dass er noch eine leichte Bremsung im Augenbhcke
des Samenergusses hatte. Doch da die Becken bewegung gelöst war,
kostete es nur wenig Mühe, auch diesen letzten Rest zu beseitigen. Es
kam nunmehr darauf an. dass er im Augenbhcke des Samenergusses
nicht .stoppte, sondern sich voll der vegetativen Motorik hingeben
konnte. Er zweifelte keinen Augenblick daran, dass die Zuckungen,
die er in der Behandlung produziert hatte, nichts anderes gewesen
waren, als die verMltenen vegetativen orgastischen Koitusheweg-imgen.
Der Eeflex war jedoch, wie sich später herausstellte, nicht völlig
störungsfrei zur Entwicklung gekommen. Die Zuckungen waren noch
ruckartig; es bestand eine starke Scheu, den Kopf nach hinten sinken
zu lassen, also die Hingabe Haltung einzunehmen. Es dauerte nicht
lange, bis der Patient 'das Sträuben gegen einen weichen harmonischen
Ablauf der Bewegung aufgab. Jetzt löste sieh der Rest seiner Störung,
der vorher nicht so deutlich hei-vorgetreten war. Die harte stossartige
Form in der Zuckung ging einher mit einer psychischen Haltung, die
besagte: «Ein Mann ist hart und unnachgiebig, jede Hingabe ist weib-
lich.» Im Anschluss an diese Erkenntnis löste sich sein alter infantiler
Konflikt mit seinem Vater. Er fühlte sich einerseits durch seinen Vater
geborgen und beschützt. Er konnte, wie schwierig auch Situationen
sein mochten, sich darauf verlassen, dass ihm der «Rückzug» ins väter-
liche Heim freistünde. Doch gleichzeitig strebte er nach Selbständigkeit
und Unabhängigkeit vom Vater; er empfand seine Schutzdürftigkeit
als weiblich und wollte sich davon freimachen. So standen das Selb-
ständigkeitsstreben und das passiv-feminine Sehutzbedürfnis einander
gegenüber. Beide waren in der 'Form des Orgasmusreflexes gegeben.
Die Lösung des psychischen Konfliktes erfolgte Hand in Hand mit der
Beseitigung der harten stossartigen Form des Reflexes und dessen Ent-
larvung als einer Abwehr der weichen hingehenden Bewegung. Als
er die Hingabe im Reflex selbst erlebte, ergriff ihn tiefe Bestürzung:
«Icli hätte nie gedacht», sagte er, «dass ein Mann sich auch hingeben
könnte. Ich habe es immer für ein weibliches Geschlechtsmerkmal ge-
halten». Derart war seine eigene abgewehrte Weiblichkeit verknüpft
mit der natürlichen Form der orgastischen Hingabe, wodurch die letzte
gestört wurde. Es ist interessant, wie in der Struktur dieses Kranken
sich die gesellschaftliche doppelte Moral widergespiegelt und verankert
hatte. Auch in der offiziellen gesellschaftlichen Anschauung- ist Hingabe
mit Weib-sein und unnachgiebige Härte mit Männlich-sein gefülilsmäs-
sig verknüpft. In der gesellschaftlichen Ideologie ist es unvorstellbar,
dass ein selbständiger Mensch sich hingeben und ein hingebender Mensch
selbständig sein könne. So wie die Frauen aus dieser Gleichsetzung
heraus gegen ihre Weiblichkeit protestieren und männlich sein wollen,
so wehren sich die Männer gegen ihren natürlichen geschlechtlichen
Rhythmus aus Angst, weiblich zu erscheinen; — und daraus schöpft
wieder die verschiedene Anschauung des Sexuellen bei Mann und Frau
ihre scheinbare Berechtigung.
Im Verlaufe der nächsten Monate vervollständigte sich, jeder Zug
im Umschwung seines Wesens. Er hörte auf, masslos zu trinken, ver-
sagte sich jedoch den Alkohol gelegentlich in Gesellschaft nicht. Er
87
1
Aus dem „Internationalen Institut für
Sexualökonomische Forschung"
Wir ei-hielten folgende Mitteilung, die wir mit Freude abdrucken:
Im Jahre 1921 enthüllte ein besonders günstig* gelegener Fall die
zentrale Bedeutung der orgastischen Funktion für die seelische Hygiene
sowie ihrer Störung für die Entstehung und Aufrechterlialtung der
Neurose. Die konsequente Durchforschung des Orgasmusproblems, das
bis dahin in seinen wesentlichsten Stücken unbekannt und ungeklärt
88
1
Mitteilung aus dem Institut
vermochte die Beziehung zu seiner Frau zunächst in eine brauchbare
Richtung zu bringen, liierte sich glücklich mit einer anderen Frau und
er nahm vor allem interessiert und begeistert eine neue Arbeit auf.
Die Oberflächlichkeit war vollkommen gewichen. Kr war niclit melir
imstande wie früher, in Gasthäusern öde Gespräche zu führen oder
sonst Dinge zu unternehmen, die nicht irgendwie sachlich interessier-
ten. Ich mochte ausdrücklich betonen, dass es mir nicht eingefallen
wäre, ihn irgendwie moralisch zu leiten oder zu beeinflussen. Ich war
selbst überrascht von der spontanen Wandlung seines Wesens in der
Richtung zur Sachlichkeit, zum Ernst. Er begriff die Grundauffassun-
gen der Sexualökonomie nunmehr weniger aus seiner ja nicht sehr lan-
gen Behandlung, sondern, das darf man ruhig sagen, spontan von seiner
veränderten Struktiir her, von seinem Körpergefühl her, vom Stand-
punkt der erlangtmi vegetativen Beweglichkeit. • Er hatte mein Buch ^-
«Die Funktion des Orgasmus» gar nicht gelesen und beschrieb genau
den von mir erhobenen Unterschied zwischen der natürlichen, vegeta-
tiven orgastischen Erregung und Beweglichkeit und seiner früheren
künstlichen, gemachten, unnatürlichen Art der Kohabitation.
Ich schöpfte aus diesem Erfolg viel Ueberzeugung von der Richtig-
keit der bisherigen und viel Mut für die bevorstehenden weiteren Erhe-
bungen. Ganz unabhängig von mir hat ein struktur veränderter Mensch
automatisch begriffen, um was es in der Sexualökonomie geht.
Man ist bei so schwierigen Fällen an Erfolg in so kurzer Zeit nicht
gewöhnt. Ich kann nicht beurteilen, ob die Erwartung berechtigt ist,
dass mit Hilfe der hier beschriebenen Art der direkten vegetativen
, Energielösung die Behandlungen wesentlich abzukürzen wären. Einige
\, andere Fälle gleicher Art berechtigen allerdings dazu. Ich würde auch
noch nicht wagen, die Dauer des Erfolges für gesichert zu lialten; es
■wird einiger Jahre bedürfen, tun sich darüber ein festes Urteil zu
bilden.
Doch wesentlicher wird der hier geschilderte Fall für das Verständ-
nis der Funktion der vegetativen Energie der Bremsung, im besonderen
an jenen Erscheinungen, die sich um das Sonnengeflecht des vegeta-
tiven Nervensystems bei neurotisch erkrankten Mensehen gruppieren.
Mitteilung aus de.m Institut
geblieben war, führte zur Ablehnung der Freudschen Todestrieblehre.
Was 'frend als Todestrieb zu fassen glaubte, war in Wirklichkeit die
orgastische Sehnsucht nach Auflösung, Auslösung, mit der Welt Ver-
schmelzen, kurz: nach orgastischem Erleben; psychische Strebungen,
die durch die Lebensunterdrüekung der heutigen Gesellschaft behindert
sind und sich infolgedessen in Verhaltungs weisen äussern, die einem
Streben nach dem Tod ähnlich sehen. Die Todestrieblehre Freuds hielt
keiner klinischen Kritik stand. Im Gegensatz dazu erwies sich die
Hypothese, dass die Sexualtriebe die «Lebenstriebe» seien, als korrekt.
Schon die klinischen Details der orgastischen Funktion ergaben im
Zusammenhang mit der Beachtung physiologischer Erregungszustände
eine Formel, die 1j934 in dieser Zeitschrift zum ersten Male in der
Abhandlung «Der Orgasmus als elektrische Entladung» pubUziert wurde.
Sie lautet: Mechanische Spannung oder Füllung — Elektrische Ladung
^ Elektrische Entladung — Mechanische Entspannung. Es zeigte sich,
dass sie in der unbelebten Natur nicht anwendbar ist und im Gegensatz
dazu nicht nur die orgastische Sexualfunktion, sondern sämtliche vege-
tativen Funktionen des Organismus beherrscht. Im Verlaufe der wei-
teren Forschung konnten alle Zweifel an der Identität der Orgasmus-
formel mit der Lebensformel beseitigt werden. Sie bestätigte sich 1035
auch experimentell. Sexualerregung und Angsterregung erwiesen sich
als einander entgegengesetzte Richtungen elektrischer Ladungstatigkeit
an den sexuellen Organen («Experimentelle Ergebnisse über die elek-
trische Funktion von Sexualität und Angst» 1937). In Winter 1935/36
wurden nun auf Grund der klinischen und bis dahin vorliegenden experi-
mentellen Tatbestände Versuche eingeleitet, die zeigen sollten, ob die
Identität der Orgasmusformel mit der Lebensformel zu Recht besteht
oder nicht. Es gelang bereits im Mai 1936, biologische Versuche durch-
zuführen, die diese Annahme bestätigten. Es ergaben sich hochstenle
kolloidale Gebilde bei bestimmter Behandlung verschiedener lebloser
Stoffe, die in Bewegung, Kontraktion, Expansion und Form von
tierischen Einzellern nicht zu unterscheiden waren. Noch stand die
Frage offen, ob es sich nur um eine Imitation, also Modelle lebender
Organismen handelte, oder ob tatsächhch die Organisierung nichtleben-
den Stoffes gelungen war. Diese Frage konnte nur durch Kulturver-
suche entschieden werden. Nach monatelanger angestrengter Arbeit
gelang im Dezember 1936 die erste Kultur der Gebilde. Die Kultur-
versuche wurden bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt soweit durchgeführt,
dass wir uns berechtigt fülilen, das positive Ergebnis nunmehr als ein-
wandfrei mitzuteilen.
Seit Dezember steht unser Institut mit' einer französischen natur-
wissenschaftlichen Gesellschaft in Verbindung. Es wurde eine Kom-
mission von Fachwissenschaftlern gebildet und ein Laboratorium zur
Verfügung gestellt, das die Aufgabe bekam, die hier durchgeführten
Versuche zu kontrollieren. Gleichzeitig ging eine Meldung über die
Herstellung der Gebilde an die Französische Akademie der Wissenschaf-
ten in Paris. Die experimentellen Versuchsleiter in Frankreich unter-
zogen sich in dankenswerter Weise der Aufgabe, nach Kontrollierung
der Versuche, eine offizielle Meldung an die Akademie zu erstatten.
Vor kurzem erhielten wir die erfreuliche Nachricht, dass die ersten
89
Sigurd Hoel
Kontrollversuche am Französischen Laboratorium positiv ausgefallen
Die experimentell erhaltenen lebenden und kultivierbaren Ge'bilde
erhielten den Namen Bione. Die Ergebnisse der Bion-Versuche wurden
am 7 März m der Naturphilosophi sehen Gesellschaft in Nizza der
Öffentlichkeit mitgeteilt.
_ Sobald die wichtig-sten Versuchsreihen abgeschlossen sein werden
wird das Ergebnis im Eahmen unserer experimentellen und klinischen
Berichte detailliert mitg-eteilt werden.
Mit dem Geling-en der otengenannten biologischen Versuche ist nicht
nur die Orgasmusformel als Ubensformel experimentell bestätigt wor-
den; darüber hinaus wurde der Grundstein für die biologische Forschung-
auf sexualokonomisc-hem Gebiet gelegt. Dass hierbei der dialektische
Materialismus als naturwissenschaftliche Forschungs- und Erkenntnis-
Methode einen entscheidenden Sieg an der wissenschaftlichen Front
gegen den Vitalismus und Mystizismus in der Naturwissenschaft buchen
itann, soll ausdrücklich hervorgehoben werden
Oslo, im April 1937
Wühelm Reich
Irrationalismus
in Politik und Gesellschaft
Der Moskauer Prozess
Von Sigurd Hoel
Die Hauptbegebenheiten des zweiten und vorläufig letzten grossen
Moskauer Prozesses smdwoW bekannt. Ich begnüge mich damit^n
aUer Kurze an die wichtigsten Tatsachen zu erinnern-
Von dem abwesenden Hauptangeklagten TrotzJä abgesehen wurde
über 17 Angeklagte Gericht gehalten.
Die Siebzehn waren angeklagt, teils Leiter, teils Agenten eines
«ParaEelzentrums» zu: dem konterrevolutionären Zentrum gewesen zu
sein das von Sinowjeiv und Kamenew geführt worden war und das
tTluZ ''^^" J^^kauer Prozess im August vorigen Jahres ausgerot-
tet wurde. (Gestandnissen m diesem letzten Prozess zufolse o-ah p«
sogar noch ein Zentrum um Bucharin, Toviski und R>jk<m. Der Prozess
gegen dies dritte Zentrum hat noch nicht stattgefunden. Tomski be-
ging übrigens Selbstmord im Sommer vorigen Jahres, als die GPU ihn
verhaften wollte.)
Was hatte nun dieses «Parallel Zentrum» begangen? — Der erste und
man mochte fast sagen mildeste Teil der Anklage lautete auf terroristi-
90
^
Der Moskauer Prozess
sehe Wirksamkeit: Das «Zentrum» hätte Stalin und seinem nächsten
Kreis nach dem Leben gestrebt.
Der zweite Teil der Anklage beschuldig'te die Angeklagten der Sabo-
tage. Sie hätten Gasexplosionen in Fabriken, Einstürze und Explosio-
nen in Gruben, Eisenbahnzusammenstösse in grosser Zahl organisiert
und im übrigen auf alle mögliche Weise versucht, die ökonomische Auf-
bauarbeit zu hindern und zu bremsen.
Der dritte Teil der Anklage schliesslich lautete auf Spionage. Die
Angeklagten hätten hochverräterisclie Spionagearbeit für Deutschland
und Japan teils organisiert, teils direkt ausgeführt.
Der Leiter dieser ganzen hochverräterischen, sowjetfeindlichen Ar-
beit war Trotzki. Er verlangte das Leben Stalins und seiner nächsten
Ratgeber, er forderte die Durchführung der Spionage und der Sabota-
geakte. Die siebzehn Angeklagten erhielten seine Befehle und Direk-
tiven und geliorcliten — teils unter Zweifel und Angst und Beben —
aber sie gehorchten. Trotzki hielt es — der Anklageschrift und den
Geständnissen der Angeklagten nach — für aussichtslos, allein mit sei-
nen und seiner Mit verschworenen Kräften die Macht in der Sowjet-
union erobern zu woDen. Hinzu kam, dass er nach dem Siege des
Nationalsozialismus in Deutschland einen Krieg zwischen Deutschland
und der Sowjetunion für unvermeidlich ansah. Japan würde in diesem
Kriege auf Seiten Deutschlands stehen. Im Jahre 1937, meinte Trotzki
zu wissen, würde der Krieg ausbrechen und die Niederlage der Sowjet-
union würde unumgänglich sein. — Von diesen Gesichtspunkten aus
nahm Trotzki geheime Verhandlungen mit Deutschland und Japan auf.
Als Unterhändler für Deutschland figurierte Hitlers Stellvertreter Hess;
wer für Japan verhandelte, wurde nicht bekanntgegeben. Trotzki ver-
pflichtete sicli, Sabotageakte zu organisieren im Eisenbahnwesen, im
Bergbau und in der Industrie der Sowjetunion, besonders in dem Teil
der Industrie, der Waffen und Kriegsmaterial produzierte. Trotzki
verpflichtete sich, Spionagearbeit für die beiden Mächte zu organisi-
eren. Wenn der Krieg ausbräche, sollten Sabotage und Spionage aufs
höchste Mass gesteigert werden, um Zersetzung und Zusammenbruch
der Sowjetunion zu bewirken und so Deutschlands und Japans Sieg zu
sichern.
Zum Entgelt versprachen die beiden Mächte «wohlwollende Haltung»
zur eventuellen Machtübernahme der Trotzkisten in der Sowjetunion
nach der Niederlage. Diese «Macht» würde freiHch ein wenig begrenzt
werden. Man musste damit rechnen, dass Deutschland die Ukraine für
seine Bemühungen würde haben wollen. Japan würde grosse asiatische
Gebiete fordern, besonders das Amur -Gebiet. Des weiteren würden
beide Mächte sich grosse Konzessionen im übrigen Sowjetgebiet sichern.
Die Herrschaft über die Industrie würde in Deutschlands und Japans
Hände übergehen, die gesamte Kollektivwirtschaft würde aufgelöst und
das kapitalistische System in der Sowjetunion wieder eingeführt wer-
den, die so eine Art Kolonie der beiden faschistischen Militärstaaten
werden würde.
Von dieser Einstellung aus, mit diesem offen ausgesprochenen Ziel
vor Augen sandte also Trotzki seine Direktiven an Radek. Radek war,
wie wir ja wissen, als treu und zuverlässig bekannt. Und Trotzki hatte
91
l'"'
~. ^
Sigurd Hoel
einen besonderen Grund, sich auf ihn zu verlassen. Im Jahre 1930 hatte
einer von Trotzkis Freunden, Blumkin, ihn auf der Insel Prinkipo be-
sucht. Als er nach Moskau zurück kam und seine illegale Arbeit be-
ginnen wollte — die Verbreitung von Schriften Trotzkis — gab Radek
ihn der GPU an (so hat jedenfalls Trotzki geglaubt) und Blumkin
wurde erschossen. — An Radek also sandte Trotzki jetzt seine Direk- ^
tiven. Und das «Parallelzentrum» organisierte sich und ging an die •,*»""
]M Arbeit. ^*'-
'!f Die Zentralfigur im «Parallelzentrum» war Pjatakow. Er beteiligte
sich nicht nur an der Organisierung der Terrorakte (die zu nichts
führten) und der Spionage. Er, der nach Ordschonikidse der oberste
Leiter der russischen Industrie war, machte sich nun daran, die Zer-
störung des Werkes zu organisieren, das er selbst aufgebaut hatte.
In derselben Richtung, wenn auch im geringeren Masstabe, wirkten
die anderen Angeklagten. Das geht nicht nur aus der Anklageschrift,
f 'l" sondern aus den Geständnissen sämtlicher Angeklagter hervor. Diese
;' il Geständnisse, wie sie jetzt in dem offiziellen, 637 dichtbedruckte Sei-
;j. ten starken Bericht vorliegen, lassen nichts ungesagt. Sie stimmen in
'i' allen Punkten überein, wo Geständnisse übereinstimmen müssen una
sie ergänzen einander in allen Punkten, wo sie sich ergänzen müssen.
In keinem einzigen wesentlichen Punkt weichen sie voneinander ab, die
verschiedenen Geständnisse fügen sich im Gegenteil mit mathemati-
scher Präzision in einander wie die einzelnen Teile einer fein konstruier-
ten Maschine. Insofern bietet der Berieht als Ganzes bei seiner gan-
zen Unheimlichkeit ein Bild von, ich hätte fast gesagt, vollkommener
künstlicher Harmonie. Ich glaube,, damit steht er ziemlich allein da
unter allen Prozessberichten der Welt. Chorgesang und Sologesang- lö-
sen einander ab und sind gegeneinander ausbalanciert, wie in einem
Oratorium eines Komponisten von höchstem Rang.
Es ist vor allem eine Eigentümlichkeit, die zur Schaffung dieser
Harmonie beiträgt. Es war ja, wie wir sehen, eine Bande gemeiner
Verbrecher, die hier vor Gericht stand. Aber in einem Punkte unter-
schieden sich diese hier auffällig von anderen Verbrechern und zeigten
eine sehr hohe Moral: Keiner von ihnen suchte sich herauszureden, in-
dem er die Schuld auf andere schob, jeder Einzelne nahm ohne Feilschen
und Handeln sein Teil auf sich. Und keiner versuchte, seine Handlungs-
weise zu entschuldigen. Alle gaben einer hundertprozentigen Reue
Ausdruck und einer gewiss etwas verspäteten, aber dafür um so mehr
brennenden Bewunderung für Stalin — den Mann, den sie zu stürzen
versucht und dem sie nach dem Leben gestrebt hatten, und der dafür
sie gestürzt hatte und ihnen jetzt das Leben nahm. In einer einstim-
migen Huldigung Stalins klingt das Oratoriiun aus.
Kann man mehr verlangen als Geständnisse? Nach siebzehn gleich-
lautenden Geständnissen sollte eine Sache klar sein.
Für alle rechtgläubigen stalinistischen Kommunisten liegt der Fall
klar, das versteht sich von selbst. Aber darüber hinaus kann man fest-
stellen, dass dieser zweite Moskauer Prozess eine weit «bessere Presse^>
in der ganzen Welt bekommen hat, als der erste im August vorigen
Jahres.
Das gilt besonders für die Sensationspresse, Sie fand die Geständ-
92
1 1
,^ ->
Der Moskauer Proxess
nisse sensationell, wie sich das gehört, und teilweise durchaus unerklär-
lich. Aber es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde usw.
. , •. . kurz, die Weltpresse anerkannte die Geständnisse (mit gewissen
Vortehalten), ganz wie sie die Geständnisse der Hexen anerkannt hätte
(mit gewissen Vorbehalten), wenn sie zur Zeit der Hexenprozesse exi-
stiert hätte. Reisen zum Blocksberg auf dem Besenstiel und dort Bei-
schlaf mit den Teufeln? Tja, das mutet merkwürdig an, aber es gibt
ja melir Dinge zwischen Himmel und Erde als
Sensation ist das letzte und beste Opium für das Volk, und man darf
niciit erwarten, dass Opiumhändler sich zumeist für die chemische Zu-
sammensetzung des Stoffes interessieren.
Für uns Andere dagegen, die die beiden letzten Moskauer Prozesse
für eine der grössten Katastrophen unserer Tage halten — eine Kata-
strophe, für deren Grösse es nahezu gleichviel bedeutet, ob die Geständ-
nisse richtig oder falsch sind — für uns erhebt sich hier eine Reihe
schwieriger und unheimlicher Probleme.
Z. B. dieses:
wenn die Geständnisse wahr sind — wie sollen wir es da erklaren,
dass so viele der besten, tüchtigsten und erprobtesten alten Bolsche-
wiken so tief gesunken sind? Dehn es ist ja nicht mehr und nicht
weniger als die Elite der ursprünglichen Bolschewistischen Partei, die
nun ausgerottet ist oder im Gefängnis auf ihr Urteil wartet. Eine
kleine Übersicht (aus einem Artikel von S. Schwarz: Die Vernichtung
des alten Bolschewismus) wird uns das zeigen:
Im Juli-August 1917 hat die bolschewistische Partei ein 21-köpfiges
Zentralkomitee gewählt. Von seinen Mitgliedern sind 7 längst tot; von
den übrigen 14 sind 6 völlig aus der Politik ausgeschaltet und einfach
zu Beamten geworden. Den Pest bilden 7 «Konterrevolutionäre» (Bu-
charin, Sinowjew, Kamenew, Rykow, Smilga, Sokolnikow, Trotzki) und
Stalin. , . ^ ,
Der 7. Parteikongress im März 1918 wählte em 15-kopfiges Zentral-
komitee. 6 sind längst tot, 2 politisch ausrangiert, die restlichen 7
sind: 6 «Konterrevolutionäre» (Bucharin, Sinowjew, Smilga, Sokolnikow,
Trotzki und Schmidt) und Stalin.
Der S. Parteikongress im März 1919 wählte ein 19-köpfiges ZK:
3 längst tot, 3 politisch ausrangiert, von den restlichen 13 sind 11
«Konterrevolutionäre» (Belohorodow, Bucharin. Ewdokinow. Sinowjew,
Kamenew, Radek, Rakowski, Serebriakow, Smüga, Tomski, Trotzki) und
Stalin mit Kalinin.
Der 9. Parteikongress im März-April 1920 wählte wiederum em
19-köpfiges ZK: 3 längst tot, 2 politisch ausrangiert, von den restlichen
14 alle mit Ausnahme von Stalin, Andrejew und Kalinin — «Konterre-
volutionäre» (Bucharin. Sinowjew, Kamenew, Preobraschenski. Radek.
Rakowski, Rykow, Serebriakow. I. N. Smimow, Tomski, Trotzki).
Diese Aufzälilung könnte fortgesetzt werden. Doch sie mag auch
so genügen. Es sei hier nur noch hinzugefügt: der 7. Kongress (1918)
hat eine Kommission zur Ausarbeitung des Parteiprogrammes gewählt.
Sie bestand ausser Lenin aus 6 Mitgliedern: Stalin und 5 «Konterre-
volutionären» (Bucharin, Sinowjew, Trotzki, W. Smirnow, Sokolnikow).
Und endlich, bereits nach dem Tode Lenins wählte der 13. Partei-
93
Sigurd Hoel
kongress im Mai 1924 das ZK. und dieses sein 7 köpfiges Politbüro
Wer war es? 6 «Konterrevolutionäre»: Bucharin, Sinowjew, Kamenew'
Rykow, Tomski, Trotzki — und Stalin. • '
Es ist unvermeidlich, dass eine solche Übersicht — oder vielmehr
die Entwicklung, die daraus abzulesen ist _ einen dahin bringt den
Prozessbericht mit gesteigerter Kritik zu lesen.
