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Full text of "Zeitschrift für politische Psychologie und Sexualökonomie IV 1937 Heft 2"

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BAND: 4 HEFT: 2 (13) 



1937 



f^ 



XEITSCHRIFT FÜR 
POLITISCHE PSYCHOLOGIE 
UND SEXUALÖKONOMIE 



ORGAN DER SEXPOL 



HERAUSGEBER: SIGURDHOEL 



n 



INHALT! 

Jörgen Neergaard, gest. 2.2.37. 
Rede bei der Beisetzung- 



Leunbach - verdienter Lohnf 

Aus der sexualökenomischen Lebensfonchung. 

Der Orgasmusreflex- 



Mitfeilung aus dem Int. Institut f. sexualök. Forsctiung- 



Irrationalismus in Polifik und Geseilschaft- 

Der Moskauer Prozess- 



Aus dem chinesischen Patriarchat- 
Sexpol-Bewegung- 



Zur Entlassung unserer Kollegen Dr. Leunbach und Philipson- 

Sexpol-Korrespondenz 

Buchbesprechungen 



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Zeifschriff für politische Psychologie und Sexual Ökonomie 

Auf Grund zahlreicher Anfragen von Interessenten geben wir im folgenden 
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Dr. Oprecht u. Helbling, A.— G., Zürich, Rämistrasse 5 



SPANIEN: 



Libreria HORIZONTE, Barcelona, Galle Cortes 583 



ZEITSCHRIFT FÜR 
POLITISCHE PSYCHOLOGIE 
UND SEXUALOKONOMIE 



BAND 4 



HEFT 2 f13) 



19 3 7 



1 



Jörgen Neergaard 

Gest. 2. Februar 1937 

Die Sexpol ist eine junge Bewegung. Kaum den Kinderschuhen 
entwachsen. Es gibt noch wenige verlässliche, umsichtige, die SexuaJ- 
okonomie begreifende, unnachgiebige Mitarbeiter. J0rgen Neereaard 
war emer von den wenigen. Er hatte ein Stück des Elends und Wider- 
spruchs_ des Mittelstandes an sich selbst erlebt und wurde revolutionä- 
rer Soziahst. Er warm hohem Masse und bisher unersetzbar geeignet 
revolutionärer Mittelstandsf uhrer zu werden. Wir liebten und schätz- 
ten ihn; er war ein guter Kamerad, der intensiv lernen und gleich- 
zeitig selbständig denken konnte. Wir wussten, er war geeignet, die 
schwersten Proben naturwissenschaftlicher Einsicht und revolutionärer 
Entschlusskraft zu bestehen. Er hatte den Sinn und die eesellschaft 
liehe Kraft unbeugsamen Wahrheitssuchens erfasst SeseJlschatt- 

Wir werden ihn nicht vergessen! 

Wilhelm Reich 

Rede bei der Beisetzung 

Gehalten von Arnulf 0verland 

Plötzlich bekommt eine Redensart - schon ausgehöhlt vom Miss- 
braueh -- ihre volle Bedeutung wieder: Wir erleiden einen vZluT 
vielleicht emen unersetzlichen Verlust vermst — 

^^ramS.J^fJf^^''""^ .^il"'^^* ]"' ^^"^- Theoretische Ausbildung, 
ÄÄ.1^^^^^^^ t^berwindun^g 

DÄ^..rT'T^?' ^'VI '^"^ ^^'^^^^ ^^tte. Da starb er. 
WilSL iSlt ^'^^ Fundament für eine politische Psychologie ist von 
Ser blS^^n "1^^ '^*''^^"- ^^^"^ '^h^«"^" ^^^^^ nicht auf dem 
Meuw^r; ^^\r^^^" ^"^ Leben wirksam werden, damit sie 

■-. ■niei eine politische Tätigkeit zu entfalten. 




INTERNATIONAL 

PSYCHOANÄLYTIC 

UNIVERSITY 

DIE PSYCHOANALYTISCHE HOCHSCHULE IN BERLIN 



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Arnulf 0verland 

Was an praktisch organisatorischer Arbeit notwendig ist, um eine 
Idee ins Leben umzusetzen, das muss von solchen geleistet werden, die 
Bürgerrecht in dem Gemeinwesen haben, in dem sie wohnen. Zwar 
sind auch die 'nordisehen Länder durch politische Grenzen geschieden; 
aber diese Grenzen sind nicht unübersteigbar. Als Ganzes gesehen 
sind die nordischen Länder eine Einheit. Und ob J0rgen Neergaard 
sieh nun in Norwegen oder in Dänemark niedergelassen hätte — soweit 
ich sehen kann, wäre er vor allen anderen der Mann gewesen, der einen 
sexualpolitischen Massenkampf zu einem Faktor im Leben der nor- 
dischen Gesellschaft hätte machen können. 

So wenig er selbst zu seinen Lebzeiten seine Meinungen verhehlte 
oder sich seiner Lebensaufgabe schämte, ebensowenig sollen sie hier 
versehwiegen oder verleugnet werden. 

Er wollte, dass der Mensch die Angst vor seinem eigenen Glücke 
überwinde. Er wollte es uns klar machen, dass der Trieb nichts Nie- 
driges oder Unreines ist, sondern des Lebens höchster Wert, — dass 
die biologische Funktion die Quelle ist für die seelische Gesundheit des 
Menschen, für seine Freiheit und sein inneres Gleichgewicht, — dass 
sie Arbeitskraft, Freudigkeit, Verträglichkeit gibt, — dass sie eine 
Voraussetzung ist für das Zusammengehörigkeitsgefühl unter den 
Menschen, jenes Zusammengehörigkeitsgefühl, das dem Kriege Aller 
gegen Alle ein Ende bereiten soll. 

Er wusste, dies erreicht man nicht mit gefühlvoller Wohlberedsam- 
keit, nicht durch Anrufung mystischer Kräfte, nicht durch die Ver- 
kündung irgendeines Glaubens. So etwas haben wir durch Jahrtau- 
tausende getan, bis wir nun diese unsere Gegenwart das Zeitalter der 
Bürgerkriege und der Konzentrationslager nennen können! 

Eine Änderung der menschlichen Lebensbedingungen und der 
Gesellschafts Verhältnisse erreicht man nur durch methodische Arbeit 
auf wissenschaftlicher Grundlage — auf marxistischer und sexualöko- 
nomischer Grundlage. Auch Psychologie muss zu einer Naturwissen- 
schaft werden, ehe sie politische Bedeutung, das heisst Bedeutung für 
uns alle bekommen kann. 

Es war J0rgen Neergaards Meinung und Vorsatz, dass sie solche 
Bedeutung bekommen sollte. Pessimist war er nicht. Ohne Glauben 
war er nicht. Er glaubte an die Menschen und er glaubte an das 

Leben. 

Er musste das tun. Denn so war er beschaffen. Selten habe ich 
eine so unbeugsame, eine so unüberwindliche Vitalität gesehen. 

Zum letzten Male sah ich ihn an einem Abend, unmittelbar nachdem 
die Kopenhagener Ärzte Leunbach und Philipson, gewissenhafte und 
tadelsfreie Männer, zu Gefängnis und zum Verluste des Kechtes zu 
praktizieren verurteilt worden waren. 

Wir waren zusammengekommen, um uns darüber zu unterhalten. 
J0rgen Neergaard hatte durch viele Monate hindurch im Reichshospital 
gelegen Nun war der todkranke Mann aufgestanden und zu dieser 
Zusammenkunft gekommen. Und wenige Tage vor seinem Tode dik- 
tierte er seine Broschüre über Leunbach, eine kleme Schrift, die in 
ihrer einfachen und überzeugenden Klarheit ein Musterbeispiel lur 
politisches Schrifttum ist. 



66 



Leunbach - verdienter Lohn? 



Körperlich gesehen war er heinahe tot. Seit einem Jahr schon hatte 
man mit seinem Tode rechnen müssen, wenn ihn nicht seine einzpg- 
artige Energie aufrechterhalten hätte. , . , ,. ■ , 

Immer aktiv wie Jßrgen Neergaard war. hinterliess er viele 
Freunde und — zu seinem T^be sei es gesagt — viele Femde. Mehr 
noch wären es geworden, wenn er am Leben geblieben wäre. _ Denn 
die Menschen betreten ungern den Weg des Fortschritts und sie sind 
denen nicht immer dankbar, die sie dazu zwingen wollen, vorwärts zu 

Seine Aufgabe hat er uns hinterlassen. Wir müssen versuchen sie 
zu lösen m seinem Geiste - in seinem unbefangenen und sachhchen 
Geiste. 



Leunbach — verdienter Lohn? 

Von Jörgen Neergaard 

In den letzten Monaten haben der Vorschlag der dänischen Regierung 
hinsichtlich Schwangerschaftsunterbrechung und mehrere grosse Pro- 
zesse mit sensationellen Urteilen wieder eine wirbelnde Diskussion um 
das Abortproblem hervorgerufen. Im Mittelpunkt dieses heissen Kamp- 
fes standen zwei Personen, die in besonderem Grade zwei verschiedene 
Gesichtspunkte repräsentierten. Justizminister Stemcke emerseits und 
der Arzt J. H. Leunbadt andererseits. Beide wurden heftig angegriffen. 
Beide wehrten sich mit Klauen und Zähnen. 

Es sieht vorläufig so aus. als ob Stemcke, der sich öffentlich zum 
«Gentleman-Ideal» bekannt hat, als Sieger dasteht. Sem Vorschlag 
scheint durch den Reichstag zu gleiten und Gesetz zu werden, wahrend 
Leunbach kein anderes Resultat aufzuweisen hat, als dass er zum Ver- 
brecher gestempelt wurde, dass man ■ ihn zu drei Monaten Gefängnis 
verurteilte und ihm seine bürgerlichen Ehrenrechte nahm wodurch ei 
seine Erwerbsmöglichkeit als Arzt verhert.^ Er ist em Mann von 52 
Jahren, somit kann kein Zweifel darüber sein, dass die Absicht ist, ihn 
endgültig aus dem Felde zu schlagen. ^ , ^ . ,. , . , .^ 

Steincke ist den allermeisten bekannt. Er ist ^>» ^5^™- ^^^^J.^.^^J' 
Scheinwerferlicht nicht entzieht. Von Lennbadiv^eiss die breite Öffent- 
lichkeit nichts anderes, als dass er besonders bekannt ist durch Abtrei- 
bungsprozesse und sexuelle Aufklärung, zwei Dinge die m den Augen 
der meisten einen recht unbehaglichen Sehern an sich haben. Es gibt 
sSieXh viele Menschen im Lande, die, wenn der Name Leunbach ge- 
nannt wird, sich ein finsteres Individuum vorstellen. Auf viek Men- 
schen wirkt das Gesicht des Mannes auf den Photographien verdachtig, 
es isi Ttwas Fremdartiges an ihm - tatsächlich hat er auch Indianer- 
blut in den Adern - und Vorstellungen von blutigen Operationen, leicht- 
fertigen Frauen, die aus Faulheit od^r Vergnügungssucht nicht gebaren 

67 



Jsrgen Neergaard 

mögen, unanständigen Arzthonoraren und gesellschaftszersetzender 
Pornographie melden sich in schneller Reihenfolge. Alle braven und 
besonnenen Menschen haben imwillkürlich die Auffassung bekommen, 
dass Leunbach im Grunde doch wohl ein gottleugnender Volksverführer 
ist, der die Jugend ins Verderben führen und die Volksmoral zerstören 
will, so dass es zu chaotischen Zuständen im Lande kommt. Sie werden 
also sicherlich verständnisvoll nicken, im Stillen das Urteil über Leun- 
bach billigen und die Zeitung mit den Worten «Verdienter Lohn» zu- 
sammenfalten. 

Auf den folgenden Seiten wollen wir nun versuchen, uns in grossen 
Zügen ein Bild von diesem Mann Leunbach zu machen — und darüber, 
wie er in die jetzige Situation geraten ist. 

Es fing damit an, dass er ein ganz gewöhnlicher junger Arzt mit 
Krankenhausausbildung war, und er unterschied sich kaum nennens- 
wert von anderen Ärzten als dadurch, dass er sich etwas mehr für 
das Studium sozialistischer Probleme von rein theoretischer Art inter- 
essierte.' 

Er schrieb kleine Artikel, beinahe von philosophischem Zuschnitt, 
hauptsächlich in «Socialdemok raten», und er gab ein Buch über soziali- 
stische Lebensanschauung heraus. Da er nun so ein netter junger 
Mann war, der lesenswerte Artikel schrieb, dazu noch Arzt, so ergab 
es sich ganz von selbst, dass man sich an ihn wandte, als eine Gruppe 
Arbeiterfrauen einmal einen populären Vortrag über die sexuelle Frage 
haben wollte. Leunbach hielt einen Vortrag und behandelte darin auch 
die Frage vorbeugender Mittel. Er erzählte — was freilich nicht in 
den medizinischen Lehrbüchern stand, sondern worüber er bei einem 
seiner Lehrer gehört hatte — über das «Pessar», eine kleine Gummi- 
schale, die leicht vor die Gebärmutter gesetzt werden kann und die 
die Samen körperchen am Eindringen hindert, so dass man auf eine 
vollständig unschädliche Weise dem Eintreten einer nicht erwünschten 
Schwangerschaft vorbeugen kann. 

Das interessierte die Arbeiterfrauen ausserordentlich und sie baten 
Leunbach, ihnen mehr über diese Sache zu erzälilen. Nun ja, das Pessar 
hat den Vorteil, dass es beim Geschlechtsakt nicht störend wirkt und 
weit sicherer in seiner vorbeugenden Wirkung ist als das Gummimittel 
«Kondom», das vom Manne gebraucht wird. Aber es ist notwendig, 
dass die Frau die für sie richtige Pessargrösse zugepasst erhält. Daher 
muss das Pessar beim ersten Mal von einem sachkundigen Arzt, von 
einer Hebamme oder Krankenpflegerin eingesetzt werden. 

Die Frauen waren begeistert. Das wird vielleicht die meisten ver- 
wundern, aber diejenigen, die ein wenig vom täglichen Dasein von 
Arbeiterfrauen wissen, werden es verstehen. Diese Tausende — sie 
sind richtige, lebendige Menschen mit dem Bedürfnis nach Zärtlichkeit 
und Liebe und einem natürlichen Verlangen danach, mit dem Mann, 
den sie lieben, wirklich zu leben. Aber allzuoft werden sie gehemmt 
von der Angst, Kinder zu bekommen, die sie nicht imstande sind zu 
ernähren und denen man weder Obdach noch eine ordentliche Erziehung 
unter den gegenwärtigen Gesellschaftsverhältnissen verschaffen kann. 
Viele von ihnen sind ausserdem verbraucht von vielen Geburten. Die 
Liebessehnsucht ist der Angst vor dem Manne gewichen, und dessen ■ 



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Leunbach - verdienter Lohn? 



mAvelch hohem Grade er «"«""""Xüna jedenfalls auf einem ein- 

-kon^men ^nd em Pessar bdcf™^>> ^, er wohl imstande, einen 
.nicht gedacht. W^e die meisten Arzte vmr er wo ^^^^getzen, 

Wortrag über diese Dmge zu halten - aber sie ms i^ 
■ das war ja BUK etwas ganz anderes . jg^jg^ geben. Hat man 

Aber die Franen wollten sich nicht ^f^^^^^ niemanden kannte, 
A gesagt, muss ^^^^'^^^^ ^^Z'oTJ^cUo7ser^^^ einzugrei- 

,an den er ^ ^^ä^^^^^^^^fwl mS mit d;m Stoff vertraut, 
S sf^^'s^ t^^S^teS r^tsLmen mit den Arbei- 
tTrfrlulä'tieU er K^ume - und J^. ^^ ^r'^fprob^m. Da kam 
Es dauerte :akht lange, so ^f <^!^^:^'^^^^^^^ ein Pessar. Leun- 

ein junges MädchBB yf^.^^^'^^^h^.^f ^'^^F^^^^^^^^^ war nicht die Spur 
bach stutzte. Sie hatte kernen Rmg f^^Fm^*^;. ^ bedenkhch am Kopi: 
verlobt und - ^bzel^ Jahi^^ Sie ^terhielten' sich über die Sache. 
Sdlte er ihr ein Pessar s^ben? ^^^^^^f^^^^TreJtsiosen «ging»; sie hat- 
Es zeigte s.ch. dass sie mit «"^«.«^^•'""^^^"/^^iten nicht, ob sie sie 
ten nicht die Mittel um zu heiraten, und wussten J^^^ . 

S^arhaben würdee. Ja, s^ ^ff ^^ ^^^ 'si h^lieTer t^ 
ingst davor, f --^^ ^^^^1%^^ L^ ^^^^ -^^' ^'^^ 

^'^S^^^t^^ — a/^Se körperlich voU entwickelt war. 

etwas Ve^ächtiges ^-v^J^^^V" u"nd:rn au:h unverheiratete 
denke mcht "^'r^^^^^'^^^^^g 'ende Mittel ausgeliefert; und die U.ute 
junge Madchen ^^f ■^"J.^^fn^^^ war. Aber es hatte etwas 

wussten nicht recht, ^f ^^^^,™ ^^^^, Schweinerei ^ denn so denken 
mit dem Sexuellen zu tun. ^^^^^^ J/Es hen kamen zu Leunbach 
^^'"tn" ""^^'^Atoc^^ns^tS. so netter Mensch _- aber was 
und sagten: Sie S'"^J*^^^„,^,i,eiratete junge Mädchenb Leunbach, 
ist das nun hier --- unu u" . , , gt^^s anderes getan 

der auch jetzt ^^t bege e^„^ k^^^^^^ 
hatte, als was sich^s naturhche ho^ge s ^.^ Unverheirateten 

ihnen nur ^'''■ZlT^.J ^eun^J einem oder anderem Grunde 

, schwanger werden ^^f"'. pV^. Hi>r<-h?uführen'^ Ich weiss doch. 

f"* ':^:,'^,TFm^^r^^^^r.t:^^t^^enn Gebären nicht 

.^Sf^eiwmSÜte se.nv» und darn-t war Dr. l^unhach m.tten 

'■■^'B^dt^r^fenSair e^ausl^worfel^rv^o. Hausw.rt .eUündi^, 



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Jargcn Neergaard 

mit voller Billigung des Mietsausscliusses, der sonst damals fast nie eine 
Kündigung zuliess. Leunbach fand neue Räume und ging nun ganz 
zur Arbeit für sexuelle Aufklärung und Anleitung zur Schwanger- 
schaftsvorbeugung über. Er beteiligte sich an der Organisierung der 
Arbeiterfrauen, aber nun kam er aus dem Regen in die Traufe. Denn 
nun kam er in Konflikt mit den Politikern. Die Arbeiterfrauen began- 
nen, sich gewaltig für die sexuelle Frage zu interessieren; aber weil 
davon nichts in den Parteiprogrammen stand, meinten die Parteien, 
dass das nur störend wirke. Schliesslich zerschlugen die Kommunisten 
den Aufklärungsverband für Arbeiterfrauen, um Leunbachs Einfluß zu 
begrenzen. 

leunbach nahm den Kampf auf und betrieb nun systematisch SexucU- 

volitik. I 

Politik? — wieder ein hässliches Wort. Sich mit sexuellen Fragen 
zu beschäftigen, ist an sich bedenklich genug, aber Sexualität und Poli- 
tik auf einmaJ, das war eine noch schlimmere Kombination. Und Leun- 
bach antwortete: «Ich bin auch kein richtiger Politiker, so einer mit 
Valuta und Budgets, mit Taktik und Wahlspeck». Er gibt ehrHch zu, 
dass er davon überhaupt nichts versteht. Er ist Arzt, er ist Fachmann, 
und nur durch einen Zufall ist er in eine praktische Arbeit hinein- 
gekommen, die ihm täglich all das Elend, all die Unwissenheit und Not 
zeigt, die auf dem sexuellen Gebiet herrschen und zwar in viel breite- 
ren Kreisen der Bevölkerung, als er sich hätte träumen lassen. Er sah 
in seiner Praxis Tag. für Tag einen Aufmarsch verzweifelter Menschen, 
der ihm klar machte, wie das natürliche Verlangen der Menschen nach 
Liebe und Zärtlichkeit durch schlechte Wohnungsverhältnisse, engher- 
zige Vorurteile und grenzenlose Unwissenheit zerstört und zu Angst. 
Hass und Verwirrung verwandelt wurde. Er konnte es niclit lassen, 
über aU dies nachzudenken. Er konnte es nicht lassen festzustellen, 
dass wir es allesamt unendlich viel besser als jetzt haben könnten, wenn 
gewisse Dinge sehr einfacher Art im Massenmasstab eingeführt wür- 
den — ■ z. B., dass jeder erwachsene Mensch sein eigenes Zimmer be- 
käme, jeder Frau die notwendigen Kenntnisse in vorbeugenden Mitteln 
zuteil würden, und dass jeder Mensch erzogen würde in der Erkennt- 
nis der Selbstverständlichkeit, seinem Drang nach Liebe und Zärtlich- 
keit folgen 2U können. 

Das ist in wenigen Worten Leunbachs «Politik» — und sein Ver- 
brechen! Es ist nämlich äusserst unanständig, so zu denken. Und es 
ist geradezu verbrecherisch, danach zu handeln — aber eben das tut 
Leunbach. 

Vor der grossen Öffentlichkeit steht Leunbach da als der Mann aus 
den Abtreibungsprozessen, den Anklagebehörde und Presse gründlicli 
besudelt haben als «Geschäftemacher», weil er so unverschämt war, an 
seinen woJühah&nden Patienten Geld zu verdienen. Aber gerade unter 
den armen Arbeiterfraiten und unter der Jugend kennt man seine täg- 
liche aufreibende Wirksamkeit. 

Die Arbeiterfrauen, die er kostenlos in der Benützung der richtigen 
vorbeugenden Mittel unterwiesen hat. zählen nach Tausenden, und es 
gibt nur wenige unbemittelte Menschen in Kopenhagen, die nicht wis- 
sen, dass Leunbach niemals nach dem Honorar fragt, wenn man seiner 

70 



Leunbach - verdienter Lohn? 

Hilfe "bedarf und kein Geld hat. An bestimmten Tagen hält er nämlich 
Gratiskonsultationen für Unbemittelte — was man ihm wahrhaftig auch 
vorgeworfen hat. Das ist ja nur Reklame, behauptet man; aber merk- 
würdigerweise hat keiner seiner KoUegen daran gedacht, ihm diesen 
Reklametrick nachzumachen. Bisher hat er aUein damit sein dürfen. 

— Im letzten Jahr ist diese Aufklärungsarbeit unter der Bezeichnung 
.^Sexualhilfen betrieben worden. 

Für den der den neulich abgeschlossenen Prozess aus nächster Nähe 
verfolgt hat musste es verblüffend wirken, wie wenig die Juristen im 
Grunde die 'menschliehe Seite der Sache verstanden. Man merkte das 
u a an der Art, wie man die weiblichen Zeugen behandelte. Der Ton 
war' barsch und die Fragen galten hauptsächlich rem formellen Dingen 

— besonders interessierte man sich ungeheuer für die Honorare. 

Es sei gleich gesagt, dass in dieser Hinsicht Dr. Leunbach (und 
ebenso Dr Philipson) nicht das Geringste vorgeworfen werden konnte. 
Leunbach hatte z. B. nicht einen Pfennig an den Aborten verdient und 
viele Unbemittelte hatten sogar die notwendige Untersuchung vor der 
Überweisung ganz gratis bekommen. Nichtsdestoweniger versuchte der 
Ankläger, einen Schein von Geschäft und Profit über ihn zu werfen, 
und die Seheidelinie zwischen Leunbach auf der einen Seite und dem 
o-eschäftsmässig eingesteUten Budde-Lund auf der anderen Seite trat 
nicht deutlich hervor. Die Verteidigung, die eben von Juristen gefuhrt 
wurde war nicht imstande, die grosse menschliche Tragödie hervorzu- 
heben die die Zeugen darsteUten, und den Ideahsmus, dessen wirk- 
licher Ausdruck die Arbeit für diese war. Tatsächlich verhielt es sich 
so dass auch den Verteidigern diese Seite der Sache nicht klar vor 
Augen stand. Auch unter dem Publikum herrschten viele Missver- 
ständnisse hinsichtlich der Probleme, die im Bereiche der Arbeit Dr. 

Leunbachs entstehen. 

Daher wollen wir nun versuchen, ein typisches Beispiel zu schildern. 
Mit Absicht haben wir kein seltenes oder ungewöhnliches Lebensschick- 
sal gewählt. Im Gegenteil, wir greifen eines unter Tausenden heraus. 
Das ist etwas, das täglich um uns vorgeht — aber im Verborgenen. , 

Klara ist ein grosses und kräftiges Bauernmädel, stralilend vor 

Gesundlieit und frischem Mut. Zuhause in dem kleinen Dorf sind viele 

"Geschwister und da sie nun erwachsen ist, muss sie hinaus, um selbst 

zu verdienen. Mit dem Mut und der Energie einer Siebzehnjährigen 

tritt sie als Hausgehilfin in Kopenhagen an. Zum ersten Male muss 

. sie ohne Hilfe von daheim zurechtkommen und ihre grossen Fauste 
müssen kräftig zupacken. — Frau Grosshändler Nielsen wiU ihrem 
Mann und den drei lärmenden Söhnen im Gymnasiastenalter em nettes 
und gemütliches Heim bieten. Aber Klara lässt sich nicht unterkrie- 
gen und hat sogar noch Kraft übrig, am Abend einen Kursus zu be- 
suchen. Hier lernt sie ihren Freund — Jens — kennen. Trotz schwie- 
riger Lebensbedingungen — er lebt von Sozialunterstützung und wohnt 
zuhause bei den Eltern — hat er den Humor nicht verloren, und jeder 
Abend, an dem die Beiden zusammen sein können, ist ein strahlendes 

^ Fest, 'sie fühlen beide, dass sie einander etwas bedeuten. Die Unter- 

71 



Jörgen Neergaarri 

Haltung- geht so leicht und frei zwischen ihnen; das Leben scheint heller 
und die Schwierigkeiten leichter zu tragen, wenn sie nur zueinander 
halten. Früher war es oft so, dass sie sich einsam und verlassen vor- 
kamen in der täglichen Tretmühle. Nun aber hatte das I^ben eine 
andere Farbe bekommen. Wenn Klara beim Geschirrwaschen war, 
sang sie, so dass alle die anderen Dienstmädchen in der Nachbarschaft 
mit in gute Laune kamen; und wenn Jens zum Stempeln ging, war 
es, als ob er zu einem Feste ginge und die Gesichter der Kameraden 
hellten sich auf über seinem unverwüstlichen Lächeln. Wenn sie am 
Abend zusammenkamen, war es ganz natürlich, dass sie sich verhielten, 
wie es junge Menschen eben selbstverständhch tun; sie liebten sich 
und wollten zueinander. Und gerade dieses Zusammenleben gab ihnen 
ein Gepräge strahlender Frische, das die Aufmerksamkeit und Freude 
ihrer Umgebung erweckte. Es gab dem sonst so grauen Leben Inhalt 
und machte jeden Tag zu einem Sieg über alle düsteren Gedanken. 

Eines Tages, als Jens in Klaras Zimmer heraufkam, strahlten ihm 
nicht wie sonst immer ein Paar frohe Augen entgegen. Klara, die 
sonst von Leben und Lebenslust leuchtete, sass auf der Bettkante mit 
verschwollenem, tränenüberströmtem Gesicht, sie atmete schwer, ihr 
war übel; sie hatte Angst. Sie konnte es Jens kaum zuflüstern: es war 
sicherlich schief gegangen, was sollte sie tun? Jens setzte sich zu ihr 
und versuchte ruhig zu sein, aber auch er war ernstlich betroffen. Das 
war keine glückliche Lage; arbeitslos und zugleich Vater zu sein, ist 
wahrhaftig keine vergnügliche Kombination. Aber nun einigten sie 
darauf, dass sie zum Arzt gehen und sich untersuchen lassen sollte, 
ob es wirklich schief gegangen war. 

Eine Woche später sehen wir Klara, die nun weiss, dass sie schwan- 
ger ist; sie ist kaum wiederzuerkennen. Sie steht vor Dr. I-,eunbach in 
seinem Konsultationszimmer und erzählt ihre Geschichte: 

(( - und nun ist er seit mehreren Tagen nicht bei mir gewesen 

und zuhause bei ihm sagen sie, dass er in den letzten Nächten niclit 
da war, und nun weiss ich nicht, was ich machen soll. Er ist einfach 
weggelaufen und nun sitze ich ganz allein da. Können Sie mir denn 
nicht helfen?» 

Dr. Leunbach versteht, dass Jens verschwunden ist. Viele junge 
Männer tun das in dieser Situation. Feige? Ja, Jens ist feige und 
drückt sich vor seiner Verantwortung, doch Dr. Leunbach wird nicht 
müde hinzuzufügen: «Aber allein verantwortlich ist er nicht. Mitver- 
antwortiich sind alle die, die es immer noch zulassen, dass junge Män- 
ner in einer Unwissenheit aufwachsen, die sie daran hindert, sich denen 
gegenüber richtig zu verhalten, die sie lieben. Mitverantworthchsind 
die, die immer noch dulden, dass Tausende von jungen Männern wie er 
unter so elenden Verhältnissen leben müssen, dass sie nicht die einfach- 
sten menschlichen Verpflichtungen erfüllen können.» 

«Ja,» sagt er, «nun müssen wir ja sehen uns zu helfen, so gut wir 
können. Haben Sie Ihren Eltern erzählt, wie sich die Sache verhalt?» 

«Nein,» weint nun Klara wie gepeitscht, «das kann ich doch nicht, 
denen dürfte ich nichts erzählen. Sie würden rasend werden und mich 
sofort rausschmeissen. AUe in der Gemeinde würden mir den Rucken 

72 






Leunbach - verdienter Lohn? 

kehren, wenn ich auf die Art heimkäme. O, Dr. Leunbach, Sie müssen 
mir helfen. Können Sie es nicht weg-machen?» 

«Ja, aber lassen Sie uns noch ein wenig- warten; es kann ja sein, dass 
Sie einen Ausweg finden. Können Sie nicht mit Ihrer Herrschaft 
reden? Versuchen Sie das und kommen Sie dann wieder, damit wir 
weiter über die Sache sprechen können. Aber eins müssen Sie wissen: 
An sich könnte ich Ihnen helfen. Es lässt sich machen, eine Frucht 
abzutreiben, und ich verstehe vollkommen, wie unglücklich Sie sind, 
aber ^ -». 

«Ja, aber dann müssen Sie mir doch helfen! Ich weiss nicht, was 
ich tue, wenn Sie mich im Stich lassen!» 

«Nein, ich soll, richtiger ich darf ja gerade nicht, Klara! Ihre .Sache 
ist leider durchaus kein Einzelfall, Es schneidet mir ins Herz, es 
mitanzusehen, jedesmal, wenn ich dem wieder von neuem gegenüber- 
stehe. Aber Hunderte von Frauen sind in der gleichen Lage wie Sie. 
Sie sind von aUen verlassen und werden als Menschen zweiter Klasse 
behandelt, obwohl alle gut genug wissen, dass sie nichts anderes getan 
haben, als wozu jeder gesunde Mensch den Drang spürt, und dass das 
Unglück: ausschliesslich von der Unwissenheit herrührt und von den 
elenden Verhältnissen, unter denen sie leben müssen. Sie sind Opfer 
unpraktischer und törichter Gesellschaftszustände. Nun müssen Sie 
erst Ihren eigenen Kampf durchkämpfen — und kommen Sie dann und 
helfen, diese Zustände zu verändern, so dass die Menschen in Zukunft 
glücklicher werden können, als wir es sein durften.» 

Wir wollen die Unterhaltung nicht weiter verfolgen, sondern gleich 
hören, wie es geht, als Klara sich an die Frau das Hauses wendet. Die 
Unterhaltung geht am nächsten Vormittag vor sich — wahrend die' 
Kinder in der Schule sind. Frau Nielsen ist ungeheuer verständnisvoll. 
Man ist doch so modern eingestellt: «Liebe Klara, das tut mir schreck- 
lich leid. Ich gehöre wirklich nicht zu der Art törichter, altmodischer 
Menschen, die die Jugend nicht verstehen, und ich will Ihnen gern auf 
jede Weise helfen. Ich will mit meinem Mann sprechen und sehen, 
was er für Sie tun kann. Aber — », Frau Nielsen sucht nach Worten 
und sielit ein wenig aus dem Fenster, «Sie verstehen ja wohl auch, 
dass ich gewisse Rücksichten zu nehmen habe; ich muss an mejne Kin- 
der denken, das ist die erste Pfhcht einer Mutter. Ich bin keineswegs 
kleinlich, aber meine Verantwortung meinen Kindern gegenüber zwingt 
mich dazu, dass ich Sie bitten muss, sich eine andere Stelle zu suchen, 
bis Sie Ihr Kind bekommen haben. Die Erziehung der Kinder muss ja 
allem vorangehen und ich möchte sie doch gern aufwachsen sehen, ohne 
dass sie in Berührung mit etwas kommen, was ihren reinen Sinn stören 
könnte. Ich möchte sie in Übereinstimmung mit den Kulturidealen 
bewahren, die wir in unserem Hause hochhalten — ■ — — »i 

Klara muss ziehen, Klara ist allein, keiner will ihr ernsthaft helfen. 
Sie läuft einige Wochen verwirrt herum, wird bleich und eingefallen. 
überall empfängt man sie mit mitfühlendem «Verständnis» und schiebt 
sie dann ab, sanft aber bestimmt. Sie ist allein, ganz allein, verlassen 
von allen. Mit ihrem Heim wagt sie sich nicht in Verbindung zu setzen, 
und ein wenig religiöse Einwirkung, die man ihr gegenüber da und 
dort versucht, erhöht nur ihre Angst und das Gefühl von Verlassenheit. 

73 



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iergen Necrgaard 

Und was soll mit dem Kind geschehen? Soll sie in einer besonderen 
Anstalt leben mit anderen «gefallenen» Frauen und als eine Sünderin 
abgestempelt werden, weil sie Jens liebte und das auch ehrlich und 
redlieh in ihrem Tun zei8"te? Die Angst schnürt ihr das Herz zusam- 
men. Zugleich fühlt sie sich krank und elend, sie denkt daran, sich 
das Leben zu nehmen — und landet zuletzt bei einer Quacksalberin, die 
ihr eine giftige Losung in die Gebärmutter spritzt. 

Das Ergebnis ist ein Zusammenbruch und wir finden sie in einer 
Krankenhaus-Abteilung wieder. Dr. Leunbach hat von ihrem Schick- 
sal gehört und sitzt an ihrem Bett. 

Sie starrt ihn an mit matten, tiefliegenden Augen in einem leichen- 
blassen Gesicht und vermag nicht einmal zu lächeln. 

«Nun ist es überstanden», flüstert sie, «Aber glauben Sie, dass ich 
wieder gesund werde?» 

Dr. Leunbach schweigt. Er weiss, dass sie nun vielleicht invalide 
auf Lebenszeit sein wird, und dass Gefahr vorhanden ist, dass die über- 
standenen Leiden ihren Verstand verdunkeln können. Sie spricht hin 
und wieder verwirrt, führt lange Gespräche mit Jens und verteidigt 
sich gegen den Pfarrer und den Vater zuhause. 

«Aber warum halfen Sie mir nicht, als ich Sie darum bat? Sie 
wissen doch, dass dann all dies hätte vermieden werden können. Es 
ist ein Verbrechen, einen Menschen so zu behandeln. Ich habe es in 
der letzten Zeit elender gehabt als das ärmste Gewürm. Wie können 
Sie das vor Ihrem Gewissen verantworten, wenn Sie die rechten Mittel 
in der Hand haben, um auf ordentliche Weise zu helfen?» 

Dr. Leunbach drückt ihr sanft die Hand und sagt leise wie für sich 
selbst: «Sie haben Recht' mich anzuklagen. Ich bekenne mich hier 
eines Verbrechens schuldig. Aber Sie müssen verstehen, dass die Gesell- 
schaft, in der wir leben, die Sache anders ansieht. Sie stempelt mich 
mit dem Verbrechernamen, nimmt mir meine Ehre und meinen Erwerb, 
jagt mich ins Gefängnis und besudelt meinen Namen, falls ich das tue, 
was mein Herz und meine Vernunft von mir verlangen. Die Gesell- 
schaft verlangt, dass ich Ihr grausames Schicksal und das von Hunder- 
ten anderer Frauen mit ansehe, ohne einen Finger zu rühren. Ich 
gestehe, dass ich ab und zu in ähnlichen Fällen wie dem Ihrigen diese 
sinnlosen Gesetze übertreten habe — und das mit besserem Gewissen 
als wenn ich sie befolgt hätte, aber ich stehe praktisch ganz aEein und 
habe es nie im I^ben für möglich gehalten, dass man so viel geistig-i 
Niedrigkeit und Herzlosigkeit treffen könnte wie in diesem Kampf.» 

