a a I A
EN Ta er. ee ee En
*
Aue ——
a
—
ne iR
FILE
‘
=)
Er
F
—8
En ig
ae,
——
»
14 > *
J
- 24
N F z
u *
“Er “
*
—
* ?
— —
3
-}
—
*
⸗
*
— ä ——
a
cz; ? ke
— =
& * e
— * “ % -
“ r es x
’ > I
DZ ” — J
J f ‘
.. 2 r „ E
Br : —
2 * < Y
*
Tr
y -
h —
*
*
ne a —8
⸗ ee
—
4J— *
* * J
n. 2 ”
> J ⁊ +
’
A . ,
- ” - L
— —
—A4 — — v — T , —
ee er RT + ee, ———
= * re b \ Sri ‚
e an , * ee 7, Sea
— * 3» ae r I 5 Fu
— — Yo. ? Be *
* x
ae — —
ne EN BEP TREE TTS SE re 7 2 # .
x
* Bi
x
- .
, ITS
\
J
—
= —
44 v
Allgemeine
Kirchengeſchichte
von
A. F. Gfrörer,
Profefſor und Bibliothekar in Stuttgart.
Dritter Band.
weite Abtheilung.
— — SOPE—— =
Stuttgart.
Berlag von Adolph Krabbe,
1844.
Geſchichte
der chriſtlichen Kirche
ſiebenten bis zu Anfang des eilften Jahrhunderts
oder
von Mahomet bis zum Tode Pabſt Sylveſter's II.
Von
MH. F. Gfrörer,
Profeſſor und Bibliothekar in Stuttgart.
Zweite Abtheilung.
HER —
Stuttgart.
Berfaa von Adolph Krabbe.
1844. |
r na
En LO. ei
{ an rt 26er
Pe
4 — 3—
>
ap ERBEN
r 8 yuilayieie Ten un a one, don
4 wur ‘ » a ! e
3 193 7 7 VE * —
a . « F Ph £
1 IE
- | i $ *
Mur 5 — A j IR
— Be Th, Sa 1" * ar Pin.
a4 PR k a. F E)
\ * 4 ot Pi —— % er - *
—9— is a MR i
3 GERR J —
Im
N ® E
wi - 7
“
F-% £
Neuntes Rapitel.
Die fränkifhe Kirche vom Anfang des ficbenten Jahrhunderts bis zum Tode
Karls des Großen. Pipin von Heriftall und fein Gefhleht, Karl Mlartel,
Pipin der Kleine, Karl der Große. Paulinus von Aquileja, Cheodulf von
‚Orleans, Alkuin, Paul der Langobarde, Wiederherſtellung der Kirchenzucht,
Verhältniſſe der Ziſchöfe. Einführung der Zehnten. Die karolinifchen Bücher. Der
adoptianifche Streit. Elipandus von Toledo, Felie von Urgel. Pie Synode von
Frankfurt, Wicdererridtung des abendländifgen Kaiſerthums. Unterjohung und
Dekehrung der Sachſen. Die teutſche Kirche unter Karl,
-
Chlodwig der Franfe hatte, wie wir im zweiten Bande vorlie:
genden Werkes gezeigt, die Mitglieder des Clerus, den er im er-
oberten Gallien vorfand, Theil an der Beute nehmen lafjen und
reich gemacht, aber unter der Bedingung, daß die Bifchöfe den
Eroberern an die Hand gehen und ihre Herrichaft unterftügen.
Dagegen behielten die Merowinger fih das Recht vor, in die innern
Angelegenheiten der Kirche nach Belieben einzugreifen, Bifchöfe ein-
und abzufegen, diefelben vor ihr Gericht zu ziehen, fo wie Stühle zu
verfaufen. Daß ſchon im fechsten Jahrhundert Beifpiele von Eifer:
fucht der Könige gegen den Reichthum des Clerus hervortraten,
haben wir an einem andern Orte nachgewiefen. ) Schlimme Zeiten
brachen für den gallifchen Clerus an, feit durch die ewigen Theis
fungen, wie durch die wachfende Fäulniß des merowingifchen Stam-
mes, das von Chlodwig gegründete Neich verfiel, Bon Nun an
hatte die Geiftlichfeit nicht blos gegen die Habfucht der Könige zu
fämpfen, fondern der ganze germanifche Adel, von feiner Fräftigen
Fauſt mehr niedergehalten, begann nad den Gütern der Kirche zu
angeln, die er als eine feinem Stande vorenthaltene Beute betrad)-
tete. Wir verftehen dieß nicht fo, als ob mächtige Familien vom
Stamme der Eroberer geradezu Befigungen der Kirche an ſich
geriffen hätten — obgleich folche Fälle haufig vorfamen — fondern,
was für die Kirche noch ſchlimmer — die Eroberer fiengen an in
) I. Bd. S, 1029 Mitte,
u,
904 I. Bud. Kapitel 9.
den Clerus einzutreten, um fo auf gefeglichem Wege fich ihren An:
theil an den geiftlichen Reichthümern zu verfchaffen. Ueber das Zahl:
verhältniß der Cleriker vomanifcher Abfunft zu denen aus germani-
fhem Stamme giebt es — beim Mangel anderer Nachrichten — nur
eine Art der Berechnung, die zwar im Einzelnen öfters täufcht,
doch im Ganzen ein ziemlich ficheres Ergebniß liefert: wir meinen
den Schluß aus den Namen der Bifchofe, welche öffentliche noch
vorhandene Alten unterfchrieben haben. Es mag zumeilen gefchehen
feyn, daß geborene Gallier fränfifhe, und umgefehrt geborene
Franken oder Burgunder latinifche oder griechiihe Namen führten.
Dennoch darf man als Negel annehmen, daß jede der beiden Na—
tionen Namen ihrer Sprache trug. Die vorausgefegt, geht aus
der Bergleihung der auf uns gefommenen Namensperzeichniffe von
Biſchöfen des Franfenreihs Folgendes hervor: in der erften Hälfte
des fechsten Jahrhunderts — alſo in den Anfängen der Eroberung —
bat die bei Weitem überwiegende Mehrzahl der Bifchöfe Tatinifche
oder griechifche Namen, in der zweiten Hälfte defielben Zeitraums
nehmen die teutfchen Namen überhand, im fiebenten Sahrhundert
dagegen Fehrt fich das frühere Verhältnig um; teutſche Namen der
Biſchöfe find das Gewöhnliche, Yateinifche bilden die Ausnahme.
Daraus ergiebt fih denn, daß während Chlodwig und feine nächſten
Nachfolger das Bisthum den angefehenen eingebornen Familien
überlaffen hatten, ſpäter fränfifche Adelige in den hohen Clerus
eingedrungen find, was auch mit andern Spuren übereinftimmt.
Diefe Beränderung war weder für die Geiftlichfeit noch für bie
Kirche Heilfam. Der fränfifhe Nachwuchs bradte, wenn er ſich
auch zur Noth den unumgänglichen Vorſchriften geiftlicher Zucht
unterwarf, den angeborenen germanifchen Hang zur Unbotmäßigfeit,
den Troß, den Uebermuth, die rohen Sitten feines Stammes in
den Clerus herüber. Geiftliche, welche Sporen trugen, öffentlich im
Wehrgehenf erfchienen, Meuten von Jagdhunden hielten, mehr im
Forfte, als am Altar fih fehen ließen, Naufer und Säufer im
bifhöffihen Gewande, wurden immer häufiger. Die Synodalver⸗
faffung und bie Kirchenzucht verfiel noch eher ald der merowingifche
Königsftamm So tiefe Wurzeln hatte jedoch römische Bildung in
Gallien getrieben, daß ſich in die eifernen Zeiten des fiebenten
Sahrhunderts hinein Spuren davon erhielten. Bis nad ſechs—
hundert Iebte der Teste römiſche Dichter yon älterem Schlage,
Die fränkische Kirche vom Anfange des fiebenten Jahrhunderts ıc. 555
Benantius Honorius Clementianus Fortunatus. Geboren um 540 bei
Treviſo in Italien, wuchs er während ber Testen Zeiten oftgothifcher
Macht auf, und empfieng in den Schulen zu Ravenna eine wiffen-
Schaftliche Erziehung, die feine dichteriſche Ader entwidelte. Um 565
machte er eine Reife nach Frankreih, wohin ihm der Auf eines
gewandten Verſemachers vorangieng. Die vornehmen und reichen
Gallier von römischer Abfunft, welche noch Liebe für die alte
Literatur fühlten oder zur Schau trugen, nahmen den italienifchen
Gelehrten mit offenen Armen auf. Bon Mainz bis Bordeaux, von
Touloufe bis Cöln durchreiste er Francien, überall die Bifchöfe,
Senatoren, Grafen befuchend, und auch bei den fränkifhen Großen
gerne gefehen. Durch Gedichte, die er dem Charakter und ber
Berufweife feiner Gönner anzupaffen wußte, vergalt er ihre Gaftfreund-
haft. Auch die Gunft des Königs Sigebert yon Metz gewann
er, indem er die Heurath beffelben mit der Weftgothin Brunehild
durch noch vorhandene Berfe befang. Dauernder und ehrenvoller
für ihn war feine Verbindung mit der Föniglichen Vorſteherin des
Srauenklofters zu Poitiers. Nadegundis, eine thüringifche
Fürftentochter , in zarter Jugend von den Franken gefangen, hatte
fich mit Heldenmuth dem verhaßten Ehebette des Königs Chlotar 1.
von Spißons, ter zugleich ihr Gemahl aber auch der Mörder
ihres Bruders und der Unterdrüder ihres Bolfes war, um 545
entwunden und den Schleier genommen. Sie fliftete ſeit—
dem ein Klofter zu Poitiers, das eine viel befuchte Zuflucht
Hätte fir die Töchter gallifcher Senatoren wurde. Bier bes
fuchte fie Venantius Fortunatus, und die Klofterfrauen bewiefen
dem italienifhen Schöngeiſt fo viel Aufmerkfamfeit, daß er
fih in Poitiers feft feßte und der Neihe nach das Amt eines Rath:
gebers, Geheimfchreibers, Gefchäftführers und Capellans der Aeb—
tifjin übernahm. Seine Gedichte geben Aufſchluß über die innerften
Berhältniffe des dortigen Kloflers.') Er wurde nad 595 zum
Biſchofe von Poitiers erhoben, und ftarb als folder in dem erfien
Jahrzehend des fiebenten Jahrhunderts. Venantius war ein Lebes
mann, welcher ber ehernen Zeit, in der er ſich bewegte, die heiterfte
Seite abzugewinnen verfiand. Wir befigen von ihm nicht blos Verſe,
) Man vergleiche die ſchöne Entwicklung Thierry's recits des lems
merovingiens, IIèmo edition, second vol, ©, 284 flg.
556 11. Buch. Kapitel 9.
fondern auch einige profaifche Aufſätze geiftlichen Inhalts und Lebens:
befchreibungen von Heiligen. ) An Gewandtheit und glüdlichen
Einfällen fehlt es ihm nicht, dagegen Fleben ihm die Mängel der
finfenden römifchen Literatur, Schwulſt, und kindiſche Spielereien
in hohem Grade an, auch der Sprache thut er Gewalt. Die Rolle,
welche er als junger Mann in Gallien fpielte, beweist freilich weniger,
daß noch Studien blühten, als daß ſich von früher her eine gewiffe
Adtung für Literatur erhalten hatte. Vom Anfange bis zur Mitte
des fiebenten Jahrhunterts gab es im Franfenreiche, außer etlichen
dunfeln Berfaffern Heiliger-Gefchichten, feinen Schriftfteller, der
irgend Diefen Namen verdient. Um 650 dagegen fchrieb ein fonft
unbefannter Sranfe, den man vielleicht mit Unrecht Fredegarius
nennt und durch den Beinamen Scholaftifus auszeichnet, eine Fort:
ſetzung der fränfifchen Gefchichte Gregor’s von Tours, welche bis
zum Jahre 641 reiht. Da Fredegar ber Einzige ift, welcher ung
über diefen Zeitraum Nachrichten mittheilt, fo muß man für feine
Arbeit dankbar fein, ob er gleich fehr fehlecht fchreibt und wenig
Beruf zum Gefchichtfchreiber bethätigt. *) Ungefähr in diefelbe Zeit
fällt eine Sammlung yon Formeln für Urkunden, Verträge und
andere Akten der Art, welche ein Mönch Namens Marfulf zufam:
mentrug. Diefelbe ift in zwei Bücher eingetheilt, deren erftes
Formulare für Ausfertigungen der füniglihen Kanzlei (praecep-
tiones regales) enthält; das zweite giebt Vorfchriften zur Abfaffung
von gerichtlichen Aufſätzen des alltäglichen Lebens (chartae pagenses).
Markulf's Arbeit hat viel Achnlichfeit mit dem fogenannten liber
diurnus der Päbfte, von welchem wir oben banbdelten, 3) fie ift
jedoch Alter. Der Berfaffer lebte im Sprengel von Paris, er hat
— — — ——
Die beſte Ausgabe feiner Werke lieferte A. Luchi Romae 1786, 1787,
2 vol. Ato. — 2) Fredegar's Werk iſt eigentlich eine Weltchronik in fünf
Büchern. In den erften drei ftoppelt er Die Weltereigniffe von der Schöpfung
bis 561 nach Chriftus aus Eufebius, Zulius Afrifanus und andern Chroniften
zufammen. Abgedrucdt find fie bei Canisius lect. antig. in der Ausgabe des
Basnage Vol. II, ©. 154 fig. Das vierte Buch ift ein Auszug aus der
Hiftorie dis Gregorius von Tours. Erſt im fünften wird Fredegar ſelbſtſtän—
dige Duelle. Das vierte und fünfte Buch findet fich hinter Ruinart’s Ausgabe
der Werke Gregor's ©. 511 fig. Bier andere unbefannte Annaliften haben
fpäter die Ehronif Fredegar's weiter geführt; und zwar der Letzte derfelben big
zum Jahr Chriſti 768. Abgedruckt ift ihre magere Arbeit ebenvafelbft ©. 663 flg. —
3) ©, 489.
Die fränkiſche Kirche vom Anfange bes fiebenten Jahrhunderts ꝛc. 557
aud) feine Arbeit dem Erzbifchofe Landerich gewidmet, der um 650 auf
dem Stuhle von Paris faß. ) Das barbarifche Latein diefer Samm-
fung, welche für den öffentlichen Gebraud) beftimmt war, zeugt vom
Berfall der Studien zu jener Zeit, an ſich aber iſt Markulps Werk
wichtig, weil es einen erwünfchten Beitrag zur Kenntniß der gericht:
lichen und kirchlichen Verfaſſung des fränkiſchen Reiches Liefert. ?)
Nach dem Tode Dagobert’s tritt Das Verderbniß des mero—
wingifchen Stammes fihtbar hervor; jene Schattenfönige beginnen,
welche man mit dem Namen der Nichtöthuenden bezeichnet hat:
Sünglinge, die durch maaßlofe Vergeudung der Geſchlechtskraft vor
dem breißigften Jahre zu Greifen werden, Kinder, die im Mutter:
Yeibe vergiftet, kaum ſich entwideln fünnen. Die Regierungsgemalt
gieng nunmehr in die Hände der höchſten Hofbeamten über, bie
unter dem Namen majores domus fon feit der Eroberung be>
fanden, aber jest erſt ihre große politiiche Bedeutung erhielten.
Theilweife vererbte ſich auch die Politik der alten Könige auf fie.
Während die Merowinger noch felbft herrſchten, zeigte fich im Fran—
fenreiche eine doppelte Bewegung: römiſchen Leberlieferungen folgend,
firebten die Könige nad unumfchränfter Gewalt; der fränfifche
Adel Hinwiederum fuchte die perjünliche Freiheit zu wahren, welche.
feine Ahnen in den germanifchen Wäldern befeffen hatten. In den
weftlichen Provinzen des Reichs, wo die latinifchegallifhe Bevölkerung
überwog, hatte feit längerer Zeit bie erftere Nichtung gefiegt, in
Burgund dagegen und noch mehr in Aufter, welches letztere Land
bei Weitem zum größten Theile Einwohner teutſchen Stammes inne
hatten, behielt der Adel die Oberhand. Auch die Geiftlichfeit wurde
in diefen Kampf bineingeriffen. Major Domus in Weftfranfen
(Neufter) war feit 657 Ebruin, ein ausgezeichneter, aber auch ge-
waltthätiger Mann, eben fo fühn im Felde, als verfchlagen im
Rathe, und entfchloffen um jeden Preis die Fünigliche Alleinherr:
ſchaft aufrecht zu Halten. Nicht blos im ebengenannten Lande, fon:
dern auch in den beiden andern Bruchtheilen des merowingifchen
Neihs, in Burgund und Auftrien, welche unmündige Nachfommen
1) Siehe histoire litteraire de la France Vol. III, ©.566. — ?) Mar:
kulf's Formeln find im zweiten Band der capitularia regum francorum von
Steph. Baluzius (Paris 1780) ©. 569 fig. mit den Noten des erſten Heraus:
gebers Bignon, abgedruckt.
558 II, Buch. Kapitel 9.
Dagobert’s dem Namen nach beherrfchten, übte er die höchfte Ge:
walt aus. Eiferfüchtig auf feine Macht festen ihm die burgundifchen
Großen als ihr Partheihaupt den Biſchof von Autun Leodega:
rius entgegen, der um 616 aus einer vornehmen Familie geboren,
durch den Einfluß feines Oheims, des Bischofs Dido von Poitierg,
ſchon im zwangigften Jahre zum Diafon, dann zum Abt bes
Marentiusflofters ernannt worden war, und endlich um biefelbe
Zeit, da Ebruin die Würde des Major Domus in Neuftrien errang,
den Stuhl von Autun beftiegen hatte. Die galliihe Kirche verehrt
Leodegarius als einen Heiligen. In der Gefchichte ) fpielt er jedoch
eine andere Rolle. Der Bischof von Autun brachte eine Verbindung
der unzufriedenen Burgunder und Auftrafier zu Stande. Unver⸗
ſehens überfielen die vereinten Burgunder und Oftfranfen ben
Major Domus famınt feinem Werkzeug, den König Theoderich IIL.,
und nahmen Beide gefangen. Dan fhor fie zu Mönden und
fperrte den geweſenen König in das Klofter zu S. Denis, den Hof:
beamten in Lurueil ein. In Folge des Sieges wurde die Fünig-
liche Gewalt auf das befcheidene Maag der alten germanifchen
Einrichtungen herabgedrückt, und der Bischof von Autun zum Major
Domus von Burgund erhoben. Allein er fonnte ſich nicht lange
halten. Den Merowinger Childerich IL, den die Berfchwornen zu
ihrem Scheinfönig erforen, wandelte das Gelüfte an, felbft zu
berrfchen; er verbannte den aufgebrungenen Major Domus in daſ—
felbe Klofter son Lurueil, wo Ebruin, Leodegar’s Todfeind, gefangen
ſaß. Mit gleiher Strenge verfuhr er gegen mehrere Edelleute;
einen berfelben ließ er an einen Baum binden und halb zu Tode
geißeln. Dafür ward er von dem DBeleibigten auf ber Jagd er:
mordet. Man hat Urfache anzunehmen, daß Leodegarius von feinem
Gefängniß aus die Maafregeln der Feinde des ermordeten Königs
feitete. Sp wie die Nachricht vom Tode Childerich's IT. zu Lurueil
einlief, entfamen fowohl Leodegarius als Ebruin in verſchiedenen
Richtungen. Der Legtere brachte ein Heer zufammen und riß mit
Gewalt die Herrschaft in Neufter wieder an fih. Kaum befeftigt,
') Quellen: zwei Lebensbefchreibungen deſſelben, abgebrudt bei Mabillon
A. ord. S. B. II., 649 fig. Außerdem vergleiche man bie Tichtvolle Darftellung
in Fauriel's unfhägbarem Werfe: histoire de la Gaule meridionale II,
465 flg.
Die fränfifche Kirche vom Anfange des fiebenten Jahrhunderts ꝛc. 550
309 er gegen Leodegarius aus, der indeß fein Bisthum wieder an
getreten hatte, belagerte ihn in feiner Stadt Autun und bemächtigte
fich feiner Perfon. Ebruin ließ ihm erft Die Augen ausflechen, einige
Zeit fpäter ftellte er ihn vor eine Synode, die ihn der Ermordung
Childerich's IL. anflagte und ſchuldig erklärte, Nach furchtbaren
Martern wurde Leodegarius im Jahr 678 enthauptet. Da bie
galliſche Kirche ihn als ein Muſter priefterliher Tugend verehrte,
fann man aus feiner Geſchichte ermeffen, yon welchem Schlage die
andern Bifchöfe geweſen feyn mögen. Diefelbe Unbotmäßigfeit, wie
im Clerus, herrſchte auch in den Klöſtern. Wir begnügen uns
abermal ein Beifpiel anzuführen. In dem berühmten Inſelkloſter
Lering war um die Mitte des fiebenten Jahrhunderts die Zucht auf’s
Tieffte zerfallen. Um nun die Ordnung dafelbit wieder herzuftellen,
wurde durch einen dev Merowingiſchen Könige der Mönch Aigulf, welcher
wegen feiner firengen Lebensweife in großem Anfehen fand, zum
Abt der Brüderſchaft beftellt. ) Aigulf begann fein Gefchäft zuerft
mit gelinden, dann mit immer Fräftigern Mitteln. Zwei Mönche,
Arkadius und Columbus, festen den Beftrebungen des Abts einen
unbeugfamen Widerftand entgegen. Aigulf ſah ſich zuletzt genöthigt,
den Erſtern aus dem Kloſter fortzujagen. Columbus, der ſich dem
Scheine nach unterworfen hatte, blieb, fuhr aber in's Geheim fort,
die Brüder gegen den Abt aufzuhetzen. Indeſſen hatte Arkadius den
Schutz eines benachbarten Edelmann's Mummolus angerufen und dem—
ſelben vorgeſpiegelt, daß zu Lerins große Schätze aufgehäuft ſeyen.
Plötzlich überfällt er an der Spitze eines Haufens Bewaffneter, die
ihm Mummolus gegeben, das Kloſter, nimmt den Abt ſammt den
Mönchen, die ihm anhiengen, gefangen, reißt ihnen die Zungen
aus und bringt ſie nach der Inſel Capraria, wo die Unglücklichen
in einen Kerker geworfen werden. Die Rache der beiden Meute—
ver Arkadius und Columbus war damit noch nicht befriedigt.
Zwei Jahre fpäter fuchen fie ihre Schlachtonfer yon Neuem auf und
Ihlagen fie todt. Dieß gefhah um 675, alfo Furz vor der Hin—
richtung des Biſchofs Leodegarius. | Ä
Der Major Domus Ehruin verfolgte den Sieg, welchen er
über den Bilchof von Autun errungen. Straff zog er die Bande
der Negierungsgewalt an und demüthigte den Adel. Viele unzus
) Quelle; vita Aigulfi bei Mabillon a. a. O. ©. 628,
560 IM. Buch, Kapitel 9.
friedene Neuftrier flohen nad Dfifvancien, wo ſeitdem Pipin von
Heriftall, einer der begütertfien Grundbefiger Auftriens, als Bor:
fämpfer germanifcher Adelsrechte gegen das Königsthum, feine Rolle
zu fpielen begann. Pipin fammelte die verbannten Neuftrier um
ſich, und lieferte dem Major Domus 680 bei Laon eine Schlacht,
welche er verlor. " Pipin mußte das Land verlaffen, Auftrien ward
son Ehruin verheert und unterfocht. Der Sieg des Königthums
fchien für lange gefihert. Aber ſchon im folgenden Jahre fiel Ebruin
durch die Hand eines Adeligen, den er wegen Veruntreuung öffent⸗
licher Gelder zur Nechenfchaft gezogen hatte. Drei Major Domus,
die Schnell Hinter einander feine Stelle befleideten, hatten weder bie
Fähigkeiten noch das Glück Ebrum’s. Pipin erhob fih von Neuem
in Auftrien und fand großen Anhang. Im Jahre 687 gewann er
gegen die Neuftrier die entfcheidende Schlacht bei Teftri, welche bie
Macht feines Stammes begrüntet hat. In den nächften 27 Jahren
(von 687—714 da er ftarb), unterwarf er feiner mittelbaren oder
unmittelbaren Herrichaft Burgund, Neuftrien, Aquitanien, fo wie
die teutfchen Provinzen, welche die Meromwinger früher erobert. Die
teutfchen Stämme leiſteten ihm den hartnädigften Widerftand, zu
wiederholten Malen mußte Pipin fie züchtigen. Das ganze Erbe
der Söhne Chlodwig's gehorchte wieder einem Gebieter. Pipin fand
für gut, das Merowingifche Scheinfönigthum fortbeftehen zu laſſen;
er fegte nach und nach vier folcher Puppen ein, meift wählte er
Kinder dazu. Seine Abfiht war durch dieſe Auswahl auch bei
ben gutmüthigften Anhängern des Hergebrachten allmäplig den Mero-
wingifhen Stamm in Beratung zu bringen. Eben fo fihlau ver:
fuhr er mit der Würde der major domus, welche das gallifche Volk
feit hundert und fünfzig Jahren als unentbehrliches Anhängfel
Merowingiſcher Herrfcher zu verehren fich gewohnt hatte. Anfangs —
d. h. gleich nach dem Siege von Teſtri ließ er fich felbft zum Major
Domus von Neuftrien ernennen; fpäter aber nahm er den Titel
eines Fürften oder Herzogs der Franfen an, und gefellte feitdem
den Merowingiſchen Scheinfünigen feiner Wahl oberſte Hofmeifter
bei, die eben fo jung und unfühig als ihre Herren waren. Diefes
Amt follte in gleihem Verhältniß, wie die Merowingifche Krone,
entwürdigt werden. Man wird nun auch unfere oben ausgeſpro⸗
hene Bermuthung nicht mehr zu kühn finden, daß Pipin es war,
ber bie hriftlihe Zeitrechnung ſtatt der bisher üblichen königlichen
Die fränkiſche Kirche vom Anfange des fibenten Jahrhunderts ꝛc. 561
eingeführt hat. Beides, die zulegt genannte Maafregel und fein
Detragen gegen die Sprößlinge des alten Königshauſes verräth
einen Geift und M auf einen und dbenfelben Zweck berechnet.
Unter Pipin’s Regiment änderte fih die Stellung oder vielmehr
die Verderbniß der fränkiſchen Cleriſey nit. Denn war er nicht
als Haupt und Führer der Adelsparthei zur Herrfchaft gelangt,
und mußte er folglich nicht den Biſchöfen die Zügel fchießen Iaffen,
die, wie wir zeigten, größtentheils jenem Stande angehörten? Wir
wollen wieder an einem Beiſpiele darthun, welche Männer gegen
Ende der Regierung Pipin’s die fränkiſche Kirche Ienften. Seit 710
faß auf dem Stuhle von Aurerre Savarich, ein fränfifcher Adeliger.
AS die Nachricht von Pipin’s Tode einlief, befchloß er, die fchöne
Gelegenheit zu Gründung eines eigenen Fürſtenthums zu benügen,
fammelte eine Schaar Bewaffneter, und eroberte an ihrer Spiße
bie Sprengel oder Graffchaften Orleans, Nevers, Tournus, Ava-
Ion und Troyes. Berauſcht durch fein Glück, warb er ein noch
größeres Heer und rüdte gegen Lyon, welde Stabt er vielleicht
gleichfalls erobert hätte, wäre er nicht durch einen Blisftrahl 715
erihlagen worden. Seine Soldaten fahen in dem fihnellen Tod
des Biſchofs ein Zeichen göttlichen Zornes und Tiefen voll Schreden
auseinander. !) Gebt wird begreiflih, warum der hohe fränfifche
Clerus fo gar wenig für Befehrung der Teutfchen that, und warum
Pipin, dem diefe Angelegenheit aus politischen Gründen am Herzen
lag, als Sendboten vorzugsweife Iren und Angelfachfen verwendete.
Jene adeligen Jäger, Ritter, Zecher, Lebemänner, die auf den
Stühlen Galliens faßen, fühlten nicht für das Evangelium, noch
hatten fie Luft, um Ausbreitung der Kirche willen ihre Bequem
lichfeit aufzuopfern. Und wenn je Einige aus ihrer Mitte nad)
Teutſchland giengen, fo fuchten fie dort Pfründen, Macht, Reich:
thümer, wie Corbinian oder Emmeram.
Pipin hatte drei Söhne, zwei von feiner rechtmäßigen Gemah—
Iin Pleftrudis, Drogo und Grimoald, und einen Dritten von einer
Deifchläferin, Karl. Den beiden erfien war feine ganze Zärtlichkeit
zugewandt; fie follten au das Reich erben. Aber beide ftarben
vor dem Vater, Droge im Jahre 708 an einer Krankheit; Grimoald
fiel durch Mörderhände 714 kurz vor Pipin’s Tode. Den dritten
1) Bouquet script, rer, franc, Vol, III, 639 unten u. 640 oben.
Gfrörer, Kircheng. IE, 36
562 Al. Buch. Kapitel 9.
Sohn Karl hielt der Srankenherzog in engem Gewahrfam und be—
handelte ihn mit entſchiedener Abneigung; ohne Zweifel weil Pipin
dem weitverbreiteten Gerücht Glauben fchenfte "dag Karl die Haupt:
fhuld an Ermordung feines ‚begünftigten Halbbruders Grimoald
trage.» Bei dem Tode Pipin’s gieng die Herrfchaft an zwei unmün—⸗
dige Kinder Drogo's unter der Leitung ihrer Großmutter Plektrude
über. Alsbald empörten fih die Neuftrier gegen Pipin’s Wittwe,
fchlugen deren Heer und erhoben einen Merowinger ihrer Wahl, auf
den Thron, welchem fie den Major Domus Raginfred zur: Seite
festen. Raginfred verband fi) mit dem Herzoge der Friefen Rad—
bod, den wir von Früher her fennen, um gemeinfchaftlich Auftrien,
den Sig Pipin’scher Hausmacht, zu theilen. Im ihrer Noth juchten
die bedrohten Auftrafier Hülfe bei dem natürlichen Sohn Pipin’g,
fie zogen ihn aus feinem Gefüngniß hervor, und machten ihn zu
ihrem Haupte. Bon jest an begann Karl Martel’s glänzende Rolle.
Schwer war feine Aufgabe; er hat fie mit bewunderungswürdiger
Kraft und feltenem Glück gelöst. Er ftellte nah und nad nicht
blos die Macht feines Vaters wieder ber, fondern vergrößerte fie,
befreite Europa von dem drohenden Einbruche der Sararenen und
gründete ein Reich, das Gallien und Teutſchland umfaßte. Seit
dem Untergange der Oftgothen hatte der Deeident feinen folchen
Herrfcher mehr gefehen. Außer feinen großen perſönlichen Eigen-
Tchaften machten es ihm bauptfächlich zwei Maaßregeln möglich, ein
folhes Ziel zu erreichen. Wie fein Vater Pipin, trat Karl als
Beihüser der alten germanifchen Freiheiten auf. Das Necht der
Bolfsverfammlung und die Berathung öffentlicher Angelegenheiten
auf denfelben war unter den fpätern Merowingern in: Abgang
gekommen, Pipin führte Beides wieder ein. „Alljährlich zu Anfang
des Märzmonats,“ berichten ) die Zeitbücher von Meg, „berief
Pipin nad der Sitte der Vorfahren alle Franken zufammen.“
Daffelde that Karl Martel, und auch unter den folgenden Karo:
lingern find die Märzfelder geblieben: Yaute Zeugen davon, daß ber
Herrfcherftamm Pipin’s von Heriftall Dem, was man jest Dema⸗
gogie zu nennen pflegt, feine politifhe Größe verdankte. Doc) bie
Bolfsgunft, die Karl hiedurd gewann, würde ihn nicht allein zum
Diele geführt haben. Um das Heer, deſſen er zu den fortbauern:
') Annales Mettenses ad annum 692, Perz I; 320,
Die fränkiſche Kirche vom Anfange des firbenten Jahrhunderis ıc. 563
den. Kämpfen ‚bedurfte, welche feine ganze Negierung ausfüllen,
dauernd: an feine. Perſon zu feffeln, brauchte er noch andere Mittel,
Geld und Gut war im achten Jahrhundert zum Kriegführen ebenfo
nöthig als jest, Nun reichte aber fein Hausbelig bei Weiten nicht
aus zu Bezahlung feiner bewaffneten Anhänger, anderer Seits
hatten die Staatsgüter in, dem eroberten Lande, mit welchen Chlod-
wig und feine Nachfolger treue Dienſte gelohnt, längſt ihre Herren
gefunden. Wie war bier zu helfen? Karl Martel griff, nad) den
Gütern der Kirche! Der Clerus mußte die Koflen der Wiederher:
ftellung des fränfifchen Heiches und Farplingifhen Wachsthumes
tragen. Karl vergabte nicht blos einzelne Befigungen. verfchiedener
Kirchen, fondern ganze Abteien, ja auch viele Bisthümer zum
Nießbrauch an tapfere Soldaten, ') die dafür von geitlihen Ver—
pflichtungen weiter nichts übernahmen, als. einen glatt gefchornen
Fleck auf ihrem Kopfe. Und bald gefhah es auch, das folhe Sol—
baten-Bifchöfe und Aebte die erhaſchten Pfründen mit Glück auf ihre
Nachkommen zu bringen ftrebten, es fehlte nur noch ein Schritt, und
bie Kirche Galliens verwandelte ſich in eine Maſſe adeliger Erb-
leben. Unter vielen Fällen erregte einer fhon im achten Jahrhun—
dert großen Lärm. Milo, Sohn des Biihofs Liutwin von Trier,
riß nach feines Vaters Tode den erledigten Stuhl an fi) und er-
hielt von Karl Martel, deffen Anhänger und Soldat er war, auch
noch das Bisthum Rheims, aus welchem Nigobert vertrieben wurde.
Laffen wir. einen der alten Berichterftatter ?) felbft reden: „In jenen
Zeiten wütheten in der Landfhaft (Trier) Bürgerkrieg und vater-
mörberifche Kämpfe, da der Tyrann Karl die Bisthümer den Laien
preisgab, und den Bifchöfen alle Gewalt entzog. In Gefellichaft
biefes Karl zog Milo, Liutwin’s Sohn in den Krieg; derſelbige
hatte yon einem Cleriker nichts an fih als die Tonſur, und belei-
digte Gott durch feinen Wandel. Nachdem Karl den Sieg (bei
Biney im Jahr 717) errungen. hatte, ſchenkte ev Milo die Bis—
thümer Trier und Rheims. Damals wurden die Stühle ihrer
Güter beraubt, die Klöfter zerſtört, die Bande der Kirchenzucht
geſprengt; Geifilihe, Mönde, Priefter, Nonnen lebten ohne Regel
!) De major. dom. reg. bei Bouquet II., 700; gesta episcoporum trevi-
rens..ibid. III. 649. Chronicon Virdunense ibid, III. 364 unten. — 2) Den
Berfafler der gesta episc, Trevir. a. a. O.
36 *
564 Ul. Bug. Rapitel 9.
und Scheue.“ Gegen vierzig Jahre hielt fih Milo in den ange:
maßten Pfründen. Lange nachher führt noch Pabſt Hadrian I. in
einem feiner Briefe ') (775) bittere Klage über den Unfug, den
der Eindringling zu Rheims geftiftet. Man begreift nun, wie
Schwierig die Stellung des Bonifactus an dem Hofe Karl Martel's
feyn mußte, wo Männer, wie Milo, den größten Einfluß ausübten.
Das Berderben des galliihen Clerus, das fihon unter Pipin
und yor ihm groß genug war, hatte num feinen Gipfel erreicht.
Während die adeligen Kirchenhäupter des fiebenten Jahrhunderts,
obgleich ebenfalls Miethlinge, noch den Außern Schein bewahrten
und zur Noth die geifilichen Gefchäfte, das Lefen der Meffe, die
‚ Berwaltung der Saframente, beforgten, boten bie neuen Soldaten:
Bifchöfe allen Firchlichen Gefegen Hohn. Später, nachdem durch
Karl den Großen die firchlihe Ordnung mwieberhergeftellt war, hat bie
fränkiſche Geiftlichfeit für die Eingriffe Martel's in ihren Beſitz, an
dem Gedächtniffe feines Namens fchwere Nahe geübt. In einem
noch erhaltenen Schreiben ?) vom Jahre 854, das der Erzbiſchof
Hinemar von Rheims an den teutihen König Ludwig erließ, bevich-
tet derfelbe Folgendes: „Pipin’s des Franfenfönigs Bater, Karl
Martel, der zuerft unter allen fränfifchen Fürften gewagt hat, Kir:
hengüter anzutaften, lud wegen dieſes Frevels ewiges DBerberben
auf fih. Der heilige Eucherius, Bifchof von Orleans ward einft
im Gebet in die obere Welt entrückt; da fah er unter anderen
Dingen, die der Herr ihm zu ſchauen geflattete, wie jener Karl in
der unterfien Hölfe geveinigt wird, Als er die Frage an den Engel,
feinen Führer, richtete, warum Solches gefchehe, antwortet biefer:
duch das Wort ber Heiligen, die einft am Jüngſten Tage mit
Chriſtus richten werden, ift Karl ſchon vor dem Weltgericht zu ewi—
ger Strafe verurtheift worden, und er empfängt zugleich mit ber
Strafe für feine eigene Miſſethat, auch den Lohn der Sünden Derer,
welche zum Dienfte Gottes jene Güter geftiftet hatten, die Karl
während feines Lebens an fih riß. Nachdem Eucherius wieder zu
fih gekommen war, vief er den heil. Bonifacius fammt dem Abte
son St. Denis und Capellan Pipin’s, Fulrad, herbei, eröffnete
ihnen, was er gefehaut, und gab dieſes Wahrzeichen: gehet hin
) Manft XIT., 844 gegen unten. — 2) Abgedruckt in Baluzius (weiter)
Ausgabe der Eapitufarien Vol. IL, 108, ;
Die fränfifche Kirche vom Anfange des fiebenten Jahrhunderts ꝛc. 565
zum Grabe Karl's und wenn ihr feine Leiche nicht daſelbſt findet,
fo glaubet mir. Fulrad und Bonifacius eilten nach dem Grabe,
und als fie es öffneten, ſahen fie einen Draden daraus empor:
fteigen, das Grab felbft fanden fie von Innen gefhwärzt, als fey
es mit Feuer ausgebrannt, Wir felbft,“ fügt Hincmar unbegreif-
licher Weife bei, „haben noch Augenzeugen gefehen, die damals zu-
gegen waren, und ung Alles der Wahrheit gemäß berichteten.“
Zuförderft ift zu bemerken, daß Eucherius von Orleans, welcher zu
ber neuftrifchen Parthei hielt, und darum von Karl Martel verfolgt
und abgefest ward, nach der wahrfcheinlichften Annahme zu Cölln
im Jahr 739, alfo volle zwei Jahre vor Karl Martel ftarb, ')
folglich auch von deffen Grab nicht fprechen Fonnte. Das von
Hinemar mitgetheilte Mährchen ift daher ungefchiekt erfunden. Im
Uebrigen fcheint die Herbeiziehung des heil. Bonifacius darauf hin:
zumeifen, daß daſſelbe urfprünglich auf die Grundlage des oben
mitgetheilten firengen Urtheils, welches der teutfche Apoftel über Karl
Martel füllte, erfonnen worden feyn mag.
‚Obgleich der fränfifche Herrſcher laut der Ausfage des Boni:
faeius *) bei Weitem die meiften gallifchen Stühle feinen Soldaten
preisgegeben, blieben doc einige Bisthiimer im Beſitze folcher Cle—
vifer, die noch immer den Grundfägen alter Fatholifcher Zucht anhien-
gen. Sicherlich haften Teistere den gewaltthätigen Herzog von ganzem
Herzen, und ihre abgeneigte Gefinnung hätte auch Karl'n ſchaden
können; aber er beugte durch eine Huge Maafregel vor. Derfelbe
Mann, der die Kirchengüter ohne Bedenfen dem Wohle des Staats,
oder wenn man Fieber fo will, feinen ehrgeizigen Planen aufopferte,
wußte das oberſte Haupt der katholiſchen Geiftlichfeit auf feine Seite
zu ziehen. Der Pabft bedurfte die Hülfe der Franken. Wir haben
früher erzählt, wie zwei Päbſte fih in ihrer Noth an Karl Mariel
wandten, ?) und welche Dienfte er ihnen geleiftet bat. Auch mußte
bie DBereitwilligfeit, mit welcher der Franfenherzog das päbftliche
Bekehrungswerk in Teutfchland unterftügte, zu Nom gefallen. Die
Päbfte hatten daher Urfache ein Auge zuzuſchließen über die Eingriffe
Karl Martel’s in das Vermögen der gallifchen Cleriſei. Ohnedieß
wären Klagen ober Nänfe gegen den mächtigen Mann nutzlos ges
') Mabillon act. Ord, S. Ben. Vol. II., a. 555. — ?) Epistol, 51,
fiehe oben ©. 495. — 3) ©, 112 und 124.
566 a mi. Buch. Kapilel 9,
weſen. Aber anderer Seits begreift man, daß unter ſolchen Um—
fländen der Stuhl Petri fih Dringend aufgefordert fühlen mußte,
Mittel und Wege zu erfinnen, durch welche bie fränliſche Rue
wieder hbergeftellt werden mochte,
Eine günftige Gelegenheit, diefen Plan auszuführen, fam mit
dem 741 erfolgten Tode des fränfifchen Herzogs. Die Macht Pi:
pin's — wie feines Sohnes Karl — war, wenn man fo fagen darf,
eine perfönliche, fie hieng einzig und allein von den Eigenfchaften des
jeweiligen Herrihers ab. Söhne folder Fürflen, die der eigenen
Kraft Alles verdanfen, werden früher oder ſpäter die Nothwendigfeit
empfinden, das angetretene Erbe durch Einrichtungen zu befeftigen,
und eine dauernde Negierungsgewalt, die durch ſich felbft befteht,
zu begründen. Lesteres war aber unter damaligen Berhältniffen nur
mit Hülfe der katholiſchen Kirche möglich. Wirflih fanden wir
im vorhergehenden Kapitel, wie Karls Söhne, Karlomann und
Pipin der Meine, fich weit mehr als ihr Vater dem Stellvertreter
des Pabſts, Bonifacius, näherten. Sie haben alſo gefühlt, daß ihre
Stellung ihnen gebiete, fih mit dem Stuhle Petri auf einen guten
Fuß zu feßen. Noch inniger wurde die Verbindung, nachdem es
Bonifarius und dem Pabſte gelungen war, Karlomann zu vermö—
gen, daß er auf feinen Antheil am Reiche verzichtete. Seitdem
Bot Pipin zu Wiederherftellung der Kirche, gemäß dem in Nom ent:
worfenen Plane, die Hand. Aber die Aufgabe war herkuliſch; es
handelte fi um nichts Geringeres, als den Soldaten und Waffen:
brüdern Karl Martel's die geifilichen Güter, durch deren Verthei—
Yung Pipiws Vater die treue Dienfte feiner Anhänger gelohnt hatte,
wieder zu entreißen, und ftatt der ritterlichen Eindringlinge wirffiche
Cleriker auf die galliſchen Stühle zu erheben. Der Verſuch Fonnte
dem Fürften Krone und Leben Foften, denn es war vorauszufehen,
daß die alten Genoffen Karls ſich nicht gutwillig austreiben Yaffen
würden. Pipin trat daher fehr Teile auf, er verordnete vorerſt blog,
daß jede einzelne Wirthſchaft oder Ehe von Leibeigenen Auf den:
jenigen Gütern, welde Klöftern oder Stühlen entriffen worden
waren, an bie urfprünglichen Befiger alljährlich ein Goldſtück be-
zahlen folle, 7) Die Eindringlinge verloren alfo zunächſt nichts,
bie ganze Laft der Aenderung wurde auf die Golonen gemälgt.
h) Bonifacii epist, ed, Würdtwein LXX. ©, 184 gegen unten.
Die fränkifche Kirche vom Anfange des fiebenten Jahrhunderts ıc. 567
Neben der Wiederherftellung der Kirchengüter hatte der Pabft, wie
wir im vorigen Kapitel fahen, hauptſächlich Einfegung yon Metro:
politen verlangt. Aus den früher angeführten!) Thatfachen erhellt,
dag Pipin Anfangs auch diefe römische Forderung unterfiügt haben
muß: Aber geſchreckt durch den Widerftand der Spldatenbifchöfe,
wagte er damals nicht, die Sache weiter zu treiben. Erft nachdem
ihn Bonifacius 752, dann 754 Pabſt Stephan IL zum Könige: der
Franfen gefalbt hatte, that er einen Schritt vorwärts, Die bereits
erwähnte ‚Synode von Verneuil verordnete,“) wie folgt: „Diejeni⸗
gen, welche mit Erlaubniß des Königs geiftliche, Güter inne haben,
find verbunden, die Kirchen, welchen dieſe Güter urfprünglich ge—
hörten, oder auch die betreffenden bifchöflichen oder Höfterlichen
Gebäude (zu deren Erhaltung jene Güter geftiftet waren), je nad)
ihrem Antheil an befagten Ländereien, in gutem baulichen Stande zu
bewahren, deßgleichen follen fie von denfelben die feftbeftimmten Zinfe,
ſo wie den Neunten: und Zehnten unverfürzt (an die Klöfter oder
Stühle) bezahlen. Wer Die nicht thut, der verliert die fernere
Nusnießung des Guts.“ Auf diefe Weife ward den Kirchen von
ihrem früheren Landbeſitz wenigftens eine bedeutende Grundrente
geſichert. Der. zweite, Canon der Synode von Berneuil: verfügte
ferner die vom Pabſte fo lange und fo dringend geforderte Ein—
fesung gallifcher Metropoliten. Aber die Faſſung der Worte?) zeigt,
dag auch Dieß nur eine. halbe und. einftweilige Maaßregel war:
»Den »Kirchenhäuptern, welche wir, zu Stellvertretern ‚der
Metropoliten erhoben haben, follen die übrigen Bifchöfe in Alleın
Gehorfam Ieiften, bis. wir die kirchlichen Angelegenheiten beffer ord⸗
nen und vollflommen nad den BVorfchriften der alten Gefege eins
richten Fönnen.“ Man ſieht: Pipin hatte auch jett noch nicht den
Muth, die Waffengeführten feines Vaters, die ſich der fettften
Pfründen und namentlich der Erzftühle bemächtigt hatten, auszu:
treiben, fondern er begnügte fich vorerſt, proviforifche Metropoliten
zu ernennen; die bleibende Wiederherftellung alter Zucht follte auf
ben ‚Zeitpunkt: verfchoben feyn, bis jenes Gefchlecht eingedrungener
nn —
4) Siehe: oben S. 524 flg. — 2) Im den auf ung gefommenem Alten ber
Synode findet-fich dieſer Schluß nicht mehr. Dagegen beruft ſich auf ihn ein
Capitulare Pipin's vom folgenden Jahre mit den Worten; sicut ad Vernum
ordinavimus, Baluzius I,, 178 unten A. — ?) Manfi XI, 580.
1 IE Buch. Kapitel 9.
Soldatenbiſchöfe ausgeftorben feyn würde. Einige Beweiſe find
auf ung gefommen, daß Pipin in dringenden Fällen biefen Zeit:
punft zu befihleunigen wagte. Aber diefelben zeigen zugleich, wie
gefährlich Das Unternehmen war. Schwere Klagen wurden über
den Erzbiihof Nagenfridus von Rouen, einen ber adeligen
Eindringlinge, geführt. Pipin feste ihn 755, vielleicht in Folge der
Synode von Verneuil ab, und vergabte den erledigten Stuhl an
feinen eigenen Bruder Remedius. 1) Nichts deftsweniger überließ
er dem geftürgten Nagenfrid einen guten Theil der Güter, welche
der Rouener Kirche gehörten, zu feinem Unterhalt. Hat nun Pipin
feinen Bruder darum vorangefhoben, um durch die hohe Geburt
des Nachfolgers deſto ficherer die Rache der mächtigen Familie des
Kagenfrid zu entwaffnen, oder wollte er felbft einen Theil der
Kirchengüter feinen DBerwandten zuwenden? Im erfteren Falle
würde bie Geſchichte Ragenfrid's ein neues Zeugniß von der Schwie-
rigfeit der von Pipin begonnenen Maafregel ablegen, im zweiten
beiwiefe fie, daß es der Franfenfönig, fobald fein eigener Bortheil
ins Spiel fam, mit Wiederherftelung der Kirchengüter nicht fehr
genau nahm. DBielleicht haben beide ZTriebfedern zufammengewirft.
Zugleich mit Ragenfrid wurde auch der Biſchof Gauzelin von Mang
wegen ähnlicher Beihuldigungen abgeſetzt. Seine Stelle erhielt
Pipin’s Hoffapellan Herlemond. Aber nah neun Jahren faß der
yertriebene Gauzelin wieder auf dem Stuhl von Mans, und ein
alter Chronift berichtet jogar, Gauzelin habe feinem Borgänger
Herlemond die Augen ausftechen Yaffen. Der gemwaltthätige Dann,
der alle Klöfter feines Sprengels ausplünderte, blieb bis zu feinem
Ende im Befige jener Pfründe. Pipin mußte gefehehen laſſen, was
zu "hindern er nicht die Macht hatte.) Weiter als in den eben-
befchriebenen engen Gränzen rüdte, während Pipin’s Negiment, bie
Umgeftaltung der gallifchen Kirche nicht vor.
Wenn aud das, was in Frankreich vorgieng, den Pabft nicht
befriedigt haben mag, fo hatte derfelbe deſto mehr Urſache zur
Zufriedenheit mit den Dienften, welche ihm der König auf einer
1) Annales Petav. ad annum 755 Perz I., ©. 11. — 2) Ueber die Ge:
ſchichte Gauzelins und Ragenfriv’s vergl. man Le Cointe annales eccles.
Francorum Vol. V., ©. 497 unten flg. und 662 unten flg.; fowie Longue-
val histoire de l’eglise gallicane IV., ©, 401 flg., wo die Beweisftellen an⸗
gegeben find.
Die fränkische Kirche vom Anfange des fiebenten Jahrhunderts x. 569
andern Seite leiſtete. Wir kommen hier auf einen Punkt zurüd,
den wir oben ) in Kürze befprochen haben. Die Zufammenfunft,
welche Stephan IL: im Jahr 754 mit Pipin ‚hielt, bereitete eine
neue Geftaltung Europas vor. AS Preis für die Salbung, welche
er damals dem Franfenkönig und feinen Söhnen Karl und Karlo:
mann ertbeilte, forderte der Pabft, daß die Tranfen das Exarchat
den Langobarden entreißen und dem Stuhle Petri fchenfen follten.
Pipin verfügte bereitwillig über Provinzen die nicht ihm gehörten,
noch im Sommer 754 zog er mit Heeresmacht über die Alpen,
und zwang den Langobarden Alftulf zu dem eiblichen Berfprechen,
das Exarchat, welches derfelbe kaum zuvor den Griechen abge:
nommen hatte, an den Pabft abzutreten. Pipin, den Berheißungen
des Beſiegten trauend, zog wieder beim, aber faum waren bie
Franfen fort, als Aiftulf feines Eides vergaß, vor Nom rüdte und
die Stadt hart belagerte. Aus Jtalien Tiefen Briefe über Briefe
ein, 2) worin der Pabft den König Pipin, feine Söhne Karl und
Karlomann und das Volk der Franfen mit Klagen über Aftulfs
treulofes Betragen, und mit Bitten um bie fchleunigfte Hülfe be:
ftürmte: „der Teufel,“ Schreibt er ?) noch im Jahre 754 an Pipin,
„bat das falſche Herz des Langobarden berückt und denfelben verleitet,
baß er fein Wort von feinem Eide hielt; nicht einen Fuß breit
Land hat Aiſtulf an den feligen Petrus, an die Kirche Gottes oder
auch an das Gemeinwefen der Römer abgetreten; im Gegentheil
yon dem Augenblid an, da du Italien verliegeft, kränkt er mich
und die Kirche Gottes auf alle Weife, fo daß felbft die Steine
darüber fihreien würden, wenn fie eine Zunge hätten.“ In einem
zweiten Schreiben Hagt er, daß Aftulf ihm nad dem Leben ge=
trachtet, und das Gebiet des hl. Petrus fürchterlich verheert habe,
zugleich beſchwört er die fränfifchen Fürften wiederholt, fie möchten
doch dafür Sorge tragen, daß die Schenfungsurfunde, (über das
Exarchat) welche fie dem Apoflelfürften eingehändigt hätten, buch:
ſtäblich erfüllt werde, weil fie fonft am jiingften Gerichte Rechen:
haft von ihrer Nachläßigfeit geben müßten, %) Noch Häglicher
Yautet das dritte, vierte, fünfte Schreiben: „Welche Traurigfeit ung
umfängt, welche Angft mich peinigt, welche Thränenſtröme unfern
1) ©, 149. 150. — ?) Cod. Carolinus edid, Cenni Epist, 6—10. Vol. IL,
©. 75 — 104, — 3) Ibid. ©, 74 gegen unten. — *) Ibid, ©. 80, 81.
570 ns, WE Buch.) Kapitel 9
Augen entftürken, mögen, glaube ich, die Elemente felbft bezeugen;
denn wer fann ungerüßrt unfere Leiden hauen, wer, was ung
zugeftößen, hören ohne felbft zu weinen.“ 1) Stephan II. befchreibt
fofort, wie bie Langobarden feit Anfangs Januar 755 vor allen
Thoren Roms Tagern, wie ihr König Aftulf mehr als einmal die
Borfchaft in die Stadt hereinfandte: „öffnet mir die Salariapforte,
daß ich Hereinziehe, oder übergebt mir den Pabft, dann will ich
Euer ſchonen, wo nicht, fo reiße ich eure Mauern um, und laß
Euch alle niederhauen.“ Endlich in dem zehnten Briefe ®) heißt es:
„Rennet und Taufet, ich beſchwöre Euch noch einmal bei dem leben—
digen Gotte, kommt mir eilends zu Hülfe, ehe denn. bie lebendige
Quelle, aus der ihr gefchöpft habt und 'wiedergeboren ſeyd, ver:
fiege, ehe denn das Kleine noch übrige Flämmchen des heil machen:
den Feuers, an dem ihr Euer Licht anzlindetet, erlöfche, ehe denn
Eure geiſtliche Mutter, die heilige Kirche Gottes, von der ihr dag
eiwige Heil zu empfangen hoffet, vollends erniedrigt, mit Füßen
getreten und von den Verruchten entehrt iſt« u. |. w. Der Pabft
vergaß in feiner Berzweiflung, daß während der Wintermonate ein
Heer nicht über die Alpen fleigen fan. Sobald es ihm die Jahre:
zeit erlaubte, erfchien Pipin in Stalien, Die Langobarden wurden
fofort in den Gebirgspäſſen aufs Haupt gefchlagen, König
Aftulf in Pavia Hart belagert. Dießmal war feine Niederlage
gründlich. Er mußte den Frieden von Pipin mit Uebernahme eines
jährlichen Tributs erfaufen, außerdem den dritten Theil feiner Schäße
an die Franken, ?) das Erarhat aber fammt allen Gütern, die er
oder feine Vorfahren in frühern Zeiten der römischen Kirche ent:
riffen, an den Pabft abtreten. Der Bibliothekar Anaftaftus berich—
tet, ) daß byzantinifche Gefandte, die ſich damals in Italien be—
fanden, den Franfenfönig, während derſelbe vor Pavia Tagerte,
aufgefordert hätten, er möchte die den Langobarden abgenommenen
Provinzen an ihren rechtmäßigen Beſitzer, den oſtrömiſchen Kaifer,
zurüdgeben. Pipin aber habe denjelben geantwortet, was er ein-
mal der vömifchen Kirche und dem heiligen Petrus gefchenft, das
werde er demfelben nicht mehr entziehen, nicht aus menfchlicher
1) Ibid. ©. 84 unten fig. — 9 Ibid. ©. 102. — °) Annales Mettenses
„ annum 755, Perz * I. 333. — 9 Liber ponliſicalis ed. —
‚118; nenn DV.
Die fränkiſche Kirche von Anfange des fiebenten Jahrhunderts ꝛc. 571
Rückſicht, ſondern dem Apoſtelfürſten zu Liebe fey er im den Krieg
gezögen.. Der Mönd von Fuld ') befchreibt den Umfang. ber
Schenkung mit den allgemeinen Worten: Ravenna ſammt ber
Pentapolis fey dem Stuhle Petri überliefert worden. Genauere
Nachrichten gibt Anaftafiusz er nennt ?) folgende Orte: Ravenna,
Ariminum (Rimini), Pifaurum (Pefars), Concha (längſt unter:
gegangen), Fanum (Fand), Ceſinä (Sefena), Senogallia (Sinigaglia),
Aeſium (Zefi), Forum Pompilii (Forlimpopoli), Forum Livii (Forli)
mit dem Schloße Saſſubium, Montefeltri, Acerres (unbekannt), Agio—
monte (Monte maggio beim heutigen San Marino), Mons Lucati
Monte Luco), Serra, das Schloß St. Marino, Bobium
(Bobbio), Urbino, Cagli, Lucioli (Luceolo), Gubbio, Comacchio
ſammt Narni. Die Angaben beider Gewährsmänner ſtimmen mit—⸗
einander überein, was jener im Allgemeinen ſagt, beſchreibt dieſer
im Einzelnen. „In allen genannten Städten,“ fährt Anaſtaſius
fort, „jog Fulrad Abt von St. Denis, als Pipin's Bevollmächtigter,
in Begleitung langobardiſcher Geſandter herum, übernahm die Schlüſſel
der Städte, und legte ſie auf das Grabmal des hl. Petrus nieder.“
Pipin's Großmuth war nicht ganz uneigennügig. Während feines
Aufenthalts in Franfreich hatte der Pabſt ihn und feine beiden
Söhne nicht blos zu Königen der Franken, fondern auch zu Pa:
triciern Roms geweiht. Lebteres bezeugt ein unbefannter Mönch)
am Schluffe einer Handfchrift der Werke Gregor’s von Tours, die
jener im Sabre 767 beendigte, ?) und über die Wahrheit feiner
Ausfage kann Fein Zweifel herrfchen, denn in allen Briefen, welche
Stephan I. feit 754 an Pipin und feine Söhne erließ, nennt er
beide ſtets patrieii Romanorum, #) Nun hatte zwar die Würde
eines römifchen Patriciers Teine genau beftimmte Bedeutung; den—
noch iſt gewiß, daß fie das Schußrecht der römischen Kirche, und
eine gewiffe Oberherrlichfeit über diefelbe umfaßte. As Landesherr
und Beſchützer des Pabſts hat ſich Pipin feit der Schenfung be:
nommen, und in noch größerem Umfang übten biefelbe Gewalt
feine nächſten Nachfolger aus. Doch den ſtärkſten Beweis dafür,
daß der römiſche Stuhl bei Auslieferung jener Städte gewiſſe Ber:
1) Annales Fuldenses ad annum 756, Perz I., 347. — °) Liber pon-
tifical. II., 121. — 3) Gregorii turonensis opp. ed. Rainart ©. 991. —
*%) Cod. — * ed. Cenni I,, ©. 75 flg.
572 | IE, Buch. Kapitel 9.
bindfichfeiten gegen den König der Franken übernommen Haben
muß, liefert die Fabel son einer Schenfung Conftantin’s, welche
die Pabfte ungefähr feit Ende des achten Jahrhunderts in Umlauf
zu bringen fi bemühten. Sie thaten dieß offenbar darum, weil
fie ihre Verpflichtung gegen die Franken, welche ihnen allmäplig
läſtig wurde, durch die Lüge eines älteren Anrechts entfräften und
in Bergefienheit bringen wollten. Uebrigens müffen Stephan I.
und Pipin miteinander übereingefommen feyn, ihr wahres Ber:
hältniß zu einander und den Bertrag, den fie abgefchloffen, vor der
Welt geheim zu halten. Ein Dritter, defien Nechte Beide gefränft
hatten, der griechifche Kaifer, follte nach Möglichkeit gefchont werben.
Obgleich Rom und der neue Kirchenftaat feit 754 thatfächlich vom
byzantinifchen Neiche Iosgeriffen war, fuhren die Päbſte big zum
Schluſſe des Jahrhunderts fort, den Schein der Unterwürfigfeit gegen
Byzanz dadurch zu wahren, daß fie in öffentlichen Aften, wie früber,
die Zeit nad den Negierungsjahren der oſtrömiſchen Herrfcher
rechneten. Man kann kaum zweifeln, daß fie im Einverſtändniſſe
mit den fränfifchen Königen diefes Spiel getrieben haben.
In einem Briefe, ) der im folgenden Jahre gefchrieben ift,
überfchüüttet Pabft Stephan den Frankenkönig mit pomphaften Lobeg:
erhebungen und Schmeicheleien: „ich vermag mit der Zunge nicht
auszudrücken, mein trefflichfler Sohn, wie fehr wir ung deines Werks
und deines Lebens erfreuen, Durd Gottes Kraft fahen wir in uns
fern Tagen Wunder gefchehen, dieweil durch deine Herrlichkeit bie
Mutter und Borfteherin aller Kirchen Gottes, die Thürangel des
Glaubens, die römische Kicche, welche durch die Anfalle der Feinde
in die größten Gefahren gefiürkt war, Heil erlangt hat. Ihr Jammer
ift in Zubel verwandelt, die kaum noch bangen Seelen der Chriften
frohloden ob deinem Schutze — mit den Engeln darf ih ausrufen:
Ehre fey Gott in der Höhe, Frieden auf Erden und den Menfchen
ein Wohlgefalfen (Luc. IL, 14.). — In Wahrheit einen Erretter
bat der Herr in Deiner Perfon, o chriftlicher Sieger, für ung er:
wert Wie anders foll ich Dich nennen, als einen neuen Mofeg,
einen bellfeuchtenden König David, denn wie diefe Beiden das Bolf
Gottes von dem Joche der Fremden befreiten, fo haſt du, von
Gott gelichter Sieger und ftarfer König, durch deinen Arm bie
— — — —
1) Cod, carolin, Nro. XI., Cenni I., 105, 107,
Die fränkiſche Kirche vom Anfange des fiebenten Jahrhunderts ıc. 573
Kirche Gottes aus der Gewalt ihrer Feinde erlöst. Geſegnet feyeft
Du, 9 berrliger Sohn! yon dem Höchften, dev Himmel und Erde
gemacht Hat, gelobt fey auch der Herr, durch deffen Schug Du
Deine Gegner überwandeft. Der Herr, die Urquelle der Gerechtige
feit, fegne Di und Deine geliebtefien Söhne, meine geiftlichen
Kinder, Karl und Karlomann, die von Gott eingefesten Könige ber
Franken und Patricier der Römer, fammt ihrer allercpriftlichften
Mutter, der vortrefflichſten Königin, Deiner füßeften Gemahlin, der
getreuen Verehrerin Gottes“ u. f. w. Eine niedrige Seele und ein
ſchändlicher Mißbrauch heiliger Nedensarten tönt aus diefen Worten
hervor, auf welche fofort gierige Bitten um neue Bergrößerungen
folgen. Man begreift, daß der Beſitz eines ausgedehnten Gebiets
dem Pabſte den Kopf verbrehen mochte. Dennoch ift gewiß, daß
jene Schenfung eine Gabe der Danaer war, Der Stuhl Petri
fonnte ohne Schaden Grundbefiger feyn, was er fehon in Zeiten
Gregor's des Großen und noch früher geweſen ift, aber Herr eines
weltlichen Fürſtenthums hätte er nie werden follen. Durch Ans
nahme der Gefchenfe Pipin’s gerieth der Pabft nicht blos in Ab-
hangigfeit von den fränfifchen Fürften, fondern ward auch in alle
politifhen Händel verwidelt, deren Schauplas Stalien feit dem
achten Jahrhundert war. Der Landesherr des Kirchenftaats mußte
fi jehr Häufig mit gewiffen ſchmutzigen Dingen befaffen, vor denen
jich der bloße Statthalter Petri gehütet haben würde. Als Gegen:
gewicht Eönigliher Gewalt und Bekämpfer derfelben, nicht als Ber:
biindeter und Schmeichler oder Amtsgenoffe weltlicher Fürften hat
der Stuhl Petri feine Bedeutung in der Weltgefchichte errungen
und den Völkern genützt.
Schon in den nächſten Zeiten zeigte es fi, in welch’ falfche
Stellung der Pabſt durch Pipin’g Lodfpeife hineingerieth. Die
fränfifhen Gefhenfe hatten in den Statthaltern Petri eine früher
unbefannte Gier nad) neuen Eroberungen entzündet. Die einunde
dreißig Briefe an Pipin oder feine Söhne, welche wir vom Nach—
folger Stephan’s IL, Paul, befisen, find größtentheils mit Klagen
über die Treulofigfeit der Langobarden, oder mit Bitten, daß ber
Sranfenkönig fein Geſchenk durch neue Gaben vermehren möchte,
angefüllt. Es Fonnte nicht fehlen, daß durch ſolche Zudringlichkeit
das Anfehen des Pabſts am fränfifchen Hofe zerfiel, denn wer
einen Heiligenfchein bewahren will, darf ſich nicht blos geben; wir
574 III ERNEIER A. Buch. Kapitel 9.
achten Diejenigen nicht mehr, welche uns leichtſinnig Beweiſe ihrer
Schwäche in die Hände liefern. Hiezu kam noch ein anderer Um:
ſtand. Durch die große Rolle, welche Pipin, vom Pabſte gerufen,
in Italien geſpielt hatte, war der Schwerpunkt dortiger Politik
außerhalb den Gränzen der Halbinſel nach dem Frankenreiche ver—
rückt worden. Alle Mächte, welche in Italien Etwas ſuchten, oder
mit dem Stuhle Petri grollten, die Langobarden, die Griechen,
wandten ſich an Pipin, als den Schutzherrn des Pabſtes, und ſtreb—
ten ihn durch die verfchiedenften Künfte auf ihre Seite zu ziehen.
Auch waren die Bemühungen der Griechen, wie der Langobarden,
nicht ganz vergeblich, Hauptfächlich weil der Pabſt felbft dazu bei-
trug, durch jene falfchen Schritte das Gewicht feines Namens in
Francien zu untergraben. Aus einem ‚Briefe, den: Stephan I.
770 an die neuen fränfifchen Herrfcher Karl und Karlomann rich—
tete, erhellt, ) daß der Kaifer Conftantin Copronymus Giſela, bie
Tochter Pipin’s, kurz vor deffen Tode zur Gemahlin für feinen
Sohn: Leo IV. ‚begehrt hatte. Ein folcher Antrag ift kaum denkbar,
wenn Beide nicht fchon zuvor auf gutem Fuße miteinander
ftanden. Zu gleicher Zeit gieng der Byzantiner darauf aus, den
Sranfen zu einer entfcheidenden Erklärung wider den Bilderdienft
zu vermögen, und ohne Zweifel war der Heurathsantrag nur ein
Mittel, das zu letzterem Zwede führen follte, Aus: Beranlaffung
ber. griechifchen Gefandtfchaft, die fih damals in Frankreich befand,
berief Pipin die Synode von Gentilly, auf welcher neben den
Griechen auch römifche Abgeordnete erfchienen. Daß zu Gentilly
über. den Bilderdienft verhandelt worden ift, bezeugen mehrere
fränfifhe Jahrbücher, 2) aber fie beobachten in Betreff der Ent:
ſcheidung des Coneils ein hartnädiges Stillfehweigen. Weil be:
flimmte Zeugnifje fehlen, müffen wir ung mit Schlüffen zu helfen
fuchen. Bor. Allem iſt unläugbar, daß der Pabft und die Bilder:
Diener überhaupt die Iebhaftefte Furcht hegten, jene fränfifche Synode
möchte zu Gunften des Kaifers Conftantin Copronymus und feiner
Parthei fih ausſprechen. Beweis dafür die oben enthüllten Ränke,
welche von Bagdad bis Paris veihten. ”) Alle Stühle bes Oſtens
i) Cod. carol. epist. 49. Cenni I., 285. Ich eitire bie Laroliniſchen
Briefe ſtets nach der von Cenni beſtimmten chronologiſchen Ordnung. — ”) Wie
Ado von Vienne bei Dom Bouquet Scriptor. rer, franc, V., 317 unten. Die
andern Zeugniffe gefammelt bei Walch Kebereien XL, 9 fly — 9 ©, 132 fig
Die fränkifche Kirche vom: Anfange des fiebenten Jahrhunderts ꝛc. 575
und ſelbſt der Pallaft des Kalifen wurden in Bewegung geſetzt, um
die Franken von den Griechen zu trennen. Auch macht der Pabft
ſelbſt aus feinen Beforgniffen Fein Hehl. Im Jahre 766 fehreibt
Paul I. an den Franfenfönig Pipin: „Ihe habt uns in. Betreff
Unferer, Eurer und der griehifchen Gefandten, ‚Die aus ber
Königsftadt (Konftantinopel) zu Euch gefommen, gemeldet, daß bie-
felben von Euch zurüdgehalten worden feyen, bis Ihr auf einer
Berfammlung Euerer Biſchöfe und Großen feſtgeſetzt, welche Ant:
wort Ihr auf die gemachten Borfchläge ertheilen wollet. Ich babe
das Vertrauen, Ihr werdet in diefer Sache nichts Anderes befchließen,
als was zur Ehre eurer heiligen geifllichen Mutter, der römiſchen
‚Kirche, gereicht, die das Haupt aller Kirchen Gottes und des wahren
Glaubens if.“ Ganz zum Bortheile der Griechen fann. die
Synode son. Gentilly nicht entfchieden haben. Denn in einem
zweiten Briefe ?) rühmt der Pabft den König, weil derſelbe ihm
gemeldet, daß er die faiferlihen Gefandten nur in Gegenwart ber
päbftlichen gehört, ferner weil er dem Stuhle Petri mitgetheilt habe,
was in feiner Gegenwart zwifchen. den römifchen und griechiſchen
Gejhäftsträgern über den Achten Glauben und die frommen Ueber:
lieferungen der Bäter verhandelt worden fey. Gleichwohl war. ber
Pabft mit dem Befchluffe, den Pipin damals gefaßt, nicht recht
zufrieden. : Denn tiefer unten klagt Paul J., „daß: feine ‚eigene, fo
wie Pipin’s Leute die an den Lestern gerichteten Schreiben des
byzantinifchen Kaifers falfch auslegen, und ſich durch griechifches
Gold gewinnen Yaffen.* Demnach fcheint die Synode von Gen-
tilly weder den Griechen noch dem Pabſte vollfommen Recht ge:
geben, ſondern einen Mittelweg eingefchlagen zu ‚haben. Auf das—
felbe Ergebniß weifen nun noch andere fehr ftarfe Gründe hin:
Bei der wichtigen Kirchenverfammlung, welche Karl der Große 794,
alfo 27 Jahre nach der Synode von Gentilly, zu Frankfurt ver
anftaltete, haben die Biſchöfe des fränkischen Reichs den Bilderdienft
in der Geftalt, wie er durch das zweite ökumeniſche Concil von
Nieda unter Irene gut geheißen worden war, feierlich. verworfen.
* wiſſen wir aber, daß die Aufſtellung von Bildern in den
coa. carol. Pro. 40. Cemni I., ©. 229. — 2) Epist. Nro. 37. Cenni
J., 212 fig. Offenbar ift diefer Brief fpäter als der obige. Die Synode von
Gentilly wurde im April 767 gehalten, Paul I. ſtarb Ende Juni 767. Er
muß alfo den Brief furz vor feinem Tode gefehrieben haben,
576 Il. Buch. Kapitel 9.
Kirchen durch Karl und feine Bifchöfe gebilligt, und nur die reli-
giöſe Verehrung derſelben unterfagt worden if. Wären nun bie
Beichlüffe von Frankfurt im Widerſpruch geftanden mit den älteren
son Gentilly, fo hätte erfiere Synode die Entfcheidung der letztern
aufheben, verbeffern, umbdeuten oder auf irgend welche Weife miß-
billigen müffen. Aber hievon findet fih in allen auf ung gefom:
menen Urkunden feine Spur, Folglich bleibt nichts Anderes übrig
als anzunehmen, daß die Synode von Gentilly denfelben Mittel-
weg eingefchlagen hat, wie das Coneil yon Frankfurt, Noch gehört
eine andere Thatfache hieher. Im Auguft oder September 768,
gleich nach feiner Erhebung, fertigte Pabft Stephan IIL, rechtmäßiger
Nachfolger des 767 verftorbenen Paul, eine Geſandtſchaft an den
fränfifhen Hof ab, ) um Pipin zu bitten, daß er durch einige
fränkiſche Biſchöfe eine Synode beſchicken möchte, welche der Pabſt in
Nom zu halten fi) vorgenommen hatte. Die Gefandten trafen
Pipin nicht mehr am Leben; er war Faum zuvor geftorben, aber
feine beiden Nachfolger Karl und Karlomann willfahrten dem Be:
gehren des vömifchen Oberpriefterd. Zwölf Biſchöfe aus Francien
eilten nach Nom; die beantragte Synode wurde daſelbſt im April
769 gehalten; außer den zwölf Franfen erfchienen auf ihr 49 ita-
liſche Cleriker. Hauptzweck war die Berurtheilung des Gegenpabfis
Gonftantin, der fih nah dem Tode Paul’s aufgeworfen hatte.
Nach erwünfchter Beendigung dieſes Geſchäfts brachte aber Stephan IM.
unverhofft Die Bilderfrage vor, er ließ bie religiöſe Verehrung der:
felben zum Kirchengefeg erheben, und den Fluch über die Bilder:
feinde ausfpredhen. I Kaum kann man den dringenden Wunſch
des Vahfis, dag fränfifche Bifchöfe nad Rom kommen möchten, und
fein Betragen auf der Synode anders erklären, als durch bie Bor:
ausfesung, daß Stephan durch die erfhlidene Theilnahme
jener Männer die fränkische Kirche zur Annahme des Bilderbienftes
hinreißen und zugleih Das gut machen wollte, was zu Gentilly
gegen die römiſche Meinung beſchloſſen worden war. Die oben
erwähnte Heurath zwiſchen der fränkiſchen Fürſtentochter und dem
Thronerben von Byzanz kam zwar nicht zu Stande, gleichwohl er⸗
helft aus den mitgetheilten Thatſachen Far genug, daß Conſtantin
— —
1) Anaftafins im Leben Stephan's III., $. 16. ed, Vignoli II, 146, —
2) Siehe oben ©. 452,
Die fräntifche Kirche vom Anfange des fiebenten Jahrhunderts ꝛc. 577
Copronymus am Hofe Pipin’s gegen den Pabſt Boden gewon⸗
nen hatte.
Pipin der Kleine ftarb den 24. Sept. 768 zu St. Denig.
Eine Theilung des Reichs fand Statt. Karl, ber ältere feiner
Söhne, erhielt Neuftrien, Burgund und die Provence fammt der
Ausfiht auf die Eroberung Aquitaniensz Auftrien mit den teut-
hen Provinzen fiel dem jüngeren Sohne Karlomann zu. Alsbald
erfuhr der Stuhl Petri eine neue Demüthigung. Um freie Hand
gegen den Pabft zu befommen, und feine Yang verhaltene Rache an
ihm zu Fühlen, arbeitete der Langobardenkönig Defiverius an einer
Ehe zwifchen feiner Tochter Defiderata und einem der beiden frän-
fiichen Könige. Die Mutter der Prinzen unterflüste den lango—
bardifchen Antrag mit allen Kräften, und ihr älterer Sohn Karl
erklärte fich bereit, die Langobardin zu nehmen, ob er gleich ſchon
Himiltrud, die Tochter eines fränfifhen Großen, zur Gemahlin
hatte. Die Nachricht von diefen Intrifen war ein Donnerftreidh
für den Pabft Stephan II. Zum Unglück für feinen guten Ruf
ift der Brief ) noch vorhanden, den er an bie beiden Könige er-
ließ, um fie vor der Verbindung mit der Langobardin zu warnen:
„Mit dem tiefften Schmerze hat ung die Kunde erfüllt, Daß ber
Langobardenfönig Defiderius darauf finnt, feine Tochter mit einem
ber beiden fränfifchen Prinzen zu verbinden. Sollte dieß wahr
feyn, fo muß ich es eine Eingebung des Teufels, und Feine Ehe,
fondern die niedrigfte Berfupplung nennen. — Denn wäre es nicht
bie größte Thorheit, wenn Euer herrliches Franfengefhleht, das
glänzend vor allen Nationen der Erde dafteht, wenn Euer hell:
ftrahlender und hochadeliger Königsftamm ſich mit dem treulofen
und ftinfenden Volke der Langobarden vermifchen wollte, mit einem
Bolfe, das gar nicht gezählt zu werden verdient, und aus welchem,
wie allbefannt, die Brut der Ausfägigen abftammt. Kein Menſch
yon gefundem Sinne wird je glauben, daß fo erlauchte Könige fi)
in eine fo abfcheuliche Verbindung einlaffen; denn welche Ge—
meinfhaft Hat, wie der Apoftel fagt (2. Cor. VL, 14. 15.),
das Licht mit ber Sinfterniß, oder was für einen Theil
ber Gläubige mit dem Ungläubigen. Auch befiget ihr
Beide bereits Gattinnen, die ihr nach der löblichen Sitte ber Bora
9 Cod. Carol. Nro. 49. Cenni I, 2832 fg
Bfrörer, Kircheng. III, 37
578 | II. Buch. Kapitel 9.
fahren aus dem ſchönen Volke der Tranfen genommen habt. Für:
wahr es ift Euch nicht erlaubt, dieſe eure rechtmäßigen Weiber zu
verfioßen, und dafür fremde zu heurathen. — Der felige Ayoftel:
fürft Petrus, dem die Schlüffel des Himmelreihs vom Herrn über:
geben worden find, und ber die Macht befigt im Himmel wie auf
Erden zu binden und zu löſen, beſchwört Eure Herrlichfeit durch)
meinen unglücklichen Mund: daß Feiner von Euch Beiden ſich unter:
ftehe, die Tochter des genannten Defiderius zu ehelichen. Sch habe
"gegenwärtiges Schreiben auf das Grabmal des hl. Petrus nieder:
gelegt, auch das Meßopfer über demfelben dargebracht, und fofort,
mit meinen Thränen befeuchtet es Euch zugefandt. Sollte Jemand —
was ich nicht erwarte, gegen den Inhalt diefer meiner Beſchwörung
handeln, fo möge er wiffen, daß er auf Befehl des heiligen Petrus
mit dem Bannftrahl belegt, von dem Himmel ausgeftoßen, und ba-
gegen dem Teufel fammt feiner furchtbaren Schaar zur ewigen
Feuerpein überantwortet if. Wer aber unferem Worte Gehorfam
Yeiftet, den erwartet das Paradies mit feinen himmliſchen Freuden.“
Der Pabſt predigte tauben Ohren. Karl verftieg 770 fein Weib
Himiltrud und heurathete die Tochter des Langobardenfürften. Seit
dem beraubte Defiderius ungefcheut den Kirchenſtaat. Indeß
dauerte diefe Verbindung nur furze Zeit. Schon im Jahre 771
trennte fih Karl wieder von Defiderata und fchickte fie ihrem Bater
zurüd. Im nemlichen Jahre trat eine wichtige politifche Verän—
derung im Franfenreihe ein. Die beiden Brüder Karlomann und
Karl vertrugen fih, von gleichem Ehrgeize entflammt, fchlecht mit:
einander. Höchſt wahrfcheinlih wäre es zum Kriege zwifchen ihnen
gefommen, wenn nicht eine höhere Gewalt vorgebeugt hätte. Kar-
Yomann ftarb im zwangzigften Jahre feines Alters den A. Dec. 771
zu Samouci: der dritte Fall im Laufe eines Jahrhunderts, daß
durch einen Schlag des Schickſals die Einheit des Frankenreichs
gegen bie verberblichen Folgen germanischen Erbrechts geſchützt ward.
Alsbald riß Karl das ganze Gebiet feines verftorbenen Bruders an
fi, obgleich der Leztere zwei unmündige Söhne hinterlaffen hatte.
Karlomann’s Wittwe Gilberga floh mit ihren Kindern zu dem
Könige der Langobarben, und fuchte bei diefem Fürften, den Karl
faum zuvor durch Verſtoßung feiner Tochter tödtlich beleidigt hatte,
Schutz und Hilfe Mit Freuden ergriff Defideriug die ſchöne Ge:
Vegenheit, Verwirrung im Sranfenreiche anzuftiften. Er warf fih
Die fränkifche Kirche vom Anfange des’fiebenten Jahrhunderts ꝛc. 579
zum VBorfechter der Waifen Karlomann's auf, und wandte fih an
ben Pabſt Adrian J., Nachfolger des im Februar 772 verftorbenen
Stephan II. mit dem Antrage, den älteften Sohn Karlomann’g
zum Könige über Aufter zu falben. Der Ausbruch eines Bürger-
friegs im Franfenreiche wäre die unmittelbare Folge gewefen, wenn
der Pabſt den Willen des Langobarden erfüllt hätte, Hadrian wies
jedoch das Anfinnen zurüd. Der König Defiderius verfuchte der
Neihe nach Berfprehungen, Drohungen, Gewaltthaten, er verheerte
die Güter des Kirchenftaats unbarmherzig und entriß dem Pabft
eine Stadt um die andere. Hadrian blieb, um den Ausdruck des
Biblisthefars Anaftafius ') zu gebrauchen, feft wie ein Demant,
denn er durfte um feinen Preis mit dem mächtigen Karl brechen.
Zulegt rüdte Deſiderius auf Rom 108. Schon zuvor hatte der
Pabſt Karl'n um Hülfe gebeten; aber der Franfenfönig war das
ganze Jahr 772 über dur) einen fchweren Krieg gegen die Sachſen
beſchäftigt. Erſt 773 erhielt er freie Hand, und zog nun mit
einem großen Heere über die Alpen. Die Langobarden wurden
geſchlagen; Deftderius flüchtete hinter die Mauern von Pavia, wo
ihn Karl acht Monate belagerte. Bon einem Theile feiner Großen
verrathen, mußte fih der Langobarbenfirft an Karl ergeben, dev
ihn als Staatsgefangenen nad Frankreich abführen ließ, und dag
eroberte Land zu feinem eigenen Reiche flug. Er nahm feitdem
den Titel „König der Franfen und Langobarden“ an. Noch während
der Belagerung Pavia's eilte Karl nah Nom. Die bewaffneten
Zünfte, die obrigfeitlichen Perfonen, die halbe Bevölkerung, feldft
die Schulfugend °) wallten ibm, Palmzweige in den Händen
tragend, entgegen, und empfiengen den Franfen wie einen Trium-
phator. In der Vetersfirche, deren Stufen Karl fügte, traf er mit
dem Pabſte zuſammen; fie umarmten ſich und fehworen einander
gegenfeitig Treue. ?) Nachdem die Empfangsfeierlichfeiten einige
Tage gedauert, gieng man zu Gefchäften über. Anaſtaſius er-
zählt, % Karl habe fih die Schenfungsurfunde Pipin’s vorlefen
laffen, diefelbe beftätigt, und fofort eine neue ausgeſtellt, welche bie
Großmuth feines Vaters bei Weiten übertraf. Denn laut dem
Zeugniſſe des Bibliothekars erſtreckte ſich das durch Karl dem Stuhle
) Im Leben Hadrian's J., $. 9. flg. Ed. Vignoli IL, 168 fig, —
2) Ibid, ©, 188 fig. — 3) Ibid. ©. 191, — *) Ibid, 192. 493.
37”
580 I. Buch. Kapitel 9.
Petri geſchenkte Gebiet von der Meeresküfte bei Yuna nach Suria:
num (Sorans), Monte Bardone, DBerretum, Parma, Rhegium
(Reggio), Mantua, Mons filieis Mon felice), und begriff ferner
die Inſel Corfifa, den ganzen Erarchat Ravenna in feiner alten
Ausdehnung, die Provinzen Venetien und Jftrien, fo wie end:
lich die Herzogthümer Spoleto und Benevent. Anaftafius berichtet
weiter, Karl habe feine Stiftungsurfunde nicht blog in eigener
Perfon unterfchrieben, fondern auch durch die Bifchöfe, Aebte, Her:
zoge und Grafen feines Gefolgs unterzeichnen Yaffen, und alle Diefe
hätten ſodann dem heiligen Ayoftelfürften Petrus und deffen Stell:
vertreter Hadrian I. einen fürchterlihen Eid gefchworen, daß fie
buchftäbfih Das halten wollen, was auf jenem Pergamente ftehe.
Die Schenfung war ungeheuer; das römische Volk hat in feinen
erften Zeiten mehrere Jahrhunderte gebraudht, um Alles das zu
erobern, was Karl mit einem Feberftrih dem Pabſt überlieferte.
Mehrere Schriftfteller haben ſich daher erlaubt, die Wahrhaftigkeit
des päbfilihen Bibliothefars, welcher der Hauptzeuge ift, in Zweifel
zu ziehen. Wirklich befinden fi) unter den, von Anaftafius aufge:
führten Gütern folche, welche Karl im Jahre 774 gar nicht befaß,
und folglich auch nicht verfchenfen Fonnte, wie 3. B. Venetien, wo
eben damals unter byzantinifhem Schuge ſich der Freiftaat Benedig
bildete. Allein dies thut der Wahrhaftigfeit bes Zeugniffes darum
feinen Eintrag, weil der „furchtbare Eid,“ den nach Anaftafius
Karl und feine Großen Ieifteten, feinen Sinn hat, wenn man nicht
annimmt, daß der Frankenkönig kraft feiner Schenkung ſich ver:
bindlih gemacht haben muß, dem Pabſte Fünftig gewiffe Güter
abzutreten, deren Schenfung, weil fie noch nicht erobert waren, im
Sabre 774 gar nicht vollzogen werden konnte. Im Uebrigen hat
Cenni aus den im Codex Carolinus enthaltenen Briefen, welde
Hadrian 1. innerhalb zwanzig Jahren an Karl'n erließ, den genü—
genden Beweis geführt, ') daß der Stuhl Petri bei Weitem den
größten Theil der yon Anaftafius genannten Städte und Län:
dereien wirklich befaß, oder, geftüst auf Karl's Schenfung, in An:
fpruh nahm. Jene Zweifel find daher allem Anfchein nad) unbe
gründet. Der Franfenfönig vermehrte fogar noch in fpäteren Jahren
den Kirchenftant durch neue VBermächtniffe. In einem Briefe 2)
1) Cod, Carol, I., 297 fig. — 2 Cod, Carol, epist. 90, Cenni I., 489
unten, und 484 oben.
Die fränfifche Kirche vom Anfange des fiebenten Jahrhunderts ıc. 581
vom Sabre 788 fpriht der Pabft von der Stadt Capua,
welche Karl fammt andern Drten zum Heile feiner Seele dem
Apoftelfürften geopfert habe. Demnach erhielt der Stuhl Petri um
die angegebene Zeit in Campanien Güter, welde in dem Verzeich—
niffe des Anaftafius nicht enthalten find. Unvecht haben alſo Die,
welche die Großmuth des Franfenfönigs läugnen wollen. Dagegen
muß allerdings, um der Sache auf den Grund zu fommen, ein
anderer Punkt fcharf ind Auge gefaßt werben. Alles hängt von
ber Frage ab, unter welchen Bedingungen Karl den Pabft
reich gemacht hat. Und hierüber geben die Briefe des Codex Caro-
linus felbft einigen, doch nicht vollfommenen, Auffchluß. Im Jahre
788 fchreibt ) Hadrian an Karl: „ich habe die Bürger der (neu—
gefchenften) Stadt Capua dem heiligen Peter, mir und deiner
königlichen Herrfchaft, Treue ſchwören laſſen.“ Drei Jahre
früher meldet *) der Pabft dem Könige der Franfen, Langobarden
und Patrieier der Römer, Karl: „deinem Befehle, daß aus
Ravenna und der Pentapolis alle venetianifchen Kaufleute ver:
trieben werden jollen, bin ich fogleich nachgefommen, und habe
überdieg an den Erzbifchof von Ravenna den Auftrag ertheilt, die
Benetianer aus allen Beligungen und Schlöffern, die fie innerhalb
des Gebiets der römiſchen und ravennatifchen Kirche haben, uns
verzüglich zu verjagen.“ Hieraus geht aufs Klarfte hervor, daß
Karl fih in dem Exarchat von Ravenna, in VPentapolis, fo wie in
Campanien, alfo in den wichtigften Theilen des fogenannten Kirchen:
ftaats die Hoheitsrechte vorbehalten hatte, und den Pabſt blos als
feinen Statthalter behandelte. Diefelbe Gewalt übte Karl und fein
Nachfolger auch in der Stadt Nom aus, wie aus dem Fol:
genden erhellen wird. Ja der Sranfenfürft nahm fich zuweilen noch
weit größere Freiheiten gegen den Statthalter Petri heraus. Im
einunbfechszigflen Briefe des Codex Carolinus führt >) Hadrian
bittere Klage gegen Karl darüber, weil Diefer einen ypäbftlichen Ge:
fandten um einiger mißfälligen Worte willen eingefperrt hatte. Ein
folhes Verfahren, meint Hadrian, fey unerbört, feit die Welt fiehe.
Aus den angeführten Thatfachen erhellt nun, daß die Schenkung
eines ganzen Staates, welche Karl dem heiligen Petrus machte, in
i) Ibid, epist, Nro. 91. Cenni J., 487 Mitte. — ?) Ibid, epist, Nro. 83.
Eenni I., ©, 459. — 3) Ibid. ©. 362 unten, und 3563 oben.
582 UII. Buch. Kapitel 9,
einem ſehr befchränften Sinne zu verftehen if. Da nun bie Groß:
muth des Franken durch fo viel Berechnung geleitet war, fo läßt
fih zum Boraus erwarten, daß Karl auch dasjenige, was er wirt
lich ſchenkte, nicht ohne Borbehalt hergegeben haben werde.
Eine volfwichtige Urkunde, die auf ung gefommen ift, lüftet den
Schleier. In der Sammlung des canonifhen Rechts ) findet fi
nemlich aus den Aften einer Synode, welde Pabſt Leo VIIL 963
zu Rom hielt, folgende Stelle: „Pabft Hadrian hat dem König Karl
außer der Würde des Patriciats das Recht eingeräumt, den
römifhen Stuhl zu beſetzen und die Bifhöfe zu belehnen.“
Leo VIII. hatte als Pabft, wie fi) von felbft verfteht, Zutritt zu
den gebeimften Archiven des Batifan; er konnte daher über bie
Geſchichte feiner Älteren Vorgänger Dinge offenbaren, von welchen
die übrige Welt nichts wußte, Unmöglich kann man feine Ausfage
in Zweifel ziehen. Iſt fie aber wahr, fo fragt fih weiter, ob nicht
der König Karl die ganz alltägliche Vorfiht gebraucht haben werde,
das Zugeftändniß, welches er wirklich dem Pabſte Hadrian abpreßte,
in möglichft bindender Form, oder in feierlicher Weife vechtsfräftig
zu machen. Die Antwort hierauf ertheilt ein teutfcher Chroniken:
fchreiber, der zwar erft gegen Ende des eilften Jahrhunderts blühte,
aber aus guten Quellen gefchöpft hat. Sigebert, Mönd in dem
Kloſter Gemblours bei Lüttich, berichtet ?) in feiner Chronif zum
Jahre 773: „Karl feierte (während Pavia von feinem Heere be:
Yagert wurde), das Dfterfeft zu Nom. Nach dem Fefte begab er
fi zu feinem Heere, nahm Defiderius gefangen, kehrte hierauf
nad Nom zurück, und verfammelte dafelbit in Gemeinfhaft mit
Pabſt Hadrian eine Eynode, auf welcher 153 Biſchöfe und Aebte
erfchienen. Hadrian fammt der ganzen Synode räumte bem König
Karl das Recht ein, Cin Zufunfe) Päbſte zu wählen, und den
apoftolifhen Stuhl zu befesen. Auch die Würde des Patriciats
übertrugen fie ihm. Außerdem beftimmten fie, daß in Zukunft die
Bischöfe und Erzbiſchöfe aller Provinzen von ihm die Belehnung
(investituram) zu empfangen hätten; wenn ein Bewerber vom
Könige nicht gebilligt und beiehnt würde, fo dürfe denfelben Nie:
mand weihen; wer gegen biefen Befchluß zu handeln fich erfühne,.
N) Corpus juris canoniei I. distinct, 63. Cap. 23, edid, Böhmer IL.,
197. — 2) Die Stelfe abgedruckt ebendaf. Kap. 22.
Die fränkifche Kirche vom Anfange des fiebenten Jahrhunderts ıc. 583
ver folle dem Bannfluche verfallen, und wenn er fich nicht beffere,
auch noch feine Güter verlieren.“ Zwar fleht dem Berichte Sige-
bert’8 fein weiterer Zeuge zur Seite; aber feine Nachricht erfcheint
als eine nothwendige Ergänzung Deffen, was wir aus andern
fihern Quellen wiſſen, und es ift Teicht abzufehen, warum der Stuhl
Petri fih) Mühe geben mußte, das Andenfen der Dinge, die da—
mals in Rom vorgiengen, zu unterbrüden.
Karl vergaß alfo bei der Schenkung, welche er an den Stuhl
Petri machte, fich felbft Feineswegs; überdieß hat er fein dem Pabfte
gegebenes Wort nur ſehr unvollfiommen gehalten. In einem
Briefe I) vom Jahr 774 beflagt fi) Hadrian gegen Karl, daß ber
ehrfüchtige Erzbifchof Leo von Ravenna, gleich nad) dem Abzug
Karls aus Jtalien, dem Stuhle Petri den Gehorſam aufgefündigt,
und mehrere zum Erbe St. Peters gehörige Städte, wie Faventia,
Forumpopoli, Forumlivii, Ceſinä, Bobbio, Comachio, das Herzog-
thum Ferrara am ſich geriffen Habe; Adrian fügt bei, „der Erzbifchof
gebe vor, alle genannten Orte feyen ihm von Karl'n gefchenft
worden.“ Aehnlihe Klagen über den Oberpriefter von Ravenna
werben in mehrern anderen Briefen des Vabfts wiederholt, *) Der
Stuhl yon Ravenna war, wie wir willen, ein alter Nebenbuhler
bes römiſchen. Ohne franfifhellnterftügung hätte aber der
Erzbifchof Leo dem Pabſte nimmermehr auf folhe Weife trogen
können. Man muß daher annehmen, dag Karl, um ſich der Treue
Adrian’s zu verfihern, gemäß dem weltberühmten Grundfaß: „theile
und berrfche“ dem Stellvertreter Petri einen Nagel ins Fleiſch
getrieben hat. Ebenfo führt Hadrian Befihwerde über den neu
ernannten Herzog von Clufium Naginald. „Diefer treulofe Menſch
und Säemann des Unfrauts“, fagt ?) er, „fucht Alles, was ber
König zum Lofegeld für feine Sünden dem heiligen Peter vergabt
hat, wegzunehmen, und doch kann ich nicht glauben, daß Du
o gütigfter Sohn und allerchriftlichfter König, wegen Erhöhung
bes genannten Raginald deinen früheren Berheißungen ungetreu
geworben ſeyeſt.“ Noch in den Jahren 787 und 788 fleht *) ber
Pabft um Herausgabe gewiffer Güter, die ihm Fraft der Urkunde
1) Epist. 51. Cenni Cod. Carol, I., 321. — ?) Epist. 53. Cenni IL,
328 fig, Epist. 54. Cemi I., 334 fig. — 3) Epist. Nro. 55. Cenni I, 337. —
*) Ibid. epist, 88, ©. 474 unten, 475 und epist. 89. ©; 480.
Bu | 1, Buch. Kapitel 9.
des Jahrs 774 gebühren. Man fieht: der große Karl verftand
fih auf die Künfte der Herrfchaft, und mit der angeblihen Schen-
fung des Erbe Petri verhält es fich folgender Maßen: nicht ein
unabhängiges Fürftenthum oder einen weltlihen Staat hat Karl
dem römifchen Stuhle gefchenft, fondern blos, Einfünfte und eine
mittelbare Herrfchaft in einem allerdings fehr ausgedehnten
Gebiet. Sämmtliche Hoheitsrechte behielt fih der Franke feldft vor,
Für den überlieferten Mammon aber mußte der Pabft
fih feldft und feinen Stuhl dem Könige zu eigen
geben. Mit goldenen Feffeln ward er an das königliche Haus
von Frankreich gefettet. Daß Karl fih des Pabſtthums zu gewiffen
weitausfehenden Zweden bedienen wollte, fann man jest ahnen;
worin biefelben befanden, wird man im Folgenden fehen.
Seit 774 nahm Karl den Plan einer völligen Wiederherftel-
Yung der fränfifchen Kirche, welchen die Päbſte Gregorius II. und IN.
und Zacharias gefaßt, für welchen Bonifacius gearbeitet hatte und
an deſſen Ausführung Pipin gefcheitert war, mit allem Nachdruck
auf und führte ihn glücklich durch. Er fteuerte aber dabei auf ein
ganz anderes Ziel los, als der Stuhl Petri urfprünglich beabfich:
tigte. Die dringendfte und am häufigften wiederholte Forderung
der Päbſte während Pipin’s Negierung betraf, wie wir wiffen,
die Einfegung von Metropoliten. Karl erzwang, was fein Vater
nicht vermocht Hatte. Der fränfiihe Staat erhielt unter feinem Negi:
ment Erzbifhöfe mit einer Amtsgewalt, wie diefelbe feit Conſtantin
dem Großen im römischen Neiche beftand. Der Reichstag vom Jahr
779 verordnet ) in feinem erſten Befchluffe: „Die Suffraganbifchöfe
follen ihren Metropoliten in allen Dingen gemäß den Kirchengefegen
Gehorfam leiften.“ Ebenfo der Reichstag ?) von Aachen im Jahre
789: „Die Suffragane follen ſtets auf ihren Metropoliten Rückſicht
nehmen, auch nichts Neues in ihrem Sprengel ohne Kath und
Borwiffen deffelben unternehmen. Gleicherweiſe,“ heißt es weiter,
„darf aber auch der Metropplit nichts ohne Zuflimmung der Bi:
Ihöfe thun.“ Der bdreizehnte Befchluß) defjelben Reichstags bes
ſtimmt namentlih, daß die Suffragane ohne Einwilligung des
Metropoliten Feine Synode halten follen. Durch den vierten Be—
') Capitularia edit, IIda Baluzii I,, 195, — 2?) Capit, 8. ibid, 216, —
3) Ibid. ©. 219 oben.
Die fränkiſche Kirche vom Anfange des fiebenten Jahrhunderts ꝛc. 585
fchluß des Gapitulars vom Jahre 794 wird das Verhältniß ber
biſchöflichen zur erzbifhöflihen Gerichtsbarkeit folgendermaßen !) ge:
ordnet: „Den Bifchöfen fommt es zu, Necht zu Sprechen in ihren
Sprengeln. Will ein Abt, Presbyter, Diafon, Subdiafon, Mönd
oder fonft ein Cleriker fich nicht mit dem Ausfpruche feines Bifchofs
beruhigen, jo mögen fie zu dem Metropoliten gehen, daß Diefer
die Sache entfcheide Auch die Grafen follen den Bifchöfen zu
Gericht ftehen. Iſt aber der Erzbifchof nicht im Stande einen
Handel beizulegen, dann erft follen die Kläger und Beklagten ſich,
ausgerüftet mit einem Briefe des betreffenden Metropoliten, an ben
König wenden.“ Aus einer merkwürdigen Urkunde fennen wir die
Zahl der erzbifchöflichen Sprengel, in welche das Franfenreich gegen
Ende der Regierung Karls getheilt war. Im Jahre Chriſti 811
fette der greife Kaifer feinen Testen Willen auf, ®) kraft deſſen er
verordnete, daß ſämmtliches baare Vermögen feines Schates in
drei Hauptheile, und zwei Drittel berfelben hinwiederum in 21
Unterabtheilungen zerlegt werden follten. Je einen Theil der letztern
vermachte er dem Clerus der 21 Erzfprengel des Reihe. Als folche
Diöceſen werden aufgezählt: Nom, Navenna, Mailand, Forum
Julii (Friaul), Grado, Cölln, Mainz, Salzburg, Trier, Seng,
Befaneon, Lyon, Nouen, Rheims, Arles, Vienne, Tarantaife,
Embrun, Bordeaux, Tours, Bourges. Die fünf erften diefer
Ersftühle gehören Italien, die drei mittleren dem Teutjchland des
Bonifacius, die übrigen dem eigentlichen Francien an. Neben der
Metropolitanverfaffung ift häufige Abhaltung von Synoden ein
Hauptnerv der Kirchenzucht. Der dreizehnte Beſchluß des Reiche:
tags von Aachen verordnet: 3) „Zweimal follen alljährlich in jedem
Ersiprengel unter dem Borfige des Metropoliten Synoden abge:
halten werden.“ Durch die bisher angeführten Beftimmungen wur:
den blos alte Borfchriften der Kirche wieder ing Leben gerufen.
Einige neue Einrichtungen famen jedoch Hinzu. Wir haben im
zweiten Bande *) vorliegenden Werks erzählt, wie Auguftinus feine
biſchöfliche Wohnung zu Hippo in ein Klofter verwandelte, und den
Clerus der Stadt an eine mönchiſche Negel gewöhnte. Thomaſſin
1) Ibid. 264 unten. — 2) Aus Eginhard’s Leben Karl’s abgebrudt,
ibid. ©. 487 fl. — 3) Ibid. 218 unten fo. — MDB ©, 677
u, 738. |
586 I. Buch. Kapitel 9.
weist einige ſchwache Spuren nad, ) aus welchen erhellt, daß Aus
guſtin's Vorgang während des fechsten und fiebenten Jahrhunderts:
da und dort in Spanien, England und Franfreih nachgeahmt
worden iſt. Erft im Laufe des achten Jahrhunderts gedieh Das,
was Auguftinus erfirebt hatte, zu einer allgemeinen Kirchenanftalt,
und zwar durch das Verdienſt eines fränfifchen Biſchoſs. Chrode—⸗
gang um 700 aus einer vornehmen fränfifchen Familie geboren,
erhielt feine Erziehung am Hofe Karl Martel’s, wurde dann von
Karls Sohne, Pipin, zu mehreren wichtigen Gefchäften gebraucht
und zulett auf den Stuhl von Mes befürbert. Als Bifchof ver:
einigte er den Klerus feiner Stadt in der eigenen Wohnung zu
föfterlichem Leben und fchrieb demfelben eine Regel vor, welche nod)
vorhanden ift. ?) Chrodegang prägt zuförderft den jüngern Glerifern
Ehrerbietung gegen die Altern ein; ohne Erlaubniß der Aelteren fol
fih in ihrer Gegenwart fein Jüngerer fesen. Die Aelteren fordert
er auf, ihre jüngeren Brüder mit Liebe zu behandeln. Alle Ca:
nonifer, mit Ausnahme Derer, welchen der Biſchof befondere
Erlaubniß ertheilt bat, fchlafen in gemeinfchaftlichem Saale, doc
in abgefonderten Betten und fo, daß das Lager eines jüngern im=
mer zwifchen den Betten der Aelteren zu ftehen fommt, damit ſtets
Aufiicht flattfinde. Kein Weib, Fein Laie darf das Klofter betreten,
ausgenommen, wenn der Bilchof, der Archidiafon, oder der Primi:
cerius Jemand zu Tiſch einladetz; jedenfalls aber muß der Einge—
Yadene feine Waffen vor der Pforte ablegen. Aeltern Canonifern
ift es erlaubt, mit Zuftimmung des Bifchofs jüngere zur Bedienung
anzunehmen. Sobald bei Anbruch der Nacht das erfte Zeichen mit
der Glocke gegeben ift, verfammeln ſich alle im Kiofter, beim zwei—
ten Zeichen begeben fie fi in die Kirche, um das completorium
(die letzte der ſieben canonifchen Stunden oder Gebete) zu fingen.
Nach dem completorium darf Niemand mehr efjen, trinken, reden,
ins Klofter oder aus demfelben gehen. Jeder Ganonifer, der bie
Nacht außerhalb des Gebäudes zubringt, faftet bei Waffer und Brod,
oder wird gezlichtigt. Im Winter, d. h. vom erften November bis
Dftern, erhebt man fih mit der achten Stunde der Nacht (2 Uhr
i) Disciplina vetus et nova ecclesiae Pars I., liber III., Cap. 5. Sn
der Ausgabe Paris 1688 Fol. B. I., ©. 629 fig. — 9 In ihrer Achten ur:
fprünglichen Geftalt abgedruckt bei Manfi XIV., 315 flg., wo man auch bie
Zeugniffe der Alten über Chrodegang's Leben findet.
Die fräntifche Kirche vom Anfange des fiebenten Jahrhunderts ꝛc. 587
Morgens) und begeht die erſte canoniſche Stunde, (mocturna) mit
Kyrie Efeifon und dem Gebet des Herrin. (Sofort wird die Feier
der übrigen canonifchen Stunden vorgefchrieben). Nach dem Mor:
gengebete (prima) verfammeln fih die Canonifer im Capitel (dem
Hauptfaale des gemeinfamen Gebäudes, fo genannt, weil dort ein
Sapitel der Negel und der Bibel vorgelefen wurde). Dreimal in
der Woche: Sonntag, Mittwoch und Freitag wird ebendafelbft
eine Predigt gehalten. Im Capitel gibt der Bifchof oder Ardhidia-
fonus feine Befehle, und ertheilt Denjenigen Verweiſe, welche ſich
vergangen haben. Die Cleriker der Stadt, welche nicht zum Cano—
nifat gehören, erfcheinen am Sonntag gleichfalls im Capitel, und effen
mit der Gefellfchaft. Beim Austreten aus dem Capitel begeben fi)
die Canonifer zu der Händearbeit, die ihnen angewiefen if. Zwei:
mal im Jahre follen die Sanonifer ihre Sünden, felbft böfe Gedan—
fen, dem Bifchofe beichten. Wer Bedürfnis fühlt, dieß häufiger zu
tun, wendet fih an den Bilchof, „der einen von ihm beftimmten
Cleriker. Merkt der Bifchof, daß ein Sanonifer Sünden verfchwies
gen bat, fo darf er ihn nach Erfund abfegen, vom Abendmahl
ausfchließen, einfperren oder züchtigen. Das Abendmahl follen die
Sanonifer jeden Sonn= oder Fefttag genießen, vorausgefett daß be:
gangene Sünden fie nicht deffelben unwürdig gemacht haben. Grobe
Berbrecdhen, wie Todſchlag, Chebruch werden durch Geißelung,
Faſten, Ausftogung, Gefängniß und nad dem Gefängniß durch
öffentliche Buße gezüchtigt, welche Iestere darin befteht, daß der
Sünder fi) vor dem Kirchenthore auf die Erde hinwerfen muß,
während bie übrigen Canonifer ein= und ausgehen. Verläumdung
und Trunfenheit zieht erft geheime, dann öffentliche Verweiſe, im
Falle der Halsftarrigfeit Bann und fürperliche Strafen nad ſich.
In der Faftenzeit wird nur Abends gegeffen, in den Tagen von
Oſtern bis Pfingften zweimal, die, welchen feine Buße obliegt,
fünnen dann täglich Fleifh genießen, ausgenommen am Freitag.
Bon Pfingften bis Johannistag wird zweimal gefveist, aber ohne
Fleiſch. — Mehnlihe Borfchriften folgen fofort !) für die übrigen
Monate des Jahrs. — Sieben Tafeln fiehen im Speifefaale:
bie erfte für den Bifchof, den Archidiafonus und die Gäfte, die
zweite für die Presbyter, die dritte für die Diafone, die vierte für
DU a. O. Cap. 20.
Be AII. Buch. Kapitel 9.
die Unterbiafone, die fünfte für die übrigen Clerifer bes Canonikats,
die fechöte für die Aebte, die fiebente für die Elerifer der Stadt,
welche an Sonn: und Fefttagen im Canonifat fpeifen. Während
des Effens foll Niemand fprechen, dagegen wird eine Predigt vor—
gelefen. Das zweiundzwangigfte Kapitel beftimmt die Art der Spei—
fen, welche wir übergehen; das breiundzwanzigfte handelt vom
Getränke. An den Tagen, wo zweimal gefpeist wird, erhalten bie
Presbyter und Diafone Mittags drei, Abends zwei Kelche (calices),
die Unterdiafone Mittags und Abends je zwei, die übrigen Clerifer
Mittags zwei, Abends einen. An Fafttagen empfangen alle nur
fo viel Wein als fonft beim Mittageffen. „Weil wir,“ fagt Chrode—
gang, „unfern Clerus nicht vermögen fünnen, gar Teinen Wein zu
genießen, fo werde wenigftens die Trunfenheit gemieden.“ Die, welche
ſich des Weins freiwillig enthalten, empfangen ein entfprecdhendes
Maaß von Bier. Alle Canonifer verfehen der Reihe nach den Dienft
der Küche, ausgenommen der Archidiakon, der Güterverwalter und
die Safriftane der drei Hauptkirchen von Mes. Alljährlich erhalten
die älteren Canonifer neue Kutten (cappas), die von ihnen abge-
legten Kutten werden den jüngern Mitgliedern übergeben. Die
Presbyter und Diafone, bie in der Gemeinfchaft dienen, empfangen
jährlich zwei Leibröde (sarciles), oder fo viel Wolle als nöthig ift,
um folhe zu bereiten, außerdem zwei Hemden. Alle befommen
jährlich Aindsleder zu Schuhen und vier Baar Sohlen. Auch wird
ihnen Geld gereicht, um Holz anzufhaffen. Die Glerifer des Cano—
nifats, welche Pfründen befisen, fchaffen ihre Kleider felbft an.
Wer in das Sanonifat aufgenommen werden will, muß zuvor der
Kirche von S. Paul, (zu welder das ältefte Canonifat in Mes
gehörte), all fein Vermögen vermachen, doch ift ihm geftattet, fo
lange er lebt, die Nutznießung fich auszubedingen. Auch dürfen die
Canoniker diejenigen Almofen, welche Laien für Meilen, für die
Beichte oder zum Wohl Iebender oder tobter Angehöriger ftiften,
für fi behalten. ) Das Teste Kapitel fchreibt vor: zweimal
des Monats folle das Canonifat die Armen der Stadt, welche in
bie öffentlichen Liften eingetragen find (matrieularii) in der Kirche
i) Zongueval (hist. de l’eglise gallicane. Vol, IV., 442) macht hiezu die
Bemerkung: dieß fey das erfte, ihm befannte Beifpiel von Bezahlung für den
Dienft der Sakramente.
Die fränkiſche Kirche vom Anfange des fiebenten Jahrhunderts ic. 589
zufammenrufen, und ihnen eine Predigt halten; zweimal des Jahrg
jolle man ihre Beichte hören. Auch werden Austheilungen von
Lebensmitteln unter fie für gewiffe Fefttage angeordnet. Chrode—
gang nennt felbft die Cleriker feiner Anflalt cleriei canoniei, ihre
Lebensweife vita canonica. Seitdem nannte man fie auch collegiati.
Chrodegang ftarb als Bilchof von Mes den 6. März 766, zwei
Jahre vor Karls Regierungsantritt. Er gehört alfo noch ganz der
Zeit Pipin’s und der Schule des Bonifacius an, von welchem er
vielleicht den Anftoß feiner reformatorifchen Thätigfeit erhalten bat.
Seine Stiftung taugte trefflich für die Zwede Karl's. Denn Chrobe-
gang's Negel unterwirft nicht blos den Clerus der Hauptfirchen,
fondern auch den Bifchof felbft einer firengen Aufjicht. Wie die
Geiftlichfeit durch den Biſchof, jo wird umgefehrt diefer durch jene
bewacht und zur Gefeglichfeit angehalten. Es ift daher ganz in ber
Drdnung, das Karl das Canonifat allgemein in der fränfifchen Kirche
einzuführen ftrebte. Mit gutem Beispiel war ihm fohon fein” Vater
Pipin vorangegangen. Die Synode von Berneuil (755) verordnete
in ihrem elften Canon: „alle Cleriker follen entweder in Klöſtern
nad) gewohnter Mönchsregel oder in der Hand eines Biſchofs nad
eanonifher Ordnung !) leben.“ Aber diefe Vorſchrift ſcheint,
wie alle übrigen Verordnungen Pipin’s, fchlecht gehalten worden zu
feyn. Karl drang durch, Der Neihstag von Aachen faßte den
Beihlug, 2) dag Alle, welche in den Clerus eintreten, nach cano—
nifher Regel leben, und dem Bifchofe fih auf gleiche Weife unter:
werfen mußten, wie die Mönche ihren Aebten. Diefelbe Verord—
nung wurde fpäter mehrmals wiederholt, ?) und man erfieht aus
einigen Synodalaften, *) daß Chrodegang’s Vorſchrift felbit in
eigentlihen Mönchsflöftern Eingang gefunden hat.
Während der Zaum canonifchen Lebens den Clerus der Städte
an unverbrücliche Ordnung gewöhnte, unterwarf eine andere, gleich:
falls neue, Einrichtung die Landgeiftlichfeit einer genauen Aufficht
!) In monasterio sint sub ordine regulari aut sub manu episcopi sub
ordine canonico, Baluzius capit. I., 173 oben. — 2) Capit. 71 ibid,
©. 258. — 3 Wie im Capitulare vom Sahre 802. Cap. 22 ibid. 569
unten. — *) Concil. arelatense vom Jahr 813. Canon 6, Mansi XIV., 60,
Coneil. Moguntin. vom gleichen Jahre Can. 9 u. 21, ibid. ©; 67 u. 71.
Coneil. turonense ebenfalls vom Jahre 813, Can, 25 u, 24, ibid, ©; 86
und 87;
590 IIII. Buch. Kapitel 9.
und Zudt. Schon früher muß die große. Ausdehnung der Bis—
thümer bewirkt haben, dag man auf Mittel dachte, die Maſſe der
Pfarrer durch befondere Beamte überwachen zu laſſen. Thomaflin !)
macht wahrſcheinlich, daß bereits im fechsten und fiebenten Jahr:
hundert die bifchöflichen Sprengel in mehrere Bezirke verlegt wurden,
an deren Spige je ein Archipresbyter ftand. Die Archipresbyter
waren beauftragt, die Amtsführung der Pfarrer zu prüfen und
über biefelben an den Bifchof zu berichten. Später nannte man
‚die Bezirfe der Archipresbyter Landeapitel, oder Defanate, fie felbft
Defane. In dem Zeitalter Karls des Großen wurde nun zwifchen
die Archipresbyter und den Biſchof eine neue Behörde eingefhoben.
Der Biſchof Heddo von Straßburg, abermal ein Mann aus ber
Schule des Bonifacius, machte während feines Aufenthalts zu Rom
im Jahr 774 dem Pabfte Hadrian die Anzeige, daß er für feinen
Sprengel fünf Archidiafone ernannt, und einem jeden derſelben eine
gewilfe Anzahl von Archipresbytern oder Defanen untergeordnet
habe. Das Amt der Archidiafone ift, wie wir wiffen, eine alte
Anftalt der Kirche, aber bis dahin gab es in jeder Discefe nur
einen Ardidiafon, welder der gefeßliche Stellvertreter des Bischofs
und häufig fein Nachfolger war. Die Gewalt der. Arcdidiafone
wurde daher durch Heddo's Werf eigentlich) verringert, vielleicht
geihah es deßhalb, daß Heddo den neuen Archidiakonen das Necht
einräumte, nicht mehr durch die freie Entfcheidung des Bifchofg,
fondern nur im Falle eines Verbrechens abgeſetzt werden zu können.
Der Pabft billigte die Einrichtung Hebdo’s, ?) und fie muß fid,
ohne Zweifel durch Karl's Mitwirkung, fehnell in Frankreich verbreis
tet haben. Wenigftens fett ein Befchluß 3) der Parifer-Synode vom
Jahre 829 das Beſtehen mehrerer Archidiafonate in den verfchiedenen
Bisthümern als allgemeine Kegel voraus: „Jeder Bifchof,* heißt
es bier, „folle ein wachfames Auge auf feine Archidiafone haben
(archidiaconis suis vigilantiorem curam adhibeat), damit diefelben
ihre Amtsgewalt nicht mißbrauchen.“ Sp jung nemlich die Einvich-
tung war, hatten fih die Archidiafone in kurzer Zeit durch den
—
1) Disciplina eccles. I., lib. II. Cap. 4. a. a. ©. I, 223 unten flg. —
2) Die Urkunde abgeprudt bei Grandidier histoire de l’eglise de Strasbourg.
Vol. II. Urkundenbuch Nr. 66. — *) Canon 25, Manfi XIV., 555 Mitte.
Andere Beweife bei Thomaßin I., lib, IL, Cap, 19, 4.0.0, ©, 280,
Die fräntifche Kirche vom Anfange des fiebenten Jahrhunderts x. 591
Geiz verhaßt gemacht, mit welchem Mr e Pfarrer wie Dekane beſchatz⸗
‚ten und plünderten.
Ueber die verfchiedenen bisher befchriebenen Stufen, dur)
welche der Clerus feldft feine Mitglieder beauflichtigte, erhob ſich
noch eine Ießte, die an dem Throne des Könige auslief. Von Zeit
zu Zeit ſchickten Karl und feine Nachfolger Bifhöfe und Grafen )
als befondere Bevollmächtigte in die Provinzen des Reichs aus, um
die Amtsführung geiftliher und weltlicher Behörden unverſehens zu
unterfuchen und über den Erfund an den Hof Bericht zu erftatten.
Man nannte diefe Boten missi regii. Mehrere Capitulare ertheilen
den föniglihen Kammerboten eine genaue Dienftanweifung, am
ausführlichften das Capitular ?) Ludwigs des Frommen vom Jahr
828: „Der Kammerbote foll erfilich auf den Wandel der Bifchöfe
Augenmerk haben: namentlich wie fie ihr Amt führen, wie fie die
Kirhen und den ihnen anvertrauten Clerus regieren, und im All:
gemeinen in weltlichen wie geiftlihen Dingen gefinnt find. Fürs
Zweite fol er unterfuchen, von welcher Art die geiftlichen Gehülfen
des Bischofs, Arhidiafone, Archipresbyter u. f. w. find. Auch auf
die Klöfter foll er Acht haben, u. ſ. w. So liefen denn bie legten
Fäden geiftlihen Regiments in den Händen des Königs zufammen.
Dem Pabft hat Karl feinen Antheil an der Beauffichtigung des
fränfifchen Clerus geftattet. Er ließ fi zwar von Habdrian I. eine
‚vermehrte Sammlung des Dionyfifchen oder ?) im Jahr 774
ſchenken und benügte diefelbe als Vorbild bei Einrichtung der Kirche
jeines Reichs, auch fragte er den Stuhl Petri in fehwierigen Punf:
‚ten kirchlicher Geſetzgebung häufig um Nath.*) Aber weiter gieng
feine Gefälligfeit nicht. Auf der Synode zu Aachen wurden mehrere
der wichtigften Beſchlüſſe, weldhe in dem von Hadrian gefchenften
Codex enthalten waren, feierlich zum Neichsgefege erhoben. Merk:
würdiger Weife bleiben jedoch die Canones yon Sardifa, welche
Derufungen aus aller Welt nah Rom gut heißen, ) yon dem
Aachener Capitulare weg, obgleich Ießtere in jenem Buche eine Stelle
1) Baluzius capitular, a. a. ©. ©. I, 577 Mitte. — 2) Baluzius I,
©. 657 flg. Die älteren Vorſchriften vom Sabre 789, ibid. J. 244, vom
Jahre 802, ibid. 375, vom Jahr 806, ibid. L., 455. — 9 Der erfte Theil
beffeiben im Auszuge bei Manft XII., 859, vollftändig bei Harzheim concil,
Germaniae J., 131flg. — 9) Beifpiele: Baluzii Capitul, I,, 327, ibid, I, 380, —
>) Siehe den IL, B. diefes Werks ©, 245 fig.
592 U. Buch. Kapitel 9.
erhalten hatten, ) dagegen ließ Karl wohlweislich die Schlüffe von
Nicäa und Antiochien, welche den Provincialſynoden die vberfte
Gewalt in Kirchenfachen übertragen, in die Aachener Aften einrüden. ?)
Bollendet wurde die Wiederherftellung der Zucht des Clerus
durch eine Neihe fittlicher Vorſchriften, welche Karl auf den ver:
fhiedenen Neihsiynoden einbrachte, und die, feit fie zum Geſetz
erhoben worden, den Auflichtsbehörden als Anhaltspunft dienten.
Die meiften diefer VBorfchriften find den ältern Ganones der Fatho:
ifchen Kirche entnommen. Wir übergehen fie daher als befannt,
wollen aber bemerken, daß Karl fich befondere Mühe gab, die im
fiebenten Jahrhundert unter dem Clerus eingeriffenen germanifchen
Unarten abzufchaffen. Das Capitulare von 769 verordnet im erften
Schluſſe: ?) „allen Clerikern ift es verboten, Waffen zu tragen oder
in Krieg zu ziehen. Blos einer oder zwei Bifchöfe Dürfen mit ihren
Capellanen das Heer begleiten, aber nur des Gottesdienſts wegen
und um im Feld die Meſſe zu Iefen.“ Der dritte Artifel deffelben
Sapitulars *) unterfagt den Geiftlihen die Jagd, das Herumftrei-
fen in den Wäldern, fo wie das Halten von Hunden und Falfen.
Auch die Ehelofigfeit der Priefter ftellte Karl nach römiſchem Ge:
brauche wieder her: „Fein Clerifer darf ein Weib im Haufe haben,
es fey denn feine Mutter oder Schwefter, oder eine andere Perſon,
die den Verdacht ausfchließt,“ Heißt es?) im vierten Alrtifel des
Aachener Capitulars vom Jahre 789. Ein eigener Canon 6) der
von dem Lepiten Benedikt zufammengetragenen Capitularenfamm:
Yung verbietet den Bifchöfen, Presbytern und Diafonen, bei Strafe
des Banns, Theilnahme an Trinfgelagen und das Würfelfpiel.
Der Güterbefig der Kirche verwidelte die Biſchöfe in manche Ge:
fchäfte, welche des geiftlichen Amts unwürdig fehienen. Um allen
böfen Schein vom Clerus zu entfernen, gab Karl einem älteren
Gebrauch, den er vorfand, gefeglihe Kraft. Man fann aus Ur:
funden beweijen, daß fhon zur Zeit ber Merowinger einzelne galli-
fhe Kirchen und Klöfter fih weltliche Schutzvögte (advocati) gewählt
hatten, welche die Verbindlichfeit übernahmen, ihre geiftlihen Schüg-
linge vor Gericht zu vertreten. ) Karl der Große ſprach nun den
ı) Harzheim I., 190. — 9 Man vergl. Giefeler 8. ©. IL, a. ©. 51.
Note pr — 3) Baluzius Capitul. L, 4189 fl. — 9) Ibid. 191. —
5) Ibid. ©. 215. — 6) Liber. VI., Can. 203., ibid. 1, 958, — ?) Plant
Geſchichte der Geſellſchaftsverfaſſung II, ©: 460, 64,
end
Die frankifche Kirche vom Anfange des ſiebenten Jahrhunderts ꝛe. 593
Grundſatz ) aus: „Biſchöfe und Aebte ſollen rechtſchaffene Männer,
und zwar wo möglich ſolche, die in der Grafſchaft, (worin das
Kloſter oder die Kirche liegt) Erbgüter haben, zu Vögten anneh—
men.“ Dieſe Kirchenbeamten führen ſeitdem den Namen advocati,
vicedomini, wohl. auch defensores. Die VBerpflihtung lag ihnen
ob, den Bortheil der ihnen anvertrauten Kirchen und Klöfter zu
wahren, diefelben im Nothfall durch gerichtliche Zweikämpfe zu ver:
theidigen, und bie flreitbare Mannfchaft der Bifchöfe und Aebte in
Krieg zu führen. Wir werben fpäter zeigen, daß bie Einfesung
der Bögte, welche urfprünglih zum Wohl der Kirche berechnet war,
in furzer Zeit eine furchtbare Laft für die Schüglinge wurde.
Die ftrenge Zucht, welche Karl einführte, hatte die Doppelte
Abfiht, den Klerus in der öffentlichen Meinung zu heben, und ihn
zu einem tüchtigen Werkzeug der Staatsgewalt zu machen. Zu
gleihem Zwecke feste der König noch ein anderes Mittel, mit nicht
geringerer Beharrlichkeit, in Bewegung. Die geiftige Bildung war
in Gallien feit dem fiebenten Jahrhundert gänzlich verfallen. Karl
wollte Clerus und Volk durch Cultur heben. Gelehrte Männer gab
es aber damals nur in England und in Italien. Dort mußte er
alfo tüchtige Lehrer fuchen. „Der König Karl,“ berichtet ein frän-
fiiher Chronift ?) zum Jahre 787, „brachte aus Rom Meifter der
Grammatik und der Rechenfunft mit fih nach Franeien, und gab
fid, alle Mühe, die Wiljenfchaften in feinem Reiche zu verbreiten.
Denn vor Karl legte fih in Gallien Niemand auf das Studium
der freien Künfte.“ Der König mußte erft Bahn brechen. „Unter
ben Stalienern, welche er zuerft in feine Dienfte nahm, wird Petrus
yon Pifa genannt, der bis 774 in der Schule zu Pavia die Gram:
matif gelehrt hatte, feit Einnahme diefer Stadt aber Karl's Einla—
dung nach Frankreich folgte. Einhard ?) berichtet, daß Karl feldft
Unterricht bei ihm nahm. Sechs big fieben Jahre fpäter Fam ein
berühmterer Mann aus Stalien nah Francien herüber. Paul
Warnefrid’s Sohn, ein zu Friaul geborner Langobarde, war
erft Diafon an der Kirche zu Aquileja und wurde um 760 vom lebten
1) Gapitulare vom Jahr 802. Cap. 13, Baluzius I, 566. Capitular vom
Jahr 813, Cap. 14., ibid. ©. 509 unten. — 2) Monachus egolismensis,
die Stelle abgedruckt bei Perz I., 171. — 3) Vita Caroli. cap. 25 bei Perz
Il., 456 unten. Außerdem vergleiche man über Peter von Piſa Alcuini
epist. 85. opp. ed, Froben ],, 126,
©frörer, Kircheng. III, 33
504 IT. Buch. Kapitel 9.
Könige der Langobarden Defiderius zum Kanzler erhoben. Mit
dem Untergange des Langobardifhen Reichs wird Paul's Gefchichte
darum unfiher, weil der Cardinal von Oſtia Leo, der um 1100
eine Chronif yon Monte Caffino fehrieb, fabelhafte Nachrichten über
ihn verbreitet hat, die man feitdem wiederholte, die aber durch)
nenerlih aufgefundene Urkunden widerlegt werden. Leo von Oftia
berichtet: nach der Einnahme yon Pavia habe der König Karl den
Langobardiſchen Kanzler nach Frankreich abführen Yaffen, und ihm
feitdem feine Gunft gefchenft. Aber in der Folge fey Paul in eine
Verſchwörung zu Gunften des Defiderius verwidelt, und darum
son Karl nach einer Inſel des adriatiichen Meers verbannt worden.
Bon dort habe er fih zum Fürften von Benevent Arichis, einem
Tochtermanne des Deſiderius, geflüchtet, und fey zulest als Mönch
in das Klofter Monte Caſſino eingetreten. Dieß find Fabeln. Wir
folgen der gründlichen und ſcharfſinnigen Unterfuchung Tiraboschi's.
Allem Anſchein nach zog fih Paul nach erfolgtem Sturze des Lan
gobarbifhen Reichs in das Klofier Monte Caſſino zurück. Bon
dort aus Üüberfandte er 781 an den Franfenfönig eine noch erhal:
tene Bittfhrift in VBerfen, um die Loslaffung feines Bruders zu
bewirken, der feit fieben Jahren — d. h. feit der Einnahme yon
Pavia in fränfiiher Gefangenfchaft ſchmachtete. Karl bewilligte,
wie es ſcheint, feine Bitte und berief den fähigen Langobarden nad)
Sranfreih, wo er ihn zum Lehrer feiner Tochter Notrud, um
welche damals der Thronerbe von Byzanz Conftantin gefreit hatte,
ernannte und zu andern gelehrten Zwecken verwendete. Ungefähr
bis 788 ſcheint Paul in Frankreich geblieben zu ſeyn. Wir befigen
noch einen Brief, den er vom fränfifchen Hofe aus an Theodemar,
Abt von Monte Caſſino, ſchrieb. Paul bezeugt in demfelben feine
Zufriedenheit mit der Behandlung, die ihm am Hofe zu Theil ge=
worden, fpricht aber auch zugleich feinen Wunſch aus, nad) Monte
Caſſino zurüdzufehren. Dean hat Urfache zu glauben, daß er um
790 wirflih wieder in fein Klofter gieng, und bafelbft vor dem
Schluſſe des Jahrhunderts geſtorben Y) if. Paul verdiente die
Gunſt des großen Frankenkönigs. Wir verdanken feinem Fleiße
vier Hiftorifche Arbeiten yon ungleihem Werth: die fogenannte
!) Tiraboschi storia della letteratura italiana lib. II,, Cap. 3. 8.5 flg.
(Ausgabe von Florenz 1806) Vol. II., 232 fig, Die auf Paul's Geſchichte
bezüglichen Urkunden find hier geſammelt.
Die fränkifche Kirche vom Anfange des fiebenten Jahrhunderts ꝛc. 595
historia miscella, ) die Geſchichte der Langobarden in fehs Bü—
dern, 2) Nachrichten über die Biſchöfe zu Mes?) und eine
früher erwähnte Biographie des Pabſts Gregorius I. Die historia
miscella fchrieb Paul auf den Wunſch der Fürſtin yon Benevent
Adelberga. Die erften eilf Bücher wiederholen den Eutrop, in den
folgenden fünf führt Paul die Gefchichte der Welt bis auf Kaifer
Zuftinian fort. Weitere acht Bücher, die wir noch befiten, fol
im vierzehnten Jahrhundert ein gewiffer Landulfus aus älteren
Shronifen nachgetragen haben. Diefe Ergänzung reicht bis zum
Jahr 806. Der Gewinn, den die Wiffenfchaft aus Paul's historia
miscella ziehen kann, ift, weil das Werk faft nichts Eigenes ent:
halt, fehr gering. Die Nachrichten über die Biſchöfe son Mes,
welche Paul im Jahr 784 an Ort und Stelle abfaßte, find unter
die kleineren Quellen des achten Jahrhunderts zu rechnen. Bei
Weitem die verbienftlichfte Arbeit Paul's ift feine Gefchichte der
Langobarden, denn ohne ihn hätten wir feine zufammenhängende
Kenntniß von den Schidfalen dieſes Volks. Während feines Aufent-
halts in Franfreich erhielt der Langobarde vom Könige Karl den
Auftrag, aus den Schriften älterer Väter eine Sammlung yon
Predigten zufammen zu tragen, welche zum öffentlichen Gebrauch
in den Kirchen des Reichs dienen follte. Diefe Sammlung ift nod)
vorhanden. %) Boran flieht eine Zuſchrift Karls an die frommen
Lefer, worin er erklärt: um das Studium ber beinahe gänzlich ver:
falfenen Wiffenfchaften wiederherzuftellen, und weil befonders beim
nächtlichen Gottesdienfte fehr fehlerhafte Predigten gelefen würden,
jey die Einführung einer beffern Arbeit nöthig geworden. Auf fei:
nen Befehl habe Paul aus den fhönften Wiefen der Fatholifchen
Bäter gleihfam einen Blumenfranz gewunden, d. h. die beften
Predigten derfelben für den ganzen Verlauf des Jahres, einem
jeden Fefltage angemeffen, in zwei Theilen zufammengetragen; und
biefe Arbeit habe er (der König) geprüft, beftätigt, und für ben
Dienft der Kirche hinausgegeben.
Der italienifchen Provinz Friaul gehörte noch ein anderer Ge-
?) Am beften abgedrudt bei Muratori script. rer. italic, Vol. I, a —
2) Ibid. ©. 395 fl. — 9 Excerpta de primis Metensium episcopis bei
Perz II. 260 fig, — *) Homiliarium. Oefter gedruckt im fechzehnten Jahr:
hundert, Ueber die Heineren Schriften Paul's vergleiche man Fabricius
bibliotheca latina med, et infim, Latinitatis, Vol, V., 210 fig. edit, Patav,
35 *
596 IT. Buch, Kapttel 9.
Yehrter an, den Karl hervorzog. Paulinus um 730 geboren, Hatte
fi) zu der Zeit, da Karl Italien eroberte, als Lehrer der fchönen
Wiffenfchaften, oder, wie man damals fagte, ald Grammatifer,
großen Ruf erworben. Kraft einer unter dem 17. Juni 776 zu
Sorea ausgeftellten Urkunde ſchenkte ihm Karl ein Gut in Friauf,
und erhob ihn noch in demfelben Jahre auf den erledigten Erz
ftuhl von Aquilefa. Seitdem giengen die wichtigften Firchlichen und
Staats:-Gefchäfte durch feine Hände, auf mehreren von Karl beru—
fenen Synoden hat er entweder den Borfig geführt, oder doch eine
bedeutende Rolle gefpielt. Wir werden ihn tiefer unten im Streite
gegen Elipandus thätig finden. Paulinus farb 804, ') Ein vierter
Staliener, den Karl ebenfalls aus dem großen Haufen herausfand,
hat gleich den zuvor genannten, dem Könige nügliche Dienfte ge—
Yeiftet. Theodulf, aus einer vornehmen italienischen Familie, gothi-
fhen Urfprungs ftammend, und der befte Iateinifche Dichter feines
Zeitalters, wurde yon dem Könige um 790 nach Frankreich be-
rufen. Karl gab ihm um 794 das Bisthum Orleans, einige
Sabre ſpäter fchenfte er ihm noch die Abtei Fleury. Theodulf, der
fih die Errichtung von Schulen fehr angelegen feyn ließ, genoß
bis zu des Kaifers Tod deffen Gunft;z aber 817 ward er in eine
gegen Ludwig den Frommen gerichtete Verſchwörung verwidelt;
und obgleich er jede Theilnahme beharrlich läugnete, fchuldig be—
funden und feines Amts entfest. Er flarb im Jahre 821. 2)
Dei Weiten die größte Bedeutung unter allen Gelehrten, bie
Karl in fein Neich berief, errang ein Angelfachfe und Schüler
Egbert's, des erſten Erzbifchofs yon York. Alkuin wurde um 735
im Yorker Sprengel geboren. Schon in frühefter Jugend für den
geiftlihen Stand beflimmt, wuchs er in dem Klofter zu York her:
an; fpäter trat er in die Schule, welche Egbert dafelbft gegründet
hatte, und in welcher der Erzbifchof felbft, neben einem Verwandten
Namens Nelbert, Unterricht ertheilte. Diefe Yorfer Schule galt
für die befte in ganz England. Der Berfaffer eines Alfuin zuge:
fchriebenen Gedichts berichtet: ®) Aelbert habe Grammatik, Rhetorik,
die Rechte, Dichtkunft, Sternfunde, Naturlehre und Erklärung ber
1) Seine Werke find von Madrifiug, Venedig 1737 fol, herausgegeben
worden. — 2) Ueber Theodulf vergleiche man die Unterfuhung Tiraboſchi's
a. a. O. lib. IL, Kap. 2. $. 6. flg. Vol. IL, ©. 198 flg. — ?) Poema
de pontific, Eboracens, Vers,, 1431 fig. Opp, ed, Froben II., 256,
Die fräntifche Kirche vom Anfange des fiebenten Jahrhunderis ıc. 597
Bibel vorgetragen. Ungefähr im zwanzigften Lebensjahre machte
Alfuin — wie es feheint in Begleitung feines geliebten Lehrers
Aelbert ) — eine Wallfahrt nah Nom, Nach feiner Rückkehr erhielt er
neben Aelbert eine Lehrftelle an der Schule. , Im Jahre 766 ſtarb
Egbert und hatte Aelbert zum Nachfolger, der fofort Alkuin zum
Diafon weihte, und ihm die Leitung der Schule, fammt der Auf:
ficht über die von Egbert gefammelte Bibliothef abtrat. Sn dem
oben angeführten Gedicht ?) wird der Inhalt der Yorfer Bücher:
ſammlung kurz befchrieben. Neben Iateinifhen und griechifchen
Schriften, erfcheinen auch hebräifhe. Bon alten Griechen wird
blos Ariftoteles angeführt, von byzantinischen Kirchenvätern dagegen
Athanaſius, Baſilius, Chryfoftomus, Aus der Reihe vömifcher
Glaffifer nennt der Berfaffer: Virgil, Statius, Lucanus, Cicero,
Trogus Pompejus, Plinius, von fpätern Tateinifchen Vätern und
Schriftſtellern Hieronymus, Hilarius, Ambrofius, Auguflinug,
Drofius, Pabſt Leo I., Fulgentius, Caffiodor, Viktorinus, Boethius,
Sedulius, Juvencus, Prosper, Arator, Paulinus, Laftantius und
eine Neihe Grammatiker; von angelfächfifchen Gelehrten Beda und
Aldhelm. Doc fügt er ausdrüdlich bei, daß er nicht alle Männer,
beren Schriften in der Yorker Bibliothef zu finden feyen, namentlich
aufführe. Mit Auszeichnung fand Alfuin der Schule vor. Sein
Ruf war Ihon nach Gallien gedrungen, als ihn Karl der Große
an feinen Hof zug. Nach dem im Nov. 780 erfolgten Tode Ael-
bert's, wurde Eanbald, gleichfalls Zögling der Yorfer Schule, auf
ben erledigten Stuhl erhoben. Um für den neuen Erzbifchof das
Palltum an Peters Schwelle abzuholen, wanderte Alfuin im Jahre
781 zum giweitenmale nach Nom. Auf diefer Reife traf er zu
Parma mit dem Franfenfönige zufammen, ber den Winter in Rom
zugebracht hatte, Karl machte dem Angelfachfen, deffen Ruhm feft
begründet war, Anträge in feine Dienfte zu treten, und forderte ihn
zu gleicher Zeit auf, noch andere Gelehrte der Yorker Schule mit fich
zu bringen. Alkuin erklärte fi bereit, des Königs Wunſch zu er:
füllen, aber nur unter der Bedingung, daß feine Vorgeſetzte ihre
Einwilligung geben. Er fehrte hierauf nach York zurück, und erhielt
bie nachgefuchte Erlaubniß des Erzbifhofs. Im Jahre 782 kam
er an den franfifchen Hof, begleitet von mehreren Zöglingen, Die
) Lorenz Alkuin's Leben ©, 10, — 2) Vers, 1535 fig: Opp. II., 257,
598 II, Buch. Kapitel 9.
er fich zu Gehülfen feines neuen Berufs erforen hatte, Unter den
Yegtern waren Wizo, mit dem fpäteren Beinamen Candidus, Fre:
degifus, (Nathanagel), Sigulf und Oſulf. Die drei erfigenannten
blieben ihrem Lehrer treu und machten ihm Ehre, aber Oſulf ver:
ſank, fortgeriffen von den Berderbniffen des Hofes, in Lafter und
Schande. Noch find drei Briefe ) vorhanden, welche Alkuin an
den unglüdlichen Jüngling fchrieb, um ihn zu retten: „warum haft
du deinen Vater verlaffen, der dich von Kindheit an bildete, in
freien Wiffenfchaften unterrichtete, in edlen Sitten erzog, mit ben
Lehren des ewigen Heils nährte? Warum haft dur dich angefchloffen
an die Gefellfehaften der Hurer, an die Gelage der Säufer, an
die Thorheiten der Hoffärtigen. Einft von Jedermann geliebt und
gelobt, bift du Allen ein Gegenftand der Verachtung geworben ?) u. ſ. w.“
Sn Franfreih angefommen, gründete Alfuin zunächft eine Hof:
fehule, in welcher die Söhne wie die Töchter des Königs, und
Sünglinge aus den erften Häufern des Reichs erzogen werben
follten. Ausdrücklich bemerkt Einhard ?) in feinem Leben Karl's,
daß Lezterer feinen Töchtern biefelbe gelehrte Erziehung geben ließ,
wie den Söhnen. Ueber die Art und Weife des Unterrichts, ben
Alkuin ertheilte, geben feine Schriften hinreichenden Aufichluß. Denn
er hat über mehrere Fächer, die er vortrug, Schulfchriften verfaßt.
Nach älteren Borgängen, theilte er alles menfchlihe Wiffen in drei
Hauptzweige: Ethik, Phyſik und Theologie. Die erften beiden find
die niedern Stufen, und dienen als Hilfsmittel für die Theologie,
welche das eigentliche Endziel alles Studiums if. Ihrer Seits
zerfallen hinwiederum Ethik und Phyſik in die fogenannten fieben
freien Künfte: Grammatif, Rhetorik, Dialeftif, — das trivium —
machen das Gebiet der Ethif aus; die Phyfif begreift in fi) das
Quadrivium „der die vier Wiffenfchaften der Zahlenlehre, der Geo:
metrie, der Zonfunft und Himmelsfunde, Sämmtliche Fächer bes
Triviums hat Alfuin in noch vorhandenen Lehrblichern behandelt.
Sn der Grammatif*) giebt er die nöthigften Regeln der Yateinifchen
Sprache, als Anhang dazu entwidelt er die Grundfäse der Ortho—
graphie, °) Alkuin's Buch über die Nhetorik, 9) welche Wiffenfchaft
1) Epist, 157 — 59, Opp. I., 217 — 220. — 2) Ibid, ©. 218 unten. —
3) Einhardus in vita Caroli cap. 19, Pertz IT,, 453 unten. — *) Opp. IL,
265 flg. — °) De orthograpkia ibid, ©. 301 flg. — 9) De rhetorica et
virtutibus ibid, ©, 5135 flg.
Die fränfifche Kirche vom Anfange des fiebenten Jahrhunderts ꝛc. >99
nach feiner Anficht die Kunft Iehren fol, Andere zu überzeugen,
befchäftigt fih hauptſächlich mit der gerichtlichen Beredtfamfeit —
der alten Nömer. Aus der alten Litteratur find auch die Beifpiele
und Vorſchriften entlehntz alles ift beſtaubtes Schulwiſſen, das
feine Beziehung zum damaligen Leben hat. Am Schluffe der Ab:
handlung werden verfchiedene Begriffe der Tugend entwidelt. In
dem Handbuche der Dinleftif !) giebt Alkuin, den ariftotelifchen
Kategorien folgend, Negeln und Beifpiele für Bildung von Schlüſſen
und Urtheilen. Zu den Theilen des Quadriviums hat Alfuin feine
befondere Anleitungen gefchrieben. Wir wiffen aber, daß Karl
bauptfächlich die aſtronomiſche Kenntniſſe Afuin’s in Anſpruch nahm.
Denn der König hatte eine befondere Vorliebe für die Himmels:
funde. ) Er legte dem Angelfadhfen manchmal Fragen vor, die
diefer nicht zu beantworten vermochte, und braudte ihn zu Berz
befferung des Kalenders. ?) Während feines erften Aufenthalts in
Sranfreih bezog Alkuin die Einfünfte der beiden Abteien Ferrieres
und bes heiligen Lupus zu Troyes, welche ihm der König zuge—
wiefen hatte, )
Nicht blos um felbft zu lernen, oder feinen Kindern und den
Söhnen der Großen eine forgfältige Erziehung zu geben, berief
Karl die bisher genannten Gelehrten zu fi. Sein Studienplan
umfaßte das ganze Reich; aber längere Borbereitungen waren
nöthig, che die Hand and Werf gelegt werden fonnte, Der erfle
Schritt geſchah im Jahre 788 mittelft eines Rundfchreibeng, das
Karl an die Bifchöfe und Aebte feiner ausgedehnten Länder erließ. °)
„Aus den an ihn einlaufenden Berichten“, heißt es hier, „habe er
mit Mißfallen wahrgenommen, wie mangelhaft die Ausdrucksweiſe jey,
er müfje daher bezweifeln, ob die Geiſtlichen den Sinn der Hl.
Schrift recht verftünden.“ Um biefem Mangel abzuhelfen, befiehlt
er daher, daß in jedem Klofter und an jeder Hauptkirche eine
Schule errichtet werde, Das Schreiben ift in einem gebieteriſchen
Tone abgefaßt, und fordert pünftlichen Gehorſam, der ihm ficher-
lich nicht verweigert wurde. Wir erfahren 3. B. aus der Chronik
1) De dialectica ibid. ©. 555. — ?) Einhardi vita Carol. cap. 25. Perz
II., 456 unten. — 3) Man vergleiche die Briefe 67. 68. 70. in Alkuin's
Sammlung. Opp. I., 90 fig. — *) Anonymi vita Bedae Cap. 6. dent erften
Bande der Ausgabe von Froben vorangedruft S. LXIV. — 5) Abgedruckt bei
Baluzius capitular, J., 201 fig,
600 II. Buch. Kapitel 9.
yon Fontenelle, 7) daß der Abt diefes Kloſters, Gerwold, fih be
eiferte eine Singfchule einzurichten; „denn,“ fagt der Berichterflatter,
„obwohl Gerwold in den übrigen Wiffenfchaften nur wenig bewan—
dert war, fo Batte er doch eine ſchöne Stimme, und verftand fich
auf die Kunft des Geſangs.“ Man fieht, er wollte dem Willen des
Königs, fo weit es in feinen Kräften fand, nachkommen. Im
Vebrigen erhellt aus der angeführten Urfunde deutlich, daß Karl
zunächſt nur an Schulen zur Bildung von Geiſtlichen dachte. Aber
fein Plan erweiterte fih mit der Zeit. Kaum kann bezweifelt
werden, daß dem Geifte Karl's etwas wie unfere heutigen Hochfchufen
vorſchwebte. Im Jahre 829 übergaben die auf der fechsten Synode
yon Paris verfammelten Bifchöfe dem Nachfolger Karls, Ludwig
dem Frommen, eine weitläufige Denffchrift, in welcher fih unter
Anderem folgende Stelle ?) findet: „Auch erfuchen wir Eure Hoheit
aufs Dringendfie, nah dem Borgange Eures VBaterg
wenigftens an drei paſſenden Orten des Neichs unter Faiferlichem
Schutze drei öffentliche Schulen zu errichten, damit nicht durch unfere
Nachläßigkeit die Bemühungen eures Vaters für wiffenfchaftliche
Bildung untergehen.“ Die Biſchöfe fügen bei: „dieſe Einrichtung
werde der Kirche Gsttes zu Ehre und Nusen, dem Staate zum
Bortheil, dem Kaifer felbft zum ewigen Ruhme gereichen.“ Einige
Punkte find hier genau. ing Auge zu faffen. Erſtlich ift von öffent:
Yihen Schulen die Rede, die unter Faiferlichem Schuge, und ohne
Zweifel mit Unterftüßung aus dem Schage gegründet werden follen.
Diefe Beftimmung bildet einen Gegenfas zu den Klofter: und
Kathedralſchulen, weldhe im Namen der Kirche und auf ihre Koſten
unterhalten wurden. Auch unterfcheidet die Denkſchrift ſelbſt fehr
deutlich bifchöflihe oder Domſchulen von jenen drei öffentlichen;
denn weiter oben ®) ſprechen die Väter von der Verpflichtung eines
jeden Bifhofs, in feinem Sprengel Schulen zu halten, Zweitens
geht aus den Worten der Denffchrift Elar hervor, daß wenigftens
drei folcher öffentlichen Schulen unter Karl dem Großen beftanden
hatten, aber feitdem eingegangen waren. Nun blühten aber in
Ludwig's Tagen die Dom: oder Klofterfchulen zu Fuld, Lyon,
1) Gesta abbatum Fontanellensium bei Perz II., 292 Mitte. — ?) Liber
III., Cap. 12, bei Manft XIV., 599, — 3) Liber I., Cap. 30. ibid. 558
unten, und 559 oben.
Die fränkiſche Kirche vom Anfange des fiebenten Jahrhunderts ı. 601
Orleans, Aheims, St. Gallen und an andern Orten fort: Man
ſieht alfo abermals, daß unter den drei Öffentlichen Schulen ber
Denffchrift umfaffendere, große Geldmittel erfordernde Lehranftalten,
ähnlich unfern heutigen Univerfitäten, verflanden werden müſſen.
Hierauf weist auch die Zahl drei hin. Allem Anfchein nad) war
es die Abficht der Bifchöfe, daß für jeden der drei Hauptbeftand:
theile des Franfenreihs: Gallien, Teutſchland, Italien eine hohe
Schule errichtet werde. Aus einer andern Urkunde Tann man bar:
thun, daß wenigſtens die Schule zu Tours, welcher Alfuin in ſpä⸗—
teren Zeiten vorftand, eine Anftalt der eben angedeuteten Art
gewefen if. Im Jahre 796 fehreibt !) nemlich der Angelfachfe an
König Karl: „Eurer Ermahnung und Eurem Willen gemäß fuche
ich in dem Haufe des heiligen Martinus Einigen den Honig ber
heiligen Schriften zu reichen, Andere bemühe ich mich mit dem
Yauteren Wein alter Gelehrfamfeit zu beraufchen, Andere nähre ich
mit den Früchten grammatifcher Feinheit, Andere unterrichte ich im
Laufe der Geftivne und der Ordnung des Himmels. Alfe ftrebe ich
zum Nuben der heiligen Kirche Gottes, und zur Zierde
Eurer föniglihen Regierung zu erziehen, bamit nicht des
Allmächtigen Gunft gegen mich unverdient, noch Eure Freigebigfeit
verſchwendet fey.“ Deutlich bezeichnet er als Zwed der Tourer
Schule die wiffenfchaftlihe Ausbildung hoher Beamten der Kirche
und des Staats, Auch) bittet er gleich in den nächften Sägen, daß
ber König ihm behüflich feyn möchte, eine veiche Bibliothek für feine
Lehranftalt zufammenzubringen. Und wir wiffen, daß um jene
Zeit eine Gefandtfchaft nach England abgieng, welche beauftragt
war, bort befindliche Handfchriften zu Faufen, oder abfchreiben zu
lafien. Auch aus Stalien und andern Ländern wurden Bücher
mit großen Koften herbeigefchafft. Selbſt nach Conftantinopel war
bie Kunde gebrungen, daß der fränfifhe Hof großen Werth auf
gute Handſchriften lege. Ohne Zweifel hat Kaifer Michael der
Stammler diefen Geſchmack bericfichtigt, als er Ludwig dem From
men eine prachtvolle Handfehrift der Werfe des Areopagiten Dies
nyfius zum Gefchenfe machte. Neben Alkuin's Stiftung zu Tours,
nahm erweislich ?) die fogenannte Hofſchule Cschola palatina )
den Rang einer öffentlihen kaiſerlich en Tehranftalt ein.
1) Epist. 38, Opp. I., 53. — ?) Dan vergl. Joh. Launoy de scholis
celebrioribus in deſſen Werfen IV., a. ©. 10,
602 II. Bud. Kapitel 9.
Die zweite, und um eine Stufe nieberere, Claffe der auf Karl's
Befehl gegründeten Anftalten beftand aus den ſchon erwähnten
Kloſter- und Domfchulen, die auf Koften der Kirche unterhalten
wurden, und vorzugsweiſe zur Bildung yon Elerifern dienten. Der
Achener Neihstag vom Jahre 789 fchreibt vor, 1) daß in den Dom:
und Klofterfchulen Palmen, Noten, Gefang, Rechenfunft und Gram⸗
matif gelehrt werben follen. Eine Mafje Anftalten der Art müfjen
während Karls Regierung eniftanden feyn. Wir glauben zwar
gerne, daß die Befehle des Königs nicht buchftäblich genau befolgt
wurden. Ueberall nehmen fich die Dinge auf dem Pergament oder
in Negierungsvorfhriften viel glatter und fchöner aus, als in ber
Wirklichkeit. Gleichwohl ift gewiß, daß Karl mit großem Nachdruck
die Vollſtreckung feines Willens in Bezug auf die Domſchulen
überwachte. Im Jahre 798 fandte er den Hofbeamten Leidrad
und den Bifchof Theodulf von Orleans, als Kammerboten (missi
regii) aus, um den Zuftand der Provinzen des füdlichen Galliens
zu unterfuchen. Es handelte ſich bei diefer Sendung hauptſächlich
um den öffentlichen Unterricht. Leidrad ein geborener Baier, den
Karl wegen feiner gelehrten Kenntniffe hervorgezogen, und bis dahin
in Staatsdienften verwendet hatte, wurde im folgenden Jahre zum
Erzbifchof yon Lyon ernannt, und entwicelte als folder große
Thätigfeit, um bie in feinem Sprengel unter früherer Berwaltung
tief verfallene Zucht wieder herzuftellen. Er baute Klöfter und er:
richtete mehrere Schulen. ?) Am lauteften zeugt aber für die aus:
gebehnte und trefflihe Wirfung der unter Karl errichteten höhern
Bildungsanftalten der Nachwuchs von Geiftlichen, welche der Kaifer
bei feinem Tode dem Neiche hinterließ. Unter dem unfähigen Nach—
folger Karls, Ludwig dem Frommen, zierte eine Reihe der ausge:
zeichnetften Bifchöfe die Stühle und Abteien Frankreichs. Diefe
Männer hatten in Karls Tagen ihre, Bildung empfangen, fie
waren feine geiftige Schöpfung. Folglich müffen die von Karl
gegründeten Schulen wirkffam gewefen feyn, fie haben ihre Früchte
getragen. Der hohe Schwung, welcher Karls Negierung eigen ift,
theilte fih, wie dem ganzen Bolfe, fo auch dem Clerus mit, und
i) Cap. 70. Baluzius I., 237. — ?) 2eidrad erftattet hierüber Bericht in
einem noch vorhandenen Briefe an den Kaifer, Agobardi opera ed, Baluzius
Vol, IL, 125 fig.
Die fränfifche Kirche vom Anfange des fiebenten Jahrhunderts ꝛc. 603
309 eine Maffe gelehrter Aebte und Biſchöfe groß, dergleichen man
in andern Epochen des Mittelalters nicht findet.
Eine befondere Abtheilung der Lehranftalten zur Bildung bes
Clerus machten die Singfhulen aus; der ‚Kirchengefang war in
Gallien während den legten Zeiten der Merowinger verfallen. Karl
führte den römifchen ein, und erbat fich zu dieſem Zwed vom Pabfte
Adrian eine Abfchrift von dem Saframentarium Gregor’s des
Großen !) und einige tüchtige Singlehrer. Den Anlaß dazu er:
zählt ein fränfifcher Chronift 2) folgendermaßen: als Karl im Jahr
787 in Nom weilte, brach ein Streit zwifchen den fränkischen und
den yäbftlichen Sängern aus. Der König entfchied zu Gunften
der Lestern, und erfuchte den Pabft, ihm einige erprobte Singlehrer
mit nach Franfreih zu geben. Hadrian erfor zu dieſem Zwecke
zwei Römer, die in der Gregorianifchen Singfunft trefflih bewan-
dert waren, Theodor und Benedikt. Beide famen nach Frankreich,
wo Karl fie zu Gründung von zwei Gingfchulen verwendete. Die
eine wurde in Soißons, die andere in Me errichtet. Der Mond)
son St. Gallen, welcher zu Ende des neunten Jahrhunderts aller:
Yet Erzählungen über Karl den Großen zufammengetragen bat,
verfichert, ?) noch in feiner Zeit nenne man den Kirchengefang zu
Ehren der Metzer Gefangfchule auf Teutſch „Mette“: ein Ausdrud,
der ſich bis heute erhalten bat.
Noch eine Stufe tiefer erfirecite fih der Plan des Königs,
Karl dachte daran, auch Volksſchulen zu errichten. Doch bei ber
Ausführung traten ihm große GSchwierigfeiten entgegen, weil
es dem niederen Clerus, deffen Dienfte er anrufen mußte, an Kennt-
niffen gebrach. Karl that wenigftens, was möglich war. In einer
noch erhaltenen Kirchenorbnung, welche der Bifchof Theodulf von
Orleans, Karl's früher erwähnter eifriger Gehülfe, für die Geiftlich-
feit feines Sprengels entwarf, beißt es 9) unter Anderem: „bie
Pfarrer find verbunden in den Dürfern und Weilern Schule zu
halten, und wenn bie Gläubigen ihnen ihre Kinder zufchicen, follen
fie diefelben unverweigerlich aufnehmen, und mit der größten Liebe
behandeln. — Auch dürfen fie fein Schulgeld verlangen, ausge:
i) Cod, Carol. epist. 98. Cenni J., 525. — ?) Monachus Egolismensis
ad annum 787. Perz I,, 171. — 3) Gesta Caroli J., 10, bei Perz II., 735
unten. — 9 ——*ã ad parochiae suae — * 20. Manſi Xu,
998 unten, 999 oben. .
604 IM. Buch. Kapitel 9.
nommen Geſchenke, welche die Eitern freiwillig fyenden.“ Man
fönnte ſich verfucht fühlen zu glauben, daß ſolche Pfarrfchulen nur
im Sprengel yon Orleans beftanden, und dem befondern Eifer
Theodulf's ihren Urfprung verdanften. Allein auch in andern
Gegenden finden fih Spuren derfelben Einrichtung. Die Mainzer
Synode vom Jahr S13 verpflichtet die Landgeiftlichfeit alle Gläu—
bige anzuhalten, daß fie das Bekenntniß und das Gebet des Herrn
(auf Yateinifch) auswendig herfagen fünnen. Weiter verordnet fie: )
„die Leute aus dem Bolfe follen ihre Kinder entweder in bie
Kiofterfhulen oder draußen (auf dem Lande) zu den Pfarrern
fchiefen, damit die Kleinen dort lernen. Wer nichts anderes könne,
müffe den Glauben und das Bater Unfer wenigftens teutfch wifjen.“
Hier wird von den Pfarrſchulen fo gefprochen, als ob fie in allen
Dörfern des Neichs eingeführt feyen. Noch im Jahre 858 befiehlt ?)
ein Gapitular des Tourer Erzbifchofs den Pfarrern nad Möglich:
feit Schule zu halten. Die Sorge Karls und feiner nächften
Nachfolger für Erziehung des Volks gab ohne Zweifel Anlaß, daß
im Laufe des neunten Jahrhunderts eine Reihe geiftlicher Schriften,
wie Kirchenlieber, Bearbeitungen biblifher Stoffe, in teutfher Sprache
erfchienen, von denen mehrere erſt neuerdings ans Tageslicht ges
zogen worden find. ?) Deutlich fieht man, daß der Franfenfönig
feine Nation auf dieſelbe Stufe von Bildung zu erheben wünfchte,
welche einft unter den alten Kaifern das römifche Volk beſeſſen
hatte, und die Griechen damals zum Theil noch befaßen.
Blicken wir nun zurüd: die bisher angeführten Einrichtungen
und Gefese mußten der großen Maffe höherer Glerifer, Die er
bei feinem Negierungsantritt im Befise der gallifhen Stühle traf,
jenen ftolzen und unbotmäßigen Adeligen, wie eine unerträgliche Laft
erfeheinen. Die Biſchöfe follten fih von Nun an einer firengen
Zucht fügen, fie follten nicht nur felbft fehr Vieles lernen, fondern
auch für den Interricht der nachwachfenden Geiftlihen, wie des
ganzen Bolfes, Sorgetragen und Koften aufwenden, Karl erfannte
vet gut die Nothwendigfeit ſolche Bürden durch neue Nechte zu
verfüßen. Seine Anforderungen an den Clerus waren ber Preis,
um welchen er biefem Stande eine glänzende Stellung anwies.
') Can. 45. Manfi XIV., 74. — 2) Baluzius Capitularia I., 1286,
Can. 17. — 3) Man vergl. Giefeler 8. ©, IL, a. ©, 74. Note y und z.
Die fränkiſche Kirche vom Anfange des fiebenten Jahrhunderts ıc. 605
Karl wollte durch den Clerus herrichen, er gab daher den Bifchöfen
einen böchft bedeutenden Antheil an der Negierung. Vorerſt be:
freite er die Mitglieder der Cleriſei von aller weltlichen Gerichte:
barfeit. Der Aachener Neichstag vom Jahre 789 verordnet: )
„Cleriker aller Grade dürfen wegen peinlicher Sachen nur vor geift:
lichen Gerichten (den Bifchöfen) belangt werben, nicht vor welt:
lichen.“ Ergänzt wurde dieſe Vorſchrift durch folgendes Gefes ?)
der Frankfurter Berfammlung: „Wenn ein Streit (über Mein und
Dein) zwifchen einem Clerifer und Laien ausbricht, fo follen der
Graf und der Biſchof des Bezirks zufammentreten, und gemein-
Thaftlich entfcheiden.“ ?) Klagen gegen Bifchöfe mußten, wie früher
gezeigt worden, vor den Metropoliten und feine Synode, oder im
Fall diefe nicht ausreichten, vor den Reichstag und den König
gebracht werden. Fürs Zweite räumte Karl dem geiftlichen Recht
namentlih in Ehefachen großen Einfluß auf das bürgerliche Leben
ein. Schon Pipin hatte die päbſtliche Lehre von verbotenen Ver—
wanbtfchaftsgraden angenommen. +) Karl gab in gleichem Sinne
mehrere Berordnungen. >) Fürs Dritte übertrug er den Biſchöfen
den wichtigften Theil des peinlichen Gerichtsweſens vermittelft der
jährlihen Senden. Das zweite Capitular vom Jahr 813 ver-
fügt: ©) „(alljährlich) follen die Kirchenhäupter ihre Sprengel bereifen
und Unterfuhung anftellen wegen Blutfehande, Vater: und Bruder:
mord, Ehebruch, Keserei und anderer Sünden, welche Gott belei:
digen.“ Die Synode zu Arles vom nemlichen Jahre ermächtigte 7)
zugleich die Bilchöfe, während der jährlichen Sende nachzuforfchen,
ob die Grafen und Richter nicht das Recht gebeugt, und Arme
unterdrückt hätten. Im Falle ſolche Frevel vorgefommen, follten
fie die Schuldigen warnen, und wenn bieß Nichts nüse, an ben
Kaifer berichten. Auch wurde die Sorge für Treue und Neblichfeit
im täglichen Handel und Wandel, namentlich die Aufficht über
richtiges Man und Gewicht, bifchöflicher Obhut anvertraut. 8)
N) Cap. 37, Baluziug I., 227.— 2) Can. 28, ibid. I., 268, — 3) Etwas
anders ift die Einrichtung Karl's für Italien. Ibid. I., 355. can, 39. —
*) Reichstag von 752. cap. 1-3. Baluzius J., 161 fl. — °) Capitulare
son 798. can. 46. ibid. I., 292. und Capitulare vom Jahre 789. cap. 66,
ibid. J., 236. Capit, vom Jahr 779. Can, 5, ibid. I., 196, — 6) Cap. L.,
Baluzius I., 507; ein älteres Gefeß über die Sende von 769. Cap, 7, ibid,
I., 191. — ) Can. 17, Manfi XIV., ©, 64, — °) Ibid, can, 15. Man
vergl, Baluzius J., 508, cap. 13,
606 I. Buch. Kapitel 9.
Wir haben oben gezeigt, 7) daß ſchon Pipin das gleiche Necht den
Häuptern des Klerus übertragen hatte. Durch diefe und ähnliche
Verordnungen erhielten die Bifchöfe einen ungeheuren Einfluß.
Karl gieng noch weiter. Er legte in ihre Hände die Hälfte ber
ganzen Staatsverwaltung nieder. Nach altem germanifchen Brauch)
waren bie Grafen und ihre Untergebene (Schultheiffen und Hun-
berter), die einzigen Beamten des Staats, und gleichfam die Hände,
durch welche der König herrſchte. Karl traf hierin eine wichtige
Neuerung; er gab das Gefes, daß der Graf nichts thun dürfe,
ohne den Biſchof, aber auch anderer Seits, daß der Biſchof Feinen
Antheil an weltlichen Gefchäften haben folle, ohne den Grafen. Das
vierte Sapitular vom Jahre 806 fpricht den Grundfag 2) aus: „der
Biſchof ftehe mit dem Grafen, und der Graf mit dem Bifchof zu:
fammen, damit jeder yon ihnen fein Amt vollfommen verrichten
möge.“ Man fönnte immerhin über den Sinn diefer Worte firei:
ten, aber eine andere Stelle giebt deutlichen Auffchlug. Im erften
Gapitular vom Jahre 813 heißt ?) es: „die Grafen und die Richter
feyen, glei) dem Volke, dem Bifchofe gehorfam, und Beide, bie
Grafen und Biſchöfe, follen gemeinfchaftlich Necht ſprechen.“ Das
heißt, die Grafen find für den wichtigften Theil des ihnen zugewie-
jenen. Gefchäftsfreifes, nemlich im Nichteramt, an die Mitwirkung
der Bilhöfe gebunden. Das Gleihe fand aber auch umgekehrt
ftatt. Nachdem ein früher angeführtes Capitular *) beflimmt hat,
daß den Bifchöfen die Gerichtsbarkeit über den niedern Clerus ihres
Sprengels zuftehe, fährt der Text fo fort: „auch die Grafen follen
zum Gerichte der Bifchöfe fommen.“ Der Say ift bunfel ausge:
drückt, aber ich kann darin nichts Anderes fehen als eine Borfchrift,
daß die Bilchöfe ihrem Klerus nur in Anwefenheit des betreffenden
Grafen Recht fprechen dürfen, was ohnebieß in den eben ange-
führten allgemeinen Verordnungen liegt. Diefelbe Negel befolgte
Karl auch bei Ausfendung der Kammerboten, welche mit biftatori-
fcher Vollmacht, als Stellvertreter des Königs, die einzelnen Zweige
ber Staatöverwaltung prüften, und vielleicht die eigenthümlichfte und
fchönfte Schöpfung feines hoben Geiftes waren. Gewöhnlich wurden
1) ©, 526. — ?) Cap. 4. Baluzius J., 450 zu unterfl. — °) Cap. X.,
Baluzius I., 503. comites et judices obedientes sint episcopo et in vicem
consentiant 1 Justitias faciendas, — +) Vom Jahr 794, —* 4. Baluzius L,
264 unten.
Die fränkifche Kirche som Anfange des fiebenten Jahrhunderts ic. 607
je zwei, ber eine aus dem Stande der Grafen, ber andere dem
hohen Clerus angehörig, in die Provinzen beordert. So knüpfte
Karls Staatsflugheit Menfchen von entgegengefegter Erziehung und
widerftrebender Lebensrichtung aneinander, und zwang fie gemein:
ſchaftlich für öffentliche Zwede zu wirken. Dan würde, glauben
wir, dem Berftande des Königs, wie feinem Herzen, Unrecht thun,
wenn man vorausfegen wollte, feine Abficht fey geweſen, daß dieſe
Doppelgänger nicht eiferfüchtig aufeinander feyn folten. Denn je
fchroffer fie fich entgegenftanden, je argwöhnifcher fie einander be:
wachten, deſto ficherer war das Bolf vor Gewaltthat und Erxpref:
fungen, den gewöhnlichen Folgen des Einverftändniffes der hohen
Staatsbeamten. Allein es Fam zwifchen den Grafen und dem
Clerus zu den bitterften Zerwürfniffen, weldje den König ſchwer
beunrubigten. Zum Beweife will ich mich nicht auf bie in den
Gefegen Kars fo häufig wiederholte Ermahnung, ) daß Biſchöfe
und Grafen einträchtig miteinander leben follen, fondern auf eine
höchſt merkwürdige Urkunde berufen, die in den Capitularen eine
Stelle gefunden hat. Wir meinen die Fragen, welche der Kaifer
fih aufgezeichnet Hatte, um fie zu geeigneter Zeit dem Neichstage
sorzulegen. Hier heißt e8 unter Anderem: 2) „auch wäre zu er:
forfchen, wie und an melden Drten Geiftliche die Amtsführung der
Laien, und umgefehrt Laien den Gefchäftsfreis der Geiftlihen hin-
bern; gleicherweife, wiefern ein Biſchof oder Abt fich in weltliche,
und umgefehrt ein Weltlicher fich in geiftliche Angelegenheiten mijchen
dürfe, und was ber Ausfpruch des Aypoftels bedeute 2. Tim. IL, 4.,
fein Streiter Gottes 3) laſſe fih in weltliche Gefhäfte ein.“ Eine
Löſung der Frage findet fih in den Capitularien nicht, wahrfchein:
lich weil fie unmöglich war; die Stellung, welche Karl den Biſchöfen
anwies, hatte allerdings ihre eigenthümlichen Gefahren.
Früher ift gezeigt worden, daß ſchon Chlodwig und bie erften
Merowinger den hohen Clerus zu den Reichsverfammlungen zogen.
Diefe Einrihtung, die er vorfand, behielt Karl nicht blog bei, fon=
bern er gab auch den Biſchöfen das Uebergewicht auf den Land-
tagen, und vollendete dadurch dag ſtolze Gebäude ihrer politischen
) Wie im Capitulare vom Jahr 789. cap. 60. Baluz. I., 233 unten,
und 254 oben. Capitul. vom Jahr 801, $. 35. ibid. I., 354. — 2) Capitu-
lare primum vom Jahr 811. Cap. 4. Baluzius I., 477, — 3) Nash der vul=
gata: nemo militans Deo, implicat se negotiis secularibus,
608 | 11. Buch. Kapitel 9.
Macht. Daher kommt es, daß die auf uns gefommenen Verhand⸗
Yungen (Sapitulare) der Reichstage, welche unter Karl gehalten wur:
den, einen vorherrſchend theologiſchen Charakter tragen. Die
weltlichen Gefege verfhwimmen beinahe unter der Maſſe canonifcher
Borfhriften, geiftlicher Ermahnungen, und felbft dogmatifcher Säge.
Gegen das Ende feiner Regierung ſcheint ihn jedoch die Eiferſucht
der weltlichen Großen genöthigt zu haben, eine Aenderung in dieſem
Punkte zu treffen. Das erſte Capitular vom Jahr 811 beginnt
mit den Worten: ) „wir wollen die Bifchöfe und Aebte von unfern
Grafen trennen, und jene ind Beſondere anreden.“ Auf einem
Reichstage zu Mainz, der zwei Jahre fpäter (813) flattfand, wurde
die Trennung wirklich durchgeführt, wie man aus der Borrede zu
den Aften erfieht. Hier berichten 2) nemlich die drei Erzbifchöfe,
welchen der Vorſitz Übertragen war, wie alle Anweſenden erft ge:
meinfchaftlih den Gottesdienft angehört, dann aber fi in drei
Bänke (turmas) alfo abgefondert hätten, daß bie erfte aus ben
Bifchöfen, die zweite aus den Achten, bie dritte aus den Laien,
d. 5. Richtern und Grafen beftand. „Während die Bifchöfe,“ heißt
es weiter, „über dag Wohl der Kirche, die Aebte tiber Klofterange-
legenheiten beratbichlagten, hätten ſich die Laien mit weltlichen Hän—
dein, Geſetzen, Ausübung der Gerechtigkeit bejchäftigt.“ Die hinge-
worfenen Worte des Gapitulars vom Jahr 811 find alſo nicht
zufällig, fie hatten einen tiefern Sinn, fofern fie den Keim einer
neuen Ordnung der Neichstage enthalten, welche unter Ludwig dem
Frommen eine fefte Geftalt befam. °)
Nachdem Karl die Bilchöfe feines Reichs fo hoch geſtellt hatte,
mußte er nothwendig die Ernennung derſelben ſich ſelbſt vorbe—
halten, denn ſonſt wäre er nicht Herr in ſeinem Reiche geblieben.
Gleichwohl gab er dem Bolfe" und dem Clerus die alte Wahlfrei—
heit zurüd, doch nur zum Scheine, oder wenigftens in fehr
befehränftem Umfange. Der zweite Schluß des Aachener Neichstags
vom Sahr 803 befagt: *) „eingedenf der heiligen Canones haben
wir der Geiftlichfeit die Bitte bewilligt, daß die Bifchöfe durch die
Stimme des Volks und des Clerus, ohne Anfehen der Perfon, und
1) Baluzius I., 477. — 9 Manfi XIV., 64. 65: — %) Man vergl. den
- Brief Hinemar's von Rheims ad proceres regni de ordine Palatii, $. 55.
Hincmari opp, ed, Sirmond II., 214, — *) Baluzius I, 379,
\
>
Die fräntifche Kirche vom Anfange des fiebenten Jahrhunderts ꝛc. 609
ohne Beftehung, nur nad Verdienft, erforen werden follen.“ Allein
die freie Wahl war an die Bedingung gebunden, daß der Erforne
dem Könige gefalle, und von ihm gebilligt werde. In feinen ges
heimen Berbandlungen mit dem Pabfte Hatte fih Karl, wie wir
oben gezeigt, T) diefes Recht ausdrücklich zufichern Yaffen. Mit den
freien Wahlen verhielt es fi) daher, wie heute noch in den mehr:
fien Ländern, wo die Domfapitel zwar vor dem Abflimmen dag
Gebet an den hl. Geift fingen, aber ihre Erleuchtung befanntlich
vom Hofe empfangen. Gröfere Bedeutung erhielt der Wahlaft
unter Ludwig dem Frommen und den fpätern Karolingern, dennoch
erfennt der firenge Hierarch Hinemar yon Nheims an, daß bie
Wähler ihre Augen auf einen’ folchen Bewerber zu werfen hätten,
„der dem Neiche nüßlich, dem Könige aber treu und ergeben fey.“?)
Mit kleinem Umfchweife führte die Wahl zu demfelben Ziel, das die
Könige durch unmittelbare Ernennung der Bifchöfe geraden Wegs
erreicht hätten. Ueberdieß gaben fi die fpätern Karolinger in
vielen Fällen nicht einmal die Mühe, ihre Gewalt über die Kirche
auf die befchriebene Weife zu verhüllen. Häufig wurden erledigte
Stühle einfach durch das Wort des Hofs befekt. *)
Wenn nun auch die Wahlfreiheit mehr Echein als Wahrheit
war, fo hat dagegen Karl dem Clerus, außer den früher ange—
führten, noch ein anderes Recht von ungeheurem Werth einge-
räumt. Der Gefesgeber der Juden befiehlt bekanntlich, daß das
Bolf Gottes dem Priefterflande, oder den Leviten, den zehnten Theil
son allen Erträgniffen des Jahrs entrichten folle. Seit die chriſt—
liche Cleriſei anfieng, fih als Nachfolgerin und Erbin des alttefta-
mentlihen Prieftertfums zu betrachten, hat fie auch den Verſuch
gemacht, die Laien an Erlegung des Zehnten zu gewöhnen. Eine
bieher bezüglihe Stelle aus den Schriften Cyprian's iſt im erften
Bande vorliegenden Werks angeführt worden. %) In gleichem
Sinne haben fich über diefe Frage Drigenes, Ambroſius, CAfartus
von Arles, Chryfoftomus ausgefprocden. ?) Aber alle Ermahnungen
fruchteten Nichts, denn im römiſchen Neiche wurden die Zehnten
als Steuer an den Staat bezahlt , der das angefonnene ungeheure
1) ©, 582. — 2) Epist, XII., ad Ludovicum III, Opp. ed. Sirmond II,
189. — 9) Man fehe Baluzii Capitul. IL, 1141. — 91.8. ©, 545. —
5) Man findet die Stellen gefammelt in Seldeni opp, III., b. ©, 1095 flg.
Gfroͤrer, Kircheng. II, 39
“
610 I. Buch. Kapitel 9.
Opfer nicht bringen konnte. Immer wieder fam der Clerus auf
feinen Lieblingswunfch zurüd, Unter der Regierung des merowin:
giſchen Königs Charibert, im Jahre 567, verfuchten es die gallifchen
Biſchöfe auf der Synode zu Tours mittelft einer fehr eindringlichen
und rührenden Zufchrift, D die fie an ihre Gemeinden erließen, das
chriſtliche Volk zu Abtragung der Zehnten zu bewegen. Sie müffen
jedoch abermal tauben Ohren gepredigt haben. Denn achtzehn
Sabre fpäter unternahm es eine Synode zu Macon (585), durch
Anwendung geiftlicher Waffen den fehnlich erſtrebten Zweck zu er:
zwingen. Der fünfte Canon ?) dieſer Kirchenverfammlung lautet
fo: „Wir würden ung felbft Unrecht thun, wenn wir eingeriffene
Mißbräuche länger duldeten. Die - göttlichen Geſetze fehreiben vor,
daß die Laien ihren Prieſtern jährlih den Zehnten des Ertrags
der Früchte abliefern follen. Lange hat die Chriftenheit den Befehl
Gottes getreulih erfüllt; erſt in unferer Zeit find’ die Gläubigen
Uebertreter geworben, indem fie ſich weigern, die vom Höchſten ge:
ordnete Abgabe zu leiſten. Wir befchließgen daher, daß der alte
Drau wieder hergeftellt, und die Jehnten unverweigerlich entrichtet
werden, damit die Priejter mit dem Ertrage die Armen verforgen,
auch Gefangene Iosfaufen, und ungehindert ihrem Berufe leben
Tönnen. Wer unferem Befchluffe ſich widerfegt, wird von der
Kirchengemeinſchaft ausgefchloffen.“ Die Drohungen nüsten fo
wenig, als früher die Bitten. Im Laufe des fiebenten Jahrhun:
derts hatten die Bifchöfe nicht einmal den Muth, die Sade von
Neuem zur Sprade zu bringen. Noch weniger fonnte yon einer
jolden Erwerbung unter den erften Karolingern die Rede feyn, wo
die Kirche, wie wir gezeigt, flatt Fortfchritte zu machen, faft ihr
ganzes DBermögen verlor. Aber nachdem Bonifacius begonnen
hatte, bie alte Zucht wieberherzuftellen, nahmen die fränfifchen Bifchöfe
aud ihren alten Plan in Betreff des Zehnten von Neuem auf.
Es muß ihnen gelungen feyn, Pipin den Kleinen zu gewinnen.
Denn im Jahre 764 fchreibt derfelbe an den Erzbifchof Lull von
Mainz einen Brief, ®) der mit den Worten fehließt: „triff Anord:
nung, daß Jedermann, gutwillig oder gezwungen, den
Zehnten bezahle.“ Doc wagte Pipin nicht, diefe Leiftung zum
9 Manfi IX., ©. 809, — ) Manfi IX., ©, 951 flg. — °) Baluzius
J,, 185 unten,
Die fränkiſche Kirche vom Anfange des fiebenten Jahrhunderts ꝛc. 611
Neichsgefeg zu erheben. Lebteres blieb feinem Nachfolger Karl vor:
behalten. Indeß wurde unter Pipin die Sache wenigfteng vorbe-
reitet. Allem Anfchein nach hat eine Maßregel, welche die Synode -
von Liptinä (743) bdurchfeßte, den Weg zu glüdlicher Erreichung
des fo Tange und fo beharrlich verfolgten Zieles gebahnt. Früher
berichteten wir, ') daß bie ebengenannte Kirchenverfammlung dem
Staatsoberhaupte das Necht ertheilte, in Kriegszeiten auch ferner
Kirchengüter an Soldaten zu vergaben; aber an diefes Zugeſtändniß
wurden Bedingungen gefnüpft, welche wir weniger aus ben fehr
unvollftändigen Synodalaften, als aus einem Briefe ?) der fränki—
fhen Bischöfe an Ludwig den Teutfhen vom Jahre 858 fennen.
Die Brieffteller erzählen hier: „aus den Verhandlungen der Synode
von Liptinä, die vor ihnen liegen, erhelle, daß damals befchloffen
worden fey, von den an Soldaten des Königs vergabten geiftlichen
Befigungen folle alljährlich) der neunte und zehnte Theil des Er:
trags ſammt zwölf Denaren auf jede Bauernwirtbfchaft, der
Kirche, welcher das Gut urfprünglicd) gehörte, abgetragen werben.“
Das heißt, die hörige Bauerfchaft der Kirchengüter mußte außer
dem Pachte an die vom Fürften ernannten Lehenträger, auch noch
eine Steuer für den Clerus übernehmen. Gewöhnlich gab man in
jenen Zeiten Pachtgüter an Bauern für die Hälfte des Ertrags ?)
aus. Bon zehen Garben erhielt daher nunmehr die Kirche, als
urfprüngliche Befigerin, zwei; eine weitere etwa, gieng durch De:
zahlung der zwölf Schillinge für jede Feuerftelle auf; die fieben
übrigen wurden zwifchen dem Grundholden und dem Lehensmanne
getheilt. Der Clerus befaß von Nun an Zehnten, doch freilich nur
als nothdürftigen Erfag für eigene Güter, welche ihm ein Spruch
des Könige entzogen hatte. Allein da die Maſſe folder erzwun—
genen Lehen fehr groß war, fo ließ ſich von diefen Scheinzehnten
aus mit einiger Gewandtheit die Erorberung des wahren und all:
gemeinen Zehnten machen. In der That feheint die Sade den
eben bezeichneten Gang genommen zu haben. Ich berufe mich auf
folgenden Umftand: Karl ift es, der neben fo vielen andern Rech—
ten, der Geiftfichfeit auch den allgemeinen Zehnten von ſämmtlichen
1) ©. 511. — 2) Abgedruckt bei Baluzius Capitul. II., 109. — ?) Man
vergl. 3. B. Capitul, liber I, 157 bei Baluzius J., 732; oder Du Cange im
Gloßar zu dem Worte Medietarii,
39 *
612 5 Buch. Kapitel 9.
Landgütern des Reichs zugeſprochen hat. Auf demfelben Neiche:
tage nun, wo er biefe wichtige Neuerung zuerſt einführte, beftätigte er
zugleich das von feinem Vater auf der Synode zu Liptina erlaffene
Geſetz, betreffend die Entfchädigung für Kirchengüter, die an Laien zur
Nusnießigung vergabt worden. Der 13te Artikel des Capitulars vom
Sabre 779 verordnet: ) „Bon den an Laien verliehenen Befisungen
des Clerus, welche bis jest einen Zins (zwölf Schillinge auf die
Teuerftelle) Teifteten, fol in Zukunft der Zehnte und der Neunte
fammt dem Zins (an die Kirche) geleiftet werden. Die gleiche Laft
trifft auch die Lehengüter derfelben Claſſe, die bisher den Zins nicht
entrichtet haben. Wo Lehenbriefe (precariae d. i. Urfunden, welche
der Kirhe als der urfprünglichen Befizerin bie jährliche Exlegung
der eben befchriebenen Abgabe zufichern) vorhanden find, follen die:
felben erneuert werden, und wo feine vorliegen, foll man fie ab:
faffen. Es foll aber ein Unterfchied feyn zwifchen den Lehenver:
gabungen, die auf unfern Befehl gefchehen, und zwifchen denen,
welche die Kirchen aus eigenem Antriebe ertheilen.“ Das heißt, der
König behielt fih das Recht vor, auch ferner geiftliche Güter unter
den durch das Geſetz beftimmten Leiftungen an Yaien auszulehnen,
erlaubte aber dagegen dem Clerus ähnliche Verträge unter Bebin-
gungen, bie für die Kirche weit günftiger feyn mochten, abzufchließen.
Hievon fpäter. Der fiebente Beſchluß des nemlichen Capitulars
führt ?) den allgemeinen Zehnten ein: „Sedermann ift fchuldig, den
Hehnten zu entrichten, und den Bifchöfen fleht es zu, über die Ber:
wendung beffelben zu verfügen.“ Das große Wort war gefprochen.
Karl gieng feinen Unterthanen mit gutem Beifpiele voran. In dem
Gapitular, das die Berwaltung feiner Kammergüter ordnet,
findet fi ein befonderer Artifel 3) welcher vorfchreibt, Daß von den
eigenen Ländereien des Königs der Zehnte an die Kirchen, denen
die Kammergüter eingepfarrt waren, geleiftet werden folle. Gleicher
Weiſe befiehlt er, von fämmtlihen Steuern und Gefällen, welche
die Krone aus dem eroberten Sachſen bezog, ein Zehntheil für den
Clerus auszufcheiden. %) Dennoch ftieß die neue Steuer auf ent:
ſchloſſenen Widerftand. Franken, Gallier, Langobarden und Teutfche
verweigerten oder umgiengen ben Zehnten. Der Clerus fand ba=
1; ) Baluziug 9 197 unten. — 2) Ibid. I., 196 unfen fig. — 9) Cap. 6.
ibid. J., 332 unten, — *) Eapitulare vom Jahre 791 5: 46, Baluzius I, 253,
Die fränkiſche Kirche vorn Anfange des fiebenten Jahrhunderis ꝛe. 613
her für gut, neben den Drohungen des Königs auch übernatürfiche
Hebel in Bewegung zu fegen. Geit 790 folgten mehrere Mißjahre
aufeinander. Nun fprengte die Geiftlichfeit aus: zur Strafe für
den vorenthaltenen Zehnten gehen Schaaren von Teufeln alle Nacht
auf den Feldern herum, und raufen die Körner der Aehren aus,
fo daß letztere taub aufichiegen. Zugleich warf der König von
Neuem fein Machtgebot in die Waagfchale. Der dreiundzwangigfte
Beihlug I des Frankfurter Capitulars vom Jahre 794 wiederholt
den dreizehnten Artifel des oben angeführten Reichstags, und fchärft
fodann die Abtragung der Zehnten ein. „Seber entrichte den gefeß-
lichen Zehnten son feinem Eigenthume. Denn wir haben die Er-
fahrung gemacht, daß in dem letzten Hungerjahre die Aehren leer
auffchoßen, weil fie von Teufeln ausgerauft waren, und daß Himmelg:
fiimmen voll Vorwürfen gehört wurden.“ Lesterer Beweisgrund
fcheint einigen Eindrud gemacht zu haben. Gleichwohl fahen fi
der Kaifer und feine Nachfolger gendthigt, die bewaffnete Macht
gegen läßige HZehentleute zu Hülfe zu rufen. Die Grafen und
Richter erhielten Befehl, den Elerus bei Eintreibung der Zehnten
zu unterflügen. ) Hartnädige Widerfeglichfeit wurde überdieß mit
dem Kirchenbanne bedroht. °) Das Lapitular vom Jahre 801
verfügt zugleich, *) daß Negifter der Zehentpflichtigen vom Klerus
geführt, und daß die eingetriebenen Zehnten in drei Haupttheile:
einen für Unterhaltung der Firchlichen Gebäude, den zweiten für bie
Armen und Fremden, den dritten für die Mitglieder des Clerus
zerlegt werden ſollen. Noc genauer regelt die Verwendung der
Zehnten das Capitular vom Jahre 805, indem es vier Theile zu
machen gebietet: °) den einen für den Bifchof, den zweiten für
den niedern Clerug, den dritten für die Armen, den vierten für bie
kirchlichen Gebäude. Ohne Zweifel wollte der Kaifer durch dieſe
menfchenfreundliche Vorfchrift den Widerwillen des Volks gegen den
Zehnten befchwichtigen. Daß jedoch die neue Steuer lange fehr
verhaßt blieb, bemeifen die in der erften Hälfte des neunten Jahr:
hunderts fo haufig wiederholten Einfchärfungen des Zehentrechts. ©)
i) Ibid. I., 267, — ?) Capitula excerpta ex lege Lang@ßrdorum titul.
v.$.37—39, ibid. II., 339, 340, — 3) Capitularia lib. II., 39. ibid. I.,
749., fo wie Canon 18 der Chaloner Synode vom Jahr 8135. Manft XIV. , 97. —
9) Cap. 7. Baluzius L., 359. — 5) $. 23. ibid. I., 428, — ©) Ibid, IL,
665, 841, 857. 1214, 1288, BR:
A .; 3m >. Buch. Kapitel 9.
Nach Erwerbung des allgemeinen Zehnten Fonnte ſich die Kirche
das Necht gefallen Yaffen, welches fih Karl, wie wir zeigten, durch
den breizehnten Artikel des Capitular's von 779 vorbehielt, geiftliche
Güter an Laien gegen Zins zu vergaben. Doch machte Karl, durch
die Roth gedrängt, bisweilen einen verfchwenderifchen Gebrauch von
diefer Befugniß. Befonders muß er bald nach Anfang des neuns
ten Jahrhunderts fehr viele Kirchengüter, unter den angegebenen
Bedingungen, und vielleicht auch ohne diefelben, an Soldaten aue-
gegeben haben. Seine Anhänger rechifertigten damals, wie es
fcheint, die Eingriffe des Kaifers gegen die Klagen bes Clerus durch
das Borgeben: da Karl die Bifchöfe von der alten Verpflichtung
in's Feld zu ziehen entbunden habe, fo fey es billig, daß der Clerus
einen Theil feiner Güter, die ihm urfprünglich für die Heeresfolge
ertheilt worden, zur Verfügung der Krone ſtelle. Die Geiftlichfeit
gerieth darüber in die höchfte Bewegung. Zuſammenkünfte wurden
gehalten und die Bifchöfe erflärten, lieber wollen fie wieder, wie
unter Karl Martel und Pipin, ins Feld ziehen, als auf ihre Güter
verzichten. Karl durfte es mit dem Clerus nicht verderben. Daher
erfolgte eine Scene, die wenigftend zum Theil Fünftlih angelegt
war. Auf dem Wormfer Neichstage vom Jahre 803 übergab das
Bolf dem Kaifer eine Bittfehrift, ) die mit den Worten beginnt:
„Rniefällig flehen wir Euere Majeſtät, daß die Bifchöfe nicht mehr
mit der Heeresfolge beläftigt werden — und doch darum nichts von
ihren Gütern verlieren. — Denn wir wilfen, daß das Eigenthum
der Kirche Gott geheiligt iſt.“ In der Faiferlichen Erwiederung heißt
es 2) unter Anderem: „Fein Biihof fol ins Feld ziehen, ausgenom:
men zwei oder drei und zwar auch) diefe nicht um Waffen zu tragen,
fondern um den Gottesdienft im’ Lager zu verfehen. Die übrigen
aber, die zu Haufe bleiben, find verpflichtet ihre Grundholden
woblbewaffnet zum Heerbanne zu fiellen, fie felbft aber follen für
uns und das Heer Gebete und Almofen barbringen, damit der
Almächtige ung den Sieg verleibe. Denn diejenigen Völker und
Könige, welche den Clerus zur Heeresfolge anhielten, wie Hifpanier,
Gallier, Langobarden find unterlegen und haben die Herrichaft
verloren, weit fie feinen Unterfchied zwifchen Laien und SPrieftern
machten und dadurch Gott beleidigten.“ Beigefügt iſt fofort bie
N) Baluzius Capit, I, 405. — | 2) Ibid, 409,
Die fränkiſche Kirche vom Anfange des fiebenten Jahrhunderts ꝛc. 615
Verordnung: ) „Sintemalen zu unfern Ohren gedrungen, daß Einige
auf Antrieb des Teufels den Verdacht gegen ung hegen, als ob wir
damit umgiengen, zum Erſatz für den dem Clerus erlaffenen Kriegs⸗
bienft, die Güter der Kirche anzutaften: fo befehlen wir hiemit jetzt
und in alle Zufunft, dag Niemand Güter der Kirche befisen dürfe,
als gegen Lehenzins (precario), und daß, wenn der Lehenvertrag
abgelaufen ift, die Häupter des Klerus nach freier Wahl entweder
die Güter an fi) ziehen, oder eine neue Lebereinfunft mit den
Erben der Lehnsleute fihliegen mögen.“ Ohne Zweifel handelte
die Parthei, welche jene Bittfchrift übergab, in Karl's geheimem
Auftrage, Auch ift es nicht fehwer, die Urfache zu ermitteln, warum
Karl um die angegebene Zeit fo viele geiflliche Güter als Lehen an
Laien verliehen hat. Wirft man einen Blick auf die Jahrbücher
Einhard’s, *) fo zeigt es fih, daß Karl damals mit der byzantini-
fchen Kaiferin Frene wegen des Friedens und — eines Ehebünd-
nifjes unterhandelte, welches das oſtrömiſche Neich in feine Hände
liefern follte. ine Heeresfartb aus dem Weften nach dem fernen
Gonftantinopel fand daher in Ausfiht, und um feine Franfen für
einen fo ausfchweifenden Plan zu gewinnen, mußte er eıft zahlreiche
Anhänger durch Verleihung von Gütern erfaufen.
Was die Kirche durch die Eingriffe des Kaifers verlor, das
gewann fie anderer Seits auf demfelben Wege. Eine Menge Laien
wurden vom Clerus vermocht, ihre Güter durch bedingte Schenfungen
(precario) der Kirche zu vermachen. Entweder ließ man den Schen=
fern für ihre Lebenszeit den vollen Genuß der Güter, fo daß die:
felben erft nad) dem Tode der Schenfer in den vollftändigen Beſitz
ber Kirchen übergiengen, oder feuerte man gar ihre Großmuth noch
durch Yiftige Lockmittel an, fofern betriebfame Cleriker gutmüthigen
Laien nicht blos die Nusnießung des bedingt Gefchenften, fondern
auch die Einkünfte gewiffer Kirchengüter für ihre Lebenszeit zu:
fiherten. 3) Außer dieſen gefeglichen oder halbgeſetzlichen Mitteln
des Erwerbs erlaubte ſich jedoch geiftliche Habgier himmelfchreiende
Unterfchleife, welche Karl nicht ungerügt ließ. Wir wollen feine
eigenen Worte aus der früher erwähnten merkwürdigen Urfunde *)
1) Ibid. 410 unten. — 2) Perz I., 190 u. 191. — 3) Beweisftellen
bei Planf Gefellfchaftsverfafiung IT., 390 fig., fowie Thomassin de disciplina
ecclesiae Pars II., lib III., Cap. 22, — +) Capitulare secundum anni 811
$. 5. 6. —* L, 480.
616 SHE Buch. Kapitel 9.
som Jahre 811 anführen: „Paßt der Ausdruck „der Welt ent:
fagen“ von Menfchen , welche nicht müde werben täglich auf jede Weife
und durch jegliches Deittel ihr Vermögen zu mehren, indem fie die
Leute bald mit Borfpiegelungen himmlifcher Seligfeit, bald mit
Drohungen des hölliihen Feuers fo lange bearbeiten, bis fie bie
Einfalt der Armen wie der Neihen berüden und dieſelben zu Ab:
tretung ihrer Güter verleiten, wodurd es gefchieht, daß die Erben
folder Bethörten um Hab und Gut fommen, und zulest aus Man
gel Verbrecher und Diebe werden müffen. Weiter wäre zu unter:
ſuchen, ob man von ſolchen Menſchen fagen fünne, fie hätten ber
Welt abgefagt, welche aus unerfättlicher Habgier falfche Zeugen
erfaufen und dieſelben Meineide ſchwören Yaffen, welche endlich nicht
gerechte und gottesfürchtige Männer, fondern graufame und gewif:
fenslofe zu Schusvögten einfegen.“ Warum Karl an diefer Stelle
die Kirchenvögte herbeizieht, wird aus einem Artifel ') des dritten
Capitulars von demfelben Jahre Har. Hier heißt es: „Sch muß
hören, daß Bifchöfe, Aebte, Grafen, Richter, Schultheißen Gelegen-
heit fuchen, wie fie arme Leute, die fich weigerten, ihnen ihre Güter
abzutreten, in Schaden bringen fünnen, und daß fie Solche fo lange
durch Aushebungen zum Heerbann plagen, bis der Arme wohl oder
übel wollend fein Bermögen dem Dränger verkauft oder zu Lehen
gegeben bat, während Diejenigen Unterthanen, welde ihre Güter
gutwillig abtraten, von der Aushebung verfchont bleiben und ruhig
zu Haufe fisen dürfen.“ Dem Schusvogt kam es zu, die Grund:
holden der” Kirche auszuheben und zum Heere bes Kaifers zu führen.
Schlechte Priefter wählten Darum harte Menfchen für dieß Amt, weil
fie mit ihrer Hülfe ſolche Dienftleute, die neben zinspflichtigen frei-
eigene Güter befaßen, durch fortgefeiste Aushebungen yeinigen, und
dadurch zwingen Fonnten, daß die Armen ihren Testen freien Acer
der Kirche entweder unbedingt, oder durch eine jener bedingten
Schenfungen abtraten. Der Heerbann war zu Ende bes achten
und am Anfange des neunten Jahrhunderts eine ebenfo drückende Laft
für das Volk als taufend Jahre fpäter in Napoleon's Tagen, und
diefelben Betrügereien der Beamten famen dabei vor, wie während
der Napoleon’fchen Kriege. Im Uebrigen erfieht man, wie durch
die Prefarien, welches Wort wir in Ermanglung eines paſſendern
6. 5. ibid, I, 485.
Die fränfifche Kirche vom Anfange des fiebenten Jahrhunderis ꝛc. 617
durch Lehen überfest haben, das eigentliche Lehenrecht (feuda) des
fpäteren Mittelalters vorbereitet worden ift.
Karl mag vielleicht Länger als billig dem Treiben priefterlicher
Habgier zugefehen haben, weil er der biſchöflichen Mitwir—
fung für andere Zwede bedurfte. Doch muß man befennen,
daß der König au fonft dem Mißbrauche geiftlicher Rechte gefteuert
bat. Sp duldete er z. B. nit, daß dur die Afyle die freie
Handhabung der öffentlichen Gerechtigfeit geſtört werben durfte.
Der zweite Beichluß des Reichstags vom Jahr 803 verfügt: )
„wenn ein Räuber oder Mörder fich in eine Kirche geflüchtet hat,
fo foll der Graf den Bifchof, Abt, Schutzvogt oder wer fonft Stell-
vertreter des Abts oder Biſchofs fey, auffordern, den Schulvigen
herauszugeben. Weigert fih der Biſchof Folge zu Ieiften, fo vers
fällt er nad) der erſten Mahnung in eine Strafe von fünfzehn Gold-
gulden. Gehorcht er auch der zweiten Mahnung nicht, fo fteigt die
Buße auf dreißig Goldſtücke. Im Fall felbft die dritte Mahnung
fruchtlos bleibt, hat der Borfteher des Aſyl's für allen Schaden, den
der Schuldige angerichtet, einzuftehen, und der Graf ift überbieß
dann berechtigt, mit. Gewalt in die Freiftätte einzubringen, und ben
Schuldigen, wo er ihn findet, aufzugreifen. — Sollte der Bor:
fteher des Aſyl's fich erfühnen, dem Grafen bewaffneten Widerftand
zu leiften, fo muß über Die Sache an den König berichtet werben,
und ber Borfieher des Aſyl's verfällt dann in eine Geldbuße von
600 Goldſtücken, gleih Dem, der es wagt, die Afylfreiheit auf uns
gefegliche Weile anzutaften.“ Wir werden tiefer unten zeigen, daß
diefes Gefeg zunächft gegen Karl's Freund Alkuin, den Hoftheologen,
gerichtet ift. f
Der fränfifche Eroberer hat, wie man fieht, dem von ihm
gegründeten Neiche eine fehr ftarfe hierarchiſche Färbung gegeben.
Daß Karl hiebei einen eigenthiimlichen Zwed verfolgte, würden wir
auch dann behaupten, wenn bie vollftändigen Urkunden, melde
erfordert werden, um den Beweis zu führen, nicht mehr vorhanden
wären, Könige vom Charakter Karls bringen nie Opfer aus
bloßer Großmuth. Wer wird auch glauben, daß der Franfe die
ungeheure Schenfung des Zehnten, die er dem Clerus feines Reiche,
oder ber ausgedehnten Ländereien, die er dem Pabfte hingab, ohne
) Baluzius I., 387.
618 DE Buch. Kapitel 9%
tiefere Abdfichten gemacht habe! Es ift jet Zeit, daß wir feine
Berechnung enthüllen. Die Fatholifche Geiftlichfeit war Damals die
mächtigfte Verbrüderung in Europa, eine Verbrüderung, bie in
allen Provinzen des einftigen Römerreichs einen faft königlichen Ein:
fluß befaß. Indem Karl den Clerus Francien's mit Ehren und
Reichthümern überfchüttete, durfte er erwarten, daß auch die Bis
fchöfe anderer Länder, gelockt durch das Glück ihrer fränkiſchen
Brüder, die Augen auf ihn richten, fränfifchen Borfchlägen das Ohr
leihen, und für feine Plane Parthei nehmen werden. Er durfte
ſich diefer Hoffnung um fo zuverfichtlicher bingeben, weil er das
Oberhaupt der ganzen abendländifchen Cleriſei, den Pabft, nad) Ber:
nichtung des Langobardifchen Neichs zu feinem Lehensmann gemacht
und durch die Schenfung des Kirchenftaats an fein Intereſſe ge—
feffelt Hatte. Karl bedurfte aber der Mitwirkung des Pabftes und des
katholiſchen Clerus für ein weitausfehendes Werf, Mit ihrem Bei:
ftand wollte er das weftrömifhe Kaifertbum wieder
berftellen. Man fann darthun, dag Karl fall vom Antritt
feiner Regierung an den bezeichneten Plan aufs Beharrlichfte
verfolgt hat, obgleich er denfelben erft im Jahre 800 auszuführen.
vermochte. Das Meifte, was er in der Zwifchenzeit anorbnete,
die Geſetze, kraft welcher er die Stellung der Geiftlichfeit im
Sranfenreiche vegelte, die Abtretungen von Ländereien, durch bie er
die Habfucht Hadrian’s I. köderte, waren Mittel, die ihn dem End—
ziele feines Strebens näher bringen follten. Ehe wir den Beweis
unferer Behauptung führen, müffen wir zunächft Alkuin wieder ing
Auge faſſen. Längft hatte Alkuin feine Heimath zu fehen gewünfct.
Karl erfüllte fein Verlangen, er ſchickte ihn 790 nah England,
- aber nicht als einen Privatmann, fondern als fränfifchen Gefandten
mit wichtigen Aufträgen. ) Aus den bürftigen Nachrichten, die
über Karls Stellung zu England "auf uns gefommen find, geht
hervor, daß der fränfifche Herricher damals wenigftens mit zwei
ber angelfächfifchen Fürften in theils freundlichen, theils feindlichen
Berührungen fand. Dffa, feit 758 König von Mercien, befaß im
nördlichen England zu jener Zeit die größte Macht. Mit diefem
Fürften verfeindete fih Karl, weil gewilfe Heurathsanträge des
Mercier’s feinen Stolz beleidigt hatten, Karl nahm unzufriedene
i) Alcuini epist, 3, opp. I., 6,
— FP gi Tree 2
a a alte nina 0 hats Zul Abb!
Die fränkische Kirche vom Anfange bes fiebenten Jahrhunderts ꝛc. 619
Adelige, die, von Dffa vertrieben, aus Mercia hatten fliehen müffen,
in fein Reich!) auf, er verbot überdieg um 788 allen Handels-
verfehr zwifchen feinen Unterthanen und den mereifchen Kaufleuten. 2)
Seit dem Jahre 790 aber wünfchte der Frankenkönig aus Gründen,
bie tiefer unten angebeutet werden follen, das gute Verhältniß mit
Dffa wieder herzuftellen. Alfuin’d Sendung nad England Hatte
zu nächſt dieſen Zweck. Während Karl dem Mercier Trotz bot,
oder mit ihm unterhandelte, gewährte er einem andern angelſächſi⸗
hen Häuptling feinen Schuß. Im Reiche Weffer war 787 durch
eine jener, bei den Angelfachfen fo häufigen, Ummwälzungen, welche
überall Bielherrichaft im Gefolge hat, ein Adeliger Namendg Beor:
thrif auf den Thron erhoben worden. Der neue Herrfcher ließ
es feine erfte Sorge feyn, den Fürftenfohn Egbert, der em Ge:
burtsrecht auf die Krone Wefjer hatte, aus dem Lande zu verjagen.
Egbert floh zum König Offa von Mercien, fpäter als Beorthrif,
um feinen Nebenbuhler zu verderben, eine Tochter Offa's freite
und erhielt, fuchte er am Hofe Karl’ einen fihern Aufenthalt, der
ihm auch gewährt wurde. Wir vermutben, daß Alfuin bei feiner
englifchen Gefandtfchaft nicht blos die oben erwähnten Gefchäfte mit
Dffa abzumachen hatte, fondern auch zum Bortheile Egbert’s
wirken follte.
Alkuin reiste im Sommer 790 ab. Sein Aufenthalt in England
bauerte zwei bis dritthalb Jahre, während beren er viele Gewalt:
thaten mit anfehen mußte, die ihm die Heimath entleideten. Zu Ende
des Jahrs 792 rief ihn Karl zurück. Der eine Hauptzwerk feiner
Sendung war erreicht: der Friede zwilchen Offa und Karl wurbe
hergeftellt. Noch find die Schreiben 3) vorhanden, durch welche der
Franfenfönig mit dem Mercier fih verftändigte und den unterbro=
chenen Berfehr freigab. Auch Egbert's Sache muß Alfuin geför⸗
bert haben, denn obwohl hierüber Feine Urkunde vorliegt, fpricht
bob eine Thatfache für unfere Vermuthung. Acht Jahre nad
Alkuin's Rückkehr verließ Egbert den fränfifchen Hof und gieng
S00 nad England. Dort angefommen wird er nicht blog auf den
Thron son Weller erhoben, fondern nach Verlauf von zwanzig
i) Man vergleiche den Brief, den Karl wegen dieſer Flüchtlinge an den
Erzbifchof von Canterbury ſchrieb, bei Wilkin’s Coneil. Britan, I., ©. 154. —
2) Aleuini epist. 3. a. a. O. — °) Baluzius I., 275 flg. und Wilkin’s
Concilia I., 158 flg. |
620 l. Buch. Kapitel 9
Jahren von allen angelſächſiſchen Stämmen als Volkskönig aner-
kannt. Die Vielherrſchaft verſchwindet, England iſt ein einiges
Reich. Ohne die Unterſtützung einer einheimiſchen mächtigen Parthei,
und ohne fremde Hülfe hätte ſicherlich Egbert dieſe großen Erfolge
nie errungen. Von Außen her kann ihm aber nur Karl, an deſſen
Hofe er von 788 bis 800 weilte, die Hände gereicht haben. Nun
finden wir, daß im Jahre 809 Karl und Egbert zu gleicher Zeit
einen Feldzug wider einen gemeinſamen Feind, aber an verſchiedenen
Orten, der Franke nemlich gegen die Britannen in Nordweſten
Galliens, Egbert gegen die Britten in Wales unternahm. Der
Franke und der Angelſachſe arbeiteten auf ein Ziel los; dieß ſetzt
Einverſtändniß zwiſchen ihnen voraus. Stärker iſt eine andere Spur.
Der zweite Nachfolger Offa's, Ceonwulf, Fürſt der Mercier, wel:
cher Stamm feit 823 die Oberherrlichfeit Egbert’s anerfannte, aber
doch noch faft ein Jahrhundert lang feine eigenen Häuptlinge behielt,
hatte den bitterften Groll gegen den Erzbifchof Wulfred von Canter—
bury gefaßt: Auf einer Londoner Synode im Jahr 816 erflärte
er !) demfelben: „Gieb mir das und das Gut von 300 Huben her:
aus, oder ich vertreibe dich aus dem Lande. Wenn bu mir nicht
gehorchſt, fol Fein Befehl des Pabfts, feine Borftellung
des Kaifers dich von meinem Zorn erretten.“ Offenbar ſpricht
bier der Mercier fo, als ob damals eine gewilfe Oberherrlichfeit
nicht blos des Pabſts, fondern auch des Kaifers in England
anerfannt worden wäre. Würden die Quellen über die Regierung
Egbert's reichlicher fließen, fo hätten wir nicht nöthig ung auf ſolche
Anzeigen zu berufen, die immer einige Beweisfraft haben. Die ein-
heimifche Parthei, welche Egbert's Plane unterftügte, kann nur die
Fatholifche Geiftlichfeit gewejen feyn. Denn wenn irgend Jemand,
mußte dem Clerus und dem Pabft daran gelegen feyn, der ewigen
Verwirrung, welche die Bielherrichaft nach fi z0g, ein Ende zu
machen. Wirklich hat die englifche Cleriſei Egbert's Größe nad:
drüdlich befördert. Im Jahre 803 erzwang eine Synode zu Cio:
veshoven im Bunde mit dem Pabſt, daß die mercifche Metropole
von Lichfield, welche Offa aus Ehrfucht errichtet hatte, von dem
oben genannten Geonmwulf aufgegeben werden mußte. ?) Der Stuhl
!) Wilkin’s Coneil. L, 172 a, gegen unten. — 2) Ibid. I, ©, 166
unten flg.
Die fräntifche Kirche vom Anfange des fiebenten Jahrhunderts ꝛc. 621
son Canterbury errang dadurch feine alte Macht wieder. Diefe
Aenderung Fam aber vorzugsweife dem Könige Egbert zu Gut,
welcher gleich nach feiner Ankunft in England von den Kentern
als Gebieter anerfannt worden war. Allem, Anfchein nach haben
alfo der Pabft und der fränfifhe König oder Kaifer zu Erhebung
Egbert's zufammengewirkt: jener um Ordnung in der Infel zu
ſchaffen, bdiefer ohne Zweifel gegen Einräumung gewiffer Rechte,
die wir nicht genauer fennen, und bie jedenfalls von den Angel:
fachfen feit dem Berfalle des fränkischen Reichs nicht mehr geachtet
wurben. Nun war Alkuin nicht blos in bie Geheimniffe des Kai
fers eingeweiht, jondern er wurde auch von dem Pabfte und andern
Häuptern des Clerus, wie wir fehen werden, zu wichtigen Gefchäf:
ten beigezogen. Andererſeits bedurfte das große Werf, das König
Egbert feit 800 in England ausführte, langer Vorbereitungen, die
wohl bis zum Jahre 790 zurüdreichten. Bei fo bewandten Um:
fländen wird man Choffen wir) unfere oben ausgefprochene Vermu—
tung, daß Alfuin während feiner englifchen Gefandtfchaft auch für
Egbert's Angelegenheit thätig geweſen feyn dürfte, nicht mehr zu
fühn finden.
Außer den eben angebeuteten politifchen Gefchäften, die Alkuin
in England beforgen mußte, hatte er von feinem Gebieter noch
einen Auftrag kirchlicher Natur erhalten. Die zweite Synode
von Nicäa, weldhe 787 zu Conſtantinopel ftattfand, befchäftigte
damals im höchſten Grade die Aufmerkfamfeit des fränkiſchen Hofes.
Karl gedachte die Griechen zur Nechenfchaft zu ziehen, weil fie es
gewagt, ohne Rückſicht auf das Abendland ihre Anfichten von ber
Bilderverehrung allen Nationen als Kegel der Rechtgläubigfeit auf
zudrängen; er wollte nebenbei die Gelegenheit für feine ehrgeisigen
Plane benügen. Zu diefem doppelten Zwede ließ er um 790 eine
Staatsſchrift — wohl die widhtigfte des achten Jahrhunderts —
abfaifen, und bereitete zugleich die Abhaltung einer abendländi-
hen Synode vor, welde im Namen der germanifchen Völker die
byzantinifche Anmaßung züchtigen, und die Rechte der gefunden
Bernunft wahren follte. Der Franfenkönig legte großen Werth
darauf, daß bie bevorftehende Kirchenverfammlung auch von angel-
ſächſiſchen Biſchöfen befucht werde. Bis dahin hatten noch nie
mehrere yon einander unabhängige germanifche Nationen ſich zu
gemeinfamen Befchlüfjen vereinigt. Die Aufgabe, den angelſächſiſchen
622 MT. Buch. Kapitel 9.
Clerus zu Beſchickung einer fränfifhen Synode einzuladen, war
daher fchwierig. Karl vertraute fie der Klugheit Alfuin’s, und dieſer
hat fie glüdlich gelöst. Ein englifcher Chronift aus dem Anfange
des zwölften Jahrhunderts, Simeon von Durham, der aus alten
Yängft verlornen Quellen fchöpfte, ) berichtet in feiner englifchen
Gefhichte zum Jahre 792 Folgendes: „Im Jahre 792 fandte der
Franfenfönig Karl ein Synodalbuh nah England, das ihm aus
Conftantinopel zugefchickt worden war. In dieſer Schrift behaup-
teten die morgenländifchen Väter, daß man die Bilder anbeten
müffe, welche Lehre doch die Kirche Gottes verwirft. Gegen das
eonftantinopolitanische Buch verfaßte Alfuin einen mit Beweifen
aus der Schrift reichlich verfehenen Brief und überbrachte denfelben
fammt dem Bude im Namen der angelfähfifhen Bi-
fhöfe und Fürften dem König Karl.“ Simeon von Durham
blühte, wie wir fagten, um 1110, Man fönnte fih daher verfucht
fühlen, ‚feine Ausfage als fpätere Erfindung in Zweifel zu ziehen.
Allein aus einer gleichzeitigen und über allen Verdacht erhabenen
Urfunde erhellt, daß er wirklich die Wahrheit, nur nicht nad
ihrem ganzen Umfange, berichtet. Die deutfche National-
fynode, von der eben die Rede war, wurde wirflih im Jahre 794
zu Frankfurt gehalten. Nach dem Schluffe derfelben erließ König
Karl an den Erzbifchof Elipandus von Toledo ein Schreiben, in
welchem folgende Stelle ſich findet: ) „Um den wahren Glauben
feftzuftellen, haben wir außer den hohen Clerikern unferer Reiche
auch einige englifhe Biſchöfe (mad Frankfurt) zufammen:
berufen.“ Laut diefem Zeugniffe hat Alfuin dem fränfifchen Hofe
nicht etwa blos eine Zufchrift überbracht, Fraft welcher fich die britti-
fhen Fürften und Kirchenhäupter mit Karl's Anfichten einverftanden
erklärten, fondern eine Gefandtfchaft der englifhen Kirche fam ent:
weder zugleicd mit ihm, um dem befchloffenen Concil anzumwohnen,
oder folgte ihm wenigftens auf dem Fuße nad. Simeon’s Bericht
ift alfo, obgleih im Ganzen wahr, doch in einem Hauptiheile
ungenau; wahrſcheinlich verhält es fich ebenfo mit dem andern.
a
1) Simeon Dunelmensis historia de gestis regum Anglorum. Abgedrudt
bei Twysden Historiae anglicanae scriptores decem J., 111 unten. Diefe
Stelle Simeon’s hat hundert Jahre ſpäter Noger von Hoveden abgefhrieben,
aus dem gewöhnlich obiges Zeugniß entlehnt wir, — 7) Manfi XUL,
©. 901 Mitte. |
Die fräntifche Kirche vom Anfange des fiebenten Sahrbunderts ꝛc. 623
Statt zu fagen: Alkuin habe in England einen Brief wider bie
Bilderanbetung aufgefet, und fpäter dem Könige Karl übergeben, hätte
er umgefehrt fih fo ausdrüden follen: Alfuin bradte aus Franfs
reich ein folhes Schreiben nad England, das dann yon den angel-
ſächſiſchen Fürften und Biſchöfen förmlich gebilligt worden if. Allen
Anzeigen nad wies bie alte yon Simeon mißverftandene Duelle,
aus welcher der Chronift feine Nachricht entnahm, auf die oben
genannte Staatsfchrift, oder die libri Carolini *) hin, bie wir jet
ins Auge faffen müſſen.
Im Jahre 790 erfchien am frankifchen Hofe eine Widerlegung
des zweiten nieänifchen Concils, welche Karl unter feinem
eigenen Namen in die Welt hinausgab. Da es fonnenklar ift,
dag Karl zum Bücherfehreiben weder Luft nod) Zeit, noch auch das
nöthige Schulmwilfen befaß, fo entfteht die Frage, durch weſſen Hände
Karl die Schrift habe. verfertigen laffen? Es Tiegt fo nahe an
Alfuin zu denfen, daß dieſe Vermuthung längſt ausgeſprochen
worden if, In der That fügt fie fih auf fehr ftarfe Gründe,
und nur eine einzige Einwendung, die beim erſten Anblick einigen
Schein hat, kann gegen fie gemacht werden. Die Gegner fagen
nemlich, laut der Borrede jey das Bud) drei Jahre nad) dem zweiten
Coneile yon Nicäa, alfo um 790, abgefaßt worden. Sn eben dem
Sabre ſey aber Alkuin als Karl's Gefandter nad) England abge:
gangen, alſo könne er nicht der Berfaffer feyn. Diefer Schluß ift
jedoch voreilig. Die angeführte Zeitbefiimmung fteht in der Bor:
rede, das heißt in einer Abtheilung des Buchs, welche, wie jeder
Schriftfteller aus eigener Erfahrung weiß, von den Verfaſſern erft
nad Beendigung des Ganzen entworfen zu werden pflegt. Nun
fann Alkuin nit vor dem Sommer 790 nad) England abgegangen
!) Unter dem Titel opus illustrissimi et excellentissimi, seu spectabilis
viri, Caroli, nutu Dei regis Francorum , Gallias, Germaniam , Italiamque,
sive harum finitimas provincias, Domino opitulante, regentis, contra sy-
nodum, quae in partibus Graecorum pro adorandis imaginibus stolide sive
arroganter gesta est, zum eritenmale von dem nachmaligen Bifchof zu Meaur,
Jean du Tillet unter dem falfchen Namen Eli. Phili 1549 in Sedez heraus:
gegeben, feitdem öfter gedruckt. Wir citiren nach dem Abdruck in Goldast
colleetio constitutionum imperialium. Francof. 1613 fol. ©. 23 fig. Ueber
die Schifale des Buchs, wie über die unmwiderleglichen Beweife feiner, von
päbftlichen Schriftftellern vergeblich angegriffenen, Aechtheit vergleiche man Walch
Hiſtorie der Ketzereien XI., 40 flg.
624 > HE Buch. Kapitel 9.
ſeyn. Denn ein Brief, welchen er erweislih vor der Ab:
reife, ja fogar noch ehe die englifhe Geſandtſchaft
feft befchloffen war, nah Schottland fchrieb, fällt, wie Froben
fehr gut gezeigt hat, in das Jahr 790.) Da folglich die faro:
liniſchen Bücher aller Wahrfcheinlichfeit nach vor der englifchen Ge:
ſandtſchaft Alkuin’s beendigt wurden, fo ermangelt jene Einwendung
aller Kraft. Defto ftärfer find die Gründe für Alkuin's Verfaffer:
haft. Erſtlich hat man längſt die Entdeckung gemacht, daß zwifchen
einer Stelle der karoliniſchen Bücher, ?) und einer anderen in den
Werken Alfuin’s überrafhende Aehnlichkeit ſtattfindet. Für's Zweite
wiffen wir, daß Karl den Britten Alfuin vorzugsweife zu gelehrten
Arbeiten verwendete. Warum follte er alfo nicht feine Dienfte zu
Abfaffung des fraglihen Buchs benüst haben. Zum Dritten geht
aus den oben angeführten Beweifen unmiderfprechlich hervor, daß
Alkuin's Sendung nad England hauptfächlic den Zweck hatte, die
brittifche Kirche zur Annahme der in den Farolinifchen Büchern
ausgefprochenen Grundſätze zu bewegen. Was ift alfo natürlicher
als die Vorausſetzung, daß er die Schrift, für welche er wirkte,
auch entworfen hat? Hiezu Fommt noch, daß jene Stelle bei Si.
meon von Durham ihn nicht undeutlih als Verfaſſer bezeichnet.