Was ist, von der seltenen und merkwürdigen inneren Harmonie der
Bekenntnisse abgesehen, das Eigentümliche an diesem Bericht?
Die Antwort ergibt sich sofort:
I Das Eigentümliche ist, dass ausser diesen Geständnissen in dem gan
zen Bericht nicht die kleinste Spur an konkreten Beweisen geliefert
wird. Es wird von Direktiven Trotzki's gesprochen, von Briefen die
m die Sowjetunion m Schuhsohlen eingeschmuggelt werden Aber diese
Briefe sind dermassen verschwunden, dass nicht einmal eine ausgetre-
tene Schuhsohle übriggeblieben ist.
Wir müssen uns also an die Geständnisse halten. Da sind es zwei
!■ ragen, die nach Antwort drängen:
1) kann irgend ein Teil davon kontrolliert werden? Wenn ia was
ergibt die Kontrolle?
2) leiden die nicht kontrollierbaren Teile der Geständnisse an ir-
gendeiner entscheidenden inneren Un Wahrscheinlichkeit?
Es versteht sich von selbst, dass Menschen ausserhalb Russlands nach
IV, so kurzer Zeit nur ganz wenige und zufäDige Teile der Geständnisse
kontrollieren können. ,Die zweite Frage ist daher die umfassendere
Beginnen wir mit ihr.
Die Geständnisse beschuldigen Trotzki (und eine Reihe anderer
früher leitender Bolschewiki) individuellen Terror durch Attentate und
Morde zu organisieren gesucht zu haben. Ein derartiges Verhalten
wurde allem widerstreiten, was Trotzki in Schrift und Rede dreissig
Jahre hmdurch gelehrt hat. Aber nehmen wir einmal an, dass er wie
andre grosse romantische Verbrecher, ein Doppelleben führt und 'eine
Garnitur Prinzipien zum Öffentlichen, eine ganz andere aber zum pri-
vaten Gebrauch hat. /
Jedoch die Geständnisse beschuldigen, wie angeführt Trotzki wei-
terhin, Verhandlungen mit Deutschland und Japan geführt zu haken
die gegen die jetzige Sowjetunion gerichtet waren, und Sabotage und
bpionage organisiert zu haben mit dem Ziel, die Niederlage der Sow-
jets im kommenden Krieg zu bewirken.
Um nachher selbst zur Macht zu kommen, wohlgenierkt.
Überlegen wir einen Augenblick:
Ist es überhaupt denkbar, gibt es überhaupt die entfernteste mathe-
matische Möglichkeit dafür, dass ein solches Verhalten in einem solchen
tall emen Mann zur Macht führen kann?
Wir setzen voraus, dass Deutschland und Japan, um die Sabotage-
und Spionagedienste zu erhalten, Trotzki vers^wochen haben, ihm zur
Macht zu verhelfen. Welche Garantien hat Trotzki jedoch dafür, dass
ein solches Versprechen gehalten werden würde? Niemand, nicht ein-
mal der öffentliche Ankläger, hat zu behaupten gewagt, dass Trotzki.
erst einmal an die Macht gelangt, Hitlers ehrlicher Freund und Ge-
schäftsteilhaber sein würde. Aber hieraus ergibt sich der Scbluss, dass,
94
Der Moskauer Prozess
je besser Trotzki seinen Teil des Kontrakts innehielte — mit andern Wor-
ten, je vollständiger die Niederlage der Sowjetunion würde — desto
weniger Grund würde für die andern vorliegen, zu ihrem Teil zu stehen.
Welches irdische oder himraliche Motiv liesse sich überhaupt finden,
das die Nazi bewegen könnte, einem solchen Mann ein solches Ver-
, sprechen zu halten? Vielleicht die Stimme des Gewissens?
Die Stimme des Gewissens, falls sie eins hätten, würde den Nazis
gerade befehlen müssen, einem so niedrigen Verräter ihr Wort zu
brechen. Und alle Vernunftgründe müssten dasselbe gebieten. Ein
solcher Wortbruch wäre ja nicht nur eine moralisch lobenswerte son-
dern auch eine völlig gefahrlose Handlung. Trotzki könnte ja protestie-
ren, so viel er wollte, und mit seinem Kontrakt fuchteln, wenn er
einen hätte — eine einstimmige Weltmeinung würde den Leuten Recht
geben, die ihn zum Narren gehalten hätten.
Vielleicht hatte ja aber Trotzki gar nicht daran gedacht, seinen Teil
des Kontrakts innezuhalten? Vielleicht wollte er selbst die dummen
Nazis anführen? Bei allen derartigen Übereinkünften besteht ja sozu-
sagen ein ungeschriebener Paragraph darüber, dass die Partner einan-
der zu betrügen beabsichtigen.
Aber wie hätte Trotzki hier jemanden betrügen können? Der Weg
zu seiner Machtergreifung nach dieser Methode ginge ja unweigerlich
iiber die Niederlage. Aber in und mit der Niederlage hätte er keine
physische und noch weniger eine moralische Macht hinter sich, die seine
Forderungen stützen könnten.
Im übrigen aber laufen ja der ganze Prozess, die gesamte Anklage,
alle Geständnisse darauf hinaus, dass Trotzki mit allen Kräften seinen
l'eil des Kontrakts innehielt, dass er mit aller Macht auf die Niederlage
der Sowjets hinarbeitete. Das ist geradezu die Pointe des Prozesses.
Alles in allem: Wir können nicht beweisen und woUen nicht be-
haupten, dass Trotzki diese Verhandlungen mit Deutschland und Japan
nicht geführt habe. Aber wohl wollen wir behaupten, dass er, wenn
er es getan hat, völlig verrückt, irrsinnig, geisteskrank sein muss.
Aber vielleicht ist er tatsächlich geisteskrank? Das Emigranten-
leben soll ja nicht gerade gesund sein, und wenn eins zum anderen
kommt ....
In diesem Fall müsste er wirklich ein Geisteskranker mit magischen
Fähigkeiten sein. Er, der einsame Emigrant, führt Verhandlungen auf
gleichem Fuss mit zwei Grossmäehten; er sitzt in seinem Exil und
sendet seine Direktiven an eine Gruppe der bedeutendsten Männer der-
Sowjetunion und es sind, wie wir wissen, keine Bagatellen und keine
selbstverständlichen Dinge, die er von ihnen verlangt; aber sie gehor-
chen, sie gehen sofort daran, seinen verrückten Plan in die Tat umzu-
setzen. Man möchte fast glauben, dass er mehr wäre als ein Mensch,
— dass er der Teufel selbst wäre, der gestürzte Luzifer, und dass diese
Männer ihm ein für alle Mal ihre Seele verkauft hätten.
Oder sollen wir glauben, d^s sie alle Siebzehn ein wenig verrückt
waren?
Einzelne Teile der Geständnisse könnten wirklich darauf hindeuten.
Bekanntlich hatte die Gruppe unter anderem sich terroristischer Tätig-
keit schuldig gemacht, hatte versucht, Stalin und seinen engsten Kreis
95
■
Sigurd Hoel
ZU töten. Den Hauptpunkt in diesem Teil des Prozesses bildet das
Attentat auf den Kriegsminister Molotow, von Muralow und Schestow
organisiert und ausgeführt durch den Chauffeur Arnold.
Offensichtlich hatte dies Ereignis sehr wenig Ähnlichkeit mit einem
Attentat. Es kam auch kein Mensch dabei zu Schaden. Das Ganze
verlief so:
Molotcw kam auf einer Dienstreise nach dem Bergwerksort Prokop-
jewsk im Kusnetzk-Gebiet. Er liess sich in die Stadt fahren, um sich
umzusehen. Arnold führte das Auto. Sie fuhren einen geraden Weg
entlang, zu dessen einer Seite ein Steilhang war. Ein Lastauto kam
ihnen in starker Fahrt entgegen, und um Kollision zu vermeiden, musste
Arnold das Auto scharf zur Seite lenken. Es kam direkt am Rande des
Abhanges zum Stehen.
So sah das aus. In Wirklichkeit aber war das also ein Attentat
mit einer Vorgeschichte. Die Vorgeschichte sah so aus: Der Ange-
klagte Muralow hatte zum Angeklagten Schestow und Schestow hatte
zu Tscherepuchin (der nicht vor Gericht erschien) und Tscherepuchin
hatte zu Arnold gesagt, jetzt müsse eine Terrorhandlung geschehen.
Etwas später kam der Volkskommissar für die Industrie, Ordschoni-
kidze, in die Stadt und Schestow sagte zu Tscherepuchin und Tschere-
puchin sagte zu Arnold, jetzt müsse also Ordschonikidze durch ein Autp-
mobilunglück getötet werden (wobei auch Arnold umkommen würde).
Arnold sagte ja und bekam detaillierten Bescheid darüber, wo er daS
Auto gegen eine Felsenwand fahren sollte. Er fuhr auch mit Ord-
schonikidze davon, aber angesichts der festgelegten Stelle verliess ihn
der Mut: er verlangsamte die Fahrt und fuhr vorbei
Wieder nach einiger Zeit kam dann also Molotow in die Stadt, und
Schestow sagte zu Tscherepuchin und Tscherepuchin sagte zu Arnold,
nun müsse er dafür sorgen, dass Molotow bei einem Automobilunglück
umkäme (bei dem auch Arnold selbst draufgehen würde). Arnold
sagte ja und es wurde abgemacht, dass er Molotow den genannten Weg
entlang fahren, die Fahrt beschleunigen und dann schroff seitlich steu-
ern sollte, so dass das Aauto über den Steilhang in die 15 Meter tiefe
Schlucht stürzen müsste.
Da Arnold jedoch schon einmal versagt hatte, richtete Tscherepuchin
es zur Sicherheit so ein, dass ihm ein Lastauto in starker Fahrt entge-
genkäme und seinem Auto einen Stoss versetzte, so dass es in den
Abgrund fahren miÄsste, Das Lastauto erschien auch, wie berichtet,
aber Arnold vermied den Zusammenstoss. (Der Führer des Lastwagens
erschien nicht vor Gericht.)
Wer war nun eigentlich dieser Arnold, der Held dieses seltsamen
Volksmärchens? Er war eine ganz ausser gewöhnliche Person. Wenn
van der Lubbe als der tragische Narr des Reichstagsbrandprozesses er-
schien, so wirkte Arnold wie der «dumme August» des Moskauer Pro-
zesses. Seine Vernenmung war die grosse Erheiterungs-Nummer des
Prozesses. Er hiess übrigens gar nicht Arnold. Wahrscheinlich war er
zur Hälfte Finne und hatte möglicherweise ursprünglich einen finni-
schen Namen. Er hatte jedoch seinen Namen so oft gewechselt, dass
er selbst nicnt ir.ehr Lestimmt v/usste, wie er eigentlich hiesse, und
er hatte so lange auf falsche Papiere gelebt und sich so lange durchs
96
)
^
Der moskauer Prozess
Leben gestohlen und gelogen, dass er auch nicht die leiseste Ahnung
von dem Unterschied zwischen Wahrheit und Lüge mehr hatte. Mit
dem Trotzkismus oder irgend einer andern politischen Bewegung hatte
er nichts zu tun — er streifte herum und nahm die Gelegenheiten, wie
sie sich boten. Zur Erklärung für seine Verbrechen brachte er vor,
dass er sich in den Sumpf des Trotzkismus verirrt habe, weil er über-
zeugt woi'den wäre, «dass die trotzkistische Organisation stark sei, dass
sie an die Macht gelangen wird und dass ich nicht in den letzten Reihen
bleiben werde.»
Arnold war einer der vier, die nicht zum Tode verurteilt wurden.
Diesem Landstreicher, von dessen miserabler Vorzeit die Verschwo-
renen auf jeden Fall eine gewisse Ahnung hatten, diesem Burschen,
der weder politisch noch persönhch irgend eine unbeglichene Rechnung
mit dem Stalin-Regime hatte — ihm also wurde die anspruchsvollste
aller terroristischen Aufgaben zugeteilt: sein Leben zu opfern, um zu
töten — zuerst Ordsclionikidze und dann, nachdem er dies Attentat
hatte fehlschlagen lassen, Molotow.
Es wäre viel zu milde, zu sagen, dass die Verschworenen geisteskrank
gewesen sein müssen.
Kommen wir nun zur Beschuldigung der Sabotage.
Hier bildete einen der Hauptpunkte der Anklage ein Eisenbahnzu-
sammenstoss in der Stadt Schumicha, bei dem 29 Rotarmisten getötet
und 29 verwundet wurden. Der Angeklagte Knjasew, früherer Eisen-
bahndirektor, gestand seine Schuld ein. Er war freilich selbst nicht an
der Unglücksstelle zugegen, aber einer seiner Untergebenen, der zur
Verschwörung gehörte {und der nicht vor Gericht erschien) hatte den
Unfall so zuwege gebracht, dass er eine weibliche Angestellte, die erst
14 Tage an der Station arbeitete (und die der Verschwörung nicht ange-
hört« und nicht vor Gericht erschien) an den Weichenstellapparat setzte.
Sie leitete einen ankommenden Militärzug auf ein Gleis, auf dem bereits
ein mit Erz beladener Güterzug stand. Und das Unglück — der trotzki-
stische Sabotageakt — fand statt
Einige der anderen Sabotagehandlungen sind noch merkwürdiger.
2wei der Verschworenen hatten zum Beispiel eine Grubenexplosion
«organisiert», die einen ganzen Monat nach ihrer Verhaftung erfolgte.
All diese Sabotagehandlungen sind überaus listig organisiert worden,
so schlau, dass sie zum Verwechseln solchen Unfällen ähneln, die durch
Saumseligkeit, Schlamperei und Ungenauigkeit entstehen. Wir wissen
aus anderen Quellen, dass Industrie, Gruben-, und Eisenbahnwesen der
Sowjetunion von diesen Unglücken besonders stark heimgesucht wor-
den sind — eine unvermeidliche Sache übrigens, wenn ein primitives
Bauernland mit einer zurückgebliebenen Bevölkerung durch eine Riesen-
Anstrengung innerhalb eines halben Menschenalters in ein modernes
' Industrieland verwandelt werden soll.
Soviel über die «innere Wahrscheinlichkeit» der Geständnisse. . Die
Beispiele könnten vertieft und vervielfacht werden, doch müssen wir
uns in diesem Artikel beschränken.
97
4
3
Sigurd Hoel
Wie gesag-t, zur Zeit sind wir, die ausserhalb der Sowjetunion leben,
im grossen und ganzen ausserstande, den Tatsachmiinhalt der Geständ-
nisse zu kontrollieren. Einige Aussagen jedoch beziehen sich auf Dinge
und Ereignisse ausserhalb der Sowjetunion, und einzelne davon können
wir zufällig kontrollieren.
Und hier ist es auffällig, dass in jedem einzelnen dieser Fälle die
Aussagen sich als der Wahrheit und Wirklichkeit widerstreitend erwei-
sen.
Ein Zeuge, der Tass- und Isvestia-Korrespondent Eomm erklärte,
dass er an einem bestimmten Tage Ende Juli 1933 ein heimliches Zu-
sammentreffen mit Trotzki im Bois de Boulogne bei Paris hatte und
dort von ihm Instruktionen erhalten hätte. Aber zu diesem Zeitpunkt
wohnte Trotzki in Südfrankreich und stand unter Polizeibewachung.
Ein Angeklagter, Grasche, gestand, dass er Spion für Deutsc-Uand
gewesen sei, und dass er Umgang mit drei dänischen Trotzkisten ge-
habt habe: Mit Sigvard Lund, Kjärulf Nielsen und Windfeld-Hansen.
Er hätte zusammen gewohnt mit Windfeld-Hansen, der die Wohnung als
konspirativen «Treff» benutzt hätte usw. Dieses Geständnis erregte
Aufsehen in Dänemark und die dänische Presse untersuchte die Sache.
Es zeigte sich, dass die Geständnisse Grasches in allen Punkten unrich-
tig waren, wo sie diese drei Leute betrafen.
Nun — Grasche war eine geringe Nebenperson des Prozesses. Weit
grösseres Interesse knüpft sich an die Hauptperson, Pjatakow, und
seine berühmte Flugreise nach Oslo.
Pjatakow gestand bekanntlich, dass er im Dezember 1935 mit einem
Flugzeug von Berlin (wo er sich in dienstlichen Angelegenheiten auf-
hielt) nach Oslo zu Trotzki gefahren sei. Er flog vom Tempelhofer
Feld ab und landete auf «dem Flugplatz bei Oslo». «Dort stand ein
Auto bereit. Wir (die mystische Person «Gustav», die Pjatakow selbst
nicht kannte, und Pjatakow selbst) setzten uns in dieses Auto und
fuhren los. Wir fuhren wahrscheinlich 30 Minuten lang und kamen
in einem Villenort an. Wir stiegen aus, gingen in ein nicht übel
eingerichtetes Häusclien, und dort erblickte ich Trotzki, den ich seit
1928 nicht gesehen hatte. Dort fand meine Unterredung mit Trotzki
statt.»
Es gibt zwei «Flugplätze bei Oslo»: Kjeller und Bogstadvannet.
Als Pjatakows Geständnis in Oslo bekannt wurde, nahmen interessierte
Leute Untersuchungen vor, und es stellte sich heraus,dass iiber}iaupt
keim ausländische Flugmaschine im Dezember 1935 auf dmm der bei-
den Flugplätze Q'eiandet war (und ebensowenig im vorhergehenden und
im folgenden Monat). Von verschiedenen Stellen in Oslo wurden Tele-
gramme an den öffentlichen Ankläger Wyschinski gesandt. Diese Tele-
gramme (und vielleicht auch die Besprechung der Angelegenheit in der
Weltpresse) führten dazu, dass Wyschinski diese Frage noch einmal am
Ende der Verhandlungen zur Sprache brachte. Wir zitieren:
Vorsitzender: Das Verhör der Angeklagten ist abgeschlossen, ebenso
die Vernehmung der Zeugen. Ergänzende Fragen liegen nicht vor?
WyschimU: Ich habe Fragen an Pjatakow. Angeklagter Pjatakov/,
sagen Sie bitte, Sie sind in einem Flugzeug nach Norwegen geflogen,
98
Der Moskauer Prozess
um Trotzki zu sprechen? Wissen Sie nicht, auf welchem Flugplatz Sie
gelandet sind?
Pjatakow: In der Nähe von Oslo.
WyscUinslä: Hatten Sie bei der Landung oder bei Zulassung des
Flugzeugs auf diesem Flugplatz keinerlei Schwierigkeiten? ,
Pjatakow: Ich war durch die Ungewöhnlichkeit der Reise erregt
und habe dem keine Aufmerksamkeit geschenkt. _
Wysclvbiski: Sie bestätigen, dass Sie auf einem Flugplatz in der
Nähe "von Oslo gelandet sind?
Pjatakow In der Nähe von Oslo, daran erinnere ich mich.
WyschinsJä: Ich habe keine Fragen mehr. Ich habe einen Antrag
an das Gericht. Ich habe mich für diesen Umstand interessiert und das
Volkskommissariat für auswärtige Angelegenheiten gebeten, mir eine
Auskunft zu verschaffen, da ich die Aussagen Pjatakows hierüber nach-
prüfen wollte. Ich habe die offizielle Auskunft erhalten, die ich den
Akten beizulegen bitte (liest):
«Die Konsularabteilung des Volkskommissariats für auswärtige Auge-
leo-enheiten teilt dem Staatsanwalt der UdSSR hierdurch mit, dass
laut einer von der bevoUm ächtigen Vertretung der UdSSR m Norwegen
erhaltenen Auskunft der Flugplaz in Kjeller in der Nähe Oslos das
aanze Jahr hindurch, entsprechend den internationalen Regeln, Flug-
zeuge anderer Länder aufnimmt und dass Landung sowie Sart von Flug-
zeugen auch in den Winterraonaten möglich ist.»
(Zu Pjatakow): Das war im Dezember?
Pjatakow: Ganz recht.
Wyschimki: Ich bitte dies den Akten beizulegen.
Mit anderen Worten: Es wird kein Beweis dafür erbracht (und
konnte keiner erbracht werden), dass Pjatakow wirklich in Oslo gewe-
sen ist. Im Gegenteil steht es nach wie vor nach diesem «Zusatz-
Geständnis» fest, dass er nicht dort gewesen ist.
Also: Pjatakow gibt hier eine Handlung zu, von der er weiss, dass
er sie nicht begangen hat. Er ist nicht in Oslo gewesen, er hat nicht
mit Trotzki gesprochen, (und er muss gewusst haben, dass dieser -wirk-
liche Zusammenhang würde aufgeklärt werden).
Die Schlussfolgerungen aus dieser Tatsache sind so weitreichend,
dass nur sehr wenige der Kommentatoren des Prozesses sie zu ziehen
gewag^t haben. Diese Reise nach Oslo und das Gespräch mit Trotzki
__ das ist ja der Grundpfeiler aller Geständnisse. Stürzt er zusammen,
so stürzt das ganze Bauwerk, und dann können wir kein Wort der
Geständnisse mehr ohne weiteres glauben. Wir sind auf Abschätzun-
gen auf Grund anderweitig erworbenen Wissens verwiesen — wenn
wir überhaupt an irgendwelche Verschwörung, an Terror. Sabotage und
Spionage glauben sollen.
Die Konsequenzen erstrecken sich so weit, dass man sieh unwillkür-
lich dagegen wehrt: . , , . „ ^ -■■ ' A
Nun gut — nehmen wir saso Wyschmskis kleines Zusatzverhor über
Pjatakow noch einmal her und lesen es gründhcli! Wir sehen unzwei-
deutig- Wyschinski wimsdit keinerlei genauere Untersuchung wöer
diesen P-imkt. Die Folgerungen aus dieser Entdeckung sind so unbe-
99
Sigurd Hoel
haglich, dass man sich direlct scheut, sie zu Papier zu bringen. Es
fällt nach und nach ein unheimlich ironisches Zwielicht über Radelis
schon berühmt gewordene Schlusserklärung (in seinem «letzten Wort»):
«Welche Beweise gibt es für diese Tatsache (die Verbindung der
«Verschwörer» mit Trotzki)? Für diese Tatsache gibt es die Aussagen
von zwei Leuten — meine Aussagen, dass ich Direktiven und Briefe
von Trotzki erhalten habe (die ich leider verbrannt habe), und die Aus-
sagen Pjatakows, der mit Trotzki gesprochen hat. Alle anderen Aus-
sagen der übrigen Angeklagten — sie beruhen auf unseren Aussagen.»
l
II.
Nun gut: Wir sind zu dem Resultat gekommen, dass der Prozess
keinen Glauben aufs Wort verdient, sondern dass sich sozusagen bei
jedem Punkt der Anklage wie der Geständnisse Zweifel und Fragen
melden. Aber damit erheben sich auch neue Probleme. Zum Beispiel:
Wie ist es zu erklären, dass die Sowjetbehörden eine so fantastische
Anklage gegen Trotzki erhoben haben — eine Anklage, die durch ihre
eigene innere Ungereimtheit auf der Stelle in sich zusammenbrechen
würde, wenn es überhaupt noch Vernunft in der Welt gäbe? Hier
scheint mir Otto Bauer die b^te Erklärung gegeben zu haben. In der
«Arbeiter-Zeitung» vom 17. Februar veröffentlichte er einen Artikel
über den Moskauer Prozess, aus dem ich einen Abschnitt hier ein wenig
gekürzt wiedergebe:
Trotzki schreibt Bauer, vertritt jetzt folgende Ansichten: Die S. U.
hat die Grundlagen einer sozialistischen Gesellschaft geschaffen. Aber
die weitere Entwicklung zu einer wirklichen sozialistischen Gesellschaft
wird gefährdet durch die Herrschaft der neuen stalinistischen Büro-
kratie. Nach Marx und Lenin soU in einer sozialistischen Gesellschaft
der staatliche Gewaltapparat allmählich absterben; in der S. U. aber
befestigt sich immer mehr der bürokratische Apparat, der die Arbeiter
beherrscht. Nach Marx soll der Sozialismus die Klassen aufheben; in
der S. U. dagegen ist der Bürokratismus auf dem Wege, eine neue, pri-
viligierte Klasse zu entwickeln. Es besteht die Gefahr, meint Trotzki,
dass sich die S. U. nicht zu einer wirklich sozialistischen Gesellschaft
entwickelt, sondern zu einer neuen Form der Klassenherrschaft. Diese
Gefahr kann nur behoben werden durch den Sturz der despotischen
Bürokratie, d. h. durch eine neue Revolution,
Es ist Grund anzunehmen, dass Trotzki glaubt, eine solche Revolu-
tion wird während des kommenden Weltkrieges stattfinden. Der Krieg
wird aufs neue die Massen revolutionieren, die Arbeiterschaft wird die
Bürokratie brechen, die dadurch entfesselten Volkskräfte werden den
Krieg in einen wahren Revolutionskrieg verwandeln und dadurch den
Sieg über die fascliisti sehen und kapitalistischen Mächte sichern, ganz
wie ähnliches während der Grossen Französischen Revolution geschah.
Das ist Trotzkis subjektive Überzeugnng. Aber es kommt in der
Politik, sagt Otto Bauer, nicht auf die Absichten, sondern auf die tat-
sächlichen Wirkungen einer politischen Idee an.