Wir wollen Klaras Schicksal verlassen. Ihre Geschichte ist wahr, aber 
so häufig passiert, dass sie beinahe banal ist. Desungeachtet ist es 
schwierig, den Menschen begreiflich zu machen, wie ernst die Saciie 
ist. Man schiebt es von sich; man hält es für Ausnahmen, wenn man 
solchen Fällen begegnet und man hüllt das ganze Problem in das Schwei- 
gen, mit dem man Probleme behandelt, die so peinlich sind, dass man 
an sie nicht zu rühren wagt. 

Aber Dr. Leunbach hat die Probleme nicht beiseite schieben können. 
Er hat sie aufgenommen — und das Ergebnis kennen wir. Er ist auf 
die abscheulichste Weise gebrandmarkt worden in der Presse der 
«ordentHchen» Leute, der Verdächtigung und einer persönlichen Ver- 



74 



■, 



Leunbach - verdienter Lohn? 

folgung- ausgesetzt, die einzig dastehen. Nimmt er Honorar von seinen 
wohlhabenden Patienten, heult man «Geschäftemacher» hinter ihm her, 
obwohl ein einfacher Vergleich mit den Honoraren anderer Ärzte nur 
zu Leunbachs Gunsten ausfallen würde. Aber darüber schweigen die 
«ordentlichen» Leute. Gibt er jahrelang- Gratiskonsultationen und Rat- 
schläge für Unbemittelte, so ist das auch verkehrt: das wird abwechselnd 
als Reklametrick und als moralzersetzende Propagandatätigkeit bezeich- 
net. 

Und nicht genug damit, dass man ihn nun zu Getangnisstrafe verur- 
teilt hat, sondern man hat sogar dem über fünfzig Jahre alten Arzt seui 
Praxisrecht für fünf Jahre genommen, um damit seiner Tätigkeit 
gründlich Halt zu gebieten. _ 

Lasst uns nun wieder die zwei Personen, die wir einleitend vorstell- 
ten, einander gegenüberstellen: den hohen Justizminister Steincke und 
den verurteilten Verbrecher Leunbach. Stellen wir sie vor einen neuen 
Richterstuhl: den des Publikums! I^assen wir das Pubhkum darüber 
urteilen, wer von ihnen die grösste Achtung und den grossten Respekt 
unter den Menschen verdient. 

Auf der einen Seite haben wir Justizminister Steincke. Er steht 
in der Studenten- Vereinigung, bekennt sich stolz zum «Gentleman- 
Ideal» und rühmt sich, ein Gesetz durchzubringen, das es einer Klara 
noch schwerer macht, Hilfe zu erlangen. Er macht das Risiko für die 
Abtreibung von Geburten aus sozialen Ursachen so gross, dass die Ärzte, 
aus Furcht, Dr. Leunbachs, Schicksal zu erleiden, ganz unterlassen müs- 
sen, den betroffenen Frauen zu helfen. 

Er formuliert Gesetzesvorschläge, nach denen man annehmen soUte, 
dass er den tragischen Hintergrund aller dieser Fragen überhaupt nicht 
kennt. Es würde eine Rohheit sein zu glauben, dass er wirklich den 
Hintergrund kennt. Er fordert in seinen Paragraphen zum Beispiel, 
dass Klara, selbst wenn sie aus medizinischen Gründen operiert würde, 
die ausdrückliche Einwilligung ihrer Eltern haben müsste. Kann denn 
nicht jeder denkende Mensch verstehen, dass dies ein reiner Quacksal- 
berparagraph ist? Er zimigt geradezu die Frauen, nicht die Ärzte 
aufzusuchen; und sind sie schliesslich in Konflikt mit dem Gesetz ge- 
kommen, so hat Steincke dafür gesorgt, dass solche Sachen nicht von 
Geschworenen beurteilt werden, weil diese oft mehr menschlich als 
juristisch auf die Frage gesehen haben — und Steincke ist Jimst. 

Dr. Leunbach ist Memch and keineswegs Jurist. Im Gerichtssaal 
hat man allzuleichtes Spiel mit ihm. Die Verantwortung, die er ge- 
fühlt hat, beruhte nicht auf Gesetzesparagraphen, sondern auf semer 
Kenntnis von Menschen in Not. Diese Verantwortung ist oft schwer; 
in dieser Zeit ist sie noch schwerer gemacht worden, aber Dr. Leunbach 
trägt sie wie ein Mann und setzt unverdrossen seinen Kampf fort, und 
wird niemals müde hervorzuheben: «In erster Reihe sind es keineswegs die 
Abtreibungen, die mich interessieren. Was ich will, ist, Aufklärung zu 
geben, dass es möglich und richtig ist, ein glückliches Liebesleben zu 
führen ohne Angst vor Schwangerschaft und blutigen Operationen oder 
Not und Elend. Ich stehe auf der Seite des Lebens im Kampfe gegen 
Dummheit und Heuchelei. Ich will die Bevölkerung lehren, die Abtrei- 

75 




y. 



y 



Wilhelm Reich 

bungen zu bekämpfen durch Benütziing der richtigen Vorbeugungs- 
mittel. und ich bin sicher dass ich schliesslich auf meine Seite bekomme 
nicht nur die Arbeiterfrauen, die mir bisher treu gefolgt sind, sondern 
alles was gesund und stark in der Jugend des Landes ist». 

Wer ist zutiefst gesehen der wirklich Schuldige? 

Der Gesetzgeber, der in Oberflächlichkeit die verzweifelten Verhält- 
nisse verschärft und das Elend mit schönen Worten zudeckt _— oder 
der Arzt, der gegen eine kurzsichtige Vereinigung von Vorurteilen und 
Unwissenheit für Liebe und Lebensglück kämpft? 



Aus der sexual - 

ökonomischen Lebensforschung 



Der Orgasmusreflex 

Vorabdruck aus einer Abhandlung Über 
charakteranalytische Vegetotherapie 

Von Wilhelm Reich 

Ich wähle zur Darstellung der direkten liJsung der sexuellen (vege- 
tativen) Energien aus den krankhaften muskulären Haltungen einen 
Fall, bei dem es besonders gut und rasch gelang, die orgastische Potenz 
herzustellen. Ich möchte voranschicken, dass dieser Fall als Musterfall 
nicht Anspruch erhebt, die durchschnittlichen grossen Schwierigkeiten 
bei der Bewältigung der Orgasmusstörungen vorzuführen. 

Ein 27-jähriger Mann, Techniker, suchte mich wegen seiner exzes- 
siven Trunksucht auf. Er litt darunter, dass er dem Drange, sich fast 
täglich schwer zu besaufen, nachgeben musste; er befürchtete den voU- 
'kommenen Ruin seiner Gesundheit und Arbeitsfähigkeit. Wenn er mit 
seinen Freunden zusammenkam, war er rettung-slos dem Suff hinge- 
geben. Er lebte in einer äusserst unglücklichen Ehe. Seine Frau war 
eine recht komplizierte Hysterikerin, die ihm das Lehen nicht leicht 
machte; es war sofort zu sehen, dass die Misere der Ehe ein wichtiges 
Motiv der Flucht in den Alkoholismus bildete. Er beklagte sich fer- 
ner, dass er «das Leben nicht fühlte». Trotz der unglücklichen Ehe 
brachte er es nicht fertig, sieh mit einer anderen Frau zu liieren. 
Seine Arbeit freute ihn gar nicht, er vollführte sie mechanisch, unle- 
bendig, ohne jedes Interesse. Er behauptete, dass_ er, wenn das so 
weiterginge, in Kürze zusammenbrechen müsste. Dieser Zustand dau- 
erte bereits' viele Jahre und hatte sich in den letzten Monaten beträcht- 
lich verschlechtert. 

76 



''I 



Der Orgasmusreflex 

Von ernsten pathologischen Eigenheiten fiel auf, dass er keiner 
Aggression fähig war. Er spürte in sich den Zwang, immer »nett- und 
höflich« zu sein, alles zu bejahen, was die Menschen sagten, auch wenn 
es sich um völlig entgegengesetzte, einander widersprechende Meinun- 
gen handelte. Er litt unter der Oberflächlichkeit, die ihn beherrschte. 
Er konnte sich keiner Sache, keinem Gedanken, keiner Arbeit wirklich 
ernst hingeben. Seine arbeitsfreie Zeit verbrachte er in Kaffeehäusern 
und Restaurants mit Öden, nichtssagenden Gesprächen und Witzeleien. 
Er spürte zwar, dass es sich, um eine krankhafte Haltung handelte, 
doch zu diesem Zeitpunkt war ihm die krankhafte Bedeutung dieser 
Züge noch nicht voll bewusst. 

Sein Gesamtwesen fiel dadurch auf, dass er sich unsicher bewegte, 
forciert breit einherschritt, so dass der Gang etwas Klobiges an sich 
hatte. Die körperliche Haltung war nicht straff, sondern drückte Erge- 
benheit aus, als ob er ständig auf der Hut wäre. Sein Gesichtsaiis- 
druek war leer und ohne besondere Note. Die Haut des Antlitzes 
glänzte leicht, war straff gespannt und wirkte wie eine Maske. Seine 
Stirn schien »flach«. Der Mund wirkte klein, verkrampft und wurde 
beim Sprechen kaum bewegt; die Lippen waren schmal wie zusammen- 
gepresst. Die Augen waren ausdruckslos. 

Trotz dieser offenbar schweren Schädigung seiner vegetativen Be- 
weglichkeit spürte man ein sehr lebhaftes, intelligentes Wesen dahin- 
ter. Dem war es wohl auch zuzuschreiben, dass er mit grosser Energie 
die Beseitigung seiner Beschwerden durchzusetzen versuchte. 

Die darauf folgende Behandlung dauerte im ganzen 4^ Monate bei 
täglich einstündiger Sitzung. Ich will versuchen, die wichtigsten Etap- 
pen des Verlaufs darzustellen: 

Gleich in der ersten Sitzung stand ich vor der Frage, ob ich seine 
psychische Zurückhaltung oder seinen sehr auffallenden Gesichtsaus- 
druck zuerst zur Lösung vornehmen sollte. Ich entschloss mich, das 
Zweite zu tun und es dem weiteren Gang der Behandlung zu überlas- 
sen, wann und in welcher Form ich die IJisung seiner psycliischen 
Zurückhaltung durchführen sollte. Nach konsequenter Beschreibung 
der verkrampften Haltung seines Mundes stellte sich ein erst schwaches, 
dann immer stärker werdendes klonisches Zittern der Lippen ein. Er 
war von der Unwillkürliclikeit dieses Zitterns überrascht und wehrte 
sich dagegen. Ich forderte ihn auf, jedem Impuls nachzueeben. Die 
Lippen begannen daraufhin, sich rhythmisch vorzustülpen und in der 
Vorstülpung wie in einem tonischen Krampf einige Sekunden zu ver- 
harren. Dabei nahm sein Gesicht unverkennbar den Ausdruck __eines 
Säuglings an. Der Patient wurde davon überrascht; er wurde ängst- 
lich und fragte mich, wohin denn das führen könnte. Ich beruhigte 
ihn und ersuchte ihn nur darum, jeder Regung konsequent nachzu- 
geben und mir jede verspürte Hemmung eines Impulses mitzuteilen, _ 

■ In den nächstfolgenden Sitzungen wurden die verschiedenen Erschei- 
nungen im Gesicht immer deutlicher und sie weckten allmählich, Üas 
Interesse des Kranken. Das müsste doch etwas Besonderes zu bedeuten 
haben, meinte er. Sehr merkwürdig war. dass er dabei psychisch^ nicht 
berührt schien, vielmehr nach einer derart klonischen oder tonischen 
Erregung seines Gesichts ruhig mit mir sprechen konnte. In einer 

77 



.•ditmUa,' 



' 'i 



\ 



Wilhelm Reich 

der nächstfolgenden Stunden steigerte sich das Zucken des Mundes zu 
verhaltenem Weinen. Er stiess dabei Laute aus, die wie das Aufbrechen 
eines lange verhaltenen schmerzvollen Schluchzens klangen. Meine 
stete Aufforderung, jeder muskulären Regung nachzugeben, hatte 
Erfolg. Die beschriebene Aktivität des Gesichts komplizierte sich nun- 
mehr. Sein Mund verzog sich zwar zu, einem kranipl haften Weinen; 
doch dieser Ausdruck löste sich nicht in Weinen auf, sondern ging zu 
unserer Überraschung in einen verzerrten Wutausdruck ülier. Dabei i 

verspürte aber der Patient sonderbarerweise nicht die geringste Wut, j 

obgleich er unmittelbar wusste, dass es Wut war. 

Wenn sich diese muskulären Aktionen besonders steigerten, so da&s 
z. B. das Gesicht blau wurde, dann wurde er ängstlich und unruhig. 
Er wollte immer wieder wissen, wohin das führte und was wohl mit 
ihm da geschähe. Ich begann nun, ihn darauf aufmerksam zu machen, 
dass die Angst vor einem unerwarteten Geschehnis völlig seiner all- 
gemein charakterlichen Haltung entsprach, dass er von einer unbe- 
stimmten Angst vor Unerwartetem, plötzlich über ihn Hereinbrechen- 
dem beherrscht war. 

Da ich die konsequente Verfolgung einer einmal in Angriff genom- 
menen Verhaltungsweise nicht preisgeben wollte, musste ich mir erst 
klar darüber werden, in welcher Beziehung seine muskulären Gesichts- 
aktionen zu seiner allgemeinen charakterlichen Abwehrhaltung standen. 
Wäre die muskuläre Verkrampfung nicht so deutlich gewesen, hätte 
ich zunächst die' charakterliche Abwehr bearbeitet, die sich mir in Form 
seiner Zurückhaltung darbot. Mir drängte sich nun die Überlegung 
auf, dass der psychische Konflikt, der ihn beherrschte, offenbar auf- 
geteilt war. Die Abwehrfunktion war in diesem Zeitpunkt von seiner 
allgemeinen psychischen Zurückhaltung ausgeübt, während das, was er 
abwehrte, also die vegetative Erregung, sich in den Muskelaktionen 
des Gesichts erschloss. Rechtzeitig genug fiel mir ein, dass ja schon 
in der muskulären Haltung nicht nur der abgewehrte Affekt, sondern 
auch die Abwehr repräsentiert war. .Die Kleinheit und Verkrampft- 
heit seines Mundes konnte ja nichts anderes sein als der Ausdruck des 
Gegenteils, des vorgestülpten, zuckenden, weinenden Mundes. Mir lag 
nun daran, das Experiment der Zerstörung der Abwehrkräfte nicht von 
der psychischen, sondern von, der muskulären Seite her konsequent 
durchzuführen. 

Ich bearbeitete also sämtliche Muskelhaltungen des Gesichts, von de- 
nen ich annehmen durfte, dass sie Verkrampfungen, d. h. hypertonische 
Abwehr der entsprechenden muskulären Aktionen darstellten. Es dau- 
erte einige Wochen, bis sich die Aktionen der Gesichts- und der Hals- 
muskulatur zu folgendem Bild steigerten: Die Verkrampfung des Mun- 
des wich zunächst einem klonischen Zucken und ging dann in ein Mund- 
spitzen über. Dieses Mundspitzen löste sich in ein Weinen auf, das 
aber nicht voll ausbrach.' Das Weinen wieder machte einer ungeheuer 
starken Wutreaktion im GesicJite Platz. Dabei verzerrte sich der Mund, 
die Kiefermuskulatur wurde bretthart gespannt, die Zähne knirschten. 
Es kamen weitere Ausdrucksbewegungen hinzu. Der Patient richtete 
sich auf dem Sofa halb auf, schüttelte sich vor Wut, hob die Faust an 
der hretthart gespannten rechten Hand wie zu einem Faustschlag hoch, 

78 



r 



Der Orgas.musreflex 

ohne jedoch den Schlag auszuführen. Dann sank er ermattet zurück, 
weil ihm der Atem ausgegangen war, und das Ganze loste sich in wim- 
merndes Weinen auf. Nachdem der Anfall abgeklungen war, sprach 

"er seelenruhig, als ob nichts geschehen wäre, über das Vorgefallene. 
Es war klar- an irgendeiner Stelle musste die Verbmdxmg zwischen 
seiner vegetativen muskulären Erregung und der psychischen Empfin- 
dung dieser Erregung unterbrochen sein. Ich besprach mit ihm natur- 
lich ständig nicht nur die Folge und den Inhalt seiner muskulären 
Aktionen, sondern auch die merkwürdige Erscheinung semer psychi- 
schen Verschlossenheit demgegenüber. Was uns beiden besonders aui- 
fiel war dass er trotz der psychischen Unangegriffenheit unmittelbar 
die 'Funktion und den Sinn seiner Anfälle begriff. Ich brauchte sie 
ihm gar nicht zu deuten. Im Gegenteil, er überraschte mich immer 
wieder durch Aufklärungen über seine Anfälle, die ihm immittelbar 
evident waren. Dieser Tatbestand war sehr erfreulich. Ich erinnerte 
mich an die vielen Jahre mühevoller Symptomdeutungsarbeit, m denen 
man aus EintaUen oder aus Symptomen eine Wut oder eine Angst er- 
schloss und dann durch Monate und Jahre versuchte, sie dem Kranken 
auch nur einigermassen nahezubringen. Wie selten und wie wenig 
effektiv gelang es doch damals, über ein bloss intellektuelles Verständ- 
nis hinauszukommen. Ich durfte mich also freuen, dass der Kranke ohne 
iede Erklärung meinerseits ganz unmittelbar den Sinn seiner Aktion 
spürte Er wusste, dass er eine ungeheure Wut zum Ausdruck braclite, 
die er jahrzehntelang in sich verschlossen hatte. Die psychische Ge- 
fühlssperre fiel, als ein Anfall die Erinnerung an seinen alteren Bru- 
der der ihn als Kind sehr beherrscht und malträtiert hatte, hervornet. 
Er 'verstand nun ganz von selbst, dass er damals seine Wut gegen sei- 
nen Bruder der von seiner Mutter besonders geliebt worden war, unter- 

- drückt hatte. Er entwickelte zur Abwehr eine Nettigkeit und eine 
Liebe zum Bruder die mit seinen wahren Empfindungen m heftig- 
stem Streite standen. Er hatte sich's mit der Mutter nicht verderben 
■ woUen Die Wut nun, die damals nicht zum Ausbruch gekommen war, 
stieg jetzt in den Aktionen auf, als ob die Jahrzehnte ihr nichts 
hätten anhaben können. . 

An dieser Stelle müssen wir einen Augenblick verweilen und uns die 
psvchisclie Situation klarmachen, mit der wir es hier zu tun haben. 
Analytiker, die noch die alte Symptomdeutungs-Techmk ausüben, wis- 
sen dass sie an den psychischen Erinnerungen angreifen, und es mehr 
oder minder dem Zufall überlassen müssen, ob 

1) auch die entsprechenden Erinnerungen an frühere Erlebnisse aut- 
tauchen, , . , , . . - ■ j ' „ 

2) die auftauchenden Erlebnisse auch tatsächlich diejenigen sind an 
denen sich die heftigsten und für das künftige Leben wesentlich- 
sten Erregungen entfacht hatten. 
Es ist bekannt, dass der Angriff von den psychischen Ennnerungen 

aUein her diese Aufgabe in einem höchst unvollständigen Masse leistet; 
man erkennt, dass sich die Mühe an Zeit und Energie nicht lohnt, wenn 
man am Ende einer jahrelangen Behandlung dieser Art die Verände- 
rungen des Patienten betrachtet. Die FäUe, bei denen es gelingt, un- 
mittelbar an die muskuläre Bindung der vegetativen Sexualenergie 

79 



f 



Wilhelm Reich 

heranzukommen, produzieren den Affekt, e/ie sie wissen, um welchen 
Affekt es sich handelt. Dazu kommt ferner, dass sich die Erinnerung 
an das Erlebnis, das den Affekt zuerst produzierte, automatisch ohne 
jede Bemühung nachträglich einstellt; wie etwa in unserem Fall die 
Erinnerung an die Situation mit dem Bruder, der von der Mutter vor- 
gezogen wurde. Auf diesen Tatbestand kann nicht eindringlich genug 
hingewiesen werden; er ist ebenso wichtig wie typisch: Ks ist nicht 
so, dass eine Erinnerung unter Umstände-n einen Affekt nach sich zieht, 
sondern die Konzentration einer vegetativen Erregung und deren Durch- 
bruch rex/rodimert die Erinnerung. Freud betonte imn:er, dass man 
in der Analyse nur mit «Abkömmlingen des Unbewussten» zu tun 
hätte, dass sich das Unbewusste wie ein «Ding an sich» verhalte, d. h. 
nicht wirklich fassbar wäre. Diese Behauptung war richtig, doch nicht 
absolut. Wir müssen hinzufügen, dass mit der damals ausgeübten Me- 
thode das Unbewusste nur in seinen Abkömmlingen zu erschliessen und 
nicht in seiner eigentlichen Gestalt zu fassen war. Heute gelingt es 
uns, mit dem direkten Angriff auf die Bindung der vegetativen Ener- 
gie, das Unbewusste nicht in seinen Abkömmlingen, sondern in seiner 
Wirklichkeit zu erfassen. Unser Patient erschloss nicht etwa aus ver- 
schwommenen, wenig affektbesetzten Einfällen seinen Hass gegen den 
Bruder, sondern er benahm sich so, wie er sich damals in der Situation 
hätte benehmen müssen, wenn seinem Hass gegen den Bruder nicht die 
Angst vor dem Verlust der Mutterliebe entgegengestanden hätte. Mehr: 
Wir wissen, dass es kindliche Erlebnisse gibt, die niemals bewusst ge- 
worden waren. Aus der späteren Analyse unseres Patienten geht her- 
vor, dass ihm wohl intellektuell sein Neid auf den Bruder bewusst 
gewesen war, niemals jedoch das Ausmass und die Intensität der Wut, 
die er in Wirklichkeit in sich mobilisiert hatte. Nun ist ein psychisches 
Erlebnis in seinen Wirkungen nicht durch seinen Inhalt bestimmt, son- 
dern durch das- Mass an vegetativer Energie, das durch dieses Erlebnis 
mobilisiert wird. Bei der Zwangsneurose etwa sind sogar Inzestwünsche 
bewusst, aber wir behaupten dennoch, dass sie «unbewusst» wären, 
denn sie haben ja den Affektgehalt verloren; und wir haben alle er- 
fahren, dass es bei der Zwangsneurose auf die übliche Art nicht gelingt, 
den Inzestwunsch anders als in intellektueller Form bewusst zu machen. 
Das bedeutet aber in Wahrheit, dass die Behebung der Verdrängung 
rächt gelang. Um das Gesagte zu illustrieren, wenden wir uns den 
weiteren Vorkommnissen in dieser Behandlung zu. 

Je intensiver die muskulären Aktionen des Gesichts wurden, desto 
mehr breitete sich die körperliche Erregung, noch immer unter voll- 
kommener Absperrung von' der psychischen Bearbeitung, gegen Brust 
und Bauch hin aus. Nach einigen Wochen berichtete der Patient, dass 
er im Verlaufe der Zuckungön und Verkrampfungen der Brust, beson- 
ders aber wenn sich diese lösten, Ströme nach dem Unterbauch hin ver- 
spürte. In diesen Tagen zog er von seiner Frau weg in der Absicht, 
sich mit einer anderen Frau zu liieren. Doch im Verlaufe der nächsten 
Wochen zeigte es sich, dass die beabsichtig-te Liierung ausblieb. Das 
fiel dem Kranken zunächst gar nicht auf. Erst als ich ihn darauf auf- 
merksam machte, versuchte er nach einigen harmlos scheinenden Erklä- 
rungen, sich dafür zu interessieren; doch man merkte deutlich, dass 

SO 




Der Orgas.musreflex 

er einer inneren Sperrung unterworfen war, diese Frage auch -wirklich 
affektiv zu behandeln. Da es in der charakteranalytischen Arbeit nicht 
übhch ist, Themen, auch wenn sie sehr aktuell sind, zu behandeln, wenn 
der Kranke nicht von selbst mit voller Affektivität dazu gelangt, schob 
ich die Angelegenheit auf und verfolgte weiter die Unie, die die Aus- 
breitung seiner muskulären Aktionen mir vorschrieb. 

Der tonisehe Krampf bretthart werdender Muskulatur breitete sich 
also auf Brust und Oberbauch aus. Es war, als ob ihn in solchen 
Anfällen eine innere Kraft gegen seinen Willen von der Unterlage weg 
hoch hob und hochhielt. Es war eine ungeheure Anspannung der 
Bauciidecken- und Brustniuskulatur. Es dauerte ziemlich lange, bis 
ich verstand, weshalb eine weitere Ausbreitung nach unten ausblieb. 
Ich hatte erwartet, dass die vegetative Erregung nunmehr vom Bauch 
her auf das Becken übergreifen würde, doch das blieb aus. An dessen 
Stelle traten lebhafte klonische Zuckungen der Beinmuskulatur auf und 
eine ungeheure Steigerung des Patellarreflexes. Zu meinem grössten 
Erstaunen teilte mir der Patient mit, dass er die Zuckungen der 
Beinmuskulatur äusserst angenehm empfand. Ich musste dabei unwill- 
kürlich an die epileptischen lüonismen denken, und fand meine Auf- 
fassung bestätigt, dass es sich bei den epileptischen und epilepti formen 
Muskel Zuckungen um Angstlösungen handelt, die nur angenehm (lust- 
voll) empfunden werden können. Es gab Zeiten in der Behandlung 
meines Kranken, in den ich nicht ganz sicher war, ob ich nicht eine 
richtige Epilepsie vor mir hatte. Äusserlich zumindest waren die An- 
fälle des Patienten, die tonisch anfingen und sich gelegentlich klonisch 
auflösten, nur sehr wenig von den epileptischen AnfäEen zu unter- 
scheiden. Ich hebe hervor, dass in diesem Stadium nach etwa drei- 
monatiger Behandlung die Muskulatur des Kopfes, der Brust und des 
Oberbauches mobilisiert waren, ebenso die der Beine, besonders Knie- 
und Oberschenkelmuskulatur. Unterbauch und Becken waren und blie- 
ben unbewegt. Auch die Spaltung zwischen den muskulären Aktionen 
und ihrer Wahrnehmung durch das Ich hielt sich konstant. Der Patient 
wusste vom Anfall. Er konnte dessen Bedeutung erfassen, aber er 
spürte den Affekt des Anfalls nicht. Die Hauptfrage war nun wie 
früher: Was steht dazwischen? Es wurde immer klarer, dass der 
Patient sich dagegen wehrte, das Ganze in allen seinen Teilen zu erfas- 
sen. Wir wussten beide: Sein Ich war sehr vorsichtig. Die Vorsicht 
äusserte sich nicht nur in seiner psychischen Haltung. Nicht nur darin, 
dass er mit seiner Nettigkeit und seiner Anpassung an die Erforder- 
nisse der Arbeit immer nur bis zu einer bestimmten Grenze ging und 
sich irgendwie abweisend oder kalt machte, wenn die Arbeit bestimmte 
Grenzen überschritt. Diese «Vorsicht» war auch in seiner muskulären 
Aktivität enthalten, also sozusagen doppelt festgehalten. Er selbst 
beschrieb und erfasste den Tatbestand in der Weise, dass er eineii 
Knaben darstellte, den ein Mann verfolgte und prügeln wollte. Dabei 
machte er einige ausweichende Schritte, sah dabei ängstlich nach hin- 
ten und zog das Gesäss nach vorn, wie um es dem Verfolger zu ent- 
ziehen. In üblicher analytischer Sprache hätte man da gesagt: Hinter 
dem Prügeln steht wohl die Angst vor dem homosexuellen Angriff. 
Der Patient war tatsächlich etwa 1 Jahr in einer Symptomdeutungs- 

81 



Wilhelm Reich 



■, 



analyse gewesen, in der ständig seine passive Homosexualität gedeutet 
worden war. «An sich» war das richtig gewesen, doch vom Standpunkt 
der heutigen Einsichten muss man sich sagen, dass dieses Deuten kei- 
nen Sinn gehabt hatte; denn wir sehen, was alles bisher im Patienten 
einer wirklich affektiven Erfassung dieses Tatbestandes widersprach. 
Seine charakterliche Vorsicht und die muskuläre Bildung seiner Ener- 
gie, die ja noch lange nicht gelöst waren. Ich fing nun an, seine Vor- 
sicht nicht vom Psychischen her, wie ich sonst in der Charakteranalyse 
es zu tun pflege, sondern vom Körperlichen her zu behandeln; so z. B. 
zeigte ich ihm immer wieder, dass er zwar seine Wut in seinen musku- 
lären Aktionen zum Ausdruck brachte, aber niemals die Aktion fort- 
setzte, niemals die geballte und erhobene Faust auch wirklich nieder- 
sausen liess. Es zeigte sich einige Male, dass in dem gleichen Augen- 
blick, v/Gnn die Faust aufs Sofa niedersausen wollte, die Wut ver- 
schwunden war. Ich konzentrierte nunmehr die Arbeit auf die Bremsung 
der Vollendung der muskulären Aktion, immer von dem Gesichtspunkt 
geleitet, dass er in dieser Bremsung eben seine Vorsicht zum Ausdruck 
brachte. Nach einigen Stunden konsequenter Bearbeitung der Ab\\'ehr 
der muskulären Aktion fiel ihm plötzlich folgende Episode aus seinem 
5. Lebensjahre ein; Als kleiner Junge wohnte er an einem felsigen 
Strand, der steil zum Meere abfiel. Er war äusserst lebhaft damit 
beschäftigt, am Rande des Felsens ein Feuer anzulegen, und spielte 
derart selbstvergessen damit, dass er in Gefahr stand, ins Meer zu 
stürzen. Die Mutter erschien in der Türe des einige Meter entfern- 
ten Hauses, erblickte was er tat, erschrak und versuchte ihn vom Felsen 
wegzubringen. Sie kannte ihn als motorisch äusserst lebhaften Jungen 
und war gerade deshalb sehr ängstlich. Sie lockte ihn nun mit den 
freundhchsten Tönen und mit Versprechungen, ihm Süssigkeiten zu 
geben, an sich heran. Als er dem nachgab, verprügelte sie ihn furcht- 
bar. Dieses Erlebnis hatte auf ihn früher einen grossen Eindruck 
gemacht, doch jetzt verstand er es im Zusammenhang mit seiner 
abwehrenden Haltung Frauen gegenüber und seiner Vorsicht, die er 
in der Behandlung darbot. Doch damit war die Sache nicht erledigt. 
Die Vorsicht blieb wie sie war. Eines Tages erzählte er in der Pause 
zwischen zwei Anfällen humorvoll folgenden Tatbestand. Er war ein 
sehr versierter Forellenfänger. Er beschrieb die Lust beim Forellen- 
fangen sehr eindrucksvoll; er vollführte die entsprechenden Bewegun- 
gen, beschrieb, wie man die Forelle erblickt, wie man die Angel aus- 
wirft, und hatte dabei einen ungeheuer gierigen, fast sadistischen Aus- 
druck im Gesicht. Es fiel auf, dass er zwar den gesamten Vorgang 
genau besehrieb, doch ein Detail ausliess, nämlich den Augenblick, in 
dem die Forelle in die Angel hineinbeisst. Ich verstand den Zusammen- 
hang, sah jedoch, dass ihm die Auslassung nicht auffiel. In üblicher 
analytischer Technik hätte man ihm den Zusammenhang mitgeteilt, 
oder ihn dazu ermuntert, ihn selbst zu erfassen. Doch mir lag gerade 
daran, das Nichtschildern des Gefangenwerdens und die Motive der 
. Auslassung zunächst herauszubekommen. Es dauerte ungefähr vier 
Wochen, bis sich folgendes abspielte: Die Zuckungen im Körper ver- 
loren immer mehr den krampfhaften tonisehen Charakter. Auch der 
Klonus wujde geringer und es traten eigenartige Zuckungen am Bauch 

82 



Der Orgasmusreflex 

auf; sie waren mir nicht neu, denn ich hatte sie bei vielen anderen 
Patienten gesehen, doch nicht in dem Zusammenhang, der sich mir nun 
erschloss. Der Oberkörper zuckte nach vom, die Mitte des Bauches 
blieb ruhig und der Unterkörper zuckte gegen den. Oberkörjier hin. In 
aolchen Anfällen richtete sich der Patient plötzlich halb auf, während 
der Unterkörper nach oben fuhr. Das Ganze war eine organische, ein- 
heitliche Bewegung-. Es gab Stunden, in denen sie unausgesetzt er- 
folgten. Abwechselnd mit diesen Zuckungen des Gesamtkörpers traten 
Strömungsempfindung-en im Körper auf, besonders in den Beinen und 
im Bauch, die er als angenehm empfand. Die Mund- und Gesichts- 
haltung veränderte sich ein wenig; in einem solchen Anfall bekam sein 
Gesicht völlig den Ausdruck eines Fisches. Der Patient sagte völlig 
unaufgefordert, noch ehe ich ihn darauf aufmerksam gemacht hatte, 
«Ich fülüe mich wie ein Urtier» und bald danach «Ich fühle mich wie 
ein Fisch». Was lag also vor? Ohne eine Ahnung davon zu haben, 
ohne einen Zusammenhang durch Assoziationen erarbeitet zu haben, 
stellte der Patient in seinen Körperbewegungen einen — offenbar 
gefangenen — zappelnden Fisch dar. In analytischer Deutungssprache 
ausgedrückt würde man sagen; Er «agierte» die gefangene Forelle. 
Es war alles vorhanden, um dem Ausdruck zu verleihen. Der Mund 
war krampfhaft nach vorne gestreckt, starr und verzerrt. Der Körper 
zuckte von den Schultern bis zu den Beinen. Der Rücken war brett- 
hart. Nicht ganz verständlich war in dieser Phase, dass der Patient 
beim Zucken eine Zeitlang auch die Arme wie in einer Umarmung mit 
einer Person nach vorne schlug. Ich erinnere nicht mehr, ob ich den 
Patienten auf den Zusammenhang mit der Forellen geschichte aufmerk- 
sam machte, oder ob er es selbst erfasste (es ist in diesem Zusammenhange 
auch nicht sehr wichtig); doch er fühlte den Zusammenhang immittel- 
bar und hatte nicht den geringsten Zweifel daran, dass er sowohl den 
Forellenfänger wie die Forelle darstellte. Natürlich hatte das Ganze 
eine unmittelbare Beziehung zu den Enttäuschungen an der Mutter. 
Sie hatte ihn als Kind von einem bestimmten Zeitpunkt an vernach- 
lässigt, schlecht behandelt, oft geschlagen. Es war oft passiert, dass 
er von ihr etwas sehr Schönes, Gutes, erwartet hatte, und dass das 
gerade Gegenteil davon eintraf. Seine Vorsicht wurde nun begreiflich. 
Er vertraute niemand, er wollte sich nicht fangen lassen. Es war de]- 
tiefste Grund seiner Oberflächlichkeit, seiner Angst vor Hingabe, sach- 
licher Verpflichtung etc. Als wir diesem Zusammenhang aufarbeite- 
ten, veränderte sich sein Wesen in einer auffallenden Weise. Seine 
Oberflächlichkeit wich, er wurde ernst. Der Ernst trat ganz plötzlich 
in einer Stunde auf. Der Patient sag-te wörtlich folgendes: «Ich 
verstehe nicht; es ist alles plötzlich so toternst geworden». Er hatte 
also nicht etwa die ernsthafte Gefühlshaltung aus einer bestimmten 
Zeit der Kindheit erinnert, sondern er veränderte sich tatsächhch vom 
Oberflächlichen zum Ernsthaften. Es wurde klar, dass seine krank- 
hafte Beziehung zu Frauen, d. h. seine Angst, sich mit Frauen zu 
liieren, sich Frauen hinzugeben, mit dieser charakterlichen, striiktur- 
gewordenen Angst zusammenhing. Er war ein sehr umworbener Mann 
und hatte dennoch merkwürdig wenig Gebrauch davon gemacht. 

Von nun an verstärkten sich die körperlichen Ström ungsempfindun- 

83 



Wühdm Reich 



fc^ 



geh zunächst im Bauch, dann auch in den Beinen und im Oberkörper 
zusehends und rasch. Er beschrieb die Empfindungen nicht nur als 
Strömen, Sondern auch als wollustvoll, «süsslieh». Dies war besonders 
dann der Fall, wenn er seine Bauchzuckungen stark, lebhaft und rasch 
aufeinanderfolgend produziert hatte. 

An dieser Stelle müssen wir einen Augenblick verweilen, um uns 
die Situation klarzumachen, in der sich der Patient befand. 

