LIBRARY
OF THE
University of California.
Class
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CoOQle Original from
^ ,W Ö K UNIVERSITYOF CALIFORNIA
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^ w ö lL UNIVERSITYOF CALIFORNIA
ZUR AUFFASSUNG
DER
APH ASIEN
EINE KBITISCHE STUDIE
VON
D* SIGM. FREUD
PBIVATDOCENT FÜR NEUROPATHOLOGIE AN DER UNIVERSITÄT WIEN.
MIT 10 HOLZSCHNITTEN IM TEXTE.
OF THE
UNIVER8ITY
OF
LEIPZIG UND WIEN.
FRANZ DEÜTICKE,
1891.
C^f\f\ri\i> Original frorn
VjUU^IC UNIVERSITYOF CALIFORNIA
3'OLOG
to£ j L\
Alle Rechte vorbehalten.
K. u. k. Hofbuchdruckerei Carl Fromme In Wien.
f^f\i~*nl<-» Original from
^ W Ö K UNIVERSITYOF CALIFORNIA
F7
2JS?
HERRN
I> JOSEF BREUER
IN FREUNDSCHAFTLICHER VEREHRUNG
GEWIDMET.
200480
>y ^UUglt UNIVERSITYOF CALIFORNIA
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^ w ö lL UNIVERSITYOF CALIFORNIA
OF THE
UNtVERSITY
CF
I.
Wenn ich, ohne über neue eigene Beobachtungen zu
verfügen, ein Thema zu behandeln versuche, an welches
bereits die besten Köpfe der deutschen und fremdländischen
Neuropathologie, wie Wernicke, Kussmaul, Lichtheim
und Grashey, Hughlings Jackson, Bastian undRoss,
Charcot u. A., ihre Kraft gewendet haben, so thue ich
wohl am besten, sogleich die wenigen Punkte des Problems
zu bezeichnen, in deren Erörterung ich einen Fortschritt
einzuleiten hoffe. Ich werde mich also bemühen zu zeigen,
dass in der Lehre von der Aphasie, wie sie durch das
Zusammenwirken der eben genannten Forscher geworden
ist, zwei Annahmen enthalten sind, welche man besser
durch andere ersetzen kann, oder welche zum mindesten
vor diesen anderen Annahmen nichts Entscheidendes voraus
haben. Die erste dieser Annahmen hat zum Inhalte die
Unterscheidung von Aphasie durch Zerstörung der
Centren von solcher durch Zerstörung der Leitungs-
bahnen; sie findet sich bei nahezu allen Autoren, welche
über Aphasie geschrieben haben. Die zweite Annahme
betrifft das gegenseitige Verhältniss der einzelnen für die
Sprachfunctionen angenommenen Centren und findet sich
hauptsächlich bei Wernicke und jenen Forschern, welche
Wer nicke's Gedankengang angenommen und weiter ent-
wickelt haben. Da beide Hypothesen als bedeutsame Be-
standteile in der Wernicke'schen Lehre von der Aphasie
enthalten sind, werde ich meine Einwände dagegen in Form
einer Kritik dieser Lehre vorbringen. Da sie ferner in inniger
Freud, Aphasie. 1
{~*rw~»nlr* Original from
3y\jUUglC (JNIVERSITYOF CALIFORNIA
2 Die herrschende Lehre von der Aphasie.
Beziehung zu jener Idee stehen, welche die gesammte neuere
Neuropathologie durchdringt — ich meine die Beschränkung
der Functionen des Nervensystems auf anatomisch bestimm-
bareRegionen desselben, die „Localisation" — so werde ich die
Bedeutung des topischen Momentes überhaupt für das Ver-
ständniss der Aphasien in Erwägung ziehen müssen.
Ich greife also auf einen ruhmvollen Abschnitt in der
Geschichte der Gehirnkenntniss zurück. Im Jahre 1861
theilte Broca 1 ) der Societe anatomique von Paris jene
beiden Sectionsbefunde mit, aus denen er schliessen durfte,
dass Läsion der dritten (oder ersten, wenn man von
der Sylvfschen Furche zu zählen beginnt) linken Frontal-
windung völligen Verlust oder höchstgradige Einschränkung
der articulirten Sprache — bei sonstiger Intactheit der
Intelligenz und der anderen Sprachfunctionen — zur Folge
hat. Die Einschränkung: bei Rechtshändern, kam später
hinzu; dass der Widerspruch gegen Broca's Entdeckung
niemals ganz verstummte, fand seinen berechtigten Grund
darin, dass man vielfach geneigt war, auch die Umkehrung
des von Broca ausgesprochenen Satzes gelten zu lassen
und bei Verlust oder Schädigung der articulirten Sprache
auf eine Läsion in der dritten linken Frontalwindung zu
schliessen. Dreizehn Jahre später veröffentlichte Wer nicke 2 )
jene kleine Schrift, „Der aphasischeSymptomencomplex,
Breslau 1874," durch welche er ein — man möchte sagen
unsterbliches Verdienst an seinen Namen geknüpft hat.
Er beschrieb in derselben eine andere Art von Sprach-
störung, welche das Gegenstück zur Broca'schen Aphasie
darstellt, den Verlust des Sprachverständnisses bei erhaltener
Fähigkeit, sich der articulirten Sprache zu bedienen, und
erklärte diesen Functionsausfall durch eine von ihm vor-
gefundene Läsion in der ersten linken Temporalwindung.
An diese Entdeckung Wernicke's musste sich die Hoffnung
knüpfen, die vielfaltige Dissociation des Sprachvermögens,
J ) P. Broca, Sur le siege de la faculte' du language articule' avec
deux observations d'aphe'mie (perte de la parole) 1861.
2 ) Wer nicke, Der aphasische Symptomencomplex. Breslau 1874.
Pnnnl^ Original f rann
jy ijUUglt UNI VERSITY OF CALIFORNIA
Wernicke's sensorische Aphasie. 3
welche die Klinik aufgezeigt hatte, auf ebensoviel ge-
sonderte Läsionen im Centralorgan zurückzuführen. W er-
nicke that nur die ersten Schritte zur Lösung dieser
Aufgabe; aber von der Erklärung der pathologischen Sprach-
störung durch localisirte Gehirnerkrankung fand er den
Weg zum Verständniss des physiologischen Sprach Vorganges,
der sich ihm — kurz gesagt — als ein cerebraler Reflex
darstellte. Auf der Bahn des Hörnerven gelangen die Sprach-
klänge an eine Stelle im Schläfelappen, das sensorische
Centrum der Sprache; von dort aus wird die Erregung
auf die Broca'sche Stelle im Stirnlappen übertragen, das
motorische Centrum, welches den Impuls zum articulirten
Sprechen zur Peripherie entsendet.
Ueber die Art, wie die Wortklänge im Centrum ent-
halten sind, machte sich Wer nicke nun eine ganz be-
stimmte Vorstellung, welche von principieller Bedeutung
für die gesammte Localisationslehre ist.
Auf die Frage, wie weit man psychische Functionen
localisiren dürfe, ertheilt er die Antwort, nur für die
elementarsten Functionen sei dies gestattet. Eine G-esichts-
wahrnehmung darf an das centrale Ende des Opticus, eine
Gehörswahrnehmung an den Ausbreitungsbezirk des Aku-
sticus in der Hirnrinde verwiesen werden. Alles was darüber
hinausgeht, die Verknüpfung verschiedener Vorstellungen
zu einem Begriff u. dgl M ist eine Leistung der Associations-
systeme, welche verschiedene Rindenstellen miteinander
verbinden, also nicht mehr an eine Stelle der Rinde zu
localisiren. Die Sinneserregungen aber, welche in die Hirn-
rinde gelangen, hinterlassen daselbst dauernde Eindrücke,
welche Wernicke einzeln in je einer Zelle aufbewahrt
werden lässt. „Die Hirnrinde mit ihren 600 Millionen Rinden-
körpern nach Meynert's Schätzung bietet eine hinreichende
Anzahl von Vorrathsstätten, in welchen die unzähligen von
der Aussenwelt gelieferten Empfindungseindrücke ungestört
nacheinander aufgespeichert werden können. Mit solchen
Residuen abgelaufener Erregungen, die wir Erinnerungs-
bilder nennen wollen, ist die Hirnrinde bevölkert"
Pnnnl^ Original f rann
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4 Die Bewahrung der Sprachvorstellungen in Zellen.
Solche Erinnerungsbilder der Sprachklänge liegen also
in den Zellen des sensorischen Centrums in der ersten
Temporalwindung eingeschlossen, während das Broca'sche
Centrum die Erinnerungsbilder der Sprachbewegungen,
die „Sprachbewegungsvorstellungen", birgt. Zerstörung des
sensorischen Centrums bewirkt Verlust der Klangbilder
und damit Unfähigkeit die Sprache zu verstehen — sen-
sorische Aphasie, Worttaubheit; Zerstörung des motorischen
Centrums raubt die Sprachbewegungsbilder und erzeugt so
die Unmöglichkeit, die motorischen Hirnnervenkerne zur
Hervorbringung der Sprachlaute zu innerviren — motorische
Aphasie. Ausserdem sind aber motorisches und sensorisches
Centrum der Sprache durch eine Associationsbahn mit
einander verbunden, welche Wernicke nach den Ergeb-
nissen anatomischer Untersuchung und nach klinischen
Beobachtungen in die Eegion der Insel verlegt. Es ist
nicht mit völliger Klarheit zu entnehmen, ob Wernicke
diese Association ausschliesslich durch weisse Fasern oder
auch durch Vermittelung der grauen Substanz der Insel
geschehen lässt. Er spricht davon, dass von dem ganzen
Bezirk der ersten Urwindung, welche die Sylvi'sche Furche
umzieht, Fibrae propriae ausgehen, welche in der Inselrinde
endigen, so dass die Insel „einer grossen Kreuzspinne ähnelt,
welche die radiär von allen Bezirken der ersten Urwindung
in sie einstrahlenden Faserungen in sich sammelt; dadurch
entsteht, wie nirgends sonst im ganzen Centralorgane, der
Eindruck, eines wirklichen Centrums für irgend welche
Functionen". Keinesfalls aber wird der Inselrinde eine
andere Leistung von Wernicke zugeschrieben, als die der
Association von „Wortklangbild" und „Wortbewegungsbild",
welche an anderen Stellen der Hirnrinde localisirt sind:
eine Leistung, wie man sie für gewöhnlich nur weissen Faser-
massen zuweist. Auch die Zerstörung dieser Associationsbahn
bedingt Sprachstörung, und zwar bei Erhaltung des Wort-
verständnisses und der Wortarticulation Paraphasie, d. h.
Verwechslung der Worte und Unsicherseit in der An-
wendung derselben. Diese Art der Sprachstörung stellt
Pnnnl^ Original f rann
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Leitungs- und Centrumaphasie. 5
Wernicke als „Leitungsaphasie" den beiden anderen
„Centrumaphasien" gegenüber. (Fig. 1.)
Fig. 1.
sensotischeAphasie
3
u
A
Leitungsaphasie
mährische ApIiasJe
V
Ich entlehne den Arbeiten Wernicke's ein zweites,
dem Gehirne eingeschriebenes Schema des Sprachvor-
Fig. 2.
Fig. 3 in Wernicke, Der aphasische Symptomencomplex.
F das frontale, O das occipitale, T das temporale Ende eines schematisch
gezeichneten Gehirns. C die Centralspalte, S der erste Urwindungsbogen
um die fossa Sylvii herum, a das centrale Ende des Akusticus, a, dessen
Eintrittsstelle in die Oblongata, 6 Ort der zur Lautproduction gehörigen
Bewegungs vor Stellungen, b, Austritt der centrifugalen Sprachbahn aus der
Oblongata.
ganges', um nahe zu legen, in welchem Punkte dasselbe zur
weiteren Ausarbeitung auffordern musste. (Fig. 2.)
Das Schema von Wernicke stellt nämlich blos den
Sprachapparat ausser Beziehung zur übrigen Hirnthätig-
y f
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g Entwicklung der Wem ick eichen
keit dar. wie er bei der Thätigkeit des Nachsprecheiis in
Betracht kommt Berücksichtigt man die anderweitigen
Verbindungen der Sprachcentren, welche für das spontane
Sprechenkönnen unerlässlich sind, so muss sich eine com-
plicirtere Darstellung des centralen Sprachapparates ergeben,
welche aber Aussicht bietet, eine grössere Anzahl von
Sprachstörungen durch Annahme von Läsionen an be-
schränkten Stellen zu erklären. Indem Lichtheim 1 ) 1884
diesen Sehritt in consequenter Weiterbildung des Wer-
nicke' sehen Gedanken -
Fit? 3
ganges unternahm, gelangte
er zu dem Schema des
Spraehapparates ? welches
ich hier einschalte, (Fig. 3.)
In demselben bedeuten
M das motorische Sprach -
centniin (die Broc ansehe
Stelle), 1 die durch Zer-
störung desselben bedingte
motorische Aphasie; A das
akustische Sprachcentrum
(die Wernicke'sche Stelle),
, . 2 die durch Zerstörung der*
iig* 1 m Li elit heim, Ün Aphasia, °
Brain VII, p. 43a selben bedingte sensorische
Aphasie. 8 ß 4 ß 5, 6 und 7
entsprechen Leitungsaphasien } 3 ist die von Wer nicke
aufgestellte Leitungsaphasie der Insel Der Punkt B hat
nicht denselben Werth im Schema wie A und Af ß welche
anatomisch aufzeigbaren Kegiooen der Hirnrinde entsp rechen ,
er soll vielmehr blos eine schematische Vertretung der
unzähligen Bindenstellen geben, von denen aus der Sprach-
apparat in Thätigkeit versetzt werden kann. Auch ist von
einer Sprachstörung durch Läsion dieses Punktes keine
Rede,
J ) Li cht heim, Ueb er Aphasie. Deutsch* ATeh- f. klin. Med* BtL 36.
— On Aphasia, Brain, Jan. 1885*
3V
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Lehre von der Aphasie durch Lichtheim. 7
Lichtheim unterschied die durch sein Schema gege-
benen sieben Formen von Sprachstörung als Kernaphasien
(1, 2), periphere Leitungsaphasienfö, 7) und centrale Leitungs-
aphasien (3, 4, 6). Wernicke 1 ) hat diese Nomenclatur
später durch eine andere ersetzt, welche gleichfalls nicht
ohne Mängel ist, aber den Vorzug hat, zu allgemeiner
Annahme gelangt zu sein. Wenn wir also letzterer folgen,
müssen wir die Lichth ei m 'sehen sieben Formen der
Sprachstörungfolgendermassen benennen undcharakterisiren:
1. Die corticale motorische Aphasie. Das Sprach-
verständniss ist erhalten, der Wortschatz aber aufgehoben
oder auf wenige Worte beschränkt. Spontansprechen und
Nachsprechen sind gleich unmöglich. Diese Form deckt
sich mit der altbekannten Broc ansehen Aphasie.
5. Die subcorticale motorische Aphasie. Die-
selbe unterscheidet sich von der vorigen nur in einem
Punkte (Erhaltung des Schreibvermögens), sowie angeblich
durch eine andere — später zu erwähnende — Eigen-
tümlichkeit.
4. Die transcorticale motorische Aphasie. Bei
dieser Form kann nicht spontan gesprochen werden, aber
das Vermögen, Gehörtes nachzusprechen, ist erhalten und
ergibt eine seltsame Dissociation des motorischen Antheils
der Sprache.
2. Die corticale sensorische Aphasie. Der Kranke
versteht nicht, was zu ihm gesprochen wird, kann es auch
nicht nachsprechen, spricht aber spontan mit unbeschränktem
Wortschatz. Dass seine spontane Sprache doch nicht intact
ist, sondern „Paraphasie" zeigt, ist eine Thatsache von
weittragender Bedeutung, die später gewürdigt werden soll
(Wernicke'sche Aphasie).
7. Die subcorticale sensorische Aphasie. Dieselbe
unterscheidet sich von der vorigen durch das Fehlen der
Paraphasie beim Sprechen.
! ) Wernicke, Die neueren Arbeiten über Aphasie. Fortschritte d.
Medicin 1885, pag. 824; 1886, pag. 371, 463.
Pnnnl^ Original f rann
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8
liichtheim's sieben Formen der Aphasie.
6, Die transcorticale sensorische Aphasie.
Diese Form bietet die unerwartetste Trennung der Sprach-
fähigkeit, die sich aber nothwendig aus dem Lichtheim-
scheu Schema ableiten lässt Der Kranke spricht spontan
paraphasisch, ist im Stande nachzusprechen, versteht aber
nicht, was zu ihm gesprochen wird, und was er selbst
nachspricht.
3. Die Leitung saphasie Wernicke's. Dieselbe
zeichnet sich durch Para-
Pfr. 4.
Fig. 2 in Li cht he im, On Aphaaia
p. 437. In derselben bedeutet O das
visuelle, t U das Schreibcentrum. Auf
p. 443 gibt Li cht he im ein anderes
Schema, welches E in directer Ver-
bindung mit A und O anstatt mit M
und zeigt
phasie bei sonst negativen
Charakteren aus.
Ich setze noch ein anders
SchemaLichtheim'shier-
her, in welchem der
Autor durch die Annahme
eines visuellen und eines
Schreibcentrums sowie
deren Verbindungen, den
zu Aphasie gehörigen Stö-
rungen der Schriftsprache
gerecht zur werden ver-
sucht, (Fig. 4.) Indes hat
erst Wernicke in einer
späteren Arbeit (Die neue-
renArbeiten über Aphasie,
Fortschritte der Medicin
1885 bis 1886} diese Auf-
gabe nach dem von Licht-
heim gegebenen Beispiel vollends erledigt
Wenn man erfährt, dass Lichtheim alle Formen von
Dissociation der Sprachfähigkeit, welche sich aus seinem
Schema ergeben, durch wirklieh beobachtete Fälle — wenn
auch in geringer Anzahl — belegt hat, wird man den
grossen Beifall, den Lichtheim's Auffassung der Aphasie
fand, gewiss nicht für unberechtigt erklären, Lichtheim J s
Schema war auf deduetivem Wege entstanden, es führte
zu überraschenden und bis dahin nicht beobachteten Formen
3V
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Werth des Lichtheim 'sehen Schemas. 9
von Sprachdissociation, und wenn es nachträglich gelungen
war, diese construirten Formen durch Beobachtung zu
bestätigen, so musste dies als eine vollgiltige Probe für
die Berechtigung der Lichtheim'schen Voraussetzungen
erscheinen. Es* ist auch kein Vorwurf gegen dasselbe, wenn
man hervorhebt, dass Lichtheim's Schema nicht in dem
nämlichen Sinne verstanden werden darf wie Wernicke's.
Letzteres lässt sich sozusagen dem Gehirne einschreiben,
die Lage der darin enthaltenen Centren und Bahnen ist
anatomisch verificirt; Lichtheim's Schema fügt neue
Bahnen hinzu, deren anatomische Kenntniss uns noch ab-
geht. Es ist darum z. B. nicht anzugeben, ob die Licht-
heim'schen Centren und Bahnen so auseinanderliegen, wie
sie dargestellt sind, ob nicht vielmehr eine „ innere" und
„äussere" Leitungsbahn eines Centrums für eine lange
Strecke zusammenfallen, was für die Physiologie der
Sprachfunction absolut gleichgiltig, für die Pathologie des
Sprachbezirkes in der Kinde sehr bedeutsam sein müsste.
Beruhte die Darstellung Lichtheim's auf neuen ana-
tomischen Befunden, so wäre eben ein weiterer Einspruch
nicht möglich und die Mehrzahl der später anzuführenden
Bemerkungen erledigt.
Etwas schwerer fällt es ins Gewicht, dass sich bei
der Einreihung der wirklich vorkommenden Sprachstörun-
gen unter das Licht heim 'sehe Schema k regelmässig
Schwierigkeiten ergeben, weil man meist die einzelnen
Sprachfunctionen in verschiedenem Grade geschädigt findet,
anstatt dass die eine gänzlich aufgehoben, die andere
ungeschädigt sei. Ferner dass die Leichtigkeit, mit der
man Sprachstörungen, die sich aus einer einzigen Unter-
brechung im Schema nicht erklären, auf combinirte Läsionen
zurückführen kann, der Willkür in den Erklärungs-
versuchen zu weiten Spielraum lässt. Aber während dies
Mängel sind, die jedem Schematisiren mehr oder minder
anhaften, lässt sich an das Lichtheim'sche Schema
speciell eine andere Anforderung stellen, der es thatsächlich
nicht zu genügen scheint; es muss nämlich seiner Natur
Pnnnlp Original f rann
jy ijUUglt UNI VERSITY OF CALIFORNIA
10 Bedenken gegen Lichtheim's Schema der Aphasie.
nach den Anspruch auf Vollständigkeit erheben, die Unter-
bringung einer jeden beobachteten Form von Sprach-
störung ermöglichen wollen. Nun war bereits Lichtheim
ein häufiger Fall bekannt, dessen Erklärung er aus
seinem Schema nicht geben konnte, das Zusammentreffen
von motorischer Aphasie mit Schriftblindheit (Alexie), das
doch zu häufig ist, um durch das zufällige Zusammen-
treffen zweier Unterbrechungen erledigt zu werden. Licht-
heim machte zur Aufklärung dieses Symptomcomplexes
die Annahme, dass es sich hierbei um Fälle von voll-
ständigem Verlust aller Sprachfunctionen handle, bei denen
die am leichtesten rückgängige Störung, nämlich die
Worttaubheit, bereits überwunden sei, so dass in diesem
Stadium nur die anderen Hauptstörungen: motorische
Aphasie und Schriftblindheit, erübrigten. Aber diese Er-
klärung scheint nicht zuzutreffen, denn Kahler 1 ) hat
späterhin einen Fall rasch vorübergehender Aphasie be-
richtet, in welchem der Kranke nach seiner Genesung ver-
sicherte, er habe nicht sprechen können, nur „gemeckert",
und nicht lesen können, weil ihm die Buchstaben wie
„verschmiert" erschienen seien, habe aber alles verstanden,
was man zu ihm gesprochen habe. Solche und ähnliche
Erfahrungen mögen einen der besonnensten deutschen
Neurologen, Eisenlohr, 2 ) dazu veranlasst haben, dem
Lichtheim'schen Schema der Aphasie doch nur einen
„vorwiegend didaktischen" Werth zuzugestehen.
IL
Die Anschauung, dass die in der Klinik beobachteten
Sprachstörungen, insoferne sie überhaupt eine anatomische
Begründung haben, von Unterbrechung der Sprachcentren oder
1 Kahler, Casuistische Beiträge zur Lehre von der Aphasie. Prager
med. W., Nr. 16 und 17, 1885.
2 ) Eisenlohr, Beiträge zur Lehre von der Aphasie. Deutsche med.
W., Nr. 36, 1889>
Pnnnl^ Original f rann
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Prüfung der Unterscheidung von Centrum- und Leitungsaphasie. H
von Zerstörung der Sprachassociationsbaknen herrühren, dass
man also ein Eecht habe, Centrumaphasie von Leitungs-
aphasie zu unterscheiden, ist seit Wernicke von allen
Autoren ausdrücklich oder stillschweigend angenommen
worden. Es verlohnt sich wohl, diese Unterscheidung
genauer auf ihre Berechtigung zu prüfen, da sie mit einer
principiell so wichtigen Auffassung von der Rolle der
Centren in der Hirnrinde und von der Localisation psy-
chischer Functionen, wie oben nach Wernicke erörtert
wurde, zusammenhängt.
Wer sich den angenommenen Unterschied zwischen
einem „Sprachcentrum" und einer blossen Verbindungsbahn
(die aus einem Bündel weisser Fasern besteht) klar macht,
wird erwarten müssen, dass durch die Zerstörung eines
Centrums eine weit schwerere Functionsstörung entstehen
müsse, als durch die Unterbrechung einer Leitung. Diese
Erwartung scheint sich aus der Darstellung Wernicke's
zu bestätigen. Wernicke's Leitungsaphasie durch Unter-
brechung der Bahn a b in Fig. 1 kennzeichnet sich blos
durch Verwechslung der Worte beim Sprechen bei erhaltener
Verfügung über den Wortschatz und bei erhaltenem Wort-
verständniss, ergibt also in der That ein viel leichteres
Krankheitsbild als die durch Zerstörung der Sprachcentren
a und b bedingte motorische und sensorische Aphasie.
Es hat aber mit der Wernicke'schen Leitungsaphasie
eine besondere Bewandtniss.Die ihr zugeschriebene Functions-
störung lässt sich nämlich nicht aus dem Schema Wer-
nicke's ableiten. Wernicke gibt an, bei Unterbrechung
der Bahn a — b entstehe Paraphasie; fragen wir uns aber,
welches die zu erwartende Folge dieser Bahnunterbrechung
sein müsste, so lautet die Antwort: Auf der Bahn von a — b
ist das Sprechen erlernt worden, das in der Eeproduction
eines aufgenommenen Wortklanges besteht; die Aufgabe
dieser Bahn ist das Nachsprechen; die Folge ihrer Unter-
brechung müsste sein, dass das Nachsprechen bei er-
haltenem spontanen Sprechen und erhaltenem Wortver-
ständniss unmöglich geworden ist. Nun wird aber Jeder-
Pnnnl^ Original f rann
jy V^UUglt UNI VERSITY OF CALIFORNIA
12 Kritik der Leitungsaphasie Wer nicke's.
mann zugeben, dass eine solche Dissociation des Sprach-
vermögens noch niemals beobachtet worden ist, und keine
Wahrscheinlichkeit hat, jemals zur Beobachtung zu kommen.
Die Fähigkeit des Nachsprechens geht niemals verloren,
wenn das Sprechen und das Verstehen erhalten sind, sie
fehlt nur 1. wenn überhaupt nicht gesprochen werden
kann, oder 2. wenn das Worthören gestört ist. Mir ist
nur ein einziger Fall bekannt, in dem das spontane Sprechen
nicht auch vom Nachsprechenkönnen begleitet ist. Es gibt
nämlich motorisch Aphasische, die gelegentlich einen Fluch
oder ein complicirtes, Wort, das sich sonst nicht unter
ihren „Sprachresten" findet, vorbringen können (Hughlings
Jackson 1 ). Fordert man solche Kranke auf, das eben
spontan Vorgebrachte nachzusagen, so gelingt es ihnen
nicht. Hier liegt aber ein ganz anderer Fall vor; es gelingt
den Kranken auch nicht, diese einmalige Bereicherung
ihres Sprachschatzes spontan zu wiederholen. Wir werden
späterhin aus der unzweifelhaften Thatsache, dass es keine
isolirte Aufhebung des Nachsprechens gibt, dass
das Nachsprechen (bei intactem Wortverständniss) immer
gelingt, wenn das spontane Sprechen möglich ist, einen
sehr wichtigen Schluss ziehen, nämlich dass die Bahn,
auf der gesprochen wird, identisch ist mit der,
auf welcher nachgesprochen wird.
Wir dürfen also sagen, die Wernicke'sche Leitungs-
aphasie besteht nicht, weil eine Form von Sprachstörung,
welche ihre Charaktere haben müsste, nicht aufgefunden
werden kann. Wem icke verlegte diese Sprachstörung in
die Inselregion; Erkrankung der Insel muss also eine andere
Form von Sprachstörung erzeugen. In der That finde ich
in der vorzüglichen Darstellung der Aphasie bei Bastian 2 )
^HughlingsJacksoDjOn affections of speech from diseases of the
brain. Brain I und II, 1878—80.
2 ) Charlton Bastian, On different kinds of Aphasia. British
Medical Journal, Oct. 29. u. Nov. 5. 1887.
— Brain as an organ of Mind 1880. Internat, wissensch. Bibliothek.
Bd. 52 u. 53. (Auch deutsch u. französisch.)
Pnnnl^ Original from
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Sie lässt sich nicht aus dem Schema ableiten — Inselaphasie. 13
die sicher auftretende Angabe, dass Erkrankung der Insel
typische motorische Aphasie bedingt. Die Frage der Insel-
aphasie, die für alle unsere Erörterungen von grosser
Bedeutung wäre, ist leider durch die bis heute vorliegenden
Erfahrungen nicht geklärt. Meynert, 1 ) de Boyer, 2 )
Wer nicke 3 ) selbst u. A. halten daran fest, dass die Insel
zum Sprachbezirk gehöre, während Charcot's Schüler
(Bernard 4 ) von einer solchen Beziehung der Insel nichts
wissen wollen. Aus der 1887 vorgenommenen Zusammen-
stellung von Naunyn 5 ) hat sich nichts Entscheidendes
für diese Frage ergeben. Wenn ajich eine überwiegende
Wahrscheinlichkeit dafür spricht, dass Erkrankung der
Insel nicht blos der anatomischen Contiguität wegen Sprach-
störung macht, so lässt sich doch in keiner Weise angeben,
ob dieser Sprachstörung eine bestimmte Form und welche
Form ihr zukommt. 6 )
Wir behalten es einer späteren Erörterung vor, welche
Bedeutung das Symptom der Paraphasie (Wortverwechslung)
beanspruchen kann, und wieso Wernicke dazu gelangte,
es als charakteristisch für eine Unterbrechung zwischen
a und b hinzustellen. An dieser Stelle sei nur erwähnt,
dass die bei Kranken beobachtete Paraphasie sich in nichts
von derjenigen Wortverwechslung und Wortverstümmlung
unterscheidet, die der Gesunde bei Ermüdung, bei getheilter
Aufmerksamkeit, beim Einfluss störender Affecte an sich
!) Meynert, Oest. Zeitsch. f. prakt. Heilkunde XIII.
2 ) de Boyer, Etudes cliniques sur les le*sions corticales. Paris 1879.
3 ) In seiner ersterwähnten Arbeit.
4 ) Bernard, De Taphasie et de ses diverses formes. Paris 1885.
5 ) Naunyn, Ueber die Localisation der Gehirnkrankheiten. Correfera
in den Verhandlungen des IV. Congresses für innere Medicin zu Wiesbaden
1887.
6 ) Ch. Bastian (On different kinds of aphasia, 1887) ist geneigt, das
zuerst von Grass et beschriebene Zusammentreffen von Aphasie mitHemi-
anästhesie durch die Nachbarschaft zu erklären, in welcher sich die durch
die Insel ziehenden Commissuren zwischen Broca'scher und Wernicke'scher
Stelle zum hinteren (sensibeln) Drittel des hinteren Schenkels der inneren
Kapsel befinden.
Pnnnl^ Original from
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14 Paraphasie kein Herdsymptom.
beobachten kann, durch die z. B. unsere Vortragenden
uns so häufig das Zuhören peinlich machen. Es liegt nahe,
die Paraphasie im weitesten Umfange für ein rein functio-
nelles Symptom, für ein Zeichen minder exacter Leistungs-
fähigkeit des Sprachassociationsapparates anzusehen. Dies
schliesst nicht aus, dass sie nicht in exquisitester Weise
als organisches Herdsymptom auftreten könnte. Allein ein
verdienstvoller Autor, Allen Starr, 1 ) hat sich die Mühe
genommen, den anatomischen Begründungen der Paraphasie
nachzuspüren. Er gelangt zum Schluss, dass Paraphasie
durch Läsionen an seljr verschiedenen Kegionen er zeugt-
werden kann. Es war ihm selbst unmöglich, eine constante
pathologische Verschiedenheit zwischen den Fällen sen-
sorischer Aphasie mit und ohne Paraphasie aufzufinden.