Wenn die S. U. mitten im Kriege gegen zwei riesenhafte Militär-
mächte stände, gegen Deutschland im Westen und Japan im Osten, dann
100
Der Moskauer Prozess
'■■ I '
würde jede neue Revolution, was immer die Absichten ihrer Urheber
wären, die furchtbare Gefahr hervorrufen, dass die Kriegsführung der
S. U. desorganisiert würde und dadurch ihre Niederlage, der Sieg Hitler-
(leutschlands und Japans herbeigeführt würde. Dann würde freilich
die neue Revolution mit der Abtretung der Ukraine' und des Amurge-
bietes imd mit der Wiederherstellung des Kapitalismus in der S. U.
enden. Das ist nicht der Wunsch Trotzkis; aber das könnte die Wirkung
seines Rufs zu einer neuen Revolution sein, wenn er von den Volks-
massen der S. U. gehört würde. Deshalb will die Sowjetregierung
Trotzki und alle, die mit ihm einmal verbunden gewesen sind und sich
in Zeiten der Kriegsnot wieder mit ihm verbinden könnten, kompro-
mittieren und vernichten.
Soweit Otto Bauer, der auf jeden Fall kein Trotzkist ist. Bauers
Hypothese wirkt weitgehend überzeugend. Eins jedoch erklärt sie
nicht:
Warum hielten die Sowjetbehörden gerade jetzt eine öffentliche
Auseinandersetzung mit Trotzki für notwendig? Seine Schriften sind,
in der Sowjetunion unterdrückt, sein Name ist soweit möglich aus der
offiziellen Geschichte der Revolution ausgemerzt, man hat das Ziel ver-
folgt, seinen Namen aus dem Bewusstsein des russischen Volkes zu
löschen. Woher dieser plötzliche Umschlag? Welche zwingenden Gründe
haben dafür bestanden? — Denn es ist doch klar, die neue Methode hat
durchaus ihre riskanten Seiten für das Stalin-Regime. Ganz gewiss
schikaniert und diffamiert der Prozess Trotzki gewaltig, stellt ihn dem
russischen Volk als den Teufel selbst hin, als die Personifikation und
das Prinzip alles Bösen — mit dem klaren Ziel, alle abzuschrecken, die
sich in diese Richtung gezogen fühlen könnten. Aber wer kann blind
dafür sein, dass der Prozess gleichzeitig eine kolossale Reklame für
ebendenselben Trotzki bedeutet? Wieder ist sein Name auf allen Lip-
pen und es werden ihm fürchterliche, übermenschliche, teufhsche, das
heisst primitiv göttliche Eigenschaften zugeschrieben.
Im Bewusstsein der Allgemeinheit stand Trotzki in der letzten Zeit
in Gefahr, in gewissem Masse als lächerlich und querulantisch zu er-^
scheinen — dieser ewig Landflüchtige, dieser widerborstige Mensch,
der nie aufhören konnte mit seinem: «Stalin! Stalin!»
Jetzt aber hat das Blatt sich gewendet. Jetzt ist es plötzlich die
ganze gewaltige Sowjetunion ^ oder jedenfalls doch alles, was dort
Mund und Stimme hat — die unaufhörlich «Trotzki! Trotzki!» ruft.
Nie war die Macht des Teufels grösser, nie beschäftigte er die
Phantasie der Menschen lebhafter, nie wirkte er in all seiner Unheim-
lichkeit anziehender, nie wurde er leidenschaftlicher angebetet als ge-
rade in der Zeit der Inquisition und der Hexenprozesse.
Die Sowjetbehörden sind sich eines ähnlichen Risikos auch sicherlich
hewusst. Warum aber nehmen sie es auf sich? Eine Erklärung liegt
ausserordentlich nahe; im I^ande muss irgendeine nicht ganz unbedeu-
tende Unzufriedenheit bestehen, und man hat für nötig befunden, auf
diese so nachdrücklich und abschreckend wie möglich einzuwirken.
Was für eine Unzufriedenheit?
Das folgende wird vielleicht einen Beitrag zu einer Erklärung liefern
können.
101
1
Sigurd Hoel
Nun zu den Geständnissen der Siebzehn über ihre eigenen Ver-
breclien — was ist mit denen? Sind sie alle von derselben Art wie
Pjatakows Oslo-Eeise? Gewiss nicht. Nehmen wir zum Beispiel die
Geständnisse über Spionage für Deutschland und Japan. So unwahr-
scheinlich, ja undenkbar es ist, dass Trotzld je Konferenzen mit Hess
gehabt und es übernommen hat, einen Spionagedienst zu organisieren
— ebenso denkbar und wahr seihe inlieh ist es, dass ein solcher Spionage-
dienst gemacht worden ist. Und wir müssen aus' einfachen Vernunft-
gründen annehmen, dass die Geständnisse über einzelne Spionagefälle
im wesentlichen wahr sind. Ob diese Spione (Stroilow und einige an-
dre) «echte» Spione gewesen sind oder Provokateure, die ihre Auftrag-
geber zum Narren gehalten haben — das ist eine andre Sache. Und
es ist auch eine Sache für sich, dass sie, die doch aller Wahrscheinlich-
keit nach keinerlei Verbindung mit Pjatakow, Radek usw. gehabt ha-
ben, in diesen Prozess hineingezogen worden sind, um Trotzki und seine
«■Mitverschworenen» noch weiter herabzusetzen und ihre Schuld zu be-
weisen. Diese Art «Amalgame» sind aus allen politischen Prozessen
bekannt.
Wir müssen überhaupt damit rechnen, dass der Prozess zwischen
zwei Extrempunkten hin und her pendelt — der klaren, unverfälschten
Lüge und der relativ unverfälschten Wahrheit. An welchem Punkte
zwischen diesen beiden Polen die einzelnen Geständnisse stehen, dar-
über ist vorläufig nichts Sicheres zu wissen möglich. ,
Zum, Beispiel die vielen Geständnisse über Sabotage: Einige von V
ihnen wirken, milde ausgedrückt, unwahrscheinlich. Es ist auch ein- ^
leuchtend, dass gerade solche Geständnisse praktisclien Wert haben für
ein Regime, dessen ungefähr grösste und wichtigste Aufgabe es ist,
mit guten und bösen Mitteln den eingefleischten Hang der Massen (und
der Beamten) zu Faulheit, Korruption, Schlendrian und Nachlässigkeit
zu überwinden, Ein drohendes Schwert hängt von nun an über jedes
einzigen saumseligen Funktionärs Haupt: Denunziation und Anklage
— Sabotagel Trotzkismus! Faschismus!! Auf tausende und zehn-
tausende Faulpelze und Bummelanten rings in dem grossen Russland
hat sicherlich der letzte Moskauer Prozess wie ein äusserst notwendi-
ger anfeuernder Tritt in den Hintern gewirkt.
Andererseits wäre es sinnlos zu behaupten, dass alle Geständnisse
über Sabotage nur Lüge und Erdichtung sind. Sicherlich: Pjatakow
nahm die Schuld auf sich für eine Menge von Sabotagehandlungen, die
er nie gekannt hatte, die ausgeführt waren von Personen, die er nie
gekannt hatte. Das gleiche taten die anderen Hauptpersonen des Pro-
zesses. Sie waren Vorgesetzte und nahmen die Schuld ihrer Unterge-
benen auf sich. Soweit ist das eine klare Sache und hier liegt auch
nicht das Problem, sondern in der folgenden Situation: wenn ein Mensch
eine Arbeit ausführt, die nach seiner besten Überzeugung nach falschen
Prinzipien geleitet vi^ird, wenn er vergebens gegen diese Prinzipien
protestiert hat, wenn er folglich mit Unlust und weniger ergiebig ar-
beitet als er im besten Falle konnte, und wenn all dies schliesslich zu
schlechten Resultaten der Arbeit führt — wo liegt da die Grenze zwi-
!■. sehen Protest, Unlust und Sabotage? Jeder weiss aus eigener Er-
102
k
Der Moskauer Proiess
fahmng, dass diese Grenzen fliessend sind. Jeder hat einmal eine
Arbeit mit Unlust und also schlecht ausgeführt — und folglicli mit
Schuldgefühl.
Schuidgefiihl — damit kommen wir zu dem, was man die mnere
Struktur der Geständnisse in diesem merkwürdigen Prozess nennen
könnte. Zum Verständnis dafür ist es jedoch notwendig, sich des
historischen Hintergrundes für den Prozess zu erinnern.
Wir wissen, diesen Hintergrund hildet der lange und bittere Kampf
zwischen Trotzki und Stalin, oder vielmehr zwischen den beiden Grund-
gesichtspunkten, die durch diese zwei repräsentiert werden. Trotzki
— die permanente Revolution, die Weltrevolution; Stalin — Aufbau des
Sozialismus in einem einzelnen Lande.
Stalin hat gesiegt, sagt man. Ja, er steht unbestreitbar an der Spitze
des Sowjetstaates und Trotzki ist ein friedloser Emigrant. Doch Sta-
hns Sieg ist kein Marsch auf Rosen gewesen. Mal um Mal hal^ die
Entwicklung in der Sowjetunion harte Krisen durchlaufen, wiederholt
ist die Stimmung in grösseren oder kleineren Teilen der Partei dem
offenen Protest nahe gewesen.
Es ist Stalin jedesmal gelungen, die Opposition niederzuschlagen.
Seine Methode dabei bestand in einer ständig strengeren und rücksichts-
loseren Anwendung der Machtmittel der Parteimaschinerie. _ Die Demo-
kratie innei'halh der Partei, die zu Lenins Zeiten bestand, ist vollstän-
dig verschwunden, das Dilrtaturprinzip ist bis zur letzten Konsequenz
auch in der Partei durchgeführt. Alle Beschlüsse erfolgen jetzt einstim-
mig, wie in Hitlers deutschem Reichstag.
Mit anderen Worten heisst das, dass jede Nicht-Zustimmung in
einem gewissen Grade das Gepräge des Aufruhrs erhält, dass jede
Opposition Mehrerer den Charakter einer Verschwörung bekommt.
Haben also die Angeklagten an einer Verschwörung teilgenommen?
Ja, unzweifelhaft, soweit sie zu verschiedenen Zeiten in einer gewissen
Opposition zu Stalins Politik gestanden haben.
Wir wissen: Stalins Gesichtspunkt — Sozialismus in eiiwm. La.7uie
— siegte, unter anderm aus dem einfachen Grunde, dass die Weltre-
volution ausblieb; doch zog diese Grundeinstellung Konsequenzen nach
sich, die nicht von allen mit gleicher Freude begrüsst wurden. Eine
Folge war ein wachsender russischer Nationalismus. Stalin, der nicht
besonders stark international orientiert und interessiert ist, konnte sich
aus natürlichen Gründen leichter mit dieser Konsequenz aussöhnen als
ein Mann wie Radek, ein galizischer Jude ohne eine bestimmte Mutter-
sprache. Der nationale Sozialismus jedoch zieht wieder andre Dinge
nach sich. Er gründet sich auf das Heimatgefühl, dies wieder bildet
sich in der Kindheit und diese ist an die Familie geknüpft
Es gelang im grossen und ganzen dem Staatsanwalt Wyschinski, die
Angeklagten an prinzipiellen Betrachtungen zu hindern. Auf _ die
Frage aber, warum und gegen was die «Verschworenen» in Opposition
standen, wird, glaube ich, auch eine ganz kurze Übersicht über gewisse
Züge der sowjetrussischen Entwicklung in den letzten Jahren uns ganz
unmittelbar die Antwort geben. \
Am 1. April 1934 wird der Begriff «Vaterland» in der Sowjetunion
, 103
I
Sigurd Hoel
von neuem offiziell anerkannt. (Das geschah in der nationalen Begei-
sterung nach der Rettung der Tscheljuskin-Expedition.)
Am 18. September 1934 tritt die S. U. in den Völkerbund ein.
Am 2. November 1934 trinkt Stalin auf das Wohl der «Parteilosen»
und hebt hervor, dass sie eben so gute Bolschewiki seien wie die Partei-
mitglieder.
Am 15. Mai 1935 wird der französisch-russische Pakt abgeschlossen
Um diese Zeit kommt Russlands Geschichte wieder als Schul-Lehrfacli
zu Ehren.
Am 25. Mai wird die «Vereinigung der alten Bolschewikiv) aufgelöst
Am 7. Jum wird Lenins alter Freund Jenukidze aus der Partei aus-
geschlossen.
Am 25. Juni wird der «Verband der politischen Gefangenen des
Zarismus» aufgelöst.
Juni/Juli; Heftige Pressekampagne zur Schaffung einer neuen und
besseren Moral, deren Zentrum Familie und Heim sein sollen.
Am 22. September wird die Rangeinteilung in der Roten Armee und
der Roten Flotte verstärkt eingeführt.
Am 9. Dezember werden Offiziersabzeichen eingeführt (das erste
was beim Revolutionsausbruch abgeschafft wurde). '
Ain 1. Januar 1936 werden Weihnachten und Neujahr zum ersten-
mal wieder mit Weihnachtsbäumen und andern bürgerlichen Zeremo-
nien gefeiert.
Im Laufe des Januar wird die Kommunistische Akademie in Moskau
liquidiert. Man braiicht nicht zwei Akademien, und da ist es das beste
die wissenschaftliche Akademie aufrecht zu erhalten.
Am 1. Februar veröffentlicht die Prawda einen Artikel, in dem das
grossrussische Volkselement als das erste unter den Brudervölkern der
S. U. hervorgehoben wird.
Anfang April gebietet Stalin den Komsomolzen, aus ihren Satzungen
den Artikel zu streichen, der besagt, dass die Komsomolzen aktiv und
schonungslos gegen die Religion, dies Opium des Volkes, kämpfen soUen
Ende April erlasst Stahn ein Dekret, dass die Kosaken den Arbei-
tern und Bauern gleichstellt. Die Kosaken werden feierlich als eigene
Gruppe der Roten Armee eingegliedert.
Am 27. Juni erscheint ein Dekret, das die revolutionäre Abo'-tge-
setzgebung aufhebt. Die Presse macht Propaganda für Dauerehen und
stempelt «lose Verbindungen» als «wahrer Bolschewiki» unwürdig Die
«physiologische Liebe» wird für «ein kleinbürgerliches Laster» erklärt
Die Bolschewiki sind immer für «Poesie und Liebe» gewesen für die
Bewahrung des Heims, und immer gegen Aborte.
Anfang August beginnt der grosse Prozess gegen dib «Trotzkisten»
(isinowjew. Kamen jew usw.). Er endete bekanntlich damit, dass alle
sechzehn Angeklagten zum Tode verurteilt und erschossen wurden.
Die neue Sowjetrussische Marineflagge hat inzwischen die alten
russischen Farben _ weiss, blau und rot — zurückerhalten, jedoch
auch den Stern, Sichel und Hammer bewahrt.
Die Staehanoff-Bewegung blüht unter dem Schutz der Autoritäten
104
Der Moskauer Proiess
auf und führt unter den Arbeitern zur deutlichen Unterscheidung-
einer Oberschicht von einer unteren Schicht.
Anfang November 1936 eröffnet die Sowjetpresse eine Kampagne
gegen eine Reihe Dichter, Verfasser und Regisseure, die Russlands Ge-
schichte in einem un vorteilhalf ten Lichte dargesteUt haben. Die Isves-
tia schreiben: «Man soU die grossen Söhne seines Landes achten und
ehren und Liebe und Interesse zeigen für die Gescliichte semes_ Volkes
und seines Landes.» Im weiteren wird unterstrichen, dass die Em-
führung des Christentums eines der grössten Ereignisse m der Ge-
schichte des Landes wäre. Auf einem Kongress m Jaroslowa wird
gesagt: «Christus war der Sohn eines einfachen Zimmermannes und
eines armen Bauernmädchens und muss daher als wahrer Vater und
Begründer der Kommunistischen Partei angesehen werden.»
Zur selben Zeit werden an den Russischen Universitäten und Gym-
nasien von neuem Uniformen eingeführt, wie sie in der Zarenzeit üblich
waren, und den Schülern wird Ehrerbietung gegenüber Eltern und Vor-
gesetzten eingeschärft. Unter denen, den Ehrerbietung erwiesen wer-
den soll, finden wir vor allem den Teil der neuen Oberklasse, der aus
den sogenannten «Helden des Vaterlandes» besteht — Leuten, die sich
um das Sowjetrussische Vaterland besonders verdient gemacht baten:
Ordensträgern, höheren Parteileuten und militärischen Leitern.
Es ist eine Anweisung erlassen worden, die weisses Hemd, Schlips
und möglichst Smoking für die offiziellen Bälle vorschreibt — ein Aus^
druck des Dranges nach einem «wohlgehaltenen und schönen Leben».
Die neuen Gala-Uniformen der Offiziere mit goldenen und silbernen
Tressen bilden hier einen der ersten Schritte.
All dies geht unter einer grossartigen kommunistischen Terminolo-
gie vor sich. Patriotismus, Familienpflege, das Heim, das Recht auf
Privateigentum — all das ist die «Verwirklichung des wahren Leninis-
mus».
«Wofür hat das russische Volk von allem Anfang seiner Geschichte
her bis in unsere Tage gekämpft?» Antwort: «Für die nationale
Befreiung». Und «Wonach strebten Russlands grösste und beste Söhne
jrn Laufe der Jahrhunderte?» Antwort: «Nach sozialer Gerechtig-
keit». — Nun ist das Ziel erreicht, «unser Lehrer, der wahre Dolmetsch
des Marxismus-Leninismus, der grosse Freund, Führer und Vater der
Brudervölker, unser lieber Genosse Stalin» hat dafür gesorgt.
Gegen diese Entwicklung standen die Angeklagten in Opposition.
Gegen diese Entwicklung steht Trotzki in Opposition. Soweit waren die
Angeklagten «Trotzkisten». Gegen diese Entwicklung; besteht rings-
herum im Lande eine Opposition. Insofern gibt es in der S. U. einen
ziemlich verbreiteten «Trotzkismus».
Wenden wir uns wieder den Geständnissen selbst zu.
Von Leuten, die der kommunistischen Bewegung fernstehen, sind
viele mehr oder weniger fantastische Hypothesen über diese Geständ-
nisse vorgebracht worden. Man hat von Tortur, von Hypncse, von Gif-
ten mit seltsamen psychischen Wirkungen usw. gesprochen. Die mei-
sten dieser Hypothesen braucht man gar nicht weiter zu erörtern. Das
waren keine hypnotisierten Schlafwandler und keine vergifteten Men-
105
n
I
Sigurd Hoel
schenwi-acks, die da vor Gericht standen — das waren Leute, die Ver-
stand und Denkfähigkeit, teilweise sogar Selbstgefühl bewahrt hatten,
selbst wenn die Depression sich bei einigen, wie Pjatakow und Muralow,
stark geltend machte.
Was Tortur (psychische Tortur) betrifft, so muss man eins im Auge
behalten: die meisten Angeklagten hatten Angehörige im Unde, deren
künftiges Schicksal ihnen sicher schwer auf dem Herzen lag. Doch damit
kann man nicht die ganze Flut der Geständnisse erklären.
Ich glaube nicht, dass man sich überhaupt der richtigen Erklärung
annähern kann, ohne das ganz besondere Verhältnis dieser alten Bol-
schewiki zur Partei in die Betrachtung einzubeziehen.
Wir haben es mit Menschen zu tun, die grossenteils durch Denken,
Lesen, Diskussion und revolutionäre Erfahrung sich freigemacht haben
oder gelöst worden sind von vielen der Vorurteile und Illusionen, in
denen die Mensehen meistens Wärme und Ruhe suchen.
Wo haben sie nun Schutz gesucht und gefunden gegen die Einsam-
keit und die Kälte der Erkenntnis?
In der Partei.
Die Partei hat ihnen Vater und Mutter ersetzt, Geschwister und
Kinder, Staat und Religion.
Diese starke Bindung an die Partei hat die kolossale Kraft der Bol-
schewiki ausgemacht — sie kann gegebenenfalls zur Schwäche des ein-
zelnen Bolschewiken werden. Mit dieser seiner Partei zu brechen: das
ist für einen alten Bolschewiken ein ungeheuerlicher, ein nahezu unaus-
denkbarer Gedanke.
Die Angeklagten, jedenfalls die führenden unter ihnen, sind zu wie-
derholten Malen in Opposition gestanden, einige von ihnen waren ver-
bannt und sind wieder in Gnaden aufgenommen worden — nach Ab-
gabe von Reue- und Zerknirschungserklärungen, wie das nach und nach
in der russischen Partei Brauch geworden ist. _ Aber diese Opposition
ist immer eine Opposition innerhalb der Partei gewesen.
Eine solche Opposition ist jedoch nicht mehr möglich, seitdem Stalin
die Partei diktatorisch gleichgeschaltet und alle Macht in ihrem Zen-
trum vereinigt hat. Freilich hat er die a\ten Bolsehewiki nicht hindern
Itönnen, zu sehen, zu hören, zu denken und zuweilen auch zu reden ^
wenn sie unter Freunden zu sein glaubten. Emige von ihnen glaubten
zu sehen, dass Stalins Politik sich ständig stärker m reaktionärer Rich-
tung entwickelte. Sie sind vielleicht auch direkt der Meinung gewe-
sen, dass diese Entwicklung — der wachsende Nationahsmus, die wach-
sende Bürokratie — geradenwegs weg vom Sozialismus führte. Sie
haben daran gezweifelt, dass Stalin der richtige Mann sei, sie haben
die Person Stalins kritisiert, vielleicht sogar verachtet — sagen wir, dass
einige von ihnen auch innerlich seinen Tod gewünscht haben. (Für
irgend einen direkten Ansehlag gegen sein I^ben hingegen besteht nicht
der geringste konkrete Beweis.) _
Doch all dies haben sie unter innerem Zwiespalt getan. Denn —
im Innersten ist für jeden einzelnen von ihnen die Partei gleich der
Klasse gleich dem Staate gleich dem Sozialismus. Ja, wir können es
noch mehr zuspitzen: Der Führer der Partei gleich der Partei gleich
106
■ ^
Der Moskauer Prozess
dem Staate gleich dem Sozialismus. Abgekürzt: _ Stalin /Ifich deip
Sozialismus. Also: wenn sie gegen Stalin opponieren (und das heisst
«konspirieren»), weil sie meinen, dass er den Sozialismus sohlecht ver-
waltet und repräsentiert, indem er ihn mehr und mehr in einen ™tj^
Wü-eyi Sozialismus verwandelt - so kommen ihnen gleichzeitig Schuld-
gefühle eben weü er doch die Partei re-prasenUert und die Partei, der
Sozialismus, Vater, Mutter, der Staat und die Religion ^st.
An dies Schuldgefühl haben sich die Anklagebehorden sowohl bei
der Voruntersuchung wie beim Prozess wenden können. Sie verlangten
von den Angeklagten, ihre Sünde gegen die Partei zu sühnen, mdern
sie sich für die Partei opferten. Die Zeiten sind kritisch, Krieg droht
_- und gleichzeitig herrscht an nur allzuvielen Stellen Schlendrian, und
Unzufriedenheit regt sich an den verschiedensten Stellen, Leute der
gleichen Art wie die Angeklagten sehen sich diese Entwicklung an und
stecken die Köpfe zusammen ringsum im Lande. Die Einheit der Par-
tei ist in Gefahr. Wer die Einheit der Partei bedroht, bedroht den
Staat, bedroht den Soziahsmus, unterstützt den Feind, den Faschismus,
ist selbst Faschist
Und so sind jetzt Opfer notwendig geworden Die unzufriede-
nen Massen brauchen Sündenbocke, die heimliche Opposition muss ab-
geschreckt und gewarnt werden. All das kann erreicht, alle Sünde kann
gesühnt werden durch die richtige Art Geständnisse .....
Man liat nicht gegenüber allen die gleiche Methode angewandt. Es
besteht im Gegenteil Grund anzunehmen, dass die Mfethode bei jedem
einzelnen eine andre war. Der alte General Muralow z. B. ist wahr-
scheinlich zur Erkenntnis von Sünde und Wahrheit gedrängt worden,
als er in der Voruntersuchung sehen musste, in was für eine Horde
von Spionen und Landesverrätern er nichtsahnend geraten war. Bei
einem Mann wie Radek bedarf es wieder einer eigenen Erklärung.
Doch für das Auftreten von Pjatakow und mehrerer anderer kann man,'
glaube ich, kaum eine andre brauchbare Erklärung als die hier ange-
führte finden.
Der Partei, will sagen ihren Untersuchungsbehorden, gelang es, sie
zu überzeugen, dass ihre Opposition in dieser Zeit schicksaJssch wanger
werden könnte (jede Opposition ist zu jeder Zeit fisch icksalsschwanger»
unter einer Despotie). Als Sühneopfer war nicht nur ihr Leben, son-
dern auch ihre Ehre als Kommunisten erforderlich.
Sie beugten sich der Forderung. Aber sie beugten sich auf eine
solche Weise, sie gaben ihren Geständnissen eine solche Form, dass diese
das aktuelle Bedürfnis befriedigten, gleichzeitig jedoch Vorbehalte und
Selbstwidersprüche enthielten, die später zur Aufklärung und zu ihrer
Rehabilitierung führen mussten.