Die Bauchzuckungen waren nichts anderes als der Ausdruck davon, 
dass die tonische Spannung der Bauchdeckenmuskulatur sich löste. Das 
Ganze arbeitete wie ein Reflex. Wenn man leicht auf die Bauchdecke 
schlug, löste sich sofort das Zucken aus. Nach einigen Zuckungen war 
die Bauchdecke weich und tief eindrückbar; vorher war sie hart, ge- 
spannt und zeigte eine Erscheinung, die ich noch unverbindlich die 
Banchabivehr nennen möchte. Sie ist an ausnahmslos allen neurotisch 
erkrankten Menschen festzustellen, wenn man die Kranken tief ausat- 
men lässt und .dabei die Bauchdecke an der Öffnung der beiden Rippen- 
bogen etwa 3 cm. unterhalb des Endes des zentralen Brustknorpels 
leicht eindrückt; dann verspürt man entweder eine heftige ^Resistenz 
im Innern des Bauches oder aber die Kranken äussern Schmerz ähnlich 
dem beim Druck auf den Hoden. Ein Blick auf die Lage der Bauchein- 
geweide und des Plexus solaris, des Sonnengeflechts des vegetativen 
Nervensystems, zeigt uns im Zusammenhang mit noch weiter zu nen- 
nenden Erscheinungen, dass die Bauchspannung die Funktion hat, 
den Plexus solaris zu umscliliessen. Es ist ein Druck, der von der 
Bauchdecke her auf den Plexus ausgeübt wird. Die gleiche Funktion 
erfüllt das gespannte nmi tief gestellte Zwerchfell. Auch dieses Symp- 
tom ist typisch. Aumahmslos bei allen einigermassen neurotisch er- 
Icrankte-n Menschen kann vian eine tonische Kontraktur des ZwerchfeUf; 
feststellen; sie drückt sieh darin aus, dass die Patienten flach und nur 
abgehackt ausatmen können. Bei der Ausatmung wird das Zwerchfell 
hocligehoben, es verändert sich der Druck auf die darunterliegenden 
Organe, d. h. auch auf den Plexus solaris. Nun ist mit der I^ockerung 
des Zwerchfells und der Bauchdeckenmuskulatur offenbar eine Befrei- 
ung des vegetativen Geflechts von dem auf ihm lastenden Druck ver- 
bunden. Das äussert sich darin, dass sich dann ein Empfinden einstellt, 
wie man es beim Schaukeln, beim Fahrstuhlabwärtsfahren, beim Fallen 
im Oberbauch empfindet. Ich muss auf Grund meiner Erfahrungen 
annehmen, dass es sich hier um eine äusserst wichtige Erscheinung 
handelt. Die allermeisten Patienten erinnern, dass sie als Kinder sich 
darin geübt haben, diese Empfindungen im Oberbauch, die bei Wut oder 
Angst besonders intensiv auftreten, niederzuhalten und zu unterdrük- 
ken; sie lernen es spontan in der Weise, dass sie den Atem, aniiialten 
und den Bauch einziehen,. Das Verständnis der Solarisspannung ist für 
das des weiteren Verlaufs der Behandlung unseres Patienten unerläss- 
lich. Was nunmehr erfolgte, stand durchaus im Einklang mit der oben 
beschriebenen Annahme und bestätigte sie. Je intensiver ich den Pati- 
enten die Haltung der Muskulatur in der oberen Bauchgegend beob- 
achten und beschreiben liess, desto intensiver wurden die Zuckungen, 
desto stärker wurden die Strömungsempfindungen nach dem Aufhören 
der Zuckung, desto mehr breiteten sich die wellenförmigen, schlangen- 






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84 






Der OrgasmusrefleJi 

artigen Bewegungen des Körpers aus. Doch das Becken blieb noch 
immer steif, bis ich daran ging, dem Kranken die Verkrampfung der 
Beckenmuskulatur bewusst zu machen. Bei den Zuckungen stiess der 
gesamte Unterkörper nach vorn. Das Becken blieb dabei ruhig. Ich 
forderte nun den Kranken auf, die Hemmung, die das das Becken behin- 
derte, zu beachten. Es dauerte ungefähr zwei Wochen, bis er seine 
muskuläre Bremsung im Becken vollkommen erfasst und die Hemmung- 
überwunden hatte. Er lernte es allmählich, das Becken in die Zuckung 
miteinzu beziehen. N-un trat auch im Genitale ein Sirövnmgfiempfinden 
auf, das er vorher nie gekannt hatte. Er bekam in der Stunde Glied- 
steifungen und hatte den mächtigen Impuls, zur Ejakulation zu gelan- 
gen. Es war ganz klar: Die Zuckungen des Beckens, des Oberkörpers 
und des Bauches waren nunmehr die gleichen, die man im wgastischen 
Klonus -produziert uwi erlebt. Von nun an konzentrierte sich die Arbeit 
darauf, die Haltung des Patienten beim Geschlechtsakt genauestens be- 
schreiben zu lassen. Es stellte sieh heraus, was man nicht nur bei allen 
Neurotikern, sondern bei der überwiegenden Mehrzahl aller Menschen 
beiderlei Geschlechts findet: Die Bewegung im Geschlechtsakt ist künst- 
lich forciert, ohne dass die Betreffenden es ivisse^i. Bewegt wird ge- 
wöhnlich nicht das Becken für sich, sondern Bauch, Becken und Ober- 
schenkel in einem Stuck. Das entspricht nicht der natürlichen vegeta- 
tiven Becken Bewegung beim Geschlechtsakt, sondern ist im Gegenteil 
eine Bremsung des orgastischen Reflexes. Sie ist willkürlich im Gegen- 
satz zum reflektorischen Akt. Sie hat die Funktion, die orgastische 
Strömungssensation im Genitale herabzusetzen oder gänzlich zu unter- 
binden. Von diesen Erfahrungen ausgehend, konnte ich nun mit dem 
Patienten rasch vorwärtskommen. Es zeigte sich, dass er den Becken- 
boden ständig hochgespannt hielt. Erst bei diesem Fall verstand ich 
einen Irrtum, dem ich vorher verfallen war. Ich hatte bis dahin bei den 
Versuchen, die orgastischen Henmiungen zu beseitigen, wohl die Kon- 
traktur des Beckenbodens behandelt und zu lösen versucht, doch es hatte 
sich mir immer wieder der Eindruck aufgedrängt, dass das nicht ge- 
nügte, dass das Ergebnis irgendwie unvollständig war. Jetzt begriff 
ich: Das Zwerchfdl drückte auf den Plexus von oben, die Bauchdecken 
drückten von vorne wid die Kontraktion des gesamten Beckenhod^n^ 
hatte den Zweck, von unten her den Bauchraiim erheblich zu verengen. 
Auf die Bedeutung dieser Tatbestände für die Verursachung und Fest- 
haltu^ng neurotischer Situationen komme ich später zurück. 

Nach einigen weiteren Wochen gelang die Lösung der muskulären 
Panzerung des Patienten vollkommen. In dem Masse, in dem sicli die 
strömenden Empfindungen im Genitale verstärkten^ nahmen die isolier- 
ten Bauclizuckungen ab. Die Ernsthaftigkeit seines Gefühlslebens 
wuchs. In diesem Zusammenhang erinnerte er ein Erlebnis etwa im 
zweiten Lebensjahre. Er ist allein mit der Mutter in einem Somnier- 
aufenthaltsort. Es ist helle Sternennacht. Die Mutter schläft und 
atmet tief; von draussen her hört er den regelmässigen Wellenschlag 
des Meeres. Es war die gleiche tiefernste, etwas traurig- wehmütige 
Stimmung, die er jetzt verspürte. Wir dürfen sagen, er erinnerte eine 
der Situationen aus der allerfruhesten Kindheit, in denen er seine vege- 
tative (orgastische) Sehnsucht noch zuliess. Nach der Enttäuschung 

85 



^ 



Wilhelm Reich 

an der Mutter, die in seinem fünften Lebensjahr sich vollzog, kämpfte 
er gegen sein vegetatives Vollerleben an, wurde kalt, oberflächlich, kurz 
er entwickelte den Charakter, den er zu Beginn der Analyse darbot. 
Von nun an verstärkte sich das Gefühl eines «sonderbaren Kontaktes 
mit der Welt». Er versicherte mir die völlige Identität des Geluhlsern- 
stes, der ihn jetzt beherrschte, mit dem Empfinden, das er als ganz klei- 
nes Kind bei der Mutter, besonders in jener Nacht gehabt hatte. Er 
beschrieb es wie folgt: «Ich bin wie mit der Welt unmittelbar ver- 
bunden. Es ist, als ob alles in mir und ausserhalb von mir schwingen 
würde. Es ist, als ob alle Reize viel langsamer wie in Wellen heraus- 
kämen. Es ist wie eine schützende Hülle um ein Kind herum. Es ist 
unglaublich, wie ich die Tiefe der Welt jetzt spüre.» Ich brauchte ihm 
nicht erst mitzuteilen, weil er es spontan erfasste: Die VerbundeTÜteit 
mit der Mutter ist dieselbe vAe die mit der Natur. Die Gleichsetzung 
von Mutter und Erde oder Weltenraum erhält einen tieferen Sinn, wenn 
man sie von dem vegetativen Gleichklang von Ich und Welt her be- 
greift. An einem der nächsten Tage erlebte der Patient einen schweren 
Angstanfall. Er fuhr mit schmerzhaft aufgesperrtem Mund auf; auf 
der Stirn standen Schweisstropfen; seine Muskulatur war bretthart 
gespannt. Er halluzinierte ein Tier, einen Affen; dabei hatte seine 
Hand völlig die Haltung einer gekrümmten Affenhand, und er stiess 
Töne hervor, aus der Tiefe der Brust, «wie ohne Stimmbänder», sagte 
er nachher. Es war ihm, als wenn ihm jemand ganz nahe kam und 
ihn bedrohte. Dann rief er wie in Trance «sei nicht böse, ich will 
ja nur saugen». Der Angstanfall klang ab, der Patient beruhigte sich, 
und in den weiteren Stunden arbeiteten wir es durch. Dabei erinnerte 
er unter vielem anderen, dass er etwa zwei Jahre alt — erfassbar durch 
eine bestimmte Wohnungssituation — Brehms Tierleben zum ersten Mal 
gesehen hatte. Er erinnerte nicht, damals die gleiche Angst produziert 
zu haben. Doch die Angst entsprach zweifellos dem damaligen Erleben: 
Er hatte eiTien Gorüla mit grosser Bewunderung und grossem Erstaunen 
betrachtet. 

Die damals nicht zur Entwicklung gekommene Angst hatte ihn den-/ 
noch das ganze Leben lang beherrscht. Jetzt war sie zum Ausbruch 
■ gekommen. Der Gorilla stellte den Vater dar, die bedrohende Gestalt, 
die ihn am Saugen verhindern wollte. Seine Beziehung zur Mutter war 
also fixiert geblieben und in Form der saugenden Mundbewegungen 
gleich im Anfang der Behandlung durchgebroclien, doch erst nach Dui'ch- 
arbeitung seiner gesamten muskulären Panzerung wnrde sie ihm spon- 
tan verständlich.. Es war nicht notwendig, fünf Jahre lang an Hand 
von Erinner ungsspuren nach dem Saugeerlebnis aus jener Zeit zu 
suchen. Er war aktuell in der Behandlung ein Säugling mit dem Ge- 
sichtsausdruck eines solchen und den erlebten Äng'sten. 

Ich kann nun die Schilderung abkürzen. Nach Lösung der zwei 
Hauptfixierungen an kindliche Situationen, seiner Enttäuschung an 
der Matter und seiner Hingabeangst, steigerte sich die genitale Erre- 
gung rasch. Es dauerte nur wenige Tage, da lernte er eine hübsche 
junge Frau kennen, mit der er sich leicht und widerspruchslos befreun- 
dete. Nach dem zweiten oder dritten Akl kam er strahlend in die 
Behandlung und berichtete ganz erstaunt, dass sich das Becken dabei 

86 



L 



Der Orgasmusreflex 

«so merkwürdig- von selbst» bewegt hätte. Es zeigte sich bei der ge- 
nauen Darstellung, dass er noch eine leichte Bremsung im Augenbhcke 
des Samenergusses hatte. Doch da die Becken bewegung gelöst war, 
kostete es nur wenig Mühe, auch diesen letzten Rest zu beseitigen. Es 
kam nunmehr darauf an. dass er im Augenbhcke des Samenergusses 
nicht .stoppte, sondern sich voll der vegetativen Motorik hingeben 
konnte. Er zweifelte keinen Augenblick daran, dass die Zuckungen, 
die er in der Behandlung produziert hatte, nichts anderes gewesen 
waren, als die verMltenen vegetativen orgastischen Koitusheweg-imgen. 
Der Eeflex war jedoch, wie sich später herausstellte, nicht völlig 
störungsfrei zur Entwicklung gekommen. Die Zuckungen waren noch 
ruckartig; es bestand eine starke Scheu, den Kopf nach hinten sinken 
zu lassen, also die Hingabe Haltung einzunehmen. Es dauerte nicht 
lange, bis der Patient 'das Sträuben gegen einen weichen harmonischen 
Ablauf der Bewegung aufgab. Jetzt löste sieh der Rest seiner Störung, 
der vorher nicht so deutlich hei-vorgetreten war. Die harte stossartige 
Form in der Zuckung ging einher mit einer psychischen Haltung, die 
besagte: «Ein Mann ist hart und unnachgiebig, jede Hingabe ist weib- 
lich.» Im Anschluss an diese Erkenntnis löste sich sein alter infantiler 
Konflikt mit seinem Vater. Er fühlte sich einerseits durch seinen Vater 
geborgen und beschützt. Er konnte, wie schwierig auch Situationen 
sein mochten, sich darauf verlassen, dass ihm der «Rückzug» ins väter- 
liche Heim freistünde. Doch gleichzeitig strebte er nach Selbständigkeit 
und Unabhängigkeit vom Vater; er empfand seine Schutzdürftigkeit 
als weiblich und wollte sich davon freimachen. So standen das Selb- 
ständigkeitsstreben und das passiv-feminine Sehutzbedürfnis einander 
gegenüber. Beide waren in der 'Form des Orgasmusreflexes gegeben. 
Die Lösung des psychischen Konfliktes erfolgte Hand in Hand mit der 
Beseitigung der harten stossartigen Form des Reflexes und dessen Ent- 
larvung als einer Abwehr der weichen hingehenden Bewegung. Als 
er die Hingabe im Reflex selbst erlebte, ergriff ihn tiefe Bestürzung: 
«Icli hätte nie gedacht», sagte er, «dass ein Mann sich auch hingeben 
könnte. Ich habe es immer für ein weibliches Geschlechtsmerkmal ge- 
halten». Derart war seine eigene abgewehrte Weiblichkeit verknüpft 
mit der natürlichen Form der orgastischen Hingabe, wodurch die letzte 
gestört wurde. Es ist interessant, wie in der Struktur dieses Kranken 
sich die gesellschaftliche doppelte Moral widergespiegelt und verankert 
hatte. Auch in der offiziellen gesellschaftlichen Anschauung- ist Hingabe 
mit Weib-sein und unnachgiebige Härte mit Männlich-sein gefülilsmäs- 
sig verknüpft. In der gesellschaftlichen Ideologie ist es unvorstellbar, 
dass ein selbständiger Mensch sich hingeben und ein hingebender Mensch 
selbständig sein könne. So wie die Frauen aus dieser Gleichsetzung 
heraus gegen ihre Weiblichkeit protestieren und männlich sein wollen, 
so wehren sich die Männer gegen ihren natürlichen geschlechtlichen 
Rhythmus aus Angst, weiblich zu erscheinen; — und daraus schöpft 
wieder die verschiedene Anschauung des Sexuellen bei Mann und Frau 
ihre scheinbare Berechtigung. 

Im Verlaufe der nächsten Monate vervollständigte sich, jeder Zug 
im Umschwung seines Wesens. Er hörte auf, masslos zu trinken, ver- 
sagte sich jedoch den Alkohol gelegentlich in Gesellschaft nicht. Er 

87 



1 



Aus dem „Internationalen Institut für 
Sexualökonomische Forschung" 

Wir ei-hielten folgende Mitteilung, die wir mit Freude abdrucken: 

Im Jahre 1921 enthüllte ein besonders günstig* gelegener Fall die 
zentrale Bedeutung der orgastischen Funktion für die seelische Hygiene 
sowie ihrer Störung für die Entstehung und Aufrechterlialtung der 
Neurose. Die konsequente Durchforschung des Orgasmusproblems, das 
bis dahin in seinen wesentlichsten Stücken unbekannt und ungeklärt 

88 



1 



Mitteilung aus dem Institut 

vermochte die Beziehung zu seiner Frau zunächst in eine brauchbare 
Richtung zu bringen, liierte sich glücklich mit einer anderen Frau und 
er nahm vor allem interessiert und begeistert eine neue Arbeit auf. 

Die Oberflächlichkeit war vollkommen gewichen. Kr war niclit melir 
imstande wie früher, in Gasthäusern öde Gespräche zu führen oder 
sonst Dinge zu unternehmen, die nicht irgendwie sachlich interessier- 
ten. Ich mochte ausdrücklich betonen, dass es mir nicht eingefallen 
wäre, ihn irgendwie moralisch zu leiten oder zu beeinflussen. Ich war 
selbst überrascht von der spontanen Wandlung seines Wesens in der 
Richtung zur Sachlichkeit, zum Ernst. Er begriff die Grundauffassun- 
gen der Sexualökonomie nunmehr weniger aus seiner ja nicht sehr lan- 
gen Behandlung, sondern, das darf man ruhig sagen, spontan von seiner 
veränderten Struktiir her, von seinem Körpergefühl her, vom Stand- 
punkt der erlangtmi vegetativen Beweglichkeit. • Er hatte mein Buch ^- 
«Die Funktion des Orgasmus» gar nicht gelesen und beschrieb genau 
den von mir erhobenen Unterschied zwischen der natürlichen, vegeta- 
tiven orgastischen Erregung und Beweglichkeit und seiner früheren 
künstlichen, gemachten, unnatürlichen Art der Kohabitation. 

Ich schöpfte aus diesem Erfolg viel Ueberzeugung von der Richtig- 
keit der bisherigen und viel Mut für die bevorstehenden weiteren Erhe- 
bungen. Ganz unabhängig von mir hat ein struktur veränderter Mensch 
automatisch begriffen, um was es in der Sexualökonomie geht. 

Man ist bei so schwierigen Fällen an Erfolg in so kurzer Zeit nicht 
gewöhnt. Ich kann nicht beurteilen, ob die Erwartung berechtigt ist, 
dass mit Hilfe der hier beschriebenen Art der direkten vegetativen 
, Energielösung die Behandlungen wesentlich abzukürzen wären. Einige 

\, andere Fälle gleicher Art berechtigen allerdings dazu. Ich würde auch 

noch nicht wagen, die Dauer des Erfolges für gesichert zu lialten; es 
■wird einiger Jahre bedürfen, tun sich darüber ein festes Urteil zu 
bilden. 

Doch wesentlicher wird der hier geschilderte Fall für das Verständ- 
nis der Funktion der vegetativen Energie der Bremsung, im besonderen 
an jenen Erscheinungen, die sich um das Sonnengeflecht des vegeta- 
tiven Nervensystems bei neurotisch erkrankten Mensehen gruppieren. 




Mitteilung aus de.m Institut 

geblieben war, führte zur Ablehnung der Freudschen Todestrieblehre. 
Was 'frend als Todestrieb zu fassen glaubte, war in Wirklichkeit die 
orgastische Sehnsucht nach Auflösung, Auslösung, mit der Welt Ver- 
schmelzen, kurz: nach orgastischem Erleben; psychische Strebungen, 
die durch die Lebensunterdrüekung der heutigen Gesellschaft behindert 
sind und sich infolgedessen in Verhaltungs weisen äussern, die einem 
Streben nach dem Tod ähnlich sehen. Die Todestrieblehre Freuds hielt 
keiner klinischen Kritik stand. Im Gegensatz dazu erwies sich die 
Hypothese, dass die Sexualtriebe die «Lebenstriebe» seien, als korrekt. 
Schon die klinischen Details der orgastischen Funktion ergaben im 
Zusammenhang mit der Beachtung physiologischer Erregungszustände 
eine Formel, die 1j934 in dieser Zeitschrift zum ersten Male in der 
Abhandlung «Der Orgasmus als elektrische Entladung» pubUziert wurde. 
Sie lautet: Mechanische Spannung oder Füllung — Elektrische Ladung 
^ Elektrische Entladung — Mechanische Entspannung. Es zeigte sich, 
dass sie in der unbelebten Natur nicht anwendbar ist und im Gegensatz 
dazu nicht nur die orgastische Sexualfunktion, sondern sämtliche vege- 
tativen Funktionen des Organismus beherrscht. Im Verlaufe der wei- 
teren Forschung konnten alle Zweifel an der Identität der Orgasmus- 
formel mit der Lebensformel beseitigt werden. Sie bestätigte sich 1035 
auch experimentell. Sexualerregung und Angsterregung erwiesen sich 
als einander entgegengesetzte Richtungen elektrischer Ladungstatigkeit 
an den sexuellen Organen («Experimentelle Ergebnisse über die elek- 
trische Funktion von Sexualität und Angst» 1937). In Winter 1935/36 
wurden nun auf Grund der klinischen und bis dahin vorliegenden experi- 
mentellen Tatbestände Versuche eingeleitet, die zeigen sollten, ob die 
Identität der Orgasmusformel mit der Lebensformel zu Recht besteht 
oder nicht. Es gelang bereits im Mai 1936, biologische Versuche durch- 
zuführen, die diese Annahme bestätigten. Es ergaben sich hochstenle 
kolloidale Gebilde bei bestimmter Behandlung verschiedener lebloser 
Stoffe, die in Bewegung, Kontraktion, Expansion und Form von 
tierischen Einzellern nicht zu unterscheiden waren. Noch stand die 
Frage offen, ob es sich nur um eine Imitation, also Modelle lebender 
Organismen handelte, oder ob tatsächhch die Organisierung nichtleben- 
den Stoffes gelungen war. Diese Frage konnte nur durch Kulturver- 
suche entschieden werden. Nach monatelanger angestrengter Arbeit 
gelang im Dezember 1936 die erste Kultur der Gebilde. Die Kultur- 
versuche wurden bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt soweit durchgeführt, 
dass wir uns berechtigt fülilen, das positive Ergebnis nunmehr als ein- 
wandfrei mitzuteilen. 

Seit Dezember steht unser Institut mit' einer französischen natur- 
wissenschaftlichen Gesellschaft in Verbindung. Es wurde eine Kom- 
mission von Fachwissenschaftlern gebildet und ein Laboratorium zur 
Verfügung gestellt, das die Aufgabe bekam, die hier durchgeführten 
Versuche zu kontrollieren. Gleichzeitig ging eine Meldung über die 
Herstellung der Gebilde an die Französische Akademie der Wissenschaf- 
ten in Paris. Die experimentellen Versuchsleiter in Frankreich unter- 
zogen sich in dankenswerter Weise der Aufgabe, nach Kontrollierung 
der Versuche, eine offizielle Meldung an die Akademie zu erstatten. 
Vor kurzem erhielten wir die erfreuliche Nachricht, dass die ersten 

89 



Sigurd Hoel 

Kontrollversuche am Französischen Laboratorium positiv ausgefallen 

Die experimentell erhaltenen lebenden und kultivierbaren Ge'bilde 
erhielten den Namen Bione. Die Ergebnisse der Bion-Versuche wurden 
am 7 März m der Naturphilosophi sehen Gesellschaft in Nizza der 
Öffentlichkeit mitgeteilt. 

_ Sobald die wichtig-sten Versuchsreihen abgeschlossen sein werden 
wird das Ergebnis im Eahmen unserer experimentellen und klinischen 
Berichte detailliert mitg-eteilt werden. 

Mit dem Geling-en der otengenannten biologischen Versuche ist nicht 
nur die Orgasmusformel als Ubensformel experimentell bestätigt wor- 
den; darüber hinaus wurde der Grundstein für die biologische Forschung- 
auf sexualokonomisc-hem Gebiet gelegt. Dass hierbei der dialektische 
Materialismus als naturwissenschaftliche Forschungs- und Erkenntnis- 
Methode einen entscheidenden Sieg an der wissenschaftlichen Front 
gegen den Vitalismus und Mystizismus in der Naturwissenschaft buchen 
itann, soll ausdrücklich hervorgehoben werden 
Oslo, im April 1937 

Wühelm Reich 



Irrationalismus 

in Politik und Gesellschaft 



Der Moskauer Prozess 

Von Sigurd Hoel 

Die Hauptbegebenheiten des zweiten und vorläufig letzten grossen 
Moskauer Prozesses smdwoW bekannt. Ich begnüge mich damit^n 
aUer Kurze an die wichtigsten Tatsachen zu erinnern- 

Von dem abwesenden Hauptangeklagten TrotzJä abgesehen wurde 
über 17 Angeklagte Gericht gehalten. 

Die Siebzehn waren angeklagt, teils Leiter, teils Agenten eines 
«ParaEelzentrums» zu: dem konterrevolutionären Zentrum gewesen zu 
sein das von Sinowjeiv und Kamenew geführt worden war und das 
tTluZ ''^^" J^^kauer Prozess im August vorigen Jahres ausgerot- 
tet wurde. (Gestandnissen m diesem letzten Prozess zufolse o-ah p« 
sogar noch ein Zentrum um Bucharin, Toviski und R>jk<m. Der Prozess 
gegen dies dritte Zentrum hat noch nicht stattgefunden. Tomski be- 
ging übrigens Selbstmord im Sommer vorigen Jahres, als die GPU ihn 
verhaften wollte.) 

Was hatte nun dieses «Parallel Zentrum» begangen? — Der erste und 
man mochte fast sagen mildeste Teil der Anklage lautete auf terroristi- 

90 



^ 



Der Moskauer Prozess 

sehe Wirksamkeit: Das «Zentrum» hätte Stalin und seinem nächsten 
Kreis nach dem Leben gestrebt. 

Der zweite Teil der Anklage beschuldig'te die Angeklagten der Sabo- 
tage. Sie hätten Gasexplosionen in Fabriken, Einstürze und Explosio- 
nen in Gruben, Eisenbahnzusammenstösse in grosser Zahl organisiert 
und im übrigen auf alle mögliche Weise versucht, die ökonomische Auf- 
bauarbeit zu hindern und zu bremsen. 

Der dritte Teil der Anklage schliesslich lautete auf Spionage. Die 
Angeklagten hätten hochverräterisclie Spionagearbeit für Deutschland 
und Japan teils organisiert, teils direkt ausgeführt. 

Der Leiter dieser ganzen hochverräterischen, sowjetfeindlichen Ar- 
beit war Trotzki. Er verlangte das Leben Stalins und seiner nächsten 
Ratgeber, er forderte die Durchführung der Spionage und der Sabota- 
geakte. Die siebzehn Angeklagten erhielten seine Befehle und Direk- 
tiven und geliorcliten — teils unter Zweifel und Angst und Beben — 
aber sie gehorchten. Trotzki hielt es — der Anklageschrift und den 
Geständnissen der Angeklagten nach — für aussichtslos, allein mit sei- 
nen und seiner Mit verschworenen Kräften die Macht in der Sowjet- 
union erobern zu woDen. Hinzu kam, dass er nach dem Siege des 
Nationalsozialismus in Deutschland einen Krieg zwischen Deutschland 
und der Sowjetunion für unvermeidlich ansah. Japan würde in diesem 
Kriege auf Seiten Deutschlands stehen. Im Jahre 1937, meinte Trotzki 
zu wissen, würde der Krieg ausbrechen und die Niederlage der Sowjet- 
union würde unumgänglich sein. — Von diesen Gesichtspunkten aus 
nahm Trotzki geheime Verhandlungen mit Deutschland und Japan auf. 
Als Unterhändler für Deutschland figurierte Hitlers Stellvertreter Hess; 
wer für Japan verhandelte, wurde nicht bekanntgegeben. Trotzki ver- 
pflichtete sicli, Sabotageakte zu organisieren im Eisenbahnwesen, im 
Bergbau und in der Industrie der Sowjetunion, besonders in dem Teil 
der Industrie, der Waffen und Kriegsmaterial produzierte. Trotzki 
verpflichtete sich, Spionagearbeit für die beiden Mächte zu organisi- 
eren. Wenn der Krieg ausbräche, sollten Sabotage und Spionage aufs 
höchste Mass gesteigert werden, um Zersetzung und Zusammenbruch 
der Sowjetunion zu bewirken und so Deutschlands und Japans Sieg zu 
sichern. 

Zum Entgelt versprachen die beiden Mächte «wohlwollende Haltung» 
zur eventuellen Machtübernahme der Trotzkisten in der Sowjetunion 
nach der Niederlage. Diese «Macht» würde freiHch ein wenig begrenzt 
werden. Man musste damit rechnen, dass Deutschland die Ukraine für 
seine Bemühungen würde haben wollen. Japan würde grosse asiatische 
Gebiete fordern, besonders das Amur -Gebiet. Des weiteren würden 
beide Mächte sich grosse Konzessionen im übrigen Sowjetgebiet sichern. 
Die Herrschaft über die Industrie würde in Deutschlands und Japans 
Hände übergehen, die gesamte Kollektivwirtschaft würde aufgelöst und 
das kapitalistische System in der Sowjetunion wieder eingeführt wer- 
den, die so eine Art Kolonie der beiden faschistischen Militärstaaten 
werden würde. 

Von dieser Einstellung aus, mit diesem offen ausgesprochenen Ziel 
vor Augen sandte also Trotzki seine Direktiven an Radek. Radek war, 
wie wir ja wissen, als treu und zuverlässig bekannt. Und Trotzki hatte 

91 



l'"' 



~. ^ 



Sigurd Hoel 

einen besonderen Grund, sich auf ihn zu verlassen. Im Jahre 1930 hatte 
einer von Trotzkis Freunden, Blumkin, ihn auf der Insel Prinkipo be- 
sucht. Als er nach Moskau zurück kam und seine illegale Arbeit be- 
ginnen wollte — die Verbreitung von Schriften Trotzkis — gab Radek 
ihn der GPU an (so hat jedenfalls Trotzki geglaubt) und Blumkin 
wurde erschossen. — An Radek also sandte Trotzki jetzt seine Direk- ^ 
tiven. Und das «Parallelzentrum» organisierte sich und ging an die •,*»"" 
]M Arbeit. ^*'- 

'!f Die Zentralfigur im «Parallelzentrum» war Pjatakow. Er beteiligte 

sich nicht nur an der Organisierung der Terrorakte (die zu nichts 
führten) und der Spionage. Er, der nach Ordschonikidse der oberste 
Leiter der russischen Industrie war, machte sich nun daran, die Zer- 
störung des Werkes zu organisieren, das er selbst aufgebaut hatte. 

In derselben Richtung, wenn auch im geringeren Masstabe, wirkten 
die anderen Angeklagten. Das geht nicht nur aus der Anklageschrift, 
f 'l" sondern aus den Geständnissen sämtlicher Angeklagter hervor. Diese 

;' il Geständnisse, wie sie jetzt in dem offiziellen, 637 dichtbedruckte Sei- 

;j. ten starken Bericht vorliegen, lassen nichts ungesagt. Sie stimmen in 

'i' allen Punkten überein, wo Geständnisse übereinstimmen müssen una 

sie ergänzen einander in allen Punkten, wo sie sich ergänzen müssen. 
In keinem einzigen wesentlichen Punkt weichen sie voneinander ab, die 
verschiedenen Geständnisse fügen sich im Gegenteil mit mathemati- 
scher Präzision in einander wie die einzelnen Teile einer fein konstruier- 
ten Maschine. Insofern bietet der Berieht als Ganzes bei seiner gan- 
zen Unheimlichkeit ein Bild von, ich hätte fast gesagt, vollkommener 
künstlicher Harmonie. Ich glaube,, damit steht er ziemlich allein da 
unter allen Prozessberichten der Welt. Chorgesang und Sologesang- lö- 
sen einander ab und sind gegeneinander ausbalanciert, wie in einem 
Oratorium eines Komponisten von höchstem Rang. 

Es ist vor allem eine Eigentümlichkeit, die zur Schaffung dieser 
Harmonie beiträgt. Es war ja, wie wir sehen, eine Bande gemeiner 
Verbrecher, die hier vor Gericht stand. Aber in einem Punkte unter- 
schieden sich diese hier auffällig von anderen Verbrechern und zeigten 
eine sehr hohe Moral: Keiner von ihnen suchte sich herauszureden, in- 
dem er die Schuld auf andere schob, jeder Einzelne nahm ohne Feilschen 
und Handeln sein Teil auf sich. Und keiner versuchte, seine Handlungs- 
weise zu entschuldigen. Alle gaben einer hundertprozentigen Reue 
Ausdruck und einer gewiss etwas verspäteten, aber dafür um so mehr 
brennenden Bewunderung für Stalin — den Mann, den sie zu stürzen 
versucht und dem sie nach dem Leben gestrebt hatten, und der dafür 
sie gestürzt hatte und ihnen jetzt das Leben nahm. In einer einstim- 
migen Huldigung Stalins klingt das Oratoriiun aus. 

Kann man mehr verlangen als Geständnisse? Nach siebzehn gleich- 
lautenden Geständnissen sollte eine Sache klar sein. 

Für alle rechtgläubigen stalinistischen Kommunisten liegt der Fall 
klar, das versteht sich von selbst. Aber darüber hinaus kann man fest- 
stellen, dass dieser zweite Moskauer Prozess eine weit «bessere Presse^> 
in der ganzen Welt bekommen hat, als der erste im August vorigen 
Jahres. 

Das gilt besonders für die Sensationspresse, Sie fand die Geständ- 

92 



1 1 



,^ -> 



Der Moskauer Proxess 

nisse sensationell, wie sich das gehört, und teilweise durchaus unerklär- 
lich. Aber es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde usw. 

. , •. . kurz, die Weltpresse anerkannte die Geständnisse (mit gewissen 
Vortehalten), ganz wie sie die Geständnisse der Hexen anerkannt hätte 
(mit gewissen Vorbehalten), wenn sie zur Zeit der Hexenprozesse exi- 
stiert hätte. Reisen zum Blocksberg auf dem Besenstiel und dort Bei- 
schlaf mit den Teufeln? Tja, das mutet merkwürdig an, aber es gibt 
ja melir Dinge zwischen Himmel und Erde als 

Sensation ist das letzte und beste Opium für das Volk, und man darf 
niciit erwarten, dass Opiumhändler sich zumeist für die chemische Zu- 
sammensetzung des Stoffes interessieren. 

Für uns Andere dagegen, die die beiden letzten Moskauer Prozesse 
für eine der grössten Katastrophen unserer Tage halten — eine Kata- 
strophe, für deren Grösse es nahezu gleichviel bedeutet, ob die Geständ- 
nisse richtig oder falsch sind — für uns erhebt sich hier eine Reihe 
schwieriger und unheimlicher Probleme. 

Z. B. dieses: 

wenn die Geständnisse wahr sind — wie sollen wir es da erklaren, 
dass so viele der besten, tüchtigsten und erprobtesten alten Bolsche- 
wiken so tief gesunken sind? Dehn es ist ja nicht mehr und nicht 
weniger als die Elite der ursprünglichen Bolschewistischen Partei, die 
nun ausgerottet ist oder im Gefängnis auf ihr Urteil wartet. Eine 
kleine Übersicht (aus einem Artikel von S. Schwarz: Die Vernichtung 
des alten Bolschewismus) wird uns das zeigen: 

Im Juli-August 1917 hat die bolschewistische Partei ein 21-köpfiges 
Zentralkomitee gewählt. Von seinen Mitgliedern sind 7 längst tot; von 
den übrigen 14 sind 6 völlig aus der Politik ausgeschaltet und einfach 
zu Beamten geworden. Den Pest bilden 7 «Konterrevolutionäre» (Bu- 
charin, Sinowjew, Kamenew, Rykow, Smilga, Sokolnikow, Trotzki) und 

Stalin. , . ^ , 

Der 7. Parteikongress im März 1918 wählte em 15-kopfiges Zentral- 
komitee. 6 sind längst tot, 2 politisch ausrangiert, die restlichen 7 
sind: 6 «Konterrevolutionäre» (Bucharin, Sinowjew, Smilga, Sokolnikow, 
Trotzki und Schmidt) und Stalin. 

Der S. Parteikongress im März 1919 wählte ein 19-köpfiges ZK: 
3 längst tot, 3 politisch ausrangiert, von den restlichen 13 sind 11 
«Konterrevolutionäre» (Belohorodow, Bucharin. Ewdokinow. Sinowjew, 
Kamenew, Radek, Rakowski, Serebriakow, Smüga, Tomski, Trotzki) und 

Stalin mit Kalinin. 

Der 9. Parteikongress im März-April 1920 wählte wiederum em 
19-köpfiges ZK: 3 längst tot, 2 politisch ausrangiert, von den restlichen 
14 alle mit Ausnahme von Stalin, Andrejew und Kalinin — «Konterre- 
volutionäre» (Bucharin. Sinowjew, Kamenew, Preobraschenski. Radek. 
Rakowski, Rykow, Serebriakow. I. N. Smimow, Tomski, Trotzki). 