Nach höchſter Wahrſcheinlichkeit hat alfo Karl die Abfaffung des
Buchs der Feder Alfuin’s anvertraut. Wenden wir ung jeßt zu
der Urkunde felber. In vier Büchern fucht fie darzuthun, daß bie
Anbetung der Bilder, welche die griechifche Kaiſerin auf der zweiten
Synode von Nicäa der Fatholifchen Kirche vorgefchrieben habe, eben
fo verkehrt und unchriſtlich ſey, als der Krieg, den dreißig Jahre
zuvor Kaifer Conftantin Copronymus wider die Bilder erhob. Mit
Berufung auf den berühmten Ausspruch Pabſt Gregor's I. wird
der Sat vorgetragen, daß Bilder zwar nicht verehrt werden dür—
fen, aber daß fie als Mittel der Andacht ein nüslicher und würdi—
ger Schmud ber Kirchen feyen. Doch nicht ſowohl diefer an ſich
ferngefunde Grundgedanfe, als vielmehr die Art und Weife der
Ausführung bedingt den hoben hiſtoriſchen Werth des Farolinifchen
Werks, Es ift nöthig, daß wir einen gebrängten Auszug mittheilen,
: 8 Epist. 3, Opp: J., 6. Der Beweis Froben's ibid. ©. 7. Note d. —
2) Buch 4. cap. 6. und Alcuini opp. I., 500. Man vergl. en —
der Ketzereien XI, 67,
Die fräntiſche Kirche vom Anfange des fiebenten Jahrhunderis x. 625
"Die Borrede zum erfien Buche enthält ungefähr Folgendes: „Die.
Kirhe, Mutter unjer Aller, hat ſtets mit Außern und innern Wis
derfachern zu fämpfen, aber fie gewann immer durch Jeſu Chriſti
Beiſtand den Sieg und ward in den Stand geſetzt, den wahren
Glauben zu behaupten. Mir Insbeſondere, dem die Herr—
ſchaft durch Gottes Gnade anvertraut worden, liegt
bie Pfliht ob, bie Kirde wider ihre Feinde zu ver-
theidigen. Bor einer Reihe Jahre hat eine Synode in Bithy-
nien ) fih erfrecht, den firchlichen Gebrauch der Bilder, welche die
Alten eingeführt, gänzlich abzufhaffen, und felbige Bilder als Götzen
zu behandeln. Diefe Synode verdammte Alle, welche die Bilder
beibehalten wollten, und behauptete vuhmredig, ihr Kaifer Conſtan—
tin habe die Kirche vom Götzendienſte befreit. Bor ungefähr drei,
Jahren ift in benfelben Gegenden ein zweites Coneil gehalten wor—
den, welches in entgegengefestem Sinne ftimmte, aber eben fo weit.
von ber Wahrheit abgeirrt iſt. Diefelben Bilder, welche die erſte
Synode aus den Kirchen hinauswarf, gebot die zweite göttlich zu
verehren, und mißbrauchte verichiedene Stellen der Schrift und der.
Bäter, um folhen Machtſpruch zu erhärten. Wir unferer Seits
halten feft an den Lehren der Evangeliften und Apoftel, fo wie an
ber Ueberlieferung; wir erfennen die fechs erften allgemeinen Kir—
henverfammlungen an, verwerfen aber fammt allen andern Neues
rungen infonderheit die in Bithynien über Anbetung der Bilder
gefaßten Beichlüffe, wider welche wir auch, da ung eine Abfchrift
berjelben zugeftellt worden, dev Wahrheit zu lieb ein Buch zu ent-
werfen ung gedrungen fühlten, damit nicht der griechiſche Irrwahn
fih im Abendlande ausbreite.“ 9
Nach diefem Eingange follte man erwarten, daß der Ver
fafjer fofort zum Beweife feiner Behauptung fehreiten werde; aber
ftatt defjen, folgen zunächſt am Anfange des erften Buchs ?) bittere
Ausfälle gegen den unchriſtlichen Hochmuth und die Heuchelei des
byzantinischen Hofes, Anlaß dazu geben gewiffe Ausdrüde und
Wendungen, welche die Kaiferin Irene in dem, nad Beendigung
bes zweiten nicenifchen Concils an den Pabft Hadrian I. erlaffenen
) Der Berfaffer meint die Synode des Konftantinus Copronymus vom
Jahre 754, welche ex fälichlich durch Verwechslung mit der zweiten der Irene
nah Bithynien verfeßt, — 2) Goldaſt a. a. O. ©. 25— 25 unten, —
%) I. Cap, 1-5,, ibid, ©, 25—31 unten,
Gfrörer, Kircheng. UI. 40
626 I. Buch. Kapitel 9.
Synodalſchreiben gebraucht hatte: „Keine feltene Erfcheinung ift eg,
dag menfchlihe Schwachheit alle Schranken zu durchbrechen fich
unterfängt. Beweife folcher Vermeſſenheit finden fich in dem byzan-
tinifhen Schreiben, wo Conftantin VI. und Irene alfo von fid
fprechen: bei Gott, welcher mit ung herrſcht. DO der Thor:
heit, welche nicht Unwillen, fondern unfer Mitleiden verdient! Nur
Gott, das unendlihe Wefen regiert die Welt, und eg verräth un—
erträglihen Stolz, wenn ein Fürft fih mit dem Allmächtigen in
eine Claſſe zu fegen wagt. Eben fo unanftändig fagen fie in dem
Briefe an den Pabſt: Gott hat ung erwählt, die wir in
Wahrheit feine Ehre fuhen Nicht auf Wahrheit, noch auf
Gottes Ehre, fondern auf eigenen Ruhm und Lügen ift ihr Abfehen
gerichtet. Auch erröthen fie nicht, nach heidniſcher Sitte, fih
felbft Götter, und die von ihnen unterzeichneten Aften göttliche zu
nennen. !) Ferne fey von Chriften der heidnifche Mißbrauch, Men:
fhen in Götter zu verwandeln. Endlich brauchen fie in ihrem
Briefe an den Pabſt den Ausdruck: wir bitten Deine Väter:
Yichfeit, oder vielmehr Gott bittet, der nicht will, daß
irgend ein Menfch verloren gehe. Freilih wer von fi
ferbft behauptet, daß er mit Gott herrfche, dem wird e8 leicht zu
fagen, Gott bitte, da doch der Allmächtige nicht bittet, fondern
befiehlt. Die fehwerfte Sünde aber ift, der heiligen Schrift einen
andern Sinn zu unterlegen, als ihre eigenen Worte erlauben.
Denn Solches thut der Teufel. Wir werden nun darthun, daß be-
fagte Synode die Sprüde der Bibel und der Väter fälſchlich an—
gewendet, und in ihr Gegentheil verdreht hat.“
Auch jest folgt noch nicht dev verfprochene Beweis, fondern
eine neue Abſchweifung, die aber für die geheimen Abfichten des
Berfaffers ebenfo nothwendig, als mit Feinheit angebracht if. Alle
Welt wußte, daß der Stuhl Petri an der zweiten Synode yon
Nicäa Theil genommen, und die dortigen Beſchlüſſe höchlich gebilligt
hatte. Wenn nun das Streben des Königs der Franken, wie er
felbft angiebt, einzig darauf gerichtet war, mittelft feiner Schrift
die Verbreitung des griechifchen Irrthums im Abendlande zu ver:
hindern, fo forderte der gefunde Menfchenverftand, daß er fich por
') Se divos, suaque gesta divalia gentiliter nominare non renuunt,
Bekanntlich war dieß byzantinifcher Kanzleiſtyl.
Die fränkiſche Kirche vom Anfange. des fiebenten Sahrhunderts ıe. 627
Allem an den Pabft wandte, und denſelben aufforberte, feine in
Nicäa ausgefprochene Meinung entweder zu widerrufen, oder auf
eine befriedigende Weife umzudeuten. Aber der Verfaſſer der karo—
Vinifchen Bücher fchlägt einen ganz andern Weg ein; er fucht nem
lich fofort zu zeigen, baß dem Stuhle Petri das höchſte Anfehen
in Slaubensfachen gebühre; er fieht alfo ganz davon ab, daß der
Pabſt zu Nicäa mit den Griechen geftimmt hatte. Aufs Deutlichfte
zeigt fich bier, daß ber König andere Zwecke, als die vorgefhüsten,
verfolgte, daß er nicht fowohl die Welt vor Irrthümern bewahren,
als einen tödtlichen Hieb gegen den Kaiferthron von Conftantinopel
führen will, was freilich ſchon aus den oben befchriebenen Angriffen
gegen Sonftantin VI und feine Mutter Jrene erhellt. Das Faro:
Yinifhe Werk fährt alfo fort. ) „Bor Allem muß bemerft werden,
daß die Heilige römische Kirche vom Herrn den erften Rang unter
allen übrigen erhalten hat, und daß man darum ihre Entfcheidung
in Glaubensfacdhen einholen muß, zumal da feine andere Schriften
als diejenigen, welche der römiſche Stuhl für canonifch erflärt, und
feine anderen Väter als die von Gelaſius und den übrigen Päbften
gebilligten, zum Beweiſe eines Glaubensfages benüst werden
dürfen. Der heilige Augufiinus fagt irgendwo, daß jeder gewiffen-
hafte Lehrer fih bei Erklärung der Bibel nach den apoftolifchen
Kirchen zu richten habe. Nun ift aber der römiſche Stuhl unter
den apoftolifchen der erfie. Denn gleichwie bie Apoſtel den übrigen
Schülern vom Herrn vorgezogen wurden, und wie binwiederum
Petrus den Vorzug vor den andern Apofteln erhielt, fo befisen
bie apoftolifchen Stühle den Rang vor den andern, über allen aber
fteht der römiſche. Diefe Regel haben die Väter anerfannt; fo
gelehrt und erleuchtet Hieronymus war, fragte er doch in wichtigen
Dingen den Pabſt um Rath. Auch wir und unfere föniglichen
Borfahren haben es ung ſtets zum Grundfag gemacht, Einheit mit
der römischen Kirche zu wahren. Unſer Vater verehrungswürbigen
Gedächtniſſes, König Pipin, führte der Einheit wegen den römifchen
Kichengefang in feinem Reihe ein. Das Gleiche gefchah auch von
ung, nahdem der Allmächtige ung die Herrfchaft über Gallien,
Germanien und Italien verliehen hatte.“ Aufs Stärkfte hebt hier
Karl feine Hebereinftimmung mit dem Stuhle Petri hervor, während
1,6. 0,09, ©. 31 flg.
40 *
628 11. Buch. Kapitel 9.
er doch im nemlichen Augenblide eine Lehre bekämpft, bie der Pabſt
zu Nicäa für rechtgläubig erklärt hatte,
Nun erft wendet ſich der Verfaſſer feiner eigentlichen Aufgabe,
der Widerlegung der auf dem zweiten Concile von Nicäa gefaßten
Beichlüffe zu. In den Kapiteln 7 — 30 des erften Buchs I) fucht
er zu zeigen, daß bie altteftamentlichen Stellen, welche die Synode
für Anbetung der Bilder angeführt habe, durchaus Das nicht be-
weifen, was ſie nach der Meinung der Griechen darthun ſollen.
Wir übergehen dieſe Kapitel, weil fie Feine hiftorifche Bedeutung
haben, und bemerfen blos, daß das zwanzigſte Kapitel einen heftigen
Ausfall 7 gegen den byzantinifchen Patriarchen Tarafius enthält:
„Tarafius, der, wie die Sage geht, vom Laien auf bie höchſte
Stufe Firchlicher Würden, vom Soldaten zum Glerifer, von ber
Rennbahn zum Altar, vom lauten Getümmel des Marfts zum
Predigtamt, vom Geräufhe der Waffen zur Verwaltung ber
Saframente befördert wurde — dieſer Tarafius behauptete auf
jener Synode: was für die Juden die Cherubim über dem Gnaden—
ſtuhl gewefen, das feyen für. ung Chriften die Bilder des Herrn
und feiner heiligen Mutter, der Gpttesgebärerin. Aber er irrt fich,
die Cherubim hatten eine myſtiſche Bedeutung.“
Auh in den erften zwölf Kapiteln des zweiten Buchs fährt
der Berfaffer fort, die Beweisfraft der von der Synode gebrauchten
biblifchen Stellen zu widerlegen. Mit dem dreisehnten Kapitel be:
ginnt er zu-zeigen, daß auch die Zeugnifje der Väter, welche Irene's
Eoneil für feine Meinung angeführt habe, theils unrichtig ausge:
Yegt, theils verfälicht feyen. Vorangeſchickt wird folgende Bemer:
fung: „noch einmal müffen wir wiederholen, daß wir nicht den
firhlichen Gebrauch, fondern blos die götiliche Verehrung der
Bilder verdammen; anbliden darf und foll man fie in der Kirche,
aber fie anzubeten ift ein Frevel. Vergeblich berufen fi bie
Griechen darauf, daß Pabft Sylveſter die Bilder der Apoſtel dem
Kaifer Conftantin I. zugeſchickt habe. Er fihidte fie ihm zum An:
fchauen, nicht zum Anbeten, und follte er je den Kaifer aufgefor:
dert haben, diefelben göttlich zu verehren, fo that er dieß nur, um
den Kaifer als einen Mann, der vom Heidenthum her an fichtbare
Gegenftände der Anbetung gewöhnt war, auf einen andern Weg
') Tbid, S. 32 — 54. — ®) Ibid, ©, 46,
Die fränkiſche Kirche Som Anfange des fiebenten Jahrhunderts ıc. 629
zu leiten. Allein dem Buche, worin fich diefe Nachricht finde,
fommt, ob es gleih von Vielen gelefen wird, Fein canonifches An-
fehen zu, wie aus der Verordnung des Pabft3 Gelaſius über die
achten Schriften erhellt, ) und es taugt folglich nicht zum Beweiſe.
Die Zeugniffe aus den Schriften des Athanaftus von Alerandrien
(Kay. 14.), des Ambrofius von Mailand (15.), des Auguftinus (16.),
welche die griechifhe Synode für ihren Zweck benüsen will, find
entweder mißverftanden, oder falſch angeführt. Ferner berufen fie
fih (17.) auf einen Ausſpruch Gregor’s von Nyßa. Wir fennen
weder die Lehre noch das Leben diefes Mannes, und wenden daher
die Regel des Apoſtels auf ihn an: prüfet die Geifter, ob
fie aus Gott find Eine Stelle aus den Aften des fechsten
öfumenifhen Concils, welche Jrene und ihre Biſchöfe anführen,
beweist nichts für Anbetung der Bilder, und ift überdieß verfälfcht
(Kap. 18.). Ebenfo verhält es fih mit den angeblichen Zeugniffen
aus den Werfen des Chryfoftomus Kay. 19.) und Cyrills von
Alerandrien (Kap. 20.) Die heilige Schrift lehrt aufs Beftimm-
tefte, dag nur Gott angebetet werden dürfe. Mit diefer Vorſchrift
fann die Verehrung der Bilder nimmermehr beftehen (Kap. 21.).
Die Griehen fagen zwar, Bilder feyen darum den Menfchen
nöthig, um uns an bie Gegenftände der Religion zu erinnern. O
der elenden Ausfluht! Keines Menſchen Gedächtniß ift fo ſchwach, dag
ſolche Hülfgmittel nöthig wären (22.). Pabſt Gregoriug 1. hat in
feinem Briefe an Serenus von Marfeille die wahren Grundfäge
aufgeftellt, indem er gleich entjchieden die Bilder göttlich zu ver:
ehren, oder fie zu zerbrechen unterfagte (23.). Chriften mögen
immerhin bochgeftellten Männern durch Kniebeugung Ehre erweifen,
aber dieß ift etwas ganz anderes als Bilder, das Machwerf von
Malern, anbeten. Denn der Menfch ward, wie die Schrift lehrt,
nah dem Ebenbilde Gottes gefchaffen, und von dem Allmächtigen
mit den größten Borzügen ausgeftattet, Bilder dagegen find Ieblofe
Dinge (Kap, 24). Was wir glauben und thun follen, haben ung
Propheten und Apoftel theils mit Haren Worten, theils durch Bei—
Ipiele, oder auch durch Gfleichniffe, vorgetragen. Aber über Ber:
In dem Defrete vom Jahr 494, kraft deffen Gelafius den Canon der
Aechtheit Firchlicher Schriften feftfegt, werden die Akten des Pabſts Syivefter
unter die, nicht von allen Kirchen anerkannten, Schriften gerechnet. Manft
VIII, 149 Mitte, |
630 | I. Bach. Kapitel 9.
ehrung der Bilder findet fich Fein Laut in der Schrift (25.). Ver—
geblich verfuchen fie es den Bilderdienft durch Bergleichung mit ber
Bundeslade (26.), oder mit dem Abendmahl des Herrn zu recht:
fertigen. Auf ihr Borgeben: gleichwie im Abendmahl Früchte der
Erde in Leib und Blut des Herrn verwandelt werden, alfo gehen
die Bilder, wenn fie vom Künftler vollendet find, in einen Gegen-
ftand religiöfer Verehrung Über, erwiedern wir: „im Abendmahl
geht ein göttliches Myſterium vor fih, Bilder Dagegen werben auf
gemeine Weife von Malern gemacht. Gipfel der Verrüctheit aber
ift es, zu behaupten, der Bilderdienſt fey zur Seligfeit nothwendig.
Denn verbielte fih dieß fo, dann würden weder die Apoftel noch
die Märtyrer in den Himmel eingegangen feyn, da man ja zu
ihrer Zeit gar nichts von Bildern wußte, noch Fönnten Kleine Kin
der felig werden, dieweil dieſelben Feinen Begriff von Bildern
haben (27.). Die Griechen berufen ſich auf das Kreuz, indem fie vor:
fhügen: gleihwie man das Kreuz ehre, müffe man auch die Bilder
ehren. Aber das Kreuz unferes Heilands ift ein hochheiliges, durch
die größten Wunder verherrlichtes Myfterium, das ftets in der
Kirche verehrt wurde Ganz anders verhält es ſich mit den Bil:
dern (28.). Ebenſo wenig Kraft hat der Beweis, den Taraftus und
feine Gefellen von der Nothwendigfeit kirchlicher Gefüffe hernehmen.
Gefäffe bedarf man zwar in den Kirchen, aber darum feine Bilder.
Und wenn gleich die Gefäffe mit Bildern geſchmückt find, fo folgt
daraus nicht, daß man die Bilder anbeten müſſe (29.). Sie fagen
ferner: wie ung die heiligen Bücher zur Erinnerung gegeben feyen,
fo auch die Bilder, Beide müſſe man auf gleihe Weile ehren.-
Aber die von Gott ertheilte Schrift, und von fterblichen Händen
gemachte Bilder find himmelweit verfchieden (30.). Ueber alle Be:
fchreibung. fchändlich ift die Art, wie die Byzantiner mit ihren Bor:
fahren und Vätern umgehen, welche befanntlich den Bilderdienft
verworfen haben. Die Bifchöfe Jrene’s erklärten diefelben für fluch—
würdige Keter. Waren fie dieß wirklich, fo konnten fte feine gül-
tigen Weihen ertheilen, folglich find ihre Nachfommen auch Feine
rechtmäßigen Biſchöfe; fie hatten Feine Gewalt zu binden und zu
Yöfen, und Alles was fie angeordnet, ift null und nichtig. Sene
Menſchen brechen alfo, durd die Verdammung ihrer Borgänger,
den Stab über ſich felbft. Gleichwohl gebietet nicht blos die Schrift
Bater und Mutter zu ehren, fondern auch ein. Canon: fpricht:
Die fränfifche Kirche vom Anfange des fiebenten Jahrhunderts ꝛc. 631
Fluch den Söhnen, die unter Dem Borwande des gött-
lihen Dienfles ihre Eltern verlaffen, und ihnen bie
gebührende Ehrfurdt verweigern. Es ift eine heilfame
von den Vätern auf ung vererbte Gewohnheit, für die Seelen der
Abgefchiedenen zum Herrn zu beten. Diefer edlen Sitte fprechen
bie Griechen Hohn, indem fie ihre Vorfahren verbammen.“ So—
fort wird gezeigt, wie fehr fich die Franken zu ihrem Vortheil von
den Byzantinern unterfcheiden: „Wir Franken fleben um Vergebung
für unfere Vorfahren durch Gebete und Almoſen; die Griechen da—
gegen wünſchen mittelft ehriofer Synoden Unheil auf die Häupter
ihrer Väter herab. Wir erbitten den Seelen der Unfrigen Ruhe
durch feierliche Gottesdienſte, jene beſchimpfen die Shrigen Durch gejeß-
Yofe Soneilien. Wir gedenfen der Unfrigen im Gebete, Jene der
Ihrigen mit Flüchen. Wil wünfchen, daß die Seelen der Unfrigen
im Schooße Abrahams erquidt werden, jene, daß die Ihrigen mit
Artus, Neftorius, Dioskor und Eutyches ewige Feuerpein erdulden.
Und dod gilt der Spruch: ') unfer Feiner lebt ihm felber, unfer
feiner ftirbt ihm felber. Leben wir, fo leben wir dem Herren,
fterben wir, fo fterben wir dem Herrn. Darum wir leben oder
fierben find wir des Herren. Gerade entgegengefekt ift der Srr=
thum, welchen bei den Griechen die Bäter und die Söhne hegen.
Jene wollten gar feine Bilder in den Kirchen dulden, dieſe befehlen
eben denfelben göttliche Verehrung zu erweifen. Jene verdammten
die Bilder zum Feuer, biefe ehren fie mit Weihraud. Jene wollten
fie nicht anfehen, diefe hören nicht auf, Bilder zu Füßen Wir
Sranfen dagegen hüten uns wohl, auf den einen wie. ben andern
Irrweg abzufchweifen. Wir wollen die Bilder nicht mit Jenen
verachten, wir wollen fie aber auch nicht mit Diefen anbeten. Gott
allein beten wir an, die Heiligen dagegen halten wir gemäß bem
firchlihen Herfommen in Ehren, geftatten auch Bilder, um. das An-
denfen vergangener Dinge aufzufrifchen. Auf folhe Art wollen wir
allen Denen, welche nad) der einen oder der andern Seite yon ber
Wahrheit abgeirrt find, den Weg vorzeichnen, auf dem man zu
Chriftv gelangen mag.“ (Kap. 31.) |
Um eines Weitern zu zeigen, daß die fränfifche Kirche das
Recht Habe, über die griechifche zu richten, beginnt das britte Buch
) Pauli Brief an bie Römer — 7. 86
‚632 0 IE Buch. Kapitel 9,
mit einem ausführlichen Glaubensbefenntnig. Meift enthält bas-
Selbe folhe Punkte, die damals allgemein als Inhalt des Achten
Glaubens betrachtet wurden. Wir übergehen daher dieſelben. Einige
Sätze verdienen aber befondere Beachtung, weil fie gegen die fyani-
chen Adoptianer, Eliyandus von Toledo, und Felir yon Urgel
gerichtet find: „Wir glauben auch an unfern Herrn Jeſum Chri-
ſtum, durch den alle Dinge gefchaffen find, den wahrhaftigen Gott,
den wahren und eingebornen Sohn, der nicht geichaffen, oder
blos an Kinderftatt angenommen, fondern gezeugt, und
Eines Weſens mit dem Bater !) if.“ Dann weiter ?) unten:
„wir verdammen ferner Die, welche lehren, der Sohn Gottes habe
aus Nothwendigfeit Des Fleifches gelogen (d. h. fich felbft manch—
mal getäufcht), und Er habe wegen der angenommenen Menschheit
nicht Alles thun Finnen, was Er gewollt.“ Diefe abfichtlihe Ein:
mifchung des Elipandus und feiner Parthei verräth, daß der Sranfen-
könig im adoptianifchen Streit einem und demfelben Ziel, wie in den
farolinifhen Büchern, nachſtrebte. Nun folgt eine Reihe Ausfälle
gegen die griechiichen Kirchenhäupter, welche auf der zweiten nicäi—
Then Synode das Wort geführt hatten (Rap. 2.). „Häufig gefchieht
es, dag Menfchen einen begangenen Fehler durch einen andern gut
zu: machen fuchen. Solches ift auch Tarafius widerfahren. Weil
er wohl fühlte, daß er wider die Kirchengefege aus dem Laienftande
zur Spite des Prieftertfums erhoben worden, wollte er dieſes Un—
recht durch hitzige Bertheidigung der Bilder verbergen. Taraſius
Yeidet jedoch noch an andern Gebrechen. Auch fein Glaube ift un:
gefund, befonders in Bezug auf den heiligen Geift, weil er nicht
befennt, daß der Geift vom Bater und Sohne ausgehe, wie doc
die Achte Regel des Glaubens vorschreibt, fondern Ihn vom Vater
durh den Sohn ausgehen läßt: eine Behauptung, welde an bie
Arianiſche Ketzerei anftreift (Kay. 3.). Auch erlaubte fih Taraftus
auf der Synode den Ausdruck zu gebrauchen: der Geift fey einer
Zunft (contribulum) mit Vater und Sohn, alfo gleichfam ihr Ver:
wandter, da er doch hätte fagen follen: der Geift fey gleich ewig
und eines Wefens mit Bater und Sohne (Rap. 5.). Ueberhaupt
haben faft alle Bifchöfe der Synode in Bezug auf den Geift geirrt,
1) Credimus in Jesum Christum — non factum aut adoptivum — sed
genitum etc, — 2) Goldaft a. a. O. ©. 79 Mitte,
Die fränkiſche Kirche Som Anfange des fiebenten Jahrhunderts 1. "693
‘indem fie entweder blog fagten: er gehe vom Vater aus, oder gar
fein Ausgehen vom Bater und Sohne mit Stilffehweigen über:
gingen“. (Rap. 8.). Der Berfaffer wirft hier, wie man fieht, mit
fühner Stirne die fpanifhe Formel zur Nichtfehnur des Achten
Glaubens auf. Wie Tarafiug werben (Kap. 4, 6, 7, 10.) meh:
rere andere, namentlich aufgeführte, Biſchöfe der zweiten Synode
von Nicäa zurechtgewiefen. Im neunten Kapitel wirft er ben
Griechen vor, fie hätten fih auf dem Concil fo dunkel und verworren
ausgedrückt, daß man oft Faum ihren Sinn errathen fünne. „Den
größten Fehler“ fährt er dann im eilften Kapitel fort: „begieng bie
Synode dadurch, daß fie fich, ehe fie Befchlüffe faßte, nicht erft bei
andern Gemeinden erfundigte, fondern blind drein fuhr, und bie
ganze rechtgläubige Kirche, weil diefe die Bilder nicht anbetet, mit
dem Bann belegte. Keine Sanftmuth, feine Geduld, feine ber
Tugenden, welde die. Schrift uns fo ernftlich einfcharft, war in
Nicäa zu verfpüren. Wir Franfen mußten daher nothgedrungen
ung von der Gemeinfchaft mit diefen Griechen Iosfagen. Denn
Chriſtus und Belial flimmen nicht miteinander (Rap, 12.). Und
welch ein Wahnfinn war es, daß ein Weib fih zur Len—
ferin der Synode aufwarf. Verbietet doch nicht blos bag
göttliche, fondern felbft das Naturgefeg Weibern ſich vorzudrängen,
und ftellt diefelben unter männliche Vormundſchaft. Gleichwohl
bat Jrene es gewagt, zu Nicäa die Welt belehren
zu wollen! (Kap. 13.) Sp weit trieb fie dort die Frechheit, daß
fie den Ausdruck von fih gebrauchte, unter göttlicher Mit-
wirfung haben wir Euch verfammelt. Wahrlich der Herr
bedarf Feines Menfchen Hülfe, und Chriftus ift fein eigener Rath:
geber (Rap. 14.). Die Griehen wagen den Bilderdienft durch den
Borwand zu befräftigen: wenn Bilder der Kaifer in die Städte
und Provinzen gefchickt werden, fo walle ihnen das Volk mit Weih⸗
rauch und Lichtern entgegen, nicht um die bemalte Leinwand, fon-
bern um den Kaifer zu ehren. In einem noch höheren Grab als
den Kaifern, ſey man gleiche Ehre den Bildern Chriſti, feiner
Mutter und aller Heiligen ſchuldig. D des grenzenlofen Wahn:
finns!! Die Sitte, auf die fie fich berufen, ift ein greulicher, aus
finfterem Heidenthum flammender, das Evangelium verhößnender
Mißbrauch. Nie darf man Unerlaubtes aus Unerlaubtem recht:
fertigen (15.). Weiter fagen fie: die Ehre, welche man den Bil:
634 I. Buch. Kapitel 9.
dern. erweife, falle auf die Perfonen zurück, welche mittelft ber Bilder dar:
geftellt „werben. Wir befennen, daß wir in biefen Worten feinen
Sinn finden. Niemals haben die Heiligen Anbetung verlangt.
Wären fie übermüthig genug gewefen, Solches zu fordern, nie
würden fie dann in Himmel gefommen ſeyn. Und jest da fie die
ewige Seligfeit erlangt, bedürfen fie wahrlich vergänglicher Ehren-
bezeugungen nicht. Ihre Leiber und ihre Reliquien mag man immer:
bin ehren, das wird Gott und Seinen Heiligen gefallen. Auch Fönnen
zur Noth Gelehrte einen Unterfchied machen zwifchen dem Bilde
und Dem, den es darftellt; aber die Mafje der Menſchen vermag dieß
nicht, zu Götzendienern werden fie gemacht, indem man fie anhält,
Bilder anzubeten‘ (Kap. 16.). In den nächften Kapiteln folgen
wieder Angriffe gegen mehrere, namentlich aufgeführte Häupter ber
Synode (17 — 24.), dann wird gezeigt, daß die Nothwendigfeit
des Bilderdienſts weder durch angebliche Wunder, noch durch
Träume, oder durch apokryphiſche Schriften erwiefen werben Tonne
@5 — 31.):
Den gleichen Gang nimmt auch) das vierte und lebte Buch.
Das erfte und zweite Kapitel züchtigt Die Aeußerungen, welche ber
Presbyter Johann in Nicka zu Gunften der Bilder gethan. Im
dritten Kapitel nimmt fodann der Berfaffer von der Behauptung
der Griechen, man folle Niemand durch Berwerfung der Bilder
ärgern, Anlaß, im Namen Karl’s eine fehneidende DBergleihung
zwifchen dem öffentlichen Gottesdienfte im byzantinifchen und fränfi-
fchen Reiche anzuftellen: ) „Die Gefandte, welche theils: ich ſelbſt,
theils mein Vater Pipin nach Griechenland ſchickte, haben berichtet,
daß bei den Griechen, die ſich fo großen Eifers für die Bilder
rühmen, die Gotteshäufer nicht blos ber Lichter und des Räucherwerks,
fondern felbft häufig der Dächer entbehren, während in unferem
Keiche die Kirchen aufs Herrlichfte mit Golb, Silber, Edelfteinen
und andern. Kleinodien geſchmückt find.“ Wir übergehen mehrere
Kapitel, weil fie nichts Wichtiges enthalten. Im zehnten. fährt der
Berfaffer fort: „die Griechen berufen fih darauf, daß Chriftus fein
Bild dem Könige Abgarus zugefchicdt Habe; aber von dieſer Ge-
ſchichte fleht in den Evangelien Fein Wort. Weiter fagen fie
(Kay. 25.): der heilige Vater Epiphanius habe alle Kegereien in
1) Gold aſt a. a. OD, ©, 115 Mitte.
Die fränkiſche Kirche vom Anfange bes fiebenten Jahrhunderts ıc. 635
feinem befannten Werfe abgehandelt. Wäre er ‚der Anficht ges
weſen, daß die Verehrung der Bilder unrecht fey, fo würde er bie
Bilderbiener unter die Keber gerechnet haben. Aber Euer Satz
läßt ſich trefflich umdrehen: Epiphanius kennt feine Keterei Solcher,
welche den Bildern feine Ehre erweifen, alfo hielt er die Verächter
der Bilder für Feine Ketzer. Doch wir fennen einen Brief von
ihm, in welchem ev erklärt, daß Feine Bilder in den Kirchen geduldet
werden dürfen. Jeder mag übrigens von dieſer Aeußerung des
Epiphanius halten was er will. Aber yon dem großen Auguftinus
haben wir ein Werf wider 89 Keser, unter welchen zwei bilder:
dienende Sekten genannt find, nemlich die Simonianer und Carpo—
fratianer. Auch zeugt Hieronymus wider Euch (Kap. 27). Diefer
bricht gegen den Ketzer Bigilantiug, der die Reliquien der Heiligen
zu ehren verbot, in die Worte aus: wer, o du Unfinniger, hat je
die Märtyrer angebetet. Wenn dem zufolge die Märtyrer Feine
Anbetung verdienen, wie viel weniger gebührt dann biefelbe ihren
Bildern! Der Argfte Unſinn aber (Rap. 28.), den Eure Synobe
begieng, beſteht darin, daß fie fich für eine allgemeine ausgiebt,
während fie doch weder den Achten Fatholiichen Glauben hat, noch
allgemeines Anfehen in der Kirche verdient. Katholiſch Heißt, was
von der Einheit der Kirche nicht abweicht. Jede chriftliche Lehre
und Vorſchrift muß mit der allgemeinen Kirche im Einflange feyn.
Wenn die Bifchöfe von zwei oder drei Provinzen zufammentreten,
und Säge aufftellen, welde mit dem allgemeinen Glauben ber
Kirche übereinftimmen, fo find ihre Befchlüffe katholiſch. Wenn aber
die Bijchöfe zweier oder dreier Provinzen fi zufammenrotten, um
Neuerungen zu machen, fo ift, wası fie gethan, nicht Fatholifch und
nicht allgemein. Denn Alles, was kirchlich, iſt auch katholiſch, und
Alles was Fatholifch, allgemein. Was aber allgemein ift, darf
Nichts Neues anordnen. Hätte. eure Synode feine Neuerungen
gemacht, und, wäre fie bei den Satungen der Väter fiehen geblie:
ben, fo fünnte man fie, eine allgemeine nennen; aber weil fie das
Gegentheil gethan, verdient fie. diefen Namen nicht.“ Den. Schluß
macht I) eine Zufchrift an den Pabft folgenden Inhalts: „Der Apo—
ſtolikus, unfer Bater, und die ganze vömifche Kirche möge wiſſen,
daß wir, gemäß dem Schreiben, das der felige Gregorius an ben
1) Ibid, 143 unten flg.
636 | TIL. Buch. Kapitel 0.
Bifhof Serenus von Marfeille erließ, aus Liebe zu Gott und feinen
Heiligen Jedermann erlauben, Bilder innerhalb oder außer ber
Kirche aufzuftellen; angebetet aber dürfen biefelben fo wenig werben,
als zerbrochen. Sondern wir find gemeint ung ſtreng an die
Grundfäge zu halten, welche der heiligfte Vater Gregorius in
jenem Briefe befennt u. |. w.“ Die letzten Worte des Buchs fehlen.
Dieß ift ungefähr der Inhalt des Farolinifchen Werks. Noch
fürzer zufammengebrängt fommt der Sinn der langen Rede auf
folgende Säte zurüd: die heiligfte und erfte Pflicht der Könige,
und befonders des hriftlichen Kaiſerthums ift es, die Kirche Gottes
zu beichüsen, und den Achten Glauben zu wahren. Dazu find bie
Herrfcher von dem Allmächtigen eingefegt. Aber der Thron zu
Conftantinopel hat aufs Gröblichfte feine Pflicht verletzt, er hat ben
Glauben durch gottestäfterliche Befchlüffe entehrt, und ift ing Heiden:
thum zurücdgefunfen. Ketzer find die Kaifer von Conftantin Copro-
nymus bis auf Irene herab. Ganz anders benimmt ſich Die große
Nation der Franken; ihr Herrfcher ſteht glorreich da als Befchüger
der Kirche, und Bertheidiger des wahren Glaubens, auch hält er
mit dem römischen Stuhle, dem Horte der Chriftenheit, die innigfte
Gemeinschaft. Aus diefen Vorderſätzen ergiebt ſich eine Schlußfolge,
welche Karl, oder vielmehr Derjenige, deſſen Feder er fich bedient
bat, jelbft zu ziehen wohlweislich unterließ , den aber damals jeder
Leſer der Farolinifchen Bücher gezogen hat. Sie lautet fo: folglich ift
ber erfte Rang unter ben Völkern von den Griechen zu den Franfen
übergegangen, und deßhalb gebührt ihrem Herrſcher die
Kaiferfrone!!
Es verfteht fi) von felbft, dag Karl feine Denffchrift dem
Stuhle Petri überreichen Tieß. Und da das vierte Buch, wie wir
eben zeigten, mit einer Anrede an den Pabſt fchließt, fo muß die
Nebergabe nothwendig fehnell erfolgt feyn; denn der Anftand er:
laubte nicht, die Urkunde irgend Jemand früher, als dem Pabſte
mitzutheilen. Noch befisen wir eine Gegenfchrift, 7) mit welcher der
Pabft die Zufendung des Königs beantworten zu müffen glaubte. Sie
it ein ſprechendes Zeugniß der Berlegenheit, in welcher ſich Hadrian I.
dem mächtigen Karl gegenüber befand. Geine Ehre gebot ihm
die Beichlüffe von Nicda, an welchen er durch feine Gefandte fo
') Abgedruckt Manſi XIIL, 759 flg.
Die fränkifche Kirche vom Anfange des-fiebenten Jahrhunderts ıc. 637
großen Antheil genommen, aufrecht zu halten, und doch durfte er .
feinem Befchüger und Lehensheren nicht widerfprechen! Winkelzüge
mußten helfen. Im Eingange feiner Antwort erinnert Hadrian den
Sranfenfönig, daß der Apoftelfürft Petrus von Chriſto die Obhut
der ganzen Kirche empfangen, und dieſes Recht feinen römischen
Nachfolgern Hinterlaffen habe; dann folgt das Verſprechen, daß
Karl, wenn er anders dem Achten Glauben bis ans Ende treu
bleibe, auf Erden fortwährende Siege, und bereinft im Himmel die
ewige Geligfeit erringen folle. „Euer Bu, das Ihr mir durch
Euren Erzkapellan Engilbert überſchicktet, habe ih empfangen, und
Punkt für Punkt beantwortet; übrigens will ih nicht alle
einzelnen Behauptungen ber Biſchöfe von Nicäa ver:
theidigen, denn mir liegt blos am Herzen die alte Lehre und den
achten Glauben der römifchen Stiche zu wahren.“ Die verfprochene
Erwieberung befteht darin, daß der Pabſt ohne Ordnung da und
dort aus den Farolinifchen Büchern Stellen herausnimmt und ihnen
paffende oder unpaffende Ausſprüche der Väter entgegenfest. So
vechtfertigt er z. DB. die angegriffenen Aeuferungen bes Taraſius
über den heiligen Geift durch gleichlautende Zeugniffe älterer Kirchen:
lehrer. Sp erhärtet er die Wahrheit der Ueberlieferung, dag Chriſtus
fein Bild dem Abgarus zugefandt habe, durch die Ausfage des
Pabſts Stephanus und dreier Patriarchen. Den Farolinifchen Sag,
a’ ber Bilderdienft von den Ayofteln weder durch Wort noch durch
Beifpiel gebilligt worden fey, widerlegt er durch zwei Stellen des
Areopagiten Dionyfius, welcher, laut Adrian’s Berficherung, zu den
Zeiten der Apoftel gelebt hat, und deren Schüler geweſen if. Am
Schluſſe meldet er Karl'n, daß er zwar, wegen ber nicänifchen Synode,
bie auf feinen Befehl gehalten worden fey, dem oſtrömiſchen Kaiſer—
hauſe bis jest aus Beſorgniß, die Griechen möchten wieder in ihren
alten Irrthum zurüdiinfen, noch nicht geantwortet habe. Wenn
jedoch Karl es zufrieden fey, fo wolle er den Kaifern jetzt für
Wiederherftellung der Bilder danken, zugleich aber auch Zurüdgabe
ber entriffenen Kirchenfprengel verlangen; follte dieſelbe verweigert
werben, dann wolle er den Kaifer mit dem Bann—
firable belegen. Mit andern Worten heißt dieß, der Pabſt
verspricht den Hauptwunſch des Franken zu erfüllen, aber nur dann
wenn. die Griechen ſich weigern, den römiſchen Zorn durch Geld:
opfer abzufaufen. Man ſieht; Karl und ber Pabſt handeln in
638 II. Buch. Kapitel 9.
gleichem Geifte; jeder hat nur feinen eigenen Vortheil im Auge,
aber beide fihügen die Sache Gottes vor. Indeſſen nübten dem
Pabfte feine Ausflüchte Nichts. Auf der Neichsfynode, welche Karl
im Jahre 794 nad Frankfurt berief, mußten Gefandte Hadrian’s I.
ericheinen und fammt den übrigen Bifchöfen den Bilderdienft und
die nicäniſchen Schlüffe verdammen.
Die Farolinifchen Bücher hatten Fein vollgültiges Gewicht, fo
lange die in ihnen ausgefprochenen Grundfäte nicht yon der ganzen
fränkiſchen Kirche feierlich anerkannt worden waren. Karl fühlte
dieß wohl, fein Abjehen war daher darauf gerichtet, ein abend:
ländiſches Concil zu verfammeln, das durch die Zahl wie durch
den Glanz feiner Mitglieder, die griechifche Synode Irene's in
Schatten ftellen follte. Das ganze Reich gerieth in Bewegung, es
wird berichtet, daß alle Kirchenhäupter ſämmtlicher dem Könige
unterworfenen Länder, Galliens, Germaniens, Staliens, in Frank:
furt, wohin der König die Berfammlung ausgefchrieben hatte, er-
fchienen feyen. Zu diefen fränfifchen Unterthanen famen noch die
britannifchen Bifchöfe, welche, wie oben berichtet ward, auf der
Frankfurter Berfammlung England vertraten. Karl führte in
eigener Perfon den Borfis. Zwei italifhe Kirchenhäupter, Theophy—
Yaftus und Stephanus, ftanden ihm als päbſtliche Bevöllmächtigte
zur Seite. Man fieht hieraus, dag Karl fchon 794, alfo volle
fehs Jahre vor feiner Krönung, thatſächlich die Rolle eines abend»
Yandifhen Kaifers fpielte. Ehe wir jedoch von den Frankfurter
Berhandlungen Bericht erftatten, müſſen wir die Aufmerffamfeit
der Lefer auf einen neuen Gegenftand hinlenfen. Außer der Bilder:
fache wurbe in den Kreis der Synode noch eine andere Frage hin:
eingezogen, welche, obwohl dem Scheine nach fehr verfchieden, einem
und demfelben Zwecke diente. |
Karl hatte von feinem Ahn Martel, und feinem Vater Pipin
Krieg und Haß wider die fpanifchen Saracenen geerbt. Zu dieſen
überlieferten Gründen der Feindfehaft kam noch fein perſönlicher
Ehrgeiz, der eifrig jede Gelegenheit zu Vergrößerung auf Koſten
Anderer ergriff. Da er indeß bis 777 mit Bezwingung teutſcher
Gegner beſchäftigt war, fo konnte er den Kampf wider die Araber
der Halbinfel erft ſpät eröffnen. An der Spike zweier flattlichen
Heere, deren größeres aus dem Heerbanne der Auftvafier, Burgun-
der, Baiern, deren Fleineres aus Südfrangofen, Septimaniern und
Die franfifche Kirche vom Anfange des fiebenten Jahrhunderts ꝛe. 639
Langobarden befland, z0g er im Sommer 778 über die Pyrenden,
berbeigerufen durch eine Parthei unzufriedener Saracenen, welche
ihm die Stadt Saragofja zu überliefern verfprochen Hatte Karl
rücte vor die Stadt, aber Die Verſchworenen Fonnten oder wollten nicht
Wort halten. Nachdem die Belagerung einige Tage gedauert, mußte
Karl unverrichteter Dinge wieder in fein Reich zurüdfehren. Er
felbft führte die Vorhut und fam glücklich durch die Pyrenäenpäſſe,
aber die Nachhut des fränfifchen Heers erlitt eine fürchterliche Nieder-
lage, und zwar nicht durch das Schwert der Saracenen, fondern
durch die Hand der Basfen, ungetreuer Bafallen Karl's, welche das
augenblickliche Unglück der Franken benüsten, um ihre Unabhängig:
feit wieder zu erringen. In den Schlünden yon Ronecesvalles
wurden Ruodland, !) Graf der Pyrendengränge, von Karl mit
dem Oberbefehl des Nachtrabs beauftragt, Eggihard, Haushofmeifter
des Königs, Anfelm Graf des Pallaftes, viele andere Große und
ihre ganze Heeresabtheilung bis auf den Testen Mann erfchlagen. ?)
Angefommen in Gallien hielt Karl Gericht über die treulofen Bas:
fen, er ließ ihren Herzog Lupus I. aufknüpfen, 9) zugleich erklärte
er Aquitanien, das er bald nad feinem Negierungsantritt zum
Franfenreiche gejchlagen, wieder für einen eigenen Staat, und gab
dem Lande feinen damals dreijährigen Sohn Ludwig den Frommen
zum Erbfönige. Unausgefegter Krieg gegen die fpanifchen Sara—
cenen war bie Bedingung, unter welcher Karl den Aquitaniern diefen
Schatten von Selbftftändigfeit ertheilte. Bon dort aus follte Spanien
erobert werden. Zu dem neuen aquitanifchen Reiche wurden auch)
das Basfenland und mehrere Striche auf der fpanifchen Seite der
Pyrenäen, welde die Franken feit 780 eroberten, namentlich bie
Städte Urgel und Girona, *) gefchlagen. Seitdem berrfchte
zwifchen den Agquitaniern und den Saracenen entweder wirklicher
Krieg, oder Kriegesrüftung. In dem oben angeführten Briefe, den
Alfuin kurz vor feiner englifchen Gefandifchaft zu Anfang des
Jahrs 790 nad Schottland erließ, bezeugt er feine Freude über die
') Dieß ift der bekannte Held der fpätern fränkiſchen Sagen. — 2 Ein-
hardi vita Caroli $. 9. Perz II., 448, und Annales Einhardi ad annum 778,
Perz I., 159. — 3) Diefe Nachricht beruft auf der Urfunde von Alaon, bei
Aguirre concil. Hisp. III., 131 flg. und daraus abgedrudt bei Fauriel
histoire de la Gaule meridionale, III., 505 oben, — 9) Chronicon Moissia=
cense ad annum 785, bei Perz I., 297,
640 I, Buch. Kapitel 9.
Erfolge, welche Karls Waffen kürzlich Über die andalufifhen Sara:
senen errungen. „Die Heerführer und Hauptleute des allerchriſt—
lihften Königs“ fchreibt ) er, „haben einen guten Theil Spanieng
den Saracenen abgenommen, faft 300 Meilen längs dem Meere
bin. Dod Wehe uns, daß dieſes verruchte Volk noch über
Afrika und den größten Theil Afiens herrſcht.“ Lebtere Herzens:
ergiegung beweist, von welcher Begierde ber König und feine
Freunde glühten, die Araber aus Europa zu verjagen.
Während nun die Verhältniffe längs der Pyrenäengränze ſich
auf die befchriebene Weife geftalteten, brach unter dem fpanifchen,
den Arabern dienftbaren Elerus, ein theologifcher Streit aus, welcher.
dem Franfenfönig eine erwünfchte Gelegenheit bot, fich durch friedz,
liche Künfte mitten im ©ebiete feiner faracenifchen Gegner einen
mächtigen Anhang zu verichaffen. Faſt feit dem Anfange des
Kampfes gegen die Arianer wurde yon einzelnen Iateinifhen
Bätern die Behauptung aufgeftellt, daß Jeſus Chriftus von Seiten
feiner himmlischen Natur. zwar eines Wefens mit dem Höchften
und deſſen vollfommener Sohn, aber dem Fleifche nad nur
ein an Kindesftatt angenommener, oder aboptirter Sohn des Vaters
fey. Schon in einer Schrift des Bischofs Hilarius von Poitiers
(360) findet ?) fich der Ausdrud: „Chriftus hat die Niedrigfeit des
Sleifches durch Adoption befeffen.“ Um biefelbe Zeit fchreibt
der Afrifaner Fabius Marius Viktorinus, der feit 350 ale.
Lehrer der Beredtfamfeit in Nom lebte, in feinem erften Buche ?)
gegen Artus: „Ehriftus ift vermöge einer gewiffen Adoption Sohn
Gottes, aber nur dem Fleifhe nah.“ Großen Beifall fand diefe.
Anficht im weſtgothiſchen Spanien, wo fi) beinahe der ganze Clerus
zu ihr befannte. In einem der Briefe, *) welche der Metrovpolit
Elipandus von Toledo fammt feiner Parthei an die franfifche Kirche
erließ, behauptet er: feine Vorgänger auf dem Stuhle von Toledo
Eugenius, Jldephonfus, Julianus hätten nicht nur flets gelehrt, daß
Chriſtus dem Fleifhe nach ein Adoptiv: Sohn Gottes fey, fondern
auch dieſen Artifel in die fyanifche Liturgie aufgenommen. Zum
Beweiſe führt er eine Neihe ganz ungweideutiger Stellen an, welche
n Opp. I., 6 Mitte. — 2) De trinitate II., 27, opp. edit. Maurin.
©. 802 Mitte, carnis humilitas adoptatur. — 3) Abgedruckt biblioth. Patr,
maxim. Lugdun. IV., ©. 256. — *) Abgevrudt in Froben's Ausgabe der.
Werke Alkuin's IL, 569 a. unten,
Die fräntifge Kirche vom Anfange des fiebenten Jahrhunderts sc. 641
ſich wirklich noch heute in den Ausgaben des missale gothieum
finden. Man fann daher nicht zweifeln, daß die aboptianifche Mei:
nung während des fiebenten Jahrhunderts ſehr viele Anhänger in
Spanien zählte. Gleichwohl ſcheint fie Damals auch Gegner gehabt
zu haben; denn in dem Glaubensbekenntniſſe, das die eilfte Synode
zu Toledo (675) unter dem Metropoliten Quirikus ihren Befchlüffen
voranſchickte, heißt es !) unter Anderem: „Chriſtus ift von Natur
und nicht durch Adoption Sohn Gottes,“ welche Beftimmung
gegen die Parthei der Adoptianer gerichtet feyn dürfte,
Nach Eroberung der Halbinfel dur die Saracenen gewann
die adoptianifche Lehre noch allgemeineren Eingang als früher. Zu
den Zeiten Karl's pflichtete faft der ganze hohe Clerus Spaniens, den
Primas von Toledo an der Spige, derfelben bei. Aber jest ent:
jtand der oben erwähnte Streit, in Folge deffen die Adoptianer aufs
Genauefte ihr Dogma entwidelten. Wir müfjen zunächſt das legtere
in’d Auge faffen. Im dem Artifel der Dreifaltigkeit ſtimmten die
Adoptianer vollfommen mit den rechtgläubigen Katholifen überein;
fie unterfchieden fi) von denfelben nur in der Lehre von den beiden
Naturen des Erlöſers. Chriftus, fagten fie, ift eine Verfon aus
der hochheiligen Dreieinigfeit, Er ift Fraft ewiger Zeugung Sohn
Gottes, wahrer Gott und Eines Wefens mit dem Vater; zugleich
ift Er wahrer, aus Leib und Seele beftehender, Menſch, geboren aus
Maria der Jungfrau. Zwei Naturen find daher in Ihm: eine gött-
liche, fraft welcher Er dem Vater, und eine menfchliche, Fraft welcher
Er ung Andern — jedoch mit Ausnahme der Sünde — gleich ift.
Beide Naturen find zwar wefentlich verfchieden, aber durch die per
fünlihe Bereinigung dergeftalt mit einander verfchlungen, daß es
nur einen Chriftum, einen Sohn Gottes, nicht zwei Herrn, zwei
Söhne gibt. Gleichwohl hebt die Vereinigung beider Naturen zu
einer Perfon ihre Berfchiedenheit nicht auf, man muß fi wohl
hüten, beide zu vermengen. Hieraus folgt, daß diefelben Eigen:
fchaften zwar von der einen wie von ber andern Natur, von Chriftus
als Gott, und von Chriftus als Menſchen, ausgefagt werden fünnen,
aber diefelben fommen jeder Natur auf eigenthümliche Weife zu.
Chriſtus ift fowohl der Gottheit als der Menfchheit nah Sohn des
Allmächtigen, aber Er ift Beides in verfchiedenem Sinne. Als Logos
1) Manfi XI, 133 Mitte.
Gfrörer, Kircheng. II. 41
BR in II. Buch. Kapitel 9,
oder Gott ift Er Sohn nicht durch Gnade, fondern durch ewige
Zeugung aus dem Vater; als Menſch ift Er Gottesfohn nur durch
Gnade und Annahme an Kindesftatt (adoptione). Die Schrift
nennt den Menfchen Chriftus einen Sohn David’s; wäre Er auch
als Menſch auf gleiche Weife Gottes Sohn, wie als Logos, fo würde
ein und derſelbe zwei Väter haben, was wiberfinnig if. Wir
finden, daß die Bibel von Menfchen redet, die der Ewige zu Kin:
bern angenommen habe. Seiner menfchlichen Natur nach gilt dieß
auch von Chriftus, was die Schrift aufs Deutlichfte Dadurch anzeigt,
daß fie Chriftum der Gottheit nach den eingebornen (wovoyerng), der
Menschheit nach dagegen den erfigebornen (nowroroxog) Sohn des
Baters nennt. Gleicherweife nennt fie den Menſchen Chriſtus
einen Bruder der Kinder Gottes. Die Kindfchaft Gottes wird den
Brüdern Chrifti durch die Taufe zu Theil. Auch Hierin ift Chriftus
den Menfchen gleich. Seiner Menfchheit nah ward Er zum Kinde
Gottes angenommen in dem Augenblide, da während feiner Taufe
die Stimme erfcholl: „das ift mein lieber Sohn, an dem ih Wohl⸗
gefallen habe.“ Noch weiter giengen die Adoptianer mit der Sprache
heraus, indem fie den Ausdrud gebrauchten: Chriftus fey in Bezug
auf feine menschliche Natur nur dem Namen nad) Gott (Deus nun-
cupativus) und gleich) ung ein Knecht des Ewigen. Die Bibel,
fagten fie, lehrt ung, daß alle Menfchen, ehe fie dur die Gnade
mittelft der Taufe zur Kindfchaft angenommen werden, von Natur
Knechte find. War Chriſtus wahrer Menſch, fo mußte er uns auch
in Bezug auf natürliche Knechtſchaft gleichen. Wirklich Tehrt dieß
die heilige Schrift aufs Beftimmtefte, denn Paulus fagt (Phil
lip. 1, 7.), „Chriſtus habe Knechtsgeftalt angenommen, gleich ung.“
Als Knecht und Menfch war endlih der Erlöfer allen Schwächen
und Schranfen der Menfchennatur — mit alleiniger Ausnahme der
Siündhaftigfeit — unterworfen. Denn wir leſen ja in den Evan-
Helien, daß Jeſus während feines Wandels auf Erden Schmerzen,
felbft den Tod erduldet und auch Mandes, als z. B. den Tag
des Gerichts, und den Drt, wo Lazarus begraben Tag, nicht ge:
wußt bat. ')
1) Der Lehrbegriff der Adoptianer ift Hauptfächlich niedergelegt in den
beiden Briefen, welche die fpanifchen Bifchöfe an Karl'n den Großen und an
die Kirchen von Aquitanien, Gallien und Auftrien erließen; abgedruckt bei
Die fränkifche Kirche vom Anfange des fiebenten Jahrhunderts ıc. 643
Der Adoptianismus ift, wie man fieht, ein Verſuch, und zwar
ein ſehr fharfjinniger, etlihe Hauptpunfte der rechtgläubigen Lehre
von ber heil. Dreieinigfeit und dem Wefen Chriſti begreifticher zu
machen. und wider die Einwürfe gewiſſer Gegner zu vertheidigen.
Kein Sag der driftlichen Dogmatik erfcheint Ungläubigen, wie Ma—
homedanern und Heiden, oder auch folhen Bekennern Jeſu, welche
fich herausnehmen, den gefunden Menfchenverftand als Maapftab an
jegliches Ding zu legen, härter und unmöglicher, als die Behaup:
tung, daß jene weltgefchichtliche Perfon, welche zu den Zeiten des
Kaifers Auguftus in Teibhaftiger Geftalt eines Juden
heranwuchs, welche fodann allen Jammer, beffen der Menfch fähig
ift, ertrug, und zulest durch die Pharifäer und Leviten ſchmählig
mißhandelt, gegeißelt, an’s Kreuz gefhlagen, und wie ein Miffe:
thäter hingerichtet worben ift, eines Wefens mit dem Allmächtigen,
dem Schöpfer des Himmels und der Erde feyn folle. Einen guten
Theil folcher Linbegreiflichfeit und Härte räumt nun der Adoptianig-
mus weg, indem er fehr fcharf zwifchen dem Menfchen und dem Gott
Chriſtus unterfcheidet, und ung belehrt, daß jener Dulder in Judäa,
ber von den Juden mißhandelt ward, feiner leiblichen Erſcheinung
nad feineswegs Gott, fondern nur ein Knecht des Herrn gleich
und, oder mit andern Worten ein hochbegünftigtes und erwähltes
Werkzeug des Allmächtigen gewefen ſey. Nun wird auch auf eins
mal far, warum der Adoptianiſche Lehrbegriff zuerft von folchen
Lehrern, die gegen Arianer fihrieben, aufgeftelft worden ift, und
zweitens, warum er gerade unter den Katholifen des Landes, wo
bie Arianer am längften die Oberhand behielten, nemlic Spaniens,
den größten Beifall fand? Die Arianer vertheidigten bekanntlich die
Rechte des gefunden Menfchenverftands in Glaubensfahen; fie
hoben namentlih alle ſchwachen Punkte, die ihnen in der Fatholi-
Ihen Lehre von der Einheit des Sohns mit dem Bater zu liegen
Ihienen, fehr ſtark und voll Schadenfreude hervor. Um nun den
boshaften Einwürfen diefer mächtigen Widerfacher den Stachel zu
nehmen, fahen ſich die Rechtgläubigen genöthigt, ihren Lehrbegriff
nah Kräften den Gefegen ber gemeinen Vernunft anzunähern.
Sroben Opp. Alcuini II, 567 flg., dann in den Streitfchriften der Gegenpar:
thei. Genau entwidelt, unter fleter Beziehung auf die Beweisftellen,, findet
man ihn bei Walch Hiftorie ver Ketzereien IX., ©. 856 flg., worauf wir
verweifen.
41*
644 X I Buch. Kapitel 9.
Der Arianismus ward zwar 589 befiegt und bald nad Anfang bes
fiebenten Jahrhunderts völlig ausgerottet, aber die Milderungen
vechtgläubiger Härte, welche die Katpolifen, um der nunmehr überwun—
denen Gegner willen, einmal zugeftanden hatten, Dauerten fort. Nach:
dem feit 710 durch die Saracenen das weftgotbifche Reich geftürzt
und der fpanifche Clerus in die Dienftbarfeit des Kalifen und feiner
Statthalter gerathen war, erhielten die vechtgläubigen Kirchenlehrer
Spaniens einen neuen, dem vorigen nicht unähnlichen, Anlaß, den
Adoptianismus, ber jet auch bereits das foftbare Necht der Gewohn—
heit für fich hatte, zu wahren. Se genauer nemlich die Bekenner
Mahomet's und des alleinigen Gottes mit den Chriften befannt
wurden, befto unerträglicher fanden fie die Lehre der Lebtern von
der Göttlichfeit Jefu. Ihre Abneigung gegen einen Glaubensartifel,
ber ihnen als Gottesläfterung erjchien, führte manchmal in den
hriftlihen Ländern, welde fie erobert hatten, zu ſchlimmen Auftrit:
ten. Wir wollen ein Beifpiel erzählen. Um 688 ließ Abdel-Azizt,
Statthalter des Kalifen über Aegypten, ſämmtliche Kreuze der
Shriften wegnehmen und über die Kirchenthüren folgende Auffchrift
fegen: ) Mahomet ift der große Gefandte Gottes,
Chriſtus ift der Gefandte Gottes, Allah zeugt
nicht und wird nicht gezeugt. Man fann fi den
fen, daß es auch in Spanien zu allerlei Erörterungen über Glau—
bensfachen zwifchen ſaraceniſchen Imam und criftlichen Clerikern
fam. Sin folden Fällen durften die Chriften arabiſchen Zweifeln oder
Streitgründen nicht, wie es fonft wohl gefchah, bloße Machtfprüce
oder Verwünſchungen entgegenfegen, — denn die Sararenen
waren Herren im Lande — fondern fie mußten ihre Gegner
ruhig anhören und zu widerlegen fuchen. Nun gab es faum eine.
beffere Waffe, den mohamebanifhen Einwurf: wie denn ber yon
den Juden verworfene, mißhandelte, gefreuzigte Sohn Mariens
eines Wefens mit dem Allmächtigen, dem Weltfchöpfer feyn könne,
zurückzuweiſen, als wenn man ben Zweiflern oder Spöttern jene
feinen adoptianifchen Unterfcheidungen zwifchen der menſchlichen und
göttlichen Natur des Erlöfers, zwifchen dem Logos oder dem Worte
Shriftus, und dem Knechte Gottes Jeſus entgegenhielt. Kurz wir
) Man ſehe Nenaudot historia Patriarcharum alexandrinorum. ©. 178
unten flg.
—
*
x
ul. EDER ni
Y
A 4 Hann Zt ae 3 u re ie Da
IE PETER
a u Üb lı un Au a a Ft
Die fränkifche Kirche vom Anfange des fiebenten Jahrhunderts ıc. 645
find lebhaft überzeugt, ‚daß die arabifche Herrfchaft nicht wenig dazu
beigetragen hat, den fpanifchen Elerus in feiner Anhänglichfeit an
ben ſchon von den Vätern überlieferten Adoptianiemug zu befeftigen,
und ich fehe mit Vergnügen, daß der ältefte Herausgeber fpanifcher
Soneilien, Garcias Loyafa Giron etwas Aehnliches andeutet, indem
er in feiner Abhandlung über den Rang des Stuhles von Toledo
fagt: 5) „Elipandus fey, weil er haufig mit den Saracenen
umgieng, auf die adoptianifche Ketzerei verfallen.“
Der Adoptianismus hatte demnach befonders für Spas
nien feine fehr ftarfe Seite, aber auch eine ſchwache, fofern er
am Ende nichts Anderes ift, als eine neue, im abendländifchen Geifte
durchgeführte Form des Neftsrianifchen Lehrbegriffes. Hartnädige An:
hänger der Nechtgläubigfeit befümmern fih, wie man weiß, nicht
das Geringfte um die Rechte des gefunden Menfchenverftandes; im
Gegentheil halten fie es für einen Greuel, der Vernunft zu lieb
das Dogma abzuändern. Man fan. fih daher nicht wundern,
wenn ein Streit zwiſchen Anhängern und Gegnern des Adoptianig:
mus ausbrach. Es ift jest Zeit, daß wir bie Verfonen der Käm—
pfer in's Auge faffen. Für den Adoptianismus fanden der Erz
bifchof Elipyandus von Toledo, ein um 720 geborner Gothe, und
bei Weitem der größte Theil des hohen fpanifchen Clerus derjenigen
Provinzen, die dem faracenifchen Könige von Cordova gehorchten.
Zu derſelben Parthei gehörte auch der Bischof Felir von Urael,
welche Stadt damals, wie wir oben fagten, zum Aquitanifchen
Reihe gehörte und folglih dem Franfenfönige Karl
unterthänig war. Gegen den Adoptianismus kämpften Beatus,
Presbyter eines fonft unbekannten afturifchen Orts Libana, deſſen
Schüler der Biſchof Netherius von Dima in derfelben Provinz,
und Theudula, wahrfcheinlih Biſchof von Sevilla. ?) Bon den
fonftigen Berhältniffen der Einen wie der Andern ift wenig befannt.
Beatus war fhon vor Ausbruch des Streits als Schriftftelfer auf
getreten, indem er eine Erklärung der Apokalypſe verfaßte, auf
welche ſich allem Anschein nach der Vorwurf feiner Gegner bezieht, ?)
daß er durch falfche Prophezeihungen des jüngften Tags die ihm
i) Bei Manft Concil. X., 520 unten. — 2) Ueber Theudula vergleiche
man die. Bemerfungen des Majanſius in Froben's Ausgabe der Werfe Al:
kuin's II, 591 a. — 3) Zu dem Briefe der fpanifchen Bifchöfe an die galli-
ſchen ibid. II, 573 a. oben.
646 II. Bud. Kapitel 9.
untergebene Gemeinde faft um den Verftand gebracht habe. Außer-
dem beichuldigt ihn die Gegenyarthei wiederhohlter Hurerei. )
Mitder fommt Aetherius weg. Kliyandus ertheilt ihm fogar einige
Lobfprüche und ſchreibt die Fegerifchen Meinungen des noch jungen
Mannes der Berführung feines Lehrers Beatus zu. Die Häupter
der Adoptianer dagegen, Elipandus und Felix von Urgel, hatten
einen ganz unbefcholtenen Leumund, den auch ihre Gegner nicht
anzutaften wagten. Aus welcher Beranlaffung der Streit zum Aug:
bruche Fam, ift gleichfalls dunkel; nur dieß wiffen wir gewiß, daß
derfelbe furz vor 785 begann. Um dieſe Zeit müffen Beatus und
Aetherius mündlich oder fhriftlih den Erzbifchof von Toledo als
Befenner der aboptianifchen Lehre angegriffen haben. Hierauf fchrieb
Elipandus einen größtentheils noch vorhandenen Brief?) an den Abt
Fidelis in Afturien, wo auch Beatus lebte. „Wer nicht befennet,“
beißt es hier, „daß Zeus Chriftus zwar nicht feiner göttlichen, wohl
aber feiner menſchlichen Natur nach, ein angenommener Sohn Gottes
fey, der. ift ein Keger und verdient den Bann. — Schaffe daher
das Uebel aus dem Lande. Sie (Beatus und Aetherius) befragten
mich nicht, fondern wollen mich belehren, weil fie Knechte des
Antihrifts find. — Hätten Sie die Wahrheit gefagt, fo würde ich
Ihnen gefolgt ſeyn, nach der Schrift. Sp ift es aber unerhört,
daß Leute von Libana (Libanenses) die yon Toledo belehren wollen.
Ale Welt weiß, welchen Ruhm der Rechtgläubigfeit unfer Stuhl
feit feiner Gründung befist, und daß niemals etwas Keberifches
von ihm ausgegangen if. Dennod; will fich ein einziges räudiges
Schaaf zu unferem Lehrer aufwerfen. Ich habe bis jest Die Sache
unfern Brüdern (der Synode fpanifcher Bifchöfe) noch nicht vorge:
tragen, weil ich hoffte, das Uebel werde an dem Orte, wo es ent-
ftanden, auggerottet werden. — Allein geht es zu langfam, fo muß
ih den Brüdern Anzeige machen, und ed wird dann eine große
Schande für Euch feyn, wenn (die Synode) Euch beftraft. Du
lieber Bruder belehre unfern Bruder Aetherius, der noch als Füng-
ling Mitchipeife bedarf und noch nicht zur gehörigen Stärfe ber
Erfenntniß gelangt ift, weil er mit Fegerifchen Menfchen, wie Beatug,
Umgang pflegt. — Noch einmal bitte ih Euch, dag Ihr voll
') Im Briefe ebenderfelben an Karl'n ibid. IL, 567 b. unten und 568
oben, — ?) Abgedrudt ibid. II, 587.
Die fränfifche Kirche vom Anfange des fiebenten Jahrhunderts ıc. 647
ächten Glaubenseifers Euch anftrenget, den Irrthum aus Eurem
Lande — Afturien — zu entfernen.“ — Das Selbfigefühl des Erz:
bifchofs von Toledo war, wie man ſieht, aufs Tieffte empört, daß
der Presbyter eines Tleinen Orts es gewagt hatte, feine Necht-
gläubigfeit anzugreifen, ev machte aber vorerft noch einen Verſuch,
den Gegner durch Vermittlung des Abts Fidelis, der wohl Vor:
gefeter des Beatus war, zum Widerrufe zu beftimmen. Fidelis
theilte das Schreiben des Metropoliten dem Presbyter Beatus mit.
Statt feine Meinung zurüdzunehmen, fchleuderte nun dieſer eine
heftige Streitchrift ) gegen Elipandus, in welcher er die adoptia—
niſche Lehre durch Bibelftellen, Zeugniffe der Väter, und höchſt
fonderbare Schlüffe niederzufehmettern ſuchte. Wir übergehen das
Dogmatifche, Heben dagegen aus der Abhandlung des Beatus eine
Stelle hervor, die großen gefchichtlihen Werth bat: ?) „Sind es
nicht Wölfe, die ung zurufen: glaubet an den angenommenen Sohn
Jeſus Chriftus, und wer nicht fo glaubt, der werde des Landes
verwiefen. Weiter fchrieben fie: der Metropolite, wie der»
Fürft des Landes, weldhe Beide im Bunde mit einander die
fegerifche Lehre, der Eine mit dem Schwerte des Worts, der Andere
mit der Ruthe der Staatsgewalt befirafen wollen, follen aus
gerottet werben. Nicht nur durch ganz Spanien, fondern
auch in dem benachbarten Francien ift es ruchtbar geworden, daß
zwei Fragen bie Kirche Afturiens aufregen. Gleichſam in zwei
Bölfer, in zwei Gemeinden, die aufs Heftigfle miteinander über
die Perfon Chriſti zanfen, Hat fich diefes Land geiheilt. Das gemeine
Bolf, wie die Biſchöfe, fteben fich gegenüber. in Theil der Bi:
fchöfe fagt: Chriftus ift zwar nicht der göttlichen, aber doch feiner
menfchlihen Natur nad ein Adoptivfohn des Höcften. Die An:
dern behaupten: Er ift nach beiden Naturen vollflommener Sohn
Gottes — und zu den Iesteren gehören Wir — Beatus und Netheriug.“
Der Fürft, von dem Beatus hier redet, kann nur der König von
Afturien (Alfonſus I, Nachfolger des Silo, deffen Wittwe Au:
bofinda ?) Beatus zu Anfang feiner Streitfehrift nennt) und der
Metropolit, den er anführt, kann nur der Erzbifchof von Braga,
) Contra Elipandum libri IT. abgedrudt bei Canisius lectiones an-
tiquae ed. Basnage II., 297 fig. — 2) Ibid, ©. 501 Mitte — 5) Ibid.
297, Man vergleiche Aſchbach Gefchichte dev Ommajaden I., 165 flg-
648 IIII. Buch. Kapitel 9.
der Metropole des Reiches Afturien, feyn. Seit 745 hatte nemlich
Alfonfus der Erſte, mit dem Beinamen des Katholifchen, Ber:
wandter und Nachfolger des Fürften Pelagius, der, wie wir früher
berichteten, nad) der Eroberung Spaniens durch die Saracenen, in
den nördlichen Gebirgen eine unabhängige Herrichaft zu bewahren
wußte, biefes Fleine chriſtliche Neich durch glückliche Kriege fo aus:
gedehnt, daß der Lauf des Duro feine Südgränge bildete. ) Unter
den von ihm gemachten Croberungen wird namentlich auch bie
Metropole Braga aufgeführt; gleicherweife gehörte zu Afturien Otma,
der Bifchofsfig des Aetherius. Aus der Stelle des Beatus erhellt
alfo Far, daß fowohl der Fürft als der Dberpriefter von Afturien
dem Adoptianismus, der von Toledo auggieng, entgegenarbeiteten,
und daß fie die Bekämpfer des Elipandus unterftüßten. Jetzt wird
auf einmal Har, warum der Primas von Spanien nicht firenger
gegen Beatus und feine Freunde verfuhr; er traute fich felbft nicht
Einfluß genug zu, um Männer zur Strafe zu ziehen, die unter
dem Schutze des Landesfütften flanden. Gleichwohl muß der Stuhl
von Toledo wenigftens noch eine gewiffe Gewalt über die Kirche
Afturiens bejeffen haben, denn fonft fonnte Elipandus in dem eben
angeführten Briefe an den Abt Fidelis nicht mit Einfchreiten der
Synode auf den Fall.droben, daß Beatus und feine Freunde bei
ihrer Meinung beharren würden. Zur Zeit der faracenifchen Erobe-
rung übte der Erzbifchof von Toledo, wie früher gezeigt wurde,
Metropolitanrechte über die ganze fpanifche Kirhe aus, Das gleiche
Verhältniß beftand auch nachher fort, und fo geihah es, daß bie
Stühle des neu ſich bildenden chriftlichen Reichs von der Metropole
zu Toledo, welche unter dem Scepter der Saracenen fand, abhängig
blieben. Unmöglich konnte dieß den Afturifchen Fürften angenehm
feyn, daher ift es begreiflich, daß fie mit Freuden jede Gelegenheit
benüsten, um ihre Landeskirche von Toledo frei zu machen. Und
hiezu fam ihnen der Streit gegen Elipandug wie gerufen. Die Sache
ſtellt fich jet fo heraus: fchon bei feinem erften Ausbruch in Spanien
hatte der Adoptianifche Zanf eine politifche Unterlage. Einige
unzufriedene afturifche Geiftliche erhoben gegen den Primas der
ganzen Halbinfel, Elipandus, die Anflage der Irrlehre, weil fie
wußten, daß fie Schug bei dem Könige Afturiens finden würden,
1) Die Beweife bei Aſchbach a. a. O. I, 155 u. 156.
|
Die fränkiſche Kirche vom Anfange des fiebenten Jahrhunderts ꝛc. 649
ber feine Landesfirche von dem Verband mit dem Stuhle zu Toledo,
unter dem Borwande, daß berfelbe Fegeriihe Meinungen hege, los—
zureißen gedachte. Der Erfolg zeigte, daß Beatus richtig gerechnet
hatte. Nicht blog der König, auch der Erzbifchof von Braga, als
Metropolit des neuen Reiches, erklärte fich für ihn. Gleichwohl
gelang ber Plan nicht vollfommen, aus Gründen, welche Durch die
Geſchichte Afturiens aufgeklärt werden. Nach dem im Jahre 784
erfolgten Tode des Königs Silo, der eigentlich blos als Vormün—⸗
ber des damals zwölfiährigen Prinzen Alfonfus I. regiert hatte,
brach ein Zwieſpalt im afturiihen Reiche aus. Ein Kleiner Theil
erfannte Alfonfus an, die Mehrzahl erhob einen Großen, Maus:
regat auf den Thron, ber, um feine Gewalt zu befeftigen, ein
Bündniß mit den Saracenen abjchloß. I) Seitdem herrfchte in der
afturifhen Kirche, wie im Staate, die heftigfte Partheiung, welche
auf die oben angeführte Stelle aus dem Buche des Beatus helles
Licht wirft. Diejenigen afturifchen Bifchöfe, welche zur Parthei des
Mauregat hielten, ſchworen zum Dogma des Elipandus, des Schüß-
lings der Saracenen. Sie waren es auch, welche fihrieen: aus-
gerottet werde der König (Alfonfus) und fein Metropolit. Die
Anhänger des Alfonfus dagegen verfluchten die Adoptianer als
Keger und ſtimmten mit Beatus überein.
Wir erfahren nicht, wie Elipandus die Schrift feines Gegners
aufnahm, hingegen ift gewiß, daß fofort der Stuhl Petri, ohne
Zweifel auf Antrieb der afturifhen Feinde des Elipan—
dus, gegen den Erzbifchof von Toledo fein Wort einfeste. Im
Jahre 785 oder im nächftfolgenden erließ Hadrian I. ein an fämmt:
lihe Biſchöfe Spaniens gerichtetes Schreiben, in welchem er neben
andern Kesereien auch die adoptianifche Lehre ?) angriff: „ferner
ift aus Euren Gegenden die traurige Nachricht ung zugefommen,
daß einige Bifchöfe, nemlich Eliyandus und Asfarifus, 3) fammt
einigen andern Gleichgefinnten nicht erröthen,, Chriftum einen ange:
nommenen Sohn Gottes zu nennen, da doch noch Fein Ketzer eine
ſolche Irrlehre ausgeftoßen hat, als der einzige Neftorius, ber ben
NAſchbach a. a. O. 1, ©. 165. — 2) Cod. Carolinus ed. Cenni epist.
82, J., 445 unten fla. — 3) Diefer Bifchof wird au in dem Briefe des
Elipandus an ven Abt Fivelis genannt. Sonft weiß man nichts von ihm,
als daß er ein Adoptianer war.
650 II. Buch. Kapitel 9.
Sohn Gottes für einen bloßen Menfchen ausgab. Ich bitte Euch,
Yaffet Euch durch das Gift diefer Schlange nicht anſtecken.“ Die
unzweibeutige Erklärung des Pabſts war ein ſchwerer Schlag für
die Parthei des Elipandus.
So ſtanden die Sachen, als der Frankenkönig Karl für gut
fand, ſich in den adoptianiſchen Streit einzumiſchen. Warum er
dieß that, läßt ſich leicht ermitteln. Erinnern wir uns vorerſt, daß
laut dem Bekenntniſſe, welches der Franke in den karoliniſchen
Büchern ablegt, es die erſte Pflicht der Könige, beſonders aber des
Kaiſers iſt, den wahren Glauben zu vertheidigen und Ketzereien
auszurotten. Indem er nun ſich anſchickte, die adoptianiſche Lehre in
einem Land, das ihn gar nichts angieng, nemlich im ſaraceniſchen Spa⸗
nien zu verfolgen, konnte er dadurch zugleich feinen eines Kaifers
würdigen Eifer für die Sache Chrifti vor der Welt bethätigen, aber
auch, was nicht weniger erfpriestich, feine politifche Macht erweitern.
Denn mit Necht durfte er erwarten, daß von Nun an bie fpani=
fchen Gegner des Elipandus den großen König, der ihrer Sache
fo wichtigen Borfchub that, in den Himmel erheben und feine Ab:
fichten freudig unterftügen werden. An einem paffenden Anlaß, in
den Streit einzugreifen, fehlte es ihm auch nicht. Denn war nicht
der Bischof Felir von Urgel, der Freund und Mitfämpfer des Eli:
pandus, Karl’s Unterthan, und ftand es folglich nicht in des Königs
Macht, durch verfihiedene Mittel entweder den Mann zu Abſchwö—
rung der aboptianifchen Irrthümer zu vermögen, oder aber, wenn
Felix feft blieb, eine Synode fränfischer Bifchöfe ——
und den Widerſpenſtigen als Ketzer verfluchen zu laſſen? In beiden
Fällen fiel die Schande der Verdammung, welche die fränkiſche Kirche
wider Felix ausgeſprochen, nothwendig auch auf Elipandus zurück,
und für dieſen begann dann eine Reihe Verlegenheiten, die notbs
wendig Karls Planen förderlich waren. Denn entweder mußte
fofort Elipandus die Gnade des Königs zu erringen fuchen und
folglich die Bedingungen annehmen, die ihm der Franfe vorfchrieb,
oder gewärtig feyn, daß geheime Gegner im eigenen Lande, deren ein
Primas immer zählt, wie etwa der obenerwähnte Erzbiichof Theubula
von Hifpalis, — bekanntlich herrfchte eine alte Eiferfucht zwifchen
den Stühlen von Toledo und Sevilla — fih gegen ihn unter
dem Borwande der Keberei erheben werden. Sedenfalls erhielt alſo
Karl Gelegenheit, eine Parthei unter dem fpanifchen Clerus zu werben.
;
’
|
#
E
a
a ik
Te —
u ai R 4
*
er & ÿ
—6[—
Die fränfifche Kirche vom Anfange des fiebenten Jahrhunderts ꝛc. 651
Man muß daher befennen, daß feine Einmifchung in die Adoptiani-
chen Händel fehr Hug berechnet war.
" Schon im Jahre 790 hatte Karl feinen Entſchluß in diefer
Beziehung gefaßt, denn die Farolinifchen Bücher, die, wie wir oben
zeigten, 790 beendigt wurden, brechen ja bereits gegen bie Irrlehre
der Adoptianer log. Indeß gefchah im angegebenen Fahre, fo wie
auch im folgenden noch nichts, allem Anfchein nach weil Alfuin, deffen
fih Karl für alle theologifche Staatsgefchäfte, als feines Werkzeugs,
bediente, und der wirklich fpäter im adoptianifchen Streite das große
Wort geführt hat, damals die englifche Gefandtfchaft beforgte.
Kaum aus Britannien zurüdgefommen, vielleicht auch noch vor ber
Abreife dahin, fchrieb Alkuin an Felir von Urgel einen Brief, ')
der — wer follte es glauben — bie feurigften DVBerficherungen der
Freundfchaft und der Achtung enthält: „Zwar kenne ich Dich nicht
von Angefiht, wohl aber haben mir einige Brüder Deine From:
migfeit gerühmt Im Bertrauen der Liebe, welche Chriftus iſt,
wage ich es daher mich Deinen und der Deinigen Gebeten zu
empfehlen, nicht weil mein Verdienſt mir dazu den Muth giebt,
fondern weil Dein herrlicher Ruf mich dazu beftimmte. Sch flehe
Did daher Fniefällig an, Du möchteft mich unferem Erlöfer mit
derjenigen Liebe empfehlen, durch welche er alle die Seinigen ver:
"bunden bat. Denn bie Liebe verachtet Niemand.“ In diefem Tone
geht es fort. Wenn man nun bedenft, daß derfelbe Bilchof Felix,
an den der Brief gerichtet ift, im Jahr 792 auf Karls Befehl
verhaftet und vor ein geiftliches Gericht geftellt wurde, fo fheint
nur die einzige Erklärung des angeführten Schreibendg möglich,
Alkuin Habe dadurd den Dann fiher machen und einfullen wollen.
Wahrſcheinlich war ſchon etwas yon Karl’s Planen gegen die Adop-
tianer ruchtbar geworden, und Alfuin mochte fammt feinem Gebieter
fürchten, daß Felix fih durch die Flucht der nahenden Verfolgung
entziehen fünnte, was den befchloffenen dogmatifchen Feldzug vereitelt
hätte. Dem fey, wie ihm wolle, fo berichten ung die fränkischen
Jahrbücher einftimmig, Felix fey im Sommer 792 von Urgel nad
Regensburg, wo fih damals Karl befand, abgeführt, und von einer
Synode, die dort zufammentrat, der Keberei ſchuldig erflärt wor:
den. ?) Felix mußte einen Eid Yeiften, daß er für immer dem von
) Epistol, Aleuini IV,, opp. I., 7 unten. — 2) Einhardi annales ad
652 | IM. Bud: Kapitel 9.
ihm erfannten aboptianifchen Irrthum abfage Bon Regensburg
ſchickte ihn Karl unter Obhut feines Erzfapellans Angilbert nad
Nom, um auch vom Pabſte verdammt zu werden. Man fieht
hieraus, wie viel dem Könige daran lag, die Berurtheilung des
Adoptianers mit möglichft viel Lärm zu betreiben. Pabſt Hadrian I.
warf Felir ins Gefängnig und zwang den Spanier noch einmal,
feine Lehre abzuſchwören. Aber nach kurzer Haft entwifchte Felix
aus Rom und floh nun zu feinen Brüdern im faracenifchen Spas
nien, ) wo er vor Karls Rache gelihert war. Aus den That:
fachen, die fpäter angeführt werden follen, ſcheint ung zu erhellen,
daß der Frankenkönig die Anficht hegte, der Pabft habe feinen Ge:
fangenen abfichtlich nicht ftreng genug bewacht. Fest griff Alfuin
verfönlich in den Streit ein, indem er ein Schreiben an Felir
erließ, 2) worin er denfelben aufforderte, von feiner Keterei abzu-
laffen: „Wage nicht,“ ruft er ihm zu, „vergeblich zu flreiten. Hell
Yeuchtet auf dem ganzen Erdenrunde die Lehre des Evangeliums.
Diefe laß ung fefthalten und treu verfündigen. Was fünnen wir
Menfchlein, unter denen fehon die Liebe fo vielfach zu erfalten be:
ginnt, Befferes thun, als daß wir der Lehre des Evangeliums und
der Apoftel von Herzensgrunde folgen, ohne neue Namen aufzu=
bringen , ohne Ungewöhnliches zu erfinden, ohne durch Neuerungen
eigener Eitelfeit zu froöhnen, damit nicht Tadel an uns erfunden
werde, während wir Lob zu verdienen wähnen.“ Nebenbei hält
Alfuin für gut, einige Bemerkungen einzuftreuen, wodurch erklärt
werden fol, warum das vorliegende Schreiben fo verfchieden von
dem älteren fey, das wir oben erwähnten. „Früher habe ich mich,“
fagt er, „Deinen Gebeten empfohlen, weil ic Did) um Deines
Nufes willen liebte, jet wage ich es in der Liebe des Herrn und
im Frieden der Fatholifchen Kirche Dich noch brünftiger zu umfaffen,
indem ich für Dein ewiges Seelenheil forge, das Niemand ohne
Uebereinftimmung mit der allgemeinen Kirche zu erringen vermag.“
Obgleich der Brief mit frommen und milden Redensarten reichlich
durchwürzt ift, nimmt doch im Ganzen ber fränfifche Levite oder
annum 792, Perz I., 179. Poeta Saxo ibid. I., 249 und Andere. Daffelbe
fagt auch Alfuin im erften Buche gegen Elipantus opp. I, 882 Mitte. —
ı) Dich bezeugt nicht bios Alkuin a. a. DO. ©. 882, fondern auch Pabft
Leo II. in den Akten einer zu Nom 799 gehaltenen Synode, Manſi XIIL,
1031 unten. — 2) Opp. L, b. ©. 783 flg.
a0) 74 A ah 4) Du 2 0 Ku nel
Die fränkiſche Kirche vom Anfange des fiebenten Jahrhunderts ac. 653
Diafon einen hohen Ton gegen den Spanischen Bifhof an.
Aber nun begannen auch die Freunde bes Felix, der Erzbifchof
Eliyandus yon Toledo und feine Genoffen, die Hände zu Gunften
des Flüchtlings zu rühren. Im Jahr 793 geſchah es nemlich, daß fie
die oben mehrfach angeführten !) zwei Denkſchriften an Karl'n und die
Bischöfe des fränkischen Reichs abſchickten. In der zweiten entwideln
‚und rechtfertigen fie ihre Lehre vom Sohn und fuchen die Behaup:
tungen des Beatus zu widerlegen; am Schluffe bitten fie ihre frän:
fiihen Brüder die obſchwebende Streitfrage genau unterfuchen: zu
wollen, und verfprechen, ihre Entfcheidung mit Bereitwilligfeit ans
zuhören. Aehnlichen Inhalts, aber noch merkwürdiger ift das Schreiben
an Karl, Auch hier tragen fie auf Unterfuhung durch eine fränfifche
Synode an, und fügen noch die dreifache Bitte bei, Karl möge
Felix in fein voriges Amt wieder einfegen, die fegeriiche Lehre des
Beatus in feinen Staaten verbieten, und drittens Borfehrung tref—
fen, daß die weitere Verbreitung dieſer Irrthümer auch in den
Theilen von Spanien, weldhe den Sararenen nicht unterworfen
feyen (d. h. in Afturien), verhindert werde. Karl hatte vorerft einen
Hauptzwer erreicht: die Biſchöfe des faracenifchen Spaniens lagen
zu feinen Füßen, fie erkannten ihn als ihren Richter an, und for:
berten feine Bermittlung heraus! Karl ermangelte nicht, die beans
tragie Unterfuchung anzuordnen. Vorher aber that er einen andern
Schritt, der einiger Erläuterung bedarf. Bis dahin war Die adop=
tianifche Lehre ſchon zweimal durch Erlaſſe des Stuhls Petri vers
worfen worden: zuerſt durch den Brief, welchen Habdrian I. 785
an die Kirche Spaniens fchrieb, ?) dann durch den Widerruf, ben
derfelbe Pabft im Jahre 792 dem Bifchofe Feliv zu Nom abnö—
thigte. Gleichwohl glaubte Karl den Pabft zu einer dritten Er:
Härung anhalten zu müffen. In einer zu den Berhandlungen des
Frankfurter Concils gehörigen Urkunde, von der tiefer unten bie
Rede ſeyn wird, fagt er felbft: ?) „Drei= bis viermal haben
wir Botfchaften an den Stuhl Petri gefandt, um zu
erfahren, was die römische Kirche von der Neuerung des Elipans
bus denfe.“ Auch die Iebterwähnten beiden Briefe der Spanier
überfchichte der König an den Pabſt; und nun mußte Hadrian fich
) Opp. Alcuini II., 567 fig. — 9 Siehe oben ©. 649. — 3 Manfl
XIII. 901 Mitte,
654 IM. Buch. Kapitel 9.
öffentlich ausfprechen. In einem noch vorhandenen Schreiben, das
an die Biihöfe Gallicieng und Spaniens gerichtet iſt, ) be—
richtet er zuerfl, wie der König Karl ihm von den Kebereien, bie
in Spanien ausgebrochen, Meldung gethan, auch den Brief bes
Eliyandus von Toledo mitgetheilt habe. Die adoptianifche Lehre,
heißt es weiter, zu welcher ſich Elipandus befenne, fey allerdings
ein grober Irrthum, den er fo fort Durch eine weitläufige dogma—
tifche Abhandlung zu widerlegen ſucht. Am Schluffe äußert er den
dringenden Wunſch: Elipandus möge Buße thun, und feine Mei:
nung zurüdnehmen, in welchem Falle er in der Kirchengemeinfchaft
und auch in feinem Amte bleiben dürfe. Sollte er aber diefe Mahnung
verachten, fo fey es feine (des Pabftes) Pflicht, Fraft der ihm von
Eprifto übertragenen Gewalt, den Bann über Elipandus und feine
Genoffen zu verhängen; doch erlaubt Hadrian auch) dann noch den Glän:
bigen für das GSeelenheil und die Belehrung des Erzbifchofs den
Himmel anzuflehen, dieweil Gott nicht wolle, daß irgend Einer zu
Grunde gehe, fondern Jeder das ewige Leben erringe. Abermal
hatte alfo der Pabft die Adoptianer verdammt; und wenn nun
Karl gegen Elipandus feindfelige Maaßregeln ergriff, fonnte er fich
rühmen nur den Spruch des Stuhles Petri zu vollziehen. Allein
aus dem Eifer, mit welchem der Franfenfönig den Pabſt zu fo
oft wiederholten Erflärungen gegen die Adoptianer antrieb, muß
man offenbar den Schluß ziehen, daß die Parthei des Elipandus
das Gerücht ausfprengte, der Stuhl Petri fey ihrer Sache Feines:
wegs abgeneigt, und nur aus Furcht vor fränfiicher Gewalt habe
bisher der Pabft ihren Gegnern, halb gezwungen, Recht geges
ben. Und wirflih war biefe Behauptung, allem Anfchein nad,
feineswegs grundlos. Denn die von Karl felbft berichtete Tpat-
ſache, daß er Hadrian drei= bis viermal bitten und drängen mußte,
beweist Har, wie wenig Luft Hadrian in ſich verfpürte, die fränfi
fhen Plane zu unterftügen und die Freunde des Elipandus zu ver:
derben.. Ebendafür fpricht auch die Milde, mit welcher der Pabft
in dem angeführten Briefe die angefchuldigten Spanier behandelt.
Doch es bedarf in biefer Sade nicht einmal hiftorifcher Beweiſe.
1) Ibid. XIII., 855 fig. gallieiis spaniisque ecelesiis. Unter Galliciern
verfteht der Pabft die chriftlihen Spanier (Afturier), unter Spaniis die dem
Scepter der Mahometaner unterworfenen Stühle.
EZ m, 2
A n
Die fränfifche Kirche vom Anfange des fiebenten Jahrhunderts ꝛc. 655
Bon jelbft verficht es fih, daß ein römiſcher Oberpriefter, wie
Hadrian, fih nicht gutwillig zum Handlanger fremder Eprfucht ber:
geben fonnte. Im Uebrigen erhellt auch noch aus andern Umftäne
ben, bie fofort erwähnt werben follen, daß Karl mit äußerfter _
Sorgfalt den Schein zu entfernen ſuchte, als ob nicht alle geift:
lichen Würdenträger der son ihm beherrſchten, oder mit feinem
Reiche verbundenen Länder über die adoptianiſche Frage einer und
derfelben Meinung feyen. Er ſchenkte folglich jenem Gerücht fehr
große Rüdficht, und beſtätigte dadurch — wider feinen Willen —
die Wahrheit deffelben.
Längft hatte der König, wie wir oben berichteten, die Abhal-
tung einer Synode wegen der Bilderfache bejchloffen. Er brauchte
alfo blos die Unterfuchung des adoptianifchen Streits berfelben
Synode zu übergeben, fo war zugleich dem Antrag des Erzbifchofs
von Toledo Genüge gefchehen und fein eigener Zweck erreicht.
Die glänzende Kirchenverfammlung zu Frankfurt, auf welcher fi
auch viele fränfifhe Große vom Laienftand einfanden, faßte 56
Beſchlüſſe, ) von denen jedoch nur die beiden erjten und der letzte
Angelegenheiten der Kirche betrafen. Der fechsundfünfzigfte befagt:
Alkuin fey den verfammelten Vätern von Karl empfohlen, und auf
fein Fürwort hin von Diefen als glei berechtigtes Mitglied aner:
fannt worden. Der König that dadurch aller Welt fund, daß er
den angelfächfifchen Leviten zu den wichtigften Gefchäften verwende.
Der zweite Canon lautet fo: „Nachdem ung Bericht erftattet worden,
welcher Geftalt die Griechen zu Conftantinopel auf einer Synode
den Fluch über Diejenigen verhängten, welche den Bildern der Heis
ligen nicht diefelbe Verehrung erweifen würden, wie der göttlichen
Dreieinigfeit, fo haben wir einftimmig die Anbetung der Bilder ver
worfen.“ Der erfte Canon ift gegen bie fpanifchen Adoptianer ges
richtet: „Zu Anfang des Reichstags wurde verhandelt über die gott:
lofe und greuliche Keberei des Elipandus von Toledo, des Felir
von Urgel und ihrer Anhänger, welche die Irrlehre aufitellen, daß
ber Sohn Gottes ein an Kindesftatt angenommener fey. Eins
ftimmig haben Wir, die in Frankfurt verfammelten Väter, und bie
gegen ausgefprochen, und folche Kegerei gänzlich von der Kirche auszus
ı) Abgedruckt can. I, und II, bei Manſi XIII., 909 die übrigen bei Ba:
luzius J., 263 flg. {
656 I Buch. Kapitel 9.
rotten befchloffen.“ Eine fo feierlihe VBerdbammung genügte dem
Könige noch nicht; befondere Schriften wurden im Namen des
Concils gegen Elipandus gefehleudert, und zwar nicht eine einzige,
fondern vier nach der Zahl der wichtigften Völker oder Gewalten,
die auf dem Neichstage von Frankfurt vertreten waren. „Wir
haben“ fagt er felbft in dem Briefe ') an Elipandus und bie
Bifchöfe Spaniens, „für gut gefunden, Euch durch vier verfchiedene
Zuſchriften zu eröffnen, was die Väter unferer Synode in eurer
Sache ausgemadt. Die erfle Zufehrift enthält die Anficht des
Apoftolifus und der römischen Kirche; die zweite, was bie Biſchöfe
ber näher gelegenen Provinzen Italiens unter dem Vorſitze des
Metropoliten Petrus von Mailand und Paulinus von Aquifeja
befchloffen haben; in der dritten fprechen die Kirchenhäupter Ger:
manieng, Galliens, Aquitaniens und Britanniens ihre Anficht
aus; in der vierten werdet Ihr finden was ich felbft, im Einklang
mit den Bifchöfen meines Reihe und der Fatholifchen Leberlieferung,
über eure Angelegenheit denfe.“ Karl ift graufam genug, noch den
Sat beizufügen: „in dem Briefe, den Ihr an mich erließet, habt
Ihr gebeten, ich möchte mich nicht Durch die trüglichen Behauptungen
Weniger hinreiſſen laffen, fondern den Glauben bewahren, der durch
bie Zeugniffe Aller oder der Meiften befräftigt wird. Euer Ber:
langen ift, wie ihr. fehen werdet, erfüllt.“ Die vier Zufchriften find
noch vorhanden. As Urkunde, welche die Meinung des Pabftes
ausfpreche, brauchte Karl den oben erwähnten ?) Brief, den Hadrian
por dem Frankfurter Coneil gefchrieben. Die beiden Erklärungen ?)
der langobardifchen und transalpinifchen Bifchöfe, wurden, wie es
fcheint, während der Synode, jene durch Paulinus von Aquileja,
diefe durch einen Unbekannten abgefaßt. Sie enthalten beide eine
dogmatifche Widerlegung der adoptianifchen Lehre. Die vierte
Schrift, *) welche den drei andern als Begleitung diente, trägt den
Namen des Königs an der Stirne. Alle vier wurden fofort an
Elipandus von Toledo und feine Freunde abgeſchickt. Die von
Karl angeordnete Mafregel, daß jede der vier großen Firchlichen
Gewalten feines Reichs für fih die fyanifche Lehre verdame
men mußte, beflätigt unfere oben ausgefprochene Vermuthung.
) Manſi XII, 901 Mitte. — 9 S. 654 oben. — 3) Manfi XIII.,
873 flg. — *) Ibid. ©. 899 fig.
Die fränkiſche Kirche vom Anfange des fiebenten Jahrhunderts ꝛc. 657
Der König kann diefes vorfichtige Mittel nur in der Abſicht
gebraucht haben, um ber Parthei des Elipandus jeglichen Vorwand
zu benehmen, als ob nur Karl felbft und etwa die feiner Herrfchaft
unmittelbar unterworfenen Biſchöfe Germaniens und Gallieng,
nicht aber der Pabſt und die Langobarden, oder die italienifchen
Kirchenhäupter die adoptianiſche Keberei verwärfen. Jeder Theil
mußte für fi) handeln, damit die getrennte Einftimmigfeit Aller der
Welt das Schaufpiel vollfommener Harmonie gewähre.
Sämmtliche geiftlihen Würdenträger der Provinzen, welche
damals die Einheit des karoliniſchen Reiches bildeten, hatten nun:
mehr vereint mit dem Herrfcher ihre Stimmen gegen den Erzbifchof
von Toledo abgegeben. ine furcdtbare Drohung lag in dieſen
gemeinfamen Urkunden, e8 war als würde dem Cliyandus dag
Schredbild der ganzen fränfiihen Macht wie ein Medufenhaupt
entgegengehalten. Karl fand jedoch für gut, zugleich mit dem
Schreden auch Mittel der Lockung auf die Spanier wirken zu
laffen. Aus dem oben angeführten Stellen der Farolinifhen Bücher
geht hervor, daß der König fhon im Jahre 790 die toletanifche
Formel vom Hervorgehen des Geiftes aus Vater und Sohne, welche
bis dahin außer der fpanifchen Feine andere Kirche in ihre öffent:
liche Symbole aufgenommen hatte, im Gegenfas der Griechen für
einen Grundartifel katholiſcher Nechtgläubigfeit erklärte. Ein Jahr
nah Abfaffung jener Bücher (791) hatte ferner, wie früher berich—
tet worden, ') der Erzbifhof Paulinus von Aquileia, einer der ver:
trauteften Schildträger Karl’s, auf der Synode zu Friaul diefelbe
Formel yon den italienischen Biſchöfen billigen und unterschreiben
laſſen; und feit dem Frankfurter Coneil wurde nun eben diefelbe,
laut dem Berichte des Wulafrid Strabus, ?) in fämmtlihen
fränfifhen Kirchen eingeführt. Zwei Dinge find hiebei
gleih Har: dag Karl folde Ehre dem toletanifchen Zuſatz deßhalb
. erwies, um im GStreite mit Elipandus die fpanifchen Biſchöfe auf
feine Seite herüberzuziehen, und daß Paulinus zu Friaul im Auf:
trage Karls und für den gleichen Zwed wirkte Die Sade
war alfo von Lange her vorbereitet. Die Farolinifhen Bücher, bie
Synoden zu Friauf und Franffurt, die Reife Alkuin's nach Eng:
land, bilden einen einzigen, yon einem Gedanken gefhlungenen
) ©. 228. — 2) Ibid, 227 Mitte,
Gfrörer, Kircheng, II. 42
658 II. Buch. Kapitel 9.
Knoten. Noch ein anderer Punkt tritt bei dieſer zweiten und unter:
geordneten Intrife hervor, welche Karl einleitete, um feinen Haupt:
zweck defto fiherer zu erreichen. Sp ungern fih auch der Pabft
im aboptianifchen Handel als Werkzeug des Königs gebrauden
ließ, fonnte er doch Elipandus nicht offen befchügen, weil die Mei:
nung bes Erzbiihofs von Toledo wirklich der überlieferten Necht-
gläubigfeit widerftritt. Anders verhielt es fih mit dem Beftreben
Karl’s der fpanifchen Formel allgemeine Geltung in feinem ganzen
Neiche zu verfchaffen. Hier hatte der Pabft den Buchftaben der
alten Symbole für ſich, wenn er die Forderungen bed Könige
zurüdwies. Wir haben. oben berichtet, daß Leo II, Hadrian’s I.
Nachfolger, Karl’s Anträgen, den Zufas yon Toledo in das römiſche
Symbol aufzunehmen, den beharrlichften Widerftand entgegenfeßte,
Nun ift an fih Far, daß Leo nicht um des Dogma’s willen, das
er ja fonft anerkannte, fondern um des Königs Plane zu durd)s
kreuzen, feine Beftätigung des Beiſatzes verweigert hat. Weil der
Pabſt das Spiel, das der Franfe in den adoptianiihen Händeln
trieb, insgeheim mißbilligte, obgleich er öffentlich die Hand dazu
reichen mußte, hat er einer andern dogmatiſchen Sntrife, welche ald
Mittel für die erfte dienen follte, entgegengearbeitet. Und fo ge-
ſchah, was beim erſten Anblick unmöglich erjcheint, daß nemlich der
Habt, um ſpaniſchen Bifchöfen Luft zu fchaffen, die ſpaniſche
Tormel verwarf, |
Karl muß erwartet haben, daß die fo forgfältig angelegten
Beichlüffe der abendländifhen Synobe zu Frankfurt raſche
und entjheidende Wirkungen in Spanien hervorbringen werden.
Aber er täufchte fi; nichts, was des Königs Berechnung entfprad),
geſchah daſelbſt, ohne Zweifel, weil der faracenifhe Sultan yon
Cordua den ZToletaher wider Umtriebe chrifilihder Gegner und
Nebenbuhler kräftig befchüste. Jetzt kam man in Franfreih auf
früher benüste Kunftgriffe zurück. Alkuin erfchien wieder auf dem
Kampfplatze, er verfaßte eine neue Streitfchrift gegen die Adoptianer. ')
Diefelbe ift an die Aebte und Mönche Gothieng, d. h. Septimanieng
gerichtet, welche Provinz lange den Weftgothen gehört hatte, und
noch immer rege Verbindungen mit Spanien unterhielt. Zu An:
1) Libellus adversus haeresin Felicis ad abbates et Monachos Gothiae
missus, Opp. I, b, ©. 760 flg.
Die fränkifche Kirche vom Anfange des fiebenten Jahrhunderts ıc. 659
fang des Büchleins ſpricht er fein Bedauern Darüber aus, daß bie
Neftorianifche Ketzerei durdy die Behauptung Derer wieder auflebe,
welche Chriftum nicht zu einem Achten, ſondern blog zu einem ans
genommenen Sohne Gottes machen wollen. „Diefe Seuche,“ unter:
nimmt Alfuin laut feinem eigenen Ausdrude „nur Arzneimittel
ausden Gewürzkammern ber Kirchenlehrer zu heilen.«“
Wolken von Zeugniſſen der Väter werden aufgeführt. Aber Alkuin's
neue Abhandlung nützte fo wenig als die frühere. Vielmehr er—
fchien gerade um jene Zeit eine gebarnifchte Antwort bes Felix auf
das oben erwähnte Schreiben, mit welchem Alkuin den Streit er-
öffnet hatte, Diefe Schrift des Felix ift nicht mehr vorhanden,
wir fennen fie blos aus den Erwiederungen ber Gegner, aber
die Thatfache ihres Erfcheinens beweist, dag Elipandus und feine
Freunde entfchloffen waren, den Kampf muthig fortzufegen.
Bon Nun an offenbart fih ein merflihes Schwanfen auf
fränfifcher Seite. Sobald die Schrift des Feliv an Karls Hof
gefommen war, forderte ber König Alkuin auf, die Arbeit des
Spaniers zu widerlegen. Alfuin erflärt feine Bereitwilligfeit, vers
langt aber zugleich, der König möchte Abfchriften der Abhandlung
des Felir an den Apoftolifus in Rom, fo wie an bie Bifchöfe Pau:
Iinus von Aquilefa, Richbod von Trier und Theodulf von Orleang
überſchicken, und denfelben befehlen, daß ein Jeder ein Buch gegen
Felix fchreibe. „Er ſelbſt“, fährt Alkuin fort, „brauche längere Zeit,
mit feinen Schülern zu unterfuhen, ob und wie weit Felix in jener
Schrift die Stellen der Bäter richtig angeführt habe.“ D Sicherlich
war nicht Befcheidenheit der Grund, warum Alfuin auf eine folche
Theilung der Arbeit antrug, fondern entweder fürchtete er, bie
andern Biſchöfe möchten ihn deshalb beneiden, weil der König ihn
allein in der wichtigen Sache gegen die fpanifchen Keber verwende,
und er fuchte deßhalb ihre Eiferfucht durch den Antheil, den er ihnen
einräumte, zu entwaffnen; oder ift — was noch weit wahrfcheinlicher —
anzunehmen, daß ber Angelfachfe nicht mehr wagte, bie Verant⸗
wortlichfeit des Kampfes gegen die Adoptianer, der immer ſchwie—
riger und hoffuungsiofer wurde, auf fih allein zu laden. - Im
einen wie im andern Falle folgt, das Alfuin an einem erwünfchten
Ausgange des Unternehmens zu verzweifeln begann, Karl geneb:
') Alcuini epistola LXIX., opp. I, 97 unten,
42°
‘660 II. Buch. Sapitel 9.
migte Alkuin's Borfchläge. Ein neuer Feldzugeplan, zu deffen Aus—
führung Biele an verfchiedenen Orten wirfen follten, ward entworfen.
Während Alkuin und Paulinus von Aquilefa, jeder für fih, an
einer Widerlegung der Testen Schrift des Feliv arbeiten, fendet
Karl um 797 die Bifchofe Leidrad von Lyon und Nefrid yon
Narbonne fammt dem Abt Benedikt von Aniane, als befondere
Bevollmächtigte nach der fpanifhen Mark, d. h. dem Landftriche
jenfeit8 der Pyrenden, welder dem fränfifchen Reiche unterworfen
war, um die aboptianifche Keterei dafelbft auszurotten. Dort an⸗
gekommen, machten fie einen wichtigen Fang. — Felix, der im Jahr
793, wie wir oben berichteten, ing Gebiet der Sararenen entflohen
war, gerieth nemlih zu Urgel in die Hände der Abgeordneten
Karls. Wie dieß gefchehen, erfahren wir nicht, doch feheint aus
einigen Spuren zu erhellen, daß nicht fowohl Gewalt, als Mittel
der Meberredung gegen ihn angewendet worden find. Alkuin
ſchreibt 1) nemlih um 799 an feinen Freund den Erzbifhof Arno
von Salzburg: „wife, daß Felir gefhworen hat, fih vor dem
Könige Karl zu ftellen, und yon feinem Glauben Nechenfchaft zu
geben.“ Auch fagt der ehemalige Biſchof von Urgel felbft ?) in
dem Glaubensbefenntniffe, das er nah der Synode von Aachen
ablegen mußte: „der König Karl hat mich fo behandelt, wie mir
Leidrad zu Urgel verheißen hatte.“ Aus diefen und ähnlichen
Aeußerungen möchte ih den Schluß ziehen, daß Leidrad und fein
Gefährte den entwichenen Felix, der wohl der Verbannung und
des Elends überdrüßig war, durch das Verſprechen an fich gelockt
hatten, er werde, wenn er fich gelehrig zeige, Gnade bei Karl
finden, und fein Bisthum wieder erhalten. Dem fey wie ihm
wolle, gewiß ift, daß Leidrad den Flüchtling nach Frankreich herz
überbrachte. Was man dort mit ihm anfieng, werden wir gleich
fehen. Zuvor müffen wir jedoch die. Aufmerffamfeit der Lefer anders
wohin lenfen. Während dieß an den Pyrenäen vorgieng, ließ Karl eine
neue Mine in Stalien fpringen. Im Jahre 799 hielt der Nach—
folger Hadrian’s, Leo II, zu Rom eine Synode, auf welcher bie
aboptianifche Kegerei zum drittenmale im Namen des Stuhles
Petri verdammt wurde, In dem Bortrage, ?) den der Pabft hielt,
Y) Epistol. 76, Opp. I., 112 Mitte, — 2) Alcuini opp. I, b, ©, 97
unten. — 8) Manfi AI, 41031 flg, -
Die fräntifhe Kirche vom Anfange des fiebenten Jahrhunderts ıc, 661.
zählte er die Miffethaten des ehemaligen Biſchofs von Urgel auf:
„Felix hat zuerft auf dem Concile zu Negensburg der aboptianifchen
Ketzerei ſchriftlich abgeſagt. AS er darauf von Karl'n hieher
zu unſerem Vorgänger geſchickt wurde, ſetzte er im Gefängniſſe ein
rechtgläubiges Bekenntniß auf, und legte daſſelbe auf die heiligen
Myſterien und das Grabmal Petri mit dem Schwure nieder, daß
er Chriſtum für den ächten Sohn Gottes halte. Hernach aber
übertrat er freventlich das Gebot Gottes, indem er zu ſeinen heid—
niſchen Mitbrüdern floh. Ohne Scheue vor der großen Kirchen⸗
verfammlung (zu Frankfurt), welche von Karl'n berufen, ihn ver:
dammt hatte, wenn er in feinem Irrthum verbleiben würde, Fehrte
er, wie ein Hund, zu feinem Gefpey zurüd, und ftieß feitdem ver:
mittelft der Lafterfchrift gegen Alkuin noch fehlimmere Reden aus,
als früher.“ Die Berhandlung ſchloß mit einem bedingten
Fluche gegen Felix: „Wenn Felix, der gewefene Bifhof von Urgel,
feine FTegerifche Lehre vom angenommenen Sohne Gottes nicht
zurücdnimmt, ſey ihm Fluch gefagt, verdammt fey er vor dem Richter:
ftuhle des Allmächtigen, Heil und Gnade aber Denen, welche ſich
befehren.“ Deutlich erhellt aus letzteren Worten, daß Karl ent:
ſchloſſen war, Felix wieder einzufegen, im Fall Diefer fich blindlings
unterwerfen würde. Die fränkischen Plane frhienen nunmehr einen’
glücklichen Fortgang zu nehmen: Karl hatte nicht blos ein neues
Berdammungsurtheil des Pabſts wider die Adoptianer, fondern
auch die Perfon eines der beiden Keserhäupter in Händen. Set
erfolgte ein weiterer Schritt in Franfreih, Der König berief 799
einen glänzenden Reichstag nach Aachen, auf welchem fehr spiele
Biſchöfe und weltlihe Große erfchienen; Karl felbft führte den
Borfis. Im Angefichte diefer Berfammlung mußte Felir ein
Religionsgeſpräch mit Alfuin befiehen. Sechs Tage dauerte das—
ſelbe; endlich erklärte ſich Felix für befiegt, und erfannte, hauptſäch—
ih auf eine Stelle aus den Schriften des Alerandriners Cyrill
hin, die ihm Alfuin vorhielt, an, daß Chriftus auch feiner menſch—
lihen Natur nad wirklicher Sohn Gottes fey. ) Alkuin empfand
über feinen Sieg und die Befehrung des Felix, an deren Aufrich-
tigfeit er nicht zweifelte, unbefchreibliche Freude. „Felir,“ fchreibt
er ?) an Arno von Salzburg, „liebt mich jeßt yon ganzem Herzen,
') Die Beweigftellen verzeichnet bet Walch Hiftorie der Ketzereien IX. , 773. —
2) Epist, 92, Opp. J., 136 gegen unten.
662 | II. Buch. Kapitel 9.
der bittere Haß, mit dem er mich früher verfolgte, iſt in Yautere
Freundfchaft verwandelt.“ Der Spanier fam jedoch mit dem ein:
fachen Widerrufe nicht weg. Er mußte ein reumüthiges Glaubens:
befenntniß nicht blos ausfertigen, fondern auh an feine ehema—
ligen Brüder jenfeits der Pyrenäen überfhiden )
Diefe Urkunde beginnt alfo: „Ich thue Euch zu wiffen, daß
ih, nachdem ich dem Könige Karl vorgeftellt worden, gemäß
ben Berfprehungen, die mir der Biſchof Leidrad in Urgel gegeben
hatte, von ihm die Erlaubniß erhielt, in feiner und der Bifchöfe
Gegenwart, meine Meinung von der Natur des Sohnes vorzu:
tragen, damit dieſe meine Lehre nicht durch Gewalt, fondern
durch Beweiſe der Wahrheit erhärtet, oder aber durch Zeug:
niffe der Väter widerlegt werde. Diefes ift auch alfo gefchehen.
Denn die von mir vorgetragenen Lehrſätze Über gedachte Streitfrage
haben fie (die Franken) durch Stellen aus den Büchern Cyrill's
und ber Päbfte Gregor und Leo, welche mir bis dahin unbekannt
waren, fo wie durch das Urtheil der Synode widerlegt, die neulich
auf Befehl des Königs Karl zu Nom wider den Brief gehalten
worden, welchen ich gegen den ehrwürdigen Abt Alkuin gefchrieben
hatte. Auf der letztgenannten Synode haben in Gegenwart des
Pabſtes Leo 57 Biſchöfe, auch viele Presbyter und Diafone in der
Petersfirche meine Lehre, ohne alle Gewalt, mit triftigen
Gründen verworfen. Durch diefe Gründe und die Uebereinftim-
mung der allgemeinen Kirche überzeugt, daß ihre Einfichten beſſer
find, als meine bisherigen, habe ich mich yon ganzem Herzen durch
Gottes Gnade zur allgemeinen Kirche befehrt — nicht aus Ber-
ftellung und Betrug, wie dieß ehemals gefchehen, fondern aus
wahrer Weberzeugung.“ Nun folgt Dogmatifches. Man bemerfe,
wie ftarf Feliv hervorheben muß, daß feine Gewalt wider
ihn gebraudt worden fey.
Schon vor der Scene in Aachen hatte Alfuin die von Karen
ihm übertragene Streitſchrift wider Felix, die jetzt theilweife unnüg
war, ausgearbeitet, aber bis dahin nicht veröffentlicht. Ueber die
Gründe, warum er fie fo lange zurückhielt, äußert er ſich in einem
Briefe ?) an Karl alſo: „In dem Religionsgefpräh, das ih in
Eurer Gegenwart mit Felix hielt, lag das Buch fertig vor mir,
) Abgedrudt Alcuini opp. I., b. ©, 917, — 2) Opp. L, b. ©. 787 fig.
Die fränkiſche Kirche vom Anfange des fiebenten Jahrhunderts x. 663
und ich benützte e8 auch, aber öffentlich wollte ich es nicht machen,
weil es Euch noch nicht vorgelefen worden war. Euer Wort
möge jeßt entfcheiden, was daraus werben fol. Nur um das
Eine bitte ich, daß es weber verworfen noch veröffentlicht werde,
ehe es von den vertrauteſten Perſonen Eures Hofes genau geprüft
worden iſt.“ Abermal offenbart ſich hier, welche Vorſicht Alkuin
anwendet, damit die Verantwortlichkeit des Streits gegen die Adop—
tianer nicht auf ihm laſten bleibe. Karl's Umgebung muß die neue
Schrift Alkuin's gebilligt haben. Sie erſchien jetzt unter dem Titel:
„ſieben Bücher gegen Felix von Urgel.“ ) Wie früher, greift Alkuin
auch in diefem Buche die adoptianifche Lehre hauptſächlich yon der
Seite an, daß fie eine Wiedererwedung der Neftorianifchen Keberei
fey. Ungefähr zu gleicher Zeit mit der Streitfchrift Alfuin’s wurde
auch eine Abhandlung des Erzbiihofs Paulinus von Aquilefa gegen
Seliv in drei Büchern veröffentlicht; 2) fie fleht an Ordnung und
innerem Zufammenhang ziemlich tief unter der Arbeit Alfuin’g,
est war noch übrig, daß man den Widerruf des Felix und
die Erklärung des Pabſts in Spanien auszubeuten, und die Früchte
der Yangen Anftrengungen in dieſem Lande zu pflüden fuchte Zum
zweitenmale wurden die Bifchöfe Leidrad und Nefrid von Karl
nad der fpanifchen Darf um 800 abgefhidt. Cs gelang ihnen
einige Taufende von Adoptianern dafelbft zu befehren; aber gegen
. Eliyandus und die Bifchöfe des faracenifchen Gebiets, wider welche
doch ihre Sendung eigentlich gerichtet war, vermochten fie nichts.
Wir erfahren dieß aus einem Briefe ?) Alkuin's an den Erzbifchof
Arno von Salzburg: „Noch immer verharrt Elipandus in feiner
durch Beſchlüſſe der Synoden, wie durch dag Urtheil des Pabftes
verdammten Keberei. Doch fol Euer Liebden wiffen, dag Leidrad
mit Hülfe Gottes in jenen Gegenden große Erfolge errungen hat
und noch täglich erringt. Glaubwürdige Mönche, die dorther famen,
haben mich verfichert, daß gegen zwanzig Taufende, worunter Bifchöfe,”
Priefter, Mönche, gemeines Bolf, Männer wie Weiber, yon ihrem
(adoptianifchen) Irrthum befehrt worden find.“ Schon vorher hatte
Alfuin ein Sendſchreiben % an Elipandus erlaffen, in welchem er
den Zoletaner mittelft füßer Worte zu ködern fuchte: „Du, Heiliger
1) Abgedrudt ibid. I., b. ©. 789. — ?) Libri tres adversus Felicem
Orgellitanum abgedrudt in Paulini opp. ed. Madrisius ©. 95 flg. — ?) er
92. Opp. I., 136, — 5 Opp. I., 863 fig.
664 DE | Bud. Kapitel 9.
Biſchof, bift eine Stadt, die alfo auf Bergeshöhen gebaut ift, dag
fie nicht verborgen bleiben fann; ihre Mauern bürfen durch feine
Mine irgend welcher Keterei burchlöchert werden, fondern müffen.
überall mit den ſtärkſten Schanzen des Fatholifchen Glaubens um:
geben jeyn, damit fie zum Heil des ganzen Bolfes, welches fi
über Di freuet, und von dem Befehl Deines Mundes abhängt,
unüberwindlich bleibe u. |. w.“ Aber Schmeicheleien wie verfuchte
- Beweisgründe prallten an ber flarfen Bruft des Spaniers ab. Er
ſchickte dem Abte von Tours eine Antwort ") zu, die ihres Gleichen
in rückſichtsloſer Bitterfeit fucht. Die Ueberfchrift Yautet fo: „Eli
pandus dem Diafon Albinug, °) der da nicht ift ein Diener
Chrifti, fondern ein Schüler des flinfenden Beatus, ein neuer Ariug,
und Gegner ber heiligen Bäter Ambrofius, Auguftinus, Iſidorus,
Hieronymus — wenn er fich befehrt vom Irrthum feines Lebens,
ewiges Heil, wo er ſich aber nicht befehrt, ewige Verdammniß.“
Unter Anderem wirft er ihm vor, Alkuin ſey ein bochmüthiger
Geizhals, der einen Befis von zwanzigtaufend Leib:
eigenen zufammengewuchert habe, feine Weisheit fey nicht vom
Himmel, fondern eine irdifche, thieriſche, teufliſche. Die Beſchuldi—
gung des Geizes muß befonders tief bei Alfuin eingefchritten haben.
In einer Zuſchrift 9 an Leidrad und Nefrid läugnet er zwar bie
Thatfache der zwanzigtaufend Leibeigenen nicht, rechtfertigt fich aber
mit den Worten: „Ein Anderes fey es, weltliche Güter zu befisen,
ein Anderes yon ihnen befefien zu werben, von letzterem Uebel
wiffe er fich frei.“ Man erfieht Hieraus, daß der fromme Alfuin
feines Vortheils nicht vergaß, und fi jedes Wort, das er für Karl
fchrieb, mit Gold aufwägen ließ. Der Abt von Tours verfaßte
um 800 noch eine Streitfehrift gegen Elipandus in vier Büchern, *)
welche er den Bifchöfen Leidrad und Nefrid mitgab, als fie zum
zweitenmal nad) Spanien abgiengen. Sie ift das teste, was Alfuin
in der Sache der Adoptianer that, bei welcher er eine fo. zwei—
deutige Rolle gefpielt hat. Efipandus, um 800 bereits ein 82jäh-
riger Greis, °) behauptete den Stuhl von Toledo bis an fein Ende,
das bald nach Anfang des neunten Jahrhunderts erfolgt feyn
1) Ibid. I., b. ©. 868 flg. — 2) So wird der Name Alkuin haufig
gefchrieben. — 3) Opp. I., b. ©. 861 Mitte. — *) Adversus Elipandum
libri IV. abgevrudt opp. I, b. ©, 876 flg. — 5) Er fagt dieß ſelbſt ibid.
©. 916 unten.
Die fränkifche Kirche vom Anfange bes fiebenten Jahrhunderts ꝛc. 665
muß. Felix erhielt fein Bisthum Urgel nicht mehr. Karl übergab
ihn dem Bifchofe Leidrad von Lyon zum Verwahrung, in welder
Stadt er um S18 geflorben feyn fol, Auch dort wußte er den
Ruhm eines rechtſchaffenen Mannes zu bewahren; die allgemeine
Achtung ward ihm zu Theil.) Nach feinem Tode fand Leidrad’s
Nachfolger im Bisthum von Lyon, Agobarbus, unter dem Nachlaffe
des vielgeplagten Spaniers fhriftlihe Beweife, aus welchen er.
fchließen zu müfjen glaubte, daß Felir bis zu feinem Ende im
Herzen der adoptianifchen Lehre anhieng. Agobard fchrieb daher
gegen den Berftorbenen eine noch erhaltene Widerlegung. So
verfolgte rechtgläubige Rache der Franken den armen Spanier über
das Grab hinaus.
Der Zwed, dem der fränfifche Hof im aboptianifchen Streite
nachjagte, wurde nicht erreicht. Das nuglofe dogmatifche Gezänf
mag zulest dem Franfenfönige efelhaft geworden feyn. Seit 800
ergriff er, um Boden in Spanien zu gewinnen, Maßregeln, die
fiherer zum Ziele führten, und feiner Natur augemeffener waren,
Im Jahre 801 'rürte Ludwig, des neuen Kaifers Sohn und
Erbe, mit einem zahlreichen Heere über die Pyrenäen, eroberte Bar:
cellona ?) fammt mehreren andern Orten, und machte den Franfen
bag Land bis zum Ebro unterthan, das feitdem den Namen fpani-
fhe Mark bekam. Ueberdieß errang Karl furz zuvor die Kaiſer—
frone, melde er in allen jenen dogmatifchen Händeln gefucht
hatte. Der adoptianifhen Kegerei wird feitdem nicht mehr gedacht.
Bliden wir nun zurüd: in der Bilderſache, wie im adoptiani—⸗
hen Streite, hat ſich Karl als europäifcher oder allgemeiner Schuß:
herr des Fatholifchen Glaubens benommen, er hat den Pabſt gleich
einem Bafallen nah Willfür in Bewegung gefebt, er bat eine
Synode verfammelt, welche offenbar den Charakter wo nicht einer
ökumeniſchen, doch einer abendländiſchen oder weftrömifchen
tragen ſollte. Mit einem Worte Karl trat in der doppelten Eigens
Ihaft eines Hohenpriefters und Herrfchers, oder als priefterlicher
Dberkönig aufe Wie gefliffentlich der Franfe darauf ausgieng, die
kirchliche Glorie mit dem Glanze der Krone zu verbinden, erhellt
am Beften aus dem Umftande, daß feine dogmatifchen Gehülfen fich
') Dieß erhellt aus dem Büchlein Agobards wider ihn. Agobardi opp.
ed. Baluzius J., 3 fig. — ?) Einhardi annales ad annum 801. Perz I., 190.
666 Sn IM. Buch. Kapitel 9.
nicht feheuen, das Wort unverhohlen auszufprechen. Auf den Bor:
wurf des Elipandus, Alkuin Habe den König zur Irrlehre verführt,
erwidert 1) der angelſächſiſche Levite: „nimmermehr kann Karl von
irgend Jemand verführt werden, denn er ift Fatholifch im Glauben,
König der Gewalt nah, Oberpriefter in der Predigt des
MWorts“ (pontifex in praedicatione). Nun macht das Amt eines
oberften Schugheren Fatholifcher Kirche und Lehre, oder jene Ber:
bindung weltlicher und geiftlicher Gewalt den Begriff aus, welchen
nicht nur die damalige Zeit, fondern Karl felbft kraft feiner un—
verhbolenen Erflärung in den Farplinifchen Büchern unter
dem Worte „Kaiſerthum« verftand, Wir müffen alſo fagen: Karl
habe fih, feit er in jene weitausſehende geiflliche Unternehmungen
die Hände mifchte, als Kaiſer betragen. Um dieß aber wirklich
zu feyn, fehlte ihm noch die feierliche Anerfennung. Wie und von
Wem letztere erhalten werden möge, darüber fonnte der Sohn
Pipin’s unmöglich in Ungewißheit fchweben. Nur diejenige Macht,
welche feinen Vater Pipin zum Könige gefalbt, war im Stande ihm
die Kaiſerkrone aufs Haupt zu fegen. Folglich berechtigt ung Alles,
was bis jetzt erzählt worden, zu der Bermuthung, der König werde
beim Pabfte Schritte gethban haben, um von ihm als Kaifer aner-
fannt zu werben. Anderer Seit aber wiffen wir aus Pipin’s
Gefhichte, daß Verhandlungen der Art aufs Geheimfte und nur
mündlich betrieben wurden. Urkundliche Beweife dürfen wir daher
vernünftiger Weife nicht erwarten, fondern müffen ung mit Andeu-
tungen und Spuren begnügen. Schon im Jahre 777 erließ
Hadrian I. an Karl ein Schreiben, ?) in welchem fich folgende
Stelle findet: „Gleichwie zu den Zeiten des feligen Pabftes Syl-
vefter von dem großen Kaifer Conftantin glorreichen Andenfeng bie
heilige Fatholifche und apoftolifche Kirche Noms erhöht und mit
reichem Landbefis in Stalien befchenft worden ift: alfo erfreut ſich
auch in unfern glüdlichen Tagen eben diefelbe Kirche des feligften
Apoftels Petrus eines erwünfchten Fortgangs — fintemalen ein
neuer Conſtantinus und allerchriſtlichſterKaiſer Gottes
erſtanden iſt, durch deſſen Hände der Allmächtige ſeiner heiligen
Kirche Alles (was ihr gehört) zuſtellt. Auch das Uebrige, was durch
verſchiedene Kaiſer, Patricier und andere Gott fürchtende Herren,
') Opp. I., b. 882 gegen oben, — 2) Cod. Carolinus epist, 59. Cenni
INABSRE 230" ‚108 om: | |
Die fränfifche Kirche vom Anfange des fiebenten Jahrhunderts ꝛc. 667
zum Heile ihrer Seelen, dem Stuhle Petri vergabt, aber bis jegt -
durch das verruchte Volk der Langobarden vorenthalten worden,
möge durch Euch zurückgegeben werden. Wir befigen hierüber in
unfern Archiven verfchiedene Schenfungsbriefe, welde wir Euch)
durch unfere Gefandte einhändigen“ u. f. w. Der Pabft nennt
bier den Franfen einen neuen Conftantin und allerrift-
Yichften Raifer. Man wird fagen, es feien fehöne Worte, mit
welchen der römifche Oberpriefter die Großmuth des Sranfen be-
flügeln wollte. Wir geben dieß zu, entgegnen aber: ein Schmeich—
Ver kennt in der Negel die ſchwache Seite Deffen, den er benügen
will, und weiß die rechten Saiten anzufchlagen. Dffenbar hatte
Hadrian den König durchſchaut und wohl bemerkt, daß Karl’
Dichten und Trachten auf Erringung der Kaiferfrone und Wieder:
berfiellung eines römifchen Weltreichs gerichtet fey. Darum ſprach
er fo. Zugleich fehen wir aber auch in den Worten des Briefg
eine Andeutung, daß der Pabft Feineswegs gefonnen war, die Wünſche
Karl’sernftlich zu befördern. Hadrian fann zwar nicht fatt werden,
immer neue Städte und Provinzen von dem Franken zu fordern, aber
er macht ihm die Großmuth zur Pflicht, indem er die Behauptung auf:
ftellt, das was er verlange, gehöre in Kraft älterer Schenfungen bes
Kaifers Conftantin von Nechtswegen der römischen Kirche. Er überläßt
dem Franken nur das befcheidene Verdienſt eines ehrlichen Mannes, der
herausgiebt, was Vorgänger, deren Nachlaß er geerbt — hier bie
Langobarden — dem rechtmäßigen Cigenthümer geftohlen hatten.
Mögen au die angeblichen Urkunden, auf die fih Hadrian beruft,
bie längſt vorhandenen, obgleich erweislich unächten Aften Syl-
veſters feyn, jedenfalls ift Har, daß fein Brief unverfennbare Anklänge
ber Fabel einer Schenkung Gonftantin’s enthält, welche Furz darauf
wirflih zum Vorſchein gefommen if. Da nun Hadrian felbft als
Dittfteller fo Fuge Vorſicht gebraucht, ift es im höchſten Grade
unwahrfheinlih, daß er je die gewünfchten Ermwerbungen
um den Preis der Kaiferfrone erfauft haben würde, die den Werth
alles Deffen, was der Stuhl Petri von Karl's Großmuth erringen
mochte, auf Nichts herabdrücken mußte. In der That fonnte nur
ein thörichter Pabſt die Hände zur Wiederherftellung des weftrömi-
hen Reichs bieten. Denn wenn er Dieß that, ließ fich voraug-
jehen, daß in kürzerer oder längerer Zeit der neue Kaifer feinen
Sig in Rom aufſchlagen werde, das ja Damals bereits eine fränkiſche
. Stadt war; und dann verlor der Pabſt nothwendig feine Un—
abhängigfeit und ſank zu der Fäglichen Stellung eines byzantinis
fchen Patriarchen herab. Obgleich nun feine weiteren Urkunden, bie
zum Beweiſe dienen fönnten, vorhanden find, vermuthen wir den—
noch, daß Karl Berfuhe gemacht haben müffe, um ſchon son
Hadrian Das zu erhalten, was er dem Nachfolger deffelben, Leo III,
abrang, daß aber der Pabft die Vorſchläge beharrlich zurückwieg.
Wir fchließen dieß aus folgendem Umftande: Karl hat dem Pabfte
Leo IN. die Kaiferfrone mit Anwendung von Gewaltmitteln abge:
preßt, er bat dem römifchen Oberpriefter gleichfam das Schwert
auf die Bruft gefegt. Wer wird nun glauben, daß eine fo glühende
Begierde, ruhig — d. h. ohne für Erreihung des Lieblingswunfches
Schritte zu thun, — den Tod Habdrian’s abgewartet habe? Wir
müffen ung jegt nach Nom wenden,
Am Weihnadhtstage (25. Dec.) 795 ftarb Pabſt Hadrian I.
nah faft 2ajährigem Regiment. Da ber große Landbefis, den
Hadrian zufammengebracdt, die Habfucht der Bewerber mehr als
fonft fleigerte, fo wurden, noch ehe Hadrian aushauchte, die fchlimm:
ftien Künfte in Bewegung geſetzt. Schon am folgenden Tage nad)
Hadrian’s Tode hatte die Welt in der Perfon Leo's IIL, eines ge:
bornen Römers, einen neuen Pabſt. Eine Parthei, die Leo ohne
Zweifel durch Geld gewann, muß ihn erhoben haben. Wohl fühlend,
daß die Wahl gerechtem Tadel unterliege, beeilte ſich Leo feinen Schuß:
herren, den Gebieter Italiens, Gallieng und Germanieng, durch demü—
thige Unterwürfigfeit zu gewinnen. Er erließ an benfelben ein
nicht mehr vorhandenes Huldigungsfehreiben, und überfchiete ihm
zugleich die Schlüfjel des Grabes Petri fammt dem Banner ber
Stadt Nom. !) Karl antwortete ?) in einem Briefe, der neben
Schmeicheleien leiſe Vorwürfe enthält und beweist , daß dem Könige
bereits Klagen über Leo's ungefegliche Erhebung zu Ohren ge—
fommen waren: „Nah Durchleſung Eurer Zufchrift habe ich große
Freude empfunden, ſowohl über die Einftimmigfeit eurer Wahl, als
auch über Euren demüthigen Gehorfam und die Ver—
fiherung Eurer Lehenstreue. — Der Heberbringer Diefes,
Angilbert (Karl's Erzfapellan) ift beauftragt, in Gemeinſchaft mit
Euch Alles anzuordnen, was zur Erhöhung der Kirche Gottes, zu
») Einhardi annales ad annum 796, Perz I,, 183. — ?) Der Brief ift
abgedrudt bei Manfi XIII., 980 fig.
Die fränfifche Kirche vom Anfange des fiebenten Sahrhunderts ꝛc. 669
Befeftigung eures Stuhls, oder zur Sicherung unferes Patriciat's
nöthig feheint. Denn wie Jh mit Eurem Vorgänger feligen Ge-
dächtniſſes dauernde Freundfchaft eingegangen bin, fo will ih auch
mit Euch einen feften Bund machen. — Meine Sade ift es, mit
Gottes Hülfe die heilige Kirche überall nad) Augen gegen die An-
fälle der Heiden und die Umtriebe der Ketzer mit den Waffen zu
fügen, und nad) Innen durch Anerkennung des Achten Glaubens
zu befeftigen. Euch dagegen, o heiligfter Vater! liegt die Pflicht ob,
mit aufgehobenen Händen, gleich Mofes, fürs Wohl unferer Waffen
zu beten. — Eure Fürfihtigfeit möge ſtets Die heiligen
Canones beobachten — damit, wie die Schrift fagt, Euer
Licht leuchte vor den Menſchen.“ Noch unverhohlener fpricht
der König feine Meinung in der VBorfehrift aus, die er dem Erz
fapellan Angilbert mit auf den Weg gab: ) „Du follft den Apofto-
likus fleißig ermahnen, daß er ein reines Leben führe und den
heiligen Canones Genüge thue. Führe ihm zu Gemürh, wie kurz
die Ehre dauert, die er jetzt befist, im Vergleiche mit der ewigen
Bergeltung, die ung dort erwartet. Auch treib ihn an, Die Simo—
nie abzufchaffen, welche jet den heiligen Leib der Kirche an vielen
Orten befledt!“ Mean fieht, Karl Fannte den neuen Pabft, er giebt
in Ietteren Worten zu verfiehen, daß Leo mit Geld den Stuhl
Petri erfauft Habe. Defto mehr mußte Leo daran gelegen fein, ein-
flugreihe Männer des fränkischen Hofes, die des Königs Vertrauen
befaßen, auf feine Seite herüberzuziehen. Ohne Zweifel hat Leo
Bedacht genommen, den angelfüchfifchen Leviten zu gewinnen. Wenig:
ſtens erließ Alfuin ein Glüdwunfchfchreiben ?) an den Pabſt,
worin er denfelben mit Schmeicheleien überfchüttet, indem er ihn
den ächten Stellvertreter des Petrus, den Erben des Geiftes der
Bäter, Haupt der Kirche und Grnährer der einen unbefledten
Zaube nennt. Am Schluffe des DBriefes fügt er noch bei, er habe
dem Leberbringer Aufträge mitgegeben, welche dieſer mündlich aus:
richten werte. Es fpringt in die Augen, dag Alkuin nie gewagt
hätte in folhem Tone zum Pabſte zu reden, wäre ihm ber heilige
Vater nicht zuerft entgegengefommen. Auch werden wir fehen, daß
Alkuin feitdem aufs Beharrlichſte Leo's Sache vertrat.
In Nom bildete ſich indeß gegen den Pabft eine mächtige
V) Abgebrudt ibid, ©, 981. — 2) Aleuini epist, XX, opp. I, 30 fg.
670 | II. Buch. Kapitel 9.
Parthei, welcher allem Anfchein nach die fränkischen Grafen, die in
Karls Namen Stalien verwalteten, insgeheim Vorſchub leiſteten.
Denn ohne Zuficherung fränfifhen Schuses hätten die römifchen
Gegner Leo's weder gewagt noch vermocdt, was fie im Frühjahr
799 ausführten. An der Spise der Unzufriedenen fanden zwei
vom verftorhenen Hadrian I. eingefeste hohe Beamte, der Primi-
cerius Pafchalis und der Schagmeifter Campulus, die vielleicht ſich
ſelbſt Hoffnung auf den Stuhl Petri gemacht hatten, und in Leo
den glücklichen Nebenbuhler haßten. Das Berberben Leo's wurde
befchloffen. Am 25. Aprif 799, welcher Tag in Rom feftlich be:
gangen wurde, ritt der Pabft aus feinem Pallafte nach der Kirche
des heiligen Laurentius, um dort Gottesdienft zu halten. Unter—
wegs wird er von einer Schaar Bewaffneter unter dem Befehle bes
Paſchalis und Campulus überfallen. Die Abficht der Verſchwornen
foll gewefen feyn, ihm die Zunge und die Augen auszureißen. Wenn
fie jedoch wirklich diefen Plan hatten, fo vermochten fie ihn nicht
zu vollftveden. Eine Menge Volks umgab nemlich den Pabft, als
er nach der Kirche ritt; bei dem Ueberfall ftäubte der Haufen aug-
einander, und im Gedränge, das dadurd) entftand, fand Leo Gelegen-
heit mit heiler Haut zu entwifchen, nur an einem Auge erhielt er
eine Feine Verlegung. ) in treuer Kämmerer, Albinus, half ihm
bei der Nacht aus der Stadt und in Sicherheit. Plötzlich fand
nemlih der fränfiihe Herzog von Spoleto Winigis vor Roms
Mauern, nahm den Vabft zu ſich, und geleitete ihn nach Teutſch—
land zu Karl. Der befannte Chronift Einhard ?) erzählt, Winigis
fey auf die Nachricht yon den Vorfällen in Nom eilends herbeige-
kommen, um den Pabft zu retten. Allein da zwifchen dem Leber:
fall und der Flucht Leo’s, Yaut dem Berichte des Bibliothekars
. Anaftafius 3) höchſtens anderthalb Tage und zwei Nächte Lagen,
begreift man nicht, wie die Botfchaft von Nom nad Spoleto, und
binwiederum Winigis mit dem Heere, das er bei ſich hatte, *) von
Spoleto nah Nom in fo kurzer Zeit gelangt feyn fol, Man muß
1) Der wishtigfte Zeuge, Johannes am Ende des neunten Jahrhunderts
Diakon zu Neapel, von dem unten. die Rede feyn wird, fagt: cujus (Leonis)
cum vellent oculos eruere, inter ipsos tumultus, sicut assolet fieri, unus ei
oculus paululum est laesus. — 2) Annales Einhardi ad annum 799, Perz
I., 187. — 3) In vita Leonis III., $. 11. fg. liber pontificalis ed, Vignoli
II., 244 fig, — ®) Ibid. ©, 248, \
Pr. 2 TE
al hi a
Die fräntifche Kirche vom Anfange des fiebenten Jahrhunderts ꝛc. 671
nemlich wiffen, daß Spoleto wenigftens 20 Stunden Wegs von
Rom entfernt iſt. Die Sache fieht vielmehr fo aus, als habe fi
Winigis mit feinem Heere in Erwartung ber Dinge, die zu
Rom vorgeben follten, zur Zeit des Meberfalls in der Nähe
befunden. |
Sobald die Gegenvyarthei erfuhr, daß Leo über die Alpen zu
Karl ſich geflüchtet Habe, ſchickte fie ebenfalls Gefandte an den
fränfifchen Hof, um den Pabft in der Meinung des Königs zu ver:
derben. Sie gab ihm Meineid und Ehebruh Schuld, und ver:
Yangte, Leo folle freiwillig vom Stuhle Petri, den er durch Ver:
brechen beflect habe, herabfleigen, und feine Schande in dem
Dunfel eines Klofters verbergen. Leo feiner Seits feste alle mög—
lichen Hebel in Bewegung. Um durch Berufung auf die Allmacht
feine balbverlorne Sache zu retten, hatte er die Kühnheit zu be:
haupten, Zunge und Augen feyen ihm wirklich von den Feinden
bei jenem Ueberfall ausgeriffen, aber in der folgenden Nacht durch
eine Wunderwirfung des heiligen Apoftelfürften Petrus wieder ge—
fchenft worden. König Karl fragte bei Alfuin an, was von biefer
Ausfage zu halten fey, und erbat ſich zugleich feinen Rath darüber,
wie er fih gegen bie Feinde Leo's benehmen folle, deren Anklagen
Karl allem Anfchein nach für begründet hielt. Auf die erfte An-
frage antwortete !) der Levite mit der Schlauheit eines Priefterg,
der zwar Wunder nicht gerade zu bejahen wagt, aber doch auch
nicht läugnen will: „ieder Chrift folle fih über die Gnade des
göttlichen Schuges freuen, und den heiligen Namen des Herrn
loben, der nie Diejenigen verläßt, welche auf Ihn harren, und ber
die Anfchläge der Böfewichter wider den Pabft zu nichte machte.“
Ebenſo fchlau ift feine Erwiederung auf den zweiten Punkt: „Was
bie Frage betrifft, wie mit Jenen (Pafchalis, Campulus und den an:
dern Feinden Leo's) zu verfahren fey, fo weiß Eure erhabene Weis:
heit am Beften, welche Behandlung jede Perfon und jede That
verdient, oder welche Mittel angewendet werden müffen, Damit jener
fromme Hirte, der durch des Allmächtigen Hülfe den Händen feiner
Widerfacher entriffen ward, ruhig auf feinem Stuhle dem Herrn
dienen möge.“ Alkuin hat auch fonft aufs Angelegentlichfte für den
Pabft gewirkt. Wir befisen einen andern Brief ?) von feiner
') Alcuini epist, 93, Opp. I,, 138 Mitte. — ?) Epist, 92, Opp, L, 134 fig,
672 I. Buch. Kapitel 9.
Hand, welcher wichtige Auffehlüffe über die damaligen Verwicklungen
giebt. Alkuin gieng nicht felbft an den Hof, wie er behauptet
wegen feiner Gebrechlichfeit, und weil die Sommerhige des Jahrs
799 ihn zu Haufe hielt. Dagegen benüßte er den Einfluß feines
Berbündeten, des Erzbifhofs Arno von Salzburg, der damals am
Hofe weilte. Diefer Arno hatte dem Leviten Auszüge aus einem
Zeugenverhör geſchickt, das fehr nachtheilig für Leo III. gelautet
haben muß. Nun fehrieb ) ihm Alfuin 799 zurüd: „Dein duch
den Cleriker Baldrih mir überſchicktes Schreiben, das Klagen gegen
den Lebenswandel des Apoftolifus enthielt, Habe ich ind Feuer ge-
worfen, nachdem nur Candidus ?) daſſelbe außer mir gelefen hatte,
Denn ic) wollte nicht, daß es in die Hände eines Andern komme,
weil es fonft Teicht Aergernig erregen könnte.“ Man erficht hieraus,
dag Alfuin die Klagen für wahr hielt; er verbrennt die Urkunde,
damit das Belanntwerden der Wahrheit dem Pabfte nicht ſchade.
Weiter heißt es dafelbft: *) „Wie ich höre, arbeiten viele Neider gegen
den Apoftolifus und fuchen ihn zu flürken, indem fie ihn des Che-
bruchs oder des Meineids befchuldigen. Sie tragen öffentlich dar:
auf an, Leo folle fih durch einen ſchrecklichen Eid von den Vor:
würfen reinigen, inggeheim aber rathen fie ihm, lieber freiwillig
abzudanfen und fih in ein Klofter zurüdzugiehen, damit er den Eid
nicht zu ſchwören brauche. Wäre ich dabei, fo würde ich mit dem
Evangelium fprechen (Joh. VI, 7.): Wer yon Euch ohne
Sünde ift, der werfe zuerft den Stein auf ihn.“ Abermal
deutet bier der Leite an, daß die gegen Leo erhobenen Befchul-
digungen ihre Richtigfeit hatten. Alkuin fährt fort: „Sch erinnere
mich in den Canones des feligen Syivefter gelefen zu haben: ein
Pabſt dürfe nur auf die Ausfage von 72 unbefcholtenen Zeugen
bin vor Gericht geftellt werden. In andern Canones ſteht, ein
Pabſt dürfe nur richten, nicht aber gerichtet werden. Diefe und
viele andere Dinge der Art gedenfe ich (dem Könige) zu fchreiben.
Wer kann auch noch feft ftehen, wenn Derjenige den Anfällen von
Mebelthätern erliegt, welcher das Haupt der Kirchen Chriſti ift.
Mit ihrem Vorſteher ſteht oder fällt die Kirche“ Mean wird tiefer
unten fehen, daß der Pabft wirklich mit Berufung auf die Gründe,
H S. 155 gegen oben. — 2) Sein Schüler Witizo ift gemeint, — °) Ibid,
Die fränfifche Kirche vom Anfange des fiebenten Jahrhunderts ıe. 673
bie bier Alkuin anführt, und nad dem Plane, den er entwickelt, ſich
aus der Schlinge gezogen hat Demnach ift Mar, dag Alkuin in
alle Geheimniffe Leo’s eingeweiht war, oder, um die Wahrheit frifch
herauszufagen, daß er in deffen Solde fand. Nun folgen in dem
Briefe die dringendften Aufforderungen, Arno möchte fih bei Hofe
der Sache des Pabſtes annehmen: „Du aber, o Theuerfter! arbeite
für das Wohl unferes Hauptes, für die Nettung des höchften
Hirten, für das Anfehen des heiligen Stuhld, für die Ehre des
fatholifhen Glaubens, damit der Hirte der Hirten nicht den Biffen
der Wölfe zum Opfer falle. Ich werde deine Anftvengungen mit
meinen Thränen, meinen ©ebeten, meinen Briefen unterftügen.
Schau wohl vor wen du dich anvertraueft, fei vorfichtig in den
Antworten, fehärfe dein Urtheil und überlege jeden Schritt“ u. f. w.
Jetzt ift e8 Zeit, dag wir ung nad dem Pabſte felbft umfehen.
Sobald Karl von den Borgängen zu Nom Bericht erhalten
hatte, 'gab er Befehl, den flüchtigen Pabft an fein Hoflager zu
geleiten. Im Spätfommer 799 weilte der König wegen des fächft-
fhen Kriegs zu Paderborn. Dorthin fam Leo II. Karl empfieng
ihn mit allen Außerlihen Ehren. Leo IH. blieb mehrere Tage am
Hofe. Während diefer Zeit wurde der Knoten gefchürzt, der im
folgenden Jahre die Ratfer- Krönung Karl's zur Folge hatte, Glück—
licher Weife ift ein einziger Zeuge des Geheimniffes auf uns ges
fommen, das Karl mit größter Mühe zu verbergen fuchte, und das
fonft in ſämmtlichen Jahrbüchern ſchmählich entftellt erfcheint. In
ber zweiten Hälfte bes neunten Jahrhunderts blühte an ber Kirche
des heiligen Januarius zu Neapel ein Diakon Johannes, welcher
eine Geſchichte der Biſchöpfe Neapels fchrieb, bie von Gründung
des dortigen Stuhls bis zum Jahre 872 reicht. Dieſer Johannes
muß hochgeſtellte Männer gefannt haben, welche von Dem, was zu
Rom in den Jahren 795—800 eingefädelt wurde, fehr genau
unterrichtet waren. Er berichtet I) Folgendes: „Um jene Zeit ver⸗
fhworen ſich gottlofe Männer wider den Pabſt Leo II. und be=
mächtigten ſich feiner Perſon. Und da fie ihm bie Augen aus:
ſtechen wollten, ward ihm im Getümmel nur ein Auge leicht verlegt.
Er floh nun zu Karl und machte fih verbindlich dem Franken:
1) Chronicon Johannis Diaconi, abgedruckt bei Muratori scriptores
rerum italicarum II., a, ©, 312,
Sfrörer, Kircheng. II, 43
DA 3 ende er Kapitel 9.
könige die Kaiferfrone aufzufegen, wofern Karl ihn
gegen feine Feinde fhüsen würde Mit Freuden
nahm Karl das Berfprehen an, welches ibm fehr er
wünfdht war“ Johann's kurze Worte find der einzige wahr:
baftige, auf ung gefommene Bericht vom Verhältniß Karls zu Leo,
alle andern find gefärbt oder ganz erlogen. Nach Abſchluß des Vertrags
entließ Karl den Pabſt unter flarfem Geleite nah Nom, wo bie
Sranfen Leo III. mit Gewalt wieder einfesten. Jetzt erſt wurden
Leo's Feinde und Anfläger verhaftet. Beide, Leo und Karl, hatten
die Ausführung des Werks, ohne Zweifel damit die Welt weniger
den geheimen Zufammenhang merke, auf das nächſte Jahr (800)
verſchoben.
| Im Frühjahr 800 beſuchte Karl die Nordküſte Frankreichs,
um ſich durch eigenen Augenſchein zu überzeugen, ob die Verthei—
digungsanſtalten, die er gegen Ueberfälle der Nordmänner getroffen,
in gutem Stand ſeyen. Von der Küſte aus reiste der König nad)
Tours, unter dem Vorwand, fein Gebet am Grabe des heil. Mar:
tinug zu verrichten, in dev That aber, um fih mit Alkuin zu be
ſprechen. Schon vorher hatte Karl den Leviten durch ein Schreiben
aufgefordert, er möchte die rauchigen Dächer von Tours ver:
Yaffen und mit ihm nad den goldenen Pallaften Noms ziehen.
Aber Alfuin, damals bettlägerig und yon Alter gekrümmt, wagte
nicht Die lange Reife zu unternehmen. ) inhard berichtet, 2) daß
Karl mehrere Tage in Tours blieb. Bon da begab ſich der König
nad Mainz, wohin ein Reichstag ausgefchrieben war. Dort wurde
für den fommenden Winter eine Heerfartb nach Italien beſchloſſen.
Sm October überftieg Karl mit dem Heerbanne die Alpen. In
Kavenna angefommen, beorderte er feinen Sohn Pipin, den Feld:
zug gegen die Beneventer zu eröffnen. Er felbft zog mit großem
Gefolge auf Nom, wo er den 24. November eintraf und mit
außerorbentlichen Feftlichfeiten von Leo III. empfangen ward. Bor
Allem mußte Etwas gefchehen, um das Gewicht der Befchuldigun:
gen, die noch immer auf dem Pabſte Yafteten, von Leo abzuwälzen.
Eine Mafie Bifchöfe und weltlicher Großen wurde daher in ben
nächften Tagen zu einer Synode in die Petersfirche berufen. Als
) Man fehe den 93ſten Brief an Karl opp. I, 438 unten, — 2) Ein-
hardi annales ad annum 800 Perz I,, 187 unten,
Die fränkifche Kirche vom Anfange des fiebenten Jahrhunderts ꝛc. 675
nunim Namen Karls die Aufforderung an die verfammelten geift-
lichen Würdenträger ergieng, fie möchten die Ankläger Leo's hören
und über den Pabſt richten, gaben die Bifchöfe eine Antwort, Die
aufs Haar Dem gli, was Alfuin in dem oben angeführten Briefe
an Arno ausgefprocen hatte. „Wir wagen nicht,“ fagten fie, „ven
Stuhl Petri, welcher das Haupt Aller ift, zu richten. Wir Alle
werden som Statthalter Petri gerichtet, er felbft aber darf von
Niemand gerichtet werden.“ Hierauf beflieg der Pabit mit dem
Evangelium in der Hand die Kanzel, und fchwur mit lauter Stimme
einen Neinigungseid. Dabei vergaß er nicht zu bemerken, daß Das,
was er jest thue, für feine Nachfolger Fein bindender Vorgang feyn
jolle, denn er thue Solches nur, um den Anwefenden jeden Ber:
dacht zu benehmen. ') Das Ganze war, wie man fiebt, eine ab-
gefartete Poffe. Da aber nothwendig fchon vor der Synode Viele
in das Geheimniß eingeweiht werden mußten, fo fonnte von Nun
an der Plan der Kaiferfrönung, welcher allem Borangegangenen
als Schlußftein diente, nicht mehr verborgen werden. Wir halten
daher das Zeugniß des alten, von Lambecius herausgegebenen, fräns
kiſchen Chroniften für begründet, welcher erzählt: 2) „In Gegenwart
der Synode fey darüber verhandelt worden, Karl'n zum Kaifer zu
krönen, bieweil von Seiten der Griechen der Kaifer-Name aufge:
hört habe und. ein Weib dafelbft die Herrfchaft befige.“ Diefer
Grund erinneri ſtark an die verächtlichen Ausdrüde, welche bie
farolinifchen Bücher von Irene brauchen,
Indeſſen war die Weihnachtzeit herangefommen. Am Chrift:
tage, mit welchem man damals noch das neue Jahr begann, wohnte
Karl im Prachtgewande eines Patriciers dem Gottesdienfte in der
Wetersfirche bei. Nach Beendigung der Meffe ſchritt der Pabft auf
den König zu und feste ihm eine glänzende Krone auf das Haupt.
Augenblidlich brach die zahllofe im Dome verfammelte Bolfsmenge
in den Zubelruf aus: Heil Karl, dem von Gott gekrön—
ten Augufius, dem großen und Friede bringenden
Kaifer Leben und Sieg Man darf hieraus den Schluß
ziehen, daß viele Leute zu Rom ſchon den Tag zuvor wilfen mußten,
1) Die Berichte über die Synode findet man zufammengeftellt bei Manft
XII, 1044 fig. — 2) Lambecius commentarii de bibliotheca Vindobonensi,
Vindobonae 1663 fol, Vol, II, ©, 581 gegen unten,
43 ®
676 III. Bud. Kapitel 9.
was im Petersdome vorgehen follte. Denn wie hätten fie fonft bie
finnbildlihe Handlung des Pabſts fo richtig verfiehen fünnen? Am
Tage der Krönung übergab Fredegis, Alfuin’s Schliler, in deſſen
Namen dem neuen Kaifer eine prachtvoll gefchriebene Bibel, )
ſammt einem Briefe, ) in welchem Alkuin jagt, er habe das
Buch zum Weihgefhenf für die errungene KRaiferwürde
gewählt, Folglich wußte Alkuin bereits im Herbfte 800, da fein
Schüler Fredegis im Gefolge des Königs nach Italien abgieng, daß
Karl am Chrififefte werde zum Kaifer gefrönt werben !!
Drei und ein viertel Jahrhundert waren verfloffen, feit mit
Romulus Auguftulus die legten Trümmer des abendländifchen Reichs
zuſammenbrachen, das Karl 800 wieberherftellte. Und welches
Neich, mit welchen Erinnerungen, welchem Anfange, welchem Ende?
Die Weisheit eines Senats, dergleichen die Welt feinen zweiten
fah, die Kraft eines Volks, dergleichen die Gefhichte Fein anderes
vorführt, unterwarf nach 700jährigen Kämpfen unter unerhörtem
Blutvergießen die fchönften Länder dreier Welttheile einem Joche,
Mit dem Augenblid, wo die böcfte Gewalt zu Rom in die Hände
eines Einzigen übergieng, offenbart fih auch Verfall, obgleich die
Kaiferzeit fehr fähige Herrfcher aufweist. - Das Erbe, welches die
Tugend des römischen Volks zufammengebracht, unterlag am Ende,
trog der ausgedehnteften Hülfsmittel, den Schlägen einiger Hundert:
taufende von Barbaren; die Nachkommen der alten Römer find
zulest zu einem ehrlofen, niederträchtigen Haufen, bie Kaifer feldft
zu erbärmlihen Wichten herabgeſunken. Kurz die Gefchichte des
römischen Weltreichs beweist unmiderleglih, daß die Weltmacht
eines Einzigen zu ſcheußlicher Entfittlihung der Beherrſchten wie
der Herrfcher führt. Folglich Hat der Franke Karl einen Frevel an
der Menschheit begangen, als er jene unnatürliche Macht wieder
herzuftellen verfuchte. Gleichwohl ift fein. Unternehmen höchft bes
greifih. As die Nömer in Trajan’s Tagen auf dem höchſten
Gipfel der Verfeinerung ftanden, fehnten fie fih nad den Natur:
zuftänden der Germanen, wie man aus der Schrift des Tacitug
über unfer Vaterland erfieht. Und als die Germanen die Welts
monarchie geftürgt hatten, entfland in ihren Häuptern der Wunfch,
bie römische Cultur, die fie zerftört, und deren Ueberbleibſel ihnen
—
9 Epist. 185. Opp. I; 248, — 2) Epist, 103, Opp- In 153,
Die fränkifche Kirche vom Anfange des fiebenten Jahrhunderts ꝛc. 677
Ehrfurcht einflößten, für eigene Nechnung wieder herzuftellen. So
ift der Weltlauf! Schon Chlodwig, der Begründer fränfifcher
Macht, lauſchte mit gierigem Ohre der Schmeichelei Derer, welche
ihn einen neuen Conſtantin nannten, ') woraus erhellt, daß er
als Nachfolger der römifchen Kaifer 5 — ſeyn wollte. Und
indem die Könige der ſpaniſchen Weſtgothen den Titel „Flavier« ans
nahmen, ?) verriethen fie denfelben Wunſch. Karl fchlug daher feine
völlig neue Bahn ein, ſchon andere germaniſche Fürften waren
ihm vorangegangen. Im Uebrigen gebt aus unferer Darftellung
hervor, daß er vom Anfange feiner Negierung an das Ziel der
Kaiferfrone mit Außerfter Beharrlichfeit verfolgt hat. Aber je näher
er bemfelben rücte, deſto mehr flachelten gelehrte Höflinge feine
Ehrſucht auf. Im Jahre 799, alfo zu einer Zeit, da ber oben
gefchilderte Vertrag mit Leo bereits am Abjchluffe war, fehrieb ®)
Alfuin an Karl: „Drei Mächte find bis jest in der Welt die höch⸗
ften gewefen: erftlich die apoftolifche, welche im Namen des Apoftel-
fürften Petrus den Stupl Petri verwaltet; zweitens bie Faiferliche
und bie Herrichaft yon Neurom (das byzantinifche Kaiſerthum); in
dritter Linie die föniglihe — welche Euch zu Theil geworden“ ıc.
Bedurfte es mehr, um den ehrgeizigen Franken zu den Außerfien
Schritten zu entflammen, damit dem Byzantiner nicht der Bors
rang bleibe!
Karl fühlte jedoch, daß die neue Kaiferfrone nicht gefahrlos
fey. Mit ängſtlicher Sorafalt hielt er die Anfivengungen, welche
er gemacht, um dem Pabſte die Krönung abzupreffen, vor dem
Bolfe geheim. Nach feinem Wunſche folte die Welt glauben,
Leo II. habe ihm, wider feinen Willen, die Krone aufgenöthigt.
Laut dem Zeugniffe feines Geheimfchreibers und Biographen Ein-
hard *) trieb er die Heuchelei fo weit, feine Umgebung zu ver:
fihern: wenn er die Abficht des Pabſts geahnt hätte, würde er
am Chrifttage 800, troß des hohen Feftes, nicht in die Petersfirche
gegangen ſeyn. Karls Wunſch ift in fo weit erfüllt worden, als
bis jest faft alle neueren Hiftorifer die eben erwähnte Lüge glaubig
nachgefchrieben haben. Außer der gewohnten Neigung ehrgeiziger
9 Siehe den zweiten Band dieſes Werks ©. 1020 flg. — °) Ebendaſelbſt
S. 988. — 5) Aleuini epist, 80, Opp. IJ. 117 Mitte, — *) Vita Caroli
cap. 28, Perz II., 458 oben. |
678 Ä | II. Buch. Kapitel 9,
Herrfcher über ihre Plane den Schleier des Geheimniffes zu decken,
fcheinen ihn hauptfächlich zwei Gründe zu dieſem Spiele vermocht
zu haben. Erſtlich mußte er beforgen, bie Byzantiner werben,
wenn fie den wahren Zufammenhang erführen, die Krönung für
einen erzwungenen Aft erflären und deßhalb nicht anerkennen. Wirk:
lich ließen fih die Griechen wenigftens zum Theile täuſchen. Das
Gehäſſige der That blieb, wie früher berichtet worden, in ihren
Augen auf dem Pabſte haften, der doch nur das blinde Werkzeug
des Franfen war. Fürs Zweite beforgte Karl, fein eigenes Volk
möchte fi) der Errichtung des Kaifertfums widerfegen, wenn bie
Umtriebe ihres Königs fundbar geworden wären. Eine höchſt auf:
fallende Thatfache fchlägt in diefer Beziehung jeden Zweifel nieder.
Nachdem Karl von der Kaiferfrönung in fein Reich zurüdgefehrt
war, hielt er 802 einen Neichstag, auf welchem unter Anderem
der Befchluß durchgefegt wurde, daß alsbald jeder Unterthan ben
Huldigungseid, den er bisher dem Könige geleiftet, von Neuem
dem Kaifer fchwören folle. Das Capitular ) Tautet fo: „Jeder
Menſch im ganzen Reihe, fey er num Laie oder Eferifer, der vor
her dem Könige Treue gefchworen, foll denfelben Eid dem Kaifer
leiften. Und Die, weldhe noch gar nicht gehuldigt, follen vom zwölf:
jährigen Knaben aufwärts ſchwören. Auch follen Alle öffentlich
belehrt werden, damit fie verfiehen Yernen, wie Großes und
Bieles in folhem Eide befaßt fey u. f. w.“ Die Anordnung
dieſes Eides ift ein doppeltes Eingeftändnig, daß Karl Widerftand
feines Volkes fürchtete, fo wie daß von Nun an fränfifches Blut
und fränfifches Geld für Zwecke verfchwendet werben follte, die
nicht mehr die der fränfifchen Nation, fondern einfeitig die ihres
Herriherftammes waren. Noch muß ein Punft beachtet werden.
Dffenbar hat die Parthei, welche den Pabſt Leo zu flürzen fuchte und
zulest den fränfifchen Forderungen als Keil diente, nicht ohne vor—
herige Nüdfprache mit Karls Beamten gehandelt. Karl wußte,
wie man aus feinem erften Briefe an Leo erfieht, dag die Wahl
deffelben ungefeglich war. Gleichwohl ließ er Alles gefhehen. Nach
dem Ueberfalle auf Leo Herrfchte einen oder zwei Tage vollfommene
Gefeglofigfeit in Rom, Häufer wurden erftürmt und niebergeriffen ; 2)
V Baluzius I., 363 unten flg. — 2) Anastasius in vita Leonis $. 15.
ed, Vgnoli II., 248. |
Die fränkifche Kirche vom Anfange des fiebenten Jahrhunderts ıc. 679
Niemand zeigte fih, der die Ordnung aufrecht erhalten hätte,
Doch wiffen wir, daß fonft immer fränfifche Grafen mit fränfifcher
Befagung in Nom Tagen. Eben fo verdächtig ift, daß der Herzog
Winigis von Spoleto fo fehnell bei der- Hand war, als es fi
darum handelte, den aufs Aeußerſte getriebenen Pabſt nach Teutfche
Yand zu befördern. Die Sade fieht fo aus, als habe die fränfifche
Befasung kurz vor dem Anfalle die Stadt geräumt, um den Gegs
nern Leo's freien Spielraum zu gewähren, während zugleich ber
Herzog von Spoleto eine Stellung in der Nähe Noms einnahm,
um im rechten Augenblide eingreifen zu fönnen. Wer wird auch
glauben, daß jene Handvoll Unzufriedener gewagt hätte, einen
Pabſt zu ſtürzen, wenn fie nicht fränfifcher Nachficht fiher war?
Zur vollfommenen Gewißheit wird endlich der eben ausgefprochene
Verdacht durch eine andere Thatfache, Leo's III. Gegner, Pafchalis
und Sampulus, blieben bis zum Jahre 799 auf freiem Fuße. Erſt
bei der Rückkehr des Pabſtes wurden fie verhaftet, aber auch jest
blos dem Scheine nad beftraft. Jene Kirdenverfammlung,
welche fich weigerte, Leo zu richten, ſprach das Todesurtheil über
fie aus; aber der Pabft mußte um ihre Begnadigung bitten —
und ftatt aller Strafe fchiekte fie Karl — nad Franfreid. ') Kurz
bie Gefchichte Leo’ und der Krönung hängt fo zufammen: aus
feinen Berhältniffen zu Hadrian I. hatte Karl die Lehre gezogen,
daß er die erfehnte Kaiferfrone nicht von einem würdigen Pabfte,
fondern blos von einem Miethlinge erringen könne. Er ſchwieg
Daher, als eine verächtliche Parthei nach Hadrians Tode den elen:
den Leo auf den Stuhl Petri erhob, Er und feine Beamte unter:
ftüsten fodann insgeheim die Gegner des Gewählten, und brauchten
biefe als Werkzeuge, um den Pabft- in eine verzweifelte Lage zu
bringen, aus der er fich nur durch vollftändige Bewilligung der frän—
fifchen Anträge herausreißen konnte. Eine Folge diefes Einverftänds
niffes mit den Gegnern Leo's war, daß Karl diefelben fpäter nicht im
Ernfte beftrafen durfte. Nach erfolgter Krönung glaubte wohl Karl
das Ziel feiner Wünfche erreicht zu haben. Er täufchte fih, Das
Schickſal hat es anders gewollt. Wir werden tiefer unten zeigen,
wie Karl, von höherer Hand getrieben, felbft dazu mitwirfen mußte,
das neugegründete Kaiſerthum zu zerftören. Auch für feine fpäteren
1) Die Beweife gefammelt bei Manfi XIII., 1046.
680 II. Buch. Kapitel 9.
Nachfolger blieb Karls Kaiferfrone ein Phantom, das feinen Des
fisern Berberben brachte, aber den Völkern, deren Zufunft Ans
fangs durch Erneuerung römifher Macht aufs Schwerfte bedroht
fhien, nit gefchadet hat. Das germanifche Kaiſerthum hielt zwar
bie politifche Entwicklung zweier großen Nationen, der Teutfchen
und Staliener auf, aber es erzeugte anderer Seits einen Kampf
zwifchen geiftlicher und weltliher Macht, welcher in Europa bie
bürgerliche Freiheit groß gezogen hat. Weit mehr als feine
eigene Macht, beförderte Karl durch die Maaßregel des Jahrs 800
den Auffhwung des Pabſtthums. Man denfe ſich: innerhalb eines
halben Jahrhunderts gejchieht eg, daß der römifche Stuhl erft ein
Königthum (durch Pipin’s Krönung) dann ein Kaifertbum zeugt.
Wie ungemefjen mußte hiedurch das Anfehen des Pabſts in den
Augen der Völler fleigen. Karl feheint letztern Nachtheil gefühlt
zu haben. Zugleich) mit ihm war durch Leo auch des Kaifers erfts
geborner Sohn gleichen Nameng, Karl der Jüngere, gefalbt worden,
welcher bald darauf in der Blüthe feines Alters farb, Als nun
Karl 813 feinen einzig Übriggebliebenen Sohn, Ludwig den From:
men, zum Nachfolger ernannte, bediente er fich nicht mehr. der
Mitwirkung des Pabfts, fondern er gebot dem jungen Fürften,
fi felbft die Kaiferfrone aufs Haupt zu feßen. I) Das Gleiche
thaten bie fpäteren Karolinger. Gleihwohl wußten die Päbſte ſtets
eine fhicliche Gelegenheit zu finden, um foldhen Kaifern aus ihrer
Hand die Salbung zu ertheilen. So fam es, daß das Kaiferthum
einen kirchlichen Charafter behielt.
Kaum hatte Karl die abendländifche Krone errungen, ald er
auch nach der morgenländifchen die Hände ausfiredte. Seine Ge:
mahlin Liutgarda war im Juni 800 geftorben; ?) zu gleicher Zeit
befand fich die Kaiferin Wittwe Irene zu Conflantinopel aus Grüns
ben, bie früher entwidelt worden, in der ſchwierigſten Lage, welche
ihr die Fraftvolle Stüse eines Mannes fehr wünſchenswerth machen
mußte. Nun erzählt Einhard, °) dag Karl im Jahre 802 den
Biſchof Jeße von Amiens und den Grafen Helmgaud als feine
Botſchafter nach Conftantinopel abſchickte. Den Zwed ihrer Sen:
dung erfahren wir durch Theophanes: „Geſandte famen yon Karl
) Theganus im Leben Ludwigs $. 6. Perz IL, 592 gegen oben, —
?) Einhardi annales ad 800 Perz I., 187 unten. — 6) Ibid, L, 190 unten.
Die fränkiſche Kirche vom Anfange bes fiebenten Jahrhunderts ıc. 681.
und dem Pabſte Leo, welche um die Hand Irene's für Karl wars
ben, damit das Morgen: und Abendland vereinigt würde.“ !) Welche
She zwifchen fränfifcher Herrſchſucht und griechifcher Arglift! Aber
die Welt ward von dem drohenden Uebel befreit. Der Grieche
fahrt fort: „Irene wäre wohl auf den Antrag eingegangen, wenn
es nicht Aetius, ihr allvermögender Rathgeber, verhindert hätte.“
Die fränkiſche Unterhandlung führte bekanntlich den Sturz Irene's
herbei, was auch Einhard ?) andeutet, indem er, die Ausſage des
Theophanes beftätigend, berichtet: Irene fey nah Ankunft der
Gefandten Karls abgefett worden. Der fränfifhe Kaifer mußte
auf das Morgenland verzichten.
Auh an der Krönung Karl’, wie fat an allen wichtigen
Geſchäften, die ihr vorangiengen und fie vorbereiten, hatte Alfuin,
wie wir faben, bedeutenden Antheil. Bon Alter und Schwachheit ges
beugt, wanfte er damals dem Grabe entgegen. Seine Laufbahn
neigte fich zu Ende. Seit der Nüdfehr yon der englischen Gefandt:
fhaft, war er von Karl meift am Hofe verwendet worden; im
Jahre 796 fchenkte ihn der König die Abtei Tours, unter deren
Mönchen Zügellofigfeit herrſchte. Alkuin fielte mit großer Strenge
die Ordnung her, und gründete alsbald eine Schule, aus welcher
viele ausgezeichnete Elerifer hervorgegangen find. Das Schulhalten
war Alfuin’d Element. Sp oft ihn Karl feitdem einlud, an Hof
zu fommen, konnte er ſich doch nie entfchließen, die Stille feiner
Abtei zu verlaffen. Freilih mag er in früheren Tagen unter ben
Rolgen Baronen, welde den König umgaben, eine peinliche Nolle
gefpielt haben. Auf eine der vielen Einladungen Karl’s erwiedert
er ?) einmal: „was foll die Schwachheit des Flaffus *) mitten
unter Waffen, was unter wilden Ebern ein Häslein, was unter
Löwen ein frommes Schaaf, das im Frieden aufgewacfen vom
Kriegshandwerfe nichts verfteht.“ Die Nüdfehr des neuen Kaifers
yon der Krönung, welche Alfuin als fein eigenes Werf mit Stolz
betrachtet haben mag, erwartete er mit ber Ungebuld eines Jüng⸗
lings. „Täglich,“ ſchreibt er ?) Kar entgegen, „habe ich mit jehn:
füchtiger Spannung des Gemüths und mit einem Ohre, dag gierig
Y) Theophanes ed, Bonnens. I., 737 unten. — 2 Ad annum 803,
Perz I., 191 oben. — 3) Alcuini epist. 67. Opp. I., 92 unten, — * So
nannte er fich felbfl. — °) Epist. 101. Opp. IL, 150 unten.
62 IT. Buch. Kapitel 9.
jedem Worte der Boten Yaufchte, auf Nachrichten von meinem Ge:
bieter geharrt, wann er nach Haufe fehren und in die Heimath
zurüdfehren werde? Endlich, obwohl ſpät, vernahm ich die erfehnte
Kunde: bald wird er fommen, fehon hat er die Alpen überftiegen.
Mit thränender Stimme rief ich wiederholt aus: o Herr! warum
giebft Du mir nicht die Schwingen des Adlers, warum verleihft Du
mir nicht, wenn auch nur auf einen einzigen Tag, ja auf eine
Stunde nur, entrüct zu werden, gleich dem Propheten Habafuf,
damit ich die Füße des Theuerflen Füffen könne, damit ich ihn felbft,
der mir über Alles in der Welt werth ift, und feine ftrahlenden
Augen fehe, und den Laut feiner Stimme vernehme“ u. f. w. Die
Schmeicheleien des Leviten haben, wie man fieht, eine theologifche
Beimifhung. Karl kam wirflih auf der Rückreiſe aus Stalien
nah Tours. Wahrfcheinlich fah ihn damals Alfuin zum letztenmale.
Im Jahre 803 brach zwifhen dem Biſchof Theodulf yon Orleans
und unferem Abte ein Streit aus, ber letzterem nahezu die Gunft
bes Kaifers gefoftet hätte. Ein Geiftlicher des Sprengels von Dr:
leans war wegen eines Verbrechens som Biſchofe zu Gefängniß- -
firafe verurtheilt worden, entfloh jedoch aus feiner Haft und fuchte
in der Klofterfirche des Heiligen Martinus von Tours ein Aſpyl.
Allein Theodulf wußte fih vom Kaifer Vollmacht zu verfchaffen, Die
ihn berechtigte, den Berbrecher aus der Kirche abzuholen. Bon
ihm ausgefendete Bewaffnete drangen wirklich in das Klofter ein.
Nun festen fih aber Alfuin’s Mönche zur Wehre und wiegelten
überdieß die Bettler der Stadt Tours auf, welche vom Almofen
bes Klofters Iebten. Die Folge war, daß Theodulf’s Bewaffnete
zurücgetrieben wurden. Alfuin, dem nicht ganz wohl zu Muth
war, fchrieb ) fofort an feine beiden Schüler Wizo und Fredegis,
bie fih am Hofe befanden, und erfuchte fie, dem Kaifer die Sache
der Wahrheit gemäß darzuftellen. Allein indeffen Hatte der Kaiſer
bereits Bericht von dem Borfalle erhalten; er ſchickte den Grafen
Teotbert nach Tours, um eine firenge Unterfuchung einzuleiten.
Zeotbert beftrafte den Pöbel, dergan dem Auflaufe Theil genommen,
rückſichtlos, und forderte die Brüderfchaft auf, den Cleriker feinem
Biſchofe auszuliefern. Abermal verweigerte Alfuin den Gehorfam,
indem er vorgab, der Flüchtling habe fih auf den Kaiſer berufen,
') Epist, 118, Opp. I., 169 fig.
Die fränkiſche Kirche vom Anfange des fiebenten Jahrhunderts a. 683
und könne daher, gleich Paulus, nur vom Kaifer gerichtet werben.
Zugleich fehrieb er einen Brief!) an Karln, in welchem er fein
Betragen vechtfertigte und Klage über den Grafen Teotbert führte,
Sept goß der Kaifer feinen ganzen Zorn über die Brübderfchaft in
Tours aus, Er erließ ein drohendes Schreiben ?) an fie, in wels
chem er ihnen namentlich vorwirft, wie fie die Bemühungen des
Kaifers, ihnen aus fernen Landen einen fo trefflichen Vorſteher zu
geben, mit folhem Undank und folder Verachtung gegen die kai—
ferlihen Befehle lohnen könnten. Gleichwohl gehorchte Alkuin auch
jest nicht; Doch wagte er nicht, den Flüchtling im Klofter zu behal-
ten, er fchiefte ihn vielmehr nach Salzburg zu feinem Freunde
Arno. 3) Seitdem blieb die Sache, wie es fiheint, auf ſich berus
hen. Man fieht, Alkuin durfte fich viel herausnehmen. Im fol
genden Jahre nad) diefem Vorfall, den 19, Mai 804 ftarb Alfuin.
Außer den früher angeführten Schriften hinterließ er mehrere exe—
getifhe, Hiftorifche und Titurgifche Bücher, und auch zahlreiche
Yateinifche Gedichte. Der werthvollſte Theil feines literariſchen Nach—
Yafjes ift jedoch die Brieffammlung, welche unter den Quellen zur
Geſchichte Karl's des Großen einen bedeutenden Rang einnimmt. *)
Wir haben ung bisher blos mit den Verhältniffen der gallifchen
Kirche befchäftigt; aber auch in Teutfchland giengen indeffen höchft
wichtige Dinge vor. Früher wurde erzählt, daß der heil. Bonifactus
bis zum Ende feines Lebens den Gedanken verfolgte, die Sad:
fen, als den lettten unbefehrten teutfchen Stamm, in den Schooß ber
Kirche zu führen. Eben diefen Plan hat Karl verwirklicht, aber
freilich mit ganz entfeglichen Mitteln. Doch erfcheint fein Betragen,
fo furchtbar es ift, in einem milderen Lichte, wenn man bie allge:
meinen Verhältniſſe der damaligen Zeit in Betracht zieht. Die
teutihen Stämme, welche feit Ende des vierten Jahrhunderts ing
römische Reich eingedrungen waren, hatten ungeheure Reichthümer
zufammengebradht. Auf langen Wagenzügen fchleppten. die Weft-
gothen die Koftbarfeiten, welche fie unter Mari zu Nom geplün:
1) Epist, 195. Opp. T., 260 fig. — 2) Epist, 119. Opp. I., 174 fig. —
3) Dieß erhellt aus dem 120ften Briefe. — *) Lefer, die fich genauer über
Alkuin unterrichten wollen, verweiſe ich auf die Schrift: Friedrich Lorenz
Alkuin’s Leben. Halle 1829. Sie ift weit verftändiger und beffer gefchrie«
ben, als der große Haufe anderer teutfchen Monographien, deren unfere Lites
ratur fo viele beſitzt.
684 I, Buch. Kapitel 9.
bert, in ihre fpätere Wohnfige mit ſich. Gleicher Weife ift an vielen
Stellen der Gefchichtsbliher des Tourer Bifchofs Gregor von
Schasfammern die Rebe, welche fränfifche Häuptlinge angelegt hat:
ten und eiferfüchtig bewachten. Noch aus dem Niebelungen-Liebe
erfieht man, daß fich bis ing tiefe Mittelalter herein die Sage von
ſolchen Schägen erhielt. Nun drang frühe das Gerücht von bem
Slüde der ausgewanderten Stammesvettern in das Heimathland.
zu denjenigen teutfchen Völkern, welche zu Haufe geblieben waren,
und erfüllte diefe mit wilder Gier. Um jeden Preis wollten fie
aud ihren Antheil an den Reichthümern der römischen Lande haben.
Seit dem achten Jahrhundert beginnt eine neue germanifche Wanz
derung. Die Norbmannen, die Jüten, die Dänen gerathen in
Bewegung, um einen Theil der Beute den reichgeworbenen Stamm⸗
genoffen abzujagen. In gleicher Lage, wie bie eben genannten nordis
fhen Germanen, befanden fihb auch die Altfachlen. Schon in
Gregor's D von Tours Tagen fielen fie verheerend in Frankreich ein,
und als Karl zur Regierung gelangte, ererbte er wider fie einen
Krieg, der ſchon faft zwei Jahrhunderte — verfteht fi) mit langen
Zwiſchenräumen — dauerte. Nun muß man befennen, daß auf
Seite der Sachſen wilde Gier und Raubſucht, auf Seite der Frans
fen dagegen, wenigftens neben unedleren Triebfedern, das Beftreben
fampfte, eine neu entftandene Cultur gegen Barbaren zu vertheis
digen. Hätte Karl die Sachſen nicht unterjocht, fo konnte er ficher
darauf rechnen, daß fie fein Neich bei nächfter Gelegenheit anfallen
und umflürgen würden. Hammer, oder Ambos zu feyn, war hier
die einzige Wahl. Man fann fih daher nicht wundern, baß er
jedes Mittel, das zum Ziel führte, unbedenklich ergriff. Die Ge—
fchichte, welche das Ganze ind Auge faßt, darf bier noch einen
andern ‚Gefichtspunft hervorheben. Wenn es Karl nicht gelang,
die Sachſen fränfifcher Herrfchaft zu unterwerfen, fo würden fie auch
nie. organifche Glieder des germanifhen Staats, ber feit 843 ba-
ftand, geworden ſeyn. Diefer tapfere Stamm, der ung eine Reihe
ausgezeichneter Häupter gab, hätte der Einheit des germanifchen
Reiches gefehlt. Wir wollen daher feinen Stein auf Karl *—
der Sachſenkriege werfen.
Auf dem Reichstage, den Karl im Frühjahr 772 zu Worms
) Gregoriug von Tours histor, franc. IV., 16. Opp. ©. 158,
Die fränkiſche Kirche vom Anfange des fiebenten Sahrhunderis c. 685
hielt, wurde der Kampf gegen bie Sachſen befchloffen und fofort
eröffnet. Die Franfen erflürmten Eresburg, eine Feflung ber
Sachſen, und bemächtigten ſich in Folge ihres Siegers der Ermin:
ful, eines ſächſiſchen Götzenbilds, yon dem nian viel gefabelt hat,
aber außer den angeführten Worten nichts Sicheres weiß, !) Karl
ließ den Götzen zerftören, und zwang bie beftegten Sachſen ihm
zwölf Geißel zu ftellen. Im Herbfte fehrte der König nad Fran-
cien zurüd; es war ein glüdlicher Feldzug geweſen, ohne bleiben:
den Erfolg. Sobald Karl fih nah irgend einer andern Seite
wandte, oder bei jeder für fie irgend günftigen Wendung der fränfi=
fchen Angelegenheiten, griffen die Sachſen wieder zum Gewehr,
und der Krieg dauerte mit wenigen Unterbrechungen faft dreißig
Jahre Yang alfo fort, daß. faft jeden Sommer an der Elbe oder
der Wefer geftritten ward. Schon im Jahre 774 bracden bie
Sachſen verheerend nah Hefjen vor. Karl fand die Feinde fo ge—
fährlih, daß er ein allgemeines Aufgebot in alle von ihm bes
berrfchte Provinzen ergehen ließ. Mit ſämmtlichen Streitkräften
feines Reichs, fagt Einhard, ?) eröffnete Karl den Feldzug des
Yahres 775. Dennoch richtete er nichts Bedeutendes aus. Nach—
dem er die Borhut der Sachen zurüdgefchlagen hatte, gieng er
über die Wefer und theilte fein Heer in zwei Haufen. Während
diejenige Abtheilung, an deren Spige er felbft fland, mit Glück
focht, wird die andere von den Feinden umringt und niederge:
macht. Karl mußte fih begnügen, daß ein Theil der Sachſen zum
Scheine das Chriſtenthum annahm. Auch der Kampf des Jahre
776 blieb ohne erheblichen Erfolg. Weiter fcheint der Franfen-
fönig im Jahr 777 fortgefchritten zu feyn. Denn nad Beendi—
gung des Feldzugs hielt Karl den erſten Reichstag zu Paderborn,
auf welchem die anmwefenden Sachſen befchworen, daß ihre Freiheit
und ihr Eigenthum verwirkt feyn folle, wenn fie je wieder vom
fränfifchen Reich und dem Chriſtenthum abfallen würden. 3) Allein
ber Hauptgegner Karls, Wittichind Kriegsherzog der Oftfahlen,
hatte fih nicht in Paderborn eingefunden, er war zu den Nords
mannen entflohben. Die Abwefenheit biefes einen Mannes bes
wirkte, daß bie eingegangenen Berpflihtungen yon den Sachfen
1) Einhardi annales ad annum 772, Perz I., 150, 151. — 2) Ibid, ad
annum 775 Band I,, 153 — 55, — 3) Ibid I,, 156 und 157 fo wie 349,
686 | II. Buch. Kapitel 9,
nicht gehalten wurden. Während Karl im Jahr 778 den unglüds
lichen Zug nad) Spanien unternimmt, bewegt Wittichind fein Volk,
das fränkiſche Joch abzufchüttein. Vergeblich bietet Karl in den
Sahren 779 und 780 neue Heere gegen die Sachſen auf. Im
Sommer 782 ſchlagen Diefe drei fränfifche Grafen, welche gegen fie mit
großer Macht ausgeſchickt waren, am Berge Sintel aufs Haupt. !) Auf
die Nachricht yon der Niederlage, eilte Kart ſelbſt racheichnaubend nach
Sachſen, verheerte das Land mit Feuer und Schwert, und zwang
bie Haupter des Bolfs, ihm Diejenigen zu nennen und auszuliefern,
die am Sintel gegen die Franken gefochten hatten. Biertaufend-
fünfpundert Dann wurden ihm übergeben, er ließ fie Alle an
einem Tage bei Berden zufammenfäbeln. Berräthereien unter
ben Sachſen felbft fcheinen ihm in die Hände gearbeitet zu haben,
daß er die Opfer feiner Rache herausfinden und dieſes fcheustiche
Blutbad anrichten fonnte, Seitdem wurde das Glück den Sadfen
untreu, Im Feldzug des Jahrs 783 erlitten fie ſchwere Verluſte.
Im folgenden Jahre begann Karl ihr Land planmäßig auszuhungern.
Die Ernten wurden angezündet, die Vorräthe zerfisrt, die Häufer
niedergeriffen oder verbrannt, Feld und Flur in eine Einöde ver:
wandelt. Jetzt merften die Führer des Volks, daß fernerer Wider:
ftand hoffnungslos ſey. Wittechind, der im Jahr 782 fih vor Karls
Rache zu den Nordmannen geflüchtet hatte, und Abbio, Herzog der
Engerer, unterhandelten mit dem Franfenfönig. Nachdem von ber
einen wie ber andern Seite. Geißel geftellt waren, begaben fid
Wittichind und Abbio 755 zu Karl nad Attigny, und befiegelten ihre
Unterwerfung durch die Taufe. Diefe tapfern Männer, die feit 13
Sahren die Seele des Kriegs gegen die Franken gewejen, traten
feitdem in den Privatftand zurüd, ihr Name wird in den folgenden
Kämpfen nicht mehr genannt, das Volk hatte feine fähigften Häupter
verloren. Im nemlichen Jahre, wie es feheint, 2) hielt Karl wider
die Sachſen den Reichstag zu Paderborn, welcher eine Reihe Geſetze
erließ, deren jedes mit Blut gefchrieben if. Der vierte Artifel
verfügt: „wer in der AOtägigen Faftenzeit Fleifch ißt, der foll des
Todes fterben.* Der fiebente: „Wer die Leiche eines Verſtorbenen
nach heidnifcher Sitte verbrennt, der fol am Leben beftraft werden.“
1) Ibid, 163 unten flg. — 9 Dan fehe Perz leges. I., 48. Baluzius ver:
feßt diefen Reichstag ins Jahr 788, Capitularia II,, 1039, Der Text bei
Perz a. a. D., ober bei Baluzius I., 249 fig.
Die fränkiſche Kirche vom Anfange des fiebenten Jahrhunderts ꝛc. 687
Der achte: „Jeder Sachſe, der fih ferner verbirgt, um der Taufe
zu entgehen, foll des Todes fterben.“ Der fiebenzehnte: „Auch bes
fehlen wir gemäß dem Worte Gottes, daß Jeglicher den zehenten
‚Theil feines Vermögens, wie des täglichen Erwerbs, den Kirchen
und den Prieftern gebe. Alle ohne Ausnahme, Edle, wie gemeine
Freie und Dienftleute, find diefem Gefege unterworfen.“ Der neun:
zehnte: „Wer ein neugebornes Kind innerhalb eines Jahrs nicht
zur Taufe ſchickt, fol, wenn er ein Edler ift, Hundertzwanzig, wenn
ein Freier, fechszig, wenn ein Dienfimann, dreißig Goldflüde an die
Kammer als Strafe erlegen.“ Zugleih wurden fränfifche Grafen
als Amtleute über die Sachfen beftellt, um die —— dieſer
Geſetze zu erzwingen.
Seitdem herrſchte bis 792 die Ruhe des Grabes im Sachſen—
lande. Aber während Karl 793 fih zum Kriege gegen die Ungarn
rüftet, und eben befchäftigt ift, duch Grabung eines Kanals zwi:
fhen ber Redniz und der Altmühl, die Donau mit dem Nhein zu ver-
binden, empfängt er die Nachricht, 1) daß die Sachſen von Neuem
aufgeftanden feyen. In fünf aufeinander folgenden Sommerfeld:
gügen, wird nun das Land ber Empörten abermals durch die Franken
fürchterlich verheert. Auf demfelben Reichstage zu Paderborn, wo
Karl mit Leo den Bertrag über die Kaiferfrönung abſchloß, brachte
er auch (799) zum erftenmale Die Maßregel zur Ausführung , daß
bie unrubigften Sachſen mit Weib und Kind aus der Heimath ab:
geführt, und als Sklaven in andere Provinzen des Neichs vertheilt
wurden. „Damals fchreibt der Mönch von Moiffae, ?) nahm Karl
eine Menge Sachſen mit Weib und Kind aus ihrer Heimath weg,
und verſetzte fie in verſchiedene Gegenden; ihren Landbefis aber
pertheilte er unter feine Getreue, d. h. unter die Bifchöfe, Pres—
byter und andere Bafallen.“ Es wäre ein Irrtum, wenn man
glauben wollte, daß ſich im Franfenreiche Feine mißbilligende Stimmen
gegen das blutige Verfahren Karls erhoben hätten. Im Jahre
796 ſchreibt ?) Alfuin an den König: „Eure Weisheit möge dem
neubefehrten Bolfe der Sachſen Prediger zufenden, die rein an
Sitten, der Sache Gottes ergeben und in der Schrift wohl bewan:
bert find. — Auch ift wohl zu überlegen, ob es gut fey dem rohen
1) Einhardi annales ad annum 793. Perz I., 179, — 2) Chronicon
Moissiacense ad annum 799 bei Perz I., 2 — ?) Epist, XXVIIL, Opp. I,
57 unten fig.
688 ung II. Buch. Kapitel 9.
Bolfe das Joch der Zehnten aufzwerlegen, und ob bie
Apoftel, da fie vom Herrn in alle Welt ausgefchictt wurden, Zehns
ten von den Völkern gefordert Haben? Allerdings ift bie
Verzehntung unferes Eigentums eine löbliche Sache. Aber beffer
ift es, auf diefelbe zu verzichten, als den Glauben zu verlieren.
Wir felbft, die wir im Fatholifchen Glauben geboren und groß ge=
‘zogen find, können kaum die Laft der Zehnten ertragen, wie viel
weniger jenes rohe Bolf.“ Noch flärfer fpricht fih Alkuin in
einigen andern Briefen aus. So 3. B. in einem Schreiben ) an
den Bifhof von Salzburg Arno. „Das arme Volk der Sachen
ift deßhalb dem Eide der Taufe fo oft untreu geworben, weil man
fih nie die Mühe gab, den Glauben in ihre Herzen zu pflanzen.
Der Glaube, fagt Auguftin, fommt aus dem freien Willen, er kann
nicht aufgenöthigt werden.“ Ebenfo in einem Briefe ?) an Karls
Kämmerer Megenfried, der im Kriege gegen die Sachſen eine
Heeresabtheilung befehligte: „Wenn man mit ebenfo glühendem
Eifer dem harten Bolfe der Sachſen das fanfte Zoch Chrifti und
Seine leichte Laft predigte, als man erpicht if, Zehnten von ihnen
einzufordern, und fie wegen ber Fleinften Vergehen unerbittlich zu
beftrafen, jo würden fie fich nicht fo hartnädig gegen die Taufe
fträuben. Möchten doch die Geiftlichen, welche man zu ihnen fchict,
treue Schüler der Apoftel, möchten fie Prediger des Worts
und feine Räuber feyn“ Das ift fhon gejagt und wahr:
ſcheinlich auch vortrefflih gemeint. Allein Alkuin wünſchte ebenfo
ſehnlich als Karl, daß die Sachſen dem fränfifhen Reihe und
der fränfifhen Kirche fih unterwerfen. Da lag der Knoten!
Wenn Engel vom Himmel berabgeftiegen wären und die Sachen
aufgefordert hätten, Chriftum unter der Bedingung fränfifcher Herr:
fchaft zu befennen, fo würden fie fein Gehör gefunden haben.
Wollte daher Alkuin der Sache auf den Grund gehen, fo mußte
er. Karl'n bitten, die Unabhängigfeit der Sachſen zu fohonen. Da
er dieß nicht that, fo erfcheint feine Einrede nur als einer jener
wohlfeilen Rathfchläge, die man vom warmen Zimmer aus fehr
Veicht ertheilen fann. Zu dem Ziele, das Karl fo gut als Alfuin
verfolgte, führte nur Anwendung von Gemwaltmitteln.
Während Karls Abwefenheit in Italien wegen ber Kaiſer⸗
1) Epist, XXXI., Opp. IL, 42 Mitte, — ®) Epist, XXXIII., ibid, I,
bi Mitte,
Die fränfifche Kirche vom Anfange des fiebenten Jahrhunderts ıc. 689
frönung, flamınte die, Verzweiflung des Volks noch einmal auf.
Ein Theil der Sachſen, die auf dem linfen und alle, die auf dem
rechten Ufer. der Elbe wohnten, fihüttelten 802 das fränfifche Joch
ab, und erhoben fih in Waffen. Karl war, damals in fein ſechs—
zigftes Lebensjahr getreten, er mochte fühlen, daß der Krieg ohne
augenfcheinliche Gefahr für die Ruhe des Reihe nicht mehr länger
bauern bürfe. Alſo beſchloß er der Sache mit einigen fürchterlihen
Schlägen ein Ende zu madhen. Im Jahre 803 wurden umfaffende
Borbereitungen getroffen. Erſtlich fuchte er den fächfischen Adel vom
Bolfe logzureißen, und auf feine Seite herüberzugiehen. Die Mittel
ber Berführung, welche er anmwandte, hatten erwünfchten Erfolg.
Der unbekannte Sachfe, welder Karls Gefhichte nach) dem Wort:
laut der Chroniken gegen Ende des neunten Jahrhunderts in Verſe
bradte, berichtet ) zum Jahr 803: „die Großmuth des Fürften
wirkte noch mehr, als der Schreden vor ihm. Wer fih ihm hin:
gab, den ſchmückte er mit Ehren und Schägen. Fränkiſcher Reich:
tbum wurde damals zuerft den armen Sachſen befannt, weil der
Herrſcher "ehr vielen von ihnen Landgüter ſchenkte. Nachdem er
fo den Adel an ſich gelodt hatte, zertrat er dag wider:
jpenftige gemeine Bolf mit den Waffen“ Diefe merk
wirdigen Worte werden trefflih dur ein Sapitular vom Jahr 802
beftätigt, ) wo von Sachſen die Rede ift, welche Lehen in
Sranfreih empfangen haben. Fürs Zweite ſchloß Karl
mit dem Könige der Dbotriten in der heutigen Mark Brandenburg
ein Bündniß ab, durch welches fefigefegt wurbe, daß dieſe Slaven
gemeinschaftlich mit den Sranfen über die aufgeftandenen Sachſen her:
fallen follten. Und nun rüdte er 804 mit einem mächtigen Heere ing Land
ber Sachſen ein, Bon zwei Seiten umringt, mußte das tapfere Bolf er-
liegen. Entjeglich war die Behandlung, die fie erfuhren. Zehntaufend
Familien vertrieb Karl von Haus und Hof, und vertheilte fie ing ganze
Neid. Daher flammen jene Sachfenfolonien im füdlihen Teutſch—
land. ?) Das Land aber, aus welchem diefe Sachen vertrieben
worden, ſchenkte Karl den Obptriten. *) Auf diejenigen, welde
zurüdbleiben durften, wurde ein fürchterliches Zoch gelegt. Er ent:
) Perz J., 261 gegen unten. — 2) Baluzius I., 576 unten. — 3) Wie
Sachſenhauſen bei Frankfurt, oder Groß: und Klein: Sachfenheim in Würtems
berg. — *) Einhardi annales ad annum 80% Perz J., 191 unten, Idem
in vita Carol, cap. 7. Perz II., 447,
Gfrörer, Kircheng. III
| 44
690 II. Buch. Kapitel 9.
308 ihnen nemlich nicht weniger — als das Erbredt. Seit—
dem mußten die Söhne ſächſiſcher Freibauern um das Erbe ihrer
verfiorbenen Bäter, das ihnen von Gott und Nechtswegen gehörte,
vor des Kaifers Amtleuten, eben jenen Eden, die durch Karl ver-
führt und von der Nationalfache Iosgeriffen worden waren, wie
sor Karl felbft, betteln. Man Fann ſich denfen, welche Ernied-
rigung freier Männer, welche Plafereien und Frepel eine ſolche Einrich-
tung zur Folge hatte, die jedoch Ludwig der Fromme ) fogleich nad)
feinem Regierungsantritt aufhob. Bon Run an herrfohte im Lande
der Sachſen Ruhe. Sie haben nachher das Schwert gegen Karl
nicht mehr gezogen. Wir müffen noch bemerfen, dag, wie in Napo—
leons Tagen, die Kraft der füddeutfchen Stämme aufgeboten wurde,
um ihren norbdeutfchen Blutsverwandten das Gebiß anlegen zu
helfen. Der batrifche und alamannifche Heerbann ftand zu wieder:
holten Maffen gegen. die Sachen. Ueber die gegen das unglüd-
liche Volk verübten Greuel fann man fih nur durch die Ber
trachtung tröften, daß die größeren Fortfchritte der Menfchheit
faft immer um Blut und Leiden erfauft find. r
Karl hatte dem Clerus in dem 3Ojährigen Sachfenfriege eine
wichtige Rolle zugedacht. Die Kirche follte die Leberwundenen in
Empfang nehmen, an Demuth gewöhnen, und im Gehorfam er:
halten. Daß er in dem unterjochten Lande ein Priefterthum errich-
tete, geht ſchon aus der Thatfache jener Geſetze Über die Zehnten
hervor, welche er auf dem Neichstage von 785 dem Clerus zufprad).
Aber eine andere Trage ift, in welcher Form er urfprünglid
diefe Einrichtung getroffen habe? Es werben teils Urkunden, theils
Beweife aus Gefchichtfchreibern vorgelegt, kraft welcher während der
Jahre 780 — 800 von Karl in Sachfen acht Bisthümer eingefegt
worden feyn follen: nemlich Minden ?) angeblih 780, Halber-
ſtadt, angeblih 781 zu Seligenftadt errichtet, dann in erſteren
Drt verlegt, ?) Hildesheim, # Verden, angeblih 786 begrün-
det, 5) Bremen, angeblid 788 geftiftet, %) Osnabrüd, angeblich
1) Vita Ludoviei $. 24. Perz IT, 619 gegen unten. — ®) Angeblicher
Beweis bei Spaten, Historia Westphaliae in deſſen Opp. I., 316 oben. —
3) Beweis aus einer Halberftädter Chronik, bei Leibniz scriptor, rer, bruns-
vie, IL, 110. — *) Die Kirche dafelbft foll Taut einer Chronik bei Leibniz J.,
742 von Karl dem Großen gegründet, aber der dortige Stuhl erft von Ludwig
dem Frommen errichtet worden feyn. — 5) Urkunde bei Schaten a. a. D.,
©. 541 fig. — 9) Urkunde ibid, ©. 348 flg., auch bei Baluzius Capit, I., 245.
Die fränfifche Kirche vom Anfange des fiebenten Jahrhunderts ꝛc. 691
780 von Karl eingefeßt, dann durch eine Urkunde vom Jahr
804 beftätigt, ) Münfter, oder wie der Drt früher hieß, Mimi—
gardenford, angeblihd um 788 gegründet, ?) endlih Pader—
born, nad Schaten's Behauptung im Jahr 780 geftiftet. 3) Allein
die Beweiſe aus Schriftfielern, duch welche man diefe Angaben
zu befräftigen verfucht hat, find nichtig, Die vorgebradhten Urkunden
entweder höchſt werbächtig, oder offenbar geſchmiedet. Die Achten
Quellen über die Geſchichte Karls wiffen fein Wort von dieſen
fünmtlichen ſächſiſchen Bisthümern. Sodann verträgt fi Die
dauernde Errichtung derfelben nicht mit feftftehenden Thatfachen.
Bom Jahre 772 — 85 wüthete fortwährend Krieg im Lande, Im
Sommer gewannen zwar manchmal die Franken Boden, im Winter
aber blieben die Sachfen Herren. Kein Stuhl fann daher vor 785
in Sachſen gegründet worden feyn. In den nächſtfolgenden fieben
Jahren bis 792 war zwar Friede aber ein unficherer, und wir
glauben kaum, dag Karl es gewagt habe, damals Bifchöfe im
Lande zurüdzulafen. Bon 793 — 803 tobte wieder der Kampf.
Dauernde Einrichtungen fünnen daher erft feit 804 begründet wor:
ben ſeyn. Einige Aeußerungen gleichzeitiger Schriftfteller führen
auf die Wahrheit. Der Abt Eigil berichtet *) in dem Leben Sturmi's,
das er noch zu Karls Zeiten abfaßte, Folgendes: „Mit einem
großen Deere zog Karl (772) nad Sachſen. Unter feinem Ge:
folge waren Bifhöfe, Aebte und Presbyter, um das Volk, das in
den Striden der Teufel gefangen lag, zu dem fanften Joche
Chriſti zu befehren. — Bald darauf vertheilte Karl die ganze
Provinz in bifhöflihe Sprengel (parochias episcopales) und
gab den Knechten Gottes Vollmacht zu Iehren und zu taufen. Der
größte Theil aber defjelbigen Landes ward der geiftfichen Obhut
des feligen Sturmi überwiefen.“ Der Ausdrud: „biſchöfliche
Sprengel,“ den Eigil gebraucht, kann nun nicht regelmäßige, und
mit eigenen Bischöfen verfehene Stühle bezeichnen. Denn Sturmi
erhielt ja, wie Eigil fagt, den größten Theil Sachſens, und doc)
blieb er, was er früher war, nemlich Abt von Fuld. Sondern
') Die zwei Beftätigungsurkunden abgedruckt bei Fürſtenberg monumenta
Paderbornensia edit. IIda ©. 325 flg., oder auch bei Möſer osnabrückiſche
Geſchichte 1., 405 flg. — 2) Beweis bei Schaten a. a. O., ©. 316 b. —
°) Ibid. 316 a. unten, — +) Mabillon acta ord, s. Bened. III., b. ©, 256,
oder auch bei Perg II., 576 Mitte.
dA»
692 | UL Bud. Kapitel 9.
die Sache verhielt fich ohne Zweifel fo: Karl vertheilte die neue
Eroberung unter die fränkischen Biſchöfe, bie ihn begleiteten, und
die, wohl gemerkt, im Frankenreich bereits ihre eigenen Stühle be:
faßen. Was fie in Sachſen gewannen, war blos ein, und zwar
unficheres, Anhängfel ihres früheren Beſitzes. Diefelben schickten
dann Presbyter und Diafone ins Land, um die Sachſen zu taufen,
insbefondere aber um die Zehnten für Rechnung des Biſchofs einzu:
treiben. Daher fommt es denn, dag Alkuin in dem oben ange:
führten Briefe von Clerifern fpricht, Die im Sachjenlande nicht wie
Prediger, fondern wie Räuber handeln. Diefe Anficht von den
feüheften ſächſiſchen Kircheneinrichtungen wird uns auch durch die
Stelle aus der Chronif von Meoiffae aufgedrängt, wo es heißt,
Karl habe die Güter der Sachſen an feine getreue Anhänger, die
(fränkiſchen) Bifchöfe, Presbyter und andere Bafallen verfchenft.
Aller Zweifel muß jedoch vor dem Zeugniffe eines fächfifchen Pres-
byters Ido fehwinden, der gegen Ausgang des neunten Jahr:
hunderts einen Bericht über die Verfegung der Reliquien des bei:
ligen Liborius nach Paderborn ſchrieb. Wir kennen das Buch nur
durch Auszüge, welche Eckhard in feiner Gefchichte des vftlichen
Frankens gegeben hat. Hier fagt !) der Sachſe, der offenbar treff-
ih von den Alteren Schickſalen feines VBaterlands unterrichtet war,
unter Anderem Folgendes: „Karl ließ fo ſchnell als möglich Kirchen
bauen, und theilte das Land in forgfältig abgegränzte Sprengel. _
Weil es jedoch in Sachſen gar feine Städte gab, in welchen allein
nach alter Sitte Stühle errichtet werden Dürfen, fo wählte er folche
Drte aus, welche wegen ihrer natürlichen Vorzüge, oder um ber
dichteren Bevölkerung willen, befonders geeignet fehienen. Allein es
fehlte an Männern, die fih zu Biſchöfen der barbarifhen Nation
weihen laffen wollten, weil der Aufenthalt dafelbit lebensgefährlich
war. Deßhalb überantwortete Karl jeglichen der erwählten Site fammt
dem betreffenden Sprengel den Biſchöfen anderer Kirden
feines Reichs, damit diefelben, wenn es angienge, in das Land
reifen und das Volk unterrichten möchten. Ueberdieß wurden fie ange-
wiefen, zuverläßige Leute aus ihrem Clerus, mit den nöthi:
gen Kirdhengeräthen, nah Sachſen zu beordern.
Diefe einftweilige Einrichtung ſollte (nach des Königs Plane) fo
') Eckhardi commentarii de rebus Franciae orientalis' II, , 24,
Die fräntifche Kirche vom Anfange des fiebenten Jahrhunderts ꝛc. 693
fange dauern, bis das Land gehörig im Glauben erſtarkt wäre,
Dann erft, wann Diefes gefchehen, wollte Karl fefte Bisthümer in
Sachſen errihten.“ Die Ausfage des Presbyters trägt das Siegel
der Wahrheit an der Stirne, überdieß flimmt fie vortrefflich mit den
urfundlich befannten Umftänden überein Karl bat alfo zwar
Sachſen an fränfifche Bischöfe vertheilt, aber bejondere Stühle hat
er dafelbft vor 803 nicht errichtet, denn dieß war unmöglich. Erft
nach völliger Unterjohung des Landes konnte er an Einfegung
eines regelmäßigen Prieſterthums denfen. Die oben genannten
acht Bisthümer müffen in den letzten Jahren Karl’s, oder in den
erften feines Nachfolgers, Ludwig's des Frommen, ihre Vollendung
erlangt haben. Denn um die Mitte des neunten Jahrhunderts
erfcheinen fie als feft begründete Anftalten mit Fräftigen Wurzeln
im Lande, was eine längere Dauer vorausſetzt. Nun gehört zu
vollfommener Einrichtung eines Stuhls, daß derfelbe einem Metro:
politanverbande einverleibt wird, Dieß führt ung auf eine neue
Seite der Frage. Wir müſſen vor Allem einen früher abgeriffenen
Faden wieder anknüpfen.
Nur mit äußerſter Mühe errang, wie oben ) berichtet worden,
Bonifacius vom Pabſte die Erlaubniß, einen Nachfolger ernennen
und demſelben ſeine Rechte, das heißt die Metropolitangewalt über
das ganze damals bekehrte Teutſchland, abtreten zu dürfen. Lull,
der Erkorne des Bonifacius, rückte wirklich in deſſen Rechte ein.
Er genoß Anfangs großes Anſehen. Ich finde, daß Lull einer von
den zwölf fränkiſchen Bifchöfen war, welche Pipin auf Verlangen
bes Pabſts 765 nad) Rom abfchiekte, 2) und welche 769 der bort
gehaltenen Synode anmohnten. ?) Aber bald warb die Sonne
feines Glücks von düftern Wolfen überfchattet. Um 775 fihreibt #)
Pabſt Hadrian der Erfte an den Erzbiſchof Tilpin ?) von Rheims:
„dieweil gewiffe Nachrichten über die Einfeßung des Biſchofs
Lull von Mainz an ung gelangt find, befehlen wir dir, in Gemein:
haft mit einigen Biſchöfen und Kammerboten des Könige Karl
die Einweihung des befagten Lull, fo wie auch feine Lehre und
feinen Wandel genau zu prüfen, auch follft du ihn anhalten, ung
fein Glaubensbefenntniß zu überfenden, damit wir nad) Erfund der
) ©. 548. — 2) Siehe oben ©. 576. — 3) Manft Xı:, 744 zu unterft
fteht fein Name verzeichnet. — *) Manſi XII., 846, — %) Dieß ift der Bifchöf
Turpin der fränkifchen Sage. | |
694 II. Buch. Kapitel 9,
Sade ihm das Pallium zufenden, und feine Weihe aner-
fennen, aud ihn als Erzbifchof von Mainz beftätigen
mögen“ Man fieht, der Pabft ift entfchloffen, die That des
Bonifacius und die von ihm an feinen Nachfolger übertragenen
Rechte für nichtig zu erklären. Der Stuhl von Nom findet die
Macht Lull's zu groß, die Flügel follen ihm daher befchnitten wer:
den. Wirklich iſt dieß geſchehen. Wir haben früher erzählt, daß
Bonifacius mit dem Stuhle zu Cölln wegen der Kirche zu Trecht
einen Streit zu beftehen hatte, und vom Pabſte eine günftige Ent:
ſcheidung auswirkte, in Folge deren der Mainzer Metropolit feinen
Schüler Eobanus zum Biſchofe in Trecht mweihte Nach Ermordung
bes Bonifacius und Eobanus verwaltete den Trechter Sprengel ein
anderer Schüler des Erfteren, Gregorius. Der Bischof yon Münſter
Liudger, welcher bald nad Anfang des neunten Jahrhunderts das
Leben des Gregorius beſchrieb, und ein Schüler defjelben war,
meldet ausdrücklich, ) Gregorius fey durch Pabft Stephan und den
König Pipin ermächtigt worden, das Wort Gottes in Friesland
auszuſäen, d. h. der Kirche von Utrecht vorzuſtehen. Dennoch
wurde Gregorius nicht zum Biſchofe ernannt, ſondern er blieb, ob—
gleich er das Amt eines Biſchofs verſah, bis an ſein um 780 er—
folgtes Ende, einfacher Presbyter. Wir verdanken dieſe Nachricht 2)
der Biographie des eben erwähnten Biſchofs von Münſter Liudger,
deſſen Leben der 849 verſtorbene dritte Biſchof derſelben Stadt
Altfrid geſchildert hat. Wie ſoll man ſich nun jene ſonderbare
Erſcheinung erklären? Schon Longueval ?) hat das Wahre ge:
fehen, indem er die Bermuthung ausfpridt: „Gregor fey darum
nicht zur Würde eines Bifchofs erhoben worden, weil der Stuhl
von Cölln fih mit Glück widerjegte, indem er Utrecht als einen
Theil feines Sprengels in Anſpruch nahm.“ Daß die Sadhe ſich
wirffih fo verhalte, erhellt aus einer andern Stelle der Bio:
graphie Lindger’s, wo wir Iefen: „Albrich, der Verwandte und
Nachfolger des Gregorius, habe in Cölln die Weihe zum Bifchofe
von Utrecht empfangen.“ Folglich behandelte der Stuhl von Cölln
nad dem Tode des Gregorius den Utrechter als feinen Unter:
gebenen, und übte Metropolitanrechte über ihn aus, Die Weihe
) Mabillon acta ord. s. Bened, III., b. ©. 298 gegen oben. —
2) Bei Perz IT., 407 Mitte. — 3) Histoire de l'eglise gallicane IV., 396
unten. — ) U. a. DO. bei Perz II., 408 unten,
Die fränkiſche Kirche vom Anfange des fiebenten Jahrhunderts ꝛc. 695
Albrich's fällt in den Anfang der achtziger Jahre des achten Jahr:
hunderts; im Dftober 786 ftarb Lull, Erzbifchof von Mainz. Bor
feinem Ableben hatte er demnach den Verdruß, bie Gränzen feines
Metropolitanfprengels, die ihm Bonifacius hinterlaffen, um die
Kirche von Utrecht gemindert zu fehen. Eine größere Demüthigung
widerfuhr Lull's Nachfolger, Rikulf. Big 794 führte der Hirte
von Cölln den einfachen Bifchofstitel, und blieb, wie es fcheint,
in Kraft der vom Pabſte Zacharias an Bonifacius übertragenen
Vollmacht, ) dem Mainzer Erzftuhl — wenigftens dem Namen
nad) — unterworfen. Aber auf der großen Synode von Frank:
furt brachte König Karl den Antrag an die Berfammlung, daß er
den Biſchof (von Colin) Hiltebold, in feinen Pallaft zu nehmen,
und für wichtige kirchliche Geſchäfte als Erzfapellan zu verwenden
gedenfe! Karl fügt bei, er habe fih über die Sache mit dem Pabfte
verftändigt. ) Hieraus geht hervor, daß der Cöllner die Gunft
des Königs in hohem Grade befaß, und. daß eine Beförderung dess
felben auf eine höhere Kirchliche Würde im Werfe war. Wirklich)
erfcheint Hiltebold feit 799 als Erzbifchof, denn der Bibliothekar
Anaftafius berichtet, 3) Pabft Leo der Dritte fey, als er 799 nad)
Paderborn fam, im Namen Karls von dem Erzbifchofe Hiltivald
cHiltebold) beglüdwünfcht worden. Die Erhebung Cöllns zur Me:
tropole fallt alfo zwifchen die Jahre 794 und. 799. In derfelben
Zeit erhält Teutfchland noch einen dritten Metropoliten. Wie gegen
die Sachſen führte Karl auch wider die Avaren und Slaven der
Südoſtgränzen Teutfchlands Eroberungsfriege, und fuchte fie zu:
gleich der Kirche zu unterwerfen. Um Iestern Zweck defto ficherer
zu erreihen, ſchien die Errichtung einer Metropolitangewalt auf
der Slavenmarfe nöthig. Im Jahre 798 wurde daher Arno,
der Freund Alfuin’s, und bisher einfacher Bifchof, für ſich und feine
Nachfolger zum Metropoliten des ſüdöſtlichen Teutſchlands erhoben.
Die Bullen und Briefe, welche Pabſt Leo III. deßhalb erließ, find
noch vorhanden. *) Seitdem giebt ihm auch Alkuin 5) in feinen
Briefen ſtets den Zitel Erzbifhof. Wir haben fomit die drei
1) Siehe oben ©. 559. — ?) Cap. 53. Baluzius J., 270 unten, —
3) In vita Leonis III., $. 16, ed. ‚Vignoli II., 249. — *) Abgedruckt bei
Kleinmayr Nachrichten von Juvavia Urkundenband ©. 51 fig. — ?) Aleuini
epist, 89 seq. Opp: I.
696 IT. Buch. Kapitel 9.
teutſchen Metropolitanftühle, welche in dem Teftament Karl's des
Großen erfheinen. ') Wichtig aber wäre eg zu wiſſen, melde
Bischöfe gleih Anfangs den Dreien als Suffragane untergeordnet
wurden. Goldaſt hat in feiner Sammlung fhwäbifcher Gefchichts:
fhreiber eine Föftliche Urkunde veröffentlicht, 2) welche auf diefe
Frage Antwort giebt. Hier heißt es: „die erfte Provinz Germa-
niensg umfaßt zwei Städte: Metropole Cölln, Suffraganftuhl
Tungern“ Wir müſſen bemerfen, daß im neunten Jahrhundert
als Sig eines und deſſelben Sprengels bald Tongern, bald Trecht
oder Lüttich erfcheint ?). Die Urkunde fährt fort: „die zweite Provinz
Germaniens umfaßt acht Stühle: Metropole Mainz, Suffragane:
Straßburg, Speier, Worms, Würzburg, Conftanz, Eid:
ftet, Augsburg.“ Dann folgt in der Urkunde Arno's Sprengel
mit den Worten: „die Kirchenprovinz der Baiern, oder Norifum ent:
hält fehs Städte: Metropole Salzburg, Suffragane: Negens:
burg, Paffau, Freifing, Neuburg Can der Donau civitas
nova), Seben“ (in fpäteren Zeiten nad) Briren verlegt). Aufs
Genauefte ftimmt dieſe Begränzung mit einer der Bullen überein,
welche Leo II. bei Erhebung Arnv’s erließ, %) Nun verfichert
Goldaſt, die Handichrift, aus welcher er die mitgetheilte Urkunde
entnahm, fey im neunten Fahre der kaiſerlichen Negierung Karl's,
alfo 809 oder 810 ‚abgefaßt. Aber die Eintheilung der Bisthlimer,
welche auf dem Verzeichniffe ſtehen, könnte darum doch um einige
Sabre älter feyn, Wir müſſen ung daher an innere Merkmale
halten. Klar ift, daß die Urfunde yon der erfien Hand erft nad)
dem Jahr 798, in welchem Salzburg Metropole ward, oder um eine
allgemeinere Zeitbeftimmung zu wählen, nad Anfang des neunten
Sahrhunderts niedergefchrieben feyn kann. Folglich waren die neuen
ſächſiſchen Bisthümer damals noch feinem Metropolitanverbande
einverleibt, denn das Berzeichniß weiß nichts von ihnen. Aber die
Einverleibung muß bald darauf Statt gefunden haben. Geogra=
phifche Verhältniſſe liegen es nicht zu, daß die fächfifchen Kirchen
andern Erzftühlen untergeordnet wurden, als dem Mainzer oder
Cöllner; denn Salzburg lag zu fern. Wirklich berichtet Adam
— — — —
iy Siehe oben ©. 585. En 2) Goldast rerum alämannicarum scriptores
ed. Senftenberg II., ©. 91 flg. — ?) Man fehe Sammarthanorum Gallia
christiana III. , 806, — 9 Kleinmayr a. a. O., ©. 5l.
Die fränkiſche Kirche vom Anfange des fiebenten Sahrhunderts ıc. 697
von Bremen in feiner Kirchengefchichte des Nordens, ) Karl habe
die fächfifchen Stühle unter den Berband von Mainz und Colin
geftellt. Adam blühte zwar erft im eilften Jahrhundert, aber man
fann nicht annehmen, daß er fi über fo allbefannte Verhältniſſe,
wie bie Begränzung der Stühle feines Vaterlandes, täufchte Auch
wird feine Angabe durch ältere Zeugen beftätigt. Der früher er:
wähnte Altfrid fagt im Leben Liudger’s, des erften Biſchofs von
Münfter, diefer fey von dem Cöllner Hiltebold geweiht worden. ?)
Folglich muß Karl das neue Bistpum Münfter zum Erzſtuhl von
Cölln gefchlagen haben, Demfelben Berbande gehörte, Yaut der von
Nembert um 870 verfaßten Lebensgefchichte des heiligen Ansfar,
das Bisthum Bremen an. 3) Die Stiftungsurfunde der Kirche
von Verden ift zwar, wie wir oben bemerften, unächt; aber längft
bat man bemerkt, daß der unbefannte Verfaſſer berfelben bie
bamaligen Umftände fehr gut Fannte, fie gehört offenbar noch ing
neunte Jahrhundert. Nun wird daſelbſt der Stuhl von Verben
dem Metropolitanverband von Mainz einverleibt. ) Dean kann
daher die Wahrheit diefer Angabe nicht bezweifeln. Welchem der
beiden rheinischen Erzftühle die übrigen fächfifchen Bisthümer zuge—
theilt worden find, willen wir nicht; ficher ift dagegen, daß fie ent:
weder in den Mainzer oder Cöllner Verband eintraten; und zwar
erhielt Mainz allem Anfchein nach die überwiegende Mehrzahl.
Dem Stuhle Petri ift es, wie man fieht, gelungen, diefelben
Grundfäge, die er in England und Spanien befolgte, auch in
Zeutfchland durchzuführen. Die von Bonifacius gegründete Patri-
archalifche Gewalt wird nad kurzer Dauer zerfplittert. Lull und
feine Nachfolger müffen mit Salzburg und Cölln theilen. Dod
behält Mainz den erften Rang unter den teutfchen Erzftühlen. Aus
einer früher gefchilderten Verwicklung erhellt, daß der Erzbiſchof
Hatto yon Mainz um 900 gegenüber dem Pabſte als Wortführer
ſämmtlicher teutfchen Bifchöfe und Primas des Reichs fi benahm. °)
Im Uebrigen blieb unter Karl neben der Faiferlichen nur die bifchöf:
Ihe Macht in Teutfchland flehen. Karl fällte in der Perfon des
Baiern Taffilo den letzten teutfchen Volksherzog. Taſſilo ſelbſt,
1) Bei Lindenbrog seriptores rerum germanic. ed. Fabricius ©. 4 oben. —
2) Perz II., 411 Mitte. — 3) Hierüber das Nähere im nächften Kapitel. —
*) Schaten a. a. O., ©. 542 a, Mitte. — 5) Siehe oben ©. 357.