Sie brachten im übrigen ihr Opfer auf höchst verschiedene Weise,
ihrer Natur entsprechend. Muralow war erfüllt von der Verzweiflung
des einfachen Menschen über die unverständliche und abscheuliche Situ-
ation, in die er geraten war. Vielleicht der ergreifendste Ausbruch
im ganzen Prozess ist der Satz, mit dem er sein «letztes Wort» einleitet:
«Ich habe auf einen Verteidiger verzichtet, ich habe auf eine Ver-
teidigung verzichtet, weil ich gewohnt bin, mich mit tauglicher Waffe
107
:i
Sigurd Hoel
'■'
Pjatakows Geständnis und seine ganze Haltung sind vom tiefsten
Lehensuberdruss geprägt. Badek dagegen bewahrt den ganzen Prozess
hindurch seme_ Ironie und seine Schlagfertigkeit, er ist es, der den An
Wager am meisten _ nervös macht und der am deutlichsten in einen
Worten etwas «zwischen den Zeilen» durchschimmern lässt. Ab und
bar — iur sein Teil jst es ja auch noch nicht zu Ende.
vid,^n'„^'T"i ""T A^f'^^^l^^^"'l^«it bisher im wesentlichen der indi-
Sss hat nt^"' •'" ^T ^""' ^'^^^^^^ ^^ugewandt. Doch der
heTnirht Jn^ eine andre, massenpsychologische Seite, die in Wahr-
heit mcht mmder wichtig und nicht minder tragisch ist.
Wie konnten die Massen all dies glauben?
. Jahrelang haben jetzt die kommunistische Partei und alle Behörden
des Landes systematisch daran gearbeitet, eine «F4ren>-lloloSru^^
einen entsprechenden Führerkult heran zuzüchten d eT hohl? Gra^^
denen m Deutscialand ähneln; Anfangs wurde diese Propaganda dur^
aus als eine taktische und praktische Verhaltensreg^f gehandhat?
man war sich klar darüber, dass die primitiven und ungSSlten MaT
sen einfacher und leichtfassl icher Symbole bedurftet S^^" S^"
m Deutschland machte es ^ so meinte man ^ dringend notwLdL
eine gleichartige «Kupferschlange in der Wüste» fTr d^e russischen
Massen zu schaffen, wie Hitler sie für die deutschen geworS wT
Im Anfang v.ar das taktisch und praktisch. Die FraVXh ist ob
nicht Ziel und Mittel. Politik auf kurze und auf lange Sicht sTch ifngt
unauflöslich ineinander verwoben haben. Stalins FührerschalT st nS
mehr ein mehr oder weniger brauchbares Mittel I^iii^^^^^^^
zu wTrd^n * "'" "^'^ ^'"^ ^"^^^^^ ^'' Sozialismus seTbst verwechselt
Aber wenn diese Führerschaft also in der Sowjetunion eine so fest
gegründete Massenbasis bekommen hat. wie sich das aus mancherlei
Anzeichen schhessen Hesse, so erhebt sich' folgende Frage: Müssen wir
die viele Jahre hmdurch die Sowjetunion mit all ihren möglichen Man
m ,. Ti Unvollkommenheiten als die grosse Zukunftshoffnung in Hp.
Welt betrachteten - müssen wir nicht trotz allem auf das Bestehen
des Stahn-Regimes hoffen ^ ohne Rücksicht auf seine Fehler seine
reaktionäre Tendenz, seine Härte und Grausamkeit, ja teilweise S
gerade auf Grund dieser Eigenschaften _ selbst wenn wir auf w'
iif l-T*^"" S^""stigeren Verhältnissen es für durch und durch ver
werfhch halten würden? Eine Reihe von Justizmorden, wie die Mos'
kauer Prozesse sie darstellen, wirkt unmittelbar empörend Ater
wa^n sie vielleicht trotzdem .politisch zu rechtfertigen? Ein ganzer
SwSt^lWt'f^ ^" ^- l-^^^&n Jahnen 't."is
unzweitelhaft m reaktionäre Richtung ^ aber ist das vielleicht unver-
108
Aus dem chinesischen Patriarchat
meidlich angesichts der Primitivität und Zurückgebliebenheit der Mas-
^^"rt^lMtrut-^u^Spten, dass eine solche Frage ei^ac^ und
sr^r'Äeirae?"s^-ts:^^^^^^^^^^
serhaird^r Sowjetunion werden nur vorläulig starker Belastury aus^
Sse?^t und wieviele gehen auf die Dauer zugrunde ujter einem solchen
mwmwmm
Vemutungen,_ Hoffnungen ""d ^^g'^^"^ ^^^^^^r^ieht selbst täuschen:
, Eins aber ist klar über eines ^^^^^'^ ^^ Sowjetunion über die
Die «revolutionäre» Begeisterung, ^^^^f ^^"^^^ __ ,ie unterschied sich
letzten und die vorigen Moskauer Urteite^^^^^ ^
. ^^ ^^^^'^Jü^'^^'l.T t.r'fSarHrtL die Macht ergri^^^^
rung, die Hitlers SA-Leute erfüllte, ^ ^ »J - ^ nationalen,
und sie vorwärts zu marschieren giauüT;en, c
revolutionären _I>eutscliland f *^^^";,^,^i,rt und unklar wie kaum je
Und doch: in d^^J^fr^^wetunTon heute als die eme Macht, die i
_ in dieseni Chaos steht ^le Sowj^union ^^^^^^ ^^^ _
gleich ob die ^^^^'f^^lj^i^y,, ob wir der Politik Stalins in dem und
wünscht oder n^h^ ganz^e^^ ^^^ ^.^^^_ ^.^ ^^„^^^ ^^ .^^^^ .^ gp^^
dem ^""'^^^ ^-j. ^gy g u.? Wie sähe es aus mit der noch gebliebenen ,/
Frdheirderübrigen Welt, wenn die spanische Freiheit erwürgt worden ;.
'^'^^^: 'YoXsa^chen bestehen. Keine noch so abscheulichen Moskauer
Proze's^ können sie vernichten.
Avis dem chinesischen Patriarchat
Gedanken über Smedley's Buch „China blutet" !
Dieses Buch müssen wir aUe gründlich studieren. Smedleys ein-
faeh^XäEgen machen uns mit China intim vertraut, geben uns , ,
einen Querschnitt durch alle seine sozialen Schichtungen. Ja dieses
kleine Buch macht die dicksten Wälzer über China erst ^^^^^^^^ ^^
Ein Unmass von Leiden, Versklavung, Verzweiflung und Brutahtat
109
;;
I I
i
i J3
>
Aus dem chinesischen Patriarchat '
Steht erschütternd vor uns auf, tief erlebt und mitgefühlt von einer
Revolutionärin, einer mutig-en, warmherzig-en Frau.
Uns trennt keine Welt mehr von «den gelben Menschen im fernen
Osten» — es geht uns unmittelbar an. Wer das nicht spürt, lebt noch
in der Zeit, wo Bücher wie «Onkel Toms Hütte» die ganze zivilisierte
Weit erregten. Heute haben wir unter den barbarischen Unter-
drückungsmethoden des Faschismus erfahren, dass die Formen des
Klassenkampfes im sterbenden Kapitalismus international immer ähn-
licher werden. Die imperialistischen Staaten ohne Kolonien entwickeln
typisch koloniale Ausbeutungsformen gegenüber ihren eigenen Arbei-
tern. Italien, Japan, Deutschland, der faschistische Kampf in Spanien
— ja, es rieclit in Europa verdammt nach blutiger Kolonialbarbarei.
So kommt uns vieles sehr «chinesisch» vor. Die gelben, schwarzen und
weissen Sklaven beginnen, einander besser zu verstehen. Jedenfalls
stehen wir bei den Revolutionären in der ganzen Welt an der Schwelle
eines wirklichen, d. h. aus realen Interessen geborenen Intern ationahs-
mus. Ein wichtiger Ausdruck dieser neuen elementaren Internatio-
nale ist auch dieses Buch der Amerikanerin Agnes Smedley.
Die Arbeiterbewegung Europas ist nach den grossen Niederlagen
auf dem Punkt angelangt, «wo sie scheinbar wieder von vorn beginnen
muss». Alle alten Thesen und Organisationsformen werden gründlich
geprüft und umgewandelt, um sie der furchtbaren Realität des heutigen
Klassenkampfes anzupassen. Wir glauben nun, dass uns das blutende
China mit seinen überspitzten Widersprüchen auch Möglichkeiten bietet,
unsere eigenen Probleme besser zu verstehen. Versuchen wir, aus der
erdrückenden Fülle der Parallelen und Anregungen einiges anzudeuten.
Zunächst einige Beispiele aus dem Buch: Acht Soldaten, chinesische
Bauernsöhne, müssen zwei deutsche Touristen begleiten. Unterwegs ver-
anstalten sie aus langer Weile ein Wettschiessen — auf arbeitende
Bauern, Männer und Frauen, deren Silhouetten auf einem Hügel in
rastlos schwerer Arbeit sichtbar sind. — Weiter: ein chinesischer Sol-
dat ist blind geschossen worden, bliiid für eine Sache, die nur seine
Offiziere kannten, sein General, an den er sich verkauft hat, um seiner
hungernden Familie einen Dollar im Monat schicken zu können. Der
hlind-e Mann wird halbnackt mit 2 Dollars entlassen. Um zurück zu
seiner Familie zu kommen, verkauft er einige Ringe, die er erbeutet
hat. Das Geld wird ihm gestohlen. Sein verzweifeltes Schreien bringt
ihn und den Dieb auf die Polizeiwache. Der Polizist sagt, dass die
erworbenen .35 Dollar für einen Blinden zuviel Geld seien. Er werde
es «aufbewahren». Die verzweifelten Erklärungen des Blinden, dass er
nach Hause fahren will, beantwortet der Polizist mit dem Versprechen,
ihm das Geld an das Schiff zu bringen. Zwei Tage wartet der Soldat
und — der Polizist kommt wirklieh! Er gibt ihm 15 Dollar und meint,
der gute Mann könne froh sein, dass er so anständig wegkommt. Er,
der Polizist, hätte ihn doch beim Betteln verhaften können! —
Ein chinesischer Offizier in eleganter Khakiuniform mit Lederrie-
men, Schultergürtel und hohen Lederstiefeln steht auf dem Hankauer
Flugplatz, der uneingezäunt inmitten Bauernfeldern angelegt ist. Die
Bauern wissen nicht, dass es verboten ist, den Platz zu betreten. So
geht ein Bauer, von seiner Last fast zusammengedrückt, mühsam über
110
Aus 'dem chinesischen Patriarcliat
den Platz und wird von dem Offizier wütend jn^f'«!'*- ^^/^.''er
.ante Kuo.nintan.ieug^ant z„fam. ^e. ^^ of f etichSL'^^ir ' nicM
?:rS:^i:t:;^™^r w^l^^t,.. 1^^ der^auer^Bi^
stiefeln her, bis er leblos liegen "«■»'■ V*'"^^ ,^„„„t j„ gchweiss
einem Grasbüsehel etwas von seinen St'^« n f ™^ ™ Hätte
gebadet zurück -- F'^^S' ^ *,hm t Süt e^art .ebliehen.
DanTha?e":r:^::etnet^dalen vorher auf den Bauern geschossen.
So ganz einfach, ohne ^^^^es Warnun^wort ^ ^^^^^ysche Grau-
Wie kann eine so ^rloeeneM^^^^^ t^j^t. Durch
sanikeit in einem W'^.f"™'^'*^^^";.^ möglich. Es wäre entscheidend
die Arbeiten Re^hs gt eine A^hvo^ ™„^ ^^,,,,„ menschlicher Ent-
Sunt ard^? betS";inerBeisp.elen in China, dem mss.c,.n
C" der ^rr''^^rJXltk::ni:^ X« r-ErUlärung vor
. T" Ita ?ScWst™ctr Srbarenn der zivilisierten Welt. . Berichte,
den Greueln tascmsuscner Dd-iua „iT-^ends nimends finden wir
Beschreibungen .^t 2 ^^, I,,..H-
eme Erklärung. ^'^f^fH.^''- p^rlichl wir aUe antworten darauf:
schnittsspie.-r ^^.d^^^^^^^ ,,,, 3cUimmer als Be-
T. ^X^^^nlr^c^ichen Wesen und bessere soziale Verhalt-
stien. Es yiegt im beseitigen, vielleicht nur die Formen
nis^ werden das |^^^ "f t ^^^^^^^ ^^^j^^Vt uns, dass die Grausamkeit
'^"^i^'Srta^senden du ch den Sündenfall eines Urvatermordes uns allen
'^'^ . ^S sei Auch der moderne Sozialismus weiss kerne Antwort
?^"^*"Ät k~Sach?n unbesehen nnt einer gläubigen Hoffnung auf
J"' VtkonL^che V^^^^^^ Ein einfacher Mensch versteht
5''"^ HoffnunrSht «weil doch gerade die reichen Leute besonders
Ssam siX Und die grundsätzlichen Ansätze, die in den Arbeiten
Sels über den Ursprung der Familie zur Klärung der Zusammen-
hfnr enthalten sind, haben keine Ifebendige Fortsetzung und Anwen-
aLI in der Arbeiterbewegung erfahren. - (Zufällig?) ^
Woher kommt die menschliche Fähigkeit, Unterdrückung zu ertra-
p-en und zugleich gefügiges grausames Instrument derselben Unter-
drückung zu sein. Was für diesen chinesischen Pohzisten, diesen chme-
sischen Offizier und diese chinesischen Bauernsoldaten typisch ist- wa^
und ist genau dasselbe bei den deutschen «Hunnen» m Chma [V^im,
im Weltkrieg, in den Bürgerkriegen, bei den meisten europaischen
Soldaten bei der SS und SA Deutschlands, in den Marterhohlen usw.
usw. JawoU, genau dcssdhe. Und das ist kerne ^^^™f ^^^^^^ ,^^- -
Cntung de von den besonderen ökonomischen, politischen Bedin- .
™In des iweiligen Landes absieht. Allen diesen Unterdruckungs- .
fvSen StSa™ Armeen mit ihren spezifischen Kriegen und
SlSim" emes gemeinsam: äie UrzeUe äes Staates, das Grund-
111
Aus dem chinesischen Patriarchal
element für die Erziehung der Menschen, für das jeweils zutreffende
System der Ausbeutung, die FAMILIE!
Nicht zufäUig fängt das Buch der Smedley an mit einem belauschten
Oesprach emiger- nordchinesischer Bauern über ihre rebelUerendep
bahne. In dieser kurzen Geschichte ist ein wesentliches Stück des alt»n
(.iiina eingetangen: die lehensunterdrückeiide patnarchalische Geivalt
die absolute Macht des Vaters in der Familie. Doch die Söhne die di«'
«neumodischen Schulen» besucht haben, rekeUieren; überall weio-ern
sie sich, .lach dem Willen des Vaters zu heiraten, machen gemeinsame
faache mit den Pachtern gegen den eigenen Vater oder wehren sich
gegen die inigeheuerliche Ausbeutung der Schwiegertöchter. Sie weh-
ren sich dabei auf verschiedene Art: mit Hungerstreik, Selbstmord und
^JuLht. Doch die besten von ihnen kommen von der Opposition gegen
iZ V/^5^, unmittelbar zu einem Kampf gegen die Jahrtausende alte
^enhlft w ^""^^ ^-^V''"'' ^^.^^"S^h^ftlichkeit, Zähigkeit und Verschla-
genheit, wie 3 e bisher unerhört m der Geschichte sind. Es gibt in dem
Buch unter all diesen gefolterten Menschen auch nicht den Hauch efne^
ZerS deT Fa^ilT^'w""^^'*"'^"^'''^""'^^'^ ^^^' ^"^ ^^^^^^ von dem
che^fLitatuHfer C^na"^"^" '" "'°"' ""^'^ ^"^ '^' "-^-^■--
.endt"ung:^öntnt:?ckti: l^'^^'^''^'''' ^'"^^'^ '""^ '''' '^''^^-
So ist angemein bekannt, dass in China Religion, Erziehung Aus-
SSlLnordn^n^'^rT^''^^- ^^^*'^"^* ''' '^"^^^ ^^^ patriarchalische
;m T^ ^- ^l^l^^^tig ist ebenso bekannt, dass «die Asiaten
entsetzhch grausame Menschen sind»
Agnes Smedleys Erzählungen unterstreichen beides gründlich In
Snno h'' l"'T'. ^Tl '''^' China die raffinierteste Unter"
t^^^r.2 r ^;"^^^l^^f;.. Lebens- (Sexual-) triebes durch die absolute
^aterhche Gewalt,_ die hundische Versklavung der Frauen. Hier gibt
Z.Zl^TTf^ t ^''^'^ ^*^" ^- ß^^^^über den .Einbruch 'de
Sexualmoral» fortzusetzen, zu popularisieren und die parallelen Er-
scheinungen in Europa verständlicher zu machen
\\'arum sind die Gesichter so glatt und lächelnd vor Konvention?
Warum sind die Ausbrüche lebenszerstörender Leidenschaften so imge-
heuerlich? Warum erscheint Theater, alle Kunst überhaupt so intellek-
tueU, kalt, marionettenhaft? Warum ist dort alles zur Routine erstarrt
und das höchste religiöse und kulturelle Ideal der Mensch mit der abso
ten Beherrschung jeder körperlichen Regung? Warum ist gerade in
diesern Land der Heroismus bis ins Absurde verherrlicht? Man denk-
dass die Hinrichtung der 1000 Schnitte nur besonders vornehmen Men'
sehen als hohe Ehre zugedacht wird, weil sie damit Gelegenheit halv-n
Ihre vornehme heroische Überwindung des Schmerzes zu zeigen Die
ganze alte chinesische Geschichte ist voU davon. Ein Antwort auf dies-
fragen existiert nirgends. Leider auch bei Marxisten nicht
Erst nach den iJefc/ischen Arbeiten wäre es möglich, hier Licht in
den dunkelsten Winkel menschlicher Entwicklung zu bringen. Hier nur
soviel: die Männer viüssen so sein, können gar nicht anders sein und
ebenso alle oben angedeuteten geseUschaftlichen Erscheinungen Sie
smd naturnotwendige Folge einer Jaiirtausende alten Unterdrückung
Aus dem chinesischen' Patriarchat
der Frau Folge einer raffinierten absoluten charakterlichen Fesselung
der Lust- und Unlustaffekte, Entartung einer Hälfte der vwmchlidie^i
Gesellsdiaft. ' , i -n ■ -ui. ^^
Dazu einige Illustrationen aus Smedley und anderen Berichten: Von
ihren Eltern verschacherte Schwiegertöchter werden von den Schwieger-
müttern, die selber aufs äusserste unterdrückt sind sadistisch gepei-
nigt und auf das Phantastischste ausgebeutet. Ihe RoÜe der Sckme-
ffertöchter üt sprioMvortlich in Cläna und zugleich auch oft der Aus-
mngspunkt revolutionären Aufhegehrem der Frau! Wenn die soziale
Stellung der Frau im Durchschnitt noch unter der Stellung der Hunde
rangiert so ist für die SteUung vieler Schwiegertochter kein Vergleich
mehr müglich. Während alle essen, muss sie stehen und m der Hast
der Arbeit die Reste verschlingen. Wie in Smedleys Buch die eine, so
sterben Zehntausende von Schwiegertöchtern m ihrer hilflosen Qual,
weil jeder in der Familie mit ihnen tan und lassen kann, was er
"^^ Es gibt viele, viele tausende Gedenksteine im alten China Über
den Leichen kleiner Mädchen, die dem verstorbenen Gatten m den Tod
folgen mussten ^ zur Ehre der Familie. Es ist Sitte im patriarchali-
chen China, dass die kleine Braut, die ihren von der Familie bestimm-
ten Gatten niemals gesehen hat, auch sterben muss, wenn er zu seinen
Vätern eingegangen ist. Der vornehmste Tod ist verhungern, tnd irei-
willig gewählt muss der Tod auch sein, immer zu dieser verfluchten
Ehre dir Familie. Eine chinesische SchriftsteUerin schilderte mir ein-
mal den Tod eines solchen 10jährigen kleinen Wesens: der Vater hatte
sie zwecks Erreichung des bewussten Familienehrenstems m em Ver-
liess eingesperrt, um sie verhungern zu lassen. Er hatte sie nicht ,
erdrosselt mit einer Seidenschmir. wie das sonst in anderen Fallen ubhi^h
ist wenn die kleinen Mädchen diesen sinnvoEen Tod nicht sofort begreif-
lich finden. Das Mädelchen schrie 14 Tage fast ununterbrochen. Dann
erstarben hinter den meterdicken Mauern des vornehmen Hauses m
der kleinen Sedschuaner Stadt die Schreie des Kindes und die Ehre der
Familie war grerettet.
Millionen Frauen klembürgerhcher Familien haben nur zweimal
Gelegenheit, aus den dicken Mauern der ineinander verschachtelten
Familienhäuser herauszukommen: einmal, wenn sie in einer Sänfte
ihrem unbekannten Gemahl ins Haus getragen werden; und das zweite
Mal, wenn ihre Leiche bestattet wird. Und mit ihren verkrüppelten
Füssen, mit den Zehen unter die Fussohle bandagiert, sind sie nichts
weiter als die raffiniert dressierten Sklavinnen ihres Mannes, ja oft
auch ihrer Söhne und zugleich ein erschütterndes Symbol für die «natür-
lichste einzig mögliche Form der Aufziehung von Menschen», für «den
Hort aller Kultur», für die Voraussetzung eines jeden Staates in der
Welt, — kurz für die segensreichen Wirkungen der vaterrechtlichen
Familie!
Die Erziehung kleiner chinesischer Mädchen ist leider noch zu
wenig bekannt. Sie stellt den Gipfelpunkt einer sexualunterdrücken-
d;en Dressur dar, die, gemildert nur in den allerärmsten Schichten, jede
unbefangene vitale Lebensäusserung im Keim erstickt. Aus Erzählun-
gen der chinesischen Schriftstellerin wieder nur ein Beispiel: ein
113
■
■
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'■
Aus dem chinesischen Patriarchat
;■
>■
Sjähriges Mädchen wird monatelang- jede Nacht von der Grossmutter
mit Schlägen geweckt, weil sie nicht nach der vorgeschriebenen Sitte
in bestimmter Haltung im Bett liegt. Vorgeschrieben ist das Liegen
f: auf einer Seite, die Arme über der Brust gekreuzt, die Knie in Hock-
■ Stellung angezogen. Die Auswirkungen, d. h. die Zerbrechung jeder
f^' Individualität, völlige ErtÖtung der Sexualität, dürften wohl bei allen
diesen Frauen restlos klar sein. .Wir kennen sie ja, wenn auch nicht
in diesem Ausmass, bei uns als Erfolg der Unterdrückung der kindliehen
Onanie und sonstiger patriarchalischer autoritärer Erziehungsmethoden.
|.. Diese Sklaverei hat auch die entsprechende Kehrseite in dem Cha-
rakter des Sklavenhalters. Diese Frauen sind im besten Fall kühl be-
rechnende Courtisanen und infantil — «babylike». Die beispiellose
Vergewaltigung ihrer Natur muss sie völlig unfähig machen, ein voll-
wertiger Liebespartner zu sein. So schafft die Kälte der Frau müde,
unbefriedigte, rauschsüchtige und sadistische Männer, die in ihrer Gier
■' nach der Entspannung wirkliclier Liebe nichts finden ' als Surrogate.
Das bestätigt sich auch- in der gesamten Literatur. Die Liebe wird
ein seltenes Traumideal. Viele chinesische Märchen lassen die beiden
Menschen, die den Höhepunkt liebevoller Verschmelzung gefunden ha-
ben, sterben. Ich weiss, dass unter den freien Studenten noch heute
folgende bezeichnende Episode möglich ist: in Peking fand sich eine
17jährige Studentin, mit ihrem 20järigen Kameraden zusammen in
einem so grossen Liebeserlebnis (also dem natürlichen), dass sie nach
einigen Nächten beide gleichzeitig die Trennung beschlossen aus Angst,
sonst sterben zu müssen, wie sie es aus den alten Märchen gelernt
hatten.
Wenn also die natürliche Liebesfähigkeit der Frauen vernichtet ist,
muss auch die natürliche Triebkraft des Mannes darunter leiden. Er
muss zu einem kalten Lüstling herabsinken und unfähig werden zu
einer freiströmenden Hingabe. Die willfährige, wehrlose Sklavin stei-
gert dann noch die sadistischen Impulse, züchtet geradezu die Lust zum
brutalen Unterdrücken. Diese Eltern, die listig.^, kalte, ee^ngstigte
|: Frau und daneben der Mann mit den Eigenschaften eines Sklavenhal-
ters, diese Menschen «erziehen» kleine Kinder! Genug zu wissen, dass
diese Kinder absolut willfährig jeder Laune, jedem Befehl der Eltern
ausgeliefert sind.
Eine besonders interessante Frage ist nun, wie in diesem Meer von
Konvention, Sklaverei, väterlicher Grausamkeit die bekannten explosi-
ven Revolutionen möglich sind. Für die moderne Zeit lässt sich jeden-
falls leicht verstehen, dass die Berührung dieser barbarischen Unter-
drückungsform mit den Ausbeutungsmethoden des Imperialismus einen
sozialen Explosivstoff schafft von unerhörter Intensität. Die cliarak-
terliche Panzerung dieser Menschen erzeugt eine kaum tragbare An-
häufung von Aggressionen, Sehnsucht nach Auflehnung und Befreiung.
Nur in China ist es möglich, dass in einer Massenversammlung ein
leidenschaftlicher Redner sich den Finger abbeisst, um mit seinem Blut
den Protest an die Wand zu schreiben.
Bemerkung der Redaktion:
Das Vorstehende wird noch eine Ergänzung erfahren durch die Besprechung;
des zweiten Buches von Agnes Smedley «China kämpft».