Diese Aufzälilung könnte fortgesetzt werden. Doch sie mag auch 
so genügen. Es sei hier nur noch hinzugefügt: der 7. Kongress (1918) 
hat eine Kommission zur Ausarbeitung des Parteiprogrammes gewählt. 
Sie bestand ausser Lenin aus 6 Mitgliedern: Stalin und 5 «Konterre- 
volutionären» (Bucharin, Sinowjew, Trotzki, W. Smirnow, Sokolnikow). 

Und endlich, bereits nach dem Tode Lenins wählte der 13. Partei- 

93 



Sigurd Hoel 

kongress im Mai 1924 das ZK. und dieses sein 7 köpfiges Politbüro 
Wer war es? 6 «Konterrevolutionäre»: Bucharin, Sinowjew, Kamenew' 
Rykow, Tomski, Trotzki — und Stalin. • ' 

Es ist unvermeidlich, dass eine solche Übersicht — oder vielmehr 
die Entwicklung, die daraus abzulesen ist _ einen dahin bringt den 
Prozessbericht mit gesteigerter Kritik zu lesen. 

Was ist, von der seltenen und merkwürdigen inneren Harmonie der 
Bekenntnisse abgesehen, das Eigentümliche an diesem Bericht? 

Die Antwort ergibt sich sofort: 
I Das Eigentümliche ist, dass ausser diesen Geständnissen in dem gan 

zen Bericht nicht die kleinste Spur an konkreten Beweisen geliefert 
wird. Es wird von Direktiven Trotzki's gesprochen, von Briefen die 
m die Sowjetunion m Schuhsohlen eingeschmuggelt werden Aber diese 
Briefe sind dermassen verschwunden, dass nicht einmal eine ausgetre- 
tene Schuhsohle übriggeblieben ist. 

Wir müssen uns also an die Geständnisse halten. Da sind es zwei 
!■ ragen, die nach Antwort drängen: 

1) kann irgend ein Teil davon kontrolliert werden? Wenn ia was 
ergibt die Kontrolle? 

2) leiden die nicht kontrollierbaren Teile der Geständnisse an ir- 
gendeiner entscheidenden inneren Un Wahrscheinlichkeit? 

Es versteht sich von selbst, dass Menschen ausserhalb Russlands nach 
IV, so kurzer Zeit nur ganz wenige und zufäDige Teile der Geständnisse 

kontrollieren können. ,Die zweite Frage ist daher die umfassendere 
Beginnen wir mit ihr. 

Die Geständnisse beschuldigen Trotzki (und eine Reihe anderer 
früher leitender Bolschewiki) individuellen Terror durch Attentate und 
Morde zu organisieren gesucht zu haben. Ein derartiges Verhalten 
wurde allem widerstreiten, was Trotzki in Schrift und Rede dreissig 
Jahre hmdurch gelehrt hat. Aber nehmen wir einmal an, dass er wie 
andre grosse romantische Verbrecher, ein Doppelleben führt und 'eine 
Garnitur Prinzipien zum Öffentlichen, eine ganz andere aber zum pri- 
vaten Gebrauch hat. / 

Jedoch die Geständnisse beschuldigen, wie angeführt Trotzki wei- 
terhin, Verhandlungen mit Deutschland und Japan geführt zu haken 
die gegen die jetzige Sowjetunion gerichtet waren, und Sabotage und 
bpionage organisiert zu haben mit dem Ziel, die Niederlage der Sow- 
jets im kommenden Krieg zu bewirken. 

Um nachher selbst zur Macht zu kommen, wohlgenierkt. 

Überlegen wir einen Augenblick: 

Ist es überhaupt denkbar, gibt es überhaupt die entfernteste mathe- 
matische Möglichkeit dafür, dass ein solches Verhalten in einem solchen 
tall emen Mann zur Macht führen kann? 

Wir setzen voraus, dass Deutschland und Japan, um die Sabotage- 
und Spionagedienste zu erhalten, Trotzki vers^wochen haben, ihm zur 
Macht zu verhelfen. Welche Garantien hat Trotzki jedoch dafür, dass 
ein solches Versprechen gehalten werden würde? Niemand, nicht ein- 
mal der öffentliche Ankläger, hat zu behaupten gewagt, dass Trotzki. 
erst einmal an die Macht gelangt, Hitlers ehrlicher Freund und Ge- 
schäftsteilhaber sein würde. Aber hieraus ergibt sich der Scbluss, dass, 

94 



Der Moskauer Prozess 

je besser Trotzki seinen Teil des Kontrakts innehielte — mit andern Wor- 
ten, je vollständiger die Niederlage der Sowjetunion würde — desto 
weniger Grund würde für die andern vorliegen, zu ihrem Teil zu stehen. 
Welches irdische oder himraliche Motiv liesse sich überhaupt finden, 
das die Nazi bewegen könnte, einem solchen Mann ein solches Ver- 
, sprechen zu halten? Vielleicht die Stimme des Gewissens? 

Die Stimme des Gewissens, falls sie eins hätten, würde den Nazis 
gerade befehlen müssen, einem so niedrigen Verräter ihr Wort zu 
brechen. Und alle Vernunftgründe müssten dasselbe gebieten. Ein 
solcher Wortbruch wäre ja nicht nur eine moralisch lobenswerte son- 
dern auch eine völlig gefahrlose Handlung. Trotzki könnte ja protestie- 
ren, so viel er wollte, und mit seinem Kontrakt fuchteln, wenn er 
einen hätte — eine einstimmige Weltmeinung würde den Leuten Recht 
geben, die ihn zum Narren gehalten hätten. 

Vielleicht hatte ja aber Trotzki gar nicht daran gedacht, seinen Teil 
des Kontrakts innezuhalten? Vielleicht wollte er selbst die dummen 
Nazis anführen? Bei allen derartigen Übereinkünften besteht ja sozu- 
sagen ein ungeschriebener Paragraph darüber, dass die Partner einan- 
der zu betrügen beabsichtigen. 

Aber wie hätte Trotzki hier jemanden betrügen können? Der Weg 
zu seiner Machtergreifung nach dieser Methode ginge ja unweigerlich 
iiber die Niederlage. Aber in und mit der Niederlage hätte er keine 
physische und noch weniger eine moralische Macht hinter sich, die seine 
Forderungen stützen könnten. 

Im übrigen aber laufen ja der ganze Prozess, die gesamte Anklage, 
alle Geständnisse darauf hinaus, dass Trotzki mit allen Kräften seinen 
l'eil des Kontrakts innehielt, dass er mit aller Macht auf die Niederlage 
der Sowjets hinarbeitete. Das ist geradezu die Pointe des Prozesses. 

Alles in allem: Wir können nicht beweisen und woUen nicht be- 
haupten, dass Trotzki diese Verhandlungen mit Deutschland und Japan 
nicht geführt habe. Aber wohl wollen wir behaupten, dass er, wenn 
er es getan hat, völlig verrückt, irrsinnig, geisteskrank sein muss. 

Aber vielleicht ist er tatsächlich geisteskrank? Das Emigranten- 
leben soll ja nicht gerade gesund sein, und wenn eins zum anderen 
kommt .... 

In diesem Fall müsste er wirklich ein Geisteskranker mit magischen 
Fähigkeiten sein. Er, der einsame Emigrant, führt Verhandlungen auf 
gleichem Fuss mit zwei Grossmäehten; er sitzt in seinem Exil und 
sendet seine Direktiven an eine Gruppe der bedeutendsten Männer der- 
Sowjetunion und es sind, wie wir wissen, keine Bagatellen und keine 
selbstverständlichen Dinge, die er von ihnen verlangt; aber sie gehor- 
chen, sie gehen sofort daran, seinen verrückten Plan in die Tat umzu- 
setzen. Man möchte fast glauben, dass er mehr wäre als ein Mensch, 
— dass er der Teufel selbst wäre, der gestürzte Luzifer, und dass diese 
Männer ihm ein für alle Mal ihre Seele verkauft hätten. 

Oder sollen wir glauben, d^s sie alle Siebzehn ein wenig verrückt 
waren? 

Einzelne Teile der Geständnisse könnten wirklich darauf hindeuten. 
Bekanntlich hatte die Gruppe unter anderem sich terroristischer Tätig- 
keit schuldig gemacht, hatte versucht, Stalin und seinen engsten Kreis 



95 



■ 



Sigurd Hoel 

ZU töten. Den Hauptpunkt in diesem Teil des Prozesses bildet das 
Attentat auf den Kriegsminister Molotow, von Muralow und Schestow 
organisiert und ausgeführt durch den Chauffeur Arnold. 

Offensichtlich hatte dies Ereignis sehr wenig Ähnlichkeit mit einem 
Attentat. Es kam auch kein Mensch dabei zu Schaden. Das Ganze 
verlief so: 

Molotcw kam auf einer Dienstreise nach dem Bergwerksort Prokop- 
jewsk im Kusnetzk-Gebiet. Er liess sich in die Stadt fahren, um sich 
umzusehen. Arnold führte das Auto. Sie fuhren einen geraden Weg 
entlang, zu dessen einer Seite ein Steilhang war. Ein Lastauto kam 
ihnen in starker Fahrt entgegen, und um Kollision zu vermeiden, musste 
Arnold das Auto scharf zur Seite lenken. Es kam direkt am Rande des 
Abhanges zum Stehen. 

So sah das aus. In Wirklichkeit aber war das also ein Attentat 
mit einer Vorgeschichte. Die Vorgeschichte sah so aus: Der Ange- 
klagte Muralow hatte zum Angeklagten Schestow und Schestow hatte 
zu Tscherepuchin (der nicht vor Gericht erschien) und Tscherepuchin 
hatte zu Arnold gesagt, jetzt müsse eine Terrorhandlung geschehen. 
Etwas später kam der Volkskommissar für die Industrie, Ordschoni- 
kidze, in die Stadt und Schestow sagte zu Tscherepuchin und Tschere- 
puchin sagte zu Arnold, jetzt müsse also Ordschonikidze durch ein Autp- 
mobilunglück getötet werden (wobei auch Arnold umkommen würde). 
Arnold sagte ja und bekam detaillierten Bescheid darüber, wo er daS 
Auto gegen eine Felsenwand fahren sollte. Er fuhr auch mit Ord- 
schonikidze davon, aber angesichts der festgelegten Stelle verliess ihn 
der Mut: er verlangsamte die Fahrt und fuhr vorbei 

Wieder nach einiger Zeit kam dann also Molotow in die Stadt, und 
Schestow sagte zu Tscherepuchin und Tscherepuchin sagte zu Arnold, 
nun müsse er dafür sorgen, dass Molotow bei einem Automobilunglück 
umkäme (bei dem auch Arnold selbst draufgehen würde). Arnold 
sagte ja und es wurde abgemacht, dass er Molotow den genannten Weg 
entlang fahren, die Fahrt beschleunigen und dann schroff seitlich steu- 
ern sollte, so dass das Aauto über den Steilhang in die 15 Meter tiefe 
Schlucht stürzen müsste. 

Da Arnold jedoch schon einmal versagt hatte, richtete Tscherepuchin 
es zur Sicherheit so ein, dass ihm ein Lastauto in starker Fahrt entge- 
genkäme und seinem Auto einen Stoss versetzte, so dass es in den 
Abgrund fahren miÄsste, Das Lastauto erschien auch, wie berichtet, 
aber Arnold vermied den Zusammenstoss. (Der Führer des Lastwagens 
erschien nicht vor Gericht.) 

Wer war nun eigentlich dieser Arnold, der Held dieses seltsamen 
Volksmärchens? Er war eine ganz ausser gewöhnliche Person. Wenn 
van der Lubbe als der tragische Narr des Reichstagsbrandprozesses er- 
schien, so wirkte Arnold wie der «dumme August» des Moskauer Pro- 
zesses. Seine Vernenmung war die grosse Erheiterungs-Nummer des 
Prozesses. Er hiess übrigens gar nicht Arnold. Wahrscheinlich war er 
zur Hälfte Finne und hatte möglicherweise ursprünglich einen finni- 
schen Namen. Er hatte jedoch seinen Namen so oft gewechselt, dass 
er selbst nicnt ir.ehr Lestimmt v/usste, wie er eigentlich hiesse, und 
er hatte so lange auf falsche Papiere gelebt und sich so lange durchs 

96 



) 



^ 



Der moskauer Prozess 

Leben gestohlen und gelogen, dass er auch nicht die leiseste Ahnung 
von dem Unterschied zwischen Wahrheit und Lüge mehr hatte. Mit 
dem Trotzkismus oder irgend einer andern politischen Bewegung hatte 
er nichts zu tun — er streifte herum und nahm die Gelegenheiten, wie 
sie sich boten. Zur Erklärung für seine Verbrechen brachte er vor, 
dass er sich in den Sumpf des Trotzkismus verirrt habe, weil er über- 
zeugt woi'den wäre, «dass die trotzkistische Organisation stark sei, dass 
sie an die Macht gelangen wird und dass ich nicht in den letzten Reihen 
bleiben werde.» 

Arnold war einer der vier, die nicht zum Tode verurteilt wurden. 

Diesem Landstreicher, von dessen miserabler Vorzeit die Verschwo- 
renen auf jeden Fall eine gewisse Ahnung hatten, diesem Burschen, 
der weder politisch noch persönhch irgend eine unbeglichene Rechnung 
mit dem Stalin-Regime hatte — ihm also wurde die anspruchsvollste 
aller terroristischen Aufgaben zugeteilt: sein Leben zu opfern, um zu 
töten — zuerst Ordsclionikidze und dann, nachdem er dies Attentat 
hatte fehlschlagen lassen, Molotow. 

Es wäre viel zu milde, zu sagen, dass die Verschworenen geisteskrank 
gewesen sein müssen. 



Kommen wir nun zur Beschuldigung der Sabotage. 

Hier bildete einen der Hauptpunkte der Anklage ein Eisenbahnzu- 
sammenstoss in der Stadt Schumicha, bei dem 29 Rotarmisten getötet 
und 29 verwundet wurden. Der Angeklagte Knjasew, früherer Eisen- 
bahndirektor, gestand seine Schuld ein. Er war freilich selbst nicht an 
der Unglücksstelle zugegen, aber einer seiner Untergebenen, der zur 
Verschwörung gehörte {und der nicht vor Gericht erschien) hatte den 
Unfall so zuwege gebracht, dass er eine weibliche Angestellte, die erst 
14 Tage an der Station arbeitete (und die der Verschwörung nicht ange- 
hört« und nicht vor Gericht erschien) an den Weichenstellapparat setzte. 
Sie leitete einen ankommenden Militärzug auf ein Gleis, auf dem bereits 
ein mit Erz beladener Güterzug stand. Und das Unglück — der trotzki- 
stische Sabotageakt — fand statt 

Einige der anderen Sabotagehandlungen sind noch merkwürdiger. 
2wei der Verschworenen hatten zum Beispiel eine Grubenexplosion 
«organisiert», die einen ganzen Monat nach ihrer Verhaftung erfolgte. 

All diese Sabotagehandlungen sind überaus listig organisiert worden, 
so schlau, dass sie zum Verwechseln solchen Unfällen ähneln, die durch 
Saumseligkeit, Schlamperei und Ungenauigkeit entstehen. Wir wissen 
aus anderen Quellen, dass Industrie, Gruben-, und Eisenbahnwesen der 
Sowjetunion von diesen Unglücken besonders stark heimgesucht wor- 
den sind — eine unvermeidliche Sache übrigens, wenn ein primitives 
Bauernland mit einer zurückgebliebenen Bevölkerung durch eine Riesen- 
Anstrengung innerhalb eines halben Menschenalters in ein modernes 
' Industrieland verwandelt werden soll. 

Soviel über die «innere Wahrscheinlichkeit» der Geständnisse. . Die 
Beispiele könnten vertieft und vervielfacht werden, doch müssen wir 
uns in diesem Artikel beschränken. 

97 



4 



3 



Sigurd Hoel 

Wie gesag-t, zur Zeit sind wir, die ausserhalb der Sowjetunion leben, 
im grossen und ganzen ausserstande, den Tatsachmiinhalt der Geständ- 
nisse zu kontrollieren. Einige Aussagen jedoch beziehen sich auf Dinge 
und Ereignisse ausserhalb der Sowjetunion, und einzelne davon können 
wir zufällig kontrollieren. 

Und hier ist es auffällig, dass in jedem einzelnen dieser Fälle die 
Aussagen sich als der Wahrheit und Wirklichkeit widerstreitend erwei- 
sen. 

Ein Zeuge, der Tass- und Isvestia-Korrespondent Eomm erklärte, 
dass er an einem bestimmten Tage Ende Juli 1933 ein heimliches Zu- 
sammentreffen mit Trotzki im Bois de Boulogne bei Paris hatte und 
dort von ihm Instruktionen erhalten hätte. Aber zu diesem Zeitpunkt 
wohnte Trotzki in Südfrankreich und stand unter Polizeibewachung. 

Ein Angeklagter, Grasche, gestand, dass er Spion für Deutsc-Uand 
gewesen sei, und dass er Umgang mit drei dänischen Trotzkisten ge- 
habt habe: Mit Sigvard Lund, Kjärulf Nielsen und Windfeld-Hansen. 
Er hätte zusammen gewohnt mit Windfeld-Hansen, der die Wohnung als 
konspirativen «Treff» benutzt hätte usw. Dieses Geständnis erregte 
Aufsehen in Dänemark und die dänische Presse untersuchte die Sache. 
Es zeigte sich, dass die Geständnisse Grasches in allen Punkten unrich- 
tig waren, wo sie diese drei Leute betrafen. 

Nun — Grasche war eine geringe Nebenperson des Prozesses. Weit 
grösseres Interesse knüpft sich an die Hauptperson, Pjatakow, und 
seine berühmte Flugreise nach Oslo. 

Pjatakow gestand bekanntlich, dass er im Dezember 1935 mit einem 
Flugzeug von Berlin (wo er sich in dienstlichen Angelegenheiten auf- 
hielt) nach Oslo zu Trotzki gefahren sei. Er flog vom Tempelhofer 
Feld ab und landete auf «dem Flugplatz bei Oslo». «Dort stand ein 
Auto bereit. Wir (die mystische Person «Gustav», die Pjatakow selbst 
nicht kannte, und Pjatakow selbst) setzten uns in dieses Auto und 
fuhren los. Wir fuhren wahrscheinlich 30 Minuten lang und kamen 
in einem Villenort an. Wir stiegen aus, gingen in ein nicht übel 
eingerichtetes Häusclien, und dort erblickte ich Trotzki, den ich seit 
1928 nicht gesehen hatte. Dort fand meine Unterredung mit Trotzki 
statt.» 

Es gibt zwei «Flugplätze bei Oslo»: Kjeller und Bogstadvannet. 
Als Pjatakows Geständnis in Oslo bekannt wurde, nahmen interessierte 
Leute Untersuchungen vor, und es stellte sich heraus,dass iiber}iaupt 
keim ausländische Flugmaschine im Dezember 1935 auf dmm der bei- 
den Flugplätze Q'eiandet war (und ebensowenig im vorhergehenden und 
im folgenden Monat). Von verschiedenen Stellen in Oslo wurden Tele- 
gramme an den öffentlichen Ankläger Wyschinski gesandt. Diese Tele- 
gramme (und vielleicht auch die Besprechung der Angelegenheit in der 
Weltpresse) führten dazu, dass Wyschinski diese Frage noch einmal am 
Ende der Verhandlungen zur Sprache brachte. Wir zitieren: 

Vorsitzender: Das Verhör der Angeklagten ist abgeschlossen, ebenso 
die Vernehmung der Zeugen. Ergänzende Fragen liegen nicht vor? 

WyschimU: Ich habe Fragen an Pjatakow. Angeklagter Pjatakov/, 
sagen Sie bitte, Sie sind in einem Flugzeug nach Norwegen geflogen, 

98 



Der Moskauer Prozess 

um Trotzki zu sprechen? Wissen Sie nicht, auf welchem Flugplatz Sie 
gelandet sind? 

Pjatakow: In der Nähe von Oslo. 

WyscUinslä: Hatten Sie bei der Landung oder bei Zulassung des 
Flugzeugs auf diesem Flugplatz keinerlei Schwierigkeiten? , 

Pjatakow: Ich war durch die Ungewöhnlichkeit der Reise erregt 
und habe dem keine Aufmerksamkeit geschenkt. _ 

Wysclvbiski: Sie bestätigen, dass Sie auf einem Flugplatz in der 
Nähe "von Oslo gelandet sind? 

Pjatakow In der Nähe von Oslo, daran erinnere ich mich. 

WyschinsJä: Ich habe keine Fragen mehr. Ich habe einen Antrag 
an das Gericht. Ich habe mich für diesen Umstand interessiert und das 
Volkskommissariat für auswärtige Angelegenheiten gebeten, mir eine 
Auskunft zu verschaffen, da ich die Aussagen Pjatakows hierüber nach- 
prüfen wollte. Ich habe die offizielle Auskunft erhalten, die ich den 
Akten beizulegen bitte (liest): 

«Die Konsularabteilung des Volkskommissariats für auswärtige Auge- 
leo-enheiten teilt dem Staatsanwalt der UdSSR hierdurch mit, dass 
laut einer von der bevoUm ächtigen Vertretung der UdSSR m Norwegen 
erhaltenen Auskunft der Flugplaz in Kjeller in der Nähe Oslos das 
aanze Jahr hindurch, entsprechend den internationalen Regeln, Flug- 
zeuge anderer Länder aufnimmt und dass Landung sowie Sart von Flug- 
zeugen auch in den Winterraonaten möglich ist.» 

(Zu Pjatakow): Das war im Dezember? 

Pjatakow: Ganz recht. 

Wyschimki: Ich bitte dies den Akten beizulegen. 

Mit anderen Worten: Es wird kein Beweis dafür erbracht (und 
konnte keiner erbracht werden), dass Pjatakow wirklich in Oslo gewe- 
sen ist. Im Gegenteil steht es nach wie vor nach diesem «Zusatz- 
Geständnis» fest, dass er nicht dort gewesen ist. 

Also: Pjatakow gibt hier eine Handlung zu, von der er weiss, dass 
er sie nicht begangen hat. Er ist nicht in Oslo gewesen, er hat nicht 
mit Trotzki gesprochen, (und er muss gewusst haben, dass dieser -wirk- 
liche Zusammenhang würde aufgeklärt werden). 

Die Schlussfolgerungen aus dieser Tatsache sind so weitreichend, 
dass nur sehr wenige der Kommentatoren des Prozesses sie zu ziehen 
gewag^t haben. Diese Reise nach Oslo und das Gespräch mit Trotzki 
__ das ist ja der Grundpfeiler aller Geständnisse. Stürzt er zusammen, 
so stürzt das ganze Bauwerk, und dann können wir kein Wort der 
Geständnisse mehr ohne weiteres glauben. Wir sind auf Abschätzun- 
gen auf Grund anderweitig erworbenen Wissens verwiesen — wenn 
wir überhaupt an irgendwelche Verschwörung, an Terror. Sabotage und 
Spionage glauben sollen. 

Die Konsequenzen erstrecken sich so weit, dass man sieh unwillkür- 
lich dagegen wehrt: . , , . „ ^ -■■ ' A 

Nun gut — nehmen wir saso Wyschmskis kleines Zusatzverhor über 
Pjatakow noch einmal her und lesen es gründhcli! Wir sehen unzwei- 
deutig- Wyschinski wimsdit keinerlei genauere Untersuchung wöer 
diesen P-imkt. Die Folgerungen aus dieser Entdeckung sind so unbe- 

99 



Sigurd Hoel 

haglich, dass man sich direlct scheut, sie zu Papier zu bringen. Es 
fällt nach und nach ein unheimlich ironisches Zwielicht über Radelis 
schon berühmt gewordene Schlusserklärung (in seinem «letzten Wort»): 
«Welche Beweise gibt es für diese Tatsache (die Verbindung der 
«Verschwörer» mit Trotzki)? Für diese Tatsache gibt es die Aussagen 
von zwei Leuten — meine Aussagen, dass ich Direktiven und Briefe 
von Trotzki erhalten habe (die ich leider verbrannt habe), und die Aus- 
sagen Pjatakows, der mit Trotzki gesprochen hat. Alle anderen Aus- 
sagen der übrigen Angeklagten — sie beruhen auf unseren Aussagen.» 



l 



II. 

Nun gut: Wir sind zu dem Resultat gekommen, dass der Prozess 
keinen Glauben aufs Wort verdient, sondern dass sich sozusagen bei 
jedem Punkt der Anklage wie der Geständnisse Zweifel und Fragen 
melden. Aber damit erheben sich auch neue Probleme. Zum Beispiel: 
Wie ist es zu erklären, dass die Sowjetbehörden eine so fantastische 
Anklage gegen Trotzki erhoben haben — eine Anklage, die durch ihre 
eigene innere Ungereimtheit auf der Stelle in sich zusammenbrechen 
würde, wenn es überhaupt noch Vernunft in der Welt gäbe? Hier 
scheint mir Otto Bauer die b^te Erklärung gegeben zu haben. In der 
«Arbeiter-Zeitung» vom 17. Februar veröffentlichte er einen Artikel 
über den Moskauer Prozess, aus dem ich einen Abschnitt hier ein wenig 
gekürzt wiedergebe: 

Trotzki schreibt Bauer, vertritt jetzt folgende Ansichten: Die S. U. 
hat die Grundlagen einer sozialistischen Gesellschaft geschaffen. Aber 
die weitere Entwicklung zu einer wirklichen sozialistischen Gesellschaft 
wird gefährdet durch die Herrschaft der neuen stalinistischen Büro- 
kratie. Nach Marx und Lenin soU in einer sozialistischen Gesellschaft 
der staatliche Gewaltapparat allmählich absterben; in der S. U. aber 
befestigt sich immer mehr der bürokratische Apparat, der die Arbeiter 
beherrscht. Nach Marx soll der Sozialismus die Klassen aufheben; in 
der S. U. dagegen ist der Bürokratismus auf dem Wege, eine neue, pri- 
viligierte Klasse zu entwickeln. Es besteht die Gefahr, meint Trotzki, 
dass sich die S. U. nicht zu einer wirklich sozialistischen Gesellschaft 
entwickelt, sondern zu einer neuen Form der Klassenherrschaft. Diese 
Gefahr kann nur behoben werden durch den Sturz der despotischen 
Bürokratie, d. h. durch eine neue Revolution, 

Es ist Grund anzunehmen, dass Trotzki glaubt, eine solche Revolu- 
tion wird während des kommenden Weltkrieges stattfinden. Der Krieg 
wird aufs neue die Massen revolutionieren, die Arbeiterschaft wird die 
Bürokratie brechen, die dadurch entfesselten Volkskräfte werden den 
Krieg in einen wahren Revolutionskrieg verwandeln und dadurch den 
Sieg über die fascliisti sehen und kapitalistischen Mächte sichern, ganz 
wie ähnliches während der Grossen Französischen Revolution geschah. 

Das ist Trotzkis subjektive Überzeugnng. Aber es kommt in der 
Politik, sagt Otto Bauer, nicht auf die Absichten, sondern auf die tat- 
sächlichen Wirkungen einer politischen Idee an. 

Wenn die S. U. mitten im Kriege gegen zwei riesenhafte Militär- 
mächte stände, gegen Deutschland im Westen und Japan im Osten, dann 



100 



Der Moskauer Prozess 



'■■ I ' 



würde jede neue Revolution, was immer die Absichten ihrer Urheber 
wären, die furchtbare Gefahr hervorrufen, dass die Kriegsführung der 
S. U. desorganisiert würde und dadurch ihre Niederlage, der Sieg Hitler- 
(leutschlands und Japans herbeigeführt würde. Dann würde freilich 
die neue Revolution mit der Abtretung der Ukraine' und des Amurge- 
bietes imd mit der Wiederherstellung des Kapitalismus in der S. U. 
enden. Das ist nicht der Wunsch Trotzkis; aber das könnte die Wirkung 
seines Rufs zu einer neuen Revolution sein, wenn er von den Volks- 
massen der S. U. gehört würde. Deshalb will die Sowjetregierung 
Trotzki und alle, die mit ihm einmal verbunden gewesen sind und sich 
in Zeiten der Kriegsnot wieder mit ihm verbinden könnten, kompro- 
mittieren und vernichten. 

Soweit Otto Bauer, der auf jeden Fall kein Trotzkist ist. Bauers 
Hypothese wirkt weitgehend überzeugend. Eins jedoch erklärt sie 
nicht: 

Warum hielten die Sowjetbehörden gerade jetzt eine öffentliche 
Auseinandersetzung mit Trotzki für notwendig? Seine Schriften sind, 
in der Sowjetunion unterdrückt, sein Name ist soweit möglich aus der 
offiziellen Geschichte der Revolution ausgemerzt, man hat das Ziel ver- 
folgt, seinen Namen aus dem Bewusstsein des russischen Volkes zu 
löschen. Woher dieser plötzliche Umschlag? Welche zwingenden Gründe 
haben dafür bestanden? — Denn es ist doch klar, die neue Methode hat 
durchaus ihre riskanten Seiten für das Stalin-Regime. Ganz gewiss 
schikaniert und diffamiert der Prozess Trotzki gewaltig, stellt ihn dem 
russischen Volk als den Teufel selbst hin, als die Personifikation und 
das Prinzip alles Bösen — mit dem klaren Ziel, alle abzuschrecken, die 
sich in diese Richtung gezogen fühlen könnten. Aber wer kann blind 
dafür sein, dass der Prozess gleichzeitig eine kolossale Reklame für 
ebendenselben Trotzki bedeutet? Wieder ist sein Name auf allen Lip- 
pen und es werden ihm fürchterliche, übermenschliche, teufhsche, das 
heisst primitiv göttliche Eigenschaften zugeschrieben. 

Im Bewusstsein der Allgemeinheit stand Trotzki in der letzten Zeit 
in Gefahr, in gewissem Masse als lächerlich und querulantisch zu er-^ 
scheinen — dieser ewig Landflüchtige, dieser widerborstige Mensch, 
der nie aufhören konnte mit seinem: «Stalin! Stalin!» 

Jetzt aber hat das Blatt sich gewendet. Jetzt ist es plötzlich die 
ganze gewaltige Sowjetunion ^ oder jedenfalls doch alles, was dort 
Mund und Stimme hat — die unaufhörlich «Trotzki! Trotzki!» ruft. 

Nie war die Macht des Teufels grösser, nie beschäftigte er die 
Phantasie der Menschen lebhafter, nie wirkte er in all seiner Unheim- 
lichkeit anziehender, nie wurde er leidenschaftlicher angebetet als ge- 
rade in der Zeit der Inquisition und der Hexenprozesse. 

Die Sowjetbehörden sind sich eines ähnlichen Risikos auch sicherlich 
hewusst. Warum aber nehmen sie es auf sich? Eine Erklärung liegt 
ausserordentlich nahe; im I^ande muss irgendeine nicht ganz unbedeu- 
tende Unzufriedenheit bestehen, und man hat für nötig befunden, auf 
diese so nachdrücklich und abschreckend wie möglich einzuwirken. 

Was für eine Unzufriedenheit? 

Das folgende wird vielleicht einen Beitrag zu einer Erklärung liefern 
können. 



101 



1 



Sigurd Hoel 



Nun zu den Geständnissen der Siebzehn über ihre eigenen Ver- 
breclien — was ist mit denen? Sind sie alle von derselben Art wie 
Pjatakows Oslo-Eeise? Gewiss nicht. Nehmen wir zum Beispiel die 
Geständnisse über Spionage für Deutschland und Japan. So unwahr- 
scheinlich, ja undenkbar es ist, dass Trotzld je Konferenzen mit Hess 
gehabt und es übernommen hat, einen Spionagedienst zu organisieren 

— ebenso denkbar und wahr seihe inlieh ist es, dass ein solcher Spionage- 
dienst gemacht worden ist. Und wir müssen aus' einfachen Vernunft- 
gründen annehmen, dass die Geständnisse über einzelne Spionagefälle 
im wesentlichen wahr sind. Ob diese Spione (Stroilow und einige an- 
dre) «echte» Spione gewesen sind oder Provokateure, die ihre Auftrag- 
geber zum Narren gehalten haben — das ist eine andre Sache. Und 
es ist auch eine Sache für sich, dass sie, die doch aller Wahrscheinlich- 
keit nach keinerlei Verbindung mit Pjatakow, Radek usw. gehabt ha- 
ben, in diesen Prozess hineingezogen worden sind, um Trotzki und seine 
«■Mitverschworenen» noch weiter herabzusetzen und ihre Schuld zu be- 
weisen. Diese Art «Amalgame» sind aus allen politischen Prozessen 
bekannt. 

Wir müssen überhaupt damit rechnen, dass der Prozess zwischen 
zwei Extrempunkten hin und her pendelt — der klaren, unverfälschten 
Lüge und der relativ unverfälschten Wahrheit. An welchem Punkte 
zwischen diesen beiden Polen die einzelnen Geständnisse stehen, dar- 
über ist vorläufig nichts Sicheres zu wissen möglich. , 

Zum, Beispiel die vielen Geständnisse über Sabotage: Einige von V 

ihnen wirken, milde ausgedrückt, unwahrscheinlich. Es ist auch ein- ^ 

leuchtend, dass gerade solche Geständnisse praktisclien Wert haben für 
ein Regime, dessen ungefähr grösste und wichtigste Aufgabe es ist, 
mit guten und bösen Mitteln den eingefleischten Hang der Massen (und 
der Beamten) zu Faulheit, Korruption, Schlendrian und Nachlässigkeit 
zu überwinden, Ein drohendes Schwert hängt von nun an über jedes 
einzigen saumseligen Funktionärs Haupt: Denunziation und Anklage 

— Sabotagel Trotzkismus! Faschismus!! Auf tausende und zehn- 
tausende Faulpelze und Bummelanten rings in dem grossen Russland 
hat sicherlich der letzte Moskauer Prozess wie ein äusserst notwendi- 
ger anfeuernder Tritt in den Hintern gewirkt. 

Andererseits wäre es sinnlos zu behaupten, dass alle Geständnisse 
über Sabotage nur Lüge und Erdichtung sind. Sicherlich: Pjatakow 
nahm die Schuld auf sich für eine Menge von Sabotagehandlungen, die 
er nie gekannt hatte, die ausgeführt waren von Personen, die er nie 
gekannt hatte. Das gleiche taten die anderen Hauptpersonen des Pro- 
zesses. Sie waren Vorgesetzte und nahmen die Schuld ihrer Unterge- 
benen auf sich. Soweit ist das eine klare Sache und hier liegt auch 
nicht das Problem, sondern in der folgenden Situation: wenn ein Mensch 
eine Arbeit ausführt, die nach seiner besten Überzeugung nach falschen 
Prinzipien geleitet vi^ird, wenn er vergebens gegen diese Prinzipien 
protestiert hat, wenn er folglich mit Unlust und weniger ergiebig ar- 
beitet als er im besten Falle konnte, und wenn all dies schliesslich zu 
schlechten Resultaten der Arbeit führt — wo liegt da die Grenze zwi- 
!■. sehen Protest, Unlust und Sabotage? Jeder weiss aus eigener Er- 

102 



k 



Der Moskauer Proiess 

fahmng, dass diese Grenzen fliessend sind. Jeder hat einmal eine 
Arbeit mit Unlust und also schlecht ausgeführt — und folglicli mit 

Schuldgefühl. 

Schuidgefiihl — damit kommen wir zu dem, was man die mnere 
Struktur der Geständnisse in diesem merkwürdigen Prozess nennen 
könnte. Zum Verständnis dafür ist es jedoch notwendig, sich des 
historischen Hintergrundes für den Prozess zu erinnern. 

Wir wissen, diesen Hintergrund hildet der lange und bittere Kampf 
zwischen Trotzki und Stalin, oder vielmehr zwischen den beiden Grund- 
gesichtspunkten, die durch diese zwei repräsentiert werden. Trotzki 
— die permanente Revolution, die Weltrevolution; Stalin — Aufbau des 
Sozialismus in einem einzelnen Lande. 

Stalin hat gesiegt, sagt man. Ja, er steht unbestreitbar an der Spitze 
des Sowjetstaates und Trotzki ist ein friedloser Emigrant. Doch Sta- 
hns Sieg ist kein Marsch auf Rosen gewesen. Mal um Mal hal^ die 
Entwicklung in der Sowjetunion harte Krisen durchlaufen, wiederholt 
ist die Stimmung in grösseren oder kleineren Teilen der Partei dem 
offenen Protest nahe gewesen. 

Es ist Stalin jedesmal gelungen, die Opposition niederzuschlagen. 
Seine Methode dabei bestand in einer ständig strengeren und rücksichts- 
loseren Anwendung der Machtmittel der Parteimaschinerie. _ Die Demo- 
kratie innei'halh der Partei, die zu Lenins Zeiten bestand, ist vollstän- 
dig verschwunden, das Dilrtaturprinzip ist bis zur letzten Konsequenz 
auch in der Partei durchgeführt. Alle Beschlüsse erfolgen jetzt einstim- 
mig, wie in Hitlers deutschem Reichstag. 