Man könnte den Einwand erheben, dass die vor-
stehende Kritik der Wernicke 'sehen Leitungsaphasie
unberechtigt sei, weil sie eine Möglichkeit nicht vorgesehen
habe. Die Unmöglichkeit des Nachsprechens brauche bei
derselben nicht vorzukommen, weil das gehörte Wort, das
nicht direct auf das motorische Centrum b übertragen
werden kann, auf dem Umwege durchs „Verständniss" nach-
gesprochen wird. Die Verbindungsbahn ABM (Fig. 3) würde
anstatt der unterbrochenen Bahn AM, auf der das Nach-
sprechen sonst vor sich geht, eintreten. Wenn dieser Um-
weg wirklich gangbar ist, wäre die Leitungsaphasie zu
charakterisiren als ein Zustand, bei dem Sprachverständ-
niss und spontanes Sprechen erhalten, Nachsprechen von
verständlichen Worten gleichfalls erhalten, Nachsprechen
von unverstandenen Worten, z. B. einer fremden Sprache,
aber aufgehoben ist. Auch dieser Symptomencomplex ist noch
nicht beobachtet, allerdings auch noch nicht gesucht worden.
Es wäre möglich, dass er sich gelegentlich verwirklicht findet.
Indem wir die Zulässigkeit dieses Ausweges anerkennen,
gelangen wir aber zu einer zweiten Erwartung, welche an
die strengste Sonderung von Sprachcentren und deren
*) Allen Starr, The pathology of sensory aphasia, with an analysis of
fifty cases, in which Broca's centre was not diseased. Brain, XII. 1889.
Pnnnl^ Original f rann
jy K^KJVglK. UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Erörterung der Sprachstörung bei sensorischer Läsion. 15
Associationsbahnen zu knüpfen wäre. Die Zerstörung eines
Centrums schafft natürlicherweise einen unersetzlichen
Ausfall von Function; wenn aber nur eine Leitungsbahn
unterbrochen ist, sollte es möglich sein, das intacte Centrum
auf einem Umwege über erhaltene Leitungsbahnen anzuregen
und dessen Erinnerungsbilder dennoch der Function dienst-
bar zu machen. Suchen wir nach einem Falle, in dem sich
eine solche Verschiedenheit der Ausgleichung von Sprach-
störungen zeigen kann, so ergibt sich uns zunächst ein
Beispiel, dessen Erörterung für die gesammte Auffassung
der Aphasie überhaupt von höchster Bedeutung ist.
Es gibt Fälle -von Verlust des Wortverständnisses
(Worttaubheit) ohne Störung des spontanen Sprechens.
Dieselben sind selten, aber sie kommen vor, und man dart
behaupten, dass die Lehre von der Aphasie eine andere
Ent Wickelung genommen hätte, wenn Wer nicke's erste
Beispiele von sensorischer Aphasie von dieser Art gewesen
wären. Dies traf aber nicht zu; Wernicke's Fälle von
sensorischer Aphasie zeigten wie die meisten später beob-
achteten auch eine Störung des sprachlichen Ausdruckes,
die wir vorläufig mit dem Entdecker der sensorischen
Aphasie als Paraphasie bezeichnen wollen. Ein solche
Sprachstörung erklärte sich natürlich aus dem Schema
Wer nicke's nicht, denn diesem zufolge sind die Wort-
bewegungsbilder intact, die Wege, die von den Begriffen zu
ihnen führen, gleichfalls intact; wenn also gesprochen wird,
ist kein Grund einzusehen, warum nicht auch correct ge-
sprochen wird. Wernicke musste sich also zur Erklärung
der Paraphasie bei rein sensorischer Aphasie auf ein func-
tionelles, nicht aus dem Schema ersichtliches Moment
stützen. Er erinnerte daran, dass die Bahn a—b l ) diejenige
sei, auf der das Sprechen erlernt wurde. Später wird auf
directem Wege vom Begriffe aus gesprochen, aber die Bahn
a—b behält noch eine gewisse Bedeutung für die Sprache;
sie wird jedesmal beim Spontansprechen mitinnervirt und
übt dadurch eine fortwährende Correctur auf den Ablauf
J ) oder AM nach Figur 3.
Pnnnl^ Original f rann
jy ijUUglt UNI VERSITY OF CALIFORNIA
16 Wer nicke's Erklärungsversuch derselben.
der Bewegungsvorstellungen aus. Wegfall dieser Neben-
innervation von a— b bewirkt Paraphasie.
Wer nicke's Vorstellungen über diesen schwierigen
Punkt sind keineswegs klar, wie mir scheint, nicht einmal
consequent. Denn eine Stelle weiter meint er (pag. 23 1. c),
das blosse Bestehen der Bahn a—b ohne intendirte Inner-
vation derselben, genüge schon, um die Auswahl der rich-
tigen Bewegungsvorstellung zu sichern. Wie es zugehen
kann, dass der blosse Bestand dieser Bahn, auch wenn
sie nicht mitinnervirt wird, diese mächtige Einwirkung
auf den motorischen Vorgang beim Sprechen äussern kann,
oder wie, wenn sie eine collaterale Innnervation beim
Sprechen empfängt, diese sich äussern kann, ob das
Centrum b erst dann den Articulationsimpuls aussendet,
wenn die Erregung vom Centrum a her angekommen
ist, ob es vielmehr früher zu sprechen beginnt, Fehler
macht und diese vermittelst der Erregung vom Wort-
klangscentrum her corrigirt; über all dieses kann ich mir
nach Wernicke's Darstellung keine anschauliche und
widerspruchsfreie Vorstellung machen. Li cht he im hat
diesen Mangel des Erklärungsversuches von Wernicke
wohl gefühlt, denn er fasst die Bedingung zur Vermeidung
der Paraphasie weit schärfer. Es genüge hiefür nicht,
dass die Wortklangbilder intact seien, sie müssten auch
durch die Bahn a — b in Verbindung mit den Wortbewegungs-
bildern treten. Ein Schritt weiter hätte Lichtheim zur
Annahme geführt, dass überhaupt nur auf dem Wege über
die Klangbilder und die Bahn AM gesprochen wird. Denn
der Einfluss von A auf dem Wege A — M ist offenbar unnütz,
wenn er erst anlangt, nachdem von M aus bereits ge-
sprochen wurde; es wird also nicht eher gesprochen, als
bis diese Erregung in M eingetroffen ist, und nun lösen
sich alle Schwierigkeiten befriedigend, wenn wir die über-
flüssige Annahme weglassen: es bedürfe zum Sprechen
noch einer besonderen Erregung von M vom Begriffe her.
Wie dem aber immer sein möge, wir wollen darauf
zurückkommen, dass bei der sensorischen Aphasie (Zer-
Pnnnl^ Original f rann
jy V^UUglt UNI VERSITY OF CALIFORNIA
V
Die Klinik ergibt keinen Beweis für die psychische Dignität der Centren. 17
Störung von A) das spontane Sprechen nach Wernicke
und Lichtheim paraphasisch wird, weil die eine Correctur
übenden Klangbilder in A zerstört sind. Nun sollte man
erwarten, dass sich ein klinischer Unterschied ergibt,
wenn diese so wichtigen Klangbilder nicht zerstört, sondern
blos die sie mit M verbindende Bahn unterbrochen ist.
Wir würden in einem solchen Unterschied einen Beweis
erblicken müssen, dass Centrum und Leitungsbahnen
wirklich verschiedene Bedeutung haben, dass Vorstellungen
nur in ersterem und nicht auch in letzteren enthalten
sind. Die erhaltenen Klangbilder würden ihren Einfluss
auf das Sprechen auf dem Umwege über die „Begriffs-
centren" äussern, wie wir es vorhin bei der Ermöglichung
des Nachsprechens erläutert haben. Nun liegt der Fall,
dass das Centrum erhalten, die Leitungsbahn aber unter-
brochen ist, bei der Leitungsaphasie Wernicke's vor,
auf die wir hiermit wieder zurückkommen, und es zeigt
sich, dass ein solcher Umweg nicht eingeschlagen wird.
Die Unterbrechung von A—M hat dieselbe Folge, wie die
Zerstörung von A selbst, nämlich Paraphasie beim spon-
tanen Sprechen.
Die Leitungsaphasie Wernicke's selbst erweist sich
aber hierdurch von Neuem als unhaltbar. Denn, wenn
wir annehmen, dass die Unterbrechung der Bahn a — b (A — M)
nicht durch einen Umweg der Innervation wettgemacht
werden kann, müsste sie Unfähigkeit des Nachsprechens,
und wenn wir diesen Umweg zulassen, dürfte sie auch
nicht einmal Paraphasie ergeben.
Auch die Betrachtung der anderen von Lichtheim
aufgestellten Leitungsaphasien, sowie der nicht centralen
Störungen des Lesens und Schreibens führt zu dem Schlüsse:
Die Zerstörung eines sogenannten Centrums kenn-
zeichnet sich blos durch gleichzeitige Unter-
brechung mehrerer Bahnen, und jede solche An-
nahme kann durch die Annahme der Läsion
mehrerer Leitungsbahnen ersetzt werden, ohne
dass hierbei die Rücksichtnahme auf die besondere
Fr e ud, Aphasie. 2
f^rw~»nlr* Original from
jyviwglt UNIVERSITYOF CALIFORNIA
18 Watteville's Versuch zur Auszeichnung der Centrumaphasie.
Localisation psychischer Functionen in den Centren
vermisst wird.
Da ich mich mit der Forderung — die den Centren
der Sprache zugeschriebene, besondere psychische Dignität
müsste sich auch durch irgend etwas in der Klinik der
Sprachstörungen verrathen — ziemlich isolirt weiss, will ich
nicht unterlassen anzuführen, dass Watteville *) in einem
kleinen, aber inhaltsreichen Aufsatze einen sehr ähnlichen
Gedankengang vorgebracht hat. „Wir haben uns die Vor-
stellung gemacht," sagt dieser Autor, „dass diese Centren
Vorrathsstätten sind, an denen die verschiedenartigen moto-
rischen wie sensorischen Erinnerungsbilder aufbewahrt
werden. Andererseits dürfen wir das physiologische Substrat
der Seelenthätigkeit nicht in der Function dieses oder
jenes Gehirntheiles suchen, sondern als Resultirende von
weit über das Gehirn verbreiteten Processen auffassen. Aus
diesen beiden Voraussetzungen lässt sich folgern, dass
Läsionen, deren Symptomatologie sonst keine erheblichen
unterschiede erkennen lässt, doch in Bezug auf ihre psy-
chische Bedeutung sich sehr verschieden verhalten müssen.
Nehmen wir je zwei Fälle von motorischer Aphasie, von
denen der eine durch Zerstörung des Broca'schen Centrums
selbst, der andere durch Unterbrechung des von ihm aus-
gehenden centrifugalen Bündels bedingt ist Im ersten Falle
hat der Kranke die Verfügung über die Wortbewegungs-
bilder verloren, im zweiten Falle ist dieselbe erhalten.
Nun hat man ja die Wirkung der Aphasie auf die Intelligenz
so häufig erörtert und ist trotz guter Beobachtungen auf
beiden Seiten zu so entgegengesetzten Resultaten gekommen.
Sollte die Lösung dieses scheinbaren Widerspruches nicht
in dem von uns berührten Verhältnisse liegen? Es
scheint uns also berechtigt anzunehmen, dass bei centraler
Läsion der Sprache der Kranke auch eine intellectuelle
Schädigung erfahren haben muss, während dies bei einer
! ) de Watteville, Note sur la ce'cite' verbale. Progres me'dical,
21. März 1885.
Pnnnl^ Original f rann
jy V^UUglt UNI VERSITY OF CALIFORNIA
\
Zweifel an der Berechtigung eines localisatorischen Schemas. 19
Läsion der Leitungsbahnen nicht der Fall zu sein
braucht "
Ich glaube nicht, dass bereits jemand sich der Mühe
unterzogen hat, die von Watteville angedeutete Art der
Prüfung durchzufuhren; ich habe nur den Eindruck, als
würde sich der erwartete Zusammenhang einer stärkeren
-intellectuellen Schädigung mit einer „centralen" Aphasie
im G-egensatze zu einer Leitungsaphasie nicht- heraus-
stellen.
III.
Während wir uns herauszufinden bemühten, welche
Verhältnisse in der klinischen Erscheinung der Sprach-
störungen die behauptete psychische Bedeutung der Sprach-
centren bestätigen, und zu diesem Zwecke die Leitungs-
aphasie Wernicke's einer kritischen Beleuchtung unter-
zogen, sind wir auf Thatsachen gestossen, welche Zweifel
an der Richtigkeit eines wesentlich auf Localisation be-
ruhenden Schemas überhaupt in uns erregen mussten. Man
thut nicht Unrecht, wenn man das Wernicke-Licht-
heim'sche Schema als ein solches bezeichnet; doch muss
man daran erinnern, dass beide Autoren ausserdem functio-
nelle Momente ohne Bedenken zur Erklärung der Sprach-
störungen heranziehen. Eine Darstellung, welche die beob-
achteten Sprachstörungen ausschliesslich durch die ver-
schiedene Localisation von destructiven Läsionen erklären
wollte, müsste sich auf die Annahme einer Anzahl von
Centren und Leitungsbahnen beschränken, welche unab-
hängig voneinander functioniren und mit gleicher Leichtig-
keit durch Läsionen ausser Thätigkeit gesetzt werden.
Wie wir gehört haben, haben Wernicke und Licht heim
aber nicht vermeiden können, die Function des motorischen
Centrums M nicht nur an dessen anatomische Integrität,
sondern auch an die Erhaltung von dessen Verbindung
mit dem sensorischen Centrum A zu knüpfen. Ja, Licht-
2*
Pnnnl^ Original f rann
jy V^UUglt UNI VERSITY OF CALIFORNIA
20 Wichtigkeit der Lichtheim 'sehen Silbenprobe.
heim hat einen überraschenden Fund gemacht, dessen
Bestätigung die Bedeutung des Momentes der Localisation
noch tiefer herabdrücken würde. Er hat sich die Frage
gestellt, ob motorisch aphasische Personen über die so-
genannte „innere Sprache", das Erklingenlassen der Worte,
welche sie nicht aussprechen können, verfügen. Er Hess
sich darum z. B. so oft von dem Kranken die Hand drücken,
als das verlangte Wort Silben enthielt, und fand, dass die
Kranken nicht im Stande waren, auf diese Art ihre Kenntniss
des Wortes zu beweisen. Es ist klar, dass eine solche
Thatsache nicht ohne den tiefgreifendsten Einfluss auf
unsere Vorstellungen vom Sprachvorgang bleiben könnte,
denn das Centrum A ist ja intact, dessen Verbindungen
mit der übrigen Rinde unversehrt, eine Läsion besteht
nur vom sensorischen Theil des Sprachapparates weit
entfernt in M, dem Centrum der Wortbewegungsvor-
stellungen, und doch kann der Kranke wegen des Be-
standes einer umschriebenen Läsion in der dritten Frontal-
windung die im Temporallappen enthaltenen Wortklänge
nicht von seiner sonstigen Hirnthätigkeit (etwa von den
optischen Wahrnehmungen) her erregen.
Leider ist diese Thatsache, welche den Eckstein einer
neuen Theorie der Sprachstörungen bilden müsste, noch nicht
sichergestellt. Man kann zunächst einen Einwand gegen die
Art richten, wie Lichtheim sie erweisen wollte. Er prüfte
die Verfügung über die Wortklänge daran, ob die Kranken
im Stande waren, die Silbenanzahl der gesuchten Worte an-
zugeben; man kann aber vermuthen, dass diese Kranken
gewohnt waren, diese Silbenzahl nur auf dem Wege einer
Uebertragung des Klanges auf die motorische Sprachbahn
zu finden; das Prüfungsmittel wäre also ungeeignet gewesen,
weil es geradezu die Erhaltung der Bahn voraussetzt, welche
bei motorischer Aphasie zerstört ist. Ein Einwand, den
Wysman 1 ) gegen die Richtigkeit der Lichtheim'schen
J ) Wysman, Aphasie und verwandte Zustände. Deutsch Arch. f. klin.
Med. Bd. 4:7.
f^rtnnlf* Original fronn
jy ijUUglt UNI VERSITY OF CALIFORNIA
Eine directe Bahn für das spontane Sprechen bestritten. 21
Probe erhebt, fällt, glaube ich, mit dem meinigen zusammen.
Die Sache hat aber noch ein anderes Bedenken. Lichtheim
berichtet, dass er seine Probe an Fällen unzweifelhaft moto-
rischer (corticaler) Aphasie (Zerstörung von M) nicht anwen-
den konnte, weil er reine Fälle dieser Art in letzter Zeit nicht
zur Verfügung hatte. Er theilt blos einen Fall sogenannter
transcorticaler motorischer Aphasie mit, bei dem diese
Probe einen negativen Erfolg ergab, obwohl ja hier nicht
einmal das Centrum M, sondern blos dessen Verbindungen
MB als zerstört angenommen wurden. Ich werde aber
späterhin zeigen, dass diese Fälle von sogenannter trans-
corticaler motorischer Aphasie eine andere Auffassung
erfordern, mit welcher eich die Unkenntniss der Klangbilder
besser verträgt. Somit erscheint mir die Frage noch als
völlig unerledigt, ob bei motorischer Aphasie die Verfügung
über die Klangbilder erhalten oder aufgehoben ist. Ich
würde aber auch keine Theorie der Aphasie aufstellen
wollen, ehe ich über diesen Punkt sicheren Bescheid wüsste.
Kehren wir nun zu den beiden anderen Argumenten
zurück, auf Grund deren wir die functionelle Unabhängig-
keit des Centrums M bestreiten müssen. 1. Bestünde eine
Verbindung des Centrums M mit B (Bahn für das spontane
Sprechen), welche von der Verbindung mit A (der Bahn,
welche das Nachsprechen und das correcte Sprechen er-
möglicht) verschieden ist, so müssten wir Störungen des
Nachsprechens finden ohne entsprechende Störungen der
spontanen Sprache. Wir haben ausführlich auseinander-
gesetzt, dass dies nicht der Fall ist. Wir schliessen daher,
dass diese beiden Bahnen zusammenfallen. 2. Wir haben
gehört, dass eine Läsion im Centrum A oder in der Bahn
AM eine Sprachstörung macht, welche Wernicke und
Lichtheim genöthigt hat, functionelle Momente zur Er-
klärung heranzuziehen, ohne doch dadurch die Grundthat-
sache, das Vorkommen von Sprachstörung bei sen-
sorischer Aphasie, befriedigend aufzuklären. Auch diese
Schwierigkeit fallt weg, wenn man annimmt, es bestehe
nur die Bahn AM und es werde spontan nur über die
Pnnnl^ Original f rann
jy V^UUglt UNI VERSITY OF CALIFORNIA
22 Die Sprachstörung bei sensorischer Läsion ist mehr als Paraphasie.
Klangbilder gesprochen. Diese Annahme liegt um so näher,
als ja die Bahn AM unzweifelhaft die erste war, auf der
das Kind sprechen gelernt hat. Wernicke nimmt zwar
an, wenn das Sprechen auf dieser Bahn genügend eingeübt
sei, bilde sich eine andere directere, welche die Klangbilder
umgehe, allein es ist nicht einzusehen, auf welche Weise
die für die eine Bahn erworbene Uebung dazu führen
soll, den eingeübten Weg zu verlassen und einen neuen
einzuschlagen. Fast alle früheren Autoren mit Einschluss
von Kussmaul 1 ) haben daran festgehalten, dass das spon-
tane Sprechen auf demselben Wege wie das Nachsprechen
über die Klangbilder vor sich gehe, und von den neueren
ist Grashey 2 ) zu dieser Annahme zurückgekehrt. Ich
habe auch in der sonst so durchsichtigen Darstellung
Lichtheim 's nie die Auseinandersetzung verstehen können,
in welcher dieser Autor seine Behauptung einer directen
motorischen Sprachbahn gegen Kussmaul vertheidigt.
Wenn wir die Bahn für das spontane Sprechen über
das sensorische Centrum A gehen lassen, gewinnt natürlich
die Sprachstörung* bei sensorischer Läsion für uns ein
besonderes Interesse. In der That gewinnen wir den
Eindruck, als ob Wernicke und Lichtheim derselben
durch die Bezeichnung einer „Paraphasie" keine volle Wür-
digung hätten widerfahren lassen. Unter Paraphasie müssen
wir eine Sprachstörung verstehen, bei welcher das passende
Wort durch ein unpassenderes ersetzt wird, welches aber
immer eine gewisse Beziehung zum richtigen Worte einhält
Diese Beziehungen können wir mit Anlehnung an die Aus-
führungen eines Philologen Delbrück 3 ) etwa folgender-
massen schildern: Es gehört der Paraphasie an, wenn der
Sprechende Worte füreinander setzt, die dem Sinne nach
ähnlich oder durch häufige Association miteinander ver-
*) Kussmaul, Die Störungen der Sprache. 1877.
2 ) Grashey, Ueber Aphasie und ihre Beziehungen zur Wahrnehmung.
Archiv f. Psychiatrie XVI, 1835.
3 ) Delbrück, Amnestische Aphasie. Jena'sche Zeitschr. f. Naturw.
XX, Supplement II, 1886.
Pnnnl^ Original f rann
jy ijUUglt UNI VERSITY OF CALIFORNIA
Begrenzung der Paraphasie. 23
bunden worden sind, wenn er z. B. anstatt „Bleistift"
„Schreibfeder" anstatt „Berlin" „Potsdam" gebraucht.
Ferner wenn er Worte verwechselt, die ähnlichen Klanges
sind, „Butter" für „Mutter", „Campher" für „Pamphlet",
endlich wenn er Fehler in der Articulation macht (literale
Paraphasie), bei welchen einzelne Buchstaben durch andere
ersetzt sind. Man ist versucht, bei diesen verschiedenen
Arten von Paraphasie die Unterscheidung zu treffen, au
welcher Stelle des Sprechapparates das Ungeschick ein-
geleitet worden ist. Paraphasisch ist es überdies noch zu
nennen, wenn zwei Wortabsichten zu einem Missgebilde
verschmolzen werden, „Vutter" für „Mutter" oder „Vater",
und man ist übereingekommen, jene Umschreibungen der
Paraphasie zuzurechnen, bei denen ein bestimmtes Hauptwort
durch ein möglichst unbestimmtes („Dings", „machine" :
„chose") oder durch ein Zeitwort ersetzt wird. Die Sprach-
störung der sensorischen Aphasie geht aber weit über diese
paraphasischen Charaktere hinaus. Es gibt Fälle, in denen die
sensorisch Aphasischen überhaupt kein verständliches Wort
reden, in unerschöpflicher Folge sinnlose Silben anein-
anderreihen (Kauderwelsch, Jargonaphasie 1 ) der englischen
Autoren; in anderen Fällen, wie in dem von Wer nicke
selbst, ist wenigstens die Armuth an Wortbildungen von irgend
engerer Bedeutung, die Ueberfülle von Partikeln, Interjectio-
nen und sonstigem Beiwerk der Sprache, die häufige Wieder-
holung von einmal ausgesprochen Hauptwörtern und Zeit-
wörtern bemerkenswerth. Wernicke's Kranke äusserte
z. B. zu einer Zeit, wo sie bereits „bedeutende Fortschritte
aufwies," als man ihr etwas geschenkt hatte: „Da lasse ich
mir viel viel Mal alles Mögliche, was Sie nur haben ge-
sehen. Ich danke halt viel liebes Mal, dass Sie mir das
Alles gesagt. Na, da danke ich vielmal, dass Sie sind so
gut gewesen, dass Sie sind so gütig gewesen." Ich erinnere
mich, selbst im Wiener Allgemeinen Krankenhause einen
Fall von sensorischer Aphasie — Frau E., sie wurde uns
J ) Vgl. Ross, On Aphasia. London 1887 (auch Manchester Medical
Chronicle).
Pnnnl^ Original f rann
jy ijUUglt UNI VERSITY OF CALIFORNIA
24 W* e erklärt sich Lichtheim 's transcorticale motorische Aphasie?
als „encephalitische Verworrenheit" vorgeführt — gesehen
zu haben, deren Sprache dieselben Eigenthümlichkeiten
darbot: die Verarmung an allen enger bestimmten Rede-
theilen, Hauptwörtern, Eigenschafts- und Zeitwörtern, den
Ueberfluss von allen indifferenten Kedetheilen und die Wieder-
holung derselben Worte, die ihr einmal auszusprechen gelungen
waren. Wer nicke hat die Sprachstörung der sensorischen
Aphasie durch die „Erhaltung des Wortschatzes mit Par-
aphasie" zu charakterisiren versucht. Ich glaube, es ist
richtiger, sie als „Wortverarmung bei reichlichen Sprach-
impulsen" zu bezeichnen.
Wenn wir aber die Bahn für das spontane Sprechen
BM aus dem Lichtheim'schen Schema streichen, wie
erklären wir uns dann die Fälle von sogenannter „trans-
corticaler motorischer Aphasie", die Lichtheim so
ungezwungen durch die Unterbrechung eben dieser Bahn
aufklärt? Wir erinnern uns, diese Fälle zeigen die Eigen-
tümlichkeit, dass das spontane Sprechen ganz unmöglich
ist, während das Nachsprechen, das laute Lesen (also
Sprechen nach dem Schriftbild) u. s. w., ungehindert vor
sich geht.
Wir sind nun zum Glücke in der Lage, das Verständniss
dieser Fälle auf anderem Wege zu erreichen. Heubner 1 )
hat erst kürzlich eine Beobachtung von Aphasie publicirt,
auf welche wir uns ihrer grossen Bedeutung wegen noch
mehreremale werden beziehen müssen. Dieser Kranke
hatte das Vermögen, spontan zu sprechen, eingebüsst, besass
aber die Fähigkeit, nachzusprechen und laut zu lesen; er
zeigte also eine typische transcorticale motorische
Aphasie. Ausserdem hatte er das Verständniss der Sprache
verloren und verstand auch nicht, was er selbst las oder
schrieb oder nachsprach — Störungen, die sich mitdertrans-
corticalen sensorischen Aphasie Lichtheim's decken.
Sein Fall liess sich also nicht durch eine einfache Läsion im
Schema Lichtheim's erklären, wohl aber durch das
i) Heubner, üeber Aphasie. Schmidfs Jahrbücher 1889, Bd. 224,
S. 220.
Pnnnl^ Original f rann
jy ijUUglt UNI VERSITY 0F CALIFORNIA
Beobachtung von Heubner*
25
Zusammentreffen von zwei Läsionen, nänilich in den
Bahnen BM und BA. Die Section dieses Kranken ergab
nun eine Rindenenveichung von höchst interessanter
Lagerung jedenfalls im sensorischen Gebiet^ welche die
Wernicke'sche Stelle, die erste Temporalwindung, umzog
und nach oben, hinten und unten von der übrigen Kinde
abtrennte, ferner eine etwa linsen grosse oberflächliche
Ein den erweich ung an einer Windungskante der dritten
Frontalwindung. (Fig, 5.)
Somit schiene zunächst das Lichtkeim'sche Schema
bestätigt, aber bei näherer Ueberlegung muss man
Fig. ö
Sectio nsbef und iid Falle Heubner's.
Heubner Recht geben, dass die Läsion im motorischen
Gebiet viel zu beschränkt und unbedeutend ist, als dass
man ihr die „mäfchtige und tiefe Störung der Sprache"
zuschreiben dürfte* Sie ist übrigens in der Rinde selbst
gelegen, eine corticale und in keinem Sinne eine trans-
corticale zu nennen, und wenn sie Störungen verursacht
hätte, wären dieselben beim Kachsprechen ebensosehr
hervorgetreten wie beim Sprechen. Es erübrigt also zur
Erklärung der beobachteten Sprachstörung nur die bedeut-
same Läsion im sensorischen Gebiet, und wir ersehen aus
diesem Falle, dass eine Abtrennung der sensorischen Centren
von ihren anderen Rindenverbindungen, also eine trans-
Original from
UNIVERSITYOF CALIFORNIA
26 Beobachtung von Magnan
corticale sensorische Läsion auch Aufhebung der
spontanen Sprache verursacht, d. h. dass die Bahn BM zu-
sammenfällt mit der Bahn BA, oder dass nur über die
Klangbilder gesprochen wird.
Wir erinnern uns, dass Lichtheim bei seinem Falle
von subcorticaler motorischer Aphasie vermittelst seiner
Silbenprobe feststellte, dass der Kranke die Klangbilder
der Worte nicht von seiner Gedankenthätigheit her erregen
konnte. Wenn wir aus dem Falle Heubner's auf den
LichtheinTs schliesen dürfen, der jedenfalls eine geringere
Schädigung der Sprachfünctionen repräsentirt, so läge auch
in diesem die Läsion auf sensorischem Gebiete, und der
negative Ausfall der Probe verlöre hierdurch die Bedeutung,
die er in einem Falle von sicher motorischer Läsion
gehabt hätte.
Es ist indes immerhin misslich, eine Entscheidung
auf einen einzigen Fall zu stützen, zumal dieser doch eine
kleine Läsion auf motorischem Gebiete aufweist. Ich habe
mich daher bemüht, einige andere Fälle von sogenannter
transcorticaler motorischer Aphasie mit Sectionsbefunden auf-
zufinden, und bin dabei zu folgendem, für mich unerwartetem
Ergebniss gelangt. Die Unfähigkeit des spontanen Sprechens
bei erhaltenem Nachsprechen lässt nicht mit Notwendig-
keit auf eine Localisation im sensorischen Gebiete schliessen.
Dieses für die transcorticale motorische Aphasie charak-
teristische Symptom findet sich auch bei ausschliesslichem
Sitz der Erkrankung in der motorischen Region; aber
nur in einem einzigen Falle war die Läsion wirklich als eine
„transcorticale" zu bezeichnen. Es handelte sich in diesem
Falle (Magnan 1 ) nämlich um einen Tumor, der auf der
Innenfläche der Dura mata aufsass, von oben her wie ein
Keil in die linke Hemisphäre eingedrungen war und mit
seiner Spitze bis zur dritten Frontalwindung und bis zum
vorderen Drittel des oberen Randes der Insel reichte. Die
Kranke war unfähig Auskunft über sich zu geben, sprach
l ) Magnan, On simple aphasia, and aphasia with incoherence. Brain
II, 1880.
Pnnnl^ Original f rann
jy ijUUglt UNI VERSITY OF CALIFORNIA
und von "Hammond. 27
nur einzelne Worte und sinnlose Silben, konnte aber Worte,
die sie hörte, gut wiederholen.
In den beiden anderen Fällen, die ich mit Sections-
befund versehen auffand, befand sich die Läsion in der
motorischen Rinde selbst, vielmehr sie war „transcorticar
in dem Sinne dieses Wortes, welcher dieses Wort so un-
geeignet für seine Verwendung in der Lehre von der
Aphasie macht. Sie bestand in einem Falle in einer Blutung
über dem motorischen Centrum, im anderen in einem
Knochensplitter, der in letzterem steckte. Beide Fälle
gehören Hammond 1 ) an und werden von ihm folgender-
massen berichtet:
I. Als sich Hammond im Sommer 1857 mit einer
Schaar von Soldaten und Arbeitern in den Rocky Mountains
befand, bekam einer der Arbeiter, ein Mexikaner, von einem
anderen mit einem Knittel einen Schlag auf die linke Schläfe,
so dass er bewusstlos zusammenstürzte. Als der Verletzte
zu sich kam, hatte er das Wortgedächtniss völlig verloren,
aber keineswegs das Vermögen der Articulation. Er konnte
von selbst gar nicht sprechen, wenn man ihm aber Worte
vorsagte, wiederholte er sie ohne jeden Fehler der Arti-
culation, vorausgesetzt, dass man ihm nicht zu viele Worte
auf einmal aufgegeben hatte. Wenn Hammond ihn z. B-
fragte: „Como sientes ahora?" (Wie geht's dir jetzt?), so
wiederholte er: „Como sien, sien, sien" und brach dann in
Thränen aus. Der Kranke starb am nächsten Tage und
zeigte eine „halbdollargrosse Ecchymose, die den linken
Vorderlappen an seinem lateralen hinteren Rande betraf,
ferner eine Zerreissung der rechten Arteria meningea
media.
