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Full text of "Allgemeine Kirchengeschichte vol. 3 pt.2"

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Allgemeine 


Kirchengeſchichte 


von 


A. F. Gfrörer, 


Profefſor und Bibliothekar in Stuttgart. 


Dritter Band. 


weite Abtheilung. 
— — SOPE—— = 


Stuttgart. 
Berlag von Adolph Krabbe, 
1844. 


Geſchichte 
der chriſtlichen Kirche 


ſiebenten bis zu Anfang des eilften Jahrhunderts 


oder 
von Mahomet bis zum Tode Pabſt Sylveſter's II. 


Von 


MH. F. Gfrörer, 


Profeſſor und Bibliothekar in Stuttgart. 


Zweite Abtheilung. 





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Stuttgart. 
Berfaa von Adolph Krabbe. 
1844. | 
















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Neuntes Rapitel. 


Die fränkifhe Kirche vom Anfang des ficbenten Jahrhunderts bis zum Tode 
Karls des Großen. Pipin von Heriftall und fein Gefhleht, Karl Mlartel, 
Pipin der Kleine, Karl der Große. Paulinus von Aquileja, Cheodulf von 
‚Orleans, Alkuin, Paul der Langobarde, Wiederherſtellung der Kirchenzucht, 
Verhältniſſe der Ziſchöfe. Einführung der Zehnten. Die karolinifchen Bücher. Der 
adoptianifche Streit. Elipandus von Toledo, Felie von Urgel. Pie Synode von 
Frankfurt, Wicdererridtung des abendländifgen Kaiſerthums. Unterjohung und 
Dekehrung der Sachſen. Die teutſche Kirche unter Karl, 


- 


Chlodwig der Franfe hatte, wie wir im zweiten Bande vorlie: 
genden Werkes gezeigt, die Mitglieder des Clerus, den er im er- 
oberten Gallien vorfand, Theil an der Beute nehmen lafjen und 
reich gemacht, aber unter der Bedingung, daß die Bifchöfe den 
Eroberern an die Hand gehen und ihre Herrichaft unterftügen. 
Dagegen behielten die Merowinger fih das Recht vor, in die innern 
Angelegenheiten der Kirche nach Belieben einzugreifen, Bifchöfe ein- 
und abzufegen, diefelben vor ihr Gericht zu ziehen, fo wie Stühle zu 
verfaufen. Daß ſchon im fechsten Jahrhundert Beifpiele von Eifer: 
fucht der Könige gegen den Reichthum des Clerus hervortraten, 
haben wir an einem andern Orte nachgewiefen. ) Schlimme Zeiten 
brachen für den gallifchen Clerus an, feit durch die ewigen Theis 
fungen, wie durch die wachfende Fäulniß des merowingifchen Stam- 
mes, das von Chlodwig gegründete Neich verfiel, Bon Nun an 
hatte die Geiftlichfeit nicht blos gegen die Habfucht der Könige zu 
fämpfen, fondern der ganze germanifche Adel, von feiner Fräftigen 
Fauſt mehr niedergehalten, begann nad den Gütern der Kirche zu 
angeln, die er als eine feinem Stande vorenthaltene Beute betrad)- 
tete. Wir verftehen dieß nicht fo, als ob mächtige Familien vom 
Stamme der Eroberer geradezu Befigungen der Kirche an ſich 
geriffen hätten — obgleich folche Fälle haufig vorfamen — fondern, 
was für die Kirche noch ſchlimmer — die Eroberer fiengen an in 





) I. Bd. S, 1029 Mitte, 
u, 


904 I. Bud. Kapitel 9. 


den Clerus einzutreten, um fo auf gefeglichem Wege fich ihren An: 
theil an den geiftlichen Reichthümern zu verfchaffen. Ueber das Zahl: 
verhältniß der Cleriker vomanifcher Abfunft zu denen aus germani- 
fhem Stamme giebt es — beim Mangel anderer Nachrichten — nur 
eine Art der Berechnung, die zwar im Einzelnen öfters täufcht, 
doch im Ganzen ein ziemlich ficheres Ergebniß liefert: wir meinen 
den Schluß aus den Namen der Bifchofe, welche öffentliche noch 
vorhandene Alten unterfchrieben haben. Es mag zumeilen gefchehen 
feyn, daß geborene Gallier fränfifhe, und umgefehrt geborene 
Franken oder Burgunder latinifche oder griechiihe Namen führten. 
Dennoch darf man als Negel annehmen, daß jede der beiden Na— 
tionen Namen ihrer Sprache trug. Die vorausgefegt, geht aus 
der Bergleihung der auf uns gefommenen Namensperzeichniffe von 
Biſchöfen des Franfenreihs Folgendes hervor: in der erften Hälfte 
des fechsten Jahrhunderts — alſo in den Anfängen der Eroberung — 
bat die bei Weitem überwiegende Mehrzahl der Bifchöfe Tatinifche 
oder griechifche Namen, in der zweiten Hälfte defielben Zeitraums 
nehmen die teutfchen Namen überhand, im fiebenten Sahrhundert 
dagegen Fehrt fich das frühere Verhältnig um; teutſche Namen der 
Biſchöfe find das Gewöhnliche, Yateinifche bilden die Ausnahme. 
Daraus ergiebt fih denn, daß während Chlodwig und feine nächſten 
Nachfolger das Bisthum den angefehenen eingebornen Familien 
überlaffen hatten, ſpäter fränfifche Adelige in den hohen Clerus 
eingedrungen find, was auch mit andern Spuren übereinftimmt. 
Diefe Beränderung war weder für die Geiftlichfeit noch für bie 
Kirche Heilfam. Der fränfifhe Nachwuchs bradte, wenn er ſich 
auch zur Noth den unumgänglichen Vorſchriften geiftlicher Zucht 
unterwarf, den angeborenen germanifchen Hang zur Unbotmäßigfeit, 
den Troß, den Uebermuth, die rohen Sitten feines Stammes in 
den Clerus herüber. Geiftliche, welche Sporen trugen, öffentlich im 
Wehrgehenf erfchienen, Meuten von Jagdhunden hielten, mehr im 
Forfte, als am Altar fih fehen ließen, Naufer und Säufer im 
bifhöffihen Gewande, wurden immer häufiger. Die Synodalver⸗ 
faffung und bie Kirchenzucht verfiel noch eher ald der merowingifche 
Königsftamm So tiefe Wurzeln hatte jedoch römische Bildung in 
Gallien getrieben, daß ſich in die eifernen Zeiten des fiebenten 
Sahrhunderts hinein Spuren davon erhielten. Bis nad ſechs— 
hundert Iebte der Teste römiſche Dichter yon älterem Schlage, 


Die fränkische Kirche vom Anfange des fiebenten Jahrhunderts ıc. 555 


Benantius Honorius Clementianus Fortunatus. Geboren um 540 bei 
Treviſo in Italien, wuchs er während ber Testen Zeiten oftgothifcher 
Macht auf, und empfieng in den Schulen zu Ravenna eine wiffen- 
Schaftliche Erziehung, die feine dichteriſche Ader entwidelte. Um 565 
machte er eine Reife nach Frankreih, wohin ihm der Auf eines 
gewandten Verſemachers vorangieng. Die vornehmen und reichen 
Gallier von römischer Abfunft, welche noch Liebe für die alte 
Literatur fühlten oder zur Schau trugen, nahmen den italienifchen 
Gelehrten mit offenen Armen auf. Bon Mainz bis Bordeaux, von 
Touloufe bis Cöln durchreiste er Francien, überall die Bifchöfe, 
Senatoren, Grafen befuchend, und auch bei den fränkifhen Großen 
gerne gefehen. Durch Gedichte, die er dem Charakter und ber 
Berufweife feiner Gönner anzupaffen wußte, vergalt er ihre Gaftfreund- 
haft. Auch die Gunft des Königs Sigebert yon Metz gewann 
er, indem er die Heurath beffelben mit der Weftgothin Brunehild 
durch noch vorhandene Berfe befang. Dauernder und ehrenvoller 
für ihn war feine Verbindung mit der Föniglichen Vorſteherin des 
Srauenklofters zu Poitiers. Nadegundis, eine thüringifche 
Fürftentochter , in zarter Jugend von den Franken gefangen, hatte 
fich mit Heldenmuth dem verhaßten Ehebette des Königs Chlotar 1. 
von Spißons, ter zugleich ihr Gemahl aber auch der Mörder 
ihres Bruders und der Unterdrüder ihres Bolfes war, um 545 
entwunden und den Schleier genommen. Sie fliftete ſeit— 
dem ein Klofter zu Poitiers, das eine viel befuchte Zuflucht 
Hätte fir die Töchter gallifcher Senatoren wurde. Bier bes 
fuchte fie Venantius Fortunatus, und die Klofterfrauen bewiefen 
dem  italienifhen Schöngeiſt fo viel Aufmerkfamfeit, daß er 
fih in Poitiers feft feßte und der Neihe nach das Amt eines Rath: 
gebers, Geheimfchreibers, Gefchäftführers und Capellans der Aeb— 
tifjin übernahm. Seine Gedichte geben Aufſchluß über die innerften 
Berhältniffe des dortigen Kloflers.') Er wurde nad 595 zum 
Biſchofe von Poitiers erhoben, und ftarb als folder in dem erfien 
Jahrzehend des fiebenten Jahrhunderts. Venantius war ein Lebes 
mann, welcher ber ehernen Zeit, in der er ſich bewegte, die heiterfte 
Seite abzugewinnen verfiand. Wir befigen von ihm nicht blos Verſe, 





) Man vergleiche die ſchöne Entwicklung Thierry's recits des lems 
merovingiens, IIèmo edition, second vol, ©, 284 flg. 


556 11. Buch. Kapitel 9. 


fondern auch einige profaifche Aufſätze geiftlichen Inhalts und Lebens: 
befchreibungen von Heiligen. ) An Gewandtheit und glüdlichen 
Einfällen fehlt es ihm nicht, dagegen Fleben ihm die Mängel der 
finfenden römifchen Literatur, Schwulſt, und kindiſche Spielereien 
in hohem Grade an, auch der Sprache thut er Gewalt. Die Rolle, 
welche er als junger Mann in Gallien fpielte, beweist freilich weniger, 
daß noch Studien blühten, als daß ſich von früher her eine gewiffe 
Adtung für Literatur erhalten hatte. Vom Anfange bis zur Mitte 
des fiebenten Jahrhunterts gab es im Franfenreiche, außer etlichen 
dunfeln Berfaffern Heiliger-Gefchichten, feinen Schriftfteller, der 
irgend Diefen Namen verdient. Um 650 dagegen fchrieb ein fonft 
unbefannter Sranfe, den man vielleicht mit Unrecht Fredegarius 
nennt und durch den Beinamen Scholaftifus auszeichnet, eine Fort: 
ſetzung der fränfifchen Gefchichte Gregor’s von Tours, welche bis 
zum Jahre 641 reiht. Da Fredegar ber Einzige ift, welcher ung 
über diefen Zeitraum Nachrichten mittheilt, fo muß man für feine 
Arbeit dankbar fein, ob er gleich fehr fehlecht fchreibt und wenig 
Beruf zum Gefchichtfchreiber bethätigt. *) Ungefähr in diefelbe Zeit 
fällt eine Sammlung yon Formeln für Urkunden, Verträge und 
andere Akten der Art, welche ein Mönch Namens Marfulf zufam: 
mentrug. Diefelbe ift in zwei Bücher eingetheilt, deren erftes 
Formulare für Ausfertigungen der füniglihen Kanzlei (praecep- 
tiones regales) enthält; das zweite giebt Vorfchriften zur Abfaffung 
von gerichtlichen Aufſätzen des alltäglichen Lebens (chartae pagenses). 
Markulf's Arbeit hat viel Achnlichfeit mit dem fogenannten liber 
diurnus der Päbfte, von welchem wir oben banbdelten, 3) fie ift 
jedoch Alter. Der Berfaffer lebte im Sprengel von Paris, er hat 


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Die beſte Ausgabe feiner Werke lieferte A. Luchi Romae 1786, 1787, 
2 vol. Ato. — 2) Fredegar's Werk iſt eigentlich eine Weltchronik in fünf 
Büchern. In den erften drei ftoppelt er Die Weltereigniffe von der Schöpfung 
bis 561 nach Chriftus aus Eufebius, Zulius Afrifanus und andern Chroniften 
zufammen. Abgedrucdt find fie bei Canisius lect. antig. in der Ausgabe des 
Basnage Vol. II, ©. 154 fig. Das vierte Buch ift ein Auszug aus der 
Hiftorie dis Gregorius von Tours. Erſt im fünften wird Fredegar ſelbſtſtän— 
dige Duelle. Das vierte und fünfte Buch findet fich hinter Ruinart’s Ausgabe 
der Werke Gregor's ©. 511 fig. Bier andere unbefannte Annaliften haben 
fpäter die Ehronif Fredegar's weiter geführt; und zwar der Letzte derfelben big 
zum Jahr Chriſti 768. Abgedruckt ift ihre magere Arbeit ebenvafelbft ©. 663 flg. — 
3) ©, 489. 


Die fränkiſche Kirche vom Anfange bes fiebenten Jahrhunderts ꝛc. 557 


aud) feine Arbeit dem Erzbifchofe Landerich gewidmet, der um 650 auf 
dem Stuhle von Paris faß. ) Das barbarifche Latein diefer Samm- 
fung, welche für den öffentlichen Gebraud) beftimmt war, zeugt vom 
Berfall der Studien zu jener Zeit, an ſich aber iſt Markulps Werk 
wichtig, weil es einen erwünfchten Beitrag zur Kenntniß der gericht: 
lichen und kirchlichen Verfaſſung des fränkiſchen Reiches Liefert. ?) 
Nach dem Tode Dagobert’s tritt Das Verderbniß des mero— 
wingifchen Stammes fihtbar hervor; jene Schattenfönige beginnen, 
welche man mit dem Namen der Nichtöthuenden bezeichnet hat: 
Sünglinge, die durch maaßlofe Vergeudung der Geſchlechtskraft vor 
dem breißigften Jahre zu Greifen werden, Kinder, die im Mutter: 
Yeibe vergiftet, kaum ſich entwideln fünnen. Die Regierungsgemalt 
gieng nunmehr in die Hände der höchſten Hofbeamten über, bie 
unter dem Namen majores domus fon feit der Eroberung be> 
fanden, aber jest erſt ihre große politiiche Bedeutung erhielten. 
Theilweife vererbte ſich auch die Politik der alten Könige auf fie. 
Während die Merowinger noch felbft herrſchten, zeigte fich im Fran— 
fenreiche eine doppelte Bewegung: römiſchen Leberlieferungen folgend, 
firebten die Könige nad unumfchränfter Gewalt; der fränfifche 
Adel Hinwiederum fuchte die perjünliche Freiheit zu wahren, welche. 
feine Ahnen in den germanifchen Wäldern befeffen hatten. In den 
weftlichen Provinzen des Reichs, wo die latinifchegallifhe Bevölkerung 
überwog, hatte feit längerer Zeit bie erftere Nichtung gefiegt, in 
Burgund dagegen und noch mehr in Aufter, welches letztere Land 
bei Weitem zum größten Theile Einwohner teutſchen Stammes inne 
hatten, behielt der Adel die Oberhand. Auch die Geiftlichfeit wurde 
in diefen Kampf bineingeriffen. Major Domus in Weftfranfen 
(Neufter) war feit 657 Ebruin, ein ausgezeichneter, aber auch ge- 
waltthätiger Mann, eben fo fühn im Felde, als verfchlagen im 
Rathe, und entfchloffen um jeden Preis die Fünigliche Alleinherr: 
ſchaft aufrecht zu Halten. Nicht blos im ebengenannten Lande, fon: 
dern auch in den beiden andern Bruchtheilen des merowingifchen 
Neihs, in Burgund und Auftrien, welche unmündige Nachfommen 





1) Siehe histoire litteraire de la France Vol. III, ©.566. — ?) Mar: 
kulf's Formeln find im zweiten Band der capitularia regum francorum von 
Steph. Baluzius (Paris 1780) ©. 569 fig. mit den Noten des erſten Heraus: 
gebers Bignon, abgedruckt. 


558 II, Buch. Kapitel 9. 


Dagobert’s dem Namen nach beherrfchten, übte er die höchfte Ge: 
walt aus. Eiferfüchtig auf feine Macht festen ihm die burgundifchen 
Großen als ihr Partheihaupt den Biſchof von Autun Leodega: 
rius entgegen, der um 616 aus einer vornehmen Familie geboren, 
durch den Einfluß feines Oheims, des Bischofs Dido von Poitierg, 
ſchon im zwangigften Jahre zum Diafon, dann zum Abt bes 
Marentiusflofters ernannt worden war, und endlich um biefelbe 
Zeit, da Ebruin die Würde des Major Domus in Neuftrien errang, 
den Stuhl von Autun beftiegen hatte. Die galliihe Kirche verehrt 
Leodegarius als einen Heiligen. In der Gefchichte ) fpielt er jedoch 
eine andere Rolle. Der Bischof von Autun brachte eine Verbindung 
der unzufriedenen Burgunder und Auftrafier zu Stande. Unver⸗ 
ſehens überfielen die vereinten Burgunder und Oftfranfen ben 
Major Domus famınt feinem Werkzeug, den König Theoderich IIL., 
und nahmen Beide gefangen. Dan fhor fie zu Mönden und 
fperrte den geweſenen König in das Klofter zu S. Denis, den Hof: 
beamten in Lurueil ein. In Folge des Sieges wurde die Fünig- 
liche Gewalt auf das befcheidene Maag der alten germanifchen 
Einrichtungen herabgedrückt, und der Bischof von Autun zum Major 
Domus von Burgund erhoben. Allein er fonnte ſich nicht lange 
halten. Den Merowinger Childerich IL, den die Berfchwornen zu 
ihrem Scheinfönig erforen, wandelte das Gelüfte an, felbft zu 
berrfchen; er verbannte den aufgebrungenen Major Domus in daſ— 
felbe Klofter son Lurueil, wo Ebruin, Leodegar’s Todfeind, gefangen 
ſaß. Mit gleiher Strenge verfuhr er gegen mehrere Edelleute; 
einen berfelben ließ er an einen Baum binden und halb zu Tode 
geißeln. Dafür ward er von dem DBeleibigten auf ber Jagd er: 
mordet. Man hat Urfache anzunehmen, daß Leodegarius von feinem 
Gefängniß aus die Maafregeln der Feinde des ermordeten Königs 
feitete. Sp wie die Nachricht vom Tode Childerich's IT. zu Lurueil 
einlief, entfamen fowohl Leodegarius als Ebruin in verſchiedenen 
Richtungen. Der Legtere brachte ein Heer zufammen und riß mit 
Gewalt die Herrschaft in Neufter wieder an fih. Kaum befeftigt, 





') Quellen: zwei Lebensbefchreibungen deſſelben, abgebrudt bei Mabillon 
A. ord. S. B. II., 649 fig. Außerdem vergleiche man bie Tichtvolle Darftellung 
in Fauriel's unfhägbarem Werfe: histoire de la Gaule meridionale II, 
465 flg. 


Die fränfifche Kirche vom Anfange des fiebenten Jahrhunderts ꝛc. 550 


309 er gegen Leodegarius aus, der indeß fein Bisthum wieder an 
getreten hatte, belagerte ihn in feiner Stadt Autun und bemächtigte 
fich feiner Perfon. Ebruin ließ ihm erft Die Augen ausflechen, einige 
Zeit fpäter ftellte er ihn vor eine Synode, die ihn der Ermordung 
Childerich's IL. anflagte und ſchuldig erklärte, Nach furchtbaren 
Martern wurde Leodegarius im Jahr 678 enthauptet. Da bie 
galliſche Kirche ihn als ein Muſter priefterliher Tugend verehrte, 
fann man aus feiner Geſchichte ermeffen, yon welchem Schlage die 
andern Bifchöfe geweſen feyn mögen. Diefelbe Unbotmäßigfeit, wie 
im Clerus, herrſchte auch in den Klöſtern. Wir begnügen uns 
abermal ein Beifpiel anzuführen. In dem berühmten Inſelkloſter 
Lering war um die Mitte des fiebenten Jahrhunderts die Zucht auf’s 
Tieffte zerfallen. Um nun die Ordnung dafelbit wieder herzuftellen, 
wurde durch einen dev Merowingiſchen Könige der Mönch Aigulf, welcher 
wegen feiner firengen Lebensweife in großem Anfehen fand, zum 
Abt der Brüderſchaft beftellt. ) Aigulf begann fein Gefchäft zuerft 
mit gelinden, dann mit immer Fräftigern Mitteln. Zwei Mönche, 
Arkadius und Columbus, festen den Beftrebungen des Abts einen 
unbeugfamen Widerftand entgegen. Aigulf ſah ſich zuletzt genöthigt, 
den Erſtern aus dem Kloſter fortzujagen. Columbus, der ſich dem 
Scheine nach unterworfen hatte, blieb, fuhr aber in's Geheim fort, 
die Brüder gegen den Abt aufzuhetzen. Indeſſen hatte Arkadius den 
Schutz eines benachbarten Edelmann's Mummolus angerufen und dem— 
ſelben vorgeſpiegelt, daß zu Lerins große Schätze aufgehäuft ſeyen. 
Plötzlich überfällt er an der Spitze eines Haufens Bewaffneter, die 
ihm Mummolus gegeben, das Kloſter, nimmt den Abt ſammt den 
Mönchen, die ihm anhiengen, gefangen, reißt ihnen die Zungen 
aus und bringt ſie nach der Inſel Capraria, wo die Unglücklichen 
in einen Kerker geworfen werden. Die Rache der beiden Meute— 
ver Arkadius und Columbus war damit noch nicht befriedigt. 
Zwei Jahre fpäter fuchen fie ihre Schlachtonfer yon Neuem auf und 
Ihlagen fie todt. Dieß gefhah um 675, alfo Furz vor der Hin— 
richtung des Biſchofs Leodegarius. | Ä 

Der Major Domus Ehruin verfolgte den Sieg, welchen er 
über den Bilchof von Autun errungen. Straff zog er die Bande 
der Negierungsgewalt an und demüthigte den Adel. Viele unzus 





) Quelle; vita Aigulfi bei Mabillon a. a. O. ©. 628, 


560 IM. Buch, Kapitel 9. 


friedene Neuftrier flohen nad Dfifvancien, wo ſeitdem Pipin von 
Heriftall, einer der begütertfien Grundbefiger Auftriens, als Bor: 
fämpfer germanifcher Adelsrechte gegen das Königsthum, feine Rolle 
zu fpielen begann. Pipin fammelte die verbannten Neuftrier um 
ſich, und lieferte dem Major Domus 680 bei Laon eine Schlacht, 
welche er verlor. " Pipin mußte das Land verlaffen, Auftrien ward 

son Ehruin verheert und unterfocht. Der Sieg des Königthums 
fchien für lange gefihert. Aber ſchon im folgenden Jahre fiel Ebruin 
durch die Hand eines Adeligen, den er wegen Veruntreuung öffent⸗ 
licher Gelder zur Nechenfchaft gezogen hatte. Drei Major Domus, 
die Schnell Hinter einander feine Stelle befleideten, hatten weder bie 
Fähigkeiten noch das Glück Ebrum’s. Pipin erhob fih von Neuem 
in Auftrien und fand großen Anhang. Im Jahre 687 gewann er 
gegen die Neuftrier die entfcheidende Schlacht bei Teftri, welche bie 
Macht feines Stammes begrüntet hat. In den nächften 27 Jahren 
(von 687—714 da er ftarb), unterwarf er feiner mittelbaren oder 
unmittelbaren Herrichaft Burgund, Neuftrien, Aquitanien, fo wie 
die teutfchen Provinzen, welche die Meromwinger früher erobert. Die 
teutfchen Stämme leiſteten ihm den hartnädigften Widerftand, zu 
wiederholten Malen mußte Pipin fie züchtigen. Das ganze Erbe 
der Söhne Chlodwig's gehorchte wieder einem Gebieter. Pipin fand 
für gut, das Merowingifche Scheinfönigthum fortbeftehen zu laſſen; 
er fegte nach und nach vier folcher Puppen ein, meift wählte er 
Kinder dazu. Seine Abfiht war durch dieſe Auswahl auch bei 
ben gutmüthigften Anhängern des Hergebrachten allmäplig den Mero- 
wingifhen Stamm in Beratung zu bringen. Eben fo fihlau ver: 
fuhr er mit der Würde der major domus, welche das gallifche Volk 
feit hundert und fünfzig Jahren als unentbehrliches Anhängfel 
Merowingiſcher Herrfcher zu verehren fich gewohnt hatte. Anfangs — 
d. h. gleich nach dem Siege von Teſtri ließ er fich felbft zum Major 
Domus von Neuftrien ernennen; fpäter aber nahm er den Titel 
eines Fürften oder Herzogs der Franfen an, und gefellte feitdem 
den Merowingiſchen Scheinfünigen feiner Wahl oberſte Hofmeifter 
bei, die eben fo jung und unfühig als ihre Herren waren. Diefes 
Amt follte in gleihem Verhältniß, wie die Merowingifche Krone, 
entwürdigt werden. Man wird nun auch unfere oben ausgeſpro⸗ 
hene Bermuthung nicht mehr zu kühn finden, daß Pipin es war, 
ber bie hriftlihe Zeitrechnung ſtatt der bisher üblichen königlichen 


Die fränkiſche Kirche vom Anfange des fibenten Jahrhunderts ꝛc. 561 


eingeführt hat. Beides, die zulegt genannte Maafregel und fein 
Detragen gegen die Sprößlinge des alten Königshauſes verräth 
einen Geift und M auf einen und dbenfelben Zweck berechnet. 
Unter Pipin’s Regiment änderte fih die Stellung oder vielmehr 
die Verderbniß der fränkiſchen Cleriſey nit. Denn war er nicht 
als Haupt und Führer der Adelsparthei zur Herrfchaft gelangt, 
und mußte er folglich nicht den Biſchöfen die Zügel fchießen Iaffen, 
die, wie wir zeigten, größtentheils jenem Stande angehörten? Wir 
wollen wieder an einem Beiſpiele darthun, welche Männer gegen 
Ende der Regierung Pipin’s die fränkiſche Kirche Ienften. Seit 710 
faß auf dem Stuhle von Aurerre Savarich, ein fränfifcher Adeliger. 
AS die Nachricht von Pipin’s Tode einlief, befchloß er, die fchöne 
Gelegenheit zu Gründung eines eigenen Fürſtenthums zu benügen, 
fammelte eine Schaar Bewaffneter, und eroberte an ihrer Spiße 
bie Sprengel oder Graffchaften Orleans, Nevers, Tournus, Ava- 
Ion und Troyes. Berauſcht durch fein Glück, warb er ein noch 
größeres Heer und rüdte gegen Lyon, welde Stabt er vielleicht 
gleichfalls erobert hätte, wäre er nicht durch einen Blisftrahl 715 
erihlagen worden. Seine Soldaten fahen in dem fihnellen Tod 
des Biſchofs ein Zeichen göttlichen Zornes und Tiefen voll Schreden 
auseinander. !) Gebt wird begreiflih, warum der hohe fränfifche 
Clerus fo gar wenig für Befehrung der Teutfchen that, und warum 
Pipin, dem diefe Angelegenheit aus politischen Gründen am Herzen 
lag, als Sendboten vorzugsweife Iren und Angelfachfen verwendete. 
Jene adeligen Jäger, Ritter, Zecher, Lebemänner, die auf den 
Stühlen Galliens faßen, fühlten nicht für das Evangelium, noch 
hatten fie Luft, um Ausbreitung der Kirche willen ihre Bequem 
lichfeit aufzuopfern. Und wenn je Einige aus ihrer Mitte nad) 
Teutſchland giengen, fo fuchten fie dort Pfründen, Macht, Reich: 
thümer, wie Corbinian oder Emmeram. 

Pipin hatte drei Söhne, zwei von feiner rechtmäßigen Gemah— 
Iin Pleftrudis, Drogo und Grimoald, und einen Dritten von einer 
Deifchläferin, Karl. Den beiden erfien war feine ganze Zärtlichkeit 
zugewandt; fie follten au das Reich erben. Aber beide ftarben 
vor dem Vater, Droge im Jahre 708 an einer Krankheit; Grimoald 
fiel durch Mörderhände 714 kurz vor Pipin’s Tode. Den dritten 








1) Bouquet script, rer, franc, Vol, III, 639 unten u. 640 oben. 
Gfrörer, Kircheng. IE, 36 


562 Al. Buch. Kapitel 9. 


Sohn Karl hielt der Srankenherzog in engem Gewahrfam und be— 
handelte ihn mit entſchiedener Abneigung; ohne Zweifel weil Pipin 
dem weitverbreiteten Gerücht Glauben fchenfte "dag Karl die Haupt: 
fhuld an Ermordung feines ‚begünftigten  Halbbruders Grimoald 
trage.» Bei dem Tode Pipin’s gieng die Herrfchaft an zwei unmün—⸗ 
dige Kinder Drogo's unter der Leitung ihrer Großmutter Plektrude 
über. Alsbald empörten fih die Neuftrier gegen Pipin’s Wittwe, 
fchlugen deren Heer und erhoben einen Merowinger ihrer Wahl, auf 
den Thron, welchem fie den Major Domus Raginfred zur: Seite 
festen. Raginfred verband fi) mit dem Herzoge der Friefen Rad— 
bod, den wir von Früher her fennen, um gemeinfchaftlich Auftrien, 
den Sig Pipin’scher Hausmacht, zu theilen. Im ihrer Noth juchten 
die bedrohten Auftrafier Hülfe bei dem natürlichen Sohn Pipin’g, 
fie zogen ihn aus feinem Gefüngniß hervor, und machten ihn zu 
ihrem Haupte. Bon jest an begann Karl Martel’s glänzende Rolle. 
Schwer war feine Aufgabe; er hat fie mit bewunderungswürdiger 
Kraft und feltenem Glück gelöst. Er ftellte nah und nad nicht 
blos die Macht feines Vaters wieder ber, fondern vergrößerte fie, 
befreite Europa von dem drohenden Einbruche der Sararenen und 
gründete ein Reich, das Gallien und Teutſchland umfaßte. Seit 
dem Untergange der Oftgothen hatte der Deeident feinen folchen 
Herrfcher mehr gefehen. Außer feinen großen perſönlichen Eigen- 
Tchaften machten es ihm bauptfächlich zwei Maaßregeln möglich, ein 
folhes Ziel zu erreichen. Wie fein Vater Pipin, trat Karl als 
Beihüser der alten germanifchen Freiheiten auf. Das Necht der 
Bolfsverfammlung und die Berathung öffentlicher Angelegenheiten 
auf denfelben war unter den fpätern Merowingern in: Abgang 
gekommen, Pipin führte Beides wieder ein. „Alljährlich zu Anfang 
des Märzmonats,“ berichten ) die Zeitbücher von Meg, „berief 
Pipin nad der Sitte der Vorfahren alle Franken zufammen.“ 
Daffelde that Karl Martel, und auch unter den folgenden Karo: 
lingern find die Märzfelder geblieben: Yaute Zeugen davon, daß ber 
Herrfcherftamm Pipin’s von Heriftall Dem, was man jest Dema⸗ 
gogie zu nennen pflegt, feine politifhe Größe verdankte. Doc) bie 
Bolfsgunft, die Karl hiedurd gewann, würde ihn nicht allein zum 
Diele geführt haben. Um das Heer, deſſen er zu den fortbauern: 





') Annales Mettenses ad annum 692, Perz I; 320, 





Die fränkiſche Kirche vom Anfange des firbenten Jahrhunderis ıc. 563 


den. Kämpfen ‚bedurfte, welche feine ganze Negierung ausfüllen, 
dauernd: an feine. Perſon zu feffeln, brauchte er noch andere Mittel, 
Geld und Gut war im achten Jahrhundert zum Kriegführen ebenfo 
nöthig als jest, Nun reichte aber fein Hausbelig bei Weiten nicht 
aus zu Bezahlung feiner bewaffneten Anhänger, anderer Seits 
hatten die Staatsgüter in, dem eroberten Lande, mit welchen Chlod- 
wig und feine Nachfolger treue Dienſte gelohnt, längſt ihre Herren 
gefunden. Wie war bier zu helfen? Karl Martel griff, nad) den 
Gütern der Kirche! Der Clerus mußte die Koflen der Wiederher: 
ftellung des fränfifchen Heiches und Farplingifhen Wachsthumes 
tragen. Karl vergabte nicht blos einzelne Befigungen. verfchiedener 
Kirchen, fondern ganze Abteien, ja auch viele Bisthümer zum 
Nießbrauch an tapfere Soldaten, ') die dafür von geitlihen Ver— 
pflichtungen weiter nichts übernahmen, als. einen glatt gefchornen 
Fleck auf ihrem Kopfe. Und bald gefhah es auch, das folhe Sol— 
baten-Bifchöfe und Aebte die erhaſchten Pfründen mit Glück auf ihre 
Nachkommen zu bringen ftrebten, es fehlte nur noch ein Schritt, und 
bie Kirche Galliens verwandelte ſich in eine Maſſe adeliger Erb- 
leben. Unter vielen Fällen erregte einer fhon im achten Jahrhun— 
dert großen Lärm. Milo, Sohn des Biihofs Liutwin von Trier, 
riß nach feines Vaters Tode den erledigten Stuhl an fi) und er- 
hielt von Karl Martel, deffen Anhänger und Soldat er war, auch 
noch das Bisthum Rheims, aus welchem Nigobert vertrieben wurde. 
Laffen wir. einen der alten Berichterftatter ?) felbft reden: „In jenen 
Zeiten wütheten in der Landfhaft (Trier) Bürgerkrieg und vater- 
mörberifche Kämpfe, da der Tyrann Karl die Bisthümer den Laien 
preisgab, und den Bifchöfen alle Gewalt entzog. In Gefellichaft 
biefes Karl zog Milo, Liutwin’s Sohn in den Krieg; derſelbige 
hatte yon einem Cleriker nichts an fih als die Tonſur, und belei- 
digte Gott durch feinen Wandel. Nachdem Karl den Sieg (bei 
Biney im Jahr 717) errungen. hatte, ſchenkte ev Milo die Bis— 
thümer Trier und Rheims. Damals wurden die Stühle ihrer 
Güter beraubt, die Klöfter zerſtört, die Bande der Kirchenzucht 
geſprengt; Geifilihe, Mönde, Priefter, Nonnen lebten ohne Regel 





!) De major. dom. reg. bei Bouquet II., 700; gesta episcoporum trevi- 
rens..ibid. III. 649. Chronicon Virdunense ibid, III. 364 unten. — 2) Den 
Berfafler der gesta episc, Trevir. a. a. O. 

36 * 


564 Ul. Bug. Rapitel 9. 


und Scheue.“ Gegen vierzig Jahre hielt fih Milo in den ange: 
maßten Pfründen. Lange nachher führt noch Pabſt Hadrian I. in 
einem feiner Briefe ') (775) bittere Klage über den Unfug, den 
der Eindringling zu Rheims geftiftet. Man begreift nun, wie 
Schwierig die Stellung des Bonifactus an dem Hofe Karl Martel's 
feyn mußte, wo Männer, wie Milo, den größten Einfluß ausübten. 

Das Berderben des galliihen Clerus, das fihon unter Pipin 
und yor ihm groß genug war, hatte num feinen Gipfel erreicht. 
Während die adeligen Kirchenhäupter des fiebenten Jahrhunderts, 
obgleich ebenfalls Miethlinge, noch den Außern Schein bewahrten 
und zur Noth die geifilichen Gefchäfte, das Lefen der Meffe, die 
‚ Berwaltung der Saframente, beforgten, boten bie neuen Soldaten: 
Bifchöfe allen Firchlichen Gefegen Hohn. Später, nachdem durch 
Karl den Großen die firchlihe Ordnung mwieberhergeftellt war, hat bie 
fränkiſche Geiftlichfeit für die Eingriffe Martel's in ihren Beſitz, an 
dem Gedächtniffe feines Namens fchwere Nahe geübt. In einem 
noch erhaltenen Schreiben ?) vom Jahre 854, das der Erzbiſchof 
Hinemar von Rheims an den teutihen König Ludwig erließ, bevich- 
tet derfelbe Folgendes: „Pipin’s des Franfenfönigs Bater, Karl 
Martel, der zuerft unter allen fränfifchen Fürften gewagt hat, Kir: 
hengüter anzutaften, lud wegen dieſes Frevels ewiges DBerberben 
auf fih. Der heilige Eucherius, Bifchof von Orleans ward einft 
im Gebet in die obere Welt entrückt; da fah er unter anderen 
Dingen, die der Herr ihm zu ſchauen geflattete, wie jener Karl in 
der unterfien Hölfe geveinigt wird, Als er die Frage an den Engel, 
feinen Führer, richtete, warum Solches gefchehe, antwortet biefer: 
duch das Wort ber Heiligen, die einft am Jüngſten Tage mit 
Chriſtus richten werden, ift Karl ſchon vor dem Weltgericht zu ewi— 
ger Strafe verurtheift worden, und er empfängt zugleich mit ber 
Strafe für feine eigene Miſſethat, auch den Lohn der Sünden Derer, 
welche zum Dienfte Gottes jene Güter geftiftet hatten, die Karl 
während feines Lebens an fih riß. Nachdem Eucherius wieder zu 
fih gekommen war, vief er den heil. Bonifacius fammt dem Abte 
son St. Denis und Capellan Pipin’s, Fulrad, herbei, eröffnete 
ihnen, was er gefehaut, und gab dieſes Wahrzeichen: gehet hin 





) Manft XIT., 844 gegen unten. — 2) Abgedruckt in Baluzius (weiter) 
Ausgabe der Eapitufarien Vol. IL, 108, ; 





Die fränfifche Kirche vom Anfange des fiebenten Jahrhunderts ꝛc. 565 


zum Grabe Karl's und wenn ihr feine Leiche nicht daſelbſt findet, 
fo glaubet mir. Fulrad und Bonifacius eilten nach dem Grabe, 
und als fie es öffneten, ſahen fie einen Draden daraus empor: 
fteigen, das Grab felbft fanden fie von Innen gefhwärzt, als fey 
es mit Feuer ausgebrannt, Wir felbft,“ fügt Hincmar unbegreif- 
licher Weife bei, „haben noch Augenzeugen gefehen, die damals zu- 
gegen waren, und ung Alles der Wahrheit gemäß berichteten.“ 
Zuförderft ift zu bemerken, daß Eucherius von Orleans, welcher zu 
ber neuftrifchen Parthei hielt, und darum von Karl Martel verfolgt 
und abgefest ward, nach der wahrfcheinlichften Annahme zu Cölln 
im Jahr 739, alfo volle zwei Jahre vor Karl Martel ftarb, ') 
folglich auch von deffen Grab nicht fprechen Fonnte. Das von 
Hinemar mitgetheilte Mährchen ift daher ungefchiekt erfunden. Im 
Uebrigen fcheint die Herbeiziehung des heil. Bonifacius darauf hin: 
zumeifen, daß daſſelbe urfprünglich auf die Grundlage des oben 
mitgetheilten firengen Urtheils, welches der teutfche Apoftel über Karl 
Martel füllte, erfonnen worden feyn mag. 

‚Obgleich der fränfifche Herrſcher laut der Ausfage des Boni: 
faeius *) bei Weitem die meiften gallifchen Stühle feinen Soldaten 
preisgegeben, blieben doc einige Bisthiimer im Beſitze folcher Cle— 
vifer, die noch immer den Grundfägen alter Fatholifcher Zucht anhien- 
gen. Sicherlich haften Teistere den gewaltthätigen Herzog von ganzem 
Herzen, und ihre abgeneigte Gefinnung hätte auch Karl'n ſchaden 
können; aber er beugte durch eine Huge Maafregel vor. Derfelbe 
Mann, der die Kirchengüter ohne Bedenfen dem Wohle des Staats, 
oder wenn man Fieber fo will, feinen ehrgeizigen Planen aufopferte, 
wußte das oberſte Haupt der katholiſchen Geiftlichfeit auf feine Seite 
zu ziehen. Der Pabft bedurfte die Hülfe der Franken. Wir haben 
früher erzählt, wie zwei Päbſte fih in ihrer Noth an Karl Mariel 
wandten, ?) und welche Dienfte er ihnen geleiftet bat. Auch mußte 
bie DBereitwilligfeit, mit welcher der Franfenherzog das päbftliche 
Bekehrungswerk in Teutfchland unterftügte, zu Nom gefallen. Die 
Päbfte hatten daher Urfache ein Auge zuzuſchließen über die Eingriffe 
Karl Martel’s in das Vermögen der gallifchen Cleriſei. Ohnedieß 
wären Klagen ober Nänfe gegen den mächtigen Mann nutzlos ges 





') Mabillon act. Ord, S. Ben. Vol. II., a. 555. — ?) Epistol, 51, 
fiehe oben ©. 495. — 3) ©, 112 und 124. 


566 a mi. Buch. Kapilel 9, 


weſen. Aber anderer Seits begreift man, daß unter ſolchen Um— 
fländen der Stuhl Petri fih Dringend aufgefordert fühlen mußte, 
Mittel und Wege zu erfinnen, durch welche bie fränliſche Rue 
wieder hbergeftellt werden mochte, 

Eine günftige Gelegenheit, diefen Plan auszuführen, fam mit 
dem 741 erfolgten Tode des fränfifchen Herzogs. Die Macht Pi: 
pin's — wie feines Sohnes Karl — war, wenn man fo fagen darf, 
eine perfönliche, fie hieng einzig und allein von den Eigenfchaften des 
jeweiligen Herrihers ab. Söhne folder Fürflen, die der eigenen 
Kraft Alles verdanfen, werden früher oder ſpäter die Nothwendigfeit 
empfinden, das angetretene Erbe durch Einrichtungen zu befeftigen, 
und eine dauernde Negierungsgewalt, die durch ſich felbft befteht, 
zu begründen. Lesteres war aber unter damaligen Berhältniffen nur 
mit Hülfe der katholiſchen Kirche möglich. Wirflih fanden wir 
im vorhergehenden Kapitel, wie Karls Söhne, Karlomann und 
Pipin der Meine, fich weit mehr als ihr Vater dem Stellvertreter 
des Pabſts, Bonifacius, näherten. Sie haben alſo gefühlt, daß ihre 
Stellung ihnen gebiete, fih mit dem Stuhle Petri auf einen guten 
Fuß zu feßen. Noch inniger wurde die Verbindung, nachdem es 
Bonifarius und dem Pabſte gelungen war, Karlomann zu vermö— 
gen, daß er auf feinen Antheil am Reiche verzichtete. Seitdem 
Bot Pipin zu Wiederherftellung der Kirche, gemäß dem in Nom ent: 
worfenen Plane, die Hand. Aber die Aufgabe war herkuliſch; es 
handelte fi um nichts Geringeres, als den Soldaten und Waffen: 
brüdern Karl Martel's die geifilichen Güter, durch deren Verthei— 
Yung Pipiws Vater die treue Dienfte feiner Anhänger gelohnt hatte, 
wieder zu entreißen, und ftatt der ritterlichen Eindringlinge wirffiche 
Cleriker auf die galliſchen Stühle zu erheben. Der Verſuch Fonnte 
dem Fürften Krone und Leben Foften, denn es war vorauszufehen, 
daß die alten Genoffen Karls ſich nicht gutwillig austreiben Yaffen 
würden. Pipin trat daher fehr Teile auf, er verordnete vorerſt blog, 
daß jede einzelne Wirthſchaft oder Ehe von Leibeigenen Auf den: 
jenigen Gütern, welde Klöftern oder Stühlen entriffen worden 
waren, an bie urfprünglichen Befiger alljährlich ein Goldſtück be- 
zahlen folle, 7) Die Eindringlinge verloren alfo zunächſt nichts, 
bie ganze Laft der Aenderung wurde auf die Golonen gemälgt. 





h) Bonifacii epist, ed, Würdtwein LXX. ©, 184 gegen unten. 





Die fränkifche Kirche vom Anfange des fiebenten Jahrhunderts ıc. 567 


Neben der Wiederherftellung der Kirchengüter hatte der Pabft, wie 
wir im vorigen Kapitel fahen, hauptſächlich Einfegung yon Metro: 
politen verlangt. Aus den früher angeführten!) Thatfachen erhellt, 
dag Pipin Anfangs auch diefe römische Forderung unterfiügt haben 
muß: Aber geſchreckt durch den Widerftand der Spldatenbifchöfe, 
wagte er damals nicht, die Sache weiter zu treiben. Erft nachdem 
ihn Bonifacius 752, dann 754 Pabſt Stephan IL zum Könige: der 
Franfen gefalbt hatte, that er einen Schritt vorwärts, Die bereits 
erwähnte ‚Synode von Verneuil verordnete,“) wie folgt: „Diejeni⸗ 
gen, welche mit Erlaubniß des Königs geiftliche, Güter inne haben, 
find verbunden, die Kirchen, welchen dieſe Güter urfprünglich ge— 
hörten, oder auch die betreffenden  bifchöflichen oder Höfterlichen 
Gebäude (zu deren Erhaltung jene Güter geftiftet waren), je nad) 
ihrem Antheil an befagten Ländereien, in gutem baulichen Stande zu 
bewahren, deßgleichen follen fie von denfelben die feftbeftimmten Zinfe, 
ſo wie den Neunten: und Zehnten unverfürzt (an die Klöfter oder 
Stühle) bezahlen. Wer Die nicht thut, der verliert die fernere 
Nusnießung des Guts.“ Auf diefe Weife ward den Kirchen von 
ihrem früheren Landbeſitz wenigftens eine bedeutende Grundrente 
geſichert. Der. zweite, Canon der Synode von Berneuil: verfügte 
ferner die vom Pabſte fo lange und fo dringend geforderte Ein— 
fesung gallifcher Metropoliten. Aber die Faſſung der Worte?) zeigt, 
dag auch Dieß nur eine. halbe und. einftweilige Maaßregel war: 
»Den »Kirchenhäuptern, welche wir, zu Stellvertretern ‚der 
Metropoliten erhoben haben, follen die übrigen Bifchöfe in Alleın 
Gehorfam Ieiften, bis. wir die kirchlichen Angelegenheiten beffer ord⸗ 
nen und vollflommen nad den BVorfchriften der alten Gefege eins 
richten Fönnen.“ Man ſieht: Pipin hatte auch jett noch nicht den 
Muth, die Waffengeführten feines Vaters, die ſich der fettften 
Pfründen und namentlich der Erzftühle bemächtigt hatten,  auszu: 
treiben, fondern er begnügte fich vorerſt, proviforifche Metropoliten 
zu ernennen; die bleibende Wiederherftellung alter Zucht follte auf 
ben ‚Zeitpunkt: verfchoben feyn, bis jenes Gefchlecht eingedrungener 


nn — 


4) Siehe: oben S. 524 flg. — 2) Im den auf ung gefommenem Alten ber 
Synode findet-fich dieſer Schluß nicht mehr. Dagegen beruft ſich auf ihn ein 
Capitulare Pipin's vom folgenden Jahre mit den Worten; sicut ad  Vernum 
ordinavimus, Baluzius I,, 178 unten A. — ?) Manfi XI, 580. 


1 IE Buch. Kapitel 9. 


Soldatenbiſchöfe ausgeftorben feyn würde. Einige Beweiſe find 
auf ung gefommen, daß Pipin in dringenden Fällen biefen Zeit: 
punft zu befihleunigen wagte. Aber diefelben zeigen zugleich, wie 
gefährlich Das Unternehmen war. Schwere Klagen wurden über 
den Erzbiihof Nagenfridus von Rouen, einen ber adeligen 
Eindringlinge, geführt. Pipin feste ihn 755, vielleicht in Folge der 
Synode von Verneuil ab, und vergabte den erledigten Stuhl an 
feinen eigenen Bruder Remedius. 1) Nichts deftsweniger überließ 
er dem geftürgten Nagenfrid einen guten Theil der Güter, welche 
der Rouener Kirche gehörten, zu feinem Unterhalt. Hat nun Pipin 
feinen Bruder darum vorangefhoben, um durch die hohe Geburt 
des Nachfolgers deſto ficherer die Rache der mächtigen Familie des 
Kagenfrid zu entwaffnen, oder wollte er felbft einen Theil der 
Kirchengüter feinen DBerwandten zuwenden? Im erfteren Falle 
würde bie Geſchichte Ragenfrid's ein neues Zeugniß von der Schwie- 
rigfeit der von Pipin begonnenen Maafregel ablegen, im zweiten 
beiwiefe fie, daß es der Franfenfönig, fobald fein eigener Bortheil 
ins Spiel fam, mit Wiederherftelung der Kirchengüter nicht fehr 
genau nahm. DBielleicht haben beide ZTriebfedern zufammengewirft. 
Zugleich mit Ragenfrid wurde auch der Biſchof Gauzelin von Mang 
wegen ähnlicher Beihuldigungen abgeſetzt. Seine Stelle erhielt 
Pipin’s Hoffapellan Herlemond. Aber nah neun Jahren faß der 
yertriebene Gauzelin wieder auf dem Stuhl von Mans, und ein 
alter Chronift berichtet jogar, Gauzelin habe feinem Borgänger 
Herlemond die Augen ausftechen Yaffen. Der gemwaltthätige Dann, 
der alle Klöfter feines Sprengels ausplünderte, blieb bis zu feinem 
Ende im Befige jener Pfründe. Pipin mußte gefehehen laſſen, was 
zu "hindern er nicht die Macht hatte.) Weiter als in den eben- 
befchriebenen engen Gränzen rüdte, während Pipin’s Negiment, bie 
Umgeftaltung der gallifchen Kirche nicht vor. 

Wenn aud das, was in Frankreich vorgieng, den Pabft nicht 
befriedigt haben mag, fo hatte derfelbe deſto mehr Urſache zur 
Zufriedenheit mit den Dienften, welche ihm der König auf einer 





1) Annales Petav. ad annum 755 Perz I., ©. 11. — 2) Ueber die Ge: 
ſchichte Gauzelins und Ragenfriv’s vergl. man Le Cointe annales eccles. 
Francorum Vol. V., ©. 497 unten flg. und 662 unten flg.; fowie Longue- 
val histoire de l’eglise gallicane IV., ©, 401 flg., wo die Beweisftellen an⸗ 
gegeben find. 





Die fränkische Kirche vom Anfange des fiebenten Jahrhunderts x. 569 


andern Seite leiſtete. Wir kommen hier auf einen Punkt zurüd, 
den wir oben ) in Kürze befprochen haben. Die Zufammenfunft, 
welche Stephan IL: im Jahr 754 mit Pipin ‚hielt, bereitete eine 
neue Geftaltung Europas vor. AS Preis für die Salbung, welche 
er damals dem Franfenkönig und feinen Söhnen Karl und Karlo: 
mann ertbeilte, forderte der Pabft, daß die Tranfen das Exarchat 
den Langobarden entreißen und dem Stuhle Petri fchenfen follten. 
Pipin verfügte bereitwillig über Provinzen die nicht ihm gehörten, 
noch im Sommer 754 zog er mit Heeresmacht über die Alpen, 
und zwang den Langobarden Alftulf zu dem eiblichen Berfprechen, 
das Exarchat, welches derfelbe kaum zuvor den Griechen abge: 
nommen hatte, an den Pabft abzutreten. Pipin, den Berheißungen 
des Beſiegten trauend, zog wieder beim, aber faum waren bie 
Franfen fort, als Aiftulf feines Eides vergaß, vor Nom rüdte und 
die Stadt hart belagerte. Aus Jtalien Tiefen Briefe über Briefe 
ein, 2) worin der Pabft den König Pipin, feine Söhne Karl und 
Karlomann und das Volk der Franfen mit Klagen über Aftulfs 
treulofes Betragen, und mit Bitten um bie fchleunigfte Hülfe be: 
ftürmte: „der Teufel,“ Schreibt er ?) noch im Jahre 754 an Pipin, 
„bat das falſche Herz des Langobarden berückt und denfelben verleitet, 
baß er fein Wort von feinem Eide hielt; nicht einen Fuß breit 
Land hat Aiſtulf an den feligen Petrus, an die Kirche Gottes oder 
auch an das Gemeinwefen der Römer abgetreten; im Gegentheil 
yon dem Augenblid an, da du Italien verliegeft, kränkt er mich 
und die Kirche Gottes auf alle Weife, fo daß felbft die Steine 
darüber fihreien würden, wenn fie eine Zunge hätten.“ In einem 
zweiten Schreiben Hagt er, daß Aftulf ihm nad dem Leben ge= 
trachtet, und das Gebiet des hl. Petrus fürchterlich verheert habe, 
zugleich beſchwört er die fränfifchen Fürften wiederholt, fie möchten 
doch dafür Sorge tragen, daß die Schenfungsurfunde, (über das 
Exarchat) welche fie dem Apoflelfürften eingehändigt hätten, buch: 
ſtäblich erfüllt werde, weil fie fonft am jiingften Gerichte Rechen: 
haft von ihrer Nachläßigfeit geben müßten, %) Noch Häglicher 
Yautet das dritte, vierte, fünfte Schreiben: „Welche Traurigfeit ung 
umfängt, welche Angft mich peinigt, welche Thränenſtröme unfern 





1) ©, 149. 150. — ?) Cod. Carolinus edid, Cenni Epist, 6—10. Vol. IL, 
©. 75 — 104, — 3) Ibid. ©, 74 gegen unten. — *) Ibid, ©. 80, 81. 


570 ns, WE Buch.) Kapitel 9 


Augen entftürken, mögen, glaube ich, die Elemente felbft bezeugen; 
denn wer fann ungerüßrt unfere Leiden hauen, wer, was ung 
zugeftößen, hören ohne felbft zu weinen.“ 1) Stephan II. befchreibt 
fofort, wie bie Langobarden feit Anfangs Januar 755 vor allen 
Thoren Roms Tagern, wie ihr König Aftulf mehr als einmal die 
Borfchaft in die Stadt hereinfandte: „öffnet mir die Salariapforte, 
daß ich Hereinziehe, oder übergebt mir den Pabft, dann will ich 
Euer ſchonen, wo nicht, fo reiße ich eure Mauern um, und laß 
Euch alle niederhauen.“ Endlich in dem zehnten Briefe ®) heißt es: 
„Rennet und Taufet, ich beſchwöre Euch noch einmal bei dem leben— 
digen Gotte, kommt mir eilends zu Hülfe, ehe denn. bie lebendige 
Quelle, aus der ihr gefchöpft habt und 'wiedergeboren ſeyd, ver: 
fiege, ehe denn das Kleine noch übrige Flämmchen des heil machen: 
den Feuers, an dem ihr Euer Licht anzlindetet, erlöfche, ehe denn 
Eure geiſtliche Mutter, die heilige Kirche Gottes, von der ihr dag 
eiwige Heil zu empfangen hoffet, vollends erniedrigt, mit Füßen 
getreten und von den Verruchten entehrt iſt« u. |. w. Der Pabft 
vergaß in feiner Berzweiflung, daß während der Wintermonate ein 
Heer nicht über die Alpen fleigen fan. Sobald es ihm die Jahre: 
zeit erlaubte, erfchien Pipin in Stalien, Die Langobarden wurden 
fofort in den Gebirgspäſſen aufs Haupt gefchlagen, König 
Aftulf in Pavia Hart belagert. Dießmal war feine Niederlage 
gründlich. Er mußte den Frieden von Pipin mit Uebernahme eines 
jährlichen Tributs erfaufen, außerdem den dritten Theil feiner Schäße 
an die Franken, ?) das Erarhat aber fammt allen Gütern, die er 
oder feine Vorfahren in frühern Zeiten der römischen Kirche ent: 
riffen, an den Pabft abtreten. Der Bibliothekar Anaftaftus berich— 
tet, ) daß byzantinifche Gefandte, die ſich damals in Italien be— 
fanden, den Franfenfönig, während derſelbe vor Pavia Tagerte, 
aufgefordert hätten, er möchte die den Langobarden abgenommenen 
Provinzen an ihren rechtmäßigen Beſitzer, den oſtrömiſchen Kaifer, 
zurüdgeben. Pipin aber habe denjelben geantwortet, was er ein- 
mal der vömifchen Kirche und dem heiligen Petrus gefchenft, das 
werde er demfelben nicht mehr entziehen, nicht aus menfchlicher 





1) Ibid. ©. 84 unten fig. — 9 Ibid. ©. 102. — °) Annales Mettenses 
„ annum 755, Perz * I. 333. — 9 Liber ponliſicalis ed. — 
‚118; nenn DV. 





Die fränkiſche Kirche von Anfange des fiebenten Jahrhunderts ꝛc. 571 


Rückſicht, ſondern dem Apoſtelfürſten zu Liebe fey er im den Krieg 
gezögen.. Der Mönd von Fuld ') befchreibt den Umfang. ber 
Schenkung mit den allgemeinen Worten: Ravenna ſammt ber 
Pentapolis fey dem Stuhle Petri überliefert worden. Genauere 
Nachrichten gibt Anaftafiusz er nennt ?) folgende Orte: Ravenna, 
Ariminum (Rimini), Pifaurum (Pefars), Concha (längſt unter: 
gegangen), Fanum (Fand), Ceſinä (Sefena), Senogallia (Sinigaglia), 
Aeſium (Zefi), Forum Pompilii (Forlimpopoli), Forum Livii (Forli) 
mit dem Schloße Saſſubium, Montefeltri, Acerres (unbekannt), Agio— 
monte (Monte maggio beim heutigen San Marino), Mons Lucati 
Monte Luco), Serra, das Schloß St. Marino, Bobium 
(Bobbio), Urbino, Cagli, Lucioli (Luceolo), Gubbio, Comacchio 
ſammt Narni. Die Angaben beider Gewährsmänner ſtimmen mit—⸗ 
einander überein, was jener im Allgemeinen ſagt, beſchreibt dieſer 
im Einzelnen. „In allen genannten Städten,“ fährt Anaſtaſius 
fort, „jog Fulrad Abt von St. Denis, als Pipin's Bevollmächtigter, 
in Begleitung langobardiſcher Geſandter herum, übernahm die Schlüſſel 
der Städte, und legte ſie auf das Grabmal des hl. Petrus nieder.“ 
Pipin's Großmuth war nicht ganz uneigennügig. Während feines 
Aufenthalts in Franfreich hatte der Pabſt ihn und feine beiden 
Söhne nicht blos zu Königen der Franken, fondern auch zu Pa: 
triciern Roms geweiht. Lebteres bezeugt ein unbefannter Mönch) 
am Schluffe einer Handfchrift der Werke Gregor’s von Tours, die 
jener im Sabre 767 beendigte, ?) und über die Wahrheit feiner 
Ausfage kann Fein Zweifel herrfchen, denn in allen Briefen, welche 
Stephan I. feit 754 an Pipin und feine Söhne erließ, nennt er 
beide ſtets patrieii Romanorum, #) Nun hatte zwar die Würde 
eines römifchen Patriciers Teine genau beftimmte Bedeutung; den— 
noch iſt gewiß, daß fie das Schußrecht der römischen Kirche, und 
eine gewiffe Oberherrlichfeit über diefelbe umfaßte. As Landesherr 
und Beſchützer des Pabſts hat ſich Pipin feit der Schenfung be: 
nommen, und in noch größerem Umfang übten biefelbe Gewalt 
feine nächſten Nachfolger aus. Doch den ſtärkſten Beweis dafür, 
daß der römiſche Stuhl bei Auslieferung jener Städte gewiſſe Ber: 





1) Annales Fuldenses ad annum 756, Perz I., 347. — °) Liber pon- 
tifical. II., 121. — 3) Gregorii turonensis opp. ed. Rainart ©. 991. — 
*%) Cod. — * ed. Cenni I,, ©. 75 flg. 


572 | IE, Buch. Kapitel 9. 


bindfichfeiten gegen den König der Franken übernommen Haben 
muß, liefert die Fabel son einer Schenfung Conftantin’s, welche 
die Pabfte ungefähr feit Ende des achten Jahrhunderts in Umlauf 
zu bringen fi bemühten. Sie thaten dieß offenbar darum, weil 
fie ihre Verpflichtung gegen die Franken, welche ihnen allmäplig 
läſtig wurde, durch die Lüge eines älteren Anrechts entfräften und 
in Bergefienheit bringen wollten. Uebrigens müffen Stephan I. 
und Pipin miteinander übereingefommen feyn, ihr wahres Ber: 
hältniß zu einander und den Bertrag, den fie abgefchloffen, vor der 
Welt geheim zu halten. Ein Dritter, defien Nechte Beide gefränft 
hatten, der griechifche Kaifer, follte nach Möglichkeit gefchont werben. 
Obgleich Rom und der neue Kirchenftaat feit 754 thatfächlich vom 
byzantinifchen Neiche Iosgeriffen war, fuhren die Päbſte big zum 
Schluſſe des Jahrhunderts fort, den Schein der Unterwürfigfeit gegen 
Byzanz dadurch zu wahren, daß fie in öffentlichen Aften, wie früber, 
die Zeit nad den Negierungsjahren der oſtrömiſchen Herrfcher 
rechneten. Man kann kaum zweifeln, daß fie im Einverſtändniſſe 
mit den fränfifchen Königen diefes Spiel getrieben haben. 

In einem Briefe, ) der im folgenden Jahre gefchrieben ift, 
überfchüüttet Pabft Stephan den Frankenkönig mit pomphaften Lobeg: 
erhebungen und Schmeicheleien: „ich vermag mit der Zunge nicht 
auszudrücken, mein trefflichfler Sohn, wie fehr wir ung deines Werks 
und deines Lebens erfreuen, Durd Gottes Kraft fahen wir in uns 
fern Tagen Wunder gefchehen, dieweil durch deine Herrlichkeit bie 
Mutter und Borfteherin aller Kirchen Gottes, die Thürangel des 
Glaubens, die römische Kicche, welche durch die Anfalle der Feinde 
in die größten Gefahren gefiürkt war, Heil erlangt hat. Ihr Jammer 
ift in Zubel verwandelt, die kaum noch bangen Seelen der Chriften 
frohloden ob deinem Schutze — mit den Engeln darf ih ausrufen: 
Ehre fey Gott in der Höhe, Frieden auf Erden und den Menfchen 
ein Wohlgefalfen (Luc. IL, 14.). — In Wahrheit einen Erretter 
bat der Herr in Deiner Perfon, o chriftlicher Sieger, für ung er: 
wert Wie anders foll ich Dich nennen, als einen neuen Mofeg, 
einen bellfeuchtenden König David, denn wie diefe Beiden das Bolf 
Gottes von dem Joche der Fremden befreiten, fo haſt du, von 
Gott gelichter Sieger und ftarfer König, durch deinen Arm bie 


— — — — 


1) Cod, carolin, Nro. XI., Cenni I., 105, 107, 


Die fränkiſche Kirche vom Anfange des fiebenten Jahrhunderts ıc. 573 


Kirche Gottes aus der Gewalt ihrer Feinde erlöst. Geſegnet feyeft 
Du, 9 berrliger Sohn! yon dem Höchften, dev Himmel und Erde 
gemacht Hat, gelobt fey auch der Herr, durch deffen Schug Du 
Deine Gegner überwandeft. Der Herr, die Urquelle der Gerechtige 
feit, fegne Di und Deine geliebtefien Söhne, meine geiftlichen 
Kinder, Karl und Karlomann, die von Gott eingefesten Könige ber 
Franken und Patricier der Römer, fammt ihrer allercpriftlichften 
Mutter, der vortrefflichſten Königin, Deiner füßeften Gemahlin, der 
getreuen Verehrerin Gottes“ u. f. w. Eine niedrige Seele und ein 
ſchändlicher Mißbrauch heiliger Nedensarten tönt aus diefen Worten 
hervor, auf welche fofort gierige Bitten um neue Bergrößerungen 
folgen. Man begreift, daß der Beſitz eines ausgedehnten Gebiets 
dem Pabſte den Kopf verbrehen mochte. Dennoch ift gewiß, daß 
jene Schenfung eine Gabe der Danaer war, Der Stuhl Petri 
fonnte ohne Schaden Grundbefiger feyn, was er fehon in Zeiten 
Gregor's des Großen und noch früher geweſen ift, aber Herr eines 
weltlichen Fürſtenthums hätte er nie werden follen. Durch Ans 
nahme der Gefchenfe Pipin’s gerieth der Pabft nicht blos in Ab- 
hangigfeit von den fränfifchen Fürften, fondern ward auch in alle 
politifhen Händel verwidelt, deren Schauplas Stalien feit dem 
achten Jahrhundert war. Der Landesherr des Kirchenftaats mußte 
fi jehr Häufig mit gewiffen ſchmutzigen Dingen befaffen, vor denen 
jich der bloße Statthalter Petri gehütet haben würde. Als Gegen: 
gewicht Eönigliher Gewalt und Bekämpfer derfelben, nicht als Ber: 
biindeter und Schmeichler oder Amtsgenoffe weltlicher Fürften hat 
der Stuhl Petri feine Bedeutung in der Weltgefchichte errungen 
und den Völkern genützt. 

Schon in den nächſten Zeiten zeigte es fi, in welch’ falfche 
Stellung der Pabſt durch Pipin’g Lodfpeife hineingerieth. Die 
fränfifhen Gefhenfe hatten in den Statthaltern Petri eine früher 
unbefannte Gier nad) neuen Eroberungen entzündet. Die einunde 
dreißig Briefe an Pipin oder feine Söhne, welche wir vom Nach— 
folger Stephan’s IL, Paul, befisen, find größtentheils mit Klagen 
über die Treulofigfeit der Langobarden, oder mit Bitten, daß ber 
Sranfenkönig fein Geſchenk durch neue Gaben vermehren möchte, 
angefüllt. Es Fonnte nicht fehlen, daß durch ſolche Zudringlichkeit 
das Anfehen des Pabſts am fränfifchen Hofe zerfiel, denn wer 
einen Heiligenfchein bewahren will, darf ſich nicht blos geben; wir 


574 III ERNEIER A. Buch. Kapitel 9. 


achten Diejenigen nicht mehr, welche uns leichtſinnig Beweiſe ihrer 
Schwäche in die Hände liefern. Hiezu kam noch ein anderer Um: 
ſtand. Durch die große Rolle, welche Pipin, vom Pabſte gerufen, 
in Italien geſpielt hatte, war der Schwerpunkt dortiger Politik 
außerhalb den Gränzen der Halbinſel nach dem Frankenreiche ver— 
rückt worden. Alle Mächte, welche in Italien Etwas ſuchten, oder 
mit dem Stuhle Petri grollten, die Langobarden, die Griechen, 
wandten ſich an Pipin, als den Schutzherrn des Pabſtes, und ſtreb— 
ten ihn durch die verfchiedenften Künfte auf ihre Seite zu ziehen. 
Auch waren die Bemühungen der Griechen, wie der Langobarden, 
nicht ganz vergeblich, Hauptfächlich weil der Pabſt felbft dazu bei- 
trug, durch jene falfchen Schritte das Gewicht feines Namens in 
Francien zu untergraben. Aus einem ‚Briefe, den: Stephan I. 
770 an die neuen fränfifchen Herrfcher Karl und Karlomann rich— 
tete, erhellt, ) daß der Kaifer Conftantin Copronymus Giſela, bie 
Tochter Pipin’s, kurz vor deffen Tode zur Gemahlin für feinen 
Sohn: Leo IV. ‚begehrt hatte. Ein folcher Antrag ift kaum denkbar, 
wenn Beide nicht fchon zuvor auf gutem Fuße miteinander 
ftanden. Zu gleicher Zeit gieng der Byzantiner darauf aus, den 
Sranfen zu einer entfcheidenden Erklärung wider den Bilderdienft 
zu vermögen, und ohne Zweifel war der Heurathsantrag nur ein 
Mittel, das zu letzterem Zwede führen follte, Aus: Beranlaffung 
ber. griechifchen Gefandtfchaft, die fih damals in Frankreich befand, 
berief Pipin die Synode von Gentilly, auf welcher neben den 
Griechen auch römifche Abgeordnete erfchienen. Daß zu Gentilly 
über. den Bilderdienft verhandelt worden ift, bezeugen mehrere 
fränfifhe Jahrbücher, 2) aber fie beobachten in Betreff der Ent: 
ſcheidung des Coneils ein hartnädiges Stillfehweigen. Weil be: 
flimmte Zeugnifje fehlen, müffen wir ung mit Schlüffen zu helfen 
fuchen. Bor. Allem iſt unläugbar, daß der Pabft und die Bilder: 
Diener überhaupt die Iebhaftefte Furcht hegten, jene fränfifche Synode 
möchte zu Gunften des Kaifers Conftantin Copronymus und feiner 
Parthei fih ausſprechen. Beweis dafür die oben enthüllten Ränke, 
welche von Bagdad bis Paris veihten. ”) Alle Stühle bes Oſtens 





i) Cod. carol. epist. 49. Cenni I., 285. Ich eitire bie Laroliniſchen 
Briefe ſtets nach der von Cenni beſtimmten chronologiſchen Ordnung. — ”) Wie 
Ado von Vienne bei Dom Bouquet Scriptor. rer, franc, V., 317 unten. Die 
andern Zeugniffe gefammelt bei Walch Kebereien XL, 9 fly — 9 ©, 132 fig 


Die fränkifche Kirche vom: Anfange des fiebenten Jahrhunderts ꝛc. 575 


und ſelbſt der Pallaft des Kalifen wurden in Bewegung geſetzt, um 
die Franken von den Griechen zu trennen. Auch macht der Pabft 
ſelbſt aus feinen Beforgniffen Fein Hehl. Im Jahre 766 fehreibt 
Paul I. an den Franfenfönig Pipin: „Ihe habt uns in. Betreff 
Unferer, Eurer und der griehifchen Gefandten, ‚Die aus ber 
Königsftadt (Konftantinopel) zu Euch gefommen, gemeldet, daß bie- 
felben von Euch zurüdgehalten worden feyen, bis Ihr auf einer 
Berfammlung Euerer Biſchöfe und Großen feſtgeſetzt, welche Ant: 
wort Ihr auf die gemachten Borfchläge ertheilen wollet. Ich babe 
das Vertrauen, Ihr werdet in diefer Sache nichts Anderes befchließen, 
als was zur Ehre eurer heiligen geifllichen Mutter, der römiſchen 
‚Kirche, gereicht, die das Haupt aller Kirchen Gottes und des wahren 
Glaubens if.“ Ganz zum Bortheile der Griechen fann. die 
Synode son. Gentilly nicht entfchieden haben. Denn in einem 
zweiten Briefe ?) rühmt der Pabft den König, weil derſelbe ihm 
gemeldet, daß er die faiferlihen Gefandten nur in Gegenwart ber 
päbftlichen gehört, ferner weil er dem Stuhle Petri mitgetheilt habe, 
was in feiner Gegenwart zwifchen. den römifchen und griechiſchen 
Gejhäftsträgern über den Achten Glauben und die frommen Ueber: 
lieferungen der Bäter verhandelt worden fey. Gleichwohl war. ber 
Pabft mit dem Befchluffe, den Pipin damals gefaßt, nicht recht 
zufrieden. : Denn tiefer unten klagt Paul J., „daß: feine ‚eigene, fo 
wie Pipin’s Leute die an den Lestern gerichteten Schreiben des 
byzantinifchen Kaifers falfch auslegen, und ſich durch griechifches 
Gold gewinnen Yaffen.* Demnach fcheint die Synode von Gen- 
tilly weder den Griechen noch dem Pabſte vollfommen Recht ge: 
geben, ſondern einen Mittelweg eingefchlagen zu ‚haben. Auf das— 
felbe Ergebniß weifen nun noch andere fehr ftarfe Gründe hin: 
Bei der wichtigen Kirchenverfammlung, welche Karl der Große 794, 
alfo 27 Jahre nach der Synode von Gentilly, zu Frankfurt ver 
anftaltete, haben die Biſchöfe des fränkischen Reichs den Bilderdienft 
in der Geftalt, wie er durch das zweite ökumeniſche Concil von 
Nieda unter Irene gut geheißen worden war, feierlich. verworfen. 
* wiſſen wir aber, daß die Aufſtellung von Bildern in den 





coa. carol. Pro. 40. Cemni I., ©. 229. — 2) Epist. Nro. 37. Cenni 
J., 212 fig. Offenbar ift diefer Brief fpäter als der obige. Die Synode von 
Gentilly wurde im April 767 gehalten, Paul I. ſtarb Ende Juni 767. Er 
muß alfo den Brief furz vor feinem Tode gefehrieben haben, 


576 Il. Buch. Kapitel 9. 


Kirchen durch Karl und feine Bifchöfe gebilligt, und nur die reli- 
giöſe Verehrung derſelben unterfagt worden if. Wären nun bie 
Beichlüffe von Frankfurt im Widerſpruch geftanden mit den älteren 
son Gentilly, fo hätte erfiere Synode die Entfcheidung der letztern 
aufheben, verbeffern, umbdeuten oder auf irgend welche Weife miß- 
billigen müffen. Aber hievon findet fih in allen auf ung gefom: 
menen Urkunden feine Spur, Folglich bleibt nichts Anderes übrig 
als anzunehmen, daß die Synode von Gentilly denfelben Mittel- 
weg eingefchlagen hat, wie das Coneil yon Frankfurt, Noch gehört 
eine andere Thatfache hieher. Im Auguft oder September 768, 
gleich nach feiner Erhebung, fertigte Pabft Stephan IIL, rechtmäßiger 
Nachfolger des 767 verftorbenen Paul, eine Geſandtſchaft an den 
fränfifhen Hof ab, ) um Pipin zu bitten, daß er durch einige 
fränkiſche Biſchöfe eine Synode beſchicken möchte, welche der Pabſt in 
Nom zu halten fi) vorgenommen hatte. Die Gefandten trafen 
Pipin nicht mehr am Leben; er war Faum zuvor geftorben, aber 
feine beiden Nachfolger Karl und Karlomann willfahrten dem Be: 
gehren des vömifchen Oberpriefterd. Zwölf Biſchöfe aus Francien 
eilten nach Nom; die beantragte Synode wurde daſelbſt im April 
769 gehalten; außer den zwölf Franfen erfchienen auf ihr 49 ita- 
liſche Cleriker. Hauptzweck war die Berurtheilung des Gegenpabfis 
Gonftantin, der fih nah dem Tode Paul’s aufgeworfen hatte. 
Nach erwünfchter Beendigung dieſes Geſchäfts brachte aber Stephan IM. 
unverhofft Die Bilderfrage vor, er ließ bie religiöſe Verehrung der: 
felben zum Kirchengefeg erheben, und den Fluch über die Bilder: 
feinde ausfpredhen. I Kaum kann man den dringenden Wunſch 
des Vahfis, dag fränfifche Bifchöfe nad Rom kommen möchten, und 
fein Betragen auf der Synode anders erklären, als durch bie Bor: 
ausfesung, daß Stephan durch die erfhlidene Theilnahme 
jener Männer die fränkische Kirche zur Annahme des Bilderbienftes 
hinreißen und zugleih Das gut machen wollte, was zu Gentilly 
gegen die römiſche Meinung beſchloſſen worden war. Die oben 
erwähnte Heurath zwiſchen der fränkiſchen Fürſtentochter und dem 
Thronerben von Byzanz kam zwar nicht zu Stande, gleichwohl er⸗ 
helft aus den mitgetheilten Thatſachen Far genug, daß Conſtantin 





— — 


1) Anaftafins im Leben Stephan's III., $. 16. ed, Vignoli II, 146, — 
2) Siehe oben ©. 452, 





Die fräntifche Kirche vom Anfange des fiebenten Jahrhunderts ꝛc. 577 


Copronymus am Hofe Pipin’s gegen den Pabſt Boden gewon⸗ 
nen hatte. 

Pipin der Kleine ftarb den 24. Sept. 768 zu St. Denig. 
Eine Theilung des Reichs fand Statt. Karl, ber ältere feiner 
Söhne, erhielt Neuftrien, Burgund und die Provence fammt der 
Ausfiht auf die Eroberung Aquitaniensz Auftrien mit den teut- 
hen Provinzen fiel dem jüngeren Sohne Karlomann zu. Alsbald 
erfuhr der Stuhl Petri eine neue Demüthigung. Um freie Hand 
gegen den Pabft zu befommen, und feine Yang verhaltene Rache an 
ihm zu Fühlen, arbeitete der Langobardenkönig Defiverius an einer 
Ehe zwifchen feiner Tochter Defiderata und einem der beiden frän- 
fiichen Könige. Die Mutter der Prinzen unterflüste den lango— 
bardifchen Antrag mit allen Kräften, und ihr älterer Sohn Karl 
erklärte fich bereit, die Langobardin zu nehmen, ob er gleich ſchon 
Himiltrud, die Tochter eines fränfifhen Großen, zur Gemahlin 
hatte. Die Nachricht von diefen Intrifen war ein Donnerftreidh 
für den Pabft Stephan II. Zum Unglück für feinen guten Ruf 
ift der Brief ) noch vorhanden, den er an bie beiden Könige er- 
ließ, um fie vor der Verbindung mit der Langobardin zu warnen: 
„Mit dem tiefften Schmerze hat ung die Kunde erfüllt, Daß ber 
Langobardenfönig Defiderius darauf finnt, feine Tochter mit einem 
ber beiden fränfifchen Prinzen zu verbinden. Sollte dieß wahr 
feyn, fo muß ich es eine Eingebung des Teufels, und Feine Ehe, 
fondern die niedrigfte Berfupplung nennen. — Denn wäre es nicht 
bie größte Thorheit, wenn Euer herrliches Franfengefhleht, das 
glänzend vor allen Nationen der Erde dafteht, wenn Euer hell: 
ftrahlender und hochadeliger Königsftamm ſich mit dem treulofen 
und ftinfenden Volke der Langobarden vermifchen wollte, mit einem 
Bolfe, das gar nicht gezählt zu werden verdient, und aus welchem, 
wie allbefannt, die Brut der Ausfägigen abftammt. Kein Menſch 
yon gefundem Sinne wird je glauben, daß fo erlauchte Könige fi) 
in eine fo abfcheuliche Verbindung einlaffen; denn welche Ge— 
meinfhaft Hat, wie der Apoftel fagt (2. Cor. VL, 14. 15.), 
das Licht mit ber Sinfterniß, oder was für einen Theil 
ber Gläubige mit dem Ungläubigen. Auch befiget ihr 
Beide bereits Gattinnen, die ihr nach der löblichen Sitte ber Bora 





9 Cod. Carol. Nro. 49. Cenni I, 2832 fg 
Bfrörer, Kircheng. III, 37 


578 | II. Buch. Kapitel 9. 


fahren aus dem ſchönen Volke der Tranfen genommen habt. Für: 
wahr es ift Euch nicht erlaubt, dieſe eure rechtmäßigen Weiber zu 
verfioßen, und dafür fremde zu heurathen. — Der felige Ayoftel: 
fürft Petrus, dem die Schlüffel des Himmelreihs vom Herrn über: 
geben worden find, und ber die Macht befigt im Himmel wie auf 
Erden zu binden und zu löſen, beſchwört Eure Herrlichfeit durch) 
meinen unglücklichen Mund: daß Feiner von Euch Beiden ſich unter: 
ftehe, die Tochter des genannten Defiderius zu ehelichen. Sch habe 
"gegenwärtiges Schreiben auf das Grabmal des hl. Petrus nieder: 
gelegt, auch das Meßopfer über demfelben dargebracht, und fofort, 
mit meinen Thränen befeuchtet es Euch zugefandt. Sollte Jemand — 
was ich nicht erwarte, gegen den Inhalt diefer meiner Beſchwörung 
handeln, fo möge er wiffen, daß er auf Befehl des heiligen Petrus 
mit dem Bannftrahl belegt, von dem Himmel ausgeftoßen, und ba- 
gegen dem Teufel fammt feiner furchtbaren Schaar zur ewigen 
Feuerpein überantwortet if. Wer aber unferem Worte Gehorfam 
Yeiftet, den erwartet das Paradies mit feinen himmliſchen Freuden.“ 
Der Pabſt predigte tauben Ohren. Karl verftieg 770 fein Weib 
Himiltrud und heurathete die Tochter des Langobardenfürften. Seit 
dem beraubte Defiderius ungefcheut den Kirchenſtaat. Indeß 
dauerte diefe Verbindung nur furze Zeit. Schon im Jahre 771 
trennte fih Karl wieder von Defiderata und fchickte fie ihrem Bater 
zurüd. Im nemlichen Jahre trat eine wichtige politifche Verän— 
derung im Franfenreihe ein. Die beiden Brüder Karlomann und 
Karl vertrugen fih, von gleichem Ehrgeize entflammt, fchlecht mit: 
einander. Höchſt wahrfcheinlih wäre es zum Kriege zwifchen ihnen 
gefommen, wenn nicht eine höhere Gewalt vorgebeugt hätte. Kar- 
Yomann ftarb im zwangzigften Jahre feines Alters den A. Dec. 771 
zu Samouci: der dritte Fall im Laufe eines Jahrhunderts, daß 
durch einen Schlag des Schickſals die Einheit des Frankenreichs 
gegen bie verberblichen Folgen germanischen Erbrechts geſchützt ward. 
Alsbald riß Karl das ganze Gebiet feines verftorbenen Bruders an 
fi, obgleich der Leztere zwei unmündige Söhne hinterlaffen hatte. 
Karlomann’s Wittwe Gilberga floh mit ihren Kindern zu dem 
Könige der Langobarben, und fuchte bei diefem Fürften, den Karl 
faum zuvor durch Verſtoßung feiner Tochter tödtlich beleidigt hatte, 
Schutz und Hilfe Mit Freuden ergriff Defideriug die ſchöne Ge: 
Vegenheit, Verwirrung im Sranfenreiche anzuftiften. Er warf fih 


Die fränkifche Kirche vom Anfange des’fiebenten Jahrhunderts ꝛc. 579 


zum VBorfechter der Waifen Karlomann's auf, und wandte fih an 
ben Pabſt Adrian J., Nachfolger des im Februar 772 verftorbenen 
Stephan II. mit dem Antrage, den älteften Sohn Karlomann’g 
zum Könige über Aufter zu falben. Der Ausbruch eines Bürger- 
friegs im Franfenreiche wäre die unmittelbare Folge gewefen, wenn 
der Pabſt den Willen des Langobarden erfüllt hätte, Hadrian wies 
jedoch das Anfinnen zurüd. Der König Defiderius verfuchte der 
Neihe nach Berfprehungen, Drohungen, Gewaltthaten, er verheerte 
die Güter des Kirchenftaats unbarmherzig und entriß dem Pabft 
eine Stadt um die andere. Hadrian blieb, um den Ausdruck des 
Biblisthefars Anaftafius ') zu gebrauchen, feft wie ein Demant, 
denn er durfte um feinen Preis mit dem mächtigen Karl brechen. 
Zulegt rüdte Deſiderius auf Rom 108. Schon zuvor hatte der 
Pabſt Karl'n um Hülfe gebeten; aber der Franfenfönig war das 
ganze Jahr 772 über dur) einen fchweren Krieg gegen die Sachſen 
beſchäftigt. Erſt 773 erhielt er freie Hand, und zog nun mit 
einem großen Heere über die Alpen. Die Langobarden wurden 
geſchlagen; Deftderius flüchtete hinter die Mauern von Pavia, wo 
ihn Karl acht Monate belagerte. Bon einem Theile feiner Großen 
verrathen, mußte fih der Langobarbenfirft an Karl ergeben, dev 
ihn als Staatsgefangenen nad Frankreich abführen ließ, und dag 
eroberte Land zu feinem eigenen Reiche flug. Er nahm feitdem 
den Titel „König der Franfen und Langobarden“ an. Noch während 
der Belagerung Pavia's eilte Karl nah Nom. Die bewaffneten 
Zünfte, die obrigfeitlichen Perfonen, die halbe Bevölkerung, feldft 
die Schulfugend °) wallten ibm, Palmzweige in den Händen 
tragend, entgegen, und empfiengen den Franfen wie einen Trium- 
phator. In der Vetersfirche, deren Stufen Karl fügte, traf er mit 
dem Pabſte zuſammen; fie umarmten ſich und fehworen einander 
gegenfeitig Treue. ?) Nachdem die Empfangsfeierlichfeiten einige 
Tage gedauert, gieng man zu Gefchäften über. Anaſtaſius er- 
zählt, % Karl habe fih die Schenfungsurfunde Pipin’s vorlefen 
laffen, diefelbe beftätigt, und fofort eine neue ausgeſtellt, welche bie 
Großmuth feines Vaters bei Weiten übertraf. Denn laut dem 
Zeugniſſe des Bibliothekars erſtreckte ſich das durch Karl dem Stuhle 


) Im Leben Hadrian's J., $. 9. flg. Ed. Vignoli IL, 168 fig, — 
2) Ibid, ©, 188 fig. — 3) Ibid. ©. 191, — *) Ibid, 192. 493. 


37” 





580 I. Buch. Kapitel 9. 


Petri geſchenkte Gebiet von der Meeresküfte bei Yuna nach Suria: 
num (Sorans), Monte Bardone, DBerretum, Parma, Rhegium 
(Reggio), Mantua, Mons filieis Mon felice), und begriff ferner 
die Inſel Corfifa, den ganzen Erarchat Ravenna in feiner alten 
Ausdehnung, die Provinzen Venetien und Jftrien, fo wie end: 
lich die Herzogthümer Spoleto und Benevent. Anaftafius berichtet 
weiter, Karl habe feine Stiftungsurfunde nicht blog in eigener 
Perfon unterfchrieben, fondern auch durch die Bifchöfe, Aebte, Her: 
zoge und Grafen feines Gefolgs unterzeichnen Yaffen, und alle Diefe 
hätten ſodann dem heiligen Ayoftelfürften Petrus und deffen Stell: 
vertreter Hadrian I. einen fürchterlihen Eid gefchworen, daß fie 
buchftäbfih Das halten wollen, was auf jenem Pergamente ftehe. 
Die Schenfung war ungeheuer; das römische Volk hat in feinen 
erften Zeiten mehrere Jahrhunderte gebraudht, um Alles das zu 
erobern, was Karl mit einem Feberftrih dem Pabſt überlieferte. 
Mehrere Schriftfteller haben ſich daher erlaubt, die Wahrhaftigkeit 
des päbfilihen Bibliothefars, welcher der Hauptzeuge ift, in Zweifel 
zu ziehen. Wirklich befinden fi) unter den, von Anaftafius aufge: 
führten Gütern folche, welche Karl im Jahre 774 gar nicht befaß, 
und folglich auch nicht verfchenfen Fonnte, wie 3. B. Venetien, wo 
eben damals unter byzantinifhem Schuge ſich der Freiftaat Benedig 
bildete. Allein dies thut der Wahrhaftigfeit bes Zeugniffes darum 
feinen Eintrag, weil der „furchtbare Eid,“ den nach Anaftafius 
Karl und feine Großen Ieifteten, feinen Sinn hat, wenn man nicht 
annimmt, daß der Frankenkönig kraft feiner Schenkung ſich ver: 
bindlih gemacht haben muß, dem Pabſte Fünftig gewiffe Güter 
abzutreten, deren Schenfung, weil fie noch nicht erobert waren, im 
Sabre 774 gar nicht vollzogen werden konnte. Im Uebrigen hat 
Cenni aus den im Codex Carolinus enthaltenen Briefen, welde 
Hadrian 1. innerhalb zwanzig Jahren an Karl'n erließ, den genü— 
genden Beweis geführt, ') daß der Stuhl Petri bei Weitem den 
größten Theil der yon Anaftafius genannten Städte und Län: 
dereien wirklich befaß, oder, geftüst auf Karl's Schenfung, in An: 
fpruh nahm. Jene Zweifel find daher allem Anfchein nad) unbe 
gründet. Der Franfenfönig vermehrte fogar noch in fpäteren Jahren 
den Kirchenftant durch neue VBermächtniffe. In einem Briefe 2) 


1) Cod, Carol, I., 297 fig. — 2 Cod, Carol, epist. 90, Cenni I., 489 
unten, und 484 oben. 











Die fränfifche Kirche vom Anfange des fiebenten Jahrhunderts ıc. 581 


vom Sabre 788 fpriht der Pabft von der Stadt Capua, 
welche Karl fammt andern Drten zum Heile feiner Seele dem 
Apoftelfürften geopfert habe. Demnach erhielt der Stuhl Petri um 
die angegebene Zeit in Campanien Güter, welde in dem Verzeich— 
niffe des Anaftafius nicht enthalten find. Unvecht haben alſo Die, 
welche die Großmuth des Franfenfönigs läugnen wollen. Dagegen 
muß allerdings, um der Sache auf den Grund zu fommen, ein 
anderer Punkt fcharf ind Auge gefaßt werben. Alles hängt von 
ber Frage ab, unter welchen Bedingungen Karl den Pabft 
reich gemacht hat. Und hierüber geben die Briefe des Codex Caro- 
linus felbft einigen, doch nicht vollfommenen, Auffchluß. Im Jahre 
788 fchreibt ) Hadrian an Karl: „ich habe die Bürger der (neu— 
gefchenften) Stadt Capua dem heiligen Peter, mir und deiner 
königlichen Herrfchaft, Treue ſchwören laſſen.“ Drei Jahre 
früher meldet *) der Pabft dem Könige der Franfen, Langobarden 
und Patrieier der Römer, Karl: „deinem Befehle, daß aus 
Ravenna und der Pentapolis alle venetianifchen Kaufleute ver: 
trieben werden jollen, bin ich fogleich nachgefommen, und habe 
überdieg an den Erzbifchof von Ravenna den Auftrag ertheilt, die 
Benetianer aus allen Beligungen und Schlöffern, die fie innerhalb 
des Gebiets der römiſchen und ravennatifchen Kirche haben, uns 
verzüglich zu verjagen.“ Hieraus geht aufs Klarfte hervor, daß 
Karl fih in dem Exarchat von Ravenna, in VPentapolis, fo wie in 
Campanien, alfo in den wichtigften Theilen des fogenannten Kirchen: 
ftaats die Hoheitsrechte vorbehalten hatte, und den Pabſt blos als 
feinen Statthalter behandelte. Diefelbe Gewalt übte Karl und fein 
Nachfolger auch in der Stadt Nom aus, wie aus dem Fol: 
genden erhellen wird. Ja der Sranfenfürft nahm fich zuweilen noch 
weit größere Freiheiten gegen den Statthalter Petri heraus. Im 
einunbfechszigflen Briefe des Codex Carolinus führt >) Hadrian 
bittere Klage gegen Karl darüber, weil Diefer einen ypäbftlichen Ge: 
fandten um einiger mißfälligen Worte willen eingefperrt hatte. Ein 
folhes Verfahren, meint Hadrian, fey unerbört, feit die Welt fiehe. 
Aus den angeführten Thatfachen erhellt nun, daß die Schenkung 
eines ganzen Staates, welche Karl dem heiligen Petrus machte, in 





i) Ibid, epist, Nro. 91. Cenni J., 487 Mitte. — ?) Ibid, epist, Nro. 83. 
Eenni I., ©, 459. — 3) Ibid. ©. 362 unten, und 3563 oben. 


582 UII. Buch. Kapitel 9, 


einem ſehr befchränften Sinne zu verftehen if. Da nun bie Groß: 
muth des Franken durch fo viel Berechnung geleitet war, fo läßt 
fih zum Boraus erwarten, daß Karl auch dasjenige, was er wirt 
lich ſchenkte, nicht ohne Borbehalt hergegeben haben werde. 
Eine volfwichtige Urkunde, die auf ung gefommen ift, lüftet den 
Schleier. In der Sammlung des canonifhen Rechts ) findet fi 
nemlich aus den Aften einer Synode, welde Pabſt Leo VIIL 963 
zu Rom hielt, folgende Stelle: „Pabft Hadrian hat dem König Karl 
außer der Würde des Patriciats das Recht eingeräumt, den 
römifhen Stuhl zu beſetzen und die Bifhöfe zu belehnen.“ 
Leo VIII. hatte als Pabft, wie fi) von felbft verfteht, Zutritt zu 
den gebeimften Archiven des Batifan; er konnte daher über bie 
Geſchichte feiner Älteren Vorgänger Dinge offenbaren, von welchen 
die übrige Welt nichts wußte, Unmöglich kann man feine Ausfage 
in Zweifel ziehen. Iſt fie aber wahr, fo fragt fih weiter, ob nicht 
der König Karl die ganz alltägliche Vorfiht gebraucht haben werde, 
das Zugeftändniß, welches er wirklich dem Pabſte Hadrian abpreßte, 
in möglichft bindender Form, oder in feierlicher Weife vechtsfräftig 
zu machen. Die Antwort hierauf ertheilt ein teutfcher Chroniken: 
fchreiber, der zwar erft gegen Ende des eilften Jahrhunderts blühte, 
aber aus guten Quellen gefchöpft hat. Sigebert, Mönd in dem 
Kloſter Gemblours bei Lüttich, berichtet ?) in feiner Chronif zum 
Jahre 773: „Karl feierte (während Pavia von feinem Heere be: 
Yagert wurde), das Dfterfeft zu Nom. Nach dem Fefte begab er 
fi zu feinem Heere, nahm Defiderius gefangen, kehrte hierauf 
nad Nom zurück, und verfammelte dafelbit in Gemeinfhaft mit 
Pabſt Hadrian eine Eynode, auf welcher 153 Biſchöfe und Aebte 
erfchienen. Hadrian fammt der ganzen Synode räumte bem König 
Karl das Recht ein, Cin Zufunfe) Päbſte zu wählen, und den 
apoftolifhen Stuhl zu befesen. Auch die Würde des Patriciats 
übertrugen fie ihm. Außerdem beftimmten fie, daß in Zukunft die 
Bischöfe und Erzbiſchöfe aller Provinzen von ihm die Belehnung 
(investituram) zu empfangen hätten; wenn ein Bewerber vom 
Könige nicht gebilligt und beiehnt würde, fo dürfe denfelben Nie: 
mand weihen; wer gegen biefen Befchluß zu handeln fich erfühne,. 





N) Corpus juris canoniei I. distinct, 63. Cap. 23, edid, Böhmer IL., 
197. — 2) Die Stelfe abgedruckt ebendaf. Kap. 22. 


Die fränkifche Kirche vom Anfange des fiebenten Jahrhunderts ıc. 583 


ver folle dem Bannfluche verfallen, und wenn er fich nicht beffere, 
auch noch feine Güter verlieren.“ Zwar fleht dem Berichte Sige- 
bert’8 fein weiterer Zeuge zur Seite; aber feine Nachricht erfcheint 
als eine nothwendige Ergänzung Deffen, was wir aus andern 
fihern Quellen wiſſen, und es ift Teicht abzufehen, warum der Stuhl 
Petri fih) Mühe geben mußte, das Andenfen der Dinge, die da— 
mals in Rom vorgiengen, zu unterbrüden. 

Karl vergaß alfo bei der Schenkung, welche er an den Stuhl 
Petri machte, fich felbft Feineswegs; überdieß hat er fein dem Pabfte 
gegebenes Wort nur ſehr unvollfiommen gehalten. In einem 
Briefe I) vom Jahr 774 beflagt fi) Hadrian gegen Karl, daß ber 
ehrfüchtige Erzbifchof Leo von Ravenna, gleich nad) dem Abzug 
Karls aus Jtalien, dem Stuhle Petri den Gehorſam aufgefündigt, 
und mehrere zum Erbe St. Peters gehörige Städte, wie Faventia, 
Forumpopoli, Forumlivii, Ceſinä, Bobbio, Comachio, das Herzog- 
thum Ferrara am ſich geriffen Habe; Adrian fügt bei, „der Erzbifchof 
gebe vor, alle genannten Orte feyen ihm von Karl'n gefchenft 
worden.“ Aehnlihe Klagen über den Oberpriefter von Ravenna 
werben in mehrern anderen Briefen des Vabfts wiederholt, *) Der 
Stuhl yon Ravenna war, wie wir willen, ein alter Nebenbuhler 
bes römiſchen. Ohne franfifhellnterftügung hätte aber der 
Erzbifchof Leo dem Pabſte nimmermehr auf folhe Weife trogen 
können. Man muß daher annehmen, dag Karl, um ſich der Treue 
Adrian’s zu verfihern, gemäß dem weltberühmten Grundfaß: „theile 
und berrfche“ dem Stellvertreter Petri einen Nagel ins Fleiſch 
getrieben hat. Ebenfo führt Hadrian Befihwerde über den neu 
ernannten Herzog von Clufium Naginald. „Diefer treulofe Menſch 
und Säemann des Unfrauts“, fagt ?) er, „fucht Alles, was ber 
König zum Lofegeld für feine Sünden dem heiligen Peter vergabt 
hat, wegzunehmen, und doch kann ich nicht glauben, daß Du 
o gütigfter Sohn und allerchriftlichfter König, wegen Erhöhung 
bes genannten Raginald deinen früheren Berheißungen ungetreu 
geworben ſeyeſt.“ Noch in den Jahren 787 und 788 fleht *) ber 
Pabft um Herausgabe gewiffer Güter, die ihm Fraft der Urkunde 





1) Epist. 51. Cenni Cod. Carol, I., 321. — ?) Epist. 53. Cenni IL, 
328 fig, Epist. 54. Cemi I., 334 fig. — 3) Epist. Nro. 55. Cenni I, 337. — 
*) Ibid. epist, 88, ©. 474 unten, 475 und epist. 89. ©; 480. 


Bu | 1, Buch. Kapitel 9. 


des Jahrs 774 gebühren. Man fieht: der große Karl verftand 
fih auf die Künfte der Herrfchaft, und mit der angeblihen Schen- 
fung des Erbe Petri verhält es fich folgender Maßen: nicht ein 
unabhängiges Fürftenthum oder einen weltlihen Staat hat Karl 
dem römifchen Stuhle gefchenft, fondern blos, Einfünfte und eine 
mittelbare Herrfchaft in einem allerdings fehr ausgedehnten 
Gebiet. Sämmtliche Hoheitsrechte behielt fih der Franke feldft vor, 
Für den überlieferten Mammon aber mußte der Pabft 
fih feldft und feinen Stuhl dem Könige zu eigen 
geben. Mit goldenen Feffeln ward er an das königliche Haus 
von Frankreich gefettet. Daß Karl fih des Pabſtthums zu gewiffen 
weitausfehenden Zweden bedienen wollte, fann man jest ahnen; 
worin biefelben befanden, wird man im Folgenden fehen. 

Seit 774 nahm Karl den Plan einer völligen Wiederherftel- 
Yung der fränfifchen Kirche, welchen die Päbſte Gregorius II. und IN. 
und Zacharias gefaßt, für welchen Bonifacius gearbeitet hatte und 
an deſſen Ausführung Pipin gefcheitert war, mit allem Nachdruck 
auf und führte ihn glücklich durch. Er fteuerte aber dabei auf ein 
ganz anderes Ziel los, als der Stuhl Petri urfprünglich beabfich: 
tigte. Die dringendfte und am häufigften wiederholte Forderung 
der Päbſte während Pipin’s Negierung betraf, wie wir wiffen, 
die Einfegung von Metropoliten. Karl erzwang, was fein Vater 
nicht vermocht Hatte. Der fränfiihe Staat erhielt unter feinem Negi: 
ment Erzbifhöfe mit einer Amtsgewalt, wie diefelbe feit Conſtantin 
dem Großen im römischen Neiche beftand. Der Reichstag vom Jahr 
779 verordnet ) in feinem erſten Befchluffe: „Die Suffraganbifchöfe 
follen ihren Metropoliten in allen Dingen gemäß den Kirchengefegen 
Gehorfam leiften.“ Ebenfo der Reichstag ?) von Aachen im Jahre 
789: „Die Suffragane follen ſtets auf ihren Metropoliten Rückſicht 
nehmen, auch nichts Neues in ihrem Sprengel ohne Kath und 
Borwiffen deffelben unternehmen. Gleicherweiſe,“ heißt es weiter, 
„darf aber auch der Metropplit nichts ohne Zuflimmung der Bi: 
Ihöfe thun.“ Der bdreizehnte Befchluß) defjelben Reichstags bes 
ſtimmt namentlih, daß die Suffragane ohne Einwilligung des 
Metropoliten Feine Synode halten follen. Durch den vierten Be— 





') Capitularia edit, IIda Baluzii I,, 195, — 2?) Capit, 8. ibid, 216, — 
3) Ibid. ©. 219 oben. 


Die fränkiſche Kirche vom Anfange des fiebenten Jahrhunderts ꝛc. 585 


fchluß des Gapitulars vom Jahre 794 wird das Verhältniß ber 
biſchöflichen zur erzbifhöflihen Gerichtsbarkeit folgendermaßen !) ge: 
ordnet: „Den Bifchöfen fommt es zu, Necht zu Sprechen in ihren 
Sprengeln. Will ein Abt, Presbyter, Diafon, Subdiafon, Mönd 
oder fonft ein Cleriker fich nicht mit dem Ausfpruche feines Bifchofs 
beruhigen, jo mögen fie zu dem Metropoliten gehen, daß Diefer 
die Sache entfcheide Auch die Grafen follen den Bifchöfen zu 
Gericht ftehen. Iſt aber der Erzbifchof nicht im Stande einen 
Handel beizulegen, dann erft follen die Kläger und Beklagten ſich, 
ausgerüftet mit einem Briefe des betreffenden Metropoliten, an ben 
König wenden.“ Aus einer merkwürdigen Urkunde fennen wir die 
Zahl der erzbifchöflichen Sprengel, in welche das Franfenreich gegen 
Ende der Regierung Karls getheilt war. Im Jahre Chriſti 811 
fette der greife Kaifer feinen Testen Willen auf, ®) kraft deſſen er 
verordnete, daß ſämmtliches baare Vermögen feines Schates in 
drei Hauptheile, und zwei Drittel berfelben hinwiederum in 21 
Unterabtheilungen zerlegt werden follten. Je einen Theil der letztern 
vermachte er dem Clerus der 21 Erzfprengel des Reihe. Als folche 
Diöceſen werden aufgezählt: Nom, Navenna, Mailand, Forum 
Julii (Friaul), Grado, Cölln, Mainz, Salzburg, Trier, Seng, 
Befaneon, Lyon, Nouen, Rheims, Arles, Vienne, Tarantaife, 
Embrun, Bordeaux, Tours, Bourges. Die fünf erften diefer 
Ersftühle gehören Italien, die drei mittleren dem Teutjchland des 
Bonifacius, die übrigen dem eigentlichen Francien an. Neben der 
Metropolitanverfaffung ift häufige Abhaltung von Synoden ein 
Hauptnerv der Kirchenzucht. Der dreizehnte Beſchluß des Reiche: 
tags von Aachen verordnet: 3) „Zweimal follen alljährlich in jedem 
Ersiprengel unter dem Borfige des Metropoliten Synoden abge: 
halten werden.“ Durch die bisher angeführten Beftimmungen wur: 
den blos alte Borfchriften der Kirche wieder ing Leben gerufen. 
Einige neue Einrichtungen famen jedoch Hinzu. Wir haben im 
zweiten Bande *) vorliegenden Werks erzählt, wie Auguftinus feine 
biſchöfliche Wohnung zu Hippo in ein Klofter verwandelte, und den 
Clerus der Stadt an eine mönchiſche Negel gewöhnte. Thomaſſin 





1) Ibid. 264 unten. — 2) Aus Eginhard’s Leben Karl’s abgebrudt, 


ibid. ©. 487 fl. — 3) Ibid. 218 unten fo. — MDB ©, 677 
u, 738. | 


586 I. Buch. Kapitel 9. 


weist einige ſchwache Spuren nad, ) aus welchen erhellt, daß Aus 
guſtin's Vorgang während des fechsten und fiebenten Jahrhunderts: 
da und dort in Spanien, England und Franfreih nachgeahmt 
worden iſt. Erft im Laufe des achten Jahrhunderts gedieh Das, 
was Auguftinus erfirebt hatte, zu einer allgemeinen Kirchenanftalt, 
und zwar durch das Verdienſt eines fränfifchen Biſchoſs. Chrode—⸗ 
gang um 700 aus einer vornehmen fränfifchen Familie geboren, 
erhielt feine Erziehung am Hofe Karl Martel’s, wurde dann von 
Karls Sohne, Pipin, zu mehreren wichtigen Gefchäften gebraucht 
und zulett auf den Stuhl von Mes befürbert. Als Bifchof ver: 
einigte er den Klerus feiner Stadt in der eigenen Wohnung zu 
föfterlichem Leben und fchrieb demfelben eine Regel vor, welche nod) 
vorhanden ift. ?) Chrodegang prägt zuförderft den jüngern Glerifern 
Ehrerbietung gegen die Altern ein; ohne Erlaubniß der Aelteren fol 
fih in ihrer Gegenwart fein Jüngerer fesen. Die Aelteren fordert 
er auf, ihre jüngeren Brüder mit Liebe zu behandeln. Alle Ca: 
nonifer, mit Ausnahme Derer, welchen der Biſchof befondere 
Erlaubniß ertheilt bat, fchlafen in gemeinfchaftlichem Saale, doc 
in abgefonderten Betten und fo, daß das Lager eines jüngern im= 
mer zwifchen den Betten der Aelteren zu ftehen fommt, damit ſtets 
Aufiicht flattfinde. Kein Weib, Fein Laie darf das Klofter betreten, 
ausgenommen, wenn der Bilchof, der Archidiafon, oder der Primi: 
cerius Jemand zu Tiſch einladetz; jedenfalls aber muß der Einge— 
Yadene feine Waffen vor der Pforte ablegen. Aeltern Canonifern 
ift es erlaubt, mit Zuftimmung des Bifchofs jüngere zur Bedienung 
anzunehmen. Sobald bei Anbruch der Nacht das erfte Zeichen mit 
der Glocke gegeben ift, verfammeln ſich alle im Kiofter, beim zwei— 
ten Zeichen begeben fie fi in die Kirche, um das completorium 
(die letzte der ſieben canonifchen Stunden oder Gebete) zu fingen. 
Nach dem completorium darf Niemand mehr efjen, trinken, reden, 
ins Klofter oder aus demfelben gehen. Jeder Ganonifer, der bie 
Nacht außerhalb des Gebäudes zubringt, faftet bei Waffer und Brod, 
oder wird gezlichtigt. Im Winter, d. h. vom erften November bis 
Dftern, erhebt man fih mit der achten Stunde der Nacht (2 Uhr 





i) Disciplina vetus et nova ecclesiae Pars I., liber III., Cap. 5. Sn 
der Ausgabe Paris 1688 Fol. B. I., ©. 629 fig. — 9 In ihrer Achten ur: 
fprünglichen Geftalt abgedruckt bei Manfi XIV., 315 flg., wo man auch bie 
Zeugniffe der Alten über Chrodegang's Leben findet. 


Die fräntifche Kirche vom Anfange des fiebenten Jahrhunderts ꝛc. 587 


Morgens) und begeht die erſte canoniſche Stunde, (mocturna) mit 
Kyrie Efeifon und dem Gebet des Herrin. (Sofort wird die Feier 
der übrigen canonifchen Stunden vorgefchrieben). Nach dem Mor: 
gengebete (prima) verfammeln fih die Canonifer im Capitel (dem 
Hauptfaale des gemeinfamen Gebäudes, fo genannt, weil dort ein 
Sapitel der Negel und der Bibel vorgelefen wurde). Dreimal in 
der Woche: Sonntag, Mittwoch und Freitag wird ebendafelbft 
eine Predigt gehalten. Im Capitel gibt der Bifchof oder Ardhidia- 
fonus feine Befehle, und ertheilt Denjenigen Verweiſe, welche ſich 
vergangen haben. Die Cleriker der Stadt, welche nicht zum Cano— 
nifat gehören, erfcheinen am Sonntag gleichfalls im Capitel, und effen 
mit der Gefellfchaft. Beim Austreten aus dem Capitel begeben fi) 
die Canonifer zu der Händearbeit, die ihnen angewiefen if. Zwei: 
mal im Jahre follen die Sanonifer ihre Sünden, felbft böfe Gedan— 
fen, dem Bifchofe beichten. Wer Bedürfnis fühlt, dieß häufiger zu 
tun, wendet fih an den Bilchof, „der einen von ihm beftimmten 
Cleriker. Merkt der Bifchof, daß ein Sanonifer Sünden verfchwies 
gen bat, fo darf er ihn nach Erfund abfegen, vom Abendmahl 
ausfchließen, einfperren oder züchtigen. Das Abendmahl follen die 
Sanonifer jeden Sonn= oder Fefttag genießen, vorausgefett daß be: 
gangene Sünden fie nicht deffelben unwürdig gemacht haben. Grobe 
Berbrecdhen, wie Todſchlag, Chebruch werden durch Geißelung, 
Faſten, Ausftogung, Gefängniß und nad dem Gefängniß durch 
öffentliche Buße gezüchtigt, welche Iestere darin befteht, daß der 
Sünder fi) vor dem Kirchenthore auf die Erde hinwerfen muß, 
während bie übrigen Canonifer ein= und ausgehen. Verläumdung 
und Trunfenheit zieht erft geheime, dann öffentliche Verweiſe, im 
Falle der Halsftarrigfeit Bann und fürperliche Strafen nad ſich. 
In der Faftenzeit wird nur Abends gegeffen, in den Tagen von 
Oſtern bis Pfingften zweimal, die, welchen feine Buße obliegt, 
fünnen dann täglich Fleifh genießen, ausgenommen am Freitag. 
Bon Pfingften bis Johannistag wird zweimal gefveist, aber ohne 
Fleiſch. — Mehnlihe Borfchriften folgen fofort !) für die übrigen 
Monate des Jahrs. — Sieben Tafeln fiehen im Speifefaale: 
bie erfte für den Bifchof, den Archidiafonus und die Gäfte, die 
zweite für die Presbyter, die dritte für die Diafone, die vierte für 





DU a. O. Cap. 20. 


Be AII. Buch. Kapitel 9. 


die Unterbiafone, die fünfte für die übrigen Clerifer bes Canonikats, 
die fechöte für die Aebte, die fiebente für die Elerifer der Stadt, 
welche an Sonn: und Fefttagen im Canonifat fpeifen. Während 
des Effens foll Niemand fprechen, dagegen wird eine Predigt vor— 
gelefen. Das zweiundzwangigfte Kapitel beftimmt die Art der Spei— 
fen, welche wir übergehen; das breiundzwanzigfte handelt vom 
Getränke. An den Tagen, wo zweimal gefpeist wird, erhalten bie 
Presbyter und Diafone Mittags drei, Abends zwei Kelche (calices), 
die Unterdiafone Mittags und Abends je zwei, die übrigen Clerifer 
Mittags zwei, Abends einen. An Fafttagen empfangen alle nur 
fo viel Wein als fonft beim Mittageffen. „Weil wir,“ fagt Chrode— 
gang, „unfern Clerus nicht vermögen fünnen, gar Teinen Wein zu 
genießen, fo werde wenigftens die Trunfenheit gemieden.“ Die, welche 
ſich des Weins freiwillig enthalten, empfangen ein entfprecdhendes 
Maaß von Bier. Alle Canonifer verfehen der Reihe nach den Dienft 
der Küche, ausgenommen der Archidiakon, der Güterverwalter und 
die Safriftane der drei Hauptkirchen von Mes. Alljährlich erhalten 
die älteren Canonifer neue Kutten (cappas), die von ihnen abge- 
legten Kutten werden den jüngern Mitgliedern übergeben. Die 
Presbyter und Diafone, bie in der Gemeinfchaft dienen, empfangen 
jährlich zwei Leibröde (sarciles), oder fo viel Wolle als nöthig ift, 
um folhe zu bereiten, außerdem zwei Hemden. Alle befommen 
jährlich Aindsleder zu Schuhen und vier Baar Sohlen. Auch wird 
ihnen Geld gereicht, um Holz anzufhaffen. Die Glerifer des Cano— 
nifats, welche Pfründen befisen, fchaffen ihre Kleider felbft an. 
Wer in das Sanonifat aufgenommen werden will, muß zuvor der 
Kirche von S. Paul, (zu welder das ältefte Canonifat in Mes 
gehörte), all fein Vermögen vermachen, doch ift ihm geftattet, fo 
lange er lebt, die Nutznießung fich auszubedingen. Auch dürfen die 
Canoniker diejenigen Almofen, welche Laien für Meilen, für die 
Beichte oder zum Wohl Iebender oder tobter Angehöriger ftiften, 
für fi behalten. ) Das Teste Kapitel fchreibt vor: zweimal 
des Monats folle das Canonifat die Armen der Stadt, welche in 
bie öffentlichen Liften eingetragen find (matrieularii) in der Kirche 





i) Zongueval (hist. de l’eglise gallicane. Vol, IV., 442) macht hiezu die 
Bemerkung: dieß fey das erfte, ihm befannte Beifpiel von Bezahlung für den 
Dienft der Sakramente. 


Die fränkiſche Kirche vom Anfange des fiebenten Jahrhunderts ic. 589 


zufammenrufen, und ihnen eine Predigt halten; zweimal des Jahrg 
jolle man ihre Beichte hören. Auch werden Austheilungen von 
Lebensmitteln unter fie für gewiffe Fefttage angeordnet. Chrode— 
gang nennt felbft die Cleriker feiner Anflalt cleriei canoniei, ihre 
Lebensweife vita canonica. Seitdem nannte man fie auch collegiati. 
Chrodegang ftarb als Bilchof von Mes den 6. März 766, zwei 
Jahre vor Karls Regierungsantritt. Er gehört alfo noch ganz der 
Zeit Pipin’s und der Schule des Bonifacius an, von welchem er 
vielleicht den Anftoß feiner reformatorifchen Thätigfeit erhalten bat. 
Seine Stiftung taugte trefflich für die Zwede Karl's. Denn Chrobe- 
gang's Negel unterwirft nicht blos den Clerus der Hauptfirchen, 
fondern auch den Bifchof felbft einer firengen Aufjicht. Wie die 
Geiftlichfeit durch den Biſchof, jo wird umgefehrt diefer durch jene 
bewacht und zur Gefeglichfeit angehalten. Es ift daher ganz in ber 
Drdnung, das Karl das Canonifat allgemein in der fränfifchen Kirche 
einzuführen ftrebte. Mit gutem Beispiel war ihm fohon fein” Vater 
Pipin vorangegangen. Die Synode von Berneuil (755) verordnete 
in ihrem elften Canon: „alle Cleriker follen entweder in Klöſtern 
nad) gewohnter Mönchsregel oder in der Hand eines Biſchofs nad 
eanonifher Ordnung !) leben.“ Aber diefe Vorſchrift ſcheint, 
wie alle übrigen Verordnungen Pipin’s, fchlecht gehalten worden zu 
feyn. Karl drang durch, Der Neihstag von Aachen faßte den 
Beihlug, 2) dag Alle, welche in den Clerus eintreten, nach cano— 
nifher Regel leben, und dem Bifchofe fih auf gleiche Weife unter: 
werfen mußten, wie die Mönche ihren Aebten. Diefelbe Verord— 
nung wurde fpäter mehrmals wiederholt, ?) und man erfieht aus 
einigen Synodalaften, *) daß Chrodegang’s Vorſchrift felbit in 
eigentlihen Mönchsflöftern Eingang gefunden hat. 

Während der Zaum canonifchen Lebens den Clerus der Städte 
an unverbrücliche Ordnung gewöhnte, unterwarf eine andere, gleich: 
falls neue, Einrichtung die Landgeiftlichfeit einer genauen Aufficht 





!) In monasterio sint sub ordine regulari aut sub manu episcopi sub 


ordine canonico, Baluzius capit. I., 173 oben. — 2) Capit. 71 ibid, 
©. 258. — 3 Wie im Capitulare vom Sahre 802. Cap. 22 ibid. 569 
unten. — *) Concil. arelatense vom Jahr 813. Canon 6, Mansi XIV., 60, 


Coneil. Moguntin. vom gleichen Jahre Can. 9 u. 21, ibid. ©; 67 u. 71. 
Coneil. turonense ebenfalls vom Jahre 813, Can, 25 u, 24, ibid, ©; 86 
und 87; 


590 IIII. Buch. Kapitel 9. 


und Zudt. Schon früher muß die große. Ausdehnung der Bis— 
thümer bewirkt haben, dag man auf Mittel dachte, die Maſſe der 
Pfarrer durch befondere Beamte überwachen zu laſſen. Thomaflin !) 
macht wahrſcheinlich, daß bereits im fechsten und fiebenten Jahr: 
hundert die bifchöflichen Sprengel in mehrere Bezirke verlegt wurden, 
an deren Spige je ein Archipresbyter ftand. Die Archipresbyter 
waren beauftragt, die Amtsführung der Pfarrer zu prüfen und 
über biefelben an den Bifchof zu berichten. Später nannte man 
‚die Bezirfe der Archipresbyter Landeapitel, oder Defanate, fie felbft 
Defane. In dem Zeitalter Karls des Großen wurde nun zwifchen 
die Archipresbyter und den Biſchof eine neue Behörde eingefhoben. 
Der Biſchof Heddo von Straßburg, abermal ein Mann aus ber 
Schule des Bonifacius, machte während feines Aufenthalts zu Rom 
im Jahr 774 dem Pabfte Hadrian die Anzeige, daß er für feinen 
Sprengel fünf Archidiafone ernannt, und einem jeden derſelben eine 
gewilfe Anzahl von Archipresbytern oder Defanen untergeordnet 
habe. Das Amt der Archidiafone ift, wie wir wiffen, eine alte 
Anftalt der Kirche, aber bis dahin gab es in jeder Discefe nur 
einen Ardidiafon, welder der gefeßliche Stellvertreter des Bischofs 
und häufig fein Nachfolger war. Die Gewalt der. Arcdidiafone 
wurde daher durch Heddo's Werf eigentlich) verringert, vielleicht 
geihah es deßhalb, daß Heddo den neuen Archidiakonen das Necht 
einräumte, nicht mehr durch die freie Entfcheidung des Bifchofg, 
fondern nur im Falle eines Verbrechens abgeſetzt werden zu können. 
Der Pabft billigte die Einrichtung Hebdo’s, ?) und fie muß fid, 
ohne Zweifel durch Karl's Mitwirkung, fehnell in Frankreich verbreis 
tet haben. Wenigftens fett ein Befchluß 3) der Parifer-Synode vom 
Jahre 829 das Beſtehen mehrerer Archidiafonate in den verfchiedenen 
Bisthümern als allgemeine Kegel voraus: „Jeder Bifchof,* heißt 
es bier, „folle ein wachfames Auge auf feine Archidiafone haben 
(archidiaconis suis vigilantiorem curam adhibeat), damit diefelben 
ihre Amtsgewalt nicht mißbrauchen.“ Sp jung nemlich die Einvich- 
tung war, hatten fih die Archidiafone in kurzer Zeit durch den 





— 


1) Disciplina eccles. I., lib. II. Cap. 4. a. a. ©. I, 223 unten flg. — 
2) Die Urkunde abgeprudt bei Grandidier histoire de l’eglise de Strasbourg. 
Vol. II. Urkundenbuch Nr. 66. — *) Canon 25, Manfi XIV., 555 Mitte. 
Andere Beweife bei Thomaßin I., lib, IL, Cap, 19, 4.0.0, ©, 280, 


Die fräntifche Kirche vom Anfange des fiebenten Jahrhunderts x. 591 


Geiz verhaßt gemacht, mit welchem Mr e Pfarrer wie Dekane beſchatz⸗ 
‚ten und plünderten. 

Ueber die verfchiedenen bisher befchriebenen Stufen, dur) 
welche der Clerus feldft feine Mitglieder beauflichtigte, erhob ſich 
noch eine Ießte, die an dem Throne des Könige auslief. Von Zeit 
zu Zeit ſchickten Karl und feine Nachfolger Bifhöfe und Grafen ) 
als befondere Bevollmächtigte in die Provinzen des Reichs aus, um 
die Amtsführung geiftliher und weltlicher Behörden unverſehens zu 
unterfuchen und über den Erfund an den Hof Bericht zu erftatten. 
Man nannte diefe Boten missi regii. Mehrere Capitulare ertheilen 
den föniglihen Kammerboten eine genaue Dienftanweifung, am 
ausführlichften das Capitular ?) Ludwigs des Frommen vom Jahr 
828: „Der Kammerbote foll erfilich auf den Wandel der Bifchöfe 
Augenmerk haben: namentlich wie fie ihr Amt führen, wie fie die 
Kirhen und den ihnen anvertrauten Clerus regieren, und im All: 
gemeinen in weltlichen wie geiftlihen Dingen gefinnt find. Fürs 
Zweite fol er unterfuchen, von welcher Art die geiftlichen Gehülfen 
des Bischofs, Arhidiafone, Archipresbyter u. f. w. find. Auch auf 
die Klöfter foll er Acht haben, u. ſ. w. So liefen denn bie legten 
Fäden geiftlihen Regiments in den Händen des Königs zufammen. 
Dem Pabft hat Karl feinen Antheil an der Beauffichtigung des 
fränfifchen Clerus geftattet. Er ließ fi zwar von Habdrian I. eine 
‚vermehrte Sammlung des Dionyfifchen oder ?) im Jahr 774 
ſchenken und benügte diefelbe als Vorbild bei Einrichtung der Kirche 
jeines Reichs, auch fragte er den Stuhl Petri in fehwierigen Punf: 
‚ten kirchlicher Geſetzgebung häufig um Nath.*) Aber weiter gieng 
feine Gefälligfeit nicht. Auf der Synode zu Aachen wurden mehrere 
der wichtigften Beſchlüſſe, weldhe in dem von Hadrian gefchenften 
Codex enthalten waren, feierlich zum Neichsgefege erhoben. Merk: 
würdiger Weife bleiben jedoch die Canones yon Sardifa, welche 
Derufungen aus aller Welt nah Rom gut heißen, ) yon dem 
Aachener Capitulare weg, obgleich Ießtere in jenem Buche eine Stelle 





1) Baluzius capitular, a. a. ©. ©. I, 577 Mitte. — 2) Baluzius I, 
©. 657 flg. Die älteren Vorſchriften vom Sabre 789, ibid. J. 244, vom 
Jahre 802, ibid. 375, vom Jahr 806, ibid. L., 455. — 9 Der erfte Theil 
beffeiben im Auszuge bei Manft XII., 859, vollftändig bei Harzheim concil, 
Germaniae J., 131flg. — 9) Beifpiele: Baluzii Capitul, I,, 327, ibid, I, 380, — 
>) Siehe den IL, B. diefes Werks ©, 245 fig. 


592 U. Buch. Kapitel 9. 


erhalten hatten, ) dagegen ließ Karl wohlweislich die Schlüffe von 
Nicäa und Antiochien, welche den Provincialſynoden die vberfte 
Gewalt in Kirchenfachen übertragen, in die Aachener Aften einrüden. ?) 

Bollendet wurde die Wiederherftellung der Zucht des Clerus 
durch eine Neihe fittlicher Vorſchriften, welche Karl auf den ver: 
fhiedenen Neihsiynoden einbrachte, und die, feit fie zum Geſetz 
erhoben worden, den Auflichtsbehörden als Anhaltspunft dienten. 
Die meiften diefer VBorfchriften find den ältern Ganones der Fatho: 
ifchen Kirche entnommen. Wir übergehen fie daher als befannt, 
wollen aber bemerken, daß Karl fich befondere Mühe gab, die im 
fiebenten Jahrhundert unter dem Clerus eingeriffenen germanifchen 
Unarten abzufchaffen. Das Capitulare von 769 verordnet im erften 
Schluſſe: ?) „allen Clerikern ift es verboten, Waffen zu tragen oder 
in Krieg zu ziehen. Blos einer oder zwei Bifchöfe Dürfen mit ihren 
Capellanen das Heer begleiten, aber nur des Gottesdienſts wegen 
und um im Feld die Meſſe zu Iefen.“ Der dritte Artifel deffelben 
Sapitulars *) unterfagt den Geiftlihen die Jagd, das Herumftrei- 
fen in den Wäldern, fo wie das Halten von Hunden und Falfen. 
Auch die Ehelofigfeit der Priefter ftellte Karl nach römiſchem Ge: 
brauche wieder her: „Fein Clerifer darf ein Weib im Haufe haben, 
es fey denn feine Mutter oder Schwefter, oder eine andere Perſon, 
die den Verdacht ausfchließt,“ Heißt es?) im vierten Alrtifel des 
Aachener Capitulars vom Jahre 789. Ein eigener Canon 6) der 
von dem Lepiten Benedikt zufammengetragenen Capitularenfamm: 
Yung verbietet den Bifchöfen, Presbytern und Diafonen, bei Strafe 
des Banns, Theilnahme an Trinfgelagen und das Würfelfpiel. 
Der Güterbefig der Kirche verwidelte die Biſchöfe in manche Ge: 
fchäfte, welche des geiftlichen Amts unwürdig fehienen. Um allen 
böfen Schein vom Clerus zu entfernen, gab Karl einem älteren 
Gebrauch, den er vorfand, gefeglihe Kraft. Man fann aus Ur: 
funden beweijen, daß fhon zur Zeit ber Merowinger einzelne galli- 
fhe Kirchen und Klöfter fih weltliche Schutzvögte (advocati) gewählt 
hatten, welche die Verbindlichfeit übernahmen, ihre geiftlihen Schüg- 
linge vor Gericht zu vertreten. ) Karl der Große ſprach nun den 





ı) Harzheim I., 190. — 9 Man vergl. Giefeler 8. ©. IL, a. ©. 51. 
Note pr — 3) Baluzius Capitul. L, 4189 fl. — 9) Ibid. 191. — 
5) Ibid. ©. 215. — 6) Liber. VI., Can. 203., ibid. 1, 958, — ?) Plant 
Geſchichte der Geſellſchaftsverfaſſung II, ©: 460, 64, 


end 


Die frankifche Kirche vom Anfange des ſiebenten Jahrhunderts ꝛe. 593 


Grundſatz ) aus: „Biſchöfe und Aebte ſollen rechtſchaffene Männer, 
und zwar wo möglich ſolche, die in der Grafſchaft, (worin das 
Kloſter oder die Kirche liegt) Erbgüter haben, zu Vögten anneh— 
men.“ Dieſe Kirchenbeamten führen ſeitdem den Namen advocati, 
vicedomini, wohl. auch defensores. Die VBerpflihtung lag ihnen 
ob, den Bortheil der ihnen anvertrauten Kirchen und Klöfter zu 
wahren, diefelben im Nothfall durch gerichtliche Zweikämpfe zu ver: 
theidigen, und bie flreitbare Mannfchaft der Bifchöfe und Aebte in 
Krieg zu führen. Wir werben fpäter zeigen, daß bie Einfesung 
der Bögte, welche urfprünglih zum Wohl der Kirche berechnet war, 
in furzer Zeit eine furchtbare Laft für die Schüglinge wurde. 

Die ftrenge Zucht, welche Karl einführte, hatte die Doppelte 
Abfiht, den Klerus in der öffentlichen Meinung zu heben, und ihn 
zu einem tüchtigen Werkzeug der Staatsgewalt zu machen. Zu 
gleihem Zwecke feste der König noch ein anderes Mittel, mit nicht 
geringerer Beharrlichkeit, in Bewegung. Die geiftige Bildung war 
in Gallien feit dem fiebenten Jahrhundert gänzlich verfallen. Karl 
wollte Clerus und Volk durch Cultur heben. Gelehrte Männer gab 
es aber damals nur in England und in Italien. Dort mußte er 
alfo tüchtige Lehrer fuchen. „Der König Karl,“ berichtet ein frän- 
fiiher Chronift ?) zum Jahre 787, „brachte aus Rom Meifter der 
Grammatik und der Rechenfunft mit fih nach Franeien, und gab 
fid, alle Mühe, die Wiljenfchaften in feinem Reiche zu verbreiten. 
Denn vor Karl legte fih in Gallien Niemand auf das Studium 
der freien Künfte.“ Der König mußte erft Bahn brechen. „Unter 
ben Stalienern, welche er zuerft in feine Dienfte nahm, wird Petrus 
yon Pifa genannt, der bis 774 in der Schule zu Pavia die Gram: 
matif gelehrt hatte, feit Einnahme diefer Stadt aber Karl's Einla— 
dung nach Frankreich folgte. Einhard ?) berichtet, daß Karl feldft 
Unterricht bei ihm nahm. Sechs big fieben Jahre fpäter Fam ein 
berühmterer Mann aus Stalien nah Francien herüber. Paul 
Warnefrid’s Sohn, ein zu Friaul geborner Langobarde, war 
erft Diafon an der Kirche zu Aquileja und wurde um 760 vom lebten 





1) Gapitulare vom Jahr 802. Cap. 13, Baluzius I, 566. Capitular vom 
Jahr 813, Cap. 14., ibid. ©. 509 unten. — 2) Monachus egolismensis, 
die Stelle abgedruckt bei Perz I., 171. — 3) Vita Caroli. cap. 25 bei Perz 
Il., 456 unten. Außerdem vergleiche man über Peter von Piſa Alcuini 
epist. 85. opp. ed, Froben ],, 126, 

©frörer, Kircheng. III, 33 


504 IT. Buch. Kapitel 9. 


Könige der Langobarden Defiderius zum Kanzler erhoben. Mit 
dem Untergange des Langobardifhen Reichs wird Paul's Gefchichte 
darum unfiher, weil der Cardinal von Oſtia Leo, der um 1100 
eine Chronif yon Monte Caffino fehrieb, fabelhafte Nachrichten über 
ihn verbreitet hat, die man feitdem wiederholte, die aber durch) 
nenerlih aufgefundene Urkunden widerlegt werden. Leo von Oftia 
berichtet: nach der Einnahme yon Pavia habe der König Karl den 
Langobardiſchen Kanzler nach Frankreich abführen Yaffen, und ihm 
feitdem feine Gunft gefchenft. Aber in der Folge fey Paul in eine 
Verſchwörung zu Gunften des Defiderius verwidelt, und darum 
son Karl nach einer Inſel des adriatiichen Meers verbannt worden. 
Bon dort habe er fih zum Fürften von Benevent Arichis, einem 
Tochtermanne des Deſiderius, geflüchtet, und fey zulest als Mönch 
in das Klofter Monte Caſſino eingetreten. Dieß find Fabeln. Wir 
folgen der gründlichen und ſcharfſinnigen Unterfuchung Tiraboschi's. 
Allem Anſchein nach zog fih Paul nach erfolgtem Sturze des Lan 
gobarbifhen Reichs in das Klofier Monte Caſſino zurück. Bon 
dort aus Üüberfandte er 781 an den Franfenfönig eine noch erhal: 
tene Bittfhrift in VBerfen, um die Loslaffung feines Bruders zu 
bewirken, der feit fieben Jahren — d. h. feit der Einnahme yon 
Pavia in fränfiiher Gefangenfchaft ſchmachtete. Karl bewilligte, 
wie es ſcheint, feine Bitte und berief den fähigen Langobarden nad) 
Sranfreih, wo er ihn zum Lehrer feiner Tochter Notrud, um 
welche damals der Thronerbe von Byzanz Conftantin gefreit hatte, 
ernannte und zu andern gelehrten Zwecken verwendete. Ungefähr 
bis 788 ſcheint Paul in Frankreich geblieben zu ſeyn. Wir befigen 
noch einen Brief, den er vom fränfifchen Hofe aus an Theodemar, 
Abt von Monte Caſſino, ſchrieb. Paul bezeugt in demfelben feine 
Zufriedenheit mit der Behandlung, die ihm am Hofe zu Theil ge= 
worden, fpricht aber auch zugleich feinen Wunſch aus, nad) Monte 
Caſſino zurüdzufehren. Dean hat Urfache zu glauben, daß er um 
790 wirflih wieder in fein Klofter gieng, und bafelbft vor dem 
Schluſſe des Jahrhunderts geſtorben Y) if. Paul verdiente die 
Gunſt des großen Frankenkönigs. Wir verdanken feinem Fleiße 
vier Hiftorifche Arbeiten yon ungleihem Werth: die fogenannte 





!) Tiraboschi storia della letteratura italiana lib. II,, Cap. 3. 8.5 flg. 


(Ausgabe von Florenz 1806) Vol. II., 232 fig, Die auf Paul's Geſchichte 
bezüglichen Urkunden find hier geſammelt. 





Die fränkifche Kirche vom Anfange des fiebenten Jahrhunderts ꝛc. 595 


historia miscella, ) die Geſchichte der Langobarden in fehs Bü— 
dern, 2) Nachrichten über die Biſchöfe zu Mes?) und eine 
früher erwähnte Biographie des Pabſts Gregorius I. Die historia 
miscella fchrieb Paul auf den Wunſch der Fürſtin yon Benevent 
Adelberga. Die erften eilf Bücher wiederholen den Eutrop, in den 
folgenden fünf führt Paul die Gefchichte der Welt bis auf Kaifer 
Zuftinian fort. Weitere acht Bücher, die wir noch befiten, fol 
im vierzehnten Jahrhundert ein gewiffer Landulfus aus älteren 
Shronifen nachgetragen haben. Diefe Ergänzung reicht bis zum 
Jahr 806. Der Gewinn, den die Wiffenfchaft aus Paul's historia 
miscella ziehen kann, ift, weil das Werk faft nichts Eigenes ent: 
halt, fehr gering. Die Nachrichten über die Biſchöfe son Mes, 
welche Paul im Jahr 784 an Ort und Stelle abfaßte, find unter 
die kleineren Quellen des achten Jahrhunderts zu rechnen. Bei 
Weitem die verbienftlichfte Arbeit Paul's ift feine Gefchichte der 
Langobarden, denn ohne ihn hätten wir feine zufammenhängende 
Kenntniß von den Schidfalen dieſes Volks. Während feines Aufent- 
halts in Franfreich erhielt der Langobarde vom Könige Karl den 
Auftrag, aus den Schriften älterer Väter eine Sammlung yon 
Predigten zufammen zu tragen, welche zum öffentlichen Gebrauch 
in den Kirchen des Reichs dienen follte. Diefe Sammlung ift nod) 
vorhanden. %) Boran flieht eine Zuſchrift Karls an die frommen 
Lefer, worin er erklärt: um das Studium ber beinahe gänzlich ver: 
falfenen Wiffenfchaften wiederherzuftellen, und weil befonders beim 
nächtlichen Gottesdienfte fehr fehlerhafte Predigten gelefen würden, 
jey die Einführung einer beffern Arbeit nöthig geworden. Auf fei: 
nen Befehl habe Paul aus den fhönften Wiefen der Fatholifchen 
Bäter gleihfam einen Blumenfranz gewunden, d. h. die beften 
Predigten derfelben für den ganzen Verlauf des Jahres, einem 
jeden Fefltage angemeffen, in zwei Theilen zufammengetragen; und 
biefe Arbeit habe er (der König) geprüft, beftätigt, und für ben 
Dienft der Kirche hinausgegeben. 

Der italienifchen Provinz Friaul gehörte noch ein anderer Ge- 





?) Am beften abgedrudt bei Muratori script. rer. italic, Vol. I, a — 
2) Ibid. ©. 395 fl. — 9 Excerpta de primis Metensium episcopis bei 
Perz II. 260 fig, — *) Homiliarium. Oefter gedruckt im fechzehnten Jahr: 
hundert, Ueber die Heineren Schriften Paul's vergleiche man Fabricius 
bibliotheca latina med, et infim, Latinitatis, Vol, V., 210 fig. edit, Patav, 


35 * 


596 IT. Buch, Kapttel 9. 


Yehrter an, den Karl hervorzog. Paulinus um 730 geboren, Hatte 
fi) zu der Zeit, da Karl Italien eroberte, als Lehrer der fchönen 
Wiffenfchaften, oder, wie man damals fagte, ald Grammatifer, 
großen Ruf erworben. Kraft einer unter dem 17. Juni 776 zu 
Sorea ausgeftellten Urkunde ſchenkte ihm Karl ein Gut in Friauf, 
und erhob ihn noch in demfelben Jahre auf den erledigten Erz 
ftuhl von Aquilefa. Seitdem giengen die wichtigften Firchlichen und 
Staats:-Gefchäfte durch feine Hände, auf mehreren von Karl beru— 
fenen Synoden hat er entweder den Borfig geführt, oder doch eine 
bedeutende Rolle gefpielt. Wir werden ihn tiefer unten im Streite 
gegen Elipandus thätig finden. Paulinus farb 804, ') Ein vierter 
Staliener, den Karl ebenfalls aus dem großen Haufen herausfand, 
hat gleich den zuvor genannten, dem Könige nügliche Dienfte ge— 
Yeiftet. Theodulf, aus einer vornehmen italienischen Familie, gothi- 
fhen Urfprungs ftammend, und der befte Iateinifche Dichter feines 
Zeitalters, wurde yon dem Könige um 790 nach Frankreich be- 
rufen. Karl gab ihm um 794 das Bisthum Orleans, einige 
Sabre ſpäter fchenfte er ihm noch die Abtei Fleury. Theodulf, der 
fih die Errichtung von Schulen fehr angelegen feyn ließ, genoß 
bis zu des Kaifers Tod deffen Gunft;z aber 817 ward er in eine 
gegen Ludwig den Frommen gerichtete Verſchwörung verwidelt; 
und obgleich er jede Theilnahme beharrlich läugnete, fchuldig be— 
funden und feines Amts entfest. Er flarb im Jahre 821. 2) 

Dei Weiten die größte Bedeutung unter allen Gelehrten, bie 
Karl in fein Neich berief, errang ein Angelfachfe und Schüler 
Egbert's, des erſten Erzbifchofs yon York. Alkuin wurde um 735 
im Yorker Sprengel geboren. Schon in frühefter Jugend für den 
geiftlihen Stand beflimmt, wuchs er in dem Klofter zu York her: 
an; fpäter trat er in die Schule, welche Egbert dafelbft gegründet 
hatte, und in welcher der Erzbifchof felbft, neben einem Verwandten 
Namens Nelbert, Unterricht ertheilte. Diefe Yorfer Schule galt 
für die befte in ganz England. Der Berfaffer eines Alfuin zuge: 
fchriebenen Gedichts berichtet: ®) Aelbert habe Grammatik, Rhetorik, 
die Rechte, Dichtkunft, Sternfunde, Naturlehre und Erklärung ber 





1) Seine Werke find von Madrifiug, Venedig 1737 fol, herausgegeben 
worden. — 2) Ueber Theodulf vergleiche man die Unterfuhung Tiraboſchi's 
a. a. O. lib. IL, Kap. 2. $. 6. flg. Vol. IL, ©. 198 flg. — ?) Poema 
de pontific, Eboracens, Vers,, 1431 fig. Opp, ed, Froben II., 256, 


Die fräntifche Kirche vom Anfange des fiebenten Jahrhunderis ıc. 597 


Bibel vorgetragen. Ungefähr im zwanzigften Lebensjahre machte 
Alfuin — wie es feheint in Begleitung feines geliebten Lehrers 
Aelbert ) — eine Wallfahrt nah Nom, Nach feiner Rückkehr erhielt er 
neben Aelbert eine Lehrftelle an der Schule. , Im Jahre 766 ſtarb 
Egbert und hatte Aelbert zum Nachfolger, der fofort Alkuin zum 
Diafon weihte, und ihm die Leitung der Schule, fammt der Auf: 
ficht über die von Egbert gefammelte Bibliothef abtrat. Sn dem 
oben angeführten Gedicht ?) wird der Inhalt der Yorfer Bücher: 
ſammlung kurz befchrieben. Neben Iateinifhen und griechifchen 
Schriften, erfcheinen auch hebräifhe. Bon alten Griechen wird 
blos Ariftoteles angeführt, von byzantinischen Kirchenvätern dagegen 
Athanaſius, Baſilius, Chryfoftomus, Aus der Reihe vömifcher 
Glaffifer nennt der Berfaffer: Virgil, Statius, Lucanus, Cicero, 
Trogus Pompejus, Plinius, von fpätern Tateinifchen Vätern und 
Schriftſtellern Hieronymus, Hilarius, Ambrofius, Auguflinug, 
Drofius, Pabſt Leo I., Fulgentius, Caffiodor, Viktorinus, Boethius, 
Sedulius, Juvencus, Prosper, Arator, Paulinus, Laftantius und 
eine Neihe Grammatiker; von angelfächfifchen Gelehrten Beda und 
Aldhelm. Doc fügt er ausdrüdlich bei, daß er nicht alle Männer, 
beren Schriften in der Yorker Bibliothef zu finden feyen, namentlich 
aufführe. Mit Auszeichnung fand Alfuin der Schule vor. Sein 
Ruf war Ihon nach Gallien gedrungen, als ihn Karl der Große 
an feinen Hof zug. Nach dem im Nov. 780 erfolgten Tode Ael- 
bert's, wurde Eanbald, gleichfalls Zögling der Yorfer Schule, auf 
ben erledigten Stuhl erhoben. Um für den neuen Erzbifchof das 
Palltum an Peters Schwelle abzuholen, wanderte Alfuin im Jahre 
781 zum giweitenmale nach Nom. Auf diefer Reife traf er zu 
Parma mit dem Franfenfönige zufammen, ber den Winter in Rom 
zugebracht hatte, Karl machte dem Angelfachfen, deffen Ruhm feft 
begründet war, Anträge in feine Dienfte zu treten, und forderte ihn 
zu gleicher Zeit auf, noch andere Gelehrte der Yorker Schule mit fich 
zu bringen. Alkuin erklärte fi bereit, des Königs Wunſch zu er: 
füllen, aber nur unter der Bedingung, daß feine Vorgeſetzte ihre 
Einwilligung geben. Er fehrte hierauf nach York zurück, und erhielt 
bie nachgefuchte Erlaubniß des Erzbifhofs. Im Jahre 782 kam 
er an den franfifchen Hof, begleitet von mehreren Zöglingen, Die 





) Lorenz Alkuin's Leben ©, 10, — 2) Vers, 1535 fig: Opp. II., 257, 


598 II, Buch. Kapitel 9. 


er fich zu Gehülfen feines neuen Berufs erforen hatte, Unter den 
Yegtern waren Wizo, mit dem fpäteren Beinamen Candidus, Fre: 
degifus, (Nathanagel), Sigulf und Oſulf. Die drei erfigenannten 
blieben ihrem Lehrer treu und machten ihm Ehre, aber Oſulf ver: 
ſank, fortgeriffen von den Berderbniffen des Hofes, in Lafter und 
Schande. Noch find drei Briefe ) vorhanden, welche Alkuin an 
den unglüdlichen Jüngling fchrieb, um ihn zu retten: „warum haft 
du deinen Vater verlaffen, der dich von Kindheit an bildete, in 
freien Wiffenfchaften unterrichtete, in edlen Sitten erzog, mit ben 
Lehren des ewigen Heils nährte? Warum haft dur dich angefchloffen 
an die Gefellfehaften der Hurer, an die Gelage der Säufer, an 
die Thorheiten der Hoffärtigen. Einft von Jedermann geliebt und 
gelobt, bift du Allen ein Gegenftand der Verachtung geworben ?) u. ſ. w.“ 

Sn Franfreih angefommen, gründete Alfuin zunächft eine Hof: 
fehule, in welcher die Söhne wie die Töchter des Königs, und 
Sünglinge aus den erften Häufern des Reichs erzogen werben 
follten. Ausdrücklich bemerkt Einhard ?) in feinem Leben Karl's, 
daß Lezterer feinen Töchtern biefelbe gelehrte Erziehung geben ließ, 
wie den Söhnen. Ueber die Art und Weife des Unterrichts, ben 
Alkuin ertheilte, geben feine Schriften hinreichenden Aufichluß. Denn 
er hat über mehrere Fächer, die er vortrug, Schulfchriften verfaßt. 
Nach älteren Borgängen, theilte er alles menfchlihe Wiffen in drei 
Hauptzweige: Ethik, Phyſik und Theologie. Die erften beiden find 
die niedern Stufen, und dienen als Hilfsmittel für die Theologie, 
welche das eigentliche Endziel alles Studiums if. Ihrer Seits 
zerfallen hinwiederum Ethik und Phyſik in die fogenannten fieben 
freien Künfte: Grammatif, Rhetorik, Dialeftif, — das trivium — 
machen das Gebiet der Ethif aus; die Phyfif begreift in fi) das 
Quadrivium „der die vier Wiffenfchaften der Zahlenlehre, der Geo: 
metrie, der Zonfunft und Himmelsfunde, Sämmtliche Fächer bes 
Triviums hat Alfuin in noch vorhandenen Lehrblichern behandelt. 
Sn der Grammatif*) giebt er die nöthigften Regeln der Yateinifchen 
Sprache, als Anhang dazu entwidelt er die Grundfäse der Ortho— 
graphie, °) Alkuin's Buch über die Nhetorik, 9) welche Wiffenfchaft 





1) Epist, 157 — 59, Opp. I., 217 — 220. — 2) Ibid, ©. 218 unten. — 
3) Einhardus in vita Caroli cap. 19, Pertz IT,, 453 unten. — *) Opp. IL, 
265 flg. — °) De orthograpkia ibid, ©. 301 flg. — 9) De rhetorica et 
virtutibus ibid, ©, 5135 flg. 





Die fränfifche Kirche vom Anfange des fiebenten Jahrhunderts ꝛc. >99 


nach feiner Anficht die Kunft Iehren fol, Andere zu überzeugen, 
befchäftigt fih hauptſächlich mit der gerichtlichen Beredtfamfeit — 
der alten Nömer. Aus der alten Litteratur find auch die Beifpiele 
und Vorſchriften entlehntz alles ift beſtaubtes Schulwiſſen, das 
feine Beziehung zum damaligen Leben hat. Am Schluffe der Ab: 
handlung werden verfchiedene Begriffe der Tugend entwidelt. In 
dem Handbuche der Dinleftif !) giebt Alkuin, den ariftotelifchen 
Kategorien folgend, Negeln und Beifpiele für Bildung von Schlüſſen 
und Urtheilen. Zu den Theilen des Quadriviums hat Alfuin feine 
befondere Anleitungen gefchrieben. Wir wiffen aber, daß Karl 
bauptfächlich die aſtronomiſche Kenntniſſe Afuin’s in Anſpruch nahm. 
Denn der König hatte eine befondere Vorliebe für die Himmels: 
funde. ) Er legte dem Angelfadhfen manchmal Fragen vor, die 
diefer nicht zu beantworten vermochte, und braudte ihn zu Berz 
befferung des Kalenders. ?) Während feines erften Aufenthalts in 
Sranfreih bezog Alkuin die Einfünfte der beiden Abteien Ferrieres 
und bes heiligen Lupus zu Troyes, welche ihm der König zuge— 
wiefen hatte, ) 

Nicht blos um felbft zu lernen, oder feinen Kindern und den 
Söhnen der Großen eine forgfältige Erziehung zu geben, berief 
Karl die bisher genannten Gelehrten zu fi. Sein Studienplan 
umfaßte das ganze Reich; aber längere Borbereitungen waren 
nöthig, che die Hand and Werf gelegt werden fonnte, Der erfle 
Schritt geſchah im Jahre 788 mittelft eines Rundfchreibeng, das 
Karl an die Bifchöfe und Aebte feiner ausgedehnten Länder erließ. °) 
„Aus den an ihn einlaufenden Berichten“, heißt es hier, „habe er 
mit Mißfallen wahrgenommen, wie mangelhaft die Ausdrucksweiſe jey, 
er müfje daher bezweifeln, ob die Geiſtlichen den Sinn der Hl. 
Schrift recht verftünden.“ Um biefem Mangel abzuhelfen, befiehlt 
er daher, daß in jedem Klofter und an jeder Hauptkirche eine 
Schule errichtet werde, Das Schreiben ift in einem gebieteriſchen 
Tone abgefaßt, und fordert pünftlichen Gehorſam, der ihm ficher- 
lich nicht verweigert wurde. Wir erfahren 3. B. aus der Chronik 





1) De dialectica ibid. ©. 555. — ?) Einhardi vita Carol. cap. 25. Perz 
II., 456 unten. — 3) Man vergleiche die Briefe 67. 68. 70. in Alkuin's 
Sammlung. Opp. I., 90 fig. — *) Anonymi vita Bedae Cap. 6. dent erften 


Bande der Ausgabe von Froben vorangedruft S. LXIV. — 5) Abgedruckt bei 
Baluzius capitular, J., 201 fig, 


600 II. Buch. Kapitel 9. 


yon Fontenelle, 7) daß der Abt diefes Kloſters, Gerwold, fih be 
eiferte eine Singfchule einzurichten; „denn,“ fagt der Berichterflatter, 
„obwohl Gerwold in den übrigen Wiffenfchaften nur wenig bewan— 
dert war, fo Batte er doch eine ſchöne Stimme, und verftand fich 
auf die Kunft des Geſangs.“ Man fieht, er wollte dem Willen des 
Königs, fo weit es in feinen Kräften fand, nachkommen. Im 
Vebrigen erhellt aus der angeführten Urfunde deutlich, daß Karl 
zunächſt nur an Schulen zur Bildung von Geiſtlichen dachte. Aber 
fein Plan erweiterte fih mit der Zeit. Kaum kann bezweifelt 
werden, daß dem Geifte Karl's etwas wie unfere heutigen Hochfchufen 
vorſchwebte. Im Jahre 829 übergaben die auf der fechsten Synode 
yon Paris verfammelten Bifchöfe dem Nachfolger Karls, Ludwig 
dem Frommen, eine weitläufige Denffchrift, in welcher fih unter 
Anderem folgende Stelle ?) findet: „Auch erfuchen wir Eure Hoheit 
aufs Dringendfie, nah dem Borgange Eures VBaterg 
wenigftens an drei paſſenden Orten des Neichs unter Faiferlichem 
Schutze drei öffentliche Schulen zu errichten, damit nicht durch unfere 
Nachläßigkeit die Bemühungen eures Vaters für wiffenfchaftliche 
Bildung untergehen.“ Die Biſchöfe fügen bei: „dieſe Einrichtung 
werde der Kirche Gsttes zu Ehre und Nusen, dem Staate zum 
Bortheil, dem Kaifer felbft zum ewigen Ruhme gereichen.“ Einige 
Punkte find hier genau. ing Auge zu faffen. Erſtlich ift von öffent: 
Yihen Schulen die Rede, die unter Faiferlichem Schuge, und ohne 
Zweifel mit Unterftüßung aus dem Schage gegründet werden follen. 
Diefe Beftimmung bildet einen Gegenfas zu den Klofter: und 
Kathedralſchulen, weldhe im Namen der Kirche und auf ihre Koſten 
unterhalten wurden. Auch unterfcheidet die Denkſchrift ſelbſt fehr 
deutlich bifchöflihe oder Domſchulen von jenen drei öffentlichen; 
denn weiter oben ®) ſprechen die Väter von der Verpflichtung eines 
jeden Bifhofs, in feinem Sprengel Schulen zu halten, Zweitens 
geht aus den Worten der Denffchrift Elar hervor, daß wenigftens 
drei folcher öffentlichen Schulen unter Karl dem Großen beftanden 
hatten, aber feitdem eingegangen waren. Nun blühten aber in 
Ludwig's Tagen die Dom: oder Klofterfchulen zu Fuld, Lyon, 





1) Gesta abbatum Fontanellensium bei Perz II., 292 Mitte. — ?) Liber 
III., Cap. 12, bei Manft XIV., 599, — 3) Liber I., Cap. 30. ibid. 558 
unten, und 559 oben. 


Die fränkiſche Kirche vom Anfange des fiebenten Jahrhunderts ı. 601 


Orleans, Aheims, St. Gallen und an andern Orten fort: Man 
ſieht alfo abermals, daß unter den drei Öffentlichen Schulen ber 
Denffchrift umfaffendere, große Geldmittel erfordernde Lehranftalten, 
ähnlich unfern heutigen Univerfitäten, verflanden werden müſſen. 
Hierauf weist auch die Zahl drei hin. Allem Anfchein nad) war 
es die Abficht der Bifchöfe, daß für jeden der drei Hauptbeftand: 
theile des Franfenreihs: Gallien, Teutſchland, Italien eine hohe 
Schule errichtet werde. Aus einer andern Urkunde Tann man bar: 
thun, daß wenigſtens die Schule zu Tours, welcher Alfuin in ſpä⸗— 
teren Zeiten vorftand, eine Anftalt der eben angedeuteten Art 
gewefen if. Im Jahre 796 fehreibt !) nemlich der Angelfachfe an 
König Karl: „Eurer Ermahnung und Eurem Willen gemäß fuche 
ich in dem Haufe des heiligen Martinus Einigen den Honig ber 
heiligen Schriften zu reichen, Andere bemühe ich mich mit dem 
Yauteren Wein alter Gelehrfamfeit zu beraufchen, Andere nähre ich 
mit den Früchten grammatifcher Feinheit, Andere unterrichte ich im 
Laufe der Geftivne und der Ordnung des Himmels. Alfe ftrebe ich 
zum Nuben der heiligen Kirche Gottes, und zur Zierde 
Eurer föniglihen Regierung zu erziehen, bamit nicht des 
Allmächtigen Gunft gegen mich unverdient, noch Eure Freigebigfeit 
verſchwendet fey.“ Deutlich bezeichnet er als Zwed der Tourer 
Schule die wiffenfchaftlihe Ausbildung hoher Beamten der Kirche 
und des Staats, Auch) bittet er gleich in den nächften Sägen, daß 
ber König ihm behüflich feyn möchte, eine veiche Bibliothek für feine 
Lehranftalt zufammenzubringen. Und wir wiffen, daß um jene 
Zeit eine Gefandtfchaft nach England abgieng, welche beauftragt 
war, bort befindliche Handfchriften zu Faufen, oder abfchreiben zu 
lafien. Auch aus Stalien und andern Ländern wurden Bücher 
mit großen Koften herbeigefchafft. Selbſt nach Conftantinopel war 
bie Kunde gebrungen, daß der fränfifhe Hof großen Werth auf 
gute Handſchriften lege. Ohne Zweifel hat Kaifer Michael der 
Stammler diefen Geſchmack bericfichtigt, als er Ludwig dem From 
men eine prachtvolle Handfehrift der Werfe des Areopagiten Dies 
nyfius zum Gefchenfe machte. Neben Alkuin's Stiftung zu Tours, 
nahm erweislich ?) die fogenannte Hofſchule Cschola palatina ) 
den Rang einer öffentlihen kaiſerlich en Tehranftalt ein. 


1) Epist. 38, Opp. I., 53. — ?) Dan vergl. Joh. Launoy de scholis 
celebrioribus in deſſen Werfen IV., a. ©. 10, 





602 II. Bud. Kapitel 9. 


Die zweite, und um eine Stufe nieberere, Claffe der auf Karl's 
Befehl gegründeten Anftalten beftand aus den ſchon erwähnten 
Kloſter- und Domfchulen, die auf Koften der Kirche unterhalten 
wurden, und vorzugsweiſe zur Bildung yon Elerifern dienten. Der 
Achener Neihstag vom Jahre 789 fchreibt vor, 1) daß in den Dom: 
und Klofterfchulen Palmen, Noten, Gefang, Rechenfunft und Gram⸗ 
matif gelehrt werben follen. Eine Mafje Anftalten der Art müfjen 
während Karls Regierung eniftanden feyn. Wir glauben zwar 
gerne, daß die Befehle des Königs nicht buchftäblich genau befolgt 
wurden. Ueberall nehmen fich die Dinge auf dem Pergament oder 
in Negierungsvorfhriften viel glatter und fchöner aus, als in ber 
Wirklichkeit. Gleichwohl ift gewiß, daß Karl mit großem Nachdruck 
die Vollſtreckung feines Willens in Bezug auf die Domſchulen 
überwachte. Im Jahre 798 fandte er den Hofbeamten Leidrad 
und den Bifchof Theodulf von Orleans, als Kammerboten (missi 
regii) aus, um den Zuftand der Provinzen des füdlichen Galliens 
zu unterfuchen. Es handelte ſich bei diefer Sendung hauptſächlich 
um den öffentlichen Unterricht. Leidrad ein geborener Baier, den 
Karl wegen feiner gelehrten Kenntniffe hervorgezogen, und bis dahin 
in Staatsdienften verwendet hatte, wurde im folgenden Jahre zum 
Erzbifchof yon Lyon ernannt, und entwicelte als folder große 
Thätigfeit, um bie in feinem Sprengel unter früherer Berwaltung 
tief verfallene Zucht wieder herzuftellen. Er baute Klöfter und er: 
richtete mehrere Schulen. ?) Am lauteften zeugt aber für die aus: 
gebehnte und trefflihe Wirfung der unter Karl errichteten höhern 
Bildungsanftalten der Nachwuchs von Geiftlichen, welche der Kaifer 
bei feinem Tode dem Neiche hinterließ. Unter dem unfähigen Nach— 
folger Karls, Ludwig dem Frommen, zierte eine Reihe der ausge: 
zeichnetften Bifchöfe die Stühle und Abteien Frankreichs. Diefe 
Männer hatten in Karls Tagen ihre, Bildung empfangen, fie 
waren feine geiftige Schöpfung. Folglich müffen die von Karl 
gegründeten Schulen wirkffam gewefen feyn, fie haben ihre Früchte 
getragen. Der hohe Schwung, welcher Karls Negierung eigen ift, 
theilte fih, wie dem ganzen Bolfe, fo auch dem Clerus mit, und 





i) Cap. 70. Baluzius I., 237. — ?) 2eidrad erftattet hierüber Bericht in 
einem noch vorhandenen Briefe an den Kaifer, Agobardi opera ed, Baluzius 
Vol, IL, 125 fig. 


Die fränfifche Kirche vom Anfange des fiebenten Jahrhunderts ꝛc. 603 


309 eine Maffe gelehrter Aebte und Biſchöfe groß, dergleichen man 
in andern Epochen des Mittelalters nicht findet. 

Eine befondere Abtheilung der Lehranftalten zur Bildung bes 
Clerus machten die Singfhulen aus; der ‚Kirchengefang war in 
Gallien während den legten Zeiten der Merowinger verfallen. Karl 
führte den römifchen ein, und erbat fich zu dieſem Zwed vom Pabfte 
Adrian eine Abfchrift von dem Saframentarium Gregor’s des 
Großen !) und einige tüchtige Singlehrer. Den Anlaß dazu er: 
zählt ein fränfifcher Chronift 2) folgendermaßen: als Karl im Jahr 
787 in Nom weilte, brach ein Streit zwifchen den fränkischen und 
den yäbftlichen Sängern aus. Der König entfchied zu Gunften 
der Lestern, und erfuchte den Pabft, ihm einige erprobte Singlehrer 
mit nach Franfreih zu geben. Hadrian erfor zu dieſem Zwecke 
zwei Römer, die in der Gregorianifchen Singfunft trefflih bewan- 
dert waren, Theodor und Benedikt. Beide famen nach Frankreich, 
wo Karl fie zu Gründung von zwei Gingfchulen verwendete. Die 
eine wurde in Soißons, die andere in Me errichtet. Der Mond) 
son St. Gallen, welcher zu Ende des neunten Jahrhunderts aller: 
Yet Erzählungen über Karl den Großen zufammengetragen bat, 
verfichert, ?) noch in feiner Zeit nenne man den Kirchengefang zu 
Ehren der Metzer Gefangfchule auf Teutſch „Mette“: ein Ausdrud, 
der ſich bis heute erhalten bat. 

Noch eine Stufe tiefer erfirecite fih der Plan des Königs, 
Karl dachte daran, auch Volksſchulen zu errichten. Doch bei ber 
Ausführung traten ihm große GSchwierigfeiten entgegen, weil 
es dem niederen Clerus, deffen Dienfte er anrufen mußte, an Kennt- 
niffen gebrach. Karl that wenigftens, was möglich war. In einer 
noch erhaltenen Kirchenorbnung, welche der Bifchof Theodulf von 
Orleans, Karl's früher erwähnter eifriger Gehülfe, für die Geiftlich- 
feit feines Sprengels entwarf, beißt es 9) unter Anderem: „bie 
Pfarrer find verbunden in den Dürfern und Weilern Schule zu 
halten, und wenn bie Gläubigen ihnen ihre Kinder zufchicen, follen 
fie diefelben unverweigerlich aufnehmen, und mit der größten Liebe 
behandeln. — Auch dürfen fie fein Schulgeld verlangen, ausge: 





i) Cod, Carol. epist. 98. Cenni J., 525. — ?) Monachus Egolismensis 
ad annum 787. Perz I,, 171. — 3) Gesta Caroli J., 10, bei Perz II., 735 
unten. — 9 ——*ã ad parochiae suae — * 20. Manſi Xu, 
998 unten, 999 oben. . 


604 IM. Buch. Kapitel 9. 


nommen Geſchenke, welche die Eitern freiwillig fyenden.“ Man 
fönnte ſich verfucht fühlen zu glauben, daß ſolche Pfarrfchulen nur 
im Sprengel yon Orleans beftanden, und dem befondern Eifer 
Theodulf's ihren Urfprung verdanften. Allein auch in andern 
Gegenden finden fih Spuren derfelben Einrichtung. Die Mainzer 
Synode vom Jahr S13 verpflichtet die Landgeiftlichfeit alle Gläu— 
bige anzuhalten, daß fie das Bekenntniß und das Gebet des Herrn 
(auf Yateinifch) auswendig herfagen fünnen. Weiter verordnet fie: ) 
„die Leute aus dem Bolfe follen ihre Kinder entweder in bie 
Kiofterfhulen oder draußen (auf dem Lande) zu den Pfarrern 
fchiefen, damit die Kleinen dort lernen. Wer nichts anderes könne, 
müffe den Glauben und das Bater Unfer wenigftens teutfch wifjen.“ 
Hier wird von den Pfarrſchulen fo gefprochen, als ob fie in allen 
Dörfern des Neichs eingeführt feyen. Noch im Jahre 858 befiehlt ?) 
ein Gapitular des Tourer Erzbifchofs den Pfarrern nad Möglich: 
feit Schule zu halten. Die Sorge Karls und feiner nächften 
Nachfolger für Erziehung des Volks gab ohne Zweifel Anlaß, daß 
im Laufe des neunten Jahrhunderts eine Reihe geiftlicher Schriften, 
wie Kirchenlieber, Bearbeitungen biblifher Stoffe, in teutfher Sprache 
erfchienen, von denen mehrere erſt neuerdings ans Tageslicht ges 
zogen worden find. ?) Deutlich fieht man, daß der Franfenfönig 
feine Nation auf dieſelbe Stufe von Bildung zu erheben wünfchte, 
welche einft unter den alten Kaifern das römifche Volk beſeſſen 
hatte, und die Griechen damals zum Theil noch befaßen. 
Blicken wir nun zurüd: die bisher angeführten Einrichtungen 
und Gefese mußten der großen Maffe höherer Glerifer, Die er 
bei feinem Negierungsantritt im Befise der gallifhen Stühle traf, 
jenen ftolzen und unbotmäßigen Adeligen, wie eine unerträgliche Laft 
erfeheinen. Die Biſchöfe follten fih von Nun an einer firengen 
Zucht fügen, fie follten nicht nur felbft fehr Vieles lernen, fondern 
auch für den Interricht der nachwachfenden Geiftlihen, wie des 
ganzen Bolfes, Sorgetragen und Koften aufwenden, Karl erfannte 
vet gut die Nothwendigfeit ſolche Bürden durch neue Nechte zu 
verfüßen. Seine Anforderungen an den Clerus waren ber Preis, 
um welchen er biefem Stande eine glänzende Stellung anwies. 





') Can. 45. Manfi XIV., 74. — 2) Baluzius Capitularia I., 1286, 
Can. 17. — 3) Man vergl. Giefeler 8. ©, IL, a. ©, 74. Note y und z. 


Die fränkiſche Kirche vom Anfange des fiebenten Jahrhunderts ıc. 605 


Karl wollte durch den Clerus herrichen, er gab daher den Bifchöfen 
einen böchft bedeutenden Antheil an der Negierung. Vorerſt be: 
freite er die Mitglieder der Cleriſei von aller weltlichen Gerichte: 
barfeit. Der Aachener Neichstag vom Jahre 789 verordnet: ) 
„Cleriker aller Grade dürfen wegen peinlicher Sachen nur vor geift: 
lichen Gerichten (den Bifchöfen) belangt werben, nicht vor welt: 
lichen.“ Ergänzt wurde dieſe Vorſchrift durch folgendes Gefes ?) 
der Frankfurter Berfammlung: „Wenn ein Streit (über Mein und 
Dein) zwifchen einem Clerifer und Laien ausbricht, fo follen der 
Graf und der Biſchof des Bezirks zufammentreten, und gemein- 
Thaftlich entfcheiden.“ ?) Klagen gegen Bifchöfe mußten, wie früher 
gezeigt worden, vor den Metropoliten und feine Synode, oder im 
Fall diefe nicht ausreichten, vor den Reichstag und den König 
gebracht werden. Fürs Zweite räumte Karl dem geiftlichen Recht 
namentlih in Ehefachen großen Einfluß auf das bürgerliche Leben 
ein. Schon Pipin hatte die päbſtliche Lehre von verbotenen Ver— 
wanbtfchaftsgraden angenommen. +) Karl gab in gleichem Sinne 
mehrere Berordnungen. >) Fürs Dritte übertrug er den Biſchöfen 
den wichtigften Theil des peinlichen Gerichtsweſens vermittelft der 
jährlihen Senden. Das zweite Capitular vom Jahr 813 ver- 
fügt: ©) „(alljährlich) follen die Kirchenhäupter ihre Sprengel bereifen 
und Unterfuhung anftellen wegen Blutfehande, Vater: und Bruder: 
mord, Ehebruch, Keserei und anderer Sünden, welche Gott belei: 
digen.“ Die Synode zu Arles vom nemlichen Jahre ermächtigte 7) 
zugleich die Bilchöfe, während der jährlichen Sende nachzuforfchen, 
ob die Grafen und Richter nicht das Recht gebeugt, und Arme 
unterdrückt hätten. Im Falle ſolche Frevel vorgefommen, follten 
fie die Schuldigen warnen, und wenn bieß Nichts nüse, an ben 
Kaifer berichten. Auch wurde die Sorge für Treue und Neblichfeit 
im täglichen Handel und Wandel, namentlich die Aufficht über 
richtiges Man und Gewicht, bifchöflicher Obhut anvertraut. 8) 

N) Cap. 37, Baluziug I., 227.— 2) Can. 28, ibid. I., 268, — 3) Etwas 
anders ift die Einrichtung Karl's für Italien. Ibid. I., 355. can, 39. — 
*) Reichstag von 752. cap. 1-3. Baluzius J., 161 fl. — °) Capitulare 
son 798. can. 46. ibid. I., 292. und Capitulare vom Jahre 789. cap. 66, 
ibid. J., 236. Capit, vom Jahr 779. Can, 5, ibid. I., 196, — 6) Cap. L., 
Baluzius I., 507; ein älteres Gefeß über die Sende von 769. Cap, 7, ibid, 
I., 191. — ) Can. 17, Manfi XIV., ©, 64, — °) Ibid, can, 15. Man 
vergl, Baluzius J., 508, cap. 13, 





606 I. Buch. Kapitel 9. 


Wir haben oben gezeigt, 7) daß ſchon Pipin das gleiche Necht den 
Häuptern des Klerus übertragen hatte. Durch diefe und ähnliche 
Verordnungen erhielten die Bifchöfe einen ungeheuren Einfluß. 
Karl gieng noch weiter. Er legte in ihre Hände die Hälfte ber 
ganzen Staatsverwaltung nieder. Nach altem germanifchen Brauch) 
waren bie Grafen und ihre Untergebene (Schultheiffen und Hun- 
berter), die einzigen Beamten des Staats, und gleichfam die Hände, 
durch welche der König herrſchte. Karl traf hierin eine wichtige 
Neuerung; er gab das Gefes, daß der Graf nichts thun dürfe, 
ohne den Biſchof, aber auch anderer Seits, daß der Biſchof Feinen 
Antheil an weltlichen Gefchäften haben folle, ohne den Grafen. Das 
vierte Sapitular vom Jahre 806 fpricht den Grundfag 2) aus: „der 
Biſchof ftehe mit dem Grafen, und der Graf mit dem Bifchof zu: 
fammen, damit jeder yon ihnen fein Amt vollfommen verrichten 
möge.“ Man fönnte immerhin über den Sinn diefer Worte firei: 
ten, aber eine andere Stelle giebt deutlichen Auffchlug. Im erften 
Gapitular vom Jahre 813 heißt ?) es: „die Grafen und die Richter 
feyen, glei) dem Volke, dem Bifchofe gehorfam, und Beide, bie 
Grafen und Biſchöfe, follen gemeinfchaftlich Necht ſprechen.“ Das 
heißt, die Grafen find für den wichtigften Theil des ihnen zugewie- 
jenen. Gefchäftsfreifes, nemlich im Nichteramt, an die Mitwirkung 
der Bilhöfe gebunden. Das Gleihe fand aber auch umgekehrt 
ftatt. Nachdem ein früher angeführtes Capitular *) beflimmt hat, 
daß den Bifchöfen die Gerichtsbarkeit über den niedern Clerus ihres 
Sprengels zuftehe, fährt der Text fo fort: „auch die Grafen follen 
zum Gerichte der Bifchöfe fommen.“ Der Say ift bunfel ausge: 
drückt, aber ich kann darin nichts Anderes fehen als eine Borfchrift, 
daß die Bilchöfe ihrem Klerus nur in Anwefenheit des betreffenden 
Grafen Recht fprechen dürfen, was ohnebieß in den eben ange- 
führten allgemeinen Verordnungen liegt. Diefelbe Negel befolgte 
Karl auch bei Ausfendung der Kammerboten, welche mit biftatori- 
fcher Vollmacht, als Stellvertreter des Königs, die einzelnen Zweige 
ber Staatöverwaltung prüften, und vielleicht die eigenthümlichfte und 
fchönfte Schöpfung feines hoben Geiftes waren. Gewöhnlich wurden 





1) ©, 526. — ?) Cap. 4. Baluzius J., 450 zu unterfl. — °) Cap. X., 
Baluzius I., 503. comites et judices obedientes sint episcopo et in vicem 
consentiant 1 Justitias faciendas, — +) Vom Jahr 794, —* 4. Baluzius L, 
264 unten. 





Die fränkifche Kirche som Anfange des fiebenten Jahrhunderts ic. 607 


je zwei, ber eine aus dem Stande der Grafen, ber andere dem 
hohen Clerus angehörig, in die Provinzen beordert. So knüpfte 
Karls Staatsflugheit Menfchen von entgegengefegter Erziehung und 
widerftrebender Lebensrichtung aneinander, und zwang fie gemein: 
ſchaftlich für öffentliche Zwede zu wirken. Dan würde, glauben 
wir, dem Berftande des Königs, wie feinem Herzen, Unrecht thun, 
wenn man vorausfegen wollte, feine Abficht fey geweſen, daß dieſe 
Doppelgänger nicht eiferfüchtig aufeinander feyn folten. Denn je 
fchroffer fie fich entgegenftanden, je argwöhnifcher fie einander be: 
wachten, deſto ficherer war das Bolf vor Gewaltthat und Erxpref: 
fungen, den gewöhnlichen Folgen des Einverftändniffes der hohen 
Staatsbeamten. Allein es Fam zwifchen den Grafen und dem 
Clerus zu den bitterften Zerwürfniffen, weldje den König ſchwer 
beunrubigten. Zum Beweife will ich mich nicht auf bie in den 
Gefegen Kars fo häufig wiederholte Ermahnung, ) daß Biſchöfe 
und Grafen einträchtig miteinander leben follen, fondern auf eine 
höchſt merkwürdige Urkunde berufen, die in den Capitularen eine 
Stelle gefunden hat. Wir meinen die Fragen, welche der Kaifer 
fih aufgezeichnet Hatte, um fie zu geeigneter Zeit dem Neichstage 
sorzulegen. Hier heißt e8 unter Anderem: 2) „auch wäre zu er: 
forfchen, wie und an melden Drten Geiftliche die Amtsführung der 
Laien, und umgefehrt Laien den Gefchäftsfreis der Geiftlihen hin- 
bern; gleicherweife, wiefern ein Biſchof oder Abt fich in weltliche, 
und umgefehrt ein Weltlicher fich in geiftliche Angelegenheiten mijchen 
dürfe, und was ber Ausfpruch des Aypoftels bedeute 2. Tim. IL, 4., 
fein Streiter Gottes 3) laſſe fih in weltliche Gefhäfte ein.“ Eine 
Löſung der Frage findet fih in den Capitularien nicht, wahrfchein: 
lich weil fie unmöglich war; die Stellung, welche Karl den Biſchöfen 
anwies, hatte allerdings ihre eigenthümlichen Gefahren. 

Früher ift gezeigt worden, daß ſchon Chlodwig und bie erften 
Merowinger den hohen Clerus zu den Reichsverfammlungen zogen. 
Diefe Einrihtung, die er vorfand, behielt Karl nicht blog bei, fon= 
bern er gab auch den Biſchöfen das Uebergewicht auf den Land- 
tagen, und vollendete dadurch dag ſtolze Gebäude ihrer politischen 





) Wie im Capitulare vom Jahr 789. cap. 60. Baluz. I., 233 unten, 
und 254 oben. Capitul. vom Jahr 801, $. 35. ibid. I., 354. — 2) Capitu- 
lare primum vom Jahr 811. Cap. 4. Baluzius I., 477, — 3) Nash der vul= 
gata: nemo militans Deo, implicat se negotiis secularibus, 


608 | 11. Buch. Kapitel 9. 


Macht. Daher kommt es, daß die auf uns gefommenen Verhand⸗ 
Yungen (Sapitulare) der Reichstage, welche unter Karl gehalten wur: 
den, einen vorherrſchend theologiſchen Charakter tragen. Die 
weltlichen Gefege verfhwimmen beinahe unter der Maſſe canonifcher 
Borfhriften, geiftlicher Ermahnungen, und felbft dogmatifcher Säge. 
Gegen das Ende feiner Regierung ſcheint ihn jedoch die Eiferſucht 
der weltlichen Großen genöthigt zu haben, eine Aenderung in dieſem 
Punkte zu treffen. Das erſte Capitular vom Jahr 811 beginnt 
mit den Worten: ) „wir wollen die Bifchöfe und Aebte von unfern 
Grafen trennen, und jene ind Beſondere anreden.“ Auf einem 
Reichstage zu Mainz, der zwei Jahre fpäter (813) flattfand, wurde 
die Trennung wirklich durchgeführt, wie man aus der Borrede zu 
den Aften erfieht. Hier berichten 2) nemlich die drei Erzbifchöfe, 
welchen der Vorſitz Übertragen war, wie alle Anweſenden erft ge: 
meinfchaftlih den Gottesdienft angehört, dann aber fi in drei 
Bänke (turmas) alfo abgefondert hätten, daß bie erfte aus ben 
Bifchöfen, die zweite aus den Achten, bie dritte aus den Laien, 
d. 5. Richtern und Grafen beftand. „Während die Bifchöfe,“ heißt 
es weiter, „über dag Wohl der Kirche, die Aebte tiber Klofterange- 
legenheiten beratbichlagten, hätten ſich die Laien mit weltlichen Hän— 
dein, Geſetzen, Ausübung der Gerechtigkeit bejchäftigt.“ Die hinge- 
worfenen Worte des Gapitulars vom Jahr 811 find alſo nicht 
zufällig, fie hatten einen tiefern Sinn, fofern fie den Keim einer 
neuen Ordnung der Neichstage enthalten, welche unter Ludwig dem 
Frommen eine fefte Geftalt befam. °) 

Nachdem Karl die Bilchöfe feines Reichs fo hoch geſtellt hatte, 
mußte er nothwendig die Ernennung derſelben ſich ſelbſt vorbe— 
halten, denn ſonſt wäre er nicht Herr in ſeinem Reiche geblieben. 
Gleichwohl gab er dem Bolfe" und dem Clerus die alte Wahlfrei— 
heit zurüd, doch nur zum Scheine, oder wenigftens in fehr 
befehränftem Umfange. Der zweite Schluß des Aachener Neichstags 
vom Sahr 803 befagt: *) „eingedenf der heiligen Canones haben 
wir der Geiftlichfeit die Bitte bewilligt, daß die Bifchöfe durch die 
Stimme des Volks und des Clerus, ohne Anfehen der Perfon, und 





1) Baluzius I., 477. — 9 Manfi XIV., 64. 65: — %) Man vergl. den 
- Brief Hinemar's von Rheims ad proceres regni de ordine Palatii, $. 55. 
Hincmari opp, ed, Sirmond II., 214, — *) Baluzius I, 379, 


\ 


> 


Die fräntifche Kirche vom Anfange des fiebenten Jahrhunderts ꝛc. 609 


ohne Beftehung, nur nad Verdienft, erforen werden follen.“ Allein 
die freie Wahl war an die Bedingung gebunden, daß der Erforne 
dem Könige gefalle, und von ihm gebilligt werde. In feinen ges 
heimen Berbandlungen mit dem Pabfte Hatte fih Karl, wie wir 
oben gezeigt, T) diefes Recht ausdrücklich zufichern Yaffen. Mit den 
freien Wahlen verhielt es fi) daher, wie heute noch in den mehr: 
fien Ländern, wo die Domfapitel zwar vor dem Abflimmen dag 
Gebet an den hl. Geift fingen, aber ihre Erleuchtung befanntlich 
vom Hofe empfangen. Gröfere Bedeutung erhielt der Wahlaft 
unter Ludwig dem Frommen und den fpätern Karolingern, dennoch 
erfennt der firenge Hierarch Hinemar yon Nheims an, daß bie 
Wähler ihre Augen auf einen’ folchen Bewerber zu werfen hätten, 
„der dem Neiche nüßlich, dem Könige aber treu und ergeben fey.“?) 
Mit kleinem Umfchweife führte die Wahl zu demfelben Ziel, das die 
Könige durch unmittelbare Ernennung der Bifchöfe geraden Wegs 
erreicht hätten. Ueberdieß gaben fi die fpätern Karolinger in 
vielen Fällen nicht einmal die Mühe, ihre Gewalt über die Kirche 
auf die befchriebene Weife zu verhüllen. Häufig wurden erledigte 
Stühle einfach durch das Wort des Hofs befekt. *) 

Wenn nun auch die Wahlfreiheit mehr Echein als Wahrheit 
war, fo hat dagegen Karl dem Clerus, außer den früher ange— 
führten, noch ein anderes Recht von ungeheurem Werth einge- 
räumt. Der Gefesgeber der Juden befiehlt bekanntlich, daß das 
Bolf Gottes dem Priefterflande, oder den Leviten, den zehnten Theil 
son allen Erträgniffen des Jahrs entrichten folle. Seit die chriſt— 
liche Cleriſei anfieng, fih als Nachfolgerin und Erbin des alttefta- 
mentlihen Prieftertfums zu betrachten, hat fie auch den Verſuch 
gemacht, die Laien an Erlegung des Zehnten zu gewöhnen. Eine 
bieher bezüglihe Stelle aus den Schriften Cyprian's iſt im erften 
Bande vorliegenden Werks angeführt worden. %) In gleichem 
Sinne haben fich über diefe Frage Drigenes, Ambroſius, CAfartus 
von Arles, Chryfoftomus ausgefprocden. ?) Aber alle Ermahnungen 
fruchteten Nichts, denn im römiſchen Neiche wurden die Zehnten 
als Steuer an den Staat bezahlt , der das angefonnene ungeheure 





1) ©, 582. — 2) Epist, XII., ad Ludovicum III, Opp. ed. Sirmond II, 
189. — 9) Man fehe Baluzii Capitul. IL, 1141. — 91.8. ©, 545. — 
5) Man findet die Stellen gefammelt in Seldeni opp, III., b. ©, 1095 flg. 

Gfroͤrer, Kircheng. II, 39 


“ 


610 I. Buch. Kapitel 9. 


Opfer nicht bringen konnte. Immer wieder fam der Clerus auf 
feinen Lieblingswunfch zurüd, Unter der Regierung des merowin: 
giſchen Königs Charibert, im Jahre 567, verfuchten es die gallifchen 
Biſchöfe auf der Synode zu Tours mittelft einer fehr eindringlichen 
und rührenden Zufchrift, D die fie an ihre Gemeinden erließen, das 
chriſtliche Volk zu Abtragung der Zehnten zu bewegen. Sie müffen 
jedoch abermal tauben Ohren gepredigt haben. Denn achtzehn 
Sabre fpäter unternahm es eine Synode zu Macon (585), durch 
Anwendung geiftlicher Waffen den fehnlich erſtrebten Zweck zu er: 
zwingen. Der fünfte Canon ?) dieſer Kirchenverfammlung lautet 
fo: „Wir würden ung felbft Unrecht thun, wenn wir eingeriffene 
Mißbräuche länger duldeten. Die - göttlichen Geſetze fehreiben vor, 
daß die Laien ihren Prieſtern jährlih den Zehnten des Ertrags 
der Früchte abliefern follen. Lange hat die Chriftenheit den Befehl 
Gottes getreulih erfüllt; erſt in unferer Zeit find’ die Gläubigen 
Uebertreter geworben, indem fie ſich weigern, die vom Höchſten ge: 
ordnete Abgabe zu leiſten. Wir befchließgen daher, daß der alte 
Drau wieder hergeftellt, und die Jehnten unverweigerlich entrichtet 
werden, damit die Priejter mit dem Ertrage die Armen verforgen, 
auch Gefangene Iosfaufen, und ungehindert ihrem Berufe leben 
Tönnen. Wer unferem Befchluffe ſich widerfegt, wird von der 
Kirchengemeinſchaft ausgefchloffen.“ Die Drohungen nüsten fo 
wenig, als früher die Bitten. Im Laufe des fiebenten Jahrhun: 
derts hatten die Bifchöfe nicht einmal den Muth, die Sade von 
Neuem zur Sprade zu bringen. Noch weniger fonnte yon einer 
jolden Erwerbung unter den erften Karolingern die Rede feyn, wo 
die Kirche, wie wir gezeigt, flatt Fortfchritte zu machen, faft ihr 
ganzes DBermögen verlor. Aber nachdem Bonifacius begonnen 
hatte, bie alte Zucht wieberherzuftellen, nahmen die fränfifchen Bifchöfe 
aud ihren alten Plan in Betreff des Zehnten von Neuem auf. 
Es muß ihnen gelungen feyn, Pipin den Kleinen zu gewinnen. 
Denn im Jahre 764 fchreibt derfelbe an den Erzbifchof Lull von 
Mainz einen Brief, ®) der mit den Worten fehließt: „triff Anord: 
nung, daß Jedermann, gutwillig oder gezwungen, den 

Zehnten bezahle.“ Doc wagte Pipin nicht, diefe Leiftung zum 





9 Manfi IX., ©. 809, — ) Manfi IX., ©, 951 flg. — °) Baluzius 
J,, 185 unten, 


Die fränkiſche Kirche vom Anfange des fiebenten Jahrhunderts ꝛc. 611 


Neichsgefeg zu erheben. Lebteres blieb feinem Nachfolger Karl vor: 
behalten. Indeß wurde unter Pipin die Sache wenigfteng vorbe- 
reitet. Allem Anfchein nach hat eine Maßregel, welche die Synode - 
von Liptinä (743) bdurchfeßte, den Weg zu glüdlicher Erreichung 
des fo Tange und fo beharrlich verfolgten Zieles gebahnt. Früher 
berichteten wir, ') daß bie ebengenannte Kirchenverfammlung dem 
Staatsoberhaupte das Necht ertheilte, in Kriegszeiten auch ferner 
Kirchengüter an Soldaten zu vergaben; aber an diefes Zugeſtändniß 
wurden Bedingungen gefnüpft, welche wir weniger aus ben fehr 
unvollftändigen Synodalaften, als aus einem Briefe ?) der fränki— 
fhen Bischöfe an Ludwig den Teutfhen vom Jahre 858 fennen. 
Die Brieffteller erzählen hier: „aus den Verhandlungen der Synode 
von Liptinä, die vor ihnen liegen, erhelle, daß damals befchloffen 
worden fey, von den an Soldaten des Königs vergabten geiftlichen 
Befigungen folle alljährlich) der neunte und zehnte Theil des Er: 
trags ſammt zwölf Denaren auf jede Bauernwirtbfchaft, der 
Kirche, welcher das Gut urfprünglicd) gehörte, abgetragen werben.“ 
Das heißt, die hörige Bauerfchaft der Kirchengüter mußte außer 
dem Pachte an die vom Fürften ernannten Lehenträger, auch noch 
eine Steuer für den Clerus übernehmen. Gewöhnlich gab man in 
jenen Zeiten Pachtgüter an Bauern für die Hälfte des Ertrags ?) 
aus. Bon zehen Garben erhielt daher nunmehr die Kirche, als 
urfprüngliche Befigerin, zwei; eine weitere etwa, gieng durch De: 
zahlung der zwölf Schillinge für jede Feuerftelle auf; die fieben 
übrigen wurden zwifchen dem Grundholden und dem Lehensmanne 
getheilt. Der Clerus befaß von Nun an Zehnten, doch freilich nur 
als nothdürftigen Erfag für eigene Güter, welche ihm ein Spruch 
des Könige entzogen hatte. Allein da die Maſſe folder erzwun— 
genen Lehen fehr groß war, fo ließ ſich von diefen Scheinzehnten 
aus mit einiger Gewandtheit die Erorberung des wahren und all: 
gemeinen Zehnten machen. In der That feheint die Sade den 
eben bezeichneten Gang genommen zu haben. Ich berufe mich auf 
folgenden Umftand: Karl ift es, der neben fo vielen andern Rech— 
ten, der Geiftfichfeit auch den allgemeinen Zehnten von ſämmtlichen 





1) ©. 511. — 2) Abgedruckt bei Baluzius Capitul. II., 109. — ?) Man 
vergl. 3. B. Capitul, liber I, 157 bei Baluzius J., 732; oder Du Cange im 
Gloßar zu dem Worte Medietarii, 

39 * 


612 5 Buch. Kapitel 9. 