Mit anderen Worten heisst das, dass jede Nicht-Zustimmung in 
einem gewissen Grade das Gepräge des Aufruhrs erhält, dass jede 
Opposition Mehrerer den Charakter einer Verschwörung bekommt. 
Haben also die Angeklagten an einer Verschwörung teilgenommen? 
Ja, unzweifelhaft, soweit sie zu verschiedenen Zeiten in einer gewissen 
Opposition zu Stalins Politik gestanden haben. 

Wir wissen: Stalins Gesichtspunkt — Sozialismus in eiiwm. La.7uie 
— siegte, unter anderm aus dem einfachen Grunde, dass die Weltre- 
volution ausblieb; doch zog diese Grundeinstellung Konsequenzen nach 
sich, die nicht von allen mit gleicher Freude begrüsst wurden. Eine 
Folge war ein wachsender russischer Nationalismus. Stalin, der nicht 
besonders stark international orientiert und interessiert ist, konnte sich 
aus natürlichen Gründen leichter mit dieser Konsequenz aussöhnen als 
ein Mann wie Radek, ein galizischer Jude ohne eine bestimmte Mutter- 
sprache. Der nationale Sozialismus jedoch zieht wieder andre Dinge 
nach sich. Er gründet sich auf das Heimatgefühl, dies wieder bildet 

sich in der Kindheit und diese ist an die Familie geknüpft 

Es gelang im grossen und ganzen dem Staatsanwalt Wyschinski, die 
Angeklagten an prinzipiellen Betrachtungen zu hindern. Auf _ die 
Frage aber, warum und gegen was die «Verschworenen» in Opposition 
standen, wird, glaube ich, auch eine ganz kurze Übersicht über gewisse 
Züge der sowjetrussischen Entwicklung in den letzten Jahren uns ganz 
unmittelbar die Antwort geben. \ 

Am 1. April 1934 wird der Begriff «Vaterland» in der Sowjetunion 

, 103 



I 



Sigurd Hoel 

von neuem offiziell anerkannt. (Das geschah in der nationalen Begei- 
sterung nach der Rettung der Tscheljuskin-Expedition.) 

Am 18. September 1934 tritt die S. U. in den Völkerbund ein. 

Am 2. November 1934 trinkt Stalin auf das Wohl der «Parteilosen» 
und hebt hervor, dass sie eben so gute Bolschewiki seien wie die Partei- 
mitglieder. 

Am 15. Mai 1935 wird der französisch-russische Pakt abgeschlossen 
Um diese Zeit kommt Russlands Geschichte wieder als Schul-Lehrfacli 
zu Ehren. 

Am 25. Mai wird die «Vereinigung der alten Bolschewikiv) aufgelöst 
Am 7. Jum wird Lenins alter Freund Jenukidze aus der Partei aus- 
geschlossen. 

Am 25. Juni wird der «Verband der politischen Gefangenen des 

Zarismus» aufgelöst. 

Juni/Juli; Heftige Pressekampagne zur Schaffung einer neuen und 
besseren Moral, deren Zentrum Familie und Heim sein sollen. 

Am 22. September wird die Rangeinteilung in der Roten Armee und 
der Roten Flotte verstärkt eingeführt. 

Am 9. Dezember werden Offiziersabzeichen eingeführt (das erste 
was beim Revolutionsausbruch abgeschafft wurde). ' 

Ain 1. Januar 1936 werden Weihnachten und Neujahr zum ersten- 
mal wieder mit Weihnachtsbäumen und andern bürgerlichen Zeremo- 
nien gefeiert. 

Im Laufe des Januar wird die Kommunistische Akademie in Moskau 
liquidiert. Man braiicht nicht zwei Akademien, und da ist es das beste 
die wissenschaftliche Akademie aufrecht zu erhalten. 

Am 1. Februar veröffentlicht die Prawda einen Artikel, in dem das 
grossrussische Volkselement als das erste unter den Brudervölkern der 
S. U. hervorgehoben wird. 

Anfang April gebietet Stalin den Komsomolzen, aus ihren Satzungen 
den Artikel zu streichen, der besagt, dass die Komsomolzen aktiv und 
schonungslos gegen die Religion, dies Opium des Volkes, kämpfen soUen 

Ende April erlasst Stahn ein Dekret, dass die Kosaken den Arbei- 
tern und Bauern gleichstellt. Die Kosaken werden feierlich als eigene 
Gruppe der Roten Armee eingegliedert. 

Am 27. Juni erscheint ein Dekret, das die revolutionäre Abo'-tge- 
setzgebung aufhebt. Die Presse macht Propaganda für Dauerehen und 
stempelt «lose Verbindungen» als «wahrer Bolschewiki» unwürdig Die 
«physiologische Liebe» wird für «ein kleinbürgerliches Laster» erklärt 
Die Bolschewiki sind immer für «Poesie und Liebe» gewesen für die 
Bewahrung des Heims, und immer gegen Aborte. 

Anfang August beginnt der grosse Prozess gegen dib «Trotzkisten» 
(isinowjew. Kamen jew usw.). Er endete bekanntlich damit, dass alle 
sechzehn Angeklagten zum Tode verurteilt und erschossen wurden. 

Die neue Sowjetrussische Marineflagge hat inzwischen die alten 
russischen Farben _ weiss, blau und rot — zurückerhalten, jedoch 
auch den Stern, Sichel und Hammer bewahrt. 

Die Staehanoff-Bewegung blüht unter dem Schutz der Autoritäten 

104 



Der Moskauer Proiess 

auf und führt unter den Arbeitern zur deutlichen Unterscheidung- 
einer Oberschicht von einer unteren Schicht. 

Anfang November 1936 eröffnet die Sowjetpresse eine Kampagne 
gegen eine Reihe Dichter, Verfasser und Regisseure, die Russlands Ge- 
schichte in einem un vorteilhalf ten Lichte dargesteUt haben. Die Isves- 
tia schreiben: «Man soU die grossen Söhne seines Landes achten und 
ehren und Liebe und Interesse zeigen für die Gescliichte semes_ Volkes 
und seines Landes.» Im weiteren wird unterstrichen, dass die Em- 
führung des Christentums eines der grössten Ereignisse m der Ge- 
schichte des Landes wäre. Auf einem Kongress m Jaroslowa wird 
gesagt: «Christus war der Sohn eines einfachen Zimmermannes und 
eines armen Bauernmädchens und muss daher als wahrer Vater und 
Begründer der Kommunistischen Partei angesehen werden.» 

Zur selben Zeit werden an den Russischen Universitäten und Gym- 
nasien von neuem Uniformen eingeführt, wie sie in der Zarenzeit üblich 
waren, und den Schülern wird Ehrerbietung gegenüber Eltern und Vor- 
gesetzten eingeschärft. Unter denen, den Ehrerbietung erwiesen wer- 
den soll, finden wir vor allem den Teil der neuen Oberklasse, der aus 
den sogenannten «Helden des Vaterlandes» besteht — Leuten, die sich 
um das Sowjetrussische Vaterland besonders verdient gemacht baten: 
Ordensträgern, höheren Parteileuten und militärischen Leitern. 

Es ist eine Anweisung erlassen worden, die weisses Hemd, Schlips 
und möglichst Smoking für die offiziellen Bälle vorschreibt — ein Aus^ 
druck des Dranges nach einem «wohlgehaltenen und schönen Leben». 
Die neuen Gala-Uniformen der Offiziere mit goldenen und silbernen 
Tressen bilden hier einen der ersten Schritte. 

All dies geht unter einer grossartigen kommunistischen Terminolo- 
gie vor sich. Patriotismus, Familienpflege, das Heim, das Recht auf 
Privateigentum — all das ist die «Verwirklichung des wahren Leninis- 
mus». 

«Wofür hat das russische Volk von allem Anfang seiner Geschichte 

her bis in unsere Tage gekämpft?» Antwort: «Für die nationale 
Befreiung». Und «Wonach strebten Russlands grösste und beste Söhne 
jrn Laufe der Jahrhunderte?» Antwort: «Nach sozialer Gerechtig- 
keit». — Nun ist das Ziel erreicht, «unser Lehrer, der wahre Dolmetsch 
des Marxismus-Leninismus, der grosse Freund, Führer und Vater der 
Brudervölker, unser lieber Genosse Stalin» hat dafür gesorgt. 

Gegen diese Entwicklung standen die Angeklagten in Opposition. 
Gegen diese Entwicklung steht Trotzki in Opposition. Soweit waren die 
Angeklagten «Trotzkisten». Gegen diese Entwicklung; besteht rings- 
herum im Lande eine Opposition. Insofern gibt es in der S. U. einen 
ziemlich verbreiteten «Trotzkismus». 

Wenden wir uns wieder den Geständnissen selbst zu. 

Von Leuten, die der kommunistischen Bewegung fernstehen, sind 
viele mehr oder weniger fantastische Hypothesen über diese Geständ- 
nisse vorgebracht worden. Man hat von Tortur, von Hypncse, von Gif- 
ten mit seltsamen psychischen Wirkungen usw. gesprochen. Die mei- 
sten dieser Hypothesen braucht man gar nicht weiter zu erörtern. Das 
waren keine hypnotisierten Schlafwandler und keine vergifteten Men- 

105 



n 



I 



Sigurd Hoel 

schenwi-acks, die da vor Gericht standen — das waren Leute, die Ver- 
stand und Denkfähigkeit, teilweise sogar Selbstgefühl bewahrt hatten, 
selbst wenn die Depression sich bei einigen, wie Pjatakow und Muralow, 
stark geltend machte. 

Was Tortur (psychische Tortur) betrifft, so muss man eins im Auge 
behalten: die meisten Angeklagten hatten Angehörige im Unde, deren 
künftiges Schicksal ihnen sicher schwer auf dem Herzen lag. Doch damit 
kann man nicht die ganze Flut der Geständnisse erklären. 

Ich glaube nicht, dass man sich überhaupt der richtigen Erklärung 
annähern kann, ohne das ganz besondere Verhältnis dieser alten Bol- 
schewiki zur Partei in die Betrachtung einzubeziehen. 

Wir haben es mit Menschen zu tun, die grossenteils durch Denken, 
Lesen, Diskussion und revolutionäre Erfahrung sich freigemacht haben 
oder gelöst worden sind von vielen der Vorurteile und Illusionen, in 
denen die Mensehen meistens Wärme und Ruhe suchen. 

Wo haben sie nun Schutz gesucht und gefunden gegen die Einsam- 
keit und die Kälte der Erkenntnis? 
In der Partei. 

Die Partei hat ihnen Vater und Mutter ersetzt, Geschwister und 
Kinder, Staat und Religion. 

Diese starke Bindung an die Partei hat die kolossale Kraft der Bol- 
schewiki ausgemacht — sie kann gegebenenfalls zur Schwäche des ein- 
zelnen Bolschewiken werden. Mit dieser seiner Partei zu brechen: das 
ist für einen alten Bolschewiken ein ungeheuerlicher, ein nahezu unaus- 
denkbarer Gedanke. 

Die Angeklagten, jedenfalls die führenden unter ihnen, sind zu wie- 
derholten Malen in Opposition gestanden, einige von ihnen waren ver- 
bannt und sind wieder in Gnaden aufgenommen worden — nach Ab- 
gabe von Reue- und Zerknirschungserklärungen, wie das nach und nach 
in der russischen Partei Brauch geworden ist. _ Aber diese Opposition 
ist immer eine Opposition innerhalb der Partei gewesen. 

Eine solche Opposition ist jedoch nicht mehr möglich, seitdem Stalin 
die Partei diktatorisch gleichgeschaltet und alle Macht in ihrem Zen- 
trum vereinigt hat. Freilich hat er die a\ten Bolsehewiki nicht hindern 
Itönnen, zu sehen, zu hören, zu denken und zuweilen auch zu reden ^ 
wenn sie unter Freunden zu sein glaubten. Emige von ihnen glaubten 
zu sehen, dass Stalins Politik sich ständig stärker m reaktionärer Rich- 
tung entwickelte. Sie sind vielleicht auch direkt der Meinung gewe- 
sen, dass diese Entwicklung — der wachsende Nationahsmus, die wach- 
sende Bürokratie — geradenwegs weg vom Sozialismus führte. Sie 
haben daran gezweifelt, dass Stalin der richtige Mann sei, sie haben 
die Person Stalins kritisiert, vielleicht sogar verachtet — sagen wir, dass 
einige von ihnen auch innerlich seinen Tod gewünscht haben. (Für 
irgend einen direkten Ansehlag gegen sein I^ben hingegen besteht nicht 
der geringste konkrete Beweis.) _ 

Doch all dies haben sie unter innerem Zwiespalt getan. Denn — 
im Innersten ist für jeden einzelnen von ihnen die Partei gleich der 
Klasse gleich dem Staate gleich dem Sozialismus. Ja, wir können es 
noch mehr zuspitzen: Der Führer der Partei gleich der Partei gleich 

106 



■ ^ 



Der Moskauer Prozess 

dem Staate gleich dem Sozialismus. Abgekürzt: _ Stalin /Ifich deip 
Sozialismus. Also: wenn sie gegen Stalin opponieren (und das heisst 
«konspirieren»), weil sie meinen, dass er den Sozialismus sohlecht ver- 
waltet und repräsentiert, indem er ihn mehr und mehr in einen ™tj^ 
Wü-eyi Sozialismus verwandelt - so kommen ihnen gleichzeitig Schuld- 
gefühle eben weü er doch die Partei re-prasenUert und die Partei, der 
Sozialismus, Vater, Mutter, der Staat und die Religion ^st. 

An dies Schuldgefühl haben sich die Anklagebehorden sowohl bei 
der Voruntersuchung wie beim Prozess wenden können. Sie verlangten 
von den Angeklagten, ihre Sünde gegen die Partei zu sühnen, mdern 
sie sich für die Partei opferten. Die Zeiten sind kritisch, Krieg droht 
_- und gleichzeitig herrscht an nur allzuvielen Stellen Schlendrian, und 
Unzufriedenheit regt sich an den verschiedensten Stellen, Leute der 
gleichen Art wie die Angeklagten sehen sich diese Entwicklung an und 
stecken die Köpfe zusammen ringsum im Lande. Die Einheit der Par- 
tei ist in Gefahr. Wer die Einheit der Partei bedroht, bedroht den 
Staat, bedroht den Soziahsmus, unterstützt den Feind, den Faschismus, 

ist selbst Faschist 

Und so sind jetzt Opfer notwendig geworden Die unzufriede- 
nen Massen brauchen Sündenbocke, die heimliche Opposition muss ab- 
geschreckt und gewarnt werden. All das kann erreicht, alle Sünde kann 
gesühnt werden durch die richtige Art Geständnisse ..... 

Man liat nicht gegenüber allen die gleiche Methode angewandt. Es 
besteht im Gegenteil Grund anzunehmen, dass die Mfethode bei jedem 
einzelnen eine andre war. Der alte General Muralow z. B. ist wahr- 
scheinlich zur Erkenntnis von Sünde und Wahrheit gedrängt worden, 
als er in der Voruntersuchung sehen musste, in was für eine Horde 
von Spionen und Landesverrätern er nichtsahnend geraten war. Bei 
einem Mann wie Radek bedarf es wieder einer eigenen Erklärung. 
Doch für das Auftreten von Pjatakow und mehrerer anderer kann man,' 
glaube ich, kaum eine andre brauchbare Erklärung als die hier ange- 
führte finden. 

Der Partei, will sagen ihren Untersuchungsbehorden, gelang es, sie 
zu überzeugen, dass ihre Opposition in dieser Zeit schicksaJssch wanger 
werden könnte (jede Opposition ist zu jeder Zeit fisch icksalsschwanger» 
unter einer Despotie). Als Sühneopfer war nicht nur ihr Leben, son- 
dern auch ihre Ehre als Kommunisten erforderlich. 

Sie beugten sich der Forderung. Aber sie beugten sich auf eine 
solche Weise, sie gaben ihren Geständnissen eine solche Form, dass diese 
das aktuelle Bedürfnis befriedigten, gleichzeitig jedoch Vorbehalte und 
Selbstwidersprüche enthielten, die später zur Aufklärung und zu ihrer 
Rehabilitierung führen mussten. 

Sie brachten im übrigen ihr Opfer auf höchst verschiedene Weise, 
ihrer Natur entsprechend. Muralow war erfüllt von der Verzweiflung 
des einfachen Menschen über die unverständliche und abscheuliche Situ- 
ation, in die er geraten war. Vielleicht der ergreifendste Ausbruch 
im ganzen Prozess ist der Satz, mit dem er sein «letztes Wort» einleitet: 
«Ich habe auf einen Verteidiger verzichtet, ich habe auf eine Ver- 
teidigung verzichtet, weil ich gewohnt bin, mich mit tauglicher Waffe 

107 



:i 



Sigurd Hoel 



'■' 






Pjatakows Geständnis und seine ganze Haltung sind vom tiefsten 
Lehensuberdruss geprägt. Badek dagegen bewahrt den ganzen Prozess 
hindurch seme_ Ironie und seine Schlagfertigkeit, er ist es, der den An 
Wager am meisten _ nervös macht und der am deutlichsten in einen 
Worten etwas «zwischen den Zeilen» durchschimmern lässt. Ab und 

bar — iur sein Teil jst es ja auch noch nicht zu Ende. 

vid,^n'„^'T"i ""T A^f'^^^l^^^"'l^«it bisher im wesentlichen der indi- 
Sss hat nt^"' •'" ^T ^""' ^'^^^^^^ ^^ugewandt. Doch der 
heTnirht Jn^ eine andre, massenpsychologische Seite, die in Wahr- 
heit mcht mmder wichtig und nicht minder tragisch ist. 
Wie konnten die Massen all dies glauben? 

. Jahrelang haben jetzt die kommunistische Partei und alle Behörden 
des Landes systematisch daran gearbeitet, eine «F4ren>-lloloSru^^ 
einen entsprechenden Führerkult heran zuzüchten d eT hohl? Gra^^ 
denen m Deutscialand ähneln; Anfangs wurde diese Propaganda dur^ 
aus als eine taktische und praktische Verhaltensreg^f gehandhat? 
man war sich klar darüber, dass die primitiven und ungSSlten MaT 
sen einfacher und leichtfassl icher Symbole bedurftet S^^" S^" 
m Deutschland machte es ^ so meinte man ^ dringend notwLdL 
eine gleichartige «Kupferschlange in der Wüste» fTr d^e russischen 
Massen zu schaffen, wie Hitler sie für die deutschen geworS wT 
Im Anfang v.ar das taktisch und praktisch. Die FraVXh ist ob 
nicht Ziel und Mittel. Politik auf kurze und auf lange Sicht sTch ifngt 
unauflöslich ineinander verwoben haben. Stalins FührerschalT st nS 
mehr ein mehr oder weniger brauchbares Mittel I^iii^^^^^^^ 
zu wTrd^n * "'" "^'^ ^'"^ ^"^^^^^ ^'' Sozialismus seTbst verwechselt 
Aber wenn diese Führerschaft also in der Sowjetunion eine so fest 
gegründete Massenbasis bekommen hat. wie sich das aus mancherlei 
Anzeichen schhessen Hesse, so erhebt sich' folgende Frage: Müssen wir 
die viele Jahre hmdurch die Sowjetunion mit all ihren möglichen Man 
m ,. Ti Unvollkommenheiten als die grosse Zukunftshoffnung in Hp. 
Welt betrachteten - müssen wir nicht trotz allem auf das Bestehen 
des Stahn-Regimes hoffen ^ ohne Rücksicht auf seine Fehler seine 
reaktionäre Tendenz, seine Härte und Grausamkeit, ja teilweise S 
gerade auf Grund dieser Eigenschaften _ selbst wenn wir auf w' 
iif l-T*^"" S^""stigeren Verhältnissen es für durch und durch ver 
werfhch halten würden? Eine Reihe von Justizmorden, wie die Mos' 
kauer Prozesse sie darstellen, wirkt unmittelbar empörend Ater 
wa^n sie vielleicht trotzdem .politisch zu rechtfertigen? Ein ganzer 

SwSt^lWt'f^ ^" ^- l-^^^&n Jahnen 't."is 

unzweitelhaft m reaktionäre Richtung ^ aber ist das vielleicht unver- 

108 



Aus dem chinesischen Patriarchat 

meidlich angesichts der Primitivität und Zurückgebliebenheit der Mas- 
^^"rt^lMtrut-^u^Spten, dass eine solche Frage ei^ac^ und 

sr^r'Äeirae?"s^-ts:^^^^^^^^^^ 

serhaird^r Sowjetunion werden nur vorläulig starker Belastury aus^ 
Sse?^t und wieviele gehen auf die Dauer zugrunde ujter einem solchen 

mwmwmm 

Vemutungen,_ Hoffnungen ""d ^^g'^^"^ ^^^^^^r^ieht selbst täuschen: 
, Eins aber ist klar über eines ^^^^^'^ ^^ Sowjetunion über die 
Die «revolutionäre» Begeisterung, ^^^^f ^^"^^^ __ ,ie unterschied sich 
letzten und die vorigen Moskauer Urteite^^^^^ ^ 

. ^^ ^^^^'^Jü^'^^'l.T t.r'fSarHrtL die Macht ergri^^^^ 
rung, die Hitlers SA-Leute erfüllte, ^ ^ »J - ^ nationalen, 

und sie vorwärts zu marschieren giauüT;en, c 

revolutionären _I>eutscliland f *^^^";,^,^i,rt und unklar wie kaum je 

Und doch: in d^^J^fr^^wetunTon heute als die eme Macht, die i 

_ in dieseni Chaos steht ^le Sowj^union ^^^^^^ ^^^ _ 

gleich ob die ^^^^'f^^lj^i^y,, ob wir der Politik Stalins in dem und 
wünscht oder n^h^ ganz^e^^ ^^^ ^.^^^_ ^.^ ^^„^^^ ^^ .^^^^ .^ gp^^ 

dem ^""'^^^ ^-j. ^gy g u.? Wie sähe es aus mit der noch gebliebenen ,/ 

Frdheirderübrigen Welt, wenn die spanische Freiheit erwürgt worden ;. 

'^'^^^: 'YoXsa^chen bestehen. Keine noch so abscheulichen Moskauer 
Proze's^ können sie vernichten. 

Avis dem chinesischen Patriarchat 

Gedanken über Smedley's Buch „China blutet" ! 

Dieses Buch müssen wir aUe gründlich studieren. Smedleys ein- 
faeh^XäEgen machen uns mit China intim vertraut, geben uns , , 

einen Querschnitt durch alle seine sozialen Schichtungen. Ja dieses 
kleine Buch macht die dicksten Wälzer über China erst ^^^^^^^^ ^^ 

Ein Unmass von Leiden, Versklavung, Verzweiflung und Brutahtat 

109 

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Aus dem chinesischen Patriarchat ' 

Steht erschütternd vor uns auf, tief erlebt und mitgefühlt von einer 
Revolutionärin, einer mutig-en, warmherzig-en Frau. 

Uns trennt keine Welt mehr von «den gelben Menschen im fernen 
Osten» — es geht uns unmittelbar an. Wer das nicht spürt, lebt noch 
in der Zeit, wo Bücher wie «Onkel Toms Hütte» die ganze zivilisierte 
Weit erregten. Heute haben wir unter den barbarischen Unter- 
drückungsmethoden des Faschismus erfahren, dass die Formen des 
Klassenkampfes im sterbenden Kapitalismus international immer ähn- 
licher werden. Die imperialistischen Staaten ohne Kolonien entwickeln 
typisch koloniale Ausbeutungsformen gegenüber ihren eigenen Arbei- 
tern. Italien, Japan, Deutschland, der faschistische Kampf in Spanien 
— ja, es rieclit in Europa verdammt nach blutiger Kolonialbarbarei. 
So kommt uns vieles sehr «chinesisch» vor. Die gelben, schwarzen und 
weissen Sklaven beginnen, einander besser zu verstehen. Jedenfalls 
stehen wir bei den Revolutionären in der ganzen Welt an der Schwelle 
eines wirklichen, d. h. aus realen Interessen geborenen Intern ationahs- 
mus. Ein wichtiger Ausdruck dieser neuen elementaren Internatio- 
nale ist auch dieses Buch der Amerikanerin Agnes Smedley. 

Die Arbeiterbewegung Europas ist nach den grossen Niederlagen 
auf dem Punkt angelangt, «wo sie scheinbar wieder von vorn beginnen 
muss». Alle alten Thesen und Organisationsformen werden gründlich 
geprüft und umgewandelt, um sie der furchtbaren Realität des heutigen 
Klassenkampfes anzupassen. Wir glauben nun, dass uns das blutende 
China mit seinen überspitzten Widersprüchen auch Möglichkeiten bietet, 
unsere eigenen Probleme besser zu verstehen. Versuchen wir, aus der 
erdrückenden Fülle der Parallelen und Anregungen einiges anzudeuten. 
Zunächst einige Beispiele aus dem Buch: Acht Soldaten, chinesische 
Bauernsöhne, müssen zwei deutsche Touristen begleiten. Unterwegs ver- 
anstalten sie aus langer Weile ein Wettschiessen — auf arbeitende 
Bauern, Männer und Frauen, deren Silhouetten auf einem Hügel in 
rastlos schwerer Arbeit sichtbar sind. — Weiter: ein chinesischer Sol- 
dat ist blind geschossen worden, bliiid für eine Sache, die nur seine 
Offiziere kannten, sein General, an den er sich verkauft hat, um seiner 
hungernden Familie einen Dollar im Monat schicken zu können. Der 
hlind-e Mann wird halbnackt mit 2 Dollars entlassen. Um zurück zu 
seiner Familie zu kommen, verkauft er einige Ringe, die er erbeutet 
hat. Das Geld wird ihm gestohlen. Sein verzweifeltes Schreien bringt 
ihn und den Dieb auf die Polizeiwache. Der Polizist sagt, dass die 
erworbenen .35 Dollar für einen Blinden zuviel Geld seien. Er werde 
es «aufbewahren». Die verzweifelten Erklärungen des Blinden, dass er 
nach Hause fahren will, beantwortet der Polizist mit dem Versprechen, 
ihm das Geld an das Schiff zu bringen. Zwei Tage wartet der Soldat 
und — der Polizist kommt wirklieh! Er gibt ihm 15 Dollar und meint, 
der gute Mann könne froh sein, dass er so anständig wegkommt. Er, 

der Polizist, hätte ihn doch beim Betteln verhaften können! — 

Ein chinesischer Offizier in eleganter Khakiuniform mit Lederrie- 
men, Schultergürtel und hohen Lederstiefeln steht auf dem Hankauer 
Flugplatz, der uneingezäunt inmitten Bauernfeldern angelegt ist. Die 
Bauern wissen nicht, dass es verboten ist, den Platz zu betreten. So 
geht ein Bauer, von seiner Last fast zusammengedrückt, mühsam über 

110 



Aus 'dem chinesischen Patriarcliat 

den Platz und wird von dem Offizier wütend jn^f'«!'*- ^^/^.''er 
.ante Kuo.nintan.ieug^ant z„fam. ^e. ^^ of f etichSL'^^ir ' nicM 
?:rS:^i:t:;^™^r w^l^^t,.. 1^^ der^auer^Bi^ 

stiefeln her, bis er leblos liegen "«■»'■ V*'"^^ ,^„„„t j„ gchweiss 
einem Grasbüsehel etwas von seinen St'^« n f ™^ ™ Hätte 

gebadet zurück -- F'^^S' ^ *,hm t Süt e^art .ebliehen. 
DanTha?e":r:^::etnet^dalen vorher auf den Bauern geschossen. 
So ganz einfach, ohne ^^^^es Warnun^wort ^ ^^^^^ysche Grau- 

Wie kann eine so ^rloeeneM^^^^^ t^j^t. Durch 

sanikeit in einem W'^.f"™'^'*^^^";.^ möglich. Es wäre entscheidend 
die Arbeiten Re^hs gt eine A^hvo^ ™„^ ^^,,,,„ menschlicher Ent- 

Sunt ard^? betS";inerBeisp.elen in China, dem mss.c,.n 

C" der ^rr''^^rJXltk::ni:^ X« r-ErUlärung vor 
. T" Ita ?ScWst™ctr Srbarenn der zivilisierten Welt. . Berichte, 
den Greueln tascmsuscner Dd-iua „iT-^ends nimends finden wir 

Beschreibungen .^t 2 ^^, I,,..H- 

eme Erklärung. ^'^f^fH.^''- p^rlichl wir aUe antworten darauf: 
schnittsspie.-r ^^.d^^^^^^^ ,,,, 3cUimmer als Be- 

T. ^X^^^nlr^c^ichen Wesen und bessere soziale Verhalt- 
stien. Es yiegt im beseitigen, vielleicht nur die Formen 

nis^ werden das |^^^ "f t ^^^^^^^ ^^^j^^Vt uns, dass die Grausamkeit 
'^"^i^'Srta^senden du ch den Sündenfall eines Urvatermordes uns allen 
'^'^ . ^S sei Auch der moderne Sozialismus weiss kerne Antwort 
?^"^*"Ät k~Sach?n unbesehen nnt einer gläubigen Hoffnung auf 
J"' VtkonL^che V^^^^^^ Ein einfacher Mensch versteht 

5''"^ HoffnunrSht «weil doch gerade die reichen Leute besonders 
Ssam siX Und die grundsätzlichen Ansätze, die in den Arbeiten 
Sels über den Ursprung der Familie zur Klärung der Zusammen- 
hfnr enthalten sind, haben keine Ifebendige Fortsetzung und Anwen- 
aLI in der Arbeiterbewegung erfahren. - (Zufällig?) ^ 

Woher kommt die menschliche Fähigkeit, Unterdrückung zu ertra- 
p-en und zugleich gefügiges grausames Instrument derselben Unter- 
drückung zu sein. Was für diesen chinesischen Pohzisten, diesen chme- 
sischen Offizier und diese chinesischen Bauernsoldaten typisch ist- wa^ 
und ist genau dasselbe bei den deutschen «Hunnen» m Chma [V^im, 
im Weltkrieg, in den Bürgerkriegen, bei den meisten europaischen 
Soldaten bei der SS und SA Deutschlands, in den Marterhohlen usw. 
usw. JawoU, genau dcssdhe. Und das ist kerne ^^^™f ^^^^^^ ,^^- - 
Cntung de von den besonderen ökonomischen, politischen Bedin- . 
™In des iweiligen Landes absieht. Allen diesen Unterdruckungs- . 
fvSen StSa™ Armeen mit ihren spezifischen Kriegen und 

SlSim" emes gemeinsam: äie UrzeUe äes Staates, das Grund- 

111 



Aus dem chinesischen Patriarchal 

element für die Erziehung der Menschen, für das jeweils zutreffende 
System der Ausbeutung, die FAMILIE! 

Nicht zufäUig fängt das Buch der Smedley an mit einem belauschten 
Oesprach emiger- nordchinesischer Bauern über ihre rebelUerendep 
bahne. In dieser kurzen Geschichte ist ein wesentliches Stück des alt»n 
(.iiina eingetangen: die lehensunterdrückeiide patnarchalische Geivalt 
die absolute Macht des Vaters in der Familie. Doch die Söhne die di«' 
«neumodischen Schulen» besucht haben, rekeUieren; überall weio-ern 
sie sich, .lach dem Willen des Vaters zu heiraten, machen gemeinsame 
faache mit den Pachtern gegen den eigenen Vater oder wehren sich 
gegen die inigeheuerliche Ausbeutung der Schwiegertöchter. Sie weh- 
ren sich dabei auf verschiedene Art: mit Hungerstreik, Selbstmord und 
^JuLht. Doch die besten von ihnen kommen von der Opposition gegen 
iZ V/^5^, unmittelbar zu einem Kampf gegen die Jahrtausende alte 

^enhlft w ^""^^ ^-^V''"'' ^^.^^"S^h^ftlichkeit, Zähigkeit und Verschla- 
genheit, wie 3 e bisher unerhört m der Geschichte sind. Es gibt in dem 
Buch unter all diesen gefolterten Menschen auch nicht den Hauch efne^ 

ZerS deT Fa^ilT^'w""^^'*"'^"^'''^""'^^'^ ^^^' ^"^ ^^^^^^ von dem 
che^fLitatuHfer C^na"^"^" '" "'°"' ""^'^ ^"^ '^' "-^-^■-- 

.endt"ung:^öntnt:?ckti: l^'^^'^''^'''' ^'"^^'^ '""^ '''' '^''^^- 
So ist angemein bekannt, dass in China Religion, Erziehung Aus- 

SSlLnordn^n^'^rT^''^^- ^^^*'^"^* ''' '^"^^^ ^^^ patriarchalische 
;m T^ ^- ^l^l^^^tig ist ebenso bekannt, dass «die Asiaten 
entsetzhch grausame Menschen sind» 

Agnes Smedleys Erzählungen unterstreichen beides gründlich In 
Snno h'' l"'T'. ^Tl '''^' China die raffinierteste Unter" 
t^^^r.2 r ^;"^^^l^^f;.. Lebens- (Sexual-) triebes durch die absolute 
^aterhche Gewalt,_ die hundische Versklavung der Frauen. Hier gibt 

Z.Zl^TTf^ t ^''^'^ ^*^" ^- ß^^^^über den .Einbruch 'de 
Sexualmoral» fortzusetzen, zu popularisieren und die parallelen Er- 
scheinungen in Europa verständlicher zu machen 

\\'arum sind die Gesichter so glatt und lächelnd vor Konvention? 
Warum sind die Ausbrüche lebenszerstörender Leidenschaften so imge- 
heuerlich? Warum erscheint Theater, alle Kunst überhaupt so intellek- 
tueU, kalt, marionettenhaft? Warum ist dort alles zur Routine erstarrt 
und das höchste religiöse und kulturelle Ideal der Mensch mit der abso 
ten Beherrschung jeder körperlichen Regung? Warum ist gerade in 
diesern Land der Heroismus bis ins Absurde verherrlicht? Man denk- 
dass die Hinrichtung der 1000 Schnitte nur besonders vornehmen Men' 
sehen als hohe Ehre zugedacht wird, weil sie damit Gelegenheit halv-n 
Ihre vornehme heroische Überwindung des Schmerzes zu zeigen Die 
ganze alte chinesische Geschichte ist voU davon. Ein Antwort auf dies- 
fragen existiert nirgends. Leider auch bei Marxisten nicht 

Erst nach den iJefc/ischen Arbeiten wäre es möglich, hier Licht in 
den dunkelsten Winkel menschlicher Entwicklung zu bringen. Hier nur 
soviel: die Männer viüssen so sein, können gar nicht anders sein und 
ebenso alle oben angedeuteten geseUschaftlichen Erscheinungen Sie 
smd naturnotwendige Folge einer Jaiirtausende alten Unterdrückung 



Aus dem chinesischen' Patriarchat 

der Frau Folge einer raffinierten absoluten charakterlichen Fesselung 
der Lust- und Unlustaffekte, Entartung einer Hälfte der vwmchlidie^i 

Gesellsdiaft. ' , i -n ■ -ui. ^^ 

Dazu einige Illustrationen aus Smedley und anderen Berichten: Von 
ihren Eltern verschacherte Schwiegertöchter werden von den Schwieger- 
müttern, die selber aufs äusserste unterdrückt sind sadistisch gepei- 
nigt und auf das Phantastischste ausgebeutet. Ihe RoÜe der Sckme- 
ffertöchter üt sprioMvortlich in Cläna und zugleich auch oft der Aus- 
mngspunkt revolutionären Aufhegehrem der Frau! Wenn die soziale 
Stellung der Frau im Durchschnitt noch unter der Stellung der Hunde 
rangiert so ist für die SteUung vieler Schwiegertochter kein Vergleich 
mehr müglich. Während alle essen, muss sie stehen und m der Hast 
der Arbeit die Reste verschlingen. Wie in Smedleys Buch die eine, so 
sterben Zehntausende von Schwiegertöchtern m ihrer hilflosen Qual, 
weil jeder in der Familie mit ihnen tan und lassen kann, was er 

"^^ Es gibt viele, viele tausende Gedenksteine im alten China Über 
den Leichen kleiner Mädchen, die dem verstorbenen Gatten m den Tod 
folgen mussten ^ zur Ehre der Familie. Es ist Sitte im patriarchali- 
chen China, dass die kleine Braut, die ihren von der Familie bestimm- 
ten Gatten niemals gesehen hat, auch sterben muss, wenn er zu seinen 
Vätern eingegangen ist. Der vornehmste Tod ist verhungern, tnd irei- 
willig gewählt muss der Tod auch sein, immer zu dieser verfluchten 
Ehre dir Familie. Eine chinesische SchriftsteUerin schilderte mir ein- 
mal den Tod eines solchen 10jährigen kleinen Wesens: der Vater hatte 
sie zwecks Erreichung des bewussten Familienehrenstems m em Ver- 
liess eingesperrt, um sie verhungern zu lassen. Er hatte sie nicht , 
erdrosselt mit einer Seidenschmir. wie das sonst in anderen Fallen ubhi^h 
ist wenn die kleinen Mädchen diesen sinnvoEen Tod nicht sofort begreif- 
lich finden. Das Mädelchen schrie 14 Tage fast ununterbrochen. Dann 
erstarben hinter den meterdicken Mauern des vornehmen Hauses m 
der kleinen Sedschuaner Stadt die Schreie des Kindes und die Ehre der 
Familie war grerettet. 