Man wird vielleicht geneigt sein anzunehmen, dass
die Untersuchung Hammond's in diesem Falle keine sehr
erschöpfende gewesen sein mag, denn er fügt der Beob-
achtung hinzu: „Ich legte der Verletzung des linken Vorder-
lappens damals keine besondere Bedeutung bei; erst seit
') Hammond, A Treatise on the Diseases of the Nervous System.
Seventh edition. London 1882.
Pnnnl^ Original f rann
jy V^UUglt UNI VERSITY OF CALIFORNIA
28 Die transcorticale motorische Aphasie
der Discussion in der Pariser Akademie 1861 bin ich zur
Ueberzeugung gelangt, dass die amnestische Aphasie
dieses Falles von dieser Verletzung herrührte."
Fall IL Im Winter 1868/69 sah Hammond einen Mann,
der einige Monate vorher bei der Arbeit in einem Steinbruch
einen Stoss gegen die linke Seite des Kopfes von einer
Maschine erlitten hatte. Der Kranke schien sehr intelligent,
verstand alles was man zu ihm sprach, machte die ver-
zweifeltsten Anstrengungen selbst zu sprechen, brachte
aber nie andere Worte als „ja" und „nein" heraus. Hammond
fragte ihn: „Sind Sie in Preussen geboren?" — „Nein."
„In Bayern?" — „Nein." — „In Oesterreich?" — „Nein." —
„In der Schweiz?" — „Ja, ja, ja, Schweiz, Schweiz." Dabei
lachte er und bewegte die Hand nach allen Richtungen. —
Hammond nahm an, dass bei jenem Unfall ein Bruch der
inneren Schädelkapsel stattgefunden habe und dass ein
Knochensplitter auf die dritte Frontalwindung drücke. Er
rieth zur Trepanation, die auch ausgeführt wurde und seine
Diagnose vollinhaltlich bestätigte. Sobald der Kranke aus
der Narkose erwachte, war seine Sprache wiederhergestellt 1 )
Wir sehen also, dass hier die transcorticale moto-
rische Aphasie Lichtheim's durch Läsionen zu Stande
kommt, welche mit der Unterbrechung einer Bahn BM nicht
das Mindeste gemein haben.
Bei näherer Betrachtung dieser Fälle ergibt sich uns
aber ein anderer wichtiger Gesichtspunkt, der auch für
andere Sprachstörungen in Betracht kommen dürfte. Es ist
allgemein bekannt, dass die motorische • Aphasie in der
grössten Mehrzahl der Fälle auf Erweichung beruht. Nun
ist es gewiss ein beachtenswerthes Zusammentreffen, dass
die Fälle von sogenannter transcorticaler motorischer
Aphasie, die ich im Vorstehenden erwähnt habe, durch-
wegs auf Läsionen anderer Natur zurückgehen, bis auf
l ) Die Beschreibung dieser beiden Fälle bei Hammond ist nicht
vollständiger, als ich sie wiedergegeben habe. Da indes Lichtheim den
ersten derselben als transcorticale motorische Aphasie anerkennt, wage ich
dasselbe für den zweiten.
Pnnnl^ Original f rann
jy ijUUglt UNI VERSITY OF CALIFORNIA
kommt bei motorischen und sensorischen Läsionen vor. 29
den Fall Heubner's, der eine sensorische Läsion aufweist.
Der Musterfall Lichtheim's selbst ist traumatischer
Natur, desgleichen die beiden Fälle von Hammond. Im
Falle Magnan's handelte es sich endlich um einen
Tumor. 1 ;
Nun wissen wir, dass die Theile des Gehirns, deren
Erkrankung sich überhaupt durch Symptome verräth, uns
immer nur Localsymptome ergeben, wobei es uns über-
lassen ist, aus Nebenumständen des Falles oder aus dem
Verlaufe der Affection die Processdiagnose zu errathen.
Der Sprachapparat aber verfügt über einen solchen Eeich-
thum an symptomatischen Ausdrucksweisen, dass wir von
ihm allein erwarten könnten, dass er nicht nur die Locali-
tat, sondern auch die Natur der Läsion durch die Art und
Weise der Functionsstörung verrathen wird. Vielleicht
gelingt es uns also einmal, Aphasien durch Blutung von
solchen durch Erweichung klinisch zu trennen, und eine
Reihe von Sprachstörungen als charakteristisch für beson-
dere Processe im Sprachapparat zu erkennen.
Für die sogenannte transcorticale motorische Aphasie
ist jedenfalls als erwiesen zu nehmen, dass ihre Existenz
nichts für die Annahme einer Bahn für das spontane
Sprechen BM beweist. Diese Form der Sprachstörung
erfolgt entweder aus Läsionen der sensibeln Sprach-
bezirke oder aus besonderen Erkrankungszuständen des
motorischen, durch welche das motorische Sprachcentrum
*) Der Fall von transcorticaler motorischer Aphasie, auf den sich
Lichtheim selbst beruft (von Farge, vgl. Kussmaul, p. 49, und
Nothnagels Topische Diagnostik, p. 358), ergab einen Erweichungsherd
„im Marklager links in der Nähe der dritten linken Stimwindung". Noth-
nagel bestreitet, dass dieser Fall für sich allein etwas für die Herkunft
der Aphasie von Herden im Marklager beweise, da der Tod- am 20. Tage
erfolgt sei, zu welcher Zeit Fernwirkungen von Seiten des Herdes auf die
— an sich nicht notwendigerweise anatomisch veränderte — dritte
Stirnwindung nicht ausgeschlossen seien.
Pnnnl^ Original f rann
jy ijUUglt UNI VERSITY OF CALIFORNIA
30 Sie beruht auf einem herabgesetzten Functionszustand des motorischen
in einen gegen den normalen herabgesetzten Func-
tionszustand versetzt wird. 1 )
Charlton Bastian 2 ), der für die sogenannte trans-
corticale motorische Aphasie Lichtheim's dieselbe Er-
klärung gibt wie wir, unterscheidet nämlich drei Zustände
von verminderter Erregbarkeit eines Centrums. Die leichteste
Herabsetzung zeigt sich darin, dass dieses Centrum nicht
mehr auf „willkürliche" Anregung reagirt, wohl aber noch
auf Anregung auf dem Wege der Association von einem
anderen Centrum her und auf directen sensibeln Reiz. Bei
stärkerer functioneller Schädigung ergibt es nur noch
eine Reaction auf directen sensibeln Reiz, und endlich auf
der tiefsten Stufe versagt auch dieser. Für die transcorti-
cale motorische Aphasie müsste man also annehmen, dass
das motorische Centrum noch auf directe sensible Erregung
zur Thätigkeit zu bringen ist, während eine „willkürliche"
Anregung dies nicht mehr vermag, und da dies motorische
Centrum immer durch Association mit dem akustisch sen-
sorischen angeregt wird, kann die Ursache der Erregbar-
keitsveränderung im sensorischen Centrum ebensowohl
wie im motorischen selbst gelegen sein.
Wir merken jetzt, dass wir dazu gelangt sind, eine
klinisch beobachtete Form von Sprachstörung, anstatt durch
eine localisirte Bahnunterbrechung, durch eine Annahme
über eine Veränderung des functionellen Zustandes zu
erklären. Da dieser Schritt ein so wichtiger für die
gesammte Auffassung der Aphasie ist, wollen wir uns zu
*) Eine Zusammenstellung der sechs ätiologisch ergründeten FäUe
von transcorticaler motorischer Aphasie ergibt: 1. Lichtheim, Trauma,
Rinden quetschung an unbekannter Stelle; 2. Farge: Fernwirkung auf die
motorische Region durch benachbarten Erweichungsherd; 3. Heubner:
Erweichung im sensorischen Gebiet; 4. Magna n: Tumor, der bis an die
Broca'sche Stelle reicht; 5. Hammond L: Traumatische Blutung über der
motorischen Stelle; 6. Hammond IL: Trauma, Hemmung der motorischen
Stelle durch einen in ihr steckenden Knochensplitter.
2 ) Charlton Bastian, On different kinds of Aphasia. British
Medical Journal, Oct. 29. u. Nov. 5. 1887.
Pnnnl^ Original f rann
jy V^UUglt UNI VERSITY OF CALIFORNIA
Sprachcentrums. — Die drei Stufen der Erregbarkeit nach Ch. Bastian. 31
unserer Versicherung wiederholen, dass wir genöthigt
waren, die localisatorische Erklärung fallen zu lassen, weil
die Sectionsbefunde (Heubner, Hammond) ihr wider-
sprachen- Die Annahme, zu welcher wir uns mit Ch. Bastian
entschlossen haben, erscheint uns als ein ungezwungener
Ausdruck der Thatsache, dass das Nachsprechen jedesmal
länger erhalten bleibt als das spontane Sprechen. Wir
werden späterhin Thatsachen kennen lernen, die uns auch
erweisen, dass die associative Action eines Centrums
minder leicht verloren geht, als die sogenannte „spontane".
Die Annahme Bastian' s hat zunächst allerdings etwas
Befremdendes; sie steht einem Gedankengang, der sich
mit circumscripten Läsionen und deren Wirkungen be-
schäftigt, als etwas Unvermitteltes gegenüber. Eine Herab-
setzung der Erregbarkeit in einem Centrum, sollte man
zunächst meinen, bedürfte zu ihrer Erklärung ja keiner
Läsion, sie erscheint uns als ein rein „functioneller"
Zustand. Dies ist richtig und es mag ähnliche Zustände
wie die transcorticale motorische Aphasie geben, welche
in Folge blos functioneller Schädigung ohne organische
Läsion entstanden sind. Wenn man sich aber das Ver-
häitniss von „organischer Läsion" und „Functionsstörung"
klarer macht, muss man einsehen, dass eine ganze Reihe
von organischen Läsionen sich nicht anders kundgeben
kann als durch Functionsstörungen, und die Erfahrung
zeigt, dass diese Läsionen in der That nichts anderes
machen. Seit Jahrzehnten von dem Bestreben geleitet, die
Störungen, welche uns die Klinik bietet, zur Kenntniss der
Localisation der Functionen zu verwerthen, haben wir uns
gewöhnt von einer organischen Läsion zu fordern, dass
sie einen Theil der Elemente des Nervensystems völlig
zerstöre und die anderen völlig ungeschädigt lasse, weil
sie nur dann für unsere Zwecke verwerthbar wird. Nur
wenige Läsionen erfüllen, diese Bedingungen. Die aller-
meisten sind nicht direct destructiv und ziehen eine grössere
Anzahl von Elementen in das Bereich ihrer störenden
Wirkung.
Pnnnl^ Original f rann
jy ijUUglt UNI VERSITY OF CALIFORNIA
32 ßeaction des Sprachapparates auf unvollständig destruirende Läsionen.
Ferner ist das VerMltniss einer unvollständig destrui-
renden Läsion zu dem Apparat, den sie befallen hat,
ins Auge zu fassen. Es sind hier zwei Fälle denkbar,
die sich auch in Wirklichkeit vorfinden. Entweder der
Apparat zeigt sich durch die Läsion in einzelnen Theilen
verstümmelt, während die erhaltenen Theile desselben in un-
veränderter Weise functioniren, oder er reagirt als Ganzes
solidarisch auf die Läsion, lässt nicht den Ausfall einzelner
Theile erkennen, sondern erweist sich in seiner Function
geschwäcfit; er antwortet auf die unvollständig de-
struirende Läsion mit einerFunctionsstörung, die
auch durch nicht materielle Schädigung zu Stande
kommen könnte. Der centrale Apparat für die obere Ex-
tremität zeigt uns z. B. beiderlei Reactionsweisen. Wenn sich
eine kleine organische Läsion in der vorderen Centralwindung
befindet, so kann deren Wirkung in der isolirten Lähmung,
etwa der Daumenmuskeln, bestehen. Gewöhnlicher ist es
aber, dass sich die Wirkung als Parese massigen Grades des
ganzen Armes offenbart. Der Sprachapparat scheint nun in
allen seinen Theilen die zweite Art der Reaction gegen
nicht destructive Läsionen zu zeigen, er antwortet auf eine
solche Läsion solidarisch (wenigstens partiell solidarisch)
mit einer functionellen Störung. Es kommt z. B. nie vor, dass
in Folge einer kleinen Läsion im motorischen Centrum hun-
dert Worte verloren gehen, deren Natur blos vom Sitze der
Läsion abhängt. Es lässt sich jedesmal zeigen, dass der
partielle Verlust Ausdruck einer allgemeinen functionellen
Herabsetzung dieses Centrums ist. — Es ist übrigens nicht
selbstverständlich, dass die Sprachcentren sich in dieser
Weise verhalten, und wird uns später zu einer ganz be-
stimmten Vorstellung vom Baue dieser Centren verhelfen.
Ehe ich diese Erörterung über die motorische Aphasie
abbreche, muss ich zweier Punkte gedenken, die hier die
passendste Erledigung finden. Wenn die transcorticale
motorische Aphasie das Symptom eines Zustandes ist,
welcher zwischen der Norm und der völligen Unerregbar-
Pnnnl^ Original f rann
jy ijUUglt UNI VERSITY OF CALIFORNIA
Logoplegie. 33
keit liegt, so muss man erwarten, dass sich dieses Symptom
bei motorischer Aphasie einstelle, wenn dieselbe in Besse-
rung übergeht, dass also motorisch Aphasische früher und
besser nachsprechen lernen, ehe sie wieder spontan sprechen.
Ich glaube, dass ein Fall von Ogle 1 ) diesen Charakter er-
kennen lässt; im Uebrigen war ich nicht im Stande, zahl-
reiche Bestätigungen für meine Erwartung zu sammeln. Ich
darf sagen, dass die Aufmerksamkeit der Beobachter sich
diesem Punkte nicht zugewendet hat.
Ferner muss ich einen Einwand berücksichtigen, den
gewiss jeder der Leser bereits bei sich gemacht hat.
Wenn das spontane Sprechen auf dem Wege BAM über
die Klangbilder vor sich geht, so müsste ja jede sensorische
Aphasie den Verlust der spontanen Sprache, nicht blos
eine Störung derselben nach sich ziehen. Wie ist es zu
erklären, dass bei sensorischer Aphasie noch so reichlich,
wenn auch nicht richtig gesprochen wird?
Ich kann die Schwierigkeit nur anerkennen und durch
den Hinweis auf eine andere Schwierigkeit beantworten.
Es gibt Fälle von Logoplegie, gleichzeitiger Aufhebung des
Sprachverständnisses und der Sprachäusserung, in denen
wir unsere Forderung von Verlust der spontanen Sprache
bei sensorischer Aphasie erfüllt sehen könnten. Sie beruhen
aber auf mehrfachen oder ausgedehnten Läsionen, die
motorisches und sensorisches Gebiet gleichzeitig betreffen.
Diese Fälle pflegen klinisch einen ganz besonderen Verlauf
zunehmen. Die sensorische Störung bessert sich nämlich, und
in einem späteren Stadium ergibt der Kranke das Bild einer
rein motorischen Aphasie. Es kann auch vorkommen, dass
ein Krankheitsfall von vorneherein als motorische Aphasie
auftritt, während man bei der Section findet, dass nicht
nur die Broca'sche Stelle, sondern ein grosser Theil des
übrigen Sprachbezirkes, darunter die Wernicke'sche Stelle
*) Bei Bastian, On the various forms of loss öf speech in cerebral
disease. British and Foreign Med.-Chir. Review, Jan. 1869.
2 ) VgU Ross 1. c.
Freud, Apha»ie. 3
Pnnnl^ Original f rann
jy ijUUglt UNI VERSITY OF CALIFORNIA
34 Zerstörung der Wernicke'schen Stelle ohne Worttaubheit.
mit zerstört ist. Kahler 1 ) hat einen dieser nicht seltenen
Fälle mitgetheilt und die übrigen zusammengestellt. Man
kennt also mit Sicherheit Zerstörung des sensorischen
Centrums A ohne Worttaubheit, wenigstens ohne bleibende,
wenngleich jede Worttaubheit auf Läsion dieses Centrums
zu beziehen ist. Wie dieser Widerspruch zu lösen ist,
kann ich vorläufig nicht angeben; ich vermuthe blos, dass
dessen Klärung auch die Antwort auf die vorhin gestellte
Frage, warum sensorische Aphasie nicht immer von völligem
Verlust der Sprache gefolgt ist, mit sich bringen würde.
Vom Standpunkte der Theorie der Sprachcentren müsste
man aussagen, dass uns die Ausdehnung des Centrums A
noch nicht sicher genug bekannt ist.
Es kommt übrigens sensorische Aphasie ohne jede
Sprachstörung vor, mit geringer paraphasiseher, mit hoch-
gradiger Sprachverarmung und mit Sprachentartung bis
zum Kauderwelsch. Nach Allen Starr 2 ) soll es nicht
möglich sein, diese Verschiedenheiten in der Beein-
trächtigung der motorischen Sprachfunction aus einer ver-
schiedenen Localisation der Läsion im sensibeln Bezirke
zu erklären. Vielleicht, dass einige später vorzubringende
Bemerkungen etwas zur Aufklärung dieser Schwierigkeit
beitragen werden.
IV.
Etwa gleichzeitig mit jener Arbeit Lichtheim's,
welche die localisatorische Erklärung der Sprachstörungen
so consequent durchführte, wurde ein Vortrag von Grashey 3 )
bekannt, welchem man bald eine fundamentale Bedeutung
für das Verständniss der Aphasie nachrühmte, ohne dass
übrigens seither Viele auf den so geschaffenen Grundlagen
*) Kahler, Casuistische Beiträge zur Lehre von der Aphasie. Prager
med. W., Nr. 16 und 17, 1885.
2 ) Allen Starr, The pathology ofsensory aphasia, with an analysis
of fifty cases in which Broca's centre was not diseased. Brain, XII. 1889.
3 ) Grashey, Ueber Aphasie und ihre Beziehungen zur Wahr-
nehmung. Archiv f. Psychiatrie, XVI. 1885.
Pnnnl^ Original from
jy V^UUglt UNI VERSITY OF CALIFORNIA
Amnestische Aphasie. 35
weitergebaut hätten. Grashey's Krankheitsfall zeigte bis
auf einen einzigen Punkt keine Besonderheiten ; es handelte
sich um einen 27jährigen Mann, der sich in Folge eines
Sturzes von der Treppe eine Schädelfractur zugezogen hatte,
auf dem rechten Ohr nahezu vollständig taub war, Geruch
und Geschmack verloren hatte, mit dem rechten Auge nur
noch Handbewegungen wahrnahm, links % Sehschärfe und
ein concentrisch eingeschränktes Gesichtsfeld hatte. Facialis
und Hypoglossus, sowie die gesammte Körpermusculatur der
rechten Seite waren paretisch. Ausserdem zeigte der
Kranke eine Störung der Sprache, die sich unmittelbar
nach der Verletzung als Worttaubheit kundgab. Zur Zeit,
da ihn Grashey seiner Beobachtung unterzog, war sein
Sprachvermögen sehr weit hergestellt und liess blos
einige der gewöhnlichsten Störungsreste erkennen. Der
Kranke konnte zusammenhängend sprechen, gebrauchte
alle indifferenten Eedetheile ohne Schwierigkeit, auch
manche Zeitwörter und Beiwörter, fand im Redefluss auch
hie und da ein Substantiv, stockte aber bei den meisten
derselben und half sich durch Umschreibungen („Dingsda").
Er erkannte jedes Object, das er vor seiner Erkrankung
erkannt hatte, fand aber niemals den Namen dafür. Sein
Sprachverständniss war intact.
Die Unfähigkeit, im Redefluss Substantiva zu gebrauchen
und erkannte Gegenstände mit Namen zu bezeichnen, ist
wie gesagt eines der gemeinsten Symptome der sogenannten
amnestischen Aphasie, die von älteren Autoren neben
der ataktischen Aphasie unterschieden wurde. 1 )
Das Verhältniss dieser amnestischen Aphasie zu den
Arten von Sprachstörung, welche man durch Bahnunter-
brechung charakterisiren konnte, hatte der Auffassung
immer Schwierigkeiten bereitet. Allerdings begreiflicher-
weise, da die eine Aufstellung auf einem psychologischen,
die andere auf einem anatomischen Gesichtspunkte beruhte.
*) Die Unterscheidung von amnestischer und ataktischer Aphasie ist
1866 von Sanders aufgestellt worden.
3
Pnnnl^ Original f rann
jy V^UUglt UNI VERSITY OF CALIFORNIA
36
Der Fall von Grashey.
Lichtheim hielt es für unstatthaft, die Amnesien den
anderen Formen von Sprachstörung gleich zu stellen; er
meinte, Amnesie sei eine häufige Begleiterscheinung der
von ihm beschriebenen Typen und deren Rückbildungs-
zustände, sie sei aber kein Herdsymptom und zeige sich
bei diffuseren krankhaften Processen, bei allgemeiner
Fig. 6.
GeschrieienesWo
Äuge
Das Schema, an welchem Grashey die Functionstörung seines Kranken
erläutert. In demselben bedeutet: Ä das Centrum für Klangbilder; B das
Centrum für Objectbilder; C das Centrum für Symbole, d. h. für geschriebene
oder gedruckte Buchstaben, Worte und Zahlen; D das Centrum für die
Bewegungsvorstellungen der Sprache ; F die Kerne der Phonations- und
Articulationsnerven; G das Centrum für die Bewegungsvorstellungen des
Schreibens; H die Kerne der beim Schreiben fungirenden motorischen
Nerven.
Circulationsstörung im Gehirn oder als Zeichen der senilen
Rückbildung der Hirnthätigkeit.
Die Forderung, bei einer ganzen Classe von Sprach-
störungen jene Gesichtspunkte der Localisation beiseite zu
lassen, die man für eine andere als allein massgebend erklärt
hatte, hat nun zunächst nichts Einleuchtendes. Grashey
unternahm es vielmehr, die Charaktere seines Falles von
amnestischer Aphasie an der Hand des hier beistehenden
Schemas zu analysiren (Fig. 6) und gelangte zu dem Schlüsse,
dass derselbe aufzuklären sei, wenn man annehme, dass die
Bahn von den Klangbildern zu den Objectbildern frei, die
y f
Google
Original from
UNIVERSITYOF CALIFORNIA
Abweisung der ldcalisatorischen Erklärung. 37
zu den Klangbildern aber durchbrochen sei. Dann wäre
der Kranke zwar fähig, ein ihm vorgesagtes Wort richtig
auf das bezeichnete Object zu beziehen, aber unfähig, für
ein vorgezeigtes Object das Klangbild zu finden.
Sein Verdienst bestand nun darin, dass er diesen Er-
klärungsversuch wieder mit den Worten verwarf: „Auf diese
Weise Hesse sich schliesslich jedes Symptom erklären .... ich
habe mich daher mit der willkürlichen Ein- und Ausschaltung
leitungsfähiger Verbindungsbahnen nicht begnügt, sondern
den Kranken eingehender untersucht und gefunden, dass
die anscheinend normalen Centren .... in ihren Func-
tionen erheblich gestört sind "
Sein Kranker zeigte nämlich eine auffällige Unfähig-
keit, „Objectbilder, Klangbilder und Symbole", wie Grashey
sich ausdrückt, durch längere Zeit festzuhalten. Zeigte
man ihm einen Gegenstand, den er wohl erkannte, und
forderte ihn einen Moment später auf, den gezeigten
Gegenstand zu berühren, so hatte er unterdes vergessen,
welches der Gegenstand war; sagte man ihm ein Wort
vor, lenkte ihn durch ein anderes ab und verlangte dann
von ihm, das erstere Wort nachzusprechen, so hatte er es
jedesmal vergessen und nur das letzte Wort im Gedächt-
niss u. s. w. Er war darum auch unfähig, successive und in
merklichen Zwischenräumen entstehende „Objectbilder,
Klangbilder, Tastbilder und Symbole" zu einem Ganzen
zusammenzufassen und als Ganzes zu percipiren. Bedeckte
man das Bild eines ihm bekannten Objectes mit einem
Blatt Papier, in dessen Mitte eine Spalte geschnitten war,
und verschob letztere so, dass das Bild nur successive
sichtbar wurde, so konnte er das Bild aus den so erhaltenen
Theileindrücken nicht zusammensetzen; entfernte man das
Blatt Papier, so übersah er das Bild als Ganzes und er-
kannte es sofort. Bedeckte man ein geschriebenes oder
gedrucktes Wort in derselben Weise, so dass dessen
Buchstaben nur einzeln und successive sichtbar wurden,
so sprach er nacheinander alle Buchstaben aus, konnte
in umgekehrter Richtung leitende, von den Objectbildern
Pnnnl^ Original f rann
jy ijUUglt UNI VERSITY OF CALIFORNIA
38 Erklärung desselben durch Verkürzung in der Dauer der Perception.
aber das Wort nie lesen, weil er beim letzten Buchstaben
alle früheren vergessen hatte.
Aus dieser allgemeinen Schädigung der Perception
erklärte nun Grashey die Sprachstörung seines Kranken,
ohne eine localisirte Läsion annehmen zu müssen. Ein Object,
führt er aus, kann vom Auge auch bei momentaner Einwirkung
des Lichtes wahrgenommen werden; ein Klangbild braucht
zu seiner Auffassung eine längere Zeit, weil es für unser
Ohr ein werdendes, successive entstehendes Object ist.
Sinkt die Dauer des Objecteindruckes auf 0*06 Secunden
herab, so kann dieses noch als Ganzes erfasst werden,
während das dazugehörige Klangbild in derselben Zeit
nur in seinem ersten Bachstaben erfasst werden kann.
Objectbild und Klangbild entsprechen einander aber nicht
Theil für Theil, vom Worte „Pferd" entspricht z.B. der Klang
„P" keinem Theile vom Objecte Pferd; das Klangbild
muss erst fertig geworden sein, ehe es eine Beziehung auf
das Object erfahren kann. „Soll also von einem Objectbild
ein Klangbild hervorgerufen werden, so muss das Object-
bild fertig sein und so lange dauern, bis successive die
einzelnen Theile des Klangbildes entstanden sind. Sinkt
die Dauer des fertigen Objectbildes Pferd auf den Werth von
0*06 Secunden, so kann von diesem Objectbild aus höchstens
noch ein einzelner Theil, ein Buchstabe des Klangbildes
hervorgerufen werden." — „Soll umgekehrt von einem
Klangbilde ein Objectbild hervorgerufen werden, so kann
ebenfalls kein Theil des entstehenden Klangbildes irgend
einen Theil des Objectbildes erregen, weil die Theile
dieser Bilder einander nicht entsprechen. Das Klangbild
muss vielmehr fertig sein und so lange dauern, bis das
Objectbild entstanden ist." Da das Objectbild zu seiner
Entstehung aber nur eines Momentes bedarf, so
kommt es auch bei verkürzter Dauer des Klang-
bildes zu Stande.
„Man sieht also," schliesst Grashey, „dass durch eine
und dieselbe Störung der Uebergang von den Objectbildern
zu den Klangbildern alterirt, der Uebergang von den
Pnnnl^ Original f rann
jy ijUUglt UNI VERSITY OF CALIFORNIA
Namenfinden vom Anfangsbuchstaben. 39
Klangbildern zu den Objectbildern aber nicht alterirt wird."
Wir fügen hinzu: ohne Annahme einer Läsion in irgend
einer Bahn oder einem Centrum.
Grashey's Kranker zeichnete sich noch durch eine
andere Eigenthümlichkeit aus. Er konnte die Namen, die
ihm fehlten, schreibend finden, wenn er dabei das Object
im Auge behalten durfte. Er sah auf das Object und schrieb
dann den ersten Buchstaben des Namens nieder, las ihn
ab und sprach ihn beständig aus, dann sah er von Neuem
aufs Object, schrieb den zweiten Buchstaben nieder, sprach
beide gefundenen Buchstaben aus und fuhr so fort, bis
er den letzten Buchstaben und damit den gesuchten Namen
gefunden hatte. Dies eigenthümliche Verfahren erklärte
sich befriedigend aus der kurzen Dauer der einzelnen
Eindrücke, wenn man bedachte, dass das Niederschreiben
und Ablesen des gefundenen Buchstabens Mittel waren,
um den flüchtigen Eindruck zu fixiren. Grashey konnte
mit Eecht aus dieser Beobachtung schliessen, dass die
Klangbilder, Schriftbilder und Lesebilder einander Theil
für Theil entsprechen, und dass deren Association also
noch zur Wortfindung führen kann, wenn die Dauer der
einzelnen Sinneseindrücke beträchtlich herabgesunken ist.
Somit schien es erwiesen, dass es Fälle von Aphasie
gibt, in denen man nicht auf localisirte Läsion zu greifen
braucht, sondern die sich in ihren Eigenthümlichkeiten
aus einer Abänderung einer physiologischen Constanten
des Sprachapparates erklären. Die „Grashey ' sehe Aphasie"
liess sich scharf den von Wernicke-Lichtheim be-
schriebenen, auf Localisation von Läsionen beruhenden
Aphasien gegenüberstellen und man hatte die Hoffnung,
andere Formen von „amnestischer Aphasie" durch die
Aufdeckung anderer functioneller Momente als die Ver-
kürzung der Dauer der Sinneseindrücke zu erklären.
Indes hat Wer nicke 1 ) selbst durch eine scharfsinnige
Kritik diese principielle Bedeutung der Grashey'schen
*) Wernicke, Die neueren Arbeiten über Aphasie. Fortschritte d.
Medicin 1885, pag. 824; 1886, ^pag, 871, 463.
Pnnnl^ Original f rann
jy ijUUglt UNI VERSITY OF CALIFORNIA
40 Kritik der Erklärung Grashey 's.
Analyse vernichtet. Er macht darauf aufmerksam, dass man
das Klangbild ja nicht als aus Buchstaben bestehend
hört. Der Klang ist etwas Ganzes, dessen Zerlegung in
Buchstabenklänge erst später im Leben zum Zweck des
Einvernehmens mit der Schriftsprache erfolgt. Es entging
Wernicke auch nicht, dass die Auffassung Grashey's
einem anderen gewichtigen Bedenken ausgesetzt war.
Wenn der Kranke darauf angewiesen war, den Klang des
Wortes aus den Buchstabenklängen zusammenzusetzen, so
konnte sein Hören nicht besser sein als sein Lesen, er
hätte unfähig sein müssen, auch nur ein Wort zu verstehen,
ohne es durch Schreiben zu fixiren. Wernicke drückte
diesen Einwand folgendermassen aus: „Derselbe Kranke r
der, wenn ihm verschiedene Objecte oder auch Buchstaben
nacheinander gezeigt werden, jedesmal über dem zweiten
den ersten vergisst, kann fliessend lesen, versteht Alles,
was zu ihm gesprochen wird, kann Wörter auf Dictat
schreiben. Um ein Wort, einen Satz zu verstehen, muss
der Klang mehrerer Buchstaben, bei Sätzen der Klang
vieler Wörter dem Patienten so lange im Gedächtniss haften,
bis der Sinn des Satzes verständlich zum Ausdruck gekommen
ist. Die Klangbilder haben also hier eine viel längere
Dauer als die optischen Objectbilder, und die Gedächtniss-
störung ist in gewissem Sinne localisirt, indem sie vor-
zugsweise das optische Gebiet betroffen hat" (p. 470).
Wir nehmen es zur Kenntniss, dass Wernicke den
Fall Grashey's nicht anders als durch eine localisirte
(also ungleichmässige) Functionsstörung zu erklären weiss.
Allein wir können nicht zugestehen, dass die Versetzung
dieser Störung ins optische Gebiet die Eigenthümlichkeit
der Grashey'schen Beobachtung befriedigend aufklärt.
Wir erinnern uns z. B., dass Grashey die ausserordent-
liche kurze Dauer auch der Klangbilder für seinen Fall
direct erwiesen hat. Ferner wäre, wenn nicht die Dauer
der Klangbilder in massgebender Weise verringert ist,
nicht zu verstehen, wozu der Kranke der Fixirung des
gefundenen Buchstabens durch Schreiben und Ablesen bedarf;
Pnnnl^ Original f rann
jy ijUUglt UNI VERSITY OF CALIFORNIA
Die Annahme einer localisirten Läsion ist nicht zu vermeiden. 41
er müsste zum ganzen Klangbild ohne weitere Hilfe
gelangen, wenn er den Objecteindruck genügend oft
erneuert.