698 II. Buch. Kapitel 9.
feine Söhne, feine Töchter, feine Gemahlin mußten ins Kloſter
wandern, und ihre fämmtlihen Rechte an den Frankenkönig ab:
treten. ) Daher fam es, daß, ald 843 das teutfche Reich ſich vom
fränkiſchen losriß, Feine Provincialgewalt oder Stammeseiferfucht
der Einheit entgegenwirken fonnte. Unfichtbare Hände hatten yon
Weitem her für Errichtung eines teutfchen Staates gearbeitet.
Bald nah dem Anfange des neunten Jahrhunderts ift die
firhlihe wie die politifche Verfaſſung des neuen fränkiſchen Welt:
reichs vollendet, Seitdem befchäftigte fih Karl vorzugsweife mit
innern Angelegenheiten. Alle Wirkfamfeit diefes außerordentlichen
Menſchen war darauf berechnet, die alte Römerwelt wieder herauf:
zubefchwören. Die Keligion, die er den Bölfern aufnöthigt, bie
Bildung, die er einführt, das Kaiferthum, das er berftellt, ſſammen
aus Nom. Merkwürdige Anftvengungen wurden von den Gelehr:
ten, die er an feinen Hof z0g, gemacht, um aus dem jungen Ge:
ſchlecht der Franken die germanifchen Leberlieferungen auszutilgen.
Während Karls Grafen Jeden mit dem Tode beftrafen, der es
wagt dem Glauben der Väter treu zu bleiben, oder Gebräude des
alten Götterdienſts zu beobachten, verwandeln Alkuin und feine
Genoffen an den höhern Schulen, ihre und ihrer Zöglinge Namen
in lateinifche oder gar hebräifche Laute um. Alfuin legte fich felbft
den Namen Flaffus und Albinus bei, den König nennt er
bald David, bald Salomo, die Berwandten Karls Adalhard
und Wala, welche unter Ludwig dem Frommen eine fo wichtige
Rolle fpielten, werden jener Antonius oder Auguftinug, dieſer
Arfenius und Jeremiag genannt. Der Geheimfchreiber und
Biograph Karls, Einhbard, empfängt den Namen Befeleel,
weil er gleich dieſem altteftamentlichen Juden Kenntniffe in der
Baufunft befaß. Die Schüler Alkuin's, Jredegis und Wizo,
heißen Nathanael und Candidug, Sigulf ein dritter, führt
den Beinamen Betulus. Die Erzbifchöfe Arno von Salzburg,
Rikulf von Mainz, Richbod von Trier, heißen Aquila, Fla—
vius Damdtas und Mafarius. Es lag wahrlih nit an
Alkuin, daß teutfhe Namen und teutfche Sprache fortdauerten.
Aehnliches gefchah bekanntlich zu Ende des fünfzehnten Jahrhunderts,
als die griechifhe und Yatinifche Literatur im Abendlande wieder
) Perz J. 172 flg.
Die fräntifche Kirche vom Anfange des fiebenten Jahrhunderts ꝛc. 699
auffebte. Seine eigenthümliche Stellung zwang Karl'n, foldhe Be:
firebungen zu unterflügen.
Aber nicht das ganze Wefen des Könige war in römifcher
Bildung aufgegangen; der flärfere und vielleicht beffere Theil feines
Ichs fühlte germaniſch. Zwei widerftrebende Perfünlichkeiten, ein
durch Ueberlegung groß gezogener Nomane, und ein geborner Ger:
mane bewohnten gleichſam die Seele Karl’d. Einhard berichtet: 1)
„Karl ließ die uralten teutfchen Gedichte, durch welche die Thaten
der Könige und die Kriege befungen werden, forgfältig zufammen:
tragen, damit fie der Nachwelt erhalten würden.“ Wir begreifen
warum er dieß that. Die Saiten, welche die Barden der Wälder,
Dichter und Krieger in einer Perfon, aus voller Bruft anfchlugen,
tönten mächtig in feinem Innern wieder, und wirkten ganz anders
auf ihn, als die gelehrten Armfeligfeiten Alfuin’s. Aber er erhielt
dadurch im Bolfe die alten Lleberlieferungen lebendig, die er doch
durch feine ganze Gefesgebung zu zerftören fuchte. Karl bat dem
germanifchen Geift nach ein anderes, für den Staat verderbliches
Dpfer gebracht. Das von ihm wiederhergeftellte Kaiſerthum läßt
feiner Natur nach feine Theilung zu. Sollte die Kaiferfrone fort:
beftehen, fo durfte nur Einer das von ihm begründete Reich erben.
Denn ohne Macht ift das Kaiſerthum ein leerer Schatten. Allein
die germanifche Gitte forderte, daß der Nachlaß eines Herrichers
unter feine Erben gleich getheilt werde. Karl huldigte diefem
Grundfage. Im Jahre 806 entwarf der Kaiſer einen legten Willen,
worin er über das Neih im Falle feines Todes verfügte. Er
theilte es nad folgendem Maaßſtabe unter die drei rechtmäßigen
Söhne, die er damals befaß: der erfigeborne Karl follte Auſtra—
fien, Neuftrien, Thüringen, Sachfen, Friesland, einige Stüde von
Burgund, von Baiern und Mamannien fammt ber Raiferfrone; der
zweite, Pipin, Italien, Baiern, außer zwei Städten, und die dieg-
jeits der Donau gelegenen Gaue Alamanniens; der dritte, Ludwig,
ben Neft erhalten. ) Damit war das Kaifertfum, Karl's müh-
james Werf, vernichtet. Zwar farben von 810 auf 811 inner:
halb von fieben Monaten durch eine jener auffallenden Fügungen,
bie in der Gefchichte des Farolingifhen Haufes fo häufig vor:
) Vita Caroli G. 29. Perz II., 458, — ?) Die Theilungsurfunde bei
Baluzius I., 439 flg.
700 II. Bud. Kapitel 9.
fommen, Pipin und ber jüngere Karl hinweg, fo daß nur Ludwig
übrig blieb. Die Einheit des Staats war dadurch gerettet, aber nur
fürs nächte Denfchenalter; denn diefelbe Frage Fehrte unter Ludwig
dem Frommen wieder, und an ben Streitigfeiten, welche fie nach
ſich zog, ift, wie wir fehen werden, das fränkiſche Weltreich gefchei-
tert, Nun hatte nur Karl die nöthige Macht und Veberlegenheit
des Geiftes, um ein Erftgeburtsrecht zu begründen. Weil er dieß
unterließ, muß man auch befennen, daß er die Kaiferfrone, die er
fhuf, wieder zerftört hat. Freilich wäre es feine Kleine Aufgabe
gewefen, eine folhe Neuerung durchzufegen. Die gleiche Berechti⸗—
gung aller Söhne eines Herrfchers galt bei den Franfen für ein
unverbrüchliches Naturgefes. Wenn Karl daher nur Einen bevorzugte,
fonnte er vorausfehen, daß die Partheien, deren es allerdings im
fränfifchen Reihe gab, ſich zu den benachtheiligten Brüdern hin—
drangen, und unter dem Vorwand, ihre Rechte zu ſchützen, nad
feinem Tode das Reich erfchüttern werden. Unter folhen Berhält:
niffen ließ fih die Erfigeburt nur dann befeftigen, wenn Karl ich,
gleich dem Nuffen Peter und den türkiſchen Sultanen, an feinen
eigenen Söhnen vergriff. Aber dafür war er zu gut. Einhard
erzählt: ) „Karl liebte feine Söhne und Töchter fo fehr, daß er
zu Haufe nie ohne fie fpeiste, und auch nie ohne fie reiste; die
Söhne ritten in leßterem Falle neben ihm, die Töchter folgten hinter
dem Vater. So fihön auch feine Töchter waren, wollte er fie
nie an irgend Jemand verheurathen, fondern er behielt fie bis an
fein Ende im Pallafte, indem er fagte, daß er ihre Gefellichaft
nicht entbehren fünne. Daraus entftand häusliches Unglüd“, fügt
Einhard bei. Die Töchter Karls befamen nämlich alle Kinder,
Man fieht: die Natur hatte diefem Manne, der in den Kriegen,
die er führte, vielleicht eine Million Menfchen zur Schlachtbank
lieferte, und unzählige Mütter ihrer Söhne beraubte, ein tiefes
Gefühl für feine Kinder eingepflanzt, welches auch verhinderte, daß
die Kaiſerkrone eine Wahrheit werden konnte.
Im Jahre 813 fühlte Karl ſein Ende nahe. Er —
im Sommer fänmtlihe Biſchöfe der dieſſeits der Alpen gelegenen
Provinzen des Neichs zu fünf verfchiedenen Concilien, in Mainz,
Arles, Tours, Rheims, Chalons, ) um fie die Regeln der Kirchen⸗
» Vita Caroli $. 19, Perz IL, 454 — 2) Die Aften bei Manſi XIV.,
57 flg.
Die fränkifche Kirche vom Anfange deg fiebenten Jahrhunderts ꝛc. 701
zucht, welche zugleich, Fraft der von ihm eingerichteten Verfaffung,
Grundpfeiler des Staats waren, von Neuem beſchwören zu laſſen.
Dffenbar rechnete er darauf, daß fie nad) feinem Tode Fräftig mit:
wirfen würden, das Neich zu erhalten. Er hat fich nicht getäufcht.
Biſchöfe und Aebte waren es, die am Längften, und mit verzweifelter
Anftrengung die Einheit des Staats zu retten ſuchten. Im näm—
lichen Jahre berief Karl feinen einzigen Sohn Ludwig den Frommen
aus Aquitanien zu fih, ftellte ihn den Ständen als Thronfolger
vor, und gebot ihm, fich felbft die Kaiferfrone aufzufegen. Karl
ſtarb 72jährig den 28. Jan. 814 in feiner Kaiferftant Aachen, wo
feine Leiche in dem von ihm erbauten und prächtig geſchmückten Dome
beigefegt ward.
Zehntes Kapitel.
Die abendländiſche Kirche unter Ludwig dem Frommen. Zenedikt von Aniane,
Claudius von CTurin und feine Gegner. Der Difhof Agobard von Lyon und
feine Freunde. Die Achte Adalard von Corbie, Hiduin und Wala. Cpeilung
des Reichs. Entſtehung einer unabhängigen teutfchen Kirche. Pie falfchen Dek-
retalen Ifivors. Zekehrung des Vordens. Ansgarius. Bewegungen in der
fpanifden Kirche. Eulogius von Corduba.
Karl der Große war im Feldlager aufgewachfen, auf der Jagd,
im Kriege, unter Soldaten groß geworden. Anders verhielt eg
ih mit feinem Sohne und Nachfolger. Ludwig der Fromme,
Ihon als Knabe von drei Jahren unter dem Titel eines Königs,
zum Statthalter feines Vaters in Aquitanien eingefeßt, erhielt eine
wiſſenſchaftliche Erziehung. Geiftlihe waren feine Lehrer und Rath:
geber, fie pflanzten die Anfichten ihres Standes in feine Seele
und impften ihm die Grundfäge ein, welche damals in der fränfifchen
Kirche herrſchten. Viele fahen es ungern, daß Karl feinen Sohn
fo ganz den Händen von Llerifern überließ. Der Spottname
„Mönch,“ den fie dem Prinzen gaben, H beweist, daß fie fürchteten,
er möchte ein blindes Werkzeug der Priefter werden. Indeß lag
bie Gefahr piel weniger in’ der Erziehung, als in dem angeborenen
i
) Man vergleiche den Brief zu Ende der Lebengbefchreibung Benedikts
von Aniane, bei Mabilfon act. ord, S, Bened, IV., a. ©, 206 oben,
702 IT. Buch. Kapitel 10.
Charakter des Thronfolgers; Ludwig gehörte in die zahlreiche Claſſe
der Menfchen, die unfähig find, fich felbft zu leiten. Stets ift er
dem Antriebe Anderer gefolgt. Waren Die, welche ihn beriethen,
rechtichaffene Leute, fo gieng es gut, im umgefehrten Falle fchlimm,
Bon den Geiftlichen, die ihm den erften Unterricht ertheilten, nahm
er die Lehre willig an, daß es die erfle Pflicht eines Herrfchers
fey, für das Wohl der Kirche zu forgen. Wäre er nur mit gleicher
Hingebung den Maaßregeln treu geblieben, welche ihm fpater bie
ausgezeichnetften Bifchöfe zum Wohle des Neichs eingegeben haben!
Er bejaß nit Stärfe genug, die Laft zu tragen, bie ihm fein
Baier hinterließ. Indeß muß man befennen, daß er die Fleine
Provinz, welche ihn Karl anvertraut hatte, ehrenvoll verwaltete.
Die Jugendfahre, die er in Aquitanien zubrachte, waren zugleich)
die glücklichſten und rühmlichften feines Lebens.
Wir befigen eine Lebenshejchreibung Ludwigs des Frommen,
deren Berfaffer unbekannt ift, aber gewöhnlich mit dem Namen
des „Aftronomen“ bezeichnet wird. Diefer berichtet ) über die
Weiſe, wie der Prinz Aquitanien regierte, Folgendes: „Bon Jugend
auf war der Sinn des jungen Könige auf würdige Feier des
Gottesdienftes und Erhöhung der Kirche gerichtet, feine Handlungen
bewiefen, daß er mehr noch ein Priefter, als ein Herrfcher fey.
Ehe der Clerus Aquitaniens ihm anvertraut wurde, befchäftigte fich
derfelbe, in Folge der tyrannifchen Einrichtungen älterer Zeiten, ſtatt
mit heiligen Dingen, mit dem Tummeln der Roſſe und Friegerifchen
Uebungen. Der Eifer des Königs brachte von allen Seiten gefchiete
Lehrer zufammen, und fo gefchah es, daß weit fchneller, als man
erwarten fonnte, geiftliche und weltliche Bildung in Aquitanien er:
blühte. Am Meiften begünfligte Ludwig Diejenigen, welde aus
Liebe zum Herren Alles verlaffend, fih dem befchaulichen Leben
widmeten. Bor feiner Anfunft in Aquitanien war der Mönchsſtand
dafelbft im tiefften Zerfall, aber unter ihm Fam er fehnell wieder
in Aufnahme.“ Der Berfaffer führt fofort eine lange Reihe von
Klöftern auf, die Ludwig theils erbaute, theils wiederherftellte,
Drei diefer Stiftungen verdienen befondere Aufmerffamfeit:
Concha, Galuna, Aniane Diejenigen Klöfter des füdlichen
Galliens, welche aus den Zeiten der Nömer oder ber älteren
“
1) Perz II., 616 vita Ludovici $, 19.
Die abendländifche Kirche unter Ludwig dem Frommen ıc. 703
Merswinger herftammten, lagen meift im offenen Lande, bei Städten,
an Flüffen, am Meere. Die dagegen, deren Gründung in’s achte
Jahrhundert fällt, wurden an abgelegenen Orten, in Gebirge.
ſchlünden aufgeführt. Die allgemeine Unficherheit während der Ein:
fälle der fpanifchen Sararenen nöthigte ſolche Zufluchtsſtätten zu
wählen. Um 796 fucdhte ein Haufe Flüchtlinge Schu in den Ge-
vennen; ihr Anführer Datus oder Dato gründete 800 oder
einige Jahre fpäter mitten im Waldgebirge, nicht weit von ber
Stelle, wo der Fluß Lot den Bach Dordun aufnimmt, eine
Kapelle, welche fpäter durch die Gunft Ludwig’s des Frommen zur
Abtei Concha erweitert wurde. ) Im Laufe des 11ten und 12ten
Jahrhunderts hat das Klofter Concha großen Einfluß auf bie
Bildung des füdlichen Frankreichs geübt.
Kurz darauf wurde im nemlichen Lande ein anderes Klofter
durch einen der glorreichften fränkifchen Edeln gegründet. Wilhelm,
Sohn eines Grafen Theoderich, trat früh als Edelfnabe in Karls
des Großen Dienfte, zeichnete ſich bei allen Gelegenheiten aus,
empfieng vom Könige unter dem Titel eines Herzogs von Touloufe
den Dberbefehl gegen die Saracenen, und bededte fih mit Ruhm:
Wilhelm fland an der Spitze des Heeres, das feit dem Spätfommer
801 Barcelona belagerte und im Frühling des folgenden Jahres
einnahm. Diefer Held, der noch heute in den Liedern und Sagen
von Languedof Iebt, faßte um 806 den Entfhluß, der Welt zu
entjagen. Nachdem er die Einwilligung Karl’s und Ludwig’s er:
halten, juchte er in einem der wildeften Theile der Gevennen, wo
das Thal von Gelone in das des Herault einmündet, eine Stelle
zu einem Kloſter aus, das er mit Mönchen aus dem nahgelegenen
Aniane bevölferte. Sobald die nöthigen Gebäude aufgeführt
waren, reiste Wilhelm nach Aachen ab, um den Hof Karls zum
legtenmale zu fehen. Sein Entſchluß, Mönd zu werden, erregte
das größte Auffehen, Fonnte aber durch feine Vorſtellungen er:
jüttert werden. Auf der Heimreife nah Galuna Iegte er zu
Drives (Brivate) auf den Altar der Kirche des heil. Julian die
Waffen, die er mit fo viel Ruhm im Dienfte des Chriftenthumg
gegen die Sararenen geführt, Helm, Schild, Schwert, Bogen
') Ueber die Stiftung vergleiche man Vaisselte Histoire de Languedoc L.,
©, 754, b. unten,
704 » I. Buch. Kapitel 10.
und Köcher als Weihgeſchenk nieder. Der unbekannte Mönch, der
gegen Ausgang des Yten oder zu Anfang des 10ten Jahrhunderts,
Wilhelms Leben befchrieb, fah feine Waffen noch in der dortigen
Kirche. Seitdem fand Wilhelm dem neugegründeten Kloſter
vor, und erfüllte alle Pflichten eines Mönchs und Chriſten. Ardo,
Schüler Benedikt's von Aniane, und deſſen Biograph, erzählt 2) fol:
genden rührenden Zug von Wilhelm: „Oft ſah ich, wie er zur Zeit
der Aerndte mit einer großen Flaſche Weins unter den Schnittern
herumritt, und denſelben zu Trinken reichte.“ Wilhelm ftarb im
Jahre 812, mit Hinterlaffung einer zahlreichen Familie, nament:
li mehrerer Söhne, yon denen der erfigeborne, Bernhard, fpäter
im Kampfe Ludwig’s mit feinen Söhnen eine traurig= berühmte
Rolle gefpielt hat. Das von dem Herzöge gegründete Stift er:
hielt im Munde des Volks den Namen „Kiofter zum heil. Wilhelm
in der Wüſte.“
Noch größere Bedeutung als die Klöfter Concha und Ga:
luna erhielt das von Aniane Witiza, Sohn des Grafen von
Magelone, aus gothiihem Stamme, wurde um 750 geboren. Frühe
rat er in Dienfte, erſt Pipin’s, dann Karls. Er machte den
italiänifhen Feldzug des Jahıs 774 mit, in welchem Karl das
Neid der Langobarden eroberte. Damals geſchah es auch, daß
Witiza in Folge eines Gelübdes Mönd zu werden befchloß. Sein
Bruder wurde beim Ueberfegen über einen Fluß von den Wellen
fortgeriffen, Witiza ftürzte ihm nach, um ihn zu retten, wäre aber
bald ſelbſt Hinuntergezogen worden. In diefer Gefahr gelobte er
die Welt zu verlaffen, gieng nad Frankreich zurüd, und ließ ſich
in das Kloſter des heil. Sequanus aufnehmen, ?) das zum Sprengel
yon Langres gehörte. Laut dem Berichte % Ardo's „marterte er
dafelbft den Körper bdritthalb Jahre hindurch auf unglaubliche
Weiſe durch Hunger und andere Kafleiungen. Er war feinem
Sleifche, wie einem wilden Thiere feind, genoß fo wenig Brod
und Wafjer, daß er nicht ſowohl den Hunger ftillte, als vielmehr
den Tod abwandte, und mied den Wein wie Gift. Auch gönnte
er fih nur wenig Schlaf, auf den nadten, eisfalten Fußboden
ı) Mabillon act. Ord. Sanct. Bened. IV,, a. ©. 77. — ?) Ibid,. ©. 199
$. 42. — 3) Vita Benedicti auctore Ardone bei Mabillon a. a D. ©. 186,
$. 6. — #) lbid. $, 7.
Die abendländifche Kirche unter Ludwig dem Frommen ıc, 705
bingeftveeft, oft burchwachte er die ganze Nacht unter Gebet und
Singen, und da er nur eine efende und ſchmutzige Kleidung trug,
ward er aufs empfindlichfte von Laufen geplagt. Viele verfpotteten
ihn deßhalb, und ſpieen ihm vor Verachtung ins Geficht, aber
Witiza ertrug ihren Hohn mit Geduld, denn fein Sinn war einzig
aufs Himmlifche gerichtet.“ Anfangs fand Witiza die Negel des
heil. Benedikt von Nurfia zu gelinde, und glaubte biefelbe fey
böchftens für Anfänger gut, weßhalb er für fi die Vorſchriften
des heil. Pachomius und Baſil's des Großen befolgte. Doch fpäter
lernte er die Vorzüge der erfteren einfehen, und bieng ihr nun von
ganzer Seele an.) Um 779 ftarb der Abt des Klofters zum heil.
Sequanus, die Mönche wählten einftimmig Witiza zum Nachfolger,
aber diefer entfloh nach feiner Heimath, und erbaute feitdem auf
einem väterlichen Gute am Fluffe Aniane mehrere Cellen. So
berichtet Ardo. ?) Allein wir geftehen, daß wir feine Angabe wenig
wahrfcheinlich finden. Aus dem Folgenden wird erhellen, daß
Witiza mit der weltlichen Kleidung nicht auch den Ehrgeiz abgelegt,
und die Herrfchaft nicht blos über ein einziges Kloſter, fondern
über einen ganzen Verein von folden erfirebt hat. Wir können
daher faum glauben, dag Witiza fi) der Laft einer Abtftelle durch
die Flucht entzog, fondern möchten eher annehmen, daß er bag
Klofter des heil. Sequanus bewegen verließ, weil die Mönche
ibn nicht zum Nachfolger des verftorbenen Vorſtehers auserforen.
In Aniane fammelten fih bald Schüler um Witiza, der ſchon
früger den Klofter- Namen Benedikt angenommen haben mag,
unter dem er in der Kirchengefchichte berühmt geworden if. Wir
werden ihn in Zukunft immer fo nennen. Das Heine Klofter war
ärmlich und befchränft, erhielt aber doc bereits Schenkungen und
Bermäctniffe. Ardo erzählt ?) in diefer Beziehung einen Zug, ber
bem Abte von Aniane große Ehre bringt: „Wollte man ihm“, fagt
er, „Leibeigene vergaben, fo nahm er fie nicht an, fondern beftand
darauf, daß ihnen die Freiheit gefchenft werde“. Als um jene Zeit
eine Mißärndte das ſüdliche Gallien in die äußerſte Noth verſetzte,
nährte Benedikt dag verhungernde Volk yon den für feine Mönche
gefammelten Vorräthen, und ward ein Vater der Armen. Sein
Nuf verbreitete fi im ganzen Lande, und die Sage gieng, daß
1) Ibid. $. 8. ©. 187. — 2) Ibid. $. 10, — 3) Ibid. $. 14. ©. 189.
Sfrörer, Kircheng. II. 45
706 IT. Buch. Kapitel 10.
Benedikt Wunder wirfe ) Große Geldmittel floffen ihm zu, Durch
welche er in Stand geſetzt wurde, 782 an der Stelle des alten ein
neues und prächtiges Klofter zu bauen. Die Hallen welche das
Gebäude umgaben, ftüsten fih auf marmorne Säulen, welche
Benedikt mit Karl’s Erlaubniß von den Römerwerken zu Nismes
entnahm. 2) Die Kirchengeräthe beftanden aus edlen Metallen, und
verfinnlichten die Geheimniffe der heiligen Sieben: und Drei: Zahl. 9)
Benedikt übergab feine Stiftung dem Schutze Karl's, worauf Diefer
einen Freibrief *) ausftellte, kraft deffen er verfügte, daß das
Klofter von Aniane ſammt feinen jeßigen und Fünftigen Gütern nie
der Gerichtsbarkeit irgend eines Bifchofs oder Grafen unterworfen
feyn, noch) Steuern bezahlen folle. Zugleich ficherte er den Mönchen
das Necht zu, nah dem Tode Benedifts fih einen Abt frei zu
wählen. Seitdem verfüumte Benedift nihts, um aus dem Klofter
yon Aniane eine Bildungsanftalt für das füdlihe Frankreich zu
machen. Sein Biograph berichtet: ?) der Abt habe Sänger, Vorleſer,
Lehrer der Grammatif, Schriftausleger herbeigezogen, und eine be-
deutende Bibliothek angelegt. Beſonders aber gab er fi) Mühe,
die zahlreichen Mönchsregeln, die bis auf feine Zeit von verfchtedenen
Vätern entworfen worden, zufammenzubringen. Wir befisen dieſe
Sammlung noch. 9) Sie zerfällt in drei Haupttheile. Der erfte
umfaßt die morgenländifchen Negeln des Antonius, Jeſaias, Sera-
pion, Paphnutius, mehrerer Mafarius, des Pachomius und Anderer,
im Ganzen zehn. Im zweiten Theile finden fi) die abendländifchen
Borfchriften des Benediftus von Nurfia, Cäſarius, Aurelianug,
Terreolus, Columbanus, Iſidorus von Sevilla, Fruktuoſus, die
fogenannte regula magistri fammt einigen andern. Der dritte Theil
enthält die für Nonnen von Auguftinus, Cäſarius, Aurelianus,
Donatus, Leander und Andern entworfenen Regeln. In einem
zweiten gleichartigen Werfe, dem er den Zitel concordia regularum
gab, 7) unternahm es der Abt von Aniane, dur Zufammenftellung
der verſchiedenen Mönchsregeln den Beweis zu führen, daß bie
Borfchriften Benedifts von Nurfia nicht firenger feyen, als die der
i) Beifpiele angeführt ebend. $. 20. u. flg. — ?) Annales Anianenses bei
Vaissette histoire de Languedoc I1,, preuves ©. 19 a Mitte. — 3) Ardo
a. a0. O. $. 26. — *) Abgedrudt ebend. $. 27. ©. 195. — °) Ibid. $. 27. —
6) Holstenii cod. Regularum edit, II. da eurante Brocke Augustae 1750,
Vol, I. — ?) Herausgegeben Paris 1658 von Hugo Menard,
Die abendländifche Kirche unter Ludwig dem Frommen ꝛc. 707
übrigen Väter. Er wollte dadurch den Klagen und Borwürfen
weichlicher Klofterbrüder den Mund verftopfen. Das Stift von Aniane
erhielt folhen Zulauf, daß es fih nah und nad mit über
300 Mönchen füllte, von denen in der Folge mehrere Bisthümer
erlangt haben. ')
König Karl wurde aufmerkfam auf die Verdienſte des Abte.
Er verwandte ihn feit 794 in kirchlichen Staatsgefchäften. Neben
Alfuin nahm Benedikt von Aniane thätigen Antheil an Bekämpfung
der Adoptianer. Er war einer der drei Faiferlichen Bevollmächtigten,
welche nad) der Spanischen Marf geſchickt wurden, um die Kegerei
des Felix dafelbft auszurotien. ) Auch hat Benedift wider bie
Adoptianer einige noch vorhandene ?) Abhandlungen von geringem
Werthe gefchrieben. Noch größeres Zutrauen ale der Bater, fchenfte
dem Abt von Aniane Karl's Sohn, Ludwig der Fromme übertrug
Benedikt die Oberaufſicht Über fümmtliche Klöfter Aquitaniens. Mehr
als einmal im Fahre reiste Benedift in denfelben herum, ſtellte
überall die Kirchenzucht ber, *) und verpflichtete die Mönde, der
Hegel des Stifrers von Monte Caßino buchftäblich zu folgen. 7) Auf
feinen Nath errichtete Ludwig die vielen Klöfter, von welchen der
Aftronom in der oben angeführten Stelle ſpricht. Ueberhaupt Tieh
der aquitanische König dem Abte in den wichtigften Angelegenheiten
fein Ohr. Karl fah den großen Einfluß, welchen Benedift auf
Ludwig übte, Teineswegs gerne, Ardo erzählt: 8) gewiſſe Cleriker
und Grafen hätten durch die Beſchuldigung, Benedikt ſuche fremde
Güter an ſich zu reißen, den Kaiſer ſo ſehr wider den Abt auf—
gebracht, daß ſeine Freunde Dieſem riethen, nicht an den Hof zu
gehen, weil der Zorn des Herrſchers in hellen Flammen über ihn
losbrechen werde. Dennoch, fügt Ardo bei, ſey Benedikt, als er
nach Hofe kam, von Karl gütig aufgenommen worden. Nachdem
Ludwig feinem Vater gefolgt war, wird die Macht des Abts im
ganzen Neiche fühlbar. Es ift jet Zeit, daß wir unfere Aufmerk—
famfeit dem Faiferlichen Hofe zuwenden.
Pipin der Kleine, Karl's Bater, hatte einen Halbbruder Bern:
hard, natürlihen Sohn Karl Martel's. Diefer Bernhard: wurde
NArdo a. a. O. $. 34. ©. 195. und $. 27. ©. 192. — ?) Aleuini
epist. 176. Opp. I., 238 Mitte. — 5) Abgevrudt in Baluzii Miscellanea
Solivausgabe von Mansi Vol. II., 85 flg. — ) Ardo a. a. D. $. 40, ©. 197, —
°) Ibid, ©, 205 unten. — ©) Ibid. $. 41. ©. 198.
45*
708 II. Buch. Kapitel 10.
unter Pipin's Negierung , wie es feheint, von den Gefchäften ferne
gehalten. Als aber Karl der Große die Herrichaft geerbt hatte, ver⸗
wendete er feinen Oheim Bernhard bei verfchiedenen Gelegenheiten.
Er erhielt 3. B. den Befehl über eine Abtheilung des Heers, ) das
im Sabre 773 nad Italien zog, um bie Langobardifche Macht
zu flürgen. Bernhard hinterließ bei feinem Tode eine zahlreiche
Tamilie: drei Söhne, Adalard, Wala, Bernarius und zwei Töchter,
Gundrada und Theodrada. Neger Argwohn umlauerte von Anz
fang an biefe Seitenlinie des königlichen Haufes, Bernhard’s erft-
geborner Adalard, um 751 geboren, ein hoffnungsvoller Züngling,
wurde im zwangzigften Sabre feines Lebens in das, gegen Ende
des Tten Jahrhunderts gegründete, Klofter Eorbie geftedt. Die
Behandlung, die er dort erfuhr, beweist, daß es die Abficht Der:
jenigen, die über fein Schiefal verfügten, war, den Prinzen aufs
Tieffte zu demüthigen. Adalard mußte zu Corbie die Arbeit eines
Gärtners verrichten. 9 Dennoch fiheint Adalarb in dem Klofter
noch Schlimmeres gefürchtet zu haben, als ſolche Dienfte. Er ent:
flob von Corbie, gieng nach Stalien, und verbarg ſich unter ben
Mönchen von Monte Caßino, ward jedoch daſelbſt erfannt und
nah Frankreich zurüdgebradt. ?) Bon nun an tritt eine günftige
Aenderung feiner Lage ein. Karl muß eine befiere Meinung von
feinem Better gefaßt haben. Denn er ordnet nicht blos die Er-
hebung beffelben zum Abt yon Corbie an, fondern er fchenft ihm
auch fein volles Vertrauen. Wie er nemlich feinen zweitgebornen
Sohn Pipin zum König yon Stalien ernannte, giebt er biefem
den Abt Adalard als Bormünder und Nathgeber mit. +) Seitdem
verwaltete Adalard das neue Königreich Italien, und erwarb fi)
in dieſem Amte durch feine Gefchäftserfahrung hoben Ruhm, und
noch glänzendere Ausfichten für die Zufunft, die jedoch durch einen
unerwarteten Todesfall getrübt wurden. Wir haben früher er⸗
zählt, daß Karl's Sohn Pipin, dem der Kaiſer kraft der Erbver⸗
fügung des Jahrs 806 den dritten Theil des großen Frankenſtaates
zugedacht hatte, im Jahr 810 dahinſtarb. Obgleich Pipin unver:
heurathet war, hinterließ er von einer Beiſchläferin einen natürlichen
1) Chronicon Moissiacense ad annum 775 Perz J., 295 Mitte. — 2) Vita
$, 16, Perz II, 525 unten.
Die abendfändifche Kirche unter Ludwig dem Frommen ıc. 709
Sohn Bernhard. Man begreift nun, dag Adalard und feinen Ber:
wandten Alles daran gelegen feyn mußte, des jüngern Bernhard's
Erbrecht anerfannt zu fehen. Denn von der Nachfolge des Knaben
hieng ihre einftige Bedeutung im Staate ab.
Ein ähnliches Schickſal, wie Adalard, hatten feine zwei Brü—
ber. Der jüngfte Bernarius wurde gleichfalls zum Mönd in Cor:
bie gefchoren, aber der zweite, Wala, der geiftvollfte, fühnfte und
ftoßgefte unter ihnen, Fonnte nicht zum Eintritt in ein Klofter ver-
mocht werden. Dafür übergab ihn Karl einem Edelmann, der den
aufftrebenden Füngling zu den niedrigften Arbeiten anhielt. Sein
Biograph verfihert, Wala babe mit dem Ochfenfarren aufs Feld
binausfahren müffen. ') Derfelde Glücksſtern jedoch, der tiber Adalard
aufgieng, Yeuchtete auch Wale, Wahrfcheinlich zu gleicher Zeit mit
feinem älteren Bruder gewann er die Gunft Karls und wurde nun
ſchnell einer der mächtigften Männer im Reiche. Der ebenerwähnte
Biograph fagt:*) „plötzlich befürderte die göttliche Vorfehung Wala
zu. den höcften Ehren. Er wird in den Palaft berufen, durch
Gnade erhöht, vom Kaifer zum Haushofmeifter ernannt, und
nimmt die zweite Stelle nad) ihm ein. Wala war gleichfam der
oberfte aller Senatoren, und. im geheimen Nathe Karls hatte er
den größten Einfluß.“ ine andere gleichzeitige Duelle ?) beftimmt
die amtliche Wirkfamfeit des Günftlings noch genauer durch Die
Angabe: Wala habe die erfte Stelle am Hofe und zugleich den
Dberbefehl über die ganze Provinz Sachſen befommen. Wala’s
Schweſtern lebten im Palafte und genofjen den Unterricht Alkuin's,
der auch mit Adalard Briefe wechfelte. *)
So fanden die Sachen am fränfifchen Hofe, als der fehnelle
Tod der beiden Söhne des Kaifers, Karl und Pipin, die Erbver:
fügung vom Jahre 806 vereitelte und die Zufunft des Reichs von
Neuem blosftellte. Der greife Kaifer konnte fich nicht darüber täu—
hen, daß Ludwig, der einzige überlebende Sohn, wenig Fähigkeit
befige, einen jo großen Staat zu beherrſchen. Schwere Sorgen
mußten daher fein Gemüth drüden. Der aquitanifche Mond Er:
moldus Nigellus, welcher im Jahre 826 vier Bücher in Berfen
i) Vita Walae $. 5. Perz II., 535 gegen oben. — ?) Ibid. $. 6. Perz II.,
535 Mitte, — 5) Translatio $, Viti Corbeiam bei Mabillon act. Ord. S.
Ben. IV., a. S. 503, $.7. — 9 Man vergleiche Alcuini epistol, 144.
212, 213. 214.
710 IT, Buch. Kapitel 10.
über Ludwig’s Negierungsgefchichte fehrieb, hat die wichtige Nachricht
aufbewahrt, )) dag Karl um 813 einen geheimen Rath feiner Gra-
fen hielt, in welchem die Frage verhandelt ward, wem nach bes
Kaifers Tode die Herrfchaft zufallen folle? Die Wahl fonnte nur
zwifchen Ludwig und dem unehlihen Sohne Pipin’s, Bernhard,
fohwanfen: denn außer diefen Beiden hatte der Kaifer feine natür-
Yiche Erben. Nun muß der Kaifer wirflih eine Zeitlang den Ge:
danfen gehegt haben, Bernhard porzuziehen, denn der Aftronom
erzählt, ?) Ludwig fey nahe daran gewefen, das Beifpiel feines
Großoheims Carlomann nachzuahmen, d. h. ins Klofter zu gehen,
aber durch Zureden wieder von feinem Entfchluffe abgebracht wor:
den. Da Benedift von Aniane, wie wir wiffen, das ganze Ber:
trauen des Königs von Aquitanien befaß, fo ift es im höchſten
Grade wahrfcheinlih, daß er es war, der Ludwig umftimmte. Noch
im Sommer 813 muß die Nachfolge umentfchieden gewefen feyn,
und Ludwig Urſache gehabt Haben, zu fürdten, daß fein Vater
ihn nicht wählen werde. Der Aftronom berichtet 3) nemlich weiter:
„als die Aquitanier und auch teutfhe Große Ludwig aufforderten,
nach Aachen zu Karl zu eilen, welcher der Auflöfung nahe fey, habe
der König nicht gewagt, diefen Rath zu befolgen, damit er fei-
nem Bater nicht verdächtig werde“ Offenbar handelte
alfo Ludwig in der VBorausfesung, daß fih am Hofe mächtige
Männer befinden, welche ihn von feinem Bater Ioszureißen fuchen.
Wer diefe geheime Gegner des Aquitaniers waren, erhellt gleich:
falls aus dem Berichte *) des Aftvonomen: „Ludwig habe auf die
Nachricht vom erfolgten Tode Karls gefürchtet, Wala, der bei
Karl in großem Anfehen ftand, möchte etwas Schlimmes
gegen den neuen Herrfher unternehmen.“ Hieraus folgt
fonnenflar, daß in dem geheimen Rathe, welchen Karl laut der
Ausfage des Ermold Nigellus verfammelte, Wala für die Erhebung
Bernhard's und gegen Ludwig gearbeitet haben muß. Warum
Wala ſolches that, ift ebenfalls begreiflih. Denn war nicht Wala’s
Bruder Adalard Bormünder des Prinzen Bernhard, dem die Nach:
folge zugefichert werben follte, und mußte nicht Adalard ſammt
— — —
Ermoldi Nigelli lib, H., v. 1—50. Perz Il, 478 unten flg. —
2) $. 19. Perz IL, 616.'— 3) $. 20. Perz IL, 617, — 9 6. 21. Perz II.,
618 Mitte,
Die abendländifche Kirche unter Ludwig dem Frommen ꝛc. 711
ſeinen Brüdern, wenn der Plan gelang, den größten Einfluß im
Reiche erlangen? Man ſieht alſo, kurz vor dem Tode Karl's ſtanden
zwei Partheien am Hofe einander drohend gegenüber: die eine, geleitet
durch Benedikt von Aniane, den Rathgeber des aquitaniſchen Königs,
firitt für Ludwig's Erbfolge, die andere, den Abt Adalard und
feinen Bruder Wala an ihrer Spise, wollte den jungen Bernhard
zum Kaiſer ernannt wiffen. Natürlich mußte der Sieg der einen
den Sturz ber andern nach fi ziehen. Iſt daher unfere Darftel-
lung richtig, fo kann es nicht anders gefchehen, als daß gleich nach
dem Thronmwechfel wichtige DBeränderungen unter den Räthen ber
Krone eintreten. Wir werden fofort fehen, wie vollfommen ber
Erfolg unferer Angabe entſpricht.
Karl entfchied für das Recht feines Sohnes Ludwig. Er rief
benfelben, wie früher erzählt worden, im September 813 zu fi,
ftellte ipn den verfammelten Ständen als Thronfolger vor, und
gebot ihm, fich felbft die Krone aufzufesen. Nach diefem feierlichen
Akte entließ er ihn wieder nad Aquitanien. Anfangs Februar 814
empfängt Ludwig durch den Erzbifchof Theodulf yon Orleans, ber
allen Anzeigen nad) gleichfalls mit Wala für Bernhard geftimmt
hatte, aber jest durch Dienfteifer den begangenen Fehler gut machen
wollte, die erfte Nachricht som Tode feines Baters.') Er eilt
alsbald nad) Aachen. Noch unterwegs kommt ihm Wala entgegen
und huldigt dem neuen Herrſcher in größter Demuth, Ludwig
ertheilte fofort dem Grafen und feinen Begleitern einen Auftrag,
der diefen tief fränfen mußte. Wir haben früher erzählt, daß Karl
feine feiner Töchter verheurathete, weil er ihre Gefellichaft nicht ent:
behren fonnte. Sie wohnten im Pallafte, aber nicht in jungfräu:
licher Keufchheit, fondern mit Buhlen, Diefe Lebensweife war dem
frommen Ludwig um fo mehr ein Aergerniß, weil die lodern Schwe-
ftern ihn felbft als einen Mönch und Betbruder verfpottet, auch in
Berbindung mit Wala für die Erhebung Bernhard's gearbeitet hatten.
Ludwig beauftragte nun Wala, den Schweftern anzufündigen, daß
fie fih in Klöfter zurüdzuziehen hätten, ihre Buhlen aber feflzu:
nehmen. ?) Der Graf wurde alfo gezwungen, gegen Diejenigen zu
handeln, welche bisher feine Freunde geweſen waren, er fonnte
daraus abnehmen, wie es ihm felbft ergehen werde. Sehr ſchnell
N) Vita Ludoviei $. 21, Perz II., 618, — 2) Ibid,
712 II. Buch. Kapitel 10,
ereilte ihn und feine Brüder das Schikfal. Kaum hatte Ludwig
ben letzten Willen feines Vaters vollzogen und die nöthigften Ge—
fhäfte der neuen Regierung beendigt, als er den Abt Adalard nach
der Inſel Noirmoutiers, feinen jüngften Bruder Bernariug, den
bisherigen Mönd in Corbie, nach Lerins auf der Küfte der Pro:
vence verbannte. Auch Theodrada und Gundrada, ihre Schweftern,
wurden vom Hofe verwiefen. Wala wartete nicht ab, bis man
ihn fortjagte, er ließ fih zum Mönche fcheeren und verbarg fih in
dem Kloſter Corbie. ?) Das ganze einft fo mächtige Haus war
geftürzt. Die Stelle, welde Wala und Adalard im Staatsrathe
eingenommen, erhielt jest — der Abt Benedikt von Aniane. Wir laſſen
den Biographen ?) des Lesteren reden: „Gleich nachdem Ludwig das
eich feines Vaters ererbt hatte, vief er Benedikt zu fih und gab
ihm das Klofter Maursmünfter im Elſaß zum Wohnſitz. Weil je
doch der Drt zu weit vom Palafte entfernt Tag, und der Abt nicht
fehnell und oft genug zum Kaifer fommen fonnte, der feinen Rath
in den wichtigften Dingen ftets hören wollte, fo befchloß Ludwig in
der Nähe von Machen ein neues Kfofter für Benedift einzurichten.
Er ließ zu diefem Zwede in einem Thale, das nur fehs Meilen
von Aachen entfernt ift, die Abtei Inda?) bauen, die er aufge
Reichlichſte ausftattete, und wohin nun Benedift von Maursmünfter
zog. Seitdem befuchte Benedikt täglich den Palaft, und unterzog
fih, zum allgemeinen Beften, der Laft der Geſchäfte. Wer
eine Befhwerde yorzubringen hatte, fand, wenn er fih an ihn
wandte, die freundlichfte Aufnahme. Benedikt fihrieb die Klagen
auf Feine Zettelhen, welche er in feinen Rock ſteckte, um fie dem
Kaifer zur vechten Zeit vorzulegen. Ludwig hatte ſich hieran fo
gewöhnt, daß er, fo oft Benedikt zu ihm Fam, fogleich nach dem
Aermel des Abts und den Zettelhen griff. Denn ber Kaifer hörte
ſolche Klagen gerne, weil Benedikt ein beredter Sachwalter aller
Dedrüdten, ein Vater der Mönche und Tröfter der Armen war.
Auch feste ihn Ludwig über alle Kiöfter im ganzen Reiche, welche
nunmehr eine und dieſelbe Negel annehmen und firenge befolgen
mußten.“ Der Sturz Wala’s ift ficherlih ebenfalls Benedifts Werf.
Unverföhnlih haßte er diefe Familie, welche, wie wir fehen werben,
') Vita Adalhardi $.32. 33, 35. Perz II., 527. 528, — 9 Mabillon
IV., a. ©. 201. 8.47 fig. — 9 Später Cornelius-Münſter genannt.
Die abendländifche Kirche unter Ludwig dem Frommen ꝛc. 713
erft nach Benedikt's Tode — aber Auch dann fogleich — wieder
zu Ehren fan.
Im Uebrigen ſchien die neue Negierung glüdlichen Fortgang
zu verfprechen. Ludwig zeigte nicht blos frommen Sinn, fondern
er bewies Liebe zur Gerechtigkeit. Im Auguft S14 berief er einen
Reichstag nah Aachen, auf welchem wichtige Gefchäfte verhandelt
wurden. Ludwig bedachte die Kirche zuerſt. Alle Freibriefe, die
fein Bater Bisthümern und Klöftern ausgeftellt hatte, erneuerte er
und unterfchrieb fie eigenhändig. ) Wie es bei Negierungsmwechfeln
gewöhnlich zu gefchehen pflegt, erhoben fehr Viele, die ſich unter Karl
verlegt glaubten, Beſchwerden. Ludwig ſchickte Sendgrafen in alle
Theile des Reichs aus, um Recht zu ſchaffen. Schändlide Miß—
bräuche und Bedrüdungen follen durch dieſelbe aufgedeckt worden
jeyn.?) Unter den Bafallen, die zu Aachen erfchienen, war auch Bern
hard, Pipin’s Sohn, der als Erbe feines Vaters bisher das Neich
ber Langobarden beherrſchte. Sämmtliche Chroniften verſichern, daß
Ludwig den Neffen mit reichen Gefchenfen entließ. Gleichwohl hegte
er, wie aus dem Folgenden erhellen wird, tiefen Argwohn gegen
benfelben. Bei der gleichen Gelegenheit wies der Kaiſer, dem DBeis
Ipiele des Baters folgend, feinen Söhnen einige Provinzen des
Reichs zur Verwaltung an: Aquitanien, das er felbft bis zu feiner
Erhebung regiert hatte, übergab er feinem zweiten Sohn Pipin,
ber Damals eilf Jahre zählte, der erfigeborne Lothar, ein achtzehn:
jähriger Jüngling, erhielt Baiern, das nun, feit Taßilos Abfegung,
zum Erftenmale wieder einen Fürften beſaß. Der jüngſte Sohn
bes Kaiſers, Ludwig, der nocd ein Kind war, blieb unter der
Obhut feiner Mutter Irmingard im Palafte. 3) Jim folgen:
ben Jahre (815) berief der Kaifer den Neichstag nach Waderborn. *)
Hier geſchah es, daß er den Sacfen das Erbredt, das ihnen
- Karl der Große entzogen, wieder zurückgab. Der Aftronom ver:
fichert, °) Viele hätten dem Kaifer diefe Großmuth als ungeitig und
gefährlich abgerathen, Ludwig fey aber der Meinung gemefen,
daß die Sachfen die Wohlthat ihm durch Treue vergelten werben,
worin er fich nicht getäufcht habe. Auch auf der VBerfammlung zu
1) Theganus vita Ludovici $, 10, Perz II., 593. — 2) Ibid, $. 13. —
3) Vita Ludovici $. 24, Perz II., 619, — *) Einhardi annales ad 815.
Perz I., 202, — 5) Vita Ludovici $. 24. wegen der Zeitrechnung zu vers
gleichen mit Theganus $, 14, Perz II, 593.
714 I, Bud. Kapitel 10.
Paderborn mußte König Bernhard von Italien aufwarten, woraus
wohl geſchloſſen werden darf, daß Ludwig feinen Neffen zur Des
muth und zum Gehorfam gewöhnen wollte, Beim Abfchied gab
er bemfelben einen Auftrag, der dem Langobarben fehwerlich gefiel,
weil ev duch die Ausführung Gefahr lief, fih mit dem Stuhle
Petri zu verfeinden. Zu Ende des Jahres 814 war nemlich eine
Verſchwörung vornehmer Nömer gegen Pabſt Leo entdeckt worden.
Der Pabft ſchaffte fich felbft Necht, er ließ die Schuldigen aufgrei:
fen und binrichten. Diefes Verfahren war ein Eingriff in die frän-
fiihe Landeshoheit und Ludwig befchlog daher dem Apoſtolikus
zu zeigen, daß der Blutbann in Rom ihm zuflehe. Bernhard er-
hielt Befehl, eine genaue Unterfuhung an Ort und Stelle einzu-
Yeiten. Leo erwartete jeboch diefelbe nicht ab, er ſchickte eine Ge:
fandtfchaft nach Aachen und erfannte fomit thatſächlich die Ober:
berrfhaft des Kaifers an, womit Ludwig fich berubigte. ) Bon
Neuem loderte der Haß der Römer gegen den Pabſt auf, als Leo
zu Ende des Jahrs von einer Krankheit befallen wurde. Sie über:
fielen und verbrannten die Landhäufer, welche der Pabſt, laut Bes
bauptung der Unzufriedenen, mit geraubtem Gute erbaut hatte.
Mit Gewalt trieb der Langobardenkönig Bernhard die Empörer zu
Paaren. Leo ftarb im Juni 816. Stephan IV., ein geborner
Nömer, wurde fofort zum Nachfolger erwählt, und beftieg den Stuhl
Petri, wie es feheint, ohne die Faiferliche Beftätigung abzumarten.
Dagegen berichtet 2) der mehrerwähnte Priefter von Trier Thega—
nus, welher um 840 Ludwig's Gefrhichte befchrieb, Stephan habe
gleich nach feiner Erhebung die Bürgerfhaft Noms dem Kaifer Treue
ſchwören laſſen, und demfelben durch eine Gefandifchaft zu wiffen
getban, daß er felbft nach Frankreich Ffommen werde, um wegen
gewiffer Dinge mit Ludwig zu unterbandeln. Der Kaifer ertheilte
ſogleich dem Langobardenkönige Befehl, den Pabſt über die Alpen
nad) Rheims zu geleiten. Er felbft begab fih im September 816
nad) dieſer Stadt, und ſchickte von dort die Bifchöfe Hiltebold yon
Cölln, Johann von Arles und Theodulf von Orleans aus, um den
Pabft zu begrüßen. As er erfuhr, daß Stephan in der Nähe fey,
ritt er ihm mit feinem Hofftaate entgegen, ftieg ab, half dem Pabfte
vom Pferde und beugte ſich dreimal vor ihm zur Erde Nach
i) Ibid. F. 25, Perz II, 619, — 2) $. 16, Perz II., 594.
Die abendländifche Kirche unter Ludwig dem Frommen ꝛc. 715
Empfang des Segens führte er ihn in die Abtei Saint Remy, wo
eine Wohnung für ihn bereitet war. Bier Tage nad) feiner An-
funft, an einem Sonntage, feste Stephan IV. dem Kaifer und ber
KRaiferin in der Domkirche während der Meffe die Krone auf und
falbte fie.) Ohne Zweifel ift der Pabft hauptfächlich wegen der
Krönung nad Franfreich gekommen. Er wollte dem Stuhle Petri
das Necht fihern, die Kaiferfrone auch ferner verleihen zu dürfen.
Der Mißbrauch, den Karl nach römischen Anfichten begieng, indem
er feinem Sohne im Jahr 813 gebot, die Krone ſich feldft aufs
Haupt zu fegen, fehlen dadurch wieder gut gemacht. Wir müffen
jedoch bemerken, daß Ludwig fih um den päbftlichen Serupel nicht
fümmerte. Nach wie vor rechnete er die Jahre feines Kaiſerthums
entweder yon dem Tage, da er zu Aachen fich die Krone aufgefeßt,
oder yon dem, da fein Vater geftorben, nie aber nad) feiner Krö—
nung zu Rheims. Der Aftronom fchließt feinen Bericht von den
Borgängen in Rheims mit der Bemerfung: „Nachdem der Pabft
Alles erlangt, was er gewünfcht hatte, fey er wieder nad) Nom
zurücgefehrt.* Wir wiffen nicht, worin die übrigen Wünſche des
Pabſtes beftanden, wahrfcheinlich ift jedoch, daß fie fich wenigftend
theilweife auf die Angelegenheiten bezogen, die auf dem Neichstage
des folgenden Jahres verhandelt wurden. |
Im Juli 817 berief Ludwig die Bifchöfe, Aebte und Großen
des Reichs zu einer Berfammlung nach Aachen. Nie vielleicht find
auf irgend einer Zuſammenkunft fo wichtige Dinge zum Abſchluſſe
gediehen, wie damals. Kirche und Staat erhielt eine neue Ber:
faffung. Erfilih wurden für den Clerus fänmtlicher Kirchen des
Reichs Borfchriften entworfen und gut geheißen, die mit wenigen
Aenderungen der früher befchriebenen Regel Chrodegangs entnommen
find. Zwar hatte ſchon Karl wiederholt die Geiftlichfeit zu Beob—
achtung des ſogenannten canoniſchen Lebens verpflichtet, aber das
Geſetz des Aachener Reichtags beweist, daß feine betreffenden Befehle
feinen allgemeinen Gehorfam fanden. Jetzt mußte fich der Clerus
fügen, obwohl der Eifer bald wieder erfaltete. ) Durch befondere
1) Astronomus $. 26. Perz H., 620 fig. und Theganus $. 17. Ibid.
. I, 594. — 2) Man findet die Vorfihriften für die Canoniker und die Cano—
nifiinnen, Manft XIV., 153 flg. Einige Handfchriften verfegen die canoniſche
Regel ing Jahr 816, aber fie gehört, wie die übrigen Befchlüffe, ins folgende
Jahr. Man fehe Perz Monumenta III. Leges I, ©. 197,
716 II, Bud. Kapitel 10.
Ausfchreiben forderte Ludwig diejenigen Erzbifchöfe, welche bem
Neichstage nicht perfönlich angewohnt hatten, auf, ihre Untergebenen
zu buchftäblicher Befolgung der überfchicten Negel anzuhalten. Zu:
gleich erfieht man aus den Faiferlihen Briefen, daß ſchon zu Aachen
jeldft von einigen Elerifern Verſuche gemacht worden waren, Durch
Berfälfhung der Akten das Joch der auferlegten Lebensweife zu
erleichtern. ) Der zweite Befchluß betraf den Mönchsftand. Allen
Klöftern des Reichs ward zur Pflicht gemacht, Die Regel Benedikr’s
zu befolgen, welcher jedoch der Reichstag noch einige Zuſätze bei
fügte. ?) Hiebei feierte der Abt von Aniane einen Triumph. Nicht
nur war allem Anschein nach der Befchluß fein Werk, fondern er erhielt
auch den Auftrag, die Vollſtreckung zu überwachen. Mit dem Abte
Arnulf von Noirmoutiers reiste er nach Beendigung des Reichs:
tags als Faiferlicher Bevollmächtigter in den Klöftern umher und
zwang die Monde, der Negel Benedikt's fammt den Zufäsen zu
huldigen. Wie es fiheint, ftellte man dem Kaifer vor, daß eg
bilfig fey, die neuauferlegte Laft durch einige Erleichterungen zu ver:
füßen. Demgemäß wurde eine Lifte?) von 84 Klöftern aufgefeßt,
bie jedoch bei Weiten nicht alle begreift, welche ſich erweislich da—
mals in den verfchiedenen Provinzen des Reichs befanden. Biel:
leicht blieben von dem Verzeichniſſe diejenigen Abteien weg, welche
Kaifer Ludwig, oder fein Vater, an Bifchöfe vergabt Hatte, oder
ift die Lifte verftümmelt auf ung gefommen. Die Verzeichneten find
in drei Klaſſen eingetheilt: 1) folhe, welche Heeresfolge und
Steuern, 2) folhe, welche nur Geldbeiträge an den Staat, und
endlich) 3) folche, welche feines von Beidem zu leiften haben. Die erfte
Klaffe umfaßt vierzehn Klöſter, worunter vier teutfche: Lorſch,
Schuttern, Monfee und Tegernfee; die zweite enthält fechzehn,
worunter zwölf teutfhe: Schwarzah am Main, Fuld, Hersfeld,
Ellwangen, Feuchtwangen, Hafenried (Heygieben), Kempten, Alten-
münfter, Altaich, Kremsmünfter, Mattfee und Benediftbeuren.
Die dritte und zugleich größte Klaffe zählt vierundfünfzig, worunter
fieben teutfche: Haindlinberg, Metten, Schönau, Moosburg, Weflo:
brun, und zwei, deren Namen nicht enträthfelt werden können.
Ohne Zweifel hat Ludwig mehrere Abteien, die vorher Heeresfolge
oder Steuern Jeiften mußten, von ber Laft befreit. Aber welchen
Fe — —
') Perz a. a. O. S. 220 unten. — ?) Ibid, ©. 201. — 5) Ibid. 2235 flg.
Die abendländifhe Kirche unter Ludwig dem Frommen ıc. 717
ber in ber Lifte angeführten Abteien ſolche Erleichterungen zu
Theil wurden, berichtet die Urkunde nicht.
Ein eigenes Capitular !) ſetzte drittens die allgemeinen Nechte
ber Kirche, befonders ihr Verhältniß zum Staate feſt. Der erſte
Artikel fpricht die Unverleglichfeit der Kirhengüter aus. Der zweite
lautet fo: „Eingebenf der heiligen Canones haben wir der Geiftlich-
feit das Necht eingeräumt, daß die Bifchöfe hinfort durch die freie
Stimme der Gemeinde und der Elerifei bes betreffenden Sprengels,
ohne Anfehen der Perfon, nur nach Berbienft gewählt werden
jollen.“ Der fünfte Artifel gefteht das gleihe Recht in Bezug auf
bie Aebte den Kloftergemeinden zu. Wie früher gezeigt worden, ?)
hatte fchon Karl der Große die freie Wahl der Biſchöfe in denfel-
ben Ausdrüden bewilligt, aber das Geſetz des Aachener Reichstags
beweist, daß fein Berfprechen nicht gehalten worden if. Mit gutem
Fug legte die Geiftlichfeit den größten Werth auf dieſen Punkt;
benn bie Freiheit der Wahl ficherte den Clerus wider die Eingriffe
des Hofes und führte gegen die Gelüfte unwürdiger Menfchen, bie
fih fo gerne in die hohen Kirchenwürden eindrängten, einen kräf—
tigen Damm auf. Wir find in Stand gefest, mit genügender
Sicherheit den Mann zu bezeichnen, der den Kaifer Ludwig zur
Erlaffung des angeführten Geſetzes bewogen haben dürfte. An ber
yon dem Erzbifchofe Leidrad zu Lyon gegründeten Domfchule ?)
lehrte feit etwa 812 mit großer Auszeichnung der Diafon Florug,
der unter den Gelehrten des neunten Jahrhunderts eine würdige
Stelle einnimmt, und eine Menge Schriften hinterlaffen hat. Florus
ftand mit dem Nachfolger Leidrad's, dem Erzbiichof Agobarbus von
Lyon, in innigen Berhältniffen, und theilte die Schidfale feines Vor—
gefegten, als diefer yon Ludwig dem Frommen verfolgt wurde. *)
Die ältefle unter den Schriften, die Florus herausgab, ift nun
eine, nicht mehr yollftändig vorhandene, Abhandlung?) über bie
Wahl der Bifchöfe, in welcher er zu zeigen fucht, daß die Kirchen:
häupter unter den alten heidniſchen und chriftlichen Kaiſern ſtets
1) Ibid. ©. 206 flg. — 2) Siehe oben ©. 608 flg. — ?) Siehe oben
©. 602. — * Man. vergleiche über fein Leben die histoire litteraire de la
France V., 213 flg. — 5) Liber de electionibus episcoporum abgedrudt im
zweiten Bande von Baluzius Ausgabe der Werke des Agobardus ©, 254 flg,
oder auch in Gallandii bibliotheca Patrum XIII., 591,
718 I. Bud. Kapitel 10.
durch die freie Wahl der Gemeinde und des Clerus erhoben wors
den feyen. Die fpäter aufgefommene Einmifhung gewiffer Könige
in die Wahlen laſſe fi, meint er, nur durch das Beſtreben ent=
ſchuldigen, die Eintracht zwifchen dev geiftlihen und weltlichen Ges
walt zu wahren, an fih aber gebühre der Krone fein Antheil an
Befesung der geiftlihen Aemter, vielmehr ftehe die Wahl der Ge:
meinde und dem Clerus zu, da das Prieſterthum durch Gottes
Gnade eingeſetzt ſey. Man fieht alfo, daß der Lyoner Diakon in
feiner Schrift ganz dieſelben Grundfäge vertheidigt, welche auf dem
Neichstage von Aachen im Jahr 817 den Sieg errangen. Bedenft
man nun, zu wel’ firengem Gehorſam die niederen Cleriker gegen
die Kirchenhäupter verpflichtet waren, fo wird man feinen Augen-
blick zweifeln, daß der Diafon Florus ohne Erlaubniß feines Erz
bifchofs nie, zumal über einen fo wichtigen Gegenftand, gefchrieben
hätte. Man hat deghalb das Necht, feine Arbeit als ein Werk an-
zufehen, zu dem Florus nur den Namen und die Feder, Agobarbus
dagegen den leitenden Gedanfen bergab. Allem Anfchein nach ift
es daher Agobardus, dem bie Kirche es zu verbanfen hat, daß
Kaifer Ludwig jenes Geſetz erließ. Diefe Bermuthung erhält um
fo größeres Gewicht, da aus fonftigen Anzeigen erhellt, daß der
Erzbifchof von Lyon auf die andern Beichlüffe deffelben Reichstags
fehr bedeutenden Einfluß geübt hat.
Sn Folge der germanifchen Eroberung waren ausgedehnte
Landftriche in die Hände einzelner Großen gekommen, welche nun _
Kirchen auf ihren Gütern errichteten, und diefelben mit Clerikern
ihrer Wahl befegten. Hieraus entftand das fogenannte Patronats:
recht, das fogleih zu Mißbräuchen führte, indem die Gutsherrn
ihre Pfarrer theils nach Willkür wieder verjagten, theils nur küm—
merlich bezahlten. Solchen Unbilden ſucht das Capitular durch zwei
Beftimmungen vorzubeugen. Der neunte Artifel verfügt: „ohne Er:
Yaubnig und Mitwirkung des Bifchofs Darf fein Pfarrer ein- noch
abgejest werden. Wenn Laien dem Bifchofe ſolche Cleriker, deren
Lebenswandel oder geiftliche Bildung feinem Tadel unterliegt, zur
Weihe vorgefchlagen haben, fo follen fie die Geweihten nicht mehr
austreiben.“ Der zehnte befagt: „Jeder Pfarrei muß eine Bauern:
wirthſchaft (mansus) frei yon allen Abgaben zugewieſen werben. Auch
foll der Pfarrer weder yon den Zehnten (feines Kirchfpiels) noch
son den Opfern ber Gläubigen, noch von den Häufern und Vor—⸗
Die abendlandifcge Kirche unter Ludwig dem Frommen ic. 719
werfen, noch von den Gärten, die an der Kirche liegen, noch von
jenem Pfarrgut irgend einen Abtrag, außer dem Firchlichen, Teiften.
Nur wenn der Pfarrer fonft Befigungen hat, mag er bavon etwas
an den Grundheren bezahlen.“ Zu noch größern Klagen, als bie
Bedrückungen der Gutsheren, gab der Geiz fchlechter Bifchöfe Anz
laß. Einzelne Kirchenhäupter befegten den niedern Clerus darum
mit Leibeigenen, um aller Rückſichten gegen ihre Untergebene ent:
hoben zu ſeyn; fie verpfändeten die Schäße der Kirchen, fie riffen die
frommen Stiftungen an ſich, fie verleiteten reuige Sünder zu Ber:
mächtniffen und beeinträchtigten dadurch die natürlichen Erben
berfelben, fie ließen fih auf ihren jährlichen Prüfungsreifen von
den Pfarrern und Aebten aufs Glänzendſte bewirthen, wodurch
Legtere zu Grunde gerichtet wurden, fie beſchwatzten reiche Leute
ins Klofter oder in ein Canonifat zu treten, und bemädhtigten fich
dann ihres Vermögens. Auch gegen diefe und Ähnliche Mißbräuche
fhritt das Capitular Fräftig ein. Der fechste Artifel beftimmt: „fein
Leibeigener darf eine Firchliche Weihe empfangen, er fey denn vor:
her freigelaffen. Hat ein Leibeigener ohne Vorwiſſen und Zuftim:
mung feines Herrn eine Firhlihe Weihe erfchlichen, fo wird er auf
bie Klage des Herrn abgefest und demfelben zurückgegeben. Will
ber Biſchof einen Leibeigenen, welcher der Kirche gehört, weihen,
jo muß derfelbe zuvor in der Kirche vor allem Bolfe mit der Freie
heit bejchenft werben.“ Der vierte Artikel verordnet: „Jedes Ver—
mächtniß, das eine veiche Kirche empfängt, fol alfo in drei Theile
zerlegt werben, daß zwei Drittel den Armen gehören, ein Drittel
für Befoldung der Glerifer und der Mönche verwendet wird, Ber:
mächtniſſe, welche kleineren Kirchen zufallen, werden zwifchen den
Armen und den Glerifern gleich getheilt, wenn nicht etwa der Stifter
ausdrücklich anders verfügt.“ Noch tiefer ſchneidet der fiebente Artikel
ein: „Kein Glerifer darf folde Schenfungen annehmen,
durch welche die Rechte von naben Anverwandten
oder Kindern ber Schenfer beeinträdtigt werden
fönnten. Jede ſolche Schenkung ift null und nidtig.
Der Clerifer, zu deffen Gunften fie gemacht worden,
unterliegt einer Strafe und das Gut fällt an die
natürlihen Erben zurüd.“ Der achte befagt: „Rein Glerifer
joll irgend Jemand zum Eintritt in ein Klofter in der Abficht bere-
ben, um das Vermögen beffelben an fich zu ziehen, Gefchieht Dieß
720 II, Buch. Kapitel 10.
doch, jo trifft den ſchuldigen Geiftlichen die Ahndung der Geſetze
und des Kaifers.“ Der dreizehnte verordnet: „Kirchenſchätze dürfen
nur dann verfeßt werden, wenn man Geld auf ein-folches Pfand
aufnimmt, um Gefangene Yoszufaufen.“ Der neunzehnte verbietet
den Biſchöfen: „auf ihren jährlichen Reifen den Gemeinden oder
Pfarrern zur Laſt zu fallen.“ Der zwanzigfte verpönt bei ſchwerer
Strafe, „Knaben oder Mädchen, ohne Einwilligung der Aeltern, zu
fheeren oder zu verfchleyern.“ inige andere Beflimmungen bes
Capitular’s find von geringerem Belang. Man fieht: diefelben Miß-
bräuche, welche Karl der Große abzufchaffen verfucht, beftanden
noch immer, und Ludwig der Fromme fchritt furchtlos auf der von
feinem Vater betretenen Bahn fort, Ludwig wagte fogar einen
Schritt zu thun, vor dem Karl zurücdgebebt war.
Wir fommen an den vierten Gegenftand, ber auf dem Reiche:
tage des Jahres 817 verhandelt wurde. Derfelbe betraf nicht
weniger ald Die Einführung eines Erfigeburtsrechts oder
des Grundjages, daß der Kaiferfiaat hinfort nicht mehr getheilt wer:
den ſolle. Man kann fich denken, daß die Sache, ehe der Reiche:
tag zufammentrat, als Staatsgeheimniß behandelt und nur im Kreife
der engſten Vertrauten des Kaifers berathen worden war. Die
MWenigften von Denen, welche zu Aachen erfchienen, wußten, daß
diefe Angelegenheit zur Sprache fommen werde. Unerwartet erho-
ben fich in der Berfammlung einige Räthe und trugen dem Kaifer
die Bitte vor, er möge die Tage bes Friedens dazu benügen, um
die Ordnung des Reichs und das Berhältniß feiner Söhne für
immer zu beflimmen. Ludwig erklärte, obgleich er feine Söhne mit
gleicher Liebe umfaffe, halte ev es nicht für recht, um. ihretwillen
die Einheit des Staats aufzuopfern. Sofort Iegte er dem Reiche:
tage die Frage vor: „Darf man eine Maßregel, die zum Wohle
des Neichs dient, verfchieben oder nicht?“ Die allgemeine Antwort
Yautete: „Was nöthig oder nützlich iſt, foll nicht verfhoben werden.“ ')
Nun fo möge denn, erwiederte Ludwig, um das Rechte zu finden,
Seder son Euch durch dreitägige Faften, durch Gebet und milde
Gaben Erleuchtung von Dben zu erringen trachten. Dreitägige Faſten
wurden angefagt. Während diefer Frift theilten Die, welde im
Geheimniffe waren, den Plan den angefehenften Mitgliedern bes
y Diefe Nachricht verdanken wir einem Briefe des Agobarbus, abgebrudt
Gallandii bibliotheca patrum XIII., 491 b.
Die abendländifche Kirche unter Ludwig dem Frommen ıc. 721
Reichstags mit, und. perficherten fich ihrer Zuftimmung. Am vierten
Tage eröffnete Ludwig das neue Erbfolgegeſetz ) der ganzen Ber:
fammlung. Es Tautet fo: „Pipin, der zweite Sohn Ludwig’,
erhält nad) des Vaters Tode, mit dem Titel, eines Königs, Aquita—
nien und das Baskenland, die Darf Zolofa und vier Grafichaften
in Septimanien und Burgund. Der dritte Sohn, Ludwig, empfängt,
mit gleichem Titel, Baiern, Böhmen, Kärnthen und die den Fran:
fen unterworfenen Provinzen der Avaren und Slaven, fowie die
zwei Orte Lauterhofen und Ingolſtadt. Alle übrigen Theile des
Reichs fallen mit dem Kaifertitel dem Erftgebornen Ludivig’s, Lothar,
zu.“ Wir müffen zunächft bemerken, daß das Erbe des Lestern
wenigftend das Vierfache des Antheils betrug, den feine beiden Brü—
der erhielten. Eben fo ungleich als der Befis waren die Nechte der
zwei nacdgebornen Söhne. Das Gefets beftimmt weiter: „Jeder
ber jüngeren Brüder hat jährlih dem älteren die Aufwartung zu
machen und ihm Geſchenke darzubringen. Keiner von ihnen barf
ohne Zuftimmung des Altern Krieg erklären, oder Frieden ſchließen,
oder Gefandte fremder Staaten annehmen, noch ſich vermählen.
Stirbt einer der jüngern Brüder ohne gefeglihe männliche Nach:
folge, fo fallt fein Land an den Kaiſer. Hinterläßt er mehrere
Söhne, ſo wählt das Volk einen derfelben zum König, und der
Kaiſer beftätigt die Wahl. Sollte fih einer der jüngern Bruder
gegen den Altern empören, fo wird er gewarnt, und im Falle
er feine Neue zeigt, abgefett.“ Dieß find die hauptfächlichen Punfte
der Berfügung über die Erbfolge, welche Ludwig der Fromme für
ben Fall feines Todes im Jahr 817 erließ. Die Einheit des Staats
wurde dadurch zum Grundgeſetz erhoben. Die jüngeren Brüder
traten zu dem bevorrechteten Altern in das Berhältniß von bloßen
Statthaltern, oder fie erhielten mit andern Worten die Stellung,
welche im alten römifchen Neiche die Augufte dem Kaifer gegenüber
eingenommen. Ludwig der Fromme hatte es gewagt, das germa—
nifhe Erbrecht umzuftoßen. Der Neichstag hieß den Beſchluß des
Kaijers gut. Am vierten Tag feste ſich Lothar, als Mitregent feiz
nes Baters, unter dem allgemeinen Hufe: „es lebe unfer Kaifer
Lothar,“ die Krone aufs Haupt. *)
1). Perz leges I, ©, 198 fl. — 2) Chronicon Moissiacense ad an-
. num. 817, Perz I., 312,
Gfrörer, Kircheng. IH. 46
722 IT. Buch. Kapitel 40.
Sehen wir jest, wer Ludwig dem Frommen ben Plan zu Dem,
was zu Aachen verhandelt worden ift, eingegeben haben mag. Der
Beſchluß, welcher fammtliche Klöfter des Neiches der Benediftiner
Negel unterwarf, ift ohne Zweifel das Werf des Abts yon Aniane,
wie ſchon daraus erhellt, daß er fich Die Vollſtreckung dieſes Gefeges
sorbebielt. Der Abt fühlte den Beruf in fich, den fränkiſchen Klö—
ftern eine und biefelbe Geftalt zu geben, und die übrigen Rathgeber
Yießen, wie es fiheint, den Günftling Ludwig’s ungehindert über bie
Mönche fehalten. Eine andere Frage ift es, ob Benedift von
Aniane auch die beiden Gefege über das canonifche Leben und bie
Berbältniffe der Bifchöfe entworfen hat? Benedikt mag hiebei mit—
gewirkt haben, aber ficherlich wäre er nicht mächtig genug geweſen,
um folhe wichtige Dinge wider den Willen der Kirchenhäupter
durchzuſetzen. Dffenbar gieng der Anftoß zu beiden Iekteren Ver:
fügungen von der ©eiftlichfeit felbft aus. Wir müſſen jedoch diefen
Sat genauer beftimmen. Ber Weiten nicht der ganze Clerus hatte an
Entwerfung der fraglichen Geſetze Antheil. Sehr Viele waren im Gegen:
theil unzufrieden darüber. Beweis dafür die oben angeführte That:
fade, daß auf dem Neichstage felbft gewiffe Mitglieder den Ber:
ſuch machten, durch Verfälſchung der Vorſchriften über das canoni-
ſche Leben das auferlegte Zoch zu mildern. In der That müßten
die Menſchen von damals eine andere Natur befeffen haben als
bie jeßigen, wenn Die große Maffe des Clerus fi freiwillig und
mit Freuden dem Zwang des canonifchen Lebens unterworfen hätte.
Noch andere Anzeigen geheimen Widerwillens gegen die Befchlüffe
des Neichstags find vorhanden. Der Aftronom fagt: ") „feit der
Aachener Berfammlung Hätten fih die Kirchenhäupter und Glerifer
dazu verftanden, die goldenen Wehrgehänge, prächtigen Kleider und
Sporen abzulegen, welche fie früher zu tragen pflegten.“ Nur ges
zwungen verzichtet der Menfch auf folhe Gewohnheiten. Alfo muß
es eine Feine, aber entfchloffene, und von ſtrengen kirchlichen Grund:
fügen befeelte Parthei unter dem Clerus gewefen ſeyn, die den Kaifer
zu Erlaffung jener Geſetze beftimmt hat. Ohne Zweifel war bie
Bertreibung unwürdiger Mitglieder aus dem Clerus, und die Be:
freiung der Wahlen yon den Eingriffen des Hofs das Ziel, auf
das die Häupter der bezeichneten Parthei hinfteuerten, und um
1) Perz IL, 622, 6. 28.
Die abendländiſche Kirche unter Ludwig dem Frommen ıc. 723
diefen Zweck zu erreichen, boten fie die Hand zu Maßregeln, welche
die ganze Geiftlichfeit zu einer unerbittlich ſtrengen Regel verpflich-
teten, und der Verſchwendung, den Gewaltthätigfeiten und der Erb:
fchleicherei gieriger Bifchöfe einen Damm entgegenfesten. Wirklich
fonnte nur auf ſolchem Wege die hohe Stellung im Staate, welde
Karl der Große dem Prieſterthum eingeriumt hatte, dauernd er—
halten werden. Nun erhellt aus den oben angeführten Thatfachen,
daß befonders der Erzbifchof Agobardus von Lyon thätig war, bie
Freiheit der Bifchofswahlen, alfo das Hauptziel der eben erwähnten
Beftrebungen, zu erringen. Demnach ift im höchſten Grade wahr:
fcheinlih, daß er zu den geheimen Lenfern jener ſtrengen Parthei
unter dem Clerus gehörte. Durch eben dieſelbe ift, wenn nicht
alle Anzeigen täufchen, dem Kaifer auch der Plan des neuen Erb:
folgegefeged unterlegt worden. In Ludwig’ Haupte entfprang
biefer Gedanfe „nicht; denn er hat ſich faft fein ganzes übriges
Leben abgemüht, die Aachener Berfügung wieder umzuſtürtzen.
Ebenſo wenig waren ed weltlihe Große, die dem Kaifer viethen,
das Erfigeburisrecht einzuführen. Hierüber fpricht fich fehr klar die
Zheilungsurfunde in ihrem Eingange !) aus, wo Ludwig der Fromme
fagt: „unfere Getreue ermahnten uns, über das Neid und die
Nachfolge unferer Söhne gemäß dem Gebraude der Bor:
fahren (d. h. nad) germanifchem Erbrecht) zu verfügen. Aber ob-
gleich dieſe Aufforderung gut gemeint war, Fonnten wir ung doch
nicht entjchließen, der Liebe zu unfern Kindern die Ein:
beit des Staats aufzuopfern“ Die weltlihen Bafallen
wünfchten demnach, daß das Reich nach hergebrachter Sitte unter
die Söhne Ludwig's getheilt werde, Auf geiftliche Urheber des Erb:
folgegefeges weijen die ganze Zurüftung, die breitägigen Faften, mit
benen es eingeleitet ward, fo wie der Styl und die Weife der Ab-
faffung Hin. Der neunte Artifel lautet z. B. wörtlich fo: „wenn,
was Gott verhüten möge, einer meiner (beiden nachgebornen)
Söhne aus Begierde nad irdifchen Gütern, welche die Wurzel alles
Böſen ift, ein Zertheiler des Reichs, oder ein Unterbrüder der
Kirchen und der Armen werden, oder ſich eine tyrannifche Gewalt
anmaßen follte, jo will ih, daß man ihn zuerfi, gemäß der Bor:
ſchrift Chriſti, heimlich durch treue Abgefandte ein-, zwei= und
N) Perz leges I,, 198 Mitte,
46 *
724 III. Buch. Kapitel 10.
dreimal warne u. ſ. w.“ Trägt dieſe Stelle nicht unverkennbar das
Gepräge einer kirchlichen Feder! Ueberdieß iſt eine Urkunde auf
uns gekommen, aus welcher man den Schluß ziehen muß, daß die—
ſelbe geiſtliche Parthei und derſelbe Erzbiſchof, welcher den Kaiſer zu
den Übrigen Verfügungen des Aachener Neichstags vermochte, ihm
auch das Erbfolgegefeß eingegeben hat. Nachdem der Streit zwi:
fchen Ludwig und feinen Söhnen ausgebrochen war, erließ Agobardus
ein Schreiben an den Kaifer, in welchem er demfelben zu Gemüthe
führt, wie Unrecht er gethan habe, das Erbfolgegefet des Jahrs
817 zu verlegen. Zuerſt ruft hier der Erzbifchof dem Fürften alle
die feierlichen Umftände, unter denen das Geſetz gegeben worden,
insg Gedächtniß zurück, und fährt ') dann fo fort: „als auf Eure
Trage, ob man Das, was nüßlich fey, auffchieben dürfe, Alle geant:
wortet hatten, folhe Dinge müffen vielmehr befchleunigt werden: da
eröffnetet hr den Plan, der im Kreife Weniger der Ber:
trauteften beratben worden war, der ganzen Berfammlung.“
Kaum Fonnte Agobard alfo zum Kaifer fprechen, hätte er nicht
felbft an jener Berathung der Bertrauteften Theil genommen. Wir
haben noch einen andern Beweis für Agobard's und feiner Freunde
Mitwirkung. Im eines Sohnes aus zweiter Che willen fuchte Ludwig
der Fromme fpäter die Verfügung des Jahre 817 umzuſtoßen. So
wie die Abficht des Kaifers fich offenbarte, traten die meiften Metro-
politen des Neichs, namentlich die Erzbifchöfe Agobardus von Lyon,
Bernhard von Vienne, Bartholomäus von Narbonne, Ebbo von
Rheims, der Bifchof Jeße von Amiens, fowie die Aebte Hilduin von
St. Denis, und Elifafhar als entfchloffene Vertheidiger des Erb:
folgegefeges auf, und brachten fogar dem Rechte Lothar’s ihre Pfrün:
den zum Opfer. Muß man nun nicht aus der Hartnädigfeit, mit
welcher fie das Geſetz verfochten, den Schluß ziehen, daß fie an
Abfafjung defielben bedeutenden Antheil gehabt? Man fieht alfo,
Karl der Große hat in richtiger Borausficht gehandelt, als er,
wie wir früher erzählt, ein Jahr vor feinem Tode, die Erhaltung
ber Einheit des Reihe in die Hände der Biſchöfe niederlegte. In
der That hieng die Fortdauer der glänzenden Stellung, welde Karl
1) De divisione imperii flebilis epistola bei Gallandius XIII., A91 b.
Mitte. Ich eitire nach dem Abdrucke bei Gallandius, weil mir Baluzius Aus:
gabe der Werfe Agobard’s nicht zur Hand ift.
Die abendlandifche Kirche unter Ludwig dem Frommen ıc. 725
ben Kirchenhäuptern angemwiefen, insbefondere aber die große Gewalt
ber Metropoliten, von Befeftigung der Einheit ab. Mit tem Sturze
des Frankenreichs gieng, wie wir fehen werden, auch die Macht der
Erzbifchöfe unter. Im Lebrigen war e8 ein Fühner Plan, den fie unter:
nahmen. Wenn die Ausführung gelang, hätten fie das Mittelalter
gleichfam überftürkt, oder die Welt um fehs Jahrhunderte friiher
in politifche Verhältniffe gebracht, wie bie der neuern Zeiten find,
Aber fie feheiterten an der Natur der Dinge,
Das Erbfolgegefeb zog zunächft eine Erfchütterung in Stalien
nach fih. Der Name des jungen Bernhard, der bis jest als
Ludwig’s Statthalter das Iangobardifche eich beberrfchte, war in
dem Theilungsvertrage gar nicht genannt, fein Necht folglich über:
jehen. Ja ein befonderer Artifel 1) opferte ihn fogar flillfchweigend auf:
„das Neich Italien foll unferem Sohne (Lothar), wenn Gott will,
daß er ung nachfolge, auf gleiche Weife unterworfen feyn, wie eg
unferem Bater unterworfen war“ u. |. w. Unter ſolchen Umftänden
glaubte Bernhard annehmen zu müfjen, daß der Kaifer befchloffen
babe, bei der nächſten Gelegenheit Jtalien feinem eigenen Sohne
zugumenden. Er rüftete fich daher zum Kriege. Allein diefe Be—
wegung überrafchte den Kaifer nicht: Ludwig bot den Heerbann
auf, worauf die meiften Vaſallen von Bernhard abfielen. Der Un-
glüctihe ward durch Berfprechungen der Gnade über die Alpen
berübergelodt, zu Aachen um Oftern 818 vor ein Gericht geftellt,
und als treubrüdiger Dienftmann zum Tode verurtheilt. Lange
weigerte fih Kaifer Ludwig das Blut feines Neffen zu vergießen,
bis er endlich, durch die Bitten feiner Gemahlin Irmengard be:
ftürmt, Befehl gab, Bernhard die Augen auszuftehen. In Folge
ber graufamen That ftarb der Jüngling im April 818. Mehrere
langobardiihe Biſchöfe, Anfelm von Mailand und Wolfold von
Cremona, wurden in feinen Sturz verwicelt, aber auch ein fränfi-
ſches Kirchenhaupt, der ung wohlbefannte Theodulf yon Drleang. 2)
Theodulf hatte zwei Jahre zuvor vom Pabſte Stephan dem Vierten
das Pallium erhalten, und während der Unterfuchung, die er wegen
feiner Berhältniffe zu Bernhard beftehen mußte, erflärte er, daß nur
der Stuhl Petri über ihn richten dürfe. 9) Hieraus fcheint zu
) $. 17. Perz a. a. O., ©. 200. — 2) Vita Ludoviei $. 29, Perz IL,
623 Mitte. — 9) Die Beweisftellen gefammelt bei Longueval histoire de
leglise gallicane V., 226 und 258 fig.
726 II. Buch. Kapitel 10.
folgen, daß der Pabft felbft bei der Empörung Bernhard's bethei-
ligt war. In der That ift nichts wahrfcheinlicher, als daß die Curie
es gerne gefehen hätte, wenn Oberitalien, ftatt eine Provinz des
großen Franfenreichs zu bilden, einem ſchwachen, von den Franfen
bedrohten, Könige gehorchte. Die fchuldigen Bifchöfe wurden vor
ein Gericht geftellt, in Folge des Urtheils abgefegt und in Klöfter
geſteckt. Den Nachlaß Bernhard’s erhielt, gemäß dem 17. Artifel
des Erbfolgegefeges, Ludwig's Erftgeborner, Lothar, der in fpäteren
Urfunden fich felbft feit dem Jahre 820 das langobardiſche wert
beilegt. ')
In dem nemlichen Jahre, da der junge Bernhard als Opfer
des Familienhaffes fiel, ftarb Ludiwig’s Gemahlin Jrmengard. Tief
erfchittert durch den Verluſt, vielleicht auch von Gewiffensbiffen
wegen Bernhard's geängftigt, gieng der Kaifer von Neuem mit
dem Gedanfen um, die Krone nieberzulegen und ins Klofter zu
treten. Hätte Ludwig diefen Entfchluß ausgeführt, fo wäre es um
den Einfluß gewiffer Günftlinge gefchehen gewefen. Schreien er:
griff daher diefelben, und fie fannen auf Mittel den Kaifer in der
Welt zurüdzuhalten. Keines fchien ficherer, ald wenn man ihn ver:
mochte ein neues Eheband zu fihließen; denn Ludwig hatte ein
heißes Blut und Tiebte die Frauen. Mafregeln wurden daher in
diefem Sinne ergriffen. Wir Yaffen den Aftronomen 9 reden: „um
jene Zeit (im Frühjahr S19) fchaute fih Ludwig auf den Kath der
Seinigen nad einer Gemahlin um, denn Biele fürdteten,
er möchte die Krone niederlegen. Gie führten ihm daher
von allen Seiten ſchöne Jungfrauen vor, aug welchen er eine, bie
Tochter des edlen Cbairiihen) Grafen Welpo, Judith auswählte,
und zum Weide nahm.“ Die firchlihe Parthei, deren Werk das
Erbfolgegefeg vom Jahre 817 war, fann dem Kaifer den Gedanfen,
zu einer zweiten Ehe zu fehreiten, nicht eingegeben haben. Denn
bie Verbindung bedrohte ihren fo mühfam durchgeführten Pan,
weil, im Falle Judith dem Kaifer Kinder gebar, Feine Provinz zu
Gebote ftand, mit welcher der Nachwuchs bedacht werden mochte.
Denn alle Theile des Neihs waren ja fhon Fraft jenes Geſetzes
an die Söhne Ludwig's aus erfter Che vergabt. Man muß daher
') Den Beweis bei Muratori annali d’Italia IV., 516, oder auch bei
Pagi zu Baroniug ad annum 821, — 2) Vita Ludovici 8. 32. Perz IL, 624.
Die abendlandifche Kirche unter Ludwig dem Frommen ꝛc. 127
an andere Nathgeber denfen, Wir wiffen, daß Ludwig in Herzen:
angelegenheiten fi) vorzugsweile an den Abt Benedikt zu wenden
pflegte. Eben biefer Benedikt hatte aber die gewichtigſten Gründe,
den Kaiſer durch eine neue Heurath an die Welt und den Thron
zu feffeln. Denn wenn Ludwig abdankte, war die große Nolle,
bie der Abt bisher am Hofe gefpielt, zu Ende, da fein Einfluß nur
auf das perfönlihe Wohlwollen Ludwig's, oder vielmehr auf deffen
Schwäche fih gründete. Die angegebenen Merkmale pafjen treff:
lich zu der oben mitgetheilten Stelle des Aſtronomen.
Im Februar 819 fand die Heurath des Kaifers mit Judith
Statt. Zwei Jahre fpäter den 11. Febr. 821 ſtarb dev Abt Bene—
dift yon Aniane. Durch feinen Tod wurde offenbar, wie viel ber Dann
bei Hofe gegolten, und daß namentlich er es war, der bie Brüder
Wala, Adalard und Bernarius geftürgt und niedergehalten hatte.
Denn jest trat alsbald eine günftige Wendung in dem Schidfale
ber Letteren ein, Ludwig ſöhnte fi mit ihnen aus. Der Mitvegent
und Erfigeborne des Kaifers, Lothar, feierte auf dem Neichstage
yon Diedenhofen im Dftober S21 feine VBermählung mit Srmen-
gard, der Tochter des Grafen Hugo von Tours. Dieſe ſchickliche
Gelegenheit benützte Ludwig, um die Brüder wieder in ihre früheren
Ehren einzufegen. Er berief fie zu fih, und kündigte ihnen bie
Freiheit und feine Gnade an. Adalard erhielt wieder die Abtei
Sorbie, wohin auch fein Bruder Bernar zurückkehren durfte. ')
Doch fcheinen die tief Gefränften, hiemit noch nicht zufrieden, eine
vollftändigere Genugthuung gefordert zu haben. Wirklich erklärte
Ludwig im Auguft des folgenden Jahrs zu Attigny vor dem ver:
jammelten Reichstag, daß er ungerecht gegen Adalard und beffen
Geſchwiſter gehandelt habe. Der Kaifer ließ fich fogar zur Sühnung
der Schuld eine Buße von den Biſchöfen auflegen. ) Zugleich
ertbeilte er dem zweiten der drei Brüder, Wala, einen Auftrag,
welcher bewies, daß er ihm fein volles Vertrauen ſchenkte. Lothar
wurde namlih im Herbſte 822 von feinem Vater wegen gewiffer
Geſchäfte, von denen wir fofort handeln werden, nad Italien ges
ſchickt, und Ludwig gab nun dem Prinzen den Mind Wala als
Hofmeifter mit. Wala trat Dadurch zu dem Thronfolger in Das
-) Einhardi annales ad annum 821. Perz I., 208 Mitte. — 2) [dem
ad annum 822, Perz I., 209,
128 II. Buch. Kapitel 10.
nämliche Verhältniß, worin einft fein Bruder Adalard zu dem us
glüclichen Könige Bernhard geftanden. Enge waren von Nun an
die Schieffale Beider verknüpft. Wir müffen uns jegt nad Stalien
wenden.
Pabſt Stephan IV. hatte kurz nach feiner Zurückkunft von der
fränfifehen Reife — den 24. Jan. 817 — den Geiſt aufgegeben.
Zwei Tage nach feinem Tode war bereits der Römer Pafchalis zum
Nachfolger gewählt. Einhard berichtet, ) der neue Pabſt Habe ſo—
fort an den Kaifer eine Gefandifchaft mit Gefchenfen und einem
Entfhuldigungsfchreiben gefickt, in welchem fand, dag ihm
das Hohenpriefterthbum wider feinen Willen aufyedrungen worden
fey. Kaum kann man bdiefe Worte anders erklären, als durch die
Annahme, daß Pafchalis den Vorwürfen des Kaifers zuvor fommen
wollte. Denn in ter That hatte Ludiwig guten Grund mit der
neuen Wahl unzufrieden zu feyn, weil die Nömer die fränfifche
Beftätigung, welde laut dem Bertrage Karl's mit Hadrian I. ein:
geholt werden mußte, nicht abgewartet hatten. Die Erhebung deg
Pafchalis war ein neuer Beweis vom Beftreben der Pähfte, das
fränfifche Zoch abzufchütteln. Paſchalis fertigte feitdem bis zu Ende
des Jahrs 821 noch drei Gefandifchaften an den Kaifer ab, 2)
deren Zwede wir nicht Fennen, Aber die Tharfache der wieder:
holten Unterhandlungen fcheint darauf hinzuweiſen, daß nicht das
befte Einverftändnig zwifchen Kaifer und Pabſt Herrfchte. Inter
folhen Umftänden hielt es Ludwig für nothwendig einen Prinzen
feines Haufes nad) Jtalien zu fenden, damit die dortigen Berhält:
niffe- geordnet und die Bande fränfifcher Herrichaft wieder ange:
zogen würden. Daher der Auftrag, den Lorhar und Wala em:
pfieng. Wala handhabte mit fefter Hand die Gerechtigfeit. Im
folgenden Jahre wollte Lothar wieder nach Frankreich zurüdfehren,
als er vom Pabfte die Einladung erhielt, der Feier des Oſterfeſtes
in Nom anzuwohnen. Lothar entfprac dem Wunsch des Pabſtes.
Wie er nun am Ofterfonntage in der Peterskirche erfchien, febte
ihm Pafchalis die Krone auf, und begrüßte ihn als Kaifer der
Römer. ?) Es ift fehwer zu fagen, ob der Pabſt diegmal auf Anz
) Einhardi annales ad 817, Perz I., 203 unten. — ?) Einhard ad
annum 817. Perz I., 203 unten, und ad annum 821. Perz I., 207 unten,
fowie 208 Mitte, — 3) Id. ad annum 823. Perz I., 210.
Die abendländifche Kirche unter Ludwig dem Frommen ıc. 729
trieb Ludwig's gehandelt hat, oder ob er, gleich feinen Vorgängern,
durch jenen Aft dem Stuhle Petri das Recht, Kaifer zu zeugen,
fihern wollte. Jedenfalls dauerte die Spannung zwiſchen Nom und
Aachen auch nachher fort. Lothar zog nach der Krönung, Wala
in. Stalien zurüctaffend, über die Alpen. Als er in Frankreich an:
gekommen war, Tief dort die Nachricht ein, daß zwei hohe päbſt—
lihe Beamte, welche Lothar während feines Aufenthalts in Rom
ausgezeichnet und an ſich gezogen hatte, erft geblendet und dann
enthauptet worden feyen. Augenblicklich ertheilte Kaifer Ludwig
dem Abte Adalung, und dem Grafen Hunfrid Befehl, nah Nom
abzureifen und die Sache zu unterfuchen. Che diefe Bevollmäch—
tigten abgiengen, erfchienen zwei Geſandte des Pabſts am Hofe,
und führten Klage über die Verläumdung, daß gewiße Leute jenen
Mord dem Pabfte fchuld zu geben ſich erfühnten. Der Kaifer ließ
ſich jedoch durch folche Ausflüchte nicht befchwichtigen. Adalung und
Hunfrid giengen nad Rom ab, und begannen dort die Unterfuchung,
drangen aber nicht durch. Im Pallaſte des Lateran, wo bie oben
erwähnten Beamten enthauptet worden waren, ſchwur Pafchalig vor
den faiferlihen Bevollmächtigten einen Eid, daß er an dem Mord
feinen Theil habe. Bierunddreißig Bifchöfe fammt fünf Presbytern
und Diafonen ſchwuren mit dem Pabfte als feine Eideshelfer. ') Wie
nun aber die Abgeordneten Ludwig’s verlangten, man folle ihnen
die Thäter ausliefern, damit fie von ihnen- den wahren Urheber
erfahren könnten, ſchlug Pafchalis das Anfinnen rund ab. Die
Hingerichteten,, fagte er, hätten ald Majeftätsverbrecher ihr Schick—
fal verdient, und die Thäter fünne er nicht herausgeben; denn fie
feyen des heiligen Petrus Dienftleute. ) Wir müfjen zu Erklärung
des auffallenden Borgangs einige Worte beifügen. Seit die Franfen
Nom zu einer Neihsftadt gemacht, fahen fie ſich gendthigt, der Be:
feftigung ihrer Herrfchaft wegen, eine ftädtifche Parthei auf ihre
Seite zu ziehen. Sie verbanden fich mit einem Theil des grund:
befigenden Adeld und der angefehenen Gefchlechter, die nun unter
fränfifhem Schuz zugleich den Pöbel unterdrüdten, und den Pabft
im Zaume hielten. Bon diefem Augenblide an fuchten die Päbſte
eine -Stüse an der Maffe der Bevölkerung, vertrieben mit ihrer
') Theganus vita Ludovici $. 50, Perz II., 597. — ®) Einhardi an-
nales ad annum 823. Perz J., 211.
730 | II. Bud. Kapitel 10.
Hülfe, fo oft fih eine günftige Gelegenheit bot, die Häupter ber
fränfifchen Parthei aus der Stadt, und bemäshtigten ſich ihrer Güter,
bie fie unter das Volk verteilten. Diefe Wendung, bie in der
Natur der Berhältuiffe begründet war, hatten die römifchen Ange:
Vegenheiten unter Leo II. und feinem Nachfolger genommen. Die
nämliche Politik befolgte auch Paſchalis. Lothar gewann während
feines Aufenthalts in Nom jene-beiden Beamten für die fränfifchen
Snterefien, und wies fie ohne Zweifel an, die Schritte des Pabſts
zu belauern. Dafür ließ nach der Abreife des Prinzen der Statt:
halter Petri diefelben enthaupten; aber die Gewaltthat zog ein
Verbrechen nad fih. Um der Unterfuchung zu entgehen, mußte
Paſchalis fih dur einen Meineid reinigen. Als Kaifer Ludwig
von Dem, was in Nom vorgegangen, Nachricht erhielt, wagte er
nicht weiter gegen den Pabft einzufchreiten. ) Dagegen befchloß er,
beim nächften Anlaſſe Maßregeln zu ergreifen, durch welche das
faiferliche Anfehen in Nom für immer gefichert werden follte; und
die erwiünfchte Gelegenheit kam bald genug.
Wenige Monate nah dem falfhen Schwure farb Paſchalis,
den 19. Mai 824. Alsbald brachen in Nom Unruhen aus. Das
Bolf und der Clerus wollten einen Nachfolger vom Charakter des
Pafchalis und Leo, während der Adel und die, fränkifche Parthei
einen ihnen verpflichteten Mann auf den erledigten Stuhl Petri
einzufegen firebte. Wala, der fih als Faiferlicher Bevollmächtigter
in Rom befand, Ienfte die Wahl mit folder Gewandtheit, *) daß
der Schüsling des Adels, °) Eugenius, den Sieg davon trug.
Theuer genug mußte der neue Pabſt feine Erhebung erfaufen.
Lothar wurde von Ludwig abermal nad Italien gefchieft, um bie
Berhältniffe mit Eugenius zu regeln. Die zwiſchen Beiden ge:
fchloffene Uebereinfunft Iautete fo: erfilih durften alle Anhänger
der fränfifhen Parthei, welche die Vorgänger des Eugenius ver:
bannt und ihres Vermögens beraubt hatten, zurücdfehren, und er:
hielten ihr Eigenthum wieder. *) Fürs Zweite mußte Eugenius
den Bevollmächtigten des Kaifers alle Beamten der früheren Päbfte
übergeben, die fih als Berfolger der fränfifchen Parthei verhaßt
1) Idem ibid. — 2) Vita Walae I., 28. Perz II., 545 gegen oben. —
3) Eugenius, vincente nobilium parte, ordinatus est, fagt Einhard
annales ad annum 824. Perz J., 212. — *) Vita Ludoviei $. 38. Perz IL,
628 und Einhardi annales ad annum 824. Perz I,, 215.
Die abendländifche Kirche unter Ludwig dem Frommen ꝛc. 31
gemacht hatten. Sie wurden nad) Frankreich abgeführt, aber fpäter
auf Fürbitte des Eugenius wieder frei gelaffen. !) Fürs Dritte
ſchloß Lothar mit dem Stuhle Petri einen Vertrag ab, kraft beffen
alle Römer nicht nur dem Kaifer Ludwig und feinem Sohne Treue
fhwören, fondern aud ſich verpflichten mußten, Feinen neuen Pabft
anzuerkennen, der Gewählte habe denn zuvor dem Kaifer denfelben
Huldigungseid geleiftet, wie Eugenius. 2) Zugleich erfchien eine
Faiferliche Verordnung, °) welche feftfeste, die Verwaltung der Rechts:
pflege folle in Zufunft durch Sendboten überwacht werden, welde
vom Kaifer und Pabſte gemeinschaftlich ernannt würden, auch
dürfen hinfort, bei Strafe der Verbannung, an den Pabftwahlen
nur folhe Römer Theil nehmen, denen die Befugnig dazu kraft
alter Borfchriften zuftehe. Lestere Beflimmung zielt ohne Zweifel
auf ein Geſetz Juftinian’s, %) welches die bifchöflichen Wahlen dem
Clerus und dem Adel vorbehielt. Die große Maffe des Volks, auf
welche fih Päbſte wie Leo IH. und Pafchalis geftügt hatten, waren
dadurch von jeder Mitwirkung bei den Wahlen ausgefchloffen, und
da der römifche Adel zu den Franfen hielt, fo fonnte der Kaifer
binfort, wenn anders die Verordnung Gehorfam fand,
der päbftlihen Treue verfichert feyn.
Mad) dreifährigem Regimente farb Cugenius im Auguft 827.
Sogleich zeigte es fih, daß der römifche Clerus Feineswegs Luft
hatte, dem neuen Gefege Folge zu Teiften. Der Diafon Balen-
tinus wurde zum Nachfolger gewählt, ohne daß Faiferliche Gefandte
zugegen gewefen wären. ?) Balentinus gieng jedoch ſchon nach 42 Tagen
mit Tod ab. Fett aber wußte Ludwig der legten Berordnung Gehorfam
zu erzwingen. Der nächſte Pabft, Gregor IV., durfte nicht eher geweiht
werden, bis ein fränfifcher Sendbote die Wahl geprüft und dem Hohen:
priefter den Huldigungseid abgenommen hatte, ©) Unter Gregor, der
') Der Bibliothefar Anaftafius (liber Pontificalis ed. Vignoli III., 3.)
fagt blos, fie feyen nah Nom zurüdgefommen, vergaß aber vorher anzugeben,
daß fie nach Frankreich abgeführt wurden. — 2) Die Formel des römifchen
Schwurs abgedrudt bei Bouquet scriptor. rer, francic. VI., 175. —
3) Abgedrudt bei Manfi XIV., 479 flg., oder auch bei Bouquet VI., 410 flg. —
*) Novella 123, $. 4. Corpus juris civilis ed. Spangenberg II, 489. —
°) Dieß folgt aus dem Stillſchweigen ſämmtlicher fränkiſchen Gefchichtfehreiber. —
6) Einhardi annales ad annum 827. Perz I., 216 unten, und vita Ludovici
$. 41. Perz II., 631 oben.
732 II. Buch. Kapitel 10.
von 827 bis 844 den Stuhl Petri einnahm, fiel das fränkische Welt:
reich auseinander. Man fieht aus diefem kurzen Meberblid, daß Ludwig,
fo fromm er auch war, fein Anfehen den Päbften gegenüber Fraftig
zu behaupten wußte. Ebenſo entfchieden hat er zur nämlichen Zeit
die Grundfäge der gaflifchen Kirche wider römische Lehre gewahrt.
Während Ludiwig noch in Aquitanien weilte, lebte an feinem
Hofe ) ein aus der fpanifchen Marf gebürtiger Geiftlicher, Namens
Claudius, der in feiner Jugend den Unterricht des Hauptes der Adop-
tianer, Feliv von Urgel, genoffen haben fol.) Claudius war ein
eifriger Schriftfteller, und trug, nach der Weife feiner Zeit, aus den
Werfen älterer Bäter Commentare über mehrere Bücher des alten
und neuen Teftaments zufammen. Er genoß die volle Gunft
Ludiwig’s, auch nachdem diefer den Thron feines Vaters geerbt,
und wurde von ihm gegen SIS auf das Bisthum der Stadt Turin
befördert. Ueber die Gründe, welche Ludwig bewogen, dem Spanier
diefen Stuhl zu geben, befigen wir zwei übereinftimmende Zeugniffe
yon dem Drleaner Biſchof Jonas, und yon Claudius ſelbſt. Jonas
berichtet: ?) „der fränfifhe Kaifer habe den Presbyter Claudius,
der für einen guten Erflärer der Schrift galt, auf den Stuhl von
Turin erhoben, damit derfelbe dem italienischen Bolfe, das in
tiefe Unwiffenheit der evangelifhentehren verfunfen
gewesen, gründlichen Unterricht in der Neligion ertheile.“ Das:
felbe fagt ungefähr Claudius: *) „nachdem mir von Ludwig die
Laft des bifchöffichen Amtes übertragen worden, habe ich die Kirche
von Turin voll verbotener Greuel und Bilder gefunden.“ Inter
den in Stalien herrfhenden Jrrthiimern, wegen deren Claudius von
Ludwig nach Turin befördert wurde, ift folglich der Bilderdienft zu
verftehen, den befanntlich die fränfifhe Kirche verwarf, die römifche
Dagegen mit den Griechen feit dem Conecil von Nicäa vertheidigte.
Kaifer Ludwig hat alfo den Spanier nad Italien geſchickt, um
dem rohen Bilderdienft, der dort herrfchte, entgegen zu arbeiten.
un fällt die Beförderung des Claudius, fo wie auch fein erftes
Wirfen in die Zeit des Pabftes Paſchalis I., mit dem der fränfifche
1) Died fagt Claudius felbft im Briefe an Drufterannus bibliotheca
Patrum Maxima Lugdun. XIV., a. ©, 141 Mitte. — 2 Laut dem Zeugniffe
des Dungal ibid, 499 b. Mitte. — 3) In der Streitfehrift gegen Claudius,
ibid. 167 a. gegen unten. — 9 In einem Brucftüde, das wir der Schrift
feines Gegners Dungal verdanken, ibid. 197 b. oben.
Die abendländifche Kirche unter Ludwig dem Frommen ꝛc. 133
Kaifer auf gefpanntem Fuße fand, wie oben gezeigt worden ift.
Dadurch gefhah es, daß die römischen Grundſätze zugleich vom
Aachener Hof, und yon der Stadt Turin aus angegriffen wurden.
Während Ludwig den Pabſt durch Gefege und Gefandifchaften in
bie Enge trieb, befümpfte der fränkiſche Bischof jener italienifchen
Stadt die römische Lehre vom Bilderdienft durch geiftliche Verord—
nungen und Predigten. Schon dieſes Zufammentreffen einer dop—
pelten, gegen Nom gerichteten, Thätigfeit fcheint auf einen geheimen
Plan hinzudeuten. Andere Gründe, namentlich aber die Art, wie
Claudius zu Turin auftrat, geben unferer Bermuthung den höchften
Grad von Wahrfcheinlichkeit. Sp wie nämlich gegen die Verfuche
bes neuen Biſchofs, den Bilderbienft abzufhaffen, das Anfehen des
Stuhles Petri geltend gemacht wurde, fuhr Claudius rückſichtslos
gegen den Pabft und feine oberfie Gewalt über die Kirche los, wie
tiefer. unten gezeigt werden foll. Sicherlich hätte es der Bifchof
nicht gewagt, auf folhe Weije dem Pabft entgegen zu treten, wäre
er nicht eines mächtigen Rückhalts am Kaifer verfichert gewefen,
Mit andern Worten: Claudius handelte zu Turin im Ganzen
den Weifungen gemäß, die er vom Hofe empfangen hatte. Dem:
nad findet allen Anzeigen nah ein verborgener Zufammenhang
Statt zwifchen der Sendung des Claudius nah Turin, und dem
Streite, den der fränfifche Kaifer um jene Zeit mit dem Stuhle
Petri führte Weil Ludwig mit dem Pabfte grollte, verfeßte er
den Spanier, ber ihm als eifriger Gegner des Bilderdienfts befannt
war, auf den Stuhl von Turin, damit Claudius daſelbſt durch Be:
fampfung der beftehenden Mißbräuche dem Pabft und feinen Anz
hängern den thatjächlichen Beweis Tiefere, dag im fränkiſchen Italien
nicht die Vorſchriften des Stuhles Petri, fondern das Wort des
Kaifers und die auf dem Franffurter Coneil und in den karolini—
jhen Büchern vorgetragenen Grundfäge der fränfifchen Kirche
gelten. Nach biefer nothwendigen Vorbemerkung wollen wir den
Berlauf der Gefhichte des Mannes erzählen.
Wie Claudius nad Turin kam, fand er dafelbft Gebräuche,
die feinen Unwillen erregten. Das Bolf zollte den Bildern und
Kreuzen fo wie den Reliquien der Heiligen göttliche Verehrung und
legte den größten Werth auf Wallfahrten nad Nom. Mit ſcharfen
Mitteln ſchritt Claudius hiegegen ein. Er ſelbſt gefteht, ) daß er
') Bibliotheca Patrum maxima XIV., 197 b. oben,
734 TE. Buch. Kapitel 10.
Befehl gab, die Bilder aus den Kirchen hinauszuwerfen, und fein
Gegner, Jonas yon Drleang, fügt bei, !) er habe auch die hölzernen
Kreuze entfernen laſſen. Die Kühnheit des Bifhofs erregte das
größte Aufjehen nicht nur in Italien, fondern auch in Frankreich
und auf der fpanifchen Granze. 7) Die Einwohnerfchaft von Turin
teilte fi) in zwei Wartheien; die Fleinere billigte das Verfahren des
Biſchofs, aber die Mehrzahl warf einen tödtlihen Haß auf ihn. 3)
Claudius berichtet felber: *) „weil ich Das, was Alle verehrten, zu
zerftören anfieng, öffneten Ale den Mund, mic) zu läſtern, und fie
würden mic) lebendig verfchlungen haben, wenn ber Herr nicht bei:
geftanden wäre.“ Allem Anfchein nach hielt die Furcht vor den
fränfifhen Waffen thätliche Ausbrüche der Wuth feiner Gegner
zurüd. Bald traten aber auch Franken wider Claudius auf. Um
823 fihrieb der Abt Theodemir ein Büchlein wider ihn, und etliche
Jahre fpäter griff ihn der Schotte Dungal an, welder in Karl’g
des Großen Tagen ins fränkische Reich gelommen war, unter Ludwig
dem Frommen aber als öffentlicher Lehrer an ter hohen Schule von
Pavia wirkte. 5) Im Kampfe gegen diefe und ähnliche Widerfacher
trug Claudius mit unglaublihem Freimuth feine Meinungen mittelft
Streitichriften vor, von denen ung feine Gegner einige Bruchftüde
erhalten haben; denn des Claudius eigene Arbeiten, die er zu feiner
Bertheidigung verfaßte, find längft verloren. Daß der Bilderdienft
verwerflich fey, bewies Claudius mit folgenden Gründen: „dag
göttliche Berbot, Fein Bild zu machen von den Dingen, bie im
Himmel, auf Erden und unter der Erde find, bezieht fich nicht bios
auf die Götzen der Heiden, wie Ihr behauptet, fondern gilt von
allen Sreaturen. — Ihr fagt zwar: wir beten die Bilder nicht Darum
an, weil wir etwas Göttliches in ihnen ſehen, fondern zu Ehren
Deffen, den fie vorftellen. ch erwiedere hierauf: wenn ein Heide,
der zum Chriftenthum übertrat, Bilder der Heiligen anbetet, fo hat
er. nur den Namen, nicht die Neligion gewechfelt, er ift, was er
früher war, — ein Götzendiener. Denn ob auf einer Wand Paulus
und Petrus, oder aber Jupiter, Merfur und Saturn abgebildet
find, gilt gleichviel, der Irrthum des Anbetens bleibt derfelbe.
Ui u 13. JE ER
1) Ibid. 468 b. unten. — *®) Ibid. 197 a. unten. — 3) Ausfage Dun:
gals ibid. 199 a. unten. — 9 Ibid, 197 b. oben. — 5) Den Beweis findet
man bei Walch Hiftorie der Kebereien XI., 188 fig.
Die abendländiſche Kirche unter Ludwig dem Frommen ꝛc. 735
Dürften wir Menfchen anbeten, fo müßte unfere Verehrung viel
mehr Lebendigen als Todten geweiht feyn. Denn Tebendig waren
fie Gott ähnlich, als Todte find fie Staub oder gleich Götzenbildern.
Bedenfet wohl, daß wenn ung verboten ift, Werfe Gottes anzu—
beten, wir noch viel weniger Werke von Menfchenhänden verehren
dürfen, auch nicht zu Ehre Deffen, den das Bild yorftellt. Denn
wenn das Bild nicht Gott ift, fo darf es auch nicht der Heiligen
wegen verehrt werben, weil die Heiligen felbft ſich Feine göttliche
Verehrung zueignen. — Warum demüthigft du und beugeft dich vor
falfchen Bildern? Gott hat dich aufrecht erfchaffen, andere Gefchöpfe
feben nach der Erde; dein Geficht ftrebt der Höhe zu. Dahin richte
deine Sinne, fuche Gott in der Höhe, damit du deſto Yeichter dich
losmacheſt von Dem, was auf Erden if. Wirf dich nicht wie ein
Todter neben dem finnlofen Bilde, das du anbeteft, in den Staub
nieder.“ Noch kühner ift die Art, wie Claudius die Verehrung der
Kreuze angreift: „Die VBertheidiger der falfhen Religion fagen: zum
Andenfen unferes Heilandes beten wir das gemalte und zu Seiner
Ehre gemachte Kreuz an. Golden Leuten gefällt nichts an unferem
Heiland als die Schande der Leiden und die Schmach Geined
Todes. — Nur wie Er gelitten, behalten fie im Herzen und denfen
nicht an die Worte des Apoftels (2 Cor. V, 16.): wenn wir aud)
Chriftum einft gefannt haben nad dem Fleiſche, fo
fennen wir Ihn nicht mehr alfo. — Wenn e8 Necht wäre,
das Kreuz deßwegen anzubeten, weil Chriftus an demfelben gebangen,
fo müßten wir wahrlich noch viele andere Dinge verehren: alle Jungs
frauen, weil Chrifius von einer Jungfrau geboren worden, alle
Krippen, weil Ehriftus in einer folchen gelegen, alle Schiffe, weil
Er auf einem Schiffe gefahren, alle Efel, weil Er auf einem Efel
geritten, alle Lammer, weil Er ein Lamm Gottes genannt wird.
Aber jene verkehrten Menfchen effen Lieber die Iebendigen Lämmer
und beten die gemalten an. Auch Felfen müßten wir verehren, weil
Chriſtus in einem Felfen begraben worden, Dornen, weil Seine Krone
aus folhen beftand, Lanzen, weil Er mit einer Lanze erfiochen
wurde. — Durch folhen lächerlichen und verrüdten Götzendienſt
gehen unzählige Seelen zu Grunde.“ ) Die Verehrung der Bilder
) Die bisher angeführten Stellen abgedruckt Bibliothec, Patr, Maxima
XIV,, 197 b, u. 198 a, /
136 II. Buch. Kapitel 10.
und Kreuze hieng, wie wir wiffen, aufs Genauefte mit dem kirch—
lichen Dienfte, den die griechifhe und römiſche Kirche den Heiligen
erwies, zufammen. Es war daher folgerichtig, daß Claudius auch
dem Dienfte der Heiligen und ihrer Anrufung den Krieg erklärte:
„Wir follen unfere Seligfeit nicht bei der Creatur fuchen, fondern
nur bei dem Schöpfer; wer ung anders Iehrt, führt uns ins Ver—
derben. Nicht die Seligfeit eines Andern, oder feine Weisheit, Stärfe,
Mäßigung, Gerechtigfeit, macht uns felig, weife, ftarf, mäßig, ge—
recht, jondern dadurch werben wir es, daß wir dem Beifpiele der
Heiligen nachahmen. Bortrefflich fagt der heil. Auguftin: ) ferne
fey es von ung, verfiorbene Menfchen göttlich zu ver:
ehren, denn wenn dieſe Berftorbene felbft rechtſchaffen
gelebt Haben, fo verlangen fie feine folde Ehren, ſon—
bern wünſchen vielmehr, daß unſer Dienft Demjenigen
gewidmet fey, von weldhem fie ſelbſt Erleudtung em:
pfangen haben, und zu dem fie ung mit ihnen erhoben
jeben möchten. — Auch wollen wir ihnen feine Tempel
errichten — denn bie GSeligen wiffen, daß wir felbft,
fo fern wir reht wandeln, Tempel des allmädtigen
Gottes find. Diefe Lehre (des Vaters von Hippo),“ führt Clau—
dius fort, „it das fefte Geheimniß meines Glaubens, und tief in
mein Herz geprägt. Aber weil ich fie unerfchütterlic) vertheidige,
bin ich ein Gegenftand des Tadels für meine Nachbarn, des
Schredeng für meine Freunde geworden. Mit Fingern weist man
auf mich.“ ) An einer andern Stelle fagt er: ?) „Sollen wir
Gottes Verheißungen glauben, fo müſſen wir dieß um fo mehr
thun, wenn Er einen Eid mit Seinen Worten verbindet. Nun be:
theuert der Herr (Ezech. XIV, 20,): wäre auch Noah, Daniel,
Hiob da, fürwahr weder Söhne nodh Töchter, ſon—
bern einzig und allein die eigene Seele follen fie
durch ihre Gerechtigkeit erlöfen. Das heißt: wir dürfen
unfer Vertrauen nicht auf das Verdienſt oder die Fürbitte der Hei:
ligen fegen, fintenmalen wir nicht felig werden fönnen, wenn wir
) Die Stelfe ift aus dem Buche genommen De vera religione cap. 55.
— ?) Praefatio in libros informationum supra Leviticum, abgedrudt bei
Mabillon analecta, Folioausgabe S. 91. — °) Bib, Pat, Max. XIV, 199 a.
oben.
Die abendländifche Kirche unter Ludwig dem Frommen ı€. 137
nicht eben dieſelbe Gerechtigfeit, eben die Wahrheit und Treue be:
wahren, wie Jene.“ Viertens beftritt Claudius den Glauben an
die Berbienftlichfeit der Wallfahrten, befonders der römifchen. „Falſch
ift deine Behauptung,“ fihreibt 1) Claudius an den Abt Theodemir,
„als ob ich den Leuten verböte, dev Buße wegen nah Nom zu
pifgern. Weder tadeln noch loben mag ich im Allgemeinen folche
Wallfahrten, weil ich weiß, daß fie weder Allen nügen, noch Allen
ſchaden. Aber fragen muß ih, ob nah Rom laufen fo viel heiße
als Buße thun? — Mißverftändnig der Worte Chrifti an Petrus
(Matth. XVI, 18 flg.): Du bift Petrus, auf diefen Felſen
will ih meine Gemeinde bauen — und id will Dir
die Schlüffel des Himmels geben, verleitet dag ungebil-
dete Bolf, daß es um der Geligfeit willen nad) Nom pilgert. Das
Petro gegebene Schlüffelamt dauerte nicht länger, als das Leben dee
Apoftels. Nach feinem Tode gieng die Vollmacht zu richten an
Andere (die Biſchöfe) Über. Gegen die Thorheit, nad Nom zu
wallen, damit man dort die Fürbitte des Apoſtels erlange, ftreitet
ein Ausfprucd des Auguftinus im achten Buche von der "Dreieinig-
feit, fraft defjen wir die Apoftel nach ihrem Tode nicht wegen ihres
Körpers, jondern wegen ihrer bei Gott weilenden Seele lieben
jollen.“ Endlich ſprach ſich Claudius noch mit merkwürdiger Offen:
heit über das“ Anfehen aus, das nad feiner Meinung dem Pabſte
gebühre. „Dein fünfter Vorwurf gegen mich,“ fchreibt er ?) an
benfelben Theodemir, „beruht darauf, Daß der Apoftolifus mir feinen
Unwillen zu erkennen gegeben babe. Du fagft dieß von Pas
ſchalis, dem Bifchofe der römifchen Kirche, welcher bereits geftorben.
Nun wird berfelbe Apoftolifus genannt, entweder weil er gleichfam
Hüter des Apoftels (Wächter des Grabes Petri) ift, oder weil er
das Amt eines Apofteld verwaltet. Gewiß aber verdient er ben
Namen des Apoftolifus nur dann, wenn er als Apoſtel wirft, und
nicht weil er auf dem Stuhle eines Apoftels fist. Bon Denen, welche
auf dem Stuhle fisen, ohne das Amt zu verrichten, gelten die Worte
Chriſti (Matth. XXI, 2.3): Auf Mofis Stuhle figen bie
Schriftgelehrten und Pharifäer Alles, was ſie Euch
fagen, das tput, aber nad ihren Werfen follet ihr
niht handeln. Denn fie lehren wohl, thun es aber
N) Diefe und die folgende Stelle ibid. S. 198 b. — ?) Ibid, 199 a, oben,
Sfrörer, Kircheng. III. 47
’
7138 | DE Buch. Kapitel 10.
nicht.“ Diefe Stelle in Verbindung mit der früher angeführten,
wo Claudius das Schlüffelamt auf Petri Lebzeiten befchränft, hat
offenbar den Sinn: der Pabft ift nicht beffer oder mehr als jeder
andere Biſchof; nur fofern er Heiliger und apoftolifcher lebt als die
übrigen Kirchenhäupter, verdient er größere Ehre. Claudius berief
fi, wie man ſieht, vorzugsweiſe auf Die Schriften Augufting, deſſen
feuriger Anhänger er war. Dungal giebt dem Bifchofe von Turin
fogar Schuld, ) er habe, mit Ausnahme Auguftins, faft alle andern
Väter verachtet und insbefondere den heiligen Hieronymus unbarm—
berzig mißhandelt. Handſchriftlich find mehrere exegetifche Arbeiten
des Claudius vorhanden, aus welchen man feine eigenthümlichen
Meinungen genauer fennen lernen Fönnte, aber außer einer Er:
flärung über den Salaterbrief *) und den Borreden zu zwei andern
Büchern ?) ift nichts gedrudt. Seine Streitfehriften find, wie früher
bemerft wurde, bis auf die milgetheilten Bruchſtücke Yängft verloren.
Der Kampf felbft, den Claudius mit feinen Gegnern zu be—
ftehen hatte, und der ihn zu fo fühnen Aeußerungen veranlaßte,
verlief folgendermaßen. Nachdem der neue Biihof von Turin offen
mit feinen Grundſätzen hervorgetreten war und benfelben gemäß bie
dortige Kirche von Bildern und Kreuzen gewaltfam gereinigt hatte,
erließ der Abt Theodemir, welcher allem Anfchein nach dem Kloſter Pfal-
modie im Sprengel von Nismes vorftand und früher Freund des
Claudius war, ein Sendfchreiben an denfelben, in welchem er ihn
wegen mehrerer Irrlehren zur Rede ftellte. ) Claudius empfand
den Streich hart, weil er von einer unerwarteten Seite fam, denn
er hatte bisher den Abt unter feine Vertrauten gezählt. Zu feiner
Bertheidigung verfaßte. er um 825 eine Schußfchrift, von welcher
jene Brucdhftüde auf uns gefommen find. Nun fchleuderte aber
Theodemir ein zweites Buch gegen Claudius, das wir gleichfalls nur
aus den Anführungen des Jonas yon Drleans fennen. Dabei
blieben jedoch die Gegner des Turiner Bifchofs nicht ftehen. Jonas
erzählt, Klagen jeyen bei Hofe gegen Claudius eingelaufen, auch
habe Kaifer Ludwig, nachdem er die Schußfchrift gelefen, diefelbe
N) Ibid, 204 b, Mitte. — ?) Abgedrudt ibid. 444 flg. — ?) Bei Mabillon
analecta vetera ©, 90 flg. — *) Den Beweis bei Walch Hiftorie der Keßereien
XI., 184 fig. — °) Diefes ra a fennen wir blog aug einem der Drug
Rüde des Claudius.
Die abendländifche Kirche unter- Ludwig dem Frommen ıc. 739
mißbilfigt, und Anordnung getroffen, daß fie widerlegt werde. 1)
Unmöglich kann aber der Zorn des Kaifers ernſtlich gemeint ge:
wefen feyn. Denn als um jene Zeit eine Berfammlung von Bifchöfen
Claudius aufforderte, Nede zu ftehen und Rechenſchaſt von feinen
Irrlehren zu geben, weigerte ſich *) der Borgeladene nicht nur zu
fommen, fondern er fchalt auch die verfammelten Bäter ind Ange:
fiht „Efel.“ Hätte der Bifhof von Turin die Gunft des Kaifers
verloren, fo durfte er eine ſolche Sprache nicht führen oder er wäre
jedenfalls verloren gewefen. Nun ift aber gewiß, daß er bis an
fein Ende im ruhigen Befige feines Stuhles blieb. Zum Ueberfluß
" erfahren wir nocd aus einem Brief ?) des Abts Theodemir, daß
die angefehenften Metropoliten des fränfifchen Reichs den Anfichten
des Claudius günftig gewefen feyen. So ftanden die Sachen, ale
um 828 ein neuer Vorfechter römifcher Nechtglaubigfeit wider den—
felben auftrat, nemlich der früher erwähnte Lehrer an der Hochfchule
zu Pavia, Dungal. Seine Schrift, die den Titel führt: „Erwie—
derung gegen bie verkehrten Sätze des Bifchofs von Turin,“ ift noch
vorhanden. %) Durd Ausfprüche älterer Väter fucht er darin bie
Berehrung der Bilder und die übrigen von Claudius befirittenen
Punkte Inteinifcher Leberlieferung zu vertheidigen, namentlic bringt
er viele Stellen aus hriftlihen Dichtern bei. Dungal ermahnt )
den Kaifer Ludwig dringend, Gewalt gegen den Erzketzer Claudius
zu brauchen: „Wir beſchwören fußfüllig unfere erhabenen und aller:
hriftlichften Gebieter, 9%) daß fie, von Eifer Gottes erfüllt, der feuf:
zenden Diutterficche zu Hülfe fommen und fie nicht länger yon ber
Schlange zerbeißen laſſen. Gleichwie der glorreiche Kaifer Karolus,
feligen Gedächtniſſes, als wachfamer Vertheidiger Fatholiihen Glau—
bens in der Perfon des Felix das Haupt der Viper, welche gegen
die Einheit der Kirche zifchte, mit dem eifernen Stabe apoftolifcher
Gewalt zerfchmettert bat, alfo möge auch fein erlauchter Sohn den
Schwanz deſſelben Ungeheuers — Claudius wird namlich als Erbe
ber Keßerei des Felix von Urgel hingeftellt, — vollends nieder—
hlagen.“ Aber Ludwig fand nicht für gut, folchen Nathfchlägen
!) De eultu imaginum Biblioth. Patr, Max. XIV., 167 a. unten flg. —
2) Dieß berichtet Dungal ibid. 223 b. unten. — 3) Mitgetheilt von Zaccaria
bibliotheca Pistoriensis ©. 50, man fehe Wald a. a. D. ©. 155. — *) Ab»
gedrudt Bibliothec. Patr, Max. XIV,, ©. 199 flg. — ) U. a. O. ©. 199 b.
Mitte. — 9) Kaifer Ludwig fammt feinem Sohne und Mitregenten Lothar.
47*
740 I. Buch. Kapitel 10.
wüthender Feinde fein Ohr zu leihen, Allmählig verfiummten bie
Gegner. Jonas von Orleans hatte zwar um 828 eine Widerlegung
der Lehre des Claudius abzufaffen begonnen, aber er hielt feine
Schrift bis nah dem Tode des Kaifers zurück. Erft unter Karl
dem Kahlen nahm er biefelbe wieder vor und veröffentlichte fie. ')
Als dieß gefhah, war Claudius gleichfalls geftorben. Ueber bie
Gründe, warum er den Todten befämpfte, Außert ?) fi) Jonas
felbft jo: „auf den Wunſch des Kaifers Ludwig, daß die Irrlehren
des Claudius widerlegt werden möchten, begann ich gegenwärtiges
Werk zu fehreiben, und hatte aud) den größten Theil ausgearbeitet.
Da ich jedoch erfuhr, Daß Claudius mit Tod abgegangen, ließ id) -
die Schrift wieber liegen, boffend, der Irrthum werde mit ihm er:
loſchen ſeyn. Allein nun ift mir fihere Nachricht zugefommen, daß
die Keberei des Mannes in feinen Schülern wieder auflebt. —
Darum bielt ich es für meine Pflicht, jene Schrift von Neuem vor—
zunehmen“ u. f. w. Uebrigens verfährt Jonas im Streite mit Clau—
dius anders als Theodemir und Dungal, Während der Lestere
in der Frage wegen Berehrung der Bilder die päbftliche Lehre zur
Richtſchnur annimmt, verfiht Jonas gegen den Bifchof von Turin
nicht den römischen Gebrauch, fondern die Grundſätze der fränfifchen
Kirche. Diefe verwarf befanntlich die Anbetung ber Bilder, bul:
dete aber biefelben in den Kirchen als Mittel der Belehrung und
der Andacht. Dagegen hatte, wie wir oben gefagt, Claudius nicht
blos die Bilder aus den geweibten Stätten entfernt, fondern auch
in der Hitze des Streits den fränfifhen Mittelweg getadelt. Jonas
gibt ihm darin vollfommen Recht, daß Niemand außer Gott An:
betung verdiene. Mit Bitterfeit greift er aber feine Abweichung von
ben fränfifchen Grundfägen an: „Hätte. Claudius bie Lehre, welche
Pabft Gregor der Große in feinem Briefe an Serenus yon Maſſilia
ertheilt, fo wie das Beifpiel befolgt, das Paulus zu Athen gab, fo
wäre er nie in einen fo ſchweren Irrthum verfallen. — Der Apoftel
hat, als er nad) Athen fam, die Altäre, die er bafelbft antraf, nicht
umgeftoßen, fondern die Heiden durch Zureden belehrt. — Weil
Claudius die brüderlihen Ermahnungen des Abts Theodemir nicht
ertragen konnte, gerieth er in den heftigften Zorn, und tobte gegen alle
') Jonae Aurelianensis libri tres de cultu imaginum, abgedruckt ibid.
167 fig. — 2) Ibid, 167 b. oben,
Die abendländifche Kirche unter Ludwig dem Frommen ıc. 741
Berehrer ber Fatholifhen Kirche in Franfreih und
Teutfhland, die Doc von dem Aberglauben des Bil:
deranbeteng frei find, indem er fich nicht fcheute, Gallier
und Teutfche des abfcheulichften Götzendienſts anzuklagen.«“ ) Sm
den andern Punkten giebt Jonas dem Biſchofe von Turin vollkom—
men Unrecht. Mit Dungal vertheidigt er die Verehrung der Kreuze
und Reliquien, die Anrufung der Heiligen, fowie die VBerbienftlich-
feit der Wallfahrten. Was das Anfehen des Stuhles Petri betrifft,
fo findet Jonas wenigftens die kecke Sprache verdbammlich, die Clau—
dius gegen den Pabſt, feinen Borgefesten, geführt habe, 2)
Jonas befämpft, wie man fieht, den Bischof von Turin nicht darum,
weil Diefer gewiffe Gebräuche, welche die römische Kirche vertheidigt,
als Aberglauben amzutaften gewagt hatte, fondern deßhalb, weil
Claudius in feinem Unternehmen weiter gegangen war, als bie
fränfifche Ueberlieferung geftattete. Jetzt wird auch Far, warum
Kaifer Ludwig feine Einwilligung gegeben haben mag, daß Claudius
zurechtgewiefen werde. Beſtürmt durch die Vorftellungen der Geg—
ner des Mannes fürchtete er, die römifche Parthei möchte zulegt die
kühnen Schritte des Claudius fo anfehen, als ob fie vom fränfifchen
Hofe anbefohlen feyen. Er nahm daher den Schein an, wie wenn er
das Verfahren des Biſchofs mißbilligte. Dennoch konnte er ihn nicht
fallen laſſen, weil Claudius wirklich, als er nach Italien abgieng,
Auftrag erhalten hatte, den Pabft durch Ausrottung der Mißbräuche,
die in der dortigen Kirche berrfchten, zu demüthigen. Ueberdieß
waren bald nad dem Ausbruche des Streits zwifchen Claudius und
Theodemir auf anderer Seite Verwicklungen eingetreten, welche dem
fränfifchen Herrfcher, auch wenn er gewollt hätte, nicht mehr freie
Hand ließen, rückwärts zu gehen.
Kaum hatte Eugenius, von der fränfiichen Parthei erhoben,
an der Stelle des im Mai 824 verftsrbenen Pafchalis den Stuhl
Petri beftiegen, als die Byzantiner einen Schritt thaten, welcher
bewies, wie genau fie die neue Wendung Fannten, welche die An-
gelegenheiten in Nom genommen. Früher ift berichtet worden, daß
feit Michaels des Stammlers Thronbefteigung die griechifhen Bilder
Diener, weil fie beim Kaifer fein Gehör fanden, eine Zufluchtftätte
in Nom fuchten, und von dort aus das öſtliche Neich für ihre Zwecke
1) Ibid, 168 b, unten und 169 a, Mitte, — ?) Ibid. 195 b. fig. -
742 1. Buch. Kapitel 10.
bearbeiteten. Michael wünfchte um jeden Preis, diefen Umtrieben
ein Ende zu machen. Aber er Fonnte feine unzufriedene Unter:
tbanen nur dann gründlich von dem Pabſte trennen, wenn es ihm
gelang, den Stuhl Petri zu vermögen, daß er dem Bilderdienft
entfage. Schwer war die Aufgabe, dod nicht unmöglich, weil bie
fränfifchen Gebieter und Schutzherrn Roms gleichfalls die Anbetung
der Bilder verwarfen. Um in Nom feinen Zweck zu erreichen, mußte
baber Michael erft Ludwig den Frommen zu gewinnen trachten.
Wirklich fertigte er im Sommer 824 eine Geſandtſchaft ab, welche
erft an den fränfifchen Hof, und dann, wenn dort die Unterhand-
fung eingeleitet feyn würde, zum Pabfte fih verfügen ) follte. Der
byzantinifhe Herrſcher gab den Abgeordneten ein Schreiben an Lud-
wig den Frommen mit, das von uns ſchon mehrfach ‚benügt worden
ift, und über die ganze Angelegenheit helles Licht verbreitet. „Einige
unzufriedene Bilderdiener,“ heißt es °) daſelbſt, „find von Conftan-
tinopel nad) Altrom geflüchtet, und haben dort über ung Lafterungen
verbreitet. — Um nun die Ehre der chriftlichen Kirche zu befördern,
haben wir an den Pabſt einen Brief gefchrieben und unfern Ge:
fandten mitgegeben. — Zugleich aber bitten wir Eure Liebden, An:
ordnung zu treffen, daß befagte Gefandte mit Chren nah Rom
gelangen, auch denfelben Hülfe zu leiſten und Befehl zu geben,
damit wenn folhe Läfterer und falfche Chriften in Nom ſich finden
follten, bdiejelben fofort aus der Stadt entfernt werden.“ Die
griechiſchen Bevollmächtigten überbrachten neben andern prächtigen
Geſchenken auch eine Handfchrift der Werfe des Areopagiten Dio-
nyfius für den fränfifhen Hof. Ludwig empfieng die Gefandtfchaft
im Dezember 824 zu Nouen, ?) Da Das, was fie verlangte, näm:
lich eine Erklärung des Pabſts wider den Bilderdienft, -vollfommen
mit dem eigenen Bortheile der fränfifchen Kirche übereinftimmte, fo
fam mit leichter Mühe eine Vereinigung zu Stande. Ludwig der
Fromme entjendete die Griechen, dem Wunſche Michaels gemäß,
nad Rom und gab ihnen überdieß zwei fränkifche Abgefandte, den
Biihof Frefulf von Lifieur und Adegarius bei. %) Sn diefer Ge-
jellfhaft. gelangten die Byzantiner nah Nom. Ihre Ankunft muß
') Siehe oben S. 189. — ?) Manſi XIV., 420 unten fig. — 3) Einhardi
annales ad annum 824 Perz I, 212 unten. — *) Dieß erhellt aus den Aften
der Parifer Synode vom Jahre 825. Manſi XIV., 422 unten.
Die abendländifche Kirche unter Ludwig dem Frommen ıc. 743
für den Pabſt Eugenius ein Donnerftreich gewefen feyn. Da er
den Stuhl Petri fränfifchem Schuße verbanfte, fonnte er die For-
derung der Griechen, die durch Ludwig's mächtige Fürfprache unter:
ftügt war, unmöglich zurüdweifen. Bewilligte er aber, was ihm
angefonnen wurde, fo verfeindete er fih aufs Heftigfte mit jener
römifchen Parthei, welche unter feinem Vorgänger Paſchalis Die
Geſchäfte gelenft hatte und noch immer fehr großen Einfluß befaß.
Sn der Mitte zwifchen einer Scylfa und Charybdis befand fich, wie
man fieht, Eugenius. Welchen Weg er zufegt einfchlug, um fich
aus diefem Irrſal heraus zu winden, darüber giebt folgende Stelle
der Parifer Aften vom folgenden Jahre erwünfchten Auffchlug :
„Dieweil vom Pabſte,“ fchreiben ) die zu Paris verfammelten Bäter
an Ludwig den Frommen, (in der Bilderfache) „Feine Hülfe zu er:
warten ſteht, fo bat Euch der Herr Eurem Wunfche gemäß ein
anderes Thor eröffnet, fo fern Euch Eugenius die Erlaub-
niß ertheilte, durch Eure Leute die wichtige Angelegenheit zu
entfcheiden, — damit endlich auch der Pabft felbfi, er mag nun
wollen oder nicht, der Wahrheit Naum gebe.“ Diefe Worte
find far genug. Gugenius hatte für gut gefunden, fi in. ber
ganzen Sache leidend zu verhalten, und den Abfchluß einer Leberein-
funft mit den Griechen den fränfifchen Bischöfen zu überlaffen. Da:
gegen erbat der Kaifer feiner Seite, damit die Ehre des Pabſts
gerettet werde, von Diefem die Erlaubniß, eine Berfammlung der
Biſchöfe feines Reichs halten zu dürfen.
Dem gemäß traten im November 825 mehrere Kirchenhäupter
in Paris zuſammen. Ueber ihre Beſchlüſſe erſtatteten ſie ſofort an
den Kaiſer einen Bericht, 2) welchem wir Folgendes entnehmen:
„Eurem Befehle gemäß find wir im November zu Paris zufammen-
gefommen, um die Bilderfache zu unterfuchen. Da wir nöthig er⸗
achteten, den Urfprung des Streits Fennen zu lernen, fo haben
wir ung zuerft das Schreiben des Pahftes Hadrianus an den Kaifer
Conftantinus und (feine Mutter) Irene vorlefen laſſen. Wir erfahen
zwar aus demfelben, daß befagter Pabft mit gutem Fuge Diejenigen
verdammte, welche im öftlichen Reiche die Bilder zu zerfiören und
abzufchaffen fich erfühnten, dagegen hat Hadrian eine große
Unvorfidhtigfeit begangen, weiler anordnete, man
1) Ibid. 423 Mitte. — 9 A. a. O. ©. a2ı fig.
744 I. Buch. Kapitel 10.
folfe die Bilder anbeten. — Denn obwohl man Bilder
in den Kirchen aufridhten darf, fo ift es doch eine
Sünde, denfelben göttlihe Verehrung zu ermweifen.“
Die Bäter von Paris kommen fofort auf die Synode yon Nicäa
zu fprechen,, welche fie in ftarfen Ausdrüden tadeln. Dann fahren
fie fort: „Raifer Karl, Euer erlauchter Vater, hat mit Necht die
Synode von Nicäa in vielen Stüden widerlegt, und bie betreffende
Schrift durd) Angilbert dem Pabfte zugeſchickt, damit Diefer ver:
möge feines Anfehens die gerügten Fehler verbeffere. Aber zum
zweitenmal nahm Hadrian Parthei für Diejenige, welde den
Aberglauben vertheidigten. — Nachdem wir num bie älteren
Schriften in Betreff der Bilderfache geprüft, hörten wir die Bot—
ſchaft an, welche die griechiihen Gefandten im vorigen Jahre über:
brachten. Darauf berichteten ung Frekulf und fein Gehülfe Adegariug
mündlih, was fie in Nom verhandelt hatten. Ihre Ausfage über:
geugte ung, dag in jenen Gegenden (Nom und talien)
theils aus Unfenntniß, theils aus böfer Gewohnheit
bie Peſt des Aberglaubens eingeriffen fey — Bon
dem Pabfte ift daher Feine Hülfe zu erwarten“ u. ſ. w. Nun folgt
die oben angeführte Stelle. Zugleich fügen fie den Nath bei, man
möge die Widerlegung der Irrthümer des Bilderdienfts nicht an den
Pabft, fondern an die Griechen richten, welche ja zu ber vorliegen:
den Unterfuchung Anlaß gegeben hätten. Dann heißt es weiter:
„auch haben wir Zeugniffe ) der Schrift und Ausfprüche der
Väter, fo viel die Kürze der Zeit erlaubte, gefammelt.“ Gemäß
benfelben erflären fie, gefunden zu haben, daß man Bilder weder
zerftören und verachten, noch auch göttlich verehren dürfe, wohl
aber folle man ohne Aberglauben diefelben zum Andenken Derer,
welche durch fie dargeftellt wiirden, beibehalten. Zum Schluffe be:
rufen fie fih auf den heil. Pabſt Gregorius, der die wahre Lehre
von den Bildern deutlich vorgetragen habe.
Weiter entwarf die Synode im Namen des Kaifers Ludwig
einen Brief ?) an den Pabft, worin biefer dringend aufgefordert
wird, gemäß jenen Grundfägen den Streit mit den Byzantinern
zu beendigen. Da die zu Paris verfammelten Bifchöfe Unterthanen
—
) Diefe Zeugniffe find den Akten beigefügt ibid. 421—460. — ?) Ibid,
461—463. TUE
—
Die abendländifche Kirche unter Ludwig dem Frommen ıc. 745
tes fränfifchen Kaifers waren und in feinem Auftrage handelten,
fo muß man annehmen, daß fie diefes Schreiben mit Ludwig’s Ein-
fiimmung aufgefest haben. Die Synode that jedoch noch einen
andern Schritt: fie erlaubte fih die Formel eines Briefs !) abzu—
faffen, den der Pabſt an den byzantinifchen Herrſcher Michael Theo:
philus erlaffen folle. In demfelben wird dem römifchen Oberpriefter
der Wunfh in Mund gelegt, die bisherigen Streitigfeiten mit den
Griechen beizulegen. Den Schluß bildet die Berficherung, daß ber
Clerus, die Großen und die ganze Kirche des fränfifchen Reichs eine
friedliche Mebereinfunft mit den Griechen wünſchen. Kaum fonnte
dem Pabfte eine größere Demütbigung widerfahren, die fränfifchen
Bischöfe treten ungefcheut als Vormünder des Stuhles Petri auf.
Wie man fih denfen kann, bilfigte der Kaifer die Beſchlüſſe
ber Pariſer-Verſammlung vollfommen. in fehwieriges Gefchäft
war es aber, die Zuftimmung des Pabſtes Eugenius zu erringen.
Ludwig der Fromme beorderte zu diefem Zwecke den Biſchof Jonas
von Drleans und deffen Metropoliten Jeremias von Sens nad)
Nom. Sie überbrachten dem Pabſte außer den Aften der Tehten
Synode ein Schreiben ?) des KRaifers, das jedod von dem zu Paris
entworfenen verfehieden ift. Der Kaifer bittet darin den Pabft, fich
mit den beiden Bifchöfen vertraulich zu berathen, zugleich ftellt
er ihm frei, entweder für ſich Geſandte nach Conftantinopel zu fen:
ben, oder feine Abgeordnete mit den Faiferlichen abgehen zu laffen.
Ludwig fuchte, wie man fieht, den römiſchen Oberpriefter durch
fanfte Worte zu gewinnen. Aus der Dienftvorfchrift, welche er
jenen Biſchöfen mitgab, und welche gleichfalls vorhanden ift, °) erhellt
noch deutlicher, daß der fränfifche Hof die Beforgniß hegte, Eugenius
werde fih nicht fiigen. Jonas und Seremiag werden angewieſen,
dem Pabft mit größter Geduld und Befcheidenheit Borftellungen
zu machen, und fih wohl zu hüten, daß Eugenius nicht durch
Widerſpruch zu eigenfinnigen Befchlüffen verleitet werde. „Sollte eg
Euch,“ Heißt e8 weiter, „gelingen "die römiſche Halsftarrigfeit alfo
zu überwinden, daß der Pabſt fih dazu verftinde, Gefandte nad)
Conftantinopel zu ſchicken, fo befeblen wir Euch, ihn zu befragen,
') Ibid, 465—466. — 2) Abgedruckt bei Baluzius Capitularia I., 645. —
3) Ibid. ©. 643 flg. Beide Aktenſtücke auch bei Manfi im Anhange zum fünf
zehnten Bande ©. 455 unten flg.
746 | 1. Buch. Kapitel 10.
ob es ihm genehm fey, wenn unfere Botfchafter zugleich mit den
feinigen dahin abgiengen“ u. ſ. w. Weiter reichen die auf ung ge-
fommenen urfundlihen Nachrichten nicht. Keine Duelle meldet, daß
Eugenius wirflih Abgeordnete ernannt oder abgeſchickt habe; das
Stillſchweigen der Alten fcheint Das Gegentheil zu bemweifen. Anderer
Seits ift gewiß, daß im Jahre 827 eine fränfifche Gejandtichaft
nad Conftantinopel abgieng, und eine Kyzantinifche bei Ludwig ein-
traf. Der Gefchichtfchreiber, dem wir folgen, ') fügt bei, die eine
wie die andere fey aufs Befte empfangen worden. Aus biefem
freundlichen Berfehr der beiden Höfe muß man, glauben wir, ben
Schluß ziehen, daß die Byzantiner den Zwed, wegen deſſen fie mit
den Franken unterhandelten, wirklich erreicht haben, mit andern
Worten, daß der Pabft gezwungen worden ift, feine Verbindung
mit den griechifchen Bilderdienern aufzugeben. Denn Ludwig ber
Fromme würde fih in Conftantinopel lächerlich gemacht haben, wenn
er, ohne erwünfchte Antwort, Gefandte dahin geſchickt hätte. Wirk
lich Hören auch im öftlihen Neiche Klagen über römische Ränke für
längere Zeit auf. Ludwig der Fromme. vermochte demnach in ber
Bilderfache über den Stuhl Petri mehr als fein Vater. Während
Hadrian I. den Karoliniſchen Büchern Trog bot, mußte fid) Eugenius
yor dem Willen des fränfifchen Hofe beugen und zugleich eine derbe
Zurechtweifung der gallifhen Kirchenhäupter hinnehmen. Man fieht
nun, wie thöricht es gewefen wäre, wenn Ludwig bei ſolchem Stande
der Dinge den Bifchof Claudius von Turin, der für die fränkiſchen
Grundfäge focht, den Nänfen feiner Gegner aufopferte; er hätte
dadurch) die bereits errungenen Vortheile wieder aus der Hand ge-
geben. Zugleich erhellt jest, warum gerade Jonas von Orleans
Beruf in fih verfpürte, gegen das Uebermaaß der Bilderfeindichaft
des Turinerg in die Schranfen zu treten. Da er ed war, ber bie
figfihe Unterhandlung mit dem Stuhle Petri Ieitete, und da er in
diefer Eigenschaft ohne Zweifel dem Pabſte die Verſicherung gab,
die fränfifche Kirche werde nie mehr verlangen, als was zu Wahrung
ber farolinifhen Grundfäge nöthig jey, mußte er durch die Fühnen
Schritte des Claudius fich verletzt fühlen.
Außer dem angeführten Grunde Fonnte Ludwig den Turiner
Biihof auch darum nicht fallen Iaffen, weil die ausgezeichnetften
!) Vita Ludovici $, 40 u, Al. Perz II., 631.
Die abendländifche Kirche unter Ludwig dem Frommen ıc. 7147
Häupter der fränkifchen Geiftlichfeit über den Bilderbienft ungefähr
eben fo dachten, wie Claudius. Die Aeußerung in dem Briefe des
Abts Tpeodemir, ) daß die angefehenften Metropoliten des Reichs
die Anficht des Turiners theilen, ift buchftäblihe Wahrheit. Bald
nach der Synode von Paris, und ohne Zweifel durch die dortigen
Berhandlungen angeregt, veröffentlichte der Erzbiſchof Agobardus
von Lyon eine merfwürdige Schrift über die Bilder. Ehe wir über
diefelbe Bericht erftatten, wollen wir die Perfönlichkeit diefes Mannes,
den wir fchon oft genannt, ins Auge fallen. *) Agobardus wurde
im Sahre 779, man weiß nicht wo, geboren. Seit dem Anfange
des neunten Jahrhunderts erfcheint er als Zögling ber von dem
Erzbifchof Leidrad begründeten Lyoner Schule. Leidrad wandte dem.
begabten Zünglinge feine volle Gunft zu und arbeitete Darauf bin, ihn
zu feinem Nachfolger zu machen, ohne Zweifel weil er verhindern
wollte, dag nad feinem Tode ein Unwürdiger fi des Lyoner Bie-
thums bemächtige. Schon im Jahre 808 ernannte er ihn zu feinem
Mitbifchofe oder Gehülfen, und als Leidrad 816 fein Amt nieder
legte und ſich in die Abtei des heil. Medardus zu Soißons zurüds
308, wurde Agobard yon Ludwig dem Frommen, auf Leidrad's Ber:
wenden, mit dem erledigten Stuhl bedacht. Eine Menge Gegner
Yärmten gegen feine Erhebung, aber mächtige Freunde ſchützten ihn.
Agobardus fteht feitdbem an der Spise jener höchſt ehrenwerthen,
aber firengen Parthei des fränfifchen Clerus, welche das Gefe über
die Erbfolge und die Untheilbarfeit des Reiches durchgefochten, der
Geiftlichfeit eine unabhängige Stellung gefichert, aber auch zugleich
die Mitglieder derfelben zu einer unerbittlihen Manngzucht verpflichtet
bat. Er verdanfte Alles fich ſelbſt. Die Gunft des Himmels hatte
ihm einen durchdringenden Berftand, und — was in Verbindung mit
Weisheit das Schönſte — ein hoher Empfindungen fähiges Herz
verliehen. Im Verkehre mit Großen des Hofs war Agobardug be-
fangen und furchtfam, was befannilich vielen Gelehrten widerfährt,
aber diefer ſchüchterne Mann führte in der Stille feines Arbeite-
zimmers eine fehr fpisige Feder, und auch in sffentlichen Verſamm—
lungen, wo die Pflicht ihn rief, fprach er kühn feine Meinung aus.
Lesteres bewieg er 3. B. 822 auf dem Neichstage zu Attigny. Noch
) Siehe oben ©. 759. — 2) Man fehe die Histoire litteraire de la
France IV., 567 flg., wo die Beweife angegeben find.
748 IM. Buch. Kapitel 10.
immer waren troß wiederholter Verordnungen der Kaiſer viele Kir⸗
hengüter in den Händen von Laien. Agobard trug zu Attigny auf
Wiederherftellung des Geraubten an, und da ihn nachher Diejenigen,
welche durch feine Klage bedroht wurden, befchuldigten, daß er Un—
frieden zwifchen Kirche und Staat erregen wolle, veröffentlichte er
eine Schugfchrift, ) in welcher er aus biblifchen Stellen, nament-
lich der Bücher des alten Bundes, aber auch aus Coneilienfchlüffen
beweist, daß der Beſitz der Kirche jeder Zeit für unverleglih, und
Eingriffe in denfelben für ein fluchwürdiges Verbrechen gegolten
haben. Nebenbei tadelt er in bitteren Ausdrüden den Mißbrauch,
welchen gewiffe Elerifer und Aebte mit den Kirchengütern treiben. Seine
‚Meinung ift, daß was ber Kirche vergabt worden, dem Clerus
gehöre, aber yon ihm zum Wohle des Ganzen verwendet werben
müffe. Obgleich der Name Agobard in den noch vorhandenen Aften
des Parifer Concils nicht genannt wird, glaubt man doch, daß er
dort zugegen war und eine wichtige Nolle fpielte. ) Bald darauf
verfaßte er die oben erwähnte Abhandlung yon den Bildern. 3) Im
Eingange wird aus vielen Stellen der Werfe Auguftins und anderer
Bäter dargethan, daß das erfte der zehen Gebote alle Bilder ber
Gottheit wie der Menfchen zu verehren unterfage. „Nur Gott allein
darf man anbeten und feinen Mittler, als Jeſum Chriftum, fuchen.
Unerlaubt ift eg, irgend welchem Gefchöpfe, felbft den Engeln, Opfer
barzubringen. Wenn auch in der Schrift manchmal die Engel oder
die Menfchen Götter genannt werden, fo berechtigt dieß zu Feiner
firchlichen Verehrung, und obgleich wir Yefen, daß der Herr den
Altvätern fichtbarlich erfchienen ift, fo war doch die Geftalt, welche
die Patriarchen fhauten, nicht Er ſelbſt. In das eigene Innere foll
der, Glaubige fi zurücziehen, die Befchäftigung mit äußerlichen
Dingen, felbft wenn fie gut find, ift dem Schwunge der Andacht
hinderlich. Menfchen, welche Bilder, die von ihren Händen gemacht
find, Heilig nennen, begehen dadurch zugleich einen Greuel und einen
Unfinn: einen Greuel, weil fie menfchlihen Werfen die Verehrung
erweifen, bie nur Gott gebührt; einen Unfinn, weil fie Teblofem
Zeuge himmlische Kräfte beifegen. feicherweife ift die Ehre, die
!) De dispensatione ecclesiasticarum rerum liber, bei Gallandius XIII.,
©. 168—476. — 2) Histoire litteraire de la France IV., 59% unten. — 3) De
imaginibus liber, bei Gallandius a. a. DO, 457—68.
—
a nn
he a A A A
Die abendländifche Kirche unter Ludwig dem Frommen ic. 749
man Kirchen zollt, in denen Heilige begraben Liegen, tabelhaft.
Auf ſolchen Dienft beziehen ſich die Worte Chrifti (Matth. XXI, 29.):
Wehe euch Schriftgelehrten und Bharifäern, ihr Heud:
ler, bie Ihr der Propheten Gräber bauet und die Denk—
mäler der Geredten fhmüdet. Aug dem Schreiben der Ge:
meinde zu Smyrna über den Tod des Polyfarpus erfehen wir, daß
man in den erften Zeiten der Kirche die Märtyrer blos duch Nach:
ahmung ihres Beiſpiels und die Feier ihres Andenfeng ehrte. Sollte
Jemand fagen, er verehre die Bilder nicht deßhalb, weil er etwas
Göttlihes in ihnen finde, fondern nur denjenigen Perſonen zu Liebe,
die fie ung sorftellen, fo antworten wir: wenn das Bild nicht Gott
ift, fo darf eg noch viel weniger wegen ber Heiligen verehrt wer-
ben, denn diefe find weit entfernt, foldhe Ehren für fich zu fordern. —
Mer, nachdem er vom Heidenthbum in die Kirche übergetreten, Bil
der anbetet, bat nicht die falfchen Götter verlaffen, fondern blos
feine früheren Gögen mit neuen vertaufcht. — Wahr ift es zwar,
dag Kaifer Conftantin der Große die Bilder Petri und Pauli ans
betete, als fie ihm im Zraume gezeigt wurden, allein er that bieß,
ehe er getauft war, und aus alter heidniiher Angewöhnung. Die
heilige Schrift rechnet e8 dem Könige Ezechias zum Lobe, daß er
bie eherne Schlange, die doch auf Gottes Befehl gemacht worden
war, deßhalb zerftörte, weil das irrende Volk fie ald ein Götterbild
zu verehren begann. Um fo mehr ift es unfere Prlicht, die Bilder
ber Heiligen abzuthun und in Staub zu zermalmen, da der Herr
nie ihre Errichtung angeordnet hat. Wäre es erlaubt, Menfchen
anzubeten, jo müßte unfere Verehrung viel eher Lebendigen als
Todten oder Gemalten geweiht ſeyn; denn ber Lebendige hat eine
Aehnlichfeit mit Gott, während jene Bilder dem unvernünftigen Vieh
gleichen oder befjer Ieblofe Steine oder Hölzer ohne Verſtand und Em:
pfindung find. Aber dem Allmächtigen allein gebührt unfere Verehrung,
Ihm follen wir durch das Geheimniß des Leibs und Bluts, vder
durch das Dpfer eines zerfnirfchten Herzens nahen. Den Engeln
und heiligen Menfchen find wir Liebe, aber feinen Dienft ſchuldig. —
Unter dem Borwande, bie Heiligen zu chren, hat der Teufel den
Götzencult wieder eingeführt. Die alten Chriften hatten zwar Bil:
ber, aber blos zur Erinnerung. Jet aber ift der Irrthum fo allge:
mein geworden, daß die Keßerei jener Anthropomorpphiten wieder
auflebt. Woher anders fommt dieß, als weil der Glaube aus den
750 m. Buch. Kapitel 10.
Herzen verſchwand. Darum fegen wir al? unfer Vertrauen auf
fihtbare Dinge. So wenig ein verftindiger Menfd von gemalten
Soldaten oder Bauern, Schnittern oder Weinlefern und Fifchern
Berftärfung des Kriegsheeres oder Hülfe bei der Feldarbeit, noch
Weizen, Moft oder Fifche erwartet, eben fo wenig dürfen wir Ge-
mälde von geflügelten Engeln, Ichrenden Apofteln, gemarterten Hei-
ligen um Beiftand anrufen, denn folde Bilder fönnen ung weder
Gutes noch Böſes erweiſen. Deßwegen haben auch Yängft recht:
glaubige Väter (auf der Synode zu Jlliberis) verordnet, daß fein
Bild in den Kirchen zu dulden fey“ u. f. w. Der Erzbifchof von
Lyon ſpricht, wie man fieht, ebenfo entfchieden gegen den Bilder:
Dienft, wie Claudius yon Turin, er braucht fogar diefelben Gründe,
und manchmal auch faft diefelden Worte, wie Diefer. Gleichwohl
hat es Niemand gewagt, gegen Agobardus zu fehreiben. Denn
feine Meinung war die allgemeine der geachtetftien Mitglieder des
fränfifchen Clerus. Das ganze neunte Jahrhundert hindurch erhielt
fih in der gallifhen Kirche die Abneigung gegen die Bilder, Die
Zeitbücher von Rheims berichten ') zum Jahre 872: „Auf der foge:
nannten achten ökumeniſchen Synode zu Conftantinopel haben bie
(griehifchen) Bifhöfe über Anbetung der Bilder dem Pabfte zu
Gefallen anders als die älteren rechtglaubigen Lehrer, ja auch wider
die Kirchengefege und gegen ihre eigenen früheren Concile entfchie-
den.“ Und um 880 ſchreibt ?) der Bibliothefar Anaftaftus an Pabft
Sohann VII: „Die Lehre, dag den Bildern Verehrung gebühre,
ift von allen Chriften angenommen, mit Ausnahme gemiffer
Gallier, welde den Nußen der Bilder noch nicht ein:
fehen. Sie fagen nemlid, daß Werfe von Menfchenhand Feine
Berehrung verdienen.“ Erft im zehnten Jahrhundert wurden die
Franfen von dem Strome Tatinifcher Gewohnheit fortgeriffen. Biel
Yeicht wäre dieß auch jett noch nicht fo allgemein gefchehen, wenn
män zu Ludwig's Zeiten, dem von Claudius gegebenen Beifpiel fol-
gend, die Bilder aus den Kirchen entfernt hätte. Die Bermuthung °)
ift nicht unwahrſcheinlich, daß unter den für Wiederherftellung alter
Kirchenreinheit eifernden Partheien, die feit dem zwölften Jahr:
hundert in den Alpen auftreten, fich Weberlieferungen von dem
—. BEER
-..1) Perz],, 494. — ?) Bei Manſi XII, 983 gegen unten, — 9 Man febe
Walch Hiftorie der Keßereien XI, 141 flg.
Die abendländifche Kirche unter Ludwig dem Frommen ꝛc. 751
proteftantifhen Grundfägen des Biſchofs Claudius erhalten
haben.
Nicht blos in der Bilderfache befämpfte Agobard den Aber:
glauben. Längft war in den germanifchen Staaten die Sitte auf-
gefommen, die Gerechtigkeit einer Sache vor Gericht durch Zwei:
kämpfe zu bemweifen, die als Gottesurtheil galten. Der burgundifche
König Gundobald hatte im fechsten Jahrhundert diefen Gebrauch
zum Gefeß erhoben, indem er verordnete: ) wenn in einem ge=
richtlihen Streit die Gegenyparthei, ftatt den zugefchobenen Eid zu
fhwören, ſich auf Entfcheidung durch einen Zweifampf berufe, fo
dürfe ihr derfelbe nicht verweigert werden. Lyon war befanntlich
die Hauptftadt des ehemaligen burgundifchen Reichs geweſen, daher
mag es fommen, daß in dortiger Gegend gerichtliche Zweifämpfe
noch häufiger vorfamen als ſonſt. In zwei Schriften griff Age:
bard diefen Mißbrauch an. In der erften ?) fordert er den Kaifer
auf, das Geſetz Gundobald’s abzufchaffen. „Chriftus,“ fagt er, „wollte
alle Menfchen durch feine Religion vereinigen. Einer fo heilfamen
Abſicht tritt jedoch, die Verfchiedenheit der Gefetse hemmend entgegen,
indem fie felbft Chriſten von einander trennt. Beſonders ſchädlich
ift die Verordnung des arianifchen Fürften Gundobald, denn die—
felbe verleitet Biele zum Meineide, und nöthigt nicht felten Alte und
Schwache zum Zweifampfe, mithin zum Mord. Sie wibderftreitet
dem chriftlihen Gebote der Liebe und Duldung zugefügten Unrechts.
Auch ift fie zwecklos und unvernünftig. Die Erfahrung belehrt ung,
dag Gottes Urtheil über Schuldige und Unfchuldige in diefer Welt
felten offenbar wird, denn find nicht unzählige Chriften und heilige
Märtyrer den Berfolgungen der Heiden erlegen, ward nicht bie
Stadt Gottes, Jerufalem, von den Saracenen eingenommen? Es
giebt Fein fichereres Mittel, in gerichtlichen Streitigfeiten eine gerechte
Entfheidung zu fällen, als genaue und gewiffenhafte Unterfuchung.“
In der zweiten Schrift ?) fucht Agobard aus einer Neihe biblifcher
Stellen ten Beweis zu führen, daß die fogenannten Gottesurtheile
mit Unrecht ihren Namen führen, weil fie nicht von Gott eingefekt
find, noch dem Gebote der Liebe entfprechen: „Gottes Gerichte find
N) Canciani leges barbarorum IV., 25. 26. Lex Burgundionum, titul, 45,
— ?) Liber adversus legem Gundobaldi, bei ze a. a. O. ©. 129.
3) Liber de divinis sententiis digestüs, ibid. ©. 476 flg.
152 — AlIl. Bud. Kapitel 40.
unerforfchlih, und es ift daher Anmaßung, fie durch folche kecke
Mittel hervorrufen zu wollen. Wenn letztere wirffam wären, hätte der
Allmächtige ung umfonft Weisheit verliehen und Richter auf Erden
eingeſetzt“ Noch fühner griff Agobardus yon einer andern Seite her
den Wahn feiner Zeitgenoffen an. „Haft alle Menfhen von jedem
Stande,“ fagt er in einer andern Schrift, ') „glauben in unfern
Gegenden, daß Hagel und Donnerwetter von gewiffen Zauberern
willfürlih hervorgebracht werden können. Ja Biele find fo unfinnig,
fi einzubilden, daß es ein Land, Magonia genannt, gebe, aus
welchem durch die Wolfen Schiffe kämen, deren Mannfchaft die gute
Aerndte den Wettermachern abfaufe und dagegen Hagelfchlag zurück—
laſſe. Einmal habe das Bolf drei Männer und eine Frau, die
angeblih aus folhen Luftſchiffen herabgefallen, zu Tode jchlagen
wollen, und mit Mühe ſey das Blendwerf entdeckt worden.“ Der
Erzbifchof zeigt nun, daß die Anhänger diefes Aberglaubeng doppelt
fündigen, indem fie menſchlicher Macht beilegen, was nur Gott ver:
mag, und, dem Herrn abſprechen, was tod nur Er wirft. Zum
Deweife ftellt er viele Bibelftellen zufammen, in welchen Hagel,
Gewitter und andere Erfcheinungen am Himmel dem Allmächtigen
zugefchrieben werden, auch läugnet er, daß der Teufel, ohne Gottes
Zulafung, folhe Veränderungen hervorbringen könne. Der Erz
bifhof von Lyon griff den Bolfswahn auch dann an, wenn berfelbe
dem Clerus goldene Früchte trug. Im Sprengel von Narbonne
war eine Seuche mit Brandmalen ausgebrohen, welche der große
Haufe als eine Wirfung böſer Geifter betrachtete. Die Befallenen
ſuchten Hülfe in einer Kirche des heiligen Firminus und opferten
dem Märtyrer reihe Gefchenfe an Gold, Silber und Vieh. Als
Agobardus bievon Runde erhielt, erließ er an den Bifchof von Nar:
bonne, Bartholomäus, ein Schreiben, ?) in welchem er diefe Frei:
gebigfeit mißbilligt. Jene Gefchenfe, meint er, würden beſſer auf
Arme und Kranke verwendet, und Gott, nicht der Zeufel, jey eg,
der folhe Züchtigungen verhänge, obgleih der Allmächtige zuweilen
dem böfen Geifte um höherer Zwecke willen geſtatte, die Menſchen
zu ängſtigen.
1) Liber contra insulsam vulgi opinionem de grandine et tonitruis;
ibid. ©. 458 flg. — ?) Epistola ad Bartholomaeum episcop. Narbonnensem
de quorundam illusione signorum; ibid. ©, 451 flg.
Die abendländifche Kirche unter Ludwig dem Frommen ıc. 753
Im Kampfe gegen den Bilderdienft hatte Agobard die Häupter
des fränfifchen Clerus zu Genoffen, aber man findet nicht, Daß
Andere, fo wie er, religiöfe Vorurtheile des Volks angegriffen hätten.
Hier ftand er allein. Nun ift Far, daß nicht wenig Entfchloffenheit
und Pflichtgefüpl dazu gehörte, um fo aufzutreten. Damals wie
jest galt in den Augen der Mächtigen Unterftügung folder Mei:
nungen, welche geeignet find, den großen Haufen durch Furt vor
übernatürlihen Kräften zu fohreden und im Zaume zu halten, vorz
zugsweife für Religion, und Männer, welche es wagten, bie Menge
aufzuklären und vor Aberglauben zu bewahren, waren von jeher
ſchweren VBerdächtigungen als Berräther am Intereſſe des Clerug
audgefest. Je höher ein Geiftlicher fleht, defto mehr lauft er Ge-
fahr, wenn er die ſcharf gezogene Linie herfömmlichen Glaubens
oder Aberglaubeng durhbridt. Der Muth des Erzbifchofs von
Lyon verdient daher noch mehr Bewunderung, als fein freier Blick,
den er ficherlich mit Andern getheilt hat.
As Anführer jener fireng hierarchiſchen Parthei forderte Ago-
bardus für die Geifilichfeit den erften Rang im Staate, aber er
verpflichtete zugleich ihre Mitglieder zu einem tadellofen Wandel und
beftrafte die Unmwürdigen mit rüdjichtslofem Eifer. Auch befämpfte
er alle Beftrebungen, welche darauf ausgiengen, den Clerus ſittlich
oder politiich zu erniedrigen. Am wichtigften ijt in diefer Beziehung
fein Bud) !) von den Rechten des Prieſterthums, das an den Erz:
bifchof Bernhard von Vienne, feinen Verbündeten, gerichtet ift. Es
beginnt mit dem Beweife, daß und warum das Volk dem Glerus,
beffen Einfegung er auf die erften Söhne Adams, Kain und Abel,
zurüdführt, Gehorfam fehuldig fey. Die Achtung, weldye dem Stande
gebühre, könne durch fchlimme Eigenschaften einzelner Priefter nicht
verringert werden, denn die Wirfung der Saframente hänge feines:
wegs von dem Charakter des Llerifers ab, der fie verwalte. Ago-
bard geht fofort auf Mißbräuche über, welche durch die Schuld
mächtiger Luien das Anfehen der Geiftlichfeit beeinträchtigen. „Heut
zu Tage,“ fügt ?) er, „it es fo weit gefommen, daß es kaum
einen ehrfüchtigen oder ämtergierigen Laien gibt, der fich nicht feinen
eigenen Hauspriefter hält, und zwar nicht, um ihm zu gehorchen,
!) De privilegio et jure sacerdotii liber, ibid. ©. 455 flg. — ?) Ibid.
435 b. unten flg.
Efrörer, Kircheng. III. 48
754 aa - IE Buch. Kapitel 10.
fondern um ihn zu den niedrigften Dienften zu verwenden. Haug:
Caplane der Adeligen müffen bei Tiſche aufwarten, Wein mifchen,
Hunde führen, die Zelter, auf welchen die Frau des Gutsheren
fist,, Ienfen, bei der Landwirthſchaft helfen. Und weil fein Cleriker
son einigem Ehrgefühl einen Dienjt der Art annimmt, fo wählen
jene Laien den nächften beften aus, ohne fih darum zu befümmern,
ob derfelbe unmwiffend oder mit Verbrechen befudelt if. Wenn fie
nur einen eigenen Hauspriefter haben, der ihnen die Meſſe liest
und fie von der Laft, den öffentlichen Gottesdienft befuchen zu müffen,
befreit, find fie zufrieden. Wie wenig fie denfelben achten, erhellt
aus ihren Neden. Dft fommen ſolche Gutsheren zu dem Biſchofe
gelaufen und fprechen: ich habe da ein Pfäfflein (unum clerieionem),
den ich mir von meinen Leibeigenen und Dienftleuten zog, oder den
mir ein Anderer gefchenft hat; Seid fo gut und weiht ihn mir zum
Pfarrer. Und wenn dieß gejchehen ift, glauben fie gar feine Priefter
höherer Weihe mehr nöthig zu haben, und befuchen die öffentlichen
Gottesdienfte nicht mehr“ u. ſ. w. Die Abficht des Berfaffers ift
far. Der Clerus foll Bormünder des Volks feyn, aber Agobard
verlangt zugleich, daß die Geiftlichfeit die hohe Stellung, die er für
fie in Anſpruch nimmt, durch Wohlthaten verdiene, Darum wider:
fest er fi) jedem Verſuche, die Menge zu bedrüden, oder fie durch
- Aberglauben zu erniedrigen. Er will bie öffentliche Meinung für
den Clerus gewinnen.
Sm Sprengel son Lyon Tebten fehr viele Juden. Man be:
greift, daß ein Mann von den firengen Grundfägen Agobards
Widerwillen gegen diefes Läftigfte aller Völker empfinden mußte.
Agobard hatte noch befondere Gründe zur Unzufriedenheit mit ihnen,
Die Juden Lyon's duldeten nicht, daß ihre Sklaven getauft werden
durften, fie trieben überdieß Handel mit weißem Menſchenfleiſch, d. h.
fie verfauften chriſtliche Sklaven an die fpanifchen Saracenen. Der
Erzbifchof zog fie daher zur Strafe, und unterfagte folden Unfug.
Nun wandten fih aber die Juden an den Hof, und ihr Einfluß
war dafelbft fo groß, Daß fie Recht behielten. Agobard ließ fi)
jedoch durch die Faiferlichen Befehle nicht einfhüchtern, er verfaßte
826 eine Reihe Schriften gegen die Juden. Die erfte ift an den
Kaifer Ludwig gerichtet, und hat die Auffehrift,") Klage wider ben
— — —
1) Liber de insolentia Judaeorum ibid. ©, 417 flg.
Die abendländifche Kirche unter Ludwig dem Frommen ꝛc. 755
Uebermuth der Juden. „Beamte mit Faiferfichen Befehlen,“ fchreibt
er, „feyen vom Hofe nad Lyon gefommen, ein Gegenftand bes
Jubels für die Juden, des Schredens für die Chriften. Unmöglich
fünne er glauben, daß Solches mit Vorwiſſen des Kaifers ges
fchehen fey. Schon wagen die Juden uns Gefege vorzufchreiben,
und Chriftum ungefcheut zu läftern. Und warum erdulden wir
diefe Behandlung? aus feinem andern Grunde, als weil wir ben
Mitgliedern unferer Gemeinde verboten, den Juden chriftliche Leib-
eigene zu verfaufen, weil wir Diefen feldft den Handel mit chrift:
lichen Sklaven nah Spanien unterfagten, weil wir nicht dulden,
daß die Juden ihre hriftlihe Sklaven am Sabbate zu feiern, am
Sonntage zu arbeiten, und während ber Faften Fleiſch zu effen zwingen,
noch daß Chriften von den Juden Fleiſch, das Diefe für unrein
halten und fpöttifch chriftliches Vieh nennen, Faufen dürfen, Die
Juden prahlen mit der Gnade des Kaifers, mit ihrem Einfluß bei
ben angefehenften Beamten des Reichs, mit ihrem freien Zutritt
bei Hofe, fie weifen Kleider vor, die ihre Weiber von Hofleuten
zum Gefchenfe befommen. Erlaubniß ift ihnen ertheilt worden,
neue Synagogen zu bauen, ja bie Faiferlihen Beamten haben fogar
den Juden zu Gefallen Jahrmärkte vom Sabbat auf andere Tage
verlegt.“ Am Schluße führt Agobard das DBeifpiel eines Mannes
an, der von den Juden in feiner Jugend geftohlen und nad
Spanien verfauft worden, aber fpäter aus der Sklaverei entflohen
war. In einer dem Briefe beigefügten Abhandlung Y fucht Ago—
bard die Abfcheulichfeit der Juden und ihrer Religion zu beweifen.
Er führt zu diefem Zwede eine Menge talmudifher Meinungen an,
wie man fie in Eifenmenger’s befanntem Werke findet. „Sie
lehren“, fagt er, „daß Gott, gleich ung, körperliche Gliedmaßen habe,
dag Er in einem großen Pallafte wohne, und auf einem Throne
fige, der von vier Thieren getragen werde, daß Er viel Lieber:
flüffiges denfe, woraus denn, weil es nicht zur Wirkfamfeit Fomme,
Dämonen entftünden. Sie behaupten weiter, daß die Buchftaben
ihres Alphabeths ewig, und daß die Geſetzgebung Mofis lange vor
der Schöpfung gefchrieben fey, daß es mehrere Himmel, Erden und
Höllen gebe. In einer der oberen Welten, Racha oder Firmament
genannt, befanden fi die Mühlen, in welden das Manna zur
Speife für Die Engel gemahlen werde. Auch beſitze Gott fieben
) De judaicis superstitionibus liber; ibid. ©. 419 flg. * bidi
48 *
756 II. Bud. Kapitel 10.
Trompeten, deren eine taufend Ellen lang fey. Gegen Chriſtus
ftoßen fie die gräulichften Läfterungen aus. Sie fagen, Jeſus fey
ein junger angefehener Jude geweſen, der mit der Zeit eine Schule
gründete, und unter feinen Schülern einen Menfchen hatte, welchen
er, wegen feines harten Kopfes, Petrus oder Kephas nannte. Ob
vieler Fälſchungen angeflagt, fey er endlich auf Befehl des Tiberius
ind Gefängnig geworfen, und als Zauberer gehenft worden, haupt:
ſächlich weil er feiner Tochter verfprach, fie werde ohne Zuthun
eines Mannes einen Sohn gebären, worauf diefe einen Stein:
Humpen zur Welt gebracht habe. Nach der Hinrichtung Jeſu fey
feine Teiche bei einer Wafferleitung begraben, aber des Nachts durch
einen Plasregen fortgefhwemmt worden. in Jahr Yang habe
man fie auf Befehl des Pilatus vergeblih gefucht, aus Zorn dar—
über gebot dann der Statthalter den Juden, den Auferftandenen
anzubeten.“ Agobard beweist zulegt aus Stellen der Schrift, daß
alle Juden unter dem göttlichen Fluche liegen. Der Exzbifchof be:
gab fich feibft an den Hof, um vom Kaifer ein Geſetz des Inhalts
auszuwirken, daß binfort Fein Jude mehr die Taufe feiner heidni-
ſchen Sflaven verhindern dürfe. Aber Ludwig hörte ihn nicht an,
fondern ertheilte ihm Befehl, in feinen Sprengel zurüdzufehren.
Nun fchrieb Agobard an die angefehenften Näthe des Kaifers, Ada:
lard, Abt von Corbie, deffen Bruder Wala und an Elifafhar einen
Brief, ) in weldem er fie befhwor, ihren Einfluß für die gute
Sade aufzumwenden. „Die beidnifhen Sklaven der Juden“ fagt er,
„lernen unfere Sprache, fie werden mit unferer Religion befannt,
und verlangen am Ende die Taufe. Dürfen wir ihnen biejelbe ab-
Schlagen? Ich glaube, der Himmel hat an einen folhen Sklaven
größeres Necht, als Der, welcher ihn erfiand, und nur Gott allein
it der Leibeigene für feine Religion verantwortlid. Alle Lehrer
ber Kirche von den Apofteln an haben nicht erft die Erlaubniß ber
Herren abgewartet, um Sflaven zu taufen, nur geboten fie, daß
Lestere nad) der Taufe in ihrem Stande verharren mußten, wenn
es fi) nicht anders machen ließ. Wir find bereit“, führt Agobard
fort, „für die Sklaven der Juden, fobald fie getauft find, den Preis
zu bezahlen, aber auch fo wollen die Juden, im Vertrauen auf den
Schuß der Beamten des Kaifers, ihre Leibeigene nicht heraus:
!) Consultatio ad proceres palatii de baptismo mancipiorum judaicorum;
ibid. ©, 427.
Die abendlänpifche Kirche unter Ludwig dem Frommen ꝛc. 757
geben.“ Gleichwohl drang Agobardus nicht dur, wie man aus
einem zweiten Schreiben ') an ben Erzfapellan Hilduin und den
Abt Wala erficht. Bitter klagt er hier darüber, daß ein Befehl
vom Kaifer ausgegangen ſey, Fraft beffen hinfort Fein Sflave eines
Juden wider den Willen feines Herren getauft werben dürfe. Kaum
fey es ihm möglich zu glauben, daß ein frommer Herrſcher, wie
Ludwig, eine ſolche Verordnung, welde allen Borfchriften des
Evangeliums Hohn fpreche, erlafien habe. Adalard, Wala, Elifa-
ſchar und Hilduin waren fonft mit Agobard und feiner Parthei
enge verbunden. Da fie dennod nichts ausrichteten, muß man an:
nehmen, daß fie zur Zeit, als Ießterer Befehl ergieng, bereits am
Hofe wanften. Indeſſen verlor auch jest der kühne Erzbiihof von
Lyon den Muth nicht, Wider den Willen des Kaifers be-
ſchloß er die Geſetze der Kirche aufrecht zu erhalten. Wir haben
einen Brief, ?) den Agobard, wie es fcheint nach den bisher er-
zählten Begebenheiten, an den Biſchof von Narbonne Nebridius
fehrieb. Er fegt darin auseinander, wie feelengefährlih der tägliche
Berfehr mit dem verruchten Judenvolfe für die Chriften fey, be—
richtet dann, wie er denfelben verboten habe, aber von dem Faifer-
lichen Beamten Everard, dem Borgefegten ber Juden, auf alle
Weife feine Abfichten durchkreuzt fehe, und beſchwört zulest den
Bifhof, mit ihm die Geſetze der Kirche ſtandhaft zu vertheidigen.
Die Schritte, welche Agobard in der Judenſache that, find für die
damalige Zeitgefchichte wichtig. Man erfieht daraus, daß die Be:
fehnittenen durch ihre Geld» und Wuchergefchäfte am Hofe Lubd-
wig’s einen Einfluß errungen hatten, der nicht viel geringer war,
als die Gewalt, welche fie in unfern Tagen denfelden Mitteln ver:
danfen. Ungeſcheut verhöhnten fie den chriftlichen Glauben, boten
ben Gefegen Trog, und machten fogar unter der chriftlichen Geift-
lichfeit Profelyten. Im Jahre 839 gieng der Diafon Bodo,
ein geborner Alamanne, durch Habfucht verführt, zum Judenthum
über, ließ fich befchneiden, und nahm den Namen Eleazar an. 3)
Doch erklärt die Macht jüdischen Geldes und die Verdorbenheit der
Hofbeamten nicht Allee. Daß der Erzbifhof von Lyon eine
') Epistola ad proceres palatii contra praeceptum impium de baptismo
judaicorum maneipiorum; ibid. ©, 449 unten flg. — 2) Epistola exhortatoria
ad Nebridium ete, ibid. S. 428, — 5) Prudentii trecensis annales ad
annum 833, Perz I., 433.
758 II. Buch. Kapitel 10.
gerechte Forderung nicht durchſetzen Fonnte, hat einen tieferen
Grund Schon war damals die Partheiung ausgebrochen, welche
die Verbündeten Agobard’s, Elifafhar, Hilduin, Wala feittem vom
Hofe vertrieb, und die Zertrümmerung des Reichs berbeiführte. Mit
den andern Bertheidigern des Erbfolgegefetes vom Jahr 817 hatte
auch Agobard die Gunft des Kaifers verloren, darum mußte er
den Hofiuden weichen.
Daffelbe feindfelige Verhältniß offenbart ſich auch in einer
andern Streitigfeit, welche Agobard gegen einen Diafon der Kirdye
von Mes zu beftehen hatte. Der Gottesdienft war in den Testen
Zeiten immer prächtiger geworden. Befonders wurde viel für den
Gefang gethan. Durch einfchmeichelnde Kirchenlieder und gefällige
Melodien fuchte man das Volk anzuloden. Getreu feinem Grund:
fase, auf biblifhem Boden feſt zu ftehen, eiferte Agobard gegen
ſolche Neigmittel einer finnlihen Andacht. Nur biblifche Texte lieg
er in den Kirchen feines Sprengeld fingen, die Melodien mußten
alt und ernft feyn. „Nicht nach den Einfällen des nächſten beften
Dichterlings, fondern mit den Worten der Schrift, die der heilige
Geift eingegeben, foll der Allmächtige gepriefen werden,“ fagt er !)
in einer der GStreitfchriften, von denen gleih die Rede feyn
wird, Namentlich duldete er nicht, daß die jüngern Geiftlihen ihre
beften Kräfte für Erlernung des Gefangs verfchwenden. Denn der
Clerus follte, wie wir wiffen, nach feiner Anficht, durch Gelehrfam:
feit und reinen Wandel ehrwürdig feyn, über das Teiblihe und
geiftliche Wohl der Gemeinde wachen, überall gemeinnüsgig vor ben
Riß ſtehen; jene Künfte dagegen betrachtete er als untergeord-
nete Anhängfel des geiftlihen Berufs. „Die alten und ächten Bor:
fchriften der Väter,“ heißt es in derfelben Schrift, „müſſen mit allem
Feige eingehalten werden. Denn nur baturd) ift es möglich, die
Keinheit des Glaubens und die Zucht der Kirche zu wahren, fowie
zwei gleich großen Uebeln vorzubeugen: wir meinen nämlich dem
Hochmuthe nichtewürdiger Menfchen, welche nicht nur eitle und über:
flüffige, fondern auch weltliche oder geradezu ketzeriſche Lieder in
den Gottesdienft einführen, und anderer Seits dem Mißbrauche,
daß die jungen Cleriker fi) blos mit Singen befchäftigen. Treiben
doch die meiften Geifilihen von Jugend an bis ins graue Oreifen-
!) De correctione antiphonarii cap. 2., a. a. O., ©. 502 a unten.
Die abendländifche Kirche unter Ludwig dem Frommen ꝛc. 759
alter nichts als Gefang, fo daß ihnen feine Zeit übrig bleibt, geift
Yihen Studien und dem Lefen der Schrift vobzuliegen. Daher
fommt es denn, dag man fo viele Priefter fieht, welche Alles gethan
zu haben glauben, wenn fie fingen können," und auf ihre Kehle
lächerlich ftolz find.“ Agobardus vertrat hierin, wie faft überall, bie
Sache des gefunden Menfchenverftandge, und des allgemeinen Wohleg.
Aber er erregte heftigen Anſtoß durch feine liturgiſche Neuerungen.
Am Hofe von Aachen Iebte ein Geiftliher, Namens Amalariug, U)
erft Priefter der Meer Kirche, feit der Beförderung des Claudius
auf den Stuhl von Turin, Borfteher der Hofichule, fpäter Abt des
Klofters Hornbach, das im Meter Sprengel liegt. Amalarius, der
offenbar bei der Kaiferin Judith fehr viel galt, trat als Schrift:
fteller auf. Sein Hauptwerk ift eine Abhandlung über die Firchlichen
Gebräuche, 2) in welcher er außer der Befchreibung Deflen, was
zu beobachten ift, befonders die geheime und myftifche Bedeutung
der Fefte und Ceremonien zu enträthfeln ſich abmüht. Gleich vielen
andern geiftlihen Ränkeſchmiden firebt er nach dem Ruhme
ber Tiefiinnigfeit. Amalarius beendigte das Werk ſchon 820, in
welchem Jahre er es dem Kaifer Ludwig widmete; bie letzte Hand
aber legte er an bafjelbe in Folge einer Neife, die er mit Bewilli:
gung des Kaifers 827 nad) Nom machte, um bie dortigen Ge:
bräuche fennen zu lernen. Daher fommt es, daß die Abhandlung
zwei Borreden hat. Eben dieſer Mann nun tadelte die Liturgifchen
Einrihtungen, welche Agobardus in der Kirche zu Lyon getroffen.
Der Erzbifhof empfand den Angriff fehr bitter, Theils um fein
Berfahren zu rechtfertigen, theils um den Gegner in feiner Blöße
binzuftellen, veröffentlichte er drei Streitfchriften. ?) Die erfte be—
ginnt mit den Worten: „ein Narr, ein Gottlofer und befannter
Berlaumder hat es gewagt, unfere Kirche mündlih und fchriftlich
zu verläftern.“ Weder in diefer noch in der zweiten Schrift nennt
er Amalarius mit Namen, wohl aber in der dritten, in welcher er
die abgeſchmackten Allegorien des Berfaffers durchhechelt, und
nebenbei auch einzelne Stellen der Ketzerei befchuldigt. Alle drei
) Die Beweisftellen über die Gefchichte des Amalarius gefammelt histoire
litteraire de la France IV., 531 fig. — 2) De ecclesiastico officio Jibelli
quatuor; abgedruckt bibliotheca patrum maxima XIV., 934 flg. — 9) De
divina psalmodia liber; de correctione antiphonarii; contra libros quatuor
Amalarii abbatis; abgebrudt a. a. O., ©. 501 fig.
760 I. Buch. Kapitel 10.
Bücher find in gleich heftigem Tone gefchrieben. Gewiß ift es zu
bedauern, daß der ausgezeichnete Mann gegen den Abt fo wenig
Mäpigung bewies. Aber zu feiner Entfchuldigung dient, daß er
furchtbar gereist war. Amalarius arbeitete nicht blos dem perfüns
lihen Anfehen des Erzbifchofs entgegen, fondern er half auch die
Grundgefege des Reichs umzuflürgen, welche Agobard und feine
Freunde auf dem Neichstage von Aachen im Jahr 817 ausgemirkt
hatten; der Abt gehörte zu der Parthei der Kaiferin Judith, welche
den Erzbifchof unverſöhnlich haßte. Die Weife des Kirchengefangs
in Lyon diente ihm ald Borwand, um jenes würdige Kirchenhaupt
zu verderben, dem Amalarius nicht werth war die Schuhriemen
aufzulöfen. Die wahre Stellung Beider zu einander offenbarte ſich
835 auf dem Tage zu Diedenhofen, wo Agobardus als Anhänger
Lothar's und der Einheit des Reiches angeklagt wurde. Obgleich
von lauter Gegnern umringt, hatte dafelbft Florus, der treue Diafon
des abwefenden Agobard, den Muth, die Beftrafung des Amalarius
zu verlangen, weil er ein Ketzer und Berderber der Kirchenzucht
jey. 1) Florus drang nicht durch, fein Betragen zeigt jedoch, daß
er in tem Abte von Hornbach den gefährlichften Gegner des Erz-
bifchofs, und zugleich eines der Häupter der Parthei Judith's fah.
Dan fanı fih daher nicht wundern, wenn Agobard felbft den
Schleicher haßte. Die Berhältniffe des Erzbiſchofs von Lyon zu den
Juden und zu Amalarius find gleichfam ein Vorzeichen der Stürme,
welche feit 828 Kirche und Staat erfchütterten. Es ift jegt Zeit,
daß wir unfere Aufmerffamfeit der Entwidelung des Dramas
zuwenden. | |
Die Jahre 822 bis 825 waren die glüclichften der Faiferlichen
Negierung Ludwig’s des Frommen. Die Gefchäfte befanden fidy in
den Händen fähiger Männer: des Kanzlers Elifafchar, des Abts Hil-
duin, des Grafen Matfred, und der beiden Brüder Adalard und
Wala. Aber 823 trat ein Creigniß ein, das nad) furzer Zeit den
Frieden des Reichs untergrub. Die Kaiferin Judith gebar nämlich)
ihrem Gemahl den 13. Juni 823 zu Frankfurt einen Sohn, Karl,
ber fpäter in der Gefchichte unter dem Beinamen deg Kahlen be:
fannt geworden if. Seitdem gieng das Dichten und Trachten
der Kaiferin darauf aus, ihrem Neugebornen wenigfteng ein gleich
') Die Beweife histoire litteraire de la France V., 215.
Die abendländifche Kirche unter Ludwig dem Frommen ıc. 761
großes Erbe, als feine Stiefbrüber befaßen, zu verichaffen. Da
nun Kaifer Ludwig zu Aachen über das ganze Reich verfügt hatte,
fo fonnte letzterer Zweck nur dur Umfturz des Erbvertrags vom
Sabre 817 erreicht werden. Der Plan Judith's war daher für
den Staat höchſt verderblich. Gleichwohl gewann fie ihren Gatten
den Kaifer, der fih ganz von ihr Ienfen ließ. Aber Ludwig's
obengenannte Räthe widerfegten fih mit großer Entſchiedenheit
jedem Borfchlage einer abermaligen Theilung, fie beftanden darauf,
daß die Einheit des Reichs aufrecht erhalten werde. Ludwig hatte
Anfangs noch zuviel Scheue vor ber geiftigen Weberlegenheit jener
Männer, um feinen Willen offen durchzufesen. Hinter ihrem Rüden
arbeitete er inggeheim feit S26 für feinen Benjamin Karl. Er fuchte
ihm dadurch eine Parthei zu verfchaffen, daß er an ſolche Menfchen,
die fih der Kaiferin und ihrem Söhnlein verpflichteten, mit freis
gebiger Hand Güter feines Haufes, ſowie Kirchenlehen vergabte,
Sm Anfang diefer Verwidelungen ftarb der Abt Adalard von Corbie
am 2. Jan. 826. Wala zum Nachfolger in Corbie ernannt, trat
von Nun an an bie Spike der DVertheidiger des Erbgefeges. In
einer allgemeinen Reichsverſammlung, wie es fcheint, machte er dem
Kaifer fehr ernfiliche Borftellungen. Sein Lebensbefchreiber Rat-
bertus fagt ) wenigftens: Wala habe damals den Namen eines Jere:
mias durch die Fefligfeit des Glaubens und die Härte der Stirne
verdient, mit welcher er dem Auguftus die begangenen Fehler,
namentlich die Berfchleuderung der Kirchengüter, vorhielt. Auch von
anderer Seite wurde der Kaifer gewarnt. Einhard, Ludwig's alter
Freund, überfchiekte ihm eine angebliche Dffenbarung, die der Engel
Gabriel einem blinden Bettler zu Seligenftadt ertheilt habe. Die:
felbe enthielt gute Lehren für den Kaifer, welche jedoch in dem auf
ung gefommenen Berichte 2) nicht näher bezeichnet find. Ludwig
ward hiedurch eingefchüchtert. Um den nahenden Sturm zu be:
ſchwören, legte er in einem offenen Briefe 3) an das fräntifche Bolt
das Geftändniß ab, ſich verfehlt zu haben, und verfprach für bie
Zufunft Beſſerung. Zugleich berief er *) die Bifchöfe der dieſſeits
ben Alpen gelegenen Provinzen zu vier großen Goncilien: nad Parig,
Mainz, Lyon und Touloufe, damit fie ihren Rath ertheilen möchten,
1) Vita Walae II., 2. Perz II., 548 fig. — ?) Baronius ad annum 828
8. 2. fig. — M Baluzius I., 655, — *) Ibid. 653.
762 TE Buch. Kapitel 10.
wie der eingeriffenen Verwirrung abgeholfen werden möge. Ohne
Zweifel waren es Wala und feine Freunde, welche den Kaifer zu
legterer Maßregel beftimmt hatten, weil fie Darauf rechneten, daß
die Biſchöfe für Erhaltung der Einheit des Reichs wirken würden.
Ihre Rechnung war feineswegs unrichtig. Wir haben zwar blog
die Berhandlungen der Parifer Synode; aber hier wurden dem
Kaifer flarfe Dinge gefagt. Zwei Beſchlüſſe 1) ſchärfen die Regel
ein, nur würdige Männer zum Bisthum zu erheben, feine un:
reine Abfiht dürfe dabei die Staatsgewalt leiten. in anderer ?)
ermahnt den Kaifer aufs Dringendfte, Liebe, Eintracht und Frieden
unter feinen Näthen und am Hofe zu erhalten, fowie feine Söhne gut
zu erziehen. in vierter ®) fpricht von Liebestränfen, durch deren
Anwendung bethörte Menfchen ihren DBerftand verlieren, Dann
heißt e8 weiter: „folche Frevel müffen überall, befonders aber an
den Drten, wo man fie.ungefcheut verüben zu fünnen
hofft, beftraft werden.“ Da die Parthei Wala’s der Kaiferin
Schuld gab, ihren Gemahl durch Zauberfünfte berückt zu haben, fo
muß man annehmen, daß der zulest angeführte Beſchluß gegen
Judith gerichtet, und daß unter den Orten, wo jene Verbrechen
ungefcheut verübt werden follen, der Hof zu verftehen ift.
Sey es nun, daß der Kaifer der Parthei Wala’s nur zum
Schein nachgegeben hatte, um Zeit zu gewinnen und den erften
Andrang zu beichwichtigen, oder daß es der Kaiferin indeß gelungen
war, ihren Gemahl noch fefter zu verftriden: der Erfolg entſprach
feineswegs den Abfichten der Bertheidiger des Erbfolgegefeges.
Die obengenannten vier Coneile fanden im Juni 829 ftatt, im
Auguft deffelben Jahrs hielt Ludwig einen Reichstag zu Worms,
auf welchem er in Gegenwart feiner alteren Söhne: des Mitkaiſers
Lothar, und des jüngeren Ludwig, ber fpäter den Beinamen des
Teutfchen erhielt, den nachgebornen Karl zum Herzoge von Rhä—
tien, Aamannien und eines Theils von Burgund ernannte, *) That:
fachlich war dadurch der Erbvertrag von 817 umgefioßen. Der
Kaifer gieng noch weiter. Wie wir früher erzählten, ließ Wilhelm
von Touloufe, welcher als Abt des Kloſters Galuna ftarb, einen
1) Concilii Parisiensis lib. I. canon 11. 12. Mansi XIV., 544. 545. —
2) Lib. IH., canon 24. 25. ibid. ©. 602. — 3) III., 2. ibid. 595 unten
und 596 oben. — *) Theganus vita Ludovici $. 55, Perz IL, 597,
Die abendländifhe Kirche unter Ludwig dem Frommen ıc. 763
Sohn Namens Bernhard in der Welt zurüd, der um jene Zeit
durch fein Verdienſt in den fpanischen Kriegen fih zum Statthalter
von Septimanien aufgefhwungen hatte. Bernhard war eben fo
ehrgeizig und ſchön und ftand wegen feiner glänzenden Eigenfchaften
bei der Kaiferin in hoher Gunftz feine Gegner behaupteten fogar,
er fey ihr theurer gewefen, als Pflicht der epelichen Treue gegen
den Kaifer erlaubte. ben diefen Bernhard zog Ludwig auf dem
Wormſer Neichstage an den Hof, indem er ihm unter dem Titel eined
Kämmerers die wichtigften Gefchäfte übertrug. !) Nach Furzer Zeit
ftürzte der neue Günftling die älteren Räthe; Wala und alle feine
Freunde, I Hilduin, lifafhar, der Graf Maifred, der Bi:
fchof Jeße von Drleans und Andere mußten den Hof verlafien
und verloren ihren Einfluß. Seitdem begannen die innerlichen
Unruhen, welche das Reich Karl's des Großen zertrümmert haben,
Alle die, welche entweder auf die alleinige Nachfolge des Mitfaiferg
Lothar ihre Hoffnungen gegründet hatten, oder welche Baterlandes
liebe trieb, die Einheit des Staats zu retten, ſchaarten fich gegen
Ludwig zufammen. Es liegt nicht in unferer Aufgabe den Verlauf
des langen Bürgerkriegs zu erzählen; ?) wir werden bie Gefchichte
des Kampfes nur infofern berühren, als firchlihe Gewalten Theil
nahmen oder den Ausfchlag gaben. Sämmtlihe Söhne aus erfter
Ehe des Kaifers: Lothar, Ludwig der Teutihe, und Pipin von
Aquitanien erhoben Waffen gegen ihren Vater, aber in verfchiede:
ner Abficht. Lothar wollte ſich zugleich, gemäß dem Vertrage bes
Jahrs 817, der Kaiferfrone verfihern, und verhindern, daß fein
Stiefbruder Karl einen Antheil am väterlihen Erbe befomme, Die
beiden jüngern Söhne dagegen waren nur über den legten Zweck
mit Lothar einverflanden, nicht über den erfteren. Daher gefchah
es, daß die Brüder mit jedem Siege über den Vater unter einan:
der zerfielen. Hatte bie Parthei, welche für die Einheit des Neiches
° fämpfte, die Dberhand gewonnen, und ftand Lothar auf dem Punfte,
fein Ziel zu erreichen, fo traten Ludwig und Pipin wieder auf bie
Seite des Baters, damit der Ältere Bruder, deſſen Vorrecht fie
1) Vita Ludovici $. 43. Perz II., 6532. — 2) Vita Walae II., 8.
Perz II., 552. — 3) Wer fih genau darüber unterrichten will, den vermwei-
fen wir auf das vortrefflihe Buch „Ludwig der Fromme“ von Friedrich
Funk Frankfurt 1852.
764 IM. Buch. Kapitel 10.
beneideten, gebemüthigt werde. Ein fleter Wechfel von Freundfchaft
und Feindfhaft fand Statt. | i
Die Verſchworenen wiegelten zuerft den dritten Sohn des Rai:
fers, Pipin von Aquitanien, gegen den Vater auf, indem fie ihm
vorftellten, feine Stiefmutter Zudith fey eine Here, welche Ludwig
berüde, die Kinder erfter Che um ihr Erbe bringen wolle und mit
dem Kämmerer Bernhard in fchändlicher Verbindung lebe. Pipin
nahm im Sommer 830 Judith gefangen und zwang fie in ein
Klofter zu gehen, auch der Vater fiel in feine Hände. est eilte
Lothar aus Jtalien herbei, um die Früchte der Empörung feines
Bruders zu Arndten. Aber bald wandte fih das Blatt. Kaifer
Ludwig, dem die Verſchworenen indeß hart zugefekt, er folle die
Krone mit der Mönchsfutte vertaufchen, hielt fie mit Fahlen Ber:
fprechungen hin und gewann darüber Zeit, feinen beiden jüngern
Söhnen Ludwig dem Teutfchen und Pipin die Augen zu öffnen,
daß die ganze Bewegung zu Gunften Lothar's berechnet fey. Letztere
erklärten fich für ihren Vater, der nun fchnell feine Gewalt wieder
errang. Lothar mußte fich unterwerfen. Jetzt ergieng ein ſchweres
Gericht über feine Anhänger und Rathgeber. Der Bifchof Jeße
von Orleans ward im Winter 830 durch eine Synode abgefekt,
die Aebte Hilduin, Wala, Elifafhar in Haft gehalten. Aehnliche
Strafen trafen die verfchworenen Laien. ) Das Mittel, durch wel:
ches es dem Kaifer gelungen war, die beiden jüngern Söhne erfter
Ehe auf feine Seite zu ziehen, beftand darin, daß er Ludwig dem
Teutſchen und Pipin dem Aquitanier verfprach, ihr Erbe zu ver:
größern. Aber nichts von Dem gefchah nad) dem Siege. Der alte
Kaifer, durch fein Unglück und die Empörung noch enger als früher
an feine Gemahlin gefettet, wurde ganz von ihr beherrfcht, und
Judith fann auf nichts als Rache. Bei jeder Gelegenheit demüthigte
fie die Stiefſöhne, auch machte fie aus ihrer Abficht Fein Hehl, dem
Benjamin Karl fo viel als immer möglich zuzuwenden. Auf ihren
Rath erklärte Kaifer Ludwig feinem älteften Sohne, Lothar: durch)
die Berbindung mit den Berfchworenen habe er die Kaiferfrone
verwirkt, und müſſe fih in Zufunft mit dem Langobardenreiche be—
gnügen.?). Ohne Zweifel wollte Judith das Haupt ihres Söhnleins
!) Theganus vita Ludoviei 37. Perz II., 598 oben. Translatio S. Viti
ibid. II., 580 Mitte. Nithard I, 4. ibid, 652 unten. — 2) Nithard I, 3.
Perz II., 652 Pitte.
Die abendlãndiſche Kirche unter Ludwig dem Zrommen ꝛc. 765
mit der erledigten Kaiſerkrone ſchmücken. Bald darauf gab Ludwig,
um den Haß zu entwaffnen, und dem Nachgebornen eine Parthei
zu ſammeln, den größten Theil der verhafteten Anhänger Lothars
frei. Hilduin durfte das Kloſter Corvey in Sachſen, wohin er ver
wiejen worden war, verlaffen, und erhielt zwei der Abteien, die er
früher befefien, St. Denys und St. Germain zurüd. !) Die dritte
Dagegen, St. Medard fchenkte der Kaifer dem Erzbifhof Agobars
dus von Lyon, um bdiefen angefehenen Mann zu gewinnen. ?)
Nur Wala, als der gefährlichfte und unverföhnlichfte der Verſchwo—
renen, warb nicht Iosgelaffen. Weil Ludwig, oder vielmehr Judith
fürchtete, er möchte von dem YFeljennefte am Genferfee aus, wo er
gefangen faß, Verbindungen mit Jtalien und Lothar anknüpfen,
gab er Befehl, den ehemaligen Abt von Alteorbie nad) der Inſel
Noirmoutiers, unfern des Ausfluffes der Loire, abzuführen. 3)
So ftanden die Saden bis gegen Ausgang des Jahres 832.
Aber jest bereitete fich eine neue Bewegung vor. Die drei Brüder
erfter Ehe, auf gleihe Weife durch die Stiefmutter beleidigt, ver:
banden fi) mit einander und waffneten in Italien, Baiern, Aquis
tanien. Zu ihrer Parthei traten die angefehenften Biſchöfe und Erz:
bifchöfe des Reichs, Agobardus von Lyon, Bernard von
Bienne, Heribald von Aurerre, Ebo von Rheims, Barth:
lomäus von Narbonne, Hildemann von Beauvais und meh:
vere Andere, theils offen, theils insgeheim über. *) Gewiß hat
nicht Eigennutz, fondern Baterlandsliebe und der Wunfch, die durch
die Bosheit eines Weibes und die Schwäche eines Mannes ſchwer
bedrohte Einheit des Staates zu retten, den größern Theil diefer
Männer den empörten Söhnen Ludwig’s zugeführt. Im Frühjahr
833 rüdte Lothar mit dem langobardiſchen Heerbanne über bie
Alpen; in feinem Gefolge befand fich ein unter den obwaltenden
Umftänden höchft wichtiger geiftlicher Bundesgenoffe — der Pabft
Gregor IV. Derfelbe war, wie wir früher berichteten, unter fränfi-
ſchem Einfluffe, oder genauer gefprochen, durch die römischen Ans
hänger Lothar’s gewählt worden, und daher dem Lestern verpflichtet.
Gleichwohl muß man fi wundern, daß ein römifcher Oberpriefter
") Flodoardi historia bei Bouquet VI. 216. — ?) Den Beweis histoire
litteraire de la France IV., 571, — 3) Vita Walae II., 10. 11, Perz II,
556. 558, — *) Flodoardi historia bei Dom Bouquet VI., 214,
766 II. Bud. Kapitel 10.
die Hände bot, die Einheit des von Karl dem Großen gegründeten
Kaiſerthums und fomit eine Gewalt, welde den Stuhl Petri zu
einem Bafallen der Franken erniedrigte, aufrecht zu halten. Man
fann diefe merfwürdige Erfcheinung nur dem Einfluffe zufchreiben,
welchen der hohe Geift Agobard’s und feiner Genoffen über den Pabft
ausübte. Kaum war Lothar in Frankreich angefommen, als er
Leute abſchickte, um Wala aus der Verbannung abzuholen; man
bedurfte feines Raths. Die Abgefandten überbrachten ihm zugleich
Briefe des Pabfts. Paſchaſius Radbertus, Wala's Lebensbefchreiber,
perfichert, ) nur widerftrebend fey er der Einladung gefolgt. In:
beffen hatte der alte Kaifer Ludwig, von der Gefahr, in der er
ſchwebte, benachrichtigt, die Bifchöfe und den Heerbann der Provin:
zen, bie ihm treu geblieben, nad) Worms zu einem Reichstage auf:
geboten. Die Nordteutihen, die Sachſen, die Aamannen, die Frans
fen aus Aufter fließen zu Ludwig, die Südfranzofen, die Baiern,
die Aquitanier, viele Neuftrier eilten den Fahnen der verbündeten
Brüder zu, welde unweit Colmar im Elſaß ihre Bereinigung be—
merfftelligten. Das ganze Reich war in zwei Heerlager getheilt.
Mit kirchlichen Waffen begann der Kampf. Pabſt Gregor IV.
erließ an die zu Worms verfammelte Bifchöfe Ludwig’s ein Schrei:
ben, worin er fie aufforderte, zu ihm zu fommen, und über das
Wohl der Kirche zu berathen, das durch die Ruhe des Reichs und
den Beftand des Erbfolgegefeges vom Jahr 817 unzertrennlich
bedingt fey; zugleich drohte er den Säumigen mit dem Banne.
Diefe Erklärung erregte zu Worms den größten Unwillen. Die
Biſchöfe erwiederten: der Pabft habe in Franfreich nichts zu fchaffen,
noch zu befehlen; wenn er gefommen fey, um Bannftrahlen zu
fhleudern, würden fie ihn ſelbſt gebannt nad Haufe fihiden. *)
Ihr Schreiben hat ſich nicht erhalten, wohl aber die Antwort des
Pabfts. ?) Zuförderft fpricht er fein Erftaunen darüber aus, daß
fie ihm die widerfprechenden Namen „Bruder und Pabfl“ geben,
während fie ihm doc) bdiefelbe Ehrerbietung, wie ein Sohn dem
Bater, ſchuldig feyen, dann tadelt er ihre Weigerung zu ihm zu
fommen; denn fie wüßten ja felbft, daß die Befehle des römifchen
Stuhls willigern Gehorfam verdienen, als die weltlichen des Kai—
») Vita Walae I1., 14. Perz IL, 560, — 2) Vita Ludovici $. 48,
Perz II., 635, — 3) Agobardi opp. bei Galfandiug XIII., 494 fig.
Die abendländifche Kirche unter Ludwig dem Frommen ꝛc. 767
fers, und daß das Amt eines allgemeinen Hirten der Seelen höher
ftehe, als weltlihes Negiment. Er läugnet weiter, dem Kaifer den
Eid der Treue geſchworen zu haben, führt ihnen dagegen zu Ge—
müth, daß die Huldigung, welche fie geleiftet, einen Jeden von
ihnen verpflichte, Ludwig zu warnen, damit er nicht Yänger auf
dem betretenen Pfade des Irrthums verharre. Gröblich hätten fie,
fährt er fort, durch ihre unverftändige Drohungen den Stuhl Petri
verlegt. Diefer Stuhl verdiene unter allen Umftänden Ehrerbietung,
wie denn ber gottlofe Caiphas blos wegen des Stuhls, auf dem
er faß, geehrt worden fey. Nicht er richte den Kaifer, fondern
Ludwig babe ſich Telbft gerichtet, indem er Handlungen begehe,
bie des Bannes würdig feyen. Alles Unheil des Reichs rühre yon
den Veränderungen ber, welde der Kaifer dem Grundgefege des
Jahrs 817 zuwider angeorbnet habe. Zugleich verfichert er nur
zur Wiederherftellung des Friedens zwifchen Vater und Söhnen
nad Frankreich gefommen zu ſeyn. Uebrigens hatte der Pabft
Anfangs, als die Erklärung der Biſchöfe einlief, den Kopf verloren.
Die Drohung, ihn abzufesen, erfhredte ihn und er wußte nicht,
was zu thun. Erſt der um jene Zeit aus Noirmoutiers angekom⸗
mene Abt Wala war es, der ihm Muth zufprah, und den Ge:
banfen eingab, auf bie oben gefchilderte Weife den fränfifchen
Kirhenhäuptern zu antworten, Wir laffen den Lebensbefchreiber
des Abts, Nadbertus, welher Wala's Verbannung getheilt hatte, und
mit ihm in das Lager der Söhne Ludwig's Fam, felbft reden: ) „Al
wir dem Pabfte vorgeftellt wurden, nahm er ung fehr freundlich
auf, denn er befand fih damals in großer Verlegenheit. Mit
Schrecken hatten ihn die Maßregeln des Kaifers und die Erklärung
der (Wormfer) Bifchöfe erfüllt, die fih Tags vor unferer Anz
funft die Hand darauf gegeben, Cunferer) Parthei einmüthig zu
wiberfiehen; ja fie jprachen fogar davon, den Pabſt abzufegen.
Wir legten ihm daher Auszüge von Concilienſchlüſſen und älteren
päbftlichen Berordnungen vor, in welchen der unmwiderfprechliche Be—
weis enthalten war, daß dem Statthalter Petri das Necht zufteht,
unter allen Völkern die Predigt des Evangeliums und den Frieden
zu verkünden, fowie daß er Jedermann richten dürfe, aber Nies
mand ihn. Diefe Schriften flößten ipm Muth ein.“ Ohne Zweifel
ı) Vita Walae II., 16, Perz IL, 562.
768 IT. Buch. Kapitel 10.
fpielt Radbertus im vorletzten Sage auf die Entfcheidung des Con:
cils an, das 800 wegen Leo’s II. gehalten wurde, und dem gleichen
Grundfag in Betreff des päbſtlichen Nichteramtes ausſprach.
Außer dem Pabſte trat damals auch Agobardus für das Recht
der Söhne Ludwig's in die Schranken. Bei der erften Kunde von
ber Empörung Lothar’s und der Neife des Pabſtes Hatte ihn der
Kaifer aufgefordert, mit den andern Bifchöfen nad Worms zu
fommen, und wider Gregor IV. zu fohreiben. Statt aber dem Rufe
zu folgen, überjchiete Agobard nah Worms eine Kleine Abhand-
lung, ) in welcher er aus Zeugniffen der Väter die hohen Vor:
rechte des römischen Stuhls zu erhärten fucht. Nachdem er ferner
ben Kaiſer beſchworen, dem Pabſte die gebührende Ehre zu erzeigen,
fährt er fo fort: „wäre Gregor mit Heeresmacht gefommen, um
Franfreih zu befämpfen, fo würde es unfere Pflicht feyn, ihn
zurüdzutreiben. Da er aber nur deßhalb die Reiſe angetreten
hat, um den Frieden und die Ruhe des Staats wieder herzuftellen,
fo muß man ihm Gehorfam leiſten. Seine Abficht ift, wie ich ge:
wiß weiß, einzig darauf gerichtet, daß jene Verordnung (das Erb:
folgegefeg vom Jahr 817), weldhe der Kaifer mit Zuftimmung des
ganzen Neichs gegeben hat, und die vom römifchen Stuhle beftätigt
ward, wieder in Kraft trete.“ Noch unverholener fagte Agobard
dem Kaifer die Wahrheit in einem Schreiben, ?) das er zu ber
nemlichen Zeit an ihn erließ. „Ich nehme,“ beginnt er, „Gott zum
Zeugen, daß mic) fein anderer Grund bewegt, an Euch zu fchreis
ben, als der Schmerz über die Gefahren, die Eure Seele bedro:
ben.“ Er ruft fodann dem Kaifer alle Umftände in’d Gedächtniß,
unter denen er feinen Sohn Lothar vor fechzehn Jahren zum Mit:
vegenten angenommen, er erinnert ihn an den allgemeinen Beifall,
mit welchem das Gefeß aufgenommen ward. „Seit biefer Zeit,“
fährt er fort, „trugen alle öffentlichen Ausfchreiben die Namen bei:
der Kaifer (Ludwig’s und Lothar's) an der Stirne. Aber nachdem
Ihr einen andern Beſchluß gefaßt, ift die Ordnung umgeftürzt
worden. Grundlos und unverftändig war die Aenderung; ohne
Gott befragt zu haben, verwarfet Ihr den Sohn, den Ihr doc
1) De comparatione utriusque regiminis, ecclesiastici et politici bei
Gallandius XIIL., 492 fl. — 2) De divisione imperii flebilis epistola,
ibid. ©. 491.
Die abendländifche Kirche unter Ludwig dem Frommen ꝛec. 769
mit dem Willen Gottes zu Eurem Mitregenten eingefetst hattet.
Wir beweinen die Uebel, welche diefe unfelige Maaßregel nach fi
zog, und wir fürdten fehr, daß der Zorn Gottes über Euer Haupt
fih ausſchütte“ u. ſ. w. j
Während Deffen war zwifchen beiden Partheien durch hin und
herwandernde Abgefandte unterhandelt worden, aber ohne Erfolg.
Bon Judith umſtrickt, wollte der Kaifer die Wiederherftellung des
Erbfolgegefeges nicht zugeben. Die Waffen follten entfcheiden,
Nachdem Ludwig feinem Heere einen Eid der Treue abgenommen, !)
brach er Mitte Juni 833 von Worms auf, und bezog am 24,
feinen Söhnen gegenüber, ein Lager bei Colmar, Auf beiden Sei:
ten rüftete man fih zum Kampfe, da erhält Ludwig die Nachricht,
der Pabſt nähere fih feinem Lager, um mit ihm zu reden. Nies
mand ward entgegengefhidt, um Gregor IV. zu beglückwünſchen,
oder einzuholen. Kalt empfteng ihn der Kaifer, „Heiliger Bifchof,«
fagte Ludwig, „wir begrüßen Dich nicht nach der Weife der alten
Könige mit Gefängen und Lobliedern und andern Deiner Würde
angemeffenen Ehren, darum weil Du nicht fo gefommen bift, wie
Deine Vorgänger zu unferen Ahnen zu kommen pflegten.“ Der
Pabſt erwiederte: ?) „Wiffet, Daß wir in der Ordnung gefommen find,
Denn wir find da der Eintracht und des Friedens wegen, welchen
unfer Heiland Jeſus Chriftus ung hinterlaffen hat. Darum, o Kaifer!
wenn Du und und den Frieden Chrifti gebührend annimmft, fol
derfelbe auf Euch und Eurem Reiche ruhen, wo nicht, fo wird der
Frieden Chrifti fi zu ung zurüdwenden und bei ung bleiben.“
Der Pabſt blieb im Faiferlihen Lager einige Tage, während deren
ein reger Verkehr zwifchen beiden Heeren ftattfand. Aber die Unter:
handlung, welche Gregor ohne Zweifel auf die Grundlage bes
Erbfolgegefetes anfnüpfen wollte, zerſchlug ſich; am 28. Juni
ſchickte Ludwig den Pabſt zurüd, Als er am folgenden Morgen
aufwachte, befaß er fein Heer mehr; während der Nacht waren alle
feine Schaaren zu der Gegenparthie übergetreten, bie öffentliche
Meinung hatte fi) völlig von Ludwig abgemwendet. Der Kaifer
mußte fi mit feiner Gemahlin Judith und dem Kinde Karl Lothar'n
ergeben. Der Zwei, den die empörten Brüder gemeinschaftlich ers
1) Acta exauctorationis cap. VIf., Bouquet VI., 246 oben. — 2) Vita
Walae I., 17. Perz I,, 564 unten flg.
Gfrörer, Kircheng. III 49
770 IT. Buch. Kapitel 10.
firebten, war hiemit erreicht. Ludwig der Teutfche und Pipin von
‚Aquitanien fehrten, durch eine Bergrößerung ihres Gebiets belohnt, ')
im Juli nah Haufe, auch der Pabft gieng nah Rom zurüd. Der
alte Kaifer, feine Gemahlin Judith und der Heine Karl, blieben in
den Hänten Lothar’s, welcher Abfichten hatte, die von feinen Brüdern
nicht getheilt wurden. Lothar fchidte die Stiefmutter nad der
Stadt Tortona in Haft, den Stiefbruder Karl ftedte er in bag
Klofter zu Prüm, den Bater hielt er in der Abtey St. Medard
gefangen. Auf den Detober berief er eine Neichsverfammlung nad)
- Compiegne. Hier follte das Schickſal des Kaifers unwiderruflich
entfchieden werden. Lothar wagte aus Furcht vor feinen Brüdern
nicht, den Bater geradezu abzufegen. Der Plan war vielmehr ihn
fo lange zu beftürmen, bis er ſich bereit erklären würde, öffentlich
Buße zu thun. Denn alte Kirchengefege ?) verfügten, daß Büßer
nicht mehr die Waffen, folglich nad fränfifchen Begriffen auch die
Krone nicht mehr tragen durften. Deffentlihe Buße hatte demnach
diefelbe Kraft wie Abfegung, ohne gleichen Anftoß zu erregen. Das
Beſte mußten die Biſchöfe thun. Außer den früher genannten,
waren jetzt aud) der Metropolit von Mainz Otgar, Elias von
Troyes und Joſef von Evreur thätig für Lothars Sade. Auf
ber Berfammlung zu Compiegne trat einer der Biſchöfe — vielleicht
Agobard — auf, und Hagte im Namen Aller, daß dur Ludwigs
Nachläßigkeit das einft fo blühende Reich Karl's des Großen in heil:
loſe Zerrüttung gerathen fey, dann wandte er fi) an Lothar mit
ber Bitte, er möchte erlauben, daß eine Gefandifchaft aus ihrer
Mitte an feinen Vater abgehe, um diefen an feine Sünden zu
erinnern und zu einem für feine Seele heilfamen Entfchluffe zu
beftimmen. Natürlih bewilligte Lothar einen Borfchlag, den er
ſelbſt mit den Bifchöfen vorher verabredet hatte. Die Gefandtfchaft
gieng ab. Anfangs wollte fih der alte Kaifer durch Ausflüchte hel-
fen, aber die Bischöfe festen ihm in der Art zu, daß er zulegt einen
Tag für die Kirhenbuße anberaumen mußte. Alg die Frift gekom—
men war, führte man ihn in bie Kirche der Abtey. Vor dem
Altare lag ein härenes Bußgewand, auf baffelbe kniete Ludwig
nieder und las unter Thränenftrömen einen Zettel ab, welder in
9 Imperium fratres trina sectione partiuntur, fagt ber Aftronom $. 48.
Perz II., 636 Mitte. — 2) Capitul, VI., 338, Baluzius I, 980.