Millionen Frauen klembürgerhcher Familien haben nur zweimal 
Gelegenheit, aus den dicken Mauern der ineinander verschachtelten 
Familienhäuser herauszukommen: einmal, wenn sie in einer Sänfte 
ihrem unbekannten Gemahl ins Haus getragen werden; und das zweite 
Mal, wenn ihre Leiche bestattet wird. Und mit ihren verkrüppelten 
Füssen, mit den Zehen unter die Fussohle bandagiert, sind sie nichts 
weiter als die raffiniert dressierten Sklavinnen ihres Mannes, ja oft 
auch ihrer Söhne und zugleich ein erschütterndes Symbol für die «natür- 
lichste einzig mögliche Form der Aufziehung von Menschen», für «den 
Hort aller Kultur», für die Voraussetzung eines jeden Staates in der 
Welt, — kurz für die segensreichen Wirkungen der vaterrechtlichen 
Familie! 

Die Erziehung kleiner chinesischer Mädchen ist leider noch zu 
wenig bekannt. Sie stellt den Gipfelpunkt einer sexualunterdrücken- 
d;en Dressur dar, die, gemildert nur in den allerärmsten Schichten, jede 
unbefangene vitale Lebensäusserung im Keim erstickt. Aus Erzählun- 
gen der chinesischen Schriftstellerin wieder nur ein Beispiel: ein 

113 



■ 
■ 



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'■ 



Aus dem chinesischen Patriarchat 



;■ 



>■ 



Sjähriges Mädchen wird monatelang- jede Nacht von der Grossmutter 
mit Schlägen geweckt, weil sie nicht nach der vorgeschriebenen Sitte 
in bestimmter Haltung im Bett liegt. Vorgeschrieben ist das Liegen 
f: auf einer Seite, die Arme über der Brust gekreuzt, die Knie in Hock- 

■ Stellung angezogen. Die Auswirkungen, d. h. die Zerbrechung jeder 

f^' Individualität, völlige ErtÖtung der Sexualität, dürften wohl bei allen 

diesen Frauen restlos klar sein. .Wir kennen sie ja, wenn auch nicht 
in diesem Ausmass, bei uns als Erfolg der Unterdrückung der kindliehen 
Onanie und sonstiger patriarchalischer autoritärer Erziehungsmethoden. 
|.. Diese Sklaverei hat auch die entsprechende Kehrseite in dem Cha- 

rakter des Sklavenhalters. Diese Frauen sind im besten Fall kühl be- 
rechnende Courtisanen und infantil — «babylike». Die beispiellose 
Vergewaltigung ihrer Natur muss sie völlig unfähig machen, ein voll- 
wertiger Liebespartner zu sein. So schafft die Kälte der Frau müde, 
unbefriedigte, rauschsüchtige und sadistische Männer, die in ihrer Gier 
■' nach der Entspannung wirkliclier Liebe nichts finden ' als Surrogate. 

Das bestätigt sich auch- in der gesamten Literatur. Die Liebe wird 
ein seltenes Traumideal. Viele chinesische Märchen lassen die beiden 
Menschen, die den Höhepunkt liebevoller Verschmelzung gefunden ha- 
ben, sterben. Ich weiss, dass unter den freien Studenten noch heute 
folgende bezeichnende Episode möglich ist: in Peking fand sich eine 
17jährige Studentin, mit ihrem 20järigen Kameraden zusammen in 
einem so grossen Liebeserlebnis (also dem natürlichen), dass sie nach 
einigen Nächten beide gleichzeitig die Trennung beschlossen aus Angst, 
sonst sterben zu müssen, wie sie es aus den alten Märchen gelernt 
hatten. 

Wenn also die natürliche Liebesfähigkeit der Frauen vernichtet ist, 
muss auch die natürliche Triebkraft des Mannes darunter leiden. Er 
muss zu einem kalten Lüstling herabsinken und unfähig werden zu 
einer freiströmenden Hingabe. Die willfährige, wehrlose Sklavin stei- 
gert dann noch die sadistischen Impulse, züchtet geradezu die Lust zum 
brutalen Unterdrücken. Diese Eltern, die listig.^, kalte, ee^ngstigte 
|: Frau und daneben der Mann mit den Eigenschaften eines Sklavenhal- 

ters, diese Menschen «erziehen» kleine Kinder! Genug zu wissen, dass 
diese Kinder absolut willfährig jeder Laune, jedem Befehl der Eltern 
ausgeliefert sind. 

Eine besonders interessante Frage ist nun, wie in diesem Meer von 
Konvention, Sklaverei, väterlicher Grausamkeit die bekannten explosi- 
ven Revolutionen möglich sind. Für die moderne Zeit lässt sich jeden- 
falls leicht verstehen, dass die Berührung dieser barbarischen Unter- 
drückungsform mit den Ausbeutungsmethoden des Imperialismus einen 
sozialen Explosivstoff schafft von unerhörter Intensität. Die cliarak- 
terliche Panzerung dieser Menschen erzeugt eine kaum tragbare An- 
häufung von Aggressionen, Sehnsucht nach Auflehnung und Befreiung. 
Nur in China ist es möglich, dass in einer Massenversammlung ein 
leidenschaftlicher Redner sich den Finger abbeisst, um mit seinem Blut 
den Protest an die Wand zu schreiben. 

Bemerkung der Redaktion: 

Das Vorstehende wird noch eine Ergänzung erfahren durch die Besprechung; 
des zweiten Buches von Agnes Smedley «China kämpft». 

114 



.hrtilfafc 



Sexpol-Bewegung 



Zur Entlassung unserer Kollegen Dr. Leun- 
bacli und Dr. Pliilipson aus dem Gefängnis 




Am 20.2. wurde Dr. Phüipson und am 11.4, Dr. Leiinbach aus dem Ko- 
penhagener Gefängnis nach «Verbüssung ihrer Strafe» entlassen. Wie wir 
bereits bekanntgaben, wurden ihnen die bürgerlichen Rechte für drei 
bzw. 5 Jahre abgesprochen. Die Verurteilung dieser unserer Kollegen, 
Freunde und Genossen hat in Dänemark einen Sturm der Empörung 
gegen die Gesetzgeber bis weit hinein in die bürgerlichen Kreise ent- 
fesselt. Die Sympathien breiter Schichten der Bevölkerung, grosser 
7'eile der Aerzteschaft und der Intellektuellen entfachten sich in unge- 
heurer Stärke für unsere Freunde und gegen die politische Sexualreak- 
tion. Es ist notwendig, kurz zusammenzufassen, wo der Konflikt prin- 
zipiell liegt; 

115 



fflifteiCung aus Kopenha^ieii' 

Jede wissenschaftliche, ärztlich-therapeutische, pädagogische wie 
jede praktische Arbeit g-eht aus Notzuständen des menschlichen Seins 
hervor. Sie haben den Zweck, das Leben besser und leichter zu gestal- 
ten. Sie dienen im Grunde, ihrem Ursprung" und ihrer Funktion nach, 
nichts anderem als der sich ständig- steigernden Befriedigung- natürli- 
cher menschlicher Bedürfnisse. Dies das Prinzip. Doch in der Wirk- 
lichkeit der kapitalistischen Gesellschaft kann die Sache nicht nur prin- 
zipiell, sie muss auch konkret gesehen werden. Sofern Bedürfnisse der 
Menschen den Interessen von Staat, Kirche und Kapitalistenklasse wi- 
dersprechen, büsst die Wissenschaft ihre Funktion ein; werden ihre 
Möglichkeiten eingeschränkt, werden ihre Vertreter in der Arbeit be- 
hindert und verfolgt. Die Wissenschaft hört auf, Wissenschaft zu sein. 
Es gibt politisch neutrale Berufe, etwa den Mathematiker. Es gibt 
Berufe, deren Ausübung die kapitalistische Gesellschaft für sich aus- 
nützen kann, etwa die Chemie und die Physik. Wir sagen für sich, 
nicht für die Bedürfmsse der Masse. Es gibt schliesslich Berufe, deren 
Ausübung der heutigen Struktur und Ordnung der Gesellschaft voU- 
kommen widersprechen und ausschliesslich den Unterdrückten dienen. 
. Zu dieser letzten Art gehört der Beruf als Sexualwissenschaftler und 
als sexualökonomischer Tlierapeut. Es ist klar: Hier muss der Beruf 
notwendigerweise in Gegensatz zum Gesetz geraten, das die Interessen 
der Lebensunterdrückung formuliert und verteidigt. Hier steht Be- 
dürfnis der Masse gegen lehensfeindliches Gesetz. Der Arzt nun, der 
wissenschaftliche Arbeiter und alle die, die zufällig oder gewollt, diesen 
Beruf ausüben, geraten in einen scharfen Konflikt zwischen der Ausü- 
bung ihrer beruflichen und fachliehen Arbeit und dem feindlichen, 
staatlich anerkannten Gesetz. Als brave Staatsbürger hätten sie die 
Pflicht, dem Gesetz zu gehorchen; als anständige Facharbeiter haben 
sie die höhere Pflicht, ihren Beruf zu verteidigen und damit die Inter- 
essen der Bevölkerung. 

Leunbach und Philipson gerieten bei Ausübung ihrer Facharfceit in 
diesen Konflikt. Im Kopenhagener Prozess standen sie als Vertreter 
von natürlichen Massenbedürfnissen dem Richter und Staatsanwalt als 
Vertretern eines lebensfeindlichen Gesetzes gegenüber. Deshalb wurden 
sie von den Staats Vertretern verurteilt, und deshalb werden sie jetzt 
von der Bevölkerung gefeiert. Sie taten ihre Pflicht als Facharbeiter! 
Wir alle sind stolz darauf, dass zwei unserer Aerzte in dieser verrotte- 
ten Zeit ihre Arbeit bis zum letzten ernstnahmen. Wenn alle, die im 
lebendigen Leben, wirken und schaffen, im jeweils gegebenen Augen- 
blicke das gleiche täten, dann wäre das geleistet, wofür wir alle kämp- 
fen: 

Für die Befreiung aUer Schaffenden von materieller titid sexueller 
Unterdrückimg und den Auf bau, einer Gesellschaft, in der das Gesetz 
Arbeit und Lebensglück schützt und nicht vernichtet. 

. Die Kedaktion 

Mitteilung aus Kopenhagen 

Die Verurteilung der beiden Kopenhagener Ärzte Leunbach und 
Philipson und der Krankenschwester Frau Perlmutter rief in Dänemark 
eine Pteihe von Diskussionen hervor. Grosse Teile der Bevölkerung wa- 

116 



Mifieilung aus Kopenhagen 

ren über das Urteil sehr empört. Besonders die Arbeiterschaft sympa- 
thisierte mit den Verurteilten. Trotzdem war es sehr schwer. Protest- 
aktionen in Gang zu bringen. Alle bestehenden Parteien ausser den 
Anarcho-Svndikalisten weigerten sich, etwas dafür zu tun. Die demo- 
kratischen und sozialdemokratischen wegen des neuen Abtreibungs- 
gesetzes; die kommunistischen, weil I.eunbach und Phihpson m kommu- 
nistischen Versammlungen gegen die neue Sexualgesetzgebung in der 
S. U. SteDung genommen hatten. Nur die kleine Gruppe der sozialisti- 
schen Mediziner Kopenhagens versuchte der Empörung der Massen 
Ausdruck zu verleihen. Trotz der Schwierigkeiten gelang es, die fol- 
genden drei Aktionen durchzuführen: 

1) Der — nur kleine — Aufklärungsverein der Arbeiterfrauen forderte 
beim Justizministerium Amnestie für sämtliche Verurteilten. 

2) Eine Adresse mit derselben Forderung sammelte ca. 10.000 Unter- 
schriften. 

,3) Eine sehr ausführlich argumentierende Forderung für Amnestie für 
I^unbach. Philipsoh und Frau Perlmutter erhielt mehr als 4O0 Un- 
terschriften, besonders unter Aerzten, Juristen und Akademikern, 
übrigens hat die Ärzteorganisation (die in Dänemark sehr stark 
ist) alles versucht, um diese Aktion zu sabotieren. So gelang es nicht 
einmal, eine Notiz in der «Wochenschrift für Ärzte» (Ugeskrift for 
Laeger) darüber zu bringen, bei welcher Adresse die Unterschriften zu 
zeichnen waren. Unterdessen hat der Justizmi nister jetzt mitgeteilt, 
dass die Regierung aus rein formalen Gründen die Amnestie verwei- 
gert, so dass Dr. Leunbaeh und Dr. Philipson für längere Zeit die 
bürgerlichen Ehrenrechte und das jus practicandi verloren haben. 

Nachdem Dr. Phihpson aus dem Gefängnis entlassen worden war. 
wurde er sehr stark in einer Veranstaltung der Dänischen Frauen- 
vereimgung gefeiert. Die V^rurteik^ng der Ärzte wurde die Veranlas- 
sung dazu, dass die Organisation «Aufklärungsvgrband der Arbeiter- 
frauen» sich wieder zusammenschloss und eine sehr stark besuchte 
Versammlung mit Dr. Philipson als Redner abhielt. Auf dieser Ver- 
sammlung wurde von ausserordentlich vielen Seiten gegen die reaktio- 
näre und heuchlerische Politik der Regierung in der Schwangerschafts- 
frage protestiert. 

Dass Dr. Leunbaeh jetzt nach Verbüssung seiner dreimonatigen Ge- 
fängnisstrafe aus der Haft entlassen wurde, ist an der dänischen Öffent- 
lichkeit nicht unbemerkt vorüber gegangen. Nicht nur die Tageszeitun- 
gen, auch der Pressedienst des Rundfunks und die Filmwochenschau 
brachten Referate und Bilder von dem Empfang vor dem Gefängnis. 
Ungefähr dreihundert Menschen waren gekommen, um Dr. Leunbaeh 
zu begrüssen. Ausserordentlich gut war es, dass besonders viele Frauen 
mit Kindern und Kinderwagen erschienen waren. Die Kinderwagen 
trugen Plakate und Aufschriften wie «Ich bin kein Betriebsunfall» 
oder «Erwünschte Kinder sind glückliche Kinder». Auf diese Weise 
wurde besonders eindringlich Leunbachs Arbeit für sexuelles Glück 
durch Empfängnisverhütung demonstriert, entgegen den Versuchen 
von reaktionärer Seite, ilin als «Fötusschlächter» zu diffamieren. 

An den Empfang vor dem Gefängnis schloss sich eine Zusammen- 

117 



Sexpol-Korrespondenz 

kunft an, bei der die Vertreter revolutionärer Arbeiterorganisationen 
und linksbürgerlicher Vereinigungen T^unbach in der Freiheit begrüss- 
ten. Am Abend des Entlassunystages hatte die Organisation «Frisindet 
Kulturkamp» eine Huld igungs Versammlung für Leunbach einberufen. 
Der Saal war dicht besetzt, viele konnten keinen Platz mehr finden und 
mussten umkehren. Es sprachen die Ärzte Dr. Moltved, Dr. Munch, 
Dr. Hoffmeyer (Mitglied der Regierungskommission zur Ausarbeitung 
der neuen dänischen Schwangerschaftsgesetzgebung) und Dr. Philipson. 
Besonders der letztere fand warme Worte für Dr. Leunbach als dem 
Leben sbewahrer und dem revolutionären Kämpfer für das Glück. Aus- 
serdem sprachen die langjährige Mitarbeiterin Leunbachs Ofelia Chri- 
stiansen und die Jugendführerin der Frauenbewegung Stella Kornerup. 

Es waren ungefähr 70 jugendliche Nationalsozialisten erschienen, 
zweifellos mit der Absicht, die Versammlung zu sprengen. Es herrsch^ 
te aber eme derartige Atmosphäre der Hingebung und Dankbarkeit 
für Dr. Leunbach in der Versammlung, dass die Nationalsozialisten kei- 
nen Boden für ihre Störungs versuche fanden und sie auch ziemlich rasch 
bis auf einige seltene Zwischenrufe, einstellten, e's besteht kein Zweifei 
darüber, dass diese nationalsozialistischen Jugendlichen den Saal bedeu- 
tend unsicherer verliessen, als sie ihn betreten hatten. 

Wir haben auch an diesem Tage gesehen, dass die verurteilten Ärzte 
der Symphatie und der Solidarität breitester Kreise sicher sind und 
dass die Arbeit, die sie in Dänemark geleistet haben, Früchte zu tra- 
gen beginnt. 



Sexpol-Korrespondenz 



An unsere Leser! 

Im nächsten Heft der Zeitschrift wird eine spezielle Rubrik für pädago- 
gische Fragen eingerichtet. Wir bringen als erstes einen Artikel: «Ist 
Fadagog^ik u her po li t i s ch? Antwort an Anna Freud.» 

Gleichzeitig bitten wir aber alle Leser der Zeitschrift, besondere Wünsche, 
tragen, Schwierigkeiten aus der pädagogischen Praxis, zu äussern. Unter 
«pädagogischer Prax:is>: verstehen wir nicht nur das beschränkte Gebiet von 
baughngspfiege, Kindergarten, Schule und Jugenderziehung, sondern ALLES, 
was das Leben des Kindes und den Zusamraenstoss von Kindern und Erwachse- 
nen betrifft. Wir wollen nicht DAS KIND AN SICH stu- 
dieren, sondern das Kind UNSERER GESELLSCHAFT 
Die kindlichen Konflikte sind nicht zu. lösen, wenn man sie aus dem Zusam- 
menhang ihrer Umgebung löst, sondern nur durch das Verständnis für den 
Widei-spruch, in den diese Gesellschaft das Kind versetzt. 

Bitte sendet darum ALLES, was ,lhr in Zeitschriften, Zeitungen, Litteratur 
über und von Kmdeni und Jugendlichen findet, an die Redaktion der Zeit- 
schrift. 

Denkt nicht, dass irgend etwas gleichgültig und nebensächlich ist. 
_ Wenn wir die gegenwartige Lage erfassen wollen, können wir das nicht, 
indem wir nur Phänomene und Besonderheiten studieren, sondern indem wir 
einen Querschnitt durch das tägliche Leben des Kindes und Jugendlichen be- 

118 



Sexpol-Korrespondenz 

kommen Das Lesestück einer reaktionären Volksschulfibel ist ebenso wichtig 
Kummen. ms ivesesiucK euiei Hera-useabe e nes Kinderbuches oder 

,^e,r,„ : "a^^'„„£rZS J\T„S w%ie La.e v.„^^^^^^^^ 

Darum müssen alle mitarbeiten, saiiimehi, beobachten und sich äussern. 

Wer aufdiese Weise mitarbeitet, hilft nicht nur in unserm Kampf gegen 
die Reaktion. E. hUft gleichzeitig, SEINE Z.itscrift ^f -fi^^^ -^ wertvol 
7u machen Denn erst, wenn individuelle und natli«nale 
Schwierigkeiten sich an andern vergleichen und .n der 
Be. rehing zu den a 1 1 g e n. e i n e n i n t er n at i on a 1 en F ra- 
gen spiegeln können, sind sie in ihren Verursachungen und Konse- 
quenzen ganz zu erkennen, Diese Arbeit kann nicht die einer Redaktion sein, 
d?e einen beschränkten Radius hat. Sie muss. wenn sie Sinn haben soll, die 
Arbeit aller Leser und Interessierten werden. 

Daium helft alle. Eure Zeitschrift zu gestalten. 

Helft alle die Schwierigkeiten und Konflikte, in denen sich die gesamte 
internationale' Pädagogik, ohne sie zu erkennen und verstehen, befindet, zu 
KLÄREN. — 

Damit diese Arbeit sich nicht ir* allgemeinen, abstrakten Phrasen bewegt, 
bitten wir jeden Schreiber und Frager um Angabe seines Berufes und um eine 
kurze Erwähnung, wodurch er sich, wenn er nicht Pädagoge ist, für diese Fra- 
gen interessiert. Auch bitten wir, alle Arbeiten so konkret und einfach wie, 
möglich zu halten und für alle Berichte möglichst Beispiele 2u geben. Wer 
aus irgend einem Grund nicht für die Zeitschrift schreiben kann, mag auch 
in Form vom Fragen und Briefen seine Gedanken mitteilen und um Bearbei- 
tung bitten. 






ik 



SPANIEN 

Zur spanischen Sexualgesetzgebung 

Redaktionelle Bemerkung: 

Der nachfolgende Artikel befasst sich mit einigen prinzipiellen Bemerkun- 
gen. Eine wirkliche Ausarbeitung sexualpoiitischer Massnahmen für Spanien, 
die unmittelbare praktische Bedeutung haben könnten, wäre nur an Ort und 
Stelle möglich. 

Das neue Abortgesetz, das in Katalonien vor kurzem erlassen wurde, be- 
weist neuerdings, dass die Gesetze der sozialen Revolution international sind. 
Sie entspringen dem natürlichen Bedürfnis der Masse, von der die soziale 
Revolution gelragen wird, nach einer klaren, natürlichen. Jedem verständlichen 
und gesunden Regelung der geschlechtlichen Beziehungen der Menschen. 

Nachfolgend bringen wir die Erklärungen des Dr. Felix Marti Ibanez, 
des Generaldirektors für Gesundheitswesen und soziale Hilfe in Barcelona bzw. 
Katalonien. Die Erklärungen sind den beiden Zeitungen entnommen «La 
Noche* vom 9. Januar und «Solidaridad Obrera» vom 12. Januar 1937. Sie 
beziehen sich auf das in den ersten Tagen des Januar von den Ministern für 
Gesundheitswesen und Justiz erlassene Dekret zur Legalisierung des Abortus. 
«Die eugenische Reform, die von dem oben genannten Dr. Ibanez bereits 
seit Jahren vertreten wird, beginnt nunmehr volle Wirklichkeit ku werden, 
indem durch das vor kurzem erlassene Dekret die Ausführung des Abortus 
den zu diesem Zweck geschaffenen Sanitätsstationen übertragen wird. Zwei 
grundlegende Eigenschaften dieser Reform fallen ins Auge! Den Abortus 
entziehen wir dem dunklen Bereich der Heimlichkeit, in dem er bisher unter 
schwerer Gefahr für die Mutter vorgenommen wurde. An dessen Stelle setzen 
wir die wissenschaftliche Praxis, die nunmehr den Abortus kontro lierl und 
die Unterbrechung der Schwangerschaft ohne Gefahr in den Kliniken vor- 

119 



■',-i 



Sexpol-Korrespondenz 

nimmt, die den grossen Hospitälern der Regierung in ganz Katalonien ange- 
gliedert smd. Ferner soll der Abortus nicht nur aus therapeutischen und 
eugenischen Gründen vorgenommen werden, sondern auch in der Absicht die 
Geburtenziffer freizuschränken und die Geburt eines Kindes zu vermeiden 
-.,, ^^"" starke Gefuhlsgründe es fordern. Ob die Geburtenziffer dadurch zurück- 

^.' geht, soll uns nicht davon abhalten. 

Während die Schweiz, die Tschecho-Siovakei und selbst die i5owjet-Union 
die_ Vornahme des Abortus einschränken, richtet Katalonien mit einem Feder- 
strich emen wahrhaft volkstümlichen Dienst der künstlichen Schwangerschafts- 
unterbrechung ein. Es wird nur einen Grund geben, den Abortus nicht vor- 
zunehmen, wenn nämlich die Schwangerschaft das Stadium von 3 Monaten 
überschritten hat oder wenn andere seelische oder körperliche Veränderungen 
der Mutter gegen die Vornahme des Abortus sprechen. 

Wir haben einen vorausgehenden medizinisch-psychologischen Fragebogen 
für die Mutter vorgesehen, der uns erlauben wird, in wenigen Monaten die 
psychologischen und körperlichen Vorgänge bei der Schwangerschaftsunter- 
brechung zu studieren und eine Statistik anzulegen. Das Proletariat erhält 
durch die freie Handhabung des Abortus ein Mittel der Eugenik von vitaler 
Bedeutung, damit in Zukunft die Mutterschaft gewollt sei und nicht mehr 
dem Zufall überlassen ist, so dass sie nunmehr von Innerer Verantwortung 
getragen wird, die ihr bis dahin fremd war. 

Die eugenische Reform des Abortus, zusammen mit der sexuellen Erzie- 
hung, die wir jetzt energisch in Angriff nehmen, und der Einrichtung von 
sanitären Beratungsstellen zur Verteilung von Antikonzeptionsinitteln und zur 
Beratung bei ihrfer Anwendung, wird uns in die Lage versetzen, die Zahl der 
jährlich in Katalonien vorgenommenen Aborte herabzudrücken und die tra- 
gischen Todesfälle zu vermeiden, die durch die Vornahme des Abortus von 
Kurpfuschern hervorgerufen werden. Damit wird auch dem schamlosen Han- 
del mit dem Sexualleben der Frau ein Ende gemacht und in allen Fragen der 
Mutterschaft wird eine absolute eugenische Freiheit Platz greifen, die nie- 
mals erreicht werden konnte durch die brutale Unterdrückung, wie sie früher 
durch die Gesetzgebung sanktioniert wurde. 

Unsere Reform fügt zu dem therapeutischen Gesichtspunkt (körperliche 
oder geistige Gebrechen der Mutter, die gegen die Schwangerschaft sprechen) 
und dem eugenischen Motiv (väterliche Blutschande oder Mängel, die sich auf 
das künftige Leben fortpflanzen können), die Faktoren des Neomalthuaianis- 
mus (bewussterWunschderfreiwiUigenEinschränkung 
der Geburten), des Gefühls und der Ethik (unerwünschte. Mut- 
terschaft aus verschiedenen Gründen des Gefühls- und 
Liebeslebens der Mutter). 

Wir werden es nicht länger mehr mit ansehen, dass Mütter sterben wegen 
ungeschickter Eingriffe, dass Kinder gemordet werden aus Hass vor dem 
Kmde, das nicht gewollt wurde, dass Frauen der Lebensweg vernichtet wurde 
wegen eines Kindes, das ein Stigma ist oder eine Erinnerung, die man veiges- 
sen mochte, dass Kinder in ein Heim kommen, wo es für sie kein Brot gibt 
und zu Eltern, die für sie keine Zärtlichkeit haben. 

Das Sexualleben der Frau wird künftig von der egoistischen männlichen 
Tyrannei befreit sein, und sie wird einige Rechte erhalten (frei über sich selbst 
zu verfugen und über ihre Mutterschaft zu bestimmen), wofür sie einige bisher 
vergessene Pflichten auf sich nehmen muss. 

Die Nachkriegszeit brachte uns den neuen Typ der Frau, die eine Füll» 
von Rechten beanspruchte und von ihren Pfliciiten nichts wissen wollte. In 
sexueller Beziehung verschmähte sie die Mutterschaft und wich der mit ihr 
verbundenen Verantwortung aus. Die proletarische Revolution hat eine neue 
Generation von Frauen geschaffen, die wissen, dass sie mit ihren neuen Rech- 
ten auch neue Pflichten übernehmen.i» 

An diesen Erklärungen fällt folgendes auf: 
y }^ Hi^ Einführung des Argumentes «starke Gefühlsmomente gegen das 
Kind». Wir müssen die Einführung eines solchen Arguments als einen wesent- 
lichen tortschritt der spanischen Sexualrevolution gegenüber der ersten rus- 
sischen auffassen. Es ist nicht nur ein «Argument», sondern umschliesst nicht 
mehr und nicht weniger als die z e n t r a 1 e Frage des Geschlechtslebens. Das 

120 



J 



Sexpol-Korrespondenx 

«oll an folgendem kleinen Beispiel erörtert werden. J'^X'tnde'^n^r wolle!? 
Liebesverhältnis ein, ohne sich noch mitemander |« y^^^^^^^J^^^J^^n ^^ 
dass sie die gemeinsame Verantwortung für ein Kind «öernenmen 
In diesem Falle ist es selbstverständlich dass sie 7^^. ""J™7ii,„'fühit 
besglück geniessen. aber noch kein Kind haben ^ ^^"„„^". ^"^f " ^i^i^"/ und 
man sich noch so jugendlich und zu jeder Veränderung in der eigenen ^na 

sozialen Entwicklung fähig, dass man sich mch ^^-^^fV,^^" ^'^ n S wiS 
ein selbstverständliches Prinzip der individuellen, ^^ f^-alen "^J^ _^..de 

sprechenden Freiheit. Junfce Menschen, die ein ^^^^^^^^l^^^ ^^"^^'^/„"^Ei,^^^^^^ 
len können nicht ohne weiteres ein Kind haben. Sie müssen warten, Ui^ sie 
Ihr Leben "n der Gemeinschaft einigermassen geordnet haben. Alle d.ese Tat- 
Schendes Lebens erleichtern sich, wenn die sozialistische Gesellschaft soweit 
herangereift Tst, dass sie einem Menschen, der e n Km d haben will, die Sorge 
darSm restlos abnehmen kann; doch auch dann gäbe es für niemand das Recht, 
zu forde rn%ass man Kinder in die Welt setze. Es n.uss Grundprmzip der 
sozialistischen Ideologie und gesellschaftlichen Ordnung bleiben, dass die per- 
JönHche FreTheit in keinen Gegensatz zur sozialen Struktur der Gesellschaft 
nnd umgekehrt geraten darf. Daher sind Sätze wie die folgenden ausseror- 
fipntlich zu begrüssen: «Der Abortus soll nicht nur aus therapeutischen und 
hvffienischen Gründen vorgenommen werden, sondern auch in der Absicht, die 
rihnrtenziffer freiwillig einzuschränken und die Geburt eines Kindes zu ver- 
meiden wenn starke Gefühlsgründe es fordern. Ob die Geburten- 
ziffer dadurch zur-ückgeht, soll uns nicht davon ab- 
halten.» Wenn die spanischen Sozialisten an diesem letzten Satz festhal- 
werden, dann wird ihnen auch die Sorge um die «Erhaltung der Mensch- 
h "t» von den glücklich lebenden Müttern selbst abgenommen werden. Auch 
jf' pormulierung, dass die Mutterschaft von innerlicher Verantwortung 
tragen werden soll, ist neu und revolutionär. Gerade in der Kindererziehung 
^"acht man die Erfahrung, dass Kinder von Müttern, die widerwillig geboren 
hatten, im'"^*" '" irgendeiner Weise schwer zu leiden hatten.' Es ist klar, 
dass diese Bestimmungen des spanischen Gesetzes der Ideologie in der Sow- 
ietunion vollkommen widersprechen. 

Die sozialistische Geburtenregelung schob immer das Interesse an der 
Geburtenzahl in den Vordergrund und entschuldigte sich sozusagen, dass sie 
überhaupt derartige Reformen durchführen wolle. Sie bekämpfte dabei den 
jVtalthusianismus. Dieser hatte behauptet, dass das Elend auf der Welt durch 
Einschränkung der Geburtenzahl verschwinden würde. Das ist natürlich 
falsch. Das Elend auf der Welt entsteht durch die materielle und geistige 
Unterdrückung und nicht an sich und von vornherein durch die tlberbevölke- 
rung. Doch man darf nicht das Kind mit dem Bad ausschütten. Im Mal- 
thusianismus steckt, abgesehen von der falschen Konsequenz der richtige Ge- 
danke drin, dass die Geburtenbeschränkung eine unerlässliche Notwendigkeit 
der neuen Gesellschaftsordnung ist.. 

Man kann auf die Entfernung ohne genaue Kenntnis der konkreten Um- 
stände im Lande auch keine brauchbare Vorstellung vom Prozess gewinnen; 
doch man kann an bestimmten Schlagworten schon heute die Stelle erkennen, 
an der später sexualreaktionäre Massnahmen wie in der Sowjet-Union ein- 
setzen können. So ein Wort ist z. B. «die sexuelle Erziehung». In der SU 
zeigte es sich, dass Pädagogen wie Salkind unter «sexueller Erziehung» die 
<<AbgewöhnangB der Sexualität verstanden. EtVas anderes ist. 
wenn man unter sexueller Erziehung die Herstellung der vollen 
natürlichen sexuellen Liebesfähigkeit der Masse ver- 
steht, was nur in gesellschaftlichem Masstabe von verantwortlichen und kor- 
rekt geschulten Sexual hygienikern durchgesetzt werden kann. Das Ziel ist, 
die kranke menschliche Sexualstruktur schon bei den Kindern nicht aufkom- 
men zu lassen. Ein Riesenproblem, zu dem jetzt nicht mehr gesagt werden 
kann. (Vgl. Reich «Sexualität im Kulturkampfs). . 

Ebenso verhält es sich mit dem Ausdruck «eugenische Freiheit». Wir 
raten unseren Freunden in Spanien dringendst, mit allen Worten und 
Begriffen aufzuräumen, die auch vom Reaktionär in seinem Sinne gebraucht 
werden können. Also etwa mit dem Worte eugenische Freiheit. Erstens stellt 
sich darunter ein einfacher Arbeiter oder Bauer nichts vor, zweitens hat er 

121 



m 



SexpoJ-Korrespondenz 



dentlJif J.T "f^SJ«^«'- verkappte oder offene Sexualreaktionär 
SndSf Ä. .^''"■"' des Jugendlichen, der einfachen Frau vor hochklin- 
|enden Schlagworten zu reaktionären Zwecken aus. Das geschah in der Sow- 

ernsthaft I^^'en""''^" ^"' ^'" ^''"'"' ''''' sowjetrussischen Sexualrevolution 

k^^^^."^^"'^ """^ ^'^ r-^'^" Verhaltnisse in Katalonien bekannt sind, so sehr 
können wir aus der Kenntnis allgemein menschlicher und speziell der Ver- 
altungsweisen der Frauen, Jugendlichen, Männer und Kinder in Arbeiter- 
u"ir^ ''■^"^" fordernde Vorschläge machen. Ihre Durchführung ist uiier- 

lasshch, wenn inan nicht schwere Rückschläge später erleben soll, gegen die 
man dann rnachtlos ,st. Gerade die unpolitischen Menschen aus der breiten 
Masse der Bevölkerung sind neben Nahrungssorgen von nichts so sehr in 
Anspruch gekommen wie von ihren sexuellen Nöten und sehnen sich dement- 
sprechend nach Erfüllung ihrer sexuellen Bedürfnisse. Doch gl ei c hy.eTt ig 
damit haben sie auch vor nichts so sehr Angst wie vo? 
ihien eigenen sexuel len Ansprüchen u i> d Wünschen- 
h.f,^ Z ^'^ ^^ '" Hunderten von Generationen durch Kirche, Schule, Eltern- 
haus etc. erzogen worden. Spanien war ein durchaus «christliches. Land- 
ern- entwickelt'^ '^"''V'"' V"^^'^""^"^ Sexualangst in ihrer seelischen Struk: 
euer Hi^lh n ■ ■. ^^"" ,^^"", ^" «rgendeinem Orte irgendetwas in sexu- 
kann Jch vn T^'^'''' ■"'^' ^"" ^^''^ "'""^^ "^^"^ ^^^teres verständlich ist, 
Wm man chL(t h''%"'!" «f ^"^'^«^^^tionäre Ideologie auszubreiten beginnen 
Wlil man chaotische Zustande vermeiden, muss dafür gesorgt werden dass 
rirfAutmfch"''h^.' Probleme des Privat- und Geschlfchtsfebens in üffS 
führt n.d ' r^r ''^^^"•^^'* ^«^■■^^"= ^ber nicht von irgendwem, sondern ge- 
fuhrt und geleitet von Genossen, die eine absolut natürliche seibstverständ 
iln" m^Sln"'^?"' Einstellung zu gesunden Äusserungen rsVetsebS^ht 
ben, mögen sie auch der heutigen Struktur der Masse hier oder dort nicht 

£?hir/\\^ln'' f"- "^.^ ""^^/" ^^'^ ^'^^""^^ SexualwiSnschen'der M s 
asket^Xn .f ',r r ^^"^^"»^ -i^^or hüten, ihren gleichzeitig vorhandenen 
passen '^^^^ '^^^'^^en und heuchlerischen Sexualanschauungen uns anzu- 

Inn^in ^n^ W^'^f ^^"^ Genossen in Spanien dringendst. genau auf .Hand- 
lungen und Wirkungen verkappter Sexualreaktionäre zu achten der «Ethiker 
der sozialen Hevolution», die meist Sexaalneurotiker sind und von .neuer 
^hl^ h', k""^'"'"' t"^ '■'' "^^"' ^'^ ^'"^ sozialistische Regelung des Ge- 
S schaftn' wä"" Massenmasstabe aus diesen verrotteten Zu^tändln heraus 
zu schaffen wäre. Oft richten eifersüchtige kranke Frauen Schwätzer der 
flTverS; dr""'"''^' Perverse sehr viel Unheil dadurch ^nda'ssfe sict 
hat .chaffln ZaT"" sozialistischen Moral proklamieren, jedoch keine Klar- 
Sill^.^ Ä 'i ""'" ^■"«'"•'■e"- Oas Geschlechtsleben der sozialistischen 

SheS/ m"" T ™" n"''"' ^^"'S gesunden, befriedigungsfähigen und 
liebesfahigen Menschen in richtige Bahnen gelenkt werden 

denken wlnn>;.r"''*?" ^''''''''''^■™"^^'■■ ="^ "^^^ ""^^^ so freiheitlich 
EsSt'n^L.l^i.'^T"'^ anfangt, sich ihrer Sexualität bewusst zu werden. 
Snpr V.nt . / '^ ^^'' '"^, ^}^ Ji^gendorganisationen mit dieser Frage als 
vfr^lfn. T ^^^J"g«"dl"^hen Lebens sofort und intensivst inpositi- 

Lbe^ e nricht. f t"'^'" anfangen; die Art, wie die Jugend ihr Geschlechts- 
lict pTagf e^ste" Orrung"'"""'"'' Angelegenheit, sondern eine gesellschaft- 

4) Es ist ratsam, sofort sexual politische Masse norg an isa- 
Lwirh>Ln"p''"S^^uV',",''"'^".^"^ Sicherungen eines hygienischen, gesunden, 
natur heben Geschlechts ebens der Masse zur öffentlichen Diskussion gestellt 
und praktisch durchgeführt werden können. 