Der Fall Grashey's erfordert also eine andere Er-
klärung, und ich hoffe, dass die jetzt anzuführende sich
unanfechtbar erweisen wird. Die allgemeine Herabsetzung
in der Dauer der Sinneseindrücke kann thatsächlich nicht
zu einer Sprachstörung wie zu der in Eede stehenden
führen, Sieger 1 ) hat einen Kranken mit ganz ähnlicher
Gedächtnissstörung (gleichfalls in Folge eines Traumas)
aufs genaueste untersucht und auch dessen Sprachstörung
die gebührende Aufmerksamkeit geschenkt. Dieser Kranke
hatte im Eedefluss Schwierigkeiten, Hauptwörter und
Adjectiva zu finden und bedurfte beständigen Zuredens,
um den Namen für ein gesehenes Object zu sagen. Er
fand das gesuchte Wort aber immer, nur nach einer
langen Pause, und diese Pause wurde nicht dazu ver-
wendet, das Wort buchstabirend zu suchen, sondern es explo-
dirte auf einmal (p. 69). Zur Erklärung des Grashey-
schen Falles müssen wir also nebst der allgemeinen
Gedächtnissschwäche eine localisirte Störung an-
nehmen und diese ins Centrum der Klangbilder verlegen.
Es liegt dann der Fall vor, den Bastian als zweite
Stufe der geminderten Erregbarkeit anführt, dass ein
Centrum der normalen („willkürlichen") Anregung nicht
mehr folgt, aber noch auf Association und sensible An-
regung leistungsfähig ist. Das Klangbildercentrum kann
im Falle Grashey's nicht mehr direct von den Object-
associationen erregt werden, gestattet aber noch die
Fortleitung der Erregung zu dem mit dem Klangbild asso-
ciirten Lesebild. Von diesem kann während des Momentes,
da die vom gesehenen Object ausgehende Erregung wirkt,
der erste Theil (Buchstabe) erkannt werden, und durch
l ) Eieger, Beschreibung der Intelligenz Störung in Folge einer Hirn-
verletzung nebst einem Entwurf zu einer allgemein anwendbaren Methode
der Intelligenzprüfung. Würzburg 1888.
Pnnnl^ Original f rann
jy ijUUglt UNI VERSITY OF CALIFORNIA
42 Erklärung des Falles von Grashey durch
Wiederholung dieses Ablaufes die übrigen; die so zusammen-
gesuchten Buchstaben des Lesebildes erwecken dann das
Klangbild, das von den Objectassociationen aus nicht zu
erwecken war.
Meine Erklärung findet eine besondere Unterstützung
in dem Umstände, dass der Kranke G-rashey's anfanglich
worttaub war, also eine grobe Läsion an derselben Stelle
besass, die ich von einer geringfügigeren betroffen annehme,
um die von Grashey geschilderten Sprachstörungen zu
erklären. Ich nehme natürlich weiterhin an, dass gegen diese
Läsion der akustische Theil des Sprachapparates solidarisch
reagirte, wie ich es bei Besprechung der transcorticalen
motorischen Aphasie auseinandergesetzt habe.
Fälle wie der Grrashey's sind übrigens bereits früher
bekannt gewesen. Ein Kranker, dessen Beobachtung
Graves 1 ) berichtet, hatte seit einem Schlaganfalle das
Gedächtniss für Hauptwörter und Eigennamen verloren,
erinnerte sich aber mit vollkommener Sicherheit an deren
ersten Buchstaben. Er hatte es für zweckmässig gefunden,
sich eine alphabetisch geordnete Liste der meist gebrauchten
Hauptwörter anzufertigen, die er stets bei sich trug, und
mit Hilfe deren er sprach. Brauchte er ein Wort, so sah
er unter dem Anfangsbuchstaben nach, erkannte das
gesuchte Wort offenbar nach dem Lesebild und konnte es
nun aussprechen, so lange er die Augen auf das Lesebild
fixirt hielt. Sobald das Buch geschlossen war, hatte er
das Wort wieder vergessen. Es ist klar, dass auch dieser
Kranke über die fehlenden Worte vermittelst der Association
durch das Lesebild verfügte.
Der Fall, dass die Thätigkeit eines Centrums durch
die mit ihm associirte Thätigkeit eines anderen unterstützt
sein muss, wenn eine Sprachleistung erfolgen soll, ist in
der Pathologie der Sprachstörungen gar nicht selten
*) Vgl. Bateman, On aphasia or loss of speech etc. London 1870.
Pnnnl^ Original f rann
jy V^UUglt UNI VERSITY OF CALIFORNIA
Annahme einer Bastian'schen Modifikation im akustischen Centrum. 43
beobachtet worden. Am häufigsten tritt er für das
visuelle Centrum (den Ort der Buchstabenbilder) sein,
weshalb in solchen Fällen das Lesen unmöglich ist, wenn
nicht die einzelnen Buchstaben nachgeschrieben oder in
der Luft nachgezogen werden. Westphal hat zuerst eine
solche Beobachtung eines Aphasischen, der nur „schreibend
las", mitgetheilt; in den von mir übersetzten neuen Vor-
lesungen Charcot's 1 ) findet sich die ausführliche Kranken-
geschichte eines anderen Wortblinden, der sich desselben
Kunstgriffes bediente. Die Pathologie der Sprachstörungen
wiederholt hiermit einfach einen Zustand, der normaler-
weise während des Erlernens der Sprachfunctionen vor-
handen war. So lange wir noch nicht geläufig lesen konnten,
haben wir Alle uns der Kenntniss der Lesebilder durch
das Erwecken aller ihrer sonstigen Associationen zu ver-
sichern gesucht; desgleichen haben wir beim Schreibenlernen
neben dem Lesebild die Klangvorstellung und die motorische
Innervationsempfindung angeregt. Der Unterschied liegt nur
darin, dass wir beim Lernen an die bestehende Rang-
ordnung der Centren, welche zu verschiedenen Zeiten ihre
Function aufgenommen haben, gebunden sind (zuerst das
sensorisch-akustische, dann das motorische, später das
visuelle und zuletzt das graphische), während in patho-
logischen Fällen jenes Centrum am ehesten zur Hilfe-
leistung herangezogen wird, welches eben am leistungs-
fähigsten geblieben ist. Die Besonderheit der Fälle von
Graves und Grashey kann nur darin gesucht werden,
dass es hier gerade das Centrum der Klangbilder ist,
welches einer Unterstützung von Seiten anderer Centren
bedarf, die sonst in ihrer Thätigkeit von ihm abhängig sind.
Wenngleich die Untersuchung Grashey's also nicht
die Bedeutung behalten hat, die ihr anfanglich als einer
Aufklärung der amnestischen Aphasie mit Ausschluss der
Localisation zugesprochen wurde, so kann sie doch wegen
*) Charcot, Neue Vorlesungen über die Krankheiten des Nerven-
systems, insbesondere über Hysterie. Uebersetzt von Sigm. Freud,
Wien 1886, p. 137.
Pnnnl^ Original from
jy ijUUglt UNI VERSITY OF CALIFORNIA
44 Bedeutung der Arbeit Grashey 's füis Verständniss der Lesestörungen.
vieler Nebenbefunde einen bleibenden Werth beanspruchen.
Sie ist zuerst wieder auf das wirkliche Verhältniss der
Sprachcentren untereinander, auf deren Abhängigkeit von
dem Centrum der Klangbilder eingegangen, sie hat uns
zuerst eine Vorstellung von dem complicirten und viel-
fach in seiner Richtung geknickten Ablauf der Asso-
ciationen beim Sprachvorgange vermittelt, sie hat endlich
durch den Nachweis, dass nie anders als buchstabirend
gelesen wird, den richtigen Gesichtspunkt für die Be-
urtheilung der Lesestörungen unverrückbar festgestellt.
In letzterer Hinsicht ist vielleicht eine Einschränkung an-
zubringen. Es ist wahrscheinlich, dass bei gewissen Arten
zu lesen (zumal für gewisse Worte) auch das Objectbild
desganzen Wortes einen Beitrag zur Erkennung dessel-
ben leistet. So ist es zu erklären, dass Personen, die für
alle Buchstaben blind sind, doch ihren Namen oder ein ihnen
sehr geläufiges Wort im Drucke (Bezeichnung einer Stadt,
Heilanstalt u. s. w.) lesen können, und dass eine Kranke
Leube's 1 ) gelegentlich ein Wort, über dessen Buchstabiren
sie sich lange erfolglos abgemüht hatte, aussprach, sobald
das Wort ihr entzogen worden war, der Anlass zum
Buchstabiren also aufgehört hatte. Es ist anzunehmen,
dass sich ihr das Objectbild des gedruckten oder ge-
schriebenen Wortes unterdes tief genug eingeprägt hatte
(Leube's Erklärung).
Wir sind von einer Auffassung der Sprachstörungen
ausgegangen, welche die einen Formen von Aphasie durch-
wegs durch die Effecte beschränkter Läsionen von Bahnen
und Centren erklären wollte, während sie eine andere
Reihe von Aphasien ausschliesslich auf functionelle Ver-
änderungen im Sprachapparate zurückführte. Wir haben
an dem Beispiel der transcorticalen motorischen Aphasie
gezeigt, dass für diese die localisatorische Erklärung unzu-
*) Leube, Ueber eine eigenthümliche Form von Alexie. Zeitschrift
f. klin. Mediän XVIII, 1889.
Pnnnl^ Original f rann
jy V^UUglt UNI VERSITY OF CALIFORNIA
Bedeutung der Bastian'schen Modificationen. 45
lässig ist, sondern dass man auch hier auf Annahmen über
Functionsveränderung eingehen muss. Aus der Kritik des
Falles von Grashey haben wir hingegen geschlossen, dass
man die amnestischen Aphasien nicht anders als durch die
Annahme einer localisirten Läsion erklären könne. Wir fanden
ein Bindeglied zwischen beiden einander entgegengesetzten
Annahmen in der Vorstellung, dass die Centren des Sprach-
apparates gegennicht directdestructiveLäsionenmit
einer Functionsveränderung sozusagen solidarisch
reagiren, und haben als solche uns bekannte Aenderungen
der Function die drei Stufen der Unerregbarkeit nach
Bastian acceptirt, dass ein Centrum 1. überhaupt nicht
mehr, 2. nur auf sensibeln Eeiz, 3. noch in Association mit
einem anderen Centrum leistungsfähig ist. Da wir nun darauf
gefasst sind, in jedem beliebigen Falle von Sprachstörung
die Folgen einer Bahnunterbrechung neben einer Modifi-
cation des functionellen Zustandes zu finden, erwächst uns
die Aufgabe anzudeuten, nach welchen Kriterien wir ein
Symptom einer Sprachstörung auf die eine oder auf die
andere dieser Ursachen beziehen sollen. Ferner würde uns
obliegen, eine andere Auffassung der Sprachstörungen
durchzuführen, welche den von uns vorgebrachten Ein-
wänden nicht ausgesetzt ist.
Wir haben in einem der vorstehenden Abschnitte
gehört, dass der Theorie des Sprachvorganges von W er-
nicke eine ganz bestimmte Annahme über die Rolle der
„Centren" in der Hirnrinde zu Grunde gelegt wurde, und
dass die Klinik der Sprachstörungen gewisse Erwartungen,
welche man aus einer solchen Annahme ableiten möchte,
nicht rechtfertigt. Dies soll uns veranlassen, jene Theorie
selbst näher ins Auge zu fassen.
Wir sollen uns nach Wernicke vorstellen, dass es
an der Grosshirnrinde bestimmte (allerdings nicht genauer
abzugrenzende) Stellen gibt (z. B. die Broca'sche, die
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46 Centren der Hirnrinde durch unbesetztes Gebiet getrennt.
Wer nicke' sehe Stelle), in deren Nervenzellen die Vor-
stellungen, mit denen die Sprachfunction arbeitet, in irgend
einer Weise enthalten sind. Diese Vorstellungen sind Reste
von Eindrücken, welche auf der Bahn der Seh- und Hör-
nerven angelangt, oder welche bei den Sprachbewegungen
als Innervationsgefühl oder Wahrnehmung der ausgeführten
Bewegung entstanden sind. Je nach ihrer Herkunft von
einer dieser Quellen liegen sie in der Hirnrinde beisammen,
so dass eine Stelle alle „Wortklangbilder", die andere alle
„Wortbewegungsbilder" enthält u. s. w. Die Verbindung
dieser distineten Rindencentren wird durch weisse Faser-
massen (Associationsbündel) besorgt, und zwischen den
Centren befindet sich „unbesetztes Gebiet" der Hirnrinde,
nach Meynert's Ausdruck „functionelle Lücken". 1 )
Mit der letzten Bestimmung haben wir den Gedanken-
gang Wernicke's verlassen und ihn durch ein Detail
aus den Lehren Meynert's ergänzt. Wernicke, der bei
keiner Gelegenheit anzuführen versäumt, dass seine
Theorie der Aphasie nur eine Anwendung weitergehender
Lehren Meynert's ist, bevorzugte gerade in Betreff der
Sprachcentren anfänglich eine etwas abweichende An-
schauung. In seiner Schrift über den aphasischen Symptomen-
complex galt ihm noch die ganze erste Urwindung um
die Sylvi'sche Furche als Sprachcentrum ; in seinem
Lehrbuch der Gehirnkrankheiten dagegen sind die Sprach-
centren als Theile der ersten Stirnwindung und der ersten
Schläfenwindung dargestellt. (Fig. 7.)
Es erscheint mir zweckmässig, an dieser Stelle das
Meynert'sche Lehrgebäude über Gehirnbau und Gehirn-
leistung mit einigen Sätzen zu behandeln. Meine Dar-
stellung desselben, sowie der dagegen vorzubringenden
Einwände, wird eine blos flüchtige und skizzenhafte sein
und der hohen Bedeutung des Gegenstandes nicht ent-
sprechen können. Eine andere Art der Würdigung ginge
Meynert, Psychiatrie. Erste Hälfte 1884, p. 140.
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Die Meynert' sehe Lehre vom Grosshirn.
47
aber weit über den Rahmen dieser Arbeit hinaus, welche
nur von der Auffassung der Sprachstörungen handeln soll.
Insoferne letztere nicht unabhängig von einer allgemeineren
Auffassung der Grosshirnthätigkeit sein kann, sehe ich
mich doch genöthigt, die Frage nach der Bedeutung des
Grosshirns überhaupt wenigstens zu streifen.
Die Meynert'sche Lehre vom Gehirnbau verdient
den Namen einer „cortico-centrischen". In der ihm eigenen,
Fig. 7.
Nach Wer nicke, Lehrbuch der Gehirnkrankheiten, Bd. I, p. 206.
Fig. XX. Schema des corticalen Sprachmechanismus. F Stirnende, O Hinter-
haupts-, T Schläfenende einer linken Hemisphäre, FS Fissura Sylvii.
c Centralfurche, g vordere Occipitalfurche, i Interparietalfurche, k vordere
Occipitalfurche o Parieto-occipitalfurche, e Parallelfurche, 7—127 erste bis
dritte Stirnwindung, X X Uebergangswindungen, x sensorisches Sprach-
centrum, y motorisches Sprachcentrum, xy Associationsbahn zwischen beiden
Centren, ax Bahn des Akusticus, ym Bahn zur Sprachmusculatur.
weitgehenden Ausdeutung anatomischer Verhältnisse äussert
Meynert, dass die Hirnrinde durch die Aeusserlichkeit
ihrer Lagerung zum Umfassen, zum Aufnehmen der
gesammten Sinneseindrücke geeignet wird. 1 ) Sie wird von
ihm ferner einem zusammengesetzt protoplasmatischen
Wesen gleichgestellt, das einen Körper, dessen Bestand-
teile es sich assimiliren will, überzieht, indem es sich zu
*) Vgl. Meynert, Der Bau der Grosshirnrinde etc. Vierteljahrschrift
für Psychiatrie I, 1867.
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Google
Original from
UNIVERSITYOF CALIFORNIA
48 Verhältniss der Grosshirnrinde zum übrigen Gehirn.
einer Höhle umgestaltet. 1 ) Das gesammte übrige Gehirn
erscheint als Anhang und Hilfsorgan der Grosshirnrinde,
der gesammte Leib als eine Armirung ihrer Fühlfäden und
Fangarme, welche ihr die Bedingungen gewähren, das
Weltbild in sich aufzunehmen und auf dasselbe ein-
zuwirken.
Zur Hirnrinde nun führen alle Fasersysteme des
Gehirns oder gehen von ihr aus; alle grauen Massen
sind Unterbrechungen dieser Fasermassen auf ihrem Wege
zum Grosshirn. Das Rückenmark leitet sich aus der Gross-
hirnrinde durch einen zweifachen Ursprung ab, den ein
Querschnitt in der Hirnschenkelregion blosslegt. Der
sogenannte Fuss des Hirnschenkels enthält die Bahnen,
welche Bewegungsimpulse der Hirnrinde zur Peripherie über-
tragen, sowie die Bahnen, welche die Aufnahme von Sinnes-
eindrücken in die Hirnrinde vermitteln. Derselbe führt auf
diese Weise eine Projection des Körpers, insoferne letzterer
directer Abhängigkeit von der Hirnrinde unterliegt. 2 ) Die
sogenannte Haube des Hirnschenkels hingegen bringt der
Hirnrinde die Kenntniss von Reflexverknüpfungen im
Rückenmark und Hirnstamm und damit die erste Anregung
für eigene Bewegungsimpulse. Die grauen Massen des
Hirnstammes sind entweder, wie Vierhügel und Sehhügel,
durch ihre gleichzeitige Verbindung mit den Rückenmarks-
strängen und den grossen Sinnesoberflächen Bestandtheile
jenes reflectorischen Apparates, der durch die Haube mit
der Hirnrinde verbunden ist, oder sie unterbrechen
(Linsenkern-Streifenhügel) als Ganglien des Hirnschenkel-
fusses die directe Grosshirnbahn. Speciell die motorische
Bahn, welche die Körpermusculatur dem Einflüsse der
Hirnrinde unterwirft, verläuft von der Rinde zur Peripherie
in drei Abschnitten (Gliedern des Projectionssystemes),
welche durch zwei graue Knoten (Linsenkern-Schwanz-
kern und graue Substanz der Vorderhörner) geschieden
i) Ebd. und Psychiatrie, p. 127.
2 ) Meynert, Studien über die Bedeutung des zweifachen Kücken-
marksursprunges aus dem Gehirn. Wiener akad. Sitzgsb. LX. Bd. II, 1869.
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Abbildung des Körpers in der Hirnrinde. 49
werden. In der Brücke findet sie überdies vermittelst der
grauen Substanz der Brückenkerne und „schleuderförmiger"
Faserbündel eine Verbindung mit dem Kleinhirn, welches
sonst von dem Meynert'schen Gehirnplane etwas abseits
gelassen wird.
Wie gestaltet sich nun die Abbildung des Körpers in
der Gehirnrinde, welche durch solche Bahnen mit der
Peripherie verbunden ist? Meynert nennt diese Abbildung
eine „Projection", und einige seiner Bemerkungen lassen
schliessen, dass er in der That eine Projection, d. h. eine
Abbildung Punkt für Punkt, des Körpers in der Hirnrinde
annimmt. In diesem Sinne deutet z. B. der so häufige
Vergleich der Hirnrinde mit der Retina des Auges, einem
Endorgan, dessen Nervensubstanz von mehreren Autoren
ein „Stück vorgeschobenes Kindengrau" genannt wurde,
während dieselbe doch morphologisch einem Stücke Rücken-
marksgrau entsprechen müsste. Dem Verständniss einer
Projection im eigentlichen Sinne des Wortes günstig er-
scheinen ferner manche Bemerkungen, wie: „Es hat aller-
dings die höchste Unwahrscheinlichkeit, dass jedes einzelne
der, verschiedene Muskelmassen und Hautober-
flächen, Drüsen und Eingeweide vertretenden
Bündel des Hirnschenkels .... sich so weit hin zer-
streue, um auf der ganzen Rindenoberfläche durch Pro-
jection repräsentirt zu sein," 1 ) oder: „Ein Querschnitt durch
den Hirnschenkel umfasst gleichsam den ganzen Organis-
mus, der nur riechunfähig und blind wäre." -) Indes wieder-
sprechen andere Entwicklungen der Meynert'schen Lehre
ein£r solchen Annahme so sehr, dass ich mich nicht getrauen
möchte, dieselbe hier als die seinige zu bekämpfen. Da-
gegen wird man kaum irre gehen, wenn man voraussetzt,
dass Munk und andere Forscher, die auf Meynert'schein
Boden stehen, die Idee einer vollständigen und topographisch
ähnlichen Abbildung des Körpers in der Grosshirnrinde
mehr oder minder klar vertreten.
1 ) Meynert, Bau der Grosshirnrinde 1. c, p. 83.
2 ) Meynert, Kückenmarksursprang 1. c, p. 488.
Freud, Aphasie.
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jyviwglt UNIVERSITYOF CALIFORNIA
50 Berichtigungen der Lehre Meynert's
Ich darf nun darauf aufmerksam machen, dass die
neueren Erwerbungen der Gehirnanatomie die Meyner ti-
sche Auffassung des Gehirnbaues in wesentlichen Stücken
berichtigt, und damit die von ihm der Hirnrinde zugewiesene
Bolle in Frage gestellt haben. Diese Correcturen knüpfen
gerade an den Verlauf der bedeutsamsten und bestgekannten
Bahn von der Hirnrinde zur Körpermusculatur an. Zuerst
ist die Auffassung des Streifenhügels als eines die motorische
Bahn unterbrechenden Ganglions gefallen. Die Kliniker,
Charcot voran, haben gezeigt, dass eine Läsion desselben
ihren Einfluss auf die Motilität nur der Nachbarschaft mit
der sogenannten inneren Kapsel zu danken hat, während
Läsionen des Ganglions, die ohne Einfluss auf die innere
Kapsel sind, auch keine Lähmung zu erzeugen vermögen.
Wernicke 1 ) hat dann nachgewiesen, dass dieses sogenannte
Ganglion des Hirnschenkels einer irgend ausgiebigen Ver-
bindung mit der Hirnrinde entbehrt. Das erste Internodium
war somit aus dem Verlaufe derMeynert'schenProjections-
bahn herausgerissen. Das Studium der ungleichzeitigen
Markscheidenbildung bestätigte diese Auffassung und
brachte in Meynert's Auffassung des Gehirnbaues eine
neue Lücke. Flechsig konnte nachweisen, dass die
motorische Bahn von der Grosshirnrinde zur Musculatur
in der That ohne Unterbrechung vom Rindengrau durch
die innere Kapsel in den Hirnschenkel zieht, und dass sie
in der Brücke keinerlei Verbindung mit dem Kleinhirn
erfährt. Die Pyramidenbahn gilt uns jetzt als directe
Verbindung zwischen Vorderhorngrau und Grosshirnrinden-
grau; die von Meynert behauptete Einflechtung des
Kleinhirns in die motorische Bahn ist somit aufgegeben.
Von den grossen subcorticalen Massen gehört nur mehr
der Thalamus opticus der Grosshirnrinde zu, der auch bei
angeborenem Defect der Grosshirnlappen verkümmert;
während der Streifenhügel bei Grosshirndefect intact bleibt,
*) Wernicke, Lehrbuch der Gehirnkrankheiten, 1880 bis 1883,
I. Bd.
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durch neuere Funde der Gehirnanatomie. 51
aber bei angeborener Kleinhirnverkümmerung atrophirt. 1 )
Ein mächtiges Stück Gehirnsubstanz: Streifenhügel —
Brücke — Kleinhirn, stellt sich so dem Grosshirn gegen-
über als Organ unerkanter Function, nicht ohne ausgiebige
Verbindung mit dem Grosshirn, aber entwickelungsgeschicht-
lich und functionell ziemlich unabhängig von ihm. Die
Meynert'sche Deutung der zwei Etagen des Hirnschenkels
ist somit nicht mehr haltbar, ist übrigens bis jetzt durch
keine andere ersetzt worden. Wenn von einem zweifachen
Ursprung des Rückenmarkes die Rede sein soll, so kann damit
nur mehr ein Grosshirn-Thalamusursprung und ein Streifen-
hügel-Kleinhirnursprung gemeint werden. Der gesammte
Gehirnbau scheint eine Gipfelung in zwei Centralapparaten
aufzuweisen, von denen die Grosshirnrinde den jüngeren
darstellt, während der ältere des Vorderhirnganglions einen
Theil seiner Function beibehalten zu haben scheint. Auch
ein anderer wichtiger Bestandteil der Meynert'schen
Lehre, die Annahme einer zweifachen sensibeln Bahn, einer
directen und einer reflectorischen, scheint der Bekräftigung
entbehren zu müssen. Unsere bisherigen Erfahrungen lehren
uns, dass kein Faserzug an andere Hirntheile gelangt,
ohne mit dem Rückenmarksgrau oder ihm analogen Bildungen
in Verbindung getreten zu sein, und dass die reflectorischen
Bahnen überall unmittelbar von den sensibeln abgehen.
Erscheint so die dominirende Stellung der Grosshirn-
rinde erschüttert, und entsteht die Nöthigung, manche
früher für subcortical gehaltene Vorgänge in die Hirn-
rinde selbst zu verlegen, so stellt sich des Weiteren die
Frage zur Beantwortung, in welcher Art der Körper in
der Grosshirnrinde abgebildet ist. Ich glaube, es lässt
sich zeigen, dass die Annahme einer Projection des Körpers
auf die Hirnrinde im eigentlichen Sinne des Wortes, wor-
unter dann eine vollständige und topographisch ähnliche
Abbildung zu verstehen wäre, zurückgewiesen werden
kann.
x ) Flechsig, Plan des menschlichen Gehirns. 1883
4*
Pnnnl^ Original f rann
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52 Projection und Repräsentation.
Ich gehe dabei von einem Gesichtspunkte aus, den
noch Henle in der Betrachtung dieses Gegenstandes
gewürdigt hat, dem der Faserreduction durch graue
Massen. Vergleicht man nämlich die Summe der ins Rücken-
mark eintretenden Fasern mit jener der weissen Stränge,
welche zur Verbindung mit höheren Gehirntheilen das
Eückenmark verlassen, so zeigt sich, dass letztere Summe
nur einen Bruchtheil der ersteren ausmacht. Nach einer
Zählung Stilling's entsprachen in einem Falle 807.738
Fasern der Nervenwurzeln nur 365.814 Fasern in
einem Querschnitte des oberen Halsmarkes. Die Beziehungen
des Rückenmarkes zum Körper sind demnach anderer Art
als die Beziehungen der höheren grauen Massen. Im
Rückenmark allein (sowie in den ihm analogen grauen
Substanzen) sind die Bedingungen für eine lückenlose
Projection der Körperperipherie vorhanden; jeder peri-
pherischen Innervationseinheit kann im Rückenmark ein
Stück grauer Substanz, im äussersten Falle ein einziges
centrales Element entsprechen. In Folge der Reduction
der projicirenden Fasern durch das Rückenmarksgrau
kann von jeder höheren grauen Substanz ein Element nicht
mehr einer peripheren Einheit, sondern muss mehreren
derselben entsprechen. Dies gilt auch für die Grosshirn-
rinde, und daher empfiehlt es sich, diese beiden Arten von
centraler Abbildung auch durch verschiedene Namen zu
unterscheiden. Heisse die Abbildung im Rückenmarksgrau
eine Projection, so wird es vielleicht passend sein, die
Abbildung in der Grosshirnrinde eine Repräsentation zu
heissen und zusagen, die Körperperipherie sei in der
Hirnrinde nicht Stück für Stück enthalten, son-
dern in einer minder detaillirten Sonderung durch
ausgewählte Fasern vertreten.
Dieser bisher so einfache Gedankengang erfährt nun eine
weitere Ausführung und andere Richtung durch nachstehende
Bemerkungen :
Die Fasern des obersten Halsmarkquerschnittes sind
nicht sämmtlich für die Verbindung mit der Hirnrinde
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Faserreduction durch graue Massen. 53
bestimmt. Ein nicht geringer Theil derselben (kurze Bahnen)
wird sich noch bis zum Ende des Höhlengraues zwischen
den Nervenkernen der Oblongata erschöpfen, ein anderer
Theil gelangt ins Kleinhirn. Mit Bestimmtheit können wir
nur von der Pyramidenbahn aussagen, dass sie in der
gleichen Stärke, wie sie im Halsmark vorliegt, zum
Rindengrau gelangt, und diese Bahn ist gewiss eine sehr
erheblich reducirte Fortsetzung der Fasern, welche von
den Körpermuskeln durch die vorderen Wurzeln ins
Rückenmark gekommen sind. Die Reduction der projiciren-
den Fasern ist aber andererseits nicht so gross, als es
nach letzterer Erwägung scheinen sollte, denn z. B. für die
Fasern der Hinterstränge, welche als solche gewiss nicht
zur Grosshirnrinde gelangen, nimmt letztere die Fasern der
Schleife auf, welche nach vielfachen Unterbrechungen in
den Hinterstrangskernen, den grauen Massen der Oblongata
und des Thalamus, endlich im Grosshirn die Hinterstränge
vertreten. Es ist nicht bekannt, ob die Schleifenfaserung
die Hinterstränge an Faserzahl erreicht; wahrscheinlich
bleibt sie weit hinter derselben zurück. Ferner erhält das
Grosshirn Fasern aus dem Kleinhirn, in denen man ein
Aequivalent für die Kleinhirnursprünge des Rückenmarkes
sehen könnte, und so bliebe es trotz alledem noch zweifel-
haft, ob der Grosshirnrinde nicht schliesslich doch eben-
soviel oder mehr Fasern von der Peripherie — wenn auch
auf Umwegen — zukommen, als zur Projection im Rücken-
mark erforderlich war.
Es kommt aber hier noch ein anderer Punkt in
Betracht, der in der Darstellung Meynert's nicht klar
genug hervortritt. Für Meynert, der am Faserverlauf
hauptsächlich die Thatsache der Rindenverbindung hervor-
hebt, ist eine Faser oder Fasermasse immer noch die
nämliche, auch wenn sie durch noch so viele graue Sub-
stanzen gegangen ist. Seine Ausdrucksweise: „Die Faser
passirt eine graue Substanz", zeigt dafür. Dies erweckt
natürlich den Anschein, als hätte sich an der Faser auf
ihrem langen Wege bis zur Rinde nichts verändert, als
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54 Bedeutungsänderung der Fasern auf ihrem Wege zur Rinde.
dass sie in mehrere Verbindungsmöglichkeiten einge-
treten sei.
Wir können diese Anschauung nicht mehr festhalten.
Wenn wir sehen, wie sich im Laufe der individuellen Ent-
wickelung die Markscheidenbildung stückweise von einer
grauen Substanz zur anderen vollzieht, wie für eine
zuführende Bahn drei oder mehr weiterführende aus einer
grauen Substanz hervorgehen, erscheinen uns die grauen
Substanzen und nicht mehr die Faserbündel als die
Einzelorgane des Gehirns. Wenn wir eine , sensible (centri-
petale) Bahn, soweit sie uns bekannt ist, verfolgen und
als Hauptcharakter derselben eine möglichst häufige Unter-
brechung in grauen Substanzen und Weiterverzweigung
durch dieselben erkennen, 1 ) müssen wir den Gedanken
aufnehmen, dass eine Faser auf dem Wege zur Gross-
hirnrinde ihre functionelle Bedeutung nach jedem neuen
Auftauchen aus einer grauen Substanz geändert hat.