Die abendländifche Kirche unter Ludwig dem Frommen ꝛc. 771
acht Abſchnitten ein Verzeichniß feiner Sünden enthielt: „Er habe,“
hieß es darin, „das feinem Bater an heiliger Stätte gegebene Wort
gebrochen, feine Stiefbrüder (unehlihe Söhne Karl's) in Kiöfter
verftoßen, feinen Neffen umbringen laffen. Er babe den Frieden
des Staats, wie der Kirche geftört; etliche Getreue, die ihn gewarnt,
habe er ihrer Güter beraubt und zum Tode verurtheilen laſſen,
weßhalb die Schuld des Todfchlags auf ihm laſte. Die Schuld des
Meineids habe er als Urheber der vielen falfchen Zeugniffe und
Schwüre auf fih geladen, die zu Reinigung feiner Gemahlin und
anderer Zauberinnen geleiftet worden. Mord, Brand und Raub
babe er durch unnöthige Heereszüge veranlaßt. Statt mit feinen
Söhnen Friede zu halten, habe er durch ungerechte Theilungen bes
Neichs diefelben fih zu Feinden gemaht, und überdieß das Heer
einen Eid wider fie zu fohwören gezwungen. Statt für das Heil
des Volks zu forgen, habe er es in die Waffen gerufen zum Bür⸗
gerfrieg und gemeinfamen DBerderben.“ Den abgelefenen Zettel
übergab Ludwig dem Erzbiſchof Ebo, welcher benfelben auf den
Altar niederlegte. Hierauf fand der Kaifer auf, fchnallte fi das
Wehrgehäng ab und legte es gleichfalls auf den Altar. Sofort nahm
Ebo das Bußgewand, beffeidete Ludwig damit und erflärte: „wer
auf folhe Weife Buße gethan, dürfe nimmermehr die Waffen tra=
gen, fondern müffe fih dem Dienfte Gottes und fletem Gebete weihen.“
Noch war ein Tester Aft übrig, der die zu Compiegne anwefenden
Bischöfe für immer hindern follte, der jetzt ergriffenen Parthei wie—
der untreu zu werden. jeder einzelne Bifchof mußte nemlich eine
Urfunde unterfchreiben, worin das Gefchehene Furz erzählt und gut:
geheißen war. ') Nur die von Agobard ausgeftellte Schrift ?) ift
auf ung gekommen, die übrigen find verloren.
Das Unglück hochgeflellter Perſonen erregt immer Mitleiden,
wäre es au, wie hier, ein wohlverbientes, und felbftverfchuldetes.
Der Aftronom berichtet, ?) alle Welt, mit Ausnahme der Verſchwor⸗
nen, feye über bie Vorgänge zu Compiegne und im Medardusffofter
') Ueber den ganzen Hergang find Quellen Acta exauctorationis bei
Bouquet oder Manft XıV. 647 fig. über die Rolle, welche Ebo dabei fpielte,
vergleiihe man Theganus $. 44. und narratio clericorum rhemensium bei
Bouquet VI, 251 Mitte. — 2) Chartula porrecta Lothario bei Gallan—
bins XIII, 499, oder auch bei Manſi a. a. DO. ©. 652. — °) Vita Ludovici
6. 49, Perz II., 656 unten.
49 ®
7112 UII. Bud. Kapitel 10.
entrüftet gewefen. Daß feine Angabe richtig ift, erhellt aus einer
Maapregel, welde die Parthei Lothar’s zu ergreifen für gut fand.
Agobardus verfaßte nemlich unmittelbar nad dem Schluß der Ber:
ſammlung zu Compiegne eine Schusfgrift, 1) worin er Lothar’g und
feiner Brüder Berfahren gegen den alten Ludwig zu rechtfertigen
juchte, „Die Brüder,“ fagt er, „haben Necht gehabt, fich gegen ihren
Bater zu empören, denn es fey unumgänglich nothwendig gewefen,
den Pallaft von den Berbrechen zu reinigen, die daſelbſt verübt
worden.“ Agobard zählt die von Ludwig begangenen Fehler auf,
fchiebt aber die Hauptſchuld auf die Kaiferin Judith, welche er
der Untreue gegen ihren Gemahl und der Graufamfeit gegen ihre
Stieffühne anklagt. Die Schrift fehließt mit den Worten: „Wir
fagen diefes nicht, um unfern ehemaligen Herrn und Kaifer in
die Reihe der gottlofen Könige zu erniedrigen. Aber weil er ſich
von einem Weibe bethören ließ, ift an ihm der Spruch erfüllet
worden (Sprüchwörter Salomo's XL, 29.): wer fein eigen Haus
betrübet, der wird Wind zum Erbtheil haben. Durch
ſolche Berftöße find unzählige Meineide, Beraubungen, Todfchlag,
Ehebruch, Blutfhande herbeigeführt worden ; dafür muß der fromme
Mann, unfer ehemaliger Kaifer, Buße thun und ſich unter Die ges
waltige Hand des allmächtigen Gottes demüthigen. Weltlihe Ehren
gebühren ihm jest nicht mehr, feit er bie Krone in Folge gött:
lichen Gerichts feinem theuren Sohne abgetreten hat“ u. f. w.
Mehr jedoch, als das Mitleid der Menge über des Vaters
hartes Loos, ſchadete dem Erſtgebornen der Neid feiner Brüder,
welche es nicht verfchmerzen fonnten, daß Lothar durch den Tag
von Compiegne die Kaiferfrone som Haupte Ludwigs genommen
und auf fein eigenes gefest hatte. Sie verlangten von ihm bie
Wiederherftellung des Vaters, und als der neue Kaifer ihr Geſuch
trogig zurückwies, waffneten fie. Abermals zeigte fich jest, daß Lo—
thar den fihwierigen Berhältniffen bei Weitem nicht gewachfen war.
Im Februar 834 gab er den Bater zu St. Denis frei, und zog
fi nad) dem fünlihen Burgund zurüd. Mit ihm flohen Die Metro:
politen oder Bifchöfe Agobard, Bernhard von Bienne, Bartholo:
mäus von Narbonne, Elias von Troyes, Heribald von Aurerre.
!) Liber apologelicus pro filiis Ludovici bei Galandius a. a. O.
©. 496 fig.
Die abendländifche Kirche unter Ludwig dem Frommen ıc. 773
Wala verließ Frankreich, er verbarg feinen Schmerz über getäufchte
Hoffnungen und die Unfähigkeit Lothar's in ter Abtei Bobbio, bie
ihm der junge Kaifer gefchenft Hatte. ') Schnell wuchs jebt bie
Parthei Ludwig’s. Mehrere der Biſchöfe, die zu Compiegne geweſen
waren und die Urfunde unterzeichnet hatten, fuchten die Nache des
beleidigten Herrfchers durch Kriecherei abzuwenden, Digar von Mainz
und einige Andere geleiteten ihn Anfangs März 834 in die Haupt-
fire zu St. Denis, und legten ihm dort das Wehrgehenf fammt
dem faiferlihen Schmude wieder an. Doch half diefe That dem
Mainzer nichts. Otgar ward bald darauf verhaftet, jedoch nad)
einiger Zeit auf Fürbitte feiner Gemeinde wieder freigegeben, ?)
Noch fohlimmer ergieng es dem Metropoliten Ebo von Rheims und
dem Bifchof Hiltemann von Beauvaid, Ludwig gab Befehl, jenen
nach Fuld abzuführen, diefen in die Abtei St. Wedaft bei Arras
einzufperren. Im Februar des folgenden Jahres hielt der alte
Kaifer auf einem Neichstage zu Diedenhofen Gericht über die Par:
thei Lothar's. Die beiden gefangenen Bifchöfe wurden aus ihren
Gefängniffen herbeigebracdht. Hiltemann erhielt Gnade, Ebo dage—
gen, dem Ludwig unverfühnlih grollte, weil er diefen Mann, den
er aus dem Staub hervorgezogen und auf den Stuhl von Rheims
erhoben hatte, des fchwärzeften Undanfg zieh, mußte für die Andern
büßen, Abfesung traf ihn. Die übrigen mit Lothar verbündeten
Biſchöfe, die indeg nad) Italien entwichen waren, wurden vorgeladen,
famen aber nicht. Nach dem Berichte des Aftronomen °) erflärte die
Berfammlung den abmweienden Agobard feines Stuhles verluftig.
Früher haben wir erzählt, *) daß damals der Diafon Florus ver:
gebeng feine Stimme zu Gunften des Erzbiihofs wider Amalarius
erhob. Daffelbe Loos widerfuhr Agobard’s Genoffen. Doch wurden
er jelbft und Bernhard von Bienne nad Furzer Berbannung —
wahrfcheinlih 836 in Folge eines Bertrags zwifchen Lothar und
Ludwig — wieder in ihre Bisthümer eingefegt. *) Seitdem verhielt ſich
Agobard bis zu feinem Tode ruhig.
Der alte Kaifer war durch die gehäuften Unglüdsfälle nicht
gewisigt. Nachdem ihm feine Gemahlin Judith im Frühjahr 834
') Vita Walae U., 20, Perz IL, 567 gegen unten. — ?) Epistola
reelamatoria bei Bouquet VI, 400 fammt Note. — °) $. 54. Perz II, 640
Mitte. — *) ©. 760. — °) Ado chronicon, Perz II., 324 unten.
774 III. Buch. Kapitel 10.
zurückgegeben worden, fuhr er, wie früher, fort, zu Gunſten des
nachgebornen Karl wider die Söhne erſter Ehe Ränke zu ſpinnen,
indem er bald alle drei zu demüthigen ſuchte, bald den Einen gegen
den Andern aufhetzte. Ausgang des Jahrs 838 ſtarb Pipin von
Aquitanien; obgleich derſelbe einen Erben hinterließ, gab Ludwig
ſein Land dem Liebling Karl. Fortwährende Bürgerkriege, Einfälle
der Normannen, verſchiedene neue Theilungsplane, die Niemand
befriedigten, ſtürzten das Reich in heilloſe Verwirrung. Nieder—
gebeugt von dem Elende, das er ſelbſt verſchuldet, ſtarb Ludwig
der Fromme den 20. Juni 840 auf einer Rheininſel bei Ingelheim.
Die erlauchten Männer, welche einſt die Einheit des Reiches wider
Ludwig's Thorheit aufrecht erhalten wollten, waren ihm ſchon in
die Ewigkeit vorangegangen, oder folgten kurz darauf. Ago bard
verſchied im gleichen Monat und Jahre mit dem Kaifer, ) Bern:
hard von Bienne im Januar und der Abt Hilduin im November
842. Die Bifchöfe Jeße von Amiens und Elias von Troyes hatte
der Tod im Jahr 838 ereilt, den Abt Wala und den Grafen
Matfred im Sommer 836, den Abt Elifafchar im Jahre 837. Das
Mißgeſchick, das fie im Leben verfolgte, ließ auch im Tode nicht
von ihnen ab. Man hat fie faft bis auf unfere Tage herab durch
den Namen „Emporer“ gebrandmarft. Ihre Zeitgenofjen urtheilten
jedoch anders von ihnen. Der Aftronom, der für Ludwig Parthei
nimmt, jagt: ?) „Die öffentlihe Meinung habe fich dahin ausge:
fprochen, daß durd den Tod jener Männer Franfreic der Blüthe
des Adels, feiner tapferften und erlauchteſten Söhne beraubt wor:
den ey.“ 2
Die Zwietracht dauerte auch nah Ludwigs Hingang fort.
Ludwig der Teutfche verbündete ſich jest mit Karl dem Kahlen
gegen Lothar, der die Hauptbeflimmungen des Erbvertrags vom
Jahre 817 nimmermehr aufgeben wollte. Den 25. Juni 841 ward
Die entfcheidende Schlacht bei Fontanet geliefert, in welcher ſämmt—
lihe Nationen des Reichs mit wüthender Erbitterung gegen einan:
ber ftritten. Karl und Ludwig der Teutfhe errangen den Sieg.
Vierzigtauſend Mann follen allein -auf Lothar's Seite geblieben
feyn. ?) Erft zwei Jahre fpäter Fam der Frieden zu Stande. Im
) Bouquet VI., 242, — ?) Vita Ludovici cap. 56. Perz II., 612
gegen oben. — 3) Agnelli liber pontificalis bei Bouquet VII., 340, oder
Muratori scriptor, ital. IL, 185.
Die abendländifche Kirche unter Ludwig dem Frommen ıc. 775
Auguſt 843 beſchworen die Brüder den Vertrag von Verdun, wel-
cher aus dem einen Reiche Karl's des Großen drei Staaten ſchuf.
Ludwig der Teutfhe erhielt Germanien bdieffeits des Rheins, fammt
den drei Sprengeln Mainz, Speier, Worms, jenfeits des Stromeg;
Karl der Kahle befam Gallien mit einer Oftgränze, die vom Aus—
fluß der Schelde bis zu ihrem Urfprung Tief, dann in gerader Linie
die Maas hinauf zur Saone, von da zur Rhone bis an ihrer
Mündung fich erfiredte. Die Kaiferfrone, Italien und der fchmale
Streifen Landes dieſſeits der Alyen, der zwifchen den Gebieten
Karl’s des Kahlen und Ludwig des Teutfchen lag, verblieb dem
erftgebornen Lothar. ') Der Antheil des Lebtern war an Ausdeh-
nung größer, an innerer Kraft ſchwächer, weil Fein natürliches
Band die Bevölkerung, welche Lothar'n gehorchte, umſchlang.
Lothar's teutſches Erbe iſt daher bald wieder auseinander gefallen.
Dagegen ſtützten ſich die Gränzen, welche der Verduner Vertrag
den Reichen Karl's und Ludwig's gab, auf die doppelte Grundlage
der Sprach-Einheit und gleicher oder ähnlicher Abſtammung. Sie
find deshalb ihrem wejentlichften Umfange nach bis auf den heuti—⸗
gen Tag unverrüdt geblieben. Ein neuer Reichskörper, der teutfche,
trat durch den Bertrag von Berdun in die hriftliche Staatenfamilie
ein. Daß Bonifarius 100 Jahre zuvor die Selbfiftindigfeit des
neuen Gliedes vorbereitet hatte, wurde früher dargethan.
Ludwig's Schwäche und Judith's Bosheit gaben nur den An:
laß zur Theilung. Die eigentliche Urfache aber Yag tiefer. Auch
ohne Ludwigs Zuthun wäre fpäter das Unvermeidliche gefchehen.
Karl der Große und feine Vorgänger hatten mehrere durch Sprache
und Blut verfchiedene Völker gewaltfam zu einem unnatürlichen
politiihen Körper vereinigt. Diefe Elemente fließen Yängft einander
ab und fuchten die Bande zu zevreißen, durch welche fie gefettet
waren. Wie oft erhoben fich die teutfchen Stämme im Laufe des
fiebenten Jahrhunderts, um von den Franken loszukommen! Selbft
Karl der Große ſah ſich genöthigt, die mangelnde Harmonie der
Theile feines Reichs dadurch thatfächlic anzuerfennen, daß er den
Aquitaniern und Langobarden eigene Könige-Statthalter aus feinem
Haufe gab. Daffelbe Borrecht mußte Ludwig der Fromme den
Baiern bewilligen. Unter der Regierung des Legtern trat bie
") Prudentii trecensis annales ad annum 843. Perz I., 440,
776 IT. Bud. Kapitel 10.
Abneigung. ber Teutfchen gegen die Sranzofen mehr und mehr hervor.
Bei der erften Empörung gegen Ludwig waren es die überrheinifchen
Franken, welche für die Einheit die Waffen ergriffen, die dieffeitigen
Teutfchen dagegen, welche den geftürzten Kaifer wieder hoben. „Ludwig
ber Fromme,“ fagt der Aſtronom, !) „mißtraute den Franzofen, ?)
fegte dagegen feine Hoffnung auf die Germanen.“ Er fährt fort,
wirflid) jey damals auf den nad) Nimwegen auggefchriebenen Reiche:
tag „ganz Teutfhland zufammengeftrömt, um dem Kaifer zu
helfen.“ Deutet dieß nicht auf einen feftgewurzelten Nationalhaß
zwifchen ben beiden Hauptvölkern des fränfifchen Reichs, galliſchen
Sranfen und Teutfchen, hin. Noch belehrender ift eine Bemerfung,
welche der Geſchichtſchreiber Nithard, befanntlich ein hochgeftellter
Mann, der die innerften Triebfedern der Vartheien feiner Zeit fannter
über die Grundfäge der Abfaffung des Vertrags von Verdun macht.
„Bei der Theilung,“ fagt ?) er, „habe man weniger auf die gleiche
Ausdehnung, oder entiprechende Fruchtbarkeit des Bodens, als viel-
mehr auf den innerlihen Zufammenhang und die VBermandtichaft
(der Völker) gefehen.“ Ludwig beftand darauf, Teutſchland, Karl
der Kahle, Gallien zu befommen, weil Einheit der Sprade und
ber Abftammung die Unterthbanen Beider verband. Auch über die
fonft jo dunkle Frage, warum Lothar fih dazu herbeigelaffen haben
mag, jenen dünnen Streifen zwifchen Gallien und Germanien ans
zunehmen, gibt die angeführte Stelle Nithard’s erwünschten Auf:
ſchluß. In dem Gebiete zwifchen Rhein und Schelde lagen die alten
Erbgüter Pipins von Heriftal, ebendafelbft waren auch die tapfer:
ften Gefchlechter der fränkiſchen Eroberer angefiedelt, mit deren Hülfe
Pipin der Aeltere, Karl Martel, der jüngere Pipin und Karl der
Große das fränfifche Weltreich gegründet hatten. Getreu den erb-
lichen Ueberlieferungen, erklärten ſich diefe Gefchlechter beim Aus:
bruch des Bruderfriegs für die Einheit und Lothar, der das Kaifer-
thum vertrat. Als der Kampf entfchieden war, wollte Lothar feine
1) Vita Ludoviei $. 45. Perz II,, 633 untere Mitte. — 2) Diffidens
Francis, magisque se credens Germanis. Der Ausdrudf Franei als Bezeich:
nung der in Gallien wohnenden Franken oder als gleichbedeutend mit dem
heutigen Wort „Sranzofen“ fommt hier, fo viel ich weiß, zum erftenmale vor.
— 3) Nithard IV, 1. Perz II., 668 Mitte. Die Worte Nithards Lauten in
der Urfprache fo: in qua divisione non tantum fertilitas aut aequa porlio
regni, quam affnitas et congruentia cujusque aptata est,
Die abendländifche Kirche unter Ludwig dem Frommen ꝛc. 777
treueften Anhänger nicht preisgeben, auf deren Beiftand er noch
immer ebrfüchtige Hoffnungen gründete. Um nun aber eine Ber:
bindung zwifchen dem Stammfige der Franfen und Stalien, feinem
eigentlichen Erb-Reiche, offen zu erhalten, mußte er auf Abtretung
jener fchmalen Linie beftehen, welche gleihfam die Brücke zwifchen
Italien und den Niederlanden bildete.
Man fieht, Stammeg:Einheit war das Feldgefchrei der Völker
in den Stürmen des ten Jahrhunderts, wie jeßt wieder im 19ten,
wo abermals das Gleichartige fih anzieht, das Widermwärtige ab:
geftoßen wird. Der zum Bewußtjeyn gefommene Naturtrieb ftürzte
fih in das Ninnfal, das die Zwietracht der Söhne Ludwig’s des
Frommen gegraben hatte; die Zertrümmerer des Reiches fiegten,
weil eine ungerftörbare Kraft, als deren Bannerträger fie zu be:
trachten find, ihnen als Stüspunft diente; biefelbe würde auch ohne
fie früher oder fpäter ein anderes Mittel der Befriedigung gefunden
haben. Zwar giebt es in der Weltgefchichte Feine ſcharf begrängte
Wendepunfte, fo wenig als eine Strömung der Gewäſſer fogleich
aufhört. Dennoch kann man fagen, daß mit der Theilung des
großen fränfifchen Weltreichg eine Epoche des Mittelalters abgelaufen
ift und eine neue beginnt. Die Markicheiden der latiniſch-germani—
hen Völker, die im Laufe des Aten Jahrhunderts auf dem Boden
bes alten römiſchen Weltftaats fi) abzugliedern begonnen hatten,
find jeßt dauernd gezogen, Dieß war ein unbezweifelbarer Gewinn
für die europäische Menſchheit; aber jeder Fortfchritt muß um Opfer
erfauft werben.
Die traurigfte Wirkung der langen Bürgerfriege, welche ber
Theilung vorangiengen, war bie, daß bie große Mafje der gemei-
nen Freien ihre politiihe Selbfiftändigfeit verlor. Schon unter
Karl dem Großen hatte diefed Lebel begonnen. Früher zeigten )
wir, wie durch die unerträgliche Laft des Heerbann’s damals Tau:
jende fränfifher Bauern genöthigt wurden, fi und ihre Güter
durch Erbverträge oder Schenkungen der Kirche, Kiöftern oder den
weltlihen Großen zu eigen zu geben. Mit furchtbarer Schnelle
verringerte fih aber erft in Ludwig’s Tagen die Zahl der Heinen
Eigenthümer; denn um während der innerlichen Stürme nicht erz
brüdt zu werden, mußten fie den Schuß der Mächtigen fuchen und
).Siche oben ©, 616.
7118 III. Buch. Kapitel 10.
wurden freiwillig oder gezwungen beren Dienftleute oder gar Leib:
eigene. So ſchwand die Bolfsfreiheit dahin, und mit ihr der alte
fränfifche Heerbann und das Fußvolk, an deſſen Stelle nunmehr
immer häufiger Feine Schaaren berittener Adeligen treten. In glei:
hem Berhältniffe ſchwoll der Stolz der alten Gefchlechter, oder
aud der Emporfümmlinge, die auf den Untergang der gemeinen
Freien ihre Größe gegründet hatten. Der Einfluß, den fie während
der gefeßlofen Zeit im Lande errungen, gab ihnen die Macht, die
Berachtung, welche die Söhne Ludwig’ theils durch ihre perfünliche
Schwäche, theils durch die wiederholten DVerräthereien gegen den
Vater auf fi geladen, gab ihnen den Muth, ihren Königen zu
trogen. Mit dem freien Volke verfällt daher die Staatsgewalt.
Die Krone finft zu einem Schatten herab, und eine unbändige
Adelsherrichaft beginnt, während deren jeder Lehnsherr auf feinem
Gute unbefchränfter Gebieter feyn will. Der Adel war nicht einmal
mit dem thatfächlichen Befige der angemaßten Umabhängigfeit zu:
frieden; er zwang vielmehr das Königthum, die abgetroßten Nechte
zum Geſetze zu erheben. Im Jahre 847, alfo vier Jahre nad
Abſchließung des Vertrags von Berdun, hielten die drei Brüder
Lothar, Karl der Kahle und Ludwig der Teutſche, begleitet von
ihren Lehensleuten, eine Zufammenfunft zu Merfen. Hier mußte
Karl der Kahle feinen Bafallen folgendes ) Zugeftändnig machen:
„wir bewilligen, daß jeder freie Mann in unferem Reiche
fih nad Belieben ung felbfi, oder einen unferer Ge—
treuen zum Lehns- und Schutzherrn (seniorem) wähle.“
Durch diefe Beftimmung riß der hohe Adel das wichtigfte Vorrecht
bes Königsthums an fih. Zwar herrfchte in Aquitanien und Neu:
firien größere Verwirrung als in den beiden andern neugebildeten
Reihen, und Karl der Kahle mußte fi) daher von feinen Vafallen
noch mehr gefallen Taffen, als feine Brüder; dennoch zeigt die Ge—
fhichte, daß die bevorrechteten Stände in Teutfchland, Stalien und
Lothringen von demfelben Geiſt der Unbotmäßigfeit befeelt waren.
Nun gehörten aber die Biſchöfe theils durch ihre Abfiammung,
theild durch den Einfluß, welchen fie feit Karl's des Großen Tagen
im Staate errungen hatten, gleichfalls zum hohen Adel. Wundern
müßte man fich deßhalb, wenn nicht auch das Bisthum den Vers
') Adnuntiatio Caroli cap. 2. bei Baluzius Capitul. II, 44 Mitte.
Die abendländifche Kirche unter Ludwig dem Frommen ıc. 779
fall der Krone benüst hätte, um gleich den weltlichen Lehnsherrn die
bisherigen Bande der Abhängigfeit zu fprengen. Wirklich haben die
geifilihen Großen ganz Daffelbe, was die weltlichen wagten, —
verfteht fih jedoh auf ihre Weife — unternommen. Die Stel:
lung der Bifchöfe war nemlich wefentlich verfchieden von derjenigen
des weltlichen Adels. Wollten fie den nemlichen Zweck erreichen, fo
mußten fie die neuen Forderungen den eigenthümlichen Verhältniffen
ihres Standes anpaffen. Bei einiger Kenntniß der Zeitumftände
ift es leicht vorauszuſehen, welche Mittel zum Ziele führten. Um
unabhängige Herrn zu werden, war vor Allem nöthig, daß bie
Bischöfe ihre Perfon, wie das Eigenthum der Kirche, gegen Eins
griffe der Laien, befonders aber der Fürften, nad Möglichkeit zu
fihern fuchten. Da aber die Häupter des Clerus fich in einer weit
verwidelteren Lage befanden, als die weltlichen Großen, fo bedurf-
ten fie eines Fünftlicheren Gewebes und forgfältigerer Vorbereitung;
erft mußten gewiſſe Hemmniffe entfernt, und nüglihe Verbündete
berbeigezogen werden. Die vornehmen Laien hatten es blos mit
den Königen zu thun. Wenn fie die Gewalt Diefer demütbhigten,
durften fie ihre Unabhängigfeit als gefichert betrachten. Ihre Auf
gabe war daher eine einfache und klare, nicht fo die bes Clerus.
Zwifchen den Bifchöfen und den Dberhiuptern des Staats ftand
eine mittlere Behörde, welche die Könige in Bewegung festen, um
die Kirche nach Gutdünken zu beherrſchen. Oben ift gezeigt worden,
wie viel Mühe fih Karl der Große gab, um die Bilchöfe den
Metropoliten zu unterwerfen, und wie Lestere ihm ald Werkzeuge
dienten, durch welche er feinen Willen volffiredte. Hart hatte feit
den Testen fünfzig Jahren die Hand der Metropoliten auf den Bi:
fhöfen gelaftet, fie waren in den wichtigften Fragen, wie 5. B. in
der Bilderfahe die Bundsgenoffen der Krone felbft gegen ben
römischen Stuhl geweſen. Ehe daher das Prieftertfum die Unab—
hängigfeit, nach der es firebte, zu erringen vermochte, mußte erft die
Gewalt der Metropoliten gebrochen werden. Dieß war jedoch ein
fchwieriges Geſchäft, denn es ließ fich vorausfehen, daß Metropo—
liten und Könige, fobald folche Beftrebungen hervorträten, ſich zu
gemeinfchaftlicher Abwehr vereinigen würden. Gegen ſolche Gefahr
fonnte die Bifchöfe nur der Beitritt eined mächtigen Verbündeten
ſchützen. Während das neu errichtete Kaiſerthum nad) kurzer
Dauer verfiel, hatte eine andere Weltmacht, das Pabſtthum, nicht
780 IT. Buch. Kapitel 10.
nur Nichts verloren, fondern Fortfchritte gemacht, und fland in
ungefchwächter Kraft da. Gelang es nun den Bifchöfen, biefe
Gewalt auf ihre Seite zu ziehen, fo fchien der glüdliche Ausgang
ihres Unternehmens unzweifelbar. Aber wie den Stuhl Petri ge:
winnen? Ein Mittel bot fih dar, das zugleich geradenwegs zur
Grreihung des zweiten Hauptzweds der Biſchöfe, zum Sturze ber
verhaßten Metropolitangewalt, führte, Wenn die Biſchöfe alle Bors
rechte, welche die Metropoliten bisher befaßen, dem einen Stuhl
Petri zu übertragen fich bereit erklärten, durften fie mit gutem Fuge
hoffen, daß der Pabft mit ihnen gegen die Könige und Erzbiichöfe
gemeine Sache machen werde. Zwar erreichten fie auf diefe Weife
feine vollfommene Unabhängigfeit, fondern ſie vertaufchten blog
mehrere kleine Gebieter mit einem einzigen und mächtigen, aber
der angegebene Plan war unter den möglichen ber befte. Stets
bat in der Kirche die Negel gegolten, daß es räthlicher fey, einen
mächtigen Oberherrn in der Ferne, als einen Kleinen auf dem
Nacken zu haben.
Sn den eben entwidelten Säsen haben wir bie leitenden
Getanfen einer Firchlichen Gefegesfammlung, die während der
Bürgerfriege unter Ludwig dem Frommen, oder furz nad) feinem
Tode zum Borfchein Fam, auf ihren kürzeſten Ausdrud zurüdges
bracht. Vom Ente des fechsten Sahrhunderts an fand die Zu—
fammenftellung von Kirchengefegen, welche der römiſche Abt Dip:
nyſius der Kleine, um 530 bewerfftelligte, !) im Abendlande allge:
meine Verbreitung. Sie enthielt die Befchlüffe der älteren Kirchen:
verfammlungen fammt entfcheidenden Briefen der Päbſte von Sirieius
an (+ 398) bis auf Anaftafius II. (498 +). Ihr Inhalt iſt Acht.
Das Sleihe gilt von der fpanifchen Sammlung, welde um 636
gemacht, frühe dem Erzbifchof von Sevilla, Iſidor, zugefchrieben
worden ift, 2) und allmalig die ältere des Dionyfius verbrängte,
Die Achtung, welche Iſidor und fein. angebliches Werf genoß, war
Urfade, daß im neunten Jahrhundert ein Unbefannter den merk:
würdigften litterarifchen Betrug, den die Weltgefchichte aufweist,
mit feinem Namen ausgefchmücdt hat. Seit 857 beginnt in vffent:
lihen Urkunden, unter dem Namen Iſidor's, eine Eirchenrechtliche
) Siehe den zweiten Band biefes Werks S. 83. — 2) Siehe oben
©. 370.
Die abendländifhe Kirche unter eudwig dem Frommen ꝛc. 781
Sammlung angeführt zu werden, welche außer vielen Beſtandtheilen
der ächten ſpaniſchen, eine Maſſe bis dahin unbekannter Stücke um—
faßt. Das neue Sammelwerk zerfällt in drei Haupttheile: der erſte
begreift 61 Briefe der Päbſte von Clemens (dem angeblichen Nach—
folger des Apoftelfürften Petrus) bis auf Melchiades, den Zeitge:
nofjen Conftantins des Großen. Diefe Briefe find mit Ausnahme
zweier des Clemens, welche obwohl unterfhoben, Rufin ſchon im
vierten Jahrhundert gefannt und überfegt, aber der Unbekannte er:
weitert hat, erſt jegt gejchmiedet worden. Im zweiten Theile finden
fih Befhlüffe der Concilien bis zum fiebenten Jahrhundert, meift
aus der Achten ſpaniſchen Sammlung entlehnt. Der dritte Theil
endlic enthält Defretalen der Päbfte von Sylveſter, dem Nach:
folger des Melchiades an, bis auf Gregor den Großen; flnfund:
dreißig derſelben fiammen aus ber Feder des Unbefannten. !)
Seder Betrüger hat zunächſt den Zweck, bei Denjenigen, welche er
täuſchen will, d. h. bei feinen Zeitgenoffen, Glauben zu finden.
Gelingt ihm Lesteres, fo hat er das Vorurtheil gefchickter Aus:
führung für fi. Diefen Maaßſtab an das Werk bes falfchen
Iſidor gelegt, muß man befennen, daß er feinen Plan mit Gewandt-
heit verwirklicht hat. Nachdem in den erften Zeiten der Erfcheinung,
einige zerftreute, und nicht fehr zuverfichtliche Zweifel Yaut geworden,
erringt die Sammlung im Mittelalter Geſetzeskraft. Erſt im Zeit
alter der Kirchenreformation ward der Betrug durch die Magde—
burger Genturiatoren aufgedeckt, denen fich fpäter der franzöſiſche
Neformirte Dav. Blondel anfchloß. ) Die Beweife der nächte
beit, welche Beide geführt haben, find zwingend. Abgefehen
1) Es giebt Feine fritifche Ausgabe des falfchen Iſidor. Die einzige, in
der alle Stücke ungetrennt fich finden, Lieferte Merlin Tomus primus quatuor
coneiliorum etc., Ysidoro auctore. Paris 1524 fol. (Diefe Jahrzahl hat das
Eremplar der Stuttgarter Bibliothek, nach dem ich eitive, Andere geben bie
Zahl 1523 an.) Außerdem vergleiche man Blascus commentarius de collec-
tione canonum Isidori , abgedrudt in der Sammlung bes Gallandius, welche
den Zitel führt: de vetustis canonum collectionibus, Venetiis 1778 fol,
Seite 357 flg.; ferner Petri et Hieronymi fratrum Ballerinorum trac-
tatus de antiquis collectionibus canonum; abgedrudt ibid. ©. 97 flg., endlich
Spittler’ 8 Geſchichte des canonifchen Rechts, in deſſen Werken I., Seite 201 flg. —
2) Mittelft feines 1628 zu Genf gedruckten Werks Psebdöisidorus et Turria-
nus vapulantes. Der Jefuit Turrianugs hatte nemlich vor Blondel die Samm—
lung des falfchen Iſidor gegen die Magdeburger zu vertheidigen gefucht,
782 III. Buch. Kapitel 10.
davon, daß von den Arfunden der brei erflen chriftlihen Jahre
hunderte, welche der Unbekannte mittheilt, mit Ausnahme jener
beiven ſchon im vierten Jahrhunderte gefchmiedeten Briefe des
Clemens, fein Zeuge, feine Duelle bis zu dem Tode Karl’ des
Großen ein Wort weiß, hat der Falfcher grobe Verſtöße gegen bie
beglaubigte Gefchichte begangen. Er legt im zweiten Jahrhundert
feinen römiſchen Oberhirten Stellen aus der von Hieronymus gegen
Ende des vierten berichtigten Yateinifchen Bibelüberfegung in Mund,
er läßt den Pabſt Victor CH 202) an den Erzbifchof Theophilug
son Alerandrien fchreiben, der doch erft feit 385 auf dem ägypti⸗
chen Patriarchenftuhle ſaß; der Pabft Anafletus, welcher nach der
firchlichen UWeberlieferung um 100 geftorben feyn foll, fpricht bei
ihm von Patriarchen, Primaten, Metropoliten, Erzbifchöfen, lauter
Aemtern und Namen, die erit Jahrhunderte fpäter auffamen. Der
Pabſt Melchiades ertpeilt Nachricht von den Schlüffen des nicäifchen
Concils, das doch erſt eilf Jahre nach feinem Tode zufammentrat,
ja der Pabſt Zephyrinus CH 218) beruft fih auf kaiſerliche
Gefege, welche die Austreibung von Bilchöfen verbieten. !) Der
unbefannte Berfaffer hatte im Augenblick nicht bedacht, daß bis zu
Anfang des vierten Jahrhunderts Roms Beherrfcher Heiden und
Berfolger der Kirche waren. . Achnliche Fehler fommen in Maffe
por. Neuere Schriftfieller finden daher den gejpielten Betrug fehr
grob, und fie fprechen in den ſtärkſten Ausdrüden ihr Erftaunen
darüber aus, daß die Menfchen der mittleren Zeiten fich fo lange
täufchen Tiefen. Ein wichtiger Umftand wird bei dieſem Urtheil
vergeffen. Die Hülfgmittel, wodurch wir in Stand gefebt find,
mit größter Sicherheit und leichter Mühe über die Unächtheit der
Sammlung des falfchen Iſidor zu entfcheiden, verdanfen wir dem
herfulifchen Fleiß einer Maſſe von Gelehrten, welche feit dem Wieder:
aufleben der Wilfenfchaften die Denfmale des Alterthums durch—
forfcht, die Thatſachen der Gefchichte und die Zeitrechnung feſtge⸗
ftellt, und Jedermann zugängliche Bücher darüber gefchrieben haben.
Ein folhes Gefammterbe fremden Fleißed ftand aber weder den
Zeitgenofjen des falfchen Iſidor, noch ihm felbft zu Gebot. Der in:
befannte war auf die Kenntniffe feines Jahrhunderts befchränft,
und dieſe hat er, wie der Erfolg beweist, mit großem Geſchick benützt.
ı) Fol, 34, a. der Ausgabe von Merlin.
Die abenvländifche Kirche unter Ludwig dem Frommen ıc. 783
Ein Styl herrſcht in den unächten Stücken der Sammlung,
ein Plan zieht ſich durch dieſelben hindurch. Die Cleriker im All
gemeinen, und insbefondere die Bifchöfe find ein von Gott gemeihter
unverlegliher Stand. Wer fih an ihren Perſonen, oder ihren
Gütern vergreift, unterliegt als Kirchenräuber der ewigen Feuer:
pein. „Huren ift zwar eine fchwere Sünde,“ heißt es im Briefe )
des Pabftes Pius, „aber geiftlihe Güter antaften, ift noch ſchwerer,
denn wer hurt, fündigt gegen fi, wer die Kirche beftiehlt, gegen
Gott.“ Die Clerifer find feinem weltlichen Gerichte unterworfen,
vielmehr hat Gott fie zu Richtern über Alle geſetzt. Pſeudoiſidorus
erfchwert daher Anflagen der Laien gegen Priefter fo fehr, daß
faum eine vorfommen fann. Er fchärft weiter ben Grundfag ein,
daß die Schlechtigfeit einzelner Glieder der göttlichen Würde des
Standes feinen Eintrag thun könne. Der Laie hat verdorbene
Priefter als eine göttliche Fügung zu tragen, und ift ihren Aus:
fprüchen Gehorfam ſchuldig, aud wenn fie ungerecht find. Pabſt
Urban fehreibt: 2) „In der Perfon der Biichöfe follet Ihr den Herrn
felbft verehren, und diefelbigen lieben, wie eure eigenen Seelen,
aud) allen Umgang mit Denen meiden, mit welchen Jene feine Ge:
meinfchaft haben. Stets ift die Entfcheidung eines Biſchofs zu
fürchten, felbft wenn derjelbe ungerecht urtheilt, was jedoch Jedes
Kirchenhaupt eifrig meiden fol.“ Den Pabſt Pontianus läßt der
falfhe Iſidor im erften Briefe fih alfo 2) ausfpreden: „Bon den
Prieftern gilt dag Wort des Erlöjers: wer Eud betrübt der
betrübt mid, wer Euch hört, Hört mid, wer Eud ver—
achtet, veradhtet mid, wer aber mid) veracdhtet, der ver:
ahtet Den, ber mich gefandt hat. Wenn es gefchehen follte,
daß ein Priefter fällt, fo follen die Laien den Gefallenen aufrichten
und geduldig tragen, — Nie dürfen die Glerifer von Menfchen
ſchlechten Leumunds, oder von feindlich gefinnten, oder von Ins
gläubigen — oder yon Laien Überhaupt angeflagt werden.“ Ueber:
einftimmend biemit lehrt der erſte Brief *) des Pius: „die Schanfe
jollen ihren Hirten nicht tadeln, das Volk feinen Bifchof nicht ans
flagen, die Gemeinde ihren Borfteher nicht zurechtweifen, denn der
Schüler ift nicht über dem Meifter, noch der Knecht über dem Herrn.
!) Ibid. 30 a. — 2) Ibid. 37 a. gegen unten. — 3) Ibid, 37 b, gegen
unten, — *) Ibid, Seite 29 b. Mitte.
784 II. Buch. Kapitel 10.
Biſchöfe können nur von Gott gerichtet werden, der fie wie feinen
Augapfel erwählt hat. Kein Untergebener wage eg, feinen Seelen:
hirten anzuffagen, oder zu verläftern, er erinnere ſich an das Bei⸗
ſpiel des Herrn, der mit eigenen Händen die (ſündhaften) Leviten,
bie da kauften und verkauften, zum Tempel hinausgetrieben hat.“
Der erfte Brief des Zephyrinus verordnet: ) „nur auf die Aus:
fage von zweiundfiebzig vollig unbefcholtenen Zeugen hin, dürfe ein
Biſchof verurtheilt werden.“ Sp ausfchweifend nun auch) biefe
Sätze klingen, enthalten fie dennoch für jene Zeiten nichts Neues,
Schon Alfuin behauptet 2) in dem Prozeffe Pabfts Leo’s III., es fey
eine alte kirchliche Beftimmung, daß zu Ueberführung eines Ober:
priefters zweiundfiebzig Zeugen erfordert werben.
Anders verhält es fich jedoch mit den übrigen Firchenrechtlichen
Grundfägen, die der falfhe Iſidor aufftellt. Der Pabſt ift ber
allgemeine Biihof der ganzen Kirche, die Vorſteher einzelner
Sprengel find feine Werkzeuge oder Stellvertreter. Alle wichtigen
Fragen müſſen daher ihm zur Entfcheidung vorgelegt werden.
Keine Provinzialfynode darf zufammentreten, ohne feine Einwilligung,
ihm fteht das Recht zu, allgemeine Concilien zu verfammeln und
Berufungen eines jeden verklagten Clerifers anzunehmen, er darf
Biſchöfe von einem Stuhl auf den andern verfegen, er darf fie vor
feinen Richterſtuhl Taden, er hat endlich die gefeßgebende Gewalt in
der Kirche. Am Ende feines fünften Briefs an die Numidier
fohreibt °) Pabſt Damafus bei dem falfhen Iſidor: „alle unfere
Beihlüffe, fowie die Entfheidungen welche unfere Vorgänger über
firhlihe Drdnung und Zucht gegeben haben, müffen von Euch und
yon allen Biſchöfen und von dem ganzen Clerus aufs pünft-
Yichfte beobachtet werben, bei Strafe, daß jeder Widerſpenſtige Feine
Berzeihung erlangen kann.“ Im erften Briefe des Pabſts Julius
heißt *) es: „Eraft eines befondern Vorrechts ift dem Stuhl von
Nom die Befugniß eingeräumt, allgemeine Concilien zu verfammeln,
und über die Bischöfe zu richten; auch müffen alle wichtige Sachen
an ihn gebradht werben, denn er. hat den Borzug vor allen andern
Kirchen. Sprit nit der Herr im Evangelium: Du bift
Petrus, auf diefen Felfen will ih meine Kirche grüns
den, was Du auf Erden bindeft oder löſeſt, foll aud
1) Ibid. ©. 33 b. Mitte. — 2) Epistol. 92, opp. ed. Froben I., 134
gegen unten. — 3) Merlin ©. 108 b. unten, — *) Ibid, ©. 93 b. unten,
Die abendländifche Kirche unter Ludwig dem Frommen ıc. 85
im Himmel gebunden oder gelöst feyn. Längſt iſt durch
bie hl. Apoftel und ihre Dh das Geſetz gegeben worden,
welches die allgemeine und apoſtoliſche Kirche bis auf den heutigen
Tag befolgt hat, dag ohne Zufimmung bes römiſchen
Hohenpriefters Feine Synode berufen, fein Bifchof
verurtheilt werden darf. Gleichwie der hl. Apoſtel Petrus
der Fürſt unter den andern Zwölfboten war, alſo gebührt auch dem
von ihn gegründeten und ihm geweihten Stuhle der Vorrang, fo zwar
das derfelbe das Haupt Aller if, und daß vor ihn ſämmtliche wich:
tige Fragen und Falle in der ganzen Kirche gebracht werden müffen.
Ohne Zuthun des römiſchen Biſchofs Fann nichts feſtſtehen“ u. f. w.
Dieſelbe Behauptung wird ſehr häufig wiederholt. So im erſten
Brief ) des Zephyrinus: „An die römiſche Kirche mögen Alle,
namentlih aber die Bedrüdten Berufung einlegen, und bei ihr
Hilfe ſuchen, wie ein Kind bei der Mutter.“ Noch deutlicher er-
klärt fi der vierte Brief ?) des Damafus: „die Metropoliten find
befugt, die Streitfachen der Bifchöfe zu unterfuchen, und über wich:
tige kirchliche Dinge Rath zu pflegen, jedoch Beides nur in Gemeins
Schaft mit ihren ſämmtlichen Suffraganen, und alfo daß Jeder zu:
gegen ift, und daß Alle einer Meinung find; aber nicht iſt es ihnen
geftattet, ohne Beiftimmung des römifchen Stuhls einen Befchluß zu
faffen, oder Biſchöfe zu verurtheilen. An eben diefen Stuhl dürfen
auch höhere Elerifer, die in Unterfuchung ſtehen, appelliren. Auch
widerfireitet es, wie Ihr wiſſet, dem Fatholifchen Glauben, dag ohne
Erlaubnig des Stuhles Petri irgend eine Synode zufammentrete.“
Endlich fpricht der zweite Brief ?) des Pabftes Calixtus dem Haupte
der römiſchen Kirche das Necht zu, Biſchöfe zu verfegen: „Iſt eine
Berfegung nöthig, fo möge fie erfolgen, aber nur auf Einladung
ber Brüder, und mit Einwilligung des Stuhles Petri, auch nicht
in ehrgeiziger Abficht, fondern aus Gründen des allgemeinen Wohle,“
Man fieht, der falſche Iſidor beweist eine unglaublihe Groß:
muth gegen den römischen Stuhl. Aber was er diefem fchenft, ift
Andern geraubt. Bisher hatten die Metropoliten nicht nur dag
Recht, fondern fogar die Berpflihtung, ) Provinzialfynoden zu berufen
und zu lenfen; ihnen Fam es ferner zu, Gericht über die Bifchöfe
N Ibid. ©. 35 b. Mitte. — 2) Ibid. 105 a, Mitte. — 3) Ibid, ©, 55 b.
Mitte. — 9) Man fehe oben S. 584.
Gfroͤrer, Kircheng. IE, 50
7186 — 1IE- Buch. Kapitel 10,
zu halten, und bie Befchlüffe der Synoden zu vollzichen, - Ihrem
Stande gehörten bie geiftlichen Kammerboten an, welche unter Karl
dem Großen, und aud noch unter Ludwig dem Frommen, als
faiferlihe Bevollmächtigte eine diftatorifche Gewalt im Reiche aus:
übten. Alles das ift ihnen genommen, zu bloßen Handlangern des
Pabftes finfen fie herab. Diefer Angriff auf. eine Klaffe bisher
ſehr mächtiger Beamten ift fo Ted, daß man fih nicht wundern
fann, wenn der fhlaue und welterfabrene Fälfcher jener. Urkunden
den Berfuh macht, einige, oder wahrſcheinlicher einen ber be
drobten Metroppliten von den übrigen zu trennen, und in bie Ber-
ſchwörung bineinzuziehen. In dem Briefe des Pabſts Anicetug
findet fich folgende merkwürdige Stelle: ) „Reine andern Erzbifchöfe
dürfen den Titel „Primaten“ annehmen, als bie, welche in Städten
erftien Nangs wohnen, und welche in folden Orten durch die Ayoftel
oder deren Nachfolger zu Patriarden und Primaten geordnet
wurden. Eine Ausnahme von dieſer Regel findet nur
dann Statt, wenn ein Volk, das erſt fpäter befehrt
warb, fo zahlreich ift, Daß es wegen feiner Menge
eines Primaten bedarf, Die übrigen ODberbirten, melde
Metropolitanftühle einnehmen, follen nicht Primaten, fondern nur
Metroppliten genannt werben. Iſt aber ein Metropolite aufgeblafen,
und unterſteht er fi) ohne den. Rath und die Anweſenheit feiner
Suffragane Sachen zu entſcheiden, die über die Verwaltung, feines
unmittelbaren Sprengeld (in. welchem ber Metropolit zugleich Orts⸗
biſchof iſt) hinausreichen, fo ſoll er von den Suffraganen zurecht:
gewieſen werden, und nicht mehr wagen, dergleichen Dinge zu
thun. Wenn er ſich jedoch nicht beſſert, und die Stimme der
Biſchöfe verachtet, ſo ſoll an den Stuhl Petri, dem die Gerichts⸗
barkeit über alle Biſchöfe zuſteht, Bericht über ſeine Bosheit erſtattet
werden, damit der Schuldige die gebührende Strafe erleide, und
damit die übrigen (Metropoliten, die Gleiches wagen könnten), ſich
fürchten. Im Falle aber wegen Größe der Entſernung, oder Kürze
der Zeit, oder unterbrochener Verbindungen es ſchwierig wäre, die
ganze Sache an den Stuhl Petri zu bringen, ſo mögen die Kläger
ſich an den betreffenden Primaten wenden, damit derſelbe im
Namen und Auftrage des römiſchen Stuhles entſcheide.
1) Merlin Seite 50 b. Mitte.
Die abendlaͤndiſche Kirche unter Ludwig dem Frommen sc. “97
Desgleichen wern Einer der Bifchöfe Verdacht gegen feinen Metro:
yoliten bat, fo fuche er entweber bei dem Primaten des Kicchens
gebiets, oder bei dem Stuhle Petri Recht.“ Diefer angebliche Aug:
ſpruch des Pabſts Anicetus wölbt über den Metropoliten eine
höhere Stufe, die des Primaten oder Patriardhen, von welcher man
bisher im Auslande nichts wußte. Der Primas foll über die Metros
politen richten, aber wohl gemerft, unter Aufſicht und als geiftlicher
Lehnsmann des Pabſts. Zur Würde eines folden Primaten aber
giebt es, Yaut der angeführten Stelle, zwei Berechtigungen, nemlich:
erftlich apoſtoliſche Vollmacht, und zweitens politiſche Nothwens
digkeit. Welche Stühle des Franfenreihs der Unbekannte beim
erſteren Glied im Auge hatte, ift fchwer zu beftimmen. Denn
mehrere Metrovolitanfige des damaligen Frankenreichs, wie Lyon,
Arles, Vienne rühmten ſich apoftolifcher Einfegung. Dagegen kann
faum ein Zweifel darüber obwalten, auf wen das zweite Glied
hinweist. Die ganze Beichreibung paßt, wie ſchon Blasfus be:
merkt, ) blos auf Mainz, auf diefe Stadt aber auch ganz vortreff:
lich. Das teutfche Volk, das der Mainzer Hirte leitete, war erft
neuerlich befehrt worden, und wegen der Maffe der Befehrten hatte
der erſte Hirte Bonifacius Nechte erhalten, welche die Macht eines
bloßen Metropsliten weit übertrafen, und dem Anfehen eines Patri:
archen gleich famen. Folglich wollte der Unbefannte das Mainzer
Kirhenhaupt dadurch von den übrigen, der Bernichtung geweihten,
Metropoliten trennen, daß er ihm auf Koften der Lesteren ein
höheres, wenn aud vom römiſchen Stuhl abhängiges Amt, als
Lockſpeiſe sorbielt. Man bemerfe noch, wie fehlau der Gedanke
auf die Berhältniffe jener Zeit und Die Gefchichte des Mainzer
Stuhls berechnet it. War nit die Gewalt, welche Bonifaeius
befeffen, duch Erhebung der Metropolen Cölln und Salzburg
befchnitien worden, und mußten nicht die Nachfolger des Bonifacius
biefe beide Nebenbuhler, ſey es auch um den Preis römiſcher Knecht:
ſchaft, wieder in ihr Nichts binunterzuftoßen wünfchen ?
Bliden wir nun zurück. Neu ift in dem Geſetzbuch des
falihen Iſidor die Erhebung des römischen Stuhls auf eine früher
niht gefannte Höhe von Macht, und die Demüthigung der
Metropoliten. Beides flieht in engftem Zufammenhang, Beides mug
) A. a. O., Kap. 15. ©. 402 fig.
50 *
188 IH. Bud. Kapitel 10.
‚als das wohlbewußte Ziel betrachtet werden, nach dem er firebte,
‚und. wegen deſſen er den unerhörten Betrug gefpielt hat. Sicherlich
aber befaß in feiner Seele eine Abſicht das Uebergemwicht über
‚die andere. Mit andern Worten, das Eine war fein eigentlicher
Endzweck, das Andere diente ihm als Mittel. Zwei Fälle find
denfbar. Entweder gieng fein Dichten und Trachten dahin, alle
Macht auf das Haupt des Pabftes zu häufen, und die Erniedrigung
‚der Metropoliten war der Weg, auf dem er diefes Ziel zu erreichen
‚hoffte; oder umgefehrt wollte er die Macht der Metropoliten ſprengen,
und braudte ald Mittel dazu die Vergrößerung des Stuhles Petri.
Sp faßt die Frage auch Spittler, ) der für das Leßtere entfcheidet,
ohne jedoch Gründe anzugeben. Im Folgenden foll der Beweis
geführt werben, daß die Sache ſich wirklich alſo verhält. An fi
it Mar, daß wenn ber Betrliger für den Stuhl Petri arbeitete,
wenn folglih das Buch von Nom, oder einer römischen Parthei
ausgieng, der Pabft felbft von dem Plane unterrichtet gewefen feyn
muß. Denn wurde die Sammlung von ihm. felbft, oder durch
Andere auf feinen Befehl gefchmiedet, fo wußte er notbwendig dar:
um, handelte aber der Fälfcher auf eigene Fauft, fo kann man fi)
feinen andern Zweck feiner Handlung denken, als daß er die Gunft
des Pabſtes und feinen Danf verdienen wollte. Lebteres ange:
nommen, ift wohl fein Zweifel, daß ber Fälſcher entweder, ehe er
Hand and Werk legte, die Zuftimmung des Pabſtes eingeholt, oder
wenigftens das vollendete Werk ihm überſchickt, und feine Dienfte
geltend gemacht Haben werde. Mit einem Worte: die Borausfegung,
der falfche Iſidor fey zum Vortheile des Stuhles Petri unterfchoben
‚worden, fchließt die andere in ſich, daß der Pabft mittelbare oder
unmittelbare Kenntniß von dem Plane befaß. War aber weiter
der Stuhl Petri in das Geheimniß eingeweiht, fo fann man un:
möglih annehmen, daß die Päbfte in den erften Zeiten nad) Er:
‚fcheinen des Buchs Grundfäse ausgefprocdhen haben, die denen
des falſchen Iſidor's zuwider liefen, oder dazu bienen mochten, bie
Aufdeckung des Betrugs zu erleichtern. Sollte Lesteres dennoch
-gefchehen feyn, jo würde daraus folgen, daß die Borausfegung
‚römischer Mitwiffenfchaft falfh ift, und bag dem DBerfaffer eine
andere Abficht zugefchrieben werden muß.
U 0 O., Werke L, 257 fig.
Die abendländifche Kirche unter Lubwig dem Frommen ıc. 789
Es ift jet nöthig, Zeit und Drt der Abfaffung des Buche zu
beftimmen. Blondel hat in den Stüden des falfchen Iſidor's zwei
Stellen !) entdeckt, welde aus ben Berhandlungen der fechsten
Parifer Synode vom Jahre 829 entlehnt find. " Demnach Fann der
Betrüger erft nach dem Jahre 829 fein Werk zufammen getragen
haben. Eine andere Gränze oder Zeitpunkt, vor welchem das Buch
gefchrieben feyn muß, Laßt ſich zwar nicht aus Iſidor felbft, wohl
aber aus einer der beiden älteften fränfifchen Capitufarienfamm-
lungen ermitteln. Anfegis, ?) ein fränfifcher Mönch, der fih durch
jeine Gelehrfamfeit auszeichnete, und deshalb die Gunft der Kaifer
Karl und Ludwig genoß, auch von ihnen mit drei Abteien Flais
im Sprengel Beauvais, Lureuil und Fontenelle ausgeftattet wurde,
hat im Jahre 827 die erſte Sammlung fränfifcher Capitularen ange:
legt, welche die Geſetze Karl's des Großen und Ludwig’s des
Frommen bis zum angegebenen Jahre enthält. Das Werf des
Anfegis zerfällt in vier Bücher; ?) in den beiden erften find die
firhlichen Verordnungen Karl’ und Ludwig’s zufammengeftellt, in
ben beiden folgenden ihre weltlichen Gefege. Drei Anhänge 9 um:
faffen eine Anzahl unvollftändiger, oder auch wiederholter Gefege
weltlichen und geiftlihen Inhalts, welche Karl der Große, Ludwig
der Fromme, und deſſen erfigeborner Sohn Lothar, erlaffen haben.
Angeblich, weil die Sammlung des Anfegis nur bis zum dreizehnten
Jahre Ludwig’s des Frommen reiche, und weil überdieß manches
Andere zwecdienlihe übergangen fey, unternahm es der Mainzer
Diakon oder Levite Benediftus die Arbeit des Abts von Fontenelle
zu ergänzen. Auf Befehl feines Erzbiſchofs Dtgar) fegte er um
845 drei Bücher °) hinzu. In eben dieſen drei Büchern des
Mainzer Leviten nun finden fich zahlreiche Einfchiebfel aus dem
falſchen Iſidor. Demnach ift das Werf des Mainzers jünger als
die Sammlung des falfchen Iſidor, und letztere muß vor dem
Jahre 845 vollendet worden feyn. Das Mainzer Buch giebt noch
zu andern Schlüffen Anlaß. Ueber die Quellen, aus welchen er
geſchöpft, Außert ſich Benedikt felbft in der Vorrede )) alfo: „Was
) In den Briefen der Päbſte Urban I. und Johann HL. — 2) Leber ihn
vergleiche man histoire litteraire de la France IV., 509 fig. — 3%) Abgedrudt
bei Baluzius Capitut, I., 697 — 791. — 9 Ibid. ©. 791 fig. — >) Siehe die
Berfe, die der Borrede vorangeftellt find bei Baluzius I., 801. — 6) Abger
drudt ibid. 821 flg. — 7) Bei Baluzius a. a D., ©. 803 gegen oben.
790 IE Buch. Kapitel 10.
er mittheile, habe er an werfchiedenen Orten und auf einzelnen
Pergamenten, wie es auf Synoden und Reichstagen befchloffen wor:
den, zerfireut angetroffen, befonders im Archive der Mainzer Kirche,
wo der Erzbiichof Rifulf die Urkunden niedergelegt, deffen Nachfolger
aber, und Berwandter Digar fie entdeckt habe.“ Iſt nun die Aug:
fage des Leviten unwahr oder wahr? Im erſteren Falle würde
folgen, daß Benedift mit den Urhebern des unterfchobenen Iſidor
in Berbindung fand, weil er, laut der Vorausſetzung, den Lefer
auf eine falfche Spur leiten will. Man müßte dann annehmen,
daß die Mainzer Capitularienfammlung der erſte Verſuch war, den
falfchen Iſidor in die Welt einzuführen. Sagt Benebift dagegen
die Wahrheit, fo erhellt aus feinem Zeugniſſe, daß unter den Ur:
funden der Mainzer Domkirche fih auch eine Abfchrift der Fälſchung
befand. In jedem Sale erfheint Mainz ald der Ort, wo ung
die erfte fihere Spur vom Vorhandenſeyn des Buchs entgegentritt.
Bedenft man nun noch, daß der Betrüger, während er am Unter—⸗
gange der übrigen Metrovoliten arbeitet, den Mainzer Stuhl durch
Vebertragung von Patriarchalrechten bevorzugt, fo gewinnt die alte
Bermutbung, Mainz oder der dortige Sprengel fey die Heimath
des Buchs, erhöhte Wahrfcheinlichfeit. Schon der Erzbifchof Hinfmar
von Rheims, der im Uebrigen die Sammlung für ein Werf des
ächten Iſidor von Sevilla hielt, bezeihhnet Mainz als den Drt, von
dem aus baffelbe im fränkiſchen Abendiande verbreitet wurde. Er
fagt nemlih, ) Rikulf von Mainz habe die Briefe Iſidor's aus
Spanien nah Frankreich gebracht. Zu diefer irrigen Anficht bes
flimmte ihn ohne Zweifel die oben mittgetheilte Stelle aus ber
Borrede des Leviten Benedikt. Immerhin aber ift es bemerfene-
werth, daß ſchon ein Zeitgenoffe auf Mainz hindeutet. |
Noch mehrere andere Gründe zeugen, wenn nicht für Mainz
als Geburtsftabt, fo doch für fränfifhen Urſprung des Bude;
Sämmiliche alte Handfchriften Pfeuboifidor’s, die man fennt, ſtammen
aus Frankreich. ?) In eben diefem Lande wird auch die Samm:
lung zum erflenmale amtlich benügt. Ein Schreiben, das Hinfmar
von Nheims 857 im Namen der Synode von Kierfy abfaßte, führt
unzweideutige Stellen ®) aus den pſeudoiſidoriſchen Briefen ber
1) Opusculum LV capitulorum, opp. ed. Sirmond II., 476 unten. —
2) Spittler's Werke I, 228. — 9 Manft XV., 127 unten flg.
Die abendländifhe-Kircherunter Ludwig dem Frommen ꝛt. 791
Päbſte Anafletus, Lucius, Urbanus an. In Jtalien dagegen zeigt
fi vor dem Jahre S65 Feine Spur von Bekanntſchaft mit Pfeu-
doiſidor; vielmehr fprechen fih im ber Zwifchenzeit zwei Päbſte in
Öffentlichen Urfunden auf eine Weife aus, die jeden Verdacht nieder
fchlägt, als hätte der Stuhl Petri bis dahin von ber neuen ifidori-
fchen Sammlung etwas gewußt, oder biefelbe für feine Zwecke bes
nüßgen wollen. Im Jahr 850 fchrieb Pabſt Leo IV. (847 —855)
an die englifhen Biſchöſe: ) „ES fey nicht erlaubt, nad) frem⸗
den und unbefannten Geſetzen bie Cleriker zu richten. Die
Kirche und der römische Stuhl laſſe als vichterlihe Norm nur die
Canones der Anoftel, die Beichlüffe von Nicäa, Ancyra, Neucäfarea
u. f. w., fowie die Defretalen der Päbſte Silvefter, Siricius, Innos
conz, Zofimus, Cöfeftinus, Leo, Gelafius, Hilarius, Symmachus,
Simplicius gelten.“ Zu bemfelben Grundfag, nur noch entfchiedener,
befennt fi im Jahre 863 der Pabſt Nikolaus I., indem er auf
Bitten des Erzbiſchoſs Hinkmar entjcheidet ?) Fein Clerifer des Rheim⸗
fer Sprengels dürfe fih an ein fremdes Gericht wenden, und nur
den Befchlüjfen von Nicka und der andern allgemein anerfannten
Coneilien, fowie den Verordnungen der Päbſte Siricius, Innocen⸗
tius, Zoſimus, Cöleſtinus, Bonifacius, Leo, Hilarius, Gelaſius,
Gregorius, komme geſetzliche Kraft zu. In dieſen gleichlautenden
Ausſprüchen zweier römiſchen Oberprieſter, ſind die angeblichen Briefe
der Päbſte von Clemens an bis auf Melchiades, die den erſten
Theil der Sammlung des falſchen Iſidor bilden, nicht blos über:
gangen, fondern es ift gar fein Raum für fie gelaffen. Erſt zwei
Jahre fpater, im Streite gegen Hinfmar wegen der Sache des
Bifhofs Rothad von Soißons, beruft fih Nikolaus I. auf den
falfchen Iſidor, nachdem ihm das Buch, laut allen Anzeigen aus
Frankreich, mitgetheilt worden war. Sonnenklar it alfo, Daß ber
Stuhl Petri bis 865, alfo volle 20 Jahre nach dem Erjcheinen
der Auszüge, welde der Mainzer Levite feinem Werfe einverleibte,
tie falfche iſidoriſche Sammlung weder gebraudt, noch anerfannt
hat. Hieraus folgt denn Fraft der oben aufgeftellten Regel, erſtens
daß Vergrößerung des päbſtlichen Stuhls nicht die eigentliche End—
abjicht des Betrügers, fondern nur ein Mittel geweſen feyn Fann,
deffen er fih zu Erreihung eines andern Zwedes bediente, und
— — — —
i) Manſi XIV., 884 oben, — 2) Manfi XV., 574 unten.
192 BE Buch. Kapitel 10.
zweitens daß biefer andere Zweck in Erniederung der Metropolitan
gewalt beftand. Damit flimmt der fränfifhe Urfprung des Buchs
vortrefflich überein. Gar fein Grund läßt fihdenfen, warum frän:
kiſche Geiftlihe einen ſolchen Betrug fpielen mochten, um dem Pabft
die Alleinherrichaft in die Hände zu fpielen, dagegen wird aus ber
oben ausgeführten Schilderung der damaligen Umftände fehr begreifs
lich, weßhalb fie um jeden Preis die Gewalt der Krone und der
mit ihr verbundenen Metropoliten zu befchränfen fuchten. Weit fie
diefes Ziel nur mit Hülfe des Pabſtes zu erreichen hofften, haben
fie demfelben die große Rolle zugedadht. Auch werden wir in den
folgenden Kapiteln zeigen, daß feit dem Tode Ludwig's des Frommen,
mithin feit dem Erfcheinen der falfchen Defvetalen, in den aus der
Einheit des fränkiihen Reichs bervorgegangenen Staaten ein Angriff
um den andern gegen die Metropoliten gemacht worden if. End:
lich zeugt für unfere Meinung noch der fcharffichtigite Biſchof aus
der andern Hälfte des neunten Jahrhunderts, ein Mann, der wie
fein Anderer das Getriebe der Partheien feiner Zeit kannte. Hinfmar
von Rheims erklärt Erniederung der erzbifchöflihen Gewalt mit
bürren Worten für den eigentlichen Zwed ber ifidorifchen Defretalen.
Diefe Gefege, fagt !) er: „feyen eine ſämmtlichen Metropoliten
geftellte Mäufefalle.“
Die pſeudoiſidoriſche Sammlung ift ein bäßlicher Fled der
Kirchengefchichte. Das Gefühl wird empört zu Iefen, wie der Bes
trüger die Worte der Bibel und die Namen der angejehenften
Väter für einen zmweideutigen politiſchen Zweck mißbraucht. inige
Entfhuldigung liegt jedoch in den Zeitverhältniffen. Das Bud
entftand zwiſchen 829 und 840, alfo während ber bürgerlichen
Kriege in Frankreich. Dieſe Stürme lafteten mit eifernem Drud
auf dem Clerus. Die Parthei, welche heute noch geberricht, unter:
lag vielleicht morgen, und umgefehrt. — Jmmer aber forderte ber
Sieger feine Opfer. Eine Menge Biſchöfe wurden abgefegt; daher
völlige Unficherheit der Pfründen. Schon um 824, aljo noch vor
Ausbruh der Unruhen klagt Agobarb: ?) „fein Stand Freier wie
Leibeigener ift gegenwärtig feines Beſitzes fo wenig fiher, als bie
Priefter. Nicht ein einziger kann vorausſehen, wie viele Tage er
”) Opp. IL, 413 Mitte, circumposita omnibus metropolitanis musei-
pula. — 2) De dispensatione rerum ecclesiasticarum cap. 15, bei Gallandius
XIII., 471 b. unten.
Die abendländifche Kirche unter Lubtwig dem Frommen ac. 193 -
feine Kirche oder Wohnung behalten wird. Nicht nur die Güter
der Kirchen, fondern auch dieſe felbft werben verkauft.“ Wie muß
biefeg Uebel erft während ber innerlihen Unruhen zugenommen
haben! Iſt es num zu verwundern, wenn ber Clerus nach jedem
Mittel greift, um die Gerichtsbarkeit über die Bifchöfe dem Könige
und deſſen Werkzeugen, den Metropoliten, zu entwinden. Sobald
das Recht der Berufung auf den Pabſt anerkannt war, konnten
die Biſchöfe darauf rechnen, daß der Stuhl Petri fie gegen den
Zorn ber Fürften fchügen werde. Daher fommt es denn, daß faft
in jedem pſeudoiſidoriſchen Stüde der Gedanfe wiederholt wird,
nur der Pabſt dürfe über die Bifchöfe richten. Am bdeutlichften ent:
hüllt der Fälſcher feine Abfiht in einem Briefe, welchen er dem
Pabfte Sixtus II. in Mund Iegt. Sixtus fchreibt hier I) an bie
ſpaniſche Kirche: „wiffet Brüber, daß die Bifchöfe, die Ihr aus
Menfhenfurdht ungerehter Weife verurtheilt hattet,
von uns dem Rechte gemäß wieder eingefegt worden
find.“ Diefer vom neunten ins dritte Jahrhundert zurückverſetzte
Ausspruch ift offenbar gegen Neichstage, wie der von Diedenhofen
im Jahr 835, gerichtet, wo Ludwig dev Fromme die Bifchöfe der
Gegenparthei verurtheilen ließ, und der Fälſcher deutet die Erfolge
an, bie er vom Gelingen feines Werfs erwartete. Gewiß war
Nothwehr gegen die Cingriffe Föniglicher Gewalt die wichtigfte
Zriebfeder bei Abfaffung des trüglichen Buchs. Nebenbei wirkte
freilich noch jener Geift der Meuterei und der Auflehnung gegen
das Königthum, welcher feit dem Ausbruch des Bürgerkriegs bei den
weltlichen, wie bei den geiftlichen Großen ſich bemerflih macht, Ob
der Stuhl von Mainz in das Geheimnig des Buchs eingeweiht war,
wagen wir nicht zu enticheiden, wahrjcheinlich aber ift e8 aus den
oben angeführten Gründen. Die Gleichheit des Styles in dem
ganzen Werfe deutet darauf hin, daß ein einzelner Mann bie
Feder geführt hat. Gleichwohl find wir überzeugt, daß diefer Eine
nicht für fih, fondern im Auftrage einer Parthei handelte Wir
ſchließen dieß aus der allgemeinen Verbreitung und Anerfennung,
welche das Werf fchnell in dem Franfenreiche fand. Das fett bag
Zufammenwirfen Mehrerer voraus. Uebrigens ift es ein Irrthum
zu glauben, Pſeudoiſidor habe, als Buch, einen außerorbentlidhen
') Merlin Seite 49 b. gegen oben.
a pie
Einfluß auf bie Entwicklung der Kirchengefchichte gehabt. Allerdings
waren die Gefinnung und die Verhältniffe, aus welchen das Bud
hervorgieng, gewaltige Mächte, aber diefelben würden auch ohne
das Buch in gleicher Richtung, und wohl auch mit gleichem Nach:
drud gewirkt haben. Später (feit 865) wußte zwar: Nikolaus 1.
bie Sammlung trefflich für feine Zwecke zu benützen, aber bald nad)
Nikolaus rieß derfelbe Strudel, der die Fünigliche Gewalt verfchlang,
auch das Pabſtthum mit fort, und die Tiare unterlag während
eines anderthalb Hundertiährigen Zeitraums ber tiefften Erniedrigung.
Als fodann die Gunft der Umftände und der Geift Gregor’s VII.
den Stuhl Petri wieder bob, nahm Rom Rechte in Anfpruch, welche
weit über die Grundſätze des falfchen Iſidor hinausgriefen. Auch
ohne die Sammlung. des falſchen Iſidor wäre ficherlich Alles ebenfo
gegangen.
Am Schluffe diefes Abfchnitts müſſen wir noch von den Er:
oberungen berichten, welche die Kirche unter Ludwig dem Frommen
oder kurz nah ihm machte. Mit Feuer und Schwert und durch
Ströme von Blut, hatte Karl der Große im Sachfenlande die Ver:
ehrung Odins unterdrücdt, aber derſelbe Dienft herrſchte unter ver:
wandten Stämmen jenfeitö der Elbe, und der Sachſe brauchte nur
die Nordgränge zu überfchreiten, wenn ev den alten Göttern opfern
wollte. Diefe gefährlihe Nachbarſchaft war eine dringende Auffor:
derung für Karl's Geſchlecht, die katholiſche Religion auch in der
eimbrifhen Halbinjel, in Jütland und den umliegenden Eilanden
auszubreiten. Ein Anhaltspunft bot fih dur eine politiihe Be—
wegung bar, die unter den Dänen ausbrad, Seit S13 ftritten
die Söhne eines Dänenkönigs Godfrid, der 810 gegen Karl gedroht
- hatte, feine Fahne in Aachen aufpflanzen zu wollen, mit zwei andern
Fürften. Heriold (Harald) und Reginfrid um bie Herrfchaft. Die
beiden Yegtern fuchten bei den Kranfen Hilfe, die ihnen auch. erft
von Karl, dann von Ludwig dem Frommen bewilligt ward. Negin-
fried fiel 814 im Kampfe, fein Bruder Harald gewann bald bie
Oberhand, bald unterlag er, je nachdem ihn bie franfifchen Herr:
fher läßiger oder nachbrüdlicher unterftüßten. ) Als Harald fi
von Neuem an Ludwig wandte, befchloß der Kaifer, zugleich Pres
diger des Evangeliums nach Dänemark zu fchiden. Der Erzbiſchof
) Chronicon Moissiacense ad annum 813. Perz J., 311. Einhardi
annales ad annum 815 u, 817 ibid. Seite 202. 203.
Die abendländiſche Kirche unter Ludwig dem Frommen u. 795
Ebo von Rheims bot fich zu dieſem gefährlichen Gefchäfte an. Man
fand für gut, ihn vorher nad Rom zu fenden, damit er dort vom
Pabfte die nöthigen Bollmachten einhole. ) Noch ift die Bulle vors
handen, 2) kraft welcher Paſchalis I. dem Erzbiichofe von Rheims
die Predigt des Evangeliums im Norden übertrug, aber ihn auch
zugleich anwies, in zweifelhaften Fällen flets die Entſcheidung des
Stuhles Petri einzuholen. Ebo gieng in Begleitung des nach—
maligen Bifchofs yon Cambray Halitgarius 822 nah Dänemarf
und taufte wirklich unter dem Schutze Harald’8 viele Dänen. Der
König ſelbſt aber blieb, ohne Zweifel aus Furcht vor den Prieftern
Odins, Heide, Groß kann daher ter Erfolg Ebo's nicht geweſen
ſeyn; er Fehrte überbieß fchon 823 wieder nad) Frankreich zurüd. *)
Mit der Neife Ebo's fällt die Gründung eines für die Kirche des
Nordens wichtigen Klofters zufammen. Schon unter Karl dem
Großen hatte der Abt Adalard von Corbie, unter deſſen Mönchen
viele Sachfen von guter Geburt waren, den Plan entworfen, ein
Tochterftift in Altfachfen zu errichten. Die Sache warb jebod) theils
durch zufällige Umftände, theils durch Adalard’3 Sturz hinausge-
fchoben. Erſt im Jahr 815 führte Adalard’s Nachfolger den Plan
aus, indem er an einem Drte, der Hetis genannt wird und zum
Bisthum Paderborn gehörte, ein Klofter gründete, das er mit’
Mönchen aus Corbie bevölkerte. Sechs Jahre Yang beftand bie
Anftalt, aber bald zeigte es fih, daß der Platz fchlecht gewählt war,
denn der unfruchtbare und fandige Boden nährte die Mönche nur
mit Außerfier Mühe. ) Indeſſen hatten Wala und fein Bruder
wieder die Gunft des Kaifers gewonnen. Alsbald verjeste Adalard
bas Klofter son Hetid an einen wohlgelegenen Ort unweit der
Meier, dem er zu Ehren des Mutterftifts den Namen Neu:Corvey
gab. Die Stadt, die fih um das Kiofter bildete, fleht noch, das
Stift aber ift eingezogen. Wahrfcheinlih um bdiefelbe Zeit wurde
durch Ludwig den Frommen ebenfalls in Sachſen das Frauenflofter
» Died ſagt Anskar in feinem Briefe an die teuifihen Bifchöfe, bei
Mabillon acta Ord. s. Bened. IV., b. 122. — ?) Abgedruckt bei Pontoppi-
danus annales ecclesiae danicae I., ©. 19 flg., oder auch bei den Bollan-
diften zum 3, Sebr. ©. 414. — 3) Einhardi annales ad annum 823, Perz I.,
211 unten. — *) Diefe Nachrichten verdanten wir der Schrift eines gleichzei-
tigen Mönchs, welcher der Einweihung von Neucorvey anwohnte. Translatio
Sancti Viti bei Mabillon acta O. S. B. IV., a. ©. 503 $. 8.
*
796 ' UII. Buch. Kapitel 10.
Herford errichtet. ) Die Thatfache, daß die Stiftung dieſer Klöfter
mit dem. erften Verſuche, Dänemark zu befehren, zufammenfällt,
deutet darauf hin, daß der fränkiſche Hof den Plan hatte, von hier
aus das Chriftenthum im Norden zu verbreiten. Wirklich war auch
Corvey die Pflanzichule, aus welcher die ffandinavifchen Völker ihren
Apoftel empfiengen.
Gehgdrängt von der heidnifchen Parthei und den Söhnen God:
fried's, beſchloß Harald ſich ganz dem Kaifer Ludwig in die Arme
zu werfen, und im Frankenreich fi taufen zu Yaffen. Im Fahre
826 jtieg er mit Weib und Kindern fammt einem Gefolge von
400 Mann zu Schiff, fuhr die Nordfee entlang, dann den Rhein
herauf nah Mainz, wo damals Ludwig weilte. ) Die Taufe
erfolgte unter großen Feierlichkeiten im Juni. Der Kaifer felbft
und feine Gemahlin Judith vertraten Pathenſtelle. In feinem
Gedichte über die Regierung Ludwig’s des Frommen verfichert °)
Ermold Nigellus, der Täufling habe fih und fein Neich dem frän—
fiihen Kaifer überantwortet, das heißt, Ludwig als feinen Lehns—
bern anerkannt. Diefe Nachricht erhält hohe Wahrfcheinlichfeit
duch das übereinftiimmende Zeugniß zweier andern fränfifchen
Geſchichtſchreiber. Einhard nemlih und der Aftronom berichten, )
daß Ludwig der Fromme nach erfolgter Taufe dem Dänenfürften
die Grafſchaft Riuftri (Nuftringen in Friesland) fchenfte, damit er
fih im Fall der Noth dahin zurüdziehen fünne. Schwerlich wäre
der Franke fo großmüthig gegen den Dänen gewefen, wenn diefer
nicht zuvor die Oberhoheit des fränfifchen Herrſchers anerfannt hätte.
Befehrer follten den neugetauften Dänenfürften in die Heimath
begleiten, um bas von Ebo begonnene Werk weiter zu führen.
Aber wie tüchtige Männer auftreiben? Das Unternehmen war
fehr gefährlich; denn genau bejehen, befad Harald feinen Schuh
breit Land mehr. Seine Zufunft hieng von der Macht des Schwer:
tes ab, und ein entichloffener Widerftand der Prieſter Odins ließ
fih vorausfehen. Gleichwohl ward der vechte Mann gefunden.
Immer bat das Chriftenthum bei Wagniſſen, was jede Belehrung
») Man fehe die Urkunde Ludwig's des Teutſchen, worin dieſer der Stif:
tung feines Vaters gedentt, bei Mabillon a. a. O., ©. 500 gegen unten. —
2) Annales Xantenses ad annum 826 bei Perz II., 225 oben. — 9) Carmi« -
num liber IV., vers. 601 fig. bei Perz I., 512 unten. — 9% Perz I., 214
unten, und II., 629 gegen unten. |
_
Die abendländiſche Kirche unter Ludwig dem Frommen ı. 797
neuer Völker ift, feine Hoheit erprobt. Wo von Ruhm, Reichthü—⸗
mern und Macht umgebene Anftalten bereits beftehen, pflegen fich
Ränkemacher und ehrfüchtige Genießer einzudrängen, aber wo ber
Dienft des Evangeliums nichts als Entbehrungen, Wunden und
den Märtyrertod in Ausficht ftellt, fommen Geweihte herbei und
‚die Miethlinge bleiben weg. Dieß ift die Haupturfache, weßhalb
die Apoftel der Völker, die Winfride, Methodius, Ansfare zu den
Zierden der Menfchheit wie der Kirche gehören. Zu Anfang des
Hten Jahrhunderts wurde von fränfifchen Eltern, man weiß nicht
wo, Anskarius geboren. Im fechsten Jahre verlor der Knabe die
Mutter, fein Bater ſchickte ) ihn in die Klofter- Schule zu Altforbie,
welche großen Ruf genof. Obgleich) an Glaubenseifer und Pflicht:
gefühl dem Apoftel der Teutſchen nicht nachftehend, unterfchied fich
Anskar dadurd von Winfried, daß fein Gemüth frühe die Richtung
aufs Hebernatürlihe nahm, während den Angelfachfen die Fältefte
Befonnenheit auszeichnete. Ansfar hatte in früher Jugend Ge:
fihte, die er feinen Genoffen erzählte, und. die ihm feinen fünf:
tigen Beruf, Sendbote des Evangeliums zu werden, vffenbarten.
Einft ward fein Geift in die obere Welt entrüct, zwei Führer, die
er als die Apoſtel Petrus und Johannes erkannte, fchwebten heran
zu feiner von Leibesbanden gelösten Seele. Sie geleiteten ihn erft
zu den Behaufungen des Schredens, der Hölle und dem Fegfeuer.
Dann drang er zu der Quelle des Lichtes empor, aus der die Heili=
gen ſchöpfen. Nach Nimberr’s Berichte ?) befchrieb Anskar Das,
was er dort geſchaut, mit folgenden Worten: „Alle Seeligen, welche
in Schaaren herumſtanden, fogen Freude aus felbiger Duelle. Es
war ein fo unermeßliches Licht, daß ich weder den Anfang noch
das Ende fehen fonnte. Und obgleih mein Blick in die Nähe und
Ferne nicht gehindert war, vermochte ich doch nicht zu erichauen,
was innerhalb des Lichtes ſich bewegte, fondern nur die Oberfläche
ſahe ic), doch glaubte ich, daß Der da fey, von welchem Petrus fagt,
dag die Engel nad) feinem Anblicke fich fehnen. Unfägliche, Alles
erleuchtende Klarheit gieng von Ihm aus. Er war aud in Allem
und Alle in Ihm, Er umgab Alle von Außen, Er befeeiigte Alle
innerlich; Er fchüste fie von oben, hielt fie feft von unten. Sonne
und Mond Teuchteten dafelbft nicht, Himmel und Erde erfchienen
) Vita Anskarii $. 2, Perz II, 690 unten. — ?) Ibid, $. 3, Perz II.,
692 oben.
7198 : ML. Buch. Kapitel 10.
nit. Doch war dev Glanz von der Art, dag er bie Augen ber
Schauenden nicht blendete, fondern fie erquicte und die Seelen be:
friedigte. — Aus der Mitte des Lichtes ertönte eine wonnevolle
Stimme, welche zu mir ſprach: gehe bin und kehre mit dev Mär:
tyrerfrone geſchmückt zu uns zurüd.“ Schon im dreizehnten Jahre
legte Ansfar das Gelübde auf Benedikt's Negel ab. Als die Eolonie
Neucorvey von dem Mutterflofter aus gegründet ward, zog aud)
Ansfarius mit vielen Andern nach Sachlen hinüber, und erhielt dort
bie doppelte Stelle eines Lehrers an der Schule und Predigers.)
Indeſſen war Harald nah Mainz gekommen und getauft
worden. Sm Pallafte beratbichlagte man, wer dem Dänen mitzus
geben ſey. Der Abt Wala erklärte, unter allen feinen Mönchen
fenne er nur einen, ber zu der Sendung tauge — Ansfarius.
Ludwig ließ ihn zu fih fommen und befragte ihn, ob er den Auf:
trag annehme. Der Mönch fagte freudig zu; noch ein anderer
Bruder aus Corvey, Autbert fehloß fih an ibn an. ?) Beide fhiff:
ten mit Harald und feinem bänifchen Gefolge im Sommer 826 den
Rhein hinunter. Anfangs behandelte Harald die Mönche wie
Knete; denn er war roh und wußte, wie Nimbert ?) fagt, nicht,
wie man Dienern des Herrn begegnen. müffe, mit ber Zeit lernte
er fie achten. Harald ſetzte ſich auf der jütifhen Gränze feft, denn
in’s Land felbft einzudringen, wagte er nit. Bon dort aus fuchte
Ansfar Befehrungen zu machen, fo gut ed gieng. Bor Allem war
er darauf bedacht, eine Schule zu gründen, aus welcher Fünftige
Geiftliche hervorgehen follten. Harald übergab ihm zu diefem Zweck
mehrere Knaben, vielleicht aus der Zahl feiner Leibeigenen, andere
faufte Ansfar. *) Im Jahre 827 lieferten die Söhne Goffried's
dem Anhange Harald’s eine Schlacht, >) in welcher der Letztere über:
wunden ward. Dem Gefchlagenen blieb nichts übrig, als fih in
bas friefifche Lehen, das ibm der Kaiſer gefchenkt, zurückzuziehen.
Auch Anskar mußte ihn begleiten. Bald darauf erfrankte Autbert,
Anskar's Genoffe, und kehrte nad Corvey heim, wo er ftarb.
Diefe gehäuften Unglüdsfälle hätten den Muthigften abichredfen Fön:
nen, dennoch blieb Ansfar fett, und übernahm fogar eine neue
Sendung. |
1) Ibid. $. 6. Perz II, 694 oben. — 2) Ibid. $. 7. — 5 Ibid. $. 8.
Perz II., 695 unten. — Nibid, = 5) Einhardi annales ad annum 827,
Perz I., 216, 23
“ ®
.
Die abendländifche Kirche unter Ludwig dem Frommen ıc. 799
Um 829 fam eine ſchwediſche Gefandtihaft nach Frankreich,
welche die Nachricht überbrachte, daß es in ihrem Lande bereits
mehrere Verehrer Chrifti gebe, und daß ber König Biorn gerne
fehen würde, wenn Prediger kämen. Ludwig beſchloß, Ansfar dort
bin. zu ſchicken. Er ward an ben Hof berufen, und erhielt die
nöthigen Vollmachten, fammt Geſchenken für den Schwedenkönig.
Wala beorderte an. Statt Ansfars einen andern Mönd Yon Corvey,
Namens Gißlemar, zu Harald auf die Dänengränge, In Begleis
tung des. Vorſtehers der Corveyer Schule, Wittmar trat nun
Ansfar die ferne Neife an. Sie beftiegen einen Kauffahrer, ber
jedoch) unterwegs yon Seeräubern überfallen und nach vergeblicher
Gegenwehr ausgeplündert ward. Anskar verlor die für den König
Bjorn beftimmten Faiferliden Gefchenfe, fo wie feine ganze Habe
und rettete mit feinen Genoffen nur das nadte Leben. Unter gro:
ben Drangfalen gelangten fie endlich 830 nah Birka am Mälarfee,
dem Königsſitz, wo fie freundlich aufgenommen wurden. Biorn
ertheilte ihnen die Erlaubniß frei das Evangelium zu predigen.
Großer Jubel herrſchte unter den criftlihen Gefangenen, deren
Viele damals in Schweden geweſen ſeyn müſſen, baß fie wieder
einmal chriſtlichem Gottespienfie anwohnen durften. Auch mehrere
Schweden wurden befehrt, namentlihd Herigar, Rath des Kö—
nigs und Hauptmann der Stadt Birka, welcher auf feine Koften
eine Kirche bauen ließ. Nach anderthalbjähriger Wirkfamfeit kehrte
Ansfar, ausgerüftet mit einem Schreiben des Könige Bjorn an
den Kaijer Ludwig in die Heimath zurüd. ) Was in diefem Briefe
ftand, berichtet Rimbert nicht, doch läßt fi der Inhalt aus den
folgenden Begebenheiten errathen.
Der fränkische Kaifer faßte fofort den Entfchluß, an der Elbe:
mündung einen Erzftuhl aufzurichten, dem die Befehrung des Nor:
bens und bie Lenkung ber neuen Kirchen übertragen werden follte.
Zum Sige wählte er bie Stabt Hammaburg (Hamburg), zum
erſten Hirten, wie billig, Ansfar.. Unter Mitwirkung der Metro:
politen Ebo yon Rheims, Otgar von Mainz, und Hetti von Trier,
fegnete der kaiſerliche Capellan Drogo den neuen Erzbifchof von
Hamburg ein. Zugleich ſchenlte der Kaifer ihm und feinen Nach—
folgern für ewige Zeiten, als Zufluchtsort und Einfommensquelle,
» Vita Anskarii $, 10, 41, 12.
800 | TI. Buch. Kapitel 10. *
die Abtei Turholt bei Brügge in Flandern und befreite das Klo:
fter wie das Ersftift von allen Steuern, Heerbann, Zölfen und
andern Laften. ') Das Jahr der Weihe Fennt man nicht genau,
wahrfcheinlich fand fie 832 Statt. Die Stiftungsurfunde Ludwig's
trägt die Jahrszahl 834. Der Kaiſer wagte jedoch nicht, die wich⸗
tige Sache für ſich abzumachen. Er zog den Stuhl Petri herbei.
Hatte vielleicht der König von Schweden ſelbſt dieſe Bedingung
geſtellt, damit es nicht ſcheine, als wolle er durch Annahme des
Chriſtenthums Vaſall der Franken werden? Geleitet durch die Bi:
ſchöfe Bernold von Straßburg, Ratold von Soißons und den
Grafen Gerold, als Faiferliche Sendboten, trat Ansfar 832 die
Reife nah Nom an, um die ypäbftlihe Beflätigung einzuholen.
Gregor IV. beftätigte fraft einer noch vorhandenen Bulle 9 nicht
blog die Errichtung des Erzſtuhls und die Erhebung Ansfar, fon:
dern er ernannte denfelben auch zum römiſchen Botfchafter für den
Norden, und ertheilte ihm das Pallium. In beiden Urfunden, der
päbftlichen, wie der faiferlihen, werden feinem Sprengel, außer den
nordifhen Germanen, auch die Nordflaven zugeordnet. Im Vebris
gen behielt Gregor IV. die früher dem Erzbifchofe von Rheims zuge-
fiherten Rechte ausprüdlich demfelben vor, woraus man fehließen
muß, daß die Erhebung Ansfar’s wider den Willen Ebo's erfolgt
iſt. Wirklich fand nachher, laut dem Berichte Rimbert's, 3) eine
Art von Uebereinfunft zwifchen Ansfar und Ebo Statt, fofern der
Neffe des Letzteren Gauzbert das Bisthum in Schweden erpielt,
das er unter der Aufficht Ansfar’s verwalten follte.
In Hamburg angefommen, erbaute Ansfar dafelbft eine Dom:
firche und Faufte junge Dänen und Slaven, um fie zum Dienfle
bes Evangeliums erziehen zu laſſen. In den nächſten Jahren aber
) Die Stiftungsurfunde des Kaifers bei Baluzius J. 681, oder etwas
verändert auch bei Mabillon Acta O. S. B. IV., b. ©. 122. — ?) Ich habe
eine doppelte Form derfelben vor mir. Die eine befchreibt den Sprengel Ang:
far’s genau, indem fie außer mehrern andern Provinzen Grönland und Is—
land zu feinem Sprengel fehlägt, zwei Infeln, von denen die erfte Damals
faum befannt, die andere nicht bewohnt war. So lautet der Tert bei Lin-
denbrog scriptores rerum germanicarum ©. 127. Die andere Form bei
Mabillon a. a. O. ©. 124 flg. enthält die anftößigen Worte nicht, welche eine
fpätere Hand eingefügt haben muß. Man fehe die Note 29 bei Perz Il., 699. —
3) $. 14. Perz II., 699 unten.
Die abendländifche Kirche unter Ludwig dem Frommen ı.. 801
hatte der Erzbifchof eine Reihe der härteften Prüfungen zu beftehen.
Die Nordmannen, welche damals faft alle Küftenländer Europa’s
ängftigten, überfielen um 837 Hamburg, verbrannten die Stabt
fammt dem Kloſter, der Kirche und der Bibliothek, weldhe Ansfar
gegründet hatte. Kaum entrann er felbft mit feinen Clerikern dem
Tode. ) Bald darauf lief die Botfchaft ein, daß der fchmwebifche
Biſchof Gauzbert durch einen Volfsauflauf vertrieben und das Chri—
ſtenthum im Lande ausgerottet fey. Sieben Jahre lang blieb Schwer
den von Nun an ohne Bifchof, bis Anskar einen Einfiedler Namens
Ardgar hinüberfchicte, der im Verein mit dem früher erwähnten
Edlen Herigar die der Verfolgung entronnenen Chriften fam:
melte und zu einer Fleinen Gemeinde vereinigte. *) Während Ands
kar's Bifchofsfig in Trümmern liegt, und biefe gehäuften Schläge
jein Gemüth niederdrüden, wird ihm auch noch der Beſitz geraubt,
aus dem er bisher feine ficherften Einkünfte bezog. Bei der Theis
lung des Reichs, die in Folge des Vertrags von Verdun flatt
fand, war die Abtei Turholt Karl dem Kahlen zugefallen. Ohne
Rückſicht auf die Stiftung feines Vaters erklärte der Gallier den
Erzbifchof von Hamburg des Klofters verluftig und ſchenkte daffelbe
einem Laien, Raginar. ?) Biele Geiftliche, die bisher im Dienfte
Anskar's und des Hamburger Erzſtifts geftanden, verließen ihn
feitdem, weil er fie nicht mehr ernähren fonnte. Nach der Zerſtö⸗
rung Hamburg’s hatte Anskar Anfangs bei feinem Nachbar, dem
Biſchofe Leuterich von Bremen, eine Zufluchtsftätte gefucht, fol
aber von diefem niedrigen Menfchen, der den Ruhm Ansfar’s bes
neidete, vertrieben worden ſeyn. +) Später erbarmte fich feiner eine
adelige Wittwe zu Ramslo, einem wenige Meilen von Hamburg
entfernten Städtchen. Sie wies ibm und feinen Clerifern einen
Meierhof an, von wo aus Anskar feinen verheerten Sprengel wieder
zu bereifen begann. Dem neuen König von Teutjchland, Ludwig, des
840 verftorbenen Kaifers Sohne, lag die Pflicht ob, Fräftiger für
den verunglüdten Metropoliten zu forgen. ine Gelegenheit eröffs
nete fih dazu durch den um jene Zeit erfolgten Tod des Biſchofs
Leuterih von Bremen. Ludwig der Teutfche wollte ben erledigten
—N — — — —
») Ibid. $. 15. 16. — 2) Ibid. $. 19. Perz II, 7Tol unten. — N Ibid,
$. 21. Perz IL, 706. — 9 Adami Bremensis hist. eccelesiast. I., 23, bei
Lindenbrog ©. 8. oben. 9
Gfroͤrer, Kircheng. ID. — 51
802 | — AI. Buch. Kapitel 10. *
Stuhl mit Hamburg verbinden und an Anskar übergeben. Aber
nun erhob der Bifhof von Verden, Waldgar, Einſprache. Hamburg,
erklärte er, babe früher zu feinem Sprengel gehört; da nun Ang-
far ein anderes Bisthum erhalten habe und fomit verforgt fey,
fordere die Billigfeit, daß dem Verdener Stuhl fein altes Eigen:
thum zurüdgegeben werde. Auf mehreren Synoden wurde die Sache
verhandelt, und ſchon hatte dev Verdener Biſchof den Sieg davon
getragen, als man fid) befann, daß es unanftändig fey, den von
Kaifer und Pabft gegründeten Erzftuhl Hamburg wieder aufzuheben.
Verden wurde zulest durch einige Gebietstheile dieffeits der Eibe
entichädigt, welche Hamburg abtreten mußte ) Nachdem biefe
Schwierigfeit befeitigt war, erhob fich eine neue. Die Stadt Chlln,
welche bei der großen Theilung Lothar zufiel, hatte feit längerer
Zeit feinen Erzbifchof gehabt. Im Jahre S50 machte die Wahl
Günther’s, von welhem unten mehr gefagt werden foll, der Ber:
waifung ein Ende. Bald nad) feiner Erhebung befiritt nun Gin:
ther die Bereinigung der beiden Stühle Bremen und Hamburg,
indem er nachwies, daß dadurch feine Metropolitanrechte beeinträchs
tigt worden feyen. In den Zeiten der Einheit des Reichs, unter
Karl dem Großen und Ludwig dem Frommen, war nemlich Bremen
ein Suffraganftuhl von Cölln gewefen. Diefes Verhältniß hörte
durch jene Maßregel auf, indem dag vereinigte Hamburg:-Bremen
in die Reihe der Metrovolitan » Sige eintrat. Mit Recht konnte
daher Günther über die Entziehung eines Suffraganen Flagen.
Aber der Vortheil des teutfchen Reichs fand feinen echten ent:
gegen, die Staatsflugheit forderte, daß Ludwig der Teutſche den
Berband eines feinem Lande angehörigen Stuhls mit dem fremden
Meiropoliten zu forengen ſuchte. Er unterftügte daher die Sade
Anskar's nah Kräften. Auf einem Neichstage zu Worms unter:
handelte er 857 mit feinem Bruder Lothar, der perfönlich erfchienen
war. Da Günther nicht nachgeben wollte, wurde endlich von bei:
den Seiten die Entfcheidung des Pabftes Nikolaus I. angerufen. ®)
Kraft apoftolifcher Vollmacht hob Diefer den Verband zwiſchen Cölln
und Bremen auf, beftätigte die erzbiſchöfliche Würde Anskar's, fo
wie feine durch Gregor IV. vollzogene Ernennung zum päbftlichen
Botfchafter für den Norden, und erklärte die beiden Stühle Bremen
— — — —
i) Vita Anskarii $. 22. Perz II., 706 fig. — 2) Ibid, 8. 28. Perz II. 707.
Die abendländifche Kirche unter Ludwig dem Frommen ıc. 808
und Hamburg für ewige Zeiten zu einem Erzbisthum vereinigt.
Außerdem drohte er Jedem mit dem Banne, der es wagen würde,
biefer Anordnung entgegen zu handeln. Die noch vorhandene
Bulle!) des Pabſts fallt in's Jahr 858. Das teutfche Reich zählte
demnach jest drei Erzftühle, nemlich außer den früher gegründeten
zu Mainz und Salzburg, den neuen Hamburg:Bremen. Schon
früher hatte Anskar feinen Sig nad Bremen verlegt. |
Während der eben erzählten Streitigfeiten und nachher fette
der Erzbifchof feine Bemühungen, den Norden zu befehren, aufs
Eifrigfte fort. Die Alleinherrfhaft in Dänemark befaß feit den
Adziger Jahren der König Erich (Nimbert nennt ihn Horich). Auf
mehreren Reifen, die er ald Gefandter des Teutfchen Könige zu
ihm machte, gewann Anskar die Achtung dieſes Fürften in folchem
Grade, daß Erich in den wichtigften Dingen den Rath des Erz:
bifchofs hörte und feinen Wünſchen freundlich entgegen fam. Ob:
gleich der König, wie es feheint aus Furcht vor Odins Prieftern,
Heide blieb, gab er Erlaubniß, daß in der Handelsſtadt Slhias—
wich (Schleswig) ein Gotteshaus erbaut und eine Pfarre errichtet
werden durfte, *) Das Chriftenthbum breitete fih mehr und mehr
aus, der Sieg der Kirche fchien gefichert, als eine plögliche Um:
wälzung Alles wieder in Frage ftellte.e Durch eine Parthei, welche
bie altväterlihe Neligion zum Banner erhob, ward Erih 854 vom
Throne geftürzt und ums Leben gebracht. — Alle Großen, welche
Anskars Freunde gewefen waren und das Chriftenthbum begünftigt
hatten, fielen mit Erich in der breitägigen Schlacht. Die Krone
gieng an einen Knaben über, der gleichfalls Erich hieß. Die Bor:
münder befjelben, namentlich der Jarl von Schleswig, Hovi, wü⸗
theten gegen den neuen Glauben. Biele Chriften bluteten, die Kirche
zu Schleswig ward geichloffen, der von Anskar eingefeste Pfarrer
verjagt. °) Zum Glück dauerte die Verfolgung nicht lange. Wäh:
vend Ansfar fih zu einer Reiſe nach Dänemarf rüftete, um den
Sturm zu beihwören, erhält er die Nachricht, daß der junge König
den Jarl Hovi aus dem Lande vertrieben habe und glünftige Ges
finnungen für die Chriften hege. Bald darauf traf ſogar eine dänische
BE ein, welche dem Erzbifchof zu wiffen that, daß Erich I.
1) Abgedrudt bei Manfi XV., 157 fig. Theilweiſe fteht fie auch im Leben
Andlars a. a. DO. — 2) Vita Pr $. 24. * II, 709, — 2) Ibid,
$. 31. Pers II, 715, ee.
51°
804 2 — Alll. Bu. Kapitel 10.
feine Freundſchaft und Chrifti Gnade zu verdienen wünſche. In
Begleitung eined Grafen Burghard, der mit dem Eöniglichen Haufe
verwandt war und ehmals in den Tagen des erften Erich der Kirche
große Dienfte geleiftet hatte-, eilte num Ansfar um 856 felbft nad)
Dänemark. Es gelang ihm nicht nur die früheren Verhältniffe wie:
ber herzuftellen, fondern auch neue DVergünftigungen zu erlangen.
Die Kirche von Schleswig ward zurüderftattet und außerdem ber
Gebrauch von Gloden erlaubt, welche früher nicht geläutet werden
durften. Auch wies der junge König in der Stadt Ribe (in Züt:
land) den nöthigen Platz zu Erbauung einer Kirche an, und ges
ftattete die Einfegung eines Pfarrers. ')
Noch ehe die Angelegenheiten in Dänemark diefe günftige Wen-
dung nahmen, hatte Ansfar wichtige Fortfehritte in Schweden ge:
madt. Um 852 war er mit Urlaub Ludwig's des Teutfhen, und
in Begleitung eines Gejandien, den ibm König Erih I. mitgab,
zum zweitenmale dorthin gereist. Anskar fam zur rechten Stunde;
denn eben beratbichlagte die Volfsverfammlung darüber, die Aus:
übung der chriftlichen Religion gänzlich zu verbieten. Durd) veiche
Geſchenke gewann der Erzbifchof die Gunft des fchwedifchen Fürften
Olof, der ihm jedoch erklärte, daß er in diefer Sache nicht allein
enticheiden fünne, fondern die Großen und das Volk hören, aud
fodann das heilige Loos enticheiden laſſen müſſe. Sp geſchah es.
Das Loos entfchied für den hriftlihen Glauben, und in Folge des
Gottesurtheils beſchloß der Landtag, Jeder möge nach freiem Er:
mefjen Chriftum verehren. Nachdem Ansfar einen Neffen deffelben
Gauzbert, der vor etwa zehn Jahren aus Schweden vertrie-
ben, und jeither Bilhof von Dsnabrüf geworben war, Namens
Erimbert, zum Presbyter in Birfa eingefest hatte, kehrte ex wieder
nad Bremen zurüd, 9) Aus einer Stelle der Lebensbefchreibung
erhellt, daß Gauzbert nach feiner Erhebung auf den Stuhl von
Dsnabrüf noch immer bifchöfliche echte in Schweden ausübte.
Der Biograph Anskar's berichtet nemlih: ) Gauzbert habe Cum
858) einen Presbyter Ansfried nad Birka geſchickt, worauf der
son Ansfar eingefeste Erimbert abgereist fey. Nach dreijähriger
Wirkfamfeit verläßt binwiederum Ansfried das Land und zieht fi
9 Ibid, 532. — ) Uid. $. 25—28. Perz IL, 710 fig. — 9.633.
Perz 1I., 716. ri ra,
u
Die abendländiſche Kirche unter Lubivig dem Frommen ꝛc. 805
in das Klofter Bremen zurüd, wo er ſtirbt; und nun beorbert
Ansfar hintereinander zwei Pfarrer, Nagenbert und Rimbert,
nad Schweden. Dieß Yautet fo, als ob Gauzbert und Ansfar fi
in der Art verftändigt hätten, daß jeder von ihnen abwechſelnd
die ſchwediſche Kirche mit Geiftlichen verfehen dürfe.
Sp viele Anftrengungen, verbunden mit der möndifchen Les
bensweife, die er führte, zehrten die Kräfte des Erzbifchofs auf.
Stets hatte er gewünfcht, fiir die Lehre vom Kreuz fein Blut zu
vergießen. Diefer Wunfch ward nicht erfüllt. Ansfarius ftarb auf
feinem Bette, Nach viermonatlicher Krankheit verfchied er im 6aſten
Fahre feines Alters im 35ſten feines erzbifchöflichen Amtes den Zten
Februar 865. Die Berehrung der Zeitgenoffen folgte ihm in's
Grab. Diefer vom Geifte des Evangeliums durchdrungene Priefter
war unerbittlich firenge gegen ſich ſelbſt. Tag und Nacht trug er
ein härenes Gewand auf dem bloßen Leibe, und genoß nur fo viel
Nahrung, als die nothdürftige Friftung des Lebens erforderte, I)
Die Regungen der Eitelfeit, welche die Bewunderung der Menfchen,
die ihm zu Theil ward, fo leicht nähren fonnte, fuchte er im Ent⸗
ftehen zu erbrüden, Allgemein berichte der Glaube, daß er bie
Wundergabe befige und durch feine Berührung Krankheiten heile
Anskar Fonnte es aber nicht leiden, wenn man davon ſprach. Ein?
mal äußerte er gegen einen feiner Bertrauten: „Wenn ich würdig
wäre, eine befondere Gabe zu erlangen, würde ich den Herrn bit:
ten, daß er das Wunder an mir thue, mich zu einem guten Men:
fchen zu machen.“ ) Rimbert verfichert, °) daß er ſtets durch eine
innere Stimme, im Traume, im Geficht, durch Ahnungen voraus
empfand, was fommen follte, und Belehrungen empfieng. Wohl:
zuthun war die Freude feines Lebens. Ansfar verfchenkte regelmäßig
ben zehnten Theil feines Einfommens an die Armen, er errichtete in
Bremen ein Spital, das er täglich befuchte. Oft fah man ihn dort
den Kranfen aufwarten; unzählige Gefangene hat er Iosgefauft,
und auch auf fremde Länder erfiredte ſich feine Mildthätigkeit.
Wittwen und Waiſen fanden an ihm einen DBater. +) Dem Men-
fhenraub, der damals im Norden fihaamlos betrieben wurde, und
ber Sclaverei arbeitete er mit allen Kräften entgegen. Die Grafen in
Norbalbingien, das zu feinem Sprengel gehörte, hatten Sclaven,
1) Ibid. 6. 365. Perz I., 717. — 2) Ibid. 8. 39. Perz II, 722. —
3) Ibid. $. 56. u: 5%, — lbid. 8. 35. |
806 | II. Buch. Kapitel 10.
die aus heidnifher Gefangenfchaft eniflohen waren, ergriffen und
als gute Beute verkauft. Ansfar ruhte nicht eher, bis diefe Räuber
ihrem Handwerfe zu entjagen feierlich gelobten. Sie mußten alle
ihre Gefangene freigeben. ') Der fonft fo milde Mann übte, wo
er auf Bosheit und Härte des Herzens fließ, eine unmwiderftehliche
Gewalt aus „Seine Beredtſamkeit,“ fagt ?) Nimbert, „war je
nad Umfländen fanft, oder Schrecken erregend; Mächtige und Reiche,
die fein gutes. Gewiſſen hatten, erbebten vor ihm, während ber
Mittelftand einen Bruder, während ber arme Mann einen Vater
in ihm verehrte.“ Anskar lebte zu einer Zeit, wo das Königthum
zufammenbrach und eine neue Ordnung der Dinge in Geburts:
wehen Yag. Stets haben unter ſolchen Verhältniſſen die Häupter
der Kirche eine tridunicifche Gewalt, als Befchliger der Menge, geübt.
In der oben erwähnten Beftätigungsbulle, die Nikolaus I. im Zahr
858 an Ansfar erließ, fchreibt dieſer Pabſt: 3) „Dein Leben fey ein
Borbild für deine Untergebene. Dein Herz möge weder durch glück—
liche Ereigniffe zum Stolge, noch durch unglüdlihe zum Kleinmuth
verleitet werden. Die Bösgeſinnten follen in bir einen Gegner, die
Guten einen Wohlthäter erfennen. Den Unfchuldigen möge bei dir
fremde Arglift nicht verderben, den Schuldigen feine Gunft retten.
Den Wittwen und Waifen, welche unterdrückt werden, ſey ein Trö—
ſter und Helfer. Siehe, mein theuerfier Bruder, dieß find die
Pflichten, durch deren Erfüllung du dich des Prieſterthums und des
Palliums würdig machen wirft.“ Die hohe Seele des Pabſtes fpies
gelt fih in diefen Worten. Aber Anskar beburfte folder Ermah:
nungen nicht; fein Herz trieb ihn zu Allem. Ansfar hat auch als
Schhriftfteller gewirkt. Noch befisen wir von feiner Hand eine Le:
bensbefchreibung Willehad’s, *) des erften Bischofs von Bremen.
Eine Sammlung feiner Briefe ift bis auf einen, ein Tagebuch, das
er hinterließ, ift ganz verloren. Welch ein Schag, wenn es gelänge,
diefes Buch wieder aufzufinden ine Abfchrift deffelben ſchickte der
Abt Tymo von Corvey um 1260 nach Rom, wo es feitbem oft,
aber immer vergeblich gefucht ward. >) Bon den Briefen Anskar's
waren im elften Jahrhundert laut dem Zeugniffe Adam's von Bre:
i) Ibid, $. 38. — 2) Ibid. 8.37. Perz II., 721 gegen oben. — 9 Manfi
XV., 140. — 9 Oft abgebrudi, die neuefte Ausgabe bei Perz II., 380 fig. —
) Langebeck scriptores rerum Danicarum I., 480, Note b.
Die abendländifge Kirche unter Ludwig dem Frommen ꝛc. 807
men, ) noch viele an teutfhe und nordifche Fürften vorhanden.
Wenn je fonft ein Priefter, verdiente ed Anskar, unter bie Heiligen
der Fathofifchen Kirche verfegt zu werden. Das Recht, Heilig zu
fprechen, ftand damals jedem Bifchofe zu. Anskar's theuerfter Schü—
Ver und Nachfolger auf dem Stuhle von Hamburg: Bremen, Rim⸗
bert, machte Gebrauch davon, indem er Ansfar’s Namen in das
Berzeichniß der Domfirche eintrug. Derfelbe Nimbert hat ihm noch
ein anderes Denfmal gefetst, mittelft der Lebensbefchreibung, die er
abfaßte, und welche meines Erachtens zu den beften Arbeiten der
Art gehört. Denn fie zeichnet fih ebenfo durch Verſtand, Treue
und die liebevollſte Anhänglichfeit, als durch einen angenehmen Styl
aus. Bon den ferneren Schiefalen der norbifchen Kirche werben
wir fpäter handeln.
Während auf die befchriebene Weife durch Franlen oder Teutſche
Dänemark und Schweden für die Kirche gewonnen ward, brachen
im ſaraceniſchen Spanien Bewegungen aus, die unſeres Dafür:
haltens gleichfalls mit den Zuftänden des fränfifchen Reichs zufams
menhängen. Oben ift berichtet worden, dag Karl der Große zur
Zeit der adoptianifchen Streitigfeit Alles aufwandte, um ſich unter
den chriſtlichen Spaniern eine Parthei zu bilden und diefelben gegen
ihre arabifchen Herrfcher aufzuwiegeln. Karl ließ zwar fpäter die
Adoptianiſchen Händel fallen, aber noch lange wirften die Reizmittel
nah, mit denen er damals die ſpaniſche Kirche bearbeitet hatte.
Gegen Ende feiner Regierung verließen Taufende von Syaniern des
Glaubens wegen, und um den Debrüdungen der Saracenen
zu entgehen, ihre Heimath und fuchten eine Zufluchtsftätte theils
in Septimanien, theild in der fogenannten ſpaniſchen Mark. Man
erfieht dieß aus zwei noch vorhandenen Capitularen Ludwig's des
Frommen, kraft welcher er dem geflohenen Spaniern Wohnfige an:
weist, oder fie gegen bie Gewaltthat ihrer eigenen Grafen wie der
fränfifchen Beamten fchüst. ) Solche Auswanderungen des Glau-
beng wegen find überall ein Beweis großer religiöfer Aufregung.
Derjelbe Geift der Unzufriedenheit und der Abneigung gegen ihre
mahometanifche Gebieter ward feitbem durch die fortwährende
Kriege der Franken längs der Ebro-Gränze, und durch geheime
!) Histor, eceles. I., 34. bei Lindenbrog S. 10 oben. — 2) Sie find
vom Jahr 815 u. 817. Abgedruckt bei Baluzius I., 549 fig. u. 569 unten fig.
808 II. Bud. Kapitel 10°
Einverftändnifje mit ben hriftlichen Spaniern wach erhalten. Noch von
einer andern Seite her wirkten ähnliche Einflüffe. Der afturifhe Staat
im Norden hatte feine Unabhängigfeit vom faracenifchen Joche ſchon
im Laufe des achten Jahrhunderts errungen. Aber die lange Res
gierung Alfonfo’s des Keufhen, der von 791 bis 842 hevrfchte,
bezeichnet den erften Aufichwung des “aflurifchen Neiches. Dieſer
Alfonſo hat glückliche Kriege gegen die Saracenen geführt, und ben:
felben viele Städte abgenommen. In feinen Tagen fand überdieß
ein halb kirchliches, halb politifches Ereigniß ftatt, das ganz geeignet
war den Muth und Glaubenseifer der freien Spanier zu entflams
men, und die den Arabern unterworfenen zur Schilderhebung auf:
zureizen. Schon im fiebenten Jahrhundert herrfchte der Glaube,
dag Jakobus der Aeltere den Spaniern das Evangelium geprebigt
habe, ) und im folgenden muß die Meinung aufgefommen feyn,
feine Leiche liege irgendwo auf der ſpaniſchen Halbinfel verborgen.
Zwar gehörte eine ftarfe Einbildungsfraft dazu, um Lesteres wahr:
Iheinlih zu finden. Denn befanntlich verlegt die Apoftelgejchichte *)
den Tod des genannten Apofteld nach Jeruſalem, und dem gewöhns
lihen Gange menfchliher Dinge gemäß muß man daher annehmen,
daß er eben daſelbſt auch begraben wurde. Aber an ſolchen Schwie:
rigfeiten ſtößt fih der Bolfsglaube nie. Genug, wir erfahren aus
fihern Quellen, daß der Leichnam des Apoſtels Jakobus zwiſchen
den Jahren 791 und 814 zu Compoftella in der damals zum aflus
riihen Neiche gehörigen Provinz Gallicien, am nordweitlichen Ende
Spaniens, glüdlih aufgefunden worden if. Der Hauptzeuge,
Munno, Bischof von Montognedo, welcher zu Anfang des zwölf:
ten Jahrhunderts eine Gefchichte yon Compoftella °) fehrieb, meldet
Folgendes: „Bei der galliziihen Stadt Iria, fahe man in einem
Heinen aber dichten Gehölz jede Nacht ein helles Licht und Engel,
welche vom Himmel niederftiegen. Nachdem der Biihof Theodemir
von Iria genauere Unterfuchung angesrbnet, warb an der Stelle,
wo das Wunder fi zutvug, eine Feine Einfiedelei und in berfelben
der Leichnam des Apoftels Jakobus entdedt.“ Der König Alfonfo,
) Iſidorus von Sevilla fagt dieß z.B. de orta ac obitu Patrum cap, TI
opp. ed, Arevalo V., 183 oben. — 2) Cap. XII, 2, — ?) Die historia
Compostellana, yon der man früher nur Auszüge in den acta Sanctorum Bol-
landiana, Julius Vol, VI, ©. 19. Nr. 46 fig. befaß, ift ießt vollftändig abge:
drudt in Florez Espanna sagrada Vol, XX. ©. 8 fig.
Die abendfändifhe Kirche unter Ludwig dem Frommen ıc. 809
von dem glüdlichen Funde benadrichtigt, ſäumte nicht, an dem
Drte eine Kirche zu erbauen, die Anfangs wegen der Eile unfchein:
bar war, weil man die Andacht der Pilger, die fogleich zahlreich
berbeiftrömten,, nicht hemmen wollte. In kurzer Zeit entftand durch
Errichtung vieler Wohnungen um das Grab eine Stadt Sompoftella,
wohin nun auch der Bifchoffig von Iria verlegt wurde. Bald galt
Compoſtella nächft Rom für ven fegensreichiten Wallfahrtsort der.
Abendlande; denn außer den Gräbern Petri und Pauli, am Site
bes Pabftes, hatte in ganz Europa nur die gallizifche Stadt die Teiche
eines Zwölfboten Chrifti aufzumweifen. Zwar verdient die Ausfage
eines fo fpäten Zeugen, wie Munno, zumal über folhe Dinge,
feinen unbedingten Glauben, aber feine Angabe wird durch vollig
unverbächtige fränkiſche Schrififteller des neunten Jahrhunderts im
Ganzen beftätigt. Die Martyrologien des Ado von Vienne und
des Uſuardus, von denen der Eine vor 860, der Andere vor 870
fchrieb, Fennen bereits das Grabmal des Jakobus in der gallizifchen
Stadt, und fprechen von ber hohen Verehrung, die demfelben ge:
zollt wird. ) Daſſelbe gilt von dem alamannifchen Monde Notker,
der in feinem gegen Ende des neunten Jahrhunderts verfaßten
Martyrologium 9) gleichfalls die Leiche des Jakobus an die Nord:
gränze Spaniens verfegt und dort verehrt werden läßt. Vernünfs
tiger Weife kann man daher nicht bezweifeln, daß die freien Spanier
wirklich die Leiche des Apoftels, oder wag fie dafür bielten,
zu Anfang des neunten Jahrhunderts aufgefunden haben. Gute
Quellen oder fihere Schlüffe geben genaueren Nachweis über bie
eigentliche Bedeutung des Junds. Aus einer Urkunde, ?) die in dem
unvergleichlihen,, von Florez begonnenen, Sammelwerfe verzeichnet
fteht, erhellt, daß man in Spanien ein halbes Jahrhundert vor
dem Achten Fund das Grab des Apoftels an andern Orten geſucht
und fogar auch entdedt hat. „Der Biſchof Odvar,“ heißt es bier,
„weihte im Jahr 757 zu Avezano bei Lugo, auf einer Stelle, wo bei
Nacht Lichter erfchienen waren, zu Ehren des heiligen Jakobus eine
Kirche.“ Man fieht alfo: die Spanier wollten die Leiche finden,
fie verfolgten alfo bei biefer Sache einen Zwed. Worin derjelbe
) Die Stelle ausgezogen acta Sanctoram Bolland, Julius Vol. VL, S. 6.
$. 7. — Die Stelle abgevrudt Gallandii bibliotheca patrum XIII., 803. —
) Florez Espanna sagrada Vol, XL, Anhang 11. S. 362 fig.
810 IM. Buch. Kapitel 10.
beſtand? iſt nicht ſchwer zu zeigen. Der beilige Jakob erfcheint in
der fpanifchen Gefchichte durchaus als Kriegsgott. Die zahlreichen
Wunder, die er vollbrachte, beziehen fich faft immer auf den Kampf
mit den Ungläubigen. Er offenbart fi den Königen im Traume,
um ihnen Sieg zu verkünden, ja er fteigt Taut der afturifchen Sage
öfterd in Geftalt eines hellleuchtenden Ritters aus den Wolfen her:
nieder und führt die Streiter der Kirche gegen den Feind. ') Ob
die Heldenthaten, welche der Volksglaube ihm beilegt, hiſtoriſch be=
gründet find, oder nicht, ift für ung gleichgültig, es fragt ſich bios,
welche Meinung das Volk von ihm hegte; und die Sage hat hier
gefchichtlihen Werth. NAufgefunden wurde Jakobus zu ber Zeit,
da der Kampf des chriftlichen Spaniens gegen das arabifche feinen
Aufihwung nahm. Eben derfelbe wird von den freien Spaniern,
fo weit wir Kunde haben, ſtets als Verbündeter gegen bie Saras
cenen verehrt. Mit Zuverficht dürfen wir hieraus fchließen, daß
Diejenigen, welche die Leiche entdedten, zunächft einen kriege—
rifhen Zwed im Auge hatten. Das Heiligthum des Apoftels
follte für die freien Spanier im Frieden ein Firchliher Mittelpunkt,
im Krieg ein Feldgefchrei und ein Banner feyn, das zum Siege
führt. Das Grabmal des Heiligen und fein Dienft war von Ans
fang eine Erklärung ewigen Krieges wider bie fpanishen Mauren.
Nun wirkte das Mittel allerdings zunächft auf bie freien
Spanier, aber auch die Andern, die unter arabifchem Joche lebten,
hätten feinen Tropfen vom Blute der Gothen, oder der alten Ganz
tabrer in fich verſpüren müffen, wenn fie gegen bie ſtarken Reizungen,
die theils von ber fyanifchen Mark her, theils aus Gallieien im
Namen des Glaubens auf fie einftrömten, unempfindlich geblieben
wären. Wirklich finden wir, daß unter den Mozarabern oder den
Shriften, die dem Könige von Cordua gehorchten, feit der Mitte
des neunten Jahrhunderts, ein wilder Glaubenseifer gährt. Bon
822 bis 852 herrfchte über das faracenifche Neih von Corbova
der Kalife oder Emir Abderrahman I. In den legten Jahren
eben dieſes Fürften brach der Sturm los. Wahrſcheinlich glühte das
Feuer ſchon feit längerer Zeit in der Stille, 9) aber die Unzufries
1) Die Kriegsthaten, welche ihm die Sage beilegt, findet man gefammelt,
acta Sanctorum Bolland,. Julius Vol, VL, ©. 56 fla. — 2) Tamayo de Sala-
zar führt in feinem fpanifchen Martyrologium zum 27. Sept. einige Märtyrer
an, die bereits in den erflen Jahren Abderrhamans biuteten.
Die abendfändifche Kirche unter Ludwig dem Frommen © BI
denen warfen jetzt erft die Maske ab, wohl weil fie aus dem bevor:
fiehenden Tpronmwechfel Hoffnungen für ihre Zwecke fchöpften. Die
Bewegung begann damit, daß unter den Chriften felbft Firchliche
Partheiungen entftanden. ) Während der mehr als hundert⸗
jährigen Dauer arabifcher Herrſchaft, hatten fih Sieger und Bes
fiegte vielfach einander genähert, wobei der Vortheil meift auf Seite
der Sararenen war. Häufig fanden Ehen zwifchen Chriften und
Mahomeranern Statt, und foldhe Berbindungen gaben ſpäter, wie
wir fehen werben, zu ben bitterften Zerwürfniffen Anlaß. Andere
Epriften, befonders die männliche Jugend, wurden durch den Geift
der arabifchen Litteratur, die damals ber abendländifchen überlegen
war, mächtig angezogen. Die meiften jungen Leute von gutem
Stand befuchten arabifche Schulen, und lernten mit Bernachläßigung
bes Lateinifchen die arabifche Sprache, welche Anfehen und Aemter
verſchaffte. „Unfere Jünglinge“ Fagt der Augenzeuge ?) Petrus
Alvarus, „ſuchen ihren Ruhm in heidnifcher Gelehrfamfeit, und
greifen gierig nach arabifchen Büchern, während fie die Denfmale
priftlicher Beredtfamfeit verachten. So fehr vernacdhläßigen fie ihre
eigene Sprache, daß es unter taufend Chriften kaum einen giebt,
der einen ordentlichen lateinifchen Brief zu fchreiben vermag.“ Ein
noch feiteres Band wurde zwifchen den Mahometanifchen Herrn und
einem Theile der chrifilichen Unterthbanen durch Hofgunft und Aemter
gefhlungen. Sehr viele Ehriften traten in des Königs Dienfte und
aßen fein Brod. Solche Menfchen verftanden dann die Kunft,
ihren Glauben in eine Form zu gießen, welche den mahometanis
hen Eifer nicht mehr beleidigte. „Diejenigen von und, welche in
des Königs Dienften ftehen,“ fagt ?) Alvarus, „beten nicht im Angeficht
- der Heiden, fie fohüsen auch ihre Stirne beim Gähnen nicht mit dem
Zeichen des Kreuzes, fie befennen endlich Chriftum nicht mit deutlichen
Worten, fondern mit verftellten Redensarten, indem fie Ihn, „das
— — — —
1) Quellen: Eulogii Cordubensis opera: memoriale Sanctorum, apologe-
ticus pro martyribus, exhortatio ad martyrium und epistolae. Abgedrudt bei
Schottus Hispania illustrata IV., 217 flg., am Beflen im zweiten Band ber
Patres Toletani ©. 391 nach dem ich citire; ferner Pauli Alvari Cordubensis
opera: confessio, epistolae, indiculus luminosus etc., im eilften Band ber
Espanna sagrada von Flores, ©. 62 flg., endlich der apologeticus des Abts
Samfon von Cordova, ebendaſelbſt S. 325 fl. — 9 Florez Al, ©. 274
Mitte. — 3) Bei Florez XL, 232 unten.
812 0 A Buch. Kapitel 10. Pe
Wort Gottes“ oder „den Geil“ ) nennen.“ Ja fie irieben die
Gleichgültigfeit gegen die Kirche, oder die Treue gegen ihre Brods
bern fo weit, daß fie in ben Kriegen bes Kalifen wider ihre eigenen
Stamm- und Glaubensgenoſſen, die freien Spanier, das Schwert
zogen. ?) Kurz es gefchahen damals im mahometanifchen Spanien
Dinge, welche beweifen, daß die Menjchen bier unter dem Monde
ſich ftets gleich bleiben. Denn unter denfelben Umftänden würde es
beute noch ebenfo zugeben. Gegen foldhe gefchmeidige Namen:
hriften erhob fih nun zuerft eine entſchloſſene kirchliche Parthei,
welche durch den Presbyter Eulogiug von Cordova, durch deſſen
Freund Peter Alvarus, fowie durh den Abt Samfon ge
leitet wurde, und fonft einen großen Theil des Clerus auf ihrer
Seite hatte. Die Strenggefinnten zogen fi von den Anhängern
des Königs zurück, fehalten fie Verräther, und verglichen 3) fie
mit Leoparden, weil die Sage geht, daß dieſe Naubthiere häufig
bie Farbe wechjeln. Bald gedieh jedoch die Aufregung zu einem
Streite mit den Mahometanern, wozu allerdings die Lestern den
eriten Anlaß gegeben haben mögen. Täglich geſchah es, laut dem
Berichte des Alvarus, daß der arabifche Pöbel in den Städten bie
hriftliche Geiftlichfeit, namentlich bei Leichenbegängniffen, verhöhnte,
mit Steinen nad) den SPrieftern warf, das Kreuzeszeichen bejchimpfte.
Befonders häufig ertönten Verwünfchungen, wenn die Gloden auf
den Kirchen angezogen wurden. ) Denn im mahometanifchen
Spanien durften die Chrifien mit Gloden lauten, was ihnen im
arabiichen Morgenland verboten war. Da jeder Theil die abges
neigte Gefinnung des andern Fannte, jo beobachteten ſich Chriften
und Mahometaner mit vegem Argwohn; an Ausbrücen fonnte es
nicht mehr fehlen. Ein Mönch Namens Perfeftus aus einem Klofter
bei Cordova errang zuerft die Maärtyrerfrone Als er einft im
Jahre 850 nah der Stadt gieng, traf er unterwegs mit etlichen
Sararenen zufammen, die ihn befragten, was bie Chriften von
ihrem Erlöfer und von Mahomet dächten. Perfeftus antwortete. auf
bie erfte Frage offen, daß Jeſus als Gott verehrt werden müſſe,
auf Die zweite ausweichend, bis die Araber ihn verficherten,, Nichts
werde ihm gefchehen, die Antwort möge lauten, wie fte wolle, Nun
) Dieſe und ähnliche Ausdrücke gebraucht bekanntlich der Koran felbft
von Chriſtus; fiche oben S. 16 flg. — ?) Bei dlorez XI., 233 oben. —
3) Ibid. — *) Ibid. 229 fig.
Die abendländifche Kirche unter Ludwig dem Frommen sc. 813
fagte er ihnen frei heraus, Mahomet fey einer ber falfchen Pros
pheten, deren Zukunft Chriftus im 24. Kay. des Matthäus verfüns
digt habe. Um ihres gegebenen Berfprechens ‚willen, verbißen bie
Araber ihre Wuth; aber bei einer andern Gelegenheit ergriffen fie
ihn, fchleppten ihn vor den Richter, und Hagten ihn als Läfterer
Mahomers an. Weil Perfeftus feine Aeußerung über Mahomet
nicht zurüdnehmen wollte, warb er mit dem Schwerte hingerichtet. )
Der Muth des Mönchs regte den Eifer des hriftlichen Volks mächtig
auf. Seitdem drängten ſich Hunderte zum Tode, indem fie Mahomet
verfluchten. Aus der Maffe Märtyrergefchichten, welche Eulogius
anführt, begnügen wir ung eine einzige zu erzählen, weil fie zugleich
über das häusliche Leben der Mozaraber Licht verbreitet. Flora,
eine Jungfrau, ſtammte aus gemifchter Ehe. Ihr Vater befannte
fih zum Islam, ihre Mutter, eifrige Chriftin, erzog die Tochter im
fatholiihen Glauben. Ihr Bruder war Mahometaner; oft machte
er Berfuhe, Flora zu befehren, aber immer vergeblih, was zur
Folge hatte, daß er einen glühenden Has gegen die Schwefter
faßte. Endlich gieng er hin zum Nichter und klagte fie als eine
vom Islam Abgefallene an. Sie betheuerte vor dem Richter, daß
fie nie Mahometanerin gewefen. Der Kabi befahl fie zu geißeln,
bamit fie Chriſtum verläugne. Da fie ftandhaft blieb ohne Mahomet
zu läſtern, entließ fie der Nichter wieder. Nach einiger Zeit ftellt
fih Flora, durch die Zureden etlicher Prieſter entflammt, yon Neuem
freiwillig vor Gericht, und befennt jegt nicht blos die Gottheit
Chriſti, fondern fpricht dem Betrüger Mahomet Fluch, worauf die
ZTobesftrafe über fie und ihre Leidensgenoffin Maria 2) verhängt wird.
In dem Berfahren des fararenifchen Herrfchers Abderrahman zeigt
fih Feine Spur yon blinder Wuth. Er beftraft die Chriften nur
infofern,, als die Nücjicht auf den Glauben feiner mahometanifchen
Unterthanen erzwingt. Gerne hätte er dem Eifer, mit welchem die
Chriften fih zum Tode drängten, Einhalt gethan. Weil er fab,
daß das Volk die Leihen der Hingerichteten zu erbafchen ftrebte,
um biefelben als Eöftliche Reliquien zu verehren, ordnete er an, daß
bie Körper aufgeipiest verwefen, oder in den Fluß geworfen werben
ſollten. Zuletzt ließ er fie verbrennen. >) Weil Alles nichts nügte,
A Eulogius memoriale Sanctorum Ik;, Patres Toletani II., 454 fig. _
2) ibid. ©, 525 fig. — 9) Memoriale Sanctorum II, 11, 12, 16,.
814 DI Buch. Kapitel 10.
befchloß er zulegt durch die Häupter der chriftlichen Geiftlichfeit das
Bolf zu bearbeiten. Auf feinen Antrieb veröffentlichte der Metropolit
Nefafried (wahrfcheinlih von Sevilla) ein Verbot, die Mahometaner
durch Läſterungen zu reizen. Zugleich wurden mehrere der wider-
fpenftigen Geiftlichen, an ihrer Spitze Eulogius von Corduba, ind
Gefängniß geworfen. Vom Kerfer aus erließ Eulogius ein Send:
fohreiben an bie oben erwähnte Flora und ihre Gefährtin Maria,
worin er beide ermahnte, den Märtyrertod zu fuchen. Sechs Tage
nad Hinrichtung der Jungfrauen, erhielten Eulogius und die übrigen
eingejperrten Vriefter, man weiß nicht auf welche Weife, ihre Freis
heit wieder. ) Die zulegt erzählten Ereigniffe fanden im Jahr
851 Statt. Im folgenden verfammelte Abderrahman die Bifchöfe
feines Reichs zu einer Synode nad Cordova. Hier ward durch
den Einfluß der gefchmeidigen Metropoliten der Befchluß durchge:
fest, in Zufunft dürfe fein Chriſt freiwillig fich bei den mahome:
tanifhen Richtern melden, und die Märtyrerfrone fuchen. 2) Aus
der Schutzſchrift des Alvarus erhellt, *) daß in Folge diefes Synodal⸗
befchluffes die dem Kalifen ergebenen Priefter ihren Gemeindemits
gliedern einen Eid abnahmen, Mahomet nicht zu Täftern, noch den
Tod berauszufordern, fowie daß Ungehorfame im Falle der Weis
gerung mit den härteften Firchlichen und bürgerlichen Strafen bes
droht wurden. So ftanden die Sachen, als Abderrabman (im
Sept. 852) ftarb.
Sein Nachfolger Mahomet fette die Verfolgung fort. Am
Tage der Thronbefteigung verjagte er alle Chriften aus dem Hof:
bienft und »den öffentlichen Aemtern.“) Zugleich gab er Befehl
alle neuerbauten Kirchen, und was in den alten verbeffert worden,
niederzureißen. 5) Schon unter Abderrahman waren viele der lauen
Chriften abgefallen. est traten vollends Alle, denen Amt und
Brod mehr am Herzen lag, als der Glaube, zum Islam über. ©)
Auch unter einem Theil Derer, welche treu blieben, offenbarte ſich
eine bittere Stimmung wider die Eiferer. Stimmen wurden laut,
welche das Verdienft der neuen Märtyrer bezweifelten. „Diefelben,“
1) Vita Eulogii cap. II., ibid. ©. 397. — 2) Memoriale Il., 15.
Patres Toletani II., 485. — 3) Indiculus Juminosus cap. 15. bei Florez XI,
241 oben. — *) Memoriale II., 16. Patres Toletani II,, 486 b. unten. —
3) Memoriale III., 3, ibid, ©. 491. — 6) Memoriale II., 15, u. III., 2,
ibid, ©. 484:u,490, > RR Er cz j
Die abenblänbifche Kirche unter Ludwig dem Frommen ꝛe 815
hieß es, „halten mit den alten Märtyrern ber Kirche Feine Vers
gleihung aus; erftlich hätten fie nicht wie Diefe im Streite wider
Gögendiener geblutet, fondern in muthwilligem Kampfe gegen ein
Volk, das mit den Chriften denfelben Gott verehre. Sie feyen
zweitens nicht, wie dieſe, einen langfamen und ſchmerzlichen, ſondern
einen leichten und fchnellen Tod geftorben. Auch feyen fie nicht,
wie die Alten, durch Wunder verflärt worden.“ Gegen ſolche und
äbnlihe Einwürfe traten Eulogius und Alvarus als Schrififteller
auf. Der Erftere verherrlichte durch feine Geſchichte der neuen
Heiligen ) ihren Heldenmutb, und bewies in einer befondern 2)
Schutzſchrift, daß fie mit den alten Helden der Kirche verglichen zu
werden verdienten. Zu gleichem Zwecke fchrieb Alvarus das Buch,
welhem er den Titel indiculus luminosus gab. Uebrigens erweckt
es ein ungünftiges Vorurtheil gegen Beide, daß fie, welche fo viele
Dpfer zur Erringung ber Märtyrerfrone anfeuerten, gar nicht, oder
boch fehr fpat den Tod erlitten. Es feheint fall, als habe Eulogius
fhlau die Gränzlinie zu bewahren gewußt, welche zwifchen dem
Ruhm eines Slaubenshelden und der unausbleiblihen Folge allzus
bisigen Eifers, der Todesftrafe, liegt. Außerdem zog er Bortheil
aus der Bolfegunft, die ihm fein Lärmen verfchaffte Nach dem
Tode des Erzbischofs Wiftremir von Toledo, wählte ihn der Clerus
zum Nachfolger. ?) Aber ehe er den Stuhl befteigen konnte, ereilte
ihn das Schickſal aus folgender BVBeranlaffung: Eine Jungfrau
Leveritin, welche aus einer angejehenen mahometanifchen Familie
ftammte, war durch eine hriftlihe Verwandte in früher Jugend
für die Kicche gewonnen und getauft worden. Vergebens verſuch—
ten ihre Eltern fie erſt durch freundliche oder böfe Worte, dann
durch Förperlihe Züchtigungen vom Chriſtenthum abzubringen. Um
freie Uebung ihres Glaubens zu erlangen, faßte fie den Entfchlug,
aus dem elterlihen Haufe zu entfliehen, und führte denfelben mit
Hülfe des Eulogius aus. Es gelang jedoch den Bemühungen der
Eltern ihre Zufluchtöftätte zu entbeden, worauf fie mit Eulogiug
vor Gericht gefiellt ward. Beide bezeugten ftandhaft ihren Glauben
und jhmähten Mahomet. Den 11. März 859 erlitt Eulogius die
Todesftrafe, vier Tage nach ihm die Jungfrau Leocritia.“) Seit⸗
ı) Das oft angeführte Memoriale Sanctorum. — 2) Apologelicus mar-
tyrum. — °) Vita Eulogii III, 10, ibid. ©. 400. — *) Vita Eulogii cap,
4. 5, ibid. ©. 401 fig. >
816 m. Bud: Kapitel 10.
dem erlahmte allmälig der Fanatismus unter den Mozarabern,
wahrfcheinlich weil zugleich auch die Aufreizungen von Außen auf:
hörten. Nicht ange nach dem Tode des Eulogius, ftarb auf feinem
Bette (um 862) Alvarus, ') außer den bereits angeführten Werfen
eine Lebensbefchreibung feines Freundes hinterlaffend.
Die zulegt erzählten Bewegungen in der fpanifchen Kirche find
feitdem öfter gelobt, dann angegriffen oder entjchuldigt worden.
Man hätte Lob und Tadel erfparen können. Offenbar wirkte hier
eine Naturkraft. Das Gefchleht, welches Europa bewohnt, ift
nicht geartet, in die Länge fremden Eroberern, zumal Aftaten, einen
fffavifchen Gehorfam zu Teiften, und bie chrifllihe Kirche hat
diefen Trieb, wie billig, nicht befämpft, fondern genährt. Auch
die von den Arabern unterjochten Nachkommen der Gothen
fühlten ihn. Das Feuer, welches damals aufloderte, erlofch nicht
eher, bis es zu Ende des fünfzehnten Jahrhunderts durch den
Sturm auf die Alhambra feine legte Befriedigung erhalten. Und
zwar fochten die Spanier ihren 800jährigen Befreiungsfampf unter
dem Banner der Kirche. Nur das Chriftentbum bat in Europa
dauernden Beftand. Mahometanern dient der europäiſche Chrift
nicht für immer, wofür in unfern Zeiten wieder die Anftrengungen
des fonft fo tief gefunfenen byzantinifchen Volkes zeugen,
Eilftes Kapitel.
Iunerliche Bewegungen in der Kirche der fränkifchen Weiche, während des neunten
Jahrhunderts. Gelehrte: Rabanus Maurus, Haymo von Halberftadt , Walafriv
Strabus. Streit Über die Prävefination. Per Mönd Gotfhalk, Hinkmar von
Bheims, Prudentius, Bifhof von Troyes, fupus, Abt von Kerrieres, Amolo
Erzbifhof von yon, Batramnus, Mönd, in Corbie, Johannes Scotus Erigena.
Bemigius, Erzbiſchof von Lyon. Einhard, Abt von Seligenſtadt. Per Mönd
Chriſtian Pruthpmar von Corbie. Streit über das Abendmal. Paſchaſtus Kad-
bertus. Gottesdienſt und Kirchenzucht im neunten Jahrhundert.
Um die Zeit, da dag große Frankenreich zerfiel, bereitete ſich
ein Streit vor, in welchen die angefehenften Kirchenlehrer des neuns
ten Zahrhunderts verwidelt wurden. Beim erften Anblick ſcheint
es, als ob diefer Streit nur eine Wiederholung des alten Kampfes
) Florez XI., ©. 30.
Innerliche Bewegungen in der Kirche ver fränkifchen Reiche ꝛc. 817
zwischen Auguftinern und Semipelagianern gewefen fey, wir werden
jedoch zeigen, daß bie Verhältniffe, welche wir im vorigen Kapitel
gefchildert haben, mächtig auf ihn einmwirkten. Der beffern Ordnung
wegen müſſen wir mit ber Gefchichte des Ersbifchofs Rabanus !)
von Mainz beginnen.
Hrabanus Magnentius Maurus wurde um 776 zu
Mainz geboren. Das Gefchleht der Magnentier, dem er ange-
börte, reicht in die römifchen Zeiten zurüd, der Gegenfaifer des
Sonftantius ſtammte aus demfelben. Die Eltern brachten den
Knaben frühe in das Klofter zu Fuld, deffen Abt, (feit dem Tode
Sturmi’s) Baugolf war. In der dortigen Schule, die bereits
großen Nufes genoß, erhielt Rabanus feine Erziehung. Mehrere
junge Teutfche, die damals als feine Mitfchüler in Fuld der Firchs
lichen Wiffenfchaft oblagen, haben gleich ihm hohe Kirchenwiürden
errungen, fo Hatto, fpäter Abt zu Fuld, und Hayımo, nachher Bifchof
von Halberftadt. ) Im Jahre 801, dem fünfundzwanzigften feines
Lebens, wurde Raban zum Diafon geweiht 7) Bald nachher
fchiekte ihn fein Abt zu Alfuin in die Tourer Schule, damit er fi
dort vervollkommne. Obgleich Raban's Aufenthalt bei Alkuin nicht
viel über ein Jahr dauerte, bildete fih doc zwiſchen Beiden ein
inniges Verhältniß, von welchem einige Briefe und Gedichte Alkuin's
Zeugniß ablegen. ) Zurüdgefommen nad Fuld, erhielt er von
dem neuen Abt Natgar, der um 803 an die Stelle Baugolf's ge:
treten war, gemeinfchaftlih mit dem Mönd Samuel die Leitung
der Klofterfchule. Bald darauf brach aber ein fchweres Unglüd
über diefe Anftalt, wie über die ganze Abtei, aus. Seuchen rafften
im Jahre 807 den größten Theil der jüngeren Mönde weg, zu
gleicher Zeit lehnten fih die Knaben, welche im Kofler erzogen
wurden, gegen ihre VBorfteher auf und entflohen. >) Noch größeren
Schaden, als folde Unfälle, fügte die Härte des neuen Abts dem
Stifte des hl. Bonifacius zu. Bon dem Ehrgeize befeffen, feinen
Namen durch Foftfvielige Bauten zu verewigen, änderte Ratgar fein
früheres Betragen. Er ließ die Schule feit der Seuche eingehen,
1) Man vergl. Dr. Fr. Kunſt mann, Hrabanıs Magnentius Maurus.
Mainz 1841. Eine treffliche, mit hellem Berftand gefchriebene Monographie. —
2) Kunftmann ©. 55. — 3) Annales Laurissenses minores ad annum 801,
Perz I., 120, — #) Aleuini epist. 111. Opp. I., 162. epist. 143. ibid,
©. 204 flg. Carminum 250. Opp. M., 233, a, — 5) Perz I., 120 unten,
Gfrörer, Kircheng. IH. 52
818 UIII. Bud. Kapitel 11.
nahm dem Diafon Raban feine Bücher weg, und verwandte bie
Mönche zu harten Arbeiten bei den neuen Bauweſen. Mehrere
derfelben erlagen der Anftrengung, bie über ihre Kräfte gieng.
Die Brüder wandten fih mit ihren Klagen an zwei Faiferliche
KRammerboten Werin und Unfrid, die fih 807 zu Fuld auf:
hielten. Wirklich fandte Kaifer Karl im Jahr 809 den Erzbifchof
Kifulf yon Mainz nah dem Stift, um die Befchwerden zu unter-
ſuchen. Aber Rifulf fchenfte dem Abte mehr Glauben als den
Mönden. Nicht nur weihte er während feiner Anmwefenheit die
von Ratgar neu erbaute Kirche ein, welche zu den Klagen Anlaß
gegeben, fondern — auf feinen Bericht wie es fcheint — ertheilte
Kaifer Karl der Große 810 dem Abte von Fuld das Recht, von
allen bereits erworbenen, oder in Zufunft zu erwerbenden Befißungen
des Klofters Zehnten erheben zu dürfen, damit vom Ertrage ber:
felben die im Bau begriffenen Häufer vollendet, und neue angelegt
werden fönnen. ) Der Abt Hatte vollftändig über die Kläger
gefiegt, er begann nun neue Bauten, und drüdte die Mönche
noch ungefcheuter als vorher. Abermal wandten fih Diefe 812 an
Karl'n den Großen; zwölf Abgeordnete aus ihrer Mitte giengen an
den Hof ab, und übergaben dem Kaifer eine noch vorhandene Klag-
ſchrift, ) in welcher fie auseinander festen: Natgar habe die Ein:
richtungen, welche der HI. Bonifacius für Fuld getroffen, freventlich
abgejchafft, die Liturgie geändert, die Vigilien und den Chorgefang
aufgehoben, die Fefttage der Heiligen verringert, den Gottesdienft
am Sonntag abgekürzt, Alles um Zeit für feine unnöthigen und
maßlofen Bauten zu gewinnen. Sie führten ferner Befchwerde,
daß lafterhafte Menſchen zu Prieftern geweiht und in das Kloſter
aufgenommen, daß Reiche wider ihren Willen zu Münden ge-
fhoren, daß die Beauffihtigung der Brüder durch Defane nad
alter Weife mittelft ſchädlicher Neuerungen verdrängt, daß Kleidung
und Nahrung verfehlimmert, die gaftfreundliche Aufnahme Fremder
verfümmert, dag Blinde, Lahme, Schwache, Alte ſchmählich behan-
belt, daß weltlihe Gefchäfte, Gütertheilungen, Belehnungen, welche
nichts als Streit und die widermärtigften Auftritte erregten, ftatt
draußen, in den geweihten Räumen des Klofters felbft vorgenommen
ı) Die Beweife bei Schannat historia fuldensis I., 93. — 2) Abgedruckt
ibid. IL, 84. flg. (probationum Nr, X.), Sie führt ven Titel libellus 4
plex a fuldensium, i
Innerlihe Bewegungen in ber Kirche der fränfifchen Reiche ıc. 819
würden. Noch einmal fandte der Kaifer Bevollmächtigte nach dem
Klofter, worunter wiederum ber Metropolit Rikulf von Mainz und
einige andere Bifchöfe waren. Der Gefhichtfchreiber von Fuld,
ber bieß erzählt, meldet nicht, wer Necht befommen habe, er fagt
bl08: ) der Streit fey beigelegt worden. Der verhaßte Abt be:
bauptete feine Stelle. Ein Jahr fpäter, im Auguft 813, ftarb der
Erzbischof Rikulf von Mainz, der Beſchützer Ratgar’s, 2) im Januar
des folgenden Jahres gieng Karl der Große mit Tod ab. Der
neue Herrfcher, Ludwig der Fromme, war weniger als fein Vater
für den Abt von Fuld eingenommen. Die Macht deffelben begann
zu wanfen. Im Jahr 817 wurde er yon Neuem angeklagt, unter:
lag feinen Gegnern, und mußte das Kfofter verlaffen. ?) Biele
durch Ratgar's Gewaltthätigfeit vertriebene Mönche Fehrten hierauf
zurüd; Einer aus ihrer Mitte, Eigil, den wir als Berfaffer der
Lebensgeschichte des erfien Abts von Fuld, Sturmi, bereits fennen,
wurde nad furzem Zmifchenregiment zu Anfang des Jahrs 819
mit Bewilligung des Kaifers Ludwig zum Borfteher des Stifts er-
wählt. Wir erfahren nicht, ob und welchen Antheil Naban an
diefen langen Streitigfeiten nahm. Er war indeß um eine Stufe
firchliher Würden vorgerüdt; im Jahr 814 hatte ihn nemlich der
Nachfolger Rikulf's, Erzbiſchof Heiftolf von Mainz, zum Presbyter
geweiht. ) Rabanus genoß das ganze Vertrauen des neuen Abts
Eigil, und erhielt auch wieder die Leitung der Klofterfchule, Die
hauptſächlich durch fein Verdienſt fchnell den alten Ruf errang.
Nach dem zu Anfang des Jahrs 822 erfolgten Tode Eigil’s, erfor
ihn die Brüderfchaft zu ihrem Haupte. Als Abt von Fuld erfchien
Rabanus 829 auf dem Concile zu Mainz, das Ludwig der Fromme
zugleich mit den drei andern großen Rirchenverfammlungen von Paris,
Lyon, Touloufe angeordnet hatte. °) Damals wurde der erfte
Grund zu den langen Händeln mit Gptfchalf gelegt, von denen
wir tiefer unten berichten werden. Während der bürgerlichen Kriege
die feit 830 im Franfenreihe ausbrachen, wußte Rabanus bie
Gunft des Kaiſers zu bewahren, obgleih er es im Herzen mit
i) Annales Laurissenses minores cap. 44, Perz I., 121. gegen unten. —
2) Ibid, unten. — 8) Ibid. 123, u. annales Fuldenses ad annum 817, bei
Perz I., 356 gegen unten, — *) Annales Laurissenses minores ad annum
814, Perz I., 122 Mitte. — 9) Siehe oben S. 761. 7
52?
820 TE Buch. Kapitel 11.
Lothar und der Gegenparthei hielt. Nachdem Ludwig der Fromme
aus der Öefangenfhaft, in der ihn Lothar hielt, befreit worden
war, überſchickte ihm der Abt eine Schrift, welche von der Ehrfurcht
handelt, welche Söhne ihrem Vater, Unterthanen ihrem Könige
fhuldig find. ) Mit Berufung auf Stellen der Hl. Schrift zeigt
hier Rabanus, daß die weltliche Obrigfeit das Necht habe, mittelft
des Schwerts Empörer zu beftrafen, aber auch daß die göttliche
Milde reuigen Sündern gerne verzeihe. Auf die öffentliche Buße
des Kaifers im Medarbusflofter zu Soißon's hindeutend, führt er
fodann aus: Solche, die fich felbft als Sünder befannt hätten, aber
yon Andern ſchwerer Vergehen nicht überwiefen werben fönnten,
dürfe man nicht richten, noch verurtheilen. „Nicht möge Dich
heiligfter Kaiſer,“ fährt er weiter fort, „die Schlechtigfeit deiner
Feinde abhalten, Milde zu üben, vielmehr foll dich die Wahrheit
des Evangeliums in folder Geſinnung beftärfen.“ Am Schluffe
fordert er Ludwig noch einmal auf, feinem reuigen Sohne Lothar
zu verzeihen. Bald darauf fehrieb Rabanus auf den Wunſch des
Kaiſers eine zweite Schrift, 9) in welcher er gleichfalls bewies, daß
Unterwürfigfeit gegen die Obrigfeit chriftliche Pflicht fey. Zugleich
ermahnte er den Kaiſer wiederholt, auf der guten Bahn, bie er. bes
treten, weiter zu fehreiten, und namentlich feinen Beleidigern Gnade
angedeihen zu laſſen. Auch ter Kaiferin Judith brachte damals
der Abt von Fuld eine Gabe dar, er widmete ihr feine Erklärung
der Bücher Efiher und Judith, mit einem Sendjchreiben,? ) in
welchem er fagt: „er habe in allegorifchem Sinne beide biblifche
Werke für die Kaiferin auszulegen verfucht, weil fie mit der einen
jener alten hebräifchen Frauen denfelben Namen trage, der andern
aber an Würde gleich fomme. Durch Judith's Iobengwerthe Klug:
heit fey bereits der größte Theil ihrer Feinde befiegt, auch die
übrigen werden unterliegen, wenn die Kaiferin im Guten ausharre,
nn —
!) Liber de reverentia fillorum erga patres, et subditorum erga reges,
abgedrudt von Steph. Baluzius in feiner Ausgabe der Schrift des Erzbifchofg
von Paris, Petrus von Marfa de concordia sacerdotii et imperii. Paris
1669. fol, Vol, I., 290 fig. — 9 Unter dem Titel de vitiis et virtuli-
bus liber von Wolfgang Lazius in feinem Werfe: fragmenta quaedam
Caroli Magni, Antwerpiae 1560. 8to herausgegeben. — ?) Das Sendfhreiben
iſt abgedrudt bei Mabillon ActaOrd, S. Bened. IV., b. 42, Der Commentar
in Colvener's Ausgabe der Werte Raban's III., 245 flg- |
Innerliche Bewegungen in der Kirche der fränkifchen Reiche ıc. 821
und unausgeſetzt für ihre fittlihe Veredlung bemüht fey.* Ohne
Zweifel war Lesteres ein Winf, daß Judith weniger ftiefmütterlich
gegen bie Söhne aus der erften Ehe des Kaifers verfahren möchte,
Man fieht, Raban verlor den Bortheil Lothar's nie aus den Augen;
während er nur für Ludwig den Srommen zu fühlen ſchien, arbei⸗
tete er zu Gunſten des Erfigebornen und Mitregenten. j
Nach des alten Kaifers Tode ergriff Rabanus im Bunde mit
dem Erzbifchof Digar von Mainz offen Parthei für Lothar und gegen
Ludwig den Teutfchen. Die fiegreihen Brüder Karl und Ludwig
wollten die Schlacht von Fontanet, in welcher fie Lothar über:
wanden, für ein Gottesurtheil betrachtet wiffen.. In feiner Schrift
über die Buße, welche Raban um 842 fchrieb, bekämpft er diefe
Meinung. „Biele,“ fagt D er, „entfchuldigen das Morden, welches
neulih aus Anlag der Empörung und des Kampfes der Fürften
ftattgefunden. Sie behaupten, man bebürfe Feiner Buße, weil biefe
Thaten auf Befehl der Könige gefchehen feyen, und Gottes Gericht
alfo entfchieden habe. Allein Niemand vermag die Urtheile des
Allmächtigen zu durchdringen; der Pfalmift lehrt (Pſ. 36, 7.) : die
Gerichte Gottes find ein tiefer Abgrund.“ Die Angelegenheiten
Lothar’ nahmen indeg mehr und mehr eine fhlimme Wendung,
und damit wurde auch Naban’s Lage unhaltbar, Im Frühjahr
842 ftand der Erzbifchef Otgar mit andern Bafallen Lothar's am
Rhein, um dem Heere Ludwig’s des Teutfchen den Vebergang zu
verwehren. Sn diefe Zeit fcheint ein Brief Raban's zu fallen, von
dem ung die Magdeburger Senturiatoren ein Bruchftüf aufbewahrt
haben. Der Abt fchreibt 2) hier an ben Erzbifchof: „wenn
Digar ihn nicht ſchütze, müſſe er mit feinen Anhängern fliehen.“
Digar Fonnte feine Stellung am Rhein nicht behaupten, Lothar
ſelbſt entfloh nah Burgund; Mainz, und beide Ufer des Stroms
fielen in die Hände der Brüder Karl und Ludwig. Das Unglüd
Lothar's zog den Sturz des Erzbifchofs wie des Abts von Fuld
nad fih.?) Rabanus fuchte und fand zuerft bei feinem Freunde,
bem im Jahr 840 auf den Stuhl von Halberftadt beförderten
Haymo, dann, nachdem der erſte Sturm ausgetobt hatte, auf dem
Petersberge bei Fuld eine Zufluchtsftätte. Zu feinem Nachfolger in
) Opp. Rabani ed. Colvener, VI., 159. b. unten, — 2) Centuria IX.,
cap. 10. ©. 547 Mitte — 3) Lamberti Schaffnaburg., annales ad annum 842,
822 II. Buch. Kapitel 11.
der Abtei des bl. Bonifacius wurde der Mönch Hatto, ein Schüler
Raban's gewählt, mit welchem der Lestere in gutem Vernehmen
blieb. Nicht Tange dauerte feine Entfernung von den Gefchäften.
Der gewandte Erzbifchof Otgar hatte ſchon im Jahre 845 1) die
Gunft des teutfchen Königs, und in Folge derfelben, feinen Stuhl
wieder errungen. Er war es ohne Zweifel, der die Berfühnung des
Königs mit Naban einleitete. Der ehemalige Abt von Fuld wurde
dem teutfchen Fürften zu Rathesdorf vorgeftellt. Ludwig ſprach
den Wunfch gegen ihn aus, von feiner Feder eine allegorifhe Er:
klärung ber biblifchen Hymnen zu befisen, welche beim Morgen:
gottesdienft abgefungen zu werben pflegten. Rabanus beeiferte ſich
das Buch, das er größtentheils ſchon vorher ausgearbeitet hatte,
dem teutfchen Könige zu überfchiden. In der Vorrede fagt ?) er:
„als ich neulich nach dem Klofter Rathesporf zu Euch gerufen ward,
hattet Ihr die Gnade, mir aufzutragen, daß ich die biblifchen Gefänge,
welche die Kirche beim Morgengottesdienſte anftimmt, in allegorifcher
Weife auslegen möchte.“ Auch die Abfchrift eines encyklopädiſchen
Werkes über die Welt und ihre Theile, welches Rabanus in früheren
Jahren verfaßt, bat fih damals der König aus. Raban fandte
ihm biefelbe mit einer Zueignung, 3) welche von Lobfprüchen über die
hohen Eigenſchaften Ludwig's des ZTeutfchen firogt. Der Erfolg
bewies, daß der König eine fehr gute Meinung von Rabanus ge:
faßt haben muß. Otgar farb im April 8475 im Juni deffelben
Sahres wurde der ehemalige Fulder Abt auf den erledigten Erzftuhl
von Mainz erhoben. *) Raban hatte fomit die höchſte Stufe Firdh-
licher Würden im teutfchen Reiche erreicht. Im Oktober 847 berief
er eine Provinzialfynode >) nah Mainz, auf welcher ſämmtliche
Suffragane des Erzfprengels, die Bifhöfe Samuel von Wormg,
Gozbald von Würzburg, Baturat von Paderborn, Ebo von
Hildesheim, Haymo von Halberftadt, Waltgar von Verben,
Gerbrath von Chur, Otgar von Eichſtätt, Lato von Auge:
burg, Salomo von Conftanz, Gebhard von Speier erfchienen.
Auch der Apoftel des Nordens Ansfar fand fih ein, um dem
teutfchen Könige die traurige Lage des Hamburger Stuhles an's
2) Den Beweis bei Kunftmann a. a. O., ©. 114. — 9) Opp. edid,
Colvener HI., 293 a. — 3) Opp. I., 51. — *) Ruodolfi fuldenses annales
ad annum 847. Perz I., 365, — 5) Die Aften bei Harzheim II., 151 flg.,
oder auch bei Manſi XIV., 899, flg
Innerliche Bewegungen in der Kirche der fränfifchen Reiche ꝛc. 823
Herz zu Iegen. Die Verhandlungen der Synode verbreiten helles
Licht über die damaligen Zuftände der teutfchen Kirche, man fieht,
daß während des langen Bürgerkriegs furdtbare Gefeglofigfeit ein-
geriffen, und die Zucht tief verfallen war. „In dem Synobal-
fchreiben an den König Hagen die Biſchöfe über Mißhandlung der
Geiftlihen und die Beraubung des Kirchenguts. „Gegenwärtig,“
fchreiben fie, „werben weder bie heiligen Orte, noch Die Diener des
Herrn in Ehren gehalten, man peitfcht, beftiehlt, verhöhnt die Priefter
auf alle Weife. Die große Noth hat ung deßhalb gezwungen,
Befchwerde zu führen, und Euch zu bitten, daß Ihr dem Beifpiel
Eurer erlaubten Ahnen folgend, die Kirche Gottes, ihre Diener
und Güter unverlegt erhalten möget.“ Die Berfammlung faßte
Beichlüffe über die Beftrafung von Kirchenraub, Todtfchlag, Ber:
wandten- und Priefter: Mord. Befonders häufig muß lebteres Ber:
brechen gewefen feyn. Denn der 21. Canon befagt: „daß Vaters
mörder überall frei herumlaufen und verfchiedenen Laftern fröhnen.“
Strenge Buße wird über fie verhängt, fie follen weder eine Ehe
fliegen, noch in Kriegsdienfte treten dürfen. Die Synode 308
überdieß eine faliche Prophetin zur Strafe. Thiota, ein in Ala—
mannien gebornes Weib, hatte den nahen Untergang der Welt
verfündigt und dadurch im Bistum Conſtanz großen Lärm ver:
urſacht. Das gemeine Volk, ſelbſt ein Cleriker, bieng ihr an.
und erfaufte durch Gefchenfe ihre Fürbitten. Auf Befehl der
Synode peinlich befragt, befannte fie, daß Gewinnſucht und der
Rath eines Presbyters fie verleitet babe, ihre Prophetenrolle zu
fpielen. Sie wurde Hffentlih ausgepeitfcht. ")
Im nächſten Jahre (848) hielt Rabanus eine zweite Synode,
bie fi) blos mit der Angelegenheit des Mondes Gotſchalk befchäf:
tigte. Nachdem er das Urtheil der Verdammniß über ihn ausge:
ſprochen, übergab er den Unglüdlichen dem Erzbifchof von Nheims,
in deſſen Sprengel das Kloſter Gotfchalfs Yag. DiegStreitigfeiten,
bie wegen des Mönchs ausbrachen, verbitterten die legten Tage
Raban's, obgleich er fich fpäter ängftlih vom Kampfe, ben er be-
gonnen, zurüdzuziehen fuchte. Bis an fein Ende mit fchriftftel-
leriſchen Arbeiten befchäftigt, ftarb Rabanus Maurus am vierten
1) Ruodolfi Fuldensis annales ad annum 847. Perz I., 365. und daraus
bei Harzheim II., 160,
824 IM. Bud. Kapitel At.
Februar 856 auf feinem Landhaufe zu Winkel unmeit Mainz. Die
Segnungen ber Armen, deren Vater er gewefen war, folgten ihm
ind Grab. Rabanus war unter den Kirchenlehrern des neunten
Jahrhunderts der fleißigfte, unter den Teutſchen ver gelehrtefte.
Eine Gefammtausgabe ’) feiner Schriften würde wohl acht große
Bände füllen. Faft über alle Bücher neuen und alten Teftaments
hat er ausführlihe Erklärungen "gefchrieben. Nur Weniges ift
dabei feine eigene Arbeit. Nach der Weife feines Zeitalters hat er
aus den Schägen der älteren Kirchenlehrer, Griechen wie Lateiner,
gefammelt. NRabanus fpricht fich hierüber offen aus: „Heilfamer,“
fagt ?) er, „Icheine es ihm, in Demuth die Auslegungen der heiligen
Väter zu wiederholen, als auf anmaßende Weife eigene Anfichten
an den Tag zu fördern.“ Die Werfe der alten Erflärer waren
felten und theuer. Raban wollte diefem Mangel abhelfen, indem
er — laut feiner eigenen Aeuferung, ?) „den Lefern, die mit den
verſchiedenen Werfen der Ausleger nicht verfehen feyen, durch Zus
fammenftellung des Paffendften Gelegenheit verfchaffe, von der
hohen Wiffenfchaft der Väter Einfiht zu gewinnen.“ Schon einige
Zeitgenoffen machten ihm deshalb den Vorwurf unnüter Biel:
fchreiberei, oder befchuldigten ihn gar, aus armfeliger Eitelfeit fich
mit fremden Federn zu ſchmücken. Rabanus entgegnet hierauf:
„Niemand könne der Verläumdung folcher Neider entgehen, ale
wer gar nichts fchriebe; lieber wolle er ihre ungegründeten Be:
» Die Ausgabe, welche der Probft zu Douay, Georg Colvenerius in
ſechs Foliobänden zu Mainz 41626 veröffentlichte, enthält bei Weitem nicht alle
Schriften Raban’s. Namentlich fehlen diejenigen, welche für ‚die Kirchenge:
fhichte des neunten Jahrhunderts die meifte Ausbeute gewähren. Mehrere der
letztern Kaffe finden fich zerfireut in verfchiedenen Sammelwerfen, andere find
noch nicht aufgefunden, wie die Brieſſammlung Raban’s, welde noch die Ber:
faffer der Magdeburger Eenturien fannten. Am Ende des letzten Jahrhunderts
befchäftigte fich_der Prior von S. Emmeram in Regensburg 3. B. Enhuber
mit einer neu usgabe, zu deren Beforgung ihn derfelbe Fürft-Abt Froben,
dem wir die trefflihe Sammlung der Werfe Alkuin’s verdanfen, aufgefordert
hatte. Die Ungunft der Zeiten verhinderte Enhuber feinen Plan auszuführen.
Aus dem reichen Apparate Enhuber's hat Kunftmann neulich, al8 Anhang zu
feiner Monographie über Naban, einiges Ungedrudte mitgetheilt. Vielleicht
gelingt es Perz und feinen Mitarbeitern, den bis jeßt verlornen Briefwechfel
Raban's aufzufinden. — 2) In der Borrede zu Ezechiel Opp. ed. Colvener
IV., 171 oben. — 3) In der an Heiflulf gerichteten Vorrede zu Matthäus
opp. V., 1.
Innerliche Bewegungen in der Kirche der fränfifchen Reiche ꝛc. 825
ſchwerden ertragen, als im Müßiggang die Gaben vernachläßigen,
die ihm der Herr verliehen habe.“ ') Gewiß ift, daß durch Naban’s
Tpätigfeit eine eigene Schule von Theologen entftand, welche in
Teutfchland und den benachbarten Neichen eine genaue Kenntniß
der auf Die Ueberlieferung der Bäter gegründeten Kirchenlehre
verbreiteten. I
Diefer Schule gehörte auch der früher genannte Bifchof ven
Halberftadt und Jugentfreund Naban’s an. Unbekannt ift, wo und
wann Haymo geboren wurde. Frühe, ungefähr zu gleicher Zeit
mit Raban, trat er in die Edhule zu Fuld, gieng fodann mit
Diefem nad) Tours zu Alfuin, übernahm nad) feiner Rückkehr eine
Lehrerftelle zu Fuld, wurde 839 zum Abt von Hersfeld im Mainzer
Sprengel, zwei Jahre fpäter, als Nachfolger des zweiten Bifchofs
von Halberftadt, Thiotgrim, auf den dortigen Stuhl befördert.
Nah zwolfiähriger bifchöflicher Amtsführung ftarb Haymo den 26.
März 853 zu Halberftadt. Noch befizen wir von ihm ein Fleineg
Merf über Kirchengeichichte, das ein Auszug aus Eufebius ift, Er:
Härungen zu den Pfalmen, zu Eſajas, den zwölf kleinen Propheten,
zu den Briefen Pauli und der Offenbarung Johannis, eine Predigt:
fammlung und einige Heinere Schriften. In feinen eregetifchen
Arbeiten fucht Haymo, wie Rabanus, nach Anleitung der Väter,
hauptfächlich den allegorifchen Sinn der Bibel zu enthüllen.”) Neben
Haymo müffen wir einen Schüler Raban’s nennen. Walafried,
wegen fchielender Augen mit dem Beinamen Strabus oder Strabo
bezeichnet, wurde 807 in Alamannien geboren. Geine erfte Er:
ziehung erhielt er in der Klofterfchule zu Reichenau Wettin,
beffen im neunten Jahrhundert fo berüchtigten Gefihte °) er 825
in lateiniſchen Berfen befchrieben hat, war dort fein Lehrer. Später
wurde Walafried in die Fulder Schule gefchidt, um unter Raban's
Leitung feine Studien zu vollenden. Nach feiner Rückkehr wählte ihn bie
Neichenauer Brüderfchaft 842 zum Abt, wiewohl er damals kaum
35 Jahre zählte. Diefe Erhebung mag bei manden Münden
Neid erregt haben und Hauptanlaß der Verfolgung geweſen feyn,
Y) Ibid. — 2) Ueber Haymo vergl. man histoire litteraire de la France
V., 111. fig. — 5) Visio Wettini abgedrudt bei Mabillon act. ord. S.
Bened, IV., a. ©. 257 fly. Wettin wird im Geficht nach dem Himmel und
der Hölle entrückt, und fieht die Strafen, welche Karl der Große wegen Un:
feufchheit erduldet.
8526 I. Buch. Kapitel 11.
welche Walafried erbulden mußte. In der Sammlung feiner. Ge:
dichte finden fih einige an Rabanus gerichtete Verſe, ) worin er
über feine und der Seinigen Armuth Fagt, und den Abt von
Fuld um Geld zu Schuhen bittet. Demnach fcheint er mit den
Gütern feines Stifts ſchlecht gewirtbfchaftet zu haben. Wirklich
behauptet Goldaft: ?) aus einem ungedrudten Gedichte Walafried’s
erhelle, daß der Abt von den Reichenauer Mönchen darum verjagt
worden fey, weil er ausſchließlich mit gelehrten Arbeiten befchäftigt,
die Verwaltung des Kiofiers gänzlich vernachläßigt habe. Walafried
floh allen Anzeigen nad in das Wigbert- Kiofter bei Halberftadt,
wo fih damals auch NRabanus befand. Dort foll laut dem Zeug:
niffe eines Schriftfiellers aus dem fechszehnten Jahrhundert, Torz
quatus, der fih auf urfundliche Nachrichten beruft, ?) die Gloſſe zur
Bibel, das Hauptwerf Walafried’s, begonnen worden feyn. Jeden:
falls wurde Walafried fpäter wieder in feine Abtei eingefest. Als
Prob von Reichenau übernahm er im Auftrage des teutfchen
Königs Ludwig 849 eine Gefandtfhaft nah Franfreih, zu Karl'n
dem Kahlen, auf welcher Neife er ftarb. +) Obgleich er kaum das
zweiundvierzigfte Jahr zurücgelegt hatte, hinterließ er eine anfehn-
liche Zahl von Schriften. Die umfangreichfte unter denſelben ift
bie kurze Erflärung zur ganzen Bibel, welche gewöhnlich mit dem
Titel Glossa ordinaria bezeichnet wird. >) Walafried bat fie
größtentheilds aus den eregetifchen Werfen Naban’s ausgezogen.
Außerdem fchrieb er in der Weife des Rabanus eine Auslegung zu
den Palmen, von welcher nur ein Heiner Theil gedrudt iſt. ) Von
größerem Werth find die Hiftorifchen Schriften Walafried’s: ein aus:
führlihes Werf über den Gottesdienft, ) und etliche Lebensbe-
fhreibungen von Heiligen. Sonft befigen wir noch yon ihm inehrere
Predigten und eine Sammlung Gedichte. ®)
1) Bibliotheca Patrum max. Lugdun. Vol, XV., ©. 231. a. gegen oben. —
?) Rerum alamannicarum scriptores ed. Senkenberg II., 9. b. — °) Anna-
les Magdeb. et Halberst. bei Boysen monumenta inedita J., 183. —
) Nach der Ausfage des Mönchs Ermenrich bei Mabillon analecta fol. Ausgabe
©. 420 b. unten und Annales ord. S. Bened. II., 641. der Venetianer Aug:
gabe. — 9) Im 15: 16. und 17. Jahrhundert öfter gedruckt. — ©) Bei Perz
anecdota Vol. IV., 472 flg. — ) De exordiis et incrementis rerum ecelesi-
asticarum abgedrudt bibliotheca Patrum maxima Lugdun, XV., ©. 182 flg. —
*) Abgedrudft ibid. S. 204 flg: Ueber Walafried’s ſchriftſtelleriſche Thätigfeit
vergleiche man histoire litteraire de la France V., 59 fl.
Innerliche Bewegungen in der Kirche ver fränkifchen Reiche ꝛc. 827
Wir haben oben blos bie eregetifchen Arbeiten des Begründerg
der Mainzer oder Fuldaer Theologenſchule angeführt. Bon Raban's
übrigen Werfen mögen hier noch einige genannt werden: bie zwei
Bücher zum Lobe des heiligen Kreuzes, mit welchen er feine fchrifte
ftellerifche Laufbahn begann. Das erſte Buch enthält 28 Gedichte
in fo fünftlicher Form, daß aus den einzelnen Buchſtaben und
Worten Figuren des Kreuzes gebildet werden. Im zweiten
Buche giebt er eine profaifche Erflärung eben diefer Figuren.
Als der Erzbifhof von Mainz Heiftolf 819 eine vom Abt Eigil
erbaute Kirche zu Fuld einmweihte, widmete ihm Nabanus drei Bücher
vom Unterricht der Cleriker, welche Auffchluß über die Art geben,
wie in Fuld die theologifchen Studien betrieben wurden. Bald
darauf fchrieb er feine Abhandlung über die Firhliche Nechenfunft,
die nicht in der Sammlung Colveners fteht. I) Um mehr ald 20
Jahre fpäter ift Raban's großes encyklopädiſches Werk, welches nad
feinem Plane den ganzen Inbegriff wilfenichaftliher Kenntniffe des
neunten Sahrhunderts umfaffen follte. Es führt den Titel de uni-
verso. Nach dem Borgange des Seviller Iſidor, handelt er in
22 Büchern von Gott, der Dreieinigfeit, den Engeln, den hiftori-
fchen Verfonen des alten und neuen Teſtaments, von der Kirche,
der Religion, von Ketzern und Gläubigen, von den Saframenten,
von den heiligen Büchern und ihren Berfaffern, von Goncilien und
Kirchenvätern, vom Menſchen und feinen Berhältniffen, Verwandt:
fchaften, Chen, vom Thierreich, von den Weltgegenden, Geftirnen
und Elementen, von der Zeit und den Feften, von Waffer, Schnee,
Negen, Hagel, Nebel, Blis, von der Erde und ihrer Befchaffenheit,
von Gebäuden und ihrer Eintheilung, von Philofophen, Dichtern,
Sibylien, Magern, bheidnifchen Gebräuchen und Götzen, von ber
Spracde, von Steinen und Erzen, von Maas, Gewicht, Zahl, von
der Tonfunft, von Krankheiten und Arzneien, vom Landbau und
ben Gewächſen, von Krieg und Kriegesrüftung, von Fünftlichen
Arbeiten, Gemälden, Farben, von Schmuck und Kleidung, endlich
som Tiſche und Hausgeräthen, Noch ift übrig, daß wir über die
Rolle berichten, welche der Erzbifchof von Mainz in dem wichtigen
Streite mit Gotſchalk ?) ſpielte.
1) Zuerft von Baluzius herausgegeben Miscellanea Ausgabe von Lucca
II., 63. fig. — ?) Quellen zur Gefchichte Gotſchalk's: G. Mauguin veterum
auctorum, qui seculo nono de praedestinatione et gratia scripserunt, opera
828 I. Buch. Kapitel 11.
Gotſchalk, der Sohn eines ſächſiſchen Edelmanns, wurbe von
feinem Bater Bern in den Tagen des Abts Eigil, als Feiner Knabe
dem Klofter Fuld geopfert, d. b. der Vater übergab ihn dem Abt,
damit er zum Mönch erzogen werde. Der junge Sachſe fchloß im
Klofter ein Freundfchaftsbiindnig mit feinem Mitſchüler Walafried
Strabo, welcher ihm in noch vorhandenen Berfen ein ehrendes
Denfmal geftiftet hat. Nachdem Gotfchalf feine Jünglingsjahre in
ber Fulder Schule zugebradht hatte, wurbe er des mönchiſchen Lebens
überdrüßig und forderte feine Freilaffung, indem er behauptete, daß
er wider Willen und Neigung ins Klofter geftedt worden fey. Die
Sade kam auf der Mainzer Synode im Jahr 829 zur Sprache. Der
Metropolit Digar entfchied mit 58 andern Bifchöfen zu feinen
Gunften. Allein Raban, damaliger Abt von Fuld und Vorgeſetzter
Gotſchalt's, widerſprach, und appellirte an den Kaifer Ludwig. 2)
Zugleich fchrieb er eine Abhandlung, in welcher er aus Bibelſprüchen
zu beweifen fuchte, daß chriftlihen Vätern das Recht zuftehe , ihre
Kinder Gott zu weihen, und daß foldhe Gelübde ohne ſchwere
Sünde nicht gelöst werden können, weil der Mönchsſtand von Gott
eingefetst fey. Gotſchalk hatte geltend gemacht, Feine ſächſiſche,
fondern nur fränfifche Zeugen feyen zugegen gewefen, als feine
Eltern ihn dem Klofter weihten. Dies widerftreite dem fächfifchen
Recht, welches beftimme, daß ein Menfch feine Freiheit nur auf dag
Zeugnig von Leuten aus feinem eigenen Stamme verlieren könne.
Rabanus entgegnet hierauf: „Man verliert feine Freiheit nicht, wenn
man ſich dem Dienfte Chriſti weiht. Nur der ift frei, der feinem
Gotte dient, nicht wer Laftern und Sünden fröhnt.“ ) Wir haben
feine urfundliche Nachricht über die Entfcheidung bes Kaifers Ludwig.
et fragmenta, Paris 1650. 2 Vol. Ato. In diefem wichtigen Sammelwerk find
bie auf den Streit bezüglichen Urkunden größtentheils zufammengeftellt. Der
Janſeniſt Mauguin nimmt Parthei für Gotſchalk. Gegen ihn fchrieb der
Jeſuite L. Cellotius historia Golteschalei praedestinatiani; Paris 1655 fol. in
welhem Buch fich gleichfalls Urkunden finden; Centuriae Magdeburgenses
IX., cap. IX., 404 flg. cap. X., ©. 543. 546. darum wichtig, weil die Ver:
faffer etliche Urkunden laſen, die jeßt verloren find. Die übrigen Quellen
werden wir an den betreffenden Stellen angeben, — ') Bibliothec. Patr. max,
Vol. XV., 232, — ?) Centuriae Magdeburg. IX., 9. ©. 404 flg. — ?) Opus-
culum contra eos, qui repugnant institutis beati Patris Benedieti abgedrudt
bei Dabillon Annales Ord. S. B. II., 677. fig. Man vergl. noch ibid. ©. 488. flg.
(der Benetianer Ausgabe). io
Innerliche Bewegungen in der Kirche der fränkiſchen Reiche ıc. 829
Sie muß jedoch günftig für Rabanus gelautet haben. Denn
Gotfchalf verblieb im Mönchsverbande, verließ aber dagegen Fuld
und begab ſich nah dem Klofter Drbais, das zum Sprengel von
Soißon's gehörte. Man feheint ihm Lesteres bewilligt zu haben,
damit er vor Raban's Rache gefichert fey. Zu Orbais vertiefte
fih Gotfhalf in dag Studium der Schriften des Hl. Auguftinus,
und der ihm gleich geftimmten Väter, namentlich des Biſchofs Ful-
gentius von Ruspe. Mit dem ganzen Feuer feiner fühnen und
fraftoolfen Seele ergriff er die Lehre von der göttlichen Vorher:
beftimmung in ihrer bündigften Strenge. Die Brüder gaben ihm
wegen feiner Borliebe für den Bischof von Ruspe den Beinamen
Fulgentius. ) Gotſchalk fonnte und wollte die Neberzeugung, welche
er aus Auguftin gefchöpft, nicht für fi) behalten. ine auguftinis
ſche Parthei follte gefhaffen werden. Durch Briefe, die er an viele
Theologen in Franfreih, wie im Auslande fehrieb, fuchte er bie:
felben für feine Anficht zu gewinnen. Er gefteht dieß felbft in dem
poetifchen Schreiben ?) an den Mönch Ratramnus von Corbey, in
welchem er aus der Zahl Derer, mit denen ev in Briefwechfel
getreten fey, namentlich den Bilhof Jonas von Orleans, fowie die
Aebte Servatus Lupus von Ferrieres und Marquard von Prüm
anführt. Unter den Werfen des Abts Servatus Lupus findet fid
ein Brief, ?) in welchem derſelbe zwei von Gotſchalk ihm über Augu—
ftin’s Lehre vorgelegte Fragen beantwortet. Auf die erfte Frage:
ob wir nad der Auferftiehung mit leiblichen Augen Gott fehen
werden, erwiedert Lupus: da Auguftin felbft ed nicht gewagt habe
hierüber zu entfcheiden, müſſe man bie Sade auf fi beruhen
laffen. Die zweite Frage. betraf eine Stelle Auguftin’d aus der
Schrift über den göttlichen Staat, wo es heißt: *) „Gott wird dann
(am Ende der Dinge) und befannt und fihtbar ſeyn, alfo dag Er
gefehaut wird mit dem Geifte von ung Allen, gefhaut von Einem
in dem Andern, gefehaut in fich, gefchauet im neuen Himmel, der
neuen Erde und in jeglicher Greatur, geſchaut aud mit dem Körper
in jedem Körper, wohin fi die Augen unferes verflärten Leibes
richten.“ Lupus fucht diefen überfchwänglichen Ausſpruch fo gut zu
) Sp nennt ihn auch Walafried in dem oben angeführten Gedicht Bib-
lioth, max. XV., 232, — 2) Abgedrucdt bei Cellotius a.a. O., ©. 115 flg. —
3) Opera Servatii Lupi ed. Baluzius Antwerp. 1710, Epist. 30, ©, 57 fl —
+) Siehe den zweiten Band diefes Werks ©. 737,
\
830 IM Buch. Kapitel 11.
erflären, ald es geht, und fügt am Ende den Kath bei: „Gotfchalf
möge mit folhen Unterfuchungen feine Kräfte nicht verfchwenden,
damit die Zeit für nüglichere Arbeiten nicht verloren gehe.“ Der
Mönch hörte nicht auf die Warnung, welche in den letztern Worten
liegt. Es muß feiner brennenden Thätigfeit gelungen feyn, in der
Gegend von Drbais einen zahlreichen Anhang zu werben. Die
Sache begann Auffehen zu erregen. In einem Schreiben an Pabft
Nikolaus I. berichtet der Erzbifchof Hinfmar von Rheims über die
Umtriebe Gotſchalk's zu der Zeit, da er noch im Klofter zu Orbais
weilte, Folgendes: 1) „laut dem Zeugniß, das ihm fein Abt gebe,
fey er mehr ein wildes Thier als ein Mönch, von allen Kegereien,
die in der Gegend aufgefommen, habe er das Giftigfte ausgewählt,
um die Einfältigen und Betrogenen noch mehr zu verführen, er
babe fih den Namen eines Lehrers angemaßt, und Schüler an ſich
gezogen“ u. ſ. w. Hinfmar ift zwar ein Teidenfchaftlicher Gegner
Gotſchalk's, dennoch Fann man unmöglich argwöhnen, daß letztere
Angabe aus der Luft gegriffen ſey. Noch wichtiger iſt eine andere
Nachricht, welche Hinkmar an derſelben Stelle mittheilt. „Gotſchalk,“
ſagt er, „habe ſich den Kirchengeſetzen zuwider (d. h. ohne Erlaubniß
des Metropoliten) von einem Chorbiſchofe zum Prieſter weihen
laſſen.“ Dieſe Einweihung hatte geſchichtliche Folgen, allem Anſchein
‚nach gab fie Anlaß zu dem tödtlihen Schlage, der auf der Synode
zu Paris 849 gegen die Chorbifchöfe geführt worden if. Wir
werden bievon tiefer unten handeln. Man wird wohl nicht irren,
wenn man annimmt, Gptfchalf habe fi die Presbyterwürde dar:
um übertragen laffen, um feine religiöfe Meinungen auch unter
dem Bolfe durch Predigten verbreiten zu können. Zu demfelben
Zwede machte er mehrere Reifen in fremde Länder, Hinfmar
berichtet ?) an den Pabft, Gotfchalf habe ohne Erlaubniß des Abts
das Klofter verlaffen, und fey in vielen Gegenden herumgeftreift,
um ben Samen feiner verberblichen Ketzerei auszuſtreuen. In dem
mehrfach angeführten Gedichte fpricht Walafried von einer Reife
Gotſchall's nah Rom, und fest dabei deutlich voraus, daß ber
Mönch wieder mwohlbehalten in fein Klofter zurüdgefehrt fey. Auf
einer zweiten Reife eben dahin, welche unglüdlich für ihn endete,
finden wir Gotſchalk im Jahre 847. Heimfehrend von Nom,
') Hincmari opp. ed, Sirmond. U., 262, - 2) Ibid,
Innerliche Bewegungen in der Kirche der fränkiſchen Reiche ꝛc. 831
beſuchte er den Grafen Eberhard von Friauf, bei welchem er den
neuernannten Bifchof Noting von Verona antraf. Gotfchalf
machte, wie es feheint, den Verſuch, diefe hochgeftellten Männer für
feine Anficht zu gewinnen, er trug ihnen die Lehre vor, daß Gott
die Menfchen eben fo gut zum Böſen wie zum Guten, zur ewigen
Berdammniß wie zum Heile, vorausbeftimmt habe. Längere Zeit
muß er in Friaul geblieben feyn. Indeſſen veiste Noting in Staats:
gefchäften nach Teutfchland herüber, und Fam dort mit Rabanus
zufammen, dem er über das Treiben des Mönchs Eröffnungen
machte. ) In Folge deffen warb zwiſchen Beiden bie Berabredung
getroffen, dag Naban ein Buch fchreiben folle, um den Irrthum
Derer zu widerlegen, welche behaupten: „wer zum Leben beflimmt
fey, könne nicht zu Grunde gehen, wer zum Tode, nicht felig werben.“
Raban ſäumte nicht, fein dem Jtaliener gegebenes Verſprechen zu
erfüllen, er überfandte das gegen Gotfchalf gerichtete Werf an
Noting. „Wenn der vernünftige Menſch,“ heißt es am Eingange,
„die Kräfte feiner Natur und die Macht des Schöpfers richtig
ſchätzte, würde er nie fi) in thörichte Fragen verwideln, noch auf
Lehren verfallen, welche der chrifilihen Religion zumider find, Da
aber der alte Feind des menfchlichen Geſchlechts nicht aufhöre in
dem Garten des Herrn Unkraut zu füen, fo erzeuge er durch eitles
Gerede der Menfchen nicht nur unnüge, fondern auch feelengefährliche
und gottesläfterliche Behauptungen, alfo daß Einige den Allmäch—
tigen zum Urheber des Verderbens machen, indem fie fagen: gleich
wie diejenigen Menfchen, welde durch Goites VBorherwiffen und
Seinen Rathſchluß zur Theilnahme am ewigen Leben berufen feyen,
felig werden müßten, alfo würden auch die zum Tode Beftimmten
nothwendig ihrem Schiefal entgegengeführt, und fünnten dem Unter:
gange nicht entrinnen. Selbft ein Ungelehrter vermöge das Unge:
veimte dieſes Satzes einzufehen, denn der Allmächtige, welcher alles
Gute erichaffe, und alle Völker der Erde zum Heile befähigt habe,
zwinge Niemand zum VBerderben, fondern bewirfe vielmehr, daß
wer den rechten Glauben befige und gute Werfe übe, zur Selig—
feit gelange.* Mit Berufung auf eine dem Auguftin unterfchobene
-
') Raban fagt dieß felbft in der Borrede des an Noting gerichteten Werks
‚über die Präveftination, Sirmondi opera (Benetianer Ausgabe) Vol. II,
999 fig.
832 IT, Buch. Kapitel 41.
Schrift, die den Titel hypomnesticon contra Pelagium führt, !)
entwidelt fofort Rabanus den Begriff des Wort praedestinalio.
„Gott“, jagt er, „dem das Vorherwiſſen nicht zufällig, fondern
wefentlich fey, wife Alles vorher, ehe es gefchehe; aber nicht Alles,
was Er vorherwiffe, prädeftinive Er; das Böſe wife Er zwar vorher,
aber präbdeftinire es nicht, das Gute dagegen wiffe Er vorher und
prädeftinive es zugleich.“ Im Folgenden fucht er diefe Sätze fowohl
aus der Bibel als aus den Schriften der Väter zu ermeifen. Zu
gleicher Zeit mit der Abhandlung an Noting, fchrieb Nabanus einen
Brief I an den Grafen Eberhard von Friaul. Nachdem er zu:
vörberft feinen Dank für die freundliche Aufnahme ausgefprocen,
welche zwei Mönde von Fuld im vergangenen Jahr bei ihm ge:
funden, geht er auf Gotſchalk über: „Nach Teutfchland fey die Kunde
gedrungen, daß fich. bei dem Grafen ein Klügling, Namens Got:
ſchalk, aufpalte, welcher Iehre: durch den göttlichen Rathſchluß werde
der Menſch alſo gebunden, daß er felbft bei dem ernftlichen Be:
fireben, durch Glauben und gute Werfe das ewige Leben zu er:
langen, fich vergeblich abmühe, fofern er nicht zum Heile voraug-
beftimmt fey; woraus denn folge, daß Gott den Menfchen zum
Berberben zwinge. Dieſe Sefte habe ſchon Viele zur Verzweiflung
gebracht, indem die Leute fprächen: was fann es mir helfen, für mein
ewiges Heil zu arbeiten, denn thue ic) Gutes, ohne zur Geligfeit
vorausbeftimmt zu feyn, fo nüßt eg mir nichts; thue ich aber Böſes,
fo ſchadet es mir Nichts, wofern mich Gottes Rathſchluß zum Heile
geordnet hat. Auch in Zeutfchland,“ fährt er fort, „habe jene Lehre
viel Aergerniß erregt, und Manche zum Ungeborfam wider die
Lehre des Evangeliums verleitet. Man fage, daß Gotſchalk viele
Zeugniffe aus den Schriften Auguftin’3 gefammelt habe, um feine
Meinung zu begründen, während doch Auguftin in feinen Schriften
wider die Pelagianer ein Bertheidiger der Gnade, Fein Zerftörer
des Achten Glaubens fey.“ Rabanus fucht nun aus Auguftin und
andern Vätern die Säge bes Mönche zu widerlegen. Der Brief
fließt mit den Worten: „Ich hege das Bertrauen dag Du, ehr:
würdiger Mann, ein guter Chrift bift und nichts in Deiner
Heimath duldeft, was dem Evangelium des Herrn
N Abgedruckt im zehnten Band der Mauriner Ausgabe von Auguſtin's
Werfen, — 2) Abgedrudt bei Sirmond a. a. O., ©. 1019 fig.
*
Innerliche Bewegungen in der Kirche der fränkiſchen Reiche ꝛc. 833
widerſpricht, ſondern nur Das, was Gott gefällt und zum Heile der
Seelen dient. Bei dieſer Geſinnung möge Dich die Gottheit unſeres
Herren Jeſus Chriſtus unverſehrt in Ewigkeit erhalten.“
Daß die Schlußworte Raban's ihre Wirkung nicht verfehlten,
erfahren wir aus einer andern Duelle. Die Zeitbücher von Troyes !)
melden zum Jahr 849: „der galliſche Mönch Gotſchalk, Urheber
abergläubifcher Lehren, welcher unter dem Vorwande der Religion
Stalien zu verführen gefucht hatte, wurde aus dieſem Lande
wie ein Lebelthäter verjagt, und verfuchte es dann feine gif-
tigen Irrthümer in Dalmatien, Pannonien und Baiern (Noricum) zu
verbreiten, bis man ihn vor ein Gericht der Bischöfe ftellte.“ Wirk:
Yih finden wir Gotfhalf im. Sommer 848 zu Mainz, wo er einer
Synode, auf welcher Rabanus den Borfis führte, Nechenfchaft geben
muß. Wie er dorthin gefommen, erzählen Die Quellen nicht. Mög:
fich wäre es, daß ihn König Ludwig hätte aufgreifen laſſen, noch
wahrscheinlicher ijt jedoch, daß er fich felbft zu Mainz ftellte, um.
dem Erzbiichof ins Angeſicht zu troßen. Denn er brachte eine
MWiderlegung der Schrift mit fih, welche Rabanus wider ihn an
den Bifhof Noting abgeſchickt hatte. Diefe Thatfache ſcheint dar:
auf hinzudeuten, daß er den Kampf mit Rabanus gefucht hat.
Noch Ddeutliher zeugen für letztere Anficht die Worte, welche
Nabanus in dem Schreiben *) gebraucht, das er nad) dem Schluß der
Mainzer Synode an Hinfmar von Rheims erließ: „Euer Liebden
ſey hiemit fund gethan, daß ein gewiffer berumftreihender Mönch,
Namens Gotjchalf, welcher fih für einen in eurer Didcefe geweih—
ten Presbyter ausgiebt, aus Jtalien zu ung nah Mainz ge:
fommen ift, einen neuen Aberglauben und fhädliche Lehren von
der Borherbeftimmung Gottes verbreitend, und die Völker zum
Irrthum verführend,“ Man müßte den Ausdrüden Raban's Gewalt
anthun, um einen andern Sinn herayszubringen, als den, baß
Gotſchalk aus eigenem Antrieb nah Mainz gereist fey.
Mit rückſichtloſer Kühnheit befannte Gotſchalk vor der Mainzer
Synode feine Meinungen. Er übergab dem Erzbifchofe Naban ein
Glaubensbefenntnig, von welchem uns Hinkmar ein Brudftüd ®)
aufbewahrt hat, Es beginnt alfo: „Ich Gotichalf glaube und
1) Prudentii trecensis annales bei Yerz I., 443 unten. — ?) Aufbewahrt
von Hinktmar, in deffen Werfen J., 20, — °) Ibid. ©. 26. |
Gfrörer, Kircheng. II. 53
834 II. Buch. Kapitel 11.
befenne, erfläre und bezeuge aus Gott dem Vater, durch Gott ben
Sohn, in Gott dem heiligen Geifte, ich betheure und befräftige vor
dem Schöpfer und feinen Heiligen, daß es eine zweifache Präde—
fiination giebt, fowohl der Auserwählten zur Ruhe, als auch der
Berworfenen zum Tode; denn gleihwie ber unveränderliche Gott
vor Erfhaffung der Welt alle feine Auserwählte unveränderlich aus
freier Gnade zum ewigen Leben georbnet hat, alfo hat eben Der:
jelbe ſämmtliche Berworfene, die einft am Tage des Gerichts ihrer
böfen Werfe wegen verdammt werden, durch feinen gerechten Rath:
ſchluß unveränderlih zum verdienten ewigen Tode beftimmt.“ Neben
diefem Glaubensbefenntnige ') ftellte er dem Erzbiſchofe noch eine
Schrift zu, in welder er Raban's Abhandlung an Noting wider:
legt hatte. Hinfmar führt aus bderfelben mehrere Stellen an, wie
folgende: ?) „Endlih habe ich, verehrungswürbiger Erzbifchof, dein
Buch gelefen, in welchem du, wie ich fehe, die Behauptung aus:
- fprichft, daß die Berlornen feineswegs von Gott zur VBerdammung
vorher beftimmt feyen.“ Sofort macht Gotſchalk dem Erzbifchofe
den Vorwurf, daß er in der Lehre vom freien Willen eben fo irrig
denfe, als Gennadius von Marfeille oder Caßianus. „Was die
Kirche des Herren“, fagt ?) er, „über den freien Willen zu glauben
hat, ift von den katholiſchen Vätern, namentlich von Auguftin in
verfchiedenen Streitfhriften gegen die Pelagianer, insbefondere im
Hypomneftifon feftgeftellt worden. Daher hätteft du an Auguftin
dich halten follen, ftatt den irrigen Meinungen des Gennadius an-
zubängen, welcher die verberblichen Lehren Caßian's angenommen
hatte.“ Beide, Gotſchalk und Rabanus, gebrauchen, obgleich im ent-
gegengefegten Sinne, das Hypomneftifon als eine ächte Schrift
Auguftin’s. Weiter fagt ) Gotſchalk: „Alle, welche Gott felig ge-
macht wiffen will, werden ohne Zweifel felig, und Niemand wird
felig, als wen Gott felig machen will. Unmöglic iſt, daß Jemand,
deffen Seligfeit Gott will, nicht wirklich felig werde; denn was
Gott will, fest Er auch in's Werk.“ Deßgleichen °) vom Berföh-
nungstode Chrifti: „Alle Gottloſen und Sünder, für deren Erlöfung
der Sohn Gottes fein Blut dahingab, hat die Güte des Allmäch—
7) Deutlich unterfcheidet Hinktmar a. a. O., ©. 25. u. 26. die chartula
professionis von dem liber virosae conscriptionis Rabano porrectus. —
2) Ibid. ©. 25. — 3) Ibid. ©, 118. — *) Ibid. ©. 149. — °) Ibid, ©, 211,
man vergleiche noch ©. 226. —
Innerliche Bewegungen in der Kirche der fränfifchen Reiche ꝛc. 835
tigen zum Leben vorherbeftimmt und gewollt, daß fie unwiderruflich
felig werben, aber durchaus nicht gewollt hat Gott die Seligfeit
derjenigen Gottlofen und Sünder, für welde der Sohn Gottes we—
der den Leib angenommen, noch die Kreuzesftrafe erbuldet, noch fein
Blut vergoffen hat, von welchen aud Gott vorherfah, daß fie fehr
böfe feyn würden, und welche ber Allmächtige höchſt gerecht zur
ewigen Marter vorausbeftimmte.“ Die Gegner hielten den firengen
Präpdeftinatianern hauptfächlich die Worte Pauli vor (1 Timoth. II, 4.)
Gott will, daß allen Menfhen geholfen werde. Got—
fchalf behauptete ) keck: „in dieſem Spruche fey der Ausdruck Alle
auf Diejenigen zu beziehen, welche wirklich die Seligfeit erlangen;
von Allen dagegen, welde das Heil nicht erreichen, wolle Gott auch
nicht, daß fie felig werden.“ Man fieht, der Mönch von Orbais
trug die Lehre Auguftin’s in ihrer herbſten Geftalt vor.
Die Mainzer Synode war jedoch anderer Meinung als er.
Durch das Urtheil der meiften dort anmwefenden Bifchöfe wurbe
Gotſchalk der Keserei fchuldig erklärt, und mit einem Schreiben
Rabans, das die Gründe feiner VBerurtheilung enthielt, an feinen
Borgefesten, den Erzbifchof Hinfmar von Rheims, zu weiterer Be-
ftrafung überliefert. Das Klofter Orbais gehörte nemlih zum
MetropolitansBerband von Rheims. Bor der Abreife mußte Got:
fchalf einen Eid ſchwören, daß er nie mehr feinen Fuß auf teutfchen
Boden fegen wolle, 7) Hiemit begann für den Unglücklichen eine
Reihe langer und bitterer Leiden. Außer Rabanus erhoben ſich in
der nächften Zeit noch zwei Metropoliten gegen ihn, und die Kirchen
ſämmtlicher drei dur den Vertrag von Verdun neu entflandenen
Neiche geriethen wegen feiner Sache in. die heftigſte Bewegung.
Schon aus diefem einen Umftande erhellt, daß es fich hier nicht
um die Perjon oder die eigenthümlichen Anfichten eines Mönchs han
delte, fondern daß Gotfhal’s Name als Stichwort allgemeiner und
wichtiger Fragen biente. Ehe wir in unferer Erzählung weiter
ſchreiten, müſſen wir erft die eben angedeuteten Verhältniſſe auf:
klären. |
Wie im ganzen Abendlande, fo befaß auch im großen fränfi-
hen Neid Auguftin’s Name unter allen Vätern den volliten Klang,
N) Ibid. ©. 150. Mitte, — 9 Ruodolfi fuldensis annales ad annum
848. Perz L., 365 unten,
53 *
836 III Buch. Kapitel 11.
aber die Lehre von der Gnadenwahl, an bie fi fein Ruhm haupt:
ſächlich knüpft, war darum doch nicht die herrfchende,
obgleich diejelbe zu Anfang des fehsten Jahrhunderts in Gallien
amtlich fiegte. ) Seitdem hatte ſich nemlich diefelbe Erfcheinung
wiederholt, wie 400 Jahre früher. Gensthigt durch die Unverträg-
Vichfeit des firengen auguftiniichen Lehrbegriffs mit dem Amte der
Predigt, war man zu jener mittleren Meinung zurüdgefommen,
welche ſchon im fünften Jahrhundert das Dogma des Bifhofs von
Hippo zu verdrängen begann. ?) Aus einer öffentlichen Urkunde,
welde vom Dberhaupte des Neiches veröffentlicht und durch ein abend:
ländiſches Concil feierlichft gebilligt worden ift, Fan man den Beweis
führen, daß die franfifche Kirche feit 790 zum femipelagianifchen Dogma
fhwor. Früher ift bemerkt worden, daß das dritte Buch des foge-
nannten Farolinifchen Werks mit einem Glaubensbekenntniß beginnt.
‚Dort ?) findet fich folgende Stelle: „Wir erfennen die Freiheit des
menfhlihen Willens an, fo jedoch, daß wir zugleich fagen,
ber Menſch bedürfe ftets der göttlihen Gnade; wir ver-
dammen fowohl Die, welde mit Mani lehren, der Menſch fönne
die Sünde nicht meiden, als Die, welde mit Jovinian behaupten,
ber Mensch könne nicht fündigen. Denn Beide heben die Freiheit
des Willens auf. Wir glauben, daß es in des Menfchen Madıt
ftehe zu fündigen, oder nicht zu fündigen, indem wir ſtets die Freiheit
des Willens fefthalten. Dieß ift die Achte Ueberlieferung Fatholifcher
Lehre, zu der wir ung von ganzer Seele befennen, und bie wir
mit den Worten des heiligen Hieronymus auegedrüdt
haben.“ Man muß bdiefes in den Farolinifchen Büchern niebergelegte
Bekenntniß von göttliher Gnade und menfchlicher Freiheit gleichfam
als den amtlichen Ausdrud fränfifcher Rechtgläubigfeit betrachten.
Nun war es nicht blos die Pflicht, fondern auch das wichtigfte Recht
der Metropoliten, den einmal. feftgefegten Lehrbegriff zu wahren.
Jede Nachläßigkeit in diefem Punfte führte unfehlbar zum Sturze
ihrer Macht. Um dieß zu begreifen, muß man von den neuern
Zuftänden, namentlich der proteftantiihen Kirche, wo der Clerus
faft gar feinen weltlihen Einfluß mehr befist, abſehen, und fi)
in bie Berhältniffe des achten und neunten Jahrhunderts zurüdver:
1) Siehe den zweiten Band dieſes Werks ©. 1017. — 2) Ibid. ©, 700
u. 725. — 3) Bei Golaft a. a. DO. ©, 79 Mitte. BETT:
Innerliche Bewegungen in der Kirche der fränfifchen Reiche c. 837
fegen. Unter Karl dem Großen war bie Cleriſey eine wohlgeglie-
derte und fehr mächtige Körperfchaft geworden. Der ungefchmälerte
Fortbeftand jeder folhen Kafte hängt aber davon ab, daß bie ganze
Geſellſchaft einen Willen hat, einem Antriebe folgt. Leßteres ift
nur dann möglich, wenn die Gewalt ausjhlieglic in den Händen
der Häupter liegt, und wenn bie untergeordneten Glieder den
Borgefegten unbedingten Gehorſam leiſten. Wendet man diefen
allgemeinen Sat auf die eigenthümliche Stellung der Geiftlichfeit
an, fo folgt weiter, daß weil ber Klerus hauptfächlich als Lehrftand
im Staate wirft, die Feftfekung des Lehrbegriffs nur den Häups
. tern, d. b. den Metropoliten, nicht aber niedern GElerifern, Preg-
bytern, Diafonen oder gar bloßen Mönchen zuftehen kann. So
wenig es fi mit dem Weſen einer Kriegsmacht verträgt, daß ber
gemeine Soldat dem Feldherrn gegenüber feine eigene Meinung
geltend macht, eben fo wenig durfte in einem, nach Art des frän-
fiihen, geordneten Clerus irgend ein niederer Diener der Kirche
wider den Willen der Bifchöfe den Lehrbegriff der Kirche mindern,
mehren, verändern. Denn wenn Lebteres gefhah, wenn z. DB. ein
Mönch fih herausnahm, das von der ganzen Kafte anerkannte
Dogma für irrig zu erflären, fo erichienen bie Bifchöfe als Keser,
und ihr Anfehen war dahin. |
Was wir hier als möglichen Fall vorausfegen, ift wirklich ge—
fchehen. Der Mönch Gotſchalk hat ein anderes ald das von ber
fränfifchen Kirche bisher anerkannte Dogma aufgeftellt, und dadurch)
mittelbar die Bifchöfe für Irrlehrer erklärt. Es liegt daher in der
Natur der Dinge, daß die bedrohten Kirchenhäupter fih zur Wehre
feßten. Sie fonnten in dem Unternehmen des Mönch's nur einen
Verſuch erbliden, ihre Macht zu ſtürzen. Sa die auf ung gekom—
menen Quellen berechtigten uns fogar zu der Behauptung, daß die
Metropoliten in dem Thun des Mönch's nicht blos die Meuterei
eines Einzelnen, fondern einen von Mehreren entworfenen und
wohl überlegten Plan, oder eine Verſchwörung fahen. Oben iſt
die Stelle angeführt worden, wo Hinfmar fagt, Gotfchalf fey wider
bie Kirchengefege von einem Chorbifchofe zum Presbyter geweiht
worden. Diefe Weihe war ein wichtiger Aft, denn fie gab dem
Mönche das Recht, vor dem Volke zu predigen, fie fegte ihn folg—
lich auch in Stand, feine eigenthümlichen Anfichten unter der Menge
zu verbreiten. Nun üt gewiß, daß Hinfmar den Chorbiſchof, der
838 IT. Buch. Kapitel 11.
Gotſchalk weihte, vielleicht den ganzen Stand der Chorbifchöfe, als
Mitſchuldigen Gotſchalk's behandelt hat. Ehe wir den Beweis
führen, müffen wir Einiges über die amtliche Wirffamfeit der Chor:
bifchöfe jagen. Sogenannte Land» oder Chorbifchöfe find, wie an
einem andern Drt gezeigt worden, ') zu Ende bes dritten Jahr:
bunderts aufgefommen, feit das Chriftenthum ſich auf den Dörfern
zu verbreiten begann. Nachdem jedoch der Sieg der Kirche über
die römische Welt entfchieden war, fuchten die Stadtbifchöfe ſich der
armen und läſtigen Namensbrüder auf dem Lande zu entledigen.
Auf mehreren morgenländifhen Synoden wurde im Laufe des vier:
ten Jahrhunderts das Amt der Ehorbifchöfe erſt befchränft, dann
abgefchafft. I Im Abendlande hielten fie fich dagegen länger, weil
eigenthümliche Verhältniffe ihre Fortdauer begünftigten. Die abelie
gen Herrn, welche fih unter den fpäteren Merowingern der frän:
fiihen Stühle bemächtigten, hatten wenig Luft, den geiftlichen Ge:
fchäften ihres Berufs obzuliegen, ſintemal fie genießen, nicht aber
der Kirche nügen wollten. Sie mußten ſich daher nad tauglichen
Laftträgern oder Stellvertretern umfehen, um ihnen die vorkommen—
den Arbeiten zu übertragen. Zu biefem Zwecke wurden, nach griechi—
fchem Vorbild, Chorbifchöfe eingefest. „Die Anftellung von Chor:
bifchöfen,“ heißt es )) in einem Gapitulare Karl’s des Großen, das
wir noch weiter benügen werden, „it das Werk folder Kirchen:
häupter, die einzig auf ihre Bequemlichkeit und auf Genuß bedacht find.“
Bald entftand jedoch Streit und Zwietracht aus der neuen Ein:
richtung. Denn die Chorbifchöfe fuchten fo viel als möglich Gewalt
an fich zu reißen, und die Droßnen, denen fie dienten‘, entbehrlich
zu machen; ein Beftreben, das Widerftand der Bedrohten hervor:
rief. Ein ſolcher Zuftand vertrug fic nicht mit regelmäßiger Ordnung.
Sobald daher Karl der Große feine firenge Kirchenzucht einzuführen
begann, nahın er auch darauf Bedacht, die Wirffamfeit der Chor:
bifhöfe in fefte Gränzen einzudämmen. Auf dem Reichstage zu
Aachen vom Fahre 789 wurden die älteren Canones von Antiochien
und Laodicen erneuert, ) kraft deren ein Chorbifchof nichts ohne
Erlaubniß des wirklichen Bifchofs der Diöceſe unternehmen fol.
Diefe Verordnung feheint nichts gefruchtet zu haben. Der König
8.6.68. — %)Ibid. — 3) Eapitulare vom Jahr 799 $. 1.
Baluzius I., 527 unten. — *) Baluzius I., 216 unten 217 9 9.
Innerliche Bewegungen in der Kirche der fränfifchen Neiche ıc. 839
griff daher das Uebel an der Wurzel an, indem er 799 Inskünftig
je wieder Chorbifchöfe einzufeßen verbot. in zweiter Artikel vom
gleichen Jahre ſchreibt vor: alle kirchlichen Handlungen irgend welcher
Art, die ein Chorbifhof vorgenommen, müßten unverzüglich von
ben eigentlichen Biſchöfen wiederholt werden. ) Damit war dag
Amt der Chorbifchöfe jo gut als niedergefehlagen. Gleichwohl bes
ftanden fie big zur Mitte des neunten Jahrhunderts fort, vermuthlich
weil es noch immer Bifchöfe gab, die es läſtig fanden, felbft geiftliche
Berrichtungen zu verfehen, und deßhalb Stellvertreter nöthig hatten.
Allein um 845 brad ein Sturm wider die Ehorbifchöfe im Neiche
Karl’s des Kahlen Ios. Flodoardus berichtet 2) in feiner Gefchichte
der Rheimſer Kirche: der Metropolit Hinfmar habe wiederholt an
Pabft Leo IV. (847—855) gegen die Anmaßungen der Chorbifchöfe
gefchrieben. Die gleiche Anficht fpricht Hinfmar in einer noch vor:
bandenen Abhandlung ?) aus, wo er offenbar auf das Capitular
von 799 anfpielend, fagt: die Einfegung der Chorbifchöfe fey ein
ber Kirche gegebened Aergerniß, und falle der Trägheit und Ge-
nußfucht fchlechter Bifchöfe zur Laſt. Hieraus erhellt, dag Hinfmar
von Rheims wo nicht an der Spitze der Parthei ftand, welche bie
Shorbiichöfe aufgehoben wiffen wollte, fo doch in ihrem Sinne
wirkte. Diefelbe Parthei fuchte auch die angefehenften Kirchenhäupter
des teutfchen Reichs auf ihre Seite zu ziehen. Um S45 befuchte
Drogo, Bischof von Mes, den Mainzer Metropoliten und forderte
ihn auf, feine Meinung in Betreff der Chorbifchöfe abzugeben.
Raban erfüllte Drogo's Wunſch; in einer auf ung gefommenen
Heinen Schrift *) entfchied er zu Gunften der Chorbiihöfe. Da das
Amt, meint er, ſchon in den erften Zeiten der Kirche eingefegt wor:
ben fey, fo folle man es befteben Yaffen. Zugleich Außert er fein
Erftaunen darüber, daß die Gegenparthei den Beruf der Chor:
bifchöfe fo fehr verachte, und denfelben feine andere, als die allges
meinen mit der Priefterweihe verbundenen Rechte zugeftehen wolle.
Dieß ftimme, fagt er, weder mit der alten noch) mit der neuen
Lehre und Kirchenzucht überein, und zeuge nicht yon Einfiht noch
i) Ibid. 327 fig. F. A. 2. — 2) Hist. rhemens. II., 10. im vierten
Band der Werke Sirmond’s ©. 119 unten: — 9) Opusculum ad episcopum
quendam Opp. II., 756 Mitte. — *) Abgedrudt von Baluzius in feiner Aus:
gabe der Schrift des Petrus von Marka de concordia ete. I., 285 flg.
840 11. Buch. Kapitel. 11.
Demuth, fondern von Neid und Stolz, der die Einrichtungen ber
heiligen Väter verwerfe. Allein im Reiche Karl's des Kahlen fiegte
die entgegengefegte Anficht. Auf einer Synode zu Paris, welche
außer vielen Bifchöfen die Metropoliten Landran von Tours,
Wenilo von Send, Hinkmar von Nheims, Paul von Rouen
befuchten, ) wurden S49 ſämmtliche damals im Gebiete
KRarl’s des Kahlen angeſtellte Chorbiſchöfe abgefegt. 9)
Die Anwefenheit Hinkmar's von Nheims und die Gleichzeitigfeit beider
Borfälle machen es ung im höchſten Grade wahrfcheinlich, daß diefer
Beihluß mit der Sache Gotfhalfs in einem engen oben ange:
deuteten Zufammenhange fteht.
Mar ift alfo: die Gegner Goiſchalks fahen in der verfuchten
Wiedererweckung bes firengen auguftinifchen Lehrbegriffs einen zwi:
fhen Mehreren verabredeten Plan, die Gewalt der Metropoliten
anzutaften. ine andere Frage ift, ob Gotſchalk felbft von Anfang
an biefen Zweck mit bewußter Leberlegung verfolgte? Er hatte
guten Grund, ſich über den Clerus zu beflagen, denn die Häupter
beffelben hielten ihn wider feinen Willen im geiftlihen Stande zurüd.
Bei dem beftigen Charakter, den er laut allen Nachrichten befaß,
erfcheint es nun nichts weniger als unglaublich, daß er Rache fochte,
und war dieß der Fall, fo muß man befennen, daß er das rechte
Mittel gewählt Hat. Auguftinus genoß des größten Anfehens in
der fränfifchen Kirche, Welch' ein Schlag für die Bischöfe und Metro:
politen, wenn e8 gelang, dem Bolfe die Augen: darüber zu öffnen,
daß bie von Diejen vorgetragene Lehre in wefentlihen Punften von
der Richtichnur des allverehrten afrifanifchen Vaters abweiche! Aller:
dings find Spuren vorhanden, welche es zweifelhaft machen, ob
Gotſchalk bei feinem Verſuche, dem firengen Lehrbegriff Auguftin’s
wieder Anerkennung zu verſchaffen, Nebenabfichten hegte. Er war,
wie wir fehen werben, bis zum Fanatismus für feinen Auguftin
eingenommen: ein Grad von Hingebung, ber fih felten bei Ehr—
füchtigen findet. Aber anderer Seits darf man nicht überfehen, daß
der Mönch von Drbais Jahre lang mit größter Beharrlichfeit wider
Die, welche das amtlihe Bekenntniß vertheidigten, Parthei
machte, daß er, um feinen Zwed zu erreichen, dag ganze Neid)
durchzog, nad allen Seiten Verbindungen anfnüpfte, und bie lei—
— 0
') Die Namen bei Manft XIV., 925 oben. — 2) Ibid. 927 unten.
Innerliche Bewegungen in der Kirche der fränfifchen Reiche c. 841
denfchaftlichfte Thätigfeit entwidelte. Wo er hinkam, warb er An-
bänger; auch auf der Synode von Mainz erfchien er nicht allein.
Die Jahrbücher von Xanten geben zu verftehen, ) daß er eine
Schaar Mönde mit fih gebracht habe, die nach erfolgtem Urtheil
der Synode vom Pöbel mißhandelt, und feitdem gleichfalld nad
Franfreich zurüdgefchiett worden feyen. Um rein theologifher
Zwede willen, maden die Menfchen, fo weit wir die Welt fennen,
feine ſolche Anftrengungen. Es fcheint daher am geratheflen an:
zunehmen, daß Fanatismus und Rachfucht gleichmäßig auf ihn wirkte,
Allein es handelt fidy nicht blos um feine Perfon. Nie würde aus
dem Lärm, den er erhob, eine folhe Bewegung entftanden feyn,
wenn nicht Viele ihn unterftügt, und den Metropoliten, welche ihn
befämpften, die Spige geboten hätten. Eine ſolche Theilnahme fett
eine 'weitgediehene Abneigung gegen die Metropolitangewalt voraus.
Schon unter Karl dem Großen gehörten die Schriften Auguftin’g
zu den gelefenften. Gewiß haben daher bereits in feinen Tagen
Manche das Geheimniß entdect, daß, fo gefeiert auch der Name des
Bischofs von Hippo fey, das Hffentliche fränfifche Befenntniß mit feiner
Lehre von der Gnade nicht übereinftimme. Gleichwohl unternahm
es damals Niemand, den Widerfpruch zu enthüllen, und hätte eg
irgend Einer gewagt, er wäre alsbald durch die Kirchenmacht, bie
in ihrer Blüthe ftand, zermalmt worden. Seitdem aber hatten fich
bie Umftände geändert! Die Händel Gotfhalfs find zugleich ein
Kennzeihen des Berfalls der Metropolitangewalt, und ein Verſuch,
den Sturz derfelben zu befchleunigen. Nun wollen wir noch daran
erinnern, daß die Beftrebungen des Mönchs von Orbais in die
Sahre zwifchen 829—50, alſo genauin diefelbe Zeit fallen,
in welder die Sammlung der pfeudoifidorifhen Defre-
talen auffam und zuerſt Anerfennung fand. Ein und
berfelbe Geift offenbart fi) in beiden Beftrebungen. Was jenes Ge-
jegbud auf dem Gebiete des Kirchenrechts verfucht, unternehmen
Gotſchalk und feine Befchüger im Umkreiſe der Lehre. Kampf gegen
die Metropolitangewalt ift ihr gemeinfchaftlicher Zweck.
!) Annales Xantenses ad annum 848 Perz II., 229 oben, womit zu ver=
gleichen eine Stelle bei Flodoard bist. rhemens. II., 21: Rabanus — Godescal-
eum — cum quibusdam complicibus suis ad Hincmarum direxit,
bei Sirmond IV., 165 Mitte. |
»
842 IM. Buch. Kapitel. 11.
Bon Mainz wurde Gotfhalf, wie wir oben berichtet, nad)
Rheims ausgeliefert. Dort gerieth er in die Hände des Erzbifchofs
Hinfmar, den wir fchon öfter genannt haben. Hinfmar, geboren
806, flammte aus einem vornehmen weſtfränkiſchen Geſchlecht. In
zarter Jugend trat er in das Stift St. Denis, wo er unter ber
Leitung des Abts Hilduin zum Ganonifer herangebildet wurde, !)
Später zog ihn Kaifer Ludwig an feinen Hof. Nachdem er längere
Zeit daſelbſt geweilt hatte, gieng er in fein Klofter zurück, ohne
Neigung zu großen Kirchenwürden, wie er felbft fagt. Bald bar:
auf nahm der Abt Hilduin Theil an der Verſchwörung gegen den
Kaifer, und fiel in Folge davon bei Ludwig in Ungnade. Hink—
mar begleitete feinen Abt in die Verbannung nad) Corvey, wandte
aber indeß feinen ganzen Einfluß bei Hofe auf, um die Wieder:
berftellung Hilduin’s auszumwirfen, was ihm auch gelang. Derfelbe
erhielt feine Abteien St. Denis und St. Germain zurüd. Man
darf, glauben wir, aus dieſen Thatfachen fchliegen, daß Hinfmar
in feinem Herzen für die Parthei der Einheit fühlte, Doc ließ er
fi) weder jest noch nachher. in irgend eine der Berfchwörungen
hineinziehen und genoß fortwährend die Gunft des Kaifers, der ihn
zu verichiedenen Gefchäften gebrauchte. Nach Ludwig's Tode nahm
ihn Karl der Kahle in feine Dienfte. Diefer war eg auch, ber
ihm das, feit zehn Jahren durch Ebo's Sturz erledigte, Erzbisthum
Nheims zumandte. Wir haben oben erzählt, 2) daß Ebo auf ein
Siündenbefenntniß hin, das er felbft ablegen mußte, zu Diedenhofen
835 entfeßt worden war. Geitdem lebte er in verfchiedenen Klö—
ftern als Gefangener, immer auf eine günftige Wendung hof:
fend, die nad) dem Tode des Kaifers, aber nur auf kurze Zeit, ein-
trat. Kaum hatte nemlich Ludwig der Fromme zu Ingelheim den
Geift aufgegeben, als Lothar fi Franciens bemächtigte. Ausgang
840 fette er durch ein Defret feinen Anhänger Ebo wieder in das
Erzbistfpum von Nheims ein.) Ebo, welcher vorgab, die Abdan-
fung vom Jahre 835 fey ihm mit Gewalt abgedrungen worden,
und darum nichtig, blieb ungefähr eilf Monate im Beſitz des Stuhls,
bis die Siege Karls des Kahlen im Jahre 841 feiner Amtsführung
abermal ein Ende machten. Er floh nun zu Kaifer Lothar, ber
) Er fagt dieß und das Folgende felbft opp. II., 504 oben. — 2) ©. 773, —
3) Flodoardus hist, Il., 20 bei Sirmond a. a. D. ©. 106.
Pa .
Innerliche Bewegungen in der Kirche der fränfifchen Neiche c. 843
ihm die Abteien Stablo und Bobbio ſchenkte. Lothar’s Sohn, Lud—⸗
wig, z0g 844 mit einem Heere nah Nom. bo begleitete ihn auf
diefem Zuge, um bei dem neuen Pabfte Sergius II, dem Nadfol-
ger Gregor’s IV., Hülfe zu fuchen. Er erreichte jedoch feinen Zweck
nicht: Hinkmar berichtet, 1) Sergius habe die Bitte Ebo's, daß er
ihm wieder den Stuhl von Rheims zuerfennen möchte, zurüdges
wiefen und dem geweſenen Erzbifchof blos die Laienfommunion
bewilligt.