Landgütern des Reichs zugeſprochen hat. Auf demfelben Neiche: 
tage nun, wo er biefe wichtige Neuerung zuerſt einführte, beftätigte er 
zugleich das von feinem Vater auf der Synode zu Liptina erlaffene 
Geſetz, betreffend die Entfchädigung für Kirchengüter, die an Laien zur 
Nusnießigung vergabt worden. Der 13te Artikel des Capitulars vom 
Sabre 779 verordnet: ) „Bon den an Laien verliehenen Befisungen 
des Clerus, welche bis jest einen Zins (zwölf Schillinge auf die 
Teuerftelle) Teifteten, fol in Zukunft der Zehnte und der Neunte 
fammt dem Zins (an die Kirche) geleiftet werden. Die gleiche Laft 
trifft auch die Lehengüter derfelben Claſſe, die bisher den Zins nicht 
entrichtet haben. Wo Lehenbriefe (precariae d. i. Urfunden, welche 
der Kirhe als der urfprünglichen Befizerin bie jährliche Exlegung 
der eben befchriebenen Abgabe zufichern) vorhanden find, follen die: 
felben erneuert werden, und wo feine vorliegen, foll man fie ab: 
faffen. Es foll aber ein Unterfchied feyn zwifchen den Lehenver: 
gabungen, die auf unfern Befehl gefchehen, und zwifchen denen, 
welche die Kirchen aus eigenem Antriebe ertheilen.“ Das heißt, der 
König behielt fih das Recht vor, auch ferner geiftliche Güter unter 
den durch das Geſetz beftimmten Leiftungen an Yaien auszulehnen, 
erlaubte aber dagegen dem Clerus ähnliche Verträge unter Bebin- 
gungen, bie für die Kirche weit günftiger feyn mochten, abzufchließen. 
Hievon fpäter. Der fiebente Beſchluß des nemlichen Capitulars 
führt ?) den allgemeinen Zehnten ein: „Sedermann ift fchuldig, den 
Hehnten zu entrichten, und den Bifchöfen fleht es zu, über die Ber: 
wendung beffelben zu verfügen.“ Das große Wort war gefprochen. 
Karl gieng feinen Unterthanen mit gutem Beifpiele voran. In dem 
Gapitular, das die Berwaltung feiner Kammergüter ordnet, 
findet fi ein befonderer Artifel 3) welcher vorfchreibt, Daß von den 
eigenen Ländereien des Königs der Zehnte an die Kirchen, denen 
die Kammergüter eingepfarrt waren, geleiftet werden folle. Gleicher 
Weiſe befiehlt er, von fämmtlihen Steuern und Gefällen, welche 
die Krone aus dem eroberten Sachſen bezog, ein Zehntheil für den 
Clerus auszufcheiden. %) Dennoch ftieß die neue Steuer auf ent: 
ſchloſſenen Widerftand. Franken, Gallier, Langobarden und Teutfche 
verweigerten oder umgiengen ben Zehnten. Der Clerus fand ba= 





1; ) Baluziug 9 197 unten. — 2) Ibid. I., 196 unfen fig. — 9) Cap. 6. 
ibid. J., 332 unten, — *) Eapitulare vom Jahre 791 5: 46, Baluzius I, 253, 





Die fränkiſche Kirche vorn Anfange des fiebenten Jahrhunderis ꝛe. 613 


her für gut, neben den Drohungen des Königs auch übernatürfiche 
Hebel in Bewegung zu fegen. Geit 790 folgten mehrere Mißjahre 
aufeinander. Nun fprengte die Geiftlichfeit aus: zur Strafe für 
den vorenthaltenen Zehnten gehen Schaaren von Teufeln alle Nacht 
auf den Feldern herum, und raufen die Körner der Aehren aus, 
fo daß letztere taub aufichiegen. Zugleich warf der König von 
Neuem fein Machtgebot in die Waagfchale. Der dreiundzwangigfte 
Beihlug I des Frankfurter Capitulars vom Jahre 794 wiederholt 
den dreizehnten Artifel des oben angeführten Reichstags, und fchärft 
fodann die Abtragung der Zehnten ein. „Seber entrichte den gefeß- 
lichen Zehnten son feinem Eigenthume. Denn wir haben die Er- 
fahrung gemacht, daß in dem letzten Hungerjahre die Aehren leer 
auffchoßen, weil fie von Teufeln ausgerauft waren, und daß Himmelg: 
fiimmen voll Vorwürfen gehört wurden.“ Lesterer Beweisgrund 
fcheint einigen Eindrud gemacht zu haben. Gleichwohl fahen fi 
der Kaifer und feine Nachfolger gendthigt, die bewaffnete Macht 
gegen läßige HZehentleute zu Hülfe zu rufen. Die Grafen und 
Richter erhielten Befehl, den Elerus bei Eintreibung der Zehnten 
zu unterflügen. ) Hartnädige Widerfeglichfeit wurde überdieß mit 
dem Kirchenbanne bedroht. °) Das Lapitular vom Jahre 801 
verfügt zugleich, *) daß Negifter der Zehentpflichtigen vom Klerus 
geführt, und daß die eingetriebenen Zehnten in drei Haupttheile: 
einen für Unterhaltung der Firchlichen Gebäude, den zweiten für bie 
Armen und Fremden, den dritten für die Mitglieder des Clerus 
zerlegt werden ſollen. Noc genauer regelt die Verwendung der 
Zehnten das Capitular vom Jahre 805, indem es vier Theile zu 
machen gebietet: °) den einen für den Bifchof, den zweiten für 
den niedern Clerug, den dritten für die Armen, den vierten für bie 
kirchlichen Gebäude. Ohne Zweifel wollte der Kaifer durch dieſe 
menfchenfreundliche Vorfchrift den Widerwillen des Volks gegen den 
Zehnten befchwichtigen. Daß jedoch die neue Steuer lange fehr 
verhaßt blieb, bemeifen die in der erften Hälfte des neunten Jahr: 
hunderts fo haufig wiederholten Einfchärfungen des Zehentrechts. ©) 





i) Ibid. I., 267, — ?) Capitula excerpta ex lege Lang@ßrdorum titul. 
v.$.37—39, ibid. II., 339, 340, — 3) Capitularia lib. II., 39. ibid. I., 
749., fo wie Canon 18 der Chaloner Synode vom Jahr 8135. Manft XIV. , 97. — 
9) Cap. 7. Baluzius L., 359. — 5) $. 23. ibid. I., 428, — ©) Ibid, IL, 
665, 841, 857. 1214, 1288, BR: 


A .; 3m >. Buch. Kapitel 9. 


Nach Erwerbung des allgemeinen Zehnten Fonnte ſich die Kirche 
das Necht gefallen Yaffen, welches fih Karl, wie wir zeigten, durch 
den breizehnten Artikel des Capitular's von 779 vorbehielt, geiftliche 
Güter an Laien gegen Zins zu vergaben. Doch machte Karl, durch 
die Roth gedrängt, bisweilen einen verfchwenderifchen Gebrauch von 
diefer Befugniß. Befonders muß er bald nach Anfang des neuns 
ten Jahrhunderts fehr viele Kirchengüter, unter den angegebenen 
Bedingungen, und vielleicht auch ohne diefelben, an Soldaten aue- 
gegeben haben. Seine Anhänger rechifertigten damals, wie es 
fcheint, die Eingriffe des Kaifers gegen die Klagen bes Clerus durch 
das Borgeben: da Karl die Bifchöfe von der alten Verpflichtung 
in's Feld zu ziehen entbunden habe, fo fey es billig, daß der Clerus 
einen Theil feiner Güter, die ihm urfprünglich für die Heeresfolge 
ertheilt worden, zur Verfügung der Krone ſtelle. Die Geiftlichfeit 
gerieth darüber in die höchfte Bewegung. Zuſammenkünfte wurden 
gehalten und die Bifchöfe erflärten, lieber wollen fie wieder, wie 
unter Karl Martel und Pipin, ins Feld ziehen, als auf ihre Güter 
verzichten. Karl durfte es mit dem Clerus nicht verderben. Daher 
erfolgte eine Scene, die wenigftend zum Theil Fünftlih angelegt 
war. Auf dem Wormfer Neichstage vom Jahre 803 übergab das 
Bolf dem Kaifer eine Bittfehrift, ) die mit den Worten beginnt: 
„Rniefällig flehen wir Euere Majeſtät, daß die Bifchöfe nicht mehr 
mit der Heeresfolge beläftigt werden — und doch darum nichts von 
ihren Gütern verlieren. — Denn wir wilfen, daß das Eigenthum 
der Kirche Gott geheiligt iſt.“ In der Faiferlichen Erwiederung heißt 
es 2) unter Anderem: „Fein Biihof fol ins Feld ziehen, ausgenom: 
men zwei oder drei und zwar auch) diefe nicht um Waffen zu tragen, 
fondern um den Gottesdienft im’ Lager zu verfehen. Die übrigen 
aber, die zu Haufe bleiben, find verpflichtet ihre Grundholden 
woblbewaffnet zum Heerbanne zu fiellen, fie felbft aber follen für 
uns und das Heer Gebete und Almofen barbringen, damit der 
Almächtige ung den Sieg verleibe. Denn diejenigen Völker und 
Könige, welche den Clerus zur Heeresfolge anhielten, wie Hifpanier, 
Gallier, Langobarden find unterlegen und haben die Herrichaft 
verloren, weit fie feinen Unterfchied zwifchen Laien und SPrieftern 
machten und dadurch Gott beleidigten.“ Beigefügt iſt fofort bie 





N) Baluzius Capit, I, 405. — | 2) Ibid, 409, 





Die fränkiſche Kirche vom Anfange des fiebenten Jahrhunderts ꝛc. 615 


Verordnung: ) „Sintemalen zu unfern Ohren gedrungen, daß Einige 
auf Antrieb des Teufels den Verdacht gegen ung hegen, als ob wir 
damit umgiengen, zum Erſatz für den dem Clerus erlaffenen Kriegs⸗ 
bienft, die Güter der Kirche anzutaften: fo befehlen wir hiemit jetzt 
und in alle Zufunft, dag Niemand Güter der Kirche befisen dürfe, 
als gegen Lehenzins (precario), und daß, wenn der Lehenvertrag 
abgelaufen ift, die Häupter des Klerus nach freier Wahl entweder 
die Güter an fi) ziehen, oder eine neue Lebereinfunft mit den 
Erben der Lehnsleute fihliegen mögen.“ Ohne Zweifel handelte 
die Parthei, welche jene Bittfchrift übergab, in Karl's geheimem 
Auftrage, Auch ift es nicht fehwer, die Urfache zu ermitteln, warum 
Karl um die angegebene Zeit fo viele geiflliche Güter als Lehen an 
Laien verliehen hat. Wirft man einen Blick auf die Jahrbücher 
Einhard’s, *) fo zeigt es fih, daß Karl damals mit der byzantini- 
fchen Kaiferin Frene wegen des Friedens und — eines Ehebünd- 
nifjes unterhandelte, welches das oſtrömiſche Neich in feine Hände 
liefern follte. ine Heeresfartb aus dem Weften nach dem fernen 
Gonftantinopel fand daher in Ausfiht, und um feine Franfen für 
einen fo ausfchweifenden Plan zu gewinnen, mußte er eıft zahlreiche 
Anhänger durch Verleihung von Gütern erfaufen. 

Was die Kirche durch die Eingriffe des Kaifers verlor, das 
gewann fie anderer Seits auf demfelben Wege. Eine Menge Laien 
wurden vom Clerus vermocht, ihre Güter durch bedingte Schenfungen 
(precario) der Kirche zu vermachen. Entweder ließ man den Schen= 
fern für ihre Lebenszeit den vollen Genuß der Güter, fo daß die: 
felben erft nad) dem Tode der Schenfer in den vollftändigen Beſitz 
ber Kirchen übergiengen, oder feuerte man gar ihre Großmuth noch 
durch Yiftige Lockmittel an, fofern betriebfame Cleriker gutmüthigen 
Laien nicht blos die Nusnießung des bedingt Gefchenften, fondern 
auch die Einkünfte gewiffer Kirchengüter für ihre Lebenszeit zu: 
fiherten. 3) Außer dieſen gefeglichen oder halbgeſetzlichen Mitteln 
des Erwerbs erlaubte ſich jedoch geiftliche Habgier himmelfchreiende 
Unterfchleife, welche Karl nicht ungerügt ließ. Wir wollen feine 
eigenen Worte aus der früher erwähnten merkwürdigen Urfunde *) 





1) Ibid. 410 unten. — 2) Perz I., 190 u. 191. — 3) Beweisftellen 
bei Planf Gefellfchaftsverfafiung IT., 390 fig., fowie Thomassin de disciplina 
ecclesiae Pars II., lib III., Cap. 22, — +) Capitulare secundum anni 811 
$. 5. 6. —* L, 480. 


616 SHE Buch. Kapitel 9. 


som Jahre 811 anführen: „Paßt der Ausdruck „der Welt ent: 
fagen“ von Menfchen , welche nicht müde werben täglich auf jede Weife 
und durch jegliches Deittel ihr Vermögen zu mehren, indem fie die 
Leute bald mit Borfpiegelungen himmlifcher Seligfeit, bald mit 
Drohungen des hölliihen Feuers fo lange bearbeiten, bis fie bie 
Einfalt der Armen wie der Neihen berüden und dieſelben zu Ab: 
tretung ihrer Güter verleiten, wodurd es gefchieht, daß die Erben 
folder Bethörten um Hab und Gut fommen, und zulest aus Man 
gel Verbrecher und Diebe werden müffen. Weiter wäre zu unter: 
ſuchen, ob man von ſolchen Menſchen fagen fünne, fie hätten ber 
Welt abgefagt, welche aus unerfättlicher Habgier falfche Zeugen 
erfaufen und dieſelben Meineide ſchwören Yaffen, welche endlich nicht 
gerechte und gottesfürchtige Männer, fondern graufame und gewif: 
fenslofe zu Schusvögten einfegen.“ Warum Karl an diefer Stelle 
die Kirchenvögte herbeizieht, wird aus einem Artifel ') des dritten 
Capitulars von demfelben Jahre Har. Hier heißt es: „Sch muß 
hören, daß Bifchöfe, Aebte, Grafen, Richter, Schultheißen Gelegen- 
heit fuchen, wie fie arme Leute, die fich weigerten, ihnen ihre Güter 
abzutreten, in Schaden bringen fünnen, und daß fie Solche fo lange 
durch Aushebungen zum Heerbann plagen, bis der Arme wohl oder 
übel wollend fein Bermögen dem Dränger verkauft oder zu Lehen 
gegeben bat, während Diejenigen Unterthanen, welde ihre Güter 
gutwillig abtraten, von der Aushebung verfchont bleiben und ruhig 
zu Haufe fisen dürfen.“ Dem Schusvogt kam es zu, die Grund: 
holden der” Kirche auszuheben und zum Heere bes Kaifers zu führen. 
Schlechte Priefter wählten Darum harte Menfchen für dieß Amt, weil 
fie mit ihrer Hülfe ſolche Dienftleute, die neben zinspflichtigen frei- 
eigene Güter befaßen, durch fortgefeiste Aushebungen yeinigen, und 
dadurch zwingen Fonnten, daß die Armen ihren Testen freien Acer 
der Kirche entweder unbedingt, oder durch eine jener bedingten 
Schenfungen abtraten. Der Heerbann war zu Ende bes achten 
und am Anfange des neunten Jahrhunderts eine ebenfo drückende Laft 
für das Volk als taufend Jahre fpäter in Napoleon's Tagen, und 
diefelben Betrügereien der Beamten famen dabei vor, wie während 
der Napoleon’fchen Kriege. Im Uebrigen erfieht man, wie durch 
die Prefarien, welches Wort wir in Ermanglung eines paſſendern 





6. 5. ibid, I, 485. 


Die fränfifche Kirche vom Anfange des fiebenten Jahrhunderis ꝛc. 617 


durch Lehen überfest haben, das eigentliche Lehenrecht (feuda) des 
fpäteren Mittelalters vorbereitet worden ift. 

Karl mag vielleicht Länger als billig dem Treiben priefterlicher 
Habgier zugefehen haben, weil er der biſchöflichen Mitwir— 
fung für andere Zwede bedurfte. Doch muß man befennen, 
daß der König au fonft dem Mißbrauche geiftlicher Rechte gefteuert 
bat. Sp duldete er z. B. nit, daß dur die Afyle die freie 
Handhabung der öffentlichen Gerechtigfeit geſtört werben durfte. 
Der zweite Beichluß des Reichstags vom Jahr 803 verfügt: ) 
„wenn ein Räuber oder Mörder fich in eine Kirche geflüchtet hat, 
fo foll der Graf den Bifchof, Abt, Schutzvogt oder wer fonft Stell- 
vertreter des Abts oder Biſchofs fey, auffordern, den Schulvigen 
herauszugeben. Weigert fih der Biſchof Folge zu Ieiften, fo vers 
fällt er nad) der erſten Mahnung in eine Strafe von fünfzehn Gold- 
gulden. Gehorcht er auch der zweiten Mahnung nicht, fo fteigt die 
Buße auf dreißig Goldſtücke. Im Fall felbft die dritte Mahnung 
fruchtlos bleibt, hat der Borfteher des Aſyl's für allen Schaden, den 
der Schuldige angerichtet, einzuftehen, und der Graf ift überbieß 
dann berechtigt, mit. Gewalt in die Freiftätte einzubringen, und ben 
Schuldigen, wo er ihn findet, aufzugreifen. — Sollte der Bor: 
fteher des Aſyl's fich erfühnen, dem Grafen bewaffneten Widerftand 
zu leiften, fo muß über Die Sache an den König berichtet werben, 
und ber Borfieher des Aſyl's verfällt dann in eine Geldbuße von 
600 Goldſtücken, gleih Dem, der es wagt, die Afylfreiheit auf uns 
gefegliche Weile anzutaften.“ Wir werden tiefer unten zeigen, daß 
diefes Gefeg zunächft gegen Karl's Freund Alkuin, den Hoftheologen, 
gerichtet ift. f 

Der fränfifche Eroberer hat, wie man fieht, dem von ihm 
gegründeten Neiche eine fehr ftarfe hierarchiſche Färbung gegeben. 
Daß Karl hiebei einen eigenthiimlichen Zwed verfolgte, würden wir 
auch dann behaupten, wenn bie vollftändigen Urkunden, melde 
erfordert werden, um den Beweis zu führen, nicht mehr vorhanden 
wären, Könige vom Charakter Karls bringen nie Opfer aus 
bloßer Großmuth. Wer wird auch glauben, daß der Franfe die 
ungeheure Schenfung des Zehnten, die er dem Clerus feines Reiche, 
oder ber ausgedehnten Ländereien, die er dem Pabfte hingab, ohne 





) Baluzius I., 387. 


618 DE Buch. Kapitel 9% 


tiefere Abdfichten gemacht habe! Es ift jet Zeit, daß wir feine 


Berechnung enthüllen. Die Fatholifche Geiftlichfeit war Damals die 
mächtigfte Verbrüderung in Europa, eine Verbrüderung, bie in 
allen Provinzen des einftigen Römerreichs einen faft königlichen Ein: 
fluß befaß. Indem Karl den Clerus Francien's mit Ehren und 
Reichthümern überfchüttete, durfte er erwarten, daß auch die Bis 
fchöfe anderer Länder, gelockt durch das Glück ihrer fränkiſchen 
Brüder, die Augen auf ihn richten, fränfifchen Borfchlägen das Ohr 
leihen, und für feine Plane Parthei nehmen werden. Er durfte 


ſich diefer Hoffnung um fo zuverfichtlicher bingeben, weil er das 


Oberhaupt der ganzen abendländifchen Cleriſei, den Pabft, nad) Ber: 
nichtung des Langobardifchen Neichs zu feinem Lehensmann gemacht 
und durch die Schenfung des Kirchenftaats an fein Intereſſe ge— 
feffelt Hatte. Karl bedurfte aber der Mitwirkung des Pabftes und des 
katholiſchen Clerus für ein weitausfehendes Werf, Mit ihrem Bei: 
ftand wollte er das weftrömifhe Kaifertbum wieder 
berftellen. Man fann darthun, dag Karl fall vom Antritt 
feiner Regierung an den bezeichneten Plan aufs Beharrlichfte 


verfolgt hat, obgleich er denfelben erft im Jahre 800 auszuführen. 


vermochte. Das Meifte, was er in der Zwifchenzeit anorbnete, 
die Geſetze, kraft welcher er die Stellung der Geiftlichfeit im 
Sranfenreiche vegelte, die Abtretungen von Ländereien, durch bie er 
die Habfucht Hadrian’s I. köderte, waren Mittel, die ihn dem End— 
ziele feines Strebens näher bringen follten. Ehe wir den Beweis 
unferer Behauptung führen, müffen wir zunächft Alkuin wieder ing 
Auge faſſen. Längft hatte Alkuin feine Heimath zu fehen gewünfct. 
Karl erfüllte fein Verlangen, er ſchickte ihn 790 nah England, 
- aber nicht als einen Privatmann, fondern als fränfifchen Gefandten 
mit wichtigen Aufträgen. ) Aus den bürftigen Nachrichten, die 
über Karls Stellung zu England "auf uns gefommen find, geht 
hervor, daß der fränfifche Herricher damals wenigftens mit zwei 
ber angelfächfifchen Fürften in theils freundlichen, theils feindlichen 
Berührungen fand. Dffa, feit 758 König von Mercien, befaß im 
nördlichen England zu jener Zeit die größte Macht. Mit diefem 
Fürften verfeindete fih Karl, weil gewilfe Heurathsanträge des 
Mercier’s feinen Stolz beleidigt hatten, Karl nahm unzufriedene 


i) Alcuini epist, 3, opp. I., 6, 


— FP gi Tree 2 
a a alte nina 0 hats Zul Abb! 


Die fränkische Kirche vom Anfange bes fiebenten Jahrhunderts ꝛc. 619 


Adelige, die, von Dffa vertrieben, aus Mercia hatten fliehen müffen, 
in fein Reich!) auf, er verbot überdieg um 788 allen Handels- 
verfehr zwifchen feinen Unterthanen und den mereifchen Kaufleuten. 2) 
Seit dem Jahre 790 aber wünfchte der Frankenkönig aus Gründen, 
bie tiefer unten angebeutet werden follen, das gute Verhältniß mit 
Dffa wieder herzuftellen. Alfuin’d Sendung nad England Hatte 
zu nächſt dieſen Zweck. Während Karl dem Mercier Trotz bot, 
oder mit ihm unterhandelte, gewährte er einem andern angelſächſi⸗ 
hen Häuptling feinen Schuß. Im Reiche Weffer war 787 durch 
eine jener, bei den Angelfachfen fo häufigen, Ummwälzungen, welche 
überall Bielherrichaft im Gefolge hat, ein Adeliger Namendg Beor: 
thrif auf den Thron erhoben worden. Der neue Herrfcher ließ 
es feine erfte Sorge feyn, den Fürftenfohn Egbert, der em Ge: 
burtsrecht auf die Krone Wefjer hatte, aus dem Lande zu verjagen. 
Egbert floh zum König Offa von Mercien, fpäter als Beorthrif, 
um feinen Nebenbuhler zu verderben, eine Tochter Offa's freite 
und erhielt, fuchte er am Hofe Karl’ einen fihern Aufenthalt, der 
ihm auch gewährt wurde. Wir vermutben, daß Alfuin bei feiner 
englifchen Gefandtfchaft nicht blos die oben erwähnten Gefchäfte mit 
Dffa abzumachen hatte, fondern auch zum Bortheile Egbert’s 
wirken follte. 

Alkuin reiste im Sommer 790 ab. Sein Aufenthalt in England 
bauerte zwei bis dritthalb Jahre, während beren er viele Gewalt: 
thaten mit anfehen mußte, die ihm die Heimath entleideten. Zu Ende 
des Jahrs 792 rief ihn Karl zurück. Der eine Hauptzwerk feiner 
Sendung war erreicht: der Friede zwilchen Offa und Karl wurbe 
hergeftellt. Noch find die Schreiben 3) vorhanden, durch welche der 
Franfenfönig mit dem Mercier fih verftändigte und den unterbro= 
chenen Berfehr freigab. Auch Egbert's Sache muß Alfuin geför⸗ 
bert haben, denn obwohl hierüber Feine Urkunde vorliegt, fpricht 
bob eine Thatfache für unfere Vermuthung. Acht Jahre nad 
Alkuin's Rückkehr verließ Egbert den fränfifchen Hof und gieng 
S00 nad England. Dort angefommen wird er nicht blog auf den 
Thron son Weller erhoben, fondern nach Verlauf von zwanzig 





i) Man vergleiche den Brief, den Karl wegen dieſer Flüchtlinge an den 
Erzbifchof von Canterbury ſchrieb, bei Wilkin’s Coneil. Britan, I., ©. 154. — 
2) Aleuini epist. 3. a. a. O. — °) Baluzius I., 275 flg. und Wilkin’s 
Concilia I., 158 flg. | 


620 l. Buch. Kapitel 9 


Jahren von allen angelſächſiſchen Stämmen als Volkskönig aner- 
kannt. Die Vielherrſchaft verſchwindet, England iſt ein einiges 
Reich. Ohne die Unterſtützung einer einheimiſchen mächtigen Parthei, 
und ohne fremde Hülfe hätte ſicherlich Egbert dieſe großen Erfolge 
nie errungen. Von Außen her kann ihm aber nur Karl, an deſſen 
Hofe er von 788 bis 800 weilte, die Hände gereicht haben. Nun 
finden wir, daß im Jahre 809 Karl und Egbert zu gleicher Zeit 
einen Feldzug wider einen gemeinſamen Feind, aber an verſchiedenen 
Orten, der Franke nemlich gegen die Britannen in Nordweſten 
Galliens, Egbert gegen die Britten in Wales unternahm. Der 
Franke und der Angelſachſe arbeiteten auf ein Ziel los; dieß ſetzt 
Einverſtändniß zwiſchen ihnen voraus. Stärker iſt eine andere Spur. 
Der zweite Nachfolger Offa's, Ceonwulf, Fürſt der Mercier, wel: 
cher Stamm feit 823 die Oberherrlichfeit Egbert’s anerfannte, aber 
doch noch faft ein Jahrhundert lang feine eigenen Häuptlinge behielt, 
hatte den bitterften Groll gegen den Erzbifchof Wulfred von Canter— 
bury gefaßt: Auf einer Londoner Synode im Jahr 816 erflärte 
er !) demfelben: „Gieb mir das und das Gut von 300 Huben her: 
aus, oder ich vertreibe dich aus dem Lande. Wenn bu mir nicht 
gehorchſt, fol Fein Befehl des Pabfts, feine Borftellung 
des Kaifers dich von meinem Zorn erretten.“ Offenbar ſpricht 
bier der Mercier fo, als ob damals eine gewilfe Oberherrlichfeit 
nicht blos des Pabſts, fondern auch des Kaifers in England 
anerfannt worden wäre. Würden die Quellen über die Regierung 
Egbert's reichlicher fließen, fo hätten wir nicht nöthig ung auf ſolche 
Anzeigen zu berufen, die immer einige Beweisfraft haben. Die ein- 
heimifche Parthei, welche Egbert's Plane unterftügte, kann nur die 
Fatholifche Geiftlichfeit gewejen feyn. Denn wenn irgend Jemand, 
mußte dem Clerus und dem Pabft daran gelegen feyn, der ewigen 
Verwirrung, welche die Bielherrichaft nach fi z0g, ein Ende zu 
machen. Wirklich hat die englifche Cleriſei Egbert's Größe nad: 
drüdlich befördert. Im Jahre 803 erzwang eine Synode zu Cio: 
veshoven im Bunde mit dem Pabſt, daß die mercifche Metropole 
von Lichfield, welche Offa aus Ehrfucht errichtet hatte, von dem 
oben genannten Geonmwulf aufgegeben werden mußte. ?) Der Stuhl 





!) Wilkin’s Coneil. L, 172 a, gegen unten. — 2) Ibid. I, ©, 166 
unten flg. 


Die fräntifche Kirche vom Anfange des fiebenten Jahrhunderts ꝛc. 621 


son Canterbury errang dadurch feine alte Macht wieder. Diefe 
Aenderung Fam aber vorzugsweife dem Könige Egbert zu Gut, 
welcher gleich nach feiner Ankunft in England von den Kentern 
als Gebieter anerfannt worden war. Allem, Anfchein nach haben 
alfo der Pabft und der fränfifhe König oder Kaifer zu Erhebung 
Egbert's zufammengewirkt: jener um Ordnung in der Infel zu 
ſchaffen, bdiefer ohne Zweifel gegen Einräumung gewiffer Rechte, 
die wir nicht genauer fennen, und bie jedenfalls von den Angel: 
fachfen feit dem Berfalle des fränkischen Reichs nicht mehr geachtet 
wurben. Nun war Alkuin nicht blos in bie Geheimniffe des Kai 
fers eingeweiht, jondern er wurde auch von dem Pabfte und andern 
Häuptern des Clerus, wie wir fehen werden, zu wichtigen Gefchäf: 
ten beigezogen. Andererſeits bedurfte das große Werf, das König 
Egbert feit 800 in England ausführte, langer Vorbereitungen, die 
wohl bis zum Jahre 790 zurüdreichten. Bei fo bewandten Um: 
fländen wird man Choffen wir) unfere oben ausgefprochene Vermu— 
tung, daß Alfuin während feiner englifchen Gefandtfchaft auch für 
Egbert's Angelegenheit thätig geweſen feyn dürfte, nicht mehr zu 
fühn finden. 

Außer den eben angebeuteten politifchen Gefchäften, die Alkuin 
in England beforgen mußte, hatte er von feinem Gebieter noch 
einen Auftrag kirchlicher Natur erhalten. Die zweite Synode 
von Nicäa, weldhe 787 zu Conſtantinopel ftattfand, befchäftigte 
damals im höchſten Grade die Aufmerkfamfeit des fränkiſchen Hofes. 
Karl gedachte die Griechen zur Nechenfchaft zu ziehen, weil fie es 
gewagt, ohne Rückſicht auf das Abendland ihre Anfichten von ber 
Bilderverehrung allen Nationen als Kegel der Rechtgläubigfeit auf 
zudrängen; er wollte nebenbei die Gelegenheit für feine ehrgeisigen 
Plane benügen. Zu diefem doppelten Zwede ließ er um 790 eine 
Staatsſchrift — wohl die widhtigfte des achten Jahrhunderts — 
abfaifen, und bereitete zugleich die Abhaltung einer abendländi- 
hen Synode vor, welde im Namen der germanifchen Völker die 
byzantinifche Anmaßung züchtigen, und die Rechte der gefunden 
Bernunft wahren follte. Der Franfenkönig legte großen Werth 
darauf, daß bie bevorftehende Kirchenverfammlung auch von angel- 
ſächſiſchen Biſchöfen befucht werde. Bis dahin hatten noch nie 
mehrere yon einander unabhängige germanifche Nationen ſich zu 
gemeinfamen Befchlüfjen vereinigt. Die Aufgabe, den angelſächſiſchen 


622 MT. Buch. Kapitel 9. 


Clerus zu Beſchickung einer fränfifhen Synode einzuladen, war 
daher fchwierig. Karl vertraute fie der Klugheit Alfuin’s, und dieſer 
hat fie glüdlich gelöst. Ein englifcher Chronift aus dem Anfange 
des zwölften Jahrhunderts, Simeon von Durham, der aus alten 
Yängft verlornen Quellen fchöpfte, ) berichtet in feiner englifchen 
Gefhichte zum Jahre 792 Folgendes: „Im Jahre 792 fandte der 
Franfenfönig Karl ein Synodalbuh nah England, das ihm aus 
Conftantinopel zugefchickt worden war. In dieſer Schrift behaup- 
teten die morgenländifchen Väter, daß man die Bilder anbeten 
müffe, welche Lehre doch die Kirche Gottes verwirft. Gegen das 
eonftantinopolitanische Buch verfaßte Alfuin einen mit Beweifen 
aus der Schrift reichlich verfehenen Brief und überbrachte denfelben 
fammt dem Bude im Namen der angelfähfifhen Bi- 
fhöfe und Fürften dem König Karl.“ Simeon von Durham 
blühte, wie wir fagten, um 1110, Man fönnte fih daher verfucht 
fühlen, ‚feine Ausfage als fpätere Erfindung in Zweifel zu ziehen. 
Allein aus einer gleichzeitigen und über allen Verdacht erhabenen 
Urfunde erhellt, daß er wirklich die Wahrheit, nur nicht nad 
ihrem ganzen Umfange, berichtet. Die deutfche National- 
fynode, von der eben die Rede war, wurde wirflih im Jahre 794 
zu Frankfurt gehalten. Nach dem Schluffe derfelben erließ König 
Karl an den Erzbifchof Elipandus von Toledo ein Schreiben, in 
welchem folgende Stelle ſich findet: ) „Um den wahren Glauben 
feftzuftellen, haben wir außer den hohen Clerikern unferer Reiche 
auch einige englifhe Biſchöfe (mad Frankfurt) zufammen: 
berufen.“ Laut diefem Zeugniffe hat Alfuin dem fränfifchen Hofe 
nicht etwa blos eine Zufchrift überbracht, Fraft welcher fich die britti- 
fhen Fürften und Kirchenhäupter mit Karl's Anfichten einverftanden 
erklärten, fondern eine Gefandtfchaft der englifhen Kirche fam ent: 
weder zugleicd mit ihm, um dem befchloffenen Concil anzumwohnen, 
oder folgte ihm wenigftens auf dem Fuße nad. Simeon’s Bericht 
ift alfo, obgleih im Ganzen wahr, doch in einem Hauptiheile 
ungenau; wahrſcheinlich verhält es fich ebenfo mit dem andern. 


a 


1) Simeon Dunelmensis historia de gestis regum Anglorum. Abgedrudt 
bei Twysden Historiae anglicanae scriptores decem J., 111 unten. Diefe 
Stelle Simeon’s hat hundert Jahre ſpäter Noger von Hoveden abgefhrieben, 
aus dem gewöhnlich obiges Zeugniß entlehnt wir, — 7) Manfi XUL, 
©. 901 Mitte. | 





Die fräntifche Kirche vom Anfange des fiebenten Sahrbunderts ꝛc. 623 


Statt zu fagen: Alkuin habe in England einen Brief wider bie 
Bilderanbetung aufgefet, und fpäter dem Könige Karl übergeben, hätte 
er umgefehrt fih fo ausdrüden follen: Alfuin bradte aus Franfs 
reich ein folhes Schreiben nad England, das dann yon den angel- 
ſächſiſchen Fürften und Biſchöfen förmlich gebilligt worden if. Allen 
Anzeigen nad wies bie alte yon Simeon mißverftandene Duelle, 
aus welcher der Chronift feine Nachricht entnahm, auf die oben 
genannte Staatsfchrift, oder die libri Carolini *) hin, bie wir jet 
ins Auge faffen müſſen. 

Im Jahre 790 erfchien am frankifchen Hofe eine Widerlegung 
des zweiten nieänifchen Concils, welche Karl unter feinem 
eigenen Namen in die Welt hinausgab. Da es fonnenklar ift, 
dag Karl zum Bücherfehreiben weder Luft nod) Zeit, noch auch das 
nöthige Schulmwilfen befaß, fo entfteht die Frage, durch weſſen Hände 
Karl die Schrift habe. verfertigen laffen? Es Tiegt fo nahe an 
Alfuin zu denfen, daß dieſe Vermuthung längſt ausgeſprochen 
worden if, In der That fügt fie fih auf fehr ftarfe Gründe, 
und nur eine einzige Einwendung, die beim erſten Anblick einigen 
Schein hat, kann gegen fie gemacht werden. Die Gegner fagen 
nemlich, laut der Borrede jey das Bud) drei Jahre nad) dem zweiten 
Coneile yon Nicäa, alfo um 790, abgefaßt worden. Sn eben dem 
Sabre ſey aber Alkuin als Karl's Gefandter nad) England abge: 
gangen, alſo könne er nicht der Berfaffer feyn. Diefer Schluß ift 
jedoch voreilig. Die angeführte Zeitbefiimmung fteht in der Bor: 
rede, das heißt in einer Abtheilung des Buchs, welche, wie jeder 
Schriftfteller aus eigener Erfahrung weiß, von den Verfaſſern erft 
nad Beendigung des Ganzen entworfen zu werden pflegt. Nun 
fann Alkuin nit vor dem Sommer 790 nad) England abgegangen 





!) Unter dem Titel opus illustrissimi et excellentissimi, seu spectabilis 
viri, Caroli, nutu Dei regis Francorum , Gallias, Germaniam , Italiamque, 
sive harum finitimas provincias, Domino opitulante, regentis, contra sy- 
nodum, quae in partibus Graecorum pro adorandis imaginibus stolide sive 
arroganter gesta est, zum eritenmale von dem nachmaligen Bifchof zu Meaur, 
Jean du Tillet unter dem falfchen Namen Eli. Phili 1549 in Sedez heraus: 
gegeben, feitdem öfter gedruckt. Wir citiren nach dem Abdruck in Goldast 
colleetio constitutionum imperialium. Francof. 1613 fol. ©. 23 fig. Ueber 
die Schifale des Buchs, wie über die unmwiderleglichen Beweife feiner, von 
päbftlichen Schriftftellern vergeblich angegriffenen, Aechtheit vergleiche man Walch 
Hiſtorie der Ketzereien XI., 40 flg. 


624 > HE Buch. Kapitel 9. 


ſeyn. Denn ein Brief, welchen er erweislih vor der Ab: 
reife, ja fogar noch ehe die englifhe Geſandtſchaft 
feft befchloffen war, nah Schottland fchrieb, fällt, wie Froben 
fehr gut gezeigt hat, in das Jahr 790.) Da folglich die faro: 
liniſchen Bücher aller Wahrfcheinlichfeit nach vor der englifchen Ge: 
ſandtſchaft Alkuin’s beendigt wurden, fo ermangelt jene Einwendung 
aller Kraft. Defto ftärfer find die Gründe für Alkuin's Verfaffer: 
haft. Erſtlich hat man längſt die Entdeckung gemacht, daß zwifchen 
einer Stelle der karoliniſchen Bücher, ?) und einer anderen in den 
Werken Alfuin’s überrafhende Aehnlichkeit ſtattfindet. Für's Zweite 
wiffen wir, daß Karl den Britten Alfuin vorzugsweife zu gelehrten 
Arbeiten verwendete. Warum follte er alfo nicht feine Dienfte zu 
Abfaffung des fraglihen Buchs benüst haben. Zum Dritten geht 
aus den oben angeführten Beweifen unmiderfprechlich hervor, daß 
Alkuin's Sendung nad England hauptfächlic den Zweck hatte, die 
brittifche Kirche zur Annahme der in den Farolinifchen Büchern 
ausgefprochenen Grundſätze zu bewegen. Was ift alfo natürlicher 
als die Vorausſetzung, daß er die Schrift, für welche er wirkte, 
auch entworfen hat? Hiezu Fommt noch, daß jene Stelle bei Si. 
meon von Durham ihn nicht undeutlih als Verfaſſer bezeichnet. 
Nach höchſter Wahrſcheinlichkeit hat alfo Karl die Abfaffung des 
Buchs der Feder Alfuin’s anvertraut. Wenden wir ung jeßt zu 
der Urkunde felber. In vier Büchern fucht fie darzuthun, daß bie 
Anbetung der Bilder, welche die griechifche Kaiſerin auf der zweiten 
Synode von Nicäa der Fatholifchen Kirche vorgefchrieben habe, eben 
fo verkehrt und unchriſtlich ſey, als der Krieg, den dreißig Jahre 
zuvor Kaifer Conftantin Copronymus wider die Bilder erhob. Mit 
Berufung auf den berühmten Ausspruch Pabſt Gregor's I. wird 
der Sat vorgetragen, daß Bilder zwar nicht verehrt werden dür— 
fen, aber daß fie als Mittel der Andacht ein nüslicher und würdi— 
ger Schmud ber Kirchen feyen. Doch nicht ſowohl diefer an ſich 
ferngefunde Grundgedanfe, als vielmehr die Art und Weife der 
Ausführung bedingt den hoben hiſtoriſchen Werth des Farolinifchen 
Werks, Es ift nöthig, daß wir einen gebrängten Auszug mittheilen, 





: 8 Epist. 3, Opp: J., 6. Der Beweis Froben's ibid. ©. 7. Note d. — 
2) Buch 4. cap. 6. und Alcuini opp. I., 500. Man vergl. en — 
der Ketzereien XI, 67, 


Die fräntiſche Kirche vom Anfange des fiebenten Jahrhunderis x. 625 


"Die Borrede zum erfien Buche enthält ungefähr Folgendes: „Die. 
Kirhe, Mutter unjer Aller, hat ſtets mit Außern und innern Wis 
derfachern zu fämpfen, aber fie gewann immer durch Jeſu Chriſti 
Beiſtand den Sieg und ward in den Stand geſetzt, den wahren 
Glauben zu behaupten. Mir Insbeſondere, dem die Herr— 
ſchaft durch Gottes Gnade anvertraut worden, liegt 
bie Pfliht ob, bie Kirde wider ihre Feinde zu ver- 
theidigen. Bor einer Reihe Jahre hat eine Synode in Bithy- 
nien ) fih erfrecht, den firchlichen Gebrauch der Bilder, welche die 
Alten eingeführt, gänzlich abzufhaffen, und felbige Bilder als Götzen 
zu behandeln. Diefe Synode verdammte Alle, welche die Bilder 
beibehalten wollten, und behauptete vuhmredig, ihr Kaifer Conſtan— 
tin habe die Kirche vom Götzendienſte befreit. Bor ungefähr drei, 
Jahren ift in benfelben Gegenden ein zweites Coneil gehalten wor— 
den, welches in entgegengefestem Sinne ftimmte, aber eben fo weit. 
von ber Wahrheit abgeirrt iſt. Diefelben Bilder, welche die erſte 
Synode aus den Kirchen hinauswarf, gebot die zweite göttlich zu 
verehren, und mißbrauchte verichiedene Stellen der Schrift und der. 
Bäter, um folhen Machtſpruch zu erhärten. Wir unferer Seits 
halten feft an den Lehren der Evangeliften und Apoftel, fo wie an 
ber Ueberlieferung; wir erfennen die fechs erften allgemeinen Kir— 
henverfammlungen an, verwerfen aber fammt allen andern Neues 
rungen infonderheit die in Bithynien über Anbetung der Bilder 
gefaßten Beichlüffe, wider welche wir auch, da ung eine Abfchrift 
berjelben zugeftellt worden, dev Wahrheit zu lieb ein Buch zu ent- 
werfen ung gedrungen fühlten, damit nicht der griechiſche Irrwahn 
fih im Abendlande ausbreite.“ 9 

Nach diefem Eingange follte man erwarten, daß der Ver 
fafjer fofort zum Beweife feiner Behauptung fehreiten werde; aber 
ftatt defjen, folgen zunächſt am Anfange des erften Buchs ?) bittere 
Ausfälle gegen den unchriſtlichen Hochmuth und die Heuchelei des 
byzantinischen Hofes, Anlaß dazu geben gewiffe Ausdrüde und 
Wendungen, welche die Kaiferin Irene in dem, nad Beendigung 
bes zweiten nicenifchen Concils an den Pabft Hadrian I. erlaffenen 





) Der Berfaffer meint die Synode des Konftantinus Copronymus vom 
Jahre 754, welche ex fälichlich durch Verwechslung mit der zweiten der Irene 
nah Bithynien verfeßt, — 2) Goldaſt a. a. O. ©. 25— 25 unten, — 
%) I. Cap, 1-5,, ibid, ©, 25—31 unten, 

Gfrörer, Kircheng. UI. 40 


626 I. Buch. Kapitel 9. 


Synodalſchreiben gebraucht hatte: „Keine feltene Erfcheinung ift eg, 
dag menfchlihe Schwachheit alle Schranken zu durchbrechen fich 
unterfängt. Beweife folcher Vermeſſenheit finden fich in dem byzan- 
tinifhen Schreiben, wo Conftantin VI. und Irene alfo von fid 
fprechen: bei Gott, welcher mit ung herrſcht. DO der Thor: 
heit, welche nicht Unwillen, fondern unfer Mitleiden verdient! Nur 
Gott, das unendlihe Wefen regiert die Welt, und eg verräth un— 
erträglihen Stolz, wenn ein Fürft fih mit dem Allmächtigen in 
eine Claſſe zu fegen wagt. Eben fo unanftändig fagen fie in dem 
Briefe an den Pabſt: Gott hat ung erwählt, die wir in 
Wahrheit feine Ehre fuhen Nicht auf Wahrheit, noch auf 
Gottes Ehre, fondern auf eigenen Ruhm und Lügen ift ihr Abfehen 
gerichtet. Auch erröthen fie nicht, nach heidniſcher Sitte, fih 
felbft Götter, und die von ihnen unterzeichneten Aften göttliche zu 
nennen. !) Ferne fey von Chriften der heidnifche Mißbrauch, Men: 
fhen in Götter zu verwandeln. Endlich brauchen fie in ihrem 
Briefe an den Pabſt den Ausdruck: wir bitten Deine Väter: 
Yichfeit, oder vielmehr Gott bittet, der nicht will, daß 
irgend ein Menfch verloren gehe. Freilih wer von fi 
ferbft behauptet, daß er mit Gott herrfche, dem wird e8 leicht zu 
fagen, Gott bitte, da doch der Allmächtige nicht bittet, fondern 
befiehlt. Die fehwerfte Sünde aber ift, der heiligen Schrift einen 
andern Sinn zu unterlegen, als ihre eigenen Worte erlauben. 
Denn Solches thut der Teufel. Wir werden nun darthun, daß be- 
fagte Synode die Sprüde der Bibel und der Väter fälſchlich an— 
gewendet, und in ihr Gegentheil verdreht hat.“ 

Auch jest folgt noch nicht dev verfprochene Beweis, fondern 
eine neue Abſchweifung, die aber für die geheimen Abfichten des 
Berfaffers ebenfo nothwendig, als mit Feinheit angebracht if. Alle 
Welt wußte, daß der Stuhl Petri an der zweiten Synode yon 
Nicäa Theil genommen, und die dortigen Beſchlüſſe höchlich gebilligt 
hatte. Wenn nun das Streben des Königs der Franken, wie er 
felbft angiebt, einzig darauf gerichtet war, mittelft feiner Schrift 
die Verbreitung des griechifchen Irrthums im Abendlande zu ver: 
hindern, fo forderte der gefunde Menfchenverftand, daß er fich por 





') Se divos, suaque gesta divalia gentiliter nominare non renuunt, 


Bekanntlich war dieß byzantinifcher Kanzleiſtyl. 





Die fränkiſche Kirche vom Anfange. des fiebenten Sahrhunderts ıe. 627 


Allem an den Pabft wandte, und denſelben aufforberte, feine in 
Nicäa ausgefprochene Meinung entweder zu widerrufen, oder auf 
eine befriedigende Weife umzudeuten. Aber der Verfaſſer der karo— 
Vinifchen Bücher fchlägt einen ganz andern Weg ein; er fucht nem 
lich fofort zu zeigen, baß dem Stuhle Petri das höchſte Anfehen 
in Slaubensfachen gebühre; er fieht alfo ganz davon ab, daß der 
Pabſt zu Nicäa mit den Griechen geftimmt hatte. Aufs Deutlichfte 
zeigt fich bier, daß ber König andere Zwecke, als die vorgefhüsten, 
verfolgte, daß er nicht fowohl die Welt vor Irrthümern bewahren, 
als einen tödtlichen Hieb gegen den Kaiferthron von Conftantinopel 
führen will, was freilich ſchon aus den oben befchriebenen Angriffen 
gegen Sonftantin VI und feine Mutter Jrene erhellt. Das Faro: 
Yinifhe Werk fährt alfo fort. ) „Bor Allem muß bemerft werden, 
daß die Heilige römische Kirche vom Herrn den erften Rang unter 
allen übrigen erhalten hat, und daß man darum ihre Entfcheidung 
in Glaubensfacdhen einholen muß, zumal da feine andere Schriften 
als diejenigen, welche der römiſche Stuhl für canonifch erflärt, und 
feine anderen Väter als die von Gelaſius und den übrigen Päbften 
gebilligten, zum Beweiſe eines Glaubensfages benüst werden 
dürfen. Der heilige Augufiinus fagt irgendwo, daß jeder gewiffen- 
hafte Lehrer fih bei Erklärung der Bibel nach den apoftolifchen 
Kirchen zu richten habe. Nun ift aber der römiſche Stuhl unter 
den apoftolifchen der erfie. Denn gleichwie bie Apoſtel den übrigen 
Schülern vom Herrn vorgezogen wurden, und wie binwiederum 
Petrus den Vorzug vor den andern Apofteln erhielt, fo befisen 
bie apoftolifchen Stühle den Rang vor den andern, über allen aber 
fteht der römiſche. Diefe Regel haben die Väter anerfannt; fo 
gelehrt und erleuchtet Hieronymus war, fragte er doch in wichtigen 
Dingen den Pabſt um Rath. Auch wir und unfere föniglichen 
Borfahren haben es ung ſtets zum Grundfag gemacht, Einheit mit 
der römischen Kirche zu wahren. Unſer Vater verehrungswürbigen 
Gedächtniſſes, König Pipin, führte der Einheit wegen den römifchen 
Kichengefang in feinem Reihe ein. Das Gleiche gefchah auch von 
ung, nahdem der Allmächtige ung die Herrfchaft über Gallien, 
Germanien und Italien verliehen hatte.“ Aufs Stärkfte hebt hier 
Karl feine Hebereinftimmung mit dem Stuhle Petri hervor, während 





1,6. 0,09, ©. 31 flg. 
40 * 


628 11. Buch. Kapitel 9. 


er doch im nemlichen Augenblide eine Lehre bekämpft, bie der Pabſt 
zu Nicäa für rechtgläubig erklärt hatte, 

Nun erft wendet ſich der Verfaſſer feiner eigentlichen Aufgabe, 
der Widerlegung der auf dem zweiten Concile von Nicäa gefaßten 
Beichlüffe zu. In den Kapiteln 7 — 30 des erften Buchs I) fucht 
er zu zeigen, daß bie altteftamentlichen Stellen, welche die Synode 
für Anbetung der Bilder angeführt habe, durchaus Das nicht be- 
weifen, was ſie nach der Meinung der Griechen darthun ſollen. 
Wir übergehen dieſe Kapitel, weil fie Feine hiftorifche Bedeutung 
haben, und bemerfen blos, daß das zwanzigſte Kapitel einen heftigen 
Ausfall 7 gegen den byzantinifchen Patriarchen Tarafius enthält: 
„Tarafius, der, wie die Sage geht, vom Laien auf bie höchſte 
Stufe Firchlicher Würden, vom Soldaten zum Glerifer, von ber 
Rennbahn zum Altar, vom lauten Getümmel des Marfts zum 
Predigtamt, vom Geräufhe der Waffen zur Verwaltung ber 
Saframente befördert wurde — dieſer Tarafius behauptete auf 
jener Synode: was für die Juden die Cherubim über dem Gnaden— 
ſtuhl gewefen, das feyen für. ung Chriften die Bilder des Herrn 
und feiner heiligen Mutter, der Gpttesgebärerin. Aber er irrt fich, 
die Cherubim hatten eine myſtiſche Bedeutung.“ 

Auh in den erften zwölf Kapiteln des zweiten Buchs fährt 
der Berfaffer fort, die Beweisfraft der von der Synode gebrauchten 
biblifchen Stellen zu widerlegen. Mit dem dreisehnten Kapitel be: 
ginnt er zu-zeigen, daß auch die Zeugnifje der Väter, welche Irene's 
Eoneil für feine Meinung angeführt habe, theils unrichtig ausge: 
Yegt, theils verfälicht feyen. Vorangeſchickt wird folgende Bemer: 
fung: „noch einmal müffen wir wiederholen, daß wir nicht den 
firhlichen Gebrauch, fondern blos die götiliche Verehrung der 
Bilder verdammen; anbliden darf und foll man fie in der Kirche, 
aber fie anzubeten ift ein Frevel. Vergeblich berufen fi bie 
Griechen darauf, daß Pabft Sylveſter die Bilder der Apoſtel dem 
Kaifer Conftantin I. zugeſchickt habe. Er fihidte fie ihm zum An: 
fchauen, nicht zum Anbeten, und follte er je den Kaifer aufgefor: 
dert haben, diefelben göttlich zu verehren, fo that er dieß nur, um 
den Kaifer als einen Mann, der vom Heidenthum her an fichtbare 

Gegenftände der Anbetung gewöhnt war, auf einen andern Weg 


') Tbid, S. 32 — 54. — ®) Ibid, ©, 46, 





Die fränkiſche Kirche Som Anfange des fiebenten Jahrhunderts ıc. 629 


zu leiten. Allein dem Buche, worin fich diefe Nachricht finde, 
fommt, ob es gleih von Vielen gelefen wird, Fein canonifches An- 
fehen zu, wie aus der Verordnung des Pabft3 Gelaſius über die 
achten Schriften erhellt, ) und es taugt folglich nicht zum Beweiſe. 
Die Zeugniffe aus den Schriften des Athanaftus von Alerandrien 
(Kay. 14.), des Ambrofius von Mailand (15.), des Auguftinus (16.), 
welche die griechifhe Synode für ihren Zweck benüsen will, find 
entweder mißverftanden, oder falſch angeführt. Ferner berufen fie 
fih (17.) auf einen Ausſpruch Gregor’s von Nyßa. Wir fennen 
weder die Lehre noch das Leben diefes Mannes, und wenden daher 
die Regel des Apoſtels auf ihn an: prüfet die Geifter, ob 
fie aus Gott find Eine Stelle aus den Aften des fechsten 
öfumenifhen Concils, welche Jrene und ihre Biſchöfe anführen, 
beweist nichts für Anbetung der Bilder, und ift überdieß verfälfcht 
(Kap. 18.). Ebenfo verhält es fih mit den angeblichen Zeugniffen 
aus den Werfen des Chryfoftomus Kay. 19.) und Cyrills von 
Alerandrien (Kap. 20.) Die heilige Schrift lehrt aufs Beftimm- 
tefte, dag nur Gott angebetet werden dürfe. Mit diefer Vorſchrift 
fann die Verehrung der Bilder nimmermehr beftehen (Kap. 21.). 
Die Griehen fagen zwar, Bilder feyen darum den Menfchen 
nöthig, um uns an bie Gegenftände der Religion zu erinnern. O 
der elenden Ausfluht! Keines Menſchen Gedächtniß ift fo ſchwach, dag 
ſolche Hülfgmittel nöthig wären (22.). Pabſt Gregoriug 1. hat in 
feinem Briefe an Serenus von Marfeille die wahren Grundfäge 
aufgeftellt, indem er gleich entjchieden die Bilder göttlich zu ver: 
ehren, oder fie zu zerbrechen unterfagte (23.). Chriften mögen 
immerhin bochgeftellten Männern durch Kniebeugung Ehre erweifen, 
aber dieß ift etwas ganz anderes als Bilder, das Machwerf von 
Malern, anbeten. Denn der Menfch ward, wie die Schrift lehrt, 
nah dem Ebenbilde Gottes gefchaffen, und von dem Allmächtigen 
mit den größten Borzügen ausgeftattet, Bilder dagegen find Ieblofe 
Dinge (Kap, 24). Was wir glauben und thun follen, haben ung 
Propheten und Apoftel theils mit Haren Worten, theils durch Bei— 
Ipiele, oder auch durch Gfleichniffe, vorgetragen. Aber über Ber: 





In dem Defrete vom Jahr 494, kraft deffen Gelafius den Canon der 
Aechtheit Firchlicher Schriften feftfegt, werden die Akten des Pabſts Syivefter 
unter die, nicht von allen Kirchen anerkannten, Schriften gerechnet. Manft 
VIII, 149 Mitte, | 


630 | I. Bach. Kapitel 9. 


ehrung der Bilder findet fich Fein Laut in der Schrift (25.). Ver— 
geblich verfuchen fie es den Bilderdienft durch Bergleichung mit ber 
Bundeslade (26.), oder mit dem Abendmahl des Herrn zu recht: 
fertigen. Auf ihr Borgeben: gleichwie im Abendmahl Früchte der 
Erde in Leib und Blut des Herrn verwandelt werden, alfo gehen 
die Bilder, wenn fie vom Künftler vollendet find, in einen Gegen- 
ftand religiöfer Verehrung Über, erwiedern wir: „im Abendmahl 
geht ein göttliches Myſterium vor fih, Bilder Dagegen werben auf 
gemeine Weife von Malern gemacht. Gipfel der Verrüctheit aber 
ift es, zu behaupten, der Bilderdienſt fey zur Seligfeit nothwendig. 
Denn verbielte fih dieß fo, dann würden weder die Apoftel noch 
die Märtyrer in den Himmel eingegangen feyn, da man ja zu 
ihrer Zeit gar nichts von Bildern wußte, noch Fönnten Kleine Kin 
der felig werden, dieweil dieſelben Feinen Begriff von Bildern 
haben (27.). Die Griechen berufen ſich auf das Kreuz, indem fie vor: 
fhügen: gleihwie man das Kreuz ehre, müffe man auch die Bilder 
ehren. Aber das Kreuz unferes Heilands ift ein hochheiliges, durch 
die größten Wunder verherrlichtes Myfterium, das ftets in der 
Kirche verehrt wurde Ganz anders verhält es ſich mit den Bil: 
dern (28.). Ebenſo wenig Kraft hat der Beweis, den Taraftus und 
feine Gefellen von der Nothwendigfeit kirchlicher Gefüffe hernehmen. 
Gefäffe bedarf man zwar in den Kirchen, aber darum feine Bilder. 
Und wenn gleich die Gefäffe mit Bildern geſchmückt find, fo folgt 
daraus nicht, daß man die Bilder anbeten müſſe (29.). Sie fagen 
ferner: wie ung die heiligen Bücher zur Erinnerung gegeben feyen, 
fo auch die Bilder, Beide müſſe man auf gleihe Weile ehren.- 
Aber die von Gott ertheilte Schrift, und von fterblichen Händen 
gemachte Bilder find himmelweit verfchieden (30.). Ueber alle Be: 
fchreibung. fchändlich ift die Art, wie die Byzantiner mit ihren Bor: 
fahren und Vätern umgehen, welche befanntlich den Bilderdienft 
verworfen haben. Die Bifchöfe Jrene’s erklärten diefelben für fluch— 
würdige Keter. Waren fie dieß wirklich, fo konnten fte feine gül- 
tigen Weihen ertheilen, folglich find ihre Nachfommen auch Feine 
rechtmäßigen Biſchöfe; fie hatten Feine Gewalt zu binden und zu 
Yöfen, und Alles was fie angeordnet, ift null und nichtig. Sene 
Menſchen brechen alfo, durd die Verdammung ihrer Borgänger, 
den Stab über ſich felbft. Gleichwohl gebietet nicht blos die Schrift 
Bater und Mutter zu ehren, fondern auch ein. Canon: fpricht: 





Die fränfifche Kirche vom Anfange des fiebenten Jahrhunderts ꝛc. 631 


Fluch den Söhnen, die unter Dem Borwande des gött- 
lihen Dienfles ihre Eltern verlaffen, und ihnen bie 
gebührende Ehrfurdt verweigern. Es ift eine heilfame 
von den Vätern auf ung vererbte Gewohnheit, für die Seelen der 
Abgefchiedenen zum Herrn zu beten. Diefer edlen Sitte fprechen 
bie Griechen Hohn, indem fie ihre Vorfahren verbammen.“ So— 
fort wird gezeigt, wie fehr fich die Franken zu ihrem Vortheil von 
den Byzantinern unterfcheiden: „Wir Franken fleben um Vergebung 
für unfere Vorfahren durch Gebete und Almoſen; die Griechen da— 
gegen wünſchen mittelft ehriofer Synoden Unheil auf die Häupter 
ihrer Väter herab. Wir erbitten den Seelen der Unfrigen Ruhe 
durch feierliche Gottesdienſte, jene beſchimpfen die Shrigen Durch gejeß- 
Yofe Soneilien. Wir gedenfen der Unfrigen im Gebete, Jene der 
Ihrigen mit Flüchen. Wil wünfchen, daß die Seelen der Unfrigen 
im Schooße Abrahams erquidt werden, jene, daß die Ihrigen mit 
Artus, Neftorius, Dioskor und Eutyches ewige Feuerpein erdulden. 
Und dod gilt der Spruch: ') unfer Feiner lebt ihm felber, unfer 
feiner ftirbt ihm felber. Leben wir, fo leben wir dem Herren, 
fterben wir, fo fterben wir dem Herrn. Darum wir leben oder 
fierben find wir des Herren. Gerade entgegengefekt ift der Srr= 
thum, welchen bei den Griechen die Bäter und die Söhne hegen. 
Jene wollten gar feine Bilder in den Kirchen dulden, dieſe befehlen 
eben denfelben göttliche Verehrung zu erweifen. Jene verdammten 
die Bilder zum Feuer, biefe ehren fie mit Weihraud. Jene wollten 
fie nicht anfehen, diefe hören nicht auf, Bilder zu Füßen Wir 
Sranfen dagegen hüten uns wohl, auf den einen wie. ben andern 
Irrweg abzufchweifen. Wir wollen die Bilder nicht mit Jenen 
verachten, wir wollen fie aber auch nicht mit Diefen anbeten. Gott 
allein beten wir an, die Heiligen dagegen halten wir gemäß bem 
firchlihen Herfommen in Ehren, geftatten auch Bilder, um. das An- 
denfen vergangener Dinge aufzufrifchen. Auf folhe Art wollen wir 
allen Denen, welche nad) der einen oder der andern Seite yon ber 
Wahrheit abgeirrt find, den Weg vorzeichnen, auf dem man zu 
Chriftv gelangen mag.“ (Kap. 31.) | 

Um eines Weitern zu zeigen, daß die fränfifche Kirche das 
Recht Habe, über die griechifche zu richten, beginnt das britte Buch 





) Pauli Brief an bie Römer — 7. 86 


‚632 0 IE Buch. Kapitel 9, 


mit einem ausführlichen Glaubensbefenntnig. Meift enthält bas- 
Selbe folhe Punkte, die damals allgemein als Inhalt des Achten 
Glaubens betrachtet wurden. Wir übergehen daher dieſelben. Einige 
Sätze verdienen aber befondere Beachtung, weil fie gegen die fyani- 
chen Adoptianer, Eliyandus von Toledo, und Felir yon Urgel 
gerichtet find: „Wir glauben auch an unfern Herrn Jeſum Chri- 
ſtum, durch den alle Dinge gefchaffen find, den wahrhaftigen Gott, 
den wahren und eingebornen Sohn, der nicht geichaffen, oder 
blos an Kinderftatt angenommen, fondern gezeugt, und 
Eines Weſens mit dem Bater !) if.“ Dann weiter ?) unten: 
„wir verdammen ferner Die, welche lehren, der Sohn Gottes habe 
aus Nothwendigfeit Des Fleifches gelogen (d. h. fich felbft manch— 
mal getäufcht), und Er habe wegen der angenommenen Menschheit 
nicht Alles thun Finnen, was Er gewollt.“ Diefe abfichtlihe Ein: 
mifchung des Elipandus und feiner Parthei verräth, daß der Sranfen- 
könig im adoptianifchen Streit einem und demfelben Ziel, wie in den 
farolinifhen Büchern, nachſtrebte. Nun folgt eine Reihe Ausfälle 
gegen die griechiichen Kirchenhäupter, welche auf der zweiten nicäi— 
Then Synode das Wort geführt hatten (Rap. 2.). „Häufig gefchieht 
es, dag Menfchen einen begangenen Fehler durch einen andern gut 
zu: machen fuchen. Solches ift auch Tarafius widerfahren. Weil 
er wohl fühlte, daß er wider die Kirchengefege aus dem Laienftande 
zur Spite des Prieftertfums erhoben worden, wollte er dieſes Un— 
recht durch hitzige Bertheidigung der Bilder verbergen. Taraſius 
Yeidet jedoch noch an andern Gebrechen. Auch fein Glaube ift un: 
gefund, befonders in Bezug auf den heiligen Geift, weil er nicht 
befennt, daß der Geift vom Bater und Sohne ausgehe, wie doc 
die Achte Regel des Glaubens vorschreibt, fondern Ihn vom Vater 
durh den Sohn ausgehen läßt: eine Behauptung, welde an bie 
Arianiſche Ketzerei anftreift (Kay. 3.). Auch erlaubte fih Taraftus 
auf der Synode den Ausdruck zu gebrauchen: der Geift fey einer 
Zunft (contribulum) mit Vater und Sohn, alfo gleichfam ihr Ver: 
wandter, da er doch hätte fagen follen: der Geift fey gleich ewig 
und eines Wefens mit Bater und Sohne (Rap. 5.). Ueberhaupt 
haben faft alle Bifchöfe der Synode in Bezug auf den Geift geirrt, 





1) Credimus in Jesum Christum — non factum aut adoptivum — sed 
genitum etc, — 2) Goldaft a. a. O. ©. 79 Mitte, 





Die fränkiſche Kirche Som Anfange des fiebenten Jahrhunderts 1. "693 


‘indem fie entweder blog fagten: er gehe vom Vater aus, oder gar 
fein Ausgehen vom Bater und Sohne mit Stilffehweigen über: 
gingen“. (Rap. 8.). Der Berfaffer wirft hier, wie man fieht, mit 
fühner Stirne die fpanifhe Formel zur Nichtfehnur des Achten 
Glaubens auf. Wie Tarafiug werben (Kap. 4, 6, 7, 10.) meh: 
rere andere, namentlich aufgeführte, Biſchöfe der zweiten Synode 
von Nicäa zurechtgewiefen. Im neunten Kapitel wirft er ben 
Griechen vor, fie hätten fih auf dem Concil fo dunkel und verworren 
ausgedrückt, daß man oft Faum ihren Sinn errathen fünne. „Den 
größten Fehler“ fährt er dann im eilften Kapitel fort: „begieng bie 
Synode dadurch, daß fie fich, ehe fie Befchlüffe faßte, nicht erft bei 
andern Gemeinden erfundigte, fondern blind drein fuhr, und bie 
ganze rechtgläubige Kirche, weil diefe die Bilder nicht anbetet, mit 
dem Bann belegte. Keine Sanftmuth, feine Geduld, feine ber 
Tugenden, welde die. Schrift uns fo ernftlich einfcharft, war in 
Nicäa zu verfpüren. Wir Franfen mußten daher nothgedrungen 
ung von der Gemeinfchaft mit diefen Griechen Iosfagen. Denn 
Chriſtus und Belial flimmen nicht miteinander (Rap, 12.). Und 
welch ein Wahnfinn war es, daß ein Weib fih zur Len— 
ferin der Synode aufwarf. Verbietet doch nicht blos bag 
göttliche, fondern felbft das Naturgefeg Weibern ſich vorzudrängen, 
und ftellt diefelben unter männliche Vormundſchaft. Gleichwohl 
bat Jrene es gewagt, zu Nicäa die Welt belehren 
zu wollen! (Kap. 13.) Sp weit trieb fie dort die Frechheit, daß 
fie den Ausdruck von fih gebrauchte, unter göttlicher Mit- 
wirfung haben wir Euch verfammelt. Wahrlich der Herr 
bedarf Feines Menfchen Hülfe, und Chriftus ift fein eigener Rath: 
geber (Rap. 14.). Die Griehen wagen den Bilderdienft durch den 
Borwand zu befräftigen: wenn Bilder der Kaifer in die Städte 
und Provinzen gefchickt werden, fo walle ihnen das Volk mit Weih⸗ 
rauch und Lichtern entgegen, nicht um die bemalte Leinwand, fon- 
bern um den Kaifer zu ehren. In einem noch höheren Grab als 
den Kaifern, ſey man gleiche Ehre den Bildern Chriſti, feiner 
Mutter und aller Heiligen ſchuldig. D des grenzenlofen Wahn: 
finns!! Die Sitte, auf die fie fich berufen, ift ein greulicher, aus 
finfterem Heidenthum flammender, das Evangelium verhößnender 
Mißbrauch. Nie darf man Unerlaubtes aus Unerlaubtem recht: 
fertigen (15.). Weiter fagen fie: die Ehre, welche man den Bil: 


634 I. Buch. Kapitel 9. 


dern. erweife, falle auf die Perfonen zurück, welche mittelft ber Bilder dar: 
geftellt „werben. Wir befennen, daß wir in biefen Worten feinen 
Sinn finden. Niemals haben die Heiligen Anbetung verlangt. 
Wären fie übermüthig genug gewefen, Solches zu fordern, nie 
würden fie dann in Himmel gefommen ſeyn. Und jest da fie die 
ewige Seligfeit erlangt, bedürfen fie wahrlich vergänglicher Ehren- 
bezeugungen nicht. Ihre Leiber und ihre Reliquien mag man immer: 
bin ehren, das wird Gott und Seinen Heiligen gefallen. Auch Fönnen 
zur Noth Gelehrte einen Unterfchied machen zwifchen dem Bilde 
und Dem, den es darftellt; aber die Mafje der Menſchen vermag dieß 
nicht, zu Götzendienern werden fie gemacht, indem man fie anhält, 
Bilder anzubeten‘ (Kap. 16.). In den nächften Kapiteln folgen 
wieder Angriffe gegen mehrere, namentlich aufgeführte Häupter ber 
Synode (17 — 24.), dann wird gezeigt, daß die Nothwendigfeit 
des Bilderdienſts weder durch angebliche Wunder, noch durch 
Träume, oder durch apokryphiſche Schriften erwiefen werben Tonne 
@5 — 31.): 

Den gleichen Gang nimmt auch) das vierte und lebte Buch. 
Das erfte und zweite Kapitel züchtigt Die Aeußerungen, welche ber 
Presbyter Johann in Nicka zu Gunften der Bilder gethan. Im 
dritten Kapitel nimmt fodann der Berfaffer von der Behauptung 
der Griechen, man folle Niemand durch Berwerfung der Bilder 
ärgern, Anlaß, im Namen Karl’s eine fehneidende DBergleihung 
zwifchen dem öffentlichen Gottesdienfte im byzantinifchen und fränfi- 
fchen Reiche anzuftellen: ) „Die Gefandte, welche theils: ich ſelbſt, 
theils mein Vater Pipin nach Griechenland ſchickte, haben berichtet, 
daß bei den Griechen, die ſich fo großen Eifers für die Bilder 
rühmen, die Gotteshäufer nicht blos ber Lichter und des Räucherwerks, 
fondern felbft häufig der Dächer entbehren, während in unferem 
Keiche die Kirchen aufs Herrlichfte mit Golb, Silber, Edelfteinen 
und andern. Kleinodien geſchmückt find.“ Wir übergehen mehrere 
Kapitel, weil fie nichts Wichtiges enthalten. Im zehnten. fährt der 
Berfaffer fort: „die Griechen berufen fih darauf, daß Chriftus fein 
Bild dem Könige Abgarus zugefchicdt Habe; aber von dieſer Ge- 
ſchichte fleht in den Evangelien Fein Wort. Weiter fagen fie 
(Kay. 25.): der heilige Vater Epiphanius habe alle Kegereien in 





1) Gold aſt a. a. OD, ©, 115 Mitte. 


Die fränkiſche Kirche vom Anfange bes fiebenten Jahrhunderts ıc. 635 


feinem befannten Werfe abgehandelt. Wäre er ‚der Anficht ges 
weſen, daß die Verehrung der Bilder unrecht fey, fo würde er bie 
Bilderbiener unter die Keber gerechnet haben. Aber Euer Satz 
läßt ſich trefflich umdrehen: Epiphanius kennt feine Keterei Solcher, 
welche den Bildern feine Ehre erweifen, alfo hielt er die Verächter 
der Bilder für Feine Ketzer. Doch wir fennen einen Brief von 
ihm, in welchem ev erklärt, daß Feine Bilder in den Kirchen geduldet 
werden dürfen. Jeder mag übrigens von dieſer Aeußerung des 
Epiphanius halten was er will. Aber yon dem großen Auguftinus 
haben wir ein Werf wider 89 Keser, unter welchen zwei bilder: 
dienende Sekten genannt find, nemlich die Simonianer und Carpo— 
fratianer. Auch zeugt Hieronymus wider Euch (Kap. 27). Diefer 
bricht gegen den Ketzer Bigilantiug, der die Reliquien der Heiligen 
zu ehren verbot, in die Worte aus: wer, o du Unfinniger, hat je 
die Märtyrer angebetet. Wenn dem zufolge die Märtyrer Feine 
Anbetung verdienen, wie viel weniger gebührt dann biefelbe ihren 
Bildern! Der Argfte Unſinn aber (Rap. 28.), den Eure Synobe 
begieng, beſteht darin, daß fie fich für eine allgemeine ausgiebt, 
während fie doch weder den Achten Fatholiichen Glauben hat, noch 
allgemeines Anfehen in der Kirche verdient. Katholiſch Heißt, was 
von der Einheit der Kirche nicht abweicht. Jede chriftliche Lehre 
und Vorſchrift muß mit der allgemeinen Kirche im Einflange feyn. 
Wenn die Bifchöfe von zwei oder drei Provinzen zufammentreten, 
und Säge aufftellen, welde mit dem allgemeinen Glauben ber 
Kirche übereinftimmen, fo find ihre Befchlüffe katholiſch. Wenn aber 
die Bijchöfe zweier oder dreier Provinzen fi zufammenrotten, um 
Neuerungen zu machen, fo ift, wası fie gethan, nicht Fatholifch und 
nicht allgemein. Denn Alles, was kirchlich, iſt auch katholiſch, und 
Alles was Fatholifch, allgemein. Was aber allgemein ift, darf 
Nichts Neues anordnen. Hätte. eure Synode feine Neuerungen 
gemacht, und, wäre fie bei den Satungen der Väter fiehen geblie: 
ben, fo fünnte man fie, eine allgemeine nennen; aber weil fie das 
Gegentheil gethan, verdient fie. diefen Namen nicht.“ Den. Schluß 
macht I) eine Zufchrift an den Pabft folgenden Inhalts: „Der Apo— 
ſtolikus, unfer Bater, und die ganze vömifche Kirche möge wiſſen, 
daß wir, gemäß dem Schreiben, das der felige Gregorius an ben 





1) Ibid, 143 unten flg. 


636 | TIL. Buch. Kapitel 0. 


Bifhof Serenus von Marfeille erließ, aus Liebe zu Gott und feinen 
Heiligen Jedermann erlauben, Bilder innerhalb oder außer ber 
Kirche aufzuftellen; angebetet aber dürfen biefelben fo wenig werben, 
als zerbrochen. Sondern wir find gemeint ung ſtreng an die 
Grundfäge zu halten, welche der heiligfte Vater Gregorius in 
jenem Briefe befennt u. |. w.“ Die letzten Worte des Buchs fehlen. 

Dieß ift ungefähr der Inhalt des Farolinifchen Werks. Noch 
fürzer zufammengebrängt fommt der Sinn der langen Rede auf 
folgende Säte zurüd: die heiligfte und erfte Pflicht der Könige, 
und befonders des hriftlichen Kaiſerthums ift es, die Kirche Gottes 
zu beichüsen, und den Achten Glauben zu wahren. Dazu find bie 
Herrfcher von dem Allmächtigen eingefegt. Aber der Thron zu 
Conftantinopel hat aufs Gröblichfte feine Pflicht verletzt, er hat ben 
Glauben durch gottestäfterliche Befchlüffe entehrt, und ift ing Heiden: 
thum zurücdgefunfen. Ketzer find die Kaifer von Conftantin Copro- 
nymus bis auf Irene herab. Ganz anders benimmt ſich Die große 
Nation der Franken; ihr Herrfcher ſteht glorreich da als Befchüger 
der Kirche, und Bertheidiger des wahren Glaubens, auch hält er 
mit dem römischen Stuhle, dem Horte der Chriftenheit, die innigfte 
Gemeinschaft. Aus diefen Vorderſätzen ergiebt ſich eine Schlußfolge, 
welche Karl, oder vielmehr Derjenige, deſſen Feder er fich bedient 
bat, jelbft zu ziehen wohlweislich unterließ , den aber damals jeder 
Leſer der Farolinifchen Bücher gezogen hat. Sie lautet fo: folglich ift 
ber erfte Rang unter ben Völkern von den Griechen zu den Franfen 
übergegangen, und deßhalb gebührt ihrem Herrſcher die 
Kaiferfrone!! 

Es verfteht fi) von felbft, dag Karl feine Denffchrift dem 
Stuhle Petri überreichen Tieß. Und da das vierte Buch, wie wir 
eben zeigten, mit einer Anrede an den Pabſt fchließt, fo muß die 
Nebergabe nothwendig fehnell erfolgt feyn; denn der Anftand er: 
laubte nicht, die Urkunde irgend Jemand früher, als dem Pabſte 
mitzutheilen. Noch befisen wir eine Gegenfchrift, 7) mit welcher der 
Pabft die Zufendung des Königs beantworten zu müffen glaubte. Sie 
it ein ſprechendes Zeugniß der Berlegenheit, in welcher ſich Hadrian I. 
dem mächtigen Karl gegenüber befand. Geine Ehre gebot ihm 
die Beichlüffe von Nicda, an welchen er durch feine Gefandte fo 





') Abgedruckt Manſi XIIL, 759 flg. 





Die fränkifche Kirche vom Anfange des-fiebenten Jahrhunderts ıc. 637 


großen Antheil genommen, aufrecht zu halten, und doch durfte er . 
feinem Befchüger und Lehensheren nicht widerfprechen! Winkelzüge 
mußten helfen. Im Eingange feiner Antwort erinnert Hadrian den 
Sranfenfönig, daß der Apoftelfürft Petrus von Chriſto die Obhut 
der ganzen Kirche empfangen, und dieſes Recht feinen römischen 
Nachfolgern Hinterlaffen habe; dann folgt das Verſprechen, daß 
Karl, wenn er anders dem Achten Glauben bis ans Ende treu 
bleibe, auf Erden fortwährende Siege, und bereinft im Himmel die 
ewige Geligfeit erringen folle. „Euer Bu, das Ihr mir durch 
Euren Erzkapellan Engilbert überſchicktet, habe ih empfangen, und 
Punkt für Punkt beantwortet; übrigens will ih nicht alle 
einzelnen Behauptungen ber Biſchöfe von Nicäa ver: 
theidigen, denn mir liegt blos am Herzen die alte Lehre und den 
achten Glauben der römifchen Stiche zu wahren.“ Die verfprochene 
Erwieberung befteht darin, daß der Pabſt ohne Ordnung da und 
dort aus den Farolinifchen Büchern Stellen herausnimmt und ihnen 
paffende oder unpaffende Ausſprüche der Väter entgegenfest. So 
vechtfertigt er z. DB. die angegriffenen Aeuferungen bes Taraſius 
über den heiligen Geift durch gleichlautende Zeugniffe älterer Kirchen: 
lehrer. Sp erhärtet er die Wahrheit der Ueberlieferung, dag Chriſtus 
fein Bild dem Abgarus zugefandt habe, durch die Ausfage des 
Pabſts Stephanus und dreier Patriarchen. Den Farolinifchen Sag, 
a’ ber Bilderdienft von den Ayofteln weder durch Wort noch durch 
Beifpiel gebilligt worden fey, widerlegt er durch zwei Stellen des 
Areopagiten Dionyfius, welcher, laut Adrian’s Berficherung, zu den 
Zeiten der Apoftel gelebt hat, und deren Schüler geweſen if. Am 
Schluſſe meldet er Karl'n, daß er zwar, wegen ber nicänifchen Synode, 
bie auf feinen Befehl gehalten worden fey, dem oſtrömiſchen Kaiſer— 
hauſe bis jest aus Beſorgniß, die Griechen möchten wieder in ihren 
alten Irrthum zurüdiinfen, noch nicht geantwortet habe. Wenn 
jedoch Karl es zufrieden fey, fo wolle er den Kaifern jetzt für 
Wiederherftellung der Bilder danken, zugleich aber auch Zurüdgabe 
ber entriffenen Kirchenfprengel verlangen; follte dieſelbe verweigert 
werben, dann wolle er den Kaifer mit dem Bann— 
firable belegen. Mit andern Worten heißt dieß, der Pabſt 
verspricht den Hauptwunſch des Franken zu erfüllen, aber nur dann 
wenn. die Griechen ſich weigern, den römiſchen Zorn durch Geld: 
opfer abzufaufen. Man ſieht; Karl und ber Pabſt handeln in 


638 II. Buch. Kapitel 9. 


gleichem Geifte; jeder hat nur feinen eigenen Vortheil im Auge, 
aber beide fihügen die Sache Gottes vor. Indeſſen nübten dem 
Pabfte feine Ausflüchte Nichts. Auf der Neichsfynode, welche Karl 
im Jahre 794 nad Frankfurt berief, mußten Gefandte Hadrian’s I. 
ericheinen und fammt den übrigen Bifchöfen den Bilderdienft und 
die nicäniſchen Schlüffe verdammen. 

Die Farolinifchen Bücher hatten Fein vollgültiges Gewicht, fo 
lange die in ihnen ausgefprochenen Grundfäte nicht yon der ganzen 
fränkiſchen Kirche feierlich anerkannt worden waren. Karl fühlte 
dieß wohl, fein Abjehen war daher darauf gerichtet, ein abend: 
ländiſches Concil zu verfammeln, das durch die Zahl wie durch 
den Glanz feiner Mitglieder, die griechifche Synode Irene's in 
Schatten ftellen follte. Das ganze Reich gerieth in Bewegung, es 
wird berichtet, daß alle Kirchenhäupter ſämmtlicher dem Könige 
unterworfenen Länder, Galliens, Germaniens, Staliens, in Frank: 
furt, wohin der König die Berfammlung ausgefchrieben hatte, er- 
fchienen feyen. Zu diefen fränfifchen Unterthanen famen noch die 
britannifchen Bifchöfe, welche, wie oben berichtet ward, auf der 
Frankfurter Berfammlung England vertraten. Karl führte in 
eigener Perfon den Borfis. Zwei italifhe Kirchenhäupter, Theophy— 
Yaftus und Stephanus, ftanden ihm als päbſtliche Bevöllmächtigte 
zur Seite. Man fieht hieraus, dag Karl fchon 794, alfo volle 
fehs Jahre vor feiner Krönung, thatſächlich die Rolle eines abend» 
Yandifhen Kaifers fpielte. Ehe wir jedoch von den Frankfurter 
Berhandlungen Bericht erftatten, müſſen wir die Aufmerffamfeit 
der Lefer auf einen neuen Gegenftand hinlenfen. Außer der Bilder: 
fache wurbe in den Kreis der Synode noch eine andere Frage hin: 
eingezogen, welche, obwohl dem Scheine nach fehr verfchieden, einem 
und demfelben Zwecke diente. | 

Karl hatte von feinem Ahn Martel, und feinem Vater Pipin 
Krieg und Haß wider die fpanifchen Saracenen geerbt. Zu dieſen 
überlieferten Gründen der Feindfehaft kam noch fein perſönlicher 
Ehrgeiz, der eifrig jede Gelegenheit zu Vergrößerung auf Koſten 
Anderer ergriff. Da er indeß bis 777 mit Bezwingung teutſcher 
Gegner beſchäftigt war, fo konnte er den Kampf wider die Araber 
der Halbinfel erft ſpät eröffnen. An der Spike zweier flattlichen 
Heere, deren größeres aus dem Heerbanne der Auftvafier, Burgun- 
der, Baiern, deren Fleineres aus Südfrangofen, Septimaniern und 





Die franfifche Kirche vom Anfange des fiebenten Jahrhunderts ꝛe. 639 


Langobarden befland, z0g er im Sommer 778 über die Pyrenden, 
berbeigerufen durch eine Parthei unzufriedener Saracenen, welche 
ihm die Stadt Saragofja zu überliefern verfprochen Hatte Karl 
rücte vor die Stadt, aber Die Verſchworenen Fonnten oder wollten nicht 
Wort halten. Nachdem die Belagerung einige Tage gedauert, mußte 
Karl unverrichteter Dinge wieder in fein Reich zurüdfehren. Er 
felbft führte die Vorhut und fam glücklich durch die Pyrenäenpäſſe, 
aber die Nachhut des fränfifchen Heers erlitt eine fürchterliche Nieder- 
lage, und zwar nicht durch das Schwert der Saracenen, fondern 
durch die Hand der Basfen, ungetreuer Bafallen Karl's, welche das 
augenblickliche Unglück der Franken benüsten, um ihre Unabhängig: 
feit wieder zu erringen. In den Schlünden yon Ronecesvalles 
wurden Ruodland, !) Graf der Pyrendengränge, von Karl mit 
dem Oberbefehl des Nachtrabs beauftragt, Eggihard, Haushofmeifter 
des Königs, Anfelm Graf des Pallaftes, viele andere Große und 
ihre ganze Heeresabtheilung bis auf den Testen Mann erfchlagen. ?) 
Angefommen in Gallien hielt Karl Gericht über die treulofen Bas: 
fen, er ließ ihren Herzog Lupus I. aufknüpfen, 9) zugleich erklärte 
er Aquitanien, das er bald nad feinem Negierungsantritt zum 
Franfenreiche gejchlagen, wieder für einen eigenen Staat, und gab 
dem Lande feinen damals dreijährigen Sohn Ludwig den Frommen 
zum Erbfönige. Unausgefegter Krieg gegen die fpanifchen Sara— 
cenen war bie Bedingung, unter welcher Karl den Aquitaniern diefen 
Schatten von Selbftftändigfeit ertheilte. Bon dort aus follte Spanien 
erobert werden. Zu dem neuen aquitanifchen Reiche wurden auch) 
das Basfenland und mehrere Striche auf der fpanifchen Seite der 
Pyrenäen, welde die Franken feit 780 eroberten, namentlich bie 
Städte Urgel und Girona, *) gefchlagen. Seitdem berrfchte 
zwifchen den Agquitaniern und den Saracenen entweder wirklicher 
Krieg, oder Kriegesrüftung. In dem oben angeführten Briefe, den 
Alfuin kurz vor feiner englifchen Gefandifchaft zu Anfang des 
Jahrs 790 nad Schottland erließ, bezeugt er feine Freude über die 





') Dieß ift der bekannte Held der fpätern fränkiſchen Sagen. — 2 Ein- 
hardi vita Caroli $. 9. Perz II., 448, und Annales Einhardi ad annum 778, 
Perz I., 159. — 3) Diefe Nachricht beruft auf der Urfunde von Alaon, bei 
Aguirre concil. Hisp. III., 131 flg. und daraus abgedrudt bei Fauriel 
histoire de la Gaule meridionale, III., 505 oben, — 9) Chronicon Moissia= 
cense ad annum 785, bei Perz I., 297, 


640 I, Buch. Kapitel 9. 


Erfolge, welche Karls Waffen kürzlich Über die andalufifhen Sara: 
senen errungen. „Die Heerführer und Hauptleute des allerchriſt— 
lihften Königs“ fchreibt ) er, „haben einen guten Theil Spanieng 
den Saracenen abgenommen, faft 300 Meilen längs dem Meere 
bin. Dod Wehe uns, daß dieſes verruchte Volk noch über 
Afrika und den größten Theil Afiens herrſcht.“ Lebtere Herzens: 
ergiegung beweist, von welcher Begierde ber König und feine 
Freunde glühten, die Araber aus Europa zu verjagen. 

Während nun die Verhältniffe längs der Pyrenäengränze ſich 
auf die befchriebene Weife geftalteten, brach unter dem fpanifchen, 
den Arabern dienftbaren Elerus, ein theologifcher Streit aus, welcher. 
dem Franfenfönig eine erwünfchte Gelegenheit bot, fich durch friedz, 
liche Künfte mitten im ©ebiete feiner faracenifchen Gegner einen 
mächtigen Anhang zu verichaffen. Faſt feit dem Anfange des 
Kampfes gegen die Arianer wurde yon einzelnen Iateinifhen 
Bätern die Behauptung aufgeftellt, daß Jeſus Chriftus von Seiten 
feiner himmlischen Natur. zwar eines Wefens mit dem Höchften 
und deſſen vollfommener Sohn, aber dem Fleifche nad nur 
ein an Kindesftatt angenommener, oder aboptirter Sohn des Vaters 
fey. Schon in einer Schrift des Bischofs Hilarius von Poitiers 
(360) findet ?) fich der Ausdrud: „Chriftus hat die Niedrigfeit des 
Sleifches durch Adoption befeffen.“ Um biefelbe Zeit fchreibt 
der Afrifaner Fabius Marius Viktorinus, der feit 350 ale. 
Lehrer der Beredtfamfeit in Nom lebte, in feinem erften Buche ?) 
gegen Artus: „Ehriftus ift vermöge einer gewiffen Adoption Sohn 
Gottes, aber nur dem Fleifhe nah.“ Großen Beifall fand diefe. 
Anficht im weſtgothiſchen Spanien, wo fi) beinahe der ganze Clerus 
zu ihr befannte. In einem der Briefe, *) welche der Metrovpolit 
Elipandus von Toledo fammt feiner Parthei an die franfifche Kirche 
erließ, behauptet er: feine Vorgänger auf dem Stuhle von Toledo 
Eugenius, Jldephonfus, Julianus hätten nicht nur flets gelehrt, daß 
Chriſtus dem Fleifhe nach ein Adoptiv: Sohn Gottes fey, fondern 
auch dieſen Artifel in die fyanifche Liturgie aufgenommen. Zum 
Beweiſe führt er eine Neihe ganz ungweideutiger Stellen an, welche 





n Opp. I., 6 Mitte. — 2) De trinitate II., 27, opp. edit. Maurin. 
©. 802 Mitte, carnis humilitas adoptatur. — 3) Abgedruckt biblioth. Patr, 
maxim. Lugdun. IV., ©. 256. — *) Abgevrudt in Froben's Ausgabe der. 
Werke Alkuin's IL, 569 a. unten, 








Die fräntifge Kirche vom Anfange des fiebenten Jahrhunderts sc. 641 


ſich wirklich noch heute in den Ausgaben des missale gothieum 
finden. Man fann daher nicht zweifeln, daß die aboptianifche Mei: 
nung während des fiebenten Jahrhunderts ſehr viele Anhänger in 
Spanien zählte. Gleichwohl ſcheint fie Damals auch Gegner gehabt 
zu haben; denn in dem Glaubensbekenntniſſe, das die eilfte Synode 
zu Toledo (675) unter dem Metropoliten Quirikus ihren Befchlüffen 
voranſchickte, heißt es !) unter Anderem: „Chriſtus ift von Natur 
und nicht durch Adoption Sohn Gottes,“ welche Beftimmung 
gegen die Parthei der Adoptianer gerichtet feyn dürfte, 

Nach Eroberung der Halbinfel dur die Saracenen gewann 
die adoptianifche Lehre noch allgemeineren Eingang als früher. Zu 
den Zeiten Karl's pflichtete faft der ganze hohe Clerus Spaniens, den 
Primas von Toledo an der Spige, derfelben bei. Aber jest ent: 
jtand der oben erwähnte Streit, in Folge deffen die Adoptianer aufs 
Genauefte ihr Dogma entwidelten. Wir müfjen zunächſt das legtere 
in’d Auge faffen. Im dem Artifel der Dreifaltigkeit ſtimmten die 
Adoptianer vollfommen mit den rechtgläubigen Katholifen überein; 
fie unterfchieden fi) von denfelben nur in der Lehre von den beiden 
Naturen des Erlöſers. Chriftus, fagten fie, ift eine Verfon aus 
der hochheiligen Dreieinigfeit, Er ift Fraft ewiger Zeugung Sohn 
Gottes, wahrer Gott und Eines Wefens mit dem Vater; zugleich 
ift Er wahrer, aus Leib und Seele beftehender, Menſch, geboren aus 
Maria der Jungfrau. Zwei Naturen find daher in Ihm: eine gött- 
liche, fraft welcher Er dem Vater, und eine menfchliche, Fraft welcher 
Er ung Andern — jedoch mit Ausnahme der Sünde — gleich ift. 
Beide Naturen find zwar wefentlich verfchieden, aber durch die per 
fünlihe Bereinigung dergeftalt mit einander verfchlungen, daß es 
nur einen Chriftum, einen Sohn Gottes, nicht zwei Herrn, zwei 
Söhne gibt. Gleichwohl hebt die Vereinigung beider Naturen zu 
einer Perfon ihre Berfchiedenheit nicht auf, man muß fi wohl 
hüten, beide zu vermengen. Hieraus folgt, daß diefelben Eigen: 
fchaften zwar von der einen wie von ber andern Natur, von Chriftus 
als Gott, und von Chriftus als Menſchen, ausgefagt werden fünnen, 
aber diefelben fommen jeder Natur auf eigenthümliche Weife zu. 
Chriſtus ift fowohl der Gottheit als der Menfchheit nah Sohn des 
Allmächtigen, aber Er ift Beides in verfchiedenem Sinne. Als Logos 





1) Manfi XI, 133 Mitte. 
Gfrörer, Kircheng. II. 41 


BR in II. Buch. Kapitel 9, 


oder Gott ift Er Sohn nicht durch Gnade, fondern durch ewige 
Zeugung aus dem Vater; als Menſch ift Er Gottesfohn nur durch 
Gnade und Annahme an Kindesftatt (adoptione). Die Schrift 
nennt den Menfchen Chriftus einen Sohn David’s; wäre Er auch 
als Menſch auf gleiche Weife Gottes Sohn, wie als Logos, fo würde 
ein und derſelbe zwei Väter haben, was wiberfinnig if. Wir 
finden, daß die Bibel von Menfchen redet, die der Ewige zu Kin: 
bern angenommen habe. Seiner menfchlichen Natur nach gilt dieß 
auch von Chriftus, was die Schrift aufs Deutlichfte Dadurch anzeigt, 
daß fie Chriftum der Gottheit nach den eingebornen (wovoyerng), der 
Menschheit nach dagegen den erfigebornen (nowroroxog) Sohn des 
Baters nennt. Gleicherweife nennt fie den Menſchen Chriſtus 
einen Bruder der Kinder Gottes. Die Kindfchaft Gottes wird den 
Brüdern Chrifti durch die Taufe zu Theil. Auch Hierin ift Chriftus 
den Menfchen gleich. Seiner Menfchheit nah ward Er zum Kinde 
Gottes angenommen in dem Augenblide, da während feiner Taufe 
die Stimme erfcholl: „das ift mein lieber Sohn, an dem ih Wohl⸗ 
gefallen habe.“ Noch weiter giengen die Adoptianer mit der Sprache 
heraus, indem fie den Ausdrud gebrauchten: Chriftus fey in Bezug 
auf feine menschliche Natur nur dem Namen nad) Gott (Deus nun- 
cupativus) und gleich) ung ein Knecht des Ewigen. Die Bibel, 
fagten fie, lehrt ung, daß alle Menfchen, ehe fie dur die Gnade 
mittelft der Taufe zur Kindfchaft angenommen werden, von Natur 
Knechte find. War Chriſtus wahrer Menſch, fo mußte er uns auch 
in Bezug auf natürliche Knechtſchaft gleichen. Wirklich Tehrt dieß 
die heilige Schrift aufs Beftimmtefte, denn Paulus fagt (Phil 
lip. 1, 7.), „Chriſtus habe Knechtsgeftalt angenommen, gleich ung.“ 
Als Knecht und Menfch war endlih der Erlöfer allen Schwächen 
und Schranfen der Menfchennatur — mit alleiniger Ausnahme der 
Siündhaftigfeit — unterworfen. Denn wir leſen ja in den Evan- 
Helien, daß Jeſus während feines Wandels auf Erden Schmerzen, 
felbft den Tod erduldet und auch Mandes, als z. B. den Tag 
des Gerichts, und den Drt, wo Lazarus begraben Tag, nicht ge: 
wußt bat. ') 





1) Der Lehrbegriff der Adoptianer ift Hauptfächlich niedergelegt in den 
beiden Briefen, welche die fpanifchen Bifchöfe an Karl'n den Großen und an 
die Kirchen von Aquitanien, Gallien und Auftrien erließen; abgedruckt bei 


Die fränkifche Kirche vom Anfange des fiebenten Jahrhunderts ıc. 643 


Der Adoptianismus ift, wie man fieht, ein Verſuch, und zwar 
ein ſehr fharfjinniger, etlihe Hauptpunfte der rechtgläubigen Lehre 
von ber heil. Dreieinigfeit und dem Wefen Chriſti begreifticher zu 
machen. und wider die Einwürfe gewiſſer Gegner zu vertheidigen. 
Kein Sag der driftlichen Dogmatik erfcheint Ungläubigen, wie Ma— 
homedanern und Heiden, oder auch folhen Bekennern Jeſu, welche 
fich herausnehmen, den gefunden Menfchenverftand als Maapftab an 
jegliches Ding zu legen, härter und unmöglicher, als die Behaup: 
tung, daß jene weltgefchichtliche Perfon, welche zu den Zeiten des 
Kaifers Auguftus in Teibhaftiger Geftalt eines Juden 
heranwuchs, welche fodann allen Jammer, beffen der Menfch fähig 
ift, ertrug, und zulest durch die Pharifäer und Leviten ſchmählig 
mißhandelt, gegeißelt, an’s Kreuz gefhlagen, und wie ein Miffe: 
thäter hingerichtet worben ift, eines Wefens mit dem Allmächtigen, 
dem Schöpfer des Himmels und der Erde feyn folle. Einen guten 
Theil folcher Linbegreiflichfeit und Härte räumt nun der Adoptianig- 
mus weg, indem er fehr fcharf zwifchen dem Menfchen und dem Gott 
Chriſtus unterfcheidet, und ung belehrt, daß jener Dulder in Judäa, 
ber von den Juden mißhandelt ward, feiner leiblichen Erſcheinung 
nad feineswegs Gott, fondern nur ein Knecht des Herrn gleich 
und, oder mit andern Worten ein hochbegünftigtes und erwähltes 
Werkzeug des Allmächtigen gewefen ſey. Nun wird auch auf eins 
mal far, warum der Adoptianiſche Lehrbegriff zuerft von folchen 
Lehrern, die gegen Arianer fihrieben, aufgeftelft worden ift, und 
zweitens, warum er gerade unter den Katholifen des Landes, wo 
bie Arianer am längften die Oberhand behielten, nemlic Spaniens, 
den größten Beifall fand? Die Arianer vertheidigten bekanntlich die 
Rechte des gefunden Menfchenverftands in Glaubensfahen; fie 
hoben namentlih alle ſchwachen Punkte, die ihnen in der Fatholi- 
Ihen Lehre von der Einheit des Sohns mit dem Bater zu liegen 
Ihienen, fehr ſtark und voll Schadenfreude hervor. Um nun den 
boshaften Einwürfen diefer mächtigen Widerfacher den Stachel zu 
nehmen, fahen ſich die Rechtgläubigen genöthigt, ihren Lehrbegriff 
nah Kräften den Gefegen ber gemeinen Vernunft anzunähern. 





Sroben Opp. Alcuini II, 567 flg., dann in den Streitfchriften der Gegenpar: 
thei. Genau entwidelt, unter fleter Beziehung auf die Beweisftellen,, findet 
man ihn bei Walch Hiftorie ver Ketzereien IX., ©. 856 flg., worauf wir 
verweifen. 

41* 


644 X I Buch. Kapitel 9. 


Der Arianismus ward zwar 589 befiegt und bald nad Anfang bes 
fiebenten Jahrhunderts völlig ausgerottet, aber die Milderungen 
vechtgläubiger Härte, welche die Katpolifen, um der nunmehr überwun— 
denen Gegner willen, einmal zugeftanden hatten, Dauerten fort. Nach: 
dem feit 710 durch die Saracenen das weftgotbifche Reich geftürzt 
und der fpanifche Clerus in die Dienftbarfeit des Kalifen und feiner 
Statthalter gerathen war, erhielten die vechtgläubigen Kirchenlehrer 
Spaniens einen neuen, dem vorigen nicht unähnlichen, Anlaß, den 
Adoptianismus, ber jet auch bereits das foftbare Necht der Gewohn— 
heit für fich hatte, zu wahren. Se genauer nemlich die Bekenner 
Mahomet's und des alleinigen Gottes mit den Chriften befannt 
wurden, befto unerträglicher fanden fie die Lehre der Lebtern von 
der Göttlichfeit Jefu. Ihre Abneigung gegen einen Glaubensartifel, 


ber ihnen als Gottesläfterung erjchien, führte manchmal in den 


hriftlihen Ländern, welde fie erobert hatten, zu ſchlimmen Auftrit: 
ten. Wir wollen ein Beifpiel erzählen. Um 688 ließ Abdel-Azizt, 
Statthalter des Kalifen über Aegypten, ſämmtliche Kreuze der 
Shriften wegnehmen und über die Kirchenthüren folgende Auffchrift 
fegen: ) Mahomet ift der große Gefandte Gottes, 
Chriſtus ift der Gefandte Gottes, Allah zeugt 
nicht und wird nicht gezeugt. Man fann fi den 
fen, daß es auch in Spanien zu allerlei Erörterungen über Glau— 
bensfachen zwifchen ſaraceniſchen Imam und criftlichen Clerikern 
fam. Sin folden Fällen durften die Chriften arabiſchen Zweifeln oder 
Streitgründen nicht, wie es fonft wohl gefchah, bloße Machtfprüce 
oder Verwünſchungen entgegenfegen, — denn die Sararenen 
waren Herren im Lande — fondern fie mußten ihre Gegner 


ruhig anhören und zu widerlegen fuchen. Nun gab es faum eine. 


beffere Waffe, den mohamebanifhen Einwurf: wie denn ber yon 
den Juden verworfene, mißhandelte, gefreuzigte Sohn Mariens 
eines Wefens mit dem Allmächtigen, dem Weltfchöpfer feyn könne, 
zurückzuweiſen, als wenn man ben Zweiflern oder Spöttern jene 
feinen adoptianifchen Unterfcheidungen zwifchen der menſchlichen und 
göttlichen Natur des Erlöfers, zwifchen dem Logos oder dem Worte 
Shriftus, und dem Knechte Gottes Jeſus entgegenhielt. Kurz wir 





) Man ſehe Nenaudot historia Patriarcharum alexandrinorum. ©. 178 
unten flg. 


— 





* 





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Die fränkifche Kirche vom Anfange des fiebenten Jahrhunderts ıc. 645 


find lebhaft überzeugt, ‚daß die arabifche Herrfchaft nicht wenig dazu 
beigetragen hat, den fpanifchen Elerus in feiner Anhänglichfeit an 
ben ſchon von den Vätern überlieferten Adoptianiemug zu befeftigen, 
und ich fehe mit Vergnügen, daß der ältefte Herausgeber fpanifcher 
Soneilien, Garcias Loyafa Giron etwas Aehnliches andeutet, indem 
er in feiner Abhandlung über den Rang des Stuhles von Toledo 
fagt: 5) „Elipandus fey, weil er haufig mit den Saracenen 
umgieng, auf die adoptianifche Ketzerei verfallen.“ 

Der Adoptianismus hatte demnach befonders für Spas 
nien feine fehr ftarfe Seite, aber auch eine ſchwache, fofern er 
am Ende nichts Anderes ift, als eine neue, im abendländifchen Geifte 
durchgeführte Form des Neftsrianifchen Lehrbegriffes. Hartnädige An: 
hänger der Nechtgläubigfeit befümmern fih, wie man weiß, nicht 
das Geringfte um die Rechte des gefunden Menfchenverftandes; im 
Gegentheil halten fie es für einen Greuel, der Vernunft zu lieb 
das Dogma abzuändern. Man fan. fih daher nicht wundern, 
wenn ein Streit zwiſchen Anhängern und Gegnern des Adoptianig: 
mus ausbrach. Es ift jest Zeit, daß wir bie Verfonen der Käm— 
pfer in's Auge faffen. Für den Adoptianismus fanden der Erz 
bifchof Elipyandus von Toledo, ein um 720 geborner Gothe, und 
bei Weitem der größte Theil des hohen fpanifchen Clerus derjenigen 
Provinzen, die dem faracenifchen Könige von Cordova gehorchten. 
Zu derſelben Parthei gehörte auch der Bischof Felir von Urael, 
welche Stadt damals, wie wir oben fagten, zum Aquitanifchen 
Reihe gehörte und folglih dem Franfenfönige Karl 
unterthänig war. Gegen den Adoptianismus kämpften Beatus, 
Presbyter eines fonft unbekannten afturifchen Orts Libana, deſſen 
Schüler der Biſchof Netherius von Dima in derfelben Provinz, 
und Theudula, wahrfcheinlih Biſchof von Sevilla. ?) Bon den 
fonftigen Berhältniffen der Einen wie der Andern ift wenig befannt. 
Beatus war fhon vor Ausbruch des Streits als Schriftftelfer auf 
getreten, indem er eine Erklärung der Apokalypſe verfaßte, auf 
welche ſich allem Anschein nach der Vorwurf feiner Gegner bezieht, ?) 
daß er durch falfche Prophezeihungen des jüngften Tags die ihm 





i) Bei Manft Concil. X., 520 unten. — 2) Ueber Theudula vergleiche 
man die. Bemerfungen des Majanſius in Froben's Ausgabe der Werfe Al: 
kuin's II, 591 a. — 3) Zu dem Briefe der fpanifchen Bifchöfe an die galli- 
ſchen ibid. II, 573 a. oben. 


646 II. Bud. Kapitel 9. 


untergebene Gemeinde faft um den Verftand gebracht habe. Außer- 
dem beichuldigt ihn die Gegenyarthei wiederhohlter Hurerei. ) 
Mitder fommt Aetherius weg. Kliyandus ertheilt ihm fogar einige 
Lobfprüche und ſchreibt die Fegerifchen Meinungen des noch jungen 
Mannes der Berführung feines Lehrers Beatus zu. Die Häupter 
der Adoptianer dagegen, Elipandus und Felix von Urgel, hatten 
einen ganz unbefcholtenen Leumund, den auch ihre Gegner nicht 
anzutaften wagten. Aus welcher Beranlaffung der Streit zum Aug: 
bruche Fam, ift gleichfalls dunkel; nur dieß wiffen wir gewiß, daß 
derfelbe furz vor 785 begann. Um dieſe Zeit müffen Beatus und 
Aetherius mündlich oder fhriftlih den Erzbifchof von Toledo als 
Befenner der aboptianifchen Lehre angegriffen haben. Hierauf fchrieb 
Elipandus einen größtentheils noch vorhandenen Brief?) an den Abt 
Fidelis in Afturien, wo auch Beatus lebte. „Wer nicht befennet,“ 
beißt es hier, „daß Zeus Chriftus zwar nicht feiner göttlichen, wohl 
aber feiner menſchlichen Natur nach, ein angenommener Sohn Gottes 
fey, der. ift ein Keger und verdient den Bann. — Schaffe daher 
das Uebel aus dem Lande. Sie (Beatus und Aetherius) befragten 
mich nicht, fondern wollen mich belehren, weil fie Knechte des 
Antihrifts find. — Hätten Sie die Wahrheit gefagt, fo würde ich 
Ihnen gefolgt ſeyn, nach der Schrift. Sp ift es aber unerhört, 
daß Leute von Libana (Libanenses) die yon Toledo belehren wollen. 
Ale Welt weiß, welchen Ruhm der Rechtgläubigfeit unfer Stuhl 
feit feiner Gründung befist, und daß niemals etwas Keberifches 
von ihm ausgegangen if. Dennod; will fich ein einziges räudiges 
Schaaf zu unferem Lehrer aufwerfen. Ich habe bis jest Die Sache 
unfern Brüdern (der Synode fpanifcher Bifchöfe) noch nicht vorge: 
tragen, weil ich hoffte, das Uebel werde an dem Orte, wo es ent- 
ftanden, auggerottet werden. — Allein geht es zu langfam, fo muß 
ih den Brüdern Anzeige machen, und ed wird dann eine große 
Schande für Euch feyn, wenn (die Synode) Euch beftraft. Du 
lieber Bruder belehre unfern Bruder Aetherius, der noch als Füng- 
ling Mitchipeife bedarf und noch nicht zur gehörigen Stärfe ber 
Erfenntniß gelangt ift, weil er mit Fegerifchen Menfchen, wie Beatug, 
Umgang pflegt. — Noch einmal bitte ih Euch, dag Ihr voll 





') Im Briefe ebenderfelben an Karl'n ibid. IL, 567 b. unten und 568 
oben, — ?) Abgedrudt ibid. II, 587. 





Die fränfifche Kirche vom Anfange des fiebenten Jahrhunderts ıc. 647 


ächten Glaubenseifers Euch anftrenget, den Irrthum aus Eurem 
Lande — Afturien — zu entfernen.“ — Das Selbfigefühl des Erz: 
bifchofs von Toledo war, wie man ſieht, aufs Tieffte empört, daß 
der Presbyter eines Tleinen Orts es gewagt hatte, feine Necht- 
gläubigfeit anzugreifen, ev machte aber vorerft noch einen Verſuch, 
den Gegner durch Vermittlung des Abts Fidelis, der wohl Vor: 
gefeter des Beatus war, zum Widerrufe zu beftimmen. Fidelis 
theilte das Schreiben des Metropoliten dem Presbyter Beatus mit. 
Statt feine Meinung zurüdzunehmen, fchleuderte nun dieſer eine 
heftige Streitchrift ) gegen Elipandus, in welcher er die adoptia— 
niſche Lehre durch Bibelftellen, Zeugniffe der Väter, und höchſt 
fonderbare Schlüffe niederzufehmettern ſuchte. Wir übergehen das 
Dogmatifche, Heben dagegen aus der Abhandlung des Beatus eine 
Stelle hervor, die großen gefchichtlihen Werth bat: ?) „Sind es 
nicht Wölfe, die ung zurufen: glaubet an den angenommenen Sohn 
Jeſus Chriftus, und wer nicht fo glaubt, der werde des Landes 
verwiefen. Weiter fchrieben fie: der Metropolite, wie der» 
Fürft des Landes, weldhe Beide im Bunde mit einander die 
fegerifche Lehre, der Eine mit dem Schwerte des Worts, der Andere 
mit der Ruthe der Staatsgewalt befirafen wollen, follen aus 
gerottet werben. Nicht nur durch ganz Spanien, fondern 
auch in dem benachbarten Francien ift es ruchtbar geworden, daß 
zwei Fragen bie Kirche Afturiens aufregen. Gleichſam in zwei 
Bölfer, in zwei Gemeinden, die aufs Heftigfle miteinander über 
die Perfon Chriſti zanfen, Hat fich diefes Land geiheilt. Das gemeine 
Bolf, wie die Biſchöfe, fteben fich gegenüber. in Theil der Bi: 
fchöfe fagt: Chriftus ift zwar nicht der göttlichen, aber doch feiner 
menfchlihen Natur nad ein Adoptivfohn des Höcften. Die An: 
dern behaupten: Er ift nach beiden Naturen vollflommener Sohn 
Gottes — und zu den Iesteren gehören Wir — Beatus und Netheriug.“ 
Der Fürft, von dem Beatus hier redet, kann nur der König von 
Afturien (Alfonſus I, Nachfolger des Silo, deffen Wittwe Au: 
bofinda ?) Beatus zu Anfang feiner Streitfehrift nennt) und der 
Metropolit, den er anführt, kann nur der Erzbifchof von Braga, 





) Contra Elipandum libri IT. abgedrudt bei Canisius lectiones an- 
tiquae ed. Basnage II., 297 fig. — 2) Ibid, ©. 501 Mitte — 5) Ibid. 
297, Man vergleiche Aſchbach Gefchichte dev Ommajaden I., 165 flg- 


648 IIII. Buch. Kapitel 9. 


der Metropole des Reiches Afturien, feyn. Seit 745 hatte nemlich 
Alfonfus der Erſte, mit dem Beinamen des Katholifchen, Ber: 
wandter und Nachfolger des Fürften Pelagius, der, wie wir früher 
berichteten, nad) der Eroberung Spaniens durch die Saracenen, in 
den nördlichen Gebirgen eine unabhängige Herrichaft zu bewahren 
wußte, biefes Fleine chriſtliche Neich durch glückliche Kriege fo aus: 
gedehnt, daß der Lauf des Duro feine Südgränge bildete. ) Unter 
den von ihm gemachten Croberungen wird namentlich auch bie 
Metropole Braga aufgeführt; gleicherweife gehörte zu Afturien Otma, 
der Bifchofsfig des Aetherius. Aus der Stelle des Beatus erhellt 
alfo Far, daß fowohl der Fürft als der Dberpriefter von Afturien 
dem Adoptianismus, der von Toledo auggieng, entgegenarbeiteten, 
und daß fie die Bekämpfer des Elipandus unterftüßten. Jetzt wird 
auf einmal Har, warum der Primas von Spanien nicht firenger 
gegen Beatus und feine Freunde verfuhr; er traute fich felbft nicht 
Einfluß genug zu, um Männer zur Strafe zu ziehen, die unter 
dem Schutze des Landesfütften flanden. Gleichwohl muß der Stuhl 
von Toledo wenigftens noch eine gewiffe Gewalt über die Kirche 
Afturiens bejeffen haben, denn fonft fonnte Elipandus in dem eben 
angeführten Briefe an den Abt Fidelis nicht mit Einfchreiten der 
Synode auf den Fall.droben, daß Beatus und feine Freunde bei 
ihrer Meinung beharren würden. Zur Zeit der faracenifchen Erobe- 
rung übte der Erzbifchof von Toledo, wie früher gezeigt wurde, 


Metropolitanrechte über die ganze fpanifche Kirhe aus, Das gleiche 


Verhältniß beftand auch nachher fort, und fo geihah es, daß bie 
Stühle des neu ſich bildenden chriftlichen Reichs von der Metropole 
zu Toledo, welche unter dem Scepter der Saracenen fand, abhängig 
blieben. Unmöglich konnte dieß den Afturifchen Fürften angenehm 
feyn, daher ift es begreiflich, daß fie mit Freuden jede Gelegenheit 
benüsten, um ihre Landeskirche von Toledo frei zu machen. Und 
hiezu fam ihnen der Streit gegen Elipandug wie gerufen. Die Sache 
ſtellt fich jet fo heraus: fchon bei feinem erften Ausbruch in Spanien 
hatte der Adoptianifche Zanf eine politifche Unterlage. Einige 
unzufriedene afturifche Geiftliche erhoben gegen den Primas der 
ganzen Halbinfel, Elipandus, die Anflage der Irrlehre, weil fie 
wußten, daß fie Schug bei dem Könige Afturiens finden würden, 





1) Die Beweife bei Aſchbach a. a. O. I, 155 u. 156. 





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Die fränkiſche Kirche vom Anfange des fiebenten Jahrhunderts ꝛc. 649 


ber feine Landesfirche von dem Verband mit dem Stuhle zu Toledo, 
unter dem Borwande, daß berfelbe Fegeriihe Meinungen hege, los— 
zureißen gedachte. Der Erfolg zeigte, daß Beatus richtig gerechnet 
hatte. Nicht blog der König, auch der Erzbifchof von Braga, als 
Metropolit des neuen Reiches, erklärte fich für ihn. Gleichwohl 
gelang ber Plan nicht vollfommen, aus Gründen, welche Durch die 
Geſchichte Afturiens aufgeklärt werden. Nach dem im Jahre 784 
erfolgten Tode des Königs Silo, der eigentlich blos als Vormün—⸗ 
ber des damals zwölfiährigen Prinzen Alfonfus I. regiert hatte, 
brach ein Zwieſpalt im afturiihen Reiche aus. Ein Kleiner Theil 
erfannte Alfonfus an, die Mehrzahl erhob einen Großen, Maus: 
regat auf den Thron, ber, um feine Gewalt zu befeftigen, ein 
Bündniß mit den Saracenen abjchloß. I) Seitdem herrfchte in der 
afturifhen Kirche, wie im Staate, die heftigfte Partheiung, welche 
auf die oben angeführte Stelle aus dem Buche des Beatus helles 
Licht wirft. Diejenigen afturifchen Bifchöfe, welche zur Parthei des 
Mauregat hielten, ſchworen zum Dogma des Elipandus, des Schüß- 
lings der Saracenen. Sie waren es auch, welche fihrieen: aus- 
gerottet werde der König (Alfonfus) und fein Metropolit. Die 
Anhänger des Alfonfus dagegen verfluchten die Adoptianer als 
Keger und ſtimmten mit Beatus überein. 

Wir erfahren nicht, wie Elipandus die Schrift feines Gegners 
aufnahm, hingegen ift gewiß, daß fofort der Stuhl Petri, ohne 
Zweifel auf Antrieb der afturifhen Feinde des Elipan— 
dus, gegen den Erzbifchof von Toledo fein Wort einfeste. Im 
Jahre 785 oder im nächftfolgenden erließ Hadrian I. ein an fämmt: 
lihe Biſchöfe Spaniens gerichtetes Schreiben, in welchem er neben 
andern Kesereien auch die adoptianifche Lehre ?) angriff: „ferner 
ift aus Euren Gegenden die traurige Nachricht ung zugefommen, 
daß einige Bifchöfe, nemlich Eliyandus und Asfarifus, 3) fammt 
einigen andern Gleichgefinnten nicht erröthen,, Chriftum einen ange: 
nommenen Sohn Gottes zu nennen, da doch noch Fein Ketzer eine 
ſolche Irrlehre ausgeftoßen hat, als der einzige Neftorius, ber ben 





NAſchbach a. a. O. 1, ©. 165. — 2) Cod. Carolinus ed. Cenni epist. 
82, J., 445 unten fla. — 3) Diefer Bifchof wird au in dem Briefe des 
Elipandus an ven Abt Fivelis genannt. Sonft weiß man nichts von ihm, 
als daß er ein Adoptianer war. 


650 II. Buch. Kapitel 9. 


Sohn Gottes für einen bloßen Menfchen ausgab. Ich bitte Euch, 
Yaffet Euch durch das Gift diefer Schlange nicht anſtecken.“ Die 
unzweibeutige Erklärung des Pabſts war ein ſchwerer Schlag für 
die Parthei des Elipandus. 

So ſtanden die Sachen, als der Frankenkönig Karl für gut 
fand, ſich in den adoptianiſchen Streit einzumiſchen. Warum er 
dieß that, läßt ſich leicht ermitteln. Erinnern wir uns vorerſt, daß 
laut dem Bekenntniſſe, welches der Franke in den karoliniſchen 
Büchern ablegt, es die erſte Pflicht der Könige, beſonders aber des 
Kaiſers iſt, den wahren Glauben zu vertheidigen und Ketzereien 
auszurotten. Indem er nun ſich anſchickte, die adoptianiſche Lehre in 
einem Land, das ihn gar nichts angieng, nemlich im ſaraceniſchen Spa⸗ 
nien zu verfolgen, konnte er dadurch zugleich feinen eines Kaifers 
würdigen Eifer für die Sache Chrifti vor der Welt bethätigen, aber 
auch, was nicht weniger erfpriestich, feine politifche Macht erweitern. 
Denn mit Necht durfte er erwarten, daß von Nun an bie fpani= 
fchen Gegner des Elipandus den großen König, der ihrer Sache 
fo wichtigen Borfchub that, in den Himmel erheben und feine Ab: 
fichten freudig unterftügen werden. An einem paffenden Anlaß, in 
den Streit einzugreifen, fehlte es ihm auch nicht. Denn war nicht 
der Bischof Felir von Urgel, der Freund und Mitfämpfer des Eli: 
pandus, Karl’s Unterthan, und ftand es folglich nicht in des Königs 
Macht, durch verfihiedene Mittel entweder den Mann zu Abſchwö— 
rung der aboptianifchen Irrthümer zu vermögen, oder aber, wenn 
Felix feft blieb, eine Synode fränfischer Bifchöfe —— 
und den Widerſpenſtigen als Ketzer verfluchen zu laſſen? In beiden 
Fällen fiel die Schande der Verdammung, welche die fränkiſche Kirche 
wider Felix ausgeſprochen, nothwendig auch auf Elipandus zurück, 
und für dieſen begann dann eine Reihe Verlegenheiten, die notbs 
wendig Karls Planen förderlich waren. Denn entweder mußte 
fofort Elipandus die Gnade des Königs zu erringen fuchen und 
folglich die Bedingungen annehmen, die ihm der Franfe vorfchrieb, 
oder gewärtig feyn, daß geheime Gegner im eigenen Lande, deren ein 
Primas immer zählt, wie etwa der obenerwähnte Erzbiichof Theubula 
von Hifpalis, — bekanntlich herrfchte eine alte Eiferfucht zwifchen 
den Stühlen von Toledo und Sevilla — fih gegen ihn unter 
dem Borwande der Keberei erheben werden. Sedenfalls erhielt alſo 
Karl Gelegenheit, eine Parthei unter dem fpanifchen Clerus zu werben. 





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Die fränfifche Kirche vom Anfange des fiebenten Jahrhunderts ꝛc. 651 


Man muß daher befennen, daß feine Einmifchung in die Adoptiani- 
chen Händel fehr Hug berechnet war. 

" Schon im Jahre 790 hatte Karl feinen Entſchluß in diefer 
Beziehung gefaßt, denn die Farolinifchen Bücher, die, wie wir oben 
zeigten, 790 beendigt wurden, brechen ja bereits gegen bie Irrlehre 
der Adoptianer log. Indeß gefchah im angegebenen Fahre, fo wie 
auch im folgenden noch nichts, allem Anfchein nach weil Alfuin, deffen 
fih Karl für alle theologifche Staatsgefchäfte, als feines Werkzeugs, 
bediente, und der wirklich fpäter im adoptianifchen Streite das große 
Wort geführt hat, damals die englifche Gefandtfchaft beforgte. 
Kaum aus Britannien zurüdgefommen, vielleicht auch noch vor ber 
Abreife dahin, fchrieb Alkuin an Felir von Urgel einen Brief, ') 
der — wer follte es glauben — bie feurigften DVBerficherungen der 
Freundfchaft und der Achtung enthält: „Zwar kenne ich Dich nicht 
von Angefiht, wohl aber haben mir einige Brüder Deine From: 
migfeit gerühmt Im Bertrauen der Liebe, welche Chriftus iſt, 
wage ich es daher mich Deinen und der Deinigen Gebeten zu 
empfehlen, nicht weil mein Verdienſt mir dazu den Muth giebt, 
fondern weil Dein herrlicher Ruf mich dazu beftimmte. Sch flehe 
Did daher Fniefällig an, Du möchteft mich unferem Erlöfer mit 
derjenigen Liebe empfehlen, durch welche er alle die Seinigen ver: 
"bunden bat. Denn bie Liebe verachtet Niemand.“ In diefem Tone 
geht es fort. Wenn man nun bedenft, daß derfelbe Bilchof Felix, 
an den der Brief gerichtet ift, im Jahr 792 auf Karls Befehl 
verhaftet und vor ein geiftliches Gericht geftellt wurde, fo fheint 
nur die einzige Erklärung des angeführten Schreibendg möglich, 
Alkuin Habe dadurd den Dann fiher machen und einfullen wollen. 
Wahrſcheinlich war ſchon etwas yon Karl’s Planen gegen die Adop- 
tianer ruchtbar geworden, und Alfuin mochte fammt feinem Gebieter 
fürchten, daß Felix fih durch die Flucht der nahenden Verfolgung 
entziehen fünnte, was den befchloffenen dogmatifchen Feldzug vereitelt 
hätte. Dem fey, wie ihm wolle, fo berichten ung die fränkischen 
Jahrbücher einftimmig, Felix fey im Sommer 792 von Urgel nad 
Regensburg, wo fih damals Karl befand, abgeführt, und von einer 
Synode, die dort zufammentrat, der Keberei ſchuldig erflärt wor: 
den. ?) Felix mußte einen Eid Yeiften, daß er für immer dem von 





) Epistol, Aleuini IV,, opp. I., 7 unten. — 2) Einhardi annales ad 


652 | IM. Bud: Kapitel 9. 


ihm erfannten aboptianifchen Irrthum abfage Bon Regensburg 
ſchickte ihn Karl unter Obhut feines Erzfapellans Angilbert nad 
Nom, um auch vom Pabſte verdammt zu werden. Man fieht 
hieraus, wie viel dem Könige daran lag, die Berurtheilung des 
Adoptianers mit möglichft viel Lärm zu betreiben. Pabſt Hadrian I. 
warf Felir ins Gefängnig und zwang den Spanier noch einmal, 
feine Lehre abzuſchwören. Aber nach kurzer Haft entwifchte Felix 
aus Rom und floh nun zu feinen Brüdern im faracenifchen Spas 
nien, ) wo er vor Karls Rache gelihert war. Aus den That: 
fachen, die fpäter angeführt werden follen, ſcheint ung zu erhellen, 
daß der Frankenkönig die Anficht hegte, der Pabft habe feinen Ge: 
fangenen abfichtlich nicht ftreng genug bewacht. Fest griff Alfuin 
verfönlich in den Streit ein, indem er ein Schreiben an Felir 
erließ, 2) worin er denfelben aufforderte, von feiner Keterei abzu- 
laffen: „Wage nicht,“ ruft er ihm zu, „vergeblich zu flreiten. Hell 
Yeuchtet auf dem ganzen Erdenrunde die Lehre des Evangeliums. 
Diefe laß ung fefthalten und treu verfündigen. Was fünnen wir 
Menfchlein, unter denen fehon die Liebe fo vielfach zu erfalten be: 
ginnt, Befferes thun, als daß wir der Lehre des Evangeliums und 
der Apoftel von Herzensgrunde folgen, ohne neue Namen aufzu= 
bringen , ohne Ungewöhnliches zu erfinden, ohne durch Neuerungen 
eigener Eitelfeit zu froöhnen, damit nicht Tadel an uns erfunden 
werde, während wir Lob zu verdienen wähnen.“ Nebenbei hält 
Alfuin für gut, einige Bemerkungen einzuftreuen, wodurch erklärt 
werden fol, warum das vorliegende Schreiben fo verfchieden von 
dem älteren fey, das wir oben erwähnten. „Früher habe ich mich,“ 
fagt er, „Deinen Gebeten empfohlen, weil ic Did) um Deines 
Nufes willen liebte, jet wage ich es in der Liebe des Herrn und 
im Frieden der Fatholifchen Kirche Dich noch brünftiger zu umfaffen, 
indem ich für Dein ewiges Seelenheil forge, das Niemand ohne 
Uebereinftimmung mit der allgemeinen Kirche zu erringen vermag.“ 
Obgleich der Brief mit frommen und milden Redensarten reichlich 
durchwürzt ift, nimmt doch im Ganzen ber fränfifche Levite oder 





annum 792, Perz I., 179. Poeta Saxo ibid. I., 249 und Andere. Daffelbe 
fagt auch Alfuin im erften Buche gegen Elipantus opp. I, 882 Mitte. — 
ı) Dich bezeugt nicht bios Alkuin a. a. DO. ©. 882, fondern auch Pabft 
Leo II. in den Akten einer zu Nom 799 gehaltenen Synode, Manſi XIIL, 
1031 unten. — 2) Opp. L, b. ©. 783 flg. 


a0) 74 A ah 4) Du 2 0 Ku nel 


Die fränkiſche Kirche vom Anfange des fiebenten Jahrhunderts ac. 653 


Diafon einen hohen Ton gegen den Spanischen Bifhof an. 
Aber nun begannen auch die Freunde bes Felix, der Erzbifchof 
Eliyandus yon Toledo und feine Genoffen, die Hände zu Gunften 
des Flüchtlings zu rühren. Im Jahr 793 geſchah es nemlich, daß fie 
die oben mehrfach angeführten !) zwei Denkſchriften an Karl'n und die 
Bischöfe des fränkischen Reichs abſchickten. In der zweiten entwideln 
‚und rechtfertigen fie ihre Lehre vom Sohn und fuchen die Behaup: 
tungen des Beatus zu widerlegen; am Schluffe bitten fie ihre frän: 
fiihen Brüder die obſchwebende Streitfrage genau unterfuchen: zu 
wollen, und verfprechen, ihre Entfcheidung mit Bereitwilligfeit ans 
zuhören. Aehnlichen Inhalts, aber noch merkwürdiger ift das Schreiben 
an Karl, Auch hier tragen fie auf Unterfuhung durch eine fränfifche 
Synode an, und fügen noch die dreifache Bitte bei, Karl möge 
Felix in fein voriges Amt wieder einfegen, die fegeriiche Lehre des 
Beatus in feinen Staaten verbieten, und drittens Borfehrung tref— 
fen, daß die weitere Verbreitung dieſer Irrthümer auch in den 
Theilen von Spanien, weldhe den Sararenen nicht unterworfen 
feyen (d. h. in Afturien), verhindert werde. Karl hatte vorerft einen 
Hauptzwer erreicht: die Biſchöfe des faracenifchen Spaniens lagen 
zu feinen Füßen, fie erkannten ihn als ihren Richter an, und for: 
berten feine Bermittlung heraus! Karl ermangelte nicht, die beans 
tragie Unterfuchung anzuordnen. Vorher aber that er einen andern 
Schritt, der einiger Erläuterung bedarf. Bis dahin war Die adop= 
tianifche Lehre ſchon zweimal durch Erlaſſe des Stuhls Petri vers 
worfen worden: zuerſt durch den Brief, welchen Habdrian I. 785 
an die Kirche Spaniens fchrieb, ?) dann durch den Widerruf, ben 
derfelbe Pabft im Jahre 792 dem Bifchofe Feliv zu Nom abnö— 
thigte. Gleichwohl glaubte Karl den Pabft zu einer dritten Er: 
Härung anhalten zu müffen. In einer zu den Berhandlungen des 
Frankfurter Concils gehörigen Urkunde, von der tiefer unten bie 
Rede ſeyn wird, fagt er felbft: ?) „Drei= bis viermal haben 
wir Botfchaften an den Stuhl Petri gefandt, um zu 
erfahren, was die römische Kirche von der Neuerung des Elipans 
bus denfe.“ Auch die Iebterwähnten beiden Briefe der Spanier 
überfchichte der König an den Pabſt; und nun mußte Hadrian fich 





) Opp. Alcuini II., 567 fig. — 9 Siehe oben ©. 649. — 3 Manfl 
XIII. 901 Mitte, 


654 IM. Buch. Kapitel 9. 


öffentlich ausfprechen. In einem noch vorhandenen Schreiben, das 
an die Biihöfe Gallicieng und Spaniens gerichtet iſt, ) be— 
richtet er zuerfl, wie der König Karl ihm von den Kebereien, bie 
in Spanien ausgebrochen, Meldung gethan, auch den Brief bes 
Eliyandus von Toledo mitgetheilt habe. Die adoptianifche Lehre, 
heißt es weiter, zu welcher ſich Elipandus befenne, fey allerdings 
ein grober Irrthum, den er fo fort Durch eine weitläufige dogma— 
tifche Abhandlung zu widerlegen ſucht. Am Schluffe äußert er den 
dringenden Wunſch: Elipandus möge Buße thun, und feine Mei: 
nung zurüdnehmen, in welchem Falle er in der Kirchengemeinfchaft 
und auch in feinem Amte bleiben dürfe. Sollte er aber diefe Mahnung 
verachten, fo fey es feine (des Pabftes) Pflicht, Fraft der ihm von 
Eprifto übertragenen Gewalt, den Bann über Elipandus und feine 
Genoffen zu verhängen; doch erlaubt Hadrian auch) dann noch den Glän: 
bigen für das GSeelenheil und die Belehrung des Erzbifchofs den 
Himmel anzuflehen, dieweil Gott nicht wolle, daß irgend Einer zu 
Grunde gehe, fondern Jeder das ewige Leben erringe. Abermal 
hatte alfo der Pabft die Adoptianer verdammt; und wenn nun 
Karl gegen Elipandus feindfelige Maaßregeln ergriff, fonnte er fich 
rühmen nur den Spruch des Stuhles Petri zu vollziehen. Allein 
aus dem Eifer, mit welchem der Franfenfönig den Pabſt zu fo 
oft wiederholten Erflärungen gegen die Adoptianer antrieb, muß 
man offenbar den Schluß ziehen, daß die Parthei des Elipandus 
das Gerücht ausfprengte, der Stuhl Petri fey ihrer Sache Feines: 
wegs abgeneigt, und nur aus Furcht vor fränfiicher Gewalt habe 
bisher der Pabft ihren Gegnern, halb gezwungen, Recht geges 
ben. Und wirflih war biefe Behauptung, allem Anfchein nad, 
feineswegs grundlos. Denn die von Karl felbft berichtete Tpat- 
ſache, daß er Hadrian drei= bis viermal bitten und drängen mußte, 
beweist Har, wie wenig Luft Hadrian in ſich verfpürte, die fränfi 
fhen Plane zu unterftügen und die Freunde des Elipandus zu ver: 
derben.. Ebendafür fpricht auch die Milde, mit welcher der Pabft 
in dem angeführten Briefe die angefchuldigten Spanier behandelt. 
Doch es bedarf in biefer Sade nicht einmal hiftorifcher Beweiſe. 





1) Ibid. XIII., 855 fig. gallieiis spaniisque ecelesiis. Unter Galliciern 
verfteht der Pabft die chriftlihen Spanier (Afturier), unter Spaniis die dem 
Scepter der Mahometaner unterworfenen Stühle. 


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Die fränfifche Kirche vom Anfange des fiebenten Jahrhunderts ꝛc. 655 


Bon jelbft verficht es fih, daß ein römiſcher Oberpriefter, wie 
Hadrian, fih nicht gutwillig zum Handlanger fremder Eprfucht ber: 
geben fonnte. Im Uebrigen erhellt auch noch aus andern Umftäne 
ben, bie fofort erwähnt werben follen, daß Karl mit äußerfter _ 
Sorgfalt den Schein zu entfernen ſuchte, als ob nicht alle geift: 
lichen Würdenträger der son ihm beherrſchten, oder mit feinem 
Reiche verbundenen Länder über die adoptianiſche Frage einer und 
derfelben Meinung feyen. Er ſchenkte folglich jenem Gerücht fehr 
große Rüdficht, und beſtätigte dadurch — wider feinen Willen — 
die Wahrheit deffelben. 

Längft hatte der König, wie wir oben berichteten, die Abhal- 
tung einer Synode wegen der Bilderfache bejchloffen. Er brauchte 
alfo blos die Unterfuchung des adoptianifchen Streits berfelben 
Synode zu übergeben, fo war zugleich dem Antrag des Erzbifchofs 
von Toledo Genüge gefchehen und fein eigener Zweck erreicht. 
Die glänzende Kirchenverfammlung zu Frankfurt, auf welcher fi 
auch viele fränfifhe Große vom Laienftand einfanden, faßte 56 
Beſchlüſſe, ) von denen jedoch nur die beiden erjten und der letzte 
Angelegenheiten der Kirche betrafen. Der fechsundfünfzigfte befagt: 
Alkuin fey den verfammelten Vätern von Karl empfohlen, und auf 
fein Fürwort hin von Diefen als glei berechtigtes Mitglied aner: 
fannt worden. Der König that dadurch aller Welt fund, daß er 
den angelfächfifchen Leviten zu den wichtigften Gefchäften verwende. 
Der zweite Canon lautet fo: „Nachdem ung Bericht erftattet worden, 
welcher Geftalt die Griechen zu Conftantinopel auf einer Synode 
den Fluch über Diejenigen verhängten, welche den Bildern der Heis 
ligen nicht diefelbe Verehrung erweifen würden, wie der göttlichen 
Dreieinigfeit, fo haben wir einftimmig die Anbetung der Bilder ver 
worfen.“ Der erfte Canon ift gegen bie fpanifchen Adoptianer ges 
richtet: „Zu Anfang des Reichstags wurde verhandelt über die gott: 
lofe und greuliche Keberei des Elipandus von Toledo, des Felir 
von Urgel und ihrer Anhänger, welche die Irrlehre aufitellen, daß 
ber Sohn Gottes ein an Kindesftatt angenommener fey. Eins 
ftimmig haben Wir, die in Frankfurt verfammelten Väter, und bie 
gegen ausgefprochen, und folche Kegerei gänzlich von der Kirche auszus 





ı) Abgedruckt can. I, und II, bei Manſi XIII., 909 die übrigen bei Ba: 
luzius J., 263 flg. { 


656 I Buch. Kapitel 9. 


rotten befchloffen.“ Eine fo feierlihe VBerdbammung genügte dem 
Könige noch nicht; befondere Schriften wurden im Namen des 
Concils gegen Elipandus gefehleudert, und zwar nicht eine einzige, 
fondern vier nach der Zahl der wichtigften Völker oder Gewalten, 
die auf dem Neichstage von Frankfurt vertreten waren. „Wir 
haben“ fagt er felbft in dem Briefe ') an Elipandus und bie 
Bifchöfe Spaniens, „für gut gefunden, Euch durch vier verfchiedene 
Zuſchriften zu eröffnen, was die Väter unferer Synode in eurer 
Sache ausgemadt. Die erfle Zufehrift enthält die Anficht des 
Apoftolifus und der römischen Kirche; die zweite, was bie Biſchöfe 
ber näher gelegenen Provinzen Italiens unter dem Vorſitze des 
Metropoliten Petrus von Mailand und Paulinus von Aquifeja 
befchloffen haben; in der dritten fprechen die Kirchenhäupter Ger: 
manieng, Galliens, Aquitaniens und Britanniens ihre Anficht 
aus; in der vierten werdet Ihr finden was ich felbft, im Einklang 
mit den Bifchöfen meines Reihe und der Fatholifchen Leberlieferung, 
über eure Angelegenheit denfe.“ Karl ift graufam genug, noch den 
Sat beizufügen: „in dem Briefe, den Ihr an mich erließet, habt 
Ihr gebeten, ich möchte mich nicht Durch die trüglichen Behauptungen 
Weniger hinreiſſen laffen, fondern den Glauben bewahren, der durch 
bie Zeugniffe Aller oder der Meiften befräftigt wird. Euer Ber: 
langen ift, wie ihr. fehen werdet, erfüllt.“ Die vier Zufchriften find 
noch vorhanden. As Urkunde, welche die Meinung des Pabftes 
ausfpreche, brauchte Karl den oben erwähnten ?) Brief, den Hadrian 
por dem Frankfurter Coneil gefchrieben. Die beiden Erklärungen ?) 
der langobardifchen und transalpinifchen Bifchöfe, wurden, wie es 
fcheint, während der Synode, jene durch Paulinus von Aquileja, 
diefe durch einen Unbekannten abgefaßt. Sie enthalten beide eine 
dogmatifche Widerlegung der adoptianifchen Lehre. Die vierte 
Schrift, *) welche den drei andern als Begleitung diente, trägt den 
Namen des Königs an der Stirne. Alle vier wurden fofort an 
Elipandus von Toledo und feine Freunde abgeſchickt. Die von 
Karl angeordnete Mafregel, daß jede der vier großen Firchlichen 
Gewalten feines Reichs für fih die fyanifche Lehre verdame 
men mußte, beflätigt unfere oben ausgefprochene Vermuthung. 





) Manſi XII, 901 Mitte. — 9 S. 654 oben. — 3) Manfi XIII., 
873 flg. — *) Ibid. ©. 899 fig. 


Die fränkiſche Kirche vom Anfange des fiebenten Jahrhunderts ꝛc. 657 


Der König kann diefes vorfichtige Mittel nur in der Abſicht 
gebraucht haben, um ber Parthei des Elipandus jeglichen Vorwand 
zu benehmen, als ob nur Karl felbft und etwa die feiner Herrfchaft 
unmittelbar unterworfenen Biſchöfe Germaniens und Gallieng, 
nicht aber der Pabſt und die Langobarden, oder die italienifchen 
Kirchenhäupter die adoptianiſche Keberei verwärfen. Jeder Theil 
mußte für fi) handeln, damit die getrennte Einftimmigfeit Aller der 
Welt das Schaufpiel vollfommener Harmonie gewähre. 

Sämmtliche geiftlihen Würdenträger der Provinzen, welche 
damals die Einheit des karoliniſchen Reiches bildeten, hatten nun: 
mehr vereint mit dem Herrfcher ihre Stimmen gegen den Erzbifchof 
von Toledo abgegeben. ine furcdtbare Drohung lag in dieſen 
gemeinfamen Urkunden, e8 war als würde dem Cliyandus dag 
Schredbild der ganzen fränfiihen Macht wie ein Medufenhaupt 
entgegengehalten. Karl fand jedoch für gut, zugleich mit dem 
Schreden auch Mittel der Lockung auf die Spanier wirken zu 
laffen. Aus dem oben angeführten Stellen der Farolinifhen Bücher 
geht hervor, daß der König fhon im Jahre 790 die toletanifche 
Formel vom Hervorgehen des Geiftes aus Vater und Sohne, welche 
bis dahin außer der fpanifchen Feine andere Kirche in ihre öffent: 
liche Symbole aufgenommen hatte, im Gegenfas der Griechen für 
einen Grundartifel katholiſcher Nechtgläubigfeit erklärte. Ein Jahr 
nah Abfaffung jener Bücher (791) hatte ferner, wie früher berich— 
tet worden, ') der Erzbifhof Paulinus von Aquileia, einer der ver: 
trauteften Schildträger Karl’s, auf der Synode zu Friaul diefelbe 
Formel yon den italienischen Biſchöfen billigen und unterschreiben 
laſſen; und feit dem Frankfurter Coneil wurde nun eben diefelbe, 
laut dem Berichte des Wulafrid Strabus, ?) in fämmtlihen 
fränfifhen Kirchen eingeführt. Zwei Dinge find hiebei 
gleih Har: dag Karl folde Ehre dem toletanifchen Zuſatz deßhalb 
. erwies, um im GStreite mit Elipandus die fpanifchen Biſchöfe auf 
feine Seite herüberzuziehen, und daß Paulinus zu Friaul im Auf: 
trage Karls und für den gleichen Zwed wirkte Die Sade 
war alfo von Lange her vorbereitet. Die Farolinifhen Bücher, bie 
Synoden zu Friauf und Franffurt, die Reife Alkuin's nach Eng: 
land, bilden einen einzigen, yon einem Gedanken gefhlungenen 





) ©. 228. — 2) Ibid, 227 Mitte, 
Gfrörer, Kircheng, II. 42 


658 II. Buch. Kapitel 9. 


Knoten. Noch ein anderer Punkt tritt bei dieſer zweiten und unter: 
geordneten Intrife hervor, welche Karl einleitete, um feinen Haupt: 
zweck defto fiherer zu erreichen. Sp ungern fih auch der Pabft 
im aboptianifchen Handel als Werkzeug des Königs gebrauden 
ließ, fonnte er doch Elipandus nicht offen befchügen, weil die Mei: 
nung bes Erzbiihofs von Toledo wirklich der überlieferten Necht- 
gläubigfeit widerftritt. Anders verhielt es fih mit dem Beftreben 
Karl’s der fpanifchen Formel allgemeine Geltung in feinem ganzen 
Neiche zu verfchaffen. Hier hatte der Pabft den Buchftaben der 
alten Symbole für ſich, wenn er die Forderungen bed Könige 
zurüdwies. Wir haben. oben berichtet, daß Leo II, Hadrian’s I. 
Nachfolger, Karl’s Anträgen, den Zufas yon Toledo in das römiſche 
Symbol aufzunehmen, den beharrlichften Widerftand entgegenfeßte, 
Nun ift an fih Far, daß Leo nicht um des Dogma’s willen, das 
er ja fonft anerkannte, fondern um des Königs Plane zu durd)s 
kreuzen, feine Beftätigung des Beiſatzes verweigert hat. Weil der 
Pabſt das Spiel, das der Franfe in den adoptianiihen Händeln 
trieb, insgeheim mißbilligte, obgleich er öffentlich die Hand dazu 
reichen mußte, hat er einer andern dogmatiſchen Sntrife, welche ald 
Mittel für die erfte dienen follte, entgegengearbeitet. Und fo ge- 
ſchah, was beim erſten Anblick unmöglich erjcheint, daß nemlich der 
Habt, um ſpaniſchen Bifchöfen Luft zu fchaffen, die ſpaniſche 
Tormel verwarf, | 

Karl muß erwartet haben, daß die fo forgfältig angelegten 
Beichlüffe der abendländifhen Synobe zu Frankfurt raſche 
und entjheidende Wirkungen in Spanien hervorbringen werden. 
Aber er täufchte fi; nichts, was des Königs Berechnung entfprad), 
geſchah daſelbſt, ohne Zweifel, weil der faracenifhe Sultan yon 
Cordua den ZToletaher wider Umtriebe chrifilihder Gegner und 
Nebenbuhler kräftig befchüste. Jetzt kam man in Franfreih auf 
früher benüste Kunftgriffe zurück. Alkuin erfchien wieder auf dem 
Kampfplatze, er verfaßte eine neue Streitfchrift gegen die Adoptianer. ') 
Diefelbe ift an die Aebte und Mönche Gothieng, d. h. Septimanieng 
gerichtet, welche Provinz lange den Weftgothen gehört hatte, und 
noch immer rege Verbindungen mit Spanien unterhielt. Zu An: 





1) Libellus adversus haeresin Felicis ad abbates et Monachos Gothiae 
missus, Opp. I, b, ©. 760 flg. 


Die fränkifche Kirche vom Anfange des fiebenten Jahrhunderts ıc. 659 


fang des Büchleins ſpricht er fein Bedauern Darüber aus, daß bie 
Neftorianifche Ketzerei durdy die Behauptung Derer wieder auflebe, 
welche Chriftum nicht zu einem Achten, ſondern blog zu einem ans 
genommenen Sohne Gottes machen wollen. „Diefe Seuche,“ unter: 
nimmt Alfuin laut feinem eigenen Ausdrude „nur Arzneimittel 
ausden Gewürzkammern ber Kirchenlehrer zu heilen.«“ 
Wolken von Zeugniſſen der Väter werden aufgeführt. Aber Alkuin's 
neue Abhandlung nützte fo wenig als die frühere. Vielmehr er— 
fchien gerade um jene Zeit eine gebarnifchte Antwort bes Felix auf 
das oben erwähnte Schreiben, mit welchem Alkuin den Streit er- 
öffnet hatte, Diefe Schrift des Felix ift nicht mehr vorhanden, 
wir fennen fie blos aus den Erwiederungen ber Gegner, aber 
die Thatfache ihres Erfcheinens beweist, dag Elipandus und feine 
Freunde entfchloffen waren, den Kampf muthig fortzufegen. 

Bon Nun an offenbart fih ein merflihes Schwanfen auf 
fränfifcher Seite. Sobald die Schrift des Feliv an Karls Hof 
gefommen war, forderte ber König Alkuin auf, die Arbeit des 
Spaniers zu widerlegen. Alfuin erflärt feine Bereitwilligfeit, vers 
langt aber zugleich, der König möchte Abfchriften der Abhandlung 
des Felir an den Apoftolifus in Rom, fo wie an bie Bifchöfe Pau: 
Iinus von Aquilefa, Richbod von Trier und Theodulf von Orleang 
überſchicken, und denfelben befehlen, daß ein Jeder ein Buch gegen 
Felix fchreibe. „Er ſelbſt“, fährt Alkuin fort, „brauche längere Zeit, 
mit feinen Schülern zu unterfuhen, ob und wie weit Felix in jener 
Schrift die Stellen der Bäter richtig angeführt habe.“ D Sicherlich 
war nicht Befcheidenheit der Grund, warum Alfuin auf eine folche 
Theilung der Arbeit antrug, fondern entweder fürchtete er, bie 
andern Biſchöfe möchten ihn deshalb beneiden, weil der König ihn 
allein in der wichtigen Sache gegen die fpanifchen Keber verwende, 
und er fuchte deßhalb ihre Eiferfucht durch den Antheil, den er ihnen 
einräumte, zu entwaffnen; oder ift — was noch weit wahrfcheinlicher — 
anzunehmen, daß ber Angelfachfe nicht mehr wagte, bie Verant⸗ 
wortlichfeit des Kampfes gegen die Adoptianer, der immer ſchwie— 
riger und hoffuungsiofer wurde, auf fih allein zu laden. - Im 
einen wie im andern Falle folgt, das Alfuin an einem erwünfchten 
Ausgange des Unternehmens zu verzweifeln begann, Karl geneb: 





') Alcuini epistola LXIX., opp. I, 97 unten, 
42° 


‘660 II. Buch. Sapitel 9. 


migte Alkuin's Borfchläge. Ein neuer Feldzugeplan, zu deffen Aus— 
führung Biele an verfchiedenen Orten wirfen follten, ward entworfen. 
Während Alkuin und Paulinus von Aquilefa, jeder für fih, an 
einer Widerlegung der Testen Schrift des Feliv arbeiten, fendet 
Karl um 797 die Bifchofe Leidrad von Lyon und Nefrid yon 
Narbonne fammt dem Abt Benedikt von Aniane, als befondere 
Bevollmächtigte nach der fpanifhen Mark, d. h. dem Landftriche 
jenfeit8 der Pyrenden, welder dem fränfifchen Reiche unterworfen 
war, um die aboptianifche Keterei dafelbft auszurotten. Dort an⸗ 
gekommen, machten fie einen wichtigen Fang. — Felix, der im Jahr 
793, wie wir oben berichteten, ing Gebiet der Sararenen entflohen 
war, gerieth nemlih zu Urgel in die Hände der Abgeordneten 
Karls. Wie dieß gefchehen, erfahren wir nicht, doch feheint aus 
einigen Spuren zu erhellen, daß nicht fowohl Gewalt, als Mittel 
der Meberredung gegen ihn angewendet worden find. Alkuin 
ſchreibt 1) nemlih um 799 an feinen Freund den Erzbifhof Arno 
von Salzburg: „wife, daß Felir gefhworen hat, fih vor dem 
Könige Karl zu ftellen, und yon feinem Glauben Nechenfchaft zu 
geben.“ Auch fagt der ehemalige Biſchof von Urgel felbft ?) in 
dem Glaubensbefenntniffe, das er nah der Synode von Aachen 
ablegen mußte: „der König Karl hat mich fo behandelt, wie mir 
Leidrad zu Urgel verheißen hatte.“ Aus diefen und ähnlichen 
Aeußerungen möchte ih den Schluß ziehen, daß Leidrad und fein 
Gefährte den entwichenen Felix, der wohl der Verbannung und 
des Elends überdrüßig war, durch das Verſprechen an fich gelockt 
hatten, er werde, wenn er fich gelehrig zeige, Gnade bei Karl 
finden, und fein Bisthum wieder erhalten. Dem fey wie ihm 
wolle, gewiß ift, daß Leidrad den Flüchtling nach Frankreich herz 
überbrachte. Was man dort mit ihm anfieng, werden wir gleich 
fehen. Zuvor müffen wir jedoch die. Aufmerffamfeit der Lefer anders 
wohin lenfen. Während dieß an den Pyrenäen vorgieng, ließ Karl eine 
neue Mine in Stalien fpringen. Im Jahre 799 hielt der Nach— 
folger Hadrian’s, Leo II, zu Rom eine Synode, auf welcher bie 
aboptianifche Kegerei zum drittenmale im Namen des Stuhles 
Petri verdammt wurde, In dem Bortrage, ?) den der Pabft hielt, 





Y) Epistol. 76, Opp. I., 112 Mitte, — 2) Alcuini opp. I, b, ©, 97 
unten. — 8) Manfi AI, 41031 flg, - 


Die fräntifhe Kirche vom Anfange des fiebenten Jahrhunderts ıc, 661. 


zählte er die Miffethaten des ehemaligen Biſchofs von Urgel auf: 
„Felix hat zuerft auf dem Concile zu Negensburg der aboptianifchen 
Ketzerei ſchriftlich abgeſagt. AS er darauf von Karl'n hieher 
zu unſerem Vorgänger geſchickt wurde, ſetzte er im Gefängniſſe ein 
rechtgläubiges Bekenntniß auf, und legte daſſelbe auf die heiligen 
Myſterien und das Grabmal Petri mit dem Schwure nieder, daß 
er Chriſtum für den ächten Sohn Gottes halte. Hernach aber 
übertrat er freventlich das Gebot Gottes, indem er zu ſeinen heid— 
niſchen Mitbrüdern floh. Ohne Scheue vor der großen Kirchen⸗ 
verfammlung (zu Frankfurt), welche von Karl'n berufen, ihn ver: 
dammt hatte, wenn er in feinem Irrthum verbleiben würde, Fehrte 
er, wie ein Hund, zu feinem Gefpey zurüd, und ftieß feitdem ver: 
mittelft der Lafterfchrift gegen Alkuin noch fehlimmere Reden aus, 
als früher.“ Die Berhandlung ſchloß mit einem bedingten 
Fluche gegen Felix: „Wenn Felix, der gewefene Bifhof von Urgel, 
feine FTegerifche Lehre vom angenommenen Sohne Gottes nicht 
zurücdnimmt, ſey ihm Fluch gefagt, verdammt fey er vor dem Richter: 
ftuhle des Allmächtigen, Heil und Gnade aber Denen, welche ſich 
befehren.“ Deutlich erhellt aus letzteren Worten, daß Karl ent: 
ſchloſſen war, Felix wieder einzufegen, im Fall Diefer fich blindlings 
unterwerfen würde. Die fränkischen Plane frhienen nunmehr einen’ 
glücklichen Fortgang zu nehmen: Karl hatte nicht blos ein neues 
Berdammungsurtheil des Pabſts wider die Adoptianer, fondern 
auch die Perfon eines der beiden Keserhäupter in Händen. Set 
erfolgte ein weiterer Schritt in Franfreih, Der König berief 799 
einen glänzenden Reichstag nach Aachen, auf welchem fehr spiele 
Biſchöfe und weltlihe Große erfchienen; Karl felbft führte den 
Borfis. Im Angefichte diefer Berfammlung mußte Felir ein 
Religionsgeſpräch mit Alfuin befiehen. Sechs Tage dauerte das— 
ſelbe; endlich erklärte ſich Felix für befiegt, und erfannte, hauptſäch— 
ih auf eine Stelle aus den Schriften des Alerandriners Cyrill 
hin, die ihm Alfuin vorhielt, an, daß Chriftus auch feiner menſch— 
lihen Natur nad wirklicher Sohn Gottes fey. ) Alkuin empfand 
über feinen Sieg und die Befehrung des Felix, an deren Aufrich- 
tigfeit er nicht zweifelte, unbefchreibliche Freude. „Felir,“ fchreibt 
er ?) an Arno von Salzburg, „liebt mich jeßt yon ganzem Herzen, 


') Die Beweigftellen verzeichnet bet Walch Hiftorie der Ketzereien IX. , 773. — 
2) Epist, 92, Opp. J., 136 gegen unten. 





662 | II. Buch. Kapitel 9. 


der bittere Haß, mit dem er mich früher verfolgte, iſt in Yautere 
Freundfchaft verwandelt.“ Der Spanier fam jedoch mit dem ein: 
fachen Widerrufe nicht weg. Er mußte ein reumüthiges Glaubens: 
befenntniß nicht blos ausfertigen, fondern auh an feine ehema— 
ligen Brüder jenfeits der Pyrenäen überfhiden ) 
Diefe Urkunde beginnt alfo: „Ich thue Euch zu wiffen, daß 
ih, nachdem ich dem Könige Karl vorgeftellt worden, gemäß 
ben Berfprehungen, die mir der Biſchof Leidrad in Urgel gegeben 
hatte, von ihm die Erlaubniß erhielt, in feiner und der Bifchöfe 
Gegenwart, meine Meinung von der Natur des Sohnes vorzu: 
tragen, damit dieſe meine Lehre nicht durch Gewalt, fondern 
durch Beweiſe der Wahrheit erhärtet, oder aber durch Zeug: 
niffe der Väter widerlegt werde. Diefes ift auch alfo gefchehen. 
Denn die von mir vorgetragenen Lehrſätze Über gedachte Streitfrage 
haben fie (die Franken) durch Stellen aus den Büchern Cyrill's 
und ber Päbfte Gregor und Leo, welche mir bis dahin unbekannt 
waren, fo wie durch das Urtheil der Synode widerlegt, die neulich 
auf Befehl des Königs Karl zu Nom wider den Brief gehalten 
worden, welchen ich gegen den ehrwürdigen Abt Alkuin gefchrieben 
hatte. Auf der letztgenannten Synode haben in Gegenwart des 
Pabſtes Leo 57 Biſchöfe, auch viele Presbyter und Diafone in der 
Petersfirche meine Lehre, ohne alle Gewalt, mit triftigen 
Gründen verworfen. Durch diefe Gründe und die Uebereinftim- 
mung der allgemeinen Kirche überzeugt, daß ihre Einfichten beſſer 
find, als meine bisherigen, habe ich mich yon ganzem Herzen durch 
Gottes Gnade zur allgemeinen Kirche befehrt — nicht aus Ber- 
ftellung und Betrug, wie dieß ehemals gefchehen, fondern aus 
wahrer Weberzeugung.“ Nun folgt Dogmatifches. Man bemerfe, 
wie ftarf Feliv hervorheben muß, daß feine Gewalt wider 
ihn gebraudt worden fey. 

Schon vor der Scene in Aachen hatte Alfuin die von Karen 
ihm übertragene Streitſchrift wider Felix, die jetzt theilweife unnüg 
war, ausgearbeitet, aber bis dahin nicht veröffentlicht. Ueber die 
Gründe, warum er fie fo lange zurückhielt, äußert er ſich in einem 
Briefe ?) an Karl alſo: „In dem Religionsgefpräh, das ih in 
Eurer Gegenwart mit Felix hielt, lag das Buch fertig vor mir, 





) Abgedrudt Alcuini opp. I., b. ©, 917, — 2) Opp. L, b. ©. 787 fig. 


Die fränkiſche Kirche vom Anfange des fiebenten Jahrhunderts x. 663 


und ich benützte e8 auch, aber öffentlich wollte ich es nicht machen, 
weil es Euch noch nicht vorgelefen worden war. Euer Wort 
möge jeßt entfcheiden, was daraus werben fol. Nur um das 
Eine bitte ich, daß es weber verworfen noch veröffentlicht werde, 
ehe es von den vertrauteſten Perſonen Eures Hofes genau geprüft 
worden iſt.“ Abermal offenbart ſich hier, welche Vorſicht Alkuin 
anwendet, damit die Verantwortlichkeit des Streits gegen die Adop— 
tianer nicht auf ihm laſten bleibe. Karl's Umgebung muß die neue 
Schrift Alkuin's gebilligt haben. Sie erſchien jetzt unter dem Titel: 
„ſieben Bücher gegen Felix von Urgel.“ ) Wie früher, greift Alkuin 
auch in diefem Buche die adoptianifche Lehre hauptſächlich yon der 
Seite an, daß fie eine Wiedererwedung der Neftorianifchen Keberei 
fey. Ungefähr zu gleicher Zeit mit der Streitfchrift Alfuin’s wurde 
auch eine Abhandlung des Erzbiihofs Paulinus von Aquilefa gegen 
Seliv in drei Büchern veröffentlicht; 2) fie fleht an Ordnung und 
innerem Zufammenhang ziemlich tief unter der Arbeit Alfuin’g, 
est war noch übrig, daß man den Widerruf des Felix und 
die Erklärung des Pabſts in Spanien auszubeuten, und die Früchte 
der Yangen Anftrengungen in dieſem Lande zu pflüden fuchte Zum 
zweitenmale wurden die Bifchöfe Leidrad und Nefrid von Karl 
nad der fpanifchen Darf um 800 abgefhidt. Cs gelang ihnen 
einige Taufende von Adoptianern dafelbft zu befehren; aber gegen 
. Eliyandus und die Bifchöfe des faracenifchen Gebiets, wider welche 
doch ihre Sendung eigentlich gerichtet war, vermochten fie nichts. 
Wir erfahren dieß aus einem Briefe ?) Alkuin's an den Erzbifchof 
Arno von Salzburg: „Noch immer verharrt Elipandus in feiner 
durch Beſchlüſſe der Synoden, wie durch dag Urtheil des Pabftes 
verdammten Keberei. Doch fol Euer Liebden wiffen, dag Leidrad 
mit Hülfe Gottes in jenen Gegenden große Erfolge errungen hat 
und noch täglich erringt. Glaubwürdige Mönche, die dorther famen, 
haben mich verfichert, daß gegen zwanzig Taufende, worunter Bifchöfe,” 
Priefter, Mönche, gemeines Bolf, Männer wie Weiber, yon ihrem 
(adoptianifchen) Irrthum befehrt worden find.“ Schon vorher hatte 
Alfuin ein Sendſchreiben % an Elipandus erlaffen, in welchem er 
den Zoletaner mittelft füßer Worte zu ködern fuchte: „Du, Heiliger 





1) Abgedrudt ibid. I., b. ©. 789. — ?) Libri tres adversus Felicem 
Orgellitanum abgedrudt in Paulini opp. ed. Madrisius ©. 95 flg. — ?) er 
92. Opp. I., 136, — 5 Opp. I., 863 fig. 


664 DE | Bud. Kapitel 9. 


Biſchof, bift eine Stadt, die alfo auf Bergeshöhen gebaut ift, dag 
fie nicht verborgen bleiben fann; ihre Mauern bürfen durch feine 
Mine irgend welcher Keterei burchlöchert werden, fondern müffen. 
überall mit den ſtärkſten Schanzen des Fatholifchen Glaubens um: 
geben jeyn, damit fie zum Heil des ganzen Bolfes, welches fi 
über Di freuet, und von dem Befehl Deines Mundes abhängt, 
unüberwindlich bleibe u. |. w.“ Aber Schmeicheleien wie verfuchte 
- Beweisgründe prallten an ber flarfen Bruft des Spaniers ab. Er 
ſchickte dem Abte von Tours eine Antwort ") zu, die ihres Gleichen 
in rückſichtsloſer Bitterfeit fucht. Die Ueberfchrift Yautet fo: „Eli 
pandus dem Diafon Albinug, °) der da nicht ift ein Diener 
Chrifti, fondern ein Schüler des flinfenden Beatus, ein neuer Ariug, 
und Gegner ber heiligen Bäter Ambrofius, Auguftinus, Iſidorus, 
Hieronymus — wenn er fich befehrt vom Irrthum feines Lebens, 
ewiges Heil, wo er ſich aber nicht befehrt, ewige Verdammniß.“ 
Unter Anderem wirft er ihm vor, Alkuin ſey ein bochmüthiger 
Geizhals, der einen Befis von zwanzigtaufend Leib: 
eigenen zufammengewuchert habe, feine Weisheit fey nicht vom 
Himmel, fondern eine irdifche, thieriſche, teufliſche. Die Beſchuldi— 
gung des Geizes muß befonders tief bei Alfuin eingefchritten haben. 
In einer Zuſchrift 9 an Leidrad und Nefrid läugnet er zwar bie 
Thatfache der zwanzigtaufend Leibeigenen nicht, rechtfertigt fich aber 
mit den Worten: „Ein Anderes fey es, weltliche Güter zu befisen, 
ein Anderes yon ihnen befefien zu werben, von letzterem Uebel 
wiffe er fich frei.“ Man erfieht Hieraus, daß der fromme Alfuin 
feines Vortheils nicht vergaß, und fi jedes Wort, das er für Karl 
fchrieb, mit Gold aufwägen ließ. Der Abt von Tours verfaßte 
um 800 noch eine Streitfehrift gegen Elipandus in vier Büchern, *) 
welche er den Bifchöfen Leidrad und Nefrid mitgab, als fie zum 
zweitenmal nad) Spanien abgiengen. Sie ift das teste, was Alfuin 
in der Sache der Adoptianer that, bei welcher er eine fo. zwei— 
deutige Rolle gefpielt hat. Efipandus, um 800 bereits ein 82jäh- 
riger Greis, °) behauptete den Stuhl von Toledo bis an fein Ende, 
das bald nach Anfang des neunten Jahrhunderts erfolgt feyn 





1) Ibid. I., b. ©. 868 flg. — 2) So wird der Name Alkuin haufig 
gefchrieben. — 3) Opp. I., b. ©. 861 Mitte. — *) Adversus Elipandum 
libri IV. abgevrudt opp. I, b. ©, 876 flg. — 5) Er fagt dieß ſelbſt ibid. 
©. 916 unten. 


Die fränkifche Kirche vom Anfange bes fiebenten Jahrhunderts ꝛc. 665 


muß. Felix erhielt fein Bisthum Urgel nicht mehr. Karl übergab 
ihn dem Bifchofe Leidrad von Lyon zum Verwahrung, in welder 
Stadt er um S18 geflorben feyn fol, Auch dort wußte er den 
Ruhm eines rechtſchaffenen Mannes zu bewahren; die allgemeine 
Achtung ward ihm zu Theil.) Nach feinem Tode fand Leidrad’s 
Nachfolger im Bisthum von Lyon, Agobarbus, unter dem Nachlaffe 
des vielgeplagten Spaniers fhriftlihe Beweife, aus welchen er. 
fchließen zu müfjen glaubte, daß Felir bis zu feinem Ende im 
Herzen der adoptianifchen Lehre anhieng. Agobard fchrieb daher 
gegen den Berftorbenen eine noch erhaltene Widerlegung. So 
verfolgte rechtgläubige Rache der Franken den armen Spanier über 
das Grab hinaus. 

Der Zwed, dem der fränfifche Hof im aboptianifchen Streite 
nachjagte, wurde nicht erreicht. Das nuglofe dogmatifche Gezänf 
mag zulest dem Franfenfönige efelhaft geworden feyn. Seit 800 
ergriff er, um Boden in Spanien zu gewinnen, Maßregeln, die 
fiherer zum Ziele führten, und feiner Natur augemeffener waren, 
Im Jahre 801 'rürte Ludwig, des neuen Kaifers Sohn und 
Erbe, mit einem zahlreichen Heere über die Pyrenäen, eroberte Bar: 
cellona ?) fammt mehreren andern Orten, und machte den Franfen 
bag Land bis zum Ebro unterthan, das feitdem den Namen fpani- 
fhe Mark bekam. Ueberdieß errang Karl furz zuvor die Kaiſer— 
frone, melde er in allen jenen dogmatifchen Händeln gefucht 
hatte. Der adoptianifhen Kegerei wird feitdem nicht mehr gedacht. 

Bliden wir nun zurüd: in der Bilderſache, wie im adoptiani—⸗ 
hen Streite, hat ſich Karl als europäifcher oder allgemeiner Schuß: 
herr des Fatholifchen Glaubens benommen, er hat den Pabſt gleich 
einem Bafallen nah Willfür in Bewegung gefebt, er bat eine 
Synode verfammelt, welche offenbar den Charakter wo nicht einer 
ökumeniſchen, doch einer abendländiſchen oder weftrömifchen 
tragen ſollte. Mit einem Worte Karl trat in der doppelten Eigens 
Ihaft eines Hohenpriefters und Herrfchers, oder als priefterlicher 
Dberkönig aufe Wie gefliffentlich der Franfe darauf ausgieng, die 
kirchliche Glorie mit dem Glanze der Krone zu verbinden, erhellt 
am Beften aus dem Umftande, daß feine dogmatifchen Gehülfen fich 





') Dieß erhellt aus dem Büchlein Agobards wider ihn. Agobardi opp. 
ed. Baluzius J., 3 fig. — ?) Einhardi annales ad annum 801. Perz I., 190. 


666 Sn IM. Buch. Kapitel 9. 


nicht feheuen, das Wort unverhohlen auszufprechen. Auf den Bor: 
wurf des Elipandus, Alkuin Habe den König zur Irrlehre verführt, 
erwidert 1) der angelſächſiſche Levite: „nimmermehr kann Karl von 
irgend Jemand verführt werden, denn er ift Fatholifch im Glauben, 
König der Gewalt nah, Oberpriefter in der Predigt des 
MWorts“ (pontifex in praedicatione). Nun macht das Amt eines 
oberften Schugheren Fatholifcher Kirche und Lehre, oder jene Ber: 
bindung weltlicher und geiftlicher Gewalt den Begriff aus, welchen 
nicht nur die damalige Zeit, fondern Karl felbft kraft feiner un— 
verhbolenen Erflärung in den Farplinifchen Büchern unter 
dem Worte „Kaiſerthum« verftand, Wir müffen alſo fagen: Karl 
habe fih, feit er in jene weitausſehende geiflliche Unternehmungen 
die Hände mifchte, als Kaiſer betragen. Um dieß aber wirklich 
zu feyn, fehlte ihm noch die feierliche Anerfennung. Wie und von 
Wem letztere erhalten werden möge, darüber fonnte der Sohn 
Pipin’s unmöglich in Ungewißheit fchweben. Nur diejenige Macht, 
welche feinen Vater Pipin zum Könige gefalbt, war im Stande ihm 
die Kaiſerkrone aufs Haupt zu fegen. Folglich berechtigt ung Alles, 
was bis jetzt erzählt worden, zu der Bermuthung, der König werde 
beim Pabfte Schritte gethban haben, um von ihm als Kaifer aner- 
fannt zu werben. Anderer Seit aber wiffen wir aus Pipin’s 
Gefhichte, daß Verhandlungen der Art aufs Geheimfte und nur 
mündlich betrieben wurden. Urkundliche Beweife dürfen wir daher 
vernünftiger Weife nicht erwarten, fondern müffen ung mit Andeu- 
tungen und Spuren begnügen. Schon im Jahre 777 erließ 
Hadrian I. an Karl ein Schreiben, ?) in welchem fich folgende 
Stelle findet: „Gleichwie zu den Zeiten des feligen Pabftes Syl- 
vefter von dem großen Kaifer Conftantin glorreichen Andenfeng bie 
heilige Fatholifche und apoftolifche Kirche Noms erhöht und mit 
reichem Landbefis in Stalien befchenft worden ift: alfo erfreut ſich 
auch in unfern glüdlichen Tagen eben diefelbe Kirche des feligften 
Apoftels Petrus eines erwünfchten Fortgangs — fintemalen ein 
neuer Conſtantinus und allerchriſtlichſterKaiſer Gottes 
erſtanden iſt, durch deſſen Hände der Allmächtige ſeiner heiligen 
Kirche Alles (was ihr gehört) zuſtellt. Auch das Uebrige, was durch 
verſchiedene Kaiſer, Patricier und andere Gott fürchtende Herren, 


') Opp. I., b. 882 gegen oben, — 2) Cod. Carolinus epist, 59. Cenni 
INABSRE 230" ‚108 om: | | 





Die fränfifche Kirche vom Anfange des fiebenten Jahrhunderts ꝛc. 667 


zum Heile ihrer Seelen, dem Stuhle Petri vergabt, aber bis jegt - 
durch das verruchte Volk der Langobarden vorenthalten worden, 
möge durch Euch zurückgegeben werden. Wir befigen hierüber in 
unfern Archiven verfchiedene Schenfungsbriefe, welde wir Euch) 
durch unfere Gefandte einhändigen“ u. f. w. Der Pabft nennt 
bier den Franfen einen neuen Conftantin und allerrift- 
Yichften Raifer. Man wird fagen, es feien fehöne Worte, mit 
welchen der römifche Oberpriefter die Großmuth des Sranfen be- 
flügeln wollte. Wir geben dieß zu, entgegnen aber: ein Schmeich— 
Ver kennt in der Negel die ſchwache Seite Deffen, den er benügen 
will, und weiß die rechten Saiten anzufchlagen. Dffenbar hatte 
Hadrian den König durchſchaut und wohl bemerkt, daß Karl’ 
Dichten und Trachten auf Erringung der Kaiferfrone und Wieder: 
berfiellung eines römifchen Weltreichs gerichtet fey. Darum ſprach 
er fo. Zugleich fehen wir aber auch in den Worten des Briefg 
eine Andeutung, daß der Pabft Feineswegs gefonnen war, die Wünſche 
Karl’sernftlich zu befördern. Hadrian fann zwar nicht fatt werden, 
immer neue Städte und Provinzen von dem Franken zu fordern, aber 
er macht ihm die Großmuth zur Pflicht, indem er die Behauptung auf: 
ftellt, das was er verlange, gehöre in Kraft älterer Schenfungen bes 
Kaifers Conftantin von Nechtswegen der römischen Kirche. Er überläßt 
dem Franken nur das befcheidene Verdienſt eines ehrlichen Mannes, der 
herausgiebt, was Vorgänger, deren Nachlaß er geerbt — hier bie 
Langobarden — dem rechtmäßigen Cigenthümer geftohlen hatten. 
Mögen au die angeblichen Urkunden, auf die fih Hadrian beruft, 
bie längſt vorhandenen, obgleich erweislich unächten Aften Syl- 
veſters feyn, jedenfalls ift Har, daß fein Brief unverfennbare Anklänge 
ber Fabel einer Schenkung Gonftantin’s enthält, welche Furz darauf 
wirflih zum Vorſchein gefommen if. Da nun Hadrian felbft als 
Dittfteller fo Fuge Vorſicht gebraucht, ift es im höchſten Grade 
unwahrfheinlih, daß er je die gewünfchten Ermwerbungen 
um den Preis der Kaiferfrone erfauft haben würde, die den Werth 
alles Deffen, was der Stuhl Petri von Karl's Großmuth erringen 
mochte, auf Nichts herabdrücken mußte. In der That fonnte nur 
ein thörichter Pabſt die Hände zur Wiederherftellung des weftrömi- 
hen Reichs bieten. Denn wenn er Dieß that, ließ fich voraug- 
jehen, daß in kürzerer oder längerer Zeit der neue Kaifer feinen 
Sig in Rom aufſchlagen werde, das ja Damals bereits eine fränkiſche 


. Stadt war; und dann verlor der Pabſt nothwendig feine Un— 
abhängigfeit und ſank zu der Fäglichen Stellung eines byzantinis 
fchen Patriarchen herab. Obgleich nun feine weiteren Urkunden, bie 
zum Beweiſe dienen fönnten, vorhanden find, vermuthen wir den— 
noch, daß Karl Berfuhe gemacht haben müffe, um ſchon son 
Hadrian Das zu erhalten, was er dem Nachfolger deffelben, Leo III, 
abrang, daß aber der Pabft die Vorſchläge beharrlich zurückwieg. 
Wir fchließen dieß aus folgendem Umftande: Karl hat dem Pabfte 
Leo IN. die Kaiferfrone mit Anwendung von Gewaltmitteln abge: 
preßt, er bat dem römifchen Oberpriefter gleichfam das Schwert 
auf die Bruft gefegt. Wer wird nun glauben, daß eine fo glühende 
Begierde, ruhig — d. h. ohne für Erreihung des Lieblingswunfches 
Schritte zu thun, — den Tod Habdrian’s abgewartet habe? Wir 
müffen ung jegt nach Nom wenden, 

Am Weihnadhtstage (25. Dec.) 795 ftarb Pabſt Hadrian I. 
nah faft 2ajährigem Regiment. Da ber große Landbefis, den 
Hadrian zufammengebracdt, die Habfucht der Bewerber mehr als 
fonft fleigerte, fo wurden, noch ehe Hadrian aushauchte, die fchlimm: 
ftien Künfte in Bewegung geſetzt. Schon am folgenden Tage nad) 
Hadrian’s Tode hatte die Welt in der Perfon Leo's IIL, eines ge: 
bornen Römers, einen neuen Pabſt. Eine Parthei, die Leo ohne 
Zweifel durch Geld gewann, muß ihn erhoben haben. Wohl fühlend, 
daß die Wahl gerechtem Tadel unterliege, beeilte ſich Leo feinen Schuß: 
herren, den Gebieter Italiens, Gallieng und Germanieng, durch demü— 
thige Unterwürfigfeit zu gewinnen. Er erließ an benfelben ein 
nicht mehr vorhandenes Huldigungsfehreiben, und überfchiete ihm 
zugleich die Schlüfjel des Grabes Petri fammt dem Banner ber 
Stadt Nom. !) Karl antwortete ?) in einem Briefe, der neben 
Schmeicheleien leiſe Vorwürfe enthält und beweist , daß dem Könige 
bereits Klagen über Leo's ungefegliche Erhebung zu Ohren ge— 
fommen waren: „Nah Durchleſung Eurer Zufchrift habe ich große 
Freude empfunden, ſowohl über die Einftimmigfeit eurer Wahl, als 
auch über Euren demüthigen Gehorfam und die Ver— 
fiherung Eurer Lehenstreue. — Der Heberbringer Diefes, 
Angilbert (Karl's Erzfapellan) ift beauftragt, in Gemeinſchaft mit 
Euch Alles anzuordnen, was zur Erhöhung der Kirche Gottes, zu 


») Einhardi annales ad annum 796, Perz I,, 183. — ?) Der Brief ift 
abgedrudt bei Manfi XIII., 980 fig. 





Die fränfifche Kirche vom Anfange des fiebenten Sahrhunderts ꝛc. 669 


Befeftigung eures Stuhls, oder zur Sicherung unferes Patriciat's 
nöthig feheint. Denn wie Jh mit Eurem Vorgänger feligen Ge- 
dächtniſſes dauernde Freundfchaft eingegangen bin, fo will ih auch 
mit Euch einen feften Bund machen. — Meine Sade ift es, mit 
Gottes Hülfe die heilige Kirche überall nad) Augen gegen die An- 
fälle der Heiden und die Umtriebe der Ketzer mit den Waffen zu 
fügen, und nad) Innen durch Anerkennung des Achten Glaubens 
zu befeftigen. Euch dagegen, o heiligfter Vater! liegt die Pflicht ob, 
mit aufgehobenen Händen, gleich Mofes, fürs Wohl unferer Waffen 
zu beten. — Eure Fürfihtigfeit möge ſtets Die heiligen 
Canones beobachten — damit, wie die Schrift fagt, Euer 
Licht leuchte vor den Menſchen.“ Noch unverhohlener fpricht 
der König feine Meinung in der VBorfehrift aus, die er dem Erz 
fapellan Angilbert mit auf den Weg gab: ) „Du follft den Apofto- 
likus fleißig ermahnen, daß er ein reines Leben führe und den 
heiligen Canones Genüge thue. Führe ihm zu Gemürh, wie kurz 
die Ehre dauert, die er jetzt befist, im Vergleiche mit der ewigen 
Bergeltung, die ung dort erwartet. Auch treib ihn an, Die Simo— 
nie abzufchaffen, welche jet den heiligen Leib der Kirche an vielen 
Orten befledt!“ Mean fieht, Karl Fannte den neuen Pabft, er giebt 
in Ietteren Worten zu verfiehen, daß Leo mit Geld den Stuhl 
Petri erfauft Habe. Defto mehr mußte Leo daran gelegen fein, ein- 
flugreihe Männer des fränkischen Hofes, die des Königs Vertrauen 
befaßen, auf feine Seite herüberzuziehen. Ohne Zweifel hat Leo 
Bedacht genommen, den angelfüchfifchen Leviten zu gewinnen. Wenig: 
ſtens erließ Alfuin ein Glüdwunfchfchreiben ?) an den Pabſt, 
worin er denfelben mit Schmeicheleien überfchüttet, indem er ihn 
den ächten Stellvertreter des Petrus, den Erben des Geiftes der 
Bäter, Haupt der Kirche und Grnährer der einen unbefledten 
Zaube nennt. Am Schluffe des DBriefes fügt er noch bei, er habe 
dem Leberbringer Aufträge mitgegeben, welche dieſer mündlich aus: 
richten werte. Es fpringt in die Augen, dag Alkuin nie gewagt 
hätte in folhem Tone zum Pabſte zu reden, wäre ihm ber heilige 
Vater nicht zuerft entgegengefommen. Auch werden wir fehen, daß 
Alkuin feitdem aufs Beharrlichſte Leo's Sache vertrat. 

In Nom bildete ſich indeß gegen den Pabft eine mächtige 





V) Abgebrudt ibid, ©, 981. — 2) Aleuini epist, XX, opp. I, 30 fg. 


670 | II. Buch. Kapitel 9. 


Parthei, welcher allem Anfchein nach die fränkischen Grafen, die in 
Karls Namen Stalien verwalteten, insgeheim Vorſchub leiſteten. 
Denn ohne Zuficherung fränfifhen Schuses hätten die römifchen 


Gegner Leo's weder gewagt noch vermocdt, was fie im Frühjahr 


799 ausführten. An der Spise der Unzufriedenen fanden zwei 
vom verftorhenen Hadrian I. eingefeste hohe Beamte, der Primi- 
cerius Pafchalis und der Schagmeifter Campulus, die vielleicht ſich 
ſelbſt Hoffnung auf den Stuhl Petri gemacht hatten, und in Leo 
den glücklichen Nebenbuhler haßten. Das Berberben Leo's wurde 
befchloffen. Am 25. Aprif 799, welcher Tag in Rom feftlich be: 
gangen wurde, ritt der Pabft aus feinem Pallafte nach der Kirche 
des heiligen Laurentius, um dort Gottesdienft zu halten. Unter— 
wegs wird er von einer Schaar Bewaffneter unter dem Befehle bes 
Paſchalis und Campulus überfallen. Die Abficht der Verſchwornen 
foll gewefen feyn, ihm die Zunge und die Augen auszureißen. Wenn 
fie jedoch wirklich diefen Plan hatten, fo vermochten fie ihn nicht 
zu vollftveden. Eine Menge Volks umgab nemlich den Pabft, als 
er nach der Kirche ritt; bei dem Ueberfall ftäubte der Haufen aug- 
einander, und im Gedränge, das dadurd) entftand, fand Leo Gelegen- 
heit mit heiler Haut zu entwifchen, nur an einem Auge erhielt er 
eine Feine Verlegung. ) in treuer Kämmerer, Albinus, half ihm 
bei der Nacht aus der Stadt und in Sicherheit. Plötzlich fand 
nemlih der fränfiihe Herzog von Spoleto Winigis vor Roms 
Mauern, nahm den Vabft zu ſich, und geleitete ihn nach Teutſch— 
land zu Karl. Der befannte Chronift Einhard ?) erzählt, Winigis 
fey auf die Nachricht yon den Vorfällen in Nom eilends herbeige- 
kommen, um den Pabft zu retten. Allein da zwifchen dem Leber: 
fall und der Flucht Leo’s, Yaut dem Berichte des Bibliothekars 
. Anaftafius 3) höchſtens anderthalb Tage und zwei Nächte Lagen, 
begreift man nicht, wie die Botfchaft von Nom nad Spoleto, und 
binwiederum Winigis mit dem Heere, das er bei ſich hatte, *) von 
Spoleto nah Nom in fo kurzer Zeit gelangt feyn fol, Man muß 





1) Der wishtigfte Zeuge, Johannes am Ende des neunten Jahrhunderts 
Diakon zu Neapel, von dem unten. die Rede feyn wird, fagt: cujus (Leonis) 
cum vellent oculos eruere, inter ipsos tumultus, sicut assolet fieri, unus ei 
oculus paululum est laesus. — 2) Annales Einhardi ad annum 799, Perz 
I., 187. — 3) In vita Leonis III., $. 11. fg. liber pontificalis ed, Vignoli 
II., 244 fig, — ®) Ibid. ©, 248, \ 


Pr. 2 TE 


al hi a 


Die fräntifche Kirche vom Anfange des fiebenten Jahrhunderts ꝛc. 671 


nemlich wiffen, daß Spoleto wenigftens 20 Stunden Wegs von 
Rom entfernt iſt. Die Sache fieht vielmehr fo aus, als habe fi 
Winigis mit feinem Heere in Erwartung ber Dinge, die zu 
Rom vorgeben follten, zur Zeit des Meberfalls in der Nähe 
befunden. | 
Sobald die Gegenvyarthei erfuhr, daß Leo über die Alpen zu 
Karl ſich geflüchtet Habe, ſchickte fie ebenfalls Gefandte an den 
fränfifchen Hof, um den Pabft in der Meinung des Königs zu ver: 
derben. Sie gab ihm Meineid und Ehebruh Schuld, und ver: 
Yangte, Leo folle freiwillig vom Stuhle Petri, den er durch Ver: 
brechen beflect habe, herabfleigen, und feine Schande in dem 
Dunfel eines Klofters verbergen. Leo feiner Seits feste alle mög— 
lichen Hebel in Bewegung. Um durch Berufung auf die Allmacht 
feine balbverlorne Sache zu retten, hatte er die Kühnheit zu be: 
haupten, Zunge und Augen feyen ihm wirklich von den Feinden 
bei jenem Ueberfall ausgeriffen, aber in der folgenden Nacht durch 
eine Wunderwirfung des heiligen Apoftelfürften Petrus wieder ge— 
fchenft worden. König Karl fragte bei Alfuin an, was von biefer 
Ausfage zu halten fey, und erbat ſich zugleich feinen Rath darüber, 
wie er fih gegen bie Feinde Leo's benehmen folle, deren Anklagen 
Karl allem Anfchein nach für begründet hielt. Auf die erfte An- 
frage antwortete !) der Levite mit der Schlauheit eines Priefterg, 
der zwar Wunder nicht gerade zu bejahen wagt, aber doch auch 
nicht läugnen will: „ieder Chrift folle fih über die Gnade des 
göttlichen Schuges freuen, und den heiligen Namen des Herrn 
loben, der nie Diejenigen verläßt, welche auf Ihn harren, und ber 
die Anfchläge der Böfewichter wider den Pabft zu nichte machte.“ 
Ebenſo fchlau ift feine Erwiederung auf den zweiten Punkt: „Was 
bie Frage betrifft, wie mit Jenen (Pafchalis, Campulus und den an: 
dern Feinden Leo's) zu verfahren fey, fo weiß Eure erhabene Weis: 
heit am Beften, welche Behandlung jede Perfon und jede That 
verdient, oder welche Mittel angewendet werden müffen, Damit jener 
fromme Hirte, der durch des Allmächtigen Hülfe den Händen feiner 
Widerfacher entriffen ward, ruhig auf feinem Stuhle dem Herrn 
dienen möge.“ Alkuin hat auch fonft aufs Angelegentlichfte für den 
Pabft gewirkt. Wir befisen einen andern Brief ?) von feiner 





') Alcuini epist, 93, Opp. I,, 138 Mitte. — ?) Epist, 92, Opp, L, 134 fig, 


672 I. Buch. Kapitel 9. 


Hand, welcher wichtige Auffehlüffe über die damaligen Verwicklungen 
giebt. Alkuin gieng nicht felbft an den Hof, wie er behauptet 
wegen feiner Gebrechlichfeit, und weil die Sommerhige des Jahrs 
799 ihn zu Haufe hielt. Dagegen benüßte er den Einfluß feines 
Berbündeten, des Erzbifhofs Arno von Salzburg, der damals am 
Hofe weilte. Diefer Arno hatte dem Leviten Auszüge aus einem 
Zeugenverhör geſchickt, das fehr nachtheilig für Leo III. gelautet 
haben muß. Nun fehrieb ) ihm Alfuin 799 zurüd: „Dein duch 
den Cleriker Baldrih mir überſchicktes Schreiben, das Klagen gegen 
den Lebenswandel des Apoftolifus enthielt, Habe ich ind Feuer ge- 
worfen, nachdem nur Candidus ?) daſſelbe außer mir gelefen hatte, 
Denn ic) wollte nicht, daß es in die Hände eines Andern komme, 
weil es fonft Teicht Aergernig erregen könnte.“ Man erficht hieraus, 
dag Alfuin die Klagen für wahr hielt; er verbrennt die Urkunde, 
damit das Belanntwerden der Wahrheit dem Pabfte nicht ſchade. 
Weiter heißt es dafelbft: *) „Wie ich höre, arbeiten viele Neider gegen 
den Apoftolifus und fuchen ihn zu flürken, indem fie ihn des Che- 
bruchs oder des Meineids befchuldigen. Sie tragen öffentlich dar: 
auf an, Leo folle fih durch einen ſchrecklichen Eid von den Vor: 
würfen reinigen, inggeheim aber rathen fie ihm, lieber freiwillig 
abzudanfen und fih in ein Klofter zurüdzugiehen, damit er den Eid 
nicht zu ſchwören brauche. Wäre ich dabei, fo würde ich mit dem 
Evangelium fprechen (Joh. VI, 7.): Wer yon Euch ohne 
Sünde ift, der werfe zuerft den Stein auf ihn.“ Abermal 
deutet bier der Leite an, daß die gegen Leo erhobenen Befchul- 
digungen ihre Richtigfeit hatten. Alkuin fährt fort: „Sch erinnere 
mich in den Canones des feligen Syivefter gelefen zu haben: ein 
Pabſt dürfe nur auf die Ausfage von 72 unbefcholtenen Zeugen 
bin vor Gericht geftellt werden. In andern Canones ſteht, ein 
Pabſt dürfe nur richten, nicht aber gerichtet werden. Diefe und 
viele andere Dinge der Art gedenfe ich (dem Könige) zu fchreiben. 
Wer kann auch noch feft ftehen, wenn Derjenige den Anfällen von 
Mebelthätern erliegt, welcher das Haupt der Kirchen Chriſti ift. 
Mit ihrem Vorſteher ſteht oder fällt die Kirche“ Mean wird tiefer 
unten fehen, daß der Pabft wirklich mit Berufung auf die Gründe, 





H S. 155 gegen oben. — 2) Sein Schüler Witizo ift gemeint, — °) Ibid, 


Die fränfifche Kirche vom Anfange des fiebenten Jahrhunderts ıe. 673 


bie bier Alkuin anführt, und nad dem Plane, den er entwickelt, ſich 
aus der Schlinge gezogen hat Demnach ift Mar, dag Alkuin in 
alle Geheimniffe Leo’s eingeweiht war, oder, um die Wahrheit frifch 
herauszufagen, daß er in deffen Solde fand. Nun folgen in dem 
Briefe die dringendften Aufforderungen, Arno möchte fih bei Hofe 
der Sache des Pabſtes annehmen: „Du aber, o Theuerfter! arbeite 
für das Wohl unferes Hauptes, für die Nettung des höchften 
Hirten, für das Anfehen des heiligen Stuhld, für die Ehre des 
fatholifhen Glaubens, damit der Hirte der Hirten nicht den Biffen 
der Wölfe zum Opfer falle. Ich werde deine Anftvengungen mit 
meinen Thränen, meinen ©ebeten, meinen Briefen unterftügen. 
Schau wohl vor wen du dich anvertraueft, fei vorfichtig in den 
Antworten, fehärfe dein Urtheil und überlege jeden Schritt“ u. f. w. 
Jetzt ift e8 Zeit, dag wir ung nad dem Pabſte felbft umfehen. 
Sobald Karl von den Borgängen zu Nom Bericht erhalten 
hatte, 'gab er Befehl, den flüchtigen Pabft an fein Hoflager zu 
geleiten. Im Spätfommer 799 weilte der König wegen des fächft- 
fhen Kriegs zu Paderborn. Dorthin fam Leo II. Karl empfieng 
ihn mit allen Außerlihen Ehren. Leo IH. blieb mehrere Tage am 
Hofe. Während diefer Zeit wurde der Knoten gefchürzt, der im 
folgenden Jahre die Ratfer- Krönung Karl's zur Folge hatte, Glück— 
licher Weife ift ein einziger Zeuge des Geheimniffes auf uns ges 
fommen, das Karl mit größter Mühe zu verbergen fuchte, und das 
fonft in ſämmtlichen Jahrbüchern ſchmählich entftellt erfcheint. In 
ber zweiten Hälfte bes neunten Jahrhunderts blühte an ber Kirche 
des heiligen Januarius zu Neapel ein Diakon Johannes, welcher 
eine Geſchichte der Biſchöpfe Neapels fchrieb, bie von Gründung 
des dortigen Stuhls bis zum Jahre 872 reicht. Dieſer Johannes 
muß hochgeſtellte Männer gefannt haben, welche von Dem, was zu 
Rom in den Jahren 795—800 eingefädelt wurde, fehr genau 
unterrichtet waren. Er berichtet I) Folgendes: „Um jene Zeit ver⸗ 
fhworen ſich gottlofe Männer wider den Pabſt Leo II. und be= 
mächtigten ſich feiner Perſon. Und da fie ihm bie Augen aus: 
ſtechen wollten, ward ihm im Getümmel nur ein Auge leicht verlegt. 
Er floh nun zu Karl und machte fih verbindlich dem Franken: 





1) Chronicon Johannis Diaconi, abgedruckt bei Muratori scriptores 
rerum italicarum II., a, ©, 312, 
Sfrörer, Kircheng. II, 43 


DA 3 ende er Kapitel 9. 


könige die Kaiferfrone aufzufegen, wofern Karl ihn 
gegen feine Feinde fhüsen würde Mit Freuden 
nahm Karl das Berfprehen an, welches ibm fehr er 
wünfdht war“ Johann's kurze Worte find der einzige wahr: 
baftige, auf ung gefommene Bericht vom Verhältniß Karls zu Leo, 
alle andern find gefärbt oder ganz erlogen. Nach Abſchluß des Vertrags 
entließ Karl den Pabſt unter flarfem Geleite nah Nom, wo bie 
Sranfen Leo III. mit Gewalt wieder einfesten. Jetzt erſt wurden 
Leo's Feinde und Anfläger verhaftet. Beide, Leo und Karl, hatten 
die Ausführung des Werks, ohne Zweifel damit die Welt weniger 
den geheimen Zufammenhang merke, auf das nächſte Jahr (800) 
verſchoben. 

| Im Frühjahr 800 beſuchte Karl die Nordküſte Frankreichs, 
um ſich durch eigenen Augenſchein zu überzeugen, ob die Verthei— 
digungsanſtalten, die er gegen Ueberfälle der Nordmänner getroffen, 
in gutem Stand ſeyen. Von der Küſte aus reiste der König nad) 
Tours, unter dem Vorwand, fein Gebet am Grabe des heil. Mar: 
tinug zu verrichten, in dev That aber, um fih mit Alkuin zu be 
ſprechen. Schon vorher hatte Karl den Leviten durch ein Schreiben 
aufgefordert, er möchte die rauchigen Dächer von Tours ver: 
Yaffen und mit ihm nad den goldenen Pallaften Noms ziehen. 
Aber Alfuin, damals bettlägerig und yon Alter gekrümmt, wagte 
nicht Die lange Reife zu unternehmen. ) inhard berichtet, 2) daß 
Karl mehrere Tage in Tours blieb. Bon da begab ſich der König 
nad Mainz, wohin ein Reichstag ausgefchrieben war. Dort wurde 
für den fommenden Winter eine Heerfartb nach Italien beſchloſſen. 
Sm October überftieg Karl mit dem Heerbanne die Alpen. In 
Kavenna angefommen, beorderte er feinen Sohn Pipin, den Feld: 
zug gegen die Beneventer zu eröffnen. Er felbft zog mit großem 
Gefolge auf Nom, wo er den 24. November eintraf und mit 
außerorbentlichen Feftlichfeiten von Leo III. empfangen ward. Bor 
Allem mußte Etwas gefchehen, um das Gewicht der Befchuldigun: 
gen, die noch immer auf dem Pabſte Yafteten, von Leo abzuwälzen. 
Eine Mafie Bifchöfe und weltlicher Großen wurde daher in ben 
nächften Tagen zu einer Synode in die Petersfirche berufen. Als 





) Man fehe den 93ſten Brief an Karl opp. I, 438 unten, — 2) Ein- 
hardi annales ad annum 800 Perz I,, 187 unten, 


Die fränkifche Kirche vom Anfange des fiebenten Jahrhunderts ꝛc. 675 


nunim Namen Karls die Aufforderung an die verfammelten geift- 
lichen Würdenträger ergieng, fie möchten die Ankläger Leo's hören 
und über den Pabſt richten, gaben die Bifchöfe eine Antwort, Die 
aufs Haar Dem gli, was Alfuin in dem oben angeführten Briefe 
an Arno ausgefprocen hatte. „Wir wagen nicht,“ fagten fie, „ven 
Stuhl Petri, welcher das Haupt Aller ift, zu richten. Wir Alle 
werden som Statthalter Petri gerichtet, er felbft aber darf von 
Niemand gerichtet werden.“ Hierauf beflieg der Pabit mit dem 
Evangelium in der Hand die Kanzel, und fchwur mit lauter Stimme 
einen Neinigungseid. Dabei vergaß er nicht zu bemerken, daß Das, 
was er jest thue, für feine Nachfolger Fein bindender Vorgang feyn 
jolle, denn er thue Solches nur, um den Anwefenden jeden Ber: 
dacht zu benehmen. ') Das Ganze war, wie man fiebt, eine ab- 
gefartete Poffe. Da aber nothwendig fchon vor der Synode Viele 
in das Geheimniß eingeweiht werden mußten, fo fonnte von Nun 
an der Plan der Kaiferfrönung, welcher allem Borangegangenen 
als Schlußftein diente, nicht mehr verborgen werden. Wir halten 
daher das Zeugniß des alten, von Lambecius herausgegebenen, fräns 
kiſchen Chroniften für begründet, welcher erzählt: 2) „In Gegenwart 
der Synode fey darüber verhandelt worden, Karl'n zum Kaifer zu 
krönen, bieweil von Seiten der Griechen der Kaifer-Name aufge: 
hört habe und. ein Weib dafelbft die Herrfchaft befige.“ Diefer 
Grund erinneri ſtark an die verächtlichen Ausdrüde, welche bie 
farolinifchen Bücher von Irene brauchen, 

Indeſſen war die Weihnachtzeit herangefommen. Am Chrift: 
tage, mit welchem man damals noch das neue Jahr begann, wohnte 
Karl im Prachtgewande eines Patriciers dem Gottesdienfte in der 
Wetersfirche bei. Nach Beendigung der Meffe ſchritt der Pabft auf 
den König zu und feste ihm eine glänzende Krone auf das Haupt. 
Augenblidlich brach die zahllofe im Dome verfammelte Bolfsmenge 
in den Zubelruf aus: Heil Karl, dem von Gott gekrön— 
ten Augufius, dem großen und Friede bringenden 
Kaifer Leben und Sieg Man darf hieraus den Schluß 
ziehen, daß viele Leute zu Rom ſchon den Tag zuvor wilfen mußten, 





1) Die Berichte über die Synode findet man zufammengeftellt bei Manft 
XII, 1044 fig. — 2) Lambecius commentarii de bibliotheca Vindobonensi, 
Vindobonae 1663 fol, Vol, II, ©, 581 gegen unten, 


43 ® 


676 III. Bud. Kapitel 9. 


was im Petersdome vorgehen follte. Denn wie hätten fie fonft bie 
finnbildlihe Handlung des Pabſts fo richtig verfiehen fünnen? Am 
Tage der Krönung übergab Fredegis, Alfuin’s Schliler, in deſſen 
Namen dem neuen Kaifer eine prachtvoll gefchriebene Bibel, ) 
ſammt einem Briefe, ) in welchem Alkuin jagt, er habe das 
Buch zum Weihgefhenf für die errungene KRaiferwürde 
gewählt, Folglich wußte Alkuin bereits im Herbfte 800, da fein 
Schüler Fredegis im Gefolge des Königs nach Italien abgieng, daß 
Karl am Chrififefte werde zum Kaifer gefrönt werben !! 