Nehmen wir eines der uns verständlich gewordenen Bei-
spiele: Eine Faser des N. opticus leitet einen Retinal-
eindruck bis zum vorderen Vierhügel ; in diesem findet sie
ein vorläufiges Ende, 2 ) und an ihrer Statt geht aus der
Substanz des Ganglions eine andere Faser zur Occipital-
rinde. In der Substanz des Vierhügels hat aber die Ver-
bindung des Retinaleindruckes mit einer Augenmuskel-
bewegungsempfindung stattgehabt; es ist nun überaus
wahrscheinlich, dass die neue Faser zwischen Vierhügel
und Hinterhauptsrinde nicht mehr einen Retinaleindruck,
sondern die Verknüpfung eines oder mehrerer solcher
Eindrücke mit den Bewegungsempfindungen fortleitet. Noch
complicirter muss sich diese Bedeutungsänderung der
Fasern für die Leitungssysteme der Haut- und Muskel-
sensibilität gestalten; wir haben noch keine Ahnung davon,
*) Vgl. Edinger's, Bechterew' s und des Verfassers Untersuchungen
über den Verlauf der Hinterstrangbahn und des Akusticus.
2 ) Vgl. Darkschewitsch, Ueber die sogenannten primären Opticus-
centren und ihre Beziehung zur Grosshirnrinde. Arch. f. Anat. u. Phys. 1886.
Pnnnl^ Original f rann
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Der Körper ist in der Hirnrinde nicht mehr topisch abgebildet. 55
welche Elemente hier zu dem neuen Inhalt der fort-
geleiteten Erregung zusammentreten.
Wir ersehen nur so viel, dass die nach Durchsetzung
von grauen Substanzen in der Hirnrinde anlangenden
Fasern zwar noch eine Beziehung zur Körperperipherie ent-
halten, aber kein topisch ähnliches Bild derselben mehr geben
können. Sie enthalten die Körperperipherie, wie — um ein
Beispiel dem uns hier beschäftigenden Gegenstande zu ent-
lehnen — Bin Gedicht das Alphabet enthält, in einer Um-
ordnung, die anderen Zwecken dient, in mannigfacher Ver-
knüpfung der einzelnen topischen Elemente, wobei die
einen davon mehrfach, die anderen gar nicht vertreten
sein mögen. Könnte man diese Umordnung, welche von
der spinalen Projection an bis zur Grosshirnrinde vor sich
geht, im Einzelnen verfolgen, so würde man wahrscheinlich
finden, dass das Princip derselben ein rein functionelles ist,
und dass topische Momente nur insoweit beibehalten werden,
als sie mit den Anforderungen der Function zusammen-
fallen. Da nichts dafür spricht, dass in der Hirnrinde
diese Umordnung wieder rückgängig gemacht wird, um
eine topographisch vollständige Projection zu ergeben, so
dürfen wir vermuthen, dass die Körperperipherie in den
höheren Hirntheilen, wie auch in der Hirnrinde, überhaupt
nicht mehr topisch, sondern blos functionsgemäss
enthalten ist. Das Thierexperiment muss diese Thatsache
allerdings verdecken, indem es nichts Anderes als eine
topische Beziehung zu ergeben vermag. Ich glaube aber, wer
ernsthaft ein Centrum des M. extensor pollucis longus, des
M. rectus internus oculi oder der Sensibilität einer bestimmten
Hautstelle in der Hirnrinde aufsucht, der verkennt sowohl
die Function dieses Hirntheiles, als auch die Complication
der Bedingungen, welche diese Function voraussetzt. l )
*) Ich deute blos an, dass diese Auffassung von der Repräsentation
des Körpers in der Grosshirnrinde zum Widerspruche gegen die Munk'sehe
Lehre von der fleckweisen Projection der Retina im Hinter hauptslappen her-
ausfordert und durch eine Würdigung der corticalen Hemianopsien zur
Bestätigung oder Widerlegung gelangen müsste.
/"* rw^n In Original fronn
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56 Di e Localisation psychischer Elemente gründet sich nur
Wir kehren nach dieser Abschweifung zur Auffassung
der Aphasie zurück und erinnern uns, dass auf dem Boden
Meynert' scher Lehren die Annahme erwachsen ist, der
Sprachapparat bestünde aus distincten Rindencentren, in
deren Zellen die Wortvorstellungen enthalten sind, welche
Centren durch functionsfreies Eindengebiet getrennt und
durch weisse Fasern (Associationsbündel) verknüpft werden-
Man kann nun zunächst in Frage ziehen, ob eine An-
nahme dieser Art, welche Vorstellungen in Zellen bannt,
überhaupt correct und zulässig ist. Ich glaube: nicht.
Gegenüber der Neigung früherer medicinischer Epochen,
ganze Seelenvermögen, wie sie der Sprachgebrauch der
Psychologie abgrenzt, an bestimmte Bezirke des Gehirns
zu localisiren, musste es als grosser Fortschritt erscheinen,
wenn Wer nicke erklärte, dass man nur die einfachsten
psychischen Elemente, die einzelnen Sinnesvorstellungen
localisiren dürfe, und zwar an die centrale Endigung des
peripherischen Nerven, der den Eindruck empfangen hat.
Im Grunde aber begeht man nicht denselben prin-
cipiellen Fehler, ob man nun einen complicirten Begriff,
eine ganze Seelenthätigkeit oder ob man ein psychisches
Element zu localisiren versucht? Ist es gerechtfertigt,
eine Nervenfaser, die über die ganze Strecke ihres Ver-
laufes blos ein physiologisches Gebilde und physiologischen
Modiflcationen unterworfen war, mit ihrem Ende ins
Psychische einzutauchen und dieses Ende mit einer Vor-
stellung oder einem Erinnerungsbild auszustatten? Wenn
der „Wille" die „Intelligenz" u. dgl. als psychologische
Kunstworte erkannt sind, denen in der physiologischen
Welt sehr complicirte Verhältnisse entsprechen, weiss man
von der „einfachen Sinnesvorstellung" denn mit grösserer
Bestimmtheit, dass sie etwas Anderes als ein solches
Kunstwort ist?
Die Kette der physiologischen Vorgänge im Nervensystem
steht ja wahrscheinlich nicht im Verhältniss der Causa lität
zu den psychischen Vorgängen. Die physiologischen Vor-
gänge hören nicht auf, sobald die psychischen begonnen
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** OF THE
UNIVERSITY
auf eine Verwechselung: des Psychischen mit dem Physischen. 57
haben, vielmehr geht die physiologische Kette weiter, nur
dass jedem Glied derselben (oder einzelnen Gliedern) von
einem gewissen Moment an ein psychisches Phänomen ent-
spricht. Das Psychische ist somit ein Parallelvorgang des
Physiologischen („a dependent concomitant").
Ich weiss wohl, dass ich den Männern, deren Ansichten
ich hier bestreite, nicht zumuthen kann, sie hätten diesen
Sprung und Wechsel der wissenschaftlichen Betrachtungs-
weise ohne Erwägung vollzogen. Sie meinen offenbar nichts
Anderes, als dass die — der Physiologie angehörige —
Modification der Nervenfaser bei der Sinneserregung
eine andere Modification in der centralen Nervenzelle
erzeugt, welche nun das physiologische Correlat der „Vor-
stellung" wird. Da sie von der Vorstellung weit mehr zu sagen
wissen als von den physiologisch noch gar nicht charakteri-
sirten, unbekannten Modificationen, bedienen sie sich des
elliptischen Ausdruckes: In der Nervenzelle sei eine Vor-
stellung localisirt. Allein diese Vertretung führt auch
sofort zu einer Verwechselung der beiden Dinge, die mit
einander keine Aehnlichkeit zu haben brauchen. In der
Psychologie ist die einfache Vorstellung für uns etwas
Elementares, das wir von seinen Verbindungen mit
anderen Vorstellungen scharf unterscheiden können. Wir
kommen so zur Annahme, dass auch deren physiologisches
Correlat, die Modification, die von der erregten, im Centrum
endigenden Nervenfaser ausgeht, etwas Einfaches ist, was
sich an einen Punkt localisiren lässt. Eine solche Ueber-
tragung ist natürlich vollkommen unberechtigt; die Eigen-
schaften dieser Modification müssen für sich und unabhängig
von ihrem psychologischen Gegenstück bestimmt werden. 1 )
*) Hughlings Jackson hat aufs schärfste vor einer solchen Ver-
wechselung des Physischen mit dem Psychischen beim Sprachvorgang
gewarnt: In all our studies of diseases of the nervous system we must be
on our guard against the fallacy, that what are physical states in lower
centres fine away into psychical states in higher centres ; that for example,
vibrations of sensory nerves become sensations, or that somehow or
another an idea produces a movement. Brain I, p. 306.
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58 Unmöglichkeit, Vorstellung und Association zu trennen.
Was ist nun das physiologische Correlat der einfachen
oder der für sie wiederkehrenden Vorstellung? Offenbar
nichts Ruhendes, sondern etwas von der Natur eines Vor-
ganges. Dieser Vorgang verträgt die Localisation, er geht
von einer besonderen Stelle der Hirnrinde aus und ver-
breitet sich von ihr über die ganze Hirnrinde oder längs
besonderer Wege. Ist dieser Vorgang abgelaufen, so hinter-
lässt er in der von ihm afficirten Hirnrinde eine Modifikation,
die Möglichkeit der Erinnerung. Es ist durchaus zweifel-
haft, ob dieser Modification gleichfalls etwas Psychisches
entspricht; unser Bewusstsein weist nichts dergleichen
auf, was den Namen „latentes Erinnerungsbild" von der psy-
chischen Seite rechtfertigen würde. So oft aber derselbe
Zustand der Rinde wieder angeregt wird, entsteht das
Psychische als Erinnerungsbild von Neuem. Wir haben
freilich nicht die leiseste Ahnung davon, wie die thierische
Substanz es zu Stande bringen mag, so vielfältige Modifi-
cationen durchzumachen und auseinander zu halten. Dass
sie dies aber kann, beweist das Beispiel der Spermatozoen,
in denen die mannigfaltigsten und detaillirtesten solcher
Modificationen zur Entwickelung bereit liegen.
Lässt sich nun am physiologischen Correlat der Em-
pfindung der Antheil der „Empfindung" von dem der
„Association" unterscheiden? Offenbar nicht. „Empfindung"
und „Association" sind zwei Namen, mit denen wir ver-
schiedene Ansichten desselben Processes belegen. Wir
wissen aber, dass beide Namen von einem einheitlichen
und untheilbaren Process abstrahirt sind. Wir können
keine Empfindung haben, ohne sie sofort zu associiren;
mögen wir die beiden begrifflich noch so scharf trennen,
in Wirklichkeit hängen sie an einem einzigen Vorgang,
der, von einer Rindenstelle beginnend, über die gesammte
Einde diffundirt. Die Localisation des physiologischen
Correlats ist also für Vorstellung und Association dieselbe,
und da Localisation einer Vorstellung nichts
Anderes bedeutet, als Localisation ihres Correlates,
so müssen wir es ablehnen, die Vorstellung an den einen
Pnnnl^ Original f rann
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Die Associationsbahnen liegen in der Binde selbst. 59
Punkt der Hirnrinde zu verlegen, die Association an einen
anderen. Beides geht vielmehr von einem Punkte aus, und
befindet sich an keinem Punkte ruhend.
Mit dieser Abweisung einer gesonderten Localisation
für das Vorstellen und das Associiren der Vorstellungen
entfällt für uns ein Hauptmotiv, zwischen Centren und
Leitungsbahnen der Sprache zu unterscheiden. An jeder
Rindenstelle, welche der Sprachfunction dient, werden
ähnliche functionelle Vorgänge vorauszusetzen sein, und
wir haben es nicht nöthig, weisse Fasermassen heran-
zuziehen, denen die Association der in der Rinde befind-
lichen Vorstellungen übertragen ist. Wir sind sogar im
Besitze eines Sectionsbefundes, welcher uns nachweist,
dass die Association der Vorstellungen durch in der Rinde
selbst liegende Bahnen geschieht. Ich meine wiederum
den Fall von Heubner, aus dem wir bereits eine wichtige
Lehre gezogen haben (vgl. p. 25).
Der Kranke Heubner's zeigte jene Form der Sprach-
störung, welche Li cht heim als transcorticale sensorische
Aphasie bezeichnet, und von der Unterbrechung der Bahnen
vom sensorischen Sprachcentrum zu den Begriffsassociationen
ableitet. Es wäre also nach der in Rede stehenden Theorie
der Sprachstörungen eine Erkrankung im Marke unterhalb
des sensorischen Centrums zu erwarten gewesen. Anstatt
dessen fand sich eine oberflächliche Rindenerweichung,
welche das sonst (auch der Function nach) intacte sen-
sorische Centrum von seinen meisten Rindenverbindungen
ausserhalb des Sprachgebietes selbst abtrennte. Heubner
versäumt nicht die Wichtigkeit dieses Befundes hervor-
zuheben, und Pick 1 ) zieht aus ihm denselben Schluss
wie wir, dass die Associationsbahnen der Sprache durch
die Rinde selbst zu laufen scheinen. Wir brauchen im
Uebrigen nicht zu bestreiten, dass auch Associationsbündel,
*) Pick, lieber die sogenannte Ee- Evolution (Hughlings- Jackson)
nach epileptischen Anfallen nebst Bemerkungen über transitorische Wort-
taubheit. Arch. f. Psych. XXII, 1891.
Pnnnl^ Original f rann
jy ijUUglt UNI VERSITY OF CALIFORNIA
60 Die Annahme der „functionslosen Lücken".
welche unterhalb der Rinde verlaufen, zu derselben Function
beitragen mögen.
Unsere Vorstellung vom Sprachapparat wird eine
gründliche Umwandlung erfahren, wenn wir noch die dritte
Bestimmung der Meynert -Wernicke'schen Lehre,
nämlich dass die functionirenden Sprachcentren durch
„functionslose Lücken" getrennt sind, in Betracht ziehen.
Eine solche Bestimmung erscheint zunächst als unmittel-
bares Ergebniss der pathologischen Anatomie dem Zweifel
entzogen zu sein. Wenn man aber auf die Art und Weise
eingeht, wie aus der Verwerthung von Sectionsbefunden
die distincten Centren erschlossen werden, merkt man,
dass die pathologische Anatomie unfähig ist, diese Frage
zu entscheiden. Man werfe z. B. einen Blick auf die Tafel,
in welcher Naunyn die Ausdehnung der Läsion in 71 Fällen
von Sprachstörung verzeichnet. Dort, wo die^Läsionen
am dichtesten übereinander fallen, nehmen wir die Centren
der Sprache an. Es sind dies ihrer Definition nach Stellen,
deren Erhaltung für die Ausübung der Sprachfunction
unentbehrlich ist; es mag aber ausserdem andere Rinden-
stellen geben, welche gleichfalls der Sprachfunction dienen,
deren Zerstörung aber von der Function der Sprache
leichter ertragen wird. Wenn es solche Rindenstellen
gibt, werden wir sie durch das Studium der Naunyn-
schen Tafel nicht entdecken können. Es kann sein, dass
die Sprachstörung durch Läsion an anderen Stellen nur
von der Fernwirkung herrührt, welche solche Läsionen
auf die Sprachcentren üben; es ist aber auch möglich,
dass die in der Tafel seltener besetzten Stellen gleichfalls
„Sprachcentren" sind, nur nicht unentbehrliche oder constante.
Wenden wir uns darum lieber der Frage zu, welche
Function dem functionslosen Rindengebiet zwischen und
neben den Sprachcentren von den Autoren zugewiesen wird.
Meynert äussert sich über dieselben unumwunden
(Psychiatrie, p. 140):
„Es folgt hieraus natürlich, dass im physiologischen
Gange der Occupation der Hirnrinde durch Erinnerungs-
Pnnnl^ Original f rann
jy V^UUglt UNI VERSITY OF CALIFORNIA
Die Rolle der „functionsloseri Lücken". ßl
bilder eine wachsende Ausbreitung der Besetzung von
Eindenzellen stattfindet, auf welcher die weitere Entwicke-
lung des kindlichen Anschauungskreises durch Vermehrung
von Gedächtnissbildern beruht. Es ist sehr wahrscheinlich,
dass dem Gedächtniss als der Grundlage aller intellectuellen
Leistungen auch eine Grenze der Aufnahme durch die
Zellen der Kinde gesetzt ist." Letzteren Satz darf man
wohl in dem Sinne interpretiren, dass nicht nur die kind-
liche Entwickelung, sondern auch die Erwerbung späterer
Kenntnisse (z. B. die Erlernung einer neuen Sprache)
auf der Occupation des bis dahin unbesetzten Bodens in
der Einde beruht, etwa wie sich eine Stadt durch Ansied-
lungen von Strecken ausserhalb ihrer Eingmauern vergrössert.
In einer früheren Bemerkung hatte Meynert jenen,
den Centren benachbarten, aber unbesetzten Gebieten die
Function zugesprochen, nach experimenteller oder sonstiger
Zerstörung der Centren deren Function neu aufzunehmen,
eine Anschauung, die sich auf Versuche von M unk stützt,
jenes Forschers, dessen Voraussetzungen ja durchaus in
dem Boden Meynert' scher Lehren wurzeln. Wir haben
also jetzt erfahren, in welcher Absicht die Annahme der
„functionslosen Lücken" in der Hirnrinde gemacht worden
ist, und können daran gehen, ihre Brauchbarkeit für das
Verständniss der Sprachstörungen zu prüfen.
Wir finden dabei, dass das gerade Gegentheil von dem
statt hat, was auf Grund dieser Annahme zu erwarten ist.
Die Sprachfunction weist die vortrefflichsten Beispiele von
Neuerwerbungen auf. Bereits das Lesen- und Schreiben-
lernen ist eine solche gegen die primäre Sprachthätigkeit,
und diese neue Erwerbung ist in der That durch neue
Localisationen der Läsion zu schädigen, weil bei ihr neue
Sinneselemente (die optischen und die cheiro-motorischen)
in Betracht kommen. Alle anderen Neuerwerbungen der
Sprachfunction — ob ich nun mehrere fremde Sprachen ver-
stehen und sprechen lerne, ob ich ausser dem erstgelernten
Buchstabenalphabet das griechische und hebräische mir
aneigne, und neben meiner Cursivschrift Stenographie und
Pnnnl^ Original from
jy ijUUglt UNI VERSITY OF CALIFORNIA
62 Association und Superassociation.
andere Schriften ausübe — alle diese Leistungen (und die
für sie aufzuwendenden Erinnerungsbilder können an Zahl
die der ursprünglichen Sprache um ein Vielfaches über-
treffen) sind offenbar an denselben Stellen localisirt, die
wir als die Centren der ersterlernten Sprache kennen. Es
kommt nämlich nie vor, dass durch eine organische Läsion
eine Störung in der Muttersprache gesetzt wird, der
eine später erworbene Sprache entginge. Wären die fran-
zösischen Wortklänge bei einem Deutschen, der auch fran-
zösisch versteht, anderswo als die deutschen localisirt, so
müsste es irgend einmal geschehen, dass in Folge eines
Erweichungsherdes der Deutsche zwar nicht mehr deutsch,
aber noch französisch verstünde. Es ist immer das Um-
gekehrte, und zwar für alle Sprachfunctionen, der Fall.
Wenn ich die betreffenden (leider im Verhältnisse zu ihrem
Interesse nicht genug zahlreichen) Fälle durchmustere, finde
ich nur zwei Elemente, welche die Erscheinung der Sprach-
störung bei einem Mehrsprachigen bedingen: 1. DenEinfluss
des Alters der Erwerbung, 2. den der Uebung. In der
Regel wirken ja beide Momente in derselben Eichtung;
wo sie sich widerstreiten, kann bemerkenswertherweise
die früher erworbene Sprachfähigkeit selbst die besser
eingeübte überdauern. Niemals aber findet sich ein Ver-
hältniss, das durch abweichende Localisation zu erklären
wäre, und nicht durch die beiden angeführten functionellen
Momente. Es liegt offenbar so, dass die Sprachassociationen,
mit denen unsere Sprachleistung arbeitet, einer Super-
association fähig sind, welchen Vorgang wir noch deutlich
wahrnehmen, so lange wir die neuen Associationen nur
mit Schwierigkeit ausführen, und dass das Superasso ci irte,
die Läsion mag sitzen, wo sie will, eher geschädigt
wird, als das primär Associirte.
Wie sehr auch eine, selten aber intensiv erfolgte Mo-
dification des Sprachapparates — ganz im Widerspruch zu
allen Gesichtspunkten der Localisation von Vorstellungen —
Schädigung überdauern kann, geht vielleicht aus keinem Bei-
spiele nachdrücklicher hervor, als aus folgendem, das ich
Pnnnl^ Original f rann
jy V^UUglt UNI VERSITY OF CALIFORNIA
Sprachreste und „letzte Worte". 63
Hughlings Jackson entlehne. Dieser Forscher, auf dessen
Anschauungen ich in fast allen vorstehenden Bemerkungen
zurückgegangen bin, um mit ihrer Hilfe die localisatorische
Theorie der Sprachstörungen zu bestreiten, bespricht den
nicht seltenen Fall, dass motorisch Aphasische ausser dem
„Ja" und „Nein" einen anderen Sprachrest zur Verfügung
haben, der sonst einer hochstehenden Sprachleistung ent-
sprechen würde. Dieser Sprachrest besteht nicht selten
in einem kräftigen Fluch (Sacre nom de dieu, Goddam etc.),
und Hughlings Jackson erörtert, dass ein solcher auch
in der Gesundheit der emotionellen, und nicht der intellec-
tuellen Sprache angehört hat. In anderen Fällen ist dieser
Sprachrest aber kein Fluch, sondern ein Wort oder eine
Redensart von enger Bedeutung, und man dürfte sich
füglich verwundern, dass gerade diese Zellen oder diese
Erinnerungsbilder der allgemeinen Zerstörung entgangen
sein sollten. Manche dieser Fälle gestatten aber eine sehr
plausible Deutung. Ein Mann z. B., der nur sagen konnte: „I
want protection" (etwa: Ich bitte, zur Hilfe) verdankte seine
Aphasie einem Raufhandel, in dem er nach einem Schlag auf
den Kopf bewusstlos zusammengestürzt war. Ein anderer
hatte den merkwürdigen Sprachrest „List complete"; es war
ein Schreiber, den die Erkrankung traf, nachdem er in
angestrengter Arbeit einen Katalog fertig gemacht hatte.
Solche Beispiele legen die Annahme nahe, dass diese Sprach-
reste die letzten Worte sind, welche der Sprachapparat
vor seiner Erkrankung, vielleicht bereits in Ahnung der-
selben gebildet hatte. Ich möchte das Verbleiben dieser
letzten Modification aus deren Intensität erklären, wenn
sie im Momente einer grossen inneren Erregung erfolgt.
Ich erinnere mich, dass ich mich zweimal in Lebens-
gefahr geglaubt habe, deren Wahrnehmung beidemale
ganz plötzlich erfolgte. In beiden Fällen dachte ich mir:
„Jetzt ist's aus mit dir", und während mein inneres
Sprechen sonst nur mit ganz undeutlichen Klangbildern
und kaum intensiveren Lippengefühlen vor sich geht,
hörte ich in der Gefahr diese Worte, als ob man sie mir
Pnnnl^ Original f rann
jy ijUUglt UNI VERSITY OF CALIFORNIA
64 Das Sprachgebiet ein zusammenhängender Rindenbezirk.
ms Ohr rufen würde, und sah sie gleichzeitig wie gedruckt
auf einem flatternden Zettel.
Wir weisen also die Annahmen zurück, dass der
Sprachapparat aus gesonderten Centren bestehe, welche
durch functionsfreie Rindengebiete getrennt sind, ferner
dass an bestimmten Rindenstellen, welche Centren zu
nennen sind, die Vorstellungen (Erinnerungsbilder), welche
der Sprache dienen, aufgespeichert liegen, während deren
Association ausschliesslich durch weisse Fasermassen unter-
halb der Rinde besorgt wird. Dann bleibt uns nur übrig,
die Anschauung auszusprechen, dass das Sprachgebiet
der Rinde ein zusammenhängender Rindenbezirk
ist, innerhalb dessen die Associationen und Uebertragungen,
auf denen die Sprachfunctionen beruhen, in einer dem Ver-
ständniss nicht näher zu bringenden Complicirtheit vor
sich gehen.
Wie erklären wir aber auf Grund solcher Annahme die
Existenz der Sprachcentren, welche die Pathologie uns
enthüllt hat, vor Allem der Broca' sehen und der Wer nicke-
schen Stelle? Hier kann ein Blick auf die convexe Ober-
fläche einer linken Hemisphäre die Aufklärung bringen.
Die sogenannten Centren der Sprache zeigen nämlich
Lageverhältnisse, welche nach einer Deutung verlangen
und auf Grund unserer Anschauungen dieselbe auch finden
können. Sie liegen weit voneinander ab; wenn wir
Naunyn folgen, im hinteren Theil der ersten Temporal-
windung, im hinteren Theil der dritten Stirnwindung, im
unteren Scheitelläppchen, wo der Gyrus angularis in den
Hinterhauptslappen übergeht; die Lage eines vierten
Centrums für die Schreibbewegungen scheint nicht genügend
sichergestellt (hinterer Theil der mittleren Stirnwindung?).
Sie liegen ferner so, dass sie ein. grosses Rindengebiet,
dessen Läsion wahrscheinlich immer mit Sprachstörung
verbunden ist, zwischen sich fassen (die Insel mit den
sie bedeckenden Windungsantheilen), und obwohl ihre
Ausdehnung nach der Zusammenstellung der bei Aphasie
Pnnnl^ Original f rann
jy ijUUglt UNI VERSITY OF CALIFORNIA
Die Centren sind die Ecken des Sprachfeldes. 65
gefundenen Läsionen nicht genau abzugrenzen ist, kann
man doch sagen, dass sie die äussersten Bezirke des von
uns supponirten Sprachgebietes bilden, dass Sprach-
störung nach innen von den Centren (gegen den Mittel-
punkt des Hemisphärenbogens) vorkommt, während nach
aussen von ihnen Eindentheile anderer Bedeutung liegen.
Erscheinen die „Centren" so als die Ecken des Sprach-
feldes, so kommt ferner in Betracht, an welche andere Ge-
biete diese Centren aussen anstossen. Die Broca'sche Stelle
liegt in nächster Nachbarschaft der motorischen Centren
für die Bulbärnerven; die Wernicke'sche Stelle liegt
in einem Gebiete, welches die Akusticusendigung enthält,
deren genauer Ort nicht bekannt ist, und das visuelle
Centrum stösst an die Stellen des Hinterhauptlappens, in
denen wir die Endigung des Nervus opticus suchen. Eine
solche Anordnung, nach der Theorie der Centren bedeutungs-
los, erklärt sich uns folgendermassen:
Das Associationsgebiet der Sprache, in welches optische,
akustische und motorische (oder kinästhetische) Elemente
eingehen, breitet sich eben darum zwischen den Rinden-
feldern dieser Sinnesnerven und den betreffenden
motorischen Eindenfeldern aus. Denken wir uns nun
in diesem Associationsfelde eine Läsion verschiebbar, so
wird dieselbe um so mehr Effect machen (bei gleicher Aus-
dehnung), je näher an eines der Rindenfelder sie heranrückt,
je peripherischer im Sprachbezirk sie also liegt. Stösst sie
unmittelbar an eines dieser Rindenfelder an, so wird sie
dem Associationsgebiet der Sprache einen seiner Zuflüsse
abschneiden, dem Sprachmechanismus wird das optische,
akustische Element u. s. w. fehlen, da jede Associations-
anregung dieser Natur von dem betreffenden Rindenfelde
ausgegangen ist. Verschiebt man die Läsion weiter ins
Innere des Associationsfeldes, so wird ihr Effect ein un-
deutlicher sein; keinesfalls - wird sie alle Associations-
möglichkeiten von einer Art vernichten können. Auf diese
Weise gewinnen die an die Rindenfelder des Opticus,
Akusticus und der motorischen Hirnnerven anstossenden
Freud, Aphasie. x
rw-*nlf" Original from
sy^U^lL UNIVERSITYOF CALIFORNIA
66 Di e Centren haben blos eine pathologisch-anatomische Bedeutung.
Theile des Sprachfeldes die Bedeutung, welche die Pathologie
aufweist, und welche zu ihrer Aufstellung als Centren der
Sprache geführt hat. Diese Bedeutung gilt aber blos für
die Pathologie und nicht auch für die Physiologie des
Sprachapparates, denn man kann nicht behaupten, dass in
ihnen andere oder bedeutsamere Vorgänge stattfinden, als
in jenen Theilen des Sprachfeldes, deren Läsion besser
vertragen wird. Es folgt diese Anschauung unmittelbar aus
der Weigerung, den Vorgang der Vorstellung von dem der
Association zu trennen, und beide Vorgänge an verschiedene
Stellen zu localisiren.
Wer nicke hat sich diesen Anschauungen in etwas
genähert, wenn er in seinen letzten Aeusserungen über
dieses Thema die Berechtigung bezweifelt; für das Lesen
besondere Centren innerhalb der optischen Rindenendigung,
für das Schreiben innerhalb der sogenannten motorischen
Armregion anzunehmen (1. c. p. 477). Seine Bedenken sind aber
nicht principieller Natur, indem sie auf die blos anatomische
Abänderung hinauslaufen, dass die für die Sprache wichtigen
optischen und cheiromotorischen Erinnerungsbilder inner-
halb der anderen gleicher Natur zerstreut liegen. Dagegen
ist Heubner durch die Würdigung des von ihm mit-
getheilten Falles zu einer zweifelnden Frage gedrängt
worden, welche der für die Sprache von uns behandelten
analog ist: „Oder gibt es vielleicht gar keine Rindenfelder
für die Seelenblindheit, -taubheit, -lähmung? Entsteht
vielmehr das Symptom dieser Zustände nur dadurch, dass
die den genannten Functionen unmittelbar dienenden
Rindenfelder von der übrigen Hirnrinde durch benachbarte
Erweichungsherde abgesperrt werden?"
Wir haben noch zwei Bedenken zu erledigen, welche
sich gegen den Werth unserer Auffassung von den Centren
richten könnten.
1. Wenn die Zerstörung des Stückes vom Sprach-
gebiet, welches unmittelbar an ein Rindenfeld (des
f Original fronn
jy V^UUglt UNI VERSITY OF CALIFORNIA
Consequenzen aus der einseitigen Ausbildung des Sprachfeldes. 67
Opticus, Akusticus, der Hand, Zunge etc.) anstösst, die
geschilderten Folgen für die Sprachfunction hat, blos weil
dadurch die Verbindung mit den optischen, akustischen und
anderen Associationsanregungen unterbrochen ist, so müsste
ja die Zerstörung dieser Eindenfelder selbst dieselbe Folge
für die Sprache haben. Dies würde aber direct unseren
Erfahrungen widersprechen, welche uns die Localsymptome
aller solcher Läsionen ohne Sprachstörung nachweisen.
Dieser erste Einwand erledigt sich leicht, wenn man in
Betracht zieht, dass alle anderen Eindenfelder doppel-
seitig vorhanden sind, das Associationsfeld der
Sprache aber nur auf einer Hemisphäre organisirt
ist. Die Zerstörung des einen optischen Rindenfeldes z. B.
wird die Verwerthung der visuellen Erregungen für die
Sprache (das Lesen) nicht stören, weil das Sprachfeld dabei
seine (diesmal durch gekreuzte weisse Fasern) hergestellte
Verbindung mit dem optischen Rindenfeld der anderen
Seite behält. Rückt die Läsion aber an die Grenze des
optischen Rindenfeldes, so tritt Alexie auf, weil nicht nur
die Verbindung mit dem gleichseitigen, sondern auch die mit
dem gekreuzten optischen Rindenfeld unterbrochen sein mag.