Sp fianden die Sachen, als Karl der Kahle das Nheimfer
Erzbisthum, das bisher durch bloße Stellvertreter, den Abt Fulko
(bis 844) und feitdem durch Noto verwaltet wurde, 2) dauernd zu
befegen befchloß. Hinfmar war der Erforne, und zwar erfolgte bie
Wahl 845 auf vollig canonifche Weife, durch den Clerus und bie
Gemeinde von Rheims unter Mitwirfung dev Bifchöfe des Erzfpren-
geld, und mit Genehmigung des Könige. ?) Dennoch wurde fie
im folgenden Jahre beftritten. Durch das Vorgeben, ein Theil der
Rheimſer Geiftlichfeit fey unzufrieden über Hinfmar’s Erhebung,
wußte Kaifer Lothar, welder Hinfmar’n als treuen Anhänger feines
Bruders Karl haßte, den Pabſt Sergius zu beftimmen, daß Diefer
dem Metropoliten von Rouen Guntbold den Befehl ertheilte, Die
Nechtmäßigfeit der Abfegung Ebo's von Neuem zu unterfuchen,
Diefes Berfahren des Pabſt's ift fo auffallend, dag man an dem
Hergang zweifeln möchte, wenn er ſich nicht auf die eigene Aus:
ſage *) des Hinfmar ftügte. Denn Sergius benimmt ſich offenbar
als Herr der fränfifhen Kirche, wie wenn die Einfesung der Bis
Ihöfe von ihm allein abhienge, und der König nichts barein zu
fprechen hätte. Indeſſen find die Nachrichten, die wir haben, zu
bürftig, als daß wir in Stand gefest wären, ein ficheres Urtheil
zu füllen. Auch fcheint es dem Pabft mit feinen Schritten gegen
Hinfmar nit Ernft gewefen zu feyn. Der Meiropolit Guntbold hielt
bem erhaltenen Auftrage gemäß zwei Synoden, die eine 846 zu
Trier, die zweite 847 zu Paris, aber auf der erften erfchienen die
päbftlichen Legaten nicht, welche Sergius zu ſchicken verfprochen
hatte, auf der zweiten ftellte ſich Ebo nicht, der vorgeladen worden
war. Die Sache endigte damit, daß das Parifer Concil die Ab:
) Opp. I., 326 unten fl. — 2) Ibid. M., 272, — 3) Ibid, u, 273
oben. — #) Ibid.
844 II. Buch. Kapitel 11.
fesung Ebo's, wie die Erhebung Hinfmar’s für rechtmäßig erklärte.
Hinfmar und feine Freunde fanden hierauf füt gut, die Wahl:
urfunde von faft allen Bifchöfen Frankreich's unterfchreiben zu Taffen
und mit einem ausführlichen Bericht an den Stuhl Petri zu über:
Ihiden. Als diefe Sendung in Nom eintraf, lebte Sergius bereits
nicht mehr; fie wurde feinem Nachfolger Leo IV. übergeben. })
Während deſſen war Ebo bei Kaifer Lothar in Ungnade gefallen,
weil er für ihn eine Gefandtfhaft nach Griechenland nicht über:
nehmen wollte. Bon Lothar verfolgt und feiner Abteien beraubt,
fuchte der Unglüdliche eine Zuflucht bei Ludwig dem Teutfchen, der
ihm das Bisthum Hildesheim gab. 2) Dort flarb Ebo im Jahr
851. Bieles bleibt in der Gefchichte der Erhebung Hinkmar's und
feiner Berhältniffe zu Ebo und Sergius II. dunkel, doch fieht man
klar genug, daß bie Zwiftigfeiten der Söhne Ludiwig’s des Frommen
untereinander, fo wie die im fränfifchen Clerus einreißende Unbot:
mäßigfeit dem Stuhle Petri eine Macht in die Hände fpielte, die
nicht viel Hinter den Grundſätzen des falſchen Iſidor zurückſtand.
Obgleich Hinkmar durch den Tod Ebo's von einem furchtbaren Geg-
ner befreit war, wurde doch auch noch fpäter die Rechtmäßigkeit
feiner Weihe angegriffen, was fih zum Theil aus feinem Charakter
erklärt. Dieſer kühne und hochgefinnte Kirchenfürft vertheidigte mit—
ten in der zerrütteten Zeit, in welcher er lebte, mit unbeugfamem
Muthe die Rechte der Landeskirche und der Metropoliten gegen die
Suffragane, wie gegen die Krone und den römifhen Stuhl, An
Feinden fonnte es ihm daher nicht fehlen.
Bon folder Art war der Mann, dem der Mönd Gotſchalk
im Herbfte 848 zugefchicft wurde. Da das Klofter Orbais, wel:
chem Gotfchalf angehörte, im Suffraganfprengel von Soißons Yag,
fo übergab ihn Hinfmar zunächſt dem Bifchofe diefer Stadt Rothad,
mit dem Befehl, ihn zu verwahren und eine Unterfuchung einzu:
leiten. Im nächſten Jahre (849) brachte er auf dem Neichstage
von Chierfey die Sache des Mönches vor. Die daſelbſt verfammelten
Bifhöfe und Mönche entwarfen ein Glaubensbefenntnig ?) in vier
Artifeln, das im Sinne der oben angeführten Stelle aus den faro:
linifchen Büchern abgefaßt ift: „Gott Hat den Menſchen frei gefchaffen
!) Hinemari opp. II., 305. 273. — ?) Epistola synodica coneilii Tri-
eassini Manfi XV., 794 oben. — 3) Manft XIV., 920 fig.
Innerliche Bewegungen in der Kirche ver fränkifchen Reiche ꝛc. 845
und als eim freies Weſen ind Paradies geſetzt. Vermöge feined
freien Willens fündigte der Menſch, fiel und ward eine Maffe des
Berderbend. Aus diefer Maffe hat der Allmächtige kraft feines
Borherwiffens Einige erwählt, welde Er auch zum ewigen Leben
vorberbeftimmte. Bon den Andern, welde Er in der Maffe des
Berderbens ließ, fah Er vorher, daß fie zu Grunde gehen würden,
aber Er hat die Berlornen keineswegs zum Verderben vorher beftimmt.
Es giebt nur eine VBorherbeftiimmung, die fih auf das Gefchenf der
Gnade und die gerechte Vergeltung bezieht. Wir haben die Frei:
beit des Willens in Adam verloren, aber in Chriſto unferem Herrn
wieder errungen, darum befigen wir jeßt Freiheit zum Guten, fo
jedoch, daß die Gnade zuvorfommt und uns helfen muß. Deß—
gleichen befigen wir Freiheit zum Böfen, aber ohne Zuthun der
Gnade. Gott will das Heil aller Menfchen, obgleich nicht Alle ge:
rettet werben. Daß Einige gerettet werden, ift das Werk der Gnade,
daß Andere zu Grunde gehen, ift ihre eigene Schuld. Chriftus hat
für alle Dienfchen geduldet; obgleich nicht Alle durch dag Geheimniß
feines Leidens das Heil erlangen. Nicht die Befchaffenheit des
Dpfers ift Urfache des Verderbens der Berlornen, fondern ihr eiges
ner Unglaube und ihr Mangel an Liebe.“ Sofort wurde Got—
half aufgefordert, dieſes Glaubensbefenntniß zu unterschreiben.
Mit Fühner Entfchloffenheit wies er die Zumuthung ab, und übergab
dagegen der Synode eine Schrift, welche er zu Bertheidigung feiner
Lehre von einer doppelten Prädeftination aufgefest hatte. Ueber
fein Betragen auf der Synode berichtet ) Hinfmar folgendes: „ch
ließ ihn vor die Bifchöfe und namentlih vor den Metropo—
liten Wenilo von Sens führen. In ihrer Gegenwart wußte
Gotſchalk nichts Vernünftiges zu fagen, noch gab er auf die an
ihn gerichteten Fragen genügende Aniwort, fondern er brach, wie
ein Befeffener, in Schimpfworte gegen einzelne Perfonen aus. Wegen
diefes unverfchämten Uebermuths urtheilten erft die anmwefenden Aebte
und auch die übrigen Monde, daß er gemäß der Regel des heil.
Benedikt die Geißelung verdiene. Sodann ward er gleicher Weife
yon den Bifchofen verdammt, weil er den canonifchen Borfchriften
zuwider die bürgerliche und kirchliche Ruhe geftört, feine Fehler
trogig geläugnet habe, auch auf feine Art fich demüthigen wollte“,
i) Bruchſtück eines Briefs, abgedrudt bei Manguin a. a. O. IL, b, ©; 107,
‚846 II. Bud. Kapitel 11.
Noch befigen wir den Urtheilfpruch, der über ihn ergieng. Derfelbe
lautet fo: !) „Bruder Gotſchalk! wiffe, daß dir das hochheilige Safra-
ment des Priefteramts, das du unregelmäßig dir angemaßt und durch
beine Sitten, böfe Handlungen und verfehrte Lehren gemißbraucht
haft, nad dem Urtheil des heil. Geiftes, deſſen Gnadengefchenf
befagtes Amt ift, und durch die Kraft des Blutes unferes Herrn
‚genommen, und baß dir gänzlich verboten ift, daſſelbe in Zufunft
zu verwalten. Weil du dich überdieß erfühnt haft, mit Verachtung
der Canones, und wider die möndifchen Pflichten, die Ruhe der
Kirche und des Staats zu flören: fo befchließen wir kraft bifchöf-
licher Gewalt, daß du aufs Härtefte mit Schlägen gezüchtigt, und
den Kirchengefegen gemäß, in ein Gefängniß verftoßen werden folleft.
Damit du dir das Lehramt nicht ferner anmaßen fünneft, legen
wir deinem Munde fraft des ewigen Worts immermwährendes Still:
fchweigen auf.“ Rückſichtslos wurde diefer Spruch vollzogen. Die
Sahrbücher von Troyes ?) berichten: Gotſchalk fey Öffentlich gepeitſcht
und gezwungen worden, das Buch, welches er der Synode über:
geben hatte, zu verbrennen. Nemigius von Lyon, der Gegner
Hinfmar’s, fügt bei: ) man habe fo lange auf den Unglüdlichen
hineingefchlagen, bis er halbtodt jene Schrift in einem Feuer, das
vor ihm angezündet worden, mit eigener Hand verbrannte. Hinf-
mar felbft geſteht *) die firenge Beftrafung Gotfhalf’s ein. Schon
im Alterthum wurde fie fchwer getadelt. Nemigius nennt?) das
Berfahren gegen den Mönch ein Beifpiel unerhörter Graufamfeit
und Härte. Zu feiner Bertheidigung beruft fih Hinfmar 9) auf eine
Stelle der Regel des heil. Benedift und den 38ſten Canon ber
Synode von Agde. Man fann nicht läugnen, daß beide Geſetze
förperlihe Züchtigung ungeborfamer Mönde mit Haren Worten
geftatten. Bon Seiten des ftrengen Rechts mag daher das
über Gotfchalf verhängte Urtheil nicht wohl angegriffen werden. Ob
es fi) aber mit dem Geilte des Evangeliums vertrug, ift freilich)
eine andere Frage. |
Hinfmar, der, wie man fieht, die Seele der Berfammlung zu
Chierfy war, verfuhr mit großer Klugheit. Er ließ erft die Aebte
1) Manſi XIV., 924 unten. — 2) Prudentii Trecensis,. annales ad an-
num 849 Perz I,, 444 oben. — ?) Bei Mauguin a. a. ©. IL, b. ©. 109
unten. — *) Opp. I., 21 Mitte. — 5) Am eben angeführten Orte bei
Mauguin. — ©) Opp. I, 443 flg.
Snnerliche Bewegungen in der Kirche der fränkiſchen Reiche ꝛc. 847
und Mönche, dann die Biſchöfe über Gotſchalk abftimmen. Beſon⸗
dere Mühe gab er fih, wie aus der oben angeführten Stelle erhellt,
den Metropoliten von Send Wenilo auf feine Seite zu ziehen.
Gleichwohl fah er voraus, daß feineswegs alle- Bifchöfe einer Mei-
nung mit ihm feyen, und daß Gotſchalk's Sache zu Kämpfen führen
werde. Nach Beendigung der Synode fhrieb er!) an den Bifchof
Prudentius von Troyes, der nicht in Chierſy erfehienen war, warum
er denn ausgeblieben fey, ertheilte ihm Nachriht von den gefaßten
Beſchlüſſen, und erbat fih feinen Rath, ob er den Gefangenen
zum Abendmahl zulafien folle? Dffenbar fürdtete Hinkmar Wider-
ftand von Seiten dieſes Mannes, worin er fi nicht täufchte. Alg
einer der Erften ift Prudentius gegen ihn aufgetreten. Auch
Einem der zu Chierſy erfchienenen Biſchöfe mißtraute er. In einem
faft zwanzig Jahre fpäter an den Pabſt Nikolaus gefchriebenen Briefe
fagt Hinfmar, ®) er habe nicht für gut gefunden, nad) dem Schluffe
der Synode den Mönch feinem Didcefanbifhof Rothad von
Spißons in Haft zu geben, weil Rothad felbft des Hangs zu Neue:
rungen verdächtig geweſen ſey. Wir wollen zum Voraus bemerken,
das Hinfmar fpäter mit eben dieſem Rothad fihlimme Händel zu
beftehen hatte. Er fannte alfo ſchon damals feine Feinde. Wirklich
wurde Gotfhalf nicht dem Biſchofe von Soißons, fondern dem
Abte Halduin vom Klofter Hautvilliers, der an der Synode zu
Chierſy Theil genommen, ?) zur Einfperrung übergeben.
Gotſchalt's Muth war dur die furdtbare Mißhandlung, die
er erlitten, nicht gebrochen, Im Gefängnifje eiferte er wider feine
Gegner, unter welchen er damals noh Raban am Meiften haßte,
„Du wagft,“ heißt es +) in einem Briefe des Erzbifhofs Amolo
von Lyon an Gotſchalk, „alle Diejenigen, welche mit den Waffen
des wahren Glaubens fid) deinen unjinnigen Behauptungen wider:
fegen, Ketzer zu ſchelten und nennft fie, nad) dem Namen bes from:
men und Fatholifchen Bifhofs von Mainz, Rabanifer“ Zugleich
fhrieb er zwei noch vorhandene ?) Glaubensbefenntniffe: ein kurzes
und ein längeres, In beiden bleibt ev feiner früher ausgeſproche—
nen Lehre treu, wiewohl erfih dem Scheine nad) der Gegenparthei
1) Flodoardus hist, rhem. III., 24. Sirmond opp. IV., 170 Mitte. —
?) Opp. II., 262 Mitte. — 3) Hincmari opp. IL, 21 Mitte. — *) Amolonis
epistola ad Godescaleum, abgedrudt Sirmondi opp. II., 902 der venetian.
Ausgabe, — 5) Abgedruckt bei Mauguin a. a. ©. L, ©. 7—25,
848 111. Bud. Kapitel 11.
etwas nähert. Das erfte beginnt mit den Worten: „ich glaube und
befenne, daß der allmächtige und unveränderliche Gott die heiligen
Engel und die auserwählten Menfchen vorhergefepen und aus bloßer
Gnade zum ewigen Leben vorausbeitimmt hat, ich glaube aber auch),
daß Ehenderfelbe den Teufel, das Haupt aller böfen Geifter, fammt
feinen abtrünnigen Gefellen und den verworfenen Menſchen, feinen
Gliedern, wegen ihrer eigenen fünftigen von Gott auf’s
gewiffefte vorhergefehenen böſen Werfe, durch fein gerechtefteg
Urtheil nach Verdienft zum ewigen Tode vorberbeftimmt hat.“ Das
längere Glaubensbekenntniß if, nach dem Vorbilde NAuguftin’s, in ein
Gebet, oder eine Anrede an Gott und Jeſum eingekleidet. „Ich
glaube, daß Du o Herr! von Ewigfeit alles Fünftige Gute und
Böſe vorhergefehen, doch nur das Gute prädeftinirt haft. Aber das
(von Dir prädeftinirte) Gute theilt fih zweifah: in Wohlthaten der
Gnade und in gerechte Gerichte. Demgemäß haft Du wie bie
Auserwäplten zum ewigen Leben, aljo die Verworfenen zur ewigen
Strafe vorherbeftimmt.“ Nachdem er eine Menge Stellen aus der
Schrift und den Bätern für feine Meinung angeführt, fährt er D
fort: die Prädeſtination fey zwar ihrer innerlihen Natur nah nur
eine, ihrer Wirfung nach zwiefach, fofern fie ſich auf die Werfe der
Gnade wie der Strafe beziehe. Zulest fpricht ev ) den Wunſch
aus, daß der Allmädtige ihn würdigen möge, feinen Glauben an
folde zwiefache Vorherbeftimmung in Gegenwart des Königs, der
Biſchöfe, Priefter, Mönche, des Volks, durch ein Gottesurtheil
zu befräftigen. „Bier Fäſſer, angefüllt mit kochendem Waffer, Del,
Pech follen eines hinter dem andern hingeftellt und ein Scheiter:
haufen angezündet werden; alsdann fey es mir geftattet, unter
Anrufung Deines ypreiswürdigften Namens, zum Beweiſe meines
oder vielmehr des Fatholifchen Glaubens, in eines nad dem andern
hineinzufteigen, daß ich durch alle, während Du, o Herr! vor mir
bergeheft, mic) begleiteft, mir nadfolgft, mir Deine Hand reicheft,
und mid gnädiglich führeft, unverfehrt hindurchgehe.“ Gotſchalk
fügt bei: Der Herr möge Dieß bald in Erfüllung gehen Yaffen,
damit, wenn er unverleßt die Probe beflehe, die Wahrheit von
Allen angenommen werde; follte er fi aber fcheuen, den Gang
zu machen, fo möge man ihn in’s euer werfen. Schon ehe Gotſchalk
1) Ibid. S. Zu 2) Ibid, 22 unten.
=
Innerliche Bewegungen in ber Kirche der fränkischen Reihe ꝛc. 849
diefes Glaubensbefenntniß veröffentlichte, hatte Hinfmar einen legten
Berfuch gemacht, fih mit dem gefangenen Mönd zu verftändigen,
indem er ihm eine befondere Schrift zufandte, ') in welder er bie
Meinung ausſpricht, Gotſchalk fey durch einige Stellen Prospers
von Aquitanien mißleitet, welche aus Auguftiins Schriften erflärt
werben müßten. Seine Anficht läuft darauf hinaus, daß Gott zwar
das Böfe wie das Gute vorherwiffe, aber nur das Lestere präbdefti-
nire. Zu gleicher Zeit warnte der Erzbifchof in einer andern Ab-
handlung 9 die Klausner und Einfältigen feines Sprengels vor
Gotſchalk's Irrthum. Durch das Glaubensbefenntniß des Mönchs
war aber jetzt jede Ausſöhnung wo nicht ganz abgeſchnitten, ſo
doch von Neuem erſchwert. Hinkmar wies die von Gotſchalk ange-
botene Fenerprobe mit Abſcheu zurück; er nennt fie?) dag lügen:
bafte Berfprechen eines neuen Simon Magus, die Prahlerei eines
wüthend folgen Menfchen. Eben fo fprach ſich, wie wir fehen wer:
den, Nabanıs Marus darüber aus. Da der Erzbifchof von Rheims
den Gottesurtheilen fonft eifrig das Wort redet, *) fo fcheint es faft,
als habe er gefürchtet, der Mönd möchte mit Hülfe des Höchften
den Wunderbeweis glüclich beftehen.
Noch klaffender ward fofort der Niß. Andere und zwar mäch—
tige Männer traten für den Gefangenen von Hautvilliers in bie
Schranfen: zuerft der oben erwähnte Bifchof von Troyes. Galindo,
zu Anfang des Yten oder am Ende bes Sten Jahrhunderts jenfeits
der Pyrenäen, wahrfcheinlich in der fpanifchen Mark, geboren, kam
in ‚feiner frühen Jugend nad Franfreih und an den Hof Karl's
oder Ludwigs des Frommen, mo er eine forgfältige Erziehung er:
hielt. Er befleidete zuerft ein weltlihes Amt, das ihm viel Unluft
verurfacht haben fol, Um 845 erhielt er das Bistum Troyes,
das er bis zu feinem im Jahr S61 erfolgten Tode verwaltete. Seit
feiner Erhebung auf den Stuhl von Troyes nahm er den Namen
Prudentius an, unter dem er in der Kirchengefchichte befannt ge=
worden iſt. °) Hinfmar, der, wie wir zeigten, fhon bei Ausbruch)
— — — —
1) Dieſe Schrift ift verloren, aber Flodoard führt ihren Inhalt an, histor.
rhemensis II, , 28, Bei Sirmond opp. IV., b. Seite 219 oben. — 2) Sie
ift gleichfalls verloren. Wir fennen fie nur durch eine Stelle aus Raban’s
Briefe an Hinfmar, bei Sirmond opp. II., 989, oben. — 9) Opp. I., 433,
Mitte. — *) Opp. I., 599 fig., Ir., 676 fig. — >) Man vergleiche über Prus
dentiud Die histoire litteraire de la France, V., 240, flg.
Sfrörer, Kircheng. II. 54
850 II. Bug. Kapitel 11.
des Kampfes gegen Gotſchalk Widerwärtigfeiten von Seiten des
Prubentius befürchtete, giebt ) vom Charakter des Biſchofs von
Troyes ein abſchreckendes Bild: „Nachdem Prudentiusg Anfangs mit
den andern Bifchöfen ſich gegen Gotſchalk erklärt hatte, machte er
fpäter aus Haß”) (oder Neid) für den Keger Parthei, vertheidigte
feine Irrlehren aufs Beharrlihfte und faßte zu feinen Gunften
Schriften ab, die ebenfo fehr unter fih ald mit dem wahren Glau:
ben firitten.“ Bielleicht urtheilt Hinfmar partheiiſch. Beide, der
Erzbifchof von Rheims und der Biſchof von Troyes, waren ehrgei-
zige Kirchenfürften. Solde Charaktere vertragen fich nie gut. Genug,
Prudentius veröffentlichte Ausgang 849 oder zu Anfang des näch—
ſten Jahrs eine Schusfchrift ?) für den gefangenen Gotfchalf, die er
an Hinfmar felbft und deffen Verbündeten, den Bifhof Pardulus
son Laon, richtete. Prudentius beginnt mit der Ermahnung, die
beiden Biſchöfe möchten doch nicht geftatten, daß die Lehre des hei:
ligen Auguftinus, des erleuchtetften aller Bäter, der die Bibel aufg
Glücklichſte vertheidigt und erklärt habe, von irgend Jemand ange:
griffen werde. Diefelbe Lehre hätten auch Fulgentius und Prosper
yon Aquitanien verfochten. Ihren Fußtapfen folgend, behauptet er
fofort eine zweifache Prädeftination, doc mit dem Borbehalte, daß
Gott die Verworfenen nicht zur Schuld, fondern blos zur Strafe
vorherbeſtimmt habe; nicht das Böſe wolle der gerechte Richter,
fondern die mwohlverdiente Beftrafung der Schuldigen. Aud habe
Jeſus Ehriftus nur für die Auserwählten fein Blut vergoffen, denn
Er felbft fage ja (Matth. XX., 28.), Solches fei für Biele ge
fchehen. Nach diefem Spruche müffen auch die Worte des Apoftels
erflärt werden: Gott wolle, daß Alle die Seeligfeit erlangen.
Alle werden nemlich ſeelig, die der Herr feelig macht; denn jonft
müßte man die Allmacht Gottes -aufgeben, vermöge der Er Alles
thun fann, was Er will. Prudentius giebt fofort den Gegnern zu
bedenken, warum denn Gott nur dem Einen feine Gnade ertheile,
dem Andern nicht? warum der Erlöfer erft nach fo vielen taufend
Jahren gekommen fei, während welcher Zeit die ganze Welt, mit
einziger Ausnahme der Juden, ohne Gnade und im Irrthum ver
blieb? warım Er blos Abraham, und nicht alle Menfchen, zum
1) Hincmari annales ad annum 861, Perz J., 455 oben. — ?) Felle
commotus, — 3) Abgedruckt bei Cellotius a. a. O. ©. 420 fig.
Snnerliche Bewegungen in der Kirche der fränkiſchen Reiche 1. 851
Heile berufen habe? Nebenbei führt Prudentius zum Beweife feiner
Säte eine Menge Stellen der Väter von Auguftin bis auf Beda
herab an. Die Knoten, welche. er der Gegenparthei hingeworfen,
waren nicht leicht zu löſen. .
Daß fie einen peinlihen Eindruck hervorbrachten, erficht man
aus dem Berfahren Hinfmar’s, wie des Erzbifhofs von Mainz.
Hinfmar überfhicdte an Raban die beiden Glaubensbefenntniffe,
welche Gotſchalk im Gefängniffe aufgefegt, die Schrift des Pruden-
tius fammt den Heineren Abhandlungen, die er felbft in der letzten
Zeit verfaßt hatte; zugleich fprach er den dringenden Wunfch aus,
der Mainzer Metropolite möchte zu Vertheidigung der gemeinfchaft:
lihen Sade die Feder ergreifen. Rabanus antwortete: ) Alter
und Kränftichfeit erlaube ihm nicht, Hinkmar's Wunſch zu erfüllen,
auch flimme er in Manchem mit Prudentius überein, nur was ders
felbe von Prädeftination der Böſen fage, feheine ihm unrichtig und
zur Bertheidigung der Jrrlehre Gotſchalk's gefchrieben. Im Uebrigen
müffe er auf feine Schriften an den Grafen Eberhard und den
Biſchof Noting verweilen. Nur einige wenige Zeugniffe der Väter
wolle er beifügen. „Sch kann mich nicht erinnern,“ fährt Raban
fort, „jemals eine Borherbeftimmung zum Böſen, fondern immer
nur zum Guten gefunden zu haben.“ Dann folgen einige Beweiſe.
Nun geht Raban auf die Perfon Gotſchalk's über. Er drückt fein
Erftaunen darüber aus, daß Hinfmar dem verderblihen Mönche
die Erlaubniß, zu fchreiben, ertheilt habe, wodurch derfelbe mehr
ſchaden fünne, als durd das Yebendige Wort; er rathet fodann,
dem Gefangenen jede Gelegenheit zum Schreiben oder zur Unterre—
dung mit Andern zu entziehen, bis fein Sinn zur Fatholifchen Lehre
zurüdgefehrt fein werde. Beten möge man für Gotſchalk, daß Gott
jein Herz zum Guten lenke. Ehe aber dieß gefchehen, dürfe man
ihm ohne Sünde nicht einmal die Communion reichen. In gleichem
Geifte läßt er fid auch über den Inhalt der Glaubensbefenntniffe
bes Mönchs aus. Daß Gotſchalk es gewagt, fein Befenntniß in
‚Form eines Gebets an den Allmächtigen zu richten und fein Ber:
langen eines Gottesurtheils findet er abfcheulih. Er vergleicht letz⸗
teres Anfinnen mit dem Betragen der drei Knaben im Feuerofen.
!) Der Brief Hinfmar’s ift verloren gegangen, erpakten dagegen die Ant:
wort Raban’s bei Sirmond II., 989 flg.
54*
852 III. Buch. Kapitel 11.
welche nicht eine Wunbderprobe begehrt, fondern fi) dem Gerichte
Gottes demüthig unterworfen hätten. Raban fchließt mit der Ber:
fiherung, daß er, fo lange er lebe, ſtets bereit fein werde, den
Wünſchen Hinfmar’s entgegenzufommen. Zwei Dinge find an diefem
Berfahren Raban’s gleich auffallend: erftens, daß er feinem Bundes-
genogen Hinfmar, der doch die von Raban ſelbſt angefangene
Streitigfeit verficht, die begehrte Hülfe verweigert, und nebenbei dem
gemeinfchaftlichen Gegner Brudentius halb Necht gibt. Mean fieht,
er fürchtet den Testern und möchte fih gern aus der Sade, die
immer bedenflicher zu werden droht, herauswinden, Nicht minder
muß es befremden, daß der Erzbifhof von Mainz feinen Rheimſer
Amtsbruder auffordert, den unglüdlichen Gotſchalk noch härter zu
behandeln, während er doch felbft feinen Finger für Hinfmar rühren
will. Wahrlich der angeführte Brief gereicht nicht zur Ehre Raban's!
Die unerfreuliche Antwort yon Mainz war nocd) nicht einge:
laufen, als fih zwei neue Kämpfer für Gotfchalf gegen Hinfmar
erhoben. Schon in der Gefchichte des Photius !) ift uns der Name
des Minds Ratramnus von Corbie entgegengetreten, yon welchem
wir unten noch Weiteres zu berichten haben. Ueber feine Verhält—
niffe weiß man fehr Weniges. Natramnus mag zu Anfang . des
Sahrhundeits geboren fein. Weder feine Eltern, noch das Jahr
feiner Geburt, noch feine Heimath find befannt. In der Gefchichte
erfcheint er zuerft als Mönd von Gorbie, wo er unter den Aebten
Adalard und Wala den Wifjenfchaften obliegt. Seine Talente, wie
feine Gelehrfamfeit, verfchafften ihm großen Auf nicht blos unter
dem Clerus, fondern auch bei König Karl dem Kablen, der in wich:
tigen Dingen den theologischen Nath des Mönchs einholte. Den:
noch findet fih nicht, daß Ratramnus irgend eine hohe Würde im
Staat, im Klofter oder in der Kirche erreicht hätte.?) Wir vermuthen,
dieſer Mangel dürfte nicht am wenigften dazu beigetragen haben,
daß Natramnus an den meiften Firchlichen Händeln feiner Zeit Theil
nahın. Männer feiner Art, die fich zurüdgefegt fühlen, fuchen jede
Gelegenheit, der Welt ihren Werth bemerflich zu machen. Ratram—
nus fcheint einen geheimen Groll gegen Hinfmar gehegt zu haben.
Denn er trat dem Erzbifchof von Nheims dreimal feindlih in den
Weg: einmal in einer Fritifchen Frage, welche zugleih vom Scharf:
') Oben ©, 268 flg. —?) Man vergleiche hist. litt, de la France, V., 333,
Innerlihe Bewegungen in der Kirche der fränfifchen Reiche m. 853
finn des Mönchs ein rühmlihes Zeugniß ablegt. Hinfmar hatte
eine Schrift über die Geburt ber Jungfrau Maria und eine angeb-
liche Predigt des Hieronymus über ihren Tod, in Elfenbein und
Gold prächtig gefaßt, einer Kirche gefchenkt. Natramnus bewies,
daß beide Bücher unterfchoben feien. ) Außerdem befämpfte der
Mönd von Corbie den Erzbifchof in dem Streite über die Vorher:
befiimmung, fo wie bei Anlaß des fpäteren Zwiſts wegen eines
Kirchenlieds. Mit Gotfchalf fand er ſchon vor Ausbruch der prä:
deftianifchen Händel in genauer Berbindung. Beweis dafür ift das
oben ?) angeführte poetifche Sendfchreiben, welches dev Mönch von
Drbais an den Erfteren überſchickte, und das in einem vertraulichen
Tone abgefaßt if. Gotſchalk nennt Ratramnus darin feinen Meifter.
Allem Anfchein nach war der Legtere von Anfang an bei den Um:
trieben Gstfchal®’s tiefer betheiligt, als die Duellen andeuten.
Das er ſich unter ſolchen Umftänden in den Streit mifchte, ift na—
türlih. Ratramnus hatte indeß außer feiner alten Verbindung mit
Gotſchalk noch einen befondern Anlaß dazu. Aus der Vorrede des
MWerfs, von dem gleich die Rede fein wird, erhellt, daß König Karl
der Kahle von Ratramnus ein Gutachten Über den zwifchen Got:
fchalf und Hinfmar obfchwebenden Streit verlangt haben muß, welcher
folglich die Aufmerkjamfeit des Hofes zu erregen begann. Da
Hinfmar unter dem Scepter Karl's des Kahlen ftand, fo war bie
Art, in der fih Natramnus ausfprad, für den Erzbifchof eine jehr
wichtige Frage. Und der Mönch hat gegen ihn entfchieben. Die
Schrift ?) des Ratramnus umfaßt zwei Bücher: „Da die Lehre von
der Präpdeftination,“ fagt er am Eingange, „ein fehr tiefes Geheim—
niß fey, fo müffe er erſt von der göttlichen Vorſehung handeln.“
Dieß gefchieht nun im erften Buche, in welchem er neben wenigen
Bibeliprüchen eine Maffe von Stellen aus den Schriften Auguftin’g,
Gregor’d des Großen, des Werfs von Berufung der Heiden, das
er Prosper zufchreibt, und Salvian’s zufammenträgt Am Schluffe
erklärt er fodann, die mitgetheilten Beweife zeigen deutlich, daß alle
guten Handlungen, Reden und Gedanken der Heiligen aus der
Gnade ftammen, daß die Gnade den Willen der Menfchen zum
1) Den Beweis bei Mabilfon annal. Ord. S. Bened. XXXV., $. 100,
Vol, III. 88. der Benediger Ausgabe. — 2) ©. 829. — 9) Libri duo de prae-
destinatione, abgedruckt bei Mauguin a. a. DO. ©. 29 flg.
854 III. Buch. Kapitel 44:
Guten ftärfe, zuvorfomme, nachfolge, daß endlich die Anzahl der
prädeſtinirten Heiligen, von denen Keiner zu Grunde gehen könne,
genau und unwiderruflich beftimmt fey, Im zweiten Buche Handelt
er von der Pradeftination der Bermworfenen, abermals an der Hand
der Väter, doch flicht er mehr Eigenes ein, als im erſten Buche,
Er. fett auseinander, daß Gott auch die Schlimmen ypräbdeftinirt
habe, aber nicht zur Sünde, fondern zum wohlverdienten Gerichte,
und daß dieſe Prädeftination die Verworfenen Feineswegs zum Süns
digen’ zwinge, obgleich alle Die, welche der Herr in der Maſſe des
Berderbens zurücklaſſe, unabänderlich der Strafe ihrer mit freiem
Willen begangenen Mißethaten verfallen. Hinkmar pflegte zu fagen,
die Strafe fey zwar den Berlornen vorausbeftimmt, aber Diefe feldft
feyen keineswegs zum Verderben prädeſtinirt. Hiegegen führt Ras
tramnus eine Stelle des Fulgentius an, wo die Böfen zum ewigen
Feuer präbeftinirt genannt werden, und bemerkt fodann, die Gegner
möchten felbft zufehen, wie ihre Anficht zu den Worten des Heiligen
ſtimme. Mit großer Gewandtheit weiß Ratramnus die Härten des
Auguftinifchen Syſtems abzufchleifen, und die wunden Punkte zu
überdeden. Ein Hoftheolog und Günftling des Königs hatte jet
gegen Hinkmar gefprochen: j
Ein zweiter folgte. Servatus Lupus, den wir fehon öfter
zu nennen veranlaßt waren, flammte aus einer angefehenen fränfis
fhen Familie und wurde um 805 im Sprengel von Sens geborem:
Frühe trat er in das Klofter Ferrieres, deſſen Abt Aldrih ihm
einen Grammatifer zum Lehrer gab, unter deſſen Leitung der be
gabte Knabe die Nhetorif und die freien Künſte mit großem Eifer
erlernte. Bor 830 wurde Lupus zum Diakon, fein bisheriger Abt
Aldrich zum Erzbifhof von Sens befürdert: Im eben genannten
Sabre fchiete ihn Adrich in die Schule von Fuld, um unter Ra:
banıs Maurus die Theologie zu ſtudiren. Lupus blieb daſelbſt big
836, erſt als Schüler, fpäter als Lehrer; denn aus einem alten
Zeugniffe geht hervor, !) daß Lupus zulest in der Fulder Anftalt
die weltlihen Wiffenfchaften vortrug: Während diefer Zeit ſchloß
Lupus eine dauernde Freundjchaft mit Einhard, welcher damals unfern
Tuld im Kloſter zu Seligenftadt lebte, dem er als Abt vorftand.
Die Liebe zur alten römifchen Literatur verband Beide, Wie Einhard,
!) Histoire lilteraire de la France V., 256;
Innerliche Bewegungen im der Kirche der fränfifchen Neiche c. 855
fo verftand auch Lupus ein zierliches Latein zu fehreiben. In den
Schriften der großen Römer war er bewanderter, als irgend einer
feiner Zeitgenofjen. Im Todesjahr feines bisherigen Beſchützers
Adrih von Send — 836 — Fehrte Lupus nad) Frankreich zurüd,
Der Ruf feiner Gelehrfamfeit gieng ihm voran. Schnell gelang
es ihm, die Gunft der Kaiferin Judith zu gewinnen, welde ihn
ihrem Gemahl, Ludwig dem Frommen, und ihrem Sohne, Karl
dem Kahlen, empfahl. Bon Karl erhielt Lupus 842 die Abtei
Ferrieres, aber auf eine Weife, die ihm gerechte Vorwürfe zuzog.
Er mufte nemlich erft feinen Vorgänger, den Abt Odo, der fidh
wegen feiner Anhänglichfeit an Lothar dem Könige verhaßt gemacht
hatte, aus dem Klofter vertreiben. Die Feinde des Lupus befchul-
digten ihn deßhalb, durch Betrug und Gewalt fic) der Abtei bemächtigt
zu haben. In einem noch vorhandenen Briefe !) an den Bifchof
Jonas von Orleans fucht Lupus fein Betragen zu rechtfertigen, in=
bem er auseinander fest, daß er gegen Odo fo milde als möglich
verfahren fey. Seitdem flieg der Einfluß des Abts in Kirche und
Staat immer höher. Auf den Kirchen- und Reichsverfammlungen
jener Zeit fpielte er bis zu feinem Tode, der um S62 erfolgt feyn
muß, eine wichtige Rolle. Da Ferrieres zu den Kiöftern gehörte,
bie zur Heeresfolge verpflichtet waren, fo wurde Lupus wider feinen
Willen in Friegerifche Unternehmungen verwidelt. In der Schlacht
bei Angouleme 844 hätte er beinahe das Leben verloren, er fiel
damals in die Hände der Feinde, die ihn erft nach einigen Tagen
Gefängniß losließen. 2)
Wir beſitzen von Lupus eine Sammlung Briefe, die in einem
glatten Latein gefchrieben und für die Zeitgefchichte wichtig find;
außerdem mehrere Lebensbefchreibungen von Heiligen, endlich zwei Auf:
ſätze, 2) betreffend den präbdeftinatianifchen Streit. Leber die Urfache,
warum er fich in: lettere Angelegenheit mifchte, berichtet er felbft
Folgendes: *). während er fih 849 oder 850 zu Bourges am
Hoflager Karls des Kahlen befunden, habe ihn der König um
1) Epist. 21. Opp. ed, S. Baluzius, Antwerpiae 1710, 8. ©, 44. —
2) Lupus berichtet dieß felbft in dem 91. Briefe an den Abt Markward von
Prüm. Opp. ©. 156 flg. — ?) Liber de tribus quaestionibus. Opp. ©. 207 flg.
und Collectaneum de tribus quaestionibus, ibid, 246, — *) Epist. 128, Opp.
©. 184 flg.
856 III. Buch. Kapitel 11.
feine Meinung über die Händel zwiſchen Gotihalf und Hinfmar,
oder — wie man damals fi) auszudrüden pflegte — über bie drei
firittigen Punkte von der Prädeftination, dem freien Willen und
dem Umfange der Erlöfung Chrifti befragt. Lupus fagt, die Ant:
wort, welche er damals dem Könige gegeben, ſey von Bösgefinnten
verdreht worden, man habe ihn als einen Mann verfchrieen, der
fezerifche Anfichten hege. Um diefe fchlimmen Gerüchte zu widerlegen,
erließ nun der Abt von Ferrieres an Karln einen Brief, in welchem
er zu ermeifen fucht, daß es allerdings eine zweifache Prädeftination
gebe, daß hierüber Auguftinus, Hieronymus, Gregor der Große,
Beda, Iſidorus, Ein und Daffelbe Ichren, daß der im Menfchen feit
dem Fall übrig gebliebene freie Wille nur zur Erwählung des Böſen
Kraft habe, daß endlich Chriftus nur für die Auserwählten geftorben
fey. Das Wichtigfte fteht am Schluffe des Briefs. Hier fagt Lupus:
er hoffe, den König von der Nichtigfeit feiner Anficht überzeugt zu
haben. Wo nicht, fo möge Karl ber Kahle eine Ber:
fammlung der gefhidteften Theologen feines Reiches
berufen, und durch fie die Frage unterfudhen laffen.
Wahrfheinlih war dem Schreiben an Karl eine Sammlung von
Stellen aus den Werfen der Väter beigefügt, die unter dem Titel
Collectaneum auf ung gefommen ift. Zugleich fchrieb ?) Lupus
an den Erzbifchof von Rheims: nad) langer und reiflicher Verglei—
hung der Ausfprüdhe Pauli im Nömerbriefe (Cap. VIIL, IX.) mit
Auguftin’s Lehre habe er gefunden, daß die Prädeftination Gottes
eine doppelte ſey, bei den Erwählten nemlich eine Leitung durch die
Gnade, bei den Berworfenen eine Entziehung ebenderfelben. Der
Borihlag des Abts von Ferrieres, Karl der Kahle möchte eine
Synode zur Enticheidung des Streited berufen, wäre, wenn er ge—
lang, ein tödtlicher Streich für Hinfmar gewefen; allein Lupus
brang nicht durch, ohne Zweifel, weil jene Uebelgefinnte, die, wie
er felbft in dem Briefe an Karl fagt, ihn als Ketzer verfchrieen,
d. h. die Parthei des Erzbifchofs von Rheims, mehr als Lupus am
Hofe vermochten. Um nun aber feinen Zwed dennoch auf anderem
Wege zu erreichen, verfaßte der Abt feitdem das bereits angeführte
Werf über bie drei Fragen. „Der Allmächtige,“ mit diefem Gedanfen
1) S. Note 3 auf der vorhergehenden Seite. — 2) Epist. 129, Opp.
©. 191 fle.
Innerliche Bewegungen in der Kirche der fränkifchen Reiche ıc. 857
beginnt Lupus, „hat den erften Menfchen als ein freies und glüd-
liches Wefen erfchaffen, und-ihn alſo begabt, daß Adam, von ber
Gnade unterftügt, ſtets Gutes wirfen konnte. Diefe Vorzüge hat
der Urvater unferes Gefchlechts verloren, weil er fein Herz zum
Böfen lenkte und ein leichtes Gebot muthwillig übertrat. Da alle
fpäteren Menfchen in dem erften begriffen waren und folglich feine
Sünde theilten, verdienten fie Alle von Rechtswegen zu Grunde zu
gehen. Dur die Barmherzigkeit des Höchften gefchieht es, daß
eine Anzahl das Heil erlangt, durch Seine Gerechtigkeit, daß bie
Vebrigen verdammt werden. Man wende nicht ein, Gott hätte ben
Menfchen nicht erfchaffen follen, da Er ja fraft feiner Weisheit vor⸗
auswiſſen mußte, daß derfelbe fündigen werde, fondern fprechet
vielmehr: der Menfch hätte die Sünde nicht begehen follen, da er
fie ja fo leicht vermeiden Fonnte, und da, vermöge ber göttlichen
Drohung, der Tod daran gefnüpft war.“ Lupus zeigt fofort an
der Hand Auguftin’s, daß der Menfh von Natur völlig unfähig
zu allem Guten ſey. Nun geht er auf bie Prädeftination über:
„Leute, welche in großem Anfehen ftehen, ') wagen zu behaupten:
Gott habe darum Einige prädeftinirt, weil Er vorherfah, daß fie
Ihm ergeben feyn und in diefer Trgebung beharren würden; aber
man glaube diefen Menfchen nicht, denn das Gefchenf der Gnade
ift zerfiört und entwürdigt, wenn fie nach einem künftigen Verdienft
ausgetheilt werden foll.“ Weiter bemerkt er: „Vorherwiſſen des Zu:
fünftigen Fonne nur ung Menfchen zugefchrieben werden, nicht aber
dem Allwiffenden, dem Künftiges wie Vergangenes ftetS gegenwärtig
fey. Zwar,“ fährt er fort, „ſcheuen fih mande fonft vortreffliche
Lehrer darum die Prädeftination der Verworfenen einzugeftehen,
weil man fonft glauben Fünnte, Gott habe einen Theil der Menfchen
abfichtlih zum Berderben erichaffen und Er verdamme die Berlornen
ungerechter Weife, da biefelben der Sünde und alfo auch der Strafe
nicht entgehen könnten. Allein diefe Männer,“ meint er, „follten
bevdenfen, daß die VBerworfenen wegen eigener Schuld verdammt
werben, fintemal das menjchliche Gefchlecht (in Adam) freiwillig die
Sünde erforen hat. Freilich Fönnte Jemand,“ gefteht Lupus ein,
„durch dieſe Betrachtung erbittert, alfo fprechen: wenn ich einmal
) Seite 228 quidam, qui in aliis magnae sunt auctoritatis. Das ift
auf Hinfmar und Rabanus gemünzt. |
858 | 117. Buch. Kapitel 14,
verloren ſeyn fol, fo will ich Doch Tieber im kurzen Leben alle mög—
liche Wollüfte genießen. Allein der Allmächtige möge Jeden vor
dem Wahnfinne behüten, fich ſelbſt für einem Verlornen zu halten.
Die Gnade fey unbefchränft und könne eines jeglichen Menfchen fich
erbarmen. Selbft wenn Jemand fich durchaus einbilde, der Schaar
der Berlornen anzugehören, fo habe er dennoch Urfache, gute Werfe
zu üben, damit feine Strafe dermaleins gemildert fey.“ Zuletzt er
Hart fih Lupus geneigt, das Wort „Prädeftination“ preiszugeben,
aber nur unter der Bedingung, daß die Lehre und der Begriff,
ben er aufitelle, feftgehalten werde. Die dritte Frage: ob Chriſti
Blut für Alle vergoffen worden, beantwortet er mit Auguftin dahin:
der Berföhnungstod fomme Allen zu gut, welche nach dem Rath—
fhluffe Gottes felig werden follten. Abermal gibt Lupus zu, daß
Manchen diefer Say wie eine Gottesläfterung erfiheine, weil es
zum Nachtheile des Erlöfers gereiche, wenn man behaupte, daß Er
nicht alle Menfchen errettet Habe, „Dennoch,“ fagt er, „beharren wir
auf der Lehre, daß Gott mit feinem Blute alle Die erlöst habe,
welche Er erlöfen wollte, laſſen aber gerne den Streit fallen, oder
treten fogar den Gegnern bei, fofern Diefe den Beweis zu führen
vermögen, dag Chrifti Tod auch den Verlornen nütze.“
Eine Schaar von Gegnern, eben fo gefährlich durch Geift und
Gelehrfamfeit, als durch gefellfchaftlihen Einfluß und Macht, hatte
fih, wie man fieht, wider Hinfmar erhoben. Der bedrohte Metro=
polit fuchte gleichfalls feine Parthei zu verftärfen. Es gelang ihm,
den Erzbifchof Amolo von Lyon, der unter Lothar's Scepter ftand,
auf feine Seite zu ziehen. Amolo war 840 an der: Stelle des ver:
ftorbenen Agobard auf den Erzſtuhl von Lyon erhoben worden.
Aus der Schule Agobard’s hervorgegangen, trat er in bie Fuß:
tapfen dieſes ausgezeichneten Kirchenfürften und befämpfte gleich ihm
veligiöfen Betrug, Aberglauben und — die Juden, Um 844 hatte
ihm der Bischof von Langres, Theutbald, Suffragan von Lyon, bie
Anzeige gemacht, dag Fürzlich zwei angeblihe Mönde aus Rom
oder einer andern Gegend Staliens Gebeine eines Heiligen, deffen
Namen fie nicht anzugeben wüßten, nad) der Kirche des Märtyrers
Benignus zu Dijon gebracht hätten. Seitdem zeigen fi wunder—
liche Erſcheinungen in dieſer Capelle: Weiber flürgen, wie durch
Schläge von unſichtbarer Hand getroffen, auf die Erde nieder und
leiden an fürchterlichen Zuckungen. Von allen Seiten ſtröme die
Innerliche Bewegungen in der Kirche der fränfifchen Reiche ı. 859
Menge nach der Kirche und bereits feyen faft 400 Perfonen von
foihen Zuftänden befallen worden. Auch an andern Orten, naments
Yich zu Autun, fommen über den Gräbern einiger Helligen ähnliche
Dinge vor, In feinem Antwortfchreiben 1) gibt Amolo den Rath,
man folle jene Gebeine außerhalb der Kirche begraben, damit fie
nicht ferner ein Gegenftand abergläubifcher Verehrung für den Pöbel
feyen. Die Wundererfcheinungen ſelbſt erklärt er für das Werk
entweder habfüchtigen Betrugs oder dämoniſcher Einflüffe, wobei er
fich auf eigene Erfahrungen beruft. „Schon in früheren Jahren,“ fagt
er, „find mir Fälle der Art vorgefommen Defter wurden Befeffene
vor Agobard gebracht, wenn man ihnen dann mit Schlägen zufeßte,
geftanden fie bald, daß fie fich verftelt hätten, um Almofen zu er:
haſchen. Zu Uſez (Ucetia) fielen beim Grabe des Bischofs Firminus
Leute, wie durch Schläge, nieder, man fah an ihnen Brandmale,
wie von Schwefel. Das gemeine Volk eilte deßhalb Haufenweiſe
mit Gefchenfen in die Kirche: Als aber der Bifchof von Narbonne
auf Agobard’s Rath ?) die Gemeinde ermahnte, nicht mehr nad)
dem Drte fih zu drangen und die Gefchenfe Lieber Dürftigen zu
ertheilen, hörte der Unfug bald auf“ Amolo erſucht nun feinen
Suffragan Tpeutbald, dafür zu forgen, daß eine jede Gemeinde in
ihrer Kirche ruhig dem Gottesdienft abwarte und gegen die Armen
mildthätig fey, nicht aber foldhen angeblichen Wundern nachlaufe;
denn wenn bie verfihwenderifche Freigebigfeit aufhöre, werden auch
jene Erfcheinungen ein Ende nehmen. Sollten aber die habfüchtigen
Gaukler auf ihrem Spiele beharren, fo möge mat fie immerhin
mit Schlägen zum Geftändniß der Wahrheit nöthigen. Diefer Brief
des Erzbifchofs von yon verdient von den neuern Anhängern des
Magnetismus beherzigt zu werden. ine andere auf ung gefom:
mene Schrift ?) Amolo’s ift gegen die Juden gerichtet. Er fucht
darin nach dem VBorgange Agobard’S zu zeigen, warum und wie
fehr der Umgang mit dem — Volke für Chriſtenmenſchen
gefährlich ſey.
Amolo hatte keinen amtlichen Anlaß, ſich in den Streit mit
Gotſchalk zu miſchen; denn der Kampf wurde, wie wir oben ſagten,
i) Epistola ad Theutbaldum, abgedruckt in Baluzius Ausgabe der Werke
Agobard's IT, 135 flg. — 2) Siehe oben ©. 752. — 9) Contra Judaeos liber,
unter Raban's Namen herausgegeben von P. 5. Chifflet in feiner Schrift:
scriptorum veterum de fide catholica quinque opuscula, Divione 1656. Ato,
860 II. Buch. Kapitel 41.
nicht im Gebiete Lothar’s, dem der Stuhl von Lyon gehorchte, fon:
dern im Neiche Karl’s des Kahlen geführt. Hinfmar war es, der
Amolo aufforderte, feine Stimme in der Sache abzugeben. Flodoard
berichtet, ') Hinfmar habe an Amolo über den Lebenswandel, die
Anfichten, die Verhaftung und Verurtheilung Gotſchalk's gefchrieben.
Allem Anschein nach wußte der Lyoner Erzbifchof nichts Weiteres
von der Lehre des Mönchs, als was der Aheimfer ihm mitzutheilen
für gut fand. Daher mag es fommen, daß Amolo fehr hart über
Gotſchalk urtheilt. Amolo fehrieb S51 oder Anfangs 852 an den
Gefangenen zu Hautvilliers einen Brief, ?) in welchem er ihm fieben
Punkte zur Laft Iegt, nemlih die Irrlehren: 1) daß Fein durch
Chriſti Blut Erlöster umfommen fünne, 2) daß die wichtigften
Saframente der Kirche: Taufe, Abendmahl, Exorcismus, geweihtes
Del, Auflegung der Hände, allen Denen, die nad) dem Empfange
zu Grunde gehen, vergeblich ertheilt werden, 3) daß die VBerlornen,
wenn fie gleich das Abendmahl und die Taufe erhalten, nicht als
Glieder der Kirche zu betrachten feyen, 4) und 5) daß der All:
mächtige ebenfo unwiderruflich alle Berlornen zum DBerderben prä—
beftinirt habe, als Er felbft unveränderlich fey, 6) daß Gott und
feine Heiligen fi über das Elend der Berdammten freuen. Endlich
wirft er ihm fiebteng vor, daß Gotſchalk voll hochmüthiger Ver—
meffenheit von Niemand Belehrung annehme und die Bilchöfe
ſchmähe. Amolo ermahnt den Mönch, fich zu beffern und verweist
zuleist auf die Worte der zweiten unter dem Borfige des berühmten
Cäſarius von Arles in Drange gehaltenen Synode, welde feftges
feßt habe, daß alle Getauften unter dem Beiftande des Erlöfers
das ewige Heil zu erringen vermögen, und daß dagegen bie De:
bauptung einer Prädeftination zum Böſen fluchwürdige Ketzerei fey.
Man fann nicht läugnen, daß die meiften der Sätze, welche Amolo
dem Mönche unterlegt, von Diefem weder ausdrücklich vorgetragen
noch anerfannt worden find, aber wohl Laffen fie fid alle aus Got:
fhalf’s Glaubensbekenntniß folgern, fobald man nemlich daſſelbe
mit der rüdjichtlofen Bündigfeit Hinfmar’s zu Schlüffen benützt.
Allem Anfchein nach hat hier Amolo mit den Augen des Rheimfer
1) Histor. rhem, III., 21. Sirmondi opp. IV., b. 165 Mitte. — 2) Ab:
gedrudt in Baluzius Ausgabe der Werke Agobard's II., 149 flg. oder auch
Sirmondi opp. II., 893 fig. ä
Innerliche Bewegungen in ber Kirche der fränkifchen Reiche ac. 861
Erzbifchofs gefehen. Zu gleicher Zeit mit Amolo fchleuderte auch
der Lyoner Diakon Florus, den wir bereits aus Agobard’s Gefchichte
fennen, eine Abhandlung 1) wider Gotfhalf, in welcher er aug:
einander fett, daß Gott vermöge feiner Weisheit Alles, fowohl die
guten Handlungen der Begnadigten, als die fchlechten der Verwor⸗
fenen, sorausfah. Aber nicht Alles, was Er vorausfieht, prädefti-
nirte Er. Der Allmächtige präbeftinirte zwar bie Erwählung und
das ewige Heil der Gerechten, nicht aber die Verworfenheit ber
Berlornen. Ihr Untergang ift das eigene Werf der Gottlofenz
weil fie es fo wollen, verfallen fie dem Berderben. Die einftige
Beftrafung derfelben hat der Herr nicht blos vorhergefehen, fondern
auch, weil Seine Gerechtigfeit dieß forderte, prädeftinirt. Dennoch
fünnen die Böfen ſich nicht damit entfchuldigen, daß fie zum Sün—
digen gezwungen feyen, denn fie haben die Sünde felbft erwählt.
Gute wie Böſe bejisen Freiheit des Willens. Freilich aber — dieß
gefteht Florus zu — iſt unfere Wahlfreiheit durch die Erbfiinde fo
verkümmert, daß wir aus eigenem Antriebe blos Böſes thun fünnen,
das Gute aber nur mittelft der Gnade, welche bewirkt, daß wir
wiedergeboren und neue, des Heiles fühige Menfchen werden.
Lestere Einfhränfung gibt eigentlich dem Mönche von Hautvilliers
gewonnenes Spiel; dennoch bricht Florus am Ende feiner Schrift
in folgende harte Worte gegen Gotſchalk aus: „Ich ermahne Alle,
daß fie in Einfalt und Reinheit des Glaubens feſt begründet, bie
Ohren verſchließen wider Das Gerede jenes nichtswürdigen und elen=
den Menfchen, der voll Streitfucht und Anmaßung, lieber den Ein:
flüfterungen des Teufels horcht und ſich von der Kirche Gottes trennt,
als daß er auf feine eitlen Behauptungen verzichtete.“ Wir haben
im vorhergehenden Abfchnitte erzählt, ?) daß Florus aus Anhänge
lichkeit an feinen Erzbifchof Agobard mit dem Priefter von Metz,
Amalarius, bittere Kämpfe beftand. In der Sache Gotſchalk's
Dagegen ftritten diefe ehemaligen Gegner unter einer Fahne. Ein-
geladen von Hinfmar, veröffentlichte Amalarius gleichfalls wider den
Mind eine Schrift, ?) die aber Yängft verloren ift. +
!) Sermo de praedestinatione, abgebrudt bei Mauguin a. a. O. J., 23
oder auch in Agobard’s Werfen IL, 4172 fig. — 2) Oben ©. 760. — 3) Man
fehe Remigius de tribus epistolis cap. 40 bei Mauguin a. a. O. IL, b, 135,
— *) Histoire liNöraire de le France IV,, 264,
862 IT, Buch. Kapitel 14.
Hinfmar rief zu feinem Beiftand noch einen vierten Kämpfer
herbei, der in mehr als einer Beziehung merkwürdig ift. Alle ger:
manifche Theologen, die wir bisher Fennen gelernt, fußen auf römi:
ſcher Bildung. Klarer, praftifcher VBerftand, oder wenigſtens Ringen
darnach, Achtung für die Gefchichte, für den Buchftaben heiliger
Urkunden, für die Beifpiele der Ahnen, Scheue vor Unbeſtimmtem
und Ueberſchwänglichem, bekanntlich lauter Merkmale Yatinifchen
Geiftes, finden fih ſchwächer oder ftärfer bei ihnen ausgeprägt.
Dieſe geiftigen Eigenfchaften gehen Hand in Hand mit Liebe zur
Drdnung, mit einem Fraftvollen Fefthalten kirchlicher Mannszucht.
Aber auch das Byzanerthum follte unter den Franken deg neunten
Sahrhunderts feinen DBertreter finden. Plötzlich tritt ein Mann auf,
ber alle Fehler und Vorzüge der fpätern Griechen in ſich vereinigt,
er war aus bem Lande der Sfoten in das Neih Karls des Kahlen
gefommen. In dem ffotifchen Klöftern wurden, nicht erft feit den
Zeiten des Erzbifhofs Theodor von Canterbury, neben den Tatei-
nifhen Vätern, welchen die Franken ausfchließlich ihre Aufmerkfam:
feit zumandten, auch griechifche gelefen, und diefes Studium trug
feine Früchte. Der Abt Benedift von Aniane ſpricht in einem
Briefe, 1) welchen Baluzius herausgab, von befondern Schlußweifen,
welche die Sfoten nad dem Vorgange der Griechen ausgebildet
hätten. Die Heimath der Sfoten war zu arm, um ihre Bewohner
zu ernähren. Hunderte fehweiften daher in der Fremde herum, überall
gab es ffotifihe Bettler, eigene Hofpitäler wurden für fie auf dem
Feftlande gegründet. ?) Unter den ffotifchen Wanderern waren auch
fehr viele Gelehrte, die zu Haufe fein Brod fanden, und daher
draußen, befonders im ſchönen Frankreich, ihr Glück ſuchten. Heri—
kus, feit 870 Abt des Germanus-Klofters zu Aurerre und Unter:
than Karl’s des Kahlen, fagt ?) in feiner Lebensgefchichte des heil.
Germanus: Schaarenweife feyen die ffotifchen Philoſophen nad)
Gallien herübergefirömt. Auf ſolche Weife mag aud Johann ber
Sfote mit dem Beinamen Erigena ins Gebiet Karls des Kahlen
gekommen feyn. Sein Heimathsort ift unbefannt. Trotz allen Nach—
1) Miscellanca in der von Manfi beforgten Solivausgabe II., 95 b. Mitte.
Ich verdanfe diefe und die folgende Stelle Neanvder 8.G. IV., 389 Note. —
2) Man fehe Can. 10 der Synode zu Ehierfey bei Baluzius Capitularia I., 111
Mitte. Hospitalia peregrinorum, sieut sunt Scotorum, — 3) Die Stelle an-
geführt von Launoy de scholis celebrioribus, Opp. 1V., a. S. 18 gegen unten,
Innerliche Bewegungen in ber Kirche der fränkischen Reiche x. 863
forfhungen hat man nicht fiher ermittelt, ob berfelbe in den wel:
ſchen Provinzen Britanniens, in Schottland oder Srland lag; für
Irland fpricht die fpöttifche Bemerfung des Prudentius: ) Hibernien
babe Johann nad) Gallien gefendet. Dagegen fleht feft, daß er
dem fotifchen oder celtifchen Stamme angehörte, ?) Gleiches Dunfel
berrfcht über Johann's Geburts- und Todes-Jahr. Wahrfcheinlich
ift jedoch, daß er bald nach Anfang des neunten Jahrhunderts ger
boren wurde und um 875 in Franfreih flarb. Karl der Kahle
hatte von feinem Ahn und Vater eine gewilfe Liebhaberei für die
Wiffenfchaften und die Neigung, Gelehrte in feinen Kreis zu ziehen,
geerbt. Als Gegenleiftung mußten die Begünftigten ihn bei Tafel
unterhalten und feine Mußeftunden durch grobe oder feine Späſſe
erheitern. Diefe Rolle fpielte auch Johannes Skotus am franzöſi⸗
fhen Hofe. Der Mind Wilhelm von Dialmesbury erzählt im
fünften Buche feines Werks über die Bifchöfe Englands einen Zug, ?)
welcher Erigena’s Berhältniß zu Karl dem Kahlen trefflich bezeichnet.
Eines Tags war er vom Könige zur Tafel eingeladen und faß dem
Könige gegenüber. Beim Effen machte der Schotte einen Verſtoß
gegen die fränkischen Begriffe von feiner Sitte. Der König bemerkte
Dieß und fprach zu ihm: „Johann, fag an: was für ein Unterſchied
ift zwifchen einem Scotus und einem Sottus?“ Bekanntlich bezeichnet
sot in der eben fi bildenden franzöfiichen Spracde einen groben
Menſchen. Schnell entfchloffen antwortete der Gefragte: „die Tafel
liegt allein zwifchen Beiden.“ Karl mußte über den beißenden Ein-
fall, fo unverfchämt derfelbe auch war, herzlich lachen. Das Ge:
fhichtehen ift zu natürlich, als daß es erfunden feyn könnte. Der:
jelbe Schrififteller berichtet ?) noch einen zweiten Fall ähnlicher Art.
Karl der Kahle hatte abermal den Schotten mit zwei Clerifern zu
fih geladen: drei fehr verfchiedene Geftalten, Denn fo mager und
dünn Johannes Erigena, fo did und rund waren bie beiden Priefter.
Die Köche trugen nebft andern Speifen drei Fiiche auf, worunter
zwei große und ein Heiner. . Der König winfte dem Schotten, die
Fiſche unter die Gäſte zu vertheilen. Nun behielt Erigena die zwei
1) Te solum omnium acutisimum Galliae transmisit Hibernia, bei Maus
guin a. a. D. J., 39 unten, und daraus in den testimoniis veterum zu Anz
fange ver Ausgabe, welche Thomas Sale von Erigena’s Schrift de divisione
naturae beforgt hat. — 2) Prudentius fpriht am eben a. D. ©. 392 oben
von der celtica eloquentia deg Erigena. — 3) Abgedrudt bei Sale a, a. D.
864 III. Buch. Kapitel 11.
großen für fih, den Heinen reichte er den Prieftern hin. Als ber
König lachend die unbillige Austheilung rügte, entgegnete der Schotte:
„nicht ungleich, fondern gleich find die Parthieen, denn fehet, bier
ift ein Kleiner — auf ſich — und hier zwei dicke — auf die Fiiche
deutend; ebenfo find hier zwei diefe — bie Priefter, und ein dün⸗
ner — der fleine Fiſch« Wilhelm von Malmesbury flicht in feine
Erzählung den Sat ein: ftets habe Erigena folche Witze bereit
gehabt, um die Gäſte des Königs zu beluftigen. Indeß brauchte
ihn Karl der Kahle auch zu ernfteren Arbeiten. Erigena verftand
das Griechiſche. Der König benügte die Sprachkenntniß des Sfoten
zu Ueberſetzung eines griechifhen Vaters, der den Franzofen aus
befondern Gründen über die Maßen am Herzen lag. An einem
andern Orte ift berichtet worden, ) daß die Schriften des falfchen
Dionyfius, welche um 500 zum Vorſchein Famen, noch im Laufe
des fechsten Jahrhunderts von den Drientalen ald das Werf des
Areopagiten und Schülers Pauli verehrt wurden, deffen die Apoftel-
gefchichte gedenft. Im achten Jahrhundert machten die Franzofen
weitere und zwar eben fo gründliche Entdedungen über die Perfon
des heil. Dionyfius. Bei Gregorius von Tours findet ſich bie
Sage, ?) daß unter Kaifer Decius nebft ſechs andern Sendboten
auch ein gewiſſer Dionyfius nach Gallien gekommen fey und daſelbſt
das Bistum Paris gegründet habe. Eben diefer galliihe Diony:
ſius erfcheint in einer um 790 verfaßten Schrift ®) bereits als ein
Apoftelfchüler, der unter Domitian die Märtyrerfrone erringt.
Gleicher Weife ftellen die Verhandlungen der Parifer Synode vom
Sahre 825 es als ausgemachte und allgemein anerkannte Wahrheit
hin, *) daß befagter Dionyfius von dem Pabfte Clemens, dem Nach—
folger des Apoftelfürften Petrus, nach Gallien gefchiet worden fey,
auch dafelbft den Parifer Stuhl errichtet und die Märtyrerfrone
erlangt habe. Da das neue Teftament nur einen Apoftelfchüfer
Dionyfius, nemlih den Areopagiten zu Athen, Fennt, fo mußten
die beiden falfhen Dionyfe der Franfen und der Monoppyfiten, fo:
bald die gallifhe und griechiſche Sage fi berührten, nothwendig
in eins verfchwimmen. Frühe ift dieß gefchehen. Eine Gefchichte
- DI. Band dieſes Werts ©. 911. — *) Historia Francica J., 28. —
3) Gesta Dagoberti cap. 3,, abgedruckt bei Dom Bouquet II:, 580, — *) Manfl
XIV., 466 obere Mitte,
Innerliche Bewegungen in der Kirche, der fränkiſchen Reiche ꝛc. 865
des heil. Dionyfiug, die and Ende des achten Jahrhunderts gehört, 7
behandelt Beide als eins: dem angeblihen Gründer des Parifer
Bisthums werden die Areopagitifhen Schriften und umgefehrt dem
falſchen Areopagiten die Thaten und Leiden des franzöfifchen Be—
fehrerd beigelegt. Vollendet und zum Gemeingute der Franzofen
gemacht wurde diefe Fabel durch Ludwig den Frommen und den
Abt Hilduin von St. Denys. Als nemlich der fränfifche Kaifer, ein
Jahr nad der ſchmählichen Scene zu Soißons, in der Kirche zu
St. Denys Wehrgehenf und Krone wieder erhalten hatte, beichloß
er zu Ehren des Heiligen, den er für feinen Netter anfah, die Ge:
fhichte deffelben ausführlich befchreiben zu laſſen. Er erfor Hilduin
zum Vollſtrecker dieſes frommen Planes. In einem noch vorhan—
denen Briefe ?) ſetzte er dem Abte feine Anſichten aus einander.
Hilduin machte fi um 835 ans Werk, mit fühner Stirne trug er
aus neuen Quellen, deren Unächtheit handgreiflich ift, eine Gefchichte
des angeblichen Apoftelfchülers zufammen. 7) Mean begreift nun,
daß bei folhem Stande der Dinge den Franzoſen fehr daran ge—
legen feyn mußte, die griehifchen Schriften des Pfeudvareopagiten
zu befommen, in welchem fie ja den Apoftel ihrer Nation verehrten.
Schon im Jahr 757 °) ſchickte Pabft Paul I. mit andern Büchern
die Werfe des Areopagiten dem Könige Pipin zum Gefchenf. Eine
Handſchrift defielben Vaters erhielt *) der Abt Fulrad von St. Denys
aus den Händen des Pabftes Hadrian L Daß im Jahr S24 der
byzantinifche Herrfcher Michael der Stammler den fränfifchen Hof
mit den Werfen des Areopagiten erfreute, haben wir früher be=
richtet. Erft feit Ludwig der Fromme fo viel Vorliebe für den
griechiſchen Heiligen zeigte, wurde das Studium feiner Schriften im
Abendlande allgemeiner. Auf des Kaifers Antrieb kam jest auch
die erfte lateiniſche Ueberſetzung der — vielleicht unter
Hilduin’s —* zu Stande. °)
1) Acta Dionysii, abgedruckt bei den Bollandiften Octob. IV., 792 flg.
Daß diefe Akten After find als Hilduin, beweifen die Herausgeber ebendaf.
©. 700 fig. Nro. 17. 23. — ?) Die Arbeit Hilduin's fammt dem Briefe Lud—⸗
wig’s und andern Urkunden abgedrudt von Matth. Galenus unter dem Zitel
Areopagitica, Cölln 1563, Sto, oder auch bei Surius vitae Sancturum zum
Ien October. — 9) Cod. Carolinus epist, 16 embolum, bei Cenni I., 148
unten. — *) Mabillon annales Ord. S. Ben. liber XXXI., cap. 42, — °) Brief
Hilduin’s an Ludwig in M. Galen’s Ausgabe der gr: ©. 66.
Gfrörer, Kircheng. IH. 55
866 AIII. Buch, Kapitel 44.
Eine fo günftige Meinung herrfchte von dem falfchen Dionyſius
und feinen Schriften, als Erigena nad) Frankreich kam. Der Skote
hatte, wie es feheint, noch in feinem Baterlande die alten Griechen
Plato und Ariftoteles bewundern gelernt. In volltönenden Worten
fingt er ihr Lob. Er nennt ) Plato „den größten aller Naturphilo-
fophen,“ indem er zugleich Stellen aus dem Timäus anführt. Arifto:
teles preist er 2) als „den feharfiinnigften Auffinder des Unterfchieds
der natürlichen Dinge.“ Nachdem er in Franfreich angeftellt worben
war, fand jedoch Erigena für gut, neben den beiden Heiden das
Banner des Areopagiten aufzufteden, deffen Name dort einen fo
guten Klang befaß und eifrigen Schülern Brod und Ruhm: verhieß.
Wirklich find die Werfe, welche unfer Philofoph in Frankreich fchrieb,
fehr ftarf in die Farbe des neuplatonifchen Byzantiners getaucht.
Auch blieb feine Hingebung für denfelben nicht ohne den verdienten
Lohn. Karl der Kahle ertheilte ihm den Auftrag, die Werfe des
Arespagiten von Neuem aus dem Griechiſchen ins Lateinische zu
übertragen. Dieſe feine Arbeit, die er mittelft zwei Zufchriften 3)
in Proſa und in Berfen dem Könige widmete, ift noch vorhanden. *)
Schon ein Zeitgenoffe, der Bibliothefar Anaftafius, tadelt ?) an ihr
die allzu weit getriebene Wörtlichfeit, welche das Verſtändniß er:
ſchwert und Urfadhe war, daß man im Laufe des dreizehnten Jahr:
hunderts neue Uebertragungen veranftaltete. Erigena hat nie ein
Kirchenamt beffeidet und wahrſcheinlich aud nie eine Weihe empfan⸗
gen. Kein Schriftfteller des neunten Jahrhunderts oder der fpäteren
Zeiten legt dem Sfoten den Titel Mönch, Presbyter oder Diafon
bei. %) Aus einer Aeußerung 7) in der Vorrede feiner Schrift über
die Präpdeftination fcheint zu erhellen, daß ihn Karl zu Staats:
gefchäften verwandte. Erigena jagt hier von fich felbft: „auf dem
flurmbewegten Meere der Regierung unferes Herren des glorreichen
Königs Karl werden wir wie ein Schifflein von den Wellen herum:
geworfen.“ Einer andern Quelle 8) verdanfen wir die Nachricht,
1) De divisione naturae J., 33, bei Gale ©. 19 unten. — 2) Ibid. I.,
16, ©. 12 Mitte. — ?) Usserii epist. hibernicae Nro. 22 u. 23. — *) Sie
wurde im Laufe des 16ten Jahrhunderts mehrmals zu Cölln in Folio gedrudt. —
5) Sein Urtheil bei Ufferius a. a. D. Nro. 24 oder auch in den Areopagilica
des M. Galenus. — 9) Dean fehe Mabillon act, Ord. S, Bened. IV., b.
©. 518 oben (der Benetianer-Ausgabe). — ?) Bei Mauguin I., 109 Mitte, —
°) Dem Briefe des Pabſts Nikolaus an Karl den Kahlen. Abgedruckt bei Bu-
laeus hist. univers, Parisiensis I, 184,
Innerliche Bewegungen in der Kirche ver fränkifchen Neiche ꝛc. 867
daß er Vorſteher der Hofichule war, welche damals in großer Blüthe
ftand. In einem hohen Grade genoß er die Gunft des Könige.
Es fehlte daher dem Philofophen nit an *— und geheimen
Feinden, wie wir ſehen werden.
Dieſen Vorſteher der Hofſchule riefen —— und ſein Freund
Pardulus von Laon zu ihrem Beiſtande auf. Wie es ſcheint, gegen
Ende des Jahrs 851 veröffentlichte Erigena ſein Buch 1) yon der
Prädefiination wider Gotſchalk. In der Vorrede fpricht er feinen
feurigen Danf gegen die beiden Biſchöfe darüber aus, daß fie ihm
die Ehre zugedadht hätten, Theil an dem Kampfe für den ächten
fatholifchen Glauben wider die Keserei des Mönche nehmen zu
dürfen. Die Schrift felbft beginnt mit Entwidlung eines Grund-
fages, welchen Religionsphilofophen, gleich Erigena, aus leicht begreif-
lihen Triebfedern, nemlih um ihr Gewerbe in den Augen ber
Menſchen zu erheben und folglih zum Bortheile der eignen fehr
werthen Perfon, häufig aufzuftellen pflegen, obgleich derfelbe durch
bie Gefchichte der Philofophie wie der Religion aufs Bündigſte wider:
legt wird. Er behauptet nemlich: Philofophie und Religion fey Ein
und Daffelbe. Sodann zeigt er den Weg, wie man die Wahrheit
finden möge: „jede Frage,“ fagt er, „kann in einer vierfachen philo:
fopbifchen Weife gelöst werden, nach der trennenden — divisoria
dıasoeriun — nad) der begränzenden — ögıorixn diffinitiva — nad)
ber bemweifenden — demonstrativa anodsıyrız)) — und endlich nad)
ber auflöfenden Methode — avakvrınn resolutiva.“ Gemäß biefen
Regeln will er Gotſchalk's zweifache Vorherbeftimmung widerlegen.
„In Gott gibt es nur eine Prädeftination, welche Sein freier Wille
und ungertrennlih von Seinem Wefen ifl. Zwar unterfcheidet der
menschliche Verſtand vermöge feiner endlichen Natur in dem Urweſen
verfchiedene Eigenſchaften: Weisheit, Güte, Vorherwiſſen, aber im
Grunde ift doch Alles Eins. Es widerfpricht eben fo fehr der Wahr:
heit, Ihm zwei Prädeſtinationen beilegen zu wollen, ald wenn man
dem Höchften zwei Weisheiten, zwei Wiffenfchaften zufchriebe. Auch
durch die Beweisart, welche von der Wirkung auf die Urſache
ſchließt, läßt fi) dieß darthun. Denn da die beiden Prädeftinatio-
nen, welde die Gegner behaupten, ein entgegengefestes Ziel ver-
folgen, indem die eine Gerechtigkeit und Wohlbefinden, die ghdere
!) De praedestinatione liber, Abgedruckt bei Mauguin I, 109-190,
55 ®
368 : I. Buch. Kapitel 11.
‚Sünde und Untergang bewirfen foll, fo müßte ein Widerfpruch im
göttlihen Wefen feyn.“ Erigena reiht fofort Gotſchall's Meinung
in die Mitte zwifchen die Pelagianifche Srrlehre, welche die Gnade
Gottes ganz verachte, und eine angeblich antipelagianifche Ketzerei,
welche ben freien Willen nichts gelten laſſe. „Mit Pelagius ſtimme
Gotſchalk überein, indem er behaupte, daß die Gnade den fünbigen
Menſchen gar nichts nütze, die entgegengeſetzte Keberei theile er in-
fofern, als er dem freien Willen alle Kraft fowohl zum Guten als
zum: Böſen abſpreche. Die wahre Prädeftination ift eine einzige
mit Gottes Willen zufammenfallende, fie hat das vernünftige Ge-
ſchöpf mit fo weifer Kunft eingerichtet, daß dem Menfchen weder
eine unvermeidlihe Nothwendigfeit auferlegt ift, Gott .wider feinen
Willen zu dienen, noch daß er, wenn er dem Herrn ſich hingeben
will, gezwungen wird, Anderes zu thun. Gin Vorher, ein Hernad),
ein Jet kann nicht yon Gott ausgefagt werden, denn ſolche Zeit:
befehränfungen fennt das vollfommenfte Wefen nicht. Wenn man
auch menschlicher Weife behaupten mag, daß der Altwiffende Alles
Wirkliche vorherſieht, jo macht diefes Vorherſehen doch die menfch-
lihen Handlungen nicht notbwendig. Was aber die Sünden der
Sterblichen betrifft, fo fieht Gott weder fie felbft, noch ihre
Strafe vorher, noch viel weniger prädeftinirt Er Beides. Denn
was ift Die Sünde? ein Mangel, ein Berderben des
Guten, ein Schatten, ein Nichts. Und was ift die Strafe
der Sünde? nichts Anderes als eine göttliche Anordnung, vermöge
welcher das Böſe ſich felbft ftraft, und alle vernünftigen Wefen je
nach ihrer fittlihen Würdigkeit ihren angemeffenen Platz im Weltall
erhalten. Jede Miffetpat trägt ihre Strafe in ſich, welche auf ver
borgene Art in dieſem, auf offenbare dagegen im fünftigen Leben
die Schuldigen ereilt. Selbft jenes Feuer der Hölle, von welchem
bie Schrift handelt, ift zum Schmude des Ganzen und als ein
nothwendiger Theil allgemeiner Harmonie erſchaffen, nicht aber um
die Gottloſen zu brennen, die hinlänglich durch eigenen Stolz ge—
foltert werden. Mag biefes Feuer Förperlih feyn, wie Augufin
lehrt, oder unförperlih, wie Gregor der Große annimmt, jeden:
falls ift es dem Teufel, laut dem Ausſpruche der Schrift, nur darum
präßeftinirt, weil er mit den Genoffen feiner Bosheit die ihm und
ihnen gebührende Stelle darin findet. An fih ift es gut und Feine
Strafe: die Seligen können ungeftört in ihm wohnen, nur ben
Innerlihe Bewegungen in der Kirche der fränkifchen Reiche 1. 869
Böſen thut es wehe, gleichwie daſſelbe Sonnenlicht anders auf ge=
funde, wieder anders auf franfe Augen einwirft. Wie follte dem .
Böſen nicht Alles an fih Gute zum Uebel werden, da er vom höch—
ften Gute ſich entfernt hat. Den ewigen, göttlichen Gefegen müffen
Alle gehorchen. Darin aber befleht der Unterfchied zwifchen den
Auserwählten und den Verdammten, daß Lebtere gezwungen, jene
aus freiem Antriebe dem göttlichen Rathſchluſſe fih unterwerfen.
Die Weisheit des Schöpfers hat durch ihre ewigen Ordnungen eine
Schranfe gefest, welche die Schlechtigfeit der Gottlofen nicht über:
fchreiten darf. Das Dichten und Trachten der Berlornen und ihres
Hauptes, des Satand, geht darauf aus, von dem höchſten Seyn
ganz abzufallen, fo daß, wenn das Gejeß des Herrn eg zuließe, ihre
Natur in das Nichts verfinfen würde, wie denn das Böſe das
Nichts ift. Aber eben darin, daß die Bosheit durch die ewigen
Gefege verhindert wird, fo tief zu fallen, findet es feine Strafe,
Wenn die Schrift Iehrt: Gott habe die Schlechten zu ewiger Strafe
präbdeftinirt, fo heißt das nichts Anderes, als Er habe ihre regellofen
Triebe durch unwandelbare Gefege eingefchränft, über welche ihre
Schlechtigfeit nicht hinausfchweifen darf.“ Erigena gibt zwar mehr:
fah zu, daß Auguftin und andere Väter dem Wortlaute nad
eine Prädeftination der Verworfenen Yehren, aber er fucht den be=
treffenden Stellen durch allerlei Fechterfünfte einen andern Sinn zu
unterlegen. Zulest fagt er, der Irrthum einer zweifachen Prädeſti—
nation ſey aus Mangel binreichender Kenntniß ber griechifchen
Sprade entftanden. ) Bon wow, weldes im Lateinischen ſowohl
dur) video als durch definio oder destino Überfegt wird, ſtamme
das zufammengefeite Zeitwort noowow her, das bie Bedeutung
praevideo, praedefinio, praedestino befite, wie man aus den
Stellen Nömerbrief J., 4., Epheſer J., 4 5. 11. erfehe. Leberall
habe der lleberfeger den Ausdruck praedestinare gewählt, da er
body eben fo gut einen der beiden andern anwenden konnte. Die
Begriffe praedestinalio, praevisio, praedefinitio find gleih. Noch
einmal wiederholt num Erigena feine Anficht von der göttlichen Bor:
berbeftimmung: „Prädeftination ift die ewige Weltorbnung , welcher
) Kap. XVII, 2. Mauguin a. a. D. ©: 185. Wir brauchen kaum zu
bemerfen, daß Erigena, der vor den fränfifshen Bifchöfen mit feiner Kenntnig
des Griechiſchen prangt, wenig davon verſteht. Paulus braucht nicht das —TF
oͤgcico oder 1000040, fondern 6eIZ@ oder rE0001Lw.
870 II, Bush. Kapitel 11.
der Gute mit Freuden ſich fügt, der Böſe wider feinen Willen ſich
unterwerfen muß. Die Gerechten oder Diejenigen, welche zur Gnade
vorherbeſtimmt find, erfüllt der Allmächtige alfo mit den Strahlen
Seiner Liebe, daß diefelben nicht nur freiwillig innerhalb der Schranfen
bleiben, fondern ihre Seligfeit darin finden, die göttliche Drdnung
nicht zu überfchreiten. Dagegen bezwingt der Herr den verborbenen
Willen der Schlechten, oder Derer, welche zur Strafe präbdeftinirt
find, auf ſolche Weife, dag Alles, was Jenen ein Genuß des ewigen
Lebens ift, für Diefe in ein Gefühl des Elends fidy verwandelt.“
Man fiehbt, es fehlt dem Sfoten nicht an Scharffinn noch
philoſophiſchem Geifte, wohl aber Teidet er an gänzlichem Mangel
richtiger Würdigung des Streits, in den er fich eingelaffen, und
ber Perfonen, die er vor fih hat. Der Naturphilofoph des neunten
Jahrhunderts fpricht wie ein neuerer Staatsfünfller, der die Ber:
brechen, die ſich jährlich in einem Lande ereignen, als eine unaug:
bleibliche Folge der allgemeinen Entwidlung anfteht. Glück und Un:
glück, Lafter und Tugend, fchlechte und gute Thaten find nach diefer
Betrachtungsweiſe gleich nothwendige Früchte der Gefellihaft, in der
wir leben, und die Welt ift ftets fo vollfommen, als fie feyn kann.
Aber das Chriftenthum weiß nichts von einem folchen Standpunfte,
es wurzelt in dem Bebürfniffe eines fichern Anfers, das wir alle
in den Aengften des Lebens empfinden, es wendet fih an das Ge:
fühl unferer Schwäche, nicht an erträumte Stärfe, es ftüst fih auf
die Stimme des inneren Nichterg, die ung vorhält, daß wir beffer
feyn follten, als wir find, und ung mit Unruhe erfüllt, Weil diefe
Macht mit der innerftien Natur des Menfchen im Bunde fteht, hat
fie den Sieg errungen, während jene allgemeinen Theorien, welche
das kalte Gehirn entwarf, durch das warme Herz Lügen geftraft
werden. Hätte nun Erigena feine Schrift an Menfchen gerichtet,
welche die Bibel für ein Bud) hielten wie andere mehr, oder an
Schulknaben, die noch Feine entfchiedene Meinung hegten, fo könnte
man den Anfichten, die er Außert, ihr Recht gewähren. Aber er fehreibt
fo in einem kirchlichen Streite zur Bertheidigung von Männern, deren
Beruf es ift, den Buchftaben der Kirchenlehre zu wahren, er fchreibt
fo, um einen Mönch zu widerlegen, der im Nothfall jeden Augen:
blick ſich für Auguftin’s Sätze in Stüde reißen laſſen würde. Es
war, als ob der Skote zu den galliſchen Biſchöfen ſpräche: der
bloße Wortſinn der Bibel, die Ihr als Geſetzbuch des göitlichen
Snnerliche Bewegungen in der Kirche der fränkifchen Reiche ꝛc. 871
Staates behandelt, die Ausfprüche der Väter, auf die Ihr den öffent
lichen Glauben gründen wollt, beweiſen gar nichts; nur der geiftige
Sinn beider Erfenntnißquellen gilt, aber diefen geiftigen Sinn ver:
mag nur die Achte Philofophie, vermögen nur Männer, wie Ich, zu
enträthfeln. Wenn es die erfte Regel der Klugheit ift, Alles zur
rechten Zeit und am rechten Ort zu thun, fo muß man auch ges
ftehen, daß Erigena wie ein Narr dreinfuhr. ) |
Beim erften Anblick fcheint es unbegreiflih, wie ber grundges
fcheidte Hinfmar dazu Fam, ſich der Beihülfe eines Mannes zu be:
dienen, ber ihm fo läſtig werden fonnte und auch wirklich geworben ift.
Doch das Räthſel Yöst fi) meines Erachtens durch die Verhältniffe
des franzöfifchen Hofe. Natramnus und Servatus Lupus hatten,
wie früher gezeigt worden, von Karl dem Kahlen mit Ab:
faffung eines Gutachtens beauftragt, für Gotfehalf und
gegen Hinfmar geflimmt. Dadurch war die Stellung des Rheimſer
Erzbifchofs am Hofe bedroht, und er mußte fich zu verftärfen fuchen.
Nun genoß Erigena die volle Gunft des Könige. Wenn der Skote
daher Parthei für Hinfmar nahm, gewann Diefer jedenfalls einen
Berbündeten in Karl’s Umgebung, mochte fonft die Schrift des
PHilofophen ausfallen, wie fie wollte. Allein der Vortheil, den
Hinkmar auf folhe Weife errang, war um theure Opfer erfauft.
Das franzöſiſche Prieſterthum gerieth in Aufruhr über die Feßerifchen
Behauptungen des Hofgelehrten, und alte Freunde fielen, wie es
fcheint aus Aerger darüber, daß Hinfmar fih mit dem Menfchen
eingelaffen, von ihm ab. Wir haben früher erzählt, daß der Metro:
polit Wenilo von Sens an der VBerdammung Gotfhalf’s auf der
Synode zu Chierfey (849) thätigen Antheil nahm. Eben diefer Wenilo
trat jegt zur Gegenparthei Über, indem er neunzehn Sätze aus Eri—
gena’s Schrift herauszog und feinem Suffragan, dem Biſchof Prus
dentius yon Troyes, überfchiekte, ) mit dem Auftrage, diefelben zu
prüfen, und wenn es nöthig feyn follte, zu widerlegen. Sofort
ſchrieb Prudentius wider Erigena ein dies Buch, *) in welchem
der Philofoph mit zweifchneidigem Berftande und Handfefter Necht:
glaubigfeit alfo zugerichtet wird, daß Fein guter Segen an ihm bleibt.
N) Prudentius fagt dich felbft in der Vorrede feiner Schrift gegen Erigena, |
bei Mauguin I., 494.2) De praedestinatione contra Johannem Scotum,
bei Mauguin I., 194—574. *
872 | IT. Buch. Kapitel 11.
Der Umfang des Werfs geftattet ung nicht, einen Auszug zu geben,
wir müffen ung auf einige Bemerkungen befchränfen. Prudentius
beginnt mit den Worten: „Die Unverfhämtheit und die gottesläfter:
lihen Behauptungen, mit welchen Du wider die freie Gnade bes
Höchften und Seine unerbittliche Gerechtigfeit Yeichtfertig losbrichſt, hat
mich, nachdem ich Dein Buch gelefen, um fo mehr gefchmerzt, weil
ich Dich vorher achtete und liebte.“ Sofort wird ein ärgerlicher Sag
des Skoten um den andern wörtlich angeführt und dann mit der
Tadel der Logik, der Bibel, der Kirchenlehre oder der Leberlieferung
beleuchtet. Sein erfter Streich trifft den Grundfag des Skoten, daß
ächte Philofophie und Religion Eins fey, fowie feine vierfache Weife
der Unterſuchung; er beruft fih darauf, daß alle Kirchenverfamm:
Yungen, welche feit Jahrhunderten die Kegereien niederfchlugen, nicht
mit fophiftiichen Künften, fondern mit deutlichen Stellen der Schrift
gefochten hätten, er zeigt aus einem Schreiben Leo's des Großen,
daß wenn man eitler Schwaßhaftigfeit das Necht einräume, über
Slaubenslehren zu richten, die Wahrheit ſtets freche Gegner finden
werde. Die Wirklichkeit einer doppelten Prädeftination erweist er
mit den Worten der Bibel wie der Väter. In ihrer ganzen Blöße
ftellt er die Behauptung Erigena’s hin, daß dem SPelagianifchen
Irrthum eine zweite Kegerei, welche den freien Willen des Men:
fchen gänzlich läugne und nur die Gnade wirfen laſſe, ſchnurſtracks
entgegen ftehe; er fieht darin einen Verſuch, das allgemeine Glau—
bensbefenntniß der Kirche unter dem Namen einer Keterei zu brand»
marfen. Mit großem Nachdrude hebt er hervor, daß es andere
Strafen der Sünde gebe, als die Sünde ſelbſt, und er findet es
lächerlich, daß Sünden, welche doch nad) Erigena’s Behauptung ein
Nichts feyen, Strafen nad fid) ziehen follen, die der Sfote gleich:
falls für Nichts halte. Auch in einer Fritifchen Frage fchlägt er den
Gegner. Gleich Rabanus und Gotfhalf I hatte Erigena aus dem
Hypomneftifon, als einer Achten Schrift Auguftin’s, Stellen ent:
Yehnt. 9 Prudentius beweist nun ?) mit fehr guten hiſtoriſchen
Gründen, daß diefes Buch dem verehrten Heiligen unterfchoben fey.
Der Bifchof von Troyes war, wie wir oben zeigten, ſchon
früher als Bertheidiger Gotſchalk's gegen Hinkmar aufgetreten.
ı) Siehe oben ©. 832. 854. — 2) De praedestinatione XIV., 4, bei
Mauguin I., 165. — 3) Mauguin I., 398.
Innerliche Bewegungen in ber Kirche der fränkifchen Reiche ꝛꝛ. 873
Zugleich mit ihm erhob fih aber nun ein Mann, der bisher Hinfmar’s
Sache verfochten hatte, wider Johann den Sfoten und folglich mittel⸗
bar gegen ben Metropoliten von Rheims. Der Lyoner Diakon
Florus veröffentlichte nemlich gleichfalls eine Widerlegung ') der
unbefonnenen Schrift Erigena’s. Florus greift meift diefelben Sätze
an, wie Prudentiug, ficht mit denfelben Waffen und zeigt nicht gez
ringere Gewandtheit. Er rügt, 2) wie ber Bifchof von Troyes, den
Berftoß Erigena’s, das Hypomneftifon für ein ächtes Werk Auguftin’s
gehalten zu haben; außerdem entwidelt der Diafon Kenntniß der
griechifchen Sprache, indem er nachweist, ?) daß die Ableitung des
Worts nooweo@, weldhe der Sfote mit fo viel Selbftgefälligfeit ge:
geben, falſch ſey. Das Schlimmfte für Hinfmar war, daß Florus
feine Schrift nicht im eigenen Namen, fondern im Auftrage der
Kirhe von Lyon veröffentlichte. Der Diakon fagt Dieß felbft im
Eingange: „Zu ung, d. h. an die Kirche von Lyon, ift die Abhand-
lung eines gewiffen eitlen Schwäßers gelangt, der über die Vorſehung
Gottes und die Prädeftination, angeblich mit philofophifchen Grün:
den, ohne alle Rüdficht auf die Lehre der Schrift und der Väter
abzufprechen wagt und feine Einfälle der Welt aufbringen will.
Lefer, die in der Bibel bewandert und im Glauben feft begründet
find, vermögen leicht die GSeichtigfeit feines Geſchwätzes einzufehen.
Aber da viele Ungelehrte, wie wir bören, den Menfchen als ein
großes Licht anftaunen, und da er durch feine kecken Behauptungen
Einige zu Zweifeln verleitet, Andere ganz mit fich fortreißt, da
endlich feine Zuhörer und Bewunderer aljo von ihm eingenommen
find, daß fie, die heil. Schrift und die Väter für Nichts achtend,
einzig auf die Fafeleien ihres Lehrers ſchwören, fo haben wir es
für unfere priefterliche Pflicht gehalten, den Jrriehren diefes Mannes
im Namen des Herrn entgegen zu treten.“ Glaubt man nicht in
diefen Worten die Schilderung eines neuern Neligionsphilofophen vor
fih zu ſehen! Die Kirche von Lyon hatte alfo jest wider den Bor-
kämpfer Hinfmar’s Parthei genommen. Da der dortige Erzbifchof
früher für Hinfmar fih ausgefprocdhen, fo erhellt hieraus, daß in
Lyon eine für die Gegner Gotſchalk's nachtheilige Aenderung vor
fich gegangen feyn muß. Wir werden gleich fehen, wie die Sade
ſich verhielt. |
!) Liber adversus Johannis Scoti erroneas definitiones bei Mauguin I.,
585 flg. — ?) Mauguin I, 726 oben. — ?) Ibid. 720 fig.
874 II. Bud. Kapitel 14.
In die Enge getrieben durch die Gegner, bie fih auf allen
Seiten wider ihn oder feine Freunde erhoben, hatte Hinfmar, allem
Anschein nach ehe die Yeßt genannte Schrift des Florus erfchien, )
einen Verſuch gemacht, den Erzbifchof Amolo von Lyon zu vermö—
gen, daß er fih noch Fräftiger als bisher gegen Gotfchalf erkläre.
Er felbft und fein treuer Berbindeter, Pardulus von Laon, erliegen
jeder ein Schreiben an Amolo, in welchem fie ihre Sache rechtfer:
tigten. Diefen beiden Briefen fügte Hinfmar noch die Abhandlung
bei, welche Rabanus zu Anfang des Streits an den italiänifchen
Biſchof Noting gerichtet hatte. Die Zufendung traf jedoch Amolo
nicht mehr am Leben, derfelbe war Mitte des Jahrs 852 geftorben.
Nemigius, bisher Beamter des Kaiſers Lothar, ?) wurde
fofort an Amolo's Stelle auf den Erzftuhl von Lyon erhoben.
Längft ftand Lothar mit feinem Halbbruder Karl dem Kahlen, dem
Gebieter Hinkmar's, auf gefpanntem Fuße, und es ift nicht unmwahrs
jheinlih, dag er, um dem franzöfifhen Könige Verlegenheiten zu
bereiten, mit Freuden die in Karl’s Gebiet ausgebrochenen Firchlichen
Zwiftigfeiten anfchüren half. Mag nun der neuernannte Erz
bifchof folhen Eingebungen des Yotharingifchen Hofes gefolgt fein,
oder aus eigenem Antriebe es für feine Pflicht erachtet haben, den
Gefangenen von Hautviliiers zu vertheidigen: gewiß ift, daß Nemi:
gius auf Hinkmar's Anträge nicht eingieng, fondern feindlich gegen
ihn auftrat. Unter dem Titel: „Antwort auf die drei Briefe,“ fchrieb
er in feinem und der Kirche von Lyon Namen ein Bud, ?) in
welches er die wichtigften Stellen aus den beiden Schreiben bes
Hinfmar und Pardulus, fo wie der ihm zugefandten Abhandlung
) Florus Außert in feinem Buche gegen Johannes Skotus (Cap. IV.,
Mauguin I., 609, Mitte): Gottfchalf fey Tängft verdammt (jam dudum dam-
natum) und feit vielen Jahren eingefperrt (annis jam plurimis
carcerali ergastulo retrusum). Demnach foheint es, als habe der Diakon ge=
raume Zeit, d. h. wohl zehn Jahre nach der Verhaftung Gotſchalk's (848 oder
849), gefrhrieben. Aber man wird in diefer Vorausſetzung wieder irre, wenn
man die Borrede des Buchs liest, wo der Diakon fagt: nachdem der Kirche
von Lyon die Abhandlung Erigena’s zugefommen fey, habe er es für feine
priefterliche Pflicht erachtet, die Irrthümer des Sfoten zu widerlegen. Unmög—
Yich konnte die Verbreitung der Schrift des Skoten Jahre lang anftehen. Da
‚nun Erigena um 852 fohrieb, fo muß man die Gegenfchrift des Diakons fpä=
teftens ins Jahr 855—854 verlegen. — ?) Dan fehe histoire litteraire de la
France V., 449, unten, wo die Beweisftelle angeführt if. — °) De tribus
epistolis liber bei Mauguin IL, b. ©. 67 fle |
Innerliche Bewegungen in der Kirche der fränfifchen Reiche x. 875
des Rabanus einrüdte. Hinfmar hatte in feinem Briefe folgende
fünf Punkte 1) als Kesereien Gotihalfs aufgeführt: 1) „Gott hat
von Ewigfeit her, wen Er wollte, zum Himmelreiche, und wen Er
wollte, zum Verderben präbeftinirt. 2) Die zum Verderben Geord-
neten können nicht feelig, die Ausgemwählten nicht unfeelig werden.
3) Gott will nicht, daß alle Menfchen die Seeligfeit erlangen, fon=
dern nur Die, welche wirklich feelig werden. 4) Chriftus ift nicht
gefommen, Alle zu erlöfen, auch nicht für Alle geftorben, fondern
nur für Die, welde dur das Geheimniß feines Leidens das Heil
erlangen. 5) Nachdem der erfte Menfch aus freiem Willen gefallen,
fann Niemand yon ung feinen freien Willen zum Guten, fondern
nur zum Böfen anwenden.“ Man muß zugeben, daß biefe fünf
Sätze in den Schriften Auguftin’s, fo wie in den verfchiedenen Urkun—
den Gotfchalf’s entweder wörtlich enthalten find, oder doch aus den⸗
felben folgen. Der fünfte hat zwar eine fonderbare Faffung, welche
die Abficht verräth, Gotfchalt’S Lehre verhaßt zu machen, aber er
ift nichtsdeftoweniger ächt Auguſtiniſch. Nemigius erklärt nun die
vier erften Punkte geradezu für rechtgläubig und vertheidigt fie, in
Bezug auf den fünften dagegen braucht er einen unwürdigen Kunft:
griff, ohne Zweifel weil er fühlte, daß es um das Amt der Predigt
gefhehen fey, wenn man fo unummwunden bie völlige Verderbniß
menſchlicher Natur zugebe. Er ftellt fih nemlih, als ob er bie
Richtigfeit der Angabe Hinkmar's in Zweifel ziehen müſſe. „Un:
glaublich fheint es mir,“ ruft er 2) aus, „daß ein unter Chriften-
menfchen Geborner und Erzogener, vollends dag ein Mann wie
Gotſchalk, welcher fo viel Belefenheit in der Bibel und den Schriften
ber Väter verräth, eine Lehre der Art vorgetragen haben Fünne.“
Weiter unten meint er: ?) „wenn Gotfchalf auch wirklich jenen Sat
aufftelle, fo wäre es die Pflicht der Biſchöfe gewefen, ihn nad
der VBorfchrift des Apoſtels (Galat. VI, 1.) mit milden Worten
zuvechtzumeifen.“ Remigius wußte jedoch recht gut, daß Gotſchalk
eine völlige Unfähigkeit der menfchlichen Natur zum Guten behauptet
hatte. Geſteht er doch feldft, durch die Bündigkeit auguftinifcher
Glaubenslehre gezwungen, unmittelbar nach dem oben angeführten
Satze *) ein: der menfchliche Wille fey feit dem Falle Adam's vollig
1) Ibid. 68 fig. — 2) Ibid. ©. 102, Mitte. — 3) Ibid, 108 unten flg. —
*) Ibid, 403.
876 III. Buch. Kapitel 14.
ſchwach, verborben, tobt. Der Fuge Mann wollte, wie man fieht,
ben Ruhm eines treuen Anhängers Auguftinifcher Grundfäge wahren,
aber doch zugleich den ſchlimmen Folgen entrinnen, welche diefelben
für das Predigtamt haben; darum fucht er fih durch ſolche Zwei:
deutigfeiten aus der Schlinge zu ziehen. Der Geift, in welchem
er den Streit gegen Hinfmar führte, erhellt am beutlichften aus
einer Stelle im 24ften Kapitel: ) Hier befchuldigt er den Erz:
bifhof von Rheims, nicht den Mönch Gotſchalk, fondern Auguftin
ſelbſt und die Firchlihe Wahrheit in der Perfon des Gefangenen
von Hautvillierg verdammt zu haben. Ebenfo bitter greift er bie
beiden Schreiben Raban's und des Bifhofs Pardulus an. Lebterer
hatte geltend gemacht, daß ſechs namhafte Schriftfteller, worunter
Amalarius und Johann der Sfote, wider Gotfchalf aufgetreten
feyen. Remigius entgegnet: *) Parbulus würde beffer gethan haben,
von diefen beiden Menfchen zu fchweigen, denn Amalarius fey ein
verrufener Ketzer, deſſen Schriften den Holzftoß verdienen, Skotus
aber verftehe nicht einmal die Worte der Schrift und habe fich durch
fein unberufenes Geſchwätz vor aller Welt lächerlich gemacht. Den
Drief des Mainzer Metropoliten fertigt Nemigius mit der furzen
Bemerfung ?) ab: Raban beftreite eine Lehre, die Niemand aufzu:
ftellen fich erfühnt habe, nemlich daß Gott die VBerlornen zur Schlech:
tigfeit vorausbeftimmt habe, die Abhandlung deffelben verfehle daher
ihres Ziele. Gleich feinen Borgängern brauchte Remigius auch
noch eine Fritifche Waffe gegen die Aheimfer Parthei. Hinfmar und
Pardulus Hatten fih in den an die Lyoner Kirche überſchickten
Schreiben yon Neuem auf das Hypomneftifon, als eine Achte Augu—
ſtiniſche Schrift, berufen. %) Dagegen zeigt ?) nun Remigius weit
Yäuftig, daß fie unterfchoben fey. Sp unbedeutend die Frage an
fi) ift, 0b das Buch den Biſchof von Hippo zum Berfaffer hat
oder nicht, Tegten die Gegner Hinkmar's das größte Gewicht darauf,
ihn und feine Freunde in biefem Punkte des Irrthums zu über:
führen. Letztere follen nemlich als Menfchen hingeftellt werden, bie
fih nie mit gründlicher Erforfhung der Schriften Auguftin’s bes
fchäftigt haben. Daher die hämifche Schadenfreude, mit welcher bie
Bertheidiger Gotſchall's immer wieder auf das Hypomneftifon zu—
rückkommen.
i) Ibid. 408 oben. — 2) Ihid. 155. — 3) Ibid. Cap. 44. ©. 135 unten flg.
— *) Ibid. Cap. 34. ©, 125 und Cap. 39, ©. 155. — °) Ibid. 124 fig.
Innerliche Bewegungen in der Kirche der fränkiſchen Reiche ıc. 877
Hinfmar’s Sache fand jest fchlechter, als je zuvor. Während
früher die Metropoliten ihn unterftügt und nur Bifchöfe wider ihn
Parthei ergriffen hatten, waren nun zwei angefehene Erzbiſchöfe,
Wenilo von Sens und Remigius yon Lyon, zu’ ben Gegnern über:
gegangen. Federkämpfe fonnten nicht mehr helfen. Wollte er fein
jehr bedrohtes Anfehen retten, fo mußte er die Föniglihe Gewalt
zu Hülfe rufen. Wirklich beurtheilte Hinfmar aus diefem Geſichts⸗
punkte den Stand der Dinge. Im Laufe des Jahrs 853 hielten
mehrere Aebte und Bifchöfe unter Karls des Kahlen Vorſitz im
Schloſſe Chierfey eine Synode, H auf welcher folgende vier mit den
Beichlüffen des erften Concils zu Chierfey (849) fat gleichlautende
Artifel, als Summe rechtglaubiger Lehre, feftgefegt wurden: 1) „Gott
hat Niemand zur Berdammniß vorherbeſtimmt, und es giebt nur
eine Prädeftination zur Gnade oder zur gerechten Vergeltung;
2) der freie Wille, den wir in Adam verloren hatten, ift ung durch
bie zuvorfommende und helfende Gnade Chriſti wiedergegeben;
3) Gott wi, dag alle Menfchen feelig werben, obgleich nicht Alle
das Heil erlangen; 4) Chriftus hat fein Blut für Alle vergofien,
wenn gleich nicht Alle dur) das Geheimnig feines Todes erlöst
werden.“ Die anmwefenden Bifchöfe und auch der König felbft unter:
jhrieben diefe Schlüffe. Der fränkische Chronifenfchreiber, dem wir
biefe Nachricht verdanken, fpricht fo, als ob Karl der Kahle bie
Artifel eigenhändig entworfen hätte. Allein nicht Karl, fondern
Hinfmar war es, der die Feder führte. Indeß Hat der Annalıft
wenigftens in fo fern Recht, als der König dem Erzbifchof aufs
Kräftigfte beiftand; er behandelte Die Sache deffelben als feine eigene.
Selbft Gewaltmittel fcheint Karl angewendet zu haben, um die Zus
fiimmung einiger oder beffer eines der nad Chierfey berufenen
Slerifer zu erzwingen. Hinkmar berichtet, ?) mit den Andern habe
auch Prudentius von Troyes jene Sätze aufgeſetzt, gebilligt und
unterſchrieben. Kaum nah Haufe zurücdgefommen, ftellte derfelbe
Biſchof von Troyes eine entgegengefegte amtliche Erklärung aus,
woraus man fchliegen muß, daß Prudentiug wider feinen Willen, aug
Furcht vor dem Zorne des Königs, die Beſchlüſſe unterzeichnet hatte.
Im nemlihen Jahre verfammelten fi) nemlich mehrere Bifchöfe zu
1) Prudentii — annales ad annum 853, Perz IL. 447 unten ng.
— *) Opp. L., 118 unten und 204 Mitte.
878 IM. Buch. Kapitel 11.
Sens unter dem Vorſitze des Metropoliten diefer Stadt, Wenilo,
um dem neugemwählten Bifchofe Aeneas von Paris die Weihe zu
ertheilen. Auch Prudentius hätte erfcheinen follen, er blieb jedoch,
angeblih wegen Krankheit, weg, richtete aber dagegen an die Ber:
fammelten ein noch vorhandenes ) Schreiben, in welchem er aug-
einanderfetste, daß er nur dann die Weihe des neuen Bifchofs an-
zuerfennen vermöge, wenn berfelbe die Vorfhriften des ayoftolifchen
Stuhls und der rechtglaubigen Väter, namentlich aber folgende vier
im Streite gegen Pelagius von der Kirche geheiligten Lehrfäge billigen
werde: 1) „Der in Adam verlorne freie Wille ift ung durch Chriftum
in der Art wiedergegeben, daß wir zum Denfen, Wollen, Beginnen,
Bollftredlen des Guten ftets der Gnade bedürfen; 2) Manche find durch)
Gottes Barmherzigfeit yon Ewigfeit zum Leben vorausbeftimmt, Andere
aber durch Seine unerforfchliche Gerechtigkeit zur Strafe; 3) Chrifti
Blut ift für Alle, die an Ihn glauben, vergoffen, jedoch nicht für
Die, welche nicht an Ihn geglaubt haben, noch jest glauben, nod)
glauben werden; 4) Gott macht Alle, welche Er retten wilt, felig;
biefer Sein Wille erſtreckt fich jedoch nicht auf Diejenigen, welche
nicht feelig werden.“ Ohne Zweifel erwartete Prudentius, daß Wenilo,
ber, wie oben gezeigt worden, fchon zuvor mit Hinfmar ſich entzweit
hatte, dieſe Säge von der Synode werde befräftigen laſſen. Wir
erfahren jedoch nicht, ob Dieß wirklich gefchehen if. Das Still-
fchweigen der alten Quellen fcheint eher zu beweifen, daß der Me:
tropolit aus Furcht vor dem Unwillen Karls des Kahlen, deſſen
Unterthan er war, es nicht gewagt hat, den Wunfch des Prudentius
zu erfüllen. Nur fo viel ift gewiß, ?) daß Wenilo jenes Schreiben
dem neugeweihten Bifchofe Aeneas mittheilte, der es dann dem
Könige überreichte. |
Wenn aber auch der Metropolit von Sens und feine Suffra:
gane nicht den Muth Hatten, die Befchlüffe der zweiten Synode von
Chierfey anzugreifen, fo erhob ſich fofort die Kirche von Lyon gegen
diefelben. Abermal trat Nemigius als Vertheidiger auguftinifcher
Rechtgläubigfeit wider Hinfmar auf, indem er eine Streitſchriſt °)
gegen dieſen fehleuderte, in welcher er die Satzungen von Chierfey
i) Tractoria S. Prudentii abgedrudt bei Mauguin IL, b. ©. 176 flg. —
2) Dieß berichtet Hinkmar felbft Opp. I., 26 Mitte. — °?) Libellus de tenenda
scripturae sacrae veritate abgedrudt bei Mauguin H., b. 478 flg.
Innerliche Bewegungen in ber Kirche der fräntifchen Reiche ıc. 879
zu widerlegen fuchte. Das Buch beginnt mit Klagen darüber, daß
der Mißbrauch einreiffe, die Wahrheit der heil. Schrift und das
Anfehen der Väter zu verachten, an deren Stelle man eigene irrige
Gedanken unterfchiebe, wodurch der anvertraute Schatz des Glaus-
bens den böfen Geiftern zum Raube überlaffen werde. Erft neulich,
heißt es weiter, habe ſich eine Synode zu Chierfey einer folchen
Verwegenheit fihuldig gemacht. Der Berfaffer rückt fofort die vier
Artifel wörtlich ein, indem er einem jeden berfelben eine ausführliche
Widerlegung beifügt. Da die Gründe, welche Remigius vorbringt,
im Wefentlichen nicht verfchieden find von den in dem langen Streite
gewöhnlich gebrauchten, fo enthalten wir ung, einen Auszug mitzu-
theilen.
Die Lyoner begnügten ſich dießmal nicht mit Federkämpfen, fie
fegten vielmehr der Testen Synode Hinkmar's eine eigene entgegen.
Im Januar 855 verfammelten fih die Biſchöfe der drei zu Lothar’g
Reiche gehörigen Kirchenprovinzen, Lyon, Bienne und Arles, unter
dem Borfise des Metropoliten Nemigiug, zu Balence. Hauptzwed
ber Zufammenfunft war, über den Bifchof der Yeßtgenannten Stadt,
ber ich durch Ausfchweifungen verhaßt gemacht hatte, Gericht zu
halten. Allein Remigius benüste die Gelegenheit, um zugleich feinem
Gegner von Rheims einen Schlag beizubringen. „Damit die Ber:
fammlung,“ heißt es!) in den Akten, „nicht auseinander gehe, ohne
etwas zu Erbauung der Gläubigen zu thun, habe man für gut
gefunden, einige zweckdienliche Beichlüffe zu faffen.“ Nun folgt
eine Reihe Artifel, von denen die ſechs erften gegen Hinfmar ge-
richtet find. Der erfte beftimmt, daß man ſich vor allen Neuerungen in
Glaubenssachen hüten und in der Lehre von der göttlichen Vorher:
beftimmung einzig an Das halten folle, was nächſt der heil. Schrift
bie Bäter Cyprianus, Hilarius, Ambrofius, Hieronymus, Auguftinug
und Andere vorgebracht hätten. Der zweite und dritte Canon fchärft
bie zweifache Prädeftination jedoch mit dem Vorbehalte ein, daß bie
Gottlofen nicht zum Böſen oder zur Nothwendigfeit des Sündigens
vorherbeftimmt feyen. Der vierte beffagt die Verbreitung eines
groben Irrthums in Bezug auf die Erlöfung der Menfchen durch)
Chriſti Blut, infofern gewiffe Leute zu behaupten wagen, baß ber
Heiland fein Blut auch für jene Gottloſe vergoffen habe, welche
— — — — —
y Manſi XV., ©. 2 unten flg. X
gs ——— IM. Buch. Kapitel 11.
vom Anfang der Welt bis zum Leiden des Herrn in ihrer Verderb⸗
niß geftorben und. daher ewig verloren wären, welche Feerifche Mei:
nung doch durch die Stellen Hoſeas XII. 14., Johannis IIL 14. 15.
und Hebr. IX, 28. widerlegt werde. „Darum verwerfen wir bie
vier Artifel (von Chierfey), welche neulich unfere Brüder unvorfichtig
angenommen, ald unnüß, verberblid) und unwahr, fo wie wir auch
die neunzehn Schlußfäge verdammen, welde ein gewiſſer Sfote
(Johannes Erigena) nicht der Wahrheit gemäß, fondern aus Ein:
gebung des Teufels aufgeftellt hat.“ Der fünfte Artifel befagt:
„wir glauben feft, daß alle getaufte Gläubige durch Ehrifti Blut
von Sünden reingewafchen werden. Gleichwohl halten wir für
gewiß, daß nur Einige, weil fie durch Gottes Gnade in der Erlö—
fung verharren, die ewige Seeligfeit erlangen, während Andere
durch verruchtes Leben und irrige Lehre die Gnade verfcherzen und
darum des Heiles nicht theilhaftig werden.“ Der fechste Canon
endlih handelt vom freien Willen. Die Väter von Valenee erklären,
daß fie über die Verderbniß deſſelben durch Adam's Sünde und
feine Wiederherftellung durch Ehriftus nichts Anderes glauben, als
was die heil. Väter gemäß der Bibel, was insbefondere die afrifa=
nifche Synode und die zu Drange befannt, und die feeligften Bifchöfe
bes apoftolifchen Stuhls der Wahrheit gemäß gelehrt haben. „Bor
den abgefhmadten Fragen dagegen, den kindiſchen
Fabeln und dem fhottifhen Brei, welder den ädten
Glauben anefelt, müfjen wir in der Liebe des Herrn alle frommen
Chriſten ernftlid, verwarnen.“ |
Beſondere Thätigfeit bei Abfaffung der Beichlüffe von Balence
entwidelte der Bischof Ebo von Grenoble, ein Neffe ') des ehemaligen
Metropoliten von Rheims, deffen Stuhl Hinfmar feit 845 befaß.
Wegen Berbrängung feines Oheims hatte der Bifhof von Grenoble
eine alte Rechnung der Rache mit Hinfmar abzumachen. Diefer
Ebo war es auch, der die Befchlüffe von Balence dem Könige von
Neuftrien, Karl dem Kahlen, überbrachte, welcher fie fofort dem Rheimſer
Metropoliten zuftellte. Zu Widerlegung derſelben fehrieb Hinfmar
ein Werk in drei Büchern, von welchem jedoch nur die Vorrede 9
auf ung gefommen ift.
1) Ebo (Gratianopolitanus) a Domino avunculo suo Ebone, tum Remo -
rum archiepiscopo, consecratus fagt Hinfmar im Vorftüde zum erften Bande
feiner Werke. S. 3 unten, — 2) Abgevrudt ibid.
SInnerliche Bewegungen- in der Kirche der fränfifchen Reiche ıc. 881
Eine förmlihe Spaltung über die Lehre von der göttlichen
Borherbeftimmung beftand nunmehr in den beiden jenfeitd des Rheins
gelegenen fränfifhen Neichen. So weit das Machtgebot Karls des
Kahlen reichte, galt Gotſchalk für einen Keger und Hinfmar’s Grund:
ſätze triumphirten; in Lothar’s Gebiet dagegen wurde der Mönd
von Hautvilliers als ein Märtyrer geachtet und das auguftinifche
Dogma behauptete, jedoch mit Abfchleifung feiner härteften Spiten,
den Sieg. Der Haß der Brüder Lothar und Karl hatte diefen
dogmatifchen Krieg herbeigeführt, die Verlegenheit der Herrfcher
fiellte den Frieden wieder her. Im September 855 ſtarb Kaifer
Lothar, nachdem er das ihm gehörige Neich unter feine drei Söhne
getheilt. Der Erfigeborne, Ludwig I., erhielt Italien fammt dem
Kaifertitel; der andere, Lothar II, das Reich Aufirien, das von
nun an Lothringen genannt wird; der dritte, Karl der Jüngere,
die Provence als eigenes Königthum. Durch diefe neue Theilung
flieg die Verwirrung dieſſeits der Alpen, die feitber arg genug
gewefen, noch auf einen höhern Grad. Während die Normannen
und Dänen von verfhiedenen Punkten der Küfte aus Gallien ans
fielen und greulich verheerten, herrfchte bittere Zwietracht unter den
Erben Karl’s des Großen. Ludwig der Teutfche ſtreckte die Hände
nad dem Reiche feines Bruders Karl's des Kahlen aus, die Söhne
Lothar’s ihrer Seits fpannen Einer gegen den Andern und wider
ihren neuftriihen Oheim verderblihe Nänfe, bis endlih die Noth
der Zeiten fie zwang, an Ausfohnung zu denfen. Im Jahre 859
ward die Abhaltung einer gemeinfchaftlihen Synode befchloffen, auf
welcher Abgeordnete der drei Reiche Neufirien, Lotharingien und
Provence, mit den Königen an der Spike, erfcheinen, ein bauerndes
Berhältniß begründen und auch die obfchwebenden kirchlichen Zwiftig-
feiten beilegen follten. Als Vorbereitung hiezu veranftaltete Karl
der Jüngere, König der Provence, Ende Mai 859 in der Abtei des
trois jumeaux unweit Langres eine Zufammenfunft der Kirchen:
häupter feines Landes. Die Metropoliten Remigius von Lyon,
Agilmar von Bienne, der Biſchof Ebo von Grenoble und mehrere
andere Mitglieder der hoben Geiftlichfeit fanden fih in der Abtei
ein. Ohne Zweifel war ed der Wunſch des Königs, daß dieſe
Prälaten, um den Frieden mit Neufter vorzubereiten, die Beſchlüſſe
von Valence zurücdnehmen follten. Aber er fonnte feine Abfichten
nicht durchfegen; vielmehr wurben die ſechs Canones von Balence
Gfrörer, Kircheng. III. 56
882 II. Buch. Kapitel 11,
wiederholt, und nur in fo fern gaben bie provencalifchen Bifchöfe
nad), als fie fi dazu verftanden, !) die harten, wider Die zweite
Synode von Chierfey gerichteten Bemerkungen aus dem vierten
Paragraphen wegzulaffen. |
Bierzehn Tage nah der Zufammenfunft bei Langres fand in
Savonniereg, einer Borftadt von Toul, die beabfichtigte allgemeine
Reichsverſammlung ftatt. Außer den drei Königen erfchienen bie
Bischöfe von zwölf Kirchenprovingen. Auch hier drohte Anfangs die
Hartnädigfeit des Clerus einer gütlihen Berftändigung unüberfteig-
liche Hinderniffe in den Weg zu legen. Die Provencalen beftanden
darauf, daß die Artifel von Langres vorgelefen werben mußten,
dagegen vertheibigte Hinkmar's Anhang die Beichlüffe von Chierfey
und nahm für fih den Ruhm ausſchließlicher Nechtgläubigfeit in
Anfprud. Die Gemüther erhigten ſich, lautes Gefchrei ertönte und
man war auf dem Punkte, mit gefteigertem Haß auseinander zu
gehen, als der Metropolit Remigius von Lyon den Vorſchlag machte,
die Entfcheidung der ftrittigen theologifchen Fragen einer fpäteren
Synode vorzubehalten und fi indeg die Hand zum Frieden zu
reichen. 2) Wirklich wurde folgender ?) Beſchluß gefaßt: „Nachdem
einige Artifel verlefen worden, über die man fich nicht hätte vereint
gen Fönnen, feien die verfammelten Bifchöfe übereingefommen, nad
bergeftelltem Frieden eine neue Zuſammenkunft zu halten und gemäß
der heiligen Schrift und den Ausfprüchen der Väter ein gemein:
Tchaftliches Glaubensbefenntniß zu entwerfen.“ Auf diefe Grundlage
hin fam ein Freundfchaftsbindnig zwifchen den drei Reihen zu
Stande, man trennte fih im Frieden.
Auf dem Tage zu Savonnieres wurde noch eine andere Ans
gelegenheit verhandelt, die über frühere Vorgänge im Gotfhalf:
ſchen Streite Licht verbreitet. Wir erzählten oben, daß der Metro:
polit Wenilo von Sens, nachdem er Anfangs die Verurtheilung
des Mönchs gebilligt hatte, fpäter gegen Hinfmar, und folglich auch
gegen deſſen Befhüser, König Karl den Kahlen, Parthei nahm.
Ereigniffe, die während des Jahres 858 eintraten, lieferten den
Beweis, dag Wenilo nicht aus theologifchen Gründen feine Anficht
geändert haben muß. Die neuftrifhen und aquitanifhen Großen,
1) Manft XV., 537 Mitte und Randbemerkung 538 gegen oben. —
2) Hinemari Opp. T., 2, — ®) Harduin Concil. V., ©. 486 unten flg.
Snnerlihe Bewegungen in der Kirche der fränkiſchen Reiche ıc. 883
feit längerer Zeit mit Karl dem Kahlen unzufrieden, zettelten 858
eine Verſchwörung an, in Folge deren fie den Bruder ihres Ge:
bieters, Ludwig den Teutfchen, einluden, fi) Neuftriens zu bemädh-
tigen. Während Karl gegen die Normannen, welche fih auf ber
Inſel Oyßel verfchanzt hatten, zu Felde lag, brach der teutfche Fürft
mit einem großen Heere in Neufter ein, und eroberte, von den Ber:
fchworenen unterflüßt, faft das ganze Neih. Auf die Kunde von
diefem Ueberfall eilte zwar Karl der Kahle herbei, warb aber yon
feinen Lehensleuten verlaffen und mußte nad einem Orte auf der
Gränze von Burgund flühten. Nun berief Ludwig einen neuftri-
hen Reichstag nad) Rheims, um Anordnungen zu treffen, bie ihm
den dauernden Beſitz des Naubes fichern follten. Faſt alle welt:
lihen Großen ftellten fich ein, und empfiengen von dem Eroberer
als Preis ihres Verraths Vergabungen von Staats: und Kirchen:
gütern. Vom Clerus dagegen erfchien nur ber einzige Wenilo,
ber bisher eines der thätigften Häupter der Verſchwörung gemefen
war. Ludwig der Teutſche belohnte feinen Eifer mit der Abtei
St. Colomb zu Send, die er ihm felbft, und mit dem Bisthum
Baieux, das er Wenilo's Neffen, Tortold, ſchenkte. !) Hätte die
übrige hohe Geiftlihfeit das Beiſpiel Wenilo's nachgeahmt, fo
wäre es um Karl geſchehen geweſen. Allein von Hinkmar feſtge—
halten, blieben die andern Biſchöfe dem unglüdlichen Könige treu
und retteten feine Sade. Statt der Einladung nad) Rheims zu
folgen, verfammelten fie fih Ausgang November S58 zu Chierfey.
Hier wurde eine Zufchrift an Ludwig entworfen, welche dem Eroberer
mit rückſichtsloſer Freimüthigkeit fein ungerechtes Verfahren vorbielt.
Man nimmt allgemein an, daß Hinkmar diefes Schreiben 2) aufgefeßt
hat. Es beginnt mit einer Entfhuldigung, daß es ihnen, den zu
Chierſey verfammelten Bifhöfen, wegen Kürze der Zeit unmöglich)
gewefen ſei, nach Rheims zu fommen. Dann folgt eine Reihe Er:
mahnungen: „wenn Ludwig, wie er behaupte, blos in der Abficht
Gallien heimgefuht habe, um den gefunfenen Zuftand des Reichs
und der Kirche zu verbeffern, fo möge er die Rathſchläge befolgen,
bie fie ihm früher ertheilt, und mit feiner Perfon anfangen. Er
ſolle bedenfen, welches Unrecht er durch den ungerechten Krieg feinem
') Harduin Coneil. V., ©. 489 Nro. 10 und 12. — 2) Abgedrudkt in
Hinkmar's Werfen II, 126 flg.
56 *
884 2 I: Buch. Kapitel 1.
Bruder zugefügt habe und welch’ fchwere Verantwortung er bereinft
in der Stunde des Todes, dem ewigen Nichter gegenüber, auf fich
lade; er folle den greulichen Verwüſtungen des Landes durch fein
Heer Einhalt thun und feine Waffen gegen Heiden ftatt wider Ver-
wandte fehren; er folle die wider Gottes Gebot an Laien verfchleu:
derten Kirchengüter den rechtmäßigen Befigern zurüdgeben, damit
es ihm nicht ergebe, wie feinem Ahn Karl Martell, der wegen
Kirchenraubs in der Hölle ewige Pein erbulde; er folle feine Großen
im Zaum halten, tadellofe Beamte einfeßen und nicht mehr, wie
bisher, das arme Volk mit unerſchwinglichen Steuern und Frohn-
dienften belaften; er folle endlich für firenge Handhabung der Ge-
vechtigfeit forgen.“ Sie ſchließen mit der Erklärung, daß fie den von
Ludwig verlangten Schwur der Treue nicht zu leiften wermöchten,
theils weil Karl ihr rechtmäßiger König fey, theild weil Bifchöfe
überhaupt ſich durch feinen Bafalleneid verpflichten dürften.
Diefe fühne Sprache hatte die erwünſchte Wirfung. Ludwig
der Teutfche wurde durd den Widerftand der Biſchöfe eingeſchüch—
tert, und dagegen ftieg der 'gefunfene Muth der Parthei Karl’s fo
fehr, daß es dem neuftrifchen Fürflen im folgenden: Jahre gelang,
feinen Bruder mit Gewalt aus dem Lande zu vertreiben. Allein
während des Kampfes verübte das Heer Karl's eben fo fchreiende
Greueltbaten, als im vorhergehenden Jahre das teutfhe. Hinfmar
hielt es daher für feine Pflicht, auch gegen Karl'n den Kahlen bie
echte des unterbrüdten Volks zu vertheidigen. Er erlieg am ihn
ein Schreiben, ) das nicht viel fehonender als das oben erwähnte
if. In den ſtärkſten Worten klagt er zuerft über die Ausſchwei—
- fungen der Soldaten, noch fehändlicher aber ſey es, fährt er fort,
daß das eigene Gefolge des Königs unter beffen Augen überall,
wohin es fomme, raube und plündere, wie wenn ed dev Vortrab
des Antichrift wäre. Hinkmar befhwört Karl'n, den Unordnungen
zu fleuern und die im vorigen Jahre von der Synode zu Ehierfey
an feinen Bruder Ludwig gerichtete Zufchrift, die auch für ihn paffe,
ernftlich zu beberzigen. Auch fühle er fih Gewiſſen halber verbun:
ben, dem Könige nicht zu verſchweigen, daß allerlei Gerüchte über
ihn unter dem Bolfe umlaufen. Die öffentlide Stimme beſchuldige
ihn der Gleichgültigfeit gegen die Leiden des Volks; er felbft habe,
%) Opp. II, 142 fig.
Snnerliche Bewegungen in der Kirche der fränkifchen Neihe ıc. 885
heiße es, geäußert, daß Naub und Plünderung unvermeidlich fey,
Seder müſſe das Seinige vertheidigen, fo gut er fünne. Hinfmar
braucht fofort die Wendung: er für feine Perfon glaube nicht an
die Wahrheit diefer Befchuldigungen, aber der König möge die Grunde
Yofigfeit derfelben dadurch beweifen, daß er feine Unterthanen, von
denen er doc Abgaben und Dienfte anfpreche, durch Beſchützung
ihres Eigentums in Stand fee, Beides Teiften zu Fünnen. Weiter
fey, fchreibt er, unter dem Volke die Sage verbreitet, daß wer am
Hoflager Recht fuche, vergebens fomme. Karl folle fih an ben
Spruch Salomo’3 erinnern (Sprüchwörter XXL 13.): wer feine
Ohren verftopft vor dem Schreien des Armen, ber
wird aud rufen und nicht erhört werden u. f. w. |
Der Sieg der Neuftvier über Ludwig den Teutfchen hatte den
ſchuldigen Metropoliten von Seng in die Hände feines ſchwer be—
leidigten Gebieters geliefert. Vor der Synode zu Savonnieres trat
Karl ſelbſt als Anfläger gegen ihn auf. In einer Schrift, D die
er den verfammelten Bifchöfen übergab, feste er auseinander, daß
er Wenilo von der Stelle eines Hoffaplang, die derfelbe früher bes
fleidete, auf den erzbifchoflihen Stuhl von Sens erhoben und mit
feinem ganzen Vertrauen beehrt, daß aber der Verräther alle biefe
Wohlthaten mit dem fchwärzeften Undank vergolten habe. Ein Aus:
fhuß von Bifchöfen wurde niedergefegt, um Wenilo’d Sache zu
unterfuchen. Sie Iuden ?) ihn vor ihr Gericht. Der bedrohte Me-
tropolit wartete jedoch die anberaumte Frift nicht ab, er wußte
noch vorher den König zufrieden zu ftellen ?) und behielt fein Amt.
Seine Straflofigfeit beweist, wie tief damals Macht und Anfehen
der Krone gefunfen war. Im Uebrigen erhellt aus Wenilo's Ges
fhhichte, daß er nicht aus Mitleiden über das harte Gefchid Got:
ſchalk's, noch aus dDogmatifcher Meberzeugung, fondern aus politi-
chen Gründen während des Streits die Fahne gewechſelt hatte.
Offenbar wollte er dadurch, daß er zu Hinfmar’d Gegnern übers
gieng, die im neuftrifchen Neiche eingeriffene Verwirrung fleigern
und den Sturz des Königs Karl, wie des aufs Engfte mit ihm
verbundenen Metropoliten von Nheims befördern.
Die neue Synode, welche die Berfammlung von Savonniered
) Harbuin V., 487 unten fl. — 2) Die Ladung ibid. ©. 490, —
3) Prudentii Trecensis annales ad annum 859, Perz I., 453 unten. .
886 III. Buch. Kapitel 14.
zu völliger Beilegung des Zanks über die Gnade in Ausſicht ges
ftellt hatte, Fam nicht zu Stande, ohne Zweifel weil Hinfmar fühlte,
daß Religionsgeſpräche nicht das rechte Mittel feyen, um den Frieden
der Kirche zu erzielen. Statt deffen fchrieb der Rheimſer Erzbifchof
während der Jahre 859—863 fein großes Werk von der Prädefti-
nation, das mehr ald die Hälfte des erften Bands feiner von Sir:
mond herausgegebenen Schriften anfüllt. ) Hinkmar verfolgt darin
einen doppelten Zweck: er fucht erftens zu zeigen, daß Gotfchalf bie
im 5ten Jahrhundert aufgefommene Keberei der Prädeftinatianer
erneuert babe, fürs zweite will er die vier Artikel von Chierfey
wider die Einwendungen der Valencer Synode vertheibigen. Um
die erfte Abficht zu erreichen, ftellt er eine eigenthümliche Gefchichte
der angeblichen Prädeftinatianerfefte zufammen. Haupt berfelben
war, laut feiner Behauptung, Fulgentius von Ruspe. Diefer Ful:
gentius habe allerdings, gleih Gotſchalk, eine Doppelte Prädeftination,
fowohl zum Berderben, als zum Heile gelehrt, aber indem er dieſe
irrigen Sätze aufitellte, fey er von Auguftin’s Achter Lehre abgefallen.
Die Behauptungen des Biſchofs von Ruspe fünnen durch klare
Stellen des hochverehrten Vaters von Hippo, wie Prospers von
Aquitanien, und ebenfo durch Ausiprüde des apoſtoliſchen Stuhles
zu Rom widerlegt werden. Dean fieht, Hinfmar fpricht wider bie
Gefchichte; entweder hat er nicht aus den Achten Quellen gejchöpft,
oder fich eine Unredlichfeit erlaubt. Noch mehr Mühe und Worte
ald an den erfien Theil verfchwendet Hinfmar auf. den Verſuch,
die Schlüffe von Valence zu widerlegen. Das ganze Werf ift un:
fäglich weitichweifig, ein Vorwurf, den ſchon Pabſt Nifolaus I. da:
gegen erhob. ?) Nur mit Außerftem Verdruß Tann fi) der Lefer
Durch diefe ewigen Wiederholungen hindurchwinden. Doc hat e8
biforifchen Werth wegen mehrerer auf den Gotſchalt'ſchen Handel,
bezüglihen Urfunden, welche der Metropolit einrüdte. Nemigius
und die andern Gegner Hinfmar’s beruhigten fid) mit dem Buche,
vermuthlich weil ihnen der zu Savonnieres abgefchloffene Vertrag
und das Machtgebot ihrer Fürften den Mund verfchloß. Der Streit
wurde nicht weiter fortgefegt und die Sache Gotſchalk's war von
Nun an verloren.
Ehe es jo weit fam, muß der Mönch auf die Theilnahme, welche
!) Opp. L, 1-410. —— 2?) Hincmari opp. II. 247 gegen oben,
Innerliche Bewegungen in der Kirche der fränkifchen Neiche ıc. 887
ihm die fremden Bifchöfe bewiefen, Hoffnungen der Rache gebaut
haben, Wir fehließen dieß aus dem Umftande, weil Gotfchalf, während
Hinfmar mit jenen Gegnern im Kampfe lag, muthwillig einen
neuen Anlaß hervorfuchte, das Anfehen des Rheimſer Metropoliten
zu untergraben. in alter, längft in den Kirchen eingeführter, Lob:
gefang auf gewilfe Märtyrer von unbefanntem Berfaffer endete mit
den Worten te Irina Deitas unaque poseimus. Hinfmar nahm
Anftoß an dem Ausdrude trina, weil er glaubte, daß berfelbe die
Borftellung von drei Göttern in ſich fehließe. Er änderte die ver:
bächtige Strophe ab und befahl, in den Kirchen feines Sprengelg
sancta ftatt. trina zu fingen. Die Sacde erregte unter den Anhans
gern des Hergebrachten Lärm, und alsbald benügten auch die Feinde
Hinkmar's den Borfall, um ihn als Keger zu verfchreien. Zuerſt
fihrieb der oben erwähnte Mund von Corbie, Ratramnus, ein Bud)
wider Hinfmar’s Neuerung, das nicht auf ung gefommen ift. Wir
fennen es blos aus gelegentlichen Aeußerungen Hinfmar’s, welcher
unter Anderem bemerkt, 1) dieſe Schrift des Mönchs habe einen
ziemlichen Umfang gehabt: Dem Beifpiel des Ratramnus folgte
bald der Gefangene von Hautvillierd. Nachdem er Anfangs unter
der Hand die Abänderung des Hymnus durch Kleine Flugfchriften
zu verbächtigen gefucht, 2) veröffentlichte er zulegt eine fürmliche Abs
handlung wider Hinfmar, welche Diefer der Nachwelt aufbewahrt
hat, indem er fie feiner Gegenfchrift einverleibte. Gotſchalk bezüch-
tigt in dem fraglichen Büchlein den Erzbifchof geradezu der vers
vufenften Kegerei. Nur ein Sabellianer, fagt er, könne fich weigern,
die Rechtgläubigfeit der Worte trina Deitas anzuerfennen. Er madıt
geltend, daß Prosper den Ausdrud trina majestas gebraude, daß
Prudentius trina pietas, Arator trina potestas ſage; er beruft ſich
ferner darauf, daß die alte griechiſche Kirche fi der Worte roıoc«-
yıov und felbft roıdsorei« bedient habe, daß in den Akten der
jehsten conftantinopolitanifchen Synode die Formel cooperante trina
et conglorificanda Deitate ftehe. 3)
Der neue Angriff gegen Hinfmar war eben fo gefährlich wegen
des Gegenftandeg, den er betraf, als wegen der Perfonen, von. denen
er ausgieng, und wegen des Zeityunfts, in welchem er erfolgte,
Ketzerei in der Lehre von der Gottheit galt feit Beginn der Kirche
) Opp: I, 413. — 2)_Ibid, ©. 414 gegen oben. — ) Ibid. ©, 415,
888 IT. Buch. Kapitel 11.
für das greulichfte Verbrechen. Man erinnere ſich, wie viele hoch-
ftehende Männer in den älteren Zeiten durch diefen Borwurf geftürzt
worden find: Grund genug für Hinfmar, auf feiner Hut zu feyn.
Sodann hatte er es nicht blos mit den beiden Mönchen zu thun,
vielmehr ftanden hinter ihnen noch andere verfappte Feinde Die
Schrift Ratram’s war an den Biſchof Hildegar von Meaur ge:
richtet. ) Hieraus gebt hervor, dag Hildegar entweder den Mönch
zum Schreiben aufgefordert hatte, oder wenigftens daß er deſſen
Meinung theilte. Ratramnus konnte daher, allem Anfchein nach, auf
einen mächtigen Rückhalt rechnen. Ebenſo verhielt es ſich mit Got:
half. Unmöglich hätte derfelbe von feinem Gefängnig in Haut:
villiers aus Schriften gegen Hinfmar verbreiten können, wenn ihn
nicht geheime Freunde unterflügten. Wirklich fpricht 2) Hinfmar von
Mitverihworenen, die dem Gefangenen im die Hände arbeiten,
und giebt in feiner Gegenfchrift, wie wir fehen werden, zu verftehen,
daß ein großer Theil der neuftrifchen Mönche von Gotfchalf gewonnen
war. Endlich hatten die Gegner den Augenblid gut gewählt. Aus
mehreren Aeußerungen Hinfmar’s erhellt, dag Gotſchalk feit geraumer
Zeit in Hautoilliers faß, als diefer Streit ausbrad. Da nun ferner
der Rheimſer Metropolit feinen Amtsgenoffen von Mainz, Rabanug,
ber zu Anfang des Jahrs 856 ftarb, zu Hülfe rief, fo folgt, daß
bie Händel wegen des Hymnus zwifchen die Jahre 852 und 855
zu fegen find. Sie fallen alfo in den Zeitpunft, wo der ältere
Kampf über die Prädeflination eine für Hinfmar bedenfliche Wen—
dung zu nehmen begann.
Es ift daher in der Ordnung, daß der bedrohte Metropolit,
um den Angriff abzuwehren, kraftvolle Maaßregeln ergriff, Bor
Allem fuchte er einflußreiche Rampfgenoffen anzuwerben. Zwar hatte
ihn Nabanus, wie oben erzählt worden, bald nach Ausbruch des
Streits wegen der Präpdeftination, ſchmählich im Stiche gelaffen, den:
noch wendete er fih von Neuem an den Mainzer Erzbiſchof mit ber
Bitte, fein gewichtiges Wort gegen Gotſchalk und feine Freunde zu
erheben. Diefer Brief Hinfmar’s, den noch Flodoard °) las, ift
verloren. Wohl aber befigen wir ein Bruchftücd der Antwort des
N) Ibid. ©. 413. — 2) Ibid. ©. 414. Scriptum ad nos per complices
ac satellites ejus pervenit, — 3) Histor. eccles. rhem. Ill., 21. Sirmondi
opp. IV., b. ©, 165 Mitte: scripsit, quaerens — de trinitatis fide.
Sunerliche Bewegungen in der Kirche der fränkiſchen Reiche ıc. 889
Mainzers. ) Nabanus mißbilligt darin die von Gotfchalf ges
brauchten Ausdrüde trina et una deitas, Irina potestas u. ſ. w.5
das Hafhen nad) neuen Worten, meint er, fey ſtets die fruchtbare
Mutter von Kebereien gewefen, der Mönch von Drbais hätte bei
der Redeweiſe der alten Väter bleiben follen. Wir vermuthen, daß
Hinfmar ftatt des einfachen Schreibens, das ihm nichts nützen fonnte,
weil eg nicht zu öffentlihem Gebrauche geeinigt war, eine fürmliche
Widerlegung der Streitfchrift Gotſchall's erwartet hatte, Abermal
in feiner Hoffnung getäufcht, ergriff er um 857 felbft die Feder
und fchrieb ein ausführliches Werk ?) gegen Diejenigen, welche feine
Abänderung des Hymnus zu tadeln wagten. Nur obenhin gedenft
er an drei Stellen ?) der Streitfchrift des Ratramnus, doch nicht
ohne die Behauptung auszufprechen, daß derfelbe die Zeugniffe der
Bäter, auf die er ſich berufe, verfälicht habe, dagegen bricht er
mit bitterem Grimm wider Gotfchalf los. Der Ausdruck Deitas,
fagt er, beziehe ſich auf die göttliche Natur, welche nur eine fey,
wer daher das Beiwort trina mit deilas verbinde, der zerfleifche
die Einheit des Ewigen und mache ſich der fluchwürdigſten Keberei
Ihuldig. Er überfchüttet Gotfchalf mit Schimpfworten, er nennt
ihn einen Arianer, ja einen Sohn des Teufels. %) Der Metropolit
von Rheims geht jedoch nicht bios darauf aus, Gotſchalk zu wider:
legen. Faft alle Kiöfter in Neufirien und ein guter Theil des höhern
Cerus müffen die Abänderung des Hymnus mißbilligt und Gotſchalk
in diefer Sache unterftügt haben. Hinfmar findet daher für nöthig,
den Mönchſtand aufs Ernftlichfte vor dem neuen Irrthum des Ges
fangenen von Hautvilliers zu warnen. Er führt ihnen zu Gemüth, °)
daß laut dem 30ſten Canon der Synode von Agde und der zweiten
Regel des heil. Benedikt Kiofterbrüder, die fih durch Worte nicht
beffern Yaffen, mit Schlägen und fürperlichen Züchtigungen zurecht—
gewiefen werden dürften. Um bdiefer Ermahnung noch mehr Nach—
druck zu geben, erinnert er an das Schickſal Gotſchalk's. Sodann
wendet er ſich ©) auch an die Bifchöfe und Aebte. Sie, die dazu
berufen feyen, Gemeinden zu Ienfen und Andern mit gutem Beifpiel
voran zw gehen, follten ſich vorzugsweife vor ſchädlichen Irrlehren
1) Herausgegeben von Runftmann „Rabanus“ ©. 249 flg. — ®) Col-
lectio ex sacris scripturis — de una et non trina Deitate, im erfien Bande
feiner Werte ©. 413 fig. — 9) Ibid, ©. 413. 438. 450. — *) Ibid. 418
unten, — °) Ibid. 443 fig. — 9). Ibid. ©. 446. { f
890 IT. Buch. Kapitel 11.
hüten. Keine Macht werde die Pflichtvergeffenen ſchützen. Habe ja
der Allmächtige der fündigen Engel nicht gefchont, wie viel weniger
werde Er treulofen Kirchenhäuptern nachjehen! Sind nicht die Hirten
ber berühmteften Stühle von Antiochien, Wlerandrien, Serufalem,
Conftantinoyel, durch die heiligen Concilien zur Strafe gezogen wor:
den, und unterlag nicht fogar Honorius, der Pabft in der Welt:
ſtadt Nom, dieweil er nicht rechtglaubig dachte und Jrrlehren unter:
fügte, nad feinem Tode dem Bannfluche der ſechsten allgemeinen
Synode! Hinfmar’s drohende Sprache fcheint die Gegner gefchredt
zu haben. Zwar behielt die gallifhe Kirche, wie die übrigen des
Abendlandes, die alte Form des Hymnus bei, aber weitere Angriffe
gegen Hinfmar wurden wegen biefer Sache nicht mehr gemacht.
Abermal hatte aljo der neue Berfuh Gotſchall's, fih an Dem Metro:
politen zu rächen, nur dazu gedient, den mächtigen Dann noch
mehr gegen ihn’ zu erbittern.
Berlaffen von feinen neuftrifchen Gönnern, fuchte der Unglück—
Yiche in Stalien Hülfe. Unfichtbare Hände Hffneten feinen Klagen
den Zugang in den Lateran. Hinfmar ftand feit einiger Zeit aus
Gründen, die wir erft fpäter entwickeln können, mit dem Pabfte
auf gefpanntem Fuße; um fo bereitwilliger wurden in Rom Gotſchalk's
Befchwerden gehört. Bon einem aus Jtalien zurüdfehrenden Elerifer
Luido erfuhr ?) der Rheimfer Metropolit um 862, daß fih Pabft
Nikolaus J. nah Gotſchalk's Schickſal erkundigt habe. Gefchredt
durch diefe Nachricht, überſchickte Hinfmar dem Pabſte eine aus
Stellen der Kirchenväter gezogene Widerlegung der Irrthümer Got:
fchalfs, erhielt aber feine Antwort. ) Im Fahre 863 hielten bie
Erzbifchöfe Thietgaud von Trier und Günther yon Cölln mit päbft:
lihen Bevollmächtigten zu Mes eine Zufammenfunft, um über bie
Ehefcheidungsfadhe des Königs Lothar II. eine Unterſuchung anzu=
ftellen. Hinkmar ward aufgefordert, mit Gotfchalf vor dieſer Synode
zu erfcheinen und von feinem DBerfahren gegen den Mönd Rechen:
fchaft zu geben. Er fand jedoch für gut, der Einladung feine Folge
zu leiften. Zum Glüd für ihn erkannte nachher der Pabft die Be:
ſchlüſſe der Meter Synode nicht an, fonft hätte vielleicht feine Wei:
gerung fchlimmere Folgen gehabt. Gleichwohl glaubte Hinfmar,
i) Hinkmar fagt dieß felbft in einem fpäteren Briefe an ven Pabſt. Opp.
U., ©. 261 gegen unten. — 2) Ibid, unten.
Innerlihe Bewegungen in der Kirche der fränfifchen Reiche c. 891
fich gegen den Pabſt entfchuldigen zu müffen. Am Schluffe eines
Berichts, den er im Jahr 864 wegen anderer Angelegenheiten, von
welchen unten die Rede feyn wird, an Nifolaus I. erflattete, ſpricht
er fich weitläufig über Gotſchalk's Angelegenheit aus, Nachdem er
erzählt, ) wie bie zu Mes verfammelten Biſchöfe ihn vor ſich ge-
Yaden hätten, behauptet er darum nicht gefommen zu feyn, weil jene feine
Vollmacht befaßen, über ihn zu richten. Hinkmar fest fofort feine
früheren Verhältniſſe zu Gotſchalk aus einander und erklärt feine
Bereitwilligfeit, den Mönch wieder in die Gemeinfchaft der Kirche
aufzunehmen, ſobald derfelbe feinen fegerifchen Meinungen entfagen
würde, Wolle übrigens der Pabſt Gotfchalf felbft verbören, oder
einen Dritten mit diefem Gefchäfte beauftragen, fo folle der Ge
fangene ohne Verzug herausgegeben werben, jedoch müſſe er, fügt
Hinfmar bei, in legterem Falle darauf befiehen, daß der Pabſt die
Unterfuhung einem Manne übertrage, der die Lehren der heiligen
Schrift und der Fatholifchen Väter gründlich Fenne. Denn Gotſchalk
befige eine erftaunliche Fertigkeit, die Bibel zu feinen Gunften zu
verdrehen und Stunden lang verftümmelte Stellen der Kirchenväter
aus dem Gedächtniffe berzufagen, wodurch nicht blos Ungelehrte
geblendet, fondern felbft Solche, die etwas zu wilfen glaubten, wenn
fie nicht vecht auf ihrer Hut feyen, hingeriffen zu werden pflegten.
Es fragt fih zunächſt, in weſſen Auftrage die Metzer Synode den
Rheimſer Metropoliten vor ihren Richterfiuhl lud? Hinfmar felbft
verfichert, 2) diefelbe fey von Feiner höhern Behörde dazu befugt
geweſen. Aber diefe Behauptung ift an ſich unmwahrfcheinlih und
wird überdieß durd fein Berfahren widerlegt. Dffenbar entichuldigt
er fich in dem eben angeführten Briefe gegenüber dem Pabfte wegen
feines Nichterfcheineng ; er erfennt alſo thatfächlih an, daß es Nifos
laus I. felbft gewefen war, der die Meger Synode beauftragt hatte,
die Sache Gotſchalk's zu unterfuchen. Ohne eine folche Bollmadht
würden es die lothringiſchen Kirchenhäupter nie gewagt haben,
einen fremden Metropoliten, den Unterthan Karl’s des Kahlen, vor
ihren Richterfiuhl zu ziehen. Da Nikolaus, wie wir oben bemerften,
die Entiheidung der Metzer Synode verwarf und feine eigene
Gefandte, die daſelbſt mitgewirkt, der Pflichtverlegung bezüchtigte,
N) Ibid. 262 oben flg. — ?) Nihil episcoporum intererat de illo, quo-
niam — nec autoritas (eos) deducebat, fagt er, ibid. 262 oben.
892 II. Bud. Kapitel 41.
fo fonnte er vorerſt nicht weiter gegen Hinfmar wegen bed beivie-
fenen Ungehorfams einfchreiten. Gleichwohl dauerte die Spannung
fort. Aus einem Briefe Hinfmar’s an Egilo von Sens erhellt, )
dag Nifolaus um 865 an König Karl den Kahlen fchrieb: er könne
und dürfe Hinfmar nicht ferner gegen Klagen ſchützen, der Erz
bifchof-möge ſich hüten, daß er fich Feine Unannehmlicfeiten zuziehe.
Ein Ereigniß, das bald darauf eintrat, war nahe daran, einen
förmlichen Bruch zwifchen dem Pabft und dem Metropoliten herbei
zu führen. Um 865 entfloh ein Mönd Namens Guntbert, der
feit längerer Zeit mit Gotfchalf heimliche Verbindungen unterhalten
hatte, unverfehens aus dem Kloſter Hautvilliers nach Italien, und
überbrachte dem Pabft eine Befchwerdefchrift des Gefangenen. Die
Kunde von diefem Borfall war ein Donnerftreih für Hinfmar, er
ſuchte auf jede Weife dem Eindruck, den Guntbert’d Ausfagen in
Rom hervorbringen mußten, entgegen zu arbeiten. Im Jahre 866
rüftete fi) der Metropolit Egilo von Send, kirchlicher Angelegen:
beiten wegen, zu einer Reife nad) Rom. Mittelft eines noch vor:
bandenen Schreibens ?) forderte Hinfmar den Erzbifchof auf, feine
Sache bei dem Pabfte zu vertreten, und machte ihm zu biefem
Zwecke vertrauliche Mittheilungen. Auf die oben erwähnte Aeußerung
des Pabſts anfpielend, behauptet er, ſich nicht entfinnen zu fünnen,
bei welchen Gelegenheiten ihn der Pabſt öfters gefchügt habe. Wenn
Nikolaus damit die Sache Gotfchalf’s meine, fo müffe er bemerken,
daß diefer von zwei Synoden verdammte Keker gemäß dem Spruch
der Bifchöfe in Verwahrung gebracht worden fey, damit er nicht
Andere verführe. Hinkmar erklärt fi) fodann von Neuem bereit,
den Mönch augzuliefern, wenn Nikolaus wünfchen follte, ihn in
eigener Perfon zu verhören; nur, fügt er bei, fey dann nöthig, daß
der König feine Einwilligung gebe, weil fonft der Gefangene nicht
mit Sicherheit nach Italien abgeführt werden könne Wolle aber
Nifolaus die Sache Gotfhalfs an eine neu zu berufende Synode
oder etwa an einen Bifchof tiberweifen, fo würde er (Hinfmar) ſich
gleichfalls nicht widerfegen, vorausgefegt, daß die Synode oder der
Biſchof, welchem der Pabft die Unterfuchung übergeben mwürbe, gemäß
den heiligen Kirchengefegen verführen. Sofort befchwört Hinfmar
den Erzbiſchof Egilo, in Rom allen Fleiß aufzumwenden, damit nicht
2) Opp: Ik, 290, — 2) Ibid. 290 fig.
Innerliche Bewegungen in der Kirche der fränkifchen Reiche ı. 893
der Pabft, zum Aergerniß ber EChriftenheit, für die Meis
nung Gotſchalk's entfheide Am Schluſſe ſpricht er feine
Ueberzeugung aus, dag Gotſchalk ein gefährlicher Menſch fey, der,
wenn man ihn freilaffe, unberechenbares Unheil anrichten werbe,
und fucht diefes harte Urtheil durch Beweiſe zu rechtfertigen.
Hinfmar fürchtete, wie man fieht, das Aeußerfte, darum be:
hielt er fi) auch bei den Zugeftändniffen, bie er anſcheinend machte,
eine Hinterthüre offen. Er verfpricht, den Gefangenen auszuliefern,
wenn der König feine Einwilligung gebe, oder fich dem
Richterfpruche einer Synode zu unterwerfen, wenn biefelbe den
Canones genüge Wäre die Berfammlung zu Stande gefom:
men und hätte fie zu Gunften Gotſchalk's entjchieden, fo blieb dem
Rheimſer Metropoliten das Necht vorbehalten, ihren Spruch als
uncanonifch zu verwerfen. Beftand aber der Pabft auf Auslieferung
Gotſchalk's, ſo fonnte Hinfmar das Anfinnen dadurch hintertreiben,
daß er den König zu einer abfchlägigen Antwort vermochte. Niko:
laus mag gefühlt haben, dag Hinfmar zu einem verzweifelten Wider:
ftand entfchloffen fey, er that nichts weiter für Gotſchalk. So ſchwand
denn die legte Hoffnung, die der Unglüdliche gefaßt.
Bom Jahre 848 bis 868 oder 869 ſchmachtete der Mönd in
Kerker- Banden. Hinfmar verfichert zwar, ) feine Haft fey milde
gewefen, man habe ihn in Bezug auf die Bequemlichfeiten und die
Bedürfniſſe des täglichen Lebens, wie Speiſe, Tranf, Kleider, Feurung,
Gelegenheit zum Baden, glei den andern Mönchen behandelt, aber
was ift dieß Alles ohne perfönliche Freiheit! Die lange Gefangen:
haft, noch mehr aber das ewige Schweben zwifchen Furcht und
Hoffnung, und die Stacheln unbefriedigter Race verwirrten zulegt
fein Gehirn. Aus Thatfachen, welche Hinfmar anführt, muß man
den Schluß ziehen, daß Gotſchalk in den leuten Jahren feines Lebens
an Wahnftnn Lift. Der Metropolit fpricht *) von einem fchriftlich
aufgefesten Gebet Gotſchalk's, worin es hieß: der Allmächtige habe
ihm verboten, für Hinfmar zu beten; auch fand die Behauptung
darin, jede der drei göttlichen Perfonen fey leibhaftig in ihn einges
gangen, zuerft der Sohn, dann der Bater, endlich) der heilige Geift,
welcher bei der Einfahrt ihm den Bart um den Mund verfengt .
habe. Weiter erzählt Hinkmar, daß Gotſchalk lange Zeit die Kleider,
') Ibid. ©. 292 gegen unten. — ?) Opp. IL, ©, 550.
894 II. Buch. Kapitel 14,
welche man ihm anbot, nicht annehmen wollte, und es vorzog, nackt,
wie Adam im Stande der Unfchuld, zu bleiben, bis das Gefühl der
Winterfälte ihn auf andere Gedanfen brachte. An derfelben Stelle
erwähnt der Metropolit noch folgender älteren Prophezeiung des
Minds: Hinkmar werde nach dritthalb Jahren flerben, fodann
werde Gotfchalf ſelbſt den Erzftuhl von Rheims befteigen, aber nach
weiteren fieben Jahren Gift befommen und die Märtyrerfrone er:
langen. Da dieſe Prophezeiung, berichtet er weiter, in der voraus:
beftimmten Zeit nicht erfüllt warb, habe Gotfchalf von Neuem zu
dem Allmächtigen gebetet und es Seinem Willen anheimgeftellt, wie
früh oder ſpät Er Hinfmar, den Räuber und Dieb, den Ehebrecher,
den blinden, frechen und hartnädigen Keser, den Freund der Lüge
und DBerfolger der Wahrheit, aus dem Wege räumen wolle,
In einer Nahferift zu dem Buch, das er im Streite wegen
des Hymnus verfaßt hat, erftattet I) Hinfmar Bericht über die
legten Tage des Mönchs. Als er vom Abte des Klofters Haut:
villiers erfuhr, daß Gotſchalk dem Tode nahe fey, ſchickte er ein
Slaubensbefenntniß dorthin, mit dem Befehl, den Kranfen aufzu:
fordern, daß er daſſelbe mündlich oder fchriftlich anerkennen folle
Es ift nach den dogmatifchen Grundfägen Hinfmar’s abgefaßt und
fließt mit folgender Anrede an Gotſchalk: „fo du mit deinem Herzen
glauben, mit deinem Munde befennen, auch in Gegenwart von
Zeugen mit deiner Hand unterjchreiben wirft, daß du alfo glaubeft
und in diefem Glauben bis ans Ende verharren wolleft, follft du
nach dem Urtheile des heil. Geiftes, kraft des bifchöflichen Amts,
das dich verdammt hat, wieder losgefprochen feyn, auch zum Ge:
nuffe des Leibs und Bluts Chrifti und zur Gemeinschaft der Fatho-
lifchen Kirche zugelaffen werden.“ Was Hinfmar gefürchtet hatte,
geſchah. Mit Abfcheu flieg Gotfchalf das vorgelegte Befenntniß
zurüd und brach in Berwünfchungen gegen den Erzbifchof aus. Auf
die Nachricht »hievon fandte Hinfmar dem Abte neue Verhaltungs:
regeln: „würde der Mönd vor feinem Ende in ſich geben, und, fey
es mit vernehmliher Stimme, oder wenn er dieß nicht mehr ver:
möge, auch nur durch ein verftändliches Zeichen, feine Irrthümer
‚ bereuen, fo folle man ihm den Frieden gewähren und feine Leiche
auf dem gemeinfchaftlichen Begräbnißplage mit den gewöhnlichen
) Opp. I., 552 fig.
Snnerliche Bewegungen in der Kirche der fränkifchen Neiche x. 895
Feierlichkeiten beftatten; im Falle er aber bis zum Yesten Hauche
in feiner Hartnädfigfeit verharre, verbietet der Erzbifchof, den Ketzer
unter Palmen und Gefängen zu begraben und ihm einen Platz
auf dem Kirchhofe des Klofters anzumweifen, vielmehr folle man dann
die Leiche an einem abgefonderten Orte verfcharren.“ Als es wirf-
lich zum Sterben fam, ermahnten ihn bie Brüder noch einmal, von
feinem verfehrten Sinne abzuflehen und das Abendmahl zu empfan-
gen: Alles war vergeblih. Ungebrochen, aber auch unverföhnt,
gieng feine Seele, wie Hinfmar fagt, ) an ihren Ort: Gotichalf
farb den 20, October S68 oder 869; das Jahr läßt fih nicht
genau beftimmen. ?)
Sp hart das Schiejal des armen Mönchs war, vermögen wir
nicht, dem faft allgemeinen Urtheil der Neuern, welche das „Schuldig“
über Hinfmar ausjprechen, beizupflihten. Das Gefühl des Mitleids
darf die Stimme ypartheilofer Gerechtigkeit nicht übertönen. pt:
ſchalk hat fein Unglüd großentheils felbft verſchuldet. Erſt trieb ihn
ein zügellofer Ehrgeiz, Larım in der Welt zu machen und über feine
Sphäre hinaus zu greifen; fpäter diente er als Werkzeug einer
finfteren Parthei, welche den Plan verfolgte, Karl's des Großen
Kircheneinrichtungen umzuftürzen, namentlich die Metropolitangemwalt
zu fällen Rabanus Maurus und Hinfmar waren der angegriffene
Theil. Lesterer vertheidigte als entfchloffener Streiter feine Ehre,
feine perfünliche Sicherheit, fein Amt. Ungeſchwächt wollte er bie
Kirchenmacht, zu deren Bertreter man ihn erwählt, auf die Nach—
fommen bringen. Unter den gegebenen Umftänden mußte er fo
handeln, wie er handelte. Wir wagen nicht, den Sun auf wm
hochgeſinnten Kirchenfürften zu werfen.
Die ausgezeichnetften und gelehrteften Cleriker der überrheinifchen
Neiche wurden in die Gotfchalfichen Händel verwidelt, die Dar-
ftellung derſelben ift daher zugleich eine Gelehrten Gefchichte der
fränfifhen Kirche. Doch nahmen an dem Streite einige Andere
feinen Theil, deren hier zu gedenfen der tauglichfte Ort feyn dürfte,
Dis zum Jahre 839 lebte der Verfaſſer einer Gefchichte Karls des
Großen, auf die wir ung fchon oft berufen haben. Einhard, im
legten Drittel des achten Jahrhunderts dieffeits des Rheins geboren,
1) Ibid, ©. 555, — 2) Histoire liiteraire de la France vol, V., 356
Mitte, |
896 I. Bug. Kapitel 1.
fam frühe an den fränfifhen Hof und gewann die Gunft des Kai—
jers. ) Karl ernannte ihn zu feinem Geheimfchreiber und fpäter
zum Aufjeher der öffentlichen Bauten. Einhard ward an die Faifer:
liche Familie noch durch ein zarteres Band gefeffelt. Vielleicht wider
ben Willen des Vaters, ehelichte er eine der Töchter Karls, Imma.
Neuere haben dieſe Angabe eines alten Schriftftellers in Zweifel
gezogen, aber ihre Gründe find. nicht genügend, 2) Auch unter dem
Nachfolger Karls behauptete Einhard feine hohe Stellung. Ludwig
ber Fromme übertrug ihm die Erziehung feines Erftgebornen Lothar,
und fchenfte ihm überdieß zwei Güter in Deutfchland, von denen
Einhard das eine an die Abtei Lauresheim abtrat, auf dem
andern das Kloſter Seligenftadt gründete, Als der Bürgerfrieg
ausbrach, faßte der bisherige Hofbeamte den Entſchluß, fih aus
ber Welt zurüdguziehen. Er fagte feiner Gattin Imma, bie er
fortan nur ald Schweiter lieben wollte, Lebewohl und erbaute aus
eigenen Mitteln das ebengenannte Klofter, deſſen erfter Abt er
wurde. Bon Seligenftadt aus unterhielt er einen regen Briefwechfel
mit mehreren Clerifern, namentlich mit Lupus von Ferrieres. Im
Jahre 837 ftarb feine Gattin Jmma. Obgleich Einhard längſt von
ihr getrennt war, erfüllte ihn dieſe Nachricht mit tiefem Schmerze.
In einem Briefe ?) an Lupus fehüttet er fein geängftigtes Herz
aus. ZTodesahnungen umfchmwebten ihn. Wirklich ftarb er zwei Jahre
nad) der Gattin, 839. Einhard ift unter den deutfchen Hiftorifern
der ältefte, unter den fränfifchen, die mit ihm lebten, der befte. Ein
glücklicher Nacheiferer Sueton’s, hat er in zierlihem Latein die Ge:
ſchichte Karls des Großen würdig befchrieben; nur wäre zu wün—
fchen, daß er der Wahrheit zu Lieb fih weniger gefcheut hätte,
Schatten dem Licht beizumifchen. Auch die fränkischen Jahrbücher,
die in den heutigen Ausgaben Einhard’s Namen tragen, find wahr:
fcheinlich fein Werk. Außerdem befigen wir aus feiner Feder eine
Sammlung von 62 Briefen, *) deren einige für die Zeitgefchichte
Ausbeute gewähren. Noch drei andere gleichzeitige Gefchichtichreiber
des fränfifchen Reichs verdienen neben Einhard genannt zu werben.
Theganus, Landbiſchof in dem Trierer Erzfprengel, verfaßte ein
1) Wir folgen hier der histoire litteraire de la France IV., 550 flg.,
wo die Beweisftellen angegeben find. — 2) Ibid, 550. 551. — 3) Unter den
Briefen des Lupus der dritte. Opp. S. 5 flg. — Abgedruckt im zweiten
Bande von Duchesne scriptores rerum franc. ©, 695 flg.
Innerliche Bewegungen in der Kirche der fränfifchen Reiche ꝛc. 897
kurzes Werk 1) über die Regierung Lutwig’s des Frommen, das
bis zum Jahre 837 reiht. Er fchrieb noch zu Lebzeiten feines
Helden, was man dem Buche anfieht; denn er trägt eine Vorliebe
für Ludwig zur Schau, die vielleicht auf Nebenzwecke berechnet war.
Meifter des Styls ift er nicht. Theganus ?) farb vor 849. Die
ganze Geſchichte Ludwig's von deffen Geburt an bis an fein Ende
befchrieb ein unbefannter Clerifer, dem man den Namen „Aftro-
nom“ gibt, weil er felbft berichtet, ?) daß ihn der Kaifer wegen
eines fürchterlichen Kometen befragt habe, der im Jahre 838 am
Himmel erfhienen fey. Der Unbefannte lebte am Hofe Ludwig's
und war größtentheild Augenzeuge der Begebenheiten, die er fehildert.
Seine Schrift hat bedeutenden Werth und ift zugleich für die früheren
Jahre Ludwig's die einzige Duelle. Wo der Aftronom aufhört, bes
ginnt Nithard, der die Streitigfeiten der Söhne Ludwig's in vier
Büchern ſchildert. Nithard war ein Enfel Karl’d des Großen und
Sohn von deffen Tochter Bertha, der Gemahlin Angilbert’s, welcher,
nachdem er die wichtigften Staatsämter beffeidet, im Jahr 814 als
Abt des Klofters Centula farb. Nach Ausbruch der Streitigfeiten
unter den Söhnen Ludwig’s ergriff Nithard Parthei für Karl den
Kahlen, focht in deffen Heer und erfchien als fein Gefandter bei den
Unterhandlungen, die dem Abjchluffe des Bertrags von Verdun
vorangiengen. Im Auftrage König Karl’ ſchrieb er auch jenes
Geihichtswerf, in welchem die Erfahrung eines Welt: und Ge-
ſchäftsmanns nicht zu verfennen if. Nithard fol um 858 in einer
Schlacht gegen die Normannen geblieben feyn. *)
Während Nabanıs Maurus und Hayıno von Halberftabt bie
Fuldaer Eregentenfchule gründeten, welche bei Erklärung der Schrift
bem Anfehen der Bäter ein ausichließliches Borrecht einräumte, unter:
nahm es ein Mönch in Altcorbie, die hiftorifch-grammatifchen Grund:
füge der Antiochener zu erneuern. Chriftian Druthmar, ein
geborner Aquitanier, trat um 840 in die berühmte Abtei Altcorbie,
ward aber fpäter als Lehrer in die Klöfter Stablo und Malmedy
verfeßt, die unter einem gemeinfchaftlichen Abte ftanden. Hier fchrieb
er gegen bie Mitte des neunten Jahrhunderts Auslegungen über
1) Abgedrudt bei Perz II., 590 flg. — 2) Ueber ihn vergl. man histoire
litteraire de la France V., 45 flo. — 3) Perz 11., 643. — * Man vergl.
über ihn histoire litteraire de la France V., 204 flg,
Sfrörer, Kircheng. II. 57
898 II. Buch. Kapitel 41.
mehrere Bücher des neuen Teftaments, von denen jedoch nur ein
Commentar zu Matthäus und ſchwache Bruchſtücke über Lukas und
Johannes auf ung gekommen find. ') In der VBorrede zu Matthäus
äußert er fich 2) über die Art und Weife, in welcher er die Bibel
auslegen zu müffen glaubte, ſelbſt alfo: „Ich gehe mehr darauf aug,
den biftorifchen als den geiftigen (allegoriſchen) Sinn zu ermitteln.
Denn es fehlen mir unvernünftig, den hiftorifchen Inhalt eines Buchs
zu vernachläßigen, und nur nad allegorifcher Bedeutung zu hafchen,
fintemal die Gefchichte Grundlage aller Erkenntniß ift, fo daß man
ohne fie zu nichts Anderem gelangen mag.“ Im Folgenden beutet
der Mönch an, daß er fein Unternehmen für gefährlich hielt, weil
der große Haufe zur Allegorie ſchwor. Er fährt fort: „Ich dränge
meine Schrift Niemand auf, nur wer Gefallen daran trägt, mag
fie lefen. Und wenn Jemand meine befjere Methode verabjcheut,
laß ich ihn gewähren. Auf den Wunſch von Freunden habe id) bie
Feder ergriffen; Mißgünftige mögen mein Buch nicht berühren, damit
wegen einer wohlgemeinten Arbeit feine Zänfereien entftehen.“ Druth:
mar hat wirklich die aufgeftellte Regel der Auslegung befolgt; ein
gefunder und heller Geift offenbart fi) in feinem Werfe. Man weiß
nichts Über die weiteren Schiefale Druthmar's. Jüngerer Zeitgenoffe
des aquitanifhen Mönchs war ein Deutfcher, welcher ſich noch größere
Berdienfte erwarb. Otfried, Schüler des Rabanus Maurus und
des Biſchofs Salomo I, yon Conftanz (83971), trat ald Mönch
in das Klofter Weißenburg, das im Sprengel von Speier liegt.
Hier verfaßte er in teutſcher Sprade um 865 ein noch vorhan—
denes Gedicht, ?) das nad) Anleitung der vier Evangelien die Ge-
fchichte Jeſu Chriſti befingt. Otfried fagt felbft, er habe feine Arbeit
unternommen, um gewiſſe weltliche Lieder aus dem Munde des
Bolfes zu verdrängen und zu bewirken, daß die Teutfchen in ihrer
Zunge den Inhalt der Bibel verherrlihen. An dichterifchem Feuer
fheint es ihn gefehlt zu haben, fein Vortrag ift zwar rebfelig, aber
nichts defto weniger falt und troden. Schon vor Otfried hatte ein
Ungenannter in fählifher Mundart ein gereimtes Evangelium ver:
n Abgedrudt Bibliotheca Patrum maxima XV., 86 fig. Ueber Drutbmar
vergl. man histoire litteraire de la France V., 84 fig. — ?) Bibl, max. XV,,
86 b. Mitte. — 3) Am Beften herausgegeben von Graff unter dem Titel:
„Krift, das älteſte von Difried im neunten Jahrhundert verfaßte hochteutſche
Gedicht.“ Königsberg 1851. Ato.
Innerliche Bewegungen in der Kirche der fränkifchen Reiche c. 899
faßt, das gleichfalls auf ung gefommen ift. 1) Auf diefes Buch bes
ziehen fich ohne Zweifel die Worte einer alten, von Flacius ?) mits
getheilten Urkunde, wo es heißt: „Ludwig der Fromme habe einen
vornehmen Sachſen beauftragt, das neue und alte Teftament in
teutfche Verſe zu überfegen, damit auch dem ungelehrten Volke Ge:
Vegenheit zu Theil werde, die heilige Gefhichte kennen zu lernen,“
Zu der Zeit, wo die Gotfhalfichen Händel den fränfifchen
Staat wie die Kirche zu erjchüttern begannen, brach noch ein zweiter
Streit aus, der jedoch mit weit weniger Leidenfchaft geführt wurde.
Derfelbe betraf die Lehre von Chriſti Abendmahl, Längft hatte man
fih daran gewöhnt, in dem Saframente des Altars. die tiefiten Ge:
heimniffe zu feiern. Schon Väter des vierten und fünften Jahr:
hunderts fprechen von Veränderung des Weind und Brods in
Blut und Leib des Herrn, aber Andere betrachteten das bargebrachte
Opfer nur als ein Sinnbild. Ein feftbeftimmter Begriff herrfchte
nicht. 3) Seit den Zeiten Gregor's des Großen nahm zwar bie
überfchwängliche Anficht überhand, und das Volk verehrte mehr und
mehr im Nachtmahl ein wirkliches Wunder der Wandlung; gleich-
wohl dauerte unter den Gelehrten in Karl's des Großen Tagen
das alte Schwanfen fort, und es gefchah fogar, daß diefelben Kir:
chenlehrer in verfchiedenen Schriften bald im Sinne der Menge eine
Umwandlung anerfannten, bald zu der finnbildlichen Deutung fic)
hinneigten. Karl der Große fihreibt in einem Briefe ) an Alfuin:
„Ehriftus hat Seinen Jüngern Brod und Kelh als Zeichen (in
figuram) Seines Leibs und Bluts gereicht, für ung aber
dadurch eim großes und heilffames Saframent geftiftet.“ Dagegen
heißt es °) in den Garolinifhen Büchern: „Der Herr hat ung fein
eingebildetes Zeichen (imaginarium indieium), fondern das
(ächte) Saframent Seines Bluts und Leibs gereiht. Nicht ein
Bild vom Beheimniffe des Herrn, fondern die Wahrheit
muß man es (das Abendmahl) nennen, nicht ein Schatten ift
e8, fondern der Körper felbft.* Der Bifchof Theodulf von Orleans
fagt in feinem Buche von der Taufordnung: ©) „im Abendmahl
i) Heliand, oder die altfächfifhe Evangelienharmonie, herausgegeben
von Schmeller. München 1850. Ato. — ?) Catalogus testium veritatis Nr. 101
©. 126. — ?) Siehe den zweiten Band diefes Werks S. 801. — *) Alcuini
opp. I, 89 gegen unten. — 5) IV., 14. Goldaſt a. a. D. ©, 127 gegen
unten. — °) Kap. 18. Wbgedrudt Sirmondi opp. II., 695 flg.
57*
900 II. Buch. Kapitel 11.
feiere die Kirche ein heilfames Opfer, indem fie wegen bes Teben-
digen Brods, das vom Himmel herabgefommen, Brod, und wegen
Deffen, der fich felbft den wahren Weinſtock genannt hat, Wein
barbringe, damit das Brod und der Wein durch die fihtbare Dar:
bringung des Priefters und durch die unfichtbare Weihe des heiligen
Geiftes in die Würde (in dignitatem) des Leib und Bluts Chriſti
übergehe“ (transeat). Dffenbar find in diefer Stelle beide Anfichten,
die magifche und die natürliche, durch einander gemiſcht. Noch
ftärfer offenbart fich die Unficherheit des Lehrbegriffs in den Schriften
besienigen Kirchenlehrers, der im neunten Jahrhundert als Haupt:
zeuge über Gottesdienft und Gebräude gilt. In der zweiten Bor:
rede feines großen liturgiſchen Werfs Außert ) Amalarius:
„Saframente müffen Aehnlichfeit mit den Dingen haben, weldye fie
porftellen. Der Prieſter muß daher Chrifto ähnlich feyn, fowie
Brod und Wein dem Körper Chrifti ähnlich find. Das Opfern des
Priefters auf dem Altare gleicht gewiffer Maaßen der Opferung
Chriſti am Kreuze.“ Ebenderſelbe behauptet in einem Briefe ?) an
den Bischof Nantgarius, der ihn über den Sinn der Einfeßungs-
worte befragt hatte: „Chriftus wolle damit fagen: dieſer Kelch ift
ein Bild meines Körpers, in welchem das Blut fich befindet, das
zur Erfüllung des alten Gefetses von mir vergoffen werden fol.“
Dagegen pflichtet Amalarius an einer andern Stelle ?) feines Buchs
son den Kirchengebräucden aufs Entfchiedenfte der Bolfsmeinung
bei: „wir glauben, daß die einfache Natur des Brods und des mit
Waſſer gemifchten Weins in die geiftige Natur des Leibs
und Bluts Chrifti verwandelt werde“ (verti).
Man fieht: widerfprechende Anfichten über eine fehr wichtige
Lehre wohnten fo nahe bei einander, daß es über. kurz oder
lang zu einem Kampfe fommen mußte Der Berfall des Neichs
und der carolinifhen Schulen, verbunden mit der wachfenden Nei:
gung zum Uebernatürlihen, gab, wie ung fcheint, der myftifchen
Deutung das Uebergewicht. Ein Dann, den wir fehon öfter zu
nennen ©elegenheit hatten, unternahm eg, den Bolfsglauben zum
Dogma zu erheben. Paſchaſius Radbertus wurde gegen Ende
1) Bibliothee, Patr. max. Lugd. XIV., ©. 935 a. Mitte. — ?) Abgedrudt
d’Achery spicilegium. Vol. III. "der neuern Folivausgabe ©. 351 a. gegen
oben. — 3) II, 24 0. a. D. ©. 995 b. gegen oben.
Innerliche Bewegungen in der Kirche der fränkiſchen Reiche ꝛc. 901
des achten Jahrhunderts im Bisthum Soißons von armen Eltern
geboren. ) Da der Knabe in zarter Jugend feine Mutter verlor,
brachte man ihn in das Kloſter zu unferer lieben Frauen in Soißons,
wo er feine erfle Erziehung erhielt. Später trat er als Mönd in
die berühmte Abtei Alteorbie. Sein ehrenmwerther Charafter, wie
die Fortfchritte, die er in den Wiſſenſchaften machte, verfchafften
ihm das unbedingte Vertrauen der beiden erlauchten Aebte und
Brüder, Adalard und Wala. So enge ward fein Schiekfal mit
dem ihrigen verflochten, daß der Mönch von fich felbft fagen ?) kann:
„ih war ihr Begleiter auf allen Reifen und gleichfam der Dritte
unter ihnen bei jedem Gefchäft.“ Radbertus hat als Wala's Ge-
fährte deffen Verbannung, Leiden und Gram wegen zerfnicter Hoff-
nungen und gefränfter Baterlandsliebe, welcher zulegt das Herz des
ehemaligen Grafen brach, getheilt und mitgefühlt, auch den Brüdern
ein würdiges Denfmal gefegt. Bald nach dem Tode Adalard’s, der
im Jahr 826 ftarb, fchrieb er ein Leben ?) deffelben, das an
Salbung und Weitfchweifigfeit weit mehr einer Leichenrede gleicht,
als einem Geſchichtswerk, aber dennoch viele dankenswerthe hifto-
rifhe Züge enthält. Weit wichtiger ift feine Biographie ) Wala’s,
die er kurz nach defien Tode (836) abzufaffen begann. Noch lebten
damals die mächtigften Feinde Wala’s, Radbertus fand deßhalb ge:
rathen, durch Fünftlihe Verhüllung fi vor der Rache derfelben zu
fihern. Er führt Wala wie feine Freunde und Gegner unter er:
borgten Namen an: der Abt felbft heißt Arfenius, Adalard fein
Bruder, Antonius, Kaifer Ludwig der Fromme Juflinianus,
deſſen Gattin Judith Juftina, von den Söhnen des Kaifers aug
erfter Ehe wird Lothar Honorius, Ludwig der Teutfche Gra—
tianus, Pipin von Aquitanien Melanius genannt, Herzog
Bernhard von Septimanien, der Günftling Judith's, den Radbertus
als Hochverräther und Haupturheber der Unfälle des Reichs hin-
ftellt, tritt unter dem Namen Nafo und Amifarius auf. Wir
haben früher erzählt, °) daß Alkuin diefes Verſteckſpiel mit fremden
") Ueber ihn vergl. man histoire litteraire de la France V., 287 flg. —
?) Vita Walae I, 14., Mabillon Acta Ord. S. Ben. IV., a. 453 Mitte, oder
auch bei Perz II., 539 Mitte. — 3) Am Beften abgevdruct bei Mabillon Acta
Ord. S. Bened. IV., a. ©. 291 flg., im Auszuge auch bei Perz II., 524 fig. —
*) Ibid, IV., a. ©, 454 flg. und im Auszuge bei Perz II, 533 fig. — °) Siehe
oben ©, 698.
902 III. Buch. Kapitel 14.
Masken liebte und einführte, fowie daß ebenderfelbe den Brüdern
Wala und Adalard gleichfalls die Namen Antonius und Arfenius
gab. Außer den oben angedeuteten Nücfichten der Klugheit mag
baher auch Alfuin’s Vorgang und der falfche Zeitgefchmad, der ſich
in Yächerlihen Nachahmungen des römischen Alterthums gefiel, den
Mönd von Corbie beftimmt haben, ſich jenes Kunſtgriffs zu bedienen.
Der verkehrte Zeitgeſchmack verleitete ihn noch zu-andern Mißgriffen,
worunter der fchlimmfte der ift, daß Radbertus die Lebensgefchichte
Wala’s in die platonifche Form eines Geſprächs zwifchen Mehreren
einfleidete und eine Menge. ungehöriger Dinge herbeizog. Diefer
Mängel ungeachtet bleibt jedoch das Leben Wala’s eine höchſt wich:
tige Quelle, in welcher man befonders über die geheime Gefchichte
Ludwig's des Frommen und. der innerlihen Unruhen » Auffchlüffe
findet, die in andern Werfen des neunten Jahrhunderts vergeblich
gefucht werden. Auch ift das zweite Buch der Biographie, das Nads
bertus erft nach 851 ſchrieb, lesbarer als das erfle, woraus her—
vorgeht, Daß jene äußeren Hemmniffe, von denen wir eben fprachen,
die meifte Schuld an der Unvollfommenheit des Werkes tragen.
- Ms Wala ftarb, befand fich Radbertus nicht bei ihm, ) fon=
bern er war vermuthlich in das Klofter Altcorbie zurücdgefehrt. Seit
längerer Zeit hatte man ihn zum DBorfteher der berühmten Schule
des Stifts beftellt. Mehrere der angefehenften Kirchenlehrer aus der
Mitte des neunten Jahrhunderts genoßen dafelbft feinen Unterricht,
wie der Apoftel des Nordens, Ansfarius, Warin, Abt von
Neucorvey, Hildemann und Odo, welhe nad einander den
Stuhl von Beauvais beftiegen. Die freien Stunden, welche er von
feinen Berufsgefchäften erübrigen fonnte, verwandte er auf fehrift:
ftelferifche Arbeiten. Noch befigen wir mehrere eregetifche Schriften,
bie er damals abfaßte: eine fehr ausführliche Erklärung zum Evan:
gelium Matthäus, zwei Commentare über den 44ſten Pfalm und
bie Klaglieder Jeremiä, 2) eine Abhandlung in drei Büchern über
die chriſtlichen Haupttugenden: Glaube, Hoffnung, Liebe. 9) In der
Auslegung des Matthäus fucht er an der Hand älterer Väter vor:
zugsweife ben biftorifchen Sinn zu ermitteln. Der allegorifchen
1) Mabillon act, ord. $. Bened. IV., b. ©. 129 oben. — 2) Diefe drei
Schriften abgedrudt in der von Sirmond beforgten Ausgabe der Werke Rad—
bert’s. Paris 1618. Fol. — 3) Zuerft herausgegeben von Pez Thesaurus
anecd. J., in beflerer Geftalt bei Martene collect, amplis, Tom, 1X.
Innerliche Bewegungen in dee Kirche der fränkiſchen Reiche ıc. 903
Weife huldigt er ‚dagegen in den beiden Arbeiten über den Pfalm
und Jeremias; in: der vierten Schrift entwidelt er mit Geſchick als
Auguſtin's Schüler die evangelifhe Sittenlehre. Im Jahre 844
ftarb der bisherige Abt des Stifts, Iſaak. Die Brüder wählten
Radbertus zum Nachfolger, aber die fieben Jahre, während deren
er der Abtei vorftand, gehörten zu den peinlichften feines Lebens,
fie wurden ihm durch Ungehorfam und Ränfe der Mönche verbittert.
Zwiftigfeiten brachen nemlich unter feinem Regiment im Klofter aus.
Radbertus fuchte die Zucht, welche unter feinem Vorgänger während
ber Bürgerfriege erfchlafft war, wieder herzuflellen. Mehrere Brüder
fanden feine Manfregeln zu fireng, zettelten eine Dieuterei an, und
verließen zulegt das Klofter, um am Hofe Karls des Kahlen dem
Abte entgegen zu arbeiten. Diefer ſah fich genöthigt, die Vermittlung
bes Abts Lupus von Ferrieres anzurufen, ) der, wie wir willen,
beim Könige fehr viel galt. Auch Neid muß mitgewirkt haben, wir
werden unten Beweiſe mittheilen, aus welden erhellt, daß die Ehr—
fucht des Minds Ratramnus unabläffig bemüht war, den Abt zu
verkleinern. Ueberdrüſſig der Plardereien mit geheimen und offenen
Gegnern legte Radbertus 851 fein Amt in die Hände eines kräf—
tigern Nachfolgers, Odo, nieder, fuchte feitdem eine Zuflucht im
Kloſter St. NRiquier, kehrte aber ſpäter nad) Altcorbie zurüd, wo
er in Uebung möndifcher Tugenden, im Studium der heil. Schrift
und der Bäter Troft ſuchte. Paſchaſius Nadbertus farb daſelbſt um
865 den 26. April.
Das Klofter von Corbie nahm im neunten Jahrhundert unter
den geiſtlichen Bildungsanſtalten der fränkiſchen Reiche einen hohen
Rang ein. Es iſt daher natürlich, daß die theologiſchen Streitig—
feiten, welche damals den Glerus bewegten, einen lauten Wieder:
ball unter der dortigen Brüderfchaft fanden. Radbertus hat in den
brei Hauptfragen der Zeit feine Stimme abgegeben, und jedesmal
trat ihm ein und derfelbe Mönd des Kiofters entgegen. Der Abt
nahm Theil an der erften Synode zu Chierfey, ?) welche im Jahr
849 Gotſchalk verdammte. Bald darauf fehrieb der Corbieer Mönch
Ratramnus für den Gefangenen von Hautvilliers und alfo gegen
bie Meinung des Nadbertus. Noch vor Verurtheilung Gotſchalk's
ı) Man vergleiche die Briefe 56 und 57 des Lupus opp. ©. 98 fig. —
2) Den Beweis bei Mabillon Act, Ord. 8. Bened, IV., b. ©. 129 Nro. 13.
904 UII. Buch. Kapitel 11.
war ein gelehrter Zanf über zwei andere Punfte zwifchen Beiden.
ausgebrochen. Seit den neftorianifchen Stürmen galt es für fromm,
alle denfbaren Ehren auf das Haupt Maria’s, der Gottesgebärerin,
zu häufen. Im neunten Jahrhundert nahmen mehrere Andächtige
Anftoß daran, daß die Himmelsfönigin ihren Sohn, den Welterlöfer,
auf diefelbe Art, wie andere Weiber, geboren Haben follte. Sie
behaupteten vielmehr, Chriftus fey bei verfchloffenem Leibe Seiner
Mutter und auf wunderbare Weife and Licht gefommen. Gegen
biefe Lehre, die, wie er fagt, von teutfchen Kekern aufgeftellt werde,
fchrieb der Mönch Ratramnus von Gorbie um 845 eine noch vor:
bandene ') Streitfchrift. Aus der Bibel wie aus den Vätern führt
er Beweiſe, dag Maria gleich andern Frauen empfangen und ge—
boren habe. „Ihre Jungfräulichkeit,“ fagt er, „werde durch die Geburt
feineswegs aufgehoben, wie die Keser vorgeben. Maria war eine
gebärende Jungfrau und blieb es auch nad der Entbindung von
ihrem Sohne. Auch ift es keineswegs fehimpflich für Chriſtus, gleich
den Übrigen Menfchen geboren worden zu feyn. Bon Natur Flebt
feinem Gefchöpfe Tadel an, nur die Sünde verunreinigt, diefe war
aber in Maria durch den heiligen Geift getilgt. Würde dagegen
Chriftus nicht auf dem gewöhnlichen Wege zur Welt gefommen feyn,
fo wäre Er aud fein wahrer Menfch und folglih Fein rechter Er-
löſer.“ Uebrigens braucht Ratramnus in feinem Büchlein Ausdrüde
und Wendungen, die für Feufche Ohren unerträglich Flingen. Wäh—
rend nun der Mönch von Corbie die Meinung übernatürlicher Geburt
als fegerifch verwarf, vertheidigte eben diefelbe der Abt Nadbertus. ?)
Von vorne herein behandelt er die Gegner als Menſchen, welde
Die vom heiligen Hieronymus niedergefchmetterte Irrlehre des gott-
Yofen Helvidius wieder aufzumärmen fich erfrehen. Die Einwen:
dung, daß Chriftus fein wahrer Menfch fey, wenn Er nicht gleich
ung geboren ward, weist er mit den Worten ab: „o der blinden
Trömmigfeit, die fo gottlos von der Jungfrau Maria denft, o des
groben VBorurtheils, das fo verächtlih von Chriſto fpriht! Sie
läugnen mit dem Herzen, was fie doch mit dem Munde befennen.
Chriſtus ift, wenn man fie hört, unter dem Fluche des Gefeges als
Sohn des Zorns vom Fleifche der Sünde geboren, und die von
1) Abgedruckt bei d’Achery spicilig. neue Ausgabe Vol. I, 53 flg. —
2) Opusculum de partu Virginis, abgedruckt ebendaſelbſt ©. 44 flg-
Innerliche Bewegungen in der Kirche der fränfifchen Reiche x. 905
den Engeln Gefegnete hat unter der Verdammniß ein Kind zur
Welt gebradt. Denn wozu anders wollen fie die Herrfchaft bes
Naturgefeges über Maria ausdehnen, da der heilige Geift fie doch
ganz befaß, und da Chriſtus von ihr nicht "auf natürliche Art
empfangen warb.“ Bon folhen Borberfägen aus folgerichtig weiter
fehreitend, fommt er auf die Behauptung: „weil Maria fchon im
Mutterleibe geheiligt war, und daher ihre Geburt von der ganzen
Kirche gefeiert wird, muß man aud zugeben, daß die Erbfünde
feinen Theil an ihr hatte.“ Auch mit biblifchen Beweiſen fucht er
die übernatürliche Geburt des Erlöfers zu erhärten. Diefelbe foll
in den Stellen (Pf. XXIL, 10.): du haft mich aus meiner
Mutter Leibe gezogen, und (Jeremias XXXI., 22): ber
Herr wird ein Neues auf Erden fchaffen, das Weib
fol! den Mann umgeben, deutlich enthalten feyn. — „Wer
Yäugnet, daß Chrifti Leib aus der verfchloffenen Mutter herausgeben
fonnte, der vergißt, wie ebenderfelbe Körper über das Waffer wan—
belte und durch den Stein des Grabes drang.“
Da die Gegner durch die Gründe des Abts fih nicht wollten
überzeugen laffen, fo fügte er feiner Abhandlung noch ein zweites
Bud) ') bei, von weldem jedoch nur ein Bruchftüd, beftehend in
der Ermahnung, dem heil. Auguſtinus, der gleichfalls die tiber:
natürliche Geburt lehre, nicht zu widerfprechen, fowie aus zwei
Stellen des Sedulius und Laffiodorus, auf ung gekommen iſt.
Nadbertus bearbeitet in feiner Schrift einen ebenfo figlichen Stoff,
wie Natramnus, gleichwohl nahm er feinen Anftand, das Werf der
Aebtiffin des Klofters zu Soißons und ihren Nonnen zu widmen.
Wir erfahren nicht, welche weitere Folgen das Zerwürfniß zwifchen
Abt und Mönch hatte, wohl aber, daß der mächtigfte Metropolit
des neuftrifchen Reichs für Nadbertus Parthei nahm. Hinkmar
von Rheims billigte ?) die Lehre von der wunderbaren Geburt bes
Welterlöfers. Selbſt über den Anfang des Streits fehlt es an
genauen Nachrichten, denn aus der einen wie der andern Schrift
kann nit mit Sicherheit ermittelt werden, wer von Beiden, Rad—
bertus oder Ratramnus, zuerft die Feder ergriffen habe. Keiner
nennt ben Andern mit Namen, doch fpricht der Abt zu Anfang bes
zweiten Buchs von Münden, welche feine Belehrung annehmen
1) Ibid. ©. 51 flg. — 2) Opp. I., 631 gegen unten.
906 IT. Buch. Kapitel 11.
wollen, was auf Ratramnus zu deuten ſcheint. Unzweifelbar ift
dagegen, daß dem Mönche die Meinung feines Abts nicht verborgen
feyn Fonnte. Jedenfalls hat daher Natramnus vorfäglich gegen die
Anficht des Radbertus gefchrieben.
Beſſer find wir über die Umftände des dritten Streits unters
richtet, der das Abendmahl betraf. Schon im Jahre 831, 1) alfo
geraume Zeit ehe er Abt wurde, verfaßte Ratbertus feine Schrift
über das Saframent des Altars, welde er dem Borfieher des
Klofters Neucorvey in Sachſen Warin, widmete. Das Bud er:
regte damals fein Auffehen, fand feinen Widerſpruch. Dreizehn
Sahre fpäter, furz nachdem er zum Abt von Corbie erhoben worden,
überarbeitete Natbertus die Abhandlung ?) von Neuem und über:
reichte. fie dem Könige Karl yon Neuftrien. Jetzt entftand Lärm.
Wir müffen zunächft ihren Inhalt ins Auge faffen. Ratbertus be—
ginnt aljo: „wer mit der Kirche glaubt, daß Gott Alles aus Nichts
erichaffen habe, der kann nicht bezweifeln, daß der Allmächtige aus
etwas Vorhandenem ein Anderes zu machen vermöge, Niemand
darf daher fih an der Behauptung Argern, im Abendmahle fey
wahres Fleifh und wahres Blut, da es der Schöpfer alfo gewollt
hat. Sprit nicht Chriftus zu feinen Jüngern: bag ift mein
Fleiſch für das Leben der Welt. Sa daffelbe Fleifch genießen
wir im Abendmahl, das yon Maria geboren ward, das am Kreuze
gelitten hat, und vom Grabe auferftanden ift. Wer dieß unglaub:
lich findet, der muß alle übrigen Wunder des Herrn in Abrede
ziehen. — Nichts Größeres hat Chriftus den Seinigen hinterlaffen,
als das Geheimnig des Altars, das Saframent der Taufe und bie
heil. Schrift. Denn in diefen dreien wirft der heil. Geift, als Pfand
der ganzen Kirche, unfer Heil. Indeß unterfcheidet fih das Ge:
heimniß des Leibs und Bluts dadurch von allen übrigen Wundern,
daß es für den Glauben, nicht für. die Augen gefchieht. Die an:
bern Wunderthaten wurden gefehen, auf daß dieſes Eine geglaubt
werde. Der Leib-und das Blut Chriſti verändern fich deßwegen nicht für
das Geficht und den Gefchmad, damit der Glaube zur Gerechtigkeit
geübt werde und feinen Lohn empfange. — Ein jeder Ehrift muß
I) Die Beweife histoire litteraire de la France V., 294 gegen unten. —
2) De corpore et sanguine Domini liber am beften herausgegeben von Mar-
tene vet. script. ampl. collectio Vol IX., 273 flg. |
Innerliche Bewegungen in der Kirche der fränkiſchen Reiche ꝛc. 907
wiffen, was er vom Saframent des Leibs und Bluts zu denfen und zu
glauben hat. Auf daffelbe bezieht fich der Spruch (Revit. XXII. 14.): wer
vom Geheiligten aus Verſehen ißt, der foll das fünfte
Theil hinzuthun. Das heißt, wer das Abendmahl genießt, fol
feine fünf Sinne zum Geiftlichen einwärts fehren, damit er ver-
ftehe, wie das Erfcheinliche durch Gottes Kraft in Leib und Blut
Ehrifti umgewandelt wird. Obgleich) aber Taufende täglich dag
Lamm effen, bleibt e8 doch Iebendig und ganz.“ Der Berfaffer
entwickelt fofort den Begriff Saframent. „Saframent ift, was
feierlich von Goit ald Pfand des Heiles alfo übergeben wird, daß
aus äußerlich fichtbarer Sache etwas Unfihtbares entfteht, welches
man zum Segen empfangen ſoll. Dergleichen Saframente find:
Taufe, Salbung, fo wie Leib und Blut des Herren. Doch wird
das Wort Saframent auch in weiterem Sinne gebraucht für jede
im Berborgenen ausgeführte göttliche Anftalt. Gleichwie Niemand
läugnen fann, daß ein jeder Menfh, fo lange er im Mutterleibe
eingefchloffen ift, unfichtbar die Seele empfängt, fo darf man aud
nicht bezweifeln, daß der heil. Geift bei der Taufe über die Kinder
fommt. Ebenſo wenig fann man fi) wundern, wenn derſelbe Geift,
der den Menſchen Chriſtus im Leibe der Jungfrau ohne Zuthun
eines Mannes ſchuf, das Wefen des Brods und Weins mit un:
fihtbarer Kraft in Fleiſch und Blut Chrifti umfchafft, obgleich weder
Gefiht noch Geſchmack etwas davon merkt. Die Wandlung er:
folgt aber dur die Worte der Einfegnung, wie aus folgenden
Stellen der Schrift erhellt: mein Fleifch ift Die rechte Speife,
mein Blut der rechte Tranf, und noch deutlicher an einem
andern Orte: wer mein Fleifch iffet und mein Blut trin—
fet, bleibt in mir und ih in ihm. — Weil man Chriſtus
nicht mit den Zähnen egen fann, fo hat der Allmächtige es fo ein-
gerichtet, daß Brod und Wein im Saframent durch die Weihung
des heil. Geifles der Kraft nah in Fleifh und Blut verwandelt
und dadurch täglich für das Leben der Welt myftifch geopfert wird,
indem das Weſen des Brods und Weins auf gleiche Weife myftiich
in Sleifh und Blut übergeht, wie der heil. Geift in der Jungfrau
ohne Zuthun eines Mannes einen wahren Leib gefchaffen hat. —
Weil das Abendmahl ein myflifches Saframent ift, mußte etwas
Aeußerliches, ein erfcheinliches. Bild dabei feyn. Die Erfcheinlichkeit
beftebt darin, daß der Priefter, indem er an den Altar tritt, ein
908 IT. Bud. Kapitel 11.
Anderes zu thun fcheint. — Vom Abendmahlbrod fingt David bie
Worte: der Menfh hat Engelbrod gegeffen. Chriſtus ift
die Speife der Engel, und diefes Saframent ift wahrhaftig Sein
Fleifch und Blut, das der Menſch myſtiſch ift und trinft. Das
was die Väter im alten Bunde befaßen, das Lamm des Gefetes
und das Manna, waren nur Vorbilder, und wenn ihnen aud)
einige heiligende Kraft inwohnte, fo entfprang diefelbe aus ber
Gnade des Glaubens, deren wir genießen. Wir aber werden nicht
mehr mit Schattenbildern genährt, fondern wir empfangen ben
wahrhaftigen Leib und das wahrhaftige Blut Chrifti. Der Heiland
fpriht: wer mein Fleiſch iffet und trinfet mein Blut, der bleibt in
mir und ih in ihm. Darin liegt, daß wer den Leib des Herrn
recht genießen will, ein Glied Chrifti und ein Tempel des heiligen
Geiftes feyn muß. Aeußerlich empfahen zwar Alle auf gleiche
Art das Saframent, aber der Eine ißt das Fleifch Chrifti und trinkt
Sein Blut auf geiftlihe Weije, der Andere nicht, obwohl er ebenfo
ben Biffen aus der Hand des Priefters erhalt, Die Confefration ift
bei beiden biefelbe, aber dem unwürdig Genießenden wird die Kraft
bes Saframents entzogen, gemäß dem Spruche bes Apoftels: er
ißt und trinkt ihm felber dag Gericht.“
„Die Schrift gebraucht übrigens,“ fährt er weiter fort, „ben
Ausdrud Leib ChHrifti in dreifachem Sinne. Einmal bedeutet Sein
Leib die Kirche, und die Auserwählten find dann Glieder diefes
Leibes. Fürs zweite wird damit gemeint derfelbe Körper des Herrn,
der aus Maria geboren, auch gefreuzigt und begraben wurde, dann
auferftanden ift und im Abendmahle ohne Minderung genoßen wird;
endlich bezeichnet das Wort die heil. Schrift. Wenn der Priefter
das Abendmahlopfer darbringen will, fpricht er: gieb o Herr! daß
biefes durch die Hand Deines Engels auf Deinen erhabenen Altar
vor das Angeficht Deiner göttlihen Majeſtät gebracht werde. Meinft
bu denn, o Menfch, eben diefes Brod anderswoher zu empfangen,
als von dem Altar, vor dem es erhoben und dann vom Priefter
geweiht ward? Wielleicht wendet beine geiftige Blindheit ein: wie
fann denn foldhes Brod fo gefhwind in den Himmel vor Gottes
Angeficht gebracht werben, da man bafjelbe doc) ftets in den Händen
des Priefterg ſiehet. Wiffe: eben darum heißt es ein Saframent oder
Geheimniß. Wäre Alles fihtbar, fo würde fein Glaube dazu gehö—
ven, feine verborgene Kraft darin feyn. Lerne daher auch etwas
Sunerliche Bewegungen in der Kirche der fränkiſchen Reiche ıc. 909
Anderes ſchmecken, als was man mit ber Zunge verfpürt, etwas
Anderes ſchauen, als was die Augen erbliden. Fürwahr, das Er-
habenfte geht hier vor, da das Weſen des Brods und Weins im
Berborgenen alfo in Blut und Fleifeh verwandelt wird, daß es nad)
der Einweihung den Gläubigen nur ald Solches erſcheint. — Ob:
wohl Chriftus blos einmal im Fleifche gelitten und die Welt erlöst
hat, wird doch das Opfer aus verfchiedenen Urſachen täglich wieder
holt: erfilih weil wir täglich fündigen und daher täglich eines
Heilmittel bedürfen. Denn zwar werben uns in ber Taufe alle
Sünden vergeben, aber die Schwacheit dauert fort. Fürs Zweite
bat die Kirche, wie ehemals im Paradiefe, einen Baum des Lebens
nöthig, damit Die, welche davon efien, den Tod nicht fehen. Auch
darin ift diefer neue Baum des Lebens dem Älteren gleich, foferne
die Priefter alle Unwürdigen vom Genuffe ausjchliegen, wie einft
Adam aus dem Paradiefe vertrieben ward. Fürs Dritte dient dag
Abendmahl dazu, daß die Wiedergebornen, gleichwie fie in ber Taufe
Chriftum angezogen haben, durch den Genuß des Saframents mit
ihm förperlih eins werden. Endlich wird das Abendmahl auch deß—
halb wiederholt, damit wir ung der Leiden des Herrn erinnern, ges
mäß Seinem Sprude: fo oft ihr Solches thut, follt ihr
mein gedenfen. Etliche fügen bei, die Wiederholung habe auch
den Zweck, den Juden den Zugang zum Chriſtenthum zu erleichtern,
da dieſelben durch das Gefes an ein tägliches Opfer gewohnt find.
Brod gebraucht die Kirche beim Abendmahle deßhalb, weil Chriftug
das vom Himmel herabgeftiegene Brod ift, Wein darum, weil ders
felbe aus vielen Trauben zu einem Tranfe zufammenfloß, und weil
unfer Herr fich felbft den Weinftocd nannte. Obgleich in den Worten
ber Einfegung nichts davon zu leſen fteht, daß Chriſtus Waſſer in
den Kelch goß, wird dennoch Waſſer unter den Abendmahlkelch ge=
mifcht, weil bei Bollendung des Leidens Blut und Waffer aus der
Seite des Heilands gefloffen ift. Deßhalb haben die Apoftel, welche
biefes Geheimniß wohl verftanden, angeordnet, daß man beim Sa=
frament Wafjer anwenden folle. Einige meinen, es fey darum
nöthig, Waffer beizufügen, auf daß mit dem Blute auch die Taufe
und das Löſegeld des Heiles fich verbinde. Cyprian fagt, Waſſer
bedeute die Kirche, gleicher Weife erklärt der Engel in der Offen:
barung Waffer für ein Bild der Bölfer. Würde im Abendmahl
Wein ohne Wafier gebraucht, fo wäre nur Chriftus dargeftellt, aber
910 I. Buch. Kapitel 11.
nicht das Volk; nähme man Waffer allein, fo würde nur das Volt
ba feyn, ohne Chriſtus. Obgleich aber Wein und Waſſer gemifcht
wird, fo trinft der Glaubige doch nach erfolgter Gonfefration nichts
als Blut. Wohl zu bemerfen ift übrigens, daß, fofern nur das
Saframent auf die rechte Weife dargebracht wird, nichts auf die
perfönlihe Würdigfeit des Priefters anfommt. Der Glaubige em:
pfängt von einem guten Priefter nicht mehr und von einem fchlech-
ten nicht weniger, als das Fleifh und das Blut Chriſti. Denn
nicht durch das Verdienſt des Weihenden, fondern durch das Wort
des Schöpfers und durch die Kraft des heil. Geiftes wird bewirkt,
daß wir den zuverfichtlihen Glauben hegen dürfen, im Saframent
das Fleifh und Blut Chrifti zu genießen. — Der Priefter ſchafft
keinswegs Blut und Fleifch Chrifti, fondern er bittet den Vater durch
den Sohn darum. Wohl aber ift er als Priefter Mittelsperfon
zwifchen Gott und dem Boll, Er ſchickt durch die Hand des Engels
bas Gebet des Volks zu Gott, und bringt yon Gott die erlangten
Gaben und theilt fie aus. Nimmermehr foll es dich irren, daß Ge:
fhmad und Farbe des Fleifches nicht im Saframent zum Borfchein
fommt. Die Kraft des Glaubens ſchmeckt dennoch Beides im Geifte.
Sp wie wir in der Taufe die Aehnlichfeit mit dem Tode Chriftt
erlangt haben, fo erhalten wir durch das Saframent des Altars
die Aehnlichfeit Seines Fleifhs und Bluts. Gleichwohl fünnen und
Heiden und Unwiffende nicht befchuldigen, daß wir Menichen:
fleifch effen und Blut trinfen. — Wer das Leben und bie Thaten
der Gläubigen gelefen hat, ber weiß auch, daß die Saframente
des Leibs und Bluts fchon oft, theils um Zweifler zu überführen,
theild zu Ehren eifriger Freunde Chrifti, fichtbarlih in Geftalt eines
Lammes, oder auch in der Farbe des Fleiſchs und Bluts erichie:
nen find. Solches ift z. B. dem frommen Priefter Plegiles
wiverfahren, nachdem er das Abendmahl öfter über den Körper des
heil. Ninus gehalten und Gott gebeten hatte, ihn bie unter ..
und Wein verborgene Geftalt fchauen zu Taffen.“
Noch einmal kommt jest Radbertus auf ven Grundfag zurüch
daß beim Abendmahl, wie bei der Taufe die perſönliche Würdigkeit
des Prieſters von keinem Gewicht ſey. „Das Wunder geſchieht durch
die Kraft des Schöpfers und die Worte Chriſti. Darum ſollſt du,
o Menſch, ſo oft du dieſen Kelch trinkeſt und dieſes Brod iſſeſt, feſt
überzeugt ſeyn, daß du kein anderes Blut trinkeſt, als das für dich
Innerliche Bewegungen in der Kirche der fränkiſchen Reiche ıx. 911
und für Alle zu Vergebung der Sünden vergoffene, und daß bu
fein anderes Fleiſch genießeft, als das für dich und für Alle dahin:
gegebene. Gleichwohl darf das Saframent noch immer Brod und
Wein genannt werden, weßhalb auch der Apoftel fagt: der Menſch
prüfe fich felbft und alfo effe er von dieſem Brode und
trinfe von diefem Weine Fleiſch ift es durch die Gnade,
Brod der Wirfung nad, denn dieſes geiftige Brod ertheilt auf
gleiche Weife das ewige Leben, wie das irdifche zeitliches, und wie
irdifcher Wein das Herz des Menfchen erfreut, fo ftärft jener himms
lifche den inwendigen Menſchen. Wie beim Manna, dem Borbilde
unferes Saframents, fommt es nicht darauf an, ob der Genießende
einen Fleinern oder größern Biffen in den Mund befömmt; auch der
kleinſte Theil würdig empfangen, giebt Leib und Blut des Herrn
vollfommen. Bor Seinem Leiden hat der Erlöfer das Saframent
darum eingefegt, um anzuzeigen, daß das Schattenbild des alttefta=
mentlihen Pascha jest aufgehoben fey. Auch wollte Er an dem
Beifpiele des Verräthers Judas lehren, daß man das Abendmahl
ebenfo wohl würdig, als unmwiürdig empfangen könne. Sodann
fonnten die Keger, wenn der Herr das Abendmahl erft nach Seinem
Leiden angeorbnet hätte, den Einwurf machen, daß der Leib des
Herrn nicht mehr auf Erden gegeffen werden möge, nachdem der:
jelbe unvermwestich in den Himmel aufgenommen worden. Mit Necht
wird im Saframent Fleiſch und Blut zugleich genoffen. Der ganze
Menſch, beftehend aus zwei Wefen, wird erlöst, darum fättigt ung
der Herr zugleich mit Seinem Fleifhe und Seinem Blute. Denn
nicht die Seele des Menſchen allein, wie Einige fagen, empfängt
das Geheimniß, fondern auch unſer Fleifch wird durch den Genuß zur
Unfterblichfeit und Unverweslichfeit erneuert. — Indem Chriſtus erft
nad dem legten Mahle die Einfegung vornahm, wollte Er andeu:
ten, daß jet dev Abend des Tags und die legte Stunde gefommen
fey. Weil die Jünger zuvor das gefegliche Paſcha genoffen hatten,
waren fie nicht nüchtern. Gleichwohl ift der nüchterne Genuß deg
Saframents allgemein in der Kirche angeordnet worden. Denn
es hat dem heiligen Geift gefallen, durch den Mund der Apoſtel zu
befeblen, daß der Leib und das Blut des Herrn vor allen andern
Speifen genommen werden folle. Deffen ungeachtet braucht man
nicht, wie gewilfe apokryphiſche Schriften vorfchreiben , fich fo lange
gemeiner Speifen zu enthalten, bis das Saframent verdaut iſt.
912 IH. Bud. Kapitel 11.
Alles muß hier geiftlich verflanden werden, und jene Schriften
verdienen Tadel, weil fieunswarnen, das Saframent
durch die Berdbauung mit dem natürliden Unflat des
Leibes zu vermifhen. Denn wie kann da von einer foldhen
Bermifhung die Rede feyn, wo man geiftlihe Nahrung empfängt,
durch welche ber heil. Geift bewirkt, daß alles Fleifchlihe, das in
ung ift, in Geiftliches verwandelt wird, — Aus den Worten bes
Heilands: ich werde hinfort nicht mehr trinfen von die
fem Gewächſe des Weinftods, bis ih es von Neuem
genieße im Reiche meines Vaters, haben Einige die Fabel
von einem irdifchen taufendjährigen Reiche Chrifti erhärten wollen.
Allein wir verwerfen diefe Anficht als ketzeriſch, und erflären bie
Worte von dem Kelche des Nachtmahls, in welchem das Blut Chrifti
allein geweiht werden darf. — Wer das Fleifch Chrifti nicht ift,
Sein Blut nit trinkt, in Dem bleibt das Leben nit. Wer es
unwürdig ißt, der ißt fich felber das Geriht. Wer aber ein Sün—
ber war und fich befehrt hat, der gelangt durch den Genuß wieder
in den Stand der Unſchuld.“
Dieß ungefähr ift der zufammengedrängte Inhalt des merk:
würdigen Buchs. Nicht blos aus den oben angeführten ) Stellen
älterer Väter, fondern auch aus den eigenen Worten des Verfaſſers
erhellt, daß fein Grundgedanke nicht neu war. Befämpft er doch
Andere, die, wie er, die Verwandlung behaupteten, aber die Folge
Daraus zogen, daß man, ehe das Saframent verbaut fey, Feine ge:
meine Speife genießen dürfe, weil ſich funft die Ueberbleibfel des
Weins und Brods mit dem natürlichen Abgang des Menfchen ver:
mifchen würden: eine Anficht, die man fpäter mit dem Namen Ster-
forianismus bezeichnet hat, Mehrere angefehene Kirchenlehrer traten
in Ratberr’s Fußtapfen, vor Allen Hinfmar von Rheims, der in
verfehiedenen Stellen feiner Schriften bald mehr bald minder deut:
lich der Verwandlung das Wort redet. Sp fihreibt ?) er . B. an
König Karl den Kahlen: „Chriftus hat das Geheimnig unferer Ein:
heit mit Ihm auf dem Abendmahltifche geweiht. Denn mer Anders,
als Er felbft, wird täglich auf diefem Tiſche fonfekrirt ? Gott ifl
gegenwärtig in den Worten der Einfegung, ohne welche fein Abend:
mahl gereicht wird, Er heiligt felbft fein Saframent und bringt ſich
) S. 889 fig. — 2) Hinemari Opp. II, ©. 97 Mitte,
Innerliche Bewegungen in der Kirche der fränfifchen Reiche ıc. 913
felbft dar, gemäß dem Spruche: dieß ift mein Leib, der für
Eud dabingegeben wird.“ Und in der nemlichen Schrift ')
tiefer. unten: „Öfeichwie einige Jünger ſich ärgerten, als fie bie
Worte Ehrifti hörten: wenn Einer mein Fleifch nicht iffet
und mein Blutnihttrinft, bleibt er nicht in mir, fprichft
du vielleicht auch: ich fehe wohl die Aehnlichfeit, aber fein wahres
Blut! Wiffe aber, Chriftus wirft in Kraft Seiner Rede alfo, daß
Er die natürlichen Eigenfchaften der Dinge verwandeln Fann, gleichwie
die Ruthe Mofis in eine Schlange und nachher wieder in eine
Ruthe, gleichwie der Strom Aegyptens in Blut und nachher wieder in
Waffer umgefchaffen ward.“ Noch ftärfer erklärt fih für Natbert’s
Meinung das Bruchftüd eines Kommentars über den erften Brief
Pauli an die Corinther, deffen Verfaſſer nicht ficher ermittelt
it, obgleich feifteht, daß das fraglihe Buch dem neunten Jahr:
hundert angehört. Einige legen e8 dem Bifhof Haymo von
Halberftadt,?) Andere dem Mönche Remig ius von Aurerre)
bei, welcher bis gegen Anfang des zehnten Jahrhunderts lebte. In
dieſem Bruchſtück heißt ) es: „der ſträflichſte Unſinn ift eg, zu be:
zweifeln, daß Durch die Confefration des Priefters und die Dank—
fagung, mittelit göttlicher Gnade und geheimer Wirkfamfeit, das
Weſen des Weins und Brods, das auf den Altar gelegt wird, in
Leib und Blut Chriſti ſich umwandle. Wir befennen vielmehr und
glauben feft, daß die Subftanz des Weins und Brods durch befagte
göttliche Kraft in eine andere Subftanz, nemlich die des Bluts und
Leibs übergehe. Denn die göttliche Allmacht, welche die Welt aus
Nichts erfchuf, vermag auch aus jeglichen Ding ein anderes zu
machen. Zwar bleibt im Leibe und Blute Chrifti, um des Schreckens
ber, Nehmenden willen, der Gefchmad und die Geftalt des Brods
und Weins, dennoch if Die Natur dieſer Subſtanzen verwan⸗
beit,“ u. ſ. w, |
Obgleich nun Ratbertug, wie man fieht, nicht allein blieb,
fehlte doch viel, daß feine Meinung die allgemeine geworden wäre,
worüber man fich nicht wundern kann, da laut der früher geführten
Beweiſe bis zu jener Zeit entgegengefeste Anfichten über das Sa:
) Ibid. ©. 99 gegen oben. — ?) Siehe oben ©. 825. — 3) Weber ihn
zu vergleichen Histoire litteraire de la France Vol. VI, ©, 99 fig. — *) Abs
gedruckt bei d’Achery Spicileg. I,, A2 fig.
Gfrörer, Kircheng. II. 58
914 IM Buch. Kapitel 11.
frament des Altars geherrfcht hatten. Der Mönch Druthmar verfteht
die Einfegungsworte auf bildlihe Weile In feiner Erklärung zu
Matth. XXVI 26. fagt ) er: „Jeſus gab den Zlingern das Sa-
frament feines Leibes zur Vergebung ber Sünden und als Band
der Liebe, Damit fie, diefer Handlung eingedenf, dasjenige ſtets im
Bilde (in figura) thun möchten, was ber Herr für fie zu thun im
Begriffe fand, Die Worte: Das ift mein Leib, haben den Sinn,
es ift mein Leib im Saframente.“ Dben berichteten wir, daß
Druthmar im Klofter Corbie lebte, folglich kannte er auch ohne
Zweifel die entgegengefetste Anficht des Abts Ratbertus, und man
muß annehmen, daß er wider Diefen Parthei ergriffen hat. Natbert
ſelbſt verhehlt nicht, daß im feiner nächften Umgebung über die
Abendmahlsiehre Zwiſt ausbrach. „Ich höre,“ fagt ?) er im Com:
mentar zum erften Evangeliften, „daß Einige mich deßhalb tadeln,
weil ich in meiner Schrift Über das Saframent angeblich mehr in
die Worte Ehrifti Hineinlege, als der Erlöfer felbft hineingelegt habe.“
Der alte Abt wurde fogar veranlagt, feine -Anficht mittelft einer
zweiten Abhandlung zu vertheidigen. Ein fonft unbekannter
Mind, Namens Frudegard, ber vielleicht dem ſächſiſchen Kloſter
Neucorvey angehörte, hatte ihm allerlei Bedenklichfeiten gegen die
magifche Erklärung der Einfegungsworte vorgetragen. Namentlic)
berief fih der Mond auf eine Stelle aus dem Werfe Auguftin’s
von der Hriftlihen Lehre, wo dieſer berühmte Kirchenlehrer offenbar
- den Genuß des Leibs und Bluts Shrifti finnbildlich verftehe, und es
für ein kühnes Wagſtück erfläre, wenn man die Worte des Erlöfers
anders auslegen wolle, Radbertus fchrieb nun an den Mönch einen
Drief, >) in welchem er feine Meinung zu rechtfertigen fucht. Er
gefteht hier ein, daß die wörtliche Erklärung von Bielen miß—
bilfigt werde, meint aber, wenn aud die Gegner feinen Gründen
feinen Beifall fchenfen, fo follten fie doch den Worten bes Erlöfers
‚glauben, der an den vielen Stellen, wo Er von Seinem Fleisch, Seinem
Leibe, Seinem Blute rede, fein. anderes Fleifch gemeint haben könne,
als das, weldes von Maria geboren ward und am Kreuze litt,
N) Bibliothee, Patrum max, Lugdun. Vol. XV., ©. 165 B, gegen unten.
— 2) Paschasii Radberti opp. ©. 1094 Mitte. — 3) Das Schreiben des
Mönche ift verloren, man erfieht aber feinen Inhalt aus: ber — erhaltenen
Antwort Radbert's opp. ©, 1619 flg.
Innerliche Bewegungen in der Kirche der fränkifchen Reiche ꝛc. 915
Nimmermehr würde auch das Abendmahl Vergebung der Sünden
bewirken, wäre nicht in dieſem Sakrament der wahre Leib und das.
wahre Blut des Heilande. Der von Frudegard angeführten Stelle
Auguftin’s fest er eine andere entgegen, in. welcher derfelbe Vater
zu ben Neugetauften pricht: „nehmet Das im Brode, was am Kreuze
gebangen hat, nehmer Das im Kelche, was aus Chrifti Seite ge--
floffen iſt.“
Auch ein fremdes Kirchenhaupt, das nicht dem Reiche Karls
des Kahlen angehörte, der Mainzer Metropolit Rabanus, trat wider
den Abt von Corbie in die Schranken. - Zwar in gewiſſem Sinn
erfannte Rabanus, übereinſtimmend mit dem Bolfsglauben, die Wand⸗
(ung des Saframents an. In einer feiner liturgiſchen Schriften
fagt ') er: „wer würde glauben, daß Brod in Fleifh, Wein in
Blut fih verwandle, wenn nicht der Erlöſer dieß felbft fagte, Er,
der Brod und Wein gefchaffen und Alles aus Nichts gemacht bat.