Drei und ein viertel Jahrhundert waren verfloffen, feit mit 
Romulus Auguftulus die legten Trümmer des abendländifchen Reichs 
zuſammenbrachen, das Karl 800 wieberherftellte. Und welches 
Neich, mit welchen Erinnerungen, welchem Anfange, welchem Ende? 
Die Weisheit eines Senats, dergleichen die Welt feinen zweiten 
fah, die Kraft eines Volks, dergleichen die Gefhichte Fein anderes 
vorführt, unterwarf nach 700jährigen Kämpfen unter unerhörtem 
Blutvergießen die fchönften Länder dreier Welttheile einem Joche, 
Mit dem Augenblid, wo die böcfte Gewalt zu Rom in die Hände 
eines Einzigen übergieng, offenbart fih auch Verfall, obgleich die 
Kaiferzeit fehr fähige Herrfcher aufweist. - Das Erbe, welches die 
Tugend des römischen Volks zufammengebracht, unterlag am Ende, 
trog der ausgedehnteften Hülfsmittel, den Schlägen einiger Hundert: 
taufende von Barbaren; die Nachkommen der alten Römer find 
zulest zu einem ehrlofen, niederträchtigen Haufen, bie Kaifer feldft 
zu erbärmlihen Wichten herabgeſunken. Kurz die Gefchichte des 
römischen Weltreichs beweist unmiderleglih, daß die Weltmacht 
eines Einzigen zu ſcheußlicher Entfittlihung der Beherrſchten wie 
der Herrfcher führt. Folglich Hat der Franke Karl einen Frevel an 
der Menschheit begangen, als er jene unnatürliche Macht wieder 
herzuftellen verfuchte. Gleichwohl ift fein. Unternehmen höchft bes 
greifih. As die Nömer in Trajan’s Tagen auf dem höchſten 
Gipfel der Verfeinerung ftanden, fehnten fie fih nad den Natur: 
zuftänden der Germanen, wie man aus der Schrift des Tacitug 
über unfer Vaterland erfieht. Und als die Germanen die Welts 
monarchie geftürgt hatten, entfland in ihren Häuptern der Wunfch, 
bie römische Cultur, die fie zerftört, und deren Ueberbleibſel ihnen 


— 





9 Epist. 185. Opp. I; 248, — 2) Epist, 103, Opp- In 153, 


Die fränkifche Kirche vom Anfange des fiebenten Jahrhunderts ꝛc. 677 


Ehrfurcht einflößten, für eigene Nechnung wieder herzuftellen. So 
ift der Weltlauf! Schon Chlodwig, der Begründer fränfifcher 
Macht, lauſchte mit gierigem Ohre der Schmeichelei Derer, welche 
ihn einen neuen Conſtantin nannten, ') woraus erhellt, daß er 
als Nachfolger der römifchen Kaifer 5 — ſeyn wollte. Und 
indem die Könige der ſpaniſchen Weſtgothen den Titel „Flavier« ans 
nahmen, ?) verriethen fie denfelben Wunſch. Karl fchlug daher feine 
völlig neue Bahn ein, ſchon andere germaniſche Fürften waren 
ihm vorangegangen. Im Uebrigen gebt aus unferer Darftellung 
hervor, daß er vom Anfange feiner Negierung an das Ziel der 
Kaiferfrone mit Außerfter Beharrlichfeit verfolgt hat. Aber je näher 
er bemfelben rücte, deſto mehr flachelten gelehrte Höflinge feine 
Ehrſucht auf. Im Jahre 799, alfo zu einer Zeit, da ber oben 
gefchilderte Vertrag mit Leo bereits am Abjchluffe war, fehrieb ®) 
Alfuin an Karl: „Drei Mächte find bis jest in der Welt die höch⸗ 
ften gewefen: erftlich die apoftolifche, welche im Namen des Apoftel- 
fürften Petrus den Stupl Petri verwaltet; zweitens bie Faiferliche 
und bie Herrichaft yon Neurom (das byzantinifche Kaiſerthum); in 
dritter Linie die föniglihe — welche Euch zu Theil geworden“ ıc. 
Bedurfte es mehr, um den ehrgeizigen Franken zu den Außerfien 
Schritten zu entflammen, damit dem Byzantiner nicht der Bors 
rang bleibe! 

Karl fühlte jedoch, daß die neue Kaiferfrone nicht gefahrlos 
fey. Mit ängſtlicher Sorafalt hielt er die Anfivengungen, welche 
er gemacht, um dem Pabſte die Krönung abzupreffen, vor dem 
Bolfe geheim. Nach feinem Wunſche folte die Welt glauben, 
Leo II. habe ihm, wider feinen Willen, die Krone aufgenöthigt. 
Laut dem Zeugniffe feines Geheimfchreibers und Biographen Ein- 
hard *) trieb er die Heuchelei fo weit, feine Umgebung zu ver: 
fihern: wenn er die Abficht des Pabſts geahnt hätte, würde er 
am Chrifttage 800, troß des hohen Feftes, nicht in die Petersfirche 
gegangen ſeyn. Karls Wunſch ift in fo weit erfüllt worden, als 
bis jest faft alle neueren Hiftorifer die eben erwähnte Lüge glaubig 
nachgefchrieben haben. Außer der gewohnten Neigung ehrgeiziger 





9 Siehe den zweiten Band dieſes Werks ©. 1020 flg. — °) Ebendaſelbſt 
S. 988. — 5) Aleuini epist, 80, Opp. IJ. 117 Mitte, — *) Vita Caroli 
cap. 28, Perz II., 458 oben. | 


678 Ä | II. Buch. Kapitel 9, 


Herrfcher über ihre Plane den Schleier des Geheimniffes zu decken, 
fcheinen ihn hauptfächlich zwei Gründe zu dieſem Spiele vermocht 
zu haben. Erſtlich mußte er beforgen, bie Byzantiner werben, 
wenn fie den wahren Zufammenhang erführen, die Krönung für 
einen erzwungenen Aft erflären und deßhalb nicht anerkennen. Wirk: 
lich ließen fih die Griechen wenigftens zum Theile täuſchen. Das 
Gehäſſige der That blieb, wie früher berichtet worden, in ihren 
Augen auf dem Pabſte haften, der doch nur das blinde Werkzeug 
des Franfen war. Fürs Zweite beforgte Karl, fein eigenes Volk 
möchte fi) der Errichtung des Kaifertfums widerfegen, wenn bie 
Umtriebe ihres Königs fundbar geworden wären. Eine höchſt auf: 
fallende Thatfache fchlägt in diefer Beziehung jeden Zweifel nieder. 
Nachdem Karl von der Kaiferfrönung in fein Reich zurüdgefehrt 
war, hielt er 802 einen Neichstag, auf welchem unter Anderem 
der Befchluß durchgefegt wurde, daß alsbald jeder Unterthan ben 
Huldigungseid, den er bisher dem Könige geleiftet, von Neuem 
dem Kaifer fchwören folle. Das Capitular ) Tautet fo: „Jeder 
Menſch im ganzen Reihe, fey er num Laie oder Eferifer, der vor 
her dem Könige Treue gefchworen, foll denfelben Eid dem Kaifer 
leiften. Und Die, weldhe noch gar nicht gehuldigt, follen vom zwölf: 
jährigen Knaben aufwärts ſchwören. Auch follen Alle öffentlich 
belehrt werden, damit fie verfiehen Yernen, wie Großes und 
Bieles in folhem Eide befaßt fey u. f. w.“ Die Anordnung 
dieſes Eides ift ein doppeltes Eingeftändnig, daß Karl Widerftand 
feines Volkes fürchtete, fo wie daß von Nun an fränfifches Blut 
und fränfifches Geld für Zwecke verfchwendet werben follte, die 
nicht mehr die der fränfifchen Nation, fondern einfeitig die ihres 
Herriherftammes waren. Noch muß ein Punft beachtet werden. 
Dffenbar hat die Parthei, welche den Pabſt Leo zu flürzen fuchte und 
zulest den fränfifchen Forderungen als Keil diente, nicht ohne vor— 
herige Nüdfprache mit Karls Beamten gehandelt. Karl wußte, 
wie man aus feinem erften Briefe an Leo erfieht, dag die Wahl 
deffelben ungefeglich war. Gleichwohl ließ er Alles gefhehen. Nach 
dem Ueberfalle auf Leo Herrfchte einen oder zwei Tage vollfommene 
Gefeglofigfeit in Rom, Häufer wurden erftürmt und niebergeriffen ; 2) 





V Baluzius I., 363 unten flg. — 2) Anastasius in vita Leonis $. 15. 
ed, Vgnoli II., 248. | 


Die fränkifche Kirche vom Anfange des fiebenten Jahrhunderts ıc. 679 


Niemand zeigte fih, der die Ordnung aufrecht erhalten hätte, 
Doch wiffen wir, daß fonft immer fränfifche Grafen mit fränfifcher 
Befagung in Nom Tagen. Eben fo verdächtig ift, daß der Herzog 
Winigis von Spoleto fo fehnell bei der- Hand war, als es fi 
darum handelte, den aufs Aeußerſte getriebenen Pabſt nach Teutfche 
Yand zu befördern. Die Sade fieht fo aus, als habe die fränfifche 
Befasung kurz vor dem Anfalle die Stadt geräumt, um den Gegs 
nern Leo's freien Spielraum zu gewähren, während zugleich ber 
Herzog von Spoleto eine Stellung in der Nähe Noms einnahm, 
um im rechten Augenblide eingreifen zu fönnen. Wer wird auch 
glauben, daß jene Handvoll Unzufriedener gewagt hätte, einen 
Pabſt zu ſtürzen, wenn fie nicht fränfifcher Nachficht fiher war? 
Zur vollfommenen Gewißheit wird endlich der eben ausgefprochene 
Verdacht durch eine andere Thatfache, Leo's III. Gegner, Pafchalis 
und Sampulus, blieben bis zum Jahre 799 auf freiem Fuße. Erſt 
bei der Rückkehr des Pabſtes wurden fie verhaftet, aber auch jest 
blos dem Scheine nad beftraft. Jene Kirdenverfammlung, 
welche fich weigerte, Leo zu richten, ſprach das Todesurtheil über 
fie aus; aber der Pabft mußte um ihre Begnadigung bitten — 
und ftatt aller Strafe fchiekte fie Karl — nad Franfreid. ') Kurz 
bie Gefchichte Leo’ und der Krönung hängt fo zufammen: aus 
feinen Berhältniffen zu Hadrian I. hatte Karl die Lehre gezogen, 
daß er die erfehnte Kaiferfrone nicht von einem würdigen Pabfte, 
fondern blos von einem Miethlinge erringen könne. Er ſchwieg 
Daher, als eine verächtliche Parthei nach Hadrians Tode den elen: 
den Leo auf den Stuhl Petri erhob, Er und feine Beamte unter: 
ftüsten fodann insgeheim die Gegner des Gewählten, und brauchten 
biefe als Werkzeuge, um den Pabft- in eine verzweifelte Lage zu 
bringen, aus der er fich nur durch vollftändige Bewilligung der frän— 
fifchen Anträge herausreißen konnte. Eine Folge diefes Einverftänds 
niffes mit den Gegnern Leo's war, daß Karl diefelben fpäter nicht im 
Ernfte beftrafen durfte. Nach erfolgter Krönung glaubte wohl Karl 
das Ziel feiner Wünfche erreicht zu haben. Er täufchte fih, Das 
Schickſal hat es anders gewollt. Wir werden tiefer unten zeigen, 
wie Karl, von höherer Hand getrieben, felbft dazu mitwirfen mußte, 
das neugegründete Kaiſerthum zu zerftören. Auch für feine fpäteren 





1) Die Beweife gefammelt bei Manfi XIII., 1046. 


680 II. Buch. Kapitel 9. 


Nachfolger blieb Karls Kaiferfrone ein Phantom, das feinen Des 
fisern Berberben brachte, aber den Völkern, deren Zufunft Ans 
fangs durch Erneuerung römifher Macht aufs Schwerfte bedroht 
fhien, nit gefchadet hat. Das germanifche Kaiſerthum hielt zwar 
bie politifche Entwicklung zweier großen Nationen, der Teutfchen 
und Staliener auf, aber es erzeugte anderer Seits einen Kampf 
zwifchen geiftlicher und weltliher Macht, welcher in Europa bie 
bürgerliche Freiheit groß gezogen hat. Weit mehr als feine 
eigene Macht, beförderte Karl durch die Maaßregel des Jahrs 800 
den Auffhwung des Pabſtthums. Man denfe ſich: innerhalb eines 
halben Jahrhunderts gejchieht eg, daß der römifche Stuhl erft ein 
Königthum (durch Pipin’s Krönung) dann ein Kaifertbum zeugt. 
Wie ungemefjen mußte hiedurch das Anfehen des Pabſts in den 
Augen der Völler fleigen. Karl feheint letztern Nachtheil gefühlt 
zu haben. Zugleich) mit ihm war durch Leo auch des Kaifers erfts 
geborner Sohn gleichen Nameng, Karl der Jüngere, gefalbt worden, 
welcher bald darauf in der Blüthe feines Alters farb, Als nun 
Karl 813 feinen einzig Übriggebliebenen Sohn, Ludwig den From: 
men, zum Nachfolger ernannte, bediente er fich nicht mehr. der 
Mitwirkung des Pabfts, fondern er gebot dem jungen Fürften, 
fi felbft die Kaiferfrone aufs Haupt zu feßen. I) Das Gleiche 
thaten bie fpäteren Karolinger. Gleihwohl wußten die Päbſte ſtets 
eine fhicliche Gelegenheit zu finden, um foldhen Kaifern aus ihrer 
Hand die Salbung zu ertheilen. So fam es, daß das Kaiferthum 
einen kirchlichen Charafter behielt. 

Kaum hatte Karl die abendländifche Krone errungen, ald er 
auch nach der morgenländifchen die Hände ausfiredte. Seine Ge: 
mahlin Liutgarda war im Juni 800 geftorben; ?) zu gleicher Zeit 
befand fich die Kaiferin Wittwe Irene zu Conflantinopel aus Grüns 
ben, bie früher entwidelt worden, in der ſchwierigſten Lage, welche 
ihr die Fraftvolle Stüse eines Mannes fehr wünſchenswerth machen 
mußte. Nun erzählt Einhard, °) dag Karl im Jahre 802 den 
Biſchof Jeße von Amiens und den Grafen Helmgaud als feine 
Botſchafter nach Conftantinopel abſchickte. Den Zwed ihrer Sen: 
dung erfahren wir durch Theophanes: „Geſandte famen yon Karl 





) Theganus im Leben Ludwigs $. 6. Perz IL, 592 gegen oben, — 
?) Einhardi annales ad 800 Perz I., 187 unten. — 6) Ibid, L, 190 unten. 


Die fränkiſche Kirche vom Anfange bes fiebenten Jahrhunderts ıc. 681. 


und dem Pabſte Leo, welche um die Hand Irene's für Karl wars 
ben, damit das Morgen: und Abendland vereinigt würde.“ !) Welche 
She zwifchen fränfifcher Herrſchſucht und griechifcher Arglift! Aber 
die Welt ward von dem drohenden Uebel befreit. Der Grieche 
fahrt fort: „Irene wäre wohl auf den Antrag eingegangen, wenn 
es nicht Aetius, ihr allvermögender Rathgeber, verhindert hätte.“ 
Die fränkiſche Unterhandlung führte bekanntlich den Sturz Irene's 
herbei, was auch Einhard ?) andeutet, indem er, die Ausſage des 
Theophanes beftätigend, berichtet: Irene fey nah Ankunft der 
Gefandten Karls abgefett worden. Der fränfifhe Kaifer mußte 
auf das Morgenland verzichten. 
Auh an der Krönung Karl’, wie fat an allen wichtigen 
Geſchäften, die ihr vorangiengen und fie vorbereiten, hatte Alfuin, 
wie wir faben, bedeutenden Antheil. Bon Alter und Schwachheit ges 
beugt, wanfte er damals dem Grabe entgegen. Seine Laufbahn 
neigte fich zu Ende. Seit der Nüdfehr yon der englischen Gefandt: 
fhaft, war er von Karl meift am Hofe verwendet worden; im 
Jahre 796 fchenkte ihn der König die Abtei Tours, unter deren 
Mönchen Zügellofigfeit herrſchte. Alkuin fielte mit großer Strenge 
die Ordnung her, und gründete alsbald eine Schule, aus welcher 
viele ausgezeichnete Elerifer hervorgegangen find. Das Schulhalten 
war Alfuin’d Element. Sp oft ihn Karl feitdem einlud, an Hof 
zu fommen, konnte er ſich doch nie entfchließen, die Stille feiner 
Abtei zu verlaffen. Freilih mag er in früheren Tagen unter ben 
Rolgen Baronen, welde den König umgaben, eine peinliche Nolle 
gefpielt haben. Auf eine der vielen Einladungen Karl’s erwiedert 
er ?) einmal: „was foll die Schwachheit des Flaffus *) mitten 
unter Waffen, was unter wilden Ebern ein Häslein, was unter 
Löwen ein frommes Schaaf, das im Frieden aufgewacfen vom 
Kriegshandwerfe nichts verfteht.“ Die Nüdfehr des neuen Kaifers 
yon der Krönung, welche Alfuin als fein eigenes Werf mit Stolz 
betrachtet haben mag, erwartete er mit ber Ungebuld eines Jüng⸗ 
lings. „Täglich,“ ſchreibt er ?) Kar entgegen, „habe ich mit jehn: 
füchtiger Spannung des Gemüths und mit einem Ohre, dag gierig 





Y) Theophanes ed, Bonnens. I., 737 unten. — 2 Ad annum 803, 
Perz I., 191 oben. — 3) Alcuini epist. 67. Opp. I., 92 unten, — * So 
nannte er fich felbfl. — °) Epist. 101. Opp. IL, 150 unten. 


62 IT. Buch. Kapitel 9. 


jedem Worte der Boten Yaufchte, auf Nachrichten von meinem Ge: 
bieter geharrt, wann er nach Haufe fehren und in die Heimath 
zurüdfehren werde? Endlich, obwohl ſpät, vernahm ich die erfehnte 
Kunde: bald wird er fommen, fehon hat er die Alpen überftiegen. 
Mit thränender Stimme rief ich wiederholt aus: o Herr! warum 
giebft Du mir nicht die Schwingen des Adlers, warum verleihft Du 
mir nicht, wenn auch nur auf einen einzigen Tag, ja auf eine 
Stunde nur, entrüct zu werden, gleich dem Propheten Habafuf, 
damit ich die Füße des Theuerflen Füffen könne, damit ich ihn felbft, 
der mir über Alles in der Welt werth ift, und feine ftrahlenden 
Augen fehe, und den Laut feiner Stimme vernehme“ u. f. w. Die 
Schmeicheleien des Leviten haben, wie man fieht, eine theologifche 
Beimifhung. Karl kam wirflih auf der Rückreiſe aus Stalien 
nah Tours. Wahrfcheinlich fah ihn damals Alfuin zum letztenmale. 
Im Jahre 803 brach zwifhen dem Biſchof Theodulf yon Orleans 
und unferem Abte ein Streit aus, ber letzterem nahezu die Gunft 
bes Kaifers gefoftet hätte. Ein Geiftlicher des Sprengels von Dr: 
leans war wegen eines Verbrechens som Biſchofe zu Gefängniß- - 
firafe verurtheilt worden, entfloh jedoch aus feiner Haft und fuchte 
in der Klofterfirche des Heiligen Martinus von Tours ein Aſpyl. 
Allein Theodulf wußte fih vom Kaifer Vollmacht zu verfchaffen, Die 
ihn berechtigte, den Berbrecher aus der Kirche abzuholen. Bon 
ihm ausgefendete Bewaffnete drangen wirklich in das Klofter ein. 
Nun festen fih aber Alfuin’s Mönche zur Wehre und wiegelten 
überdieß die Bettler der Stadt Tours auf, welche vom Almofen 
bes Klofters Iebten. Die Folge war, daß Theodulf’s Bewaffnete 
zurücgetrieben wurden. Alfuin, dem nicht ganz wohl zu Muth 
war, fchrieb ) fofort an feine beiden Schüler Wizo und Fredegis, 
bie fih am Hofe befanden, und erfuchte fie, dem Kaifer die Sache 
der Wahrheit gemäß darzuftellen. Allein indeffen Hatte der Kaiſer 
bereits Bericht von dem Borfalle erhalten; er ſchickte den Grafen 
Teotbert nach Tours, um eine firenge Unterfuchung einzuleiten. 
Zeotbert beftrafte den Pöbel, dergan dem Auflaufe Theil genommen, 
rückſichtlos, und forderte die Brüderfchaft auf, den Cleriker feinem 
Biſchofe auszuliefern. Abermal verweigerte Alfuin den Gehorfam, 
indem er vorgab, der Flüchtling habe fih auf den Kaiſer berufen, 





') Epist, 118, Opp. I., 169 fig. 


Die fränkiſche Kirche vom Anfange des fiebenten Jahrhunderts a. 683 


und könne daher, gleich Paulus, nur vom Kaifer gerichtet werben. 
Zugleich fehrieb er einen Brief!) an Karln, in welchem er fein 
Betragen vechtfertigte und Klage über den Grafen Teotbert führte, 
Sept goß der Kaifer feinen ganzen Zorn über die Brübderfchaft in 
Tours aus, Er erließ ein drohendes Schreiben ?) an fie, in wels 
chem er ihnen namentlich vorwirft, wie fie die Bemühungen des 
Kaifers, ihnen aus fernen Landen einen fo trefflichen Vorſteher zu 
geben, mit folhem Undank und folder Verachtung gegen die kai— 
ferlihen Befehle lohnen könnten. Gleichwohl gehorchte Alkuin auch 
jest nicht; Doch wagte er nicht, den Flüchtling im Klofter zu behal- 
ten, er fchiefte ihn vielmehr nach Salzburg zu feinem Freunde 
Arno. 3) Seitdem blieb die Sache, wie es fiheint, auf ſich berus 
hen. Man fieht, Alkuin durfte fich viel herausnehmen. Im fol 
genden Jahre nad) diefem Vorfall, den 19, Mai 804 ftarb Alfuin. 
Außer den früher angeführten Schriften hinterließ er mehrere exe— 
getifhe, Hiftorifche und Titurgifche Bücher, und auch zahlreiche 
Yateinifche Gedichte. Der werthvollſte Theil feines literariſchen Nach— 
Yafjes ift jedoch die Brieffammlung, welche unter den Quellen zur 
Geſchichte Karl's des Großen einen bedeutenden Rang einnimmt. *) 

Wir haben ung bisher blos mit den Verhältniffen der gallifchen 
Kirche befchäftigt; aber auch in Teutfchland giengen indeffen höchft 
wichtige Dinge vor. Früher wurde erzählt, daß der heil. Bonifactus 
bis zum Ende feines Lebens den Gedanken verfolgte, die Sad: 
fen, als den lettten unbefehrten teutfchen Stamm, in den Schooß ber 
Kirche zu führen. Eben diefen Plan hat Karl verwirklicht, aber 
freilich mit ganz entfeglichen Mitteln. Doch erfcheint fein Betragen, 
fo furchtbar es ift, in einem milderen Lichte, wenn man bie allge: 
meinen Verhältniſſe der damaligen Zeit in Betracht zieht. Die 
teutihen Stämme, welche feit Ende des vierten Jahrhunderts ing 
römische Reich eingedrungen waren, hatten ungeheure Reichthümer 
zufammengebradht. Auf langen Wagenzügen fchleppten. die Weft- 
gothen die Koftbarfeiten, welche fie unter Mari zu Nom geplün: 





1) Epist, 195. Opp. T., 260 fig. — 2) Epist, 119. Opp. I., 174 fig. — 
3) Dieß erhellt aus dem 120ften Briefe. — *) Lefer, die fich genauer über 
Alkuin unterrichten wollen, verweiſe ich auf die Schrift: Friedrich Lorenz 
Alkuin’s Leben. Halle 1829. Sie ift weit verftändiger und beffer gefchrie« 
ben, als der große Haufe anderer teutfchen Monographien, deren unfere Lites 
ratur fo viele beſitzt. 


684 I, Buch. Kapitel 9. 


bert, in ihre fpätere Wohnfige mit ſich. Gleicher Weife ift an vielen 
Stellen der Gefchichtsbliher des Tourer Bifchofs Gregor von 
Schasfammern die Rebe, welche fränfifche Häuptlinge angelegt hat: 
ten und eiferfüchtig bewachten. Noch aus dem Niebelungen-Liebe 
erfieht man, daß fich bis ing tiefe Mittelalter herein die Sage von 
ſolchen Schägen erhielt. Nun drang frühe das Gerücht von bem 
Slüde der ausgewanderten Stammesvettern in das Heimathland. 
zu denjenigen teutfchen Völkern, welche zu Haufe geblieben waren, 
und erfüllte diefe mit wilder Gier. Um jeden Preis wollten fie 
aud ihren Antheil an den Reichthümern der römischen Lande haben. 
Seit dem achten Jahrhundert beginnt eine neue germanifche Wanz 
derung. Die Norbmannen, die Jüten, die Dänen gerathen in 
Bewegung, um einen Theil der Beute den reichgeworbenen Stamm⸗ 
genoffen abzujagen. In gleicher Lage, wie bie eben genannten nordis 
fhen Germanen, befanden fihb auch die Altfachlen. Schon in 
Gregor's D von Tours Tagen fielen fie verheerend in Frankreich ein, 
und als Karl zur Regierung gelangte, ererbte er wider fie einen 
Krieg, der ſchon faft zwei Jahrhunderte — verfteht fi) mit langen 
Zwiſchenräumen — dauerte. Nun muß man befennen, daß auf 
Seite der Sachſen wilde Gier und Raubſucht, auf Seite der Frans 
fen dagegen, wenigftens neben unedleren Triebfedern, das Beftreben 
fampfte, eine neu entftandene Cultur gegen Barbaren zu vertheis 
digen. Hätte Karl die Sachſen nicht unterjocht, fo konnte er ficher 
darauf rechnen, daß fie fein Neich bei nächfter Gelegenheit anfallen 
und umflürgen würden. Hammer, oder Ambos zu feyn, war hier 
die einzige Wahl. Man fann fih daher nicht wundern, baß er 
jedes Mittel, das zum Ziel führte, unbedenklich ergriff. Die Ge— 
fchichte, welche das Ganze ind Auge faßt, darf bier noch einen 
andern ‚Gefichtspunft hervorheben. Wenn es Karl nicht gelang, 
die Sachſen fränfifcher Herrfchaft zu unterwerfen, fo würden fie auch 
nie. organifche Glieder des germanifhen Staats, ber feit 843 ba- 
ftand, geworden ſeyn. Diefer tapfere Stamm, der ung eine Reihe 
ausgezeichneter Häupter gab, hätte der Einheit des germanifchen 
Reiches gefehlt. Wir wollen daher feinen Stein auf Karl *— 
der Sachſenkriege werfen. 

Auf dem Reichstage, den Karl im Frühjahr 772 zu Worms 





) Gregoriug von Tours histor, franc. IV., 16. Opp. ©. 158, 


Die fränkiſche Kirche vom Anfange des fiebenten Sahrhunderis c. 685 


hielt, wurde der Kampf gegen bie Sachſen befchloffen und fofort 
eröffnet. Die Franfen erflürmten Eresburg, eine Feflung ber 
Sachſen, und bemächtigten ſich in Folge ihres Siegers der Ermin: 
ful, eines ſächſiſchen Götzenbilds, yon dem nian viel gefabelt hat, 
aber außer den angeführten Worten nichts Sicheres weiß, !) Karl 
ließ den Götzen zerftören, und zwang bie beftegten Sachſen ihm 
zwölf Geißel zu ftellen. Im Herbfte fehrte der König nad Fran- 
cien zurüd; es war ein glüdlicher Feldzug geweſen, ohne bleiben: 
den Erfolg. Sobald Karl fih nah irgend einer andern Seite 
wandte, oder bei jeder für fie irgend günftigen Wendung der fränfi= 
fchen Angelegenheiten, griffen die Sachſen wieder zum Gewehr, 
und der Krieg dauerte mit wenigen Unterbrechungen faft dreißig 
Jahre Yang alfo fort, daß. faft jeden Sommer an der Elbe oder 
der Wefer geftritten ward. Schon im Jahre 774 bracden bie 
Sachſen verheerend nah Hefjen vor. Karl fand die Feinde fo ge— 
fährlih, daß er ein allgemeines Aufgebot in alle von ihm bes 
berrfchte Provinzen ergehen ließ. Mit ſämmtlichen Streitkräften 
feines Reichs, fagt Einhard, ?) eröffnete Karl den Feldzug des 
Yahres 775. Dennoch richtete er nichts Bedeutendes aus. Nach— 
dem er die Borhut der Sachen zurüdgefchlagen hatte, gieng er 
über die Wefer und theilte fein Heer in zwei Haufen. Während 
diejenige Abtheilung, an deren Spige er felbft fland, mit Glück 
focht, wird die andere von den Feinden umringt und niederge: 
macht. Karl mußte fih begnügen, daß ein Theil der Sachſen zum 
Scheine das Chriſtenthum annahm. Auch der Kampf des Jahre 
776 blieb ohne erheblichen Erfolg. Weiter fcheint der Franfen- 
fönig im Jahr 777 fortgefchritten zu feyn. Denn nad Beendi— 
gung des Feldzugs hielt Karl den erſten Reichstag zu Paderborn, 
auf welchem die anmwefenden Sachſen befchworen, daß ihre Freiheit 
und ihr Eigenthum verwirkt feyn folle, wenn fie je wieder vom 
fränfifchen Reich und dem Chriſtenthum abfallen würden. 3) Allein 
ber Hauptgegner Karls, Wittichind Kriegsherzog der Oftfahlen, 
hatte fih nicht in Paderborn eingefunden, er war zu den Nords 
mannen entflohben. Die Abwefenheit biefes einen Mannes bes 
wirkte, daß bie eingegangenen Berpflihtungen yon den Sachfen 





1) Einhardi annales ad annum 772, Perz I., 150, 151. — 2) Ibid, ad 
annum 775 Band I,, 153 — 55, — 3) Ibid I,, 156 und 157 fo wie 349, 


686 | II. Buch. Kapitel 9, 


nicht gehalten wurden. Während Karl im Jahr 778 den unglüds 
lichen Zug nad) Spanien unternimmt, bewegt Wittichind fein Volk, 
das fränkiſche Joch abzufchüttein. Vergeblich bietet Karl in den 
Sahren 779 und 780 neue Heere gegen die Sachſen auf. Im 
Sommer 782 ſchlagen Diefe drei fränfifche Grafen, welche gegen fie mit 
großer Macht ausgeſchickt waren, am Berge Sintel aufs Haupt. !) Auf 
die Nachricht yon der Niederlage, eilte Kart ſelbſt racheichnaubend nach 
Sachſen, verheerte das Land mit Feuer und Schwert, und zwang 
bie Haupter des Bolfs, ihm Diejenigen zu nennen und auszuliefern, 
die am Sintel gegen die Franken gefochten hatten. Biertaufend- 
fünfpundert Dann wurden ihm übergeben, er ließ fie Alle an 
einem Tage bei Berden zufammenfäbeln. Berräthereien unter 
ben Sachſen felbft fcheinen ihm in die Hände gearbeitet zu haben, 
daß er die Opfer feiner Rache herausfinden und dieſes fcheustiche 
Blutbad anrichten fonnte, Seitdem wurde das Glück den Sadfen 
untreu, Im Feldzug des Jahrs 783 erlitten fie ſchwere Verluſte. 
Im folgenden Jahre begann Karl ihr Land planmäßig auszuhungern. 
Die Ernten wurden angezündet, die Vorräthe zerfisrt, die Häufer 
niedergeriffen oder verbrannt, Feld und Flur in eine Einöde ver: 
wandelt. Jetzt merften die Führer des Volks, daß fernerer Wider: 
ftand hoffnungslos ſey. Wittechind, der im Jahr 782 fih vor Karls 
Rache zu den Nordmannen geflüchtet hatte, und Abbio, Herzog der 
Engerer, unterhandelten mit dem Franfenfönig. Nachdem von ber 
einen wie ber andern Seite. Geißel geftellt waren, begaben fid 
Wittichind und Abbio 755 zu Karl nad Attigny, und befiegelten ihre 
Unterwerfung durch die Taufe. Diefe tapfern Männer, die feit 13 
Sahren die Seele des Kriegs gegen die Franken gewejen, traten 
feitdem in den Privatftand zurüd, ihr Name wird in den folgenden 
Kämpfen nicht mehr genannt, das Volk hatte feine fähigften Häupter 
verloren. Im nemlichen Jahre, wie es feheint, 2) hielt Karl wider 
die Sachſen den Reichstag zu Paderborn, welcher eine Reihe Geſetze 
erließ, deren jedes mit Blut gefchrieben if. Der vierte Artifel 
verfügt: „wer in der AOtägigen Faftenzeit Fleifch ißt, der foll des 
Todes fterben.* Der fiebente: „Wer die Leiche eines Verſtorbenen 
nach heidnifcher Sitte verbrennt, der fol am Leben beftraft werden.“ 





1) Ibid, 163 unten flg. — 9 Dan fehe Perz leges. I., 48. Baluzius ver: 
feßt diefen Reichstag ins Jahr 788, Capitularia II,, 1039, Der Text bei 
Perz a. a. D., ober bei Baluzius I., 249 fig. 


Die fränkiſche Kirche vom Anfange des fiebenten Jahrhunderts ꝛc. 687 


Der achte: „Jeder Sachſe, der fih ferner verbirgt, um der Taufe 
zu entgehen, foll des Todes fterben.“ Der fiebenzehnte: „Auch bes 
fehlen wir gemäß dem Worte Gottes, daß Jeglicher den zehenten 
‚Theil feines Vermögens, wie des täglichen Erwerbs, den Kirchen 
und den Prieftern gebe. Alle ohne Ausnahme, Edle, wie gemeine 
Freie und Dienftleute, find diefem Gefege unterworfen.“ Der neun: 
zehnte: „Wer ein neugebornes Kind innerhalb eines Jahrs nicht 
zur Taufe ſchickt, fol, wenn er ein Edler ift, Hundertzwanzig, wenn 
ein Freier, fechszig, wenn ein Dienfimann, dreißig Goldflüde an die 
Kammer als Strafe erlegen.“ Zugleih wurden fränfifche Grafen 
als Amtleute über die Sachfen beftellt, um die —— dieſer 
Geſetze zu erzwingen. 

Seitdem herrſchte bis 792 die Ruhe des Grabes im Sachſen— 
lande. Aber während Karl 793 fih zum Kriege gegen die Ungarn 
rüftet, und eben befchäftigt ift, duch Grabung eines Kanals zwi: 
fhen ber Redniz und der Altmühl, die Donau mit dem Nhein zu ver- 
binden, empfängt er die Nachricht, 1) daß die Sachſen von Neuem 
aufgeftanden feyen. In fünf aufeinander folgenden Sommerfeld: 
gügen, wird nun das Land ber Empörten abermals durch die Franken 
fürchterlich verheert. Auf demfelben Reichstage zu Paderborn, wo 
Karl mit Leo den Bertrag über die Kaiferfrönung abſchloß, brachte 
er auch (799) zum erftenmale Die Maßregel zur Ausführung , daß 
bie unrubigften Sachſen mit Weib und Kind aus der Heimath ab: 
geführt, und als Sklaven in andere Provinzen des Neichs vertheilt 
wurden. „Damals fchreibt der Mönch von Moiffae, ?) nahm Karl 
eine Menge Sachſen mit Weib und Kind aus ihrer Heimath weg, 
und verſetzte fie in verſchiedene Gegenden; ihren Landbefis aber 
pertheilte er unter feine Getreue, d. h. unter die Bifchöfe, Pres— 
byter und andere Bafallen.“ Es wäre ein Irrtum, wenn man 
glauben wollte, daß ſich im Franfenreiche Feine mißbilligende Stimmen 
gegen das blutige Verfahren Karls erhoben hätten. Im Jahre 
796 ſchreibt ?) Alfuin an den König: „Eure Weisheit möge dem 
neubefehrten Bolfe der Sachſen Prediger zufenden, die rein an 
Sitten, der Sache Gottes ergeben und in der Schrift wohl bewan: 
bert find. — Auch ift wohl zu überlegen, ob es gut fey dem rohen 





1) Einhardi annales ad annum 793. Perz I., 179, — 2) Chronicon 
Moissiacense ad annum 799 bei Perz I., 2 — ?) Epist, XXVIIL, Opp. I, 
57 unten fig. 


688 ung II. Buch. Kapitel 9. 


Bolfe das Joch der Zehnten aufzwerlegen, und ob bie 
Apoftel, da fie vom Herrn in alle Welt ausgefchictt wurden, Zehns 
ten von den Völkern gefordert Haben? Allerdings ift bie 
Verzehntung unferes Eigentums eine löbliche Sache. Aber beffer 
ift es, auf diefelbe zu verzichten, als den Glauben zu verlieren. 
Wir felbft, die wir im Fatholifchen Glauben geboren und groß ge= 
‘zogen find, können kaum die Laft der Zehnten ertragen, wie viel 
weniger jenes rohe Bolf.“ Noch flärfer fpricht fih Alkuin in 
einigen andern Briefen aus. So 3. B. in einem Schreiben ) an 
den Bifhof von Salzburg Arno. „Das arme Volk der Sachen 
ift deßhalb dem Eide der Taufe fo oft untreu geworben, weil man 
fih nie die Mühe gab, den Glauben in ihre Herzen zu pflanzen. 
Der Glaube, fagt Auguftin, fommt aus dem freien Willen, er kann 
nicht aufgenöthigt werden.“ Ebenfo in einem Briefe ?) an Karls 
Kämmerer Megenfried, der im Kriege gegen die Sachſen eine 
Heeresabtheilung befehligte: „Wenn man mit ebenfo glühendem 
Eifer dem harten Bolfe der Sachſen das fanfte Zoch Chrifti und 
Seine leichte Laft predigte, als man erpicht if, Zehnten von ihnen 
einzufordern, und fie wegen ber Fleinften Vergehen unerbittlich zu 
beftrafen, jo würden fie fich nicht fo hartnädig gegen die Taufe 
fträuben. Möchten doch die Geiftlichen, welche man zu ihnen fchict, 
treue Schüler der Apoftel, möchten fie Prediger des Worts 
und feine Räuber feyn“ Das ift fhon gejagt und wahr: 
ſcheinlich auch vortrefflih gemeint. Allein Alkuin wünſchte ebenfo 
ſehnlich als Karl, daß die Sachſen dem fränfifhen Reihe und 
der fränfifhen Kirche fih unterwerfen. Da lag der Knoten! 
Wenn Engel vom Himmel berabgeftiegen wären und die Sachen 
aufgefordert hätten, Chriftum unter der Bedingung fränfifcher Herr: 
fchaft zu befennen, fo würden fie fein Gehör gefunden haben. 
Wollte daher Alkuin der Sache auf den Grund gehen, fo mußte 
er. Karl'n bitten, die Unabhängigfeit der Sachſen zu fohonen. Da 
er dieß nicht that, fo erfcheint feine Einrede nur als einer jener 
wohlfeilen Rathfchläge, die man vom warmen Zimmer aus fehr 
Veicht ertheilen fann. Zu dem Ziele, das Karl fo gut als Alfuin 
verfolgte, führte nur Anwendung von Gemwaltmitteln. 

Während Karls Abwefenheit in Italien wegen ber Kaiſer⸗ 

1) Epist, XXXI., Opp. IL, 42 Mitte, — ®) Epist, XXXIII., ibid, I, 
bi Mitte, 





Die fränfifche Kirche vom Anfange des fiebenten Jahrhunderts ıc. 689 


frönung, flamınte die, Verzweiflung des Volks noch einmal auf. 
Ein Theil der Sachſen, die auf dem linfen und alle, die auf dem 
rechten Ufer. der Elbe wohnten, fihüttelten 802 das fränfifche Joch 
ab, und erhoben fih in Waffen. Karl war, damals in fein ſechs— 
zigftes Lebensjahr getreten, er mochte fühlen, daß der Krieg ohne 
augenfcheinliche Gefahr für die Ruhe des Reihe nicht mehr länger 
bauern bürfe. Alſo beſchloß er der Sache mit einigen fürchterlihen 
Schlägen ein Ende zu madhen. Im Jahre 803 wurden umfaffende 
Borbereitungen getroffen. Erſtlich fuchte er den fächfischen Adel vom 
Bolfe logzureißen, und auf feine Seite herüberzugiehen. Die Mittel 
ber Berführung, welche er anmwandte, hatten erwünfchten Erfolg. 
Der unbekannte Sachfe, welder Karls Gefhichte nach) dem Wort: 
laut der Chroniken gegen Ende des neunten Jahrhunderts in Verſe 
bradte, berichtet ) zum Jahr 803: „die Großmuth des Fürften 
wirkte noch mehr, als der Schreden vor ihm. Wer fih ihm hin: 
gab, den ſchmückte er mit Ehren und Schägen. Fränkiſcher Reich: 
tbum wurde damals zuerft den armen Sachſen befannt, weil der 
Herrſcher "ehr vielen von ihnen Landgüter ſchenkte. Nachdem er 
fo den Adel an ſich gelodt hatte, zertrat er dag wider: 
jpenftige gemeine Bolf mit den Waffen“ Diefe merk 
wirdigen Worte werden trefflih dur ein Sapitular vom Jahr 802 
beftätigt, ) wo von Sachſen die Rede ift, welche Lehen in 
Sranfreih empfangen haben. Fürs Zweite ſchloß Karl 
mit dem Könige der Dbotriten in der heutigen Mark Brandenburg 
ein Bündniß ab, durch welches fefigefegt wurbe, daß dieſe Slaven 
gemeinschaftlich mit den Sranfen über die aufgeftandenen Sachſen her: 
fallen follten. Und nun rüdte er 804 mit einem mächtigen Heere ing Land 
ber Sachſen ein, Bon zwei Seiten umringt, mußte das tapfere Bolf er- 
liegen. Entjeglich war die Behandlung, die fie erfuhren. Zehntaufend 
Familien vertrieb Karl von Haus und Hof, und vertheilte fie ing ganze 
Neid. Daher flammen jene Sachfenfolonien im füdlihen Teutſch— 
land. ?) Das Land aber, aus welchem diefe Sachen vertrieben 
worden, ſchenkte Karl den Obptriten. *) Auf diejenigen, welde 
zurüdbleiben durften, wurde ein fürchterliches Zoch gelegt. Er ent: 


) Perz J., 261 gegen unten. — 2) Baluzius I., 576 unten. — 3) Wie 
Sachſenhauſen bei Frankfurt, oder Groß: und Klein: Sachfenheim in Würtems 
berg. — *) Einhardi annales ad annum 80% Perz J., 191 unten, Idem 
in vita Carol, cap. 7. Perz II., 447, 


Gfrörer, Kircheng. III 


| 44 


690 II. Buch. Kapitel 9. 


308 ihnen nemlich nicht weniger — als das Erbredt. Seit— 
dem mußten die Söhne ſächſiſcher Freibauern um das Erbe ihrer 
verfiorbenen Bäter, das ihnen von Gott und Nechtswegen gehörte, 
vor des Kaifers Amtleuten, eben jenen Eden, die durch Karl ver- 
führt und von der Nationalfache Iosgeriffen worden waren, wie 
sor Karl felbft, betteln. Man Fann ſich denfen, welche Ernied- 
rigung freier Männer, welche Plafereien und Frepel eine ſolche Einrich- 
tung zur Folge hatte, die jedoch Ludwig der Fromme ) fogleich nad) 
feinem Regierungsantritt aufhob. Bon Run an herrfohte im Lande 
der Sachſen Ruhe. Sie haben nachher das Schwert gegen Karl 
nicht mehr gezogen. Wir müffen noch bemerfen, dag, wie in Napo— 
leons Tagen, die Kraft der füddeutfchen Stämme aufgeboten wurde, 
um ihren norbdeutfchen Blutsverwandten das Gebiß anlegen zu 
helfen. Der batrifche und alamannifche Heerbann ftand zu wieder: 
holten Maffen gegen. die Sachen. Ueber die gegen das unglüd- 
liche Volk verübten Greuel fann man fih nur durch die Ber 
trachtung tröften, daß die größeren Fortfchritte der Menfchheit 
faft immer um Blut und Leiden erfauft find. r 
Karl hatte dem Clerus in dem 3Ojährigen Sachfenfriege eine 
wichtige Rolle zugedacht. Die Kirche follte die Leberwundenen in 
Empfang nehmen, an Demuth gewöhnen, und im Gehorfam er: 
halten. Daß er in dem unterjochten Lande ein Priefterthum errich- 
tete, geht ſchon aus der Thatfache jener Geſetze Über die Zehnten 
hervor, welche er auf dem Neichstage von 785 dem Clerus zufprad). 
Aber eine andere Trage ift, in welcher Form er urfprünglid 
diefe Einrichtung getroffen habe? Es werben teils Urkunden, theils 
Beweife aus Gefchichtfchreibern vorgelegt, kraft welcher während der 
Jahre 780 — 800 von Karl in Sachfen acht Bisthümer eingefegt 
worden feyn follen: nemlich Minden ?) angeblih 780, Halber- 
ſtadt, angeblih 781 zu Seligenftadt errichtet, dann in erſteren 
Drt verlegt, ?) Hildesheim, # Verden, angeblih 786 begrün- 
det, 5) Bremen, angeblid 788 geftiftet, %) Osnabrüd, angeblich 
1) Vita Ludoviei $. 24. Perz IT, 619 gegen unten. — ®) Angeblicher 
Beweis bei Spaten, Historia Westphaliae in deſſen Opp. I., 316 oben. — 
3) Beweis aus einer Halberftädter Chronik, bei Leibniz scriptor, rer, bruns- 
vie, IL, 110. — *) Die Kirche dafelbft foll Taut einer Chronik bei Leibniz J., 
742 von Karl dem Großen gegründet, aber der dortige Stuhl erft von Ludwig 


dem Frommen errichtet worden feyn. — 5) Urkunde bei Schaten a. a. D., 
©. 541 fig. — 9) Urkunde ibid, ©. 348 flg., auch bei Baluzius Capit, I., 245. 





Die fränfifche Kirche vom Anfange des fiebenten Jahrhunderts ꝛc. 691 


780 von Karl eingefeßt, dann durch eine Urkunde vom Jahr 
804 beftätigt, ) Münfter, oder wie der Drt früher hieß, Mimi— 
gardenford, angeblihd um 788 gegründet, ?) endlih Pader— 
born, nad Schaten's Behauptung im Jahr 780 geftiftet. 3) Allein 
die Beweiſe aus Schriftfielern, duch welche man diefe Angaben 
zu befräftigen verfucht hat, find nichtig, Die vorgebradhten Urkunden 
entweder höchſt werbächtig, oder offenbar geſchmiedet. Die Achten 
Quellen über die Geſchichte Karls wiffen fein Wort von dieſen 
fünmtlichen ſächſiſchen Bisthümern. Sodann verträgt fi Die 
dauernde Errichtung derfelben nicht mit feftftehenden Thatfachen. 
Bom Jahre 772 — 85 wüthete fortwährend Krieg im Lande, Im 
Sommer gewannen zwar manchmal die Franken Boden, im Winter 
aber blieben die Sachfen Herren. Kein Stuhl fann daher vor 785 
in Sachſen gegründet worden feyn. In den nächſtfolgenden fieben 
Jahren bis 792 war zwar Friede aber ein unficherer, und wir 
glauben kaum, dag Karl es gewagt habe, damals Bifchöfe im 
Lande zurüdzulafen. Bon 793 — 803 tobte wieder der Kampf. 
Dauernde Einrichtungen fünnen daher erft feit 804 begründet wor: 
ben ſeyn. Einige Aeußerungen gleichzeitiger Schriftfteller führen 
auf die Wahrheit. Der Abt Eigil berichtet *) in dem Leben Sturmi's, 
das er noch zu Karls Zeiten abfaßte, Folgendes: „Mit einem 
großen Deere zog Karl (772) nad Sachſen. Unter feinem Ge: 
folge waren Bifhöfe, Aebte und Presbyter, um das Volk, das in 
den Striden der Teufel gefangen lag, zu dem fanften Joche 
Chriſti zu befehren. — Bald darauf vertheilte Karl die ganze 
Provinz in bifhöflihe Sprengel (parochias episcopales) und 
gab den Knechten Gottes Vollmacht zu Iehren und zu taufen. Der 
größte Theil aber defjelbigen Landes ward der geiftfichen Obhut 
des feligen Sturmi überwiefen.“ Der Ausdrud: „biſchöfliche 
Sprengel,“ den Eigil gebraucht, kann nun nicht regelmäßige, und 
mit eigenen Bischöfen verfehene Stühle bezeichnen. Denn Sturmi 
erhielt ja, wie Eigil fagt, den größten Theil Sachſens, und doc) 
blieb er, was er früher war, nemlich Abt von Fuld. Sondern 





') Die zwei Beftätigungsurkunden abgedruckt bei Fürſtenberg monumenta 
Paderbornensia edit. IIda ©. 325 flg., oder auch bei Möſer osnabrückiſche 
Geſchichte 1., 405 flg. — 2) Beweis bei Schaten a. a. O., ©. 316 b. — 
°) Ibid. 316 a. unten, — +) Mabillon acta ord, s. Bened. III., b. ©, 256, 
oder auch bei Perg II., 576 Mitte. 

dA» 


692 | UL Bud. Kapitel 9. 


die Sache verhielt fich ohne Zweifel fo: Karl vertheilte die neue 
Eroberung unter die fränkischen Biſchöfe, bie ihn begleiteten, und 
die, wohl gemerkt, im Frankenreich bereits ihre eigenen Stühle be: 
faßen. Was fie in Sachſen gewannen, war blos ein, und zwar 
unficheres, Anhängfel ihres früheren Beſitzes. Diefelben schickten 
dann Presbyter und Diafone ins Land, um die Sachſen zu taufen, 
insbefondere aber um die Zehnten für Rechnung des Biſchofs einzu: 
treiben. Daher fommt es denn, dag Alkuin in dem oben ange: 
führten Briefe von Clerifern fpricht, Die im Sachjenlande nicht wie 
Prediger, fondern wie Räuber handeln. Diefe Anficht von den 
feüheften ſächſiſchen Kircheneinrichtungen wird uns auch durch die 
Stelle aus der Chronif von Meoiffae aufgedrängt, wo es heißt, 
Karl habe die Güter der Sachſen an feine getreue Anhänger, die 
(fränkiſchen) Bifchöfe, Presbyter und andere Bafallen verfchenft. 
Aller Zweifel muß jedoch vor dem Zeugniffe eines fächfifchen Pres- 
byters Ido fehwinden, der gegen Ausgang des neunten Jahr: 
hunderts einen Bericht über die Verfegung der Reliquien des bei: 
ligen Liborius nach Paderborn ſchrieb. Wir kennen das Buch nur 
durch Auszüge, welche Eckhard in feiner Gefchichte des vftlichen 
Frankens gegeben hat. Hier fagt !) der Sachſe, der offenbar treff- 
ih von den Alteren Schickſalen feines VBaterlands unterrichtet war, 
unter Anderem Folgendes: „Karl ließ fo ſchnell als möglich Kirchen 
bauen, und theilte das Land in forgfältig abgegränzte Sprengel. _ 
Weil es jedoch in Sachſen gar feine Städte gab, in welchen allein 
nach alter Sitte Stühle errichtet werden Dürfen, fo wählte er folche 
Drte aus, welche wegen ihrer natürlichen Vorzüge, oder um ber 
dichteren Bevölkerung willen, befonders geeignet fehienen. Allein es 
fehlte an Männern, die fih zu Biſchöfen der barbarifhen Nation 
weihen laffen wollten, weil der Aufenthalt dafelbit lebensgefährlich 
war. Deßhalb überantwortete Karl jeglichen der erwählten Site fammt 
dem betreffenden Sprengel den Biſchöfen anderer Kirden 
feines Reichs, damit diefelben, wenn es angienge, in das Land 
reifen und das Volk unterrichten möchten. Ueberdieß wurden fie ange- 
wiefen, zuverläßige Leute aus ihrem Clerus, mit den nöthi: 
gen Kirdhengeräthen, nah Sachſen zu beordern. 
Diefe einftweilige Einrichtung ſollte (nach des Königs Plane) fo 





') Eckhardi commentarii de rebus Franciae orientalis' II, , 24, 


Die fräntifche Kirche vom Anfange des fiebenten Jahrhunderts ꝛc. 693 


fange dauern, bis das Land gehörig im Glauben erſtarkt wäre, 
Dann erft, wann Diefes gefchehen, wollte Karl fefte Bisthümer in 
Sachſen errihten.“ Die Ausfage des Presbyters trägt das Siegel 
der Wahrheit an der Stirne, überdieß flimmt fie vortrefflich mit den 
urfundlich befannten Umftänden überein Karl bat alfo zwar 
Sachſen an fränfifche Bischöfe vertheilt, aber bejondere Stühle hat 
er dafelbft vor 803 nicht errichtet, denn dieß war unmöglich. Erft 
nach völliger Unterjohung des Landes konnte er an Einfegung 
eines regelmäßigen Prieſterthums denfen. Die oben genannten 
acht Bisthümer müffen in den letzten Jahren Karl’s, oder in den 
erften feines Nachfolgers, Ludwig's des Frommen, ihre Vollendung 
erlangt haben. Denn um die Mitte des neunten Jahrhunderts 
erfcheinen fie als feft begründete Anftalten mit Fräftigen Wurzeln 
im Lande, was eine längere Dauer vorausſetzt. Nun gehört zu 
vollfommener Einrichtung eines Stuhls, daß derfelbe einem Metro: 
politanverbande einverleibt wird, Dieß führt ung auf eine neue 
Seite der Frage. Wir müſſen vor Allem einen früher abgeriffenen 
Faden wieder anknüpfen. 

Nur mit äußerſter Mühe errang, wie oben ) berichtet worden, 
Bonifacius vom Pabſte die Erlaubniß, einen Nachfolger ernennen 
und demſelben ſeine Rechte, das heißt die Metropolitangewalt über 
das ganze damals bekehrte Teutſchland, abtreten zu dürfen. Lull, 
der Erkorne des Bonifacius, rückte wirklich in deſſen Rechte ein. 
Er genoß Anfangs großes Anſehen. Ich finde, daß Lull einer von 
den zwölf fränkiſchen Bifchöfen war, welche Pipin auf Verlangen 
bes Pabſts 765 nad) Rom abfchiekte, 2) und welche 769 der bort 
gehaltenen Synode anmohnten. ?) Aber bald warb die Sonne 
feines Glücks von düftern Wolfen überfchattet. Um 775 fihreibt #) 
Pabſt Hadrian der Erfte an den Erzbiſchof Tilpin ?) von Rheims: 
„dieweil gewiffe Nachrichten über die Einfeßung des Biſchofs 
Lull von Mainz an ung gelangt find, befehlen wir dir, in Gemein: 
haft mit einigen Biſchöfen und Kammerboten des Könige Karl 
die Einweihung des befagten Lull, fo wie auch feine Lehre und 
feinen Wandel genau zu prüfen, auch follft du ihn anhalten, ung 
fein Glaubensbefenntniß zu überfenden, damit wir nad) Erfund der 





) ©. 548. — 2) Siehe oben ©. 576. — 3) Manft Xı:, 744 zu unterft 
fteht fein Name verzeichnet. — *) Manſi XII., 846, — %) Dieß ift der Bifchöf 
Turpin der fränkifchen Sage. | | 


694 II. Buch. Kapitel 9, 


Sade ihm das Pallium zufenden, und feine Weihe aner- 
fennen, aud ihn als Erzbifchof von Mainz beftätigen 
mögen“ Man fieht, der Pabft ift entfchloffen, die That des 
Bonifacius und die von ihm an feinen Nachfolger übertragenen 
Rechte für nichtig zu erklären. Der Stuhl von Nom findet die 
Macht Lull's zu groß, die Flügel follen ihm daher befchnitten wer: 
den. Wirklich iſt dieß geſchehen. Wir haben früher erzählt, daß 
Bonifacius mit dem Stuhle zu Cölln wegen der Kirche zu Trecht 
einen Streit zu beftehen hatte, und vom Pabſte eine günftige Ent: 
ſcheidung auswirkte, in Folge deren der Mainzer Metropolit feinen 
Schüler Eobanus zum Biſchofe in Trecht mweihte Nach Ermordung 
bes Bonifacius und Eobanus verwaltete den Trechter Sprengel ein 
anderer Schüler des Erfteren, Gregorius. Der Bischof yon Münſter 
Liudger, welcher bald nad Anfang des neunten Jahrhunderts das 
Leben des Gregorius beſchrieb, und ein Schüler defjelben war, 
meldet ausdrücklich, ) Gregorius fey durch Pabft Stephan und den 
König Pipin ermächtigt worden, das Wort Gottes in Friesland 
auszuſäen, d. h. der Kirche von Utrecht vorzuſtehen. Dennoch 
wurde Gregorius nicht zum Biſchofe ernannt, ſondern er blieb, ob— 
gleich er das Amt eines Biſchofs verſah, bis an ſein um 780 er— 
folgtes Ende, einfacher Presbyter. Wir verdanken dieſe Nachricht 2) 
der Biographie des eben erwähnten Biſchofs von Münſter Liudger, 
deſſen Leben der 849 verſtorbene dritte Biſchof derſelben Stadt 
Altfrid geſchildert hat. Wie ſoll man ſich nun jene ſonderbare 
Erſcheinung erklären? Schon Longueval ?) hat das Wahre ge: 
fehen, indem er die Bermuthung ausfpridt: „Gregor fey darum 
nicht zur Würde eines Bifchofs erhoben worden, weil der Stuhl 
von Cölln fih mit Glück widerjegte, indem er Utrecht als einen 
Theil feines Sprengels in Anſpruch nahm.“ Daß die Sadhe ſich 
wirffih fo verhalte, erhellt aus einer andern Stelle der Bio: 
graphie Lindger’s, wo wir Iefen: „Albrich, der Verwandte und 
Nachfolger des Gregorius, habe in Cölln die Weihe zum Bifchofe 
von Utrecht empfangen.“ Folglich behandelte der Stuhl von Cölln 
nad dem Tode des Gregorius den Utrechter als feinen Unter: 
gebenen, und übte Metropolitanrechte über ihn aus, Die Weihe 





) Mabillon acta ord. s. Bened, III., b. ©. 298 gegen oben. — 
2) Bei Perz IT., 407 Mitte. — 3) Histoire de l'eglise gallicane IV., 396 
unten. — ) U. a. DO. bei Perz II., 408 unten, 


Die fränkiſche Kirche vom Anfange des fiebenten Jahrhunderts ꝛc. 695 


Albrich's fällt in den Anfang der achtziger Jahre des achten Jahr: 
hunderts; im Dftober 786 ftarb Lull, Erzbifchof von Mainz. Bor 
feinem Ableben hatte er demnach den Verdruß, bie Gränzen feines 
Metropolitanfprengels, die ihm Bonifacius hinterlaffen, um die 
Kirche von Utrecht gemindert zu fehen. Eine größere Demüthigung 
widerfuhr Lull's Nachfolger, Rikulf. Big 794 führte der Hirte 
von Cölln den einfachen Bifchofstitel, und blieb, wie es fcheint, 
in Kraft der vom Pabſte Zacharias an Bonifacius übertragenen 
Vollmacht, ) dem Mainzer Erzftuhl — wenigftens dem Namen 
nad) — unterworfen. Aber auf der großen Synode von Frank: 
furt brachte König Karl den Antrag an die Berfammlung, daß er 
den Biſchof (von Colin) Hiltebold, in feinen Pallaft zu nehmen, 
und für wichtige kirchliche Geſchäfte als Erzfapellan zu verwenden 
gedenfe! Karl fügt bei, er habe fih über die Sache mit dem Pabfte 
verftändigt. ) Hieraus geht hervor, daß der Cöllner die Gunft 
des Königs in hohem Grade befaß, und. daß eine Beförderung dess 
felben auf eine höhere Kirchliche Würde im Werfe war. Wirklich) 
erfcheint Hiltebold feit 799 als Erzbifchof, denn der Bibliothekar 
Anaftafius berichtet, 3) Pabft Leo der Dritte fey, als er 799 nad) 
Paderborn fam, im Namen Karls von dem Erzbifchofe Hiltivald 
cHiltebold) beglüdwünfcht worden. Die Erhebung Cöllns zur Me: 
tropole fallt alfo zwifchen die Jahre 794 und. 799. In derfelben 
Zeit erhält Teutfchland noch einen dritten Metropoliten. Wie gegen 
die Sachſen führte Karl auch wider die Avaren und Slaven der 
Südoſtgränzen Teutfchlands Eroberungsfriege, und fuchte fie zu: 
gleich der Kirche zu unterwerfen. Um Iestern Zweck defto ficherer 
zu erreihen, ſchien die Errichtung einer Metropolitangewalt auf 
der Slavenmarfe nöthig. Im Jahre 798 wurde daher Arno, 
der Freund Alfuin’s, und bisher einfacher Bifchof, für ſich und feine 
Nachfolger zum Metropoliten des ſüdöſtlichen Teutſchlands erhoben. 
Die Bullen und Briefe, welche Pabſt Leo III. deßhalb erließ, find 
noch vorhanden. *) Seitdem giebt ihm auch Alkuin 5) in feinen 
Briefen ſtets den Zitel Erzbifhof. Wir haben fomit die drei 





1) Siehe oben ©. 559. — ?) Cap. 53. Baluzius J., 270 unten, — 
3) In vita Leonis III., $. 16, ed. ‚Vignoli II., 249. — *) Abgedruckt bei 
Kleinmayr Nachrichten von Juvavia Urkundenband ©. 51 fig. — ?) Aleuini 
epist, 89 seq. Opp: I. 


696 IT. Buch. Kapitel 9. 


teutſchen Metropolitanftühle, welche in dem Teftament Karl's des 
Großen erfheinen. ') Wichtig aber wäre eg zu wiſſen, melde 
Bischöfe gleih Anfangs den Dreien als Suffragane untergeordnet 
wurden. Goldaſt hat in feiner Sammlung fhwäbifcher Gefchichts: 
fhreiber eine Föftliche Urkunde veröffentlicht, 2) welche auf diefe 
Frage Antwort giebt. Hier heißt es: „die erfte Provinz Germa- 
niensg umfaßt zwei Städte: Metropole Cölln, Suffraganftuhl 
Tungern“ Wir müſſen bemerfen, daß im neunten Jahrhundert 
als Sig eines und deſſelben Sprengels bald Tongern, bald Trecht 
oder Lüttich erfcheint ?). Die Urkunde fährt fort: „die zweite Provinz 
Germaniens umfaßt acht Stühle: Metropole Mainz, Suffragane: 
Straßburg, Speier, Worms, Würzburg, Conftanz, Eid: 
ftet, Augsburg.“ Dann folgt in der Urkunde Arno's Sprengel 
mit den Worten: „die Kirchenprovinz der Baiern, oder Norifum ent: 
hält fehs Städte: Metropole Salzburg, Suffragane: Negens: 
burg, Paffau, Freifing, Neuburg Can der Donau civitas 
nova), Seben“ (in fpäteren Zeiten nad) Briren verlegt). Aufs 
Genauefte ftimmt dieſe Begränzung mit einer der Bullen überein, 
welche Leo II. bei Erhebung Arnv’s erließ, %) Nun verfichert 
Goldaſt, die Handichrift, aus welcher er die mitgetheilte Urkunde 
entnahm, fey im neunten Fahre der kaiſerlichen Negierung Karl's, 
alfo 809 oder 810 ‚abgefaßt. Aber die Eintheilung der Bisthlimer, 
welche auf dem Verzeichniffe ſtehen, könnte darum doch um einige 
Sabre älter feyn, Wir müſſen ung daher an innere Merkmale 
halten. Klar ift, daß die Urfunde yon der erfien Hand erft nad) 
dem Jahr 798, in welchem Salzburg Metropole ward, oder um eine 
allgemeinere Zeitbeftimmung zu wählen, nad Anfang des neunten 
Sahrhunderts niedergefchrieben feyn kann. Folglich waren die neuen 
ſächſiſchen Bisthümer damals noch feinem Metropolitanverbande 
einverleibt, denn das Berzeichniß weiß nichts von ihnen. Aber die 
Einverleibung muß bald darauf Statt gefunden haben. Geogra= 
phifche Verhältniſſe liegen es nicht zu, daß die fächfifchen Kirchen 
andern Erzftühlen untergeordnet wurden, als dem Mainzer oder 
Cöllner; denn Salzburg lag zu fern. Wirklich berichtet Adam 


— — — — 


iy Siehe oben ©. 585. En 2) Goldast rerum alämannicarum scriptores 
ed. Senftenberg II., ©. 91 flg. — ?) Man fehe Sammarthanorum Gallia 
christiana III. , 806, — 9 Kleinmayr a. a. O., ©. 5l. 


Die fränkiſche Kirche vom Anfange des fiebenten Sahrhunderts ıc. 697 


von Bremen in feiner Kirchengefchichte des Nordens, ) Karl habe 
die fächfifchen Stühle unter den Berband von Mainz und Colin 
geftellt. Adam blühte zwar erft im eilften Jahrhundert, aber man 
fann nicht annehmen, daß er fi über fo allbefannte Verhältniſſe, 
wie bie Begränzung der Stühle feines Vaterlandes, täufchte Auch 
wird feine Angabe durch ältere Zeugen beftätigt. Der früher er: 
wähnte Altfrid fagt im Leben Liudger’s, des erften Biſchofs von 
Münfter, diefer fey von dem Cöllner Hiltebold geweiht worden. ?) 
Folglich muß Karl das neue Bistpum Münfter zum Erzſtuhl von 
Cölln gefchlagen haben, Demfelben Berbande gehörte, Yaut der von 
Nembert um 870 verfaßten Lebensgefchichte des heiligen Ansfar, 
das Bisthum Bremen an. 3) Die Stiftungsurfunde der Kirche 
von Verden ift zwar, wie wir oben bemerften, unächt; aber längft 
bat man bemerkt, daß der unbefannte Verfaſſer berfelben bie 
bamaligen Umftände fehr gut Fannte, fie gehört offenbar noch ing 
neunte Jahrhundert. Nun wird daſelbſt der Stuhl von Verben 
dem Metropolitanverband von Mainz einverleibt. ) Dean kann 
daher die Wahrheit diefer Angabe nicht bezweifeln. Welchem der 
beiden rheinischen Erzftühle die übrigen fächfifchen Bisthümer zuge— 
theilt worden find, willen wir nicht; ficher ift dagegen, daß fie ent: 
weder in den Mainzer oder Cöllner Verband eintraten; und zwar 
erhielt Mainz allem Anfchein nach die überwiegende Mehrzahl. 
Dem Stuhle Petri ift es, wie man fieht, gelungen, diefelben 
Grundfäge, die er in England und Spanien befolgte, auch in 
Zeutfchland durchzuführen. Die von Bonifacius gegründete Patri- 
archalifche Gewalt wird nad kurzer Dauer zerfplittert. Lull und 
feine Nachfolger müffen mit Salzburg und Cölln theilen. Dod 
behält Mainz den erften Rang unter den teutfchen Erzftühlen. Aus 
einer früher gefchilderten Verwicklung erhellt, daß der Erzbiſchof 
Hatto yon Mainz um 900 gegenüber dem Pabſte als Wortführer 
ſämmtlicher teutfchen Bifchöfe und Primas des Reichs fi benahm. °) 
Im Uebrigen blieb unter Karl neben der Faiferlichen nur die bifchöf: 
Ihe Macht in Teutfchland flehen. Karl fällte in der Perfon des 
Baiern Taffilo den letzten teutfchen Volksherzog. Taſſilo ſelbſt, 


1) Bei Lindenbrog seriptores rerum germanic. ed. Fabricius ©. 4 oben. — 
2) Perz II., 411 Mitte. — 3) Hierüber das Nähere im nächften Kapitel. — 
*) Schaten a. a. O., ©. 542 a, Mitte. — 5) Siehe oben ©. 357. 


698 II. Buch. Kapitel 9. 


feine Söhne, feine Töchter, feine Gemahlin mußten ins Kloſter 
wandern, und ihre fämmtlihen Rechte an den Frankenkönig ab: 
treten. ) Daher fam es, daß, ald 843 das teutfche Reich ſich vom 
fränkiſchen losriß, Feine Provincialgewalt oder Stammeseiferfucht 
der Einheit entgegenwirken fonnte. Unfichtbare Hände hatten yon 
Weitem her für Errichtung eines teutfchen Staates gearbeitet. 
Bald nah dem Anfange des neunten Jahrhunderts ift die 
firhlihe wie die politifche Verfaſſung des neuen fränkiſchen Welt: 
reichs vollendet, Seitdem befchäftigte fih Karl vorzugsweife mit 
innern Angelegenheiten. Alle Wirkfamfeit diefes außerordentlichen 
Menſchen war darauf berechnet, die alte Römerwelt wieder herauf: 
zubefchwören. Die Keligion, die er den Bölfern aufnöthigt, bie 
Bildung, die er einführt, das Kaiferthum, das er berftellt, ſſammen 
aus Nom. Merkwürdige Anftvengungen wurden von den Gelehr: 
ten, die er an feinen Hof z0g, gemacht, um aus dem jungen Ge: 
ſchlecht der Franken die germanifchen Leberlieferungen auszutilgen. 
Während Karls Grafen Jeden mit dem Tode beftrafen, der es 
wagt dem Glauben der Väter treu zu bleiben, oder Gebräude des 
alten Götterdienſts zu beobachten, verwandeln Alkuin und feine 
Genoffen an den höhern Schulen, ihre und ihrer Zöglinge Namen 
in lateinifche oder gar hebräifche Laute um. Alfuin legte fich felbft 
den Namen Flaffus und Albinus bei, den König nennt er 
bald David, bald Salomo, die Berwandten Karls Adalhard 
und Wala, welche unter Ludwig dem Frommen eine fo wichtige 
Rolle fpielten, werden jener Antonius oder Auguftinug, dieſer 
Arfenius und Jeremiag genannt. Der Geheimfchreiber und 
Biograph Karls, Einhbard, empfängt den Namen Befeleel, 
weil er gleich dieſem altteftamentlichen Juden Kenntniffe in der 
Baufunft befaß. Die Schüler Alkuin's, Jredegis und Wizo, 
heißen Nathanael und Candidug, Sigulf ein dritter, führt 
den Beinamen Betulus. Die Erzbifchöfe Arno von Salzburg, 
Rikulf von Mainz, Richbod von Trier, heißen Aquila, Fla— 
vius Damdtas und Mafarius. Es lag wahrlih nit an 
Alkuin, daß teutfhe Namen und teutfche Sprache fortdauerten. 
Aehnliches gefchah bekanntlich zu Ende des fünfzehnten Jahrhunderts, 
als die griechifhe und Yatinifche Literatur im Abendlande wieder 





) Perz J. 172 flg. 


Die fräntifche Kirche vom Anfange des fiebenten Jahrhunderts ꝛc. 699 


auffebte. Seine eigenthümliche Stellung zwang Karl'n, foldhe Be: 
firebungen zu unterflügen. 

Aber nicht das ganze Wefen des Könige war in römifcher 
Bildung aufgegangen; der flärfere und vielleicht beffere Theil feines 
Ichs fühlte germaniſch. Zwei widerftrebende Perfünlichkeiten, ein 
durch Ueberlegung groß gezogener Nomane, und ein geborner Ger: 
mane bewohnten gleichſam die Seele Karl’d. Einhard berichtet: 1) 
„Karl ließ die uralten teutfchen Gedichte, durch welche die Thaten 
der Könige und die Kriege befungen werden, forgfältig zufammen: 
tragen, damit fie der Nachwelt erhalten würden.“ Wir begreifen 
warum er dieß that. Die Saiten, welche die Barden der Wälder, 
Dichter und Krieger in einer Perfon, aus voller Bruft anfchlugen, 
tönten mächtig in feinem Innern wieder, und wirkten ganz anders 
auf ihn, als die gelehrten Armfeligfeiten Alfuin’s. Aber er erhielt 
dadurch im Bolfe die alten Lleberlieferungen lebendig, die er doch 
durch feine ganze Gefesgebung zu zerftören fuchte. Karl bat dem 
germanifchen Geift nach ein anderes, für den Staat verderbliches 
Dpfer gebracht. Das von ihm wiederhergeftellte Kaiſerthum läßt 
feiner Natur nach feine Theilung zu. Sollte die Kaiferfrone fort: 
beftehen, fo durfte nur Einer das von ihm begründete Reich erben. 
Denn ohne Macht ift das Kaiſerthum ein leerer Schatten. Allein 
die germanifche Gitte forderte, daß der Nachlaß eines Herrichers 
unter feine Erben gleich getheilt werde. Karl huldigte diefem 
Grundfage. Im Jahre 806 entwarf der Kaiſer einen legten Willen, 
worin er über das Neih im Falle feines Todes verfügte. Er 
theilte es nad folgendem Maaßſtabe unter die drei rechtmäßigen 
Söhne, die er damals befaß: der erfigeborne Karl follte Auſtra— 
fien, Neuftrien, Thüringen, Sachfen, Friesland, einige Stüde von 
Burgund, von Baiern und Mamannien fammt ber Raiferfrone; der 
zweite, Pipin, Italien, Baiern, außer zwei Städten, und die dieg- 
jeits der Donau gelegenen Gaue Alamanniens; der dritte, Ludwig, 
ben Neft erhalten. ) Damit war das Kaifertfum, Karl's müh- 
james Werf, vernichtet. Zwar farben von 810 auf 811 inner: 
halb von fieben Monaten durch eine jener auffallenden Fügungen, 
bie in der Gefchichte des Farolingifhen Haufes fo häufig vor: 





) Vita Caroli G. 29. Perz II., 458, — ?) Die Theilungsurfunde bei 
Baluzius I., 439 flg. 


700 II. Bud. Kapitel 9. 


fommen, Pipin und ber jüngere Karl hinweg, fo daß nur Ludwig 
übrig blieb. Die Einheit des Staats war dadurch gerettet, aber nur 
fürs nächte Denfchenalter; denn diefelbe Frage Fehrte unter Ludwig 
dem Frommen wieder, und an ben Streitigfeiten, welche fie nach 
ſich zog, ift, wie wir fehen werden, das fränkiſche Weltreich gefchei- 
tert, Nun hatte nur Karl die nöthige Macht und Veberlegenheit 
des Geiftes, um ein Erftgeburtsrecht zu begründen. Weil er dieß 
unterließ, muß man auch befennen, daß er die Kaiferfrone, die er 
fhuf, wieder zerftört hat. Freilich wäre es feine Kleine Aufgabe 
gewefen, eine folhe Neuerung durchzufegen. Die gleiche Berechti⸗— 
gung aller Söhne eines Herrfchers galt bei den Franfen für ein 
unverbrüchliches Naturgefes. Wenn Karl daher nur Einen bevorzugte, 
fonnte er vorausfehen, daß die Partheien, deren es allerdings im 
fränfifchen Reihe gab, ſich zu den benachtheiligten Brüdern hin— 
drangen, und unter dem Vorwand, ihre Rechte zu ſchützen, nad 
feinem Tode das Reich erfchüttern werden. Unter folhen Berhält: 
niffen ließ fih die Erfigeburt nur dann befeftigen, wenn Karl ich, 
gleich dem Nuffen Peter und den türkiſchen Sultanen, an feinen 
eigenen Söhnen vergriff. Aber dafür war er zu gut. Einhard 
erzählt: ) „Karl liebte feine Söhne und Töchter fo fehr, daß er 
zu Haufe nie ohne fie fpeiste, und auch nie ohne fie reiste; die 
Söhne ritten in leßterem Falle neben ihm, die Töchter folgten hinter 
dem Vater. So fihön auch feine Töchter waren, wollte er fie 
nie an irgend Jemand verheurathen, fondern er behielt fie bis an 
fein Ende im Pallafte, indem er fagte, daß er ihre Gefellichaft 
nicht entbehren fünne. Daraus entftand häusliches Unglüd“, fügt 
Einhard bei. Die Töchter Karls befamen nämlich alle Kinder, 
Man fieht: die Natur hatte diefem Manne, der in den Kriegen, 
die er führte, vielleicht eine Million Menfchen zur Schlachtbank 
lieferte, und unzählige Mütter ihrer Söhne beraubte, ein tiefes 
Gefühl für feine Kinder eingepflanzt, welches auch verhinderte, daß 
die Kaiſerkrone eine Wahrheit werden konnte. 

Im Jahre 813 fühlte Karl ſein Ende nahe. Er — 
im Sommer fänmtlihe Biſchöfe der dieſſeits der Alpen gelegenen 
Provinzen des Neichs zu fünf verfchiedenen Concilien, in Mainz, 
Arles, Tours, Rheims, Chalons, ) um fie die Regeln der Kirchen⸗ 


» Vita Caroli $. 19, Perz IL, 454 — 2) Die Aften bei Manſi XIV., 
57 flg. 





Die fränkifche Kirche vom Anfange deg fiebenten Jahrhunderts ꝛc. 701 


zucht, welche zugleich, Fraft der von ihm eingerichteten Verfaffung, 
Grundpfeiler des Staats waren, von Neuem beſchwören zu laſſen. 
Dffenbar rechnete er darauf, daß fie nad) feinem Tode Fräftig mit: 
wirfen würden, das Neich zu erhalten. Er hat fich nicht getäufcht. 
Biſchöfe und Aebte waren es, die am Längften, und mit verzweifelter 
Anftrengung die Einheit des Staats zu retten ſuchten. Im näm— 
lichen Jahre berief Karl feinen einzigen Sohn Ludwig den Frommen 
aus Aquitanien zu fih, ftellte ihn den Ständen als Thronfolger 
vor, und gebot ihm, fich felbft die Kaiferfrone aufzufegen. Karl 
ſtarb 72jährig den 28. Jan. 814 in feiner Kaiferftant Aachen, wo 
feine Leiche in dem von ihm erbauten und prächtig geſchmückten Dome 
beigefegt ward. 


Zehntes Kapitel. 


Die abendländiſche Kirche unter Ludwig dem Frommen. Zenedikt von Aniane, 

Claudius von CTurin und feine Gegner. Der Difhof Agobard von Lyon und 

feine Freunde. Die Achte Adalard von Corbie, Hiduin und Wala. Cpeilung 

des Reichs. Entſtehung einer unabhängigen teutfchen Kirche. Pie falfchen Dek- 

retalen Ifivors. Zekehrung des Vordens. Ansgarius. Bewegungen in der 
fpanifden Kirche. Eulogius von Corduba. 


Karl der Große war im Feldlager aufgewachfen, auf der Jagd, 
im Kriege, unter Soldaten groß geworden. Anders verhielt eg 
ih mit feinem Sohne und Nachfolger. Ludwig der Fromme, 
Ihon als Knabe von drei Jahren unter dem Titel eines Königs, 
zum Statthalter feines Vaters in Aquitanien eingefeßt, erhielt eine 
wiſſenſchaftliche Erziehung. Geiftlihe waren feine Lehrer und Rath: 
geber, fie pflanzten die Anfichten ihres Standes in feine Seele 
und impften ihm die Grundfäge ein, welche damals in der fränfifchen 
Kirche herrſchten. Viele fahen es ungern, daß Karl feinen Sohn 
fo ganz den Händen von Llerifern überließ. Der Spottname 
„Mönch,“ den fie dem Prinzen gaben, H beweist, daß fie fürchteten, 
er möchte ein blindes Werkzeug der Priefter werden. Indeß lag 
bie Gefahr piel weniger in’ der Erziehung, als in dem angeborenen 





i 
) Man vergleiche den Brief zu Ende der Lebengbefchreibung Benedikts 
von Aniane, bei Mabilfon act. ord, S, Bened, IV., a. ©, 206 oben, 


702 IT. Buch. Kapitel 10. 


Charakter des Thronfolgers; Ludwig gehörte in die zahlreiche Claſſe 
der Menfchen, die unfähig find, fich felbft zu leiten. Stets ift er 
dem Antriebe Anderer gefolgt. Waren Die, welche ihn beriethen, 
rechtichaffene Leute, fo gieng es gut, im umgefehrten Falle fchlimm, 
Bon den Geiftlichen, die ihm den erften Unterricht ertheilten, nahm 
er die Lehre willig an, daß es die erfle Pflicht eines Herrfchers 
fey, für das Wohl der Kirche zu forgen. Wäre er nur mit gleicher 
Hingebung den Maaßregeln treu geblieben, welche ihm fpater bie 
ausgezeichnetften Bifchöfe zum Wohle des Neichs eingegeben haben! 
Er bejaß nit Stärfe genug, die Laft zu tragen, bie ihm fein 
Baier hinterließ. Indeß muß man befennen, daß er die Fleine 
Provinz, welche ihn Karl anvertraut hatte, ehrenvoll verwaltete. 
Die Jugendfahre, die er in Aquitanien zubrachte, waren zugleich) 
die glücklichſten und rühmlichften feines Lebens. 

Wir befigen eine Lebenshejchreibung Ludwigs des Frommen, 
deren Berfaffer unbekannt ift, aber gewöhnlich mit dem Namen 
des „Aftronomen“ bezeichnet wird. Diefer berichtet ) über die 
Weiſe, wie der Prinz Aquitanien regierte, Folgendes: „Bon Jugend 
auf war der Sinn des jungen Könige auf würdige Feier des 
Gottesdienftes und Erhöhung der Kirche gerichtet, feine Handlungen 
bewiefen, daß er mehr noch ein Priefter, als ein Herrfcher fey. 
Ehe der Clerus Aquitaniens ihm anvertraut wurde, befchäftigte fich 
derfelbe, in Folge der tyrannifchen Einrichtungen älterer Zeiten, ſtatt 
mit heiligen Dingen, mit dem Tummeln der Roſſe und Friegerifchen 
Uebungen. Der Eifer des Königs brachte von allen Seiten gefchiete 
Lehrer zufammen, und fo gefchah es, daß weit fchneller, als man 
erwarten fonnte, geiftliche und weltliche Bildung in Aquitanien er: 
blühte. Am Meiften begünfligte Ludwig Diejenigen, welde aus 
Liebe zum Herren Alles verlaffend, fih dem befchaulichen Leben 
widmeten. Bor feiner Anfunft in Aquitanien war der Mönchsſtand 
dafelbft im tiefften Zerfall, aber unter ihm Fam er fehnell wieder 
in Aufnahme.“ Der Berfaffer führt fofort eine lange Reihe von 
Klöftern auf, die Ludwig theils erbaute, theils wiederherftellte, 

Drei diefer Stiftungen verdienen befondere Aufmerffamfeit: 
Concha, Galuna, Aniane Diejenigen Klöfter des füdlichen 


Galliens, welche aus den Zeiten der Nömer oder ber älteren 
“ 





1) Perz II., 616 vita Ludovici $, 19. 


Die abendländifche Kirche unter Ludwig dem Frommen ıc. 703 


Merswinger herftammten, lagen meift im offenen Lande, bei Städten, 
an Flüffen, am Meere. Die dagegen, deren Gründung in’s achte 
Jahrhundert fällt, wurden an abgelegenen Orten, in Gebirge. 
ſchlünden aufgeführt. Die allgemeine Unficherheit während der Ein: 
fälle der fpanifchen Sararenen nöthigte ſolche Zufluchtsſtätten zu 
wählen. Um 796 fucdhte ein Haufe Flüchtlinge Schu in den Ge- 
vennen; ihr Anführer Datus oder Dato gründete 800 oder 
einige Jahre fpäter mitten im Waldgebirge, nicht weit von ber 
Stelle, wo der Fluß Lot den Bach Dordun aufnimmt, eine 
Kapelle, welche fpäter durch die Gunft Ludwig’s des Frommen zur 
Abtei Concha erweitert wurde. ) Im Laufe des 11ten und 12ten 
Jahrhunderts hat das Klofter Concha großen Einfluß auf bie 
Bildung des füdlichen Frankreichs geübt. 

Kurz darauf wurde im nemlichen Lande ein anderes Klofter 
durch einen der glorreichften fränkifchen Edeln gegründet. Wilhelm, 
Sohn eines Grafen Theoderich, trat früh als Edelfnabe in Karls 
des Großen Dienfte, zeichnete ſich bei allen Gelegenheiten aus, 
empfieng vom Könige unter dem Titel eines Herzogs von Touloufe 
den Dberbefehl gegen die Saracenen, und bededte fih mit Ruhm: 
Wilhelm fland an der Spitze des Heeres, das feit dem Spätfommer 
801 Barcelona belagerte und im Frühling des folgenden Jahres 
einnahm. Diefer Held, der noch heute in den Liedern und Sagen 
von Languedof Iebt, faßte um 806 den Entfhluß, der Welt zu 
entjagen. Nachdem er die Einwilligung Karl’s und Ludwig’s er: 
halten, juchte er in einem der wildeften Theile der Gevennen, wo 
das Thal von Gelone in das des Herault einmündet, eine Stelle 
zu einem Kloſter aus, das er mit Mönchen aus dem nahgelegenen 
Aniane bevölferte. Sobald die nöthigen Gebäude aufgeführt 
waren, reiste Wilhelm nach Aachen ab, um den Hof Karls zum 
legtenmale zu fehen. Sein Entſchluß, Mönd zu werden, erregte 
das größte Auffehen, Fonnte aber durch feine Vorſtellungen er: 
jüttert werden. Auf der Heimreife nah Galuna Iegte er zu 
Drives (Brivate) auf den Altar der Kirche des heil. Julian die 
Waffen, die er mit fo viel Ruhm im Dienfte des Chriftenthumg 
gegen die Sararenen geführt, Helm, Schild, Schwert, Bogen 





') Ueber die Stiftung vergleiche man Vaisselte Histoire de Languedoc L., 
©, 754, b. unten, 


704 » I. Buch. Kapitel 10. 


und Köcher als Weihgeſchenk nieder. Der unbekannte Mönch, der 
gegen Ausgang des Yten oder zu Anfang des 10ten Jahrhunderts, 
Wilhelms Leben befchrieb, fah feine Waffen noch in der dortigen 
Kirche. Seitdem fand Wilhelm dem neugegründeten Kloſter 
vor, und erfüllte alle Pflichten eines Mönchs und Chriſten. Ardo, 
Schüler Benedikt's von Aniane, und deſſen Biograph, erzählt 2) fol: 
genden rührenden Zug von Wilhelm: „Oft ſah ich, wie er zur Zeit 
der Aerndte mit einer großen Flaſche Weins unter den Schnittern 
herumritt, und denſelben zu Trinken reichte.“ Wilhelm ftarb im 
Jahre 812, mit Hinterlaffung einer zahlreichen Familie, nament: 
li mehrerer Söhne, yon denen der erfigeborne, Bernhard, fpäter 
im Kampfe Ludwig’s mit feinen Söhnen eine traurig= berühmte 
Rolle gefpielt hat. Das von dem Herzöge gegründete Stift er: 
hielt im Munde des Volks den Namen „Kiofter zum heil. Wilhelm 
in der Wüſte.“ 

Noch größere Bedeutung als die Klöfter Concha und Ga: 
luna erhielt das von Aniane Witiza, Sohn des Grafen von 
Magelone, aus gothiihem Stamme, wurde um 750 geboren. Frühe 
rat er in Dienfte, erſt Pipin’s, dann Karls. Er machte den 
italiänifhen Feldzug des Jahıs 774 mit, in welchem Karl das 
Neid der Langobarden eroberte. Damals geſchah es auch, daß 
Witiza in Folge eines Gelübdes Mönd zu werden befchloß. Sein 
Bruder wurde beim Ueberfegen über einen Fluß von den Wellen 
fortgeriffen, Witiza ftürzte ihm nach, um ihn zu retten, wäre aber 
bald ſelbſt Hinuntergezogen worden. In diefer Gefahr gelobte er 
die Welt zu verlaffen, gieng nad Frankreich zurüd, und ließ ſich 
in das Kloſter des heil. Sequanus aufnehmen, ?) das zum Sprengel 
yon Langres gehörte. Laut dem Berichte % Ardo's „marterte er 
dafelbft den Körper bdritthalb Jahre hindurch auf unglaubliche 
Weiſe durch Hunger und andere Kafleiungen. Er war feinem 
Sleifche, wie einem wilden Thiere feind, genoß fo wenig Brod 
und Wafjer, daß er nicht ſowohl den Hunger ftillte, als vielmehr 
den Tod abwandte, und mied den Wein wie Gift. Auch gönnte 
er fih nur wenig Schlaf, auf den nadten, eisfalten Fußboden 





ı) Mabillon act. Ord. Sanct. Bened. IV,, a. ©. 77. — ?) Ibid,. ©. 199 
$. 42. — 3) Vita Benedicti auctore Ardone bei Mabillon a. a D. ©. 186, 
$. 6. — #) lbid. $, 7. 


Die abendländifche Kirche unter Ludwig dem Frommen ıc, 705 


bingeftveeft, oft burchwachte er die ganze Nacht unter Gebet und 
Singen, und da er nur eine efende und ſchmutzige Kleidung trug, 
ward er aufs empfindlichfte von Laufen geplagt. Viele verfpotteten 
ihn deßhalb, und ſpieen ihm vor Verachtung ins Geficht, aber 
Witiza ertrug ihren Hohn mit Geduld, denn fein Sinn war einzig 
aufs Himmlifche gerichtet.“ Anfangs fand Witiza die Negel des 
heil. Benedikt von Nurfia zu gelinde, und glaubte biefelbe fey 
böchftens für Anfänger gut, weßhalb er für fi die Vorſchriften 
des heil. Pachomius und Baſil's des Großen befolgte. Doch fpäter 
lernte er die Vorzüge der erfteren einfehen, und bieng ihr nun von 
ganzer Seele an.) Um 779 ftarb der Abt des Klofters zum heil. 
Sequanus, die Mönche wählten einftimmig Witiza zum Nachfolger, 
aber diefer entfloh nach feiner Heimath, und erbaute feitdem auf 
einem väterlichen Gute am Fluffe Aniane mehrere Cellen. So 
berichtet Ardo. ?) Allein wir geftehen, daß wir feine Angabe wenig 
wahrfcheinlich finden. Aus dem Folgenden wird erhellen, daß 
Witiza mit der weltlichen Kleidung nicht auch den Ehrgeiz abgelegt, 
und die Herrfchaft nicht blos über ein einziges Kloſter, fondern 
über einen ganzen Verein von folden erfirebt hat. Wir können 
daher faum glauben, dag Witiza fi) der Laft einer Abtftelle durch 
die Flucht entzog, fondern möchten eher annehmen, daß er bag 
Klofter des heil. Sequanus bewegen verließ, weil die Mönche 
ibn nicht zum Nachfolger des verftorbenen Vorſtehers auserforen. 

In Aniane fammelten fih bald Schüler um Witiza, der ſchon 
früger den Klofter- Namen Benedikt angenommen haben mag, 
unter dem er in der Kirchengefchichte berühmt geworden if. Wir 
werden ihn in Zukunft immer fo nennen. Das Heine Klofter war 
ärmlich und befchränft, erhielt aber doc bereits Schenkungen und 
Bermäctniffe. Ardo erzählt ?) in diefer Beziehung einen Zug, ber 
bem Abte von Aniane große Ehre bringt: „Wollte man ihm“, fagt 
er, „Leibeigene vergaben, fo nahm er fie nicht an, fondern beftand 
darauf, daß ihnen die Freiheit gefchenft werde“. Als um jene Zeit 
eine Mißärndte das ſüdliche Gallien in die äußerſte Noth verſetzte, 
nährte Benedikt dag verhungernde Volk yon den für feine Mönche 
gefammelten Vorräthen, und ward ein Vater der Armen. Sein 
Nuf verbreitete fi im ganzen Lande, und die Sage gieng, daß 





1) Ibid. $. 8. ©. 187. — 2) Ibid. $. 10, — 3) Ibid. $. 14. ©. 189. 
Sfrörer, Kircheng. II. 45 


706 IT. Buch. Kapitel 10. 


Benedikt Wunder wirfe ) Große Geldmittel floffen ihm zu, Durch 
welche er in Stand geſetzt wurde, 782 an der Stelle des alten ein 
neues und prächtiges Klofter zu bauen. Die Hallen welche das 
Gebäude umgaben, ftüsten fih auf marmorne Säulen, welche 
Benedikt mit Karl’s Erlaubniß von den Römerwerken zu Nismes 
entnahm. 2) Die Kirchengeräthe beftanden aus edlen Metallen, und 
verfinnlichten die Geheimniffe der heiligen Sieben: und Drei: Zahl. 9) 
Benedikt übergab feine Stiftung dem Schutze Karl's, worauf Diefer 
einen Freibrief *) ausftellte, kraft deffen er verfügte, daß das 
Klofter von Aniane ſammt feinen jeßigen und Fünftigen Gütern nie 
der Gerichtsbarkeit irgend eines Bifchofs oder Grafen unterworfen 
feyn, noch) Steuern bezahlen folle. Zugleich ficherte er den Mönchen 
das Necht zu, nah dem Tode Benedifts fih einen Abt frei zu 
wählen. Seitdem verfüumte Benedift nihts, um aus dem Klofter 
yon Aniane eine Bildungsanftalt für das füdlihe Frankreich zu 
machen. Sein Biograph berichtet: ?) der Abt habe Sänger, Vorleſer, 
Lehrer der Grammatif, Schriftausleger herbeigezogen, und eine be- 
deutende Bibliothek angelegt. Beſonders aber gab er fi) Mühe, 
die zahlreichen Mönchsregeln, die bis auf feine Zeit von verfchtedenen 
Vätern entworfen worden, zufammenzubringen. Wir befisen dieſe 
Sammlung noch. 9) Sie zerfällt in drei Haupttheile. Der erfte 
umfaßt die morgenländifchen Negeln des Antonius, Jeſaias, Sera- 
pion, Paphnutius, mehrerer Mafarius, des Pachomius und Anderer, 
im Ganzen zehn. Im zweiten Theile finden fi) die abendländifchen 
Borfchriften des Benediftus von Nurfia, Cäſarius, Aurelianug, 
Terreolus, Columbanus, Iſidorus von Sevilla, Fruktuoſus, die 
fogenannte regula magistri fammt einigen andern. Der dritte Theil 
enthält die für Nonnen von Auguftinus, Cäſarius, Aurelianus, 
Donatus, Leander und Andern entworfenen Regeln. In einem 
zweiten gleichartigen Werfe, dem er den Zitel concordia regularum 
gab, 7) unternahm es der Abt von Aniane, dur Zufammenftellung 
der verſchiedenen Mönchsregeln den Beweis zu führen, daß bie 
Borfchriften Benedifts von Nurfia nicht firenger feyen, als die der 


i) Beifpiele angeführt ebend. $. 20. u. flg. — ?) Annales Anianenses bei 
Vaissette histoire de Languedoc I1,, preuves ©. 19 a Mitte. — 3) Ardo 
a. a0. O. $. 26. — *) Abgedrudt ebend. $. 27. ©. 195. — °) Ibid. $. 27. — 
6) Holstenii cod. Regularum edit, II. da eurante Brocke Augustae 1750, 
Vol, I. — ?) Herausgegeben Paris 1658 von Hugo Menard, 


Die abendländifche Kirche unter Ludwig dem Frommen ꝛc. 707 


übrigen Väter. Er wollte dadurch den Klagen und Borwürfen 
weichlicher Klofterbrüder den Mund verftopfen. Das Stift von Aniane 
erhielt folhen Zulauf, daß es fih nah und nad mit über 
300 Mönchen füllte, von denen in der Folge mehrere Bisthümer 
erlangt haben. ') 

König Karl wurde aufmerkfam auf die Verdienſte des Abte. 
Er verwandte ihn feit 794 in kirchlichen Staatsgefchäften. Neben 
Alfuin nahm Benedikt von Aniane thätigen Antheil an Bekämpfung 
der Adoptianer. Er war einer der drei Faiferlichen Bevollmächtigten, 
welche nad) der Spanischen Marf geſchickt wurden, um die Kegerei 
des Felix dafelbft auszurotien. ) Auch hat Benedift wider bie 
Adoptianer einige noch vorhandene ?) Abhandlungen von geringem 
Werthe gefchrieben. Noch größeres Zutrauen ale der Bater, fchenfte 
dem Abt von Aniane Karl's Sohn, Ludwig der Fromme übertrug 
Benedikt die Oberaufſicht Über fümmtliche Klöfter Aquitaniens. Mehr 
als einmal im Fahre reiste Benedift in denfelben herum, ſtellte 
überall die Kirchenzucht ber, *) und verpflichtete die Mönde, der 
Hegel des Stifrers von Monte Caßino buchftäblich zu folgen. 7) Auf 
feinen Nath errichtete Ludwig die vielen Klöfter, von welchen der 
Aftronom in der oben angeführten Stelle ſpricht. Ueberhaupt Tieh 
der aquitanische König dem Abte in den wichtigften Angelegenheiten 
fein Ohr. Karl fah den großen Einfluß, welchen Benedift auf 
Ludwig übte, Teineswegs gerne, Ardo erzählt: 8) gewiſſe Cleriker 
und Grafen hätten durch die Beſchuldigung, Benedikt ſuche fremde 
Güter an ſich zu reißen, den Kaiſer ſo ſehr wider den Abt auf— 
gebracht, daß ſeine Freunde Dieſem riethen, nicht an den Hof zu 
gehen, weil der Zorn des Herrſchers in hellen Flammen über ihn 
losbrechen werde. Dennoch, fügt Ardo bei, ſey Benedikt, als er 
nach Hofe kam, von Karl gütig aufgenommen worden. Nachdem 
Ludwig feinem Vater gefolgt war, wird die Macht des Abts im 
ganzen Neiche fühlbar. Es ift jet Zeit, daß wir unfere Aufmerk— 
famfeit dem Faiferlichen Hofe zuwenden. 

Pipin der Kleine, Karl's Bater, hatte einen Halbbruder Bern: 
hard, natürlihen Sohn Karl Martel's. Diefer Bernhard: wurde 


NArdo a. a. O. $. 34. ©. 195. und $. 27. ©. 192. — ?) Aleuini 
epist. 176. Opp. I., 238 Mitte. — 5) Abgevrudt in Baluzii Miscellanea 
Solivausgabe von Mansi Vol. II., 85 flg. — ) Ardo a. a. D. $. 40, ©. 197, — 
°) Ibid, ©, 205 unten. — ©) Ibid. $. 41. ©. 198. 


45* 


708 II. Buch. Kapitel 10. 


unter Pipin's Negierung , wie es feheint, von den Gefchäften ferne 
gehalten. Als aber Karl der Große die Herrichaft geerbt hatte, ver⸗ 
wendete er feinen Oheim Bernhard bei verfchiedenen Gelegenheiten. 
Er erhielt 3. B. den Befehl über eine Abtheilung des Heers, ) das 
im Sabre 773 nad Italien zog, um bie Langobardifche Macht 
zu flürgen. Bernhard hinterließ bei feinem Tode eine zahlreiche 
Tamilie: drei Söhne, Adalard, Wala, Bernarius und zwei Töchter, 
Gundrada und Theodrada. Neger Argwohn umlauerte von Anz 
fang an biefe Seitenlinie des königlichen Haufes, Bernhard’s erft- 
geborner Adalard, um 751 geboren, ein hoffnungsvoller Züngling, 
wurde im zwangzigften Sabre feines Lebens in das, gegen Ende 
des Tten Jahrhunderts gegründete, Klofter Eorbie geftedt. Die 
Behandlung, die er dort erfuhr, beweist, daß es die Abficht Der: 
jenigen, die über fein Schiefal verfügten, war, den Prinzen aufs 
Tieffte zu demüthigen. Adalard mußte zu Corbie die Arbeit eines 
Gärtners verrichten. 9 Dennoch fiheint Adalarb in dem Klofter 
noch Schlimmeres gefürchtet zu haben, als ſolche Dienfte. Er ent: 
flob von Corbie, gieng nach Stalien, und verbarg ſich unter ben 
Mönchen von Monte Caßino, ward jedoch daſelbſt erfannt und 
nah Frankreich zurüdgebradt. ?) Bon nun an tritt eine günftige 
Aenderung feiner Lage ein. Karl muß eine befiere Meinung von 
feinem Better gefaßt haben. Denn er ordnet nicht blos die Er- 
hebung beffelben zum Abt yon Corbie an, fondern er fchenft ihm 
auch fein volles Vertrauen. Wie er nemlich feinen zweitgebornen 
Sohn Pipin zum König yon Stalien ernannte, giebt er biefem 
den Abt Adalard als Bormünder und Nathgeber mit. +) Seitdem 
verwaltete Adalard das neue Königreich Italien, und erwarb fi) 
in dieſem Amte durch feine Gefchäftserfahrung hoben Ruhm, und 
noch glänzendere Ausfichten für die Zufunft, die jedoch durch einen 
unerwarteten Todesfall getrübt wurden. Wir haben früher er⸗ 
zählt, daß Karl's Sohn Pipin, dem der Kaiſer kraft der Erbver⸗ 
fügung des Jahrs 806 den dritten Theil des großen Frankenſtaates 
zugedacht hatte, im Jahr 810 dahinſtarb. Obgleich Pipin unver: 
heurathet war, hinterließ er von einer Beiſchläferin einen natürlichen 


1) Chronicon Moissiacense ad annum 775 Perz J., 295 Mitte. — 2) Vita 
$, 16, Perz II, 525 unten. 


Die abendfändifche Kirche unter Ludwig dem Frommen ıc. 709 


Sohn Bernhard. Man begreift nun, dag Adalard und feinen Ber: 
wandten Alles daran gelegen feyn mußte, des jüngern Bernhard's 
Erbrecht anerfannt zu fehen. Denn von der Nachfolge des Knaben 
hieng ihre einftige Bedeutung im Staate ab. 

Ein ähnliches Schickſal, wie Adalard, hatten feine zwei Brü— 
ber. Der jüngfte Bernarius wurde gleichfalls zum Mönd in Cor: 
bie gefchoren, aber der zweite, Wala, der geiftvollfte, fühnfte und 
ftoßgefte unter ihnen, Fonnte nicht zum Eintritt in ein Klofter ver- 
mocht werden. Dafür übergab ihn Karl einem Edelmann, der den 
aufftrebenden Füngling zu den niedrigften Arbeiten anhielt. Sein 
Biograph verfihert, Wala babe mit dem Ochfenfarren aufs Feld 
binausfahren müffen. ') Derfelde Glücksſtern jedoch, der tiber Adalard 
aufgieng, Yeuchtete auch Wale, Wahrfcheinlich zu gleicher Zeit mit 
feinem älteren Bruder gewann er die Gunft Karls und wurde nun 
ſchnell einer der mächtigften Männer im Reiche. Der ebenerwähnte 
Biograph fagt:*) „plötzlich befürderte die göttliche Vorfehung Wala 
zu. den höcften Ehren. Er wird in den Palaft berufen, durch 
Gnade erhöht, vom Kaifer zum Haushofmeifter ernannt, und 
nimmt die zweite Stelle nad) ihm ein. Wala war gleichfam der 
oberfte aller Senatoren, und. im geheimen Nathe Karls hatte er 
den größten Einfluß.“ ine andere gleichzeitige Duelle ?) beftimmt 
die amtliche Wirkfamfeit des Günftlings noch genauer durch Die 
Angabe: Wala habe die erfte Stelle am Hofe und zugleich den 
Dberbefehl über die ganze Provinz Sachſen befommen. Wala’s 
Schweſtern lebten im Palafte und genofjen den Unterricht Alkuin's, 
der auch mit Adalard Briefe wechfelte. *) 

So fanden die Sachen am fränfifchen Hofe, als der fehnelle 
Tod der beiden Söhne des Kaifers, Karl und Pipin, die Erbver: 
fügung vom Jahre 806 vereitelte und die Zufunft des Reichs von 
Neuem blosftellte. Der greife Kaifer konnte fich nicht darüber täu— 
hen, daß Ludwig, der einzige überlebende Sohn, wenig Fähigkeit 
befige, einen jo großen Staat zu beherrſchen. Schwere Sorgen 
mußten daher fein Gemüth drüden. Der aquitanifche Mond Er: 
moldus Nigellus, welcher im Jahre 826 vier Bücher in Berfen 





i) Vita Walae $. 5. Perz II., 535 gegen oben. — ?) Ibid. $. 6. Perz II., 
535 Mitte, — 5) Translatio $, Viti Corbeiam bei Mabillon act. Ord. S. 
Ben. IV., a. S. 503, $.7. — 9 Man vergleiche Alcuini epistol, 144. 
212, 213. 214. 


710 IT, Buch. Kapitel 10. 


über Ludwig’s Negierungsgefchichte fehrieb, hat die wichtige Nachricht 
aufbewahrt, )) dag Karl um 813 einen geheimen Rath feiner Gra- 
fen hielt, in welchem die Frage verhandelt ward, wem nach bes 
Kaifers Tode die Herrfchaft zufallen folle? Die Wahl fonnte nur 
zwifchen Ludwig und dem unehlihen Sohne Pipin’s, Bernhard, 
fohwanfen: denn außer diefen Beiden hatte der Kaifer feine natür- 
Yiche Erben. Nun muß der Kaifer wirflih eine Zeitlang den Ge: 
danfen gehegt haben, Bernhard porzuziehen, denn der Aftronom 
erzählt, ?) Ludwig fey nahe daran gewefen, das Beifpiel feines 
Großoheims Carlomann nachzuahmen, d. h. ins Klofter zu gehen, 
aber durch Zureden wieder von feinem Entfchluffe abgebracht wor: 
den. Da Benedift von Aniane, wie wir wiffen, das ganze Ber: 
trauen des Königs von Aquitanien befaß, fo ift es im höchſten 
Grade wahrfcheinlih, daß er es war, der Ludwig umftimmte. Noch 
im Sommer 813 muß die Nachfolge umentfchieden gewefen feyn, 
und Ludwig Urſache gehabt Haben, zu fürdten, daß fein Vater 
ihn nicht wählen werde. Der Aftronom berichtet 3) nemlich weiter: 
„als die Aquitanier und auch teutfhe Große Ludwig aufforderten, 
nach Aachen zu Karl zu eilen, welcher der Auflöfung nahe fey, habe 
der König nicht gewagt, diefen Rath zu befolgen, damit er fei- 
nem Bater nicht verdächtig werde“ Offenbar handelte 
alfo Ludwig in der VBorausfesung, daß fih am Hofe mächtige 
Männer befinden, welche ihn von feinem Bater Ioszureißen fuchen. 
Wer diefe geheime Gegner des Aquitaniers waren, erhellt gleich: 
falls aus dem Berichte *) des Aftvonomen: „Ludwig habe auf die 
Nachricht vom erfolgten Tode Karls gefürchtet, Wala, der bei 
Karl in großem Anfehen ftand, möchte etwas Schlimmes 
gegen den neuen Herrfher unternehmen.“ Hieraus folgt 
fonnenflar, daß in dem geheimen Rathe, welchen Karl laut der 
Ausfage des Ermold Nigellus verfammelte, Wala für die Erhebung 
Bernhard's und gegen Ludwig gearbeitet haben muß. Warum 
Wala ſolches that, ift ebenfalls begreiflih. Denn war nicht Wala’s 
Bruder Adalard Bormünder des Prinzen Bernhard, dem die Nach: 
folge zugefichert werben follte, und mußte nicht Adalard ſammt 


— — — 


 Ermoldi Nigelli lib, H., v. 1—50. Perz Il, 478 unten flg. — 
2) $. 19. Perz IL, 616.'— 3) $. 20. Perz IL, 617, — 9 6. 21. Perz II., 
618 Mitte, 


Die abendländifche Kirche unter Ludwig dem Frommen ꝛc. 711 


ſeinen Brüdern, wenn der Plan gelang, den größten Einfluß im 
Reiche erlangen? Man ſieht alſo, kurz vor dem Tode Karl's ſtanden 
zwei Partheien am Hofe einander drohend gegenüber: die eine, geleitet 
durch Benedikt von Aniane, den Rathgeber des aquitaniſchen Königs, 
firitt für Ludwig's Erbfolge, die andere, den Abt Adalard und 
feinen Bruder Wala an ihrer Spise, wollte den jungen Bernhard 
zum Kaiſer ernannt wiffen. Natürlich mußte der Sieg der einen 
den Sturz ber andern nach fi ziehen. Iſt daher unfere Darftel- 
lung richtig, fo kann es nicht anders gefchehen, als daß gleich nach 
dem Thronmwechfel wichtige DBeränderungen unter den Räthen ber 
Krone eintreten. Wir werden fofort fehen, wie vollfommen ber 
Erfolg unferer Angabe entſpricht. 

Karl entfchied für das Recht feines Sohnes Ludwig. Er rief 
benfelben, wie früher erzählt worden, im September 813 zu fi, 
ftellte ipn den verfammelten Ständen als Thronfolger vor, und 
gebot ihm, fich felbft die Krone aufzufesen. Nach diefem feierlichen 
Akte entließ er ihn wieder nad Aquitanien. Anfangs Februar 814 
empfängt Ludwig durch den Erzbifchof Theodulf yon Orleans, ber 
allen Anzeigen nad) gleichfalls mit Wala für Bernhard geftimmt 
hatte, aber jest durch Dienfteifer den begangenen Fehler gut machen 
wollte, die erfte Nachricht som Tode feines Baters.') Er eilt 
alsbald nad) Aachen. Noch unterwegs kommt ihm Wala entgegen 
und huldigt dem neuen Herrſcher in größter Demuth, Ludwig 
ertheilte fofort dem Grafen und feinen Begleitern einen Auftrag, 
der diefen tief fränfen mußte. Wir haben früher erzählt, daß Karl 
feine feiner Töchter verheurathete, weil er ihre Gefellichaft nicht ent: 
behren fonnte. Sie wohnten im Pallafte, aber nicht in jungfräu: 
licher Keufchheit, fondern mit Buhlen, Diefe Lebensweife war dem 
frommen Ludwig um fo mehr ein Aergerniß, weil die lodern Schwe- 
ftern ihn felbft als einen Mönch und Betbruder verfpottet, auch in 
Berbindung mit Wala für die Erhebung Bernhard's gearbeitet hatten. 
Ludwig beauftragte nun Wala, den Schweftern anzufündigen, daß 
fie fih in Klöfter zurüdzuziehen hätten, ihre Buhlen aber feflzu: 
nehmen. ?) Der Graf wurde alfo gezwungen, gegen Diejenigen zu 
handeln, welche bisher feine Freunde geweſen waren, er fonnte 
daraus abnehmen, wie es ihm felbft ergehen werde. Sehr ſchnell 





N) Vita Ludoviei $. 21, Perz II., 618, — 2) Ibid, 


712 II. Buch. Kapitel 10, 


ereilte ihn und feine Brüder das Schikfal. Kaum hatte Ludwig 
ben letzten Willen feines Vaters vollzogen und die nöthigften Ge— 
fhäfte der neuen Regierung beendigt, als er den Abt Adalard nach 
der Inſel Noirmoutiers, feinen jüngften Bruder Bernariug, den 
bisherigen Mönd in Corbie, nach Lerins auf der Küfte der Pro: 
vence verbannte. Auch Theodrada und Gundrada, ihre Schweftern, 
wurden vom Hofe verwiefen. Wala wartete nicht ab, bis man 
ihn fortjagte, er ließ fih zum Mönche fcheeren und verbarg fih in 
dem Kloſter Corbie. ?) Das ganze einft fo mächtige Haus war 
geftürzt. Die Stelle, welde Wala und Adalard im Staatsrathe 
eingenommen, erhielt jest — der Abt Benedikt von Aniane. Wir laſſen 
den Biographen ?) des Lesteren reden: „Gleich nachdem Ludwig das 
eich feines Vaters ererbt hatte, vief er Benedikt zu fih und gab 
ihm das Klofter Maursmünfter im Elſaß zum Wohnſitz. Weil je 
doch der Drt zu weit vom Palafte entfernt Tag, und der Abt nicht 
fehnell und oft genug zum Kaifer fommen fonnte, der feinen Rath 
in den wichtigften Dingen ftets hören wollte, fo befchloß Ludwig in 
der Nähe von Machen ein neues Kfofter für Benedift einzurichten. 
Er ließ zu diefem Zwede in einem Thale, das nur fehs Meilen 
von Aachen entfernt ift, die Abtei Inda?) bauen, die er aufge 
Reichlichſte ausftattete, und wohin nun Benedift von Maursmünfter 
zog. Seitdem befuchte Benedikt täglich den Palaft, und unterzog 
fih, zum allgemeinen Beften, der Laft der Geſchäfte. Wer 
eine Befhwerde yorzubringen hatte, fand, wenn er fih an ihn 
wandte, die freundlichfte Aufnahme. Benedikt fihrieb die Klagen 
auf Feine Zettelhen, welche er in feinen Rock ſteckte, um fie dem 
Kaifer zur vechten Zeit vorzulegen. Ludwig hatte ſich hieran fo 
gewöhnt, daß er, fo oft Benedikt zu ihm Fam, fogleich nach dem 
Aermel des Abts und den Zettelhen griff. Denn ber Kaifer hörte 
ſolche Klagen gerne, weil Benedikt ein beredter Sachwalter aller 
Dedrüdten, ein Vater der Mönche und Tröfter der Armen war. 
Auch feste ihn Ludwig über alle Kiöfter im ganzen Reiche, welche 
nunmehr eine und dieſelbe Negel annehmen und firenge befolgen 
mußten.“ Der Sturz Wala’s ift ficherlih ebenfalls Benedifts Werf. 
Unverföhnlih haßte er diefe Familie, welche, wie wir fehen werben, 





') Vita Adalhardi $.32. 33, 35. Perz II., 527. 528, — 9 Mabillon 
IV., a. ©. 201. 8.47 fig. — 9 Später Cornelius-Münſter genannt. 


Die abendländifche Kirche unter Ludwig dem Frommen ꝛc. 713 


erft nach Benedikt's Tode — aber Auch dann fogleich — wieder 
zu Ehren fan. 

Im Uebrigen ſchien die neue Negierung glüdlichen Fortgang 
zu verfprechen. Ludwig zeigte nicht blos frommen Sinn, fondern 
er bewies Liebe zur Gerechtigkeit. Im Auguft S14 berief er einen 
Reichstag nah Aachen, auf welchem wichtige Gefchäfte verhandelt 
wurden. Ludwig bedachte die Kirche zuerſt. Alle Freibriefe, die 
fein Bater Bisthümern und Klöftern ausgeftellt hatte, erneuerte er 
und unterfchrieb fie eigenhändig. ) Wie es bei Negierungsmwechfeln 
gewöhnlich zu gefchehen pflegt, erhoben fehr Viele, die ſich unter Karl 
verlegt glaubten, Beſchwerden. Ludwig ſchickte Sendgrafen in alle 
Theile des Reichs aus, um Recht zu ſchaffen. Schändlide Miß— 
bräuche und Bedrüdungen follen durch dieſelbe aufgedeckt worden 
jeyn.?) Unter den Bafallen, die zu Aachen erfchienen, war auch Bern 
hard, Pipin’s Sohn, der als Erbe feines Vaters bisher das Neich 
ber Langobarden beherrſchte. Sämmtliche Chroniften verſichern, daß 
Ludwig den Neffen mit reichen Gefchenfen entließ. Gleichwohl hegte 
er, wie aus dem Folgenden erhellen wird, tiefen Argwohn gegen 
benfelben. Bei der gleichen Gelegenheit wies der Kaiſer, dem DBeis 
Ipiele des Baters folgend, feinen Söhnen einige Provinzen des 
Reichs zur Verwaltung an: Aquitanien, das er felbft bis zu feiner 
Erhebung regiert hatte, übergab er feinem zweiten Sohn Pipin, 
ber Damals eilf Jahre zählte, der erfigeborne Lothar, ein achtzehn: 
jähriger Jüngling, erhielt Baiern, das nun, feit Taßilos Abfegung, 
zum Erftenmale wieder einen Fürften beſaß. Der jüngſte Sohn 
bes Kaiſers, Ludwig, der nocd ein Kind war, blieb unter der 
Obhut feiner Mutter Irmingard im Palafte. 3) Jim folgen: 
ben Jahre (815) berief der Kaifer den Neichstag nach Waderborn. *) 
Hier geſchah es, daß er den Sacfen das Erbredt, das ihnen 
- Karl der Große entzogen, wieder zurückgab. Der Aftronom ver: 
fichert, °) Viele hätten dem Kaifer diefe Großmuth als ungeitig und 
gefährlich abgerathen, Ludwig fey aber der Meinung gemefen, 
daß die Sachfen die Wohlthat ihm durch Treue vergelten werben, 

worin er fich nicht getäufcht habe. Auch auf der VBerfammlung zu 





1) Theganus vita Ludovici $, 10, Perz II., 593. — 2) Ibid, $. 13. — 
3) Vita Ludovici $. 24, Perz II., 619, — *) Einhardi annales ad 815. 
Perz I., 202, — 5) Vita Ludovici $. 24. wegen der Zeitrechnung zu vers 
gleichen mit Theganus $, 14, Perz II, 593. 


714 I, Bud. Kapitel 10. 


Paderborn mußte König Bernhard von Italien aufwarten, woraus 
wohl geſchloſſen werden darf, daß Ludwig feinen Neffen zur Des 
muth und zum Gehorfam gewöhnen wollte, Beim Abfchied gab 
er bemfelben einen Auftrag, der dem Langobarben fehwerlich gefiel, 
weil ev duch die Ausführung Gefahr lief, fih mit dem Stuhle 
Petri zu verfeinden. Zu Ende des Jahres 814 war nemlich eine 
Verſchwörung vornehmer Nömer gegen Pabſt Leo entdeckt worden. 
Der Pabft ſchaffte fich felbft Necht, er ließ die Schuldigen aufgrei: 
fen und binrichten. Diefes Verfahren war ein Eingriff in die frän- 
fiihe Landeshoheit und Ludwig befchlog daher dem Apoſtolikus 
zu zeigen, daß der Blutbann in Rom ihm zuflehe. Bernhard er- 
hielt Befehl, eine genaue Unterfuhung an Ort und Stelle einzu- 
Yeiten. Leo erwartete jeboch diefelbe nicht ab, er ſchickte eine Ge: 
fandtfchaft nach Aachen und erfannte fomit thatſächlich die Ober: 
berrfhaft des Kaifers an, womit Ludwig fich berubigte. ) Bon 
Neuem loderte der Haß der Römer gegen den Pabſt auf, als Leo 
zu Ende des Jahrs von einer Krankheit befallen wurde. Sie über: 
fielen und verbrannten die Landhäufer, welche der Pabſt, laut Bes 
bauptung der Unzufriedenen, mit geraubtem Gute erbaut hatte. 
Mit Gewalt trieb der Langobardenkönig Bernhard die Empörer zu 
Paaren. Leo ftarb im Juni 816. Stephan IV., ein geborner 
Nömer, wurde fofort zum Nachfolger erwählt, und beftieg den Stuhl 
Petri, wie es feheint, ohne die Faiferliche Beftätigung abzumarten. 
Dagegen berichtet 2) der mehrerwähnte Priefter von Trier Thega— 
nus, welher um 840 Ludwig's Gefrhichte befchrieb, Stephan habe 
gleich nach feiner Erhebung die Bürgerfhaft Noms dem Kaifer Treue 
ſchwören laſſen, und demfelben durch eine Gefandifchaft zu wiffen 
getban, daß er felbft nach Frankreich Ffommen werde, um wegen 
gewiffer Dinge mit Ludwig zu unterbandeln. Der Kaifer ertheilte 
ſogleich dem Langobardenkönige Befehl, den Pabſt über die Alpen 
nad) Rheims zu geleiten. Er felbft begab fih im September 816 
nad) dieſer Stadt, und ſchickte von dort die Bifchöfe Hiltebold yon 
Cölln, Johann von Arles und Theodulf von Orleans aus, um den 
Pabft zu begrüßen. As er erfuhr, daß Stephan in der Nähe fey, 
ritt er ihm mit feinem Hofftaate entgegen, ftieg ab, half dem Pabfte 
vom Pferde und beugte ſich dreimal vor ihm zur Erde Nach 





i) Ibid. F. 25, Perz II, 619, — 2) $. 16, Perz II., 594. 


Die abendländifche Kirche unter Ludwig dem Frommen ꝛc. 715 


Empfang des Segens führte er ihn in die Abtei Saint Remy, wo 
eine Wohnung für ihn bereitet war. Bier Tage nad) feiner An- 
funft, an einem Sonntage, feste Stephan IV. dem Kaifer und ber 
KRaiferin in der Domkirche während der Meffe die Krone auf und 
falbte fie.) Ohne Zweifel ift der Pabft hauptfächlich wegen der 
Krönung nad Franfreich gekommen. Er wollte dem Stuhle Petri 
das Necht fihern, die Kaiferfrone auch ferner verleihen zu dürfen. 
Der Mißbrauch, den Karl nach römischen Anfichten begieng, indem 
er feinem Sohne im Jahr 813 gebot, die Krone ſich feldft aufs 
Haupt zu fegen, fehlen dadurch wieder gut gemacht. Wir müffen 
jedoch bemerken, daß Ludwig fih um den päbftlichen Serupel nicht 
fümmerte. Nach wie vor rechnete er die Jahre feines Kaiſerthums 
entweder yon dem Tage, da er zu Aachen fich die Krone aufgefeßt, 
oder yon dem, da fein Vater geftorben, nie aber nad) feiner Krö— 
nung zu Rheims. Der Aftronom fchließt feinen Bericht von den 
Borgängen in Rheims mit der Bemerfung: „Nachdem der Pabft 
Alles erlangt, was er gewünfcht hatte, fey er wieder nad) Nom 
zurücgefehrt.* Wir wiffen nicht, worin die übrigen Wünſche des 
Pabſtes beftanden, wahrfcheinlich ift jedoch, daß fie fich wenigftend 
theilweife auf die Angelegenheiten bezogen, die auf dem Neichstage 
des folgenden Jahres verhandelt wurden. | 

Im Juli 817 berief Ludwig die Bifchöfe, Aebte und Großen 
des Reichs zu einer Berfammlung nach Aachen. Nie vielleicht find 
auf irgend einer Zuſammenkunft fo wichtige Dinge zum Abſchluſſe 
gediehen, wie damals. Kirche und Staat erhielt eine neue Ber: 
faffung. Erfilih wurden für den Clerus fänmtlicher Kirchen des 
Reichs Borfchriften entworfen und gut geheißen, die mit wenigen 
Aenderungen der früher befchriebenen Regel Chrodegangs entnommen 
find. Zwar hatte ſchon Karl wiederholt die Geiftlichfeit zu Beob— 
achtung des ſogenannten canoniſchen Lebens verpflichtet, aber das 
Geſetz des Aachener Reichtags beweist, daß feine betreffenden Befehle 
feinen allgemeinen Gehorfam fanden. Jetzt mußte fich der Clerus 
fügen, obwohl der Eifer bald wieder erfaltete. ) Durch befondere 





1) Astronomus $. 26. Perz H., 620 fig. und Theganus $. 17. Ibid. 
. I, 594. — 2) Man findet die Vorfihriften für die Canoniker und die Cano— 
nifiinnen, Manft XIV., 153 flg. Einige Handfchriften verfegen die canoniſche 
Regel ing Jahr 816, aber fie gehört, wie die übrigen Befchlüffe, ins folgende 
Jahr. Man fehe Perz Monumenta III. Leges I, ©. 197, 


716 II, Bud. Kapitel 10. 


Ausfchreiben forderte Ludwig diejenigen Erzbifchöfe, welche bem 
Neichstage nicht perfönlich angewohnt hatten, auf, ihre Untergebenen 
zu buchftäblicher Befolgung der überfchicten Negel anzuhalten. Zu: 
gleich erfieht man aus den Faiferlihen Briefen, daß ſchon zu Aachen 
jeldft von einigen Elerifern Verſuche gemacht worden waren, Durch 
Berfälfhung der Akten das Joch der auferlegten Lebensweife zu 
erleichtern. ) Der zweite Befchluß betraf den Mönchsftand. Allen 
Klöftern des Reichs ward zur Pflicht gemacht, Die Regel Benedikr’s 
zu befolgen, welcher jedoch der Reichstag noch einige Zuſätze bei 
fügte. ?) Hiebei feierte der Abt von Aniane einen Triumph. Nicht 
nur war allem Anschein nach der Befchluß fein Werk, fondern er erhielt 
auch den Auftrag, die Vollſtreckung zu überwachen. Mit dem Abte 
Arnulf von Noirmoutiers reiste er nach Beendigung des Reichs: 
tags als Faiferlicher Bevollmächtigter in den Klöftern umher und 
zwang die Monde, der Negel Benedikt's fammt den Zufäsen zu 
huldigen. Wie es fiheint, ftellte man dem Kaifer vor, daß eg 
bilfig fey, die neuauferlegte Laft durch einige Erleichterungen zu ver: 
füßen. Demgemäß wurde eine Lifte?) von 84 Klöftern aufgefeßt, 
bie jedoch bei Weiten nicht alle begreift, welche ſich erweislich da— 
mals in den verfchiedenen Provinzen des Reichs befanden. Biel: 
leicht blieben von dem Verzeichniſſe diejenigen Abteien weg, welche 
Kaifer Ludwig, oder fein Vater, an Bifchöfe vergabt Hatte, oder 
ift die Lifte verftümmelt auf ung gefommen. Die Verzeichneten find 
in drei Klaſſen eingetheilt: 1) folhe, welche Heeresfolge und 
Steuern, 2) folhe, welche nur Geldbeiträge an den Staat, und 
endlich) 3) folche, welche feines von Beidem zu leiften haben. Die erfte 
Klaffe umfaßt vierzehn Klöſter, worunter vier teutfche: Lorſch, 
Schuttern, Monfee und Tegernfee; die zweite enthält fechzehn, 
worunter zwölf teutfhe: Schwarzah am Main, Fuld, Hersfeld, 
Ellwangen, Feuchtwangen, Hafenried (Heygieben), Kempten, Alten- 
münfter, Altaich, Kremsmünfter, Mattfee und Benediftbeuren. 
Die dritte und zugleich größte Klaffe zählt vierundfünfzig, worunter 
fieben teutfche: Haindlinberg, Metten, Schönau, Moosburg, Weflo: 
brun, und zwei, deren Namen nicht enträthfelt werden können. 
Ohne Zweifel hat Ludwig mehrere Abteien, die vorher Heeresfolge 
oder Steuern Jeiften mußten, von ber Laft befreit. Aber welchen 


Fe — — 


') Perz a. a. O. S. 220 unten. — ?) Ibid, ©. 201. — 5) Ibid. 2235 flg. 


Die abendländifhe Kirche unter Ludwig dem Frommen ıc. 717 


ber in ber Lifte angeführten Abteien ſolche Erleichterungen zu 
Theil wurden, berichtet die Urkunde nicht. 

Ein eigenes Capitular !) ſetzte drittens die allgemeinen Nechte 
ber Kirche, befonders ihr Verhältniß zum Staate feſt. Der erſte 
Artikel fpricht die Unverleglichfeit der Kirhengüter aus. Der zweite 
lautet fo: „Eingebenf der heiligen Canones haben wir der Geiftlich- 
feit das Necht eingeräumt, daß die Bifchöfe hinfort durch die freie 
Stimme der Gemeinde und der Elerifei bes betreffenden Sprengels, 
ohne Anfehen der Perfon, nur nach Berbienft gewählt werden 
jollen.“ Der fünfte Artifel gefteht das gleihe Recht in Bezug auf 
bie Aebte den Kloftergemeinden zu. Wie früher gezeigt worden, ?) 
hatte fchon Karl der Große die freie Wahl der Biſchöfe in denfel- 
ben Ausdrüden bewilligt, aber das Geſetz des Aachener Reichstags 
beweist, daß fein Berfprechen nicht gehalten worden if. Mit gutem 
Fug legte die Geiftlichfeit den größten Werth auf dieſen Punkt; 
benn bie Freiheit der Wahl ficherte den Clerus wider die Eingriffe 
des Hofes und führte gegen die Gelüfte unwürdiger Menfchen, bie 
fih fo gerne in die hohen Kirchenwürden eindrängten, einen kräf— 
tigen Damm auf. Wir find in Stand gefest, mit genügender 
Sicherheit den Mann zu bezeichnen, der den Kaifer Ludwig zur 
Erlaffung des angeführten Geſetzes bewogen haben dürfte. An ber 
yon dem Erzbifchofe Leidrad zu Lyon gegründeten Domfchule ?) 
lehrte feit etwa 812 mit großer Auszeichnung der Diafon Florug, 
der unter den Gelehrten des neunten Jahrhunderts eine würdige 
Stelle einnimmt, und eine Menge Schriften hinterlaffen hat. Florus 
ftand mit dem Nachfolger Leidrad's, dem Erzbiichof Agobarbus von 
Lyon, in innigen Berhältniffen, und theilte die Schidfale feines Vor— 
gefegten, als diefer yon Ludwig dem Frommen verfolgt wurde. *) 
Die ältefle unter den Schriften, die Florus herausgab, ift nun 
eine, nicht mehr yollftändig vorhandene, Abhandlung?) über bie 
Wahl der Bifchöfe, in welcher er zu zeigen fucht, daß die Kirchen: 
häupter unter den alten heidniſchen und chriftlichen Kaiſern ſtets 


1) Ibid. ©. 206 flg. — 2) Siehe oben ©. 608 flg. — ?) Siehe oben 
©. 602. — * Man. vergleiche über fein Leben die histoire litteraire de la 
France V., 213 flg. — 5) Liber de electionibus episcoporum abgedrudt im 
zweiten Bande von Baluzius Ausgabe der Werke des Agobardus ©, 254 flg, 
oder auch in Gallandii bibliotheca Patrum XIII., 591, 


718 I. Bud. Kapitel 10. 


durch die freie Wahl der Gemeinde und des Clerus erhoben wors 
den feyen. Die fpäter aufgefommene Einmifhung gewiffer Könige 
in die Wahlen laſſe fi, meint er, nur durch das Beſtreben ent= 
ſchuldigen, die Eintracht zwifchen dev geiftlihen und weltlichen Ges 
walt zu wahren, an fih aber gebühre der Krone fein Antheil an 
Befesung der geiftlihen Aemter, vielmehr ftehe die Wahl der Ge: 
meinde und dem Clerus zu, da das Prieſterthum durch Gottes 
Gnade eingeſetzt ſey. Man fieht alfo, daß der Lyoner Diakon in 
feiner Schrift ganz dieſelben Grundfäge vertheidigt, welche auf dem 
Neichstage von Aachen im Jahr 817 den Sieg errangen. Bedenft 
man nun, zu wel’ firengem Gehorſam die niederen Cleriker gegen 
die Kirchenhäupter verpflichtet waren, fo wird man feinen Augen- 
blick zweifeln, daß der Diafon Florus ohne Erlaubniß feines Erz 
bifchofs nie, zumal über einen fo wichtigen Gegenftand, gefchrieben 
hätte. Man hat deghalb das Necht, feine Arbeit als ein Werk an- 
zufehen, zu dem Florus nur den Namen und die Feder, Agobarbus 
dagegen den leitenden Gedanfen bergab. Allem Anfchein nach ift 
es daher Agobardus, dem bie Kirche es zu verbanfen hat, daß 
Kaifer Ludwig jenes Geſetz erließ. Diefe Bermuthung erhält um 
fo größeres Gewicht, da aus fonftigen Anzeigen erhellt, daß der 
Erzbifchof von Lyon auf die andern Beichlüffe deffelben Reichstags 
fehr bedeutenden Einfluß geübt hat. 

Sn Folge der germanifchen Eroberung waren ausgedehnte 
Landftriche in die Hände einzelner Großen gekommen, welche nun _ 
Kirchen auf ihren Gütern errichteten, und diefelben mit Clerikern 
ihrer Wahl befegten. Hieraus entftand das fogenannte Patronats: 
recht, das fogleih zu Mißbräuchen führte, indem die Gutsherrn 
ihre Pfarrer theils nach Willkür wieder verjagten, theils nur küm— 
merlich bezahlten. Solchen Unbilden ſucht das Capitular durch zwei 
Beftimmungen vorzubeugen. Der neunte Artifel verfügt: „ohne Er: 
Yaubnig und Mitwirkung des Bifchofs Darf fein Pfarrer ein- noch 
abgejest werden. Wenn Laien dem Bifchofe ſolche Cleriker, deren 
Lebenswandel oder geiftliche Bildung feinem Tadel unterliegt, zur 
Weihe vorgefchlagen haben, fo follen fie die Geweihten nicht mehr 
austreiben.“ Der zehnte befagt: „Jeder Pfarrei muß eine Bauern: 
wirthſchaft (mansus) frei yon allen Abgaben zugewieſen werben. Auch 
foll der Pfarrer weder yon den Zehnten (feines Kirchfpiels) noch 
son den Opfern ber Gläubigen, noch von den Häufern und Vor—⸗ 


Die abendlandifcge Kirche unter Ludwig dem Frommen ic. 719 


werfen, noch von den Gärten, die an der Kirche liegen, noch von 
jenem Pfarrgut irgend einen Abtrag, außer dem Firchlichen, Teiften. 
Nur wenn der Pfarrer fonft Befigungen hat, mag er bavon etwas 
an den Grundheren bezahlen.“ Zu noch größern Klagen, als bie 
Bedrückungen der Gutsheren, gab der Geiz fchlechter Bifchöfe Anz 
laß. Einzelne Kirchenhäupter befegten den niedern Clerus darum 
mit Leibeigenen, um aller Rückſichten gegen ihre Untergebene ent: 
hoben zu ſeyn; fie verpfändeten die Schäße der Kirchen, fie riffen die 
frommen Stiftungen an ſich, fie verleiteten reuige Sünder zu Ber: 
mächtniffen und beeinträchtigten dadurch die natürlichen Erben 
berfelben, fie ließen fih auf ihren jährlichen Prüfungsreifen von 
den Pfarrern und Aebten aufs Glänzendſte bewirthen, wodurch 
Legtere zu Grunde gerichtet wurden, fie beſchwatzten reiche Leute 
ins Klofter oder in ein Canonifat zu treten, und bemädhtigten fich 
dann ihres Vermögens. Auch gegen diefe und Ähnliche Mißbräuche 
fhritt das Capitular Fräftig ein. Der fechste Artifel beftimmt: „fein 
Leibeigener darf eine Firchliche Weihe empfangen, er fey denn vor: 
her freigelaffen. Hat ein Leibeigener ohne Vorwiſſen und Zuftim: 
mung feines Herrn eine Firhlihe Weihe erfchlichen, fo wird er auf 
bie Klage des Herrn abgefest und demfelben zurückgegeben. Will 
ber Biſchof einen Leibeigenen, welcher der Kirche gehört, weihen, 
jo muß derfelbe zuvor in der Kirche vor allem Bolfe mit der Freie 
heit bejchenft werben.“ Der vierte Artikel verordnet: „Jedes Ver— 
mächtniß, das eine veiche Kirche empfängt, fol alfo in drei Theile 
zerlegt werben, daß zwei Drittel den Armen gehören, ein Drittel 
für Befoldung der Glerifer und der Mönche verwendet wird, Ber: 
mächtniſſe, welche kleineren Kirchen zufallen, werden zwifchen den 
Armen und den Glerifern gleich getheilt, wenn nicht etwa der Stifter 
ausdrücklich anders verfügt.“ Noch tiefer ſchneidet der fiebente Artikel 
ein: „Kein Glerifer darf folde Schenfungen annehmen, 
durch welche die Rechte von naben Anverwandten 
oder Kindern ber Schenfer beeinträdtigt werden 
fönnten. Jede ſolche Schenkung ift null und nidtig. 
Der Clerifer, zu deffen Gunften fie gemacht worden, 
unterliegt einer Strafe und das Gut fällt an die 
natürlihen Erben zurüd.“ Der achte befagt: „Rein Glerifer 
joll irgend Jemand zum Eintritt in ein Klofter in der Abficht bere- 
ben, um das Vermögen beffelben an fich zu ziehen, Gefchieht Dieß 


720 II, Buch. Kapitel 10. 


doch, jo trifft den ſchuldigen Geiftlichen die Ahndung der Geſetze 
und des Kaifers.“ Der dreizehnte verordnet: „Kirchenſchätze dürfen 
nur dann verfeßt werden, wenn man Geld auf ein-folches Pfand 
aufnimmt, um Gefangene Yoszufaufen.“ Der neunzehnte verbietet 
den Biſchöfen: „auf ihren jährlichen Reifen den Gemeinden oder 
Pfarrern zur Laſt zu fallen.“ Der zwanzigfte verpönt bei ſchwerer 
Strafe, „Knaben oder Mädchen, ohne Einwilligung der Aeltern, zu 
fheeren oder zu verfchleyern.“ inige andere Beflimmungen bes 
Capitular’s find von geringerem Belang. Man fieht: diefelben Miß- 
bräuche, welche Karl der Große abzufchaffen verfucht, beftanden 
noch immer, und Ludwig der Fromme fchritt furchtlos auf der von 
feinem Vater betretenen Bahn fort, Ludwig wagte fogar einen 
Schritt zu thun, vor dem Karl zurücdgebebt war. 

Wir fommen an den vierten Gegenftand, ber auf dem Reiche: 
tage des Jahres 817 verhandelt wurde. Derfelbe betraf nicht 
weniger ald Die Einführung eines Erfigeburtsrechts oder 
des Grundjages, daß der Kaiferfiaat hinfort nicht mehr getheilt wer: 
den ſolle. Man kann fich denken, daß die Sache, ehe der Reiche: 
tag zufammentrat, als Staatsgeheimniß behandelt und nur im Kreife 
der engſten Vertrauten des Kaifers berathen worden war. Die 
MWenigften von Denen, welche zu Aachen erfchienen, wußten, daß 
diefe Angelegenheit zur Sprache fommen werde. Unerwartet erho- 
ben fich in der Berfammlung einige Räthe und trugen dem Kaifer 
die Bitte vor, er möge die Tage bes Friedens dazu benügen, um 
die Ordnung des Reichs und das Berhältniß feiner Söhne für 
immer zu beflimmen. Ludwig erklärte, obgleich er feine Söhne mit 
gleicher Liebe umfaffe, halte ev es nicht für recht, um. ihretwillen 
die Einheit des Staats aufzuopfern. Sofort Iegte er dem Reiche: 
tage die Frage vor: „Darf man eine Maßregel, die zum Wohle 
des Neichs dient, verfchieben oder nicht?“ Die allgemeine Antwort 
Yautete: „Was nöthig oder nützlich iſt, foll nicht verfhoben werden.“ ') 
Nun fo möge denn, erwiederte Ludwig, um das Rechte zu finden, 
Seder son Euch durch dreitägige Faften, durch Gebet und milde 
Gaben Erleuchtung von Dben zu erringen trachten. Dreitägige Faſten 
wurden angefagt. Während diefer Frift theilten Die, welde im 
Geheimniffe waren, den Plan den angefehenften Mitgliedern bes 


y Diefe Nachricht verdanken wir einem Briefe des Agobarbus, abgebrudt 
Gallandii bibliotheca patrum XIII., 491 b. 


Die abendländifche Kirche unter Ludwig dem Frommen ıc. 721 


Reichstags mit, und. perficherten fich ihrer Zuftimmung. Am vierten 
Tage eröffnete Ludwig das neue Erbfolgegeſetz ) der ganzen Ber: 
fammlung. Es Tautet fo: „Pipin, der zweite Sohn Ludwig’, 
erhält nad) des Vaters Tode, mit dem Titel, eines Königs, Aquita— 
nien und das Baskenland, die Darf Zolofa und vier Grafichaften 
in Septimanien und Burgund. Der dritte Sohn, Ludwig, empfängt, 
mit gleichem Titel, Baiern, Böhmen, Kärnthen und die den Fran: 
fen unterworfenen Provinzen der Avaren und Slaven, fowie die 
zwei Orte Lauterhofen und Ingolſtadt. Alle übrigen Theile des 
Reichs fallen mit dem Kaifertitel dem Erftgebornen Ludivig’s, Lothar, 
zu.“ Wir müffen zunächft bemerken, daß das Erbe des Lestern 
wenigftend das Vierfache des Antheils betrug, den feine beiden Brü— 
der erhielten. Eben fo ungleich als der Befis waren die Nechte der 
zwei nacdgebornen Söhne. Das Gefets beftimmt weiter: „Jeder 
ber jüngeren Brüder hat jährlih dem älteren die Aufwartung zu 
machen und ihm Geſchenke darzubringen. Keiner von ihnen barf 
ohne Zuftimmung des Altern Krieg erklären, oder Frieden ſchließen, 
oder Gefandte fremder Staaten annehmen, noch ſich vermählen. 
Stirbt einer der jüngern Brüder ohne gefeglihe männliche Nach: 
folge, fo fallt fein Land an den Kaiſer. Hinterläßt er mehrere 
Söhne, ſo wählt das Volk einen derfelben zum König, und der 
Kaiſer beftätigt die Wahl. Sollte fih einer der jüngern Bruder 
gegen den Altern empören, fo wird er gewarnt, und im Falle 
er feine Neue zeigt, abgefett.“ Dieß find die hauptfächlichen Punfte 
der Berfügung über die Erbfolge, welche Ludwig der Fromme für 
ben Fall feines Todes im Jahr 817 erließ. Die Einheit des Staats 
wurde dadurch zum Grundgeſetz erhoben. Die jüngeren Brüder 
traten zu dem bevorrechteten Altern in das Berhältniß von bloßen 
Statthaltern, oder fie erhielten mit andern Worten die Stellung, 
welche im alten römifchen Neiche die Augufte dem Kaifer gegenüber 
eingenommen. Ludwig der Fromme hatte es gewagt, das germa— 
nifhe Erbrecht umzuftoßen. Der Neichstag hieß den Beſchluß des 
Kaijers gut. Am vierten Tag feste ſich Lothar, als Mitregent feiz 
nes Baters, unter dem allgemeinen Hufe: „es lebe unfer Kaifer 
Lothar,“ die Krone aufs Haupt. *) 





1). Perz leges I, ©, 198 fl. — 2) Chronicon Moissiacense ad an- 
. num. 817, Perz I., 312, 


Gfrörer, Kircheng. IH. 46 


722 IT. Buch. Kapitel 40. 


Sehen wir jest, wer Ludwig dem Frommen ben Plan zu Dem, 
was zu Aachen verhandelt worden ift, eingegeben haben mag. Der 
Beſchluß, welcher fammtliche Klöfter des Neiches der Benediftiner 
Negel unterwarf, ift ohne Zweifel das Werf des Abts yon Aniane, 
wie ſchon daraus erhellt, daß er fich Die Vollſtreckung dieſes Gefeges 
sorbebielt. Der Abt fühlte den Beruf in fich, den fränkiſchen Klö— 
ftern eine und biefelbe Geftalt zu geben, und die übrigen Rathgeber 
Yießen, wie es fiheint, den Günftling Ludwig’s ungehindert über bie 
Mönche fehalten. Eine andere Frage ift es, ob Benedift von 
Aniane auch die beiden Gefege über das canonifche Leben und bie 
Berbältniffe der Bifchöfe entworfen hat? Benedikt mag hiebei mit— 
gewirkt haben, aber ficherlich wäre er nicht mächtig genug geweſen, 
um folhe wichtige Dinge wider den Willen der Kirchenhäupter 
durchzuſetzen. Dffenbar gieng der Anftoß zu beiden Iekteren Ver: 
fügungen von der ©eiftlichfeit felbft aus. Wir müſſen jedoch diefen 
Sat genauer beftimmen. Ber Weiten nicht der ganze Clerus hatte an 
Entwerfung der fraglichen Geſetze Antheil. Sehr Viele waren im Gegen: 
theil unzufrieden darüber. Beweis dafür die oben angeführte That: 
fade, daß auf dem Neichstage felbft gewiffe Mitglieder den Ber: 
ſuch machten, durch Verfälſchung der Vorſchriften über das canoni- 
ſche Leben das auferlegte Zoch zu mildern. In der That müßten 
die Menſchen von damals eine andere Natur befeffen haben als 
bie jeßigen, wenn Die große Maffe des Clerus fi freiwillig und 
mit Freuden dem Zwang des canonifchen Lebens unterworfen hätte. 
Noch andere Anzeigen geheimen Widerwillens gegen die Befchlüffe 
des Neichstags find vorhanden. Der Aftronom fagt: ") „feit der 
Aachener Berfammlung Hätten fih die Kirchenhäupter und Glerifer 
dazu verftanden, die goldenen Wehrgehänge, prächtigen Kleider und 
Sporen abzulegen, welche fie früher zu tragen pflegten.“ Nur ges 
zwungen verzichtet der Menfch auf folhe Gewohnheiten. Alfo muß 
es eine Feine, aber entfchloffene, und von ſtrengen kirchlichen Grund: 
fügen befeelte Parthei unter dem Clerus gewefen ſeyn, die den Kaifer 
zu Erlaffung jener Geſetze beftimmt hat. Ohne Zweifel war bie 
Bertreibung unwürdiger Mitglieder aus dem Clerus, und die Be: 
freiung der Wahlen yon den Eingriffen des Hofs das Ziel, auf 
das die Häupter der bezeichneten Parthei hinfteuerten, und um 


1) Perz IL, 622, 6. 28. 


Die abendländiſche Kirche unter Ludwig dem Frommen ıc. 723 


diefen Zweck zu erreichen, boten fie die Hand zu Maßregeln, welche 
die ganze Geiftlichfeit zu einer unerbittlich ſtrengen Regel verpflich- 
teten, und der Verſchwendung, den Gewaltthätigfeiten und der Erb: 
fchleicherei gieriger Bifchöfe einen Damm entgegenfesten. Wirklich 
fonnte nur auf ſolchem Wege die hohe Stellung im Staate, welde 
Karl der Große dem Prieſterthum eingeriumt hatte, dauernd er— 
halten werden. Nun erhellt aus den oben angeführten Thatfachen, 
daß befonders der Erzbifchof Agobardus von Lyon thätig war, bie 
Freiheit der Bifchofswahlen, alfo das Hauptziel der eben erwähnten 
Beftrebungen, zu erringen. Demnach ift im höchſten Grade wahr: 
fcheinlih, daß er zu den geheimen Lenfern jener ſtrengen Parthei 
unter dem Clerus gehörte. Durch eben dieſelbe ift, wenn nicht 
alle Anzeigen täufchen, dem Kaifer auch der Plan des neuen Erb: 
folgegefeged unterlegt worden. In Ludwig’ Haupte entfprang 
biefer Gedanfe „nicht; denn er hat ſich faft fein ganzes übriges 
Leben abgemüht, die Aachener Berfügung wieder umzuſtürtzen. 
Ebenſo wenig waren ed weltlihe Große, die dem Kaifer viethen, 
das Erfigeburisrecht einzuführen. Hierüber fpricht fich fehr klar die 
Zheilungsurfunde in ihrem Eingange !) aus, wo Ludwig der Fromme 
fagt: „unfere Getreue ermahnten uns, über das Neid und die 
Nachfolge unferer Söhne gemäß dem Gebraude der Bor: 
fahren (d. h. nad) germanifchem Erbrecht) zu verfügen. Aber ob- 
gleich dieſe Aufforderung gut gemeint war, Fonnten wir ung doch 
nicht entjchließen, der Liebe zu unfern Kindern die Ein: 
beit des Staats aufzuopfern“ Die weltlihen Bafallen 
wünfchten demnach, daß das Reich nach hergebrachter Sitte unter 
die Söhne Ludwig's getheilt werde, Auf geiftliche Urheber des Erb: 
folgegefeges weijen die ganze Zurüftung, die breitägigen Faften, mit 
benen es eingeleitet ward, fo wie der Styl und die Weife der Ab- 
faffung Hin. Der neunte Artifel lautet z. B. wörtlich fo: „wenn, 
was Gott verhüten möge, einer meiner (beiden nachgebornen) 
Söhne aus Begierde nad irdifchen Gütern, welche die Wurzel alles 
Böſen ift, ein Zertheiler des Reichs, oder ein Unterbrüder der 
Kirchen und der Armen werden, oder ſich eine tyrannifche Gewalt 
anmaßen follte, jo will ih, daß man ihn zuerfi, gemäß der Bor: 
ſchrift Chriſti, heimlich durch treue Abgefandte ein-, zwei= und 
N) Perz leges I,, 198 Mitte, 
46 * 


724 III. Buch. Kapitel 10. 


dreimal warne u. ſ. w.“ Trägt dieſe Stelle nicht unverkennbar das 
Gepräge einer kirchlichen Feder! Ueberdieß iſt eine Urkunde auf 
uns gekommen, aus welcher man den Schluß ziehen muß, daß die— 
ſelbe geiſtliche Parthei und derſelbe Erzbiſchof, welcher den Kaiſer zu 
den Übrigen Verfügungen des Aachener Neichstags vermochte, ihm 
auch das Erbfolgegefeß eingegeben hat. Nachdem der Streit zwi: 
fchen Ludwig und feinen Söhnen ausgebrochen war, erließ Agobardus 
ein Schreiben an den Kaifer, in welchem er demfelben zu Gemüthe 
führt, wie Unrecht er gethan habe, das Erbfolgegefet des Jahrs 
817 zu verlegen. Zuerſt ruft hier der Erzbifchof dem Fürften alle 
die feierlichen Umftände, unter denen das Geſetz gegeben worden, 
insg Gedächtniß zurück, und fährt ') dann fo fort: „als auf Eure 
Trage, ob man Das, was nüßlich fey, auffchieben dürfe, Alle geant: 
wortet hatten, folhe Dinge müffen vielmehr befchleunigt werden: da 
eröffnetet hr den Plan, der im Kreife Weniger der Ber: 
trauteften beratben worden war, der ganzen Berfammlung.“ 
Kaum Fonnte Agobard alfo zum Kaifer fprechen, hätte er nicht 
felbft an jener Berathung der Bertrauteften Theil genommen. Wir 
haben noch einen andern Beweis für Agobard's und feiner Freunde 
Mitwirkung. Im eines Sohnes aus zweiter Che willen fuchte Ludwig 
der Fromme fpäter die Verfügung des Jahre 817 umzuſtoßen. So 
wie die Abficht des Kaifers fich offenbarte, traten die meiften Metro- 
politen des Neichs, namentlich die Erzbifchöfe Agobardus von Lyon, 
Bernhard von Vienne, Bartholomäus von Narbonne, Ebbo von 
Rheims, der Bifchof Jeße von Amiens, fowie die Aebte Hilduin von 
St. Denis, und Elifafhar als entfchloffene Vertheidiger des Erb: 
folgegefeges auf, und brachten fogar dem Rechte Lothar’s ihre Pfrün: 
den zum Opfer. Muß man nun nicht aus der Hartnädigfeit, mit 
welcher fie das Geſetz verfochten, den Schluß ziehen, daß fie an 
Abfafjung defielben bedeutenden Antheil gehabt? Man fieht alfo, 
Karl der Große hat in richtiger Borausficht gehandelt, als er, 
wie wir früher erzählt, ein Jahr vor feinem Tode, die Erhaltung 
ber Einheit des Reihe in die Hände der Biſchöfe niederlegte. In 
der That hieng die Fortdauer der glänzenden Stellung, welde Karl 





1) De divisione imperii flebilis epistola bei Gallandius XIII., A91 b. 
Mitte. Ich eitire nach dem Abdrucke bei Gallandius, weil mir Baluzius Aus: 
gabe der Werfe Agobard’s nicht zur Hand ift. 


Die abendlandifche Kirche unter Ludwig dem Frommen ıc. 725 


ben Kirchenhäuptern angemwiefen, insbefondere aber die große Gewalt 
ber Metropoliten, von Befeftigung der Einheit ab. Mit tem Sturze 
des Frankenreichs gieng, wie wir fehen werden, auch die Macht der 
Erzbifchöfe unter. Im Lebrigen war e8 ein Fühner Plan, den fie unter: 
nahmen. Wenn die Ausführung gelang, hätten fie das Mittelalter 
gleichfam überftürkt, oder die Welt um fehs Jahrhunderte friiher 
in politifche Verhältniffe gebracht, wie bie der neuern Zeiten find, 
Aber fie feheiterten an der Natur der Dinge, 

Das Erbfolgegefeb zog zunächft eine Erfchütterung in Stalien 
nach fih. Der Name des jungen Bernhard, der bis jest als 
Ludwig’s Statthalter das Iangobardifche eich beberrfchte, war in 
dem Theilungsvertrage gar nicht genannt, fein Necht folglich über: 
jehen. Ja ein befonderer Artifel 1) opferte ihn fogar flillfchweigend auf: 
„das Neich Italien foll unferem Sohne (Lothar), wenn Gott will, 
daß er ung nachfolge, auf gleiche Weife unterworfen feyn, wie eg 
unferem Bater unterworfen war“ u. |. w. Unter ſolchen Umftänden 
glaubte Bernhard annehmen zu müfjen, daß der Kaifer befchloffen 
babe, bei der nächſten Gelegenheit Jtalien feinem eigenen Sohne 
zugumenden. Er rüftete fich daher zum Kriege. Allein diefe Be— 
wegung überrafchte den Kaifer nicht: Ludwig bot den Heerbann 
auf, worauf die meiften Vaſallen von Bernhard abfielen. Der Un- 
glüctihe ward durch Berfprechungen der Gnade über die Alpen 
berübergelodt, zu Aachen um Oftern 818 vor ein Gericht geftellt, 
und als treubrüdiger Dienftmann zum Tode verurtheilt. Lange 
weigerte fih Kaifer Ludwig das Blut feines Neffen zu vergießen, 
bis er endlich, durch die Bitten feiner Gemahlin Irmengard be: 
ftürmt, Befehl gab, Bernhard die Augen auszuftehen. In Folge 
ber graufamen That ftarb der Jüngling im April 818. Mehrere 
langobardiihe Biſchöfe, Anfelm von Mailand und Wolfold von 
Cremona, wurden in feinen Sturz verwicelt, aber auch ein fränfi- 
ſches Kirchenhaupt, der ung wohlbefannte Theodulf yon Drleang. 2) 
Theodulf hatte zwei Jahre zuvor vom Pabſte Stephan dem Vierten 
das Pallium erhalten, und während der Unterfuchung, die er wegen 
feiner Berhältniffe zu Bernhard beftehen mußte, erflärte er, daß nur 
der Stuhl Petri über ihn richten dürfe. 9) Hieraus fcheint zu 





) $. 17. Perz a. a. O., ©. 200. — 2) Vita Ludoviei $. 29, Perz IL, 
623 Mitte. — 9) Die Beweisftellen gefammelt bei Longueval histoire de 
leglise gallicane V., 226 und 258 fig. 


726 II. Buch. Kapitel 10. 


folgen, daß der Pabft felbft bei der Empörung Bernhard's bethei- 
ligt war. In der That ift nichts wahrfcheinlicher, als daß die Curie 
es gerne gefehen hätte, wenn Oberitalien, ftatt eine Provinz des 
großen Franfenreichs zu bilden, einem ſchwachen, von den Franfen 
bedrohten, Könige gehorchte. Die fchuldigen Bifchöfe wurden vor 
ein Gericht geftellt, in Folge des Urtheils abgefegt und in Klöfter 
geſteckt. Den Nachlaß Bernhard’s erhielt, gemäß dem 17. Artifel 
des Erbfolgegefeges, Ludwig's Erftgeborner, Lothar, der in fpäteren 
Urfunden fich felbft feit dem Jahre 820 das langobardiſche wert 
beilegt. ') 

In dem nemlichen Jahre, da der junge Bernhard als Opfer 
des Familienhaffes fiel, ftarb Ludiwig’s Gemahlin Jrmengard. Tief 
erfchittert durch den Verluſt, vielleicht auch von Gewiffensbiffen 
wegen Bernhard's geängftigt, gieng der Kaifer von Neuem mit 
dem Gedanfen um, die Krone nieberzulegen und ins Klofter zu 
treten. Hätte Ludwig diefen Entfchluß ausgeführt, fo wäre es um 
den Einfluß gewiffer Günftlinge gefchehen gewefen. Schreien er: 
griff daher diefelben, und fie fannen auf Mittel den Kaifer in der 
Welt zurüdzuhalten. Keines fchien ficherer, ald wenn man ihn ver: 
mochte ein neues Eheband zu fihließen; denn Ludwig hatte ein 
heißes Blut und Tiebte die Frauen. Mafregeln wurden daher in 
diefem Sinne ergriffen. Wir Yaffen den Aftronomen 9 reden: „um 
jene Zeit (im Frühjahr S19) fchaute fih Ludwig auf den Kath der 
Seinigen nad einer Gemahlin um, denn Biele fürdteten, 
er möchte die Krone niederlegen. Gie führten ihm daher 
von allen Seiten ſchöne Jungfrauen vor, aug welchen er eine, bie 
Tochter des edlen Cbairiihen) Grafen Welpo, Judith auswählte, 
und zum Weide nahm.“ Die firchlihe Parthei, deren Werk das 
Erbfolgegefeg vom Jahre 817 war, fann dem Kaifer den Gedanfen, 
zu einer zweiten Ehe zu fehreiten, nicht eingegeben haben. Denn 
bie Verbindung bedrohte ihren fo mühfam durchgeführten Pan, 
weil, im Falle Judith dem Kaifer Kinder gebar, Feine Provinz zu 
Gebote ftand, mit welcher der Nachwuchs bedacht werden mochte. 
Denn alle Theile des Neihs waren ja fhon Fraft jenes Geſetzes 
an die Söhne Ludwig's aus erfter Che vergabt. Man muß daher 


') Den Beweis bei Muratori annali d’Italia IV., 516, oder auch bei 
Pagi zu Baroniug ad annum 821, — 2) Vita Ludovici 8. 32. Perz IL, 624. 


Die abendlandifche Kirche unter Ludwig dem Frommen ꝛc. 127 


an andere Nathgeber denfen, Wir wiffen, daß Ludwig in Herzen: 
angelegenheiten fi) vorzugsweile an den Abt Benedikt zu wenden 
pflegte. Eben biefer Benedikt hatte aber die gewichtigſten Gründe, 
den Kaiſer durch eine neue Heurath an die Welt und den Thron 
zu feffeln. Denn wenn Ludwig abdankte, war die große Nolle, 
bie der Abt bisher am Hofe gefpielt, zu Ende, da fein Einfluß nur 
auf das perfönlihe Wohlwollen Ludwig's, oder vielmehr auf deffen 
Schwäche fih gründete. Die angegebenen Merkmale pafjen treff: 
lich zu der oben mitgetheilten Stelle des Aſtronomen. 

Im Februar 819 fand die Heurath des Kaifers mit Judith 
Statt. Zwei Jahre fpäter den 11. Febr. 821 ſtarb dev Abt Bene— 
dift yon Aniane. Durch feinen Tod wurde offenbar, wie viel ber Dann 
bei Hofe gegolten, und daß namentlich er es war, der bie Brüder 
Wala, Adalard und Bernarius geftürgt und niedergehalten hatte. 
Denn jest trat alsbald eine günftige Wendung in dem Schidfale 
ber Letteren ein, Ludwig ſöhnte fi mit ihnen aus. Der Mitvegent 
und Erfigeborne des Kaifers, Lothar, feierte auf dem Neichstage 
yon Diedenhofen im Dftober S21 feine VBermählung mit Srmen- 
gard, der Tochter des Grafen Hugo von Tours. Dieſe ſchickliche 
Gelegenheit benützte Ludwig, um die Brüder wieder in ihre früheren 
Ehren einzufegen. Er berief fie zu fih, und kündigte ihnen bie 
Freiheit und feine Gnade an. Adalard erhielt wieder die Abtei 
Sorbie, wohin auch fein Bruder Bernar zurückkehren durfte. ') 
Doch fcheinen die tief Gefränften, hiemit noch nicht zufrieden, eine 
vollftändigere Genugthuung gefordert zu haben. Wirklich erklärte 
Ludwig im Auguft des folgenden Jahrs zu Attigny vor dem ver: 
jammelten Reichstag, daß er ungerecht gegen Adalard und beffen 
Geſchwiſter gehandelt habe. Der Kaifer ließ fich fogar zur Sühnung 
der Schuld eine Buße von den Biſchöfen auflegen. ) Zugleich 
ertbeilte er dem zweiten der drei Brüder, Wala, einen Auftrag, 
welcher bewies, daß er ihm fein volles Vertrauen ſchenkte. Lothar 
wurde namlih im Herbſte 822 von feinem Vater wegen gewiffer 
Geſchäfte, von denen wir fofort handeln werden, nad Italien ges 
ſchickt, und Ludwig gab nun dem Prinzen den Mind Wala als 
Hofmeifter mit. Wala trat Dadurch zu dem Thronfolger in Das 


-) Einhardi annales ad annum 821. Perz I., 208 Mitte. — 2) [dem 
ad annum 822, Perz I., 209, 


128 II. Buch. Kapitel 10. 


nämliche Verhältniß, worin einft fein Bruder Adalard zu dem us 
glüclichen Könige Bernhard geftanden. Enge waren von Nun an 
die Schieffale Beider verknüpft. Wir müffen uns jegt nad Stalien 
wenden. 

Pabſt Stephan IV. hatte kurz nach feiner Zurückkunft von der 
fränfifehen Reife — den 24. Jan. 817 — den Geiſt aufgegeben. 
Zwei Tage nach feinem Tode war bereits der Römer Pafchalis zum 
Nachfolger gewählt. Einhard berichtet, ) der neue Pabſt Habe ſo— 
fort an den Kaifer eine Gefandifchaft mit Gefchenfen und einem 
Entfhuldigungsfchreiben gefickt, in welchem fand, dag ihm 
das Hohenpriefterthbum wider feinen Willen aufyedrungen worden 
fey. Kaum kann man bdiefe Worte anders erklären, als durch die 
Annahme, daß Pafchalis den Vorwürfen des Kaifers zuvor fommen 
wollte. Denn in ter That hatte Ludiwig guten Grund mit der 
neuen Wahl unzufrieden zu feyn, weil die Nömer die fränfifche 
Beftätigung, welde laut dem Bertrage Karl's mit Hadrian I. ein: 
geholt werden mußte, nicht abgewartet hatten. Die Erhebung deg 
Pafchalis war ein neuer Beweis vom Beftreben der Pähfte, das 
fränfifche Zoch abzufchütteln. Paſchalis fertigte feitdem bis zu Ende 
des Jahrs 821 noch drei Gefandifchaften an den Kaifer ab, 2) 
deren Zwede wir nicht Fennen, Aber die Tharfache der wieder: 
holten Unterhandlungen fcheint darauf hinzuweiſen, daß nicht das 
befte Einverftändnig zwifchen Kaifer und Pabſt Herrfchte. Inter 
folhen Umftänden hielt es Ludwig für nothwendig einen Prinzen 
feines Haufes nad) Jtalien zu fenden, damit die dortigen Berhält: 
niffe- geordnet und die Bande fränfifcher Herrichaft wieder ange: 
zogen würden. Daher der Auftrag, den Lorhar und Wala em: 
pfieng. Wala handhabte mit fefter Hand die Gerechtigfeit. Im 
folgenden Jahre wollte Lothar wieder nach Frankreich zurüdfehren, 
als er vom Pabfte die Einladung erhielt, der Feier des Oſterfeſtes 
in Nom anzuwohnen. Lothar entfprac dem Wunsch des Pabſtes. 
Wie er nun am Ofterfonntage in der Peterskirche erfchien, febte 
ihm Pafchalis die Krone auf, und begrüßte ihn als Kaifer der 
Römer. ?) Es ift fehwer zu fagen, ob der Pabſt diegmal auf Anz 


) Einhardi annales ad 817, Perz I., 203 unten. — ?) Einhard ad 
annum 817. Perz I., 203 unten, und ad annum 821. Perz I., 207 unten, 
fowie 208 Mitte, — 3) Id. ad annum 823. Perz I., 210. 








Die abendländifche Kirche unter Ludwig dem Frommen ıc. 729 


trieb Ludwig's gehandelt hat, oder ob er, gleich feinen Vorgängern, 
durch jenen Aft dem Stuhle Petri das Recht, Kaifer zu zeugen, 
fihern wollte. Jedenfalls dauerte die Spannung zwiſchen Nom und 
Aachen auch nachher fort. Lothar zog nach der Krönung, Wala 
in. Stalien zurüctaffend, über die Alpen. Als er in Frankreich an: 
gekommen war, Tief dort die Nachricht ein, daß zwei hohe päbſt— 
lihe Beamte, welche Lothar während feines Aufenthalts in Rom 
ausgezeichnet und an ſich gezogen hatte, erft geblendet und dann 
enthauptet worden feyen. Augenblicklich ertheilte Kaifer Ludwig 
dem Abte Adalung, und dem Grafen Hunfrid Befehl, nah Nom 
abzureifen und die Sache zu unterfuchen. Che diefe Bevollmäch— 
tigten abgiengen, erfchienen zwei Geſandte des Pabſts am Hofe, 
und führten Klage über die Verläumdung, daß gewiße Leute jenen 
Mord dem Pabfte fchuld zu geben ſich erfühnten. Der Kaifer ließ 
ſich jedoch durch folche Ausflüchte nicht befchwichtigen. Adalung und 
Hunfrid giengen nad Rom ab, und begannen dort die Unterfuchung, 
drangen aber nicht durch. Im Pallaſte des Lateran, wo bie oben 
erwähnten Beamten enthauptet worden waren, ſchwur Pafchalig vor 
den faiferlihen Bevollmächtigten einen Eid, daß er an dem Mord 
feinen Theil habe. Bierunddreißig Bifchöfe fammt fünf Presbytern 
und Diafonen ſchwuren mit dem Pabfte als feine Eideshelfer. ') Wie 
nun aber die Abgeordneten Ludwig’s verlangten, man folle ihnen 
die Thäter ausliefern, damit fie von ihnen- den wahren Urheber 
erfahren könnten, ſchlug Pafchalis das Anfinnen rund ab. Die 
Hingerichteten,, fagte er, hätten ald Majeftätsverbrecher ihr Schick— 
fal verdient, und die Thäter fünne er nicht herausgeben; denn fie 
feyen des heiligen Petrus Dienftleute. ) Wir müfjen zu Erklärung 
des auffallenden Borgangs einige Worte beifügen. Seit die Franfen 
Nom zu einer Neihsftadt gemacht, fahen fie ſich gendthigt, der Be: 
feftigung ihrer Herrfchaft wegen, eine ftädtifche Parthei auf ihre 
Seite zu ziehen. Sie verbanden fich mit einem Theil des grund: 
befigenden Adeld und der angefehenen Gefchlechter, die nun unter 
fränfifhem Schuz zugleich den Pöbel unterdrüdten, und den Pabft 
im Zaume hielten. Bon diefem Augenblide an fuchten die Päbſte 
eine -Stüse an der Maffe der Bevölkerung, vertrieben mit ihrer 


') Theganus vita Ludovici $. 50, Perz II., 597. — ®) Einhardi an- 
nales ad annum 823. Perz J., 211. 


730 | II. Bud. Kapitel 10. 


Hülfe, fo oft fih eine günftige Gelegenheit bot, die Häupter ber 
fränfifchen Parthei aus der Stadt, und bemäshtigten ſich ihrer Güter, 
bie fie unter das Volk verteilten. Diefe Wendung, bie in der 
Natur der Berhältuiffe begründet war, hatten die römifchen Ange: 
Vegenheiten unter Leo II. und feinem Nachfolger genommen. Die 
nämliche Politik befolgte auch Paſchalis. Lothar gewann während 
feines Aufenthalts in Nom jene-beiden Beamten für die fränfifchen 
Snterefien, und wies fie ohne Zweifel an, die Schritte des Pabſts 
zu belauern. Dafür ließ nach der Abreife des Prinzen der Statt: 
halter Petri diefelben enthaupten; aber die Gewaltthat zog ein 
Verbrechen nad fih. Um der Unterfuchung zu entgehen, mußte 
Paſchalis fih dur einen Meineid reinigen. Als Kaifer Ludwig 
von Dem, was in Nom vorgegangen, Nachricht erhielt, wagte er 
nicht weiter gegen den Pabft einzufchreiten. ) Dagegen befchloß er, 
beim nächften Anlaſſe Maßregeln zu ergreifen, durch welche das 
faiferliche Anfehen in Nom für immer gefichert werden follte; und 
die erwiünfchte Gelegenheit kam bald genug. 

Wenige Monate nah dem falfhen Schwure farb Paſchalis, 
den 19. Mai 824. Alsbald brachen in Nom Unruhen aus. Das 
Bolf und der Clerus wollten einen Nachfolger vom Charakter des 
Pafchalis und Leo, während der Adel und die, fränkifche Parthei 
einen ihnen verpflichteten Mann auf den erledigten Stuhl Petri 
einzufegen firebte. Wala, der fih als Faiferlicher Bevollmächtigter 
in Rom befand, Ienfte die Wahl mit folder Gewandtheit, *) daß 
der Schüsling des Adels, °) Eugenius, den Sieg davon trug. 
Theuer genug mußte der neue Pabſt feine Erhebung erfaufen. 
Lothar wurde von Ludwig abermal nad Italien gefchieft, um bie 
Berhältniffe mit Eugenius zu regeln. Die zwiſchen Beiden ge: 
fchloffene Uebereinfunft Iautete fo: erfilih durften alle Anhänger 
der fränfifhen Parthei, welche die Vorgänger des Eugenius ver: 
bannt und ihres Vermögens beraubt hatten, zurücdfehren, und er: 
hielten ihr Eigenthum wieder. *) Fürs Zweite mußte Eugenius 
den Bevollmächtigten des Kaifers alle Beamten der früheren Päbfte 
übergeben, die fih als Berfolger der fränfifchen Parthei verhaßt 





1) Idem ibid. — 2) Vita Walae I., 28. Perz II., 545 gegen oben. — 
3) Eugenius, vincente nobilium parte, ordinatus est, fagt Einhard 
annales ad annum 824. Perz J., 212. — *) Vita Ludoviei $. 38. Perz IL, 
628 und Einhardi annales ad annum 824. Perz I,, 215. 





Die abendländifche Kirche unter Ludwig dem Frommen ꝛc. 31 


gemacht hatten. Sie wurden nad) Frankreich abgeführt, aber fpäter 
auf Fürbitte des Eugenius wieder frei gelaffen. !) Fürs Dritte 
ſchloß Lothar mit dem Stuhle Petri einen Vertrag ab, kraft beffen 
alle Römer nicht nur dem Kaifer Ludwig und feinem Sohne Treue 
fhwören, fondern aud ſich verpflichten mußten, Feinen neuen Pabft 
anzuerkennen, der Gewählte habe denn zuvor dem Kaifer denfelben 
Huldigungseid geleiftet, wie Eugenius. 2) Zugleich erfchien eine 
Faiferliche Verordnung, °) welche feftfeste, die Verwaltung der Rechts: 
pflege folle in Zufunft durch Sendboten überwacht werden, welde 
vom Kaifer und Pabſte gemeinschaftlich ernannt würden, auch 
dürfen hinfort, bei Strafe der Verbannung, an den Pabftwahlen 
nur folhe Römer Theil nehmen, denen die Befugnig dazu kraft 
alter Borfchriften zuftehe. Lestere Beflimmung zielt ohne Zweifel 
auf ein Geſetz Juftinian’s, %) welches die bifchöflichen Wahlen dem 
Clerus und dem Adel vorbehielt. Die große Maffe des Volks, auf 
welche fih Päbſte wie Leo IH. und Pafchalis geftügt hatten, waren 
dadurch von jeder Mitwirkung bei den Wahlen ausgefchloffen, und 
da der römifche Adel zu den Franfen hielt, fo fonnte der Kaifer 
binfort, wenn anders die Verordnung Gehorfam fand, 
der päbftlihen Treue verfichert feyn. 

Mad) dreifährigem Regimente farb Cugenius im Auguft 827. 
Sogleich zeigte es fih, daß der römifche Clerus Feineswegs Luft 
hatte, dem neuen Gefege Folge zu Teiften. Der Diafon Balen- 
tinus wurde zum Nachfolger gewählt, ohne daß Faiferliche Gefandte 
zugegen gewefen wären. ?) Balentinus gieng jedoch ſchon nach 42 Tagen 
mit Tod ab. Fett aber wußte Ludwig der legten Berordnung Gehorfam 
zu erzwingen. Der nächſte Pabft, Gregor IV., durfte nicht eher geweiht 
werden, bis ein fränfifcher Sendbote die Wahl geprüft und dem Hohen: 
priefter den Huldigungseid abgenommen hatte, ©) Unter Gregor, der 


') Der Bibliothefar Anaftafius (liber Pontificalis ed. Vignoli III., 3.) 
fagt blos, fie feyen nah Nom zurüdgefommen, vergaß aber vorher anzugeben, 
daß fie nach Frankreich abgeführt wurden. — 2) Die Formel des römifchen 
Schwurs abgedrudt bei Bouquet scriptor. rer, francic. VI., 175. — 
3) Abgedrudt bei Manfi XIV., 479 flg., oder auch bei Bouquet VI., 410 flg. — 
*) Novella 123, $. 4. Corpus juris civilis ed. Spangenberg II, 489. — 
°) Dieß folgt aus dem Stillſchweigen ſämmtlicher fränkiſchen Gefchichtfehreiber. — 
6) Einhardi annales ad annum 827. Perz I., 216 unten, und vita Ludovici 
$. 41. Perz II., 631 oben. 


732 II. Buch. Kapitel 10. 


von 827 bis 844 den Stuhl Petri einnahm, fiel das fränkische Welt: 
reich auseinander. Man fieht aus diefem kurzen Meberblid, daß Ludwig, 
fo fromm er auch war, fein Anfehen den Päbften gegenüber Fraftig 
zu behaupten wußte. Ebenſo entfchieden hat er zur nämlichen Zeit 
die Grundfäge der gaflifchen Kirche wider römische Lehre gewahrt. 

Während Ludiwig noch in Aquitanien weilte, lebte an feinem 
Hofe ) ein aus der fpanifchen Marf gebürtiger Geiftlicher, Namens 
Claudius, der in feiner Jugend den Unterricht des Hauptes der Adop- 
tianer, Feliv von Urgel, genoffen haben fol.) Claudius war ein 
eifriger Schriftfteller, und trug, nach der Weife feiner Zeit, aus den 
Werfen älterer Bäter Commentare über mehrere Bücher des alten 
und neuen Teftaments zufammen. Er genoß die volle Gunft 
Ludiwig’s, auch nachdem diefer den Thron feines Vaters geerbt, 
und wurde von ihm gegen SIS auf das Bisthum der Stadt Turin 
befördert. Ueber die Gründe, welche Ludwig bewogen, dem Spanier 
diefen Stuhl zu geben, befigen wir zwei übereinftimmende Zeugniffe 
yon dem Drleaner Biſchof Jonas, und yon Claudius ſelbſt. Jonas 
berichtet: ?) „der fränfifhe Kaifer habe den Presbyter Claudius, 
der für einen guten Erflärer der Schrift galt, auf den Stuhl von 
Turin erhoben, damit derfelbe dem italienischen Bolfe, das in 
tiefe Unwiffenheit der evangelifhentehren verfunfen 
gewesen, gründlichen Unterricht in der Neligion ertheile.“ Das: 
felbe fagt ungefähr Claudius: *) „nachdem mir von Ludwig die 
Laft des bifchöffichen Amtes übertragen worden, habe ich die Kirche 
von Turin voll verbotener Greuel und Bilder gefunden.“ Inter 
den in Stalien herrfhenden Jrrthiimern, wegen deren Claudius von 
Ludwig nach Turin befördert wurde, ift folglich der Bilderdienft zu 
verftehen, den befanntlich die fränfifhe Kirche verwarf, die römifche 
Dagegen mit den Griechen feit dem Conecil von Nicäa vertheidigte. 
Kaifer Ludwig hat alfo den Spanier nad Italien geſchickt, um 
dem rohen Bilderdienft, der dort herrfchte, entgegen zu arbeiten. 
un fällt die Beförderung des Claudius, fo wie auch fein erftes 
Wirfen in die Zeit des Pabftes Paſchalis I., mit dem der fränfifche 





1) Died fagt Claudius felbft im Briefe an Drufterannus bibliotheca 
Patrum Maxima Lugdun. XIV., a. ©, 141 Mitte. — 2 Laut dem Zeugniffe 
des Dungal ibid, 499 b. Mitte. — 3) In der Streitfehrift gegen Claudius, 
ibid. 167 a. gegen unten. — 9 In einem Brucftüde, das wir der Schrift 
feines Gegners Dungal verdanken, ibid. 197 b. oben. 


Die abendländifche Kirche unter Ludwig dem Frommen ꝛc. 133 


Kaifer auf gefpanntem Fuße fand, wie oben gezeigt worden ift. 
Dadurch gefhah es, daß die römischen Grundſätze zugleich vom 
Aachener Hof, und yon der Stadt Turin aus angegriffen wurden. 
Während Ludwig den Pabſt durch Gefege und Gefandifchaften in 
bie Enge trieb, befümpfte der fränkiſche Bischof jener italienifchen 
Stadt die römische Lehre vom Bilderdienft durch geiftliche Verord— 
nungen und Predigten. Schon dieſes Zufammentreffen einer dop— 
pelten, gegen Nom gerichteten, Thätigfeit fcheint auf einen geheimen 
Plan hinzudeuten. Andere Gründe, namentlich aber die Art, wie 
Claudius zu Turin auftrat, geben unferer Bermuthung den höchften 
Grad von Wahrfcheinlichkeit. Sp wie nämlich gegen die Verfuche 
bes neuen Biſchofs, den Bilderbienft abzufhaffen, das Anfehen des 
Stuhles Petri geltend gemacht wurde, fuhr Claudius rückſichtslos 
gegen den Pabft und feine oberfie Gewalt über die Kirche los, wie 
tiefer. unten gezeigt werden foll. Sicherlich hätte es der Bifchof 
nicht gewagt, auf folhe Weije dem Pabft entgegen zu treten, wäre 
er nicht eines mächtigen Rückhalts am Kaifer verfichert gewefen, 
Mit andern Worten: Claudius handelte zu Turin im Ganzen 
den Weifungen gemäß, die er vom Hofe empfangen hatte. Dem: 
nad findet allen Anzeigen nah ein verborgener Zufammenhang 
Statt zwifchen der Sendung des Claudius nah Turin, und dem 
Streite, den der fränfifche Kaifer um jene Zeit mit dem Stuhle 
Petri führte Weil Ludwig mit dem Pabfte grollte, verfeßte er 
den Spanier, ber ihm als eifriger Gegner des Bilderdienfts befannt 
war, auf den Stuhl von Turin, damit Claudius daſelbſt durch Be: 
fampfung der beftehenden Mißbräuche dem Pabft und feinen Anz 
hängern den thatjächlichen Beweis Tiefere, dag im fränkiſchen Italien 
nicht die Vorſchriften des Stuhles Petri, fondern das Wort des 
Kaifers und die auf dem Franffurter Coneil und in den karolini— 
jhen Büchern vorgetragenen Grundfäge der fränfifchen Kirche 
gelten. Nach biefer nothwendigen Vorbemerkung wollen wir den 
Berlauf der Gefhichte des Mannes erzählen. 