Wir haben also die Annahme hinzuzufügen, dass der Anschein
von Centren weiterhin dadurch entsteht, dass die ge-
kreuzten Verbindungen von den Rindenfeldern der anderen
Hemisphäre an denselben Stellen, nämlich an der Peripherie
des Sprachfeldes, hinzukommen, wo auch die Verbindung
mit dem gleichseitigen Rindenfelde vor sich geht. Dies ist
plausibel, weil ja für die Leistung der Sprachassociation
das doppelte Vorhandensein der optischen, akustischen
und anderen Anregungen keine physiologische Bedeutung
besitzt.
Es ist dies übrigens keine neue Annahme, sondern eine
der Centrentheorie entlehnte, dass solche Verbindungen
des Sprachbezirkes mit den beiderseitigen Rindenfeldern
existiren. Die anatomischen Verhältnisse' dieser gekreuzten
Association sind übrigens noch nicht sichergestellt und
dürften, wenn bekannt, manche Eigenthümlichkeit in Lage
5*
C^f\f\ri\i> Original frarm
VjUU^K, UNIVERSITYOF CALIFORNIA
68 Das Sprachfeld hat keine besonderen zuführenden Bahnen. .
und Ausdehnung der scheinbaren Centren, sowie manche
individuelle Ausprägungen der Sprachstörungen erklären.
2. Man könnte fragen, welchen Werth es wohl hat,
besondere Centren für die Sprachfähigkeit zu bestreiten,
wenn wir dabei doch genöthigt sind, von Rindenfeldern,
also Centren, des Opticus, des Akusticus und der motorischen
Sprachorgane zu reden? Darauf lässt sich erwidern, dass
ähnliche Betrachtungen auch für die anderen sogenannten
motorischen und Sinnescentren der Rinde zu wiederholen
wären, dass man aber Rindenfelder, selbst besser abgegrenzte,
für die anderen Functionen nicht bestreiten kann, weil solche
durch die anatomische Thatsache der Endigung des Sinnes-
nerven oder des entsprechenden Antheiles der Pyramidenbahn
in bestimmten Hirnrindengebieten charakterisirt sein mögen.
Das Associationsfeld der Sprache aber entbehrt dieser
directen Beziehungen zur Peripherie des Körpers, es hat
sicherlich keine eigenen sensibeln, und höchst wahrschein-
lich auch keine besonderen motorischen „Projections-
bahnen". 1 )
VI.
Unsere Vorstellung vom Aufbau des centralen Sprach-
apparates ist also die eines zusammenhängenden Rinden-
gebietes, welches den Raum zwischen den Endstätten des
Nervus opticus, acusticus und der motorischen Hirn- und
*) Den wesentlichen Inhalt dieser Studie habe ich bereits im Jahre 1886
in einem Vortrage dem „Wiener physiologischen Club" mitgetheilt, dessen
Verhandlungen aber statutengemäss keinen Anspruch auf Priorität begründen.
1887 erstatteten Nothnagel und Naunyn auf dem Congress für innere
Medicin zu Wiesbaden jenes so bekannt gewordene Referat: „Ueber die
Localisation der Gehirnkrankheiten", welches in mehreren wichtigen
Punkten mit dem Inhalt der vorliegenden Schrift zusammentrifft. Die Aus-
führungen Nothnagel^ über die Auffassung der Rindencentren, sowie die
Bemerkungen Naunyn's über die topographischen Verhältnisse der Sprach-
centren, werden wahrscheinlich jeden Leser auf die Vennut hung bringen,
dass meine Studie auf den Einfluss des hochbedeutsamen Referates jener
beiden Forscher zurückzuführen sei. Doch trifft dies nicht zu ; die Anregung
zu dieser Arbeit erwuchs mir vielmehr aus den Arbeiten Einer' s mit
meinem verstorbenen Freunde Josef Paneth in Pflüger's Archiv.
CoOQle Original from
\juugic (JNIVERSITYOF CALIFORNIA
Alle Aphasien beruhen auf Leitimgsunterbrechung. 69
Extremitätennerven in der linken Hemisphäre einnimmt, und
demnach wahrscheinlich gerade jene Ausdehnung besitzt, die
Wernicke in seiner ersten Arbeit ihm zuweisen wollte:
das Gebiet der ersten Urwindung um die Sylvi'sche Spalte.
Wir haben es abgelehnt, die psychischen Elemente des
Sprachvorganges an bestimmte Stellen dieses Gebietes zu
localisiren, haben die Vermuthung zurückgewiesen, als
beständen innerhalb dieses Gebietes Eegionen, welche von
der gemeinen Sprachthätigkeit ausgeschlossen sind und für
neue Erwerbungen an Sprachkenntnissen frei gehalten
werden ; wir haben endlich die Thatsache, dass die Patho-
logie uns Centren der Sprache in allerdings unbestimmter
Begrenzung kennen lernt, auf die anatomischen Lagever-
hältnisse der begrenzenden Eindenfelder und der von der
rechten Hemisphäre einstrahlenden Verbindungsbahnen
zurückgeführt. Somit sind die Centren der Sprache für uns
Rindenstellen geworden, welche zwar eine besondere
pathologisch-anatomische, aber keine besondere physio-
logische Bedeutung beanspruchen dürfen; wir haben das
Recht erworben, die Unterscheidung der sogenannten
„Centrum"- oder corticalen Aphasien von den Leitungs-
aphasien zu verwerfen und zusagen, dass alle Aphasien
auf Associations», also auf Leitungsunterbrechung
beruhen. Aphasie durch Zerstörung oder Läsion eines
„Centrums" ist für uns nicht mehr und nicht weniger als
Aphasie durch Läsion jener Associationsbahnen, die in dem
Centrum genannten Knotenpunkte zusammenlaufen.
Wir haben auch behauptet, dass jede Aphasie auf
Störung in der Hirnrinde selbst (direct oder durch Fern-
wirkung entstandene) zu beziehen ist, was so viel bedeuten
will, als das Sprachgebiet besitze keine ihm eigentüm-
lichen zu- und ableitenden Bahnen, die bis zur Körper-
peripherie reichen. Der Beweis dieser Behauptung liegt
darin, dass subcorticale Läsionen bis zur Peripherie keine
Sprachstörung erzeugen können, wenn wir dieAnarthrie
von den anderen Sprachstörungen der Definition nach
absondern. Es ist niemals beobachtet worden, dass ein
Pnnnl^ Original f rann
jy V^UUglt UNI VERSITY OF CALIFORNIA
70 Die subcorticale sensorische Aphasie.
Mensch durch eine Läsion im Akusticusstamm, in der
Oblongata, im hinteren Vierhügelpaar oder in der inneren
Kapsel worttaub geworden wäre, ohne auch sonst taub zu
sein, oder dass eine partielle Läsion des Opticusstammes, des
Zwischenhirns u. s. w. ihn leseblind gemacht hätte. Allerdings
unterscheidet Lichtheim eine subcorticale Worttaubheit,
eine subcorticale motorische Aphasie, undWernicke nimmt
subcorticale Alexien und Agraphien an. Diese Formen
von Sprachstörung leiten sie nicht von Läsionen sub-
corticaler Associationsbündel ab, welche unsere Betrach-
tung von den in der Einde selbst verlaufenden Associations-
bündeln nicht zu sondern braucht, sondern von Läsionen
radiärer, also zu- und abführender, Sprachbahnen. Es
erwächst uns also die Aufgabe, auf die Analyse dieser
subcorticalen Sprachstörungen näher einzugehen.
Die Charakteristik einer subcorticalen sensorischen
Aphasie lässt sich aus dem Lichtheim'schen Schema,
welches eine besondere Hörbahn ccÄ (Fig. 3) für die Sprache
kennt, leicht ableiten. Der Kranke wäre nicht im Stande, neu
anlangende Wortklänge aufzunehmen, verfügt aber über
die Klangbilder und vollzieht alle Sprachfunctionen voll-
kommen correct. Lichtheim hat auch in der That einen
derartigen Fall aufgefunden, dessen erste Krankheitsstadien
zwar nicht völlig aufgeklärt sind, der aber in seinem
Endverhalten dem durch Unterbrechung von aA entstehen-
den Bilde völlig entsprach. Ich gestehe, dass es mir mit
Rücksicht auf die Bedeutung, welche den „Klangbildern"
für den Gebrauch der Sprache zukommt, ausserordentlich
schwer gefallen ist, dieser subcorticalen sensorischen
Aphasie eine andere Erklärung unterzulegen, welche auf
die Annahme einer zuführenden Hörbahn aA verzichtet.
Ich war schon im Begriffe, diesen Lichtheim' sehen Fall
durch eine individuelle Unabhängigkeit der anderen
Sprachelemente von den Klangbildern zu erklären, denn
Lichtheim's Kranker war ein hochgebildeter Zeitungs-
schreiber. Doch wäre hierin mit Recht nichts als eine
Ausflucht zu sehen gewesen.
Pnnnl^ Original f rann
jy ijUUglt UNI VERSITY OF CALIFORNIA
Giraudeau's Fall von Wortschwerhörigkeit. 71
Ich habe darum nach ähnlichen Fällen in der Literatur
gesucht. Wernicke theilt anlässlich seiner Besprechung
der Lichtheim' sehen Arbeit mit, dass er eine ganz ana-
loge Beobachtung gemacht und dieselbe in den fort-
laufenden Berichten aus seiner Klinik mittheilen werde.
Ich habe aber das Ungeschick gehabt, diese Mittheilung
in der Literatur nicht aufzufinden. 1 ) Dagegen stiess ich auf
einen Fall von Giraudeau, 2 ) der wenigstens eine grosse
Aehnlichkeit mit dem Lichtheim'schen hat. Die Kranke
{Bouquinet) war in ihrer Sprache vollkommen ungestört
und dabei gleichfalls in hohem Grade worttaub, ohne taub
zu sein (wenngleich die Feststellung des letzteren Punktes
etwas zu wünschen übrig lässt). Sie war zum mindesten
„wortschwerhörig" Sie verstand an sie gerichtete Fragen,
aber erst wenn man dieselben mehrmals vor ihr wieder-
holte, und häufig auch dann nicht. Hatte sie einmal eine
Frage verstanden und beantwortet, so setzten alle späteren
Antworten den einmal angeregten Gedankengang fort, ohne
auf die später gestellten Fragen Kücksicht zu nehmen.
Der Unterschied der beiden Fälle verringert sich noch mehr,
wenn wir in Betracht ziehen, dass Lichtheim's Kranker
ein anderes Verhalten als sonst Worttaube zeigte. Er gab
sich gar keine Mühe, die an ihn gerichten Fragen zu
verstehen, er gab überhaupt keine Antwort und schien
seine Aufmerksamkeit dem Gehörten gar nicht zuwenden
zu wollen. Vielleicht dass der Kranke durch dieses vor-
sätzliche Benehmen den Anschein der völligen Worttaub-
heit erwarb, während sich sonst gezeigt hätte, dass sein
Sprachverständniss wie das der Bouquinet durch wieder-
holte dringende Anforderungen zu erzwingen war. Die Wort-
tauben vernehmen sonst die Sprache, die sie nicht ver-
stehen, sie glauben etwas verstanden zu haben, und
*) Nachschrift bei der Correctur: Auf eine private Anfrage an
der Breslauer Klinik erhielt ich die Antwort, dass die von Wernicke in
dem erwähnten Zusammenhange berührten Fälle in der That noch nicht
publicirt worden sind.
2) Giraudeau, Revue de midecine, 1882, auch bei Bernard 1. c.
Pnnnl^ Original f rann
jy V^UUglt UNI VERSITY OF CALIFORNIA
72 Schwierigkeiten und wahrscheinliche
ertheilen gewöhnlich eine aus dieser Voraussetzung folgende
unpassende Antwort.
Giraudeau's Kranke gelangte nun zur Section, und es
erwies sich als Ursache ihrer Sprachstörung eine Läsion der
ersten und zweiten Schläfenwindung, wie sie so häufig als
Ursache gemeiner sensorischer Aphasie gefunden worden
ist. Niemand, der einen Blick auf die Zeichnung wirft, die
Griraudeau's Mittheilung beigegehen ist, wird vermuthen
können, dass diese Läsion etwas Anderes als die gewöhn-
liche Form der sensorischen Aphasie mit schwerer Sprach-
störung verursacht habe. Es kommt aber noch etwas
Anderes in Betracht. Die Läsion im Falle Giraudeau's
ist wiederum eine ungewöhnliche, ein Tumor (Gliosarkom).
Wir erinnern uns dabei einer Vermuthung, die wir bei
Besprechung der transcorticalen motorischen Aphasie
geäussert haben, dass der Sprachapparat wahrscheinlich
nicht blos Localanzeichen gebe, sondern auch eine beson-
dere Natur des Krankheitsprocesses durch eine Abänderung
seiner functionellen Symptomatik verrathen dürfte. Wir
sehen also, dass der Fall Giraudeau's nichts für die
Existenz einer subcorticalen zuführenden Bahn ccA beweist.
Der Tumor, den die Section aufdeckte, war nicht etwa
von der weissen Substanz her nach aussen gewachsen,
so dass er in einem früheren Stadium eine blos subcorti-
cale Läsion ergeben hätte. Er war vielmehr mit den Hirn-
häuten verwachsen, und aus der erweichten weissen
Substanz leicht ausschälbar. Ich glaube also für die sub-
corticale sensorische Aphasie annehmen zu können, dass
sie nicht auf der Läsion der subcorticalen Bahn ccA, sondern
auf einer Erkrankung derselben Eegion beruht, welche
sonst für die corticale sensorische Aphasie verantwortlich
gemacht wird. Für den besonderen functionellen Zustand,
den ich in der so erkrankten Stelle voraussetzen muss,
kann ich allerdings keine volle Aufklärung geben. 1 )
*) Nachschrift bei der Correctur: Ich bin trotz der oben stehen-
den Erörterungen unter dem Eindrucke verblieben, dass die Erklärung der
subcorticalen sensorischen Aphasie (der Worttaubheit ohne
Pnnnl^ Original f rann
jy V^UUglt UNI VERSITY OF CALIFORNIA
Erklärung der subcorticalen sensorischen Aphasie. 73
Für die subcorticale motorische Aphasie können wir
uns kürzer fassen. Lichtheim charakterisirt sie durch
die erhaltene Schreibfähigkeit bei sonstigem Verhalten wie
die corticale motorische Aphasie. W ernicke, der die
Sprachstörung) mir grosse Schwierigkeiten bereitet, während sie sich nach
dem Lichtheim'schen Schema durch eine einfache Unterbrechung (der
Bahn ccÄ) erledigt. Es war mir darum von grossem Werthe, noch während
der Correcturen dieser Arbeit auf eine Mittheilung von Adler (Beitrag
zur Kenntniss der selteneren Formen von sensorischer Aphasie. Neurol.
Centralblatt vom 15. Mai und 1. Juni 1891) zu stossen, welche einen
derartigen Fall als „Combination von subcorticaler und transcorticaler
sensorischer Aphasie" beschreibt.
Die Vergleichung des Adler'schen Falles mit dem Lichtheim'schen
(und dem von Wernicke) lässt nun eine bessere Einsicht in die Bedingungen
der sogenannten subcorticalen sensorischen Aphasie gewinnen Es sind insbe-
sondere zwei Punkte, die hier aufklärend wirken: 1. Li cht heim erwähnt
die Möglichkeit, dass sein Kranker „in leichtem Grade taub" genannt werden
müsse, die Angaben über sein Hörvermögen sind sonst nicht ganz voll-
ständig. Bei Wernicke's Kranken bestand ein Defect für hohe Töne, bei
dem Kranken Adler's eine zweifellose Herabsetzung des Hörvermögens,
die nach dem Autor höchstwahrscheinlich durch eine Störung im Schall-
leitungsapparat bedingt war. Es ergibt sich heraus die Wahrscheinlichkeit,
dass — wie bei den später zu erwähnenden Fällen von Arnaud — eine
gemeine, peripherisch oder central bedingte Taubheit nicht ohne Einfluss
auf das Krankheitsbild geblieben ist. 2. Entscheidender ist noch die folgende,
kaum zufällig herbeigeführte Uebereinstimmung. Beide Fälle (Lichtheim
und Adler; die knappe Mittheilung Wernicke's schweigt hierüber) haben
das Bild der subcorticalen sensorischen Aphasie erst nach wiederholten
Anfällen von Gehirnerkrankung ergeben, von denen mindestens einer
die rechte, nicht der Sprachfunction dienende Hemisphäre betraf, denn
der Kranke Lichtheim's wies eine linksseitige Facialparese, der
A d 1 e r's eine linksseitige Hemiplegie auf. Adler hebt
dies Zusammentreffen auch hervor, ohne natürlich dessen Bedeutung
für die Erklärung der reinen Worttaubheit zu erkennen. Ich halte
mich aber zur Annahme berechtigt, dass die subcorticale sensorische Aphasie
nicht, wie es nach Lichtheim's Schema sein sollte, durch eine einfache
Bahnunterbrechung, sondern durch unvollständige doppelseitige
L ä s i n e n des Hörfcldes vielleicht unter dem Einflüsse peripherischer
Hürstörungen (wie bei Arnaud) entsteht und finde, dass diese Compli-
cation von Vorbedingungen für das anscheinend so einfache Bild von
Sprachstörung besser zu meiner, als zu Lichtheim's Auffassung der sen-
sorischen Aphasien stimmt.
Pnnnl^ Original f rann
jy ijUUglt UNI VERSITY OF CALIFORNIA
74 Subcorticale motorische Aphasie und Anarthrie.
Störungen der Schriftsprache einer eingehenderen Analyse
unterzogen hat, beseitigt selbst dieses unterscheidende
Merkmal. Für ihn kennzeichnet sich die subcorticale
motorische Aphasie dadurch, dass die Kranken „im Stande
sein werden, die Silbenzahl anzugeben". Wir haben gehört,
welchen Controversen diese Licht heim' sehe Probe unter-
liegt. Einige Beobachtungen von Dejerine 1 ) haben seither
die Bedeutung der Lichtheim'schen Silbenprobe für die
Diagnose der subcorticalen motorischen Aphasie bestätigt;
nur, dass wir diese Fälle mit ebensogutem Rechte der
Anarthrie, und nicht der Aphasie zurechnen könnten.
Mehrere gut beobachtete Fälle, zuletzt einer von
Eisenlohr, 2 ) lassen glauben, dass Läsion unterhalb der
Broca' sehen Stelle eine Sprachstörung schafft, welche sich
als literale Paraphasie bezeichnen lässt und den Ueber-
gang zur Anarthrie darstellt. Für den motorischen Theil
des Sprachapparates allein wäre also eine besondere Bahn
zur Peripherie zuzugeben.
Legen wir dem motorischen Rindengebiet der Sprache
ein besonderes abführendes Bündel bei, so wollen wir doch
bemerken, dass dessen Läsion Erscheinungen macht, welche
sich, je tiefer, desto mehr, einer Anarthrie nähern. Die
Aphasie bleibt darum doch eine Rindenerscheinung.
Fügen wir also unserer Auffassung des Sprachapparates
hinzu, dass er bis auf die Bahn, deren Läsion sich durch
Anarthrie verräth, keine besonderen zu- oder abführenden
Bahnen besitzt. Von den sogenannten subcorticalen Lese-
und Schreibstörungen werden wir später in Kurzem handeln.
Wir wollen nun nachsehen, welcher Annahmen wir
für die Erklärung der Sprachstörungen auf Grund eines
solchen Aufbaues des Sprachapparates bedürfen, mit an-
1 ) Dejerine, Contribution ä Tdtude de Taphasie motrice sous-corticale
et de la localisation ce're'brale des centres laryngis (muscles phonateurs).
Compt. rend. de la Soc. de Biologie 1891, No 8.
2 ) L. c.
Pnnnl^ Original f rann
jy ijUUglt UNI VERSITY OF CALIFORNIA
Die Wortvorstellung. 7 5
deren Worten, was uns das Studium der Sprachstörungen
für die Function dieses Apparates lehrt. Dabei wollen wir
die psychologische und die anatomische Seite des Gegen-
standes möglichst voneinander trennen.
Für die Psychologie ist die Einheit der Sprachfunction
das „Wort", eine complexe Vorstellung, die sich als zu-
sammengesetzt aus akustischen, visuellen und unästhetischen
Elementen erweist. Die Kenntniss dieser Zusammensetzung
verdanken wir der Pathologie, welche uns zeigt, dass bei
organischen Läsionen im Sprachapparate eine Zerlegung
der Rede nach dieser Zusammensetzung eintritt. Wir
werden so darauf vorbereitet, dass der Wegfall einer dieser
Elemente der Wortvorstellung sich als das wesentlichste
Kennzeichen erweisen wird, welches uns auf die Locali-
sation der Erkrankung zu schliessen gestattet. Man führt
gewöhnlich vier Bestandtheile der Wortvorstellung an:
„das Klangbild", das „visuelle Buchstabenbild", das „Sprach-
bewegungsbild" und das „Schreibbewegungsbild". Diese
Zusammensetzung erscheint aber complicirter, wenn man
auf den wahrscheinlichen Associationsvorgang bei den
einzelnen Sprachverrichtungen eingeht:
1. Wir lernen sprechen, indem wir ein „Wortklan g-
bild" mit einem „Wortinnervationsgefühl" associiren.
Wenn wir gesprochen haben, sind wir in den Besitz einer
„Sprachbewegungsvorstellung" (centripetale Empfin-
dungen von den Sprachorganen) gelangt, so dass das
„Wort" für uns motorisch doppelt bestimmt ist. Von den
beiden bestimmenden Elementen scheint das erstere, die
Wortinnervationsvorstellung, psychologisch den geringsten
Werth zu besitzen, ja es kann deren Vorkommen als
psychisches Moment überhaupt bestritten werden. Ausser-
dem erhalten wir nach dem Sprechen ein „Klangbild" des
gesprochenen Wortes. So lange wir unsere Sprache nicht
weiter ausgebildet haben, braucht dieses zweite Klang-
bild dem ersten nur associirt, nicht gleich zu sein. Auf
dieser Stufe (der kindlichen Sprachentwickelung) bedienen
wir uns einer selbst geschaffenen Sprache, wir verhalten
GoOöle Original from
VjUU^K, UNIVERSITYOF CALIFORNIA
76 Der Associationsvorgang
uns dabei auch wie motorisch Aphasische, indem wir ver-
schiedene fremde Wortklänge mit einem einzigen selbst
producirten associiren.
2. Wir lernen die Sprache der Anderen, indem wir
uns bemühen, das von uns selbst producirte Klangbild dem
möglichst ähnlich zu machen, was den Anlass zur Sprach-
innervation gegeben hat. Wir erlernen so das „Nach-
sprechen". Wir reihen beim „zusammenhängenden
Sprech en" dann die Worte aneinander, indem wir mit
der Innervation des nächsten Wortes warten, bis das
Klangbild oder die Sprachbewegungsvorstellung (oder beide)
des vorigen Wortes angelangt ist. Die Sicherheit unseres
Sprechens erscheint so überbestimmt und kann den Aus-
fall des einen oder des anderen der bestimmenden Momente
gut vertragen. Indes erklären sich aus diesem Wegfall
der Correctur durch das zweite Klangbild und durch das
Sprachbewegungsbild manche Eigenthümlichkeiten der —
physiologischen und pathologischen — Paraphasie.
3. Wir lernen buchstabiren, indem wir die visuellen
Bilder der Buchstaben mit neuen Klangbildern verknüpfen,
die uns indes an die bereits bekannten Wortklänge er-
innern müssen. Das den Buchstaben bezeichnende Klang-
bild sprechen wir sofort nach, so dass der Buchstabe uns
wiederum durch zwei Klangbilder, die sich decken, und
zwei motorische Vorstellungen, die miteinander correspon-
diren, bestimmt erscheint.
4. Wir lernen lesen, indem wir das Nacheinander der
Wortinnervations- und Wortbewegungsvorstellungen, die
wir beim Sprechen der einzelnen Buchstaben erhalten, nach
gewissen Kegeln verknüpfen, so dass neue motorische
Wortvorstellungen entstehen. Sobald letztere ausgesprochen
sind, entdecken wir nach dem Klangbild dieser neuen
Wortvorstellungen, dass uns beide Wortbewegungs- und
Wortklangbilder, die wir so erhalten haben, längst bekannt
und mit den während des Sprechens gebrauchten identisch
sind. Nun associiren wir diesen buchstabirend gewonnenen
Sprachbildern die Bedeutung, welche den primären Wort-
Pnnnl^ Original fronn
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beim Sprechen und Lesen. 77
klängen zukam. Wir lesen jetzt mit Verständniss. Wenn
wir primär nicht eine Schriftsprache, sondern einen Dialekt
gesprochen haben, so müssen wir die beim Buchstabiren
gewonnenen Wortbewegungsbilder und Klangbilder den
alten superassociiren und so eine neue Sprache erlernen,
was durch die Aehnlichkeit von Dialekt und Schriftsprache
erleichtert wird.
Aus dieser Darstellung des Lesenlernens ersieht man,
dass dasselbe einen sehr complicirten Vorgang ausmacht,
dem ein wiederholtes Hin und Her der Associationsrichtung
entsprechen muss. Man wird ferner darauf vorbereitet, dass
die Störungen des Lesens bei der Aphasie in sehr ver-
schiedenartiger Weise erfolgen müssen. Massgebend für eine
Läsion des visuellen Elementes beim Lesen wird blos die
Störung im Buchstabenlesen sein. Das Zusammensetzen
der Buchstaben zu einem Worte geschieht während der
Uebertragung auf die Sprachbahn, es wird also bei moto-
rischer Aphasie aufgehoben sein. Das Verstehen des Gelesenen
erfolgt erst vermittelst der Klangbilder, welche die ausge-
sprochenen Worte ergeben, oder vermittelst der Wortbe-
wegungsbilder, welche beim Sprechen entstanden sind. Es
erweist sich also als eine Function, die nicht nur bei moto-
rischer, sondern auch bei akustischer Läsion untergeht, ferner
als eine Function, die unabhängig von der Ausführung des
Lesens ist. Die Selbstbeobachtung zeigt Jedermann, dass
es mehrere Arten des Lesens gibt, von denen die eine
oder andere auf das Verständniss des Lesens verzichtet.
Wenn ich Correcturen lese, wobei ich vorhabe, den visuellen
Bildern der Buchstaben und anderen Schriftzeichen beson-
dere Aufmerksamkeit zu schenken, entgeht mir der Sinn
des Gelesenen so sehr, dass ich für stilistische Verbesse-
rungen der Probe einer besonderen Durchlesung bedarf.
Lese ich ein Buch, das mich interessirt, z. B. einen Roman,
so übersehe ich dafür alle Druckfehler, und es kann mir
geschehen, dass ich von den Namen der darin handelnden
Personen nichts im Kopfe behalte als einen verworrenen
Zug und etwa die Erinnerung, dass sie lang oder kurz sind,
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78 ^ er Associationsvorgang
und einen auffälligen Buchstaben, ein x oder z, enthalten.
Wenn ich vorlesen soll, wobei ich den Klangbildern meiner
Worte und deren Intervallen besondere Aufmerksamkeit
schenken muss, so bin ich wieder in Gefahr, mich um den
Sinn zu wenig zu kümmern, und sobald ich ermüde, lese ich
so, dass es zwar der Andere noch verstehen kann, ich selbst
aber nicht mehr weiss, was ich gelesen habe. Es sind dies
Phänomene der getheilten Aufmerksamkeit, die gerade hier
in Betracht kommen, weil das Verständniss des Gelesenen
erst auf einem so weiten Umwege erfolgt. Dass von solchem
Verständniss keine Rede mehr ist, wenn der Lesevorgang
selbst Schwierigkeiten bietet, wird durch die Analogie mit
unserem Verhalten beim Lesenlernen klar, und wir werden
uns hüten müssen, den Wegfall eines solchen Verständ-
nisses für Anzeichen einer Bahnunterbrechung zu halten.
Das Lautlesen ist für keinen anderen Vorgang zu halten,
als das Leiselesen, ausser dass es die Aufmerksamkeit von
dem sensorischen Theil des Lesevorganges abziehen hilft.
5. Wir lernen schreiben, indem wir die visuellen
Bilder der Buchstaben durch Innervationsbilder der Hand
reproduciren, bis gleiche oder ähnliche visuelle Bilder ent-
standen sind. In der Regel sind die Schriftbilder den Lese-
bildern nur ähnlich und superassociirt, da wir Druckschrift
lesen und Handschrift schreiben lernen. Das Schreiben
erweist sich als ein verhältnissmässig einfacher und nicht
so leicht wie das Lesen zu störender Vorgang.
6. Es ist anzunehmen, dass wir die einzelnen Sprach-
functionen auch späterhin auf denselben Associationswegen
ausüben, auf welchen wir sie erlernt haben. Es mögen
dabei Abkürzungen und Vertretungen stattfinden, aber es
ist nicht immer leicht zu sagen, von welcher Natur. Die Bedeu-
tung derselben wird noch durch die Bemerkung herabgesetzt,
dass in Fällen von organischer Läsion der Sprachapparat
wahrscheinlich als Ganzes einigermassen geschädigt und
zur Rückkehr zu den primären, gesicherten und umständ-
licheren Associationsweisen genöthigt sein wird. Für das
Lesen macht sich bei Geübten unzweifelhaft der Einfluss
Pnnnl^ Original f rann
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beim Lesen und Schreiben.
79
des „visuellen Wortbild es" geltend* so dass einzelne
Worte (Eigennamen) auch mit Umgehung des Buchstab irens
gelesen werden können.
Das Wort ist also eine complexe, aus den angeführten
Bildern bestehende Vorstellung oder, anders ausgedrückt,
dem Wort entspricht ein verwickelter Associationsvorgang ?
den die aufgeführten Elemente visueller, akustischer und
kinästhetischer Herkunft miteinander eingehen.
Fig. 8-
■ \ J^\Mße&t-Ässomatiöncn,
J
Wort*
[ ^Ki&tttfhild
( L— - — " ~
Betv#$ungs biid
P syc ho logisch es Schema der Wortvoreteilung.
Die Wortvnrwhdlung erscheint als ein abgeschlossener Vorstellungscomplex,
die Ob jeetvor Stellung dagegen als ein offener. Die Wortvürstellung ist nicht
von allen ihren Bcstundth eilen, sondern blas vom Klangbild hei" mit der
Objectvorstcllung verknüpft Unter den Objecto sociatlünen sind es die
visuellen, welche das Object in ähnlicher Weise vertreten wie das Klangbild
das Wort vertritt. Die Verbindungen des Wortklangbild es mit anderen
Objectassociationen als den visuellen sind nicht eingezeichnet.
Das Wort erlangt aber seine Bedeutung durch die Ver-
knüpfung mit der „Objectvorstellung" wenigstens wenn wir
unsere Betrachtung auf Substantiva beschränken. Die Object-
Vorstellung selbst ist wiederum ein Associationscomplex aus
den verschiedenartigsten visuellen, akustischen, taktilen, kin-
3V
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UNIVERSITYOF CALIFORNIA
80 Wort- und Objectvorstellung.
ästhetischen und anderen Vorstellungen. Wir entnehmen der
Philosophie, dass die Objectvorstellung ausserdem nichts
Anderes enthält, dass der Anschein eines „Dinges", für dessen
verschiedene „Eigenschaften" jene Sinneseindrücke sprechen,
nur dadurch zu Stande kommt, dass wir bei der Aufzählung
der Sinneseindrücke, die wir von einem Gegenstande er-
halten haben, noch die Möglichkeit einer grossen Reihe
neuer Eindrücke in derselben Associationskette hinzu nehmen
(J. S. Mill). 1 ) Die Objectvorstellung erscheint uns also
nicht als eine abgeschlossene, kaum als eine abschliess-
bare, während die Wortvorstellung uns als etwas Ab-
geschlossenes, wenngleich der Erweiterung Fähiges erscheint.