Leichter ift es, ein Ding in ein anderes zu verwandeln, als Alles
aus Nichts zu erfehaffen.“ Aber die Behauptung Ratberrs, daß
derfelbe Leib Chriſti, welchen Maria geboren habe, im. Abendmahle
genoffen werde, fchien ihm allzu ſtark. In einer an den Abt Eigil
von Prüm gerichteten Abhandlung, von welder ein ftarfes Bruch—
ſtück auf uns gefommen ?) ift, entwidelt er feine eigene Anficht im
Gegenjas wider Ratbert, „Jeder. Chrift,“ fagt er bier, „müſſe be-
fennen, daß wahrhaftes Fleifch und Blut des Herrn im Abendmahle
genoffen werde, gleichwohl jey die Behauptung, daß wir im Saframent
dafjelbe Fleifh empfangen, das Marin geboren und das am Kreuze
gelitten habe, unerhört und irrig. In dreifachem Sinne,“ fährt er
- fort, „komme das Wort „Körper Chrifti“ bei den heiligen Schrift-
ftellern vor: einmal bezeichne es die Kivche, zweitens den Leib, welchen
Maria geboren habe, endlich den Leib, der unter Geftalt von Brod
) De sacris ordinibus ad Theotmarum cap. 19. Opp. ed. Colvener
vol. VJ., ©. 58 a gegen oben. — ?) Lange Zeit hat man diefe Schrift für
verloren gehalten, bis Mabillon unter dem Titel: dieta cujusdam sapientis de
eorpore et sanguine Domini adversus Radbertum einige Sragmente auffand,
und als das fragliche Werk des Rabanus erkannte. Abgedr. find fie Act. O. S, B.
IW., b. ©. 601 flg. (der Benetianer Ausgabe). Kunftmann behauptet in
feiner Monographie über Rabanus (S. 157 Note), die Magdeburger Eentu:
ziatoxen hätten eine vollſtändige Abfehrift des Buchs befefien, allein ich kann
die Beweisftellen, auf die er ſich beruft, nicht auffinden.
58 *
916 11. Bud. Kapitel 11.
und Wein durch den Priefter täglich dargebracht werde. In biefer
dreifachen Bedeutung fey der Begriff der Natur nad einer, der
Art nad (specie) aber yerfshieden.“ Bon Neuem tabelte er die
Erflärung Ratbert’s in einer Zufchrift, I dierer 854 oder 855 an
den Bischof Heribald von Aurerre erließ, wobei er benfelben zugleich
auf obige Abhandlung verweist: „Gewiſſe Leute haben neulich über
das Abendmahl des Herrn die irrige Anficht ausgefprochen, als ob
im Saframent derfelbe Leib und daffelbe Blut genoffen würde,
welches die Jungfrau gebar, und in welchem der Herr am Kreuze
gelitten hat, auch vom Grabe auferftanden if. Sp weit meine
Kräfte reihen, habe ich diefen Irrthum in meinem an den Abt
Eigil gerichteten Buche zu widerlegen gefucht.“
Doch der gefährlichſte Gegner Ratbert's erhob ſich in deſſen
eigenem Kloſter. Auch in der Frage wegen des Abendmahls glaubte
der Mönch Ratramnus ſeinen Abt bekämpfen zu müſſen. Er ſchrieb
gegen denſelben ein Buch, *) das er aus Gründen, die er anzu:
führen nicht unterläßt, dem Könige von Neuftrien widmete. Im
der Borrede fagt er nemlih, Karl der Kahle habe ihm befohlen,
über das Werk des Natramnus ein Gutachten abzugeben. Die
Beranlaffung der Schrift war Daher für den Abt ebenfo demüthigend,
‚als die Schrift an fih. Wir vermuthen, daß der Mönd) den fünig-
lichen Auftrag durch feine Künfte hervorgerufen haben dürfte. Jeden:
falls macht derfelbe Karl dem Kahlen wenig Ehre. Diefer Schwäd):
ling, unter deſſen Regiment die Krone zu einem Schatten herabfanf,
liebte es, als Gelehrter und Redner zu glänzen, er wollte nament-
ih in den kirchlichen Streitigfeiten feiner Zeit den Schiedsrichter
ſpielen. Da er hiezu fremder Hülfe bedurfte, fiel er in bie
Hände gelehrter Ränkeſchmiede, die fih an ihn drängten, und gab
dadurch, ohne es zu merken, der von feinem erlauchten Ahn ges
gründeten Drdnung den Todesftoß. Denn faum führt ein anderes
Mittel fiherer zur Auflöſung aller Firchlichen Zucht, als wenn man,
wie Karl that, Untergebene auffordert, ihre Vorgeſetzte anzuflagen.
Ratramnus fieht freilich) die Sache anders an. Im Eingange feines
Buchs lobt er den Befehl Karl's über die Maaßen, es fey eines
1) Ebenfalls abgedrudt bei Mabillon ibid. ©, 606 unten flg. — 2) De
corpore et sanguine Domini liber, öfter gedruckt, ich gg Die Ausgabe
Amfterdam 1717. 1210. franzöfifch und lateiniſch.
Innerliche Bewegungen in der Kirche der fränkifchen Reiche ce. 917
großen Königs würdig, meint er, Vorkehrungen zu treffen, damit
nicht unter feinen Unterthanen Zwieſpalt über eine Lehre ausbreche,
von welcher Das Heil der Menfchen abhänge. Dann berichtet er, der
König habe ihm folgende zwei Fragen geftellt: 1) ob Leib und Blut
EHrifti im Abendmahl auf bildiiche Weife (in mysterio), oder nad)
firengem Wortverftande (veritate) empfangen werde; 2) ob es
derfelbe Leib fey, der von Marien geboren ward, gelitten hat, vom
Tode erftanden ift und zur Nechten des Vaters fist? |
Um den Weg zu Beantwortung der erften Srage anzubahnen,
beginnt er mit einer kurzen Entwidlung der Begriffe Geheimniß
oder Bild und Wirklichkeit. „Ein Bild oder Geheimniß findet flatt,
wenn man Das, was eigentlich gefagt‘ werben fol, unter etwas
Anderem verhüllt, z. B. wenn man für Wort Gottes die Redeweiſe
Brod gebraucht. Wahrheit aber ift der nadte Ausdruck einer- Sache,
wie 3. DB. der Sa: Ehriftus warb von einer Jungfrau geboren.
Demgemäß muß man im Abendmahl ein Bild oder Geheimniß an:
erfennen, denn das Brod, das durch den Dienft des Priefters zum
Sleifche wird, zeigt Außerlich den Sinnen etwas Anderes und hin-
wiederum etwas Anderes dem Gemüthe des Gläubigen. Aeußerlich
bfeibt Geftalt, Farbe und Geſchmack des Brods, das vorher da
war, innerlich aber ift etwas Himmlifches und Göttliches vorhanden,
nemlich der Leib Chriſti, der blos von der glaubigen Seele gefchaut
- und genoffen wird. Ebenfo verhält es fich mit dem Wein. Daraus
folgt denn, dag im Abendmahl Brod und Wein auf figürlide
MWeife (figurate) Chrifti Leib und Blut if. Denn das finnliche
Auge erfennt weder Fleisch im Brode, noch Blut im Weine, und
doch wird das Saframent nach erfolgter Einfegnung nicht Brod
mehr oder Wein, fondern Chriſti Leib und Blut genannt. Wollte
man bier, wie Einige verlangen, nichts figürlich, fondern Alles
wörtlich nehmen, jo würde der Glaube im Abendmahl nichts
zu Schaffen haben, weil nichts Myſtiſches gefchähe. Und doch ift der
Glaube, wie der Apoftel fagt, auf das Unfichtbare gerichtet. Auch
wäre es Wahnfinn, Brod für Fleifh, Blut für Wein zu erflären.
Eine Außerlihe Verwandlung geht im Saframente nicht vor, denn
das Auge fieht nichts Anderes, als was es vorher auch ſah, wohl
aber eine unfichtbare, denn der Herr fpricht ja: nehmet hin und
efjet, Das ift mein Leib. Sekt man daher Denjenigen ernfilich.
zu, welche die figürliche Erklärung verwerfen, und fordert fie auf,
918 IT. Bud. Kapitel 14.
zu fagen, in welcher Rückſicht denn eine Veränderung erfolgt fey,
fo fommen fie nothwendig ins Gedränge, und Nichts bleibt ihnen
übrig, als zu läugnen, was fie doch zu bejahen fcheinen, oder ben
Glauben zu vernichten. Denn entweder müffen fie befennen, daß
hier eine andere, als eine körperliche Wandlung vorgehe, oder aber
Yiugnen, daß im Abendmahl Blut und Leib Chriſti ſey. Da num
aber Lesteres in Abrede zu ziehen ruchlos wäre, fo folgt, daß bie
Wandlung eine figürliche ift, fofern unter der Hülle des Förperlichen
Brods und Weins der geiftliche Leib und das geiftliche Blut Chrifli
erfcheint. Nicht zwar, als ob zwei weſentlich verfchiedene Dinge,
Körperliches und Geiftiges, wirklich vorhanden wären, fondern es ift
ein und berfelbe Gegenftand, der in gewiſſer Hinficht unter Geftalt
deg Brodes, in anderer aber als Leib und Blut.Chrifti beſteht.“
Ratramnus fucht fofort feine Anficht durch Vergleichung mit der
gemeinen Waffertaufe, wie mit der myflifchen dur Meer und
Wolfe, von welcher Paulus (1. Cor. X.) fpricht, zu erhärten.: Das
Taufwaffer ift an ſich Außerlich etwas Verwesliches, Doch waſcht es
dur) den Zutritt des heiligen Geifles Sünden ab. Die Wolfen
und das Meer, durch das die Israeliten zogen, waren fogar nur
Borbilder der Taufe, aber in Kraft des heiligen Geiftes bewirften
fie die Reinigung des Bolfs. Ebenſo verhält es fih mit dem Abend:
mahl u. ſ. w. |
Auf die zweite Frage übergehend, ') die eigentlich ſchon in der
erften beantwortet ijt, ftellt er einen Ausfpruch des heil. Ambrofiug
voran, aus welchem erhellen foll, daß im Abendmahl von feinem leib—
lichen Eſſen des Leibs Ehprifti die Rede feyn könne. „Ambroſius,“
ſaagt er, „erfennt eine Wandlung an, und zwar- eine wunderbare,
weil fie göttlich, eine unnusfprechliche, weil fie über alle Begriffe
erhaben ift. Aber in welchem Sinn erfolgt Die Veränderung ? Ihrem
förperlichen Weſen nach bleiben die Beftandtheile des Nachtmahls,
was fie früher waren, nemlich Brod und Wein. Folglich iſt es
blos eine innerliche Veränderung durc bie mächtige Kraft des heil.
Geiftes, und blos dem Glauben fichtbar, der die Seele nährt, Die
Gegner fagen zwar: der Leib Chrifti fey es, den man genieße,
Sein Blut, das man trinke; nicht fragen dürfe man, wie es gefchehe,
fondern man folle fi mit der Thatfache begnügen. Wir geben Dieß
Aa. O. ©. 254 unten flg.
Innerliche Bewegungen in ber Kirche der fränkiſchen Reiche c: 919
zu, behaupten aber, eben weil man es glauben muß, fieht man es
nicht. Ambrofius nennt zwar das Brod den Leib Chrifti, aber giebt
ihn für Feine Teiblihe Speife aus. Das Brod und der Wein find
nicht dem Außerlichen Anblide nach Leib und Blut Chrifti, fondern
fraft geiftlicher Wirkung. Der Körper, in welchem Chriftus gelitten
bat, war, was er ſchien, ein Körper. Dagegen ift das Blut,
das die Gläubigen trinken, der Leib, den fie effen, ein anderer der
Geftalt und wieder ein anderer der Bedeutung nach. Hieronymus
‚macht denfelben Unterfchied. Das Fleifch, welches gefveuzigt wurde,
war vom Fleiſche der Jungfrau gemacht, durch Beine und Nerven
zufammengefügt, durch eine vernünftige Seele belebt. Das geiftige
Sleifh dagegen beſteht nach feiner Außern Geftalt aus Mehl, hat
feine Beine, Nerven und dergleichen. Was ihm Leben wirkende
Kraft ertheilt, iſt geiftiger Art, unfichtbarer, himmliſcher Wirkung,
und ift von Dem, was Außerlich erfcheint, völlig verfchieden. Auch
muß man bebenfen, daß im Brobe des Nachtmahls nicht blos Chrifti
Leib, jondern auch das an Ihn glaubende Volk abgebildet wird.
Sleicher Weiſe miiht man dem Weine, welcher das Blut Chrifti
beißt, Waſſer bei, weil Waffer ein Bild des Bolfes iſt, das von
dem Herrn nicht getrennt werben darf. Sollte nun der vom
Priefter geweihte Wein wie das Brod körperlich in Fleiſch und
Blut Chriſti verwandelt werden, fo würbe derfelbige Wein und
baffelbe Brod auch in Leib und Blut des Bolfs umgefchaffen, was
Niemand je behauptet hat. Hiezu fommt noch, daß der Leib Chriſti,
welcher geftorben ift und hernach auferftand, jest Unfterblichfeit- bes
fügt, der Leib. Dagegen, welcer in der Kirche dargebracht wird, iſt
zeitlich und der Verweſung unterworfen. Beide fönnen daher nicht
einerlei feyn. Wie mag man alfo noch Brod und Wein den wahren
Leib Ehrifti und Sein wahres Blut nennen! Was äußerlich er:
fcheint, ift nicht die Sache felbft, fondern ein Bild der Sade, was
aber im Geifte empfangen wird, das ift die wirkliche Sache. End:
lich lehrt der Herr felbft in den Worten der Einjegung, und hernad)
Paulus (1. Cor. XL, 23. fg), daß Brod und Wein, die auf den
Altar gefeut werben, ein Bild oder Andenken Seines Todes jeyen,
Einft, wenn wir zur Anſchauung Chrifti gelangen, werben wir folder
Mittel der Erinnerung nicht mehr bedürfen. Doc fey damit nicht
gefagt, dag der Glaubige nicht wirklich den Leib und das Blut bes
Herrn empfahe. Denn der Glaube hält ſich nicht an das —
920 "II. Buch. Kapitel 11.
fondern an das Unfichtbare, Das Saframent ift eine geiftige Speiſe und
ein geiftiger Trank von geiftiger Wirfung. Der Geift ift es, fagt
der Heiland, der da lebendig macht, das Fleifch aber ift Fein Nütze.“
Obwohl Ratramnus eine Förperlihe Wandlung läugnet, be—
hauptet er doch die wirfliche, ich möchte fagen, leibhafte Gegenwart
des Fleiſchs und Bluts Chrifti im Abendmahl. Warum er dieg
thut, iſt leicht zu zeigen. Der allgemein verbreitete Glaube, daß
das Saframent des Altars die größten Geheimniffe und Wunder in
fich fchließe, zwang ihn dazu. Kein Theologe darf offen der Stimme -
des Bolfes trogen. Aber durch diefes Zugeftändniß wird Ratramnus zu
zahllofen Sophismen hingeriſſen, von denen offenbar fein Werk wim:
melt. Deutlich erhellt aus demjelben, daß es nur zwei folgerichtige
Meinungen über das Abendmahl giebt: die Zwinglifche und bie
katholiſche, alle andern führen zur Halbheit. Der Abt Pafchaftus
Ratbertus gieng den geraden Weg, er blieb überdieg, was noch
mehr werth ift, mit fich felber im Einklang. Durch bittere Lebeng-
erfahrungen verbüftert, fucht er in mönchifcher Frömmigkeit Troft,
nimmt die Bibel und den Kirchenglauben nad) dem Wortfinne, und
fpricht was die Zeit fühlt, ahnt, für wahr hält, unbekümmert um
die Einwendungen des Augenfcheing, in dogmatifchen Formeln aus.
Die Fatholiiche Lehre von damals war voll Wunder. Was hilft es,
wenn man eines, wie Ratramnus thut, abzufchneiden oder vielmehr
zu verdünnen ſucht; die Andern bleiben doch! Diefelbe Stimmung
offenbart fih in fümmtlihen Schriften des Abts. Er verfährt in
der Frage von der Geburt Marias nach den nämlichen Grund:
fügen, wie in der Abhandlung über das Abendmahl, und wenn er
in den Gotſchalk'ſchen Händeln etwas yon der Richtſchnur Augufti-
niſcher Rechtgläubigfeit abweicht, fo beweist dieß feinen Wechfel der
Farbe, denn die Bedürfniſſe des Predigtamts nöthigten hier zur
Nachgiebigkeit. Natbertus ift, was er ift, ganz. Anders verhält es
fih mit feinem Gegner. Der Mönch, welcher in der Abendmahlsiehre,
wie in der Frage von der Geburt Chrifti, die Fahne „ver Bernünftigfeit“
aufftedt, vertheidigt in den Handeln Gptfchalt’s den firengften Su:
pranaturalismus und ift im Streite gegen die Griechen noch ortho—
doxer, als die Kirchenfymbole. Trefflich weiß er den theologifchen
Mantel nah dem berrfchenden Winde zu drehen. Seine fertige
Feder und fein Geſchick mag man bewundern, nicht aber feine Red⸗
lichfeit. Für die Gefchichte hat der Zank über das Abendmahl noch
Innerliche Bewegungen in’ der Kirche der fräntifchen Neiche ꝛc. 921
eine befondere Bedeutung. Wie in den Gotfchalffchen Händeln
niedere Gferifer gegen die hohen Würdenträger fich verſchwören, fo
ſtellt Hier ein Mönch feinem Abte gelehrte Schlingen. Beide Er:
fcheinungen hängen aufs Engfte zufammen und ergänzen ſich. Hier
und dort tritt das Beftveben hervor, im Klofter wie in ber Kirche
die beftehende Ordnung umzuftürzen, das Obere nad Unten zu
fehren. Die von Karl dem Großen gegründete —— ſinkt in
Trümmer, Alles eilt der Auflöſung zu.
Noch ein Dritter, den wir von Früher her fennen, gab in der
Frage vom Abendmahl feine Stimme ab. Aus Haren Beweiſen
geht hervor, daß auch der Skote Johannes Erigena wider Pafcha-
ſius Ratbertus gefchrieben hat, obgleich wir das betreffende Buch)
nicht mehr befisen. Hauptzeuge ift Hinfmar von Rheims. Derfelbe
fagt nemlich in feiner großen Schrift !) über die Präbeftination:
der Skote habe außer andern Ketzereien auch die vorgebracht, daß
Brod und Wein im Abendmahle niht wahres Fleifd
und Blut des Erlöſers, fondern nur ein Denfzeiden
(memoria) Seines wahren Leibes und Blutes feyen.
Wenige Jahre fpäter, vielleicht gar zur nemlichen Zeit, verfaßte ein
Mönd Namens Adrevald,?) der bis gegen Ende bes neunten
Sahrbunderts im Klofter Fleury blühte, unter dem Zitel: „wider bie ab-
geſchmackten Meinungen Erigena’s vom Abendmahl,“ ein noch vorhan⸗
benes Bud), ?) in welchem er aus zufammengeftoppelten Stellen der
Väter darzuthun fich bemüht, daß mit Brod und Wein eine wahrhafte
Wandlung vorgehe. Unmöglich Fonnten nun Adrevald und
Hinfmar alfo gegen den Sfoten ſich ausfpredhen, hätte dieſer
nicht durch Ausarbeitung irgendeiner Schrift Antheil an dem Abend:
mahlsftreite genommen, und zwar muß Erigena wider Paſchaſius
Ratbertus und für bildliche Deutung der Einfegungsworte gefchrie:
ben haben. %) Aus Mangel genügender Nachrichten läßt fih nichts
) Opp. I., 232 Mitte. — 2 Ueber ihn zu vergleichen Histoire lilteraire
de la France, V., 515 fl. — °) De corpore et sanguine Christi contra
ineptias Johannis Scoti abgedrudt bei d’Achery spieileg. neue Ausgabe
‚ Vol. L, 150 fig. — + Faſt alle guten Schriftfteller der älteren Zeiten, nament-
lich Mabillon und feine Ordensbrüver, die Verfaffer der Gelehrtengefchichte
Frankreichs, nehmen an, daß Erigena die fragliche Schrift abgefaßt habe. Nur
Petrus de Marka macht eine Ausnahme, indem er die Behauptung aufftellt
(d’Achery spici). IIT., 852), daß die vermeintlichen zwei Schriften Des Ratramnus
922 2: HE Buch. Kapitel 11,
Weiteres über den Inhalt des fraglichen Buches ermitteln. Da:
gegen erfiebt man aus der angeführten Stelle Hinkmar's, daß dieſer
Metropolit zu der Zeit, da er fein Werk über die Prädeftination
abfaßte, nicht mehr gut mit bem Hofgelehrten fand. Erbittert durch
bie Berbrießlichfeiten, welche ihm der Unverftand des Sfoten in den
Gotſchalk'ſchen Handeln zugezogen, giebt er denfelben Preis.
Die fehriftftellerifche Thätigkeit des Sfoten war mit ben Ar-
beiten, die wir bisher genannt, nicht erſchöpft. Während feines
Aufenthalts am neuftriihen Hofe — man weiß nicht, in welchem
Jahre — verfaßte er fein umfangreichfteg und berühmteftes Werk
über die Theilung der Natur, ') das großen Lärm erregt haben
muß. In fünf Büchern, welche die platonifche Form eines Geſprächs
zwiſchen Schüler und Meifter haben, trägt er bier eine chriftfiche
und Erigena, genau bejehen, nur eine feyen, die dem Skoten angehöre. Diefe
Anficht wurde jedoch durch Mabillen gründlich widerlegt. In feinen Akten
des Benediktinerordens (Vol. IV., b. praefatio Nro. 81 flg.) führte dieſer
ansgezeichnete Mann den Beweis, daß die Schrift, welche wir noch befißen,
das unbezweifelbare Werk des Ratramnus ift. Neuerdings hat ein teutfcher
Gelehrter, Laufs, Ctheologifche Studien und Critiken 1828, ©. 755 flg.) der
Vermuthung des Parifer Erzbifhofs eine andere Wendung zu geben verſucht,
indem er behauptet, Stotus habe nie über das Abendmahl geſchrieben, nur
aus Verwechslung mit ver Schrift des Ratramnus legen ihm Berengar und
die Abendmahlstämpfer des eilften Jahrhunderts ein ſolches Buch. bei. -Laufs
ftügt fird auf folgenden Grund: Stellen, welche aus Erigena’s angeblichen
Buche von Berengar und Aszelin angeführt werden, finden fich faft wörtlich
in der Schrift des Natramnus wieder. Beide feyen alfo offenbar mit einan-
der verwechfelt. Um fovann das eben angeführte Zeugniß Hinkmar's und des
Mönchs Adrevald zu entkräften, erfühnet fih Laufs, den Satz auszufprechen::
Hinfmar und der Mönch von Fleury müſſen fich gleichfalis geftoßen haben.
Ich entgegne: mit folcher Kritit kann man Alles aus Allem machen. Hink—
mar und Adrevald waren Zeitgenoffen Erigena's und namentlich wußte der
Erſtere ſehr gut, was am neuſtriſchen Hofe vorgieng, wohin Ratramnus und
Erigena ihre Bücher richteten. Daß in den Streitſchriften Beider ähnliche,
oder vielleicht auch dieſelben Gedanken vorkommen mußten, liegt in der Natur
der Sache. Man leſe die Schriften zweier oder mehrerer Abendmahlskämpfer
aus der Reformationszeit, ob nicht in ihnen ein und daſſelbe Lied geſungen
wird! Im AUebrigen kann man ſogar zugeben, daß im eilften Jahrhundert
Manche die Schrift des Mönchs von Corbie mit der damals bereits verlor-
nen Arbeit des Stoten verwerhfelt haben mögen. Deßwegen fteht doch das
Zeugniß der beiden Zeitgensffen Hinkmar und Adrevald feſt. — Y De divi-
sione malurae libri quinque, Oxonii 1681. Fol.
Innerliche Bewegungen im der Kirche der fräntifchen Reiche ıc.. 923
Metaphyſik befonderer Art vor. Die Grundlage ift aus dem wiel-
betvunderten Areopagiten ) und dem äfteften Erklärer deffelben, dem
byzantinifchen Mönche Maximus ?) entnommen, aber dem fremden
Erbftücde fügt Erigena Stoff aus eigener, meift fehr nebelhafter,
zumeilen auch fcharfiinniger Erfindung bei. Deutlicher ald aus. ber
Schrift über die Pradeftination erfennt man aus diefem Werke bie
MWeife des Mannes. Wir wollen, fo weit wir ſolches Spinnegewebe
feft zu faffen vermögen, ein zufammenhängendes Bild feiner Ideen
zu geben ſuchen. „Alle natürliche Erfenntniß Gottes, die der Menſch
befist, bewegt fich in Gegenfägen, fie ift entweder eine verneinende
oder bejahende. Die verneinende Theologie läugnet, daß Gottes
Wefen etwas von dem Seyenden ift, die bejahende dagegen: legt
Ihm alles Seyende bei, nicht um es an und für fih von Ihm
auszufagen, fondern nur um von dev Wirfung auf die Urſache zu:
vüdzufchließen. Sie fagt daher von Gott, daß Er die Wahrheit, Güte,
Gerechtigkeit, Weisheit fey. Diefen Begriffen fteht jedoch ein ent-
fprechender Gegenfas, wie Falſchheit, Bosheit u. fs w. alſo gegen:
über, daß das eine Glied des Gegenfates von dem andern nicht
getrennt werden mag. Wenn man daher Eines von. Gott bejaht,
muß man das Andere von ihm läugnen. Dadurd wird Gott felbft
in ben Kreis der Gegenfäge berabgezogen. Dieß ift aber nicht möglich.
Denn das vollfommenfte Wefen muß über allen Gegenfäsen feyn,
- weil ed nicht mehr das Bollfommenfte wäre, wenn ein Anderes von
ihm unterschieden würde Nur die durchfichtigfte Einheit kann es
feyn. %) Streng genommen darf man von Gott nicht fagen, daß
Er die Güte, die Wahrheit fey, denn Er ift mehr als Güte und
Wahrheit, auch Wefenheit fann man Ihm nicht beilegen, da dem
Seyn das Nichtfeyn gegenüberftebt; Gott ift über dieſes getheilte
Seyn hinaus, Er ift überwefentlich, mehr als Alles, über Alles.
Wer aber Gott Überwefentlich nennt, fagt nicht, was Er ift, fondern
was Er nicht ifl. Ungertrennlid verbunden mit der bejabenden
Theologie ift die verneinende, und Lettere hat fogar das Ueber:
gewicht. Deßhalb Fünnen auch die zehn ariſtoteliſchen Categorien
auf das reine güttliche Seyn nicht angewendet werden. Da nun
aber die hriftliche Dreieinigfeit ein Verhältniß der drei Perfonen zu
') Siehe den zweiten Band ©. 903 fig. — 2 Siehe ebendafelbft ©. 911
und II. 62 flg. — ®) I, 15. ©. 9 unten flg.
9a m II. Buch. Kapitel 11.
‚einander ausfpricht und hinwiederum der Begriff „Verhältniß“ unter
die Kategorien fällt, fo folgt, daß die Trinität vom reinen Urfeyn
nicht gilt, Wirklich trägt Erigena fein Bedenken, Vater und Sohn
in Bezug auf das Urfeyn für bloße Namen zu erflären.!) Er fagt,
feine einzelne Eigenfchaft könne von dem Ewigen ausgefagt werben.
Es giebt in Ibm feinen Unterfchied des Wollens und Seyns, des
Schaffens und Erfennens; ja nicht einmal, daß Gott fich felbft weiß
und erfennt, mag man behaupten. *) Aber wie geht nun aus biefer
durchfichtigften Einheit, aus diefem ALU, das zugleich. Nichts iſt, der
Gegenſatz zwiſchen Schöpfer und Gefchöpf, zwifchen Endlichem und
Unendlihem hervor? wie entfieht eine Welt? Als Antwort zahlt
Erigena vier Formen auf,?) in welche die Natur, die er Einheit
des Seyenden und Nichtfegenden nennt, nad ihrer Verſchiedenheit
zerfallen foll. Die erfte Form, behauptet er, fchafft und wird nicht ge=
Ichaffen, die zweite Schafft und wird gefchaffen, die dritte fchafft nicht
und wird gefchaffen, die vierte Schafft nicht und wird nicht gefchaffen.
Mit dem Unterfchied diefer vier Formen ift der Unterfchied zwifchen
Schöpfer und Gefchaffenem gegeben. Wie verhalten fie fih nun
zu einander? Der erften fteht die dritte, ber vierten bie zweite
entgegen, gleichwohl find fie auch wieder eins. Die erfte und vierte
Form find eins, weil fie nur von Gott verftanden werden fünnen,
denn wie Gott der Urgrund des Gefchaffenen iſt, jo ift Er auch das
Ziel, nach welchem alle Creatur ftrebt, um zur unwandelbaren Nube
zu gelangen. Er fchafft, fofern von Ihm die unendliche Bielheit
ausgeht, weil aber Alles wieder zu feinem Anfang zurüdftrebt, ift
Er auch das Ende von Allem, und man kann von Ihm weder
fagen, dag Er Schafft, noch daß Er geichaffen wird, denn wenn
Alles in Ihn zurückgekehrt iſt, geht nichts mehr durch Erfchaffung
von Ihm aus, fondern ruht ewig in feiner Einheit. Die erfte und
vierte Form können in Ihm nicht unterfchieden werden, fie find in
Ihm nicht zwei, fondern Eins. Aber auch die zweite und dritte
Form läßt fih auf Eine zurücführen. Denn wenn man fagt, die
eine werde geſchaffen und fchaffe, die andere fchaffe nicht und werde
geichaffen, fo ift dieß nur der Unterfchied zwifchen ürſache und Wir:
fung; beide aber, Urſache und Wirkung, fallen zufammen in dem
— —— — —
SB rg ee — 1, 1.©. 1, und
I, 1,2. ©. 45 fig.
Innerliche Bewegungen in der Kirche der fränkiſchen Reiche ꝛc. 025
Begriffe der gefehaffenen Natur. Die vier Formen kommen daher
auf zwei zurück, nemlich auf die beiden Begriffe „Schöpfer und
Geſchöpf.“ Erigena fagt nun: N die beiden mittleren Formen feyen
in der Natur felbft gegründet, anders aber verhalte es fi mit der
erften und vierten, ihr Unterfchied beruhe nemlih nur auf unjerer
Betrachtungsweife, fofern wir uns Gott anders vorftellen, je nad:
dem wir Ihn als Urgrund betrachten, und wieder anders, je nad:
dem wir in Ihm das Ziel aller Dinge ſehen. Der Unterfchied
zwifchen Welt und Gott ift alfo fein wahrer, fondern ein erfchein-
licher, vermöge der Vorftellung. Worin hat nun aber die Verfchie-
denheit zwifchen Seyn und Borftellen ihren Grund? Erigena be:
antwortet diefe Frage durch den Begriff von Theophanien. Die
Art und Weife, wie Gott der vernünftigen Greatur, nach dem
Grade der Empfänglichfeit einer jeglichen, ſich offenbart, heißt er ?)
Theophanie. Er fagt:?) „das an fi unbegreifliche, göttliche Ur:
wefen erfcheine auf wunderbare Weife, fobald es mit der geiftigen
Greatur in Berbindung trete; ebenſo an einer andern Stelle: *)
„weder wir Menfchen, noch die Engel fchauen Gott an ſich, denn
bieß ift aller Creatur unmöglich, fondern wir erbliden blos gewiffe
von Ihm ausgehende Theophanien, und zwar Seglicher je nad) dem
Maaße feiner Weisheit und Heiligkeit.“ Aber woher die geiftige
Greatur mit ihrem Unterfchiede des Seyns und Erfcheinens? Auch
auf diefe Frage hat Erigena eine metaphyſiſche Nedensart in Be:
reitfchaft: ?) „jene zweite Urform, dieſelbe, welche gefchaffen wird
und fchafft, begreift die erften Urfachen aller Dinge, oder die Plato:
nischen Ideen, die Bildnerinnen des Allg in ſich; denn dag ewige
Wefen oder der Vater hat, ehe Er Das, was Er fchaffen wollte,
in feine Gattungen, Arten und Zahlen auseinander gehen ließ,
diefe Fdeen in feinem eingebornen Sohne, dem Worte, präformirt.“
Diefes Wort Gottes ift 6) der mütterliche Schoos alles Gefchaffenen,
es ift die erfte Form, durch. welche Alles beftimmt wird, es ift das
Ziel, nach welchem Alles hinſtrebt. So erwächst durch ein philoſo—
phiſches Kunftftiik der Unterſchied zwiſchen Unendlihem und End-
lichem, der Keim zu diefer materiellen Welt. Mit der Schöpfung
ne 5
1, 2. S. 47 Mitte. — 91, 7. S. 3 Mitte. — 9 1, 10. © 5
Mitte, — 9% 1, 8. S. 4 gegen unten. — >) U., 2. S. 47 unten fig. —
6) IL, 15, S. 57 gegen vun
926 IE Buch. Kapitel 11.
felbft verhält es fi laut Erigena’s Behauptung ) alſo: „Obgleich
in Gott an ſich nichts unterfchieden und Feine Eigenfchaft Ihm bei
gelegt werden mag, ift Er bennod Schöpfer des Alle. Da aber
in Ihm nichts zufällig feyn kann, fo darf auch die Welt nur als
ewig gedacht werben, weil Uxfache und Wirfung ungertrennlich find.
Alles ift auf ewige Weife im Worte Gottes, gleichwohl ift zugleich
Alles aus Nichts entflanden. "Nun hat aber der Begriff einer
Schöpfung aus Nichts den Sinn: daß Das, was jet ift, einmal
nicht war; folglih muß man fagen, daß die Welt zugleich zeitlich
und ewig befteht. Ihrer Idee nach befteht die Welt auf ewige
Weiſe vor allen zeitlichen und räumlichen Beftimmungen; aber Alles
hat auch erſt durch die Schöpfung auf zeitliche Weife angefangen
zu feyn, was es vorher nicht war.“ ?) Erigena iſt jedoch) aufrichtig
genug, einzugeftehen, ?) daß Fein menfchlicher, felbft. fein englifcher
Berftand diefe zeitliche Ewigkeit, oder ewige Zeitlichfeit, oder noch
genauer, dieſes hölzerne Eifen zu begreifen vermöge. Man ſieht,
der Sfote wiederholt in neuen Nedensarten den alten Kohl der
Platonifer, des Plotin und des falfchen Areopagiten,
Eine wichtige Stelle nimmt in feiner Theorie der Schöpfung
die Lehre von Erſchaffung des Menſchen ein. Im vierten Buch *)
wirft er bie Frage auf: warum Gott den nad Seinem Bilde ge-
fchaffenen Menſchen in die Claſſe der Thiere verfeßt habe, indem
es doch ehrenvoller fchiene, wenn derſelbe, frei von allem Thierifchen,
den rein geiftigen Charakter der himmlischen Weſen an fi trüge.
Die Antwort ift: der Menſch enthält die ganze gefchaffene Natur
in fih, alles Sichtbare und Unſichtbare ward in ihm erfchaffen.
Er hat wefentlich eine himmlifche Natur, er ift Verſtand und Ver:
nunft, aud) befist er die Fähigfeit, mit einem himmlischen und eng-
tischen Korper ſich zu befleiven, aber auch die ganze finnliche Welt
wohnt in ihm. Deßhalb verfegte Gott den Menfchen zugleich. in die
Claſſe der Thiere, weil Er in ihm die ganze Natur erfchaffen wollte.
Weiter fagt Erigena,“) um die Eigenfhaft des Menſchen als
Mikrokosmus zu erklären: „das denkende Ich bringe dadurch, daß
es Dinge ſich vorſtelle, nicht blos den Begriff der Dinge, ſondern
die Dinge ſelbſt hervor, oder wenigſtens ſey, wenn man auch eine
1) III, 8. ©, 105 Mitte. — ?) HL, 45: ©. 119. — ?) HL, 16. ©, 120
gegen unten. — *) IV., 7. ©. 470 unten fig. — 9 Hid. S. 172 gegen umten.
Innerliche Bewegungen in der Kirche der fränkifchen Reiche ꝛc. 927
verſchiedene Natur beider anerfenne, der Denkende mehr als das
Gedachte. Dieß gelte jedoch in weit höherem Grade vom göttlichen
Berftande. In diefem allein thront daher der wahre und höchſte
Begriff des menjchlichen Geifted. Da nun der menfchliche Geift
und ber Begriff deſſelben im göttlichen Berftande nicht verfchieden
find, fo fann man fagen, das Wefen des Menfchen fey nichts
Anderes, als ein Begriff im Geifte des Urkünftlers, welcher Alles
ehe es wurde, im ſich felbit erfannte. Der Menſch wäre demnach
ein geiftiger, im göttlichen Verſtande von Ewigkeit beftehender Be—
griff. Hinwiederum ift im Menſchen felbft ein Begriff alles Sinn-
lihen und Geiftigen, das man denfen mag. Dieß gehört zum
Wefen des Menfchen, denn er würde nicht die Herrſchaft über Alles
befigen, wenn er nicht den Begriff von Allem in ſich trüge. Wie
im göttlichen Geifte der Begriff der Welt zugleih das Wefen diefer
Welt ausmacht, fo ift im menschlichen Geifte der Begriff der. Dinge,
die er denkt, zugleich das Wefen diefer Dinge felbft. Nun hat der
Menſch den Begriff von allerlei Berjchiedenheiten, Gegenfäsen und
Eigenfchaften der Welt, folglich find diefelben wirklich vorhanden,
weil der Menich fie denft. ) Spmit ergeben fi zwei Wahrheiten,
die ſich zu widerfprechen fcheinen: erſtlich, weil der Begriff, welcher
im Geifte des Menfchen wohnt, das Weſen der Dinge felbft ift, fo
folgt, daß auch der Begriff, Fraft deffen dev Menfch ſich denkt, fein
eigenes Weſen umfaßt; zweitens der ewige im göttlichen Geifte
wurzelnde Begriff des Menjchen ift das Weſen des Menfchen. Wie
verhalten fih nun diefe Beftimmungen? rigena jagt: 2) es feyen
zwei Anfchauungsweifen einer und derfelben Natur, je nachdem das
Weſen des Menschen nach feiner erften Urſache in der Weisheit
Gottes, oder nad den Wirkungen dieſer Urfache betrachtet wird.
Nun bleibt allerdings noch die Frage übrig, wie der theoretifche
Begriff des Menfchen, der im göttlichen Geift thront, wo Alles
Ruhe und durchfichtigfies,. veinftes Seyn oder Nichts ift, in den
praftifchen Begriff ebendeffelben übergeht, mit andern Worten, wie
aus dem philoſophiſchen Gebanfending, das Erigena Menfch zu
nennen beliebt, jener Zweifüßler wird, der auf Erben berumlauft?
Der Sfote verfennt das Gewicht Diefer Frage nicht, hüllt aber die
Antwort von Neuem in metaphyfifchen Dunft ein, indem er eine
- » Ibid, 474, — 2) Ibid, 175 Mitte.
928 Il. Buch. Kapitel 11.
doppelte Erkenntniß des Menfchen unterfcheidet. „In der uranfäng«
lichen und allgemeinen Schöpfung der menfchlichen Natur,“ fagt )
er, „vermochte Feiner fich felbft als Einzelweſen zu erfennen, weil
noch Nichts gefhieden, jondern Alles Eins war.“ Wodurch bes
ginnt aber der Menſch als Einzelwefen fich Fennen zu lernen? Ant⸗
wort: durch den Sündenfall. Die Sünde fpielt bei Erigena, wie
wir jehen werden, eine nichts weniger als theologifche Rolle. Als
wichtigfte Folge der Sünde liebt er eg, die Trennung der Men-
hen in Gefchlechter hervorzuheben. „Der urfprünglid Eine, nad
bem Bilde Gottes erfchaffene Ideal-Menſch,“ fagt er, „ift erft durch
Sünde in die Zweiheit von Dann und Weib zerfallen. Wäre diefer
Unterſchied der Gefchlechter nicht durch die Sünde entftanden, jo
würde der Menſch fih auch nicht auf bie jetzt gewöhnliche Weife,
bie er mit ben Thieren theilt, fortpflangen, ſondern er hätte fih
geiftig, gleich den Engeln, vervielfältigt. Als eine Folge derfelben
Trennung find auch alle jene zeitlihen und räumlichen, fittlichen und
körperlichen Berfchiedenheiten anzuſehen, durch welche fich die Men:
fhen fo vielfach unterfcheiden. ) Ja, der Abfall aus der Einheit
in die Vielheit hat nicht blos die Lage des Menfchen verändert,
fondern weil der Menſch Kern der Schöpfung ift, gieng der ges
jhehene Riß durch die ganze Natur hindurch. Hätte der Menſch
nicht gefündigt, wäre in ihm die Welt nicht vom Paradiefe getrennt
worden, fo würde fie felige Einheit und voll geiftigen Lebens feyn.
Durch feinen Sal erft it die ganze Welt in die jegige Mannig-
faltigfeit finnlicher Erfcheinungen auseinander gegangen.“ °) Erinnern
wir ung nun, daß laut Erigena's Behauptung das ganze All yon
Ewigkeit her im Worte Gottes begriffen feyn fol. Zum AU gehört
aber au die finnlide Welt. Sofern daher der Menſch vermöge
der Sünde diefe Sinnenwelt zur Erfiheinung brachte, hat er dem
Almächtigen in die Hände gearbeitet. Die Sünde war bie lebte
Bervollfommnung des göttlichen Plans. Erigena ſcheut fih vor
diejer Folgerung nicht, er ftellt die Sünde als etwas Nothwendigeg,
mit dem erſten Augenblid der Schöpfung Borhandenes dar. „Da
Bott,“ fagt er, ) „den Fall des Menfchen vorausſah, fehuf Er,
ehe noch Adam fündigte, die Folgen der Sünde in und mit dem
IV., 9. ©, 178 gegen unten. — ®) II., 7T. S. 49 unten, IV., 9. ©. 179
oben. — 9) IL, 9. ©. 51 Mitte. — 9 IV, 14, ©, 195 Mitte,
Innerliche Bewegungen in der Kirche der fränkiſchen Reihe c. 929 -.
Menfchen, aljo dag man mit Recht fagen fan, Das, was im Men:
ſchen gefchaffen worden, habe feinen Grund theils in der göttlichen
Güte, theils in der vorausgefehenen Sünde. Denn Gott weiß
Bieles voraus, wovon Er nicht felbft die Urfache ift, ba diefes Viele
feine. Wefenheit bat. Als weiſer Schöpfer und. Ordner läßt ber
Allmächtige die Schönheit des AUS nicht geftört werben, fondern Er
weiß aus dem Böfen des unvernünftigen Willens Gutes hervorzu—
bringen. Che alfo der Menſch fündigte, waren die Folgen der
Sünde dba, weil es überhaupt fir Gott feinen Unterfchied des Bor
und Nach, der Vergangenheit und Zufunft gibt. Auch fann man
nicht behaupten, daß Adam, ehe das Weib aus feiner Hüfte ges
ſchaffen ward, auf zeitliche Weije im Paradiefe wohnte. Hätte er
fih nur einen Augenblid ftehend erhalten, fo wäre er nothwendig zur
Bollfommenheit gelangt. Wie könnte auch der Teufel ein Menfchen:
mörder von Anfang an genannt werben, wenn er nicht den Men:
ſchen gleich bei deffen Erfhaffung ermordet hatte! Folglich gab es
feine Zeit, da Adam im Paradiefe lebte. Im Gegentheil, ehe der
Menfh vom Teufel verfuht ward, ift er durch fi) jelbft gefallen,
und eben defhalb, weil er nie im Paradiefe war, fondern von Ans
fang an daffelbe freiwillig verlaffen hatte, fonnte ibm der Teufel
die Wunde beibringen. Schon im erſten Beginn feines Daſeyns
ift Adam durch Stolz gefallen.“ ) Die Sünde gehört zum Wefen
des Menſchen, fie ift der Aft der Trennung bes Einen und Idealen
in das Biele und Wirfliche, der Uebergang der Gedanfenwelt in
bie förperliche, oder mit andern Worten ber platonifhe Abfall
ber Ideen.
Möglicher Weife könnte aber die Zerfplitterung ins Ungemeffene
ausjchweifen, jo daß die Zeitlichfeit fih ganz vom Ewigen, ihrer
Idee und Wurzel, Inszureißen verfuchte, Eben diefer Gefahr beugt
Erigena durch ein neues Gedanfending vor. Wie der Menſch dur
Berwandlung des Ewigen in dag Zeitliche entfteht, fo gibt es auch
eine Rüdfehr und Wiederverfnüpfung des Bielen in das Eine. Ein
unzerreißbares Band ift vorhanden, das die Erfcheinung mit dem
Seyn verfettet, und diefes Band ift Niemand anders als Chriſtus.
„Chriſtus befist nemlic) eine Doppelnatur: nach ber einen Seite feines
Weſens ift Er Inbegriff und Same der erften Urfachen, das an ſich
1).IV.,. 15. ©. 196 u. 197. _
®frörer, Kircheng. III. 59
930 11. Buch. Kapitel 11.
Seyn aller Dinge, aber Er ift auch zugleich Menfch, und zwar hat
Er, indem Er Fleiſch ward, bie ganze Kreatur in fi aufgenommen.“ )
Was foll nun diefe Fleiſchwerdung heißen? Antwort: fie ift die
ewige Berfnüpfung der Urfachen und Wirkungen, und eben deßhalb
fein gefchichtlicher Akt, fondern ein nothwendiges Verhältniß. „Der
Sohn Gottes,“ fagt Erigena, „wurde Menfh, d. h. Er flieg in bie
Wirkungen der Urfachen herab, um mit den Urfachen, die Er feiner
Gottheit nach ewig in fih trägt, die Wirkungen Seiner Menfchheit
ewig zu verfnüpfen. Damit es nicht bios Urfachen, fondern au
Wirfungen giebt, ift Chriſtus demnach Menſch geworden oder in bie
Sinnenwelt herabgefliegen, aber nicht blos der Wirkungen wegen
that Er dieß, fondern auch den Urfachen zu lieb. Denn würde bie
göttliche Weisheit nicht in die Wirkungen der ewig in ihr thronen-
den Urfachen fich verfenfen, fo würden die Urfachen aufhören, Ur:
fachen zu feyn, da es, wenn die Wirfungen ber Urfachen zu. Grunde
gehen, feine Urfachen mehr giebt, ebenfo wie, wenn Urfachen fehlen,
auch Feine Wirfungen gedacht werden können, weil die Einen durch)
die Andern bedingt find.“ %) Chriſtus verfnüpft jedoch nicht blos
Zeitliches und Ewiges, fondern Er ruft auch diefes Band zum Be:
wußtfeyn. „Ehe noch das Wort Fleifch ward,“ fagt ?) der Sfote,
„war daffelbe in feiner Erhabenheit über alles Seyende und Nicht:
feyende für die geiftige Kreatur, d. h. Menfchen und Engel, völlig
unbegreiflih. Erft dadurch, daß es Fleifch wurde und gleihfam herab:
ftieg, trat ed durch eine unausfprechliche Harmonie in das Bewußt⸗
feyn der englifchen und menfchlichen Natur, indem es eim erfenn-
bares Wefen annahm und die finnliche wie die geiftige Welt harmoniſch
in ſich vereinigte.“ Diefe Theophanie feiert Erigena an einer andern
Stelle +) auf feine Weife in den pomphafteften Ausdrücden: „gleich
wie die Kreatur in Gott befteht, alfo wird au Gott, vermöge
jener Theophanie, wunderbarlich und unausfprechli in der Krea—
tur erfhaffen, indem Er ſich felbft offenbart, indem der Unficht:
bare fih fihtbar macht, indem der Lnbegreifliche begreiflih, ber
Berborgene erfchloffen, der Unbekannte befannt, der Formloſe ge:
ftaltet, der Ueberweſentliche wejentlih, der Uebernatürliche natürlich,
der Einfache — — der Unendliche endlich, der rn
iy V., 25. ©. 251 unten flo. — 9 Ibid. ©. 252, — 9) Ibid, au unterſt
u. 255, — *) Ul., 18, ©. 126 gegen oben,
Innerliche Bewegungen in der Kirche der fränkiſchen Reiche x. 931
begrängt, der Meberzeitliche zeitlich wird. Alfo verwandelt ſich ber
Schöpfer in das Gefchöpf, der Ewige nimmt einen Anfang des
Seyns, der Unbewegliche bewegt fih zu Allem und wird Alles in.
Allem.“ Diefe Verwandlung fol die biblifhe Schöpfung aus Nichts
feyn. „Gott ift,“ fagt ) er, „als überwefentlih gedacht, ebenfo
gut das veine Seyn, als das reine Nichts, wenn Er aber in der
Theophanie erfcheint, wird das Nichtfeyende zum Seyenden und die
Kreatur aus Nichts erfchaffen.“
Sp fraus und fonderbar der Wortſchwall Tautet, den Erigena
zu Markte bringt, fieht man doch fehr gut, daß Das, was er mit
dem Namen Chriftus bezeichnet, eigentlich nur ein gewiſſes Berhältnig
im menſchlichen Geifte if. Sofern das Ewige Eine ſich -in eine
Bielheit yon Intelligenzen auflöst, fpricht er von Erfchaffung des
Menfchen, fofern aber dieſe Viele mit dem Einen verknüpft bleiben,
redet er von Fleifhwerdung des Worts. Gott, Chriſtus, Menſch
find Ausprüde für verfchiedene Beziehungen einer und derfelben
Sade. Es ift daher ganz folgerichtig, daß Erigena auch die Firdh:
liche Dreieinigfeit auf den offenbaren, fleifchgewordenen Gott, d. h.
den Menfchen, deutet. „Die menfchliche Seele,“ fagt ) er, „ftellt
eine dreifache Einheit darz ihr eigenftes und innerſtes Wefen ift die
Bernunft, welche fih in höchſter Bewegung mit Gott befchäftigt.
Die zweite Stufe nach der Vernunft nimmt der Berftand ein, ber
bie Teßten Gründe der Dinge nächſt Gott zu erforfchen firebt; ber
dritte Theil ift der Sinn, oder die Einbildungsfraft, welche die Wir-
fungen der erften Urfachen, oder die Welt der Erfheinung zum
Gegenftand bat.“ Erigena will 3) zwar die menfchliche Dreieinig-
feit von der göttlichen, deren Abbild fie feyn fol, unterfchteden
wiffen, aber offenbar ift dieß ein Fleiner Kunſtgriff, um die Theo:
logen zu befchwichtigen. Dben haben wir die Stelle angeführt, wo
er aufs Beftimmtefte behauptet, daß von dem reinen göttlichen Seyn
feine Eigenſchaft, feine der zehn ariftotelifchen Kategorien und folg:
ih auch die Dreiheit nicht ausgefagt werden könne. Nicht nad
feinem veinen Seyn ift daher Gott eine Dreiheit, fondern nur in
Folge der Theilung des Einen in das Viele, oder vermöge ber
Fleifchwerbung, d. h. als Menſch.
Die bisher entwidelten Lehren Erigena’s beziehen ſich blos auf
ı) IL, 19. ©. 127 Mitte. — 9 IL, 25. ©. 70. — 3) Ibid. unten.
59 *
932 . III. Bud. Kapitel 11.
das reine Seyn und auf den Abfall der Ideen aus der uranfäng«
lichen Einheit, auf Schöpfung und Sünde. Sein Syflem bringt es
jedoch mit fih, daß er auch die Rückkehr in das Eine darftellen
muß. Die Fleifchwerdung des Sohnes ift nur ber eine Aft, bie
Erlöfung der Welt durch Ihn der zweite. Der Sündenfall gebar
die Entzweiung der Geſchlechter, die Verföhnung beginnt mit dem
Verſchwinden biefes Unterſchieds. Einft kehrt Alles in den feligen
Zuftand zurüd, in dem es por der Sünde war. Dieß gefchieht durch
die Auferftehung des Fleifhes. ') „In der Auferftehung fchliegen ſich
Mann und Frau wieder zu einer Einheit, alfo daß der Menſch iſt,
was er gewefen wäre, wenn er nicht gefündigt hätte. Sodann
wird die Welt mit dem Paradiefe eins, und es ift nur das Para:
dies, hierauf wird die Erde mit dem Himmel eing, und es ift nur
der Himmel, Darnad) erfolgt die Einigung der ganzen finnlichen
Kreatur mit der geiftigen, fo zwar daß Alles in Geift übergeht.
Zulegt wird die ganze Kreatur mit dem Schöpfer eins. Letzteres ift
das Ende alles Sichtbaren und Unfidtbaren, wenn alles Sichtbare
in Geiftiges, alles Geiftige in Gott felbft verfinft Durch unausſprech—
lihe Verbindung.“ Diefe Rückkehr zur Einheit hat Chriftus als Er-
löſer durch feine Auferftehung von den Todten für ſich vollbradt,
für ung vorgebildet. Nach feiner Auferfiehung war Er gefchlechtlos.
Den Beweis biefür findet Erigena in den Worten Pauli, Gal. UL,
28.: in Chrifto Jefu ift fein Mann noch Weib. Durch
die Auferftehung warb Seine menſchliche Natur mit der göttlichen fo
vollfommen geeint, daß alle Beſchränlung des Raums, der. Zeit,
der Geftalt, des Gefchlechts wegftel. Unmittelbar nad) der Aufer:
ftehung fehrte Er in das Paradies zurüd, und war auch, fo oft Er
feinen Süngern erſchien, im Paradieſe; unter dem Paradieſe aber,
in welchem Er war, ift bie urfprüngliche Volllommenheit menſchlicher
Natur zu verfiehen, die Er in ſich wieder herftellte. Was Er nun
an ſich vollbrachte, wird Er einft, vermöge der allgemeinen Aufer-
ſtehung, an dem ganzen Menfchengefchlecht vollbringen. Erigena
befchreibt ?) bie künftige Wiederbringung auf folgende Weife: „Die
erfie Rückkehr der menſchlichen Natur ift die Auflöfung des Körpers
in bie vier Elemente der finnlihen Welt, aus denen er zufammen-
geſetzt war. Die zweite Rücklehr geſchieht durch die Auferſtehung,
N) V., 20. S. 242 Mitt, — 2)) V., 8. S. 232 Mitte fig.
Innerliche Bewegungen in der Kirche der fränkifchen Neiche e. 933
wenn Seder feinen eigenen Körper aus ber Gemeinfchaft der vier
Elemente wieder erhält; die britte, wenn der Körper fi in Geift
verwandelt; die vierte, wenn der Geift oder vielmehr die ganze
Natur des Menfchen in die erften Urfachen,. die ſtets und unver:
änderlich in Gott find, ſich auflöst; die fünfte, wenn die Schöpfung
mit ihren Urfachen fi) zu Gott bewegt, wie die Luft fich zum Lichte
bewegt. Denn Gott wird Alles in Allem feyn, wenn Nichts mehr
feyn wird als Gott allein. Diefe Veränderung ift feineswegs eine
Bernihtung der Wefen, fondern vielmehr eine Wiederherftellung in
den ursprünglichen, durch die Sünde verlornen Zuftand, eine Ber:
flärung und Bergeiftigung. — In der menfchlichen Natur ift nichts, ")
was nicht an fich geiftig wäre. Auch das Weſen des Körpers if
geiftiger Art. Deßhalb mögen geiftige Weſen recht gut ſich alfo vers
einigen, daß fie eins find, während dennoch jede ihr eigenes Für:
fihfeyn behält. Denn auch die Luft verliert ja ihr Wefen nicht, wenn
fie ganz in Sonnenlicht verwandelt wird, oder Metall, wenn es ſo
völlig vom Feuer durchdrungen wird, daß es ganz Feuer zu ſeyn
Scheint. Auf ſolche Weife muß man ſich den Uebergang der Körper
in die Seele, der Seele in den Geiſt, der geiftigen Wefen in Gott
denfen, in welchem Alles fein Endziel erreicht und eins if.“ Gleich:
wohl findet in dieſer einftigen Berflärung ein Unterfchied der Stufen,
der Gnade Statt. ?) Die ganze Menfchheit wird durch das fleifch-
gewordene Wort in ihren urfprünglichen Zuftand zurüdverfegt; aber
es giebt zwei Grade der Vollendung, einen höhern und einen nies
deren. Den einen nennt Erigena das Effen vom Lebensbaume, den
andern die Nüdfehr ins Paradies. „Die ganze, nach dem Bilde
Gottes gefchaffene Menfchheit wird in das Paradies zurückkehren,
aber nur Die, weldhe der höchſten Stufe würdig, find, werden am
Genuffe des Lebensbaumes Theil haben. Der Genuß des Lebeng-
baums aber, oder Chriſti, ift das ewige Leben, der ewige Friede,
fraft Betrachtung der Wahrheit, die eigentliche Vergöttlichung.“ Dieß
führt auf die Lehre von der fittlihen Berfchiedenheit der Menfchen,
und fomit auf die dogmatifchen Begriffe von Böfem, von Ber:
dammniß und VBorberbeftimmung. Erigena Yäugnet nicht blos eine
ewige, fondern überhaupt jede Verdammniß. „Wie kann es,“ fragt?) -
t) Ibid. 234 Mitte. — 2) V., 36. ©. 289. — 9) V., 27. ©. 257 gegen
unten,
934 III. Buch. Kapitel 11.
er, einen ewigen Tod, eine bleibende Strafe der Gottlofen geben,
da doc Chriftus Die ganze menfchlihe Natur angenommen und da:
durch erlöst hat. Wollte man behaupten, nur ein Theil der mensch:
lichen Natur kehre zu Gott zurüd, ein anderer aber bleibe für immer
in der Strafe, jo müßte man aud) fagen, daß das Wort Gottes
nur einen Theil der menfchlihen Natur angenommen und erlöst
haben follte, den andern nicht, was widerfinnig wäre“ Um feine
Behauptung von einer neuen Seite zu erhärten, fucht er !) innere
Widerfprühe in den gemeinen Begriffen von Hölle und ewigen
Sirafen aufzudeden. „Berfieht man,“ jagt er, „den Drt der Marter, -
den brennenden Schwefel, den Teuerfee, den Wurm, der nicht ftirbt,
wörtlih, fo muß man fih auch einen beflimmten Ort der Welt
denfen, in welchem die Verdammten die Strafe ihrer ewigen Ber
dammniß erleiden, und wäre dieß der Fall, fo kann von dieſem
Theile der Welt nicht gelten, was Doch zur Vollendung der Welt
nothwendig ift, nemlich daß fie in Gott zurüdfehrt. Eben deßwegen
find die verfchiedenen Arten der Strafe nicht räumlicher Natur, nicht
von der Art, daß fie innerhalb der von Gott gefchaffenen fichtbaren
Natur erfolgen, fondern die Strafe kann nur in der verfehrten
Richtung des böfen Willens und in der innern Dual des Gewiffeng
beftehen, fjofern die Flamme ber leifchlichen Begierde unauslöfchlich
brennt, und doch Das, was fie begehrt, nicht erreicht werben mag.“
Aber was ift nun dieſe verkehrte Richtung, dieſer böfe Wille? Ant:
wort: ein Mangel, eine Berfchattung, ein Abnehmen des Guten.
„Kein Menſch,“ fagt ”) Erigena, „it mehr Menſch als der Andere,
wenn ein Einzelner auch an gewifler Mißgeftalt leidet, fo ſtammt
folhe Mißgeftalt nicht aus der Natur, fondern aus einem Berberb:
niß, aus dem Hinzutreten von etwas Aeußerlihem und Zufälligem.
Ebenjo verhält es ſich mit den geiftigen Kräften. Alle Menfchen
haben eine und diefelbe Bernunft, aber nicht Alle machen den rechten
Gebrauch von ihr. Der verkehrte Wille, durch welchen das Böſe
entfieht, gehört nicht zum Wefen des Geiftes, er ift etwas Zu:
fälliges und als folches ein Nichtfeyendes, Die Sünde hat nicht in
der Natur ihren Grund, fondern in der Willführ. Urſache ber
Sünde ift im Engel, wie im Menfchen der eigene verkehrte Wille,
Eine Urfache des verkehrten Willens felbft aber gibt es nicht: das
9,28 ©. 264 unten u. V. 29. ©. 265. — 2 V. 31. ©. 2369.
Innerliche Bewegungen in der Kirche der fränkiſchen Reiche ꝛc. 935
Gute kann nicht Urſache des Böſen ſeyn, darum fehlt dem Böſen
alle Urſächlichkeit. Daher denn das unerklärliche Räthſel, daß ber
böfe Wille im Menfhen und Engel, obgleich ex felbft feine Urſache
bat, dennoch die wirfende Urſache der Sünde und ihrer Strafe ift.
Wenn Jemand behauptet, Stolz fey die Wurzel aller Sünde, fo möge
er wiſſen, daß Stolz felbft ein Nichts ift, denn er ift fein Wefen,
feine Tugend, Fein Wirken, nichts Natürliches, fondern ein Mangel
der Tugend, eine verfehrte Begierde.“ An einer andern Stelle
drückt Erigena denfelben Gedanfen auf andere Weife aus, indem
er fagt: ) „der göttliche Geift hat feinen Begriff von Böſem, denn
wenn er ihn hätte, würde das Böſe wefenhaft beſtehen und nicht
der Urfächlichfeit entbehren. Nun hat aber das Böſe Feine Urfache,
darum gehört es nicht in die Reihe der gefchaffenen Dinge und ift
vom göttlihen Bewußtſeyn ausgefchloffen.“ Folgerichtig fagt ?) daher
Erigena an einem dritten Orte: „die Unterfuchung über den Ur:
fprung des Böſen fomme auf die allgemeine Frage zurüd, warum
es fowohl Seyendes als Nichtfeyendes gebe, oder warum Gott Ur:
heber einer aus Nichts gefchaffenen Welt fey.“
Man fieht: das Böſe foll nach der Meinung Erigena’s nichts
Anderes feyn, als die von jedem endlichen Seyn ungertrennlichen
Schranfen und Schatten. Aber auch diefe Mängel des Lichts er-
fheinen nur auf einem gewiffen Standpunfte als folde.
Der Sfote fagt, ?) „auf zwei verfchiedene Weifen könne man bie
Welt betrachten: wenn man einzelne Theile, oder wenn man
Das Ganze ins Auge faffe. Wer nun zu Lesterem befähigt ift, vor
deſſen Blicke verfehwinden jene feheinbaren Mißtöne und werben zur
Harmonie. Alles, was man Uebel, Sünde und Strafe heißt, be:
ſteht nur für Den, der am Einzelnen Flebt, in der Einheit betrachtet,
löſen ſich alle Gegenfäge in Schönheit auf. Selbft die Hölle ift nur
für die Bofen bife, in der Ordnung des Ganzen aber gut, Nichts
durchaus Schlimmes gibt es in der Natur, was in einer Hinficht
böfe ift, wirft in anderer gut, Fehler werden durch Tugenden ge:
tilgt oder in Tugenden verwandelt. +) Freilich ift diefe Betrach—
tungsweife, welche in der Fünftigen Welt Allen eröffnet werden fol,
jegt noch das Eigentum Weniger. >) Selig aber find diefe Wenige,
V., 27. © 259 unten. — 9 V., 33: ©. 275 Mitte — °) V., 35.
©. 275 untere Mitte, — 9 V., 56, ©. 285 Mitte. — °) Ibid. 282 unten flg.
996 I. Buch. Kapitel 4.
welche die Schöpfung mit einem Blicke überfchauen, ihr Urtheil irret
nicht, weil fie Alles nad) der Wahrheit betrachten; felig find fie,
denen in ber Geſammtheit nichts anſtößig, nichts feindlich erfcheint,
weil fie fi) nicht an das Einzelne, fondern an das Ganze halten. ')
Bon diefen Auserwählten gilt der Spruch des Apoftels: Der geiftige
Menfh ridhtet über Alles, wird aber jelbft von Nie-
mand gerichtet.“ Dieß ungefähr find die Hauptgedanfen *) der
Schrift des Sfoten über die Theilung der Natur. |
Neues bat Erigena wenig. Das Meifte ift, wie wir früher
bemerften, aus dem Erflärer des Areopagiten, Maximus, 3) entlehnt.
Staunen muß man aber über die kecke Sophiftif, mit welcher er
diefes byzantinifhe Erbe den Abendländern vorhält. Auch feine
Sprache trägt das Gepräge des byzantinifchen Vorbilds, fein Latein
ift mit metaphyſiſchen, aus dem Griechifchen überfegten, Ausdrüden
überfättigt. Merkwürdiger als Inhalt und Form feiner Gedanken
fcheint ung die Stellung, welche Erigena der Kirchenlehre gegenüber
einzunehmen fich erlaubt. Der Sfote verläugnet beinahe den ganzen
Glauben feiner Zeit, nur im Artifel von den Testen Dingen nähert
er fi dem Wortfinne der Bibel oder der Väter in Etwas. Gleich:
wohl wagt er es, feine metaphyſiſchen Site in das Gewand dogma—
tiſcher Begriffe einzuhüllen, während er doch unter Gott, Chriſtus,
Dreieinigfeit, Welt, Schöpfung, Menſchwerdung etwas ganz Anderes
fih vorſtellt, als was die Kirche dabei dachte. Genau befehen ift
daher feine Neligionsphilofophie eine free Verhöhnung des öffent:
lichen Glaubens. Eine folde Erſcheinung ift felten vereinzelt, denn
nicht Teicht wagt es Jemand, offen 'einer eingeführten Lehre zu
trotzen, wenn er fich nicht eines Rückhalts bei Andern verſichert
weiß. Sch fehe daher in dem kecken Auftreten des Sfoten einen
Beweis, daß die Erfchitterungen, welche um die Mitte des neunten
Zahıhunderts Staat und Kirche aus den Fugen vifen, auch den
Glauben unterwühlt hatten. Viele müffen damals an der Dogmatif
gezweifelt haben. Man erinnere ſich an die oben angeführte Stelle *)
aus dem Buche des Florus, wo dieſer Diafon von dem Aufjehen
Spricht, das Erigena’s ee über die Prädeftination erregte, und
nn nn
') Ibid. ©. 284 Mitte. — 9) Man vergleiche über Erigena „Baur, die
riftliche Lehre von der Dreieinigfeit, IT., 274—544, welches Buch wir benügt
haben. — 3) Ibid. 263 fig. — 9 ©. 873.
Innerliche Bewegungen in der Kirche ver fränkiſchen Reiche x. 937
dann bemerft: „Einige feyen durch die kecken Behauptungen bes
Mannes zu Zweifeln verleitet, Andere fortgeriffen und von dem
Skoten fo bezaubert worden, daß fie die Heilige Schrift und
die Bäter für Nichts adhten.“ Die Parthei, auf deren Bei:
fall oder Schuß Erigena rechnete, ſcheint befonders am Hofe ftarf
gewefen zu feyn, doch gewann fie nie die Oberhand. Vom Clerus
und der überwiegenden Mehrheit der Zeitgenoffen wurde Erigena
als Ketzer angefehen und gehaßt. In einem noch vorhandenen
Briefe ) an Karl den Kahlen bezeichnet Pabſt Nifolaus den Skoten
als einen Menfchen, der zwar viele Kenntniffe, aber nicht den
rechten Glauben habe, und ftellt die Forderung, der König möge
denfelben nach Rom ausliefern, oder ihn wenigſtens von ber Parifer:
ſchule, deren Vorſteher Erigena bisher gewefen, entfernen, damit
er nicht länger im Stande fey, Unfraut unter den Weizen des reinen
Evangeliums zu füen, und Denen, welde Brod ſuchen, Gift zu
reihen. Die gleiche Mißſtimmung gegen ‚den Sfoten erhielt fich auch
in den folgenden Jahrhunderten. Weil die Sefte der Albigenfer
das Buch von der Theilung der Natur gegen die Katholifen be:
nüste, gab Pabſt Honorius DI. Befehl, die Handfchriften, die man
finden könne, zu jammeln und ins Feuer zu werfen, ) Auch Wil:
beim von Malmesbury, fonft Bewunderer feines Landsmanns, meint:
in dem eben genannten Buche finde ſich Vieles, was vom Fatho:
liſchen Glauben abzumeichen fcheine, wenn man es nicht mit größter
Borfiht Iefe. 9) rigena bat daher auf die theologiſche Bildung
des Abendlandeg feinen oder wenigftens einen kaum fichtbaren Ein:
fluß geübt. Ueber feine fpäteren Schidfale Herrfcht großes Dunkel.
Der Bischof Affer von Sherburn, Zeitgenoffe und Lebensbefchreiber
des Königs Alfred des Großen, berichtet: *) diefer Fürft habe aus
Frankreich zwei ausgezeichnete Gelehrte, Grimbald und Johann,
Beide zugleich Presbyter und Mönche, in fein Neich berufen. Tiefer
unten evzählt ®) ebenderfelbe: der Presbyter und Mönch Johann,
von Geburt ein Altfachfe, fey vom König Alfred zum Abte des
neugegründeten Klofters Athelney erboben, aber bald darauf durch
1) Abgedruckt Bulaeus histor. universitatis Parisiensis I,, 184 oben. Der
Brief fällt in das Jahr 859 oder 860. — 9 Die Beweife histoire litteraire
de la France V,, 423, — 3) Die Stelle abgedrudt bei Gale auf der zweiten
Seite der testimonia. — #) Asserius annales rerum gestarum Aelfredi ee
Fr. Wise Oxon. 1722. 8t0. ©. 47. — ) Ikid. ©, 61 fig.
938 IM. Buch. Kapitel 11.
unzufriedene Klofterbrüder umgebracht worden. Die nächfte Frage
ift, ob der Mönch und Presbyter Johann, welchen Alfred nad) Eng:
land berief, derfelbe fey mit dem Mönd und Presbyter Johann,
der als Abt von Athelney einen gewaltfamen Tod fand. Aus
Aſſer's Worten kann man diefe Vorausſetzung nicht erweifen, doch
muß man zugeben, daß fie eine überwiegende Wahrfcheinlichkeit für
fih hat. Bejaht man fie, fo fann unter dem Abte Johann nicht
der ung befannte Johann Erigena verftanden werben, denn Affer
bezeichnet jenen aufs Beftimmtefte als einen Altfachfen, während
‚alle gleichzeitige Duellen einftimmig ausfagen, daß der am Hofe
Karls angeftellte Erigena dem ffotifchen oder celtifchen. Stamme
angehörte. Gleichwohl haben eine Reihe englifcher Kirchengefchicht-
jchreiber aus dem fpäteren Mittelalter, wie Ingulf, Simeon
von Durham und Wilhelm von Malmesbury, offenbar
auf die angeführten Zeugniffe Affer’s geftügt, unfern
Erigena und den von Alfred berufenen Priefter- Mund Johann für
eine und dieſelbe Perfon gehalten, indem fie erzählen, Erigena ey
um 880 einem Rufe Alfred’s nad) England gefolgt, Mit Mabil:
Yon !) und den Berfaffern der Gelehrten: Gefhichte Frankreichs ?)
halten wir dieſe Angabe für irrig und pflichten der Meinung bei,
daß Erigena bis an fein Ende in Neuftrien blieb und bafelhft um
875 geftorben if.)
Raſcher Berfall des Staats und der bisher beftandenen Ber:
faffung offenbart fich überall in den Verhältniſſen der Kirchenlehrer
zu einander wie in ihren Streitigfeiten. Ein Leberblid der allge:
meinen Firchlichen Zuftände zeigt, warum Meinungen, wie Die, welche
Paſchaſius verfocht, den Sieg erringen mußten. Im Gottesdienft,
in der Kirchenzucht, im Gerichtswefen, im täglichen Leben nimmt
die Richtung aufs Mebernatürlihe, Magifche, auffallend überhand.
Es ift daher in der Ordnung, daß auch die Lehre dem gleichen
Antriebe folgte. Als eine natürliche, dem Geifte des Jahrhunderts
entiproffene Frucht erfhienen die Anfichten, welche der Abt von
1) Acta Ord. S. Bened, IV., b. ©. 514 fi. — 9) Histoire litteraire
vol. V., 418, — 9) Ueber Erigena haben zwei Neuere Monographien gefchrie:
ben, der Däne Hort: „Sohannes Scotus Erigena, oder vom Urſprunge einer
ehriftlichen Philoſophie.“ Kopenhagen 1823. 8to, und der Deutfhe Fr. A.
Staudenmaier: „Johannes Scotus Erigena und die Wiſſenſchaft feiner
Zeit.“ 1. Th. Franffurt 1834. 810. Beide find fenrige Lobredner ihres Helden,
Innerliche Bewegungen in ber Kirche der fränfifchen Reiche c. 939
Corbie über das Saframent des Altars und die Entbindung Mariens
vortrug. Vergeblich hatten Bifchöfe, wie Claudius von Turin und
Agobardug, gegen die Anbetung der Heiligen, vergeblich Concilien,
wie das von Frankfurt (794) und Paris (825) gegen Uebertreibung
dieſes Dienftes geeifert oder Beichlüffe gefaßt: die Verehrung der
Heiligen und die Begierde nad ihren Neliquien wird feit dem Ber:
falle des Reichs an Umfang und Eifer immer ausjchweifender.
Die abentheuerlihften Dinge fommen unter dem Namen yon Reli:
quien zum Borfchein. Der Abt Angilbert von Centula, ber
furz nad Karl dem Großen ftarb, zählt ) aus der Schatzkammer
feiner Kirche folgende Gegenftände auf: Stüde vom Kreuze, vom
Kleide des Herrn, von Seinen Sandalen, von Seiner Krippe, vom
Schwamm, der bei der Kreuzigung diente, Waſſer aus dem Jordan,
in dem Er getauft wurde, Stüde von dem Felfen, auf dem ber
Herr faß, als Er die fünftaufend Menichen fpeiste, vom Brode,
das Er den Jüngern austheilte, Stüde vom Tempel zu Jeruſalem,
von ber Kerze, die bei der Geburt Chrifti Teuchtete, Erde vom Del-
berg, wo ber Herr betete, vom Berge, wo Er verflärt ward, Stüde
von Seinem Tifche, von der Säule, an welder Er gegeißelt ward,
von den Binden, mit welchen Nifodemus und feine Freunde bie
Leiche des Erlöjers ummwanden, Trümmer des Felfen, von welchem
aus Er das Kreuz beftieg, vom Galvarienberg, Stüde von den
Nägeln, mit denen fie Ihn and Kreuz fchlugen, Tropfen von ber
Galle und dem Eſſig, mit dem fie Ihn tränften, Splitter von dem
Geftein, auf das Sein Blut flog, Trümmer vom heiligen Grabe,
yon dem Stein, der auf daſſelbe gemwälzt warb, fowie von dem
Grabe der unfhuldigen Kinblein, vom Berge Horeb, von dem Hole
ber drei Hütten, °) Tropfen von der Milch der heil. Jungfrau
Maria, Haare ebenderfelben, Stüde yon ihrem Kleide, ihrem Ober:
gewand, Haare vom Barte des heil. Petrus, Trümmer von feinen
Kleidern und feinem Tifche, Stüde vom Kreuze des heil. Andreas,
vom Manna des heil. Evangeliften Johannes u. ſ. w. Angilbert
vergißt nicht zu bemerfen, 3) dieſe und Ähnliche Seltenheiten feyen
aus Italien, Teutfchland, Burgund, Gallien, bauptfächlich jedoch
') Bei Mabillon Acta Ord, S. Bened. IV., a. ©. 108 unten fly. —
2) Welche die Jünger auf dem Berge der Berffärung bauen wollten. —
3) Ibid. ©, 108 Mitte.
940 IT: Buch. Kapitel 11.
aus Conftantinopel, Jerufalem und Rom zufammengebracht worden.
Am meiften nahm die Begierde nad) Reliquien römifche Großmuth
in Anfprud. In einem Briefe ) an den Erzbifhof Digar von
Mainz Hagt Pabſt Gregor IV., daß in Nom fein unverfchenfter
Heiligenleib aufzutreiben fey. Doch füllte fi der Vorrath bald
wieder, denn die Catakomben boten einen unerſchöpflichen Schag
von Knochen, die man irgend welchen Heiligen zuzufchreiben nicht
ermangelte. Rudolf, ein Schüler des Mainzer Erzbifchofs Rabanus
Maurus, erzählt °) folgende Gefchichte: Um die Mitte des neunten
Jahrhunderts fam der römifche Diakon Deusdona mit feinem
Bruder Theodor, einem Laien, nad Teutfchland herüber, unter
dem Borwand, bei dem Könige Franciens (Lothar) eine gewiſſe
Angelegenheit zu betreiben, in der That aber, um Reliquien, bie
er zufammengefcharrt, an Mann zu bringen. Schon unterwegs gab
er an eine Dorffiche im Thurgau einige Knochen des Märtyrers
Alerander ab; fo wie Dieß befannt wurde, eilten Befeffene und
Siehe herbei, worauf Wunder gefchahen. Den Haupthandel aber
machte Deusdona mit Nabanus, dem damaligen Abte von Fuld.
Die Klofterkirche erhielt von dem Römer eine Rippe und einen Fuß
bes heiligen Pabſts und Märtyrers Alerander, einen Arm Des
Diafon Feliciſſimus, das Haupt der heiligen Conkordia,
einen Theil von den Gebeinen der apoftolifchen Bäter Fabianus
und Urbanus, einen Fuß des feligen Caftulug, einen Zahn bed
heiligen Sebaftian u. f. w., jedes Stüd in einem befondern Sad
forgfältig verpadt. Der Römer warb mit einer anfehnlichen Geld:
fumme bedacht, was ihn laut der Berficherung Rudolf's jo rührte,
bag er nächſtens mit einer neuen Sendung wieder zu kommen
verſprach. d
Schon zu Ende des achten Jahrhunderts war die Zahl der
Heiligen, an die man Gebete richtete, oder die man als Schuß:
götter einzelner Kirchen, Städte, Kiöfter, Dörfer verehrte, fo ange:
ihwollen, daß Karl der Große für gut fand, auf der Frankfurter
Synode (794) den Beſchluß durchzuſetzen, *) man folle hinfort Feine
neuen mehr anrufen, noch ihnen Kapellen an den Straßen errichten.
1) Abgedruckt Mabillon annalecta, Folioausgabe ©. 570 b. Mitte. —
2) Bet Mabillon Acta Ord. S. Bened, IV,,.b. ©. 4 flg. — 5) Can, 40. Ba-
luzius capitular, I., 269 Mitte.
Innerliche Bewegungen in ber Kirche der fränkiſchen Neiche ꝛc. HA
Eilf Jahre fpäter milderte er dieſes Verbot dahin, ) daß nur mit
Genehmigung des Bifhofs neue Heilige verehrt werden biürfen.
Was er in leßterem Gefege verordnete, war im Grunde der uralte
Kirhengebraud. Schon Cyprian fehreibt *) an feinen Clerus: „zeich
net die Todestage der Befenner (welche im Gefängniffe ftarben) auf,
damit ihr Name mit denen der Märtyrer in den öffentlichen Ge:
beten gefeiert werde.“ Jeder Biſchof trug die Namen folder Ge:
forbenen, die er für Heilige hielt, in das Gedenkbuch der Kirche
ein, und von Nun an wurden biefelben verehrt. So blieb es big
zu Ende des zehnten Jahrhunderts, um welche Zeit die Päbfte fich
bie Seligfprechung verbienter Todten im Namen der. ganzen Kirche
vorzubehalten begannen. Hievon fpäter. Die Maffe der Heiligen
vief das Bedürfniß allgemeiner Verzeichniſſe derjelben hervor. Eine
Reihe folher Sammlungen entftand im Laufe bes achten und neunten
Sahrhunderts. Meift mit dem Chriftfeft, nad der Weife des da:
maligen Kalenders, beginnend, führen fie in größerer oder ges
ringerer Bollftändigfeit die Namen der Heiligen auf, die an jeglichem
Tage verehrt werden. Die zwei älteften und kürzeſten Martyrolos
gien — fo nannte man dieſe Verzeichnifje — find das des Beda
und das fogenannte calendarium romanum. ?) Beide gehören noch
ins achte Jahrhundert. In den Anfang des neunten fällt allem
Anſchein nah das Martyrologium von Aquileja, welches Abo *)
von Vienne dem feinigen vorangeftellt hat. Um 840 vermehrte ber
ung befannte Diafon von Lyon, Florus, Beda's Martyrologium
mit eigenen ſehr bedeutenden Zufägen. ?) Ungefähr zur felben Zeit
trugen der Mönch im Klofter Prüm, Wandelbert, und Ra:
banus Maurug, Jener in lateinischen Berfen, ©) Diefer in Profa,”)
Heiligenverzeihniffe zufammen. Reicheren Stoff °) als feine Vor—
N Capitulare secundum anni 805 can. 17 bei Baluzius I., 427 Mitte. —
2) Epistol. 37 ad clerum Opp. edit. Paris, 1726. Fol. ©. 50 Mitte. —
3) Letzteres abgedrudt Fronto epist. et dissert. ed. Fabrieius. Hamburg 1720.
810. ©. 151 flg. — *) Abgedruckt in Ado's Martyrologium ed. Georgi Vorſtück.
S. 28 flg. Mit, Unrecht wird hier dieß Martyrologium für ein römifches aus—
gegeben. Daß es nach Aquileja gehöre, beweist Valeſius am Ende feiner Aug:
gabe des Euſebius. — 9) Abgedrudt Acta Sanet. Bolland. Martius Vol, II,
5 flg. — °) Abgedruckt bei d’Achery Spicil. neue Ausgabe Vol. II, 39 fig. —
?) Abgedrudt Opp. ed. Colvener Vol, VI., 179 fig., noch) beſſer bei Canisius
leet, antiq. ed. Basnage II, b. ©, 314 flg. — °) Am Beften herausgegeben
von Dom. Georgi, Rom 4745. Fol. |
942 IT. Bud. Kapitel 11.
gänger fammelte der Erzbifchof Ado von Vienne, welcher 875 mit
Tod abgieng. Gegen Ende bes Jahrhunderts erfchienen noch zwei
andere Mariyrologien. Das eine hat den um 877 geftorbenen Bruder
Ufuardus aus dem Klofter St. Germain in Paris zum Verfaffer, )
bas andere ?) fchrieb der St. Galler Minh Notfer um 894.
Die Zahl der bisher beftandenen Feſte genligte dem Glaubeng-
eifer nicht mehr. In dem kurzen Zeitraum zwifchen den Sahren
814 und 860, oder vom Negierungsantritt Ludiwigs des Frommen
bis zum völligen Verfall des Caroliniſchen Neiches find nicht weniger
als vier große Jahresfefte eingeführt worden. Der Beweis hiefür
läßt fih auf eine befriedigende Weife führen. Ein Gefeg Karl's
des Großen, das Anfegis feiner Capitularen- Sammlung einverleibt
bat, verordnete, °) daß folgende Tage feftlih begangen werden
jollen: Weihnachten mit den drei nächften Tagen des heil. Stepha—
nus, Johannis des Evangeliften, der unſchuldigen Kindlein, die
Dftave des Herrn (Feſt der: Befchneidung), das Erfcheinungsfeft
mit feiner Dftave, die Reinigung Maria’s, Dftern mit der ganzeır
Woche, Himmelfahrt, Pfingften, die Tage Johannis des Täufer,
Petri und Pauli, der Heiligen Martinus und Andreas. Zu den
bier aufgezählten allgemeinen Feften kamen nun folgende vier hinzu:
das Felt der Geburt Maria's am 8. September, die Kirchweihe
des Erzengeld Michael am 29. September, das Feſt der Himmel:
fahrt Maria’s am 15. Auguft und das Felt aller Heiligen am
1. November. Aus der zweiten Predigt ) des Byzantiners Andreas,
ber um 720 als Erzbiſchof von Greta farb, geht hervor, daß die
Geburt Mariens ſchon im fiebenten Jahrhundert von der morgen:
ländifchen Kirche gefeiert worden iſt. Von Lateinern gedenft diefer
Feier zuerft der oben angeführte vömifche Kalender, ) wo fie als
eine Yängft beftehende Gewohnheit erfcheint. Im fränfifchen Neiche
wurde fie erit unter Ludwig dem Frommen eingeführt. Die Mar:
tyrologien des Florus, Rabanus, Wandelbert, Ado von Vienne
verjegten fie einftimmig auf den 8. September. 6) Leber den Aus:
gang der heiligen Jungfrau trug fih ſchon die alte Kirche mit
1) Abgedruckt Acta Sanctor. Bolland. Janius Vol. VI. u. VII. — ?) Ab»
gedruckt bei Canisius lect. antig. ed. Basnage M., c. ©. 89 flg. — °) Capi-
tul, I., 158, Baluziug I., 752 Mitte. — *) Abgeprudt bei Gallandius Bibl,
Patr. XII, 93 fig. — 9 Fronto a. a. O. ©. 226 Mitte, — 9%) Man fehe
die Note Georgi's zu Ado von Vienne S. 457 unten.
Innerliche Bewegungen in der Kirche der fräntifchen Reiche ꝛc. 943
allerlei Sagen. Epiphanius glaubt !) aus zwei Bibelftellen auf ein
außerordentlihes Ende der Mutter Gottes fchließen zu müfjen. Die
Worte Simeon’s an Maria (Luk. IL, 35.): ein Schwert wird
burd deine Seele dringen ſchienen einerfeits, meint er, zu
beweifen, daß die Jungfrau geftorben fey. Aber man werde an
biefev Meinung wieder irre, wenn man ben Ausfpruch der Offen:
barung Johannis erwäge, wo es heißt (Apocal. XII., 13, flg.):
ber Drade brach los gegen die Frau, welde ben
Knaben geboren hatte, da wurden aber derfelben
Flügel gegeben, gleih denen eines großen Adlers,
damit fie in die Wüfte flüge an ihren Drt, Epiphanius
gefteht, im Zweifel darüber zu feyn, ob man aus letzterem Satze
nicht den Schluß ziehen folle, dag Maria den Tod nicht gefchaut
habe, Spätere waren weniger ängftlih. Im Laufe des fünften
Jahrhunderts fam unter dem Xitel transitus Mariae eine apokry⸗
phiſche Schrift zum Borfchein, worin der wunderbare Tod der
Mutter des Herrn und die Verſetzung ihrer Leiche in das Paradies
erzählt wird. Pabſt Gelafius erflärte 2) zwar, in feinem berühmten
Erlaß über den Canon, diefes Bud) für unächt, gleichwohl fand die
Fabel mehr und mehr Glauben. Gregorius von Tours ftellt ®)
fie als ausgemadte Thatfache Hin. Laut dem Zeugniß des Nice
phorus Salliftus *) ordnete fchon Kaifer Mauritius (582— 602) ein
befonderes Feft zu Ehren des Todes der Jungfrau in der griechifchen
Kirche auf den 15. Auguft an. Diefe Ausfage des Byzantiners
wird durch eine noch vorhandene Predigt °) des oben erwähnten
Andreas von Creta beftätigt, welche den wunderbaren Hingang ber
Gottesgebärerin verherrliht. Daß bie römifche Kirche im. achten
Sahrhundert den Tod Maria’s am gleichen Tage begieng, erſieht
man aus dem römischen Kalender. 9) In demfelben Zeitraum feierten
auch die Franken ein Todesfeft der Jungfrau, aber nicht auf ben
15. Auguft, fondern am 18. Januar. 7) Eine. Feier ihrer Himmel:
fahrt war jedoch im Abendlande vor dem neunten Jahrhundert noch
nicht üblich. Das oben angeführte Gefe läßt die Frage unents
1) Haeres. LXXVIM., $. 11. Opp. ed. Petavius I., 1043 unten flg. —
2) Manft VII, 451 gegen oben. — ®) De gloria. Martyrum J., 4 Opp. ed,
Ruinart, ©. 724. — +) Kirchengefihichte XVIL, 28. — °) Bei Gallandiug
a. a. O. ©. 147%. — 9) Fronto a a. O. ©. 221 unten. — 7) Den Beweis
bei Mabillon de liturgia gallicana ©, 118.
944 | II. Bu. Kapitel 11.
fhieden, ob man die Himmelfahrt der Mutter Gottes feiern: folle
oder nicht? Denn es fährt nach den bereits mitgetheilten Worten
fo fort: „Die Feier der Himmelfahrt Maria’s wollen wir einer
weiteren Unterfuchung anheimftellen.“ Die Mainzer Synode vom
Jahr 813 dagegen befahl allgemeine Begehung. In ihrem S5öflen
Beichluffe ) nennt fie außer den Tagen, deren das Geſetz Karl's
gedenft, auch Mariä Himmelfahrt, als eine Feier, welche für bie
ganze Kirche gelte. Dennoch wurde dieſes Felt damals in Italien
und Rom noch nicht gefeiert. Denn der Bibliothefar Anaftafius
meldet, 2) erft Leo IV. (847—855) habe die Begehung der Himmels
fahrt zu Nom angeordnet. Selbft feitdem war das Feft im fräns
fiichen Reich noch nicht überall eingeführt: Der Biſchof Hunfried
von Terouanne bedurfte eines Mirafels, um im Jahr 862 feine
Gemeinde zu Begehung der Himmelfahrt Mariens zu bewegen. ?)
Im achten Jahrhundert, vielleicht noch früher, verbreitete ſich
die Sage, daß der Erzengel Michael auf dem Berge Garganus,
der in Campanien liegt, erfchienen fey und die Errichtung einer
Kirche in einer dort befindlichen Höhle anbefohlen habe. Seitdem
wurde zu Ehren des heil. Michael in einzelnen Drten Jtaliens ein
Feft gefeiert. Im neunten Jahrhundert verbreitete fich daſſelbe aud)
nah Franfreih. Diefelbe Mainzer Synode, welde bie Himmel:
fahrt Maria's einführte, ordnete auch die allgemeine Begehung ber
Kirchweihe Michael’ an. Diefe VBorfchrift wurde befolgt. Simmts
liche fränkiſche Martyrologien des neunten Jahrhunderts führen die
Kirchweihe des Erzengeld Michael unter dem 29. September auf. *)
Die griehifche Kirche feierte fihon im vierten Jahrhundert am
Sonntage nad Pfingftien ein Feft aller Heiligen. ?) Im Abendlande
fand daffelbe erft fpäter Eingang. Daß es zu den Zeiten Karl's
des Großen in Stalien gefeiert wurde, ift gewiß. Alkuin juchte es
auch den Franken zu empfehlen. In einem feiner Briefe %) ermahnt
er- den Erzbifchof Arno von Salzburg dringend, daß er dieſes Felt
alljährlich begehen möge. Der Nuten, meint er, fey augenfcheinlid.
Denn wenn fchon der einzige Elias durch die Kraft feines Gebete
) Manſi XIV., 75 Mitte. — 2) Vita Leonis IV., $. 26. Vignoli IM.,
83. — 3) Hincmari annales ad annum 862. Perz I., 458 oben. — 9 Man
fehe die Bemerkungen von Georgi in feiner Ausgabe Ado's ©. 503 flg. —
5) Siehe den zweiten Band diefes Werks ©, 754. — °) Epist, 76. Opp. ed.
Froben I,, 112 fig.
Innerliche Bewegungen im der Kirche der fränkiſchen Reiche x. 045
Belchrten den Himmel öffnen Fonnte, wie viel mehr werden bieß
die Fürbitten aller Heiligen vermögen! Alfuin’s Wunfh wurde
jedoch erft unter dem Sohne Karl’s des Großen verwirklicht. Ado
von Vienne berichtet, ) daß Ludwig der Fromme auf Antrieb deg
Pabfts Gregor IV. die Feier des Feftes aller Heiligen ſämmtlichen
Kirchen feines Neiches auf den erfien November anbefohlen habe.
Auch der Kreis gottesdienftliher Handlungen ward in unferem
Zeitraum erweitert, Neue Gebräuche famen auf, ältere erhielten
eine feierlichere Geftalt. Schon in der Urkirche herrfchte die Sitte,
Kranfe mit geweihtem Dele zu falben. Geftügt auf den Ausfprud)
des Apoftels Jakobus (V, 14.): ift Jemand unter euch franf,
der laffe die Presbyter rufen und ſich falben mit Dele
im Namen des Herrn, glaubte man, daß die Anwendung des
Deles Genefung wirfe. Die Priefter mußten daher mit Dele für
bie Kranfen verſehen feyn, das die Biſchöfe für dieſen Zwed zu
weihen pflegten. Der teutfche Apoftel Bonifacius giebt folgende
Vorſchrift:) „Alle Presbyter follen Del für die Kranfen vom Bi:
jchofe verlangen und ftets bei fih haben, damit die Leidenden mit
demfelben gefalbt und dadurch geheilt werden mögen.“ Allmählig
trat jedoch der ärztlihe Gebraudh des Krankenöls in den Hinter:
grund, um einer myftiihen Bedeutung Raum zu maden. Paſcha—
ſius Ratbertus erzählt: ?) als der Abt Adalard von Korbie auf
dem Todtenbette lag, hätten er und feine Freunde Anftand genommen,
ihm die Delung anzubieten, weil ihnen befannt gewefen fey, daß auf,
bem Gewiſſen des Abts Feine Sünde lafte. „Gleichwohl,“
fährt Ratbert fort, „verlangte Adalard, auf unfere Frage, begierig
nad dem Dele, und brach, nachdem er es empfangen, in die Worte
aus: nun fterbe ich getroft, weil mir alle Saframente Deines Ge:
heimniffes o Herr! zu Theil geworben find.“ Hier erfcheint das
Del als myftiiches Meittel, das nicht fowohl die Krankheiten des
Leibes, als vielmehr die Schäden der Seele heilt und die Schreden
bes Todes verfcheucht. In ähnlichem Lichte betrachtet Die Salbung
der Kranfen aud eine unter Kaifer Lothar zu Pavia im Jahr 850
gehaltene Synode, indem fie die Delung für ein hochwürdiges Sa—
) ©. 555 der Ausgabe von Georgi. — 2) Epist. Bonifacii ed. Würt-
wein ©. 442. Nro. 29. — 3) Vita Adalardi cap. 80 bei Mabillon acta ord.
S. Bened. IV., a. ©. 517 unten flg.
Efrörer, Kircheng. TIL 60
96 | II. Buch. Kapitel 11.
frament erklärt, Y) welches Vergebung der Sünden und Gefundheit
des Leibes wirke, zugleich aber auch verbietet, ſolche Kranke zu fal-
ben, welche unter dem Banne ftehen. Als Grund wird angegeben,
dag „wer von ben übrigen Gnadenmitteln ausgefchloffen fey, auch
das Saframent des Dels nicht genießen dürfe.“ Man fieht:
der Weg zu demjenigen Begriffe der legten Delung, welcher feit
dem zwölften Jahrhundert durch die Scholaftifer ausgebildet wurde,
war bereits im neunten angebahnt, Während auf diefe Weife ein
neues Saframent fich zu bilden beginnt, erhält ein älteres durch
einfchleichende Mißbräuche größere Ausdehnung Bis auf die Zei:
ten Karls des Großen herab wurde das Abendmahlopfer und die
Meffe nur vor verfammelter Gemeinde gefeiert. Allmählig aber
hatte der Glaube an die zauberifche Kraft des Saframents zur Folge,
daß ftilfe, d. h. ſolche Meffen auffamen, welche der Priefter ohne
Anmwefenheit des Volks für fich zum Seelenheile irgend eineg
Menfchen Tiest. Die Mainzer Synode vom Jahr S13 verbot dieſen
Gebraud. „Kein Presbyter,“ heißt es?) in ihrem Aäften Befchluffe,
„soll die Meffe für fich allein Iefen. Denn wie Tann er fprecdhen:
ber Herr fey mit euch, oder: empor die Herzen gerichtet,
wenn Niemand außer ihm zugegen ift.“ Auch das Gte Parifer Con:
eil vom Jahre 829 nennt 3) die ftille Meſſe einen Mißbrauch, den
Nachläßigkeit und Geiz der Priefter eingeführt habe. Dennocd ward
das Uebel nicht ausgerottet, fondern nahm mehr und mehr über:
band. Die Majeftät des Gottesdienftes wuchs durch neue Werk
zeuge, bie zum Theil fchon früher erfunden, jest erft in den allges
meinen Gebrauch übergiengen. Weffen Herz ward nicht fehon durch
bie Stimme des Erzes gerührt, das von den Kirchthlirmen herab:
tönt! Man weiß nicht genau, wann die Kirchenglocken auf:
famen, denn bei den älteften Quellen, die ihrer gedenfen, erfcheinen
fie bereits als eine feit längerer Zeit beftehende Einrichtung. Die
Sage, fie feyen in Kampanien oder gar von dem Bifchofe Paulinus
zu Nola erfunden worden, ift ein eitles Mährchen. Der Iateinifche
Name campana, den fie bereits im fiebenten Jahrhundert führen,
ſtammt ohne Zweifel von dem Metalle ber, aus welchem fie in Italien
gegoffen zu werben pflegten. Das kampaniſche Erz galt ſchon in den
i) Can. 8. Mansi XIV., 932 unten flg. — ?) Mansi XIV,, 7A. —
2) Can, 48, Mansi XIV., 567,
*
Innerliche Bewegungen in der Kirche der fränfifchen Reihe x. 947
Zeiten des ältern Plinius ) für das beſte. Allen Anzeigen nad
wurde ber Firchliche Gebrauch der Glocken gegen Anfang des ſechsten
Jahrhunderts und zwar, wie es feheint, im Morgenlande eingeführt.
Sie mögen zu den vorderaftatifhen Ehriften von den Buddiſten her—
übergefommen feyn, denn Lestere Fannten fie feit den älteften Zeiten.
Kirchengloden find, fo viel ung befannt, zuerft in dem Bertrage
erwähnt, welchen bie faracenifchen Eroberer vor der Uebergabe der
Stadt Jeruſalem den Einwohnern bewilligten. In diefer Urkunde
verbietet 2) der Kalife den Heberwundenen, mit Gloden zu Yäuten.
Daß die Skoten oder Altbritten am Ende des fechsten Jahrhunderts
bereits Glocken befaßen, erhellt aus dem Leben des Abts Columba
von Hy,?) welches um 660 deſſen Nachfolger Cumineus oder
Cummian, mit dem Beinamen des Weißhärigen, fchrieb. Zweimal
werden in diefer Gefchichte des erften Abts von Hy Glocken ge:
nannt. +) Beda braucht?) in feiner Kirchengefchichte Englands den
Ausdrud: „der wohlbefannte Ton der Gloden.“ In den Tagen
bes Bonifacius fieng man auch in Teutfchland an, die Kirchen mit
Glocken zu zieren. Der germanifche Apoſtel bittet den englifchen
Abt Cuthbert in einem noch vorhandenen Briefe °) um Zufendung
einer Glocke, und bderfelbe Abt macht dem Nachfolger des Bonifa-
eins ein Gehen? ”) mit einer foldhen. Gegen Ende des achten
Jahrhunderis erfcheinen die Glocken als allgemeiner Schmud ber
Kirchen des fränfifchen Reichs. Unter Karl dem Großen war ein
St. Galler Mind, Namens Tancho, ald Glodengießer berühmt. 8)
Schon herrfchte damals die Sitte, Gloden zu taufen, welchen Ge—
brauch der Kaifer für einen Auswuchs des Aberglaubeng erklärte
und verbot.?) Aelter als die Glocken find die Drgeln, doch feheint
ihre Anwendung in den Kirchen nicht über das achte Jahrhundert
binaufzureihen. In feiner Erklärung des 56ſten Pfalms befchreibt:
Auguftinus 10) deutlich eine durch Blasbälge getriebene
') Plinii hist, natur, XXXIV., 20. Harbuin’s Folivausgabe II., ©. 659
Mitte. — 2) Siehe oben ©. 34 gegen unten. — °) Meber ihn fiche den
II. Band diefes Werks ©. 1071. — *) Cap. 22. und 25. bei Mabillon Acta
Ord. Bened, I., ©. 346 oben und unten. — 5) IV., 23 zum Sabre 660.
Ausgabe von Smith ©. 169 unten. — ©) Epist. 37. ed. Würdtwein ©. 84.
) Epist. 124 bei Würdtwein ©. 311. — °) Monachi S. Gallensis gesta
Caroli I., 29 bei Perz II,, 744 Mitte. — °) Capitulare tertium anni 789,
Nro, 18. bei Baluzius 1., 244, — 19%) Opp. ex editione Maurin, IV., a.
©. 558 unten. |
60 *
948 IT. Bud, Kapitel 11.
Orgel. Auch Iſidorus von Sevilla fennt ) dieſes prachtvolle Ton:
werk. Im Jahr 757 befchenfte der Byzantiner Conftantin Copro-
nymus den Franfenfönig Pipin den Jüngern mit einer Orgel,
welche großes Auffehen erregte. Sie ſcheint die erfte ihrer Art in
Gallien gewefen zu feyn, alle älteren fränfifchen Chronifenfchreiber
fprechen von ihr. 2) Indeſſen fcheinen weder die Orgeln, deren
Auguftin und Iſidor gedenken, noch diejenige, welche Pipin erhielt,
in den Kirchen. gebraucht worden zu jeyn. Anders verhält es
fih mit einer Drgel, welche der zweite Nachfolger des Coprony:
mus, GConftantin V., Karl dem Großen überſchickte. Es war ein
prachtvolles Werk, deſſen Wirfung der Mönch yon St. Gallen mit
folgenden Worten ?) jchildert: „Ehernen Röhren, die durch Iederne
Blasbälge gefüllt wurden, entfirömten Töne, an Majeftät dem Rollen
des Donners, an Lieblichfeit dem Spiele der Leier vergleichbar.“
Aus den dunfeln Berfen Strabo’s über den Pallaft zu Aachen *)
glauben wir abnehmen zu dürfen, daß legtere Orgel in der Haupt:
kirche zu Aachen aufgeftellt worden ift. Jedenfalls wurde, auf Karl’s
des Großen Befehl, das Drgelfpiel in den geiftlihen Muſikſchulen
zu Mes und Soißons gelehrt. Der Mönd yon Angouleme be—
richtet, °) daß diefelben italiänifchen Meifter, welche Karl aus Stalien
herbeirief, ©) um den fränfifchen Kirchengefang zu verbefiern, auch
im Spiele der Drgel Unterricht ertheilten. Hieraus geht hervor,
daß Bau und Behandlung der Drgel damals in Stalien wohlbe:
fannt war. Aber während der Stürme in der zweiten Hälfte des
neunten Jahrhunderts fcheint dieſe Kunft jenfeits der Alpen ver=.
fallen zu feyn. Wir befisen einen Brief”) Pabfts Johann VIII.
(872— 882) an den Biſchof Hanno yon Freifing, worin er ben
Teutſchen um Ueberjendung einer guten Drgel und eines gefchieten
Drgelfpielers bittet.
Die Bußzucht, welche bereits früher milder geworden war, ®)
N) Etymolog. II., 21. Opp. ed. Arevalo III. 137 oben. — ?) Anna-
les Petav. Perz I., 11. Annales lauresheimenses, alamannici, nazariani
ibid. I., 28. 29. Annales Sangallenses majores, ibid, I., 74. Annales Ein-.
hardi et Laurissenses, ibid. I., 140 und 141. — 5) Lib. II., Cap. 7. bei
Perz II, 751 oben. — * Biblioth, Patr. max. Lugdun, XV., 222 a. unten flg-
— 5) Perz I., 171 gegen unten. — °) Siehe oben ©. 603, — 7) Abgedrudt
Baluzii Miscel, Folioausgabe von Manſi I., 402, b. unten. — 9) Siehe den
2ten Band ©. 806 und 1037.
Innerliche Bewegungen in der Kirche ber fräntifchen Reiche ꝛc. 949
erlitt in unferem Zeitraum merflihe Veränderungen. Oeffentliche
Sünden wurden von den Bilchöfen in den jährlichen Sendgerich—
ten!) oder auch auf der Stelle gerügt. Hinfmar von Rheims
giebt ?) in Yegterer Beziehung folgende Vorſchrift: „Fällt ein Vers
brechen in einem Kirchfpiel vor, fo bat der Pfarrer fofort den
Schuldigen zu ermahnen, daß er ſich bei dem Defan ftelle. Inner:
halb der nächften fünfzehn Tage muß fodann der Verbrecher vor
dem Bifchofe erfcheinen, damit er den Canonen gemäß die öffentliche
Buße mit der Handauflegung empfahe. Stellt fih der Schuldige
nicht, fo wird er auf fo Lange von der Kirchengemeinfchaft ausge-
fchloffen, bis er fih zur Buße bequemt.“* Häufig fcheinen gewiſſen⸗
Yofe Pfarrer reichen oder anverwandten Sündern durchgeholfen,
verhaßten dagegen bie Buße erfchwert zu haben. Hinkmar findet
deßhalb für gut?), einzufchärfen, daß fein Priefter durch Gefchenfe
oder Berwandtfchaftsrüdjichten ſich verleiten Yaffen folle, irgend ein
Berbrechen, das von einem Gemeindemitglied begangen worden, dem
Bifchofe zu verfchweigen. „Eben fo wenig dürfe der Pfarrer,“ fügt
Hinfmar bei, „aus Feindfchaft gegen einen Schuldigen die Sünde
härter darftellen, als fie wirklich ſey.“ Er bedroht fogar *) nad:
läßige Geiftliche mit Bann und Einfyerrung bei Waſſer und Brod
auf fo viele Tage, als die Anzeige eines Vergehens über die ge:
fegliche Frift hinaus durch ihre Schuld verzögert werde. Als Grund-
fat galt, daß in allen Bußfachen dem Biſchof des betreffenden
Sprengels die letzte Entfcheidung gebühre. In einer um 820 er:
Schienenen Verordnung des Biſchofs Hayto von Bafel heißt?) es:
„Keiner, der von der Kirchengemeinfchaft ausgefchloffen ift, unter:
ftehe fih, die Wiederaufnahme bei einem andern Bilchofe nachzu-
ſuchen. Thut er e8 dennoch, fo wiſſe er, daß eine foldhe Einfegung
nichts gilt. Nur von dem eigenen Bifhof darf ein jeg-
lihes Gemeindemitglied gebunden oder gelöst wer:
den, nicht von einem fremden“
In Bezug auf die geheimen Sünden der Laien hatte fchon
Pabit Leo der Große die ftrengen Grundfäüge der alten Zeit bedeu—
tend herabgeſtimmt, indem er flatt des öffentlichen Bekenntniſſes vor
ber ganzen Gemeinde, welches in der Urkirche üblih war, ſtille
1) Siehe oben ©. 605. — 2) Opp. ed, Sirmond. I., 730. — 3) Ibid.
L, 713. Nro. XII. — 9 Ibid. I., 731, — 5) Manft XIV., 397 oben.
950 _ IT. Buch. Kapitel 11.
Beichte an die Priefter verlangte. ) Allein weder in unferem Zeit:
vaum, noch in den nächſten Jahrhunderten wagten bie Bifchöfe,
diefe Forderung Leo's durchzuſetzen, vermutblich weil fie fürchteten,
daß man ihnen den Gehorfam verweigern werde. Der freien Wahl
der Laien blieb überlaffen, ob fie ihre verborgenen Sünden insgeheim
dem Priefter, oder nur vor Gott und ihrem Gewiſſen befennen
wollten, Doc wurde wenigftens der Verſuch gemacht, die erftere Art
der Beichte als wirkfamer zu empfehlen und dadurch deren allge:
meine Einführung vorzubereiten. Im 33ften Befchluffe der Reiche-
fonode zu Chalons vom Jahr 813 heißt e8:?) „Einige find der
Meinung, Sünden brauchen nur vor Gott bekannt zu werben,
Andere aber glauben, man müfje feine Fehler dem Priefter beichten.
Die Einen wie die Andern haben Recht, denn Beides ift heilfam.
Laßt ung daher unfere Sünden Gott, bei welchem die Gnade wohnt,
befennen und mit David ſprechen (Pſalm XXX, 5.): ih eröffne
Dir o Herr meine Miffethat. Laßt ung aber auch nach ber
Vorſchrift des Apoftels handeln, welcher ung zuruft (Brief Jakobi
V, 16.): Einer beibte dem Andern feine Sünden, und
betet für einander, damit ihr bag Heil erlanget. Das
Befenntniß, welches dem Herin abgelegt wird, veinigt von Sünden,
die Beichte aber, welche man gegen den Priefter ausfpricht, zeigt,
auf welhem Wege die Sünden getilgt werden mögen.“ Offenbar
jchimmert bier der Gedanke durch, daß ein Belenntniß vor Gott
zwar an fih vortrefflich fey, aber erſt durch Verbindung mit der
Beichte vor dem Priefter feine volle Kraft erlange. Ebenſo verhält
es fih mit einer Borfchrift ?) über das Sündenbefenntniß , welches
ber Biihof Theodulf von Orleans um 797 den Vrieftern feines
Sprengels gab. — Hatte. ein Laie dem Priefter feine Sünde ge
beichtet, fo ertheilte diefer fofort die Losſprechung, aber nur gegen
eine Buße, die der Laie hintendrein übernehmen mußte, +)
Und mit eben diefen Bußen gieng in unſerem Zeitraum eine
wichtige Aenderung vor, fofern der Clerus anfieng, flatt der durch
bie alten Kirchengefege vorgefchriebenen Sündenfirafen andere an-
zujegen, die weit milder waren und nicht zunächft die fittliche
ı) Siehe den 2ten Band ©. 806 Witte. — 2) Manfi XIV. ©. 100. —
3) Bei Manft XII, 1002, $.. 30. — *) Juxta modum facti debet ei (confi-
tenti) poenitentia indicari heißt es ibid. $. 31.
Innerliche Bewegungen in der Kirche der fränkifchen Reiche ꝛc. 951
Befferung des Sünders bezwedten. ingeleitet und befördert wurde
die Neuerung durch fogenannte Bußbücher, welche dem achten Jahr:
hundert anzugehören feheinen. Aus einer Zufchrift ) des Metropo—
liten Ebo von Rheims an den Biihof Halitgar von Cambray
erhellt, Daß ums Jahr 820 eine Menge folder Bücher im Rheimſer
Erzfprengel umliefen, und daß durch ihre Verſchiedenheit große Ver:
wirrung entftand. Das meifte Anjehen unter ihnen genoß das
römische Bußbuch, welches in einer doppelten Bearbeitung, einer
fürzeren und längeren, auf ung gefommen ift.?) Als Probe, wie
durch. diefe Werke canonifche Busen älterer Anordnung gegen neuere
vertaufcht wurden, wollen wir einige Stellen aus dem römischen
Pönitentiale beifügen: 3) „Statt eintägigen Faftens bei Waffer und
Brod mag der Büßende 50 Pfalmen fnieend beten und einen Ars
men ernähren. Kann er nicht jo lange fnieen, jo finge er aufrecht
ſtehend 70 Palmen und nähre einen Armen, oder flehe er hunbert-
mal je mit Kniebeugung den Allmädtigen um Gnade, „der gebe
er den Armen drei Schillinge Almofen. — Statt einmonatlichen
Faftens bei Waffer und Brod finge der Büßer 1200 Palmen mit
gebeugtem Knie, oder ohne Kniebeugung 1680. Wer aber weder
das Pſalter fennt, noch hungern will, der fchenfe den Armen ftatt
einjährigen Faftens bei Waffer und Brod 22 Goldftüde“ u. f. w.
Es gereicht den Häuptern der fränkiſchen Kirche zur Ehre, daß fie
nicht blos die Gefahren diefer Neuerung erkannten, fondern auch
fräftig dagegen einfchritten. Zwei Synoden erließen firenge Verbote
wider die Bertaufhung der Buße. Das mehrfach erwähnte Concil
von Chalons, welches im legten Jahre Karl’s des Großen gehalten
wurde, verordnet: *) „Böswillig oder abfichtlich begangene Sünden
fönnen durch Almofen nicht getilgt werden. — Denen, welde ihre
Sünden gebeichtet haben, ift die Buße nad dem Inhalt der alten
Canones, oder. nad) Ausiprüden der Schrift, oder nad Firchlichem
Herfommen aufzulegen. Gar feine Rüdfiht verdienen bei
Beſtimmung der Strafe die fogenannten Bußbüder,
beren Irrthümer eben fo offenbar, als ihre Berfaffer
dunkel find. Bon ihnen gilt dag Wort des Propheten (Ezech.
ı Abgedruckt Canisius lect; antiq. ed. Basnage Il, b. ©. 87. -2) Ibid.
S. 121 flg. — 9 Ibid. S. 129. — +) Manfi XIV., 101 fig. canon, 36. 38.
und 45, | ;
> Al II. Bush. Kapitel 14.
XII, 19.): Ihr verurtheilet Seelen zum Tode, die doch
nicht fterben, Ihr verheißt das Leben Solchen, die
doch nicht leben follen. Denn indem fie ſchwere Sünden mit
leichten und früher unbefannten Bußen rügen, legen fie den Sün—
dern, wie berjelbe Prophet fagt, ) Kiffen unter die Ellenbogen und
Pfühle unter die Häupter, um bie Seelen zu verſtricken. — Mit
den Wallfahrten nad Rom, nad) Tours oder nad andern heiligen
Dertern treiben Viele verderblihen Mißbrauch. Es giebt Elerifer
und Laien, welche durch folhe Reifen ihre Sünden reinigen zu
- fönnen wähnen, uneingedenf der Warnung des heil. Hieronymus,
daß in Serufalem fromm gelebt zu haben, nicht aber dafelbft ge—
wefen zu feyn, Segen bringt“ u. |. w. In gleichem Sinne ſprach
fih die Parifer Synode vom Jahr 829 aus. Dieje Berfammlung
gebot fogar, die Bußbücher von den Pfarrern einzufordern und zu
verbrennen. 2) Aber der Zeitgeift fiegte über die Anftrengungen
der erleuchtetften Häupter des fränfifchen Clerus. Und zwar trug
die Arbeit eines Biſchofs aus Farolinifcher Schule viel dazu bei, daß
der von jenen Synoden angegriffene Mißbrauch erftarkte. Wir haben
oben erzählt,?) daß Halitgarius von Cambray den Metropoliten
Ebo von Rheims auf deffen erfter Befehrungsreife nah Dänemark
begleitete. Die früheren Schickſale diefes Mannes find unbefannt.
Man weiß nur, daß er im Jahr 817 von Ludwig dem Frommen
‘auf den Stuhl von Cambray erhoben wurde. Seitdem fpielte Ha—
litgarius eine glänzende Rolle. Er nahm fehr thätigen Antheil an
dem Parifer Coneil vom Jahre S25, welches den Bilderdienft ver:
dammte, gieng drei Jahre fpäter als Gefandter des Kaifers Ludwig
nad) Conſtantinopel, und war 829 einer der Wortführer auf der
großen Parifer Synode, welche die am Hofe und in ber Kirche
eingeriffenen Verderbniſſe abftellen follte. Halitgar farb im Juni
831.) Mit Ebo von Rheims fland er während feiner ganzen
Amtsführung in innigen BVerhältniffen, und Ebo war es aud, der
ihn beftimmte, das Werk zu fehreiben, von welchem hier die Rede
if. Wie wir oben fagten, wurde in den Pfarreien des Nheimfer
Sprengels eine Maffe abweichender Bußbücher gebraucht, was eine
') Ezech, XIII., 118. — 9 Manfi XIV, 559 unten, can. 32, —
®) &, 795. — 4) Man vergleiche über Halitgar hist. litteraire de la France
IV., 504 flg.
Innerliche Bewegungen in ber Kirche der fräntifchen Reiche ꝛc. 953
widerwärtige Berfehiedenheit in Behandlung der Büßenden zur Folge
hatte. Um num die Einheit des Verfahrens wiederherzuftellen, ver⸗
faßte Halitgarius um 820 auf Ebo's Wunſch in fünf Büchern eine
Schrift) über die Buße, welche Hinfort im Nheimfer Erzbezirfe
zur Richtfchnur dienen ſollte. Im erften Buche befchreibt er, nad
der in jenen Zeiten allgemein üblichen Eintheilung, *) die acht Haupt:
lafter (Stolz, Ruhmſucht, Neid, Zorn, Traurigfeit, Geiz, Schlem:
merei, Wolluſt), und weist nad), wie jedes derfelben überwältigt
werden könne. Im zweiten handelt er vom thätigen und beichau:
lichen Leben, fo wie von den fogenannten drei theologifchen Tugen-
den: Glaube, Hoffnung, Liebe, und den vier weltlichen der Stoifer:
Klugheit, Gerechtigkeit, Kraft, Mäßigung. Die drei übrigen Bücher
befchäftigen fih mit den Kirchenbußen der Laien und ber Glerifer.
Ueberall folgt Halitgar den Spuren der älteren Väter. Als An:
bang zu eben diefem Werfe fügte er das römifche Bußbuch mit dem
Bemerfen ?) bei, daß daſſelbe zur Ergänzung feiner eigenen Arbeit
dienen möge. So wurde denn, troß den Verboten der Chaloner
Synode, das römische Bußbuch mit feiner Lehre von Vertauſchung
der Sündenftrafen in einem großen Sprengel amtlich eingeführt.
Auch die andern Kirchen ahmten bald dem gegebenen Beifpiele nach;
noch vor dem Schluffe des Jahrhunderts galten in allen Bisthiimern
die Bußbücher und namentlich das römifhe als Drafel. Damit
war dem fchädlichften Mißbrauch Thür und Angel geöffnet. Der
Clerus brauchte Hinfort blos, flatt Almofens an die Armen, Opfer
für den Altar als Taufchmittel der Sündenvergebung zu fordern,
jo ftand der Ablaßfram fertig da. Und dieſer Teste Schritt wurde
ſchnell gemacht. In dem geiftlichen Gefeßbuch, *) das der Abt
Regino von Prüm gegen Anfang des zehnten Jahrhunderts zu—
jammentrug, heißt es:°) „Bei der jährlichen Kirchenvifitation folle
ber Biſchof jeden Pfarrer fragen: ob er das Bußbuch Theodor’s
yon Canterbury, oder Beda's, oder das römifche habe, damit nad)
ihrem Inhalt die Strafen der Sünden angefegt werden können.“
Wie die damaligen Ausgaben diefer Bücher die Buße behan-
) Abgedruckt bei Canisias Basnage 1l., b. ©. 38 fig, — 9 Man fehe
3. B. concil. cabillon. can. 32, Manft XIV., 99 unten. —-3) Canisius Bas- _
nage II., b. ©. 152 unten. — *) Libri duo de ecclesiastieis disciplinis ed.
St. Baluzius. Paris 1671. 8to, — °) Ibid. ©. 30. Nro. 95.
954 II. Buch. Kapitel 11.
delten, erhellt aus einer andern Stelle deſſelben Verfaffers, ) wo
er genau zwifchen folchen Ablaßgeldern unterfcheidet, die als Al:
mofen für die Armen, oder zur Losfaufung Gefangener, oder auf
ben heiligen Altar, d. h. an Kirchen und Klöſter, oder endlich
an die Knechte Gottes, d. h. den Clerus bezahlt werben follen.
Zwei Triebfedern haben, wie ung fcheint, bei Einführung dieſes
Mißbrauches, der fo fürchterlihe Folgen hatte, zuſammengewirkt:
erftlich derjelbe Hang zum Magifchen, der fonft überall hervortritt.
Nur ein blindem Aberglauben verfallendes Zeitalter Tonnte den
Wahn hegen, daß der Allmächtige mit den Sünden der Menſchen
Handel treibe. Aber der Hauptgrund lag tiefer. Offenbar: willigte
der Clerus anfänglid nur darum in die VBertaufhung der Buß:
werfe, weil er Urfache hatte, zu fürchten, daß der Laienftand ſich
weigern würde, die nach alter canonifcher Vorſchrift auferlegten
firengen Bußen zu Teiften. Zwifchen zwei Uebeln mußte bier eine
Wahl getroffen werden, zwifchen offener Auflehnung der Gemeinde
wider die Strafgewalt der Kirche, oder Verwandlung der herge-
brachten Busen. Der Clerus entfchied für den Ausweg, der für
fein Anfehen der glimpflichfte war. Jedenfalls tragen die Laien
eben fo viel Schuld an dem einreißenden Verderben, als die Geift:
lichfeit. Stets gieng es fo. Zuerſt verleitete Das Volk den Clerus
zu faljchen Schritten und hintendrein beutete dieſer die einmal feft:
gewurzelten Mißbräuche zu feinem Bortheil aus. Im Uebrigen
muß man zugeben, daß die Geiftlichfeit feit dem Sinfen des fräns
fiihen Neichs in Bezug auf das Bußweſen eine höchſt fchwierige
Stellung hatte. Auch einige andere Einrichtungen des neunten
Jahrhunderts zeugen von dieſer Verlegenheit. Sp lange Karl der
Große herrfchte, wagte Niemand den beftehenden geiftlihen wie
weltlichen Behörden Trog zu bieten, denn der Arm des Kaiſers
hätte jeden Ungehorfamen zermalmt. Alngehindert fonnten die Bi:
ſchöfe das jährliche Sendgeriht halten und die Schuldigen zur
Strafe ziehen. Aber mit dem Ausbruche des Bürgerkriegs und
dem beginnenden Umfturze der bisherigen Verfaſſung Anderte ſich
die Lage der Dinge. Jetzt mußten die Kirchenhäupter auf außer:
ordentliche Mittel denfen, um den Kirchenftrafen Achtung zu ver:
Schaffen. Das Natürlichfte fchien, die Hülfe der Staatögewalt gegen
") Lib. IL, 438. ibid. ©. 379.
Innerliche Bewegungen in der Kirche der fränkiſchen Neiche ıc. 955
Berächter der Buße anzurufen. Wirklich faßte die Synode zu
Mainz, welder Rabanıs Maurus im Jahr 847 vorfland, den
Befchluß, ) daß grobe Sünder, welche fi weigern würden, die von
der Kirche auferlegten Bußen zu tragen, durch den bewaffneten Arm
weltlicher Gerechtigkeit zum Gehorfam gezwungen werden müffen. Aber
diefe Maaßregel leiftete in die Länge nicht, was fie follte, fie half nur
gegen ſchwache Sünder, mit welchen die Kirche von felbft fertig geworden
wäre, nicht aber gegen Mächtige und Reiche, die nunmehr der
Krone wie dem Priefterthbum zu trogen begannen. Wie nun legtere
bewältigen? Die Aufgabe war verzweifelt ſchwer. Der Clerus
fuchte fie dadurch zu Iöfen, daß er Zahl und Schärfe ber geiſt—
lichen Waffen verftärkte. Bisher hatte man gegen bebarrliche Wider:
feglichfeit den Bann als letztes Mittel gebraucht. Nunmehr fieng
die Kirche, nad) einem älteren, jedoch feltenen, VBorgange an, zwei
Stufen des Banns anzuordnen. Schon eine im Jahr 504 unter
dem Pabſte Symmadhus gehaltene römische Synode hatte einen
Unterfchied zwiſchen bloßer Ausihliegung vom Saframent (privatio
communionis) und dem Banne gemadt. 2) Diefer Unterfchied
wurde jest zum Gefeß erhoben. Die Ausfchliegung follte als nie—
derer Grad, in gewöhnlichen Fallen des Ungehorfams gegen den
Slerus, angewendet werden; zugleih trug man Sorge, an biefe
Strafe jolche bürgerliche Nachtheile zu Fnüpfen, deren Verwirklichung
in: der Macht der Bifchöfe lag, und Die gleichwohl den höhern
Ständen, welche man allein zu fürchten hatte, fehr empfindlich feyn
mußten. Der eigentlihe Bann blieb für außerordentliche Sünder
vorbehalten, dabei vergaß man nicht, denſelben mit den furdhtbarften
Schredmitteln zu umgeben. in lombardiſches Coneil war es, das
zuerft diefe, durch die Umftände gebotene, Maaßregel ins Kirchenrecht
aufnahm. Die jchon früher erwähnte Synode zu Pavia vom
Jahr 850 verorbnete in ihrem zwölften Canon, ?) wie folgt: „Alle,
welche von der Gemeinjchaft des Altares ausgefchloffen find, Dürfen
feine Kriegsdienſte leijten, fein Staatsamt befleiden, an feiner Volks⸗
verfammlung Theil nehmen, Feine Sache vor Gericht betreiben.
Doch ift ihnen unbenommen, ihre Privatgefchäfte zu beforgen. Wer
Dagegen ſich um die Kirchenbußen nichts befümmert, den trifft eine
) Can, 28, Manfi XIV., 91. — 2) Manſi VIII., 208 Mitte, —
3) Manfi XIV., 934 unten fig.
9 11. Buch. Kapitel 41.
höhere Strafe — der Bann. Als faule und aufgegebene Glieder
werden folhe Menſchen vom Körper der Kirche abgefchnitten. Keine
Gemeinfhaft der Gefege, der Sitten, bes täglichen Verkehrs ift
ihnen geftaitet, in der Todesftunde wird ihnen das Saframent ent:
zogen, und aud nad ihrem Tode wird nicht für fie gebetet. Je—
doc ift nöthig, zu diefem äußerſten Mittel nur nach reiflichfter Ueber:
legung zu fohreiten. Nie darf ver Bann ohne Genehmigung des Me:
tropoliten und ohne den Rath ſämmtlicher Bifchöfe der Provinz
ausgefprochen werden.“ Man bemerfe, mit welcher Klugheit das
Gefeg ausgedacht if. Blos Sünder aus höheren Ständen werden
dadurd getroffen, denn nur der Adel diente im Heer, nur der Adel
erhielt Staatsämter. Zugleih Tag es in der Macht der Geiftlic-
feit, die angedrohten Nachtheile zu verwirklichen. In jedem Lager
befanden fich einer oder mehrere Kapellane. Wenn nun diefe, den
Vorſchriften ihrer Vorgefesten folgend, fich weigerten, einem Ans
führer oder gemeinen Streiter, der vom Saframent ausgefchloffen
war, die Meffe zu Iefen, fo konnte man ziemlich ficher darauf rec:
nen, daß das übrige Heer einen folchen Genoffen nicht gerne dulden
werde, weil der Aberglaube des Zeitalters den Gedanken von gött⸗
licher Beftrafung des Ganzen an die Schuld des Einen zu fnüpfen
bereit war. Nicht anders verhält es ſich mit der angedrohten Un—
fähigfeit zu öffentlichen Aemtern. Lebtere wurden ftets durch bie
Krone verliehen. Diefe aber hatte Urfache, mit der Geiftlichfeit
nicht zu brechen. Daher durfte in der Negel Keiner, der mit der
Ausſchließung vom Saframente beftraft war, ein Amt vom Könige
erwarten. DBergleiht man das oben erwähnte Gejeg ber teutfchen
Synode yon Mainz mit dem eben mitgetheilten des italianifchen
Soneils, fo ergiebt ſich ein ficherer Schluß auf die Hffentlichen Zu:
ftände beider Länder. Die teutfchen Biſchöfe geben ſich der Hoff:
nung hin, einfach mit Hülfe des weltlichen Arms ihre Bußgewalt
aufrecht zu erhalten. Daraus folgt, daß in Teutfchland das König:
thum noch ziemlich tiefe Wurzeln hatte. Der italifche Clerug dage-
gen verläßt fih nur auf bie eigenen Kräfte feines Standes, offen:
bar weil dort die Füniglihe Macht gänzlich zerrüttet war. Beides
ſtimmt mit der Gefchichte überein. Man fieht an vorliegendem Bei:
jpiele, daß die neuen Cinrichtungen des Bußweſens großentheils
eine natürliche Folge des Verfalls der Staatsgewalt find. Zu dem
großen Rüſtzeug geiftlicher Waffen des Mittelalters fehlte nur noch
Annerliche Bewegungen in der Kirche der fränkiſchen Reiche ꝛc. 957
das Interdikt oder der Bannftrahl gegen ganze Gemeinfchaften, und
auch diefes fam, wie wir fpäter ſehen werden, ſchon im zehnten
Jahrhundert hinzu.
Noch fchärfer als in ben Bußeinrichtungen und dem Gottes—
dienft fpiegelt fih der magifhe Glaube des Zeitalters und der all:
gemeine Verfall in dem peinlichen Gerichtsweien ab. Aus den Ur:
wöäldern hatten die Germanen das Bertrauen auf Gottesurtheile
(Ordale) und gerichtliche Zweifämpfe mitgebracht. Die Kirche mußte
deßhalb im fechsten und fiebenten Jahrhundert, wie früher gezeigt
worden, !) dieſe barbarifchen Einrichtungen dulden. Aber die Bil-
dung der Farolinifchen Zeit erklärte ihnen den Krieg. Im Jahre
803 erlaubte?) Karl der Große noch den gerichtlihen Zweikampf,
aber kurz darnach verbot er?) ihn für gewiffe Fälle und geftattete
auch von Gottesurtheilen blos die Kreuzesprobe. Auf dem Reiche:
tage des Jahrs S16 hob *) Ludwig der Fromme aud) die Kreuzes—
probe auf, unter Anführung des rundes: daß bie Kreuzigung
Chriſti dadurch entwürdigt werde. Die Kreuzesprobe beftand °)
nemlich darin, daß Kläger und Beflagte mit ausgeftredten Armen
die Stellung eines Gefreuzigten annehmen mußten. Wer zuerft bie
Arme finfen ließ, galt für befiegt. Um das Jahr 825 gab Pabft
Eugenius eine Borfhrift, ©) wie es mit der Probe des Falten
Waffers gehalten werden folle. Allein unbefümmert um die Mei-
nung des Pabſts ertheilte Kaifer Ludwig auf dem Wormfer Reichs:
tage vom Jahre 829- feinen Kammerboten den Befehl, ) in Zus
funft fein Gottesurtheil mittelft Falten Waſſers mehr zu dulden.
Bermuthlih wurde der Kaifer zu dieſer weifen Verordnung durch
das Anſehen des Erzbiſchofs Agobardus beftimmt, der, wie wir
früher gezeigt, 3) Zweifämpfe und Orbdalien verwarf. Mit dem Um—
fturg des Reichs und der Farolinifchen Verfaſſung kamen jedoch beide
Mißbräuche wieder in Gang. Hinkmar von Nheims vertheidigte
bie Gottesurtheile mit myftifchen Gründen in feiner Schrift ?) über
bie Ehefcheidung Lothar's II., wie in einem Briefe 10) an ben
) I. Band ©. 1037. — ?) Capitulare IV., anni 803 $.3. Baluzius L.,
397 oben. — 3) Capitulare I., anni 806 $.14. Baluzius I., 444. — + Bas
luzius 1., 569 can. 27, — 5) Den Beweis bei Dufresne glossar. med.
latin. sub voce: erucis judieium, — 5) Abgedruckt Mabillon analecta
Foltoausgabe ©. 161. — 7) Baluzius I., 668 Nro. 12, — ®) Oben ©, 751.—.
°) Opp. 1., 599 fig. — "9) Ibid. IL, 676 fig.
958 II. Buch. Kapitel 11.
Biſchof Hildegar von Meaur. Nicht blos Mönche, wie Gotfchalf,
beriefen fich feitdem auf Gottesurtheile, fondern ſelbſt Fürftinnen,
wie Theutberga, die unglüdlihe Gemahlin Lothar’s IL, mußten fi
ſolchen Gerichten unterwerfen. Die häufigften Formen waren bie
Proben durch Faltes Waffer, durch heiße Flüffigkeiten, durch Feuer,
durch den Genuß des Abendmahls. Wer die falt Wafler: Probe
beftand, ward in einen Fluß geworfen, ſank er nicht unter, fo galt
feine Unfchuld als erwiefen. Aehnlicher Art find die beiden andern
Proben: wer unbefchädigt Durch Feuer hindurchgieng oder feine Hand
unverbrannt aus fiedender Flüffigfeit herauszog, ward Iosgefproden.
Das Gottesurtheil mittelft des Abendmahls beftand darin, daß der
Angeffagte unter feierlichen Formeln und Eidſchwüren das Sakra—
ment genoß. Schabete es ihm nichts, fo glaubte man ihn gerecht:
fertigt. Merkwürdig ift, daß der Elerus Iegtere Probe, welche am
leichteften beftanden werden konnte, feinen Mitgliedern vorbebielt.
Das teutfche Concil, welches im Jahr 895 zu Tribur gehalten
wurde, verordnet: ) angeflagte Priefter follen mittelft des Safra-
ments geprüft, verbächtige Laien dagegen der Probe des glühenden
Eifend unterworfen werden. Vergeblich ‚erhoben zwei Päbſte aus
der andern Hälfte des neunten Jahrhunderts ihre Stimme gegen
bie barbarifche Sitte. In einem Briefe an Karl den Kahlen ?)
fpriht fih Nifolaus I. nahdrüdlich gegen den Plan Lothar's I.
aus, die Schuld feiner Gemahlin Theutberga durch einen gericht:
lichen Zweifampf zu beweifen. „Wenn gleich gefchrieben ftehe,“ fagt
er, „daß Goliath und David im Zweifampfe mit einander fochten,
fo ift doch Solches nirgends durch Gottes Wort geboten, vielmehr
muß man befennen, daß Diejenigen, welde Proben der Art vor:
nehmen, den Allmächtigen verfuchen.“ Dreißig Jahre fpäter erflärte
Pabft Stephan V. in einer Zuſchrift 9) an den Erzbifhof Leut⸗
bert von Mainz: die Probe durch glühendes Eifen oder fiedendes
Waſſer fey ein abergläubifcher, wider die heiligen Gefege der Kirche
eingeführter, Mißbrauch. Diefe ernftlihe Ermahnungen vermochten
den Zeitgeift nicht zu überwältigen. Zuletzt blieb der Geiftlichfeit
fein anderer Ausweg übrig, als daß fie die Gottesurtheile unter
ihre Obhut nahm und dadurch menfhlicher machte. *)
ı) Manſi XVIIL, 145, can. 21 u 22. — ?) Epist. 50, Manſi XV.,
349 unten. — 3) Manſi XVII, 25 unten. — H Alte lirchliche Vorſchriften für
Abhaltung derſelben bei Perz ** IL, 2.
Innerliche Bewegungen in der Kirche ver fränfifchen Reiche ꝛc. 959
Ueber den fittlichen und geiftigen Zuftand des Clerus während
unferes Zeitraums geben die Regeln erwünfchten Aufſchluß, welche
der Erzbifhof Hinfmar den Prieftern feines Erziprengels vorfchrieb,
Sehr geringe wilfenfchaftlihe Forderungen macht er an den niedern
Clerus: ) Jeder Pfarrer folle die Erklärung des Glaubensbefennt:
niffes und des Vaterunfers auswendig lernen, die Meßgebete und
Abſchnitte der Bibel, die Beſchwörungsformeln und Gebräude bei
Weihung der Täuflinge und Wiederaufnahme Gebannter verftehen,
auch die vierzig Predigten des Pabſtes Gregorius I. fleißig leſen.
Selbft von Bifchöfen wurde nicht viel mehr verlangt, als ſolches
Gedächtnißwerk, wie man aus der Prüfung erfieht, welche Hinfmar
mit Willebert, dem neuen Bifchofe von Chalons, vornahm.
Diefer Mann war 868 auf den erledigten Stuhl der eben genann-
ten Stadt durch die Wahl des Clerus erhoben worden. Sofort trat
eine Synode in Chierfey zufammen, ?) um zu unterfuchen, ob Wille:
bert auch die nöthigen Kenntniffe und Fähigfeiten beſitze. Nach
mehreren Förmlichfeiten, die nicht hieher gehören, gab man ihm
Gregor’s Anmeifung für Seelforger in die Hand und hieß ihn ein
Hauptſtück vorlefen. AS dieß gefchehen war, wurde er befragt,
ob er auch verftebe, was er eben gelefen habe, und darnad
leben und lehren wolle? Auf gleiche Weife ließ man ihn etliche
Stüde aus der Sammlung von Kirchengefegen und das Glaubens:
befenntnig leſen. Nachdem er diefe Probe beftanden hatte, erklärte
ihn die VBerfammlung für rechtglaubig, gelehrt und in alle
Wege tühtig zur Führung des biſchöflichen Amtes.
Klar erhellt aus diefem Borfall, daß die Bildungsanftalten, welche
Karl der Große gegründet hatte, damals nicht mehr beftanden.
Und wirklich verhält fi die Sache fo. Zwar die Hofichule zu Paris
blühte noch, aber die meiften andern waren dahin. Doc herrichte
noch Achtung vor Wiffenfchaft und Sehnfucht darnach. Im Jahre
855 trug ein Reichsſtag zu Balence darauf an, °) daß für Ein:
richtung von Schulen Vorforge getroffen werde, „fintemalen durch
langjährige Unterbrechung aller Studien die tieffte Unwiffenheit eins
geriffen fey.“ Mehr als der Mangel an Bildung, machte dem Erz:
bifchofe yon Rheims die Zuchtlofigfeit feiner Priefter zu fchaffen.
1) Hincmari opp. ed, Sirmond l., 710 flo. 1.2.3.48 — ° Die
Alten bei Manft XV,, 863 flg. — 3) Manfi XV., ©. 11. Canon 48,
960 IM. Bud. Kapitel 41.
Wiederholt und aufs Strengfte muß er ihnen einfchärfen, ) daß fie
fleifhlihen Umgang mit Weibern meiden follen. Auch Völlerei war
ein unter dem Clerus fehr häufiges Lafter. „Laien,“ fagt 2) Hinfmar,
„ieyen ſchon öfter zu ihm gefommen und hätten angefragt, ob fie
nicht den Pfarrern, wenn fie diefelben in Wirthshäuſern antrafen,
Pferd und Mantel nehmen dürften.“ Er verbietet ihnen den Beſuch
aller Kneipen und fonftige Schmaufereien und Gelage. „Rein Priefter
folle fi) unterftehen, ein Kirchengeräthe in der Schenfe zu verfegen.“
Bei priefterlihen Zufammenkünften und befonders bei Leichenefjen
macht er ihnen Mäßigfeit zur Pflicht. ?) „Weder folle Einer Anderen
zufprechen, daß fie fih zu Ehren ber Heiligen oder des Verftorbenen
toll und voll trinfen, noch folle er fich felbft zum Trinfen nöthigen
laffen. Auch ermahnt er fie, ſich bei folden Gelegenheiten alles
Lärmens, Singeng, tollen Gelächters, alles Erzählens von Schwänfen
zu enthalten, feinem Tanz von Bären oder liederlichen Weibern zu:
zufehen, noch mit Dummereien oder Teufelslarven fich zu beluftigen.
Seder möge, fo lieb ihm fein Amt ſey, Acht haben, daß er nicht
einen andern Priefter oder einen Laien zum Zorn und Streit oder
gar zu Mord und Todtichlag veize und zum Kampf herausforbere;
finde je eine Herausforderung ftatt, jo dürfe der Geforderte fich nicht
zum Kampfe ftellen. Bei den übliden Verfammlungen der Pfarrer,
je am erfien Tage des Monats, jollen fie nicht nach gelefener Meſſe
ein Trinfgelag halten, was nur die Folge habe, daß fie fih mit
Pafteten den Magen überfüllen, mit Wein den Kopf ſchwer machen.
Nicht mehr als höchſtens drei Becher jeyen Jedem geftattet.“ Am
meiften Ehre machen dem Erzbifchofe feine Vorſchriften zu Gunften
der Armen. Sorgfältig wacht er *) über Beobachtung des alten
Canons, daß die Zehnten in vier Theile, einen für den Biſchof,
einen für das Bauweſen der Kirche, einen für den Clerus, einen
für die Armen zerlegt werden. In bie Armenregifter follen nur
ſchwächliche und hülfloſe Perfonen des Kirchfpiels eingetragen wer-
den, nicht aber Schwein: und Kuhhirten Cdie das Vieh des Pfarrers
hüten). Bei Strafe augenblidlicher Dienftentfegung verbietet °) er
den Pfarrern, von den Armen für Aufzeichnung in das Regifter
irgend ein Gefchenf, oder eine Frohnde in ber Erndte, oder fonft einen
1) Hincmari opp. J., ©. 717, can. 19. ©. 718, can. 20. 21. ©. 735,
can. 3, — 2) Ibid. I., 718 Nro. 20, — 3) Ibid, ©. 713 Nro. 44, 46
15, — #) Ibid, I., 717 Nro, 16, 17. — 5) Ibid, I., 734 Nro. 2.
Snnerliche Bewegungen in der Kirche der fränfifhen Reiche ıc. 961
Dienft zu fordern. Die Austheilung der Gaben, welche den Armen
gebühren, foll in Beifeyn zweier ober dreier Zeugen aus bem Laien-
ftande vorgenommen werben. ') Gleiches Vorrecht, wie die Armen,
genießen auch die Pilger. Hinkmar verpflichtet ?) die Pfarrer, für
Beköſtigung der Legtern Sorge zu tragen. Dan kann hieraus abs
nehmen, wie häufig die Wallfahrten und wie groß die Schaaren
der Pilger gewefen feyn müſſen. Ihr gewöhnliches Ziel war in
Italien Rom, in Gallien Tours, in Spanien feit Mitte des neun:
ten Zahrhunderts Compoftella. Biele wanderten auch über die See
ind gelobte Land. Noch beſitzen wir die Neifebeihreibung *) eines
fränfifhen Mönchs Bernhard, der um 863, in den Tagen bee
Pabſts Nikolaus J., nach Jerufalem pilgerte, In Begleitung zweier
andern Mönche, eines Spaniers und eines Italieners, empfieng er
erft zu Rom den Segen bes Pabſtes Nifolaus J., gieng dann auf
den Berg Garganus, um die Höhlenkirche des heil. Erzengel Michael
zu fehen. Hierauf verfhafften fih die drei Reifenden von dem fara=
senifhen Emir der Stadt Bari in Unteritalien Oeleitsbriefe an bie
mahomedanifchen Fürften zu Alerandria und Babylon. Im Mor:
genlande angefommen machten fie die Entdeckung, daß die mitge-
brachten Päſſe ihnen nichts nügten. In Merandrien mußten fie einen
neuen um fihweres Geld erfaufen. Bor den Thoren der Yegtern
Stadt fahen fie ein Klofter, aus welchem die Venetianer die Leiche
des heil. Markus entwendet haben follten. Zu Babylon (Bagdad)
warf man fie fo lange ins Gefängniß, bis fie einen Geleitshrief
vom Kalifen erfauften. Endlich kamen fie nad) Serufalem, wo fie
in ber Yateinifchen Herberge Aufnahme fanden. In der Kirche zum
heiligen Grabe jhauten fie das Wunder, welches fo oft befchrieben
und gefeiert worden ift, nemlich daß Die Lampen über dem Grab-
male fih in der Nacht vor Oftern, ohne Menfchenhände, wie man
glaubte durch Wirkung eines Engels, von felbft anzündeten. Bon
ber Herberge, die für alle Pilger Tatinifcher oder germanifcher Zunge
in Jeruſalem beftand, fpricht auch der Mönch Druthmar *) in feiner
Auslegung des Matthäus. Durch milde Beiträge aus dem Abend:
lande wurde dieſelbe erhalten.
1) Ibid, 15 717. Nro. 16. 2) Ibid. ©, 712. Nro. 10. — 9) Abge⸗
druckt bei Mabillon Acta Ord, S. Bened. III., b. 472 fig; — *) Bibliotheca
Patrum maxima Lugdunens, XV,, 169 a. Mitte.
Gfrörer, Kircheng. II. ß 6i
962 r I. Buch. Kapitel 12.
Zwölftes Kapitel.
Die abendländiſche Kirche unter den Päbſten Sergius II., Ceo IV., falſche Sage
von einer Päbſtin Johanna. Benedikt III., Nikolaus I, Hadrian IE, Iohann VIII.
Hinkmar's Kämpfe für Erhaltung der Metropolitangewalt gegen den Stuhl Petri,
die Suffragane und das Königthum, 844 — 882.
Pabſt Gregor IV. hat, da er im Jahr 827 den Stuhl Petri
beftieg, die höchfte Blüthe des fränfifchen Reichs, aber auch, bei
feinem im Januar 844 erfolgten Tode, den völligen Umſturz der
Schöpfung Karls des Großen gefehen. Letzteres Ereignig mußte
für die Verhältniffe zwifchen dem Pabſtthum und der fränfifchen
Krone fehr wichtige Folgen nach fich ziehen. Oben ift gezeigt wor:
den, Y daß bie Päbſte fchon feit 816 das Goch, welches ihnen
Karl der Große auferlegt, abzuſchütteln trachteten. Unfere Dar:
ftellung der Gefchichte von 772 — 827 würde fich felbft als un:
wahr richten, wenn jeßt die Statthalter Petri den in Frankreich
eingetretenen Umſchwung zu Erreichung ihres längſt entworfenen
Planes nicht benüsten. Alfein was zu erwarten fand, tft wirklich
heſchehen. |
Kaum war Gregor IV. mit Tod abgegangen, als die Römer
den bisherigen Archipresbyter Sergius I. zum Nachfolger wähl-
ten und fofort mweihten, ohne die Beftätigung des Kaiſers Lothar
abzuwarten. Diefer empfand eine ſolche Verhöhnung feines Anſehens
fehr tief. Er ſchickte alsbald feinen erftgebornen Sohn Ludwig,
unter der Leitung des Metropoliten Drogo von Mes, mit einem
ftarfen Kriegsheer nach Stalien ab, um die Römer zur Strafe zu
ziehen. Würchterlich wurde die Gegend zwifchen Rom und Bologna
verheert. Der neue Pabft verlor den Muth, er fehiefte dem Könige
Ludwig auf neun Meilen weit alle obrigfeitliche Perfonen der Stadt
entgegen; in einiger Entfernung Binter denfelben folgten die Kreuze
und Fahnen St. Peter’s fammt den bewaffneten Zünften, welche
zu Ehren der Franken Loblieder fangen. Sergius Il. ſelbſt empfieng,
umgeben von feinem Clerus, den jungen fränkiſchen Fürften am
Eingang ber Petersfirche, in welcher fie gemeinfchaftlich dem Gottes-
dienfte beiwohnten. Ueber bie weiteren Borgänge flimmen bie zwei
) ©. 714. 728. 730 fig.
a alien
TTS UOUER
Die Päbſte Sergins IL, Leo IV., Nikolaus I. ꝛc. 963
einzigen auf ung gefommenen Zeugen, der Bibliothekar Anaftafius )
und Prudentius von Troyeg, ?) nicht recht überein. Wir eninehmen
aus den Berichten Beider, was ung das Wahrfcheinlichfte dünkt.
Anaftafius fagt, ?) auch nah der Ankunft»vor Nom babe bag
fränfifhe Heer die Verwüſtungen des Gebiets fortgefeßt, weßhalb
denn der Pabft Befehl ertheilte, die Thore dev Stadt zu fchliegen.
Nach einigen Tagen feyen ſodann päbftlihe und fränkiſche Bevoll—
mächtigte zu einer Unterhandlung zufammengetreten, aber kaum
hätten fie fid) nach den heftigften Streitigfeiten. zu vereinigen vers
mot. Vergleicht man die Ausfagen beider Zeugen, fo ergibt fich,
daß die Franfen folgende Forderungen fiellten: 1) die Römer ge:
Toben, in Zufunft nie mehr ohne Faiferliche Zuſtimmung einen Pabſt
zu wählen, 2) Sergius IL. verpflichtet fih, Lothar's Erftgebornen
Ludwig zum Könige der Langobarden zu Frönen, und 3) die Stabt
Kom und der neue Pabſt hat dem jungen Könige den Eid ber
Treue zu leiſten. Bon biefen Bedingungen -geftand der Pabft bie
erfte zu, wie aus der Geſchichte feines Nachfolgers erhellt, auch die
zweite warb bewilligt, Sergiug II. fegte Lothar's Sohne bie Tango:
bardifche Königsfrone auf. Aber die dritte Zumuthung fehlug er
beharrlih ab, nur dazu verftand er fih, daß er felbft und das
römische Volk den Eid der Treue, den fie ſchon früher Lothar'n
gefchworen, erneuern werde. Man fieht: der Pabft hütete ſich, Ber:
bindlichfeiten gegen den Erben des Kaifers einzugehen, er wollte
für die Zufunft freie Hand haben. Die Franken mußten in Bezug
auf letzteren Punft dem Pabſte nachgeben. Dagegen nöthigten fie
ihm noch ein viertes Zugeftändniß ab, das zwar nicht die Stellung
des Stuhles Petri zu dem fränfifchen Herrfcherhaufe berührte, aber
in anderer Beziehung für Kaifer Lothar fehr wichtig war. Laut
dem Berichte des Bibliothekars ) hatte der Erzbifhof yon Mes,
Drogo, ein natürlicher Sohn Karls des Großen, und, wie wir
oben fagten, Bormünder und Rathgeber des Prinzen, während der
Berhandlungen fih am härteflen gegen ben Pabſt ausgefprocen.
Ehendenfelben mußte Sergius zum apoftolifchen Stellvertreter fir
ſämmtliche Kirchen der aus dem Neiche Karls hervorgegangenen
1) Im Leben des Sergius IT, ed. Vignoli UI., ©. 44 fig. — ?) Annales
ad annum 844 Perz I, ©. 440, — 3) 4. a. O. $. 12 u. 15. Vignoli II,
44. — +) 4. a. DO. Kap. 14, Vignoli IL, ©. 45.
61°
964 0 10. Buch, Kapitel 12
Staaten ernennen. ') Noch ift der Beftallbrief vorhanden, 2) den
die römische Kanzlei damals ausfertigte. „Den Provinzen jenfeits
der Alpen,“ heißt es hier, „thun wir zu wiffen, daß wir den Erz
biihof von Mes, Drogo, den Sohn des glorreichen Kaifers Karolus,
durch deffen ruhmwürdige Thätigfeit einft das Reid
der Römer und Franfen vereinigt ward, zu unferem Stell-
vertreter eingefegt haben. Jedermann Teifte diefem Manne Gehor:
fam, der fich ebenfo fehr durch Reinheit der Sitten als durch hohe
Geburt auszeichnet, und Oheim unferes theuren Sohnes, des großen
Kaifers Lotharius, wie der geliebten Brüder deffelben, unferer Söhne
Ludwig’s (des Teutfhen) und Karls (des Kahlen) if“ u. ſ. w.
Diefe Maaßregel hatte einen tiefen Sinn; fie bezweckte nicht weniger,
als durch Firchliche Mittel den Kaifer Lothar zum Oberheren in den
Keichen feiner Brüder Ludwig und Karl zu machen. Denn wenn
es dem Erabifchofe gelang, von den teutfchen und neuftrifchen
Bifchöfen Anerkennung der Gewalt, die ihm der Pabft eingeräumt,
zu erringen, fo lagen die Kirchen beider Länder zu feinen Füßen,
und trefflich Fonnte er dann für die herrſchſüchtigen Zwecke feines
Beihügers Lothar arbeiten. Cine Andeutung diefer geheimen Ab:
ficht finden wir in den Worten des päbftlihen Brief: Drogo
fey der Sohn des großen Karl, der die Einheit und
Majeſtät des franfifhen Reichs gegründet habe.
Die Schlinge war jedoch zu plump gefchürzt, als daß fie
wirfen fonnte. Als Drogo über die Alyen zurückkam und feine
Vollmacht vorwies, berief Karl der Kahle im Dezember 844 bie
Bifchöfe feines Gebiets zu einer Synode nad DBerneuil, wo ber
Beſchluß ?) gefaßt wurde, die Erhöhung Drogo's erft dann anzu:
erfennen, wenn auch die teutfche Kirche ihren Beitritt erflärt haben
würde, d. h. niemals. Denn der hohe Clerus Germaniens hütete
ſich wohl, einen fo einfältigen Schritt zu tbun. Sp mißglüdte der
lan Lothar’s und Drogo's im Entftehen. Hinfmar von Rheims
fagt, ) Drogo habe die hohe Stellung, nach der er geftvebt, nicht
errungen, aber auch das Fehlſchlagen feiner Hoffnungen mit Gleich
muth ertragen. Obgleich durch den Widerftand der teutichen und
1) Prudentii annales a. a. O. Perz I., 440 Mitte. — 2) Manft XIV,,
806 unten flg. — 9 Acta coneilii in Verno can, 11, Baluziug II, 17
unten. — *) Opp. H., 737 untere Mitte.
rn 14
Die Päbſte Sergius II., Leo IV,, Nikolaus J. ꝛc. 965
neuftrifchen Bifchöfe das Anfehen des Pabſts biosgeftellt war, hat
man doch Urfache, anzunehmen, daß Sergius im Grunde feines
Herzens biefe Wendung der Dinge gerne fah. Zugleich mit der
Ernennung Drogo's zum päbftlichen Stellvertreter in den Kirchen
dieffeitS der Alpen hatte Kaifer Lothar auch die Wiebereinfegung
Ebo's auf den Stuhl von Rheims verlangt. Beide Forderungen
ftanden in engem Zufammenhang. Ebo follte Karl dem Kahlen
aufgedrungen werden und ſodann gemeinfhaftlih mit Drogo bie
neuftrifche Kirche dem Lothringer unterwerfen. Aber der Pabft,
der wider feinen Willen das erfte Anfinnen bewilligen mußte, ſchlug
das andere ab. D Daraus folgt denn, daß er die geheimen Ab-
ſichten des Kaifers nicht bilfigte. Noch deutlicher erhellt dieß aus
Dem, was fpäter geſchah. Um fernere Ränke Ebo's abzufchneiden,
vergab Karl der Kahle im Sommer 845 das erledigte Bisthum
Rheims an Hinkmar. Hätte fih der Pabft durch die Weigerung
der Neuftrier, den Beftallbrief Drogo’s anzuerfennen, beleidigt ge:
fühlt, fo brauchte er nur Ebo's Sache, wegen deren Lothar ihm
fortwährend zufeste, zu unterftügen und gegen Hinkmar fich zu er:
flären, fo büßten die Neuftrier für ihre Widerfeglichkeit. Aber er
ſchwieg, folglich war er mit dem Gange der Sachen zufrieden.
Bald darauf trat ein Ereigniß ein, welches die Päbſte in noch
größere Abhängigkeit von den fränfifchen Kaifern, als bisher, zu
bringen drohte. Um 828, alfo in Pabft Gregor’s IV. Tagen, war
die Inſel Sieilten, die bis dahin noch den griechifchen Kaifern ge:
horchte, durch Verrath in die Hände der afrifanifchen Saracenen ?)
gefallen. Seither griffen diefe Erbfeinde, durch die in Calabrien
herrfchende Verwirrung und den Verfall fränfifcher Macht ermutbhigt,
auch auf den gegenüber liegenden Küften Italiens um ſich, eroberten
842 die Stadt Bari ?) und fireiften vier Jahre fyater bis vor Rom.
Mit einer ftarfen Flotte fchifften fie im Sommer 846 die Tiber
herauf, plünderten die Petersfirche, die außerhalb der Mauern ftand,
und fehleppten fogar den Altar über dem Grabmale der Apoftel mit
fort. %) Die römiſchen Streitkräfte waren dem Andrange foldher
Gegner nicht gewachfen. Zwar erhellt aus den Angaben des Biblio:
) Anaftafius bei Vignoli III, 47 unten, fowie Kap. 10 dieſes Bandes
©. 815. — 9) Man fehe Muratori annali d’Italia IV., 543. — 5) Idem
Vol, V, ©. 6. — *) Prudentii trecensis annales ad annum 846 bei Per; I., 442.
669 | DI. Buch. Kapitel 12.
thekars, ") daß ber Pabft friefifche und ſächſiſche Schaaren in feinem
Solde Hatte; ihre Anzahl fcheint jedoch gering gewefen zu feyn.
Nur ber Kaifer Tonnte helfen, aber es ließ fi) vorausfehen, daß
ber Pabft jede Hülfe von biefer Seite mit Opfern erfaufen müffe.
Mitten unter dem Getümmel der faracenifchen Waffen ftarb Ser:
gius IL, Ende Januar 847 nad dreijährigem Regiment.
Alsbald wählten die Römer einmüthig den Diafon Leo IV.
zu feinem Nachfolger, allein ihm fofort auch ohne Faiferlihe Er:
laubniß die Weihe zu ertheilen, wagten fie nicht, weil die derbe
Züchtigung bei der vorlesten Pabſtwahl noch in friſchem Andenken
ſtand. Dritthalb Monate Yang dauerte daher eine Art Zwifchen:
reich. 7) Endlich aber, da Lothar, wie es ſcheint, nichts von ſich
hören ließ, und doch anderer Seits ein befürchteter neuer Anfall
der Sararenen die Nothwendigkeit auferlegte, entfcheidende Maaß—
regeln zu ergreifen, jchritten fie zur That und weihten den neuge:
wählten Pabft.- Zugleich fanden fie indeß für gut, ausdrücklich das
Beftätigungsrecht des Raifers vorzubehalten, ?) was diefen befriedigt
zu haben fcheint. Denn man findet nicht, daß Lothar fpäter die
Wahl mißbilligte oder die Wähler zur Strafe z0g. Leo IV. wid:
mete fofort feine ganze Thätigfeit Anftalten zu Vertheidigung der
Stadt und bes Gebiets. Er ließ die alten baufälligen Stadtmauern
ausbefiern, die Thore befeftigen, fünfzehn Thürme wieder herſtellen;
zwei andere führte er an.der Mündung der Tiber auf und verband
fie dur) fo ftarfe Ketten, daß auch nicht das Fleinfte Schiff durch—
fegeln fonnte. Um ferner die Petersfirche gegen ähnliche Ueberfälle,
wie der letzte des Jahres 846, zu fihern, verwirflichte er einen
Plan, den fhon Leo HI. gefaßt Haben fol. Auf dem jenfeitigen
Ufer der Tiber, hart an der Engelsburg, wurde während vier
Jahren eine neue Borftadt erbaut, welche ſich an die Petersfirche
anfchlog und mit Mauern umgeben. ward. Der Kaifer ſteuerte
nebft feinen Brüdern veichliche Geldbeiträge. Jede Stadt, jedes
Dorf, jedes Klofter des römifchen Herzogthums mußte Werffeute
ftellen. Ihrem Erbauer zu Ehren erhielt die neue Schöpfung ben
Namen Leo's-Stadt (civitas Leonina). Cine Menge Corfen hatten
1) Vita Sergii II., $. 46. Vignoli III., 62 unten. — *°) Den Beweis
bei Pagi breviarium Pontifieum romanorum IH., 69. — ?) Dieß deutet Anafta-
fius an a. a. O. $. 8. Vignoli IIL, 70 oben. Man vergleiche noch Pagi
a. a. O. ©. 64.
ER en. a
——
Die Päbfte Sergius II., Leo IV., Nikolaus I. ꝛc. 967
aus Furcht vor den räuberiihen Landungen der Saracenen ihre
Heimath verlaffen und in Rom Schuß geſucht. Leo fiedelte fie in
dev Stadt Portus am Ausfluſſe der Tiber an und fchenfte ihnen
MWiefen, Acker und Weinberge. Auch andere verfallene Orte baute
er wieder auf. und umgab. fie mit Mauern. Der kühne und thätige
Pabſt wußte den Geift, der ihn befeelte, auch Anderen mitzutheilen.
Durch feinen Eifer ‚fam eine Berbindung mehrerer Geeftäbte des
mittleren und untern Staliend zu Stande. Die Bürgerfchaften
son Amalfi, Neapel und Gaeta ließen ihre Schiffe zu den päbſt—
lichen ftoßen und im Sommer 849. erftritten die vereinigten
Flotten auf der. Höhe von Be einen herrlichen Seefieg über bie
Sararenen. !)
Indeſſen war der junge König Ludwig von feinem Water
Lothar zum Mitfaifer erklärt worden. Im Jahre 850 ſchickte ihn
Lothar nah Nom, wo ihn Leo IV. frönte. ) Wenn fo der Pabft
wider feinen Willen dem Kaifer Dienfte leiſten mußte, fo erhielt
er anderer Seits eine erwünfchte Gelegenheit, die fränfifche Kirche
feine Macht fühlen zu lafjen. Anlaß dazu boten gewiſſe Streitig-
feiten Hinfmar’s, bie in das Jahr S45 zurüdreichen. Zwei Monate
nach feiner Erhebung auf den Stuhl son Nheims warb dem neuen
Erzbifchof die Anzeige gemadt, daß fein Amtsvorfahr Ebo zu ber
Zeit, da er den Sprengel unter Lothar's Schus zum zweitenmale
verwaltete, einige Clerifer geweiht habe, welche bis zu weiterer
Unterfuchung der Sache von ihren Aemtern entfernt zu werden ver⸗
dienten, weil Ebo damals, als rechtlich abgefegter Bifchof, Feine Be:
fugnig ‚hatte, Weihen zu ertheilen. . Hinfmar fand die Borfiellung
begründet und gab dem nachmaligen Bifchofe Pardulus, der zu
jener Zeit Diakon an der Rheimſer Hauptficche war, Befehl, jenen
Glerifern ihre Abfegung anzuzeigen, 3) Ungefähr act Jahre nad
dieſem Vorfall, im Sommer 853, ‚berief der König Karl ber Kahle
nad) dem Medarbusklofter zu Soißons eine Synode, auf welcher
außer den. vier Metropoliten, Hinfmar yon Aheims, Wenilo von
Sens, Paulus yon Rouen, Amalrich von Tours, viele Biſchöfe und
‚Aebte erfchienen. Während die Berfammlung über andere Dinge
berathſchlagt, wird gemeldet, daß einige Cleriker des Nheimfer
H Anaſtaſius a. a. D. $. 38. 39. 40. 49 flg. — ?) Prudentii trecensis
‚ annales ad annum 850, Perz I., 445 oben. — 3) Hincmari Opp. II., 306,
968 UIII. Buch. Kapitel 12.
Sprengeld vor der Thüre feyen und Gehör verlangen. D Man
hieß fie eintreten — es waren die abgefetten Geiſtlichen. Zuerft
wollten fie ihre Sache mündlich vorbringen, aber Hinfmar bedeutete
fie, daß in kirchlichen Angelegenheiten Alles fchriftlih verhandelt
werden müſſe. Sie traten nun wieder ab und überreichten nad)
einigen Stunden der Synode eine Bittfehrift, in welcher fie über
Hinfmar’s Verfahren Klage führten und Wiederherftellung in ihre
Aemter forderten. Als Beklagter konnte Hinfmar jett nicht mehr
der Synode anwohnen; er verließ die Verfammlung, nachdem er
zuvor die Metropoliten Wenilo und Amalrih, fammt dem in den
Yesten Jahren auf den Stuhl von Laon befürderten Biſchof Par:
dulus, für feinen Theil zu Schiedsrichtern ernannt hatte, Den
Klägern wurde fofort freigeftellt, ob fie die nemlichen Nichter oder
andere erwählen, ob fie einen verwerfen, oder einen vierten hinzu—
fügen wollten. Sie begnügten ſich, das Lebtere zu thun; ihre
Stimme fiel auf Prudentius yon Troyes, der damals bereits in
Gotſchall's Sache gegen Hinfmar aufgetreten war. Die Inter:
fuhung begann, bei welcher fich herausfiellte, daß Ebo (835) recht:
mäßig abgefest und nie wieder canonifch eingefeßt worden fey, daß
folglich) die Weihen, welche er bei feiner zweiten gewalttbätigen Amts—
führung ertheilt, fo wie feine übrigen Handlungen feine Gültigfeit
hätten. Die Synode entfchied alfo gegen die Cleriker. Nun be:
hauptete aber Einer berfelben, Fredebert, in feinem eigenen und
feiner Genoffen Namen, daß fie in befter Ueberzeugung fich hätten
von Ebo weihen Yaffen; denn alle Welt wiffe, wie die Suffragane
des Nheimfer Erziprengels, und unter ihnen namentlich auch Rothad
von Soißons, auf Befehl des Kaifers Lothar (um 840) in Rheims
zufammengetreten feyen, um Ebo wieder einzufesen. Zum Beweiſe
legte er eine Urkunde vor, Fraft welcher neun Biſchöfe mit ihrer
Namensunterfchrift Ebo's Wiederherftellung gebilligt hatten, und er
machte weiter geltend, daß in Folge diefes Afts Ebo dreien Bifchöfen
des Sprengeld, die ſchon vorher erwählt, aber noch nicht in ihr
Amt eingeführt waren, Ning und Stab eriheilte. Emmo, Bifchof
von Noyon, den die Ausfage Frebeberts bloßftellte, weil fein Name
gleichfalls auf der yon dem Elerifer vorgelegten Urkunde fand, erflärte
») Dieß und das Folgende nach den Akten der Synode von Soißons *
Manſi XIV., 982 unten flg.
*
A
E
|
x
i
a
Die Päbfte Sergius IT., Leo IV., Nikolaus I. ıc. 969
die Unterfchriften für falfch und führte aus einer vorgelegten Schrift
den Beweis, daß die Suffragane des Rheimſer Sprengel ſich ver:
bunden hätten, Feine Gemeinfchaft mit dem abgefesten Ebo zu halten.
Zugleich verlangte er, daß die Bittfteller als Verläumder der Bifchöfe
beftraft werden follten. Ä
Die Ausfagen zweier Partheien fanden ſich bier fo fchroff ent:
gegen, daß man nothwendig annehmen muß, entweder habe bie eine
von beiden Urkunden gefälfcht, oder aber fey irgend ein Geheimniß
in der Sache verborgen. Yaut dem Berichte Hinfmar’s ') ftellte
auch Nothad yon Soißons, glei dem Bifchofe Emmo, die Wahrheit
des Zeugniffes der Elerifer auf einer fpäteren Synode zu Troyes
in Abrede. Gleichwohl Fann man kaum zugeben, daß die abge-
festen Geiftlichen über fo weltfundige Dinge, wie die Vorgänge
nach der Wiederherftellung Ebo's waren, bie unverfchämteften und
überdieß Teicht zu widerlegende Lügen vorgebracht haben follten.
Ein ausführlicher Bericht *) derfelben ift auf uns gefommen, in
welchem fie die ganze Gefchichte der zweiten Amtsführung Ebo’s
auf vollig glaubhafte Weife auseinanderfegen und ihre auf ber
Berfammlung zu Soißons vorgebrachten Ausfagen beftätigen. Wie
verhält es fi) aber num mit der Urkunde, welche Emmo vorwies?
Wir wollen furz unfere Meinung fagen: es ſcheint ung, als hätten
die Bifchöfe der Rheimſer Kirchenprovinz, nachdem Ebo durch Kaifer
Lothar gewaltfam wieder eingefest worden war, um fich fiir mög:
liche Fälle zu fichern, doppeltes Spiel gefpielt, fofern fie nemlich
aus Furcht vor dem SKaifer den Erzbifchof anerfannten und bie
Handlungen, die er vornabm, öffentlich gut hießen; aber zugleich)
auch insgeheim eine Urfunde aufſetzten, kraft welcher fie jede Ge—
meinfchaft mit dem Eindringling zu meiden erflärten. Wäre es
Lothar gelungen, fich in Neuftrien zu halten, fo würden fie nie
Gebrauch von Teßterer Urkunde gemacht haben; biefelbe follte nur für
ben Fall dienen, der wirklich eintrat, daß Lothar Neuftrien wieder
räumen mußte. Wenn die Waffen zu Gunften Karl’s des Kahlen
entfchieden, hofften fie den Zorn des Siegers durch VBorweifung
jener Schrift abzuwenden, denn fie berechneten dann, mittelft der
Urkunde den Beweis führen zu können, daß fie in ihres Herzens
') Opp. II., 824 unten. — ?) Abgedruckt bei Dom Bouquet script, rer.
franc. VII, 277 fig.
970 | I. Buch. Kapitel 12.
Grunde Ebo verabfeheut und nur durch Lothar gezwungen ihn ge:
duldet hätten. Die von Emmo auf der Berfammlung zu Soißons
vorgewieſene Schrift war unſeres Erachtens eben jene geheime Ur:
funde. Dem fey nun, wie ihm wolle, gewiß ift, daß bie Synode
der Ausfage Emmo’s yon Noyon mehr Glauben ſchenken zu müſſen
vermeinte, als den Behauptungen Fredebert's. Die Abſetzung der
Cleriker wurde beſtätigt, ſie ſelbſt als Verläumder der Biſchöfe vom
Genuſſe des Abendmahls ausgeſchloſſen. Alsbald legten dieſe Be—
rufung auf den Stuhl Petri ein.
Das Urtheil der Synode war von höchſter Wichugkeit für
Hinkmar; denn entweder er ſelbſt oder die Cleriker mußten den
Platz räumen. Wurde die Abſetzung der letztern als ungültig ver—
worfen, ſo folgte daraus mittelbar, daß Ebo bei ſeiner zweiten
Amtsführung das Recht hatte, Weihen zu ertheilen, und daß er
weiter alle andern biſchöflichen Befugniſſe beſaß. Dieß konnte man
ihm aber nicht zugeſtehen, ohne zugleich feine im Jahr 835 erfolgte
Berurtheilung für kraftlos und dagegen feine Wiederherſtellung im
Sahre 840 für rechtmäßig zu erklären. In lesterem Fall war die
Erhebung Hinfmar’g auf den Stuhl von Rheims ungültig. Wie ein
Eindringling und Kirchenräuber fand er da! Diefer Gefahr beugte
nun allerdings die letzte Entfcheidung der Synode vor, aber ob auf
die Dauer und für immer? mußte fich erſt zeigen. Leicht fonnte eine
ungünftige Wendung eintreten. Aus den angeführten Thatſachen
erhellt, daß Kaiſer Lothar ſich nicht blos in der Zeit vor Abſchluß
des Verduner Staatsvertrags eine Parthei unter dem hohen Clerus
Neuſtriens gebildet hatte, ſondern auch daß er jetzt noch geheime
Freunde im Lande zählte und mit ihnen Verbindungen unterhielt.
Hinkmar's ruhiger Beſitz des Rheimſer Erzbisthums hieng von Aug:
ſchließung der Anſprüche Ebo's ab. Nun verdankten aber mehrere
Suffragane des Sprengels dieſem Schützlinge Lothar's ihre Stühle;
folglich war ihre Stellung durch Hinkmar bedroht, der daher ſeiner
Seits nur Schlimmes von ihnen erwarten durfte. Zwar ſcheint es,
als habe Hinkmar den Plan gehabt, die Feindſchaft der von Ebo
während ſeiner zweiten Amtsführung eingeſetzten Biſchöfe dadurch
zu entwaffnen, daß er, zufrieden mit Aufopferung der niedern Ceriker,
die Vergangenheit der höheren nicht weiter unterſuchen zu wollen
Miene machte. Dennoch begreift man, daß bei ſolchem Stande der
Dinge kein rechtes Vertrauen zwiſchen beiden Theilen herrſchen konnte.
Die Päbſte Sergius IL, Leo IV., Nikolaus I. ꝛc. 974
Daher war es natürlich, wenn Hinfmar vor Allem Maaßregeln
traf, die Beichlüffe von Soißons fo fehr als möglich zu befeftigen.
Hiezu bedurfte er die Unterftügung des Stuhles Petri, und fo ge:
ſchah es denn, daß der Pabſt die früher erwähnte Gelegenheit er:
hielt, in die innern Verhältniſſe der fränfifchen Kirche einzugreifen.
Hinkmar wandte fih an Leo IV. mit der Bitte, das Urtheil
der Berfammlung von Soißons fraft apoftolifcher Vollmacht zu be—
ftätigen. Wir befisen die Antwort des Pabſts felbft nicht mehr,
wohl aber ein Schreiben des Erzbifchofs yon Rheims, aus weldem
der päbftliche Befcheid hervorgeht. Hinkmar berichtet nemlich, ')
Leo IV. habe das Anfinnen aus folgenden Gründen zurüdgemwiefen:
weil Fein römifcher Abgefandter auf der Synode zugegen gewefen,
weil ferner das Geſuch an den Wabft durch Fein Faiferlihes Schreiben
unterflügt worden fey, endlich weil die abgefesten Elerifer in einem
eigenen Schreiben auf den Stuhl Petri berufen hätten. Nicht
abgefchredt durch diefe Weigerung, that Hinfmar neue Schritte in
Rom, über welche jedoch die auf uns gefommenen Zeugnifje nicht
übereinftimmen. In einem feiner Briefe behauptet ) Pabſt Nifo-
Yaus I., fein Vorgänger Leo IV. habe, durch wiederholte Bitten
Hinfmar’s beftürmt, ein zweites Schreiben an denfelben erlaffen, in
welchem er verordnete, Hinfmar und die Gierifer follen fih vor
einer Synode ftellen, auf welcher der Biſchof Peter son Spoleio
als yähftlicher Bevollmächtigter die Sache von Neuem unterfuchen
werde; im Falle auch diefe Berfammlung die Abfegung der Cleriker
gut heißen würde, bleibe es den Lestern unbenommen, noch einmal
auf das Urtheil des Stuhles Petri zu ‚berufen, und dann müſſe
Hinfmar entweder in eigener Perfon oder durch Stellvertreter zu
Nom erfcheinen, damit dort das Endurtheil gefällt werben könne.
Nikolaus fügt bei, Hinkmar habe diefer Mahnung Leo's IV. feine
Folge geleiftet.. Allein der Erzbifchof felbft Yäugnet 3) aufs Beftimm-
tefte, daß ihm ein ſolches Schreiben aus Rom zugekommen fey.
Wer hat nun Recht? wir glauben Nikolaus! Denn außerdem,
dag wir den Pabſt einer fo groben Lüge unfähig halten, hat
feine Ausfage überwiegende Wahrfcheinlichkeit für fih. Die Streitig-
feit wegen. der yon Ebo eingefeßten Cleriker verhieß dem Stuhle
) Opp. II., 306 gegen unten fig. — °) Manfi XV., 740 Mitte. —
3) Opp. II., 307,
972 I. Buch. Kapitel 12.
Petri, feit der eingelegten Berufung, unermeßliche Vortheile; denn
das Schieffal ſämmtlicher Geiftlichen des Aheimfer Sprengels war
dadurch in die Hände des Pabſts niedergelegt. Erflärte er, nad
Hinfmar’s Wunfche, die zweite Amtsführung Ebo's für geſetzwidrig,
jo verloren nicht bios jene niedern Geiftlichen, fondern auch faft
fimmtliche Suffragane des Sprengels von Nechts wegen ihre Stellen,
weil fie mit einem Eindringling Gemeinfchaft gehalten. Entfchied
er dagegen zu Gunften Ebo's und ber Kläger, fo mußte Hinkmar
weichen, weil er dann als Näuber eines Stuhles .erfchien, der nicht
erledigt war. Man fieht daher, wie Leo IV. dadurch, daß er bie
Berufung der Clerifer annahm, gleichfam ein Schwert des Damofleg
über den Häuptern der Rheimſer Geiftlichfeit fchwingen und yon
den Schwerbedrängten Alles erlangen fonnte, was er nur wünſchte.
Warum hätte er alfo eine fo treffliche Gelegenheit nicht benüßen,
oder mit andern Worten, warum hätte er nicht fo verfahren follen,
wie er laut der Ausfage feines zweiten Nachfolgers Nikolaus wirk
lich verfuhr. Anderer Seits ift es nicht fchwer, das Läugnen Hink—
mar’s zu erklären. Wir vermutben, daß er und fein König Karl
übereingefommen waren, zu dem Schreiben Leo's IV. zu ſchweigen
oder baffelbe als nicht empfangen zu behandeln. Jedenfalls war Dieß
das Klügfte, was fie unter den obwaltenden Verhältniſſen thun
fonnten.
Auch jest noch gab der Erzbifhof die Hoffnung nicht auf, vom
Stuhle Petri Das, was er fo fehnlich winfchte, zu erringen. Alle
Hebel feste er in Bewegung, felbft bisherige Gegner wurden ver:
mocht, für ihn zu wirfen. Aus feinen eigenen Aeußerungen erhellt,
daß ein mächtiger Fürfprecher und zwar ein folder, mit dem
er.bisher auf gefpanntem Fuße fand, nunmehr zu Nom
feine Stimme für ihn erhob. Hinfmar berichtet nemlich in der
mehrfach angeführten Urkunde: ) feiner erften Bittfehrift an den
Pabft, dag die Befchlüffe der Synode von Soißons beftätigt werben
mögen, habe der Kaifer Lothar eifrig entgegen gearbeitet und Leo IV.
zu einer abfchlägigen Antwort bewogen. Als aber dieß in Gallien
befannt geworben, hätten gewiſſe neuftriihe Biſchöfe dem Kaifer die
ernftlichten Borftellungen gemacht, worauf Lothar wirklich anderen
Sinns geworden fey. Durch zwei feiner Bevollmächtigten, die den
—— — —
9 Opp. IL, 307.
Die Päbſte Sergius IL, Leo IV., Nikolaus I. ꝛc. 973
gleichen Namen führten, Petrus, Bifhof von Arezzo, und Petrus
von Spoleto, habe er fich jest ernftlich für Hinfmar in Nom ver:
wenbet. Ueber die Frage, was ber Zweck diefer Faiferlichen. Ber:
wendung gewefen, giebt eine andere Duelle Aufſchluß. Ein Brief ')
ift nemlich auf ung gefommen, worin Lothar vom Pabfte nicht
weniger als das Pallium für Hinkmar erbittet. Weiter erfahren
wir aus Flodvard’s Geſchichte ?) der Rheimſer Kirche, dag ber Erz
bifchof wirklich die erwünfchte Gabe, und zwar buch Vermittlung
jener beiden gleichnamigen Biſchöfe von Arezzo und Spoleto, erhielt.
Lothar, der langjährige Gegner Hinfmar’s, tritt alfo plötzlich ale
deffen wärmfter Freund in Nom auf. Wie fol man fich dieſes
Räthſel erklären? Es empfängt fein Licht aus unferer obigen Dar-
ftellung der Verhältniffe und ift zugleich ein Beweis ihrer Wahrheit.
Als Lothar zuerft erfuhr, daß Hinfmar fih nah Nom gewendet
babe, um die Betätigung der letzten Synode zu erlangen, folgte
er einzig den Eingebungen feines Haffes und durchkreuzte Die Ab:
fichten des Aheimfer Metroppliten. Darum geſchah, was Hinkmar
felbft berichtet. Aber nun führten die neuftrifchen Biſchöfe dem
KRaifer zu Gemüth, daß dur den yon Lothar herausgeforderten
Befcheid des Pabſtes nicht blos Hinfmar’s Zukunft, fondern ihre
eigene Sicherheit aufs Schwerfte bedroht fey, denn wenn Leo IV.
darauf beftand, eine neue Unterfuchung der älteren Vorgänge im
Rheimſer Sprengel anzuordnen, mußte es fi) herausfiellen, daß
fie mit dem abgefesten Ebo Gemeinfchaft unterhielten, was fie gleicher
Berdammniß, wie die von Hinfmar vertriebenen niederen Clerifer,
ausgefest hätte. Und zwar fonnte Lothar nicht umhin, diefen Bor:
ftellungen der Neuftrier Gehör zu fehenfen, denn biefelben waren
ja enge mit ihm verbunden; wenn er fie vor den Kopf ftieß, hatte
er feine Parthei im Neiche feines Bruders Karl’s des Kahlen mehr.
Wie follte nun geholfen werden? Das unter andern Umftänden
einfachfte Mittel, um die ob den Häuptern feiner Freunde fchwebende
Gefahr abzuwenden, nemlich eine Aufforderung an Leo IV., daß
er die Sache der niedern Eferifer fallen laſſen möge, war jet nicht
mehr anwendbar, weil der Kaifer den Pabſt faum zuvor zu ber
) Manſi XIV., 884 Mitte fig. — 9 II, 10 in Sirmond’s Werfen
IV., b. ©, 119 gegen unten, und 420 Mitte. Man vergleiche auch die Note
Labbe’g bei Manſi XIV., 886.
974 IT. Buch. Kapitel 12.
entgegengefesten Maaßregel beftimmt hatte und weil vorauszufehen
war, daß Leo eine eben gegebene Entſcheidung nicht zurücknehmen
werde. Lothar und feine Rathgeber verfielen daher auf einen andern
Ausweg. Wenn der Pabft einwilligte, dem Metroppliten yon Rheims
das Pallium zu gewähren, fo enthielt diefer Aft Alles, was bie
neuftrifhen Mitverfhwornen des Kaifers wünſchten, nemlich eine
mittelbare Anerfennung der Rechte Hinfmar’s auf den Rheimſer
Stuhl und fomit auch das ftillfchweigende Berfprechen, frühere Sün—
den, die in der Didcefe begangen worden feyn mochten, nicht weiter
aufzurühren. Wirklich gieng der Pabſt auf Lothar's Anträge ein
und Hinfmar errang durch bie Angft feiner Feinde, was er
dem guten Willen derfelben nie verbanft haben würde. Seit Empfang
des Palliums ſchickte der Metropolit noch eine vierte Botfchaft nach
Rom ab; als jedoch feine Gefandte dafelbft Hg) fanden fie
Leo IV. nicht mehr am Leben.
Aus Dem, was bisher berichtet worden, gebt hervor, daß Leo IV.
ftaatsflug jede Gelegenheit benüste, um feine Macht in den Ländern
jenfeit8 der Alpen auszudehnen. Auch an dem Plane feiner Bor:
gänger, den Stuhl Petri vom Faiferlihen Joche zu befreien, hat er
rüftig fortgearbeitet. Unter Leo IV. Fam eine Veränderung im römi-
ſchen Ranzleiftyl auf, welche tiefe Abfichten verräth. Frühere Päbſte
hatten, wenn fie an Kaifer oder andere mächtige Fürften ſchrieben,
in den betreffenden Briefen gewöhnlicd die Namen der Empfänger
sorangeftellt und den ihrigen folgen laſſen. Leo IV. ſchaffte den
bisherigen Gebrauch ab; in allen Schreiben, die er erließ, fleht der
Name des Pabftes voran, aud giebt er den Fürften, an welde er
fchreibt, nicht mehr den fonft üblichen Titel Dominus. ) Sämmt-
liche Nachfolger Leo's IV. Haben diefe Aenderung beibehalten, durch
welche der Pabſt zu verftehen gab, daß er das Hohenpriefterthum
Petri als die erftie Würde der Welt betrachte und nicht mehr ge-
fonnen fey, irgend einen Oberherrn anzuerkennen. Leo IV. that
noch einen Fühneren Schritt auf der Bahn zur Unabhängigkeit, tiber
den wir jedoch nur mangelhafte Nachrichten befigen. Der Biblio:
thefar Anaftafius erzählt ) nemlich, im Jahr 855 fey der (fränkiſche)
) Der Sefuite Garneriug hat in feiner Ausgabe des liber diurnus
©. 151 unten zuerft diefe Abänderung bemerft, — 2) Vita Leonis IV;, $. 110,
Vignoli IIL, 140 flg.
Die Päbſte Sergius IL, Leo IV,, Nikolaus J. ıc. 975
Befehlshaber Daniel von Nom zum Kaifer Ludwig II. gekommen
und habe bie Anzeige gemacht, Daß zu Nom eine Verſchwörung
gegen die fränfifche Herrichaft angezettelt werde. Laut feiner Aus:
fage follte der oberfte Anführer der pähftlichen Truppen, Gratianus,
inggeheim gegen ihn geäußert haben: „die Sranfen thun uns nichts
Gutes und können uns auch nicht helfen, vielmehr rauben fie unfer
Eigenthbum. Darum wollen wir die Griechen herbeirufen, mit ihnen
ein Bündniß fehließen und fodann König und Volk der Franfen aus
Stafien vertreiben.“ Anaſtaſius fährt fort: auf diefe Meldung bin
fey Kaifer Ludwig IL wie ein Wüthender nad) Nom geeilt, aber
Daniel habe feine Anklage nicht beweifen Fönnen, worauf der Kaifer
wieder im Frieden abgereist fey. Anaſtaſius ift ein höchſt partheiifcher
Gefchichtfehreiber, der ftets zu Gunften der Päbſte färbt. Wir ver:
fagen daher dem Yegteren Theile feines Berichts den Glauben, und
getrauen ung tiefer unten einen Beweis dafür zu führen, daß die
Verſchwörung, von welcher er fpricht, ernfllich gemeint war. = IV.
farb kurz nad) biefen Borfällen im Juli 855.
Eine alte Sage, welche wohl bis ing eilfte Jahrhundert hinauf.
reicht, aber in ihrer völligen Ausbildung erft bei einem Gefchicht:
fchreiber des dreizehnten, Martin dem Polen, erjcheint, giebt Leo IV.
einen Nachfolger der feltfamften Art. Der ebengenannte Pole be:
richtet ) Folgendes: „ein in Mainz gebornes Mädchen warb von
ihrem Liebhaber nach Athen geführt, wo fie männliche Kleidung
anlegte und bewunderungswürdige Fortfchritte in den Wiffenfchaften
machte. Später gieng fie in gleicher Verkleidung und Gefellfchaft
nad Rom, trat dort unter dem Namen Johann des Engländers
auf und erregte durch ihre Gelehrfamfeit folhe Bewunderung, daß
man fie nach dem Tode Leo's IV. einftimmig zum Pabſte wählte,
—
) Im Laufe des 17ten Jahrhunderts, wahrend der Streit über die Päbſtin
Sohanna hauptfächlich geführt wurde, haben zwei Neformirte am Gründlichften
diefe Trage behandelt: gegen die Fabel fehrieb Dav. Blondel (de Johanna
Papissa, Amsterdam 1657. 8f0.), als Bertheidiger derfelben trat auf der
jüngere Syanhemiug (de papa foemina — disquisitio Lugdun. 1691. 8to).
Die Beweisftellen aus den mittelalterlichen Gefchichtfchreibern eitire ich theil—
weife nach Diefen beiden Schriftftelfern ; da Partheigeift mehrfach alte Zeugniffe,
welche die Wirklichkeit der Päbſtin Johanna zu beweifen feheinen, aus ven ges
dructen Ausgaben weggelaffen hat, Die Stelle aus Martinus Polonus ſteht
bei Spanhemius a. a. O. ©. 59.
976 II. Buch. Kapitel 12.
Zwei Jahre einen Monat und vier Tage faß das verfappte Mäd—
hen auf dem Stuhle Petri. Indeſſen war fie von ihrem Lieb:
baber gefchwängert worden, ohne die Zeit ihrer Niederfunft zu wiffen.
Als fie nun eines Tags einen feierlichen Umzug aus dem Batifani-
hen Pallaft nach dem Lateran hielt, fiel fie in Geburtswehen und
brachte ein Kind zur Welt, ftarb aber gleid) darauf. Seitdem,“ fügt
ber Pole bei, „vermeiden die Päbſte bei ähnlichen Umzügen ftets jene
Gegend aus Abfcheu por der Begebenheit; auch ward ber weibliche
Pabft nie in das Berzeichniß der übrigen aufgenommen.“ Es ift
an fih Far, daß die Ausfage eines Gefchichtfchreibers vom Jahre
1280 nicht genügt, um ein Ereigniß, das im neunten Jahrhundert
ftattgefunden haben foll, zu erweifen. - Proteftanten, welche in ber
Geſchichte der Päbftin Johanna eine willfommene Waffe wider den
römifchen Katholicismus fahen, beriefen fih auf ältere Zeugen. Sie
machten geltend, daß in mehreren Handfchriften der Pabftgefchichte
des Bibliothefars Anaftaftus das ärgerliche Regiment der Johanna
auf ähnliche Weife, wie von Martin dem Volen, erzählt werbe,
Die Sache hat ihre Richtigkeit; Fabrotti und Bianchini, zwei
Herausgeber des Anaftafius, geben die Behauptung zu, aber längſt
hat man bewiejen, daß bie betreffende Stelle nur in den jüngern
Abſchriften fich finde und durch eine fpätere Hand, wahrfcheinlich
aus der Chronif des Polen, in den Achten Text des Bibliothefars
eingefhoben worden fey. Daher verzichtet felbft Spanhemius auf
das Zeugniß des Anaftafius. Als der zweitnächfte Zeuge wird ber
ffotiiche Mönch Marianus geftellt, der um bie Mitte des eilften
Jahrhunderts in Teutfchland lebte. Diefer Mann fagt ') wirklich
in feiner Chronik zum Jahr 854: „Auf Leo IV. folgte Johanna, ein
Weib, das zwei Jahre fünf Monate vier Tage regierte.“ Bon
Nun an werden die Zeuaniffe häufiger. Sigbert von Gemblourg ?)
(um 1090), Dtto von Freyfing ?) (um 1160), Radulf von
Flair *) (um diefelbe Zeit), Gotfried von Biterbo ?) (1190),
endlich der päbftlihe Beichtvater Martin von Polen, ſprechen
fürzer oder ausführlicher, am umftändlichften der Pole, yon der
Papftin Johanna, Zwar behaupteten mehrere Romaniſten, daß bie
1) Pistorius Script. rer. germanicarum I, 442 a. Mitte, — ?) Chrono-
graphia ad annum 854, bei Piftorius a. a. O. J., 565 (Ausgabe Frankfurt
4613. Fol.). — ?) Chronicon lib. VH. cap. 55, bei Urstisius script. rer,
germ, L, 163. — *) Man fehe Blondel ara. O. ©. 3. — 9) Ibid, unten.
Die Päbfte Sergius IL, Leo IV., Nikolaus I. ıc. 977
betreffenden Stellen in einigen Handſchriften der Chronifen des
Marianus, wie Sigbert's yon Gemblours und des Polen Martin
fehlen, aber wenn dieß auch der Fall ift, fo verhält es fich damit
umgefehrt wie mit dem unterfchobenen Zeugniffe des Bibliothefars.
Partheigeift bat fie nicht eingerücdt, fondern ausgetilgt: Seit den
Zeiten des Polen ift die Geſchichte der Päbſtin Johanna Gemeingut
aller europäifchen Nationen. Blondel führt ) nicht weniger als 59
Söriftfteler an, die von 1300 bis 1600 die Päbftin für eine ge:
fchichtliche Perfon bielten. Endlich berufen ſich die Vertheidiger der
Pabftin, neben diefen fchriftlichen Ausfagen, auch auf Runftdenfmale.
Diederih von Niem, der zu Anfang des fünfzehnten Jahrhun—
berts in Rom als päbftlicher Geheimfchreiber Tebte, fpricht 9 als
Augenzeuge von einer Bildfäule Johanna’s, eine andere fah zu
Siena im Jahr 1634 Johann Launoy. ?) Dean fieht alfo: bie
in den Anfang des eilften Jahrhunderts reicht die Sage, daß um
855 eine Dirne auf dem Stuhle Petri faß, und durch das ganze
Mittelalter hindurch wurde derfelben Glauben gejchenft. Gleichwohl
ift fie erweislich falih. Kein Schriftfteller des neunten Jahr:
hunderts, fein Zeitgenoffe weiß ein Wort von der Päbftin, nicht
fränkiſche oder italiihe Chronifenfchreiber, nicht Ado, nicht Hinfmar,
nicht der Grieche Photius, Todfeind römischen Hohenprieftertbums,
fennen fie. Noch mehr: ein Zeugniß ift aus diefem Zeitraum auf
ung gefommen, das mit unbeftegbarer Kraft die Gefchichte der
Pabftin in das Neich der Mährchen verweist, In dem oben mehr:
fach angeführten Schreiben berichtet Hinkfmar, ) daß er 855 Ge
fandte nad Rom ſchickte, um mit Leo IV. zu unterhandeln, „Wäh—
rend biefelben unterwegs waren,“ fährt er fort, „erfuhren fie, daß
Leo IV. geftorben fey, und wie fie in Nom anlangten, fanden fie
den Stuhl Petri bereits mit Benedikt IIL beſetzt.“ Benedikt ift alfo
unmittelbar auf Leo IV. gefolgt, folglich bleibt Fein Raum übrig
für ein zweijähriges Pabſtthum des Mainzer Mädchens. Was foll
man nun aber von dem Urfprunge des Mährchens denfen? Kaum
fann man zweifeln, daß es einigen Grund haben muß, weil es fo
Allgemein geglaubt und fo weit verbreitet wurde, DBerfchiedene Ver:
iy Ibid. ©. A fig. — 2) In der Schrift de privilegiis et juribus imperii,
abgedrudt bei Gol daſt de monarchia imperii Tom. II., ©, 1476. —
3) Opp. II, a. ©. 67 fig. — *) Opp. ed, Sirmond II., 507 Mitte,
Gfrörer, Kircheng. II. 62
978 II. Buch. Kapitel 12.
muthungen find aufgeftellt worden, ) die uns theils läppiſch, theils
ungenügend dünfen, weil fie namentlich den Zeitpunft, im welchen
die Sage das Regiment der Dirne verfegt, nicht erffären. Unſere
Anficht ift folgende: die Schneide der Fabel befteht in den beiden
Punften, daß die Dirne aus Mainz flammte und daß fie, von
Griechenland (Athen) Fommend, den päbftlihen Stuhl eingenommen
bat. In dem erften erfenne ich eine verdammende Hindeutung auf
das Geſetzbuch des falfchen Sfidor, in dem zweiten einen alfegorifchen
Tadel des Bundes, den Leo IV. mit den Byzantinern ab-
fhliegen wollte. Immer bat es unter dem Fatholifchen Clerus
eine, wenn auch oft Fleine, Schaar Auserwählter gegeben, die, vom
Geifte des Evangeliums erfüllt, jeden einreißenden Mißbrauch ver:
warfen. Solchen Männern mußte die pfendoifidorifhe Sammlung,
welche damals von Mainz aus fih nad Italien und Nom zu ver:
breiten begann, als ein greulicher Betrug erfcheinen. Ebenfo gewiß
haben fie den Plan Leo's IV. mißbilligt, mit den Fürften des Abend:
lands zu brechen und fi) den Byzantinern in die Arme zu werfen.
Mit Recht hielt Intinifch = germanifches Selbfigefühl die Griechen für
ein verworfenes Gefchlecht. In einer Verbindung des Pabſtthums mit
dem Throne zu Conftantinopel Fonnten daher rechtfchaffene Cleriker
nur eine Art geiftlihen Ehebruchs ſehen. In welcher Form werben
nun dieſe Richter ihren Tadel ausgefprochen haben? Wir denken ung
alfo, daß fie fagten: in den legten Zeiten Leo's IV. fey die päbſt—
fiche Gewalt von Mainz und Griehenland aus mißbraudt,
oder mit Anwendung des Bildes, das die Staliener für ſolche Fälle
ſteis im Munde führen, fie fey damals zur Hure gemacht wor-
den. Damit haben wir die Grundzüge der Fabel. Sehr oft find aus
anfänglichen Allegorien hiſtoriſche Sagen entftanden. Daffelbe ge
ſchah, wie ung fiheint, auch hier. Sobald aber die Umwandlung
erfolgte, konnte das Mährchen faum eine andere Geftalt annehmen,
als daß man bichtete, nad) Leo habe den’ Stuhl Petri eine Hure
beftiegen, die aus Mainz abftammte, aber in Griechenland ihre
Künfte erlernt Hatte. So erklärt Liefert die Fabel von der Päbſtin
Sohanna einen mittelbaren Beweis für die Wahrheit zweier
Thatſachen, die wir freilih ſchon aus andern Duellen fennen,
nemlich dag Mainz die Werkftätte Pſeudoiſidors war und daß Leo IV.
) Man fehe Blondel a. a. O. ©. 58.
Die Päbſte Sergius IR; Leo IV., Nikolaus I. ꝛc. 979
ſich tiefer mit den Byzantinern eingelaffen haben muß, als ber
päbſtliche Bibliothekar eingeftehen will.
Gleich nad) Leo's Tode wurde vom Bolfe und Clerus Bene
dift III, ein geborner Römer, zum Pabſte gewählt. Die Wahl
war jedoch hart beftritten. Leider giebt Anaftafius, unfere einzige
Duelle, einen fo gefchraubten Bericht, daß man nur mit Mühe bie
Wahrheit herauslefen kann. Leo IV. hatte den Cardinal- Presbyter
Anaftafius, angeblich weil er fünf Jahre lang von feinem Sprengel
entfernt gewefen und wegen Ungehorfams gegen ben Stuhl Petri,
feines Amtes entfest und aus dem Priefterftande verftoßen. !) Jetzt
wurde der wahre Grund der Abfesung diefes Mannes offenbar;
er muß Haupt der faiferlichen Parthei in Rom geweſen feyn. Denn
nach dem Tode Leo’s IV. wählten ihn die Kaiferlich-Gefinnten, ge:
feitet durch den Bifhof von Gubbio, Arfenius, zum Gegenpabft.
Mit Unterftügung franfifcher Waffen bemächtigte ſich Anaftafius der
Stadt fammt den Hauptlirchen, und ließ feinen Gegner Benedikt
mit Schlägen mißhandeln und einfperren. ?) Trotz der fremden Hülfe
fonnte fich jedoch der Gegenpabſt nicht halten; das Volk blieb Bene—
dift II. treu und nöthigte zuletzt die Faiferlichen Gefandten, Anaftas
fius preis zu geben und die Wahl des Erfteren gut zu heißen.
Anaftafius wurde aus der Stadt verjagt, feine Anhänger giengen
zu Benebift über und erhielten Gnade. ?) Dean fieht: die Macht
des Kaiſers Ludwig U. war in Rom fo gut als vernichtet, nur ein
Schatten von Anfehen blieb ihm daſelbſt. Aus einer weiteren Anz
gabe des Biblisthefars glauben wir den Schluß ziehen zu müffen,
daß der neue Pabſt Benedift IM. die Unterhandlungen, welche fein
Borgänger Leo IV. mit den Byzantinern angelnüpft hatte, fortfegte
und zu Ende führte. Der päbftliche Gefchichtichreiber zahlt nemlich
eine Reihe der prächtigften Gefchenfe auf, *) welche der byzantini-
ſche Herrſcher Michael, unter Benedikt’ Regiment, dem heiligen
Petrus darbrachte. Dffenbar weist diefe Großmuth auf ein Freunde
ſchaftsbündniß zwifchen Römern und Griechen hin. Noch deutlicher
zeugt für ein folches Verhältniß eine Nachricht, welche wir gleichfalls
dem Bibliothefar verdanfen. Nachdem der Gegenpabft fi der Stadt
1) Anastasius in vita Leonis IV. $. 92. Vignoli II., 128 unten flg. —
2) Idem in Benedicto III., $. 13. 14. Vignoli IH., 152. — 3) Idem $, 18,
19, ©, 155 fig. > 4) Ibid. $, 33, S. 166.
| 62 *
950 II, Buch. > Kapitel 12.
bemächtigt hatte, ließ er die Bilder, mit denen die Vetergficche ge:
ſchmückt war, herausmwerfen, zertrümmern, ‚verbrennen. !) Kaum
fann man fich einen andern Grund diefes Verfahrens denfen, als
daß er den Franfen zu lieb, die ihn erhoben hatten, durch einen
förmlichen Aft mit den Bilderdienenden Griechen brechen und den
Bund, den Leo IV. mit Sonftantinopel abgefchloffen, im Angeficht
der Welt vernichten mußte. Nur nad) einer folchen That waren bie
fränfifhen Kaifer feiner Treue verfichert. Jetzt wird auch auf ein=
mal begreiflih, warum feit den Testen Zeiten Leo’s IV. zwifchen ben
Patriarchen von Conftantinopel und den Päbften jener rege Ver—⸗
fehr entftand, der unter Nifolaus I. mit einem Bruce endete. ?)
Auch halten wir unter den eben entwicelten Umftänden die Ber:
muthung keineswegs für gewagt, daß griechiihes Geld es geweſen
fey, was Benedikt IIL und die Römer in Stand gefegt hatte, den
Gegenpabft zu übermältigen.
Kaifer Ludwig II. fonnte den Schimpf, der ihm in Nom wider:
fahren war, nicht einmal dadurch rächen, daß er die Verbindung
des Stuhls Petri mit den fränkischen Neichen unterbrochen hätte,
benn auch jenfeits der Alpen befaß er zu wenig Gewalt. DBenebift
wurde in Francien, ZTeutfchland und England anerkannt. Hinfmar
war wohl unter den fränkischen Biſchöfen der erfte, der fih an ben
neuen Pabſt wandte. Er legte ihm diefelbe Bitte vor, welche Leo IV.
abgemwiefen hatte, nemlich daß die Beſchlüſſe von Soißons durch den
Stuhl Petri beftätigt werden möchten. Dießmal drang der Metropolit
dur. Meittelft eines noch vorhandenen Schreibens ?) willfahrte
Benedikt dem Gefuche, jedoch nicht ohne den bedenflichen Vorbe—
halt: wenn die Berhältniffe wirflih fo feyen, wie
Hinkmar fie dargeftellt habe. Zugleich räumte der Pabſt
dem Nheimfer, ohne Zweifel auf deſſen Bitten, noch einige andere
Vorrechte ein, die helles Licht auf den Stand der Dinge in Neufirien
werfen. „Wir verordnen biemit,“ fchreibt Benebift HL, „daß fein
Angehöriger deines Sprengels ſich unterftehe, fremde Nidhter
zu ſuchen, nur der Stuhl Petri ift hievon ausgenommen. Auch
ift unfer Wille, daß Niemand die vichterliche Befugniß, welche dir
zufteht, in Zweifel ziehe, oder deine Erfenntniffe verwerfe. Bon
1) Ibid, $. 42, ©. 151. — 9 Siehe oben ©; 233 fl. — 9 Manſi
XV,, 4110 unten flg.
Die Päbſte Sergius'M., Lev IV. , Nikolaus I. x. 981
denfelben findet blos Berufung auf den Stuhl Petri Statt. End:
lich befehlen wir, daß Niemand die VBorrechte anzutaften wage,’ bie
deinem Stuhle, als dem erften Neuftvieng, gebühren.“ Erhellt nicht
hieraus fonnenflar, daß Hinkmar's Gegnew es auf Umſturz ber
Metropolitangewalt abgefehen hatten, mit andern Worten, daß fie
im Geifte der Pfeudoifidorifhen Sammlung handelten! Gegen ihre
Anfälle fuchte Hinfmar in Nom Schuß, erhielt aber, was er wünfchte,
nicht ohne Gegenleiftungen. Um einen Theil feiner Amtsgewalt zu
retten, mußte er das berühmte Gefes von Sarbifa ) anerkennen,
welches Berufungen aus aller Welt an den Pabft geftattet. Hoch
war der Preis. In Karls des Großen Tagen wurde alles Wich—
tige von den Biſchöfen und Metropoliten auf den Provincialſynoden
entfehieden, oder an die allgemeinen Neichstage gebracht, und dag
firchliche Gefeßbuch, welches Pipin’s erlauchter Sohn in feinem Neiche
einführte, enthielt, wie früher gezeigt worden, ) den Befhluß
yon Sardifa nidt.
Auh mit England gerietb der neue Pabſt in einen für ihn
ſehr nußbringenden Verkehr. Wir haben an einem andern Orte
gezeigt, °) dag König Egbert, wahrfcheiniih mit Karl’d des
Großen Unterftügung, der angelfächfifchen Bielherrfchaft ein Ende
machte und alle Sachſen- und Jüten-Stämme nad und nach feiner
mittelbaren oder unmittelbaren Gewalt unterwarf. Egbert ftarb
836. Inter feiner Regierung begannen *) (S32) jene fürchterlichen
Einfälle der Nordmannen und Dänen, welche nahezu den angel
ſächſiſchen Staat vernichtet hätten. Sein Nachfolger Aethelwulf
(von S36-—857) fam durch Diefelben Gegner ins fürchterlichfte Ges
dränge. Wie es fiheint, um fein bedrohtes Gefchlecht durch Firch-
liche Mittel zu heiligen und zu befeftigen, ſchickte Aethelwulf
853 feinen jüngften Sohn Aelfred, denfelben, deffen nachmaliger
Ruhm unvergänglih in den Jahrbüchern germanifcher Völker ſtrahlt,
an St. Veter’s Schwelle, damit der Jüngling vom Pabſte gefrönt
werde, was auch geichah. >) Zwei Jahre fpäter folgte Aethelwulf
jelbft dem Sohne. Benedikt faß bereits auf dem Stuhle Petri, als
Aethelwulf dafelbft eintraf, Er Fam nicht mit leeren Händen. Der
1) Siehe den zweiten Band diefes Werks ©. 245. — ?) Siehe oben
S. 591 unten. — °) Dben ©. 619 unten fig. — *) Man fehe Lappen:
berg Geſchichte Englands J., 278 flg. — °) Asser vita Alfredi ad annum 853.
⸗
982 II, Buch, Kapitel 12.
Bibliothefar giebt I) ein langes DBerzeichniß der prachtvollen Ge:
fchenfe, welde der fromme Sachſenkönig theils in den apoſtoliſchen
Schar niederlegte, theild dem römifchen Volke und Clerus widmete,
Ueber die Gründe, warum Aethelmulf diefe Fofibare Neife machte,
ſchweigen unfere Quellen. Wollte er etwa unter Vermittlung des
Pabſts Verbindungen mit franfifhen Königen anfnüpfen, um Hilfe
gegen die Seeräuber zu erlangen? Dieß ift darum nicht unwahr:
fcheinlich ,» weil Aethelwulf auf der Nüdfehr von Nom nach Eng:
land die Tochter Karl’s des Kahlen, Judith, heivathete. Aus Dem,
was fpüter gefchah, möchte ich jedoch den Schluß ziehen, daß er
außer der eben genannten Triebfeder noch eine andere hatte. Unſeres
Bedünkens gieng Aethelwulf Hauptfächlih darum nad Nom, weil
er als himmlischen Beiftand gegen Normannen-Wuth die Kraft päbft-
ficher Gebete anzurufen gedachte. Denn nur aus biefer Boraus-
fegung laßt fih, wie ung fiheint, die Größe des Opfers erklären,
dag er nach feiner Rückkehr der Kirche feines Landes darbrachte.
Er hielt nemlih im November 855 eine Synode, auf welcher er
zu Gunſten der Geiftlichfeit ein Gefes ?) einbrachte, das ſich Doppelt
auslegen läßt. Die Einen fehen darin eine Schenfung des zehnten
Tpeils ſämmtlicher Krongüter an den Clerus, die Andern deuten
den Beſchluß dahin, dag Aethelwulf blos den zehnten Theil der
geiftlichen Befisungen von allen Steuern befreit babe, 3) Den Zehn:
ten yon dem Eigenthum der Laien bezog damals der angelfächjifche
Cerus noch nit. Der Erzbifchof Egbert von York fuchte zwar
um 750 fein Volk zu Uebernahme der Zehnten zu beflimmen, *)
aber man bat Fein beftimmtes Zeugniß, aus welchem fich ermeifen
ließe, daß biefelben vor der zweiten Hälfte des neunten Jahrhun—
berts geleitet wurden. Erft unter König Aelfred erjcheint die Er:
legung der Zehnten als feft ſtehende Gewohnheit. °)
So furz auch die Herrfchaft Benedifrs II dauerte, ſchritt er
bo Fühn und rüftig auf ber von feinen nächften Vorgängern ge
ebneten Bahn der Unabhängigkeit fort. Er farb im April 858.
Zum Nachfolger erhielt er den größten Pabft des neunten Jahr:
i) In vita Benedicti III. $. 34. Vignoli III, 167 unten flg. — ?) Den
Tert bei Manft XV,, 121 flg. oder auch bei Wilfin’s concil, Britanniae I.,
184. — 3) Man fehe Lappenberg Gefchichte von England I., 192 fl. —
*) Excerpta Egberti Nro. 101. 102, 103, bei Wilfin’s coneil. Britanniae FE,
107. — 5) Ibid, IL, 203. Nro, 6.
Die Päbſte Sergius IL, Leo IV., Nikolaus I. ıc. 983
hunderts, einen Oberpriefter, den Feiner feiner Nachfolger an Kühn:
heit der Entwürfe, Stärfe des Charakters oder Kraft des Verftandes
übertroffen bat. . Kurz ehe Benedikt farb, war Kaifer Ludwig I.
von Rom abgereist. Auf die Nachricht von, feinem Tode eilte ex
dahin zurüd, fand jedoch bereits den neuen Pabſt Nikolaus I. ge:
wählt. Die Römer hatten demnad nicht für nöthig erachtet, feine
Mitwirkung abzuwarten. In Beifeyn des Kaifers wurde Nikolaus
gefrönt: der erſte Aft der Art, welcher in der Pabftgefchichte
vorkommt, und offenbar darauf berechnet, den Statthalter Petri auch
in diefer Beziehung den Kaifern gleich zu fiellen. Geheime Ber:
handlungen zwifchen Kaifer und Pabſt müffen fofort eröffnet worden
feyn, um für die Zufunft das Verhältniß des Einen zum Andern
zu beftimmen. Anaftafius erzählt: 2) Ludwig IL habe nach erfolgter
Krönung des Pabits ein Lager fünf Meilen von der Stadt bezogen,
worauf Nifolaus, begleitet von dem Adel, zu ihm hinausgegangen
fey. „Als nun der Kaifer,“ fährt der Bibliothefar fort, „den Pabft
herannahen ſah, eilte er ihm entgegen, flieg von feinem Pferde,
ergriff den Zügel des päbftlichen Zelters und führte denfelben zu
Fuß etwa einen Bogenſchuß weit.“ Ich ſehe hierin eine finnbildliche
Handlung, kraft welcher der Pabft den Kaifer als feinen Lehne:
herren, hingegen diefer jenen als geiftlihen Bater anerfannte, Unter
Umarmungen und feurigen Berfiherungen der Freundfchaft trennten
fie fich fofort, laut dem Berichte des Bibliothekars. Nichts deſto
weniger erhellt aus einem Ereigniffe, welches bald darauf eintrat,
daß Ludwig II, dem neuen Pabſte mißtraute. Zwiſchen Nifolaus und
dem Erzbifchofe Johannes yon Ravenna brad) nemlich ein Streit aus,
deffen Anlaß und Verlauf der Bibliothefar folgendermaßen erzählt: ?)
Bon Seiten vieler Einwohner der Stadt Ravenna liefen zu Nom
Klagen über Gewalttbaten ihres Erzbifchofs ein. Vergeblich warnte
ihn Nikolaus, Johannes hörte nicht auf die Stimme des Pabſts,
fondern fuhr wie bisher fort, das Necht zu beugen, er belegte bie
Einen ohne Grund mit dem Banne, Andere hinderte er, nach Rom
zu veifen, Vielen entriß er ihr Vermögen ohne Urtheilſpruch; gleicher:
weiſe raubte er Güter, die der vömifchen Kirche gehörten, verachtete
bie päbſtlichen Sendboten, fette Presbyter und Diafone nicht blos
!) Anastasius in vita Nicolai I., $. 7. Vignoli III., 174 oben. —
2) Ibid, $. 8. — 3) Ibid. $. 21 flg., ©. 183 fig;
984 III. Buch. Kapitel 12.
in feinem eigenen Sprengel, fondern auch in der Provinz Aemilia
willfürtich ab, indem er die Einen in fürchterliche Gefärgniffe warf,
Andere zwang, Berbrechen einzugefiehen, welche fie doch nicht be:
gangen hatten. Empört durch fo viele Greuel, lud Nikolaus den
Erzbifchof vor eine Synode; als derfelbe nicht erſchien, ſprach der
Pabſt den Bann über ihn aus. Jetzt floh Johannes zu Kaiſer
Ludwig nah Pavia und rief feine Hülfe an. Wirklich erhielt
er von demfelben Gefandte, mit denen er voll Stolzes nach Nom
zug. Mlein Nikolaus machte den Franken fanfte Vorwürfe, daß fie
ſich mit einem Gebannten eingelaffen, und forderte Johannes von
Neuem auf, vor einer Synode fein Betragen zu rechtfertigen. Aber:
mal verweigerte der Erzbifchof den Gehorfam und gieng zurüd nach
Pavia. Bald darauf Famen Einwohner der Provinz Nemilia, fo wie
die Rathsherrn der Stadt Ravenna mit einer unermeßlichen Volks—
menge nad) Rom und befihworen den Pabft unter vielen Thränen,
bag er feldft nad) Ravenna reifen möge, um die dortigen Verhält—
niffe zu ordnen. Nikolaus 1. willfahrte ihrer Bitte. In Ravenna
angelangt, gab er allen Denen, deren Güter Johannes oder fein
Bruder Gregorius geraubt hatte, ihr Eigenthum zurück. Während
defien war der Erzbifhof zu Pavia wohin er fi von Nom aus
begeben) vom dortigen Clerus und Bolfe wie ein Gebannter be—
. handelt worden. Alle Geiftliche der Stadt mieden aufs Aengfilichte
jeden Umgang mit ihm, Niemand wollte ihm oder feinen Leuten
Lebensmittel verfaufen, und auf den Straßen rief die Menge, wenn
Sohannes vorübergieng: - „entfernt euch, der Gebannte fommt.“ Noch
einmal wußte er jedoch Unterftügung vom Kaiſer auszumirfen. Be:
gleitet von einer Gefandtfchaft, die ihn Ludwig IL mitgab, gieng
er zum zmweitenmal nach Nom. Aber der Pabft durchbrach, um bie
Worte des Anaftafius zu gebrauchen, ) feine hochmüthigen Anfchläge
wie Spinnengewebe und blieb unerſchütterlich feſt. Zuletzt mußte
Johannes, da er fah, daß er auf Niemands Hülfe mehr bauen
dürfe, fih dem Pabſte unterwerfen. Nifolaus berief im Jahre S61
eine Synode, welche den gegen Johannes gefchleuderten Bann auf:
bob und demfelben unter folgenden Bedingungen Gnade gewährte:
1) daß der Erzbifhof in Zukunft alljährlich wenigftens einmal nach
Rom fomme (um dem Pabfte zu huldigen), 2) daß er feinen Bischof
') Ibid. $. 28. ©. 186 unten.
Die Pabſte Sergius U. Leo W., Nikolaus I. x. 985
in der Provinz Aemilia weihe, außer der zu Weihende ſey durch
freie Wahl des Herzogs, des Clerus und der Gemeinde erkoren,
und der päbſtliche Stuhl habe ſeine Zuſtimmung zu der Weihe
ſchriftlich ertheilt, 3) daß er keinem Biſchofe der genannten Provinz
den freien Zutritt nach Rom verwehre, auch von denſelben keine,
durch die Canones nicht vorgeſchriebene Abgaben fordere, 4) daß
er namentlich auf Erlegung des 30ſten Pfennigs vom Einkommen
der ämiliſchen Biſchöfe verzichte, und endlih 5) Niemand mehr mit
ungerechten Geldforderungen zu beläftigen verfpreche. Nachdem der
Erzbifchof diefe Bedingungen unterfchrieben hatte, genoß der Pabft
und die Synode das Abendmahl mit ihm, worauf Johannes im
Frieden nad Ravenna zurüdfehren durfte,
Es ift nicht fehwer, den wahren Zufammenhang des Streits
zwilchen Nikolaus und Johannes aufzuhellen. Der Stuhl von
Ravenna war ein alter Nebenbuhler des vömifchen ) und zugleich
trefflich geeignet, als Gegengewicht wider den Yestern gebraucht zu
werden, weil er herfümmliche Metropolitan = Rechte über ein aus:
gebehntes Gebiet (Aemilia) übte, auf das auch der Pabft Anfprüche
machte. Nach den oben erwähnten Scenen zu Rom verband fich
daher der Kaifer mit dem Erzbifchof Johannes, und dieſer wagte
es, im Bertrauen auf fränkiſchen Schug, dem Statthalter Petri zu
trogen. Aber nun zog der Pabft nicht nur eine mächtige Parthei
in Ravenna auf feine Seite, fondern wußte auch den Iombarbifchen
Glerus zu gewinnen, der fofort alle Gemeinfchaft mit Johannes
mied. Ganz Italien feheint die Sache des Pabſts als bie eigene
und nationale betrachtet zu haben. Ludwig hatte weder den Muth
noch wahrſcheinlich die Macht, gegen diefe Einftimmigfeit öffentlicher
Meinung feinen Schügling zu vertheidigen. Johannes mußte Daher
zulegt, von feinem Gebieter preisgegeben, ſich dem Pabfte unter:
werfen. Doc fühlte auch Nikolaus fi zu ſchwach, den Gegner
zu vernichten. Johannes fam unter leidlichen Bedingungen weg.
' Der Streit mit dem Ravennaten war der erfle, den Nifolaug
zu befteben hatte. Allem Anfchein nach brach derfelbe ſchon im erften
Jahre des Pabſtes aus. Indeſſen Hatte auch das große Zerwürfnig
mit den Griechen begonnen, von welchem oben gehandelt wor-
ben it. ) Sp bewunderungswürdig die Kühnheit war, welche
1) Siehe oben ©. 77 flg., 5853 fig. — ?) Siehe oben ©. 238 flg.
986 I. Bud. Kapitel 12.
Nikolaus im Zufammenftogen mit den Byzantinern bewies, wandelte
er doch hier nur auf einer von feinen Vorgängern geebneten Bahn
weiter fort. Aber in feinen Berhältniffen zum Abendlande trat er
als Schöpfer eines neuen Syſtems auf, indem er zuerft unter allen
Päbſten den Plan durchführte, nicht blos alle Bisthümer, fondern
aud die Fürften dem Stuhle Petri zu unterwerfen. - Sehen wir
zunächſt, wie er feine Macht in Rom befeftigte. Kein Statthalter
Petri durfte es wagen, Kaiſern zu trotzen, wenn er nicht der Treue
feiner Hanptftadt verfichert feyn konnte; der ruhige Befis Noms
war bie erfte Grundlage päbftliher Macht. Wir haben früher ges
zeigt, daß Karl der Große und fein Sohn den römifchen Adel
ins fränkische Intereffe zogen und dadurch die Päbſte in Abhängig:
feit erhielten. Auch die fpäteren Nachfolger Karls verfuchten dag
gleihe Mittel. Der Bibliothefar giebt einige Andeutungen darüber,
wie Nikolaus dieſes Band gefprengt hat. „Nifolaus,“ fagt er, )
„war großmüthig gegen die Armen, ein Bater der Waifen und
Wittwen, ein Vertheidiger des ganzen Volks.“ Weiter unten be
flimmt er ?) feinen Sag genauer dahin: der Pabft habe alle Lahme,
Dlinde und überhaupt alle Gebredhliche täglich genährt, ſolchen Armen
bagegen, welde geben Fonnten oder einige Kräfte zum Arbeiten
befaßen, gefiegelte Täfelchen ausgetheilt, auf welchen beftimmt war,
wie viel Jeder an gewiffen Tagen der Woche aus der ypäbftlichen
Kammer für feinen Linterhalt beziehen dürfe. Anaftaftus fügt bei,
fein Armer ſey in der Stadt gewefen, der nicht zum Wenigften
einmal in der Woche Almofen empfieng. Ebenfo hatte es britthalb
Sahrhunderte früher Gregorius der Große gehalten. Man fieht,
Nikolaus gründete feine Herrfchaft über Nom auf die Anhänglichkeit
der Menge. Weil er die Zuneigung des Volks befaß, mußte Kaifer
Ludwig nachgeben, und endete der Streit gegen Johann mit einem
Siege des Pabſtes. Auch in den Ländern jenfeits der Alpen er:
weiterte er dadurch feine Macht, daß er fih zum Beſchützer der
Unterdrüdten aufwarf. Der Beifall der öffentlichen Meinung follte
ihm den Weg zu der ſchwindelnden Höhe bahnen, Die er erftvebte.
Früher ift berichtet worden, daß Kaifer Lothar furz vor. feinem
Tode das Neid), welches ihm durch den Staatsvertrag von Verdun
») Vita Nicolai $. 10, Vignoli II, ©. 176. — 2) Ibid. $. 51. ©. 200
unten fle.