114
.hrtilfafc
Sexpol-Bewegung
Zur Entlassung unserer Kollegen Dr. Leun-
bacli und Dr. Pliilipson aus dem Gefängnis
Am 20.2. wurde Dr. Phüipson und am 11.4, Dr. Leiinbach aus dem Ko-
penhagener Gefängnis nach «Verbüssung ihrer Strafe» entlassen. Wie wir
bereits bekanntgaben, wurden ihnen die bürgerlichen Rechte für drei
bzw. 5 Jahre abgesprochen. Die Verurteilung dieser unserer Kollegen,
Freunde und Genossen hat in Dänemark einen Sturm der Empörung
gegen die Gesetzgeber bis weit hinein in die bürgerlichen Kreise ent-
fesselt. Die Sympathien breiter Schichten der Bevölkerung, grosser
7'eile der Aerzteschaft und der Intellektuellen entfachten sich in unge-
heurer Stärke für unsere Freunde und gegen die politische Sexualreak-
tion. Es ist notwendig, kurz zusammenzufassen, wo der Konflikt prin-
zipiell liegt;
115
fflifteiCung aus Kopenha^ieii'
Jede wissenschaftliche, ärztlich-therapeutische, pädagogische wie
jede praktische Arbeit g-eht aus Notzuständen des menschlichen Seins
hervor. Sie haben den Zweck, das Leben besser und leichter zu gestal-
ten. Sie dienen im Grunde, ihrem Ursprung" und ihrer Funktion nach,
nichts anderem als der sich ständig- steigernden Befriedigung- natürli-
cher menschlicher Bedürfnisse. Dies das Prinzip. Doch in der Wirk-
lichkeit der kapitalistischen Gesellschaft kann die Sache nicht nur prin-
zipiell, sie muss auch konkret gesehen werden. Sofern Bedürfnisse der
Menschen den Interessen von Staat, Kirche und Kapitalistenklasse wi-
dersprechen, büsst die Wissenschaft ihre Funktion ein; werden ihre
Möglichkeiten eingeschränkt, werden ihre Vertreter in der Arbeit be-
hindert und verfolgt. Die Wissenschaft hört auf, Wissenschaft zu sein.
Es gibt politisch neutrale Berufe, etwa den Mathematiker. Es gibt
Berufe, deren Ausübung die kapitalistische Gesellschaft für sich aus-
nützen kann, etwa die Chemie und die Physik. Wir sagen für sich,
nicht für die Bedürfmsse der Masse. Es gibt schliesslich Berufe, deren
Ausübung der heutigen Struktur und Ordnung der Gesellschaft voU-
kommen widersprechen und ausschliesslich den Unterdrückten dienen.
. Zu dieser letzten Art gehört der Beruf als Sexualwissenschaftler und
als sexualökonomischer Tlierapeut. Es ist klar: Hier muss der Beruf
notwendigerweise in Gegensatz zum Gesetz geraten, das die Interessen
der Lebensunterdrückung formuliert und verteidigt. Hier steht Be-
dürfnis der Masse gegen lehensfeindliches Gesetz. Der Arzt nun, der
wissenschaftliche Arbeiter und alle die, die zufällig oder gewollt, diesen
Beruf ausüben, geraten in einen scharfen Konflikt zwischen der Ausü-
bung ihrer beruflichen und fachliehen Arbeit und dem feindlichen,
staatlich anerkannten Gesetz. Als brave Staatsbürger hätten sie die
Pflicht, dem Gesetz zu gehorchen; als anständige Facharbeiter haben
sie die höhere Pflicht, ihren Beruf zu verteidigen und damit die Inter-
essen der Bevölkerung.
Leunbach und Philipson gerieten bei Ausübung ihrer Facharfceit in
diesen Konflikt. Im Kopenhagener Prozess standen sie als Vertreter
von natürlichen Massenbedürfnissen dem Richter und Staatsanwalt als
Vertretern eines lebensfeindlichen Gesetzes gegenüber. Deshalb wurden
sie von den Staats Vertretern verurteilt, und deshalb werden sie jetzt
von der Bevölkerung gefeiert. Sie taten ihre Pflicht als Facharbeiter!
Wir alle sind stolz darauf, dass zwei unserer Aerzte in dieser verrotte-
ten Zeit ihre Arbeit bis zum letzten ernstnahmen. Wenn alle, die im
lebendigen Leben, wirken und schaffen, im jeweils gegebenen Augen-
blicke das gleiche täten, dann wäre das geleistet, wofür wir alle kämp-
fen:
Für die Befreiung aUer Schaffenden von materieller titid sexueller
Unterdrückimg und den Auf bau, einer Gesellschaft, in der das Gesetz
Arbeit und Lebensglück schützt und nicht vernichtet.
. Die Kedaktion
Mitteilung aus Kopenhagen
Die Verurteilung der beiden Kopenhagener Ärzte Leunbach und
Philipson und der Krankenschwester Frau Perlmutter rief in Dänemark
eine Pteihe von Diskussionen hervor. Grosse Teile der Bevölkerung wa-
116
Mifieilung aus Kopenhagen
ren über das Urteil sehr empört. Besonders die Arbeiterschaft sympa-
thisierte mit den Verurteilten. Trotzdem war es sehr schwer. Protest-
aktionen in Gang zu bringen. Alle bestehenden Parteien ausser den
Anarcho-Svndikalisten weigerten sich, etwas dafür zu tun. Die demo-
kratischen und sozialdemokratischen wegen des neuen Abtreibungs-
gesetzes; die kommunistischen, weil I.eunbach und Phihpson m kommu-
nistischen Versammlungen gegen die neue Sexualgesetzgebung in der
S. U. SteDung genommen hatten. Nur die kleine Gruppe der sozialisti-
schen Mediziner Kopenhagens versuchte der Empörung der Massen
Ausdruck zu verleihen. Trotz der Schwierigkeiten gelang es, die fol-
genden drei Aktionen durchzuführen:
1) Der — nur kleine — Aufklärungsverein der Arbeiterfrauen forderte
beim Justizministerium Amnestie für sämtliche Verurteilten.
2) Eine Adresse mit derselben Forderung sammelte ca. 10.000 Unter-
schriften.
,3) Eine sehr ausführlich argumentierende Forderung für Amnestie für
I^unbach. Philipsoh und Frau Perlmutter erhielt mehr als 4O0 Un-
terschriften, besonders unter Aerzten, Juristen und Akademikern,
übrigens hat die Ärzteorganisation (die in Dänemark sehr stark
ist) alles versucht, um diese Aktion zu sabotieren. So gelang es nicht
einmal, eine Notiz in der «Wochenschrift für Ärzte» (Ugeskrift for
Laeger) darüber zu bringen, bei welcher Adresse die Unterschriften zu
zeichnen waren. Unterdessen hat der Justizmi nister jetzt mitgeteilt,
dass die Regierung aus rein formalen Gründen die Amnestie verwei-
gert, so dass Dr. Leunbaeh und Dr. Philipson für längere Zeit die
bürgerlichen Ehrenrechte und das jus practicandi verloren haben.
Nachdem Dr. Phihpson aus dem Gefängnis entlassen worden war.
wurde er sehr stark in einer Veranstaltung der Dänischen Frauen-
vereimgung gefeiert. Die V^rurteik^ng der Ärzte wurde die Veranlas-
sung dazu, dass die Organisation «Aufklärungsvgrband der Arbeiter-
frauen» sich wieder zusammenschloss und eine sehr stark besuchte
Versammlung mit Dr. Philipson als Redner abhielt. Auf dieser Ver-
sammlung wurde von ausserordentlich vielen Seiten gegen die reaktio-
näre und heuchlerische Politik der Regierung in der Schwangerschafts-
frage protestiert.
Dass Dr. Leunbaeh jetzt nach Verbüssung seiner dreimonatigen Ge-
fängnisstrafe aus der Haft entlassen wurde, ist an der dänischen Öffent-
lichkeit nicht unbemerkt vorüber gegangen. Nicht nur die Tageszeitun-
gen, auch der Pressedienst des Rundfunks und die Filmwochenschau
brachten Referate und Bilder von dem Empfang vor dem Gefängnis.
Ungefähr dreihundert Menschen waren gekommen, um Dr. Leunbaeh
zu begrüssen. Ausserordentlich gut war es, dass besonders viele Frauen
mit Kindern und Kinderwagen erschienen waren. Die Kinderwagen
trugen Plakate und Aufschriften wie «Ich bin kein Betriebsunfall»
oder «Erwünschte Kinder sind glückliche Kinder». Auf diese Weise
wurde besonders eindringlich Leunbachs Arbeit für sexuelles Glück
durch Empfängnisverhütung demonstriert, entgegen den Versuchen
von reaktionärer Seite, ilin als «Fötusschlächter» zu diffamieren.
An den Empfang vor dem Gefängnis schloss sich eine Zusammen-
117
Sexpol-Korrespondenz
kunft an, bei der die Vertreter revolutionärer Arbeiterorganisationen
und linksbürgerlicher Vereinigungen T^unbach in der Freiheit begrüss-
ten. Am Abend des Entlassunystages hatte die Organisation «Frisindet
Kulturkamp» eine Huld igungs Versammlung für Leunbach einberufen.
Der Saal war dicht besetzt, viele konnten keinen Platz mehr finden und
mussten umkehren. Es sprachen die Ärzte Dr. Moltved, Dr. Munch,
Dr. Hoffmeyer (Mitglied der Regierungskommission zur Ausarbeitung
der neuen dänischen Schwangerschaftsgesetzgebung) und Dr. Philipson.
Besonders der letztere fand warme Worte für Dr. Leunbach als dem
Leben sbewahrer und dem revolutionären Kämpfer für das Glück. Aus-
serdem sprachen die langjährige Mitarbeiterin Leunbachs Ofelia Chri-
stiansen und die Jugendführerin der Frauenbewegung Stella Kornerup.
Es waren ungefähr 70 jugendliche Nationalsozialisten erschienen,
zweifellos mit der Absicht, die Versammlung zu sprengen. Es herrsch^
te aber eme derartige Atmosphäre der Hingebung und Dankbarkeit
für Dr. Leunbach in der Versammlung, dass die Nationalsozialisten kei-
nen Boden für ihre Störungs versuche fanden und sie auch ziemlich rasch
bis auf einige seltene Zwischenrufe, einstellten, e's besteht kein Zweifei
darüber, dass diese nationalsozialistischen Jugendlichen den Saal bedeu-
tend unsicherer verliessen, als sie ihn betreten hatten.
Wir haben auch an diesem Tage gesehen, dass die verurteilten Ärzte
der Symphatie und der Solidarität breitester Kreise sicher sind und
dass die Arbeit, die sie in Dänemark geleistet haben, Früchte zu tra-
gen beginnt.
Sexpol-Korrespondenz
An unsere Leser!
Im nächsten Heft der Zeitschrift wird eine spezielle Rubrik für pädago-
gische Fragen eingerichtet. Wir bringen als erstes einen Artikel: «Ist
Fadagog^ik u her po li t i s ch? Antwort an Anna Freud.»
Gleichzeitig bitten wir aber alle Leser der Zeitschrift, besondere Wünsche,
tragen, Schwierigkeiten aus der pädagogischen Praxis, zu äussern. Unter
«pädagogischer Prax:is>: verstehen wir nicht nur das beschränkte Gebiet von
baughngspfiege, Kindergarten, Schule und Jugenderziehung, sondern ALLES,
was das Leben des Kindes und den Zusamraenstoss von Kindern und Erwachse-
nen betrifft. Wir wollen nicht DAS KIND AN SICH stu-
dieren, sondern das Kind UNSERER GESELLSCHAFT
Die kindlichen Konflikte sind nicht zu. lösen, wenn man sie aus dem Zusam-
menhang ihrer Umgebung löst, sondern nur durch das Verständnis für den
Widei-spruch, in den diese Gesellschaft das Kind versetzt.
Bitte sendet darum ALLES, was ,lhr in Zeitschriften, Zeitungen, Litteratur
über und von Kmdeni und Jugendlichen findet, an die Redaktion der Zeit-
schrift.
Denkt nicht, dass irgend etwas gleichgültig und nebensächlich ist.
_ Wenn wir die gegenwartige Lage erfassen wollen, können wir das nicht,
indem wir nur Phänomene und Besonderheiten studieren, sondern indem wir
einen Querschnitt durch das tägliche Leben des Kindes und Jugendlichen be-
118
Sexpol-Korrespondenz
kommen Das Lesestück einer reaktionären Volksschulfibel ist ebenso wichtig
Kummen. ms ivesesiucK euiei Hera-useabe e nes Kinderbuches oder
,^e,r,„ : "a^^'„„£rZS J\T„S w%ie La.e v.„^^^^^^^^
Darum müssen alle mitarbeiten, saiiimehi, beobachten und sich äussern.
Wer aufdiese Weise mitarbeitet, hilft nicht nur in unserm Kampf gegen
die Reaktion. E. hUft gleichzeitig, SEINE Z.itscrift ^f -fi^^^ -^ wertvol
7u machen Denn erst, wenn individuelle und natli«nale
Schwierigkeiten sich an andern vergleichen und .n der
Be. rehing zu den a 1 1 g e n. e i n e n i n t er n at i on a 1 en F ra-
gen spiegeln können, sind sie in ihren Verursachungen und Konse-
quenzen ganz zu erkennen, Diese Arbeit kann nicht die einer Redaktion sein,
d?e einen beschränkten Radius hat. Sie muss. wenn sie Sinn haben soll, die
Arbeit aller Leser und Interessierten werden.
Daium helft alle. Eure Zeitschrift zu gestalten.
Helft alle die Schwierigkeiten und Konflikte, in denen sich die gesamte
internationale' Pädagogik, ohne sie zu erkennen und verstehen, befindet, zu
KLÄREN. —
Damit diese Arbeit sich nicht ir* allgemeinen, abstrakten Phrasen bewegt,
bitten wir jeden Schreiber und Frager um Angabe seines Berufes und um eine
kurze Erwähnung, wodurch er sich, wenn er nicht Pädagoge ist, für diese Fra-
gen interessiert. Auch bitten wir, alle Arbeiten so konkret und einfach wie,
möglich zu halten und für alle Berichte möglichst Beispiele 2u geben. Wer
aus irgend einem Grund nicht für die Zeitschrift schreiben kann, mag auch
in Form vom Fragen und Briefen seine Gedanken mitteilen und um Bearbei-
tung bitten.
ik
SPANIEN
Zur spanischen Sexualgesetzgebung
Redaktionelle Bemerkung:
Der nachfolgende Artikel befasst sich mit einigen prinzipiellen Bemerkun-
gen. Eine wirkliche Ausarbeitung sexualpoiitischer Massnahmen für Spanien,
die unmittelbare praktische Bedeutung haben könnten, wäre nur an Ort und
Stelle möglich.
Das neue Abortgesetz, das in Katalonien vor kurzem erlassen wurde, be-
weist neuerdings, dass die Gesetze der sozialen Revolution international sind.
Sie entspringen dem natürlichen Bedürfnis der Masse, von der die soziale
Revolution gelragen wird, nach einer klaren, natürlichen. Jedem verständlichen
und gesunden Regelung der geschlechtlichen Beziehungen der Menschen.
Nachfolgend bringen wir die Erklärungen des Dr. Felix Marti Ibanez,
des Generaldirektors für Gesundheitswesen und soziale Hilfe in Barcelona bzw.
Katalonien. Die Erklärungen sind den beiden Zeitungen entnommen «La
Noche* vom 9. Januar und «Solidaridad Obrera» vom 12. Januar 1937. Sie
beziehen sich auf das in den ersten Tagen des Januar von den Ministern für
Gesundheitswesen und Justiz erlassene Dekret zur Legalisierung des Abortus.
«Die eugenische Reform, die von dem oben genannten Dr. Ibanez bereits
seit Jahren vertreten wird, beginnt nunmehr volle Wirklichkeit ku werden,
indem durch das vor kurzem erlassene Dekret die Ausführung des Abortus
den zu diesem Zweck geschaffenen Sanitätsstationen übertragen wird. Zwei
grundlegende Eigenschaften dieser Reform fallen ins Auge! Den Abortus
entziehen wir dem dunklen Bereich der Heimlichkeit, in dem er bisher unter
schwerer Gefahr für die Mutter vorgenommen wurde. An dessen Stelle setzen
wir die wissenschaftliche Praxis, die nunmehr den Abortus kontro lierl und
die Unterbrechung der Schwangerschaft ohne Gefahr in den Kliniken vor-
119
■',-i
Sexpol-Korrespondenz
nimmt, die den grossen Hospitälern der Regierung in ganz Katalonien ange-
gliedert smd. Ferner soll der Abortus nicht nur aus therapeutischen und
eugenischen Gründen vorgenommen werden, sondern auch in der Absicht die
Geburtenziffer freizuschränken und die Geburt eines Kindes zu vermeiden
-.,, ^^"" starke Gefuhlsgründe es fordern. Ob die Geburtenziffer dadurch zurück-
^.' geht, soll uns nicht davon abhalten.
Während die Schweiz, die Tschecho-Siovakei und selbst die i5owjet-Union
die_ Vornahme des Abortus einschränken, richtet Katalonien mit einem Feder-
strich emen wahrhaft volkstümlichen Dienst der künstlichen Schwangerschafts-
unterbrechung ein. Es wird nur einen Grund geben, den Abortus nicht vor-
zunehmen, wenn nämlich die Schwangerschaft das Stadium von 3 Monaten
überschritten hat oder wenn andere seelische oder körperliche Veränderungen
der Mutter gegen die Vornahme des Abortus sprechen.
Wir haben einen vorausgehenden medizinisch-psychologischen Fragebogen
für die Mutter vorgesehen, der uns erlauben wird, in wenigen Monaten die
psychologischen und körperlichen Vorgänge bei der Schwangerschaftsunter-
brechung zu studieren und eine Statistik anzulegen. Das Proletariat erhält
durch die freie Handhabung des Abortus ein Mittel der Eugenik von vitaler
Bedeutung, damit in Zukunft die Mutterschaft gewollt sei und nicht mehr
dem Zufall überlassen ist, so dass sie nunmehr von Innerer Verantwortung
getragen wird, die ihr bis dahin fremd war.
Die eugenische Reform des Abortus, zusammen mit der sexuellen Erzie-
hung, die wir jetzt energisch in Angriff nehmen, und der Einrichtung von
sanitären Beratungsstellen zur Verteilung von Antikonzeptionsinitteln und zur
Beratung bei ihrfer Anwendung, wird uns in die Lage versetzen, die Zahl der
jährlich in Katalonien vorgenommenen Aborte herabzudrücken und die tra-
gischen Todesfälle zu vermeiden, die durch die Vornahme des Abortus von
Kurpfuschern hervorgerufen werden. Damit wird auch dem schamlosen Han-
del mit dem Sexualleben der Frau ein Ende gemacht und in allen Fragen der
Mutterschaft wird eine absolute eugenische Freiheit Platz greifen, die nie-
mals erreicht werden konnte durch die brutale Unterdrückung, wie sie früher
durch die Gesetzgebung sanktioniert wurde.
Unsere Reform fügt zu dem therapeutischen Gesichtspunkt (körperliche
oder geistige Gebrechen der Mutter, die gegen die Schwangerschaft sprechen)
und dem eugenischen Motiv (väterliche Blutschande oder Mängel, die sich auf
das künftige Leben fortpflanzen können), die Faktoren des Neomalthuaianis-
mus (bewussterWunschderfreiwiUigenEinschränkung
der Geburten), des Gefühls und der Ethik (unerwünschte. Mut-
terschaft aus verschiedenen Gründen des Gefühls- und
Liebeslebens der Mutter).
Wir werden es nicht länger mehr mit ansehen, dass Mütter sterben wegen
ungeschickter Eingriffe, dass Kinder gemordet werden aus Hass vor dem
Kmde, das nicht gewollt wurde, dass Frauen der Lebensweg vernichtet wurde
wegen eines Kindes, das ein Stigma ist oder eine Erinnerung, die man veiges-
sen mochte, dass Kinder in ein Heim kommen, wo es für sie kein Brot gibt
und zu Eltern, die für sie keine Zärtlichkeit haben.
Das Sexualleben der Frau wird künftig von der egoistischen männlichen
Tyrannei befreit sein, und sie wird einige Rechte erhalten (frei über sich selbst
zu verfugen und über ihre Mutterschaft zu bestimmen), wofür sie einige bisher
vergessene Pflichten auf sich nehmen muss.
Die Nachkriegszeit brachte uns den neuen Typ der Frau, die eine Füll»
von Rechten beanspruchte und von ihren Pfliciiten nichts wissen wollte. In
sexueller Beziehung verschmähte sie die Mutterschaft und wich der mit ihr
verbundenen Verantwortung aus. Die proletarische Revolution hat eine neue
Generation von Frauen geschaffen, die wissen, dass sie mit ihren neuen Rech-
ten auch neue Pflichten übernehmen.i»
An diesen Erklärungen fällt folgendes auf:
y }^ Hi^ Einführung des Argumentes «starke Gefühlsmomente gegen das
Kind». Wir müssen die Einführung eines solchen Arguments als einen wesent-
lichen tortschritt der spanischen Sexualrevolution gegenüber der ersten rus-
sischen auffassen. Es ist nicht nur ein «Argument», sondern umschliesst nicht
mehr und nicht weniger als die z e n t r a 1 e Frage des Geschlechtslebens. Das
120
J
Sexpol-Korrespondenx
«oll an folgendem kleinen Beispiel erörtert werden. J'^X'tnde'^n^r wolle!?
Liebesverhältnis ein, ohne sich noch mitemander |« y^^^^^^^J^^^J^^n ^^
dass sie die gemeinsame Verantwortung für ein Kind «öernenmen
In diesem Falle ist es selbstverständlich dass sie 7^^. ""J™7ii,„'fühit
besglück geniessen. aber noch kein Kind haben ^ ^^"„„^". ^"^f " ^i^i^"/ und
man sich noch so jugendlich und zu jeder Veränderung in der eigenen ^na
sozialen Entwicklung fähig, dass man sich mch ^^-^^fV,^^" ^'^ n S wiS
ein selbstverständliches Prinzip der individuellen, ^^ f^-alen "^J^ _^..de
sprechenden Freiheit. Junfce Menschen, die ein ^^^^^^^^l^^^ ^^"^^'^/„"^Ei,^^^^^^
len können nicht ohne weiteres ein Kind haben. Sie müssen warten, Ui^ sie
Ihr Leben "n der Gemeinschaft einigermassen geordnet haben. Alle d.ese Tat-
Schendes Lebens erleichtern sich, wenn die sozialistische Gesellschaft soweit
herangereift Tst, dass sie einem Menschen, der e n Km d haben will, die Sorge
darSm restlos abnehmen kann; doch auch dann gäbe es für niemand das Recht,
zu forde rn%ass man Kinder in die Welt setze. Es n.uss Grundprmzip der
sozialistischen Ideologie und gesellschaftlichen Ordnung bleiben, dass die per-
JönHche FreTheit in keinen Gegensatz zur sozialen Struktur der Gesellschaft
nnd umgekehrt geraten darf. Daher sind Sätze wie die folgenden ausseror-
fipntlich zu begrüssen: «Der Abortus soll nicht nur aus therapeutischen und
hvffienischen Gründen vorgenommen werden, sondern auch in der Absicht, die
rihnrtenziffer freiwillig einzuschränken und die Geburt eines Kindes zu ver-
meiden wenn starke Gefühlsgründe es fordern. Ob die Geburten-
ziffer dadurch zur-ückgeht, soll uns nicht davon ab-
halten.» Wenn die spanischen Sozialisten an diesem letzten Satz festhal-
werden, dann wird ihnen auch die Sorge um die «Erhaltung der Mensch-
h "t» von den glücklich lebenden Müttern selbst abgenommen werden. Auch
jf' pormulierung, dass die Mutterschaft von innerlicher Verantwortung
tragen werden soll, ist neu und revolutionär. Gerade in der Kindererziehung
^"acht man die Erfahrung, dass Kinder von Müttern, die widerwillig geboren
hatten, im'"^*" '" irgendeiner Weise schwer zu leiden hatten.' Es ist klar,
dass diese Bestimmungen des spanischen Gesetzes der Ideologie in der Sow-
ietunion vollkommen widersprechen.
Die sozialistische Geburtenregelung schob immer das Interesse an der
Geburtenzahl in den Vordergrund und entschuldigte sich sozusagen, dass sie
überhaupt derartige Reformen durchführen wolle. Sie bekämpfte dabei den
jVtalthusianismus. Dieser hatte behauptet, dass das Elend auf der Welt durch
Einschränkung der Geburtenzahl verschwinden würde. Das ist natürlich
falsch. Das Elend auf der Welt entsteht durch die materielle und geistige
Unterdrückung und nicht an sich und von vornherein durch die tlberbevölke-
rung. Doch man darf nicht das Kind mit dem Bad ausschütten. Im Mal-
thusianismus steckt, abgesehen von der falschen Konsequenz der richtige Ge-
danke drin, dass die Geburtenbeschränkung eine unerlässliche Notwendigkeit
der neuen Gesellschaftsordnung ist..
Man kann auf die Entfernung ohne genaue Kenntnis der konkreten Um-
stände im Lande auch keine brauchbare Vorstellung vom Prozess gewinnen;
doch man kann an bestimmten Schlagworten schon heute die Stelle erkennen,
an der später sexualreaktionäre Massnahmen wie in der Sowjet-Union ein-
setzen können. So ein Wort ist z. B. «die sexuelle Erziehung». In der SU
zeigte es sich, dass Pädagogen wie Salkind unter «sexueller Erziehung» die
<<AbgewöhnangB der Sexualität verstanden. EtVas anderes ist.
wenn man unter sexueller Erziehung die Herstellung der vollen
natürlichen sexuellen Liebesfähigkeit der Masse ver-
steht, was nur in gesellschaftlichem Masstabe von verantwortlichen und kor-
rekt geschulten Sexual hygienikern durchgesetzt werden kann. Das Ziel ist,
die kranke menschliche Sexualstruktur schon bei den Kindern nicht aufkom-
men zu lassen. Ein Riesenproblem, zu dem jetzt nicht mehr gesagt werden
kann. (Vgl. Reich «Sexualität im Kulturkampfs). .