Wie Claudius nad Turin kam, fand er dafelbft Gebräuche, 
die feinen Unwillen erregten. Das Bolf zollte den Bildern und 
Kreuzen fo wie den Reliquien der Heiligen göttliche Verehrung und 
legte den größten Werth auf Wallfahrten nad Nom. Mit ſcharfen 
Mitteln ſchritt Claudius hiegegen ein. Er ſelbſt gefteht, ) daß er 

') Bibliotheca Patrum maxima XIV., 197 b. oben, 





734 TE. Buch. Kapitel 10. 


Befehl gab, die Bilder aus den Kirchen hinauszuwerfen, und fein 
Gegner, Jonas yon Drleang, fügt bei, !) er habe auch die hölzernen 
Kreuze entfernen laſſen. Die Kühnheit des Bifhofs erregte das 
größte Aufjehen nicht nur in Italien, fondern auch in Frankreich 
und auf der fpanifchen Granze. 7) Die Einwohnerfchaft von Turin 
teilte fi) in zwei Wartheien; die Fleinere billigte das Verfahren des 
Biſchofs, aber die Mehrzahl warf einen tödtlihen Haß auf ihn. 3) 
Claudius berichtet felber: *) „weil ich Das, was Alle verehrten, zu 
zerftören anfieng, öffneten Ale den Mund, mic) zu läſtern, und fie 
würden mic) lebendig verfchlungen haben, wenn ber Herr nicht bei: 
geftanden wäre.“ Allem Anfchein nach hielt die Furcht vor den 
fränfifhen Waffen thätliche Ausbrüche der Wuth feiner Gegner 
zurüd. Bald traten aber auch Franken wider Claudius auf. Um 
823 fihrieb der Abt Theodemir ein Büchlein wider ihn, und etliche 
Jahre fpäter griff ihn der Schotte Dungal an, welder in Karl’g 
des Großen Tagen ins fränkische Reich gelommen war, unter Ludwig 
dem Frommen aber als öffentlicher Lehrer an ter hohen Schule von 
Pavia wirkte. 5) Im Kampfe gegen diefe und ähnliche Widerfacher 
trug Claudius mit unglaublihem Freimuth feine Meinungen mittelft 
Streitichriften vor, von denen ung feine Gegner einige Bruchftüde 
erhalten haben; denn des Claudius eigene Arbeiten, die er zu feiner 
Bertheidigung verfaßte, find längft verloren. Daß der Bilderdienft 
verwerflich fey, bewies Claudius mit folgenden Gründen: „dag 
göttliche Berbot, Fein Bild zu machen von den Dingen, bie im 
Himmel, auf Erden und unter der Erde find, bezieht fich nicht bios 
auf die Götzen der Heiden, wie Ihr behauptet, fondern gilt von 
allen Sreaturen. — Ihr fagt zwar: wir beten die Bilder nicht Darum 
an, weil wir etwas Göttliches in ihnen ſehen, fondern zu Ehren 
Deffen, den fie vorftellen. ch erwiedere hierauf: wenn ein Heide, 
der zum Chriftenthum übertrat, Bilder der Heiligen anbetet, fo hat 
er. nur den Namen, nicht die Neligion gewechfelt, er ift, was er 
früher war, — ein Götzendiener. Denn ob auf einer Wand Paulus 
und Petrus, oder aber Jupiter, Merfur und Saturn abgebildet 
find, gilt gleichviel, der Irrthum des Anbetens bleibt derfelbe. 


Ui u 13. JE ER 


1) Ibid. 468 b. unten. — *®) Ibid. 197 a. unten. — 3) Ausfage Dun: 
gals ibid. 199 a. unten. — 9 Ibid, 197 b. oben. — 5) Den Beweis findet 
man bei Walch Hiftorie der Kebereien XI., 188 fig. 


Die abendländiſche Kirche unter Ludwig dem Frommen ꝛc. 735 


Dürften wir Menfchen anbeten, fo müßte unfere Verehrung viel 
mehr Lebendigen als Todten geweiht feyn. Denn Tebendig waren 
fie Gott ähnlich, als Todte find fie Staub oder gleich Götzenbildern. 
Bedenfet wohl, daß wenn ung verboten ift, Werfe Gottes anzu— 
beten, wir noch viel weniger Werke von Menfchenhänden verehren 
dürfen, auch nicht zu Ehre Deffen, den das Bild yorftellt. Denn 
wenn das Bild nicht Gott ift, fo darf es auch nicht der Heiligen 
wegen verehrt werben, weil die Heiligen felbft ſich Feine göttliche 
Verehrung zueignen. — Warum demüthigft du und beugeft dich vor 
falfchen Bildern? Gott hat dich aufrecht erfchaffen, andere Gefchöpfe 
feben nach der Erde; dein Geficht ftrebt der Höhe zu. Dahin richte 
deine Sinne, fuche Gott in der Höhe, damit du deſto Yeichter dich 
losmacheſt von Dem, was auf Erden if. Wirf dich nicht wie ein 
Todter neben dem finnlofen Bilde, das du anbeteft, in den Staub 
nieder.“ Noch kühner ift die Art, wie Claudius die Verehrung der 
Kreuze angreift: „Die VBertheidiger der falfhen Religion fagen: zum 
Andenfen unferes Heilandes beten wir das gemalte und zu Seiner 
Ehre gemachte Kreuz an. Golden Leuten gefällt nichts an unferem 
Heiland als die Schande der Leiden und die Schmach Geined 
Todes. — Nur wie Er gelitten, behalten fie im Herzen und denfen 
nicht an die Worte des Apoftels (2 Cor. V, 16.): wenn wir aud) 
Chriftum einft gefannt haben nad dem Fleiſche, fo 
fennen wir Ihn nicht mehr alfo. — Wenn e8 Necht wäre, 
das Kreuz deßwegen anzubeten, weil Chriftus an demfelben gebangen, 
fo müßten wir wahrlich noch viele andere Dinge verehren: alle Jungs 
frauen, weil Chrifius von einer Jungfrau geboren worden, alle 
Krippen, weil Ehriftus in einer folchen gelegen, alle Schiffe, weil 
Er auf einem Schiffe gefahren, alle Efel, weil Er auf einem Efel 
geritten, alle Lammer, weil Er ein Lamm Gottes genannt wird. 
Aber jene verkehrten Menfchen effen Lieber die Iebendigen Lämmer 
und beten die gemalten an. Auch Felfen müßten wir verehren, weil 
Chriſtus in einem Felfen begraben worden, Dornen, weil Seine Krone 
aus folhen beftand, Lanzen, weil Er mit einer Lanze erfiochen 
wurde. — Durch folhen lächerlichen und verrüdten Götzendienſt 
gehen unzählige Seelen zu Grunde.“ ) Die Verehrung der Bilder 





) Die bisher angeführten Stellen abgedruckt Bibliothec, Patr, Maxima 
XIV,, 197 b, u. 198 a, / 


136 II. Buch. Kapitel 10. 


und Kreuze hieng, wie wir wiffen, aufs Genauefte mit dem kirch— 
lichen Dienfte, den die griechifhe und römiſche Kirche den Heiligen 
erwies, zufammen. Es war daher folgerichtig, daß Claudius auch 
dem Dienfte der Heiligen und ihrer Anrufung den Krieg erklärte: 
„Wir follen unfere Seligfeit nicht bei der Creatur fuchen, fondern 
nur bei dem Schöpfer; wer ung anders Iehrt, führt uns ins Ver— 
derben. Nicht die Seligfeit eines Andern, oder feine Weisheit, Stärfe, 
Mäßigung, Gerechtigfeit, macht uns felig, weife, ftarf, mäßig, ge— 
recht, jondern dadurch werben wir es, daß wir dem Beifpiele der 
Heiligen nachahmen. Bortrefflich fagt der heil. Auguftin: ) ferne 
fey es von ung, verfiorbene Menfchen göttlich zu ver: 
ehren, denn wenn dieſe Berftorbene felbft rechtſchaffen 
gelebt Haben, fo verlangen fie feine folde Ehren, ſon— 
bern wünſchen vielmehr, daß unſer Dienft Demjenigen 
gewidmet fey, von weldhem fie ſelbſt Erleudtung em: 
pfangen haben, und zu dem fie ung mit ihnen erhoben 
jeben möchten. — Auch wollen wir ihnen feine Tempel 
errichten — denn bie GSeligen wiffen, daß wir felbft, 
fo fern wir reht wandeln, Tempel des allmädtigen 
Gottes find. Diefe Lehre (des Vaters von Hippo),“ führt Clau— 
dius fort, „it das fefte Geheimniß meines Glaubens, und tief in 
mein Herz geprägt. Aber weil ich fie unerfchütterlic) vertheidige, 
bin ich ein Gegenftand des Tadels für meine Nachbarn, des 
Schredeng für meine Freunde geworden. Mit Fingern weist man 
auf mich.“ ) An einer andern Stelle fagt er: ?) „Sollen wir 
Gottes Verheißungen glauben, fo müſſen wir dieß um fo mehr 
thun, wenn Er einen Eid mit Seinen Worten verbindet. Nun be: 
theuert der Herr (Ezech. XIV, 20,): wäre auch Noah, Daniel, 
Hiob da, fürwahr weder Söhne nodh Töchter, ſon— 
bern einzig und allein die eigene Seele follen fie 
durch ihre Gerechtigkeit erlöfen. Das heißt: wir dürfen 
unfer Vertrauen nicht auf das Verdienſt oder die Fürbitte der Hei: 
ligen fegen, fintenmalen wir nicht felig werden fönnen, wenn wir 





) Die Stelfe ift aus dem Buche genommen De vera religione cap. 55. 
— ?) Praefatio in libros informationum supra Leviticum, abgedrudt bei 
Mabillon analecta, Folioausgabe S. 91. — °) Bib, Pat, Max. XIV, 199 a. 
oben. 


Die abendländifche Kirche unter Ludwig dem Frommen ı€. 137 


nicht eben dieſelbe Gerechtigfeit, eben die Wahrheit und Treue be: 
wahren, wie Jene.“ Viertens beftritt Claudius den Glauben an 
die Berbienftlichfeit der Wallfahrten, befonders der römifchen. „Falſch 
ift deine Behauptung,“ fihreibt 1) Claudius an den Abt Theodemir, 
„als ob ich den Leuten verböte, dev Buße wegen nah Nom zu 
pifgern. Weder tadeln noch loben mag ich im Allgemeinen folche 
Wallfahrten, weil ich weiß, daß fie weder Allen nügen, noch Allen 
ſchaden. Aber fragen muß ih, ob nah Rom laufen fo viel heiße 
als Buße thun? — Mißverftändnig der Worte Chrifti an Petrus 
(Matth. XVI, 18 flg.): Du bift Petrus, auf diefen Felſen 
will ih meine Gemeinde bauen — und id will Dir 
die Schlüffel des Himmels geben, verleitet dag ungebil- 
dete Bolf, daß es um der Geligfeit willen nad) Nom pilgert. Das 
Petro gegebene Schlüffelamt dauerte nicht länger, als das Leben dee 
Apoftels. Nach feinem Tode gieng die Vollmacht zu richten an 
Andere (die Biſchöfe) Über. Gegen die Thorheit, nad Nom zu 
wallen, damit man dort die Fürbitte des Apoſtels erlange, ftreitet 
ein Ausfprucd des Auguftinus im achten Buche von der "Dreieinig- 
feit, fraft defjen wir die Apoftel nach ihrem Tode nicht wegen ihres 
Körpers, jondern wegen ihrer bei Gott weilenden Seele lieben 
jollen.“ Endlich ſprach ſich Claudius noch mit merkwürdiger Offen: 
heit über das“ Anfehen aus, das nad feiner Meinung dem Pabſte 
gebühre. „Dein fünfter Vorwurf gegen mich,“ fchreibt er ?) an 
benfelben Theodemir, „beruht darauf, Daß der Apoftolifus mir feinen 
Unwillen zu erkennen gegeben babe. Du fagft dieß von Pas 
ſchalis, dem Bifchofe der römifchen Kirche, welcher bereits geftorben. 
Nun wird berfelbe Apoftolifus genannt, entweder weil er gleichfam 
Hüter des Apoftels (Wächter des Grabes Petri) ift, oder weil er 
das Amt eines Apofteld verwaltet. Gewiß aber verdient er ben 
Namen des Apoftolifus nur dann, wenn er als Apoſtel wirft, und 
nicht weil er auf dem Stuhle eines Apoftels fist. Bon Denen, welche 
auf dem Stuhle fisen, ohne das Amt zu verrichten, gelten die Worte 
Chriſti (Matth. XXI, 2.3): Auf Mofis Stuhle figen bie 
Schriftgelehrten und Pharifäer Alles, was ſie Euch 
fagen, das tput, aber nad ihren Werfen follet ihr 
niht handeln. Denn fie lehren wohl, thun es aber 


N) Diefe und die folgende Stelle ibid. S. 198 b. — ?) Ibid, 199 a, oben, 
Sfrörer, Kircheng. III. 47 


’ 


7138 | DE Buch. Kapitel 10. 


nicht.“ Diefe Stelle in Verbindung mit der früher angeführten, 
wo Claudius das Schlüffelamt auf Petri Lebzeiten befchränft, hat 
offenbar den Sinn: der Pabft ift nicht beffer oder mehr als jeder 
andere Biſchof; nur fofern er Heiliger und apoftolifcher lebt als die 
übrigen Kirchenhäupter, verdient er größere Ehre. Claudius berief 
fi, wie man ſieht, vorzugsweiſe auf Die Schriften Augufting, deſſen 
feuriger Anhänger er war. Dungal giebt dem Bifchofe von Turin 
fogar Schuld, ) er habe, mit Ausnahme Auguftins, faft alle andern 
Väter verachtet und insbefondere den heiligen Hieronymus unbarm— 
berzig mißhandelt. Handſchriftlich find mehrere exegetifche Arbeiten 
des Claudius vorhanden, aus welchen man feine eigenthümlichen 
Meinungen genauer fennen lernen Fönnte, aber außer einer Er: 
flärung über den Salaterbrief *) und den Borreden zu zwei andern 
Büchern ?) ift nichts gedrudt. Seine Streitfehriften find, wie früher 
bemerft wurde, bis auf die milgetheilten Bruchſtücke Yängft verloren. 

Der Kampf felbft, den Claudius mit feinen Gegnern zu be— 
ftehen hatte, und der ihn zu fo fühnen Aeußerungen veranlaßte, 
verlief folgendermaßen. Nachdem der neue Biihof von Turin offen 
mit feinen Grundſätzen hervorgetreten war und benfelben gemäß bie 
dortige Kirche von Bildern und Kreuzen gewaltfam gereinigt hatte, 
erließ der Abt Theodemir, welcher allem Anfchein nach dem Kloſter Pfal- 
modie im Sprengel von Nismes vorftand und früher Freund des 
Claudius war, ein Sendfchreiben an denfelben, in welchem er ihn 
wegen mehrerer Irrlehren zur Rede ftellte. ) Claudius empfand 
den Streich hart, weil er von einer unerwarteten Seite fam, denn 
er hatte bisher den Abt unter feine Vertrauten gezählt. Zu feiner 
Bertheidigung verfaßte. er um 825 eine Schußfchrift, von welcher 
jene Brucdhftüde auf uns gefommen find. Nun fchleuderte aber 
Theodemir ein zweites Buch gegen Claudius, das wir gleichfalls nur 
aus den Anführungen des Jonas yon Drleans fennen. Dabei 
blieben jedoch die Gegner des Turiner Bifchofs nicht ftehen. Jonas 
erzählt, Klagen jeyen bei Hofe gegen Claudius eingelaufen, auch 
habe Kaifer Ludwig, nachdem er die Schußfchrift gelefen, diefelbe 





N) Ibid, 204 b, Mitte. — ?) Abgedrudt ibid. 444 flg. — ?) Bei Mabillon 
analecta vetera ©, 90 flg. — *) Den Beweis bei Walch Hiftorie der Keßereien 
XI., 184 fig. — °) Diefes ra a fennen wir blog aug einem der Drug 
Rüde des Claudius. 


Die abendländifche Kirche unter- Ludwig dem Frommen ıc. 739 


mißbilfigt, und Anordnung getroffen, daß fie widerlegt werde. 1) 
Unmöglich kann aber der Zorn des Kaifers ernſtlich gemeint ge: 
wefen feyn. Denn als um jene Zeit eine Berfammlung von Bifchöfen 
Claudius aufforderte, Nede zu ftehen und Rechenſchaſt von feinen 
Irrlehren zu geben, weigerte ſich *) der Borgeladene nicht nur zu 
fommen, fondern er fchalt auch die verfammelten Bäter ind Ange: 
fiht „Efel.“ Hätte der Bifhof von Turin die Gunft des Kaifers 
verloren, fo durfte er eine ſolche Sprache nicht führen oder er wäre 
jedenfalls verloren gewefen. Nun ift aber gewiß, daß er bis an 
fein Ende im ruhigen Befige feines Stuhles blieb. Zum Ueberfluß 
" erfahren wir nocd aus einem Brief ?) des Abts Theodemir, daß 
die angefehenften Metropoliten des fränfifchen Reichs den Anfichten 
des Claudius günftig gewefen feyen. So ftanden die Sachen, ale 
um 828 ein neuer Vorfechter römifcher Nechtglaubigfeit wider den— 
felben auftrat, nemlich der früher erwähnte Lehrer an der Hochfchule 
zu Pavia, Dungal. Seine Schrift, die den Titel führt: „Erwie— 
derung gegen bie verkehrten Sätze des Bifchofs von Turin,“ ift noch 
vorhanden. %) Durd Ausfprüche älterer Väter fucht er darin bie 
Berehrung der Bilder und die übrigen von Claudius befirittenen 
Punkte Inteinifcher Leberlieferung zu vertheidigen, namentlic bringt 
er viele Stellen aus hriftlihen Dichtern bei. Dungal ermahnt ) 
den Kaifer Ludwig dringend, Gewalt gegen den Erzketzer Claudius 
zu brauchen: „Wir beſchwören fußfüllig unfere erhabenen und aller: 
hriftlichften Gebieter, 9%) daß fie, von Eifer Gottes erfüllt, der feuf: 
zenden Diutterficche zu Hülfe fommen und fie nicht länger yon ber 
Schlange zerbeißen laſſen. Gleichwie der glorreiche Kaifer Karolus, 
feligen Gedächtniſſes, als wachfamer Vertheidiger Fatholiihen Glau— 
bens in der Perfon des Felix das Haupt der Viper, welche gegen 
die Einheit der Kirche zifchte, mit dem eifernen Stabe apoftolifcher 
Gewalt zerfchmettert bat, alfo möge auch fein erlauchter Sohn den 
Schwanz deſſelben Ungeheuers — Claudius wird namlich als Erbe 
ber Keßerei des Felix von Urgel hingeftellt, — vollends nieder— 
hlagen.“ Aber Ludwig fand nicht für gut, folchen Nathfchlägen 





!) De eultu imaginum Biblioth. Patr, Max. XIV., 167 a. unten flg. — 
2) Dieß berichtet Dungal ibid. 223 b. unten. — 3) Mitgetheilt von Zaccaria 
bibliotheca Pistoriensis ©. 50, man fehe Wald a. a. D. ©. 155. — *) Ab» 
gedrudt Bibliothec. Patr, Max. XIV,, ©. 199 flg. — ) U. a. O. ©. 199 b. 
Mitte. — 9) Kaifer Ludwig fammt feinem Sohne und Mitregenten Lothar. 
47* 


740 I. Buch. Kapitel 10. 


wüthender Feinde fein Ohr zu leihen, Allmählig verfiummten bie 
Gegner. Jonas von Orleans hatte zwar um 828 eine Widerlegung 
der Lehre des Claudius abzufaffen begonnen, aber er hielt feine 
Schrift bis nah dem Tode des Kaifers zurück. Erft unter Karl 
dem Kahlen nahm er biefelbe wieder vor und veröffentlichte fie. ') 
Als dieß gefhah, war Claudius gleichfalls geftorben. Ueber bie 
Gründe, warum er den Todten befämpfte, Außert ?) fi) Jonas 
felbft jo: „auf den Wunſch des Kaifers Ludwig, daß die Irrlehren 
des Claudius widerlegt werden möchten, begann ich gegenwärtiges 
Werk zu fehreiben, und hatte aud) den größten Theil ausgearbeitet. 
Da ich jedoch erfuhr, Daß Claudius mit Tod abgegangen, ließ id) - 
die Schrift wieber liegen, boffend, der Irrthum werde mit ihm er: 
loſchen ſeyn. Allein nun ift mir fihere Nachricht zugefommen, daß 
die Keberei des Mannes in feinen Schülern wieder auflebt. — 
Darum bielt ich es für meine Pflicht, jene Schrift von Neuem vor— 
zunehmen“ u. f. w. Uebrigens verfährt Jonas im Streite mit Clau— 
dius anders als Theodemir und Dungal, Während der Lestere 
in der Frage wegen Berehrung der Bilder die päbftliche Lehre zur 
Richtſchnur annimmt, verfiht Jonas gegen den Bifchof von Turin 
nicht den römischen Gebrauch, fondern die Grundſätze der fränfifchen 
Kirche. Diefe verwarf befanntlich die Anbetung ber Bilder, bul: 
dete aber biefelben in den Kirchen als Mittel der Belehrung und 
der Andacht. Dagegen hatte, wie wir oben gefagt, Claudius nicht 
blos die Bilder aus den geweibten Stätten entfernt, fondern auch 
in der Hitze des Streits den fränfifhen Mittelweg getadelt. Jonas 
gibt ihm darin vollfommen Recht, daß Niemand außer Gott An: 
betung verdiene. Mit Bitterfeit greift er aber feine Abweichung von 
ben fränfifchen Grundfägen an: „Hätte. Claudius bie Lehre, welche 
Pabft Gregor der Große in feinem Briefe an Serenus yon Maſſilia 
ertheilt, fo wie das Beifpiel befolgt, das Paulus zu Athen gab, fo 
wäre er nie in einen fo ſchweren Irrthum verfallen. — Der Apoftel 
hat, als er nad) Athen fam, die Altäre, die er bafelbft antraf, nicht 
umgeftoßen, fondern die Heiden durch Zureden belehrt. — Weil 
Claudius die brüderlihen Ermahnungen des Abts Theodemir nicht 
ertragen konnte, gerieth er in den heftigften Zorn, und tobte gegen alle 





') Jonae Aurelianensis libri tres de cultu imaginum, abgedruckt ibid. 
167 fig. — 2) Ibid, 167 b. oben, 


Die abendländifche Kirche unter Ludwig dem Frommen ıc. 741 


Berehrer ber Fatholifhen Kirche in Franfreih und 
Teutfhland, die Doc von dem Aberglauben des Bil: 
deranbeteng frei find, indem er fich nicht fcheute, Gallier 
und Teutfche des abfcheulichften Götzendienſts anzuklagen.«“ ) Sm 
den andern Punkten giebt Jonas dem Biſchofe von Turin vollkom— 
men Unrecht. Mit Dungal vertheidigt er die Verehrung der Kreuze 
und Reliquien, die Anrufung der Heiligen, fowie die VBerbienftlich- 
feit der Wallfahrten. Was das Anfehen des Stuhles Petri betrifft, 
fo findet Jonas wenigftens die kecke Sprache verdbammlich, die Clau— 
dius gegen den Pabſt, feinen Borgefesten, geführt habe, 2) 
Jonas befämpft, wie man fieht, den Bischof von Turin nicht darum, 
weil Diefer gewiffe Gebräuche, welche die römische Kirche vertheidigt, 
als Aberglauben amzutaften gewagt hatte, fondern deßhalb, weil 
Claudius in feinem Unternehmen weiter gegangen war, als bie 
fränfifche Ueberlieferung geftattete. Jetzt wird auch Far, warum 
Kaifer Ludwig feine Einwilligung gegeben haben mag, daß Claudius 
zurechtgewiefen werde. Beſtürmt durch die Vorftellungen der Geg— 
ner des Mannes fürchtete er, die römifche Parthei möchte zulegt die 
kühnen Schritte des Claudius fo anfehen, als ob fie vom fränfifchen 
Hofe anbefohlen feyen. Er nahm daher den Schein an, wie wenn er 
das Verfahren des Biſchofs mißbilligte. Dennoch konnte er ihn nicht 
fallen laſſen, weil Claudius wirklich, als er nach Italien abgieng, 
Auftrag erhalten hatte, den Pabft durch Ausrottung der Mißbräuche, 
die in der dortigen Kirche berrfchten, zu demüthigen. Ueberdieß 
waren bald nad dem Ausbruche des Streits zwifchen Claudius und 
Theodemir auf anderer Seite Verwicklungen eingetreten, welche dem 
fränfifchen Herrfcher, auch wenn er gewollt hätte, nicht mehr freie 
Hand ließen, rückwärts zu gehen. 

Kaum hatte Eugenius, von der fränfiichen Parthei erhoben, 
an der Stelle des im Mai 824 verftsrbenen Pafchalis den Stuhl 
Petri beftiegen, als die Byzantiner einen Schritt thaten, welcher 
bewies, wie genau fie die neue Wendung Fannten, welche die An- 
gelegenheiten in Nom genommen. Früher ift berichtet worden, daß 
feit Michaels des Stammlers Thronbefteigung die griechifhen Bilder 
Diener, weil fie beim Kaifer fein Gehör fanden, eine Zufluchtftätte 
in Nom fuchten, und von dort aus das öſtliche Neich für ihre Zwecke 





1) Ibid, 168 b, unten und 169 a, Mitte, — ?) Ibid. 195 b. fig. - 


742 1. Buch. Kapitel 10. 


bearbeiteten. Michael wünfchte um jeden Preis, diefen Umtrieben 
ein Ende zu machen. Aber er Fonnte feine unzufriedene Unter: 
tbanen nur dann gründlich von dem Pabſte trennen, wenn es ihm 
gelang, den Stuhl Petri zu vermögen, daß er dem Bilderdienft 
entfage. Schwer war die Aufgabe, dod nicht unmöglich, weil bie 
fränfifchen Gebieter und Schutzherrn Roms gleichfalls die Anbetung 
der Bilder verwarfen. Um in Nom feinen Zweck zu erreichen, mußte 
baber Michael erft Ludwig den Frommen zu gewinnen trachten. 
Wirklich fertigte er im Sommer 824 eine Geſandtſchaft ab, welche 
erft an den fränfifchen Hof, und dann, wenn dort die Unterhand- 
fung eingeleitet feyn würde, zum Pabfte fih verfügen ) follte. Der 
byzantinifhe Herrſcher gab den Abgeordneten ein Schreiben an Lud- 
wig den Frommen mit, das von uns ſchon mehrfach ‚benügt worden 
ift, und über die ganze Angelegenheit helles Licht verbreitet. „Einige 
unzufriedene Bilderdiener,“ heißt es °) daſelbſt, „find von Conftan- 
tinopel nad) Altrom geflüchtet, und haben dort über ung Lafterungen 
verbreitet. — Um nun die Ehre der chriftlichen Kirche zu befördern, 
haben wir an den Pabſt einen Brief gefchrieben und unfern Ge: 
fandten mitgegeben. — Zugleich aber bitten wir Eure Liebden, An: 
ordnung zu treffen, daß befagte Gefandte mit Chren nah Rom 
gelangen, auch denfelben Hülfe zu leiſten und Befehl zu geben, 
damit wenn folhe Läfterer und falfche Chriften in Nom ſich finden 
follten, bdiejelben fofort aus der Stadt entfernt werden.“ Die 
griechiſchen Bevollmächtigten überbrachten neben andern prächtigen 
Geſchenken auch eine Handfchrift der Werfe des Areopagiten Dio- 
nyfius für den fränfifhen Hof. Ludwig empfieng die Gefandtfchaft 
im Dezember 824 zu Nouen, ?) Da Das, was fie verlangte, näm: 
lich eine Erklärung des Pabſts wider den Bilderdienft, -vollfommen 
mit dem eigenen Bortheile der fränfifchen Kirche übereinftimmte, fo 
fam mit leichter Mühe eine Vereinigung zu Stande. Ludwig der 
Fromme entjendete die Griechen, dem Wunſche Michaels gemäß, 
nad Rom und gab ihnen überdieß zwei fränkifche Abgefandte, den 
Biihof Frefulf von Lifieur und Adegarius bei. %) Sn diefer Ge- 
jellfhaft. gelangten die Byzantiner nah Nom. Ihre Ankunft muß 





') Siehe oben S. 189. — ?) Manſi XIV., 420 unten fig. — 3) Einhardi 
annales ad annum 824 Perz I, 212 unten. — *) Dieß erhellt aus den Aften 
der Parifer Synode vom Jahre 825. Manſi XIV., 422 unten. 


Die abendländifche Kirche unter Ludwig dem Frommen ıc. 743 


für den Pabſt Eugenius ein Donnerftreich gewefen feyn. Da er 
den Stuhl Petri fränfifchem Schuße verbanfte, fonnte er die For- 
derung der Griechen, die durch Ludwig's mächtige Fürfprache unter: 
ftügt war, unmöglich zurüdweifen. Bewilligte er aber, was ihm 
angefonnen wurde, fo verfeindete er fih aufs Heftigfte mit jener 
römifchen Parthei, welche unter feinem Vorgänger Paſchalis Die 
Geſchäfte gelenft hatte und noch immer fehr großen Einfluß befaß. 
Sn der Mitte zwifchen einer Scylfa und Charybdis befand fich, wie 
man fieht, Eugenius. Welchen Weg er zufegt einfchlug, um fich 
aus diefem Irrſal heraus zu winden, darüber giebt folgende Stelle 
der Parifer Aften vom folgenden Jahre erwünfchten Auffchlug : 
„Dieweil vom Pabſte,“ fchreiben ) die zu Paris verfammelten Bäter 
an Ludwig den Frommen, (in der Bilderfache) „Feine Hülfe zu er: 
warten ſteht, fo bat Euch der Herr Eurem Wunfche gemäß ein 
anderes Thor eröffnet, fo fern Euch Eugenius die Erlaub- 
niß ertheilte, durch Eure Leute die wichtige Angelegenheit zu 
entfcheiden, — damit endlich auch der Pabft felbfi, er mag nun 
wollen oder nicht, der Wahrheit Naum gebe.“ Diefe Worte 
find far genug. Gugenius hatte für gut gefunden, fi in. ber 
ganzen Sache leidend zu verhalten, und den Abfchluß einer Leberein- 
funft mit den Griechen den fränfifchen Bischöfen zu überlaffen. Da: 
gegen erbat der Kaifer feiner Seite, damit die Ehre des Pabſts 
gerettet werde, von Diefem die Erlaubniß, eine Berfammlung der 
Biſchöfe feines Reichs halten zu dürfen. 

Dem gemäß traten im November 825 mehrere Kirchenhäupter 
in Paris zuſammen. Ueber ihre Beſchlüſſe erſtatteten ſie ſofort an 
den Kaiſer einen Bericht, 2) welchem wir Folgendes entnehmen: 
„Eurem Befehle gemäß find wir im November zu Paris zufammen- 
gefommen, um die Bilderfache zu unterfuchen. Da wir nöthig er⸗ 
achteten, den Urfprung des Streits Fennen zu lernen, fo haben 
wir ung zuerft das Schreiben des Pahftes Hadrianus an den Kaifer 
Conftantinus und (feine Mutter) Irene vorlefen laſſen. Wir erfahen 
zwar aus demfelben, daß befagter Pabft mit gutem Fuge Diejenigen 
verdammte, welche im öftlichen Reiche die Bilder zu zerfiören und 
abzufchaffen fich erfühnten, dagegen hat Hadrian eine große 
Unvorfidhtigfeit begangen, weiler anordnete, man 





1) Ibid. 423 Mitte. — 9 A. a. O. ©. a2ı fig. 


744 I. Buch. Kapitel 10. 


folfe die Bilder anbeten. — Denn obwohl man Bilder 
in den Kirchen aufridhten darf, fo ift es doch eine 
Sünde, denfelben göttlihe Verehrung zu ermweifen.“ 
Die Bäter von Paris kommen fofort auf die Synode yon Nicäa 
zu fprechen,, welche fie in ftarfen Ausdrüden tadeln. Dann fahren 
fie fort: „Raifer Karl, Euer erlauchter Vater, hat mit Necht die 
Synode von Nicäa in vielen Stüden widerlegt, und bie betreffende 
Schrift durd) Angilbert dem Pabfte zugeſchickt, damit Diefer ver: 
möge feines Anfehens die gerügten Fehler verbeffere. Aber zum 
zweitenmal nahm Hadrian Parthei für Diejenige, welde den 
Aberglauben vertheidigten. — Nachdem wir num bie älteren 
Schriften in Betreff der Bilderfache geprüft, hörten wir die Bot— 
ſchaft an, welche die griechiihen Gefandten im vorigen Jahre über: 
brachten. Darauf berichteten ung Frekulf und fein Gehülfe Adegariug 
mündlih, was fie in Nom verhandelt hatten. Ihre Ausfage über: 
geugte ung, dag in jenen Gegenden (Nom und talien) 
theils aus Unfenntniß, theils aus böfer Gewohnheit 
bie Peſt des Aberglaubens eingeriffen fey — Bon 
dem Pabfte ift daher Feine Hülfe zu erwarten“ u. ſ. w. Nun folgt 
die oben angeführte Stelle. Zugleich fügen fie den Nath bei, man 
möge die Widerlegung der Irrthümer des Bilderdienfts nicht an den 
Pabft, fondern an die Griechen richten, welche ja zu ber vorliegen: 
den Unterfuchung Anlaß gegeben hätten. Dann heißt es weiter: 
„auch haben wir Zeugniffe ) der Schrift und Ausfprüche der 
Väter, fo viel die Kürze der Zeit erlaubte, gefammelt.“ Gemäß 
benfelben erflären fie, gefunden zu haben, daß man Bilder weder 
zerftören und verachten, noch auch göttlich verehren dürfe, wohl 
aber folle man ohne Aberglauben diefelben zum Andenken Derer, 
welche durch fie dargeftellt wiirden, beibehalten. Zum Schluffe be: 
rufen fie fih auf den heil. Pabſt Gregorius, der die wahre Lehre 
von den Bildern deutlich vorgetragen habe. 

Weiter entwarf die Synode im Namen des Kaifers Ludwig 
einen Brief ?) an den Pabft, worin biefer dringend aufgefordert 
wird, gemäß jenen Grundfägen den Streit mit den Byzantinern 
zu beendigen. Da die zu Paris verfammelten Bifchöfe Unterthanen 


— 


) Diefe Zeugniffe find den Akten beigefügt ibid. 421—460. — ?) Ibid, 
461—463. TUE 


— 


Die abendländifche Kirche unter Ludwig dem Frommen ıc. 745 


tes fränfifchen Kaifers waren und in feinem Auftrage handelten, 
fo muß man annehmen, daß fie diefes Schreiben mit Ludwig’s Ein- 
fiimmung aufgefest haben. Die Synode that jedoch noch einen 
andern Schritt: fie erlaubte fih die Formel eines Briefs !) abzu— 
faffen, den der Pabſt an den byzantinifchen Herrſcher Michael Theo: 
philus erlaffen folle. In demfelben wird dem römifchen Oberpriefter 
der Wunfh in Mund gelegt, die bisherigen Streitigfeiten mit den 
Griechen beizulegen. Den Schluß bildet die Berficherung, daß ber 
Clerus, die Großen und die ganze Kirche des fränfifchen Reichs eine 
friedliche Mebereinfunft mit den Griechen wünſchen. Kaum fonnte 
dem Pabfte eine größere Demütbigung widerfahren, die fränfifchen 
Bischöfe treten ungefcheut als Vormünder des Stuhles Petri auf. 
Wie man fih denfen kann, bilfigte der Kaifer die Beſchlüſſe 
ber Pariſer-Verſammlung vollfommen. in fehwieriges Gefchäft 
war es aber, die Zuftimmung des Pabſtes Eugenius zu erringen. 
Ludwig der Fromme beorderte zu diefem Zwecke den Biſchof Jonas 
von Drleans und deffen Metropoliten Jeremias von Sens nad) 
Nom. Sie überbrachten dem Pabſte außer den Aften der Tehten 
Synode ein Schreiben ?) des KRaifers, das jedod von dem zu Paris 
entworfenen verfehieden ift. Der Kaifer bittet darin den Pabft, fich 
mit den beiden Bifchöfen vertraulich zu berathen, zugleich ftellt 
er ihm frei, entweder für ſich Geſandte nach Conftantinopel zu fen: 
ben, oder feine Abgeordnete mit den Faiferlichen abgehen zu laffen. 
Ludwig fuchte, wie man fieht, den römiſchen Oberpriefter durch 
fanfte Worte zu gewinnen. Aus der Dienftvorfchrift, welche er 
jenen Biſchöfen mitgab, und welche gleichfalls vorhanden ift, °) erhellt 
noch deutlicher, daß der fränfifche Hof die Beforgniß hegte, Eugenius 
werde fih nicht fiigen. Jonas und Seremiag werden angewieſen, 
dem Pabft mit größter Geduld und Befcheidenheit Borftellungen 
zu machen, und fih wohl zu hüten, daß Eugenius nicht durch 
Widerſpruch zu eigenfinnigen Befchlüffen verleitet werde. „Sollte eg 
Euch,“ Heißt e8 weiter, „gelingen "die römiſche Halsftarrigfeit alfo 
zu überwinden, daß der Pabſt fih dazu verftinde, Gefandte nad) 
Conftantinopel zu ſchicken, fo befeblen wir Euch, ihn zu befragen, 





') Ibid, 465—466. — 2) Abgedruckt bei Baluzius Capitularia I., 645. — 
3) Ibid. ©. 643 flg. Beide Aktenſtücke auch bei Manfi im Anhange zum fünf 
zehnten Bande ©. 455 unten flg. 


746 | 1. Buch. Kapitel 10. 


ob es ihm genehm fey, wenn unfere Botfchafter zugleich mit den 
feinigen dahin abgiengen“ u. ſ. w. Weiter reichen die auf ung ge- 
fommenen urfundlihen Nachrichten nicht. Keine Duelle meldet, daß 
Eugenius wirflih Abgeordnete ernannt oder abgeſchickt habe; das 
Stillſchweigen der Alten fcheint Das Gegentheil zu bemweifen. Anderer 
Seits ift gewiß, daß im Jahre 827 eine fränfifche Gejandtichaft 
nad Conftantinopel abgieng, und eine Kyzantinifche bei Ludwig ein- 
traf. Der Gefchichtfchreiber, dem wir folgen, ') fügt bei, die eine 
wie die andere fey aufs Befte empfangen worden. Aus biefem 
freundlichen Berfehr der beiden Höfe muß man, glauben wir, ben 
Schluß ziehen, daß die Byzantiner den Zwed, wegen deſſen fie mit 
den Franken unterhandelten, wirklich erreicht haben, mit andern 
Worten, daß der Pabft gezwungen worden ift, feine Verbindung 
mit den griechifchen Bilderdienern aufzugeben. Denn Ludwig ber 
Fromme würde fih in Conftantinopel lächerlich gemacht haben, wenn 
er, ohne erwünfchte Antwort, Gefandte dahin geſchickt hätte. Wirk 
lich Hören auch im öftlihen Neiche Klagen über römische Ränke für 
längere Zeit auf. Ludwig der Fromme. vermochte demnach in ber 
Bilderfache über den Stuhl Petri mehr als fein Vater. Während 
Hadrian I. den Karoliniſchen Büchern Trog bot, mußte fid) Eugenius 
yor dem Willen des fränfifchen Hofe beugen und zugleich eine derbe 
Zurechtweifung der gallifhen Kirchenhäupter hinnehmen. Man fieht 
nun, wie thöricht es gewefen wäre, wenn Ludwig bei ſolchem Stande 
der Dinge den Bifchof Claudius von Turin, der für die fränkiſchen 
Grundfäge focht, den Nänfen feiner Gegner aufopferte; er hätte 
dadurch) die bereits errungenen Vortheile wieder aus der Hand ge- 
geben. Zugleich erhellt jest, warum gerade Jonas von Orleans 
Beruf in fih verfpürte, gegen das Uebermaaß der Bilderfeindichaft 
des Turinerg in die Schranfen zu treten. Da er ed war, ber bie 
figfihe Unterhandlung mit dem Stuhle Petri Ieitete, und da er in 
diefer Eigenschaft ohne Zweifel dem Pabſte die Verſicherung gab, 
die fränfifche Kirche werde nie mehr verlangen, als was zu Wahrung 
ber farolinifhen Grundfäge nöthig jey, mußte er durch die Fühnen 
Schritte des Claudius fich verletzt fühlen. 

Außer dem angeführten Grunde Fonnte Ludwig den Turiner 
Biihof auch darum nicht fallen Iaffen, weil die ausgezeichnetften 





!) Vita Ludovici $, 40 u, Al. Perz II., 631. 


Die abendländifche Kirche unter Ludwig dem Frommen ıc. 7147 


Häupter der fränkifchen Geiftlichfeit über den Bilderbienft ungefähr 
eben fo dachten, wie Claudius. Die Aeußerung in dem Briefe des 
Abts Tpeodemir, ) daß die angefehenften Metropoliten des Reichs 
die Anficht des Turiners theilen, ift buchftäblihe Wahrheit. Bald 
nach der Synode von Paris, und ohne Zweifel durch die dortigen 
Berhandlungen angeregt, veröffentlichte der Erzbiſchof Agobardus 
von Lyon eine merfwürdige Schrift über die Bilder. Ehe wir über 
diefelbe Bericht erftatten, wollen wir die Perfönlichkeit diefes Mannes, 
den wir fchon oft genannt, ins Auge fallen. *) Agobardus wurde 
im Sahre 779, man weiß nicht wo, geboren. Seit dem Anfange 
des neunten Jahrhunderts erfcheint er als Zögling ber von dem 
Erzbifchof Leidrad begründeten Lyoner Schule. Leidrad wandte dem. 
begabten Zünglinge feine volle Gunft zu und arbeitete Darauf bin, ihn 
zu feinem Nachfolger zu machen, ohne Zweifel weil er verhindern 
wollte, dag nad feinem Tode ein Unwürdiger fi des Lyoner Bie- 
thums bemächtige. Schon im Jahre 808 ernannte er ihn zu feinem 
Mitbifchofe oder Gehülfen, und als Leidrad 816 fein Amt nieder 
legte und ſich in die Abtei des heil. Medardus zu Soißons zurüds 
308, wurde Agobard yon Ludwig dem Frommen, auf Leidrad's Ber: 
wenden, mit dem erledigten Stuhl bedacht. Eine Menge Gegner 
Yärmten gegen feine Erhebung, aber mächtige Freunde ſchützten ihn. 
Agobardus fteht feitdbem an der Spise jener höchſt ehrenwerthen, 
aber firengen Parthei des fränfifchen Clerus, welche das Gefe über 
die Erbfolge und die Untheilbarfeit des Reiches durchgefochten, der 
Geiftlichfeit eine unabhängige Stellung gefichert, aber auch zugleich 
die Mitglieder derfelben zu einer unerbittlihen Manngzucht verpflichtet 
bat. Er verdanfte Alles fich ſelbſt. Die Gunft des Himmels hatte 
ihm einen durchdringenden Berftand, und — was in Verbindung mit 
Weisheit das Schönſte — ein hoher Empfindungen fähiges Herz 
verliehen. Im Verkehre mit Großen des Hofs war Agobardug be- 
fangen und furchtfam, was befannilich vielen Gelehrten widerfährt, 
aber diefer ſchüchterne Mann führte in der Stille feines Arbeite- 
zimmers eine fehr fpisige Feder, und auch in sffentlichen Verſamm— 
lungen, wo die Pflicht ihn rief, fprach er kühn feine Meinung aus. 
Lesteres bewieg er 3. B. 822 auf dem Neichstage zu Attigny. Noch 





) Siehe oben ©. 759. — 2) Man fehe die Histoire litteraire de la 
France IV., 567 flg., wo die Beweife angegeben find. 


748 IM. Buch. Kapitel 10. 


immer waren troß wiederholter Verordnungen der Kaiſer viele Kir⸗ 
hengüter in den Händen von Laien. Agobard trug zu Attigny auf 
Wiederherftellung des Geraubten an, und da ihn nachher Diejenigen, 
welche durch feine Klage bedroht wurden, befchuldigten, daß er Un— 
frieden zwifchen Kirche und Staat erregen wolle, veröffentlichte er 
eine Schugfchrift, ) in welcher er aus biblifchen Stellen, nament- 
lich der Bücher des alten Bundes, aber auch aus Coneilienfchlüffen 
beweist, daß der Beſitz der Kirche jeder Zeit für unverleglih, und 
Eingriffe in denfelben für ein fluchwürdiges Verbrechen gegolten 
haben. Nebenbei tadelt er in bitteren Ausdrüden den Mißbrauch, 
welchen gewiffe Elerifer und Aebte mit den Kirchengütern treiben. Seine 
‚Meinung ift, daß was ber Kirche vergabt worden, dem Clerus 
gehöre, aber yon ihm zum Wohle des Ganzen verwendet werben 
müffe. Obgleich der Name Agobard in den noch vorhandenen Aften 
des Parifer Concils nicht genannt wird, glaubt man doch, daß er 
dort zugegen war und eine wichtige Nolle fpielte. ) Bald darauf 
verfaßte er die oben erwähnte Abhandlung yon den Bildern. 3) Im 
Eingange wird aus vielen Stellen der Werfe Auguftins und anderer 
Bäter dargethan, daß das erfte der zehen Gebote alle Bilder ber 
Gottheit wie der Menfchen zu verehren unterfage. „Nur Gott allein 
darf man anbeten und feinen Mittler, als Jeſum Chriftum, fuchen. 
Unerlaubt ift eg, irgend welchem Gefchöpfe, felbft den Engeln, Opfer 
barzubringen. Wenn auch in der Schrift manchmal die Engel oder 
die Menfchen Götter genannt werden, fo berechtigt dieß zu Feiner 
firchlichen Verehrung, und obgleich wir Yefen, daß der Herr den 
Altvätern fichtbarlich erfchienen ift, fo war doch die Geftalt, welche 
die Patriarchen fhauten, nicht Er ſelbſt. In das eigene Innere foll 
der, Glaubige fi zurücziehen, die Befchäftigung mit äußerlichen 
Dingen, felbft wenn fie gut find, ift dem Schwunge der Andacht 
hinderlich. Menfchen, welche Bilder, die von ihren Händen gemacht 
find, Heilig nennen, begehen dadurch zugleich einen Greuel und einen 
Unfinn: einen Greuel, weil fie menfchlihen Werfen die Verehrung 
erweifen, bie nur Gott gebührt; einen Unfinn, weil fie Teblofem 
Zeuge himmlische Kräfte beifegen. feicherweife ift die Ehre, die 





!) De dispensatione ecclesiasticarum rerum liber, bei Gallandius XIII., 
©. 168—476. — 2) Histoire litteraire de la France IV., 59% unten. — 3) De 
imaginibus liber, bei Gallandius a. a. DO, 457—68. 


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Die abendländifche Kirche unter Ludwig dem Frommen ic. 749 


man Kirchen zollt, in denen Heilige begraben Liegen, tabelhaft. 
Auf ſolchen Dienft beziehen ſich die Worte Chrifti (Matth. XXI, 29.): 
Wehe euch Schriftgelehrten und Bharifäern, ihr Heud: 
ler, bie Ihr der Propheten Gräber bauet und die Denk— 
mäler der Geredten fhmüdet. Aug dem Schreiben der Ge: 
meinde zu Smyrna über den Tod des Polyfarpus erfehen wir, daß 
man in den erften Zeiten der Kirche die Märtyrer blos duch Nach: 
ahmung ihres Beiſpiels und die Feier ihres Andenfeng ehrte. Sollte 
Jemand fagen, er verehre die Bilder nicht deßhalb, weil er etwas 
Göttlihes in ihnen finde, fondern nur denjenigen Perſonen zu Liebe, 
die fie ung sorftellen, fo antworten wir: wenn das Bild nicht Gott 
ift, fo darf eg noch viel weniger wegen ber Heiligen verehrt wer- 
ben, denn diefe find weit entfernt, foldhe Ehren für fich zu fordern. — 
Mer, nachdem er vom Heidenthbum in die Kirche übergetreten, Bil 
der anbetet, bat nicht die falfchen Götter verlaffen, fondern blos 
feine früheren Gögen mit neuen vertaufcht. — Wahr ift es zwar, 
dag Kaifer Conftantin der Große die Bilder Petri und Pauli ans 
betete, als fie ihm im Zraume gezeigt wurden, allein er that bieß, 
ehe er getauft war, und aus alter heidniiher Angewöhnung. Die 
heilige Schrift rechnet e8 dem Könige Ezechias zum Lobe, daß er 
bie eherne Schlange, die doch auf Gottes Befehl gemacht worden 
war, deßhalb zerftörte, weil das irrende Volk fie ald ein Götterbild 
zu verehren begann. Um fo mehr ift es unfere Prlicht, die Bilder 
ber Heiligen abzuthun und in Staub zu zermalmen, da der Herr 
nie ihre Errichtung angeordnet hat. Wäre es erlaubt, Menfchen 
anzubeten, jo müßte unfere Verehrung viel eher Lebendigen als 
Todten oder Gemalten geweiht ſeyn; denn ber Lebendige hat eine 
Aehnlichfeit mit Gott, während jene Bilder dem unvernünftigen Vieh 
gleichen oder befjer Ieblofe Steine oder Hölzer ohne Verſtand und Em: 
pfindung find. Aber dem Allmächtigen allein gebührt unfere Verehrung, 
Ihm follen wir durch das Geheimniß des Leibs und Bluts, vder 
durch das Dpfer eines zerfnirfchten Herzens nahen. Den Engeln 
und heiligen Menfchen find wir Liebe, aber feinen Dienft ſchuldig. — 
Unter dem Borwande, bie Heiligen zu chren, hat der Teufel den 
Götzencult wieder eingeführt. Die alten Chriften hatten zwar Bil: 
ber, aber blos zur Erinnerung. Jet aber ift der Irrthum fo allge: 
mein geworden, daß die Keßerei jener Anthropomorpphiten wieder 
auflebt. Woher anders fommt dieß, als weil der Glaube aus den 


750 m. Buch. Kapitel 10. 


Herzen verſchwand. Darum fegen wir al? unfer Vertrauen auf 
fihtbare Dinge. So wenig ein verftindiger Menfd von gemalten 
Soldaten oder Bauern, Schnittern oder Weinlefern und Fifchern 
Berftärfung des Kriegsheeres oder Hülfe bei der Feldarbeit, noch 
Weizen, Moft oder Fifche erwartet, eben fo wenig dürfen wir Ge- 
mälde von geflügelten Engeln, Ichrenden Apofteln, gemarterten Hei- 
ligen um Beiftand anrufen, denn folde Bilder fönnen ung weder 
Gutes noch Böſes erweiſen. Deßwegen haben auch Yängft recht: 
glaubige Väter (auf der Synode zu Jlliberis) verordnet, daß fein 
Bild in den Kirchen zu dulden fey“ u. f. w. Der Erzbifchof von 
Lyon ſpricht, wie man fieht, ebenfo entfchieden gegen den Bilder: 
Dienft, wie Claudius yon Turin, er braucht fogar diefelben Gründe, 
und manchmal auch faft diefelden Worte, wie Diefer. Gleichwohl 
hat es Niemand gewagt, gegen Agobardus zu fehreiben. Denn 
feine Meinung war die allgemeine der geachtetftien Mitglieder des 
fränfifchen Clerus. Das ganze neunte Jahrhundert hindurch erhielt 
fih in der gallifhen Kirche die Abneigung gegen die Bilder, Die 
Zeitbücher von Rheims berichten ') zum Jahre 872: „Auf der foge: 
nannten achten ökumeniſchen Synode zu Conftantinopel haben bie 
(griehifchen) Bifhöfe über Anbetung der Bilder dem Pabfte zu 
Gefallen anders als die älteren rechtglaubigen Lehrer, ja auch wider 
die Kirchengefege und gegen ihre eigenen früheren Concile entfchie- 
den.“ Und um 880 ſchreibt ?) der Bibliothefar Anaftaftus an Pabft 
Sohann VII: „Die Lehre, dag den Bildern Verehrung gebühre, 
ift von allen Chriften angenommen, mit Ausnahme gemiffer 
Gallier, welde den Nußen der Bilder noch nicht ein: 
fehen. Sie fagen nemlid, daß Werfe von Menfchenhand Feine 
Berehrung verdienen.“ Erft im zehnten Jahrhundert wurden die 
Franfen von dem Strome Tatinifcher Gewohnheit fortgeriffen. Biel 
Yeicht wäre dieß auch jett noch nicht fo allgemein gefchehen, wenn 
män zu Ludwig's Zeiten, dem von Claudius gegebenen Beifpiel fol- 
gend, die Bilder aus den Kirchen entfernt hätte. Die Bermuthung °) 
ift nicht unwahrſcheinlich, daß unter den für Wiederherftellung alter 
Kirchenreinheit eifernden Partheien, die feit dem zwölften Jahr: 
hundert in den Alpen auftreten, fich Weberlieferungen von dem 


—. BEER 





-..1) Perz],, 494. — ?) Bei Manſi XII, 983 gegen unten, — 9 Man febe 
Walch Hiftorie der Keßereien XI, 141 flg. 


Die abendländifche Kirche unter Ludwig dem Frommen ꝛc. 751 


proteftantifhen Grundfägen des Biſchofs Claudius erhalten 
haben. 

Nicht blos in der Bilderfache befämpfte Agobard den Aber: 
glauben. Längft war in den germanifchen Staaten die Sitte auf- 
gefommen, die Gerechtigkeit einer Sache vor Gericht durch Zwei: 
kämpfe zu bemweifen, die als Gottesurtheil galten. Der burgundifche 
König Gundobald hatte im fechsten Jahrhundert diefen Gebrauch 
zum Gefeß erhoben, indem er verordnete: ) wenn in einem ge= 
richtlihen Streit die Gegenyparthei, ftatt den zugefchobenen Eid zu 
fhwören, ſich auf Entfcheidung durch einen Zweifampf berufe, fo 
dürfe ihr derfelbe nicht verweigert werden. Lyon war befanntlich 
die Hauptftadt des ehemaligen burgundifchen Reichs geweſen, daher 
mag es fommen, daß in dortiger Gegend gerichtliche Zweifämpfe 
noch häufiger vorfamen als ſonſt. In zwei Schriften griff Age: 
bard diefen Mißbrauch an. In der erften ?) fordert er den Kaifer 
auf, das Geſetz Gundobald’s abzufchaffen. „Chriftus,“ fagt er, „wollte 
alle Menfchen durch feine Religion vereinigen. Einer fo heilfamen 
Abſicht tritt jedoch, die Verfchiedenheit der Gefetse hemmend entgegen, 
indem fie felbft Chriſten von einander trennt. Beſonders ſchädlich 
ift die Verordnung des arianifchen Fürften Gundobald, denn die— 
felbe verleitet Biele zum Meineide, und nöthigt nicht felten Alte und 
Schwache zum Zweifampfe, mithin zum Mord. Sie wibderftreitet 
dem chriftlihen Gebote der Liebe und Duldung zugefügten Unrechts. 
Auch ift fie zwecklos und unvernünftig. Die Erfahrung belehrt ung, 
dag Gottes Urtheil über Schuldige und Unfchuldige in diefer Welt 
felten offenbar wird, denn find nicht unzählige Chriften und heilige 
Märtyrer den Berfolgungen der Heiden erlegen, ward nicht bie 
Stadt Gottes, Jerufalem, von den Saracenen eingenommen? Es 
giebt Fein fichereres Mittel, in gerichtlichen Streitigfeiten eine gerechte 
Entfheidung zu fällen, als genaue und gewiffenhafte Unterfuchung.“ 
In der zweiten Schrift ?) fucht Agobard aus einer Neihe biblifcher 
Stellen ten Beweis zu führen, daß die fogenannten Gottesurtheile 
mit Unrecht ihren Namen führen, weil fie nicht von Gott eingefekt 
find, noch dem Gebote der Liebe entfprechen: „Gottes Gerichte find 





N) Canciani leges barbarorum IV., 25. 26. Lex Burgundionum, titul, 45, 
— ?) Liber adversus legem Gundobaldi, bei ze a. a. O. ©. 129. 
3) Liber de divinis sententiis digestüs, ibid. ©. 476 flg. 


152 — AlIl. Bud. Kapitel 40. 


unerforfchlih, und es ift daher Anmaßung, fie durch folche kecke 
Mittel hervorrufen zu wollen. Wenn letztere wirffam wären, hätte der 
Allmächtige ung umfonft Weisheit verliehen und Richter auf Erden 
eingeſetzt“ Noch fühner griff Agobardus yon einer andern Seite her 
den Wahn feiner Zeitgenoffen an. „Haft alle Menfhen von jedem 
Stande,“ fagt er in einer andern Schrift, ') „glauben in unfern 
Gegenden, daß Hagel und Donnerwetter von gewiffen Zauberern 
willfürlih hervorgebracht werden können. Ja Biele find fo unfinnig, 
fi einzubilden, daß es ein Land, Magonia genannt, gebe, aus 
welchem durch die Wolfen Schiffe kämen, deren Mannfchaft die gute 
Aerndte den Wettermachern abfaufe und dagegen Hagelfchlag zurück— 
laſſe. Einmal habe das Bolf drei Männer und eine Frau, die 
angeblih aus folhen Luftſchiffen herabgefallen, zu Tode jchlagen 
wollen, und mit Mühe ſey das Blendwerf entdeckt worden.“ Der 
Erzbifchof zeigt nun, daß die Anhänger diefes Aberglaubeng doppelt 
fündigen, indem fie menſchlicher Macht beilegen, was nur Gott ver: 
mag, und, dem Herrn abſprechen, was tod nur Er wirft. Zum 
Deweife ftellt er viele Bibelftellen zufammen, in welchen Hagel, 
Gewitter und andere Erfcheinungen am Himmel dem Allmächtigen 
zugefchrieben werden, auch läugnet er, daß der Teufel, ohne Gottes 
Zulafung, folhe Veränderungen hervorbringen könne. Der Erz 
bifhof von Lyon griff den Bolfswahn auch dann an, wenn berfelbe 
dem Clerus goldene Früchte trug. Im Sprengel von Narbonne 
war eine Seuche mit Brandmalen ausgebrohen, welche der große 
Haufe als eine Wirfung böſer Geifter betrachtete. Die Befallenen 
ſuchten Hülfe in einer Kirche des heiligen Firminus und opferten 
dem Märtyrer reihe Gefchenfe an Gold, Silber und Vieh. Als 
Agobardus bievon Runde erhielt, erließ er an den Bifchof von Nar: 
bonne, Bartholomäus, ein Schreiben, ?) in welchem er diefe Frei: 
gebigfeit mißbilligt. Jene Gefchenfe, meint er, würden beſſer auf 
Arme und Kranke verwendet, und Gott, nicht der Zeufel, jey eg, 
der folhe Züchtigungen verhänge, obgleih der Allmächtige zuweilen 
dem böfen Geifte um höherer Zwecke willen geſtatte, die Menſchen 
zu ängſtigen. 





1) Liber contra insulsam vulgi opinionem de grandine et tonitruis; 
ibid. ©. 458 flg. — ?) Epistola ad Bartholomaeum episcop. Narbonnensem 
de quorundam illusione signorum; ibid. ©, 451 flg. 


Die abendländifche Kirche unter Ludwig dem Frommen ıc. 753 


Im Kampfe gegen den Bilderdienft hatte Agobard die Häupter 
des fränfifchen Clerus zu Genoffen, aber man findet nicht, Daß 
Andere, fo wie er, religiöfe Vorurtheile des Volks angegriffen hätten. 
Hier ftand er allein. Nun ift Far, daß nicht wenig Entfchloffenheit 
und Pflichtgefüpl dazu gehörte, um fo aufzutreten. Damals wie 
jest galt in den Augen der Mächtigen Unterftügung folder Mei: 
nungen, welche geeignet find, den großen Haufen durch Furt vor 
übernatürlihen Kräften zu fohreden und im Zaume zu halten, vorz 
zugsweife für Religion, und Männer, welche es wagten, bie Menge 
aufzuklären und vor Aberglauben zu bewahren, waren von jeher 
ſchweren VBerdächtigungen als Berräther am Intereſſe des Clerug 
audgefest. Je höher ein Geiftlicher fleht, defto mehr lauft er Ge- 
fahr, wenn er die ſcharf gezogene Linie herfömmlichen Glaubens 
oder Aberglaubeng durhbridt. Der Muth des Erzbifchofs von 
Lyon verdient daher noch mehr Bewunderung, als fein freier Blick, 
den er ficherlich mit Andern getheilt hat. 

As Anführer jener fireng hierarchiſchen Parthei forderte Ago- 
bardus für die Geifilichfeit den erften Rang im Staate, aber er 
verpflichtete zugleich ihre Mitglieder zu einem tadellofen Wandel und 
beftrafte die Unmwürdigen mit rüdjichtslofem Eifer. Auch befämpfte 
er alle Beftrebungen, welche darauf ausgiengen, den Clerus ſittlich 
oder politiich zu erniedrigen. Am wichtigften ijt in diefer Beziehung 
fein Bud) !) von den Rechten des Prieſterthums, das an den Erz: 
bifchof Bernhard von Vienne, feinen Verbündeten, gerichtet ift. Es 
beginnt mit dem Beweife, daß und warum das Volk dem Glerus, 
beffen Einfegung er auf die erften Söhne Adams, Kain und Abel, 
zurüdführt, Gehorfam fehuldig fey. Die Achtung, weldye dem Stande 
gebühre, könne durch fchlimme Eigenschaften einzelner Priefter nicht 
verringert werden, denn die Wirfung der Saframente hänge feines: 
wegs von dem Charakter des Llerifers ab, der fie verwalte. Ago- 
bard geht fofort auf Mißbräuche über, welche durch die Schuld 
mächtiger Luien das Anfehen der Geiftlichfeit beeinträchtigen. „Heut 
zu Tage,“ fügt ?) er, „it es fo weit gefommen, daß es kaum 
einen ehrfüchtigen oder ämtergierigen Laien gibt, der fich nicht feinen 
eigenen Hauspriefter hält, und zwar nicht, um ihm zu gehorchen, 





!) De privilegio et jure sacerdotii liber, ibid. ©. 455 flg. — ?) Ibid. 
435 b. unten flg. 
Efrörer, Kircheng. III. 48 


754 aa - IE Buch. Kapitel 10. 


fondern um ihn zu den niedrigften Dienften zu verwenden. Haug: 
Caplane der Adeligen müffen bei Tiſche aufwarten, Wein mifchen, 
Hunde führen, die Zelter, auf welchen die Frau des Gutsheren 
fist,, Ienfen, bei der Landwirthſchaft helfen. Und weil fein Cleriker 
son einigem Ehrgefühl einen Dienjt der Art annimmt, fo wählen 
jene Laien den nächften beften aus, ohne fih darum zu befümmern, 
ob derfelbe unmwiffend oder mit Verbrechen befudelt if. Wenn fie 
nur einen eigenen Hauspriefter haben, der ihnen die Meſſe liest 
und fie von der Laft, den öffentlichen Gottesdienft befuchen zu müffen, 
befreit, find fie zufrieden. Wie wenig fie denfelben achten, erhellt 
aus ihren Neden. Dft fommen ſolche Gutsheren zu dem Biſchofe 
gelaufen und fprechen: ich habe da ein Pfäfflein (unum clerieionem), 
den ich mir von meinen Leibeigenen und Dienftleuten zog, oder den 
mir ein Anderer gefchenft hat; Seid fo gut und weiht ihn mir zum 
Pfarrer. Und wenn dieß gejchehen ift, glauben fie gar feine Priefter 
höherer Weihe mehr nöthig zu haben, und befuchen die öffentlichen 
Gottesdienfte nicht mehr“ u. ſ. w. Die Abficht des Berfaffers ift 
far. Der Clerus foll Bormünder des Volks feyn, aber Agobard 
verlangt zugleich, daß die Geiftlichfeit die hohe Stellung, die er für 
fie in Anſpruch nimmt, durch Wohlthaten verdiene, Darum wider: 
fest er fi) jedem Verſuche, die Menge zu bedrüden, oder fie durch 
- Aberglauben zu erniedrigen. Er will bie öffentliche Meinung für 
den Clerus gewinnen. 

Sm Sprengel son Lyon Tebten fehr viele Juden. Man be: 
greift, daß ein Mann von den firengen Grundfägen Agobards 
Widerwillen gegen diefes Läftigfte aller Völker empfinden mußte. 
Agobard hatte noch befondere Gründe zur Unzufriedenheit mit ihnen, 
Die Juden Lyon's duldeten nicht, daß ihre Sklaven getauft werden 
durften, fie trieben überdieß Handel mit weißem Menſchenfleiſch, d. h. 
fie verfauften chriſtliche Sklaven an die fpanifchen Saracenen. Der 
Erzbifchof zog fie daher zur Strafe, und unterfagte folden Unfug. 
Nun wandten fih aber die Juden an den Hof, und ihr Einfluß 
war dafelbft fo groß, Daß fie Recht behielten. Agobard ließ fi) 
jedoch durch die Faiferlichen Befehle nicht einfhüchtern, er verfaßte 
826 eine Reihe Schriften gegen die Juden. Die erfte ift an den 
Kaifer Ludwig gerichtet, und hat die Auffehrift,") Klage wider ben 


— — — 


1) Liber de insolentia Judaeorum ibid. ©, 417 flg. 


Die abendländifche Kirche unter Ludwig dem Frommen ꝛc. 755 


Uebermuth der Juden. „Beamte mit Faiferfichen Befehlen,“ fchreibt 
er, „feyen vom Hofe nad Lyon gefommen, ein Gegenftand bes 
Jubels für die Juden, des Schredens für die Chriften. Unmöglich 
fünne er glauben, daß Solches mit Vorwiſſen des Kaifers ges 
fchehen fey. Schon wagen die Juden uns Gefege vorzufchreiben, 
und Chriftum ungefcheut zu läftern. Und warum erdulden wir 
diefe Behandlung? aus feinem andern Grunde, als weil wir ben 
Mitgliedern unferer Gemeinde verboten, den Juden chriftliche Leib- 
eigene zu verfaufen, weil wir Diefen feldft den Handel mit chrift: 
lichen Sklaven nah Spanien unterfagten, weil wir nicht dulden, 
daß die Juden ihre hriftlihe Sklaven am Sabbate zu feiern, am 
Sonntage zu arbeiten, und während ber Faften Fleiſch zu effen zwingen, 
noch daß Chriften von den Juden Fleiſch, das Diefe für unrein 
halten und fpöttifch chriftliches Vieh nennen, Faufen dürfen, Die 
Juden prahlen mit der Gnade des Kaifers, mit ihrem Einfluß bei 
ben angefehenften Beamten des Reichs, mit ihrem freien Zutritt 
bei Hofe, fie weifen Kleider vor, die ihre Weiber von Hofleuten 
zum Gefchenfe befommen. Erlaubniß ift ihnen ertheilt worden, 
neue Synagogen zu bauen, ja bie Faiferlihen Beamten haben fogar 
den Juden zu Gefallen Jahrmärkte vom Sabbat auf andere Tage 
verlegt.“ Am Schluße führt Agobard das DBeifpiel eines Mannes 
an, der von den Juden in feiner Jugend geftohlen und nad 
Spanien verfauft worden, aber fpäter aus der Sklaverei entflohen 
war. In einer dem Briefe beigefügten Abhandlung Y fucht Ago— 
bard die Abfcheulichfeit der Juden und ihrer Religion zu beweifen. 
Er führt zu diefem Zwede eine Menge talmudifher Meinungen an, 
wie man fie in Eifenmenger’s befanntem Werke findet. „Sie 
lehren“, fagt er, „daß Gott, gleich ung, körperliche Gliedmaßen habe, 
dag Er in einem großen Pallafte wohne, und auf einem Throne 
fige, der von vier Thieren getragen werde, daß Er viel Lieber: 
flüffiges denfe, woraus denn, weil es nicht zur Wirkfamfeit Fomme, 
Dämonen entftünden. Sie behaupten weiter, daß die Buchftaben 
ihres Alphabeths ewig, und daß die Geſetzgebung Mofis lange vor 
der Schöpfung gefchrieben fey, daß es mehrere Himmel, Erden und 
Höllen gebe. In einer der oberen Welten, Racha oder Firmament 
genannt, befanden fi die Mühlen, in welden das Manna zur 
Speife für Die Engel gemahlen werde. Auch beſitze Gott fieben 

) De judaicis superstitionibus liber; ibid. ©. 419 flg. * bidi 

48 * 





756 II. Bud. Kapitel 10. 


Trompeten, deren eine taufend Ellen lang fey. Gegen Chriſtus 
ftoßen fie die gräulichften Läfterungen aus. Sie fagen, Jeſus fey 
ein junger angefehener Jude geweſen, der mit der Zeit eine Schule 
gründete, und unter feinen Schülern einen Menfchen hatte, welchen 
er, wegen feines harten Kopfes, Petrus oder Kephas nannte. Ob 
vieler Fälſchungen angeflagt, fey er endlich auf Befehl des Tiberius 
ind Gefängnig geworfen, und als Zauberer gehenft worden, haupt: 
ſächlich weil er feiner Tochter verfprach, fie werde ohne Zuthun 
eines Mannes einen Sohn gebären, worauf diefe einen Stein: 
Humpen zur Welt gebracht habe. Nach der Hinrichtung Jeſu fey 
feine Teiche bei einer Wafferleitung begraben, aber des Nachts durch 
einen Plasregen fortgefhwemmt worden. in Jahr Yang habe 
man fie auf Befehl des Pilatus vergeblih gefucht, aus Zorn dar— 
über gebot dann der Statthalter den Juden, den Auferftandenen 
anzubeten.“ Agobard beweist zulegt aus Stellen der Schrift, daß 
alle Juden unter dem göttlichen Fluche liegen. Der Exzbifchof be: 
gab fich feibft an den Hof, um vom Kaifer ein Geſetz des Inhalts 
auszuwirken, daß binfort Fein Jude mehr die Taufe feiner heidni- 
ſchen Sflaven verhindern dürfe. Aber Ludwig hörte ihn nicht an, 
fondern ertheilte ihm Befehl, in feinen Sprengel zurüdzufehren. 
Nun fchrieb Agobard an die angefehenften Näthe des Kaifers, Ada: 
lard, Abt von Corbie, deffen Bruder Wala und an Elifafhar einen 
Brief, ) in weldem er fie befhwor, ihren Einfluß für die gute 
Sade aufzumwenden. „Die beidnifhen Sklaven der Juden“ fagt er, 
„lernen unfere Sprache, fie werden mit unferer Religion befannt, 
und verlangen am Ende die Taufe. Dürfen wir ihnen biejelbe ab- 
Schlagen? Ich glaube, der Himmel hat an einen folhen Sklaven 
größeres Necht, als Der, welcher ihn erfiand, und nur Gott allein 
it der Leibeigene für feine Religion verantwortlid. Alle Lehrer 
ber Kirche von den Apofteln an haben nicht erft die Erlaubniß ber 
Herren abgewartet, um Sflaven zu taufen, nur geboten fie, daß 
Lestere nad) der Taufe in ihrem Stande verharren mußten, wenn 
es fi) nicht anders machen ließ. Wir find bereit“, führt Agobard 
fort, „für die Sklaven der Juden, fobald fie getauft find, den Preis 
zu bezahlen, aber auch fo wollen die Juden, im Vertrauen auf den 
Schuß der Beamten des Kaifers, ihre Leibeigene nicht heraus: 


!) Consultatio ad proceres palatii de baptismo mancipiorum judaicorum; 
ibid. ©, 427. 





Die abendlänpifche Kirche unter Ludwig dem Frommen ꝛc. 757 


geben.“ Gleichwohl drang Agobardus nicht dur, wie man aus 
einem zweiten Schreiben ') an ben Erzfapellan Hilduin und den 
Abt Wala erficht. Bitter klagt er hier darüber, daß ein Befehl 
vom Kaifer ausgegangen ſey, Fraft beffen hinfort Fein Sflave eines 
Juden wider den Willen feines Herren getauft werben dürfe. Kaum 
fey es ihm möglich zu glauben, daß ein frommer Herrſcher, wie 
Ludwig, eine ſolche Verordnung, welde allen Borfchriften des 
Evangeliums Hohn fpreche, erlafien habe. Adalard, Wala, Elifa- 
ſchar und Hilduin waren fonft mit Agobard und feiner Parthei 
enge verbunden. Da fie dennod nichts ausrichteten, muß man an: 
nehmen, daß fie zur Zeit, als Ießterer Befehl ergieng, bereits am 
Hofe wanften. Indeſſen verlor auch jest der kühne Erzbiihof von 
Lyon den Muth nicht, Wider den Willen des Kaifers be- 
ſchloß er die Geſetze der Kirche aufrecht zu erhalten. Wir haben 
einen Brief, ?) den Agobard, wie es fcheint nach den bisher er- 
zählten Begebenheiten, an den Biſchof von Narbonne Nebridius 
fehrieb. Er fegt darin auseinander, wie feelengefährlih der tägliche 
Berfehr mit dem verruchten Judenvolfe für die Chriften fey, be— 
richtet dann, wie er denfelben verboten habe, aber von dem Faifer- 
lichen Beamten Everard, dem Borgefegten ber Juden, auf alle 
Weife feine Abfichten durchkreuzt fehe, und beſchwört zulest den 
Bifhof, mit ihm die Geſetze der Kirche ſtandhaft zu vertheidigen. 
Die Schritte, welche Agobard in der Judenſache that, find für die 
damalige Zeitgefchichte wichtig. Man erfieht daraus, daß die Be: 
fehnittenen durch ihre Geld» und Wuchergefchäfte am Hofe Lubd- 
wig’s einen Einfluß errungen hatten, der nicht viel geringer war, 
als die Gewalt, welche fie in unfern Tagen denfelden Mitteln ver: 
danfen. Ungeſcheut verhöhnten fie den chriftlichen Glauben, boten 
ben Gefegen Trog, und machten fogar unter der chriftlichen Geift- 
lichfeit Profelyten. Im Jahre 839 gieng der Diafon Bodo, 
ein geborner Alamanne, durch Habfucht verführt, zum Judenthum 
über, ließ fich befchneiden, und nahm den Namen Eleazar an. 3) 
Doch erklärt die Macht jüdischen Geldes und die Verdorbenheit der 
Hofbeamten nicht Allee. Daß der Erzbifhof von Lyon eine 





') Epistola ad proceres palatii contra praeceptum impium de baptismo 
judaicorum maneipiorum; ibid. ©, 449 unten flg. — 2) Epistola exhortatoria 
ad Nebridium ete, ibid. S. 428, — 5) Prudentii trecensis annales ad 
annum 833, Perz I., 433. 


758 II. Buch. Kapitel 10. 


gerechte Forderung nicht durchſetzen Fonnte, hat einen tieferen 
Grund Schon war damals die Partheiung ausgebrochen, welche 
die Verbündeten Agobard’s, Elifafhar, Hilduin, Wala feittem vom 
Hofe vertrieb, und die Zertrümmerung des Reichs berbeiführte. Mit 
den andern Bertheidigern des Erbfolgegefetes vom Jahr 817 hatte 
auch Agobard die Gunft des Kaifers verloren, darum mußte er 
den Hofiuden weichen. 

Daffelbe feindfelige Verhältniß offenbart ſich auch in einer 
andern Streitigfeit, welche Agobard gegen einen Diafon der Kirdye 
von Mes zu beftehen hatte. Der Gottesdienft war in den Testen 
Zeiten immer prächtiger geworden. Befonders wurde viel für den 
Gefang gethan. Durch einfchmeichelnde Kirchenlieder und gefällige 
Melodien fuchte man das Volk anzuloden. Getreu feinem Grund: 
fase, auf biblifhem Boden feſt zu ftehen, eiferte Agobard gegen 
ſolche Neigmittel einer finnlihen Andacht. Nur biblifche Texte lieg 
er in den Kirchen feines Sprengeld fingen, die Melodien mußten 
alt und ernft feyn. „Nicht nach den Einfällen des nächſten beften 
Dichterlings, fondern mit den Worten der Schrift, die der heilige 
Geift eingegeben, foll der Allmächtige gepriefen werden,“ fagt er !) 
in einer der GStreitfchriften, von denen gleih die Rede feyn 
wird, Namentlich duldete er nicht, daß die jüngern Geiftlihen ihre 
beften Kräfte für Erlernung des Gefangs verfchwenden. Denn der 
Clerus follte, wie wir wiffen, nach feiner Anficht, durch Gelehrfam: 
feit und reinen Wandel ehrwürdig feyn, über das Teiblihe und 
geiftliche Wohl der Gemeinde wachen, überall gemeinnüsgig vor ben 
Riß ſtehen; jene Künfte dagegen betrachtete er als untergeord- 
nete Anhängfel des geiftlihen Berufs. „Die alten und ächten Bor: 
fchriften der Väter,“ heißt es in derfelben Schrift, „müſſen mit allem 
Feige eingehalten werden. Denn nur baturd) ift es möglich, die 
Keinheit des Glaubens und die Zucht der Kirche zu wahren, fowie 
zwei gleich großen Uebeln vorzubeugen: wir meinen nämlich dem 
Hochmuthe nichtewürdiger Menfchen, welche nicht nur eitle und über: 
flüffige, fondern auch weltliche oder geradezu ketzeriſche Lieder in 
den Gottesdienft einführen, und anderer Seits dem Mißbrauche, 
daß die jungen Cleriker fi) blos mit Singen befchäftigen. Treiben 
doch die meiften Geifilihen von Jugend an bis ins graue Oreifen- 





!) De correctione antiphonarii cap. 2., a. a. O., ©. 502 a unten. 


Die abendländifche Kirche unter Ludwig dem Frommen ꝛc. 759 


alter nichts als Gefang, fo daß ihnen feine Zeit übrig bleibt, geift 
Yihen Studien und dem Lefen der Schrift vobzuliegen. Daher 
fommt es denn, dag man fo viele Priefter fieht, welche Alles gethan 
zu haben glauben, wenn fie fingen können," und auf ihre Kehle 
lächerlich ftolz find.“ Agobardus vertrat hierin, wie faft überall, bie 
Sache des gefunden Menfchenverftandge, und des allgemeinen Wohleg. 
Aber er erregte heftigen Anſtoß durch feine liturgiſche Neuerungen. 
Am Hofe von Aachen Iebte ein Geiftliher, Namens Amalariug, U) 
erft Priefter der Meer Kirche, feit der Beförderung des Claudius 
auf den Stuhl von Turin, Borfteher der Hofichule, fpäter Abt des 
Klofters Hornbach, das im Meter Sprengel liegt. Amalarius, der 
offenbar bei der Kaiferin Judith fehr viel galt, trat als Schrift: 
fteller auf. Sein Hauptwerk ift eine Abhandlung über die Firchlichen 
Gebräuche, 2) in welcher er außer der Befchreibung Deflen, was 
zu beobachten ift, befonders die geheime und myftifche Bedeutung 
der Fefte und Ceremonien zu enträthfeln ſich abmüht. Gleich vielen 
andern geiftlihen Ränkeſchmiden firebt er nach dem Ruhme 
ber Tiefiinnigfeit. Amalarius beendigte das Werk ſchon 820, in 
welchem Jahre er es dem Kaifer Ludwig widmete; bie letzte Hand 
aber legte er an bafjelbe in Folge einer Neife, die er mit Bewilli: 
gung des Kaifers 827 nad) Nom machte, um bie dortigen Ge: 
bräuche fennen zu lernen. Daher fommt es, daß die Abhandlung 
zwei Borreden hat. Eben dieſer Mann nun tadelte die Liturgifchen 
Einrihtungen, welche Agobardus in der Kirche zu Lyon getroffen. 
Der Erzbifhof empfand den Angriff fehr bitter, Theils um fein 
Berfahren zu rechtfertigen, theils um den Gegner in feiner Blöße 
binzuftellen, veröffentlichte er drei Streitfchriften. ?) Die erfte be— 
ginnt mit den Worten: „ein Narr, ein Gottlofer und befannter 
Berlaumder hat es gewagt, unfere Kirche mündlih und fchriftlich 
zu verläftern.“ Weder in diefer noch in der zweiten Schrift nennt 
er Amalarius mit Namen, wohl aber in der dritten, in welcher er 
die abgeſchmackten Allegorien des Berfaffers durchhechelt, und 
nebenbei auch einzelne Stellen der Ketzerei befchuldigt. Alle drei 





) Die Beweisftellen über die Gefchichte des Amalarius gefammelt histoire 
litteraire de la France IV., 531 fig. — 2) De ecclesiastico officio Jibelli 
quatuor; abgedruckt bibliotheca patrum maxima XIV., 934 flg. — 9) De 
divina psalmodia liber; de correctione antiphonarii; contra libros quatuor 
Amalarii abbatis; abgebrudt a. a. O., ©. 501 fig. 


760 I. Buch. Kapitel 10. 


Bücher find in gleich heftigem Tone gefchrieben. Gewiß ift es zu 
bedauern, daß der ausgezeichnete Mann gegen den Abt fo wenig 
Mäpigung bewies. Aber zu feiner Entfchuldigung dient, daß er 
furchtbar gereist war. Amalarius arbeitete nicht blos dem perfüns 
lihen Anfehen des Erzbifchofs entgegen, fondern er half auch die 
Grundgefege des Reichs umzuflürgen, welche Agobard und feine 
Freunde auf dem Neichstage von Aachen im Jahr 817 ausgemirkt 
hatten; der Abt gehörte zu der Parthei der Kaiferin Judith, welche 
den Erzbifchof unverſöhnlich haßte. Die Weife des Kirchengefangs 
in Lyon diente ihm ald Borwand, um jenes würdige Kirchenhaupt 
zu verderben, dem Amalarius nicht werth war die Schuhriemen 
aufzulöfen. Die wahre Stellung Beider zu einander offenbarte ſich 
835 auf dem Tage zu Diedenhofen, wo Agobardus als Anhänger 
Lothar's und der Einheit des Reiches angeklagt wurde. Obgleich 
von lauter Gegnern umringt, hatte dafelbft Florus, der treue Diafon 
des abwefenden Agobard, den Muth, die Beftrafung des Amalarius 
zu verlangen, weil er ein Ketzer und Berderber der Kirchenzucht 
jey. 1) Florus drang nicht durch, fein Betragen zeigt jedoch, daß 
er in tem Abte von Hornbach den gefährlichften Gegner des Erz- 
bifchofs, und zugleich eines der Häupter der Parthei Judith's fah. 
Dan fanı fih daher nicht wundern, wenn Agobard felbft den 
Schleicher haßte. Die Berhältniffe des Erzbiſchofs von Lyon zu den 
Juden und zu Amalarius find gleichfam ein Vorzeichen der Stürme, 
welche feit 828 Kirche und Staat erfchütterten. Es ift jegt Zeit, 
daß wir unfere Aufmerffamfeit der Entwidelung des Dramas 
zuwenden. | | 

Die Jahre 822 bis 825 waren die glüclichften der Faiferlichen 
Negierung Ludwig’s des Frommen. Die Gefchäfte befanden fidy in 
den Händen fähiger Männer: des Kanzlers Elifafchar, des Abts Hil- 
duin, des Grafen Matfred, und der beiden Brüder Adalard und 
Wala. Aber 823 trat ein Creigniß ein, das nad) furzer Zeit den 
Frieden des Reichs untergrub. Die Kaiferin Judith gebar nämlich) 
ihrem Gemahl den 13. Juni 823 zu Frankfurt einen Sohn, Karl, 
ber fpäter in der Gefchichte unter dem Beinamen deg Kahlen be: 
fannt geworden if. Seitdem gieng das Dichten und Trachten 
der Kaiferin darauf aus, ihrem Neugebornen wenigfteng ein gleich 





') Die Beweife histoire litteraire de la France V., 215. 


Die abendländifche Kirche unter Ludwig dem Frommen ıc. 761 


großes Erbe, als feine Stiefbrüber befaßen, zu verichaffen. Da 
nun Kaifer Ludwig zu Aachen über das ganze Reich verfügt hatte, 
fo fonnte letzterer Zweck nur dur Umfturz des Erbvertrags vom 
Sabre 817 erreicht werden. Der Plan Judith's war daher für 
den Staat höchſt verderblich. Gleichwohl gewann fie ihren Gatten 
den Kaifer, der fih ganz von ihr Ienfen ließ. Aber Ludwig's 
obengenannte Räthe widerfegten fih mit großer Entſchiedenheit 
jedem Borfchlage einer abermaligen Theilung, fie beftanden darauf, 
daß die Einheit des Reichs aufrecht erhalten werde. Ludwig hatte 
Anfangs noch zuviel Scheue vor ber geiftigen Weberlegenheit jener 
Männer, um feinen Willen offen durchzufesen. Hinter ihrem Rüden 
arbeitete er inggeheim feit S26 für feinen Benjamin Karl. Er fuchte 
ihm dadurch eine Parthei zu verfchaffen, daß er an ſolche Menfchen, 
die fih der Kaiferin und ihrem Söhnlein verpflichteten, mit freis 
gebiger Hand Güter feines Haufes, ſowie Kirchenlehen vergabte, 
Sm Anfang diefer Verwidelungen ftarb der Abt Adalard von Corbie 
am 2. Jan. 826. Wala zum Nachfolger in Corbie ernannt, trat 
von Nun an an bie Spike der DVertheidiger des Erbgefeges. In 
einer allgemeinen Reichsverſammlung, wie es fcheint, machte er dem 
Kaifer fehr ernfiliche Borftellungen. Sein Lebensbefchreiber Rat- 
bertus fagt ) wenigftens: Wala habe damals den Namen eines Jere: 
mias durch die Fefligfeit des Glaubens und die Härte der Stirne 
verdient, mit welcher er dem Auguftus die begangenen Fehler, 
namentlich die Berfchleuderung der Kirchengüter, vorhielt. Auch von 
anderer Seite wurde der Kaifer gewarnt. Einhard, Ludwig's alter 
Freund, überfchiekte ihm eine angebliche Dffenbarung, die der Engel 
Gabriel einem blinden Bettler zu Seligenftadt ertheilt habe. Die: 
felbe enthielt gute Lehren für den Kaifer, welche jedoch in dem auf 
ung gefommenen Berichte 2) nicht näher bezeichnet find. Ludwig 
ward hiedurch eingefchüchtert. Um den nahenden Sturm zu be: 
ſchwören, legte er in einem offenen Briefe 3) an das fräntifche Bolt 
das Geftändniß ab, ſich verfehlt zu haben, und verfprach für bie 
Zufunft Beſſerung. Zugleich berief er *) die Bifchöfe der dieſſeits 
ben Alpen gelegenen Provinzen zu vier großen Goncilien: nad Parig, 
Mainz, Lyon und Touloufe, damit fie ihren Rath ertheilen möchten, 





1) Vita Walae II., 2. Perz II., 548 fig. — ?) Baronius ad annum 828 
8. 2. fig. — M Baluzius I., 655, — *) Ibid. 653. 


762 TE Buch. Kapitel 10. 


wie der eingeriffenen Verwirrung abgeholfen werden möge. Ohne 
Zweifel waren es Wala und feine Freunde, welche den Kaifer zu 
legterer Maßregel beftimmt hatten, weil fie Darauf rechneten, daß 
die Biſchöfe für Erhaltung der Einheit des Reichs wirken würden. 
Ihre Rechnung war feineswegs unrichtig. Wir haben zwar blog 
die Berhandlungen der Parifer Synode; aber hier wurden dem 
Kaifer flarfe Dinge gefagt. Zwei Beſchlüſſe 1) ſchärfen die Regel 
ein, nur würdige Männer zum Bisthum zu erheben, feine un: 
reine Abfiht dürfe dabei die Staatsgewalt leiten. in anderer ?) 
ermahnt den Kaifer aufs Dringendfte, Liebe, Eintracht und Frieden 
unter feinen Näthen und am Hofe zu erhalten, fowie feine Söhne gut 
zu erziehen. in vierter ®) fpricht von Liebestränfen, durch deren 
Anwendung bethörte Menfchen ihren DBerftand verlieren, Dann 
heißt e8 weiter: „folche Frevel müffen überall, befonders aber an 
den Drten, wo man fie.ungefcheut verüben zu fünnen 
hofft, beftraft werden.“ Da die Parthei Wala’s der Kaiferin 
Schuld gab, ihren Gemahl durch Zauberfünfte berückt zu haben, fo 
muß man annehmen, daß der zulest angeführte Beſchluß gegen 
Judith gerichtet, und daß unter den Orten, wo jene Verbrechen 
ungefcheut verübt werden follen, der Hof zu verftehen ift. 

Sey es nun, daß der Kaifer der Parthei Wala’s nur zum 
Schein nachgegeben hatte, um Zeit zu gewinnen und den erften 
Andrang zu beichwichtigen, oder daß es der Kaiferin indeß gelungen 
war, ihren Gemahl noch fefter zu verftriden: der Erfolg entſprach 
feineswegs den Abfichten der Bertheidiger des Erbfolgegefeges. 
Die obengenannten vier Coneile fanden im Juni 829 ftatt, im 
Auguft deffelben Jahrs hielt Ludwig einen Reichstag zu Worms, 
auf welchem er in Gegenwart feiner alteren Söhne: des Mitkaiſers 
Lothar, und des jüngeren Ludwig, ber fpäter den Beinamen des 
Teutfchen erhielt, den nachgebornen Karl zum Herzoge von Rhä— 
tien, Aamannien und eines Theils von Burgund ernannte, *) That: 
fachlich war dadurch der Erbvertrag von 817 umgefioßen. Der 
Kaifer gieng noch weiter. Wie wir früher erzählten, ließ Wilhelm 
von Touloufe, welcher als Abt des Kloſters Galuna ftarb, einen 





1) Concilii Parisiensis lib. I. canon 11. 12. Mansi XIV., 544. 545. — 
2) Lib. IH., canon 24. 25. ibid. ©. 602. — 3) III., 2. ibid. 595 unten 
und 596 oben. — *) Theganus vita Ludovici $. 55, Perz IL, 597, 


Die abendländifhe Kirche unter Ludwig dem Frommen ıc. 763 


Sohn Namens Bernhard in der Welt zurüd, der um jene Zeit 
durch fein Verdienſt in den fpanischen Kriegen fih zum Statthalter 
von Septimanien aufgefhwungen hatte. Bernhard war eben fo 
ehrgeizig und ſchön und ftand wegen feiner glänzenden Eigenfchaften 
bei der Kaiferin in hoher Gunftz feine Gegner behaupteten fogar, 
er fey ihr theurer gewefen, als Pflicht der epelichen Treue gegen 
den Kaifer erlaubte. ben diefen Bernhard zog Ludwig auf dem 
Wormſer Neichstage an den Hof, indem er ihm unter dem Titel eined 
Kämmerers die wichtigften Gefchäfte übertrug. !) Nach Furzer Zeit 
ftürzte der neue Günftling die älteren Räthe; Wala und alle feine 
Freunde, I Hilduin, lifafhar, der Graf Maifred, der Bi: 
fchof Jeße von Drleans und Andere mußten den Hof verlafien 
und verloren ihren Einfluß. Seitdem begannen die innerlichen 
Unruhen, welche das Reich Karl's des Großen zertrümmert haben, 
Alle die, welche entweder auf die alleinige Nachfolge des Mitfaiferg 
Lothar ihre Hoffnungen gegründet hatten, oder welche Baterlandes 
liebe trieb, die Einheit des Staats zu retten, ſchaarten fich gegen 
Ludwig zufammen. Es liegt nicht in unferer Aufgabe den Verlauf 
des langen Bürgerkriegs zu erzählen; ?) wir werden bie Gefchichte 
des Kampfes nur infofern berühren, als firchlihe Gewalten Theil 
nahmen oder den Ausfchlag gaben. Sämmtlihe Söhne aus erfter 
Ehe des Kaifers: Lothar, Ludwig der Teutihe, und Pipin von 
Aquitanien erhoben Waffen gegen ihren Vater, aber in verfchiede: 
ner Abficht. Lothar wollte ſich zugleich, gemäß dem Vertrage bes 
Jahrs 817, der Kaiferfrone verfihern, und verhindern, daß fein 
Stiefbruder Karl einen Antheil am väterlihen Erbe befomme, Die 
beiden jüngern Söhne dagegen waren nur über den legten Zweck 
mit Lothar einverflanden, nicht über den erfteren. Daher gefchah 
es, daß die Brüder mit jedem Siege über den Vater unter einan: 
der zerfielen. Hatte bie Parthei, welche für die Einheit des Neiches 
° fämpfte, die Dberhand gewonnen, und ftand Lothar auf dem Punfte, 
fein Ziel zu erreichen, fo traten Ludwig und Pipin wieder auf bie 
Seite des Baters, damit der Ältere Bruder, deſſen Vorrecht fie 





1) Vita Ludovici $. 43. Perz II., 6532. — 2) Vita Walae II., 8. 
Perz II., 552. — 3) Wer fih genau darüber unterrichten will, den vermwei- 
fen wir auf das vortrefflihe Buch „Ludwig der Fromme“ von Friedrich 
Funk Frankfurt 1852. 


764 IM. Buch. Kapitel 10. 


beneideten, gebemüthigt werde. Ein fleter Wechfel von Freundfchaft 
und Feindfhaft fand Statt. | i 

Die Verſchworenen wiegelten zuerft den dritten Sohn des Rai: 
fers, Pipin von Aquitanien, gegen den Vater auf, indem fie ihm 
vorftellten, feine Stiefmutter Zudith fey eine Here, welche Ludwig 
berüde, die Kinder erfter Che um ihr Erbe bringen wolle und mit 
dem Kämmerer Bernhard in fchändlicher Verbindung lebe. Pipin 
nahm im Sommer 830 Judith gefangen und zwang fie in ein 
Klofter zu gehen, auch der Vater fiel in feine Hände. est eilte 
Lothar aus Jtalien herbei, um die Früchte der Empörung feines 
Bruders zu Arndten. Aber bald wandte fih das Blatt. Kaifer 
Ludwig, dem die Verſchworenen indeß hart zugefekt, er folle die 
Krone mit der Mönchsfutte vertaufchen, hielt fie mit Fahlen Ber: 
fprechungen hin und gewann darüber Zeit, feinen beiden jüngern 
Söhnen Ludwig dem Teutfchen und Pipin die Augen zu öffnen, 
daß die ganze Bewegung zu Gunften Lothar's berechnet fey. Letztere 
erklärten fich für ihren Vater, der nun fchnell feine Gewalt wieder 
errang. Lothar mußte fich unterwerfen. Jetzt ergieng ein ſchweres 
Gericht über feine Anhänger und Rathgeber. Der Bifchof Jeße 
von Orleans ward im Winter 830 durch eine Synode abgefekt, 
die Aebte Hilduin, Wala, Elifafhar in Haft gehalten. Aehnliche 
Strafen trafen die verfchworenen Laien. ) Das Mittel, durch wel: 
ches es dem Kaifer gelungen war, die beiden jüngern Söhne erfter 
Ehe auf feine Seite zu ziehen, beftand darin, daß er Ludwig dem 
Teutſchen und Pipin dem Aquitanier verfprach, ihr Erbe zu ver: 
größern. Aber nichts von Dem gefchah nad) dem Siege. Der alte 
Kaifer, durch fein Unglück und die Empörung noch enger als früher 
an feine Gemahlin gefettet, wurde ganz von ihr beherrfcht, und 
Judith fann auf nichts als Rache. Bei jeder Gelegenheit demüthigte 
fie die Stiefſöhne, auch machte fie aus ihrer Abficht Fein Hehl, dem 
Benjamin Karl fo viel als immer möglich zuzuwenden. Auf ihren 
Rath erklärte Kaifer Ludwig feinem älteften Sohne, Lothar: durch) 
die Berbindung mit den Berfchworenen habe er die Kaiferfrone 
verwirkt, und müſſe fih in Zufunft mit dem Langobardenreiche be— 
gnügen.?). Ohne Zweifel wollte Judith das Haupt ihres Söhnleins 

!) Theganus vita Ludoviei 37. Perz II., 598 oben. Translatio S. Viti 


ibid. II., 580 Mitte. Nithard I, 4. ibid, 652 unten. — 2) Nithard I, 3. 
Perz II., 652 Pitte. 





Die abendlãndiſche Kirche unter Ludwig dem Zrommen ꝛc. 765 


mit der erledigten Kaiſerkrone ſchmücken. Bald darauf gab Ludwig, 
um den Haß zu entwaffnen, und dem Nachgebornen eine Parthei 
zu ſammeln, den größten Theil der verhafteten Anhänger Lothars 
frei. Hilduin durfte das Kloſter Corvey in Sachſen, wohin er ver 
wiejen worden war, verlaffen, und erhielt zwei der Abteien, die er 
früher befefien, St. Denys und St. Germain zurüd. !) Die dritte 
Dagegen, St. Medard fchenkte der Kaifer dem Erzbifhof Agobars 
dus von Lyon, um bdiefen angefehenen Mann zu gewinnen. ?) 
Nur Wala, als der gefährlichfte und unverföhnlichfte der Verſchwo— 
renen, warb nicht Iosgelaffen. Weil Ludwig, oder vielmehr Judith 
fürchtete, er möchte von dem YFeljennefte am Genferfee aus, wo er 
gefangen faß, Verbindungen mit Jtalien und Lothar anknüpfen, 
gab er Befehl, den ehemaligen Abt von Alteorbie nad) der Inſel 
Noirmoutiers, unfern des Ausfluffes der Loire, abzuführen. 3) 

So ftanden die Saden bis gegen Ausgang des Jahres 832. 
Aber jest bereitete fich eine neue Bewegung vor. Die drei Brüder 
erfter Ehe, auf gleihe Weife durch die Stiefmutter beleidigt, ver: 
banden fi) mit einander und waffneten in Italien, Baiern, Aquis 
tanien. Zu ihrer Parthei traten die angefehenften Biſchöfe und Erz: 
bifchöfe des Reichs, Agobardus von Lyon, Bernard von 
Bienne, Heribald von Aurerre, Ebo von Rheims, Barth: 
lomäus von Narbonne, Hildemann von Beauvais und meh: 
vere Andere, theils offen, theils insgeheim über. *) Gewiß hat 
nicht Eigennutz, fondern Baterlandsliebe und der Wunfch, die durch 
die Bosheit eines Weibes und die Schwäche eines Mannes ſchwer 
bedrohte Einheit des Staates zu retten, den größern Theil diefer 
Männer den empörten Söhnen Ludwig’s zugeführt. Im Frühjahr 
833 rüdte Lothar mit dem langobardiſchen Heerbanne über bie 
Alpen; in feinem Gefolge befand fich ein unter den obwaltenden 
Umftänden höchft wichtiger geiftlicher Bundesgenoffe — der Pabft 
Gregor IV. Derfelbe war, wie wir früher berichteten, unter fränfi- 
ſchem Einfluffe, oder genauer gefprochen, durch die römischen Ans 
hänger Lothar’s gewählt worden, und daher dem Lestern verpflichtet. 
Gleichwohl muß man fi wundern, daß ein römifcher Oberpriefter 





") Flodoardi historia bei Bouquet VI. 216. — ?) Den Beweis histoire 
litteraire de la France IV., 571, — 3) Vita Walae II., 10. 11, Perz II, 
556. 558, — *) Flodoardi historia bei Dom Bouquet VI., 214, 


766 II. Bud. Kapitel 10. 


die Hände bot, die Einheit des von Karl dem Großen gegründeten 
Kaiſerthums und fomit eine Gewalt, welde den Stuhl Petri zu 
einem Bafallen der Franken erniedrigte, aufrecht zu halten. Man 
fann diefe merfwürdige Erfcheinung nur dem Einfluffe zufchreiben, 
welchen der hohe Geift Agobard’s und feiner Genoffen über den Pabft 
ausübte. Kaum war Lothar in Frankreich angefommen, als er 
Leute abſchickte, um Wala aus der Verbannung abzuholen; man 
bedurfte feines Raths. Die Abgefandten überbrachten ihm zugleich 
Briefe des Pabfts. Paſchaſius Radbertus, Wala's Lebensbefchreiber, 
perfichert, ) nur widerftrebend fey er der Einladung gefolgt. In: 
beffen hatte der alte Kaifer Ludwig, von der Gefahr, in der er 
ſchwebte, benachrichtigt, die Bifchöfe und den Heerbann der Provin: 
zen, bie ihm treu geblieben, nad) Worms zu einem Reichstage auf: 
geboten. Die Nordteutihen, die Sachſen, die Aamannen, die Frans 
fen aus Aufter fließen zu Ludwig, die Südfranzofen, die Baiern, 
die Aquitanier, viele Neuftrier eilten den Fahnen der verbündeten 
Brüder zu, welde unweit Colmar im Elſaß ihre Bereinigung be— 
merfftelligten. Das ganze Reich war in zwei Heerlager getheilt. 
Mit kirchlichen Waffen begann der Kampf. Pabſt Gregor IV. 
erließ an die zu Worms verfammelte Bifchöfe Ludwig’s ein Schrei: 
ben, worin er fie aufforderte, zu ihm zu fommen, und über das 
Wohl der Kirche zu berathen, das durch die Ruhe des Reichs und 
den Beftand des Erbfolgegefeges vom Jahr 817 unzertrennlich 
bedingt fey; zugleich drohte er den Säumigen mit dem Banne. 
Diefe Erklärung erregte zu Worms den größten Unwillen. Die 
Biſchöfe erwiederten: der Pabft habe in Franfreich nichts zu fchaffen, 
noch zu befehlen; wenn er gefommen fey, um Bannftrahlen zu 
fhleudern, würden fie ihn ſelbſt gebannt nad Haufe fihiden. *) 
Ihr Schreiben hat ſich nicht erhalten, wohl aber die Antwort des 
Pabfts. ?) Zuförderft fpricht er fein Erftaunen darüber aus, daß 
fie ihm die widerfprechenden Namen „Bruder und Pabfl“ geben, 
während fie ihm doc) bdiefelbe Ehrerbietung, wie ein Sohn dem 
Bater, ſchuldig feyen, dann tadelt er ihre Weigerung zu ihm zu 
fommen; denn fie wüßten ja felbft, daß die Befehle des römifchen 
Stuhls willigern Gehorfam verdienen, als die weltlichen des Kai— 





») Vita Walae I1., 14. Perz IL, 560, — 2) Vita Ludovici $. 48, 
Perz II., 635, — 3) Agobardi opp. bei Galfandiug XIII., 494 fig. 


Die abendländifche Kirche unter Ludwig dem Frommen ꝛc. 767 


fers, und daß das Amt eines allgemeinen Hirten der Seelen höher 
ftehe, als weltlihes Negiment. Er läugnet weiter, dem Kaifer den 
Eid der Treue geſchworen zu haben, führt ihnen dagegen zu Ge— 
müth, daß die Huldigung, welche fie geleiftet, einen Jeden von 
ihnen verpflichte, Ludwig zu warnen, damit er nicht Yänger auf 
dem betretenen Pfade des Irrthums verharre. Gröblich hätten fie, 
fährt er fort, durch ihre unverftändige Drohungen den Stuhl Petri 
verlegt. Diefer Stuhl verdiene unter allen Umftänden Ehrerbietung, 
wie denn ber gottlofe Caiphas blos wegen des Stuhls, auf dem 
er faß, geehrt worden fey. Nicht er richte den Kaifer, fondern 
Ludwig babe ſich Telbft gerichtet, indem er Handlungen begehe, 
bie des Bannes würdig feyen. Alles Unheil des Reichs rühre yon 
den Veränderungen ber, welde der Kaifer dem Grundgefege des 
Jahrs 817 zuwider angeorbnet habe. Zugleich verfichert er nur 
zur Wiederherftellung des Friedens zwifchen Vater und Söhnen 
nad Frankreich gefommen zu ſeyn. Uebrigens hatte der Pabft 
Anfangs, als die Erklärung der Biſchöfe einlief, den Kopf verloren. 
Die Drohung, ihn abzufesen, erfhredte ihn und er wußte nicht, 
was zu thun. Erſt der um jene Zeit aus Noirmoutiers angekom⸗ 
mene Abt Wala war es, der ihm Muth zufprah, und den Ge: 
banfen eingab, auf bie oben gefchilderte Weife den fränfifchen 
Kirhenhäuptern zu antworten, Wir laffen den Lebensbefchreiber 
des Abts, Nadbertus, welher Wala's Verbannung getheilt hatte, und 
mit ihm in das Lager der Söhne Ludwig's Fam, felbft reden: ) „Al 
wir dem Pabfte vorgeftellt wurden, nahm er ung fehr freundlich 
auf, denn er befand fih damals in großer Verlegenheit. Mit 
Schrecken hatten ihn die Maßregeln des Kaifers und die Erklärung 
der (Wormfer) Bifchöfe erfüllt, die fih Tags vor unferer Anz 
funft die Hand darauf gegeben, Cunferer) Parthei einmüthig zu 
wiberfiehen; ja fie jprachen fogar davon, den Pabſt abzufegen. 
Wir legten ihm daher Auszüge von Concilienſchlüſſen und älteren 
päbftlichen Berordnungen vor, in welchen der unmwiderfprechliche Be— 
weis enthalten war, daß dem Statthalter Petri das Necht zufteht, 
unter allen Völkern die Predigt des Evangeliums und den Frieden 
zu verkünden, fowie daß er Jedermann richten dürfe, aber Nies 
mand ihn. Diefe Schriften flößten ipm Muth ein.“ Ohne Zweifel 





ı) Vita Walae II., 16, Perz IL, 562. 


768 IT. Buch. Kapitel 10. 


fpielt Radbertus im vorletzten Sage auf die Entfcheidung des Con: 
cils an, das 800 wegen Leo’s II. gehalten wurde, und dem gleichen 
Grundfag in Betreff des päbſtlichen Nichteramtes ausſprach. 
Außer dem Pabſte trat damals auch Agobardus für das Recht 
der Söhne Ludwig's in die Schranken. Bei der erften Kunde von 
ber Empörung Lothar’s und der Neife des Pabſtes Hatte ihn der 
Kaifer aufgefordert, mit den andern Bifchöfen nad Worms zu 
fommen, und wider Gregor IV. zu fohreiben. Statt aber dem Rufe 
zu folgen, überjchiete Agobard nah Worms eine Kleine Abhand- 
lung, ) in welcher er aus Zeugniffen der Väter die hohen Vor: 
rechte des römischen Stuhls zu erhärten fucht. Nachdem er ferner 
ben Kaiſer beſchworen, dem Pabſte die gebührende Ehre zu erzeigen, 
fährt er fo fort: „wäre Gregor mit Heeresmacht gefommen, um 
Franfreih zu befämpfen, fo würde es unfere Pflicht feyn, ihn 
zurüdzutreiben. Da er aber nur deßhalb die Reiſe angetreten 
hat, um den Frieden und die Ruhe des Staats wieder herzuftellen, 
fo muß man ihm Gehorfam leiſten. Seine Abficht ift, wie ich ge: 
wiß weiß, einzig darauf gerichtet, daß jene Verordnung (das Erb: 
folgegefeg vom Jahr 817), weldhe der Kaifer mit Zuftimmung des 
ganzen Neichs gegeben hat, und die vom römifchen Stuhle beftätigt 
ward, wieder in Kraft trete.“ Noch unverholener fagte Agobard 
dem Kaifer die Wahrheit in einem Schreiben, ?) das er zu ber 
nemlichen Zeit an ihn erließ. „Ich nehme,“ beginnt er, „Gott zum 
Zeugen, daß mic) fein anderer Grund bewegt, an Euch zu fchreis 
ben, als der Schmerz über die Gefahren, die Eure Seele bedro: 
ben.“ Er ruft fodann dem Kaifer alle Umftände in’d Gedächtniß, 
unter denen er feinen Sohn Lothar vor fechzehn Jahren zum Mit: 
vegenten angenommen, er erinnert ihn an den allgemeinen Beifall, 
mit welchem das Gefeß aufgenommen ward. „Seit biefer Zeit,“ 
fährt er fort, „trugen alle öffentlichen Ausfchreiben die Namen bei: 
der Kaifer (Ludwig’s und Lothar's) an der Stirne. Aber nachdem 
Ihr einen andern Beſchluß gefaßt, ift die Ordnung umgeftürzt 
worden. Grundlos und unverftändig war die Aenderung; ohne 
Gott befragt zu haben, verwarfet Ihr den Sohn, den Ihr doc 





1) De comparatione utriusque regiminis, ecclesiastici et politici bei 
Gallandius XIIL., 492 fl. — 2) De divisione imperii flebilis epistola, 
ibid. ©. 491. 





Die abendländifche Kirche unter Ludwig dem Frommen ꝛec. 769 


mit dem Willen Gottes zu Eurem Mitregenten eingefetst hattet. 
Wir beweinen die Uebel, welche diefe unfelige Maaßregel nach fi 
zog, und wir fürdten fehr, daß der Zorn Gottes über Euer Haupt 
fih ausſchütte“ u. ſ. w. j 

Während Deffen war zwifchen beiden Partheien durch hin und 
herwandernde Abgefandte unterhandelt worden, aber ohne Erfolg. 
Bon Judith umſtrickt, wollte der Kaifer die Wiederherftellung des 
Erbfolgegefeges nicht zugeben. Die Waffen follten entfcheiden, 
Nachdem Ludwig feinem Heere einen Eid der Treue abgenommen, !) 
brach er Mitte Juni 833 von Worms auf, und bezog am 24, 
feinen Söhnen gegenüber, ein Lager bei Colmar, Auf beiden Sei: 
ten rüftete man fih zum Kampfe, da erhält Ludwig die Nachricht, 
der Pabſt nähere fih feinem Lager, um mit ihm zu reden. Nies 
mand ward entgegengefhidt, um Gregor IV. zu beglückwünſchen, 
oder einzuholen. Kalt empfteng ihn der Kaifer, „Heiliger Bifchof,« 
fagte Ludwig, „wir begrüßen Dich nicht nach der Weife der alten 
Könige mit Gefängen und Lobliedern und andern Deiner Würde 
angemeffenen Ehren, darum weil Du nicht fo gefommen bift, wie 
Deine Vorgänger zu unferen Ahnen zu kommen pflegten.“ Der 
Pabſt erwiederte: ?) „Wiffet, Daß wir in der Ordnung gefommen find, 
Denn wir find da der Eintracht und des Friedens wegen, welchen 
unfer Heiland Jeſus Chriftus ung hinterlaffen hat. Darum, o Kaifer! 
wenn Du und und den Frieden Chrifti gebührend annimmft, fol 
derfelbe auf Euch und Eurem Reiche ruhen, wo nicht, fo wird der 
Frieden Chrifti fi zu ung zurüdwenden und bei ung bleiben.“ 
Der Pabſt blieb im Faiferlihen Lager einige Tage, während deren 
ein reger Verkehr zwifchen beiden Heeren ftattfand. Aber die Unter: 
handlung, welche Gregor ohne Zweifel auf die Grundlage bes 
Erbfolgegefetes anfnüpfen wollte, zerſchlug ſich; am 28. Juni 
ſchickte Ludwig den Pabſt zurüd, Als er am folgenden Morgen 
aufwachte, befaß er fein Heer mehr; während der Nacht waren alle 
feine Schaaren zu der Gegenparthie übergetreten, bie öffentliche 
Meinung hatte fi) völlig von Ludwig abgemwendet. Der Kaifer 
mußte fi mit feiner Gemahlin Judith und dem Kinde Karl Lothar'n 
ergeben. Der Zwei, den die empörten Brüder gemeinschaftlich ers 


1) Acta exauctorationis cap. VIf., Bouquet VI., 246 oben. — 2) Vita 
Walae I., 17. Perz I,, 564 unten flg. 
Gfrörer, Kircheng. III 49 


770 IT. Buch. Kapitel 10. 


firebten, war hiemit erreicht. Ludwig der Teutfche und Pipin von 
‚Aquitanien fehrten, durch eine Bergrößerung ihres Gebiets belohnt, ') 
im Juli nah Haufe, auch der Pabft gieng nah Rom zurüd. Der 
alte Kaifer, feine Gemahlin Judith und der Heine Karl, blieben in 
den Hänten Lothar’s, welcher Abfichten hatte, die von feinen Brüdern 
nicht getheilt wurden. Lothar fchidte die Stiefmutter nad der 
Stadt Tortona in Haft, den Stiefbruder Karl ftedte er in bag 
Klofter zu Prüm, den Bater hielt er in der Abtey St. Medard 
gefangen. Auf den Detober berief er eine Neichsverfammlung nad) 
- Compiegne. Hier follte das Schickſal des Kaifers unwiderruflich 
entfchieden werden. Lothar wagte aus Furcht vor feinen Brüdern 
nicht, den Bater geradezu abzufegen. Der Plan war vielmehr ihn 
fo lange zu beftürmen, bis er ſich bereit erklären würde, öffentlich 
Buße zu thun. Denn alte Kirchengefege ?) verfügten, daß Büßer 
nicht mehr die Waffen, folglich nad fränfifchen Begriffen auch die 
Krone nicht mehr tragen durften. Deffentlihe Buße hatte demnach 
diefelbe Kraft wie Abfegung, ohne gleichen Anftoß zu erregen. Das 
Beſte mußten die Biſchöfe thun. Außer den früher genannten, 
waren jetzt aud) der Metropolit von Mainz Otgar, Elias von 
Troyes und Joſef von Evreur thätig für Lothars Sade. Auf 
ber Berfammlung zu Compiegne trat einer der Biſchöfe — vielleicht 
Agobard — auf, und Hagte im Namen Aller, daß dur Ludwigs 
Nachläßigkeit das einft fo blühende Reich Karl's des Großen in heil: 
loſe Zerrüttung gerathen fey, dann wandte er fi) an Lothar mit 
ber Bitte, er möchte erlauben, daß eine Gefandifchaft aus ihrer 
Mitte an feinen Vater abgehe, um diefen an feine Sünden zu 
erinnern und zu einem für feine Seele heilfamen Entfchluffe zu 
beftimmen. Natürlih bewilligte Lothar einen Borfchlag, den er 
ſelbſt mit den Bifchöfen vorher verabredet hatte. Die Gefandtfchaft 
gieng ab. Anfangs wollte fih der alte Kaifer durch Ausflüchte hel- 
fen, aber die Bischöfe festen ihm in der Art zu, daß er zulegt einen 
Tag für die Kirhenbuße anberaumen mußte. Alg die Frift gekom— 
men war, führte man ihn in bie Kirche der Abtey. Vor dem 
Altare lag ein härenes Bußgewand, auf baffelbe kniete Ludwig 
nieder und las unter Thränenftrömen einen Zettel ab, welder in 





9 Imperium fratres trina sectione partiuntur, fagt ber Aftronom $. 48. 
Perz II., 636 Mitte. — 2) Capitul, VI., 338, Baluzius I, 980. 


Die abendländifche Kirche unter Ludwig dem Frommen ꝛc. 771 


acht Abſchnitten ein Verzeichniß feiner Sünden enthielt: „Er habe,“ 
hieß es darin, „das feinem Bater an heiliger Stätte gegebene Wort 
gebrochen, feine Stiefbrüder (unehlihe Söhne Karl's) in Kiöfter 
verftoßen, feinen Neffen umbringen laffen. Er babe den Frieden 
des Staats, wie der Kirche geftört; etliche Getreue, die ihn gewarnt, 
habe er ihrer Güter beraubt und zum Tode verurtheilen laſſen, 
weßhalb die Schuld des Todfchlags auf ihm laſte. Die Schuld des 
Meineids habe er als Urheber der vielen falfchen Zeugniffe und 
Schwüre auf fih geladen, die zu Reinigung feiner Gemahlin und 
anderer Zauberinnen geleiftet worden. Mord, Brand und Raub 
babe er durch unnöthige Heereszüge veranlaßt. Statt mit feinen 
Söhnen Friede zu halten, habe er durch ungerechte Theilungen bes 
Neichs diefelben fih zu Feinden gemaht, und überdieß das Heer 
einen Eid wider fie zu fohwören gezwungen. Statt für das Heil 
des Volks zu forgen, habe er es in die Waffen gerufen zum Bür⸗ 
gerfrieg und gemeinfamen DBerderben.“ Den abgelefenen Zettel 
übergab Ludwig dem Erzbiſchof Ebo, welcher benfelben auf den 
Altar niederlegte. Hierauf fand der Kaifer auf, fchnallte fi das 
Wehrgehäng ab und legte es gleichfalls auf den Altar. Sofort nahm 
Ebo das Bußgewand, beffeidete Ludwig damit und erflärte: „wer 
auf folhe Weife Buße gethan, dürfe nimmermehr die Waffen tra= 
gen, fondern müffe fih dem Dienfte Gottes und fletem Gebete weihen.“ 
Noch war ein Tester Aft übrig, der die zu Compiegne anwefenden 
Bischöfe für immer hindern follte, der jetzt ergriffenen Parthei wie— 
der untreu zu werden. jeder einzelne Bifchof mußte nemlich eine 
Urfunde unterfchreiben, worin das Gefchehene Furz erzählt und gut: 
geheißen war. ') Nur die von Agobard ausgeftellte Schrift ?) ift 
auf ung gekommen, die übrigen find verloren. 

Das Unglück hochgeflellter Perſonen erregt immer Mitleiden, 
wäre es au, wie hier, ein wohlverbientes, und felbftverfchuldetes. 
Der Aftronom berichtet, ?) alle Welt, mit Ausnahme der Verſchwor⸗ 
nen, feye über bie Vorgänge zu Compiegne und im Medardusffofter 





') Ueber den ganzen Hergang find Quellen Acta exauctorationis bei 
Bouquet oder Manft XıV. 647 fig. über die Rolle, welche Ebo dabei fpielte, 
vergleiihe man Theganus $. 44. und narratio clericorum rhemensium bei 
Bouquet VI, 251 Mitte. — 2) Chartula porrecta Lothario bei Gallan— 
bins XIII, 499, oder auch bei Manſi a. a. DO. ©. 652. — °) Vita Ludovici 
6. 49, Perz II., 656 unten. 

49 ® 


7112 UII. Bud. Kapitel 10. 


entrüftet gewefen. Daß feine Angabe richtig ift, erhellt aus einer 
Maapregel, welde die Parthei Lothar’s zu ergreifen für gut fand. 
Agobardus verfaßte nemlich unmittelbar nad dem Schluß der Ber: 
ſammlung zu Compiegne eine Schusfgrift, 1) worin er Lothar’g und 
feiner Brüder Berfahren gegen den alten Ludwig zu rechtfertigen 
juchte, „Die Brüder,“ fagt er, „haben Necht gehabt, fich gegen ihren 
Bater zu empören, denn es fey unumgänglich nothwendig gewefen, 
den Pallaft von den Berbrechen zu reinigen, die daſelbſt verübt 
worden.“ Agobard zählt die von Ludwig begangenen Fehler auf, 
fchiebt aber die Hauptſchuld auf die Kaiferin Judith, welche er 
der Untreue gegen ihren Gemahl und der Graufamfeit gegen ihre 
Stieffühne anklagt. Die Schrift fehließt mit den Worten: „Wir 
fagen diefes nicht, um unfern ehemaligen Herrn und Kaifer in 
die Reihe der gottlofen Könige zu erniedrigen. Aber weil er ſich 
von einem Weibe bethören ließ, ift an ihm der Spruch erfüllet 
worden (Sprüchwörter Salomo's XL, 29.): wer fein eigen Haus 
betrübet, der wird Wind zum Erbtheil haben. Durch 
ſolche Berftöße find unzählige Meineide, Beraubungen, Todfchlag, 
Ehebruch, Blutfhande herbeigeführt worden ; dafür muß der fromme 
Mann, unfer ehemaliger Kaifer, Buße thun und ſich unter Die ges 
waltige Hand des allmächtigen Gottes demüthigen. Weltlihe Ehren 
gebühren ihm jest nicht mehr, feit er bie Krone in Folge gött: 
lichen Gerichts feinem theuren Sohne abgetreten hat“ u. f. w. 
Mehr jedoch, als das Mitleid der Menge über des Vaters 
hartes Loos, ſchadete dem Erſtgebornen der Neid feiner Brüder, 
welche es nicht verfchmerzen fonnten, daß Lothar durch den Tag 
von Compiegne die Kaiferfrone som Haupte Ludwigs genommen 
und auf fein eigenes gefest hatte. Sie verlangten von ihm bie 
Wiederherftellung des Vaters, und als der neue Kaifer ihr Geſuch 
trogig zurückwies, waffneten fie. Abermals zeigte fich jest, daß Lo— 
thar den fihwierigen Berhältniffen bei Weitem nicht gewachfen war. 
Im Februar 834 gab er den Bater zu St. Denis frei, und zog 
fi nad) dem fünlihen Burgund zurüd. Mit ihm flohen Die Metro: 
politen oder Bifchöfe Agobard, Bernhard von Bienne, Bartholo: 
mäus von Narbonne, Elias von Troyes, Heribald von Aurerre. 





!) Liber apologelicus pro filiis Ludovici bei Galandius a. a. O. 
©. 496 fig. 





Die abendländifche Kirche unter Ludwig dem Frommen ıc. 773 


Wala verließ Frankreich, er verbarg feinen Schmerz über getäufchte 
Hoffnungen und die Unfähigkeit Lothar's in ter Abtei Bobbio, bie 
ihm der junge Kaifer gefchenft Hatte. ') Schnell wuchs jebt bie 
Parthei Ludwig’s. Mehrere der Biſchöfe, die zu Compiegne geweſen 
waren und die Urfunde unterzeichnet hatten, fuchten die Nache des 
beleidigten Herrfchers durch Kriecherei abzuwenden, Digar von Mainz 
und einige Andere geleiteten ihn Anfangs März 834 in die Haupt- 
fire zu St. Denis, und legten ihm dort das Wehrgehenf fammt 
dem faiferlihen Schmude wieder an. Doch half diefe That dem 
Mainzer nichts. Otgar ward bald darauf verhaftet, jedoch nad) 
einiger Zeit auf Fürbitte feiner Gemeinde wieder freigegeben, ?) 
Noch fohlimmer ergieng es dem Metropoliten Ebo von Rheims und 
dem Bifchof Hiltemann von Beauvaid, Ludwig gab Befehl, jenen 
nach Fuld abzuführen, diefen in die Abtei St. Wedaft bei Arras 
einzufperren. Im Februar des folgenden Jahres hielt der alte 
Kaifer auf einem Neichstage zu Diedenhofen Gericht über die Par: 
thei Lothar's. Die beiden gefangenen Bifchöfe wurden aus ihren 
Gefängniffen herbeigebracdht. Hiltemann erhielt Gnade, Ebo dage— 
gen, dem Ludwig unverfühnlih grollte, weil er diefen Mann, den 
er aus dem Staub hervorgezogen und auf den Stuhl von Rheims 
erhoben hatte, des fchwärzeften Undanfg zieh, mußte für die Andern 
büßen, Abfesung traf ihn. Die übrigen mit Lothar verbündeten 
Biſchöfe, die indeg nad) Italien entwichen waren, wurden vorgeladen, 
famen aber nicht. Nach dem Berichte des Aftronomen °) erflärte die 
Berfammlung den abmweienden Agobard feines Stuhles verluftig. 
Früher haben wir erzählt, *) daß damals der Diafon Florus ver: 
gebeng feine Stimme zu Gunften des Erzbiihofs wider Amalarius 
erhob. Daffelbe Loos widerfuhr Agobard’s Genoffen. Doch wurden 
er jelbft und Bernhard von Bienne nad Furzer Berbannung — 
wahrfcheinlih 836 in Folge eines Bertrags zwifchen Lothar und 
Ludwig — wieder in ihre Bisthümer eingefegt. *) Seitdem verhielt ſich 
Agobard bis zu feinem Tode ruhig. 

Der alte Kaifer war durch die gehäuften Unglüdsfälle nicht 
gewisigt. Nachdem ihm feine Gemahlin Judith im Frühjahr 834 


') Vita Walae U., 20, Perz IL, 567 gegen unten. — ?) Epistola 
reelamatoria bei Bouquet VI, 400 fammt Note. — °) $. 54. Perz II, 640 
Mitte. — *) ©. 760. — °) Ado chronicon, Perz II., 324 unten. 


774 III. Buch. Kapitel 10. 


zurückgegeben worden, fuhr er, wie früher, fort, zu Gunſten des 
nachgebornen Karl wider die Söhne erſter Ehe Ränke zu ſpinnen, 
indem er bald alle drei zu demüthigen ſuchte, bald den Einen gegen 
den Andern aufhetzte. Ausgang des Jahrs 838 ſtarb Pipin von 
Aquitanien; obgleich derſelbe einen Erben hinterließ, gab Ludwig 
ſein Land dem Liebling Karl. Fortwährende Bürgerkriege, Einfälle 
der Normannen, verſchiedene neue Theilungsplane, die Niemand 
befriedigten, ſtürzten das Reich in heilloſe Verwirrung. Nieder— 
gebeugt von dem Elende, das er ſelbſt verſchuldet, ſtarb Ludwig 
der Fromme den 20. Juni 840 auf einer Rheininſel bei Ingelheim. 
Die erlauchten Männer, welche einſt die Einheit des Reiches wider 
Ludwig's Thorheit aufrecht erhalten wollten, waren ihm ſchon in 
die Ewigkeit vorangegangen, oder folgten kurz darauf. Ago bard 
verſchied im gleichen Monat und Jahre mit dem Kaifer, ) Bern: 
hard von Bienne im Januar und der Abt Hilduin im November 
842. Die Bifchöfe Jeße von Amiens und Elias von Troyes hatte 
der Tod im Jahr 838 ereilt, den Abt Wala und den Grafen 
Matfred im Sommer 836, den Abt Elifafchar im Jahre 837. Das 
Mißgeſchick, das fie im Leben verfolgte, ließ auch im Tode nicht 
von ihnen ab. Man hat fie faft bis auf unfere Tage herab durch 
den Namen „Emporer“ gebrandmarft. Ihre Zeitgenofjen urtheilten 
jedoch anders von ihnen. Der Aftronom, der für Ludwig Parthei 
nimmt, jagt: ?) „Die öffentlihe Meinung habe fich dahin ausge: 
fprochen, daß durd den Tod jener Männer Franfreic der Blüthe 
des Adels, feiner tapferften und erlauchteſten Söhne beraubt wor: 
den ey.“ 2 

Die Zwietracht dauerte auch nah Ludwigs Hingang fort. 
Ludwig der Teutfche verbündete ſich jest mit Karl dem Kahlen 
gegen Lothar, der die Hauptbeflimmungen des Erbvertrags vom 
Jahre 817 nimmermehr aufgeben wollte. Den 25. Juni 841 ward 
Die entfcheidende Schlacht bei Fontanet geliefert, in welcher ſämmt— 
lihe Nationen des Reichs mit wüthender Erbitterung gegen einan: 
ber ftritten. Karl und Ludwig der Teutfhe errangen den Sieg. 
Vierzigtauſend Mann follen allein -auf Lothar's Seite geblieben 
feyn. ?) Erft zwei Jahre fpäter Fam der Frieden zu Stande. Im 

) Bouquet VI., 242, — ?) Vita Ludovici cap. 56. Perz II., 612 


gegen oben. — 3) Agnelli liber pontificalis bei Bouquet VII., 340, oder 
Muratori scriptor, ital. IL, 185. 





Die abendländifche Kirche unter Ludwig dem Frommen ıc. 775 


Auguſt 843 beſchworen die Brüder den Vertrag von Verdun, wel- 
cher aus dem einen Reiche Karl's des Großen drei Staaten ſchuf. 
Ludwig der Teutfhe erhielt Germanien bdieffeits des Rheins, fammt 
den drei Sprengeln Mainz, Speier, Worms, jenfeits des Stromeg; 
Karl der Kahle befam Gallien mit einer Oftgränze, die vom Aus— 
fluß der Schelde bis zu ihrem Urfprung Tief, dann in gerader Linie 
die Maas hinauf zur Saone, von da zur Rhone bis an ihrer 
Mündung fich erfiredte. Die Kaiferfrone, Italien und der fchmale 
Streifen Landes dieſſeits der Alyen, der zwifchen den Gebieten 
Karl’s des Kahlen und Ludwig des Teutfchen lag, verblieb dem 
erftgebornen Lothar. ') Der Antheil des Lebtern war an Ausdeh- 
nung größer, an innerer Kraft ſchwächer, weil Fein natürliches 
Band die Bevölkerung, welche Lothar'n gehorchte, umſchlang. 
Lothar's teutſches Erbe iſt daher bald wieder auseinander gefallen. 
Dagegen ſtützten ſich die Gränzen, welche der Verduner Vertrag 
den Reichen Karl's und Ludwig's gab, auf die doppelte Grundlage 
der Sprach-Einheit und gleicher oder ähnlicher Abſtammung. Sie 
find deshalb ihrem wejentlichften Umfange nach bis auf den heuti—⸗ 
gen Tag unverrüdt geblieben. Ein neuer Reichskörper, der teutfche, 
trat durch den Bertrag von Berdun in die hriftliche Staatenfamilie 
ein. Daß Bonifarius 100 Jahre zuvor die Selbfiftindigfeit des 
neuen Gliedes vorbereitet hatte, wurde früher dargethan. 

Ludwig's Schwäche und Judith's Bosheit gaben nur den An: 
laß zur Theilung. Die eigentliche Urfache aber Yag tiefer. Auch 
ohne Ludwigs Zuthun wäre fpäter das Unvermeidliche gefchehen. 
Karl der Große und feine Vorgänger hatten mehrere durch Sprache 
und Blut verfchiedene Völker gewaltfam zu einem unnatürlichen 
politiihen Körper vereinigt. Diefe Elemente fließen Yängft einander 
ab und fuchten die Bande zu zevreißen, durch welche fie gefettet 
waren. Wie oft erhoben fich die teutfchen Stämme im Laufe des 
fiebenten Jahrhunderts, um von den Franken loszukommen! Selbft 
Karl der Große ſah ſich genöthigt, die mangelnde Harmonie der 
Theile feines Reichs dadurch thatfächlic anzuerfennen, daß er den 
Aquitaniern und Langobarden eigene Könige-Statthalter aus feinem 
Haufe gab. Daffelbe Borrecht mußte Ludwig der Fromme den 
Baiern bewilligen. Unter der Regierung des Legtern trat bie 





") Prudentii trecensis annales ad annum 843. Perz I., 440, 


776 IT. Bud. Kapitel 10. 


Abneigung. ber Teutfchen gegen die Sranzofen mehr und mehr hervor. 
Bei der erften Empörung gegen Ludwig waren es die überrheinifchen 
Franken, welche für die Einheit die Waffen ergriffen, die dieffeitigen 
Teutfchen dagegen, welche den geftürzten Kaifer wieder hoben. „Ludwig 
ber Fromme,“ fagt der Aſtronom, !) „mißtraute den Franzofen, ?) 
fegte dagegen feine Hoffnung auf die Germanen.“ Er fährt fort, 
wirflid) jey damals auf den nad) Nimwegen auggefchriebenen Reiche: 
tag „ganz Teutfhland zufammengeftrömt, um dem Kaifer zu 
helfen.“ Deutet dieß nicht auf einen feftgewurzelten Nationalhaß 
zwifchen ben beiden Hauptvölkern des fränfifchen Reichs, galliſchen 
Sranfen und Teutfchen, hin. Noch belehrender ift eine Bemerfung, 
welche der Geſchichtſchreiber Nithard, befanntlich ein hochgeftellter 
Mann, der die innerften Triebfedern der Vartheien feiner Zeit fannter 
über die Grundfäge der Abfaffung des Vertrags von Verdun macht. 
„Bei der Theilung,“ fagt ?) er, „habe man weniger auf die gleiche 
Ausdehnung, oder entiprechende Fruchtbarkeit des Bodens, als viel- 
mehr auf den innerlihen Zufammenhang und die VBermandtichaft 
(der Völker) gefehen.“ Ludwig beftand darauf, Teutſchland, Karl 
der Kahle, Gallien zu befommen, weil Einheit der Sprade und 
ber Abftammung die Unterthbanen Beider verband. Auch über die 
fonft jo dunkle Frage, warum Lothar fih dazu herbeigelaffen haben 
mag, jenen dünnen Streifen zwifchen Gallien und Germanien ans 
zunehmen, gibt die angeführte Stelle Nithard’s erwünschten Auf: 
ſchluß. In dem Gebiete zwifchen Rhein und Schelde lagen die alten 
Erbgüter Pipins von Heriftal, ebendafelbft waren auch die tapfer: 
ften Gefchlechter der fränkiſchen Eroberer angefiedelt, mit deren Hülfe 
Pipin der Aeltere, Karl Martel, der jüngere Pipin und Karl der 
Große das fränfifche Weltreich gegründet hatten. Getreu den erb- 
lichen Ueberlieferungen, erklärten ſich diefe Gefchlechter beim Aus: 
bruch des Bruderfriegs für die Einheit und Lothar, der das Kaifer- 
thum vertrat. Als der Kampf entfchieden war, wollte Lothar feine 





1) Vita Ludoviei $. 45. Perz II,, 633 untere Mitte. — 2) Diffidens 
Francis, magisque se credens Germanis. Der Ausdrudf Franei als Bezeich: 
nung der in Gallien wohnenden Franken oder als gleichbedeutend mit dem 
heutigen Wort „Sranzofen“ fommt hier, fo viel ich weiß, zum erftenmale vor. 
— 3) Nithard IV, 1. Perz II., 668 Mitte. Die Worte Nithards Lauten in 
der Urfprache fo: in qua divisione non tantum fertilitas aut aequa porlio 
regni, quam affnitas et congruentia cujusque aptata est, 


Die abendländifche Kirche unter Ludwig dem Frommen ꝛc. 777 


treueften Anhänger nicht preisgeben, auf deren Beiftand er noch 
immer ebrfüchtige Hoffnungen gründete. Um nun aber eine Ber: 
bindung zwifchen dem Stammfige der Franfen und Stalien, feinem 
eigentlichen Erb-Reiche, offen zu erhalten, mußte er auf Abtretung 
jener fchmalen Linie beftehen, welche gleihfam die Brücke zwifchen 
Italien und den Niederlanden bildete. 

Man fieht, Stammeg:Einheit war das Feldgefchrei der Völker 
in den Stürmen des ten Jahrhunderts, wie jeßt wieder im 19ten, 
wo abermals das Gleichartige fih anzieht, das Widermwärtige ab: 
geftoßen wird. Der zum Bewußtjeyn gefommene Naturtrieb ftürzte 
fih in das Ninnfal, das die Zwietracht der Söhne Ludwig’s des 
Frommen gegraben hatte; die Zertrümmerer des Reiches fiegten, 
weil eine ungerftörbare Kraft, als deren Bannerträger fie zu be: 
trachten find, ihnen als Stüspunft diente; biefelbe würde auch ohne 
fie früher oder fpäter ein anderes Mittel der Befriedigung gefunden 
haben. Zwar giebt es in der Weltgefchichte Feine ſcharf begrängte 
Wendepunfte, fo wenig als eine Strömung der Gewäſſer fogleich 
aufhört. Dennoch kann man fagen, daß mit der Theilung des 
großen fränfifchen Weltreichg eine Epoche des Mittelalters abgelaufen 
ift und eine neue beginnt. Die Markicheiden der latiniſch-germani— 
hen Völker, die im Laufe des Aten Jahrhunderts auf dem Boden 
bes alten römiſchen Weltftaats fi) abzugliedern begonnen hatten, 
find jeßt dauernd gezogen, Dieß war ein unbezweifelbarer Gewinn 
für die europäische Menſchheit; aber jeder Fortfchritt muß um Opfer 
erfauft werben. 

Die traurigfte Wirkung der langen Bürgerfriege, welche ber 
Theilung vorangiengen, war bie, daß bie große Mafje der gemei- 
nen Freien ihre politiihe Selbfiftändigfeit verlor. Schon unter 
Karl dem Großen hatte diefed Lebel begonnen. Früher zeigten ) 
wir, wie durch die unerträgliche Laft des Heerbann’s damals Tau: 
jende fränfifher Bauern genöthigt wurden, fi und ihre Güter 
durch Erbverträge oder Schenkungen der Kirche, Kiöftern oder den 
weltlihen Großen zu eigen zu geben. Mit furchtbarer Schnelle 
verringerte fih aber erft in Ludwig’s Tagen die Zahl der Heinen 
Eigenthümer; denn um während der innerlichen Stürme nicht erz 
brüdt zu werden, mußten fie den Schuß der Mächtigen fuchen und 





).Siche oben ©, 616. 


7118 III. Buch. Kapitel 10. 


wurden freiwillig oder gezwungen beren Dienftleute oder gar Leib: 
eigene. So ſchwand die Bolfsfreiheit dahin, und mit ihr der alte 
fränfifche Heerbann und das Fußvolk, an deſſen Stelle nunmehr 
immer häufiger Feine Schaaren berittener Adeligen treten. In glei: 
hem Berhältniffe ſchwoll der Stolz der alten Gefchlechter, oder 
aud der Emporfümmlinge, die auf den Untergang der gemeinen 
Freien ihre Größe gegründet hatten. Der Einfluß, den fie während 
der gefeßlofen Zeit im Lande errungen, gab ihnen die Macht, die 
Berachtung, welche die Söhne Ludwig’ theils durch ihre perfünliche 
Schwäche, theils durch die wiederholten DVerräthereien gegen den 
Vater auf fi geladen, gab ihnen den Muth, ihren Königen zu 
trogen. Mit dem freien Volke verfällt daher die Staatsgewalt. 
Die Krone finft zu einem Schatten herab, und eine unbändige 
Adelsherrichaft beginnt, während deren jeder Lehnsherr auf feinem 
Gute unbefchränfter Gebieter feyn will. Der Adel war nicht einmal 
mit dem thatfächlichen Befige der angemaßten Umabhängigfeit zu: 
frieden; er zwang vielmehr das Königthum, die abgetroßten Nechte 
zum Geſetze zu erheben. Im Jahre 847, alfo vier Jahre nad 
Abſchließung des Vertrags von Berdun, hielten die drei Brüder 
Lothar, Karl der Kahle und Ludwig der Teutſche, begleitet von 
ihren Lehensleuten, eine Zufammenfunft zu Merfen. Hier mußte 
Karl der Kahle feinen Bafallen folgendes ) Zugeftändnig machen: 
„wir bewilligen, daß jeder freie Mann in unferem Reiche 
fih nad Belieben ung felbfi, oder einen unferer Ge— 
treuen zum Lehns- und Schutzherrn (seniorem) wähle.“ 
Durch diefe Beftimmung riß der hohe Adel das wichtigfte Vorrecht 
bes Königsthums an fih. Zwar herrfchte in Aquitanien und Neu: 
firien größere Verwirrung als in den beiden andern neugebildeten 
Reihen, und Karl der Kahle mußte fi) daher von feinen Vafallen 
noch mehr gefallen Taffen, als feine Brüder; dennoch zeigt die Ge— 
fhichte, daß die bevorrechteten Stände in Teutfchland, Stalien und 
Lothringen von demfelben Geiſt der Unbotmäßigfeit befeelt waren. 
Nun gehörten aber die Biſchöfe theils durch ihre Abfiammung, 
theild durch den Einfluß, welchen fie feit Karl's des Großen Tagen 
im Staate errungen hatten, gleichfalls zum hohen Adel. Wundern 
müßte man fich deßhalb, wenn nicht auch das Bisthum den Vers 





') Adnuntiatio Caroli cap. 2. bei Baluzius Capitul. II, 44 Mitte. 


Die abendländifche Kirche unter Ludwig dem Frommen ıc. 779 


fall der Krone benüst hätte, um gleich den weltlichen Lehnsherrn die 
bisherigen Bande der Abhängigfeit zu fprengen. Wirklich haben die 
geifilihen Großen ganz Daffelbe, was die weltlichen wagten, — 
verfteht fih jedoh auf ihre Weife — unternommen. Die Stel: 
lung der Bifchöfe war nemlich wefentlich verfchieden von derjenigen 
des weltlichen Adels. Wollten fie den nemlichen Zweck erreichen, fo 
mußten fie die neuen Forderungen den eigenthümlichen Verhältniffen 
ihres Standes anpaffen. Bei einiger Kenntniß der Zeitumftände 
ift es leicht vorauszuſehen, welche Mittel zum Ziele führten. Um 
unabhängige Herrn zu werden, war vor Allem nöthig, daß bie 
Bischöfe ihre Perfon, wie das Eigenthum der Kirche, gegen Eins 
griffe der Laien, befonders aber der Fürften, nad Möglichkeit zu 
fihern fuchten. Da aber die Häupter des Clerus fich in einer weit 
verwidelteren Lage befanden, als die weltlichen Großen, fo bedurf- 
ten fie eines Fünftlicheren Gewebes und forgfältigerer Vorbereitung; 
erft mußten gewiſſe Hemmniffe entfernt, und nüglihe Verbündete 
berbeigezogen werden. Die vornehmen Laien hatten es blos mit 
den Königen zu thun. Wenn fie die Gewalt Diefer demütbhigten, 
durften fie ihre Unabhängigfeit als gefichert betrachten. Ihre Auf 
gabe war daher eine einfache und klare, nicht fo die bes Clerus. 
Zwifchen den Bifchöfen und den Dberhiuptern des Staats ftand 
eine mittlere Behörde, welche die Könige in Bewegung festen, um 
die Kirche nach Gutdünken zu beherrſchen. Oben ift gezeigt worden, 
wie viel Mühe fih Karl der Große gab, um die Bilchöfe den 
Metropoliten zu unterwerfen, und wie Lestere ihm ald Werkzeuge 
dienten, durch welche er feinen Willen volffiredte. Hart hatte feit 
den Testen fünfzig Jahren die Hand der Metropoliten auf den Bi: 
fhöfen gelaftet, fie waren in den wichtigften Fragen, wie 5. B. in 
der Bilderfahe die Bundsgenoffen der Krone felbft gegen ben 
römischen Stuhl geweſen. Ehe daher das Prieftertfum die Unab— 
hängigfeit, nach der es firebte, zu erringen vermochte, mußte erft die 
Gewalt der Metropoliten gebrochen werden. Dieß war jedoch ein 
fchwieriges Geſchäft, denn es ließ fich vorausfehen, daß Metropo— 
liten und Könige, fobald folche Beftrebungen hervorträten, ſich zu 
gemeinfchaftlicher Abwehr vereinigen würden. Gegen ſolche Gefahr 
fonnte die Bifchöfe nur der Beitritt eined mächtigen Verbündeten 
ſchützen. Während das neu errichtete Kaiſerthum nad) kurzer 
Dauer verfiel, hatte eine andere Weltmacht, das Pabſtthum, nicht 


780 IT. Buch. Kapitel 10. 


nur Nichts verloren, fondern Fortfchritte gemacht, und fland in 
ungefchwächter Kraft da. Gelang es nun den Bifchöfen, biefe 
Gewalt auf ihre Seite zu ziehen, fo fchien der glüdliche Ausgang 
ihres Unternehmens unzweifelbar. Aber wie den Stuhl Petri ge: 
winnen? Ein Mittel bot fih dar, das zugleich geradenwegs zur 
Grreihung des zweiten Hauptzweds der Biſchöfe, zum Sturze ber 
verhaßten Metropolitangewalt, führte, Wenn die Biſchöfe alle Bors 
rechte, welche die Metropoliten bisher befaßen, dem einen Stuhl 
Petri zu übertragen fich bereit erklärten, durften fie mit gutem Fuge 
hoffen, daß der Pabft mit ihnen gegen die Könige und Erzbiichöfe 
gemeine Sache machen werde. Zwar erreichten fie auf diefe Weife 
feine vollfommene Unabhängigfeit, fondern ſie vertaufchten blog 
mehrere kleine Gebieter mit einem einzigen und mächtigen, aber 
der angegebene Plan war unter den möglichen ber befte. Stets 
bat in der Kirche die Negel gegolten, daß es räthlicher fey, einen 
mächtigen Oberherrn in der Ferne, als einen Kleinen auf dem 
Nacken zu haben. 

Sn den eben entwidelten Säsen haben wir bie leitenden 
Getanfen einer Firchlichen Gefegesfammlung, die während der 
Bürgerfriege unter Ludwig dem Frommen, oder furz nad) feinem 
Tode zum Borfchein Fam, auf ihren kürzeſten Ausdrud zurüdges 
bracht. Vom Ente des fechsten Sahrhunderts an fand die Zu— 
fammenftellung von Kirchengefegen, welche der römiſche Abt Dip: 
nyſius der Kleine, um 530 bewerfftelligte, !) im Abendlande allge: 
meine Verbreitung. Sie enthielt die Befchlüffe der älteren Kirchen: 
verfammlungen fammt entfcheidenden Briefen der Päbſte von Sirieius 
an (+ 398) bis auf Anaftafius II. (498 +). Ihr Inhalt iſt Acht. 
Das Sleihe gilt von der fpanifchen Sammlung, welde um 636 
gemacht, frühe dem Erzbifchof von Sevilla, Iſidor, zugefchrieben 
worden ift, 2) und allmalig die ältere des Dionyfius verbrängte, 
Die Achtung, welche Iſidor und fein. angebliches Werf genoß, war 
Urfade, daß im neunten Jahrhundert ein Unbefannter den merk: 
würdigften litterarifchen Betrug, den die Weltgefchichte aufweist, 
mit feinem Namen ausgefchmücdt hat. Seit 857 beginnt in vffent: 
lihen Urkunden, unter dem Namen Iſidor's, eine Eirchenrechtliche 





) Siehe den zweiten Band biefes Werks S. 83. — 2) Siehe oben 
©. 370. 


Die abendländifhe Kirche unter eudwig dem Frommen ꝛc. 781 


Sammlung angeführt zu werden, welche außer vielen Beſtandtheilen 
der ächten ſpaniſchen, eine Maſſe bis dahin unbekannter Stücke um— 
faßt. Das neue Sammelwerk zerfällt in drei Haupttheile: der erſte 
begreift 61 Briefe der Päbſte von Clemens (dem angeblichen Nach— 
folger des Apoftelfürften Petrus) bis auf Melchiades, den Zeitge: 
nofjen Conftantins des Großen. Diefe Briefe find mit Ausnahme 
zweier des Clemens, welche obwohl unterfhoben, Rufin ſchon im 
vierten Jahrhundert gefannt und überfegt, aber der Unbekannte er: 
weitert hat, erſt jegt gejchmiedet worden. Im zweiten Theile finden 
fih Befhlüffe der Concilien bis zum fiebenten Jahrhundert, meift 
aus der Achten ſpaniſchen Sammlung entlehnt. Der dritte Theil 
endlic enthält Defretalen der Päbfte von Sylveſter, dem Nach: 
folger des Melchiades an, bis auf Gregor den Großen; flnfund: 
dreißig derſelben fiammen aus ber Feder des Unbefannten. !) 
Seder Betrüger hat zunächſt den Zweck, bei Denjenigen, welche er 
täuſchen will, d. h. bei feinen Zeitgenoffen, Glauben zu finden. 
Gelingt ihm Lesteres, fo hat er das Vorurtheil gefchickter Aus: 
führung für fi. Diefen Maaßſtab an das Werk bes falfchen 
Iſidor gelegt, muß man befennen, daß er feinen Plan mit Gewandt- 
heit verwirklicht hat. Nachdem in den erften Zeiten der Erfcheinung, 
einige zerftreute, und nicht fehr zuverfichtliche Zweifel Yaut geworden, 
erringt die Sammlung im Mittelalter Geſetzeskraft. Erſt im Zeit 
alter der Kirchenreformation ward der Betrug durch die Magde— 
burger Genturiatoren aufgedeckt, denen fich fpäter der franzöſiſche 
Neformirte Dav. Blondel anfchloß. ) Die Beweife der nächte 
beit, welche Beide geführt haben, find zwingend. Abgefehen 





1) Es giebt Feine fritifche Ausgabe des falfchen Iſidor. Die einzige, in 
der alle Stücke ungetrennt fich finden, Lieferte Merlin Tomus primus quatuor 
coneiliorum etc., Ysidoro auctore. Paris 1524 fol. (Diefe Jahrzahl hat das 
Eremplar der Stuttgarter Bibliothek, nach dem ich eitive, Andere geben bie 
Zahl 1523 an.) Außerdem vergleiche man Blascus commentarius de collec- 
tione canonum Isidori , abgedrudt in der Sammlung bes Gallandius, welche 
den Zitel führt: de vetustis canonum collectionibus, Venetiis 1778 fol, 
Seite 357 flg.; ferner Petri et Hieronymi fratrum Ballerinorum trac- 
tatus de antiquis collectionibus canonum; abgedrudt ibid. ©. 97 flg., endlich 
Spittler’ 8 Geſchichte des canonifchen Rechts, in deſſen Werken I., Seite 201 flg. — 
2) Mittelft feines 1628 zu Genf gedruckten Werks Psebdöisidorus et Turria- 
nus vapulantes. Der Jefuit Turrianugs hatte nemlich vor Blondel die Samm— 
lung des falfchen Iſidor gegen die Magdeburger zu vertheidigen gefucht, 


782 III. Buch. Kapitel 10. 


davon, daß von den Arfunden der brei erflen chriftlihen Jahre 
hunderte, welche der Unbekannte mittheilt, mit Ausnahme jener 
beiven ſchon im vierten Jahrhunderte gefchmiedeten Briefe des 
Clemens, fein Zeuge, feine Duelle bis zu dem Tode Karl’ des 
Großen ein Wort weiß, hat der Falfcher grobe Verſtöße gegen bie 
beglaubigte Gefchichte begangen. Er legt im zweiten Jahrhundert 
feinen römiſchen Oberhirten Stellen aus der von Hieronymus gegen 
Ende des vierten berichtigten Yateinifchen Bibelüberfegung in Mund, 
er läßt den Pabſt Victor CH 202) an den Erzbifchof Theophilug 
son Alerandrien fchreiben, der doch erft feit 385 auf dem ägypti⸗ 
chen Patriarchenftuhle ſaß; der Pabft Anafletus, welcher nach der 
firchlichen UWeberlieferung um 100 geftorben feyn foll, fpricht bei 
ihm von Patriarchen, Primaten, Metropoliten, Erzbifchöfen, lauter 
Aemtern und Namen, die erit Jahrhunderte fpäter auffamen. Der 
Pabſt Melchiades ertpeilt Nachricht von den Schlüffen des nicäifchen 
Concils, das doch erſt eilf Jahre nach feinem Tode zufammentrat, 
ja der Pabſt Zephyrinus CH 218) beruft fih auf kaiſerliche 
Gefege, welche die Austreibung von Bilchöfen verbieten. !) Der 
unbefannte Berfaffer hatte im Augenblick nicht bedacht, daß bis zu 
Anfang des vierten Jahrhunderts Roms Beherrfcher Heiden und 
Berfolger der Kirche waren. . Achnliche Fehler fommen in Maffe 
por. Neuere Schriftfieller finden daher den gejpielten Betrug fehr 
grob, und fie fprechen in den ſtärkſten Ausdrüden ihr Erftaunen 
darüber aus, daß die Menfchen der mittleren Zeiten fich fo lange 
täufchen Tiefen. Ein wichtiger Umftand wird bei dieſem Urtheil 
vergeffen. Die Hülfgmittel, wodurch wir in Stand gefebt find, 
mit größter Sicherheit und leichter Mühe über die Unächtheit der 
Sammlung des falfchen Iſidor zu entfcheiden, verdanfen wir dem 
herfulifchen Fleiß einer Maſſe von Gelehrten, welche feit dem Wieder: 
aufleben der Wilfenfchaften die Denfmale des Alterthums durch— 
forfcht, die Thatſachen der Gefchichte und die Zeitrechnung feſtge⸗ 
ftellt, und Jedermann zugängliche Bücher darüber gefchrieben haben. 
Ein folhes Gefammterbe fremden Fleißed ftand aber weder den 
Zeitgenofjen des falfchen Iſidor, noch ihm felbft zu Gebot. Der in: 
befannte war auf die Kenntniffe feines Jahrhunderts befchränft, 
und dieſe hat er, wie der Erfolg beweist, mit großem Geſchick benützt. 





ı) Fol, 34, a. der Ausgabe von Merlin. 


Die abenvländifche Kirche unter Ludwig dem Frommen ıc. 783 


Ein Styl herrſcht in den unächten Stücken der Sammlung, 
ein Plan zieht ſich durch dieſelben hindurch. Die Cleriker im All 
gemeinen, und insbefondere die Bifchöfe find ein von Gott gemeihter 
unverlegliher Stand. Wer fih an ihren Perſonen, oder ihren 
Gütern vergreift, unterliegt als Kirchenräuber der ewigen Feuer: 
pein. „Huren ift zwar eine fchwere Sünde,“ heißt es im Briefe ) 
des Pabftes Pius, „aber geiftlihe Güter antaften, ift noch ſchwerer, 
denn wer hurt, fündigt gegen fi, wer die Kirche beftiehlt, gegen 
Gott.“ Die Clerifer find feinem weltlichen Gerichte unterworfen, 
vielmehr hat Gott fie zu Richtern über Alle geſetzt. Pſeudoiſidorus 
erfchwert daher Anflagen der Laien gegen Priefter fo fehr, daß 
faum eine vorfommen fann. Er fchärft weiter ben Grundfag ein, 
daß die Schlechtigfeit einzelner Glieder der göttlichen Würde des 
Standes feinen Eintrag thun könne. Der Laie hat verdorbene 
Priefter als eine göttliche Fügung zu tragen, und ift ihren Aus: 
fprüchen Gehorfam ſchuldig, aud wenn fie ungerecht find. Pabſt 
Urban fehreibt: 2) „In der Perfon der Biichöfe follet Ihr den Herrn 
felbft verehren, und diefelbigen lieben, wie eure eigenen Seelen, 
aud) allen Umgang mit Denen meiden, mit welchen Jene feine Ge: 
meinfchaft haben. Stets ift die Entfcheidung eines Biſchofs zu 
fürchten, felbft wenn derjelbe ungerecht urtheilt, was jedoch Jedes 
Kirchenhaupt eifrig meiden fol.“ Den Pabſt Pontianus läßt der 
falfhe Iſidor im erften Briefe fih alfo 2) ausfpreden: „Bon den 
Prieftern gilt dag Wort des Erlöjers: wer Eud betrübt der 
betrübt mid, wer Euch hört, Hört mid, wer Eud ver— 
achtet, veradhtet mid, wer aber mid) veracdhtet, der ver: 
ahtet Den, ber mich gefandt hat. Wenn es gefchehen follte, 
daß ein Priefter fällt, fo follen die Laien den Gefallenen aufrichten 
und geduldig tragen, — Nie dürfen die Glerifer von Menfchen 
ſchlechten Leumunds, oder von feindlich gefinnten, oder von Ins 
gläubigen — oder yon Laien Überhaupt angeflagt werden.“ Ueber: 
einftimmend biemit lehrt der erſte Brief *) des Pius: „die Schanfe 
jollen ihren Hirten nicht tadeln, das Volk feinen Bifchof nicht ans 
flagen, die Gemeinde ihren Borfteher nicht zurechtweifen, denn der 
Schüler ift nicht über dem Meifter, noch der Knecht über dem Herrn. 


!) Ibid. 30 a. — 2) Ibid. 37 a. gegen unten. — 3) Ibid, 37 b, gegen 
unten, — *) Ibid, Seite 29 b. Mitte. 


784 II. Buch. Kapitel 10. 


Biſchöfe können nur von Gott gerichtet werden, der fie wie feinen 
Augapfel erwählt hat. Kein Untergebener wage eg, feinen Seelen: 
hirten anzuffagen, oder zu verläftern, er erinnere ſich an das Bei⸗ 
ſpiel des Herrn, der mit eigenen Händen die (ſündhaften) Leviten, 
bie da kauften und verkauften, zum Tempel hinausgetrieben hat.“ 
Der erfte Brief des Zephyrinus verordnet: ) „nur auf die Aus: 
fage von zweiundfiebzig vollig unbefcholtenen Zeugen hin, dürfe ein 
Biſchof verurtheilt werden.“ Sp ausfchweifend nun auch) biefe 
Sätze klingen, enthalten fie dennoch für jene Zeiten nichts Neues, 
Schon Alfuin behauptet 2) in dem Prozeffe Pabfts Leo’s III., es fey 
eine alte kirchliche Beftimmung, daß zu Ueberführung eines Ober: 
priefters zweiundfiebzig Zeugen erfordert werben. 

Anders verhält es fich jedoch mit den übrigen Firchenrechtlichen 
Grundfägen, die der falfhe Iſidor aufftellt. Der Pabſt ift ber 
allgemeine Biihof der ganzen Kirche, die Vorſteher einzelner 
Sprengel find feine Werkzeuge oder Stellvertreter. Alle wichtigen 
Fragen müſſen daher ihm zur Entfcheidung vorgelegt werden. 
Keine Provinzialfynode darf zufammentreten, ohne feine Einwilligung, 
ihm fteht das Recht zu, allgemeine Concilien zu verfammeln und 
Berufungen eines jeden verklagten Clerifers anzunehmen, er darf 
Biſchöfe von einem Stuhl auf den andern verfegen, er darf fie vor 
feinen Richterſtuhl Taden, er hat endlich die gefeßgebende Gewalt in 
der Kirche. Am Ende feines fünften Briefs an die Numidier 
fohreibt °) Pabſt Damafus bei dem falfhen Iſidor: „alle unfere 
Beihlüffe, fowie die Entfheidungen welche unfere Vorgänger über 
firhlihe Drdnung und Zucht gegeben haben, müffen von Euch und 
yon allen Biſchöfen und von dem ganzen Clerus aufs pünft- 
Yichfte beobachtet werben, bei Strafe, daß jeder Widerſpenſtige Feine 
Berzeihung erlangen kann.“ Im erften Briefe des Pabſts Julius 
heißt *) es: „Eraft eines befondern Vorrechts ift dem Stuhl von 
Nom die Befugniß eingeräumt, allgemeine Concilien zu verfammeln, 
und über die Bischöfe zu richten; auch müffen alle wichtige Sachen 
an ihn gebradht werben, denn er. hat den Borzug vor allen andern 
Kirchen. Sprit nit der Herr im Evangelium: Du bift 
Petrus, auf diefen Felfen will ih meine Kirche grüns 
den, was Du auf Erden bindeft oder löſeſt, foll aud 


1) Ibid. ©. 33 b. Mitte. — 2) Epistol. 92, opp. ed. Froben I., 134 
gegen unten. — 3) Merlin ©. 108 b. unten, — *) Ibid, ©. 93 b. unten, 





Die abendländifche Kirche unter Ludwig dem Frommen ıc. 85 


im Himmel gebunden oder gelöst feyn. Längſt iſt durch 
bie hl. Apoftel und ihre Dh das Geſetz gegeben worden, 
welches die allgemeine und apoſtoliſche Kirche bis auf den heutigen 
Tag befolgt hat, dag ohne Zufimmung bes römiſchen 
Hohenpriefters Feine Synode berufen, fein Bifchof 
verurtheilt werden darf. Gleichwie der hl. Apoſtel Petrus 
der Fürſt unter den andern Zwölfboten war, alſo gebührt auch dem 
von ihn gegründeten und ihm geweihten Stuhle der Vorrang, fo zwar 
das derfelbe das Haupt Aller if, und daß vor ihn ſämmtliche wich: 
tige Fragen und Falle in der ganzen Kirche gebracht werden müffen. 
Ohne Zuthun des römiſchen Biſchofs Fann nichts feſtſtehen“ u. f. w. 
Dieſelbe Behauptung wird ſehr häufig wiederholt. So im erſten 
Brief ) des Zephyrinus: „An die römiſche Kirche mögen Alle, 
namentlih aber die Bedrüdten Berufung einlegen, und bei ihr 
Hilfe ſuchen, wie ein Kind bei der Mutter.“ Noch deutlicher er- 
klärt fi der vierte Brief ?) des Damafus: „die Metropoliten find 
befugt, die Streitfachen der Bifchöfe zu unterfuchen, und über wich: 
tige kirchliche Dinge Rath zu pflegen, jedoch Beides nur in Gemeins 
Schaft mit ihren ſämmtlichen Suffraganen, und alfo daß Jeder zu: 
gegen ift, und daß Alle einer Meinung find; aber nicht iſt es ihnen 
geftattet, ohne Beiftimmung des römifchen Stuhls einen Befchluß zu 
faffen, oder Biſchöfe zu verurtheilen. An eben diefen Stuhl dürfen 
auch höhere Elerifer, die in Unterfuchung ſtehen, appelliren. Auch 
widerfireitet es, wie Ihr wiſſet, dem Fatholifchen Glauben, dag ohne 
Erlaubnig des Stuhles Petri irgend eine Synode zufammentrete.“ 
Endlich fpricht der zweite Brief ?) des Pabftes Calixtus dem Haupte 
der römiſchen Kirche das Necht zu, Biſchöfe zu verfegen: „Iſt eine 
Berfegung nöthig, fo möge fie erfolgen, aber nur auf Einladung 
ber Brüder, und mit Einwilligung des Stuhles Petri, auch nicht 
in ehrgeiziger Abficht, fondern aus Gründen des allgemeinen Wohle,“ 

Man fieht, der falſche Iſidor beweist eine unglaublihe Groß: 
muth gegen den römischen Stuhl. Aber was er diefem fchenft, ift 
Andern geraubt. Bisher hatten die Metropoliten nicht nur dag 
Recht, fondern fogar die Berpflihtung, ) Provinzialfynoden zu berufen 
und zu lenfen; ihnen Fam es ferner zu, Gericht über die Bifchöfe 





N Ibid. ©. 35 b. Mitte. — 2) Ibid. 105 a, Mitte. — 3) Ibid, ©, 55 b. 
Mitte. — 9) Man fehe oben S. 584. 


Gfroͤrer, Kircheng. IE, 50 


7186 — 1IE- Buch. Kapitel 10, 


zu halten, und bie Befchlüffe der Synoden zu vollzichen, - Ihrem 
Stande gehörten bie geiftlichen Kammerboten an, welche unter Karl 
dem Großen, und aud noch unter Ludwig dem Frommen, als 
faiferlihe Bevollmächtigte eine diftatorifche Gewalt im Reiche aus: 
übten. Alles das ift ihnen genommen, zu bloßen Handlangern des 
Pabftes finfen fie herab. Diefer Angriff auf. eine Klaffe bisher 
ſehr mächtiger Beamten ift fo Ted, daß man fih nicht wundern 
fann, wenn der fhlaue und welterfabrene Fälfcher jener. Urkunden 
den Berfuh macht, einige, oder wahrſcheinlicher einen ber be 
drobten Metroppliten von den übrigen zu trennen, und in bie Ber- 
ſchwörung bineinzuziehen. In dem Briefe des Pabſts Anicetug 
findet fich folgende merkwürdige Stelle: ) „Reine andern Erzbifchöfe 
dürfen den Titel „Primaten“ annehmen, als bie, welche in Städten 
erftien Nangs wohnen, und welche in folden Orten durch die Ayoftel 
oder deren Nachfolger zu Patriarden und Primaten geordnet 
wurden. Eine Ausnahme von dieſer Regel findet nur 
dann Statt, wenn ein Volk, das erſt fpäter befehrt 
warb, fo zahlreich ift, Daß es wegen feiner Menge 
eines Primaten bedarf, Die übrigen ODberbirten, melde 
Metropolitanftühle einnehmen, follen nicht Primaten, fondern nur 
Metroppliten genannt werben. Iſt aber ein Metropolite aufgeblafen, 
und unterſteht er fi) ohne den. Rath und die Anweſenheit feiner 
Suffragane Sachen zu entſcheiden, die über die Verwaltung, feines 
unmittelbaren Sprengeld (in. welchem ber Metropolit zugleich Orts⸗ 
biſchof iſt) hinausreichen, fo ſoll er von den Suffraganen zurecht: 
gewieſen werden, und nicht mehr wagen, dergleichen Dinge zu 
thun. Wenn er ſich jedoch nicht beſſert, und die Stimme der 
Biſchöfe verachtet, ſo ſoll an den Stuhl Petri, dem die Gerichts⸗ 
barkeit über alle Biſchöfe zuſteht, Bericht über ſeine Bosheit erſtattet 
werden, damit der Schuldige die gebührende Strafe erleide, und 
damit die übrigen (Metropoliten, die Gleiches wagen könnten), ſich 
fürchten. Im Falle aber wegen Größe der Entſernung, oder Kürze 
der Zeit, oder unterbrochener Verbindungen es ſchwierig wäre, die 
ganze Sache an den Stuhl Petri zu bringen, ſo mögen die Kläger 
ſich an den betreffenden Primaten wenden, damit derſelbe im 
Namen und Auftrage des römiſchen Stuhles entſcheide. 





1) Merlin Seite 50 b. Mitte. 


Die abendlaͤndiſche Kirche unter Ludwig dem Frommen sc. “97 


Desgleichen wern Einer der Bifchöfe Verdacht gegen feinen Metro: 
yoliten bat, fo fuche er entweber bei dem Primaten des Kicchens 
gebiets, oder bei dem Stuhle Petri Recht.“ Diefer angebliche Aug: 
ſpruch des Pabſts Anicetus wölbt über den Metropoliten eine 
höhere Stufe, die des Primaten oder Patriardhen, von welcher man 
bisher im Auslande nichts wußte. Der Primas foll über die Metros 
politen richten, aber wohl gemerft, unter Aufſicht und als geiftlicher 
Lehnsmann des Pabſts. Zur Würde eines folden Primaten aber 
giebt es, Yaut der angeführten Stelle, zwei Berechtigungen, nemlich: 
erftlich apoſtoliſche Vollmacht, und zweitens politiſche Nothwens 
digkeit. Welche Stühle des Franfenreihs der Unbekannte beim 
erſteren Glied im Auge hatte, ift fchwer zu beftimmen. Denn 
mehrere Metrovolitanfige des damaligen Frankenreichs, wie Lyon, 
Arles, Vienne rühmten ſich apoftolifcher Einfegung. Dagegen kann 
faum ein Zweifel darüber obwalten, auf wen das zweite Glied 
hinweist. Die ganze Beichreibung paßt, wie ſchon Blasfus be: 
merkt, ) blos auf Mainz, auf diefe Stadt aber auch ganz vortreff: 
lich. Das teutfche Volk, das der Mainzer Hirte leitete, war erft 
neuerlich befehrt worden, und wegen der Maffe der Befehrten hatte 
der erſte Hirte Bonifacius Nechte erhalten, welche die Macht eines 
bloßen Metropsliten weit übertrafen, und dem Anfehen eines Patri: 
archen gleich famen. Folglich wollte der Unbefannte das Mainzer 
Kirhenhaupt dadurch von den übrigen, der Bernichtung geweihten, 
Metropoliten trennen, daß er ihm auf Koften der Lesteren ein 
höheres, wenn aud vom römiſchen Stuhl abhängiges Amt, als 
Lockſpeiſe sorbielt. Man bemerfe noch, wie fehlau der Gedanke 
auf die Berhältniffe jener Zeit und Die Gefchichte des Mainzer 
Stuhls berechnet it. War nit die Gewalt, welche Bonifaeius 
befeffen, duch Erhebung der Metropolen Cölln und Salzburg 
befchnitien worden, und mußten nicht die Nachfolger des Bonifacius 
biefe beide Nebenbuhler, ſey es auch um den Preis römiſcher Knecht: 
ſchaft, wieder in ihr Nichts binunterzuftoßen wünfchen ? 

Bliden wir nun zurück. Neu ift in dem Geſetzbuch des 
falihen Iſidor die Erhebung des römischen Stuhls auf eine früher 
niht gefannte Höhe von Macht, und die Demüthigung der 
Metropoliten. Beides flieht in engftem Zufammenhang, Beides mug 





) A. a. O., Kap. 15. ©. 402 fig. 
50 * 


188 IH. Bud. Kapitel 10. 


‚als das wohlbewußte Ziel betrachtet werden, nach dem er firebte, 
‚und. wegen deſſen er den unerhörten Betrug gefpielt hat. Sicherlich 
aber befaß in feiner Seele eine Abſicht das Uebergemwicht über 
‚die andere. Mit andern Worten, das Eine war fein eigentlicher 
Endzweck, das Andere diente ihm als Mittel. Zwei Fälle find 
denfbar. Entweder gieng fein Dichten und Trachten dahin, alle 
Macht auf das Haupt des Pabftes zu häufen, und die Erniedrigung 
‚der Metropoliten war der Weg, auf dem er diefes Ziel zu erreichen 
‚hoffte; oder umgefehrt wollte er die Macht der Metropoliten ſprengen, 
und braudte ald Mittel dazu die Vergrößerung des Stuhles Petri. 
Sp faßt die Frage auch Spittler, ) der für das Leßtere entfcheidet, 
ohne jedoch Gründe anzugeben. Im Folgenden foll der Beweis 
geführt werben, daß die Sache ſich wirklich alſo verhält. An fi 
it Mar, daß wenn ber Betrliger für den Stuhl Petri arbeitete, 
wenn folglih das Buch von Nom, oder einer römischen Parthei 
ausgieng, der Pabft felbft von dem Plane unterrichtet gewefen feyn 
muß. Denn wurde die Sammlung von ihm. felbft, oder durch 
Andere auf feinen Befehl gefchmiedet, fo wußte er notbwendig dar: 
um, handelte aber der Fälfcher auf eigene Fauft, fo kann man fi) 
feinen andern Zweck feiner Handlung denken, als daß er die Gunft 
des Pabſtes und feinen Danf verdienen wollte. Lebteres ange: 
nommen, ift wohl fein Zweifel, daß ber Fälſcher entweder, ehe er 
Hand and Werk legte, die Zuftimmung des Pabſtes eingeholt, oder 
wenigftens das vollendete Werk ihm überſchickt, und feine Dienfte 
geltend gemacht Haben werde. Mit einem Worte: die Borausfegung, 
der falfche Iſidor fey zum Vortheile des Stuhles Petri unterfchoben 
‚worden, fchließt die andere in ſich, daß der Pabft mittelbare oder 
unmittelbare Kenntniß von dem Plane befaß. War aber weiter 
der Stuhl Petri in das Geheimniß eingeweiht, fo fann man un: 
möglih annehmen, daß die Päbfte in den erften Zeiten nad) Er: 
‚fcheinen des Buchs Grundfäse ausgefprocdhen haben, die denen 
des falſchen Iſidor's zuwider liefen, oder dazu bienen mochten, bie 
Aufdeckung des Betrugs zu erleichtern. Sollte Lesteres dennoch 
-gefchehen feyn, jo würde daraus folgen, daß die Borausfegung 
‚römischer Mitwiffenfchaft falfh ift, und bag dem DBerfaffer eine 
andere Abficht zugefchrieben werden muß. 





U 0 O., Werke L, 257 fig. 


Die abendländifche Kirche unter Lubwig dem Frommen ıc. 789 


Es ift jet nöthig, Zeit und Drt der Abfaffung des Buche zu 
beftimmen. Blondel hat in den Stüden des falfchen Iſidor's zwei 
Stellen !) entdeckt, welde aus ben Berhandlungen der fechsten 
Parifer Synode vom Jahre 829 entlehnt find. " Demnach Fann der 
Betrüger erft nach dem Jahre 829 fein Werk zufammen getragen 
haben. Eine andere Gränze oder Zeitpunkt, vor welchem das Buch 
gefchrieben feyn muß, Laßt ſich zwar nicht aus Iſidor felbft, wohl 
aber aus einer der beiden älteften fränfifchen Capitufarienfamm- 
lungen ermitteln. Anfegis, ?) ein fränfifcher Mönch, der fih durch 
jeine Gelehrfamfeit auszeichnete, und deshalb die Gunft der Kaifer 
Karl und Ludwig genoß, auch von ihnen mit drei Abteien Flais 
im Sprengel Beauvais, Lureuil und Fontenelle ausgeftattet wurde, 
hat im Jahre 827 die erſte Sammlung fränfifcher Capitularen ange: 
legt, welche die Geſetze Karl's des Großen und Ludwig’s des 
Frommen bis zum angegebenen Jahre enthält. Das Werf des 
Anfegis zerfällt in vier Bücher; ?) in den beiden erften find die 
firhlichen Verordnungen Karl’ und Ludwig’s zufammengeftellt, in 
ben beiden folgenden ihre weltlichen Gefege. Drei Anhänge 9 um: 
faffen eine Anzahl unvollftändiger, oder auch wiederholter Gefege 
weltlichen und geiftlihen Inhalts, welche Karl der Große, Ludwig 
der Fromme, und deſſen erfigeborner Sohn Lothar, erlaffen haben. 
Angeblich, weil die Sammlung des Anfegis nur bis zum dreizehnten 
Jahre Ludwig’s des Frommen reiche, und weil überdieß manches 
Andere zwecdienlihe übergangen fey, unternahm es der Mainzer 
Diakon oder Levite Benediftus die Arbeit des Abts von Fontenelle 
zu ergänzen. Auf Befehl feines Erzbiſchofs Dtgar) fegte er um 
845 drei Bücher °) hinzu. In eben dieſen drei Büchern des 
Mainzer Leviten nun finden fich zahlreiche Einfchiebfel aus dem 
falſchen Iſidor. Demnach ift das Werf des Mainzers jünger als 
die Sammlung des falfchen Iſidor, und letztere muß vor dem 
Jahre 845 vollendet worden feyn. Das Mainzer Buch giebt noch 
zu andern Schlüffen Anlaß. Ueber die Quellen, aus welchen er 
geſchöpft, Außert ſich Benedikt felbft in der Vorrede )) alfo: „Was 





) In den Briefen der Päbſte Urban I. und Johann HL. — 2) Leber ihn 
vergleiche man histoire litteraire de la France IV., 509 fig. — 3%) Abgedrudt 
bei Baluzius Capitut, I., 697 — 791. — 9 Ibid. ©. 791 fig. — >) Siehe die 
Berfe, die der Borrede vorangeftellt find bei Baluzius I., 801. — 6) Abger 
drudt ibid. 821 flg. — 7) Bei Baluzius a. a D., ©. 803 gegen oben. 


790 IE Buch. Kapitel 10. 


er mittheile, habe er an werfchiedenen Orten und auf einzelnen 
Pergamenten, wie es auf Synoden und Reichstagen befchloffen wor: 
den, zerfireut angetroffen, befonders im Archive der Mainzer Kirche, 
wo der Erzbiichof Rifulf die Urkunden niedergelegt, deffen Nachfolger 
aber, und Berwandter Digar fie entdeckt habe.“ Iſt nun die Aug: 
fage des Leviten unwahr oder wahr? Im erſteren Falle würde 
folgen, daß Benedift mit den Urhebern des unterfchobenen Iſidor 
in Berbindung fand, weil er, laut der Vorausſetzung, den Lefer 
auf eine falfche Spur leiten will. Man müßte dann annehmen, 
daß die Mainzer Capitularienfammlung der erſte Verſuch war, den 
falfchen Iſidor in die Welt einzuführen. Sagt Benebift dagegen 
die Wahrheit, fo erhellt aus feinem Zeugniſſe, daß unter den Ur: 
funden der Mainzer Domkirche fih auch eine Abfchrift der Fälſchung 
befand. In jedem Sale erfheint Mainz ald der Ort, wo ung 
die erfte fihere Spur vom Vorhandenſeyn des Buchs entgegentritt. 
Bedenft man nun noch, daß der Betrüger, während er am Unter—⸗ 
gange der übrigen Metrovoliten arbeitet, den Mainzer Stuhl durch 
Vebertragung von Patriarchalrechten bevorzugt, fo gewinnt die alte 
Bermutbung, Mainz oder der dortige Sprengel fey die Heimath 
des Buchs, erhöhte Wahrfcheinlichfeit. Schon der Erzbifchof Hinfmar 
von Rheims, der im Uebrigen die Sammlung für ein Werf des 
ächten Iſidor von Sevilla hielt, bezeihhnet Mainz als den Drt, von 
dem aus baffelbe im fränkiſchen Abendiande verbreitet wurde. Er 
fagt nemlih, ) Rikulf von Mainz habe die Briefe Iſidor's aus 
Spanien nah Frankreich gebracht. Zu diefer irrigen Anficht bes 
flimmte ihn ohne Zweifel die oben mittgetheilte Stelle aus ber 
Borrede des Leviten Benedikt. Immerhin aber ift es bemerfene- 
werth, daß ſchon ein Zeitgenoffe auf Mainz hindeutet. | 
Noch mehrere andere Gründe zeugen, wenn nicht für Mainz 
als Geburtsftabt, fo doch für fränfifhen Urſprung des Bude; 
Sämmiliche alte Handfchriften Pfeuboifidor’s, die man fennt, ſtammen 
aus Frankreich. ?) In eben diefem Lande wird auch die Samm: 
lung zum erflenmale amtlich benügt. Ein Schreiben, das Hinfmar 
von Nheims 857 im Namen der Synode von Kierfy abfaßte, führt 
unzweideutige Stellen ®) aus den pſeudoiſidoriſchen Briefen ber 


1) Opusculum LV capitulorum, opp. ed. Sirmond II., 476 unten. — 
2) Spittler's Werke I, 228. — 9 Manft XV., 127 unten flg. 


Die abendländifhe-Kircherunter Ludwig dem Frommen ꝛt. 791 


Päbſte Anafletus, Lucius, Urbanus an. In Jtalien dagegen zeigt 
fi vor dem Jahre S65 Feine Spur von Bekanntſchaft mit Pfeu- 
doiſidor; vielmehr fprechen fih im ber Zwifchenzeit zwei Päbſte in 
Öffentlichen Urfunden auf eine Weife aus, die jeden Verdacht nieder 
fchlägt, als hätte der Stuhl Petri bis dahin von ber neuen ifidori- 
fchen Sammlung etwas gewußt, oder biefelbe für feine Zwecke bes 
nüßgen wollen. Im Jahr 850 fchrieb Pabſt Leo IV. (847 —855) 
an die englifhen Biſchöſe: ) „ES fey nicht erlaubt, nad) frem⸗ 
den und unbefannten Geſetzen bie Cleriker zu richten. Die 
Kirche und der römische Stuhl laſſe als vichterlihe Norm nur die 
Canones der Anoftel, die Beichlüffe von Nicäa, Ancyra, Neucäfarea 
u. f. w., fowie die Defretalen der Päbſte Silvefter, Siricius, Innos 
conz, Zofimus, Cöfeftinus, Leo, Gelafius, Hilarius, Symmachus, 
Simplicius gelten.“ Zu bemfelben Grundfag, nur noch entfchiedener, 
befennt fi im Jahre 863 der Pabſt Nikolaus I., indem er auf 
Bitten des Erzbiſchoſs Hinkmar entjcheidet ?) Fein Clerifer des Rheim⸗ 
fer Sprengels dürfe fih an ein fremdes Gericht wenden, und nur 
den Befchlüjfen von Nicka und der andern allgemein anerfannten 
Coneilien, fowie den Verordnungen der Päbſte Siricius, Innocen⸗ 
tius, Zoſimus, Cöleſtinus, Bonifacius, Leo, Hilarius, Gelaſius, 
Gregorius, komme geſetzliche Kraft zu. In dieſen gleichlautenden 
Ausſprüchen zweier römiſchen Oberprieſter, ſind die angeblichen Briefe 
der Päbſte von Clemens an bis auf Melchiades, die den erſten 
Theil der Sammlung des falſchen Iſidor bilden, nicht blos über: 
gangen, fondern es ift gar fein Raum für fie gelaffen. Erſt zwei 
Jahre fpater, im Streite gegen Hinfmar wegen der Sache des 
Bifhofs Rothad von Soißons, beruft fih Nikolaus I. auf den 
falfchen Iſidor, nachdem ihm das Buch, laut allen Anzeigen aus 
Frankreich, mitgetheilt worden war. Sonnenklar it alfo, Daß ber 
Stuhl Petri bis 865, alfo volle 20 Jahre nach dem Erjcheinen 
der Auszüge, welde der Mainzer Levite feinem Werfe einverleibte, 
tie falfche iſidoriſche Sammlung weder gebraudt, noch anerfannt 
hat. Hieraus folgt denn Fraft der oben aufgeftellten Regel, erſtens 
daß Vergrößerung des päbſtlichen Stuhls nicht die eigentliche End— 
abjicht des Betrügers, fondern nur ein Mittel geweſen feyn Fann, 
deffen er fih zu Erreihung eines andern Zwedes bediente, und 


— — — — 


i) Manſi XIV., 884 oben, — 2) Manfi XV., 574 unten. 


192 BE Buch. Kapitel 10. 


zweitens daß biefer andere Zweck in Erniederung der Metropolitan 
gewalt beftand. Damit flimmt der fränfifhe Urfprung des Buchs 
vortrefflich überein. Gar fein Grund läßt fihdenfen, warum frän: 
kiſche Geiftlihe einen ſolchen Betrug fpielen mochten, um dem Pabft 
die Alleinherrichaft in die Hände zu fpielen, dagegen wird aus ber 
oben ausgeführten Schilderung der damaligen Umftände fehr begreifs 
lich, weßhalb fie um jeden Preis die Gewalt der Krone und der 
mit ihr verbundenen Metropoliten zu befchränfen fuchten. Weit fie 
diefes Ziel nur mit Hülfe des Pabſtes zu erreichen hofften, haben 
fie demfelben die große Rolle zugedadht. Auch werden wir in den 
folgenden Kapiteln zeigen, daß feit dem Tode Ludwig's des Frommen, 
mithin feit dem Erfcheinen der falfchen Defvetalen, in den aus der 
Einheit des fränkiihen Reichs bervorgegangenen Staaten ein Angriff 
um den andern gegen die Metropoliten gemacht worden if. End: 
lich zeugt für unfere Meinung noch der fcharffichtigite Biſchof aus 
der andern Hälfte des neunten Jahrhunderts, ein Mann, der wie 
fein Anderer das Getriebe der Partheien feiner Zeit kannte. Hinfmar 
von Rheims erklärt Erniederung der erzbifchöflihen Gewalt mit 
bürren Worten für den eigentlichen Zwed ber ifidorifchen Defretalen. 
Diefe Gefege, fagt !) er: „feyen eine ſämmtlichen Metropoliten 
geftellte Mäufefalle.“ 

Die pſeudoiſidoriſche Sammlung ift ein bäßlicher Fled der 
Kirchengefchichte. Das Gefühl wird empört zu Iefen, wie der Bes 
trüger die Worte der Bibel und die Namen der angejehenften 
Väter für einen zmweideutigen politiſchen Zweck mißbraucht. inige 
Entfhuldigung liegt jedoch in den Zeitverhältniffen. Das Bud 
entftand zwiſchen 829 und 840, alfo während ber bürgerlichen 
Kriege in Frankreich. Dieſe Stürme lafteten mit eifernem Drud 
auf dem Clerus. Die Parthei, welche heute noch geberricht, unter: 
lag vielleicht morgen, und umgefehrt. — Jmmer aber forderte ber 
Sieger feine Opfer. Eine Menge Biſchöfe wurden abgefegt; daher 
völlige Unficherheit der Pfründen. Schon um 824, aljo noch vor 
Ausbruh der Unruhen klagt Agobarb: ?) „fein Stand Freier wie 
Leibeigener ift gegenwärtig feines Beſitzes fo wenig fiher, als bie 
Priefter. Nicht ein einziger kann vorausſehen, wie viele Tage er 

”) Opp. IL, 413 Mitte, circumposita omnibus metropolitanis musei- 


pula. — 2) De dispensatione rerum ecclesiasticarum cap. 15, bei Gallandius 
XIII., 471 b. unten. 


Die abendländifche Kirche unter Lubtwig dem Frommen ac. 193 - 


feine Kirche oder Wohnung behalten wird. Nicht nur die Güter 
der Kirchen, fondern auch dieſe felbft werben verkauft.“ Wie muß 
biefeg Uebel erft während ber innerlihen Unruhen zugenommen 
haben! Iſt es num zu verwundern, wenn ber Clerus nach jedem 
Mittel greift, um die Gerichtsbarkeit über die Bifchöfe dem Könige 
und deſſen Werkzeugen, den Metropoliten, zu entwinden. Sobald 
das Recht der Berufung auf den Pabſt anerkannt war, konnten 
die Biſchöfe darauf rechnen, daß der Stuhl Petri fie gegen den 
Zorn ber Fürften fchügen werde. Daher fommt es denn, daß faft 
in jedem pſeudoiſidoriſchen Stüde der Gedanfe wiederholt wird, 
nur der Pabſt dürfe über die Bifchöfe richten. Am bdeutlichften ent: 
hüllt der Fälſcher feine Abfiht in einem Briefe, welchen er dem 
Pabfte Sixtus II. in Mund Iegt. Sixtus fchreibt hier I) an bie 
ſpaniſche Kirche: „wiffet Brüber, daß die Bifchöfe, die Ihr aus 
Menfhenfurdht ungerehter Weife verurtheilt hattet, 
von uns dem Rechte gemäß wieder eingefegt worden 
find.“ Diefer vom neunten ins dritte Jahrhundert zurückverſetzte 
Ausspruch ift offenbar gegen Neichstage, wie der von Diedenhofen 
im Jahr 835, gerichtet, wo Ludwig dev Fromme die Bifchöfe der 
Gegenparthei verurtheilen ließ, und der Fälſcher deutet die Erfolge 
an, bie er vom Gelingen feines Werfs erwartete. Gewiß war 
Nothwehr gegen die Cingriffe Föniglicher Gewalt die wichtigfte 
Zriebfeder bei Abfaffung des trüglichen Buchs. Nebenbei wirkte 
freilich noch jener Geift der Meuterei und der Auflehnung gegen 
das Königthum, welcher feit dem Ausbruch des Bürgerkriegs bei den 
weltlichen, wie bei den geiftlichen Großen ſich bemerflih macht, Ob 
der Stuhl von Mainz in das Geheimnig des Buchs eingeweiht war, 
wagen wir nicht zu enticheiden, wahrjcheinlich aber ift e8 aus den 
oben angeführten Gründen. Die Gleichheit des Styles in dem 
ganzen Werfe deutet darauf hin, daß ein einzelner Mann bie 
Feder geführt hat. Gleichwohl find wir überzeugt, daß diefer Eine 
nicht für fih, fondern im Auftrage einer Parthei handelte Wir 
ſchließen dieß aus der allgemeinen Verbreitung und Anerfennung, 
welche das Werf fchnell in dem Franfenreiche fand. Das fett bag 
Zufammenwirfen Mehrerer voraus. Uebrigens ift es ein Irrthum 
zu glauben, Pſeudoiſidor habe, als Buch, einen außerorbentlidhen 





') Merlin Seite 49 b. gegen oben. 


a pie 


Einfluß auf bie Entwicklung der Kirchengefchichte gehabt. Allerdings 
waren die Gefinnung und die Verhältniffe, aus welchen das Bud 
hervorgieng, gewaltige Mächte, aber diefelben würden auch ohne 
das Buch in gleicher Richtung, und wohl auch mit gleichem Nach: 
drud gewirkt haben. Später (feit 865) wußte zwar: Nikolaus 1. 
bie Sammlung trefflich für feine Zwecke zu benützen, aber bald nad) 
Nikolaus rieß derfelbe Strudel, der die Fünigliche Gewalt verfchlang, 
auch das Pabſtthum mit fort, und die Tiare unterlag während 
eines anderthalb Hundertiährigen Zeitraums ber tiefften Erniedrigung. 
Als fodann die Gunft der Umftände und der Geift Gregor’s VII. 
den Stuhl Petri wieder bob, nahm Rom Rechte in Anfpruch, welche 
weit über die Grundſätze des falfchen Iſidor hinausgriefen. Auch 
ohne die Sammlung. des falſchen Iſidor wäre ficherlich Alles ebenfo 
gegangen. 

Am Schluffe diefes Abfchnitts müſſen wir noch von den Er: 
oberungen berichten, welche die Kirche unter Ludwig dem Frommen 
oder kurz nah ihm machte. Mit Feuer und Schwert und durch 
Ströme von Blut, hatte Karl der Große im Sachfenlande die Ver: 
ehrung Odins unterdrücdt, aber derſelbe Dienft herrſchte unter ver: 
wandten Stämmen jenfeitö der Elbe, und der Sachſe brauchte nur 
die Nordgränge zu überfchreiten, wenn ev den alten Göttern opfern 
wollte. Diefe gefährlihe Nachbarſchaft war eine dringende Auffor: 
derung für Karl's Geſchlecht, die katholiſche Religion auch in der 
eimbrifhen Halbinjel, in Jütland und den umliegenden Eilanden 
auszubreiten. Ein Anhaltspunft bot fih dur eine politiihe Be— 
wegung bar, die unter den Dänen ausbrad, Seit S13 ftritten 
die Söhne eines Dänenkönigs Godfrid, der 810 gegen Karl gedroht 
- hatte, feine Fahne in Aachen aufpflanzen zu wollen, mit zwei andern 

Fürften. Heriold (Harald) und Reginfrid um bie Herrfchaft. Die 
beiden Yegtern fuchten bei den Kranfen Hilfe, die ihnen auch. erft 
von Karl, dann von Ludwig dem Frommen bewilligt ward. Negin- 
fried fiel 814 im Kampfe, fein Bruder Harald gewann bald bie 
Oberhand, bald unterlag er, je nachdem ihn bie franfifchen Herr: 
fher läßiger oder nachbrüdlicher unterftüßten. ) Als Harald fi 
von Neuem an Ludwig wandte, befchloß der Kaifer, zugleich Pres 
diger des Evangeliums nach Dänemark zu fchiden. Der Erzbiſchof 





) Chronicon Moissiacense ad annum 813. Perz J., 311. Einhardi 
annales ad annum 815 u, 817 ibid. Seite 202. 203. 