Die Päbſte Sergius IL, Leo IV., Nikolaus 1. ꝛc. 987
zugefallen, unter feine drei Söhne theilte. Der erftgeborne, Ludwig IL,
erhielt mit der Kaiferfrone Jtalien, der zweite, Lothar IL, das Land
zwifchen Rhein, Maas, Schelde, Miofel, feitvem Lothringen genannt,
der dritte, Karl, Provence und Burgund. Die Stellung der beiden
jüngeren Brüder war gefährdet, weil zwei gierige Oheime, Ludwig
ber Teutfche und Karl der Kahle, nad) dem Erbe der Neffen angel
ten. Lothar IL. verfchlimmerte feine Lage noch durch Ausfchweifungen
und Gewaltſtreiche. Er hatte im Jahr 856 Thietberga, eine
Schwefter des burgundifchen Herzogs Huchert, gebeirathet, aber fein
Herz bieng an einer Buhlin, Waldrada. Diejes Weib drang
in ihren füniglichen Liebhaber, daß er fie zu fih auf den Thron
erheben und dagegen feine vechtmäßige Gemahlin verfiogen folle
Lothar ließ fih umgarnen. Da er zu Ausführung feines Planes
geiftlicher Hülfe bedurfte, gewann er durch Berfprechungen den Erz:
bifchof Gunther, welchen fein Vater, der Kaifer Lothar, um 850
auf den Stuhl son Cölln erhoben hatte, fowie den Metropoliten
Thietgaud von Trier, ſammt mehreren Aebten und weltlichen Großen.
Eine ſchändliche Cabale ward angezettelt, Deren Opfer Thietberga
werben follte. Im Jahre 859 befchuldigte Lothar Thietbergen vor
einer VBerfammlung der ins Geheimniß gezogenen Laien und Priefter,
daß fie in ihrer Jugend mit ihrem Bruder, einem Mönche, blut:
chänderifchen Umgang gepflogen habe und deßhalb fein gültiges Ehe:
band mit ihm eingehen fonnte. Thietberga läugnete jedoch die That
und veinigte fich in der Folge durd die Probe mit fiedendem Waffer,
bie einer ihrer Diener glücklich für fie beftand. ')
richt geſchreckt durch den fchlechten Ausgang des erften Ber:
fuchs, erneuerte Lothar denjelben im folgenden Jahre, und dießmal
gelang Alles nach Wunſche. Bor zwei Synoden zu Aachen, die
binter einander im Januar und Februar 860 fiattfanden und auf
welchen außer den Metropoliten Gunther und Thietgaud die Bifchöfe
Adventius, Hildegar, Hatto, Franko, fowie die Aebte Eigil und
Odeling erfchienen, mußte die unglüdlihe Königin fich felbft an-
lagen. Nicht nur beichtete fie dem Erzbiſchof Gunther die Miffe-
that, welche man ihr aufbiirbete, fondern fie übergab dem Könige
ein fehriftlich abgefaßtes Befenninig, ?) kraft deffen fie ſich, wegen
biutfchänderifchen Umgangs mit dem eigenen Bruder, einer ferneren
—
i) Hincmari opp. IL, 568. — 2) Ibid. 575 flg.
988 1. Buch. Kapitel 42.
Berbindung mit ihrem bisherigen Gemahl unwürdig erklärte und
die Bitte ausfprach, daß ihr geftattet werden möge, Buße zu thun
und für ihre VBerföhnung mit Gott zu forgen. Die verfammelten
Väter kamen letzterer Bitte bereitwillig entgegen, indem fie das Ur—
theil über fie ausſprachen, daß Thietberga ihre ſchwere Sünde durch
Yebenslängliche Neue hinter Kloftermauern zu fühnen habe. ) Welche
Bewandtniß es mit der von der Königin abgelegten Beichte
hatte, wurde bald darauf offenbar. Sie entfloh von Aachen nad
dem neuftrifchen Reiche und fuchte bei Karl dem Kahlen Schuß. 2)
Niemand zweifelte, dag man ihr mit Gewalt und mit den fürchter:
lichſten Drohungen die Selbftanflage abgepreßt hatte, und bie öffent:
liche Meinung der fränfiichen Neiche verdammte aut das Betragen
des Iotharingifchen Königs. Zwei Jahre fpäter thaten Lothar und
feine geiftlichen Gebülfen einen Schritt weiter. Eine dritte Synode ?)
wurde im Sommer 862 zu Aachen verfammelt, die Bifchöfe er:
Härten abermal die Che mit Thietberga für ungültig, und als nun
Lothar in einer demüthigen Rede auseinanderfegte, daß er bei feiner
Sugend ohne Weib nicht leben könne, geftatteten fie ihm fofort eine
neue Verbindung. Noch im nemlihen Jahre fand feine Bermählung
mit Waldrada und die Krönung derſelben ftatt. *) Jetzt erhielt auch
der Cöllner Metropolit Gunther von Lothar IL den Lohn für feine
ihm geleiteten Dienfte. Der König ernannte nemlih Gunther’s
Bruder, Hilduin, zum Bifchofe von Cambray, aber Hinfmar yon
Rheims, welcher Metropolitanrechte über die Kirche von Cambray
ausübte, weigerte fich, Hilduin zu weihen, und Pabſt Nikolaus er:
Härte die Ernennung für null und nichtig. >) Somit war ber
geheime Zuſammenhang der zu Aachen gefpielten Ränke offenbar
geworben. Ein Schrei des Unwillens ertönte nicht blos in Lothrin-
gen, fondern auch im benachbarten Neuftrien. Schon erhoben ſich
aud Männer, welche die Macht befaßen, den Föniglichen Ehebrecher
zur Strafe zu ziehen oder fein Unrecht für eigene Zwecke aus:
zubeuten. Um 862 wurde dem Nheimfer Erzbifchofe Hinfmar,
man weiß nicht von welcher Hand, eine Reihe Fragen vorgelegt,
die fi) auf den neuen Ehebund Lothar’s bezogen. Wir vermutben
i) Prudentii trecensis annales ad annum 860. Perz I, 454 gegen oben. —
2) Ibid. gegen unten. — °) Die Aften bei Manft XV., 611 flg. — *) Hinc-
mari annales ad annum 862, Perz I,, 458 Mitte. — 5) Die Beweife in ver
Gallia christiana der Brüder Sammarthani III., 12 unten flg. der neuen Ausgabe.
Die Päbfte Sergius IL, Leo IV., Nikolaus I. ıc. 989
jedoch, daß der königliche Oheim bes dothringers Karl der Kahle,
dieſes Gutachten veranlaßt haben dürfte. In einer weitläuftigen,
auf ung gekommenen Schrift!) entſchied Hinkmar gegen Lothar.
Nur zwei rechtsgültige Gründe der Eheſcheidung erkennt er an: erſt⸗
lich wenn beide Theile, um ihres Seelenheiles willen, ſich freiwillig
entfchließen, ins Klofter zu geben; zweitens wenn ein Theil erwies
fener Maaßen die ehelihe Treue gebrochen hat. Aber in diefem
Falle erlaubt Hinfmar dem Manne nicht, fo lange bie Frau noch
lebt, oder umgefehrt, eine neue Verbindung einzugehen. In jeder
Hinficht erfchien daher bie zweite Ehe Lothar's mit Waldrada, laut
Hinfmar’s Entſcheidung, unrechtmäßig. Unter den vorgelegten Fragen
wie in den Antworten Hinkmar's Tommen fonderbare Dinge vor,
welche helles Licht über den magiſchen Glauben jenes Zeitalters ver
breiten. Erſtlich erfieht man aus einer der Fragen, ®) dag Lothar’g
Parthei, weil fi) feine Gemahlin Thietberga durch die Probe des
heißen Waſſers gereinigt hatte, die Gottesurtheile für eitel Unſinn
und Täuſchung erklärte. In feiner Antwort vertheidigt Dagegen
Hinkmar die Drdale, indem er aus Beifpielen der Bibel zu erweifen
fucht, daß Gott auf folhem Wege wunderbarer Weife die Wahr:
heit ans Tageslicht bringe. Indeß, fügt er bei, ?) wolle er. es fi)
gerne gefallen lafjen, wenn ihn Jemand eines Beſſern belehren würde.
Eine andere Frage lautet dahin, *) ob es Heren und Zauberer gebe,
welche zwifchen Ehegatten unauslöfchlihen Haß oder Liebe fliften
fönnen. Hinfmar antwortet mit Ja und entwidelt mit ziemlicher
Weitläuftigfeit feine eigene und feiner Zeitgenoffen Anfichten von
den magifchen Werfen dev Finfterniß, welcher Geftalt durch Todten-
gebeine, Haare, Kräuter, Schneden, Schlangen und Zauberfprüche
bamonifche Wirfungen hervorgebracht würden, welche nur die Kraft
firhliher Saframente brechen fünne. Das Schlimmfte für den
lothringifchen König war jedoch, daß Hinfmar in feiner Schrift
mehrfach zu verfieben giebt, das von Thietberga abgelegte Sünden
befenntniß, auf welches die Gegenparthei, wie begreiflich, das meifte
Gewicht legte, fey durd Drohungen und Mißhandlungen erpreßt
worden, und dann, daß er erffärt, 5) die Streitfache zwifchen Lothar
!) De divortio Lotharii. Opp. 1., 561 fig. — ) Ibid. ©. 599. oben. —
3) Ibid. ©, 612 obere Mitte. — 9 Ibid, S. 655 flg. — 9 Ibid. S. 683
* flg.
990 II. Buch, Kapitel 12.
und Thietberga könne nicht im Lande des Erfteren entfehieden, fondern
fie müffe vor eine allgemeine Synode der fränkiſchen
Reihe gebraht werden, benn ob bie Ehe zwifchen einem
Könige und einer Königin gelte oder nicht gelte, fey eine für alle
Chriſten höchſt wichtige Frage. Die Gefahr fremder Einmifchung
fchmwebte daher ob Lothar’s Haupte. Doch Fam fie zunächſt von
einer andern Seite und zwar yon Lothar felbft hervorgerufen.
Schon nady dem Schluffe der erften oder zweiten Synode,
welche zu Aachen 860 in Thietberga’s Sache gehalten wurde, hatten
die lothringiſchen Bifchöfe ein Schreiben I) an Pabft Nikolaus er:
laffen, in welchem fie ihn befchworen, nicht nach öffentlichen Ge:
richten, die ihm zu Ohren fommen könnten, über Das, was in
Aachen gefchehen, zu urtheilen, fondern den Gefandten ihres Königs
abzuwarten, der ihm. über Alles Yauteren Bericht erftatten werde.
In diefer Erflärung Tag nicht bios ein geheimes Zugefländniß
eigener Schuld, fondern auch eine Anerfennung, daß der Pabft das
Recht babe, über die Eheſache des Königs mitzufprechen. Bald
darauf wurde Nikolaus von Thietberga zum Einfchreiten aufgefor:
bert. Sie ſchickte nach ihrer Flucht ing neuftrifche Neich eine Geſandt—
fchaft an den Pabft und rief feine Enticheidung an. 9) Daffelbe
that fogar auch König Lothar. Wie es fcheint, eingeſchüchtert durch
ben allgemeinen Unmwillen, der nach dem dritten Concil von Aachen
und feiner Bermählung mit Waldrada losbrach, fehrieb er ?) an
den Pabſt, daß er bereit fey, die Streitigfeit mit Thietberga dem
Urtheil eines neuen Concils zu unterwerfen, an weldem fowohl
yäbftliche Gefandte als auch Biſchöfe aus jedem ber drei größern
fränfifchen Reiche Theil nehmen follten. Alfo von beiden Seiten als
Schiedsrichter angerufen, fehritt der Pabſt ein. Er that Lothar'n
zu wiffen, % daß er zwei italienifche Kirchenhäupter, Rhodoald von
Porto und Johannes von Fieulen (in Latium), zu feinen Bevofl-
mächtigten für das bevorftehende Concil ernannt habe, und bie
Könige von Teutſchland, Neufter und Provence erfuchen werde, die
angefagte VBerfammlung mit je zwei Bifchöfen ihres Gebiets zu
) Abgedruckt bei Manfi XV., 548 fig. — 2) Died fagt Nikolaus felbft
im 22ften Briefe an die galfifchen Bifchöfe, Manft XV., 281 unten. — 3) Wir
erfahren dieß abermal durch den Pabſt ſelbſt aus feinem Antwortfshreiben an
Lothar, Manſi XV., 278 oben. — *) Ibid,
Die Päbfte Sergius IL, Leo IV., Nikolaus I. ꝛc. | 991
befchicken. Die Gefandte erhielten päbftliche Briefe !) an Karen
den Rablen, fowie an die Bischöfe Teutſchlands und Neuftriens mit
fi, worin die Empfänger aufgefordert wurden, bei ber befchloffenen
Berfammlung auf die befchriebene Weife mitwirken zu wollen. Zum
Ort der Synode hatte der Pabft die Stadt Mes beftimmt. So
fam denn das allgemeine fränfifche Concil, auf weiches Hinfmar in
feiner oben genannten Schrift antrug, wirflih zu Stande. Ich
glaube, man darf hieraus den Schluß ziehen, daß Nikolaus diefe
Maaßregel im ——— — mit dem neuſtriſchen Hofe angeord⸗
net bat.
— was weiter geſchah, entſprach den Erwartungen der State
Thietberga’s nicht. König Lothar ließ Fein Mittel unverfucht, die Ge-
fandten, fobald fie dieffeits der Alpen angelangt waren, auf feine
Seite zu ziehen. Durch Iothringifches Gold verführt, verriethen die
beiden Italiener wirklich ihre Pflicht. Statt die päbſtlichen Briefe,
deren Leberbringer fie waren, an Karl'n den Kahlen, fowie an bie
neuftrifchen und deutſchen Biſchöfe zu übergeben, behielten fie bie:
felben zurüd. Die Synode fam zwar 863 in Meb zu Stande, aber
weder teutfche noch meuftrifche oder provencaliſche Kirchenhäupter
nahmen Theil. Außer den beiden Jtalienern erfchienen nur Lothringer,
Knechte des Könige. Ohne die Eheſache von Neuem zu unterfuchen,
beftätigte das Concil die im vorigen Jahr zu Aachen gefaßten Be:
jchlüffe, ) und die römischen Gefandten hießen Alles gut. Es war
das zweitemal, daß Nifolaus auf ſolche Weife von feinen Werk:
zeugen bintergangen wurde, und zwar hat eine und biefelbe Perſon
ben doppelten Betrug gefpielt. Denn der Bischof Nhodvald ift ver
nemliche, der auch in Conftantinopel von den Griechen ſich beftechen
hieß.) War etwa feine in Griechenland begangene Pflichtverlegung
zu ber Zeit, als er die zweite Gefandtfchaft nach Lothringen über:
nahm, noch nicht erwiefen, oder hatte ihm Nifolaus den zweiten
Poften übertragen, um ihm Gelegenheit zu verfchaffen, daß er den
erſten Fehler durch treue Dienfte gut machen könne? Oder war
gar die porausgefehene DBeftechlichkeit des Gefandten ein Theil des
päbftlihen Plans und darauf berechnet, die Ereigniffe künſtlich her:
') Epist. XVII, u. XXI, Manſi XV., 278 unten u. 281 unten. —
2) Hincmari annales ad annum 863. Perz I,, 460 gegen oben, — 3) Siehe
oben ©. 239 fig.
0992 I, Bu. Kapitel 12.
beizuführen, die nachher wirklich erfolgten und dem Stuhle Petri
fo nützlich geweſen find? Dffenbar hat letztere Borausfegung bie
meifte Wahrjcheinlichfeit für fih; denn nur fo wird erflärlich, wie
ber gefchäftserfahrene Pablt von Neuem einen Mann verwenden
fonnte, der ihn zwei Jahre zuvor auf grobe Weile betrog.
Der frantifche Gefchichtfchreiber, dem wir obige Nachrichten
verdanfen, fügt !) bei, bie päbſtlichen Gefandten hätten nad) Been-
digung ber Meter Synode den Metropoliten yon Cölln und. Trier
den Rath ertheilt, in eigener Perfon nach Rom zu gehen und dort
die Beftätigung des Gefchehenen einzuholen. Wirklich traten fofort
Gunther und Thietgaud die Reife an, mit der Hoffnung fi
fchmeichelnd, daß ihr Geld auf die päbftlihe Kammer ebenfo wirken
werde, wie auf die Gefandten. Aber fie täufchten ſich fürchterlich.
Kaum hatte nemlich Nikolaus Bericht von den Testen Borgängen in
Lothringen erhalten, als er noch im Jahre 863 eine Synode berief,
welche den Blisftrahl gegen die Schuldigen ſchleuderte. Die Be:
fchlüffe von Mes wurden für null und nichtig erklärt, Thietgaud
und Gunther als meineidige Priefter ihrer Aemter entſetzt, die
übrigen Theilhaber der Meter Synode mit der gleichen Strafe be:
droht, wenn fie fich nicht unter den firafenden Arm Petri bemüthigen
würden. ?) Diefes Berfahren des Pabfis war bis dahin unerhört.
Nie Hatte irgend einer feiner Vorgänger e8 gewagt, fremde Biſchöfe
oder gar Metropoliten ohne Einwilligung des Landbesherrn, ohne
Beiziebung nationaler Richter, aus eigener Machtvollfommenheit
abzufegen. Allein Nikolaus wußte, was er that, er fannte den
Charakter Lothar's und fah voraus, daß berfelbe nachgeben werde
und müffe. Dod von einer andern Seite drohte dem Pabfte Ge-
fahr. Sobald der Streich gefallen war, eilten die beiden Lothringer,
glühend vor Wuth und Rache, nah DBenevent, wo fi damals
Kaifer Ludwig IL, der Bruder ihres Gebieters befand. Sie ftellten
ihm vor, daß die Behandlung, welche fie vom Pabſte erfahren, ein
Schimpf für alle Fürften, insbefondere aber für den Kaifer, ſey.
Ludwig, der noch eine alte Rechnung bes Haffes mit dem Pabfte
abzumachen hatte, ließ ſich Hinreißen. In Begleitung der beiden
Biſchöfe erichien er 864 mit Heeresmacht vor Nom und fchlug in
) Hincmari annales ad annum 863, Perz I, 460 gegen oben. — ?) Die
Akten bei Manſi XV., 649 unten flg. u
Die Päbfte Sergius D., Leo IV., Nikolaus I. ꝛc. 993
der Nähe der Peterskirche fein Lager auf. Alsbald entbot Nifolaus
das ganze Bolf, doch nicht zum Waffen» fondern zum Kirchen:
bienfte. In langen Zügen mwallte die Menge, Palmen fingend und
Kreuze vorantragend, nad) dem Dome bes -Apoftelfürften, um bie
Hülfe des Himmels gegen den Anfall der Feinde zu erflehen. Bor
Peters Schwelle kam es zum Handgemenge, das fränkische Heer
jagte die Waller auseinander, und fchlug viele nieder, Ein Banner
mit dem Achten Kreuzesholze, das Conftantinsg Mutter Helena dem
Stuhle Petri geſchenkt haben follte, wurde in Koth getreten. Gleich—
wohl wirkten die veligiöfen Schredmittel, mit welchen der Pabſt
fih umgab, flärfer als die Waffen des Kaiſers. Schon nad) wenigen
Tagen trat Ludwig mit Nikolaus in Unterhandlung, welche damit
endigte, daß der Kaifer fein Heer aus Nom zurüdzog und ben
Biſchöfen Befehl gab, nach Gallien heimzufehren. ) Ehe fie ab:
veiften, feßten Beide eine Schrift auf, in welcher fie aufs heftigfte
gegen das Berfahren des Pabſtes fi) verwahrten. Günther fehiekte
feinen Bruder, den verunglüdten Bischof Hilduin von Cambray, ab,
biefe Urkunde auf das Grabmal Petri niederzulegen. Sie Yautet
ihrem wefentlichen Inhalte 2) nad) fo: „Höre Pabft Nikolaus! unfere
Brüder und Mübifchöfe haben ung zu Dir gefendet, um deine Mei-
nung zu vernehmen über die Dinge, welche wir gemeinschaftlich
beichlofien hatten, Drei Wochen lang bielteft du ung hin, ohne
ung eine beftimmte Antwort zu ertheilen, nur einmal fagteft du
‚ung an einem Öffentlichen Orte, daß unfer Betragen dir laut ber
‚von uns Überreichten Schrift entfchuldbar ſcheine. Endlich wurden
wir zu dir berufen, arglos famen wir; wir fanden hinter ver-
ſchloſſenen Thüren eine Räuberſynode verfammelt, die uns wider
alles Herfommen, ohne ordentliche Anklage, ohne Zeugenverhör,
ohne Erörterung der einzelnen Punkte, ohne unfer eigenes Geftänd-
niß, ohne Beiziehung unferer Brüder und Mitbifchöfe zu verdammen
ſich erfrechte. Wir verwerfen dein verruchtes Urtheil, das aller
Hriftlihen Gefinnung Hohn ſpricht. Dich felbft, der du es wagſt
mit Gebannten vertraulich umzugehen, erklären wir für ausgefchloffen
aus unjerer Gemeinfchaft. Du haft dir dein eigenes Urtheil gefällt,
indem du auf der Synode den Satz ausfpracheft, wer die Ge—
) Hincmari annales ad annum 864, Perz I,, 462 unten flg. * >) Auf:
bewahrt durch Hinkmar bei Perz I,, 463 flg.
Sfrörer, Kircheng. I. 63
994 1. Buch, Kapitel 12.
bote der Apoſtel mißachtet, fey verflucht. Nicht ung blos
haft du gefränft, fondern den ganzen bifchöflichen Stand in unferer
Perfon erniedrigt. Aber wir haben deine Bosheit und Arglift durch:
fhaut und bieten dir Trog u. f. mw.“ Abfchriften biefer Erklärung
fandten fie an die fränfifchen Bifchöfe mit einem Nundbriefe, in
welchem fie bittere Klagen über die Herrichfucht des Pabftes führten,
der, wie fie fagen, fi zum Kaifer über die ganze Welt aufwerfen
wolle. Baronius behauptet, ) auch dem byzantinifchen Patriarchen
Photius hätten fie eine Abſchrift übermacht. |
Um Oftern 864 famen Thietgaud und Gunther nad) Lothringen
zurück. Der Muth des Erfieren war gebrochen, er wagte es nicht
son feinem Stuhle Befis zu nehmen, oder geiftliche Gefchäfte zu
gerrichten. Aber Gunther that, als ob er nicht unter dem Banne
ftünde, er las die Mefje, weihte Salböl,?) und fchlog, um bie
Unterftügung der Canonifer feines Sprengels zu erfaufen, mit den⸗
felben einen Vertrag ab, der Lebteren das Eigenthumsrecht über
einen großen Theil der Kirchengüter zuficherte. Genaueres yon biefer
Vebereinfunft, welche fehr wichtige Folgen gehabt hat, können wir
erft tiefer unten berichten. Allein nur Furze Zeit dauerte der Wider:
ftand des Erzbifchofs, denn fein eigener König opferte ihn nothge⸗
drungen auf. Wir müſſen zunächſt die damalige Lage bes loth⸗
ringiſchen Fürften ins Auge fafen. Rechts und links vom Rhein
fanden feine Oheime, Ludwig der Teutſche und Karl der Kahle ge:
rüftet, den Bannftrahl, welchen, wie fie glaubten, der Pabft gegen
ihn fchleudern werde, unnachſichtlich zu vollziehen und Lothringen weg:
zunehmen, Geit längerer Zeit pflogen Beide wider Lothar Unterhand-
lungen, welche im Februar 865 mit dem Vertrag von Touch endeten, ?)
durch den beftimmt ward, dag Lothar im Notbfall mit Gewalt gezwun⸗
gen werben folle, die Forderungen ber Kirche zu erfüllen. Solchen
überlegenen Mahnern gegenüber, mußte daher der verliebte König
um jeden Preis mit dem Pabſt Frieden zu machen fuchen. Die
erfte Folge feiner Sinnesänderung war, bag er Gunther fallen ließ.
Er ertheilte den Erzſtuhl von Cölln einem feiner Berwandten, Hugo.
Zugleich unterwarf ſich der ganze Iothringifche Klerus dem Willen
des Pabſts. Adventius, Biſchof yon Mes, der auf den beiden
) Ad annum 863 $. 27, — 2) Hincmari annales ad 864, Perz I., 465
oben, — 3) Baluzius Capitul, IL, 203 $. 6. und 7,
Die Päbſte Sergius IT,, Leo IV., Nikolaus J. ıc. 995
Synoden zu Aachen für Auflöfung des Ehebands zwifchen Thietberga
und Lothar geftimmt hatte, erließ ein noch vorhandenes !) Schrei:
ben an Nikolaus, worin er in ben bemüthigften Ausdrüden um
Gnade flehte. Zuvor hatte Adventius, um in Nom befto ficherer
erhört zu werden, die Verwendung des Königs yon Franfreich an-
gerufen, ber wirklich fich dazu verftand, die Bitte des Metzer Bifchofg
durch ein befonderes Schreiben ?) zu unterftügen. Außerdem fertigte
Lothar felbft eine Gefandifchaft an den Pabſt ab, melde einen
Brief ?) überbradhte, der in Rom nicht anders’ als gefallen Fonnte.
Lothar verfichert darin den Pabſt feiner tiefften Ergebenheit, und
erklärt fich bereit dem Stuhle Petri „wie einer ber geringſten Men-
ſchen“ zu gehorchen, nebenbei aber beklagt er, dag Nikolaus den
Berläumdungen böswilliger Neider, die nach dem Beſitze des loth—
ringſchen Reiches firebten, allzugeneigtes Gehör fchenfe. Auch ver:
birgt er feinen. Schmerz über die harte Behandlung der beiden Erz—
bifchöfe nicht, doch gibt er Gunther Preis, indem er mit Mißbil-
ligung von feiner Widerfeglichfeit gegen den pähftlichen Bann fpricht,
dagegen läßt er einfließen, daß er die Hoffnung hege, Nikolaus
werde dem Erzbiichofe Thieutgaud, einem milbdenfenden Manne, der
fonft immer dem” Statthalter Petri gehorfam geweſen, verzeihen.
Als Gunther feine dem Könige erwiefenen Dienfte mit ſolchem Un—
banfe belohnt fah, warb er wüthend, und drohte das ganze Ge-
webe der gegen Thietberga angezettelten Ränke dem Pabſte zu ent:
hüllen. Wirflih führte er auch diefe Drohung aus. Nachdem er
alles Geld, das er im bifchöflichen Schate zu Cölln auffinden Fonnte,
zufammengerafft hatte, eilte er nad Nom. *) Aber feine Verſuche
bafelbft waren fo vergeblich wie die früheren, der Pabſt hörte ihn
nicht, 9) vielmehr beftätigte er auf einer römifchen Synode im No:
venber 864 die Abfesung der beiden Erzbifchöfe. 6)
Das Maas der Demüthigung des Tothringifchen Fürſten war
damit noch nicht voll. Da ſeine Oheime ihm zu Anfang des Jahrs
865 mit neuen Drohungen zuſetzten, wußte er ſich nicht anders zu
helfen, als daß er durch Vermittlung feines Bruders, des Kaiſers
Ludwig, den Schug des Pahfles gegen dieſe gefürchteten Gegner
') Bei Baronius ad annum 865 $. 51 fig. — 9) Ibid. $. 56 fig. —
3) Idem ad annum 864 $. 24 fig. — *) Hincmari annales ad annum 864,
Perz I., 465 obere Mitte. — 5) Annales Fuldenses ad annum 864, Perz I.,
578 Mitte, — °) Hincmari annales ad annum 864, Perz I,, 466 gegen unten.
63 *
996 IT. Buch. Kapitel 12.
anrief. 1) So vereinigte fi Alles, die Macht des Stuhles Petri
auf eine ſchwindelnde Höhe zu fleigern. Die Gier der Teutfchen und
Neuftrier arbeitete dem Pabſte nicht minder in die Hände als bie
Sharafterlofigkeit des Lothringers felbft. Und num nahm Nikolaus
gegen alle drei einen fehr hohen Ton an. Im Frühjahre 865 ſchickte
er den Biſchof yon Orta, Arfenius, als feinen Botſchafter in die
fränfifchen Reiche hinüber, Arfenius brachte an Ludwig den Teut-
fhen und Karl den Kahlen, fo wie an die Bifchöfe beider Neiche
Briefe mit fih, welche durch ihren Ton großes Staunen erregten.
Der fränfifche Chronift verfihert, 2) Nikolaus habe darin gegen die
zwei Könige eine Sprache geführt, wie fie nie einer feiner Bor:
fahren wider fränfifhe Herrfcher anzuwenden wagte: ohne bie
gewohnten Formen der Höflichkeit und in den ſtärkſten Ausdrücken
habe er dem Zeutfhen und Neufirier verboten, ſich ferner in bie
Jothringifhen Angelegenheiten zu mifchen. Arfenius reiste zuerft nad
Frankfurt zu Ludwig dem ZTeutfchen, dem er feine Briefe einhän-
Digte, von da begab er fih an den Inthringifchen Hof und erflärte
bem Könige, daß ihn der Kirchenbann treffen werde, wenn er nicht
unverzüglich Waldrada nah Stalien ſchicke und feine rechtmäßige
Gemahlin Thietberga wieder annehme. Nachdem er von Lothar
Berfiherungen des Gehorſams erhalten, eilte Arfenius in das neuft=
rifhe Reich, wo er eine Synode zu Attigny verfammelt fand. Er
übergab dafelbfi Karl dem Kahlen und den Bifchöfen die mitgebrach—
ten päbftlichen Schreiben, welde eben fo Yauteten, wie bie, welche
Ludwig der Teutfche und fein hoher Clerus empfangen hatte Auf
fein Verlangen wurde ihm Thietberga überliefert, welche bis bahin
unter Karls Schutz in Neufter lebte. Und nun trat Arfenius den
Rückweg nad Lothringen an. Zu Toucy, auf. der Gränze beider
Reiche, vereinigte fich eine glänzende Verſammlung von Bilchöfen,
Erzbifchöfen und weltlichen Großen aus Lothringen, Neufter und
Provence Im Angefichte diefer Zeugen und einer ungeheuren
Bolfsmenge empfieng Lothar aus den Händen des Arfeniug fein
verftoßenes Weib Thietberga, und verfpradh dem Botichafter feine
bisherige Beifchläferin Waldrada zu lbergeben, vorher aber mußte
er, bie ei auf das Evangelienbuh und einen Splitter bes
ı) Idem ad annum 865, — J., 467 Mitte, — 2) Idem bei Perz L,
468 oben. *
Die Päbſte Sergius IL, Leo IV., Nikolaus I. ꝛc. 997
Achten Kreuzes legend, einen furdtbaren Eid ſchwören, daß er in
Zufunft Thietberga mit der Treue eines Yiebenden Gatten behandeln
werde. Denfelben Schwur leiſteten mit ihm zwölf Yothringifche Große,
zur einen Hälfte aus dem Grafen=, zur andern aus dem Vaſallen—
Stande, als des Königs Eideshelfer. ) Der Pabft und fein Bot:
fchafter hatten, wie man fieht, alle ihre Abfichten erreicht, Arfenius
benahm ſich in den fränfifchen Reichen wie ein Gebieter. Außer
Waldraden mußte ihm noch eine andere Chebrecherin überliefert
werden: Ingiltrud, die Tochter eines neuftrifchen Großen, welche
ihren Gemahl, den Grafen Bofo, böslich verlaffen, und im Reiche
des Königs Lothar mit ihrem Liebhaber eine Zufluchtsftätte gefunden
hatte, aber dafür von dem Pabfte auf Boſo's Klage hin mit dem
Banne belegt worden war. Zu gleicher Zeit drang Arfenius Karl
dem Kahlen den abgejesten Biſchof Rothad son Soißons wieder auf,
über deſſen Gefhichte wir tiefer unten berichten werden, und nöthigte
den König, das Gut Bendeusre im Sprengel von Langres, welches
Ludwig der Fromme dem Stuhle Petri gefchenft, aber Karl ber
Kahle feitdem einem Grafen Wido vergabt hatte, der römifchen
Kirche zurück zu erftatten. 9 Aber fo glücklich auch der erfte Theil
der Reife des Gefandten abgelaufen war, fo unglüdlich endete der
zweite. Bon Lothringen begab fich nemlich Arfenius nach Bayern,
um dort die Gefälle gewiſſer Güter einzuziehen, die dem pabftlichen
Stuhle gehörten. ?) Während er nun über die Donau feste, ent:
wifchte ihm die Yiftige Ingiltrud und eilte nach Lothringen zu ihrem
verlaffenen Liebhaber zurück. %) Waldraba begleitete zwar ihren
Führer bis über die Alyen, aber in Stalien angefommen erhielt
fie von Lothar die Aufforderung zurüdzufehren, und entfloh nun
dem Gefandten ebenfalls, Vergeblich erließ Arfenius zwei Rund—
fchreiben °) an alle Biſchöfe Neuftriens, Lothringens, Teutſchlands,
daß fie Ingiltrud aufgreifen und wie eine Gebannte behandeln foll-
ten, vergeblich ſprach der Pabft ſelbſt am Feſte der Reinigung
Marien 866 feierlich den Bannſtrahl gegen Waldrada aus, ©) und
verfündigte ihre Verfluchung allen Bifchöfen der Chriftenheit; eine
völlige, und zwar für den Pabſt fehr bedenkliche Veränderung, war
ı)@1dem ibid, 468—469. — 2) Idem ibid. ©. 468 Mitte und 469 Mitte. —
3) Ibid. ©, 469 gegen unten. — *) Reginonis chronicon ad annum 866,
Perz I, 574 oben. — 5) Abgedruckt Mans, XV., 546 fig. — ©) Reginonis
chronicon ad annum 866. Perz I,, 575 flg.
998 *2 IM. Buch. Kapitel 12.
nicht nur in Lothringen, fondern aud in den beiden andern fränfi-
ſchen Reichen, Neuftrien und Deutfchland vor fih gegangen, und
es wurde jest offenbar, dab König Lothar fih im vergangenen
Jahre den Machtſprüchen des päbſtlichen Geſandten nur in heuch-
Verifcher Abficht, und um Zeit zu gewinnen, unterworfen hatte, Bald
nach ihrer Rückkehr an den Heerd des ungetreuen Gemahls, er:
fuhr Thietberga biefelbe Behandlung wie früher. Berläumdungen,
Kränkungen aller Art, waren ihr tägliches Loos. Als vollends ihre
Nebenbuhlerin Waldrada aus Italien wieder nach Lothringen Fam,
mußte die Arme felbft für ihr Leben fürchten, fie entfloh daher yon
Neuem zu Karl dem Kahlen. ') Wahrfcheinlich von ihrer neuftrifchen
Zufluchtsſtätte aus, fehrieb fie an den Pabſt einen Brief, in welchem
fie ihn exrfuchte, durch Aufhebung ihres Chebündniffes mit Lothar,
den langen Leiden, die fie bisher erbuldet, ein Ende zu machen.
Sie wollte fih in ein Klofter zurüdziehen. Nifolaus verwarf jedoch
die Bitte, er fiellte der Ilnglüdlichen vor, daß ihre eigene Ehre
einen ſolchen Entſchluß nicht dulde, und fprach zugleich feinen feften
Borfag aus, nie in bie beantragte Scheidung zu willigen, wenn
nicht auch Lothar hinfort Chelofigfeit angeloben würde. ?) Indeſſen
hatte der lothringiſche Fürſt noch Fühnere Schritte gegen den Pabſt
gethan. Im Sommer 866 nahın er nemlich das Erzbisthum Cölln
dem Clerifer Hugo wieder ab, und übergab baffelbe Gunthers Bru-
der Hilduin, demſelben, der die berüchtigte Schrift auf das Grab-
mahl Petri niedergelegt hatte, in der Art, daß Gunther felbft alle
Einfünfte beziehen, und alle amtlichen Verfügungen treffen follte,
Hilduin war nur dem Namen nad Bifchof, in der That verwaltete
den Stuhl Gunther, mit der einzigen Ausnahme, daß er die Meffe
nicht leſen durfte, °) Zugleich beftätigte Lothar den Vertrag, ) welchen
ı) Idem ibid. ©. 574 Mitte. — 2) Der Brief des Pabſis abgedruckt bei
Manfi XV., 312 unten fig. — 5) Hincmari annales ad annum 866 bei
Perz J., 471 Mitte. — *) Die königliche Beftätigungsurfunde abgedruckt bei
Mastiaux dissertatio exhibens historiam, exercitium ac suspensionem turni
ecclesiarum collegiatarum coloniensium. Bonnae 1786. 4to. Anhang ©. I. , flg-
Die Urkunde ift vatirt vom 411. Regierungsjahre des Königs Lothar, welches,
da diejer 855 die Herrfchaft angetreten, mit dem Jahre Ehrifti 866 zufammen
fällt. Maftinur felbft und Giefeler (8. ©. II., a. ©. 225) verwechfeln den
König Lothar mit dem gleichnamigen Kaiſer, ſeinem Vater, und verſetzen da—
her die Verordnung fälſchlich in das Jahr 852. Deutlich wird Lothar in
der Urkunde als König, und Gunther felbft nicht als Bifchof, ſondern als
Die Päbſte Sergius IL, Leo IV., Nikolaus I. ıc. 999
Gunther im Jahre 864 vor feiner Abfegung, wie wir oben be
richteten, mit feinen Canonikern abgefchloffen hatte. Die Sachen
ftanden alfo im Grunde gerade wieder fo, wie vor dem Concil von
Mes, und ſämmtliche Verfügungen, die der. Pabft indeß getroffen,
galten fo viel als nichts. Woher nun die plötzliche Kühnheit des
Lothringers, nachdem er kaum zuvor ſich fo demüthig gegen Niko—
Yaus bewiefen hatte? Das Räthſel wird vollfommen gelöst Durch
feine veränderte Stellung zu den beiden Füniglichen Obeimen. Im
Sommer 866 war e8 Lothar gelungen, Karl den Kahlen auf feine
Seite herüber zu ziehen. Der fränkiſche Chronift erzählt, D Lothar
habe unweit St. Quentin eine Zufammenkunft mit dem neuftrifchen
Könige gehabt, und mit demfelben einen Vertrag abgefchlofen, in
Folge defien er ihm die Abtei des heil. Wedaft abtrat. Daß diefer
Bund fi Hauptfächlicd auf Lothars Berhältnig zu Thietberga und
dem Pabſte bezog, erhellt aus einer Stelle weiter unten, wo ber:
felbe Chronift bemerft, ?) Thietberga, die fih um jene Zeit nad)
Nom zum Pabfte begeben wollte, jey durch beide Könige gemein:
ſchaftlich zurüdgerufen worden. Ueberdieß ift ein Brief des
Pabftes auf uns gefommen, ?) in welchem er fih gegen Karl den
Kahlen über deffen Einverftändnig mit Lothar beſchwert, und zu—
gleich die ebengenannte Abtei ald den Kaufpreis der neuen Freund:
Schaft bezeichnet. Auch mit dem zweiten Oheim, Ludwig dem Teut-
ſchen, hatte fich der Lothringer auf einen guten Fuß gefest, denn
ftatt demfelben, wie früher, Steine in den Weg zu legen, beginnen
nun Ludwig und feine teutfchen Bifchöfe, zum Schreden des Pabfts )
fi) für die abgefesten und gebannten Metropoliten, Gunther und
Thietgaud, unabläßig in Rom zu verwenden. Das herrifche Wefen,
mit welchem der yäbftliche Botfchafter 865 dießfeits der Alpen auf:
trat, Hatte denn doch endlich den fränkischen Fürften die Augen bar:
über geöffnet, daß fie durch ihre elenden Streitigfeiten gegen ein=
ander fich felbit der Gewalt eines geiftlihen Oberherrn überlieferten.
Die Lage des Pabſts war jest fehr fihwierig geworden. Er blieb
jedoch umnerfchütterfich feit, und brauchte mit großer Gewandtheit
alle Mittel gegen Lothar, die in feiner Macht fanden. Er fuchte
gubernator ecclesiae Coloniensis bezeichnet, was er, laut Obigent, im Jahr
866 wirffih war, — N Hincmari annales ad annnm 866. Perz I., 471 gegen
unten. — ?) Idem ibid. 472 Mitte. — 3) Manſi XV., 318 Mitte. — *) Dan
febe die beiden Briefe des Nikolaus, ibid. ©, 554 und 555, Nr. LVI. und LVIII.
1000 III, Buch. Kapitel 12.
die Berbindung zwifchen Lothar und Karl dem Kahlen zu zerreißen, ')
und da ihm Nachricht zufam, der Lothringer gehe mit dem Plane
um, die Schuld Thietberga’s durch einen gerichtlichen Zweikampf
beweifen zu laſſen, fihrieb ) er an den neuftrifchen König, daß der
römische Stuhl nie feine Zuftimmung zu einem foldhen Gerichte
geben werde. Den lothringiſchen Biſchöfen drohte er mit dem
Banne, wenn fie es Yänger unterliegen, die Berfluhung Waldrada’s
öffentlich befannt zu machen, und forderte fie nebenbei auf, ihm
Bericht über Lothar's Betragen zu erflatten. ?) An die Kirchen:
häupter von Teutſchland und ihren Gebieter Ludwig erließ er zwei
Briefe, worin er mit firengen Worten fein Mipfallen darüber aus:
ſprach, daß fie fi) unterftünden, für die abgefesten Metropoliten
Fürbitte einzulegen. *) Dem Könige von Lothringen felbft machte
er *) die bitterften Vorwürfe über fein treulofes Betragen, ermahnte
ihn noch einmal Waldrada fortzufgiden, und ftellte ihm im Falle
der Weigerung den Kirchenbann in Ausfiht Man könnte fich
wundern, warum der Pabft nicht fogleich diefes furchtbare Mittel
in Anwendung brachte. Unſeres Bedünfens unterließ er es wohl-
weislic darum, weil er befürchtete, daß ber Blitz unter den ob:
waltenden Umſtänden nicht einfchlagen möchte, Der vorfichtige Pabft
wollte die legte Waffe der Kirche nicht aufs Gerathwohl brauchen.
Lothar antwortete auf Die pabftlihen Drohungen mit ausgefuchter
Heuchelei. Er richtete einen Brief?) an Nifolaus, worin er ben:
felben feiner unbebingten Ergebenheit und des bereitwilligften
Gehorfams verfiherte, aber auch die Bitte ausfprach, der Pabſt
möchte feinen Berläumdern. nicht mehr wie bisher Glauben fchen-
ten. Zugleich mußte der Bifchof Adventius von Mes nach Rom
fchreiben, ©) daß fein Gebieter Lothar mit Waldrada in gar
feiner Berbindung ftehe, und dagegen Thietberga mit aller Achtung
als feine Gemahlin behandle. Während auf diefe Weife Nänfe,
Lügen und Drohungen, ein Spiel geiftlicher und weltlicher Waffen,
ſich durchkreuzten, ſtarb Pabft Nikolaus I. im November 867, den
Streit mit den Königen unerlebigt feinem Nachfolger binterlaffend.
Wir müſſen bier eine Bemerfung einflechten. Die Stellung,
1) Manfi XV., 318 flg. Neo. L. — 2) Ibid. Nro. XLIX., © 315. —
3) Man ſehe die beiden Briefe des Nikolaus, ibid. ©. 531 und 355. Nro. LVI.
und LVIII. — #) Epist. LI. ibid. ©. 3241 Mitte flg. — 9 Abgedrudt bei
Baronius ad annum 866. Nro. 37 flg. — °) Ibid. Nro. 29 flg.
Die Päbſte Sergius II., Leo IV., Nikolaus I. ıc. 1001
welche Karl der Kahle und Ludwig der Teutfche in den Ehehändeln
des Yothringifchen Königs einnahmen, empfängt ihr volles Licht erft
durch eine Thatfache, welche zwar in den Verhandlungen felbft nicht
berührt wird, aber dennoch feft ſteht. Die Ehe Lothar’s mit Thiet-
berga war kinderlos, wohl aber gebar Waldrada dem Lothringer
Söhne und Töchter. ) Wurde daher die Heivath mit erſterer aufge—
hoben, und feine Verbindung mit der zweiten als gejeglich aner-
fannt, fo befaß der Lothringer erbfähige Nachfommenfchaft, im ent-
gegengefesten Falle feine. Dieß war ber eigentlihe Grund, warum
die Dheime Lothar's auf alle Weife deffen Scheidung von Thietberga
zu bintertreiben fuchten, Denn fie gedachten, nad dem Tode Lo—
thar’s deſſen Neich zu erben. Daher fommt es, daß Hinfmar in
der oben angeführten Schrift erklärt, die Ehefache Lothar's fey eine
Frage, welche in die Intereffen fammtliher franfifhen Staa—
ten eingreife, und auf einer allgemeinen Synode entfchieden wer-
den müffe Auch dünft es uns fehr wahrſcheinlich, daß ber loth—
ringifhe König, als er im Jahr 866 ſich mit feinen Oheimen
verftändigte, gegen diefe auf das Erbrecht feiner Kinder aus ber
Berbindung mit Waldrada verzichtet haben dürfte, obgleich wir für
unfere Bermuthung Feinen urfundlichen Beweis führen können,
Während des Kampfes über Thietberga’s Recht hatten zwei
eben fo wichtige Händel zwifchen Nikolaus und dem Erzbifchofe von
Rheims begonnen. Zu der großen Zahl geheimer oder offener Geg:
ner, die dem Metropoliten Hinkmar feit feiner Erhebung das Leben
verbitterten, gehörte auch der Biſchof von Soißons Rothad.
Wir haben oben gezeigt, 2) daß Rothad zur Parthei des Kaiſers
Lothar hielt, und Hinkmar traute demfelben fchon bei Ausbruch der
Gotſchalk'ſchen Streitigkeiten fo wenig, ?) daß er den Mund), defien
Klofter doch im Sprengel von Soißons lag, im Jahre 849 micht
Rothad, fondern einem Andern in Berwahrung gab, Seitdem
ftanden Beide auf gefpanntem Fuße; Einer beobachtete den Andern
vol Argwohn. In einer fpätern Eingabe an den Pabft behauptet *)
) Hinkmar fagt dieß Opp. II., 694 gegen oben. In den Jahrbüchern
von Rheims kommt ein Sohn Hugo aus der Berbindung Lothar's II. mit
Waldrada vor, ad annum 879, Perz J., 512 gegen oben; eine Tochter
Lothar’s wird erwähnt annales fuldens, ad annum 884. Perz I., 599 a. unten.
— 2) Siehe ©. 968. — 3) Oben ©. 817. — +) Manſi XV. 682 oben und
684 Mitte.
1002 II. Buch. Kapitel 12.
Rothad, Hinkmar Habe ihn auf alle Weife niederzudrücken gefucht,
und den Gehorfam eines Knechts von ihm verlangt. Aber dieſe
Darftellung verdient nicht vollen Glauben, weil fie einfeitig von
bem Berfolgten ausgeht. Genug! im Jahr 861 glaubte Hinfmar
rechtmäßigen Anlaß zu Haben, ſich feines alten Gegners zu ent
ledigen. Auf einer Synode zu Soißons feste er- ed durch, daß
Rothad wegen Ungehorfams gegen die Metropolitangewalt yon
der biſchöflichen Gemeinfchaft ausgefchloffen wurde. Leber bie
Gründe diefes Verfahrens berichten jedoch beide Partheien verſchie—
den. Rothad erzählt ) die Sade fo: er habe einen Pfarrer feines
Sprengels, der auf friiher That des Ehebruchs ertappt und ver:
ftimmelt worden war, nad dem Urtheil von 33 Bifchöfen, feines
Amtes entjeßt, und die erledigte Stelle einem Andern gegeben.
Drauf fey der Berurtheilte zu dem Metropoliten gelaufen, und
habe e8 durch feine Klagen dahin gebracht, daß Hinfmar den Geift-
lichen, weldhem Rothad die Pfarre übergeben hatte, mit Gewalt
aus der Kirche herausreißen ließ, und Dagegen ben verſtümmelten Ehe-
brecher nach nur breifähriger Buße wieder einfeste. Weil er felbft,
fährt Rothad fort, diefem tyrannifchen Verfahren des Metropoliten
den Gehorfam verweigerte, fey er von Hinfmar zu Soißons an-
geklagt und verurtheilt worden. Ganz anders lautet die Ausfage
Hinfmars. As Grund des Verfahrens wider Rothad bezeichnet ?)
Diefer böswillige und, trotz der eindringlichften Warnungen, Jahre
lang fortgetriebene Widerfeglichfeit des Schuldigen, Verſchleuderung
yon Kirchengütern und andere Vergehen der Art. Auch in den
Sahrbüchern berichtet 3) er, Rothad fey auf fo lange von der Sy:
node zu Soißons mit der Strafe der Ausfchliegung belegt worden,
bis er fih den Kirchengefesen unterwerfen würde Wer hat nun
Net? Aus den eigenen Angaben Rothads getraue ich mir den
Beweis zu führen, daß Hinkmars Darftellung wahr ift, oder wenig:
ftens der Wahrheit am nächften kommt. Rothad gefteht ein, den
ehebrecherifchen Pfarrer vor einer Synode, an welcher 33 Bifchöfe
Theil nahmen, angeklagt und gerichtet zu haben. Da Hinfmar
die Entſcheidung dieſer Synode verwarf, fo folgt, daß er
auf derſelben nicht erfchienen feyn Tann. Nun gehörte Rothads
!) Manfi XV., 684. — ?) Hincmari Opp. II., 248 unten fig. 254 oben.
— 3) Bei Perz I., 455 unten.
Die Päbſte Sergius IT., Leo IV., Nikolaus I. ıe. 1003
Sprengel, oder das Bisthum Soißons erweislich zum Metropolitan⸗
Berband yon Nheims. Anderer Seits fand den Metropoliten,
fraft der Karolinifchen Berfaffung, ausschließlich die Befugniß zu
Provinzial-Synoden zu berufen, und nur in ihrer Gegenwart und
unter ihrer Leitung durften Cferifer gerichtet werden. Indem daher
Rothad ohne Mitwirkung Hinfmars einen feiner Untergebenen vor
einer Synode belangte, erlaubte er fih einen fehreienden Eingriff
in die Nechte des Erfteren,, und man begreift jetzt, warum ber be-
Yeidigte Metropolit fo bittere Befchwerde darüber führt, ) daß ber
Biſchof von Soißons fi) Feiner Ordnung fügen wolle. Allen Ans
zeigen nach ftellt fich die Sache fo heraus: Mitglied, vielleicht Haupt
der Parthei, welche damals in den fränfifchen Reichen am Umfturz
der Metropolitan-Gemwalt arbeitete, hatte Rothad eigenmächtig eine
Synode zufammengebracht und von derfelben einen Pfarrer feines
Sprengels, der allerdings ſchuldig war, richten laſſen. Wegen biefer
Verlegung feiner Rechte zog Hinfmar den Bifchof zur Berantwor-
tung, und feste, als derfelbe Trog bot, die Berurtheilung durch.
Im nächften Jahre nach der Synode von Spißong trat aber:
mal ein Coneil in Piſtres zufammen. Unbekümmert um das Ur:
theil, das 861 über ihn ergangen war, erſchien Rothad auf biefer
neuen Berfammlung. As nun Hinfmar und feine Freunde ihn
auswiejen, erklärte er, daß er auf den Pabft berufe, und verlangte
Urlaub zu einer Reife nah Nom. 7) Bon nun an gehen wieder -
bie Berichte aus einander, Laut der Ausfage ?) des Biſchofs von
Soißons nahm der Streit folgende Wendung: fobald Rothad die
gewünſchte Erlaubniß erhalten hatte, eilte er in feinen Wohnort zus
rück, um Anftalten zur bevorftehenden Neife zu treffen. Bon Soißons
fchrieb er fodann an den König Karl und den Erzbifchof zwei
Briefe, in welchen er ihnen für die Zeit feiner Abwefenheit die
verwaiste Gemeinde empfahl, Zugleich mit biefen beiden Schreiben
überfchiekte er durch denfelben Boten ein drittes an einen ihm be=
freundeten Bifhof. Nach Rothads Wunfche follte der Empfänger
daffelbe den übrigen Kirchenhäuptern mittheilen, die auf der Synode
zu Piftres für Die Losfprehung des Beklagten geftimmt
hatten. Rothad verfichert, diefer Brief habe die Bitte enthalten,
) Hinemari Opp. II., 248 unten fig. 251 oben. — ?) Hincmari annales*
ad annum 862. bei Perz I., 457 unten. — 5) Manſi XV., ©. 682 fig.
1004 IN, Buch. Kapitel 12.
dag jene Freunde während der Dauer feiner Reife nach Stalien
fih feiner Sache annehmen und ihn vertheidigen möchten. „Indeſſen
war,“ fährt Rothad fort, „der Bifchof, an den ich das Schreiben ge—
richtet, von Piftres abgereist, dagegen hatte Hinfmar vom Inhalt
meines Briefs Nachricht erhalten. Durch Drohungen zwang er den
Boten, ihm das Schreiben zu übergeben, und nachdem er es ge
Yefen, ftellte er dem Könige die Sache fo dar, als ob ich auf bie
Berufung an den Pabft verzichtet hätte und in Frankreich von felbft-
gewählten Schiedsrichtern gerichtet werben wollte.“ Hierauf habe
denn, heißt e8 weiter, Karl den Befehl ertheilt, daß weder Rothad
felbft abreifen, noch irgend Jemand ihn begleiten dürfe. Nachher —
gegen Ausgang des Jahres 862 oder im Anfange des folgenden, —
fey eine neue Kirchenverfammlung nad Senlis berufen worden,
auf welder auch der König erſchien. Durch drei an ihn abgefchidte
Bischöfe Habe Rothad dreimal die Aufforderung erhalten, fih zu
ftellen. Nachdem er fih, auf der Berufung nach Rom beftehend,
wiederholt geweigert, biefer Ladung Folge zu leiften, fey er bo
zuletzt theils durch Drohungen , theils durch Verfprechungen bewogen
worden, zu ericheinen. Nun babe man ihn abgefest und in ein
Klofter geiperrt, fpäter aber, um ihm den Mund zu fchließen, mit
einer Abtei abfinden wollen. Nah Hinkmar's Behauptung da—
gegen, ) unterwarf ſich Rothad dem Spruche der Synode yon Senlig,
. und ward nach feiner Abfegung mit der Abtei bedacht. Sp wider:
fprechend beide Berichte lauten, flimmen fie doch in dem einen Haupt:
punkte überein, daß Rothad fich berbeilieg, im Angeficht der Synode
zu erfcheinen. Durch diefen Schritt aber hatte er thatfächlich auf
die Berufung nach Nom verzichtet, mag er ihn nun, wie Hinfmar
anzudeuten fcheint, freiwillig getban haben, oder wie Rothad vor—⸗
giebt, durch Verſprechungen dazu vermocht worden feyn. Zweitens
find beide Ausfagen auch im Punkte der Abtei einig, denn Nothad
gefieht zwar nicht ausdrüdlich, daß er die Abtei annahm, Yäugnet
es aber auch nicht. Um fo zuverfichtliher darf man dem Zeugniffe
feines Gegners glauben, welcher behauptet, daß ſich Rothad wirk:
ih mit der Abtei abfinden ließ, und längere Zeit ruhig blieb. In
dem Anerbieten der Abtei feldft aber kann man unmöglich etwas
Anderes fehen, als einen zwifchen beiden Partheien abgejchloffenen
1) Opp. II., 249.
Die Pabſte Sergius IT, eo IV., Nifofaus I. ıc. 1005
Vergleich, Fraft deſſen Hinfmar die Berurtheilung des Biſchofs von
Soißons verfüßte, und -Nothad dagegen feine Berufung an den
Pabft aufgab. So aufgefaßt iſt der Hergang an fich höchſt wahr:
ſcheinlich und paßt vortrefflih zu den damaligen Umfländen. Die
Berufung Rothads auf den Pabſt mußte den höchften weltlichen und
geiftlihen Behörden Neuftriens, dem Könige, wie dem Metropoliten
Hinfmar, gleich unangenehm feyn: dem Könige, weil dadurd bag
unfhäsbare Recht, feine Biſchöfe im eigenen Lande richten zu
fönnen, feinen Händen entfchlüpftes dem Metropoliten aus dem—
felben Grunde, und noch mehr, weil er fi vermöge feiner Weber:
einfunft ') mit dem Vorgänger des damaligen Pabſts, mit Bene:
dift III., wirklich verbindlich gemacht hatte, die berühmten Befchlüffe
yon Sardifa anzueriennen, welde dem Stuhle Petri förmlich die
Befugniß zufprachen, Berufungen der Biſchöfe aller Provinzen an-
zunehmen. Bisher hatte noch fein fränfifches Kirchenhaupt gewagt,
das Urtheil einer Synode durch Berufung auf den Pabft umzu:
ftoßen, wenn aber Rothad fein Borhaben ausführt, war es um
bie Metropolitangewalt gefchehen, denn man fonnte vorausfehen,
bag von nun an alle verurtheilten Biſchöfe dem Beifpiel Rothad's
folgen würden, Es ift daher in der Drdnung, daß König und
Metropolit die größten Anftrengungen machten, um Rothad's Ver:
zihtung auf die Appellation an den Pabft zu erlangen. Und warım
follte dieß ihrer vereinten Macht nicht gelungen feyn! Unmöglich
fönnen wir jedoch glauben, daß Hinkmar feinen Zweck durch das
läppiſche Mittel, von welchem Rothad fpricht, zu erreichen fuchte.
Sicherlich war die Abtei der hauptſächliche Hebel den er anwandte.
Zu fehr hatte Rothad den König und den Metropoliten durch feinen
Trotz beleidigt, als daß Beide fein Stillfchweigen durch Wiederher-
ftellung des Gebannten erfaufen fonnten. Er mußte daher fallen.
Dagegen hofften fie ihm durch andere Mittel den Mund zu
ſchließen. Die Abtei folte die Lockſpeiſe ſeyn. Man ftellte ihm vor,
daß er, wenn er fortführe auf den Pabft zu pochen, den Metro:
politen und den König zu unverföhnlihen Gegnern haben werde,
wenn er dagegen ſich füge, die reichen infünfte des Klofters im
Frieden verzehren möge. Auch hat das Mittel allem Anfchein nad)
gewirkt. Sein Erfcheinen vor der Synode von Senlis war ber
I) Siehe oben ©. 981.
1006 | II. Buch. Kapitel 12.
erfte, die Annahme der Abtei der zweite Aft eines zwiſchen beiden
Theilen zu Stande gekommenen Vergleichs.
Aber bald fiel Rothad in den alten Trotz zurück. Ueber die
Triebfedern, welche ihn zu dieſer Sinnesänderung vermochten, er⸗
ſtattet Hinkmar einen vollkommen glaubhaften Bericht, „Längere
Zeit,“ ſagt er, ) „begnügte ſich Rothad mit der Abtei, erſt Andere
haben ihn verführt. Leute, welche ſehr gut unterrichtet
ſind, verſichern, gewiſſe Biſchöfe aus Lothars II. Reiche, die gegen
mich in böſem Eifer entzündet waren, weil ich ihren Be—
fhlüffen in Betreff Waldradas entgegentrat, fo wie gewiſſe
Teutfche Kircchenhäupter, die auf den Antrieb ihres Königs
mir wehe thun wollten, weil ich nicht, gleich Rothad, bei Bertrei-
bung unferes Gebieters Karl die Hände den Teutichen geboten, *)
hätten Rothad fo lange zugefest, bis er fi) dazu verftand, den
Streit wieder anzufangen und jene Ohrenbläſer ermächtigte, feine
Wiederherftellung beim Pabfte zu betreiben.“ Man bemerfe, daß
das Schreiben, in welchem die eben angeführten Worte flehen, an
Pabſt Nikolaus I felbft gerichtet if, Unmsglich Fann man annehmen,
dag Hinfmar in dieſem Punkte etwas fagt, was nicht der firengen
Wahrheit gemäß wäre. Folglich haben wir hier wieder einen neuen
Beleg von den verberblichen Ränken, welche die Nachfommen Karls
des Großen gegen einander ſpielten. Weil Einer dem Andern fein
Erbe mißgsnnte, und jeder die geheime Hoffnung hegte, das ganze
Neih unter feinem Scepter zu vereinigen, fuchten fie fi) gegen-
feitig zu verderben. Um diefes Ziel zu erreichen, verführten fie
einander die Bafallen, und namentlich die Bifchöfe, welche ben
größten Einfluß beſaßen. Nur dadurch ift es den Päbſten gelungen,
Alle zufammen ihrer geiftlihen Gewalt zu unterwerfen. |
Durch Bermittlung jener Teutfchen und Lothringer, wie es
fheint, gelangte die erneuerte Berufung Rothad's an den Pabſt.
Und nun erließ Nikolaus 1. ein fcharfes Schreiben °) an Hinfmar,
in welchem er ihm Bormwürfe darüber macht, daß er den Bifchof
Rothad von Soißons, der nach Nom appellirte, zur großen Schmad)
des Stuhles Petri, nicht nur feines Bisthums entfeßt, fondern auch
A. a. 9.1, 219 Mitte. — 2) Das Ereigniß, auf welches Hinkmar
anfpielt, ift oben erzählt worben. — °) Nicolai epistola Nro. 29. Manfi XV,,
295 unten. flg.
Die Päbfte Sergius IT., Leo IV., Nikolaus I. ꝛc. 1007
auf andere Weife vielfach mißhandelt Habe. Sofort befiehlt der
Pabft dem Metropoliten, Rothad unverzüglich wieder einzufesen.
Nachdem Dieß gefchehen, follen die Anfläger fammt Rothad ſich als:
bald in Nom zu Gerichte ftellen. Würde Hinkmar nicht innerhalb
30 Tagen, nad) Empfang des Schreibens, Rothad wiederherftellen,
oder, fey es in eigener Verfon, fey es durch Abgeordnete, weiterer
Unterfuhung der Sache in Nom gewärtig feyn, fo verbietet er ihm
für fo Yange das Lefen der Meſſe, bis Hinfmar den Befehl voll
firecft Habe. Mit derfelben Strafe bedroht er ſämmtliche Biſchöfe
der Parthei Hinkmars, und beauftragt Diefen, die päbftlihe Willens:
meinung Jenen zu eröffnen. Set konnten Hinkmar und feine Freunde
nicht länger fehweigen. Sie richteten an Nikolaus ein Synodal-
fhreiben, das zwar nicht mehr vorhanden ift, deſſen Inhalt aber
aus der Antwort des Pabſtes erhellt. Die Behauptung fand darin,
Rothad's Appellation an den Pabſt fey darum unftatthaft, weil
faiferlihe Gefege jede Berufung auf fremde Gerichte verböten.
Auch überſchickten fie die Akten des letzten Concils yon Senlis und
der Abfegung Rothad's nad Nom, mit der Bitte, der Pabft möchte
diefelben beftätigen. Nunmehr erlieg Nikolaus eine Reihe Briefe an
die Neuftrifchen Bifhöfe, an Hinkmar, an König Karl den Kahlen,
an Rothad. In dem erften, D an bie neuftriichen Bifchöfe, erklärt
er rund heraus, daß er die Beſchlüſſe von Senlis unmöglich be=
flätigen könne, ehe nicht eine neue Unterfuchung der Sache zu Nom
ftattgefunden hätte. Er fpricht weiter feinen Unwillen darüber aus,
daß fie e8 gewagt, mit völliger Mißachtung der von Rothad ein-
gelegten Appellation, benfelben abzufegen. Dann auf das Bor:
geben der Biſchöfe übergehend, jede Berufung auf fremde Gerichte
jey durch die Faiferlichen Geſetze verboten, belehrt er fie durch Be:
weis⸗Stellen aus den Schriften Innocenz I, und Gregor’s des Großen,
daß Taiferliche Gefege zwar gegen Keger gebraucht werden Dürfen,
aber jeder Geltung entbehrten, fobald fie dem Rechte der Kirche
widerfprächen. Sofort rüdt er die Artifel von Sardifa in ihrer
ganzen Ausdehnung ein, und führt ihnen zu Gemüth, wie Unrecht
fie gethan, gegen den Wortlaut dieſer ehrwürdigen Befchlüffe, der
Appellation Rothad's feine Folge zu geben. „Euer dem beiligen
Petrus und den Vorrechten feines Stuhls zugefügtes Unrecht“ fagt
) Manſi XV., 500 unten flg.
1008 II, Buch. Kapitel 12.
er, „ift fo groß, daß ich es nicht auszufprechen vermöchte, wenn
gleich alle Glieder meines Leibes fih in Zungen verwandelten.“
Auch vergißt er nicht zu bemerken, daß bie Befugniß des Stuhles
Petri, Berufungen anzunehmen, die feftefte Stüge des Wohlfeyns
und der Selbfiftändigfeit ſämmtlicher Bifchöfe fey. „Wer yon Euch,“
zuft er aus, „ift fiher, daß es ihm heute oder morgen nicht eben
jo ergebe, wie dem unglüdlihen Rothad.“ Diefer Beweisgrund
war in der That gut gewählt! Am Schluffe befiehlt er ihnen,
Rothad unverweilt nach Rom zu fhiden. Zwei bis drei aus ihrer
Mitte möchten ihn begleiten, damit die Sache in Rom gehörig unter:
fucht werden Eönne. Würden fie diefem Gebote innerhalb dreißig
Tagen nad) Empfang des Schreibens nicht gehorchen, fo droht er
ihnen, Rothad frei zu fprechen, und überdieß eine Synode zu be=
rufen, bie ihnen leicht daſſelbe Schickſal bereiten bürfte, welches fie
dem Biſchofe von Soißons zugedacht hätten. Aehnlich ift der Sn:
halt bes Schreibens ) an Hinkmar, nur noch drohender. „Dieß fey
ber zweite Brief,“ heißt es am Ende, „den er in Rothad's Sade an
Hinkmar erlaffe, würde der Metropolit fi zum dritten Male befehlen
laffen, jo möge er gewärtig feyn, als Berächter der Kirchengefege
behandelt zu werden.“ König Karl den Kahlen erfucht ?) der Pabft
in dem dritten Schreiben, die Reife Rothad’s nah Nom zu befür:
bern. Eben fo entfchieben wie in den andern Briefen, fyricht er von
ber Beleidigung, die in Rothad's Sache dem heiligen Stuhle wider:
fahren, und yon feinem Entfchluffe, eher zu fterben als eine Min-
derung ber Borrechte Petri zu dulden. Nifolaus ift kühn genug,
dem Könige mit fohlimmen Folgen zu drohen, wenn er nicht auf
feine Bitten, feine Befehle hören würde, „Was für eine Hülfe“
rebet er ihn an, „könnet Ihr in irgend einer Berlegenheit Eures
Neihs von Petri Stuhle erwarten, wenn Ihr felbft die Hände Dazu
bietet, die Vorrechte deffelben zu fihmälern.“ Der Pabſt durfte fo
zu den fränfifchen Fürften fprechen, weil Jeder von ihnen unauf:
hörlich um römische Dienfte gegen die Andern buhlte. In dem vier:
ten Schreiben ?) endlich ertheilt Nikolaus dem Bifchofe yon Soißons
Nachricht Über die Schritte, die er zu feinen Gunften gethan,
fordert ihn auf, fo bald als möglich nach Nom zu fommen, und
') Ibid, ©, 294 fig. — 9 Ibid. S. 296 unten fig. — ®) Ibid. 306
Mitte fig.
Die Pähfte Sergius IT, Leo IV., Nikolaus I. ꝛc. 1009
fügt noch die Ermahnung bei, Nothad möge, wenn man ihm
auch Urlaub zur Reife verweigern follte, ſtandhaft auf der Appel—
lation verharren.
"Was follte nun Hinfmar, was der König yon Neuftvien thun?
Gaben fie dem Pabfte nad, fo war es um die Metropolitangewalt
des Erftern, um die Dberherrlichfeit des Andern über feine Bifchöfe
gefchehen. Verweigerten fie den Gehorſam, fo Fam es vorausficht-
ich zum Brude mit Nikolaus, deffen Beiftand doch Karl ver
Kahle bei feinen ewigen Händeln mit den andern fränfifchen Fürften
faum entbehren konnte. Wirklich war die Lage der Neuftrier fehr
beſchwerlich. Sie zögerten, fuchten Zeit zu gewinnen, und wandten
indeß alle möglichen Heinen Mittel auf, welche das Ungemitter be-
ſchwören zu fünnen fchienen. Die Königin Hermintrud, Karl’ Ge:
mahlin, mußte an den Pabft fchreiben, daß er doch ihr und dem
Könige zu Lieb die Sache Rothad's fallen Iaffen möchte, Vergeb—
lich! Der Pabſt antwortete ') „feiner geliebteften Tochter,“ daß er
fih Gewiffenshalber nun und nimmermehr dazu verftehen könne,
Solches zu gewähren. In einem andern, wie e8 fcheint, gleichzeitigen
Briefe ?) erfudhte er fogar den König, Rothad zum Behufe der
römischen Reife mit Geld zu unterftügen. Hinfmar feiner Seits
fchwieg zu dem zweiten, ja er ſchwieg noch zu einem dritten und
vierten Mahnfchreiben des Pabſtes. Aus einem fünften Briefe 3)
ebendefjelben erhellt zugleich, warum der Metropolit ungeftraft fo
lange trogen durfte. „Wir können,“ beginnt er, „unfer Befremden
nicht verbergen, daß du unfere viermaligen Ermahnungen überhört,
und auch unferem Testen Befehl, Rothad entweder in fein Amt
wieder einzufegen, oder Gefandte auf den 1. Mai 864 nah Nom
zu fenden, feine Folge geleiftet haft.“ Im fehr gemäßigten Worten
wiederholt er fofort diefes Verlangen, und unterfagt Hinfmarn dem
Nachfolger Rothad’s die Weihe zu ertheilen. Zuletzt ermahnt er ihn,
Daß er mit Gunther, dem abgefesten Bifchofe von
Cölln, jeglihe Gemeinfhaft meiden möge. Lesterer Satz
erklärt die milde Sprache des Pabſts; weil Nikolaus fürchtete, daß
der hartbedrängte Hinfmar ſich mit den Lothringern vereinigen Eönnte,
wagt er nicht den Metropoliten von Nheims aufs Aeußerfte zu
treiben, fondern gibt dem Ungehorfamen gute Worte,
Öfrörer, Kircheng. II. 64
1010 | II. Buch. Kapitel 12.
Da indeß der Pabft Hartnädig auf feiner Forderung beftand,
dag Rothad nach Rom geſchickt werden follte, mußte zulest Etwas
gefchehen. Im Frühjahr 864. fchrieb 1) Nikolaus an Rothad, daß
er vom Könige Karl wie von Hinfmar bie fefte Zuficherung erhal-
ten habe, man werde feiner Reife feine Schwierigfeit mehr in den
Weg legen. Wirklich machte fi) Rothad auf den Weg; zugleich
mit ihm traten aud mehrere Abgefandte der Gegenparthei die Reife
an. Aber auch jest noch war der Urlaub nicht ernftlich gemeint.
Der Chronift meldet *) nemlih: Kaifer Ludwig habe den Bevoll:
mächtigten Karls und Hinfmar’s, wie dem abgefegten Bifchofe von
Soißons, Päffe verweigert. Kaum kann man hierin etwas Anderes,
als das Werf einer geheimen Verabredung zwifchen dem Könige
von Neufter und feinem Neffen dem Kaifer erbliden. Durch den
Borwand einer erfünftelten Unmöglichkeit follte der päbftliche Plan
gereitelt werden. Die Wahrheit diefer Anficht von der Weigerung
Ludwigs erhellt aus dem Umftande, daß die neuftrifchen Gefandten
auch nachher nicht, da die Wege ermweislich frei waren, fih nad
Nom begaben. Rothad mußte in Beſancon liegen bleiben, die Be-
sollmächtigten Hinkmar's dagegen Tehrten in die Heimath zurüd,
nachdem fie zuvor auf heimlichem Wege, wie der Chronift ver:
fichert, 2) dem Pabfte Bericht über die Urfachen der Unterbrechung
ihrer Neife erftattet, auch ihm ein weitläufiges Schreiben Hinfmar’g,
das fie perfünlich nach Rom bringen follten, überfchickt Hatten. Dieſe
Urkunde, ?) welche über den ganzen Handel erwünfchte Aufjchlüffe
gibt, und von ung oben vielfach benügt worden ift, gelangte richtig
in die Hände des Pabſts. Hinfmar erkennt darin das Recht des
römischen Stuhls, Berufungen anzunehmen, vollfommen an, Dagegen
macht er geltend, daß Rothad auf feine Appellation ſpäter verzichtet,
und dem Ausspruche felbfigewählter Schiedsrichter fich unterworfen
habe. Die afrifanifhen und Karthagifchen Canones, fo wie bie
Entjcheidungen des heil. Pabfis Gregorius lehren ja ausprüdlich, daß
man son dem Sprud eines Schiedsgerichts nicht mehr appelliren
dürfe. Auch würde, fagt er, der Ehrfurcht welche dem Stuhle
Petri gebühre, Eintrag geihehen, wenn man denfelben mit allen
Zänfereien des niederen und höheren Cerus behelligte, welde laut
1) Ibid. ©. 5307. — 2) Hincmari annales ad annum 864. Perz I,, 465
Mitte. — 3) Hinemari opp. II., 244 fig.
Die Päbſte Sergius IT, Leo IV,, Nikolaus I. sc. 1011
dem Schluffe des Nicänifchen Concils, fo wie auch gemäß ben
Berordnungen mehrerer Päbfte, yon den Metropoliten auf Provin—
zialſynoden entfchieden werden müßten. Ein Anderes fey es, wenn
ein Streit Angelegenheiten betreffe, über welche die Kirchen:
gefeße nichts beftimmen. In folhen Fällen müſſe man zu dem
göttlihen Drafel, d. h. zum apoftolifhen Stuhle feine Zuflucht
nehmen. Ebendaſſelbe ſey Nechtens, wenn entweder der Bifchof
einer Provinz dem Ausspruch felbfterwäplter Nichter fich nicht unter—
werfen wolle, oder wenn er, von einer Provinzialiynode abgeſetzt,
im DBertrauen auf feine gute Sade an den Stuhl Petri appellire.
Sobald Lesteres gefchehe, liege Denjenigen, welche einen ſolchen Bifchof
gerichtet hätten, die Berpflihtung ob, an den Pabſt zu fchreiben
und ihn zu erfuchen, daß er gemäß den Befchlüffen von Sarbifa
eine neue Unterfuhung anordne. Gleicher Weife können Metropo-
liten, die von Nom das Pallium erhalten hätten, nicht eher ge=
richtet werden, als bis die Meinung des Pabſtes eingeholt fey.
Hinkmar geht fofort auf feine Befchwerden gegen Rothad über, von
denen wir oben gefprochen, er behauptet, Jahre lang vergeblich Er:
mahnungen und Bitten an diefen unwürdigen Cleriker verfchwendet
zu haben, er fagt, die Hffentlihe Meinung habe ihn laut getadelt,
daß er den Mann fo lange im Lehramte duldete. Dann fährt er
fort: auf die wiederholten Borftellungen des Pabftes habe er den
König Karl bewogen zu geftatten, daß Rothad nach Nom reifen
dürfe, aber die anbefohlene Wiedereinfegung beffelben zu vollziehen,
fey ihm aus folgenden Gründen unmöglich gewefen: erfilich hätten
die Zeitumftände nicht erlaubt, die Bifchöfe zufammenzurufen, durch
die er abgefeßt worden, was doch nöthig gewejen wäre, da ein
Bifchof nur durch Diefelben, die ihn verurtheilt, auch wieder einge-
fegt werden fünne. Aber auch abgefehen yon biefer Schwierigfeit
würden feine Suffragane, felbft wenn es ihm gelungen wäre, fie zu
verfammeln, den Borfchlag der Wiedereinfegung Rothad's für
baaren Unfinn gehalten haben, da ihnen der unmwiürbige
Charakter des Menfchen fattfam befannt fey. Werde der Pabſt —
was fie jedoch unglaublich finden — Rothad wiederherftellen, fo
hätten fie doch wenigftens das beruhigende Bewußtfeyn, an biefer
Maaßregel, die nicht anders als zum Verderben der Seelen aus:
fhlagen könne, feine Schuld zu tragen. Nikolaus möge thun, was
ihm gut bünfe, fie lehnen jede Berantwortung yon fih ab, da alle
64*
1012 2 II. Buch. Kapitel 12,
Welt wife, Daß ihre Kirche der römiſchen, und fie felbft
dem Statthalter Petri zum Gehorſam verpflidtet
feyen. Hinkmar verfichert hierauf, er werde, wenn es Nikolaus
gefalle Rothad wieder einzufesen, feinen Widerftand leiſten, wohl
aber halte er es für feine Schuldigfeit, den Pabſt auf die Verbrechen
des Menfchen aufmerffam zu machen. „UWebrigens,“ führt er fort:
„ermächtigen nicht einmal die Beichlüffe son Sardifa den Pabft,
einen Bifchof, der an ihn berufen habe, ohne Weiteres wieder her:
zuftellen, jondern eine folhe Sache müffe an die Synode der bes
treffenden Provinz, in welder allein, Yaut dem Ausſpruche der
Garthagifchen Canones, die nöthigen Zeugen aufzutreiben ſeyen, zu:
rückgewieſen werben, auch habe der Pabſt an die Biſchöfe der nächſt—
gelegenen Provinzen zu fchreiben, daß fie eine neue Unterfuchung
anftellen möchten, oder aber Gefandte zu fchiden, die im Berein
mit den benachbarten Bifchöfen richten follten. Selbft wenn das
von einer frühern Synode ausgefprochene Abfesungsurtheil durch
eine fpätere aufgehoben werde, könne das legtere Urtheil Denen, welche
das erfte gefällt, nicht zum Nachtheile gereichen, fofern fich nicht
beweifen Yaffe, daß die erften Richter unlautere Abfichten gehegt hät—
ten. Weiter bemerkt Hinfmar, dem Pabſt liege eben fo gut die Pflicht
ob, dafür zu forgen daß die Metropoliten yon ihren Suffraganen
nicht verachtet, als daß dieſe von jenen nicht ungebührlich behandelt
werden. Um das Mitleiven, fagt er, fey es allerdings eine ſchöne
Sache, aber dennoch dürfe man aus bloßem Mitleiden nit
die Berfaffung der Kirche umſtürzen. Er wirft die Frage
auf, ob die erzbifchöftichen Gerichte nicht noch mehr als bisher in
Berachtung gerathen müßten, wenn ber Pabft aus Erbarmen für
Nothad ſich bewegen laſſe, das Urtheil von Senlis aufzuheben. Er
für feine Perſon werde in Zufunft Niemand mehr richten noch
verurtheilen, ſondern blos die Fehlenden ermahnen, und wenn fie
fich nicht befferten, die Sade dem Pabſte anheimftellen. Diefen
Ausweg müfe er darum wählen, damit er in Zukunft der vielen,
mit Drohungen des Bannes und den bitterften Vorwürfen ange:
füllten Briefe entboben fey, welche ſeitdem ©. Heiligfeit ein Mal
über das andere an ihn erlaffen habe, obgleich die Schriften der
heiligen Bäter wiederholt lehren, daß man zu folden Drohungen
nur felten und in dringender Noth fchreiten dürfe. „Sein eifrigftes
Beſtreben,“ fchließt er, „werde dahin gerichtet feyn, daß ihn bie
Die Päbfte Sergius II., Leo IV., Nikolaus J. x. 1013
vielleicht nahe Todesftunde nicht außer ber Gemeinfchaft mit dem
römifchen Stuhle überrafchen möge.“
Es ift der Schwanengefang ber dahinfterbenden Metropolitan:
Berfaffung, den ber greife Erzbifchof von Nheims in diefem merf-
würdigen Briefe fingt. Die Wendung, welche Rothad's Sache ge:
nommen, erfüllt ihn mit tiefftem Grame, aber er unterwirft fich der
Nothwendigkeit und der anfchwellenden Macht des Stuhles Petri.
Indeſſen hatte Rothad Mittel gefunden, feine Reife nach Rom
fortzufegen, wo er gegen Mitte des Jahres 864 eintraf. Er über:
reichte dort dem Pabſte diefelbe Schugfchrift, ) die von ung oben
benüst worden if. Mit allen möglichen Künften fuchte er darin
aus begreiflihen Gründen den Beweis zu führen, daß er feine im
Jahr 861 eingelegte Berufung auf den römischen Stuhl nie zurüd:
genommen habe, was ihm jedoch, wie wir früher zeigten, nicht
gelingt. Neun Monate ?) beobachtete der Pabſt beharrlihes Still:
ſchweigen, erwartend, daß Gefandte Karl’s des Kahlen oder Hinkmar's
fommen würden, um' dem Gerichte, das er in Ausficht geftellt, an:
zumohnen. Aber fein Beyollmächtigter erfchien, ohne Zweifel, weil
Hinfmar fich hütete zu feiner eigenen Demüthigung die Hände zu
bieten. Am Tage vor Weihnachten S64 beftieg Nifolaus die Kanzel
der Hauptfirche zu unferer lieben Frauen, und erflärte in öffentlicher
Rede 9) vor dem zahlreich verfammelten römiſchen Clerus Rothad
für einen unfchuldig Verfolgten, deſſen Anfläger es nicht gewagt
hätten, ihre Befchwerde vor Gericht zu beweifen. Zugleich hob er
das Urtheil von Senlis aus folgenden Gründen auf: „da ohne Bes
fehl des römifchen Stuhls feine Synode berufen werden bürfe,
fo fey jene Entfeheidung ungültig; zweitens, Hinkmar behaupte zwar,
dag Rothad feine Appellation fpäter zurückgenommen habe, aber
jelbft wenn dieg wahr wäre, müffe Hinfmar wiffen, dag man fich
yon einem höheren Gerichte nicht wieder an ein niederes wenden
dürfe; drittens, durch zahlreiche päbſtliche Defretalen werde beftimmt,
daß alfe bifchöffichen Angelegenheiten der Entſcheidung des Stuhles
Petri vorbehalten feyen. Wenn daher auch Rothad nicht an ben
römiſchen Stuhl appellirt hätte, wäre Hinfmar nicht befugt gewefen,
') Abgedrudt bei Manft XV., 681 unten fig. — ?) Anastasius in vita
Nicolai $, 58 flg. Vignoli III., 205 unten flg. — 3) Abgedruckt bei Manft
a. a. O. ©. 685 unten flg.
1014 - II. Buch. Kapitel 12.
ohne vorangegangene Einwilligung des Pabſts, Rothad feines
Bisthums zu entfegen.“ Das waren damals neue und unerhörte
Grundfäge!! |
Nikolaus wartete einen weitern Monat, ob die Gefandten nicht
noch fommen würden As fie abermals ausblieben, befleidete er
Rothad am 21. Januar 865, dem Fefttage der heil, Agnes, mit
dem bifchöflihen Gewande und Tieß ihn. die Meffe Iefen. Zugleich
wurden yon der römischen Kanzlei eine Reihe Schreiben ausgefer:
tigt, um bie gefaßten Beſchlüſſe fammtlichen Betheiligten jenfeits der
Alpen fund zu thun. Eines ift an Clerus und Gemeinde von
Soißons gerichtet, ) es wünſcht ihnen Glück zur Wiederherftellung
ihres vorigen Biſchofs und ermahnt fie, denfelben mit allen Ehren
zu empfangen. Ein zweites *) ward Rothad felbjt mitgegeben. Der
Pabſt erftattet darin von den zu feinen Gunften getroffenen Ber:
fügungen Bericht, und bedroht Diejenigen mit dem Banne, welche
fih nach fruchtlofer dreimaliger Aufforderung weigern würden, die
Güter der Kirche von Soißons dem wiederhergeftellten Bifchofe aus:
zuliefern. Doch ift die Klaufel beigefügt, daß Rothad verpflichtet
feyn folle, gegen Jeden, der ihn wegen früherer Vergehen anflagen
würde, vor dem päbftlichen Stuhle fich zu verantworten. In einem
dritten Schreiben 9) überfchüttet der Pabſt den Metropoliten von
Nheims mit Vorwürfen, daß er bie dem Stuhle Petri gebührende
Ehrfurcht in Rothad's Sache gänzlich aus den Augen gefest habe.
Unwahr fey feine Behauptung, daß Rothad auf die Appellation
nah Rom verzichtet und fich einem ſelbſtgewählten Schiedsgerichte
yon Biſchöfen unterworfen hätte. Der Brief Rothad's, aus welchem
Hinkmar Diefes beweifen wolle, *) fey zu Nom aufs Sorgfältigfte
unterfucht, aber auch nicht die mindefte Spur yon Dem, was Hinf-
mar darin zu finden vorgebe, entdecdt worden, denn weder werbe
die Zahl der gewählten Richter ausgedrüdt, noch feyen ihre Namen
angegeben, was doch Beides hätte gefchehen müffen, wenn Rothad
der Meinung gewefen wäre, die Sache einem Schiedsgericht anheim:
zuftellen. Sofort wiederholt der Pabft den fchon in feiner Rede
vor dem Weihnachtsfefte angeführten Grund, daß felbft dann, wenn
Rothad wirklich feine Appellation zurücdgenommen haben würde, dieß
') Ibid. ©. 700 Mitte fig, — 2) Ibid, ©. 701 fig. — 3) Ibid. ©. 691
fig. — *) Siehe oben S. 1004,
Die Päbſte Sergius II, Leo IV., Nikolaus J. ıc. 1015
ungültig wäre, weil nach Anrufung päbſtlichen Urtheils nicht mehr
an ein nieberes Gericht appellivt werden dürfe. Nifolaus Hagt
weiter, daß Hinfmar die vielen Briefe, die er in Rothad's Sache
theils an ihn felbft, theils durch feine Vermittlung an andere Bifchöfe
gerichtet, nicht geachtet, einen davon gar nicht gelefen, einen andern
vier Monate Yang zurücbehalten habe. Die Behauptung Hinkmar's,
feine Gefandten feyen durch Feinde, oder durch Kaifer Ludwig ver:
hindert worden, ihre Neife nach Rom zu vollenden, erklärt er für eine
fahle Ausflucht. „Nachdem man acht Monate lang vergeblich, auf
die Ankunft diefer Bevollmächtigten. gewartet habe,“ führt Nikolaus
fort, „fey ihm nichts anderes übrig geblieben, als den Biſchof, da fich
fein Kläger zeigte, wieder einzufesen.“ Sodann überläßt der Pabſt
dem Metropoliten die Wahl zwifchen zwei Maaßregeln, die, wie er
fagt, gleich Fanonifch feyen: entweder möge Hinfmar den päbftlichen
Befehl in Betreff der Wiederherftellung Rothad's unbedingt vollziehen,
oder alsbald nah Rom kommen und feine Beſchwerden dort gegen
den Bifchof von Soißons vorbringen, Lebteres jedoch nur unter der
Bedingung, daß Nothad zuvor in feine Würden und Güter wieder:
eingefest, und daß ihm eine Frift eingeräumt werde, um fich von
den Anftrengungen feiner Reife zu erholen. Werde dagegen Hinf-
mar feines von Beiden thun, fondern auf feinem Ungehorfam ver:
barren, fo fey er hiemit Fraft göttlichen Urtheils durch den appfto-
liſchen Stuhl für immer feines Erzbisthums entfeßt.
. Ungefähr daflelbe fagt Nifolaus in einer Zufhrift ) an Karl
den Kahlen. Außerdem fügt er bei: geftüst auf die Vorrechte des
römifchen Stuhls und gemäß der Ueberlieferung, babe er Rothad,
nachdem berfelbe an den Stuhl Petri appellirt, zu fich berufen.
Der 9te Canon des Concils von Chalcedon beftimme, daß jeder
Bischof oder Elerifer, der über den Metropoliten feiner Provinz
zu klagen habe, feine Rechtsſache vor den Primas des Sprengels
oder por das Kirchenhaupt von Conftantinopel bringen folle. Was
son dem Konftantinopolitaner gelte, finde in noch viel höherem
Maaße auf den Pabft feine Anwendung, zumal da die Beichlüffe
von Sardifa Appellationen nad Rom geftatten, von welchem Nechte
Rothad Gebraud gemacht habe. Aus einer Wendung, die der
Brief fofort nimmt, geht hervor, daß ber neuftrifche König große
i) Ibid. ©, 688.
1016 24 I. Buch. Kapitel 12,
Summen Geldes angeboten hatte, wenn man in Nom bie Sache
Rothad's fallen Yaffen würde. Nikolaus erflärt nemlich, nicht Geld,
fondern Gehorfam verlange der. heil. Apoftel Petrus; um feine Schäße
der Welt werde er auf feine gerechte Forderung verzichten. Warnend
verweist er fodann Karl den Kahlen auf das Beifpiel und Schick—
fal des gottlofen Königs der Oſtgothen Theoderich, und ſchließt mit
der Drohung, daß Jeden unnachſichtlicher Bann treffen werde, ber
fi unterftehe, dem wiebereingefesten Bifchofe yon Soißons Schwie-
rigfeiten in den Weg zu legen. |
Bei Weiten das wichtigfte unter den damals erlaffenen Schreiben
ift das fünfte D an ſämmtliche Biſchöfe Galliens gerichtete, Denn
bier lüftet Nikolaus den Schleier, der über dem geheimen Getriebe
der Angelegenheit Rothad's liegt. Der Pabft beginnt mit dem Sage,
„die vielen in allen Ländern zerftreuten. Kirchen bilden nur eine
einzige riftlihe Kirche, deren Hirte, Bischof und Hohenpriefter
Chriſtus felbft if. Als jedoch der Herr im Begriffe fand, fi in
den Himmel zu erheben, bat Er die Auflicht über feine Kirche den
Apofteln, und durch fie, kraft eines gewiffen Erbrechts allen Denen
ertheilt, welche Er ferner zu Hirten und Prieftern einfeßen würde,
Aber auch unter den heil. Apoſteln beftand, wie Leo der Große
fchreibt, bei fonftiger Gleichheit der Würde, ein Unterſchied der
Macht, alfo daß, obgleich Einer wie der Andere erwählt war, Doch
Einem (Petrus) der Vorzug vor den Andern eingeräumt ward. Da:
raus ift auch ein Unterſchied unter den Bifchöfen felbft entftanden,
fofern nicht alle fich gleich viel heraus nehmen dürfen, fondern Einer
in jeglicher Provinz den Borzug erhielt, die erfle Stimme unter
jeinen Brüdern zu führen. Hinwiederum ward. den Bifchöfen der
großen Städte ein noch auggebreiteteres Negiment übertragen, aber
in ber Art, daß durch) ihre DBermittlung die gemeinfamen Ange:
legenheiten der Kirche an den Stuhl Petri gebracht werben, und
dort gleihfam zufammenfliegen follten, damit fein Glied jemals mit
feinem Haupte uneinig feyn möge. „Hätten nun einige unter Euch,“
fährt der Pabſt fort, „diefe Ordnung nicht ganz außer Acht gelafien,
fo würden fie es nie gewagt haben, fo wie fie getban, den Biſchof
Rothad yon Spißong zu mißhandeln und abzufegen, da doch. alle
Gerichte über Bifchäfe, als widhtigere Angelegenheiten,
') Ibid, 693 Mitte flg.
Die Päbſte Sergius II, Leo IV., Nikolaus J. ıc. 1017
dem Stuhle Petri vorbehalten find, Denn wenn Ihr bie
Berurtheilung son Bifchöfen nicht unter die wichtigeren Angelegen—
heiten rechnet, welche Fälle wollt Ihr dann darunter zählen? Be:
fiehlt ja doch das halcedonifche Concil, daß felbft die Klagen niederer
Glerifer vor den apoftolifchen Stuhl gebracht werden follen. Wenn
Ihr es fo Yeicht nehmer, ohne vorläufige Befragung des Stuhles
Petri, Biſchöfe abzufegen, wie fann man dann fagen, daß durch
Euch, die Ihr theils in einzelnen Provinzen die erſte Stimme führet,
theils auch in den größeren Städten ein ausgebreiteteres Negiment
verwaltet, die Leitung der allgemeinen Kirche nach dem Stuhle Petri
zufammenfließe! Gehören denn die Bifchöfe nicht zur allgemeinen
Kirche, da Ihr die Berdammung berfelben nicht vor den Einen Stuhl
Petri bringet! Oder wie mag man behaupten, daß Fein Glied mit
dem Haupte uneinig fey, wenn Ihr in Berurtheilung der vornehm⸗
ften Glieder der Kirche, d. h. der Bifchöfe, nicht mit dem Haupte,
d. i. dem apoftolifchen Stuhle, übereinftimmet? Ihr werdet Doch nicht
Yäugnen wollen, daß der apoftolifche Stuhl wirklich das Haupt ſey.
Denn dann müßte die Kirchenverfammlung yon Sardifa Unrecht
haben mit ihrer Borfhrift: Die Biſchöfe aller Provinzen
follen Dem Haupte, db. i. dem Stuhle des Apoftels Pe:
trus Bericht erftatten. Sehet, wie hier der Stuhl Petri das
Haupt genannt wird, dem die Bifchöfe aller Provinzen zu berichten
verpflichtet feyen, und doch bewiefet Ihr vor eben dieſem Stuhle
fo ganz feine Achtung, daß Ihr ihn nicht in den wichtigften Ange:
Yegenheiten befruget, fondern einen Biſchof, der nach Rom appellirt
hatte, mit völliger Bernachläßigung diefes Stuhles abſetztet.“ Der
Pabſt erklärt fofort die Behauptung der Neuftrier, daß Rothad feine
Appellation nad Nom zurüdgenommen, und ein bifhöfliches Schieds-
gericht vorgezogen habe, für eine leere und ungereimte Ausflucht.
Denn mit nichts könne bewiefen- werden, daß Rothad wirklich feine
Gefinnung änderte, „Aber auch wenn bieß in Wahrheit der Fall
gewefen wäre,“ fährt der Pabft fort, „mußtet Ihr ihn belehren, daß
man son einem höheren Gerichte nicht an ein niederes zurücberufen
könne. Ja hätte Rothad gar nicht an den Stuhl Petri appellirt, jo
burftet Ihr ihm dennoch nicht ohne Vorwiſſen des römischen Stuhles
abfegen, da fo viele päbſtliche Defrete ein ſolches Ver⸗—
fahren verbieten. Denn ferne fey es von ung, daß
wir bie firhliden Verordnungen irgend eines Pabſts,
1018 II. Buch. Kapitel 12,
ber bis an fein Ende im Fatholifhen Glauben ver:
barrt ift, fowie alle Vorſchriften derfelben über Kir:
henzudt, welche die heil. römifhe Kirche von alten
Zeiten ber aufbewahrt, und uns überliefert, aud in
ihren Archiven niedergelegt hat, nicht mit größter Ehr-
furht annehmen follten. Steht nicht dem Pabſte die Ent:
ſcheidung über die Frage zu, welche Bücher aller Firchlichen Schrift:
fteller genehmigt oder verworfen werben follen, nimmt nicht die
ganze Kirche an, was er billigt, verwirft fie nicht was er ächtet?
Um wie viel mehr verdient alfo Dasjenige, was Päbfte felbft über
Glaubenslehre oder Sittenzucht gefchrieben haben, allgemeine Aner:
fennung.“
„zwar behaupteten einige von Euch in einer Zuſchriſt, jene
Defretalen der alten Päbfte feyen darum ungültig,
weil fie niht in ber Hauptfammlung der Kirchengefege
fteben. Allein Beweife find in unferer Hand, aus wel:
hen erhellt, daß eben diefe Menfchen fih jener De:
fretalen ohne Anftand bedienen, fobald diefelben ihren
Abfihten günftig find Nur dann, wenn es ſich Darum handelt,
die Macht des apoſtoliſchen Stuhles herabzufegen, und. ihre eigenen
Anfprüche zu erhöhen, fprechen fie wegwerfend yon den Defretalen.
Wahrlih, wenn die Behauptung richtig wäre, daß die Defretal-
fhreiben der alten Päbſte darum nicht anerfannt zu werden ver:
dienten, weil fie nicht in die Sammlung der Kirchengefebe aufge:
nommen feyen, fo würde auch feine Verordnung des heil. Gregorius
oder anderer Päbſte vor und nach ihm gefegliche Geltung haben,
weil diefe gleichfalls nicht in jener Sammlung fliehen. Sa man
müßte aus demfelben Grunde auch die heil. Schriften des alten und
neuen Bundes verwerfen. Nun werden zwar jene Leute, die ftets
geneigter zum Widerfprechen als zum Gehorchen find, (gegen letzteren
Grund) einwenden: in der Sammlung der SKirchengejege befinde
fih eine Vorſchrift Pabſts Innocentius J., kraft welder das alte
und neue Teflament angenommen werden müffe, obgleich beide nicht
unter die gefammelten Canones eingerüdt feyen. Wir entgegnen
hierauf: wenn das alte und neue Teftament gefeglihe Kraft bat,
nicht weil es in der Sammlung der Canones fteht, fondern weil
der Ausfpruch des Pabſtes Innocentius Beides anzunehmen befiehlt,
fo folgt, daß auch den Defretalen der ältern Päbſte bindende Kraft
Die Päbſte Sergius I, Leo IV., Nikolaus I. ıc, 1019
zufommt, obgleich fie in den Canones fehlen; denn in den Kirchen:
gefegen ſteht eine Verordnung Pabfts Leo des Großen, laut welcher
alle Defretalen des apoftolifchen Stuhles fo fireng beobachtet wer⸗
den müffen, daß Ungehorfame feine Bergebung zu erwarten haben.
Pabft Leo fchreibt nemlih: ) um nichts zu übergehen, befehlen wir,
dag ſämmtliche Verfügungen, fowohl des heil. Innocentius als
auch aller unferer Vorfahren, welche fih auf den Clerus und die
Kirchenzucht beziehen, genau von Euch befolgt werden. Keiner, der
zuwiderhandeln wagt, erwarte Nachficht. Indem Leo den Ausdruck
„alle Berfügungen“ braucht, fchließt er feine aus, und indem
er fagt „alle unfere Vorfahren“ zeigt er an, daß er Gehor⸗
fam für die Befehle aller Päbfte verlange. Es ift daher von feinem
Belang, ob alle Defretalen in der Geſetzesſammlung ftehen, oder
nicht ſtehen; denn nicht alle fonnten wegen ihrer Maffe in einen Band
zufammengezogen werden, und ber Inhalt der in der Sammlung
enthaltenen erklärt ja ausdrücklich die nicht darin enthaltenen für
gültig. Mit jenem Ausſpruche Leo's flimmt auch Pabſt Gelafius
überein, indem er jagt: ?) die Defretalfchreiben, welche die heil.
Päbſte zu verfchiedenen Zeiten auf Anfragen verfchiedener Bölfer er:
liegen, follen mit Ehrfurcht angenommen werben. Bemerket wohl,
daß Gelafius nicht fo ſich ausdrückt: „die Defretalfchreiben, die in
der Sammlung der Canones ftehen,*“ auch nicht alfo: „die Schrei-
ben, welche die neuern Päbſte erlaffen haben“, fondern er redet
von Defretalen, welche die Päbfte zu verfhiedenen Zeiten
gaben Indem er aber fagt: „zu verfchiedenen Zeiten,“ be
greift er auch die Zeiten darunter, wo es wegen ber häufigen Ber:
folgungen durch die Heiden oft fchwer hielt, die Angelegenheiten der
Biſchöfe vor den apoſtoliſchen Stuhl zu bringen.“ Nikolaus folgert
nun weiter, daß ber von den Gegnern vorgefchüste Unterfchied
zwifchen Defvetalen, die in der Sammlung ftehen oder nicht darin
fteben, nichtig fey, daß die einen fo viel Rechtsfraft hätten als bie
andern. Dann fommt er auf den früheren Sat zurüd: bifchöfliche
Streitigfeiten gehören in alle Wege zu den wichtigen Fällen, deren
Entfcheidung nur dem pähftlichen Stuhle zuftehe; er widerlegt weiter
die den Gegnern in Mund gelegte Behauptung, daß unter ben
—
) Im Briefe an die Biſchöfe Campaniens. — 2) Im Erlaß über die
kanoniſchen Schriften,
4020 48 II, Buch. Kapitel 12.
wichtigen Fällen des päbſtlichen Vorbehalts nur die Sachen ber
Metropoliten, nicht die der Bifchöfe zu verftehen feyen; endlich meldet
er ben Neuftriern die zu Nom erfolgte Wiedereinfegung Rothad's,
und ermahnt fie denfelben brüderlich aufzunehmen, zugleich droht er
allen Denen mit dem Banne, die dem Bifchofe yon Soißons ent:
gegenarbeiten würden. Der Brief fchließt mit den Worten: „damit eg
nicht feheine, als wollten wir willführlich den Lauf der Gerechtigkeit
hemmen, und die heil. Canones hintanfegen, befehlen wir, daß be:
meldeter Rothad Jedem, der ihn ferner anflagen will, vor dem
apoftolifchen Stuhle Rede ftehen fol. Nur muß er zuvor wieder in
fein Bisthum eingefegt werben.“
Es ift jet Zeit, dag wir zurückblicken, um einige wichtige
Schlüffe zu ziehen. Mit dem Augenblid wo Rothad nach Rom kommt,
geht in dem Streite zwifchen dem Pabſte und Hinkmar über feine
Sache eine auffallende Umwandlung vor. Che der Bifchof von
Soißons in Nom anlangt, braucht Nifolaus, als Waffe wider Hinf-
mar, einzig die Befchlüffe yon Sardika. Die Spitze aller son ihm
sorgebrachten Beweisgründe beruht auf dem Sate: weil Rothad an
ben Pabft appellirt habe, müſſe er, gemäß jenen Befchlüffen, vom
Stuhle Petri gerichtet werden. Auf demfelben Gebiete bewegt fich
auch die Bertheidigung Hinfmar’s, er fucht darzuthun, daß weil
Rothad feine Appellation an den Pabft aufgegeben habe, die
Schlüffe von Sardika auf feine Angelegenheit nicht angewendet wer:
den können. Aber feit dem Sommer 864 nimmt der Streit eine
ganz andere Wendung. Die Grundfäse, Fraft welcher Nikolaus I.
in feiner Anrede um Weihnachten das Berfahren der Neuftrier
wider Rothad für null und nichtig erklärt, find nicht dem bisher
geltenden Kirchenrecht, fondern fie find aus der Sammlung
des falfhen Iſidor entnommen. Eben diefe Sammlung ver:
theidigt der Pabſt in feinem an die neuftrifchen Biſchöfe gerichteten
Schreiben wider die Einwendungen yon Gegnern, welche ihre Aecht:
heit beftritten hatten. Auch macht er fowohl in der Rede wie in
bem Briefe faft ausfchließlich von ifidorifchen Sägen Gebraud. Zwar
beftebt er noch auf der Behauptung, die in den früheren Schreiben
feine Hauptwaffe bildete, daß nemlich Rothad feine Appellation nicht
widerrufen habe, aber er legt fein Gewicht mehr darauf, ja man
fann fagen, er läßt fie fo gut als fallen. Denn um fie feftzuhal:
ten, mußte er vor Allem auf die Frage eingehen, ob Rothad mit
Die Päbſte Sergius Hr, Ten IV., Nikolaus J. ꝛc. 1021
der Abtei wirklich abgefunden wurde oder nicht. Allein hievon fteht
in ſämmtlichen Erlaffen des Pabftes Feine Sylbe. Dagegen läuft
jest feine Beweisführung darauf hinaus, daß er den neuftrifchen
Bischöfen zuruft: „feldft wenn Rothad auf feine Appellation an den
römischen Stuhl verzichtet, ja noch mehr, wenn er gar nicht appellirt
hätte, durftet Ihr ihn ohne meine Einwilligung nicht verurtheilen,
weil yon einem höhern Gerichte nicht an ein niebereres zurückge—
gangen werben darf, weil bifchöfliche Streitfachen der Gerichtsbarkeit
des Pabſts vorbehalten find, weil ohne römiſche Genehmigung feine
Synode verfammelt werden kann;«“ lauter Säbe, die nicht in dem
bisher beftehenden Kirchenrecht, fondern blog in der Sammlung des
falfchen Iſidor ihre Begründung finden. Sodann ift wohl zu bes
merfen, daß Nikolaus in der Sache Rothad's die Frage der Form
fcharf von dem Thatbeftande trennt. Nicht darum hebt er das yon
Hinfmar und feinen Freunden wider den Bifchof von Soißons ges
füllte Urtheil auf, weil Rothad unfchuldig fey, fondern einzig aus
dem Grunde, weil Jene nit das Recht gehabt hätten, über ein
Kirhenhaupt aus eigener Machtvollfommenheit zu richten. Den Be:
weis der Schuld oder Unfchuld Rothad's behält er einer fpätern
Unterfuhung por, er gibt alfo materiell den Klägern gewiffer Maßen
Recht, und deutet damit ziemlich unverholen feine eigenen Zweifel
an der Unſchuld des Biſchofs an. Ferner erhellt aus dem Briefe
bes Babfis, daß die Neuftrier fchriftliche Einwendungen wider die
gejeglihe Gültigkeit der von Nifolaus vorangeftellten pſeudoiſido—
riſchen Grundſätze nah Nom geſchickt haben müſſen. Denn er
braucht ') den Ausdrud: „Einige von Euch haben gefehrieben, dag
bie Defretalen der alten Päbfte nicht im kanoniſchen Geſetzbuche
fteben.“ Der Brief aber, oder die Briefe, in welchen bie Neuftrier
Lesteres ausführten, find längſt verloren, vielleicht wurden fie ab-
ſichtlich unterdrüdt. Gleichwohl kann man mit der größten Sicher-
heit behaupten, daß fie im Lauf der acht Monate, während welcher
Rothad in Rom weilte, dorthin gefchidt worden feyn müffen, Denn
vor dem Zeitpunft der Neife Rothad's nah Nom wird weder in
den päbftlichen Erlaſſen, noch in Hinkmar's Schreiben, wie wir früher
bemerkt, eine Sylbe von iſidoriſchem Nechte erwähnt. Folglich kann
bie Frage von ber Gültigkeit jener Defretalen erft nach Rothad's
1) Manſi XV., 695 gegen oben.
1022 II. Buch. Kapitel 12.
Eintreffen in Nom verhandelt worden feyn, indem, wie es fcheint,
zwifhen den Neuftriern und der römischen Kanzlei oder Nothad
ſelbſt Schriften gewechſelt — von denen nichts auf ung ge—
fommen ift.
Aus Allem, was wir bisher bemerkt, ergibt fi ch nun mit hoher
Wahrfcheinlichfeit der Schluß, daß der angeführte Umſchwung im
Streite des Pabſts mit Hinfmar Rothad's Einwirkung zugefchrieben
werden müſſe. Mit andern Worten, allen Anzeigen nach war es
Rothad, der dem Pabſte die Waffe der pſeudoiſidoriſchen Defretalen
in die Hände geliefert hat. Denn von einem Manne, bei beffen
perſönlichem Erfcheinen ein Nechtshandel eine ganz andere Wendung
nimmt, fest man mit gutem Fuge voraus, daß er thätig einge:
griffen habe. Noch ein zweiter Beweis fpricht für unfere Ber:
muthung. In einem Briefe, den Nifolaus unter dem 28. April S63
wegen Beflätigung der Synode von Soißons an Hinfmar erließ,
zählt er ) als gültige Duellen des Kirchenrechts die Defretalen fol:
gender Päbſte auf: des Siricius, Innocentius, Zoſimus, Cöleftinug,
Bonifacius, Leo, Hilarius, Gelafius, Gregorius und der andern
(fpäteren) Hohenpriefter. Folglich fpricht Nikolaus im Jahr 863
fo, als ob er nichts von den Entfcheidungen der Päbfte vor Siri-
eins wüßte, welche den wichtigften Beftandtheil der pſeudoiſidoriſchen
Sammlung ausmachen. Ja diefe Stelle feines Schreibens ift geeig-
net, als unwiderftehlicher Beweis gegen die Aechtheit Pſeudoiſidor's
angewendet zu werden. Erſt ein Jahr fpäter, nachdem der ab-
gefegte Biſchof von Spißong, ber bald darauf den
Grundfägen jener Defretalen feine Wiederherftellung
verdankt, in Rom angefommen ift, gebraudt der Pabft
das nicht im Fanonifchen Geſetzbuch ſtehende Machwerk des verfapp-
ten Spanierd, Wir wollen damit Feineswegs fagen, daß von ben
leitenden Jdeen der neuen Sammlung, die in Sranfreich feit 20
Jahren eifrig benügt wurde, bis 863 gar nichts nach Nom ver-
Yautet, oder auch dem Pahfte Nikolaus zu Ohren gefommen fey.
Dies ift an fich höchſt unmwahrfcheinlih, und außerdem willen wir
ja, ?) daß Nikolaus bereits in einem ber Schreiben, die er im
Jahr 860 nach Conſtantinopel abſchickte, fih auf den Rechtsſatz
1) Ibid. ©. 374 unten. Man vergleiche was wir oben gefagt haben ©. 791.
— ?) Siehe oben ©, 259 unten,
Die Päbſte Sergius IL, Leo IV., Nikolaus J. ꝛc. 1023
berief, Synoden bürfen nur mit Zuftimmung des Stuhles Petri
berufen werden. Diefe Behauptung beruht auf ifivorifchen Lehren.
Dem Pabft mußten demnach damals die neuen Theorien befannt
feyn, welche im fränfifchen Neiche durch Iſidor's Sammlung ver:
breitet wurden. Aber zwifchen der hingeworfenen Anführung eines
einzelnen ifivorifchen Sabes, und der amtlichen Benüßung
des ganzen Gefesbudhes, ift ein fehr großer Unterfchied. In
der eben genannten Weife hat der Pabft die Sammlung erft feit
Rothad's Ankunft benüst. Noch ein anderer Punkt verdient beachtet
zu werben. In feinem Schreiben an die neuftrifchen Bifchöfe macht
Nikolaus als Hauptbeweis für die Aechtheit der pfeudoifidorifchen
Defretalen die Behauptung geltend, daß fie ja felbft in früheren
Fällen, wo es ihnen nützlich geweſen, Stellen aus Pfeudoifidor anz
geführt und für ihre Zwecke gebraucht hätten. Was fie damals
als rechtskräftig anerkannt, müſſe auch jest noch gelten. Das ift
gegen Hinkmar gemünzt. Wirflih hat derfelbe vor dem Streit
wegen Rothad's bei verfchtedenen Gelegenheiten Rechtsbelege aus der
Pfeudoifidoriihen Sammlung entlehnt. Sp werden 3. B. in den
amtlichen Verfügungen zweier Synoden zu Chierfey I (857) und
zu Toucy ?) um (860), welche aus Hinfmar’s Feder flogen, Stellen
aus (pſeudoiſidoriſchen) Briefen der Päbſte Anakletus, Urbanus,
Lucius angeführt. Gleicher Weife erklärt er ?) in feiner großen
Schrift über die Präbeftination, welche er vor 863 vollendete, die
Borrechte der römischen Kirche aus einem Defretale Anafler’s, und
in dem Buche über die Ehefcheidung des Königs Lothar’s I., das
in die Jahre 862 — 63 fällt, entwidelt % er aus einem Schreiben
bes Pabſts Euariftus die gefeglichen Erforderniffe einer rechtmäßigen
Ehe. Solche Ausfprühe Hinfmar’s mußten, wie Jedermann fieht,
einer Parthei, die ihn und die Metropolitangewalt mit Hülfe der
pfeudoifidorifhen Sammlung flürzen wollte, höchſt erwünfcht feyn.
Denn er hatte ja dadurch felbft die Gültigkeit von Gefegen anerkannt,
bie jo furchtbar gegen ihn gebraucht werden fonnten. Nun verfichert
weiter der Pabſt 5) in dem Schreiben an die Bifchöfe, die Belege
in Händen zu haben, aus welchen hervorgehe, daß Hinfmar und
feine Parthei wirklich auf die befchriebene Weife Pfeuboifidor benützte.
1) Manft XV., 127 unten, — 2 Ibid, ©, 567 Mitte fig. — 9) Opp. L,
451 Mitte, — *) Ibid. ©, 586 gegen unten. — 5) Manfi XV,, ©. 695 Mitte,
1024 SIEB ee
Hier fragt es ſich zunächft, wer diefe Belege dem Pabſte in bie
Hände gejpielt haben kann? Offenbar nur ein Mann, der aufs Ge-
naufte von den neuftriihen Zuftänden unterrichtet, und überdieß
Todfeind Hinfmar’s feyn mußte. Abermal werden wir alfo auf
Rothad Hingewiefen. Ohne Zweifel war es Rothad, der den Pabft
nicht blos auf die pfeudoifidorifhe Sammlung aufmerffam gemacht,
fondern auch jene fo brauchbaren Stellen aus Hinfmar’s Schriften
ihm verihafft hat. Wir glauben noch zu einer weitern Ber:
muthung berechtigt zu ſeyn. Kaum ift es denkbar, daß Hinfmar
aus eigenem Antrieb eines Gefehbuches ſich bediente, beffen
gegen die Metropolitangewalt gerichtete Abfichten, felbft bei flüch-
tigem Ueberblid, Jedem fund werden. Die Sache ſieht vielmehr fo
aus, als hätten verfappte Feinde ihn überliftet, oder zu Benützung
jenes Buches planmäßig verleitet. Beſonders bei Abfaffung von
Synodalichreiben, wo Mehrere mitfprechen durften, war dieß nicht
fchwer. Und wenn Dem fo ift, darf man mit Sicherheit annehmen,
dag auch Rothad hiezu nach Kräften beitrug.
Schließen wir. Die amtlichen Urkunden, aus denen wir vor—⸗
Yiegende Darftellung des Streits zwifchen Hinfmar und Nifolaus
gefhöpft, geben ein ſchwarzes Bild von Nothad’s Charakter.
Gewiß ift, daß er ein ausgelernter Nänfemacher, und überdieß ein
Berräther ber Firchlichen Unabhängigfeit feines Landes war. Auch
gehörte er laut allen Anzeigen zu der finftern Parthei, welche den
pfeudoifidorifchen Betrug ausgebrütet hat. Die Zeitrechnung wider-
fpricht Iegterer Annahme nicht. Denn Rothad wohnte bereits ) als
Bifhof der Abſetzung Ebo's bei, welche im Jahre S35 erfolgte.
Seine Erhebung auf den Stuhl von Soißons fällt Daher gerade in
den Zeitpunft, wo laut andern Spuren Pſeudoiſidor's Machwerf
gefchmiedet worden iſt. Pabft Nikolaus, vom Geifte kirchlicher Er-
oberungen befeelt, benüste den Menfchen als ein tauglihes Werk-
zeug. Aber die Erlaubniß, die er den Gegnern ertheilte, den wies
derhergeftellten Bifchof alsbald vor dem Stuhle Petri belangen zu
dürfen, beweist, daß er ihn verachtete,
Obgleich er mit jenen drohenden Schreiben vom Pabſte aus—
gerüftet war, hatte doch Nothad, wie es feheint, nicht den Muth,
allein nach Neufter zurückzukehren. In Gefellfchaft des päbſtlichen
) Den Beweis Hincmari opp, J., 325 untere Mitte,
Die Päbſte Sergius II., Leo IV., Nikolaus J. ꝛc. 1025
Botſchafters Arſenius kam er im Frühjahr 865 über die Alpen
herüber. Eben dieſer Arſenius ſetzte ihn auch wieder in ſein Amt
ein.) Man kann ſich denken, mit welchem Unwillen Hinkmar und
Karl der Kahle dieſen Gewaltſtreich anſahen. Erſterer ſpricht ſein
gereiztes Gefühl in den Jahrbüchern aus. ) Bon dem päbftlichen
Zugeftändnig, Nothad fofort vor dem päbftlihen Stuhle zu verflagen,
haben weder Hinfmar noch feine Freunde Gebraud) gemacht. Wir
vermuthen, daß fie dieß darum unterliegen, weil fie nicht Durch frei-
willige Anerkennung der päbftlihen Alleinherrſchaft ſich noch tiefer
demüthigen wollten. Rothad erfchien im folgenden Jahr auf einer
Synode, über welche wir fogleich berichten werben. Weitere Nach-
richten hat man nicht yon ihm. Er feheint bald darauf geſtorben
zu feyn. ?)
In den nächften Monaten nad der Wiederherftelung Rothad's
herrfchte — wenigftens äußerlich — Friede zwiſchen dem Pabft und
Hinkmar. Aber fhon im folgenden Jahre (866) griff Nikolaus den
Nheimfer Metropoliten yon Neuem an. Heftig muß er biegmal
über Hinfmar erbittert gewejen feyn, weil er feinem roll das
Dpfer brachte, eine von ihm früher erlaffene Verfügung zurüdzu-
nehmen, was ein Mann, wie Nikolaus, fiherlich nicht gerne that.
Wir haben jedoch über die eigentlichen Triebfedern des neuen Streits
feine gefchichtlichen Zeugniffe. Allein es ift nicht ſchwer, diefelben
zu errathen. Erinnern wir ung, daß im Jahre 866 das friedliche
Einverftändniß zwifchen dem fränfifhen Könige Lothar II. yon Loth:
ringen, Karl dem Kahlen und Ludwig dem ZTeutfchen zu Stande
fam, und daß in Folge deſſelben Die lothringiſche Eroberung,
welche der Pabft faft vollendet hatte, wieder feinen Händen ent:
fhlüpfte. Kein fränkiſches Kirchenhaupt hatte die Vortheile, welche
dem Stuhle Petri aus den innerlichen Streitigfeiten der fränfifchen
Herrfcher erwuchfen, fo wie die Wunden, welche die Metropolitan:
gemalt und die Freiheit der Landeskirchen dadurch erlitt, tiefer em—
pfunden als Hinkmar, folglich mußte ihm auch Alles daran gelegen
feyn, die Duelle fo vieler Uebel gründlich zu verftopfen. Wir ver-
muthen nun, daß hauptfächlih auf feinen Rath Karl der Kahle
Freundichaft mit Lothar IL fchloß, und wir fehen in jenem neuen
— — ——
1) Hinemari annales ad annum 865 Perz J., 468 obere Mitte. — ?) Man
fehe histoire litteraire de la France, V,, 500,
Gfrörer, Kircheng. IH. 65
1026 IM. Buch, Kapitel 12.
Angriffe die päbſtliche Gegenrehnung für diefen fchlimmen, dem
Stuhle Petri geleifteten Dienft. As Anlaß des Kampfes benüste
Nikolaus dießmal die Zwiftigfeit, in welde Hinfmar mit einigen
Cerikern des Nheimfer Sprengels faft feit dem Augenblicke feiner
Erhebung zum Erzbisthum gerathen war.
Dben ift erzählt worden, ) daß es Hinkmar nur nad) langen
und anfangs vergeblihen Anftrengungen gelang, vom päbftlichen
Stuhle eine Beflätigung der Spißoner Synode des Jahrs 853 zu
erhalten, woburd mittelbar die Klage der unzufriedenen Cleriker
abgewiefen wurde. Benebift II. hieß die Beichlüffe von Soißons
gut, fügte aber die Clauſel bei: die Beftätigung gelte, fofern
Alles fih fo verhalte, wie Hinfmar in feinen Eingaben be:
hauptet habe. Der Metropolit ſchwebte Daher immer noch in einiger
Gefahr, die dadurh an Umfang gewann, weil die abgefetsten Cie:
rifer eine außerordentliche Thätigfeit entwidelten. Der rührigfte und
rachfüchtigfte unter ihnen war ein gewiffer Wulfad, den daher
Hinfmar am Meiften zu fürchten hatte. Wirklich bewies der Er-
folg, daß der Rheimſer Metropolit fortwährend Beforgniffe hegte.
Kaum war nemlih Benedift III. geftorben, als fih Hinfmar an den
Nachfolger Nikolaus I. mit der Bitte wandte, er möge bie Synode
von Soißons gleichfalls beftätigen. Kurz vor dem Ausbruch des
Kampfs gegen Hinkmar wegen Rothad's entſprach Nikolaus dem
Wunſche des Metropoliten, indem er die Beichlüffe von Soißons
unter denfelben Bedingungen, wie fein Borgänger Benedikt IIL, gut
hieß, nur bemerkte er noch, daß die Beftätigung auf fo lange gelte,
als Hinfmar dem apoftolifhen Stuhle den pünktlichſten Gehorfam
Yeiften würde. Der päbftliche Brief 2) ift unter dem 28. April 863
ausgefertigt. Drei Jahre fpäter, unter dem 2. April 866, nahm
Nikolaus diefe Beftätigung mittelft eines Schreibens ?) zurüd, das
er an Hinfmar erließ. „Aus den Urkunden, die im Archive der
ömifchen Kirche aufbewahrt werden, und neuerdings durchgeſehen
worden feyen,“ heißt es bier, „erhelle nicht genügend, daß bie Ab:
fegung der Cleriker auf kanoniſchem Wege erfolgt ſey. Hinkmar folle
daher, feines Grolles vergeßend, diefelben wiederherftellen.“ Würde
er ſich nicht Hiezu entſchließen Finnen, fo erklärt ihm fofort der Pabſt,
daß eine Synode zu Soißons die Sade von Neuem unterfuhen
) ©. 980. — 2 Manſi XV., 574 Mitte fig. — 9 Ibid. ©. 705 fig.
Die Päbſte Sergius IT, Leo W., Nikolaus I. ꝛc. 1027
müffe. Als Theilnehmer derſelben bezeichnet er außer den Bifchöfen
von Neufirien, die Metropoliten Nemigius yon Lyon und Ado von
Vienne. Remigius war, wie wir willen, im Gotfchalffchen Streite
als Gegner Hinfmar’s aufgetreten. Er und Ado gehörten überdieß
nicht zu dem Reiche Karls des Kahlen, fondern zu dem provenca=
liſchen Staate, in welchen ſich nad dem Tode Karls des Jüngern,
der im Jahre 863 geftorben, ) feine beiden Brüder der Kaifer
Ludwig und Lothar II. von Lothringen getheilt hatten.) Weder Hinf:
mar noch fein Gebieter Karl der Kahle fonnten daher einen ent—
fheidenden Einfluß auf Beide üben, was ohne Zweifel der Grund
war, warum fie Nikolaus zu der Synode berief. Als Zeitpunft der
Berfammlung beftimmt der Pabſt den 16. Auguft. An diefem Tage
jollten fih Hinfmar mit feinen Suffraganen, fo wie Wulfad mit
feinen Genofjen zu Soißons einfinden. Würde in Folge der Unter:
ſuchung fich herausftellen, daß Letztere ungerechter Weife von ihren
Aemtern vertrieben worden feyen, fo folle man fie alsbald wieder
einfegen, im Falle hingegen die Clerifer fi) bewogen fühlten, von
dem Ausfpruche der Synode an den Stuhl Petri zu berufen, fo beftehlt
der Pabſt, daß beide Partheien, fey ed in eigener Perſon oder mit:
tel Bevollmächtigter, glei nach Beendigung des Spißoner Concils
zu Rom erfcheinen follen. Zugleich erklärt er in fehneidendem Tone
jede mögliche Einrede Hinfmar’s gegen die Berechtigung der Glerifer,
yon Neuem gerichtet zu werden, für ungültig. Nothwendig muß
man annehmen, daß Nikolaus durch diefe Verfügung den Sturz des
Metropoliten von Rheims beabfichtigte. Wirklich fehlen die Lage
befielben gleich gefährdet, die Synode mochte entfcheiden wie fie wollte,
Denn erklärte fie die Cleriker für unfchuldig abgefest, fo war eben
damit der Stab über Hinfmar’s Erhebung gebrochen. Stimmte fie da—
gegen wider biefelben, ſo ftand ihnen bie Berufung auf den römifchen
Stuhl offen; und Hinkmar Fonnte in letzterem Fall nichts Anderes
erwarten, als daß ein römifches Gericht ihn verurtheilen werde.
Zugleich mit dem Schreiben an Hinfmar erließ Nikolaus zwei
ahnlich Tautende Briefe an König Karl den Kahlen, ®) und an den
Erzbifhof Herard von Tours, +) Der König antwortete 5) ale-
) Perz I., 459 Mitte, — 2) Den Beweis bei Bouquet VII, 44 Mitte.
— 3) Diefer Brief iſt bis auf wenige Bruchſtücke verloren. Man ſehe die
Note Manft XV., 707 Mitte, — +) Abgedruckt ibid, ©. 710 unten flg. —
°) Die Antwort eben daſelbſt 707 Mitte fig.
65°
1028 II. Buch. Kapitel 12.
bald dem Pabft in dem verbindlichften Tone, „daß er nicht er:
mangeln werde, den Willen des heil. Vaters, betreffend die Ange:
legenheit Wulfad's, pünktlich zu erfüllen. Er habe bereits auf alle
Weife Hinfmar zur Unterwürfigfeit ermahnt, und berfelbe made
auch Miene zu gehorchen, doch könne man der Zeit noch nicht wiffen,
was unter dem Honig feiner Worte verborgen liege, Uebrigens
werde er, der König, jedenfalls dem päbftlichen Befehle gemäß das
Concil auf den 16. Auguft berufen, und alle Biſchöfe und Getreun
feines Reichs feyen bereit zu erfcheinen.“ Bis hieher Yautet der Brief
fo, als ob der König den Erzbifchof von Rheims preisgeben wollte,
aber das Folgende deutet an, daß die Sache anders gemeint war,
Karl der Kahle fährt nemlih fort: „auf feine (des Königs) Em:
pfehlung, fey son allen Kirchenhäuptern des Reichs, an die Stelle
des vor Kurzem verfiorbenen Metropoliten Rudolf von Bourges, —
Wulfad, als der in jeder Hinficht tüchtigfte Nachfolger, einftimmig
erwählt worden. Weil jedoch Wulfad’s Sache erft auf der bevor:
ftehenden Synode entfchieden werden könne, habe er ihm die Kirche,
von Bourges nicht übergeben wollen, ohne zuvor den Rath feiner
Heiligfeit, zu der er unbedingtes Vertrauen hege, einzuholen. Der
Pabft möge nun erlauben daß Wulfad im September - Monat ge:
weiht werde, damit jener Sprengel nicht allzulange verwaist bleibe.
Sollte er aber dieß nicht gut heißen, fo möge er wenigfteng geftatten,
daß Wulfad einftweilen die Kirche von Bourges verwalten dürfe.“
Tiefer unten wird fi ergeben, daß in dem Plane der Erhebung
Wulfad's mehrere, und zwar theilmeife gegen Hinfmar gerichtete
Intriken zufammenliefen. Gleichwohl hat, wie und fcheint, ber
König damals den Vorſchlag in der Abfiht gemacht, um dadurch,
daß- er Wulfad als das Haupt der abgeſetzten Cleriker zufrieden
ftellte, eine neue Einmifchung des Pabſts in die innern Angelegen-
heiten der neuftrifchen Kirche zu vereiteln, wodurch mittelbar auch
dem Metropoliten Luft gefchafft worden wäre.
Sp beurtheilte auch Nikolaus den Antrag. Denn in feinem
Antwortfchreiben ) an den König weist er ben Vorfchlag zurüd, und
befteht darauf, daß Wulfad's Angelegenheit erft auf der Synode
entfchieden werde, ehe man ihn anderswo anftelle.
Das Concil trat zur feftgefegten Zeit in Spion zufammen,
1) Ibid, ©. 709,
Die Päbſte Sergius II., Leo IV., Nikolaus I. ıc. 1029
Hinfmar überreichte den verfammelten Vätern nach und nach vier
Denkfchriften folgenden Inhalts: in der erften ') führt er aus, da
die durch Ebo nach deſſen Verurtheilung geweihten Cleriker nicht
blos von ihm, Hinfmar, oder den Biſchöfen des Aheimfer Sprengels,
fondern durch eine Synode von fünf Kirchenprovinzgen, auf welche
Jene berufen hätten, abgefegt worden feyen, fo ſtehe ihm oder feinen
Suffraganen Feineswegs das Necht zu, diefen Sprud einfeitig
wieder aufzuheben. Sofort beweist er aus den Canones die Gefeb-
mäßigfeit des eingehaltenen Verfahrens. „Laut den afrifanischen
Schlüſſen“, fagt er, „follen Priefter, Diafone und andere Mitglieder
des niedern Clerus, die fich durch Urtheilſprüche ihrer Biſchöfe be—
ſchwert glaubten, mit Einwilligung ihrer Vorgeſetzten an benachbarte
Bifchöfe berufen. Dieß hätten die abgefesten Cleriker wirflich ge-
than; durch eine Synode der Biſchöfe yon fünf benachbarten Pro-
vinzen, an welche fie fich gewendet, fey ihre Abfegung verfügt
worden. Er für feine Perſon Habe nicht einmal das Urtheil der
Abſetzung unterfehrieben, und Alles was er in der Sache gethan,
befchränfe fi) darauf, daß er auf den Wunſch der Berfammlung
die Aften an den apoftolifhen Stuhl übermachte. Eben diefe Akten
feyen auch zuerft vom Pabſte Benedift, dann von Nifolaus L,
mit Androhung des Bannes gegen Seden, der fich widerſetzen
wiirde, feierlich beftätigt worden, wovon ſich Jedermann durd) An—
fiht der Sigel und durch fonftige Merkmale der Aechtheit ſämmt—
licher Unterfehriften überzeugen fünne.“ Letztere Bemerkung beweist,
dag Hinfmar bereits von den Verdächtigungen unterrichtet war,
die man in Rom wider ihn ausftreute. Der Pabſt gab nem:
lich, wie wir fpäter fehen, vor, daß Hinfmar die Aften der Synode
vom Jahre 853 verfälfcht habe. Der Metropolit fährt fort: „Nach-
dem auf ſolche Weife das Urtheil des Concils von zwei Oberhirten
befräftigt worden, hätte fein Menfch gedacht, daß eine neue Unter-
fuchung eingeleitet werden würde. Denn alle Welt wiffe, daß der
Stuhl Petri nicht nur feine eigenen Rechte vertheidige, fondern auch)
die der Andern wahre, und eine abgeurtheilte Sache nicht mehr
yon Neuem vorzunehmen pflege. Gleichwohl habe Nikolaus durch
feinen neulichen Befehl alle Erwartungen getäufcht. Gewohnt dem
heiligen Vater flets Gehorfam zu Yeiften, unterwerfe er fich auch
i) Ibid. S, 712 unten fig.
1030 II. Bud. Kapitel 12.
Yesterem Gebote, und er werde willig die Entfcheidung der Synode
in Betreff der abgefegten Lierifer entgegennehmen. Sein Herz fühle
gegen dieſe feine Brüder fo wenig roll, daß er flets ihre Wieder:
herftellung gewünſcht babe, und aud jest noch wünfcdhe Daber
würde er auch auf bie erſte Aufforderung des Pabfts bereit gewefen
feyn, diefelben wieder einzufegen, wenn dieß in feiner Gewalt ſtünde.
Denn durch ein Concil son Biſchöfen aus drei Provinzen, auf welches
fie felbft berufen, -verurtbeilt, Fönnten fie, laut den kanoniſchen Bor:
fhriften, nicht mehr durch einen Einzelnen, fondern nur durch dies
felbe Synode, oder durch eine größere wieberhergeftellt werben,
Vebrigens fey es allbefannt und auch durch Ausfprüce der Päbſte
zugeftanden, daß Bernichtung der Beichlüffe von Synoden und
römischer Defretalen zum größten Nachteil der Kirche und der
Sittenzucht gereiche* u. |. w.
In der zweiten Denkſchrift ) ſucht Hinkmar die Rechtmäßig—
feit der Abſetzung Ebo's darzuthun: Pabſt Sergius I. habe dieſelbe
beſtätigt, und der Verurtheilte ſey nachher nie wieder auf kanoniſchem
Wege wiederhergeſtellt worden. Er hebt hervor, daß, da ſeit Ebo's
Sturz 30 Jahre voll geworden, die im bürgerlichen wie im geift-
lichen Rechte geltende Berjährung jede Erneuerung des Streits
ausfchliege. Zwar wenden, fährt er fort, die Gegner ein, Ebo habe
bis an fein Ende bifchöfliche Amtsverrichtungen beforgt, aber dieß
beweiſe nichts anderes, als daß derfelbe ſich Handlungen anmaßte,
die ihm nicht gebührten, und deren ungefesliche Ausübung von
früheren Päbſten in ähnlichen Fallen hart beftraft worben fey. Dann
auf feine eigene Erhebung übergebend , zeigt er, daß biefelbe an fi)
fanpnifch geweſen und als folde allgemein anerkannt worden fey.
Die Päbſte Leo. IV., Benedift UL, Nikolaus 1 hätten feine Weihe
durch Bullen befraftigt, von erfierem Pabfte fey er fogar mit dem
Pallium beehrt worden, u. f. w. In ber dritten Denkjehrift 9)
ſchlug Hinfmar einen andern Ton an. Schon sfter, fagt er bier,
ſey es geihehen, daß Päbſte und Kirchenverfammlungen, wenn
Berufungen yon Clerifern an fie gelangten, die von einem erfien
Gericht verurtheilt worden. waren, ftatt firengen Rechtes Milde übten,
und zwar, unbefchabet des Anfehens der anfänglichen Richter, die
bei erfter Unterfuhung der Sache den. Buchftaben der Geſetze befolgt
1) Ibid, ©, 716 flg. — >) Ibid, ©, 720 unten fig.
Die Päbſte Sergius IL, Leo IV., Nikolaus I. ꝛc. 1031
wiffen wollten. Würde es daher dem Pabſte, der nur was recht
ift wolle, gefallen, daß das wider jene Clerifer nach firengem Nechte
gefällte, und auch von ihm felbft wie von feinem Vorgänger Bene-
dift beftätigte Urtheil, aus Mitleiden und Nachficht abgeändert
werde, und würden bie eben in Soißons verfammelten Bifchofe,
bie zum Theil in eigener Perſon jene erfte Entfcheidung gegeben
hätten, ſich zu folder Milderung freiwillig verftehen, fo wolle auch
er einer Wiederherftellung der abgefesten Brüder nichts in Weg
Yegen. Nur müßten in biefem Falle der apoftolifche Stuhl wie die
anmefenden Bifchöfe Vorſorge treffen, daß dem Anfehen der Kirchen:
gefetse nichts vergeben werde. Die vierte Denkſchrift ) endlich, welche
Hinfmar der Synode überreichte, durfte auf ausdrüdliches Ber:
langen mehrerer Mitglieder nicht öffentlich verlefen werben.
Warum dieß geſchah, wird durd den Inhalt Far. „Ungern“ be:
ginnt der Metropolit „berühre er einen Punkt, den er jedoch) Ge:
wiffenshalber nicht verſchweigen könne. Er müſſe Einiges wider
feinen „theuren Bruder“ Wulfad fagen. Derfelbe habe, nachdem
er durch die erfte Synode yon Soißons im Jahr 853 abgeſetzt
worden, ohne Genehmigung der Biſchöfe, die ihm gerichtet, ohne
Erlaubniß des römifchen Stuhls, der jenes Urtheil beftätigt, ohne
Anfrage bei dem vorgefegten Metropoliten, den Sprengel von Rheims,
in welchem er mehrere Jahre hindurch den Dienft eines Vorleſers
verſah, den Kirchengefegen zuwider verlaffen, er habe überdieß eben
fo widerrechtlich nach dem erledigten Bisthum von Langres geftrebt,
auch die Einkünfte der genannten Kirche, die doch Yaut den Schlüffen
von Chaleedon durch einen Güterverwalter für den fünftigen Nach—
folger eingezogen werben follten, in feinen und ber Seinigen Nusen
verwendet. Er habe endlich, nachdem ihn eine Synode wegen biefer
Bergeben zur Rechenſchaft gezogen, in Gegenwart des Königs und
mehrer Biſchöfe fchriftlich einen fchweren Eid hinterlegt, daß er nun
und nimmermehr um ein geiftliches Amt fich bewerben wolle,“ Hinf-
mar ſchließt mit der Berfiherung, er melde dieß nicht um feinem
lieben Bruder Wulfad zu ſchaden, fondern Gewiffens halber, und
damit die Synode in Stand gefest fey, über die obſchwebende
Frage ein richtiges Urtheil zu fällen.
Vergleicht man die vier Denkfchriften unter fih, und nament-
i) Ibid, 723 unten fig.
1032 I. Buch, Kapitel 12.
lich die dritte mit der vierten, fo erhellt, daß Hinfmar zwar geneigt
war, zur Wiederherftellung der abgefesten Cleriker in ihre früheren
Aemter die Hände zu bieten, aber daß er die Durch Karl den Kahlen
betriebene Erhebung Wulfad’s auf den erzbifchöflihen Stuhl von
Bourges mißbilligte. Wir haben alfo hier die erften Spuren einer
Meinungsverfchiedenheit und eines beginnenden Zermwürfniffes zwi:
fchen ihm und dem Könige.
Die Borftellungen Hinfmar’s machten, wie es fcheint, Ein:
druf auf die Mehrzahl der zu Soißons verfammelten Metro:
politen und Bifchöfe. Sie fühlten, daß feine Sache ihre eigene fey.
Sein Antrag gieng daher durch. Der Beſchluß ward gefaßt, daß
die nad) firengem Necht verurtheilten Klerifer aus Rückſichten des
Mitleids und der Liebe in ihre Pfründen wieder eingefegt werben
mögen. Um jedoch nach Kräften die Gültigfeit der Befchlüffe vom
Jahr 853 zu wahren, faßte der Erzbifhof Herard von Tours
im Namen und Auftrag des Concils eine Erklärung ') des Inhalts
ab, daß es feines Wegs ihre Meinung fey, das Urtheil vom Jahre
853 umzuftoßen, fondern fie wollen nur nicht hindern, daß diefer
zwar firenge aber ganz gerechte Spruch aus Gründen des Mit:
leids gemildert werde, im Uebrigen überlaffen fie die Entfcheidung
der Frage dem Ermeflen des apoftolifchen Stuhls, als des Haupts
aller Kirchen. Bon der Erhebung Wulfad’s auf den Stuhl von
Bourges ſchweigt die Erklärung Herard’s, und auch auf der Ber:
fammlung felbft jcheint fie nicht zur Sprache gefommen zu feyn.
Der gefaßte Beihluß wurde fofort fammt mehreren Schreiben
an den Pabſt ausgefertigt. Unter Iegteren war eines im Namen
der Synode entworfen, eines von Hinfmar, eines vom Könige Karl
dem Kahlen. In dem erften ?) führen die Väter der Synode dem
Pabfte zu Gemüth, dag Hinfmar nicht im Stande gemwefen fey, den
yon Rom empfangenen Befehl ohne Weiteres zu vollſtrecken, mit
gutem Gewiffen habe er die eigenmächtige Wiederherftellung von
Clerikern, die durch ein Concil von fünf Provinzen abgefegt worden,
nicht auf fi) nehmen Fünnen. Da fie indeg wüßten, daß der heil.
Bater aus gewohnter Milde die Verurtheilten wiedereingefeßt zu
fehen wünſche, fo feyen fie bereit feinen Abfichten entgegen zu
fommen, nur könnten fie Solches nicht für fich thun, weil fie fonft
1) Abgedruckt ibid. S. 725 Mitte flg. — 2) Ibid. &728 fig.
Die Päbfte Sergius I, Leo IV., Nikolaus T. ıc. 1033
die Nechte des apoftolifchen Stuhls zu verlegen fürchteten, indem
ja der heil, Vater, laut den von Hinfmar vorgelegten Urkunden,
ben Urtheilfpruch des Jahres 853 beftätigt hätte. Der Pabft möge
nach eigenem Ermeffen verfügen, wie die yon ihm in Anregung
gebrachte Sache beendigt werben folle, befonders bäten fie ihn zu
entfcheiden, ob die in ihre Grade wiebereingefeßten Cleriker feiner
Zeit wenn etwa das Volk Einen aus ihrer Mitte erwählen würde,
zu bifchöflichen Würden erhoben werden dürften.“ Letzteres fcheint
ung gegen die vom Könige Karl angeordnete Erhebung Wulfad’s
auf den Erzftuhl von Bourges gerichtet zu feyn. Die Väter der
Synode betramhten den Schritt des Königs als ungefchehen. Zwar
wollen fie den Clerikern Ausficht auf Fünftige Beförderung laſſen,
aber fie behalten dabei dem Volke feine Wahlrechte vor. Im
gleichem Sinne wie die Bifchdfe ſchrieb I Hinfmar an den Pabſt,
nur fügte er die Bemerfung bei, er habe darum nicht für nöthig
erachtet, einen eigenen Abgefandten mit dieſem Schreiben nad Rom
zu ſchicken, weil der Erzbiſchof Egilo fi im Namen der Synode
dahin begebe, und weil der ypäbftliche Befehl, in eigener Perfon
oder mittelft Bevollmächtigter in Rom zu erfcheinen, fih nur auf
den Fall beziehe, daß die eine oder andere Parthei vom Urtheil der
Synode appelliren würde, was ja nicht gefchehen ſey. Hinfmar
gibt Hier nicht den wahren Grund an, fondern er wollte dem Pabſte
durch das Unterlaffen einer Huldigung, die diefer verlangte, bemerk—
lich machen, daß er Feines Wegs an blinde Unterwerfung benfe,
In dem Briefe, ®) weldhen König Karl an Nifolaus erließ, rühmte
er. Hinfmar’s Gehorfam gegen den römiſchen Stuhl, billigte das
Berfahren der Synode, und wiederholte am Schluffe feine Bitte,
der Pabft möge Soſab⸗ Ernennung zum Erzbiſchof von Bourges
genehmigen.
Alle dieſe Altenſtücke ſollte Egilo, Metropolit von Sens, als
Geſandter der Synode nach Rom nehmen. Hinkmar gab demſelben
noch beſondere Verhaltungsregeln ?) mit, aus welchen erhellt, wie
groß das Mißtrauen war, das er gegen die Curie hegte, Er bittet
darin Egilo dem Pabſt vorzuftellen, wel’ ein Verfall der Kirchen:
zucht, und welche Unbotmäßigfeit des niedern Clerus einreißen müffe,
ı) Ibid, ©. 765 Mitte fig. — 2) Ibid, ©, 734 Mitte fig. — ?) Ibid,
©. 768 flg.
1034 I, Buch. Kapitel 12.
wenn man bie Schlüffe von Synoden und Defrete des apoftolifchen
Stuhls Teichtfinnig umſtoße. Er ſchärft ihm weiter ein, von den
Schreiben, die er dem Pabſte zu überbringen babe, Abfchriften
zurüczubehalten, damit er auf den Fall, wenn nad erfolgter
Vebergabe Streitigfeiten über den Inhalt entftünden, Beweiſe in
Händen habe. Auch ermahnt er ihn fi zu bemühen, daß er von
der Urfchrift der Briefe, die der Pabſt fofort in Wulfad's Sache er:
Yaffen würde, Einficht befomme, damit nicht die Schreiber der päbft-
lichen Kanzlei diefelben, wie man ihnen ſchuld gebe, verfälfchen
fönnten. Endlich fpricht er no den Wunſch aus, Egilo möge ſich
eine Abfchrift der Aften des Pabſts Sergius II. zu verfchaffen fuchen,
denn unter denfelben müfjen fich auch Urkunden über die Verurthei—
Yung Ebo's befinden, die man biefjeits fehr nöthig brauche, Im
Uebrigen ſcheint Hinkmar vom Erfolge der Gefandtfchaft nicht viel
Gutes erwartet zu haben, denn im Eingange der Anweifung für
Egilo äußert er I die Beforgniß, daß gewiffe Leute in Rom es
Yieber fehen würden, wenn bie Ießte Synode von Soißons mit
Zwietracht geendet hätte, und dadurch die Entjcheidung des ganzen
Streits vor den Stuhl Petri gezogen worden wäre.
Was er vorausgefehen, traf ein. Statt die Alten yon Soißons
zu beftätigem, erließ Nikolaus I. an die Väter der Synode ein weit:
Yäuftiges Antwortfchreiben, 2) das mit der Berficherung beginnt: „feine
väterliche Liebe erlaube ihm nicht die Ohren gegen das fo oft wieder:
holte Klaggefehrei der abgefesten Cleriker zu verſchließen. Da er,
um die Sache ins Reine zu bringen, neulich die zu verfchiedenen
Zeiten theils an dem apoftolifchen Stuhl eingeſchickten, theils von
demſelben erlaffene Schreiben aufs Sorgfältigfte durchgeforicht habe,
fey es kraft göttliher Eingebung gefcheben, daß ihm auch
die Aften der Synode vom Jahr 853, auf welcher fein Bruder
und Mitbifchof Hinfmar jene Männer ihrer Aemter entfeste, unter
die Hände kamen. Welch traurige Entdeckungen habe er bier ges
macht! Wahrlih, wenn er alle Fehler und Berfälfchungen, von
welchen diefe durch Hinkmar felbft an den Stuhl Petri übermachten
Verhandlungen wimmeln, einzeln bezeichnen wollte, würbe es ihm
an Papier fehlen.“ Trotz diefer hochtönenden Redensart, welche da—
rauf berechnet feheint, die Beweisführung zu umgehen, läßt fich ber
1) Ibid. S. 768 untere Mitte. — ?) Ibid, ©. 758 flg.
Die Päbfte Sergius IL, Leo IV., Nikolaus I. ıc. 1035
Pabft herab, einige Berfälfhungen anzuführen, 3. B. daß die ab»
gefesten Cferifer nicht aus freien Stüden, wie vorgegeben werde,
fondern gezwungen vor der Synode erfchienen feyen, daß der Metro-
polit während der Berhandlungen bald die Rolle des Angeklagten,
bald die des Klägers, dann wieder die bes Nichters gefpielt habe,
daß die Glerifer, obgleich fie nicht Klagen wollten, zu Ueberreichung
einer Klagfchrift genöthigt wurden, daß ihnen, die doch nur dem
Willen ihres Vorgeſetzten, der fie zu höhern Graden befürderte, ge—
horfam gewefen, diefer Gehorfam zum Berbrechen angerechnet wor:
den ſey. Der Pabſt zieht weiter die Behauptung Hinfmar’s, daß
der apoftolifche Stuhl die Beichlüffe von 853 beftätigt habe, in
Abrede. Wiewohl Hinkmar mehrmals bei Leo IV. darum eingefommen
fey, babe diefer nie eingewilligt,, fondern vielmehr eine neue Unter:
fuhung der Sache angeordnet, und zu ſolchem Zwed den Bifchof
Petrus von Spoleto als feinen Botfchafter nah Gallien gefchidt,
damit bie freitenden Partheien fih vor ihm ftellen follten, aber
Hinfmar fey nicht erfchienen. Die Beſtätigung Benedikt's habe Hink-
mar liſtiger Weife erfchlihen, aber im Grunde enifcheide dieſelbe
nichts, weil fie nur unter der Bedingung gegeben worden fey, daß
Altes fih fo verhalte, wie Hinfmar in feinen Berichten ange-
geben; diefe Einfchränfung habe Hinfmar aus feiner Abfchrift weg-
gelaffen, und die Urkunde auch fonft durch Zufäse und Aenderungen
verfälſcht. Nikolaus gebt nun auf Das über, was er felbft in ber
Sache bisher gethan. Er habe Hinfmar den Befehl ertheilt, ent:
weber die Cleriker unvermweilt wiedereinzufegen, oder im Fall er
Anftand nehme, dieß auf eigene Fauft zu thun, die Angelegenheit
vor eine neue Synode zu bringen, von welder, wenn feine fried-
liche Mebereinkunft erzielt würde, an den römifchen Stuhl berufen
werben follte. Es freue ihn zu hören, daß dieſe Berfammlung ſich
in dem Befchluffe vereinigt babe, die Cleriker wieder einzufegen.
Allein in einem andern Punft müffe er das Verfahren der Synode
tabeln. Sie hätten nämlich alle Urkunden, die fi auf die erfte
Berurtheilung,, die nachmalige Wiedereinfegung,, fowie auf die zweite
Bertreibung Ebo's und feinen Uebertritt in eine andere Kirche, end:
lich auch auf die von ihm vorgenommene Beförderung jener Cleriker
bezögen, forgfältig fammeln, und nach Nom überfenden follen. Da
dieß nicht geſchehen ſey, müffe er fie ermahnen, das Verſäumte nadj-
zuholen. Nun folgen wieder Ausfälle gegen Hinfmar, „Die Nachricht
1036 II, Buch. Kapitel 12,
von feinem Gehorfam gegen die Befehle des römischen Stuhls,“ fagt
der Pabft, „habe ihn gefreut, aber darüber müffe er Yachen, daß
Hinfmar fih fo gebärde, als ob nicht er es wäre, ber die Glerifer
abgefest hätte.“ Nikolaus räumt dem Metropoliten die Frift eines
Sahres ein, um den Beweis zu führen, daß diefelben mit Necht
von ihren Aemtern entfernt worden feyen, befteht aber darauf, daß
fie einftweilen wieder eingefegt werden. „Würde aber Hinfmar den
verlangten Beweis nicht Tiefern, fo werde der ypäbftlihe Stuhl
darin ein Befenntniß fehen, daß nicht blos die Clerifer felbft,
fondern aud Ebo, der fie geweiht habe, mit Unredt
verurtheilt worden, woran wenigftens er, Nikolaus, felbft
feinen Augenblick zweifle.“ Der Pabft führt fofort gegen die Väter
der Synode Beichwerde darüber, daß durch ihre VBergünftigung,
wie er aus ihren Briefen erfehe, einer der abgefegten Ele:
vifer auf einen bifchöflichen Stuhl befördert worden fey. Dieß be:
zieht fih auf Wulfad. Da aber das oben angeführte Schreiben der
Synode nichts davon enthält, fo feheint der Pabft auf andere Zu:
fopriften, die nicht auf ung gefommen find, hinzudeuten. Am Schluffe
macht er noch die Bemerkung: aus dem Umftande, daß Pabſt Ser:
gius den ehemaligen Erzbifchof Ebo von der geiftlichen Gemein-
haft ausgefchloffen habe, dürfe Fein Schluß zum Nachtheile des
legtern gezogen werden, denn ba feine Sache zu Rom nicht unter:
ſucht ward, und da auch Ebo felbft nicht von dem wider ihn
gefällten Spruche an Petri Stuhl berief, habe Sergius über bie
Berhältniffe Ebo's nicht anders urtheilen fünnen, als damals alle
Welt gethan.
Ungefähr diefelben Punkte wiederholte Nikolaus in einem an
Hinfmar gerichteten Schreiben, ) nur fügte er noch neue Bormürfe
hinzu. Er nimmt e8 namentlich übel, daß der Metropolit feine
legte Zufchrift nicht durch einen eigenen Gefandten überfchickt, auch
biefelbe nicht, wie doch der Gebrauch verlange, verfigelt habe. Er
warnt ihn ferner, nicht fo viel auf die vom römifchen Stuhle er:
haltenen Borrechte zu pochen, und tadelt ihn, daß er das Pallium
aus lauterem Stolze nicht blos zu den feftgefegten Zeiten trage, Im
einem dritten Erlaffe 2) an Karl den Kahlen, dankt er dieſem Fürften
dafür, daß er ben Fehler, welchen er durch feine Genehmigung bes
1) Ibid, ©, 745 flg. — 2) Ibid. ©. 755 Mitte flg.
Die Pabfte Sergius II., Leo IV., Nikolaus I. ꝛc. 1037
gegen bie Cleriker eingeleiteten Verfahrens begangen, fo bereitwillig
durch fein Mitwirken bei Wiedereinfegung berfelben verbeffert habe,
zugleich ermahnt er ihn, fi in Zukunft vor ähnlichen Fehltritten
zu hüten, da man nicht wiſſen könne, ob Verſtöße wieder gut zu
machen feyen. Schließlich verweist er den König in Betreff feiner
Anfichten über das Schickſal der Elerifer auf den Brief an Hinfmar.
Noch wünſchte der Pabſt in einem vierten Schreiben 1) Wulfad und
feinen Genoffen Glüd zu ihrer Wiederherfiellung. Bon dem Erz
bisthum Bourges fagt er nichts, Dagegen empfahl er Allen, das
ihnen zugefügte Unrecht zu vergefien, und forderte insbefondere
Wulfad auf, dem Metropoliten von Rheims die größte Ehrerbietung
zu erweifen. Wahrfcheinlich wollte Nikolaus durch diefe Ermahnung
Hinkmar befhämen, durch deffen Hände der Brief an Wulfad ge:
langen mußte.
Alle vier Schreiben waren unter dem 6. December 866 ausge:
fertigt. Egilo überbrachte fie nach Frankreich. Indeſſen hatte der neuft-
rifche König ſchon drei Monate zuvor, ehe die päbſtliche Antwort
abgefaßt ward, feinem Sohne Karlmann Befehl ertheilt, Wulfad im
Nothfalle mit Gewalt auf den erzbifchöflihen Stuhl von Bourges
einzufegen. Der Prinz vollftredte im September den Auftrag feines
Baters. Mehrere Kirhenhäupter von Wulfad's Parthei wohn:
ten, durch Geld beftschen oder durch Drohungen gefchredt, dem
Akte der Einweihung bei, welde der Bifchof Aldo von Limoges
vollzog. 2) ' |
Die Nachrichten und Briefe, deren Ueberbringer Egilo war,
hatten eine große Bewegung in der neuftrifchen Kirche zur Folge.
Da der Pabft in den angelangten Schreiben die Erhebung Wulfad’g
mehrfach mißbilligte, fuchte Diefer feine Parthei zu verftärfen, um
einem fünftigen Sturme die Spige bieten zu fünnen. Anderer Seits
fühlte Hinfmar, daß er verloren fey, wenn er den Pabft nicht be:
fänftige. Er machte daher die größten Anftrengungen zu diefem
Zwede, und zwar nicht ganz ohne Erfolg. Laut den Zahrbüchern
von Rheims, ſchickte er im Juli 867 einige Vertraute nah Nom, die
aus Furcht vor Nachftellungen der Gegner, in Pilgrime verkleidet
abreisten. ?) Vom Auguft bis Dftober blieben diefelben in Nom,
ı) Ibid, ©. 754 unten fig. — °) Hincmari annales ad annum 866.
Perz I., 472 untere Mitte, — 3) Hincmari annales ad annum 867, Perz L.,
475 Mitte,
1038 III. Buch. Kapitel a2.
und am Ende ihres Aufenthalts gelang es ihnen wirklich den Pabſt
zu gewinnen, jedoch nur weil ein auswärtiges Ereigniß ihnen in
die Hände arbeitete. Sm Sommer des nämlichen Jahres war näm-
lich der verzweifelte Kampf zwifchen Photius und dem Pabſt wegen
der Bulgar’ichen Eroberung ausgebrochen. Um jene Zeit ftand aber
Nikolaus in geipannten Berhältniffen mit fämmtlichen fränfifchen
Herrfchern: mit König Lothar II. wegen Thietberga’s, mit Karl
dem Kahlen und Ludwig dem Zeutfchen, weil beide ſich auf bie
Seite des Tothringers gefchlagen hatten, mit Kaifer Ludwig IL. um
der früher befchriebenen Mißhelligfeiten willen. Wie? wenn einer dieſer
beleidigten Könige, oder gar alfe zufammen, fich von den Byzan-
tinern gewinnen ließen! dann mußte Nifolaus unterliegen. Darum
legte der Selbfterhaltungstrieb dem Pabſte die Nothwendigfeit auf,
die fränkifche Kirche in dem bevorftehenden Kampfe auf feine Seite
zu ziehen. Zum Abfchluffe eines ſolchen Bündniſſes taugte aber
nur Hinfmar, als der fähigfte unter allen Bifchöfen jenfeits der
Alpen. Alfo näherte fich der Pabft dem Metropoliten von Rheims.
Unter dem 23. Det. 867 erließ er den berühmten Brief !) an Hink—
mar, worin er ihn aufforderte, durch fein Anfehen zu bewirken, daß
die fränfifche Kirche, mittelft Abfaffung von Streitfehriften, gegen bie
fegerifchen Griechen in die Schranfen trete. Triumphirend zeigte
Hinkmar dieſes Schreiben, als ein Unterpfand feiner Ausföhnung
mit Nifolaus, dem neuftrifchen Könige und den Biſchöfen.?)
. Aber während auf diefe Weife Hinfmar’s Stellung zum Stuhle
Petri fich befferte, wankte zu Haufe der Boden unter feinen Füßen,
und er gerieth durch die Anfälle einheimifcher Gegner in eine Lage,
die nothwendig feinen Sturz herbeizuführen fchien. Ende Oftober
berief König Karl der Kahle die Bischöfe von ſechs Kirchenprovinzen
(Rheims, Rouen, Tours, Sens, Bordeaur, Bourges) nad) Troyes
zu einer Synode, um dem Berlangen des Pabſtes gemäß eine
neue Unterfuchung über Ebo's VBerhältniffe anzuftellen. „Auf biefer
Berfammlung“ heißt ®) es in den Jahrbüchern von Rheims „wollten
gewiſſe Bifchöfe, die aus Schmeichelei gegen den König Wulfad
begünftigten, durch eine wider Wahrheit und Kicchengejege entworfene
Schrift Hinfmar verderben, aber es gelang dem Metropoliten mit
1) Siehe oben ©, 267 unten fig. — 2 Perz a. m O. J., ©, 476 obere
Mitte, — 3) Ibid, ©. 475 Mitte.
Die Päbſte Sergius II., Leo IV., Nikolaus I. ꝛc. 1039
Hülfe der Mehrzahl, die Schlingen der Gegner zu durchbrechen,
und im Namen der Synode ward ein Schreiben an Nikolaus auf
gefegt, das der Biſchof von Nantes Aftardus nah Nom überbringen
follte. As nun derfelbe vor feiner Abreife,. wie ihm befohlen war,
fih an den Hof begab, entrieß ihm Karl der Kahle, uneingebenf
der harten Kämpfe, welche Hinkmar zum Wohle des Reichs und zur
Ehre der Krone beftanden hatte, das Schreiben der Synode, brach
die Sigel ab, las es, und feste flatt deſſelben ein anderes auf,
das wider Hinfmar gerichtet war.“ Wir müffen zunächft diefe kurze
Nachricht aus andern Quellen, oder durch Schlüffe vervollftändigen.
Die feindfeligen Beftrebungen, welche Hinfmar auf der Synode von
Troyes zu bekämpfen hatte, follen von Anhängern Wulfad’s ausge-
gangen feyn. Woher nun diefe Parthei Wulfad’s? Einige ältere
Thatfachen geben hierüber Licht. Nachdem Wulfad mit den andern
Elerifern im Jahr 845 von Hinfmar entjegt worden war, hatte
er, laut der von dem Nheimfer Metropoliten auf der Synode zu
Soißons im Jahr 866 vorgelegten Urkunde, N) die Verwaltung der
Güter des Bisthums Langres an fi geriffen. Dieß konnte ihm
nur mit Genehmigung des Hofes gelingen. Wir müfjen daher an:
nehmen, daß Wulfad Mittel fand, bes Königs Gunft zu erlangen, -
Die neuftrifchen Bifchöfe zwangen ihn jedoch, laut demfelben Zeug-
niffe Hinfmar’s, jene Stelle aufzugeben, und Wulfad mußte fogar
einen fchriftlihen Eid hinterlegen, daß er nie wieder nach einem
hoben Kirchenamte ftreben wolle. Als aber Nikolaus im Jahr 866
mit einer neuen Einmifchung in die Kirchenangelegenheiten des fran-
zöfifchen Neichs drohte, feheint Wulfad dem Könige vorgeftellt zu
haben: das ficherfte Mittel, den päbftlihen Plan zu vereiteln, beftehe
darin, wenn man die abgefesten Cleriker wiederherftelle, und ihn
felbft mit dem eben erledigten Erzftuhle von Bourges bedenke. Denn
dann würden fie nie mehr mit dem Pabſte gemeine Sache machen,
noch nah Nom appelliren. Der König gieng auf den Borfchlag
ein, und zwar anfangs nicht in feindfeliger Abficht gegen Hinfmar,
denn noch in dem Schreiben, ?) das er im Auguft 866 an den
Pabft erließ, vedet er dem Metropoliten das Wort. Allein biefe
Stimmung ſchlug allmählig ins Gegentheil um, feit Hinfmar mit
allen Kräften der beantragten Erhebung Wulfad's entgegen arbeitete,
1) Siehe oben ©. 1051. — ?) Manfi XV., 7345 fiehe oben S. 1035.
1040 IM. Buch. Kapitel 12.
Aus den Quellen erhellt nicht, warum Hinfmar Lesteres that. Doch
laffen fi feine Beweggründe Yeicht errathen. Er mag mit Necht
befürchtet haben, daß die Kirchenzucht einen unheilbaren Riß erleiden
müffe, wenn man den Gehorfam und das Stillfchweigen eines nie-
bern Clerikers mit den höchſten Würden erfaufe. Wahrfcheinlich
beherrfchte ihn außerdem die perfönliche Beſorgniß, dag Wulfad
feine hohe Stellung als Erzbiſchof dazu benügen dürfte, fich für die
Beleidigung zu rächen, die ihm Hinfmar im Jahr 845 zugefügt
hatte, Mag nun der Meiropolit Durch dieſe oder andere Triebfedern
beftimmt worden feyn, fo willen wir, daß er auf der Synode zu
Soißons im Auguft 866 nicht nur felbft gegen Wulfad's Erhebung
flimmte, fondern auch die Mehrzahl der anwefenden Bifchöfe da-
gegen einzunehmen wußte. Damit war der Grund eines Zermürf:
niffes zwifchen ihm und dem Könige gelegt. Gefchäftige Hände
fuchten dafjelbe fofort zu erweitern, und zwar mit gutem Erfolg.
Ohne Zweifel that hiebei Wulfad das Meiſte. Indeß deutet
Hinkmar felbft in einem Brief an den Abt Anaftafius noch auf
andere Widerfacher hin, ) indem er die Aeußerung fallen läßt: ge=
wife Fürften feyen ihm abhold, weil er ſich geweigert habe, ihren
Launen zu willfahren. Wir fehen hierin einen Wink, daß Lothar IL,
ber damals mit Karl befreundet war, den neuftrifchen König gegen
Hinfmar aufreiste, um Rache für das Benehmen des Lektern in
der Sache Thietberga’s zu nehmen. Wirklich wurde Karl der Kahle
fofehr wider den Metropoliten eingenommen, und von Wulfad um:
garnt, daß er im September 866 den oben angeführten Befehl gab,
Lestern gewaltfam auf den Stuhl von Bourges einzufeßen. Drei
bis vier Monate fpäter Tiefen die Briefe aus Rom ein, in welchen
der Pabft aufs Beftimmtefte ven Borfchlag der Erhebung Wulfad’s
mißbilligte. Das war ein, für den König, wie für Wulfad, gleich
unangenehmer Zwifchenfall, Nur durch ein Mittel hofften Beide feit-
dem den Pabft zufriedenftellen zu fünnen. Sie wußten, baß bie
Curie um jeden Preis Hinfmar zu ftürzen ſuche. Nun berechneten
fie, daß Nikolaus die eigenmächtige Einſetzung Wulfad's nachträglich
genehmigen werde, wenn man bieffeits zum Verderben des ver: _
haßten Metropoliten die Hände biete. Alſo wurde Hinkmar jetzt
aufs: Heftigfte verfolgt. Er felbft fagt, daß er um der Nachftellungen
i) Hincmari Opp. II, 825 untere Mitte,
Die Päbſte Sergius IL, Leo IV., Nikolaus I. ıc. 1041
willen die Cleriker, welche er nach Nom ſchickte, in Pilgrime ver:
fleivet habe. Diefe Nachftellungen giengen ohne Zweifel vom Hofe
aus, welder verhindern wollte, daß fi) der Metropolit mit dem
Pabſte ausfühne. Auf der Synode von Troyes brach der Sturm
vollends gegen ihn los. Der feindfelige Plan, von welchem bie
Jahrbücher melden, beftand darin, daß feine Gegner über Ebo’g
Berhältniffe einen Bericht zu entwerfen verfuchten, der Diefen als
einen unſchuldig Verfolgten fchilderte und Hinfmar preis gab. Den-
noch gelang e8 dem Metropoliten, die Mehrzahl für fih zu gewinnen.
Aber fein Sieg war nicht vollſtändig. Wir befigen das Synodal-
fchreiben ) welches die Berfammlung an den Stuhl Petri richtete.
Der erfte Theil enthält über Ebo's Gefchichte eine mit Urkunden be-
legte Darftellung, weldhe zu Gunften Hinfmar’s lautet, aber am
Ende des Briefs ift der Wunſch ausgefprochen, daß der Pabſt dem
neugeweibten Erzbifchofe Wulfad yon Bourges das Pallium er-
theilen möchte. Letzteres war ficherlich nicht ein Freiwilliges Zu:
geftändnig Hinfmar’s, folglich hatte feine Parthei in dieſem Punfte
den Gegnern nadgeben müfjen. Allein weder der König noch
Wulfad war damit befriedigt, denn das Synodalfchreiben feste ja
den Pabft nicht in Stand, Hinfmar zu flürzen, und demnach ftand
zu erwarten, daß Nikolaus die Erhebung Wulfad’s nicht genehmigen
werde. Darum duchfchnitt Karl der Kahle den Knoten mit Ge—
walt, indem er über Ebo an den Pabſt einen Bericht erftattete, der
Hinfmar als einen Eindringling binftellte. Auch diefe Urkunde ift
vorhanden. ?) Ebo, heißt e8 darin, fey zwar wegen feiner Theil:
nahme an ber zweiten Empörung yon Ludwig dem Frommen ent
fest worden, aber fpäter habe ihn Kaifer Lothar wieder hergeftellt,
und ſeitdem hätten alle Biſchöfe firdlide Gemein-
haft mit ibm gepflogen.
Nachdem auf folhe Weife der König, für deffen Rechte der
Metropolit feit Jahren gegen den Stuhl Petri fämpfte, feinen treuften
Berbündeten aufgeopfert hatte, fchien Hinkmar unrettbar verloren.
Die trübe Stimmung feiner Seele fpiegelt fi in dem oben erwähn⸗
ten Brief ab, den er damals an den römifchen Abt Anaftafius
ſchrieb. 3) Er wendet hier die Sprüche (Micha VIL, 6.) des
i) Manſi XV., 791 fig. — 2) Ibid, ©. 796 Mitte fig, — ®) Opp. IL,
824 fig.
Gfrörer, Kircheng. III. 66
1042 m. Buch. Kapilel 12.
Mannes Feinde ſind ſeine eigene Hausgenoſſen, und
Sirach 32, 26. hüte dich vor deinen eigenen Kindern,
auf ſich ſelber an. Noch deutlicher erhellt ſeine Muthloſigkeit aus
einem Schreiben, ) durch welches er den Pabſt zu entwaffnen ver:
fuchte. „Ich verdiene,“ fagt er bier, „um meiner Sünden willen,
die Borwürfe, die Ihr mir in Eurem Testen Schreiben gemacht habt,
und wäre ich dem Leibe nach in Eurer Gegenwart, fo würde ich
thun, was ber heil, Geift durch den Mund Benedikt's yon Nurfia
Minden anbefiehlt, die das Unglück hatten ihren Borgefesten zu
mißfallen, ich würde nämlich mich Euch zu Füßen werfen, und fo
Yange im Staube fliegen bleiben, bis ich Eure Berzeihung erhalten
hätte. Da ich dieß leiblich nicht thun kann, fo thue ich es im Geifte.“
Im Folgenden wiederholt er mehrmal, daß er ein großer Günder
fey, verfichert aber mit den feierlichften Betheuerungen, unfchuldig
an dem zu feyn, wegen deſſen man ihn beim Pabfte angefchwärzt
habe. Er weist den Vorwurf der Arglifi und Graufamfeit zurüd,
und befiebt darauf, daß Ebo auf canonifche Weife abgefegt, und
er felbft den Borfchriften gemäß eingefekt worden fey. Das unter:
Yaffene Verſiegeln feines legten Briefes rechtfertigt ev durch die Be—
hauptung, da die Synode ihr Schreiben nicht verfiegelt habe, fey es
ihm unſchicklich erfchienen dieß zu tun. Er läugnet, bie von DBe-
nedift erhaltene Urkunde verfälfcht zu haben, und erflärt endlich, daß
er das Pallium in der Regel nur an Oſtern und Weihnachten trage,
denn an den andern hohen Feften, für welche den Metropoliten
gleichfalls der Gebraud) des Palliums geftattet fey, erlauben ihm
jeine häufigen Gefchäfte nicht in der Kirche zu erſcheinen.
Unnüg waren die Bitten wie die Beforgniffe Hinkmar's; denn
als der Bifchof Actardus, der Ueberbringer dieſer Schreiben, nad)
Nom Fam, lebte Nikolaus nicht mehr, und unerledigt gieng der
Handel an den Nachfolger über,
Bom 24. April 858 bis zum 13. November 867 ſaß Nikolaus
auf dem Stuhle Petri. Und wie unermeßlich ſind die Erfolge, die
er während dieſer neun Jahre errang! Er hat einen glänzenden
Triumph der römiſchen Kirche über die griechiſche vorbereitet, er hat
im Abendlande die Metropolitangewalt geſprengt, und Fürſten, als
wären ſie ſeine Vaſallen, zur Rechenſchaft gezogen. Rom ſelbſt
) Manſi XV., 772 fig.
Die Päbfte Sergius IL, Leo IV., Rifolaus I. ꝛc. 1043
flaunte über die Kühnheit feiner Thaten. Eben deßhalb berrfchte
aber unter dem dortigen Clerus die Tebhaftefte Beforgniß, daß nad)
feinem Tode Alles, was er gegründet, wieder zufammenftürzen werde,
weil fein Anderer die Kraft befige, das begonnene Werf fortzufegen.
In einem Briefe, 7) worin der Bibliothefar Anaftafius dem Erz:
bifchofe von VBienne Ado den Tod des Pabſtes anzeigt, entwirft er
ein düfteres Gemälde von der nädften Zukunft. „Alle Diejenigen,“
fagt er, „melde Nikolaus, fey es wegen Ehebruchs oder anderer
Vergehen beftraft habe, gehen damit um, die von dem Pabſte ges
troffenen Einrichtungen wieder zu vernichten, und die Gefahr fey
um fo größer, weil der Kaifer, wie verlaute, die Plane der Geg—
ner unterſtütze.“ Zugleich beſchwört er Ado, feinen Einfluß auf die
Metropoliten Galliens anzuwenden, daß dieſe feinen Verſuch machen,
ibre alten Rechte wieder zu erobern. Die Furcht, welche
aus dem Briefe des Bibliothekars hervortönt, war auch Urſache,
warum Hinfmar mit dem Nachfolger des Nikolaus fo leicht zu—
recht Fam. |
Noch viel günftiger, als die eingeweihten Perfonen bes römifchen
Hofes, beurtheilte das Wirfen des Pabftes die Maffe der abend:
ländiſchen Bevölkerung, melde yon den geheimen Triebfedern nichts
ahnte, fondern nur die Erfolge ſah. Längſt hatten die fränfifchen
Fürften Liebe und Anhänglichfeit ihrer Völker verloren. Wie fonnte
man fie auch achten, da diefe unwürdigen Erben des großen Karl,
ſtets in ehrfüchtigen Fehden wider einander entbrannt, das Reich
den Normannen Preis gaben. Nichts lebte in ihnen von den Eigen:
haften ihres Ahnherrn, als ein Stolz, der bei Karl durch Thaten
gerechtfertigt wurde, bei ihnen wie Yächerliche Anmaßung erfchien.
Aus dem römischen Alterthum war in das fränfifche Staatsrecht der
Grundſatz verirrt, daß Fürften über dem Gefege fiehen. Lothar I.
vechnet es fih in dem oben angeführten Brief ?) an Nikolaus zum
Berdienfte an, daß er, auf die Befugniffe fönigliher Würde
verzihtend, wie ein gewöhnlicher Menſch den priefterlihen Er-
mahnungen Folge geleiftet habe. Der Lothringer war demnad) über:
‚zeugt, daß Fürſten von Nechtswegen Feine Rückſicht auf das Gefes
zu nehmen brauchen. Unter den Fragen, welche zu Anfange des
1) Manfi XV, 455 unten flg. — 2) Bei Baroniug ad annum 864,
Neo, 2 ß
ro. 4, " . ’
66°
1044 III. Buch. Kapitel 12.
Streits über Thietberga’s Scheidung dem Metropoliten son Rheims
vorgelegt wurden, war aud) bie: ) ob es wahr fey, daß, wie
einige Weltweife vorgeben, Könige feinem Geſetze und menfchlichem
Gerichte unterliegen, und nur Gott Nechenfchaft abzulegen hätten?
Hinfmar verwirft diefen Satz als eine gottesläfterliche Behauptung.
Wie Hinfmar haben auch die Völker son jeher geurtheilt. Aber
gewöhnlich fehlt es an einer Stimme und einem Arme, die mächtig
genug find, um die Hffentlihe Meinung den Gebietern der Erde
vorzubalten. Nikolaus warf fich zum Bertreter diefer Meinung auf.
Allgemeine Bewunderung ward ihm daher zu Theil, als er den
lothringifchen Ehebrecher überzeugte, daß Fürften fo gut als andere
Sterblihe an das allgemeine Sittengefe gebunden feyen. Sn der
Schilderung, ?) welche Negind von Nikolaus entwirft, fehen wir
einen Nachhall des Eindruds, den die Thaten des Vabftes auf die
abendländifchen Völker hervorbrachten. „Seit den Tagen des heil.
Gregorius I. bis auf unfere Zeiten herab,“ fagt er, „faß fein Hohen:
priefter auf dem Stuhle Petri, der mit Nikolaus verglichen werben
könnte, Könige und Tyrannen hat er bezähmt, und, wie ein oberfter
Gebieter der Welt, beberrfcht; gegen fromme Bifchöfe und Priefter
war er gelind und fanftmüthig, Schlechten dagegen und Gewiffen:
Iofen ſchrecklich, ſo daß man mit Necht fagen kann, ein neuer Elias
fey in ihm erftanden.“
Ein Elias war Nikolaus freilich nicht; auch mit Gregorius 1.
hält er, in Bezug auf Reinheit der Abfichten, Feine Vergleichung
aus, Zu viel Herrfchfucht Flebte feinen Handlungen an, und gegen
Hinfmar namentlih hat ev offenbares Unrecht verübt. Allein an-
derer Seitd muß man zugeftehen, daß unter foldhen Königen, wie
die damaligen waren, ein Dann von folder Thatfraft und folchem
Berftande faum der Berfuchung widerftehen mochte, die Gewalt
des Stuhles Petri fo weit als möglich auszudehnen. Auch ift fein
Berfahren gegen die Metropoliten größtentheils yon den Biſchöfen
herausgefordert und bekräftigt worden. Selbft in das Synodal-
fchreiben der Kirchenverfammlung von Troyes, welche fonft Hink—
mar's Sache vertrat, hat die Gegenparthei den Satz ?) einzufügen
gewußt: der Pabſt möge mit gewohnten Eifer, wie bisher, fortfahren,
!) Hinemari opp. I., 6953 unten fig. — 2) Reginonis chronicon Ad an-
num 868, Perz I., 579. — ?) Manfi XV,, 795 gegen unten.
Die Päbſte Sergius II., Leo IV., Nitolaus I, ꝛc. 1045
die Anmaßungen der Metropoliten niederzufchlagen, und die Nechte
der Bifchöfe zu ſchützen.
Sehr ftürmifch muß die nächte Pabſtwahl gewefen feyn. Indeß
fann man nur durd Schlüffe den gefchichtlichen Hergang ermitteln,
weil der Schriftfieller, welder Hauptzeuge ift, abfichtlich bie
Wahrheit verfälfcht. Der Lebensbefchreiber Hadrian's IT, meldet
nämlich, ) während der Wahl fey der Herzog von Spoletv Lam—
bert, ein Dienftimann des Kaifer Ludwig II, mit Heeresmacht in
Rom eingebrochen, und habe die Stadt fürchterlich geplündert und
verwüſtet. Unmöglich kann man diefem bewaffneten Einfall einen
anderen Zwed unterlegen, als den, daß der Kaifer dadurch mit
Gewalt eine ihm genehme Wahl erzwingen wollte. Allein der eben
genannte Zeuge fucht diefe Erklärung des Vorfalls abzuweifen, in:
dem er fogleich beifügt, wegen dieſer Gewaltthat jey Lambert, auf
die Klagen des Pabftes hin, vom Kaifer zur Strafe gezogen und
verbannt worden. Demnach fcheint es, als habe der Herzog den
Einfall wider den Willen des Kaifers, oder wenigftens ohne defjen
Befehl, gemacht. Dennoch verhält fih die Sache anders. Erſt vier
Jahre fpäter, und zwar aus einem ganz andern Grunde, nemlich
weil er fih in eine Verſchwörung gegen Ludwig IL eingelafjen hatte,
ift Lambert vom Kaifer abgefegt worden, wie Muratori klar bes
wiefen hat. 2) Aus einer andern und zwar urfundlichen Duelle
wiffen wir, daß der Nachfolger des Nikolaus der Faiferliden
Parthei feine Erhebung verdankte. Der Bibliothefar Anaftafius
fährt 3) in dem oben erwähnten Briefe an Ado von Vienne alfo
fort: „unfer neuer Pabſt Hadrian ift zwar ein vechtfchaffener Hirte,
aber er folgt blindlings den Rathſchlägen des Bifchofs Arfenius,
der, weil er von Nikolaus beleidigt wurde, zum Kaifer halt, und
wenig Eifer für Berbefferung der Kirchenzucht bethätigt.“ Hadrian IL,
ein geborner Römer, hatte fein 75. Lebensjahr überfchritten, als
er zum Pabſt gewählt wurde. *) Diefes hohe Alter mag der Haupt:
grund gemwefen feyn, warum bie römiſche Parthei zulest feine
Erhebung anerkannte. Denn eine baldige Wiedererledigung bes
Stuhles Petri fland zu erwarten, und Ießtere Fonnte daher in naher
Zufunft fih eines vollſtändigen Sieges getröften. Gleichwohl war
1) Vita Hadriani II,, $. 20, Vignoli III., 231. — ?) Annali d’Italia V.,
72 unten und 92 flg. — ?) Manfi XV., 454 oben. — *) Vignoli III,, 224 unten.
1046 I. Buch. Kapitel 12.
der Pabft nicht völlig in der Gewalt des Faiferlihen Anhangs, viel:
mehr mußten von der einen wie von ber anderen Seite ungefähr
gleich, große Zugeftändniffe gemacht werden, und das neue Negiment
folgte daher einer doppelten Bewegung, bie von entgegengefeßten
Punften aus ihren Anftoß empfieng. Der Kaifer hatte ) in früheren
Zeiten mehrere Bischöfe, als Feinde feiner Herrichaft, aus Rom ver:
bannt. Diefe durften jest zurüdfehren. Gleiche Begnadigung ward
aber auch einigen Andern zu Theil, welde von Pabſt Nifolaus
verbannt oder fonft beftraft worden waren, namentlich Thietgaud
von Trier, und Zacharias von Anagni, welcher letztere fih, als
er in der Eigenfchaft eines päbſtlichen Geſandten 861 zu Conftan-
tinopel weilte, von den Griechen hatte beftechen Yaffen. ?) Der
Pabſt nahm beide Männer wieder in die Kirchengemeinfchaft auf. 3)
Daß Hadrian diefes Zugefändniß nur notbgedrungen bewilligte,
bedarf Feiner Beweife. Daffelbe Schaufeln zwifchen entgegengefeiten
Grundfägen offenbart fih auch in der Art, wie der Pabſt den Stuhl
Petri in Befis nahm. Zu dem Wahlafte felbft wurden die faiferlichen
Gefandten, die fih in Rom befanden, nicht beigezogen, worüber
fie auch Klage führten. Aber die Einweihung des Gewählten er-
folgte erft, nachdem die Faiferlihe Genehmigung eingelaufen war. *)
Auf folhe Weife ward Hadrian in die traurige Nothwendigfeit
verfegt, zwei Herren dienen zu müſſen. Anfangs überwog, wie
man fi denfen kann, der fränfifche Einfluß. „Weil der neue
Pabſt,“ berichtet °) fein Biograph, „einige feindfelige Menfchen und
Ausfäer des Unkrauts fehonend behandelte, verbreitete fi dag“
Yügenhafte Gerücht, daß Hadrian mit dem Plane umgehe alle Ver—
fügungen feines Vorgängers Nikolaus umzuftoßen. Deshalb lie—
fen auch aus allen Bistbümern des Abendlandes Briefe
ein, welde ihn befchworen, der wahren Lehre treu zu
bleiben.“ Allein in dem Maaße, wie Hadrian ſich befeftigte,
jhüttelte er die fremden Feſſeln ab, und Ienfte mehr und mehr in
die von ben früheren Päbften geebnete Bahn ein. Die anfängliche
Schwäche feines Regiments ward yon einem Ehrgeizigen auf furdt:
bare Weife mißbraucht. Der Pabſt war in früheren Zeiten ver:
') Vita Hadriani Il., $. 13. Vignoli III., 227 unten flg. — 2) Siehe
oben ©. 239 fig. — 3) Vita Hadriani $. 10. Vignoli H., 226 unten, —
») Ibid, 8. 6, 7, 8:9, — 5) Ihid, $. 15.
. Die Väbfte Sergius II, Leo IV., Nikolaus I. ꝛc. 1047
heirathet geweſen. Eine Tochter aus dieſer Ehe und auch ſeine
Gemahlin lebte noch, als Hadrian den Stuhl Petri beſtieg. Ein
sornehmer Römer Namens Eleutherius, Sohn des mehrfa er:
wähnten Arfenius, entführte die Tochter des Pabſts fammt ihrer
Mutter und heirathete bie erflere. Hadrian, aufs tieffte beleidigt
durch dieſe Gewaltthat, brachte es beim Kaifer dahin, daß ein Ge-
vicht niedergefegt wurde, welches den Entführer nach römiſchem
Rechte aburtheilen ſollte. Hiedurch in die Enge getrieben, ermordete
Eleutherius Mutter und Tochter. Die Jahrbücher von Rheims,
denen wir folgen, behaupten: ) der Unmenfch habe die Entführung
auf den Rath feines Vaters Arfenius, den Mord aber auf Antrieb
feines Bruders deg Bibliothefars Anaftafius vollbracht. Man kann
hieraus abnehmen, welch’ furchtbare Partheiung und Gefeglofigfeit
damals in Nom herrſchte. Uebrigens beftrafte der Kaifer den Mör—
der mit dem Tode. |
Bon den aus der Regierung des Nikolaus herübergefommenen
Gtreitigfeiten, ward zuerft die Sache Hinfmar’s erledigt. Auf das
oben ?) erwähnte Synodalfchreiben der neuftrifchen Bifchöfe ant:
wörtete ?) Hadrian: obgleich durch ihren Bericht die Angelegenheit
der Abſetzung Ebo’s nicht fo vollfommen aufgehellt fey, als fein
Borgänger gewünſcht habe, wolle er ihnen doc feine Zufriedenheit
mit dem bewiefenen Eifer bezeugen. Er erklärt fofort, daß er bie
Befchlüffe der letzten Synode hiemit beftätige, auch ihrem Wunfche
gemäß, dem Erzbiichofe Wulfad das Pallium bewillige, Dagegen
verlangt er als Gegendienft, daß der Name des Nikolaus in die
Berzeihniffe der fränfifchen Kirchen eingetragen, und feine Ber:
fügungen und Gefege aufrecht erhalten werden. Zu gleicher Zeit
ſchrieb ) Hadrian an König Karl den Kahlen: es möchte das Befte
feyn, wenn man Fünftig von der Sade fehweige, da mit Ausnahme
Rothad's feiner von den Bifchöfen mehr lebe, welche zugegen gewefen,
und deßhalb der wahre Hergang kaum mehr ermittelt werden könne.
Auch an Hinfmar erließ er ein Schreiben, °) das jedoch nur Lob:
fprüche über das Benehmen des Metropoliten in dem Streit Thiet-
berga’s und ihres Gemahls, fowie die Aufforderung enthält, ferner
1) Hincmari annales ad annum 868. Perz I., 477 Mitte. — ?) ©. 1041.
— 3) Manſi XV., 821 Mitte fig. — *) Ibid, ©, 824 Mitte fig, — 9) Ibid,
©. 826 unten flg.
1048 IT. Buch. Kapitel 12.
dem Stuhle Petri Hold zu feyn, die Frage wegen Ebo's dagegen
mit feiner Sylbe berührt. Der Pabft fonnte eg nicht über fich ge—
winnen, dem Metropoliten felbft zu eröffnen, daß er für gut ge
funden habe, die Sache fallen zu laffen. So endete denn der lange
Streit, kurz nachdem er eine für Hinfmar fo gefährliche Wendung
genommen, auf eine Weife, die dem Metropoliten von Rheims
fehr erfreulich feyn mußte. Die Mäpigung Hadrian’s ift begreif-
lich. Unter den damaligen Umftänden durfte er nicht dreinfahren
wie fein Vorgänger.
Die übrigen von Nifolaus bedrängten Partheien benügten alg-
bald den Pabftmechfel um ihre Lage zu verbeflern. Der Chronift
von Rheims meldet: D Arfenius habe den abgefesten Bifchöfen
Gunther von Cölln und Thietgaud yon Trier den Rath ertheilt,
nad Rom zu eilen, und für eine große Summe verfprocen, ihre
Wiederherftellung bafelbft betreiben zu wollen. Sie traten im De—
cember 867 die Reife an, erreichten jedoch ihren Zweck nicht. Der
Pabft nahm zwar Thietgaud, wie oben erzählt worden, in bie
Kirchengemeinfchaft auf, aber das erfehnte Bisthum Trier gab er
ihm nicht zurüd. Thietgaud ftarb nach kurzem Aufenthalt in Rom
an einer Seuche. !) Ueber das Schickſal Gunther’s werden wir tiefer
unten berichten. Wie die beiden Bifchöfe, fuchte auch ihr Gebieter
König Lothar IL den neuen Pabft zu gewinnen. Er fand Mittel,
Thietberga zu bewegen, daß fie im leuten Monate des Jahrs 867
nad) Rom reiste, und dem Pabft den Wunfch vortrug, von Lothar
geihieden zu werben. ?) Hadrian wies zwar biefes Anfinnen zurüd,
und fchrieb 3) auch an den König, daß er die Scheidung nicht bes
willigen könne, dennoch gewann der Lothringer, von feinem Bruder
dem Kaifer unterflügt, in Nom Boden. Auf einen demüthigen, an
den Pabft gerichteten Brief, 9 worin er biefen feiner unbedingten
Ergebenheit verfichert, und die Bitte ausfpricht, der heilige Vater
möchte ihn menfhliher behandeln, als fein Vorgänger Niko:
laus gethan, antwortete ?) ihm Hadrian: „der Stuhl des heiligen
Petrus fey ſtets bereit eine würdige Genugthuung anzunehmen.
Wenn fih der König son den DBergehungen, deren ihn die Welt
1) Hincmari annales ad annum 867. Perz I., 476 Mitte. — ?) Id, ibid.
> — 3) Manfi XV, 833, — 9) Ibid,. 831 fig. — ?) Die Antwort des Pabfts
ift nicht mehr vollftändig vorhanden, aber in Auszügen theilt fie Regino Perz I.,
570 unten mit.
Die Päbfte Sergius II., Leo IV., Nikolaus I. ꝛc. 1049
bezüchtige, frei wife, fo folle er mit vollem Vertrauen nad Rom
fommen und den Segen empfangen. Selbft wenn er fich fehuldig
fühle, möge er zu Peters Schwelle eilen und feine Miffethat durch
Kirchenbuße fühnen.“ Bald darauf entband Hadrian Waldraden von
dem Banne, den Nikolaus wider fie gefchleudert, und meldete ihr
dieß in einem eigenen Schreiben. 1) Die Kirche, heißt es barin,
fönne fraft der Vollmacht, die Ehriftus feinen Apoſteln ertheilt, von
allen Sünden Iosfprechen, fobald der Sünder Neue bezeuge. Da
nun Waldrada, laut dem glaubwürdigen Zeugniffe des Kaifers
Ludwig IL, von ihrer frühern Unfeufchheit abgelaffen habe, ertheile
er ihr hiemit die Erlaubniß, die Kirchen zu befuchen, und mit andern
Chriften umzugehen. Doc habe fie wegen der Arglifi des Teufels
den Umgang mit Lothar gänzlich zu meiden. Zugleich meldete ?) er
auch den ofifränfifchen Biſchöfen die erfolgte Wiederaufnahme Wald:
- raden’s in die Kirchengemeinfchaft. Hadrian that fogar noch einen
andern Schritt zu Gunften Lothar's. Ermuthigt durch die Schwäche
des neuen Wabftes, fanden Ludwig der Teutfhe und Karl der
Kahle, wie vor fehs Jahren, bereit, über Lothringen hberzufallen,
was fie damals aus Furcht vor Nifolaus nicht zu vollſtrecken gewagt
hatten. Hadrian erließ daher im Februar 868 an den teutfchen
König ein Abmahnungsichreiben, ?) daß er fich nicht unterftehen
jolle, das Erbe des Kaifers Ludwig oder feines Bruders Lothar an:
zutaften; zugleih gab er dem Teutfchen Nachricht von den hohen
Berdienften, die ſich der Kaifer durch feine Siege über die Sara:
cenen um die Kirche erworben habe. Diefe gehäuften Gefälligfeiten
des römischen Hohenpriefters hatten zur Folge, daß der Lothringer
Hoffnung fehöpfte, durch perſönliche Bearbeitung vollends Alles was
er wünfchte, namentlich feine Scheidung von Thietberga. und Ber:
mählung mit Waldraden yon Hadrian zu erlangen. Mit anfehn-
lichem Gefolge reiste er im Sommer 869 nad) Stalien, wo fich der’
abgefeste Gunther an ihn anfchloß, und zog von Ravenna nad)
Benevent zu feinem Bruder dem Kaifer Ludwig. Durch große Ge:
ſchenke vermochte er die Gemahlin deffelben, Engelberga, zu dem
Verſprechen, ihren ganzen Einfluß beim Pabfte zu Lothar's Gunften
aufzumenden. Wirklich wurde Hadrian durch die Hebel, welche die
ı) Manfi XV., 8354 Mitte fig. — 2) Ibid, ©, 855 Mitte. — 3) Ibid,
S. 829 unten flg. |
1050 Sm, Buch. Kapitel 12.
Kaiferin in Bewegung feste, genöthigt, nad Monte Caſſino zu fom-
men, wo auch Engelberga mit ihrem Schwager eintraf. Obgleich
Lothar von Nikolaus nie fürmlih mit dem Banne belegt worden
war, betrachtete ihn doc, die Welt wie einen mit dem Fluche ber
Kirche Belafteten. Daher lag dem Lothringer vor Allem am Herzen,
diefen Schein zu entfernen. Unterhandlungen wurden gepflogen, in
Folge deren Habdrian erklärte, daß er bereit fey, dem Yothringifchen
Fürften das Abendmahl aus eigener Hand zu ertheilen, wofern
derfelbe durch einen Eid befräftigen würde, daß er, feit Waldraba
von Nikolaus gebannt worden, feinen fleifchlichen Umgang mehr
mit ihr gepflogen habe. Unbedenklich Teiftete Lothar den Eid und
empfing das Saframent. Daffelbe thaten viele Iothringifche Große,
als Eiveshelfer ihres Könige. Auch Gunther ward damals zur Laien:
Communion zugelaffen, nachdem er vorher gefchworen hatte, daß er
die Abfegung, welche Nikolaus über ihn verhängt, geduldig ertragen,
der römischen Kirche fi) unbedingt unterwerfen, auch nie mehr
nach einer geiftlihen Würde fireben wolle, wenn ihm nicht anders
der Stuhl Petri aus Mitleiden eine folche übertragen würde!)
Diefe Lothringer fpielten, wie man fieht, mit Meineiden als wären
es Kindereien. Lothar’s Zwed war nur zur Hälfte erreicht; er be=
gleitete daher den Pabft von Monte Caſſino nach Rom, um Weiteres
von ihm zu erlangen. Dort angefommen, erfuhr er die verächt-
Yichfte Behandlung. Wenn er eine Kirhe bejuchte, ließ fich Fein
Glerifer fehen, Feine Meffe wurde ihm gelefen. Durch reiche Ge:
fchenfe, welche er dem Pabſte machte, bewirfte er zulegt fo viel,
bag Hadrian zwei Bifchöfe nach Gallien abſchickte, um dort eine
neue Unterfuchung über Lothar’s Berhältniffe zu feinen beiden Frauen
anzuftellen. Im folgenden Jahre follte dann zu Nom eine Synode
gehalten, und je nach dem Berichte der beiden Bevollmächtigten ent=
fchieden werden. Ohne Zweifel hoffte Lothar diefe Gefandte durch
gleiche Mittel, wie im Jahre 863 Rhodoald, zu gewinnen. Die
Jahrbücher von Rheims berichten, er fey vergnügt von Nom ab:
gereist, um Über Lucca und Piacenza nah Haufe zurüdzufehren.
Aber in Piacenza, wo er am 6. Auguft 869 eintraf, überfiel ihn
1) Hincmari annales ad annum 869. Perz J., 481. In Reginos Chronik
(ibid I., 580 Mitte fig.) findet man auc die Reden, die bei diefem Abend:
mahle zwifchen Lothar, feinen Großen und dem Pabſte gewechfelt worden
feyn follen.
Die Pähfte Sergius II., Leo IV., Nikolaus I. x. 1051
ein beftiges Fieber, zwei Tage fpäter war er eine Leiche. Diefelbe
Seude raffte den größten Theil des Füniglichen Gefolges weg. ")
Das Volk fah in dem fchnellen Tode des Königs und feiner Großen
ein göttliches Strafgericht wegen der zu Monte Caffino gefchworenen
Meineide. 2) u.
Lothar hinterließ aus feiner Ehe mit Thietberga feine männ-
liche Nachkommenſchaft. Der rechtmäßige Erbe Lothringeng war
baher des Berftorbenen einziger Bruder, Kaifer Ludwig II. Aber
gegen bie Anfprüce deſſelben erhob alsbald Karl der Kahle
Waffengewalt. Durch die Saracenen in Unteritalien bejchäftigt,
fonnte Ludwig fein Tothringifches Erbe nicht befchügen. Dagegen
verfuchte dieß mit geiftlihen Waffen der Pabft, dem vielleicht minder
fein hohenprieſterliches Amt, als die politifchen Verhältniffe, in wel-
chen er zu Ludwig fand, die Pflicht auferlegten, des Kaifers Rechte
zu wahren. Gleich nad) Lothar's Tode fchrieb er ?) an die Großen
des Tothringifchen Reiches, daß fie als Gebieter Hinfort nur den
Kaifer Ludwig anerkennen follten, welcher der rechtmäßige Erbe des
verftorbenen Königs fey. Im September %) ordnete er fodann eine
Geſandtſchaft nach Neuftrien ab mit Briefen an den hohen Abel,
an die Bifchöfe des Landes, und insbefondere an den Metro:
politen Hinfmar von Rheims. In erfterem Schreiben °) ſchildert
er zunächft die großen Dienfte, welche der tapfere Kaifer Ludwig
durch Bekämpfung dev Saracrenen der gefammten Kirche erwieſen
habe. Hieran knüpft er die Aufforderung, ihrem Könige zu Ge:
müthe zu führen, wie firafbar es wider Gott und die Kirche
gehandelt wäre, wenn Karl der Kable fi an dem rechtmäßigen
Erbe eines ſolchen Fürften vergriefe. Würde Einer yon ihnen, fährt
ber Pabft fort, eine fo ſcheusliche That wüthender Ehrfucht unters .
ftügen, fo folle er mit dem Fluche beladen und als ein Genoffe des
Zeufeld behandelt werden. In gleichem Sinne fchrieb %) Habdrian
an die neuftrifchen Bifchöfe. Auch fie bedroht er mit dem Banne,
wenn fie den König nicht yon dem Naube zurüchielten. Der Brief ”)
an den Metropoliten von Rheims beginnt mit der Erinnerung, daß
!) Hincmari annales ad annum 869. Perz I., 482 Mitte. — ?) Chro-
nicon Reginonis bei Perz I., 581 obere Mitte, — ?) Manft XV,, 837 unten
flg. — ) Sämmtliche Briefe , welche der Pabft diefer erften Gefandtfchaft mit-
gab, find unter dem 5. September 869 gezeichnet, — 5) Manſi XV., 839
fig. — °) Ibid. ©. 841. — ?) Ibid. ©. 822.
1052 ER II, Buch. Kapitel 12.
Hinfmar mit dem frommen Pabft Nikolaus in vertraulihem
Berfehre geftanden habe. Er ertheilt ihm fodann Nachricht von
allen zu Gunften des Kaifers eingeleiteten Maaßregeln, und fpricht
das Vertrauen aus, Hinfmar merde in biefer wichtigen Sadje
den Wünfchen des Stuhles Petri gemäß verfahren, wofür er ber
freundlichften Gegendienfte verfichert feyn bürfe,
Allein während Hadrian fchrieb, hatte Karl der Kahle ge:
handelt und zugegriffen. Noch bei Lebzeiten Lothar’s war eine be:
deutende Parthei der lothringiſchen Großen von ihm gewonnen
worden. Unmittelbar nah dem Eintreffen der Botfchaft vom Ab:
leben des Königs, fiel er mit gewaffneter Hand in Lothringen ein,
und bemädhtigte fih des Reiches mit Hülfe der Verſchworenen.
Den 9. September ward er zu Mes gekrönt, und zwar werrichtete
diefe Handlung Hinfmar, als Fünftiger oberſter Metropolit des
ganzen vereinigten Staats, jedoch wahrte er die Nechte des Biſchofs
der Stadt, Adventius, durd) eine befondere Erklärung. ) Das
Werk war vollbradht, als die römiſchen Geſandten am neufts -
rifchen Hoflager anfamen. Der König fpeiste fie mit kahlen Aus-
flüchten ab. ?) Weder er felbft, noch Hinfmar, noch die neuftrifchen
Biſchöfe oder Großen, antworteten auf die Briefe des Pabſts.
Nicht abgeſchreckt Durch den fchlechten Erfolg der erften Gefandt-
haft, ſchickt Hadrian im Sommer 870 eine zweite nach Gallien.
Sie überbrachte dem Könige einen Brief, ?) der bittere Wahrheiten
enthielt. Der Pabft beginnt mit dem Satze: „damit nicht bie Aus—
fprüche der Propheten (Jeſaias 56, 10.) wie ffumme Hunde
find fie, die nicht bellen können, und (Ezech. 34, 2.) wehe
den Hirten Iſrael, die fich felbft weiden auf ung ange:
wendet werden mögen, müffen wir Euch, für den wir einft vor
Gottes Richterſtuhle Nechenfihaft zu geben haben, ernitlihe Vor-
ftellungen wegen Eures Betragens machen.“ Er rügt fofort, daß
Karl allen menfhlihen und göttlichen Geſetzen zuwider das Eigen:
tum des Kaifers angetaftet habe, er erinnert Karl an den Brief,
den dieſer einft, da das neuftrifche Neich von Ludwig dem Teutfchen
angefallen worden, hülfefuchend an den Stuhl Petri erließ. Das
N) Befchreibung des Afts Hincmari annales bei Perz I., 485 flg. Aus
führlicher Hincmari Opp. J., 744 flg. — 2) Hincemari annales ibid. Perz I,
486. — 3) Manft XV., 843.
Die Päbſte Sergius II., Leo IV., Nikolaus I, ꝛc. 1053
Unrecht, das ihn damals fo fehr ſchmerzte, habe er jett felbft bes
gangen. Karl fpredhe zwar, führt der Pabft fort, in früheren
Schreiben viel von feinem kindlichen Gehorfam gegen die römifche
Kirche, aber daß dieß eitel Heuchelei fey, erhbelle daraus, weil er
die päbftlichen Botfchafter des vorigen Jahres mit leeren Nederisarten
fortgefchiet, und auf die damals überlieferten Briefe bis jetzt gar
nicht geantwortet habe. Hadrian fchließt mit dev Drohung: wenn
Karl auch diefe legte Mahnung verachtend, den Raub nicht alsbald
zurüdgebe, werde er alle Macht feines Stuhles gegen ihn brauchen,
Aehnlihe Klagen wiederholt er in zwei andern, an die Bifchöfe
und weltlichen Großen Neuftriens gerichteten Schreiben; ) er wirft
ihnen vor, daß fie mit völliger Mißachtung der apoftolifchen Er:
mahnungen des legten Jahrg, die fie nicht einmal einer Antwort
gewürdigt, den meineidigen Gewaltftreihen ihres Gebieters feinen
Einhalt gethan, und dadurch fich felbft und dem Könige die Strafen
der Hölle zugezogen hätten. Würden fie auch jest nicht alles auf:
wenden, um den König auf den Pfab der Gerechtigfeit zurückzu—
führen, fo erklärt er ihnen, daß er, der Pabft, felbft über die Alpen
ziehen und die Berächter des Stuhles Petri beftrafen werde. Einen
noch höheren Ton flimmte er in einem vierten Briefe ?) an, den
bie Geſandten dem Erzbifchofe von Rheims zu überliefern hatten:
Wäre Hinfmar irgend Deffen eingedenf, was er Gott und dem
apoftolifchen Stuhle verdanfe, oder nähme er Wohl und Wehe feines
Nächſten ebenfo zu Herzen, wie fein eigenes, fo würde ihn längſt
entweder die Liebe zu Gott, oder die Furcht vor der Hölle aus
dem Schlummer der Trägheit aufgerüttelt und vermocht haben, dem
Könige die ernftlihften Ermahnungen vorzuhalten; fo aber müffe
er, der Pabft, leider bemerfen, daß Hinfmar gleich fo vielen andern
Hirten dem Beifpiele jener Miethlinge nachahme, die, fobald fie
den Wolf fommen fehen, Davon fliehen, und ihre Heerden im Stiche
laffen. Niemand wiſſe beffer als Hinfmar, wie die Söhne des
alten Kaifers Ludwig (des Frommen) bei der Theilung des Reichs
(fraft des Verduner Vertrags) ſich eidlich gegen einander verpflichtet
hätten, daß Feiner das Erbe des Andern antaften wolle. Dieſer
Eid fey von dem Könige durch die That des lebten Jahrs ſchmäh—
ih verlegt worden. Dadurch daß Hinkmar zu folchem Unrecht
') Ibid, 845 und 847 unten. — 2) Ibid, 846 Mitte fig.
1054 II, Bud. Kapitel 12.
gefchwiegen, habe er Antheil an demfelben genommen, ja, was
noch ärger, es fcheine gar, als ob er der Urheber deſſelben fey.
Hadrian befiehlt ihm fofort bei Strafe des Banns, den König zu
unyermweilter Nüdgabe des Naubs aufzufordern. Würde Kark- den
Gehorfam verweigern, fo folle der Metropolit alle Gemeinſchaft
mit ihm meiden, auch den König, gemäß der Vorfchrift des Apoftels,
(2 Johannis 10) nicht mehr grüßen. Er erflärt fodann, daß er,
im Falle der König fi) nicht beffere, feinen Gefandten auf dem
Zuge zu folgen, und perſönlich über die Uebelthäter nad) der
Eingebung des heil. Geiftes die verdiente Strafe zu verhängen ge-
denfe. Am Schluffe fündigt er dem Erzbiſchofe an, daß die Ge-
fandten, welche biefen Brief überbräcdten, mit geheimen Auf:
trägen für ihn ausgerüftet feyen. Der Pabft war, wie man ſieht,
feft entfchloffen, die Neife nad Frankreich anzutreten, wobei ihm
die That !) feines Vorgängers Gregorius IV. ald Vorbild vorgefchwebt
feyn dürfte. Die Geſandtſchaft hatte Befehl erhalten, auch Teutſch⸗
and zu beſuchen, und dem Könige Ludwig ein Schreiben ?) zu über:
reichen, welches dem teutichen Fürſten reichliches Lob deßhalb ſpendet,
weil er nicht, wie der Neuftrier, fremdes Gut an fich geriffen Habe.
Noch war ein Brief ?) an die teutfchen Bifchofe beigefügt, in welchem
fie aufgefordert werden, ihren König zu ermahnen, daß er der bie:
her bewiefenen Mäßigung treu bleibe. Wir werben gleich fehen,
wie wenig die Teutichen das pabftlihe Lob verdienten.
Die Gefandten wandten fi zuerft nach Aachen, wo fie eine
furze Unterredung mit Ludwig dem Teutfchen hatten, von da giengen
fie Ende November 870 nad St. Denis, wo damals Karl der
Kahle und der neuftrifhe Hof weilte. Zu fehr heftigen Auftritten
muß es dort zwifchen ihnen und dem Könige gefommen feyn. Die
Sahrbücher yon Nheims melden: *) die Gefandten hätten dem Neufl-
vier während des Gottesdienſtes auf fürchter liche Weife Loth—
ringen abgefprochen. Sie fchleuderten demnach, wie es ſcheint, den
Bann gegen den König, im Fall derfelbe nicht augenblicklich ben
Raub herausgeben würde. Aber weder König noch Volk wollte
auf die Eroberung verzichten. Hinkmar erhielt den Auftrag, die
Anfichten feiner Nation über bie römifhen Zumuthungen dem: Pabft
Pr
1) Siehe oben S 76 fig. — ?) Manfi XV., 818 Mitte fig. — ®) Ibid.
849 unten fig. — *) Ad annum 870 Perz J., 490 gegen unten.
Die Pähfte Sergius IT, Leo IV., Nikolaus 1. x. 4055
darzulegen, was er mittelft einer Staatsfchrift ) bewerfftelligte, die
wir für eine der wichtigften Urkunden des neunten Jahrhunderts halten.
Er beginnt mit Entfchuldigungen darüber, daß er auf den neulichen
Brief des Pabſts nicht fehrifilich geantwortet habe. Die fey, fagt
er, nicht aus Verachtung des Stuhles Petri gefchehen, fondern weil
der Pabft ihm blos gefchrieben, was fein Befehl fey, nicht aber
daß er eine fhriftliche Antwort erwarte, habe er, Hinfmar, ges
glaubt, es genüge, wenn er durch die Gefandten mündlich zu:
rückſagen Yaffe, daß er Alles, was im feinen Kräften fiehe, thun
wolle, um den Willen des Pabſts zu vollfiveden. Auch babe er,
diefem Berjprechen gemäß, die von Nom erhaltenen Befehle ben
beiden Königen (Ludwig dem Teutfchen und Karl dem Kahlen) pünkt—
lich mitgetheilt, aber den Beſcheid erhalten, daß die Vereinigung.
Lothringens mit den andern Reichen ?) eben fo großem Unglüd
vorbeuge, als das gewefen fey, welches über Francien nad) Ludwig’s
des Frommen Tode eingebrochen. Karl der Kahle begründe die
Rechtmäßigkeit feiner Anſprüche durch eine behauptete Schenkung
feines Vaters Ludwig, welche auch der verftorbene Lothar J., Karl's
Bruder, eidlich bekräftigt habe, und ba das Gegentheil noch von
feinem weltlichen oder geiftlihen Gerichtshof erwiefen worden fey,
habe er, Hinfmar, fih unmöglich herausnehmen können, als Kläger
und Richter feinem Könige entgegenzutreten. Soweit fpricht der
Metropolit in feinem eigenen Namen, aber von nun an braucht ex
mit ausnehmender Feinheit den Kunftgriff, Andere reden zu Yaffen.
„Als ich,“ fährt er fort, „einer Berfammlung weltliher und geiftlicher
Herren, bie aus den verfchiedenften Gegenden des Neichs fich bei
mir in Rheims einfanden, Euer Verlangen vortrug, daß ich, wo-
fern Karl nicht nachgebe, Feine Gemeinfchaft mehr mit ihm Haben
und ihn nicht einmal mehr. grüßen follte, urtheilten diefelben, nie-
mals ſey ein folder Befehl irgend einem meiner Vorfahren ertheikt
worden, felbft nicht zu den Zeiten, ba blutige Zwietradht in dem
Töniglichen Haufe mwüthete, und Söhne gegen Vater, Brüder gegen
Brüder kämpften. Ich mußte es daher als ein Strafgericht für
meine Sünden anfehen, dag Ihr mir allein mit dem Banne drohtet
— — — —
1) Abgedruckt Hinemari Opp. IT., 689 fig. — 2) As nämlich Hinkmar
das Schreiben erließ, war Lothringen bereits zwiſchen Ludwig dem Teutſchen
und Karl dem Neuſtrier getheilt.
1056 | IIT. Buch. Kapitel 12.
während Ihr die andern Biſchöfe mit einer ſolchen Zumuthung ver-
ſchontet. Ferner bemerften jene Männer: nie fey irgend einer der
Bischöfe Lothar’s, der doch in öffentlichem Ehebruche lebte, auf ähn-
liche Weife vom Stuhle Petri bedroht worden; auch hätten ſich nie
römifhe noch andere Hirten der Gemeinfchaft mit ketzeriſchen oder
tyrannifhen Fürften entzogen. Und wenn ich auch dem Könige
abfagte, würde dieß zu Nichts Anderem führen, als daß die übrigen
Bischöfe mit mir brachen, zumal da der König der wider ihn er-
hobenen Beſchuldigungen weder geftändig noch überwiefen fey. End:
lich führten fie aus der Geſchichte an, daß die älteren Päbſte fich
ganz anders gegen Karl's Föniglihe Ahnen benommen hätten, wie
z B. Stephan II. gegen Pipin, Hadrian L und Leo III gegen
Karl den Großen, Stephan IV. gegen Ludwig den Frommen, daß
Pipin die Langobarden nicht vermittelft päbſtlicher Flüche, fondern
durch das Schwert überwunden habe, daß Gregor IV., als er fi
von dem wider feinen Vater empörten Lothar verleiten ließ nad)
Sranfreih zu fommen, übel heimgefchieft worden fey, daß über:
haupt die Reiche diefer Welt nicht durch Bannſprüche der Päbſte
und anderer Bifchöfe, fondern durch Kriege und Siege erworben
und befeftigt würden. Auch beriefen fie fi) auf-den Ausfpruc der
Bibel: das Reich ift des Herrn, durch Ihn herrſchen die
Könige, und Er gibt die Herrfhaft, wem Er will.
Wenn ich nun denfelben entgegenhielt, und ſprach: woher ſtammt
Krieg und Streit unter Euch? find nicht die Begierden daran
fhuld, die in Euren Gliedern fi) regen? wenn ich weiter hervor
bob, daß Chriftus dem Apoſtel-Fürſten Petrus und feinen Genoffen
und Nachfolgern die Gewalt zu binden und zu löſen anvertraut
babe, und daß das Reich vom Heren erbeten werden müſſe, dann
antworteten fies nun fo vertheidiget das Land gegen die Feinde mit
euren Gebeten, und fordert feine Hülfe von und. Der Pabſt
fann nicht König und Priefter in einer Perfon feyn,
auch haben feine Borgänger blos mit firhliden An-
gelegenbeiten, deren Leitung ihnen allein zufteht,
nicht mit Staatsgefhäften, welde Sade der Könige
find, fih befaßt; Darum bitte bu Hadrian, daß er ung
feinen Herrfher aufbränge, der wegen ber weiten
Entfernung uns niht gegen die plögliden Einfälle
der Heiden und Norbmannen zu ſchützen vermag, ſo
Die Päbſte Sergius I., Leo W., Nikolaus J. ıc. 1057
wie daß er feine fflavifhe Unterwürfigfeit von ung
verlange; denn nie haben feine Borgänger unfern
Ahnen ein folhes Joh auferlegt, auch könnten wir
Daffelbe nicht ertragen, da wir wilfen, daß in den
heiligen Büchern fteht, wir Sranfen feyen dazu beru:
fen, für die Freiheit und unfer Erbe bis in den Tod
zu ftreiten. Wenn ein Biſchof wider das Recht einen Chriften
mit dem Banne belegt, fo entäußert er fich felbft des Bindefchlüffels,
das ewige Leben aber fann er Keinem nehmen, der es nicht Durch
feine Sünden verſcherzt. Auch ift es unſchicklich zu gebieten, daß
ein Chriſt, nicht wegen eines ſchweren Verbrechens, fondern um ein
irdifches Reich dem Einen zu geben dem Andern zu nehmen, aus der
Gemeinſchaft geftoßen, und dem Teufel überantwortet werde, von deſſen
Gewalt doch der Erlsfer alle Glaubigen befreit hat. Iſt es dem
Pabfte um Frieden zu thun, fo möge er ſich vor Zwietracht hüten,
denn nimmermehr werden wir glauben, daß wir nur dann in das
Reich Gottes gelangen Fünnen, wenn wir Diejenige zu Königen ats
nehmen, die Hadrian ung empfiehlt,“
„Noch hätten,“ fügt Hinfmar bei, „iene Männer mandes Anz
dere über Eide, Meineide, Bündniſſe der Könige, Tyrannei u. ſ. w.
bemerkt, womit er den Pabft nicht behelligen wolle.“ Bon Nun an
fpriht der Metropolit wieder im eigenen Namen. Er erklärt, daß er,
weil fein Sprengel im neuftrifchen Gebiete Tiege, die Gemeinfchaft
des Königs unmöglich meiden fünne, ohne feine Gemeinde wie ein
Miethling zu verlaffen. Er zeigt weiter theils aus dem Beifpiele
Jeſu, der ja mit Zöllnern und Sündern gegeffen, theils aus bibli-
ſchen Gleichniſſen, daß böſe Menfchen in der Kirche geduldet wer:
ben müſſen, wenn man fie nicht gerichtlich wegfchaffen könne,
auch Auguftin Iehre ja, daß außerlihe Gemeinfchaft mit Schlimmen
Niemand beflede. „Da ih nun,“ fährt er fort, „mich von dem
feften Felſen der Fatholifchen Einheit nicht trenne, auch Eurem Be—
fehle gemäß in Gegenwart Eurer Gefandten dem Könige fo ſtarke
DBorftellungen machte, daß derfelbe mir ins Geficht fagte, wenn ich
längeren Widerftand leiſte, möge ich wie bisher in meiner Kirche
fingen, aber Gewalt über Land und Leute werde er mir neh- -
men: fo glaube ih, meine Pflicht erfüllt, und Teinen Anlaß zur
Ausſchließung gegeben zu haben. Uebrigens dürfe,“ erinnert er
Hadrian, „ſelbſt bei offenkundigen Sündern, gemäß der Lehre des
Gfrörer, Kircheng. II. 67
x
1058 II. Buch. Kapitel 12.
großen Gregorius, die Macht zu binden und zu löſen, die im Grunde
allen Bischöfen zuftehe, nur mit großer Vorfiht angewendet wer-
den.“ Auf ſolche und ähnliche Gründe geftügt, wiederholt er ben
Wunfh, der Pabft möchte ihn mit Zumuthungen verfchonen, durch
welche die bifhöflihe Gewalt zum größten Nachtheile der Kirche
mit dem Königthum in unabfehbaren Streit gerathen müffe, und
fpricht zulegt die Hoffnung aus, Hadrian werde biefe demüthigen
Borftellungen mit eben der Güte aufnehmen, mit welcher der Exfte
der Apoftel nicht nur die Zurechtweifung feines geringeren Mit
apoftels, fondern auch die Frage Untergebener, warum er mit ben
Heiden Umgang pflege? ſich habe gefallen laſſen. Der fonftige In—
halt des Schreibens bezieht fih auf die Sache des jüngern Hink—
mar, son welcher unten gehandelt werben foll.
Mit großer Borfiht hat der Nheimfer Metropolit, wie man
ſieht, die fchwierige Aufgabe, die ihm zu Theil geworben war,
behandelt. Nichts that er auf eigene Fauſt, fondern er berief an—
gefehene Männer aus weltlihem und geiftlihem Stande zu fid,
und legte ihnen bie päbftlichen Forderungen vor. Was fie fagten,
hreibt er nah Nom, auch fpielte er dem Könige gegenüber die
Rolle eines pabftlihen Dieners, und drang auf Erfüllung der von
Hadrian gemachten Forberungen. Gleichwohl ift nicht zu verfennen,
daß er Letzteres nicht in vollem Ernſte that, und noch mehr, daß bie
Grundfäge, melde er der VBerfammlung in Mund Iegt, von ihm
jelbft getheilt wurden. In dieſem Lichte betrachtet 7) den Brief auch
Baronius, der mit harten Worten gegen Hinfmar losbricht, in-
dem er ihn als einen Fürftenfnecht und unheiligen Politifer brand:
markt. Wirklich ftellt die Urfunde dem päbſtlichen Staats- und
Kirchen-⸗Recht ein fränfifches entgegen, das in Rom unmöglich
gefallen Fonnte, aber, wie wir glauben, den Geift germanifcher
Nation wahr und treu abfpiegelt. Zu Erklärung einzelner Stellen
ſey e8 ung erlaubt, einige Bemerkungen beizufügen. Der Sas
von Gregor’s IV. Reife nach Teutfchland ift ſichtlich darauf berech—
net, den angekündigten Entjchluß Hadrian’s, daß er felbft über die
Alpen herüberfommen wolle, rücdgängig zu machen. Es ift als ob
Hinkmar zu dem Pabfte fpräche: wenn Ihr durchaus reifen wollet,
jo reifet immerhin, aber vorher bedenfet, wie man Euch nach Haufe
') Annales ecclesiastici ad annum 870, Nro, 21 flg.
Die Päbſte Sergius IL, Leo IV., Nikolaus I, ıc. 1059
ſchicken wird. Schwierig ift die Beziehung der Worte: „in den heiligen
Büchern ftehe gefchrieben, daß die Franken bis in den Tod für bie
Freiheit und ihr Erbe ftreiten müßten.“ Deuten fie etwa auf jene
allgemeinen Ausfprüche Pauli über geiftige Freiheit bin, wie Gala-
ter V, 1. und 13., wo der Apoftel den Chriften zuruft, fie feyen zur
Freiheit berufen und follen in derfelben beftehen? oder darf man
annehmen, daß die Franken, welche Hinfmar fprechen läßt, bie
Borzüge auf ſich bezogen, die im alten Teſtament dem erftien ber
israelitifchen Stämme, Juda, zugefprochen werden, wie in dem
Segen Jakob's, wo es heißt: (Genes. 49, 10.) der Scepter werde
nicht weichen von Juda noch der Gefeßgeber aus feinem Stamme,
bis der Meſſias komme; wie in dem Segen Mofts, wo der Herr
gebeten wird, Juda zum Fürften in feinem Volke zu machen und
zu bewirfen, daß alle feine Feinde ihm unterliegen, (Deuteron.
XXXIH, 7.) oder wie im Buche der Richter (I, 1. 2.) wo Juda
durch das Loos Befehl empfängt, den Kindern Israel voranzuziehen
und das gelobte Land zu erobern. Jedenfalls durchweht die frag:
liche Stelle ein hohes Nationalgefühl, von dem wir fpäteren Deut:
fchen feine Ahnung mehr haben.
Nachdem Hinfmar diefe Erflärung abgefertigt hatte, war der
Hauptzweck dev päbftlihen Geſandtſchaft verfehlt. Die Botfchafter
zettelten indeß an dem neuftrifchen Hofe eine Intrike an, welche
über ihre geheimen Aufträge, deren die Briefe des Pabſtes
gedenken, einigen Aufichlug gibt. Es ift eine in der Gefchichte der
fpateren Carolinger fehr häufige Erfcheinung, daß Söhne der Herr:
fcher wider den Bater oder die Brüder fich empören. Diefe Regel
wiederholte fih auch im Haufe Karls des Kahlen. Der neuftrifche
König hatte einen nachgebornen ) Sohn Karlomann,, den er für
den geiftlichen Stand beftimmte, ſchon im Jahre 854 zum Mind
fheeren ließ 2), und ſeitdem mit einer Neihe der fetteflen Abteien
ausftattete ). Aber der Prinz firebte nach hohen Dingen und ftand
wider feinen Vater auf, weßhalb er, furz ehe die päbſtlichen Gefand-
ten an den neuftrifhen Hof famen, auf Karl’s Befehl feiner Ab:
teien entfegt und in's Gefängnig geworfen ward °). Die Gefandten
N) Reginonis chronicon ad annum 870, Perz I., 583. — ?) Hincmari
annales ad annum 854, Perz I,, 448 unten, — 3) Idem ad annum 870,
Perz I,, 487 unten,
Gr"
1060 IH, Buch. Kapitel 12,
benügten alsbald die fehöne Gelegenheit, Zwietracht im königlichen
Haufe zu fliften. Sie festen Karl dem Kahlen fo lange mit Bitten
zu, bis er den Prinzen thörichter Weife wieder frei gab.) Bald
darauf reisten die Gefandten in ihre Heimath ab. Kaum war dieß
geſchehen, als Karlomann heimlich vom Hofe entflob, das Banner der
Empörung aufpflanzte und mit einem Haufen Kriegsvolk, das er
gefammelt, die greulichften Berheerungen anrichtete. ) Sofort z0g
der König gegen ben pflichtvergeffenen Sohn zu Feld und forberte
überdieß bie. Bifchöfe des Reiches auf, den Bann über ihn auszu—
ſprechen, was auch geichah. ) Aber nun appellirte Karlomann an
den Pabft und Hadrian ermangelte nicht, fich aufs Fräftigfte des.