Ebenso verhält es sich mit dem Ausdruck «eugenische Freiheit». Wir
raten unseren Freunden in Spanien dringendst, mit allen Worten und
Begriffen aufzuräumen, die auch vom Reaktionär in seinem Sinne gebraucht
werden können. Also etwa mit dem Worte eugenische Freiheit. Erstens stellt
sich darunter ein einfacher Arbeiter oder Bauer nichts vor, zweitens hat er
121
m
SexpoJ-Korrespondenz
dentlJif J.T "f^SJ«^«'- verkappte oder offene Sexualreaktionär
SndSf Ä. .^''"■"' des Jugendlichen, der einfachen Frau vor hochklin-
|enden Schlagworten zu reaktionären Zwecken aus. Das geschah in der Sow-
ernsthaft I^^'en""''^" ^"' ^'" ^''"'"' ''''' sowjetrussischen Sexualrevolution
k^^^^."^^"'^ """^ ^'^ r-^'^" Verhaltnisse in Katalonien bekannt sind, so sehr
können wir aus der Kenntnis allgemein menschlicher und speziell der Ver-
altungsweisen der Frauen, Jugendlichen, Männer und Kinder in Arbeiter-
u"ir^ ''■^"^" fordernde Vorschläge machen. Ihre Durchführung ist uiier-
lasshch, wenn inan nicht schwere Rückschläge später erleben soll, gegen die
man dann rnachtlos ,st. Gerade die unpolitischen Menschen aus der breiten
Masse der Bevölkerung sind neben Nahrungssorgen von nichts so sehr in
Anspruch gekommen wie von ihren sexuellen Nöten und sehnen sich dement-
sprechend nach Erfüllung ihrer sexuellen Bedürfnisse. Doch gl ei c hy.eTt ig
damit haben sie auch vor nichts so sehr Angst wie vo?
ihien eigenen sexuel len Ansprüchen u i> d Wünschen-
h.f,^ Z ^'^ ^^ '" Hunderten von Generationen durch Kirche, Schule, Eltern-
haus etc. erzogen worden. Spanien war ein durchaus «christliches. Land-
ern- entwickelt'^ '^"''V'"' V"^^'^""^"^ Sexualangst in ihrer seelischen Struk:
euer Hi^lh n ■ ■. ^^"" ,^^"", ^" «rgendeinem Orte irgendetwas in sexu-
kann Jch vn T^'^'''' ■"'^' ^"" ^^''^ "'""^^ "^^"^ ^^^teres verständlich ist,
Wm man chL(t h''%"'!" «f ^"^'^«^^^tionäre Ideologie auszubreiten beginnen
Wlil man chaotische Zustande vermeiden, muss dafür gesorgt werden dass
rirfAutmfch"''h^.' Probleme des Privat- und Geschlfchtsfebens in üffS
führt n.d ' r^r ''^^^"•^^'* ^«^■■^^"= ^ber nicht von irgendwem, sondern ge-
fuhrt und geleitet von Genossen, die eine absolut natürliche seibstverständ
iln" m^Sln"'^?"' Einstellung zu gesunden Äusserungen rsVetsebS^ht
ben, mögen sie auch der heutigen Struktur der Masse hier oder dort nicht
£?hir/\\^ln'' f"- "^.^ ""^^/" ^^'^ ^'^^""^^ SexualwiSnschen'der M s
asket^Xn .f ',r r ^^"^^"»^ -i^^or hüten, ihren gleichzeitig vorhandenen
passen '^^^^ '^^^'^^en und heuchlerischen Sexualanschauungen uns anzu-
Inn^in ^n^ W^'^f ^^"^ Genossen in Spanien dringendst. genau auf .Hand-
lungen und Wirkungen verkappter Sexualreaktionäre zu achten der «Ethiker
der sozialen Hevolution», die meist Sexaalneurotiker sind und von .neuer
^hl^ h', k""^'"'"' t"^ '■'' "^^"' ^'^ ^'"^ sozialistische Regelung des Ge-
S schaftn' wä"" Massenmasstabe aus diesen verrotteten Zu^tändln heraus
zu schaffen wäre. Oft richten eifersüchtige kranke Frauen Schwätzer der
flTverS; dr""'"''^' Perverse sehr viel Unheil dadurch ^nda'ssfe sict
hat .chaffln ZaT"" sozialistischen Moral proklamieren, jedoch keine Klar-
Sill^.^ Ä 'i ""'" ^■"«'"•'■e"- Oas Geschlechtsleben der sozialistischen
SheS/ m"" T ™" n"''"' ^^"'S gesunden, befriedigungsfähigen und
liebesfahigen Menschen in richtige Bahnen gelenkt werden
denken wlnn>;.r"''*?" ^''''''''''^■™"^^'■■ ="^ "^^^ ""^^^ so freiheitlich
EsSt'n^L.l^i.'^T"'^ anfangt, sich ihrer Sexualität bewusst zu werden.
Snpr V.nt . / '^ ^^'' '"^, ^}^ Ji^gendorganisationen mit dieser Frage als
vfr^lfn. T ^^^J"g«"dl"^hen Lebens sofort und intensivst inpositi-
Lbe^ e nricht. f t"'^'" anfangen; die Art, wie die Jugend ihr Geschlechts-
lict pTagf e^ste" Orrung"'"""'"'' Angelegenheit, sondern eine gesellschaft-
4) Es ist ratsam, sofort sexual politische Masse norg an isa-
Lwirh>Ln"p''"S^^uV',",''"'^".^"^ Sicherungen eines hygienischen, gesunden,
natur heben Geschlechts ebens der Masse zur öffentlichen Diskussion gestellt
und praktisch durchgeführt werden können.
5} Am allerwesentlichsten scheint wohl
schulen für Kleinkinder. In diesen
erforscht werden wie die Selbstverwaltung aer «.maer, me seiDs.
^res Lebens m, lebendigen Kollektiv sich zu ihren Bedürfnissen verhält. Ebenso
wie die noch notwendige Lenkung des kindlichen kollektiven Lebens herüber-
lunren konnte in korrekt organisierte sozialistische Kinderkommunen. Es
scneint nach alem was die sowjetrussische Revolution an Lehren gebracht
nat, uneriasshch, dass die Kinderorganisationen nicht unter der Gewalt und
122
der Ausbau guter Muster-
Schulen müsste genau praktisch
der Kinder, die Selbsteuerung
Sexpol-Korrespondenz
Herrschaft der Elternorganisationen stehen, sondern dass ^er Versuch einer
selbständigen Organisierung der Kinder an gunstigen Stellen des -Lebens ge-
macht wild. Nicht die heutige erwachsene Generation, sondern die im sozi-
alistischen Kampf heranwachsende Kindergeneration wird die Gewahr der
sozialistischen Gesellschaft sein. Das kann nur dadurch gesichert werden
dass der Eigenwille und die natürliche Lebendigkeit des Kindes m den Dienst
der lebendigen Entfaltung der sozialistischen Gemeinschaft von vornher-
ein gestellt werden. Kinder haben gegen die Erwachsenen, wie sie heute
s i n d, wichtige Interessen zu vertreten. In Spanien ist das Prügeln der
Kinder wahrscheinlich an der Tagesordnung. Eine Kin derer ganisation gut_ und
mutig, aber auch vernünftig geführt, könnte im Kampf gegen das Prügeln
der Kinder viel mehr ausrichten als Dekrete seitens der Regierung.
Parolen der Kinder untereinander, die gleichzeitig kindgemäss und sozi-
alistisch positiv sind, sind unerlässlich. Z. B.. <iWir sind keine kleinen Hünd-
chen, die abwechselnd getätschelt und geprügelt werden», «Niemand darf uns
prügeln», «Wir wollen alles wissen, was uns interessiert», «Wir wollen viel
Raum zum spielen» etc. Die Zusammenfassung solcher Kindermassenorgani-
sationen sollte Pubertätsjugendlichen übergeben werden, die unmittelbar die
Erfahrungen aus dem Elternhaus siDÜren. Zwischen Eltern und Kindern dürfte
dadurch kein Gegensatz enstehen. Die Eltern pflegen in Gegenwart von Kin-
dern in die allertfrösste Verlegenheit zu kommen und sind sehr rasch zum Ein-
sehen zu bringen. Die Frage der Kinderorganisationen hängt davon ab, ob
man über genügend mutige, kluge, natürlich denkende und mit Kindern er-
fahrene Pädagogen verfügt, die der sozialistischen Entwicklung vorwärtshelfen
anstatt sie zu bremsen.
Die Sexualrevolution im Alltagsleben, die sich nach dem Erlass solcher
Gesetze einzustellen pflegt, stösst sofort auf die Ideologie des Christentums.
Hier bedai'f es der umsichtigsten Führung im Kampf. Man darf die religiösen
Gefühle nicht verletzen und muss doch die Religion in der Struktur der Men-
schen ausrotten.' Ein direkter Angriff auf die Religion mit Schimpfen und
Lächerlichmachen kann nach den Erfahrungen der russischen Revolution nur
schädlich sein. Neben der naturwissenschaftlichen Schulung der Masse kommt
hier in erster Linie eine positive, die natürlichen sexuellen Bedürfnisse be-
jahende Sexualpolitik in Frage.
Mit diesen wenigen Bemerkungen ist natürlich nicht ein Bruchteil der
Problematik und der realen Schwierigkeiten erschöpft. Es sollte nur auf
einige sehr wichtige Gefahren und Notwendigkeiten aufmerksam gemacht
werden.
Wir bitten die verantwortlichen Genossen in Katalonien, uns reichlichst
Material aus dem- Alltagsleben der Masse, besonders der Kinder und der
Jugendlichen zuzuschicken, um uns ein klareres Urteil darüber zu bilden. Wir
■unsererseits werden alles tun, um in absehbarer Zeit sexualökonomisch ge-
schulte-Pädagogen zur Disposition stellen zu können.
Bei allen sexualpolitischen Massnahmen muss das Ziel im Auge behalten
werden: auf der Basis einer sozialistischen Plan- und Redarfswirtschaft muss
ein neues Menschengeschlecht innerlich wirklich freier Menschen entstehen
können. Das Zentralstück des innerlich freien Menschen ist die Stellung zu
seiner eigenen Geschlechtlichkeit und zu der der andern. Die heutigen Er-
wachsenen werden eine solche Umstrukturierung bestenfalls dulden, wenn sie
sie nicht sabotieren werden. Die Verankerung der sozialistischen Ordnung in
den Menschen kann nur heim Kleinkinde beginnen.
DEUTSCHLAND
10 Jahre Gefängiiiis für Ehebruch
In der gesamten deutschen Presse wird augenblicklich berichtet über den
Abschnitt «Ehe und Familie» im kommenden Strafrecht. Parallel damit gehen
grosse Kundgebungen unter dem Motto <iDeutschland braucht Kinder». .Inhalt
und Form sowohl des neuen Gesetzes als auch der neuen Propaganda für
Kanonenfutter geben tiefe Einblicke in den organischen Zusammenhang von
Familie und Staat.
123
Sexpal-Korrespondenz
Nach dem bisherig-en Recht wurde Ehebruch nur auf Antrag des Belei-
digten verfolg:t und mit höchstens 6 Monaten Gefängnis bestraft, dabei konnte
die Gefängnisstrafe in Geldstrafe umgewandelt werden. Nach dem neuen
Entwurf ist der Ehebruch ein Angriff auf eine staatliche
Einrichtung und wird als Offizialdelikt geahndet. Der Strafrahmen ist
bis zu Kehn Jahren Gefängnis erweitert. Der Beleidigte wird nur
noch angeiiort und die Bestrafung liegt allein im Ermessen der Gerichtsbe-
hörden. Sie können von Strafe absehen, wenn dadurch eine gute Ehe wieder
hergestellt und erhalten werden kann.
Auch in zahlreichen anderen Paragraphen geht die Einmischung des Staa-
tes in das private Familienleben sehr weit. U. a. wird Schmähung von Ehe
und Mutterschaft, Ausnutzung der Ehe zur Ersehleiehung von Vermögen mit
Gelangnis bestraft. Sogar eine Neuregelung über das «aippenvermogen» hat
Sich der Staat vorgenommen. Neu ist weiter der ;<]V,; u n t b r u c h» nach
alter deutscher Rechtssprache {Für normale Gehirne heisst das «Einbruch
in die Erziehungsgewalt). Hier wird bestraft, wer einen Mjen-
schen unter 21 Jahren mit List oder Drohung dem ent-
zieht, dem die Sorge zusteht. Das Gesetz schafft auch einen
neuen Schutz für Schwangere, wonach Gefängnis erhält, wer
einer Geschwängerten gewissenlos üie Hilfe versagt.
Dabei handelt es sich nicht etwa nur um materielle Pflichten. «Es kann z B
notwendig sein, dass der Mann der Frau Trost zuspricht und besontlers bei
unehelichen Muttern, die Schande befürchten, seinen seelischen Beistand ge-
wahrt.;) (Berliner Volkszeitung, 3. -III. 37).
Man muss das zweimal lesen. Diese Gesetzgebung des faschistischen '
Staates beweist mit nicht zu überbietender Deutlichkeit den unaufhaltbaren
Zerfall der Familie, der bürgerlichen Moral überhaupt. Selbst ein von Happy-
end-Filmen umnebeltes Gehirn muss durch diese nüchternen Paragraphen
überzeugt werden davon, dass Eheverhältnisse, die einen so drakonischen
'■Schutz» notig haben, im tiefsten Grunde zerrüttet sein müssen. Wir wollen
dabei nicht vergessen, dass in allen Kulturstaaten die Ehe starker staatlicher
und religiöser Bevormundung ausgesetzt ist. Und diese Gesetzgeber begrei-
fen überall ausgezeichnet, auch ohne Marx gelesen zu haben, wie gründlich
der Kapitalismus die scheinbar «ewigen, natur- und gottgewollten Grundlagen
der Gesellschaft» zerstört. Die strengen Strafen lassen auch darauf schlies-
sen, wie unerhört wichtig die Familieninstitution für das ganze heutige Aus-
beut ungssystem ist.
Nirgends aber wird das alles so klar, so auf die Spitze getrieben, wie im
heutigen Deutschland. Der Krieg und -die Nachkriegskrisen haben eine starke
Zersetzung des Familienlebens so verschärft, dass die Nazis hier zu sehr wider-
spruchsvoller Politik gezwungen wurden. Wir werden in der nächsten Num-
mer dieser Zeitschrift ausführlicher auf das Problem Familie und Staat untern
Faschismus eingehen.
ITALIEN
■ tauen (Le Temps, 28. II. 1937). Das «Gattinnenschiff:«^
Unser Spezialkorrespondent in Rom telephoniert uns Mittwoch den 24
Februar;
,. Man weiss, dass seit der Eroberung Äthiopiens das faschistische Italien
hinsichtlich der Beziehungen zwischen Weissen und Schwarzen die Rassenlehre
zur Anwendung bringt. Es weist entschieden die Kompromisalösung zurück
nach der die Kolonisten mehr oder minder dauerhafte Verbindungen mit far-
bigen Frauen haben dürfen. Mit Berufung auf höhere Interessen des Kaiser-
reichs wird allen Italienern in Ostafrika eine strenge Disziplin auferlegt. Jeder
Beischlaf mit Äthioperinnen ist ihnen untersagt, wie immer auch die Schön-
heit und der Charme der Nachkommen der Königin Saba beschaffen sein mag.
Die Gründer und Leiter des Kaiserreichs wollen um keinen Preis die Ent-
wicklung einer Bevölkerung gemischten Blutes, die auf die Dauer gesehen ein
Element sozialer und politischer Unordnung werden und eine Drohung für die
Zukunft darstellen könnte.
124
.:u^.
J
Sexpol-K»rresp on dem
Inzwischen ist das Missverhältnis zwischen der ^^^ der ^«'^sen^^rauen m
Ostafrika und der der Beamten, Soldaten und Ar be.U ^ .^^^^ g^f
Darum unterninimt man jet.t grosse ^-trengungen u _^^^ ^^ ^^^^^^
Wicklung der italienischen Familie auf <i«" „^"^l^^ ^ ' . Colombo -. wie der
stisen. Aus diesem Grunde ist soeben -" f^j'^JJ Frauen abgefahren Ehegat-
JS^ rrrSe?n"i?ä\lfX.'drrhrTS"er";iederseb\n woUe. Offi-
^^^'■^ifT;ä^1S?ast"^sf1Sjiere als die ^-ten Pio^re de.- Ual^.-
schen Kolonisation in Ostafrika und behauptet, dass ihre Abreise die beste
Bestätigung: der Ruhe ist, die in Äthiopien herrscht.
OESTERREICH
Sexualpdlitik in Oesterreich
Von einem wiener Genossen
SevQalpolitik in Oesterreieh ist heute Sexualpolitik des Katholizismus,
Sexualpolitik im Geiste der Enzyklika «Casti Connubü». Der ungeheure Macht-
züwachs der katholischen Kirche in unserem Lande seit der Niederwerfung der
Arbeiterschaft im Februar 1934 hat sich auch auf allen Gebieten des kulturel-
len Lebens voll- ausgewirkt. Freilich musste oft mit brutalem Terror nach-
geholfen werden. Ein paar Zahlen: Seit Aufrichtung des autoritären Regimes
sind allein in Wien 60,000 Konfessionslose wieder in die Religionsgenossen-
schaften eingetreten, das ist rund die Hälfte der seinerzeit vorhandenen. Die
römische Kirche allein gewann 40,000 Seelen. Die Ziviltrauungen sind auf ein
Viertel, die Einäscherungen im wiener Krematorium um 40 Prozent zurückge-
gangen.
Trauungen vor der
politischen Behörde
1932 2277
1933 1818
1934 691
1935 521
Beisetzungen
im Urnenhain
3523
2792
2168 .
2136
Ich führe diese Zahlen an, um zu zeigen, wie weit die Kirche in Oester-
reieh ihre Machtansprüche durchgesetzt hat. Sie im Sinne eines Gesinnungs-
wandels der breiten Massen der wiener Bevölkerung deuten zu wollen, wäre
ein schwerer Irrtum,
Die Herrschaft des schwarzen Muckertums beginnt bei den Kindern- Die
Kruzifixe sind in allen Schulen wieder aufgehängt, das Schulgebet und die
Teilnahme an religiösen Uebungen wieder obligatorisch. Dass diese Art von
Pädagogik in höchstem Masse sexual feindlich ist, versteht sich von selbst.
Das geht bis in ganz groteske Einzelheiten: Die sozialdemokratische Gemein-
deverwaltung hatte seinerzeit Freibäder für Kinder geschaffen, eine Einrich-
tung die in Wien rasch ungemein populär wurde. Im Sommer 1950 überstieg
die 2ahl der Besucher 1,3 Millionen. Diese Kinderfreibäder und das fröhliche
Treiben der Arbeiterkinder waren dem wiener Spiesser schon immer ein Greuel
und ein Dorn im Auge und schon vor Jahren gab es Rohlinge, die in ihrem
Mass gegen das gesunde Leben so weit gingen, dass sie nachts ganze Säcke
voll Glasscherben in die Becken streuten. Die neuen Machthaber hätten die
Kinderfreibäder wohl am liebsten ganz aufgelassen; sie begnügten sich damit,
„ , , .,.. , , 1 „nUfolnden Taffen baden zu lassen. Ich bemerke noch-
Buben und Madel an abwechselwlen lagen ^^^^ ,^^
mals, dass es sich um Schulkinder unter 1* Jdiiieu la bleiben
die Hälfte der Kinder an den heissesten Hochsommertagen ohne bau bleiben
muss, stört die Vertreter der christlichen Sexualmoral nicht weiter.
In den höheren Schulen ist eine deutliche Tendenz zur Einschränkung aer
Koedukation und zur Erschwerung des Mädchenstudiums überhaupt iest/,usi^ei-
len. Während früher Mädchen anstandslos in öffentliche Gymnasien etc. aut^-
genommen wurden, sind sie heute immer mehr auf die halboltenui^nt
privaten Anstalten mit entsprechend höherem Schulgeld angewiesen.
125
.^iJiAa^ ..
Sex pol -Korrespondenz
Politik der Zurückdrängung setzt sich an der Hochschule fort. Es ist be-
kannt geworden, dass man die Professoren angewiesen hat, weibliche Kandi-
daten strenger au prüfen. Auch später im Beruf, bei Anstellungen und Beför-
derungen finden wir die gleiche Zurücksetzung des weiblichen Geschlechts,
die in scheinheiliger Weise damit begründet wird, dass die Frau der Familie
und dem natürlichen Mutterberuf wieder zugeführt werden soll Die Bemühun-
gen der legalen «unpolitischen» Frauenorganisationen, diesem Unrecht zu steu-
ern, scheinen bis jetzt ohne sichtbaren Erfolg geblieben zu sein.
Arg sind die Zustände auf dem Gebiet der Ehe. Eine obligatorische Zivil-
ehe hat es bei ans auch früher nicht gegeben und die katholischen Ehen kön-
nen seit jeher zwar von Tisch und Bett geschieden, aber nicht dem Bande
nach getrennt werden^ Eine Wiederverheiratung ist demgemäss uninöglicb.
In der sozialdemokratischen Aera wurde der Ausweg gefunden, dass der wie-
ner Landeshauptmann Dispens vom Ehehindernis des Ehehandes erteilte, wor-
auf die Trauung vor der politischen Behörde stattzufinden pflegte. Obwohl
der Verfassungsgerichtshof seit dem Jahre 1929 solche Ehen, wenn sie von ir-
gendeiner Seite angefochten wurden, für ungültig erklärte, haben trotzdem
auch weiterhin viele Menschen von dieser Möglichkeil Gebrauch gemacht
<>Dispensehen»
1930
1953
1931
1983
1932
1931
1933
1466
1934
177
Heute gibt es keinen roten wiener Landeshauptmann mehr, der Dispens
erteilen würde, und katholisch Geschiedene sind zum lebenslänglichen Zölibat
verurteilt- (Vgl. die Tabelle über den Rückgang der Ziviltrauungen.)
Das ist aber noch nicht alles. Für die öffentlichen Angestellten gilt das
sogenannte Doppelverdienergesetz, welches vorschreibt, dass eine I^hrerin,
Beamtin oder sonstige Angestellte mit ihrer Verheiratung auch ihren Posten
verliert. Diese Bestimmung wird in den betroffenen Kreisen besonders schwer
empfunden, weil die Gehälter der jungen Männer in keiner Weise für den
Unterhalt einer Familie ausreichend sind. Das Zusammenleben ohne Eheschlies-
sung aber ist für männliche und weibliche Angestellte ein Dienstvergehen und
wird mit sofortiger Entlassung geahndet. Welche Möglichkeiten der löblichen
Nadererzunft hier erwachsen, brauche ich nicht näher zu schildern..
In Ehesachen kennt der Klerikofaschismus keine Kompromisse: auch nicht
mit den Bedürfnissen der Bevölkerimgspolitik, obwohl er es doch wahrlich
notwendig genug hätte. Infolge der ungünstigen wirtschaftlichen Verhält-
nisse ist Oesterreich das geburtenärmste Land der Erde; es hat im Lauf der
letzten Jahre England und Schweden überholt. Wien ist die unfruchtbarste
Stadt, die es gibt; die Hälfte der Ehen ist hier nach fünfjähriger Dauer noch
kinderlos.
Oesterreich
Wien
1932
1933
1934
1935
102,179 Geburten
96,403 «
91,318 «
89,151 «
13,319 Geburten
12,137 «
11,022 «
lü,35ü «
Auf 1000 Einwohner kamen 1935 in Oesterreich nur 13,2 und in Wien nur
6,5 Lebendgeburten. Während Hitler imstande war, dem deutschen Volk mit
Zuckerbrot und Peitsche eine beträchtliche Vermehrung der Ehesehliessungen
und Geburten abzuzwingen, ist in Oesterreich nichts derartiges zu bemerken.
Der Geburtenrückgang schreitet unaufhaltsam fort:
Oesterreich Wien
L Halbjahr 1935 40,390 Geburten 5,536 Geburten
« 1936 45.387 ^ 5,394 «
126
..^
J
Sexpol- Korrespondenz
Ueber diese Entwicklung wird natürlich viel gesprochen und segchrieben.
Dabei rückt man die «moralische); Seite stark in den Vordergrund, bo meint
der Erzbishof von Wien, Kardinal Innitzer: Das österreichische Volk muss
durch vorbehaltlose Rückkehr zur Religion und Sittlichkeit seiner Vater, die
die katholische ist, seinen Lebenswillen und Lebensmut wiederfinden,. Nicht
die wirtschaftliche Not ist die Hauptursache des Geburtenrückgangs, sondern
das Bestreben, «ein möglichst bequemes, breites Leben führen zu können», also
ein Wandel in der Lebensauffassung.