Die abendländiſche Kirche unter Ludwig dem Frommen u. 795 


Ebo von Rheims bot fich zu dieſem gefährlichen Gefchäfte an. Man 
fand für gut, ihn vorher nad Rom zu fenden, damit er dort vom 
Pabfte die nöthigen Bollmachten einhole. ) Noch ift die Bulle vors 
handen, 2) kraft welcher Paſchalis I. dem Erzbiichofe von Rheims 
die Predigt des Evangeliums im Norden übertrug, aber ihn auch 
zugleich anwies, in zweifelhaften Fällen flets die Entſcheidung des 
Stuhles Petri einzuholen. Ebo gieng in Begleitung des nach— 
maligen Bifchofs yon Cambray Halitgarius 822 nah Dänemarf 
und taufte wirklich unter dem Schutze Harald’8 viele Dänen. Der 
König ſelbſt aber blieb, ohne Zweifel aus Furcht vor den Prieftern 
Odins, Heide, Groß kann daher ter Erfolg Ebo's nicht geweſen 
ſeyn; er Fehrte überbieß fchon 823 wieder nad) Frankreich zurüd. *) 
Mit der Neife Ebo's fällt die Gründung eines für die Kirche des 
Nordens wichtigen Klofters zufammen. Schon unter Karl dem 
Großen hatte der Abt Adalard von Corbie, unter deſſen Mönchen 
viele Sachfen von guter Geburt waren, den Plan entworfen, ein 
Tochterftift in Altfachfen zu errichten. Die Sache warb jebod) theils 
durch zufällige Umftände, theils durch Adalard’3 Sturz hinausge- 
fchoben. Erſt im Jahr 815 führte Adalard’s Nachfolger den Plan 
aus, indem er an einem Drte, der Hetis genannt wird und zum 
Bisthum Paderborn gehörte, ein Klofter gründete, das er mit’ 
Mönchen aus Corbie bevölkerte. Sechs Jahre Yang beftand bie 
Anftalt, aber bald zeigte es fih, daß der Platz fchlecht gewählt war, 
denn der unfruchtbare und fandige Boden nährte die Mönche nur 
mit Außerfier Mühe. ) Indeſſen hatten Wala und fein Bruder 
wieder die Gunft des Kaifers gewonnen. Alsbald verjeste Adalard 
bas Klofter son Hetid an einen wohlgelegenen Ort unweit der 
Meier, dem er zu Ehren des Mutterftifts den Namen Neu:Corvey 
gab. Die Stadt, die fih um das Kiofter bildete, fleht noch, das 
Stift aber ift eingezogen. Wahrfcheinlih um bdiefelbe Zeit wurde 
durch Ludwig den Frommen ebenfalls in Sachſen das Frauenflofter 





» Died ſagt Anskar in feinem Briefe an die teuifihen Bifchöfe, bei 
Mabillon acta Ord. s. Bened. IV., b. 122. — ?) Abgedruckt bei Pontoppi- 
danus annales ecclesiae danicae I., ©. 19 flg., oder auch bei den Bollan- 
diften zum 3, Sebr. ©. 414. — 3) Einhardi annales ad annum 823, Perz I., 
211 unten. — *) Diefe Nachrichten verdanten wir der Schrift eines gleichzei- 
tigen Mönchs, welcher der Einweihung von Neucorvey anwohnte. Translatio 
Sancti Viti bei Mabillon acta O. S. B. IV., a. ©. 503 $. 8. 

* 


796 ' UII. Buch. Kapitel 10. 


Herford errichtet. ) Die Thatfache, daß die Stiftung dieſer Klöfter 
mit dem. erften Verſuche, Dänemark zu befehren, zufammenfällt, 
deutet darauf hin, daß der fränkiſche Hof den Plan hatte, von hier 
aus das Chriftenthum im Norden zu verbreiten. Wirklich war auch 
Corvey die Pflanzichule, aus welcher die ffandinavifchen Völker ihren 
Apoftel empfiengen. 

Gehgdrängt von der heidnifchen Parthei und den Söhnen God: 
fried's, beſchloß Harald ſich ganz dem Kaifer Ludwig in die Arme 
zu werfen, und im Frankenreich fi taufen zu Yaffen. Im Fahre 
826 jtieg er mit Weib und Kindern fammt einem Gefolge von 
400 Mann zu Schiff, fuhr die Nordfee entlang, dann den Rhein 
herauf nah Mainz, wo damals Ludwig weilte. ) Die Taufe 
erfolgte unter großen Feierlichkeiten im Juni. Der Kaifer felbft 
und feine Gemahlin Judith vertraten Pathenſtelle. In feinem 
Gedichte über die Regierung Ludwig’s des Frommen verfichert °) 
Ermold Nigellus, der Täufling habe fih und fein Neich dem frän— 
fiihen Kaifer überantwortet, das heißt, Ludwig als feinen Lehns— 
bern anerkannt. Diefe Nachricht erhält hohe Wahrfcheinlichfeit 
duch das übereinftiimmende Zeugniß zweier andern fränfifchen 
Geſchichtſchreiber. Einhard nemlih und der Aftronom berichten, ) 
daß Ludwig der Fromme nach erfolgter Taufe dem Dänenfürften 
die Grafſchaft Riuftri (Nuftringen in Friesland) fchenfte, damit er 
fih im Fall der Noth dahin zurüdziehen fünne. Schwerlich wäre 
der Franke fo großmüthig gegen den Dänen gewefen, wenn diefer 
nicht zuvor die Oberhoheit des fränfifchen Herrſchers anerfannt hätte. 

Befehrer follten den neugetauften Dänenfürften in die Heimath 
begleiten, um bas von Ebo begonnene Werk weiter zu führen. 
Aber wie tüchtige Männer auftreiben? Das Unternehmen war 
fehr gefährlich; denn genau bejehen, befad Harald feinen Schuh 
breit Land mehr. Seine Zufunft hieng von der Macht des Schwer: 
tes ab, und ein entichloffener Widerftand der Prieſter Odins ließ 
fih vorausfehen. Gleichwohl ward der vechte Mann gefunden. 

Immer bat das Chriftenthum bei Wagniſſen, was jede Belehrung 





») Man fehe die Urkunde Ludwig's des Teutſchen, worin dieſer der Stif: 
tung feines Vaters gedentt, bei Mabillon a. a. O., ©. 500 gegen unten. — 
2) Annales Xantenses ad annum 826 bei Perz II., 225 oben. — 9) Carmi« - 
num liber IV., vers. 601 fig. bei Perz I., 512 unten. — 9% Perz I., 214 
unten, und II., 629 gegen unten. | 

_ 


Die abendländiſche Kirche unter Ludwig dem Frommen ı. 797 


neuer Völker ift, feine Hoheit erprobt. Wo von Ruhm, Reichthü—⸗ 
mern und Macht umgebene Anftalten bereits beftehen, pflegen fich 
Ränkemacher und ehrfüchtige Genießer einzudrängen, aber wo ber 
Dienft des Evangeliums nichts als Entbehrungen, Wunden und 
den Märtyrertod in Ausficht ftellt, fommen Geweihte herbei und 
‚die Miethlinge bleiben weg. Dieß ift die Haupturfache, weßhalb 
die Apoftel der Völker, die Winfride, Methodius, Ansfare zu den 
Zierden der Menfchheit wie der Kirche gehören. Zu Anfang des 
Hten Jahrhunderts wurde von fränfifchen Eltern, man weiß nicht 
wo, Anskarius geboren. Im fechsten Jahre verlor der Knabe die 
Mutter, fein Bater ſchickte ) ihn in die Klofter- Schule zu Altforbie, 
welche großen Ruf genof. Obgleich) an Glaubenseifer und Pflicht: 
gefühl dem Apoftel der Teutſchen nicht nachftehend, unterfchied fich 
Anskar dadurd von Winfried, daß fein Gemüth frühe die Richtung 
aufs Hebernatürlihe nahm, während den Angelfachfen die Fältefte 
Befonnenheit auszeichnete. Ansfar hatte in früher Jugend Ge: 
fihte, die er feinen Genoffen erzählte, und. die ihm feinen fünf: 
tigen Beruf, Sendbote des Evangeliums zu werden, vffenbarten. 
Einft ward fein Geift in die obere Welt entrüct, zwei Führer, die 
er als die Apoſtel Petrus und Johannes erkannte, fchwebten heran 
zu feiner von Leibesbanden gelösten Seele. Sie geleiteten ihn erft 
zu den Behaufungen des Schredens, der Hölle und dem Fegfeuer. 
Dann drang er zu der Quelle des Lichtes empor, aus der die Heili= 
gen ſchöpfen. Nach Nimberr’s Berichte ?) befchrieb Anskar Das, 
was er dort geſchaut, mit folgenden Worten: „Alle Seeligen, welche 
in Schaaren herumſtanden, fogen Freude aus felbiger Duelle. Es 
war ein fo unermeßliches Licht, daß ich weder den Anfang noch 
das Ende fehen fonnte. Und obgleih mein Blick in die Nähe und 
Ferne nicht gehindert war, vermochte ich doch nicht zu erichauen, 
was innerhalb des Lichtes ſich bewegte, fondern nur die Oberfläche 
ſahe ic), doch glaubte ich, daß Der da fey, von welchem Petrus fagt, 
dag die Engel nad) feinem Anblicke fich fehnen. Unfägliche, Alles 
erleuchtende Klarheit gieng von Ihm aus. Er war aud in Allem 
und Alle in Ihm, Er umgab Alle von Außen, Er befeeiigte Alle 
innerlich; Er fchüste fie von oben, hielt fie feft von unten. Sonne 
und Mond Teuchteten dafelbft nicht, Himmel und Erde erfchienen 


) Vita Anskarii $. 2, Perz II, 690 unten. — ?) Ibid, $. 3, Perz II., 
692 oben. 





7198 : ML. Buch. Kapitel 10. 


nit. Doch war dev Glanz von der Art, dag er bie Augen ber 
Schauenden nicht blendete, fondern fie erquicte und die Seelen be: 
friedigte. — Aus der Mitte des Lichtes ertönte eine wonnevolle 
Stimme, welche zu mir ſprach: gehe bin und kehre mit dev Mär: 
tyrerfrone geſchmückt zu uns zurüd.“ Schon im dreizehnten Jahre 
legte Ansfar das Gelübde auf Benedikt's Negel ab. Als die Eolonie 
Neucorvey von dem Mutterflofter aus gegründet ward, zog aud) 
Ansfarius mit vielen Andern nach Sachlen hinüber, und erhielt dort 
bie doppelte Stelle eines Lehrers an der Schule und Predigers.) 
Indeſſen war Harald nah Mainz gekommen und getauft 
worden. Sm Pallafte beratbichlagte man, wer dem Dänen mitzus 
geben ſey. Der Abt Wala erklärte, unter allen feinen Mönchen 
fenne er nur einen, ber zu der Sendung tauge — Ansfarius. 
Ludwig ließ ihn zu fih fommen und befragte ihn, ob er den Auf: 
trag annehme. Der Mönch fagte freudig zu; noch ein anderer 
Bruder aus Corvey, Autbert fehloß fih an ibn an. ?) Beide fhiff: 
ten mit Harald und feinem bänifchen Gefolge im Sommer 826 den 
Rhein hinunter. Anfangs behandelte Harald die Mönche wie 
Knete; denn er war roh und wußte, wie Nimbert ?) fagt, nicht, 
wie man Dienern des Herrn begegnen. müffe, mit ber Zeit lernte 
er fie achten. Harald ſetzte ſich auf der jütifhen Gränze feft, denn 
in’s Land felbft einzudringen, wagte er nit. Bon dort aus fuchte 
Ansfar Befehrungen zu machen, fo gut ed gieng. Bor Allem war 
er darauf bedacht, eine Schule zu gründen, aus welcher Fünftige 
Geiftliche hervorgehen follten. Harald übergab ihm zu diefem Zweck 
mehrere Knaben, vielleicht aus der Zahl feiner Leibeigenen, andere 
faufte Ansfar. *) Im Jahre 827 lieferten die Söhne Goffried's 
dem Anhange Harald’s eine Schlacht, >) in welcher der Letztere über: 
wunden ward. Dem Gefchlagenen blieb nichts übrig, als fih in 
bas friefifche Lehen, das ibm der Kaiſer gefchenkt, zurückzuziehen. 
Auch Anskar mußte ihn begleiten. Bald darauf erfrankte Autbert, 
Anskar's Genoffe, und kehrte nad Corvey heim, wo er ftarb. 
Diefe gehäuften Unglüdsfälle hätten den Muthigften abichredfen Fön: 
nen, dennoch blieb Ansfar fett, und übernahm fogar eine neue 
Sendung. | 





1) Ibid. $. 6. Perz II, 694 oben. — 2) Ibid. $. 7. — 5 Ibid. $. 8. 
Perz II., 695 unten. — Nibid, = 5) Einhardi annales ad annum 827, 
Perz I., 216, 23 


“ ® 
. 


Die abendländifche Kirche unter Ludwig dem Frommen ıc. 799 


Um 829 fam eine ſchwediſche Gefandtihaft nach Frankreich, 
welche die Nachricht überbrachte, daß es in ihrem Lande bereits 
mehrere Verehrer Chrifti gebe, und daß ber König Biorn gerne 
fehen würde, wenn Prediger kämen. Ludwig beſchloß, Ansfar dort 
bin. zu ſchicken. Er ward an ben Hof berufen, und erhielt die 
nöthigen Vollmachten, fammt Geſchenken für den Schwedenkönig. 
Wala beorderte an. Statt Ansfars einen andern Mönd Yon Corvey, 
Namens Gißlemar, zu Harald auf die Dänengränge, In Begleis 
tung des. Vorſtehers der Corveyer Schule, Wittmar trat nun 
Ansfar die ferne Neife an. Sie beftiegen einen Kauffahrer, ber 
jedoch) unterwegs yon Seeräubern überfallen und nach vergeblicher 
Gegenwehr ausgeplündert ward. Anskar verlor die für den König 
Bjorn beftimmten Faiferliden Gefchenfe, fo wie feine ganze Habe 
und rettete mit feinen Genoffen nur das nadte Leben. Unter gro: 
ben Drangfalen gelangten fie endlich 830 nah Birka am Mälarfee, 
dem Königsſitz, wo fie freundlich aufgenommen wurden. Biorn 
ertheilte ihnen die Erlaubniß frei das Evangelium zu predigen. 
Großer Jubel herrſchte unter den criftlihen Gefangenen, deren 
Viele damals in Schweden geweſen ſeyn müſſen, baß fie wieder 
einmal chriſtlichem Gottespienfie anwohnen durften. Auch mehrere 
Schweden wurden befehrt, namentlihd Herigar, Rath des Kö— 
nigs und Hauptmann der Stadt Birka, welcher auf feine Koften 
eine Kirche bauen ließ. Nach anderthalbjähriger Wirkfamfeit kehrte 
Ansfar, ausgerüftet mit einem Schreiben des Könige Bjorn an 
den Kaijer Ludwig in die Heimath zurüd. ) Was in diefem Briefe 
ftand, berichtet Rimbert nicht, doch läßt fi der Inhalt aus den 
folgenden Begebenheiten errathen. 

Der fränkische Kaifer faßte fofort den Entfchluß, an der Elbe: 
mündung einen Erzftuhl aufzurichten, dem die Befehrung des Nor: 
bens und bie Lenkung ber neuen Kirchen übertragen werden follte. 
Zum Sige wählte er bie Stabt Hammaburg (Hamburg), zum 
erſten Hirten, wie billig, Ansfar.. Unter Mitwirkung der Metro: 
politen Ebo yon Rheims, Otgar von Mainz, und Hetti von Trier, 
fegnete der kaiſerliche Capellan Drogo den neuen Erzbifchof von 
Hamburg ein. Zugleich ſchenlte der Kaifer ihm und feinen Nach— 
folgern für ewige Zeiten, als Zufluchtsort und Einfommensquelle, 





» Vita Anskarii $, 10, 41, 12. 


800 | TI. Buch. Kapitel 10. * 


die Abtei Turholt bei Brügge in Flandern und befreite das Klo: 
fter wie das Ersftift von allen Steuern, Heerbann, Zölfen und 
andern Laften. ') Das Jahr der Weihe Fennt man nicht genau, 
wahrfcheinlich fand fie 832 Statt. Die Stiftungsurfunde Ludwig's 
trägt die Jahrszahl 834. Der Kaiſer wagte jedoch nicht, die wich⸗ 
tige Sache für ſich abzumachen. Er zog den Stuhl Petri herbei. 
Hatte vielleicht der König von Schweden ſelbſt dieſe Bedingung 
geſtellt, damit es nicht ſcheine, als wolle er durch Annahme des 
Chriſtenthums Vaſall der Franken werden? Geleitet durch die Bi: 
ſchöfe Bernold von Straßburg, Ratold von Soißons und den 
Grafen Gerold, als Faiferliche Sendboten, trat Ansfar 832 die 
Reife nah Nom an, um die ypäbftlihe Beflätigung einzuholen. 
Gregor IV. beftätigte fraft einer noch vorhandenen Bulle 9 nicht 
blog die Errichtung des Erzſtuhls und die Erhebung Ansfar, fon: 
dern er ernannte denfelben auch zum römiſchen Botfchafter für den 
Norden, und ertheilte ihm das Pallium. In beiden Urfunden, der 
päbftlichen, wie der faiferlihen, werden feinem Sprengel, außer den 
nordifhen Germanen, auch die Nordflaven zugeordnet. Im Vebris 
gen behielt Gregor IV. die früher dem Erzbifchofe von Rheims zuge- 
fiherten Rechte ausprüdlich demfelben vor, woraus man fehließen 
muß, daß die Erhebung Ansfar’s wider den Willen Ebo's erfolgt 
iſt. Wirklich fand nachher, laut dem Berichte Rimbert's, 3) eine 
Art von Uebereinfunft zwifchen Ansfar und Ebo Statt, fofern der 
Neffe des Letzteren Gauzbert das Bisthum in Schweden erpielt, 
das er unter der Aufficht Ansfar’s verwalten follte. 

In Hamburg angefommen, erbaute Ansfar dafelbft eine Dom: 
firche und Faufte junge Dänen und Slaven, um fie zum Dienfle 
bes Evangeliums erziehen zu laſſen. In den nächſten Jahren aber 





) Die Stiftungsurfunde des Kaifers bei Baluzius J. 681, oder etwas 
verändert auch bei Mabillon Acta O. S. B. IV., b. ©. 122. — ?) Ich habe 
eine doppelte Form derfelben vor mir. Die eine befchreibt den Sprengel Ang: 
far’s genau, indem fie außer mehrern andern Provinzen Grönland und Is— 
land zu feinem Sprengel fehlägt, zwei Infeln, von denen die erfte Damals 
faum befannt, die andere nicht bewohnt war. So lautet der Tert bei Lin- 
denbrog scriptores rerum germanicarum ©. 127. Die andere Form bei 
Mabillon a. a. O. ©. 124 flg. enthält die anftößigen Worte nicht, welche eine 
fpätere Hand eingefügt haben muß. Man fehe die Note 29 bei Perz Il., 699. — 
3) $. 14. Perz II., 699 unten. 


Die abendländifche Kirche unter Ludwig dem Frommen ı.. 801 


hatte der Erzbifchof eine Reihe der härteften Prüfungen zu beftehen. 
Die Nordmannen, welche damals faft alle Küftenländer Europa’s 
ängftigten, überfielen um 837 Hamburg, verbrannten die Stabt 
fammt dem Kloſter, der Kirche und der Bibliothek, weldhe Ansfar 
gegründet hatte. Kaum entrann er felbft mit feinen Clerikern dem 
Tode. ) Bald darauf lief die Botfchaft ein, daß der fchmwebifche 
Biſchof Gauzbert durch einen Volfsauflauf vertrieben und das Chri— 
ſtenthum im Lande ausgerottet fey. Sieben Jahre lang blieb Schwer 
den von Nun an ohne Bifchof, bis Anskar einen Einfiedler Namens 
Ardgar hinüberfchicte, der im Verein mit dem früher erwähnten 
Edlen Herigar die der Verfolgung entronnenen Chriften fam: 
melte und zu einer Fleinen Gemeinde vereinigte. *) Während Ands 
kar's Bifchofsfig in Trümmern liegt, und biefe gehäuften Schläge 
jein Gemüth niederdrüden, wird ihm auch noch der Beſitz geraubt, 
aus dem er bisher feine ficherften Einkünfte bezog. Bei der Theis 
lung des Reichs, die in Folge des Vertrags von Verdun flatt 
fand, war die Abtei Turholt Karl dem Kahlen zugefallen. Ohne 
Rückſicht auf die Stiftung feines Vaters erklärte der Gallier den 
Erzbifchof von Hamburg des Klofters verluftig und ſchenkte daffelbe 
einem Laien, Raginar. ?) Biele Geiftliche, die bisher im Dienfte 
Anskar's und des Hamburger Erzſtifts geftanden, verließen ihn 
feitdem, weil er fie nicht mehr ernähren fonnte. Nach der Zerſtö⸗ 
rung Hamburg’s hatte Anskar Anfangs bei feinem Nachbar, dem 
Biſchofe Leuterich von Bremen, eine Zufluchtsftätte gefucht, fol 
aber von diefem niedrigen Menfchen, der den Ruhm Ansfar’s bes 
neidete, vertrieben worden ſeyn. +) Später erbarmte fich feiner eine 
adelige Wittwe zu Ramslo, einem wenige Meilen von Hamburg 
entfernten Städtchen. Sie wies ibm und feinen Clerifern einen 
Meierhof an, von wo aus Anskar feinen verheerten Sprengel wieder 
zu bereifen begann. Dem neuen König von Teutjchland, Ludwig, des 
840 verftorbenen Kaifers Sohne, lag die Pflicht ob, Fräftiger für 
den verunglüdten Metropoliten zu forgen. ine Gelegenheit eröffs 
nete fih dazu durch den um jene Zeit erfolgten Tod des Biſchofs 
Leuterih von Bremen. Ludwig der Teutfche wollte ben erledigten 


—N — — — — 


») Ibid. $. 15. 16. — 2) Ibid. $. 19. Perz II, 7Tol unten. — N Ibid, 
$. 21. Perz IL, 706. — 9 Adami Bremensis hist. eccelesiast. I., 23, bei 
Lindenbrog ©. 8. oben. 9 

Gfroͤrer, Kircheng. ID. — 51 


802 | — AI. Buch. Kapitel 10. * 


Stuhl mit Hamburg verbinden und an Anskar übergeben. Aber 
nun erhob der Bifhof von Verden, Waldgar, Einſprache. Hamburg, 
erklärte er, babe früher zu feinem Sprengel gehört; da nun Ang- 
far ein anderes Bisthum erhalten habe und fomit verforgt fey, 
fordere die Billigfeit, daß dem Verdener Stuhl fein altes Eigen: 
thum zurüdgegeben werde. Auf mehreren Synoden wurde die Sache 
verhandelt, und ſchon hatte dev Verdener Biſchof den Sieg davon 
getragen, als man fid) befann, daß es unanftändig fey, den von 
Kaifer und Pabft gegründeten Erzftuhl Hamburg wieder aufzuheben. 
Verden wurde zulest durch einige Gebietstheile dieffeits der Eibe 
entichädigt, welche Hamburg abtreten mußte ) Nachdem biefe 
Schwierigfeit befeitigt war, erhob fich eine neue. Die Stadt Chlln, 
welche bei der großen Theilung Lothar zufiel, hatte feit längerer 
Zeit feinen Erzbifchof gehabt. Im Jahre S50 machte die Wahl 
Günther’s, von welhem unten mehr gefagt werden foll, der Ber: 
waifung ein Ende. Bald nad) feiner Erhebung befiritt nun Gin: 
ther die Bereinigung der beiden Stühle Bremen und Hamburg, 
indem er nachwies, daß dadurch feine Metropolitanrechte beeinträchs 
tigt worden feyen. In den Zeiten der Einheit des Reichs, unter 
Karl dem Großen und Ludwig dem Frommen, war nemlich Bremen 
ein Suffraganftuhl von Cölln gewefen. Diefes Verhältniß hörte 
durch jene Maßregel auf, indem dag vereinigte Hamburg:-Bremen 
in die Reihe der Metrovolitan » Sige eintrat. Mit Recht konnte 
daher Günther über die Entziehung eines Suffraganen Flagen. 
Aber der Vortheil des teutfchen Reichs fand feinen echten ent: 
gegen, die Staatsflugheit forderte, daß Ludwig der Teutſche den 
Berband eines feinem Lande angehörigen Stuhls mit dem fremden 
Meiropoliten zu forengen ſuchte. Er unterftügte daher die Sade 
Anskar's nah Kräften. Auf einem Neichstage zu Worms unter: 
handelte er 857 mit feinem Bruder Lothar, der perfönlich erfchienen 
war. Da Günther nicht nachgeben wollte, wurde endlich von bei: 
den Seiten die Entfcheidung des Pabftes Nikolaus I. angerufen. ®) 
Kraft apoftolifcher Vollmacht hob Diefer den Verband zwiſchen Cölln 
und Bremen auf, beftätigte die erzbiſchöfliche Würde Anskar's, fo 
wie feine durch Gregor IV. vollzogene Ernennung zum päbftlichen 
Botfchafter für den Norden, und erklärte die beiden Stühle Bremen 


— — — — 


i) Vita Anskarii $. 22. Perz II., 706 fig. — 2) Ibid, 8. 28. Perz II. 707. 


Die abendländifche Kirche unter Ludwig dem Frommen ıc. 808 


und Hamburg für ewige Zeiten zu einem Erzbisthum vereinigt. 
Außerdem drohte er Jedem mit dem Banne, der es wagen würde, 
biefer Anordnung entgegen zu handeln. Die noch vorhandene 
Bulle!) des Pabſts fallt in's Jahr 858. Das teutfche Reich zählte 
demnach jest drei Erzftühle, nemlich außer den früher gegründeten 
zu Mainz und Salzburg, den neuen Hamburg:Bremen. Schon 
früher hatte Anskar feinen Sig nad Bremen verlegt. | 

Während der eben erzählten Streitigfeiten und nachher fette 
der Erzbifchof feine Bemühungen, den Norden zu befehren, aufs 
Eifrigfte fort. Die Alleinherrfhaft in Dänemark befaß feit den 
Adziger Jahren der König Erich (Nimbert nennt ihn Horich). Auf 
mehreren Reifen, die er ald Gefandter des Teutfchen Könige zu 
ihm machte, gewann Anskar die Achtung dieſes Fürften in folchem 
Grade, daß Erich in den wichtigften Dingen den Rath des Erz: 
bifchofs hörte und feinen Wünſchen freundlich entgegen fam. Ob: 
gleich der König, wie es feheint aus Furcht vor Odins Prieftern, 
Heide blieb, gab er Erlaubniß, daß in der Handelsſtadt Slhias— 
wich (Schleswig) ein Gotteshaus erbaut und eine Pfarre errichtet 
werden durfte, *) Das Chriftenthbum breitete fih mehr und mehr 
aus, der Sieg der Kirche fchien gefichert, als eine plögliche Um: 
wälzung Alles wieder in Frage ftellte.e Durch eine Parthei, welche 
bie altväterlihe Neligion zum Banner erhob, ward Erih 854 vom 
Throne geftürzt und ums Leben gebracht. — Alle Großen, welche 
Anskars Freunde gewefen waren und das Chriftenthbum begünftigt 
hatten, fielen mit Erich in der breitägigen Schlacht. Die Krone 
gieng an einen Knaben über, der gleichfalls Erich hieß. Die Bor: 
münder befjelben, namentlich der Jarl von Schleswig, Hovi, wü⸗ 
theten gegen den neuen Glauben. Biele Chriften bluteten, die Kirche 
zu Schleswig ward geichloffen, der von Anskar eingefeste Pfarrer 
verjagt. °) Zum Glück dauerte die Verfolgung nicht lange. Wäh: 
vend Ansfar fih zu einer Reiſe nach Dänemarf rüftete, um den 
Sturm zu beihwören, erhält er die Nachricht, daß der junge König 
den Jarl Hovi aus dem Lande vertrieben habe und glünftige Ges 
finnungen für die Chriften hege. Bald darauf traf ſogar eine dänische 
BE ein, welche dem Erzbifchof zu wiffen that, daß Erich I. 

1) Abgedrudt bei Manfi XV., 157 fig. Theilweiſe fteht fie auch im Leben 


Andlars a. a. DO. — 2) Vita Pr $. 24. * II, 709, — 2) Ibid, 
$. 31. Pers II, 715, ee. 


51° 


804 2 — Alll. Bu. Kapitel 10. 


feine Freundſchaft und Chrifti Gnade zu verdienen wünſche. In 
Begleitung eined Grafen Burghard, der mit dem Eöniglichen Haufe 
verwandt war und ehmals in den Tagen des erften Erich der Kirche 
große Dienfte geleiftet hatte-, eilte num Ansfar um 856 felbft nad) 
Dänemark. Es gelang ihm nicht nur die früheren Verhältniffe wie: 
ber herzuftellen, fondern auch neue DVergünftigungen zu erlangen. 
Die Kirche von Schleswig ward zurüderftattet und außerdem ber 
Gebrauch von Gloden erlaubt, welche früher nicht geläutet werden 
durften. Auch wies der junge König in der Stadt Ribe (in Züt: 
land) den nöthigen Platz zu Erbauung einer Kirche an, und ges 
ftattete die Einfegung eines Pfarrers. ') 

Noch ehe die Angelegenheiten in Dänemark diefe günftige Wen- 
dung nahmen, hatte Ansfar wichtige Fortfehritte in Schweden ge: 
madt. Um 852 war er mit Urlaub Ludwig's des Teutfhen, und 
in Begleitung eines Gejandien, den ibm König Erih I. mitgab, 
zum zweitenmale dorthin gereist. Anskar fam zur rechten Stunde; 
denn eben beratbichlagte die Volfsverfammlung darüber, die Aus: 
übung der chriftlichen Religion gänzlich zu verbieten. Durd) veiche 
Geſchenke gewann der Erzbifchof die Gunft des fchwedifchen Fürften 
Olof, der ihm jedoch erklärte, daß er in diefer Sache nicht allein 
enticheiden fünne, fondern die Großen und das Volk hören, aud 
fodann das heilige Loos enticheiden laſſen müſſe. Sp geſchah es. 
Das Loos entfchied für den hriftlihen Glauben, und in Folge des 
Gottesurtheils beſchloß der Landtag, Jeder möge nach freiem Er: 
mefjen Chriftum verehren. Nachdem Ansfar einen Neffen deffelben 
Gauzbert, der vor etwa zehn Jahren aus Schweden vertrie- 
ben, und jeither Bilhof von Dsnabrüf geworben war, Namens 
Erimbert, zum Presbyter in Birfa eingefest hatte, kehrte ex wieder 
nad Bremen zurüd, 9) Aus einer Stelle der Lebensbefchreibung 
erhellt, daß Gauzbert nach feiner Erhebung auf den Stuhl von 
Dsnabrüf noch immer bifchöfliche echte in Schweden ausübte. 
Der Biograph Anskar's berichtet nemlih: ) Gauzbert habe Cum 
858) einen Presbyter Ansfried nad Birka geſchickt, worauf der 
son Ansfar eingefeste Erimbert abgereist fey. Nach dreijähriger 
Wirkfamfeit verläßt binwiederum Ansfried das Land und zieht fi 





9 Ibid, 532. — ) Uid. $. 25—28. Perz IL, 710 fig. — 9.633. 
Perz 1I., 716. ri ra, 


u 


Die abendländiſche Kirche unter Lubivig dem Frommen ꝛc. 805 


in das Klofter Bremen zurüd, wo er ſtirbt; und nun beorbert 
Ansfar hintereinander zwei Pfarrer, Nagenbert und Rimbert, 
nad Schweden. Dieß Yautet fo, als ob Gauzbert und Ansfar fi 
in der Art verftändigt hätten, daß jeder von ihnen abwechſelnd 
die ſchwediſche Kirche mit Geiftlichen verfehen dürfe. 

Sp viele Anftrengungen, verbunden mit der möndifchen Les 
bensweife, die er führte, zehrten die Kräfte des Erzbifchofs auf. 
Stets hatte er gewünfcht, fiir die Lehre vom Kreuz fein Blut zu 
vergießen. Diefer Wunfch ward nicht erfüllt. Ansfarius ftarb auf 
feinem Bette, Nach viermonatlicher Krankheit verfchied er im 6aſten 
Fahre feines Alters im 35ſten feines erzbifchöflichen Amtes den Zten 
Februar 865. Die Berehrung der Zeitgenoffen folgte ihm in's 
Grab. Diefer vom Geifte des Evangeliums durchdrungene Priefter 
war unerbittlich firenge gegen ſich ſelbſt. Tag und Nacht trug er 
ein härenes Gewand auf dem bloßen Leibe, und genoß nur fo viel 
Nahrung, als die nothdürftige Friftung des Lebens erforderte, I) 
Die Regungen der Eitelfeit, welche die Bewunderung der Menfchen, 
die ihm zu Theil ward, fo leicht nähren fonnte, fuchte er im Ent⸗ 
ftehen zu erbrüden, Allgemein berichte der Glaube, daß er bie 
Wundergabe befige und durch feine Berührung Krankheiten heile 
Anskar Fonnte es aber nicht leiden, wenn man davon ſprach. Ein? 
mal äußerte er gegen einen feiner Bertrauten: „Wenn ich würdig 
wäre, eine befondere Gabe zu erlangen, würde ich den Herrn bit: 
ten, daß er das Wunder an mir thue, mich zu einem guten Men: 
fchen zu machen.“ ) Rimbert verfichert, °) daß er ſtets durch eine 
innere Stimme, im Traume, im Geficht, durch Ahnungen voraus 
empfand, was fommen follte, und Belehrungen empfieng. Wohl: 
zuthun war die Freude feines Lebens. Ansfar verfchenkte regelmäßig 
ben zehnten Theil feines Einfommens an die Armen, er errichtete in 
Bremen ein Spital, das er täglich befuchte. Oft fah man ihn dort 
den Kranfen aufwarten; unzählige Gefangene hat er Iosgefauft, 
und auch auf fremde Länder erfiredte ſich feine Mildthätigkeit. 
Wittwen und Waiſen fanden an ihm einen DBater. +) Dem Men- 
fhenraub, der damals im Norden fihaamlos betrieben wurde, und 
ber Sclaverei arbeitete er mit allen Kräften entgegen. Die Grafen in 
Norbalbingien, das zu feinem Sprengel gehörte, hatten Sclaven, 

1) Ibid. 6. 365. Perz I., 717. — 2) Ibid. 8. 39. Perz II, 722. — 
3) Ibid. $. 56. u: 5%, — lbid. 8. 35. | 


806 | II. Buch. Kapitel 10. 


die aus heidnifher Gefangenfchaft eniflohen waren, ergriffen und 
als gute Beute verkauft. Ansfar ruhte nicht eher, bis diefe Räuber 
ihrem Handwerfe zu entjagen feierlich gelobten. Sie mußten alle 
ihre Gefangene freigeben. ') Der fonft fo milde Mann übte, wo 
er auf Bosheit und Härte des Herzens fließ, eine unmwiderftehliche 
Gewalt aus „Seine Beredtſamkeit,“ fagt ?) Nimbert, „war je 
nad Umfländen fanft, oder Schrecken erregend; Mächtige und Reiche, 
die fein gutes. Gewiſſen hatten, erbebten vor ihm, während ber 
Mittelftand einen Bruder, während ber arme Mann einen Vater 
in ihm verehrte.“ Anskar lebte zu einer Zeit, wo das Königthum 
zufammenbrach und eine neue Ordnung der Dinge in Geburts: 
wehen Yag. Stets haben unter ſolchen Verhältniſſen die Häupter 
der Kirche eine tridunicifche Gewalt, als Befchliger der Menge, geübt. 
In der oben erwähnten Beftätigungsbulle, die Nikolaus I. im Zahr 
858 an Ansfar erließ, fchreibt dieſer Pabſt: 3) „Dein Leben fey ein 
Borbild für deine Untergebene. Dein Herz möge weder durch glück— 
liche Ereigniffe zum Stolge, noch durch unglüdlihe zum Kleinmuth 
verleitet werden. Die Bösgeſinnten follen in bir einen Gegner, die 
Guten einen Wohlthäter erfennen. Den Unfchuldigen möge bei dir 
fremde Arglift nicht verderben, den Schuldigen feine Gunft retten. 
Den Wittwen und Waifen, welche unterdrückt werden, ſey ein Trö— 
ſter und Helfer. Siehe, mein theuerfier Bruder, dieß find die 
Pflichten, durch deren Erfüllung du dich des Prieſterthums und des 
Palliums würdig machen wirft.“ Die hohe Seele des Pabſtes fpies 
gelt fih in diefen Worten. Aber Anskar beburfte folder Ermah: 
nungen nicht; fein Herz trieb ihn zu Allem. Ansfar hat auch als 
Schhriftfteller gewirkt. Noch befisen wir von feiner Hand eine Le: 
bensbefchreibung Willehad’s, *) des erften Bischofs von Bremen. 
Eine Sammlung feiner Briefe ift bis auf einen, ein Tagebuch, das 
er hinterließ, ift ganz verloren. Welch ein Schag, wenn es gelänge, 
diefes Buch wieder aufzufinden ine Abfchrift deffelben ſchickte der 
Abt Tymo von Corvey um 1260 nach Rom, wo es feitbem oft, 
aber immer vergeblich gefucht ward. >) Bon den Briefen Anskar's 
waren im elften Jahrhundert laut dem Zeugniffe Adam's von Bre: 





i) Ibid, $. 38. — 2) Ibid. 8.37. Perz II., 721 gegen oben. — 9 Manfi 
XV., 140. — 9 Oft abgebrudi, die neuefte Ausgabe bei Perz II., 380 fig. — 
) Langebeck scriptores rerum Danicarum I., 480, Note b. 


Die abendländifge Kirche unter Ludwig dem Frommen ꝛc. 807 


men, ) noch viele an teutfhe und nordifche Fürften vorhanden. 
Wenn je fonft ein Priefter, verdiente ed Anskar, unter bie Heiligen 
der Fathofifchen Kirche verfegt zu werden. Das Recht, Heilig zu 
fprechen, ftand damals jedem Bifchofe zu. Anskar's theuerfter Schü— 
Ver und Nachfolger auf dem Stuhle von Hamburg: Bremen, Rim⸗ 
bert, machte Gebrauch davon, indem er Ansfar’s Namen in das 
Berzeichniß der Domfirche eintrug. Derfelbe Nimbert hat ihm noch 
ein anderes Denfmal gefetst, mittelft der Lebensbefchreibung, die er 
abfaßte, und welche meines Erachtens zu den beften Arbeiten der 
Art gehört. Denn fie zeichnet fih ebenfo durch Verſtand, Treue 
und die liebevollſte Anhänglichfeit, als durch einen angenehmen Styl 
aus. Bon den ferneren Schiefalen der norbifchen Kirche werben 
wir fpäter handeln. 

Während auf die befchriebene Weife durch Franlen oder Teutſche 
Dänemark und Schweden für die Kirche gewonnen ward, brachen 
im ſaraceniſchen Spanien Bewegungen aus, die unſeres Dafür: 
haltens gleichfalls mit den Zuftänden des fränfifchen Reichs zufams 
menhängen. Oben ift berichtet worden, dag Karl der Große zur 
Zeit der adoptianifchen Streitigfeit Alles aufwandte, um ſich unter 
den chriſtlichen Spaniern eine Parthei zu bilden und diefelben gegen 
ihre arabifchen Herrfcher aufzuwiegeln. Karl ließ zwar fpäter die 
Adoptianiſchen Händel fallen, aber noch lange wirften die Reizmittel 
nah, mit denen er damals die ſpaniſche Kirche bearbeitet hatte. 
Gegen Ende feiner Regierung verließen Taufende von Syaniern des 
Glaubens wegen, und um den Debrüdungen der Saracenen 
zu entgehen, ihre Heimath und fuchten eine Zufluchtsftätte theils 
in Septimanien, theild in der fogenannten ſpaniſchen Mark. Man 
erfieht dieß aus zwei noch vorhandenen Capitularen Ludwig's des 
Frommen, kraft welcher er dem geflohenen Spaniern Wohnfige an: 
weist, oder fie gegen bie Gewaltthat ihrer eigenen Grafen wie der 
fränfifchen Beamten fchüst. ) Solche Auswanderungen des Glau- 
beng wegen find überall ein Beweis großer religiöfer Aufregung. 
Derjelbe Geift der Unzufriedenheit und der Abneigung gegen ihre 
mahometanifche Gebieter ward feitbem durch die fortwährende 
Kriege der Franken längs der Ebro-Gränze, und durch geheime 





!) Histor, eceles. I., 34. bei Lindenbrog S. 10 oben. — 2) Sie find 
vom Jahr 815 u. 817. Abgedruckt bei Baluzius I., 549 fig. u. 569 unten fig. 


808 II. Bud. Kapitel 10° 


Einverftändnifje mit ben hriftlichen Spaniern wach erhalten. Noch von 
einer andern Seite her wirkten ähnliche Einflüffe. Der afturifhe Staat 
im Norden hatte feine Unabhängigfeit vom faracenifchen Joche ſchon 
im Laufe des achten Jahrhunderts errungen. Aber die lange Res 
gierung Alfonfo’s des Keufhen, der von 791 bis 842 hevrfchte, 
bezeichnet den erften Aufichwung des “aflurifchen Neiches. Dieſer 
Alfonſo hat glückliche Kriege gegen die Saracenen geführt, und ben: 
felben viele Städte abgenommen. In feinen Tagen fand überdieß 
ein halb kirchliches, halb politifches Ereigniß ftatt, das ganz geeignet 
war den Muth und Glaubenseifer der freien Spanier zu entflams 
men, und die den Arabern unterworfenen zur Schilderhebung auf: 
zureizen. Schon im fiebenten Jahrhundert herrfchte der Glaube, 
dag Jakobus der Aeltere den Spaniern das Evangelium geprebigt 
habe, ) und im folgenden muß die Meinung aufgefommen feyn, 
feine Leiche liege irgendwo auf der ſpaniſchen Halbinfel verborgen. 
Zwar gehörte eine ftarfe Einbildungsfraft dazu, um Lesteres wahr: 
Iheinlih zu finden. Denn befanntlich verlegt die Apoftelgejchichte *) 
den Tod des genannten Apofteld nach Jeruſalem, und dem gewöhns 
lihen Gange menfchliher Dinge gemäß muß man daher annehmen, 
daß er eben daſelbſt auch begraben wurde. Aber an ſolchen Schwie: 
rigfeiten ſtößt fih der Bolfsglaube nie. Genug, wir erfahren aus 
fihern Quellen, daß der Leichnam des Apoſtels Jakobus zwiſchen 
den Jahren 791 und 814 zu Compoftella in der damals zum aflus 
riihen Neiche gehörigen Provinz Gallicien, am nordweitlichen Ende 
Spaniens, glüdlih aufgefunden worden if. Der Hauptzeuge, 
Munno, Bischof von Montognedo, welcher zu Anfang des zwölf: 
ten Jahrhunderts eine Gefchichte yon Compoftella °) fehrieb, meldet 
Folgendes: „Bei der galliziihen Stadt Iria, fahe man in einem 
Heinen aber dichten Gehölz jede Nacht ein helles Licht und Engel, 
welche vom Himmel niederftiegen. Nachdem der Biihof Theodemir 
von Iria genauere Unterfuchung angesrbnet, warb an der Stelle, 
wo das Wunder fi zutvug, eine Feine Einfiedelei und in berfelben 
der Leichnam des Apoftels Jakobus entdedt.“ Der König Alfonfo, 





) Iſidorus von Sevilla fagt dieß z.B. de orta ac obitu Patrum cap, TI 
opp. ed, Arevalo V., 183 oben. — 2) Cap. XII, 2, — ?) Die historia 
Compostellana, yon der man früher nur Auszüge in den acta Sanctorum Bol- 
landiana, Julius Vol, VI, ©. 19. Nr. 46 fig. befaß, ift ießt vollftändig abge: 
drudt in Florez Espanna sagrada Vol, XX. ©. 8 fig. 


Die abendfändifhe Kirche unter Ludwig dem Frommen ıc. 809 


von dem glüdlichen Funde benadrichtigt, ſäumte nicht, an dem 
Drte eine Kirche zu erbauen, die Anfangs wegen der Eile unfchein: 
bar war, weil man die Andacht der Pilger, die fogleich zahlreich 
berbeiftrömten,, nicht hemmen wollte. In kurzer Zeit entftand durch 
Errichtung vieler Wohnungen um das Grab eine Stadt Sompoftella, 
wohin nun auch der Bifchoffig von Iria verlegt wurde. Bald galt 
Compoſtella nächft Rom für ven fegensreichiten Wallfahrtsort der. 
Abendlande; denn außer den Gräbern Petri und Pauli, am Site 
bes Pabftes, hatte in ganz Europa nur die gallizifche Stadt die Teiche 
eines Zwölfboten Chrifti aufzumweifen. Zwar verdient die Ausfage 
eines fo fpäten Zeugen, wie Munno, zumal über folhe Dinge, 
feinen unbedingten Glauben, aber feine Angabe wird durch vollig 
unverbächtige fränkiſche Schrififteller des neunten Jahrhunderts im 
Ganzen beftätigt. Die Martyrologien des Ado von Vienne und 
des Uſuardus, von denen der Eine vor 860, der Andere vor 870 
fchrieb, Fennen bereits das Grabmal des Jakobus in der gallizifchen 
Stadt, und fprechen von ber hohen Verehrung, die demfelben ge: 
zollt wird. ) Daſſelbe gilt von dem alamannifchen Monde Notker, 
der in feinem gegen Ende des neunten Jahrhunderts verfaßten 
Martyrologium 9) gleichfalls die Leiche des Jakobus an die Nord: 
gränze Spaniens verfegt und dort verehrt werden läßt. Vernünfs 
tiger Weife kann man daher nicht bezweifeln, daß die freien Spanier 
wirklich die Leiche des Apoftels, oder wag fie dafür bielten, 
zu Anfang des neunten Jahrhunderts aufgefunden haben. Gute 
Quellen oder fihere Schlüffe geben genaueren Nachweis über bie 
eigentliche Bedeutung des Junds. Aus einer Urkunde, ?) die in dem 
unvergleichlihen,, von Florez begonnenen, Sammelwerfe verzeichnet 
fteht, erhellt, daß man in Spanien ein halbes Jahrhundert vor 
dem Achten Fund das Grab des Apoftels an andern Orten geſucht 
und fogar auch entdedt hat. „Der Biſchof Odvar,“ heißt es bier, 
„weihte im Jahr 757 zu Avezano bei Lugo, auf einer Stelle, wo bei 
Nacht Lichter erfchienen waren, zu Ehren des heiligen Jakobus eine 
Kirche.“ Man fieht alfo: die Spanier wollten die Leiche finden, 
fie verfolgten alfo bei biefer Sache einen Zwed. Worin derjelbe 





) Die Stelle ausgezogen acta Sanctoram Bolland, Julius Vol. VL, S. 6. 
$. 7. — Die Stelle abgevrudt Gallandii bibliotheca patrum XIII., 803. — 
) Florez Espanna sagrada Vol, XL, Anhang 11. S. 362 fig. 


810 IM. Buch. Kapitel 10. 


beſtand? iſt nicht ſchwer zu zeigen. Der beilige Jakob erfcheint in 
der fpanifchen Gefchichte durchaus als Kriegsgott. Die zahlreichen 
Wunder, die er vollbrachte, beziehen fich faft immer auf den Kampf 
mit den Ungläubigen. Er offenbart fi den Königen im Traume, 
um ihnen Sieg zu verkünden, ja er fteigt Taut der afturifchen Sage 
öfterd in Geftalt eines hellleuchtenden Ritters aus den Wolfen her: 
nieder und führt die Streiter der Kirche gegen den Feind. ') Ob 
die Heldenthaten, welche der Volksglaube ihm beilegt, hiſtoriſch be= 
gründet find, oder nicht, ift für ung gleichgültig, es fragt ſich bios, 
welche Meinung das Volk von ihm hegte; und die Sage hat hier 
gefchichtlihen Werth. NAufgefunden wurde Jakobus zu ber Zeit, 
da der Kampf des chriftlichen Spaniens gegen das arabifche feinen 
Aufihwung nahm. Eben derfelbe wird von den freien Spaniern, 
fo weit wir Kunde haben, ſtets als Verbündeter gegen bie Saras 
cenen verehrt. Mit Zuverficht dürfen wir hieraus fchließen, daß 
Diejenigen, welche die Leiche entdedten, zunächft einen kriege— 
rifhen Zwed im Auge hatten. Das Heiligthum des Apoftels 
follte für die freien Spanier im Frieden ein Firchliher Mittelpunkt, 
im Krieg ein Feldgefchrei und ein Banner feyn, das zum Siege 
führt. Das Grabmal des Heiligen und fein Dienft war von Ans 
fang eine Erklärung ewigen Krieges wider bie fpanishen Mauren. 

Nun wirkte das Mittel allerdings zunächft auf bie freien 
Spanier, aber auch die Andern, die unter arabifchem Joche lebten, 
hätten feinen Tropfen vom Blute der Gothen, oder der alten Ganz 
tabrer in fich verſpüren müffen, wenn fie gegen bie ſtarken Reizungen, 
die theils von ber fyanifchen Mark her, theils aus Gallieien im 
Namen des Glaubens auf fie einftrömten, unempfindlich geblieben 
wären. Wirklich finden wir, daß unter den Mozarabern oder den 
Shriften, die dem Könige von Cordua gehorchten, feit der Mitte 
des neunten Jahrhunderts, ein wilder Glaubenseifer gährt. Bon 
822 bis 852 herrfchte über das faracenifche Neih von Corbova 
der Kalife oder Emir Abderrahman I. In den legten Jahren 
eben dieſes Fürften brach der Sturm los. Wahrſcheinlich glühte das 
Feuer ſchon feit längerer Zeit in der Stille, 9) aber die Unzufries 





1) Die Kriegsthaten, welche ihm die Sage beilegt, findet man gefammelt, 
acta Sanctorum Bolland,. Julius Vol, VL, ©. 56 fla. — 2) Tamayo de Sala- 
zar führt in feinem fpanifchen Martyrologium zum 27. Sept. einige Märtyrer 
an, die bereits in den erflen Jahren Abderrhamans biuteten. 


Die abendfändifche Kirche unter Ludwig dem Frommen © BI 


denen warfen jetzt erft die Maske ab, wohl weil fie aus dem bevor: 
fiehenden Tpronmwechfel Hoffnungen für ihre Zwecke fchöpften. Die 
Bewegung begann damit, daß unter den Chriften felbft Firchliche 
Partheiungen entftanden. ) Während der mehr als hundert⸗ 
jährigen Dauer arabifcher Herrſchaft, hatten fih Sieger und Bes 
fiegte vielfach einander genähert, wobei der Vortheil meift auf Seite 
der Sararenen war. Häufig fanden Ehen zwifchen Chriften und 
Mahomeranern Statt, und foldhe Berbindungen gaben ſpäter, wie 
wir fehen werben, zu ben bitterften Zerwürfniffen Anlaß. Andere 
Epriften, befonders die männliche Jugend, wurden durch den Geift 
der arabifchen Litteratur, die damals ber abendländifchen überlegen 
war, mächtig angezogen. Die meiften jungen Leute von gutem 
Stand befuchten arabifche Schulen, und lernten mit Bernachläßigung 
bes Lateinifchen die arabifche Sprache, welche Anfehen und Aemter 
verſchaffte. „Unfere Jünglinge“ Fagt der Augenzeuge ?) Petrus 
Alvarus, „ſuchen ihren Ruhm in heidnifcher Gelehrfamfeit, und 
greifen gierig nach arabifchen Büchern, während fie die Denfmale 
priftlicher Beredtfamfeit verachten. So fehr vernacdhläßigen fie ihre 
eigene Sprache, daß es unter taufend Chriften kaum einen giebt, 
der einen ordentlichen lateinifchen Brief zu fchreiben vermag.“ Ein 
noch feiteres Band wurde zwifchen den Mahometanifchen Herrn und 
einem Theile der chrifilichen Unterthbanen durch Hofgunft und Aemter 
gefhlungen. Sehr viele Ehriften traten in des Königs Dienfte und 
aßen fein Brod. Solche Menfchen verftanden dann die Kunft, 
ihren Glauben in eine Form zu gießen, welche den mahometanis 
hen Eifer nicht mehr beleidigte. „Diejenigen von und, welche in 
des Königs Dienften ftehen,“ fagt ?) Alvarus, „beten nicht im Angeficht 
- der Heiden, fie fohüsen auch ihre Stirne beim Gähnen nicht mit dem 
Zeichen des Kreuzes, fie befennen endlich Chriftum nicht mit deutlichen 
Worten, fondern mit verftellten Redensarten, indem fie Ihn, „das 


— — — — 


1) Quellen: Eulogii Cordubensis opera: memoriale Sanctorum, apologe- 
ticus pro martyribus, exhortatio ad martyrium und epistolae. Abgedrudt bei 
Schottus Hispania illustrata IV., 217 flg., am Beflen im zweiten Band ber 
Patres Toletani ©. 391 nach dem ich citire; ferner Pauli Alvari Cordubensis 
opera: confessio, epistolae, indiculus luminosus etc., im eilften Band ber 
Espanna sagrada von Flores, ©. 62 flg., endlich der apologeticus des Abts 
Samfon von Cordova, ebendaſelbſt S. 325 fl. — 9 Florez Al, ©. 274 
Mitte. — 3) Bei Florez XL, 232 unten. 


812 0 A Buch. Kapitel 10. Pe 


Wort Gottes“ oder „den Geil“ ) nennen.“ Ja fie irieben die 
Gleichgültigfeit gegen die Kirche, oder die Treue gegen ihre Brods 
bern fo weit, daß fie in ben Kriegen bes Kalifen wider ihre eigenen 
Stamm- und Glaubensgenoſſen, die freien Spanier, das Schwert 
zogen. ?) Kurz es gefchahen damals im mahometanifchen Spanien 
Dinge, welche beweifen, daß die Menjchen bier unter dem Monde 
ſich ftets gleich bleiben. Denn unter denfelben Umftänden würde es 
beute noch ebenfo zugeben. Gegen foldhe gefchmeidige Namen: 
hriften erhob fih nun zuerft eine entſchloſſene kirchliche Parthei, 
welche durch den Presbyter Eulogiug von Cordova, durch deſſen 
Freund Peter Alvarus, fowie durh den Abt Samfon ge 
leitet wurde, und fonft einen großen Theil des Clerus auf ihrer 
Seite hatte. Die Strenggefinnten zogen fi von den Anhängern 
des Königs zurück, fehalten fie Verräther, und verglichen 3) fie 
mit Leoparden, weil die Sage geht, daß dieſe Naubthiere häufig 
bie Farbe wechjeln. Bald gedieh jedoch die Aufregung zu einem 
Streite mit den Mahometanern, wozu allerdings die Lestern den 
eriten Anlaß gegeben haben mögen. Täglich geſchah es, laut dem 
Berichte des Alvarus, daß der arabifche Pöbel in den Städten bie 
hriftliche Geiftlichfeit, namentlich bei Leichenbegängniffen, verhöhnte, 
mit Steinen nad) den SPrieftern warf, das Kreuzeszeichen bejchimpfte. 
Befonders häufig ertönten Verwünfchungen, wenn die Gloden auf 
den Kirchen angezogen wurden. ) Denn im mahometanifchen 
Spanien durften die Chrifien mit Gloden lauten, was ihnen im 
arabiichen Morgenland verboten war. Da jeder Theil die abges 
neigte Gefinnung des andern Fannte, jo beobachteten ſich Chriften 
und Mahometaner mit vegem Argwohn; an Ausbrücen fonnte es 
nicht mehr fehlen. Ein Mönch Namens Perfeftus aus einem Klofter 
bei Cordova errang zuerft die Maärtyrerfrone Als er einft im 
Jahre 850 nah der Stadt gieng, traf er unterwegs mit etlichen 
Sararenen zufammen, die ihn befragten, was bie Chriften von 
ihrem Erlöfer und von Mahomet dächten. Perfeftus antwortete. auf 
bie erfte Frage offen, daß Jeſus als Gott verehrt werden müſſe, 
auf Die zweite ausweichend, bis die Araber ihn verficherten,, Nichts 
werde ihm gefchehen, die Antwort möge lauten, wie fte wolle, Nun 





) Dieſe und ähnliche Ausdrücke gebraucht bekanntlich der Koran felbft 
von Chriſtus; fiche oben S. 16 flg. — ?) Bei dlorez XI., 233 oben. — 
3) Ibid. — *) Ibid. 229 fig. 


Die abendländifche Kirche unter Ludwig dem Frommen sc. 813 


fagte er ihnen frei heraus, Mahomet fey einer ber falfchen Pros 
pheten, deren Zukunft Chriftus im 24. Kay. des Matthäus verfüns 
digt habe. Um ihres gegebenen Berfprechens ‚willen, verbißen bie 
Araber ihre Wuth; aber bei einer andern Gelegenheit ergriffen fie 
ihn, fchleppten ihn vor den Richter, und Hagten ihn als Läfterer 
Mahomers an. Weil Perfeftus feine Aeußerung über Mahomet 
nicht zurüdnehmen wollte, warb er mit dem Schwerte hingerichtet. ) 
Der Muth des Mönchs regte den Eifer des hriftlichen Volks mächtig 
auf. Seitdem drängten ſich Hunderte zum Tode, indem fie Mahomet 
verfluchten. Aus der Maffe Märtyrergefchichten, welche Eulogius 
anführt, begnügen wir ung eine einzige zu erzählen, weil fie zugleich 
über das häusliche Leben der Mozaraber Licht verbreitet. Flora, 
eine Jungfrau, ſtammte aus gemifchter Ehe. Ihr Vater befannte 
fih zum Islam, ihre Mutter, eifrige Chriftin, erzog die Tochter im 
fatholiihen Glauben. Ihr Bruder war Mahometaner; oft machte 
er Berfuhe, Flora zu befehren, aber immer vergeblih, was zur 
Folge hatte, daß er einen glühenden Has gegen die Schwefter 
faßte. Endlich gieng er hin zum Nichter und klagte fie als eine 
vom Islam Abgefallene an. Sie betheuerte vor dem Richter, daß 
fie nie Mahometanerin gewefen. Der Kabi befahl fie zu geißeln, 
bamit fie Chriſtum verläugne. Da fie ftandhaft blieb ohne Mahomet 
zu läſtern, entließ fie der Nichter wieder. Nach einiger Zeit ftellt 
fih Flora, durch die Zureden etlicher Prieſter entflammt, yon Neuem 
freiwillig vor Gericht, und befennt jegt nicht blos die Gottheit 
Chriſti, fondern fpricht dem Betrüger Mahomet Fluch, worauf die 
ZTobesftrafe über fie und ihre Leidensgenoffin Maria 2) verhängt wird. 
In dem Berfahren des fararenifchen Herrfchers Abderrahman zeigt 
fih Feine Spur yon blinder Wuth. Er beftraft die Chriften nur 
infofern,, als die Nücjicht auf den Glauben feiner mahometanifchen 
Unterthanen erzwingt. Gerne hätte er dem Eifer, mit welchem die 
Chriften fih zum Tode drängten, Einhalt gethan. Weil er fab, 
daß das Volk die Leihen der Hingerichteten zu erbafchen ftrebte, 
um biefelben als Eöftliche Reliquien zu verehren, ordnete er an, daß 
bie Körper aufgeipiest verwefen, oder in den Fluß geworfen werben 
ſollten. Zuletzt ließ er fie verbrennen. >) Weil Alles nichts nügte, 





A Eulogius memoriale Sanctorum Ik;, Patres Toletani II., 454 fig. _ 
2) ibid. ©, 525 fig. — 9) Memoriale Sanctorum II, 11, 12, 16,. 


814 DI Buch. Kapitel 10. 


befchloß er zulegt durch die Häupter der chriftlichen Geiftlichfeit das 
Bolf zu bearbeiten. Auf feinen Antrieb veröffentlichte der Metropolit 
Nefafried (wahrfcheinlih von Sevilla) ein Verbot, die Mahometaner 
durch Läſterungen zu reizen. Zugleich wurden mehrere der wider- 
fpenftigen Geiftlichen, an ihrer Spitze Eulogius von Corduba, ind 
Gefängniß geworfen. Vom Kerfer aus erließ Eulogius ein Send: 
fohreiben an bie oben erwähnte Flora und ihre Gefährtin Maria, 
worin er beide ermahnte, den Märtyrertod zu fuchen. Sechs Tage 
nad Hinrichtung der Jungfrauen, erhielten Eulogius und die übrigen 
eingejperrten Vriefter, man weiß nicht auf welche Weife, ihre Freis 
heit wieder. ) Die zulegt erzählten Ereigniffe fanden im Jahr 
851 Statt. Im folgenden verfammelte Abderrahman die Bifchöfe 
feines Reichs zu einer Synode nad Cordova. Hier ward durch 
den Einfluß der gefchmeidigen Metropoliten der Befchluß durchge: 
fest, in Zufunft dürfe fein Chriſt freiwillig fich bei den mahome: 
tanifhen Richtern melden, und die Märtyrerfrone fuchen. 2) Aus 
der Schutzſchrift des Alvarus erhellt, *) daß in Folge diefes Synodal⸗ 
befchluffes die dem Kalifen ergebenen Priefter ihren Gemeindemits 
gliedern einen Eid abnahmen, Mahomet nicht zu Täftern, noch den 
Tod berauszufordern, fowie daß Ungehorfame im Falle der Weis 
gerung mit den härteften Firchlichen und bürgerlichen Strafen bes 
droht wurden. So ftanden die Sachen, als Abderrabman (im 
Sept. 852) ftarb. 

Sein Nachfolger Mahomet fette die Verfolgung fort. Am 
Tage der Thronbefteigung verjagte er alle Chriften aus dem Hof: 
bienft und »den öffentlichen Aemtern.“) Zugleich gab er Befehl 
alle neuerbauten Kirchen, und was in den alten verbeffert worden, 
niederzureißen. 5) Schon unter Abderrahman waren viele der lauen 
Chriften abgefallen. est traten vollends Alle, denen Amt und 
Brod mehr am Herzen lag, als der Glaube, zum Islam über. ©) 
Auch unter einem Theil Derer, welche treu blieben, offenbarte ſich 
eine bittere Stimmung wider die Eiferer. Stimmen wurden laut, 
welche das Verdienft der neuen Märtyrer bezweifelten. „Diefelben,“ 





1) Vita Eulogii cap. II., ibid. ©. 397. — 2) Memoriale Il., 15. 
Patres Toletani II., 485. — 3) Indiculus Juminosus cap. 15. bei Florez XI, 
241 oben. — *) Memoriale II., 16. Patres Toletani II,, 486 b. unten. — 
3) Memoriale III., 3, ibid, ©. 491. — 6) Memoriale II., 15, u. III., 2, 
ibid, ©. 484:u,490, > RR Er cz j 


Die abenblänbifche Kirche unter Ludwig dem Frommen ꝛe 815 


hieß es, „halten mit den alten Märtyrern ber Kirche Feine Vers 
gleihung aus; erftlich hätten fie nicht wie Diefe im Streite wider 
Gögendiener geblutet, fondern in muthwilligem Kampfe gegen ein 
Volk, das mit den Chriften denfelben Gott verehre. Sie feyen 
zweitens nicht, wie dieſe, einen langfamen und ſchmerzlichen, ſondern 
einen leichten und fchnellen Tod geftorben. Auch feyen fie nicht, 
wie die Alten, durch Wunder verflärt worden.“ Gegen ſolche und 
äbnlihe Einwürfe traten Eulogius und Alvarus als Schrififteller 
auf. Der Erftere verherrlichte durch feine Geſchichte der neuen 
Heiligen ) ihren Heldenmutb, und bewies in einer befondern 2) 
Schutzſchrift, daß fie mit den alten Helden der Kirche verglichen zu 
werden verdienten. Zu gleichem Zwecke fchrieb Alvarus das Buch, 
welhem er den Titel indiculus luminosus gab. Uebrigens erweckt 
es ein ungünftiges Vorurtheil gegen Beide, daß fie, welche fo viele 
Dpfer zur Erringung ber Märtyrerfrone anfeuerten, gar nicht, oder 
boch fehr fpat den Tod erlitten. Es feheint fall, als habe Eulogius 
fhlau die Gränzlinie zu bewahren gewußt, welche zwifchen dem 
Ruhm eines Slaubenshelden und der unausbleiblihen Folge allzus 
bisigen Eifers, der Todesftrafe, liegt. Außerdem zog er Bortheil 
aus der Bolfegunft, die ihm fein Lärmen verfchaffte Nach dem 
Tode des Erzbischofs Wiftremir von Toledo, wählte ihn der Clerus 
zum Nachfolger. ?) Aber ehe er den Stuhl befteigen konnte, ereilte 
ihn das Schickſal aus folgender BVBeranlaffung: Eine Jungfrau 
Leveritin, welche aus einer angejehenen mahometanifchen Familie 
ftammte, war durch eine hriftlihe Verwandte in früher Jugend 
für die Kicche gewonnen und getauft worden. Vergebens verſuch— 
ten ihre Eltern fie erſt durch freundliche oder böfe Worte, dann 
durch Förperlihe Züchtigungen vom Chriſtenthum abzubringen. Um 
freie Uebung ihres Glaubens zu erlangen, faßte fie den Entfchlug, 
aus dem elterlihen Haufe zu entfliehen, und führte denfelben mit 
Hülfe des Eulogius aus. Es gelang jedoch den Bemühungen der 
Eltern ihre Zufluchtöftätte zu entbeden, worauf fie mit Eulogiug 
vor Gericht gefiellt ward. Beide bezeugten ftandhaft ihren Glauben 
und jhmähten Mahomet. Den 11. März 859 erlitt Eulogius die 
Todesftrafe, vier Tage nach ihm die Jungfrau Leocritia.“) Seit⸗ 





ı) Das oft angeführte Memoriale Sanctorum. — 2) Apologelicus mar- 
tyrum. — °) Vita Eulogii III, 10, ibid. ©. 400. — *) Vita Eulogii cap, 
4. 5, ibid. ©. 401 fig. > 


816 m. Bud: Kapitel 10. 


dem erlahmte allmälig der Fanatismus unter den Mozarabern, 
wahrfcheinlich weil zugleich auch die Aufreizungen von Außen auf: 
hörten. Nicht ange nach dem Tode des Eulogius, ftarb auf feinem 
Bette (um 862) Alvarus, ') außer den bereits angeführten Werfen 
eine Lebensbefchreibung feines Freundes hinterlaffend. 

Die zulegt erzählten Bewegungen in der fpanifchen Kirche find 
feitdem öfter gelobt, dann angegriffen oder entjchuldigt worden. 
Man hätte Lob und Tadel erfparen können. Offenbar wirkte hier 
eine Naturkraft. Das Gefchleht, welches Europa bewohnt, ift 
nicht geartet, in die Länge fremden Eroberern, zumal Aftaten, einen 
fffavifchen Gehorfam zu Teiften, und bie chrifllihe Kirche hat 
diefen Trieb, wie billig, nicht befämpft, fondern genährt. Auch 
die von den Arabern unterjochten Nachkommen der Gothen 
fühlten ihn. Das Feuer, welches damals aufloderte, erlofch nicht 
eher, bis es zu Ende des fünfzehnten Jahrhunderts durch den 
Sturm auf die Alhambra feine legte Befriedigung erhalten. Und 
zwar fochten die Spanier ihren 800jährigen Befreiungsfampf unter 
dem Banner der Kirche. Nur das Chriftentbum bat in Europa 
dauernden Beftand. Mahometanern dient der europäiſche Chrift 
nicht für immer, wofür in unfern Zeiten wieder die Anftrengungen 
des fonft fo tief gefunfenen byzantinifchen Volkes zeugen, 





Eilftes Kapitel. 


Iunerliche Bewegungen in der Kirche der fränkifchen Weiche, während des neunten 
Jahrhunderts. Gelehrte: Rabanus Maurus, Haymo von Halberftadt , Walafriv 
Strabus. Streit Über die Prävefination. Per Mönd Gotfhalk, Hinkmar von 
Bheims, Prudentius, Bifhof von Troyes, fupus, Abt von Kerrieres, Amolo 
Erzbifhof von yon, Batramnus, Mönd, in Corbie, Johannes Scotus Erigena. 
Bemigius, Erzbiſchof von Lyon. Einhard, Abt von Seligenſtadt. Per Mönd 
Chriſtian Pruthpmar von Corbie. Streit über das Abendmal. Paſchaſtus Kad- 
bertus. Gottesdienſt und Kirchenzucht im neunten Jahrhundert. 


Um die Zeit, da dag große Frankenreich zerfiel, bereitete ſich 
ein Streit vor, in welchen die angefehenften Kirchenlehrer des neuns 
ten Zahrhunderts verwidelt wurden. Beim erften Anblick ſcheint 
es, als ob diefer Streit nur eine Wiederholung des alten Kampfes 





) Florez XI., ©. 30. 





Innerliche Bewegungen in der Kirche ver fränkifchen Reiche ꝛc. 817 


zwischen Auguftinern und Semipelagianern gewefen fey, wir werden 
jedoch zeigen, daß bie Verhältniffe, welche wir im vorigen Kapitel 
gefchildert haben, mächtig auf ihn einmwirkten. Der beffern Ordnung 
wegen müſſen wir mit ber Gefchichte des Ersbifchofs Rabanus !) 
von Mainz beginnen. 

Hrabanus Magnentius Maurus wurde um 776 zu 
Mainz geboren. Das Gefchleht der Magnentier, dem er ange- 
börte, reicht in die römifchen Zeiten zurüd, der Gegenfaifer des 
Sonftantius ſtammte aus demfelben. Die Eltern brachten den 
Knaben frühe in das Klofter zu Fuld, deffen Abt, (feit dem Tode 
Sturmi’s) Baugolf war. In der dortigen Schule, die bereits 
großen Nufes genoß, erhielt Rabanus feine Erziehung. Mehrere 
junge Teutfche, die damals als feine Mitfchüler in Fuld der Firchs 
lichen Wiffenfchaft oblagen, haben gleich ihm hohe Kirchenwiürden 
errungen, fo Hatto, fpäter Abt zu Fuld, und Hayımo, nachher Bifchof 
von Halberftadt. ) Im Jahre 801, dem fünfundzwanzigften feines 
Lebens, wurde Raban zum Diafon geweiht 7) Bald nachher 
fchiekte ihn fein Abt zu Alfuin in die Tourer Schule, damit er fi 
dort vervollkommne. Obgleich Raban's Aufenthalt bei Alkuin nicht 
viel über ein Jahr dauerte, bildete fih doc zwiſchen Beiden ein 
inniges Verhältniß, von welchem einige Briefe und Gedichte Alkuin's 
Zeugniß ablegen. ) Zurüdgefommen nad Fuld, erhielt er von 
dem neuen Abt Natgar, der um 803 an die Stelle Baugolf's ge: 
treten war, gemeinfchaftlih mit dem Mönd Samuel die Leitung 
der Klofterfchule. Bald darauf brach aber ein fchweres Unglüd 
über diefe Anftalt, wie über die ganze Abtei, aus. Seuchen rafften 
im Jahre 807 den größten Theil der jüngeren Mönde weg, zu 
gleicher Zeit lehnten fih die Knaben, welche im Kofler erzogen 
wurden, gegen ihre VBorfteher auf und entflohen. >) Noch größeren 
Schaden, als folde Unfälle, fügte die Härte des neuen Abts dem 
Stifte des hl. Bonifacius zu. Bon dem Ehrgeize befeffen, feinen 
Namen durch Foftfvielige Bauten zu verewigen, änderte Ratgar fein 
früheres Betragen. Er ließ die Schule feit der Seuche eingehen, 





1) Man vergl. Dr. Fr. Kunſt mann, Hrabanıs Magnentius Maurus. 
Mainz 1841. Eine treffliche, mit hellem Berftand gefchriebene Monographie. — 
2) Kunftmann ©. 55. — 3) Annales Laurissenses minores ad annum 801, 
Perz I., 120, — #) Aleuini epist. 111. Opp. I., 162. epist. 143. ibid, 
©. 204 flg. Carminum 250. Opp. M., 233, a, — 5) Perz I., 120 unten, 

Gfrörer, Kircheng. IH. 52 


818 UIII. Bud. Kapitel 11. 


nahm dem Diafon Raban feine Bücher weg, und verwandte bie 
Mönche zu harten Arbeiten bei den neuen Bauweſen. Mehrere 
derfelben erlagen der Anftrengung, bie über ihre Kräfte gieng. 
Die Brüder wandten fih mit ihren Klagen an zwei Faiferliche 
KRammerboten Werin und Unfrid, die fih 807 zu Fuld auf: 
hielten. Wirklich fandte Kaifer Karl im Jahr 809 den Erzbifchof 
Kifulf yon Mainz nah dem Stift, um die Befchwerden zu unter- 
ſuchen. Aber Rifulf fchenfte dem Abte mehr Glauben als den 
Mönden. Nicht nur weihte er während feiner Anmwefenheit die 
von Ratgar neu erbaute Kirche ein, welche zu den Klagen Anlaß 
gegeben, fondern — auf feinen Bericht wie es fcheint — ertheilte 
Kaifer Karl der Große 810 dem Abte von Fuld das Recht, von 
allen bereits erworbenen, oder in Zufunft zu erwerbenden Befißungen 
des Klofters Zehnten erheben zu dürfen, damit vom Ertrage ber: 
felben die im Bau begriffenen Häufer vollendet, und neue angelegt 
werden fönnen. ) Der Abt Hatte vollftändig über die Kläger 
gefiegt, er begann nun neue Bauten, und drüdte die Mönche 
noch ungefcheuter als vorher. Abermal wandten fih Diefe 812 an 
Karl'n den Großen; zwölf Abgeordnete aus ihrer Mitte giengen an 
den Hof ab, und übergaben dem Kaifer eine noch vorhandene Klag- 
ſchrift, ) in welcher fie auseinander festen: Natgar habe die Ein: 
richtungen, welche der HI. Bonifacius für Fuld getroffen, freventlich 
abgejchafft, die Liturgie geändert, die Vigilien und den Chorgefang 
aufgehoben, die Fefttage der Heiligen verringert, den Gottesdienft 
am Sonntag abgekürzt, Alles um Zeit für feine unnöthigen und 
maßlofen Bauten zu gewinnen. Sie führten ferner Befchwerde, 
daß lafterhafte Menſchen zu Prieftern geweiht und in das Kloſter 
aufgenommen, daß Reiche wider ihren Willen zu Münden ge- 
fhoren, daß die Beauffihtigung der Brüder durch Defane nad 
alter Weife mittelft ſchädlicher Neuerungen verdrängt, daß Kleidung 
und Nahrung verfehlimmert, die gaftfreundliche Aufnahme Fremder 
verfümmert, dag Blinde, Lahme, Schwache, Alte ſchmählich behan- 
belt, daß weltlihe Gefchäfte, Gütertheilungen, Belehnungen, welche 
nichts als Streit und die widermärtigften Auftritte erregten, ftatt 
draußen, in den geweihten Räumen des Klofters felbft vorgenommen 





ı) Die Beweife bei Schannat historia fuldensis I., 93. — 2) Abgedruckt 
ibid. IL, 84. flg. (probationum Nr, X.), Sie führt ven Titel libellus 4 
plex a fuldensium, i 


Innerlihe Bewegungen in ber Kirche der fränfifchen Reiche ıc. 819 


würden. Noch einmal fandte der Kaifer Bevollmächtigte nach dem 
Klofter, worunter wiederum ber Metropolit Rikulf von Mainz und 
einige andere Bifchöfe waren. Der Gefhichtfchreiber von Fuld, 
ber bieß erzählt, meldet nicht, wer Necht befommen habe, er fagt 
bl08: ) der Streit fey beigelegt worden. Der verhaßte Abt be: 
bauptete feine Stelle. Ein Jahr fpäter, im Auguft 813, ftarb der 
Erzbischof Rikulf von Mainz, der Beſchützer Ratgar’s, 2) im Januar 
des folgenden Jahres gieng Karl der Große mit Tod ab. Der 
neue Herrfcher, Ludwig der Fromme, war weniger als fein Vater 
für den Abt von Fuld eingenommen. Die Macht deffelben begann 
zu wanfen. Im Jahr 817 wurde er yon Neuem angeklagt, unter: 
lag feinen Gegnern, und mußte das Kfofter verlaffen. ?) Biele 
durch Ratgar's Gewaltthätigfeit vertriebene Mönche Fehrten hierauf 
zurüd; Einer aus ihrer Mitte, Eigil, den wir als Berfaffer der 
Lebensgeschichte des erfien Abts von Fuld, Sturmi, bereits fennen, 
wurde nad furzem Zmifchenregiment zu Anfang des Jahrs 819 
mit Bewilligung des Kaifers Ludwig zum Borfteher des Stifts er- 
wählt. Wir erfahren nicht, ob und welchen Antheil Naban an 
diefen langen Streitigfeiten nahm. Er war indeß um eine Stufe 
firchliher Würden vorgerüdt; im Jahr 814 hatte ihn nemlich der 
Nachfolger Rikulf's, Erzbiſchof Heiftolf von Mainz, zum Presbyter 
geweiht. ) Rabanus genoß das ganze Vertrauen des neuen Abts 
Eigil, und erhielt auch wieder die Leitung der Klofterfchule, Die 
hauptſächlich durch fein Verdienſt fchnell den alten Ruf errang. 
Nach dem zu Anfang des Jahrs 822 erfolgten Tode Eigil’s, erfor 
ihn die Brüderfchaft zu ihrem Haupte. Als Abt von Fuld erfchien 
Rabanus 829 auf dem Concile zu Mainz, das Ludwig der Fromme 
zugleich mit den drei andern großen Rirchenverfammlungen von Paris, 
Lyon, Touloufe angeordnet hatte. °) Damals wurde der erfte 
Grund zu den langen Händeln mit Gptfchalf gelegt, von denen 
wir tiefer unten berichten werden. Während der bürgerlichen Kriege 
die feit 830 im Franfenreihe ausbrachen, wußte Rabanus bie 
Gunft des Kaiſers zu bewahren, obgleih er es im Herzen mit 





i) Annales Laurissenses minores cap. 44, Perz I., 121. gegen unten. — 
2) Ibid, unten. — 8) Ibid. 123, u. annales Fuldenses ad annum 817, bei 
Perz I., 356 gegen unten, — *) Annales Laurissenses minores ad annum 
814, Perz I., 122 Mitte. — 9) Siehe oben S. 761. 7 
52? 


820 TE Buch. Kapitel 11. 


Lothar und der Gegenparthei hielt. Nachdem Ludwig der Fromme 
aus der Öefangenfhaft, in der ihn Lothar hielt, befreit worden 
war, überſchickte ihm der Abt eine Schrift, welche von der Ehrfurcht 
handelt, welche Söhne ihrem Vater, Unterthanen ihrem Könige 
fhuldig find. ) Mit Berufung auf Stellen der Hl. Schrift zeigt 
hier Rabanus, daß die weltliche Obrigfeit das Necht habe, mittelft 
des Schwerts Empörer zu beftrafen, aber auch daß die göttliche 
Milde reuigen Sündern gerne verzeihe. Auf die öffentliche Buße 
des Kaifers im Medarbusflofter zu Soißon's hindeutend, führt er 
fodann aus: Solche, die fich felbft als Sünder befannt hätten, aber 
yon Andern ſchwerer Vergehen nicht überwiefen werben fönnten, 
dürfe man nicht richten, noch verurtheilen. „Nicht möge Dich 
heiligfter Kaiſer,“ fährt er weiter fort, „die Schlechtigfeit deiner 
Feinde abhalten, Milde zu üben, vielmehr foll dich die Wahrheit 
des Evangeliums in folder Geſinnung beftärfen.“ Am Schluffe 
fordert er Ludwig noch einmal auf, feinem reuigen Sohne Lothar 
zu verzeihen. Bald darauf fehrieb Rabanus auf den Wunſch des 
Kaiſers eine zweite Schrift, 9) in welcher er gleichfalls bewies, daß 
Unterwürfigfeit gegen die Obrigfeit chriftliche Pflicht fey. Zugleich 
ermahnte er den Kaiſer wiederholt, auf der guten Bahn, bie er. bes 
treten, weiter zu fehreiten, und namentlich feinen Beleidigern Gnade 
angedeihen zu laſſen. Auch ter Kaiferin Judith brachte damals 
der Abt von Fuld eine Gabe dar, er widmete ihr feine Erklärung 
der Bücher Efiher und Judith, mit einem Sendjchreiben,? ) in 
welchem er fagt: „er habe in allegorifchem Sinne beide biblifche 
Werke für die Kaiferin auszulegen verfucht, weil fie mit der einen 
jener alten hebräifchen Frauen denfelben Namen trage, der andern 
aber an Würde gleich fomme. Durch Judith's Iobengwerthe Klug: 
heit fey bereits der größte Theil ihrer Feinde befiegt, auch die 
übrigen werden unterliegen, wenn die Kaiferin im Guten ausharre, 


nn — 


!) Liber de reverentia fillorum erga patres, et subditorum erga reges, 
abgedrudt von Steph. Baluzius in feiner Ausgabe der Schrift des Erzbifchofg 
von Paris, Petrus von Marfa de concordia sacerdotii et imperii. Paris 
1669. fol, Vol, I., 290 fig. — 9 Unter dem Titel de vitiis et virtuli- 
bus liber von Wolfgang Lazius in feinem Werfe: fragmenta quaedam 
Caroli Magni, Antwerpiae 1560. 8to herausgegeben. — ?) Das Sendfhreiben 
iſt abgedrudt bei Mabillon ActaOrd, S. Bened. IV., b. 42, Der Commentar 
in Colvener's Ausgabe der Werte Raban's III., 245 flg- | 


Innerliche Bewegungen in der Kirche der fränkifchen Reiche ıc. 821 


und unausgeſetzt für ihre fittlihe Veredlung bemüht fey.* Ohne 
Zweifel war Lesteres ein Winf, daß Judith weniger ftiefmütterlich 
gegen bie Söhne aus der erften Ehe des Kaifers verfahren möchte, 
Man fieht, Raban verlor den Bortheil Lothar's nie aus den Augen; 
während er nur für Ludwig den Srommen zu fühlen ſchien, arbei⸗ 
tete er zu Gunſten des Erfigebornen und Mitregenten. j 
Nach des alten Kaifers Tode ergriff Rabanus im Bunde mit 
dem Erzbifchof Digar von Mainz offen Parthei für Lothar und gegen 
Ludwig den Teutfchen. Die fiegreihen Brüder Karl und Ludwig 
wollten die Schlacht von Fontanet, in welcher fie Lothar über: 
wanden, für ein Gottesurtheil betrachtet wiffen.. In feiner Schrift 
über die Buße, welche Raban um 842 fchrieb, bekämpft er diefe 
Meinung. „Biele,“ fagt D er, „entfchuldigen das Morden, welches 
neulih aus Anlag der Empörung und des Kampfes der Fürften 
ftattgefunden. Sie behaupten, man bebürfe Feiner Buße, weil biefe 
Thaten auf Befehl der Könige gefchehen feyen, und Gottes Gericht 
alfo entfchieden habe. Allein Niemand vermag die Urtheile des 
Allmächtigen zu durchdringen; der Pfalmift lehrt (Pſ. 36, 7.) : die 
Gerichte Gottes find ein tiefer Abgrund.“ Die Angelegenheiten 
Lothar’ nahmen indeg mehr und mehr eine fhlimme Wendung, 
und damit wurde auch Naban’s Lage unhaltbar, Im Frühjahr 
842 ftand der Erzbifchef Otgar mit andern Bafallen Lothar's am 
Rhein, um dem Heere Ludwig’s des Teutfchen den Vebergang zu 
verwehren. Sn diefe Zeit fcheint ein Brief Raban's zu fallen, von 
dem ung die Magdeburger Senturiatoren ein Bruchftüf aufbewahrt 
haben. Der Abt fchreibt 2) hier an ben Erzbifchof: „wenn 
Digar ihn nicht ſchütze, müſſe er mit feinen Anhängern fliehen.“ 
Digar Fonnte feine Stellung am Rhein nicht behaupten, Lothar 
ſelbſt entfloh nah Burgund; Mainz, und beide Ufer des Stroms 
fielen in die Hände der Brüder Karl und Ludwig. Das Unglüd 
Lothar's zog den Sturz des Erzbifchofs wie des Abts von Fuld 
nad fih.?) Rabanus fuchte und fand zuerft bei feinem Freunde, 
bem im Jahr 840 auf den Stuhl von Halberftadt beförderten 
Haymo, dann, nachdem der erſte Sturm ausgetobt hatte, auf dem 
Petersberge bei Fuld eine Zufluchtsftätte. Zu feinem Nachfolger in 





) Opp. Rabani ed. Colvener, VI., 159. b. unten, — 2) Centuria IX., 
cap. 10. ©. 547 Mitte — 3) Lamberti Schaffnaburg., annales ad annum 842, 


822 II. Buch. Kapitel 11. 


der Abtei des bl. Bonifacius wurde der Mönch Hatto, ein Schüler 
Raban's gewählt, mit welchem der Lestere in gutem Vernehmen 
blieb. Nicht Tange dauerte feine Entfernung von den Gefchäften. 
Der gewandte Erzbifchof Otgar hatte ſchon im Jahre 845 1) die 
Gunft des teutfchen Königs, und in Folge derfelben, feinen Stuhl 
wieder errungen. Er war es ohne Zweifel, der die Berfühnung des 
Königs mit Naban einleitete. Der ehemalige Abt von Fuld wurde 
dem teutfchen Fürften zu Rathesdorf vorgeftellt. Ludwig ſprach 
den Wunfch gegen ihn aus, von feiner Feder eine allegorifhe Er: 
klärung ber biblifchen Hymnen zu befisen, welche beim Morgen: 
gottesdienft abgefungen zu werben pflegten. Rabanus beeiferte ſich 
das Buch, das er größtentheils ſchon vorher ausgearbeitet hatte, 
dem teutfchen Könige zu überfchiden. In der Vorrede fagt ?) er: 
„als ich neulich nach dem Klofter Rathesporf zu Euch gerufen ward, 
hattet Ihr die Gnade, mir aufzutragen, daß ich die biblifchen Gefänge, 
welche die Kirche beim Morgengottesdienſte anftimmt, in allegorifcher 
Weife auslegen möchte.“ Auch die Abfchrift eines encyklopädiſchen 
Werkes über die Welt und ihre Theile, welches Rabanus in früheren 
Jahren verfaßt, bat fih damals der König aus. Raban fandte 
ihm biefelbe mit einer Zueignung, 3) welche von Lobfprüchen über die 
hohen Eigenſchaften Ludwig's des ZTeutfchen firogt. Der Erfolg 
bewies, daß der König eine fehr gute Meinung von Rabanus ge: 
faßt haben muß. Otgar farb im April 8475 im Juni deffelben 
Sahres wurde der ehemalige Fulder Abt auf den erledigten Erzftuhl 
von Mainz erhoben. *) Raban hatte fomit die höchſte Stufe Firdh- 
licher Würden im teutfchen Reiche erreicht. Im Oktober 847 berief 
er eine Provinzialfynode >) nah Mainz, auf welcher ſämmtliche 
Suffragane des Erzfprengels, die Bifhöfe Samuel von Wormg, 
Gozbald von Würzburg, Baturat von Paderborn, Ebo von 
Hildesheim, Haymo von Halberftadt, Waltgar von Verben, 
Gerbrath von Chur, Otgar von Eichſtätt, Lato von Auge: 
burg, Salomo von Conftanz, Gebhard von Speier erfchienen. 
Auch der Apoftel des Nordens Ansfar fand fih ein, um dem 
teutfchen Könige die traurige Lage des Hamburger Stuhles an's 





2) Den Beweis bei Kunftmann a. a. O., ©. 114. — 9) Opp. edid, 
Colvener HI., 293 a. — 3) Opp. I., 51. — *) Ruodolfi fuldenses annales 
ad annum 847. Perz I., 365, — 5) Die Aften bei Harzheim II., 151 flg., 
oder auch bei Manſi XIV., 899, flg 





Innerliche Bewegungen in der Kirche der fränfifchen Reiche ꝛc. 823 


Herz zu Iegen. Die Verhandlungen der Synode verbreiten helles 
Licht über die damaligen Zuftände der teutfchen Kirche, man fieht, 
daß während des langen Bürgerkriegs furdtbare Gefeglofigfeit ein- 
geriffen, und die Zucht tief verfallen war. „In dem Synobal- 
fchreiben an den König Hagen die Biſchöfe über Mißhandlung der 
Geiftlihen und die Beraubung des Kirchenguts. „Gegenwärtig,“ 
fchreiben fie, „werben weder bie heiligen Orte, noch Die Diener des 
Herrn in Ehren gehalten, man peitfcht, beftiehlt, verhöhnt die Priefter 
auf alle Weife. Die große Noth hat ung deßhalb gezwungen, 
Befchwerde zu führen, und Euch zu bitten, daß Ihr dem Beifpiel 
Eurer erlaubten Ahnen folgend, die Kirche Gottes, ihre Diener 
und Güter unverlegt erhalten möget.“ Die Berfammlung faßte 
Beichlüffe über die Beftrafung von Kirchenraub, Todtfchlag, Ber: 
wandten- und Priefter: Mord. Befonders häufig muß lebteres Ber: 
brechen gewefen feyn. Denn der 21. Canon befagt: „daß Vaters 
mörder überall frei herumlaufen und verfchiedenen Laftern fröhnen.“ 
Strenge Buße wird über fie verhängt, fie follen weder eine Ehe 
fliegen, noch in Kriegsdienfte treten dürfen. Die Synode 308 
überdieß eine faliche Prophetin zur Strafe. Thiota, ein in Ala— 
mannien gebornes Weib, hatte den nahen Untergang der Welt 
verfündigt und dadurch im Bistum Conſtanz großen Lärm ver: 
urſacht. Das gemeine Volk, ſelbſt ein Cleriker, bieng ihr an. 
und erfaufte durch Gefchenfe ihre Fürbitten. Auf Befehl der 
Synode peinlich befragt, befannte fie, daß Gewinnſucht und der 
Rath eines Presbyters fie verleitet babe, ihre Prophetenrolle zu 
fpielen. Sie wurde Hffentlih ausgepeitfcht. ") 

Im nächſten Jahre (848) hielt Rabanus eine zweite Synode, 
bie fi) blos mit der Angelegenheit des Mondes Gotſchalk befchäf: 
tigte. Nachdem er das Urtheil der Verdammniß über ihn ausge: 
ſprochen, übergab er den Unglüdlichen dem Erzbifchof von Nheims, 
in deſſen Sprengel das Kloſter Gotfchalfs Yag. DiegStreitigfeiten, 
bie wegen des Mönchs ausbrachen, verbitterten die legten Tage 
Raban's, obgleich er fich fpäter ängftlih vom Kampfe, ben er be- 
gonnen, zurüdzuziehen fuchte. Bis an fein Ende mit fchriftftel- 
leriſchen Arbeiten befchäftigt, ftarb Rabanus Maurus am vierten 





1) Ruodolfi Fuldensis annales ad annum 847. Perz I., 365. und daraus 
bei Harzheim II., 160, 


824 IM. Bud. Kapitel At. 


Februar 856 auf feinem Landhaufe zu Winkel unmeit Mainz. Die 
Segnungen ber Armen, deren Vater er gewefen war, folgten ihm 
ind Grab. Rabanus war unter den Kirchenlehrern des neunten 
Jahrhunderts der fleißigfte, unter den Teutſchen ver gelehrtefte. 
Eine Gefammtausgabe ’) feiner Schriften würde wohl acht große 
Bände füllen. Faft über alle Bücher neuen und alten Teftaments 
hat er ausführlihe Erklärungen "gefchrieben. Nur Weniges ift 
dabei feine eigene Arbeit. Nach der Weife feines Zeitalters hat er 
aus den Schägen der älteren Kirchenlehrer, Griechen wie Lateiner, 
gefammelt. NRabanus fpricht fich hierüber offen aus: „Heilfamer,“ 
fagt ?) er, „Icheine es ihm, in Demuth die Auslegungen der heiligen 
Väter zu wiederholen, als auf anmaßende Weife eigene Anfichten 
an den Tag zu fördern.“ Die Werfe der alten Erflärer waren 
felten und theuer. Raban wollte diefem Mangel abhelfen, indem 
er — laut feiner eigenen Aeuferung, ?) „den Lefern, die mit den 
verſchiedenen Werfen der Ausleger nicht verfehen feyen, durch Zus 
fammenftellung des Paffendften Gelegenheit verfchaffe, von der 
hohen Wiffenfchaft der Väter Einfiht zu gewinnen.“ Schon einige 
Zeitgenoffen machten ihm deshalb den Vorwurf unnüter Biel: 
fchreiberei, oder befchuldigten ihn gar, aus armfeliger Eitelfeit fich 
mit fremden Federn zu ſchmücken. Rabanus entgegnet hierauf: 
„Niemand könne der Verläumdung folcher Neider entgehen, ale 
wer gar nichts fchriebe; lieber wolle er ihre ungegründeten Be: 





» Die Ausgabe, welche der Probft zu Douay, Georg Colvenerius in 
ſechs Foliobänden zu Mainz 41626 veröffentlichte, enthält bei Weitem nicht alle 
Schriften Raban’s. Namentlich fehlen diejenigen, welche für ‚die Kirchenge: 
fhichte des neunten Jahrhunderts die meifte Ausbeute gewähren. Mehrere der 
letztern Kaffe finden fich zerfireut in verfchiedenen Sammelwerfen, andere find 
noch nicht aufgefunden, wie die Brieſſammlung Raban’s, welde noch die Ber: 
faffer der Magdeburger Eenturien fannten. Am Ende des letzten Jahrhunderts 
befchäftigte fich_der Prior von S. Emmeram in Regensburg 3. B. Enhuber 
mit einer neu usgabe, zu deren Beforgung ihn derfelbe Fürft-Abt Froben, 
dem wir die trefflihe Sammlung der Werfe Alkuin’s verdanfen, aufgefordert 
hatte. Die Ungunft der Zeiten verhinderte Enhuber feinen Plan auszuführen. 
Aus dem reichen Apparate Enhuber's hat Kunftmann neulich, al8 Anhang zu 
feiner Monographie über Naban, einiges Ungedrudte mitgetheilt. Vielleicht 
gelingt es Perz und feinen Mitarbeitern, den bis jeßt verlornen Briefwechfel 
Raban's aufzufinden. — 2) In der Borrede zu Ezechiel Opp. ed. Colvener 
IV., 171 oben. — 3) In der an Heiflulf gerichteten Vorrede zu Matthäus 
opp. V., 1. 





Innerliche Bewegungen in der Kirche der fränfifchen Reiche ꝛc. 825 


ſchwerden ertragen, als im Müßiggang die Gaben vernachläßigen, 
die ihm der Herr verliehen habe.“ ') Gewiß ift, daß durch Naban’s 
Tpätigfeit eine eigene Schule von Theologen entftand, welche in 
Teutfchland und den benachbarten Neichen eine genaue Kenntniß 
der auf Die Ueberlieferung der Bäter gegründeten Kirchenlehre 
verbreiteten. I 

Diefer Schule gehörte auch der früher genannte Bifchof ven 
Halberftadt und Jugentfreund Naban’s an. Unbekannt ift, wo und 
wann Haymo geboren wurde. Frühe, ungefähr zu gleicher Zeit 
mit Raban, trat er in die Edhule zu Fuld, gieng fodann mit 
Diefem nad) Tours zu Alfuin, übernahm nad) feiner Rückkehr eine 
Lehrerftelle zu Fuld, wurde 839 zum Abt von Hersfeld im Mainzer 
Sprengel, zwei Jahre fpäter, als Nachfolger des zweiten Bifchofs 
von Halberftadt, Thiotgrim, auf den dortigen Stuhl befördert. 
Nah zwolfiähriger bifchöflicher Amtsführung ftarb Haymo den 26. 
März 853 zu Halberftadt. Noch befizen wir von ihm ein Fleineg 
Merf über Kirchengeichichte, das ein Auszug aus Eufebius ift, Er: 
Härungen zu den Pfalmen, zu Eſajas, den zwölf kleinen Propheten, 
zu den Briefen Pauli und der Offenbarung Johannis, eine Predigt: 
fammlung und einige Heinere Schriften. In feinen eregetifchen 
Arbeiten fucht Haymo, wie Rabanus, nach Anleitung der Väter, 
hauptfächlich den allegorifchen Sinn der Bibel zu enthüllen.”) Neben 
Haymo müffen wir einen Schüler Raban’s nennen. Walafried, 
wegen fchielender Augen mit dem Beinamen Strabus oder Strabo 
bezeichnet, wurde 807 in Alamannien geboren. Geine erfte Er: 
ziehung erhielt er in der Klofterfchule zu Reichenau Wettin, 
beffen im neunten Jahrhundert fo berüchtigten Gefihte °) er 825 
in lateiniſchen Berfen befchrieben hat, war dort fein Lehrer. Später 
wurde Walafried in die Fulder Schule gefchidt, um unter Raban's 
Leitung feine Studien zu vollenden. Nach feiner Rückkehr wählte ihn bie 
Neichenauer Brüderfchaft 842 zum Abt, wiewohl er damals kaum 
35 Jahre zählte. Diefe Erhebung mag bei manden Münden 
Neid erregt haben und Hauptanlaß der Verfolgung geweſen feyn, 





Y) Ibid. — 2) Ueber Haymo vergl. man histoire litteraire de la France 
V., 111. fig. — 5) Visio Wettini abgedrudt bei Mabillon act. ord. S. 
Bened, IV., a. ©. 257 fly. Wettin wird im Geficht nach dem Himmel und 
der Hölle entrückt, und fieht die Strafen, welche Karl der Große wegen Un: 
feufchheit erduldet. 


8526 I. Buch. Kapitel 11. 


welche Walafried erbulden mußte. In der Sammlung feiner. Ge: 
dichte finden fih einige an Rabanus gerichtete Verſe, ) worin er 
über feine und der Seinigen Armuth Fagt, und den Abt von 
Fuld um Geld zu Schuhen bittet. Demnach fcheint er mit den 
Gütern feines Stifts ſchlecht gewirtbfchaftet zu haben. Wirklich 
behauptet Goldaft: ?) aus einem ungedrudten Gedichte Walafried’s 
erhelle, daß der Abt von den Reichenauer Mönchen darum verjagt 
worden fey, weil er ausſchließlich mit gelehrten Arbeiten befchäftigt, 
die Verwaltung des Kiofiers gänzlich vernachläßigt habe. Walafried 
floh allen Anzeigen nad in das Wigbert- Kiofter bei Halberftadt, 
wo fih damals auch NRabanus befand. Dort foll laut dem Zeug: 
niffe eines Schriftfiellers aus dem fechszehnten Jahrhundert, Torz 
quatus, der fih auf urfundliche Nachrichten beruft, ?) die Gloſſe zur 
Bibel, das Hauptwerf Walafried’s, begonnen worden feyn. Jeden: 
falls wurde Walafried fpäter wieder in feine Abtei eingefest. Als 
Prob von Reichenau übernahm er im Auftrage des teutfchen 
Königs Ludwig 849 eine Gefandtfhaft nah Franfreih, zu Karl'n 
dem Kahlen, auf welcher Neife er ftarb. +) Obgleich er kaum das 
zweiundvierzigfte Jahr zurücgelegt hatte, hinterließ er eine anfehn- 
liche Zahl von Schriften. Die umfangreichfte unter denſelben ift 
bie kurze Erflärung zur ganzen Bibel, welche gewöhnlich mit dem 
Titel Glossa ordinaria bezeichnet wird. >) Walafried bat fie 
größtentheilds aus den eregetifchen Werfen Naban’s ausgezogen. 
Außerdem fchrieb er in der Weife des Rabanus eine Auslegung zu 
den Palmen, von welcher nur ein Heiner Theil gedrudt iſt. ) Von 
größerem Werth find die Hiftorifchen Schriften Walafried’s: ein aus: 
führlihes Werf über den Gottesdienft, ) und etliche Lebensbe- 
fhreibungen von Heiligen. Sonft befigen wir noch yon ihm inehrere 
Predigten und eine Sammlung Gedichte. ®) 





1) Bibliotheca Patrum max. Lugdun. Vol, XV., ©. 231. a. gegen oben. — 
?) Rerum alamannicarum scriptores ed. Senkenberg II., 9. b. — °) Anna- 
les Magdeb. et Halberst. bei Boysen monumenta inedita J., 183. — 
) Nach der Ausfage des Mönchs Ermenrich bei Mabillon analecta fol. Ausgabe 
©. 420 b. unten und Annales ord. S. Bened. II., 641. der Venetianer Aug: 
gabe. — 9) Im 15: 16. und 17. Jahrhundert öfter gedruckt. — ©) Bei Perz 
anecdota Vol. IV., 472 flg. — ) De exordiis et incrementis rerum ecelesi- 
asticarum abgedrudt bibliotheca Patrum maxima Lugdun, XV., ©. 182 flg. — 
*) Abgedrudft ibid. S. 204 flg: Ueber Walafried’s ſchriftſtelleriſche Thätigfeit 
vergleiche man histoire litteraire de la France V., 59 fl. 


Innerliche Bewegungen in der Kirche ver fränkifchen Reiche ꝛc. 827 


Wir haben oben blos bie eregetifchen Arbeiten des Begründerg 
der Mainzer oder Fuldaer Theologenſchule angeführt. Bon Raban's 
übrigen Werfen mögen hier noch einige genannt werden: bie zwei 
Bücher zum Lobe des heiligen Kreuzes, mit welchen er feine fchrifte 
ftellerifche Laufbahn begann. Das erſte Buch enthält 28 Gedichte 
in fo fünftlicher Form, daß aus den einzelnen Buchſtaben und 
Worten Figuren des Kreuzes gebildet werden. Im zweiten 
Buche giebt er eine profaifche Erflärung eben diefer Figuren. 
Als der Erzbifhof von Mainz Heiftolf 819 eine vom Abt Eigil 
erbaute Kirche zu Fuld einmweihte, widmete ihm Nabanus drei Bücher 
vom Unterricht der Cleriker, welche Auffchluß über die Art geben, 
wie in Fuld die theologifchen Studien betrieben wurden. Bald 
darauf fchrieb er feine Abhandlung über die Firhliche Nechenfunft, 
die nicht in der Sammlung Colveners fteht. I) Um mehr ald 20 
Jahre fpäter ift Raban's großes encyklopädiſches Werk, welches nad 
feinem Plane den ganzen Inbegriff wilfenichaftliher Kenntniffe des 
neunten Sahrhunderts umfaffen follte. Es führt den Titel de uni- 
verso. Nach dem Borgange des Seviller Iſidor, handelt er in 
22 Büchern von Gott, der Dreieinigfeit, den Engeln, den hiftori- 
fchen Verfonen des alten und neuen Teſtaments, von der Kirche, 
der Religion, von Ketzern und Gläubigen, von den Saframenten, 
von den heiligen Büchern und ihren Berfaffern, von Goncilien und 
Kirchenvätern, vom Menſchen und feinen Berhältniffen, Verwandt: 
fchaften, Chen, vom Thierreich, von den Weltgegenden, Geftirnen 
und Elementen, von der Zeit und den Feften, von Waffer, Schnee, 
Negen, Hagel, Nebel, Blis, von der Erde und ihrer Befchaffenheit, 
von Gebäuden und ihrer Eintheilung, von Philofophen, Dichtern, 
Sibylien, Magern, bheidnifchen Gebräuchen und Götzen, von ber 
Spracde, von Steinen und Erzen, von Maas, Gewicht, Zahl, von 
der Tonfunft, von Krankheiten und Arzneien, vom Landbau und 
ben Gewächſen, von Krieg und Kriegesrüftung, von Fünftlichen 
Arbeiten, Gemälden, Farben, von Schmuck und Kleidung, endlich 
som Tiſche und Hausgeräthen, Noch ift übrig, daß wir über die 
Rolle berichten, welche der Erzbifchof von Mainz in dem wichtigen 
Streite mit Gotſchalk ?) ſpielte. 





1) Zuerft von Baluzius herausgegeben Miscellanea Ausgabe von Lucca 
II., 63. fig. — ?) Quellen zur Gefchichte Gotſchalk's: G. Mauguin veterum 


auctorum, qui seculo nono de praedestinatione et gratia scripserunt, opera 


828 I. Buch. Kapitel 11. 


Gotſchalk, der Sohn eines ſächſiſchen Edelmanns, wurbe von 
feinem Bater Bern in den Tagen des Abts Eigil, als Feiner Knabe 
dem Klofter Fuld geopfert, d. b. der Vater übergab ihn dem Abt, 
damit er zum Mönch erzogen werde. Der junge Sachſe fchloß im 
Klofter ein Freundfchaftsbiindnig mit feinem Mitſchüler Walafried 
Strabo, welcher ihm in noch vorhandenen Berfen ein ehrendes 
Denfmal geftiftet hat. Nachdem Gotfchalf feine Jünglingsjahre in 
ber Fulder Schule zugebradht hatte, wurbe er des mönchiſchen Lebens 
überdrüßig und forderte feine Freilaffung, indem er behauptete, daß 
er wider Willen und Neigung ins Klofter geftedt worden fey. Die 
Sade kam auf der Mainzer Synode im Jahr 829 zur Sprache. Der 
Metropolit Digar entfchied mit 58 andern Bifchöfen zu feinen 
Gunften. Allein Raban, damaliger Abt von Fuld und Vorgeſetzter 
Gotſchalt's, widerſprach, und appellirte an den Kaifer Ludwig. 2) 
Zugleich fchrieb er eine Abhandlung, in welcher er aus Bibelſprüchen 
zu beweifen fuchte, daß chriftlihen Vätern das Recht zuftehe , ihre 
Kinder Gott zu weihen, und daß foldhe Gelübde ohne ſchwere 
Sünde nicht gelöst werden können, weil der Mönchsſtand von Gott 
eingefetst fey. Gotſchalk hatte geltend gemacht, Feine ſächſiſche, 
fondern nur fränfifche Zeugen feyen zugegen gewefen, als feine 
Eltern ihn dem Klofter weihten. Dies widerftreite dem fächfifchen 
Recht, welches beftimme, daß ein Menfch feine Freiheit nur auf dag 
Zeugnig von Leuten aus feinem eigenen Stamme verlieren könne. 
Rabanus entgegnet hierauf: „Man verliert feine Freiheit nicht, wenn 
man ſich dem Dienfte Chriſti weiht. Nur der ift frei, der feinem 
Gotte dient, nicht wer Laftern und Sünden fröhnt.“ ) Wir haben 
feine urfundliche Nachricht über die Entfcheidung bes Kaifers Ludwig. 





et fragmenta, Paris 1650. 2 Vol. Ato. In diefem wichtigen Sammelwerk find 
bie auf den Streit bezüglichen Urkunden größtentheils zufammengeftellt. Der 
Janſeniſt Mauguin nimmt Parthei für Gotſchalk. Gegen ihn fchrieb der 
Jeſuite L. Cellotius historia Golteschalei praedestinatiani; Paris 1655 fol. in 
welhem Buch fich gleichfalls Urkunden finden; Centuriae Magdeburgenses 
IX., cap. IX., 404 flg. cap. X., ©. 543. 546. darum wichtig, weil die Ver: 
faffer etliche Urkunden laſen, die jeßt verloren find. Die übrigen Quellen 
werden wir an den betreffenden Stellen angeben, — ') Bibliothec. Patr. max, 
Vol. XV., 232, — ?) Centuriae Magdeburg. IX., 9. ©. 404 flg. — ?) Opus- 
culum contra eos, qui repugnant institutis beati Patris Benedieti abgedrudt 
bei Dabillon Annales Ord. S. B. II., 677. fig. Man vergl. noch ibid. ©. 488. flg. 
(der Benetianer Ausgabe). io 


Innerliche Bewegungen in der Kirche der fränkiſchen Reiche ıc. 829 


Sie muß jedoch günftig für Rabanus gelautet haben. Denn 
Gotfchalf verblieb im Mönchsverbande, verließ aber dagegen Fuld 
und begab ſich nah dem Klofter Drbais, das zum Sprengel von 
Soißon's gehörte. Man feheint ihm Lesteres bewilligt zu haben, 
damit er vor Raban's Rache gefichert fey. Zu Orbais vertiefte 
fih Gotfhalf in dag Studium der Schriften des Hl. Auguftinus, 
und der ihm gleich geftimmten Väter, namentlich des Biſchofs Ful- 
gentius von Ruspe. Mit dem ganzen Feuer feiner fühnen und 
fraftoolfen Seele ergriff er die Lehre von der göttlichen Vorher: 
beftimmung in ihrer bündigften Strenge. Die Brüder gaben ihm 
wegen feiner Borliebe für den Bischof von Ruspe den Beinamen 
Fulgentius. ) Gotſchalk fonnte und wollte die Neberzeugung, welche 
er aus Auguftin gefchöpft, nicht für fi) behalten. ine auguftinis 
ſche Parthei follte gefhaffen werden. Durch Briefe, die er an viele 
Theologen in Franfreih, wie im Auslande fehrieb, fuchte er bie: 
felben für feine Anficht zu gewinnen. Er gefteht dieß felbft in dem 
poetifchen Schreiben ?) an den Mönch Ratramnus von Corbey, in 
welchem er aus der Zahl Derer, mit denen ev in Briefwechfel 
getreten fey, namentlich den Bilhof Jonas von Orleans, fowie die 
Aebte Servatus Lupus von Ferrieres und Marquard von Prüm 
anführt. Unter den Werfen des Abts Servatus Lupus findet fid 
ein Brief, ?) in welchem derſelbe zwei von Gotſchalk ihm über Augu— 
ftin’s Lehre vorgelegte Fragen beantwortet. Auf die erfte Frage: 
ob wir nad der Auferftiehung mit leiblichen Augen Gott fehen 
werden, erwiedert Lupus: da Auguftin felbft ed nicht gewagt habe 
hierüber zu entfcheiden, müſſe man bie Sade auf fi beruhen 
laffen. Die zweite Frage. betraf eine Stelle Auguftin’d aus der 
Schrift über den göttlichen Staat, wo es heißt: *) „Gott wird dann 
(am Ende der Dinge) und befannt und fihtbar ſeyn, alfo dag Er 
gefehaut wird mit dem Geifte von ung Allen, gefhaut von Einem 
in dem Andern, gefehaut in fich, gefchauet im neuen Himmel, der 
neuen Erde und in jeglicher Greatur, geſchaut aud mit dem Körper 
in jedem Körper, wohin fi die Augen unferes verflärten Leibes 
richten.“ Lupus fucht diefen überfchwänglichen Ausſpruch fo gut zu 





) Sp nennt ihn auch Walafried in dem oben angeführten Gedicht Bib- 
lioth, max. XV., 232, — 2) Abgedrucdt bei Cellotius a.a. O., ©. 115 flg. — 
3) Opera Servatii Lupi ed. Baluzius Antwerp. 1710, Epist. 30, ©, 57 fl — 
+) Siehe den zweiten Band diefes Werks ©. 737, 


\ 


830 IM Buch. Kapitel 11. 


erflären, ald es geht, und fügt am Ende den Kath bei: „Gotfchalf 
möge mit folhen Unterfuchungen feine Kräfte nicht verfchwenden, 
damit die Zeit für nüglichere Arbeiten nicht verloren gehe.“ Der 
Mönch hörte nicht auf die Warnung, welche in den letztern Worten 
liegt. Es muß feiner brennenden Thätigfeit gelungen feyn, in der 
Gegend von Drbais einen zahlreichen Anhang zu werben. Die 
Sache begann Auffehen zu erregen. In einem Schreiben an Pabft 
Nikolaus I. berichtet der Erzbifchof Hinfmar von Rheims über die 
Umtriebe Gotſchalk's zu der Zeit, da er noch im Klofter zu Orbais 
weilte, Folgendes: 1) „laut dem Zeugniß, das ihm fein Abt gebe, 
fey er mehr ein wildes Thier als ein Mönch, von allen Kegereien, 
die in der Gegend aufgefommen, habe er das Giftigfte ausgewählt, 
um die Einfältigen und Betrogenen noch mehr zu verführen, er 
babe fih den Namen eines Lehrers angemaßt, und Schüler an ſich 
gezogen“ u. ſ. w. Hinfmar ift zwar ein Teidenfchaftlicher Gegner 
Gotſchalk's, dennoch Fann man unmöglich argwöhnen, daß letztere 
Angabe aus der Luft gegriffen ſey. Noch wichtiger iſt eine andere 
Nachricht, welche Hinkmar an derſelben Stelle mittheilt. „Gotſchalk,“ 
ſagt er, „habe ſich den Kirchengeſetzen zuwider (d. h. ohne Erlaubniß 
des Metropoliten) von einem Chorbiſchofe zum Prieſter weihen 
laſſen.“ Dieſe Einweihung hatte geſchichtliche Folgen, allem Anſchein 
‚nach gab fie Anlaß zu dem tödtlihen Schlage, der auf der Synode 
zu Paris 849 gegen die Chorbifchöfe geführt worden if. Wir 
werden bievon tiefer unten handeln. Man wird wohl nicht irren, 
wenn man annimmt, Gptfchalf habe fi die Presbyterwürde dar: 
um übertragen laffen, um feine religiöfe Meinungen auch unter 
dem Bolfe durch Predigten verbreiten zu können. Zu demfelben 
Zwede machte er mehrere Reifen in fremde Länder, Hinfmar 
berichtet ?) an den Pabft, Gotfchalf habe ohne Erlaubniß des Abts 
das Klofter verlaffen, und fey in vielen Gegenden herumgeftreift, 
um ben Samen feiner verberblichen Ketzerei auszuſtreuen. In dem 
mehrfach angeführten Gedichte fpricht Walafried von einer Reife 
Gotſchall's nah Rom, und fest dabei deutlich voraus, daß ber 
Mönch wieder mwohlbehalten in fein Klofter zurüdgefehrt fey. Auf 
einer zweiten Reife eben dahin, welche unglüdlich für ihn endete, 
finden wir Gotſchalk im Jahre 847. Heimfehrend von Nom, 





') Hincmari opp. ed, Sirmond. U., 262, - 2) Ibid, 


Innerliche Bewegungen in der Kirche der fränkiſchen Reiche ꝛc. 831 


beſuchte er den Grafen Eberhard von Friauf, bei welchem er den 
neuernannten Bifchof Noting von Verona antraf. Gotfchalf 
machte, wie es feheint, den Verſuch, diefe hochgeftellten Männer für 
feine Anficht zu gewinnen, er trug ihnen die Lehre vor, daß Gott 
die Menfchen eben fo gut zum Böſen wie zum Guten, zur ewigen 
Berdammniß wie zum Heile, vorausbeftimmt habe. Längere Zeit 
muß er in Friaul geblieben feyn. Indeſſen veiste Noting in Staats: 
gefchäften nach Teutfchland herüber, und Fam dort mit Rabanus 
zufammen, dem er über das Treiben des Mönchs Eröffnungen 
machte. ) In Folge deffen warb zwiſchen Beiden bie Berabredung 
getroffen, dag Naban ein Buch fchreiben folle, um den Irrthum 
Derer zu widerlegen, welche behaupten: „wer zum Leben beflimmt 
fey, könne nicht zu Grunde gehen, wer zum Tode, nicht felig werben.“ 
Raban ſäumte nicht, fein dem Jtaliener gegebenes Verſprechen zu 
erfüllen, er überfandte das gegen Gotfchalf gerichtete Werf an 
Noting. „Wenn der vernünftige Menſch,“ heißt es am Eingange, 
„die Kräfte feiner Natur und die Macht des Schöpfers richtig 
ſchätzte, würde er nie fi) in thörichte Fragen verwideln, noch auf 
Lehren verfallen, welche der chrifilihen Religion zumider find, Da 
aber der alte Feind des menfchlichen Geſchlechts nicht aufhöre in 
dem Garten des Herrn Unkraut zu füen, fo erzeuge er durch eitles 
Gerede der Menfchen nicht nur unnüge, fondern auch feelengefährliche 
und gottesläfterliche Behauptungen, alfo daß Einige den Allmäch— 
tigen zum Urheber des Verderbens machen, indem fie fagen: gleich 
wie diejenigen Menfchen, welde durch Goites VBorherwiffen und 
Seinen Rathſchluß zur Theilnahme am ewigen Leben berufen feyen, 
felig werden müßten, alfo würden auch die zum Tode Beftimmten 
nothwendig ihrem Schiefal entgegengeführt, und fünnten dem Unter: 
gange nicht entrinnen. Selbft ein Ungelehrter vermöge das Unge: 
veimte dieſes Satzes einzufehen, denn der Allmächtige, welcher alles 
Gute erichaffe, und alle Völker der Erde zum Heile befähigt habe, 
zwinge Niemand zum VBerderben, fondern bewirfe vielmehr, daß 
wer den rechten Glauben befige und gute Werfe übe, zur Selig— 
feit gelange.* Mit Berufung auf eine dem Auguftin unterfchobene 





- 
') Raban fagt dieß felbft in der Borrede des an Noting gerichteten Werks 
‚über die Präveftination, Sirmondi opera (Benetianer Ausgabe) Vol. II, 
999 fig. 


832 IT, Buch. Kapitel 41. 


Schrift, die den Titel hypomnesticon contra Pelagium führt, !) 
entwidelt fofort Rabanus den Begriff des Wort praedestinalio. 
„Gott“, jagt er, „dem das Vorherwiſſen nicht zufällig, fondern 
wefentlich fey, wife Alles vorher, ehe es gefchehe; aber nicht Alles, 
was Er vorherwiffe, prädeftinive Er; das Böſe wife Er zwar vorher, 
aber präbdeftinire es nicht, das Gute dagegen wiffe Er vorher und 
prädeftinive es zugleich.“ Im Folgenden fucht er diefe Sätze fowohl 
aus der Bibel als aus den Schriften der Väter zu ermeifen. Zu 
gleicher Zeit mit der Abhandlung an Noting, fchrieb Nabanus einen 
Brief I an den Grafen Eberhard von Friaul. Nachdem er zu: 
vörberft feinen Dank für die freundliche Aufnahme ausgefprocen, 
welche zwei Mönde von Fuld im vergangenen Jahr bei ihm ge: 
funden, geht er auf Gotſchalk über: „Nach Teutfchland fey die Kunde 
gedrungen, daß fich. bei dem Grafen ein Klügling, Namens Got: 
ſchalk, aufpalte, welcher Iehre: durch den göttlichen Rathſchluß werde 
der Menſch alſo gebunden, daß er felbft bei dem ernftlichen Be: 
fireben, durch Glauben und gute Werfe das ewige Leben zu er: 
langen, fich vergeblich abmühe, fofern er nicht zum Heile voraug- 
beftimmt fey; woraus denn folge, daß Gott den Menfchen zum 
Berberben zwinge. Dieſe Sefte habe ſchon Viele zur Verzweiflung 
gebracht, indem die Leute fprächen: was fann es mir helfen, für mein 
ewiges Heil zu arbeiten, denn thue ic) Gutes, ohne zur Geligfeit 
vorausbeftimmt zu feyn, fo nüßt eg mir nichts; thue ich aber Böſes, 
fo ſchadet es mir Nichts, wofern mich Gottes Rathſchluß zum Heile 
geordnet hat. Auch in Zeutfchland,“ fährt er fort, „habe jene Lehre 
viel Aergerniß erregt, und Manche zum Ungeborfam wider die 
Lehre des Evangeliums verleitet. Man fage, daß Gotſchalk viele 
Zeugniffe aus den Schriften Auguftin’3 gefammelt habe, um feine 
Meinung zu begründen, während doch Auguftin in feinen Schriften 
wider die Pelagianer ein Bertheidiger der Gnade, Fein Zerftörer 
des Achten Glaubens fey.“ Rabanus fucht nun aus Auguftin und 
andern Vätern die Säge bes Mönche zu widerlegen. Der Brief 
fließt mit den Worten: „Ich hege das Bertrauen dag Du, ehr: 
würdiger Mann, ein guter Chrift bift und nichts in Deiner 
Heimath duldeft, was dem Evangelium des Herrn 





N Abgedruckt im zehnten Band der Mauriner Ausgabe von Auguſtin's 
Werfen, — 2) Abgedrudt bei Sirmond a. a. O., ©. 1019 fig. 


* 


Innerliche Bewegungen in der Kirche der fränkiſchen Reiche ꝛc. 833 


widerſpricht, ſondern nur Das, was Gott gefällt und zum Heile der 
Seelen dient. Bei dieſer Geſinnung möge Dich die Gottheit unſeres 
Herren Jeſus Chriſtus unverſehrt in Ewigkeit erhalten.“ 

Daß die Schlußworte Raban's ihre Wirkung nicht verfehlten, 
erfahren wir aus einer andern Duelle. Die Zeitbücher von Troyes !) 
melden zum Jahr 849: „der galliſche Mönch Gotſchalk, Urheber 
abergläubifcher Lehren, welcher unter dem Vorwande der Religion 
Stalien zu verführen gefucht hatte, wurde aus dieſem Lande 
wie ein Lebelthäter verjagt, und verfuchte es dann feine gif- 
tigen Irrthümer in Dalmatien, Pannonien und Baiern (Noricum) zu 
verbreiten, bis man ihn vor ein Gericht der Bischöfe ftellte.“ Wirk: 
Yih finden wir Gotfhalf im. Sommer 848 zu Mainz, wo er einer 
Synode, auf welcher Rabanus den Borfis führte, Nechenfchaft geben 
muß. Wie er dorthin gefommen, erzählen Die Quellen nicht. Mög: 
fich wäre es, daß ihn König Ludwig hätte aufgreifen laſſen, noch 
wahrscheinlicher ijt jedoch, daß er fich felbft zu Mainz ftellte, um. 
dem Erzbiichof ins Angeſicht zu troßen. Denn er brachte eine 
MWiderlegung der Schrift mit fih, welche Rabanus wider ihn an 
den Bifhof Noting abgeſchickt hatte. Diefe Thatfache ſcheint dar: 
auf hinzudeuten, daß er den Kampf mit Rabanus gefucht hat. 
Noch Ddeutliher zeugen für letztere Anficht die Worte, welche 
Nabanus in dem Schreiben *) gebraucht, das er nad) dem Schluß der 
Mainzer Synode an Hinfmar von Rheims erließ: „Euer Liebden 
ſey hiemit fund gethan, daß ein gewiffer berumftreihender Mönch, 
Namens Gotjchalf, welcher fih für einen in eurer Didcefe geweih— 
ten Presbyter ausgiebt, aus Jtalien zu ung nah Mainz ge: 
fommen ift, einen neuen Aberglauben und fhädliche Lehren von 
der Borherbeftimmung Gottes verbreitend, und die Völker zum 
Irrthum verführend,“ Man müßte den Ausdrüden Raban's Gewalt 
anthun, um einen andern Sinn herayszubringen, als den, baß 
Gotſchalk aus eigenem Antrieb nah Mainz gereist fey. 

Mit rückſichtloſer Kühnheit befannte Gotſchalk vor der Mainzer 
Synode feine Meinungen. Er übergab dem Erzbifchofe Naban ein 
Glaubensbefenntnig, von welchem uns Hinkmar ein Brudftüd ®) 
aufbewahrt hat, Es beginnt alfo: „Ich Gotichalf glaube und 


1) Prudentii trecensis annales bei Yerz I., 443 unten. — ?) Aufbewahrt 
von Hinktmar, in deffen Werfen J., 20, — °) Ibid. ©. 26. | 
Gfrörer, Kircheng. II. 53 


834 II. Buch. Kapitel 11. 


befenne, erfläre und bezeuge aus Gott dem Vater, durch Gott ben 
Sohn, in Gott dem heiligen Geifte, ich betheure und befräftige vor 
dem Schöpfer und feinen Heiligen, daß es eine zweifache Präde— 
fiination giebt, fowohl der Auserwählten zur Ruhe, als auch der 
Berworfenen zum Tode; denn gleihwie ber unveränderliche Gott 
vor Erfhaffung der Welt alle feine Auserwählte unveränderlich aus 
freier Gnade zum ewigen Leben georbnet hat, alfo hat eben Der: 
jelbe ſämmtliche Berworfene, die einft am Tage des Gerichts ihrer 
böfen Werfe wegen verdammt werden, durch feinen gerechten Rath: 
ſchluß unveränderlih zum verdienten ewigen Tode beftimmt.“ Neben 
diefem Glaubensbefenntnige ') ftellte er dem Erzbiſchofe noch eine 
Schrift zu, in welder er Raban's Abhandlung an Noting wider: 
legt hatte. Hinfmar führt aus bderfelben mehrere Stellen an, wie 
folgende: ?) „Endlih habe ich, verehrungswürbiger Erzbifchof, dein 
Buch gelefen, in welchem du, wie ich fehe, die Behauptung aus: 
- fprichft, daß die Berlornen feineswegs von Gott zur VBerdammung 
vorher beftimmt feyen.“ Sofort macht Gotſchalk dem Erzbifchofe 
den Vorwurf, daß er in der Lehre vom freien Willen eben fo irrig 
denfe, als Gennadius von Marfeille oder Caßianus. „Was die 
Kirche des Herren“, fagt ?) er, „über den freien Willen zu glauben 
hat, ift von den katholiſchen Vätern, namentlich von Auguftin in 
verfchiedenen Streitfhriften gegen die Pelagianer, insbefondere im 
Hypomneftifon feftgeftellt worden. Daher hätteft du an Auguftin 
dich halten follen, ftatt den irrigen Meinungen des Gennadius an- 
zubängen, welcher die verberblichen Lehren Caßian's angenommen 
hatte.“ Beide, Gotſchalk und Rabanus, gebrauchen, obgleich im ent- 
gegengefegten Sinne, das Hypomneftifon als eine ächte Schrift 
Auguftin’s. Weiter fagt ) Gotſchalk: „Alle, welche Gott felig ge- 
macht wiffen will, werden ohne Zweifel felig, und Niemand wird 
felig, als wen Gott felig machen will. Unmöglic iſt, daß Jemand, 
deffen Seligfeit Gott will, nicht wirklich felig werde; denn was 
Gott will, fest Er auch in's Werk.“ Deßgleichen °) vom Berföh- 
nungstode Chrifti: „Alle Gottloſen und Sünder, für deren Erlöfung 
der Sohn Gottes fein Blut dahingab, hat die Güte des Allmäch— 





7) Deutlich unterfcheidet Hinktmar a. a. O., ©. 25. u. 26. die chartula 
professionis von dem liber virosae conscriptionis Rabano porrectus. — 
2) Ibid. ©. 25. — 3) Ibid. ©, 118. — *) Ibid. ©. 149. — °) Ibid, ©, 211, 
man vergleiche noch ©. 226. — 


Innerliche Bewegungen in der Kirche der fränfifchen Reiche ꝛc. 835 


tigen zum Leben vorherbeftimmt und gewollt, daß fie unwiderruflich 
felig werben, aber durchaus nicht gewollt hat Gott die Seligfeit 
derjenigen Gottlofen und Sünder, für welde der Sohn Gottes we— 
der den Leib angenommen, noch die Kreuzesftrafe erbuldet, noch fein 
Blut vergoffen hat, von welchen aud Gott vorherfah, daß fie fehr 
böfe feyn würden, und welche ber Allmächtige höchſt gerecht zur 
ewigen Marter vorausbeftimmte.“ Die Gegner hielten den firengen 
Präpdeftinatianern hauptfächlich die Worte Pauli vor (1 Timoth. II, 4.) 
Gott will, daß allen Menfhen geholfen werde. Got— 
fchalf behauptete ) keck: „in dieſem Spruche fey der Ausdruck Alle 
auf Diejenigen zu beziehen, welche wirklich die Seligfeit erlangen; 
von Allen dagegen, welde das Heil nicht erreichen, wolle Gott auch 
nicht, daß fie felig werden.“ Man fieht, der Mönch von Orbais 
trug die Lehre Auguftin’s in ihrer herbſten Geftalt vor. 

Die Mainzer Synode war jedoch anderer Meinung als er. 
Durch das Urtheil der meiften dort anmwefenden Bifchöfe wurbe 
Gotſchalk der Keserei fchuldig erklärt, und mit einem Schreiben 
Rabans, das die Gründe feiner VBerurtheilung enthielt, an feinen 
Borgefesten, den Erzbifchof Hinfmar von Rheims, zu weiterer Be- 
ftrafung überliefert. Das Klofter Orbais gehörte nemlih zum 
MetropolitansBerband von Rheims. Bor der Abreife mußte Got: 
fchalf einen Eid ſchwören, daß er nie mehr feinen Fuß auf teutfchen 
Boden fegen wolle, 7) Hiemit begann für den Unglücklichen eine 
Reihe langer und bitterer Leiden. Außer Rabanus erhoben ſich in 
der nächften Zeit noch zwei Metropoliten gegen ihn, und die Kirchen 
ſämmtlicher drei dur den Vertrag von Verdun neu entflandenen 
Neiche geriethen wegen feiner Sache in. die heftigſte Bewegung. 
Schon aus diefem einen Umftande erhellt, daß es fich hier nicht 
um die Perjon oder die eigenthümlichen Anfichten eines Mönchs han 
delte, fondern daß Gotfhal’s Name als Stichwort allgemeiner und 
wichtiger Fragen biente. Ehe wir in unferer Erzählung weiter 
ſchreiten, müſſen wir erft die eben angedeuteten Verhältniſſe auf: 
klären. | 

Wie im ganzen Abendlande, fo befaß auch im großen fränfi- 
hen Neid Auguftin’s Name unter allen Vätern den volliten Klang, 





N) Ibid. ©. 150. Mitte, — 9 Ruodolfi fuldensis annales ad annum 
848. Perz L., 365 unten, 


53 * 


836 III Buch. Kapitel 11. 


aber die Lehre von der Gnadenwahl, an bie fi fein Ruhm haupt: 
ſächlich knüpft, war darum doch nicht die herrfchende, 
obgleich diejelbe zu Anfang des fehsten Jahrhunderts in Gallien 
amtlich fiegte. ) Seitdem hatte ſich nemlich diefelbe Erfcheinung 
wiederholt, wie 400 Jahre früher. Gensthigt durch die Unverträg- 
Vichfeit des firengen auguftiniichen Lehrbegriffs mit dem Amte der 
Predigt, war man zu jener mittleren Meinung zurüdgefommen, 
welche ſchon im fünften Jahrhundert das Dogma des Bifhofs von 
Hippo zu verdrängen begann. ?) Aus einer öffentlichen Urkunde, 
welde vom Dberhaupte des Neiches veröffentlicht und durch ein abend: 
ländiſches Concil feierlichft gebilligt worden ift, Fan man den Beweis 
führen, daß die franfifche Kirche feit 790 zum femipelagianifchen Dogma 
fhwor. Früher ift bemerkt worden, daß das dritte Buch des foge- 
nannten Farolinifchen Werks mit einem Glaubensbekenntniß beginnt. 
‚Dort ?) findet fich folgende Stelle: „Wir erfennen die Freiheit des 
menfhlihen Willens an, fo jedoch, daß wir zugleich fagen, 
ber Menſch bedürfe ftets der göttlihen Gnade; wir ver- 
dammen fowohl Die, welde mit Mani lehren, der Menſch fönne 
die Sünde nicht meiden, als Die, welde mit Jovinian behaupten, 
ber Mensch könne nicht fündigen. Denn Beide heben die Freiheit 
des Willens auf. Wir glauben, daß es in des Menfchen Madıt 
ftehe zu fündigen, oder nicht zu fündigen, indem wir ſtets die Freiheit 
des Willens fefthalten. Dieß ift die Achte Ueberlieferung Fatholifcher 
Lehre, zu der wir ung von ganzer Seele befennen, und bie wir 
mit den Worten des heiligen Hieronymus auegedrüdt 
haben.“ Man muß bdiefes in den Farolinifchen Büchern niebergelegte 
Bekenntniß von göttliher Gnade und menfchlicher Freiheit gleichfam 
als den amtlichen Ausdrud fränfifcher Rechtgläubigfeit betrachten. 
Nun war es nicht blos die Pflicht, fondern auch das wichtigfte Recht 
der Metropoliten, den einmal. feftgefegten Lehrbegriff zu wahren. 
Jede Nachläßigkeit in diefem Punfte führte unfehlbar zum Sturze 
ihrer Macht. Um dieß zu begreifen, muß man von den neuern 
Zuftänden, namentlich der proteftantiihen Kirche, wo der Clerus 
faft gar feinen weltlihen Einfluß mehr befist, abſehen, und fi) 
in bie Berhältniffe des achten und neunten Jahrhunderts zurüdver: 





1) Siehe den zweiten Band dieſes Werks ©. 1017. — 2) Ibid. ©, 700 
u. 725. — 3) Bei Golaft a. a. DO. ©, 79 Mitte. BETT: 


Innerliche Bewegungen in der Kirche der fränfifchen Reiche c. 837 


fegen. Unter Karl dem Großen war bie Cleriſey eine wohlgeglie- 
derte und fehr mächtige Körperfchaft geworden. Der ungefchmälerte 
Fortbeftand jeder folhen Kafte hängt aber davon ab, daß bie ganze 
Geſellſchaft einen Willen hat, einem Antriebe folgt. Leßteres ift 
nur dann möglich, wenn die Gewalt ausjhlieglic in den Händen 
der Häupter liegt, und wenn bie untergeordneten Glieder den 
Borgefegten unbedingten Gehorſam leiſten. Wendet man diefen 
allgemeinen Sat auf die eigenthümliche Stellung der Geiftlichfeit 
an, fo folgt weiter, daß weil ber Klerus hauptfächlich als Lehrftand 
im Staate wirft, die Feftfekung des Lehrbegriffs nur den Häups 
. tern, d. b. den Metropoliten, nicht aber niedern GElerifern, Preg- 
bytern, Diafonen oder gar bloßen Mönchen zuftehen kann. So 
wenig es fi mit dem Weſen einer Kriegsmacht verträgt, daß ber 
gemeine Soldat dem Feldherrn gegenüber feine eigene Meinung 
geltend macht, eben fo wenig durfte in einem, nach Art des frän- 
fiihen, geordneten Clerus irgend ein niederer Diener der Kirche 
wider den Willen der Bifchöfe den Lehrbegriff der Kirche mindern, 
mehren, verändern. Denn wenn Lebteres gefhah, wenn z. DB. ein 
Mönch fih herausnahm, das von der ganzen Kafte anerkannte 
Dogma für irrig zu erflären, fo erichienen bie Bifchöfe als Keser, 
und ihr Anfehen war dahin. | 

Was wir hier als möglichen Fall vorausfegen, ift wirklich ge— 
fchehen. Der Mönch Gotſchalk hat ein anderes ald das von ber 
fränfifchen Kirche bisher anerkannte Dogma aufgeftellt, und dadurch) 
mittelbar die Bifchöfe für Irrlehrer erklärt. Es liegt daher in der 
Natur der Dinge, daß die bedrohten Kirchenhäupter fih zur Wehre 
feßten. Sie fonnten in dem Unternehmen des Mönch's nur einen 
Verſuch erbliden, ihre Macht zu ſtürzen. Sa die auf ung gekom— 
menen Quellen berechtigten uns fogar zu der Behauptung, daß die 
Metropoliten in dem Thun des Mönch's nicht blos die Meuterei 
eines Einzelnen, fondern einen von Mehreren entworfenen und 
wohl überlegten Plan, oder eine Verſchwörung fahen. Oben iſt 
die Stelle angeführt worden, wo Hinfmar fagt, Gotfchalf fey wider 
bie Kirchengefege von einem Chorbifchofe zum Presbyter geweiht 
worden. Diefe Weihe war ein wichtiger Aft, denn fie gab dem 
Mönche das Recht, vor dem Volke zu predigen, fie fegte ihn folg— 
lich auch in Stand, feine eigenthümlichen Anfichten unter der Menge 
zu verbreiten. Nun üt gewiß, daß Hinfmar den Chorbiſchof, der 


838 IT. Buch. Kapitel 11. 


Gotſchalk weihte, vielleicht den ganzen Stand der Chorbifchöfe, als 
Mitſchuldigen Gotſchalk's behandelt hat. Ehe wir den Beweis 
führen, müffen wir Einiges über die amtliche Wirffamfeit der Chor: 
bifchöfe jagen. Sogenannte Land» oder Chorbifchöfe find, wie an 
einem andern Drt gezeigt worden, ') zu Ende bes dritten Jahr: 
bunderts aufgefommen, feit das Chriftenthum ſich auf den Dörfern 
zu verbreiten begann. Nachdem jedoch der Sieg der Kirche über 
die römische Welt entfchieden war, fuchten die Stadtbifchöfe ſich der 
armen und läſtigen Namensbrüder auf dem Lande zu entledigen. 
Auf mehreren morgenländifhen Synoden wurde im Laufe des vier: 
ten Jahrhunderts das Amt der Ehorbifchöfe erſt befchränft, dann 
abgefchafft. I Im Abendlande hielten fie fich dagegen länger, weil 
eigenthümliche Verhältniffe ihre Fortdauer begünftigten. Die abelie 
gen Herrn, welche fih unter den fpäteren Merowingern der frän: 
fiihen Stühle bemächtigten, hatten wenig Luft, den geiftlichen Ge: 
fchäften ihres Berufs obzuliegen, ſintemal fie genießen, nicht aber 
der Kirche nügen wollten. Sie mußten ſich daher nad tauglichen 
Laftträgern oder Stellvertretern umfehen, um ihnen die vorkommen— 
den Arbeiten zu übertragen. Zu biefem Zwecke wurden, nach griechi— 
fchem Vorbild, Chorbifchöfe eingefest. „Die Anftellung von Chor: 
bifchöfen,“ heißt es )) in einem Gapitulare Karl’s des Großen, das 
wir noch weiter benügen werden, „it das Werk folder Kirchen: 
häupter, die einzig auf ihre Bequemlichkeit und auf Genuß bedacht find.“ 
Bald entftand jedoch Streit und Zwietracht aus der neuen Ein: 
richtung. Denn die Chorbifchöfe fuchten fo viel als möglich Gewalt 
an fich zu reißen, und die Droßnen, denen fie dienten‘, entbehrlich 
zu machen; ein Beftreben, das Widerftand der Bedrohten hervor: 
rief. Ein ſolcher Zuftand vertrug fic nicht mit regelmäßiger Ordnung. 
Sobald daher Karl der Große feine firenge Kirchenzucht einzuführen 
begann, nahın er auch darauf Bedacht, die Wirffamfeit der Chor: 
bifhöfe in fefte Gränzen einzudämmen. Auf dem Reichstage zu 
Aachen vom Fahre 789 wurden die älteren Canones von Antiochien 
und Laodicen erneuert, ) kraft deren ein Chorbifchof nichts ohne 
Erlaubniß des wirklichen Bifchofs der Diöceſe unternehmen fol. 
Diefe Verordnung feheint nichts gefruchtet zu haben. Der König 





8.6.68. — %)Ibid. — 3) Eapitulare vom Jahr 799 $. 1. 
Baluzius I., 527 unten. — *) Baluzius I., 216 unten 217 9 9. 


Innerliche Bewegungen in der Kirche der fränfifchen Neiche ıc. 839 


griff daher das Uebel an der Wurzel an, indem er 799 Inskünftig 
je wieder Chorbifchöfe einzufeßen verbot. in zweiter Artikel vom 
gleichen Jahre ſchreibt vor: alle kirchlichen Handlungen irgend welcher 
Art, die ein Chorbifhof vorgenommen, müßten unverzüglich von 
ben eigentlichen Biſchöfen wiederholt werden. ) Damit war dag 
Amt der Chorbifchöfe jo gut als niedergefehlagen. Gleichwohl bes 
ftanden fie big zur Mitte des neunten Jahrhunderts fort, vermuthlich 
weil es noch immer Bifchöfe gab, die es läſtig fanden, felbft geiftliche 
Berrichtungen zu verfehen, und deßhalb Stellvertreter nöthig hatten. 
Allein um 845 brad ein Sturm wider die Ehorbifchöfe im Neiche 
Karl’s des Kahlen Ios. Flodoardus berichtet 2) in feiner Gefchichte 
der Rheimſer Kirche: der Metropolit Hinfmar habe wiederholt an 
Pabft Leo IV. (847—855) gegen die Anmaßungen der Chorbifchöfe 
gefchrieben. Die gleiche Anficht fpricht Hinfmar in einer noch vor: 
bandenen Abhandlung ?) aus, wo er offenbar auf das Capitular 
von 799 anfpielend, fagt: die Einfegung der Chorbifchöfe fey ein 
ber Kirche gegebened Aergerniß, und falle der Trägheit und Ge- 
nußfucht fchlechter Bifchöfe zur Laſt. Hieraus erhellt, dag Hinfmar 
von Rheims wo nicht an der Spitze der Parthei ftand, welche bie 
Shorbiichöfe aufgehoben wiffen wollte, fo doch in ihrem Sinne 
wirkte. Diefelbe Parthei fuchte auch die angefehenften Kirchenhäupter 
des teutfchen Reichs auf ihre Seite zu ziehen. Um S45 befuchte 
Drogo, Bischof von Mes, den Mainzer Metropoliten und forderte 
ihn auf, feine Meinung in Betreff der Chorbifchöfe abzugeben. 
Raban erfüllte Drogo's Wunſch; in einer auf ung gefommenen 
Heinen Schrift *) entfchied er zu Gunften der Chorbiihöfe. Da das 
Amt, meint er, ſchon in den erften Zeiten der Kirche eingefegt wor: 
ben fey, fo folle man es befteben Yaffen. Zugleich Außert er fein 
Erftaunen darüber, daß die Gegenparthei den Beruf der Chor: 
bifchöfe fo fehr verachte, und denfelben feine andere, als die allges 
meinen mit der Priefterweihe verbundenen Rechte zugeftehen wolle. 
Dieß ftimme, fagt er, weder mit der alten noch) mit der neuen 
Lehre und Kirchenzucht überein, und zeuge nicht yon Einfiht noch 





i) Ibid. 327 fig. F. A. 2. — 2) Hist. rhemens. II., 10. im vierten 
Band der Werke Sirmond’s ©. 119 unten: — 9) Opusculum ad episcopum 
quendam Opp. II., 756 Mitte. — *) Abgedrudt von Baluzius in feiner Aus: 


gabe der Schrift des Petrus von Marka de concordia ete. I., 285 flg. 


840 11. Buch. Kapitel. 11. 


Demuth, fondern von Neid und Stolz, der die Einrichtungen ber 
heiligen Väter verwerfe. Allein im Reiche Karl's des Kahlen fiegte 
die entgegengefegte Anficht. Auf einer Synode zu Paris, welche 
außer vielen Bifchöfen die Metropoliten Landran von Tours, 
Wenilo von Send, Hinkmar von Nheims, Paul von Rouen 
befuchten, ) wurden S49 ſämmtliche damals im Gebiete 
KRarl’s des Kahlen angeſtellte Chorbiſchöfe abgefegt. 9) 
Die Anwefenheit Hinkmar's von Nheims und die Gleichzeitigfeit beider 
Borfälle machen es ung im höchſten Grade wahrfcheinlich, daß diefer 
Beihluß mit der Sache Gotfhalfs in einem engen oben ange: 
deuteten Zufammenhange fteht. 

Mar ift alfo: die Gegner Goiſchalks fahen in der verfuchten 
Wiedererweckung bes firengen auguftinifchen Lehrbegriffs einen zwi: 
fhen Mehreren verabredeten Plan, die Gewalt der Metropoliten 
anzutaften. ine andere Frage ift, ob Gotſchalk felbft von Anfang 
an biefen Zweck mit bewußter Leberlegung verfolgte? Er hatte 
guten Grund, ſich über den Clerus zu beflagen, denn die Häupter 
beffelben hielten ihn wider feinen Willen im geiftlihen Stande zurüd. 
Bei dem beftigen Charakter, den er laut allen Nachrichten befaß, 
erfcheint es nun nichts weniger als unglaublich, daß er Rache fochte, 
und war dieß der Fall, fo muß man befennen, daß er das rechte 
Mittel gewählt Hat. Auguftinus genoß des größten Anfehens in 
der fränfifchen Kirche, Welch' ein Schlag für die Bischöfe und Metro: 
politen, wenn e8 gelang, dem Bolfe die Augen: darüber zu öffnen, 
daß bie von Diejen vorgetragene Lehre in wefentlihen Punften von 
der Richtichnur des allverehrten afrifanifchen Vaters abweiche! Aller: 
dings find Spuren vorhanden, welche es zweifelhaft machen, ob 
Gotſchalk bei feinem Verſuche, dem firengen Lehrbegriff Auguftin’s 
wieder Anerkennung zu verſchaffen, Nebenabfichten hegte. Er war, 
wie wir fehen werben, bis zum Fanatismus für feinen Auguftin 
eingenommen: ein Grad von Hingebung, ber fih felten bei Ehr— 
füchtigen findet. Aber anderer Seits darf man nicht überfehen, daß 
der Mönch von Drbais Jahre lang mit größter Beharrlichfeit wider 
Die, welche das amtlihe Bekenntniß vertheidigten, Parthei 
machte, daß er, um feinen Zwed zu erreichen, dag ganze Neid) 
durchzog, nad allen Seiten Verbindungen anfnüpfte, und bie lei— 


— 0 


') Die Namen bei Manft XIV., 925 oben. — 2) Ibid. 927 unten. 


Innerliche Bewegungen in der Kirche der fränfifchen Reiche c. 841 


denfchaftlichfte Thätigfeit entwidelte. Wo er hinkam, warb er An- 
bänger; auch auf der Synode von Mainz erfchien er nicht allein. 
Die Jahrbücher von Xanten geben zu verftehen, ) daß er eine 
Schaar Mönde mit fih gebracht habe, die nach erfolgtem Urtheil 
der Synode vom Pöbel mißhandelt, und feitdem gleichfalld nad 
Franfreich zurüdgefchiett worden feyen. Um rein theologifher 
Zwede willen, maden die Menfchen, fo weit wir die Welt fennen, 
feine ſolche Anftrengungen. Es fcheint daher am geratheflen an: 
zunehmen, daß Fanatismus und Rachfucht gleichmäßig auf ihn wirkte, 
Allein es handelt fidy nicht blos um feine Perfon. Nie würde aus 
dem Lärm, den er erhob, eine folhe Bewegung entftanden feyn, 
wenn nicht Viele ihn unterftügt, und den Metropoliten, welche ihn 
befämpften, die Spige geboten hätten. Eine ſolche Theilnahme fett 
eine 'weitgediehene Abneigung gegen die Metropolitangewalt voraus. 
Schon unter Karl dem Großen gehörten die Schriften Auguftin’g 
zu den gelefenften. Gewiß haben daher bereits in feinen Tagen 
Manche das Geheimniß entdect, daß, fo gefeiert auch der Name des 
Bischofs von Hippo fey, das Hffentliche fränfifche Befenntniß mit feiner 
Lehre von der Gnade nicht übereinftimme. Gleichwohl unternahm 
es damals Niemand, den Widerfpruch zu enthüllen, und hätte eg 
irgend Einer gewagt, er wäre alsbald durch die Kirchenmacht, bie 
in ihrer Blüthe ftand, zermalmt worden. Seitdem aber hatten fich 
bie Umftände geändert! Die Händel Gotfhalfs find zugleich ein 
Kennzeihen des Berfalls der Metropolitangewalt, und ein Verſuch, 
den Sturz derfelben zu befchleunigen. Nun wollen wir noch daran 
erinnern, daß die Beftrebungen des Mönchs von Orbais in die 
Sahre zwifchen 829—50, alſo genauin diefelbe Zeit fallen, 
in welder die Sammlung der pfeudoifidorifhen Defre- 
talen auffam und zuerſt Anerfennung fand. Ein und 
berfelbe Geift offenbart fi) in beiden Beftrebungen. Was jenes Ge- 
jegbud auf dem Gebiete des Kirchenrechts verfucht, unternehmen 
Gotſchalk und feine Befchüger im Umkreiſe der Lehre. Kampf gegen 
die Metropolitangewalt ift ihr gemeinfchaftlicher Zweck. 





!) Annales Xantenses ad annum 848 Perz II., 229 oben, womit zu ver= 
gleichen eine Stelle bei Flodoard bist. rhemens. II., 21: Rabanus — Godescal- 
eum — cum quibusdam complicibus suis ad Hincmarum direxit, 
bei Sirmond IV., 165 Mitte. | 

» 


842 IM. Buch. Kapitel. 11. 


Bon Mainz wurde Gotfhalf, wie wir oben berichtet, nad) 
Rheims ausgeliefert. Dort gerieth er in die Hände des Erzbifchofs 
Hinfmar, den wir fchon öfter genannt haben. Hinfmar, geboren 
806, flammte aus einem vornehmen weſtfränkiſchen Geſchlecht. In 
zarter Jugend trat er in das Stift St. Denis, wo er unter ber 
Leitung des Abts Hilduin zum Ganonifer herangebildet wurde, !) 
Später zog ihn Kaifer Ludwig an feinen Hof. Nachdem er längere 
Zeit daſelbſt geweilt hatte, gieng er in fein Klofter zurück, ohne 
Neigung zu großen Kirchenwürden, wie er felbft fagt. Bald bar: 
auf nahm der Abt Hilduin Theil an der Verſchwörung gegen den 
Kaifer, und fiel in Folge davon bei Ludwig in Ungnade. Hink— 
mar begleitete feinen Abt in die Verbannung nad) Corvey, wandte 
aber indeß feinen ganzen Einfluß bei Hofe auf, um die Wieder: 
berftellung Hilduin’s auszumwirfen, was ihm auch gelang. Derfelbe 
erhielt feine Abteien St. Denis und St. Germain zurüd. Man 
darf, glauben wir, aus dieſen Thatfachen fchliegen, daß Hinfmar 
in feinem Herzen für die Parthei der Einheit fühlte, Doc ließ er 
fi) weder jest noch nachher. in irgend eine der Berfchwörungen 
hineinziehen und genoß fortwährend die Gunft des Kaifers, der ihn 
zu verichiedenen Gefchäften gebrauchte. Nach Ludwig's Tode nahm 
ihn Karl der Kahle in feine Dienfte. Diefer war eg auch, ber 
ihm das, feit zehn Jahren durch Ebo's Sturz erledigte, Erzbisthum 
Nheims zumandte. Wir haben oben erzählt, 2) daß Ebo auf ein 
Siündenbefenntniß hin, das er felbft ablegen mußte, zu Diedenhofen 
835 entfeßt worden war. Geitdem lebte er in verfchiedenen Klö— 
ftern als Gefangener, immer auf eine günftige Wendung hof: 
fend, die nad) dem Tode des Kaifers, aber nur auf kurze Zeit, ein- 
trat. Kaum hatte nemlich Ludwig der Fromme zu Ingelheim den 
Geift aufgegeben, als Lothar fi Franciens bemächtigte. Ausgang 
840 fette er durch ein Defret feinen Anhänger Ebo wieder in das 
Erzbistfpum von Nheims ein.) Ebo, welcher vorgab, die Abdan- 
fung vom Jahre 835 fey ihm mit Gewalt abgedrungen worden, 
und darum nichtig, blieb ungefähr eilf Monate im Beſitz des Stuhls, 
bis die Siege Karls des Kahlen im Jahre 841 feiner Amtsführung 
abermal ein Ende machten. Er floh nun zu Kaifer Lothar, ber 


) Er fagt dieß und das Folgende felbft opp. II., 504 oben. — 2) ©. 773, — 
3) Flodoardus hist, Il., 20 bei Sirmond a. a. D. ©. 106. 
Pa . 


Innerliche Bewegungen in der Kirche der fränfifchen Neiche c. 843 


ihm die Abteien Stablo und Bobbio ſchenkte. Lothar’s Sohn, Lud—⸗ 
wig, z0g 844 mit einem Heere nah Nom. bo begleitete ihn auf 
diefem Zuge, um bei dem neuen Pabfte Sergius II, dem Nadfol- 
ger Gregor’s IV., Hülfe zu fuchen. Er erreichte jedoch feinen Zweck 
nicht: Hinkmar berichtet, 1) Sergius habe die Bitte Ebo's, daß er 
ihm wieder den Stuhl von Rheims zuerfennen möchte, zurüdges 
wiefen und dem geweſenen Erzbifchof blos die Laienfommunion 
bewilligt. 

Sp fianden die Sachen, als Karl der Kahle das Nheimfer 
Erzbisthum, das bisher durch bloße Stellvertreter, den Abt Fulko 
(bis 844) und feitdem durch Noto verwaltet wurde, 2) dauernd zu 
befegen befchloß. Hinfmar war der Erforne, und zwar erfolgte bie 
Wahl 845 auf vollig canonifche Weife, durch den Clerus und bie 
Gemeinde von Rheims unter Mitwirfung dev Bifchöfe des Erzfpren- 
geld, und mit Genehmigung des Könige. ?) Dennoch wurde fie 
im folgenden Jahre beftritten. Durch das Vorgeben, ein Theil der 
Rheimſer Geiftlichfeit fey unzufrieden über Hinfmar’s Erhebung, 
wußte Kaifer Lothar, welder Hinfmar’n als treuen Anhänger feines 
Bruders Karl haßte, den Pabſt Sergius zu beftimmen, daß Diefer 
dem Metropoliten von Rouen Guntbold den Befehl ertheilte, Die 
Nechtmäßigfeit der Abfegung Ebo's von Neuem zu unterfuchen, 
Diefes Berfahren des Pabſt's ift fo auffallend, dag man an dem 
Hergang zweifeln möchte, wenn er ſich nicht auf die eigene Aus: 
ſage *) des Hinfmar ftügte. Denn Sergius benimmt ſich offenbar 
als Herr der fränfifhen Kirche, wie wenn die Einfesung der Bis 
Ihöfe von ihm allein abhienge, und der König nichts barein zu 
fprechen hätte. Indeſſen find die Nachrichten, die wir haben, zu 
bürftig, als daß wir in Stand gefest wären, ein ficheres Urtheil 
zu füllen. Auch fcheint es dem Pabft mit feinen Schritten gegen 
Hinfmar nit Ernft gewefen zu feyn. Der Meiropolit Guntbold hielt 
bem erhaltenen Auftrage gemäß zwei Synoden, die eine 846 zu 
Trier, die zweite 847 zu Paris, aber auf der erften erfchienen die 
päbftlichen Legaten nicht, welche Sergius zu ſchicken verfprochen 
hatte, auf der zweiten ftellte ſich Ebo nicht, der vorgeladen worden 
war. Die Sache endigte damit, daß das Parifer Concil die Ab: 





) Opp. I., 326 unten fl. — 2) Ibid. M., 272, — 3) Ibid, u, 273 
oben. — #) Ibid. 


844 II. Buch. Kapitel 11. 


fesung Ebo's, wie die Erhebung Hinfmar’s für rechtmäßig erklärte. 
Hinfmar und feine Freunde fanden hierauf füt gut, die Wahl: 
urfunde von faft allen Bifchöfen Frankreich's unterfchreiben zu Taffen 
und mit einem ausführlichen Bericht an den Stuhl Petri zu über: 
Ihiden. Als diefe Sendung in Nom eintraf, lebte Sergius bereits 
nicht mehr; fie wurde feinem Nachfolger Leo IV. übergeben. }) 
Während deſſen war Ebo bei Kaifer Lothar in Ungnade gefallen, 
weil er für ihn eine Gefandtfhaft nach Griechenland nicht über: 
nehmen wollte. Bon Lothar verfolgt und feiner Abteien beraubt, 
fuchte der Unglüdliche eine Zuflucht bei Ludwig dem Teutfchen, der 
ihm das Bisthum Hildesheim gab. 2) Dort flarb Ebo im Jahr 
851. Bieles bleibt in der Gefchichte der Erhebung Hinkmar's und 
feiner Berhältniffe zu Ebo und Sergius II. dunkel, doch fieht man 
klar genug, daß bie Zwiftigfeiten der Söhne Ludiwig’s des Frommen 
untereinander, fo wie die im fränfifchen Clerus einreißende Unbot: 
mäßigfeit dem Stuhle Petri eine Macht in die Hände fpielte, die 
nicht viel Hinter den Grundſätzen des falſchen Iſidor zurückſtand. 
Obgleich Hinkmar durch den Tod Ebo's von einem furchtbaren Geg- 
ner befreit war, wurde doch auch noch fpäter die Rechtmäßigkeit 
feiner Weihe angegriffen, was fih zum Theil aus feinem Charakter 
erklärt. Dieſer kühne und hochgefinnte Kirchenfürft vertheidigte mit— 
ten in der zerrütteten Zeit, in welcher er lebte, mit unbeugfamem 
Muthe die Rechte der Landeskirche und der Metropoliten gegen die 
Suffragane, wie gegen die Krone und den römifhen Stuhl, An 
Feinden fonnte es ihm daher nicht fehlen. 

Bon folder Art war der Mann, dem der Mönd Gotſchalk 
im Herbfte 848 zugefchicft wurde. Da das Klofter Orbais, wel: 
chem Gotfchalf angehörte, im Suffraganfprengel von Soißons Yag, 
fo übergab ihn Hinfmar zunächſt dem Bifchofe diefer Stadt Rothad, 
mit dem Befehl, ihn zu verwahren und eine Unterfuchung einzu: 
leiten. Im nächſten Jahre (849) brachte er auf dem Neichstage 
von Chierfey die Sache des Mönches vor. Die daſelbſt verfammelten 
Bifhöfe und Mönche entwarfen ein Glaubensbefenntnig ?) in vier 
Artifeln, das im Sinne der oben angeführten Stelle aus den faro: 
linifchen Büchern abgefaßt ift: „Gott Hat den Menſchen frei gefchaffen 


!) Hinemari opp. II., 305. 273. — ?) Epistola synodica coneilii Tri- 
eassini Manfi XV., 794 oben. — 3) Manft XIV., 920 fig. 


Innerliche Bewegungen in der Kirche ver fränkifchen Reiche ꝛc. 845 


und als eim freies Weſen ind Paradies geſetzt. Vermöge feined 
freien Willens fündigte der Menſch, fiel und ward eine Maffe des 
Berderbend. Aus diefer Maffe hat der Allmächtige kraft feines 
Borherwiffens Einige erwählt, welde Er auch zum ewigen Leben 
vorberbeftimmte. Bon den Andern, welde Er in der Maffe des 
Berderbens ließ, fah Er vorher, daß fie zu Grunde gehen würden, 
aber Er hat die Berlornen keineswegs zum Verderben vorher beftimmt. 
Es giebt nur eine VBorherbeftiimmung, die fih auf das Gefchenf der 
Gnade und die gerechte Vergeltung bezieht. Wir haben die Frei: 
beit des Willens in Adam verloren, aber in Chriſto unferem Herrn 
wieder errungen, darum befigen wir jeßt Freiheit zum Guten, fo 
jedoch, daß die Gnade zuvorfommt und uns helfen muß. Deß— 
gleichen befigen wir Freiheit zum Böfen, aber ohne Zuthun der 
Gnade. Gott will das Heil aller Menfchen, obgleich nicht Alle ge: 
rettet werben. Daß Einige gerettet werden, ift das Werk der Gnade, 
daß Andere zu Grunde gehen, ift ihre eigene Schuld. Chriftus hat 
für alle Dienfchen geduldet; obgleich nicht Alle durch dag Geheimniß 
feines Leidens das Heil erlangen. Nicht die Befchaffenheit des 
Dpfers ift Urfache des Verderbens der Berlornen, fondern ihr eiges 
ner Unglaube und ihr Mangel an Liebe.“ Sofort wurde Got— 
half aufgefordert, dieſes Glaubensbefenntniß zu unterschreiben. 
Mit Fühner Entfchloffenheit wies er die Zumuthung ab, und übergab 
dagegen der Synode eine Schrift, welche er zu Bertheidigung feiner 
Lehre von einer doppelten Prädeftination aufgefest hatte. Ueber 
fein Betragen auf der Synode berichtet ) Hinfmar folgendes: „ch 
ließ ihn vor die Bifchöfe und namentlih vor den Metropo— 
liten Wenilo von Sens führen. In ihrer Gegenwart wußte 
Gotſchalk nichts Vernünftiges zu fagen, noch gab er auf die an 
ihn gerichteten Fragen genügende Aniwort, fondern er brach, wie 
ein Befeffener, in Schimpfworte gegen einzelne Perfonen aus. Wegen 
diefes unverfchämten Uebermuths urtheilten erft die anmwefenden Aebte 
und auch die übrigen Monde, daß er gemäß der Regel des heil. 
Benedikt die Geißelung verdiene. Sodann ward er gleicher Weife 
yon den Bifchofen verdammt, weil er den canonifchen Borfchriften 
zuwider die bürgerliche und kirchliche Ruhe geftört, feine Fehler 
trogig geläugnet habe, auch auf feine Art fich demüthigen wollte“, 





i) Bruchſtück eines Briefs, abgedrudt bei Manguin a. a. O. IL, b, ©; 107, 


‚846 II. Bud. Kapitel 11. 


Noch befigen wir den Urtheilfpruch, der über ihn ergieng. Derfelbe 
lautet fo: !) „Bruder Gotſchalk! wiffe, daß dir das hochheilige Safra- 
ment des Priefteramts, das du unregelmäßig dir angemaßt und durch 
beine Sitten, böfe Handlungen und verfehrte Lehren gemißbraucht 
haft, nad dem Urtheil des heil. Geiftes, deſſen Gnadengefchenf 
befagtes Amt ift, und durch die Kraft des Blutes unferes Herrn 
‚genommen, und baß dir gänzlich verboten ift, daſſelbe in Zufunft 
zu verwalten. Weil du dich überdieß erfühnt haft, mit Verachtung 
der Canones, und wider die möndifchen Pflichten, die Ruhe der 
Kirche und des Staats zu flören: fo befchließen wir kraft bifchöf- 
licher Gewalt, daß du aufs Härtefte mit Schlägen gezüchtigt, und 
den Kirchengefegen gemäß, in ein Gefängniß verftoßen werden folleft. 
Damit du dir das Lehramt nicht ferner anmaßen fünneft, legen 
wir deinem Munde fraft des ewigen Worts immermwährendes Still: 
fchweigen auf.“ Rückſichtslos wurde diefer Spruch vollzogen. Die 
Sahrbücher von Troyes ?) berichten: Gotſchalk fey Öffentlich gepeitſcht 
und gezwungen worden, das Buch, welches er der Synode über: 
geben hatte, zu verbrennen. Nemigius von Lyon, der Gegner 
Hinfmar’s, fügt bei: ) man habe fo lange auf den Unglüdlichen 
hineingefchlagen, bis er halbtodt jene Schrift in einem Feuer, das 
vor ihm angezündet worden, mit eigener Hand verbrannte. Hinf- 
mar felbft geſteht *) die firenge Beftrafung Gotfhalf’s ein. Schon 
im Alterthum wurde fie fchwer getadelt. Nemigius nennt?) das 
Berfahren gegen den Mönch ein Beifpiel unerhörter Graufamfeit 
und Härte. Zu feiner Bertheidigung beruft fih Hinfmar 9) auf eine 
Stelle der Regel des heil. Benedift und den 38ſten Canon ber 
Synode von Agde. Man fann nicht läugnen, daß beide Geſetze 
förperlihe Züchtigung ungeborfamer Mönde mit Haren Worten 
geftatten. Bon Seiten des ftrengen Rechts mag daher das 
über Gotfchalf verhängte Urtheil nicht wohl angegriffen werden. Ob 
es fi) aber mit dem Geilte des Evangeliums vertrug, ift freilich) 
eine andere Frage. | 

Hinfmar, der, wie man fieht, die Seele der Berfammlung zu 
Chierfy war, verfuhr mit großer Klugheit. Er ließ erft die Aebte 





1) Manſi XIV., 924 unten. — 2) Prudentii Trecensis,. annales ad an- 
num 849 Perz I,, 444 oben. — ?) Bei Mauguin a. a. ©. IL, b. ©. 109 
unten. — *) Opp. I., 21 Mitte. — 5) Am eben angeführten Orte bei 
Mauguin. — ©) Opp. I, 443 flg. 


Snnerliche Bewegungen in der Kirche der fränkiſchen Reiche ꝛc. 847 


und Mönche, dann die Biſchöfe über Gotſchalk abftimmen. Beſon⸗ 
dere Mühe gab er fih, wie aus der oben angeführten Stelle erhellt, 
den Metropoliten von Send Wenilo auf feine Seite zu ziehen. 
Gleichwohl fah er voraus, daß feineswegs alle- Bifchöfe einer Mei- 
nung mit ihm feyen, und daß Gotſchalk's Sache zu Kämpfen führen 
werde. Nach Beendigung der Synode fhrieb er!) an den Bifchof 
Prudentius von Troyes, der nicht in Chierſy erfehienen war, warum 
er denn ausgeblieben fey, ertheilte ihm Nachriht von den gefaßten 
Beſchlüſſen, und erbat fih feinen Rath, ob er den Gefangenen 
zum Abendmahl zulafien folle? Dffenbar fürdtete Hinkmar Wider- 
ftand von Seiten dieſes Mannes, worin er fi nicht täufchte. Alg 
einer der Erften ift Prudentius gegen ihn aufgetreten. Auch 
Einem der zu Chierſy erfchienenen Biſchöfe mißtraute er. In einem 
faft zwanzig Jahre fpäter an den Pabſt Nikolaus gefchriebenen Briefe 
fagt Hinfmar, ®) er habe nicht für gut gefunden, nad) dem Schluffe 
der Synode den Mönch feinem Didcefanbifhof Rothad von 
Spißons in Haft zu geben, weil Rothad felbft des Hangs zu Neue: 
rungen verdächtig geweſen ſey. Wir wollen zum Voraus bemerken, 
das Hinfmar fpäter mit eben dieſem Rothad fihlimme Händel zu 
beftehen hatte. Er fannte alfo ſchon damals feine Feinde. Wirklich 
wurde Gotfhalf nicht dem Biſchofe von Soißons, fondern dem 
Abte Halduin vom Klofter Hautvilliers, der an der Synode zu 
Chierſy Theil genommen, ?) zur Einfperrung übergeben. 
Gotſchalt's Muth war dur die furdtbare Mißhandlung, die 
er erlitten, nicht gebrochen, Im Gefängnifje eiferte er wider feine 
Gegner, unter welchen er damals noh Raban am Meiften haßte, 
„Du wagft,“ heißt es +) in einem Briefe des Erzbifhofs Amolo 
von Lyon an Gotſchalk, „alle Diejenigen, welche mit den Waffen 
des wahren Glaubens fid) deinen unjinnigen Behauptungen wider: 
fegen, Ketzer zu ſchelten und nennft fie, nad) dem Namen bes from: 
men und Fatholifchen Bifhofs von Mainz, Rabanifer“ Zugleich 
fhrieb er zwei noch vorhandene ?) Glaubensbefenntniffe: ein kurzes 
und ein längeres, In beiden bleibt ev feiner früher ausgeſproche— 
nen Lehre treu, wiewohl erfih dem Scheine nad) der Gegenparthei 





1) Flodoardus hist, rhem. III., 24. Sirmond opp. IV., 170 Mitte. — 
?) Opp. II., 262 Mitte. — 3) Hincmari opp. IL, 21 Mitte. — *) Amolonis 
epistola ad Godescaleum, abgedrudt Sirmondi opp. II., 902 der venetian. 
Ausgabe, — 5) Abgedruckt bei Mauguin a. a. ©. L, ©. 7—25, 


848 111. Bud. Kapitel 11. 


etwas nähert. Das erfte beginnt mit den Worten: „ich glaube und 
befenne, daß der allmächtige und unveränderliche Gott die heiligen 
Engel und die auserwählten Menfchen vorhergefepen und aus bloßer 
Gnade zum ewigen Leben vorausbeitimmt hat, ich glaube aber auch), 
daß Ehenderfelbe den Teufel, das Haupt aller böfen Geifter, fammt 
feinen abtrünnigen Gefellen und den verworfenen Menſchen, feinen 
Gliedern, wegen ihrer eigenen fünftigen von Gott auf’s 
gewiffefte vorhergefehenen böſen Werfe, durch fein gerechtefteg 
Urtheil nach Verdienft zum ewigen Tode vorberbeftimmt hat.“ Das 
längere Glaubensbekenntniß if, nach dem Vorbilde NAuguftin’s, in ein 
Gebet, oder eine Anrede an Gott und Jeſum eingekleidet. „Ich 
glaube, daß Du o Herr! von Ewigfeit alles Fünftige Gute und 
Böſe vorhergefehen, doch nur das Gute prädeftinirt haft. Aber das 
(von Dir prädeftinirte) Gute theilt fih zweifah: in Wohlthaten der 
Gnade und in gerechte Gerichte. Demgemäß haft Du wie bie 
Auserwäplten zum ewigen Leben, aljo die Verworfenen zur ewigen 
Strafe vorherbeftimmt.“ Nachdem er eine Menge Stellen aus der 
Schrift und den Bätern für feine Meinung angeführt, fährt er D 
fort: die Prädeſtination fey zwar ihrer innerlihen Natur nah nur 
eine, ihrer Wirfung nach zwiefach, fofern fie ſich auf die Werfe der 
Gnade wie der Strafe beziehe. Zulest fpricht ev ) den Wunſch 
aus, daß der Allmädtige ihn würdigen möge, feinen Glauben an 
folde zwiefache Vorherbeftimmung in Gegenwart des Königs, der 
Biſchöfe, Priefter, Mönche, des Volks, durch ein Gottesurtheil 
zu befräftigen. „Bier Fäſſer, angefüllt mit kochendem Waffer, Del, 
Pech follen eines hinter dem andern hingeftellt und ein Scheiter: 
haufen angezündet werden; alsdann fey es mir geftattet, unter 
Anrufung Deines ypreiswürdigften Namens, zum Beweiſe meines 
oder vielmehr des Fatholifchen Glaubens, in eines nad dem andern 
hineinzufteigen, daß ich durch alle, während Du, o Herr! vor mir 
bergeheft, mic) begleiteft, mir nadfolgft, mir Deine Hand reicheft, 
und mid gnädiglich führeft, unverfehrt hindurchgehe.“ Gotſchalk 
fügt bei: Der Herr möge Dieß bald in Erfüllung gehen Yaffen, 
damit, wenn er unverleßt die Probe beflehe, die Wahrheit von 
Allen angenommen werde; follte er fi aber fcheuen, den Gang 
zu machen, fo möge man ihn in’s euer werfen. Schon ehe Gotſchalk 





1) Ibid. S. Zu 2) Ibid, 22 unten. 


= 


Innerliche Bewegungen in ber Kirche der fränkischen Reihe ꝛc. 849 


diefes Glaubensbefenntniß veröffentlichte, hatte Hinfmar einen legten 
Berfuch gemacht, fih mit dem gefangenen Mönd zu verftändigen, 
indem er ihm eine befondere Schrift zufandte, ') in welder er bie 
Meinung ausſpricht, Gotſchalk fey durch einige Stellen Prospers 
von Aquitanien mißleitet, welche aus Auguftiins Schriften erflärt 
werben müßten. Seine Anficht läuft darauf hinaus, daß Gott zwar 
das Böfe wie das Gute vorherwiffe, aber nur das Lestere präbdefti- 
nire. Zu gleicher Zeit warnte der Erzbifchof in einer andern Ab- 
handlung 9 die Klausner und Einfältigen feines Sprengels vor 
Gotſchalk's Irrthum. Durch das Glaubensbefenntniß des Mönchs 
war aber jetzt jede Ausſöhnung wo nicht ganz abgeſchnitten, ſo 
doch von Neuem erſchwert. Hinkmar wies die von Gotſchalk ange- 
botene Fenerprobe mit Abſcheu zurück; er nennt fie?) dag lügen: 
bafte Berfprechen eines neuen Simon Magus, die Prahlerei eines 
wüthend folgen Menfchen. Eben fo fprach ſich, wie wir fehen wer: 
den, Nabanıs Marus darüber aus. Da der Erzbifchof von Rheims 
den Gottesurtheilen fonft eifrig das Wort redet, *) fo fcheint es faft, 
als habe er gefürchtet, der Mönd möchte mit Hülfe des Höchften 
den Wunderbeweis glüclich beftehen. 

Noch klaffender ward fofort der Niß. Andere und zwar mäch— 
tige Männer traten für den Gefangenen von Hautvilliers in bie 
Schranfen: zuerft der oben erwähnte Bifchof von Troyes. Galindo, 
zu Anfang des Yten oder am Ende bes Sten Jahrhunderts jenfeits 
der Pyrenäen, wahrfcheinlich in der fpanifchen Mark, geboren, kam 
in ‚feiner frühen Jugend nad Franfreih und an den Hof Karl's 
oder Ludwigs des Frommen, mo er eine forgfältige Erziehung er: 
hielt. Er befleidete zuerft ein weltlihes Amt, das ihm viel Unluft 
verurfacht haben fol, Um 845 erhielt er das Bistum Troyes, 
das er bis zu feinem im Jahr S61 erfolgten Tode verwaltete. Seit 
feiner Erhebung auf den Stuhl von Troyes nahm er den Namen 
Prudentius an, unter dem er in der Kirchengefchichte befannt ge= 
worden iſt. °) Hinfmar, der, wie wir zeigten, fhon bei Ausbruch) 


— — — — 


1) Dieſe Schrift ift verloren, aber Flodoard führt ihren Inhalt an, histor. 
rhemensis II, , 28, Bei Sirmond opp. IV., b. Seite 219 oben. — 2) Sie 
ift gleichfalls verloren. Wir fennen fie nur durch eine Stelle aus Raban’s 
Briefe an Hinfmar, bei Sirmond opp. II., 989, oben. — 9) Opp. I., 433, 
Mitte. — *) Opp. I., 599 fig., Ir., 676 fig. — >) Man vergleiche über Prus 
dentiud Die histoire litteraire de la France, V., 240, flg. 

Sfrörer, Kircheng. II. 54 


850 II. Bug. Kapitel 11. 


des Kampfes gegen Gotſchalk Widerwärtigfeiten von Seiten des 
Prubentius befürchtete, giebt ) vom Charakter des Biſchofs von 
Troyes ein abſchreckendes Bild: „Nachdem Prudentiusg Anfangs mit 
den andern Bifchöfen ſich gegen Gotſchalk erklärt hatte, machte er 
fpäter aus Haß”) (oder Neid) für den Keger Parthei, vertheidigte 
feine Irrlehren aufs Beharrlihfte und faßte zu feinen Gunften 
Schriften ab, die ebenfo fehr unter fih ald mit dem wahren Glau: 
ben firitten.“ Bielleicht urtheilt Hinfmar partheiiſch. Beide, der 
Erzbifchof von Rheims und der Biſchof von Troyes, waren ehrgei- 
zige Kirchenfürften. Solde Charaktere vertragen fich nie gut. Genug, 
Prudentius veröffentlichte Ausgang 849 oder zu Anfang des näch— 
ſten Jahrs eine Schusfchrift ?) für den gefangenen Gotfchalf, die er 
an Hinfmar felbft und deffen Verbündeten, den Bifhof Pardulus 
son Laon, richtete. Prudentius beginnt mit der Ermahnung, die 
beiden Biſchöfe möchten doch nicht geftatten, daß die Lehre des hei: 
ligen Auguftinus, des erleuchtetften aller Bäter, der die Bibel aufg 
Glücklichſte vertheidigt und erklärt habe, von irgend Jemand ange: 
griffen werde. Diefelbe Lehre hätten auch Fulgentius und Prosper 
yon Aquitanien verfochten. Ihren Fußtapfen folgend, behauptet er 
fofort eine zweifache Prädeftination, doc mit dem Borbehalte, daß 
Gott die Verworfenen nicht zur Schuld, fondern blos zur Strafe 
vorherbeſtimmt habe; nicht das Böſe wolle der gerechte Richter, 
fondern die mwohlverdiente Beftrafung der Schuldigen. Aud habe 
Jeſus Ehriftus nur für die Auserwählten fein Blut vergoffen, denn 
Er felbft fage ja (Matth. XX., 28.), Solches fei für Biele ge 
fchehen. Nach diefem Spruche müffen auch die Worte des Apoftels 
erflärt werden: Gott wolle, daß Alle die Seeligfeit erlangen. 
Alle werden nemlich ſeelig, die der Herr feelig macht; denn jonft 
müßte man die Allmacht Gottes -aufgeben, vermöge der Er Alles 
thun fann, was Er will. Prudentius giebt fofort den Gegnern zu 
bedenken, warum denn Gott nur dem Einen feine Gnade ertheile, 
dem Andern nicht? warum der Erlöfer erft nach fo vielen taufend 
Jahren gekommen fei, während welcher Zeit die ganze Welt, mit 
einziger Ausnahme der Juden, ohne Gnade und im Irrthum ver 
blieb? warım Er blos Abraham, und nicht alle Menfchen, zum 





1) Hincmari annales ad annum 861, Perz J., 455 oben. — ?) Felle 
commotus, — 3) Abgedruckt bei Cellotius a. a. O. ©. 420 fig. 


Snnerliche Bewegungen in der Kirche der fränkiſchen Reiche 1. 851 


Heile berufen habe? Nebenbei führt Prudentius zum Beweife feiner 
Säte eine Menge Stellen der Väter von Auguftin bis auf Beda 
herab an. Die Knoten, welche. er der Gegenparthei hingeworfen, 
waren nicht leicht zu löſen. . 

Daß fie einen peinlihen Eindruck hervorbrachten, erficht man 
aus dem Berfahren Hinfmar’s, wie des Erzbifhofs von Mainz. 
Hinfmar überfhicdte an Raban die beiden Glaubensbefenntniffe, 
welche Gotſchalk im Gefängniffe aufgefegt, die Schrift des Pruden- 
tius fammt den Heineren Abhandlungen, die er felbft in der letzten 
Zeit verfaßt hatte; zugleich fprach er den dringenden Wunfch aus, 
der Mainzer Metropolite möchte zu Vertheidigung der gemeinfchaft: 
lihen Sade die Feder ergreifen. Rabanus antwortete: ) Alter 
und Kränftichfeit erlaube ihm nicht, Hinkmar's Wunſch zu erfüllen, 
auch flimme er in Manchem mit Prudentius überein, nur was ders 
felbe von Prädeftination der Böſen fage, feheine ihm unrichtig und 
zur Bertheidigung der Jrrlehre Gotſchalk's gefchrieben. Im Uebrigen 
müffe er auf feine Schriften an den Grafen Eberhard und den 
Biſchof Noting verweilen. Nur einige wenige Zeugniffe der Väter 
wolle er beifügen. „Sch kann mich nicht erinnern,“ fährt Raban 
fort, „jemals eine Borherbeftimmung zum Böſen, fondern immer 
nur zum Guten gefunden zu haben.“ Dann folgen einige Beweiſe. 
Nun geht Raban auf die Perfon Gotſchalk's über. Er drückt fein 
Erftaunen darüber aus, daß Hinfmar dem verderblihen Mönche 
die Erlaubniß, zu fchreiben, ertheilt habe, wodurch derfelbe mehr 
ſchaden fünne, als durd das Yebendige Wort; er rathet fodann, 
dem Gefangenen jede Gelegenheit zum Schreiben oder zur Unterre— 
dung mit Andern zu entziehen, bis fein Sinn zur Fatholifchen Lehre 
zurüdgefehrt fein werde. Beten möge man für Gotſchalk, daß Gott 
jein Herz zum Guten lenke. Ehe aber dieß gefchehen, dürfe man 
ihm ohne Sünde nicht einmal die Communion reichen. In gleichem 
Geifte läßt er fid auch über den Inhalt der Glaubensbefenntniffe 
bes Mönchs aus. Daß Gotſchalk es gewagt, fein Befenntniß in 
‚Form eines Gebets an den Allmächtigen zu richten und fein Ber: 
langen eines Gottesurtheils findet er abfcheulih. Er vergleicht letz⸗ 
teres Anfinnen mit dem Betragen der drei Knaben im Feuerofen. 





!) Der Brief Hinfmar’s ift verloren gegangen, erpakten dagegen die Ant: 
wort Raban’s bei Sirmond II., 989 flg. 


54* 


852 III. Buch. Kapitel 11. 


welche nicht eine Wunbderprobe begehrt, fondern fi) dem Gerichte 
Gottes demüthig unterworfen hätten. Raban fchließt mit der Ber: 
fiherung, daß er, fo lange er lebe, ſtets bereit fein werde, den 
Wünſchen Hinfmar’s entgegenzufommen. Zwei Dinge find an diefem 
Berfahren Raban’s gleich auffallend: erftens, daß er feinem Bundes- 
genogen Hinfmar, der doch die von Raban ſelbſt angefangene 
Streitigfeit verficht, die begehrte Hülfe verweigert, und nebenbei dem 
gemeinfchaftlichen Gegner Brudentius halb Necht gibt. Mean fieht, 
er fürchtet den Testern und möchte fih gern aus der Sade, die 
immer bedenflicher zu werden droht, herauswinden, Nicht minder 
muß es befremden, daß der Erzbifhof von Mainz feinen Rheimſer 
Amtsbruder auffordert, den unglüdlichen Gotſchalk noch härter zu 
behandeln, während er doch felbft feinen Finger für Hinfmar rühren 
will. Wahrlich der angeführte Brief gereicht nicht zur Ehre Raban's! 

Die unerfreuliche Antwort yon Mainz war nocd) nicht einge: 
laufen, als fih zwei neue Kämpfer für Gotfchalf gegen Hinfmar 
erhoben. Schon in der Gefchichte des Photius !) ift uns der Name 
des Minds Ratramnus von Corbie entgegengetreten, yon welchem 
wir unten noch Weiteres zu berichten haben. Ueber feine Verhält— 
niffe weiß man fehr Weniges. Natramnus mag zu Anfang . des 
Sahrhundeits geboren fein. Weder feine Eltern, noch das Jahr 
feiner Geburt, noch feine Heimath find befannt. In der Gefchichte 
erfcheint er zuerft als Mönd von Gorbie, wo er unter den Aebten 
Adalard und Wala den Wifjenfchaften obliegt. Seine Talente, wie 
feine Gelehrfamfeit, verfchafften ihm großen Auf nicht blos unter 
dem Clerus, fondern auch bei König Karl dem Kablen, der in wich: 
tigen Dingen den theologischen Nath des Mönchs einholte. Den: 
noch findet fih nicht, daß Ratramnus irgend eine hohe Würde im 
Staat, im Klofter oder in der Kirche erreicht hätte.?) Wir vermuthen, 
dieſer Mangel dürfte nicht am wenigften dazu beigetragen haben, 
daß Natramnus an den meiften Firchlichen Händeln feiner Zeit Theil 
nahın. Männer feiner Art, die fich zurüdgefegt fühlen, fuchen jede 
Gelegenheit, der Welt ihren Werth bemerflich zu machen. Ratram— 
nus fcheint einen geheimen Groll gegen Hinfmar gehegt zu haben. 
Denn er trat dem Erzbifchof von Nheims dreimal feindlih in den 
Weg: einmal in einer Fritifchen Frage, welche zugleih vom Scharf: 





') Oben ©, 268 flg. —?) Man vergleiche hist. litt, de la France, V., 333, 


Innerlihe Bewegungen in der Kirche der fränfifchen Reiche m. 853 


finn des Mönchs ein rühmlihes Zeugniß ablegt. Hinfmar hatte 
eine Schrift über die Geburt ber Jungfrau Maria und eine angeb- 
liche Predigt des Hieronymus über ihren Tod, in Elfenbein und 
Gold prächtig gefaßt, einer Kirche gefchenkt. Natramnus bewies, 
daß beide Bücher unterfchoben feien. ) Außerdem befämpfte der 
Mönd von Corbie den Erzbifchof in dem Streite über die Vorher: 
befiimmung, fo wie bei Anlaß des fpäteren Zwiſts wegen eines 
Kirchenlieds. Mit Gotfchalf fand er ſchon vor Ausbruch der prä: 
deftianifchen Händel in genauer Berbindung. Beweis dafür ift das 
oben ?) angeführte poetifche Sendfchreiben, welches dev Mönch von 
Drbais an den Erfteren überſchickte, und das in einem vertraulichen 
Tone abgefaßt if. Gotſchalk nennt Ratramnus darin feinen Meifter. 
Allem Anfchein nach war der Legtere von Anfang an bei den Um: 
trieben Gstfchal®’s tiefer betheiligt, als die Duellen andeuten. 
Das er ſich unter ſolchen Umftänden in den Streit mifchte, ift na— 
türlih. Ratramnus hatte indeß außer feiner alten Verbindung mit 
Gotſchalk noch einen befondern Anlaß dazu. Aus der Vorrede des 
MWerfs, von dem gleich die Rede fein wird, erhellt, daß König Karl 
der Kahle von Ratramnus ein Gutachten Über den zwifchen Got: 
fchalf und Hinfmar obfchwebenden Streit verlangt haben muß, welcher 
folglich die Aufmerkjamfeit des Hofes zu erregen begann. Da 
Hinfmar unter dem Scepter Karl's des Kahlen ftand, fo war bie 
Art, in der fih Natramnus ausfprad, für den Erzbifchof eine jehr 
wichtige Frage. Und der Mönch hat gegen ihn entfchieben. Die 
Schrift ?) des Ratramnus umfaßt zwei Bücher: „Da die Lehre von 
der Präpdeftination,“ fagt er am Eingange, „ein fehr tiefes Geheim— 
niß fey, fo müffe er erſt von der göttlichen Vorſehung handeln.“ 
Dieß gefchieht nun im erften Buche, in welchem er neben wenigen 
Bibeliprüchen eine Maffe von Stellen aus den Schriften Auguftin’g, 
Gregor’d des Großen, des Werfs von Berufung der Heiden, das 
er Prosper zufchreibt, und Salvian’s zufammenträgt Am Schluffe 
erklärt er fodann, die mitgetheilten Beweife zeigen deutlich, daß alle 
guten Handlungen, Reden und Gedanken der Heiligen aus der 
Gnade ftammen, daß die Gnade den Willen der Menfchen zum 


1) Den Beweis bei Mabilfon annal. Ord. S. Bened. XXXV., $. 100, 
Vol, III. 88. der Benediger Ausgabe. — 2) ©. 829. — 9) Libri duo de prae- 
destinatione, abgedruckt bei Mauguin a. a. DO. ©. 29 flg. 