Die Behauptung, die wir auf Grund der Pathologie der
Sprachstörungen nun aufstellen müssen, geht dahin, dass
die Wortvorstellung mit ihrem sensibeln Ende
(vermittelst der Klangbilder) an die Objectvor-
stellung geknüpft ist. Wir gelangen somit dazu, zwei
Classen von Sprachstörung anzunehmen: 1. Eine Aphasie
erster Ordnung, verbale Aphasie, bei welcher blos die
Associationen zwischen den einzelnen Elementen der Wort-
vorstellung gestört sind, und 2. eine Aphasie zweiter Ord-
nung, asymbolische Aphasie, bei welcher die Association
von Wort- und Objectvorstellung gestört ist.
Ich verwende die Bezeichnung Asymbolie in anderem
Sinne, als seit Finkelnburg') gebräuchlich ist, weil mir die
Beziehung zwischen Wort und Objectvorstellung eher den
Namen einer „symbolischen" zu verdienen scheint, als die
zwischen Object und Objectvorstellung. Störungen im Er-
kennen von Gegenständen, welche Finkeinburg als Asym-
bolie zusammenfasst, möchte ich vorschlagen „Agnosie" zu
nennen. Es wäre nun möglich, dass agnos tische Störungen,
die nur bei doppelseitigen und ausgebreiteten Rindenläsionen
*) J. St Mill, Logik I, Cap. III, und: An examination of Sir William
Hamiltons philosophy.
*) Nach Spam er, Ueber Aphasie und Asymbolie, nebst Versuch
einer Theorie der Sprachbildung. Archiv f. Psych. VI, 1876.
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Die drei Arten von Aphasie. 81
zu Stande kommen können, auch eine Störung der Sprache
mit sich ziehen, da alle Anregungen zum spontanen Sprechen
aus dem Gebiet der Objectassociationen stammen. Solche
Sprachstörungen würde ich Aphasien dritter Ordnung
oder agnostische Aphasien heissen. Die Klinik hat uns
in der That einige Fälle kennen gelehrt, welche diese
Auffassung fordern.
Die erste dieser agnostischen Aphasien ist ein Fall
von F arges, 1 ) der schlecht beobachtet und durch die
Bezeichnung „Aphasie chez une tactile" auch in möglichst
unpassender Weise gedeutet worden ist. Doch hoffe ich so
viel klärstellen zu können, als zur Erkennung des That-
bestandes hinreicht.
Es handelte sich um eine Kranke, die aus cerebraler
Ursache erblindet war, also wahrscheinlich doppelseitige
Rindenherde hatte. Dieselbe reagirte nicht auf Anreden
und wiederholte unaufhörlich, wenn man sich mit ihr in
Verbindung setzen wollte: „Je ne veux pas, je ne peux
pas !" im Tone der äussersten Ungeduld. Sie erkannte den
Arzt auch nicht an seiner Stimme. Sobald der Arzt ihr
aber den Puls fühlte, ihr also eine Tastvorstellung zukommen
liess, erkannte sie ihn, nannte richtig seinen Namen, unter-
hielt sich mit ihm ohne Sprachstörung u. s. w., bis er ihre
Hand freiliess und dadurch wieder für sie unerreichbar
wurde. Dasselbe geschah, wenn man ihr eine Tastvorstellung
(Geruchs-, Geschmackvorstellung) von einem Object ver-
schaffte. So lange sie dieselbe hatte, verfügte sie auch über
die erforderten Worte und benahm sich in zweckmässiger
Weise; sobald ihr dieselbe entzogen war, wiederholte sie
ihre monotone Betheuerung der Ungeduld, oder sprach
unzusammenhängende Silben und erwies sich dem Sprach-
verständniss unzugänglich. Diese Kranke hatte also einen
vollkommen intacten Sprachapparat, über den sie so lange
nicht verfügen konnte, bis er nicht von den allein erhaltenen
Objectassociationen aus angeregt worden war.
*) F arges, Aphasie chez une tactile. L'ence'phale. 1885. Nr. 5.
F r eu d, Aphasie. ß
{~*rw~»nlr* Original from
jyviwglt UNIVERSITYOF CALIFORNIA
82 Die agnostische Aphasie.
Eine zweite solche Beobachtung hat CS. Freund 1 ) ver-
anlasst, die Kategorie der optischen Aphasie aufzustellen.
Freund's Kranker zeigte Schwierigkeiten beim spontanen
Sprechen und beim Benennen der Gegenstände ganz wie
bei sensorischer Aphasie durch Läsion des akustischen
Gebietes. Eine „Kerze" nannte er z. B. eine „Brille";
bei nochmaligem Ansehen sagte er: „Es ist halt so zum
Aufsetzen, ein Cylinder", hierauf: „Es ist doch halt mal ein
Stearinlicht." Liess man ihn aber den Gegenstand bei
geschlossenen Augen in die Hand nehmen, so fand er
schnell den richtigen Namen. Der Sprachapparat war also
intact, er reagirte blos fehlerhaft von den optischen Object-
associationen her, während er bei Anregung von den
tactilen Objectassociationen richtig arbeitete. Der Einfluss
der Störung in den Objectassociationen geht im Falle
Freund's übrigens nicht so weit wie in dem von
F arges. Freund' s Kranker verschlechterte sich pro-
gressiv, wurde später vollkommen worttaub und zeigte
bei der Section Läsionen, die nicht nur das Sehgebiet,
sondern auch das Sprachgebiet betrafen.
Die Thatsache, dass Störungen in den optischen
Elementen der Objectvorstellungen eine solche Einwirkung
auf die Sprachfunction üben können, erklärt sich daraus,
dass die Gesichtsbilder die hervorragendsten und wichtigsten
Bestandtheile unserer Objectvorstellungen sind. Wenn sich
bei einem Menschen die Denkarbeit wesentlich mit Hilfe dieser
optischen Bilder vollzieht, wofür nach Charcot individuelle
Ausprägung massgebend ist, müssen doppelseitige Läsionen im
optischen Rindengebiet Störungen auch der Sprachfunctionen
hervorrufen, die weit über das durch Localisation Erklärbare
hinausgehen. Farges hätte seine Beobachtung mit weit mehr
Eecht als „Aphasie chez une visuelle" bezeichnen dürfen.
Während diese Fälle von agnostischer Aphasie auf
functioneller Fernwirkung ohne organische Läsion des
Sprachapparates beruhen, muss bei den Fällen von ver-
*) C. S. Freund, Ueber optische Aphasie und Seelenblindheit. Arch.
f. Psych. XX, 1889.
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Anatomisches Schema des Sprachap parates.
83
baier und ^symbolischer Aphasie die Läsion des Sprach-
apparates selbst zum Ausdrucke kommen. Wir werden uns
jetzt bemühen, hier die functionelien wie die topischen
Fit?. &
Anatomisches Schema des Sprachassociationsfeldes,
Zur Erklärung des Anscheines von Sprachcentren. Die Rindenfelder des
Akustkus, Opticus, des Armes und der Sprachmuseulatur sind durch Kreise
schematisirt; die von ihnen in das Innere des Sprachfeldes gelangenden
Associationsbahiien durch Strahlenbüsehel dargestellt. Wo letztere durch
die von ihren Ursprüngen angeschnittenen Büschel gekreuzt werden, entsteht
ein „Centrum" für das betreffende Associationselement Für das Akusticus-
feld sind die doppelseitigen Verbindungen nicht eingezeichnet, theils um
die Figur nicht zu verwirren t theils wegen der Unklarheit, die gerade über
das Verhältnis von Hörfeld und akustischem Sprachcentrum besteht. —
Die Verbindungen mit dem Opticusfeld auch räumlich in zwei Eündel zu
zerlegen, gestattet die Erwägung, dass zur Lescassociiition die Atigen-
bewegungen in besonderer Weise herangezogen sind*
Momente, die bei der Erklärung dieser Sprachstörungen
iu Betracht kommen, möglichst zu sondern.
Wir entwerfen uns ein Schema, welches von den ge-
naueren anatomischen Lage Verhältnissen absieht und nur die
Beziehungen der einzelnen Elemente der Sprachassociationen
darstellen soll (Fig. 9)* Wir stellen in demselben durch
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84 Die reine Asyrabolie.
Kreise nicht die sogenannten Centren der Sprache, sondern
die Rindenfelder dar, zwischen denen die Sprachassociationen
verlaufen. Die ihnen zunächst anstossenden Partien des
Sprachfeldes gewinnen die Bedeutung von Sprachcentren
durch die (bei der Hand, der Sprachmusculatur und beim
Opticus eingezeichneten) gekreuzten Verbindungen mit der
anderen Hemisphäre. Es ergibt sich dann, dass es drei Sprach-
störungen gibt, welche in der verbalen Aphasie dieLocalisation
einer Läsion zum Ausdruck bringen. Sitzt die Läsion nämlich
in den, den Eindenfeldern benachbarten, als Centren der
Sprache bekannten Theilen des Sprachfeldes, so wird sie zum
Effect haben, dass die: 1. Uebertragung auf die Sprach-
bahn, 2. auf die Schreibbahn der Hand, 3. das Erkennen
der Buchstaben unmöglich ist, somit dass uncomplicirte
motorische Aphasie, Agraphie, Buchstabenalexie entsteht.
Je weiter central die Läsion ins Sprachfeld hineinrückt,
desto weniger wird ihr Effect sich als Ausschaltung eines
der Elemente aus den Sprachassociationen geltend machen,
und desto mehr wird die Erscheinung der Sprachstörung
von den functionellen Momenten abhängen, welche für den
Sprachapparat unabhängig von dem Orte der Läsion be-
stimmend sind. Wir können also in der verbalen Aphasie
blos den Ausfall einzelner der Associationsele-
mente auf Localisation beziehen und durch solche
erklären. Es wird die Sicherheit der Diagnose fördern,
wenn sich die Läsion zwar nicht tiefer ins Sprachgebiet,
aber wohl weiter in die dasselbe begrenzenden Rinden-
felder erstreckt, wenn also die motorische Aphasie von
einer Hemiplegie, die Alexie von einer Hemianopsie
begleitet ist.
Die asymbolische Sprachstörung kann in einzelnen
Fällen rein und als Folge einer Läsion, welche nicht aus-
gebreitet ist, und senkrecht auf die Associationsrichtung
verläuft, vorliegen. So ist es im Falle von Heubner, der
eine geradezu ideale Abtrennung des Sprachgebietes von
seinen Associationen durch einen Erweichungsherd aufzeigt,
der um den Knoten des Sprachgebietes, die akustische Region,
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Die Echolalie. 85
herumläuft. Asymbolische Sprachstörung ohne Complication
(mit Erhaltung aller Wortassociationen) kann sich vielleicht
auch durch einen blos functionellen Zustand des ganzen
Sprac happarates ergeben, denn Manches deutet darauf hin,
dass die Verbindung von Wort- und Objectvorstellung der
erschöpf barste Theil der Sprachleistung ist, gewissem assen
ihr schwacher Punkt. Pick hat z. B. in einer interessanten
Arbeit der vorübergehenden Worttaubheit nach epileptischen
Anfallen Aufmerksamkeit geschenkt ! ) Die von ihm beobachtete
Kranke zeigte während der Erholung vom Anfalle asym-
bolische Sprachstörung. Sie war früher im Stande, Vor-
gesprochenes zu wiederholen, ehe sie es verstand.
Die Erscheinung der Echolalie, des Wiederholens von
Fragen, scheint durchaus der asymbolischen Störung zuzu-
gehören. In manchen dieser Fälle, z. B. in dem von
Skwortzoff 2 ) (Obs. x) und Fränkel 3 ) (bei Ballet)
erweist sich die Echolalie als ein Mittel, die erschwerte
Beziehung des Gehörten zu den Objectassociationen durch
Verstärkung der Wortklänge zu erreichen. Diese Kranken
verstanden nämlich die Frage nicht unmittelbar, verstanden
sie aber und konnten sie beantworten, nachdem sie sie
wiederholt hatten. Wir werden uns an dieser Stelle auch
der Aufstellung von Ch. Bastian erinnern, dass ein
Sprachcentrum, das in seiner Function geschädigt ist, zuerst
die Fähigkeit verliert, auf „willkürliche' ' Anregung hin zu
arbeiten, während es noch auf sensibeln Anreiz und in
Association mit anderen Sprachcentren leistungsfähig
bleiben kann. Jede „willkürliche" Anregung der Sprach-
centren geht aber durch das Gebiet der akustischen Vor-
stellungen und besteht in einer Anregung derselben von
den Objectassociationen aus.
1 ) Pick, Zur Localisation einseitiger Gehörshallucinationen nebst
Bemerkungen über transitoriscbe Worttaubheit. Jahrb. f. Psych. VIII. 1889
und 1. c. Arch. f. Psych. XXII, 1891.
2 ) Skwortzoff, De la ce'cite' et de la surdite* des mots dans Taphasie.
Paris 1881.
3 ) Ballet, Le langage inte*rieur et les diverses formes de Taphasie.
Paris 1886.
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86 Die gemischte asymbolisch- verbale Aphasie.
Wir finden so, dass die Entstehung einer sogenannten
transcorticalen sensorischen Aphasie auf Läsion beruhen
kann, aber jedenfalls auch functionell begünstigt ist.
Beiderlei Momente wirken hier in derselben Richtung.
Häufiger als die reine Asymbolie ist die gemischte
asymbolisch-verbale Aphasie durch Läsion des akustischen
Elementes der Sprache. Da alle anderen Verbalassociationen
an das Klangbild anknüpfen, wird eine irgend ausgiebige
Läsion des Sprachgebietes in der Nähe des Akusticusfeldes
beides zur Folge haben, sowohl die Unterbrechung der
Wortassociationen untereinander, als die Störung der
Wortassociation mit den Objectassociationen. Das so resul-
tirende Bild ist das der sensorischen Aphasie Wer nicke's,
welches auch Störungen im Lesevers tändniss, im Sprechen
und Nachsprechen in sich fasst. Das Gebiet, um dessen
Läsion es sich handelt, ist wahrscheinlich so gross, dass
bei kleineren Läsionen bald die verbale, bald die asym-
bolische Störung sich reiner ausprägt. Eine genaue ana-
tomische Kenntniss der Stellen, an denen die verschieden-
artigen Bahnen des akustischen Sprachfeldes einlangen
wäre natürlich für alle Zwecke einer genaueren Localisation
unentbehrlich. Eine solche ist derzeit nicht vorhanden.
Wir dürfen nur annehmen, dass die wichtigste Associa-
tionsrichtung für die Symbolassociation die zum optischen
Rindenfeld ist, da unter den Objectassociationen die optischen
Erinnerungsbilder gewöhnlich die Hauptrolle spielen. Sind
diese Associationen unmöglich, so kann das Sprachfeld
allerdings noch Impulse von der übrigen Rinde, nämlich
von den tactilen, gustativen und anderen Associationen her
erhalten, es kann überhaupt noch zum Sprechen angeregt
werden. Wir erklären uns so, dass das spontane Sprechen
bei noch so ausgeprägter asymbolisch -verbaler Aphasie
nicht aufgehoben ist, aber die Charaktere der Verarmung
an Redetheilen von enger Bedeutung zeigt. Diese (Haupt-
wörter, Eigenschaftswörter) wurden meist auf optische
Anregung hin gesprochen. Auf die Anregung von den
anderen Objectassociationen her, welche wahrscheinlich an
Pnnnl^ Original f rann
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Die sogenannte optische Aphasie. 87
anderen Stellen des akustischen Feldes eintreten, producirt
das Sprachfeld eben eine verstümmelte Sprache, oder es
überträgt alle in ihm möglichen Anregungen, welche keiner
engeren Objectassociation bedürfen, wie Partikeln, Silben
(Kauderwelsch), auf die motorische Sprachbahn.
Wir erinnern uns, dass zwischen der (allerdings sehr
ausgebreiteten) Rindenendigung des Opticus und der
des Akusticus nicht nur die Associationsbahnen verlaufen,
welche Wort- und Objectvorstellung verknüpfen, sondern
auch die Bahn, welche das Verständniss der visuellen Buch-
stabenbilder ermöglicht. Es ist also möglich, dass bei
gewisser Localisation eine Lesestörung nebst einer asym-
bolischen Sprachstörung aus Gründen anatomischer Con-
tiguität zu Stande kommt, und die Klinik zeigt, dass eine
derartige Combination von Alexie mit grösseren oder
geringeren Graden von Asymbolie thatsächlich bei Erkran-
kung des parietalen Randes der ersten Urwindung beob-
achtet wird. Das Zusammentreffen der beiden Symptome
ist aber, wie gesagt, kein nothwendiges. Läsionen dieser
Region erzeugen sonst nur Alexie" als rein verbale Störung;
wenn ausserdem Asymbolie entstehen soll, so müssen
doppelseitige Läsionen des optischen Rindengebietes vor-
handen sein. In der Nähe des akustischen Sprachgebietes
entsteht Asymbolie bereits in Folge einseitiger Läsion
(wegen der Verbindung des „Sprachcentrums" mit den
optischen Einstrahlungen aus beiden Hemisphären). Die
Combination von Asymbolie mit Worttaubheit kommt also
leichter zu Stande, als die von Asymbolie mit Alexie; die
erstere bedarf einer nur einseitigen Läsion in der Nähe des
akustischen Rindenfeldes, die zweite einer doppelseitigen
Läsion, die aber dann von letzterem entfernt liegen kann. 1 )
1 ) Es ist wahrscheinlich nicht ohne Bedeutung, dass die reine (nach
W ernicke subcorticale) Alexie so häufig bei Läsion des parietalen
Randes der ersten Urwindung (Gyrus angularis und supramarginalis) gefunden
wird. Wir erinnern uns, dass die Läsion des unteren Scheitelläppchens eine
dauernde Seiten Wendung beider Augen hervorruft, jene Art der Augen-
bewegung, die beim Lesen mit den visuellen Buchstabenbildern associirt wird-
Pnnnl^ Original f rann
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88 Reaction des Sprachapparates
C. S. Freund hat die in Eede stehende combinirte
Sprachstörung als optische Aphasie beschrieben, indes, wie
mir scheint, den Antheil der agnotischen Aphasie von dem
der asymbolischen hierbei nicht getrennt. 1 )
So weit, scheint es, können wir den Einfluss des
topischen Momentes der Läsion für die Symptomatologie der
Sprachstörungen verfolgen. Wir haben im Wesentlichen
herausgefunden, dass dieser Einfluss sich geltend macht,
wenn zwei Bedingungen erfüllt sind: 1. Wenn die Läsion
in einem der Sprachcentren in unserem Sinne (den extremen
Eegionen des Sprachassociationsfeldes) sitzt, und 2. wenn
sie dasselbe völlig functionsuntüchtig macht. Der Erfolg der
Läsion zeigt sich dann als Ausfall eines der Elemente, welche
mitsammen die Sprachassociationen eingehen. Für alle
anderen Fälle werden sich neben dem topischen Moment
functionelle Verhältnisse bemerkbar machen, und zwar
müssen wir dann unterscheiden, welche der beiden ange-
führten Bedingungen unerfüllt geblieben ist. Sitzt die
Läsion zwar in einem -der Knoten des Sprachapparates,
aber ohne denselben zu destruiren, so wird dieses Element
der Sprachassociation auf die Läsion als Ganzes mit einer
Veränderung seiner Functionsbedingungen reagiren. Es
kommen dann die Bastian'schen Modificationen zur Geltung.
Sitzt die Läsion dagegen central, so wird sie selbst bei
destructiver Wirkung nichts Anderes machen können, als
*) Siemerling (Ein Fall von sogenannter Seelenblindheit nebst
anderweitigen cerebralen Symptomen. Archiv f. Psych. XXI, 1890) hat
gezeigt, „dass es gelingt, experimentell einen Zustand hervorzurufen, welcher
dem der Seelenblindheit ähnlich ist, lediglich durch Herabsetzung der
Sehschärfe und durch Monochromasie". Was man aber so experimentell
erzeugt, deckt sich nicht völlig mit dem klinischen Bilde der optischen Agnosie.
Es kommt hinzu, dass der Kranke auf Grund seiner undeutlichen Wahr-
nehmungen illusionirt, während sich der Gesunde einfach unschlüssig
fühlt. Desgleichen illusioniren die Aphasischen mit Alexie oder Worttaub-
heit. Ein Kranker Boss' (1. c.) konnte stundenlang in der Zeitung lesen,
ohne sie zu verstehen ; er wunderte sich dann darüber, was für Unsinn man
jetzt in die Zeitung setze. Die Worttauben geben gewöhnlich Antwort, weil
sie vermeinen, eine Frage verstanden zu haben.
Pnnnl^ Original f rann
jy ijUUglt UNI VERSITY OF CALIFORNIA
auf central gelegene Läsionen. 89
solche Functionsherabsetzungen, wie ich sie nun aufzu-
zählen versuche, und wie sie sich aus der allgemeinen
Beschaffenheit eines Associationsapparates überhaupt er-
geben. Die Ausdehnung der Läsion beschränkt sich in
diesem Falle durch die Bemerkung, dass sie nach keiner
Seite ein Centrum berühren darf.
Wir stellen für die Beurtheilung der Function des
Sprachapparates unter pathologischen Verhältnissen den Satz
von Hughlings Jackson voran, dass alle diese Reactions-
weisen Fälle von functioneller Rückbildung (Dis-invo-
lution) des hochorganisirten Apparates darstellen, und somit
früheren Zuständen in dessen functioneller Entwickelung ent-
sprechen. Es wird also unter allen Bedingungen eine spät
entwickelte, höher stehende Associationsanordnung verloren
gehen, eine früh gewonnene, einfachere erhalten bleiben.
Unter diesem Gesichtspunkt erklärt sich eine grosse
Anzahl von Erscheinungen der Aphasie. 1. Zunächst der
Verlust neuer Spracherwerbungen als Superassociationen
bei Erhaltung der Muttersprache in Folge irgend einer
Erkrankung des Sprachapparates. Ferner die Natur der
Sprachreste bei motorischer Aphasie, wobei so häufig nur
„Ja" und „Nein" und andere seit Anfang des Sprechens
gebrauchte Worte der Verfügung des Kranken er halten bleiben.
2. Eine andere Behauptung kann lauten, dass die am
häufigsten eingeübten Associationen der Zerstörung
am ehesten widerstehen. Dahin gehört es, dass Agraphische
noch am ehesten ihren Namen schreiben können, sowie viele
Schreibunkundige gerade nur ihren Namen schreiben können.
(Eine Erhaltung des eigenen Namens bei motorischer Aphasie
kommt hingegen nicht vor und ist auch nicht zu erwarten,
weil wir unseren Namen sehr selten aussprechen.) Der
Einfluss des Berufes kann sich auf Grund dieses Satzes
sehr auffällig zeigen; so entnehme ich z. B. Hammond die
Beobachtung eines Schiffscapitäns, der, asymbolisch-aphasisch
geworden, alle Gegenstände mit dem Namen von Schiffs-
objecten bezeichnen musste. Auch ganze Sprachfunctionen
werden sich diesem Satze entsprechend bei Läsionen mehr
r*noltf> Original fronn
ayijUUglt UNIVERSITYOF CALIFORNIA
90 Functionelle Momente, die sich aus
oder minder widerstandsfähig verhalten. Ich bin geneigt,
den Fall des Advocaten bei Marcö, 1 ) in dessen Aphasie
das Schreiben nach dem Gehör besonders wenig geschädigt
war, mit dem Autor auf die Einübung dieser Leistungen
beim Aufnehmen der Informationen zu beziehen. Dass manche
Symptome der Aphasie bei Hochgebildeten anders ausfallen
als bei wenig Sprachfähigen, ist wohl zu erwarten und wäre
im Einzelnen zu verfolgen.
3. Dass das intensiv Associirte auch als Ergebniss eine s
seltenen Sprachvorganges eine die Läsion überdauernde
Kraft gewinnt, habe ich vorhin bei Erwähnung der Sprach-
reste, welche nach Hughlings Jackson letzte Worte
sind, angeführt.
4. Es ist ferner bemerkenswertb, dass Wortvorstellungen,
die zu Reihen associirt sind, besser erhalten werden als
einzelne, und dass Worte desto leichter erhalten bleiben,
je weitläufiger ihre Associationen sind. Ersteres gilt z. B.
für die Zahlenreihe, die Reihe der Wochentage, Monate u. s.w.
Der Kranke Grashey's konnte eine verlangte Zahl nicht
direct angeben, er half sich dadurch, dass er von Anfang
an zählte, bis er die verlangte Zahl erreicht hatte. Mitunter
kann die ganze Associationsreihe hergesagt werden, aber
nicht ein einzelnes Glied derselben, wofür Kussmaul
u. A. reichliche Beispiele erbringen. Ja, es kommt selbst
vor, dass Personen, die nicht ein Wort für sich heraus-
bringen, den ganzen Text zu einem Liede singen können.
5. Bei der Redestörung in Folge von Asymbolie sieht
man deutlich, dass diejenigen Worte am ehesten verloren
gehen, welche die engste Bedeutung haben, d. h. die nur
von wenigen und bestimmten Objectassociationen aus auf-
zufinden sind. — Eigennamen werden schon bei physiologischer
Amnesie am ehesten vergessen, bei Asymbolie leiden zunächst
die Hauptwörter, dann Eigenschaftswörter und Zeitwörter. 2 )
*) Bei Bastian, On the various forms etc. 1869.
2 j Vgl. hierzu Broadbent, A case of peculiar affection of speech
with commentary. Brain I, 1878—1879, pag. 494.
Pnnnl^ Original f rann
jy V^UUglt UNI VERSITY OF CALIFORNIA
der Natur eines Associationsapparates ergeben. 91
6. Die Einflüsse der Ermüdung bei längeren Associations-
vorgängen, der herabgesetzten Dauer der Sinneseindrücke,
der wechselnden und unsteten Aufmerksamkeit sind Momente,
die bei der Ausprägung einer Sprachstörung oft sehr auf-
fällig in Betracht kommen, aber keiner besonderen Belege
bedürfen.
Die meisten der hier zusammengestellten Momente
ergeben sich aus den allgemeinen Eigenschaften eines auf
Association eingerichteten Apparates und haben in ähn-
licher Weise für die Leistungen anderer Hirnbezirke unter
pathologischen Verhältnissen Geltung. Vielleicht das auf-
fälligste Gegenstück zur Rückbildung der Anordnungen im
Sprachbezirk bietet der Verlust des gesammten Gedächt-
nisses, also aller Eindenassociationen bis zu einer bestimmten
früheren Epoche, welcher gelegentlich nach Kopftrauma
beobachtet worden ist.
Wir haben bereits mehrmals die drei Stufen vermin-
derter Functionsfahigkeit besprochen, welche Ch. Bastian
für die Centren der Sprache aufgestellt hat. Wir können
dieselben annehmen, auch wenn wir von Centren der
Sprache im physiologischen Sinne absehen, indem wir sagen,
der optische, akustische, kinästhetische Bestandtheil des
Sprachapparates sei noch unter diesen oder jenen Bedin-
gungen leistungsfähig. Dabei wollen wir noch im Auge
behalten, dass die Bastian'schen Modificationen haupt-
sächlich für Läsionen nicht völlig destruirender Natur
gerade unserer Centren Geltung haben werden, denn
wenn die Läsion nicht alle Sprachelemente einer Herkunft
betrifft, wie dies bei ihrem Sitz an den Sammelpunkten der
Fall ist, wird die Function des intact gebliebenen Nerven-
gewebes die des beschädigten ersetzen und deren Schädigung
verdecken. Hinter einer solchen Behauptung steckt natür-
lich die Anschauung, dass eine einzelne Nervenfaser und-
Nervenzelle nicht für eine einzigeSprachassociationsleistung
in Anspruch genommen wird, sondern dass hier ein complicir-
teres Verhältniss obwaltet.
Pnnnl^ Original from
ayVjUUgK, UNIVERSITYOF CALIFORNIA
92 Functionelle Modificationen des akustischen Elementes.
Die Bastian'schen Modificationen stellen in gewissem
Sinne gleichfalls Grade von Dis-involution, functioneller
Eückbildung dar. Ich halte es aber für zweckmässig, die-
selben für jedes Element der Sprachassociationsthätigkeit
besonders in Erörterung zu ziehen.
1. Das akustische Element ist das einzige, welches
auf drei verschiedene Arten von Anregung hin arbeitet.
Die von Bastian „willkürlich" genannte besteht in der
Anregung von den Objectassociationen, genauer ausgedrückt
von aller anderen Kindenthätigkeit her. Sie ist, wie wir
gehört haben, diejenige, welche bei Schädigung des
akustischen Centrums am leichtesten versagt, woraus eine
partielle asymbolische Störung resultirt. Die Kundgebung
letzterer besteht in Störung der spontanen Sprache und
des willkürlichen Nennens von Gegenständen, in leichtesten
Fällen in Schwierigkeit des Auffindens von Worten enger
Bedeutung und geringer Associationsweite.
Die associative Thätigkeit des akustischen Elementes
steht im Mittelpunkte der gesammten Sprachfunction. Einen
Fall von willkürlichem Versagen bei Erhaltung der Associa-
tionsfähigkeit mit dem visuellen Element illustrirt das Beispiel
von Grashey und das von Graves. Beispiele dafür, dass
das akustische Element keine Association mehr leistet,
während es noch auf directen Anreiz arbeitet, kann ich
nicht auffinden; .ein solcher Zustand fällt wahrscheinlich
mit der völligen Leistungsunfähigkeit zusammen, da die
Arbeit des akustischen Centrums in der Association und
nicht in einer Uebertragung auf eine zur Peripherie
laufende Bahn besteht. Dagegen mag der Fall vorkommen,
dass das akustische Element auf peripherische Anregung
zwar noch Verbalassociationen, aber nicht mehr die Symbol-
association herzustellen vermag. Diese Störung würde sich
wiederum durch Asymbolie (Lichtheim's transcorticale
sensorische Aphasie) verrathen. Wir sind geneigt, daraus
zu schliessen, dass letztere Form der Sprachstörung so-
wohl durch eine Läsion im akustischen Centrum selbst,
als durch eine entferntere Läsion zwischen akustischem
Pnnnl^ Original f rann
jy V^UUglt UNI VERSITY OF CALIFORNIA
Die Wortschwerhörigkeit. 93
Centrum und optischem Eindengebiet erzeugt werden kann.
Im ersteren Falle wäre sie functionell, im zweiten topisch
begründet
Die Unerregbarkeit der akustischen Elemente, die
sich als Worttaubheit kundgibt, ist wohl jedesmal als
topisches Symptom zu deuten. Eine Ausnahme scheint für
jene ziemlich dunklen Fälle zu gelten, die ich nur bei
Arnaud 1 ) erwähnt finde und als Wortschwerhörigkeit
bezeichnen möchte. Ihre Auffassung muss davon ausgehen,
dass sie jedesmal einen erheblichen Grad von gemeiner und
doppelseitiger Schwerhörigkeit aufweisen. Diese Kranken
sprechen völlig correct, verstehen aber nur mühsam
bei besonders langsamer und deutlicher Articulation des
Vorgesprochenen. Da sie dann ein lückenloses und un-
bedenkliches Sprachverständniss zeigen, muss man von
der Annahme einer centralen Läsion im akustischen Sprach-
gebiete absehen. Der Unterschied im Verhalten dieser
Kranken von dem gemein Schwerhörigen liegt nur darin,
dass letztere gleichzeitig mit dem Hören verstehen, d. h.
associiren, während bei ersteren das Sprachverständniss
erst beginnt, wenn der peripherische Reiz gewisse Schwellen-
werthe überschritten hat.