5} Am allerwesentlichsten scheint wohl 
schulen für Kleinkinder. In diesen 

erforscht werden wie die Selbstverwaltung aer «.maer, me seiDs. 
^res Lebens m, lebendigen Kollektiv sich zu ihren Bedürfnissen verhält. Ebenso 
wie die noch notwendige Lenkung des kindlichen kollektiven Lebens herüber- 
lunren konnte in korrekt organisierte sozialistische Kinderkommunen. Es 
scneint nach alem was die sowjetrussische Revolution an Lehren gebracht 
nat, uneriasshch, dass die Kinderorganisationen nicht unter der Gewalt und 

122 



der Ausbau guter Muster- 
Schulen müsste genau praktisch 
der Kinder, die Selbsteuerung 



Sexpol-Korrespondenz 

Herrschaft der Elternorganisationen stehen, sondern dass ^er Versuch einer 
selbständigen Organisierung der Kinder an gunstigen Stellen des -Lebens ge- 
macht wild. Nicht die heutige erwachsene Generation, sondern die im sozi- 
alistischen Kampf heranwachsende Kindergeneration wird die Gewahr der 
sozialistischen Gesellschaft sein. Das kann nur dadurch gesichert werden 
dass der Eigenwille und die natürliche Lebendigkeit des Kindes m den Dienst 
der lebendigen Entfaltung der sozialistischen Gemeinschaft von vornher- 
ein gestellt werden. Kinder haben gegen die Erwachsenen, wie sie heute 
s i n d, wichtige Interessen zu vertreten. In Spanien ist das Prügeln der 
Kinder wahrscheinlich an der Tagesordnung. Eine Kin derer ganisation gut_ und 
mutig, aber auch vernünftig geführt, könnte im Kampf gegen das Prügeln 
der Kinder viel mehr ausrichten als Dekrete seitens der Regierung. 

Parolen der Kinder untereinander, die gleichzeitig kindgemäss und sozi- 
alistisch positiv sind, sind unerlässlich. Z. B.. <iWir sind keine kleinen Hünd- 
chen, die abwechselnd getätschelt und geprügelt werden», «Niemand darf uns 
prügeln», «Wir wollen alles wissen, was uns interessiert», «Wir wollen viel 
Raum zum spielen» etc. Die Zusammenfassung solcher Kindermassenorgani- 
sationen sollte Pubertätsjugendlichen übergeben werden, die unmittelbar die 
Erfahrungen aus dem Elternhaus siDÜren. Zwischen Eltern und Kindern dürfte 
dadurch kein Gegensatz enstehen. Die Eltern pflegen in Gegenwart von Kin- 
dern in die allertfrösste Verlegenheit zu kommen und sind sehr rasch zum Ein- 
sehen zu bringen. Die Frage der Kinderorganisationen hängt davon ab, ob 
man über genügend mutige, kluge, natürlich denkende und mit Kindern er- 
fahrene Pädagogen verfügt, die der sozialistischen Entwicklung vorwärtshelfen 
anstatt sie zu bremsen. 

Die Sexualrevolution im Alltagsleben, die sich nach dem Erlass solcher 
Gesetze einzustellen pflegt, stösst sofort auf die Ideologie des Christentums. 
Hier bedai'f es der umsichtigsten Führung im Kampf. Man darf die religiösen 
Gefühle nicht verletzen und muss doch die Religion in der Struktur der Men- 
schen ausrotten.' Ein direkter Angriff auf die Religion mit Schimpfen und 
Lächerlichmachen kann nach den Erfahrungen der russischen Revolution nur 
schädlich sein. Neben der naturwissenschaftlichen Schulung der Masse kommt 
hier in erster Linie eine positive, die natürlichen sexuellen Bedürfnisse be- 
jahende Sexualpolitik in Frage. 

Mit diesen wenigen Bemerkungen ist natürlich nicht ein Bruchteil der 
Problematik und der realen Schwierigkeiten erschöpft. Es sollte nur auf 
einige sehr wichtige Gefahren und Notwendigkeiten aufmerksam gemacht 
werden. 

Wir bitten die verantwortlichen Genossen in Katalonien, uns reichlichst 
Material aus dem- Alltagsleben der Masse, besonders der Kinder und der 
Jugendlichen zuzuschicken, um uns ein klareres Urteil darüber zu bilden. Wir 
■unsererseits werden alles tun, um in absehbarer Zeit sexualökonomisch ge- 
schulte-Pädagogen zur Disposition stellen zu können. 

Bei allen sexualpolitischen Massnahmen muss das Ziel im Auge behalten 
werden: auf der Basis einer sozialistischen Plan- und Redarfswirtschaft muss 
ein neues Menschengeschlecht innerlich wirklich freier Menschen entstehen 
können. Das Zentralstück des innerlich freien Menschen ist die Stellung zu 
seiner eigenen Geschlechtlichkeit und zu der der andern. Die heutigen Er- 
wachsenen werden eine solche Umstrukturierung bestenfalls dulden, wenn sie 
sie nicht sabotieren werden. Die Verankerung der sozialistischen Ordnung in 
den Menschen kann nur heim Kleinkinde beginnen. 



DEUTSCHLAND 

10 Jahre Gefängiiiis für Ehebruch 

In der gesamten deutschen Presse wird augenblicklich berichtet über den 
Abschnitt «Ehe und Familie» im kommenden Strafrecht. Parallel damit gehen 
grosse Kundgebungen unter dem Motto <iDeutschland braucht Kinder». .Inhalt 
und Form sowohl des neuen Gesetzes als auch der neuen Propaganda für 
Kanonenfutter geben tiefe Einblicke in den organischen Zusammenhang von 
Familie und Staat. 

123 



Sexpal-Korrespondenz 

Nach dem bisherig-en Recht wurde Ehebruch nur auf Antrag des Belei- 
digten verfolg:t und mit höchstens 6 Monaten Gefängnis bestraft, dabei konnte 
die Gefängnisstrafe in Geldstrafe umgewandelt werden. Nach dem neuen 
Entwurf ist der Ehebruch ein Angriff auf eine staatliche 
Einrichtung und wird als Offizialdelikt geahndet. Der Strafrahmen ist 
bis zu Kehn Jahren Gefängnis erweitert. Der Beleidigte wird nur 
noch angeiiort und die Bestrafung liegt allein im Ermessen der Gerichtsbe- 
hörden. Sie können von Strafe absehen, wenn dadurch eine gute Ehe wieder 
hergestellt und erhalten werden kann. 

Auch in zahlreichen anderen Paragraphen geht die Einmischung des Staa- 
tes in das private Familienleben sehr weit. U. a. wird Schmähung von Ehe 
und Mutterschaft, Ausnutzung der Ehe zur Ersehleiehung von Vermögen mit 
Gelangnis bestraft. Sogar eine Neuregelung über das «aippenvermogen» hat 
Sich der Staat vorgenommen. Neu ist weiter der ;<]V,; u n t b r u c h» nach 
alter deutscher Rechtssprache {Für normale Gehirne heisst das «Einbruch 
in die Erziehungsgewalt). Hier wird bestraft, wer einen Mjen- 
schen unter 21 Jahren mit List oder Drohung dem ent- 
zieht, dem die Sorge zusteht. Das Gesetz schafft auch einen 
neuen Schutz für Schwangere, wonach Gefängnis erhält, wer 
einer Geschwängerten gewissenlos üie Hilfe versagt. 
Dabei handelt es sich nicht etwa nur um materielle Pflichten. «Es kann z B 
notwendig sein, dass der Mann der Frau Trost zuspricht und besontlers bei 
unehelichen Muttern, die Schande befürchten, seinen seelischen Beistand ge- 
wahrt.;) (Berliner Volkszeitung, 3. -III. 37). 

Man muss das zweimal lesen. Diese Gesetzgebung des faschistischen ' 
Staates beweist mit nicht zu überbietender Deutlichkeit den unaufhaltbaren 
Zerfall der Familie, der bürgerlichen Moral überhaupt. Selbst ein von Happy- 
end-Filmen umnebeltes Gehirn muss durch diese nüchternen Paragraphen 
überzeugt werden davon, dass Eheverhältnisse, die einen so drakonischen 
'■Schutz» notig haben, im tiefsten Grunde zerrüttet sein müssen. Wir wollen 
dabei nicht vergessen, dass in allen Kulturstaaten die Ehe starker staatlicher 
und religiöser Bevormundung ausgesetzt ist. Und diese Gesetzgeber begrei- 
fen überall ausgezeichnet, auch ohne Marx gelesen zu haben, wie gründlich 
der Kapitalismus die scheinbar «ewigen, natur- und gottgewollten Grundlagen 
der Gesellschaft» zerstört. Die strengen Strafen lassen auch darauf schlies- 
sen, wie unerhört wichtig die Familieninstitution für das ganze heutige Aus- 
beut ungssystem ist. 

Nirgends aber wird das alles so klar, so auf die Spitze getrieben, wie im 
heutigen Deutschland. Der Krieg und -die Nachkriegskrisen haben eine starke 
Zersetzung des Familienlebens so verschärft, dass die Nazis hier zu sehr wider- 
spruchsvoller Politik gezwungen wurden. Wir werden in der nächsten Num- 
mer dieser Zeitschrift ausführlicher auf das Problem Familie und Staat untern 
Faschismus eingehen. 

ITALIEN 

■ tauen (Le Temps, 28. II. 1937). Das «Gattinnenschiff:«^ 

Unser Spezialkorrespondent in Rom telephoniert uns Mittwoch den 24 
Februar; 

,. Man weiss, dass seit der Eroberung Äthiopiens das faschistische Italien 
hinsichtlich der Beziehungen zwischen Weissen und Schwarzen die Rassenlehre 
zur Anwendung bringt. Es weist entschieden die Kompromisalösung zurück 
nach der die Kolonisten mehr oder minder dauerhafte Verbindungen mit far- 
bigen Frauen haben dürfen. Mit Berufung auf höhere Interessen des Kaiser- 
reichs wird allen Italienern in Ostafrika eine strenge Disziplin auferlegt. Jeder 
Beischlaf mit Äthioperinnen ist ihnen untersagt, wie immer auch die Schön- 
heit und der Charme der Nachkommen der Königin Saba beschaffen sein mag. 
Die Gründer und Leiter des Kaiserreichs wollen um keinen Preis die Ent- 
wicklung einer Bevölkerung gemischten Blutes, die auf die Dauer gesehen ein 
Element sozialer und politischer Unordnung werden und eine Drohung für die 
Zukunft darstellen könnte. 

124 



.:u^. 



J 



Sexpol-K»rresp on dem 

Inzwischen ist das Missverhältnis zwischen der ^^^ der ^«'^sen^^rauen m 
Ostafrika und der der Beamten, Soldaten und Ar be.U ^ .^^^^ g^f 

Darum unterninimt man jet.t grosse ^-trengungen u _^^^ ^^ ^^^^^^ 

Wicklung der italienischen Familie auf <i«" „^"^l^^ ^ ' . Colombo -. wie der 
stisen. Aus diesem Grunde ist soeben -" f^j'^JJ Frauen abgefahren Ehegat- 
JS^ rrrSe?n"i?ä\lfX.'drrhrTS"er";iederseb\n woUe. Offi- 

^^^'■^ifT;ä^1S?ast"^sf1Sjiere als die ^-ten Pio^re de.- Ual^.- 
schen Kolonisation in Ostafrika und behauptet, dass ihre Abreise die beste 
Bestätigung: der Ruhe ist, die in Äthiopien herrscht. 

OESTERREICH 

Sexualpdlitik in Oesterreich 
Von einem wiener Genossen 

SevQalpolitik in Oesterreieh ist heute Sexualpolitik des Katholizismus, 
Sexualpolitik im Geiste der Enzyklika «Casti Connubü». Der ungeheure Macht- 
züwachs der katholischen Kirche in unserem Lande seit der Niederwerfung der 
Arbeiterschaft im Februar 1934 hat sich auch auf allen Gebieten des kulturel- 
len Lebens voll- ausgewirkt. Freilich musste oft mit brutalem Terror nach- 
geholfen werden. Ein paar Zahlen: Seit Aufrichtung des autoritären Regimes 
sind allein in Wien 60,000 Konfessionslose wieder in die Religionsgenossen- 
schaften eingetreten, das ist rund die Hälfte der seinerzeit vorhandenen. Die 
römische Kirche allein gewann 40,000 Seelen. Die Ziviltrauungen sind auf ein 
Viertel, die Einäscherungen im wiener Krematorium um 40 Prozent zurückge- 
gangen. 

Trauungen vor der 

politischen Behörde 

1932 2277 

1933 1818 

1934 691 

1935 521 



Beisetzungen 
im Urnenhain 

3523 

2792 
2168 . 
2136 



Ich führe diese Zahlen an, um zu zeigen, wie weit die Kirche in Oester- 
reieh ihre Machtansprüche durchgesetzt hat. Sie im Sinne eines Gesinnungs- 
wandels der breiten Massen der wiener Bevölkerung deuten zu wollen, wäre 
ein schwerer Irrtum, 

Die Herrschaft des schwarzen Muckertums beginnt bei den Kindern- Die 
Kruzifixe sind in allen Schulen wieder aufgehängt, das Schulgebet und die 
Teilnahme an religiösen Uebungen wieder obligatorisch. Dass diese Art von 
Pädagogik in höchstem Masse sexual feindlich ist, versteht sich von selbst. 
Das geht bis in ganz groteske Einzelheiten: Die sozialdemokratische Gemein- 
deverwaltung hatte seinerzeit Freibäder für Kinder geschaffen, eine Einrich- 
tung die in Wien rasch ungemein populär wurde. Im Sommer 1950 überstieg 
die 2ahl der Besucher 1,3 Millionen. Diese Kinderfreibäder und das fröhliche 
Treiben der Arbeiterkinder waren dem wiener Spiesser schon immer ein Greuel 
und ein Dorn im Auge und schon vor Jahren gab es Rohlinge, die in ihrem 
Mass gegen das gesunde Leben so weit gingen, dass sie nachts ganze Säcke 
voll Glasscherben in die Becken streuten. Die neuen Machthaber hätten die 
Kinderfreibäder wohl am liebsten ganz aufgelassen; sie begnügten sich damit, 
„ , , .,.. , , 1 „nUfolnden Taffen baden zu lassen. Ich bemerke noch- 

Buben und Madel an abwechselwlen lagen ^^^^ ,^^ 

mals, dass es sich um Schulkinder unter 1* Jdiiieu la bleiben 

die Hälfte der Kinder an den heissesten Hochsommertagen ohne bau bleiben 
muss, stört die Vertreter der christlichen Sexualmoral nicht weiter. 

In den höheren Schulen ist eine deutliche Tendenz zur Einschränkung aer 
Koedukation und zur Erschwerung des Mädchenstudiums überhaupt iest/,usi^ei- 



len. Während früher Mädchen anstandslos in öffentliche Gymnasien etc. aut^- 
genommen wurden, sind sie heute immer mehr auf die halboltenui^nt 
privaten Anstalten mit entsprechend höherem Schulgeld angewiesen. 



125 



.^iJiAa^ .. 



Sex pol -Korrespondenz 

Politik der Zurückdrängung setzt sich an der Hochschule fort. Es ist be- 
kannt geworden, dass man die Professoren angewiesen hat, weibliche Kandi- 
daten strenger au prüfen. Auch später im Beruf, bei Anstellungen und Beför- 
derungen finden wir die gleiche Zurücksetzung des weiblichen Geschlechts, 
die in scheinheiliger Weise damit begründet wird, dass die Frau der Familie 
und dem natürlichen Mutterberuf wieder zugeführt werden soll Die Bemühun- 
gen der legalen «unpolitischen» Frauenorganisationen, diesem Unrecht zu steu- 
ern, scheinen bis jetzt ohne sichtbaren Erfolg geblieben zu sein. 

Arg sind die Zustände auf dem Gebiet der Ehe. Eine obligatorische Zivil- 
ehe hat es bei ans auch früher nicht gegeben und die katholischen Ehen kön- 
nen seit jeher zwar von Tisch und Bett geschieden, aber nicht dem Bande 
nach getrennt werden^ Eine Wiederverheiratung ist demgemäss uninöglicb. 
In der sozialdemokratischen Aera wurde der Ausweg gefunden, dass der wie- 
ner Landeshauptmann Dispens vom Ehehindernis des Ehehandes erteilte, wor- 
auf die Trauung vor der politischen Behörde stattzufinden pflegte. Obwohl 
der Verfassungsgerichtshof seit dem Jahre 1929 solche Ehen, wenn sie von ir- 
gendeiner Seite angefochten wurden, für ungültig erklärte, haben trotzdem 
auch weiterhin viele Menschen von dieser Möglichkeil Gebrauch gemacht 





<>Dispensehen» 


1930 


1953 


1931 


1983 


1932 


1931 


1933 


1466 


1934 


177 



Heute gibt es keinen roten wiener Landeshauptmann mehr, der Dispens 
erteilen würde, und katholisch Geschiedene sind zum lebenslänglichen Zölibat 
verurteilt- (Vgl. die Tabelle über den Rückgang der Ziviltrauungen.) 

Das ist aber noch nicht alles. Für die öffentlichen Angestellten gilt das 
sogenannte Doppelverdienergesetz, welches vorschreibt, dass eine I^hrerin, 
Beamtin oder sonstige Angestellte mit ihrer Verheiratung auch ihren Posten 
verliert. Diese Bestimmung wird in den betroffenen Kreisen besonders schwer 
empfunden, weil die Gehälter der jungen Männer in keiner Weise für den 
Unterhalt einer Familie ausreichend sind. Das Zusammenleben ohne Eheschlies- 
sung aber ist für männliche und weibliche Angestellte ein Dienstvergehen und 
wird mit sofortiger Entlassung geahndet. Welche Möglichkeiten der löblichen 
Nadererzunft hier erwachsen, brauche ich nicht näher zu schildern.. 

In Ehesachen kennt der Klerikofaschismus keine Kompromisse: auch nicht 
mit den Bedürfnissen der Bevölkerimgspolitik, obwohl er es doch wahrlich 
notwendig genug hätte. Infolge der ungünstigen wirtschaftlichen Verhält- 
nisse ist Oesterreich das geburtenärmste Land der Erde; es hat im Lauf der 
letzten Jahre England und Schweden überholt. Wien ist die unfruchtbarste 
Stadt, die es gibt; die Hälfte der Ehen ist hier nach fünfjähriger Dauer noch 
kinderlos. 





Oesterreich 


Wien 


1932 
1933 

1934 
1935 


102,179 Geburten 
96,403 « 
91,318 « 
89,151 « 


13,319 Geburten 
12,137 « 

11,022 « 
lü,35ü « 



Auf 1000 Einwohner kamen 1935 in Oesterreich nur 13,2 und in Wien nur 
6,5 Lebendgeburten. Während Hitler imstande war, dem deutschen Volk mit 
Zuckerbrot und Peitsche eine beträchtliche Vermehrung der Ehesehliessungen 
und Geburten abzuzwingen, ist in Oesterreich nichts derartiges zu bemerken. 
Der Geburtenrückgang schreitet unaufhaltsam fort: 

Oesterreich Wien 

L Halbjahr 1935 40,390 Geburten 5,536 Geburten 

« 1936 45.387 ^ 5,394 « 

126 



..^ 



J 



Sexpol- Korrespondenz 

Ueber diese Entwicklung wird natürlich viel gesprochen und segchrieben. 
Dabei rückt man die «moralische); Seite stark in den Vordergrund, bo meint 
der Erzbishof von Wien, Kardinal Innitzer: Das österreichische Volk muss 
durch vorbehaltlose Rückkehr zur Religion und Sittlichkeit seiner Vater, die 
die katholische ist, seinen Lebenswillen und Lebensmut wiederfinden,. Nicht 
die wirtschaftliche Not ist die Hauptursache des Geburtenrückgangs, sondern 
das Bestreben, «ein möglichst bequemes, breites Leben führen zu können», also 
ein Wandel in der Lebensauffassung. 

Trotz dieser Meinungsäusserung des Oberhirten Hess der «Vei-band Famili- 
enschutz.->, eine streng katholische Organisation, durch Dr. Albert Niedermeyer 
und Ing. Sonneck den. Entwurf zu einem Gesetz über Familienlastenausgleich 
ausarbeiten und übergab ihn auf seiner Tagung vom 9. — 11. Jänner 1936 der 
Oeffentlichkeit. Nach diesem Entwurf hätten unverheiratete männliche 
Staatsbürger vom 28., weibliche vom 25. Lebensjahr an 30 Prozent ihres Kein- 
einkommens an berufsständische Ausgleichskassen zu zahlen gehabt. Für 
kiaderlose Ehepaare sollte der Satz 20 Prozent, für Ehen mit einem Kind 10 
Prozent betragen. Ehen mit zwei Kindern hätten nichts abgeben müssen unÜ 
auch nichts bekommen, während vom dritten Kind an Zulagen von je 10: Pro- 
zent des Einkommens gezahlt werden sollten. Dieses Projekt wurde von An- 
fang an von der Bevölkerung abgelehnt. Besonders die kinderarme Beamten- 
schaft war erschreckt und empört; sie sah in dem ganzen Plan nur einen 
Raubzug- auf ihre Gehälter. Sogar die gleichgeschalteten Berufsorganisationen 
protestierten und am 4. II 1936 sah sich die Regierung genötigt, von dem 
Gesetzentwurf energisch abzurücken. Der Bundeskommissär für Heimatdienst 
Oberst Adam gab folgende Erklärung ab: «Ich bin vom Herrn Bundeskanzler 
zu der Mitteilung ermächtigt, dass alle diese Pläne, die gewiss sehr edlen 
Motiven entstammen, die Bundesregierung weder beschäftigt haben, noch 
künftig beschäftigen werden. Alle Vorschläge der erwähnten Art entstammen 
privater Initiative, und es ist niemand berechtigt, sich auf eine Zustimmung 
des Herrn Bundedeskanzlers .... zu berufen.» , 

Wie nachwuchsfreundlich das autoritäre Regime in Wirklichkeit ist, dar- 
über mögen ein paar Zahlen aus der Fürsorgestatistik der Gemeinde Wien er- 
zählen, die keines weiteren Kommentars bedürfen; 





Säuglingswäsche 


Mütterberatung 


Kinderspeisung 




(Pakete) 


(Kinder} 


(Portionen) 


1932 


9477 


267,'UOO 


4,6 Mill. 


1933 


7950 


260,000 


4,0 « 


1934 


5630 


. 203,000 


3,8 « 


1935 


4573 


i79,uno 


3,5 « 



\ 



Zu dieser quantitativen Verminderung, die durch den Geburtenrückgang 
allein nicht erklärt werden kann, kommt noch eine qualitative Vei^schlechterung 
der Lei.stungen durch Korruption und Günstlingswirtschaft auf allen Gebieten, 
vor allem auch dem der Besetzung ärztlicher Stellen. 

Um die üngeborenen kümmert man sich um so mehr. Die einzige vom' 
katholischen Standpunkt zulässige Form der Geburtenregelung ist die Be- 
schränkung des Geschlechtsverkehrs auf die angeblich oder wirklich unfrucht- 
baren Tage der Frau.i So sieht man denn auch in den Schaufenstern vieler 
Buchhandlungen Wiens die Schriften von Knaus und seinen Schülern und die 
populären Menstruationskaiender. Aber auch das ist nur geduldet und es gibt 
auch keine Stelle, die es unternommen hätte, an einem entsprechend grossen 
Material die Knaus'sche Lehre wissenschaftlich nachzuprüfen, die ja von vielen 
Gynäkologen abgelehnt wird. Alle andern empfängnisverhütenden Mittel sind 
von der Kirche verpönt. Es war eine der ersten Verfügungen des neuen Re- 
gimes, dass der Vertrieb von Präservativs durch Automaten verboten wurde. 
Man hat die Automaten übrigens in den Bedürfnisanstalten hängen lassen und 
einen Zettel draufgeklebt «Ausser Betrieb», Frauen, die schon mehrere Male 
abortiert haben, bekommen in den Spitälern zwar den guten Rat: «Schauen 
Sie, dass Sie nicht mehr wiederkommen!», es werden ihnen aber keine Schutz- 
mittel empfohlen. Auch Schwangerschaftsunterbrechungen werden in öffent- 

127 



^ 



Sexpol-Korrespondenz 

liehen Anstalten viel weniger durchgeführt als früher. Ich kenne ein wiener 
Spital, in dem es seit vielen -Jahren eine «Abortuskommision« gibt, bestehend 
aus dem ärztlichen Direktor, dem Gynäkologen und dem Primarius der Tuber- 
kulosestation.. Diese Kommission pflegte seinerzeit jede Woche zwei bis drei 
Indikationen zur Schwangerschaftsunterbrechung zu stellen, wohlgemerkt me- 
dizmische .Tndikationen. Dieselben drei Herren sind heute noch im Amt, die 
Kommission besteht auch weiter, aber es wird nicht einmal ein Dutzend Fälle 
im Jahr bewilligt. So sehr hat sich der Gesundheitszustand der wiener Frauen 
gebessert! 

Demgegenüber steht eine bemerkenswert milde Praxis der Polizei und der 
Gerichte. Im Jahre 1934 wurden in Wien 101, im übrigen Oesterreich 580 Per- 
sonen nach § 144 verurteilt. .Das waren zwar etwas mehr als ein paar Jahre 
früher — 1932 im ganzen 514 Fälle — aber natürlich immer noch sehr wenig 
gegenüber der ungeheuren Zahl tatsächlich vorgenommener Abtreibungen, die 
sich sicher auf viele Tausende, ja Zehntausende stellt. Von einer ernsthaften 
Verfolgung kann nicht die Rede sein. Auch die Strafbemessung ist nicht 
strenger geworden. Die angeklagten Frauen selbst kommen meist mit ziem- 
lich geringfügigen Arreststrafen davon und erhalten fast immer Bewährungs- 
frist, Aerzte werden fast nie verurteilt, wenn nicht ganz grobe Fahrlässigkeit 
vorliegt. Infolgedessen kann eine Frau, die sich den Privatarzt leisten kann, 
jederze]t_ ihre Schwangerschaft unterbrechen lassen und der Abtreibungspara- 
graph wird mehr als früher zum ausgesprochenen Klassengesetz. 

Der Unterschied der Polizei- und Gerichtspraxis gegenüber Deutschland 
ist sehr gross. Es mehren sich die Fälle, dass Schwangere aus deutschen 
Orosstadten zur Unterbrechung nach Wien kommen, weil sie draussen keinen 
Arzt fmden konnten. Natürlich sind auch das wohlhabende Frauen. 

Das Bild der österreichischen Sexualpolitik wäre nicht vollständig, ver- 
schwiege ich, dass wir auch eine neue Kleiderordnung bekommen haben ' Und 
zwar handelt es sich um Badekleidung. Das Tragen von «Spitzhosen» und von 
zMieigeteilten Badeanzügen für Frauen (Busenhalter und .Höschen) widerspricht 
den Grundsätzen der christlichen Sittlichkeit und ist darum nicht mehr er- 
laubt. 

NORWEGEN 

Jugendliches Sexualleben 

Durch Sexpolpraxis gesehen 

In der letzten Zeit habe ich mehrere Vorträge in verschiedenen Orten 
Norwegens gehalten. Die Anregungen zu diesen Vorträgen waren vom Arbei- 
dernes Opiysningsforbund (Arbeiterbildungsverein) in Norwegen ausgegangen 
Die Erfahrungen, die ich mit diesen Vorträgen machte, und die an den ver- 
schiedensten Stellen angeknüpften Fragen waren ganz verschieden und zum 
leil widerspruchsvoll. Es kann daher von Interesse sein festzustellen mit 
welchen Umstanden und Faktoren diese Unterschiede zusammenhängen Der 
Vortrag selbst war gewöhnlich ein politischer. D. h. indem ich fachlich medi- 
zinisch und sexualaufklarend das Sexualleben des Jugendlichen eingehend be- 
sprach und mit konkreten Fällen beleuchtete, zeigte ich, warum diese Fragen 
~ sowohl die Sexualaufklärung als auch das Sexualleben der Jugendlichen -- 
m jedem Alter von politischem Interesse sind. Sie sind darum von politischem 
Interesse, weil sie mit der Charakter- und Ideologiebildung innig verknüpft 
smd Auch kann man keine endgültige Lösung der sexuellen Krise der Jugend 
erzielen, ohne sofort auf die äusseren gesellschaftlichen Schwierigkeiten zu 
stossen. Ich zeigte also den dialektischen Zusammenhang zwischen Ideologie 
und Gesellschaftsordnung und wie man die problematischen Fragen des jugend- 
lichen Sexuallebens nicht lösen könne durch Sexualaufklärung, selbst wenn 
man in vielen individuellen Fällen Nutzen, Trost und sogar Hilfe bringen kann 
Besprochen wurden die gesunden und die neurotischen Formen des Sexualle- 
bens, d,_e besonderen Schwierigkeiten, ohne Präventivmittel, in engen Wohnun- 
gen bei Arbeitslosigkeit usw. Dieser Vortrag wurde ohne Manuskript ge- 
halten und begann immer mit konkreten Fällen, um zuletzt zu prinzipiellen 
Schlüssen zu kommen. f i -^ 

138 



Sexpol-Korrespondenz 

De. V„«.a. wurde zuerst '" "^^fm S'tr^^TIThrÄn"; 
in einem Arbeiterviertel vor Jugendlichen im ^l^[^y^\^^^j.nmsend war. An 
auf dem Unde, wo die Majorität der Versammlung^a^Wg ^^^^ 

diesem Ort wu^de eine neue P^^teiveremigung gegründet we ^^^^ 

bei den Wahlen gezeigt h-"e dass dje Propag^^^^^^^^ ,„ ^,,em 

men vor s ch gegangen war. Im Rahmen ^f'P*!,^""". . „u ;„ eeselligen Formen 
Sonnabend Abtnd Versammlungen m,t Politischen J-^^^^^^^^h^f jugendliche von 

gehalten werden. J^^^ ^Pr-^J^^/^T ^.S'oSStWreT™ Alter von 40 50 
14 Jahren als auch allere Leute und fartfil^'^^f^^^ ^^f_ dass die festlichen 
und 6ü Jahren anwesend waren. Es fiel mir ^"i*^-"- / Wolfen waren, ganz 
Veranstaltungen, z. B. die Sprechchore ganz ^^-^.^^^^^^^ der Ver- 

ohne strömende Kraft, gehemmt und ^°'f^„XbrS so dass es also keine 
Sammlung arbeitet« in einer dortigen Gumnabnl^ so ,^ ^,^^^ ^^^._ 

eindeutige B-^«'r''-^^'"'"i""^.r von Oslo ent^ der Arbeiterjugend- 

nen Industriestadt, zwei SWen von Oslo entie ^^^^^^ ^^ 

Organisation gebalten Auch ^^^^^^^^J^i/^^'^l^^.^ ,, Bergen gehalten in 
geben werden, hchliessiicn ^J^";'"^ " . ,. . ^^ Arbeidernes Oplysnmgsfor- 
einer öffentlicben Versan^mlung veran^ altet v A ^^^^ ^^Ji^erpartei. 

bund. der Arbeiterjugend und der trauen^ PP ^.^^ ^^.^^^ Handels- und 

Bergen ist die /^eitgrosste Stadt von ^ g gehaltenen Vorträge reagier- 

Hafenstadt. ^^^ diese .U^SJ fast gle^^^^^^^^ ^^^ ^.^^ ^^^^^_ 

T t T:trTZr^"^S!:enFr:^I:.. die mir nachher zugingen. Am Anfang 
ders an ■ , daran nicht verstehen. 

konnte ich vae^es^ dem Arbeiterviertel Oslos war nicht sehr gut besucht. 

w-h?end def Vortrales wurde ziemlich viel gekichert, besonders wenn Sexnal- 
^^P direkt und mit norwegischen Wörtern genannt wurden. Immerhm war 
?'^^ einer gewissen Zurückhaltung ein spürbares Interesse vorhanden Ich 
trotz einer ^^ ^ ^^^^^^ ^^ .^^ ^.^ Versammlung falsch angegriffen hatte. 

?;"^ MnHchen und Knaben wagten nicht, einander anzuschauen und als der Vor- 

ilpndet war und Fragen gestellt werden sollten, kamen zuerst überhaupt 

trag "?r'j. Erst auf meine Aufforderung, und nachdem ich selbst Fragen 

Tme erhielt ich einige Zettel ohne Namensangabe. Die Fragen, von denen 

■ h zwei wiedergeben werde, waren sehr indirekt. Erstens woher kommt es, 

If .3 Jünglinge sich in sehr viel ältere Frauen verlieben, und zweitens: was 

tatin die Arbeiterjugendbewegung in dieser Frage geben im Vergleich mit 

Film Biertrinken und Vergnügungen. Ich verstand diese letzte Frage fast 

icht nahm aber an, dass sie anknüpfte an meine Darstellung, wie Film und. 

Vergnügungen typischer Ersatz für die Sexualnot sind, ohne eine befriedi- 

ge"de Wunscherfüllung zu geben. 

Nach beendeter Versammlung wurde ich jedoch ganz anders gefragt tmd 
gs waren besonders die Mädchen, die sich über mich stürzten. Sie wollten 
über Abtreibung hören und wie man feststellen kann, ob man schwanger ist. 
Einige Funktionäre der Gruppe erklärten mir, dass dieser Vortrag von Riesen- 
bedeutung gewesen sei und bedauerten, dass nicht mehr Jugendliche anwesend 
waren, Sie versicherten mir auch, wie interessiert die Versammlungsteilneh- 
jner waren und bestritten meine Annahme, dass sie aus irgendwelchen mir 
unverständlichen Gründen vom Thema nicht gepackt wurden. 

Ich bekam also den verblüffenden Eindruck, dass mitten im Herzen von 
Oslo, im proletarischen Viertel, wo die Sexualaufklärung schon ziemlich weit 
vornedrungen war, eine sehr starke Sexualangst und Verdrängung bei den 
Jugendlichen herrschte. Eine Einstellung, nicht offen und direkt über die 
Fragen zu sprechen, eine Bedrücktheit, die jedoch nicht bedeutet, dass diese 
Fraeen nicht brennend für jeden vorhanden sind. Die vielen Einzelfragen nach 
hpendeter Versammlung zeigten ja, dass die meisten sexuelle Beziehungen 
hfilten dass sie aber in solcher Gebundenheit und Verdrängtheit vor sich gin- 
,,en dass sie nicht ohne weiteres in Verbindung mit Vortragen behandelt wer- 
aIu konnten Ich hatte etwas anderes erwartet, gerade weil es eine t^ross- 

129 



Sexpol -Korrespondenz 

schichten, die ökonomisch zwar ziemlich gut dastanden, aber doch in engen 
Wohnverhältnissen lebten. Sie versuchten sozial aufzusteigen. In ihrem 
Familien- und ideellen Leben zeigte sich viel Kleinbürgerliches und sie 
trachteten danach, als «bessere» Jugend aufgefasst zu werden. Hierdurch wird 
eine bewusste Behandlung solcher Fragen verhindert. Das Sexualleben zwingt 
sich also durch verschiedene Formen von .Handlungen, aber im Konflikt mit 
Familien bin dun gen und bestehenden Idealen. 