854 III. Buch. Kapitel 44: 


Guten ftärfe, zuvorfomme, nachfolge, daß endlich die Anzahl der 
prädeſtinirten Heiligen, von denen Keiner zu Grunde gehen könne, 
genau und unwiderruflich beftimmt fey, Im zweiten Buche Handelt 
er von der Pradeftination der Bermworfenen, abermals an der Hand 
der Väter, doch flicht er mehr Eigenes ein, als im erſten Buche, 
Er. fett auseinander, daß Gott auch die Schlimmen ypräbdeftinirt 
habe, aber nicht zur Sünde, fondern zum wohlverdienten Gerichte, 
und daß dieſe Prädeftination die Verworfenen Feineswegs zum Süns 
digen’ zwinge, obgleich alle Die, welche der Herr in der Maſſe des 
Berderbens zurücklaſſe, unabänderlich der Strafe ihrer mit freiem 
Willen begangenen Mißethaten verfallen. Hinkmar pflegte zu fagen, 
die Strafe fey zwar den Berlornen vorausbeftimmt, aber Diefe feldft 
feyen keineswegs zum Verderben prädeſtinirt. Hiegegen führt Ras 
tramnus eine Stelle des Fulgentius an, wo die Böfen zum ewigen 
Feuer präbeftinirt genannt werden, und bemerkt fodann, die Gegner 
möchten felbft zufehen, wie ihre Anficht zu den Worten des Heiligen 
ſtimme. Mit großer Gewandtheit weiß Ratramnus die Härten des 
Auguftinifchen Syſtems abzufchleifen, und die wunden Punkte zu 
überdeden. Ein Hoftheolog und Günftling des Königs hatte jet 
gegen Hinkmar gefprochen: j 

Ein zweiter folgte. Servatus Lupus, den wir fehon öfter 
zu nennen veranlaßt waren, flammte aus einer angefehenen fränfis 
fhen Familie und wurde um 805 im Sprengel von Sens geborem: 
Frühe trat er in das Klofter Ferrieres, deſſen Abt Aldrih ihm 
einen Grammatifer zum Lehrer gab, unter deſſen Leitung der be 
gabte Knabe die Nhetorif und die freien Künſte mit großem Eifer 
erlernte. Bor 830 wurde Lupus zum Diakon, fein bisheriger Abt 
Aldrich zum Erzbifhof von Sens befürdert: Im eben genannten 
Sabre fchiete ihn Adrich in die Schule von Fuld, um unter Ra: 
banıs Maurus die Theologie zu ſtudiren. Lupus blieb daſelbſt big 
836, erſt als Schüler, fpäter als Lehrer; denn aus einem alten 
Zeugniffe geht hervor, !) daß Lupus zulest in der Fulder Anftalt 
die weltlihen Wiffenfchaften vortrug: Während diefer Zeit ſchloß 
Lupus eine dauernde Freundjchaft mit Einhard, welcher damals unfern 
Tuld im Kloſter zu Seligenftadt lebte, dem er als Abt vorftand. 
Die Liebe zur alten römifchen Literatur verband Beide, Wie Einhard, 


!) Histoire lilteraire de la France V., 256; 





Innerliche Bewegungen im der Kirche der fränfifchen Neiche c. 855 


fo verftand auch Lupus ein zierliches Latein zu fehreiben. In den 
Schriften der großen Römer war er bewanderter, als irgend einer 
feiner Zeitgenofjen. Im Todesjahr feines bisherigen Beſchützers 
Adrih von Send — 836 — Fehrte Lupus nad) Frankreich zurüd, 
Der Ruf feiner Gelehrfamfeit gieng ihm voran. Schnell gelang 
es ihm, die Gunft der Kaiferin Judith zu gewinnen, welde ihn 
ihrem Gemahl, Ludwig dem Frommen, und ihrem Sohne, Karl 
dem Kahlen, empfahl. Bon Karl erhielt Lupus 842 die Abtei 
Ferrieres, aber auf eine Weife, die ihm gerechte Vorwürfe zuzog. 
Er mufte nemlich erft feinen Vorgänger, den Abt Odo, der fidh 
wegen feiner Anhänglichfeit an Lothar dem Könige verhaßt gemacht 
hatte, aus dem Klofter vertreiben. Die Feinde des Lupus befchul- 
digten ihn deßhalb, durch Betrug und Gewalt fic) der Abtei bemächtigt 
zu haben. In einem noch vorhandenen Briefe !) an den Bifchof 
Jonas von Orleans fucht Lupus fein Betragen zu rechtfertigen, in= 
bem er auseinander fest, daß er gegen Odo fo milde als möglich 
verfahren fey. Seitdem flieg der Einfluß des Abts in Kirche und 
Staat immer höher. Auf den Kirchen- und Reichsverfammlungen 
jener Zeit fpielte er bis zu feinem Tode, der um S62 erfolgt feyn 
muß, eine wichtige Rolle. Da Ferrieres zu den Kiöftern gehörte, 
bie zur Heeresfolge verpflichtet waren, fo wurde Lupus wider feinen 
Willen in Friegerifche Unternehmungen verwidelt. In der Schlacht 
bei Angouleme 844 hätte er beinahe das Leben verloren, er fiel 
damals in die Hände der Feinde, die ihn erft nach einigen Tagen 
Gefängniß losließen. 2) 

Wir beſitzen von Lupus eine Sammlung Briefe, die in einem 
glatten Latein gefchrieben und für die Zeitgefchichte wichtig find; 
außerdem mehrere Lebensbefchreibungen von Heiligen, endlich zwei Auf: 
ſätze, 2) betreffend den präbdeftinatianifchen Streit. Leber die Urfache, 
warum er fich in: lettere Angelegenheit mifchte, berichtet er felbft 
Folgendes: *). während er fih 849 oder 850 zu Bourges am 
Hoflager Karls des Kahlen befunden, habe ihn der König um 





1) Epist. 21. Opp. ed, S. Baluzius, Antwerpiae 1710, 8. ©, 44. — 
2) Lupus berichtet dieß felbft in dem 91. Briefe an den Abt Markward von 
Prüm. Opp. ©. 156 flg. — ?) Liber de tribus quaestionibus. Opp. ©. 207 flg. 
und Collectaneum de tribus quaestionibus, ibid, 246, — *) Epist. 128, Opp. 
©. 184 flg. 


856 III. Buch. Kapitel 11. 


feine Meinung über die Händel zwiſchen Gotihalf und Hinfmar, 
oder — wie man damals fi) auszudrüden pflegte — über bie drei 
firittigen Punkte von der Prädeftination, dem freien Willen und 
dem Umfange der Erlöfung Chrifti befragt. Lupus fagt, die Ant: 
wort, welche er damals dem Könige gegeben, ſey von Bösgefinnten 
verdreht worden, man habe ihn als einen Mann verfchrieen, der 
fezerifche Anfichten hege. Um diefe fchlimmen Gerüchte zu widerlegen, 
erließ nun der Abt von Ferrieres an Karln einen Brief, in welchem 
er zu ermeifen fucht, daß es allerdings eine zweifache Prädeftination 
gebe, daß hierüber Auguftinus, Hieronymus, Gregor der Große, 
Beda, Iſidorus, Ein und Daffelbe Ichren, daß der im Menfchen feit 
dem Fall übrig gebliebene freie Wille nur zur Erwählung des Böſen 
Kraft habe, daß endlich Chriftus nur für die Auserwählten geftorben 
fey. Das Wichtigfte fteht am Schluffe des Briefs. Hier fagt Lupus: 
er hoffe, den König von der Nichtigfeit feiner Anficht überzeugt zu 
haben. Wo nicht, fo möge Karl ber Kahle eine Ber: 
fammlung der gefhidteften Theologen feines Reiches 
berufen, und durch fie die Frage unterfudhen laffen. 
Wahrfheinlih war dem Schreiben an Karl eine Sammlung von 
Stellen aus den Werfen der Väter beigefügt, die unter dem Titel 
Collectaneum auf ung gefommen ift. Zugleich fchrieb ?) Lupus 
an den Erzbifchof von Rheims: nad) langer und reiflicher Verglei— 
hung der Ausfprüdhe Pauli im Nömerbriefe (Cap. VIIL, IX.) mit 
Auguftin’s Lehre habe er gefunden, daß die Prädeftination Gottes 
eine doppelte ſey, bei den Erwählten nemlich eine Leitung durch die 
Gnade, bei den Berworfenen eine Entziehung ebenderfelben. Der 
Borihlag des Abts von Ferrieres, Karl der Kahle möchte eine 
Synode zur Enticheidung des Streited berufen, wäre, wenn er ge— 
lang, ein tödtlicher Streich für Hinfmar gewefen; allein Lupus 
brang nicht durch, ohne Zweifel, weil jene Uebelgefinnte, die, wie 
er felbft in dem Briefe an Karl fagt, ihn als Ketzer verfchrieen, 
d. h. die Parthei des Erzbifchofs von Rheims, mehr als Lupus am 
Hofe vermochten. Um nun aber feinen Zwed dennoch auf anderem 
Wege zu erreichen, verfaßte der Abt feitdem das bereits angeführte 
Werf über bie drei Fragen. „Der Allmächtige,“ mit diefem Gedanfen 





1) S. Note 3 auf der vorhergehenden Seite. — 2) Epist. 129, Opp. 
©. 191 fle. 


Innerliche Bewegungen in der Kirche der fränkifchen Reiche ıc. 857 


beginnt Lupus, „hat den erften Menfchen als ein freies und glüd- 
liches Wefen erfchaffen, und-ihn alſo begabt, daß Adam, von ber 
Gnade unterftügt, ſtets Gutes wirfen konnte. Diefe Vorzüge hat 
der Urvater unferes Gefchlechts verloren, weil er fein Herz zum 
Böfen lenkte und ein leichtes Gebot muthwillig übertrat. Da alle 
fpäteren Menfchen in dem erften begriffen waren und folglich feine 
Sünde theilten, verdienten fie Alle von Rechtswegen zu Grunde zu 
gehen. Dur die Barmherzigkeit des Höchften gefchieht es, daß 
eine Anzahl das Heil erlangt, durch Seine Gerechtigkeit, daß bie 
Vebrigen verdammt werden. Man wende nicht ein, Gott hätte ben 
Menfchen nicht erfchaffen follen, da Er ja fraft feiner Weisheit vor⸗ 
auswiſſen mußte, daß derfelbe fündigen werde, fondern fprechet 
vielmehr: der Menfch hätte die Sünde nicht begehen follen, da er 
fie ja fo leicht vermeiden Fonnte, und da, vermöge ber göttlichen 
Drohung, der Tod daran gefnüpft war.“ Lupus zeigt fofort an 
der Hand Auguftin’s, daß der Menfh von Natur völlig unfähig 
zu allem Guten ſey. Nun geht er auf bie Prädeftination über: 
„Leute, welche in großem Anfehen ftehen, ') wagen zu behaupten: 
Gott habe darum Einige prädeftinirt, weil Er vorherfah, daß fie 
Ihm ergeben feyn und in diefer Trgebung beharren würden; aber 
man glaube diefen Menfchen nicht, denn das Gefchenf der Gnade 
ift zerfiört und entwürdigt, wenn fie nach einem künftigen Verdienft 
ausgetheilt werden foll.“ Weiter bemerkt er: „Vorherwiſſen des Zu: 
fünftigen Fonne nur ung Menfchen zugefchrieben werden, nicht aber 
dem Allwiffenden, dem Künftiges wie Vergangenes ftetS gegenwärtig 
fey. Zwar,“ fährt er fort, „ſcheuen fih mande fonft vortreffliche 
Lehrer darum die Prädeftination der Verworfenen einzugeftehen, 
weil man fonft glauben Fünnte, Gott habe einen Theil der Menfchen 
abfichtlih zum Berderben erichaffen und Er verdamme die Berlornen 
ungerechter Weife, da biefelben der Sünde und alfo auch der Strafe 
nicht entgehen könnten. Allein diefe Männer,“ meint er, „follten 
bevdenfen, daß die VBerworfenen wegen eigener Schuld verdammt 
werben, fintemal das menjchliche Gefchlecht (in Adam) freiwillig die 
Sünde erforen hat. Freilich Fönnte Jemand,“ gefteht Lupus ein, 
„durch dieſe Betrachtung erbittert, alfo fprechen: wenn ich einmal 





) Seite 228 quidam, qui in aliis magnae sunt auctoritatis. Das ift 
auf Hinfmar und Rabanus gemünzt. | 


858 | 117. Buch. Kapitel 14, 


verloren ſeyn fol, fo will ich Doch Tieber im kurzen Leben alle mög— 
liche Wollüfte genießen. Allein der Allmächtige möge Jeden vor 
dem Wahnfinne behüten, fich ſelbſt für einem Verlornen zu halten. 
Die Gnade fey unbefchränft und könne eines jeglichen Menfchen fich 
erbarmen. Selbft wenn Jemand fich durchaus einbilde, der Schaar 
der Berlornen anzugehören, fo habe er dennoch Urfache, gute Werfe 
zu üben, damit feine Strafe dermaleins gemildert fey.“ Zuletzt er 
Hart fih Lupus geneigt, das Wort „Prädeftination“ preiszugeben, 
aber nur unter der Bedingung, daß die Lehre und der Begriff, 
ben er aufitelle, feftgehalten werde. Die dritte Frage: ob Chriſti 
Blut für Alle vergoffen worden, beantwortet er mit Auguftin dahin: 
der Berföhnungstod fomme Allen zu gut, welche nach dem Rath— 
fhluffe Gottes felig werden follten. Abermal gibt Lupus zu, daß 
Manchen diefer Say wie eine Gottesläfterung erfiheine, weil es 
zum Nachtheile des Erlöfers gereiche, wenn man behaupte, daß Er 
nicht alle Menfchen errettet Habe, „Dennoch,“ fagt er, „beharren wir 
auf der Lehre, daß Gott mit feinem Blute alle Die erlöst habe, 
welche Er erlöfen wollte, laſſen aber gerne den Streit fallen, oder 
treten fogar den Gegnern bei, fofern Diefe den Beweis zu führen 
vermögen, dag Chrifti Tod auch den Verlornen nütze.“ 

Eine Schaar von Gegnern, eben fo gefährlich durch Geift und 
Gelehrfamfeit, als durch gefellfchaftlihen Einfluß und Macht, hatte 
fih, wie man fieht, wider Hinfmar erhoben. Der bedrohte Metro= 
polit fuchte gleichfalls feine Parthei zu verftärfen. Es gelang ihm, 
den Erzbifchof Amolo von Lyon, der unter Lothar's Scepter ftand, 
auf feine Seite zu ziehen. Amolo war 840 an der: Stelle des ver: 
ftorbenen Agobard auf den Erzſtuhl von Lyon erhoben worden. 
Aus der Schule Agobard’s hervorgegangen, trat er in bie Fuß: 
tapfen dieſes ausgezeichneten Kirchenfürften und befämpfte gleich ihm 
veligiöfen Betrug, Aberglauben und — die Juden, Um 844 hatte 
ihm der Bischof von Langres, Theutbald, Suffragan von Lyon, bie 
Anzeige gemacht, dag Fürzlich zwei angeblihe Mönde aus Rom 
oder einer andern Gegend Staliens Gebeine eines Heiligen, deffen 
Namen fie nicht anzugeben wüßten, nad) der Kirche des Märtyrers 
Benignus zu Dijon gebracht hätten. Seitdem zeigen fi wunder— 
liche Erſcheinungen in dieſer Capelle: Weiber flürgen, wie durch 
Schläge von unſichtbarer Hand getroffen, auf die Erde nieder und 
leiden an fürchterlichen Zuckungen. Von allen Seiten ſtröme die 


Innerliche Bewegungen in der Kirche der fränfifchen Reiche ı. 859 


Menge nach der Kirche und bereits feyen faft 400 Perfonen von 
foihen Zuftänden befallen worden. Auch an andern Orten, naments 
Yich zu Autun, fommen über den Gräbern einiger Helligen ähnliche 
Dinge vor, In feinem Antwortfchreiben 1) gibt Amolo den Rath, 
man folle jene Gebeine außerhalb der Kirche begraben, damit fie 
nicht ferner ein Gegenftand abergläubifcher Verehrung für den Pöbel 
feyen. Die Wundererfcheinungen ſelbſt erklärt er für das Werk 
entweder habfüchtigen Betrugs oder dämoniſcher Einflüffe, wobei er 
fich auf eigene Erfahrungen beruft. „Schon in früheren Jahren,“ fagt 
er, „find mir Fälle der Art vorgefommen Defter wurden Befeffene 
vor Agobard gebracht, wenn man ihnen dann mit Schlägen zufeßte, 
geftanden fie bald, daß fie fich verftelt hätten, um Almofen zu er: 
haſchen. Zu Uſez (Ucetia) fielen beim Grabe des Bischofs Firminus 
Leute, wie durch Schläge, nieder, man fah an ihnen Brandmale, 
wie von Schwefel. Das gemeine Volk eilte deßhalb Haufenweiſe 
mit Gefchenfen in die Kirche: Als aber der Bifchof von Narbonne 
auf Agobard’s Rath ?) die Gemeinde ermahnte, nicht mehr nad) 
dem Drte fih zu drangen und die Gefchenfe Lieber Dürftigen zu 
ertheilen, hörte der Unfug bald auf“ Amolo erſucht nun feinen 
Suffragan Tpeutbald, dafür zu forgen, daß eine jede Gemeinde in 
ihrer Kirche ruhig dem Gottesdienft abwarte und gegen die Armen 
mildthätig fey, nicht aber foldhen angeblichen Wundern nachlaufe; 
denn wenn bie verfihwenderifche Freigebigfeit aufhöre, werden auch 
jene Erfcheinungen ein Ende nehmen. Sollten aber die habfüchtigen 
Gaukler auf ihrem Spiele beharren, fo möge mat fie immerhin 
mit Schlägen zum Geftändniß der Wahrheit nöthigen. Diefer Brief 
des Erzbifchofs von yon verdient von den neuern Anhängern des 
Magnetismus beherzigt zu werden. ine andere auf ung gefom: 
mene Schrift ?) Amolo’s ift gegen die Juden gerichtet. Er fucht 
darin nach dem VBorgange Agobard’S zu zeigen, warum und wie 
fehr der Umgang mit dem — Volke für Chriſtenmenſchen 
gefährlich ſey. 

Amolo hatte keinen amtlichen Anlaß, ſich in den Streit mit 
Gotſchalk zu miſchen; denn der Kampf wurde, wie wir oben ſagten, 





i) Epistola ad Theutbaldum, abgedruckt in Baluzius Ausgabe der Werke 
Agobard's IT, 135 flg. — 2) Siehe oben ©. 752. — 9) Contra Judaeos liber, 
unter Raban's Namen herausgegeben von P. 5. Chifflet in feiner Schrift: 
scriptorum veterum de fide catholica quinque opuscula, Divione 1656. Ato, 


860 II. Buch. Kapitel 41. 


nicht im Gebiete Lothar’s, dem der Stuhl von Lyon gehorchte, fon: 
dern im Neiche Karl’s des Kahlen geführt. Hinfmar war es, der 
Amolo aufforderte, feine Stimme in der Sache abzugeben. Flodoard 
berichtet, ') Hinfmar habe an Amolo über den Lebenswandel, die 
Anfichten, die Verhaftung und Verurtheilung Gotſchalk's gefchrieben. 
Allem Anschein nach wußte der Lyoner Erzbifchof nichts Weiteres 
von der Lehre des Mönchs, als was der Aheimfer ihm mitzutheilen 
für gut fand. Daher mag es fommen, daß Amolo fehr hart über 
Gotſchalk urtheilt. Amolo fehrieb S51 oder Anfangs 852 an den 
Gefangenen zu Hautvilliers einen Brief, ?) in welchem er ihm fieben 
Punkte zur Laft Iegt, nemlih die Irrlehren: 1) daß Fein durch 
Chriſti Blut Erlöster umfommen fünne, 2) daß die wichtigften 
Saframente der Kirche: Taufe, Abendmahl, Exorcismus, geweihtes 
Del, Auflegung der Hände, allen Denen, die nad) dem Empfange 
zu Grunde gehen, vergeblich ertheilt werden, 3) daß die VBerlornen, 
wenn fie gleich das Abendmahl und die Taufe erhalten, nicht als 
Glieder der Kirche zu betrachten feyen, 4) und 5) daß der All: 
mächtige ebenfo unwiderruflich alle Berlornen zum DBerderben prä— 
beftinirt habe, als Er felbft unveränderlich fey, 6) daß Gott und 
feine Heiligen fi über das Elend der Berdammten freuen. Endlich 
wirft er ihm fiebteng vor, daß Gotſchalk voll hochmüthiger Ver— 
meffenheit von Niemand Belehrung annehme und die Bilchöfe 
ſchmähe. Amolo ermahnt den Mönch, fich zu beffern und verweist 
zuleist auf die Worte der zweiten unter dem Borfige des berühmten 
Cäſarius von Arles in Drange gehaltenen Synode, welde feftges 
feßt habe, daß alle Getauften unter dem Beiftande des Erlöfers 
das ewige Heil zu erringen vermögen, und daß dagegen bie De: 
bauptung einer Prädeftination zum Böſen fluchwürdige Ketzerei fey. 
Man fann nicht läugnen, daß die meiften der Sätze, welche Amolo 
dem Mönche unterlegt, von Diefem weder ausdrücklich vorgetragen 
noch anerfannt worden find, aber wohl Laffen fie fid alle aus Got: 
fhalf’s Glaubensbekenntniß folgern, fobald man nemlich daſſelbe 
mit der rüdjichtlofen Bündigfeit Hinfmar’s zu Schlüffen benützt. 
Allem Anfchein nach hat hier Amolo mit den Augen des Rheimfer 





1) Histor. rhem, III., 21. Sirmondi opp. IV., b. 165 Mitte. — 2) Ab: 
gedrudt in Baluzius Ausgabe der Werke Agobard's II., 149 flg. oder auch 
Sirmondi opp. II., 893 fig. ä 


Innerliche Bewegungen in ber Kirche der fränkifchen Reiche ac. 861 


Erzbifchofs gefehen. Zu gleicher Zeit mit Amolo fchleuderte auch 
der Lyoner Diakon Florus, den wir bereits aus Agobard’s Gefchichte 
fennen, eine Abhandlung 1) wider Gotfhalf, in welcher er aug: 
einander fett, daß Gott vermöge feiner Weisheit Alles, fowohl die 
guten Handlungen der Begnadigten, als die fchlechten der Verwor⸗ 
fenen, sorausfah. Aber nicht Alles, was Er vorausfieht, prädefti- 
nirte Er. Der Allmächtige präbeftinirte zwar bie Erwählung und 
das ewige Heil der Gerechten, nicht aber die Verworfenheit ber 
Berlornen. Ihr Untergang ift das eigene Werf der Gottlofenz 
weil fie es fo wollen, verfallen fie dem Berderben. Die einftige 
Beftrafung derfelben hat der Herr nicht blos vorhergefehen, fondern 
auch, weil Seine Gerechtigfeit dieß forderte, prädeftinirt. Dennoch 
fünnen die Böfen ſich nicht damit entfchuldigen, daß fie zum Sün— 
digen gezwungen feyen, denn fie haben die Sünde felbft erwählt. 
Gute wie Böſe bejisen Freiheit des Willens. Freilich aber — dieß 
gefteht Florus zu — iſt unfere Wahlfreiheit durch die Erbfiinde fo 
verkümmert, daß wir aus eigenem Antriebe blos Böſes thun fünnen, 
das Gute aber nur mittelft der Gnade, welche bewirkt, daß wir 
wiedergeboren und neue, des Heiles fühige Menfchen werden. 
Lestere Einfhränfung gibt eigentlich dem Mönche von Hautvilliers 
gewonnenes Spiel; dennoch bricht Florus am Ende feiner Schrift 
in folgende harte Worte gegen Gotſchalk aus: „Ich ermahne Alle, 
daß fie in Einfalt und Reinheit des Glaubens feſt begründet, bie 
Ohren verſchließen wider Das Gerede jenes nichtswürdigen und elen= 
den Menfchen, der voll Streitfucht und Anmaßung, lieber den Ein: 
flüfterungen des Teufels horcht und ſich von der Kirche Gottes trennt, 
als daß er auf feine eitlen Behauptungen verzichtete.“ Wir haben 
im vorhergehenden Abfchnitte erzählt, ?) daß Florus aus Anhänge 
lichkeit an feinen Erzbifchof Agobard mit dem Priefter von Metz, 
Amalarius, bittere Kämpfe beftand. In der Sache Gotſchalk's 
Dagegen ftritten diefe ehemaligen Gegner unter einer Fahne. Ein- 
geladen von Hinfmar, veröffentlichte Amalarius gleichfalls wider den 
Mind eine Schrift, ?) die aber Yängft verloren ift. + 


!) Sermo de praedestinatione, abgebrudt bei Mauguin a. a. O. J., 23 
oder auch in Agobard’s Werfen IL, 4172 fig. — 2) Oben ©. 760. — 3) Man 
fehe Remigius de tribus epistolis cap. 40 bei Mauguin a. a. O. IL, b, 135, 
— *) Histoire liNöraire de le France IV,, 264, 


862 IT, Buch. Kapitel 14. 


Hinfmar rief zu feinem Beiftand noch einen vierten Kämpfer 
herbei, der in mehr als einer Beziehung merkwürdig ift. Alle ger: 
manifche Theologen, die wir bisher Fennen gelernt, fußen auf römi: 
ſcher Bildung. Klarer, praftifcher VBerftand, oder wenigſtens Ringen 
darnach, Achtung für die Gefchichte, für den Buchftaben heiliger 
Urkunden, für die Beifpiele der Ahnen, Scheue vor Unbeſtimmtem 
und Ueberſchwänglichem, bekanntlich lauter Merkmale Yatinifchen 
Geiftes, finden fih ſchwächer oder ftärfer bei ihnen ausgeprägt. 
Dieſe geiftigen Eigenfchaften gehen Hand in Hand mit Liebe zur 
Drdnung, mit einem Fraftvollen Fefthalten kirchlicher Mannszucht. 
Aber auch das Byzanerthum follte unter den Franken deg neunten 
Sahrhunderts feinen DBertreter finden. Plötzlich tritt ein Mann auf, 
ber alle Fehler und Vorzüge der fpätern Griechen in ſich vereinigt, 
er war aus bem Lande der Sfoten in das Neih Karls des Kahlen 
gefommen. In dem ffotifchen Klöftern wurden, nicht erft feit den 
Zeiten des Erzbifhofs Theodor von Canterbury, neben den Tatei- 
nifhen Vätern, welchen die Franken ausfchließlich ihre Aufmerkfam: 
feit zumandten, auch griechifche gelefen, und diefes Studium trug 
feine Früchte. Der Abt Benedift von Aniane ſpricht in einem 
Briefe, 1) welchen Baluzius herausgab, von befondern Schlußweifen, 
welche die Sfoten nad dem Vorgange der Griechen ausgebildet 
hätten. Die Heimath der Sfoten war zu arm, um ihre Bewohner 
zu ernähren. Hunderte fehweiften daher in der Fremde herum, überall 
gab es ffotifihe Bettler, eigene Hofpitäler wurden für fie auf dem 
Feftlande gegründet. ?) Unter den ffotifchen Wanderern waren auch 
fehr viele Gelehrte, die zu Haufe fein Brod fanden, und daher 
draußen, befonders im ſchönen Frankreich, ihr Glück ſuchten. Heri— 
kus, feit 870 Abt des Germanus-Klofters zu Aurerre und Unter: 
than Karl’s des Kahlen, fagt ?) in feiner Lebensgefchichte des heil. 
Germanus: Schaarenweife feyen die ffotifchen Philoſophen nad) 
Gallien herübergefirömt. Auf ſolche Weife mag aud Johann ber 
Sfote mit dem Beinamen Erigena ins Gebiet Karls des Kahlen 
gekommen feyn. Sein Heimathsort ift unbefannt. Trotz allen Nach— 





1) Miscellanca in der von Manfi beforgten Solivausgabe II., 95 b. Mitte. 
Ich verdanfe diefe und die folgende Stelle Neanvder 8.G. IV., 389 Note. — 
2) Man fehe Can. 10 der Synode zu Ehierfey bei Baluzius Capitularia I., 111 
Mitte. Hospitalia peregrinorum, sieut sunt Scotorum, — 3) Die Stelle an- 
geführt von Launoy de scholis celebrioribus, Opp. 1V., a. S. 18 gegen unten, 


Innerliche Bewegungen in ber Kirche der fränkischen Reiche x. 863 


forfhungen hat man nicht fiher ermittelt, ob berfelbe in den wel: 
ſchen Provinzen Britanniens, in Schottland oder Srland lag; für 
Irland fpricht die fpöttifche Bemerfung des Prudentius: ) Hibernien 
babe Johann nad) Gallien gefendet. Dagegen fleht feft, daß er 
dem fotifchen oder celtifchen Stamme angehörte, ?) Gleiches Dunfel 
berrfcht über Johann's Geburts- und Todes-Jahr. Wahrfcheinlich 
ift jedoch, daß er bald nach Anfang des neunten Jahrhunderts ger 
boren wurde und um 875 in Franfreih flarb. Karl der Kahle 
hatte von feinem Ahn und Vater eine gewilfe Liebhaberei für die 
Wiffenfchaften und die Neigung, Gelehrte in feinen Kreis zu ziehen, 
geerbt. Als Gegenleiftung mußten die Begünftigten ihn bei Tafel 
unterhalten und feine Mußeftunden durch grobe oder feine Späſſe 
erheitern. Diefe Rolle fpielte auch Johannes Skotus am franzöſi⸗ 
fhen Hofe. Der Mind Wilhelm von Dialmesbury erzählt im 
fünften Buche feines Werks über die Bifchöfe Englands einen Zug, ?) 
welcher Erigena’s Berhältniß zu Karl dem Kahlen trefflich bezeichnet. 
Eines Tags war er vom Könige zur Tafel eingeladen und faß dem 
Könige gegenüber. Beim Effen machte der Schotte einen Verſtoß 
gegen die fränkischen Begriffe von feiner Sitte. Der König bemerkte 
Dieß und fprach zu ihm: „Johann, fag an: was für ein Unterſchied 
ift zwifchen einem Scotus und einem Sottus?“ Bekanntlich bezeichnet 
sot in der eben fi bildenden franzöfiichen Spracde einen groben 
Menſchen. Schnell entfchloffen antwortete der Gefragte: „die Tafel 
liegt allein zwifchen Beiden.“ Karl mußte über den beißenden Ein- 
fall, fo unverfchämt derfelbe auch war, herzlich lachen. Das Ge: 
fhichtehen ift zu natürlich, als daß es erfunden feyn könnte. Der: 
jelbe Schrififteller berichtet ?) noch einen zweiten Fall ähnlicher Art. 
Karl der Kahle hatte abermal den Schotten mit zwei Clerifern zu 
fih geladen: drei fehr verfchiedene Geftalten, Denn fo mager und 
dünn Johannes Erigena, fo did und rund waren bie beiden Priefter. 
Die Köche trugen nebft andern Speifen drei Fiiche auf, worunter 
zwei große und ein Heiner. . Der König winfte dem Schotten, die 
Fiſche unter die Gäſte zu vertheilen. Nun behielt Erigena die zwei 





1) Te solum omnium acutisimum Galliae transmisit Hibernia, bei Maus 
guin a. a. D. J., 39 unten, und daraus in den testimoniis veterum zu Anz 
fange ver Ausgabe, welche Thomas Sale von Erigena’s Schrift de divisione 
naturae beforgt hat. — 2) Prudentius fpriht am eben a. D. ©. 392 oben 
von der celtica eloquentia deg Erigena. — 3) Abgedrudt bei Sale a, a. D. 


864 III. Buch. Kapitel 11. 


großen für fih, den Heinen reichte er den Prieftern hin. Als ber 
König lachend die unbillige Austheilung rügte, entgegnete der Schotte: 
„nicht ungleich, fondern gleich find die Parthieen, denn fehet, bier 
ift ein Kleiner — auf ſich — und hier zwei dicke — auf die Fiiche 
deutend; ebenfo find hier zwei diefe — bie Priefter, und ein dün⸗ 
ner — der fleine Fiſch« Wilhelm von Malmesbury flicht in feine 
Erzählung den Sat ein: ftets habe Erigena folche Witze bereit 
gehabt, um die Gäſte des Königs zu beluftigen. Indeß brauchte 
ihn Karl der Kahle auch zu ernfteren Arbeiten. Erigena verftand 
das Griechiſche. Der König benügte die Sprachkenntniß des Sfoten 
zu Ueberſetzung eines griechifhen Vaters, der den Franzofen aus 
befondern Gründen über die Maßen am Herzen lag. An einem 
andern Orte ift berichtet worden, ) daß die Schriften des falfchen 
Dionyfius, welche um 500 zum Vorſchein Famen, noch im Laufe 
des fechsten Jahrhunderts von den Drientalen ald das Werf des 
Areopagiten und Schülers Pauli verehrt wurden, deffen die Apoftel- 
gefchichte gedenft. Im achten Jahrhundert machten die Franzofen 
weitere und zwar eben fo gründliche Entdedungen über die Perfon 
des heil. Dionyfius. Bei Gregorius von Tours findet ſich bie 
Sage, ?) daß unter Kaifer Decius nebft ſechs andern Sendboten 
auch ein gewiſſer Dionyfius nach Gallien gekommen fey und daſelbſt 
das Bistum Paris gegründet habe. Eben diefer galliihe Diony: 
ſius erfcheint in einer um 790 verfaßten Schrift ®) bereits als ein 
Apoftelfchüler, der unter Domitian die Märtyrerfrone erringt. 
Gleicher Weife ftellen die Verhandlungen der Parifer Synode vom 
Sahre 825 es als ausgemachte und allgemein anerkannte Wahrheit 
hin, *) daß befagter Dionyfius von dem Pabfte Clemens, dem Nach— 
folger des Apoftelfürften Petrus, nach Gallien gefchiet worden fey, 
auch dafelbft den Parifer Stuhl errichtet und die Märtyrerfrone 
erlangt habe. Da das neue Teftament nur einen Apoftelfchüfer 
Dionyfius, nemlih den Areopagiten zu Athen, Fennt, fo mußten 
die beiden falfhen Dionyfe der Franfen und der Monoppyfiten, fo: 
bald die gallifhe und griechiſche Sage fi berührten, nothwendig 
in eins verfchwimmen. Frühe ift dieß gefchehen. Eine Gefchichte 





- DI. Band dieſes Werts ©. 911. — *) Historia Francica J., 28. — 
3) Gesta Dagoberti cap. 3,, abgedruckt bei Dom Bouquet II:, 580, — *) Manfl 
XIV., 466 obere Mitte, 


Innerliche Bewegungen in der Kirche, der fränkiſchen Reiche ꝛc. 865 


des heil. Dionyfiug, die and Ende des achten Jahrhunderts gehört, 7 
behandelt Beide als eins: dem angeblihen Gründer des Parifer 
Bisthums werden die Areopagitifhen Schriften und umgefehrt dem 
falſchen Areopagiten die Thaten und Leiden des franzöfifchen Be— 
fehrerd beigelegt. Vollendet und zum Gemeingute der Franzofen 
gemacht wurde diefe Fabel durch Ludwig den Frommen und den 
Abt Hilduin von St. Denys. Als nemlich der fränfifche Kaifer, ein 
Jahr nad der ſchmählichen Scene zu Soißons, in der Kirche zu 
St. Denys Wehrgehenf und Krone wieder erhalten hatte, beichloß 
er zu Ehren des Heiligen, den er für feinen Netter anfah, die Ge: 
fhichte deffelben ausführlich befchreiben zu laſſen. Er erfor Hilduin 
zum Vollſtrecker dieſes frommen Planes. In einem noch vorhan— 
denen Briefe ?) ſetzte er dem Abte feine Anſichten aus einander. 
Hilduin machte fi um 835 ans Werk, mit fühner Stirne trug er 
aus neuen Quellen, deren Unächtheit handgreiflich ift, eine Gefchichte 
des angeblichen Apoftelfchülers zufammen. 7) Mean begreift nun, 
daß bei folhem Stande der Dinge den Franzoſen fehr daran ge— 
legen feyn mußte, die griehifchen Schriften des Pfeudvareopagiten 
zu befommen, in welchem fie ja den Apoftel ihrer Nation verehrten. 
Schon im Jahr 757 °) ſchickte Pabft Paul I. mit andern Büchern 
die Werfe des Areopagiten dem Könige Pipin zum Gefchenf. Eine 
Handſchrift defielben Vaters erhielt *) der Abt Fulrad von St. Denys 
aus den Händen des Pabftes Hadrian L Daß im Jahr S24 der 
byzantinifche Herrfcher Michael der Stammler den fränfifchen Hof 
mit den Werfen des Areopagiten erfreute, haben wir früher be= 
richtet. Erft feit Ludwig der Fromme fo viel Vorliebe für den 
griechiſchen Heiligen zeigte, wurde das Studium feiner Schriften im 
Abendlande allgemeiner. Auf des Kaifers Antrieb kam jest auch 
die erfte lateiniſche Ueberſetzung der — vielleicht unter 
Hilduin’s —* zu Stande. °) 





1) Acta Dionysii, abgedruckt bei den Bollandiften Octob. IV., 792 flg. 
Daß diefe Akten After find als Hilduin, beweifen die Herausgeber ebendaf. 
©. 700 fig. Nro. 17. 23. — ?) Die Arbeit Hilduin's fammt dem Briefe Lud—⸗ 
wig’s und andern Urkunden abgedrudt von Matth. Galenus unter dem Zitel 
Areopagitica, Cölln 1563, Sto, oder auch bei Surius vitae Sancturum zum 
Ien October. — 9) Cod. Carolinus epist, 16 embolum, bei Cenni I., 148 
unten. — *) Mabillon annales Ord. S. Ben. liber XXXI., cap. 42, — °) Brief 
Hilduin’s an Ludwig in M. Galen’s Ausgabe der gr: ©. 66. 

Gfrörer, Kircheng. IH. 55 


866 AIII. Buch, Kapitel 44. 


Eine fo günftige Meinung herrfchte von dem falfchen Dionyſius 
und feinen Schriften, als Erigena nad) Frankreich kam. Der Skote 
hatte, wie es feheint, noch in feinem Baterlande die alten Griechen 
Plato und Ariftoteles bewundern gelernt. In volltönenden Worten 
fingt er ihr Lob. Er nennt ) Plato „den größten aller Naturphilo- 
fophen,“ indem er zugleich Stellen aus dem Timäus anführt. Arifto: 
teles preist er 2) als „den feharfiinnigften Auffinder des Unterfchieds 
der natürlichen Dinge.“ Nachdem er in Franfreich angeftellt worben 
war, fand jedoch Erigena für gut, neben den beiden Heiden das 
Banner des Areopagiten aufzufteden, deffen Name dort einen fo 
guten Klang befaß und eifrigen Schülern Brod und Ruhm: verhieß. 
Wirklich find die Werfe, welche unfer Philofoph in Frankreich fchrieb, 
fehr ftarf in die Farbe des neuplatonifchen Byzantiners getaucht. 
Auch blieb feine Hingebung für denfelben nicht ohne den verdienten 
Lohn. Karl der Kahle ertheilte ihm den Auftrag, die Werfe des 
Arespagiten von Neuem aus dem Griechiſchen ins Lateinische zu 
übertragen. Dieſe feine Arbeit, die er mittelft zwei Zufchriften 3) 
in Proſa und in Berfen dem Könige widmete, ift noch vorhanden. *) 
Schon ein Zeitgenoffe, der Bibliothefar Anaftafius, tadelt ?) an ihr 
die allzu weit getriebene Wörtlichfeit, welche das Verſtändniß er: 
ſchwert und Urfadhe war, daß man im Laufe des dreizehnten Jahr: 
hunderts neue Uebertragungen veranftaltete. Erigena hat nie ein 
Kirchenamt beffeidet und wahrſcheinlich aud nie eine Weihe empfan⸗ 
gen. Kein Schriftfteller des neunten Jahrhunderts oder der fpäteren 
Zeiten legt dem Sfoten den Titel Mönch, Presbyter oder Diafon 
bei. %) Aus einer Aeußerung 7) in der Vorrede feiner Schrift über 
die Präpdeftination fcheint zu erhellen, daß ihn Karl zu Staats: 
gefchäften verwandte. Erigena jagt hier von fich felbft: „auf dem 
flurmbewegten Meere der Regierung unferes Herren des glorreichen 
Königs Karl werden wir wie ein Schifflein von den Wellen herum: 
geworfen.“ Einer andern Quelle 8) verdanfen wir die Nachricht, 

1) De divisione naturae J., 33, bei Gale ©. 19 unten. — 2) Ibid. I., 
16, ©. 12 Mitte. — ?) Usserii epist. hibernicae Nro. 22 u. 23. — *) Sie 
wurde im Laufe des 16ten Jahrhunderts mehrmals zu Cölln in Folio gedrudt. — 
5) Sein Urtheil bei Ufferius a. a. D. Nro. 24 oder auch in den Areopagilica 
des M. Galenus. — 9) Dean fehe Mabillon act, Ord. S, Bened. IV., b. 
©. 518 oben (der Benetianer-Ausgabe). — ?) Bei Mauguin I., 109 Mitte, — 


°) Dem Briefe des Pabſts Nikolaus an Karl den Kahlen. Abgedruckt bei Bu- 
laeus hist. univers, Parisiensis I, 184, 





Innerliche Bewegungen in der Kirche ver fränkifchen Neiche ꝛc. 867 


daß er Vorſteher der Hofichule war, welche damals in großer Blüthe 
ftand. In einem hohen Grade genoß er die Gunft des Könige. 
Es fehlte daher dem Philofophen nit an *— und geheimen 
Feinden, wie wir ſehen werden. 

Dieſen Vorſteher der Hofſchule riefen —— und ſein Freund 
Pardulus von Laon zu ihrem Beiſtande auf. Wie es ſcheint, gegen 
Ende des Jahrs 851 veröffentlichte Erigena ſein Buch 1) yon der 
Prädefiination wider Gotſchalk. In der Vorrede fpricht er feinen 
feurigen Danf gegen die beiden Biſchöfe darüber aus, daß fie ihm 
die Ehre zugedadht hätten, Theil an dem Kampfe für den ächten 
fatholifchen Glauben wider die Keserei des Mönche nehmen zu 
dürfen. Die Schrift felbft beginnt mit Entwidlung eines Grund- 
fages, welchen Religionsphilofophen, gleich Erigena, aus leicht begreif- 
lihen Triebfedern, nemlih um ihr Gewerbe in den Augen ber 
Menſchen zu erheben und folglih zum Bortheile der eignen fehr 
werthen Perfon, häufig aufzuftellen pflegen, obgleich derfelbe durch 
bie Gefchichte der Philofophie wie der Religion aufs Bündigſte wider: 
legt wird. Er behauptet nemlich: Philofophie und Religion fey Ein 
und Daffelbe. Sodann zeigt er den Weg, wie man die Wahrheit 
finden möge: „jede Frage,“ fagt er, „kann in einer vierfachen philo: 
fopbifchen Weife gelöst werden, nach der trennenden — divisoria 
dıasoeriun — nad) der begränzenden — ögıorixn diffinitiva — nad) 
ber bemweifenden — demonstrativa anodsıyrız)) — und endlich nad) 
ber auflöfenden Methode — avakvrınn resolutiva.“ Gemäß biefen 
Regeln will er Gotſchalk's zweifache Vorherbeftimmung widerlegen. 
„In Gott gibt es nur eine Prädeftination, welche Sein freier Wille 
und ungertrennlih von Seinem Wefen ifl. Zwar unterfcheidet der 
menschliche Verſtand vermöge feiner endlichen Natur in dem Urweſen 
verfchiedene Eigenſchaften: Weisheit, Güte, Vorherwiſſen, aber im 
Grunde ift doch Alles Eins. Es widerfpricht eben fo fehr der Wahr: 
heit, Ihm zwei Prädeſtinationen beilegen zu wollen, ald wenn man 
dem Höchften zwei Weisheiten, zwei Wiffenfchaften zufchriebe. Auch 
durch die Beweisart, welche von der Wirkung auf die Urſache 
ſchließt, läßt fi) dieß darthun. Denn da die beiden Prädeftinatio- 
nen, welde die Gegner behaupten, ein entgegengefestes Ziel ver- 
folgen, indem die eine Gerechtigkeit und Wohlbefinden, die ghdere 





!) De praedestinatione liber, Abgedruckt bei Mauguin I, 109-190, 
55 ® 


368 : I. Buch. Kapitel 11. 


‚Sünde und Untergang bewirfen foll, fo müßte ein Widerfpruch im 
göttlihen Wefen feyn.“ Erigena reiht fofort Gotſchall's Meinung 
in die Mitte zwifchen die Pelagianifche Srrlehre, welche die Gnade 
Gottes ganz verachte, und eine angeblich antipelagianifche Ketzerei, 
welche ben freien Willen nichts gelten laſſe. „Mit Pelagius ſtimme 
Gotſchalk überein, indem er behaupte, daß die Gnade den fünbigen 
Menſchen gar nichts nütze, die entgegengeſetzte Keberei theile er in- 
fofern, als er dem freien Willen alle Kraft fowohl zum Guten als 
zum: Böſen abſpreche. Die wahre Prädeftination ift eine einzige 
mit Gottes Willen zufammenfallende, fie hat das vernünftige Ge- 
ſchöpf mit fo weifer Kunft eingerichtet, daß dem Menfchen weder 
eine unvermeidlihe Nothwendigfeit auferlegt ift, Gott .wider feinen 
Willen zu dienen, noch daß er, wenn er dem Herrn ſich hingeben 
will, gezwungen wird, Anderes zu thun. Gin Vorher, ein Hernad), 
ein Jet kann nicht yon Gott ausgefagt werden, denn ſolche Zeit: 
befehränfungen fennt das vollfommenfte Wefen nicht. Wenn man 
auch menschlicher Weife behaupten mag, daß der Altwiffende Alles 
Wirkliche vorherſieht, jo macht diefes Vorherſehen doch die menfch- 
lihen Handlungen nicht notbwendig. Was aber die Sünden der 
Sterblichen betrifft, fo fieht Gott weder fie felbft, noch ihre 
Strafe vorher, noch viel weniger prädeftinirt Er Beides. Denn 
was ift Die Sünde? ein Mangel, ein Berderben des 
Guten, ein Schatten, ein Nichts. Und was ift die Strafe 
der Sünde? nichts Anderes als eine göttliche Anordnung, vermöge 
welcher das Böſe ſich felbft ftraft, und alle vernünftigen Wefen je 
nach ihrer fittlihen Würdigkeit ihren angemeffenen Platz im Weltall 
erhalten. Jede Miffetpat trägt ihre Strafe in ſich, welche auf ver 
borgene Art in dieſem, auf offenbare dagegen im fünftigen Leben 
die Schuldigen ereilt. Selbft jenes Feuer der Hölle, von welchem 
bie Schrift handelt, ift zum Schmude des Ganzen und als ein 
nothwendiger Theil allgemeiner Harmonie erſchaffen, nicht aber um 
die Gottloſen zu brennen, die hinlänglich durch eigenen Stolz ge— 
foltert werden. Mag biefes Feuer Förperlih feyn, wie Augufin 
lehrt, oder unförperlih, wie Gregor der Große annimmt, jeden: 
falls ift es dem Teufel, laut dem Ausſpruche der Schrift, nur darum 
präßeftinirt, weil er mit den Genoffen feiner Bosheit die ihm und 
ihnen gebührende Stelle darin findet. An fih ift es gut und Feine 
Strafe: die Seligen können ungeftört in ihm wohnen, nur ben 


Innerlihe Bewegungen in der Kirche der fränkifchen Reiche 1. 869 


Böſen thut es wehe, gleichwie daſſelbe Sonnenlicht anders auf ge= 
funde, wieder anders auf franfe Augen einwirft. Wie follte dem . 
Böſen nicht Alles an fih Gute zum Uebel werden, da er vom höch— 
ften Gute ſich entfernt hat. Den ewigen, göttlichen Gefegen müffen 
Alle gehorchen. Darin aber befleht der Unterfchied zwifchen den 
Auserwählten und den Verdammten, daß Lebtere gezwungen, jene 
aus freiem Antriebe dem göttlichen Rathſchluſſe fih unterwerfen. 
Die Weisheit des Schöpfers hat durch ihre ewigen Ordnungen eine 
Schranfe gefest, welche die Schlechtigfeit der Gottlofen nicht über: 
fchreiten darf. Das Dichten und Trachten der Berlornen und ihres 
Hauptes, des Satand, geht darauf aus, von dem höchſten Seyn 
ganz abzufallen, fo daß, wenn das Gejeß des Herrn eg zuließe, ihre 
Natur in das Nichts verfinfen würde, wie denn das Böſe das 
Nichts ift. Aber eben darin, daß die Bosheit durch die ewigen 
Gefege verhindert wird, fo tief zu fallen, findet es feine Strafe, 
Wenn die Schrift Iehrt: Gott habe die Schlechten zu ewiger Strafe 
präbdeftinirt, fo heißt das nichts Anderes, als Er habe ihre regellofen 
Triebe durch unwandelbare Gefege eingefchränft, über welche ihre 
Schlechtigfeit nicht hinausfchweifen darf.“ Erigena gibt zwar mehr: 
fah zu, daß Auguftin und andere Väter dem Wortlaute nad 
eine Prädeftination der Verworfenen Yehren, aber er fucht den be= 
treffenden Stellen durch allerlei Fechterfünfte einen andern Sinn zu 
unterlegen. Zulest fagt er, der Irrthum einer zweifachen Prädeſti— 
nation ſey aus Mangel binreichender Kenntniß ber griechifchen 
Sprade entftanden. ) Bon wow, weldes im Lateinischen ſowohl 
dur) video als durch definio oder destino Überfegt wird, ſtamme 
das zufammengefeite Zeitwort noowow her, das bie Bedeutung 
praevideo, praedefinio, praedestino befite, wie man aus den 
Stellen Nömerbrief J., 4., Epheſer J., 4 5. 11. erfehe. Leberall 
habe der lleberfeger den Ausdruck praedestinare gewählt, da er 
body eben fo gut einen der beiden andern anwenden konnte. Die 
Begriffe praedestinalio, praevisio, praedefinitio find gleih. Noch 
einmal wiederholt num Erigena feine Anficht von der göttlichen Bor: 
berbeftimmung: „Prädeftination ift die ewige Weltorbnung , welcher 

) Kap. XVII, 2. Mauguin a. a. D. ©: 185. Wir brauchen kaum zu 
bemerfen, daß Erigena, der vor den fränfifshen Bifchöfen mit feiner Kenntnig 
des Griechiſchen prangt, wenig davon verſteht. Paulus braucht nicht das —TF 
oͤgcico oder 1000040, fondern 6eIZ@ oder rE0001Lw. 


870 II, Bush. Kapitel 11. 


der Gute mit Freuden ſich fügt, der Böſe wider feinen Willen ſich 
unterwerfen muß. Die Gerechten oder Diejenigen, welche zur Gnade 
vorherbeſtimmt find, erfüllt der Allmächtige alfo mit den Strahlen 
Seiner Liebe, daß diefelben nicht nur freiwillig innerhalb der Schranfen 
bleiben, fondern ihre Seligfeit darin finden, die göttliche Drdnung 
nicht zu überfchreiten. Dagegen bezwingt der Herr den verborbenen 
Willen der Schlechten, oder Derer, welche zur Strafe präbdeftinirt 
find, auf ſolche Weife, dag Alles, was Jenen ein Genuß des ewigen 
Lebens ift, für Diefe in ein Gefühl des Elends fidy verwandelt.“ 
Man fiehbt, es fehlt dem Sfoten nicht an Scharffinn noch 
philoſophiſchem Geifte, wohl aber Teidet er an gänzlichem Mangel 
richtiger Würdigung des Streits, in den er fich eingelaffen, und 
ber Perfonen, die er vor fih hat. Der Naturphilofoph des neunten 
Jahrhunderts fpricht wie ein neuerer Staatsfünfller, der die Ber: 
brechen, die ſich jährlich in einem Lande ereignen, als eine unaug: 
bleibliche Folge der allgemeinen Entwidlung anfteht. Glück und Un: 
glück, Lafter und Tugend, fchlechte und gute Thaten find nach diefer 
Betrachtungsweiſe gleich nothwendige Früchte der Gefellihaft, in der 
wir leben, und die Welt ift ftets fo vollfommen, als fie feyn kann. 
Aber das Chriftenthum weiß nichts von einem folchen Standpunfte, 
es wurzelt in dem Bebürfniffe eines fichern Anfers, das wir alle 
in den Aengften des Lebens empfinden, es wendet fih an das Ge: 
fühl unferer Schwäche, nicht an erträumte Stärfe, es ftüst fih auf 
die Stimme des inneren Nichterg, die ung vorhält, daß wir beffer 
feyn follten, als wir find, und ung mit Unruhe erfüllt, Weil diefe 
Macht mit der innerftien Natur des Menfchen im Bunde fteht, hat 
fie den Sieg errungen, während jene allgemeinen Theorien, welche 
das kalte Gehirn entwarf, durch das warme Herz Lügen geftraft 
werden. Hätte nun Erigena feine Schrift an Menfchen gerichtet, 
welche die Bibel für ein Bud) hielten wie andere mehr, oder an 
Schulknaben, die noch Feine entfchiedene Meinung hegten, fo könnte 
man den Anfichten, die er Außert, ihr Recht gewähren. Aber er fehreibt 
fo in einem kirchlichen Streite zur Bertheidigung von Männern, deren 
Beruf es ift, den Buchftaben der Kirchenlehre zu wahren, er fchreibt 
fo, um einen Mönch zu widerlegen, der im Nothfall jeden Augen: 
blick ſich für Auguftin’s Sätze in Stüde reißen laſſen würde. Es 
war, als ob der Skote zu den galliſchen Biſchöfen ſpräche: der 
bloße Wortſinn der Bibel, die Ihr als Geſetzbuch des göitlichen 


Snnerliche Bewegungen in der Kirche der fränkifchen Reiche ꝛc. 871 


Staates behandelt, die Ausfprüche der Väter, auf die Ihr den öffent 
lichen Glauben gründen wollt, beweiſen gar nichts; nur der geiftige 
Sinn beider Erfenntnißquellen gilt, aber diefen geiftigen Sinn ver: 
mag nur die Achte Philofophie, vermögen nur Männer, wie Ich, zu 
enträthfeln. Wenn es die erfte Regel der Klugheit ift, Alles zur 
rechten Zeit und am rechten Ort zu thun, fo muß man auch ges 
ftehen, daß Erigena wie ein Narr dreinfuhr. ) | 
Beim erften Anblick fcheint es unbegreiflih, wie ber grundges 
fcheidte Hinfmar dazu Fam, ſich der Beihülfe eines Mannes zu be: 
dienen, ber ihm fo läſtig werden fonnte und auch wirklich geworben ift. 
Doch das Räthſel Yöst fi) meines Erachtens durch die Verhältniffe 
des franzöfifchen Hofe. Natramnus und Servatus Lupus hatten, 
wie früher gezeigt worden, von Karl dem Kahlen mit Ab: 
faffung eines Gutachtens beauftragt, für Gotfehalf und 
gegen Hinfmar geflimmt. Dadurch war die Stellung des Rheimſer 
Erzbifchofs am Hofe bedroht, und er mußte fich zu verftärfen fuchen. 
Nun genoß Erigena die volle Gunft des Könige. Wenn der Skote 
daher Parthei für Hinfmar nahm, gewann Diefer jedenfalls einen 
Berbündeten in Karl’s Umgebung, mochte fonft die Schrift des 
PHilofophen ausfallen, wie fie wollte. Allein der Vortheil, den 
Hinkmar auf folhe Weife errang, war um theure Opfer erfauft. 
Das franzöſiſche Prieſterthum gerieth in Aufruhr über die Feßerifchen 
Behauptungen des Hofgelehrten, und alte Freunde fielen, wie es 
fcheint aus Aerger darüber, daß Hinfmar fih mit dem Menfchen 
eingelaffen, von ihm ab. Wir haben früher erzählt, daß der Metro: 
polit Wenilo von Sens an der VBerdammung Gotfhalf’s auf der 
Synode zu Chierfey (849) thätigen Antheil nahm. Eben diefer Wenilo 
trat jegt zur Gegenparthei Über, indem er neunzehn Sätze aus Eri— 
gena’s Schrift herauszog und feinem Suffragan, dem Biſchof Prus 
dentius yon Troyes, überfchiekte, ) mit dem Auftrage, diefelben zu 
prüfen, und wenn es nöthig feyn follte, zu widerlegen. Sofort 
ſchrieb Prudentius wider Erigena ein dies Buch, *) in welchem 
der Philofoph mit zweifchneidigem Berftande und Handfefter Necht: 
glaubigfeit alfo zugerichtet wird, daß Fein guter Segen an ihm bleibt. 





N) Prudentius fagt dich felbft in der Vorrede feiner Schrift gegen Erigena, | 


bei Mauguin I., 494.2) De praedestinatione contra Johannem Scotum, 
bei Mauguin I., 194—574. * 


872 | IT. Buch. Kapitel 11. 


Der Umfang des Werfs geftattet ung nicht, einen Auszug zu geben, 
wir müffen ung auf einige Bemerkungen befchränfen. Prudentius 
beginnt mit den Worten: „Die Unverfhämtheit und die gottesläfter: 
lihen Behauptungen, mit welchen Du wider die freie Gnade bes 
Höchften und Seine unerbittliche Gerechtigfeit Yeichtfertig losbrichſt, hat 
mich, nachdem ich Dein Buch gelefen, um fo mehr gefchmerzt, weil 
ich Dich vorher achtete und liebte.“ Sofort wird ein ärgerlicher Sag 
des Skoten um den andern wörtlich angeführt und dann mit der 
Tadel der Logik, der Bibel, der Kirchenlehre oder der Leberlieferung 
beleuchtet. Sein erfter Streich trifft den Grundfag des Skoten, daß 
ächte Philofophie und Religion Eins fey, fowie feine vierfache Weife 
der Unterſuchung; er beruft fih darauf, daß alle Kirchenverfamm: 
Yungen, welche feit Jahrhunderten die Kegereien niederfchlugen, nicht 
mit fophiftiichen Künften, fondern mit deutlichen Stellen der Schrift 
gefochten hätten, er zeigt aus einem Schreiben Leo's des Großen, 
daß wenn man eitler Schwaßhaftigfeit das Necht einräume, über 
Slaubenslehren zu richten, die Wahrheit ſtets freche Gegner finden 
werde. Die Wirklichkeit einer doppelten Prädeftination erweist er 
mit den Worten der Bibel wie der Väter. In ihrer ganzen Blöße 
ftellt er die Behauptung Erigena’s hin, daß dem SPelagianifchen 
Irrthum eine zweite Kegerei, welche den freien Willen des Men: 
fchen gänzlich läugne und nur die Gnade wirfen laſſe, ſchnurſtracks 
entgegen ftehe; er fieht darin einen Verſuch, das allgemeine Glau— 
bensbefenntniß der Kirche unter dem Namen einer Keterei zu brand» 
marfen. Mit großem Nachdrude hebt er hervor, daß es andere 
Strafen der Sünde gebe, als die Sünde ſelbſt, und er findet es 
lächerlich, daß Sünden, welche doch nad) Erigena’s Behauptung ein 
Nichts feyen, Strafen nad fid) ziehen follen, die der Sfote gleich: 
falls für Nichts halte. Auch in einer Fritifchen Frage fchlägt er den 
Gegner. Gleich Rabanus und Gotfhalf I hatte Erigena aus dem 
Hypomneftifon, als einer Achten Schrift Auguftin’s, Stellen ent: 
Yehnt. 9 Prudentius beweist nun ?) mit fehr guten hiſtoriſchen 
Gründen, daß diefes Buch dem verehrten Heiligen unterfchoben fey. 

Der Bifchof von Troyes war, wie wir oben zeigten, ſchon 
früher als Bertheidiger Gotſchalk's gegen Hinkmar aufgetreten. 





ı) Siehe oben ©. 832. 854. — 2) De praedestinatione XIV., 4, bei 
Mauguin I., 165. — 3) Mauguin I., 398. 


Innerliche Bewegungen in ber Kirche der fränkifchen Reiche ꝛꝛ. 873 


Zugleich mit ihm erhob fih aber nun ein Mann, der bisher Hinfmar’s 
Sache verfochten hatte, wider Johann den Sfoten und folglich mittel⸗ 
bar gegen ben Metropoliten von Rheims. Der Lyoner Diakon 
Florus veröffentlichte nemlich gleichfalls eine Widerlegung ') der 
unbefonnenen Schrift Erigena’s. Florus greift meift diefelben Sätze 
an, wie Prudentiug, ficht mit denfelben Waffen und zeigt nicht gez 
ringere Gewandtheit. Er rügt, 2) wie ber Bifchof von Troyes, den 
Berftoß Erigena’s, das Hypomneftifon für ein ächtes Werk Auguftin’s 
gehalten zu haben; außerdem entwidelt der Diafon Kenntniß der 
griechifchen Sprache, indem er nachweist, ?) daß die Ableitung des 
Worts nooweo@, weldhe der Sfote mit fo viel Selbftgefälligfeit ge: 
geben, falſch ſey. Das Schlimmfte für Hinfmar war, daß Florus 
feine Schrift nicht im eigenen Namen, fondern im Auftrage der 
Kirhe von Lyon veröffentlichte. Der Diakon fagt Dieß felbft im 
Eingange: „Zu ung, d. h. an die Kirche von Lyon, ift die Abhand- 
lung eines gewiffen eitlen Schwäßers gelangt, der über die Vorſehung 
Gottes und die Prädeftination, angeblich mit philofophifchen Grün: 
den, ohne alle Rüdficht auf die Lehre der Schrift und der Väter 
abzufprechen wagt und feine Einfälle der Welt aufbringen will. 
Lefer, die in der Bibel bewandert und im Glauben feft begründet 
find, vermögen leicht die GSeichtigfeit feines Geſchwätzes einzufehen. 
Aber da viele Ungelehrte, wie wir bören, den Menfchen als ein 
großes Licht anftaunen, und da er durch feine kecken Behauptungen 
Einige zu Zweifeln verleitet, Andere ganz mit fich fortreißt, da 
endlich feine Zuhörer und Bewunderer aljo von ihm eingenommen 
find, daß fie, die heil. Schrift und die Väter für Nichts achtend, 
einzig auf die Fafeleien ihres Lehrers ſchwören, fo haben wir es 
für unfere priefterliche Pflicht gehalten, den Jrriehren diefes Mannes 
im Namen des Herrn entgegen zu treten.“ Glaubt man nicht in 
diefen Worten die Schilderung eines neuern Neligionsphilofophen vor 
fih zu ſehen! Die Kirche von Lyon hatte alfo jest wider den Bor- 
kämpfer Hinfmar’s Parthei genommen. Da der dortige Erzbifchof 
früher für Hinfmar fih ausgefprocdhen, fo erhellt hieraus, daß in 
Lyon eine für die Gegner Gotſchalk's nachtheilige Aenderung vor 
fich gegangen feyn muß. Wir werden gleich fehen, wie die Sade 
ſich verhielt. | 

!) Liber adversus Johannis Scoti erroneas definitiones bei Mauguin I., 
585 flg. — ?) Mauguin I, 726 oben. — ?) Ibid. 720 fig. 





874 II. Bud. Kapitel 14. 


In die Enge getrieben durch die Gegner, bie fih auf allen 
Seiten wider ihn oder feine Freunde erhoben, hatte Hinfmar, allem 
Anschein nach ehe die Yeßt genannte Schrift des Florus erfchien, ) 
einen Verſuch gemacht, den Erzbifchof Amolo von Lyon zu vermö— 
gen, daß er fih noch Fräftiger als bisher gegen Gotfchalf erkläre. 
Er felbft und fein treuer Berbindeter, Pardulus von Laon, erliegen 
jeder ein Schreiben an Amolo, in welchem fie ihre Sache rechtfer: 
tigten. Diefen beiden Briefen fügte Hinfmar noch die Abhandlung 
bei, welche Rabanus zu Anfang des Streits an den italiänifchen 
Biſchof Noting gerichtet hatte. Die Zufendung traf jedoch Amolo 
nicht mehr am Leben, derfelbe war Mitte des Jahrs 852 geftorben. 
Nemigius, bisher Beamter des Kaiſers Lothar, ?) wurde 
fofort an Amolo's Stelle auf den Erzftuhl von Lyon erhoben. 
Längft ftand Lothar mit feinem Halbbruder Karl dem Kahlen, dem 
Gebieter Hinkmar's, auf gefpanntem Fuße, und es ift nicht unmwahrs 
jheinlih, dag er, um dem franzöfifhen Könige Verlegenheiten zu 
bereiten, mit Freuden die in Karl’s Gebiet ausgebrochenen Firchlichen 
Zwiftigfeiten anfchüren half. Mag nun der neuernannte Erz 
bifchof folhen Eingebungen des Yotharingifchen Hofes gefolgt fein, 
oder aus eigenem Antriebe es für feine Pflicht erachtet haben, den 
Gefangenen von Hautviliiers zu vertheidigen: gewiß ift, daß Nemi: 
gius auf Hinkmar's Anträge nicht eingieng, fondern feindlich gegen 
ihn auftrat. Unter dem Titel: „Antwort auf die drei Briefe,“ fchrieb 
er in feinem und der Kirche von Lyon Namen ein Bud, ?) in 
welches er die wichtigften Stellen aus den beiden Schreiben bes 
Hinfmar und Pardulus, fo wie der ihm zugefandten Abhandlung 

) Florus Außert in feinem Buche gegen Johannes Skotus (Cap. IV., 
Mauguin I., 609, Mitte): Gottfchalf fey Tängft verdammt (jam dudum dam- 
natum) und feit vielen Jahren eingefperrt (annis jam plurimis 
carcerali ergastulo retrusum). Demnach foheint es, als habe der Diakon ge= 
raume Zeit, d. h. wohl zehn Jahre nach der Verhaftung Gotſchalk's (848 oder 
849), gefrhrieben. Aber man wird in diefer Vorausſetzung wieder irre, wenn 
man die Borrede des Buchs liest, wo der Diakon fagt: nachdem der Kirche 
von Lyon die Abhandlung Erigena’s zugefommen fey, habe er es für feine 
priefterliche Pflicht erachtet, die Irrthümer des Sfoten zu widerlegen. Unmög— 
Yich konnte die Verbreitung der Schrift des Skoten Jahre lang anftehen. Da 
‚nun Erigena um 852 fohrieb, fo muß man die Gegenfchrift des Diakons fpä= 
teftens ins Jahr 855—854 verlegen. — ?) Dan fehe histoire litteraire de la 
France V., 449, unten, wo die Beweisftelle angeführt if. — °) De tribus 
epistolis liber bei Mauguin IL, b. ©. 67 fle | 





Innerliche Bewegungen in der Kirche der fränfifchen Reiche x. 875 


des Rabanus einrüdte. Hinfmar hatte in feinem Briefe folgende 
fünf Punkte 1) als Kesereien Gotihalfs aufgeführt: 1) „Gott hat 
von Ewigfeit her, wen Er wollte, zum Himmelreiche, und wen Er 
wollte, zum Verderben präbeftinirt. 2) Die zum Verderben Geord- 
neten können nicht feelig, die Ausgemwählten nicht unfeelig werden. 
3) Gott will nicht, daß alle Menfchen die Seeligfeit erlangen, fon= 
dern nur Die, welche wirklich feelig werden. 4) Chriftus ift nicht 
gefommen, Alle zu erlöfen, auch nicht für Alle geftorben, fondern 
nur für Die, welde dur das Geheimniß feines Leidens das Heil 
erlangen. 5) Nachdem der erfte Menfch aus freiem Willen gefallen, 
fann Niemand yon ung feinen freien Willen zum Guten, fondern 
nur zum Böfen anwenden.“ Man muß zugeben, daß biefe fünf 
Sätze in den Schriften Auguftin’s, fo wie in den verfchiedenen Urkun— 
den Gotfchalf’s entweder wörtlich enthalten find, oder doch aus den⸗ 
felben folgen. Der fünfte hat zwar eine fonderbare Faffung, welche 
die Abficht verräth, Gotfchalt’S Lehre verhaßt zu machen, aber er 
ift nichtsdeftoweniger ächt Auguſtiniſch. Nemigius erklärt nun die 
vier erften Punkte geradezu für rechtgläubig und vertheidigt fie, in 
Bezug auf den fünften dagegen braucht er einen unwürdigen Kunft: 
griff, ohne Zweifel weil er fühlte, daß es um das Amt der Predigt 
gefhehen fey, wenn man fo unummwunden bie völlige Verderbniß 
menſchlicher Natur zugebe. Er ftellt fih nemlih, als ob er bie 
Richtigfeit der Angabe Hinkmar's in Zweifel ziehen müſſe. „Un: 
glaublich fheint es mir,“ ruft er 2) aus, „daß ein unter Chriften- 
menfchen Geborner und Erzogener, vollends dag ein Mann wie 
Gotſchalk, welcher fo viel Belefenheit in der Bibel und den Schriften 
ber Väter verräth, eine Lehre der Art vorgetragen haben Fünne.“ 
Weiter unten meint er: ?) „wenn Gotfchalf auch wirklich jenen Sat 
aufftelle, fo wäre es die Pflicht der Biſchöfe gewefen, ihn nad 
der VBorfchrift des Apoſtels (Galat. VI, 1.) mit milden Worten 
zuvechtzumeifen.“ Remigius wußte jedoch recht gut, daß Gotſchalk 
eine völlige Unfähigkeit der menfchlichen Natur zum Guten behauptet 
hatte. Geſteht er doch feldft, durch die Bündigkeit auguftinifcher 
Glaubenslehre gezwungen, unmittelbar nach dem oben angeführten 
Satze *) ein: der menfchliche Wille fey feit dem Falle Adam's vollig 


1) Ibid. 68 fig. — 2) Ibid. ©. 102, Mitte. — 3) Ibid, 108 unten flg. — 
*) Ibid, 403. 


876 III. Buch. Kapitel 14. 


ſchwach, verborben, tobt. Der Fuge Mann wollte, wie man fieht, 
ben Ruhm eines treuen Anhängers Auguftinifcher Grundfäge wahren, 
aber doch zugleich den ſchlimmen Folgen entrinnen, welche diefelben 
für das Predigtamt haben; darum fucht er fih durch ſolche Zwei: 
deutigfeiten aus der Schlinge zu ziehen. Der Geift, in welchem 
er den Streit gegen Hinfmar führte, erhellt am beutlichften aus 
einer Stelle im 24ften Kapitel: ) Hier befchuldigt er den Erz: 
bifhof von Rheims, nicht den Mönch Gotſchalk, fondern Auguftin 
ſelbſt und die Firchlihe Wahrheit in der Perfon des Gefangenen 
von Hautvillierg verdammt zu haben. Ebenfo bitter greift er bie 
beiden Schreiben Raban's und des Bifhofs Pardulus an. Lebterer 
hatte geltend gemacht, daß ſechs namhafte Schriftfteller, worunter 
Amalarius und Johann der Sfote, wider Gotfchalf aufgetreten 
feyen. Remigius entgegnet: *) Parbulus würde beffer gethan haben, 
von diefen beiden Menfchen zu fchweigen, denn Amalarius fey ein 
verrufener Ketzer, deſſen Schriften den Holzftoß verdienen, Skotus 
aber verftehe nicht einmal die Worte der Schrift und habe fich durch 
fein unberufenes Geſchwätz vor aller Welt lächerlich gemacht. Den 
Drief des Mainzer Metropoliten fertigt Nemigius mit der furzen 
Bemerfung ?) ab: Raban beftreite eine Lehre, die Niemand aufzu: 
ftellen fich erfühnt habe, nemlich daß Gott die VBerlornen zur Schlech: 
tigfeit vorausbeftimmt habe, die Abhandlung deffelben verfehle daher 
ihres Ziele. Gleich feinen Borgängern brauchte Remigius auch 
noch eine Fritifche Waffe gegen die Aheimfer Parthei. Hinfmar und 
Pardulus Hatten fih in den an die Lyoner Kirche überſchickten 
Schreiben yon Neuem auf das Hypomneftifon, als eine Achte Augu— 
ſtiniſche Schrift, berufen. %) Dagegen zeigt ?) nun Remigius weit 
Yäuftig, daß fie unterfchoben fey. Sp unbedeutend die Frage an 
fi) ift, 0b das Buch den Biſchof von Hippo zum Berfaffer hat 
oder nicht, Tegten die Gegner Hinkmar's das größte Gewicht darauf, 
ihn und feine Freunde in biefem Punkte des Irrthums zu über: 
führen. Letztere follen nemlich als Menfchen hingeftellt werden, bie 
fih nie mit gründlicher Erforfhung der Schriften Auguftin’s bes 
fchäftigt haben. Daher die hämifche Schadenfreude, mit welcher bie 
Bertheidiger Gotſchall's immer wieder auf das Hypomneftifon zu— 
rückkommen. 


i) Ibid. 408 oben. — 2) Ihid. 155. — 3) Ibid. Cap. 44. ©. 135 unten flg. 
— *) Ibid. Cap. 34. ©, 125 und Cap. 39, ©. 155. — °) Ibid. 124 fig. 





Innerliche Bewegungen in der Kirche der fränkiſchen Reiche ıc. 877 


Hinfmar’s Sache fand jest fchlechter, als je zuvor. Während 
früher die Metropoliten ihn unterftügt und nur Bifchöfe wider ihn 
Parthei ergriffen hatten, waren nun zwei angefehene Erzbiſchöfe, 
Wenilo von Sens und Remigius yon Lyon, zu’ ben Gegnern über: 
gegangen. Federkämpfe fonnten nicht mehr helfen. Wollte er fein 
jehr bedrohtes Anfehen retten, fo mußte er die Föniglihe Gewalt 
zu Hülfe rufen. Wirklich beurtheilte Hinfmar aus diefem Geſichts⸗ 
punkte den Stand der Dinge. Im Laufe des Jahrs 853 hielten 
mehrere Aebte und Bifchöfe unter Karls des Kahlen Vorſitz im 
Schloſſe Chierfey eine Synode, H auf welcher folgende vier mit den 
Beichlüffen des erften Concils zu Chierfey (849) fat gleichlautende 
Artifel, als Summe rechtglaubiger Lehre, feftgefegt wurden: 1) „Gott 
hat Niemand zur Berdammniß vorherbeſtimmt, und es giebt nur 
eine Prädeftination zur Gnade oder zur gerechten Vergeltung; 
2) der freie Wille, den wir in Adam verloren hatten, ift ung durch 
bie zuvorfommende und helfende Gnade Chriſti wiedergegeben; 
3) Gott wi, dag alle Menfchen feelig werben, obgleich nicht Alle 
das Heil erlangen; 4) Chriftus hat fein Blut für Alle vergofien, 
wenn gleich nicht Alle dur) das Geheimnig feines Todes erlöst 
werden.“ Die anmwefenden Bifchöfe und auch der König felbft unter: 
jhrieben diefe Schlüffe. Der fränkische Chronifenfchreiber, dem wir 
biefe Nachricht verdanken, fpricht fo, als ob Karl der Kahle bie 
Artifel eigenhändig entworfen hätte. Allein nicht Karl, fondern 
Hinfmar war es, der die Feder führte. Indeß Hat der Annalıft 
wenigftens in fo fern Recht, als der König dem Erzbifchof aufs 
Kräftigfte beiftand; er behandelte Die Sache deffelben als feine eigene. 
Selbft Gewaltmittel fcheint Karl angewendet zu haben, um die Zus 
fiimmung einiger oder beffer eines der nad Chierfey berufenen 
Slerifer zu erzwingen. Hinkmar berichtet, ?) mit den Andern habe 
auch Prudentius von Troyes jene Sätze aufgeſetzt, gebilligt und 
unterſchrieben. Kaum nah Haufe zurücdgefommen, ftellte derfelbe 
Biſchof von Troyes eine entgegengefegte amtliche Erklärung aus, 
woraus man fchliegen muß, daß Prudentiug wider feinen Willen, aug 
Furcht vor dem Zorne des Königs, die Beſchlüſſe unterzeichnet hatte. 
Im nemlihen Jahre verfammelten fi) nemlich mehrere Bifchöfe zu 





1) Prudentii — annales ad annum 853, Perz IL. 447 unten ng. 
— *) Opp. L., 118 unten und 204 Mitte. 


878 IM. Buch. Kapitel 11. 


Sens unter dem Vorſitze des Metropoliten diefer Stadt, Wenilo, 
um dem neugemwählten Bifchofe Aeneas von Paris die Weihe zu 
ertheilen. Auch Prudentius hätte erfcheinen follen, er blieb jedoch, 
angeblih wegen Krankheit, weg, richtete aber dagegen an die Ber: 
fammelten ein noch vorhandenes ) Schreiben, in welchem er aug- 
einanderfetste, daß er nur dann die Weihe des neuen Bifchofs an- 
zuerfennen vermöge, wenn berfelbe die Vorfhriften des ayoftolifchen 
Stuhls und der rechtglaubigen Väter, namentlich aber folgende vier 
im Streite gegen Pelagius von der Kirche geheiligten Lehrfäge billigen 
werde: 1) „Der in Adam verlorne freie Wille ift ung durch Chriftum 
in der Art wiedergegeben, daß wir zum Denfen, Wollen, Beginnen, 
Bollftredlen des Guten ftets der Gnade bedürfen; 2) Manche find durch) 
Gottes Barmherzigfeit yon Ewigfeit zum Leben vorausbeftimmt, Andere 
aber durch Seine unerforfchliche Gerechtigkeit zur Strafe; 3) Chrifti 
Blut ift für Alle, die an Ihn glauben, vergoffen, jedoch nicht für 
Die, welche nicht an Ihn geglaubt haben, noch jest glauben, nod) 
glauben werden; 4) Gott macht Alle, welche Er retten wilt, felig; 
biefer Sein Wille erſtreckt fich jedoch nicht auf Diejenigen, welche 
nicht feelig werden.“ Ohne Zweifel erwartete Prudentius, daß Wenilo, 
ber, wie oben gezeigt worden, fchon zuvor mit Hinfmar ſich entzweit 
hatte, dieſe Säge von der Synode werde befräftigen laſſen. Wir 
erfahren jedoch nicht, ob Dieß wirklich gefchehen if. Das Still- 
fchweigen der alten Quellen fcheint eher zu beweifen, daß der Me: 
tropolit aus Furcht vor dem Unwillen Karls des Kahlen, deſſen 
Unterthan er war, es nicht gewagt hat, den Wunfch des Prudentius 
zu erfüllen. Nur fo viel ift gewiß, ?) daß Wenilo jenes Schreiben 
dem neugeweihten Bifchofe Aeneas mittheilte, der es dann dem 
Könige überreichte. | 

Wenn aber auch der Metropolit von Sens und feine Suffra: 
gane nicht den Muth Hatten, die Befchlüffe der zweiten Synode von 
Chierfey anzugreifen, fo erhob ſich fofort die Kirche von Lyon gegen 
diefelben. Abermal trat Nemigius als Vertheidiger auguftinifcher 
Rechtgläubigfeit wider Hinfmar auf, indem er eine Streitſchriſt °) 
gegen dieſen fehleuderte, in welcher er die Satzungen von Chierfey 





i) Tractoria S. Prudentii abgedrudt bei Mauguin IL, b. ©. 176 flg. — 
2) Dieß berichtet Hinkmar felbft Opp. I., 26 Mitte. — °?) Libellus de tenenda 
scripturae sacrae veritate abgedrudt bei Mauguin H., b. 478 flg. 


Innerliche Bewegungen in ber Kirche der fräntifchen Reiche ıc. 879 


zu widerlegen fuchte. Das Buch beginnt mit Klagen darüber, daß 
der Mißbrauch einreiffe, die Wahrheit der heil. Schrift und das 
Anfehen der Väter zu verachten, an deren Stelle man eigene irrige 
Gedanken unterfchiebe, wodurch der anvertraute Schatz des Glaus- 
bens den böfen Geiftern zum Raube überlaffen werde. Erft neulich, 
heißt es weiter, habe ſich eine Synode zu Chierfey einer folchen 
Verwegenheit fihuldig gemacht. Der Berfaffer rückt fofort die vier 
Artifel wörtlich ein, indem er einem jeden berfelben eine ausführliche 
Widerlegung beifügt. Da die Gründe, welche Remigius vorbringt, 
im Wefentlichen nicht verfchieden find von den in dem langen Streite 
gewöhnlich gebrauchten, fo enthalten wir ung, einen Auszug mitzu- 
theilen. 

Die Lyoner begnügten ſich dießmal nicht mit Federkämpfen, fie 
fegten vielmehr der Testen Synode Hinkmar's eine eigene entgegen. 
Im Januar 855 verfammelten fih die Biſchöfe der drei zu Lothar’g 
Reiche gehörigen Kirchenprovinzen, Lyon, Bienne und Arles, unter 
dem Borfise des Metropoliten Nemigiug, zu Balence. Hauptzwed 
ber Zufammenfunft war, über den Bifchof der Yeßtgenannten Stadt, 
ber ich durch Ausfchweifungen verhaßt gemacht hatte, Gericht zu 
halten. Allein Remigius benüste die Gelegenheit, um zugleich feinem 
Gegner von Rheims einen Schlag beizubringen. „Damit die Ber: 
fammlung,“ heißt es!) in den Akten, „nicht auseinander gehe, ohne 
etwas zu Erbauung der Gläubigen zu thun, habe man für gut 
gefunden, einige zweckdienliche Beichlüffe zu faffen.“ Nun folgt 
eine Reihe Artifel, von denen die ſechs erften gegen Hinfmar ge- 
richtet find. Der erfte beftimmt, daß man ſich vor allen Neuerungen in 
Glaubenssachen hüten und in der Lehre von der göttlichen Vorher: 
beftimmung einzig an Das halten folle, was nächſt der heil. Schrift 
bie Bäter Cyprianus, Hilarius, Ambrofius, Hieronymus, Auguftinug 
und Andere vorgebracht hätten. Der zweite und dritte Canon fchärft 
bie zweifache Prädeftination jedoch mit dem Vorbehalte ein, daß bie 
Gottlofen nicht zum Böſen oder zur Nothwendigfeit des Sündigens 
vorherbeftimmt feyen. Der vierte beffagt die Verbreitung eines 
groben Irrthums in Bezug auf die Erlöfung der Menfchen durch) 
Chriſti Blut, infofern gewiffe Leute zu behaupten wagen, baß ber 
Heiland fein Blut auch für jene Gottloſe vergoffen habe, welche 


— — — — — 


y Manſi XV., ©. 2 unten flg. X 


gs ——— IM. Buch. Kapitel 11. 


vom Anfang der Welt bis zum Leiden des Herrn in ihrer Verderb⸗ 
niß geftorben und. daher ewig verloren wären, welche Feerifche Mei: 
nung doch durch die Stellen Hoſeas XII. 14., Johannis IIL 14. 15. 
und Hebr. IX, 28. widerlegt werde. „Darum verwerfen wir bie 
vier Artifel (von Chierfey), welche neulich unfere Brüder unvorfichtig 
angenommen, ald unnüß, verberblid) und unwahr, fo wie wir auch 
die neunzehn Schlußfäge verdammen, welde ein gewiſſer Sfote 
(Johannes Erigena) nicht der Wahrheit gemäß, fondern aus Ein: 
gebung des Teufels aufgeftellt hat.“ Der fünfte Artifel befagt: 
„wir glauben feft, daß alle getaufte Gläubige durch Ehrifti Blut 
von Sünden reingewafchen werden. Gleichwohl halten wir für 
gewiß, daß nur Einige, weil fie durch Gottes Gnade in der Erlö— 
fung verharren, die ewige Seeligfeit erlangen, während Andere 
durch verruchtes Leben und irrige Lehre die Gnade verfcherzen und 
darum des Heiles nicht theilhaftig werden.“ Der fechste Canon 
endlih handelt vom freien Willen. Die Väter von Valenee erklären, 
daß fie über die Verderbniß deſſelben durch Adam's Sünde und 
feine Wiederherftellung durch Ehriftus nichts Anderes glauben, als 
was die heil. Väter gemäß der Bibel, was insbefondere die afrifa= 
nifche Synode und die zu Drange befannt, und die feeligften Bifchöfe 
bes apoftolifchen Stuhls der Wahrheit gemäß gelehrt haben. „Bor 
den abgefhmadten Fragen dagegen, den kindiſchen 
Fabeln und dem fhottifhen Brei, welder den ädten 
Glauben anefelt, müfjen wir in der Liebe des Herrn alle frommen 
Chriſten ernftlid, verwarnen.“ | 

Beſondere Thätigfeit bei Abfaffung der Beichlüffe von Balence 
entwidelte der Bischof Ebo von Grenoble, ein Neffe ') des ehemaligen 
Metropoliten von Rheims, deffen Stuhl Hinfmar feit 845 befaß. 
Wegen Berbrängung feines Oheims hatte der Bifhof von Grenoble 
eine alte Rechnung der Rache mit Hinfmar abzumachen. Diefer 
Ebo war es auch, der die Befchlüffe von Balence dem Könige von 
Neuftrien, Karl dem Kahlen, überbrachte, welcher fie fofort dem Rheimſer 
Metropoliten zuftellte. Zu Widerlegung derſelben fehrieb Hinfmar 
ein Werk in drei Büchern, von welchem jedoch nur die Vorrede 9 
auf ung gefommen ift. 

1) Ebo (Gratianopolitanus) a Domino avunculo suo Ebone, tum Remo - 
rum archiepiscopo, consecratus fagt Hinfmar im Vorftüde zum erften Bande 
feiner Werke. S. 3 unten, — 2) Abgevrudt ibid. 





SInnerliche Bewegungen- in der Kirche der fränfifchen Reiche ıc. 881 


Eine förmlihe Spaltung über die Lehre von der göttlichen 
Borherbeftimmung beftand nunmehr in den beiden jenfeitd des Rheins 
gelegenen fränfifhen Neichen. So weit das Machtgebot Karls des 
Kahlen reichte, galt Gotſchalk für einen Keger und Hinfmar’s Grund: 
ſätze triumphirten; in Lothar’s Gebiet dagegen wurde der Mönd 
von Hautvilliers als ein Märtyrer geachtet und das auguftinifche 
Dogma behauptete, jedoch mit Abfchleifung feiner härteften Spiten, 
den Sieg. Der Haß der Brüder Lothar und Karl hatte diefen 
dogmatifchen Krieg herbeigeführt, die Verlegenheit der Herrfcher 
fiellte den Frieden wieder her. Im September 855 ſtarb Kaifer 
Lothar, nachdem er das ihm gehörige Neich unter feine drei Söhne 
getheilt. Der Erfigeborne, Ludwig I., erhielt Italien fammt dem 
Kaifertitel; der andere, Lothar II, das Reich Aufirien, das von 
nun an Lothringen genannt wird; der dritte, Karl der Jüngere, 
die Provence als eigenes Königthum. Durch diefe neue Theilung 
flieg die Verwirrung dieſſeits der Alpen, die feitber arg genug 
gewefen, noch auf einen höhern Grad. Während die Normannen 
und Dänen von verfhiedenen Punkten der Küfte aus Gallien ans 
fielen und greulich verheerten, herrfchte bittere Zwietracht unter den 
Erben Karl’s des Großen. Ludwig der Teutfche ſtreckte die Hände 
nad dem Reiche feines Bruders Karl's des Kahlen aus, die Söhne 
Lothar’s ihrer Seits fpannen Einer gegen den Andern und wider 
ihren neuftriihen Oheim verderblihe Nänfe, bis endlih die Noth 
der Zeiten fie zwang, an Ausfohnung zu denfen. Im Jahre 859 
ward die Abhaltung einer gemeinfchaftlihen Synode befchloffen, auf 
welcher Abgeordnete der drei Reiche Neufirien, Lotharingien und 
Provence, mit den Königen an der Spike, erfcheinen, ein bauerndes 
Berhältniß begründen und auch die obfchwebenden kirchlichen Zwiftig- 
feiten beilegen follten. Als Vorbereitung hiezu veranftaltete Karl 
der Jüngere, König der Provence, Ende Mai 859 in der Abtei des 
trois jumeaux unweit Langres eine Zufammenfunft der Kirchen: 
häupter feines Landes. Die Metropoliten Remigius von Lyon, 
Agilmar von Bienne, der Biſchof Ebo von Grenoble und mehrere 
andere Mitglieder der hoben Geiftlichfeit fanden fih in der Abtei 
ein. Ohne Zweifel war ed der Wunſch des Königs, daß dieſe 
Prälaten, um den Frieden mit Neufter vorzubereiten, die Beſchlüſſe 
von Valence zurücdnehmen follten. Aber er fonnte feine Abfichten 


nicht durchfegen; vielmehr wurben die ſechs Canones von Balence 
Gfrörer, Kircheng. III. 56 


882 II. Buch. Kapitel 11, 


wiederholt, und nur in fo fern gaben bie provencalifchen Bifchöfe 
nad), als fie fi dazu verftanden, !) die harten, wider Die zweite 
Synode von Chierfey gerichteten Bemerkungen aus dem vierten 
Paragraphen wegzulaffen. | 

Bierzehn Tage nah der Zufammenfunft bei Langres fand in 
Savonniereg, einer Borftadt von Toul, die beabfichtigte allgemeine 
Reichsverſammlung ftatt. Außer den drei Königen erfchienen bie 
Bischöfe von zwölf Kirchenprovingen. Auch hier drohte Anfangs die 
Hartnädigfeit des Clerus einer gütlihen Berftändigung unüberfteig- 
liche Hinderniffe in den Weg zu legen. Die Provencalen beftanden 
darauf, daß die Artifel von Langres vorgelefen werben mußten, 
dagegen vertheibigte Hinkmar's Anhang die Beichlüffe von Chierfey 
und nahm für fih den Ruhm ausſchließlicher Nechtgläubigfeit in 
Anfprud. Die Gemüther erhigten ſich, lautes Gefchrei ertönte und 
man war auf dem Punkte, mit gefteigertem Haß auseinander zu 
gehen, als der Metropolit Remigius von Lyon den Vorſchlag machte, 
die Entfcheidung der ftrittigen theologifchen Fragen einer fpäteren 
Synode vorzubehalten und fi indeg die Hand zum Frieden zu 
reichen. 2) Wirklich wurde folgender ?) Beſchluß gefaßt: „Nachdem 
einige Artifel verlefen worden, über die man fich nicht hätte vereint 
gen Fönnen, feien die verfammelten Bifchöfe übereingefommen, nad 
bergeftelltem Frieden eine neue Zuſammenkunft zu halten und gemäß 
der heiligen Schrift und den Ausfprüchen der Väter ein gemein: 
Tchaftliches Glaubensbefenntniß zu entwerfen.“ Auf diefe Grundlage 
hin fam ein Freundfchaftsbindnig zwifchen den drei Reihen zu 
Stande, man trennte fih im Frieden. 

Auf dem Tage zu Savonnieres wurde noch eine andere Ans 
gelegenheit verhandelt, die über frühere Vorgänge im Gotfhalf: 
ſchen Streite Licht verbreitet. Wir erzählten oben, daß der Metro: 
polit Wenilo von Sens, nachdem er Anfangs die Verurtheilung 
des Mönchs gebilligt hatte, fpäter gegen Hinfmar, und folglich auch 
gegen deſſen Befhüser, König Karl den Kahlen, Parthei nahm. 
Ereigniffe, die während des Jahres 858 eintraten, lieferten den 
Beweis, dag Wenilo nicht aus theologifchen Gründen feine Anficht 
geändert haben muß. Die neuftrifhen und aquitanifhen Großen, 





1) Manft XV., 537 Mitte und Randbemerkung 538 gegen oben. — 
2) Hinemari Opp. T., 2, — ®) Harduin Concil. V., ©. 486 unten flg. 


Snnerlihe Bewegungen in der Kirche der fränkiſchen Reiche ıc. 883 


feit längerer Zeit mit Karl dem Kahlen unzufrieden, zettelten 858 
eine Verſchwörung an, in Folge deren fie den Bruder ihres Ge: 
bieters, Ludwig den Teutfchen, einluden, fi) Neuftriens zu bemädh- 
tigen. Während Karl gegen die Normannen, welche fih auf ber 
Inſel Oyßel verfchanzt hatten, zu Felde lag, brach der teutfche Fürft 
mit einem großen Heere in Neufter ein, und eroberte, von den Ber: 
fchworenen unterflüßt, faft das ganze Neih. Auf die Kunde von 
diefem Ueberfall eilte zwar Karl der Kahle herbei, warb aber yon 
feinen Lehensleuten verlaffen und mußte nad einem Orte auf der 
Gränze von Burgund flühten. Nun berief Ludwig einen neuftri- 
hen Reichstag nad) Rheims, um Anordnungen zu treffen, bie ihm 
den dauernden Beſitz des Naubes fichern follten. Faſt alle welt: 
lihen Großen ftellten fich ein, und empfiengen von dem Eroberer 
als Preis ihres Verraths Vergabungen von Staats: und Kirchen: 
gütern. Vom Clerus dagegen erfchien nur ber einzige Wenilo, 
ber bisher eines der thätigften Häupter der Verſchwörung gemefen 
war. Ludwig der Teutſche belohnte feinen Eifer mit der Abtei 
St. Colomb zu Send, die er ihm felbft, und mit dem Bisthum 
Baieux, das er Wenilo's Neffen, Tortold, ſchenkte. !) Hätte die 
übrige hohe Geiftlihfeit das Beiſpiel Wenilo's nachgeahmt, fo 
wäre es um Karl geſchehen geweſen. Allein von Hinkmar feſtge— 
halten, blieben die andern Biſchöfe dem unglüdlichen Könige treu 
und retteten feine Sade. Statt der Einladung nad) Rheims zu 
folgen, verfammelten fie fih Ausgang November S58 zu Chierfey. 
Hier wurde eine Zufchrift an Ludwig entworfen, welche dem Eroberer 
mit rückſichtsloſer Freimüthigkeit fein ungerechtes Verfahren vorbielt. 
Man nimmt allgemein an, daß Hinkmar diefes Schreiben 2) aufgefeßt 
hat. Es beginnt mit einer Entfhuldigung, daß es ihnen, den zu 
Chierſey verfammelten Bifhöfen, wegen Kürze der Zeit unmöglich) 
gewefen ſei, nach Rheims zu fommen. Dann folgt eine Reihe Er: 
mahnungen: „wenn Ludwig, wie er behaupte, blos in der Abficht 
Gallien heimgefuht habe, um den gefunfenen Zuftand des Reichs 
und der Kirche zu verbeffern, fo möge er die Rathſchläge befolgen, 
bie fie ihm früher ertheilt, und mit feiner Perfon anfangen. Er 
ſolle bedenfen, welches Unrecht er durch den ungerechten Krieg feinem 





') Harduin Coneil. V., ©. 489 Nro. 10 und 12. — 2) Abgedrudkt in 
Hinkmar's Werfen II, 126 flg. 


56 * 


884 2 I: Buch. Kapitel 1. 


Bruder zugefügt habe und welch’ fchwere Verantwortung er bereinft 
in der Stunde des Todes, dem ewigen Nichter gegenüber, auf fich 
lade; er folle den greulichen Verwüſtungen des Landes durch fein 
Heer Einhalt thun und feine Waffen gegen Heiden ftatt wider Ver- 
wandte fehren; er folle die wider Gottes Gebot an Laien verfchleu: 
derten Kirchengüter den rechtmäßigen Befigern zurüdgeben, damit 
es ihm nicht ergebe, wie feinem Ahn Karl Martell, der wegen 
Kirchenraubs in der Hölle ewige Pein erbulde; er folle feine Großen 
im Zaum halten, tadellofe Beamte einfeßen und nicht mehr, wie 
bisher, das arme Volk mit unerſchwinglichen Steuern und Frohn- 
dienften belaften; er folle endlich für firenge Handhabung der Ge- 
vechtigfeit forgen.“ Sie ſchließen mit der Erklärung, daß fie den von 
Ludwig verlangten Schwur der Treue nicht zu leiften wermöchten, 
theils weil Karl ihr rechtmäßiger König fey, theild weil Bifchöfe 
überhaupt ſich durch feinen Bafalleneid verpflichten dürften. 

Diefe fühne Sprache hatte die erwünſchte Wirfung. Ludwig 
der Teutfche wurde durd den Widerftand der Biſchöfe eingeſchüch— 
tert, und dagegen ftieg der 'gefunfene Muth der Parthei Karl’s fo 
fehr, daß es dem neuftrifchen Fürflen im folgenden: Jahre gelang, 
feinen Bruder mit Gewalt aus dem Lande zu vertreiben. Allein 
während des Kampfes verübte das Heer Karl's eben fo fchreiende 
Greueltbaten, als im vorhergehenden Jahre das teutfhe. Hinfmar 
hielt es daher für feine Pflicht, auch gegen Karl'n den Kahlen bie 
echte des unterbrüdten Volks zu vertheidigen. Er erlieg am ihn 
ein Schreiben, ) das nicht viel fehonender als das oben erwähnte 
if. In den ſtärkſten Worten klagt er zuerft über die Ausſchwei— 
- fungen der Soldaten, noch fehändlicher aber ſey es, fährt er fort, 
daß das eigene Gefolge des Königs unter beffen Augen überall, 
wohin es fomme, raube und plündere, wie wenn ed dev Vortrab 
des Antichrift wäre. Hinkmar befhwört Karl'n, den Unordnungen 
zu fleuern und die im vorigen Jahre von der Synode zu Ehierfey 
an feinen Bruder Ludwig gerichtete Zufchrift, die auch für ihn paffe, 
ernftlich zu beberzigen. Auch fühle er fih Gewiſſen halber verbun: 
ben, dem Könige nicht zu verſchweigen, daß allerlei Gerüchte über 
ihn unter dem Bolfe umlaufen. Die öffentlide Stimme beſchuldige 
ihn der Gleichgültigfeit gegen die Leiden des Volks; er felbft habe, 





%) Opp. II, 142 fig. 


Snnerliche Bewegungen in der Kirche der fränkifchen Neihe ıc. 885 


heiße es, geäußert, daß Naub und Plünderung unvermeidlich fey, 
Seder müſſe das Seinige vertheidigen, fo gut er fünne. Hinfmar 
braucht fofort die Wendung: er für feine Perfon glaube nicht an 
die Wahrheit diefer Befchuldigungen, aber der König möge die Grunde 
Yofigfeit derfelben dadurch beweifen, daß er feine Unterthanen, von 
denen er doc Abgaben und Dienfte anfpreche, durch Beſchützung 
ihres Eigentums in Stand fee, Beides Teiften zu Fünnen. Weiter 
fey, fchreibt er, unter dem Volke die Sage verbreitet, daß wer am 
Hoflager Recht fuche, vergebens fomme. Karl folle fih an ben 
Spruch Salomo’3 erinnern (Sprüchwörter XXL 13.): wer feine 
Ohren verftopft vor dem Schreien des Armen, ber 
wird aud rufen und nicht erhört werden u. f. w. | 

Der Sieg der Neuftvier über Ludwig den Teutfchen hatte den 
ſchuldigen Metropoliten von Seng in die Hände feines ſchwer be— 
leidigten Gebieters geliefert. Vor der Synode zu Savonnieres trat 
Karl ſelbſt als Anfläger gegen ihn auf. In einer Schrift, D die 
er den verfammelten Bifchöfen übergab, feste er auseinander, daß 
er Wenilo von der Stelle eines Hoffaplang, die derfelbe früher bes 
fleidete, auf den erzbifchoflihen Stuhl von Sens erhoben und mit 
feinem ganzen Vertrauen beehrt, daß aber der Verräther alle biefe 
Wohlthaten mit dem fchwärzeften Undank vergolten habe. Ein Aus: 
fhuß von Bifchöfen wurde niedergefegt, um Wenilo’d Sache zu 
unterfuchen. Sie Iuden ?) ihn vor ihr Gericht. Der bedrohte Me- 
tropolit wartete jedoch die anberaumte Frift nicht ab, er wußte 
noch vorher den König zufrieden zu ftellen ?) und behielt fein Amt. 
Seine Straflofigfeit beweist, wie tief damals Macht und Anfehen 
der Krone gefunfen war. Im Uebrigen erhellt aus Wenilo's Ges 
fhhichte, daß er nicht aus Mitleiden über das harte Gefchid Got: 
ſchalk's, noch aus dDogmatifcher Meberzeugung, fondern aus politi- 
chen Gründen während des Streits die Fahne gewechſelt hatte. 
Offenbar wollte er dadurch, daß er zu Hinfmar’d Gegnern übers 
gieng, die im neuftrifchen Neiche eingeriffene Verwirrung fleigern 
und den Sturz des Königs Karl, wie des aufs Engfte mit ihm 
verbundenen Metropoliten von Nheims befördern. 

Die neue Synode, welche die Berfammlung von Savonniered 





) Harbuin V., 487 unten fl. — 2) Die Ladung ibid. ©. 490, — 
3) Prudentii Trecensis annales ad annum 859, Perz I., 453 unten. . 


886 III. Buch. Kapitel 14. 


zu völliger Beilegung des Zanks über die Gnade in Ausſicht ges 
ftellt hatte, Fam nicht zu Stande, ohne Zweifel weil Hinfmar fühlte, 
daß Religionsgeſpräche nicht das rechte Mittel feyen, um den Frieden 
der Kirche zu erzielen. Statt deffen fchrieb der Rheimſer Erzbifchof 
während der Jahre 859—863 fein großes Werk von der Prädefti- 
nation, das mehr ald die Hälfte des erften Bands feiner von Sir: 
mond herausgegebenen Schriften anfüllt. ) Hinkmar verfolgt darin 
einen doppelten Zweck: er fucht erftens zu zeigen, daß Gotfchalf bie 
im 5ten Jahrhundert aufgefommene Keberei der Prädeftinatianer 
erneuert babe, fürs zweite will er die vier Artikel von Chierfey 
wider die Einwendungen der Valencer Synode vertheibigen. Um 
die erfte Abficht zu erreichen, ftellt er eine eigenthümliche Gefchichte 
der angeblichen Prädeftinatianerfefte zufammen. Haupt berfelben 
war, laut feiner Behauptung, Fulgentius von Ruspe. Diefer Ful: 
gentius habe allerdings, gleih Gotſchalk, eine Doppelte Prädeftination, 
fowohl zum Berderben, als zum Heile gelehrt, aber indem er dieſe 
irrigen Sätze aufitellte, fey er von Auguftin’s Achter Lehre abgefallen. 
Die Behauptungen des Biſchofs von Ruspe fünnen durch klare 
Stellen des hochverehrten Vaters von Hippo, wie Prospers von 
Aquitanien, und ebenfo durch Ausiprüde des apoſtoliſchen Stuhles 
zu Rom widerlegt werden. Dean fieht, Hinfmar fpricht wider bie 
Gefchichte; entweder hat er nicht aus den Achten Quellen gejchöpft, 
oder fich eine Unredlichfeit erlaubt. Noch mehr Mühe und Worte 
ald an den erfien Theil verfchwendet Hinfmar auf. den Verſuch, 
die Schlüffe von Valence zu widerlegen. Das ganze Werf ift un: 
fäglich weitichweifig, ein Vorwurf, den ſchon Pabſt Nifolaus I. da: 
gegen erhob. ?) Nur mit Außerftem Verdruß Tann fi) der Lefer 
Durch diefe ewigen Wiederholungen hindurchwinden. Doc hat e8 
biforifchen Werth wegen mehrerer auf den Gotſchalt'ſchen Handel, 
bezüglihen Urfunden, welche der Metropolit einrüdte.  Nemigius 
und die andern Gegner Hinfmar’s beruhigten fid) mit dem Buche, 
vermuthlich weil ihnen der zu Savonnieres abgefchloffene Vertrag 
und das Machtgebot ihrer Fürften den Mund verfchloß. Der Streit 
wurde nicht weiter fortgefegt und die Sache Gotſchalk's war von 
Nun an verloren. 

Ehe es jo weit fam, muß der Mönch auf die Theilnahme, welche 





!) Opp. L, 1-410. —— 2?) Hincmari opp. II. 247 gegen oben, 


Innerliche Bewegungen in der Kirche der fränkifchen Neiche ıc. 887 


ihm die fremden Bifchöfe bewiefen, Hoffnungen der Rache gebaut 
haben, Wir fehließen dieß aus dem Umftande, weil Gotfchalf, während 
Hinfmar mit jenen Gegnern im Kampfe lag, muthwillig einen 
neuen Anlaß hervorfuchte, das Anfehen des Rheimſer Metropoliten 
zu untergraben. in alter, längft in den Kirchen eingeführter, Lob: 
gefang auf gewilfe Märtyrer von unbefanntem Berfaffer endete mit 
den Worten te Irina Deitas unaque poseimus.  Hinfmar nahm 
Anftoß an dem Ausdrude trina, weil er glaubte, daß berfelbe die 
Borftellung von drei Göttern in ſich fehließe. Er änderte die ver: 
bächtige Strophe ab und befahl, in den Kirchen feines Sprengelg 
sancta ftatt. trina zu fingen. Die Sacde erregte unter den Anhans 
gern des Hergebrachten Lärm, und alsbald benügten auch die Feinde 
Hinkmar's den Borfall, um ihn als Keger zu verfchreien. Zuerſt 
fihrieb der oben erwähnte Mund von Corbie, Ratramnus, ein Bud) 
wider Hinfmar’s Neuerung, das nicht auf ung gefommen ift. Wir 
fennen es blos aus gelegentlichen Aeußerungen Hinfmar’s, welcher 
unter Anderem bemerkt, 1) dieſe Schrift des Mönchs habe einen 
ziemlichen Umfang gehabt: Dem Beifpiel des Ratramnus folgte 
bald der Gefangene von Hautvillierd. Nachdem er Anfangs unter 
der Hand die Abänderung des Hymnus durch Kleine Flugfchriften 
zu verbächtigen gefucht, 2) veröffentlichte er zulegt eine fürmliche Abs 
handlung wider Hinfmar, welche Diefer der Nachwelt aufbewahrt 
hat, indem er fie feiner Gegenfchrift einverleibte. Gotſchalk bezüch- 
tigt in dem fraglichen Büchlein den Erzbifchof geradezu der vers 
vufenften Kegerei. Nur ein Sabellianer, fagt er, könne fich weigern, 
die Rechtgläubigfeit der Worte trina Deitas anzuerfennen. Er madıt 
geltend, daß Prosper den Ausdrud trina majestas gebraude, daß 
Prudentius trina pietas, Arator trina potestas ſage; er beruft ſich 
ferner darauf, daß die alte griechiſche Kirche fi der Worte roıoc«- 
yıov und felbft roıdsorei« bedient habe, daß in den Akten der 
jehsten conftantinopolitanifchen Synode die Formel cooperante trina 
et conglorificanda Deitate ftehe. 3) 

Der neue Angriff gegen Hinfmar war eben fo gefährlich wegen 
des Gegenftandeg, den er betraf, als wegen der Perfonen, von. denen 
er ausgieng, und wegen des Zeityunfts, in welchem er erfolgte, 
Ketzerei in der Lehre von der Gottheit galt feit Beginn der Kirche 





) Opp: I, 413. — 2)_Ibid, ©. 414 gegen oben. — ) Ibid. ©, 415, 


888 IT. Buch. Kapitel 11. 


für das greulichfte Verbrechen. Man erinnere ſich, wie viele hoch- 
ftehende Männer in den älteren Zeiten durch diefen Borwurf geftürzt 
worden find: Grund genug für Hinfmar, auf feiner Hut zu feyn. 
Sodann hatte er es nicht blos mit den beiden Mönchen zu thun, 
vielmehr ftanden hinter ihnen noch andere verfappte Feinde Die 
Schrift Ratram’s war an den Biſchof Hildegar von Meaur ge: 
richtet. ) Hieraus gebt hervor, dag Hildegar entweder den Mönch 
zum Schreiben aufgefordert hatte, oder wenigftens daß er deſſen 

Meinung theilte. Ratramnus konnte daher, allem Anfchein nach, auf 
einen mächtigen Rückhalt rechnen. Ebenſo verhielt es ſich mit Got: 
half. Unmöglich hätte derfelbe von feinem Gefängnig in Haut: 
villiers aus Schriften gegen Hinfmar verbreiten können, wenn ihn 
nicht geheime Freunde unterflügten. Wirklich fpricht 2) Hinfmar von 
Mitverihworenen, die dem Gefangenen im die Hände arbeiten, 
und giebt in feiner Gegenfchrift, wie wir fehen werden, zu verftehen, 
daß ein großer Theil der neuftrifchen Mönche von Gotfchalf gewonnen 
war. Endlich hatten die Gegner den Augenblid gut gewählt. Aus 
mehreren Aeußerungen Hinfmar’s erhellt, dag Gotſchalk feit geraumer 
Zeit in Hautoilliers faß, als diefer Streit ausbrad. Da nun ferner 
der Rheimſer Metropolit feinen Amtsgenoffen von Mainz, Rabanug, 
ber zu Anfang des Jahrs 856 ftarb, zu Hülfe rief, fo folgt, daß 
bie Händel wegen des Hymnus zwifchen die Jahre 852 und 855 
zu fegen find. Sie fallen alfo in den Zeitpunft, wo der ältere 
Kampf über die Prädeflination eine für Hinfmar bedenfliche Wen— 
dung zu nehmen begann. 

Es ift daher in der Ordnung, daß der bedrohte Metropolit, 
um den Angriff abzuwehren, kraftvolle Maaßregeln ergriff, Bor 
Allem fuchte er einflußreiche Rampfgenoffen anzuwerben. Zwar hatte 
ihn Nabanus, wie oben erzählt worden, bald nach Ausbruch des 
Streits wegen der Präpdeftination, ſchmählich im Stiche gelaffen, den: 
noch wendete er fih von Neuem an den Mainzer Erzbiſchof mit ber 
Bitte, fein gewichtiges Wort gegen Gotſchalk und feine Freunde zu 
erheben. Diefer Brief Hinfmar’s, den noch Flodoard °) las, ift 
verloren. Wohl aber befigen wir ein Bruchftücd der Antwort des 





N) Ibid. ©. 413. — 2) Ibid. ©. 414. Scriptum ad nos per complices 
ac satellites ejus pervenit, — 3) Histor. eccles. rhem. Ill., 21. Sirmondi 
opp. IV., b. ©, 165 Mitte: scripsit, quaerens — de trinitatis fide. 


Sunerliche Bewegungen in der Kirche der fränkiſchen Reiche ıc. 889 


Mainzers. ) Nabanus mißbilligt darin die von Gotfchalf ges 
brauchten Ausdrüde trina et una deitas, Irina potestas u. ſ. w.5 
das Hafhen nad) neuen Worten, meint er, fey ſtets die fruchtbare 
Mutter von Kebereien gewefen, der Mönch von Drbais hätte bei 
der Redeweiſe der alten Väter bleiben follen. Wir vermuthen, daß 
Hinfmar ftatt des einfachen Schreibens, das ihm nichts nützen fonnte, 
weil eg nicht zu öffentlihem Gebrauche geeinigt war, eine fürmliche 
Widerlegung der Streitfchrift Gotſchall's erwartet hatte, Abermal 
in feiner Hoffnung getäufcht, ergriff er um 857 felbft die Feder 
und fchrieb ein ausführliches Werk ?) gegen Diejenigen, welche feine 
Abänderung des Hymnus zu tadeln wagten. Nur obenhin gedenft 
er an drei Stellen ?) der Streitfchrift des Ratramnus, doch nicht 
ohne die Behauptung auszufprechen, daß derfelbe die Zeugniffe der 
Bäter, auf die er ſich berufe, verfälicht habe, dagegen bricht er 
mit bitterem Grimm wider Gotfchalf los. Der Ausdruck Deitas, 
fagt er, beziehe ſich auf die göttliche Natur, welche nur eine fey, 
wer daher das Beiwort trina mit deilas verbinde, der zerfleifche 
die Einheit des Ewigen und mache ſich der fluchwürdigſten Keberei 
Ihuldig. Er überfchüttet Gotfchalf mit Schimpfworten, er nennt 
ihn einen Arianer, ja einen Sohn des Teufels. %) Der Metropolit 
von Rheims geht jedoch nicht bios darauf aus, Gotſchalk zu wider: 
legen. Faft alle Kiöfter in Neufirien und ein guter Theil des höhern 
Cerus müffen die Abänderung des Hymnus mißbilligt und Gotſchalk 
in diefer Sache unterftügt haben. Hinfmar findet daher für nöthig, 
den Mönchſtand aufs Ernftlichfte vor dem neuen Irrthum des Ges 
fangenen von Hautvilliers zu warnen. Er führt ihnen zu Gemüth, °) 
daß laut dem 30ſten Canon der Synode von Agde und der zweiten 
Regel des heil. Benedikt Kiofterbrüder, die fih durch Worte nicht 
beffern Yaffen, mit Schlägen und fürperlichen Züchtigungen zurecht— 
gewiefen werden dürften. Um bdiefer Ermahnung noch mehr Nach— 
druck zu geben, erinnert er an das Schickſal Gotſchalk's. Sodann 
wendet er ſich ©) auch an die Bifchöfe und Aebte. Sie, die dazu 
berufen feyen, Gemeinden zu Ienfen und Andern mit gutem Beifpiel 
voran zw gehen, follten ſich vorzugsweife vor ſchädlichen Irrlehren 





1) Herausgegeben von Runftmann „Rabanus“ ©. 249 flg. — ®) Col- 
lectio ex sacris scripturis — de una et non trina Deitate, im erfien Bande 
feiner Werte ©. 413 fig. — 9) Ibid, ©. 413. 438. 450. — *) Ibid. 418 
unten, — °) Ibid. 443 fig. — 9). Ibid. ©. 446. { f 


890 IT. Buch. Kapitel 11. 


hüten. Keine Macht werde die Pflichtvergeffenen ſchützen. Habe ja 
der Allmächtige der fündigen Engel nicht gefchont, wie viel weniger 
werde Er treulofen Kirchenhäuptern nachjehen! Sind nicht die Hirten 
ber berühmteften Stühle von Antiochien, Wlerandrien, Serufalem, 
Conftantinoyel, durch die heiligen Concilien zur Strafe gezogen wor: 
den, und unterlag nicht fogar Honorius, der Pabft in der Welt: 
ſtadt Nom, dieweil er nicht rechtglaubig dachte und Jrrlehren unter: 
fügte, nad feinem Tode dem Bannfluche der ſechsten allgemeinen 
Synode! Hinfmar’s drohende Sprache fcheint die Gegner gefchredt 
zu haben. Zwar behielt die gallifhe Kirche, wie die übrigen des 
Abendlandes, die alte Form des Hymnus bei, aber weitere Angriffe 
gegen Hinfmar wurden wegen biefer Sache nicht mehr gemacht. 
Abermal hatte aljo der neue Berfuh Gotſchall's, fih an Dem Metro: 
politen zu rächen, nur dazu gedient, den mächtigen Dann noch 
mehr gegen ihn’ zu erbittern. 

Berlaffen von feinen neuftrifchen Gönnern, fuchte der Unglück— 
Yiche in Stalien Hülfe. Unfichtbare Hände Hffneten feinen Klagen 
den Zugang in den Lateran. Hinfmar ftand feit einiger Zeit aus 
Gründen, die wir erft fpäter entwickeln können, mit dem Pabfte 
auf gefpanntem Fuße; um fo bereitwilliger wurden in Rom Gotſchalk's 
Befchwerden gehört. Bon einem aus Jtalien zurüdfehrenden Elerifer 
Luido erfuhr ?) der Rheimfer Metropolit um 862, daß fih Pabft 
Nikolaus J. nah Gotſchalk's Schickſal erkundigt habe. Gefchredt 
durch diefe Nachricht, überſchickte Hinfmar dem Pabſte eine aus 
Stellen der Kirchenväter gezogene Widerlegung der Irrthümer Got: 
fchalfs, erhielt aber feine Antwort. ) Im Fahre 863 hielten bie 
Erzbifchöfe Thietgaud von Trier und Günther yon Cölln mit päbft: 
lihen Bevollmächtigten zu Mes eine Zufammenfunft, um über bie 
Ehefcheidungsfadhe des Königs Lothar II. eine Unterſuchung anzu= 
ftellen. Hinkmar ward aufgefordert, mit Gotfchalf vor dieſer Synode 
zu erfcheinen und von feinem DBerfahren gegen den Mönd Rechen: 
fchaft zu geben. Er fand jedoch für gut, der Einladung feine Folge 
zu leiften. Zum Glüd für ihn erkannte nachher der Pabft die Be: 
ſchlüſſe der Meter Synode nicht an, fonft hätte vielleicht feine Wei: 
gerung fchlimmere Folgen gehabt. Gleichwohl glaubte Hinfmar, 





i) Hinkmar fagt dieß felbft in einem fpäteren Briefe an ven Pabſt. Opp. 
U., ©. 261 gegen unten. — 2) Ibid, unten. 


Innerlihe Bewegungen in der Kirche der fränfifchen Reiche c. 891 


fich gegen den Pabſt entfchuldigen zu müffen. Am Schluffe eines 
Berichts, den er im Jahr 864 wegen anderer Angelegenheiten, von 
welchen unten die Rede feyn wird, an Nifolaus I. erflattete, ſpricht 
er fich weitläufig über Gotſchalk's Angelegenheit aus, Nachdem er 
erzählt, ) wie bie zu Mes verfammelten Biſchöfe ihn vor ſich ge- 
Yaden hätten, behauptet er darum nicht gefommen zu feyn, weil jene feine 
Vollmacht befaßen, über ihn zu richten. Hinkmar fest fofort feine 
früheren Verhältniſſe zu Gotſchalk aus einander und erklärt feine 
Bereitwilligfeit, den Mönch wieder in die Gemeinfchaft der Kirche 
aufzunehmen, ſobald derfelbe feinen fegerifchen Meinungen entfagen 
würde, Wolle übrigens der Pabſt Gotfchalf felbft verbören, oder 
einen Dritten mit diefem Gefchäfte beauftragen, fo folle der Ge 
fangene ohne Verzug herausgegeben werben, jedoch müſſe er, fügt 
Hinfmar bei, in legterem Falle darauf befiehen, daß der Pabſt die 
Unterfuhung einem Manne übertrage, der die Lehren der heiligen 
Schrift und der Fatholifchen Väter gründlich Fenne. Denn Gotſchalk 
befige eine erftaunliche Fertigkeit, die Bibel zu feinen Gunften zu 
verdrehen und Stunden lang verftümmelte Stellen der Kirchenväter 
aus dem Gedächtniffe berzufagen, wodurch nicht blos Ungelehrte 
geblendet, fondern felbft Solche, die etwas zu wilfen glaubten, wenn 
fie nicht vecht auf ihrer Hut feyen, hingeriffen zu werden pflegten. 
Es fragt fih zunächſt, in weſſen Auftrage die Metzer Synode den 
Rheimſer Metropoliten vor ihren Richterfiuhl lud? Hinfmar felbft 
verfichert, 2) diefelbe fey von Feiner höhern Behörde dazu befugt 
geweſen. Aber diefe Behauptung ift an ſich unmwahrfcheinlih und 
wird überdieß durd fein Berfahren widerlegt. Dffenbar entichuldigt 
er fich in dem eben angeführten Briefe gegenüber dem Pabfte wegen 
feines Nichterfcheineng ; er erfennt alſo thatfächlih an, daß es Nifos 
laus I. felbft gewefen war, der die Meger Synode beauftragt hatte, 
die Sache Gotſchalk's zu unterfuchen. Ohne eine folche Bollmadht 
würden es die lothringiſchen Kirchenhäupter nie gewagt haben, 
einen fremden Metropoliten, den Unterthan Karl’s des Kahlen, vor 
ihren Richterfiuhl zu ziehen. Da Nikolaus, wie wir oben bemerften, 
die Entiheidung der Metzer Synode verwarf und feine eigene 
Gefandte, die daſelbſt mitgewirkt, der Pflichtverlegung bezüchtigte, 





N) Ibid. 262 oben flg. — ?) Nihil episcoporum intererat de illo, quo- 
niam — nec autoritas (eos) deducebat, fagt er, ibid. 262 oben. 


892 II. Bud. Kapitel 41. 


fo fonnte er vorerſt nicht weiter gegen Hinfmar wegen bed beivie- 
fenen Ungehorfams einfchreiten. Gleichwohl dauerte die Spannung 
fort. Aus einem Briefe Hinfmar’s an Egilo von Sens erhellt, ) 
dag Nifolaus um 865 an König Karl den Kahlen fchrieb: er könne 
und dürfe Hinfmar nicht ferner gegen Klagen ſchützen, der Erz 
bifchof-möge ſich hüten, daß er fich Feine Unannehmlicfeiten zuziehe. 
Ein Ereigniß, das bald darauf eintrat, war nahe daran, einen 
förmlichen Bruch zwifchen dem Pabft und dem Metropoliten herbei 
zu führen. Um 865 entfloh ein Mönd Namens Guntbert, der 
feit längerer Zeit mit Gotfchalf heimliche Verbindungen unterhalten 
hatte, unverfehens aus dem Kloſter Hautvilliers nach Italien, und 
überbrachte dem Pabft eine Befchwerdefchrift des Gefangenen. Die 
Kunde von diefem Borfall war ein Donnerftreih für Hinfmar, er 
ſuchte auf jede Weife dem Eindruck, den Guntbert’d Ausfagen in 
Rom hervorbringen mußten, entgegen zu arbeiten. Im Jahre 866 
rüftete fi) der Metropolit Egilo von Send, kirchlicher Angelegen: 
beiten wegen, zu einer Reife nad) Rom. Mittelft eines noch vor: 
bandenen Schreibens ?) forderte Hinfmar den Erzbifchof auf, feine 
Sache bei dem Pabfte zu vertreten, und machte ihm zu biefem 
Zwecke vertrauliche Mittheilungen. Auf die oben erwähnte Aeußerung 
des Pabſts anfpielend, behauptet er, ſich nicht entfinnen zu fünnen, 
bei welchen Gelegenheiten ihn der Pabſt öfters gefchügt habe. Wenn 
Nikolaus damit die Sache Gotfchalf’s meine, fo müffe er bemerken, 
daß diefer von zwei Synoden verdammte Keker gemäß dem Spruch 
der Bifchöfe in Verwahrung gebracht worden fey, damit er nicht 
Andere verführe. Hinkmar erklärt fi) fodann von Neuem bereit, 
den Mönch augzuliefern, wenn Nikolaus wünfchen follte, ihn in 
eigener Perfon zu verhören; nur, fügt er bei, fey dann nöthig, daß 
der König feine Einwilligung gebe, weil fonft der Gefangene nicht 
mit Sicherheit nach Italien abgeführt werden könne Wolle aber 
Nifolaus die Sache Gotfhalfs an eine neu zu berufende Synode 
oder etwa an einen Bifchof tiberweifen, fo würde er (Hinfmar) ſich 
gleichfalls nicht widerfegen, vorausgefegt, daß die Synode oder der 
Biſchof, welchem der Pabft die Unterfuchung übergeben mwürbe, gemäß 
den heiligen Kirchengefegen verführen. Sofort befchwört Hinfmar 
den Erzbiſchof Egilo, in Rom allen Fleiß aufzumwenden, damit nicht 





2) Opp: Ik, 290, — 2) Ibid. 290 fig. 


Innerliche Bewegungen in der Kirche der fränkifchen Reiche ı. 893 


der Pabft, zum Aergerniß ber EChriftenheit, für die Meis 
nung Gotſchalk's entfheide Am Schluſſe ſpricht er feine 
Ueberzeugung aus, dag Gotſchalk ein gefährlicher Menſch fey, der, 
wenn man ihn freilaffe, unberechenbares Unheil anrichten werbe, 
und fucht diefes harte Urtheil durch Beweiſe zu rechtfertigen. 

Hinfmar fürchtete, wie man fieht, das Aeußerfte, darum be: 
hielt er fi) auch bei den Zugeftändniffen, bie er anſcheinend machte, 
eine Hinterthüre offen. Er verfpricht, den Gefangenen auszuliefern, 
wenn der König feine Einwilligung gebe, oder fich dem 
Richterfpruche einer Synode zu unterwerfen, wenn biefelbe den 
Canones genüge Wäre die Berfammlung zu Stande gefom: 
men und hätte fie zu Gunften Gotſchalk's entjchieden, fo blieb dem 
Rheimſer Metropoliten das Necht vorbehalten, ihren Spruch als 
uncanonifch zu verwerfen. Beftand aber der Pabft auf Auslieferung 
Gotſchalk's, ſo fonnte Hinfmar das Anfinnen dadurch hintertreiben, 
daß er den König zu einer abfchlägigen Antwort vermochte. Niko: 
laus mag gefühlt haben, dag Hinfmar zu einem verzweifelten Wider: 
ftand entfchloffen fey, er that nichts weiter für Gotſchalk. So ſchwand 
denn die legte Hoffnung, die der Unglüdliche gefaßt. 

Bom Jahre 848 bis 868 oder 869 ſchmachtete der Mönd in 
Kerker- Banden. Hinfmar verfichert zwar, ) feine Haft fey milde 
gewefen, man habe ihn in Bezug auf die Bequemlichfeiten und die 
Bedürfniſſe des täglichen Lebens, wie Speiſe, Tranf, Kleider, Feurung, 
Gelegenheit zum Baden, glei den andern Mönchen behandelt, aber 
was ift dieß Alles ohne perfönliche Freiheit! Die lange Gefangen: 
haft, noch mehr aber das ewige Schweben zwifchen Furcht und 
Hoffnung, und die Stacheln unbefriedigter Race verwirrten zulegt 
fein Gehirn. Aus Thatfachen, welche Hinfmar anführt, muß man 
den Schluß ziehen, daß Gotſchalk in den leuten Jahren feines Lebens 
an Wahnftnn Lift. Der Metropolit fpricht *) von einem fchriftlich 
aufgefesten Gebet Gotſchalk's, worin es hieß: der Allmächtige habe 
ihm verboten, für Hinfmar zu beten; auch fand die Behauptung 
darin, jede der drei göttlichen Perfonen fey leibhaftig in ihn einges 
gangen, zuerft der Sohn, dann der Bater, endlich) der heilige Geift, 
welcher bei der Einfahrt ihm den Bart um den Mund verfengt . 
habe. Weiter erzählt Hinkmar, daß Gotſchalk lange Zeit die Kleider, 





') Ibid. ©. 292 gegen unten. — ?) Opp. IL, ©, 550. 


894 II. Buch. Kapitel 14, 


welche man ihm anbot, nicht annehmen wollte, und es vorzog, nackt, 
wie Adam im Stande der Unfchuld, zu bleiben, bis das Gefühl der 
Winterfälte ihn auf andere Gedanfen brachte. An derfelben Stelle 
erwähnt der Metropolit noch folgender älteren Prophezeiung des 
Minds: Hinkmar werde nach dritthalb Jahren flerben, fodann 
werde Gotfchalf ſelbſt den Erzftuhl von Rheims befteigen, aber nach 
weiteren fieben Jahren Gift befommen und die Märtyrerfrone er: 
langen. Da dieſe Prophezeiung, berichtet er weiter, in der voraus: 
beftimmten Zeit nicht erfüllt warb, habe Gotfchalf von Neuem zu 
dem Allmächtigen gebetet und es Seinem Willen anheimgeftellt, wie 
früh oder ſpät Er Hinfmar, den Räuber und Dieb, den Ehebrecher, 
den blinden, frechen und hartnädigen Keser, den Freund der Lüge 
und DBerfolger der Wahrheit, aus dem Wege räumen wolle, 

In einer Nahferift zu dem Buch, das er im Streite wegen 
des Hymnus verfaßt hat, erftattet I) Hinfmar Bericht über die 
legten Tage des Mönchs. Als er vom Abte des Klofters Haut: 
villiers erfuhr, daß Gotſchalk dem Tode nahe fey, ſchickte er ein 
Slaubensbefenntniß dorthin, mit dem Befehl, den Kranfen aufzu: 
fordern, daß er daſſelbe mündlich oder fchriftlich anerkennen folle 
Es ift nach den dogmatifchen Grundfägen Hinfmar’s abgefaßt und 
fließt mit folgender Anrede an Gotſchalk: „fo du mit deinem Herzen 
glauben, mit deinem Munde befennen, auch in Gegenwart von 
Zeugen mit deiner Hand unterjchreiben wirft, daß du alfo glaubeft 
und in diefem Glauben bis ans Ende verharren wolleft, follft du 
nach dem Urtheile des heil. Geiftes, kraft des bifchöflichen Amts, 
das dich verdammt hat, wieder losgefprochen feyn, auch zum Ge: 
nuffe des Leibs und Bluts Chrifti und zur Gemeinschaft der Fatho- 
lifchen Kirche zugelaffen werden.“ Was Hinfmar gefürchtet hatte, 
geſchah. Mit Abfcheu flieg Gotfchalf das vorgelegte Befenntniß 
zurüd und brach in Berwünfchungen gegen den Erzbifchof aus. Auf 
die Nachricht »hievon fandte Hinfmar dem Abte neue Verhaltungs: 
regeln: „würde der Mönd vor feinem Ende in ſich geben, und, fey 
es mit vernehmliher Stimme, oder wenn er dieß nicht mehr ver: 
möge, auch nur durch ein verftändliches Zeichen, feine Irrthümer 
‚ bereuen, fo folle man ihm den Frieden gewähren und feine Leiche 
auf dem gemeinfchaftlichen Begräbnißplage mit den gewöhnlichen 





) Opp. I., 552 fig. 


Snnerliche Bewegungen in der Kirche der fränkifchen Neiche x. 895 


Feierlichkeiten beftatten; im Falle er aber bis zum Yesten Hauche 
in feiner Hartnädfigfeit verharre, verbietet der Erzbifchof, den Ketzer 
unter Palmen und Gefängen zu begraben und ihm einen Platz 
auf dem Kirchhofe des Klofters anzumweifen, vielmehr folle man dann 
die Leiche an einem abgefonderten Orte verfcharren.“ Als es wirf- 
lich zum Sterben fam, ermahnten ihn bie Brüder noch einmal, von 
feinem verfehrten Sinne abzuflehen und das Abendmahl zu empfan- 
gen: Alles war vergeblih. Ungebrochen, aber auch unverföhnt, 
gieng feine Seele, wie Hinfmar fagt, ) an ihren Ort: Gotichalf 
farb den 20, October S68 oder 869; das Jahr läßt fih nicht 
genau beftimmen. ?) 

Sp hart das Schiejal des armen Mönchs war, vermögen wir 
nicht, dem faft allgemeinen Urtheil der Neuern, welche das „Schuldig“ 
über Hinfmar ausjprechen, beizupflihten. Das Gefühl des Mitleids 
darf die Stimme ypartheilofer Gerechtigkeit nicht übertönen. pt: 
ſchalk hat fein Unglüd großentheils felbft verſchuldet. Erſt trieb ihn 
ein zügellofer Ehrgeiz, Larım in der Welt zu machen und über feine 
Sphäre hinaus zu greifen; fpäter diente er als Werkzeug einer 
finfteren Parthei, welche den Plan verfolgte, Karl's des Großen 
Kircheneinrichtungen umzuftürzen, namentlich die Metropolitangemwalt 
zu fällen Rabanus Maurus und Hinfmar waren der angegriffene 
Theil. Lesterer vertheidigte als entfchloffener Streiter feine Ehre, 
feine perfünliche Sicherheit, fein Amt. Ungeſchwächt wollte er bie 
Kirchenmacht, zu deren Bertreter man ihn erwählt, auf die Nach— 
fommen bringen. Unter den gegebenen Umftänden mußte er fo 
handeln, wie er handelte. Wir wagen nicht, den Sun auf wm 
hochgeſinnten Kirchenfürften zu werfen. 

Die ausgezeichnetften und gelehrteften Cleriker der überrheinifchen 
Neiche wurden in die Gotfchalfichen Händel verwidelt, die Dar- 
ftellung derſelben ift daher zugleich eine Gelehrten Gefchichte der 
fränfifhen Kirche. Doch nahmen an dem Streite einige Andere 
feinen Theil, deren hier zu gedenfen der tauglichfte Ort feyn dürfte, 
Dis zum Jahre 839 lebte der Verfaſſer einer Gefchichte Karls des 
Großen, auf die wir ung fchon oft berufen haben. Einhard, im 
legten Drittel des achten Jahrhunderts dieffeits des Rheins geboren, 





1) Ibid, ©. 555, — 2) Histoire liiteraire de la France vol, V., 356 
Mitte, | 


896 I. Bug. Kapitel 1. 


fam frühe an den fränfifhen Hof und gewann die Gunft des Kai— 
jers. ) Karl ernannte ihn zu feinem Geheimfchreiber und fpäter 
zum Aufjeher der öffentlichen Bauten. Einhard ward an die Faifer: 
liche Familie noch durch ein zarteres Band gefeffelt. Vielleicht wider 
ben Willen des Vaters, ehelichte er eine der Töchter Karls, Imma. 
Neuere haben dieſe Angabe eines alten Schriftftellers in Zweifel 
gezogen, aber ihre Gründe find. nicht genügend, 2) Auch unter dem 
Nachfolger Karls behauptete Einhard feine hohe Stellung. Ludwig 
ber Fromme übertrug ihm die Erziehung feines Erftgebornen Lothar, 
und fchenfte ihm überdieß zwei Güter in Deutfchland, von denen 
Einhard das eine an die Abtei Lauresheim abtrat, auf dem 
andern das Kloſter Seligenftadt gründete, Als der Bürgerfrieg 
ausbrach, faßte der bisherige Hofbeamte den Entſchluß, fih aus 
ber Welt zurüdguziehen. Er fagte feiner Gattin Imma, bie er 
fortan nur ald Schweiter lieben wollte, Lebewohl und erbaute aus 
eigenen Mitteln das ebengenannte Klofter, deſſen erfter Abt er 
wurde. Bon Seligenftadt aus unterhielt er einen regen Briefwechfel 
mit mehreren Clerifern, namentlich mit Lupus von Ferrieres. Im 
Jahre 837 ftarb feine Gattin Jmma. Obgleich Einhard längſt von 
ihr getrennt war, erfüllte ihn dieſe Nachricht mit tiefem Schmerze. 
In einem Briefe ?) an Lupus fehüttet er fein geängftigtes Herz 
aus. ZTodesahnungen umfchmwebten ihn. Wirklich ftarb er zwei Jahre 
nad) der Gattin, 839. Einhard ift unter den deutfchen Hiftorifern 
der ältefte, unter den fränfifchen, die mit ihm lebten, der befte. Ein 
glücklicher Nacheiferer Sueton’s, hat er in zierlihem Latein die Ge: 
ſchichte Karls des Großen würdig befchrieben; nur wäre zu wün— 
fchen, daß er der Wahrheit zu Lieb fih weniger gefcheut hätte, 
Schatten dem Licht beizumifchen. Auch die fränkischen Jahrbücher, 
die in den heutigen Ausgaben Einhard’s Namen tragen, find wahr: 
fcheinlich fein Werk. Außerdem befigen wir aus feiner Feder eine 
Sammlung von 62 Briefen, *) deren einige für die Zeitgefchichte 
Ausbeute gewähren. Noch drei andere gleichzeitige Gefchichtichreiber 
des fränfifchen Reichs verdienen neben Einhard genannt zu werben. 
Theganus, Landbiſchof in dem Trierer Erzfprengel, verfaßte ein 





1) Wir folgen hier der histoire litteraire de la France IV., 550 flg., 
wo die Beweisftellen angegeben find. — 2) Ibid, 550. 551. — 3) Unter den 
Briefen des Lupus der dritte. Opp. S. 5 flg. — Abgedruckt im zweiten 
Bande von Duchesne scriptores rerum franc. ©, 695 flg. 


Innerliche Bewegungen in der Kirche der fränfifchen Reiche ꝛc. 897 


kurzes Werk 1) über die Regierung Lutwig’s des Frommen, das 
bis zum Jahre 837 reiht. Er fchrieb noch zu Lebzeiten feines 
Helden, was man dem Buche anfieht; denn er trägt eine Vorliebe 
für Ludwig zur Schau, die vielleicht auf Nebenzwecke berechnet war. 
Meifter des Styls ift er nicht. Theganus ?) farb vor 849. Die 
ganze Geſchichte Ludwig's von deffen Geburt an bis an fein Ende 
befchrieb ein unbefannter Clerifer, dem man den Namen „Aftro- 
nom“ gibt, weil er felbft berichtet, ?) daß ihn der Kaifer wegen 
eines fürchterlichen Kometen befragt habe, der im Jahre 838 am 
Himmel erfhienen fey. Der Unbefannte lebte am Hofe Ludwig's 
und war größtentheild Augenzeuge der Begebenheiten, die er fehildert. 
Seine Schrift hat bedeutenden Werth und ift zugleich für die früheren 
Jahre Ludwig's die einzige Duelle. Wo der Aftronom aufhört, bes 
ginnt Nithard, der die Streitigfeiten der Söhne Ludwig's in vier 
Büchern ſchildert. Nithard war ein Enfel Karl’d des Großen und 
Sohn von deffen Tochter Bertha, der Gemahlin Angilbert’s, welcher, 
nachdem er die wichtigften Staatsämter beffeidet, im Jahr 814 als 
Abt des Klofters Centula farb. Nach Ausbruch der Streitigfeiten 
unter den Söhnen Ludwig’s ergriff Nithard Parthei für Karl den 
Kahlen, focht in deffen Heer und erfchien als fein Gefandter bei den 
Unterhandlungen, die dem Abjchluffe des Bertrags von Verdun 
vorangiengen. Im Auftrage König Karl’ ſchrieb er auch jenes 
Geihichtswerf, in welchem die Erfahrung eines Welt: und Ge- 
ſchäftsmanns nicht zu verfennen if. Nithard fol um 858 in einer 
Schlacht gegen die Normannen geblieben feyn. *) 

Während Nabanıs Maurus und Hayıno von Halberftabt bie 
Fuldaer Eregentenfchule gründeten, welche bei Erklärung der Schrift 
bem Anfehen der Bäter ein ausichließliches Borrecht einräumte, unter: 
nahm es ein Mönch in Altcorbie, die hiftorifch-grammatifchen Grund: 
füge der Antiochener zu erneuern. Chriftian Druthmar, ein 
geborner Aquitanier, trat um 840 in die berühmte Abtei Altcorbie, 
ward aber fpäter als Lehrer in die Klöfter Stablo und Malmedy 
verfeßt, die unter einem gemeinfchaftlichen Abte ftanden. Hier fchrieb 
er gegen bie Mitte des neunten Jahrhunderts Auslegungen über 





1) Abgedrudt bei Perz II., 590 flg. — 2) Ueber ihn vergl. man histoire 
litteraire de la France V., 45 flo. — 3) Perz 11., 643. — * Man vergl. 
über ihn histoire litteraire de la France V., 204 flg, 

Sfrörer, Kircheng. II. 57 


898 II. Buch. Kapitel 41. 


mehrere Bücher des neuen Teftaments, von denen jedoch nur ein 
Commentar zu Matthäus und ſchwache Bruchſtücke über Lukas und 
Johannes auf ung gekommen find. ') In der VBorrede zu Matthäus 
äußert er fich 2) über die Art und Weife, in welcher er die Bibel 
auslegen zu müffen glaubte, ſelbſt alfo: „Ich gehe mehr darauf aug, 
den biftorifchen als den geiftigen (allegoriſchen) Sinn zu ermitteln. 
Denn es fehlen mir unvernünftig, den hiftorifchen Inhalt eines Buchs 
zu vernachläßigen, und nur nad allegorifcher Bedeutung zu hafchen, 
fintemal die Gefchichte Grundlage aller Erkenntniß ift, fo daß man 
ohne fie zu nichts Anderem gelangen mag.“ Im Folgenden beutet 
der Mönch an, daß er fein Unternehmen für gefährlich hielt, weil 
der große Haufe zur Allegorie ſchwor. Er fährt fort: „Ich dränge 
meine Schrift Niemand auf, nur wer Gefallen daran trägt, mag 
fie lefen. Und wenn Jemand meine befjere Methode verabjcheut, 
laß ich ihn gewähren. Auf den Wunſch von Freunden habe id) bie 
Feder ergriffen; Mißgünftige mögen mein Buch nicht berühren, damit 
wegen einer wohlgemeinten Arbeit feine Zänfereien entftehen.“ Druth: 
mar hat wirklich die aufgeftellte Regel der Auslegung befolgt; ein 
gefunder und heller Geift offenbart fi) in feinem Werfe. Man weiß 
nichts Über die weiteren Schiefale Druthmar's. Jüngerer Zeitgenoffe 
des aquitanifhen Mönchs war ein Deutfcher, welcher ſich noch größere 
Berdienfte erwarb. Otfried, Schüler des Rabanus Maurus und 
des Biſchofs Salomo I, yon Conftanz (83971), trat ald Mönch 
in das Klofter Weißenburg, das im Sprengel von Speier liegt. 
Hier verfaßte er in teutſcher Sprade um 865 ein noch vorhan— 
denes Gedicht, ?) das nad) Anleitung der vier Evangelien die Ge- 
fchichte Jeſu Chriſti befingt. Otfried fagt felbft, er habe feine Arbeit 
unternommen, um gewiſſe weltliche Lieder aus dem Munde des 
Bolfes zu verdrängen und zu bewirken, daß die Teutfchen in ihrer 
Zunge den Inhalt der Bibel verherrlihen. An dichterifchem Feuer 
fheint es ihn gefehlt zu haben, fein Vortrag ift zwar rebfelig, aber 
nichts defto weniger falt und troden. Schon vor Otfried hatte ein 
Ungenannter in fählifher Mundart ein gereimtes Evangelium ver: 


n Abgedrudt Bibliotheca Patrum maxima XV., 86 fig. Ueber Drutbmar 
vergl. man histoire litteraire de la France V., 84 fig. — ?) Bibl, max. XV,, 
86 b. Mitte. — 3) Am Beften herausgegeben von Graff unter dem Titel: 
„Krift, das älteſte von Difried im neunten Jahrhundert verfaßte hochteutſche 
Gedicht.“ Königsberg 1851. Ato. 


Innerliche Bewegungen in der Kirche der fränkifchen Reiche c. 899 


faßt, das gleichfalls auf ung gefommen ift. 1) Auf diefes Buch bes 
ziehen fich ohne Zweifel die Worte einer alten, von Flacius ?) mits 
getheilten Urkunde, wo es heißt: „Ludwig der Fromme habe einen 
vornehmen Sachſen beauftragt, das neue und alte Teftament in 
teutfche Verſe zu überfegen, damit auch dem ungelehrten Volke Ge: 
Vegenheit zu Theil werde, die heilige Gefhichte kennen zu lernen,“ 
Zu der Zeit, wo die Gotfhalfichen Händel den fränfifchen 
Staat wie die Kirche zu erjchüttern begannen, brach noch ein zweiter 
Streit aus, der jedoch mit weit weniger Leidenfchaft geführt wurde. 
Derfelbe betraf die Lehre von Chriſti Abendmahl, Längft hatte man 
fih daran gewöhnt, in dem Saframente des Altars. die tiefiten Ge: 
heimniffe zu feiern. Schon Väter des vierten und fünften Jahr: 
hunderts fprechen von Veränderung des Weind und Brods in 
Blut und Leib des Herrn, aber Andere betrachteten das bargebrachte 
Opfer nur als ein Sinnbild. Ein feftbeftimmter Begriff herrfchte 
nicht. 3) Seit den Zeiten Gregor's des Großen nahm zwar bie 
überfchwängliche Anficht überhand, und das Volk verehrte mehr und 
mehr im Nachtmahl ein wirkliches Wunder der Wandlung; gleich- 
wohl dauerte unter den Gelehrten in Karl's des Großen Tagen 
das alte Schwanfen fort, und es gefchah fogar, daß diefelben Kir: 
chenlehrer in verfchiedenen Schriften bald im Sinne der Menge eine 
Umwandlung anerfannten, bald zu der finnbildlichen Deutung fic) 
hinneigten. Karl der Große fihreibt in einem Briefe ) an Alfuin: 
„Ehriftus hat Seinen Jüngern Brod und Kelh als Zeichen (in 
figuram) Seines Leibs und Bluts gereicht, für ung aber 
dadurch eim großes und heilffames Saframent geftiftet.“ Dagegen 
heißt es °) in den Garolinifhen Büchern: „Der Herr hat ung fein 
eingebildetes Zeichen (imaginarium indieium), fondern das 
(ächte) Saframent Seines Bluts und Leibs gereiht. Nicht ein 
Bild vom Beheimniffe des Herrn, fondern die Wahrheit 
muß man es (das Abendmahl) nennen, nicht ein Schatten ift 
e8, fondern der Körper felbft.* Der Bifchof Theodulf von Orleans 
fagt in feinem Buche von der Taufordnung: ©) „im Abendmahl 





i) Heliand, oder die altfächfifhe Evangelienharmonie, herausgegeben 
von Schmeller. München 1850. Ato. — ?) Catalogus testium veritatis Nr. 101 
©. 126. — ?) Siehe den zweiten Band diefes Werks S. 801. — *) Alcuini 
opp. I, 89 gegen unten. — 5) IV., 14. Goldaſt a. a. D. ©, 127 gegen 
unten. — °) Kap. 18. Wbgedrudt Sirmondi opp. II., 695 flg. 


57* 


900 II. Buch. Kapitel 11. 


feiere die Kirche ein heilfames Opfer, indem fie wegen bes Teben- 
digen Brods, das vom Himmel herabgefommen, Brod, und wegen 
Deffen, der fich felbft den wahren Weinſtock genannt hat, Wein 
barbringe, damit das Brod und der Wein durch die fihtbare Dar: 
bringung des Priefters und durch die unfichtbare Weihe des heiligen 
Geiftes in die Würde (in dignitatem) des Leib und Bluts Chriſti 
übergehe“ (transeat). Dffenbar find in diefer Stelle beide Anfichten, 
die magifche und die natürliche, durch einander gemiſcht. Noch 
ftärfer offenbart fich die Unficherheit des Lehrbegriffs in den Schriften 
besienigen Kirchenlehrers, der im neunten Jahrhundert als Haupt: 
zeuge über Gottesdienft und Gebräude gilt. In der zweiten Bor: 
rede feines großen liturgiſchen Werfs Außert ) Amalarius: 
„Saframente müffen Aehnlichfeit mit den Dingen haben, weldye fie 
porftellen. Der Prieſter muß daher Chrifto ähnlich feyn, fowie 
Brod und Wein dem Körper Chrifti ähnlich find. Das Opfern des 
Priefters auf dem Altare gleicht gewiffer Maaßen der Opferung 
Chriſti am Kreuze.“ Ebenderſelbe behauptet in einem Briefe ?) an 
den Bischof Nantgarius, der ihn über den Sinn der Einfeßungs- 
worte befragt hatte: „Chriftus wolle damit fagen: dieſer Kelch ift 
ein Bild meines Körpers, in welchem das Blut fich befindet, das 
zur Erfüllung des alten Gefetses von mir vergoffen werden fol.“ 
Dagegen pflichtet Amalarius an einer andern Stelle ?) feines Buchs 
son den Kirchengebräucden aufs Entfchiedenfte der Bolfsmeinung 
bei: „wir glauben, daß die einfache Natur des Brods und des mit 
Waſſer gemifchten Weins in die geiftige Natur des Leibs 
und Bluts Chrifti verwandelt werde“ (verti). 

Man fieht: widerfprechende Anfichten über eine fehr wichtige 
Lehre wohnten fo nahe bei einander, daß es über. kurz oder 
lang zu einem Kampfe fommen mußte Der Berfall des Neichs 
und der carolinifhen Schulen, verbunden mit der wachfenden Nei: 
gung zum Uebernatürlihen, gab, wie ung fcheint, der myftifchen 
Deutung das Uebergewicht. Ein Dann, den wir fehon öfter zu 
nennen ©elegenheit hatten, unternahm eg, den Bolfsglauben zum 
Dogma zu erheben. Paſchaſius Radbertus wurde gegen Ende 





1) Bibliothee, Patr. max. Lugd. XIV., ©. 935 a. Mitte. — ?) Abgedrudt 
d’Achery spicilegium. Vol. III. "der neuern Folivausgabe ©. 351 a. gegen 
oben. — 3) II, 24 0. a. D. ©. 995 b. gegen oben. 





Innerliche Bewegungen in der Kirche der fränkiſchen Reiche ꝛc. 901 


des achten Jahrhunderts im Bisthum Soißons von armen Eltern 
geboren. ) Da der Knabe in zarter Jugend feine Mutter verlor, 
brachte man ihn in das Kloſter zu unferer lieben Frauen in Soißons, 
wo er feine erfle Erziehung erhielt. Später trat er als Mönd in 
die berühmte Abtei Alteorbie. Sein ehrenmwerther Charafter, wie 
die Fortfchritte, die er in den Wiſſenſchaften machte, verfchafften 
ihm das unbedingte Vertrauen der beiden erlauchten Aebte und 
Brüder, Adalard und Wala. So enge ward fein Schiekfal mit 
dem ihrigen verflochten, daß der Mönch von fich felbft fagen ?) kann: 
„ih war ihr Begleiter auf allen Reifen und gleichfam der Dritte 
unter ihnen bei jedem Gefchäft.“ Radbertus hat als Wala's Ge- 
fährte deffen Verbannung, Leiden und Gram wegen zerfnicter Hoff- 
nungen und gefränfter Baterlandsliebe, welcher zulegt das Herz des 
ehemaligen Grafen brach, getheilt und mitgefühlt, auch den Brüdern 
ein würdiges Denfmal gefegt. Bald nach dem Tode Adalard’s, der 
im Jahr 826 ftarb, fchrieb er ein Leben ?) deffelben, das an 
Salbung und Weitfchweifigfeit weit mehr einer Leichenrede gleicht, 
als einem Geſchichtswerk, aber dennoch viele dankenswerthe hifto- 
rifhe Züge enthält. Weit wichtiger ift feine Biographie ) Wala’s, 
die er kurz nach defien Tode (836) abzufaffen begann. Noch lebten 
damals die mächtigften Feinde Wala’s, Radbertus fand deßhalb ge: 
rathen, durch Fünftlihe Verhüllung fi vor der Rache derfelben zu 
fihern. Er führt Wala wie feine Freunde und Gegner unter er: 
borgten Namen an: der Abt felbft heißt Arfenius, Adalard fein 
Bruder, Antonius, Kaifer Ludwig der Fromme Juflinianus, 
deſſen Gattin Judith Juftina, von den Söhnen des Kaifers aug 
erfter Ehe wird Lothar Honorius, Ludwig der Teutfche Gra— 
tianus, Pipin von Aquitanien Melanius genannt, Herzog 
Bernhard von Septimanien, der Günftling Judith's, den Radbertus 
als Hochverräther und Haupturheber der Unfälle des Reichs hin- 
ftellt, tritt unter dem Namen Nafo und Amifarius auf. Wir 
haben früher erzählt, °) daß Alkuin diefes Verſteckſpiel mit fremden 





") Ueber ihn vergl. man histoire litteraire de la France V., 287 flg. — 
?) Vita Walae I, 14., Mabillon Acta Ord. S. Ben. IV., a. 453 Mitte, oder 
auch bei Perz II., 539 Mitte. — 3) Am Beften abgevdruct bei Mabillon Acta 
Ord. S. Bened. IV., a. ©. 291 flg., im Auszuge auch bei Perz II., 524 fig. — 
*) Ibid, IV., a. ©, 454 flg. und im Auszuge bei Perz II, 533 fig. — °) Siehe 
oben ©, 698. 


902 III. Buch. Kapitel 14. 


Masken liebte und einführte, fowie daß ebenderfelbe den Brüdern 
Wala und Adalard gleichfalls die Namen Antonius und Arfenius 
gab. Außer den oben angedeuteten Nücfichten der Klugheit mag 
baher auch Alfuin’s Vorgang und der falfche Zeitgefchmad, der ſich 
in Yächerlihen Nachahmungen des römischen Alterthums gefiel, den 
Mönd von Corbie beftimmt haben, ſich jenes Kunſtgriffs zu bedienen. 
Der verkehrte Zeitgeſchmack verleitete ihn noch zu-andern Mißgriffen, 
worunter der fchlimmfte der ift, daß Radbertus die Lebensgefchichte 
Wala’s in die platonifche Form eines Geſprächs zwifchen Mehreren 
einfleidete und eine Menge. ungehöriger Dinge herbeizog. Diefer 
Mängel ungeachtet bleibt jedoch das Leben Wala’s eine höchſt wich: 
tige Quelle, in welcher man befonders über die geheime Gefchichte 
Ludwig's des Frommen und. der innerlihen Unruhen » Auffchlüffe 
findet, die in andern Werfen des neunten Jahrhunderts vergeblich 
gefucht werden. Auch ift das zweite Buch der Biographie, das Nads 
bertus erft nach 851 ſchrieb, lesbarer als das erfle, woraus her— 
vorgeht, Daß jene äußeren Hemmniffe, von denen wir eben fprachen, 
die meifte Schuld an der Unvollfommenheit des Werkes tragen. 

- Ms Wala ftarb, befand fich Radbertus nicht bei ihm, ) fon= 
bern er war vermuthlich in das Klofter Altcorbie zurücdgefehrt. Seit 
längerer Zeit hatte man ihn zum DBorfteher der berühmten Schule 
des Stifts beftellt. Mehrere der angefehenften Kirchenlehrer aus der 
Mitte des neunten Jahrhunderts genoßen dafelbft feinen Unterricht, 
wie der Apoftel des Nordens, Ansfarius, Warin, Abt von 
Neucorvey, Hildemann und Odo, welhe nad einander den 
Stuhl von Beauvais beftiegen. Die freien Stunden, welche er von 
feinen Berufsgefchäften erübrigen fonnte, verwandte er auf fehrift: 
ftelferifche Arbeiten. Noch befigen wir mehrere eregetifche Schriften, 
bie er damals abfaßte: eine fehr ausführliche Erklärung zum Evan: 
gelium Matthäus, zwei Commentare über den 44ſten Pfalm und 
bie Klaglieder Jeremiä, 2) eine Abhandlung in drei Büchern über 
die chriſtlichen Haupttugenden: Glaube, Hoffnung, Liebe. 9) In der 
Auslegung des Matthäus fucht er an der Hand älterer Väter vor: 
zugsweife ben biftorifchen Sinn zu ermitteln. Der allegorifchen 





1) Mabillon act, ord. $. Bened. IV., b. ©. 129 oben. — 2) Diefe drei 
Schriften abgedrudt in der von Sirmond beforgten Ausgabe der Werke Rad— 
bert’s. Paris 1618. Fol. — 3) Zuerft herausgegeben von Pez Thesaurus 
anecd. J., in beflerer Geftalt bei Martene collect, amplis, Tom, 1X. 





Innerliche Bewegungen in dee Kirche der fränkiſchen Reiche ıc. 903 


Weife huldigt er ‚dagegen in den beiden Arbeiten über den Pfalm 
und Jeremias; in: der vierten Schrift entwidelt er mit Geſchick als 
Auguſtin's Schüler die evangelifhe Sittenlehre. Im Jahre 844 
ftarb der bisherige Abt des Stifts, Iſaak. Die Brüder wählten 
Radbertus zum Nachfolger, aber die fieben Jahre, während deren 
er der Abtei vorftand, gehörten zu den peinlichften feines Lebens, 
fie wurden ihm durch Ungehorfam und Ränfe der Mönche verbittert. 
Zwiftigfeiten brachen nemlich unter feinem Regiment im Klofter aus. 
Radbertus fuchte die Zucht, welche unter feinem Vorgänger während 
ber Bürgerfriege erfchlafft war, wieder herzuflellen. Mehrere Brüder 
fanden feine Manfregeln zu fireng, zettelten eine Dieuterei an, und 
verließen zulegt das Klofter, um am Hofe Karls des Kahlen dem 
Abte entgegen zu arbeiten. Diefer ſah fich genöthigt, die Vermittlung 
bes Abts Lupus von Ferrieres anzurufen, ) der, wie wir willen, 
beim Könige fehr viel galt. Auch Neid muß mitgewirkt haben, wir 
werden unten Beweiſe mittheilen, aus welden erhellt, daß die Ehr— 
fucht des Minds Ratramnus unabläffig bemüht war, den Abt zu 
verkleinern. Ueberdrüſſig der Plardereien mit geheimen und offenen 
Gegnern legte Radbertus 851 fein Amt in die Hände eines kräf— 
tigern Nachfolgers, Odo, nieder, fuchte feitdem eine Zuflucht im 
Kloſter St. NRiquier, kehrte aber ſpäter nad) Altcorbie zurüd, wo 
er in Uebung möndifcher Tugenden, im Studium der heil. Schrift 
und der Bäter Troft ſuchte. Paſchaſius Nadbertus farb daſelbſt um 
865 den 26. April. 

Das Klofter von Corbie nahm im neunten Jahrhundert unter 
den geiſtlichen Bildungsanſtalten der fränkiſchen Reiche einen hohen 
Rang ein. Es iſt daher natürlich, daß die theologiſchen Streitig— 
feiten, welche damals den Glerus bewegten, einen lauten Wieder: 
ball unter der dortigen Brüderfchaft fanden. Radbertus hat in den 
brei Hauptfragen der Zeit feine Stimme abgegeben, und jedesmal 
trat ihm ein und derfelbe Mönd des Kiofters entgegen. Der Abt 
nahm Theil an der erften Synode zu Chierfey, ?) welche im Jahr 
849 Gotſchalk verdammte. Bald darauf fehrieb der Corbieer Mönch 
Ratramnus für den Gefangenen von Hautvilliers und alfo gegen 
bie Meinung des Nadbertus. Noch vor Verurtheilung Gotſchalk's 





ı) Man vergleiche die Briefe 56 und 57 des Lupus opp. ©. 98 fig. — 
2) Den Beweis bei Mabillon Act, Ord. 8. Bened, IV., b. ©. 129 Nro. 13. 


904 UII. Buch. Kapitel 11. 


war ein gelehrter Zanf über zwei andere Punfte zwifchen Beiden. 
ausgebrochen. Seit den neftorianifchen Stürmen galt es für fromm, 
alle denfbaren Ehren auf das Haupt Maria’s, der Gottesgebärerin, 
zu häufen. Im neunten Jahrhundert nahmen mehrere Andächtige 
Anftoß daran, daß die Himmelsfönigin ihren Sohn, den Welterlöfer, 
auf diefelbe Art, wie andere Weiber, geboren Haben follte. Sie 
behaupteten vielmehr, Chriftus fey bei verfchloffenem Leibe Seiner 
Mutter und auf wunderbare Weife and Licht gefommen. Gegen 
biefe Lehre, die, wie er fagt, von teutfchen Kekern aufgeftellt werde, 
fchrieb der Mönch Ratramnus von Gorbie um 845 eine noch vor: 
bandene ') Streitfchrift. Aus der Bibel wie aus den Vätern führt 
er Beweiſe, dag Maria gleich andern Frauen empfangen und ge— 
boren habe. „Ihre Jungfräulichkeit,“ fagt er, „werde durch die Geburt 
feineswegs aufgehoben, wie die Keser vorgeben. Maria war eine 
gebärende Jungfrau und blieb es auch nad der Entbindung von 
ihrem Sohne. Auch ift es keineswegs fehimpflich für Chriſtus, gleich 
den Übrigen Menfchen geboren worden zu feyn. Bon Natur Flebt 
feinem Gefchöpfe Tadel an, nur die Sünde verunreinigt, diefe war 
aber in Maria durch den heiligen Geift getilgt. Würde dagegen 
Chriftus nicht auf dem gewöhnlichen Wege zur Welt gefommen feyn, 
fo wäre Er aud fein wahrer Menfch und folglih Fein rechter Er- 
löſer.“ Uebrigens braucht Ratramnus in feinem Büchlein Ausdrüde 
und Wendungen, die für Feufche Ohren unerträglich Flingen. Wäh— 
rend nun der Mönch von Corbie die Meinung übernatürlicher Geburt 
als fegerifch verwarf, vertheidigte eben diefelbe der Abt Nadbertus. ?) 
Von vorne herein behandelt er die Gegner als Menſchen, welde 
Die vom heiligen Hieronymus niedergefchmetterte Irrlehre des gott- 
Yofen Helvidius wieder aufzumärmen fich erfrehen. Die Einwen: 
dung, daß Chriftus fein wahrer Menfch fey, wenn Er nicht gleich 
ung geboren ward, weist er mit den Worten ab: „o der blinden 
Trömmigfeit, die fo gottlos von der Jungfrau Maria denft, o des 
groben VBorurtheils, das fo verächtlih von Chriſto fpriht! Sie 
läugnen mit dem Herzen, was fie doch mit dem Munde befennen. 
Chriſtus ift, wenn man fie hört, unter dem Fluche des Gefeges als 
Sohn des Zorns vom Fleifche der Sünde geboren, und die von 





1) Abgedruckt bei d’Achery spicilig. neue Ausgabe Vol. I, 53 flg. — 
2) Opusculum de partu Virginis, abgedruckt ebendaſelbſt ©. 44 flg- 


Innerliche Bewegungen in der Kirche der fränfifchen Reiche x. 905 


den Engeln Gefegnete hat unter der Verdammniß ein Kind zur 
Welt gebradt. Denn wozu anders wollen fie die Herrfchaft bes 
Naturgefeges über Maria ausdehnen, da der heilige Geift fie doch 
ganz befaß, und da Chriſtus von ihr nicht "auf natürliche Art 
empfangen warb.“ Bon folhen Borberfägen aus folgerichtig weiter 
fehreitend, fommt er auf die Behauptung: „weil Maria fchon im 
Mutterleibe geheiligt war, und daher ihre Geburt von der ganzen 
Kirche gefeiert wird, muß man aud zugeben, daß die Erbfünde 
feinen Theil an ihr hatte.“ Auch mit biblifchen Beweiſen fucht er 
die übernatürliche Geburt des Erlöfers zu erhärten. Diefelbe foll 
in den Stellen (Pf. XXIL, 10.): du haft mich aus meiner 
Mutter Leibe gezogen, und (Jeremias XXXI., 22): ber 
Herr wird ein Neues auf Erden fchaffen, das Weib 
fol! den Mann umgeben, deutlich enthalten feyn. — „Wer 
Yäugnet, daß Chrifti Leib aus der verfchloffenen Mutter herausgeben 
fonnte, der vergißt, wie ebenderfelbe Körper über das Waffer wan— 
belte und durch den Stein des Grabes drang.“ 

Da die Gegner durch die Gründe des Abts fih nicht wollten 
überzeugen laffen, fo fügte er feiner Abhandlung noch ein zweites 
Bud) ') bei, von weldem jedoch nur ein Bruchftüd, beftehend in 
der Ermahnung, dem heil. Auguſtinus, der gleichfalls die tiber: 
natürliche Geburt lehre, nicht zu widerfprechen, fowie aus zwei 
Stellen des Sedulius und Laffiodorus, auf ung gekommen iſt. 
Nadbertus bearbeitet in feiner Schrift einen ebenfo figlichen Stoff, 
wie Natramnus, gleichwohl nahm er feinen Anftand, das Werf der 
Aebtiffin des Klofters zu Soißons und ihren Nonnen zu widmen. 
Wir erfahren nicht, welche weitere Folgen das Zerwürfniß zwifchen 
Abt und Mönch hatte, wohl aber, daß der mächtigfte Metropolit 
des neuftrifchen Reichs für Nadbertus Parthei nahm. Hinkmar 
von Rheims billigte ?) die Lehre von der wunderbaren Geburt bes 
Welterlöfers. Selbſt über den Anfang des Streits fehlt es an 
genauen Nachrichten, denn aus der einen wie der andern Schrift 
kann nit mit Sicherheit ermittelt werden, wer von Beiden, Rad— 
bertus oder Ratramnus, zuerft die Feder ergriffen habe. Keiner 
nennt ben Andern mit Namen, doch fpricht der Abt zu Anfang bes 
zweiten Buchs von Münden, welche feine Belehrung annehmen 





1) Ibid. ©. 51 flg. — 2) Opp. I., 631 gegen unten. 


906 IT. Buch. Kapitel 11. 


wollen, was auf Ratramnus zu deuten ſcheint. Unzweifelbar ift 
dagegen, daß dem Mönche die Meinung feines Abts nicht verborgen 
feyn Fonnte. Jedenfalls hat daher Natramnus vorfäglich gegen die 
Anficht des Radbertus gefchrieben. 

Beſſer find wir über die Umftände des dritten Streits unters 
richtet, der das Abendmahl betraf. Schon im Jahre 831, 1) alfo 
geraume Zeit ehe er Abt wurde, verfaßte Ratbertus feine Schrift 
über das Saframent des Altars, welde er dem Borfieher des 
Klofters Neucorvey in Sachſen Warin, widmete. Das Bud er: 
regte damals fein Auffehen, fand feinen Widerſpruch. Dreizehn 
Sahre fpäter, furz nachdem er zum Abt von Corbie erhoben worden, 
überarbeitete Natbertus die Abhandlung ?) von Neuem und über: 
reichte. fie dem Könige Karl yon Neuftrien. Jetzt entftand Lärm. 
Wir müffen zunächft ihren Inhalt ins Auge faffen. Ratbertus be— 
ginnt aljo: „wer mit der Kirche glaubt, daß Gott Alles aus Nichts 
erichaffen habe, der kann nicht bezweifeln, daß der Allmächtige aus 
etwas Vorhandenem ein Anderes zu machen vermöge, Niemand 
darf daher fih an der Behauptung Argern, im Abendmahle fey 
wahres Fleifh und wahres Blut, da es der Schöpfer alfo gewollt 
hat. Sprit nicht Chriftus zu feinen Jüngern: bag ift mein 
Fleiſch für das Leben der Welt. Sa daffelbe Fleifch genießen 
wir im Abendmahl, das yon Maria geboren ward, das am Kreuze 
gelitten hat, und vom Grabe auferftanden ift. Wer dieß unglaub: 
lich findet, der muß alle übrigen Wunder des Herrn in Abrede 
ziehen. — Nichts Größeres hat Chriftus den Seinigen hinterlaffen, 
als das Geheimnig des Altars, das Saframent der Taufe und bie 
heil. Schrift. Denn in diefen dreien wirft der heil. Geift, als Pfand 
der ganzen Kirche, unfer Heil. Indeß unterfcheidet fih das Ge: 
heimniß des Leibs und Bluts dadurch von allen übrigen Wundern, 
daß es für den Glauben, nicht für. die Augen gefchieht. Die an: 
bern Wunderthaten wurden gefehen, auf daß dieſes Eine geglaubt 
werde. Der Leib-und das Blut Chriſti verändern fich deßwegen nicht für 
das Geficht und den Gefchmad, damit der Glaube zur Gerechtigkeit 
geübt werde und feinen Lohn empfange. — Ein jeder Ehrift muß 





I) Die Beweife histoire litteraire de la France V., 294 gegen unten. — 
2) De corpore et sanguine Domini liber am beften herausgegeben von Mar- 
tene vet. script. ampl. collectio Vol IX., 273 flg. | 


Innerliche Bewegungen in der Kirche der fränkiſchen Reiche ꝛc. 907 


wiffen, was er vom Saframent des Leibs und Bluts zu denfen und zu 
glauben hat. Auf daffelbe bezieht fich der Spruch (Revit. XXII. 14.): wer 
vom Geheiligten aus Verſehen ißt, der foll das fünfte 
Theil hinzuthun. Das heißt, wer das Abendmahl genießt, fol 
feine fünf Sinne zum Geiftlichen einwärts fehren, damit er ver- 
ftehe, wie das Erfcheinliche durch Gottes Kraft in Leib und Blut 
Ehrifti umgewandelt wird. Obgleich) aber Taufende täglich dag 
Lamm effen, bleibt e8 doch Iebendig und ganz.“ Der Berfaffer 
entwickelt fofort den Begriff Saframent. „Saframent ift, was 
feierlich von Goit ald Pfand des Heiles alfo übergeben wird, daß 
aus äußerlich fichtbarer Sache etwas Unfihtbares entfteht, welches 
man zum Segen empfangen ſoll. Dergleichen Saframente find: 
Taufe, Salbung, fo wie Leib und Blut des Herren. Doch wird 
das Wort Saframent auch in weiterem Sinne gebraucht für jede 
im Berborgenen ausgeführte göttliche Anftalt. Gleichwie Niemand 
läugnen fann, daß ein jeder Menfh, fo lange er im Mutterleibe 
eingefchloffen ift, unfichtbar die Seele empfängt, fo darf man aud 
nicht bezweifeln, daß der heil. Geift bei der Taufe über die Kinder 
fommt. Ebenſo wenig fann man fi) wundern, wenn derſelbe Geift, 
der den Menſchen Chriſtus im Leibe der Jungfrau ohne Zuthun 
eines Mannes ſchuf, das Wefen des Brods und Weins mit un: 
fihtbarer Kraft in Fleiſch und Blut Chrifti umfchafft, obgleich weder 
Gefiht noch Geſchmack etwas davon merkt. Die Wandlung er: 
folgt aber dur die Worte der Einfegnung, wie aus folgenden 
Stellen der Schrift erhellt: mein Fleifch ift Die rechte Speife, 
mein Blut der rechte Tranf, und noch deutlicher an einem 
andern Orte: wer mein Fleifch iffet und mein Blut trin— 
fet, bleibt in mir und ih in ihm. — Weil man Chriſtus 
nicht mit den Zähnen egen fann, fo hat der Allmächtige es fo ein- 
gerichtet, daß Brod und Wein im Saframent durch die Weihung 
des heil. Geifles der Kraft nah in Fleifh und Blut verwandelt 
und dadurch täglich für das Leben der Welt myftifch geopfert wird, 
indem das Weſen des Brods und Weins auf gleiche Weife myftiich 
in Sleifh und Blut übergeht, wie der heil. Geift in der Jungfrau 
ohne Zuthun eines Mannes einen wahren Leib gefchaffen hat. — 
Weil das Abendmahl ein myflifches Saframent ift, mußte etwas 
Aeußerliches, ein erfcheinliches. Bild dabei feyn. Die Erfcheinlichkeit 
beftebt darin, daß der Priefter, indem er an den Altar tritt, ein 


908 IT. Bud. Kapitel 11. 


Anderes zu thun fcheint. — Vom Abendmahlbrod fingt David bie 
Worte: der Menfh hat Engelbrod gegeffen. Chriſtus ift 
die Speife der Engel, und diefes Saframent ift wahrhaftig Sein 
Fleifch und Blut, das der Menſch myſtiſch ift und trinft. Das 
was die Väter im alten Bunde befaßen, das Lamm des Gefetes 
und das Manna, waren nur Vorbilder, und wenn ihnen aud) 
einige heiligende Kraft inwohnte, fo entfprang diefelbe aus ber 
Gnade des Glaubens, deren wir genießen. Wir aber werden nicht 
mehr mit Schattenbildern genährt, fondern wir empfangen ben 
wahrhaftigen Leib und das wahrhaftige Blut Chrifti. Der Heiland 
fpriht: wer mein Fleiſch iffet und trinfet mein Blut, der bleibt in 
mir und ih in ihm. Darin liegt, daß wer den Leib des Herrn 
recht genießen will, ein Glied Chrifti und ein Tempel des heiligen 
Geiftes feyn muß. Aeußerlich empfahen zwar Alle auf gleiche 
Art das Saframent, aber der Eine ißt das Fleifch Chrifti und trinkt 
Sein Blut auf geiftlihe Weije, der Andere nicht, obwohl er ebenfo 
ben Biffen aus der Hand des Priefters erhalt, Die Confefration ift 
bei beiden biefelbe, aber dem unwürdig Genießenden wird die Kraft 
bes Saframents entzogen, gemäß dem Spruche bes Apoftels: er 
ißt und trinkt ihm felber dag Gericht.“ 

„Die Schrift gebraucht übrigens,“ fährt er weiter fort, „ben 
Ausdrud Leib ChHrifti in dreifachem Sinne. Einmal bedeutet Sein 
Leib die Kirche, und die Auserwählten find dann Glieder diefes 
Leibes. Fürs zweite wird damit gemeint derfelbe Körper des Herrn, 
der aus Maria geboren, auch gefreuzigt und begraben wurde, dann 
auferftanden ift und im Abendmahle ohne Minderung genoßen wird; 
endlich bezeichnet das Wort die heil. Schrift. Wenn der Priefter 
das Abendmahlopfer darbringen will, fpricht er: gieb o Herr! daß 
biefes durch die Hand Deines Engels auf Deinen erhabenen Altar 
vor das Angeficht Deiner göttlihen Majeſtät gebracht werde. Meinft 
bu denn, o Menfch, eben diefes Brod anderswoher zu empfangen, 
als von dem Altar, vor dem es erhoben und dann vom Priefter 
geweiht ward? Wielleicht wendet beine geiftige Blindheit ein: wie 
fann denn foldhes Brod fo gefhwind in den Himmel vor Gottes 
Angeficht gebracht werben, da man bafjelbe doc) ftets in den Händen 
des Priefterg ſiehet. Wiffe: eben darum heißt es ein Saframent oder 
Geheimniß. Wäre Alles fihtbar, fo würde fein Glaube dazu gehö— 
ven, feine verborgene Kraft darin feyn. Lerne daher auch etwas 


Sunerliche Bewegungen in der Kirche der fränkiſchen Reiche ıc. 909 


Anderes ſchmecken, als was man mit ber Zunge verfpürt, etwas 
Anderes ſchauen, als was die Augen erbliden. Fürwahr, das Er- 
habenfte geht hier vor, da das Weſen des Brods und Weins im 
Berborgenen alfo in Blut und Fleifeh verwandelt wird, daß es nad) 
der Einweihung den Gläubigen nur ald Solches erſcheint. — Ob: 
wohl Chriftus blos einmal im Fleifche gelitten und die Welt erlöst 
hat, wird doch das Opfer aus verfchiedenen Urſachen täglich wieder 
holt: erfilih weil wir täglich fündigen und daher täglich eines 
Heilmittel bedürfen. Denn zwar werben uns in ber Taufe alle 
Sünden vergeben, aber die Schwacheit dauert fort. Fürs Zweite 
bat die Kirche, wie ehemals im Paradiefe, einen Baum des Lebens 
nöthig, damit Die, welche davon efien, den Tod nicht fehen. Auch 
darin ift diefer neue Baum des Lebens dem Älteren gleich, foferne 
die Priefter alle Unwürdigen vom Genuffe ausjchliegen, wie einft 
Adam aus dem Paradiefe vertrieben ward. Fürs Dritte dient dag 
Abendmahl dazu, daß die Wiedergebornen, gleichwie fie in ber Taufe 
Chriftum angezogen haben, durch den Genuß des Saframents mit 
ihm förperlih eins werden. Endlich wird das Abendmahl auch deß— 
halb wiederholt, damit wir ung der Leiden des Herrn erinnern, ges 
mäß Seinem Sprude: fo oft ihr Solches thut, follt ihr 
mein gedenfen. Etliche fügen bei, die Wiederholung habe auch 
den Zweck, den Juden den Zugang zum Chriſtenthum zu erleichtern, 
da dieſelben durch das Gefes an ein tägliches Opfer gewohnt find. 
Brod gebraucht die Kirche beim Abendmahle deßhalb, weil Chriftug 
das vom Himmel herabgeftiegene Brod ift, Wein darum, weil ders 
felbe aus vielen Trauben zu einem Tranfe zufammenfloß, und weil 
unfer Herr fich felbft den Weinftocd nannte. Obgleich in den Worten 
ber Einfegung nichts davon zu leſen fteht, daß Chriſtus Waſſer in 
den Kelch goß, wird dennoch Waſſer unter den Abendmahlkelch ge= 
mifcht, weil bei Bollendung des Leidens Blut und Waffer aus der 
Seite des Heilands gefloffen ift. Deßhalb haben die Apoftel, welche 
biefes Geheimniß wohl verftanden, angeordnet, daß man beim Sa= 
frament Wafjer anwenden folle. Einige meinen, es fey darum 
nöthig, Waffer beizufügen, auf daß mit dem Blute auch die Taufe 
und das Löſegeld des Heiles fich verbinde. Cyprian fagt, Waſſer 
bedeute die Kirche, gleicher Weife erklärt der Engel in der Offen: 
barung Waffer für ein Bild der Bölfer. Würde im Abendmahl 
Wein ohne Wafier gebraucht, fo wäre nur Chriftus dargeftellt, aber 


910 I. Buch. Kapitel 11. 


nicht das Volk; nähme man Waffer allein, fo würde nur das Volt 
ba feyn, ohne Chriſtus. Obgleich aber Wein und Waſſer gemifcht 
wird, fo trinft der Glaubige doch nach erfolgter Gonfefration nichts 
als Blut. Wohl zu bemerfen ift übrigens, daß, fofern nur das 
Saframent auf die rechte Weife dargebracht wird, nichts auf die 
perfönlihe Würdigfeit des Priefters anfommt. Der Glaubige em: 
pfängt von einem guten Priefter nicht mehr und von einem fchlech- 
ten nicht weniger, als das Fleifh und das Blut Chriſti. Denn 
nicht durch das Verdienſt des Weihenden, fondern durch das Wort 
des Schöpfers und durch die Kraft des heil. Geiftes wird bewirkt, 
daß wir den zuverfichtlihen Glauben hegen dürfen, im Saframent 
das Fleifh und Blut Chrifti zu genießen. — Der Priefter ſchafft 
keinswegs Blut und Fleifch Chrifti, fondern er bittet den Vater durch 
den Sohn darum. Wohl aber ift er als Priefter Mittelsperfon 
zwifchen Gott und dem Boll, Er ſchickt durch die Hand des Engels 
bas Gebet des Volks zu Gott, und bringt yon Gott die erlangten 
Gaben und theilt fie aus. Nimmermehr foll es dich irren, daß Ge: 
fhmad und Farbe des Fleifches nicht im Saframent zum Borfchein 
fommt. Die Kraft des Glaubens ſchmeckt dennoch Beides im Geifte. 
Sp wie wir in der Taufe die Aehnlichfeit mit dem Tode Chriftt 
erlangt haben, fo erhalten wir durch das Saframent des Altars 
die Aehnlichfeit Seines Fleifhs und Bluts. Gleichwohl fünnen und 
Heiden und Unwiffende nicht befchuldigen, daß wir Menichen: 
fleifch effen und Blut trinfen. — Wer das Leben und bie Thaten 
der Gläubigen gelefen hat, ber weiß auch, daß die Saframente 
des Leibs und Bluts fchon oft, theils um Zweifler zu überführen, 
theild zu Ehren eifriger Freunde Chrifti, fichtbarlih in Geftalt eines 
Lammes, oder auch in der Farbe des Fleiſchs und Bluts erichie: 
nen find. Solches ift z. B. dem frommen Priefter Plegiles 
wiverfahren, nachdem er das Abendmahl öfter über den Körper des 
heil. Ninus gehalten und Gott gebeten hatte, ihn bie unter .. 
und Wein verborgene Geftalt fchauen zu Taffen.“ 

Noch einmal kommt jest Radbertus auf ven Grundfag zurüch 
daß beim Abendmahl, wie bei der Taufe die perſönliche Würdigkeit 
des Prieſters von keinem Gewicht ſey. „Das Wunder geſchieht durch 
die Kraft des Schöpfers und die Worte Chriſti. Darum ſollſt du, 
o Menſch, ſo oft du dieſen Kelch trinkeſt und dieſes Brod iſſeſt, feſt 
überzeugt ſeyn, daß du kein anderes Blut trinkeſt, als das für dich 


Innerliche Bewegungen in der Kirche der fränkiſchen Reiche ıx. 911 


und für Alle zu Vergebung der Sünden vergoffene, und daß bu 
fein anderes Fleiſch genießeft, als das für dich und für Alle dahin: 
gegebene. Gleichwohl darf das Saframent noch immer Brod und 
Wein genannt werden, weßhalb auch der Apoftel fagt: der Menſch 
prüfe fich felbft und alfo effe er von dieſem Brode und 
trinfe von diefem Weine Fleiſch ift es durch die Gnade, 
Brod der Wirfung nad, denn dieſes geiftige Brod ertheilt auf 
gleiche Weife das ewige Leben, wie das irdifche zeitliches, und wie 
irdifcher Wein das Herz des Menfchen erfreut, fo ftärft jener himms 
lifche den inwendigen Menſchen. Wie beim Manna, dem Borbilde 
unferes Saframents, fommt es nicht darauf an, ob der Genießende 
einen Fleinern oder größern Biffen in den Mund befömmt; auch der 
kleinſte Theil würdig empfangen, giebt Leib und Blut des Herrn 
vollfommen. Bor Seinem Leiden hat der Erlöfer das Saframent 
darum eingefegt, um anzuzeigen, daß das Schattenbild des alttefta= 
mentlihen Pascha jest aufgehoben fey. Auch wollte Er an dem 
Beifpiele des Verräthers Judas lehren, daß man das Abendmahl 
ebenfo wohl würdig, als unmwiürdig empfangen könne. Sodann 
fonnten die Keger, wenn der Herr das Abendmahl erft nach Seinem 
Leiden angeorbnet hätte, den Einwurf machen, daß der Leib des 
Herrn nicht mehr auf Erden gegeffen werden möge, nachdem der: 
jelbe unvermwestich in den Himmel aufgenommen worden. Mit Necht 
wird im Saframent Fleiſch und Blut zugleich genoffen. Der ganze 
Menſch, beftehend aus zwei Wefen, wird erlöst, darum fättigt ung 
der Herr zugleich mit Seinem Fleifhe und Seinem Blute. Denn 
nicht die Seele des Menſchen allein, wie Einige fagen, empfängt 
das Geheimniß, fondern auch unſer Fleifch wird durch den Genuß zur 
Unfterblichfeit und Unverweslichfeit erneuert. — Indem Chriſtus erft 
nad dem legten Mahle die Einfegung vornahm, wollte Er andeu: 
ten, daß jet dev Abend des Tags und die legte Stunde gefommen 
fey. Weil die Jünger zuvor das gefegliche Paſcha genoffen hatten, 
waren fie nicht nüchtern. Gleichwohl ift der nüchterne Genuß deg 
Saframents allgemein in der Kirche angeordnet worden. Denn 
es hat dem heiligen Geift gefallen, durch den Mund der Apoſtel zu 
befeblen, daß der Leib und das Blut des Herrn vor allen andern 
Speifen genommen werden folle. Deffen ungeachtet braucht man 
nicht, wie gewilfe apokryphiſche Schriften vorfchreiben , fich fo lange 
gemeiner Speifen zu enthalten, bis das Saframent verdaut iſt. 


912 IH. Bud. Kapitel 11. 


Alles muß hier geiftlich verflanden werden, und jene Schriften 
verdienen Tadel, weil fieunswarnen, das Saframent 
durch die Berdbauung mit dem natürliden Unflat des 
Leibes zu vermifhen. Denn wie kann da von einer foldhen 
Bermifhung die Rede feyn, wo man geiftlihe Nahrung empfängt, 
durch welche ber heil. Geift bewirkt, daß alles Fleifchlihe, das in 
ung ift, in Geiftliches verwandelt wird, — Aus den Worten bes 
Heilands: ich werde hinfort nicht mehr trinfen von die 
fem Gewächſe des Weinftods, bis ih es von Neuem 
genieße im Reiche meines Vaters, haben Einige die Fabel 
von einem irdifchen taufendjährigen Reiche Chrifti erhärten wollen. 
Allein wir verwerfen diefe Anficht als ketzeriſch, und erflären bie 
Worte von dem Kelche des Nachtmahls, in welchem das Blut Chrifti 
allein geweiht werden darf. — Wer das Fleifch Chrifti nicht ift, 
Sein Blut nit trinkt, in Dem bleibt das Leben nit. Wer es 
unwürdig ißt, der ißt fich felber das Geriht. Wer aber ein Sün— 
ber war und fich befehrt hat, der gelangt durch den Genuß wieder 
in den Stand der Unſchuld.“ 

Dieß ungefähr ift der zufammengedrängte Inhalt des merk: 
würdigen Buchs. Nicht blos aus den oben angeführten ) Stellen 
älterer Väter, fondern auch aus den eigenen Worten des Verfaſſers 
erhellt, daß fein Grundgedanke nicht neu war. Befämpft er doch 
Andere, die, wie er, die Verwandlung behaupteten, aber die Folge 
Daraus zogen, daß man, ehe das Saframent verbaut fey, Feine ge: 
meine Speife genießen dürfe, weil ſich funft die Ueberbleibfel des 
Weins und Brods mit dem natürlichen Abgang des Menfchen ver: 
mifchen würden: eine Anficht, die man fpäter mit dem Namen Ster- 
forianismus bezeichnet hat, Mehrere angefehene Kirchenlehrer traten 
in Ratberr’s Fußtapfen, vor Allen Hinfmar von Rheims, der in 
verfehiedenen Stellen feiner Schriften bald mehr bald minder deut: 
lich der Verwandlung das Wort redet. Sp fihreibt ?) er . B. an 
König Karl den Kahlen: „Chriftus hat das Geheimnig unferer Ein: 
heit mit Ihm auf dem Abendmahltifche geweiht. Denn mer Anders, 
als Er felbft, wird täglich auf diefem Tiſche fonfekrirt ? Gott ifl 
gegenwärtig in den Worten der Einfegung, ohne welche fein Abend: 
mahl gereicht wird, Er heiligt felbft fein Saframent und bringt ſich 





) S. 889 fig. — 2) Hinemari Opp. II, ©. 97 Mitte, 


Innerliche Bewegungen in der Kirche der fränfifchen Reiche ıc. 913 


felbft dar, gemäß dem Spruche: dieß ift mein Leib, der für 
Eud dabingegeben wird.“ Und in der nemlichen Schrift ') 
tiefer. unten: „Öfeichwie einige Jünger ſich ärgerten, als fie bie 
Worte Ehrifti hörten: wenn Einer mein Fleifch nicht iffet 
und mein Blutnihttrinft, bleibt er nicht in mir, fprichft 
du vielleicht auch: ich fehe wohl die Aehnlichfeit, aber fein wahres 
Blut! Wiffe aber, Chriftus wirft in Kraft Seiner Rede alfo, daß 
Er die natürlichen Eigenfchaften der Dinge verwandeln Fann, gleichwie 
die Ruthe Mofis in eine Schlange und nachher wieder in eine 
Ruthe, gleichwie der Strom Aegyptens in Blut und nachher wieder in 
Waffer umgefchaffen ward.“ Noch ftärfer erklärt fih für Natbert’s 
Meinung das Bruchftüd eines Kommentars über den erften Brief 
Pauli an die Corinther, deffen Verfaſſer nicht ficher ermittelt 
it, obgleich feifteht, daß das fraglihe Buch dem neunten Jahr: 
hundert angehört. Einige legen e8 dem Bifhof Haymo von 
Halberftadt,?) Andere dem Mönche Remig ius von Aurerre) 
bei, welcher bis gegen Anfang des zehnten Jahrhunderts lebte. In 
dieſem Bruchſtück heißt ) es: „der ſträflichſte Unſinn ift eg, zu be: 
zweifeln, daß Durch die Confefration des Priefters und die Dank— 
fagung, mittelit göttlicher Gnade und geheimer Wirkfamfeit, das 
Weſen des Weins und Brods, das auf den Altar gelegt wird, in 
Leib und Blut Chriſti ſich umwandle. Wir befennen vielmehr und 
glauben feft, daß die Subftanz des Weins und Brods durch befagte 
göttliche Kraft in eine andere Subftanz, nemlich die des Bluts und 
Leibs übergehe. Denn die göttliche Allmacht, welche die Welt aus 
Nichts erfchuf, vermag auch aus jeglichen Ding ein anderes zu 
machen. Zwar bleibt im Leibe und Blute Chrifti, um des Schreckens 
ber, Nehmenden willen, der Gefchmad und die Geftalt des Brods 
und Weins, dennoch if Die Natur dieſer Subſtanzen verwan⸗ 
beit,“ u. ſ. w, | 

Obgleich nun Ratbertug, wie man fieht, nicht allein blieb, 
fehlte doch viel, daß feine Meinung die allgemeine geworden wäre, 
worüber man fich nicht wundern kann, da laut der früher geführten 
Beweiſe bis zu jener Zeit entgegengefeste Anfichten über das Sa: 


) Ibid. ©. 99 gegen oben. — ?) Siehe oben ©. 825. — 3) Weber ihn 
zu vergleichen Histoire litteraire de la France Vol. VI, ©, 99 fig. — *) Abs 
gedruckt bei d’Achery Spicileg. I,, A2 fig. 

Gfrörer, Kircheng. II. 58 


914 IM Buch. Kapitel 11. 


frament des Altars geherrfcht hatten. Der Mönch Druthmar verfteht 
die Einfegungsworte auf bildlihe Weile In feiner Erklärung zu 
Matth. XXVI 26. fagt ) er: „Jeſus gab den Zlingern das Sa- 
frament feines Leibes zur Vergebung ber Sünden und als Band 
der Liebe, Damit fie, diefer Handlung eingedenf, dasjenige ſtets im 
Bilde (in figura) thun möchten, was ber Herr für fie zu thun im 
Begriffe fand, Die Worte: Das ift mein Leib, haben den Sinn, 
es ift mein Leib im Saframente.“ Dben berichteten wir, daß 
Druthmar im Klofter Corbie lebte, folglich kannte er auch ohne 
Zweifel die entgegengefetste Anficht des Abts Ratbertus, und man 
muß annehmen, daß er wider Diefen Parthei ergriffen hat. Natbert 
ſelbſt verhehlt nicht, daß im feiner nächften Umgebung über die 
Abendmahlsiehre Zwiſt ausbrach. „Ich höre,“ fagt ?) er im Com: 
mentar zum erften Evangeliften, „daß Einige mich deßhalb tadeln, 
weil ich in meiner Schrift Über das Saframent angeblich mehr in 
die Worte Ehrifti Hineinlege, als der Erlöfer felbft hineingelegt habe.“ 
Der alte Abt wurde fogar veranlagt, feine -Anficht mittelft einer 
zweiten Abhandlung zu vertheidigen. Ein fonft unbekannter 
Mind, Namens Frudegard, ber vielleicht dem ſächſiſchen Kloſter 
Neucorvey angehörte, hatte ihm allerlei Bedenklichfeiten gegen die 
magifche Erklärung der Einfegungsworte vorgetragen. Namentlic) 
berief fih der Mond auf eine Stelle aus dem Werfe Auguftin’s 
von der Hriftlihen Lehre, wo dieſer berühmte Kirchenlehrer offenbar 
- den Genuß des Leibs und Bluts Shrifti finnbildlich verftehe, und es 
für ein kühnes Wagſtück erfläre, wenn man die Worte des Erlöfers 
anders auslegen wolle, Radbertus fchrieb nun an den Mönch einen 
Drief, >) in welchem er feine Meinung zu rechtfertigen fucht. Er 
gefteht hier ein, daß die wörtliche Erklärung von Bielen miß— 
bilfigt werde, meint aber, wenn aud die Gegner feinen Gründen 
feinen Beifall fchenfen, fo follten fie doch den Worten bes Erlöfers 
‚glauben, der an den vielen Stellen, wo Er von Seinem Fleisch, Seinem 
Leibe, Seinem Blute rede, fein. anderes Fleifch gemeint haben könne, 
als das, weldes von Maria geboren ward und am Kreuze litt, 





N) Bibliothee, Patrum max, Lugdun. Vol. XV., ©. 165 B, gegen unten. 
— 2) Paschasii Radberti opp. ©. 1094 Mitte. — 3) Das Schreiben des 


Mönche ift verloren, man erfieht aber feinen Inhalt aus: ber — erhaltenen 
Antwort Radbert's opp. ©, 1619 flg. 