Das Wortverständniss bei peripherischer Anregung
haben wir uns wahrscheinlich nicht als blosse Fortleitung
von den akustischen Elementen zu denen der Objectasso-
ciationen zu denken; vielmehr dürfte beim verständniss-
vollen Anhören einer Eede von den akustischen Elementen
aus gleichzeitig die Verbalassociationsthätigkeit angeregt
werden, so dass wir das Gehörte innerlich in gewissem
Masse nachsprechen und dann das Verständniss gleichzeitig
auf unsere Sprachinnervationsgefühle stützen. Ein höherer
Grad von Aufmerksamkeit beim Zuhören wird mit einer
erheblicheren Uebertragung des Gehörten auf die motorische
Sprachbahn einhergehen. Man kann sich vorstellen, dass
Echolalie dann eintritt, wenn sich der Associations-
*) Arnaud, Contribution ä lMtude clinique de la Surdite* verbale.
Arch. de Neurol. Mars 1877.
C* nnnlp Original fronn
jy ijUUglt UNI VERSITY OF CALIFORNIA
94 Modificationen des visuellen Elementes.
leitung zu den Objectassociationen hin ein Hinderniss
entgegenstellt, wo dann die gesammte Erregung sich in
stärkerem, also lautem Nachsprechen äussert.
2. Das visuelle Element steht nicht in directer Ver-
bindung mit den Objectassociationen (unsere Schriftzeichen
sind nicht wie die anderer Völker directe Symbole von
Begriffen, sondern von Klängen); es entfällt also bei ihm
die Würdigung der willkürlichen Anregung. Es tritt zu-
meist auf peripherische Anregung in Thätigkeit, und der
Fall, dass es blos associativ in Anspruch genommen wird,
liegt beim spontanen Schreiben vor. Als Ausdruck der
Schädigung des visuellen Sprachelementes darf nur das
Nichterkennen von Buchstaben betrachtet werden, da das
„Lesen" eine weit complicirtere Function ist, welche bei
sehr mannigfachen Läsionen 'geschädigt werden kann. Hier
scheint nun der abnorme Fall vorzukommen, dass ein
Element nicht mehr zur peripherischen Anregung geeignet
ist, associative aber noch gestattet. Es gibt nämlich Fälle,
wo Buchstabenbilder nicht erkannt werden, dabei aber gut
geschrieben wird. Wem icke nennt solche Fälle subcor-
ticale Alexie und erklärt sie localisatorisch, durch topische
Momente der Läsion. Er unterscheidet drei Störungen des
Lesens, bei denen der sonstige Wortbegriff (C) intact ist
(Fig. 10). 1. Die corticale Alexie charakterisirt durch aufge-
hobeneFähigkeit zu lesen und zu schreiben. 2. Die subcorticale
Alexie: Aufgehobene Fähigkeit zu lesen. Schreiben ohne
jede Störung mit Ausnahme des Schreibens nach Vorlage.
3. Transcorticale Alexie: Aufgehobene Fähigkeit zu lesen
und zu schreiben bis auf das erhaltene Vermögen, Ge-
drucktes und Geschriebenes mechanisch zu copiren.
Der Einwand gegen das Schema für die Störungen
des Buchstabenlesens ist ein einfacher. Wenn die Unter-
brechung bei der subcorticalen Alexie auf der peripherischen
Bahn sitzt, die zu a führt, so gelangt von dem vorgelegten
Buchstaben kein Eindruck in die Rinde, er wird nicht
gesehen und kann daher auch nicht nachgeahmt werden. Es
müsste denn sein, dass jeder solche Buchstabe auf zwei
Pnnnl^ Original f rann
jy V^UUglt UNI VERSITY OF CALIFORNIA
Die so genannte subcorticale Alexie.
95
Bahnen gesehen wird, von denen ihn die eine als gewöhn-
liches visuelles Object, die andere als Sprachsymbol auf-
fasst. Bei der sogenannten subcorticalen Worttaubheit
konnte dieser Einwand nicht gemacht werden, denn das
nicht gehörte Wort wird auch nicht nachgesprochen. Da
der nicht erkannte Buchstabe aber nachgeahmt werden
kann, ist die Annahme, dass er in Folge einer Läsion vor
a nicht erkannt wird, ausgeschlossen ; es handelt sich um
keine Störung in der
Wahrnehmung, sondern
um eine Störung in der
Association, Wer nicke
unterscheidet allerdings
zur Rettung seines Erklä-
rungsversuches^Cüpiren"
von „ Nachzeichnen" Aber
ich halte dafür, dass für
beide motorischen Lei-
stungen die Unterbre-
chung vor a ein Hinder-
niss abgibt, wenn wir
nicht in der That an-
nehmen, dass ein Buch-
stabenbüd auf zweierlei
peripherischen Bahnen
ins Gehirn gelangt, als
Fig. 10.
Wernicke's Schema der Lesestörnngen
(Die neueren Arbeiten über Aphasie,
Fortschritte der Medicin, 1886, p. 464),
a das optische Schriftbild* ß das moto-
rische C entmin der Schreibbewegungen,
c = a-|-& der WortbegrilT.
gemeines Object und
als Object für die Sprache. 1 )
Das Copiren unterscheidet sich vom Nachzeichnen
entweder blos graduell durch die grössere Leichtigkeit,
die das Verständniss der Vorlage mit sich bringt.
*) Mau könnte den Einwand erheben, dass dieser Fall thatsächlich vor-
liegt, da diese Alexis meist neben rechtsseitiger Hemianopsie gefunden wird»
Der Buchstabe würde mit der linken Hemisphäre als Object für die Sprache,
mit der rechten als gemeines Sehobject anfgefasst werden. Allein, dann
müsste jede rechtsseitige Hemianopsie mit Alexie complicirt sein, was nicht
der Fall ist.
Google
Original from
UNIVERSITYOF CALIFORNIA
96 Erklärung der subcorticalen Alexie.
es ist sonst dieselbe Handlung und vollzieht sich auf
derselben Bahn. Jeder von uns wird zum Nachzeichnen
ihm unverständlicher Zeichen einen hohen Grad von Auf-
merksamkeitbrauchen, der bei den Aphasischenim Allgemeinen
schwer zu Stande kommen wird. Oder aber das Copiren
besteht in einer Umsetzung der Druckbilder der Buchstaben
in Schriftbilder. Dieselbe erklärt sich daraus, dass wir
Druck- und Cursivschrift lesen, aber nicht Druckschrift
schreiben lernen, und zeigt sich unabhängig von dem
Verständniss des Gelesenen. Ein kleiner Patient Bernard' s
(Obs. V) war durch die Leichtigkeit und Sicherheit auf-
fällig, mit der er beim Copiren diese Umsetzung vollzog,
ohne im mindesten lesen zu können, was er copirte.
Ich glaube die Erklärung der sogenannten subcorticalen
Alexie anderswo suchen zu müssen. Wir erhalten beim
Schreiben wie beim Sprechen kinästhetische Empfindungen
von den Bewegungen, welche die betreffenden Muskeln
ausführen. Die kinästhetischen Empfindungen der Hand
sind aber deutlicher und intensiver als die der Sprachmus-
culatur, sei es weil wir diesen Empfindungen der Hand
auch für andere Functionen einen grossen Werth beizulegen
pflegen, sei es, weil sie noch mit visuellen Eindrücken
verknüpft sind. Wir sehen uns nämlich schreiben, sehen uns
aber nicht sprechen. Wir sind darum im Stande, direct von
den Klangbildern aus mit Hilfe der kinästhetischen Empfin-
dungen zu schreiben und das visuelle Element dabei zu
umgehen.
Bei der subcorticalen Alexie dürfen wir annehmen,
dass es sich um eine extreme Läsion im Sprachfelde handle,
da sie so häufig mit Hemianopsie zusammen vorkommt.
Der gesammte motorische Theil des Apparates kann also
bei ihr intact, und das Schreiben auf directem Wege von
den Klangbildern her möglich sein. In einigen dieser Fälle
subcorticaler Alexie wird, wie bereits früher erwähnt,
schreibend gelesen; die der directen Association mit dem
akustischen Element unfähigen Buchstabenbilder werden
durch die beim Nachzeichnen geweckten kinästhetischen
Pnnnl^ Original f rann
jy ijUUglt UNI VERSITY OF CALIFORNIA
Lesestörungen. 97
Empfindungen in diese Association, und somit zum Ver-
ständniss gebracht.
Fast alle Autoren, welche von den Schreib- und Lese-
störungen bei gemischter Aphasie Beispiele aufführen, geben
an, dass die Schreibstörung dabei eher mit der motorischen
Sprachstörung, als mit der Lesestörung gleichen Schritt hält.
Dies wäre unmöglich, wenn sich das Schreiben bei Geübteren
nicht unabhängig von den Buchstabenbildern gestaltet hätte.
Ich glaube, auch die Selbstbeobachtung zeigt, dass man
sich ausser bei Fremdwörtern, Eigennamen und Worten, die
man nur lesend gelernt hat, beim spontanen Schreiben nicht
an das visuelle Element anlehnt. ')
Die Störung im Buchstabenerkennen bringt natürlicher-
weise auch die Unfähigkeit zu lesen mit sich. Dagegen
kann Lesestörung bei erhaltenem Vermögen die Buchstaben
zu erkennen vorhanden sein, und zwar in Folge sehr
verschiedenartiger Läsionen und Zustände, wie aus den
früheren Bemerkungen über die verwickelten Associations-
vorgänge beim Leseacte leicht begreiflich wird. Die Lese-
störung kann blos Folge einer leichten Erschöpfbarkeit
der visuellen Function sein, ohne dass dabei motorische
Aphasie oder akustische Associationsstörung besteht (z. B.
ein Fall von Bertholle bei Bernard; die von Berlin 2 )
sogenannteDy slexie). Man wird diesenFall daran erkennen,
dass der Leseunfahigkeit ein für kurze Zeit gelingender
Buchstabirversuch vorausgeht, und ihn in dem Sinne deuten,
dass das geschädigte visuelle Element zwar der einfacheren
Leistung, die visuellen Bilder einmalmit dem akustischen
oder kinästhetischen Element zu associiren, gewachsen ist,
der mehrfachen Wiederholung und richtigen Anordnung
i ) Ich glaube, manche physiologische und individuelle Eigenthümlichkeit
des Gedächtnisses erklärt sich aus der wechselnden RoUe der einzelnen
Erinnerungselemente. Man kann ein sehr gutes Gedächtniss besitzen und
doch Eigennamen und Zahlen nicht behalten können. Personen, welche sich
durch ein besonderes Namen- und Zahlengedächtniss auszeichnen, sind
visuelle, d. h. sie erinnern sich mit Vorliebe in Objectbildern, auch
wenn sie in Klangbildern denken,
2 ) Berlin, Eine besondere Art der Wortblindheit (Dyslexie) 1887.
Freud, Aphasie. 7
f^rtnnlf* Original fronn
jy ijUUglt UNI VERSITY OF CALIFORNIA
98 Das motorische Sprachassociationselement.
dieser Leistungen aber, — welche, um zum Lesen zu führen,
noch mit einer gewissen Raschheit ablaufen müssen, — nicht
nachzukommen vermag. Es ist dies ein Fall von Verlust der
complicirteren Leistung bei Erhaltung der einfacheren.
Die Lesestörung kann ebensowohl Ergebniss einer
Schädigung des motorischen und anderemale des akustischen
Sprachelementes sein, wobei natürlich eine diagnostische
Bedeutung derselben wegfällt. Ich glaube, man kann im
Allgemeinen behaupten, dass motorische Aphasie sowohl
das Leseverständniss wie das sogenannte mechanische Lesen
aufhebt, da das Leseverständniss erst nach der Uebertragung
der Erregung von den visuellen Elementen auf die moto-
rischen durch die Association letzterer mit den akustischen
Elementen zu Stande kommt. Bei akustischer Läsion dagegen,
sowie bei Asymbolie kann das rein mechanische Lesen
erhalten bleiben. Im Uebrigen bereitet die Erklärung der
Lesestörungen, auf die ich im Einzelnen einzugehen nicht
beabsichtige, manche Schwierigkeiten, die weder durch
blos topische Momente noch durch die Annahme bekannter
Functionsveränderungen zu erledigen sind. Es bleiben in
complexen Fällen bald diese, bald jene Stücke der Function
erhalten, wahrscheinlich je nachdem von den Elementen,
die zur Association nach einer bestimmten Richtung dienen,
hier oder dort eine grössere Anzahl leistungsfähig ge-
blieben ist.
3. Das motorische Element (Innervations- und
Bewegungsbild) bietet unserer Betrachtung geringere
Schwierigkeiten. Wir nehmen an, dass für dasselbe will-
kürliche und associative Anregung meist zusammenfällt,
da beim spontanen Sprechen über die Klangbilder gesprochen
wird. Auch die sogenannte peripherische Anregung ist
eine Association, da sie entweder (beim Nachsprechen) von
dem akustischen, oder (beim Lautlesen) vom visuellen Ele-
mente her erfolgt Es scheint der Fall vorzukommen, dass
letztere Anregung Erfolg hat, während die erstere versagt
und umgekehrt. In der sogenannten transcorticalen moto-
rischen Aphasie haben wir den Fall kennen gelernt, dass das
Pnnnlp Original f rann
jy ijUUglt UNI VERSITY OF CALIFORNIA
Probleme in der motorischen Aphasie. 99
motorische Element auf peripherisch-associative Anregung
noch leistungsfähig ist, während es auf willkürlich-
associative versagt.
Im Uebrigen bietet die Auffassung der ältest- und best-
bekannten Form der Sprachstörung, der motorischen
Aphasie, mehr Schwierigkeiten, als man meinen sollte. Wir
haben der Unsicherheit bereits Erwähnung gethan, ob bei
motorischer Aphasie die symbolische Associationsleistung
(willkürliches Erwecken der Klangbilder) in der That
ungeschädigt ist. Die Sicherstellung des Gegentheils würde
zeigen, dass Ausschaltung des motorischen Elementes einen
ebensolchen schwächenden Einfluss auf die Function des
akustischen Elementes hat, wie wir ihn in umgekehrter
Einwirkung bereits lange kennen. Unerklärt sind ferner
die Fälle von motorischer Aphasie mit Buchstabenblindheit,
die man kaum auf zufälliges Zusammentreffen beziehen
kann. 1 ) Endlich harrt die Thatsache einer befriedigenden
Aufklärung, dass die Fälle von totalem motorischen Sprach-
verlust so häufig sind, die von Einschränkung des Sprach-
schatzes auf die Hälfte, ein Drittel so gut wie gar nicht
vorkommen. Fälle letzterer Art stellen sich bei genauerer
Analyse stets als sensorische Aphasien heraus. Es scheint,
dass, sobald eine Läsion geeignet ist, die motorische Sprach-
leistung zu stören, sie dieselbe meist auch vollständig (bis
auf die bekannten kärglichen Sprachreste) vernichtet. *
Es gibt hier sozusagen keine Parese, sondern blos
eine Paralyse. Auch die Unfähigkeit der meisten Fälle von
motorischer Aphasie zur Besserung verdient Beachtung. Die-
selbe steht in grellem Gegensatze zur plötzlichen und völligen
Wiederkehr der Sprache in anderen Fällen. Dass eine Sprach-
losigkeit in den ersten Tagen nach der Erkrankung keiner-
lei diagnostische Bedeutung besitzt, ist selbstverständlich.
Eine solche kann erfolgen, wo immer die Läsion sitzen mag*
und begreift sich aus der Erschütterung des Apparates, der
bis dahin gewöhnt war, mit allen seinen Mitteln zu arbeiten.
*) Einen anderen solchen Fall bei Bernard (1. c), p. 125.
7*
Pnnnl^ Original f rann
jy V^UUglt UNI VERSITY OF CALIFORNIA
100 Charcot's Gesichtspunkt der
4. Auf eine ähnliche Erörterung für das cheiro-
motorische Element gedenke ich nicht einzugehen. Einige
für dasselbe wichtige Bemerkungen sind bei der Erörterung
der visuellen Sprachthätigkeit vorgebracht worden.
Dagegen muss ich 'einen interessanten und wichtigen
Gesichtspunkt würdigen, dessen Einführung in die Lehre
von der Aphasie wir Charcot 1 ) verdanken, weil dessen
Annahme uns nöthigen würde, unsere Erklärungsbemühungen
in noch höherem Masse einzuschränken. Wir sind von der
Voraussetzung ausgegangen, dass trotz einer allseitigen
Associationsmöglichkeit zwischen den Elementen der Sprach-
function doch bei der functionellen Thätigkeit gewisse
Associationsrichtungen bevorzugt sind, so dass die Patho-
logie der Sprachstörungen nicht mit allen möglichen, son-
dern nur mit einer bestimmten Anzahl von Associationen
zwischen den Sprachelementen zu rechnen hat. Wir haben
ferner angenommen, dass dies jene Associationsrichtungen
sind, welche beim Erlernen der Sprachleistungen in Betracht
kamen. Für die Auffassung Charcot's besteht eine solche
allgemein giltige Auszeichnung einzelner Associations-
richtungen nicht ; alle Verknüpfungen zwischen den Sprach-
elementen erscheinen zunächst gleich functionsberechtigt,
und es ist der individuellen Einübung oder der individuellen
Organisation überlassen, dieses oder jenes der Sprach-
elemente zum Zusammenhalt, zum Knoten für die anderen
zu machen. Demnach spräche, schriebe, läse der Eine vor-
wiegend oder ausschliesslich mit Hilfe seiner kinästhe-
tischen Empfindungselemente, der Andere bediente sich zu
demselben Zwecke der visuellen u. s. w. Eine durchgehende
Abhängigkeit der Sprachassociationsthätigkeit von der
Betheiligung der akustischen Elemente würde entfallen.
Man sieht leicht ein, wie sich unter Voraussetzung
einer solchen Beziehung die Sprachstörungen bei denselben
! ) Charcot, Neue Vorlesungen etc. 1886. — Ausserdem die Arbeiten
seiner Schüler Ballet, Bernard und Marie.
Pnnnl^ Original f rann
jy ijUUglt UNI VERSITY OF CALIFORNIA
individuellen Variation in der Sprachassociation. 101
Läsionen verschieden gestalten müssten. Wer ein „motorischer
Sprecher" ist, der könnte eine Schädigung der akustischen
und visuellen Elemente mit kaum merklichem Effecte ver-
tragen ; eine Schädigung des motorischen Elementes würde
ihn nahezu aller Sprachleistungen, nicht nur der motorischen,
berauben. Ein „visueller" Sprecher würde in Folge einer
Läsion des visuellen Elementes nicht nur buchstabenblind,
er könnte sich des ganzen Sprechapparates nicht mehr
oder nur in kümmerlichster Weise bedienen. Die Diagnostik
der Aphasie würde in die gröbsten Irrthümer verfallen,
wenn sie aus dem Functionsausfall einen Schluss auf Sitz
und Ausdehnung der Läsion machen wollte, ohne sich vor-
her der Kenntniss der individuellen Bevorzugung eines ein-
zelnen Elementes versichert zu haben. Diese Kenntniss
wäre in den seltensten Fällen zu erwerben.
Es hat noch Niemand den erwähnten Gesichtspunkt
Charcot's gänzlich abweisen wollen. Es steht aber doch
dahin, wie weit dessen Bedeutung für die Lehre von den
Sprachstörungen reichen mag. Extreme Forderungen, wie
sie z. B. von Stricker 1 ) für den hervorragenden Werth
des motorischen Elementes beim Sprechen erhoben worden
sind, hat Ch. Bastian mit der Bemerkung zurückgewiesen:
er warte zunächst, bis ihm ein Fall gezeigt werde, dass
ein Mensch nach Zerstörung der Broca'schen Stelle wort-
taub geworden sei. Ich glaube, dass die Pathologie der
Sprachstörungen bisher keinen Anlass gefunden hat, der
Vermuthung Charcot's eine grosse Bedeutung für die
grobe Erscheinung des Functionsausfalles einzuräumen.
Es ist ja auch die Möglichkeit nicht auszuschliessen, dass
eine solche gewohnheitsmässige Bevorzugung des einen
oder anderen Elementes der Sprachassociation besteht, so
lange der Sprachapparat über alle seine Mittel verfügt,
dass aber in Fällen von Erkrankung, bei allgemeiner Herab-
setzung der Associationsleistung, die Bedeutung der ur-
sprünglich eingeübten Associationsrichtungen wieder her-
*) Stricker, Studien über die Sprachrorstellungen 1880.
Pnnnl^ Original f rann
jy ijUUglt UNI VERSITY OF CALIFORNIA
102 Zusammenfassung.
vortritt. Gewiss wäre es aber Unrecht, an die Idee
Charcot's ganz zu vergessen und sich zu einer schema-
tischen Starrheit in der Deutung der Sprachstörungen
verführen zu lassen. „Different amounts of nervous arrange-
ments in differents positions are destroyed with different
rapidity in different persons" sagt Hughlings Jackson.
Wir können nun den Weg übersehen, den wir in
dieser Abhandlung zurückgelegt haben: Wir sind von der
Entdeckung Broca's ausgegangen, der zuerst eine
bestimmte Form von Sprachstörung, die motorische
Aphasie (die er Aphemie nannte), an die Läsion einer
bestimmten Hirnrindenstelle geknüpft hat. Indem Wernicke
diese That für eine zweite Form der Aphasie wiederholte,
war der Weg eröffnet, verschiedene Sprachstörungen durch
verschiedene Localisationen der Läsion zu erklären.
Wernicke unterschied in aller Strenge Centren und
Leitungsbahnen der Sprache, charakterisirte die Centren
als Ablagerungsstätten von Erinnerungsbildern und stellte
neben den beiden früher erwähnten Hauptformen eine
Leitungsaphasie auf. Indem dann Lichtheim auf die
wahrscheinlichen Verbindungen der Sprachcentren mit der
übrigen Hirnrinde Eücksicht nahm, vermehrte er die An-
zahl der Leitungsaphasien und versuchte eine grössere
Mannigfaltigkeit der Formen von Sprachstörung als sub-
corticale und transcorticale Aphasien zu erklären. Somit
war ein Gegensatz von Centrumaphasien und Leitungs-
aphasien als Schlüssel zum Verständniss der Sprach-
störungen gegeben. Andererseits verliess Grashey in der
Erklärung der Amnesien ganz den Boden der Erklärung
durch Jjocalisation und führte eine Classe von Sprach-
störungen in einer scharfsinnigen Analyse auf Veränderung
einer functionellen Constanten im Sprachapparat zurück.
Damit schieden sich die Sprachstörungen in zwei Classen,
die Aphasien durch localisirte Läsion und die Amnesien
durch nirgends localisirte functionelle Veränderung.
Pnnnl^ Original f rann
jy ijUUglt UNI VERSITY OF CALIFORNIA
Zusammenfassung. 103
Wir sind von der Absicht ausgegangen zu prüfen, ob
die Localisation wirklich so viel für die Erklärung der
Sprachstörungen zu leisten vermöge, worin die Frage
eingeschlossen war, ob man berechtigt ist, Centren und
Leitungsbahnen der Sprache und denselben entsprechende
Sprachstörungen zu unterscheiden. Wir haben zunächst
die Leitungsaphasie Wernicke's analysirt und gefunden,
dass dieselbe nach Wernicke's Schema selbst andere
Charaktere haben sollte, als er ihr zuschreibt, Charaktere,
die man übrigens wahrscheinlich niemals verwirklicht finden
wird. Nunhaben wir uns einer Leitungsaphasie Lichtheim's,
der sogenannten transcorticalen motorischen Aphasie
zugewendet und auf Grund von mehreren Sectionsbefunden
dargethan, dass dieselbe in einer Läsion der Centren selbst
(des motorischen oder sensorischen) und nicht einer Leitungs-
bahn begründet ist, ja dass die Bahn, durch deren Läsion
Lichtheim diese Form erklärt, wahrscheinlich gar nicht
existirt. Im Verlaufe der Arbeit haben wir dann noch
andere sub- und transcorticale Aphasien in Erwägung
gezogen und jedesmal gefunden, dass es sich bei ihnen
um Läsionen der Rinde selbst handle. Nur der transcorti-
calen sensorischen Aphasie haben wir unter dem Namen
der „Asymbolie" eine besondere Localisation zugestehen
müssen. Ein Fall von Heubner bot unseren Ansichten
eine geradezu unersetzliche Stütze. Wir bedurften aber einer
Erklärung dafür, dass Läsionen von gleicher Lage (nur in
der Hirnrinde selbst gelegen) so verschiedene klinische
Bilder machen, und suchten dieselbe in der Annahme,
dass die sogenannten Sprachcentren auf unvollständig
destruirende Läsionen als Ganzes mit einer Functions-
veränderung reagiren. Die Arten dieser Functionsver-
änderung entnahmen wir Ch. Bastian, der drer patho-
logische Zustände eines Centrums kennt: 1. dessen Un-
erregbarkeit auf willkürliche Anregung bei Erhaltung der
Erregbarkeit auf associativem Wege und auf sensibeln
Reiz; 2. dessen Unerregbarkeit ausser durch sensibeln
Reiz; 3. dessen völlige Unerregbarkeit.
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104 Ergebnisse.
Während wir so zur Erklärung der sogenannten
Leitungsaphasien functionelle Momente heranzogen, mussten
wir bestreiten, dass Grashey die Erklärung eines Falles
von Amnesie durch Functionsveränderung allein gelungen
wäre. Wir wiesen auch hier das topische Moment der
Läsion nach und erklärten den Fall Grashey's mit Zu-
hilfenahme einer der Basti ansehen Modifikationen.
Somit hatten wir die Unterscheidung von Centrum- und
Leitungsaphasie und die Trennung von Aphasien und
Amnesien verworfen. Es oblag uns nun die Aufgabe, eine
andere Vorstellung vom Bau des Sprachapparates zu gewinnen
und anzugeben, in welcher Weise topische und functionelle
Momente bei den Störungen desselben zur Geltung kommen.
Wir haben also, nach einer kritischen Abschweifung
zur Meynert'schen Lehre vom Gehirnbaue und von der
Localisation der Vorstellungen in der Rinde, der Reihe
nach die Annahmen zurückgewiesen, dass man die Erin-
nerungsbilder, mit denen die Sprachfunction arbeitet,
anderswohin verlegen dürfe als den Vorgang, durch welchen
dieselben assoeiirt werden, dass die Association durch subcor-
ticale weisse Bündel besorgt werde, und dass die abgegrenzten
Sprachcentren durch ein functionsloses Gebiet getrennt
werden, welches der Besetzung durch neue Erwerbungen harrt.
Zu unserer Vorstellung vom Bau des Sprachapparates verhalf
uns die Wahrnehmung, dass die sogenannten Sprachcentren
nach aussen (randwärts) an andere Rindencentren, die für
die Sprachfunction bedeutsam sind, anstossen, während sie
nach innen (kernwärts) ein von der Localisation unbelegtes
Gebiet umgrenzen, das wahrscheinlich gleichfalls Sprachfeld
ist. Der Sprachapparat enthüllte sich uns also als ein
zusammenhängendes Stück Rindengebiet in der linken
Hemisphäre zwischen den Rindenendigungen des Hör- und
Sehnerven, der motorischen Sprach- und Armfasern. Die
diesen Rindenfeldern anstossenden Stücke des Sprachfeldes
erlangen — in nothwendig unbestimmter Begrenzung — die
Bedeutung von Sprachcentren im Sinne der pathologischen
Anatomie, nicht der Function, weil deren Läsion eines
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Ergebnisse. 105
der Elemente der Sprachassociation von der Verknüpfung
mit den anderen ausschliesst, was einer im Sprachfeld central
gelegenen Läsion nicht mehr gelingt. Wir fügten die Annahme
hinzu, dass dieses Sprachfeld durch weisse Fasern aus
der grossen Gehirncommissur auch mit den Eindenfeldern
der rechten Hemisphäre zusammenhängt, und dass diese
Verbindungen gleichfalls in die periphersten Theile des
Sprachfeldes (die Sprachcentren!) einstrahlen. Innerhalb
dieses Sprachfeldes anerkannten wir nur Leitungs-
aphasien — Aphasien durch Associationsunterbrechung,
und wir gestanden keiner subcorticalen Läsion die Eignung
zu, Aphasie zu erzeugen, da das Sprachfeld nur eine ihm
eigene Bahn zur Peripherie hat, das Bündel, welches durch
das Knie der inneren Kapsel geht, und dessen Läsion sich
durch Anarthrie verräth.
Indem wir dann die Wirkung von Läsionen auf diesen
Apparat in Betracht zogen, sahen wir, dass Läsionen
dreierlei Arten von Aphasie erzeugen können: 1. rein ver-
bale, 2. asymbolische und 3. agnostische Aphasie. Die Auf-
findung der letzteren war eine nothwendige Forderung
unserer Theorie, nach welcher die gleichzeitige Zerstörung
des rechten und linken Rindenfeldes für eines der in die
Sprachassociation verwobenen Elemente die gleiche Con-
sequenz haben musste wie die Zerstörung des einseitigen
Knotenpunktes für dieses Element.
In psychologischer Hinsicht haben wir das Wort als
einen Vorstellungscomplex erkannt, der an seinem sensibeln
Ende (vom Klangbild aus) mit dem Complex der Object-
vorstellungen zusammenhängt. Die verbale Aphasie haben
wir als eine Störung innerhalb des Wortcomplexes, die
asymbolische Aphasie als eine Abtrennung desselben von
den Objectassociationen, und die agnostische Aphasie als eine
rein functionelle Störung des Sprachapparates bezeichnet.
Endlich hat sich uns Folgendes als massgebend für
die Einwirkung von Läsionen auf den so aufgebauten
Sprachapparat ergeben: Es handelt sich darum, ob die
Läsion vollständig oder unvollständig destructiv, und ob
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106 Schlusswort.
sie im Innern oder an der Peripherie des Sprachfeldes
gelegen ist. Ist sie an der Peripherie des Sprach feldes
gelegen (also in einem der sogenannten Sprachcentren), so
wirkt sie topisch; je nachdem sie dann vollständig oder
nur unvollständig destruirt, ergibt sie blos einen Ausfall
eines der Elemente der Sprachassociation, oder versetzt
dieses Element in einen veränderten Functionszustand, wie
er durch die Bastian'schen Modificationen beschrieben ist.
Sitzt die Läsion im Sprachfelde central, so erleidet der
gesammte Sprachapparat Functionsstörungen, die sich aus
seiner Natur als Associationsmechanismus ergeben, und
deren Aufzählung wir versucht haben.
Ich weiss wohl, dass die vorstehenden Auseinander-
setzungen dem Leser keinen befriedigenden Eindruck hinter-
lassen habenkönnen. Ich habe eine bequeme und ansprechende
Theorie der Sprachstörungen zu erschüttern gesucht,
und wenn mir dies gelungen ist, nur minder Anschauliches
und minder Vollständiges an die erledigte Stelle bringen
können. Ich hoffe nur, dass die Auffassung, die ich ver-
treten habe, den wirklichen Verhältnissen besser gerecht
wird, und die wirklich vorhandenen Schwierigkeiten besser
ins Licht setzt. An solche klar bezeichnete Probleme
knüpft ja die weitere Erhellung eines wissenschaftlichen
Themas an. Den Kern meiner Meinung möchte ich noch
einmal in einigen kurzen Sätzen ausdrücken: Die früheren
Autoren über Aphasie, denen nur von einer Stelle in der
Grosshirnrinde eine besondere Beziehung zur Sprach-
störung bekannt war, sahen sich durch diese Unvollständig-
keit ihres Wissens gedrängt, die Erklärung der Mannigfaltig-
keit der Sprachstörungen in den functionellen Eigenthüm-
lichkeiten des Sprachapparates zu suchen. Nachdem
Wer nicke die Beziehung der nach ihm benannten Stelle
zur sensorischen Aphasie entdeckt hatte, musste sich die
Hoffnung ergeben, diese Mannigfaltigkeit ganz aus Ver-
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Schlusswort. 107
hältnissen der Localisation zu verstehen. Es scheint uns
nun, dass hierbei die Bedeutung des Momentes der Locali-
sation für die Aphasie überschätzt worden ist, und dass
wir Eecht daran thun werden, uns wiederum um die
Functionsbedingungen des Sprachapparates zu bekümmern.
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