Trotz dieser Meinungsäusserung des Oberhirten Hess der «Vei-band Famili-
enschutz.->, eine streng katholische Organisation, durch Dr. Albert Niedermeyer
und Ing. Sonneck den. Entwurf zu einem Gesetz über Familienlastenausgleich
ausarbeiten und übergab ihn auf seiner Tagung vom 9. — 11. Jänner 1936 der
Oeffentlichkeit. Nach diesem Entwurf hätten unverheiratete männliche
Staatsbürger vom 28., weibliche vom 25. Lebensjahr an 30 Prozent ihres Kein-
einkommens an berufsständische Ausgleichskassen zu zahlen gehabt. Für
kiaderlose Ehepaare sollte der Satz 20 Prozent, für Ehen mit einem Kind 10
Prozent betragen. Ehen mit zwei Kindern hätten nichts abgeben müssen unÜ
auch nichts bekommen, während vom dritten Kind an Zulagen von je 10: Pro-
zent des Einkommens gezahlt werden sollten. Dieses Projekt wurde von An-
fang an von der Bevölkerung abgelehnt. Besonders die kinderarme Beamten-
schaft war erschreckt und empört; sie sah in dem ganzen Plan nur einen
Raubzug- auf ihre Gehälter. Sogar die gleichgeschalteten Berufsorganisationen
protestierten und am 4. II 1936 sah sich die Regierung genötigt, von dem
Gesetzentwurf energisch abzurücken. Der Bundeskommissär für Heimatdienst
Oberst Adam gab folgende Erklärung ab: «Ich bin vom Herrn Bundeskanzler
zu der Mitteilung ermächtigt, dass alle diese Pläne, die gewiss sehr edlen
Motiven entstammen, die Bundesregierung weder beschäftigt haben, noch
künftig beschäftigen werden. Alle Vorschläge der erwähnten Art entstammen
privater Initiative, und es ist niemand berechtigt, sich auf eine Zustimmung
des Herrn Bundedeskanzlers .... zu berufen.» ,
Wie nachwuchsfreundlich das autoritäre Regime in Wirklichkeit ist, dar-
über mögen ein paar Zahlen aus der Fürsorgestatistik der Gemeinde Wien er-
zählen, die keines weiteren Kommentars bedürfen;
Säuglingswäsche
Mütterberatung
Kinderspeisung
(Pakete)
(Kinder}
(Portionen)
1932
9477
267,'UOO
4,6 Mill.
1933
7950
260,000
4,0 «
1934
5630
. 203,000
3,8 «
1935
4573
i79,uno
3,5 «
\
Zu dieser quantitativen Verminderung, die durch den Geburtenrückgang
allein nicht erklärt werden kann, kommt noch eine qualitative Vei^schlechterung
der Lei.stungen durch Korruption und Günstlingswirtschaft auf allen Gebieten,
vor allem auch dem der Besetzung ärztlicher Stellen.
Um die üngeborenen kümmert man sich um so mehr. Die einzige vom'
katholischen Standpunkt zulässige Form der Geburtenregelung ist die Be-
schränkung des Geschlechtsverkehrs auf die angeblich oder wirklich unfrucht-
baren Tage der Frau.i So sieht man denn auch in den Schaufenstern vieler
Buchhandlungen Wiens die Schriften von Knaus und seinen Schülern und die
populären Menstruationskaiender. Aber auch das ist nur geduldet und es gibt
auch keine Stelle, die es unternommen hätte, an einem entsprechend grossen
Material die Knaus'sche Lehre wissenschaftlich nachzuprüfen, die ja von vielen
Gynäkologen abgelehnt wird. Alle andern empfängnisverhütenden Mittel sind
von der Kirche verpönt. Es war eine der ersten Verfügungen des neuen Re-
gimes, dass der Vertrieb von Präservativs durch Automaten verboten wurde.
Man hat die Automaten übrigens in den Bedürfnisanstalten hängen lassen und
einen Zettel draufgeklebt «Ausser Betrieb», Frauen, die schon mehrere Male
abortiert haben, bekommen in den Spitälern zwar den guten Rat: «Schauen
Sie, dass Sie nicht mehr wiederkommen!», es werden ihnen aber keine Schutz-
mittel empfohlen. Auch Schwangerschaftsunterbrechungen werden in öffent-
127
^
Sexpol-Korrespondenz
liehen Anstalten viel weniger durchgeführt als früher. Ich kenne ein wiener
Spital, in dem es seit vielen -Jahren eine «Abortuskommision« gibt, bestehend
aus dem ärztlichen Direktor, dem Gynäkologen und dem Primarius der Tuber-
kulosestation.. Diese Kommission pflegte seinerzeit jede Woche zwei bis drei
Indikationen zur Schwangerschaftsunterbrechung zu stellen, wohlgemerkt me-
dizmische .Tndikationen. Dieselben drei Herren sind heute noch im Amt, die
Kommission besteht auch weiter, aber es wird nicht einmal ein Dutzend Fälle
im Jahr bewilligt. So sehr hat sich der Gesundheitszustand der wiener Frauen
gebessert!
Demgegenüber steht eine bemerkenswert milde Praxis der Polizei und der
Gerichte. Im Jahre 1934 wurden in Wien 101, im übrigen Oesterreich 580 Per-
sonen nach § 144 verurteilt. .Das waren zwar etwas mehr als ein paar Jahre
früher — 1932 im ganzen 514 Fälle — aber natürlich immer noch sehr wenig
gegenüber der ungeheuren Zahl tatsächlich vorgenommener Abtreibungen, die
sich sicher auf viele Tausende, ja Zehntausende stellt. Von einer ernsthaften
Verfolgung kann nicht die Rede sein. Auch die Strafbemessung ist nicht
strenger geworden. Die angeklagten Frauen selbst kommen meist mit ziem-
lich geringfügigen Arreststrafen davon und erhalten fast immer Bewährungs-
frist, Aerzte werden fast nie verurteilt, wenn nicht ganz grobe Fahrlässigkeit
vorliegt. Infolgedessen kann eine Frau, die sich den Privatarzt leisten kann,
jederze]t_ ihre Schwangerschaft unterbrechen lassen und der Abtreibungspara-
graph wird mehr als früher zum ausgesprochenen Klassengesetz.
Der Unterschied der Polizei- und Gerichtspraxis gegenüber Deutschland
ist sehr gross. Es mehren sich die Fälle, dass Schwangere aus deutschen
Orosstadten zur Unterbrechung nach Wien kommen, weil sie draussen keinen
Arzt fmden konnten. Natürlich sind auch das wohlhabende Frauen.
Das Bild der österreichischen Sexualpolitik wäre nicht vollständig, ver-
schwiege ich, dass wir auch eine neue Kleiderordnung bekommen haben ' Und
zwar handelt es sich um Badekleidung. Das Tragen von «Spitzhosen» und von
zMieigeteilten Badeanzügen für Frauen (Busenhalter und .Höschen) widerspricht
den Grundsätzen der christlichen Sittlichkeit und ist darum nicht mehr er-
laubt.
NORWEGEN
Jugendliches Sexualleben
Durch Sexpolpraxis gesehen
In der letzten Zeit habe ich mehrere Vorträge in verschiedenen Orten
Norwegens gehalten. Die Anregungen zu diesen Vorträgen waren vom Arbei-
dernes Opiysningsforbund (Arbeiterbildungsverein) in Norwegen ausgegangen
Die Erfahrungen, die ich mit diesen Vorträgen machte, und die an den ver-
schiedensten Stellen angeknüpften Fragen waren ganz verschieden und zum
leil widerspruchsvoll. Es kann daher von Interesse sein festzustellen mit
welchen Umstanden und Faktoren diese Unterschiede zusammenhängen Der
Vortrag selbst war gewöhnlich ein politischer. D. h. indem ich fachlich medi-
zinisch und sexualaufklarend das Sexualleben des Jugendlichen eingehend be-
sprach und mit konkreten Fällen beleuchtete, zeigte ich, warum diese Fragen
~ sowohl die Sexualaufklärung als auch das Sexualleben der Jugendlichen --
m jedem Alter von politischem Interesse sind. Sie sind darum von politischem
Interesse, weil sie mit der Charakter- und Ideologiebildung innig verknüpft
smd Auch kann man keine endgültige Lösung der sexuellen Krise der Jugend
erzielen, ohne sofort auf die äusseren gesellschaftlichen Schwierigkeiten zu
stossen. Ich zeigte also den dialektischen Zusammenhang zwischen Ideologie
und Gesellschaftsordnung und wie man die problematischen Fragen des jugend-
lichen Sexuallebens nicht lösen könne durch Sexualaufklärung, selbst wenn
man in vielen individuellen Fällen Nutzen, Trost und sogar Hilfe bringen kann
Besprochen wurden die gesunden und die neurotischen Formen des Sexualle-
bens, d,_e besonderen Schwierigkeiten, ohne Präventivmittel, in engen Wohnun-
gen bei Arbeitslosigkeit usw. Dieser Vortrag wurde ohne Manuskript ge-
halten und begann immer mit konkreten Fällen, um zuletzt zu prinzipiellen
Schlüssen zu kommen. f i -^
138
Sexpol-Korrespondenz
De. V„«.a. wurde zuerst '" "^^fm S'tr^^TIThrÄn";
in einem Arbeiterviertel vor Jugendlichen im ^l^[^y^\^^^j.nmsend war. An
auf dem Unde, wo die Majorität der Versammlung^a^Wg ^^^^
diesem Ort wu^de eine neue P^^teiveremigung gegründet we ^^^^
bei den Wahlen gezeigt h-"e dass dje Propag^^^^^^^^ ,„ ^,,em
men vor s ch gegangen war. Im Rahmen ^f'P*!,^""". . „u ;„ eeselligen Formen
Sonnabend Abtnd Versammlungen m,t Politischen J-^^^^^^^^h^f jugendliche von
gehalten werden. J^^^ ^Pr-^J^^/^T ^.S'oSStWreT™ Alter von 40 50
14 Jahren als auch allere Leute und fartfil^'^^f^^^ ^^f_ dass die festlichen
und 6ü Jahren anwesend waren. Es fiel mir ^"i*^-"- / Wolfen waren, ganz
Veranstaltungen, z. B. die Sprechchore ganz ^^-^.^^^^^^^ der Ver-
ohne strömende Kraft, gehemmt und ^°'f^„XbrS so dass es also keine
Sammlung arbeitet« in einer dortigen Gumnabnl^ so ,^ ^,^^^ ^^^._
eindeutige B-^«'r''-^^'"'"i""^.r von Oslo ent^ der Arbeiterjugend-
nen Industriestadt, zwei SWen von Oslo entie ^^^^^^ ^^
Organisation gebalten Auch ^^^^^^^^J^i/^^'^l^^.^ ,, Bergen gehalten in
geben werden, hchliessiicn ^J^";'"^ " . ,. . ^^ Arbeidernes Oplysnmgsfor-
einer öffentlicben Versan^mlung veran^ altet v A ^^^^ ^^Ji^erpartei.
bund. der Arbeiterjugend und der trauen^ PP ^.^^ ^^.^^^ Handels- und
Bergen ist die /^eitgrosste Stadt von ^ g gehaltenen Vorträge reagier-
Hafenstadt. ^^^ diese .U^SJ fast gle^^^^^^^^ ^^^ ^.^^ ^^^^^_
T t T:trTZr^"^S!:enFr:^I:.. die mir nachher zugingen. Am Anfang
ders an ■ , daran nicht verstehen.
konnte ich vae^es^ dem Arbeiterviertel Oslos war nicht sehr gut besucht.
w-h?end def Vortrales wurde ziemlich viel gekichert, besonders wenn Sexnal-
^^P direkt und mit norwegischen Wörtern genannt wurden. Immerhm war
?'^^ einer gewissen Zurückhaltung ein spürbares Interesse vorhanden Ich
trotz einer ^^ ^ ^^^^^^ ^^ .^^ ^.^ Versammlung falsch angegriffen hatte.
?;"^ MnHchen und Knaben wagten nicht, einander anzuschauen und als der Vor-
ilpndet war und Fragen gestellt werden sollten, kamen zuerst überhaupt
trag "?r'j. Erst auf meine Aufforderung, und nachdem ich selbst Fragen
Tme erhielt ich einige Zettel ohne Namensangabe. Die Fragen, von denen
■ h zwei wiedergeben werde, waren sehr indirekt. Erstens woher kommt es,
If .3 Jünglinge sich in sehr viel ältere Frauen verlieben, und zweitens: was
tatin die Arbeiterjugendbewegung in dieser Frage geben im Vergleich mit
Film Biertrinken und Vergnügungen. Ich verstand diese letzte Frage fast
icht nahm aber an, dass sie anknüpfte an meine Darstellung, wie Film und.
Vergnügungen typischer Ersatz für die Sexualnot sind, ohne eine befriedi-
ge"de Wunscherfüllung zu geben.
Nach beendeter Versammlung wurde ich jedoch ganz anders gefragt tmd
gs waren besonders die Mädchen, die sich über mich stürzten. Sie wollten
über Abtreibung hören und wie man feststellen kann, ob man schwanger ist.
Einige Funktionäre der Gruppe erklärten mir, dass dieser Vortrag von Riesen-
bedeutung gewesen sei und bedauerten, dass nicht mehr Jugendliche anwesend
waren, Sie versicherten mir auch, wie interessiert die Versammlungsteilneh-
jner waren und bestritten meine Annahme, dass sie aus irgendwelchen mir
unverständlichen Gründen vom Thema nicht gepackt wurden.
Ich bekam also den verblüffenden Eindruck, dass mitten im Herzen von
Oslo, im proletarischen Viertel, wo die Sexualaufklärung schon ziemlich weit
vornedrungen war, eine sehr starke Sexualangst und Verdrängung bei den
Jugendlichen herrschte. Eine Einstellung, nicht offen und direkt über die
Fragen zu sprechen, eine Bedrücktheit, die jedoch nicht bedeutet, dass diese
Fraeen nicht brennend für jeden vorhanden sind. Die vielen Einzelfragen nach
hpendeter Versammlung zeigten ja, dass die meisten sexuelle Beziehungen
hfilten dass sie aber in solcher Gebundenheit und Verdrängtheit vor sich gin-
,,en dass sie nicht ohne weiteres in Verbindung mit Vortragen behandelt wer-
aIu konnten Ich hatte etwas anderes erwartet, gerade weil es eine t^ross-
129
Sexpol -Korrespondenz
schichten, die ökonomisch zwar ziemlich gut dastanden, aber doch in engen
Wohnverhältnissen lebten. Sie versuchten sozial aufzusteigen. In ihrem
Familien- und ideellen Leben zeigte sich viel Kleinbürgerliches und sie
trachteten danach, als «bessere» Jugend aufgefasst zu werden. Hierdurch wird
eine bewusste Behandlung solcher Fragen verhindert. Das Sexualleben zwingt
sich also durch verschiedene Formen von .Handlungen, aber im Konflikt mit
Familien bin dun gen und bestehenden Idealen.
Auch auf dem Lande zeigte es sich, dass meine Erwartungen nicht zutra-
fend Die Versammlung war am Anfang meines Vortrages sehr steil, zeigte
aber ein sehr ausgeprägtes und fast atemloses Interesse. Sowohl die jungen
als auch die älteren Leute hingen förmlich an meinen Lippen, und trotzdem
nachher getanzt werden sollte, stellten sie mit einem Rieseneifer stundenlang
Fragen an mich. Die vielen und verschiedenartigen Fragen waren direkt und
konkret, Z. B. fragten sie über Präventivmittel und welche guten es gäbe.
Eine verheiratete Frau schrieb auf dem Fragezettel, dass auch viele Unver-
heiratete in der Versammlung nach ihrem Wissen gern Antwort darauf hät-
ten. Man hat ziemlich viel gefragt, wie man Kinder sexuell aufklären kann.
Es wurde auch viel über Frigidität gesprochen, über Störungen des Eheglücks
durch Eifersucht, wie man Orgasmus erlangen könne usw. usw.
Ich war über diese Direktheit der Fragen sehr verblüfft und habe mich
nach der Versammlung mit den Funktionären darüber unterhalten. Sie er-
zählten mir, dass bei der männlichen und weiblichen Jugend ein sehr gutes
kameradschaftliches Verhältnis besteht. Dazu hat beigetragen, dass eine von
der sozialistischen Ärztevereinigung herausgegebene sexualauf klärende Zeit-
schrift sehr stark verbreitet worden war.
Wir közmen also sehen, dass mehrere Faktoren diese Offenheit und Direkt-
heit erklären, in Norwegen findet man auf dem Lande in verschiedener Hin-
sicht eine otfenere, mehr sexualbejahende Haltung im Zusammenleben der
beiden Geschlechter. Es ist ziemlich häufig, dass man auf dem Lande erst
dann heiratet, wenn schon ein Kind vorhanden ist. Es ist also erlaubt, unehe-
lich zu verkehren. Das bedeutet selbstverständlich keine wirkliche Sexualbe-
jahung. Aus den Fragen ergibt sich, dass die Kinder sexuell nicht aufgeklärt
werden. Selbst wenn sie Tierd und Naturentwicklung auf dem Lande direkt beo-
bachten mid erleben können, bedeutet das keine bewusste Sexualbejahung und
Sexualeinstellung, Es ist vielmehr so, dass das Leben selbst grössere f'reiheit mit
sich bringt, obwohl die Kirche ihren Einfluss auf die öffentliche Moral ausübt.
Die Familienverhältnisse sind aber auf dem Lande ganz andere als in den
Städten. Es gibt in Norwegen sehr viel Kleinbauern, bei denen die Familie
noch praktisch eine Einheit darstellt. Das Familienleben hat daher einen sach-
lichen Hintergrund im Gegensatz zu der kleinbürgerlichen und Arbeiterfami-
lie. Es wäre eine grössere soziologische Untersuchung notwendig, um wirk-
lich gründlich dazu Stellung nehmen zu können, wie diese Einstellung zum
Vortrag und die darauf bezüglichen Fragen mit den ökonomischen und sozialen
Verhältnissen übereinstimmen. Es sind hier nur Andeutungen gegeben.
Wir kommen min zu der Kleinstadt Moss in der Nähe von Oslo. Hier
sollte ein Propagandaabend stattfinden, um die politischen Interessen der
Jugend zu wecken und zu stärken. Moss (8293 Einwohner) ist eine typische
Industrie- und zugleich kleinere Hafenstadt mit einer gut organisierten Arbei-
terbewegung, Die Versammlung reagierte hier genau so wie auf dem Lande
mit offensichtlichem Interesse. Nach dem Vortrag setzten sich alle um mich
herum. Es waren Mädchen und Knaben, nur wenige ältere Leute. Sie be-
stürmten mich mit Fragen, die ganz offen waren, aber einen ganz speziellen
Charakter zeigtenj Die meisten Fragen beschäftigten sich mit Besonderhei-
ten des Sexuallebens, Man fragte mich z, B. über siamesische Zwillinge, über
Missbildungen, über grausame Geschichten, die sie gehört hatten. Z, B. dass
em Mann in einer Frau feststeeken kann so wie bei Tieren, dass auf dem
Kirchhof in Moss ein Liebespaar in dieser Weise zusammen ins Hospital ge-
bracht und dort behandelt werden musste. Dasselbe sei auch auf einem Dach-
boden geschehen und erst nach Chloroformierung konnten die Partner getrennt
werdenj Es gab einige Fragen über Geburt, und ob es furchtbar und unbe-
haglich wäre zu gebären. Dann einige mehr konkrete Fragen, Z, B, warum
man trotz anfänglicher Verliebtheit so schnell satt wurde und Partner wech-
130
L
Sexpol- Korrespondenz
se,„ „öchte, „achd™ es .uerst so vielverspr.chenc, »3f-h»J.atte^_^f J^
blieben Es war auffallend, dass die Mädchen sich an der Unterhaltung wenig
beteiligten. Hier würde ich annehmen, dass wiederum eine ganz andere bitu-
ation vorliegt.. Einerseits diese Ungeniertheit und Offenheit, fast unschuldige
Eifrigkeit, mit der man sich mit diesem Fragen beschäftigt. Andererseits
zeigt der Inhalt der Fragen ein gewecktes und brennendes Sexualleben, gefüllt
mit Grausamkeiten, also Ersatzformen der Sexualneugierde. Man phantasiert
spannend über das Thema, erlaubt sich das ganz frei, aber das zeigt, wie
wenig normale Befriedigungsmöglichkeiten vorhanden sind. Man bekonimt
hier den Eindruck, dass auch Sexualverbote stark sind.. Die äusseren Möglich-
keiten für Sexualleben scheinen sehr beschränkt za sein. Die Einstellung ist
aber weniger verhaut, weniger kleinbürgerlich und es herrscht eine grössere
Ursprünglichkeit und Offenheit vor. Man hat mir nachher gesagt, dass diese
Jugendgruppe sehr klassenbewusat ist und sehr gute politische Arbeit leistetj
Es mangelt nur an Aufklärung.
Bergen mit 99,681 Einwohnern ist eine reiche Handels- und Hafenstadt.
Die rechtsstehenden Parteien überwiegen prozentual. Die kommunistische
und die Arbeiterpartei sind ziemlich stark. Vor kurzem wurde in Bergen eine
Mutterberatungsstelle von den bürgerlichen und Arbeiterparteirepräsentanten
eingerichtet. Diese Beratungsstelle wird von der Krankenkasse und Kommune
unterstützt, jedoch .unter der Bedingimg, nur Verheirateten Katschläge und
Präventivmittel zu geben. Als Leiterin ist eine sehr konservative Frauen-
ärztin eingesetzt, die dem jugendlichen Sexualleben vollkommen verneinend
gegenüber steht. Sie ist nicht nur mit den Bedingungen einverstanden, son-
dern betrachtet das als Ideal. Sie gehört zu den Kreisen, die sich gegen die
Zulassung des abortus provocatus in Norwegen eingesetzt haben.
Die Versammlung war überfüllt. Das Interesse während des Vortrages
war gross. Man hat bis zur letzten Minute gefragt, aber schriftlich. Die
Fragen waren sehr verschieden von den drei anderen Stellen. Es kamen wenig
individuelle Fragen. Man hat z. Bj kritisiert, dass ich nicht genügend unter-
strichen habe, wie die grosse Arbeitslosigkeit und die Wohnverhältnisse es für
die Jugend unmöglich machen, ihr Sexualleben zu befriedigen, U. a. wurde
vorgeschlagen, dass die Arbeiterpartei einen Fonds sammelt zur Beschaffung
von Gratis-Präventivmitteln für Arbeitslose, Organisierung der Wohnungsfra-
ge usw. Also eine sehr aktive fordernde Stellung zu der Arbeiterbewegung, die
Sexualfrage selbst zu lösen und zwar parteipolitisch.
Die andere Frage, die eine lebhaft interessierte Diskussion geweckt hat,
war die über die Sexualentwicklung in der Sowjetunion.
1) die Situation während des Kriegskommunismus,
2) die Haltung von Lenin (Glaswassertheorie),
3) die Entwicklung unter Stalins Regime.
In der SU gab es die Gelegenheit für ein gesünderes Sexualleben. Wenn
aber eine neue Moral mit einem Schlag einsetzt und man nicht imstande ist,
eine Ergänzung des Sexuallebens zu finden, dann kann eine Sexualkrise ent-
stehen. Daraus darf man nicht sehliessen, dass die neue Moral falsch war,
wie es leicht geschieht und zum Teil in der SU geschehen ist.
Meistens waren es prinzipiell politische Fragen. Der sexualpolitische
Standpunkt wurde, wie sich zeigte, genau verstanden und dabei klarer und
kräftiger ausgedrückt ak von mir selbst, nämlich das Wissen, dass es keine
humane Lösung des Sexuallebens an sich als Barmherzigkeit oder Hilfe für
Einzelne geben kann, sondern dass es ein gesellschaftliches und politisches
Problem ist. Das hat mich speziell verblüfft, weil ich vorher von einem hohen
Parteifunktionär in der Gegend einen Brief bekommen hatte, indem er Abstand
von sogenannter neuer Moral nimmt und er meint, es wäre politisch sehr schad-
131
'
SexpoJ-Korrespondenz i
,1
lieh, wenn mar» so etwas speziell in rückständigen Teilen des Westlandes und \
Nordlandes zur Diskussion stellen würde. Er sagte weiter, man müaste sich
mit den alten Bauernfomieln beg-nügen. Ich hatte daher erwartet, eine sehr J
ablehnende Haltung zu finden, während ic;h umgekehrt eine, sehr bewusste und ,'!
ziemlich aufrührerische Atmosphäre vorfand, besonders bei der Jugend, Nach- ..!
her habe ich gehört, dass das Interesse sehr gross war und dass man mehrere <
Vorträge haben möchte. Die älteren sozialdemokratischen Parteifunktionäre 1
waren etwas bange, die Jugend aber und die mehr radikalen Teile der Arhei- :|
terpartei waren sehr zufriedengestellt. Man war befriedigt, die sexuelle Frage
sowohl konkret individuell als politisch und soziologisch dargestellt bekommen J
KU haben. Auch hier haben, wie überall, die Frauen wenig gefragt und an :
der Diskussion teilgenommen. Es scheint, als ob die Scheu vor dem Hervor- ''.
treten in VersammlungeTi und die Sexualangst bei den Mädchen in der Jugend ■■:
grösser ist als bei den Knaben. Eine Frage ist in allen Versammlungen die- -1
selbe gewesen. Was soll man mit der frigic'en und ängstlichen Frau, die «nein» i
sagt, machen; wie soll man vorgehen. '
Wie nun diese Haltung unter der Bergenser Jugend zu klären ist. kann "i
ich nicht ohne weiteres sagen. Ktwas ist klar: es gibt einen grösseren Ge- '
gensatz zwischen den bürgerlichen und den ökonomisch höher stehenden Schieb- i
ten und der Arbeiterklasse. Der Kampf ist vielleicht daher mehr zugespitzt.