Innerliche Bewegungen in der Kirche der fränkifchen Reiche ꝛc. 915 


Nimmermehr würde auch das Abendmahl Vergebung der Sünden 
bewirken, wäre nicht in dieſem Sakrament der wahre Leib und das. 
wahre Blut des Heilande. Der von Frudegard angeführten Stelle 
Auguftin’s fest er eine andere entgegen, in. welcher derfelbe Vater 
zu ben Neugetauften pricht: „nehmet Das im Brode, was am Kreuze 
gebangen hat, nehmer Das im Kelche, was aus Chrifti Seite ge-- 
floffen iſt.“ 

Auch ein fremdes Kirchenhaupt, das nicht dem Reiche Karls 
des Kahlen angehörte, der Mainzer Metropolit Rabanus, trat wider 
den Abt von Corbie in die Schranken. - Zwar in gewiſſem Sinn 
erfannte Rabanus, übereinſtimmend mit dem Bolfsglauben, die Wand⸗ 
(ung des Saframents an. In einer feiner liturgiſchen Schriften 
fagt ') er: „wer würde glauben, daß Brod in Fleifh, Wein in 
Blut fih verwandle, wenn nicht der Erlöſer dieß felbft fagte, Er, 
der Brod und Wein gefchaffen und Alles aus Nichts gemacht bat. 
Leichter ift es, ein Ding in ein anderes zu verwandeln, als Alles 
aus Nichts zu erfehaffen.“ Aber die Behauptung Ratberrs, daß 
derfelbe Leib Chriſti, welchen Maria geboren habe, im. Abendmahle 
genoffen werde, fchien ihm allzu ſtark. In einer an den Abt Eigil 
von Prüm gerichteten Abhandlung, von welder ein ftarfes Bruch— 
ſtück auf uns gefommen ?) ift, entwidelt er feine eigene Anficht im 
Gegenjas wider Ratbert, „Jeder. Chrift,“ fagt er bier, „müſſe be- 
fennen, daß wahrhaftes Fleifch und Blut des Herrn im Abendmahle 
genoffen werde, gleichwohl jey die Behauptung, daß wir im Saframent 
dafjelbe Fleifh empfangen, das Marin geboren und das am Kreuze 
gelitten habe, unerhört und irrig. In dreifachem Sinne,“ fährt er 
- fort, „komme das Wort „Körper Chrifti“ bei den heiligen Schrift- 
ftellern vor: einmal bezeichne es die Kivche, zweitens den Leib, welchen 
Maria geboren habe, endlich den Leib, der unter Geftalt von Brod 





) De sacris ordinibus ad Theotmarum cap. 19. Opp. ed. Colvener 
vol. VJ., ©. 58 a gegen oben. — ?) Lange Zeit hat man diefe Schrift für 
verloren gehalten, bis Mabillon unter dem Titel: dieta cujusdam sapientis de 
eorpore et sanguine Domini adversus Radbertum einige Sragmente auffand, 
und als das fragliche Werk des Rabanus erkannte. Abgedr. find fie Act. O. S, B. 
IW., b. ©. 601 flg. (der Benetianer Ausgabe). Kunftmann behauptet in 
feiner Monographie über Rabanus (S. 157 Note), die Magdeburger Eentu: 
ziatoxen hätten eine vollſtändige Abfehrift des Buchs befefien, allein ich kann 
die Beweisftellen, auf die er ſich beruft, nicht auffinden. 

58 * 


916 11. Bud. Kapitel 11. 


und Wein durch den Priefter täglich dargebracht werde. In biefer 

dreifachen Bedeutung fey der Begriff der Natur nad einer, der 
Art nad (specie) aber yerfshieden.“ Bon Neuem tabelte er die 
Erflärung Ratbert’s in einer Zufchrift, I dierer 854 oder 855 an 
den Bischof Heribald von Aurerre erließ, wobei er benfelben zugleich 
auf obige Abhandlung verweist: „Gewiſſe Leute haben neulich über 
das Abendmahl des Herrn die irrige Anficht ausgefprochen, als ob 
im Saframent derfelbe Leib und daffelbe Blut genoffen würde, 
welches die Jungfrau gebar, und in welchem der Herr am Kreuze 
gelitten hat, auch vom Grabe auferftanden if. Sp weit meine 
Kräfte reihen, habe ich diefen Irrthum in meinem an den Abt 
Eigil gerichteten Buche zu widerlegen gefucht.“ 

Doch der gefährlichſte Gegner Ratbert's erhob ſich in deſſen 
eigenem Kloſter. Auch in der Frage wegen des Abendmahls glaubte 
der Mönch Ratramnus ſeinen Abt bekämpfen zu müſſen. Er ſchrieb 
gegen denſelben ein Buch, *) das er aus Gründen, die er anzu: 
führen nicht unterläßt, dem Könige von Neuftrien widmete. Im 
der Borrede fagt er nemlih, Karl der Kahle habe ihm befohlen, 
über das Werk des Natramnus ein Gutachten abzugeben. Die 
Beranlaffung der Schrift war Daher für den Abt ebenfo demüthigend, 
‚als die Schrift an fih. Wir vermuthen, daß der Mönd) den fünig- 
lichen Auftrag durch feine Künfte hervorgerufen haben dürfte. Jeden: 
falls macht derfelbe Karl dem Kahlen wenig Ehre. Diefer Schwäd): 
ling, unter deſſen Regiment die Krone zu einem Schatten herabfanf, 
liebte es, als Gelehrter und Redner zu glänzen, er wollte nament- 
ih in den kirchlichen Streitigfeiten feiner Zeit den Schiedsrichter 
ſpielen. Da er hiezu fremder Hülfe bedurfte, fiel er in bie 
Hände gelehrter Ränkeſchmiede, die fih an ihn drängten, und gab 
dadurch, ohne es zu merken, der von feinem erlauchten Ahn ges 
gründeten Drdnung den Todesftoß. Denn faum führt ein anderes 
Mittel fiherer zur Auflöſung aller Firchlichen Zucht, als wenn man, 
wie Karl that, Untergebene auffordert, ihre Vorgeſetzte anzuflagen. 
Ratramnus fieht freilich) die Sache anders an. Im Eingange feines 
Buchs lobt er den Befehl Karl's über die Maaßen, es fey eines 





1) Ebenfalls abgedrudt bei Mabillon ibid. ©, 606 unten flg. — 2) De 
corpore et sanguine Domini liber, öfter gedruckt, ich gg Die Ausgabe 


Amfterdam 1717. 1210. franzöfifch und lateiniſch. 


Innerliche Bewegungen in der Kirche der fränkifchen Reiche ce. 917 


großen Königs würdig, meint er, Vorkehrungen zu treffen, damit 
nicht unter feinen Unterthanen Zwieſpalt über eine Lehre ausbreche, 
von welcher Das Heil der Menfchen abhänge. Dann berichtet er, der 
König habe ihm folgende zwei Fragen geftellt: 1) ob Leib und Blut 
EHrifti im Abendmahl auf bildiiche Weife (in mysterio), oder nad) 
firengem Wortverftande (veritate) empfangen werde; 2) ob es 
derfelbe Leib fey, der von Marien geboren ward, gelitten hat, vom 
Tode erftanden ift und zur Nechten des Vaters fist? | 

Um den Weg zu Beantwortung der erften Srage anzubahnen, 
beginnt er mit einer kurzen Entwidlung der Begriffe Geheimniß 
oder Bild und Wirklichkeit. „Ein Bild oder Geheimniß findet flatt, 
wenn man Das, was eigentlich gefagt‘ werben fol, unter etwas 
Anderem verhüllt, z. B. wenn man für Wort Gottes die Redeweiſe 
Brod gebraucht. Wahrheit aber ift der nadte Ausdruck einer- Sache, 
wie 3. DB. der Sa: Ehriftus warb von einer Jungfrau geboren. 
Demgemäß muß man im Abendmahl ein Bild oder Geheimniß an: 
erfennen, denn das Brod, das durch den Dienft des Priefters zum 
Sleifche wird, zeigt Außerlich den Sinnen etwas Anderes und hin- 
wiederum etwas Anderes dem Gemüthe des Gläubigen. Aeußerlich 
bfeibt Geftalt, Farbe und Geſchmack des Brods, das vorher da 
war, innerlich aber ift etwas Himmlifches und Göttliches vorhanden, 
nemlich der Leib Chriſti, der blos von der glaubigen Seele gefchaut 
- und genoffen wird. Ebenfo verhält es fich mit dem Wein. Daraus 
folgt denn, dag im Abendmahl Brod und Wein auf figürlide 
MWeife (figurate) Chrifti Leib und Blut if. Denn das finnliche 
Auge erfennt weder Fleisch im Brode, noch Blut im Weine, und 
doch wird das Saframent nach erfolgter Einfegnung nicht Brod 
mehr oder Wein, fondern Chriſti Leib und Blut genannt. Wollte 
man bier, wie Einige verlangen, nichts figürlich, fondern Alles 
wörtlich nehmen, jo würde der Glaube im Abendmahl nichts 
zu Schaffen haben, weil nichts Myſtiſches gefchähe. Und doch ift der 
Glaube, wie der Apoftel fagt, auf das Unfichtbare gerichtet. Auch 
wäre es Wahnfinn, Brod für Fleifh, Blut für Wein zu erflären. 
Eine Außerlihe Verwandlung geht im Saframente nicht vor, denn 
das Auge fieht nichts Anderes, als was es vorher auch ſah, wohl 
aber eine unfichtbare, denn der Herr fpricht ja: nehmet hin und 
efjet, Das ift mein Leib. Sekt man daher Denjenigen ernfilich. 
zu, welche die figürliche Erklärung verwerfen, und fordert fie auf, 


918 IT. Bud. Kapitel 14. 


zu fagen, in welcher Rückſicht denn eine Veränderung erfolgt fey, 
fo fommen fie nothwendig ins Gedränge, und Nichts bleibt ihnen 
übrig, als zu läugnen, was fie doch zu bejahen fcheinen, oder ben 
Glauben zu vernichten. Denn entweder müffen fie befennen, daß 
hier eine andere, als eine körperliche Wandlung vorgehe, oder aber 
Yiugnen, daß im Abendmahl Blut und Leib Chriſti ſey. Da num 
aber Lesteres in Abrede zu ziehen ruchlos wäre, fo folgt, daß bie 
Wandlung eine figürliche ift, fofern unter der Hülle des Förperlichen 
Brods und Weins der geiftliche Leib und das geiftliche Blut Chrifli 
erfcheint. Nicht zwar, als ob zwei weſentlich verfchiedene Dinge, 
Körperliches und Geiftiges, wirklich vorhanden wären, fondern es ift 
ein und berfelbe Gegenftand, der in gewiſſer Hinficht unter Geftalt 
deg Brodes, in anderer aber als Leib und Blut.Chrifti beſteht.“ 
Ratramnus fucht fofort feine Anficht durch Vergleichung mit der 
gemeinen Waffertaufe, wie mit der myflifchen dur Meer und 
Wolfe, von welcher Paulus (1. Cor. X.) fpricht, zu erhärten.: Das 
Taufwaffer ift an ſich Außerlich etwas Verwesliches, Doch waſcht es 
dur) den Zutritt des heiligen Geifles Sünden ab. Die Wolfen 
und das Meer, durch das die Israeliten zogen, waren fogar nur 
Borbilder der Taufe, aber in Kraft des heiligen Geiftes bewirften 
fie die Reinigung des Bolfs. Ebenſo verhält es fih mit dem Abend: 
mahl u. ſ. w. | 

Auf die zweite Frage übergehend, ') die eigentlich ſchon in der 
erften beantwortet ijt, ftellt er einen Ausfpruch des heil. Ambrofiug 
voran, aus welchem erhellen foll, daß im Abendmahl von feinem leib— 
lichen Eſſen des Leibs Ehprifti die Rede feyn könne. „Ambroſius,“ 


ſaagt er, „erfennt eine Wandlung an, und zwar- eine wunderbare, 


weil fie göttlich, eine unnusfprechliche, weil fie über alle Begriffe 
erhaben ift. Aber in welchem Sinn erfolgt Die Veränderung ? Ihrem 
förperlichen Weſen nach bleiben die Beftandtheile des Nachtmahls, 
was fie früher waren, nemlich Brod und Wein. Folglich iſt es 
blos eine innerliche Veränderung durc bie mächtige Kraft des heil. 
Geiftes, und blos dem Glauben fichtbar, der die Seele nährt, Die 
Gegner fagen zwar: der Leib Chrifti fey es, den man genieße, 
Sein Blut, das man trinke; nicht fragen dürfe man, wie es gefchehe, 
fondern man folle fi mit der Thatfache begnügen. Wir geben Dieß 





Aa. O. ©. 254 unten flg. 


Innerliche Bewegungen in ber Kirche der fränkiſchen Reiche c: 919 


zu, behaupten aber, eben weil man es glauben muß, fieht man es 
nicht. Ambrofius nennt zwar das Brod den Leib Chrifti, aber giebt 
ihn für Feine Teiblihe Speife aus. Das Brod und der Wein find 
nicht dem Außerlichen Anblide nach Leib und Blut Chrifti, fondern 
fraft geiftlicher Wirkung. Der Körper, in welchem Chriftus gelitten 
bat, war, was er ſchien, ein Körper. Dagegen ift das Blut, 
das die Gläubigen trinken, der Leib, den fie effen, ein anderer der 
Geftalt und wieder ein anderer der Bedeutung nach. Hieronymus 
‚macht denfelben Unterfchied. Das Fleifch, welches gefveuzigt wurde, 
war vom Fleiſche der Jungfrau gemacht, durch Beine und Nerven 
zufammengefügt, durch eine vernünftige Seele belebt. Das geiftige 
Sleifh dagegen beſteht nach feiner Außern Geftalt aus Mehl, hat 
feine Beine, Nerven und dergleichen. Was ihm Leben wirkende 
Kraft ertheilt, iſt geiftiger Art, unfichtbarer, himmliſcher Wirkung, 
und ift von Dem, was Außerlich erfcheint, völlig verfchieden. Auch 
muß man bebenfen, daß im Brobe des Nachtmahls nicht blos Chrifti 
Leib, jondern auch das an Ihn glaubende Volk abgebildet wird. 
Sleicher Weiſe miiht man dem Weine, welcher das Blut Chrifti 
beißt, Waſſer bei, weil Waffer ein Bild des Bolfes iſt, das von 
dem Herrn nicht getrennt werben darf. Sollte nun der vom 
Priefter geweihte Wein wie das Brod körperlich in Fleiſch und 
Blut Chriſti verwandelt werden, fo würbe derfelbige Wein und 
baffelbe Brod auch in Leib und Blut des Bolfs umgefchaffen, was 
Niemand je behauptet hat. Hiezu fommt noch, daß der Leib Chriſti, 
welcher geftorben ift und hernach auferftand, jest Unfterblichfeit- bes 
fügt, der Leib. Dagegen, welcer in der Kirche dargebracht wird, iſt 
zeitlich und der Verweſung unterworfen. Beide fönnen daher nicht 
einerlei feyn. Wie mag man alfo noch Brod und Wein den wahren 
Leib Ehrifti und Sein wahres Blut nennen! Was äußerlich er: 
fcheint, ift nicht die Sache felbft, fondern ein Bild der Sade, was 
aber im Geifte empfangen wird, das ift die wirkliche Sache. End: 
lich lehrt der Herr felbft in den Worten der Einjegung, und hernad) 
Paulus (1. Cor. XL, 23. fg), daß Brod und Wein, die auf den 
Altar gefeut werben, ein Bild oder Andenken Seines Todes jeyen, 
Einft, wenn wir zur Anſchauung Chrifti gelangen, werben wir folder 
Mittel der Erinnerung nicht mehr bedürfen. Doc fey damit nicht 
gefagt, dag der Glaubige nicht wirklich den Leib und das Blut bes 
Herrn empfahe. Denn der Glaube hält ſich nicht an das — 


920 "II. Buch. Kapitel 11. 


fondern an das Unfichtbare, Das Saframent ift eine geiftige Speiſe und 
ein geiftiger Trank von geiftiger Wirfung. Der Geift ift es, fagt 
der Heiland, der da lebendig macht, das Fleifch aber ift Fein Nütze.“ 

Obwohl Ratramnus eine Förperlihe Wandlung läugnet, be— 
hauptet er doch die wirfliche, ich möchte fagen, leibhafte Gegenwart 
des Fleiſchs und Bluts Chrifti im Abendmahl. Warum er dieg 
thut, iſt leicht zu zeigen. Der allgemein verbreitete Glaube, daß 
das Saframent des Altars die größten Geheimniffe und Wunder in 
fich fchließe, zwang ihn dazu. Kein Theologe darf offen der Stimme - 
des Bolfes trogen. Aber durch diefes Zugeftändniß wird Ratramnus zu 
zahllofen Sophismen hingeriſſen, von denen offenbar fein Werk wim: 
melt. Deutlich erhellt aus demjelben, daß es nur zwei folgerichtige 
Meinungen über das Abendmahl giebt: die Zwinglifche und bie 
katholiſche, alle andern führen zur Halbheit. Der Abt Pafchaftus 
Ratbertus gieng den geraden Weg, er blieb überdieg, was noch 
mehr werth ift, mit fich felber im Einklang. Durch bittere Lebeng- 
erfahrungen verbüftert, fucht er in mönchifcher Frömmigkeit Troft, 
nimmt die Bibel und den Kirchenglauben nad) dem Wortfinne, und 
fpricht was die Zeit fühlt, ahnt, für wahr hält, unbekümmert um 
die Einwendungen des Augenfcheing, in dogmatifchen Formeln aus. 
Die Fatholiiche Lehre von damals war voll Wunder. Was hilft es, 
wenn man eines, wie Ratramnus thut, abzufchneiden oder vielmehr 
zu verdünnen ſucht; die Andern bleiben doch! Diefelbe Stimmung 
offenbart fih in fümmtlihen Schriften des Abts. Er verfährt in 
der Frage von der Geburt Marias nach den nämlichen Grund: 
fügen, wie in der Abhandlung über das Abendmahl, und wenn er 
in den Gotſchalk'ſchen Händeln etwas yon der Richtſchnur Augufti- 
niſcher Rechtgläubigfeit abweicht, fo beweist dieß feinen Wechfel der 
Farbe, denn die Bedürfniſſe des Predigtamts nöthigten hier zur 
Nachgiebigkeit. Natbertus ift, was er ift, ganz. Anders verhält es 
fih mit feinem Gegner. Der Mönch, welcher in der Abendmahlsiehre, 
wie in der Frage von der Geburt Chrifti, die Fahne „ver Bernünftigfeit“ 
aufftedt, vertheidigt in den Handeln Gptfchalt’s den firengften Su: 
pranaturalismus und ift im Streite gegen die Griechen noch ortho— 
doxer, als die Kirchenfymbole. Trefflich weiß er den theologifchen 
Mantel nah dem berrfchenden Winde zu drehen. Seine fertige 
Feder und fein Geſchick mag man bewundern, nicht aber feine Red⸗ 
lichfeit. Für die Gefchichte hat der Zank über das Abendmahl noch 


Innerliche Bewegungen in’ der Kirche der fräntifchen Neiche ꝛc. 921 


eine befondere Bedeutung. Wie in den Gotfchalffchen Händeln 
niedere Gferifer gegen die hohen Würdenträger fich verſchwören, fo 
ſtellt Hier ein Mönch feinem Abte gelehrte Schlingen. Beide Er: 
fcheinungen hängen aufs Engfte zufammen und ergänzen ſich. Hier 
und dort tritt das Beftveben hervor, im Klofter wie in ber Kirche 
die beftehende Ordnung umzuftürzen, das Obere nad Unten zu 
fehren. Die von Karl dem Großen gegründete —— ſinkt in 
Trümmer, Alles eilt der Auflöſung zu. 

Noch ein Dritter, den wir von Früher her fennen, gab in der 
Frage vom Abendmahl feine Stimme ab. Aus Haren Beweiſen 
geht hervor, daß auch der Skote Johannes Erigena wider Pafcha- 
ſius Ratbertus gefchrieben hat, obgleich wir das betreffende Buch) 
nicht mehr befisen. Hauptzeuge ift Hinfmar von Rheims. Derfelbe 
fagt nemlich in feiner großen Schrift !) über die Präbeftination: 
der Skote habe außer andern Ketzereien auch die vorgebracht, daß 
Brod und Wein im Abendmahle niht wahres Fleifd 
und Blut des Erlöſers, fondern nur ein Denfzeiden 
(memoria) Seines wahren Leibes und Blutes feyen. 
Wenige Jahre fpäter, vielleicht gar zur nemlichen Zeit, verfaßte ein 
Mönd Namens Adrevald,?) der bis gegen Ende bes neunten 
Sahrbunderts im Klofter Fleury blühte, unter dem Zitel: „wider bie ab- 
geſchmackten Meinungen Erigena’s vom Abendmahl,“ ein noch vorhan⸗ 
benes Bud), ?) in welchem er aus zufammengeftoppelten Stellen der 
Väter darzuthun fich bemüht, daß mit Brod und Wein eine wahrhafte 
Wandlung vorgehe. Unmöglich Fonnten nun Adrevald und 
Hinfmar alfo gegen den Sfoten ſich ausfpredhen, hätte dieſer 
nicht durch Ausarbeitung irgendeiner Schrift Antheil an dem Abend: 
mahlsftreite genommen, und zwar muß Erigena wider Paſchaſius 
Ratbertus und für bildliche Deutung der Einfegungsworte gefchrie: 
ben haben. %) Aus Mangel genügender Nachrichten läßt fih nichts 





) Opp. I., 232 Mitte. — 2 Ueber ihn zu vergleichen Histoire lilteraire 
de la France, V., 515 fl. — °) De corpore et sanguine Christi contra 
ineptias Johannis Scoti abgedrudt bei d’Achery spieileg. neue Ausgabe 
‚ Vol. L, 150 fig. — + Faſt alle guten Schriftfteller der älteren Zeiten, nament- 
lich Mabillon und feine Ordensbrüver, die Verfaffer der Gelehrtengefchichte 
Frankreichs, nehmen an, daß Erigena die fragliche Schrift abgefaßt habe. Nur 
Petrus de Marka macht eine Ausnahme, indem er die Behauptung aufftellt 
(d’Achery spici). IIT., 852), daß die vermeintlichen zwei Schriften Des Ratramnus 


922 2: HE Buch. Kapitel 11, 


Weiteres über den Inhalt des fraglichen Buches ermitteln. Da: 
gegen erfiebt man aus der angeführten Stelle Hinkmar's, daß dieſer 
Metropolit zu der Zeit, da er fein Werk über die Prädeftination 
abfaßte, nicht mehr gut mit bem Hofgelehrten fand. Erbittert durch 
bie Berbrießlichfeiten, welche ihm der Unverftand des Sfoten in den 
Gotſchalk'ſchen Handeln zugezogen, giebt er denfelben Preis. 

Die fehriftftellerifche Thätigkeit des Sfoten war mit ben Ar- 
beiten, die wir bisher genannt, nicht erſchöpft. Während feines 
Aufenthalts am neuftriihen Hofe — man weiß nicht, in welchem 
Jahre — verfaßte er fein umfangreichfteg und berühmteftes Werk 
über die Theilung der Natur, ') das großen Lärm erregt haben 
muß. In fünf Büchern, welche die platonifche Form eines Geſprächs 
zwiſchen Schüler und Meifter haben, trägt er bier eine chriftfiche 


und Erigena, genau bejehen, nur eine feyen, die dem Skoten angehöre. Diefe 
Anficht wurde jedoch durch Mabillen gründlich widerlegt. In feinen Akten 
des Benediktinerordens (Vol. IV., b. praefatio Nro. 81 flg.) führte dieſer 
ansgezeichnete Mann den Beweis, daß die Schrift, welche wir noch befißen, 
das unbezweifelbare Werk des Ratramnus ift. Neuerdings hat ein teutfcher 
Gelehrter, Laufs, Ctheologifche Studien und Critiken 1828, ©. 755 flg.) der 
Vermuthung des Parifer Erzbifhofs eine andere Wendung zu geben verſucht, 
indem er behauptet, Stotus habe nie über das Abendmahl geſchrieben, nur 
aus Verwechslung mit ver Schrift des Ratramnus legen ihm Berengar und 
die Abendmahlstämpfer des eilften Jahrhunderts ein ſolches Buch. bei. -Laufs 
ftügt fird auf folgenden Grund: Stellen, welche aus Erigena’s angeblichen 
Buche von Berengar und Aszelin angeführt werden, finden fich faft wörtlich 
in der Schrift des Natramnus wieder. Beide feyen alfo offenbar mit einan- 
der verwechfelt. Um fovann das eben angeführte Zeugniß Hinkmar's und des 
Mönchs Adrevald zu entkräften, erfühnet fih Laufs, den Satz auszufprechen:: 
Hinfmar und der Mönch von Fleury müſſen fich gleichfalis geftoßen haben. 
Ich entgegne: mit folcher Kritit kann man Alles aus Allem machen. Hink— 
mar und Adrevald waren Zeitgenoffen Erigena's und namentlich wußte der 
Erſtere ſehr gut, was am neuſtriſchen Hofe vorgieng, wohin Ratramnus und 
Erigena ihre Bücher richteten. Daß in den Streitſchriften Beider ähnliche, 
oder vielleicht auch dieſelben Gedanken vorkommen mußten, liegt in der Natur 
der Sache. Man leſe die Schriften zweier oder mehrerer Abendmahlskämpfer 
aus der Reformationszeit, ob nicht in ihnen ein und daſſelbe Lied geſungen 
wird! Im AUebrigen kann man ſogar zugeben, daß im eilften Jahrhundert 
Manche die Schrift des Mönchs von Corbie mit der damals bereits verlor- 
nen Arbeit des Stoten verwerhfelt haben mögen. Deßwegen fteht doch das 
Zeugniß der beiden Zeitgensffen Hinkmar und Adrevald feſt. — Y De divi- 
sione malurae libri quinque, Oxonii 1681. Fol. 


Innerliche Bewegungen im der Kirche der fräntifchen Reiche ıc.. 923 


Metaphyſik befonderer Art vor. Die Grundlage ift aus dem wiel- 
betvunderten Areopagiten ) und dem äfteften Erklärer deffelben, dem 
byzantinifchen Mönche Maximus ?) entnommen, aber dem fremden 
Erbftücde fügt Erigena Stoff aus eigener, meift fehr nebelhafter, 
zumeilen auch fcharfiinniger Erfindung bei. Deutlicher ald aus. ber 
Schrift über die Pradeftination erfennt man aus diefem Werke bie 
MWeife des Mannes. Wir wollen, fo weit wir ſolches Spinnegewebe 
feft zu faffen vermögen, ein zufammenhängendes Bild feiner Ideen 
zu geben ſuchen. „Alle natürliche Erfenntniß Gottes, die der Menſch 
befist, bewegt fich in Gegenfägen, fie ift entweder eine verneinende 
oder bejahende. Die verneinende Theologie läugnet, daß Gottes 
Wefen etwas von dem Seyenden ift, die bejahende dagegen: legt 
Ihm alles Seyende bei, nicht um es an und für fih von Ihm 
auszufagen, fondern nur um von dev Wirfung auf die Urſache zu: 
vüdzufchließen. Sie fagt daher von Gott, daß Er die Wahrheit, Güte, 
Gerechtigkeit, Weisheit fey. Diefen Begriffen fteht jedoch ein ent- 
fprechender Gegenfas, wie Falſchheit, Bosheit u. fs w. alſo gegen: 
über, daß das eine Glied des Gegenfates von dem andern nicht 
getrennt werden mag. Wenn man daher Eines von. Gott bejaht, 
muß man das Andere von ihm läugnen. Dadurd wird Gott felbft 
in ben Kreis der Gegenfäge berabgezogen. Dieß ift aber nicht möglich. 
Denn das vollfommenfte Wefen muß über allen Gegenfäsen feyn, 
- weil ed nicht mehr das Bollfommenfte wäre, wenn ein Anderes von 
ihm unterschieden würde Nur die durchfichtigfte Einheit kann es 
feyn. %) Streng genommen darf man von Gott nicht fagen, daß 
Er die Güte, die Wahrheit fey, denn Er ift mehr als Güte und 
Wahrheit, auch Wefenheit fann man Ihm nicht beilegen, da dem 
Seyn das Nichtfeyn gegenüberftebt; Gott ift über dieſes getheilte 
Seyn hinaus, Er ift überwefentlich, mehr als Alles, über Alles. 
Wer aber Gott Überwefentlich nennt, fagt nicht, was Er ift, fondern 
was Er nicht ifl. Ungertrennlid verbunden mit der bejabenden 
Theologie ift die verneinende, und Lettere hat fogar das Ueber: 
gewicht. Deßhalb Fünnen auch die zehn ariſtoteliſchen Categorien 
auf das reine güttliche Seyn nicht angewendet werden. Da nun 
aber die hriftliche Dreieinigfeit ein Verhältniß der drei Perfonen zu 





') Siehe den zweiten Band ©. 903 fig. — 2 Siehe ebendafelbft ©. 911 
und II. 62 flg. — ®) I, 15. ©. 9 unten flg. 


9a m II. Buch. Kapitel 11. 


‚einander ausfpricht und hinwiederum der Begriff „Verhältniß“ unter 
die Kategorien fällt, fo folgt, daß die Trinität vom reinen Urfeyn 
nicht gilt, Wirklich trägt Erigena fein Bedenken, Vater und Sohn 
in Bezug auf das Urfeyn für bloße Namen zu erflären.!) Er fagt, 
feine einzelne Eigenfchaft könne von dem Ewigen ausgefagt werben. 
Es giebt in Ibm feinen Unterfchied des Wollens und Seyns, des 
Schaffens und Erfennens; ja nicht einmal, daß Gott fich felbft weiß 
und erfennt, mag man behaupten. *) Aber wie geht nun aus biefer 
durchfichtigften Einheit, aus diefem ALU, das zugleich. Nichts iſt, der 
Gegenſatz zwiſchen Schöpfer und Gefchöpf, zwifchen Endlichem und 
Unendlihem hervor? wie entfieht eine Welt? Als Antwort zahlt 
Erigena vier Formen auf,?) in welche die Natur, die er Einheit 
des Seyenden und Nichtfegenden nennt, nad ihrer Verſchiedenheit 
zerfallen foll. Die erfte Form, behauptet er, fchafft und wird nicht ge= 
Ichaffen, die zweite Schafft und wird gefchaffen, die dritte fchafft nicht 
und wird gefchaffen, die vierte Schafft nicht und wird nicht gefchaffen. 
Mit dem Unterfchied diefer vier Formen ift der Unterfchied zwifchen 
Schöpfer und Gefchaffenem gegeben. Wie verhalten fie fih nun 
zu einander? Der erften fteht die dritte, ber vierten bie zweite 
entgegen, gleichwohl find fie auch wieder eins. Die erfte und vierte 
Form find eins, weil fie nur von Gott verftanden werden fünnen, 
denn wie Gott der Urgrund des Gefchaffenen iſt, jo ift Er auch das 
Ziel, nach welchem alle Creatur ftrebt, um zur unwandelbaren Nube 
zu gelangen. Er fchafft, fofern von Ihm die unendliche Bielheit 
ausgeht, weil aber Alles wieder zu feinem Anfang zurüdftrebt, ift 
Er auch das Ende von Allem, und man kann von Ihm weder 
fagen, dag Er Schafft, noch daß Er geichaffen wird, denn wenn 
Alles in Ihn zurückgekehrt iſt, geht nichts mehr durch Erfchaffung 
von Ihm aus, fondern ruht ewig in feiner Einheit. Die erfte und 
vierte Form können in Ihm nicht unterfchieden werden, fie find in 
Ihm nicht zwei, fondern Eins. Aber auch die zweite und dritte 
Form läßt fih auf Eine zurücführen. Denn wenn man fagt, die 
eine werde geſchaffen und fchaffe, die andere fchaffe nicht und werde 
geichaffen, fo ift dieß nur der Unterfchied zwifchen ürſache und Wir: 
fung; beide aber, Urſache und Wirkung, fallen zufammen in dem 


— —— — — 


SB rg ee — 1, 1.©. 1, und 
I, 1,2. ©. 45 fig. 


Innerliche Bewegungen in der Kirche der fränkiſchen Reiche ꝛc. 025 


Begriffe der gefehaffenen Natur. Die vier Formen kommen daher 
auf zwei zurück, nemlich auf die beiden Begriffe „Schöpfer und 
Geſchöpf.“ Erigena fagt nun: N die beiden mittleren Formen feyen 
in der Natur felbft gegründet, anders aber verhalte es fi mit der 
erften und vierten, ihr Unterfchied beruhe nemlih nur auf unjerer 
Betrachtungsweife, fofern wir uns Gott anders vorftellen, je nad: 
dem wir Ihn als Urgrund betrachten, und wieder anders, je nad: 
dem wir in Ihm das Ziel aller Dinge ſehen. Der Unterfchied 
zwifchen Welt und Gott ift alfo fein wahrer, fondern ein erfchein- 
licher, vermöge der Vorftellung. Worin hat nun aber die Verfchie- 
denheit zwifchen Seyn und Borftellen ihren Grund? Erigena be: 
antwortet diefe Frage durch den Begriff von Theophanien. Die 
Art und Weife, wie Gott der vernünftigen Greatur, nach dem 
Grade der Empfänglichfeit einer jeglichen, ſich offenbart, heißt er ?) 
Theophanie. Er fagt:?) „das an fi unbegreifliche, göttliche Ur: 
wefen erfcheine auf wunderbare Weife, fobald es mit der geiftigen 
Greatur in Berbindung trete; ebenſo an einer andern Stelle: *) 
„weder wir Menfchen, noch die Engel fchauen Gott an ſich, denn 
bieß ift aller Creatur unmöglich, fondern wir erbliden blos gewiffe 
von Ihm ausgehende Theophanien, und zwar Seglicher je nad) dem 
Maaße feiner Weisheit und Heiligkeit.“ Aber woher die geiftige 
Greatur mit ihrem Unterfchiede des Seyns und Erfcheinens? Auch 
auf diefe Frage hat Erigena eine metaphyſiſche Nedensart in Be: 
reitfchaft: ?) „jene zweite Urform, dieſelbe, welche gefchaffen wird 
und fchafft, begreift die erften Urfachen aller Dinge, oder die Plato: 
nischen Ideen, die Bildnerinnen des Allg in ſich; denn dag ewige 
Wefen oder der Vater hat, ehe Er Das, was Er fchaffen wollte, 
in feine Gattungen, Arten und Zahlen auseinander gehen ließ, 
diefe Fdeen in feinem eingebornen Sohne, dem Worte, präformirt.“ 
Diefes Wort Gottes ift 6) der mütterliche Schoos alles Gefchaffenen, 
es ift die erfte Form, durch. welche Alles beftimmt wird, es ift das 
Ziel, nach welchem Alles hinſtrebt. So erwächst durch ein philoſo— 
phiſches Kunftftiik der Unterſchied zwiſchen Unendlihem und End- 
lichem, der Keim zu diefer materiellen Welt. Mit der Schöpfung 


ne 5 


1, 2. S. 47 Mitte. — 91, 7. S. 3 Mitte. — 9 1, 10. © 5 
Mitte, — 9% 1, 8. S. 4 gegen unten. — >) U., 2. S. 47 unten fig. — 
6) IL, 15, S. 57 gegen vun 





926 IE Buch. Kapitel 11. 


felbft verhält es fi laut Erigena’s Behauptung ) alſo: „Obgleich 
in Gott an ſich nichts unterfchieden und Feine Eigenfchaft Ihm bei 
gelegt werden mag, ift Er bennod Schöpfer des Alle. Da aber 
in Ihm nichts zufällig feyn kann, fo darf auch die Welt nur als 
ewig gedacht werben, weil Uxfache und Wirfung ungertrennlich find. 
Alles ift auf ewige Weife im Worte Gottes, gleichwohl ift zugleich 
Alles aus Nichts entflanden. "Nun hat aber der Begriff einer 
Schöpfung aus Nichts den Sinn: daß Das, was jet ift, einmal 
nicht war; folglih muß man fagen, daß die Welt zugleich zeitlich 
und ewig befteht. Ihrer Idee nach befteht die Welt auf ewige 
Weiſe vor allen zeitlichen und räumlichen Beftimmungen; aber Alles 
hat auch erſt durch die Schöpfung auf zeitliche Weife angefangen 
zu feyn, was es vorher nicht war.“ ?) Erigena iſt jedoch) aufrichtig 
genug, einzugeftehen, ?) daß Fein menfchlicher, felbft. fein englifcher 
Berftand diefe zeitliche Ewigkeit, oder ewige Zeitlichfeit, oder noch 
genauer, dieſes hölzerne Eifen zu begreifen vermöge. Man ſieht, 
der Sfote wiederholt in neuen Nedensarten den alten Kohl der 
Platonifer, des Plotin und des falfchen Areopagiten, 

Eine wichtige Stelle nimmt in feiner Theorie der Schöpfung 
die Lehre von Erſchaffung des Menſchen ein. Im vierten Buch *) 
wirft er bie Frage auf: warum Gott den nad Seinem Bilde ge- 
fchaffenen Menſchen in die Claſſe der Thiere verfeßt habe, indem 
es doch ehrenvoller fchiene, wenn derſelbe, frei von allem Thierifchen, 
den rein geiftigen Charakter der himmlischen Weſen an fi trüge. 
Die Antwort ift: der Menſch enthält die ganze gefchaffene Natur 
in fih, alles Sichtbare und Unſichtbare ward in ihm erfchaffen. 
Er hat wefentlich eine himmlifche Natur, er ift Verſtand und Ver: 
nunft, aud) befist er die Fähigfeit, mit einem himmlischen und eng- 
tischen Korper ſich zu befleiven, aber auch die ganze finnliche Welt 
wohnt in ihm. Deßhalb verfegte Gott den Menfchen zugleich. in die 
Claſſe der Thiere, weil Er in ihm die ganze Natur erfchaffen wollte. 
Weiter fagt Erigena,“) um die Eigenfhaft des Menſchen als 
Mikrokosmus zu erklären: „das denkende Ich bringe dadurch, daß 
es Dinge ſich vorſtelle, nicht blos den Begriff der Dinge, ſondern 
die Dinge ſelbſt hervor, oder wenigſtens ſey, wenn man auch eine 





1) III, 8. ©, 105 Mitte. — ?) HL, 45: ©. 119. — ?) HL, 16. ©, 120 
gegen unten. — *) IV., 7. ©. 470 unten fig. — 9 Hid. S. 172 gegen umten. 


Innerliche Bewegungen in der Kirche der fränkifchen Reiche ꝛc. 927 


verſchiedene Natur beider anerfenne, der Denkende mehr als das 
Gedachte. Dieß gelte jedoch in weit höherem Grade vom göttlichen 
Berftande. In diefem allein thront daher der wahre und höchſte 
Begriff des menjchlichen Geifted. Da nun der menfchliche Geift 
und ber Begriff deſſelben im göttlichen Berftande nicht verfchieden 
find, fo fann man fagen, das Wefen des Menfchen fey nichts 
Anderes, als ein Begriff im Geifte des Urkünftlers, welcher Alles 
ehe es wurde, im ſich felbit erfannte. Der Menſch wäre demnach 
ein geiftiger, im göttlichen Verſtande von Ewigkeit beftehender Be— 
griff. Hinwiederum ift im Menſchen felbft ein Begriff alles Sinn- 
lihen und Geiftigen, das man denfen mag. Dieß gehört zum 
Wefen des Menfchen, denn er würde nicht die Herrſchaft über Alles 
befigen, wenn er nicht den Begriff von Allem in ſich trüge. Wie 
im göttlichen Geifte der Begriff der Welt zugleih das Wefen diefer 
Welt ausmacht, fo ift im menschlichen Geifte der Begriff der. Dinge, 
die er denkt, zugleich das Wefen diefer Dinge felbft. Nun hat der 
Menſch den Begriff von allerlei Berjchiedenheiten, Gegenfäsen und 
Eigenfchaften der Welt, folglich find diefelben wirklich vorhanden, 
weil der Menich fie denft. ) Spmit ergeben fi zwei Wahrheiten, 
die ſich zu widerfprechen fcheinen: erſtlich, weil der Begriff, welcher 
im Geifte des Menfchen wohnt, das Weſen der Dinge felbft ift, fo 
folgt, daß auch der Begriff, Fraft deffen dev Menfch ſich denkt, fein 
eigenes Weſen umfaßt; zweitens der ewige im göttlichen Geifte 
wurzelnde Begriff des Menjchen ift das Weſen des Menfchen. Wie 
verhalten fih nun diefe Beftimmungen? rigena jagt: 2) es feyen 
zwei Anfchauungsweifen einer und derfelben Natur, je nachdem das 
Weſen des Menschen nach feiner erften Urſache in der Weisheit 
Gottes, oder nad den Wirkungen dieſer Urfache betrachtet wird. 
Nun bleibt allerdings noch die Frage übrig, wie der theoretifche 
Begriff des Menfchen, der im göttlichen Geift thront, wo Alles 
Ruhe und durchfichtigfies,. veinftes Seyn oder Nichts ift, in den 
praftifchen Begriff ebendeffelben übergeht, mit andern Worten, wie 
aus dem philoſophiſchen Gebanfending, das Erigena Menfch zu 
nennen beliebt, jener Zweifüßler wird, der auf Erben berumlauft? 
Der Sfote verfennt das Gewicht Diefer Frage nicht, hüllt aber die 
Antwort von Neuem in metaphyfifchen Dunft ein, indem er eine 





- » Ibid, 474, — 2) Ibid, 175 Mitte. 


928 Il. Buch. Kapitel 11. 


doppelte Erkenntniß des Menfchen unterfcheidet. „In der uranfäng« 
lichen und allgemeinen Schöpfung der menfchlichen Natur,“ fagt ) 
er, „vermochte Feiner fich felbft als Einzelweſen zu erfennen, weil 
noch Nichts gefhieden, jondern Alles Eins war.“ Wodurch bes 
ginnt aber der Menſch als Einzelwefen fich Fennen zu lernen? Ant⸗ 
wort: durch den Sündenfall. Die Sünde fpielt bei Erigena, wie 
wir jehen werden, eine nichts weniger als theologifche Rolle. Als 
wichtigfte Folge der Sünde liebt er eg, die Trennung der Men- 
hen in Gefchlechter hervorzuheben. „Der urfprünglid Eine, nad 
bem Bilde Gottes erfchaffene Ideal-Menſch,“ fagt er, „ift erft durch 
Sünde in die Zweiheit von Dann und Weib zerfallen. Wäre diefer 
Unterſchied der Gefchlechter nicht durch die Sünde entftanden, jo 
würde der Menſch fih auch nicht auf bie jetzt gewöhnliche Weife, 


bie er mit ben Thieren theilt, fortpflangen, ſondern er hätte fih 


geiftig, gleich den Engeln, vervielfältigt. Als eine Folge derfelben 
Trennung find auch alle jene zeitlihen und räumlichen, fittlichen und 
körperlichen Berfchiedenheiten anzuſehen, durch welche fich die Men: 
fhen fo vielfach unterfcheiden. ) Ja, der Abfall aus der Einheit 
in die Vielheit hat nicht blos die Lage des Menfchen verändert, 
fondern weil der Menſch Kern der Schöpfung ift, gieng der ges 
jhehene Riß durch die ganze Natur hindurch. Hätte der Menſch 
nicht gefündigt, wäre in ihm die Welt nicht vom Paradiefe getrennt 
worden, fo würde fie felige Einheit und voll geiftigen Lebens feyn. 
Durch feinen Sal erft it die ganze Welt in die jegige Mannig- 
faltigfeit finnlicher Erfcheinungen auseinander gegangen.“ °) Erinnern 
wir ung nun, daß laut Erigena's Behauptung das ganze All yon 
Ewigkeit her im Worte Gottes begriffen feyn fol. Zum AU gehört 
aber au die finnlide Welt. Sofern daher der Menſch vermöge 
der Sünde diefe Sinnenwelt zur Erfiheinung brachte, hat er dem 
Almächtigen in die Hände gearbeitet. Die Sünde war bie lebte 
Bervollfommnung des göttlichen Plans. Erigena ſcheut fih vor 
diejer Folgerung nicht, er ftellt die Sünde als etwas Nothwendigeg, 
mit dem erſten Augenblid der Schöpfung Borhandenes dar. „Da 
Bott,“ fagt er, ) „den Fall des Menfchen vorausſah, fehuf Er, 
ehe noch Adam fündigte, die Folgen der Sünde in und mit dem 





 IV., 9. ©, 178 gegen unten. — ®) II., 7T. S. 49 unten, IV., 9. ©. 179 
oben. — 9) IL, 9. ©. 51 Mitte. — 9 IV, 14, ©, 195 Mitte, 


Innerliche Bewegungen in der Kirche der fränkiſchen Reihe c. 929 -. 


Menfchen, aljo dag man mit Recht fagen fan, Das, was im Men: 
ſchen gefchaffen worden, habe feinen Grund theils in der göttlichen 
Güte, theils in der vorausgefehenen Sünde. Denn Gott weiß 
Bieles voraus, wovon Er nicht felbft die Urfache ift, ba diefes Viele 
feine. Wefenheit bat. Als weiſer Schöpfer und. Ordner läßt ber 
Allmächtige die Schönheit des AUS nicht geftört werben, fondern Er 
weiß aus dem Böfen des unvernünftigen Willens Gutes hervorzu— 
bringen. Che alfo der Menſch fündigte, waren die Folgen der 
Sünde dba, weil es überhaupt fir Gott feinen Unterfchied des Bor 
und Nach, der Vergangenheit und Zufunft gibt. Auch fann man 
nicht behaupten, daß Adam, ehe das Weib aus feiner Hüfte ges 
ſchaffen ward, auf zeitliche Weije im Paradiefe wohnte. Hätte er 
fih nur einen Augenblid ftehend erhalten, fo wäre er nothwendig zur 
Bollfommenheit gelangt. Wie könnte auch der Teufel ein Menfchen: 
mörder von Anfang an genannt werben, wenn er nicht den Men: 
ſchen gleich bei deffen Erfhaffung ermordet hatte! Folglich gab es 
feine Zeit, da Adam im Paradiefe lebte. Im Gegentheil, ehe der 
Menfh vom Teufel verfuht ward, ift er durch fi) jelbft gefallen, 
und eben defhalb, weil er nie im Paradiefe war, fondern von Ans 
fang an daffelbe freiwillig verlaffen hatte, fonnte ibm der Teufel 
die Wunde beibringen. Schon im erſten Beginn feines Daſeyns 
ift Adam durch Stolz gefallen.“ ) Die Sünde gehört zum Wefen 
des Menſchen, fie ift der Aft der Trennung bes Einen und Idealen 
in das Biele und Wirfliche, der Uebergang der Gedanfenwelt in 
bie förperliche, oder mit andern Worten ber platonifhe Abfall 
ber Ideen. 

Möglicher Weife könnte aber die Zerfplitterung ins Ungemeffene 
ausjchweifen, jo daß die Zeitlichfeit fih ganz vom Ewigen, ihrer 
Idee und Wurzel, Inszureißen verfuchte, Eben diefer Gefahr beugt 
Erigena durch ein neues Gedanfending vor. Wie der Menſch dur 
Berwandlung des Ewigen in dag Zeitliche entfteht, fo gibt es auch 
eine Rüdfehr und Wiederverfnüpfung des Bielen in das Eine. Ein 
unzerreißbares Band ift vorhanden, das die Erfcheinung mit dem 
Seyn verfettet, und diefes Band ift Niemand anders als Chriſtus. 
„Chriſtus befist nemlic) eine Doppelnatur: nach ber einen Seite feines 
Weſens ift Er Inbegriff und Same der erften Urfachen, das an ſich 





1).IV.,. 15. ©. 196 u. 197. _ 
®frörer, Kircheng. III. 59 


930 11. Buch. Kapitel 11. 


Seyn aller Dinge, aber Er ift auch zugleich Menfch, und zwar hat 
Er, indem Er Fleiſch ward, bie ganze Kreatur in fi aufgenommen.“ ) 
Was foll nun diefe Fleiſchwerdung heißen? Antwort: fie ift die 
ewige Berfnüpfung der Urfachen und Wirkungen, und eben deßhalb 
fein gefchichtlicher Akt, fondern ein nothwendiges Verhältniß. „Der 
Sohn Gottes,“ fagt Erigena, „wurde Menfh, d. h. Er flieg in bie 
Wirkungen der Urfachen herab, um mit den Urfachen, die Er feiner 
Gottheit nach ewig in fih trägt, die Wirkungen Seiner Menfchheit 
ewig zu verfnüpfen. Damit es nicht bios Urfachen, fondern au 
Wirfungen giebt, ift Chriſtus demnach Menſch geworden oder in bie 
Sinnenwelt herabgefliegen, aber nicht blos der Wirkungen wegen 
that Er dieß, fondern auch den Urfachen zu lieb. Denn würde bie 
göttliche Weisheit nicht in die Wirkungen der ewig in ihr thronen- 
den Urfachen fich verfenfen, fo würden die Urfachen aufhören, Ur: 
fachen zu feyn, da es, wenn die Wirfungen ber Urfachen zu. Grunde 
gehen, feine Urfachen mehr giebt, ebenfo wie, wenn Urfachen fehlen, 
auch Feine Wirfungen gedacht werden können, weil die Einen durch) 
die Andern bedingt find.“ %) Chriſtus verfnüpft jedoch nicht blos 
Zeitliches und Ewiges, fondern Er ruft auch diefes Band zum Be: 
wußtfeyn. „Ehe noch das Wort Fleifch ward,“ fagt ?) der Sfote, 
„war daffelbe in feiner Erhabenheit über alles Seyende und Nicht: 
feyende für die geiftige Kreatur, d. h. Menfchen und Engel, völlig 
unbegreiflih. Erft dadurch, daß es Fleifch wurde und gleihfam herab: 
ftieg, trat ed durch eine unausfprechliche Harmonie in das Bewußt⸗ 
feyn der englifchen und menfchlichen Natur, indem es eim erfenn- 
bares Wefen annahm und die finnliche wie die geiftige Welt harmoniſch 
in ſich vereinigte.“ Diefe Theophanie feiert Erigena an einer andern 
Stelle +) auf feine Weife in den pomphafteften Ausdrücden: „gleich 
wie die Kreatur in Gott befteht, alfo wird au Gott, vermöge 
jener Theophanie, wunderbarlich und unausfprechli in der Krea— 
tur erfhaffen, indem Er ſich felbft offenbart, indem der Unficht: 
bare fih fihtbar macht, indem der Lnbegreifliche begreiflih, ber 
Berborgene erfchloffen, der Unbekannte befannt, der Formloſe ge: 
ftaltet, der Ueberweſentliche wejentlih, der Uebernatürliche natürlich, 
der Einfache — — der Unendliche endlich, der rn 





iy V., 25. ©. 251 unten flo. — 9 Ibid. ©. 252, — 9) Ibid, au unterſt 
u. 255, — *) Ul., 18, ©. 126 gegen oben, 


Innerliche Bewegungen in der Kirche der fränkiſchen Reiche x. 931 


begrängt, der Meberzeitliche zeitlich wird. Alfo verwandelt ſich ber 
Schöpfer in das Gefchöpf, der Ewige nimmt einen Anfang des 
Seyns, der Unbewegliche bewegt fih zu Allem und wird Alles in. 
Allem.“ Diefe Verwandlung fol die biblifhe Schöpfung aus Nichts 
feyn. „Gott ift,“ fagt ) er, „als überwefentlih gedacht, ebenfo 
gut das veine Seyn, als das reine Nichts, wenn Er aber in der 
Theophanie erfcheint, wird das Nichtfeyende zum Seyenden und die 
Kreatur aus Nichts erfchaffen.“ 

Sp fraus und fonderbar der Wortſchwall Tautet, den Erigena 
zu Markte bringt, fieht man doch fehr gut, daß Das, was er mit 
dem Namen Chriftus bezeichnet, eigentlich nur ein gewiſſes Berhältnig 
im menſchlichen Geifte if. Sofern das Ewige Eine ſich -in eine 
Bielheit yon Intelligenzen auflöst, fpricht er von Erfchaffung des 
Menfchen, fofern aber dieſe Viele mit dem Einen verknüpft bleiben, 
redet er von Fleifhwerdung des Worts. Gott, Chriſtus, Menſch 
find Ausprüde für verfchiedene Beziehungen einer und derfelben 
Sade. Es ift daher ganz folgerichtig, daß Erigena auch die Firdh: 
liche Dreieinigfeit auf den offenbaren, fleifchgewordenen Gott, d. h. 
den Menfchen, deutet. „Die menfchliche Seele,“ fagt ) er, „ftellt 
eine dreifache Einheit darz ihr eigenftes und innerſtes Wefen ift die 
Bernunft, welche fih in höchſter Bewegung mit Gott befchäftigt. 
Die zweite Stufe nach der Vernunft nimmt der Berftand ein, ber 
bie Teßten Gründe der Dinge nächſt Gott zu erforfchen firebt; ber 
dritte Theil ift der Sinn, oder die Einbildungsfraft, welche die Wir- 
fungen der erften Urfachen, oder die Welt der Erfheinung zum 
Gegenftand bat.“ Erigena will 3) zwar die menfchliche Dreieinig- 
feit von der göttlichen, deren Abbild fie feyn fol, unterfchteden 
wiffen, aber offenbar ift dieß ein Fleiner Kunſtgriff, um die Theo: 
logen zu befchwichtigen. Dben haben wir die Stelle angeführt, wo 
er aufs Beftimmtefte behauptet, daß von dem reinen göttlichen Seyn 
feine Eigenſchaft, feine der zehn ariftotelifchen Kategorien und folg: 
ih auch die Dreiheit nicht ausgefagt werden könne. Nicht nad 
feinem veinen Seyn ift daher Gott eine Dreiheit, fondern nur in 
Folge der Theilung des Einen in das Viele, oder vermöge ber 
Fleifchwerbung, d. h. als Menſch. 

Die bisher entwidelten Lehren Erigena’s beziehen ſich blos auf 





ı) IL, 19. ©. 127 Mitte. — 9 IL, 25. ©. 70. — 3) Ibid. unten. 
59 * 


932 . III. Bud. Kapitel 11. 


das reine Seyn und auf den Abfall der Ideen aus der uranfäng« 
lichen Einheit, auf Schöpfung und Sünde. Sein Syflem bringt es 
jedoch mit fih, daß er auch die Rückkehr in das Eine darftellen 
muß. Die Fleifchwerdung des Sohnes ift nur ber eine Aft, bie 
Erlöfung der Welt durch Ihn der zweite. Der Sündenfall gebar 
die Entzweiung der Geſchlechter, die Verföhnung beginnt mit dem 
Verſchwinden biefes Unterſchieds. Einft kehrt Alles in den feligen 
Zuftand zurüd, in dem es por der Sünde war. Dieß gefchieht durch 
die Auferftehung des Fleifhes. ') „In der Auferftehung fchliegen ſich 
Mann und Frau wieder zu einer Einheit, alfo daß der Menſch iſt, 
was er gewefen wäre, wenn er nicht gefündigt hätte. Sodann 
wird die Welt mit dem Paradiefe eins, und es ift nur das Para: 
dies, hierauf wird die Erde mit dem Himmel eing, und es ift nur 
der Himmel, Darnad) erfolgt die Einigung der ganzen finnlichen 
Kreatur mit der geiftigen, fo zwar daß Alles in Geift übergeht. 
Zulegt wird die ganze Kreatur mit dem Schöpfer eins. Letzteres ift 
das Ende alles Sichtbaren und Unfidtbaren, wenn alles Sichtbare 
in Geiftiges, alles Geiftige in Gott felbft verfinft Durch unausſprech— 
lihe Verbindung.“ Diefe Rückkehr zur Einheit hat Chriftus als Er- 
löſer durch feine Auferftehung von den Todten für ſich vollbradt, 
für ung vorgebildet. Nach feiner Auferfiehung war Er gefchlechtlos. 
Den Beweis biefür findet Erigena in den Worten Pauli, Gal. UL, 
28.: in Chrifto Jefu ift fein Mann noch Weib. Durch 
die Auferftehung warb Seine menſchliche Natur mit der göttlichen fo 
vollfommen geeint, daß alle Beſchränlung des Raums, der. Zeit, 
der Geftalt, des Gefchlechts wegftel. Unmittelbar nad) der Aufer: 
ftehung fehrte Er in das Paradies zurüd, und war auch, fo oft Er 
feinen Süngern erſchien, im Paradieſe; unter dem Paradieſe aber, 
in welchem Er war, ift bie urfprüngliche Volllommenheit menſchlicher 
Natur zu verfiehen, die Er in ſich wieder herftellte. Was Er nun 
an ſich vollbrachte, wird Er einft, vermöge der allgemeinen Aufer- 
ſtehung, an dem ganzen Menfchengefchlecht vollbringen. Erigena 
befchreibt ?) bie künftige Wiederbringung auf folgende Weife: „Die 
erfie Rückkehr der menſchlichen Natur ift die Auflöfung des Körpers 
in bie vier Elemente der finnlihen Welt, aus denen er zufammen- 
geſetzt war. Die zweite Rücklehr geſchieht durch die Auferſtehung, 


N) V., 20. S. 242 Mitt, — 2)) V., 8. S. 232 Mitte fig. 





Innerliche Bewegungen in der Kirche der fränkifchen Neiche e. 933 


wenn Seder feinen eigenen Körper aus ber Gemeinfchaft der vier 
Elemente wieder erhält; die britte, wenn der Körper fi in Geift 
verwandelt; die vierte, wenn der Geift oder vielmehr die ganze 
Natur des Menfchen in die erften Urfachen,. die ſtets und unver: 
änderlich in Gott find, ſich auflöst; die fünfte, wenn die Schöpfung 
mit ihren Urfachen fi) zu Gott bewegt, wie die Luft fich zum Lichte 
bewegt. Denn Gott wird Alles in Allem feyn, wenn Nichts mehr 
feyn wird als Gott allein. Diefe Veränderung ift feineswegs eine 
Bernihtung der Wefen, fondern vielmehr eine Wiederherftellung in 
den ursprünglichen, durch die Sünde verlornen Zuftand, eine Ber: 
flärung und Bergeiftigung. — In der menfchlichen Natur ift nichts, ") 
was nicht an fich geiftig wäre. Auch das Weſen des Körpers if 
geiftiger Art. Deßhalb mögen geiftige Weſen recht gut ſich alfo vers 
einigen, daß fie eins find, während dennoch jede ihr eigenes Für: 
fihfeyn behält. Denn auch die Luft verliert ja ihr Wefen nicht, wenn 
fie ganz in Sonnenlicht verwandelt wird, oder Metall, wenn es ſo 
völlig vom Feuer durchdrungen wird, daß es ganz Feuer zu ſeyn 
Scheint. Auf ſolche Weife muß man ſich den Uebergang der Körper 
in die Seele, der Seele in den Geiſt, der geiftigen Wefen in Gott 
denfen, in welchem Alles fein Endziel erreicht und eins if.“ Gleich: 
wohl findet in dieſer einftigen Berflärung ein Unterfchied der Stufen, 
der Gnade Statt. ?) Die ganze Menfchheit wird durch das fleifch- 
gewordene Wort in ihren urfprünglichen Zuftand zurüdverfegt; aber 
es giebt zwei Grade der Vollendung, einen höhern und einen nies 
deren. Den einen nennt Erigena das Effen vom Lebensbaume, den 
andern die Nüdfehr ins Paradies. „Die ganze, nach dem Bilde 
Gottes gefchaffene Menfchheit wird in das Paradies zurückkehren, 
aber nur Die, weldhe der höchſten Stufe würdig, find, werden am 
Genuffe des Lebensbaumes Theil haben. Der Genuß des Lebeng- 
baums aber, oder Chriſti, ift das ewige Leben, der ewige Friede, 
fraft Betrachtung der Wahrheit, die eigentliche Vergöttlichung.“ Dieß 
führt auf die Lehre von der fittlihen Berfchiedenheit der Menfchen, 
und fomit auf die dogmatifchen Begriffe von Böfem, von Ber: 
dammniß und VBorberbeftimmung. Erigena Yäugnet nicht blos eine 
ewige, fondern überhaupt jede Verdammniß. „Wie kann es,“ fragt?) - 





t) Ibid. 234 Mitte. — 2) V., 36. ©. 289. — 9) V., 27. ©. 257 gegen 
unten, 


934 III. Buch. Kapitel 11. 


er, einen ewigen Tod, eine bleibende Strafe der Gottlofen geben, 
da doc Chriftus Die ganze menfchlihe Natur angenommen und da: 
durch erlöst hat. Wollte man behaupten, nur ein Theil der mensch: 
lichen Natur kehre zu Gott zurüd, ein anderer aber bleibe für immer 
in der Strafe, jo müßte man aud) fagen, daß das Wort Gottes 
nur einen Theil der menfchlihen Natur angenommen und erlöst 
haben follte, den andern nicht, was widerfinnig wäre“ Um feine 
Behauptung von einer neuen Seite zu erhärten, fucht er !) innere 
Widerfprühe in den gemeinen Begriffen von Hölle und ewigen 
Sirafen aufzudeden. „Berfieht man,“ jagt er, „den Drt der Marter, - 
den brennenden Schwefel, den Teuerfee, den Wurm, der nicht ftirbt, 
wörtlih, fo muß man fih auch einen beflimmten Ort der Welt 
denfen, in welchem die Verdammten die Strafe ihrer ewigen Ber 
dammniß erleiden, und wäre dieß der Fall, fo kann von dieſem 
Theile der Welt nicht gelten, was Doch zur Vollendung der Welt 
nothwendig ift, nemlich daß fie in Gott zurüdfehrt. Eben deßwegen 
find die verfchiedenen Arten der Strafe nicht räumlicher Natur, nicht 
von der Art, daß fie innerhalb der von Gott gefchaffenen fichtbaren 
Natur erfolgen, fondern die Strafe kann nur in der verfehrten 
Richtung des böfen Willens und in der innern Dual des Gewiffeng 
beftehen, fjofern die Flamme ber leifchlichen Begierde unauslöfchlich 
brennt, und doch Das, was fie begehrt, nicht erreicht werben mag.“ 
Aber was ift nun dieſe verkehrte Richtung, dieſer böfe Wille? Ant: 
wort: ein Mangel, eine Berfchattung, ein Abnehmen des Guten. 
„Kein Menſch,“ fagt ”) Erigena, „it mehr Menſch als der Andere, 
wenn ein Einzelner auch an gewifler Mißgeftalt leidet, fo ſtammt 
folhe Mißgeftalt nicht aus der Natur, fondern aus einem Berberb: 
niß, aus dem Hinzutreten von etwas Aeußerlihem und Zufälligem. 
Ebenjo verhält es ſich mit den geiftigen Kräften. Alle Menfchen 
haben eine und diefelbe Bernunft, aber nicht Alle machen den rechten 
Gebrauch von ihr. Der verkehrte Wille, durch welchen das Böſe 
entfieht, gehört nicht zum Wefen des Geiftes, er ift etwas Zu: 
fälliges und als folches ein Nichtfeyendes, Die Sünde hat nicht in 
der Natur ihren Grund, fondern in der Willführ. Urſache ber 
Sünde ift im Engel, wie im Menfchen der eigene verkehrte Wille, 
Eine Urfache des verkehrten Willens felbft aber gibt es nicht: das 





9,28 ©. 264 unten u. V. 29. ©. 265. — 2 V. 31. ©. 2369. 





Innerliche Bewegungen in der Kirche der fränkiſchen Reiche ꝛc. 935 


Gute kann nicht Urſache des Böſen ſeyn, darum fehlt dem Böſen 
alle Urſächlichkeit. Daher denn das unerklärliche Räthſel, daß ber 
böfe Wille im Menfhen und Engel, obgleich ex felbft feine Urſache 
bat, dennoch die wirfende Urſache der Sünde und ihrer Strafe ift. 
Wenn Jemand behauptet, Stolz fey die Wurzel aller Sünde, fo möge 
er wiſſen, daß Stolz felbft ein Nichts ift, denn er ift fein Wefen, 
feine Tugend, Fein Wirken, nichts Natürliches, fondern ein Mangel 
der Tugend, eine verfehrte Begierde.“ An einer andern Stelle 
drückt Erigena denfelben Gedanfen auf andere Weife aus, indem 
er fagt: ) „der göttliche Geift hat feinen Begriff von Böſem, denn 
wenn er ihn hätte, würde das Böſe wefenhaft beſtehen und nicht 
der Urfächlichfeit entbehren. Nun hat aber das Böſe Feine Urfache, 
darum gehört es nicht in die Reihe der gefchaffenen Dinge und ift 
vom göttlihen Bewußtſeyn ausgefchloffen.“ Folgerichtig fagt ?) daher 
Erigena an einem dritten Orte: „die Unterfuchung über den Ur: 
fprung des Böſen fomme auf die allgemeine Frage zurüd, warum 
es fowohl Seyendes als Nichtfeyendes gebe, oder warum Gott Ur: 
heber einer aus Nichts gefchaffenen Welt fey.“ 

Man fieht: das Böſe foll nach der Meinung Erigena’s nichts 
Anderes feyn, als die von jedem endlichen Seyn ungertrennlichen 
Schranfen und Schatten. Aber auch diefe Mängel des Lichts er- 
fheinen nur auf einem gewiffen Standpunfte als folde. 
Der Sfote fagt, ?) „auf zwei verfchiedene Weifen könne man bie 
Welt betrachten: wenn man einzelne Theile, oder wenn man 
Das Ganze ins Auge faffe. Wer nun zu Lesterem befähigt ift, vor 
deſſen Blicke verfehwinden jene feheinbaren Mißtöne und werben zur 
Harmonie. Alles, was man Uebel, Sünde und Strafe heißt, be: 
ſteht nur für Den, der am Einzelnen Flebt, in der Einheit betrachtet, 
löſen ſich alle Gegenfäge in Schönheit auf. Selbft die Hölle ift nur 
für die Bofen bife, in der Ordnung des Ganzen aber gut, Nichts 
durchaus Schlimmes gibt es in der Natur, was in einer Hinficht 
böfe ift, wirft in anderer gut, Fehler werden durch Tugenden ge: 
tilgt oder in Tugenden verwandelt. +) Freilich ift diefe Betrach— 
tungsweife, welche in der Fünftigen Welt Allen eröffnet werden fol, 
jegt noch das Eigentum Weniger. >) Selig aber find diefe Wenige, 





V., 27. © 259 unten. — 9 V., 33: ©. 275 Mitte — °) V., 35. 
©. 275 untere Mitte, — 9 V., 56, ©. 285 Mitte. — °) Ibid. 282 unten flg. 


996 I. Buch. Kapitel 4. 


welche die Schöpfung mit einem Blicke überfchauen, ihr Urtheil irret 
nicht, weil fie Alles nad) der Wahrheit betrachten; felig find fie, 
denen in ber Geſammtheit nichts anſtößig, nichts feindlich erfcheint, 
weil fie fi) nicht an das Einzelne, fondern an das Ganze halten. ') 
Bon diefen Auserwählten gilt der Spruch des Apoftels: Der geiftige 
Menfh ridhtet über Alles, wird aber jelbft von Nie- 
mand gerichtet.“ Dieß ungefähr find die Hauptgedanfen *) der 
Schrift des Sfoten über die Theilung der Natur. | 

Neues bat Erigena wenig. Das Meifte ift, wie wir früher 
bemerften, aus dem Erflärer des Areopagiten, Maximus, 3) entlehnt. 
Staunen muß man aber über die kecke Sophiftif, mit welcher er 
diefes byzantinifhe Erbe den Abendländern vorhält. Auch feine 
Sprache trägt das Gepräge des byzantinifchen Vorbilds, fein Latein 
ift mit metaphyſiſchen, aus dem Griechifchen überfegten, Ausdrüden 
überfättigt. Merkwürdiger als Inhalt und Form feiner Gedanken 
fcheint ung die Stellung, welche Erigena der Kirchenlehre gegenüber 
einzunehmen fich erlaubt. Der Sfote verläugnet beinahe den ganzen 
Glauben feiner Zeit, nur im Artifel von den Testen Dingen nähert 
er fi dem Wortfinne der Bibel oder der Väter in Etwas. Gleich: 
wohl wagt er es, feine metaphyſiſchen Site in das Gewand dogma— 
tiſcher Begriffe einzuhüllen, während er doch unter Gott, Chriſtus, 
Dreieinigfeit, Welt, Schöpfung, Menſchwerdung etwas ganz Anderes 
fih vorſtellt, als was die Kirche dabei dachte. Genau befehen ift 
daher feine Neligionsphilofophie eine free Verhöhnung des öffent: 
lichen Glaubens. Eine folde Erſcheinung ift felten vereinzelt, denn 
nicht Teicht wagt es Jemand, offen 'einer eingeführten Lehre zu 
trotzen, wenn er fich nicht eines Rückhalts bei Andern verſichert 
weiß. Sch fehe daher in dem kecken Auftreten des Sfoten einen 
Beweis, daß die Erfchitterungen, welche um die Mitte des neunten 
Zahıhunderts Staat und Kirche aus den Fugen vifen, auch den 
Glauben unterwühlt hatten. Viele müffen damals an der Dogmatif 
gezweifelt haben. Man erinnere ſich an die oben angeführte Stelle *) 
aus dem Buche des Florus, wo dieſer Diafon von dem Aufjehen 
Spricht, das Erigena’s ee über die Prädeftination erregte, und 


nn nn 


') Ibid. ©. 284 Mitte. — 9) Man vergleiche über Erigena „Baur, die 
riftliche Lehre von der Dreieinigfeit, IT., 274—544, welches Buch wir benügt 
haben. — 3) Ibid. 263 fig. — 9 ©. 873. 


Innerliche Bewegungen in der Kirche ver fränkiſchen Reiche x. 937 


dann bemerft: „Einige feyen durch die kecken Behauptungen bes 
Mannes zu Zweifeln verleitet, Andere fortgeriffen und von dem 
Skoten fo bezaubert worden, daß fie die Heilige Schrift und 
die Bäter für Nichts adhten.“ Die Parthei, auf deren Bei: 
fall oder Schuß Erigena rechnete, ſcheint befonders am Hofe ftarf 

gewefen zu feyn, doch gewann fie nie die Oberhand. Vom Clerus 
und der überwiegenden Mehrheit der Zeitgenoffen wurde Erigena 
als Ketzer angefehen und gehaßt. In einem noch vorhandenen 
Briefe ) an Karl den Kahlen bezeichnet Pabſt Nifolaus den Skoten 
als einen Menfchen, der zwar viele Kenntniffe, aber nicht den 
rechten Glauben habe, und ftellt die Forderung, der König möge 
denfelben nach Rom ausliefern, oder ihn wenigſtens von ber Parifer: 
ſchule, deren Vorſteher Erigena bisher gewefen, entfernen, damit 
er nicht länger im Stande fey, Unfraut unter den Weizen des reinen 
Evangeliums zu füen, und Denen, welde Brod ſuchen, Gift zu 
reihen. Die gleiche Mißſtimmung gegen ‚den Sfoten erhielt fich auch 
in den folgenden Jahrhunderten. Weil die Sefte der Albigenfer 
das Buch von der Theilung der Natur gegen die Katholifen be: 
nüste, gab Pabſt Honorius DI. Befehl, die Handfchriften, die man 
finden könne, zu jammeln und ins Feuer zu werfen, ) Auch Wil: 
beim von Malmesbury, fonft Bewunderer feines Landsmanns, meint: 
in dem eben genannten Buche finde ſich Vieles, was vom Fatho: 
liſchen Glauben abzumeichen fcheine, wenn man es nicht mit größter 
Borfiht Iefe. 9) rigena bat daher auf die theologiſche Bildung 
des Abendlandeg feinen oder wenigftens einen kaum fichtbaren Ein: 
fluß geübt. Ueber feine fpäteren Schidfale Herrfcht großes Dunkel. 
Der Bischof Affer von Sherburn, Zeitgenoffe und Lebensbefchreiber 
des Königs Alfred des Großen, berichtet: *) diefer Fürft habe aus 
Frankreich zwei ausgezeichnete Gelehrte, Grimbald und Johann, 
Beide zugleich Presbyter und Mönche, in fein Neich berufen. Tiefer 
unten evzählt ®) ebenderfelbe: der Presbyter und Mönch Johann, 
von Geburt ein Altfachfe, fey vom König Alfred zum Abte des 
neugegründeten Klofters Athelney erboben, aber bald darauf durch 





1) Abgedruckt Bulaeus histor. universitatis Parisiensis I,, 184 oben. Der 


Brief fällt in das Jahr 859 oder 860. — 9 Die Beweife histoire litteraire 
de la France V,, 423, — 3) Die Stelle abgedrudt bei Gale auf der zweiten 
Seite der testimonia. —  #) Asserius annales rerum gestarum Aelfredi ee 


Fr. Wise Oxon. 1722. 8t0. ©. 47. — ) Ikid. ©, 61 fig. 


938 IM. Buch. Kapitel 11. 


unzufriedene Klofterbrüder umgebracht worden. Die nächfte Frage 
ift, ob der Mönch und Presbyter Johann, welchen Alfred nad) Eng: 
land berief, derfelbe fey mit dem Mönd und Presbyter Johann, 
der als Abt von Athelney einen gewaltfamen Tod fand. Aus 
Aſſer's Worten kann man diefe Vorausſetzung nicht erweifen, doch 
muß man zugeben, daß fie eine überwiegende Wahrfcheinlichkeit für 
fih hat. Bejaht man fie, fo fann unter dem Abte Johann nicht 
der ung befannte Johann Erigena verftanden werben, denn Affer 
bezeichnet jenen aufs Beftimmtefte als einen Altfachfen, während 
‚alle gleichzeitige Duellen einftimmig ausfagen, daß der am Hofe 
Karls angeftellte Erigena dem ffotifchen oder celtifchen. Stamme 
angehörte. Gleichwohl haben eine Reihe englifcher Kirchengefchicht- 
jchreiber aus dem fpäteren Mittelalter, wie Ingulf, Simeon 
von Durham und Wilhelm von Malmesbury, offenbar 
auf die angeführten Zeugniffe Affer’s geftügt, unfern 
Erigena und den von Alfred berufenen Priefter- Mund Johann für 
eine und dieſelbe Perfon gehalten, indem fie erzählen, Erigena ey 
um 880 einem Rufe Alfred’s nad) England gefolgt, Mit Mabil: 
Yon !) und den Berfaffern der Gelehrten: Gefhichte Frankreichs ?) 
halten wir dieſe Angabe für irrig und pflichten der Meinung bei, 
daß Erigena bis an fein Ende in Neuftrien blieb und bafelhft um 
875 geftorben if.) 

Raſcher Berfall des Staats und der bisher beftandenen Ber: 
faffung offenbart fich überall in den Verhältniſſen der Kirchenlehrer 
zu einander wie in ihren Streitigfeiten. Ein Leberblid der allge: 
meinen Firchlichen Zuftände zeigt, warum Meinungen, wie Die, welche 
Paſchaſius verfocht, den Sieg erringen mußten. Im Gottesdienft, 
in der Kirchenzucht, im Gerichtswefen, im täglichen Leben nimmt 
die Richtung aufs Mebernatürlihe, Magifche, auffallend überhand. 
Es ift daher in der Ordnung, daß auch die Lehre dem gleichen 
Antriebe folgte. Als eine natürliche, dem Geifte des Jahrhunderts 
entiproffene Frucht erfhienen die Anfichten, welche der Abt von 


1) Acta Ord. S. Bened, IV., b. ©. 514 fi. — 9) Histoire litteraire 
vol. V., 418, — 9) Ueber Erigena haben zwei Neuere Monographien gefchrie: 
ben, der Däne Hort: „Sohannes Scotus Erigena, oder vom Urſprunge einer 
ehriftlichen Philoſophie.“ Kopenhagen 1823. 8to, und der Deutfhe Fr. A. 
Staudenmaier: „Johannes Scotus Erigena und die Wiſſenſchaft feiner 
Zeit.“ 1. Th. Franffurt 1834. 810. Beide find fenrige Lobredner ihres Helden, 


Innerliche Bewegungen in ber Kirche der fränfifchen Reiche c. 939 


Corbie über das Saframent des Altars und die Entbindung Mariens 
vortrug. Vergeblich hatten Bifchöfe, wie Claudius von Turin und 
Agobardug, gegen die Anbetung der Heiligen, vergeblich Concilien, 
wie das von Frankfurt (794) und Paris (825) gegen Uebertreibung 
dieſes Dienftes geeifert oder Beichlüffe gefaßt: die Verehrung der 
Heiligen und die Begierde nad ihren Neliquien wird feit dem Ber: 
falle des Reichs an Umfang und Eifer immer ausjchweifender. 
Die abentheuerlihften Dinge fommen unter dem Namen yon Reli: 
quien zum Borfchein. Der Abt Angilbert von Centula, ber 
furz nad Karl dem Großen ftarb, zählt ) aus der Schatzkammer 
feiner Kirche folgende Gegenftände auf: Stüde vom Kreuze, vom 
Kleide des Herrn, von Seinen Sandalen, von Seiner Krippe, vom 
Schwamm, der bei der Kreuzigung diente, Waſſer aus dem Jordan, 
in dem Er getauft wurde, Stüde von dem Felfen, auf dem ber 
Herr faß, als Er die fünftaufend Menichen fpeiste, vom Brode, 
das Er den Jüngern austheilte, Stüde vom Tempel zu Jeruſalem, 
von ber Kerze, die bei der Geburt Chrifti Teuchtete, Erde vom Del- 
berg, wo ber Herr betete, vom Berge, wo Er verflärt ward, Stüde 
von Seinem Tifche, von der Säule, an welder Er gegeißelt ward, 
von den Binden, mit welchen Nifodemus und feine Freunde bie 
Leiche des Erlöjers ummwanden, Trümmer des Felfen, von welchem 
aus Er das Kreuz beftieg, vom Galvarienberg, Stüde von den 
Nägeln, mit denen fie Ihn and Kreuz fchlugen, Tropfen von ber 
Galle und dem Eſſig, mit dem fie Ihn tränften, Splitter von dem 
Geftein, auf das Sein Blut flog, Trümmer vom heiligen Grabe, 
yon dem Stein, der auf daſſelbe gemwälzt warb, fowie von dem 
Grabe der unfhuldigen Kinblein, vom Berge Horeb, von dem Hole 
ber drei Hütten, °) Tropfen von der Milch der heil. Jungfrau 
Maria, Haare ebenderfelben, Stüde yon ihrem Kleide, ihrem Ober: 
gewand, Haare vom Barte des heil. Petrus, Trümmer von feinen 
Kleidern und feinem Tifche, Stüde vom Kreuze des heil. Andreas, 
vom Manna des heil. Evangeliften Johannes u. ſ. w. Angilbert 
vergißt nicht zu bemerfen, 3) dieſe und Ähnliche Seltenheiten feyen 
aus Italien, Teutfchland, Burgund, Gallien, bauptfächlich jedoch 





') Bei Mabillon Acta Ord, S. Bened. IV., a. ©. 108 unten fly. — 


2) Welche die Jünger auf dem Berge der Berffärung bauen wollten. — 
3) Ibid. ©, 108 Mitte. 


940 IT: Buch. Kapitel 11. 


aus Conftantinopel, Jerufalem und Rom zufammengebracht worden. 
Am meiften nahm die Begierde nad) Reliquien römifche Großmuth 
in Anfprud. In einem Briefe ) an den Erzbifhof Digar von 
Mainz Hagt Pabſt Gregor IV., daß in Nom fein unverfchenfter 
Heiligenleib aufzutreiben fey. Doch füllte fi der Vorrath bald 
wieder, denn die Catakomben boten einen unerſchöpflichen Schag 
von Knochen, die man irgend welchen Heiligen zuzufchreiben nicht 
ermangelte. Rudolf, ein Schüler des Mainzer Erzbifchofs Rabanus 
Maurus, erzählt °) folgende Gefchichte: Um die Mitte des neunten 
Jahrhunderts fam der römifche Diakon Deusdona mit feinem 
Bruder Theodor, einem Laien, nad Teutfchland herüber, unter 
dem Borwand, bei dem Könige Franciens (Lothar) eine gewiſſe 
Angelegenheit zu betreiben, in der That aber, um Reliquien, bie 
er zufammengefcharrt, an Mann zu bringen. Schon unterwegs gab 
er an eine Dorffiche im Thurgau einige Knochen des Märtyrers 
Alerander ab; fo wie Dieß befannt wurde, eilten Befeffene und 
Siehe herbei, worauf Wunder gefchahen. Den Haupthandel aber 
machte Deusdona mit Nabanus, dem damaligen Abte von Fuld. 
Die Klofterkirche erhielt von dem Römer eine Rippe und einen Fuß 
bes heiligen Pabſts und Märtyrers Alerander, einen Arm Des 
Diafon Feliciſſimus, das Haupt der heiligen Conkordia, 
einen Theil von den Gebeinen der apoftolifchen Bäter Fabianus 
und Urbanus, einen Fuß des feligen Caftulug, einen Zahn bed 
heiligen Sebaftian u. f. w., jedes Stüd in einem befondern Sad 
forgfältig verpadt. Der Römer warb mit einer anfehnlichen Geld: 
fumme bedacht, was ihn laut der Berficherung Rudolf's jo rührte, 
bag er nächſtens mit einer neuen Sendung wieder zu kommen 
verſprach. d 
Schon zu Ende des achten Jahrhunderts war die Zahl der 
Heiligen, an die man Gebete richtete, oder die man als Schuß: 
götter einzelner Kirchen, Städte, Kiöfter, Dörfer verehrte, fo ange: 
ihwollen, daß Karl der Große für gut fand, auf der Frankfurter 
Synode (794) den Beſchluß durchzuſetzen, *) man folle hinfort Feine 
neuen mehr anrufen, noch ihnen Kapellen an den Straßen errichten. 





1) Abgedruckt Mabillon annalecta, Folioausgabe ©. 570 b. Mitte. — 
2) Bet Mabillon Acta Ord. S. Bened, IV,,.b. ©. 4 flg. — 5) Can, 40. Ba- 
luzius capitular, I., 269 Mitte. 


Innerliche Bewegungen in ber Kirche der fränkiſchen Neiche ꝛc. HA 


Eilf Jahre fpäter milderte er dieſes Verbot dahin, ) daß nur mit 
Genehmigung des Bifhofs neue Heilige verehrt werden biürfen. 
Was er in leßterem Gefege verordnete, war im Grunde der uralte 
Kirhengebraud. Schon Cyprian fehreibt *) an feinen Clerus: „zeich 
net die Todestage der Befenner (welche im Gefängniffe ftarben) auf, 
damit ihr Name mit denen der Märtyrer in den öffentlichen Ge: 
beten gefeiert werde.“ Jeder Biſchof trug die Namen folder Ge: 
forbenen, die er für Heilige hielt, in das Gedenkbuch der Kirche 
ein, und von Nun an wurden biefelben verehrt. So blieb es big 
zu Ende des zehnten Jahrhunderts, um welche Zeit die Päbfte fich 
bie Seligfprechung verbienter Todten im Namen der. ganzen Kirche 
vorzubehalten begannen. Hievon fpäter. Die Maffe der Heiligen 
vief das Bedürfniß allgemeiner Verzeichniſſe derjelben hervor. Eine 
Reihe folher Sammlungen entftand im Laufe bes achten und neunten 
Sahrhunderts. Meift mit dem Chriftfeft, nad der Weife des da: 
maligen Kalenders, beginnend, führen fie in größerer oder ges 
ringerer Bollftändigfeit die Namen der Heiligen auf, die an jeglichem 
Tage verehrt werden. Die zwei älteften und kürzeſten Martyrolos 
gien — fo nannte man dieſe Verzeichnifje — find das des Beda 
und das fogenannte calendarium romanum. ?) Beide gehören noch 
ins achte Jahrhundert. In den Anfang des neunten fällt allem 
Anſchein nah das Martyrologium von Aquileja, welches Abo *) 
von Vienne dem feinigen vorangeftellt hat. Um 840 vermehrte ber 
ung befannte Diafon von Lyon, Florus, Beda's Martyrologium 
mit eigenen ſehr bedeutenden Zufägen. ?) Ungefähr zur felben Zeit 
trugen der Mönch im Klofter Prüm, Wandelbert, und Ra: 
banus Maurug, Jener in lateinischen Berfen, ©) Diefer in Profa,”) 
Heiligenverzeihniffe zufammen. Reicheren Stoff °) als feine Vor— 





N Capitulare secundum anni 805 can. 17 bei Baluzius I., 427 Mitte. — 
2) Epistol. 37 ad clerum Opp. edit. Paris, 1726. Fol. ©. 50 Mitte. — 
3) Letzteres abgedrudt Fronto epist. et dissert. ed. Fabrieius. Hamburg 1720. 
810. ©. 151 flg. — *) Abgedruckt in Ado's Martyrologium ed. Georgi Vorſtück. 
S. 28 flg. Mit, Unrecht wird hier dieß Martyrologium für ein römifches aus— 
gegeben. Daß es nach Aquileja gehöre, beweist Valeſius am Ende feiner Aug: 
gabe des Euſebius. — 9) Abgedrudt Acta Sanet. Bolland. Martius Vol, II, 
5 flg. — °) Abgedruckt bei d’Achery Spicil. neue Ausgabe Vol. II, 39 fig. — 
?) Abgedrudt Opp. ed. Colvener Vol, VI., 179 fig., noch) beſſer bei Canisius 
leet, antiq. ed. Basnage II, b. ©, 314 flg. — °) Am Beften herausgegeben 
von Dom. Georgi, Rom 4745. Fol. | 


942 IT. Bud. Kapitel 11. 


gänger fammelte der Erzbifchof Ado von Vienne, welcher 875 mit 
Tod abgieng. Gegen Ende bes Jahrhunderts erfchienen noch zwei 
andere Mariyrologien. Das eine hat den um 877 geftorbenen Bruder 
Ufuardus aus dem Klofter St. Germain in Paris zum Verfaffer, ) 
bas andere ?) fchrieb der St. Galler Minh Notfer um 894. 

Die Zahl der bisher beftandenen Feſte genligte dem Glaubeng- 
eifer nicht mehr. In dem kurzen Zeitraum zwifchen den Sahren 
814 und 860, oder vom Negierungsantritt Ludiwigs des Frommen 
bis zum völligen Verfall des Caroliniſchen Neiches find nicht weniger 
als vier große Jahresfefte eingeführt worden. Der Beweis hiefür 
läßt fih auf eine befriedigende Weife führen. Ein Gefeg Karl's 
des Großen, das Anfegis feiner Capitularen- Sammlung einverleibt 
bat, verordnete, °) daß folgende Tage feftlih begangen werden 
jollen: Weihnachten mit den drei nächften Tagen des heil. Stepha— 
nus, Johannis des Evangeliften, der unſchuldigen Kindlein, die 
Dftave des Herrn (Feſt der: Befchneidung), das Erfcheinungsfeft 
mit feiner Dftave, die Reinigung Maria’s, Dftern mit der ganzeır 
Woche, Himmelfahrt, Pfingften, die Tage Johannis des Täufer, 
Petri und Pauli, der Heiligen Martinus und Andreas. Zu den 
bier aufgezählten allgemeinen Feften kamen nun folgende vier hinzu: 
das Felt der Geburt Maria's am 8. September, die Kirchweihe 
des Erzengeld Michael am 29. September, das Feſt der Himmel: 
fahrt Maria’s am 15. Auguft und das Felt aller Heiligen am 
1. November. Aus der zweiten Predigt ) des Byzantiners Andreas, 
ber um 720 als Erzbiſchof von Greta farb, geht hervor, daß die 
Geburt Mariens ſchon im fiebenten Jahrhundert von der morgen: 
ländifchen Kirche gefeiert worden iſt. Von Lateinern gedenft diefer 
Feier zuerft der oben angeführte vömifche Kalender, ) wo fie als 
eine Yängft beftehende Gewohnheit erfcheint. Im fränfifchen Neiche 
wurde fie erit unter Ludwig dem Frommen eingeführt. Die Mar: 
tyrologien des Florus, Rabanus, Wandelbert, Ado von Vienne 
verjegten fie einftimmig auf den 8. September. 6) Leber den Aus: 
gang der heiligen Jungfrau trug fih ſchon die alte Kirche mit 

1) Abgedruckt Acta Sanctor. Bolland. Janius Vol. VI. u. VII. — ?) Ab» 
gedruckt bei Canisius lect. antig. ed. Basnage M., c. ©. 89 flg. — °) Capi- 
tul, I., 158, Baluziug I., 752 Mitte. — *) Abgeprudt bei Gallandius Bibl, 
Patr. XII, 93 fig. — 9 Fronto a. a. O. ©. 226 Mitte, — 9%) Man fehe 
die Note Georgi's zu Ado von Vienne S. 457 unten. 


Innerliche Bewegungen in der Kirche der fräntifchen Reiche ꝛc. 943 


allerlei Sagen. Epiphanius glaubt !) aus zwei Bibelftellen auf ein 
außerordentlihes Ende der Mutter Gottes fchließen zu müfjen. Die 
Worte Simeon’s an Maria (Luk. IL, 35.): ein Schwert wird 
burd deine Seele dringen ſchienen einerfeits, meint er, zu 
beweifen, daß die Jungfrau geftorben fey. Aber man werde an 
biefev Meinung wieder irre, wenn man ben Ausfpruch der Offen: 
barung Johannis erwäge, wo es heißt (Apocal. XII., 13, flg.): 
ber Drade brach los gegen die Frau, welde ben 
Knaben geboren hatte, da wurden aber derfelben 
Flügel gegeben, gleih denen eines großen Adlers, 
damit fie in die Wüfte flüge an ihren Drt, Epiphanius 
gefteht, im Zweifel darüber zu feyn, ob man aus letzterem Satze 
nicht den Schluß ziehen folle, dag Maria den Tod nicht gefchaut 
habe, Spätere waren weniger ängftlih. Im Laufe des fünften 
Jahrhunderts fam unter dem Xitel transitus Mariae eine apokry⸗ 
phiſche Schrift zum Borfchein, worin der wunderbare Tod der 
Mutter des Herrn und die Verſetzung ihrer Leiche in das Paradies 
erzählt wird. Pabſt Gelafius erflärte 2) zwar, in feinem berühmten 
Erlaß über den Canon, diefes Bud) für unächt, gleichwohl fand die 
Fabel mehr und mehr Glauben. Gregorius von Tours ftellt ®) 
fie als ausgemadte Thatfache Hin. Laut dem Zeugniß des Nice 
phorus Salliftus *) ordnete fchon Kaifer Mauritius (582— 602) ein 
befonderes Feft zu Ehren des Todes der Jungfrau in der griechifchen 
Kirche auf den 15. Auguft an. Diefe Ausfage des Byzantiners 
wird durch eine noch vorhandene Predigt °) des oben erwähnten 
Andreas von Creta beftätigt, welche den wunderbaren Hingang ber 
Gottesgebärerin verherrliht. Daß bie römifche Kirche im. achten 
Sahrhundert den Tod Maria’s am gleichen Tage begieng, erſieht 
man aus dem römischen Kalender. 9) In demfelben Zeitraum feierten 
auch die Franken ein Todesfeft der Jungfrau, aber nicht auf ben 
15. Auguft, fondern am 18. Januar. 7) Eine. Feier ihrer Himmel: 
fahrt war jedoch im Abendlande vor dem neunten Jahrhundert noch 
nicht üblich. Das oben angeführte Gefe läßt die Frage unents 





1) Haeres. LXXVIM., $. 11. Opp. ed. Petavius I., 1043 unten flg. — 
2) Manft VII, 451 gegen oben. — ®) De gloria. Martyrum J., 4 Opp. ed, 
Ruinart, ©. 724. — +) Kirchengefihichte XVIL, 28. — °) Bei Gallandiug 
a. a. O. ©. 147%. — 9) Fronto a a. O. ©. 221 unten. — 7) Den Beweis 
bei Mabillon de liturgia gallicana ©, 118. 


944 | II. Bu. Kapitel 11. 


fhieden, ob man die Himmelfahrt der Mutter Gottes feiern: folle 
oder nicht? Denn es fährt nach den bereits mitgetheilten Worten 
fo fort: „Die Feier der Himmelfahrt Maria’s wollen wir einer 
weiteren Unterfuchung anheimftellen.“ Die Mainzer Synode vom 
Jahr 813 dagegen befahl allgemeine Begehung. In ihrem S5öflen 
Beichluffe ) nennt fie außer den Tagen, deren das Geſetz Karl's 
gedenft, auch Mariä Himmelfahrt, als eine Feier, welche für bie 
ganze Kirche gelte. Dennoch wurde dieſes Felt damals in Italien 
und Rom noch nicht gefeiert. Denn der Bibliothefar Anaftafius 
meldet, 2) erft Leo IV. (847—855) habe die Begehung der Himmels 
fahrt zu Nom angeordnet. Selbft feitdem war das Feft im fräns 
fiichen Reich noch nicht überall eingeführt: Der Biſchof Hunfried 
von Terouanne bedurfte eines Mirafels, um im Jahr 862 feine 
Gemeinde zu Begehung der Himmelfahrt Mariens zu bewegen. ?) 

Im achten Jahrhundert, vielleicht noch früher, verbreitete ſich 
die Sage, daß der Erzengel Michael auf dem Berge Garganus, 
der in Campanien liegt, erfchienen fey und die Errichtung einer 
Kirche in einer dort befindlichen Höhle anbefohlen habe. Seitdem 
wurde zu Ehren des heil. Michael in einzelnen Drten Jtaliens ein 
Feft gefeiert. Im neunten Jahrhundert verbreitete fich daſſelbe aud) 
nah Franfreih. Diefelbe Mainzer Synode, welde bie Himmel: 
fahrt Maria's einführte, ordnete auch die allgemeine Begehung ber 
Kirchweihe Michael’ an. Diefe VBorfchrift wurde befolgt. Simmts 
liche fränkiſche Martyrologien des neunten Jahrhunderts führen die 
Kirchweihe des Erzengeld Michael unter dem 29. September auf. *) 

Die griehifche Kirche feierte fihon im vierten Jahrhundert am 
Sonntage nad Pfingftien ein Feft aller Heiligen. ?) Im Abendlande 
fand daffelbe erft fpäter Eingang. Daß es zu den Zeiten Karl's 
des Großen in Stalien gefeiert wurde, ift gewiß. Alkuin juchte es 
auch den Franken zu empfehlen. In einem feiner Briefe %) ermahnt 
er- den Erzbifchof Arno von Salzburg dringend, daß er dieſes Felt 
alljährlich begehen möge. Der Nuten, meint er, fey augenfcheinlid. 
Denn wenn fchon der einzige Elias durch die Kraft feines Gebete 





) Manſi XIV., 75 Mitte. — 2) Vita Leonis IV., $. 26. Vignoli IM., 
83. — 3) Hincmari annales ad annum 862. Perz I., 458 oben. — 9 Man 
fehe die Bemerkungen von Georgi in feiner Ausgabe Ado's ©. 503 flg. — 
5) Siehe den zweiten Band diefes Werks ©, 754. — °) Epist, 76. Opp. ed. 
Froben I,, 112 fig. 


Innerliche Bewegungen im der Kirche der fränkiſchen Reiche x. 045 


Belchrten den Himmel öffnen Fonnte, wie viel mehr werden bieß 
die Fürbitten aller Heiligen vermögen! Alfuin’s Wunfh wurde 
jedoch erft unter dem Sohne Karl’s des Großen verwirklicht. Ado 
von Vienne berichtet, ) daß Ludwig der Fromme auf Antrieb deg 
Pabfts Gregor IV. die Feier des Feftes aller Heiligen ſämmtlichen 
Kirchen feines Neiches auf den erfien November anbefohlen habe. 
Auch der Kreis gottesdienftliher Handlungen ward in unferem 
Zeitraum erweitert, Neue Gebräuche famen auf, ältere erhielten 
eine feierlichere Geftalt. Schon in der Urkirche herrfchte die Sitte, 
Kranfe mit geweihtem Dele zu falben. Geftügt auf den Ausfprud) 
des Apoftels Jakobus (V, 14.): ift Jemand unter euch franf, 
der laffe die Presbyter rufen und ſich falben mit Dele 
im Namen des Herrn, glaubte man, daß die Anwendung des 
Deles Genefung wirfe. Die Priefter mußten daher mit Dele für 
bie Kranfen verſehen feyn, das die Biſchöfe für dieſen Zwed zu 
weihen pflegten. Der teutfche Apoftel Bonifacius giebt folgende 
Vorſchrift:) „Alle Presbyter follen Del für die Kranfen vom Bi: 
jchofe verlangen und ftets bei fih haben, damit die Leidenden mit 
demfelben gefalbt und dadurch geheilt werden mögen.“ Allmählig 
trat jedoch der ärztlihe Gebraudh des Krankenöls in den Hinter: 
grund, um einer myftiihen Bedeutung Raum zu maden. Paſcha— 
ſius Ratbertus erzählt: ?) als der Abt Adalard von Korbie auf 
dem Todtenbette lag, hätten er und feine Freunde Anftand genommen, 
ihm die Delung anzubieten, weil ihnen befannt gewefen fey, daß auf, 
bem Gewiſſen des Abts Feine Sünde lafte. „Gleichwohl,“ 
fährt Ratbert fort, „verlangte Adalard, auf unfere Frage, begierig 
nad dem Dele, und brach, nachdem er es empfangen, in die Worte 
aus: nun fterbe ich getroft, weil mir alle Saframente Deines Ge: 
heimniffes o Herr! zu Theil geworben find.“ Hier erfcheint das 
Del als myftiiches Meittel, das nicht fowohl die Krankheiten des 
Leibes, als vielmehr die Schäden der Seele heilt und die Schreden 
bes Todes verfcheucht. In ähnlichem Lichte betrachtet Die Salbung 
der Kranfen aud eine unter Kaifer Lothar zu Pavia im Jahr 850 
gehaltene Synode, indem fie die Delung für ein hochwürdiges Sa— 





) ©. 555 der Ausgabe von Georgi. — 2) Epist. Bonifacii ed. Würt- 
wein ©. 442. Nro. 29. — 3) Vita Adalardi cap. 80 bei Mabillon acta ord. 
S. Bened. IV., a. ©. 517 unten flg. 

Efrörer, Kircheng. TIL 60 


96 | II. Buch. Kapitel 11. 


frament erklärt, Y) welches Vergebung der Sünden und Gefundheit 
des Leibes wirke, zugleich aber auch verbietet, ſolche Kranke zu fal- 
ben, welche unter dem Banne ftehen. Als Grund wird angegeben, 
dag „wer von ben übrigen Gnadenmitteln ausgefchloffen fey, auch 
das Saframent des Dels nicht genießen dürfe.“ Man fieht: 
der Weg zu demjenigen Begriffe der legten Delung, welcher feit 
dem zwölften Jahrhundert durch die Scholaftifer ausgebildet wurde, 
war bereits im neunten angebahnt, Während auf diefe Weife ein 
neues Saframent fich zu bilden beginnt, erhält ein älteres durch 
einfchleichende Mißbräuche größere Ausdehnung Bis auf die Zei: 
ten Karls des Großen herab wurde das Abendmahlopfer und die 
Meffe nur vor verfammelter Gemeinde gefeiert. Allmählig aber 
hatte der Glaube an die zauberifche Kraft des Saframents zur Folge, 
daß ftilfe, d. h. ſolche Meffen auffamen, welche der Priefter ohne 
Anmwefenheit des Volks für fich zum Seelenheile irgend eineg 
Menfchen Tiest. Die Mainzer Synode vom Jahr S13 verbot dieſen 
Gebraud. „Kein Presbyter,“ heißt es?) in ihrem Aäften Befchluffe, 
„soll die Meffe für fich allein Iefen. Denn wie Tann er fprecdhen: 
ber Herr fey mit euch, oder: empor die Herzen gerichtet, 
wenn Niemand außer ihm zugegen ift.“ Auch das Gte Parifer Con: 
eil vom Jahre 829 nennt 3) die ftille Meſſe einen Mißbrauch, den 
Nachläßigkeit und Geiz der Priefter eingeführt habe. Dennocd ward 
das Uebel nicht ausgerottet, fondern nahm mehr und mehr über: 
band. Die Majeftät des Gottesdienftes wuchs durch neue Werk 
zeuge, bie zum Theil fchon früher erfunden, jest erft in den allges 
meinen Gebrauch übergiengen. Weffen Herz ward nicht fehon durch 
bie Stimme des Erzes gerührt, das von den Kirchthlirmen herab: 
tönt! Man weiß nicht genau, wann die Kirchenglocken auf: 
famen, denn bei den älteften Quellen, die ihrer gedenfen, erfcheinen 
fie bereits als eine feit längerer Zeit beftehende Einrichtung. Die 
Sage, fie feyen in Kampanien oder gar von dem Bifchofe Paulinus 
zu Nola erfunden worden, ift ein eitles Mährchen. Der Iateinifche 
Name campana, den fie bereits im fiebenten Jahrhundert führen, 
ſtammt ohne Zweifel von dem Metalle ber, aus welchem fie in Italien 
gegoffen zu werben pflegten. Das kampaniſche Erz galt ſchon in den 





i) Can. 8. Mansi XIV., 932 unten flg. — ?) Mansi XIV,, 7A. — 
2) Can, 48, Mansi XIV., 567, 


* 


Innerliche Bewegungen in der Kirche der fränfifchen Reihe x. 947 


Zeiten des ältern Plinius ) für das beſte. Allen Anzeigen nad 
wurde ber Firchliche Gebrauch der Glocken gegen Anfang des ſechsten 
Jahrhunderts und zwar, wie es feheint, im Morgenlande eingeführt. 
Sie mögen zu den vorderaftatifhen Ehriften von den Buddiſten her— 
übergefommen feyn, denn Lestere Fannten fie feit den älteften Zeiten. 
Kirchengloden find, fo viel ung befannt, zuerft in dem Bertrage 
erwähnt, welchen bie faracenifchen Eroberer vor der Uebergabe der 
Stadt Jeruſalem den Einwohnern bewilligten. In diefer Urkunde 
verbietet 2) der Kalife den Heberwundenen, mit Gloden zu Yäuten. 
Daß die Skoten oder Altbritten am Ende des fechsten Jahrhunderts 
bereits Glocken befaßen, erhellt aus dem Leben des Abts Columba 
von Hy,?) welches um 660 deſſen Nachfolger Cumineus oder 
Cummian, mit dem Beinamen des Weißhärigen, fchrieb. Zweimal 
werden in diefer Gefchichte des erften Abts von Hy Glocken ge: 
nannt. +) Beda braucht?) in feiner Kirchengefchichte Englands den 
Ausdrud: „der wohlbefannte Ton der Gloden.“ In den Tagen 
bes Bonifacius fieng man auch in Teutfchland an, die Kirchen mit 
Glocken zu zieren. Der germanifche Apoſtel bittet den englifchen 
Abt Cuthbert in einem noch vorhandenen Briefe °) um Zufendung 
einer Glocke, und bderfelbe Abt macht dem Nachfolger des Bonifa- 
eins ein Gehen? ”) mit einer foldhen. Gegen Ende des achten 
Jahrhunderis erfcheinen die Glocken als allgemeiner Schmud ber 
Kirchen des fränfifchen Reichs. Unter Karl dem Großen war ein 
St. Galler Mind, Namens Tancho, ald Glodengießer berühmt. 8) 
Schon herrfchte damals die Sitte, Gloden zu taufen, welchen Ge— 
brauch der Kaifer für einen Auswuchs des Aberglaubeng erklärte 
und verbot.?) Aelter als die Glocken find die Drgeln, doch feheint 
ihre Anwendung in den Kirchen nicht über das achte Jahrhundert 
binaufzureihen. In feiner Erklärung des 56ſten Pfalms befchreibt: 
Auguftinus 10) deutlich eine durch Blasbälge getriebene 

') Plinii hist, natur, XXXIV., 20. Harbuin’s Folivausgabe II., ©. 659 


Mitte. — 2) Siehe oben ©. 34 gegen unten. — °) Meber ihn fiche den 
II. Band diefes Werks ©. 1071. — *) Cap. 22. und 25. bei Mabillon Acta 





Ord. Bened, I., ©. 346 oben und unten. — 5) IV., 23 zum Sabre 660. 
Ausgabe von Smith ©. 169 unten. — ©) Epist. 37. ed. Würdtwein ©. 84. 
) Epist. 124 bei Würdtwein ©. 311. — °) Monachi S. Gallensis gesta 


Caroli I., 29 bei Perz II,, 744 Mitte. — °) Capitulare tertium anni 789, 
 Nro, 18. bei Baluzius 1., 244, — 19%) Opp. ex editione Maurin, IV., a. 
©. 558 unten. | 


60 * 


948 IT. Bud, Kapitel 11. 


Orgel. Auch Iſidorus von Sevilla fennt ) dieſes prachtvolle Ton: 
werk. Im Jahr 757 befchenfte der Byzantiner Conftantin Copro- 
nymus den Franfenfönig Pipin den Jüngern mit einer Orgel, 
welche großes Auffehen erregte. Sie ſcheint die erfte ihrer Art in 
Gallien gewefen zu feyn, alle älteren fränfifchen Chronifenfchreiber 
fprechen von ihr. 2) Indeſſen fcheinen weder die Orgeln, deren 
Auguftin und Iſidor gedenken, noch diejenige, welche Pipin erhielt, 
in den Kirchen. gebraucht worden zu jeyn. Anders verhält es 
fih mit einer Drgel, welche der zweite Nachfolger des Coprony: 
mus, GConftantin V., Karl dem Großen überſchickte. Es war ein 
prachtvolles Werk, deſſen Wirfung der Mönch yon St. Gallen mit 
folgenden Worten ?) jchildert: „Ehernen Röhren, die durch Iederne 
Blasbälge gefüllt wurden, entfirömten Töne, an Majeftät dem Rollen 
des Donners, an Lieblichfeit dem Spiele der Leier vergleichbar.“ 
Aus den dunfeln Berfen Strabo’s über den Pallaft zu Aachen *) 
glauben wir abnehmen zu dürfen, daß legtere Orgel in der Haupt: 
kirche zu Aachen aufgeftellt worden ift. Jedenfalls wurde, auf Karl’s 
des Großen Befehl, das Drgelfpiel in den geiftlihen Muſikſchulen 
zu Mes und Soißons gelehrt. Der Mönd yon Angouleme be— 
richtet, °) daß diefelben italiänifchen Meifter, welche Karl aus Stalien 
herbeirief, ©) um den fränfifchen Kirchengefang zu verbefiern, auch 
im Spiele der Drgel Unterricht ertheilten. Hieraus geht hervor, 
daß Bau und Behandlung der Drgel damals in Stalien wohlbe: 
fannt war. Aber während der Stürme in der zweiten Hälfte des 
neunten Jahrhunderts fcheint dieſe Kunft jenfeits der Alpen ver=. 
fallen zu feyn. Wir befisen einen Brief”) Pabfts Johann VIII. 
(872— 882) an den Biſchof Hanno yon Freifing, worin er ben 
Teutſchen um Ueberjendung einer guten Drgel und eines gefchieten 
Drgelfpielers bittet. 

Die Bußzucht, welche bereits früher milder geworden war, ®) 





N) Etymolog. II., 21. Opp. ed. Arevalo III. 137 oben. — ?) Anna- 
les Petav. Perz I., 11. Annales lauresheimenses, alamannici, nazariani 
ibid. I., 28. 29. Annales Sangallenses majores, ibid, I., 74. Annales Ein-. 
hardi et Laurissenses, ibid. I., 140 und 141. — 5) Lib. II., Cap. 7. bei 
Perz II, 751 oben. — * Biblioth, Patr. max. Lugdun, XV., 222 a. unten flg- 
— 5) Perz I., 171 gegen unten. — °) Siehe oben ©. 603, — 7) Abgedrudt 
Baluzii Miscel, Folioausgabe von Manſi I., 402, b. unten. — 9) Siehe den 
2ten Band ©. 806 und 1037. 


Innerliche Bewegungen in der Kirche ber fräntifchen Reiche ꝛc. 949 


erlitt in unferem Zeitraum merflihe Veränderungen. Oeffentliche 
Sünden wurden von den Bilchöfen in den jährlichen Sendgerich— 
ten!) oder auch auf der Stelle gerügt. Hinfmar von Rheims 
giebt ?) in Yegterer Beziehung folgende Vorſchrift: „Fällt ein Vers 
brechen in einem Kirchfpiel vor, fo bat der Pfarrer fofort den 
Schuldigen zu ermahnen, daß er ſich bei dem Defan ftelle. Inner: 
halb der nächften fünfzehn Tage muß fodann der Verbrecher vor 
dem Bifchofe erfcheinen, damit er den Canonen gemäß die öffentliche 
Buße mit der Handauflegung empfahe. Stellt fih der Schuldige 
nicht, fo wird er auf fo Lange von der Kirchengemeinfchaft ausge- 
fchloffen, bis er fih zur Buße bequemt.“* Häufig fcheinen gewiſſen⸗ 
Yofe Pfarrer reichen oder anverwandten Sündern durchgeholfen, 
verhaßten dagegen bie Buße erfchwert zu haben. Hinkmar findet 
deßhalb für gut?), einzufchärfen, daß fein Priefter durch Gefchenfe 
oder Berwandtfchaftsrüdjichten ſich verleiten Yaffen folle, irgend ein 
Berbrechen, das von einem Gemeindemitglied begangen worden, dem 
Bifchofe zu verfchweigen. „Eben fo wenig dürfe der Pfarrer,“ fügt 
Hinfmar bei, „aus Feindfchaft gegen einen Schuldigen die Sünde 
härter darftellen, als fie wirklich ſey.“ Er bedroht fogar *) nad: 
läßige Geiftliche mit Bann und Einfyerrung bei Waſſer und Brod 
auf fo viele Tage, als die Anzeige eines Vergehens über die ge: 
fegliche Frift hinaus durch ihre Schuld verzögert werde. Als Grund- 
fat galt, daß in allen Bußfachen dem Biſchof des betreffenden 
Sprengels die letzte Entfcheidung gebühre. In einer um 820 er: 
Schienenen Verordnung des Biſchofs Hayto von Bafel heißt?) es: 
„Keiner, der von der Kirchengemeinfchaft ausgefchloffen ift, unter: 
ftehe fih, die Wiederaufnahme bei einem andern Bilchofe nachzu- 
ſuchen. Thut er e8 dennoch, fo wiſſe er, daß eine foldhe Einfegung 
nichts gilt. Nur von dem eigenen Bifhof darf ein jeg- 
lihes Gemeindemitglied gebunden oder gelöst wer: 
den, nicht von einem fremden“ 

In Bezug auf die geheimen Sünden der Laien hatte fchon 
Pabit Leo der Große die ftrengen Grundfäüge der alten Zeit bedeu— 
tend herabgeſtimmt, indem er flatt des öffentlichen Bekenntniſſes vor 
ber ganzen Gemeinde, welches in der Urkirche üblih war, ſtille 





1) Siehe oben ©. 605. — 2) Opp. ed, Sirmond. I., 730. — 3) Ibid. 
L, 713. Nro. XII. — 9 Ibid. I., 731, — 5) Manft XIV., 397 oben. 


950 _ IT. Buch. Kapitel 11. 


Beichte an die Priefter verlangte. ) Allein weder in unferem Zeit: 
vaum, noch in den nächſten Jahrhunderten wagten bie Bifchöfe, 
diefe Forderung Leo's durchzuſetzen, vermutblich weil fie fürchteten, 
daß man ihnen den Gehorfam verweigern werde. Der freien Wahl 
der Laien blieb überlaffen, ob fie ihre verborgenen Sünden insgeheim 
dem Priefter, oder nur vor Gott und ihrem Gewiſſen befennen 
wollten, Doc wurde wenigftens der Verſuch gemacht, die erftere Art 
der Beichte als wirkfamer zu empfehlen und dadurch deren allge: 
meine Einführung vorzubereiten. Im 33ften Befchluffe der Reiche- 
fonode zu Chalons vom Jahr 813 heißt e8:?) „Einige find der 
Meinung, Sünden brauchen nur vor Gott bekannt zu werben, 
Andere aber glauben, man müfje feine Fehler dem Priefter beichten. 
Die Einen wie die Andern haben Recht, denn Beides ift heilfam. 
Laßt ung daher unfere Sünden Gott, bei welchem die Gnade wohnt, 
befennen und mit David ſprechen (Pſalm XXX, 5.): ih eröffne 
Dir o Herr meine Miffethat. Laßt ung aber auch nach ber 
Vorſchrift des Apoftels handeln, welcher ung zuruft (Brief Jakobi 
V, 16.): Einer beibte dem Andern feine Sünden, und 
betet für einander, damit ihr bag Heil erlanget. Das 
Befenntniß, welches dem Herin abgelegt wird, veinigt von Sünden, 
die Beichte aber, welche man gegen den Priefter ausfpricht, zeigt, 
auf welhem Wege die Sünden getilgt werden mögen.“ Offenbar 
jchimmert bier der Gedanke durch, daß ein Belenntniß vor Gott 
zwar an fih vortrefflich fey, aber erſt durch Verbindung mit der 
Beichte vor dem Priefter feine volle Kraft erlange. Ebenſo verhält 
es fih mit einer Borfchrift ?) über das Sündenbefenntniß , welches 
ber Biihof Theodulf von Orleans um 797 den Vrieftern feines 
Sprengels gab. — Hatte. ein Laie dem Priefter feine Sünde ge 
beichtet, fo ertheilte diefer fofort die Losſprechung, aber nur gegen 
eine Buße, die der Laie hintendrein übernehmen mußte, +) 

Und mit eben diefen Bußen gieng in unſerem Zeitraum eine 
wichtige Aenderung vor, fofern der Clerus anfieng, flatt der durch 
bie alten Kirchengefege vorgefchriebenen Sündenfirafen andere an- 
zujegen, die weit milder waren und nicht zunächft die fittliche 





ı) Siehe den 2ten Band ©. 806 Witte. — 2) Manfi XIV. ©. 100. — 
3) Bei Manft XII, 1002, $.. 30. — *) Juxta modum facti debet ei (confi- 
tenti) poenitentia indicari heißt es ibid. $. 31. 


Innerliche Bewegungen in der Kirche der fränkifchen Reiche ꝛc. 951 


Befferung des Sünders bezwedten. ingeleitet und befördert wurde 
die Neuerung durch fogenannte Bußbücher, welche dem achten Jahr: 
hundert anzugehören feheinen. Aus einer Zufchrift ) des Metropo— 
liten Ebo von Rheims an den Biihof Halitgar von Cambray 
erhellt, Daß ums Jahr 820 eine Menge folder Bücher im Rheimſer 
Erzfprengel umliefen, und daß durch ihre Verſchiedenheit große Ver: 
wirrung entftand. Das meifte Anjehen unter ihnen genoß das 
römische Bußbuch, welches in einer doppelten Bearbeitung, einer 
fürzeren und längeren, auf ung gefommen ift.?) Als Probe, wie 
durch. diefe Werke canonifche Busen älterer Anordnung gegen neuere 
vertaufcht wurden, wollen wir einige Stellen aus dem römischen 
Pönitentiale beifügen: 3) „Statt eintägigen Faftens bei Waffer und 
Brod mag der Büßende 50 Pfalmen fnieend beten und einen Ars 
men ernähren. Kann er nicht jo lange fnieen, jo finge er aufrecht 
ſtehend 70 Palmen und nähre einen Armen, oder flehe er hunbert- 
mal je mit Kniebeugung den Allmädtigen um Gnade, „der gebe 
er den Armen drei Schillinge Almofen. — Statt einmonatlichen 
Faftens bei Waffer und Brod finge der Büßer 1200 Palmen mit 
gebeugtem Knie, oder ohne Kniebeugung 1680. Wer aber weder 
das Pſalter fennt, noch hungern will, der fchenfe den Armen ftatt 
einjährigen Faftens bei Waffer und Brod 22 Goldftüde“ u. f. w. 
Es gereicht den Häuptern der fränkiſchen Kirche zur Ehre, daß fie 
nicht blos die Gefahren diefer Neuerung erkannten, fondern auch 
fräftig dagegen einfchritten. Zwei Synoden erließen firenge Verbote 
wider die Bertaufhung der Buße. Das mehrfach erwähnte Concil 
von Chalons, welches im legten Jahre Karl’s des Großen gehalten 
wurde, verordnet: *) „Böswillig oder abfichtlich begangene Sünden 
fönnen durch Almofen nicht getilgt werden. — Denen, welde ihre 
Sünden gebeichtet haben, ift die Buße nad dem Inhalt der alten 
Canones, oder. nad) Ausiprüden der Schrift, oder nad Firchlichem 
Herfommen aufzulegen. Gar feine Rüdfiht verdienen bei 
Beſtimmung der Strafe die fogenannten Bußbüder, 
beren Irrthümer eben fo offenbar, als ihre Berfaffer 
dunkel find. Bon ihnen gilt dag Wort des Propheten (Ezech. 





ı Abgedruckt Canisius lect; antiq. ed. Basnage Il, b. ©. 87. -2) Ibid. 
S. 121 flg. — 9 Ibid. S. 129. — +) Manfi XIV., 101 fig. canon, 36. 38. 
und 45, | ; 


> Al II. Bush. Kapitel 14. 


XII, 19.): Ihr verurtheilet Seelen zum Tode, die doch 
nicht fterben, Ihr verheißt das Leben Solchen, die 
doch nicht leben follen. Denn indem fie ſchwere Sünden mit 
leichten und früher unbefannten Bußen rügen, legen fie den Sün— 
dern, wie berjelbe Prophet fagt, ) Kiffen unter die Ellenbogen und 
Pfühle unter die Häupter, um bie Seelen zu verſtricken. — Mit 
den Wallfahrten nad Rom, nad) Tours oder nad andern heiligen 
Dertern treiben Viele verderblihen Mißbrauch. Es giebt Elerifer 
und Laien, welche durch folhe Reifen ihre Sünden reinigen zu 
- fönnen wähnen, uneingedenf der Warnung des heil. Hieronymus, 
daß in Serufalem fromm gelebt zu haben, nicht aber dafelbft ge— 
wefen zu feyn, Segen bringt“ u. |. w. In gleichem Sinne ſprach 
fih die Parifer Synode vom Jahr 829 aus. Dieje Berfammlung 
gebot fogar, die Bußbücher von den Pfarrern einzufordern und zu 
verbrennen. 2) Aber der Zeitgeift fiegte über die Anftrengungen 
der erleuchtetften Häupter des fränfifchen Clerus. Und zwar trug 
die Arbeit eines Biſchofs aus Farolinifcher Schule viel dazu bei, daß 
der von jenen Synoden angegriffene Mißbrauch erftarkte. Wir haben 
oben erzählt,?) daß Halitgarius von Cambray den Metropoliten 
Ebo von Rheims auf deffen erfter Befehrungsreife nah Dänemark 
begleitete. Die früheren Schickſale diefes Mannes find unbefannt. 
Man weiß nur, daß er im Jahr 817 von Ludwig dem Frommen 
‘auf den Stuhl von Cambray erhoben wurde. Seitdem fpielte Ha— 
litgarius eine glänzende Rolle. Er nahm fehr thätigen Antheil an 
dem Parifer Coneil vom Jahre S25, welches den Bilderdienft ver: 
dammte, gieng drei Jahre fpäter als Gefandter des Kaifers Ludwig 
nad) Conſtantinopel, und war 829 einer der Wortführer auf der 
großen Parifer Synode, welche die am Hofe und in ber Kirche 
eingeriffenen Verderbniſſe abftellen follte. Halitgar farb im Juni 
831.) Mit Ebo von Rheims fland er während feiner ganzen 
Amtsführung in innigen BVerhältniffen, und Ebo war es aud, der 
ihn beftimmte, das Werk zu fehreiben, von welchem hier die Rede 
if. Wie wir oben fagten, wurde in den Pfarreien des Nheimfer 
Sprengels eine Maffe abweichender Bußbücher gebraucht, was eine 





') Ezech, XIII., 118. — 9 Manfi XIV, 559 unten, can. 32, — 
®) &, 795. — 4) Man vergleiche über Halitgar hist. litteraire de la France 
IV., 504 flg. 


Innerliche Bewegungen in ber Kirche der fräntifchen Reiche ꝛc. 953 


widerwärtige Berfehiedenheit in Behandlung der Büßenden zur Folge 
hatte. Um num die Einheit des Verfahrens wiederherzuftellen, ver⸗ 
faßte Halitgarius um 820 auf Ebo's Wunſch in fünf Büchern eine 
Schrift) über die Buße, welche Hinfort im Nheimfer Erzbezirfe 
zur Richtfchnur dienen ſollte. Im erften Buche befchreibt er, nad 
der in jenen Zeiten allgemein üblichen Eintheilung, *) die acht Haupt: 
lafter (Stolz, Ruhmſucht, Neid, Zorn, Traurigfeit, Geiz, Schlem: 
merei, Wolluſt), und weist nad), wie jedes derfelben überwältigt 
werden könne. Im zweiten handelt er vom thätigen und beichau: 
lichen Leben, fo wie von den fogenannten drei theologifchen Tugen- 
den: Glaube, Hoffnung, Liebe, und den vier weltlichen der Stoifer: 
Klugheit, Gerechtigkeit, Kraft, Mäßigung. Die drei übrigen Bücher 
befchäftigen fih mit den Kirchenbußen der Laien und ber Glerifer. 
Ueberall folgt Halitgar den Spuren der älteren Väter. Als An: 
bang zu eben diefem Werfe fügte er das römifche Bußbuch mit dem 
Bemerfen ?) bei, daß daſſelbe zur Ergänzung feiner eigenen Arbeit 
dienen möge. So wurde denn, troß den Verboten der Chaloner 
Synode, das römische Bußbuch mit feiner Lehre von Vertauſchung 
der Sündenftrafen in einem großen Sprengel amtlich eingeführt. 
Auch die andern Kirchen ahmten bald dem gegebenen Beifpiele nach; 
noch vor dem Schluffe des Jahrhunderts galten in allen Bisthiimern 
die Bußbücher und namentlich das römifhe als Drafel. Damit 
war dem fchädlichften Mißbrauch Thür und Angel geöffnet. Der 
Clerus brauchte Hinfort blos, flatt Almofens an die Armen, Opfer 
für den Altar als Taufchmittel der Sündenvergebung zu fordern, 
jo ftand der Ablaßfram fertig da. Und dieſer Teste Schritt wurde 
ſchnell gemacht. In dem geiftlichen Gefeßbuch, *) das der Abt 
Regino von Prüm gegen Anfang des zehnten Jahrhunderts zu— 
jammentrug, heißt es:°) „Bei der jährlichen Kirchenvifitation folle 
ber Biſchof jeden Pfarrer fragen: ob er das Bußbuch Theodor’s 
yon Canterbury, oder Beda's, oder das römifche habe, damit nad) 
ihrem Inhalt die Strafen der Sünden angefegt werden können.“ 
Wie die damaligen Ausgaben diefer Bücher die Buße behan- 


) Abgedruckt bei Canisias Basnage 1l., b. ©. 38 fig, — 9 Man fehe 


3. B. concil. cabillon. can. 32, Manft XIV., 99 unten. —-3) Canisius Bas- _ 


nage II., b. ©. 152 unten. — *) Libri duo de ecclesiastieis disciplinis ed. 
St. Baluzius. Paris 1671. 8to, — °) Ibid. ©. 30. Nro. 95. 


954 II. Buch. Kapitel 11. 


delten, erhellt aus einer andern Stelle deſſelben Verfaffers, ) wo 
er genau zwifchen folchen Ablaßgeldern unterfcheidet, die als Al: 
mofen für die Armen, oder zur Losfaufung Gefangener, oder auf 
ben heiligen Altar, d. h. an Kirchen und Klöſter, oder endlich 
an die Knechte Gottes, d. h. den Clerus bezahlt werben follen. 
Zwei Triebfedern haben, wie ung fcheint, bei Einführung dieſes 
Mißbrauches, der fo fürchterlihe Folgen hatte, zuſammengewirkt: 
erftlich derjelbe Hang zum Magifchen, der fonft überall hervortritt. 
Nur ein blindem Aberglauben verfallendes Zeitalter Tonnte den 
Wahn hegen, daß der Allmächtige mit den Sünden der Menſchen 
Handel treibe. Aber der Hauptgrund lag tiefer. Offenbar: willigte 
der Clerus anfänglid nur darum in die VBertaufhung der Buß: 
werfe, weil er Urfache hatte, zu fürchten, daß der Laienftand ſich 
weigern würde, die nach alter canonifcher Vorſchrift auferlegten 
firengen Bußen zu Teiften. Zwifchen zwei Uebeln mußte bier eine 
Wahl getroffen werden, zwifchen offener Auflehnung der Gemeinde 
wider die Strafgewalt der Kirche, oder Verwandlung der herge- 
brachten Busen. Der Clerus entfchied für den Ausweg, der für 
fein Anfehen der glimpflichfte war. Jedenfalls tragen die Laien 
eben fo viel Schuld an dem einreißenden Verderben, als die Geift: 
lichfeit. Stets gieng es fo. Zuerſt verleitete Das Volk den Clerus 
zu faljchen Schritten und hintendrein beutete dieſer die einmal feft: 
gewurzelten Mißbräuche zu feinem Bortheil aus. Im Uebrigen 
muß man zugeben, daß die Geiftlichfeit feit dem Sinfen des fräns 
fiihen Neichs in Bezug auf das Bußweſen eine höchſt fchwierige 
Stellung hatte. Auch einige andere Einrichtungen des neunten 
Jahrhunderts zeugen von dieſer Verlegenheit. Sp lange Karl der 
Große herrfchte, wagte Niemand den beftehenden geiftlihen wie 
weltlichen Behörden Trog zu bieten, denn der Arm des Kaiſers 
hätte jeden Ungehorfamen zermalmt. Alngehindert fonnten die Bi: 
ſchöfe das jährliche Sendgeriht halten und die Schuldigen zur 
Strafe ziehen. Aber mit dem Ausbruche des Bürgerkriegs und 
dem beginnenden Umfturze der bisherigen Verfaſſung Anderte ſich 
die Lage der Dinge. Jetzt mußten die Kirchenhäupter auf außer: 
ordentliche Mittel denfen, um den Kirchenftrafen Achtung zu ver: 
Schaffen. Das Natürlichfte fchien, die Hülfe der Staatögewalt gegen 





") Lib. IL, 438. ibid. ©. 379. 


Innerliche Bewegungen in der Kirche der fränkiſchen Neiche ıc. 955 


Berächter der Buße anzurufen. Wirklich faßte die Synode zu 
Mainz, welder Rabanıs Maurus im Jahr 847 vorfland, den 
Befchluß, ) daß grobe Sünder, welche fi weigern würden, die von 
der Kirche auferlegten Bußen zu tragen, durch den bewaffneten Arm 
weltlicher Gerechtigkeit zum Gehorfam gezwungen werden müffen. Aber 
diefe Maaßregel leiftete in die Länge nicht, was fie follte, fie half nur 
gegen ſchwache Sünder, mit welchen die Kirche von felbft fertig geworden 
wäre, nicht aber gegen Mächtige und Reiche, die nunmehr der 
Krone wie dem Priefterthbum zu trogen begannen. Wie nun legtere 
bewältigen? Die Aufgabe war verzweifelt ſchwer. Der Clerus 
fuchte fie dadurch zu Iöfen, daß er Zahl und Schärfe ber geiſt— 
lichen Waffen verftärkte. Bisher hatte man gegen bebarrliche Wider: 
feglichfeit den Bann als letztes Mittel gebraucht. Nunmehr fieng 
die Kirche, nad) einem älteren, jedoch feltenen, VBorgange an, zwei 
Stufen des Banns anzuordnen. Schon eine im Jahr 504 unter 
dem Pabſte Symmadhus gehaltene römische Synode hatte einen 
Unterfchied zwiſchen bloßer Ausihliegung vom Saframent (privatio 
communionis) und dem Banne gemadt. 2) Diefer Unterfchied 
wurde jest zum Gefeß erhoben. Die Ausfchliegung follte als nie— 
derer Grad, in gewöhnlichen Fallen des Ungehorfams gegen den 
Slerus, angewendet werden; zugleih trug man Sorge, an biefe 
Strafe jolche bürgerliche Nachtheile zu Fnüpfen, deren Verwirklichung 
in: der Macht der Bifchöfe lag, und Die gleichwohl den höhern 
Ständen, welche man allein zu fürchten hatte, fehr empfindlich feyn 
mußten. Der eigentlihe Bann blieb für außerordentliche Sünder 
vorbehalten, dabei vergaß man nicht, denſelben mit den furdhtbarften 
Schredmitteln zu umgeben. in lombardiſches Coneil war es, das 
zuerft diefe, durch die Umftände gebotene, Maaßregel ins Kirchenrecht 
aufnahm. Die jchon früher erwähnte Synode zu Pavia vom 
Jahr 850 verorbnete in ihrem zwölften Canon, ?) wie folgt: „Alle, 
welche von der Gemeinjchaft des Altares ausgefchloffen find, Dürfen 
feine Kriegsdienſte leijten, fein Staatsamt befleiden, an feiner Volks⸗ 
verfammlung Theil nehmen, Feine Sache vor Gericht betreiben. 
Doch ift ihnen unbenommen, ihre Privatgefchäfte zu beforgen. Wer 
Dagegen ſich um die Kirchenbußen nichts befümmert, den trifft eine 


) Can, 28, Manfi XIV., 91. — 2) Manſi VIII., 208 Mitte, — 
3) Manfi XIV., 934 unten fig. 


9 11. Buch. Kapitel 41. 


höhere Strafe — der Bann. Als faule und aufgegebene Glieder 
werden folhe Menſchen vom Körper der Kirche abgefchnitten. Keine 
Gemeinfhaft der Gefege, der Sitten, bes täglichen Verkehrs ift 
ihnen geftaitet, in der Todesftunde wird ihnen das Saframent ent: 
zogen, und aud nad ihrem Tode wird nicht für fie gebetet. Je— 
doc ift nöthig, zu diefem äußerſten Mittel nur nach reiflichfter Ueber: 
legung zu fohreiten. Nie darf ver Bann ohne Genehmigung des Me: 
tropoliten und ohne den Rath ſämmtlicher Bifchöfe der Provinz 
ausgefprochen werden.“ Man bemerfe, mit welcher Klugheit das 
Gefeg ausgedacht if. Blos Sünder aus höheren Ständen werden 
dadurd getroffen, denn nur der Adel diente im Heer, nur der Adel 
erhielt Staatsämter. Zugleih Tag es in der Macht der Geiftlic- 
feit, die angedrohten Nachtheile zu verwirklichen. In jedem Lager 
befanden fich einer oder mehrere Kapellane. Wenn nun diefe, den 
Vorſchriften ihrer Vorgefesten folgend, fich weigerten, einem Ans 
führer oder gemeinen Streiter, der vom Saframent ausgefchloffen 
war, die Meffe zu Iefen, fo konnte man ziemlich ficher darauf rec: 
nen, daß das übrige Heer einen folchen Genoffen nicht gerne dulden 
werde, weil der Aberglaube des Zeitalters den Gedanken von gött⸗ 
licher Beftrafung des Ganzen an die Schuld des Einen zu fnüpfen 
bereit war. Nicht anders verhält es ſich mit der angedrohten Un— 
fähigfeit zu öffentlichen Aemtern. Lebtere wurden ftets durch bie 
Krone verliehen. Diefe aber hatte Urfache, mit der Geiftlichfeit 
nicht zu brechen. Daher durfte in der Negel Keiner, der mit der 
Ausſchließung vom Saframente beftraft war, ein Amt vom Könige 
erwarten. DBergleiht man das oben erwähnte Gejeg ber teutfchen 
Synode yon Mainz mit dem eben mitgetheilten des italianifchen 
Soneils, fo ergiebt ſich ein ficherer Schluß auf die Hffentlichen Zu: 
ftände beider Länder. Die teutfchen Biſchöfe geben ſich der Hoff: 
nung hin, einfach mit Hülfe des weltlichen Arms ihre Bußgewalt 
aufrecht zu erhalten. Daraus folgt, daß in Teutfchland das König: 
thum noch ziemlich tiefe Wurzeln hatte. Der italifche Clerug dage- 
gen verläßt fih nur auf bie eigenen Kräfte feines Standes, offen: 
bar weil dort die Füniglihe Macht gänzlich zerrüttet war. Beides 
ſtimmt mit der Gefchichte überein. Man fieht an vorliegendem Bei: 
jpiele, daß die neuen Cinrichtungen des Bußweſens großentheils 
eine natürliche Folge des Verfalls der Staatsgewalt find. Zu dem 
großen Rüſtzeug geiftlicher Waffen des Mittelalters fehlte nur noch 


Annerliche Bewegungen in der Kirche der fränkiſchen Reiche ꝛc. 957 


das Interdikt oder der Bannftrahl gegen ganze Gemeinfchaften, und 
auch diefes fam, wie wir fpäter ſehen werden, ſchon im zehnten 
Jahrhundert hinzu. 

Noch fchärfer als in ben Bußeinrichtungen und dem Gottes— 
dienft fpiegelt fih der magifhe Glaube des Zeitalters und der all: 
gemeine Verfall in dem peinlichen Gerichtsweien ab. Aus den Ur: 
wöäldern hatten die Germanen das Bertrauen auf Gottesurtheile 
(Ordale) und gerichtliche Zweifämpfe mitgebracht. Die Kirche mußte 
deßhalb im fechsten und fiebenten Jahrhundert, wie früher gezeigt 
worden, !) dieſe barbarifchen Einrichtungen dulden. Aber die Bil- 
dung der Farolinifchen Zeit erklärte ihnen den Krieg. Im Jahre 
803 erlaubte?) Karl der Große noch den gerichtlihen Zweikampf, 
aber kurz darnach verbot er?) ihn für gewiffe Fälle und geftattete 
auch von Gottesurtheilen blos die Kreuzesprobe. Auf dem Reiche: 
tage des Jahrs S16 hob *) Ludwig der Fromme aud) die Kreuzes— 
probe auf, unter Anführung des rundes: daß bie Kreuzigung 
Chriſti dadurch entwürdigt werde. Die Kreuzesprobe beftand °) 
nemlich darin, daß Kläger und Beflagte mit ausgeftredten Armen 
die Stellung eines Gefreuzigten annehmen mußten. Wer zuerft bie 
Arme finfen ließ, galt für befiegt. Um das Jahr 825 gab Pabft 
Eugenius eine Borfhrift, ©) wie es mit der Probe des Falten 
Waffers gehalten werden folle. Allein unbefümmert um die Mei- 
nung des Pabſts ertheilte Kaifer Ludwig auf dem Wormfer Reichs: 
tage vom Jahre 829- feinen Kammerboten den Befehl, ) in Zus 
funft fein Gottesurtheil mittelft Falten Waſſers mehr zu dulden. 
Bermuthlih wurde der Kaifer zu dieſer weifen Verordnung durch 
das Anſehen des Erzbiſchofs Agobardus beftimmt, der, wie wir 
früher gezeigt, 3) Zweifämpfe und Orbdalien verwarf. Mit dem Um— 
fturg des Reichs und der Farolinifchen Verfaſſung kamen jedoch beide 
Mißbräuche wieder in Gang. Hinkmar von Nheims vertheidigte 
bie Gottesurtheile mit myftifchen Gründen in feiner Schrift ?) über 
bie Ehefcheidung Lothar's II., wie in einem Briefe 10) an ben 





) I. Band ©. 1037. — ?) Capitulare IV., anni 803 $.3. Baluzius L., 
397 oben. — 3) Capitulare I., anni 806 $.14. Baluzius I., 444. — + Bas 
luzius 1., 569 can. 27, — 5) Den Beweis bei Dufresne glossar. med. 
latin. sub voce: erucis judieium, — 5) Abgedruckt Mabillon analecta 
Foltoausgabe ©. 161. — 7) Baluzius I., 668 Nro. 12, — ®) Oben ©, 751.—. 
°) Opp. 1., 599 fig. — "9) Ibid. IL, 676 fig. 


958 II. Buch. Kapitel 11. 


Biſchof Hildegar von Meaur. Nicht blos Mönche, wie Gotfchalf, 
beriefen fich feitdem auf Gottesurtheile, fondern ſelbſt Fürftinnen, 
wie Theutberga, die unglüdlihe Gemahlin Lothar’s IL, mußten fi 
ſolchen Gerichten unterwerfen. Die häufigften Formen waren bie 
Proben durch Faltes Waffer, durch heiße Flüffigkeiten, durch Feuer, 
durch den Genuß des Abendmahls. Wer die falt Wafler: Probe 
beftand, ward in einen Fluß geworfen, ſank er nicht unter, fo galt 
feine Unfchuld als erwiefen. Aehnlicher Art find die beiden andern 
Proben: wer unbefchädigt Durch Feuer hindurchgieng oder feine Hand 
unverbrannt aus fiedender Flüffigfeit herauszog, ward Iosgefproden. 
Das Gottesurtheil mittelft des Abendmahls beftand darin, daß der 
Angeffagte unter feierlichen Formeln und Eidſchwüren das Sakra— 
ment genoß. Schabete es ihm nichts, fo glaubte man ihn gerecht: 
fertigt. Merkwürdig ift, daß der Elerus Iegtere Probe, welche am 
leichteften beftanden werden konnte, feinen Mitgliedern vorbebielt. 
Das teutfche Concil, welches im Jahr 895 zu Tribur gehalten 
wurde, verordnet: ) angeflagte Priefter follen mittelft des Safra- 
ments geprüft, verbächtige Laien dagegen der Probe des glühenden 
Eifend unterworfen werden. Vergeblich ‚erhoben zwei Päbſte aus 
der andern Hälfte des neunten Jahrhunderts ihre Stimme gegen 
bie barbarifche Sitte. In einem Briefe an Karl den Kahlen ?) 
fpriht fih Nifolaus I. nahdrüdlich gegen den Plan Lothar's I. 
aus, die Schuld feiner Gemahlin Theutberga durch einen gericht: 
lichen Zweifampf zu beweifen. „Wenn gleich gefchrieben ftehe,“ fagt 
er, „daß Goliath und David im Zweifampfe mit einander fochten, 
fo ift doch Solches nirgends durch Gottes Wort geboten, vielmehr 
muß man befennen, daß Diejenigen, welde Proben der Art vor: 
nehmen, den Allmächtigen verfuchen.“ Dreißig Jahre fpäter erflärte 
Pabft Stephan V. in einer Zuſchrift 9) an den Erzbifhof Leut⸗ 
bert von Mainz: die Probe durch glühendes Eifen oder fiedendes 
Waſſer fey ein abergläubifcher, wider die heiligen Gefege der Kirche 
eingeführter, Mißbrauch. Diefe ernftlihe Ermahnungen vermochten 
den Zeitgeift nicht zu überwältigen. Zuletzt blieb der Geiftlichfeit 
fein anderer Ausweg übrig, als daß fie die Gottesurtheile unter 
ihre Obhut nahm und dadurch menfhlicher machte. *) 
ı) Manſi XVIIL, 145, can. 21 u 22. — ?) Epist. 50, Manſi XV., 


349 unten. — 3) Manſi XVII, 25 unten. — H Alte lirchliche Vorſchriften für 
Abhaltung derſelben bei Perz ** IL, 2. 





Innerliche Bewegungen in der Kirche ver fränfifchen Reiche ꝛc. 959 


Ueber den fittlichen und geiftigen Zuftand des Clerus während 
unferes Zeitraums geben die Regeln erwünfchten Aufſchluß, welche 
der Erzbifhof Hinfmar den Prieftern feines Erziprengels vorfchrieb, 
Sehr geringe wilfenfchaftlihe Forderungen macht er an den niedern 
Clerus: ) Jeder Pfarrer folle die Erklärung des Glaubensbefennt: 
niffes und des Vaterunfers auswendig lernen, die Meßgebete und 
Abſchnitte der Bibel, die Beſchwörungsformeln und Gebräude bei 
Weihung der Täuflinge und Wiederaufnahme Gebannter verftehen, 
auch die vierzig Predigten des Pabſtes Gregorius I. fleißig leſen. 
Selbft von Bifchöfen wurde nicht viel mehr verlangt, als ſolches 
Gedächtnißwerk, wie man aus der Prüfung erfieht, welche Hinfmar 
mit Willebert, dem neuen Bifchofe von Chalons, vornahm. 
Diefer Mann war 868 auf den erledigten Stuhl der eben genann- 
ten Stadt durch die Wahl des Clerus erhoben worden. Sofort trat 
eine Synode in Chierfey zufammen, ?) um zu unterfuchen, ob Wille: 
bert auch die nöthigen Kenntniffe und Fähigfeiten beſitze. Nach 
mehreren Förmlichfeiten, die nicht hieher gehören, gab man ihm 
Gregor’s Anmeifung für Seelforger in die Hand und hieß ihn ein 
Hauptſtück vorlefen. AS dieß gefchehen war, wurde er befragt, 
ob er auch verftebe, was er eben gelefen habe, und darnad 
leben und lehren wolle? Auf gleiche Weife ließ man ihn etliche 
Stüde aus der Sammlung von Kirchengefegen und das Glaubens: 
befenntnig leſen. Nachdem er diefe Probe beftanden hatte, erklärte 
ihn die VBerfammlung für rechtglaubig, gelehrt und in alle 
Wege tühtig zur Führung des biſchöflichen Amtes. 
Klar erhellt aus diefem Borfall, daß die Bildungsanftalten, welche 
Karl der Große gegründet hatte, damals nicht mehr beftanden. 
Und wirklich verhält fi die Sache fo. Zwar die Hofichule zu Paris 
blühte noch, aber die meiften andern waren dahin. Doc herrichte 
noch Achtung vor Wiffenfchaft und Sehnfucht darnach. Im Jahre 
855 trug ein Reichsſtag zu Balence darauf an, °) daß für Ein: 
richtung von Schulen Vorforge getroffen werde, „fintemalen durch 
langjährige Unterbrechung aller Studien die tieffte Unwiffenheit eins 
geriffen fey.“ Mehr als der Mangel an Bildung, machte dem Erz: 
bifchofe yon Rheims die Zuchtlofigfeit feiner Priefter zu fchaffen. 





1) Hincmari opp. ed, Sirmond l., 710 flo. 1.2.3.48 — ° Die 
Alten bei Manft XV,, 863 flg. — 3) Manfi XV., ©. 11. Canon 48, 


960 IM. Bud. Kapitel 41. 


Wiederholt und aufs Strengfte muß er ihnen einfchärfen, ) daß fie 
fleifhlihen Umgang mit Weibern meiden follen. Auch Völlerei war 
ein unter dem Clerus fehr häufiges Lafter. „Laien,“ fagt 2) Hinfmar, 
„ieyen ſchon öfter zu ihm gefommen und hätten angefragt, ob fie 
nicht den Pfarrern, wenn fie diefelben in Wirthshäuſern antrafen, 
Pferd und Mantel nehmen dürften.“ Er verbietet ihnen den Beſuch 
aller Kneipen und fonftige Schmaufereien und Gelage. „Rein Priefter 
folle fi) unterftehen, ein Kirchengeräthe in der Schenfe zu verfegen.“ 
Bei priefterlihen Zufammenkünften und befonders bei Leichenefjen 
macht er ihnen Mäßigfeit zur Pflicht. ?) „Weder folle Einer Anderen 
zufprechen, daß fie fih zu Ehren ber Heiligen oder des Verftorbenen 
toll und voll trinfen, noch folle er fich felbft zum Trinfen nöthigen 
laffen. Auch ermahnt er fie, ſich bei folden Gelegenheiten alles 
Lärmens, Singeng, tollen Gelächters, alles Erzählens von Schwänfen 
zu enthalten, feinem Tanz von Bären oder liederlichen Weibern zu: 
zufehen, noch mit Dummereien oder Teufelslarven fich zu beluftigen. 
Seder möge, fo lieb ihm fein Amt ſey, Acht haben, daß er nicht 
einen andern Priefter oder einen Laien zum Zorn und Streit oder 
gar zu Mord und Todtichlag veize und zum Kampf herausforbere; 
finde je eine Herausforderung ftatt, jo dürfe der Geforderte fich nicht 
zum Kampfe ftellen. Bei den übliden Verfammlungen der Pfarrer, 
je am erfien Tage des Monats, jollen fie nicht nach gelefener Meſſe 
ein Trinfgelag halten, was nur die Folge habe, daß fie fih mit 
Pafteten den Magen überfüllen, mit Wein den Kopf ſchwer machen. 
Nicht mehr als höchſtens drei Becher jeyen Jedem geftattet.“ Am 
meiften Ehre machen dem Erzbifchofe feine Vorſchriften zu Gunften 
der Armen. Sorgfältig wacht er *) über Beobachtung des alten 
Canons, daß die Zehnten in vier Theile, einen für den Biſchof, 
einen für das Bauweſen der Kirche, einen für den Clerus, einen 
für die Armen zerlegt werden. In bie Armenregifter follen nur 
ſchwächliche und hülfloſe Perfonen des Kirchfpiels eingetragen wer- 
den, nicht aber Schwein: und Kuhhirten Cdie das Vieh des Pfarrers 
hüten). Bei Strafe augenblidlicher Dienftentfegung verbietet °) er 
den Pfarrern, von den Armen für Aufzeichnung in das Regifter 
irgend ein Gefchenf, oder eine Frohnde in ber Erndte, oder fonft einen 

1) Hincmari opp. J., ©. 717, can. 19. ©. 718, can. 20. 21. ©. 735, 


can. 3, — 2) Ibid. I., 718 Nro. 20, — 3) Ibid, ©. 713 Nro. 44, 46 
15, — #) Ibid, I., 717 Nro, 16, 17. — 5) Ibid, I., 734 Nro. 2. 





Snnerliche Bewegungen in der Kirche der fränfifhen Reiche ıc. 961 


Dienft zu fordern. Die Austheilung der Gaben, welche den Armen 
gebühren, foll in Beifeyn zweier ober dreier Zeugen aus bem Laien- 
ftande vorgenommen werben. ') Gleiches Vorrecht, wie die Armen, 
genießen auch die Pilger. Hinkmar verpflichtet ?) die Pfarrer, für 
Beköſtigung der Legtern Sorge zu tragen. Dan kann hieraus abs 
nehmen, wie häufig die Wallfahrten und wie groß die Schaaren 
der Pilger gewefen feyn müſſen. Ihr gewöhnliches Ziel war in 
Italien Rom, in Gallien Tours, in Spanien feit Mitte des neun: 
ten Zahrhunderts Compoftella. Biele wanderten auch über die See 
ind gelobte Land. Noch beſitzen wir die Neifebeihreibung *) eines 
fränfifhen Mönchs Bernhard, der um 863, in den Tagen bee 
Pabſts Nikolaus J., nach Jerufalem pilgerte, In Begleitung zweier 
andern Mönche, eines Spaniers und eines Italieners, empfieng er 
erft zu Rom den Segen bes Pabſtes Nifolaus J., gieng dann auf 
den Berg Garganus, um die Höhlenkirche des heil. Erzengel Michael 
zu fehen. Hierauf verfhafften fih die drei Reifenden von dem fara= 
senifhen Emir der Stadt Bari in Unteritalien Oeleitsbriefe an bie 
mahomedanifchen Fürften zu Alerandria und Babylon. Im Mor: 
genlande angefommen machten fie die Entdeckung, daß die mitge- 
brachten Päſſe ihnen nichts nügten. In Merandrien mußten fie einen 
neuen um fihweres Geld erfaufen. Bor den Thoren der Yegtern 
Stadt fahen fie ein Klofter, aus welchem die Venetianer die Leiche 
des heil. Markus entwendet haben follten. Zu Babylon (Bagdad) 
warf man fie fo lange ins Gefängniß, bis fie einen Geleitshrief 
vom Kalifen erfauften. Endlich kamen fie nad) Serufalem, wo fie 
in ber Yateinifchen Herberge Aufnahme fanden. In der Kirche zum 
heiligen Grabe jhauten fie das Wunder, welches fo oft befchrieben 
und gefeiert worden ift, nemlich daß Die Lampen über dem Grab- 
male fih in der Nacht vor Oftern, ohne Menfchenhände, wie man 
glaubte durch Wirkung eines Engels, von felbft anzündeten. Bon 
ber Herberge, die für alle Pilger Tatinifcher oder germanifcher Zunge 
in Jeruſalem beftand, fpricht auch der Mönch Druthmar *) in feiner 
Auslegung des Matthäus. Durch milde Beiträge aus dem Abend: 
lande wurde dieſelbe erhalten. 

1) Ibid, 15 717. Nro. 16. 2) Ibid. ©, 712. Nro. 10. — 9) Abge⸗ 


druckt bei Mabillon Acta Ord, S. Bened. III., b. 472 fig; — *) Bibliotheca 
Patrum maxima Lugdunens, XV,, 169 a. Mitte. 





Gfrörer, Kircheng. II. ß 6i 


962 r I. Buch. Kapitel 12. 


Zwölftes Kapitel. 


Die abendländiſche Kirche unter den Päbſten Sergius II., Ceo IV., falſche Sage 

von einer Päbſtin Johanna. Benedikt III., Nikolaus I, Hadrian IE, Iohann VIII. 

Hinkmar's Kämpfe für Erhaltung der Metropolitangewalt gegen den Stuhl Petri, 
die Suffragane und das Königthum, 844 — 882. 


Pabſt Gregor IV. hat, da er im Jahr 827 den Stuhl Petri 
beftieg, die höchfte Blüthe des fränfifchen Reichs, aber auch, bei 
feinem im Januar 844 erfolgten Tode, den völligen Umſturz der 
Schöpfung Karls des Großen gefehen. Letzteres Ereignig mußte 
für die Verhältniffe zwifchen dem Pabſtthum und der fränfifchen 
Krone fehr wichtige Folgen nach fich ziehen. Oben ift gezeigt wor: 
den, Y daß bie Päbſte fchon feit 816 das Goch, welches ihnen 
Karl der Große auferlegt, abzuſchütteln trachteten. Unfere Dar: 
ftellung der Gefchichte von 772 — 827 würde fich felbft als un: 
wahr richten, wenn jeßt die Statthalter Petri den in Frankreich 
eingetretenen Umſchwung zu Erreichung ihres längſt entworfenen 
Planes nicht benüsten. Alfein was zu erwarten fand, tft wirklich 
heſchehen. | 

Kaum war Gregor IV. mit Tod abgegangen, als die Römer 
den bisherigen Archipresbyter Sergius I. zum Nachfolger wähl- 
ten und fofort mweihten, ohne die Beftätigung des Kaiſers Lothar 
abzuwarten. Diefer empfand eine ſolche Verhöhnung feines Anſehens 
fehr tief. Er ſchickte alsbald feinen erftgebornen Sohn Ludwig, 
unter der Leitung des Metropoliten Drogo von Mes, mit einem 
ftarfen Kriegsheer nach Stalien ab, um die Römer zur Strafe zu 
ziehen. Würchterlich wurde die Gegend zwifchen Rom und Bologna 
verheert. Der neue Pabft verlor den Muth, er fehiefte dem Könige 
Ludwig auf neun Meilen weit alle obrigfeitliche Perfonen der Stadt 
entgegen; in einiger Entfernung Binter denfelben folgten die Kreuze 
und Fahnen St. Peter’s fammt den bewaffneten Zünften, welche 
zu Ehren der Franken Loblieder fangen. Sergius Il. ſelbſt empfieng, 
umgeben von feinem Clerus, den jungen fränkiſchen Fürften am 
Eingang ber Petersfirche, in welcher fie gemeinfchaftlich dem Gottes- 
dienfte beiwohnten. Ueber bie weiteren Borgänge flimmen bie zwei 





) ©. 714. 728. 730 fig. 


a alien 





TTS UOUER 


Die Päbſte Sergins IL, Leo IV., Nikolaus I. ꝛc. 963 


einzigen auf ung gefommenen Zeugen, der Bibliothekar Anaftafius ) 
und Prudentius von Troyeg, ?) nicht recht überein. Wir eninehmen 
aus den Berichten Beider, was ung das Wahrfcheinlichfte dünkt. 
Anaftafius fagt, ?) auch nah der Ankunft»vor Nom babe bag 
fränfifhe Heer die Verwüſtungen des Gebiets fortgefeßt, weßhalb 
denn der Pabft Befehl ertheilte, die Thore dev Stadt zu fchliegen. 
Nach einigen Tagen feyen ſodann päbftlihe und fränkiſche Bevoll— 
mächtigte zu einer Unterhandlung zufammengetreten, aber kaum 
hätten fie fid) nach den heftigften Streitigfeiten. zu vereinigen vers 
mot. Vergleicht man die Ausfagen beider Zeugen, fo ergibt fich, 
daß die Franfen folgende Forderungen fiellten: 1) die Römer ge: 
Toben, in Zufunft nie mehr ohne Faiferliche Zuſtimmung einen Pabſt 
zu wählen, 2) Sergius IL. verpflichtet fih, Lothar's Erftgebornen 
Ludwig zum Könige der Langobarden zu Frönen, und 3) die Stabt 
Kom und der neue Pabſt hat dem jungen Könige den Eid ber 
Treue zu leiſten. Bon biefen Bedingungen -geftand der Pabft bie 
erfte zu, wie aus der Geſchichte feines Nachfolgers erhellt, auch die 
zweite warb bewilligt, Sergiug II. fegte Lothar's Sohne bie Tango: 
bardifche Königsfrone auf. Aber die dritte Zumuthung fehlug er 
beharrlih ab, nur dazu verftand er fih, daß er felbft und das 
römische Volk den Eid der Treue, den fie ſchon früher Lothar'n 
gefchworen, erneuern werde. Man fieht: der Pabft hütete ſich, Ber: 
bindlichfeiten gegen den Erben des Kaifers einzugehen, er wollte 
für die Zufunft freie Hand haben. Die Franken mußten in Bezug 
auf letzteren Punft dem Pabſte nachgeben. Dagegen nöthigten fie 
ihm noch ein viertes Zugeftändniß ab, das zwar nicht die Stellung 
des Stuhles Petri zu dem fränfifchen Herrfcherhaufe berührte, aber 
in anderer Beziehung für Kaifer Lothar fehr wichtig war. Laut 
dem Berichte des Bibliothekars ) hatte der Erzbifhof yon Mes, 
Drogo, ein natürlicher Sohn Karls des Großen, und, wie wir 
oben fagten, Bormünder und Rathgeber des Prinzen, während der 
Berhandlungen fih am härteflen gegen ben Pabſt ausgefprocen. 
Ehendenfelben mußte Sergius zum apoftolifchen Stellvertreter fir 
ſämmtliche Kirchen der aus dem Neiche Karls hervorgegangenen 





1) Im Leben des Sergius IT, ed. Vignoli UI., ©. 44 fig. — ?) Annales 
ad annum 844 Perz I, ©. 440, — 3) 4. a. O. $. 12 u. 15. Vignoli II, 
44. — +) 4. a. DO. Kap. 14, Vignoli IL, ©. 45. 


61° 


964 0 10. Buch, Kapitel 12 


Staaten ernennen. ') Noch ift der Beftallbrief vorhanden, 2) den 
die römische Kanzlei damals ausfertigte. „Den Provinzen jenfeits 
der Alpen,“ heißt es hier, „thun wir zu wiffen, daß wir den Erz 
biihof von Mes, Drogo, den Sohn des glorreichen Kaifers Karolus, 
durch deffen ruhmwürdige Thätigfeit einft das Reid 
der Römer und Franfen vereinigt ward, zu unferem Stell- 
vertreter eingefegt haben. Jedermann Teifte diefem Manne Gehor: 
fam, der fich ebenfo fehr durch Reinheit der Sitten als durch hohe 
Geburt auszeichnet, und Oheim unferes theuren Sohnes, des großen 
Kaifers Lotharius, wie der geliebten Brüder deffelben, unferer Söhne 
Ludwig’s (des Teutfhen) und Karls (des Kahlen) if“ u. ſ. w. 
Diefe Maaßregel hatte einen tiefen Sinn; fie bezweckte nicht weniger, 
als durch Firchliche Mittel den Kaifer Lothar zum Oberheren in den 
Keichen feiner Brüder Ludwig und Karl zu machen. Denn wenn 
es dem Erabifchofe gelang, von den teutfchen und neuftrifchen 
Bifchöfen Anerkennung der Gewalt, die ihm der Pabft eingeräumt, 
zu erringen, fo lagen die Kirchen beider Länder zu feinen Füßen, 
und trefflich Fonnte er dann für die herrſchſüchtigen Zwecke feines 
Beihügers Lothar arbeiten. Cine Andeutung diefer geheimen Ab: 
ficht finden wir in den Worten des päbftlihen Brief: Drogo 
fey der Sohn des großen Karl, der die Einheit und 
Majeſtät des franfifhen Reichs gegründet habe. 

Die Schlinge war jedoch zu plump gefchürzt, als daß fie 
wirfen fonnte. Als Drogo über die Alyen zurückkam und feine 
Vollmacht vorwies, berief Karl der Kahle im Dezember 844 bie 
Bifchöfe feines Gebiets zu einer Synode nad DBerneuil, wo ber 
Beſchluß ?) gefaßt wurde, die Erhöhung Drogo's erft dann anzu: 
erfennen, wenn auch die teutfche Kirche ihren Beitritt erflärt haben 
würde, d. h. niemals. Denn der hohe Clerus Germaniens hütete 
ſich wohl, einen fo einfältigen Schritt zu tbun. Sp mißglüdte der 
lan Lothar’s und Drogo's im Entftehen. Hinfmar von Rheims 
fagt, ) Drogo habe die hohe Stellung, nach der er geftvebt, nicht 
errungen, aber auch das Fehlſchlagen feiner Hoffnungen mit Gleich 
muth ertragen. Obgleich durch den Widerftand der teutichen und 


1) Prudentii annales a. a. O. Perz I., 440 Mitte. — 2) Manft XIV,, 
806 unten flg. — 9 Acta coneilii in Verno can, 11, Baluziug II, 17 


unten. — *) Opp. H., 737 untere Mitte. 


rn 14 


Die Päbſte Sergius II., Leo IV,, Nikolaus J. ꝛc. 965 


neuftrifchen Bifchöfe das Anfehen des Pabſts biosgeftellt war, hat 
man doch Urfache, anzunehmen, daß Sergius im Grunde feines 
Herzens biefe Wendung der Dinge gerne fah. Zugleich mit der 
Ernennung Drogo's zum päbftlichen Stellvertreter in den Kirchen 
dieffeitS der Alpen hatte Kaifer Lothar auch die Wiebereinfegung 
Ebo's auf den Stuhl von Rheims verlangt. Beide Forderungen 
ftanden in engem Zufammenhang. Ebo follte Karl dem Kahlen 
aufgedrungen werden und ſodann gemeinfhaftlih mit Drogo bie 
neuftrifche Kirche dem Lothringer unterwerfen. Aber der Pabft, 
der wider feinen Willen das erfte Anfinnen bewilligen mußte, ſchlug 
das andere ab. D Daraus folgt denn, daß er die geheimen Ab- 
ſichten des Kaifers nicht bilfigte. Noch deutlicher erhellt dieß aus 
Dem, was fpäter geſchah. Um fernere Ränke Ebo's abzufchneiden, 
vergab Karl der Kahle im Sommer 845 das erledigte Bisthum 
Rheims an Hinkmar. Hätte fih der Pabft durch die Weigerung 
der Neuftrier, den Beftallbrief Drogo’s anzuerfennen, beleidigt ge: 
fühlt, fo brauchte er nur Ebo's Sache, wegen deren Lothar ihm 
fortwährend zufeste, zu unterftügen und gegen Hinkmar fich zu er: 
flären, fo büßten die Neuftrier für ihre Widerfeglichkeit. Aber er 
ſchwieg, folglich war er mit dem Gange der Sachen zufrieden. 
Bald darauf trat ein Ereigniß ein, welches die Päbſte in noch 
größere Abhängigkeit von den fränfifchen Kaifern, als bisher, zu 
bringen drohte. Um 828, alfo in Pabft Gregor’s IV. Tagen, war 
die Inſel Sieilten, die bis dahin noch den griechifchen Kaifern ge: 
horchte, durch Verrath in die Hände der afrifanifchen Saracenen ?) 
gefallen. Seither griffen diefe Erbfeinde, durch die in Calabrien 
herrfchende Verwirrung und den Verfall fränfifcher Macht ermutbhigt, 
auch auf den gegenüber liegenden Küften Italiens um ſich, eroberten 
842 die Stadt Bari ?) und fireiften vier Jahre fyater bis vor Rom. 
Mit einer ftarfen Flotte fchifften fie im Sommer 846 die Tiber 
herauf, plünderten die Petersfirche, die außerhalb der Mauern ftand, 
und fehleppten fogar den Altar über dem Grabmale der Apoftel mit 
fort. %) Die römiſchen Streitkräfte waren dem Andrange foldher 
Gegner nicht gewachfen. Zwar erhellt aus den Angaben des Biblio: 





) Anaftafius bei Vignoli III, 47 unten, fowie Kap. 10 dieſes Bandes 
©. 815. — 9) Man fehe Muratori annali d’Italia IV., 543. — 5) Idem 
Vol, V, ©. 6. — *) Prudentii trecensis annales ad annum 846 bei Per; I., 442. 


669 | DI. Buch. Kapitel 12. 


thekars, ") daß ber Pabft friefifche und ſächſiſche Schaaren in feinem 
Solde Hatte; ihre Anzahl fcheint jedoch gering gewefen zu feyn. 
Nur ber Kaifer Tonnte helfen, aber es ließ fi) vorausfehen, daß 
ber Pabft jede Hülfe von biefer Seite mit Opfern erfaufen müffe. 
Mitten unter dem Getümmel der faracenifchen Waffen ftarb Ser: 
gius IL, Ende Januar 847 nad dreijährigem Regiment. 
Alsbald wählten die Römer einmüthig den Diafon Leo IV. 
zu feinem Nachfolger, allein ihm fofort auch ohne Faiferlihe Er: 
laubniß die Weihe zu ertheilen, wagten fie nicht, weil die derbe 
Züchtigung bei der vorlesten Pabſtwahl noch in friſchem Andenken 
ſtand. Dritthalb Monate Yang dauerte daher eine Art Zwifchen: 
reich. 7) Endlich aber, da Lothar, wie es ſcheint, nichts von ſich 
hören ließ, und doch anderer Seits ein befürchteter neuer Anfall 
der Sararenen die Nothwendigkeit auferlegte, entfcheidende Maaß— 
regeln zu ergreifen, jchritten fie zur That und weihten den neuge: 
wählten Pabft.- Zugleich fanden fie indeß für gut, ausdrücklich das 
Beftätigungsrecht des Raifers vorzubehalten, ?) was diefen befriedigt 
zu haben fcheint. Denn man findet nicht, daß Lothar fpäter die 
Wahl mißbilligte oder die Wähler zur Strafe z0g. Leo IV. wid: 
mete fofort feine ganze Thätigfeit Anftalten zu Vertheidigung der 
Stadt und bes Gebiets. Er ließ die alten baufälligen Stadtmauern 
ausbefiern, die Thore befeftigen, fünfzehn Thürme wieder herſtellen; 


zwei andere führte er an.der Mündung der Tiber auf und verband 


fie dur) fo ftarfe Ketten, daß auch nicht das Fleinfte Schiff durch— 
fegeln fonnte. Um ferner die Petersfirche gegen ähnliche Ueberfälle, 
wie der letzte des Jahres 846, zu fihern, verwirflichte er einen 
Plan, den fhon Leo HI. gefaßt Haben fol. Auf dem jenfeitigen 
Ufer der Tiber, hart an der Engelsburg, wurde während vier 
Jahren eine neue Borftadt erbaut, welche ſich an die Petersfirche 
anfchlog und mit Mauern umgeben. ward. Der Kaifer ſteuerte 
nebft feinen Brüdern veichliche Geldbeiträge. Jede Stadt, jedes 
Dorf, jedes Klofter des römifchen Herzogthums mußte Werffeute 
ftellen. Ihrem Erbauer zu Ehren erhielt die neue Schöpfung ben 
Namen Leo's-Stadt (civitas Leonina). Cine Menge Corfen hatten 





1) Vita Sergii II., $. 46. Vignoli III., 62 unten. — *°) Den Beweis 
bei Pagi breviarium Pontifieum romanorum IH., 69. — ?) Dieß deutet Anafta- 
fius an a. a. O. $. 8. Vignoli IIL, 70 oben. Man vergleiche noch Pagi 
a. a. O. ©. 64. 


ER en. a 


—— 


Die Päbfte Sergius II., Leo IV., Nikolaus I. ꝛc. 967 


aus Furcht vor den räuberiihen Landungen der Saracenen ihre 
Heimath verlaffen und in Rom Schuß geſucht. Leo fiedelte fie in 
dev Stadt Portus am Ausfluſſe der Tiber an und fchenfte ihnen 
MWiefen, Acker und Weinberge. Auch andere verfallene Orte baute 
er wieder auf. und umgab. fie mit Mauern. Der kühne und thätige 
Pabſt wußte den Geift, der ihn befeelte, auch Anderen mitzutheilen. 
Durch feinen Eifer ‚fam eine Berbindung mehrerer Geeftäbte des 
mittleren und untern Staliend zu Stande. Die  Bürgerfchaften 
son Amalfi, Neapel und Gaeta ließen ihre Schiffe zu den päbſt— 
lichen ftoßen und im Sommer 849. erftritten die vereinigten 
Flotten auf der. Höhe von Be einen herrlichen Seefieg über bie 
Sararenen. !) 

Indeſſen war der junge König Ludwig von feinem Water 
Lothar zum Mitfaifer erklärt worden. Im Jahre 850 ſchickte ihn 
Lothar nah Nom, wo ihn Leo IV. frönte. ) Wenn fo der Pabft 
wider feinen Willen dem Kaifer Dienfte leiſten mußte, fo erhielt 
er anderer Seits eine erwünfchte Gelegenheit, die fränfifche Kirche 
feine Macht fühlen zu lafjen. Anlaß dazu boten gewiſſe Streitig- 
feiten Hinfmar’s, bie in das Jahr S45 zurüdreichen. Zwei Monate 
nach feiner Erhebung auf den Stuhl son Nheims warb dem neuen 
Erzbifchof die Anzeige gemadt, daß fein Amtsvorfahr Ebo zu ber 
Zeit, da er den Sprengel unter Lothar's Schus zum zweitenmale 
verwaltete, einige Clerifer geweiht habe, welche bis zu weiterer 
Unterfuchung der Sache von ihren Aemtern entfernt zu werden ver⸗ 
dienten, weil Ebo damals, als rechtlich abgefegter Bifchof, Feine Be: 
fugnig ‚hatte, Weihen zu ertheilen. . Hinfmar fand die Borfiellung 
begründet und gab dem nachmaligen Bifchofe Pardulus, der zu 
jener Zeit Diakon an der Rheimſer Hauptficche war, Befehl, jenen 
Glerifern ihre Abfegung anzuzeigen, 3) Ungefähr act Jahre nad 
dieſem Vorfall, im Sommer 853, ‚berief der König Karl ber Kahle 
nad) dem Medarbusklofter zu Soißons eine Synode, auf welcher 
außer den. vier Metropoliten, Hinfmar yon Aheims, Wenilo von 
Sens, Paulus yon Rouen, Amalrich von Tours, viele Biſchöfe und 
‚Aebte erfchienen. Während die Berfammlung über andere Dinge 
berathſchlagt, wird gemeldet, daß einige Cleriker des Nheimfer 





H Anaſtaſius a. a. D. $. 38. 39. 40. 49 flg. — ?) Prudentii trecensis 
‚ annales ad annum 850, Perz I., 445 oben. — 3) Hincmari Opp. II., 306, 


968 UIII. Buch. Kapitel 12. 


Sprengeld vor der Thüre feyen und Gehör verlangen. D Man 
hieß fie eintreten — es waren die abgefetten Geiſtlichen. Zuerft 
wollten fie ihre Sache mündlich vorbringen, aber Hinfmar bedeutete 
fie, daß in kirchlichen Angelegenheiten Alles fchriftlih verhandelt 
werden müſſe. Sie traten nun wieder ab und überreichten nad) 
einigen Stunden der Synode eine Bittfehrift, in welcher fie über 
Hinfmar’s Verfahren Klage führten und Wiederherftellung in ihre 
Aemter forderten. Als Beklagter konnte Hinfmar jett nicht mehr 
der Synode anwohnen; er verließ die Verfammlung, nachdem er 
zuvor die Metropoliten Wenilo und Amalrih, fammt dem in den 
Yesten Jahren auf den Stuhl von Laon befürderten Biſchof Par: 
dulus, für feinen Theil zu Schiedsrichtern ernannt hatte, Den 
Klägern wurde fofort freigeftellt, ob fie die nemlichen Nichter oder 
andere erwählen, ob fie einen verwerfen, oder einen vierten hinzu— 
fügen wollten. Sie begnügten ſich, das Lebtere zu thun; ihre 
Stimme fiel auf Prudentius yon Troyes, der damals bereits in 
Gotſchall's Sache gegen Hinfmar aufgetreten war. Die Inter: 
fuhung begann, bei welcher fich herausfiellte, daß Ebo (835) recht: 
mäßig abgefest und nie wieder canonifch eingefeßt worden fey, daß 
folglich) die Weihen, welche er bei feiner zweiten gewalttbätigen Amts— 
führung ertheilt, fo wie feine übrigen Handlungen feine Gültigfeit 
hätten. Die Synode entfchied alfo gegen die Cleriker. Nun be: 
hauptete aber Einer berfelben, Fredebert, in feinem eigenen und 
feiner Genoffen Namen, daß fie in befter Ueberzeugung fich hätten 
von Ebo weihen Yaffen; denn alle Welt wiffe, wie die Suffragane 
des Nheimfer Erziprengels, und unter ihnen namentlich auch Rothad 
von Soißons, auf Befehl des Kaifers Lothar (um 840) in Rheims 
zufammengetreten feyen, um Ebo wieder einzufesen. Zum Beweiſe 
legte er eine Urkunde vor, Fraft welcher neun Biſchöfe mit ihrer 
Namensunterfchrift Ebo's Wiederherftellung gebilligt hatten, und er 
machte weiter geltend, daß in Folge diefes Afts Ebo dreien Bifchöfen 
des Sprengeld, die ſchon vorher erwählt, aber noch nicht in ihr 
Amt eingeführt waren, Ning und Stab eriheilte. Emmo, Bifchof 
von Noyon, den die Ausfage Frebeberts bloßftellte, weil fein Name 
gleichfalls auf der yon dem Elerifer vorgelegten Urkunde fand, erflärte 





») Dieß und das Folgende nach den Akten der Synode von Soißons * 
Manſi XIV., 982 unten flg. 


* 


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Die Päbfte Sergius IT., Leo IV., Nikolaus I. ıc. 969 


die Unterfchriften für falfch und führte aus einer vorgelegten Schrift 
den Beweis, daß die Suffragane des Rheimſer Sprengel ſich ver: 
bunden hätten, Feine Gemeinfchaft mit dem abgefesten Ebo zu halten. 
Zugleich verlangte er, daß die Bittfteller als Verläumder der Bifchöfe 
beftraft werden follten. Ä 

Die Ausfagen zweier Partheien fanden ſich bier fo fchroff ent: 
gegen, daß man nothwendig annehmen muß, entweder habe bie eine 
von beiden Urkunden gefälfcht, oder aber fey irgend ein Geheimniß 
in der Sache verborgen. Yaut dem Berichte Hinfmar’s ') ftellte 
auch Nothad yon Soißons, glei dem Bifchofe Emmo, die Wahrheit 
des Zeugniffes der Elerifer auf einer fpäteren Synode zu Troyes 
in Abrede. Gleichwohl Fann man kaum zugeben, daß die abge- 
festen Geiftlichen über fo weltfundige Dinge, wie die Vorgänge 
nach der Wiederherftellung Ebo's waren, bie unverfchämteften und 
überdieß Teicht zu widerlegende Lügen vorgebracht haben follten. 
Ein ausführlicher Bericht *) derfelben ift auf uns gefommen, in 
welchem fie die ganze Gefchichte der zweiten Amtsführung Ebo’s 
auf vollig glaubhafte Weife auseinanderfegen und ihre auf ber 
Berfammlung zu Soißons vorgebrachten Ausfagen beftätigen. Wie 
verhält es fi) aber num mit der Urkunde, welche Emmo vorwies? 
Wir wollen furz unfere Meinung fagen: es ſcheint ung, als hätten 
die Bifchöfe der Rheimſer Kirchenprovinz, nachdem Ebo durch Kaifer 
Lothar gewaltfam wieder eingefest worden war, um fich fiir mög: 
liche Fälle zu fichern, doppeltes Spiel gefpielt, fofern fie nemlich 
aus Furcht vor dem SKaifer den Erzbifchof anerfannten und bie 
Handlungen, die er vornabm, öffentlich gut hießen; aber zugleich) 
auch insgeheim eine Urfunde aufſetzten, kraft welcher fie jede Ge— 
meinfchaft mit dem Eindringling zu meiden erflärten. Wäre es 
Lothar gelungen, fich in Neuftrien zu halten, fo würden fie nie 
Gebrauch von Teßterer Urkunde gemacht haben; biefelbe follte nur für 
ben Fall dienen, der wirklich eintrat, daß Lothar Neuftrien wieder 
räumen mußte. Wenn die Waffen zu Gunften Karl’s des Kahlen 
entfchieden, hofften fie den Zorn des Siegers durch VBorweifung 
jener Schrift abzuwenden, denn fie berechneten dann, mittelft der 
Urkunde den Beweis führen zu können, daß fie in ihres Herzens 





') Opp. II., 824 unten. — ?) Abgedruckt bei Dom Bouquet script, rer. 
franc. VII, 277 fig. 


970 | I. Buch. Kapitel 12. 


Grunde Ebo verabfeheut und nur durch Lothar gezwungen ihn ge: 
duldet hätten. Die von Emmo auf der Berfammlung zu Soißons 
vorgewieſene Schrift war unſeres Erachtens eben jene geheime Ur: 
funde. Dem fey nun, wie ihm wolle, gewiß ift, daß bie Synode 
der Ausfage Emmo’s yon Noyon mehr Glauben ſchenken zu müſſen 
vermeinte, als den Behauptungen Fredebert's. Die Abſetzung der 
Cleriker wurde beſtätigt, ſie ſelbſt als Verläumder der Biſchöfe vom 
Genuſſe des Abendmahls ausgeſchloſſen. Alsbald legten dieſe Be— 
rufung auf den Stuhl Petri ein. 

Das Urtheil der Synode war von höchſter Wichugkeit für 
Hinkmar; denn entweder er ſelbſt oder die Cleriker mußten den 
Platz räumen. Wurde die Abſetzung der letztern als ungültig ver— 
worfen, ſo folgte daraus mittelbar, daß Ebo bei ſeiner zweiten 
Amtsführung das Recht hatte, Weihen zu ertheilen, und daß er 
weiter alle andern biſchöflichen Befugniſſe beſaß. Dieß konnte man 
ihm aber nicht zugeſtehen, ohne zugleich feine im Jahr 835 erfolgte 
Berurtheilung für kraftlos und dagegen feine Wiederherſtellung im 
Sahre 840 für rechtmäßig zu erklären. In lesterem Fall war die 
Erhebung Hinfmar’g auf den Stuhl von Rheims ungültig. Wie ein 
Eindringling und Kirchenräuber fand er da! Diefer Gefahr beugte 
nun allerdings die letzte Entfcheidung der Synode vor, aber ob auf 
die Dauer und für immer? mußte fich erſt zeigen. Leicht fonnte eine 
ungünftige Wendung eintreten. Aus den angeführten Thatſachen 
erhellt, daß Kaiſer Lothar ſich nicht blos in der Zeit vor Abſchluß 
des Verduner Staatsvertrags eine Parthei unter dem hohen Clerus 
Neuſtriens gebildet hatte, ſondern auch daß er jetzt noch geheime 
Freunde im Lande zählte und mit ihnen Verbindungen unterhielt. 
Hinkmar's ruhiger Beſitz des Rheimſer Erzbisthums hieng von Aug: 
ſchließung der Anſprüche Ebo's ab. Nun verdankten aber mehrere 
Suffragane des Sprengels dieſem Schützlinge Lothar's ihre Stühle; 
folglich war ihre Stellung durch Hinkmar bedroht, der daher ſeiner 
Seits nur Schlimmes von ihnen erwarten durfte. Zwar ſcheint es, 
als habe Hinkmar den Plan gehabt, die Feindſchaft der von Ebo 
während ſeiner zweiten Amtsführung eingeſetzten Biſchöfe dadurch 
zu entwaffnen, daß er, zufrieden mit Aufopferung der niedern Ceriker, 
die Vergangenheit der höheren nicht weiter unterſuchen zu wollen 
Miene machte. Dennoch begreift man, daß bei ſolchem Stande der 
Dinge kein rechtes Vertrauen zwiſchen beiden Theilen herrſchen konnte. 


Die Päbſte Sergius IL, Leo IV., Nikolaus I. ꝛc. 974 


Daher war es natürlich, wenn Hinfmar vor Allem Maaßregeln 
traf, die Beichlüffe von Soißons fo fehr als möglich zu befeftigen. 
Hiezu bedurfte er die Unterftügung des Stuhles Petri, und fo ge: 
ſchah es denn, daß der Pabſt die früher erwähnte Gelegenheit er: 
hielt, in die innern Verhältniſſe der fränfifchen Kirche einzugreifen. 

Hinkmar wandte fih an Leo IV. mit der Bitte, das Urtheil 
der Berfammlung von Soißons fraft apoftolifcher Vollmacht zu be— 
ftätigen. Wir befisen die Antwort des Pabſts felbft nicht mehr, 
wohl aber ein Schreiben des Erzbifchofs yon Rheims, aus weldem 
der päbftliche Befcheid hervorgeht. Hinkmar berichtet nemlich, ') 
Leo IV. habe das Anfinnen aus folgenden Gründen zurüdgemwiefen: 
weil Fein römifcher Abgefandter auf der Synode zugegen gewefen, 
weil ferner das Geſuch an den Wabft durch Fein Faiferlihes Schreiben 
unterflügt worden fey, endlich weil die abgefesten Elerifer in einem 
eigenen Schreiben auf den Stuhl Petri berufen hätten. Nicht 
abgefchredt durch diefe Weigerung, that Hinfmar neue Schritte in 
Rom, über welche jedoch die auf uns gefommenen Zeugnifje nicht 
übereinftimmen. In einem feiner Briefe behauptet ) Pabſt Nifo- 
Yaus I., fein Vorgänger Leo IV. habe, durch wiederholte Bitten 
Hinfmar’s beftürmt, ein zweites Schreiben an denfelben erlaffen, in 
welchem er verordnete, Hinfmar und die Gierifer follen fih vor 
einer Synode ftellen, auf welcher der Biſchof Peter son Spoleio 
als yähftlicher Bevollmächtigter die Sache von Neuem unterfuchen 
werde; im Falle auch diefe Berfammlung die Abfegung der Cleriker 
gut heißen würde, bleibe es den Lestern unbenommen, noch einmal 
auf das Urtheil des Stuhles Petri zu ‚berufen, und dann müſſe 
Hinfmar entweder in eigener Perfon oder durch Stellvertreter zu 
Nom erfcheinen, damit dort das Endurtheil gefällt werben könne. 
Nikolaus fügt bei, Hinkmar habe diefer Mahnung Leo's IV. feine 
Folge geleiftet.. Allein der Erzbifchof felbft Yäugnet 3) aufs Beftimm- 
tefte, daß ihm ein ſolches Schreiben aus Rom zugekommen fey. 
Wer hat nun Recht? wir glauben Nikolaus! Denn außerdem, 
dag wir den Pabſt einer fo groben Lüge unfähig halten, hat 
feine Ausfage überwiegende Wahrfcheinlichkeit für fih. Die Streitig- 
feit wegen. der yon Ebo eingefeßten Cleriker verhieß dem Stuhle 





) Opp. II., 306 gegen unten fig. — °) Manfi XV., 740 Mitte. — 
3) Opp. II., 307, 


972 I. Buch. Kapitel 12. 


Petri, feit der eingelegten Berufung, unermeßliche Vortheile; denn 
das Schieffal ſämmtlicher Geiftlichen des Aheimfer Sprengels war 
dadurch in die Hände des Pabſts niedergelegt. Erflärte er, nad 
Hinfmar’s Wunfche, die zweite Amtsführung Ebo's für geſetzwidrig, 
jo verloren nicht bios jene niedern Geiftlichen, fondern auch faft 
fimmtliche Suffragane des Sprengels von Nechts wegen ihre Stellen, 
weil fie mit einem Eindringling Gemeinfchaft gehalten. Entfchied 
er dagegen zu Gunften Ebo's und ber Kläger, fo mußte Hinkmar 
weichen, weil er dann als Näuber eines Stuhles .erfchien, der nicht 
erledigt war. Man fieht daher, wie Leo IV. dadurch, daß er bie 
Berufung der Clerifer annahm, gleichfam ein Schwert des Damofleg 
über den Häuptern der Rheimſer Geiftlichfeit fchwingen und yon 
den Schwerbedrängten Alles erlangen fonnte, was er nur wünſchte. 
Warum hätte er alfo eine fo treffliche Gelegenheit nicht benüßen, 
oder mit andern Worten, warum hätte er nicht fo verfahren follen, 
wie er laut der Ausfage feines zweiten Nachfolgers Nikolaus wirk 
lich verfuhr. Anderer Seits ift es nicht fchwer, das Läugnen Hink— 
mar’s zu erklären. Wir vermutben, daß er und fein König Karl 
übereingefommen waren, zu dem Schreiben Leo's IV. zu ſchweigen 
oder baffelbe als nicht empfangen zu behandeln. Jedenfalls war Dieß 
das Klügfte, was fie unter den obwaltenden Verhältniſſen thun 
fonnten. 

Auch jest noch gab der Erzbifhof die Hoffnung nicht auf, vom 
Stuhle Petri Das, was er fo fehnlich winfchte, zu erringen. Alle 
Hebel feste er in Bewegung, felbft bisherige Gegner wurden ver: 
mocht, für ihn zu wirfen. Aus feinen eigenen Aeußerungen erhellt, 
daß ein mächtiger Fürfprecher und zwar ein folder, mit dem 
er.bisher auf gefpanntem Fuße fand, nunmehr zu Nom 
feine Stimme für ihn erhob. Hinfmar berichtet nemlich in der 
mehrfach angeführten Urkunde: ) feiner erften Bittfehrift an den 
Pabft, dag die Befchlüffe der Synode von Soißons beftätigt werben 
mögen, habe der Kaifer Lothar eifrig entgegen gearbeitet und Leo IV. 
zu einer abfchlägigen Antwort bewogen. Als aber dieß in Gallien 
befannt geworben, hätten gewiſſe neuftriihe Biſchöfe dem Kaifer die 
ernftlichten Borftellungen gemacht, worauf Lothar wirklich anderen 
Sinns geworden fey. Durch zwei feiner Bevollmächtigten, die den 


—— — — 


9 Opp. IL, 307. 


Die Päbſte Sergius IL, Leo IV., Nikolaus I. ꝛc. 973 


gleichen Namen führten, Petrus, Bifhof von Arezzo, und Petrus 
von Spoleto, habe er fich jest ernftlich für Hinfmar in Nom ver: 
wenbet. Ueber die Frage, was ber Zweck diefer Faiferlichen. Ber: 
wendung gewefen, giebt eine andere Duelle Aufſchluß. Ein Brief ') 
ift nemlich auf ung gefommen, worin Lothar vom Pabfte nicht 
weniger als das Pallium für Hinkmar erbittet. Weiter erfahren 
wir aus Flodvard’s Geſchichte ?) der Rheimſer Kirche, dag ber Erz 
bifchof wirklich die erwünfchte Gabe, und zwar buch Vermittlung 
jener beiden gleichnamigen Biſchöfe von Arezzo und Spoleto, erhielt. 
Lothar, der langjährige Gegner Hinfmar’s, tritt alfo plötzlich ale 
deffen wärmfter Freund in Nom auf. Wie fol man fich dieſes 
Räthſel erklären? Es empfängt fein Licht aus unferer obigen Dar- 
ftellung der Verhältniffe und ift zugleich ein Beweis ihrer Wahrheit. 
Als Lothar zuerft erfuhr, daß Hinfmar fih nah Nom gewendet 
babe, um die Betätigung der letzten Synode zu erlangen, folgte 
er einzig den Eingebungen feines Haffes und durchkreuzte Die Ab: 
fichten des Aheimfer Metroppliten. Darum geſchah, was Hinkmar 
felbft berichtet. Aber nun führten die neuftrifchen Biſchöfe dem 
KRaifer zu Gemüth, daß dur den yon Lothar herausgeforderten 
Befcheid des Pabſtes nicht blos Hinfmar’s Zukunft, fondern ihre 
eigene Sicherheit aufs Schwerfte bedroht fey, denn wenn Leo IV. 
darauf beftand, eine neue Unterfuchung der älteren Vorgänge im 
Rheimſer Sprengel anzuordnen, mußte es fi) herausfiellen, daß 
fie mit dem abgefesten Ebo Gemeinfchaft unterhielten, was fie gleicher 
Berdammniß, wie die von Hinfmar vertriebenen niederen Clerifer, 
ausgefest hätte. Und zwar fonnte Lothar nicht umhin, diefen Bor: 
ftellungen der Neuftrier Gehör zu fehenfen, denn biefelben waren 
ja enge mit ihm verbunden; wenn er fie vor den Kopf ftieß, hatte 
er feine Parthei im Neiche feines Bruders Karl’s des Kahlen mehr. 
Wie follte nun geholfen werden? Das unter andern Umftänden 
einfachfte Mittel, um die ob den Häuptern feiner Freunde fchwebende 
Gefahr abzuwenden, nemlich eine Aufforderung an Leo IV., daß 
er die Sache der niedern Eferifer fallen laſſen möge, war jet nicht 
mehr anwendbar, weil der Kaifer den Pabſt faum zuvor zu ber 


) Manſi XIV., 884 Mitte fig. — 9 II, 10 in Sirmond’s Werfen 
IV., b. ©, 119 gegen unten, und 420 Mitte. Man vergleiche auch die Note 
Labbe’g bei Manſi XIV., 886. 


974 IT. Buch. Kapitel 12. 


entgegengefesten Maaßregel beftimmt hatte und weil vorauszufehen 
war, daß Leo eine eben gegebene Entſcheidung nicht zurücknehmen 
werde. Lothar und feine Rathgeber verfielen daher auf einen andern 
Ausweg. Wenn der Pabft einwilligte, dem Metroppliten yon Rheims 
das Pallium zu gewähren, fo enthielt diefer Aft Alles, was bie 
neuftrifhen Mitverfhwornen des Kaifers wünſchten, nemlich eine 
mittelbare Anerfennung der Rechte Hinfmar’s auf den Rheimſer 
Stuhl und fomit auch das ftillfchweigende Berfprechen, frühere Sün— 
den, die in der Didcefe begangen worden feyn mochten, nicht weiter 
aufzurühren. Wirklich gieng der Pabſt auf Lothar's Anträge ein 
und Hinfmar errang durch bie Angft feiner Feinde, was er 
dem guten Willen derfelben nie verbanft haben würde. Seit Empfang 
des Palliums ſchickte der Metropolit noch eine vierte Botfchaft nach 
Rom ab; als jedoch feine Gefandte dafelbft Hg) fanden fie 
Leo IV. nicht mehr am Leben. 