Prinzen anzunehmen. Er erlieg im Jahr 871 mehrere Briefe an
die weltlichen Großen, die Bifchöfe und den König Neuftriens. An
die Erfteren fehrieb ®) er: die Nachricht fey ihm zu Ohren gefom:
men, daß Karl ärger als ein wildes Thier wider feinen eigenen
Sohn wüthe, fie follten Frieden zwifchen Beiden ftiften, und in
feinem Fall die Waffen wider Karlomann ergreifen. Wofern fie nicht
gehborchen würden, bedroht er fie mit Bann und ewiger Verdamm—
niß. Den Bifhöfen unterfagte % er, etwas gegen den Prinzen zu
unternehmen, ehe der Stuhl Petri feine Sache unterfucht haben
würde. Noch härter fuhr ?) er wider den König felbft los: „Zu
den Ausfchweifungen der Habjucht,“ fchreibt er, „mit welder Du
fremdes Gut Dir zueigneft, haft Du nun auch das Berbrechen un:
natürlicher Graufamfeit gefügt, indem Du deinen eigenen Sohn
aus dem Reiche verjagteft, und was noch abjcheulicher, mit dem
Banne beladen ließeſt. Da derfelbe durch Gefandte an ung appel-
lirt hat, fo verbieten wir Div, kraft unferes apoftolifchen Amtes,
ferner deinen Sohn zum Zorne zu reizen. Du folft ihm vielmehr.
Alles Entriffene zurücdgeben und warten, bis meine Gefandte an-
gelangt find, welche verfügen werden, was Rechtens ift,“ uf. w.
Der Streit über Karlomann's Sache z0g ſich noch in's nächſte Jahr.
hinein. Ausgang 872 farb jedoch Hadrian II., wenige Monate,
jpäter feste der König, ber indeß Karlomann in feine Gewalt:
befommen hatte, zu Senlis ein Gericht nieder, um ein Urtheil zu.
!) Idera ibid, Perz I,, 490 gegen unten. — ?) Idem ad annum 871
Perz I., 491, — 3) Mansi XV., 851. .— 9 Ibid, — 5) Ibid, ©, 850,
Mitte, |
Die Päbſte Sergius IL., Leo IV., Nikolaus I. ꝛc. 1061
fällen. Er wurde zum Tode verurtheilt. Der Vater änderte jedoch
die Strafe dahin, dag er dem Prinzen die Augen ausftechen ließ. *)
Das die Empörung Karlomann’s mit den päbſtlichen Gefandten
verabredet und größtentheils ihr Werk war, geht aus den ftärfften
Anzeigen hervor. Durch fie erhielt er die Freiheit, gleich nach ihrer
Adreife bricht er Iog, und wird fofort vom Stuhle Petri wider den
Bater geſchützt. Noch mehr! ein neuftrifcher Bischof, der jüngere
Hinfmar von Laon, welcher erklärter Schildträger der römifchen
Parthei im neuftrifchen Reiche war, macht, wie wir tiefer unten
zeigen werden, alsbald nach dem Beginn des Aufftandes gemeine
Sache mit dem Prinzen. Bedarf es weiterer Beweife dafür, daß der
Prinz von Nom aus bearbeitet worden it? Offenbar hatte Hadrian
darauf gerechnet, mittelft Anftiftung eines Bürgerkriegs den Neu:
firier zur Nachgiebigfeit zu nöthigen. Aber auch diefe Hoffnung
ſchlug fehl.
Dem Pabſte Nifolaus war Hauptfächlich deshalb Alles gelun—
gen, weil ſich ihm in die Wette die Einen der fränfifchen König als
Bundesgenoffen wider die Andern anboten. Sein Nachfolger da—
gegen erreichte in Lothringen nichts, weil ihm das gleiche Mittel
nicht zu Gebote ftand. Hätte Hadrian die Habfucht des Neuftriers
durch die Eiferfucht des Teutfchen zu dämpfen vermocht, fo mußte
Karl der Kahle nothgedrungen nachgeben. Allein die Erwartung,
welche der Pabft in dem obenangeführten Schreiben ?) ausfpricht, daß
der teutfche König auf Vergrößerung verzichten werde, erwies fich
als irrig. Noch ehe die yabftlihen Gefandten im Sabre 870 die
Alpen überftiegen, war zwifchen Karl und Ludwig dem ZTeutfchen
ein Bertrag über die Theilung Lothringens abgefchloffen worden,
welcher die Plane des Pabſts durchfreuzte und ihn zwang, das
Unvermeidliche ruhig gefehehen zu Yaffen. Der ebengenannte Ber:
trag ?) fam den 8. Auguft des Jahrs 870 zu Stande, Kraft
deffelben wurden die Bisthümer Bafel, Straßburg, Utrecht, Dies,
die Erzbisthümer Cölln und Trier, fammt allen zu ihnen gehörigen
Städten, Dörfern und Stiftern zum germanifchen Reiche gefchla:
gen: eine herrliche Ermwerbung, theils wegen ihrer Größe und
Truchtbarfeit, theils weil in den neuen Landen lauter teutfche Ein-
») Hincmari 'annales ad annum 873, Perz I, 495 oben. — 2) Siehe
oben ©. 1054. — 9) Abgedruckt bei Baluzius Capitul. II, 221 Mitte fig.
1062 II. Buch. Kapitel 12.
wohner Yebten. Der romaniſche Theil des ehemaligen Yothringifchen
Staats fiel an Neufter. Zu den drei Erzftühlen, welche Ludwig's
des Teutfchen Antheil vorher umfaßte — Mainz, Salzburg, Ham:
burg:Bremen, waren zwei hinzugefommen, fo daß fich jetzt die ganze
Zahl auf fünf befief. Uebrigens willigte Karl der Kahle nur noth:
gedrungen in die Theilung, denn Ludwig der Teutſche hatte ihn
zuvor mit Krieg bedroht, und gleich nad Lothar's IL. Tode nicht
ohne glücklichen Erfolg eine Parthei in Lothringen zu gewinnen
geftrebt, wobei abermals offenbar wurde, wie bie fränfifchen Könige
einander ihre Bifchöfe verführten. Bis 869, dem Todesjahre Lo-
thar's 1I., verwaltete das Cöllner Erzflift, als Gunther’s Stellvertre-
ter, deſſen Bruder Hilduin, von weldem wir oben berichtet. )
Kaum war jedoch die Nachricht vom Ableben des Lothringer’s nad
Zeutfchland gefommen, fo bewirkte Ludwig der Teutfche durch feine
Sntrifen, daß Hilduin verdrängt und der Presbyter Willibert vom
Bolfe und Clerus zum Metropoliten Cöllns erwählt wurde. Zu
Anfang des Jahrs 870, mehrere Monate vor Abfchlug des oben
erwähnten Theilungsvertrags, Fam der Erzbifchof Liutbert von Mainz
auf Befehl des teutfchen Königs nach Cölln und ertheilte dem Ge:
wählten — wider den Willen Karls des Kahlen — bie
firchlihe Weihe. *) Vergeblich erhob Pabſt Hadrian in dem Briefe,
welchen er im Juni 870 an Ludwig den Teutfchen erließ, Einfpradhe °)
gegen Willibert’d Ermählung: der Staatsvertrag zwiſchen Karl und
Ludwig, der, wie wir fagten, im Auguft unterzeichnet ward, befe-
ftigte die Gewalt des neuen Erzbifchofs, weil Cölln zum Gebiete
des teutihen Königs gehörte. Zwar fehlte nicht viel, daß Ludwig
feinen Antheil von Lothringen im Jahr 872 freiwillig wieder auf:
gegeben hätte. Die Jahrbücher von Rheims melden *) nämlich:
der teutfhe König ſey duch die Zureden Ingelberga's, der Gemab:
lin des Kaifers Ludwig IL, dahin gebracht worden, daß er fih
bereit erklärte, die ihm zugefallenen Theile des lotpringifchen Gebiets
an den Kaifer abzutreten. Der Chronift mißbilligt den Entſchluß
des Königs als einen Meineid gegen Karl den Kahlen und bie
D) Seite 998. — 9) Die Beweife in der Gallia christiana der Saint Marthe IIT.,
642, Ausdrücklich bemerkt Flodoard, daß Willibert Carolo Calvo nolente
geweiht worden fey. — ?) Mansi XV., 849. — 9) Hincmari rhemensis an-
nales ad annum 872, Perz L. 493 unten flg.
Die Päbfte Sergius I., Leo IV., Nitolaug 1. ꝛc. 1063
lothringiſchen Bifchöfe, welche die Parthei der Teutfchen ergriffen
hatten und num der Rache des beleidigten Kaifers preisgegeben
ſchienen, er vergißt jedoch, den Preis zu bezeichnen, um melden
der Teutfche fi zur Abtretung verftanden habe. Allein die zwifchen
Ludwig und der Kaiferin verabredete Maaßregel ift nie vollzogen
worden, denn in einer öffentlichen Urkunde aus dem Jahre 873, von
welcher tiefer unten Mehreres gejagt werden foll, erfcheint Ludwig
der Teutfche als Landesherr der Iothringifchen Bisthümer, die durch
die Theilung vom Auguft 870 fein Eigentbum geworden waren,
und biefelben blieben vorerft beim teutfchen Reiche. Die Gefahr,
welche dem neuen Erzbifchofe Cölln's von biefer Seite drohte, gieng
daher fpurlos vorüber. Dagegen mußte Willibert, um fich den
ruhigen Beſitz feines Stuhls zu fihern, dem niederen Clerus des
Sprengeld Zugeftändniffe machen, welde für die ganze Kirche
große Wichtigfeit erlangten, aber ſchon Yängft vorbereitet waren.
Bon den älteften Zeiten an galt der Grundfas, daß den Bifchöfen
allein die oberfte Verwaltung der Kirchengüter gebühre. Durch Eins
führung des canonifchen Lebens unter Karl dem Großen war bie-
jes ihr Recht noch mehr befeftigt worden, denn ſeitdem verhielten
fich die Mitglieder des niedern Klerus zu den Bifchöfen, wie Klofter-
mönde zu den Aebten. Aber der Umfturz der von Karl'n gegrün—
deten Firchlichen Berfaffung untergrub das bisherige Verhältniß zwi⸗
fchen Sanonifern und Bifchöfen. Seit Lebtere den Metropolitan:
Berband zu ſprengen begannen und dem Befehl ihrer vorgefegten
Häupter trogten, glaubte auch der niedere Elerus nicht mehr zu
unbedingtem Gehorfam gegen die Biſchöfe verpflichtet zu ſeyn.
Namentlih wollten die Ganonifer nicht mehr in Bezug auf ihr
Einfommen von der Gnade derfelben abhängen. Diefe Forderung
war fehr natürlich. Mit demſelben Maas, mit welchem fie Andern
gemeffen, wurden bie Biſchöfe wieder gemeffen! wer nicht gehorchen
will, verdient auch nicht zu befehlen. Lange mögen die unzufriebe-
nen Glerifer ihre Plane im Stillen gehegt haben: bie fehwierige
Lage, in welche der Erzbifchof Gunther yon Cölln durch feinen Streit
mit Pabſt Nikolaus gerieth, verfchaffte ihnen Gelegenheit, den Wunſch
ihres Herzens zu befriedigen. Wie wir oben berichtet, I bewilligte
Gunther im Jahr 864 den Canonifern feines Sprengels das Recht
N) Seite 994 und 998,
1064 II. Buch. Kapitel 12.
freier Berfügung über einen großen Theil des BR Bermögens
der Cöllner Kirche, und der König Lothar beftätigte 866 ben ab-
gefchloffenen Vertrag. Aber folange derſelbe nicht durch eine Synode
förmlich zum Kirchengefeb erhoben war, verfprach er wenig Dauer.
Deshalb wurde die Wahl Willibert's klug benüst, um der neuen
Einrichtung diefe letzte Weihe zu verichaften. Willibert verbanfte
den Stuhl der Unterſtützung einer politiichen und firchlichen Par-
thei. In ſolchen Fällen müſſen die Begünftigten die Gefälligfeiten
ihrer Befchüger ftets um Opfer erfaufen. Offenbar war dieß auch
bei Willibert's Wahl der Fall. Ende September 873 berief er
eine Synode nah Cölln, auf welcher außer ihm die Metropoliten
Liutbert von Mainz, Bertolf von Trier, die Bischöfe Bern:
hard von Berden, Alfried von Hildesheim, Diederich yon
Minden, Gerolf von Verdun, Luithard von Paderborn, Hil-
dDigrim von Halberftabt, Hodolf von Münfter, Lubert von
Osnabrück fammt vielen andern lerifern erjchienen. Die von
Gunther vor 9 Jahren entworfene Uebereinfunft ) wurde verlefen,
als Gefeg anerkannt, von ſämmtlichen Vätern unterzeichnet und
‚durch fürchterliche Verwünfhungen, die man gegen jeden Webertre-
ter ausftieß, gewahrt. Folgendes find die Hauptpunkte des neuen
Geſetzes: 1) von dem Geſammt-Vermögen der Kirche wird für bie
Canoniker fo viel ausgefchieden, als zu ihrem Unterhalt in alle
Zufunft nöthig iſt; 2) den Canonifern fleht das Necht zu, über bie
Art und Weife, wie fünftig Mitglieder gewählt werben mögen, wie über
ihren Antheil am Stifts- Vermögen frei — ohne alle Einmifchung
des Bischofs — zu verfügen; 3) der Probſt der Canonifer hat
den erftien Rang in der Gefellihaft und genießt das größte Anfehen,
Keines der Mitglieder darf über ihn geftellt werden, er entjcheidet
mit dem Beirathe der Brüder die gemeinfamen Angelegenheiten;
4) ohne Zuftimmung und Vorwiſſen des Probfts und der Canoni-
fer fann der Erzbifchof Feine dem Stift gehörige Pfründe an An-
bere vergeben, oder fonft das Eigenthum und die Rechte der Brüder
beeinträchtigen; 5) jeder Canonifer ift für. alle Zeiten ermächtigt,
fein Haus ‚und Eigentum zu verfchenfen, oder Kraft eines letten
Willens nad feinem Tode an irgend einen Bruder zu vermachen,
‚ohne daß der Bifchof Einrede erheben darf, oder um Erlaubniß
') Die Alten abgedruckt bei Manfi XVIL, 275 fig.
Die Päbſte Sergius II., Leo IV., Nikolaus I. ıc. 1065
angegangen werben muß.. Der Name des Königs Ludwig bes
Teutfchen fieht am Schluffe und Anfange der Urkunde, woraus
erhellt, daß die im Jahr 870 von Karl dem Kahlen abgetretenen
fothringifchen Bisthümer damals zum teutfchen Neiche gehörten, und
folglich von dem König nit an den Kaifer Biäslgegeven wor⸗
den waren.
Das Verhältniß der Canoniker zum Biſchofe erhielt von Nun
an eine ganz andere Geſtalt. Sie errangen durch die neue Ein—⸗
richtung ungefähr diefelbe Unabhängigkeit von den Kirchenhäuptern,
welche diefe mit den pfeudoifidorifchen Waffen über die Metropoliten
erftritten hatten. Nach Unten wie nach Dben waren jest die alten
Bande firaffen Gehorfams zerriffen, und damit der Umſturz Karo:
Yinifcher Kirchenverfaffung vollendet. Da in andern Sprengeln
diefelben Urfachen wirkten, wie im Cöllner, fo fand das hier gege-
bene Vorbild bald bereitwillige Nachahmer. Die alte Weife des
canoniſchen Lebens verfchwand im Laufe des folgenden Jahrhunderts
und an bie Stelle defjelben trat die von Gunther zuerft eingerich-
tete Ordnung der Domkapitel. |
Während Hinfmar für die Nechte der neuftrifchen Krone wider
den Stuhl Petri fämpfte, war in Gallien ein neuer kirchlicher Zwiſt
ausgebrochen, in welchem, wie unter Nikolaus, Suffragane zu Gun-
ften päabftlicher Uebermacht wider die Metropolitangemwalt fi erhoben.
Und zwar mußte diefer Streit für Hinfmar doppelt ſchmerzlich feyn,
weil derſelbe von einem feiner nächften Anverwandten ausgieng.
Der Rheimfer Metropolit hatte) um 858 feinem gleichnamigen
Neffen Hinkmar, einem damals noch fehr jungen Menfchen, das
Bisthum Laon verſchafft, welches zum Sprengel des Oheims gehörte.
Hinfmar fagt ?) in einem Briefe: der Neffe fey nach kaum vollen:
beter Erziehung, gleich einem Vogel, der zum erftenmale aus dem
väterlichen Nefte fliegt, zum Bifchofe gemacht worden. Feinde um-
ringten den Metropoliten von allen Seiten, daher ift es nicht zu
verwundern, daß er erledigte Stühle mit Leuten, auf die er ver:
trauen zu dürfen hoffte, insbefondere mit Berwandten zu befeßen
trachtete. Wenn er durch diefe Begünftigung der eigenen Familie, wie
wir glauben, feine Pflichten gegen die Kirche hintanfegte, ſo war der
) Dan fehe Histoire litteraire de la France V., 522 unten flg. —
2) Hincmari Opp, II., 598 oben.
1066 I. Buch. Kapitel 12.
begangene Fehler wenigftens menschlich, und er hat ſchwer dafür
gebüßt. Bald mußte er das was er für den Neffen gethan
bereuen. Ein ungewöhnliches Maas von Hochmuth und Ehrfucht
befeelte den jungen Biſchof. Durch Berbindungen, die er am neu:
firifchen Hofe anfnüpfte, wußte er von Karl'n dem Kahlen eine
Abtei, die in einem entfernten Sprengel lag, und überbieß ein Hof-
amt zu erhafhen. Seitdem begab fich der jüngere Hinfmar, fo oft
es ihm beliebte, an Hof oder in feine Abtei, ohne ben Metropoliten
um Erlaubniß zu fragen. Dit Berufung auf mehrere Kirchen:
gefeße verwies ihm der Oheim dieſes unregelmäßige Betragen, aber
der Neffe kümmerte ſich nicht darum. Ebenſo troste er dem Befehle
feines Oheims und Metropoliten, als ihn diefer aufforderte, bei Wei-
bung des neuernannten Bifchofs von Cambray zu erfcheinen. Der
jüngere Hinfmar fam nicht. ')
Im Jahre 868 zerfiel er auch mit dem Könige. Ein Adeliger,
deſſen Bater ein Gut des Laoner Stuhles zu Lehen trug, hatte
bafjelbe nach dem Tode des Erfteren von dem jüngeren Hinfmar
gleichfalls erhalten, war aber fpäter durch den Biſchof aus unbe-
fannten Gründen wieder auggetrieben worden. Der Belchädigte
führte Klage beim Könige, welcher den Bifchof zur Nede feste,
aber eine fo ſchnöde Antwort erhielt, daß Karl der Kahle in hef-
tiaftem Zorn entbrannte. Er lud den Bifhof von Laon vor ein
weltliches Gericht, nahm ihm nicht nur die Hofbebienung und bie
Abtei, fondern entzog ihm auch die Einfünfte feines Stuhles. So
wenig bisher der Ältere Hinkmar Urſache gehabt, mit dem Betra-
gen des Neffen zufrieden zu feyn, bielt er es dennoch für feine
Pflicht, denfelben gegen die legte. Verfügung des Königs zu ſchützen,
welche wirflich ein Eingriff in die geiftlichen Nechte war. Er erließ
daher ein nachbrüdliches Schreiben ?) an den König, worin er es für
Etwas Unerhörtes, ja für ein untrügliches Zeichen der Nähe bes
jüngften Tages erklärt, daß Karl fih erfühnt habe, einen Bifchof
weltlichen Gerichten zu unterwerfen und die Einkünfte feiner Kirche
mit Befchlag zu belegen. Ein ſolches Verfahren, fagt er, wider:
ftreite nicht nur den Verordnungen der römifchen Kaifer, der frän-
kiſchen Könige und namentlid Karls des Großen, fondern audy ber
Berfaffung, welche der neuſtriſche König auf dem Reichstage yon
) Ibid. — ®) Hincmari opp, IIL., 316 flg.
Die Päbſte Sergius IL, Leo IV., Nikolaus 1. ꝛc. 1067
Beauvais ) (845), von Chierfey *) (858) und bei andern Gelegen:
heiten aufs Feierlichfte befhworen habe. Sofort führt der Metro:
polit noch andere Gründe an, die man aus feinem Munde nicht
erwartet hätte. Er beruft fih nämlich auf Stellen aus den Bries
fen der Päbfte Lucius und Stephanus, welche jede Verletzung von
Kirchengütern aufs Schwerfte verpönen. Diefe Briefe gehö—
ven zu den Stüden des falfhen Iſidor, aljo zu einem
Gefegbuh, das wenige Jahre zuvor in Rothad's Sache als eine
fo furchtbare Waffe wider den Nheimfer Metropoliten gebraucht
worden war. Da er dennoch auch jet aus ihr Beweiſe entnimmt,
fo folgt entweder, daß er ihre Nechtheit wirklich nicht bezweifelte,
oder wenigſtens, daß er biefelbe öffentlich nicht anzugreifen für
gut fand, und in einem befchränften Umfange, nämlich als fub-
ſidiariſche Nechtsquelle, die pſeudoiſidoriſchen Stüde gelten Tieß.
Hinfmar fährt weiter fort: „nach weltlichen und geiftlichen Gefegen
dürfe ein Bifchof von Niemand anders, als von Seines= Gleichen
gerichtet werden. Zwei Gewalten regieren laut einem Ausfpruche
des Pabſtes Gelafius die Welt, die bifchöflihe und die königliche;
erftere fey deshalb die wichtigere, weil bie Bifchöfe dereinft auch für
die Könige Nechenfchaft geben müßten. Karl der Kahle möge daher
die Gränzen feines Amtes nicht überfchreiten, damit es ihm nicht
ergebe, wie dem Könige Ufias, der fich gleichfalls an dem Heilig:
thum ‚vergriffen, aber auch ſchwer für feinen Frevel gebüßt habe.“
Die Borftellungen des Erzbifchofs blieben nicht erfolglos. Bor
einer Reichsverfammlung, welche Karl der Kahle im Jahr 868 zu
Piftres an der Seine hielt, ?) erichienen Oheim und Neffe. Letzte⸗
ver übergab den anweſenden Bifchöfen eine Schrift, ) in welcher
er fich befchwerte, daß er den Klirchengefegen zuwider vor ein Laien:
gericht geladen, und der Einkünfte feines Stuhles beraubt worden
jey, fodann Wiedereinfekung verlangte, aber auch im Falle er den
König beleidigt haben follte, Abbitte verſprach. Zugleich machte er
ſich verbindlih, vor einer Synode der Bifchöfe feiner Provinz wegen
aller Klagen, die wider ihn vorgebracht werden Fünnten, Rede zu
fiehen, und der Entſcheidung derfelben Folge zu leiften. Im Falle
1) Baluzii Capitul. IL, 19 Mitte fig. — ?) Ibid. ©. 100 Mitte flg. —
3) Hincmari annales ad anunum 868, Perz IL, 480 gegen. oben. — *) Abge:
druckt bei Manſi XVI., 779 flg. |
1068 00T. Buch. Kapitel 12.
man aber diefen Antrag zurücweifen würde, erflärte er feinen Ent-
ſchluß, auf den Stuhl Petri zu berufen. Zwar machte hie:
gegen der König geltend, daß ſchon feine Vorfahren das Recht aus-
geübt hätten, Biſchöfe, welche ertheilte Lehen willkürlich zurücknähmen,
an ihrem Hoflager zu richten, und daß er ſich diefe Befugniß nicht
rauben laſſen werde; allein der ältere Hinfmar zeigte nun in einem
Aufjage, ) welden er dem König zuftellte, daß jenes angebliche
Recht früherer Herrjcher ein durch fpätere Capitularen aufgehobener
Mißbrauch fey. Karl der Kahle gab nad. Der jüngere Hinkmar
leiftete in ziemlich froftigen Ausdrücken die angetragene Abbitte ?)
und wurde nun in feine Güter wieder eingeſetzt. Dieß war ber
erfte Berfuh, den der Biihof von Laon gemacht hat, mit Hülfe
des römischen Stuhls den Gefegen des fränfifchen Reichs zu trotzen.
Andere folgten bald nad.
Der Friede zwifchen dem jüngeren Hinfmar, feinem Oheime
und dem Könige dauerte fehr Furze Zeit, und zwar war der An-
laß zum neuen Hader ganz derfelbe, wie die Urfache des eben
befchriebenen Zwiſt's. Seit den Zeiten der Testen Meromwinger
hatte der Gebraud oder Mißbrauch nie vollig aufgehört, daß frän-
fifche Könige ihren Günftlingen geiftliche Güter zu Lehen gaben. Unter
Karl dem Großen wurde diefe Gewohnheit zwar befchränft, aber
nie ganz aufgehoben, feine fpätern Nachfolger dagegen übten bie:
felbe im weiteften Umfange. Ohne den Kirchen offene Gewalt an:
zutun, mußten die Könige Mittel zu finden, daß die Bifchöfe
fcheinbar freiwillig in Abtretungen willigen mußten. Beſonders
häufig feheinen ſolche Zumuthungen bei Befegung erledigter Stühle
gewefen zu feyn. Auf diefe Weife hatte nun auch der jüngere Hinf-
mar ein Gut an den König von Neufter überlaffen, der es fofort
dem Grafen Nortmann zu Lehen gab. Um die Mitte des Jahre
868 machte jedoch der Bifchof einen Verſuch, das Eigenthum feiner
Kirche wieder an fich zu ziehen; er verlangte von dem Grafen Wieder-
erftattung des Guts, und als diefer die Herausgabe verweigerte, ver⸗
klagte er ihn bei dem Pabſte Hadrian II. Der Pabft fam den Bitten
des Biſchofs auf's Bereitwilligfte entgegen, er erließ zu feinen Gunften
zwei Briefe 3) an den Metropoliten von Rheims und an Karl'n
1) Ibid, 781 fg. — 2) Die Formel ibid. ©. 780 unten. — *) Manfi
XV,, 856 flg. ; ’
Die Päbſte Sergius IL, Leo IV., Nikolaus I. ꝛc. 1069
den Kahlen. Habrian forderte darin den Einen wie den Andern auf,
fie möchten dem Bilchofe von Laon, der vor Begierde die Schwelle
der heiligen Apoftel zu beſuchen brenne, Feine Hinderniffe in Weg
legen, dem Metropoliten befahl er überdieg, über Nortmann ben
Bann zu verhängen, im Fall derfelbe die Güter des Laoner Stuhls
länger zurüsbehalten würde. König Karl war im höchſten Grabe
über diefe Schritte des Biſchof's aufgebracht, ") in welchen er ein
Bergehen wider die Landeshoheit erblickte. Wirklich muß man aus
Dem, was bisher berichtet worden, noch mehr aber aus den Be:
gebenheiten, die wir fofort erzählen werben, ben Schluß ziehen,
dag ſchon damals zwifchen dem Bifchofe von Laon und dem ypäbft
lihen Stuhle eine enge Verbindung beftand, welche ſich mit der
fränfishen Berfaffung nicht vertrug. Um feine durch früher befchrie-
bene Umftände gefunfene Macht wieder zu heben, bedurfte Hadrian
der Beihilfe einer fränliſchen Parthei. Er gewann alfo den jün=
gern Hinfmar und außerdem einige Andere, denn der Bifchof von
Laon war zwar ber lautefte, aber mehreren Anzeigen nach nicht der
einzige Bundesgenoffe des Pabſts. Der Preis, mit dem man fie
föderte, fcheint Unabhängigfeit yon Krone und Metropolitangewalt,
oder genauer ausgebrüdt, das päbſtliche VBerfprechen gemefen zu
jeyn, daß der Stuhl Petri die Güter der neuftrifchen Bifchöfe gegen
Eingriffe der Könige, ihre Perfon gegen die Gerichtsbarfeit der Me—
tropoliten fchügen werde. Weil der jüngere Hinfmar ſich eines
ftarfen Rüdhalts verfichert wußte, trat er fo Fühn auf. |
Karl der Kahle verweigerte zwar dem Bifchofe den vom Pabſte
verlangten Urlaub zu einer Reife nah Nom, unternahm aber fonft
nichts gegen benfelben. Der ältere Hinfmar erhielt den Auftrag,
dem Pabfte zu antworten. In derſelben Zufchrift, in welcher er
dem Statthalter Petri die oben angeführte Borlefung über fränfi:
ſches Staatsrecht hielt, fpricht er fih auch über die Angelegenheit
des Laoner Bifchofs auf eine Weife aus, die helles Licht über bie
Umtriebe der römifchen Parthei verbreitet. „Ihr habt mir Befehl
eriheilt,“ fchreibt ?) der Metropolit, „daß ich meinen Neffen fammt
drei andern Kirchenhäuptern nah Rom abfchiefen fol, damit fie
dort im Namen fünmtlicher neuftrifchen Bifchöfe einer Synode an=
) Hincmari annales ad annum 868. Perz I., A480 gegen unten, —
2) Opp. II., 700 untere Mitte,
1070 I. Buch. Kapitel 42.
wohnen.“ Der päbftliche Brief, auf den fich bier der ältere Hinkmar
bezieht, ift nicht mehr vorhanden, aber aus der Stelle, welche er an-
führt, erhellt, Daß eine Verbindung mehrerer neuftrifcher Biſchöfe gegen
bie Krone im Werfe war, dag alfo der jüngere Hinfmar nicht allein
ftand. Der Metropolit fest weiter dem Pabſte auseinander, daß
er den erhaltenen Auftrag nicht vollziehen könne, weil ohne Erlaub:
niß des Königs fein Bischof das Neich verlaffen dürfe. Der jüngere
Hinkmar und feine Mitverfehwornen mußten zu Haufe bleiben.
Da indeg der Graf Nortmann das Lehen nicht herausgab,
bewaffnete der Biſchof von Laon eine Notte feiner Grundbholden,
überfiel mit ihnen das Gut, warf die eben in den Wochen liegende
Gattin des abwejenden Grafen aus dem Haufe heraus und plün—
derte Kiften und Keller. ) est klagte Nortmann bei dem König
und Diefer Iud den Bischof vor Gericht, Als er nicht erfchien, wurbe
eine Schaar Hofdiener abgeſchickt, um ihn mit Gewalt abzuholen,
worauf ſich der jüngere Hinfmar an den Altar feiner Kirche flüch:
tete. Hätten es nicht einige Biſchöfe verhindert, fo wäre er vom
Altare weggeriffen worden. ?) Abermal trogte er der Borladung
und fchleuderte fogar den Bann gegen die Hofdiener, ?) die meift
aus Grafen beftanden. Bald darauf (Ende April 869) berief der
König eine Synode nad) Berberie, vor welcher fich endlich der un-
gehorfame Biſchof ſtellen mußte. Durch ſchwere Anflagen gedrängt,
erflärte er von Neuem, daß er auf den Pabſt berufe und forderte
Urlaub zu einer Reife nah Nom. Man ſchlug ihm die Erlaubnig
ab, Nun verhängte der Biſchof das Interdift über feine Gemeinde,
indem er ſämmtlichen Geiftlichen des Laoner Sprengels für die Zeit,
während man den gemwünfchten Urlaub verweigern und ihn dadurch
in einem Zuftand perfünlicher Unfreiheit halten würde, die Hebung
jeden gottesdienftlichen Gebrauchs unterfagte. Keine Mefje follte
gelefen, fein Kind getauft, fein Büßender freigefprochen, Fein Kran
fer mit den Sterbfaframenten verfehen, Fein Todter zu Grabe ge-
leitet werden. Zur Strafe für diefe, damals noch unerhörte Maaf-
regel, ließ ihn der König verhaften und in’s Gefängniß werfen. In:
deſſen herrſchte Schrerfen im Laoner Sprengel. Der Clerus wendete
1) Mansi XVI., 679 unten. — *) Hincmari annales ad annum 869.
Perz L, 480 unten. — 3) So verftehe ich die Erzählung des Älteren Hink-
mar, Opp. IL, 599 oben.
Die Päbſte Sergius II., Leo IV., Nikolaus T. ıc. 1074
fih in feiner Noth an den Erzbiſchof yon Rheims, worauf biefer
erft den Neffen zur Zurüdnahme feines Befehls ermahnte, und als
alle Borftellungen nichts nüsten, den Bann aus eigener Machtvoll-
fommenbeit aufhob, indem er den betreffenden Geiftlichen durch eine
Sammlung von Kirengefegen und Concilien-Beſchlüſſen bewies,
daß die feelengefährliche Verfügung ihres Biſchof's Feine Gültigkeit
babe. ) Wir müffen hier die oben gemachte Bemerkung wieder:
bolen. Das Verfahren des jüngern Hinfmar beweist nicht bloß
Trog, fondern aud Vertrauen auf einen mächtigen Schutz. Die
Geiftlichfeit des Laoner Sprengel gehorcht zitternd dem Interdikt,
obgleich fie weiß, daß diefe graufame Anordnung vom Erzbifchofe
wie vom Könige mißbilligt wird. Auch der Metropolit hebt den
Bann nicht einfach durch einen Befehl auf, fondern er beweist erft
den niedern Clerikern, feinen Untergebenen, aus eigens zu dieſem
Zweck zufammengeftellten Kicchengefegen,, daß der Biſchof von Laon
fein Recht habe, jene Berfügung zu treffen. Offenbar handeln
Beide in der Borausfegung, als ob der jüngere Hinkmar auf die
Unterftüsung einer gewaltigen Macht — des Pabſtes — rechnen
dürfe Noch ftärker zeugt für diefe Annahme die Thatfache, daß
der fchuldige Bifchof, der doch den König und Metropoliten fo grob
beleidigt hatte, nad) kurzer Zeit *) wieder aus feiner Haft entlaffen
wurde, |
Kaum frei geworden, feste ber Neffe den Kampf gegen ben
Oheim fort. Der Sammlung, welde ber ältere Hinfmar an bie
Cleriker des Laoner Sprengels überſchickt hatte, um bie Unrecht:
mäßigfeit des Interdikts zu beweifen, flellte er eine andere entgegen,
welche aus (pfeudoifidorifchen) Briefen vornicänifcher Pähfte beftand,
und laut der Behauptung des Oheims ?) dahin zielte, das Anfehen
der Metropoliten und der Provincialfynoden zu erniebrigen. Der
Bischof befräftigte diefe Sammlung nicht blos durch feine eigene Na—
mensunterfchrift, fondern nöthigte auch die ihm untergebenen Cleriker
biefelbe zu unterzeichnen. *) Auch außerdem ergriff er begierig jede
') Meber den ganzen Borgang vergleiche man bie zwifchen dem ältern
Hinkmar, feinem Neffen und dem Laoner Clerus gewechfelten Briefe. Manſi
XVL, 809 unten flg., fowie Opp. Hincmari II,, 599 flg. — ?) Der ältere
Hinkmar fagt Opp. U., 599 Mitte: die Haft habe aliquantulum, d. h.
ganz kurze Zeit gedauert: — 3) Ibid. unten. — *) Ibid. 600 oben.
1072 II. Buch. Kapitel 12.
Gelegenheit, den Oheim zu kränken. Der Metropolit hatte einen
gewiſſen Nivinus wegen Entführung einer Nonne auf fo lange mit
bem Banne belegt, bis derfelbe entweder Buße thun, oder feine Un:
ſchuld beweiſen würde; hierauf war der Gebannte in den Spren:
gel von Laon eniflohen und von dem Bifchofe aufgenommen worden.
In einem unter dem 13. Februar 870 gefchriebenen Briefe 9
machte deßhalb der Oheim dem Neffen Borwürfe. Troßig antwor⸗
tete ?) der Neffe: Unrecht fey dem Nivinus widerfahren, ohne feine
Bertheidigung anzuhören, habe ihn der Metropolit fortgejagt. So:
fort ſchweift er von ber eigentlichen Frage auf feinen Lieblinge:
Gegenftand hinüber, indem er aus lauter pfeuboifidorifchen Dekre—
talen darthut, dag man feinen Biſchof ohne die genügendften Be:
weife für fchuldig halten, fowie bag nur der Pabſt Kirchenhäupter
richten, und daß ohne Genehmigung des Stuhles Petri auch Fein
Eoneil berufen werben dürfe. Noch über einen andern Punkt ent:
zweiten fie fih um biefelbe Zeit. Bon einem Adeligen Namens
Sigbert, dem das Recht Priefter für eine im Sprengel von Laon
gelegene Capelle vorzufchlagen zuftand, war Yängft ein Leibeigener
der Nheimfer Kirche, Senatus, prafentirt worden. Da ein Geſetz
des Kaiſers Ludwig vorfchrieb, ?) daß Leibeigene erft freigelafien
werden müßten, ehe fie zum Kirchendienft verwendet werden könn⸗
ten, hatte der Metropolit von Nheims das Anerbieten gemacht,
Senatus auf den Fall freizugeben, wenn derfelbe für die Capelle
geweiht werden würde, aber fein Berfprechen nicht fofort erfüllt.
Gleichwohl bediente Senatus ohne Weihe die Capelle mehrere
Jahre lang. Plötzlich fchiefte ihn aber der jüngere Hinfmar fort.
As nun der Metropolit Klage führte, entgegnete *) der Bifchof
von Laon, daß nicht er, fondern der Oheim wider das Geſetz des
Kaifers Ludwig ſich verſtoßen habe. Zugleih kam er auf feine legte
Haft und die Berufung nad) Nom zu reden, indem er erfiere dem
Metropoliten fchuld gab, die Nechtmäßigfeit der zweiten aus pſeu—
doiſidoriſchen Defretalen erhärtete. A
Während diefe und ähnliche, an fi unbedeutende, Streitigfeis
ten die Stimmung des Oheims wider den Neffen verbitterten, berief
König Karl in den erfien Monaten des Jahrs 870 die hohe Geift-
1) Ibid, IL, 334. — 2) Ibid. 335 flg. — 8) Siehe oben ©. 719, — *) Die.
Antwort des Neffen ibid. 341 Mitte flg.
Die Pähfte Sergius IT. , Leo IV. , Nikolaus I. x. 1073
fichfeit des Reichs nach Gundeville. Nebft den andern Bifchöfen
erfehienen auch die beiden Hinfmare, Alle Anwefenden bezeugten
dem Metropoliten von Rheims die gebührende Ehre, nur der Neffe
hielt fih fern, forac) fein Wort mit dem Oheim und gab ihm den
üblichen Kuß des Friedens nicht. Als ihn der Erzbifchof von Rouen,
Wenilo, darüber zur Nede ftellte, fagte ‚er rund heraus, daß er ſich
mit dem Oheime nicht eher verjühnen könne, als bis derfelbe die
Schrift, mit welcher er das Interdikt aufgehoben habe, öffentlich
verbrennen und fein Unrecht eingeftehen würde. Zugleich berief er -
fih, um die Rechtmäßigkeit jenes Banns zu beweifen, darauf daß
ja der Metropolit felbft die Einwohner eines gewiffen Weilers,
weil diefe den fehuldigen Zehnten an die Kirche zu Rheims nicht
entrichten wollten, gebannt habe. ) Der ältere Hinfmar, wels
chem Wenilo die Antwort feines Neffen hinterbrachte, erklärte
legteve Behauptung für eine baare Lüge und ließ den Bifchof von
Laon auffordern, daß er die zwifchen ihnen wegen des verfuchten
Interdikts gemwechfelten Schriften ausliefern folle, damit fie von der
Synode gepräft werden fünnten. Der Neffe entfchuldigte fih, daß
er die verlangten Papiere nicht bei der Hand habe, übergab aber
dagegen dem Erzbifchofe Wenilo eine neue Sammlung von Stellen
aus Defretalen mit der Bitte, diefe Auszüge dem Oheim einzu:
händigen, was jofort am Abende beffelben Tages gefchah. In der
Naht noch Tag der ältere Hinfmar die Sammlung durch und über:
ſchickte am folgenden Morgen dem Biſchofe von Laon eine fehrift
liche Beantwortung. ?) Die Synode löste fih auf. Oheim und Neffe
ſchieden gefpannter als fie gefommen waren.
Im Mai des nämlihen Jahres trat zu Attigny eine neue
Synode zufammen, auf welcher die Biſchöfe von 10 Kirchenprovin-
zen des neuſtriſchen Reiches erfchienen. Neben andern wichtigen
Gegenftänden kam auch die Sache des jüngern Hinfmar zur Sprache.
Der Metropolit hatte in der Zwiſchenzeit die kurze Schrift, welche
er dem Neffen in Gundeville zugeſchickt, zu einem weitläuftigen
Buche von 55 Kapiteln ausgearbeitet. Im Angefiht der Berfamm-
lung überreichte er daffelbe dem Neffen mit der Ermahnung, von
feinem bisherigen Ungehorfam abzulaffen. 9) Beides, die oben:
) Opp. IL, 386 fig. F 2) Hincmari Opp. II. 398. — °) Man ſehe
über ben Bergang ‚der Verhandlungen zu Atiang ben Bericht Manfi XVL,
856 flg.
&frörer, Kircheng. TIL. 68
1074 II. Bud. Kapitel 12.
erwähnte zweite Sammlung des jüngeren Hinfmar !) und bie auge
führlihe Gegenfchrift des Oheims ?) ift noch vorhanden. Der Auf:
fag des Neffen beginnt mit 10 an den König Karl gerichteten
Diftihen, in welchen er das Necht freier Berufung auf den römis
fhen Stuhl feiert. Auch der Oheim ftellte feiner Schrift eine Reihe
yon 72 Diftihen voran, worin die Suffragane belehrt werben,
ihren Metropoliten die fehuldige Unterwürfigfeit zu bezeugen. So:
fort widerlegt theild der ältere Hinfmar die Auszüge des Neffen,
oder die Befchuldigungen, die derfelbe im Laufe des Streits wider ihn
erhoben hatte, theils weist er die Unrechtmäßigfeit feines Verfah⸗
rens nad. Im erften Kapitel zeigt er, was für eine Bewandtniß
es mit Beftrafung der Bewohner des Weilers habe, die den Zehn:
ten an die Kirche von Nheims nicht bezahlen wollten, im zweiten,
dritten und vierten rügt er die früheren Gewaltthätigfeiten des Bi:
ſchofs, und namentlich das unverſchämte Verlangen, daß der Die:
tropolit die Schrift, mit welcher das über den Sprengel von Laon
verhängte Interdikt niedergefchlagen worden, felbft verbrennen folle.
Dem älteren Hinfmar war die Aeußerung feines Neffen hinterbracht
worden: er befümmere fich nichts um den Metropoliten von Rheims,
da der päbftliche Stuhl ſchon zwei Urtheile beffelben, das eine in
der Angelegenheit Wulfad’s, das andere in Rothad's Sache nichtig
erklärt babe. Er belehrt daher im 5ten Kapitel den Biſchof von
Laon, daß jene beiden Urtheile feineswegs vernichtet, fondern aus
Rückſichten chriftlicher Milde gegen die Schuldigen abgeändert wor:
den feyen. Weil der Neffe ferner gegen Andere fi gerühmt hatte,
er wolle es zur Strafe für das aufgehobene Jnterbift noch dahin
bringen, daß der Erzbifchof von Rheims feine Meſſe mehr fingen
dürfe, fo hält er ihm im 6ten Kapitel eine Vorleſung über bie
Rechte der Metroppliten und ihre Vorzüge vor einfachen Suffraga-
nen. „Der Metropolit,“ fagt er, „hat allein die Befugniß Syno:
den zu berufen, und alle Sufftagane find verbunden, auf feinen
Ruf zu erfcheinen; Fönnen fie nicht kommen, fo müffen fie ſich durch
Abgeordnete entfehuldigen, im Weigerungsfall verfallen fie einer
Strafe. Jede Klage gegen Suffragane muß zuerft vor den Metro:
politen gebracht werden, und biefer beftätigt entweder bie von dem
Angeklagten gewählten Richter, oder ernennt er andere. Nur ber
En
1) Abgedruckt Hincmari opp. IL, 355 — 376. — 2) Ibid. 382 — 593,
Die Päbfte Sergius II., Leo IV., Nikolaus I. ꝛc. 1075
Metropolit kann die Biſchöfe feiner Provinz weihen, und eine ohne
feine Zufimmung vorgenommene Weihe hat feine Gültigkeit, wähe
vend Widerfprüche, welche einzelne Suffragane gegen einen vom
Metropoliten geweihten Bischof erheben, dem Afte feinen Eintrag
thun. Stirbt ein Suffragan, fo fteht dem Metropoliten das Recht
zu, einen Stellvertreter für die verwaiste Kirche zu ernennen, eine
neue Wahl auszufchreiben, den Gewählten zu prüfen und zu beftäti-
gen. Kein Suffragan darf den Verfügungen des Metropoliten, fo:
fern diefelben Nichts wider den Glauben enthalten, feine Unter:
fchrift verfagen, auch darf feiner ohne die Zuſtimmung des Metropo:
liten ein Gut feiner Kirche verfaufen oder verpfänden. Bon dem
Urtheile eines Biſchofs kann man an den Metropoliten berufen,
und wenn der Suffragan einen untergeordneten Clerifer oder einen
Laien mit dem Banne belegt hat, mag der Gebannte je nach Um:
fländen in einer Verſammlung der Bifchöfe, felbft wider den Willen
beffen, der den Bann verhängte, vom Metropoliten losgeſprochen
werden. Der Metropolit hat die ganze Provinz unter feiner Ob:
hut; der Suffragan regiert blos bie ihm untergebene Gemeinde;
alle gemeinfame Angelegenheiten müffen an Erfteren gebracht wer:
den, und nichts Wichtiges darf der Suffragan ohne feinen Rath
unternehmen; nicht einmal an den Stuhl Petri darf er ſich wenden,
ohne den Metropoliten vorher befragt zu haben, deßgleichen kann
er ohne Einwilligung deffelben feine Reife antreten. Glaubt ein
Suffragan fi über einen Urtheilsſpruch feines Metropoliten be
fchweren zu fünnen, fo mag er gemäß den Schlüffen von Sardifa
und den Defveten einiger Pähfte fih vom apoſtoliſchen Stuhle Rich:
ter erbitten. Läßt dagegen ein Suffragan fih ein Vergehen zu
Schulden fommen, fo hat der Metropolit nicht nöthig, erſt eine
Synode zu berufen, oder mit den Biſchöfen der Provinz Rück-
ſprache zu nehmen, fondern er beftvaft einfach nad) den beftehen:
ben Geſetzen das begangene Unrecht.“ Es ift das Kirchenrecht Karl's
des Großen, was bier der ältere Hinfmar entwidelt, mit der ein:
zigen Ausnahme, daß er die Befchlüffe von Sardifa anerfennt,
welche der fränkische Kaifer nicht gelten ließ. Seine älteren Ber:
träge mit dem römiſchen Stuhle ") nöthigten den Metropoliten zu
dieſem Zugeſtändniß.
2) Siehe oben Seite 981.
| 68 *
41076 SE Buche Kapitel 12;
Im Ten Kapitel wird der Bifchof von Laon getadelt, weil er
ſchon zum zweitenmale, ohne vorher nad) der Vorſchrift der Cano⸗
nes feinen Metropoliten zu befragen, oder fein Urtheil abzuwarten,
Berufung nah Rom einlegte; im Sten, weil er Briefe des Pabſts,
die fi auf feine Appellation bezogen, ihm (dem Metropoliten von
Rheims) und dem Könige nicht unmittelbar, wie das Geſetz ver:
lange, fondern durch Erzbifchöfe entfernter Provinzen übergeben
habe. Das 9te Kapitel rügt das Verfahren des Biſchofs gegen
einen Mönch yon St. Denis. Mit dem 10ten Kapitel beginnt er
feine Meinung über die vom Neffen gefammelten pſeudoiſidoriſchen
Defretalen zu fagen. Er bezeichnet kurz und treffend ihren Geift
durch den Sag: fie feyen eine den Rechten fämmtlider
Metropoliten geftellte Mäufefalle ) Gleichwohl greift
er ihre Aechtheit nicht an, fondern bilft ſich mit einer feinen und
fharffinnigen Unterfheidung. Der jüngere Hinfmar hatte ſich auf
- biefelbe Stelle eined DBriefes von Leo dem Großen berufen, ben
auch Pabſt Nifolaus in dem Streite gegen Rothad hervorhob:
dag man den Verordnungen Folge leiften müffe, welche die römi—
fchen Oberhirten über kirchliche Ordnung und Zucht befannt gemacht
hätten. Feſt an den von Leo gebrauchten Ausdrud ſich anflammernd,
erflärt nun der Metropolit, es fey ein mächtiger Unterfchied zwi—
ſchen „Öefege geben,“ und „Berfügungen über bereits
beftehbende Rechte erlaffen.“ Leo habe, indem er jenes Wort
wählte, angedeutet, daß alle ypäbfilihe Verordnungen auf früher
vorhandene Synodalſchlüſſe fih ftügen müßten. Demgemäß führt
er aus einer Menge römifcher Urfunden den Beweis, daß die Päbſte
ſelbſt fets die Gültigkeit ihrer Defvetalen auf Concilien-Beſchlüſſe
gegründet hätten, daß überhaupt nichts gelte, was mit ben Conci—⸗
lien ftreite, und daß aud der Stuhl Petri nichts wider das An-
fehen der Kirchenverfammlungen anordnen könne. Dberfte Rechte:
quellen der Kirche feyen folglich die allgemein anerfannten Canoneg,
und päbftliche Erlaffe Haben nur in fofern Gefekesfraft, als fie mit
diefen übereinftimmen. In den Kapiteln 11 — 19 zeigt der Metros
yolit, daß der jüngere Hinfmar aus feiner argliftig abgefaßten
Sammlung viele Defrete älterer Päbſte weggelafien habe, welche
den Suffraganen pünktlichen Gehorfam gegen ihre Erzbiſchöfe ein-
1) Opp. I. 415 gegen unten. Wir haben diefe Stelle ſchon oben Seite
792 benügt. 180 N Ri €
Die Päbſte Sergius II., Leo IV., Nikolaus I. ıc. 1077
fhärfen, daß der Laoner Stuhl durch den heiligen Nemigius von
Rheims gegründet, und daher dem letztern Unterwürfigkeit fchuldig,
und dag Hochmuth die Triebfeder aller Fehler des Neffen fey, ber
felbe Hochmuth, der fchon fo viele Ketzer verleitet habe, theils die
Bibel zu verdrehen, theils wider die kirchliche Ordnung ſich aufzu:
lehnen. Im 2often Kapitel fommt er wieder auf die Auszüge des
Neffen zurüd, „Manches finde fich,* jagt er, „in den Defreten
der Päbſte, wie auch in Stellen der heil. Schrift, was ſich bei'm
erften Anblick zu widerfprechen ſcheine, aber doch bei gehöriger Unter:
fheidung der Perfonen, Orte, Zeiten wohl übereinftimme So
werde 3. B. in den vom Neffen ausgezogenen Briefen der Grund:
ſatz aufgeftellt, daß ohne Zufimmung und Geheiß des
Stubles Petri feine Synode zufammentreten dürfe,
während doch ‚die nicänifchen, chalcedonifchen, antiochenifchen und
afrifanifchen Schlüffe, ja auch die Dekrete einiger Päbſte, wie Sn:
nocenz, Leo, ©regorius 1. es den Metropoliten zur Pflicht machen,
in regelmäßigen Zwiſchenräumen Synoden zu berufen. Aus Lebtes
rem erbelle, daß die Metropoliten, fo oft fie ihre Bifchöfe verſam⸗
meln, dem Willen des päbftlihen Stuhles gemäß handeln, folglich
müffe man jenen entgegengefettten Ausſpruch auf allgemeine Con:
eilien befchränfen, die allerdings nicht ohne befondere Erlaubniß
bes Pabſts verfammelt werden dürften. Hinfmar zählt 6 allgemeine
Kirchenverfammlungen auf: die nicäniihe unter Pabſt Syivefter
und Kaifer Conftantin dem Großen wider Artus; die erfte eonftan-
tinopolitanifche unter Pabſt Damafus wider Macedonius und Eudo:
xius; die ephefinifche unter Cöleſtin wider Neftorius; die chalcedo-
nifche unter Leo wider Eutyches; die zweite conftantinopolitanifche
unter Bigilius wider Theodorus und alle Keter; die dritte conftan-
tinopolitanifche unter Agatho wider die Monotheleten gehaltene.
„Eine 7te,“ fährt er fort, „wurde nicht Yange vor unfern Tagen
ohne Zuftimmung des Stuhles Petri wegen ber Bilder berufen,
aber fie bat Feine Gültigfeit. Karl der Große ließ dieſe falfche
Synode der Griechen durch eine allgemeine Kirchenverfammlung,
bie er nach Frankfurt ausfchrieb, gemäß der heiligen Schrift und
ber Leberlieferung widerlegen. Sch felbft ſah in jüngeren Jahren
am Hoflager das große Werk, welches die Widerlegung enthielt,“ Y)
Hinfmar meint die farolinifchen Bücher.
1) Opp. II., 457 Mitte,
1078 II. Bud, Kapitel 42.
Weil der jüngere Hinkmar in feiner Sammlung ein pfeubo:
iſidoriſches Schreiben des Athanaſius und der ägyptiſchen Priefter
an Pabſt Marfus, laut welchem das nicänifche Concil 70 Be:
fchlüffe gefaßt haben follte, fowie Briefe der Päbfte Julius und
Selir, die fi) ebenfalls auf diefe Schlüffe bezogen, angezogen hatte,
fo führt der Metropolit im 2iſten Kapitel den hiftorifhen Beweis,
daß auf der Kirchenverfammlung von Nicäa nicht mehr als zwan:
zig Ganones gegeben worden ſeyen, läßt aber dabei die Glaub:
würbigfeit jener pfeudoifidoriichen Stüde unangefochten. Im 22ften
zeigt er fodann, daß eine Stelle des heiligen Gregorius, aus wel-
cher der Neffe gefolgert hatte, daß ein von der Kirche verhängter
Bann nicht einfeitig aufgehoben werben birfe, anders zu erfläs
ren fey.
Früher ift erzählt worden, ) bag Pabſt Nikolaus die Verords
nung des chalcedoniſchen Concils (Canon 9): ein Bifchof, der über
feinen Metropoliten fih zu beflagen habe, folle feine Beſchwerde vor
den Primas der Didcefe oder den Patriarchen von Conſtantinopel
bringen, in der Sache Nothad’s zu Gunften des Stuhles Petri
benüste, indem er den Schluß darauf gründete, ein Recht, das
dem Patriarchen von Byzanz eingeräumt worden, müffe in noch
höherem Maaße dem Pabfte zuſtehen. Diefelbe Schlußfolge hatte
auch der jüngere Hinkmar in feiner Sammlung gezogen. Dagegen
fucht num der Metropolit im 23ften Kapitel darzuihun, daß ber 9te
und 17te Canon jenes Concils fo wenig vom Stuhle Petri aner:
fannt worden fey, als der 28fte, welcher dem Patriarchen des Oſtens
den zweiten Rang nah Nom zugeftebe. Nachdem er fofort im
24ften Kapitel gezeigt, daß bie fogenannten apoftolifchen Canones,
auf welche fich der Biſchof von. Laon gleichfalls berief, nicht den
Apofteln felbft, ſondern der Heberlieferung apoftolifcher Männer ihren
Urfprung verdanken, und Manches enthielten, was Billigung ver:
diene, aber auch Bieles, was nicht angenommen werben fünne,
geht er auf.einen andern wichtigen Gegenftand über. : Im Laufe
des Hten Jahrhunderts Fam eine Firchenrechtlihe Sammlung zum
Vorſchein, welche man gewöhnlich einem Bischof Angilvam von
Mes zufchrieb, der unter Karl dem Großen lebte. - Die Sage ging,
Angilram habe diefes Werk für Pabft Hadrian I. zufammengeftellt.
2) Siehe oben ©. 1015.
Die Päbſte Seraius II., Leo IV., Nikolaus I. ıc. 1079
Daſſelbe ift noch vorhanden, !) und enthält falfche Briefe alter Päbſte,
die auch bei Pfeudoifidor vorfommen. Noch im vorigen Jahrhun:
dert nahmen ausgezeichnete Gelehrte an, daß Angiltam wirklich
zuerft Defretalen erdichtet habe, und vom Verfaſſer des falfchen
Iſidor benügt worden ſey, bis die Brüder Ballerini das Gegen:
teil darthaten, indem fie zeigten, ?) daß die angeblidhe Samm:
lung Angilram's nichts weiter als ein Auszug des falfchen Zfidor
it. Der jüngere Hinfmar hatte Mehreres aus der Schagfammer
Angiiram’s entlehnt. Daher weist nun der Oheim nach, theils daß
Angilram’s Sagungen dem beftehenden Kirchenrecht widerftreiten, theils
daß die Grundfäße, welche in ihnen enthalten feyen, das Betragen
des Neffen verdammen. „Alle Mühe,“ ruft er ®) aus, „die Du dir
gabft um zu zeigen, dag Du Niemand unterworfen feyeft als dem
Pabft, und von Niemand gerichtet werden Fönneft, als vom Stuhle
Petri, ift verfchwendet, denn die Geſetze, auf welche Du dich berufit,
zeugen wider dich felbft.“ Im Folgenden führt er dem Neffen zu
Gemüt, er folle ja nicht glauben, daß er die Defretalen der alten
Päbſte und die Sammlung Angilram’s allein befige, und deßhalb
nach Gutdünken abgeriffene Stellen daraus entnehmen fönne, denn
diefe beiden Schriften ſeyen längft im ganzen Lande verbreitet und
in Jedermanns Händen. Ein merkwürdiges Zeugniß! welches zu-
gleich die Bermuthung Spittler’s, *) daß der jüngere Hinfmar Ur:
beber der Angilram’schen Kapitel fey, fehlagend widerlegt. Denn
hätte fie der Biſchof von Laon erft damals geſchmiedet, fo fonnten
fie unmöglich fchon allgemein verbreitet. ſeyn. Vielmehr muß man
aus jener Aeußerung den Schluß ziehen, dag Pfeudo-Angilram um
weniges jünger feyn dürfte, als der falfche Iſidor.
Im 2öften und 26flen Kapitel jucht der Metropolit darzuthun,
daß kraft einer deutlichen Erklärung des Pabſtes Gelafius ein großer
Unterfchied zwiſchen Coneilienfchlüffen und den Defretalen der römi-
ſchen Biſchöfe ftattfinde, Diefer fage in feinem berühmten Geſetz
über die canonifchen Schriften: die Concilienfhlüffe müßten von aller
Welt befolgt und heilig gehalten werben, von den Delre⸗
1 Abgebrudh bei Harzheim concilia Germaniae I, 249 fig. auch in an⸗
dern Concilienſammlungen. — 2) De antiquis canonum collectionibus III,
cap. 6, $. 2. in ihrer Ausgabe von Leo’s Werfen Vol. III. oder auch bei
Gallandius sylloge dissertationum, Folivausgabe ©. 210. — 3) Opp. II,
476 Mitte. — *) Gefchichte des canonifchen Rechte. Werke J., 248.
1080 2000 EL Buch. Kapitel 12.
talen dagegen brauche er den Ausdrud, daß man fie mit Ehrfurcht
entgegennehmen folle. Jene hätten daher bleibende Gültigfeit, in
diefen fey Vieles blos örtlich und zeitlich, woher es denn auch komme,
das fie manchmal felbft den Sasungen der allgemeinen Synoben
widerfprächen. Zwar verdienen fie, um ihrer Verfaſſer willen, Ad:
tung, gleichwohl dürfe man in Bezug auf fie die von Gelaſius
felbft empfohlene Negel: prüfet Alles und das Beſte bebaltet, nicht
vernachläßigen. „Er wolle damit,“ fährt der Metropolit fort, „keines⸗
wegs behaupten, daß die Defretalen Dinge enthalten, welche nicht
gut feyen, fondern nur, daß fie nicht überall mit den heiligen
Canones übereinftimmen; es verhalte fih mit ihnen, wie mit dem
mofaifchen Geſetz, welches ver Apoftel Paulus recht und gut nenne,
aber blos für die Zeiten des alten Bundes. Die Schreiben der
alten Päbfte feyen gut für ihre Zeiten gewefen, aber feit die allge:
meinen Kirhenverfammlungen bleibende Geſetze eingeführt hätten,
müffe man ſich an biefe halten.“
In den folgenden Kapiteln 27 — 55 vertheibigt er theils die
Rechte der Metropoliten und fein eigenes Verfahren im Laufe des
Streits, theils züchtigt er den Hochmuth, Unverftand, Leichtfinn
und Geiz des Neffen. An einigen Stellen bricht feine Erbitterung
über die von dem Biſchofe gefammelten Defretalen in ſtarken Wor—
ten hervor; er nennt fie ein zufammengeftoppeltes Machiwerf, I) er
vergleicht fie mit einem Giftbecher, an deſſen Nand ein wenig Ho:
nig geftrichen fey,.und mit bem Apfel, welchen Satan unfern Stamm:
eltern hinhielt, fprechend, efjet jo werden eure Augen geöffnet und
ihr werdet feyn wie Götter, während doch der Böſe dem erſten
Menfchenpaare ftatt des verbeißenen Gutes bie Gabe des ewigen
Lebens entriß, und baffelbe überdieß in die tieffte Sklaverei
ſtürzte. „Wenn der Neffe,“ fährt er fort, „gewiſſe Biſchöfe
zur Annahme jenes Machmerfs anreize und zu ihnen fpreche:
nehmet und verfechtet mit mir diefe Defreialen und Ihr werdet Nie:
mand unterworfen ſeyn, als dem Pabite allein, fo heiße dieß eben:
foviel, als wenn er fagte: zerftört mit mir die göttliche Ordnung,
welche einen Unsterfchied der Würde im bifchöflihen Stande ein:
geführt hat.“ Abermal giebt hier der Metropolit zu verfieben, daß der
jüngere Hinfmar nicht allein fand, fondern eine Parthei für fich
gewonnen hatte. Hinfmar von Rheims fließt die Schrift mit
i) Opp. IL, 559 gegen unten flg.
Die Päbſte Sergius IT, Leo IV., Nikolaus I. x. 1081
ber Erklärung: ') wenn auch ber Neffe diefer Stimme ber War:
nung fein Gehör ſchenke, habe doc wenigftens er das Geinige
gethban und hoffe auf einflige Vergeltung, da ja aud der Bader
feines Lohns nicht verluftig gehe, wenn gleich "der Mohr, den er
gewafchen, fo ſchwarz aus dem Babe wieder heraus als
er hineingeſtiegen ſey.
Durchaus ſtellt der Erzbiſchoff von Rheims, wie man ſieht,
den pſeudoiſidoriſchen Geſetzen ſeines Neffen die Behauptung ent—⸗
gegen, daß das aus Concilienſchlüſſen geſchöpfte Kirchenrecht höhere
Geltung babe, als die Defretalen alter Päbfte, und dag daher
Vegtere nur in fofern angewendet werben bürften, als fie mit jenen
übereinftimmen. Nirgends greift er die Aechtheit der pfeudoifidori-
fheneStüde an, aber daraus folgt feineswegs, daß er fie wirklich
für Acht hielt. Im Gegentheil wird ſich tiefer unten ergeben, daß
er fo gut, als mehrere feiner Zeitgenoffen,. den zweideutigen Ur:
forung dieſer Urkunden Fannte, oder ahnete, aber die Klugheit
verbot ihm, Das was er wußte offen heraus zu fagen. Als ber
Streit zwifchen dem alteren und jüngeren Hinfmar begann, hatte
der Pabft Nifolaus bereits, wie oben gezeigt worben, die pſeudo⸗
iſidoriſche Sammlung dur ein förmliches Zeugniß gut geheißen.
Wenn daher Hinkmar es jest noch wagte, die von feinem Neffen
vorgelegten Urkunden. für ein Werf des Betrugs zu erflären, fo ließ
er fich nicht blos in eine bodenlofe Unterfuhung ein, fondern er
lief Gefahr, daß die Gegner ein Zetergefchrei gegen ihn erhoben,
und ihn als Verächter des päpſtlichen Stuhls brandmarkten. Mebh:
vere Spuren finden fih in dem Buche ber 55 Kapitel, daß der
jüngere Hinkmar und feine Genoffen entfchloffen waren, diefe Waffe
gegen den Erzbifchof ‚zu gebrauchen. Er legt ) 3. B. dem Neffen
bie Worte in Mund: „wie? Du willft den apoftolifchen Stuhl in der
Perſon der heiligſten Päbfte verläumden, indem Du behaupteft, Die:
felben hätten Borfchriften gegeben, die man nicht halten dürfe.“
Was würden fie erft gejagt, wie ben Pöbel und die unwiſſenden
Mitglieder des Clerus aufgehest haben, wenn der Metropolit fich
‚erlaubt hätte, die Aechtheit der Defvetalen zu läugnen! Durch den
Bertheidigungsplan, den er befolgte, wich er diefer drohenden Gefahr
aus, und erreichte dennoch vollfommen feinen Zwei. Wir fehen
") Ibid. 592 unten. — ?) Ibid, 483 gegen oben.
1082 — UIl. Buch. Kapitel 12.
in ſeinem Verfahren einen glänzenden Beweis von Umſicht und
Geſchäftskenntniß.
Die Befürchtung, welche Hinkmar am Schluſſe ſeines Buchs
ausſprach, war richtig. Der Neffe ließ ſich nicht belehren, viel⸗
mehr überreichte er der Synode nicht blos die wider den Oheim
geſchriebenen Briefe, ſondern auch die ältere Sammlung, die er,
wie wir früher erzählt, von den Clerikern ſeines Sprengels hatte
unterſchreiben laſſen. Nun forderte der ältere Hinkmar die verfam:
melten Väter auf, daß fie ihm helfen möchten, ben ungehorſamen
Neffen zur Vernunft zu bringen. Alsbald brach ein Sturm gegen
den Hirten von Laon los: die Biſchöfe verflagten ihn wegen ber
ungerechten Bannftrablen, die er verhängt, der König, daß er ben
Eid der Treue gebrochen, Nortmann, daß er ihm .ein. rechtmäßig
ertheiltes Lehen entriffen habe. Der jüngere Hinfmar hoffte dag
Gewitter zu beſchwören, indem er an den Stuhl Petri appellirte
und Briefe des Pabftes vorlag, die ihn nah Nom riefen. ') Aber
man Fehrte fih nicht daran, und feste ihm noch ‚heftiger zu. So
von allen Seiten bedrängt, mußte er zulest einen Schein folgenden
Inhalts unterfchreiben: „Sch Hinfmar, Bifchof von Laon, gelobe
für jegt und in Zufunft meinem Gebieter und Herrn Karl folche
Treue, wie fie ein Bafall feinem Lehnsherrn, ein Bifchof feinem
König ſchuldig ift, auch verfpreche ich meinem Metropoliten, dem
Erzbifchofe von Rheims, den durch die heiligen Canones vorgefchrie:
benen Gehorfam zu leiſten.“ Achtundzwanzig Biſchöfe und vier
Aebte unterzeichneten die Urkunde als Zeugen. In dem alten Bes
vichte über den Verlauf der Synode von Attigny heißt es: ber
jüngere Hinfmar habe fich zu Ausftellung des Schein ohne allen
Zwang, auf den Rath der ibm befreundeten Bifchöfe, ver:
fanden, 2) der Neffe felbft aber behauptet, ) die Unterfchrift ſey ihm
theils durch Drohungen, tbeils durch Hinterlift abgepreßt worden.
Dem fey wie ihm wolle: während- ber Nacht fiel der Neffe in den
alten Troß zurüd, er forderte am andern Morgen von dem Obeim
einen in ähnlichen Ausdrüden abgefaßten Schein des Inhalts: daß
ber Metropolit die canonifhen Rechte des Biſchof's von Laon zu
achten gelobe. Mit Unwillen wies der ältere Hinfmar das An:
4
) Dieß ſagt der Siſho —* Hincmari opP- II. 350. — 2) — XVI.,
858 obere Mitte.
Die Päbſte Sergius II, Leo IV.; Nikolaus I. ꝛc. 1083
finnen zurüd. Da nun auch noch wegen ber frittigen Lehengüter
ein Gericht niedergefegt wurde, deſſen Ausſpruch der Bifchof von
Laon zu fürchten Urfache hatte, entfloh er von der Synode nach
Haufe. ni ’ N
In Laon angefommen, fchrieb er an den Oheim einen Brief,
worin er dieſen aufforberte, die beim Könige ſchon mehrfach nad
gefuchte Erlaubnig zu einer Reife nah Nom ihm endlich einmal
auszumirten; ber Metropolit wilfe ja felbft, daß ihn der Pabft
fhon zweimal nach Rom eingeladen babe, auch ſey er durch ein
Gelübde zu diefer Neife verpflichtet. Schließlich Fündigte er ihm ben
Gehorfam auf, im Fall der ältere Hinfmar feine und des Pabftes
Bitte nicht berücfichtigen würde. Der Oheim gab Feine Antwort.
Nun fohrieb der Neffe an Karl'n den Kahlen: ein Fieber halte ihn
ab, perfönlih am Hofe zu erſcheinen, dev König möge ihm Urlaub
zu der Wallfahrt nah Rom gewähren, die er angelobt habe, um
feine Gefundheit wieder zu erlangen. Karl ließ ihm durch den
Ueberbringer bes Briefs zurüdfagen: wenn ihn fein Fieber nicht
bindere, nad Rom zu reifen, fo fönne er auch an den Hof kom—
men; würde er perfönlich nachweifen, daß feine Bitte begründet fey,
fo folle ihm der Urlaub nicht verweigert werben. ) Zugleich befahl
er ihm, einem gewiffen Eligius ein Kirchenleben, das er ihm ent:
riffen, zurüdzugeben. ) Der Bifchof geborchte weder dem Be:
fehl, noch der Ladung, dagegen ſchickte er den Probft der Laoner
Kirche Heddo an den Oheim mit der fchriftlihen Forderung ab:
ber Metropolit folle ‚den König dazu bewegen, daß ihm freie Ver:
fügung über die Güter feiner Kirche zugeftanden werbe; im ent
gegengefesten Fall drohte er feine Berufung auf den Stuhl Petri
weiter zu verfolgen, und zugleidy alle Die mit dem Bann zu bele:
gen, weldhe Güter der Laoner Kirche an ſich gezogen hätten. Seine
Befugniß zu letzterer Maaßregel vechtfertigte er durch die Beichlüffe
einer angeblih im Jahre 860. zu Toucy gehaltenen Synode, von
welcher er eine Abfchrift beilegte. Unter denfelben war namentlich
folgende Beflimmung, daß Alle, welche Kirchengüter ſich aneignen,
oder ohne Vorwiſſen des Bifchofs veraußern, ihr Leben lang unter
dem Banne bleiben, auch weber auf dem Sterbebette das Abend:
mahl, noch nah dem Tode ein Firchliches Begräbniß erhalten follen.
1yIManſi XVI, 580. — 2) Hincmari opp. II., 593 unten.
1084 9 Buch. Kapitel 12.
Der Metropolit antwortete ) dem Neffen: „er habe ſeinetwegen mit
dem Könige gefprochen, Karl fey bereit, ihm einen Theil der Lehens
güter zurüdzugeben, aber in Betreff der übrigen müſſe erft der
Ausfpruh des Gerichts abgemwartet werden, deſſen Entſcheidung
fih der jüngere Hinfmar zu Attigny entzogen hätte. Woher der
Neffe die vorgelegten Befchlüffe von Toucy befommen, könne er
nicht begreifen, weder er felbft, noch die andern Bifchöfe, die in
Touch zugegen gewefen, wüßten ein Wort davon. Er habe bie
Urfchrift der dortigen Verhandlung, die ganz anders laute; bie
Abfchrift des Neffen fey daher offenbar erdichtet, auch flimme fie in
vielen Stüden nicht mit den heiligen Canones überein.“ Den Ber:
dacht, welchen bier der Metropolit ausfpricht, rechtfertigte er ein
Jahr fpäter durch weitere Gründe , indem er namentlich aufdedte, 2)
daß bie Abfchrift des Neffen falſche Unterſchriften enthalte. Am
Schluſſe obigen DBriefes warnte er den Bifchof von Laon, dag er fi
wohl vorſehen folle, die Beliger von Kirhengütern poreilig mit dem
Banne zu belegen, oder feine Berufung nah Rom durchzufegen,
ehe die Sache auf der nächſten Provincialſynode unterfucht fey.
Hierauf erließ der jüngere Hinkmar an den Oheim ein langes
Antwortiihreiben, °) in welchem er fein Recht auf die ihm vom
Könige flreitig gemachten Kirchengüter darzuthun fucht, und bie
Aechtheit der Beichlüffe von Toucy keck behauptet, „Er habe,“ fagt
er, „diefe Akten von demfelben Erzbifchofe Hartwik, (auf deffen
Zeugniß fi) der ältere Hinfmar in dem vorigen Briefe berufen
hatte) erhalten und durch zwei Diafone feiner Kirche, von welchen
er gewiß wiſſe, daß fie unfähig feyen, päbſtliche oder andere Ur:
funden zu verfälfchen, abfchreiben laſſen. Wenn der Oheim die
Urjchrift jener Synode, an welcher fie Beide Theil genommen, wirk-
lich in Händen habe, fo wünſche er jehr, fie zu fehen, denn fein
eigener Name müfje gleichfalls darauf ſtehen. Allerdings fey zu
Toucy ein anderes vom Oheime entworfnes Synodalfchreiben vor:
gelefen worden, aber weil bafjelbe gar zu lange geweſen, babe
man für gut befunden, einen kürzeren Auffag zu unterfchreiben und
diefer kürzere Entwurf fey der nämliche, den er neulich dem Me:
tropoliten in Abfchrift vorgelegt habe.“ Sofort fommt ber jüngere
i) Ibid, fl. — 2) Manſi XVL, 602 unten. — 3) Hincmari opp. II.,
608 fig. ’ AU An
—
Die Pähfte Sergius IL., Leo IV. , Nikolaus J. ꝛc. 1085
Hinkmar auf die Frage wegen ber Defretalen zu fprechen. Er giebt
zu, baß diefelben verfchiedener Art ſeyen, aber nicht, daß fie eins
ander wiberftreiten. Er beftcht darauf, daß Angelegenheiten der
Biihöfe Shon in erfter Inftanz an den Stuhl Petri
gebracht werden dürfen, und macht endlih dem Oheim Vor—
wiürfe wegen feines Ungehorfams gegen den Pabft.
Durch den unerhörten Trog, den er bis dahin bewies, hatte
der Bifhof von Laon König und Metropoliten gleichmäßig belei-
digt. Allmählig aber fühlte er, daß er es mit Beiden zugleich nicht
aufnehmen fünne. Daher verfuchte er, ſich mit dem Hofe wieder
auszuföhnen. Nicht unwahrſcheinlich ift, daß auch römifche Vor:
ftellungen ihn biezu bewogen, denn im folgenden Jahre wurde auf
der Synode von Toucy ein Brief ') Hadrian’s an den Biſchof von
Laon vorgelefen, worin dem Letztern Gehorfam gegen feinen Erz:
biſchof, — jedoch mit Borbehalt des Rechts der Appel
lation an den römifhen Stuhl — eingefhärft wird. Uns
gefähr zwei Monate nad) der Synode von Attigny, ) alfo im
Juli 870 unterwarf er fih dem Könige, indem er weltliche Rich—
ter von ihm erbat, die über die fireitigen Lehen entfcheiden foll-
ten. Sie wurden ibm ohne Den Rath des älteren Hinfmar-.
und wider deffen Willen zugeftanden, und ihr Spruch lau:
tete günftiger für den Bifchof, als derfelbe erwarten durfte. Wie
fonft fo oft, ließ au) bier wieder Karl der Kahle den Metropoliten
im Stide. Hinfmar empfand dieß tief, In einem Brief an den
Neffen machte er feinem Unwillen Luft, ?) indem er denfelben mit
Borwürfen überfchüttete, daß er, den Kirchengefegen zuwider, welt:
liche ftatt geiftlicher Richter gefordert habe.
Abermal dauerte der Friede zwifchen dem Könige und dem
Biihofe von Laon nur furze Zeit. Im Herbite 870 wurde von
ben päbftlichen Gefandten die oben erzählte Intrife mit dem könig—
lichen Prinzen angezettelt, bei welcher auch der jüngere Hinfmar
ſich betheiligte, Im Winter begann die‘ Empörung, und im fol
genden Frühjahr fprachen die Bifchöfe den Bann über Karlomann
aus, Der König verlangte, daß auch Hinkmar von Laon, gleich
den andern Kirchenhäuptern, die Akte des Bannes unterfchreiben
follte. As Schildträger des Stuhles Petri Fonnte und wollte
ı) Manfi XVL, 660. — 2) Ibid. 603, — 9) Opp. Il, 606;
1086 IT. Buch. Kapitel 12.
der Biſchof dieſem Anfinnen nicht genügen, er wies es wieberholt
zurüd, Dadurch * er ſich den König zum unverſöhnlichen
Feind.
Im Auguſt 871 berief Karl der Kahle eine Synode nach
Toucy, um den unbotmäßigen Biſchof zu richten. Obgleich vor:
geladen, erſchien Anfangs der jüngere Hinfmar nit. Die Ber:
bandlungen wurden nichtsdefloweniger eröffnet, und zwar trat als
fein erfter Ankläger Karl der Kahle felbft auf. Er überreichte der
Berfammlung eine nicht mehr vollfiändig vorhandene Klagfchrift, )
in welcher er den Biſchof befchuldigte, den König beim Pabſte als
Berfchleuderer der Kirchengüter verläumbet, hochverrätherifche Plane
gehegt und feinen Unterthanen:Eid gebrochen zu haben. Nachdem
der König gefprochen, hielt der Metropolit einen langen Vortrag, ?)
in welchem er die Vergehungen des Neffen aufzählte und fein eiges
nes Betragen vechifertigte. Am Schluffe forderte er die Synode
auf zu erwägen, ob nicht fofort über den Bifchof von Laon, ber
trotz dreimaliger Vorladung fich nicht geftellt habe, das Urtheil der
Berdammung zu fällen fey. „Seine Berufung auf Nom,“ meinte er,
„eönne dem Nechte der Synode feinen Eintrag thun, da nad den
Kirchengefegen Geber innerhalb feiner Provinz angeklagt und gerichtet
werden müſſe“
Die Biſchöfe fammelten fofort Stellen aus der Bibel und den
Eoneitienfchlüffen, als Anhaltspunft für einen Urtheilsfprud. So
weit waren fie gefommen, als endlich der jüngere Hinfmar ſich
bequemte zu erfcheinen. Man las ihm den obenerwähnten Brief
bes Pahftes vor und beraumte ihm eine Frift an, um auf die vom
Könige vorgebrachten Klagepunfte zu antworten. Auch zu der näch⸗
ſten Sigung fam Hinfmar erft nad dreimaliger Ladung. Statt
fi) zu verantworten, wie die Bifchöfe erwarteten, erklärte er, daß
er die Synode nicht anerfenne, weil ber König ihn feiner Güter
beraubt habe. Der König nannte diefe Behauptung eine Lüge und
erhob neue Klagen gegen ihn, 3. B. daß der jüngere Hinfmar bie
Abſicht gehabt habe, alle Dienfimannen feines Sprengels bewaffnet
gegen die Synode zu führen. Als weiter der Oheim in den Neffen
drang, daß er ſich verantworten folle, fagte ihm Diefer in's Geficht, daß
er ihn gleichfalls nicht als feinen Nichter anerfenne, weil er an
) Manſi xvi. 578 unten fg 2) Ibid. 581 flg.
Die Päbſte Sergius II., Leo IV., Nikolaus 1. ꝛc. 1087
feiner Verhaftung im Jahr 869 fchuldig gemwefen fey. Der Metro:
polit rief den König, die Großen, viele Biſchöfe als Zeugen auf,
ob dem fo jey? Sie beſchworen alle das Gegentheil. Noch wollte
ber jüngere Hinfmar ſich durch eine Berufung auf den Pabft hel-
fen; „wer etwas wider ihn habe,“ rief er, „folle mit ihm nach
Nom ziehen und ihn dort verklagen.“ Man bewies ihm, daß er in
der eigenen Provinz Rechenfchaft zu geben habe.
Die Synode fhritt nun zum Beweife der gegen ihn vors
gebrachten Klagepunfte, erklärte ihn, da er harinädig auf dem
Vorſatze ſich nicht zu verantworten beharrte, für überführt, und
ſprach das Urtheil der Abfesung über ihn aus, doch mit dem Vors
behalte, daß er, gemäß den Sclüffen von Sarbdifa, an den Pabit
appelliren dürfe. ")
Die Synodalaften wurden fammt einem Schreiben ?) der Bis
ſchöfe nad) Rom überſchickt. In letzterem erfuchten fie den Pabft,
das gefällte Urtheil zu beftätigen. Sollte er jedoch, was fie nicht
erwarteten, für gut finden, ein neues Gericht niederzufegen, fo
möge er biezu Bifchofe der benachbarten Provinzen wählen. In
legterem Falle erklären fie Nichts dagegen zu baben, wenn der
Pabft römische Abgeordnete fchidken würde, um im Berein mit frän:
fiihen Bifchöfen die Sache des jlingeren Hinfmar yon Neuem zu
unterfuchen; nur müßten fie darauf beftehen, daß Hadrian ben
Berurtheilten nicht eher einfege, als bis die neue Synode ihr Ur:
theil gefällt haben würde. „Reine Kirchenverfammlung,“ fuhren fie
fort, „habe je den galliihen und beigifchen Gemeinden das Necht
entzogen, über ihre Angehörigen im eigenen Lande richten zu bür:
fen; vielmehr werde durch Die nicänifchen und andere Befchlüffe den
Metropoliten die Gerichtsbarkeit über ihre Suffragane zuerkannt,
und fo wenig es ihre Abficht fey, Die vom Apoftelfürften Petrus
ber römischen Kirche erteilten Vorrechte zu fehmälern, fo wenig
erwarteten fie gallifcher Seits, daß der Pabſt ihre, durd die Ca—
nones geheiligten und von den älteren Päbften beftätigten, Landes:
rechte Fränfen werde. Sollte aber der Pabſt deffenungeachtet fich
durch irgend Jemand zu Wiederherftellung des Verurtheilten verlei:
ten laffen, fo erklären fie auf's feierlichfte, daß fie in Zufunft fich
nicht mehr den Ausichweifungen diefes Menfchen mwiderfegen, aber
N) Ibid, ©, 677. u 2 Ibid. 678 flg.
1088 mi. Buch. Kapitel 12.
auch durchaus Feine Gemeinfchaft mit ihm halten würden.“ In gleichem
Sinne fchrieb ') der Metropolit von Nheims an den Pabft.
Die in beiden Briefen ausgefprocene Drohung wirkte in Rom
nit. Ende Dezember 871 antwortete 2) Hadrian den Bifchöfen
von Toucy: die Abfegung des jüngeren Hinfmar, der doch an den
römifhen Stuhl berufen habe, fey unrechtmäßig, fie follten daher
einen Anfläger, ber die erforberlihen Eigenfchaften befige, nad)
Nom fenden, damit dort die Sache von Neuem unterfucht werde.
Für die Zwifchenzeit verbietet er ihnen, einen Andern zum Bifchof
von Laon zu weihen. In noch derberem Tone fehrieb 3) Hadrian
an ben König, ber fich über mehrere von Rom aus wegen des
jüngern Hinfmar erhaltene Berweife befehwert hatte, Er tabelt-fein
Murren, Schreien und Toben als einen offenbaren Beweis, daß
es Karl dem Kahlen noch gänzlich am der Liebe fehle, weldye der
Apoftel mit den Worten feiere, (1. Cor. 13, 4. flg.) die Liebe ift
langmüthig und freundlich, fie eifert nicht, fie treibt
feinen Muthwillen, fie bläht fih nicht auf, fie ftellt
fih niht ungebärdig, fie ſuchet nicht das Ihre u. f. w.
Statt zu lürmen, hätte der König vielmehr dem Pabfte dafür dan:
fen follen, daß derſelbe ihn, wie ein Vater, ein wenig züchtigte.
Er (Hadrian) handle hierin nicht anders, als Gott, der allgemeine
Bater aller Gläubigen jelbft, denn ftehe nicht gefchrieben, (Hebr. 12,
6.) welchen der Herr lieb hat, den züchtigt er, Er ſtäu—
pet einen Segliden, den Er zum Sohne annimmt.
Hadrian wiederholt fofort in Betreff der Abfegung des jüngeren
Hinkmar Daffelde, was er im Briefe an bie Väter von Toucy
gejagt.
Die Langmuth der Neuftrier war erichöpft. Zwar die Bifchöfe
antworteten ziemlich gemäßigt. In einem Schreiben, *) von welchem
nur ein Brudfüd auf uns gefommen ift, können fie nicht Worte
genug finden, ihr Erſtaunen über den päbftlichen Brief auszudrüden.
„Mehreremal hätten fie denfelben in der Berfammlung vorleſen laſſen,
weil es ihnen unmöglich gewefen, zu glauben daß die die Meinung
des heil. Vaters ſey. Nachdem fie ſich endlich überzeugt, daß nichts
Anderes in dem * ſtehe, bleibe ihnen nur eine Erklärung des
1) Ibid. 682 unten flg. — 2) Manſi XV., 852 Sie MB. — 3) Ibid,
©. 855 flg. — *) Manfi XVI, 569 flg- ee
Die Päbfte Sergius IL, Leo IV., Nikolaus I. xc. 1089 .
Räthſels übrig: der Pabft, oder Derjenige, welcher jenes Schreiben
in feinem Namen aufgefegt, könne nimmermehr die überfchieten
Aften oder ihren Testen Bericht burchgefehen haben.“ Die Antwort
des Königs dagegen hat Hörner und Zähne. Wie zwei Jahre
früher, erhielt Hinfmar auch dießmal den Auftrag, im Namen
Karls die Feder zu fpisen. Er lieferte eine Arbeit, ) die ein voll
wichtiges Seitenftüd zu dem in dev Sache der lothringiſchen Thei—
Yung erlaffenen Schreiben bildet. Wir geben einen gedrängten Aug:
zug: „durch Euer alle Achtung gegen bie königliche Würde verlegen:
des und von bifchöflicher Demuth vollig entferntes Betragen zwingt
Ihr mich, den König, mit Euch in anderem Tone als bisher zu
reden, um Euch endlich einmal bemerklich zu machen, dag Wir ein
Fürft, und troß aller menfchlihen Mängel ein nach dem Ebenbilde
des Herrn gefchaffener Menſch Föniglichen Gefchlechtes, dag Wir ein
vechtgläubiger Chrift, in weltlicher und geiftlicher Gelehrfamfeit bewan—
dert, und von feinem Gerichte eines Verbrechens angeklagt, ges
fchweige denn überwiefen find. In früheren Briefen ?) nanntet Ihr
mich einen Meineidigen, Tyrannen, Kirchenräuber, als hättet Shr .
nicht einen König, fondern den gemeinften "Verbrecher vor Euch,
und wenn Sch über Eure Reden Klage führte, jo ermahntet Ihr
mich Alles, was vom apoftolifhen Stuhle fomme, dankbar und
bemüthig hinzunehmen. Sch wäre der Krone, ja auch der chrift:
lichen Gemeinfchaft unwürdig, wenn ich Yänger zu ſolchen Beſchim—
pfungen fehwiege. Auf Eure Behauptung, es fehle mir noch an
der vom Apoftel gepriefenen Liebe, entgegne Ich, dag Ich in Euren
Schriften auch nichts von diefer Liebe finde. Der erfte Bifchof Roms,
der Apoftel Petrus, hat nicht blos den Tadel feines Genoffen Pau:
Ius mit Danf angenommen, fondern auch als er von Untergebenen
wegen feines Umgangs mit Heiden zur Nebe gefebt ward, wies er
fie nicht mit der ſchnöden Antwort ab, daß fie Alles, was er gethan,
geduldig fich gefallen Yaffen müßten, vielmehr fuchte er fein Betra-
gen in aller Demuth zu vechtfertigen. Ihr machet es anders, ftatt
mic) mit Euch auszuföpnen, wollt Ihr mir mit unverdienten Vor:
würfen den Mund fchliegen. Ihr braucht den Ausdrud: ich befehle
und will, daß der Bischof Hinfmar von Laon nah Rom gefchict
werde, Nie hat irgend einer Eurer Vorgänger eine folhe Sprache
1) Abgedruckt Opp. II., 701 flg. — 2) Wegen des Prinzen Karlomann.
Gfrörer, Kircheng, II. 69
1090 j II. Buch. Kapitel 12.
geführt, in der ich nur weltlichen Hochmuth fehen kann. Wir zweif-
fen allerdings nicht, daß Ihr es fo wollet, denn der Menfch will
ſehr oft Dinge, die er bei veiferer Ueberlegung nicht wollen follte;
aber wo fteht denn gefchrieben, dag einem Könige, deffen Amt es
ift, Verbrecher zu beftrafen, vermöge apoftolifcher Gewalt befohlen
werben barf, regelmäßig verurtheilte Uebelthäter zum Behufe der
Unterfuhung nach Rom zu ſchicken.“ Hadrian hatte in feinem letz⸗
ten Briefe den König aufgefordert, die Güter der. Kirche von Laon,
während der jüngere Hinfmar fid) in Nom befinden würde, unter
feine Obhut zu nehmen und vor Schaden zu wahren. Der König
findet diefes Verlangen unverfchämt: „die Könige der Tranfen wa—
ven son jeher Herren des Landes, nicht Vögte oder gar Güter:
verwalter der Biſchöfe. Leſet die Gefhichte Eurer Vorfahren durch
und Ihr werdet finden, daß feiner von ihnen je gegen Kaifer und
Könige, ja nicht einmal gegen die Exarchen eine ſolche Sprache
führte, wie Ihr gegen mich. Welche Hölle hat das Geſetz aus:
gefpieen, daß ich einen Mann, der wegen fo vieler Verbrechen
verdammt ward, nad) Nom fchiden folle? Wißt Ihr denn nid,
daß die von Kaifern und Königen über die Geiftlichfeit erlaffenen
Geſetze nicht blos von den einfachen Bilchöfen, fondern auch vom
apoftolifchen Stuhle beobachtet werden müſſen? Ich bitte Euch, mich)
in Zufunft mit Drohungen des Bannes zu verfchonen, die ja doch
feine Kraft befisen, fofern fie nicht mit der heil. Schrift, der über:
lieferten Lehre und den SKirchengefegen übereinftimmen. Nur da
gelten die Borrechte Petri, wo nad der Billigfeit Petri gerichtet
wird.“ Mit Bezug auf die Forderung des Pabftes, daß man einen
tüchtigen Kläger nach Rom fenden möchte, deutet fofort der König
an, daß ihn wohl noch die Luft anwandeln Fönnte, mit einer Menge
der tüchtigſten Zeugen jedes Standes und Alters felbft nah Nom
zu fommen. Weiter bittet ev den Pabft, in Zufunft an ihn feldft,
bie neuftrifchen Bilchöfe, oder die Großen des Neichs, Feine fo ent:
ehrende Schreiben mehr zu erlaffen, weil er fi fonft genöthigt
feben würde, die. päbftlihen Gefanbten mit Schimpf und Schande
heimzuſchicken. „Gerne,“ fährt er fort, „wollen wir Euch als dem
Statthalter Petri den fohuldigen Gehorfam Teiften, aber wir erwar⸗
ten dann, daß Ihr Euch felbft an die heil. Schrift, die Lehre ber
Borfahren und die Befchlüffe der Concilien haltet. Was dieſen
Achten Quellen gemäß ift, nehmen wir an, Dagegen perwerfen wir
Die Päbſte Sergius II., Leo IV. , Nikolaus I. ıc. 1091
Alles, was ihnen zuwider von irgend Jemand zuſam—
mengeftoppelt, oder erdichtet ward“ u. |. w. So deutlich
hatte ſich Hinfmar fonft nie über den Urſprung der pſeudoiſidori⸗
ſchen Dekretalen ausgeſprochen.
Dießmal hatten die Neuſtrier die rechte Saite anzuſchlagen
gewußt. Die Wirkung des Brief's erhellt aus der Antwort 1) des
Pabſtes. Hadrian ift wie umgewandelt. Im Eingange fpricht er
zwar noch von ungeflümmen Aufwallungen des Königs, Ienft aber
dann fchnell ein, indem er fagt, er wolle bie geſchlagenen Wunden
durch das Del des Troftes heilen, Wirklich übergießt er Karl den
Kahlen mit Schmeicheleien, rühmt ihn wegen feiner Weisheit, Gottes:
furcht, Gerechtigkeit, wegen feiner Großmuth gegen Klöfter oder
Kirchen und wegen anderer Tugenden. „Kommen Euch,“ fährt er
fort, „Briefe von mir zu, die anders lauten, jo find fie entweder
erfehlichen, oder während meiner Krankheit mir abgepreßt, oder
unterfchoben worden.“ Im größten Vertrauen eröffnet er ſodann
dem Könige, daß er, im Falle er den Tod des Kaifers
Ludwig erleben follte, Niemand fürdeffenNadfolger
im römifhen Reihe anerfennen würde, als ihn, Karen
ben Kahlen, felbft wenn ihm auc Jemand fir eine andere Wahl
viele Scheffel Goldes anböte. Ueber die Verbrechen des jüngern
Hinkmar getraut er fih zwar Fein Urtheil zu fällen, gefteht aber
doch ein, daß derſelbe mit Necht verurtheilt ſcheine. Sodann er:
klärt er, daß es keineswegs feine Abficht fey, die Nechte der Metro:
politen zu ſchmälern. Da aber der jüngere Hinkmar doc einmal an
den Stuhl Petri berufen habe, möge man ihm Urlaub zu einer Neife
nad Rom gewähren. In Iesterem Falle verfpricht er entweder eigene
Richter für ihn zu ernennen, oder feine Abgeordneten nach Gallien
zu ſchicken, damit die Sache in berfelben Propinz, wo fie ihren
Anfang genommen, auch beendigt werde.
Hadrian IL. farb bald nad Abfendung diefes Briefs. Der
Plan, die pfeudoifidorifchen Defretalen mit Beihülfe des Biſchofs
yon Laon dem Abendlande aufzundthigen, war vollftändig mißlun-
gen. "rüber ift gezeigt worden, ?) daß der Pabſt kurz zuvor einen
andern Weg eingefchlagen hatte, um denſelben Zweck zu erreichen,
indem er nämlich die wichtigften Grundfäse Pſeudoiſidor's auf der
) Manfi XV., 857 flg. — ?) Siehe oben ©, 277 fig. k
69
1092 IT. Buch. Kapitel 12,
allgemeinen Sten Synode von Conftantinopel zum Kirchengefeß er:
heben ließ. Aber auch diefer letztere Kunftgriff entging dem Scharf:
finn der Franfen nicht. Der Erzbifhof Hinfmar bemerkt in feinen
Jahrbüchern: ) „auf der eonftantinopolitanifchen Synode, welde
Diejenige, die bort zufammenfamen, ald die achte all-
gemeine zählen, wurde in Betreff des Bilderdienftes Manches gegen
die Lehre der rechtgläubigen Väter befchloffen, auch geftanden dort
die Griechen dem Pabfte, weil diefer ihre Anficht von den Bildern
gebilligt hatte, Rechte zu, welche wider die alten Cano—
nes der Kirche freiten.“ Die Umfchreibung, welche Hinfmar
braucht, um den Rang diefer Synode zu bezeichnen, deutet Darauf
bin, daß er fie nicht als eine allgemeine und-für die ganze Kirche
bindende anerkannte. Sp durchbrach die Wachfamfeit des Metro:
politen von Rheims alle Schlingen römiſcher Feinheit.
Der verurtheilte Bifhof von Laon ward in Haft gehalten,
und als er einige Zeit fpäter mit dem teutfchen Könige hochver—
rätherifche Berbindungen anfnüpfte, Tieß ihm Karl der Kahle die
Augen ausftehen. Bis dahin war feine Abfesung vom römifchen
Stuhle noch nicht beftätigt worden. Allein in Folge der neuen
Treundfchaft, welche im Jahr 876 zwifchen dem Neuftrier und dem
Pabfte zu Stande fam, beftätigte Johann VII, Hadrian’s Nach:
folger, das zu Toucy über den jüngern Hinfmar gefällte Urtheil.
Zwei Jahre fpäter befuchte Johann VII. Frankreich, kurz nach dem
Tode Karls des Kahlen. Der Unglückliche benüste diefe Gelegen-
heit. Er übergab dem Pabſte eine Klagfchrift wider feinen Oheim
und bat um ein gerechtes Gericht, allein Alles, was er erreichte,
befchränfte fich darauf, dag ihm Johann VIII. erlaubte, die Meſſe
zu fingen, und einige Einfünfte auf die Güter der Laoner Kirche
anwies. Bon den fpäteren Schickſalen des Geblendeten weiß man
Nichts, als daß er noch vor feinem Oheim, alfo vor 882 geftor-
ben ift. 2) Hart war fein Loos aber nicht unverbient.
Der Metropolit yon Nheims hatte in den letzten Zeiten Ha-
drian’s II. die Höhe feiner Macht und feines NRuhmes erftiegen;
aber unter dem folgenden Pabft gieng alles Errungene durch die
Schuld des Königs wieder verloren, ĩ
1) Hincmari annales ad annum 872. Perz I., 494 obere Mitte. —
2) Histoire litteraire de la France V., 524 flg. und Cellotius vita Hinemari
Laudunensis bei Manft XVL., 721 flg. wo die Beweisftellen gefammelt find.
Die Päbfte Sergius II., Leo IV. , Nikolaus I. ıc. 1093
Gleich nad dem Tode Hadrian’s, welcher Ende Novembers er:
folgte, fehritt der römische Clerus zu einer neuen Wahl. Sie fiel
auf Johann VII, einen gebornen Römer. Am 14. Dezember 872
erhielt der Erforne die päbftliche Weihe. ) Die Alten Quellen ſchwei—
gen darüber, ob die Nömer erſt die Faiferlihe Genehmigung einge:
holt haben. Wider den Willen des Kaifers Ludwig kann Johann VIIL
nicht wohl erhoben worden feyn, da er bemfelben fofort einen wid
tigen, von Ludwig erbetenen, Dienft leiftete. Der Fürft von Bene-
vent Adalgis hatte nämlich im Jahre 871 den Kaifer fammt der
Kaiferin unvermuthet überfallen und in einen feflen Thurm zu
flüchten gezwungen, aus welchem er Beide nicht eher entließ, bis
ber Kaifer einen Eid ſchwor, daß er diefe Beleidigung niemals
rächen werde. Ludwig war jedoch nicht gemeint feinen Schwur zu -
halten, er forderte alsbald den Pabſt Hadrian IL auf, ihn von
dem Eide zu entbinden. Die Jahrbücher yon Nheims, ?) denen
wir diefe Nachricht entnehmen, fügen nicht bei, ob Hadrian dem
Wunſche des Kaifers entfpradh. Dagegen berichtet Regino, °) daß
Hadrian’s Nachfolger, Johann VII wirklich den Eid gelöst habe,
worauf Adalgis befriegt und aus Italien vertrieben worden fey.
Im Jahre 875 ftarb Kaifer Ludwig, ohne männliche Nach:
fommenfchaft, blos eine Tochter überlebte ihn. Diefer Todesfall
erregte daher die größten Erfchütterungen, da nicht nur das italie=
nische Reich, fondern auch die Kaiferfrone zu vergeben war. Gieng
es nach dem gewöhnlichen Recht, fo gehörte das Erbe Ludwig's
dem Könige von Teutfchland, als dem älteften und Achten Oheim
des Berftorbenen. Allein der Pabft glaubte, der günftige Augen-
blick fey jet gekommen der Welt zu zeigen, daß bie Kaiferfrone,
welche einft Leo II. an Karl'n den Großen verliehen habe, nicht
zu den Erbgütern des fränfifchen Haufes gehöre, fondern daß dem
Stuhle Petri die freie Verfügung darüber zuſtehe. Mit Ausschluß
bes teutfchen Zweige ber Karolinger, hatte er das Kaiferthum
dem Neuftrier zugebacht. Lange Zeit vor dem Tode Ludwig's IL,
müffen ‚geheime Unterhandlungen zwifchen den Päbften und dem
neuftrifchen Hofe über diefe wichtige Frage flattgefunden haben. Auf
) Hincmari annales ad annum 872, Perz I,, 494 unten. — ?) Ad an-
num 871, Perz I,, 493 gegen oben. — °) Reginonis chronicon ad annum
872. Perz I., 584 unten flg.
1094 | II. Bud. Kapitel 12,
einer Synode zu Nom im Jahr 877 behauptete ) Johann VIIL.,
fchon fein zweiter Vorgänger, Pabſt Nikolaus, fey durch göttliche
Dffenbarung erinnert worden, daß nad dem Tode Ludwig's Karl
der Kahle das Kaiſerthum erhalten werde. Diefe verblümte Aeuße—
rung fcheint auf Umtriebe hinzudeuten, die in die 60er Jahre bes
Hten Zahrhunderts zurücreihen. Den Brief, in welchem Hadrian II.
dem Neuftrier diefelbe Ausficht vorbielt, haben wir oben angeführt.
Auch war es Johann VIIL, der gleich nach dem Tode Ludwig's IL,
den franzöſiſchen König aufforderte, ?) eilends nad Nom zu kom—
men, und das Erbe des Berftorbenen fammt der Kaiferfrone in
Empfang zu nehmen.
‚Karl der Kahle folgte dem Hufe. Im Spätherbfi 875 über:
ſtieg er die Alpen, traf den 17. Dezember in Nom ein, und ward
am Chriftfeft, dem fechsundfiebenzigften Jahrestage der Krönung
Karls des Großen, von Johann VII. zum Kaifer gefalbt. I) Sicher:
lich hatte der Pabſt mit gutem Bedacht diefen Tag gewählt. Er
wollte dadurch finnbildlich anzeigen, daß der Stuhl Petri, jetzt wie
vor 76 Jahren, nach feinem Ermeffen die Kaiferfrone vergebe.
Es war übrigens gut gethan, daß Karl fo fchnell nach Nom 308.
Denn fobald die Nachricht vom Ableben des alten Kaifers einlief,
hatte der teutfche König Fraftvolle Maaßregeln getroffen, um fich
und feinen Kindern das italienifche Erbe zu fihern. Während er
feine beiden älteren Söhne, Karl den Diden und Karlmann, mit
Heeresmacht nach Italien beorderte um das dortige Reich in Beſitz
zu nehmen, und im Nothfall dem Neuftrier den Weg zu verlegen,
fiel er felbft in Neufter ein, verwüftete das Gebiet feines Halb:
bruders unbarmherzig, und zog auch eine Parthei von Bifchöfen
und Großen auf feine Seite. Aber nun fuchte der Pabft feinen
fchwerbedrohten neuftrifchen Bundesgenoſſen durch geiftliche Waffen
zu ſchützen. Er erließ ein donnerndes Schreiben *) an die Bifchöfe
Teutſchlands, in welchem er fie mit Vorwürfen überhäuft, weil fie
den Einfall ihres Gebieters in das neuftrifche Neich nicht gehin-
dert hätten. „Der Teufel,“ fagt er, „habe die Tugenden Karls
von deffen Kindheit an beneidet, und den König ſtets auf alle Weife
!) Baluzius Capitul. II., 253 Mitte. — 2) Hincmari annales ad annum
875. Perz I, 498 untere Mitte. — °) Idem ad annum 876 ibid. — *) Jo-
hannis VIII. epist, 315. Mansi XVIL, 227 fi, 0° i
Die Päbſte Sergius IL, Leo IV,, Nikolaus I. ıc. 1095
geprüft, auch argliftiger Weife an Erlangung des Kaiſerthums zu
hindern gefucht. Eben diefer Teufel fey es auch, der den teutfchen
Herrfcher zu ungerechtem Kriege wider Karl verleitete. Gleichwohl
babe der fromme Karl durch göttliche Vorſehung und den Dienft
des Pabſtes die ihm gebührende Krone erlangt. Diefer Fürft ift
es,“ fährt der Pabſt fort, „dur den Gott die Trübſale feiner
Kirche erleichtern will, er ift es, nad dem meine beiden nächften
Borgänger ſich feit Langem fehnten. Ihn hat Gott in dieſen letz—
ten Zeiten durch das Borrecht des apoftoliichen Stuhls zur Faifer:
lichen Würde erhoben.“ Den teutfhen König dagegen erklärt Io:
hann faum für einen Sohn der Kirche anerfennen zu dürfen, weil
derfelbe fich ftetS ungehorfam gegen die Päbfte bewiejen habe. Sp
ftrafbar aber auch fein Betragen fey, müſſe er die teutfchen Bifchöfe
doch noch mehr tadeln, weil fie ihren Herren nicht von feinen böfen
Werfen zurüdgehalten hätten. „Mit welchem Rechte,“ ruft er aus,
„eonnen wir ung Statthalter Chrifti nennen, wenn wir nicht für Die
Sache Chrifti wider die Ungerechtigkeit der Herrfcher freiten? Sagt
nicht der Apoftel Paulus, dag wir nicht gegen Fleifch und Blut
allein, fondern gegen die Mächte der Welt und die Fürflen zu
kämpfen haben! Berdienen wir noch den Namen Bifchöfe, wenn
wir dem Beifpiele Derer folgen, die wir eines Beffern belehren follten,
wenn wir Die, welche zurechtzumeifen unfere Pflicht ift, nicht wenigſtens
durch firenge Worte vom Böſen abfchredfen.“ Er befiehlt ihnen fo:
fort, das Berfäumte nachzuholen und den König zu warnen. In
einem zweiten Schreiben ) an die teutfchen Großen, erklärt er ihnen:
fie hätten wegen des Zugs nah Neufter den Bann verdient, aus
Mitleiden wolle er jedoch noch zufehen, aber nur unter der Bedin-
gung, daß fie aufhören, ‚gegen den Willen Gottes und die Gebote
der Kirche zu handeln. In einem dritten Briefe 2) bedroht er Die
neuftriihen Biſchöfe, welche die Parthei des teutfchen Königs er:
griffen hätten, mit dem Banne, wenn fie nicht augenblicklich ſich
Karl dem Kahlen unterwerfen würden.
Die vereinten Anftrengungen des neuen Kaifers und des Pab-
fies waren nicht erfolglos, Noch vor Ende des Jahrs 875 verließ
ber teutſche König Neuftrien wieder, und fehrte nad Teutſchland
zurüd, wo er bald darauf (Ende Auguft 876) ftarb. 3) Schon zu:
») Epist, 316 ibid. ©. 230 unten fig. — ?) Epist, 318 ibid. ©. 234
unten flg. — 3) Annales Fuldenses ad annum 876, Perz * 389 unten.
1096 Sm. Buch. Kapitel 12.
vor hatte Karl der Kahle die Plane der beiden Söhne des teut-
[hen Fürften dadurch vereitelt, daß er ben Einen zurüdtrieb, den
Andern durch einen Vertrag und trügerifche Berfprehungen zum
Rückzuge veranlaßte. Italien und die Kaiferfrone verblieb daher
porerft dem Neuftrier. Aber mit ſchweren Opfern mußte er bie
Vetstere bezahlen, nur gegen einen ungeheuren Preis erwies ihm
der Pabft die obenerwähnten Gunftbezeugungen. Der Mönd von
Fuld fagt, ) Karl der Kahle habe Das, was er in Nom errang,
wie einft Jugurtha, um fchweres Gold erfauft, und aud Hink—
mar gefteht, ) daß der neue Kaifer bei feiner Krönung dem heili—⸗
gen Petrus viele und koſtbare Gefchenfe darbrachte. Weit Yäftiger
als diefe Geldfpenden waren die Rechte, welche der Pabſt fich von fei-
nem Faiferlihen Schüslinge ausbedang. Ein alter Schriftfteller, der
Presbyter Eutropiug, der, wie. es fcheint um die Mitte des 10ten
Sahrhunderts ?), ein Buch Über Die Gewalt der Raifer verfaßte, berichtet *)
in mißbilligendem Zone, daß Karl der Kahle damals nicht blog dem
Pabfte die Herrichaft über Rom fammt den Städten Spoleto, Benevent
und den Provinzen Samnium und Calabrien abgetreten, fondern auch
den Römern uneingefehränfte Freiheit Päbſte zu wählen zugeſtan—
den habe. Diefe Behauptung ift jedenfalls übertrieben, denn Sam:
nium und Salabrien gehörten damals den Griechen, oder doch Her:
zogen, welche die Hoheit des byzantinifchen Kaifers anerfannten, 5)
Auch über Rom behielt Karl der Kahle gewilfe Rechte, wie man
aus den eigenen Briefen des Pabſts erweifen fann. Johann VII,
nennt in einem berfelben 6) Nom die Hauptfladt des Kaiferreiche,
Sn einem andern ?) erfucht er Karl, Uebelthäter, welche die römi:
ſche Kirche beraubt hätten, durch feine Senbboten aufgreifen und
beftrafen zu laſſen; in einem dritten °) bittet er ebendenfelben,
Ruhe und Gerechtigkeit im Gebiete des heiligen Petrus herzuftellen.
Bernünftiger Weife Fonnte der Pabft feine vollfommene Unabhän-
1) Idem ad annum 875 ibid, Mitte. — 2) Hincmari annales ad annum
876, Perz I. 498 Mitte. — ?) Pagi (eritica ad Baronium anno 875, Nro, 10.
Ausgabe von Lucca XV., 281, b.) behauptet zwar, Eutropius habe erft um 1020
gefchrieben. Aber neuerdings hat Wilmans Gahrbücher des teutfchen Reiche
1. b, 255 flg.) mit guten Gründen die auch von älteren Schriftſtellern auf:
geftellte Behauptung verforhten, daß das Buch in die angegebene Zeit fällt. —
*) Perz scriptores III., 722. — ?°) Siehe Pagi a. a. O. — 9) Epist. 31.
Manfi XVIL, 30 oben. — ) Epist, 23 ibid. ©. 21. — °) Epist, 277 ibid.
©. 205 unten, womit zu vergleichen Epist. 293 ibid, ©. 214. _
Die Päbfte Sergius II. Leo IV., Nikolaus J. ıc. 1097
gigfeit vom Kaifer fordern, denn er brauchte gegen einheimifche, wie
gegen auswärtige Feinde fortwährend die Hülfe beffelben, und bie
Schirmvogtei der römifchen Kirche, die er ihm zu diefem Zwecke notb-
wendig einräumen mußte, fchloß immerhin eine gewiffe Oberherrlich-
feit in fih. Gleichwohl find wir überzeugt, daß die Angabe des Press:
byters, gehörig befchränft, ihre Nichtigkeit hat. Johann VIII. war,
als er die Kaiferfrone auf das Haupt des Nteuftriers feste, im
Stande Alles, was er wünſchte, von bemfelben zu erlangen.
Welcher Wunfh Fonnte ihm näher liegen, als Herr in Rom zu
feyn? Seit Karl dem Großen hatten die fränfifchen Kaifer eigene
Richter und Kriegsbefehlshaber in der Hauptftadt Italiens eingefeßt.
Erft wenn dieſe abziehen mußten, durfte der Pabft fih als Ge:
bieter Roms betrachten. Ausdrüdlic fagt der Presbyter, daß
Karl der Kahle auf die Bitte Johann's die Faiferlichen Vögte und
Anführer der bewaffneten Macht zurückzog. Diefes Zeugniß wird
durch einen Brief ) des Pabſts beftätigt, wo er ſich beflagt, daß
durch das tyrannifche Verfahren des Grafen Lambert ihm feit 877
alle Gewalt über Nom, welde die Kaifer dem Stuhle Petri ein:
geräumt hätten, entriffen worden fey. Der Pabſt war alfo früher
Herr der Stadt, aber die Schirmvogtei, ohne welche ſich der Statt-
halter Petri felbft nicht Halten Fonnte, fand fortwährend dem Kai:
fer zu. Auf diefe Weife gedeutet, ergänzen ſich die beim erften
Anschein widerfprechenden Stellen aus den Briefen des Pabſts
gegenfeitig, und die Ausfage des Presbyters behält in gebührenden
Gränzen Recht.
Noch andere und Yäftigere Zugeftändniffe mußte der neue Kai—
fer machen. Gleich nach der Krönung verließ Karl der Kahle Rom
und begab fih nad Ober-Stalien, um das langobarbifche Reich,
das längft als ein Anhängfel der Kaiferfrone betrachtet wurde, zu
übernehmen. ?) In Pavia verfammelten ſich die weltlichen und
geiftlihen Stände Langobardiens, die Großen und Bifchöfe, Sie
erklärten: ?) „fintemal die göttliche Gnade, auf Fürbitte der
Apoftel Petrus und Paulus durch deren Stellvertres
ter den Pabft Johann, Euch Karl berufen und nad dem
Urtheil des Heiligen Geiftes auf die Höhe des Kaiſerthums
erhoben bat, foerwählen aud wir einmüthig Euch zu unferem
) Epist, 85 ibid. ©. 75 unten. — 2) Hincmari annales ad annum
876, Perz I., 498, — 3) Baluzii Capitularia I., 235 unten flg.
08 FT Buch. Kapilel 12.
Beſchützer und Heren, wir werden Euch mit Freuden unterthan
feyn, und Alles willig beobachten, was Ihr zum Nugen ber
Kirhe und zu unferem Wohle verfügt.“ Eine Reihe Be:
ſchlüſſe ) wurde fofort gefaßt. Der erfte bis dritte Handelt von
der Achtung, welde man dem Pabſte, der römischen Kirche und
ihren Vätern fchuldig ſey; der vierte von den Ehren, die dem Ele:
us gebühren, erft ber fünfte fchärft die Pflichten des Gehorſams
gegen den neuen Kaifer ein. Diefe furze Sasungen hatten einen
tiefen Sinn. Nicht nur ward dadurch aller Welt fund gethan,
daß die Kaiferfrone, welche Karl der Kahle errungen, ein Gnaden—
geſchenk des Stuhles Petri fey, fondern die Langobardifchen Stände,
bie feit 100 Jahren erbliche Unterthanen des Karolingifchen Stam-
mes geweſen, belaßen jest das Wahlrecht, was abermals ein
unermeßlicher Gewinn für den Pabſt war. Denn man Fonnte
sorausfehen, daß von Nun an .die felbfiftändiggewordenen Lango-
barden aus Nom das Lofungswort empfangen würden.
Karl der Kahle Tieß in Pavia feinen Schwager den Grafen
Boſo, der um jene Zeit die einzige Tochter des verfiorbenen Erb:
kaiſers Ludwig's IL, Irmengard, heirathete, 2) mit dem Titel eines
Herzogs als Statthalter des italienischen Neiches zurück, Boſo war
durch die neue Würde, noch mehr aber durch die Heirath ein großer
Herr geworden, hiezu Fam noch, daß ihn der Pabft, wie tiefer
unten gezeigt werden fol, zu anderen wichtigen Dingen auserfehen
hatte. Karl felbft eilte nach Franfreich zurück, denn er mußte dort
ven Yesten Theil der Rolle, die ihn Johann VIIL angewiefen, zu
Ende fpielen. Im Juli 876 berief er eine Synode des neuftrifchen
Reichs nad) Pontion. Hier wurden die Befchlüffe von Pavia feier:
lich beftätigt, dann fchwuren die Anmwefenden noch folgenden ?) Eid:
„Gleichwie der Pabft Johann zuerft in Nom unfern glorreichen
Herrn Karolus zum Auguftus gewählt und mit dem heiligen
Dele gefalbt hat, und gleichwie nachher alle Biſchöfe, Aebte, Gra—
fen und Stände des italifhen Reichs ihn zu ihrem Beſchützer und
Bertheidiger mit einflimmiger Ergebenheit wählten: alfo beftätigen
und wählen auch wir ihn allzumal, die wir aus Franfen, Bur⸗
gund, — Septimanien, Neuſter und Provence hier ver⸗
h bid. ©. 239 fig. — 2) Hincmari annales ad annum 876. Perz L.
499 oben. — 9) Bei, ‚Baluzius a. a. O. I., 238 Mitte acy , ara
Die Päbſte Sergius IL, Leo IV., Nikolaus I. ıc. 1099
fammelt find,“ Man fieht, felbft den Ständen feines Erblandes
hatte Karl der Kahle um den Preis der Kaiferfrone das Wahl.
recht bewilligen müſſen. Welche Erniedrigung des Königthums !!
Die weiteren Verhandlungen zu Pontion geben Auffchluß darüber,
warum der Neuftrier ſich zu folder Demüthigung verftanden haben
mag. Er brachte zwei päbftliche Gefandte mit fi auf Die Synode,
die beide Johann hießen und Bifchofe waren, der Eine von Tus—
fulum, der Andere von Arezzo. Der Erftere verlas ein Schrei:
ben des heil. Vaters, welches dahin lautete, daß der Metropolit
Anfegis von Sens hinfort zum Primas und päbftlichen Stellver-
treter für Gallien und Germanien ernannt fey, mit der Befug-
niß, Synoden zu berufen und alle Sachen der Kirche
an den Stuhl Petri zu bringen. Die neuftrifchen Bifchöfe
verlangten fofort, daß man ihnen den Brief des Pabſts zum Lefen
geben folle. Der König oder Kaifer fchlug das Anfinnen rund ab.
Nun erklärten fie, daß fie, unter Borbehalt der Rechte eines
jeden Metropoliten, und gemäß den Kirchengeſetzen,
bereit feyen, dem Pabfte zu geboren. Obgleich der Kaifer und
die Gefandten auf unbedingter Unterwerfung beftanden, verharrten
fie bei ihrer Erklärung. Nur der Biſchof von Borbeaur, Frotarius,
der furg zuvor durch den König von feinem urfprüng-
lichen Stuhl auf das Erzbisthbum Bourges befördert
worden war, gelobte unbedingten Gehorſam. König Karl brach
in Drohungen aus, er fagte, der Pabſt habe ihn zu feinem Stell:
vertreter auf diefer Synode ernannt, er werde Mittel finden, Wider:
fpänftige zu zwingen. Sofort gebot er, daß ein erhabener Stuhl
zu feiner Rechten für den neuen Primas hingeftellt werde. Auf ſei—
nen Winf fchritt Anfegis an den andern Metropoliten, bie bisher
den Borrang vor ihm gehabt, vorüber und nahm den angewieſe—
nen Ehrenplas ein. Hinfmar von Nheims, bis jest anerkannter
Primas des Neihs, legte Widerſpruch ein, indem er behauptete,
daß die Erhebung des Anfegis den Kirchengefeten wiberftreite. Man
hörte ihm nicht, und auch die Auslieferung des pähftlichen Briefes
fonnten die Bifchöfe nicht durchfegen. ") |
Wir müffen hier den Faden der Erzählung ein wenig unter:
!) Meber den Hergang vergleiche man Hinapar) annales ad annum 876.
Perz L., 499,
1100 | II. Buch. Kapitel 12.
brechen, um die eben bejchriebenen Räthſel aufzuklären. Zahlreiche
Belege find ung ſchon früher vorgefommen, daß Einzelne der fpäte-
ven Karplinger, vor Allen Karl der Kahle, durh Gewalt, Trug,
Lift die Einheit des Weltreichs ihres erlauchten Ahns wiederherzu:
ftellen firebten. Der ſtärkſte Beweis diefes Strebens ift aber ber
eben gefchilderte Borgang. Der Ehrgeiz des Neuftriers war durch
die Erlangung der Kaiferfrone hoch angefchwollen. Mit Firchlichen
Waffen hoffte er das Yangerfehnte Ziel zu erreihen. Wenn ihm
der Pabſt bewilligte, daß ein neuftrifher Biſchof, Karl's Unter:
than, fofort zum apoftolifchen Stellvertreter in allen einft von Karl
dem Großen beberrfchten Provinzen biefjeits und jenfeits des Nheing,
alfo in Germanien wie in Gallien, eingefegt ward, fo fehien der
Weg gebahnt, um mit Hülfe diefes geiftlichen Gehülfen Teutfchland
dem neuen Saifer zu unterwerfen. Sohann VI. gieng wirklich
auf den Borfchlag ein, er ernannte, wie wir fehen, ben Bifchof
Anfegis yon Seng, einen alten Günftling des Neuftriers, mit den
gewünschten Vollmachten zum römifchen Bifarius. Der Gedanfe
war nicht neu, im runde wiederholte der Neuftrier denfelben
Kunftgriff, den 30 Jahre früher Kaifer Lothar 1. mittelft des Erz
bifhofs Drogo von Mes auszuführen verfucht hatte. 1) Allein
abgejehen von dem Widerftande der Teutfchen mußten porerft einige
bedeutende einheimifche Schwierigfeiten gehoben werden. Erſtlich
hatte Karl guten Grund zu zweifeln, daß bie weltlichen Stände
feiner Erblande gutwillig die Hände zu einem Plane der Ehrfucht
bieten werben, welcher das Reich in unüberfehbare Kriege mit den
Nachbarn und in koſtbare Feldzüge zu verwideln drohte. Diefe,
nit ohne Grund vorausgefeste, Abneigung der Stände fuchte
Karl der Kahle, wie uns fcheint, durch das Wahlrecht, das er
ihnen auf der Synode von Vontion einraumte, zu entwaffnen. Da:
ber jener, beim erften Anblicke kaum erklärliche, Schwur Allein
noch ftärferer Widerſpruch, als von den weltlichen Großen, fand
von Seiten der Bifhöfe zu erwarten. Sicherlich hatte der Pabft
in dem Vertrage, welchen ev wegen der Erhebung des Anfegis mit
dem neuen Kaiſer abſchloß, und folglich auch in dem Schreiben,
das dieſelbe dem neuftriihen Clerus anfündigte, fich die Zufiherung
der nämlichen auf Pſeudoiſidor geftüsten Nechte vorbehalten, gegen
1) Siehe oben ©. 965 flg.
Die Päbſte Sergius IT., Leo IV., Nikolaus I. x. 1101
welche unter dem vorigen Pabfte der Hitigfte Kampf von den Neuftriern
geführt worden war. Daß bie Sache ſich fo verhält, geht aus
Dem hervor, was man den Biſchöfen auf der Synode yon Pontion,
laut dem Berichte der Rheimſer Jahrbücher, vorlas. Denn fie hör:
ten ja, daß dem neuen Primas namentlich das Necht, Kirchen:
verfammlungen zu berufen, zuftehen folle. Diefes Necht gehörte zu
den wichtigften, dem Stuhle Petri yon Pſeudoiſidor vorbehaltenen,
Befugniffen. Die päbftliche Urkunde, aus welcher den Vätern bios
Einiges vorgelefen wurde, enthielt ohne Zweifel noch Weiteres über
ähnliche vom Pabſte geforderte Punkte. Aber fo charafterlos auch
jonft Karl der Kahle war, fo oft er früher fein Wort gebrochen
hatte, fchämte er fih doch, den Bilchöfen den ganzen Umfang
der neuerdings dem Pabſt eingeräumten Zugeftändnife, die aufs
grelffte gegen feinen Widerftand vor 4 Jahren abftachen, offen dar—
zulegen. Aus diefem Grunde erklären wir ung feine Weigerung, den
betreffenden päbftlichen Brief den Bifchöfen in die Hände zu geben.
Man theilte ihnen blos den allgemeinen Inhalt mit, und verfuchte
fie zu überrumpeln oder zu unbedingter Anerfennung eines Schrei:
beng zu vermögen, das fie nicht durchgeſehen hatten,
Allein letzterer Plan fcheiterte an der fo oft erprobten und
ſtets bewährten Feftigfeit des Metropoliten von Rheims. Hinkmar
widerfprach nicht nur auf der Synode, wie wir fahen, furchtlos
der Erhebung des Anfegis, fondern er verfaßte auch um jene Zeit
eine geharnifchte Schrift, ) um die Parthei, welche mit ihm bie
bergebrachten Metropolitanrechte vertheidigte, zu ermuthigen. Der
Inhalt des Buchs ift ungefähr folgender: „Der 6te Canon des niceni-
ſchen Concils, das von ſämmtlichen Päbſten und allgemeinen Kirchen:
verfammlungen für hochheilig erklärt worden fey, verordne, daß bie
Vorrechte aller Kirchen erhalten werben follen, der Ate Canon, daß
die Betätigung Alles deffen, was in einer Provinz verhandelt wor-
den, dem Metropoliten zuftehe.“ Neben vielen andern Firchlichen
Gefegen führt Hinfmar noch einen Brief des Pabft Hormisda an
ben heiligen Nhemigius von Nheims auf, worin der Pahft den
ebengenannten Bifchof in dem ganzen Reiche Chlodwig’s zu feinem
apoftolifchen Stellvertreter einfegt, aber mit Vorbehalt der den übri:
gen Metropoliten yon Alters her gebührenden Rechte. Auch vergißt
') Ad episcopos de jure metröpolitanorum opp. IL, 719 fig.
1102 — II. Buch. Kapitel: 12,
Hinfmar nicht, den ihm felbit von Benedikt II, ertheilten Freibrief
zu erwähnen, welcher das Erzbisthum Nheims von jeder andern
Behörde, als dem Stuhle Petri, unabhängig erflärte. „Immerhin
werde er,“ fährt Hinkmar fort, „wenn ihn der Pabft, oder fein Herr
der jegige Kaifer, zu einer Synode, in was für einer Provinz eg
auch fey, einlade, unverweigerlich ericheinen, da aus der Kirchen:
geihichte wie aus den Briefen der Päbſte erhelle, daß die Kaifer
ſtets das Recht geübt, allgemeine Kirchenverfammlungen zu beru:
fen. Im Uebrigen fey feit den Zeiten des heil. Bonifacius, den
der Pabft zu feinem Stellvertreter in den Provinzen bieffeits ber
Alpen ernannt habe, fein ähnlicher Beamte vom Stuhle Petri mehr
eingefegt worben, bis erft neuerdings Pabſt Sergius unter Kaifer
Lothar dieſelbe Würde dem Erzbifchof Drogo von Meß extheilte.
Aber bekanntlich Habe Droge, weil die übrigen Biſchöfe mit der
getroffenen Einrichtung fich nicht zufrieden erflärten, auf fein Bor:
vecht verzichtet.“ Hinkmar fchließt mit dem Wunſch, daß das Bei-
Ipiel von Friedensliebe und Mäßigung, welches Drogo gegeben,
nachgeahmt werden möge. Die Ausführung des Metropoliten ift
merkwürdig fein: er giebt dem neuen Kaifer zu verfiehen, daß
der neue Plan eine Wiederholung der von Kaifer Lothar. gemachten
Berfuhe fey, und daß die Erhebung des Anfegis ebenfo gewiß
am Widerftande der teutfchen und neuftrifchen Kirchenhäupter fchei-
tern werde, als vor 30 Jahren die Ernennung Drogo's mißlungen
fey. Zugleich züchtigt er in der Stelle, wo er von der Befugniß
der Kaifer, allgemeine Synoden zu berufen, handelt, die Charakter:
Iofigfeit Karl's, weil diefer ſich erniedrigt hatte, dieſes koſtbare Recht
einem Statthalter des Pabſts preis zu geben. Der Kaifer und bie
päbftlichen Gefandten drangen zwar auf der Synode yon Pontion
in foweit durch, als die Wiirde des Anfegis durd einen fürmlichen
Beihlug !) anerfannt ward, allein die neuftrifchen Biſchöfe beharr-
ten, von Hinkmar geleitet, auf ihrem obengefchilderten Vorbehalt, *)
wodurd jene Erhebung zu einem bloßen Schatten herabfanf. Eben:
fo entſchieden lehnten ſie das Anfinnen ab, ?) die Verfegung bes
Frotarius auf den Erzftuhl von Bourges gut zu heißen. Oränzen-
los muß die Erbitterung des neuen Saifers tiber den Fühnen Wider:
ı) Baluzius Capitularia IL, 248.-Nro, VII, — ?) Hincmari annales ad
annum 876. Perz I., 500 gegen unten, — ?) Ibid. Mitte.
Die Päbfte Sergius IL, Leo IV., Nitofaus I. x. 1103
ftand des Metropoliten von Rheims gewefen feyn, der alle Plane
Karl's durchkreuzte. Zu diefem Anlaffe bes Haffes kam wahrfchein-
lich noch ein anderer, Als der teutſche König Ludwig im Jahre
zuvor Neuftrien, wie oben erzählt worden, "mit Krieg überzog,
hatte Hinfmar an den franzöfifhen Clerus ein Nundfchreiben ') er—
laffen, in welchem er ben letztern ermahnte, dem rechtmäßigen
Gebieter treu zu bleiben, aber auch die von Karl dem Kahlen
begangene Fehler fireng tabelte. Sicherlich hat ihm dieß der neue
Kaiſer fo wenig verziehen, als das Betragen auf ber Synobe.
Karl nahm zu Pontion Rache. Der Erzbifchof wurde gezwungen,
im Angefichte der Berfammlung dem Kaiſer einen neuen Eid ?) ber
Treue zu leiſten. Man behandelte ihn demnach als einen des Hoch-
verraths Verdächtigen, der durh Schwüre an feine Pflicht erinnert
werben müſſe. Hinfmar empfand die Beihimpfung tief. In noch
vorhandenen Bemerfungen 3) über die aufgenöthigte Eidesformel
fpricht fi fein gefränftes Gefühl darüber aus, daß ihm, nachdem
er 8 Jahre das geheimfte Vertrauen des Kaifers Ludwig des From—
men genoffen, und nun dem jüngften Sohne deffelben feit 36 ah:
ven aufs Treuefle gedient habe, ein folder Schwur abgefordert
werde! Geine Klagen find gerecht. Nie hat irgend ein Bischof die
Freiheiten der Landeskirche und die Rechte der Krone wider den
Stuhl Petri fo geſchickt und fo treu verfochten. Hinfmar Tonnte
ein Wort davon fagen, was Fürften-Danf heiße.
Indeffen verfolgte Karl der Kahle die Plane der Ehrfucht,
mit welchen die Kaiferfrone feine Seele erfüllt hatte. Im Septem-
ber traf die Nachricht ein, daß der teutfche König Ludwig, Karl’s
Halbbruder, zu Frankfurt Ende Auguft verftorben fey, und daß bie
drei Söhne beffelben, Karlomann, Ludwig II. und Karl der Dice,
nad) der yerberblihen Sitte jener Zeiten, ſich in die Länder ihres
Baters getheilt hätten. Noch im September: Monat brach der Kai-
jer mit Heeresmacht gegen den Niederrhein auf, Der nächſte Streich
war gegen Ludwig III. gerichtet, der von dem Erbe feines Vaters
den teutihen Theil von Lothringen, das vheinifche Franken, Sad:
jen und Thüringen erhalten hatte. Nach Ludwig follten deſſen
Drüder an die Reihe fommen. Der Mönd von Fuld berichtet aus:
- D Hincmari opp. II, 157 fig. — ?) Baluzius Capitul, II., 250, Nr, IV,
— 3) Opp. II., 835 flg.
1104 00° HE Buch. Kapitel 12.
drücklich, ) dag Karl der Kahle ſämmtliche Söhne feines verftor-
benen Halbbruders zu unterbrüden gedachte. Während der Neuft-
vier gegen den Rhein zog, fohifften die Norbmannen mit hundert
Segeln die Seine herauf und vermwüfteten das Land fürchterlich. 9
Ihre Anführer feßten ſich ſeitdem dauernd im nördlichen Frank:
reich feil. Der elende Karl gab, wie man ſieht, in bemfelben
Augenblid, da er nah dem Erbe feiner Bettern gierige Hände
ausftreckte, das eigene Land unbarmherzigen Räubern preis. Ans
fangs fehien das Glück dem Kaifer zu lächeln. Der erfchrodene
Ludwig bat um Frieden und Karl hielt ihn mit Kügnerifchen Ber-
fprehungen Hinz durch einen nächtlichen Marſch hoffte er den Neffen
zu überfallen. Aber in der Gefahr ermannten fidh die Teutfchen.
Trotz ihrer Minderzahl brachten fie dem Heere Karl’s eine tödtliche
Niederlage bei. Mit Schimpf bededt floh Karl nad Haufe Die
Plane Faiferlicher Größe waren damit für immer zerronnen.
Sp fhlau der Pabft die Ehrfucht des Neuftriers ausbeutete,
brachte doch das angezettelte feine Gewebe auch dem Stuhle Petri
feinen Gewinn. Nach dem beftehenden Erbrechte gehörte der Nach—
laß des verfiorbenen Kaiſers Ludwig, und namentlich das italienifche
Reich, nicht dem Gallier, der nur ein jüngerer Stiefbruder vom
Bater des DVerblihenen war, fondern Ludwig dem Teutfchen und
feinen Söhnen. Auf diefes Recht des teutfchen Zweiges der Karo:
Yinger gründeten aber Tauſende yon Jtalienern ehrgeizige Plane.
Wer mit dem Pahfte Johann VIN. und feinem Schüglinge Karl
dem Kahlen unzufrieden war, wer durch Unruhen zu gewinnen
hoffte — und deren waren fehr Viele — klammerte fih an Karlo—
mann, den älteften Sohn Ludwig’s des Teutfchen, an. Eine fehr
ftarfe Parthei bildete fi gegen den som Pabft gewählten Kaifer,
und diefelbe hatte auch unter dem römifchen Clerus zahlreiche An:
Hänger. Daß der Pabft Johann VII. die Gegner für gefährlich
hielt, erhellt aus den kraftvollen Maaßregeln, die er traf. Er
ſelbſt berichtet in einem feiner Briefe, )) daß im Frühjahr 876 zu
Rom eine Verſchwörung angezettelt ward, an welcher mehrere ber
höchſten Beamten des Stuhles Petri, und auch der Biſchof Formo—
ſus von Porto Theil nahmen. Das Geheimnig kam jedoch heraus,
y — Fuldenses ad annum 876. Perz I., 390 oben. — Hinc-
mari annales ad annum 876, Perz I., 501 Mitte. — ®) * 319. Mansi
XVII, 236 Mitte flo.
Die Päbſte Sergius II., Leo IV., Nikolaus I. ꝛc. 1105
worauf die Verſchworenen im April bei Nacht aus ber Stadt ent-
flohen. Nun verfammelte der Pabft eine Synode und ſchleuderte
ben Bann wider bie Schuldigen. Zugleich berichtete er in einem
Rundſchreiben ) fämmtlichen Bifchöfen Galliens und Teutſchlands
was gefchehen, und forderte fie auf, den Gebannten jede Gemein:
Schaft zu verfagen; er fügte felbft die Drohung bei, daß Jeder,
der Einem der Geäcdhteten ein Stüd Brod brechen oder ihm den
geringften Dienft leiften würde, dem gleichen Banne unterliegen folle.
Johann VII. fette demnach voraus, daß die Flüchtlinge in Teutfch-
land oder Gallien Hülfe fuchen dürften. Auch nach der Flucht der
Verſchworenen dauerte in Nom die PBartheiung fort. Im folgenden
Sabre (877) fah fi der Pabft genöthigt, auf einer neuen Synode
bie Faiferlihe Würde feines Schüglings noch einmal zu beftätigen.
Er hielt vor den verfammelten Biſchöfen eine glänzende Lobrede ?)
auf Karl den Kahlen, deffen Erhebung, wie er fagt, ſchon feinem
Vorgänger Nikolaus durch göttliche Offenbarung anbefohlen worden
fey, und den er biefer Mahnung gemäß mit demüthiger Zuftim:
mung aller feiner Mitbifchöfe, des gefammten Clerus, des Senats
und Volks von Rom gewählt und nad alter Gewohnheit zum
Kaifer gefalbt habe. Alle Anmefende mußten die Wahl durch ihre
Unterfohrift von Neuem beftätigen. Zugleih wurden alle Laien,
welche Unruhen ftiften würden, mit dem Banne, Cleriker dagegen
im gleichen Falle mit der Abſetzung bedroht. Karl der Kahle
glaubte ſich jedoch durch die erneuerten Schwüre ber Bifchöfe keines—
wegs gefihert. Er eriheilte vielmehr dem Herzog Lantbert von
Spoleto, feinem Dienfimanne, Befehl, die Söhne der vornehmften
Römer als Geißeln der Treue ihrer Väter zu verhaften. Diefer
Auftrag konnte jedoch nicht vollzogen werben, weil Nom in fürd-
terlicher Gährung aufwogte. Der Pabft fchrieb ?) felbft an Yant:
bert im Dftober 877, er könne nicht glauben, daß der Kaifer einen
folhen Befehl gegeben habe, welcher allem Herfommen widerftreite;
eine Empörung drobe auszubrechen und Lantbert möge daher nicht
nad Rom kommen, ehe das gegen den Kaifer gerichtete Gewebe
vollftändig vernichtet feyn würde. Wir werben fpäter finden, daß
bie teutfche Parthei noch lange nachher eine Rolle fpielte; ganz
1) Epist. 319. Mansi XVII., 236 Mitte fig. — *) Baluzii Capitul, II,
251 fig. — 3) Epist. 61, Mansi XVII. 51 Mitte fig.
Sfrörer, Kircheng. II. a.
1106 *— II, Buch. Kapitel 12.
Stalien war zerriffen und es bildete fih in diefem unglüdlichen
Lande jenes Schaufeliyftem, Fraft deſſen die Großen ftets zwifchen
zwei Bewerbern um bie höchſte Gewalt wechfelten, indem fie den
Schwächeren gegen den Stärferen unterflügten, um Beide abzunützen
und ſich felbft zu heben.
Eben fo fühlbar war ein anderer Schaden, den die Krönung
Karls des Kahlen dem Lande brachte, Kaifer Ludwig II. hatte der
größten Anftrengungen beburft, um die Saracenen, die im untern
Stalien immer fühner um fich griffen, im Zaume zu halten. Seit
feinem Tode war Fein mächtiger Arm mehr vorhanden, der diefem
Feinde die Spige zu bieten vermochte. Denn Karl der Kable,
welcher die Einfälle der Normannen in Frankreich um Geld ab:
faufen mußte, befand ſich nicht in der Lage, etwas für Unter
Stalien zu thun. Genöthigt, fich felbft zu helfen, fo gut es gieng,
fehloffen daher die Städte Neapel, Salerno, Gaeta, Amalfı Biind-
niffe mit den Saracenen ab, und plünderten gemeinfchaftlich mit
ihnen Sampanien und die Umgegend von Nom. ) Vergeblich fchrieb
der Pabſt Briefe über Briefe ?) an die Fürften und Bifchöfe diefer
Städte, um fie von den gottlofen Verbindungen abzumahnen; ver:
geblich trat er felbft eine Reife nach Neapel an und verfuchte feine
Deredfamfeit an dem dortigen Herzoge Sergiug. ?) Der Staliener
fpeiste den Pabft mit Fahlen Berfprechungen ab, und blieb im
Bunde mit den Sararenen. Jetzt fehleuderte der Pabft den Bann
gegen Sergius, und wirklich fand ſich ein mächtiger Mann, ber
dieſe Acht-Erklärung vollzog. Johann VI. hatte früher, um Ser-
gius zu gewinnen, den leiblichen Bruder defjelben, Anaftafius, zum
Bifchofe ernannt, fo daß nunmehr die höchfte geiftliche und weltliche
Gewalt über Neapel in den Händen ber beiden Brüder vereinigt
war. Eben diefer Biſchof Athanaſius nun überfiel,: nachdem ber
päbſtliche Bannftrahl gefchleudert worden, feinen Bruder den Her:
308, ließ ihn fefleln, dann dem Gefeffelten die Augen ausftechen,
und ſchickte ihn alfo zugerichtet nad) Rom. *) Nach vollbrachter
That warf fi) Athanafius zum Herrn von Neapel auf und beberrichte,
!) Muratori annali d’Italia ad annum 876. Vol. V., 118, — ?) Epist,
36. 38. 39. 40, 41. — 3) Die Beweife bei Muratori a. a. O. V.. 122 ge
gen unten. — *) Erchemperti Langobardi chronicon cap. 39 bei Perz script.
rerum germ, III., 253 unten flg.
Die Päbſte Sergius I., Leo IV., Nikolaus 1. ꝛc. 1107
als Herzog und Bifchof in einer Perfon, die Stadt mit unum⸗
ſchränkter Vollmacht. Der Pabſt ermangelte nicht, den Bifchof
Athanaſius und die Neapolitaner in zwei Briefen ) höchlich zu
loben, jenen, weil er, eingedenf der Worte des Erlöfers: wer
feinen Bater, feine Mutter, feinen Bruder mehr liebt
als mih, fommt nicht im das Himmelreich, dem neuen
Holofernes zur Strafe gezogen; dieſe, weil fie flatt des fluchwür⸗
digen Sergius den frommen Athanafius zu ihrem Oberhaupt ge:
wählt hätten. Aber bald darauf wurde der Bilhof=- Herzog Atha-
nafius durch die Uebermacht der Saracenen gleichfalls genöthigt,
mit ihnen ein Freundfchafts:Bündnig abzufchliegen, worauf ihn der
Pabſt wiederholt mit dem Banne bedrohte. *) Dod was nüßten
Bannftrahlen, was Drohungen, was Worte, wo feine bewaffnete
Macht vorhanden! Blieb ja doch dem Pabfte zulest felbft nichts übrig,
als die Wuth der Moslemim durch eine jährlihe Brandihasung
von 25,000 Mark Silbers abzufaufen, die er ihnen verſprach, ®)
wenn fie aufhören würden, das römiſche Gebiet, wie bisher, mit
Feuer und Schwert heimzufuchen. Ueber diefe und Abnliche Un:
glüdsfälle erhob der Pabſt rührende Klagen in häufigen Briefen )
an Karen, feine Gemahlin, oder den Herzog: Statthalter von Sta:
lien Boſo, indem er fie „Iniefällig“ oder „mit gebeugtem Haupte,“
wie er fagt, um fchleunigfte Hülfe befchwor. Etwas mußte denn
doc) zulest der neue Kaifer für „fein Reich Italien“ wagen. Frei
lich war die Aufgabe fohwierig, denn das Bolf und die Großen
son Neufter, die fih im eigener Heimath der Norbmannen nicht
erwehren konnten, hatten fehr wenig Luft, für die perfönliche Ehrſucht
eines verachteten Herrfchers ihre Kräfte in einem fremden Lande
zu verfchwenden. Anfangs Juli S77 hielt Karl der Kahle einen
Reichstag. Die Hauptforderung betraf dießmal eine außerordentliche
Steuer, welche yon den weltlichen wie von dem geiftlihen Ständen
verlangt und auch bewilligt ward. Mit dem einen Theile der hohen
Summe, welde die Steuer abwarf, erfaufte er Frieden von ben
Nordmannen, den andern gedachte er auf den bevorftehenden Feld:
-
1) Epist. 66 und 67, Mansi XVII., 55 unten flg. — ?) Epist. 227 ibid.
S. 169 und epist. 241 ibid. ©. 177. — ?) Er gefteht dieſes felbft in dem
Briefe 89 an Karl'n den Kahlen ibid, ©. 78. — * Epist. 1. 7. 21. 30 —
32, 54 u. f. w.
70 *
1108 III. Buch. Kapitel 12.
zug und Beflehungen in Stalien zu verwenden. Mit einer Abtheilung
Bewaffneter brach er ſodann gegen die Alpen auf, der übrige Heerbann
follte ihm nachfolgen. ) Bon Rom her z0g ihm der Pabft Yangfam
entgegen, in der Abficht, den Kaifer unweit Mailand zu empfangen.
Unterwegs hielt Johann VIIL im Auguftmonate zu Ravenna eine
pielbefuchte Kirchenverfamimlung, deren Befchlüffe ?) beweifen, dag
ber Pabſt unabläffig bemüht war, die Grundfäge des falfchen
Iſidor und ber großen conflantinopolitanifchen Synode vom Jahr
869, für deren allgemeine Anerkennung fein Vorgänger Hadrian II.
vergeblich. gearbeitet hatte, ins Leben einzuführen. Der erfte und
dritte Canon yon Ravenna beftimmen, daß jeder Metropplite, der
nicht fpäteftens 3 Monate nach erfolgter Weihung dem Pabſte ein
Glaubensbekenntniß einfende und das Pallium von ihm erbitte, fein
Amt verlieren, ſowie daß er des Palliums verluftig feyn folle, wenn
er daffelbe an andern, als ben vorgefchriebenen Tagen, tragen
würde. Schon das Ste ökumeniſche Concil von Konftantinopel
hatte das Geſetz ?) gegeben, daß die Metropoliten von ihren vor:
gejesten Patriarchen eine Beftätigung ihrer Würde, fey es durch
Händenuflegung, oder durch Ertheilung des Palliums, zu erbitten-
hätten. Diefe Verfügung war von hoher Wichtigfeit für den Stuhl
Petri. Denn wenn es gelang fie durchzufesen, fonnte der Pabft die
Metropoliten vor Ertheilung des Palliums durch Verträge binden.
Berfuhe, in der Art Hinfmar’s die von Karl dem Großen ein-
geſetzte Gewalt des Erzbisthums aufrecht zu halten, waren dann
unmöglich. DBegreiflich ift daher, weßhalb Johann VII. auf dem
Eoneile yon Ravenna biefen Canon eingebracht hat. Weiter wurde
beſchloſſen, daß fein Herzog ſich unterftehen folle, Biſchöfe vor den
Pabft zu führen, oder Steuern und Gefchenfe von ihnen zu for-
dern, daß Niemand einem Bifchofe in Gegenwart von Laien Ber:
weiſe ertheilen dürfe, daß Clerifer, Nonnen, Wittwen und Waifen
allein unter dem Schuge der Kirchenhäupter flehen und vor feinem
weltlichen Gericht belangt werden follen. Endlich ward im Namen
Ehrifti, der beiden höchſten Apoftel Petrus und Paulus, fowie aller
Heiligen, jede Beſchädigung der Güter, Gefälle, Negalien, Rechte
des apoftolifhen Stuhles, fowie der in Mittel- Italien gelegenen
1) Hincmari annales ad annum 877, Perz L., 503. — 2) Die Aften bei
Manfi XVIL, 337 flg. — 3) Canon 17. Manfi XVL, 171 oben.
Die Päbfte Sergius IL, Leo IV., Nikolaus I. x. 1109
Klöfter verpönt — Alles bei Strafe der Ausfchliefung vom Safra:
ment oder bei hartnädigen Verbrechern des Bannes. Der Pabft
behandelte, wie man fieht, Italien als ein geiftliches Reich, als ein
Erbtheil des Clerus. Bon nusbringenden Rechten des Kaifers
ift feine Rede.
Bon Ravenna begab fih Johann VIN. nad Vercelli, wo er
mit Karl dem Kahlen zufammentraf. Beide giengen teiter nach
Pavia. Dort angefommen, erhalten fie die Nachricht, daß der
Prinz Karlomann, ältefter Sohn des 876 verftorbenen Ludwig des
Teutfchen, mit einem großen Heere in italien eingebrochen fey,
und gegen fie anrüde. Alsbald floh die Kaiferin mit dem Schas
der Schweiz zu, der Kaifer weilte noch einige Tage, auf den Zu:
zug feiner Großen und des neuftrifchen Heerbanns harrend. Aber
die fehnlih Erwarteten famen nicht. Die hohen weltlichen und geift-
lichen Lehnträger des franzöſiſchen Reichs Hatten nämlich, mit Aug:
nahme Weniger, eine Verſchwörung gegen Karl'n den Kahlen
angezettelt, darum blieben fie aus: dieß berichten ) mit Yafonifcher
Kürze die Jahrbücher von Rheims, welchen wir folgen. Als Karl
der Kahle ſich endlih von der Nußlofigfeit feines Wartens überzeugt
hatte, floh auch er den Alpen zu, der Pabft dagegen gieng nad
Nom zurüd, wo er gefund ankam. Nicht fogut wurde es dem
Kaifer, denn nachdem er den Montcenis überfliegen, ergriff ihn
am Fuße des Bergs ein Fieber. Er fuchte Hülfe bei feinem Leib-
arzte, dem Juden Zedechias. Diefer reichte ihm einen Gifttranf,
an welchem der Kaifer nach wenigen Tagen — den 6ten Oftober
877 — in einer ärmlichen Bauernhütte ſtarb. Der unerträgliche Ge—
flanf, welchen die Leiche verbreitete, beftätigt die Vergiftung; 2)
aber über die Frage, wer den Juden bezahlt haben mag, ftellt der
Chronift yon Rheims Feine Bermuthung auf. Der kurze Tre
neuftriichen Kaiſerthums war zerronnen !
Mir müffen jest unfere Aufmerfjamfeit den Firchlichen Zuftän-
den Neuftriens und dem Metropoliten von Rheims zumenden.
Die ungeheuren Zugeftändniffe, welche Karl der Kahle um ben
Preis der Kaiferfrone dem Pabfte gemacht, trugen über Erwartung
ſchnell ihre Früchte. Alles was Hinfmar yon 867 an mühſam
1) Hincmari annales ad annum 877, Perz ]., 505 Mitte bis unten. —
2) Idem ibid. I.,, 504 oben big Mitte.
1110 II. Buch. Kapitel 12.
dem Stuhl Petri abgerungen Hatte, flürgte feit 875 zufammen.
Nicht blos Biſchöfe appellirten gegen die Ausfprüche ihrer Metro:
politen nad) Nom, fondern auch Presbyter fuchten dort wider ihre
Biſchöfe Schutz. Die Falle häuften fih, daß Prieſter, welche wegen
Verbrechen abgefest und der Kirchenbuße unterworfen waren, an
St. Peters Schwelle eilten und von dort Gnadenbriefe zurück—
brachten, die den Schuldigen Straflofigfeit zuficherten. Das war
gewiß fehr unangenehm, aber doch durfte man ſich vernünftiger
Reife nicht Darüber wundern. Denn warum. hätte die niedere
Geiftlichfeit nicht das Beifpiel ihrer Biſchöfe nachahmen follen, da
fie doch fah, daß die Auflehnung Diefer gegen die Metropolitan:
Gewalt mit Hülfe des römischen Stuhl von erwünſchtem Erfolg
gefrönt wurde! Gleihwohl merkte Karl, der wahre Urheber bie:
fer Unordnung, daß die Kirche fo nicht länger beftehen fünne. Er
gab alfo Hinfmar den Auftrag, dem Pabſte kraftvolle BVorftellun:
gen zu machen. Der Metropolit richtete wirklich um 876 im Auftrage
des Kaiſers ein Schreiben ') an den Stuhl Petri, in welchem er
von den obenerwähnten Thatfachen ausgehend verlangte, der Pabft
folle fi in Bezug auf das Appellationsrecht der Bifchdfe, an die
Beichlüffe von Sardifa halten... Was hingegen die Presbyter und
die Mitglieder des niedern Clerus im Allgemeinen betreffe, müffe
der Kaifer auf Beobachtung der Canones von Nicda, Antiochien
und mehrerer afrifanifchen Synoden beharren, durch welce verord-
net werbe, daß Presbytern und anderen untergeordneten Geiftlichen
zwar das Necht zuftehe, im Falle fie ſich durch ihre Biſchöfe beein:
trächtigt glaubten, bei den Provincialiynoden Befchwerde zu führen,
daß aber auch die Entſcheidung der letztern unwiderruflich fey.
„Denn wenn jeber mit feinem Bifchofe unzufriedene Priefter,“ fahrt
Hinfmar fort, „ſich herausnehmen dürfte, beim Pabſte zu Hagen,
jo würden die Kirchenhäupter zulegt nichts Anderes zu thun haben,
als Gefandte und Abfchriften von Synodal-Berhandlungen fammt
Zeugen nah Nom zu fehiden. Ueberdieß wiſſe der Pabft ſelbſt, daß
ſehr oft Zeugen wegen Gebrechlichfeit oder anderer Hinderniffe eine
jo weite Reife nicht antreten könnten. Wohlweislich hatten deghalb
die Canones verfügt, daß jedes geiftliche Vergehen an Ort und
Stelle gerichtet werben folle, während durch den eingeriffenen Miß-
1) Hincmari opp. II., 768 flg.
A —
Die Päbſte Sergius IL, Leo IV., Nikolaus 1. xc. 44
brauch fich jeder Verbrecher der gebührenden Strafe entziehen könne,
wenn er nur in Rom tüchtig drauf los Tüge.“
Der Tod Karls des Kahlen veranlaßte Hinfmar bald darauf
zu Abfaffung einer andern Schrift der feltfamften Art. Ein Mann
aus dem Nheimfer Sprengel, Namens Bernold, erfranfte, ließ
fih das Abendmahl reichen und verfiel nun in eine viertägige Vers
züdung, während deren er fein Wort ſprach, auch Feine Speife
oder Trank genoß. Plöglih wacht er auf und verlangt dringend
nach dem Beichtvater, dem er fofort erzählte, was er im Gefichte
gefchaut Hatte. Die Sache machte Ların und fam auch dem Metro:
politen zu Ohren. Hinfmar fagt: weil es ihm nicht möglich geweſen
fey, den Verzückten felbft vor fich Fommen zu Yaffen, babe er ben
Beichtvater berufen, und von ihm Alles erfahren, was Jener dem
Priefter berichtete. Hinfmar fand die Ausfage wichtig und glaub:
würdig zugleih, er fchrieb fie nieder, So entftand fein an den
Clerus gerichteter Aufſatz über die Gefichte Bernolds. ) Wir müffen
uns auf wenige Auszüge Deffen, was wir für das Wichtigfte und bag
eigentliche Endziel des Berichtes anfehen, befehränfen. Bernold durch:
wanderte in der Verzückung das Fegfeuer, in welchem er viele mit
Namen angeführte Bifchöfe und Große des Reichs ſchwer gepei-
nigt erblidte. Außer diefen fah er noch einen Andern, Höheren,
nämlich den eben geftorbenen König oder Kaifer Karl. Wir laſſen
jegt den Seher felbft reden: „Ich Fam in eine finftere Höhle, bie
nur durch matte Strahlen eines benachbarten, hellerleuchteten, von
den veizendften Wohlgerüchen duftenden Drts einiges Licht em—
pfing. In diefer Höhle erblickte ich unfern Herrn den König Karl,
im Kothe liegend, vol Eiter und Beulen. Würmer nagten an ihm
und hatten fein Fleifch aufgezehrt, fo daß nichts als Knochen und
Sehnen übrig waren: Er rief mich mit Namen und ſprach: warum
hilfft du mir nicht? Ich entgegnete: Herr! wie kann ich Euch hel-
fen. Er antwortete: nimm dieſen Stein, der neben mir liegt, richte
meinen Kopf auf, und ftüge ihn auf den Stein. Als ich Diefes
gethan, fprach er: gehe hin zum Bifchofe Hinfmar und fage ihm,
weil ich auf feine und anderer Getreuen Rathſchläge nicht geachtet
hätte, leide ich diefe Pein, die du fiehefl. Weiter berichte ihm: da
ich immer mein Vertrauen auf ihn gefeßt, möge er mir auch jet
!) De visione Bernoldi opp, II., 805 fig.
1112 | III. Buch. Kapitel 12.
helfen, daß ich aus dieſer Marter erlöst werbe.“ Nachher warb
Bernold, und zwar im nämlichen Gefihte, gewahr, daß die Gebete
Hinkmar's wirfiih den unglüdlihen König an den Ort der Seligen
verfegt hatten. Wir find überzeugt, daß Hinfmar das Geficht Ber:
nold's nicht erbichtet hat, und daß er felbft an die Wahrheit deffel-
ben glaubte, denn ber Glaube an ſolche Berzüdungen und bie
Qualen des FTegfeuerd war damals allgemein verbreitet, wie man
aus den Schriften Gregor’s des Großen, den Gefichten des Fur:
feug, !) der Kicchengefchichte des Beba, *) und einem Briefe des
heil. Bonifacius ?) erfieht. Gleichwohl ift unfere Meinung, daß
Hinfmar, als er die Ausfage des Beichtvaters auffchrieb, einen
befondern Zwed hatte. Diefer Zweck befand ohne Zweifel
darin, den Nachfolger und Sohn Karl's des Kahlen, König Lud—
wig den Stammler, zu warnen, daß er nicht, wie fein Vater gethan,
die Rathfchläge der Hohen eiftlichfeit verachte. Unſere Vermu—
thung wird trefflich durch Das beftätigt, was gleich nad Karls
des Kahlen Tode in Neufter gefchah. Die Großen des Reiche,
welche, wie oben berichtet worden, ſich gegen den Kaiſer verſchworen
hatten, hielten auf die Nachricht von feinem Ableben einen Tag
bei Avenay. Ludwig der Stammler mußte mit ihnen unterhandeln,
und erft als er ihnen Alles, was fie verlangten, dem Einen ein
Kloſter, dem Andern Dörfer, Leibeigene, Grafichaften bewilligt hatte,
erfannten fie fein Erbrecht an. Nun trat eine Neichsverfammlung
in Compiegne zufammen. Hier wurde bem Sohne Karls ein Vertrag
vorgelegt, weldhen Ludwig unterjehreiben follte. Die Urkunde befagte,
daß Ludwig die VBerfaffung des Reihe, insbefondere aber die heiligen
Ordnungen und Rechte der Kirche für immer zu achten gelobe, Nachdem
er die Schrift unterzeichnet hatte, wählten ihn die Anwefenden zum
König, worauf den Gewählten Hinfmar mit dem heiligen Dele
falbte. *) As Wahlkönig folgte daher Ludwig der Stammler fei-
nem Bater Karl, der ein Erbfürft gewefen war, Das furze
Kaiſerthum des Neuftriers hatte, wie man fieht, zur Folge, daß bie
Macht der neuftrifchen Krone im eigenen Lande tief erniedrigt wurde,
was allem Anfchein nad) mit in dem Plane des Pabftes Johann VIH.
1) Siehe oben ©. 420. — 2) Beda hist. eccles. II, 19 und V., 12.
— 3) Epist. 20. Würdtwein ©. 49. Der teutfche Apoftel erzählt hier der Aeb—
tiffin Eadburga die Gefichte eines vom Tode wieder Erftandenen. — *) Hinc-
mari annales ad annum 877. Perz I,, 504 flg.
Die Päbſte Sergius IL, Leo IV., Nikolaus I. ıc. 1113
lag. Aber von einer Vererbung des Faiferlihen Titels auf den
jungen König fonnte jest nicht mehr die Rede feyn, weil bie Stände
des Reichs, die nun faft alle Macht in Händen hatten, von fernen
Kriegszügen und weitausfehenden Unternehmungen nichts wiſſen
wollten. Diefer Iegtere Punkt ftimmte ſchwerlich zu den Wünfchen
des Pabſts. Sn einer Hinficht hatte folglich auch er fich verrechnet.
Aus der Art und Weife, in welcher die Aheimfer Jahrbücher Das
was ber Krönung Lubwig’s des Stammlers yorangieng, darftellen,
erhellt deutlich, daß Hinfmar und der hohe Clerus die Anmaßungen
der Großen mißbilligte. Es Fonnte keineswegs in der Abficht der
Bischöfe Yiegen, einen fchwachen König zu haben. Denn wo follten
fie unter einem folhen Fürften Schuß gegen den hohen Adel finden,
welcher gierig die Hände nach allen Abteien, nah allen Kirchen-
gütern ausftredte, Der Clerus wünfchte und mußte wünſchen, daß
der König ſtark genug fey, die Willführ der Großen zu zähmen,
aber auch, daß er die Rechte und Freiheiten der Kirche achte und
den Rath der Bifchöfe höre. Weil Hinfmar als Primas des Reiche
und Erzbifchof yon Rheims diefe Grundfäge feines Standes theilte,
bat er ohne Zweifel die Gefichte Bernold’s benügt, um den jungen
König an den Eid von Compiegne zu erinnern und zur Folgſam⸗
feit zu ermahnen.
Der teutfhe Karlomann, deſſen Einfall in Stalien wir oben
gemeldet, wurde als König der Langobarden anerkannt. ') Boſo
der bisherige Statthalter Karls des Kahlen mußte die Flucht er:
greifen, er begab fi) nach dem ſüdlichen Frankreich, mo er großen
Einfluß befaß. Die ehemaligen Anhänger des Neuftriers, auch ber
Herzog Lantbert von Spoleto und Adalbert Markgraf von Toskana,
giengen zur teutfchen Parthei über, und nahmen eine drohende
Stellung gegen den Pabſt an. Ermuthigt durch diefe glüdlichen
Erfolge, firebte Rarlomann nad der Kaiferfrone, er erließ ein
Schreiben ?) an Johann VI, in welchem er anfündigte, daß er
gefonnen fey nah Rom zu fommen, und das Verfprechen beifügte,
für die römische Kirche mehr, als irgend einer feiner Vorfahren, zu
thun. Zugleich bat er um das Pallium für den Erzbifhof Theot:
mar von Salzburg. Der Pabſt antwortete ?) in höflich Faltem
1) Muratori annali d’Italia Vol. V. 4128 fig. — ?) Diefes Schreiben ift
verforen. Man erfieht aber feinen Inhalt aus der Antwort des Pabftes. —
3) Epist. 63, Manſi XVIL, 53.
1114 II. Bud. Kapitel 12.
Tone: „er werde demnächſt Gefandte an den Fürften ſchicken mit
einem ſchriftlichen Berzeichniffe alles Deffen, was Kar—
fomann der römifhen Kirhe und dem Apoftelfürften
Petrus erfi zugeftehen müffe. Würde der Fürft fich willfähe
rig zeigen, fo werbe er, der Pabft, nicht ermangeln, ihn freund:
lich zu empfangen, auch wollten fie dann gemeinfchaftlich berathen,
was für das Wohl der Kirche und des Staats zu thun fey.“ Das
gewünfchte Palium für den Erzbifchof von Salzburg bewilligte
er, aber nur unter der Bedingung, daß Theotmar ſich verbindlich
mache, die dem Stuhl Petri in Baiern gehörigen Gefälle alljährlich
nah Nom zu überfenden. Schließlich bittet er Karlomann, daß er
den geheimen Feinden, die dem Pabſte nach dem Leben trachteten,
feinen Vorſchub thun möge. Unter diefen geheimen Gegnern find,
wie aus dem Folgenden erhellen wird, hauptfählih Lantbert von
Spoleto und Adalbert von Toskana zu verftehen. Im Uebrigen
erfieht man, daß der Pabft den teutfchen Fürften in ähnliche Ver:
träge, wie den Neuftrier Karl, zu verſtricken gedachte. Aber der Plan
fam nicht zur Ausführung. Schon in dem Schreiben an den Pabſt
hatte Karlomann einfließen laſſen, daß er erft nach Teutfchland zu:
rücgehen müfje, ehe er nad) Nom fommen könne. Wirklich Fehrte
er auch im Spätherbſt 877 nach Baiern, feinem Erbreiche, beim,
wahrſcheinlich weil er fich mit feinen Brüdern Karl dem Dicken und
Ludwig III., die über die bevorftehende Erhebung des Baiern eifer-
füchtig waren, verfiändigen wollte Wenigftens fprechen die Fulder
Jahrbücher 7) von Gebiets-Abtretungen, welche Karlomann an fei:
nen Bruder machte, woraus wohl der Schluß zu ziehen ift, daß
er die Zuftimmung befjelben erfaufen zu müffen glaubte. Allein
bald darauf ward Karlomann, der ſchon aus Stalien Frank zurück—
gefommen war, ?) vom Schlage gerührt. ?) Er ift von dieſer Kranf-
heit nie mehr genefen, feine perfönliche Rolle hatte ein Ende. Defto
eifriger betrieben die italienifchen Anhänger Karlomann’s feine dor:
tigen Angelegenheiten, denn was fie feitdem für den tobtfranfen
Fürften zu thun fhienen, war im Grunde für eigene Rechnung
gethban. Lantbert und Adalbert, welche Karlomann zu feinen Statt:
') Ad annum 878, Perz I., 391 unten fig. — *) Hincmari annales ad
annum 877. Perz I., 504 MEN Mitte. — 3) T- Fuldenses ad annum
879. Perz I., 392 Mitte.
Die Päbſte Sergius II., Leo IV., Nikolaus I. ꝛc. 1115
haltern eingefest haben muß, beobachteten den Pabſt aufs Genauefte,
und wiegelten felbft in Nom eine Parthei wider ihn auf. In bie:
jer Noth richtete Johann VIII. feine Augen auf Neuftvien. Bon dort
ber wollte er einen neuen Kaifer, in der Art Karls des Kahlen,
berbeiholen. Zu folhem Zwed ſchien aber eine Reife nach Franf:
reich unumgänglich. Er meldete 1) daher dem Herzoge Lantbert, daß
bie häufigen Anfälle der Araber, und nochmehr die unzähligen Be:
drückungen, welche er täglich in Rom zu erbulden habe, ihm einen
längern Aufenthalt in der Stadt unmöglich machen, er fey deshalb
entfchloffen, zur See nad Frankreich zu reifen, von wo er fich
fpäter auch zu König Karlomann begeben wolle, um ihn zu bitten,
daß er für Bertheidigung der Güter des heil. Petrus Sorge tragen
möge. Zugleich warnte er den Herzog unter Androhung des Ban—
nes, während feiner Abwefenheit Die priefterlihe Königsſtadt Rom
zu beläftigen. Lantbert antwortete grob, er gab dem Pabſte nicht
einmal einen geiftlihen Titel, fondern redete ihn mit der Formel
„Euer Wohlgeboren“ (nobilitas tua) an und verbot ihm überbieß,
an irgend Jemand ohne feine, des Herzogs, Einwilligung Gefandte
zu fchiefen, worüber ſich Johann in einem Briefe ?) bitter befehwert.
Da indeß der Pabft fih nicht einſchüchtern ließ, fehritt der Herzog
zur Gewalt. Der Mönch von Fuld erzählt, ?) daß Lantbert und
Adalbert (im Frühjahr 878) mit Heeresmacht in Rom einfielen,-
den Pabſt gefangen nahmen und den Adel der Stadt zwangen
dem teutfchen Karlomann den Eid der Treue zu leiften. „Nachdem
die Soldaten wieder abgezogen feyen,“ fährt der Mönch fort, „habe
der Pabſt die Petersfiche, in welcher der Schab lag, ausräumen,
den Altar mit härenem Tuch bebeden, und alle Thüren fchlies
gen laſſen, ſo daß einige Tage lang fein Gottesdienft gehalten
werden konnte.“ Johann VI. felbft Hagt in mehreren Briefen *)
über die von Lantbert und feinen Genofien zu Rom begangenen
Greuel, und fügt noch bei, daß fie die vom Stuhle Petri früher
mit dem Banne belegten Feinde — der Bifchof Formoſus yon Porto
und feine Parthei ift gemeint — in bie Stadt zurücgebracht hätten.
Der -Hauptzwe des Einfalle — den Pabſt an einer Reife
') Epist, 68. Manſi XVIL, 57 Mitte. — °) Epist, 73. Manſi XVII,
61. — 3) Ad annum 878, Perz ]., 392. — *) Epist. 84—89. Manſi XVIL,
12 flg.
1116 I. Buch, Kapitel 12.
nah Frankreich zu hindern — wurde nicht erreicht. Johann VII.
entwitfchte zu Schiff aus Nom, nachdem er zuvor einen fürdhter:
lichen Bannftrahl wider Lantbert und Adalbert gefchleudert. ) Bon
Genua aus fchrieb ?) er an Karlomann: die Bosheit der Feinde
habe ihm den Weg nad ZTeutfchland verlegt, er gehe daher nad)
Sranfreih, um eine feftere Einigfeit zwifhen Rarlomann
und feinen neuftrifhen Verwandten herzuftellen; der Kö—
nig möge mit allen feinen Bifchöfen zu einer Synode fommen,
welche er, der Pabſt, in Neuftrien zu halten gebenfe. Sn drei
weitern Briefen ?) forderte er die Metropoliten yon Mainz, Trier
und Cölln auf, die teutfchen Könige zu Beſuchung des bevorftehen:
den Concils zu vermögen. Klar erhellt aus diefen Schreiben, daß
der Pabft eine allgemeine Kirchenverfammlung der fränfifchen Reiche
beabfichtigte. Aber über den Zweck berfelben haben wir nur Ver:
muthungen. Die unfrige ift, daß er damit umgieng, den Sohn
Karl des Kahlen, Ludwig den Stammler, zum Kaifer ernennen zu
laffen. Aber noch während der Reife muß fein anfänglicher Plan
Beränderungen erlitten haben. Johann VII. Yandete um Pfingften
878 bei Arles. *) In der Provence traf er mit Bofo zufammen,
der, früher Statthalter Karl's des Kahlen in Stalien, jest im Na—
men des ſchwachen Ludwig des Stammlerd mit faft unbefchränfter
‚Gewalt das füdliche Franfreich regierte. Boſo war ein verfchmig-
ter Geſchäftsmann, fchnell bildete fich eine enge Freundfchaft zwifchen
ihm und dem gleichgefinnten Pabſte. Johann VIN. fchrieb 5) da=
mals an die Kaiferin Engelberga, Lubwig’s II. Wittwe: „er habe
„zu Arles ihren Schwiegerfohn Bofo und ihre Tochter Ermengard
an Kindesftatt angenommen, von ihnen erwarte er Troft und Ber:
theidigung der römischen Kirche, auch wünfche er diefelben zu einer
noch glänzenderen Würde zu erheben.“ Lebteres Yautet, als wenn
er dem Herzoge wenigftens eine Krone verfchaffen wollte. Doch
hatte er allem Anfchein nach damals noch dem Könige Ludwig
felbft die wichtigfte Rolle zugedacht, aber bald wurde er enttäufcht.
Johann VII. fehrieb von Lyon aus an den neuftrifhen König, daß
er ihm entgegenfommen möchte. Ludwig der Stammler folgte diefer
+
1) Hincmari annales ad annum 878. Perz J., 506 gegen oben. — ?) Epist.
89. Manfi XVIL, 78. — 3) Epist. 106, Manfi XVIL., 87. — 4) Hincmari
annales ad annum 878, Perz I,, 506, — 5) Epist, 92, Manft XVII, 80, '
Die Päbfte Sergius II., Leo IV., Nikolaus I. ꝛc. 1117
Einladung nicht, fondern ließ dem Pabfte melden, daß man ihn zu
Troyes erwarte, wo die beantragte Synode zufammenfommen
follte. D Diefes Falte Beiragen des Königs verhieg dem Pabfte
wenig Gutes. Indeß begab fih Johann VIII nah Troyes, aber
ftatt einer VBerfammlung von fämmtlichen Kirchenhäuptern ber frän-
fiihen Reiche, traf er dafelbft nur ungefähr 30 Bifchöfe, worunter
gar feine Teutfche, wenige Staliener, die übrigen Gallier. ) Selbft
der König von Neuftrien erfchien Anfangs nicht, angeblich weil ihn
eine Krankheit zurücdhielt. 2) Die Synode wurde im Auguft 878
mit einer Anrede des Pabſtes eröffnet, in welcher derjelbe alle Völ—
fer, Könige und den ganzen Clerus der Chriftenheit befchwor, Mit:
leiden mit den ungeheuren Drangfalen der römifchen Kirche zu haben,
zur Beftrafung der Uebelthäter, welche dieſes Unglück veranlaßt hät
ten, mitzuwirken, und ihm wieder zum Befige von Nom zu vers
beifen. Die Bifchöfe willigten ein, den vom Pabſte wider Lantbert
und Adalbert ausgefprochenen Bann zu beftätigen, fie verlangten
jedoch, daß diefelbe Strafe auch über franzöſiſche Kirchenräuber aus:
geiprochen ‚werden folltee Der Pabft fagte zu; verfchiedene auf:
rührerifche Große des neufirifchen Reichs wurden verflucht, und num
wiederholten die Biſchöfe auch den Bann wider Formoſus yon Porto
und feine Parthei. Dan faßte fofort einige Befchlüffe, welche die
ben Kirchenhäuptern gebührende Ehrfurcht einfchärften. ) Erſt gegen
Ausgang der Synode, im Anfang September, Fam Ludwig ber
Stammler nad Troyes. Jetzt forderte der Pabft die Bifchöfe in
einer abermaligen Anrede °) auf, ihm mit ihren bewaffneten
Dienftlleuten zur Wiedereroberung Roms behülflich
zu feyn. Offenbar fest diefe Zumuthung voraus, daß Johann VIIL
yorausfah, er dürfe vom Könige Feine nachbrüdliche Hülfe erwars
ten, denn fonft würde er nicht die Biſchöfe um Heeresdienft an-
geiprochen haben. Seine Bitte fand feinen Anklang. Nun wandte
fich der vergweifelnde Pabſt mit demſelben Wunfche an den König. ©)
Daß er jedoch von Ludwig dem Stammler den erwünfchten Be:
ſcheid nicht erhielt, erhellt aus Dem, was fofort geſchah. Am Tten
September frönte Johann VII den König Ludwig den Stammler
ı) Hincmari annales ad annum 878. Perz I., 506. — ?) Die Namen
bei Baluzius Capitul. II., 275. —- 3) Hincmari annales a, a. O. — ) Die
Alten bei Manft XVII, 345. Baluzius IL, 275 flg. — °) Manſi XVIL, 354
unten. — °) Ibid,
1118 | II. Buch. Kapitel 12.
auf deſſen Verlangen, als aber der Fürft den Wunfch ausſprach,
baß der Pabſt auch feine Gemahlin frönen möchte, ſchlug er diefen
Antrag rund ab. ') Mit Necht findet man den Grund diefer Weige-
rung des Pahftes in dem Umftande, daß Bofo, Johann's Verbin:
beter, damals Unterhandlungen angefnüpft hatte, welche darauf ab:
zielten, eine feiner Töchter mit einem nachgebornen Sohne bes
Königs aus erfier Ehe zu vermählen. Wenn daher der Pabſt die
Königin, welche die zweite Gemahlin Ludwig’s war, zu krönen fich
verftand, fo würde er dem Rechte bes Prinzen aus erfter Ehe,
ber jest Boſo's Schwiegerfohn werben follte, Eintrag gethan haben.
Die erfte Ehe Ludwig's des Stammlers war nämlich durch einen
Machtipruch feines Baters Karls des Kahlen aufgelöst worden. 2)
Wirflih Fam bie eingeleitete Verlobung der Tochter Bofo’s mit dem
Prinzen bald darauf zu Stande. ?) Mag nun unfere Erklärung
ber abfchläglichen Antwort des Pabſts richtig feyn oder nicht, jeden:
falls zeigt Johann's Verfahren, daß er mit dem Könige unzufrie:
ben war. Stärfere Beweife eines fehr gefpannten Verhältniſſes
zwifchen beiden folgten nad. Man überbrachte dem Pabſte von
Seite des Königs ein durch den legten Kaiſer Karl den Kahlen
ausgeftelltes Vermächtniß, worin derfelbe feinen Sohn Ludwig zum
Erben des Citalienifchen) Reichs erflärte. Der VPabft follte diefe Ur:
funde beftätigen. Statt das Verlangte zu thun, wies Johann VII.
einen Schenfungsbrief vor, kraft deſſen Karl der Kahle die Abtei
St. Denis an den Stuhl Petri vergabt haben follte. „Ehe er jene
Urkunde beftätigen könne,“ erklärte der Pabft, „müffe erft der Inhalt
biefer vollzogen werden.“ Allein die Biſchöfe und Stände verwarfen
bie Schenfung als erfchlichen. *) Wenige Worte genügen, um ben
geheimen Grund dieſer Zänfereien zwilchen König und Pabſt auf:
zuflären. Dffenbar hatte Johann von dem neuftrifchen Herrfcher
um den vorgehaltenen Preis der Kaiferfrone einen Heereszug nad
Italien und Krieg wider Karlomann verlangt. Aber das Anfinnen
war yon Ludwig dem Stammler, fey es aus eigenem Antriebe, oder
was wahrfcheinlicher, auf Antrag der Stände abgelehnt worden,
Daher die Spannung. Damit es jedoch nicht feheine, als wenn
1) Hincmari annales a. a. O. Perz I., 507 unten fig. — 2) Reginonis
chronicon ad annum 878 bei Perz L, 590. — 3) Hincmari annales a, a. ©.
Perz I., 508 unten, — *) Hincmari annales ibid.
Die Päbſte Sergius II., Leo IV., Nifolaus J. ıc. 1119
fie den Bortheil ihres Herrn aufopfern wollten, forderten die Rath:
geber des Königs, der Pabft folle das Teftament des- vorigen Kai:
fers und fomit das Erbrecht Ludwig’s des Stammlers auf die ita-
lienifche Krone beftätigen. Allein weil die Neuftrier dieß fchlecht-
weg, d. h. ohne den Gegendienft eines Römerzugs verlangten,
wich der Pabft aus und bezahlte das geftellte Anfinnen mit einer,
allem Anfchein nach, ebenfo begründeten Gegenrechnung. Man fieht:
bie Hoffnungen, welche der Pabſt auf neuftrifhe Hülfe gebaut,
waren zerronnen. Nichts blieb ihm jest mehr übrig, als fih an
Boſo zu Halten. Das that er wirfiih. In einem Briefe, ') den
er gleich nach dem Schluffe des Concils von Troyes an ben teut:
[hen König Karl den Diden erließ, beklagt er fich bitter, daß
weder Karl noch) feine Brüder (Karlomann und Ludwig) auf der legten
Synode erjchienen feyen, Fündigt fofort an, was geftalt er ben
Herzog Boſo zu feinem Sohne angenommen habe und erflärt feinen
feften Entſchluß, Jeden mit dem Banne zu beftrafen, der etwag gegen
den” geliebten Sohn Boſo unternehmen würde „Karl und feine
Brüder,“ fagt er, „jollen fich mit ihren teutfchen Erbreichen begnü-
gen.“ Bon Boſo geleitet, ®) Fehrte auch der Pabft nah Ita-
lien zurüd, Die dortigen VBerhältniffe geftalteten ſich günftiger für
ibn; denn aus einem feiner Briefe, ?) der vom April S79 unter:
zeichnet ift, erhellt, daß es ihm gelang den Markgrafen Adalbert,
feinen bisherigen Todfeind, herüberzuziehen. AU fein Streben war
son Nun an darauf gerichtet, Boſo mit Ausſchluß Karlomann's,
der noch immer Frank in Teutſchland Tag, zum Könige Italiens zu
erheben. Nothwendig bedurfte er zu dieſem Zweck der Beihilfe des
Erzbifhofs von Mailand, als des mächtigften Prälaten der Lom:
bardey. Er Iud daher *) diefen Meetropoliten — Ansbert war fein
Name — fowie die langobardiſchen Großen wiederholt ein, auf
einer Synode in Pavia zu erfcheinen, wo die Erhebung Bofo’s
betrieben werben follte. Allein die Langobarden Famen nicht, weil
fie eg vorgogen, ihrem Könige Karlomann treu zu bleiben. 9) Nicht
abgefchredt durch den unglüdlichen Ausgang des erften Verſuchs,
machte Johann neue. Im Frühling 879 follte nad) feinem Wunfche
1) Epist. 119, Manfi XVII, 92 unten. — ?) Annales Fuldenses ad an-
num 878, Perz I., 392. — 3) Epist, 164, Manfi XVII, 113. — *) Epist.
126—128. ibid. ©. 96 flg. — 5) Epist. 130, ibid. ©, 98 unten flg. vergl.
Muratori annali d'Italia V., 134, \
1120 II. Bud. Kapitel 12.
eine Synode in Nom zufammentreten, um Das, was in Pavia
nicht ausgeführt werden konnte, zu vollbringen. In einem drin—
genden Schreiben ) Iud er ben Erzbifchof Ansbert zu Beſuchung
dieſes Concils ein, indem er ihm eröffnete: „ſintemalen Karlomann
wegen ſeiner Krankheit das Reich nicht länger zu behalten vermöge,
ſey es nöthig, über bie Wahl eines Nachfolgers zu berathen.“ Zu:
gleich verbot er dem Metropoliten ohne Einwilligung des Stuhles
Petri irgend Jemand als König anzuerkennen, und drohte ihm mit
bem Banne, wenn er abermal dem Nufe nicht gehorchen würde.
Allein auch dießmal erfchienen weder Ansbert noch die andern ein-
geladenen Langobarden. ?) Der Plan, Bofo zum Könige yon Sta:
lien zu maden, war mißlungen.
Aber nun eröffnete ſich anderswo eine treffliche Gelegenheit 3
Erhebung des päbſtlichen Schüslings. Im Frühjahre 879 ftarb der
neuftrifche König Ludwig der Stammler, nicht ohne ftarfen Ver:
dacht der Bergiftung. ?) Gleich nach feinem Tode entftand die greu:
lichfte Verwirrung; fterbend hatte der Stammler feinen erftgebornen
Sohn aus erfter Ehe, Ludwig III. den älteren Bruder desienigen, ber
mit Boſo's Tochter vermählt war, zum Nachfolger ernannt, aber
unzufriedene Große viefen den teutfchen König Ludwig, Bruder
Karlomann’s und Karls des Dicken, herbei. Ein Bürgerkrieg brach
aus, doch Fonnte fich die teutiche Parthei nicht halten, am Ende
theilte des Stammlers Sohn mit feinem Bruder, dem Eidam Boſo's,
das ve rliche Erbe, fo daß jest Neufter zwei Könige hatte, und
Boſo auf dem Haupte feiner Tochter eine Krone *) ſah. Allein den
meiften Nutzen zog Bofo felbft aus den neuftrifhen Wirren. Wir
haben früher gefagt, daß Boſo großen Anhang im füdlichen Frank—
reich befaß, und unter dem Stammler Statthalter ber Provence
geweſen war. Daher verfiel er jest auf den Plan, dieſes ſchöne
Land, das ſchon nad Kaifer Lothar's Tode (feit 755) einen ſelbſt—⸗
ftändigen König gehabt, >) vom Erbe Karls des Kahlen loszu—
reißen. Und das Unternehmen gelang, hauptfächlich weil ihm der
Pabſt nad Kräften in die Hände arbeitete, Johann VII, ernannte ©)
—
1) Epist. 155. Manfi XVII. 108. — 2) Dan fehe ven A8ıflen Brief des
Pabfts ibid. ©. 122, — 3) Hincmari annales ad 879, Perz I, 510 unten. —
1) Idem ad annum 880, ibid, 512 unten. — 5) Siehe oben ©. 881, —
6) Epist, 94, Manfi XVIL, 80 unten flg.
Die Pähfte Sergius IT., Leo IV., Nikolaus T. ꝛc. 1121
nämlich den Biſchof Roftagnus von Arles zum apoftoliichen Vika—
rius von ganz Gallien und verlieh ihm auch das Pallium, doc
legteres unter der Bedingung, daß in Zufunft fein Metropolit von
Arles es wage, ehe er das Pallium yon Rom erbeten, bifchöfliche
Weihen vorzunehmen. Zugleich zeigte er durch ein Rundfchreiben ")
ſämmtlichen Kirchenhäuptern Galliend die erfolgte Erhebung des
Roftagnus an, ermahnte. fie zu pünftlihem Gehorfam gegen ihn,
vergaß aber auch nicht, diefelbe Borfchrift in Betreff des Pal-
liums einzufchärfen. Den Grund, warum der Pabft fo eifrig
auf letzterem Punkte beftand, haben wir früher enthüllt, wo wir
von der Synode zu Ravenna bandelten. Sonft war die Ernen-
nung des Roftagnus ganz zum Bortheil Boſo's berechnet, denn
Noftagnus gehörte zu Boſo's Parthei, wohnte in der Provinz, mo
Boſo große Güter befaß, und hatte jest die Mittel, um die ehr:
geizigen Plane feines Beſchützers zu befördern. Die Folgen traten
bald hervor. Im Dftober 879 wurden die Bilchöfe und weltlichen
Stände von Burgund und Provence. nah Mantala einem Schloffe
zwifchen Vienne und Valence zu einer Neichsverfammlung berufen,
angeblih um über das Wohl des Landes zu berathichlagen. ?) Die
Einen famen, laut dem Bericht ?) der Aheimfer Jahrbücher, durch
Boſo's Drohungen gefchredt, die Andern gelockt durch die Güter
und Abteien, welche er freigebig den Willigen vorhielt. Die Vers
fammlung befchloß, den Herzog Boſo, der in Gallien und Stalien
durch feine hohen Berbienfte fi) ausgezeichnet habe, aus von
dem Apoftolifus Johannes zum Sohne angenommen
und mit Lobſprüchen überfhüttet worden fey, zum Kö—
nige zu erwählen. Durch eine Gefandtfchaft legte man ihm bie
Frage vor, *) ob er die Kirche ſchützen und die Pflichten eines
guten Regenten treulich erfüllen wolle? Als Boſo ebenfo beifällig als
demüthig antwortete, führte man den Erwählten im Triumphe nad)
Lyon, wo ihm der Erzbifchof der Stadt Aurelianug die Eönigliche
Krone aufjeste. >) Der Pabft genog nunmehr die Freude, einen
König feiner Wahl, der überdieß dem Stuhle Petri blinden Gehor-
fam fohuldig war, auf der Gränze Italiens eingefegt zu fehen.
h Epist. 95. ibid. ©. 82 fig. — ?) Die Alten der Synode von Mantala
bei Manft XVIL, 529 fig. — 9) Perz J., 512 gegen oben. — *) Manfi XVIL,
551. — ) Reginonis chronicon ad annum 879, Perz L., 590 Mitte,
Gfrörer, Kircheng. II. 711
1122 IT, Buch. Kapitel 12.
Zwar überzogen fofort die beiden neuftrifchen Könige, vereint mit
ihrem teutfchen Better Karl dem Diden, Bofo mit Krieg, aber
berfelbe wußte fich zu behaupten, und aus dem von ihm gegrün-
beten Staate entftand mit der Zeit das ſüdfranzöſiſche Reich, das
unter dem Namen Arelat im Mittelalter befannt geworben ift.
Dem Pabft blieb jest noch die Aufgabe übrig, den Verhält—
nifjen Stalieng, wo durch die oben erzählte Widerfpenftigfeit der Lan:
gobarden der teutfche Einfluß aufrecht erhalten worden war, eine
dem Bortheil des Stuhles Petri gemäße Wendung zu geben. Ber:
geblich hatte er es verfucht, feine Abfichten durch Waffengewalt zu er-
reichen. Lift follte helfen. Johann entwarf den Plan, die drei teuts
hen Fürften Karlomann, Karl den Dielen und Ludwig III. gegen-
feitig zu verhegen und fo Einen durch den Andern aufzureiben. Er
ſchrieb ) unter dem ten Juni 879 an Karlomann, daß er vor
Begierde, ihn nah Italien zurüdfommen zu fehen, brenne und bat
ihn dringend um Hülfe wider die Sararenen. In einem andern
Briefe 2) fordert er Karl den Dicken auf, nad) Italien zu eilen.
„Kart möge ſich,“ fährt er fort, „Durch Feine Hinderniffe abfehreden
laffen, die ihm etwa Karlomann in Weg Yege, denn er, der Pabſt,
babe furz zuvor an Lestern gejchrieben, daß feine Seele Gefahr
laufe, wenn er länger Stalien fich felbft überlaffe.“ Endlich ſchrieb °)
er noch an den dritten Bruder Ludwig IIL, daß er ihn über alle
Prinzen feines Haufes zu erhöhen gedenfe, wenn Ludwig Hülfe-
fchaffe, der apoſtoliſche Stuhl erwarte ihn fehnfüchtig als feinen
einzigen und geliebteften Sohn, auch könne ihm die Kaiferfrone
und fomit die Herrfchaft der Welt nicht entgehen, dafern er nur
eilends nach Stalien Fomme. Der Zweck diefer gleichlautenden an
drei Brüder zu einer und berfelben Zeit gerichteten Berfprechun:
gen ift an ſich Far: er wollte Einen gegen den Andern braucen.
Wäre noch ein Zweifel möglich), fo würde derfelbe durch ein vier:
tes Schreiben ) an den Erzbiſchof Ansbert von Mailand vernichtet.
Hier macht er dem Metropoliten Vorwürfe, weil diefer zu den beiden
Coneilien, die erft nac) Pavia dann nad) Nom ausgefehrieben worden,
nicht erfchienen fey, eröffnet ihm dann, daß er eine neue Synode im
Dftober 879 in Nom zu halten gedenfe, ermahnt ihn unvermweigerlich
1) Epist. 186. Manft XVIL, 126 Mitte fig. — 2) Epist, 172, ibid.
©. 117. — ®) Epist. 197, ibid, ©, 134. — *) Epist, 181, ibid, ©. 122.
Die Päbfte Sergius II., Leo IV., Nikolaus I. ꝛc. 1123
diefelbe zu befuchen, endlich verbietet er ihm und den übrigen vom
Mailänder Stuhle abhängigen Bilhöfen, an irgend einer Berfamm-
lung, welche etwa teutfche Könige demnächft in Ober-Italien berufen
würden, ohne päbftlihe Erlaubniß Theil zu nehmen: Alles bei Strafe
des Bannes. Abermal gehorchte Ansbert dem Befehle des römi-
hen Biſchofs nicht, weßhalb Johann VIIL das Urtheil der Abfegung
über ihn ausſprach, !) aber nicht zum Vollzug bringen fonnte. Auch
die teutfchen Fürften giengen nicht in die Falle. Karlomann noch
immer todt frank, hatte im Anfang: des Jahrg 879 den Gebraud
der Sprache verloren, und farb ?) im März 880. Ludwig IIL
yon Karlomann zum Erben eingefeßt, verzichtete, wie es fcheint,
auf das langobardiſche Reich. Alfo blieb Italien dem dritten Bru—
der, Karl dem Diden, überlaffen. Diefer zog im Spätherbft 879
mit Heeresmacht über die Alpen. ?) Eine feiner erfien Forderungen
an den Stuhl Petri foheint gewefen zu feyn, daß Johann unver:
züglich die wider Angbert verfügte Abfegung zurüdnehmen folle.
Der Pabft entfchuldigte ſich, *) es ſey ihm unmöglich dem Anfinnen
des Königs zu entiprechen. Nichtsdeftoweniger fühlte er, daß er
gelindere Saiten aufziehen müffe. Durch einen Brief vom Oftober
879 forderte er den König auf, eine Zufammenfunft mit ihm in
Pavia zu halten, aber Karl wartete die Ankunft des Pahftes nicht
ab. 5) Nun Iud ihn Johann nah Ravenna ein, wohin er fich ſelbſt
begab um dort mit ihm zu unterhandeln. Aber Karl Fam wieder
nicht. 9) Indeſſen fcheinen die Angelegenheiten des Königs einen
erwünfchten Fortgang genommen zu haben, was ohne Zweifel der
Grund war, warum der Pabft feine Forderungen gewaltig herab:
ftimmte. In einem Schreiben ?) an den König vom Juli 880 er:
Härt Zohann feinen ehemaligen Sohn Boſo für „einen Tyrannen“
und verfpricht „dieſem Böſewicht jede Hülfe zu entziehen.“ Nur die
äußerſte Noth konnte ihm ein folhes Zugeftändniß entloden. Ja
der Pabft mußte fogar um bdiefelbe Zeit den Erzbifchof von Mai:
land wieder zu Gnaden annehmen, wie aus einem Briefe ®) vom
November 880 erhellt.
1) Epist, 221. ibid. ©. 164 unten fig. — 2) Annales Fuldenses ad an-
num 879 u. 880, Perz J., 392 untere Mitte und 393 unten. — °) Hincmari
annales Perz J., 512 Mitte. — *) Epist, 231. Manſi XVIL, 172, — 5) Epist,
230, ibid, 474 unten. — 6) Epist, 216, ibid. 461. — ?) Epist. 249. ibid,
183, — ®) Epist, 256, ibid, 190.
71:
1124 0 IE Buch. Kapitel 19.
Nachdem der König im Laufe eines Jahre fich des Yangobar-
diſchen Reichs verfihert hatte, z0g er mit feinem Heere im Spät-
herbſt 880 auf Rom, Noch einmal verfuhte e8 der Pabſt, den
Herannabenden durch einen Bertrag zu binden. Er fchiefte ihm
Gefandte entgegen, um mit ihm zu unterhandeln, aber vergeblich.
Karl rüdte, wie eg in dem Schreiben ) des Pabſts heißt, „mit
übereilten Schritten jählings und die Schranken der Vorfahren durch—
brechend“ gegen die Schwelle des heil. Petrus. Das heißt, er gieng
feine Bedingungen ein. Wirklich mußte ihn Johann im Anfang?)
des Jahres SS1 zum Kaifer frönen. Seit Tanger Zeit war fein
Kaifer mehr einem‘ Pabſte fo trokig entgegen getreten. Auch in
den Städten, die zum Gebiete des heiligen Petrus gehörten, mal:
tete Karl wie ein Herr. Im Frühjahre 851 brach ein Streit zwi—
fhen dem Erzbifchofe Romanus von Ravenna und einem angefehe:
nen Edelmann aus. Romanus wendete ſich, ohne beim Pabſte
anzufragen, an den Kaifer, der fofort einen feiner Grafen nad
Ravenna fehiefte und durch denfelben die Sache entfchied, Bitter
beffagte ſich Johann VIII. in einem Briefe 3) an den Erzbifchof: über
diefen Eingriff in feine grundherrlihen Rechte. Romanus fuhr
fort, %) dem Pabſte zu trogen, wodurch diefer aufs Neußerfte
getrieben, endlich) den Bann gegen ben unbotmäßigen Prieſter
ſchleuderte. °)
Bald darauf riefen Einfälle der Nörbitäinien und die Kranf-
heit feines Bruders Ludwig III., der im Februar 882 ftarb, ©)
den Kaifer nad Teutfchland zurück. Aus Italien fcheidend, ordnete
er eine Maaßregel an, die dem Pabfte großen Kummer machte.
Karl der Die befahl nämlich, daß die Wittwe des Kaifers Lud-
wig II. und Schwiegermutter Bofo’s, ngelberga, die in einem
Klofter der Lombardei Iebte, als Gefangene über die Alpen ab:
geführt werden follte. Diefe Verfiigung hatte Den Zweck, die Ränfe,
welche Engelberga bisher im Bunde mit dem Pabfte zu Gunften
Boſo's angezettelt hatte, unſchädlich zu machen. Vergeblich feste
1) Epist. 259. ibid. 191 unten. — 2) Auf den hronologifchen Streit über
Sahr und Tag der Krönung können wir ung. hier nicht einlaffen. Man fehe
hierüber Muratori annali d’Italia V., 147 fig. — ?) Epist. 271. Mauft XVIL,
201 unten fig. — %) Epist. 272. 273. 275. 276. ibid. 202 fig. — °) Epist.
278, ibid. 206. — 6) Annales Fuldenses ad annum 882. Perz I., 395
oben.
Die Päbſte Sergius II., Leo IV., Nilolaus ER 11 25
Johann VIII. Himmel und Erde in Bewegung, ) um die Abfüh⸗
rung zu verhindern und ſpäter der Gefangenen die Freiheit zu
verſchaffen. Seine Bitten wurden nicht gehört. Auch die inneren
Verhältniſſe des Kirchenſtaates beſſerten ſich nicht nach der Abreiſe
des Kaiſers. Im wiederholten Briefen ?) mußte der Pabſt Karl'n
um Hülfe gegen die Saracenen, und noch mehr um Schuß wider bie
Anfälle der Herzöge von Spoleto, Berwandter des oben mehrfach
erwähnten Lantbert anflehen, welcher um 879 geſtorben zu ſeyn
Scheint, aber einen Bruder und Sohn hinterließ, die nicht minder
als er die Güter des heiligen Petrus zu beeinträchtigen bereit
waren. Sp endigte die Regierung des Pabſts Johann, welche glän-
zend begonnen, unter ben trübften Ausfihten in die Zufunft. Jo—
hann wurde gegen Ausgang des Jahres 882 ermordet. Der ein-
zige auf ung gefommene Zeuge?) giebt folgende Beichreibung vom
Tode des Pabſtes: fchon früher jey Johann von einem feiner Ver:
wandten Gift beigebracht worden, weil aber die Gabe nicht wirkte,
habe der Mörder zulest den Greis mit einem Hammer zu Tod
gefhlagen. Als doppelte Triebfeder der That bezeichnet der Mönch
von Fuld Ehrfucht und Geiz: „der Mörder und feine Mitver:
Ihwornen,“ fagt er, „hätten es zugleih auf den Stuhl und
die Schätze des Unglüdlihen abgefehen.“ Wir werden fpäter zei—
gen, daß dieſes Verbrechen zum Vortheile ber teutfhen
Parthei ausſchlug.
Ungefähr zu gleicher Zeit mit Johann VIII. endete Hinkmar
von Rheims, der Gegenkämpfer ſo vieler Päbſte. Obgleich ein Greis,
vertheidigte der Metropolit mit Jugendfeuer die alten Grundſätze
bis zum letzten Hauche. Auf dem Reichstage zu Troyes im Jahr
878 muß er als Wortführer der neuftrifhen Stände den Vor—
Ihlägen des Pabſts fich widerfest haben, denn Johann VIE. er:
theilte, offenbar um fih an dem Metropoliten zu rächen, dem
abgeſetzten Bilchofe von Laon, Hinfmar’s berüchtigtem Neffen, bie
Befugniß, wieder die Meffe Iefen zu dürfen. *) Drei Jahre’ fpäter
verfocht der Metropolit in einem merkwürdigen Falle die Freiheit
der Kirche und der bifchöflihen Wahlen wider den Sohn bes
') Epist, 263. 282 und 298. — 2) Epist, 277. 279. 293. — 3) Anna-
les Fuldenses ad annum 883. Perz I., 398 b, — *) Hincmari annales ad
annum 878. Perz I., 508 Mitte. |
1126 II. Buch. Kapitel 12.
Stammlers, den neuftrifhen König Ludwig IL. Der Biſchof Odo
von Beauvais war zu Anfang des Jahres 881 geftorben. Nach
einiger Zeit wählte Clerus und Gemeinde der Stadt einen gewiffen
Rodolf zum Nachfolger. Aber das Collegium der Bifchöfe des Erz-
fprengels von Nheims verwarf den Erfornen als völlig untüchtig.
Die Gemeinde wählte num einen Andern, Namens Honoratus. Auch
biefe Wahl wurde jedoch von den Biſchöfen aus gleichem Grunde
umgeftoßen. Beide Bewerber waren, wie es fcheint, nichtswürbige
Menfchen, welche die Stimmen der Gemeinde um Geld erfauft
hatten. Die jährliche Synode des Erziprengels, welche damals zu
Fimes verfammelt war, ſchickte num eine Gefandtfhaft an den Kö—
nig ab mit der ſchriftlichen Bitte: da die Gemeinde von Beauvais
burch zweimaligen Mißbrauch ihr Wahlrecht verwirft Habe, fo möge
der König den verfammelten Kirchenhäuptern geftatten, einen Nach:
folger zu ernennen. Allein Ludwig III. ſprach jest das Wahlrecht
felbft an, er that dem Metropoliten zu willen, daß er den Stuhl
von Beauvais einem feiner Günftlinge, Odaker, zugebacht habe,
Nun fchrieb Hinfmar an den König einen Brief, ') in weldhem er
aufs Fühnfte die Freiheit der Kirche gegen die Eingriffe der Staats:
gewalt verfocht. Er fagte ihm ind Geſicht, daß Yaut den Befchlüffen
von Nicäa Niemand ohne Einftimmung des Metropoliten zum
Biſchof eingefegt werden könne, daß Ludwig's III. erlauchte Vor:
fahren ftets diefes Recht geachtet hätten, daß es endlich eine Ein:
gebung des Teufels fey, wenn gewiſſe Leute dem Könige vorftellten,
er habe Macht über die Kirchengüter und dürfe diefelben nach Will:
führ verfchenfen. So entfchieden auch die Sprache des Metropoli-
ten gewefen war, fam der König auf feine Forderung zurüd und
serfuchte abwechfelnd Bitten und Drohungen. Aber Hinfmar blieb
unerfchütterlich, ev vichtete an den König ein zweites Schreiben, *)
in weldhem er ihm noch derber, als in dem erften, die Wahrheit
fagte. Auf die ihm Hinterbrachte Aeußerung Ludwig's, er verachte
jeden Untertban, der dem königlichen Willen Widerftand zu leiſten
wage, entgegnete Hinfmar: Ludwig fcheine die Stellen der heiligen
Bücher nicht zu Fennen, in welchen die Lehre fich finde, daß bie
Welt durch zwei Gewalten vegiert werbe, die bifchöfliche und bie
1) Opp. IL, 188 fig. Diefer Brief ift zugleich Quelle der eben angeführten
Thatfachen. — 2) Opp. I, 196 flg.
Die Päbfte Sergius IL, Leo IV., Nikolaus I. ꝛc. 1127
fönigliche, und zwar ftehe erftere über der zweiten. Denn die Bi-
ſchöfe können Könige, aber nicht umgekehrt die Könige Bifchöfe
weihen, und nur von den Bifchöfen gelte der, göttliche Ausſpruch:
wer Euch ehret, der ehret mich, wer Euch verachtet, der verachtet
mid. Es fey daher fehr unpaſſend, daß Ludwig IIL, von einem
Metropoliten redend, den Ausdruck „Unterthan“ gebraucht habe.
„Gleichwie der Herr,“ fährt Hinfmar fort, „zu den Apofteln gefagt
bat: nicht Ihr habt mich erwählt, fondern Ich habe Euch erwählt,
fo darf auch ich in aller Demuth zu Euch, dem Könige, fprechen:
nicht Ihr habt mich zum Erzbifchof von Rheims gemacht, fondern
Sch babe mit meinen Amtsgenoffen und andern Ständen Euch auf
den Thron erhoben unter der Bedingung, daß Ihr den Gefeben
Folge leiſte. Eure Drohungen, daß Ihr mit Eurem Bruder und
den Berwandten Eures Haufes eine allgemeine fränfifhe Synode
zufammenberufen und die Ernennung Odaker's auf derfelben Durch:
fegen wollet, fürchte ich nicht, denn woher Ihr auch Biſchöfe zu:
fammenbringen möget, diefelben werben Feine andern heiligen Schrif:
ten, feine andern Kirchengeſetze, Feine andern Defrete der Päbfte
haben, als die find, auf welche Ich mich ſtütze. — Ich rathe Euch
zu bedenken, wie bald Euch der Tod ereilen kann. Ludwig der
Fromme hat nicht fo lange gelebt, wie Karl der Große, der Sohn
Ludwig’s des Frommen Karl der Kahle, Euer Ahn, nicht fo ange,
wie Ludwig der Fromme, Euer Bater Ludwig I. nicht fo Yang
wie Karl der Kahle. Und auch mit Euch wird es ein fihnelles
Ende nehmen.“ Nach weitern Bemerkungen voll Bitterfeit, fordert
er den König auf, an welchem Orte er wolle, feine Greatur Oda—
fer vor die Biſchöfe der Rheimſer Synode zu ftellen; fchnell werde
es fich dann zeigen, daß dieſer Odaker ein elender Miethling fey.
Die Fühne Sprache des Erzbifchofs vermochte den König nicht von
feinem Borhaben abzubringen. Mit Gewalt feste er Odaker in
den Befts des Stuhles und der Güter von Beauvais. Nun berief
aber Hinfmar eine Synode, auf welcher der Bann gegen Odaker
gefchleudert ward. ') Der Erzbifchof hatte prophetiſch geſprochen.
König Ludwig II. ftarb fohon im folgenden Jahre und Odaker
mußte nun weichen. Hinfmar felbft überlebte diefen letzten Triumph
nicht lange. Im Herbft 882 überflutheten die Norbmannen das
1) Opp. Il., 811,
1128 UI. Buch. Kapitel 12.
ganze nördliche Frankreich und flreiften bis vor Rheims, das da—
mals ohne Mauern war und aud feine Vertheidiger hatte, weil
Hinkmar's Dienftleute beim Heere des Königs fanden. Der Me-
tropolit, von Alter und Kummer gebeugt, entfloh mit dem größten
Theile feiner Heerde, und farb auf der Flucht zu Epernay im
Monat Dezember 882. 1)
Hinkmar ift der legte Franke aus Karl's des Großen Schule. ?)
Würdig fehließt er die Reihe der ausgezeichneten Cleriker, welche
im 9ten Jahrhundert die fränfifche Kirche verherrlicht haben. Seine
Lebensgefchichte ?) erfüllt ung mit Bewunderung, gleichwohl hat die
Nachwelt diefem Manne ein gerechtes Urtheil verweigert. Ich fpreche
bier nicht yon proteftantifhen Gefchichtfehreibern, die ftets über Herrich-
ſucht und Stolz fihreien, wenn ein Fraftvoller Prälat die beftehende
Ordnung wahrt und fih nicht durch Ränkemacher gutwillig ver:
drängen läßt. Selbft die franzöſiſchen Mauriner, die fonft fo billig
find, und deren gründlicher Gelehrfamfeit die hiftorifche Wiffenfchaft
fo viel verdankt, haben fchief über Hinfmar geurtbeilt. Sie grolfen
ihm, weil er in der Perfon des Mönchs Gotſchalk den Auguftinifchen
Lehrbegriff befämpfte. Und doch Fonnte Hinfmar bei feiner eigen:
thümlichen Stellung nicht anders handeln. Auch find wir bei aller.
Anerkennung, die wir Hinkmar's Berbienften zollen, weit entfernt,
die fpätere Entwidlung der Kirche zu beflagen, oder es als ein
Unglück anzufehen, daß der Metropolit yon Rheims im Kampfe
) Man vergleiche über feinen Todestag Longueval histoire de l’eglise
gallicane VI., 350. — ?) Wir bemerken, daß Angelo Maiv im Sten Band des
Sammelwerts, das den Titel führt classici autores e vaticanis codieibus
editi, Romae 1833. 8to. ©. 452 flg. ein Gedicht Hinfmar’s veröffentlicht hat,
dag in der prächtigen von Sirmond beforgten Ausgabe der Werke des Rheim—
fer Metropoliten nicht enthalten ift. Ebendafelbft S. 426 fig. ftehen auch bie-
ber ungedructe Verſe von Johannes Scotus Erigena. Auch einige Berfe Got:
[half s find neuerdings ans Tageslicht gezogen worden. Edelestand du Meril
theilt (Poesies populaires latines, Paris 1843. Sto.) zwei Gedichte des Mönche
mit ©. 177 und 253, von denen nur das Ichtere früher befannt war. —
3) Ueber Hinfmar’s Leben vergleiche man W. Ir. Geß: Merkwürdigkeiten aus
dem Leben und den Schriften Hinfmar’s ıc. Göttingen 1806. 8to. Das Buch
gehört Plank's Schule an, es ift ohne Affektation und fleißig gefchrieben. Den
wahren Zufammenhang der Dinge kennt Geß nicht, aber er hat viel Mate-
rial gefammelt und Hinkmar's Schriften felbft gelefen. Es giebt unter den
teutfchen Gefchichtfehreibern unglaublich wenig Baumeifter, man muß zufrieden
feyn, wenn man brauchbare Maurer findet, und zu dieſen gehört Geß.
Die Päbfte Sergius IT, Leo IV., Nikolaus I. ıc. 1129
für die Serbfiftändigfeit der Landesfirchen gegen den apoftoliichen
Stuhl unterlag. Die Dinge nahmen ihren natürlichen Berlauf.
Das Pabſtthum war ſchon längſt eine Weltmacht gemwefen, als
Karl der Große das fränfifche Neich gründete und den Stuhl Petri
feinem Chrgeize unterwarf. Murrend trugen die Päbſte, die mit
Karl lebten, Hadrian I. und Leo II. das auferlegte Joh. Mit
dem Tode des Imperators beginnen auch die Verfuche der Statt:
‚halter Petri, die verlorne Unabhängigfeit wieder zu erringen, und
die Herrfchaft über die Kirche den Fürften aus der Hand zu win:
den. As Hauptwaffe brauchten fie zu letzterem Zwecke Anfangs bie
Beichlüffe von Sardifa, welche Karl der Große nicht in die amt:
liche canonifhe Sammlung des fränfiihen Reichs hatte aufnehmen
laffen. Durch Fuge Benüsung der Umftände wurde der erfte Prä—
lat Neuftriens, Hinfmar, gezwungen dieſe Sasungen als rechtöfräf:
tig anzuerkennen. Aber bald bot fih den Päbſten in ben pfeudo:
iſidoriſchen Defretalen ein brauchbareres Werkzeug dar. Faſt alle
neuftrifhen Biſchöfe arbeiteten den römifchen Planen in die Hände,
jofern fie night blog diefe Sammlung ſchmiedeten, fondern auch durch
wiederholte Streitigfeiten in das Leben einzuführen fuchten. Nur
dur die freiwillige Mitwirfung Vieler konnte der Stuhl Petri
werben, was er wirflih ward. Merkwürdig ift es dabei, daß im
eigentlichen Zeutfchland gar Feine Spuren von Verſuchen vorkom⸗
men, dem falſchen Iſidor Geltung zu verfchaffen und die Metro:
politen zu demüthigen, während in Neuftrien fo bartnadig für oder
wider die Defretalen gefämpft wird. Und doch war Neuftrien un:
ter den Merowingern der Stammfis altrömifcher LWeberlieferungen
von monarchifcher Zucht, ZTeutfchland dagegen feit Cäfar’s Zeiten
die Heimath adeliger Unbotmäßigfeit und des Strebens nad) unbe:
Ihränfter Freiheit der Perfon. Sch erkläre diefe fonderbare Erfchei-
nung fo: in Neufter hatten Karl und feine Nachfolger die Bande
ber MetropolitanGewalt bis zum Uebermaße angezogen, daher er
folgte jeßt dort ein heftiger Gegenfioß. Anders verhielt es ſich in
Zeutfhland. Sehr wenige Synoden wurden bier im Laufe des
Iten Jahrhunderts gehalten, !) woraus hervorgeht, fowohl daß bie
) Man fehe welch” geringen Raum die teutfchen Synoden des Yten Zahr:
hunderte im 2ten Bande von Harzheim’s Sammlung einnehmen, und doch
bat er die Verhandlungen mehrerer franzöfifchen Eoneile in jenen Abfchnitt feines
Werkes eingerückt.
1130 IM. Buch. Kapitel 12.
Metropoliten Feine übertriebene Macht befaßen, als auch, daß fie wenig
Gelegenheit fanden, ihr Joch drüdend zu machen. Denn Synoden
find, wie wir wiffen, der Nerv erzbifchöflihen Wirkens. So geſchah
e3 denn, daß der neuftrifche Clerus mit den Großen um die Wette
die Einheit der Staatsgewalt untergrub und die Auflöjung des
Reichs in zahlloſe Bruchtheile beförderte, während im Gegentheil
die teutſche Geiftlichfeit fih zu Anfang des 10ten Jahrhunderts,
wie wir tiefer unten fehen werden, das unfterbliche Verdienſt er:
warb, die Einheit des Staats gegen die ehrgeizigen Umtriebe adeli-
cher Laien aufrecht erhalten zu haben.
Indeſſen Hätte die Unbotmäßigkeit der franzöft ſhen Biſchöfe
und ihr eifriges Bemühen, das Joch der Metropoliten und der
Krone abzuſchütteln, für ſich allein nicht hingereicht, dem Stuhl
Petri eine bisher nicht erhörte Macht zu verſchaffen. Die Fürſten
ſelbſt thaten durch ihren unſinnigen Ehrgeiz das Meiſte für Ver—
wirklichung des päbſtlichen Planes. Konnte man thörichter handeln,
als Karl der Kahle! Und hier iſt der Punkt, wo es ſich zeigt,
daß Hinkmar's Streben unhaltbar war. Nur in der Hand von
Erzbiſchöfen, wie er ſelbſt, und unter Fürſten, wie Karl der Große,
kann die Metropolitan-Gewalt, welche jener Prälat verfocht, ſegens⸗
reich ſeyn. Aber Kaiſer, wie Karl der Große ſind eine höchſt
ſeltene Ausnahme, Könige dagegen, wie Karl der Kahle, eine häu—
fige Erſcheinung. Blieb die Metropolitan-Gewalt unter den elen—
den Karolingern der ſpäteren Zeiten ungeſchwächt, jo ließ ſich vor⸗—
ausſehen, daß ſie über Kurz oder Lang zu einem Werkzeuge könig—
licher Willkühr und Despotie herabſinken werde. Beſſer war es
daber, die Gerichtsbarkeit über die Biſchöfe gerieth in die Hände
des Pabſtes, wie dieß wirklich gefchehen ift. Zugleich begann da—
mit eine neue Epoche der Gefchichte des Stuhles Petri. Niko:
aus I. und nod mehr Johann VIN. haben den Grund zu ber:
jenigen Entwicklung des Pabſtthums gelegt, welche Gregor VI.
und feine gleichgefinnten Nachfolger vollendeten. Der Stuhl zu
Rom wird feitdem der Gegenpol des Kaiſerthums. Wie die Kai
fer theils durch perſönlichen Ehrgeiz entflammt, theils durch alt-
römische Ideen, die fih an den Faiferlihen Namen Fnüpfen, por:
wärts getrieben, unabläßig dahin fireben, mit Waffengemwalt bie
allgemeine Herrfchaft über die hriftliche Welt zu erringen, fo find
andererfeits die Päbſte ebenfo eifrig bemüht, durch Künſte bes
Die Päbſte Sergius II., Leo IV., Nikolaus Leu. 1131
Friedens, der Unterhandlung, der Lift zu verhindern, daß ein
Einziger übermächtig werde. Zweideutige Mittel wurben oft yon
ihnen zu Erreichung dieſes Zweds aufgeboten. Dennoch hat ihr
Wirken der Welt außerordentlich genügt. Daß in Europa während
des Mittelalters Feine despotifche Negierungsform auffam, ift größ-
ten Theils ihr Werk, und demnach eine natürliche Folge der glüd-
lichen Kämpfe, welche Johann VIN. und feine nächften Vorgänger
wider Hinkmar durchfochten.
Es ſcheint uns paſſend, am Schluſſe dieſes Kapitels noch von
einem hiſtoriſchen Werke zu reden, das wir ſehr oft benützt haben:
wir meinen das ſogenannte Pabſtbuch, welches die Biographien der
Päbſte von Gründung des römiſchen Stuhles bis auf Nikolaus J.
umfaßt. Als Sammler oder Verfaſſer deſſelben wird Anaſtaſius
genannt, der in der zweiten Hälfte des 9Iten Jahrhunderts Biblio:
thefar mehrerer römischen Bifchöfe geweſen feyn fol, Wirklich kommt
in den Gefchichtsquellen ein Bibliothefar diefes Namens vor. Das
Pabſtbuch ſelbſt meldet, I daß von Leo IV, der römifche Cleriker
Anaftafius, damals Pfarrer an der Kirche des heiligen Marcellug,
wegen mehrerer Berbrechen auf einer Synode im Fahr 850 ver:
flucht worden fey, daß eben derjelbe unter Benedift IIL nach dem
Stuhle Petri geftrebt und eine große Partheiung erregt habe, 2)
daß endlich Hadrian II. den Gebannten wieder zu Gnaden ans
nahm. °) An diefe italienischen Berichte ſchließen ſich fränkiſche Zeug:
niffe an. Die Jahrbücher von Rheims erzählen zum Jahr 868,
Hadrian II. habe den Priefter der Kirche des heil. Marcel, Anafta:
fius, den er gleich bei Beginn feines Pontififats zum Bibliothe—
far der vömifchen Kirche ernannt, mit dem Bannftrahle belegt,
auch führen fie die Formel des Bannes an. *) Bier Jahre fpäter
erfcheint in derfelben Duelle 5) der römiſche Bibliothefar Ana-
ftafius als Gefandter des Kaifers und Pabſts zu Conftantinopel.
Demnach müßte das Pabftbuch, wenn jene alte Angabe richtig ift,
eben dieſem Bibliothefar Anaftafius angehören. Aber dann ift kaum
begreiflih, wie der Mann dazu fommen fonnte, in ber Lebens:
befhreibung der Päbſte Leo IV. und Benedikt III feine eigenen
i) Vita Leonis IV., $. 92, Vignoli III., 128. — ?) In vita Benedicti
IIL, $. 6 und 8. ibid. ©. 146. — °) In vita Hadriani- II, $. 10. ibid.
©. 226. — *) Perz I., 477 Mitte bis unten. — °) Perz I, 494 gegen oben.
1132 I. Buch. Kapitel 12.
Berbrechen auf eine jo unbefangene Weife zu erzählen, man müßte
denn hierin ein Zeichen der frechften Heuchelei fehen, von welcher
ſich allerdings in dem Pabſtbuche Beweife genug finden. Wenden
wir ung zu dem Werke ſelbſt. Die Biographieen der älteften Päbſte
bis zum Ende des 5ten Jahrhunderts find arm und fabelhaft, fie
fcheinen im Laufe des 6ten aus römischen Güter: und Schenfungs-
büchern zufammengeftellt worden zu ſeyn. Auch die folgenden bis
zu Anfang des 9ten Jahrhunderts gehören nicht einem Berfaffer
an, wie Ciampini aus der Verfchiedenheit des Styls nachgemiefen
bat. I Der ebengenannte Gelehrte vermuthet, daß nur die Lebens:
befchreibungen der Päbſte von Gregor IV. bis auf Nifolaus I. das
Wert des Bibliothefars Anaftafius find. Die vier weiteren Bio-
graphien, die in den gewöhnlichen Ausgaben ftehen, werden einem
andern Bibliothefar, Namens Wilhelm, beigelegt. ?) Uebrigens zieht
fih ein gemeinfchaftliher Charakterzug durch alle hindurch: dieſe
aus verfchiedenen Federn flammende Lebensbefchreibungen ſchwel—
(en von Lobeserhebungen auf die Päbfte, und von fehmeichlerifcher
Anerkennung ihrer unbeſchränkten Machtvollkommenheit. Befonders
ift dieß der Fall mit den Biographien der Päbfte des Iten Jahr:
bunderts, die, wie wir fagten, die eigene Arbeit des Bibliothefars
Anaftafius zu feyn feheinen. Glücklicher Weife haben Menfchen, wie
Anaftafius, bisweilen die Sucht, wenn auch nicht wahr, fo doch
erfchöpfend zu fehreiben, fie fagen daher Mandes, was fie hätten
verfchweigen follen. Dadurch wird es einem geübten Auge möglich,
aus dem Nebel abfichtlicher Verdrehungen die Wahrheit herauszu:
finden. Das Pabſtbuch ift von Anfange bis zu Ende für ben
gläubigen Haufen berechnet, der feine Priefter wie Götter verehren
fol und nicht zu wiffen braucht, was hinter dem Vorhange gefchieht.
Tief fteht daffelbe als Gefchichtsquelle unter den fränfifchen Chroni-
fen, namentlich unter den von Hinfmar verfaßten Rheimſer Jahr
Büchern, welche die befte hiftorifche Arbeit aus der zweiten Hälfte
des Iten Jahrhunderts find.
1) Johannis Ciampini examen libri pontificalis abgedruckt bei Muratori
seriptores rerum italic. III, 34 fig. — ?) Vignoli III, 218. — °) Sn den
ältern franzöfifhen Ausgaben hat fie den Titel Chronik von St. Berlin.
ME De ee —
FE EU ET