Dann kommt dazu, dass Bergen zugleich Gross- und Kleinstadt ist. Es gibt '_,
keine Arbeiterviertel kleinbürgerlichen Charakters, Die Gegensätze zwischen
den Reichen .und Armen sind grösser. Endlich ist die Wohnungsfrage bren- |
nend. Die Beratungsstelle erfüllt ihre Aufgabe nicht. Die Arbeitslosigkeit ist '
gross. In dieser zweitgrössten Stadt Norwegens zeigen die Bewohner einen ■
ausgesprochenen Lokalpatriotismus, der sie zwingt, sehr lebhaft am geistigen .;
Leben teilaunehmenj Sie haben z. B. ein ziemlich radikales Theater, das sehi- ^
viele der norwegischen Tendenzdramen zuerst in Norwegen gebracht hat, in
denen sowohl politische als auch Liebes konflikte ziemlich oppositionell he- -;
handelt wurden. Andererseits klagen viele aktive Arbeiterpolitiker über !
Rückständigkeit der älteren Parteifunktionäre und über Mangel an aufklären- . j
den Kräften. Die Jugend ist der beste Teil der Partei. Es ist ja klar, dass ,
man ohne eine tiefere soziologische Untersuchung die verschiedenen lokalen ,
Besonderheiten dieser Fragen nicht wirklich beantworten kann, {
Es war mir hier wichtig zu zeigen, auf wie starkes Interesse diese Fragen j
überall stossen. Es gibt eine Basis für politische Aktualisierung. Die Men- 1
sehen fühlen brennend die Zusammenhänge zwischen Sexual Unterdrückung '^
und politischer Unterdrückung. Sehr erfreulich ist das grosse Interesse für j
die Ideologiebildung, Man sieht auch an den Fragen, wie die Konflikte auf '
diesem Gebiet einander ähneln. Wenn man dies mit Erfahrungen aus der SU i
oder anderen Ländern vergleicht, zeigt es sich, dass die soziologischen und :!
Klassenvevhältnisse für die Einstellung zum Sexualleben und die Sexualerzie- •
hung sehr bestimmend sind, dass es aber doch lokale Unterschiede gibt-
DÄNEMARK j
Eine kommunistische Interpellation im dänischen Reichstag j
In Dänemark ist wieder ein Arzt wegen Abtreibung zu Gefängnis — und j
zwar zu 15 Monaten -- vom Geschworenengericht verurteilt worden. Der verur- j
teilte Arzt, Dr. Gundtoft, war sozialdemokratischer Vice-Bürgermeister in j
einer Jütländlischen Stadt und sehr beliebt. Die Gerichtsverhandlung fand ji
bei geschlossenen Türen statt. Die Strafe war aussergewöhnlich streng (Dr. ,■
Gundtoft wurde auch wegen versuchter Beeinflussung von Zeugen und «grö- j
ber» ärztlicher Versäumnisse schuldig gesprochen). Er war von Kollegen de- ]
nunziert worden. Auch in diesem Prozess waren die beamteten «Kollegen»
sehr unkollegial in ihren Aussagen. Das Urteil erregte grÖsste Empörung in
Dr. Gundtofts Heimatstadt: eine von den Arbeiterfrauen einberufene Protest- <
Versammlung wurde von 8000 Personen besucht, und die Wut der Versamm- ]
lung gegen das Urteil war gross. Um der Empörung die Grundlage zu ent- ;
ziehen, machte der Justizminister Steincke gesetzwidrig eine Veröffentlichung
aus den geheimen Gerichtsverhandlungen, wonach Dr. Gundtoft seine ärztliche
132 ,
.^
^
Sexpol-Koi-respondenz
Stellung zu,. E.reichun. vo. Geschlec^^^^^^^^^ ^Itir^r'^tTüSZX
rechtspf^ge bei der Kopenhagener Universität, als ""g«'^"^«"'^. ^^^^J^^^-
Tro Jem ^^rde die MissbilHgung des Justizmimsters •?7. ;;>" ff" g?^^^
nisten unterstützt, von allen anderen Parteien im dänischen Keichstag ver
^*"' me dänischen Kommunisten haben immer jede Aktion für Freigabe der
Abtreibung gestützt, mit Ausnahme der Aktionen für die beiden bexpolarzte
Leunbach und Philipson, weil diese beiden sieh gegen das Abtreibungsveröot
in der S. U. ausgesprochen haben.
Mitfeüung der Leitung der Sexpol. i j i?
An dieser Stelle wurde schon einmal an die Freunde der Sexpol das t.v-
suchen gestellt, die Sachlage nicht durch Verwechslung der Sexualokonomie
mit der Psychoanalyse zu verwirren. Unsere Theorie heisst nicht Psychoana-
lyse, sondern Sexualökonomie. Die Charakteranalyse ist nur eine Technik,
keine Theorie. Wer sich scheut, die Bezeichnungen für unsere Arbeit zu ver-
wenden, bezeugt seine Illoyalität, wo nicht Feindschaft. Wir ersuchen alle
Freunde und Mitarbeiter, dabei zu helfen, die völlige Sonderung der faexual-
ökonomie von der Psychoanalyse durchzusetzen. Es liegt uns sehr daran, mit
der Psychoanalyse und ihrer Bewegung nicht verwechselt zu werden.
Besprechungen
Norman Haire; Birih Conirol fflethods, George Allen, London
Der Verfasser ist bei allen Fachleuten international bekannt.. Er hat sich
mehrere Jahre mit Geburtenregelung und Sexualreform beschäftigt und war
Präsident der Weltliga für Sexualreform. Dies Buch gibt einen Überblick über
die Erfahrungen Norman Haires über Geburtenregelung in 15jähriger Praxis
und in fnehr als 15 000 Fällen. Eine solche Übersicht stellt eine vollkommene
und sehr solide Arbeit dar. Unsere praktischen Erfahrungen auf demselben
Gebiet zeigen kaum Widersprüche gegenüber N. H., wenn es auf rein technische
Fragen ankommt. Es gibt allerdings gewisse Unterschiede. Z, B. nimmt N. H. eine
ziemlich negative Haltung zum Cervicalpessar ein. Zwar besitze ich nicht die
umfangreiche Erfahrung wie N. H., doch weiss ich, dass es sehr viele Frauen
gibt, deren anatomische Verhältnisse sehr geeignet sind für dieses Schutz-
mittel. N. H,. meint, dass die Theorie vom Ansaugen des Pessars am Cervix
nicht stichhaltig und der Schutz daher unzuverlässig sei. Ich habe dagegen
mehrmals dieses Saugen bemerkt, wenn ich ein solches Pessar entfernte, ohne
dass die Nummer zu klein war. Diese Methode hat den Vorteil, dass wenig
von der Scheidewand bedeckt wird. Das ist für die Lustempfindung äusserst
wichtig. Doch kann das Pessar nur in den Fällen benutzt werden, wo die
anatomischen Befunde es zulassen und die Frau das Einsetzen richtig erlernt.
Selbstverständlich muss das Pessar kombiniert werden mit einem chemischen
N H vertritt den Standpunkt, dass vorläufig die Normalmethode für die
Majorität der Frauen das Vaginalpessar mit antikonceptioneller Salbe sein
muss Er erwähnt mehrere Firmen und verschiedene Sorten von Salben. Es
scheint zwar, als wenn N. ,H. bei der Beurteilung der Schutzmittel den Genus s
am Akt nicht ganz ausser Acht lässt. Leider hebt er aber zu wenig die Not-
wendigkeit einer Antikonceptionsmethode ohne Genusstorung hervor.
133
Besprechungen
Beurteilt man das Buch vom sexualpolitischen Standpunkt, so fällt auf, dass
N. H. die Geburtenregelung überhaupt nicht sozialpolitisch oder gesellschaft-
lieh gewertet hat. Er fangt das Buch mit einer historischen Übersicht an,
die im wesentlichen die persönliche Geschichte N. H.'s darstellt. Es gibt uns
das Bild eines klugen Praktikers, eines tüchtigen Fachmannes, der sich völlig
indifferent zeigt gegenüber politischen, ökonomischen und sexualökonoraischen
Problemen, die untrennbar mit der Geburtenregelung verbunden sind. Er ähnelt
insofern den meisten liberalen fortschrittsfreundlichen Fachmännern, die a-us
einer verschwommenen Humanität heraus handeln, aber Angst haben vor po-
litischen Konsequenzen und an die Neutralität der Wissenschaft glauben. Wir
wissen, wie wichtig es ist, die Bedürfnisse der Menschen zu wecken, weil sie
dann aktiver für bessere gesellschaftliche Verhältnisse kämpfen und sich ent-
schlossener gegen jede Reaktion verteidigen. Unsere grösste Schwierigkeit ist die
Passivität der Menschen, ihre Interesselosigkeit im Klassenkampf. Die Geburten-
regelung, vom marxistischen Standpunkt aus erfasst und sexualpolitisch ver-
wertet, ist ein gutes Mittel, die Menschen aufzurütteln. Damit müsste auch
der politische Inhalt jeder Wissenschaft aufgezeigt werden. Diese Seite fehlt
völlig im vorliegenden Buch. Es ist also nur in sehr beschränktem Sinne positiv-
Fachwissen ist notwendig und das kann man sich hier holen. Man bedauert
nur, dass hier wieder eine gute Gelegenheit verpasst worden ist, an der Akti-
visierung der Massen zu arbeiten. Diese Seheinobjektivität ist aber auch des-
halb besonders gefährlich, weil eine solche Autorität wie N. H. durch seine
«Neutralität» mithilft, den Lesern auch weiterhin die Augen zu verschliessen.
N. H.
Marc Lanval, Le£ JHufilations Sexuelles dans les Rel!g!ons Anciennes ef IHader-
nes. («Die sexuellen Verstümmelungen in den allen und modernen Religi-
onen») Brüssel, 1936, Le Laurier. 224 Seiten.
Ein sehr merkwürdiges Buch! Marc Lanval, der Führer der belgischen
Birth-Control -Bewegung, steht in vielen Punkten den Anschauungen der Sexpol
nahe, besonders in seinem Kampf gegen Muckertum und Pfaffenherrschaft. In
seinem neuen Euch bemüht er sich, die vielfachen Beziehungen zwischen Sexu-
alität und Religion aufzudecken, die sich zu allen Zeiten und bei allen Völ-
kern nachweisen lassen.. Er hat erkannt, -dass zwischen den grausamen Ver-
stümmelungen primitiver Kulturen und der sexualfeindlichen Erziehung der
christlichen Kirchen nur ein Unterschied nach Form und Grad, aber nicht dem
Wesen nach besteht. Die tieferen Ursachen der Sexualunterdrückung und ihre
aktuelle Bedeutung in der kapitalistischen Klassengesellschaft sind ihm frei-
lich verborgen geblieben.
Es ist bedauerlich, dass in einem so gut gemeinten Buch einige grobe
Schönheitsfehler zu verzeichnen sind, Marc Lanval hätte es gewiss nicht not-
wendig, Geschichten zu verzapfen wie die von der «Päpstin Johanna» (Seite
101), die zwar zum ältesten Inventar des antiklerikalen' Schrifttums gehören,
von der modernen Geschichtswissenschaft aber längst als falsch anerkannt
worden sind. Die Behauptung, dass sich die Frauen aller mohammedanischen
Völker der Clrcumcisio clitoridis zu unterwerfen haben (Seite 57), wird sich
ebenfalls kaum beweisen lassen. Auch gewisse Berichte aus Zentralafrika
machen ganz den Eindruck, als wären sie der Phantasie leichtgläubiger oder
sexuell abwegiger Kolonialbeamter entsprungen. Schliesslich kann ich es mir
nicht versagen, auf eine Stelle hinzuweisen, an der von dem häufigen Auftre-
ten «gottbegnadeter» Propheten in Russland die Rede ist. Es heisst dort auf
Seite 139: Immer findet er — der Prophet — einige begeisterte und erleuch-
tete Bauern und Bäuerinnen, Mnschiks oder Menschewiken, die ihm folgen
und ihm folgen und ihn anbeten. Preisfrage: Was stellt sich der Verfasser
unter Menschewiken vor?
Trotz dieser scharfen Kritik und aller Mängel des Buches möchte ich meine
Besprechung nicht abschliessen ohne den persönlichen Mut Marc Lanval's her-
vorzuheben, der in seinem erzkatholischen Lande einen schweren Kampf zu
führen hat.
in. E. D.
134
7
Besprechungen
D. V. eiass. The Sir„«gle for Population. («Der Kampf um Bevölkerung.):
Oxford, 1936, Clarendon Press. 148 Seiten, Preis 7/s 6 d.
Bis vor kurzen, wurde i. England .^'^ Bjjlkerungfrage fast a.^^^^
lieh vom malthusiamschen Standpunkt '^^f^^J';.^^;']/ Entvölkerung dringt
rr^-\)aT;oHitnä:vrh 1^^:^^'^^^^^-^ ^«^ v-
Sser-inPlunra^der londoner Eugenischen Ge-ll-haft unternorn.nen h^.
und enthält eine ausführliche, mit dem notwendigen statistischen Materml
belegte Schilderung der bevölkerungspolitischen Massnahmen, die m verscme
denen Landern seit längerer oder kürzerer Zeit angewendet werden, in erster
Linie sind berücksichtigt: Deutschland, Italien, Frankreich und belgien.
Es kann nicht meine Aufgabe sein, hier diese Massnahmen aufzuzahlen,
dazu fehlt es an Raum und wer dafür Interesse hat, der muss und wird aut
das Buch selbst zurückgreifen. Nur über den Erfolg der B^'^^l^'^'^g^J^' Jj^
besonders in den Diktaturländern mit allergrbsster Reklame in Szene gesetzt
wurden, möchte ich einiges sagen: In Deutschland kam es bekanntlich m den
Jahren 1933 bis 1935 :.u einem ungewöhnlich starken Ansteigen der Heirats-
and Geburtenziffer, woran vor allem die Ehestandsdarleben einen gewissen An-
teil gehabt haben dürften. Die Heiratsziffern sind unterdessen etwa auf nor-
male Vorkriegswerte .arückgesuuken, wahrend die <^f '^^^^V^^'^^.^/' J , „^3
einem Niveau zu stabilisieren scheint, das zwar wesentlich ^«^ei ist ^^Is la^^^^^
■aber immer noch stark hinter der zur blossen Erhaltung der Volkszahl noti^^^^^^
Ziffer zurückbleibt. In Frankreich und Belgien ist der Erfolg der Ausgleichs
kassen gering und zweifelbaff, in Italien kann .nian bestenfalls sagen dass
ohne bevölkerungspolitische Massnahmen der Geburtenrückgang vielleicht noch
rascher verlaufen und noch weiter gegangen wäre. . , .
Meine Haupteinwände gegen die Bevdlkerungspohtik, wie sie heute betne-
ben oder propagiert wird, sind folgende;
1) sind die ausgeworfenen Beträge viel zu klein. Was können Kinder-
.ulagen von 2 3 odfr auch 5 Prozent des Lohnes oder Gehaltes, was kann
P?ne kleine Steuererleichterung für eine Wirkung haben, wenn der ganze Stil
des LebTs a^f J^hidedosigS oder äusserst« ^i^derarmut zugeschnmen i^^^^
wenn vor allem die Wohnungsverhältnisse, aber auch die Art wie ^i'J^r unJr-
Erholung organisiert sind, eine auch nur etwas grossere l'am.he zu einer uner
träglichen Belastung machen?
2) setzt die Hilfe viel zu spät ein, meistens beim dritten oder vierten
teren Geburt.
•^1 läuft alle heutige Bevolkerungspolitik auf eine einfache Einkommens-
versc'LbC fon den linderlosen zu ^en. Kinderreichen h.nau.^Dab.wd
die Hauptursache des Geburtenruckgang-s m den werktätigen "^^^f^" ^"^^
hen das Missverhältnis zwischen Können und Wol en ^" ^er UbenshaltunB^
Eine Bevölkerungspolitik, die eine empfindliche Senkung de Leb^^^^
bedeutet, wird von der Bevölkerung abgelehnt und ^^'^ibt erfolglos. Niemana
von uns dürfte es wagen, sie zu empfehlen. Unsere Bevolkerungspolitik sieht
anders aus"' sl besteht in systematischer Steigerung der Produktion und de.
Matenkonsams in Verbindung mit Sicherung der E-tenz gegen Arb ^tsl^
sigkeit und Krieg bei gleichzeitiger Übernahme der Kmdei auf zucht durcn u
Gesellschaft. q_ T,
135
i
}
L
Besprechungen
Sigmund Freud: Selbstdarstellung, Internationaler Psychoanalytischer Verlag
Wien, 1936..
Man kann die Selbstdarstellung Freuds nicht lesen, ohne immer wieder
ergriffen zu werden von der Klarheit und Einfachheit, der Grösse und subjek-
tiven Ehrlichkeit dieses Mannes. Ein Forscher geht hier unbeirrbar seinen
Weg. Er lässt sich nicht stören durch die Anwürfe seiner Feinde und nicht
durch die Ratschläge «wohhneinender Freunde», Er folgt einzig und allein
der Linie, die ihm seine Forschung vorschreibt. Das kostet Enttäuschungen,
Freundschaften; öffentlicher Kuhm ist nicht damit zu erwerben. Aber niemals
hat er die Sache aus ]]ersönlichen Motiven verraten. Wenn er in seiner
Arbeit nicht zu den Konsequenzen kommt, die vom Standp.unkt der Sexual-
ökonomie aus gesehen notwendige Folge seiner Forschung hatten sein -müssen,
dann liegen da Grenzen vor, die nichts mit bewusster Rücksichtnahme auf
Konvention zu tun haben.
Freuds Lehre enthält Explosivstoff.. Sie zu Ende zu denken, heisst an
allem Bestehenden zu rütteln und alles neu zu denken, was bisher als selbst-
verständlich Gegebenes galt. Aber Freud ist zugleich Sohn seiner Zeit, des
Liberalismus, und zählt sich trotz des Stoffes, den er bearbeitet, zu den
«unpolitischen» Wissenschaftlern. Ein paar Mal führt ihn seine Arbeit bis
hart an die Grenze (z. E. in seinem Aufsatz «Die kulturelle» Sexualmoral und
die moderne Nervosität», 1908). Aber er überschreitet sie nicht, er will die
politischen Konsequenzen nicht sehen, die sich hei weiterer Verfolgung seiner
Arbeit mit Notwendigkeit ergeben müssten. Das hat vor allem 2 Folgen: er _
sieht zwar die Probleme, die sich auf ethnologischem und entwicklungsge-
schichtlichem Gebiet auftun. Aber er vermeidet, sie von einem anderen als
vom psychologischen Standpunkt aus zu betrachten. Bei völliger Ausseracht-
lassung der sozialökonomischen Entwicklung muss er dabei zu Schlüssen kom-
men, die den Tatsachen nicht gerecht werden können. Das zeigt sich beson-
ders deutlich in «Totem und Tabu» und in '^Massenpsychologie und Ich-Ana-
lyse».
Noch verhängnisvoller wirkt sich die Angst vor der Politik in dem wei-
teren Aufbau seiner Lehre aus. Es gab da nur zwei IVIöglichkeiten: entweder die
Forschung exakt auf dem Boden der Tatsachen weiterzuführen oder die Tat-
sachen zu verlassen und statt dessen zur Hypothese zu gelangen, Freud wählt
den letzteren Weg. Damit gelingt es ihm zwar, den Menschen als Einzelobjekt,
aus dem grossen Zusammenhang gerissen, als Gegenstand seiner Arbeit zu be-
halten. Aber er kann das nicht tun, ohne zugleich den Weg zur Mystik und
zur Erstarrung zu öffnen.
, Seine Schüler sind diesen Weg zum grössten Teil mit einer Selbstverständ-
lichkeit gegangen, die merkwürdig erschiene, wenn man nicht auch bei ihnen
die Angst vor den politischen Konsequenzen als Hauptmotiv aufdecken könnte.
Sie setzen seine Hypothesen als Fakten ein, während Freud selbst immer wie-
der an eine Möglichkeit der Umänderung denkt. Er schreibt in der «Selbst-
darstellung» anlässlich seines Versuches, verschiedene Instanzen und Systeme
aufzustellen: «Solche und ähnliche Vorstellungen gehören zu einem spekula-
tiven Dberbau der Psychoanalyse, von dem jedes Stück ohne Schaden -und Be-
dauern geopfert oder ausgetauscht werden kann, sobald seine Unzulänglichkeit
erwiesen ist» {Seite 43). Diese Stelle ist auch in der Neuauflage von 1936
nicht korrigiert!
Diejenigen von Freuds ehemaligen Schülern, die sich spater von ihm trenn-
ten, taten diesen Schritt, weil sie den Kern seiner Lehre, die Bedeutung der
Sexualität nicht bejahen konnten. Sie schalteten gerade dieses Hauptstück
mehr oder minder aus und machten «igeseüschaftsfähigere», weniger anstössige
Lehren daraus. Es liegt eine gewisse Tragik darin, dass Freud nicht mehr den
einzigen seiner ehemaligen Schüler verstehen kann, der sein Werk wirklich be-
griffen hat. Reich hat den Zentralpunkt der Freudschen Lehre aus allen Ver-
schleierungen herausgeschält, ihn von allem Mystischen befreit und ihn als
Ausgangspunkt zu einer Neuschöpfung genomii^en, die gerade durch ihre noch
nicht zu übersehende Tragweite die ganze Grösse der Freudschen Arbeit er-
hellt..
136
Wir empfehlen der Beachtung unserer Le ier;
(Veischiedene Werke im Preis betleuteiid herabgesetzt)
W. REICH:
MASSENPSYCHOLOGIE DES FASCHISMUS
it. verbesserte Auflage
(früher danische Kr. 8. — )
W. REICH:
DER SEXUELLE KAMPF DER JUGEND
W. REICH:
?J??^^?" ^^^ SEXUALMORAL
ZUR GESCHICHTE DER SEXUELLEN ÖKONOMIE
fuX".Ä'l'SS rtr r ^T -'--^<^«™i Unter-
W.REICH:
W. REICH:
psychologischem Gebiet fifv ^«;...„ dialektischen Materialismus auf
Kr. 1.75^früh"r dtfsche K? l"o)~ "^''^'^^-^''''«^ P«*«: dänische
ERNST PARELL:
WAS IST KLASSENBEWUSSTSEIN ?
Sm P?obfirMalL"ta:r ^^!'r^T''°'°''"' ^^^ Massenindividuums,
dänische KroJiJ^rfrüÄäiJS Kr^^l^of "^^^^^-"^'^ ^-is^
karl teschitz:
SIutÄanT"^' ^^l'G'onsstreit in
s^uc^?;tb1^i/S^,u^J& Deutschland und eine Unter
dänisch^e Kr. S.Jo (Sr'^s che Krl^S" «"^''^-^»^t- ^^^-■■
^^J^XoJX'iV'i'Iir*'^?'^ * Kopenhagen, Po,fbox 827
Verantwortlich f. d. Redakhon: Sigurd Hoel ♦ Trykk Jae. Olsen, Oilo
%l
1
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xäaMoneUe TtUUeUungeti
.Austausch
Wir fordern diejenig-en Zeitungen und Zeitschriften, mit denen wir bisher
noch keine Aus tausch Vereinbarung getroffen haben, hierdurch auf, zwecks Aus-
tausch mit unserer Zeitschrift sich mit uns in Vei-bindung zu setzen.
Wir erinnern diejenigen unserer Abonnenten, die die ihnen zugesandte Abon-
nementsrechnung noch nicht beglichen haben, dringend an sofortige Zahlung,
da sonst die weitere Lieferung der Zeitschrift an sie eingestellt werden muss.
Zahlungen erfolgen an Verlag für Sexualpolitik, Kopenhagen, Dänemark,
Postgirokonto Nr. 30302, für CSR, auf Postsparkassenkonto Nr. 78790 (j0rgen
Neergaard, Kopenhagen), oder durch Bankbarscheck auf Kopenhagen oder OsIoj
Die Redaktion
!Iopu£äte ScAdfteHteihe :
POLITISCHE PSYCHOLOGIE FÜR SOZIAUSTEN
Bisher sind erschienen;
Jr. 1 IRMA KESSEL:
KINDER KLAGEN AN
Das Büchlein Irma Kessels .... «ruft jene Menschen, die erkennen,
wie schweres Unrecht den Kindern getan wird, zum Kampf auf. Die
sozialistischen Erzieher — - die Lehrer und die Funktionäre der «Kin-
derfreunde» — müssen Kämpfer für das Recht und die Freiheit des
Kindes sein, Sie, aber auch alle Eltern, die guten Willens sind, sollen
Irma Kessels Schrift lesen.» — Der Kampf, Prag, Preis DKr. 2.&0
Soebenerschienen!
Nr. 2 KARL TESGHITZ:
RELIGIÖSE EKSTASE
Der Verfasser von «Religion, Kirche, Religionsstreit in Deutachland»
führt aufgrund eigener Beobachtungen in norwegischen Sektenkreisen
den Nachweis, dass religiöse Ekstase als Ersatz für natürliche sexuelle
Auslösung angesehen werden muss, — Preis DKr. 1, —
Zu iemehen daech:
SEXPOL-VERLAO, Kopenhagen, Dänemark, Postbox 827
Postgirokonfo Kopenhagen 30302 + Prag 78790 (Jargen Neergaard)
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