Auch auf dem Lande zeigte es sich, dass meine Erwartungen nicht zutra- 
fend Die Versammlung war am Anfang meines Vortrages sehr steil, zeigte 
aber ein sehr ausgeprägtes und fast atemloses Interesse. Sowohl die jungen 
als auch die älteren Leute hingen förmlich an meinen Lippen, und trotzdem 
nachher getanzt werden sollte, stellten sie mit einem Rieseneifer stundenlang 
Fragen an mich. Die vielen und verschiedenartigen Fragen waren direkt und 
konkret, Z. B. fragten sie über Präventivmittel und welche guten es gäbe. 
Eine verheiratete Frau schrieb auf dem Fragezettel, dass auch viele Unver- 
heiratete in der Versammlung nach ihrem Wissen gern Antwort darauf hät- 
ten. Man hat ziemlich viel gefragt, wie man Kinder sexuell aufklären kann. 
Es wurde auch viel über Frigidität gesprochen, über Störungen des Eheglücks 
durch Eifersucht, wie man Orgasmus erlangen könne usw. usw. 

Ich war über diese Direktheit der Fragen sehr verblüfft und habe mich 
nach der Versammlung mit den Funktionären darüber unterhalten. Sie er- 
zählten mir, dass bei der männlichen und weiblichen Jugend ein sehr gutes 
kameradschaftliches Verhältnis besteht. Dazu hat beigetragen, dass eine von 
der sozialistischen Ärztevereinigung herausgegebene sexualauf klärende Zeit- 
schrift sehr stark verbreitet worden war. 

Wir közmen also sehen, dass mehrere Faktoren diese Offenheit und Direkt- 
heit erklären, in Norwegen findet man auf dem Lande in verschiedener Hin- 
sicht eine otfenere, mehr sexualbejahende Haltung im Zusammenleben der 
beiden Geschlechter. Es ist ziemlich häufig, dass man auf dem Lande erst 
dann heiratet, wenn schon ein Kind vorhanden ist. Es ist also erlaubt, unehe- 
lich zu verkehren. Das bedeutet selbstverständlich keine wirkliche Sexualbe- 
jahung. Aus den Fragen ergibt sich, dass die Kinder sexuell nicht aufgeklärt 
werden. Selbst wenn sie Tierd und Naturentwicklung auf dem Lande direkt beo- 
bachten mid erleben können, bedeutet das keine bewusste Sexualbejahung und 
Sexualeinstellung, Es ist vielmehr so, dass das Leben selbst grössere f'reiheit mit 
sich bringt, obwohl die Kirche ihren Einfluss auf die öffentliche Moral ausübt. 
Die Familienverhältnisse sind aber auf dem Lande ganz andere als in den 
Städten. Es gibt in Norwegen sehr viel Kleinbauern, bei denen die Familie 
noch praktisch eine Einheit darstellt. Das Familienleben hat daher einen sach- 
lichen Hintergrund im Gegensatz zu der kleinbürgerlichen und Arbeiterfami- 
lie. Es wäre eine grössere soziologische Untersuchung notwendig, um wirk- 
lich gründlich dazu Stellung nehmen zu können, wie diese Einstellung zum 
Vortrag und die darauf bezüglichen Fragen mit den ökonomischen und sozialen 
Verhältnissen übereinstimmen. Es sind hier nur Andeutungen gegeben. 

Wir kommen min zu der Kleinstadt Moss in der Nähe von Oslo. Hier 
sollte ein Propagandaabend stattfinden, um die politischen Interessen der 
Jugend zu wecken und zu stärken. Moss (8293 Einwohner) ist eine typische 
Industrie- und zugleich kleinere Hafenstadt mit einer gut organisierten Arbei- 
terbewegung, Die Versammlung reagierte hier genau so wie auf dem Lande 
mit offensichtlichem Interesse. Nach dem Vortrag setzten sich alle um mich 
herum. Es waren Mädchen und Knaben, nur wenige ältere Leute. Sie be- 
stürmten mich mit Fragen, die ganz offen waren, aber einen ganz speziellen 
Charakter zeigtenj Die meisten Fragen beschäftigten sich mit Besonderhei- 
ten des Sexuallebens, Man fragte mich z, B. über siamesische Zwillinge, über 
Missbildungen, über grausame Geschichten, die sie gehört hatten. Z, B. dass 
em Mann in einer Frau feststeeken kann so wie bei Tieren, dass auf dem 
Kirchhof in Moss ein Liebespaar in dieser Weise zusammen ins Hospital ge- 
bracht und dort behandelt werden musste. Dasselbe sei auch auf einem Dach- 
boden geschehen und erst nach Chloroformierung konnten die Partner getrennt 
werdenj Es gab einige Fragen über Geburt, und ob es furchtbar und unbe- 
haglich wäre zu gebären. Dann einige mehr konkrete Fragen, Z, B, warum 
man trotz anfänglicher Verliebtheit so schnell satt wurde und Partner wech- 

130 



L 



Sexpol- Korrespondenz 

se,„ „öchte, „achd™ es .uerst so vielverspr.chenc, »3f-h»J.atte^_^f J^ 

blieben Es war auffallend, dass die Mädchen sich an der Unterhaltung wenig 
beteiligten. Hier würde ich annehmen, dass wiederum eine ganz andere bitu- 
ation vorliegt.. Einerseits diese Ungeniertheit und Offenheit, fast unschuldige 
Eifrigkeit, mit der man sich mit diesem Fragen beschäftigt. Andererseits 
zeigt der Inhalt der Fragen ein gewecktes und brennendes Sexualleben, gefüllt 
mit Grausamkeiten, also Ersatzformen der Sexualneugierde. Man phantasiert 
spannend über das Thema, erlaubt sich das ganz frei, aber das zeigt, wie 
wenig normale Befriedigungsmöglichkeiten vorhanden sind. Man bekonimt 
hier den Eindruck, dass auch Sexualverbote stark sind.. Die äusseren Möglich- 
keiten für Sexualleben scheinen sehr beschränkt za sein. Die Einstellung ist 
aber weniger verhaut, weniger kleinbürgerlich und es herrscht eine grössere 
Ursprünglichkeit und Offenheit vor. Man hat mir nachher gesagt, dass diese 
Jugendgruppe sehr klassenbewusat ist und sehr gute politische Arbeit leistetj 
Es mangelt nur an Aufklärung. 

Bergen mit 99,681 Einwohnern ist eine reiche Handels- und Hafenstadt. 
Die rechtsstehenden Parteien überwiegen prozentual. Die kommunistische 
und die Arbeiterpartei sind ziemlich stark. Vor kurzem wurde in Bergen eine 
Mutterberatungsstelle von den bürgerlichen und Arbeiterparteirepräsentanten 
eingerichtet. Diese Beratungsstelle wird von der Krankenkasse und Kommune 
unterstützt, jedoch .unter der Bedingimg, nur Verheirateten Katschläge und 
Präventivmittel zu geben. Als Leiterin ist eine sehr konservative Frauen- 
ärztin eingesetzt, die dem jugendlichen Sexualleben vollkommen verneinend 
gegenüber steht. Sie ist nicht nur mit den Bedingungen einverstanden, son- 
dern betrachtet das als Ideal. Sie gehört zu den Kreisen, die sich gegen die 
Zulassung des abortus provocatus in Norwegen eingesetzt haben. 

Die Versammlung war überfüllt. Das Interesse während des Vortrages 
war gross. Man hat bis zur letzten Minute gefragt, aber schriftlich. Die 
Fragen waren sehr verschieden von den drei anderen Stellen. Es kamen wenig 
individuelle Fragen. Man hat z. Bj kritisiert, dass ich nicht genügend unter- 
strichen habe, wie die grosse Arbeitslosigkeit und die Wohnverhältnisse es für 
die Jugend unmöglich machen, ihr Sexualleben zu befriedigen, U. a. wurde 
vorgeschlagen, dass die Arbeiterpartei einen Fonds sammelt zur Beschaffung 
von Gratis-Präventivmitteln für Arbeitslose, Organisierung der Wohnungsfra- 
ge usw. Also eine sehr aktive fordernde Stellung zu der Arbeiterbewegung, die 
Sexualfrage selbst zu lösen und zwar parteipolitisch. 

Die andere Frage, die eine lebhaft interessierte Diskussion geweckt hat, 
war die über die Sexualentwicklung in der Sowjetunion. 

1) die Situation während des Kriegskommunismus, 

2) die Haltung von Lenin (Glaswassertheorie), 

3) die Entwicklung unter Stalins Regime. 

In der SU gab es die Gelegenheit für ein gesünderes Sexualleben. Wenn 
aber eine neue Moral mit einem Schlag einsetzt und man nicht imstande ist, 
eine Ergänzung des Sexuallebens zu finden, dann kann eine Sexualkrise ent- 
stehen. Daraus darf man nicht sehliessen, dass die neue Moral falsch war, 
wie es leicht geschieht und zum Teil in der SU geschehen ist. 

Meistens waren es prinzipiell politische Fragen. Der sexualpolitische 
Standpunkt wurde, wie sich zeigte, genau verstanden und dabei klarer und 
kräftiger ausgedrückt ak von mir selbst, nämlich das Wissen, dass es keine 
humane Lösung des Sexuallebens an sich als Barmherzigkeit oder Hilfe für 
Einzelne geben kann, sondern dass es ein gesellschaftliches und politisches 
Problem ist. Das hat mich speziell verblüfft, weil ich vorher von einem hohen 
Parteifunktionär in der Gegend einen Brief bekommen hatte, indem er Abstand 
von sogenannter neuer Moral nimmt und er meint, es wäre politisch sehr schad- 

131 



' 



SexpoJ-Korrespondenz i 

,1 

lieh, wenn mar» so etwas speziell in rückständigen Teilen des Westlandes und \ 
Nordlandes zur Diskussion stellen würde. Er sagte weiter, man müaste sich 

mit den alten Bauernfomieln beg-nügen. Ich hatte daher erwartet, eine sehr J 

ablehnende Haltung zu finden, während ic;h umgekehrt eine, sehr bewusste und ,'! 

ziemlich aufrührerische Atmosphäre vorfand, besonders bei der Jugend, Nach- ..! 

her habe ich gehört, dass das Interesse sehr gross war und dass man mehrere < 

Vorträge haben möchte. Die älteren sozialdemokratischen Parteifunktionäre 1 

waren etwas bange, die Jugend aber und die mehr radikalen Teile der Arhei- :| 
terpartei waren sehr zufriedengestellt. Man war befriedigt, die sexuelle Frage 

sowohl konkret individuell als politisch und soziologisch dargestellt bekommen J 

KU haben. Auch hier haben, wie überall, die Frauen wenig gefragt und an : 

der Diskussion teilgenommen. Es scheint, als ob die Scheu vor dem Hervor- ''. 

treten in VersammlungeTi und die Sexualangst bei den Mädchen in der Jugend ■■: 

grösser ist als bei den Knaben. Eine Frage ist in allen Versammlungen die- -1 

selbe gewesen. Was soll man mit der frigic'en und ängstlichen Frau, die «nein» i 

sagt, machen; wie soll man vorgehen. ' 

Wie nun diese Haltung unter der Bergenser Jugend zu klären ist. kann "i 

ich nicht ohne weiteres sagen. Ktwas ist klar: es gibt einen grösseren Ge- ' 

gensatz zwischen den bürgerlichen und den ökonomisch höher stehenden Schieb- i 
ten und der Arbeiterklasse. Der Kampf ist vielleicht daher mehr zugespitzt. 

Dann kommt dazu, dass Bergen zugleich Gross- und Kleinstadt ist. Es gibt '_, 
keine Arbeiterviertel kleinbürgerlichen Charakters, Die Gegensätze zwischen 

den Reichen .und Armen sind grösser. Endlich ist die Wohnungsfrage bren- | 

nend. Die Beratungsstelle erfüllt ihre Aufgabe nicht. Die Arbeitslosigkeit ist ' 

gross. In dieser zweitgrössten Stadt Norwegens zeigen die Bewohner einen ■ 

ausgesprochenen Lokalpatriotismus, der sie zwingt, sehr lebhaft am geistigen .; 

Leben teilaunehmenj Sie haben z. B. ein ziemlich radikales Theater, das sehi- ^ 
viele der norwegischen Tendenzdramen zuerst in Norwegen gebracht hat, in 

denen sowohl politische als auch Liebes konflikte ziemlich oppositionell he- -; 

handelt wurden. Andererseits klagen viele aktive Arbeiterpolitiker über ! 

Rückständigkeit der älteren Parteifunktionäre und über Mangel an aufklären- . j 

den Kräften. Die Jugend ist der beste Teil der Partei. Es ist ja klar, dass , 

man ohne eine tiefere soziologische Untersuchung die verschiedenen lokalen , 

Besonderheiten dieser Fragen nicht wirklich beantworten kann, { 

Es war mir hier wichtig zu zeigen, auf wie starkes Interesse diese Fragen j 

überall stossen. Es gibt eine Basis für politische Aktualisierung. Die Men- 1 

sehen fühlen brennend die Zusammenhänge zwischen Sexual Unterdrückung '^ 

und politischer Unterdrückung. Sehr erfreulich ist das grosse Interesse für j 

die Ideologiebildung, Man sieht auch an den Fragen, wie die Konflikte auf ' 

diesem Gebiet einander ähneln. Wenn man dies mit Erfahrungen aus der SU i 

oder anderen Ländern vergleicht, zeigt es sich, dass die soziologischen und :! 
Klassenvevhältnisse für die Einstellung zum Sexualleben und die Sexualerzie- • 
hung sehr bestimmend sind, dass es aber doch lokale Unterschiede gibt- 

DÄNEMARK j 

Eine kommunistische Interpellation im dänischen Reichstag j 

In Dänemark ist wieder ein Arzt wegen Abtreibung zu Gefängnis — und j 

zwar zu 15 Monaten -- vom Geschworenengericht verurteilt worden. Der verur- j 

teilte Arzt, Dr. Gundtoft, war sozialdemokratischer Vice-Bürgermeister in j 

einer Jütländlischen Stadt und sehr beliebt. Die Gerichtsverhandlung fand ji 

bei geschlossenen Türen statt. Die Strafe war aussergewöhnlich streng (Dr. ,■ 

Gundtoft wurde auch wegen versuchter Beeinflussung von Zeugen und «grö- j 

ber» ärztlicher Versäumnisse schuldig gesprochen). Er war von Kollegen de- ] 
nunziert worden. Auch in diesem Prozess waren die beamteten «Kollegen» 
sehr unkollegial in ihren Aussagen. Das Urteil erregte grÖsste Empörung in 

Dr. Gundtofts Heimatstadt: eine von den Arbeiterfrauen einberufene Protest- < 

Versammlung wurde von 8000 Personen besucht, und die Wut der Versamm- ] 

lung gegen das Urteil war gross. Um der Empörung die Grundlage zu ent- ; 
ziehen, machte der Justizminister Steincke gesetzwidrig eine Veröffentlichung 
aus den geheimen Gerichtsverhandlungen, wonach Dr. Gundtoft seine ärztliche 

132 , 



.^ 



^ 



Sexpol-Koi-respondenz 

Stellung zu,. E.reichun. vo. Geschlec^^^^^^^^^ ^Itir^r'^tTüSZX 

rechtspf^ge bei der Kopenhagener Universität, als ""g«'^"^«"'^. ^^^^J^^^- 
Tro Jem ^^rde die MissbilHgung des Justizmimsters •?7. ;;>" ff" g?^^^ 
nisten unterstützt, von allen anderen Parteien im dänischen Keichstag ver 

^*"' me dänischen Kommunisten haben immer jede Aktion für Freigabe der 
Abtreibung gestützt, mit Ausnahme der Aktionen für die beiden bexpolarzte 
Leunbach und Philipson, weil diese beiden sieh gegen das Abtreibungsveröot 
in der S. U. ausgesprochen haben. 

Mitfeüung der Leitung der Sexpol. i j i? 

An dieser Stelle wurde schon einmal an die Freunde der Sexpol das t.v- 
suchen gestellt, die Sachlage nicht durch Verwechslung der Sexualokonomie 
mit der Psychoanalyse zu verwirren. Unsere Theorie heisst nicht Psychoana- 
lyse, sondern Sexualökonomie. Die Charakteranalyse ist nur eine Technik, 
keine Theorie. Wer sich scheut, die Bezeichnungen für unsere Arbeit zu ver- 
wenden, bezeugt seine Illoyalität, wo nicht Feindschaft. Wir ersuchen alle 
Freunde und Mitarbeiter, dabei zu helfen, die völlige Sonderung der faexual- 
ökonomie von der Psychoanalyse durchzusetzen. Es liegt uns sehr daran, mit 
der Psychoanalyse und ihrer Bewegung nicht verwechselt zu werden. 

Besprechungen 



Norman Haire; Birih Conirol fflethods, George Allen, London 

Der Verfasser ist bei allen Fachleuten international bekannt.. Er hat sich 
mehrere Jahre mit Geburtenregelung und Sexualreform beschäftigt und war 
Präsident der Weltliga für Sexualreform. Dies Buch gibt einen Überblick über 
die Erfahrungen Norman Haires über Geburtenregelung in 15jähriger Praxis 
und in fnehr als 15 000 Fällen. Eine solche Übersicht stellt eine vollkommene 
und sehr solide Arbeit dar. Unsere praktischen Erfahrungen auf demselben 
Gebiet zeigen kaum Widersprüche gegenüber N. H., wenn es auf rein technische 
Fragen ankommt. Es gibt allerdings gewisse Unterschiede. Z, B. nimmt N. H. eine 
ziemlich negative Haltung zum Cervicalpessar ein. Zwar besitze ich nicht die 
umfangreiche Erfahrung wie N. H., doch weiss ich, dass es sehr viele Frauen 
gibt, deren anatomische Verhältnisse sehr geeignet sind für dieses Schutz- 
mittel. N. H,. meint, dass die Theorie vom Ansaugen des Pessars am Cervix 
nicht stichhaltig und der Schutz daher unzuverlässig sei. Ich habe dagegen 
mehrmals dieses Saugen bemerkt, wenn ich ein solches Pessar entfernte, ohne 
dass die Nummer zu klein war. Diese Methode hat den Vorteil, dass wenig 
von der Scheidewand bedeckt wird. Das ist für die Lustempfindung äusserst 
wichtig. Doch kann das Pessar nur in den Fällen benutzt werden, wo die 
anatomischen Befunde es zulassen und die Frau das Einsetzen richtig erlernt. 
Selbstverständlich muss das Pessar kombiniert werden mit einem chemischen 

N H vertritt den Standpunkt, dass vorläufig die Normalmethode für die 
Majorität der Frauen das Vaginalpessar mit antikonceptioneller Salbe sein 
muss Er erwähnt mehrere Firmen und verschiedene Sorten von Salben. Es 
scheint zwar, als wenn N. ,H. bei der Beurteilung der Schutzmittel den Genus s 
am Akt nicht ganz ausser Acht lässt. Leider hebt er aber zu wenig die Not- 
wendigkeit einer Antikonceptionsmethode ohne Genusstorung hervor. 

133 



Besprechungen 

Beurteilt man das Buch vom sexualpolitischen Standpunkt, so fällt auf, dass 
N. H. die Geburtenregelung überhaupt nicht sozialpolitisch oder gesellschaft- 
lieh gewertet hat. Er fangt das Buch mit einer historischen Übersicht an, 
die im wesentlichen die persönliche Geschichte N. H.'s darstellt. Es gibt uns 
das Bild eines klugen Praktikers, eines tüchtigen Fachmannes, der sich völlig 
indifferent zeigt gegenüber politischen, ökonomischen und sexualökonoraischen 
Problemen, die untrennbar mit der Geburtenregelung verbunden sind. Er ähnelt 
insofern den meisten liberalen fortschrittsfreundlichen Fachmännern, die a-us 
einer verschwommenen Humanität heraus handeln, aber Angst haben vor po- 
litischen Konsequenzen und an die Neutralität der Wissenschaft glauben. Wir 
wissen, wie wichtig es ist, die Bedürfnisse der Menschen zu wecken, weil sie 
dann aktiver für bessere gesellschaftliche Verhältnisse kämpfen und sich ent- 
schlossener gegen jede Reaktion verteidigen. Unsere grösste Schwierigkeit ist die 
Passivität der Menschen, ihre Interesselosigkeit im Klassenkampf. Die Geburten- 
regelung, vom marxistischen Standpunkt aus erfasst und sexualpolitisch ver- 
wertet, ist ein gutes Mittel, die Menschen aufzurütteln. Damit müsste auch 
der politische Inhalt jeder Wissenschaft aufgezeigt werden. Diese Seite fehlt 
völlig im vorliegenden Buch. Es ist also nur in sehr beschränktem Sinne positiv- 
Fachwissen ist notwendig und das kann man sich hier holen. Man bedauert 
nur, dass hier wieder eine gute Gelegenheit verpasst worden ist, an der Akti- 
visierung der Massen zu arbeiten. Diese Seheinobjektivität ist aber auch des- 
halb besonders gefährlich, weil eine solche Autorität wie N. H. durch seine 
«Neutralität» mithilft, den Lesern auch weiterhin die Augen zu verschliessen. 

N. H. 



Marc Lanval, Le£ JHufilations Sexuelles dans les Rel!g!ons Anciennes ef IHader- 
nes. («Die sexuellen Verstümmelungen in den allen und modernen Religi- 
onen») Brüssel, 1936, Le Laurier. 224 Seiten. 

Ein sehr merkwürdiges Buch! Marc Lanval, der Führer der belgischen 
Birth-Control -Bewegung, steht in vielen Punkten den Anschauungen der Sexpol 
nahe, besonders in seinem Kampf gegen Muckertum und Pfaffenherrschaft. In 
seinem neuen Euch bemüht er sich, die vielfachen Beziehungen zwischen Sexu- 
alität und Religion aufzudecken, die sich zu allen Zeiten und bei allen Völ- 
kern nachweisen lassen.. Er hat erkannt, -dass zwischen den grausamen Ver- 
stümmelungen primitiver Kulturen und der sexualfeindlichen Erziehung der 
christlichen Kirchen nur ein Unterschied nach Form und Grad, aber nicht dem 
Wesen nach besteht. Die tieferen Ursachen der Sexualunterdrückung und ihre 
aktuelle Bedeutung in der kapitalistischen Klassengesellschaft sind ihm frei- 
lich verborgen geblieben. 

Es ist bedauerlich, dass in einem so gut gemeinten Buch einige grobe 
Schönheitsfehler zu verzeichnen sind, Marc Lanval hätte es gewiss nicht not- 
wendig, Geschichten zu verzapfen wie die von der «Päpstin Johanna» (Seite 
101), die zwar zum ältesten Inventar des antiklerikalen' Schrifttums gehören, 
von der modernen Geschichtswissenschaft aber längst als falsch anerkannt 
worden sind. Die Behauptung, dass sich die Frauen aller mohammedanischen 
Völker der Clrcumcisio clitoridis zu unterwerfen haben (Seite 57), wird sich 
ebenfalls kaum beweisen lassen. Auch gewisse Berichte aus Zentralafrika 
machen ganz den Eindruck, als wären sie der Phantasie leichtgläubiger oder 
sexuell abwegiger Kolonialbeamter entsprungen. Schliesslich kann ich es mir 
nicht versagen, auf eine Stelle hinzuweisen, an der von dem häufigen Auftre- 
ten «gottbegnadeter» Propheten in Russland die Rede ist. Es heisst dort auf 
Seite 139: Immer findet er — der Prophet — einige begeisterte und erleuch- 
tete Bauern und Bäuerinnen, Mnschiks oder Menschewiken, die ihm folgen 
und ihm folgen und ihn anbeten. Preisfrage: Was stellt sich der Verfasser 
unter Menschewiken vor? 

Trotz dieser scharfen Kritik und aller Mängel des Buches möchte ich meine 
Besprechung nicht abschliessen ohne den persönlichen Mut Marc Lanval's her- 
vorzuheben, der in seinem erzkatholischen Lande einen schweren Kampf zu 
führen hat. 

in. E. D. 



134 



7 



Besprechungen 

D. V. eiass. The Sir„«gle for Population. («Der Kampf um Bevölkerung.): 
Oxford, 1936, Clarendon Press. 148 Seiten, Preis 7/s 6 d. 

Bis vor kurzen, wurde i. England .^'^ Bjjlkerungfrage fast a.^^^^ 
lieh vom malthusiamschen Standpunkt '^^f^^J';.^^;']/ Entvölkerung dringt 

rr^-\)aT;oHitnä:vrh 1^^:^^'^^^^^-^ ^«^ v- 

Sser-inPlunra^der londoner Eugenischen Ge-ll-haft unternorn.nen h^. 
und enthält eine ausführliche, mit dem notwendigen statistischen Materml 
belegte Schilderung der bevölkerungspolitischen Massnahmen, die m verscme 
denen Landern seit längerer oder kürzerer Zeit angewendet werden, in erster 
Linie sind berücksichtigt: Deutschland, Italien, Frankreich und belgien. 

Es kann nicht meine Aufgabe sein, hier diese Massnahmen aufzuzahlen, 
dazu fehlt es an Raum und wer dafür Interesse hat, der muss und wird aut 
das Buch selbst zurückgreifen. Nur über den Erfolg der B^'^^l^'^'^g^J^' Jj^ 
besonders in den Diktaturländern mit allergrbsster Reklame in Szene gesetzt 
wurden, möchte ich einiges sagen: In Deutschland kam es bekanntlich m den 
Jahren 1933 bis 1935 :.u einem ungewöhnlich starken Ansteigen der Heirats- 
and Geburtenziffer, woran vor allem die Ehestandsdarleben einen gewissen An- 
teil gehabt haben dürften. Die Heiratsziffern sind unterdessen etwa auf nor- 
male Vorkriegswerte .arückgesuuken, wahrend die <^f '^^^^V^^'^^.^/' J , „^3 
einem Niveau zu stabilisieren scheint, das zwar wesentlich ^«^ei ist ^^Is la^^^^^ 
■aber immer noch stark hinter der zur blossen Erhaltung der Volkszahl noti^^^^^^ 
Ziffer zurückbleibt. In Frankreich und Belgien ist der Erfolg der Ausgleichs 
kassen gering und zweifelbaff, in Italien kann .nian bestenfalls sagen dass 
ohne bevölkerungspolitische Massnahmen der Geburtenrückgang vielleicht noch 
rascher verlaufen und noch weiter gegangen wäre. . , . 

Meine Haupteinwände gegen die Bevdlkerungspohtik, wie sie heute betne- 
ben oder propagiert wird, sind folgende; 

1) sind die ausgeworfenen Beträge viel zu klein. Was können Kinder- 
.ulagen von 2 3 odfr auch 5 Prozent des Lohnes oder Gehaltes, was kann 
P?ne kleine Steuererleichterung für eine Wirkung haben, wenn der ganze Stil 
des LebTs a^f J^hidedosigS oder äusserst« ^i^derarmut zugeschnmen i^^^^ 
wenn vor allem die Wohnungsverhältnisse, aber auch die Art wie ^i'J^r unJr- 
Erholung organisiert sind, eine auch nur etwas grossere l'am.he zu einer uner 
träglichen Belastung machen? 

2) setzt die Hilfe viel zu spät ein, meistens beim dritten oder vierten 

teren Geburt. 

•^1 läuft alle heutige Bevolkerungspolitik auf eine einfache Einkommens- 
versc'LbC fon den linderlosen zu ^en. Kinderreichen h.nau.^Dab.wd 
die Hauptursache des Geburtenruckgang-s m den werktätigen "^^^f^" ^"^^ 
hen das Missverhältnis zwischen Können und Wol en ^" ^er UbenshaltunB^ 
Eine Bevölkerungspolitik, die eine empfindliche Senkung de Leb^^^^ 
bedeutet, wird von der Bevölkerung abgelehnt und ^^'^ibt erfolglos. Niemana 
von uns dürfte es wagen, sie zu empfehlen. Unsere Bevolkerungspolitik sieht 
anders aus"' sl besteht in systematischer Steigerung der Produktion und de. 
Matenkonsams in Verbindung mit Sicherung der E-tenz gegen Arb ^tsl^ 
sigkeit und Krieg bei gleichzeitiger Übernahme der Kmdei auf zucht durcn u 
Gesellschaft. q_ T, 






135 



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L 



Besprechungen 

Sigmund Freud: Selbstdarstellung, Internationaler Psychoanalytischer Verlag 
Wien, 1936.. 

Man kann die Selbstdarstellung Freuds nicht lesen, ohne immer wieder 
ergriffen zu werden von der Klarheit und Einfachheit, der Grösse und subjek- 
tiven Ehrlichkeit dieses Mannes. Ein Forscher geht hier unbeirrbar seinen 
Weg. Er lässt sich nicht stören durch die Anwürfe seiner Feinde und nicht 
durch die Ratschläge «wohhneinender Freunde», Er folgt einzig und allein 
der Linie, die ihm seine Forschung vorschreibt. Das kostet Enttäuschungen, 
Freundschaften; öffentlicher Kuhm ist nicht damit zu erwerben. Aber niemals 
hat er die Sache aus ]]ersönlichen Motiven verraten. Wenn er in seiner 
Arbeit nicht zu den Konsequenzen kommt, die vom Standp.unkt der Sexual- 
ökonomie aus gesehen notwendige Folge seiner Forschung hatten sein -müssen, 
dann liegen da Grenzen vor, die nichts mit bewusster Rücksichtnahme auf 
Konvention zu tun haben. 

Freuds Lehre enthält Explosivstoff.. Sie zu Ende zu denken, heisst an 
allem Bestehenden zu rütteln und alles neu zu denken, was bisher als selbst- 
verständlich Gegebenes galt. Aber Freud ist zugleich Sohn seiner Zeit, des 
Liberalismus, und zählt sich trotz des Stoffes, den er bearbeitet, zu den 
«unpolitischen» Wissenschaftlern. Ein paar Mal führt ihn seine Arbeit bis 
hart an die Grenze (z. E. in seinem Aufsatz «Die kulturelle» Sexualmoral und 
die moderne Nervosität», 1908). Aber er überschreitet sie nicht, er will die 
politischen Konsequenzen nicht sehen, die sich hei weiterer Verfolgung seiner 
Arbeit mit Notwendigkeit ergeben müssten. Das hat vor allem 2 Folgen: er _ 
sieht zwar die Probleme, die sich auf ethnologischem und entwicklungsge- 
schichtlichem Gebiet auftun. Aber er vermeidet, sie von einem anderen als 
vom psychologischen Standpunkt aus zu betrachten. Bei völliger Ausseracht- 
lassung der sozialökonomischen Entwicklung muss er dabei zu Schlüssen kom- 
men, die den Tatsachen nicht gerecht werden können. Das zeigt sich beson- 
ders deutlich in «Totem und Tabu» und in '^Massenpsychologie und Ich-Ana- 
lyse». 

Noch verhängnisvoller wirkt sich die Angst vor der Politik in dem wei- 
teren Aufbau seiner Lehre aus. Es gab da nur zwei IVIöglichkeiten: entweder die 
Forschung exakt auf dem Boden der Tatsachen weiterzuführen oder die Tat- 
sachen zu verlassen und statt dessen zur Hypothese zu gelangen, Freud wählt 
den letzteren Weg. Damit gelingt es ihm zwar, den Menschen als Einzelobjekt, 
aus dem grossen Zusammenhang gerissen, als Gegenstand seiner Arbeit zu be- 
halten. Aber er kann das nicht tun, ohne zugleich den Weg zur Mystik und 
zur Erstarrung zu öffnen. 

, Seine Schüler sind diesen Weg zum grössten Teil mit einer Selbstverständ- 
lichkeit gegangen, die merkwürdig erschiene, wenn man nicht auch bei ihnen 
die Angst vor den politischen Konsequenzen als Hauptmotiv aufdecken könnte. 
Sie setzen seine Hypothesen als Fakten ein, während Freud selbst immer wie- 
der an eine Möglichkeit der Umänderung denkt. Er schreibt in der «Selbst- 
darstellung» anlässlich seines Versuches, verschiedene Instanzen und Systeme 
aufzustellen: «Solche und ähnliche Vorstellungen gehören zu einem spekula- 
tiven Dberbau der Psychoanalyse, von dem jedes Stück ohne Schaden -und Be- 
dauern geopfert oder ausgetauscht werden kann, sobald seine Unzulänglichkeit 
erwiesen ist» {Seite 43). Diese Stelle ist auch in der Neuauflage von 1936 

nicht korrigiert! 

Diejenigen von Freuds ehemaligen Schülern, die sich spater von ihm trenn- 
ten, taten diesen Schritt, weil sie den Kern seiner Lehre, die Bedeutung der 
Sexualität nicht bejahen konnten. Sie schalteten gerade dieses Hauptstück 
mehr oder minder aus und machten «igeseüschaftsfähigere», weniger anstössige 
Lehren daraus. Es liegt eine gewisse Tragik darin, dass Freud nicht mehr den 
einzigen seiner ehemaligen Schüler verstehen kann, der sein Werk wirklich be- 
griffen hat. Reich hat den Zentralpunkt der Freudschen Lehre aus allen Ver- 
schleierungen herausgeschält, ihn von allem Mystischen befreit und ihn als 
Ausgangspunkt zu einer Neuschöpfung genomii^en, die gerade durch ihre noch 
nicht zu übersehende Tragweite die ganze Grösse der Freudschen Arbeit er- 
hellt.. 



136 




Wir empfehlen der Beachtung unserer Le ier; 

(Veischiedene Werke im Preis betleuteiid herabgesetzt) 
W. REICH: 

MASSENPSYCHOLOGIE DES FASCHISMUS 

it. verbesserte Auflage 

(früher danische Kr. 8. — ) 
W. REICH: 

DER SEXUELLE KAMPF DER JUGEND 

W. REICH: 

?J??^^?" ^^^ SEXUALMORAL 

ZUR GESCHICHTE DER SEXUELLEN ÖKONOMIE 

fuX".Ä'l'SS rtr r ^T -'--^<^«™i Unter- 

W.REICH: 

W. REICH: 

psychologischem Gebiet fifv ^«;...„ dialektischen Materialismus auf 
Kr. 1.75^früh"r dtfsche K? l"o)~ "^''^'^^-^''''«^ P«*«: dänische 

ERNST PARELL: 

WAS IST KLASSENBEWUSSTSEIN ? 

Sm P?obfirMalL"ta:r ^^!'r^T''°'°''"' ^^^ Massenindividuums, 
dänische KroJiJ^rfrüÄäiJS Kr^^l^of "^^^^^-"^'^ ^-is^ 

karl teschitz: 

SIutÄanT"^' ^^l'G'onsstreit in 

s^uc^?;tb1^i/S^,u^J& Deutschland und eine Unter 

dänisch^e Kr. S.Jo (Sr'^s che Krl^S" «"^''^-^»^t- ^^^-■■ 

^^J^XoJX'iV'i'Iir*'^?'^ * Kopenhagen, Po,fbox 827 
Verantwortlich f. d. Redakhon: Sigurd Hoel ♦ Trykk Jae. Olsen, Oilo 



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xäaMoneUe TtUUeUungeti 



.Austausch 

Wir fordern diejenig-en Zeitungen und Zeitschriften, mit denen wir bisher 
noch keine Aus tausch Vereinbarung getroffen haben, hierdurch auf, zwecks Aus- 
tausch mit unserer Zeitschrift sich mit uns in Vei-bindung zu setzen. 

Wir erinnern diejenigen unserer Abonnenten, die die ihnen zugesandte Abon- 
nementsrechnung noch nicht beglichen haben, dringend an sofortige Zahlung, 
da sonst die weitere Lieferung der Zeitschrift an sie eingestellt werden muss. 

Zahlungen erfolgen an Verlag für Sexualpolitik, Kopenhagen, Dänemark, 
Postgirokonto Nr. 30302, für CSR, auf Postsparkassenkonto Nr. 78790 (j0rgen 
Neergaard, Kopenhagen), oder durch Bankbarscheck auf Kopenhagen oder OsIoj 

Die Redaktion 



!Iopu£äte ScAdfteHteihe : 

POLITISCHE PSYCHOLOGIE FÜR SOZIAUSTEN 
Bisher sind erschienen; 

Jr. 1 IRMA KESSEL: 
KINDER KLAGEN AN 

Das Büchlein Irma Kessels .... «ruft jene Menschen, die erkennen, 
wie schweres Unrecht den Kindern getan wird, zum Kampf auf. Die 
sozialistischen Erzieher — - die Lehrer und die Funktionäre der «Kin- 
derfreunde» — müssen Kämpfer für das Recht und die Freiheit des 
Kindes sein, Sie, aber auch alle Eltern, die guten Willens sind, sollen 
Irma Kessels Schrift lesen.» — Der Kampf, Prag, Preis DKr. 2.&0 

Soebenerschienen! 

Nr. 2 KARL TESGHITZ: 

RELIGIÖSE EKSTASE 

Der Verfasser von «Religion, Kirche, Religionsstreit in Deutachland» 
führt aufgrund eigener Beobachtungen in norwegischen Sektenkreisen 
den Nachweis, dass religiöse Ekstase als Ersatz für natürliche sexuelle 
Auslösung angesehen werden muss, — Preis DKr. 1, — 

Zu iemehen daech: 

SEXPOL-VERLAO, Kopenhagen, Dänemark, Postbox 827 

Postgirokonfo Kopenhagen 30302 + Prag 78790 (Jargen Neergaard) 






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