Aus Dem, was bisher berichtet worden, gebt hervor, daß Leo IV. 
ftaatsflug jede Gelegenheit benüste, um feine Macht in den Ländern 
jenfeit8 der Alpen auszudehnen. Auch an dem Plane feiner Bor: 
gänger, den Stuhl Petri vom Faiferlihen Joche zu befreien, hat er 
rüftig fortgearbeitet. Unter Leo IV. Fam eine Veränderung im römi- 
ſchen Ranzleiftyl auf, welche tiefe Abfichten verräth. Frühere Päbſte 
hatten, wenn fie an Kaifer oder andere mächtige Fürften ſchrieben, 
in den betreffenden Briefen gewöhnlicd die Namen der Empfänger 
sorangeftellt und den ihrigen folgen laſſen. Leo IV. ſchaffte den 
bisherigen Gebrauch ab; in allen Schreiben, die er erließ, fleht der 
Name des Pabftes voran, aud giebt er den Fürften, an welde er 
fchreibt, nicht mehr den fonft üblichen Titel Dominus. ) Sämmt- 
liche Nachfolger Leo's IV. Haben diefe Aenderung beibehalten, durch 
welche der Pabſt zu verftehen gab, daß er das Hohenpriefterthum 
Petri als die erftie Würde der Welt betrachte und nicht mehr ge- 
fonnen fey, irgend einen Oberherrn anzuerkennen. Leo IV. that 
noch einen Fühneren Schritt auf der Bahn zur Unabhängigkeit, tiber 
den wir jedoch nur mangelhafte Nachrichten befigen. Der Biblio: 
thefar Anaftafius erzählt ) nemlich, im Jahr 855 fey der (fränkiſche) 





) Der Sefuite Garneriug hat in feiner Ausgabe des liber diurnus 
©. 151 unten zuerft diefe Abänderung bemerft, — 2) Vita Leonis IV;, $. 110, 
Vignoli IIL, 140 flg. 


Die Päbſte Sergius IL, Leo IV,, Nikolaus J. ıc. 975 


Befehlshaber Daniel von Nom zum Kaifer Ludwig II. gekommen 
und habe bie Anzeige gemacht, Daß zu Nom eine Verſchwörung 
gegen die fränfifche Herrichaft angezettelt werde. Laut feiner Aus: 
fage follte der oberfte Anführer der pähftlichen Truppen, Gratianus, 
inggeheim gegen ihn geäußert haben: „die Sranfen thun uns nichts 
Gutes und können uns auch nicht helfen, vielmehr rauben fie unfer 
Eigenthbum. Darum wollen wir die Griechen herbeirufen, mit ihnen 
ein Bündniß fehließen und fodann König und Volk der Franfen aus 
Stafien vertreiben.“ Anaſtaſius fährt fort: auf diefe Meldung bin 
fey Kaifer Ludwig IL wie ein Wüthender nad) Nom geeilt, aber 
Daniel habe feine Anklage nicht beweifen Fönnen, worauf der Kaifer 
wieder im Frieden abgereist fey. Anaſtaſius ift ein höchſt partheiifcher 
Gefchichtfehreiber, der ftets zu Gunften der Päbſte färbt. Wir ver: 
fagen daher dem Yegteren Theile feines Berichts den Glauben, und 
getrauen ung tiefer unten einen Beweis dafür zu führen, daß die 
Verſchwörung, von welcher er fpricht, ernfllich gemeint war. = IV. 
farb kurz nad) biefen Borfällen im Juli 855. 

Eine alte Sage, welche wohl bis ing eilfte Jahrhundert hinauf. 
reicht, aber in ihrer völligen Ausbildung erft bei einem Gefchicht: 
fchreiber des dreizehnten, Martin dem Polen, erjcheint, giebt Leo IV. 
einen Nachfolger der feltfamften Art. Der ebengenannte Pole be: 
richtet ) Folgendes: „ein in Mainz gebornes Mädchen warb von 
ihrem Liebhaber nach Athen geführt, wo fie männliche Kleidung 
anlegte und bewunderungswürdige Fortfchritte in den Wiffenfchaften 
machte. Später gieng fie in gleicher Verkleidung und Gefellfchaft 
nad Rom, trat dort unter dem Namen Johann des Engländers 
auf und erregte durch ihre Gelehrfamfeit folhe Bewunderung, daß 
man fie nach dem Tode Leo's IV. einftimmig zum Pabſte wählte, 


— 





) Im Laufe des 17ten Jahrhunderts, wahrend der Streit über die Päbſtin 
 Sohanna hauptfächlich geführt wurde, haben zwei Neformirte am Gründlichften 
diefe Trage behandelt: gegen die Fabel fehrieb Dav. Blondel (de Johanna 
Papissa, Amsterdam 1657. 8f0.), als Bertheidiger derfelben trat auf der 
jüngere Syanhemiug (de papa foemina — disquisitio Lugdun. 1691. 8to). 
Die Beweisftellen aus den mittelalterlichen Gefchichtfchreibern eitire ich theil— 
weife nach Diefen beiden Schriftftelfern ; da Partheigeift mehrfach alte Zeugniffe, 
welche die Wirklichkeit der Päbſtin Johanna zu beweifen feheinen, aus ven ges 
dructen Ausgaben weggelaffen hat, Die Stelle aus Martinus Polonus ſteht 
bei Spanhemius a. a. O. ©. 59. 


976 II. Buch. Kapitel 12. 


Zwei Jahre einen Monat und vier Tage faß das verfappte Mäd— 
hen auf dem Stuhle Petri. Indeſſen war fie von ihrem Lieb: 
baber gefchwängert worden, ohne die Zeit ihrer Niederfunft zu wiffen. 
Als fie nun eines Tags einen feierlichen Umzug aus dem Batifani- 
hen Pallaft nach dem Lateran hielt, fiel fie in Geburtswehen und 
brachte ein Kind zur Welt, ftarb aber gleid) darauf. Seitdem,“ fügt 
ber Pole bei, „vermeiden die Päbſte bei ähnlichen Umzügen ftets jene 
Gegend aus Abfcheu por der Begebenheit; auch ward ber weibliche 
Pabft nie in das Berzeichniß der übrigen aufgenommen.“ Es ift 
an fih Far, daß die Ausfage eines Gefchichtfchreibers vom Jahre 
1280 nicht genügt, um ein Ereigniß, das im neunten Jahrhundert 
ftattgefunden haben foll, zu erweifen. - Proteftanten, welche in ber 
Geſchichte der Päbftin Johanna eine willfommene Waffe wider den 
römifchen Katholicismus fahen, beriefen fih auf ältere Zeugen. Sie 
machten geltend, daß in mehreren Handfchriften der Pabftgefchichte 
des Bibliothefars Anaftaftus das ärgerliche Regiment der Johanna 
auf ähnliche Weife, wie von Martin dem Volen, erzählt werbe, 
Die Sache hat ihre Richtigkeit; Fabrotti und Bianchini, zwei 
Herausgeber des Anaftafius, geben die Behauptung zu, aber längſt 
hat man bewiejen, daß bie betreffende Stelle nur in den jüngern 
Abſchriften fich finde und durch eine fpätere Hand, wahrfcheinlich 
aus der Chronif des Polen, in den Achten Text des Bibliothefars 
eingefhoben worden fey. Daher verzichtet felbft Spanhemius auf 
das Zeugniß des Anaftafius. Als der zweitnächfte Zeuge wird ber 
ffotiiche Mönch Marianus geftellt, der um bie Mitte des eilften 
Jahrhunderts in Teutfchland lebte. Diefer Mann fagt ') wirklich 
in feiner Chronik zum Jahr 854: „Auf Leo IV. folgte Johanna, ein 
Weib, das zwei Jahre fünf Monate vier Tage regierte.“ Bon 
Nun an werden die Zeuaniffe häufiger. Sigbert von Gemblourg ?) 
(um 1090), Dtto von Freyfing ?) (um 1160), Radulf von 
Flair *) (um diefelbe Zeit), Gotfried von Biterbo ?) (1190), 
endlich der päbftlihe Beichtvater Martin von Polen, ſprechen 
fürzer oder ausführlicher, am umftändlichften der Pole, yon der 
Papftin Johanna, Zwar behaupteten mehrere Romaniſten, daß bie 





1) Pistorius Script. rer. germanicarum I, 442 a. Mitte, — ?) Chrono- 
graphia ad annum 854, bei Piftorius a. a. O. J., 565 (Ausgabe Frankfurt 
4613. Fol.). — ?) Chronicon lib. VH. cap. 55, bei Urstisius script. rer, 
germ, L, 163. — *) Man fehe Blondel ara. O. ©. 3. — 9) Ibid, unten. 


Die Päbfte Sergius IL, Leo IV., Nikolaus I. ıc. 977 


betreffenden Stellen in einigen Handſchriften der Chronifen des 
Marianus, wie Sigbert's yon Gemblours und des Polen Martin 
fehlen, aber wenn dieß auch der Fall ift, fo verhält es fich damit 
umgefehrt wie mit dem unterfchobenen Zeugniffe des Bibliothefars. 
Partheigeift bat fie nicht eingerücdt, fondern ausgetilgt: Seit den 
Zeiten des Polen ift die Geſchichte der Päbſtin Johanna Gemeingut 
aller europäifchen Nationen. Blondel führt ) nicht weniger als 59 
Söriftfteler an, die von 1300 bis 1600 die Päbftin für eine ge: 
fchichtliche Perfon bielten. Endlich berufen ſich die Vertheidiger der 
Pabftin, neben diefen fchriftlichen Ausfagen, auch auf Runftdenfmale. 
Diederih von Niem, der zu Anfang des fünfzehnten Jahrhun— 
berts in Rom als päbftlicher Geheimfchreiber Tebte, fpricht 9 als 
Augenzeuge von einer Bildfäule Johanna’s, eine andere fah zu 
Siena im Jahr 1634 Johann Launoy. ?) Dean fieht alfo: bie 
in den Anfang des eilften Jahrhunderts reicht die Sage, daß um 
855 eine Dirne auf dem Stuhle Petri faß, und durch das ganze 
Mittelalter hindurch wurde derfelben Glauben gejchenft. Gleichwohl 
ift fie erweislich falih. Kein Schriftfteller des neunten Jahr: 
hunderts, fein Zeitgenoffe weiß ein Wort von der Päbftin, nicht 
fränkiſche oder italiihe Chronifenfchreiber, nicht Ado, nicht Hinfmar, 
nicht der Grieche Photius, Todfeind römischen Hohenprieftertbums, 
fennen fie. Noch mehr: ein Zeugniß ift aus diefem Zeitraum auf 
ung gefommen, das mit unbeftegbarer Kraft die Gefchichte der 
Pabftin in das Neich der Mährchen verweist, In dem oben mehr: 
fach angeführten Schreiben berichtet Hinkfmar, ) daß er 855 Ge 
fandte nad Rom ſchickte, um mit Leo IV. zu unterhandeln, „Wäh— 
rend biefelben unterwegs waren,“ fährt er fort, „erfuhren fie, daß 
Leo IV. geftorben fey, und wie fie in Nom anlangten, fanden fie 
den Stuhl Petri bereits mit Benedikt IIL beſetzt.“ Benedikt ift alfo 
unmittelbar auf Leo IV. gefolgt, folglich bleibt Fein Raum übrig 
für ein zweijähriges Pabſtthum des Mainzer Mädchens. Was foll 
man nun aber von dem Urfprunge des Mährchens denfen? Kaum 
fann man zweifeln, daß es einigen Grund haben muß, weil es fo 
Allgemein geglaubt und fo weit verbreitet wurde, DBerfchiedene Ver: 





iy Ibid. ©. A fig. — 2) In der Schrift de privilegiis et juribus imperii, 
abgedrudt bei Gol daſt de monarchia imperii Tom. II., ©, 1476. — 
3) Opp. II, a. ©. 67 fig. — *) Opp. ed, Sirmond II., 507 Mitte, 

Gfrörer, Kircheng. II. 62 


978 II. Buch. Kapitel 12. 


muthungen find aufgeftellt worden, ) die uns theils läppiſch, theils 
ungenügend dünfen, weil fie namentlich den Zeitpunft, im welchen 
die Sage das Regiment der Dirne verfegt, nicht erffären. Unſere 
Anficht ift folgende: die Schneide der Fabel befteht in den beiden 
Punften, daß die Dirne aus Mainz flammte und daß fie, von 
Griechenland (Athen) Fommend, den päbftlihen Stuhl eingenommen 
bat. In dem erften erfenne ich eine verdammende Hindeutung auf 
das Geſetzbuch des falfchen Sfidor, in dem zweiten einen alfegorifchen 
Tadel des Bundes, den Leo IV. mit den Byzantinern ab- 
fhliegen wollte. Immer bat es unter dem Fatholifchen Clerus 
eine, wenn auch oft Fleine, Schaar Auserwählter gegeben, die, vom 
Geifte des Evangeliums erfüllt, jeden einreißenden Mißbrauch ver: 
warfen. Solchen Männern mußte die pfendoifidorifhe Sammlung, 
welche damals von Mainz aus fih nad Italien und Nom zu ver: 
breiten begann, als ein greulicher Betrug erfcheinen. Ebenfo gewiß 
haben fie den Plan Leo's IV. mißbilligt, mit den Fürften des Abend: 
lands zu brechen und fi) den Byzantinern in die Arme zu werfen. 
Mit Recht hielt Intinifch = germanifches Selbfigefühl die Griechen für 
ein verworfenes Gefchlecht. In einer Verbindung des Pabſtthums mit 
dem Throne zu Conftantinopel Fonnten daher rechtfchaffene Cleriker 
nur eine Art geiftlihen Ehebruchs ſehen. In welcher Form werben 
nun dieſe Richter ihren Tadel ausgefprochen haben? Wir denken ung 
alfo, daß fie fagten: in den legten Zeiten Leo's IV. fey die päbſt— 
fiche Gewalt von Mainz und Griehenland aus mißbraudt, 
oder mit Anwendung des Bildes, das die Staliener für ſolche Fälle 
ſteis im Munde führen, fie fey damals zur Hure gemacht wor- 
den. Damit haben wir die Grundzüge der Fabel. Sehr oft find aus 
anfänglichen Allegorien hiſtoriſche Sagen entftanden. Daffelbe ge 
ſchah, wie ung fiheint, auch hier. Sobald aber die Umwandlung 
erfolgte, konnte das Mährchen faum eine andere Geftalt annehmen, 
als daß man bichtete, nad) Leo habe den’ Stuhl Petri eine Hure 
beftiegen, die aus Mainz abftammte, aber in Griechenland ihre 
Künfte erlernt Hatte. So erklärt Liefert die Fabel von der Päbſtin 
Sohanna einen mittelbaren Beweis für die Wahrheit zweier 
Thatſachen, die wir freilih ſchon aus andern Duellen fennen, 
nemlich dag Mainz die Werkftätte Pſeudoiſidors war und daß Leo IV. 


) Man fehe Blondel a. a. O. ©. 58. 


Die Päbſte Sergius IR; Leo IV., Nikolaus I. ꝛc. 979 


ſich tiefer mit den Byzantinern eingelaffen haben muß, als ber 
päbſtliche Bibliothekar eingeftehen will. 

Gleich nad) Leo's Tode wurde vom Bolfe und Clerus Bene 
dift III, ein geborner Römer, zum Pabſte gewählt. Die Wahl 
war jedoch hart beftritten. Leider giebt Anaftafius, unfere einzige 
Duelle, einen fo gefchraubten Bericht, daß man nur mit Mühe bie 
Wahrheit herauslefen kann. Leo IV. hatte den Cardinal- Presbyter 
Anaftafius, angeblich weil er fünf Jahre lang von feinem Sprengel 
entfernt gewefen und wegen Ungehorfams gegen ben Stuhl Petri, 
feines Amtes entfest und aus dem Priefterftande verftoßen. !) Jetzt 
wurde der wahre Grund der Abfesung diefes Mannes offenbar; 
er muß Haupt der faiferlichen Parthei in Rom geweſen feyn. Denn 
nach dem Tode Leo’s IV. wählten ihn die Kaiferlich-Gefinnten, ge: 
feitet durch den Bifhof von Gubbio, Arfenius, zum Gegenpabft. 
Mit Unterftügung franfifcher Waffen bemächtigte ſich Anaftafius der 
Stadt fammt den Hauptlirchen, und ließ feinen Gegner Benedikt 
mit Schlägen mißhandeln und einfperren. ?) Trotz der fremden Hülfe 
fonnte fich jedoch der Gegenpabſt nicht halten; das Volk blieb Bene— 
dift II. treu und nöthigte zuletzt die Faiferlichen Gefandten, Anaftas 
fius preis zu geben und die Wahl des Erfteren gut zu heißen. 
Anaftafius wurde aus der Stadt verjagt, feine Anhänger giengen 
zu Benebift über und erhielten Gnade. ?) Dean fieht: die Macht 
des Kaiſers Ludwig U. war in Rom fo gut als vernichtet, nur ein 
Schatten von Anfehen blieb ihm daſelbſt. Aus einer weiteren Anz 
gabe des Biblisthefars glauben wir den Schluß ziehen zu müffen, 
daß der neue Pabſt Benedift IM. die Unterhandlungen, welche fein 
Borgänger Leo IV. mit den Byzantinern angelnüpft hatte, fortfegte 
und zu Ende führte. Der päbftliche Gefchichtichreiber zahlt nemlich 
eine Reihe der prächtigften Gefchenfe auf, *) welche der byzantini- 
ſche Herrſcher Michael, unter Benedikt’ Regiment, dem heiligen 
Petrus darbrachte. Dffenbar weist diefe Großmuth auf ein Freunde 
ſchaftsbündniß zwifchen Römern und Griechen hin. Noch deutlicher 
zeugt für ein folches Verhältniß eine Nachricht, welche wir gleichfalls 
dem Bibliothefar verdanfen. Nachdem der Gegenpabft fi der Stadt 


1) Anastasius in vita Leonis IV. $. 92. Vignoli II., 128 unten flg. — 
2) Idem in Benedicto III., $. 13. 14. Vignoli IH., 152. — 3) Idem $, 18, 
19, ©, 155 fig. > 4) Ibid. $, 33, S. 166. 
| 62 * 


950 II, Buch. > Kapitel 12. 


bemächtigt hatte, ließ er die Bilder, mit denen die Vetergficche ge: 
ſchmückt war, herausmwerfen, zertrümmern, ‚verbrennen. !) Kaum 
fann man fich einen andern Grund diefes Verfahrens denfen, als 
daß er den Franfen zu lieb, die ihn erhoben hatten, durch einen 
förmlichen Aft mit den Bilderdienenden Griechen brechen und den 
Bund, den Leo IV. mit Sonftantinopel abgefchloffen, im Angeficht 
der Welt vernichten mußte. Nur nad) einer folchen That waren bie 
fränfifhen Kaifer feiner Treue verfichert. Jetzt wird auch auf ein= 
mal begreiflih, warum feit den Testen Zeiten Leo’s IV. zwifchen ben 
Patriarchen von Conftantinopel und den Päbften jener rege Ver—⸗ 
fehr entftand, der unter Nifolaus I. mit einem Bruce endete. ?) 
Auch halten wir unter den eben entwicelten Umftänden die Ber: 
muthung keineswegs für gewagt, daß griechiihes Geld es geweſen 
fey, was Benedikt IIL und die Römer in Stand gefegt hatte, den 
Gegenpabft zu übermältigen. 

Kaifer Ludwig II. fonnte den Schimpf, der ihm in Nom wider: 
fahren war, nicht einmal dadurch rächen, daß er die Verbindung 
des Stuhls Petri mit den fränkischen Neichen unterbrochen hätte, 
benn auch jenfeits der Alpen befaß er zu wenig Gewalt. DBenebift 
wurde in Francien, ZTeutfchland und England anerkannt. Hinfmar 
war wohl unter den fränkischen Biſchöfen der erfte, der fih an ben 
neuen Pabſt wandte. Er legte ihm diefelbe Bitte vor, welche Leo IV. 
abgemwiefen hatte, nemlich daß die Beſchlüſſe von Soißons durch den 
Stuhl Petri beftätigt werden möchten. Dießmal drang der Metropolit 
dur. Meittelft eines noch vorhandenen Schreibens ?) willfahrte 
Benedikt dem Gefuche, jedoch nicht ohne den bedenflichen Vorbe— 
halt: wenn die Berhältniffe wirflih fo feyen, wie 
Hinkmar fie dargeftellt habe. Zugleich räumte der Pabſt 
dem Nheimfer, ohne Zweifel auf deſſen Bitten, noch einige andere 
Vorrechte ein, die helles Licht auf den Stand der Dinge in Neufirien 
werfen. „Wir verordnen biemit,“ fchreibt Benebift HL, „daß fein 
Angehöriger deines Sprengels ſich unterftehe, fremde Nidhter 
zu ſuchen, nur der Stuhl Petri ift hievon ausgenommen. Auch 
ift unfer Wille, daß Niemand die vichterliche Befugniß, welche dir 
zufteht, in Zweifel ziehe, oder deine Erfenntniffe verwerfe. Bon 





1) Ibid, $. 42, ©. 151. — 9 Siehe oben ©; 233 fl. — 9 Manſi 
XV,, 4110 unten flg. 


Die Päbſte Sergius'M., Lev IV. , Nikolaus I. x. 981 


denfelben findet blos Berufung auf den Stuhl Petri Statt. End: 
lich befehlen wir, daß Niemand die VBorrechte anzutaften wage,’ bie 
deinem Stuhle, als dem erften Neuftvieng, gebühren.“ Erhellt nicht 
hieraus fonnenflar, daß Hinkmar's Gegnew es auf Umſturz ber 
Metropolitangewalt abgefehen hatten, mit andern Worten, daß fie 
im Geifte der Pfeudoifidorifhen Sammlung handelten! Gegen ihre 
Anfälle fuchte Hinfmar in Nom Schuß, erhielt aber, was er wünfchte, 
nicht ohne Gegenleiftungen. Um einen Theil feiner Amtsgewalt zu 
retten, mußte er das berühmte Gefes von Sarbifa ) anerkennen, 
welches Berufungen aus aller Welt an den Pabft geftattet. Hoch 
war der Preis. In Karls des Großen Tagen wurde alles Wich— 
tige von den Biſchöfen und Metropoliten auf den Provincialſynoden 
entfehieden, oder an die allgemeinen Neichstage gebracht, und dag 
firchliche Gefeßbuch, welches Pipin’s erlauchter Sohn in feinem Neiche 
einführte, enthielt, wie früher gezeigt worden, ) den Befhluß 
yon Sardifa nidt. 

Auh mit England gerietb der neue Pabſt in einen für ihn 
ſehr nußbringenden Verkehr. Wir haben an einem andern Orte 
gezeigt, °) dag König Egbert, wahrfcheiniih mit Karl’d des 
Großen Unterftügung, der angelfächfifchen Bielherrfchaft ein Ende 
machte und alle Sachſen- und Jüten-Stämme nad und nach feiner 
mittelbaren oder unmittelbaren Gewalt unterwarf. Egbert ftarb 
836. Inter feiner Regierung begannen *) (S32) jene fürchterlichen 
Einfälle der Nordmannen und Dänen, welche nahezu den angel 
ſächſiſchen Staat vernichtet hätten. Sein Nachfolger Aethelwulf 
(von S36-—857) fam durch Diefelben Gegner ins fürchterlichfte Ges 
dränge. Wie es fiheint, um fein bedrohtes Gefchlecht durch Firch- 
liche Mittel zu heiligen und zu befeftigen, ſchickte Aethelwulf 
853 feinen jüngften Sohn Aelfred, denfelben, deffen nachmaliger 
Ruhm unvergänglih in den Jahrbüchern germanifcher Völker ſtrahlt, 
an St. Veter’s Schwelle, damit der Jüngling vom Pabſte gefrönt 
werde, was auch geichah. >) Zwei Jahre fpäter folgte Aethelwulf 
jelbft dem Sohne. Benedikt faß bereits auf dem Stuhle Petri, als 
Aethelwulf dafelbft eintraf, Er Fam nicht mit leeren Händen. Der 


1) Siehe den zweiten Band diefes Werks ©. 245. — ?) Siehe oben 
S. 591 unten. — °) Dben ©. 619 unten fig. — *) Man fehe Lappen: 
berg Geſchichte Englands J., 278 flg. — °) Asser vita Alfredi ad annum 853. 


⸗ 


982 II, Buch, Kapitel 12. 


Bibliothefar giebt I) ein langes DBerzeichniß der prachtvollen Ge: 
fchenfe, welde der fromme Sachſenkönig theils in den apoſtoliſchen 
Schar niederlegte, theild dem römifchen Volke und Clerus widmete, 
Ueber die Gründe, warum Aethelmulf diefe Fofibare Neife machte, 
ſchweigen unfere Quellen. Wollte er etwa unter Vermittlung des 
Pabſts Verbindungen mit franfifhen Königen anfnüpfen, um Hilfe 
gegen die Seeräuber zu erlangen? Dieß ift darum nicht unwahr: 
fcheinlich ,» weil Aethelwulf auf der Nüdfehr von Nom nach Eng: 
land die Tochter Karl’s des Kahlen, Judith, heivathete. Aus Dem, 
was fpüter gefchah, möchte ich jedoch den Schluß ziehen, daß er 
außer der eben genannten Triebfeder noch eine andere hatte. Unſeres 
Bedünkens gieng Aethelwulf Hauptfächlih darum nad Nom, weil 
er als himmlischen Beiftand gegen Normannen-Wuth die Kraft päbft- 
ficher Gebete anzurufen gedachte. Denn nur aus biefer Boraus- 
fegung laßt fih, wie ung fiheint, die Größe des Opfers erklären, 
dag er nach feiner Rückkehr der Kirche feines Landes darbrachte. 
Er hielt nemlih im November 855 eine Synode, auf welcher er 
zu Gunſten der Geiftlichfeit ein Gefes ?) einbrachte, das ſich Doppelt 
auslegen läßt. Die Einen fehen darin eine Schenfung des zehnten 
Tpeils ſämmtlicher Krongüter an den Clerus, die Andern deuten 
den Beſchluß dahin, dag Aethelwulf blos den zehnten Theil der 
geiftlichen Befisungen von allen Steuern befreit babe, 3) Den Zehn: 
ten yon dem Eigenthum der Laien bezog damals der angelfächjifche 
Cerus noch nit. Der Erzbifchof Egbert von York fuchte zwar 
um 750 fein Volk zu Uebernahme der Zehnten zu beflimmen, *) 
aber man bat Fein beftimmtes Zeugniß, aus welchem fich ermeifen 
ließe, daß biefelben vor der zweiten Hälfte des neunten Jahrhun— 
berts geleitet wurden. Erft unter König Aelfred erjcheint die Er: 
legung der Zehnten als feft ſtehende Gewohnheit. °) 

So furz auch die Herrfchaft Benedifrs II dauerte, ſchritt er 
bo Fühn und rüftig auf ber von feinen nächften Vorgängern ge 
ebneten Bahn der Unabhängigkeit fort. Er farb im April 858. 
Zum Nachfolger erhielt er den größten Pabft des neunten Jahr: 





i) In vita Benedicti III. $. 34. Vignoli III, 167 unten flg. — ?) Den 
Tert bei Manft XV,, 121 flg. oder auch bei Wilfin’s concil, Britanniae I., 
184. — 3) Man fehe Lappenberg Gefchichte von England I., 192 fl. — 
*) Excerpta Egberti Nro. 101. 102, 103, bei Wilfin’s coneil. Britanniae FE, 
107. — 5) Ibid, IL, 203. Nro, 6. 


Die Päbſte Sergius IL, Leo IV., Nikolaus I. ıc. 983 


hunderts, einen Oberpriefter, den Feiner feiner Nachfolger an Kühn: 
heit der Entwürfe, Stärfe des Charakters oder Kraft des Verftandes 
übertroffen bat. . Kurz ehe Benedikt farb, war Kaifer Ludwig I. 
von Rom abgereist. Auf die Nachricht von, feinem Tode eilte ex 
dahin zurüd, fand jedoch bereits den neuen Pabſt Nikolaus I. ge: 
wählt. Die Römer hatten demnad nicht für nöthig erachtet, feine 
Mitwirkung abzuwarten. In Beifeyn des Kaifers wurde Nikolaus 
gefrönt: der erſte Aft der Art, welcher in der Pabftgefchichte 
vorkommt, und offenbar darauf berechnet, den Statthalter Petri auch 
in diefer Beziehung den Kaifern gleich zu fiellen. Geheime Ber: 
handlungen zwifchen Kaifer und Pabſt müffen fofort eröffnet worden 
feyn, um für die Zufunft das Verhältniß des Einen zum Andern 
zu beftimmen. Anaftafius erzählt: 2) Ludwig IL habe nach erfolgter 
Krönung des Pabits ein Lager fünf Meilen von der Stadt bezogen, 
worauf Nifolaus, begleitet von dem Adel, zu ihm hinausgegangen 
fey. „Als nun der Kaifer,“ fährt der Bibliothefar fort, „den Pabft 
herannahen ſah, eilte er ihm entgegen, flieg von feinem Pferde, 
ergriff den Zügel des päbftlichen Zelters und führte denfelben zu 
Fuß etwa einen Bogenſchuß weit.“ Ich ſehe hierin eine finnbildliche 
Handlung, kraft welcher der Pabft den Kaifer als feinen Lehne: 
herren, hingegen diefer jenen als geiftlihen Bater anerfannte, Unter 
Umarmungen und feurigen Berfiherungen der Freundfchaft trennten 
fie fich fofort, laut dem Berichte des Bibliothekars. Nichts deſto 
weniger erhellt aus einem Ereigniffe, welches bald darauf eintrat, 
daß Ludwig II, dem neuen Pabſte mißtraute. Zwiſchen Nifolaus und 
dem Erzbifchofe Johannes yon Ravenna brad) nemlich ein Streit aus, 
deffen Anlaß und Verlauf der Bibliothefar folgendermaßen erzählt: ?) 
Bon Seiten vieler Einwohner der Stadt Ravenna liefen zu Nom 
Klagen über Gewalttbaten ihres Erzbifchofs ein. Vergeblich warnte 
ihn Nikolaus, Johannes hörte nicht auf die Stimme des Pabſts, 
fondern fuhr wie bisher fort, das Necht zu beugen, er belegte bie 
Einen ohne Grund mit dem Banne, Andere hinderte er, nach Rom 
zu veifen, Vielen entriß er ihr Vermögen ohne Urtheilſpruch; gleicher: 
weiſe raubte er Güter, die der vömifchen Kirche gehörten, verachtete 
bie päbſtlichen Sendboten, fette Presbyter und Diafone nicht blos 


!) Anastasius in vita Nicolai I., $. 7. Vignoli III., 174 oben. — 
2) Ibid, $. 8. — 3) Ibid. $. 21 flg., ©. 183 fig; 


984 III. Buch. Kapitel 12. 


in feinem eigenen Sprengel, fondern auch in der Provinz Aemilia 
willfürtich ab, indem er die Einen in fürchterliche Gefärgniffe warf, 
Andere zwang, Berbrechen einzugefiehen, welche fie doch nicht be: 
gangen hatten. Empört durch fo viele Greuel, lud Nikolaus den 
Erzbifchof vor eine Synode; als derfelbe nicht erſchien, ſprach der 
Pabſt den Bann über ihn aus. Jetzt floh Johannes zu Kaiſer 
Ludwig nah Pavia und rief feine Hülfe an. Wirklich erhielt 
er von demfelben Gefandte, mit denen er voll Stolzes nach Nom 
zug. Mlein Nikolaus machte den Franken fanfte Vorwürfe, daß fie 
ſich mit einem Gebannten eingelaffen, und forderte Johannes von 
Neuem auf, vor einer Synode fein Betragen zu rechtfertigen. Aber: 
mal verweigerte der Erzbifchof den Gehorfam und gieng zurüd nach 
Pavia. Bald darauf Famen Einwohner der Provinz Nemilia, fo wie 
die Rathsherrn der Stadt Ravenna mit einer unermeßlichen Volks— 
menge nad) Rom und befihworen den Pabft unter vielen Thränen, 
bag er feldft nad) Ravenna reifen möge, um die dortigen Verhält— 
niffe zu ordnen. Nikolaus 1. willfahrte ihrer Bitte. In Ravenna 
angelangt, gab er allen Denen, deren Güter Johannes oder fein 
Bruder Gregorius geraubt hatte, ihr Eigenthum zurück. Während 
defien war der Erzbifhof zu Pavia wohin er fi von Nom aus 
begeben) vom dortigen Clerus und Bolfe wie ein Gebannter be— 
. handelt worden. Alle Geiftliche der Stadt mieden aufs Aengfilichte 
jeden Umgang mit ihm, Niemand wollte ihm oder feinen Leuten 
Lebensmittel verfaufen, und auf den Straßen rief die Menge, wenn 
Sohannes vorübergieng: - „entfernt euch, der Gebannte fommt.“ Noch 
einmal wußte er jedoch Unterftügung vom Kaiſer auszumirfen. Be: 
gleitet von einer Gefandtfchaft, die ihn Ludwig IL mitgab, gieng 
er zum zmweitenmal nach Nom. Aber der Pabft durchbrach, um bie 
Worte des Anaftafius zu gebrauchen, ) feine hochmüthigen Anfchläge 
wie Spinnengewebe und blieb unerſchütterlich feſt. Zuletzt mußte 
Johannes, da er fah, daß er auf Niemands Hülfe mehr bauen 
dürfe, fih dem Pabſte unterwerfen. Nifolaus berief im Jahre S61 
eine Synode, welche den gegen Johannes gefchleuderten Bann auf: 
bob und demfelben unter folgenden Bedingungen Gnade gewährte: 
1) daß der Erzbifhof in Zukunft alljährlich wenigftens einmal nach 
Rom fomme (um dem Pabfte zu huldigen), 2) daß er feinen Bischof 


') Ibid. $. 28. ©. 186 unten. 


Die Pabſte Sergius U. Leo W., Nikolaus I. x. 985 


in der Provinz Aemilia weihe, außer der zu Weihende ſey durch 
freie Wahl des Herzogs, des Clerus und der Gemeinde erkoren, 
und der päbſtliche Stuhl habe ſeine Zuſtimmung zu der Weihe 
ſchriftlich ertheilt, 3) daß er keinem Biſchofe der genannten Provinz 
den freien Zutritt nach Rom verwehre, auch von denſelben keine, 
durch die Canones nicht vorgeſchriebene Abgaben fordere, 4) daß 
er namentlich auf Erlegung des 30ſten Pfennigs vom Einkommen 
der ämiliſchen Biſchöfe verzichte, und endlih 5) Niemand mehr mit 
ungerechten Geldforderungen zu beläftigen verfpreche. Nachdem der 
Erzbifchof diefe Bedingungen unterfchrieben hatte, genoß der Pabft 
und die Synode das Abendmahl mit ihm, worauf Johannes im 
Frieden nad Ravenna zurüdfehren durfte, 
Es ift nicht fehwer, den wahren Zufammenhang des Streits 
zwilchen Nikolaus und Johannes aufzuhellen. Der Stuhl von 
Ravenna war ein alter Nebenbuhler des vömifchen ) und zugleich 
trefflich geeignet, als Gegengewicht wider den Yestern gebraucht zu 
werden, weil er herfümmliche Metropolitan = Rechte über ein aus: 
gebehntes Gebiet (Aemilia) übte, auf das auch der Pabft Anfprüche 
machte. Nach den oben erwähnten Scenen zu Rom verband fich 
daher der Kaifer mit dem Erzbifchof Johannes, und dieſer wagte 
es, im Bertrauen auf fränkiſchen Schug, dem Statthalter Petri zu 
trogen. Aber nun zog der Pabft nicht nur eine mächtige Parthei 
in Ravenna auf feine Seite, fondern wußte auch den Iombarbifchen 
Glerus zu gewinnen, der fofort alle Gemeinfchaft mit Johannes 
mied. Ganz Italien feheint die Sache des Pabſts als bie eigene 
und nationale betrachtet zu haben. Ludwig hatte weder den Muth 
noch wahrſcheinlich die Macht, gegen diefe Einftimmigfeit öffentlicher 
Meinung feinen Schügling zu vertheidigen. Johannes mußte Daher 
zulegt, von feinem Gebieter preisgegeben, ſich dem Pabfte unter: 
werfen. Doc fühlte auch Nikolaus fi zu ſchwach, den Gegner 
zu vernichten. Johannes fam unter leidlichen Bedingungen weg. 
' Der Streit mit dem Ravennaten war der erfle, den Nifolaug 
zu befteben hatte. Allem Anfchein nach brach derfelbe ſchon im erften 
Jahre des Pabſtes aus. Indeſſen Hatte auch das große Zerwürfnig 
mit den Griechen begonnen, von welchem oben gehandelt wor- 
ben it. ) Sp bewunderungswürdig die Kühnheit war, welche 





1) Siehe oben ©. 77 flg., 5853 fig. — ?) Siehe oben ©. 238 flg. 


986 I. Bud. Kapitel 12. 


Nikolaus im Zufammenftogen mit den Byzantinern bewies, wandelte 
er doch hier nur auf einer von feinen Vorgängern geebneten Bahn 
weiter fort. Aber in feinen Berhältniffen zum Abendlande trat er 
als Schöpfer eines neuen Syſtems auf, indem er zuerft unter allen 
Päbſten den Plan durchführte, nicht blos alle Bisthümer, fondern 
aud die Fürften dem Stuhle Petri zu unterwerfen. - Sehen wir 
zunächſt, wie er feine Macht in Rom befeftigte. Kein Statthalter 
Petri durfte es wagen, Kaiſern zu trotzen, wenn er nicht der Treue 
feiner Hanptftadt verfichert feyn konnte; der ruhige Befis Noms 
war bie erfte Grundlage päbftliher Macht. Wir haben früher ges 
zeigt, daß Karl der Große und fein Sohn den römifchen Adel 
ins fränkische Intereffe zogen und dadurch die Päbſte in Abhängig: 
feit erhielten. Auch die fpäteren Nachfolger Karls verfuchten dag 
gleihe Mittel. Der Bibliothefar giebt einige Andeutungen darüber, 
wie Nikolaus dieſes Band gefprengt hat. „Nifolaus,“ fagt er, ) 
„war großmüthig gegen die Armen, ein Bater der Waifen und 
Wittwen, ein Vertheidiger des ganzen Volks.“ Weiter unten be 
flimmt er ?) feinen Sag genauer dahin: der Pabft habe alle Lahme, 
Dlinde und überhaupt alle Gebredhliche täglich genährt, ſolchen Armen 
bagegen, welde geben Fonnten oder einige Kräfte zum Arbeiten 
befaßen, gefiegelte Täfelchen ausgetheilt, auf welchen beftimmt war, 
wie viel Jeder an gewiffen Tagen der Woche aus der ypäbftlichen 
Kammer für feinen Linterhalt beziehen dürfe. Anaftaftus fügt bei, 
fein Armer ſey in der Stadt gewefen, der nicht zum Wenigften 
einmal in der Woche Almofen empfieng. Ebenfo hatte es britthalb 
Sahrhunderte früher Gregorius der Große gehalten. Man fieht, 
Nikolaus gründete feine Herrfchaft über Nom auf die Anhänglichkeit 
der Menge. Weil er die Zuneigung des Volks befaß, mußte Kaifer 
Ludwig nachgeben, und endete der Streit gegen Johann mit einem 
Siege des Pabſtes. Auch in den Ländern jenfeits der Alpen er: 
weiterte er dadurch feine Macht, daß er fih zum Beſchützer der 
Unterdrüdten aufwarf. Der Beifall der öffentlichen Meinung follte 
ihm den Weg zu der ſchwindelnden Höhe bahnen, Die er erftvebte. 

Früher ift berichtet worden, daß Kaifer Lothar furz vor. feinem 
Tode das Neid), welches ihm durch den Staatsvertrag von Verdun 


») Vita Nicolai $. 10, Vignoli II, ©. 176. — 2) Ibid. $. 51. ©. 200 
unten fle. 


Die Päbſte Sergius IL, Leo IV., Nikolaus 1. ꝛc. 987 


zugefallen, unter feine drei Söhne theilte. Der erftgeborne, Ludwig IL, 
erhielt mit der Kaiferfrone Jtalien, der zweite, Lothar IL, das Land 
zwifchen Rhein, Maas, Schelde, Miofel, feitvem Lothringen genannt, 
der dritte, Karl, Provence und Burgund. Die Stellung der beiden 
jüngeren Brüder war gefährdet, weil zwei gierige Oheime, Ludwig 
ber Teutfche und Karl der Kahle, nad) dem Erbe der Neffen angel 
ten. Lothar IL. verfchlimmerte feine Lage noch durch Ausfchweifungen 
und Gewaltſtreiche. Er hatte im Jahr 856 Thietberga, eine 
Schwefter des burgundifchen Herzogs Huchert, gebeirathet, aber fein 
Herz bieng an einer Buhlin, Waldrada. Diejes Weib drang 
in ihren füniglichen Liebhaber, daß er fie zu fih auf den Thron 
erheben und dagegen feine vechtmäßige Gemahlin verfiogen folle 
Lothar ließ fih umgarnen. Da er zu Ausführung feines Planes 
geiftlicher Hülfe bedurfte, gewann er durch Berfprechungen den Erz: 
bifchof Gunther, welchen fein Vater, der Kaifer Lothar, um 850 
auf den Stuhl son Cölln erhoben hatte, fowie den Metropoliten 
Thietgaud von Trier, ſammt mehreren Aebten und weltlichen Großen. 
Eine ſchändliche Cabale ward angezettelt, Deren Opfer Thietberga 
werben follte. Im Jahre 859 befchuldigte Lothar Thietbergen vor 
einer VBerfammlung der ins Geheimniß gezogenen Laien und Priefter, 
daß fie in ihrer Jugend mit ihrem Bruder, einem Mönche, blut: 
chänderifchen Umgang gepflogen habe und deßhalb fein gültiges Ehe: 
band mit ihm eingehen fonnte. Thietberga läugnete jedoch die That 
und veinigte fich in der Folge durd die Probe mit fiedendem Waffer, 
bie einer ihrer Diener glücklich für fie beftand. ') 

richt geſchreckt durch den fchlechten Ausgang des erften Ber: 
fuchs, erneuerte Lothar denjelben im folgenden Jahre, und dießmal 
gelang Alles nach Wunſche. Bor zwei Synoden zu Aachen, die 
binter einander im Januar und Februar 860 fiattfanden und auf 
welchen außer den Metropoliten Gunther und Thietgaud die Bifchöfe 
Adventius, Hildegar, Hatto, Franko, fowie die Aebte Eigil und 
Odeling erfchienen, mußte die unglüdlihe Königin fich felbft an- 
lagen. Nicht nur beichtete fie dem Erzbiſchof Gunther die Miffe- 
that, welche man ihr aufbiirbete, fondern fie übergab dem Könige 
ein fehriftlich abgefaßtes Befenninig, ?) kraft deffen fie ſich, wegen 
biutfchänderifchen Umgangs mit dem eigenen Bruder, einer ferneren 


— 





i) Hincmari opp. IL, 568. — 2) Ibid. 575 flg. 


988 1. Buch. Kapitel 42. 


Berbindung mit ihrem bisherigen Gemahl unwürdig erklärte und 
die Bitte ausfprach, daß ihr geftattet werden möge, Buße zu thun 
und für ihre VBerföhnung mit Gott zu forgen. Die verfammelten 
Väter kamen letzterer Bitte bereitwillig entgegen, indem fie das Ur— 
theil über fie ausſprachen, daß Thietberga ihre ſchwere Sünde durch 
Yebenslängliche Neue hinter Kloftermauern zu fühnen habe. ) Welche 
Bewandtniß es mit der von der Königin abgelegten Beichte 
hatte, wurde bald darauf offenbar. Sie entfloh von Aachen nad 
dem neuftrifchen Reiche und fuchte bei Karl dem Kahlen Schuß. 2) 
Niemand zweifelte, dag man ihr mit Gewalt und mit den fürchter: 
lichſten Drohungen die Selbftanflage abgepreßt hatte, und bie öffent: 
liche Meinung der fränfiichen Neiche verdammte aut das Betragen 
des Iotharingifchen Königs. Zwei Jahre fpäter thaten Lothar und 
feine geiftlichen Gebülfen einen Schritt weiter. Eine dritte Synode ?) 
wurde im Sommer 862 zu Aachen verfammelt, die Bifchöfe er: 
Härten abermal die Che mit Thietberga für ungültig, und als nun 
Lothar in einer demüthigen Rede auseinanderfegte, daß er bei feiner 
Sugend ohne Weib nicht leben könne, geftatteten fie ihm fofort eine 
neue Verbindung. Noch im nemlihen Jahre fand feine Bermählung 
mit Waldrada und die Krönung derſelben ftatt. *) Jetzt erhielt auch 
der Cöllner Metropolit Gunther von Lothar IL den Lohn für feine 
ihm geleiteten Dienfte. Der König ernannte nemlih Gunther’s 
Bruder, Hilduin, zum Bifchofe von Cambray, aber Hinfmar yon 
Rheims, welcher Metropolitanrechte über die Kirche von Cambray 
ausübte, weigerte fich, Hilduin zu weihen, und Pabſt Nikolaus er: 
Härte die Ernennung für null und nichtig. >) Somit war ber 
geheime Zuſammenhang der zu Aachen gefpielten Ränke offenbar 
geworben. Ein Schrei des Unwillens ertönte nicht blos in Lothrin- 
gen, fondern auch im benachbarten Neuftrien. Schon erhoben ſich 
aud Männer, welche die Macht befaßen, den Föniglichen Ehebrecher 
zur Strafe zu ziehen oder fein Unrecht für eigene Zwecke aus: 
zubeuten. Um 862 wurde dem Nheimfer Erzbifchofe Hinfmar, 
man weiß nicht von welcher Hand, eine Reihe Fragen vorgelegt, 
die fi) auf den neuen Ehebund Lothar’s bezogen. Wir vermutben 





i) Prudentii trecensis annales ad annum 860. Perz I, 454 gegen oben. — 
2) Ibid. gegen unten. — °) Die Aften bei Manft XV., 611 flg. — *) Hinc- 
mari annales ad annum 862, Perz I,, 458 Mitte. — 5) Die Beweife in ver 
Gallia christiana der Brüder Sammarthani III., 12 unten flg. der neuen Ausgabe. 


Die Päbfte Sergius IL, Leo IV., Nikolaus I. ıc. 989 


jedoch, daß der königliche Oheim bes dothringers Karl der Kahle, 
dieſes Gutachten veranlaßt haben dürfte. In einer weitläuftigen, 
auf ung gekommenen Schrift!) entſchied Hinkmar gegen Lothar. 
Nur zwei rechtsgültige Gründe der Eheſcheidung erkennt er an: erſt⸗ 
lich wenn beide Theile, um ihres Seelenheiles willen, ſich freiwillig 
entfchließen, ins Klofter zu geben; zweitens wenn ein Theil erwies 
fener Maaßen die ehelihe Treue gebrochen hat. Aber in diefem 
Falle erlaubt Hinfmar dem Manne nicht, fo lange bie Frau noch 
lebt, oder umgefehrt, eine neue Verbindung einzugehen. In jeder 
Hinficht erfchien daher bie zweite Ehe Lothar's mit Waldrada, laut 
Hinfmar’s Entſcheidung, unrechtmäßig. Unter den vorgelegten Fragen 
wie in den Antworten Hinkmar's Tommen fonderbare Dinge vor, 
welche helles Licht über den magiſchen Glauben jenes Zeitalters ver 
breiten. Erſtlich erfieht man aus einer der Fragen, ®) dag Lothar’g 
Parthei, weil fi) feine Gemahlin Thietberga durch die Probe des 
heißen Waſſers gereinigt hatte, die Gottesurtheile für eitel Unſinn 
und Täuſchung erklärte. In feiner Antwort vertheidigt Dagegen 
Hinkmar die Drdale, indem er aus Beifpielen der Bibel zu erweifen 
fucht, daß Gott auf folhem Wege wunderbarer Weife die Wahr: 
heit ans Tageslicht bringe. Indeß, fügt er bei, ?) wolle er. es fi) 
gerne gefallen lafjen, wenn ihn Jemand eines Beſſern belehren würde. 
Eine andere Frage lautet dahin, *) ob es Heren und Zauberer gebe, 
welche zwifchen Ehegatten unauslöfchlihen Haß oder Liebe fliften 
fönnen. Hinfmar antwortet mit Ja und entwidelt mit ziemlicher 
Weitläuftigfeit feine eigene und feiner Zeitgenoffen Anfichten von 
den magifchen Werfen dev Finfterniß, welcher Geftalt durch Todten- 
gebeine, Haare, Kräuter, Schneden, Schlangen und Zauberfprüche 
bamonifche Wirfungen hervorgebracht würden, welche nur die Kraft 
firhliher Saframente brechen fünne. Das Schlimmfte für den 
lothringifchen König war jedoch, daß Hinfmar in feiner Schrift 
mehrfach zu verfieben giebt, das von Thietberga abgelegte Sünden 
befenntniß, auf welches die Gegenparthei, wie begreiflich, das meifte 
Gewicht legte, fey durd Drohungen und Mißhandlungen erpreßt 
worden, und dann, daß er erffärt, 5) die Streitfache zwifchen Lothar 





!) De divortio Lotharii. Opp. 1., 561 fig. — ) Ibid. ©. 599. oben. — 
3) Ibid. ©, 612 obere Mitte. — 9 Ibid, S. 655 flg. — 9 Ibid. S. 683 
* flg. 


990 II. Buch, Kapitel 12. 


und Thietberga könne nicht im Lande des Erfteren entfehieden, fondern 
fie müffe vor eine allgemeine Synode der fränkiſchen 
Reihe gebraht werden, benn ob bie Ehe zwifchen einem 
Könige und einer Königin gelte oder nicht gelte, fey eine für alle 
Chriſten höchſt wichtige Frage. Die Gefahr fremder Einmifchung 
fchmwebte daher ob Lothar’s Haupte. Doch Fam fie zunächſt von 
einer andern Seite und zwar yon Lothar felbft hervorgerufen. 
Schon nady dem Schluffe der erften oder zweiten Synode, 
welche zu Aachen 860 in Thietberga’s Sache gehalten wurde, hatten 
die lothringiſchen Bifchöfe ein Schreiben I) an Pabft Nikolaus er: 
laffen, in welchem fie ihn befchworen, nicht nach öffentlichen Ge: 
richten, die ihm zu Ohren fommen könnten, über Das, was in 
Aachen gefchehen, zu urtheilen, fondern den Gefandten ihres Königs 
abzuwarten, der ihm. über Alles Yauteren Bericht erftatten werde. 
In diefer Erflärung Tag nicht bios ein geheimes Zugefländniß 
eigener Schuld, fondern auch eine Anerfennung, daß der Pabft das 
Recht babe, über die Eheſache des Königs mitzufprechen. Bald 
darauf wurde Nikolaus von Thietberga zum Einfchreiten aufgefor: 
bert. Sie ſchickte nach ihrer Flucht ing neuftrifche Neich eine Geſandt— 
fchaft an den Pabft und rief feine Enticheidung an. 9) Daffelbe 
that fogar auch König Lothar. Wie es fcheint, eingeſchüchtert durch 
ben allgemeinen Unmwillen, der nach dem dritten Concil von Aachen 
und feiner Bermählung mit Waldrada losbrach, fehrieb er ?) an 
den Pabſt, daß er bereit fey, die Streitigfeit mit Thietberga dem 
Urtheil eines neuen Concils zu unterwerfen, an weldem fowohl 
yäbftliche Gefandte als auch Biſchöfe aus jedem ber drei größern 
fränfifchen Reiche Theil nehmen follten. Alfo von beiden Seiten als 
Schiedsrichter angerufen, fehritt der Pabſt ein. Er that Lothar'n 
zu wiffen, % daß er zwei italienifche Kirchenhäupter, Rhodoald von 
Porto und Johannes von Fieulen (in Latium), zu feinen Bevofl- 
mächtigten für das bevorftehende Concil ernannt habe, und bie 
Könige von Teutſchland, Neufter und Provence erfuchen werde, die 
angefagte VBerfammlung mit je zwei Bifchöfen ihres Gebiets zu 





) Abgedruckt bei Manfi XV., 548 fig. — 2) Died fagt Nikolaus felbft 
im 22ften Briefe an die galfifchen Bifchöfe, Manft XV., 281 unten. — 3) Wir 
erfahren dieß abermal durch den Pabſt ſelbſt aus feinem Antwortfshreiben an 
Lothar, Manſi XV., 278 oben. — *) Ibid, 


Die Päbfte Sergius IL, Leo IV., Nikolaus I. ꝛc. | 991 


befchicken. Die Gefandte erhielten päbftliche Briefe !) an Karen 
den Rablen, fowie an die Bischöfe Teutſchlands und Neuftriens mit 
fi, worin die Empfänger aufgefordert wurden, bei ber befchloffenen 
Berfammlung auf die befchriebene Weife mitwirken zu wollen. Zum 
Ort der Synode hatte der Pabft die Stadt Mes beftimmt. So 
fam denn das allgemeine fränfifche Concil, auf weiches Hinfmar in 
feiner oben genannten Schrift antrug, wirflih zu Stande. Ich 
glaube, man darf hieraus den Schluß ziehen, daß Nikolaus diefe 
Maaßregel im ——— — mit dem neuſtriſchen Hofe angeord⸗ 
net bat. 

— was weiter geſchah, entſprach den Erwartungen der State 
Thietberga’s nicht. König Lothar ließ Fein Mittel unverfucht, die Ge- 
fandten, fobald fie dieffeits der Alpen angelangt waren, auf feine 
Seite zu ziehen. Durch Iothringifches Gold verführt, verriethen die 
beiden Italiener wirklich ihre Pflicht. Statt die päbſtlichen Briefe, 
deren Leberbringer fie waren, an Karl'n den Kahlen, fowie an bie 
neuftrifchen und deutſchen Biſchöfe zu übergeben, behielten fie bie: 
felben zurüd. Die Synode fam zwar 863 in Meb zu Stande, aber 
weder teutfche noch meuftrifche oder provencaliſche Kirchenhäupter 
nahmen Theil. Außer den beiden Jtalienern erfchienen nur Lothringer, 
Knechte des Könige. Ohne die Eheſache von Neuem zu unterfuchen, 
beftätigte das Concil die im vorigen Jahr zu Aachen gefaßten Be: 
jchlüffe, ) und die römischen Gefandten hießen Alles gut. Es war 
das zweitemal, daß Nifolaus auf ſolche Weife von feinen Werk: 
zeugen bintergangen wurde, und zwar hat eine und biefelbe Perſon 
ben doppelten Betrug gefpielt. Denn der Bischof Nhodvald ift ver 
nemliche, der auch in Conftantinopel von den Griechen ſich beftechen 
hieß.) War etwa feine in Griechenland begangene Pflichtverlegung 
zu ber Zeit, als er die zweite Gefandtfchaft nach Lothringen über: 
nahm, noch nicht erwiefen, oder hatte ihm Nifolaus den zweiten 
Poften übertragen, um ihm Gelegenheit zu verfchaffen, daß er den 
erſten Fehler durch treue Dienfte gut machen könne? Oder war 
gar die porausgefehene DBeftechlichkeit des Gefandten ein Theil des 
päbftlihen Plans und darauf berechnet, die Ereigniffe künſtlich her: 





') Epist. XVII, u. XXI, Manſi XV., 278 unten u. 281 unten. — 
2) Hincmari annales ad annum 863. Perz I,, 460 gegen oben, — 3) Siehe 
oben ©. 239 fig. 


0992 I, Bu. Kapitel 12. 


beizuführen, die nachher wirklich erfolgten und dem Stuhle Petri 
fo nützlich geweſen find? Dffenbar hat letztere Borausfegung bie 
meifte Wahrjcheinlichfeit für fih; denn nur fo wird erflärlich, wie 
ber gefchäftserfahrene Pablt von Neuem einen Mann verwenden 
fonnte, der ihn zwei Jahre zuvor auf grobe Weile betrog. 

Der frantifche Gefchichtfchreiber, dem wir obige Nachrichten 
verdanfen, fügt !) bei, bie päbſtlichen Gefandten hätten nad) Been- 
digung ber Meter Synode den Metropoliten yon Cölln und. Trier 
den Rath ertheilt, in eigener Perfon nach Rom zu gehen und dort 
die Beftätigung des Gefchehenen einzuholen. Wirklich traten fofort 
Gunther und Thietgaud die Reife an, mit der Hoffnung fi 
fchmeichelnd, daß ihr Geld auf die päbftlihe Kammer ebenfo wirken 
werde, wie auf die Gefandten. Aber fie täufchten ſich fürchterlich. 
Kaum hatte nemlich Nikolaus Bericht von den Testen Borgängen in 
Lothringen erhalten, als er noch im Jahre 863 eine Synode berief, 
welche den Blisftrahl gegen die Schuldigen ſchleuderte. Die Be: 
fchlüffe von Mes wurden für null und nichtig erklärt, Thietgaud 
und Gunther als meineidige Priefter ihrer Aemter entſetzt, die 
übrigen Theilhaber der Meter Synode mit der gleichen Strafe be: 
droht, wenn fie fich nicht unter den firafenden Arm Petri bemüthigen 
würden. ?) Diefes Berfahren des Pabfis war bis dahin unerhört. 
Nie Hatte irgend einer feiner Vorgänger e8 gewagt, fremde Biſchöfe 
oder gar Metropoliten ohne Einwilligung des Landbesherrn, ohne 
Beiziebung nationaler Richter, aus eigener Machtvollfommenheit 
abzufegen. Allein Nikolaus wußte, was er that, er fannte den 
Charakter Lothar's und fah voraus, daß berfelbe nachgeben werde 
und müffe. Dod von einer andern Seite drohte dem Pabfte Ge- 
fahr. Sobald der Streich gefallen war, eilten die beiden Lothringer, 
glühend vor Wuth und Rache, nah DBenevent, wo fi damals 
Kaifer Ludwig IL, der Bruder ihres Gebieters befand. Sie ftellten 
ihm vor, daß die Behandlung, welche fie vom Pabſte erfahren, ein 
Schimpf für alle Fürften, insbefondere aber für den Kaifer, ſey. 
Ludwig, der noch eine alte Rechnung bes Haffes mit dem Pabfte 
abzumachen hatte, ließ ſich Hinreißen. In Begleitung der beiden 
Biſchöfe erichien er 864 mit Heeresmacht vor Nom und fchlug in 





) Hincmari annales ad annum 863, Perz I, 460 gegen oben. — ?) Die 
Akten bei Manſi XV., 649 unten flg. u 





Die Päbfte Sergius D., Leo IV., Nikolaus I. ꝛc. 993 


der Nähe der Peterskirche fein Lager auf. Alsbald entbot Nifolaus 
das ganze Bolf, doch nicht zum Waffen» fondern zum Kirchen: 
bienfte. In langen Zügen mwallte die Menge, Palmen fingend und 
Kreuze vorantragend, nad) dem Dome bes -Apoftelfürften, um bie 
Hülfe des Himmels gegen den Anfall der Feinde zu erflehen. Bor 
Peters Schwelle kam es zum Handgemenge, das fränkische Heer 
jagte die Waller auseinander, und fchlug viele nieder, Ein Banner 
mit dem Achten Kreuzesholze, das Conftantinsg Mutter Helena dem 
Stuhle Petri geſchenkt haben follte, wurde in Koth getreten. Gleich— 
wohl wirkten die veligiöfen Schredmittel, mit welchen der Pabſt 
fih umgab, flärfer als die Waffen des Kaiſers. Schon nad) wenigen 
Tagen trat Ludwig mit Nikolaus in Unterhandlung, welche damit 
endigte, daß der Kaifer fein Heer aus Nom zurüdzog und ben 
Biſchöfen Befehl gab, nach Gallien heimzufehren. ) Ehe fie ab: 
veiften, feßten Beide eine Schrift auf, in welcher fie aufs heftigfte 
gegen das Berfahren des Pabſtes fi) verwahrten. Günther fehiekte 
feinen Bruder, den verunglüdten Bischof Hilduin von Cambray, ab, 
biefe Urkunde auf das Grabmal Petri niederzulegen. Sie Yautet 
ihrem wefentlichen Inhalte 2) nad) fo: „Höre Pabft Nikolaus! unfere 
Brüder und Mübifchöfe haben ung zu Dir gefendet, um deine Mei- 
nung zu vernehmen über die Dinge, welche wir gemeinschaftlich 
beichlofien hatten, Drei Wochen lang bielteft du ung hin, ohne 
ung eine beftimmte Antwort zu ertheilen, nur einmal fagteft du 
‚ung an einem Öffentlichen Orte, daß unfer Betragen dir laut ber 
‚von uns Überreichten Schrift entfchuldbar ſcheine. Endlich wurden 
wir zu dir berufen, arglos famen wir; wir fanden hinter ver- 
ſchloſſenen Thüren eine Räuberſynode verfammelt, die uns wider 
alles Herfommen, ohne ordentliche Anklage, ohne Zeugenverhör, 
ohne Erörterung der einzelnen Punkte, ohne unfer eigenes Geftänd- 
niß, ohne Beiziehung unferer Brüder und Mitbifchöfe zu verdammen 
ſich erfrechte. Wir verwerfen dein verruchtes Urtheil, das aller 
Hriftlihen Gefinnung Hohn ſpricht. Dich felbft, der du es wagſt 
mit Gebannten vertraulich umzugehen, erklären wir für ausgefchloffen 
aus unjerer Gemeinfchaft. Du haft dir dein eigenes Urtheil gefällt, 
indem du auf der Synode den Satz ausfpracheft, wer die Ge— 





) Hincmari annales ad annum 864, Perz I,, 462 unten flg. * >) Auf: 
bewahrt durch Hinkmar bei Perz I,, 463 flg. 
Sfrörer, Kircheng. I. 63 


994 1. Buch, Kapitel 12. 


bote der Apoſtel mißachtet, fey verflucht. Nicht ung blos 
haft du gefränft, fondern den ganzen bifchöflichen Stand in unferer 
Perfon erniedrigt. Aber wir haben deine Bosheit und Arglift durch: 
fhaut und bieten dir Trog u. f. mw.“ Abfchriften biefer Erklärung 
fandten fie an die fränfifchen Bifchöfe mit einem Nundbriefe, in 
welchem fie bittere Klagen über die Herrichfucht des Pabftes führten, 
der, wie fie fagen, fi zum Kaifer über die ganze Welt aufwerfen 
wolle. Baronius behauptet, ) auch dem byzantinifchen Patriarchen 
Photius hätten fie eine Abſchrift übermacht. | 
Um Oftern 864 famen Thietgaud und Gunther nad) Lothringen 
zurück. Der Muth des Erfieren war gebrochen, er wagte es nicht 
son feinem Stuhle Befis zu nehmen, oder geiftliche Gefchäfte zu 
gerrichten. Aber Gunther that, als ob er nicht unter dem Banne 
ftünde, er las die Mefje, weihte Salböl,?) und fchlog, um bie 
Unterftügung der Canonifer feines Sprengels zu erfaufen, mit den⸗ 
felben einen Vertrag ab, der Lebteren das Eigenthumsrecht über 
einen großen Theil der Kirchengüter zuficherte. Genaueres yon biefer 
Vebereinfunft, welche fehr wichtige Folgen gehabt hat, können wir 
erft tiefer unten berichten. Allein nur Furze Zeit dauerte der Wider: 
ftand des Erzbifchofs, denn fein eigener König opferte ihn nothge⸗ 
drungen auf. Wir müſſen zunächſt die damalige Lage bes loth⸗ 
ringiſchen Fürften ins Auge fafen. Rechts und links vom Rhein 
fanden feine Oheime, Ludwig der Teutſche und Karl der Kahle ge: 
rüftet, den Bannftrahl, welchen, wie fie glaubten, der Pabft gegen 
ihn fchleudern werde, unnachſichtlich zu vollziehen und Lothringen weg: 
zunehmen, Geit längerer Zeit pflogen Beide wider Lothar Unterhand- 
lungen, welche im Februar 865 mit dem Vertrag von Touch endeten, ?) 
durch den beftimmt ward, dag Lothar im Notbfall mit Gewalt gezwun⸗ 
gen werben folle, die Forderungen ber Kirche zu erfüllen. Solchen 
überlegenen Mahnern gegenüber, mußte daher der verliebte König 
um jeden Preis mit dem Pabſt Frieden zu machen fuchen. Die 
erfte Folge feiner Sinnesänderung war, bag er Gunther fallen ließ. 
Er ertheilte den Erzſtuhl von Cölln einem feiner Berwandten, Hugo. 
Zugleich unterwarf ſich der ganze Iothringifche Klerus dem Willen 
des Pabſts. Adventius, Biſchof yon Mes, der auf den beiden 





) Ad annum 863 $. 27, — 2) Hincmari annales ad 864, Perz I., 465 
oben, — 3) Baluzius Capitul, IL, 203 $. 6. und 7, 


Die Päbſte Sergius IT,, Leo IV., Nikolaus J. ıc. 995 


Synoden zu Aachen für Auflöfung des Ehebands zwifchen Thietberga 
und Lothar geftimmt hatte, erließ ein noch vorhandenes !) Schrei: 
ben an Nikolaus, worin er in ben bemüthigften Ausdrüden um 
Gnade flehte. Zuvor hatte Adventius, um in Nom befto ficherer 
erhört zu werden, die Verwendung des Königs yon Franfreich an- 
gerufen, ber wirklich fich dazu verftand, die Bitte des Metzer Bifchofg 
durch ein befonderes Schreiben ?) zu unterftügen. Außerdem fertigte 
Lothar felbft eine Gefandifchaft an den Pabſt ab, melde einen 
Brief ?) überbradhte, der in Rom nicht anders’ als gefallen Fonnte. 
Lothar verfichert darin den Pabſt feiner tiefften Ergebenheit, und 
erklärt fich bereit dem Stuhle Petri „wie einer ber geringſten Men- 
ſchen“ zu gehorchen, nebenbei aber beklagt er, dag Nikolaus den 
Berläumdungen böswilliger Neider, die nach dem Beſitze des loth— 
ringſchen Reiches firebten, allzugeneigtes Gehör fchenfe. Auch ver: 
birgt er feinen. Schmerz über die harte Behandlung der beiden Erz— 
bifchöfe nicht, doch gibt er Gunther Preis, indem er mit Mißbil- 
ligung von feiner Widerfeglichfeit gegen den pähftlichen Bann fpricht, 
dagegen läßt er einfließen, daß er die Hoffnung hege, Nikolaus 
werde dem Erzbiichofe Thieutgaud, einem milbdenfenden Manne, der 
fonft immer dem” Statthalter Petri gehorfam geweſen, verzeihen. 
Als Gunther feine dem Könige erwiefenen Dienfte mit ſolchem Un— 
banfe belohnt fah, warb er wüthend, und drohte das ganze Ge- 
webe der gegen Thietberga angezettelten Ränke dem Pabſte zu ent: 
hüllen. Wirflih führte er auch diefe Drohung aus. Nachdem er 
alles Geld, das er im bifchöflichen Schate zu Cölln auffinden Fonnte, 
zufammengerafft hatte, eilte er nad Nom. *) Aber feine Verſuche 
bafelbft waren fo vergeblich wie die früheren, der Pabſt hörte ihn 
nicht, 9) vielmehr beftätigte er auf einer römifchen Synode im No: 
venber 864 die Abfesung der beiden Erzbifchöfe. 6) 

Das Maas der Demüthigung des Tothringifchen Fürſten war 
damit noch nicht voll. Da ſeine Oheime ihm zu Anfang des Jahrs 
865 mit neuen Drohungen zuſetzten, wußte er ſich nicht anders zu 
helfen, als daß er durch Vermittlung feines Bruders, des Kaiſers 
Ludwig, den Schug des Pahfles gegen dieſe gefürchteten Gegner 


') Bei Baronius ad annum 865 $. 51 fig. — 9) Ibid. $. 56 fig. — 
3) Idem ad annum 864 $. 24 fig. — *) Hincmari annales ad annum 864, 
Perz I., 465 obere Mitte. — 5) Annales Fuldenses ad annum 864, Perz I., 
578 Mitte, — °) Hincmari annales ad annum 864, Perz I,, 466 gegen unten. 


63 * 





996 IT. Buch. Kapitel 12. 


anrief. 1) So vereinigte fi Alles, die Macht des Stuhles Petri 
auf eine ſchwindelnde Höhe zu fleigern. Die Gier der Teutfchen und 
Neuftrier arbeitete dem Pabſte nicht minder in die Hände als bie 
Sharafterlofigkeit des Lothringers felbft. Und num nahm Nikolaus 
gegen alle drei einen fehr hohen Ton an. Im Frühjahre 865 ſchickte 
er den Biſchof yon Orta, Arfenius, als feinen Botſchafter in die 
fränfifchen Reiche hinüber, Arfenius brachte an Ludwig den Teut- 
fhen und Karl den Kahlen, fo wie an die Bifchöfe beider Neiche 

Briefe mit fih, welche durch ihren Ton großes Staunen erregten. 
Der fränfifche Chronift verfihert, 2) Nikolaus habe darin gegen die 
zwei Könige eine Sprache geführt, wie fie nie einer feiner Bor: 
fahren wider fränfifhe Herrfcher anzuwenden wagte: ohne bie 
gewohnten Formen der Höflichkeit und in den ſtärkſten Ausdrücken 
habe er dem Zeutfhen und Neufirier verboten, ſich ferner in bie 
Jothringifhen Angelegenheiten zu mifchen. Arfenius reiste zuerft nad 
Frankfurt zu Ludwig dem ZTeutfchen, dem er feine Briefe einhän- 
Digte, von da begab er fih an den Inthringifchen Hof und erflärte 
bem Könige, daß ihn der Kirchenbann treffen werde, wenn er nicht 
unverzüglich Waldrada nah Stalien ſchicke und feine rechtmäßige 
Gemahlin Thietberga wieder annehme. Nachdem er von Lothar 
Berfiherungen des Gehorſams erhalten, eilte Arfenius in das neuft= 
rifhe Reich, wo er eine Synode zu Attigny verfammelt fand. Er 
übergab dafelbfi Karl dem Kahlen und den Bifchöfen die mitgebrach— 
ten päbftlichen Schreiben, welde eben fo Yauteten, wie bie, welche 
Ludwig der Teutfche und fein hoher Clerus empfangen hatte Auf 
fein Verlangen wurde ihm Thietberga überliefert, welche bis bahin 
unter Karls Schutz in Neufter lebte. Und nun trat Arfenius den 
Rückweg nad Lothringen an. Zu Toucy, auf. der Gränze beider 
Reiche, vereinigte fich eine glänzende Verſammlung von Bilchöfen, 
Erzbifchöfen und weltlichen Großen aus Lothringen, Neufter und 
Provence Im Angefichte diefer Zeugen und einer ungeheuren 
Bolfsmenge empfieng Lothar aus den Händen des Arfeniug fein 
verftoßenes Weib Thietberga, und verfpradh dem Botichafter feine 
bisherige Beifchläferin Waldrada zu lbergeben, vorher aber mußte 
er, bie ei auf das Evangelienbuh und einen Splitter bes 





ı) Idem ad annum 865, — J., 467 Mitte, — 2) Idem bei Perz L, 
468 oben. * 


Die Päbſte Sergius IL, Leo IV., Nikolaus I. ꝛc. 997 


Achten Kreuzes legend, einen furdtbaren Eid ſchwören, daß er in 
Zufunft Thietberga mit der Treue eines Yiebenden Gatten behandeln 
werde. Denfelben Schwur leiſteten mit ihm zwölf Yothringifche Große, 
zur einen Hälfte aus dem Grafen=, zur andern aus dem Vaſallen— 
Stande, als des Königs Eideshelfer. ) Der Pabft und fein Bot: 
fchafter hatten, wie man fieht, alle ihre Abfichten erreicht, Arfenius 
benahm ſich in den fränfifchen Reichen wie ein Gebieter. Außer 
Waldraden mußte ihm noch eine andere Chebrecherin überliefert 
werden: Ingiltrud, die Tochter eines neuftrifchen Großen, welche 
ihren Gemahl, den Grafen Bofo, böslich verlaffen, und im Reiche 
des Königs Lothar mit ihrem Liebhaber eine Zufluchtsftätte gefunden 
hatte, aber dafür von dem Pabfte auf Boſo's Klage hin mit dem 
Banne belegt worden war. Zu gleicher Zeit drang Arfenius Karl 
dem Kahlen den abgejesten Biſchof Rothad son Soißons wieder auf, 
über deſſen Gefhichte wir tiefer unten berichten werden, und nöthigte 
den König, das Gut Bendeusre im Sprengel von Langres, welches 
Ludwig der Fromme dem Stuhle Petri gefchenft, aber Karl ber 
Kahle feitdem einem Grafen Wido vergabt hatte, der römifchen 
Kirche zurück zu erftatten. 9 Aber fo glücklich auch der erfte Theil 
der Reife des Gefandten abgelaufen war, fo unglüdlich endete der 
zweite. Bon Lothringen begab fich nemlich Arfenius nach Bayern, 
um dort die Gefälle gewiſſer Güter einzuziehen, die dem pabftlichen 
Stuhle gehörten. ?) Während er nun über die Donau feste, ent: 
wifchte ihm die Yiftige Ingiltrud und eilte nach Lothringen zu ihrem 
verlaffenen Liebhaber zurück. %) Waldraba begleitete zwar ihren 
Führer bis über die Alyen, aber in Stalien angefommen erhielt 
fie von Lothar die Aufforderung zurüdzufehren, und entfloh nun 
dem Gefandten ebenfalls, Vergeblich erließ Arfenius zwei Rund— 
fchreiben °) an alle Biſchöfe Neuftriens, Lothringens, Teutſchlands, 
daß fie Ingiltrud aufgreifen und wie eine Gebannte behandeln foll- 
ten, vergeblich ſprach der Pabft ſelbſt am Feſte der Reinigung 
Marien 866 feierlich den Bannſtrahl gegen Waldrada aus, ©) und 
verfündigte ihre Verfluchung allen Bifchöfen der Chriftenheit; eine 
völlige, und zwar für den Pabſt fehr bedenkliche Veränderung, war 





ı)@1dem ibid, 468—469. — 2) Idem ibid. ©. 468 Mitte und 469 Mitte. — 
3) Ibid. ©, 469 gegen unten. — *) Reginonis chronicon ad annum 866, 
Perz I, 574 oben. — 5) Abgedruckt Mans, XV., 546 fig. — ©) Reginonis 
chronicon ad annum 866. Perz I,, 575 flg. 


998 *2 IM. Buch. Kapitel 12. 


nicht nur in Lothringen, fondern aud in den beiden andern fränfi- 
ſchen Reichen, Neuftrien und Deutfchland vor fih gegangen, und 
es wurde jest offenbar, dab König Lothar fih im vergangenen 
Jahre den Machtſprüchen des päbſtlichen Geſandten nur in heuch- 
Verifcher Abficht, und um Zeit zu gewinnen, unterworfen hatte, Bald 
nach ihrer Rückkehr an den Heerd des ungetreuen Gemahls, er: 
fuhr Thietberga biefelbe Behandlung wie früher. Berläumdungen, 
Kränkungen aller Art, waren ihr tägliches Loos. Als vollends ihre 
Nebenbuhlerin Waldrada aus Italien wieder nach Lothringen Fam, 
mußte die Arme felbft für ihr Leben fürchten, fie entfloh daher yon 
Neuem zu Karl dem Kahlen. ') Wahrfcheinlich von ihrer neuftrifchen 
Zufluchtsſtätte aus, fehrieb fie an den Pabſt einen Brief, in welchem 
fie ihn exrfuchte, durch Aufhebung ihres Chebündniffes mit Lothar, 
den langen Leiden, die fie bisher erbuldet, ein Ende zu machen. 
Sie wollte fih in ein Klofter zurüdziehen. Nifolaus verwarf jedoch 
die Bitte, er fiellte der Ilnglüdlichen vor, daß ihre eigene Ehre 
einen ſolchen Entſchluß nicht dulde, und fprach zugleich feinen feften 
Borfag aus, nie in bie beantragte Scheidung zu willigen, wenn 
nicht auch Lothar hinfort Chelofigfeit angeloben würde. ?) Indeſſen 
hatte der lothringiſche Fürſt noch Fühnere Schritte gegen den Pabſt 
gethan. Im Sommer 866 nahın er nemlich das Erzbisthum Cölln 
dem Clerifer Hugo wieder ab, und übergab baffelbe Gunthers Bru- 
der Hilduin, demſelben, der die berüchtigte Schrift auf das Grab- 
mahl Petri niedergelegt hatte, in der Art, daß Gunther felbft alle 
Einfünfte beziehen, und alle amtlichen Verfügungen treffen follte, 
Hilduin war nur dem Namen nad Bifchof, in der That verwaltete 
den Stuhl Gunther, mit der einzigen Ausnahme, daß er die Meffe 
nicht leſen durfte, °) Zugleich beftätigte Lothar den Vertrag, ) welchen 





ı) Idem ibid. ©. 574 Mitte. — 2) Der Brief des Pabſis abgedruckt bei 
Manfi XV., 312 unten fig. — 5) Hincmari annales ad annum 866 bei 
Perz J., 471 Mitte. — *) Die königliche Beftätigungsurfunde abgedruckt bei 
Mastiaux dissertatio exhibens historiam, exercitium ac suspensionem turni 
ecclesiarum collegiatarum coloniensium. Bonnae 1786. 4to. Anhang ©. I. , flg- 
Die Urkunde ift vatirt vom 411. Regierungsjahre des Königs Lothar, welches, 
da diejer 855 die Herrfchaft angetreten, mit dem Jahre Ehrifti 866 zufammen 
fällt. Maftinur felbft und Giefeler (8. ©. II., a. ©. 225) verwechfeln den 
König Lothar mit dem gleichnamigen Kaiſer, ſeinem Vater, und verſetzen da— 
her die Verordnung fälſchlich in das Jahr 852. Deutlich wird Lothar in 
der Urkunde als König, und Gunther felbft nicht als Bifchof, ſondern als 


Die Päbſte Sergius IL, Leo IV., Nikolaus I. ıc. 999 


Gunther im Jahre 864 vor feiner Abfegung, wie wir oben be 
richteten, mit feinen Canonikern abgefchloffen hatte. Die Sachen 
ftanden alfo im Grunde gerade wieder fo, wie vor dem Concil von 
Mes, und ſämmtliche Verfügungen, die der. Pabft indeß getroffen, 
galten fo viel als nichts. Woher nun die plötzliche Kühnheit des 
Lothringers, nachdem er kaum zuvor ſich fo demüthig gegen Niko— 
Yaus bewiefen hatte? Das Räthſel wird vollfommen gelöst Durch 
feine veränderte Stellung zu den beiden Füniglichen Obeimen. Im 
Sommer 866 war e8 Lothar gelungen, Karl den Kahlen auf feine 
Seite herüber zu ziehen. Der fränkiſche Chronift erzählt, D Lothar 
habe unweit St. Quentin eine Zufammenkunft mit dem neuftrifchen 
Könige gehabt, und mit demfelben einen Vertrag abgefchlofen, in 
Folge defien er ihm die Abtei des heil. Wedaft abtrat. Daß diefer 
Bund fi Hauptfächlicd auf Lothars Berhältnig zu Thietberga und 
dem Pabſte bezog, erhellt aus einer Stelle weiter unten, wo ber: 
felbe Chronift bemerft, ?) Thietberga, die fih um jene Zeit nad) 
Nom zum Pabfte begeben wollte, jey durch beide Könige gemein: 
ſchaftlich zurüdgerufen worden. Ueberdieß ift ein Brief des 
Pabftes auf uns gefommen, ?) in welchem er fih gegen Karl den 
Kahlen über deffen Einverftändnig mit Lothar beſchwert, und zu— 
gleich die ebengenannte Abtei ald den Kaufpreis der neuen Freund: 
Schaft bezeichnet. Auch mit dem zweiten Oheim, Ludwig dem Teut- 
ſchen, hatte fich der Lothringer auf einen guten Fuß gefest, denn 
ftatt demfelben, wie früher, Steine in den Weg zu legen, beginnen 
nun Ludwig und feine teutfchen Bifchöfe, zum Schreden des Pabfts ) 
fi) für die abgefesten und gebannten Metropoliten, Gunther und 
Thietgaud, unabläßig in Rom zu verwenden. Das herrifche Wefen, 
mit welchem der yäbftliche Botfchafter 865 dießfeits der Alpen auf: 
trat, Hatte denn doch endlich den fränkischen Fürften die Augen bar: 
über geöffnet, daß fie durch ihre elenden Streitigfeiten gegen ein= 
ander fich felbit der Gewalt eines geiftlihen Oberherrn überlieferten. 
Die Lage des Pabſts war jest fehr fihwierig geworden. Er blieb 
jedoch umnerfchütterfich feit, und brauchte mit großer Gewandtheit 
alle Mittel gegen Lothar, die in feiner Macht fanden. Er fuchte 





gubernator ecclesiae Coloniensis bezeichnet, was er, laut Obigent, im Jahr 
866 wirffih war, — N Hincmari annales ad annnm 866. Perz I., 471 gegen 
unten. — ?) Idem ibid. 472 Mitte. — 3) Manſi XV., 318 Mitte. — *) Dan 
febe die beiden Briefe des Nikolaus, ibid. ©, 554 und 555, Nr. LVI. und LVIII. 


1000 III, Buch. Kapitel 12. 


die Berbindung zwifchen Lothar und Karl dem Kahlen zu zerreißen, ') 
und da ihm Nachricht zufam, der Lothringer gehe mit dem Plane 
um, die Schuld Thietberga’s durch einen gerichtlichen Zweikampf 
beweifen zu laſſen, fihrieb ) er an den neuftrifchen König, daß der 
römische Stuhl nie feine Zuftimmung zu einem foldhen Gerichte 
geben werde. Den lothringiſchen Biſchöfen drohte er mit dem 
Banne, wenn fie es Yänger unterliegen, die Berfluhung Waldrada’s 
öffentlich befannt zu machen, und forderte fie nebenbei auf, ihm 
Bericht über Lothar's Betragen zu erflatten. ?) An die Kirchen: 
häupter von Teutſchland und ihren Gebieter Ludwig erließ er zwei 
Briefe, worin er mit firengen Worten fein Mipfallen darüber aus: 
ſprach, daß fie fi) unterftünden, für die abgefesten Metropoliten 
Fürbitte einzulegen. *) Dem Könige von Lothringen felbft machte 
er *) die bitterften Vorwürfe über fein treulofes Betragen, ermahnte 
ihn noch einmal Waldrada fortzufgiden, und ftellte ihm im Falle 
der Weigerung den Kirchenbann in Ausfiht Man könnte fich 
wundern, warum der Pabft nicht fogleich diefes furchtbare Mittel 
in Anwendung brachte. Unſeres Bedünfens unterließ er es wohl- 
weislic darum, weil er befürchtete, daß ber Blitz unter den ob: 
waltenden Umſtänden nicht einfchlagen möchte, Der vorfichtige Pabft 
wollte die legte Waffe der Kirche nicht aufs Gerathwohl brauchen. 
Lothar antwortete auf Die pabftlihen Drohungen mit ausgefuchter 
Heuchelei. Er richtete einen Brief?) an Nifolaus, worin er ben: 
felben feiner unbebingten Ergebenheit und des bereitwilligften 
Gehorfams verfiherte, aber auch die Bitte ausfprach, der Pabſt 
möchte feinen Berläumdern. nicht mehr wie bisher Glauben fchen- 
ten. Zugleich mußte der Bifchof Adventius von Mes nach Rom 
fchreiben, ©) daß fein Gebieter Lothar mit Waldrada in gar 
feiner Berbindung ftehe, und dagegen Thietberga mit aller Achtung 
als feine Gemahlin behandle. Während auf diefe Weife Nänfe, 
Lügen und Drohungen, ein Spiel geiftlicher und weltlicher Waffen, 
ſich durchkreuzten, ſtarb Pabft Nikolaus I. im November 867, den 
Streit mit den Königen unerlebigt feinem Nachfolger binterlaffend. 

Wir müſſen bier eine Bemerfung einflechten. Die Stellung, 





1) Manfi XV., 318 flg. Neo. L. — 2) Ibid. Nro. XLIX., © 315. — 
3) Man ſehe die beiden Briefe des Nikolaus, ibid. ©. 531 und 355. Nro. LVI. 
und LVIII. — #) Epist. LI. ibid. ©. 3241 Mitte flg. — 9 Abgedrudt bei 
Baronius ad annum 866. Nro. 37 flg. — °) Ibid. Nro. 29 flg. 


Die Päbſte Sergius II., Leo IV., Nikolaus I. ıc. 1001 


welche Karl der Kahle und Ludwig der Teutfche in den Ehehändeln 
des Yothringifchen Königs einnahmen, empfängt ihr volles Licht erft 
durch eine Thatfache, welche zwar in den Verhandlungen felbft nicht 
berührt wird, aber dennoch feft ſteht. Die Ehe Lothar’s mit Thiet- 
berga war kinderlos, wohl aber gebar Waldrada dem Lothringer 
Söhne und Töchter. ) Wurde daher die Heivath mit erſterer aufge— 
hoben, und feine Verbindung mit der zweiten als gejeglich aner- 
fannt, fo befaß der Lothringer erbfähige Nachfommenfchaft, im ent- 
gegengefesten Falle feine. Dieß war ber eigentlihe Grund, warum 
die Dheime Lothar's auf alle Weife deffen Scheidung von Thietberga 
zu bintertreiben fuchten, Denn fie gedachten, nad dem Tode Lo— 
thar’s deſſen Neich zu erben. Daher fommt es, daß Hinfmar in 
der oben angeführten Schrift erklärt, die Ehefache Lothar's fey eine 
Frage, welche in die Intereffen fammtliher franfifhen Staa— 
ten eingreife, und auf einer allgemeinen Synode entfchieden wer- 
den müffe Auch dünft es uns fehr wahrſcheinlich, daß ber loth— 
ringifhe König, als er im Jahr 866 ſich mit feinen Oheimen 
verftändigte, gegen diefe auf das Erbrecht feiner Kinder aus ber 
Berbindung mit Waldrada verzichtet haben dürfte, obgleich wir für 
unfere Bermuthung Feinen urfundlichen Beweis führen können, 
Während des Kampfes über Thietberga’s Recht hatten zwei 
eben fo wichtige Händel zwifchen Nikolaus und dem Erzbifchofe von 
Rheims begonnen. Zu der großen Zahl geheimer oder offener Geg: 
ner, die dem Metropoliten Hinkmar feit feiner Erhebung das Leben 
verbitterten, gehörte auch der Biſchof von Soißons Rothad. 
Wir haben oben gezeigt, 2) daß Rothad zur Parthei des Kaiſers 
Lothar hielt, und Hinkmar traute demfelben fchon bei Ausbruch der 
Gotſchalk'ſchen Streitigkeiten fo wenig, ?) daß er den Mund), defien 
Klofter doch im Sprengel von Soißons lag, im Jahre 849 micht 
Rothad, fondern einem Andern in Berwahrung gab, Seitdem 
ftanden Beide auf gefpanntem Fuße; Einer beobachtete den Andern 
vol Argwohn. In einer fpätern Eingabe an den Pabft behauptet *) 





) Hinkmar fagt dieß Opp. II., 694 gegen oben. In den Jahrbüchern 
von Rheims kommt ein Sohn Hugo aus der Berbindung Lothar's II. mit 
Waldrada vor, ad annum 879, Perz J., 512 gegen oben; eine Tochter 
Lothar’s wird erwähnt annales fuldens, ad annum 884. Perz I., 599 a. unten. 
— 2) Siehe ©. 968. — 3) Oben ©. 817. — +) Manſi XV. 682 oben und 
684 Mitte. 


1002 II. Buch. Kapitel 12. 


Rothad, Hinkmar Habe ihn auf alle Weife niederzudrücken gefucht, 
und den Gehorfam eines Knechts von ihm verlangt. Aber dieſe 
Darftellung verdient nicht vollen Glauben, weil fie einfeitig von 
bem Berfolgten ausgeht. Genug! im Jahr 861 glaubte Hinfmar 
rechtmäßigen Anlaß zu Haben, ſich feines alten Gegners zu ent 
ledigen. Auf einer Synode zu Soißons feste er- ed durch, daß 
Rothad wegen Ungehorfams gegen die Metropolitangewalt yon 
der biſchöflichen Gemeinfchaft ausgefchloffen wurde. Leber bie 
Gründe diefes Verfahrens berichten jedoch beide Partheien verſchie— 
den. Rothad erzählt ) die Sade fo: er habe einen Pfarrer feines 
Sprengels, der auf friiher That des Ehebruchs ertappt und ver: 
ftimmelt worden war, nad dem Urtheil von 33 Bifchöfen, feines 
Amtes entjeßt, und die erledigte Stelle einem Andern gegeben. 
Drauf fey der Berurtheilte zu dem Metropoliten gelaufen, und 
habe e8 durch feine Klagen dahin gebracht, daß Hinfmar den Geift- 
lichen, weldhem Rothad die Pfarre übergeben hatte, mit Gewalt 
aus der Kirche herausreißen ließ, und Dagegen ben verſtümmelten Ehe- 
brecher nach nur breifähriger Buße wieder einfeste. Weil er felbft, 
fährt Rothad fort, diefem tyrannifchen Verfahren des Metropoliten 
den Gehorfam verweigerte, fey er von Hinfmar zu Soißons an- 
geklagt und verurtheilt worden. Ganz anders lautet die Ausfage 
Hinfmars. As Grund des Verfahrens wider Rothad bezeichnet ?) 
Diefer böswillige und, trotz der eindringlichften Warnungen, Jahre 
lang fortgetriebene Widerfeglichfeit des Schuldigen, Verſchleuderung 
yon Kirchengütern und andere Vergehen der Art. Auch in den 
Sahrbüchern berichtet 3) er, Rothad fey auf fo lange von der Sy: 
node zu Soißons mit der Strafe der Ausfchliegung belegt worden, 
bis er fih den Kirchengefesen unterwerfen würde Wer hat nun 
Net? Aus den eigenen Angaben Rothads getraue ich mir den 
Beweis zu führen, daß Hinkmars Darftellung wahr ift, oder wenig: 
ftens der Wahrheit am nächften kommt. Rothad gefteht ein, den 
ehebrecherifchen Pfarrer vor einer Synode, an welcher 33 Bifchöfe 
Theil nahmen, angeklagt und gerichtet zu haben. Da Hinfmar 
die Entſcheidung dieſer Synode verwarf, fo folgt, daß er 
auf derſelben nicht erfchienen feyn Tann. Nun gehörte Rothads 





!) Manfi XV., 684. — ?) Hincmari Opp. II., 248 unten fig. 254 oben. 
— 3) Bei Perz I., 455 unten. 


Die Päbſte Sergius IT., Leo IV., Nikolaus I. ıe. 1003 


Sprengel, oder das Bisthum Soißons erweislich zum Metropolitan⸗ 
Berband yon Nheims. Anderer Seits fand den Metropoliten, 
fraft der Karolinifchen Berfaffung, ausschließlich die Befugniß zu 
Provinzial-Synoden zu berufen, und nur in ihrer Gegenwart und 
unter ihrer Leitung durften Cferifer gerichtet werden. Indem daher 
Rothad ohne Mitwirkung Hinfmars einen feiner Untergebenen vor 
einer Synode belangte, erlaubte er fih einen fehreienden Eingriff 
in die Nechte des Erfteren,, und man begreift jetzt, warum ber be- 
Yeidigte Metropolit fo bittere Befchwerde darüber führt, ) daß ber 
Biſchof von Soißons fi) Feiner Ordnung fügen wolle. Allen Ans 
zeigen nach ftellt fich die Sache fo heraus: Mitglied, vielleicht Haupt 
der Parthei, welche damals in den fränfifchen Reichen am Umfturz 
der Metropolitan-Gemwalt arbeitete, hatte Rothad eigenmächtig eine 
Synode zufammengebracht und von derfelben einen Pfarrer feines 
Sprengels, der allerdings ſchuldig war, richten laſſen. Wegen biefer 
Verlegung feiner Rechte zog Hinfmar den Bifchof zur Berantwor- 
tung, und feste, als derfelbe Trog bot, die Berurtheilung durch. 
Im nächften Jahre nach der Synode von Spißong trat aber: 
mal ein Coneil in Piſtres zufammen. Unbekümmert um das Ur: 
theil, das 861 über ihn ergangen war, erſchien Rothad auf biefer 
neuen Berfammlung. As nun Hinfmar und feine Freunde ihn 
auswiejen, erklärte er, daß er auf den Pabft berufe, und verlangte 
Urlaub zu einer Reife nah Nom. 7) Bon nun an gehen wieder - 
bie Berichte aus einander, Laut der Ausfage ?) des Biſchofs von 
Soißons nahm der Streit folgende Wendung: fobald Rothad die 
gewünſchte Erlaubniß erhalten hatte, eilte er in feinen Wohnort zus 
rück, um Anftalten zur bevorftehenden Neife zu treffen. Bon Soißons 
fchrieb er fodann an den König Karl und den Erzbifchof zwei 
Briefe, in welchen er ihnen für die Zeit feiner Abwefenheit die 
verwaiste Gemeinde empfahl, Zugleich mit biefen beiden Schreiben 
überfchiekte er durch denfelben Boten ein drittes an einen ihm be= 
freundeten Bifhof. Nach Rothads Wunfche follte der Empfänger 
daffelbe den übrigen Kirchenhäuptern mittheilen, die auf der Synode 
zu Piftres für Die Losfprehung des Beklagten geftimmt 
hatten. Rothad verfichert, diefer Brief habe die Bitte enthalten, 





) Hinemari Opp. II., 248 unten fig. 251 oben. — ?) Hincmari annales* 
ad annum 862. bei Perz I., 457 unten. — 5) Manſi XV., ©. 682 fig. 


1004 IN, Buch. Kapitel 12. 


dag jene Freunde während der Dauer feiner Reife nach Stalien 
fih feiner Sache annehmen und ihn vertheidigen möchten. „Indeſſen 
war,“ fährt Rothad fort, „der Bifchof, an den ich das Schreiben ge— 
richtet, von Piftres abgereist, dagegen hatte Hinfmar vom Inhalt 
meines Briefs Nachricht erhalten. Durch Drohungen zwang er den 
Boten, ihm das Schreiben zu übergeben, und nachdem er es ge 
Yefen, ftellte er dem Könige die Sache fo dar, als ob ich auf bie 
Berufung an den Pabft verzichtet hätte und in Frankreich von felbft- 
gewählten Schiedsrichtern gerichtet werben wollte.“ Hierauf habe 
denn, heißt e8 weiter, Karl den Befehl ertheilt, daß weder Rothad 
felbft abreifen, noch irgend Jemand ihn begleiten dürfe. Nachher — 
gegen Ausgang des Jahres 862 oder im Anfange des folgenden, — 
fey eine neue Kirchenverfammlung nad Senlis berufen worden, 
auf welder auch der König erſchien. Durch drei an ihn abgefchidte 
Bischöfe Habe Rothad dreimal die Aufforderung erhalten, fih zu 
ftellen. Nachdem er fih, auf der Berufung nach Rom beftehend, 
wiederholt geweigert, biefer Ladung Folge zu leiften, fey er bo 
zuletzt theils durch Drohungen , theils durch Verfprechungen bewogen 
worden, zu ericheinen. Nun babe man ihn abgefest und in ein 
Klofter geiperrt, fpäter aber, um ihm den Mund zu fchließen, mit 
einer Abtei abfinden wollen. Nah Hinkmar's Behauptung da— 
gegen, ) unterwarf ſich Rothad dem Spruche der Synode yon Senlig, 
. und ward nach feiner Abfegung mit der Abtei bedacht. Sp wider: 
fprechend beide Berichte lauten, flimmen fie doch in dem einen Haupt: 
punkte überein, daß Rothad fich berbeilieg, im Angeficht der Synode 
zu erfcheinen. Durch diefen Schritt aber hatte er thatfächlich auf 
die Berufung nach Nom verzichtet, mag er ihn nun, wie Hinfmar 
anzudeuten fcheint, freiwillig getban haben, oder wie Rothad vor—⸗ 
giebt, durch Verſprechungen dazu vermocht worden feyn. Zweitens 
find beide Ausfagen auch im Punkte der Abtei einig, denn Nothad 
gefieht zwar nicht ausdrüdlich, daß er die Abtei annahm, Yäugnet 
es aber auch nicht. Um fo zuverfichtliher darf man dem Zeugniffe 
feines Gegners glauben, welcher behauptet, daß ſich Rothad wirk: 
ih mit der Abtei abfinden ließ, und längere Zeit ruhig blieb. In 
dem Anerbieten der Abtei feldft aber kann man unmöglich etwas 
Anderes fehen, als einen zwifchen beiden Partheien abgejchloffenen 





1) Opp. II., 249. 


Die Pabſte Sergius IT, eo IV., Nifofaus I. ıc. 1005 


Vergleich, Fraft deſſen Hinfmar die Berurtheilung des Biſchofs von 
Soißons verfüßte, und -Nothad dagegen feine Berufung an den 
Pabft aufgab. So aufgefaßt iſt der Hergang an fich höchſt wahr: 
ſcheinlich und paßt vortrefflih zu den damaligen Umfländen. Die 
Berufung Rothads auf den Pabſt mußte den höchften weltlichen und 
geiftlihen Behörden Neuftriens, dem Könige, wie dem Metropoliten 
Hinfmar, gleich unangenehm feyn: dem Könige, weil dadurd bag 
unfhäsbare Recht, feine Biſchöfe im eigenen Lande richten zu 
fönnen, feinen Händen entfchlüpftes dem Metropoliten aus dem— 
felben Grunde, und noch mehr, weil er fi vermöge feiner Weber: 
einfunft ') mit dem Vorgänger des damaligen Pabſts, mit Bene: 
dift III., wirklich verbindlich gemacht hatte, die berühmten Befchlüffe 
yon Sardifa anzueriennen, welde dem Stuhle Petri förmlich die 
Befugniß zufprachen, Berufungen der Biſchöfe aller Provinzen an- 
zunehmen. Bisher hatte noch fein fränfifches Kirchenhaupt gewagt, 
das Urtheil einer Synode durch Berufung auf den Pabft umzu: 
ftoßen, wenn aber Rothad fein Borhaben ausführt, war es um 
bie Metropolitangewalt gefchehen, denn man fonnte vorausfehen, 
bag von nun an alle verurtheilten Biſchöfe dem Beifpiel Rothad's 
folgen würden, Es ift daher in der Drdnung, daß König und 
Metropolit die größten Anftrengungen machten, um Rothad's Ver: 
zihtung auf die Appellation an den Pabft zu erlangen. Und warım 
follte dieß ihrer vereinten Macht nicht gelungen feyn! Unmöglich 
fönnen wir jedoch glauben, daß Hinkmar feinen Zweck durch das 
läppiſche Mittel, von welchem Rothad fpricht, zu erreichen fuchte. 
Sicherlich war die Abtei der hauptſächliche Hebel den er anwandte. 
Zu fehr hatte Rothad den König und den Metropoliten durch feinen 
Trotz beleidigt, als daß Beide fein Stillfchweigen durch Wiederher- 
ftellung des Gebannten erfaufen fonnten. Er mußte daher fallen. 
Dagegen hofften fie ihm durch andere Mittel den Mund zu 
ſchließen. Die Abtei folte die Lockſpeiſe ſeyn. Man ftellte ihm vor, 
daß er, wenn er fortführe auf den Pabft zu pochen, den Metro: 
politen und den König zu unverföhnlihen Gegnern haben werde, 
wenn er dagegen ſich füge, die reichen infünfte des Klofters im 
Frieden verzehren möge. Auch hat das Mittel allem Anfchein nad) 
gewirkt. Sein Erfcheinen vor der Synode von Senlis war ber 





I) Siehe oben ©. 981. 


1006 | II. Buch. Kapitel 12. 


erfte, die Annahme der Abtei der zweite Aft eines zwiſchen beiden 
Theilen zu Stande gekommenen Vergleichs. 

Aber bald fiel Rothad in den alten Trotz zurück. Ueber die 
Triebfedern, welche ihn zu dieſer Sinnesänderung vermochten, er⸗ 
ſtattet Hinkmar einen vollkommen glaubhaften Bericht, „Längere 
Zeit,“ ſagt er, ) „begnügte ſich Rothad mit der Abtei, erſt Andere 
haben ihn verführt. Leute, welche ſehr gut unterrichtet 
ſind, verſichern, gewiſſe Biſchöfe aus Lothars II. Reiche, die gegen 
mich in böſem Eifer entzündet waren, weil ich ihren Be— 
fhlüffen in Betreff Waldradas entgegentrat, fo wie gewiſſe 
Teutfche Kircchenhäupter, die auf den Antrieb ihres Königs 
mir wehe thun wollten, weil ich nicht, gleich Rothad, bei Bertrei- 
bung unferes Gebieters Karl die Hände den Teutichen geboten, *) 
hätten Rothad fo lange zugefest, bis er fi) dazu verftand, den 
Streit wieder anzufangen und jene Ohrenbläſer ermächtigte, feine 
Wiederherftellung beim Pabfte zu betreiben.“ Man bemerfe, daß 
das Schreiben, in welchem die eben angeführten Worte flehen, an 
Pabſt Nikolaus I felbft gerichtet if, Unmsglich Fann man annehmen, 
dag Hinfmar in dieſem Punkte etwas fagt, was nicht der firengen 
Wahrheit gemäß wäre. Folglich haben wir hier wieder einen neuen 
Beleg von den verberblichen Ränken, welche die Nachfommen Karls 
des Großen gegen einander ſpielten. Weil Einer dem Andern fein 
Erbe mißgsnnte, und jeder die geheime Hoffnung hegte, das ganze 
Neih unter feinem Scepter zu vereinigen, fuchten fie fi) gegen- 
feitig zu verderben. Um diefes Ziel zu erreichen, verführten fie 
einander die Bafallen, und namentlich die Bifchöfe, welche ben 
größten Einfluß beſaßen. Nur dadurch ift es den Päbſten gelungen, 
Alle zufammen ihrer geiftlihen Gewalt zu unterwerfen. | 

Durch Bermittlung jener Teutfchen und Lothringer, wie es 
fheint, gelangte die erneuerte Berufung Rothad's an den Pabſt. 
Und nun erließ Nikolaus 1. ein fcharfes Schreiben °) an Hinfmar, 
in welchem er ihm Bormwürfe darüber macht, daß er den Bifchof 
Rothad von Soißons, der nach Nom appellirte, zur großen Schmad) 
des Stuhles Petri, nicht nur feines Bisthums entfeßt, fondern auch 





A. a. 9.1, 219 Mitte. — 2) Das Ereigniß, auf welches Hinkmar 
anfpielt, ift oben erzählt worben. — °) Nicolai epistola Nro. 29. Manfi XV,, 
295 unten. flg. 


Die Päbfte Sergius IT., Leo IV., Nikolaus I. ꝛc. 1007 


auf andere Weife vielfach mißhandelt Habe. Sofort befiehlt der 
Pabft dem Metropoliten, Rothad unverzüglich wieder einzufesen. 
Nachdem Dieß gefchehen, follen die Anfläger fammt Rothad ſich als: 
bald in Nom zu Gerichte ftellen. Würde Hinkmar nicht innerhalb 
30 Tagen, nad) Empfang des Schreibens, Rothad wiederherftellen, 
oder, fey es in eigener Verfon, fey es durch Abgeordnete, weiterer 
Unterfuhung der Sache in Nom gewärtig feyn, fo verbietet er ihm 
für fo Yange das Lefen der Meſſe, bis Hinfmar den Befehl voll 
firecft Habe. Mit derfelben Strafe bedroht er ſämmtliche Biſchöfe 
der Parthei Hinkmars, und beauftragt Diefen, die päbftlihe Willens: 
meinung Jenen zu eröffnen. Set konnten Hinkmar und feine Freunde 
nicht länger fehweigen. Sie richteten an Nikolaus ein Synodal- 
fhreiben, das zwar nicht mehr vorhanden ift, deſſen Inhalt aber 
aus der Antwort des Pabſtes erhellt. Die Behauptung fand darin, 
Rothad's Appellation an den Pabſt fey darum unftatthaft, weil 
faiferlihe Gefege jede Berufung auf fremde Gerichte verböten. 
Auch überſchickten fie die Akten des letzten Concils yon Senlis und 
der Abfegung Rothad's nad Nom, mit der Bitte, der Pabft möchte 
diefelben beftätigen. Nunmehr erlieg Nikolaus eine Reihe Briefe an 
die Neuftrifchen Bifhöfe, an Hinkmar, an König Karl den Kahlen, 
an Rothad. In dem erften, D an bie neuftriichen Bifchöfe, erklärt 
er rund heraus, daß er die Beſchlüſſe von Senlis unmöglich be= 
flätigen könne, ehe nicht eine neue Unterfuchung der Sache zu Nom 
ftattgefunden hätte. Er fpricht weiter feinen Unwillen darüber aus, 
daß fie e8 gewagt, mit völliger Mißachtung der von Rothad ein- 
gelegten Appellation, benfelben abzufegen. Dann auf das Bor: 
geben der Biſchöfe übergehend, jede Berufung auf fremde Gerichte 
jey durch die Faiferlichen Geſetze verboten, belehrt er fie durch Be: 
weis⸗Stellen aus den Schriften Innocenz I, und Gregor’s des Großen, 
daß Taiferliche Gefege zwar gegen Keger gebraucht werden Dürfen, 
aber jeder Geltung entbehrten, fobald fie dem Rechte der Kirche 
widerfprächen. Sofort rüdt er die Artifel von Sardifa in ihrer 
ganzen Ausdehnung ein, und führt ihnen zu Gemüth, wie Unrecht 
fie gethan, gegen den Wortlaut dieſer ehrwürdigen Befchlüffe, der 
Appellation Rothad's feine Folge zu geben. „Euer dem beiligen 
Petrus und den Vorrechten feines Stuhls zugefügtes Unrecht“ fagt 





) Manſi XV., 500 unten flg. 


1008 II, Buch. Kapitel 12. 


er, „ift fo groß, daß ich es nicht auszufprechen vermöchte, wenn 
gleich alle Glieder meines Leibes fih in Zungen verwandelten.“ 
Auch vergißt er nicht zu bemerken, daß bie Befugniß des Stuhles 
Petri, Berufungen anzunehmen, die feftefte Stüge des Wohlfeyns 
und der Selbfiftändigfeit ſämmtlicher Bifchöfe fey. „Wer yon Euch,“ 
zuft er aus, „ift fiher, daß es ihm heute oder morgen nicht eben 
jo ergebe, wie dem unglüdlihen Rothad.“ Diefer Beweisgrund 
war in der That gut gewählt! Am Schluffe befiehlt er ihnen, 
Rothad unverweilt nach Rom zu fhiden. Zwei bis drei aus ihrer 
Mitte möchten ihn begleiten, damit die Sache in Rom gehörig unter: 
fucht werden Eönne. Würden fie diefem Gebote innerhalb dreißig 
Tagen nad) Empfang des Schreibens nicht gehorchen, fo droht er 
ihnen, Rothad frei zu fprechen, und überdieß eine Synode zu be= 
rufen, bie ihnen leicht daſſelbe Schickſal bereiten bürfte, welches fie 
dem Biſchofe von Soißons zugedacht hätten. Aehnlich ift der Sn: 
halt bes Schreibens ) an Hinkmar, nur noch drohender. „Dieß fey 
ber zweite Brief,“ heißt es am Ende, „den er in Rothad's Sade an 
Hinkmar erlaffe, würde der Metropolit fi zum dritten Male befehlen 
laffen, jo möge er gewärtig feyn, als Berächter der Kirchengefege 
behandelt zu werden.“ König Karl den Kahlen erfucht ?) der Pabft 
in dem dritten Schreiben, die Reife Rothad’s nah Nom zu befür: 
bern. Eben fo entfchieben wie in den andern Briefen, fyricht er von 
ber Beleidigung, die in Rothad's Sache dem heiligen Stuhle wider: 
fahren, und yon feinem Entfchluffe, eher zu fterben als eine Min- 
derung ber Borrechte Petri zu dulden. Nifolaus ift kühn genug, 
dem Könige mit fohlimmen Folgen zu drohen, wenn er nicht auf 
feine Bitten, feine Befehle hören würde, „Was für eine Hülfe“ 
rebet er ihn an, „könnet Ihr in irgend einer Berlegenheit Eures 
Neihs von Petri Stuhle erwarten, wenn Ihr felbft die Hände Dazu 
bietet, die Vorrechte deffelben zu fihmälern.“ Der Pabſt durfte fo 
zu den fränfifchen Fürften fprechen, weil Jeder von ihnen unauf: 
hörlich um römische Dienfte gegen die Andern buhlte. In dem vier: 
ten Schreiben ?) endlich ertheilt Nikolaus dem Bifchofe yon Soißons 
Nachricht Über die Schritte, die er zu feinen Gunften gethan, 
fordert ihn auf, fo bald als möglich nach Nom zu fommen, und 





') Ibid, ©, 294 fig. — 9 Ibid. S. 296 unten fig. — ®) Ibid. 306 
Mitte fig. 


Die Pähfte Sergius IT, Leo IV., Nikolaus I. ꝛc. 1009 


fügt noch die Ermahnung bei, Nothad möge, wenn man ihm 
auch Urlaub zur Reife verweigern follte, ſtandhaft auf der Appel— 
lation verharren. 

"Was follte nun Hinfmar, was der König yon Neuftvien thun? 
Gaben fie dem Pabfte nad, fo war es um die Metropolitangewalt 
des Erftern, um die Dberherrlichfeit des Andern über feine Bifchöfe 
gefchehen. Verweigerten fie den Gehorſam, fo Fam es vorausficht- 
ich zum Brude mit Nikolaus, deffen Beiftand doch Karl ver 
Kahle bei feinen ewigen Händeln mit den andern fränfifchen Fürften 
faum entbehren konnte. Wirklich war die Lage der Neuftrier fehr 
beſchwerlich. Sie zögerten, fuchten Zeit zu gewinnen, und wandten 
indeß alle möglichen Heinen Mittel auf, welche das Ungemitter be- 
ſchwören zu fünnen fchienen. Die Königin Hermintrud, Karl’ Ge: 
mahlin, mußte an den Pabft fchreiben, daß er doch ihr und dem 
Könige zu Lieb die Sache Rothad's fallen Iaffen möchte, Vergeb— 
lich! Der Pabſt antwortete ') „feiner geliebteften Tochter,“ daß er 
fih Gewiffenshalber nun und nimmermehr dazu verftehen könne, 
Solches zu gewähren. In einem andern, wie e8 fcheint, gleichzeitigen 
Briefe ?) erfudhte er fogar den König, Rothad zum Behufe der 
römischen Reife mit Geld zu unterftügen. Hinfmar feiner Seits 
fchwieg zu dem zweiten, ja er ſchwieg noch zu einem dritten und 
vierten Mahnfchreiben des Pabſtes. Aus einem fünften Briefe 3) 
ebendefjelben erhellt zugleich, warum der Metropolit ungeftraft fo 
lange trogen durfte. „Wir können,“ beginnt er, „unfer Befremden 
nicht verbergen, daß du unfere viermaligen Ermahnungen überhört, 
und auch unferem Testen Befehl, Rothad entweder in fein Amt 
wieder einzufegen, oder Gefandte auf den 1. Mai 864 nah Nom 
zu fenden, feine Folge geleiftet haft.“ Im fehr gemäßigten Worten 
wiederholt er fofort diefes Verlangen, und unterfagt Hinfmarn dem 
Nachfolger Rothad’s die Weihe zu ertheilen. Zuletzt ermahnt er ihn, 
Daß er mit Gunther, dem abgefesten Bifchofe von 
Cölln, jeglihe Gemeinfhaft meiden möge. Lesterer Satz 
erklärt die milde Sprache des Pabſts; weil Nikolaus fürchtete, daß 
der hartbedrängte Hinfmar ſich mit den Lothringern vereinigen Eönnte, 
wagt er nicht den Metropoliten von Nheims aufs Aeußerfte zu 
treiben, fondern gibt dem Ungehorfamen gute Worte, 





Öfrörer, Kircheng. II. 64 


1010 | II. Buch. Kapitel 12. 


Da indeß der Pabft Hartnädig auf feiner Forderung beftand, 
dag Rothad nach Rom geſchickt werden follte, mußte zulest Etwas 
gefchehen. Im Frühjahr 864. fchrieb 1) Nikolaus an Rothad, daß 
er vom Könige Karl wie von Hinfmar bie fefte Zuficherung erhal- 
ten habe, man werde feiner Reife feine Schwierigfeit mehr in den 
Weg legen. Wirklich machte fi) Rothad auf den Weg; zugleich 
mit ihm traten aud mehrere Abgefandte der Gegenparthei die Reife 
an. Aber auch jest noch war der Urlaub nicht ernftlich gemeint. 
Der Chronift meldet *) nemlih: Kaifer Ludwig habe den Bevoll: 
mächtigten Karls und Hinfmar’s, wie dem abgefegten Bifchofe von 
Soißons, Päffe verweigert. Kaum kann man hierin etwas Anderes, 
als das Werf einer geheimen Verabredung zwifchen dem Könige 
von Neufter und feinem Neffen dem Kaifer erbliden. Durch den 
Borwand einer erfünftelten Unmöglichkeit follte der päbftliche Plan 
gereitelt werden. Die Wahrheit diefer Anficht von der Weigerung 
Ludwigs erhellt aus dem Umftande, daß die neuftrifchen Gefandten 
auch nachher nicht, da die Wege ermweislich frei waren, fih nad 
Nom begaben. Rothad mußte in Beſancon liegen bleiben, die Be- 
sollmächtigten Hinkmar's dagegen Tehrten in die Heimath zurüd, 
nachdem fie zuvor auf heimlichem Wege, wie der Chronift ver: 
fichert, 2) dem Pabfte Bericht über die Urfachen der Unterbrechung 
ihrer Neife erftattet, auch ihm ein weitläufiges Schreiben Hinfmar’g, 
das fie perfünlich nach Rom bringen follten, überfchickt Hatten. Dieſe 
Urkunde, ?) welche über den ganzen Handel erwünfchte Aufjchlüffe 
gibt, und von ung oben vielfach benügt worden ift, gelangte richtig 
in die Hände des Pabſts. Hinfmar erkennt darin das Recht des 
römischen Stuhls, Berufungen anzunehmen, vollfommen an, Dagegen 
macht er geltend, daß Rothad auf feine Appellation ſpäter verzichtet, 
und dem Ausspruche felbfigewählter Schiedsrichter fich unterworfen 
habe. Die afrifanifhen und Karthagifchen Canones, fo wie bie 
Entjcheidungen des heil. Pabfis Gregorius lehren ja ausprüdlich, daß 
man son dem Sprud eines Schiedsgerichts nicht mehr appelliren 
dürfe. Auch würde, fagt er, der Ehrfurcht welche dem Stuhle 
Petri gebühre, Eintrag geihehen, wenn man denfelben mit allen 
Zänfereien des niederen und höheren Cerus behelligte, welde laut 





1) Ibid. ©. 5307. — 2) Hincmari annales ad annum 864. Perz I,, 465 
Mitte. — 3) Hinemari opp. II., 244 fig. 


Die Päbſte Sergius IT, Leo IV,, Nikolaus I. sc. 1011 


dem Schluffe des Nicänifchen Concils, fo wie auch gemäß ben 
Berordnungen mehrerer Päbfte, yon den Metropoliten auf Provin— 
zialſynoden entfchieden werden müßten. Ein Anderes fey es, wenn 
ein Streit Angelegenheiten betreffe, über welche die Kirchen: 
gefeße nichts beftimmen. In folhen Fällen müſſe man zu dem 
göttlihen Drafel, d. h. zum apoftolifhen Stuhle feine Zuflucht 
nehmen. Ebendaſſelbe ſey Nechtens, wenn entweder der Bifchof 
einer Provinz dem Ausspruch felbfterwäplter Nichter fich nicht unter— 
werfen wolle, oder wenn er, von einer Provinzialiynode abgeſetzt, 
im DBertrauen auf feine gute Sade an den Stuhl Petri appellire. 
Sobald Lesteres gefchehe, liege Denjenigen, welche einen ſolchen Bifchof 
gerichtet hätten, die Berpflihtung ob, an den Pabſt zu fchreiben 
und ihn zu erfuchen, daß er gemäß den Befchlüffen von Sarbifa 
eine neue Unterfuhung anordne. Gleicher Weife können Metropo- 
liten, die von Nom das Pallium erhalten hätten, nicht eher ge= 
richtet werden, als bis die Meinung des Pabſtes eingeholt fey. 
Hinkmar geht fofort auf feine Befchwerden gegen Rothad über, von 
denen wir oben gefprochen, er behauptet, Jahre lang vergeblich Er: 
mahnungen und Bitten an diefen unwürdigen Cleriker verfchwendet 
zu haben, er fagt, die Hffentlihe Meinung habe ihn laut getadelt, 
daß er den Mann fo lange im Lehramte duldete. Dann fährt er 
fort: auf die wiederholten Borftellungen des Pabftes habe er den 
König Karl bewogen zu geftatten, daß Rothad nach Nom reifen 
dürfe, aber die anbefohlene Wiedereinfegung beffelben zu vollziehen, 
fey ihm aus folgenden Gründen unmöglich gewefen: erfilich hätten 
die Zeitumftände nicht erlaubt, die Bifchöfe zufammenzurufen, durch 
die er abgefeßt worden, was doch nöthig gewejen wäre, da ein 
Bifchof nur durch Diefelben, die ihn verurtheilt, auch wieder einge- 
fegt werden fünne. Aber auch abgefehen yon biefer Schwierigfeit 
würden feine Suffragane, felbft wenn es ihm gelungen wäre, fie zu 
verfammeln, den Borfchlag der Wiedereinfegung Rothad's für 
baaren Unfinn gehalten haben, da ihnen der unmwiürbige 
Charakter des Menfchen fattfam befannt fey. Werde der Pabſt — 
was fie jedoch unglaublich finden — Rothad wiederherftellen, fo 
hätten fie doch wenigftens das beruhigende Bewußtfeyn, an biefer 
Maaßregel, die nicht anders als zum Verderben der Seelen aus: 
fhlagen könne, feine Schuld zu tragen. Nikolaus möge thun, was 
ihm gut bünfe, fie lehnen jede Berantwortung yon fih ab, da alle 
64* 


1012 2 II. Buch. Kapitel 12, 
Welt wife, Daß ihre Kirche der römiſchen, und fie felbft 


dem Statthalter Petri zum Gehorſam verpflidtet 


feyen. Hinkmar verfichert hierauf, er werde, wenn es Nikolaus 
gefalle Rothad wieder einzufesen, feinen Widerftand leiſten, wohl 
aber halte er es für feine Schuldigfeit, den Pabſt auf die Verbrechen 
des Menfchen aufmerffam zu machen. „UWebrigens,“ führt er fort: 
„ermächtigen nicht einmal die Beichlüffe son Sardifa den Pabft, 
einen Bifchof, der an ihn berufen habe, ohne Weiteres wieder her: 
zuftellen, jondern eine folhe Sache müffe an die Synode der bes 
treffenden Provinz, in welder allein, Yaut dem Ausſpruche der 
Garthagifchen Canones, die nöthigen Zeugen aufzutreiben ſeyen, zu: 
rückgewieſen werben, auch habe der Pabſt an die Biſchöfe der nächſt— 
gelegenen Provinzen zu fchreiben, daß fie eine neue Unterfuchung 
anftellen möchten, oder aber Gefandte zu fchiden, die im Berein 


mit den benachbarten Bifchöfen richten follten. Selbft wenn das 


von einer frühern Synode ausgefprochene Abfesungsurtheil durch 
eine fpätere aufgehoben werde, könne das legtere Urtheil Denen, welche 
das erfte gefällt, nicht zum Nachtheile gereichen, fofern fich nicht 


beweifen Yaffe, daß die erften Richter unlautere Abfichten gehegt hät— 


ten. Weiter bemerkt Hinfmar, dem Pabſt liege eben fo gut die Pflicht 
ob, dafür zu forgen daß die Metropoliten yon ihren Suffraganen 
nicht verachtet, als daß dieſe von jenen nicht ungebührlich behandelt 
werden. Um das Mitleiven, fagt er, fey es allerdings eine ſchöne 
Sache, aber dennoch dürfe man aus bloßem Mitleiden nit 
die Berfaffung der Kirche umſtürzen. Er wirft die Frage 
auf, ob die erzbifchöftichen Gerichte nicht noch mehr als bisher in 
Berachtung gerathen müßten, wenn ber Pabft aus Erbarmen für 
Nothad ſich bewegen laſſe, das Urtheil von Senlis aufzuheben. Er 
für feine Perſon werde in Zufunft Niemand mehr richten noch 
verurtheilen, ſondern blos die Fehlenden ermahnen, und wenn fie 
fich nicht befferten, die Sade dem Pabſte anheimftellen. Diefen 
Ausweg müfe er darum wählen, damit er in Zukunft der vielen, 
mit Drohungen des Bannes und den bitterften Vorwürfen ange: 
füllten Briefe entboben fey, welche ſeitdem ©. Heiligfeit ein Mal 
über das andere an ihn erlaffen habe, obgleich die Schriften der 
heiligen Bäter wiederholt lehren, daß man zu folden Drohungen 
nur felten und in dringender Noth fchreiten dürfe. „Sein eifrigftes 
Beſtreben,“ fchließt er, „werde dahin gerichtet feyn, daß ihn bie 


Die Päbfte Sergius II., Leo IV., Nikolaus J. x. 1013 


vielleicht nahe Todesftunde nicht außer ber Gemeinfchaft mit dem 
römifchen Stuhle überrafchen möge.“ 

Es ift der Schwanengefang ber dahinfterbenden Metropolitan: 
Berfaffung, den ber greife Erzbifchof von Nheims in diefem merf- 
würdigen Briefe fingt. Die Wendung, welche Rothad's Sache ge: 
nommen, erfüllt ihn mit tiefftem Grame, aber er unterwirft fich der 
Nothwendigkeit und der anfchwellenden Macht des Stuhles Petri. 

Indeſſen hatte Rothad Mittel gefunden, feine Reife nach Rom 
fortzufegen, wo er gegen Mitte des Jahres 864 eintraf. Er über: 
reichte dort dem Pabſte diefelbe Schugfchrift, ) die von ung oben 
benüst worden if. Mit allen möglichen Künften fuchte er darin 
aus begreiflihen Gründen den Beweis zu führen, daß er feine im 
Jahr 861 eingelegte Berufung auf den römischen Stuhl nie zurüd: 
genommen habe, was ihm jedoch, wie wir früher zeigten, nicht 
gelingt. Neun Monate ?) beobachtete der Pabſt beharrlihes Still: 
ſchweigen, erwartend, daß Gefandte Karl’s des Kahlen oder Hinkmar's 
fommen würden, um' dem Gerichte, das er in Ausficht geftellt, an: 
zumohnen. Aber fein Beyollmächtigter erfchien, ohne Zweifel, weil 
Hinfmar fich hütete zu feiner eigenen Demüthigung die Hände zu 
bieten. Am Tage vor Weihnachten S64 beftieg Nifolaus die Kanzel 
der Hauptfirche zu unferer lieben Frauen, und erflärte in öffentlicher 
Rede 9) vor dem zahlreich verfammelten römiſchen Clerus Rothad 
für einen unfchuldig Verfolgten, deſſen Anfläger es nicht gewagt 
hätten, ihre Befchwerde vor Gericht zu beweifen. Zugleich hob er 
das Urtheil von Senlis aus folgenden Gründen auf: „da ohne Bes 
fehl des römifchen Stuhls feine Synode berufen werden bürfe, 
fo fey jene Entfeheidung ungültig; zweitens, Hinkmar behaupte zwar, 
dag Rothad feine Appellation fpäter zurückgenommen habe, aber 
jelbft wenn dieg wahr wäre, müffe Hinfmar wiffen, dag man fich 
yon einem höheren Gerichte nicht wieder an ein niederes wenden 
dürfe; drittens, durch zahlreiche päbſtliche Defretalen werde beftimmt, 
daß alfe bifchöffichen Angelegenheiten der Entſcheidung des Stuhles 
Petri vorbehalten feyen. Wenn daher auch Rothad nicht an ben 
römiſchen Stuhl appellirt hätte, wäre Hinfmar nicht befugt gewefen, 





') Abgedrudt bei Manft XV., 681 unten fig. — ?) Anastasius in vita 
Nicolai $, 58 flg. Vignoli III., 205 unten flg. — 3) Abgedruckt bei Manft 
a. a. O. ©. 685 unten flg. 


1014 - II. Buch. Kapitel 12. 


ohne vorangegangene Einwilligung des Pabſts, Rothad feines 
Bisthums zu entfegen.“ Das waren damals neue und unerhörte 
Grundfäge!! | 

Nikolaus wartete einen weitern Monat, ob die Gefandten nicht 
noch fommen würden As fie abermals ausblieben, befleidete er 
Rothad am 21. Januar 865, dem Fefttage der heil, Agnes, mit 
dem bifchöflihen Gewande und Tieß ihn. die Meffe Iefen. Zugleich 
wurden yon der römischen Kanzlei eine Reihe Schreiben ausgefer: 
tigt, um bie gefaßten Beſchlüſſe fammtlichen Betheiligten jenfeits der 
Alpen fund zu thun. Eines ift an Clerus und Gemeinde von 
Soißons gerichtet, ) es wünſcht ihnen Glück zur Wiederherftellung 
ihres vorigen Biſchofs und ermahnt fie, denfelben mit allen Ehren 
zu empfangen. Ein zweites *) ward Rothad felbjt mitgegeben. Der 
Pabſt erftattet darin von den zu feinen Gunften getroffenen Ber: 
fügungen Bericht, und bedroht Diejenigen mit dem Banne, welche 
fih nach fruchtlofer dreimaliger Aufforderung weigern würden, die 
Güter der Kirche von Soißons dem wiederhergeftellten Bifchofe aus: 
zuliefern. Doch ift die Klaufel beigefügt, daß Rothad verpflichtet 
feyn folle, gegen Jeden, der ihn wegen früherer Vergehen anflagen 
würde, vor dem päbftlichen Stuhle fich zu verantworten. In einem 
dritten Schreiben 9) überfchüttet der Pabſt den Metropoliten von 
Nheims mit Vorwürfen, daß er bie dem Stuhle Petri gebührende 
Ehrfurcht in Rothad's Sache gänzlich aus den Augen gefest habe. 
Unwahr fey feine Behauptung, daß Rothad auf die Appellation 
nah Rom verzichtet und fich einem ſelbſtgewählten Schiedsgerichte 
yon Biſchöfen unterworfen hätte. Der Brief Rothad's, aus welchem 
Hinkmar Diefes beweifen wolle, *) fey zu Nom aufs Sorgfältigfte 
unterfucht, aber auch nicht die mindefte Spur yon Dem, was Hinf- 
mar darin zu finden vorgebe, entdecdt worden, denn weder werbe 
die Zahl der gewählten Richter ausgedrüdt, noch feyen ihre Namen 
angegeben, was doch Beides hätte gefchehen müffen, wenn Rothad 
der Meinung gewefen wäre, die Sache einem Schiedsgericht anheim: 
zuftellen. Sofort wiederholt der Pabft den fchon in feiner Rede 
vor dem Weihnachtsfefte angeführten Grund, daß felbft dann, wenn 
Rothad wirklich feine Appellation zurücdgenommen haben würde, dieß 





') Ibid. ©. 700 Mitte fig, — 2) Ibid, ©. 701 fig. — 3) Ibid. ©. 691 
fig. — *) Siehe oben S. 1004, 


Die Päbſte Sergius II, Leo IV., Nikolaus J. ıc. 1015 


ungültig wäre, weil nach Anrufung päbſtlichen Urtheils nicht mehr 
an ein nieberes Gericht appellivt werden dürfe. Nifolaus Hagt 
weiter, daß Hinfmar die vielen Briefe, die er in Rothad's Sache 
theils an ihn felbft, theils durch feine Vermittlung an andere Bifchöfe 
gerichtet, nicht geachtet, einen davon gar nicht gelefen, einen andern 
vier Monate Yang zurücbehalten habe. Die Behauptung Hinkmar's, 
feine Gefandten feyen durch Feinde, oder durch Kaifer Ludwig ver: 
hindert worden, ihre Neife nach Rom zu vollenden, erklärt er für eine 
fahle Ausflucht. „Nachdem man acht Monate lang vergeblich, auf 
die Ankunft diefer Bevollmächtigten. gewartet habe,“ führt Nikolaus 
fort, „fey ihm nichts anderes übrig geblieben, als den Biſchof, da fich 
fein Kläger zeigte, wieder einzufesen.“ Sodann überläßt der Pabſt 
dem Metropoliten die Wahl zwifchen zwei Maaßregeln, die, wie er 
fagt, gleich Fanonifch feyen: entweder möge Hinfmar den päbftlichen 
Befehl in Betreff der Wiederherftellung Rothad's unbedingt vollziehen, 
oder alsbald nah Rom kommen und feine Beſchwerden dort gegen 
den Bifchof von Soißons vorbringen, Lebteres jedoch nur unter der 
Bedingung, daß Nothad zuvor in feine Würden und Güter wieder: 
eingefest, und daß ihm eine Frift eingeräumt werde, um fich von 
den Anftrengungen feiner Reife zu erholen. Werde dagegen Hinf- 
mar feines von Beiden thun, fondern auf feinem Ungehorfam ver: 
barren, fo fey er hiemit Fraft göttlichen Urtheils durch den appfto- 
liſchen Stuhl für immer feines Erzbisthums entfeßt. 

. Ungefähr daflelbe fagt Nifolaus in einer Zufhrift ) an Karl 
den Kahlen. Außerdem fügt er bei: geftüst auf die Vorrechte des 
römifchen Stuhls und gemäß der Ueberlieferung, babe er Rothad, 
nachdem berfelbe an den Stuhl Petri appellirt, zu fich berufen. 
Der 9te Canon des Concils von Chalcedon beftimme, daß jeder 
Bischof oder Elerifer, der über den Metropoliten feiner Provinz 
zu klagen habe, feine Rechtsſache vor den Primas des Sprengels 
oder por das Kirchenhaupt von Conftantinopel bringen folle. Was 
son dem Konftantinopolitaner gelte, finde in noch viel höherem 
Maaße auf den Pabft feine Anwendung, zumal da die Beichlüffe 
von Sardifa Appellationen nad Rom geftatten, von welchem Nechte 
Rothad Gebraud gemacht habe. Aus einer Wendung, die der 
Brief fofort nimmt, geht hervor, daß ber neuftrifche König große 


i) Ibid. ©, 688. 


1016 24 I. Buch. Kapitel 12, 


Summen Geldes angeboten hatte, wenn man in Nom bie Sache 
Rothad's fallen Yaffen würde. Nikolaus erflärt nemlich, nicht Geld, 
fondern Gehorfam verlange der. heil. Apoftel Petrus; um feine Schäße 
der Welt werde er auf feine gerechte Forderung verzichten. Warnend 
verweist er fodann Karl den Kahlen auf das Beifpiel und Schick— 
fal des gottlofen Königs der Oſtgothen Theoderich, und ſchließt mit 
der Drohung, daß Jeden unnachſichtlicher Bann treffen werde, ber 
fi unterftehe, dem wiebereingefesten Bifchofe yon Soißons Schwie- 
rigfeiten in den Weg zu legen. | 

Bei Weiten das wichtigfte unter den damals erlaffenen Schreiben 
ift das fünfte D an ſämmtliche Biſchöfe Galliens gerichtete, Denn 
bier lüftet Nikolaus den Schleier, der über dem geheimen Getriebe 
der Angelegenheit Rothad's liegt. Der Pabft beginnt mit dem Sage, 
„die vielen in allen Ländern zerftreuten. Kirchen bilden nur eine 
einzige riftlihe Kirche, deren Hirte, Bischof und Hohenpriefter 
Chriſtus felbft if. Als jedoch der Herr im Begriffe fand, fi in 
den Himmel zu erheben, bat Er die Auflicht über feine Kirche den 
Apofteln, und durch fie, kraft eines gewiffen Erbrechts allen Denen 
ertheilt, welche Er ferner zu Hirten und Prieftern einfeßen würde, 
Aber auch unter den heil. Apoſteln beftand, wie Leo der Große 
fchreibt, bei fonftiger Gleichheit der Würde, ein Unterſchied der 
Macht, alfo daß, obgleich Einer wie der Andere erwählt war, Doch 
Einem (Petrus) der Vorzug vor den Andern eingeräumt ward. Da: 
raus ift auch ein Unterſchied unter den Bifchöfen felbft entftanden, 
fofern nicht alle fich gleich viel heraus nehmen dürfen, fondern Einer 
in jeglicher Provinz den Borzug erhielt, die erfle Stimme unter 
jeinen Brüdern zu führen. Hinwiederum ward. den Bifchöfen der 
großen Städte ein noch auggebreiteteres Negiment übertragen, aber 
in ber Art, daß durch) ihre DBermittlung die gemeinfamen Ange: 
legenheiten der Kirche an den Stuhl Petri gebracht werben, und 
dort gleihfam zufammenfliegen follten, damit fein Glied jemals mit 
feinem Haupte uneinig feyn möge. „Hätten nun einige unter Euch,“ 
fährt der Pabſt fort, „diefe Ordnung nicht ganz außer Acht gelafien, 
fo würden fie es nie gewagt haben, fo wie fie getban, den Biſchof 
Rothad yon Spißong zu mißhandeln und abzufegen, da doch. alle 
Gerichte über Bifchäfe, als widhtigere Angelegenheiten, 


') Ibid, 693 Mitte flg. 











Die Päbſte Sergius II, Leo IV., Nikolaus J. ıc. 1017 


dem Stuhle Petri vorbehalten find, Denn wenn Ihr bie 
Berurtheilung son Bifchöfen nicht unter die wichtigeren Angelegen— 
heiten rechnet, welche Fälle wollt Ihr dann darunter zählen? Be: 
fiehlt ja doch das halcedonifche Concil, daß felbft die Klagen niederer 
Glerifer vor den apoftolifchen Stuhl gebracht werden follen. Wenn 
Ihr es fo Yeicht nehmer, ohne vorläufige Befragung des Stuhles 
Petri, Biſchöfe abzufegen, wie fann man dann fagen, daß durch 
Euch, die Ihr theils in einzelnen Provinzen die erſte Stimme führet, 
theils auch in den größeren Städten ein ausgebreiteteres Negiment 
verwaltet, die Leitung der allgemeinen Kirche nach dem Stuhle Petri 
zufammenfließe! Gehören denn die Bifchöfe nicht zur allgemeinen 
Kirche, da Ihr die Berdammung berfelben nicht vor den Einen Stuhl 
Petri bringet! Oder wie mag man behaupten, daß Fein Glied mit 
dem Haupte uneinig fey, wenn Ihr in Berurtheilung der vornehm⸗ 
ften Glieder der Kirche, d. h. der Bifchöfe, nicht mit dem Haupte, 
d. i. dem apoftolifchen Stuhle, übereinftimmet? Ihr werdet Doch nicht 
Yäugnen wollen, daß der apoftolifche Stuhl wirklich das Haupt ſey. 
Denn dann müßte die Kirchenverfammlung yon Sardifa Unrecht 
haben mit ihrer Borfhrift: Die Biſchöfe aller Provinzen 
follen Dem Haupte, db. i. dem Stuhle des Apoftels Pe: 
trus Bericht erftatten. Sehet, wie hier der Stuhl Petri das 
Haupt genannt wird, dem die Bifchöfe aller Provinzen zu berichten 
verpflichtet feyen, und doch bewiefet Ihr vor eben dieſem Stuhle 
fo ganz feine Achtung, daß Ihr ihn nicht in den wichtigften Ange: 
Yegenheiten befruget, fondern einen Biſchof, der nach Rom appellirt 
hatte, mit völliger Bernachläßigung diefes Stuhles abſetztet.“ Der 
Pabſt erklärt fofort die Behauptung der Neuftrier, daß Rothad feine 
Appellation nad Nom zurüdgenommen, und ein bifhöfliches Schieds- 
gericht vorgezogen habe, für eine leere und ungereimte Ausflucht. 
Denn mit nichts könne bewiefen- werden, daß Rothad wirklich feine 
Gefinnung änderte, „Aber auch wenn bieß in Wahrheit der Fall 
gewefen wäre,“ fährt der Pabft fort, „mußtet Ihr ihn belehren, daß 
man son einem höheren Gerichte nicht an ein niederes zurücberufen 
könne. Ja hätte Rothad gar nicht an den Stuhl Petri appellirt, jo 
burftet Ihr ihm dennoch nicht ohne Vorwiſſen des römischen Stuhles 
abfegen, da fo viele päbſtliche Defrete ein ſolches Ver⸗— 
fahren verbieten. Denn ferne fey es von ung, daß 
wir bie firhliden Verordnungen irgend eines Pabſts, 


1018 II. Buch. Kapitel 12, 


ber bis an fein Ende im Fatholifhen Glauben ver: 
barrt ift, fowie alle Vorſchriften derfelben über Kir: 
henzudt, welche die heil. römifhe Kirche von alten 
Zeiten ber aufbewahrt, und uns überliefert, aud in 
ihren Archiven niedergelegt hat, nicht mit größter Ehr- 
furht annehmen follten. Steht nicht dem Pabſte die Ent: 
ſcheidung über die Frage zu, welche Bücher aller Firchlichen Schrift: 
fteller genehmigt oder verworfen werben follen, nimmt nicht die 
ganze Kirche an, was er billigt, verwirft fie nicht was er ächtet? 
Um wie viel mehr verdient alfo Dasjenige, was Päbfte felbft über 
Glaubenslehre oder Sittenzucht gefchrieben haben, allgemeine Aner: 
fennung.“ 

„zwar behaupteten einige von Euch in einer Zuſchriſt, jene 
Defretalen der alten Päbfte feyen darum ungültig, 
weil fie niht in ber Hauptfammlung der Kirchengefege 
fteben. Allein Beweife find in unferer Hand, aus wel: 
hen erhellt, daß eben diefe Menfchen fih jener De: 
fretalen ohne Anftand bedienen, fobald diefelben ihren 
Abfihten günftig find Nur dann, wenn es ſich Darum handelt, 
die Macht des apoſtoliſchen Stuhles herabzufegen, und. ihre eigenen 
Anfprüche zu erhöhen, fprechen fie wegwerfend yon den Defretalen. 
Wahrlih, wenn die Behauptung richtig wäre, daß die Defretal- 
fhreiben der alten Päbſte darum nicht anerfannt zu werden ver: 
dienten, weil fie nicht in die Sammlung der Kirchengefebe aufge: 
nommen feyen, fo würde auch feine Verordnung des heil. Gregorius 
oder anderer Päbſte vor und nach ihm gefegliche Geltung haben, 
weil diefe gleichfalls nicht in jener Sammlung fliehen. Sa man 
müßte aus demfelben Grunde auch die heil. Schriften des alten und 
neuen Bundes verwerfen. Nun werden zwar jene Leute, die ftets 
geneigter zum Widerfprechen als zum Gehorchen find, (gegen letzteren 
Grund) einwenden: in der Sammlung der SKirchengejege befinde 
fih eine Vorſchrift Pabſts Innocentius J., kraft welder das alte 
und neue Teflament angenommen werden müffe, obgleich beide nicht 
unter die gefammelten Canones eingerüdt feyen. Wir entgegnen 
hierauf: wenn das alte und neue Teftament gefeglihe Kraft bat, 
nicht weil es in der Sammlung der Canones fteht, fondern weil 
der Ausfpruch des Pabſtes Innocentius Beides anzunehmen befiehlt, 
fo folgt, daß auch den Defretalen der ältern Päbſte bindende Kraft 


Die Päbſte Sergius I, Leo IV., Nikolaus I. ıc, 1019 


zufommt, obgleich fie in den Canones fehlen; denn in den Kirchen: 
gefegen ſteht eine Verordnung Pabfts Leo des Großen, laut welcher 
alle Defretalen des apoftolifchen Stuhles fo fireng beobachtet wer⸗ 
den müffen, daß Ungehorfame feine Bergebung zu erwarten haben. 
Pabft Leo fchreibt nemlih: ) um nichts zu übergehen, befehlen wir, 
dag ſämmtliche Verfügungen, fowohl des heil. Innocentius als 
auch aller unferer Vorfahren, welche fih auf den Clerus und die 
Kirchenzucht beziehen, genau von Euch befolgt werden. Keiner, der 
zuwiderhandeln wagt, erwarte Nachficht. Indem Leo den Ausdruck 
„alle Berfügungen“ braucht, fchließt er feine aus, und indem 
er fagt „alle unfere Vorfahren“ zeigt er an, daß er Gehor⸗ 
fam für die Befehle aller Päbfte verlange. Es ift daher von feinem 
Belang, ob alle Defretalen in der Geſetzesſammlung ftehen, oder 
nicht ſtehen; denn nicht alle fonnten wegen ihrer Maffe in einen Band 
zufammengezogen werden, und ber Inhalt der in der Sammlung 
enthaltenen erklärt ja ausdrücklich die nicht darin enthaltenen für 
gültig. Mit jenem Ausſpruche Leo's flimmt auch Pabſt Gelafius 
überein, indem er jagt: ?) die Defretalfchreiben, welche die heil. 
Päbſte zu verfchiedenen Zeiten auf Anfragen verfchiedener Bölfer er: 
liegen, follen mit Ehrfurcht angenommen werben. Bemerket wohl, 
daß Gelafius nicht fo ſich ausdrückt: „die Defretalfchreiben, die in 
der Sammlung der Canones ftehen,*“ auch nicht alfo: „die Schrei- 
ben, welche die neuern Päbſte erlaffen haben“, fondern er redet 
von Defretalen, welche die Päbfte zu verfhiedenen Zeiten 
gaben Indem er aber fagt: „zu verfchiedenen Zeiten,“ be 
greift er auch die Zeiten darunter, wo es wegen ber häufigen Ber: 
folgungen durch die Heiden oft fchwer hielt, die Angelegenheiten der 
Biſchöfe vor den apoſtoliſchen Stuhl zu bringen.“ Nikolaus folgert 
nun weiter, daß ber von den Gegnern vorgefchüste Unterfchied 
zwifchen Defvetalen, die in der Sammlung ftehen oder nicht darin 
fteben, nichtig fey, daß die einen fo viel Rechtsfraft hätten als bie 
andern. Dann fommt er auf den früheren Sat zurüd: bifchöfliche 
Streitigfeiten gehören in alle Wege zu den wichtigen Fällen, deren 
Entfcheidung nur dem pähftlichen Stuhle zuftehe; er widerlegt weiter 
die den Gegnern in Mund gelegte Behauptung, daß unter ben 


— 





) Im Briefe an die Biſchöfe Campaniens. — 2) Im Erlaß über die 
kanoniſchen Schriften, 


4020 48 II, Buch. Kapitel 12. 


wichtigen Fällen des päbſtlichen Vorbehalts nur die Sachen ber 
Metropoliten, nicht die der Bifchöfe zu verftehen feyen; endlich meldet 
er ben Neuftriern die zu Nom erfolgte Wiedereinfegung Rothad's, 
und ermahnt fie denfelben brüderlich aufzunehmen, zugleich droht er 
allen Denen mit dem Banne, die dem Bifchofe yon Soißons ent: 
gegenarbeiten würden. Der Brief fchließt mit den Worten: „damit eg 
nicht feheine, als wollten wir willführlich den Lauf der Gerechtigkeit 
hemmen, und die heil. Canones hintanfegen, befehlen wir, daß be: 
meldeter Rothad Jedem, der ihn ferner anflagen will, vor dem 
apoftolifchen Stuhle Rede ftehen fol. Nur muß er zuvor wieder in 
fein Bisthum eingefegt werben.“ 

Es ift jet Zeit, dag wir zurückblicken, um einige wichtige 
Schlüffe zu ziehen. Mit dem Augenblid wo Rothad nach Rom kommt, 
geht in dem Streite zwifchen dem Pabſte und Hinkmar über feine 
Sache eine auffallende Umwandlung vor. Che der Bifchof von 
Soißons in Nom anlangt, braucht Nifolaus, als Waffe wider Hinf- 
mar, einzig die Befchlüffe yon Sardika. Die Spitze aller son ihm 
sorgebrachten Beweisgründe beruht auf dem Sate: weil Rothad an 
ben Pabft appellirt habe, müſſe er, gemäß jenen Befchlüffen, vom 
Stuhle Petri gerichtet werden. Auf demfelben Gebiete bewegt fich 
auch die Bertheidigung Hinfmar’s, er fucht darzuthun, daß weil 
Rothad feine Appellation an den Pabft aufgegeben habe, die 
Schlüffe von Sardika auf feine Angelegenheit nicht angewendet wer: 
den können. Aber feit dem Sommer 864 nimmt der Streit eine 
ganz andere Wendung. Die Grundfäse, Fraft welcher Nikolaus I. 
in feiner Anrede um Weihnachten das Berfahren der Neuftrier 
wider Rothad für null und nichtig erklärt, find nicht dem bisher 
geltenden Kirchenrecht, fondern fie find aus der Sammlung 
des falfhen Iſidor entnommen. Eben diefe Sammlung ver: 
theidigt der Pabſt in feinem an die neuftrifchen Biſchöfe gerichteten 
Schreiben wider die Einwendungen yon Gegnern, welche ihre Aecht: 
heit beftritten hatten. Auch macht er fowohl in der Rede wie in 
bem Briefe faft ausfchließlich von ifidorifchen Sägen Gebraud. Zwar 
beftebt er noch auf der Behauptung, die in den früheren Schreiben 
feine Hauptwaffe bildete, daß nemlich Rothad feine Appellation nicht 
widerrufen habe, aber er legt fein Gewicht mehr darauf, ja man 
fann fagen, er läßt fie fo gut als fallen. Denn um fie feftzuhal: 
ten, mußte er vor Allem auf die Frage eingehen, ob Rothad mit 


Die Päbſte Sergius Hr, Ten IV., Nikolaus J. ꝛc. 1021 


der Abtei wirklich abgefunden wurde oder nicht. Allein hievon fteht 
in ſämmtlichen Erlaffen des Pabftes Feine Sylbe. Dagegen läuft 
jest feine Beweisführung darauf hinaus, daß er den neuftrifchen 
Bischöfen zuruft: „feldft wenn Rothad auf feine Appellation an den 
römischen Stuhl verzichtet, ja noch mehr, wenn er gar nicht appellirt 
hätte, durftet Ihr ihn ohne meine Einwilligung nicht verurtheilen, 
weil yon einem höhern Gerichte nicht an ein niebereres zurückge— 
gangen werben darf, weil bifchöfliche Streitfachen der Gerichtsbarkeit 
des Pabſts vorbehalten find, weil ohne römiſche Genehmigung feine 
Synode verfammelt werden kann;«“ lauter Säbe, die nicht in dem 
bisher beftehenden Kirchenrecht, fondern blog in der Sammlung des 
falfchen Iſidor ihre Begründung finden. Sodann ift wohl zu bes 
merfen, daß Nikolaus in der Sache Rothad's die Frage der Form 
fcharf von dem Thatbeftande trennt. Nicht darum hebt er das yon 
Hinfmar und feinen Freunden wider den Bifchof von Soißons ges 
füllte Urtheil auf, weil Rothad unfchuldig fey, fondern einzig aus 
dem Grunde, weil Jene nit das Recht gehabt hätten, über ein 
Kirhenhaupt aus eigener Machtvollfommenheit zu richten. Den Be: 
weis der Schuld oder Unfchuld Rothad's behält er einer fpätern 
Unterfuhung por, er gibt alfo materiell den Klägern gewiffer Maßen 
Recht, und deutet damit ziemlich unverholen feine eigenen Zweifel 
an der Unſchuld des Biſchofs an. Ferner erhellt aus dem Briefe 
bes Babfis, daß die Neuftrier fchriftliche Einwendungen wider die 
gejeglihe Gültigkeit der von Nifolaus vorangeftellten pſeudoiſido— 
riſchen Grundſätze nah Nom geſchickt haben müſſen. Denn er 
braucht ') den Ausdrud: „Einige von Euch haben gefehrieben, dag 
bie Defretalen der alten Päbfte nicht im kanoniſchen Geſetzbuche 
fteben.“ Der Brief aber, oder die Briefe, in welchen bie Neuftrier 
Lesteres ausführten, find längſt verloren, vielleicht wurden fie ab- 
ſichtlich unterdrüdt. Gleichwohl kann man mit der größten Sicher- 
heit behaupten, daß fie im Lauf der acht Monate, während welcher 
Rothad in Rom weilte, dorthin gefchidt worden feyn müffen, Denn 
vor dem Zeitpunft der Neife Rothad's nah Nom wird weder in 
den päbftlichen Erlaſſen, noch in Hinkmar's Schreiben, wie wir früher 
bemerkt, eine Sylbe von iſidoriſchem Nechte erwähnt. Folglich kann 
bie Frage von ber Gültigkeit jener Defretalen erft nach Rothad's 





1) Manſi XV., 695 gegen oben. 


1022 II. Buch. Kapitel 12. 


Eintreffen in Nom verhandelt worden feyn, indem, wie es fcheint, 
zwifhen den Neuftriern und der römischen Kanzlei oder Nothad 
ſelbſt Schriften gewechſelt — von denen nichts auf ung ge— 
fommen ift. 

Aus Allem, was wir bisher bemerkt, ergibt fi ch nun mit hoher 
Wahrfcheinlichfeit der Schluß, daß der angeführte Umſchwung im 
Streite des Pabſts mit Hinfmar Rothad's Einwirkung zugefchrieben 
werden müſſe. Mit andern Worten, allen Anzeigen nach war es 
Rothad, der dem Pabſte die Waffe der pſeudoiſidoriſchen Defretalen 
in die Hände geliefert hat. Denn von einem Manne, bei beffen 
perſönlichem Erfcheinen ein Nechtshandel eine ganz andere Wendung 
nimmt, fest man mit gutem Fuge voraus, daß er thätig einge: 
griffen habe. Noch ein zweiter Beweis fpricht für unfere Ber: 
muthung. In einem Briefe, den Nifolaus unter dem 28. April S63 
wegen Beflätigung der Synode von Soißons an Hinfmar erließ, 
zählt er ) als gültige Duellen des Kirchenrechts die Defretalen fol: 
gender Päbſte auf: des Siricius, Innocentius, Zoſimus, Cöleftinug, 
Bonifacius, Leo, Hilarius, Gelafius, Gregorius und der andern 
(fpäteren) Hohenpriefter. Folglich fpricht Nikolaus im Jahr 863 
fo, als ob er nichts von den Entfcheidungen der Päbfte vor Siri- 
eins wüßte, welche den wichtigften Beftandtheil der pſeudoiſidoriſchen 
Sammlung ausmachen. Ja diefe Stelle feines Schreibens ift geeig- 
net, als unwiderftehlicher Beweis gegen die Aechtheit Pſeudoiſidor's 
angewendet zu werden. Erſt ein Jahr fpäter, nachdem der ab- 
gefegte Biſchof von Spißong, ber bald darauf den 
Grundfägen jener Defretalen feine Wiederherftellung 
verdankt, in Rom angefommen ift, gebraudt der Pabft 
das nicht im Fanonifchen Geſetzbuch ſtehende Machwerk des verfapp- 
ten Spanierd, Wir wollen damit Feineswegs fagen, daß von ben 
leitenden Jdeen der neuen Sammlung, die in Sranfreich feit 20 
Jahren eifrig benügt wurde, bis 863 gar nichts nach Nom ver- 
Yautet, oder auch dem Pahfte Nikolaus zu Ohren gefommen fey. 
Dies ift an fich höchſt unmwahrfcheinlih, und außerdem willen wir 
ja, ?) daß Nikolaus bereits in einem ber Schreiben, die er im 
Jahr 860 nach Conſtantinopel abſchickte, fih auf den Rechtsſatz 





1) Ibid. ©. 374 unten. Man vergleiche was wir oben gefagt haben ©. 791. 
— ?) Siehe oben ©, 259 unten, 


Die Päbſte Sergius IL, Leo IV., Nikolaus J. ꝛc. 1023 


berief, Synoden bürfen nur mit Zuftimmung des Stuhles Petri 
berufen werden. Diefe Behauptung beruht auf ifivorifchen Lehren. 
Dem Pabft mußten demnach damals die neuen Theorien befannt 
feyn, welche im fränfifchen Neiche durch Iſidor's Sammlung ver: 
breitet wurden. Aber zwifchen der hingeworfenen Anführung eines 
einzelnen ifivorifchen Sabes, und der amtlichen Benüßung 
des ganzen Gefesbudhes, ift ein fehr großer Unterfchied. In 
der eben genannten Weife hat der Pabft die Sammlung erft feit 
Rothad's Ankunft benüst. Noch ein anderer Punkt verdient beachtet 
zu werben. In feinem Schreiben an die neuftrifchen Bifchöfe macht 
Nikolaus als Hauptbeweis für die Aechtheit der pfeudoifidorifchen 
Defretalen die Behauptung geltend, daß fie ja felbft in früheren 
Fällen, wo es ihnen nützlich geweſen, Stellen aus Pfeudoifidor anz 
geführt und für ihre Zwecke gebraucht hätten. Was fie damals 
als rechtskräftig anerkannt, müſſe auch jest noch gelten. Das ift 
gegen Hinkmar gemünzt. Wirflih hat derfelbe vor dem Streit 
wegen Rothad's bei verfchtedenen Gelegenheiten Rechtsbelege aus der 
Pfeudoifidoriihen Sammlung entlehnt. Sp werden 3. B. in den 
amtlichen Verfügungen zweier Synoden zu Chierfey I (857) und 
zu Toucy ?) um (860), welche aus Hinfmar’s Feder flogen, Stellen 
aus (pſeudoiſidoriſchen) Briefen der Päbſte Anakletus, Urbanus, 
Lucius angeführt. Gleicher Weife erklärt er ?) in feiner großen 
Schrift über die Präbeftination, welche er vor 863 vollendete, die 
Borrechte der römischen Kirche aus einem Defretale Anafler’s, und 
in dem Buche über die Ehefcheidung des Königs Lothar’s I., das 
in die Jahre 862 — 63 fällt, entwidelt % er aus einem Schreiben 
bes Pabſts Euariftus die gefeglichen Erforderniffe einer rechtmäßigen 
Ehe. Solche Ausfprühe Hinfmar’s mußten, wie Jedermann fieht, 
einer Parthei, die ihn und die Metropolitangewalt mit Hülfe der 
pfeudoifidorifhen Sammlung flürzen wollte, höchſt erwünfcht feyn. 
Denn er hatte ja dadurch felbft die Gültigkeit von Gefegen anerkannt, 
bie jo furchtbar gegen ihn gebraucht werden fonnten. Nun verfichert 
weiter der Pabſt 5) in dem Schreiben an die Bifchöfe, die Belege 
in Händen zu haben, aus welchen hervorgehe, daß Hinfmar und 
feine Parthei wirklich auf die befchriebene Weife Pfeuboifidor benützte. 





1) Manft XV., 127 unten, — 2 Ibid, ©, 567 Mitte fig. — 9) Opp. L, 
451 Mitte, — *) Ibid. ©, 586 gegen unten. — 5) Manfi XV,, ©. 695 Mitte, 


1024 SIEB ee 

Hier fragt es ſich zunächft, wer diefe Belege dem Pabſte in bie 
Hände gejpielt haben kann? Offenbar nur ein Mann, der aufs Ge- 
naufte von den neuftriihen Zuftänden unterrichtet, und überdieß 
Todfeind Hinfmar’s feyn mußte. Abermal werden wir alfo auf 
Rothad Hingewiefen. Ohne Zweifel war es Rothad, der den Pabft 
nicht blos auf die pfeudoifidorifhe Sammlung aufmerffam gemacht, 
fondern auch jene fo brauchbaren Stellen aus Hinfmar’s Schriften 
ihm verihafft hat. Wir glauben noch zu einer weitern Ber: 
muthung berechtigt zu ſeyn. Kaum ift es denkbar, daß Hinfmar 
aus eigenem Antrieb eines Gefehbuches ſich bediente, beffen 
gegen die Metropolitangewalt gerichtete Abfichten, felbft bei flüch- 
tigem Ueberblid, Jedem fund werden. Die Sache ſieht vielmehr fo 
aus, als hätten verfappte Feinde ihn überliftet, oder zu Benützung 
jenes Buches planmäßig verleitet. Beſonders bei Abfaffung von 
Synodalichreiben, wo Mehrere mitfprechen durften, war dieß nicht 
fchwer. Und wenn Dem fo ift, darf man mit Sicherheit annehmen, 
dag auch Rothad hiezu nach Kräften beitrug. 

Schließen wir. Die amtlichen Urkunden, aus denen wir vor—⸗ 
Yiegende Darftellung des Streits zwifchen Hinfmar und Nifolaus 
gefhöpft, geben ein ſchwarzes Bild von Nothad’s Charakter. 
Gewiß ift, daß er ein ausgelernter Nänfemacher, und überdieß ein 
Berräther ber Firchlichen Unabhängigfeit feines Landes war. Auch 
gehörte er laut allen Anzeigen zu der finftern Parthei, welche den 
pfeudoifidorifchen Betrug ausgebrütet hat. Die Zeitrechnung wider- 
fpricht Iegterer Annahme nicht. Denn Rothad wohnte bereits ) als 
Bifhof der Abſetzung Ebo's bei, welche im Jahre S35 erfolgte. 
Seine Erhebung auf den Stuhl von Soißons fällt Daher gerade in 
den Zeitpunft, wo laut andern Spuren Pſeudoiſidor's Machwerf 
gefchmiedet worden iſt. Pabft Nikolaus, vom Geifte kirchlicher Er- 
oberungen befeelt, benüste den Menfchen als ein tauglihes Werk- 
zeug. Aber die Erlaubniß, die er den Gegnern ertheilte, den wies 
derhergeftellten Bifchof alsbald vor dem Stuhle Petri belangen zu 
dürfen, beweist, daß er ihn verachtete, 

Obgleich er mit jenen drohenden Schreiben vom Pabſte aus— 
gerüftet war, hatte doch Nothad, wie es feheint, nicht den Muth, 
allein nach Neufter zurückzukehren. In Gefellfchaft des päbſtlichen 





) Den Beweis Hincmari opp, J., 325 untere Mitte, 


Die Päbſte Sergius II., Leo IV., Nikolaus J. ꝛc. 1025 


Botſchafters Arſenius kam er im Frühjahr 865 über die Alpen 
herüber. Eben dieſer Arſenius ſetzte ihn auch wieder in ſein Amt 
ein.) Man kann ſich denken, mit welchem Unwillen Hinkmar und 
Karl der Kahle dieſen Gewaltſtreich anſahen. Erſterer ſpricht ſein 
gereiztes Gefühl in den Jahrbüchern aus. ) Bon dem päbftlichen 
Zugeftändnig, Nothad fofort vor dem päbftlihen Stuhle zu verflagen, 
haben weder Hinfmar noch feine Freunde Gebraud) gemacht. Wir 
vermuthen, daß fie dieß darum unterliegen, weil fie nicht Durch frei- 
willige Anerkennung der päbftlihen Alleinherrſchaft ſich noch tiefer 
demüthigen wollten. Rothad erfchien im folgenden Jahr auf einer 
Synode, über welche wir fogleich berichten werben. Weitere Nach- 
richten hat man nicht yon ihm. Er feheint bald darauf geſtorben 
zu feyn. ?) 

In den nächften Monaten nad der Wiederherftelung Rothad's 
herrfchte — wenigftens äußerlich — Friede zwiſchen dem Pabft und 
Hinkmar. Aber fhon im folgenden Jahre (866) griff Nikolaus den 
Nheimfer Metropoliten yon Neuem an. Heftig muß er biegmal 
über Hinfmar erbittert gewejen feyn, weil er feinem roll das 
Dpfer brachte, eine von ihm früher erlaffene Verfügung zurüdzu- 
nehmen, was ein Mann, wie Nikolaus, fiherlich nicht gerne that. 
Wir haben jedoch über die eigentlichen Triebfedern des neuen Streits 
feine gefchichtlichen Zeugniffe. Allein es ift nicht ſchwer, diefelben 
zu errathen. Erinnern wir ung, daß im Jahre 866 das friedliche 
Einverftändniß zwifchen dem fränfifhen Könige Lothar II. yon Loth: 
ringen, Karl dem Kahlen und Ludwig dem ZTeutfchen zu Stande 
fam, und daß in Folge deſſelben Die lothringiſche Eroberung, 
welche der Pabft faft vollendet hatte, wieder feinen Händen ent: 
fhlüpfte. Kein fränkiſches Kirchenhaupt hatte die Vortheile, welche 
dem Stuhle Petri aus den innerlichen Streitigfeiten der fränfifchen 
Herrfcher erwuchfen, fo wie die Wunden, welche die Metropolitan: 
gemalt und die Freiheit der Landeskirchen dadurch erlitt, tiefer em— 
pfunden als Hinkmar, folglich mußte ihm auch Alles daran gelegen 
feyn, die Duelle fo vieler Uebel gründlich zu verftopfen. Wir ver- 
muthen nun, daß hauptfächlih auf feinen Rath Karl der Kahle 
Freundichaft mit Lothar IL fchloß, und wir fehen in jenem neuen 


— — —— 


1) Hinemari annales ad annum 865 Perz J., 468 obere Mitte. — ?) Man 
fehe histoire litteraire de la France, V,, 500, 


Gfrörer, Kircheng. IH. 65 


1026 IM. Buch, Kapitel 12. 


Angriffe die päbſtliche Gegenrehnung für diefen fchlimmen, dem 
Stuhle Petri geleifteten Dienft. As Anlaß des Kampfes benüste 
Nikolaus dießmal die Zwiftigfeit, in welde Hinfmar mit einigen 
Cerikern des Nheimfer Sprengels faft feit dem Augenblicke feiner 
Erhebung zum Erzbisthum gerathen war. 

Dben ift erzählt worden, ) daß es Hinkmar nur nad) langen 
und anfangs vergeblihen Anftrengungen gelang, vom päbftlichen 
Stuhle eine Beflätigung der Spißoner Synode des Jahrs 853 zu 
erhalten, woburd mittelbar die Klage der unzufriedenen Cleriker 
abgewiefen wurde. Benebift II. hieß die Beichlüffe von Soißons 
gut, fügte aber die Clauſel bei: die Beftätigung gelte, fofern 
Alles fih fo verhalte, wie Hinfmar in feinen Eingaben be: 
hauptet habe. Der Metropolit ſchwebte Daher immer noch in einiger 
Gefahr, die dadurh an Umfang gewann, weil die abgefetsten Cie: 
rifer eine außerordentliche Thätigfeit entwidelten. Der rührigfte und 
rachfüchtigfte unter ihnen war ein gewiffer Wulfad, den daher 
Hinfmar am Meiften zu fürchten hatte. Wirklich bewies der Er- 
folg, daß der Rheimſer Metropolit fortwährend Beforgniffe hegte. 
Kaum war nemlih Benedift III. geftorben, als fih Hinfmar an den 
Nachfolger Nikolaus I. mit der Bitte wandte, er möge bie Synode 
von Soißons gleichfalls beftätigen. Kurz vor dem Ausbruch des 
Kampfs gegen Hinkmar wegen Rothad's entſprach Nikolaus dem 
Wunſche des Metropoliten, indem er die Beichlüffe von Soißons 
unter denfelben Bedingungen, wie fein Borgänger Benedikt IIL, gut 
hieß, nur bemerkte er noch, daß die Beftätigung auf fo lange gelte, 
als Hinfmar dem apoftolifhen Stuhle den pünktlichſten Gehorfam 
Yeiften würde. Der päbftliche Brief 2) ift unter dem 28. April 863 
ausgefertigt. Drei Jahre fpäter, unter dem 2. April 866, nahm 
Nikolaus diefe Beftätigung mittelft eines Schreibens ?) zurüd, das 
er an Hinfmar erließ. „Aus den Urkunden, die im Archive der 
ömifchen Kirche aufbewahrt werden, und neuerdings durchgeſehen 
worden feyen,“ heißt es bier, „erhelle nicht genügend, daß bie Ab: 
fegung der Cleriker auf kanoniſchem Wege erfolgt ſey. Hinkmar folle 
daher, feines Grolles vergeßend, diefelben wiederherftellen.“ Würde 
er ſich nicht Hiezu entſchließen Finnen, fo erklärt ihm fofort der Pabſt, 
daß eine Synode zu Soißons die Sade von Neuem unterfuhen 


) ©. 980. — 2 Manſi XV., 574 Mitte fig. — 9 Ibid. ©. 705 fig. 


Die Päbſte Sergius IT, Leo W., Nikolaus I. ꝛc. 1027 


müffe. Als Theilnehmer derſelben bezeichnet er außer den Bifchöfen 
von Neufirien, die Metropoliten Nemigius yon Lyon und Ado von 
Vienne. Remigius war, wie wir willen, im Gotfchalffchen Streite 
als Gegner Hinfmar’s aufgetreten. Er und Ado gehörten überdieß 
nicht zu dem Reiche Karls des Kahlen, fondern zu dem provenca= 
liſchen Staate, in welchen ſich nad dem Tode Karls des Jüngern, 
der im Jahre 863 geftorben, ) feine beiden Brüder der Kaifer 
Ludwig und Lothar II. von Lothringen getheilt hatten.) Weder Hinf: 
mar noch fein Gebieter Karl der Kahle fonnten daher einen ent— 
fheidenden Einfluß auf Beide üben, was ohne Zweifel der Grund 
war, warum fie Nikolaus zu der Synode berief. Als Zeitpunft der 
Berfammlung beftimmt der Pabſt den 16. Auguft. An diefem Tage 
jollten fih Hinfmar mit feinen Suffraganen, fo wie Wulfad mit 
feinen Genofjen zu Soißons einfinden. Würde in Folge der Unter: 
ſuchung fich herausftellen, daß Letztere ungerechter Weife von ihren 
Aemtern vertrieben worden feyen, fo folle man fie alsbald wieder 
einfegen, im Falle hingegen die Clerifer fi) bewogen fühlten, von 
dem Ausfpruche der Synode an den Stuhl Petri zu berufen, fo beftehlt 
der Pabſt, daß beide Partheien, fey ed in eigener Perſon oder mit: 
tel Bevollmächtigter, glei nach Beendigung des Spißoner Concils 
zu Rom erfcheinen follen. Zugleich erklärt er in fehneidendem Tone 
jede mögliche Einrede Hinfmar’s gegen die Berechtigung der Glerifer, 
yon Neuem gerichtet zu werden, für ungültig. Nothwendig muß 
man annehmen, daß Nikolaus durch diefe Verfügung den Sturz des 
Metropoliten von Rheims beabfichtigte. Wirklich fehlen die Lage 
befielben gleich gefährdet, die Synode mochte entfcheiden wie fie wollte, 
Denn erklärte fie die Cleriker für unfchuldig abgefest, fo war eben 
damit der Stab über Hinfmar’s Erhebung gebrochen. Stimmte fie da— 
gegen wider biefelben, ſo ftand ihnen bie Berufung auf den römifchen 
Stuhl offen; und Hinkmar Fonnte in letzterem Fall nichts Anderes 
erwarten, als daß ein römifches Gericht ihn verurtheilen werde. 
Zugleich mit dem Schreiben an Hinfmar erließ Nikolaus zwei 
ahnlich Tautende Briefe an König Karl den Kahlen, ®) und an den 
Erzbifhof Herard von Tours, +) Der König antwortete 5) ale- 





) Perz I., 459 Mitte, — 2) Den Beweis bei Bouquet VII, 44 Mitte. 
— 3) Diefer Brief iſt bis auf wenige Bruchſtücke verloren. Man ſehe die 
Note Manft XV., 707 Mitte, — +) Abgedruckt ibid, ©. 710 unten flg. — 
°) Die Antwort eben daſelbſt 707 Mitte fig. 


65° 


1028 II. Buch. Kapitel 12. 


bald dem Pabft in dem verbindlichften Tone, „daß er nicht er: 
mangeln werde, den Willen des heil. Vaters, betreffend die Ange: 
legenheit Wulfad's, pünktlich zu erfüllen. Er habe bereits auf alle 
Weife Hinfmar zur Unterwürfigfeit ermahnt, und berfelbe made 
auch Miene zu gehorchen, doch könne man der Zeit noch nicht wiffen, 
was unter dem Honig feiner Worte verborgen liege, Uebrigens 
werde er, der König, jedenfalls dem päbftlichen Befehle gemäß das 
Concil auf den 16. Auguft berufen, und alle Biſchöfe und Getreun 
feines Reichs feyen bereit zu erfcheinen.“ Bis hieher Yautet der Brief 
fo, als ob der König den Erzbifchof von Rheims preisgeben wollte, 
aber das Folgende deutet an, daß die Sache anders gemeint war, 
Karl der Kahle fährt nemlih fort: „auf feine (des Königs) Em: 
pfehlung, fey son allen Kirchenhäuptern des Reichs, an die Stelle 
des vor Kurzem verfiorbenen Metropoliten Rudolf von Bourges, — 
Wulfad, als der in jeder Hinficht tüchtigfte Nachfolger, einftimmig 
erwählt worden. Weil jedoch Wulfad’s Sache erft auf der bevor: 
ftehenden Synode entfchieden werden könne, habe er ihm die Kirche, 
von Bourges nicht übergeben wollen, ohne zuvor den Rath feiner 
Heiligfeit, zu der er unbedingtes Vertrauen hege, einzuholen. Der 
Pabft möge nun erlauben daß Wulfad im September - Monat ge: 
weiht werde, damit jener Sprengel nicht allzulange verwaist bleibe. 
Sollte er aber dieß nicht gut heißen, fo möge er wenigfteng geftatten, 
daß Wulfad einftweilen die Kirche von Bourges verwalten dürfe.“ 
Tiefer unten wird fi ergeben, daß in dem Plane der Erhebung 
Wulfad's mehrere, und zwar theilmeife gegen Hinfmar gerichtete 
Intriken zufammenliefen. Gleichwohl hat, wie und fcheint, ber 
König damals den Vorſchlag in der Abfiht gemacht, um dadurch, 
daß- er Wulfad als das Haupt der abgeſetzten Cleriker zufrieden 
ftellte, eine neue Einmifchung des Pabſts in die innern Angelegen- 
heiten der neuftrifchen Kirche zu vereiteln, wodurch mittelbar auch 
dem Metropoliten Luft gefchafft worden wäre. 

Sp beurtheilte auch Nikolaus den Antrag. Denn in feinem 
Antwortfchreiben ) an den König weist er ben Vorfchlag zurüd, und 
befteht darauf, daß Wulfad's Angelegenheit erft auf der Synode 
entfchieden werde, ehe man ihn anderswo anftelle. 

Das Concil trat zur feftgefegten Zeit in Spion zufammen, 





1) Ibid, ©. 709, 





Die Päbſte Sergius II., Leo IV., Nikolaus I. ıc. 1029 


Hinfmar überreichte den verfammelten Vätern nach und nach vier 
Denkfchriften folgenden Inhalts: in der erften ') führt er aus, da 
die durch Ebo nach deſſen Verurtheilung geweihten Cleriker nicht 
blos von ihm, Hinfmar, oder den Biſchöfen des Aheimfer Sprengels, 
fondern durch eine Synode von fünf Kirchenprovinzgen, auf welche 
Jene berufen hätten, abgefegt worden feyen, fo ſtehe ihm oder feinen 
Suffraganen Feineswegs das Necht zu, diefen Sprud einfeitig 
wieder aufzuheben. Sofort beweist er aus den Canones die Gefeb- 
mäßigfeit des eingehaltenen Verfahrens. „Laut den afrifanischen 
Schlüſſen“, fagt er, „follen Priefter, Diafone und andere Mitglieder 
des niedern Clerus, die fich durch Urtheilſprüche ihrer Biſchöfe be— 
ſchwert glaubten, mit Einwilligung ihrer Vorgeſetzten an benachbarte 
Bifchöfe berufen. Dieß hätten die abgefesten Cleriker wirflich ge- 
than; durch eine Synode der Biſchöfe yon fünf benachbarten Pro- 
vinzen, an welche fie fich gewendet, fey ihre Abfegung verfügt 
worden. Er für feine Perſon Habe nicht einmal das Urtheil der 
Abſetzung unterfehrieben, und Alles was er in der Sache gethan, 
befchränfe fi) darauf, daß er auf den Wunſch der Berfammlung 
die Aften an den apoftolifhen Stuhl übermachte. Eben diefe Akten 
feyen auch zuerft vom Pabſte Benedift, dann von Nifolaus L, 
mit Androhung des Bannes gegen Seden, der fich widerſetzen 
wiirde, feierlich beftätigt worden, wovon ſich Jedermann durd) An— 
fiht der Sigel und durch fonftige Merkmale der Aechtheit ſämmt— 
licher Unterfehriften überzeugen fünne.“ Letztere Bemerkung beweist, 
dag Hinfmar bereits von den Verdächtigungen unterrichtet war, 
die man in Rom wider ihn ausftreute. Der Pabſt gab nem: 
lich, wie wir fpäter fehen, vor, daß Hinfmar die Aften der Synode 
vom Jahre 853 verfälfcht habe. Der Metropolit fährt fort: „Nach- 
dem auf ſolche Weife das Urtheil des Concils von zwei Oberhirten 
befräftigt worden, hätte fein Menfch gedacht, daß eine neue Unter- 
fuchung eingeleitet werden würde. Denn alle Welt wiffe, daß der 
Stuhl Petri nicht nur feine eigenen Rechte vertheidige, fondern auch) 
die der Andern wahre, und eine abgeurtheilte Sache nicht mehr 
yon Neuem vorzunehmen pflege. Gleichwohl habe Nikolaus durch 
feinen neulichen Befehl alle Erwartungen getäufcht. Gewohnt dem 
heiligen Vater flets Gehorfam zu Yeiften, unterwerfe er fich auch 





i) Ibid. S, 712 unten fig. 


1030 II. Bud. Kapitel 12. 


Yesterem Gebote, und er werde willig die Entfcheidung der Synode 
in Betreff der abgefegten Lierifer entgegennehmen. Sein Herz fühle 
gegen dieſe feine Brüder fo wenig roll, daß er flets ihre Wieder: 
herftellung gewünſcht babe, und aud jest noch wünfcdhe Daber 
würde er auch auf bie erſte Aufforderung des Pabfts bereit gewefen 
feyn, diefelben wieder einzufegen, wenn dieß in feiner Gewalt ſtünde. 
Denn durch ein Concil son Biſchöfen aus drei Provinzen, auf welches 
fie felbft berufen, -verurtbeilt, Fönnten fie, laut den kanoniſchen Bor: 
fhriften, nicht mehr durch einen Einzelnen, fondern nur durch dies 
felbe Synode, oder durch eine größere wieberhergeftellt werben, 
Vebrigens fey es allbefannt und auch durch Ausfprüce der Päbſte 
zugeftanden, daß Bernichtung der Beichlüffe von Synoden und 
römischer Defretalen zum größten Nachteil der Kirche und der 
Sittenzucht gereiche* u. |. w. 

In der zweiten Denkſchrift ) ſucht Hinkmar die Rechtmäßig— 
feit der Abſetzung Ebo's darzuthun: Pabſt Sergius I. habe dieſelbe 
beſtätigt, und der Verurtheilte ſey nachher nie wieder auf kanoniſchem 
Wege wiederhergeſtellt worden. Er hebt hervor, daß, da ſeit Ebo's 
Sturz 30 Jahre voll geworden, die im bürgerlichen wie im geift- 
lichen Rechte geltende Berjährung jede Erneuerung des Streits 
ausfchliege. Zwar wenden, fährt er fort, die Gegner ein, Ebo habe 

bis an fein Ende bifchöfliche Amtsverrichtungen beforgt, aber dieß 
beweiſe nichts anderes, als daß derfelbe ſich Handlungen anmaßte, 
die ihm nicht gebührten, und deren ungefesliche Ausübung von 
früheren Päbſten in ähnlichen Fallen hart beftraft worben fey. Dann 
auf feine eigene Erhebung übergebend , zeigt er, daß biefelbe an fi) 
fanpnifch geweſen und als folde allgemein anerkannt worden fey. 
Die Päbſte Leo. IV., Benedift UL, Nikolaus 1 hätten feine Weihe 
durch Bullen befraftigt, von erfierem Pabfte fey er fogar mit dem 
Pallium beehrt worden, u. f. w. In ber dritten Denkjehrift 9) 
ſchlug Hinfmar einen andern Ton an. Schon sfter, fagt er bier, 
ſey es geihehen, daß Päbſte und Kirchenverfammlungen, wenn 
Berufungen yon Clerifern an fie gelangten, die von einem erfien 
Gericht verurtheilt worden. waren, ftatt firengen Rechtes Milde übten, 
und zwar, unbefchabet des Anfehens der anfänglichen Richter, die 
bei erfter Unterfuhung der Sache den. Buchftaben der Geſetze befolgt 





1) Ibid, ©, 716 flg. — >) Ibid, ©, 720 unten fig. 


Die Päbſte Sergius IL, Leo IV., Nikolaus I. ꝛc. 1031 


wiffen wollten. Würde es daher dem Pabſte, der nur was recht 
ift wolle, gefallen, daß das wider jene Clerifer nach firengem Nechte 
gefällte, und auch von ihm felbft wie von feinem Vorgänger Bene- 
dift beftätigte Urtheil, aus Mitleiden und Nachficht abgeändert 
werde, und würden bie eben in Soißons verfammelten Bifchofe, 
bie zum Theil in eigener Perſon jene erfte Entfcheidung gegeben 
hätten, ſich zu folder Milderung freiwillig verftehen, fo wolle auch 
er einer Wiederherftellung der abgefesten Brüder nichts in Weg 
Yegen. Nur müßten in biefem Falle der apoftolifche Stuhl wie die 
anmefenden Bifchöfe Vorſorge treffen, daß dem Anfehen der Kirchen: 
gefetse nichts vergeben werde. Die vierte Denkſchrift ) endlich, welche 
Hinfmar der Synode überreichte, durfte auf ausdrüdliches Ber: 
langen mehrerer Mitglieder nicht öffentlich verlefen werben. 
Warum dieß geſchah, wird durd den Inhalt Far.  „Ungern“ be: 
ginnt der Metropolit „berühre er einen Punkt, den er jedoch) Ge: 
wiffenshalber nicht verſchweigen könne. Er müſſe Einiges wider 
feinen „theuren Bruder“ Wulfad fagen. Derfelbe habe, nachdem 
er durch die erfte Synode yon Soißons im Jahr 853 abgeſetzt 
worden, ohne Genehmigung der Biſchöfe, die ihm gerichtet, ohne 
Erlaubniß des römifchen Stuhls, der jenes Urtheil beftätigt, ohne 
Anfrage bei dem vorgefegten Metropoliten, den Sprengel von Rheims, 
in welchem er mehrere Jahre hindurch den Dienft eines Vorleſers 
verſah, den Kirchengefegen zuwider verlaffen, er habe überdieß eben 
fo widerrechtlich nach dem erledigten Bisthum von Langres geftrebt, 
auch die Einkünfte der genannten Kirche, die doch Yaut den Schlüffen 
von Chaleedon durch einen Güterverwalter für den fünftigen Nach— 
folger eingezogen werben follten, in feinen und ber Seinigen Nusen 
verwendet. Er habe endlich, nachdem ihn eine Synode wegen biefer 
Bergeben zur Rechenſchaft gezogen, in Gegenwart des Königs und 
mehrer Biſchöfe fchriftlich einen fchweren Eid hinterlegt, daß er nun 
und nimmermehr um ein geiftliches Amt fich bewerben wolle,“ Hinf- 
mar ſchließt mit der Berfiherung, er melde dieß nicht um feinem 
lieben Bruder Wulfad zu ſchaden, fondern Gewiffens halber, und 
damit die Synode in Stand gefest fey, über die obſchwebende 
Frage ein richtiges Urtheil zu fällen. 

Vergleicht man die vier Denkfchriften unter fih, und nament- 





i) Ibid, 723 unten fig. 


1032 I. Buch, Kapitel 12. 


lich die dritte mit der vierten, fo erhellt, daß Hinfmar zwar geneigt 
war, zur Wiederherftellung der abgefesten Cleriker in ihre früheren 
Aemter die Hände zu bieten, aber daß er die Durch Karl den Kahlen 
betriebene Erhebung Wulfad’s auf den erzbifchöflihen Stuhl von 
Bourges mißbilligte. Wir haben alfo hier die erften Spuren einer 
Meinungsverfchiedenheit und eines beginnenden Zermwürfniffes zwi: 
fchen ihm und dem Könige. 

Die Borftellungen Hinfmar’s machten, wie es fcheint, Ein: 
druf auf die Mehrzahl der zu Soißons verfammelten Metro: 
politen und Bifchöfe. Sie fühlten, daß feine Sache ihre eigene fey. 
Sein Antrag gieng daher durch. Der Beſchluß ward gefaßt, daß 
die nad) firengem Necht verurtheilten Klerifer aus Rückſichten des 
Mitleids und der Liebe in ihre Pfründen wieder eingefegt werben 
mögen. Um jedoch nach Kräften die Gültigfeit der Befchlüffe vom 
Jahr 853 zu wahren, faßte der Erzbifhof Herard von Tours 
im Namen und Auftrag des Concils eine Erklärung ') des Inhalts 
ab, daß es feines Wegs ihre Meinung fey, das Urtheil vom Jahre 
853 umzuftoßen, fondern fie wollen nur nicht hindern, daß diefer 
zwar firenge aber ganz gerechte Spruch aus Gründen des Mit: 
leids gemildert werde, im Uebrigen überlaffen fie die Entfcheidung 
der Frage dem Ermeflen des apoftolifchen Stuhls, als des Haupts 
aller Kirchen. Bon der Erhebung Wulfad’s auf den Stuhl von 
Bourges ſchweigt die Erklärung Herard’s, und auch auf der Ber: 
fammlung felbft jcheint fie nicht zur Sprache gefommen zu feyn. 

Der gefaßte Beihluß wurde fofort fammt mehreren Schreiben 
an den Pabſt ausgefertigt. Unter Iegteren war eines im Namen 
der Synode entworfen, eines von Hinfmar, eines vom Könige Karl 
dem Kahlen. In dem erften ?) führen die Väter der Synode dem 
Pabfte zu Gemüth, dag Hinfmar nicht im Stande gemwefen fey, den 
yon Rom empfangenen Befehl ohne Weiteres zu vollſtrecken, mit 
gutem Gewiffen habe er die eigenmächtige Wiederherftellung von 
Clerikern, die durch ein Concil von fünf Provinzen abgefegt worden, 
nicht auf fi) nehmen Fünnen. Da fie indeg wüßten, daß der heil. 
Bater aus gewohnter Milde die Verurtheilten wiedereingefeßt zu 
fehen wünſche, fo feyen fie bereit feinen Abfichten entgegen zu 
fommen, nur könnten fie Solches nicht für fich thun, weil fie fonft 





1) Abgedruckt ibid. S. 725 Mitte flg. — 2) Ibid. &728 fig. 


Die Päbfte Sergius I, Leo IV., Nikolaus T. ıc. 1033 


die Nechte des apoftolifchen Stuhls zu verlegen fürchteten, indem 
ja der heil, Vater, laut den von Hinfmar vorgelegten Urkunden, 
ben Urtheilfpruch des Jahres 853 beftätigt hätte. Der Pabft möge 
nach eigenem Ermeffen verfügen, wie die yon ihm in Anregung 
gebrachte Sache beendigt werben folle, befonders bäten fie ihn zu 
entfcheiden, ob die in ihre Grade wiebereingefeßten Cleriker feiner 
Zeit wenn etwa das Volk Einen aus ihrer Mitte erwählen würde, 
zu bifchöflichen Würden erhoben werden dürften.“ Letzteres fcheint 
ung gegen die vom Könige Karl angeordnete Erhebung Wulfad’s 
auf den Erzftuhl von Bourges gerichtet zu feyn. Die Väter der 
Synode betramhten den Schritt des Königs als ungefchehen. Zwar 
wollen fie den Clerikern Ausficht auf Fünftige Beförderung laſſen, 
aber fie behalten dabei dem Volke feine Wahlrechte vor. Im 
gleichem Sinne wie die Bifchdfe ſchrieb I Hinfmar an den Pabſt, 
nur fügte er die Bemerfung bei, er habe darum nicht für nöthig 
erachtet, einen eigenen Abgefandten mit dieſem Schreiben nad Rom 
zu ſchicken, weil der Erzbiſchof Egilo fi im Namen der Synode 
dahin begebe, und weil der ypäbftliche Befehl, in eigener Perfon 
oder mittelft Bevollmächtigter in Rom zu erfcheinen, fih nur auf 
den Fall beziehe, daß die eine oder andere Parthei vom Urtheil der 
Synode appelliren würde, was ja nicht gefchehen ſey. Hinfmar 
gibt Hier nicht den wahren Grund an, fondern er wollte dem Pabſte 
durch das Unterlaffen einer Huldigung, die diefer verlangte, bemerk— 
lich machen, daß er Feines Wegs an blinde Unterwerfung benfe, 
In dem Briefe, ®) weldhen König Karl an Nifolaus erließ, rühmte 
er. Hinfmar’s Gehorfam gegen den römiſchen Stuhl, billigte das 
Berfahren der Synode, und wiederholte am Schluffe feine Bitte, 
der Pabft möge Soſab⸗ Ernennung zum Erzbiſchof von Bourges 
genehmigen. 

Alle dieſe Altenſtücke ſollte Egilo, Metropolit von Sens, als 
Geſandter der Synode nach Rom nehmen. Hinkmar gab demſelben 
noch beſondere Verhaltungsregeln ?) mit, aus welchen erhellt, wie 
groß das Mißtrauen war, das er gegen die Curie hegte, Er bittet 
darin Egilo dem Pabſt vorzuftellen, wel’ ein Verfall der Kirchen: 
zucht, und welche Unbotmäßigfeit des niedern Clerus einreißen müffe, 





ı) Ibid, ©. 765 Mitte fig. — 2) Ibid, ©, 734 Mitte fig. — ?) Ibid, 
©. 768 flg. 


1034 I, Buch. Kapitel 12. 


wenn man bie Schlüffe von Synoden und Defrete des apoftolifchen 
Stuhls Teichtfinnig umſtoße. Er ſchärft ihm weiter ein, von den 
Schreiben, die er dem Pabſte zu überbringen babe, Abfchriften 
zurüczubehalten, damit er auf den Fall, wenn nad erfolgter 
Vebergabe Streitigfeiten über den Inhalt entftünden, Beweiſe in 
Händen habe. Auch ermahnt er ihn fi zu bemühen, daß er von 
der Urfchrift der Briefe, die der Pabſt fofort in Wulfad's Sache er: 
Yaffen würde, Einficht befomme, damit nicht die Schreiber der päbft- 
lichen Kanzlei diefelben, wie man ihnen ſchuld gebe, verfälfchen 
fönnten. Endlich fpricht er no den Wunſch aus, Egilo möge ſich 
eine Abfchrift der Aften des Pabſts Sergius II. zu verfchaffen fuchen, 
denn unter denfelben müfjen fich auch Urkunden über die Verurthei— 
Yung Ebo's befinden, die man biefjeits fehr nöthig brauche, Im 
Uebrigen ſcheint Hinkmar vom Erfolge der Gefandtfchaft nicht viel 
Gutes erwartet zu haben, denn im Eingange der Anweifung für 
Egilo äußert er I die Beforgniß, daß gewiffe Leute in Rom es 
Yieber fehen würden, wenn bie Ießte Synode von Soißons mit 
Zwietracht geendet hätte, und dadurch die Entjcheidung des ganzen 
Streits vor den Stuhl Petri gezogen worden wäre. 

Was er vorausgefehen, traf ein. Statt die Alten yon Soißons 
zu beftätigem, erließ Nikolaus I. an die Väter der Synode ein weit: 
Yäuftiges Antwortfchreiben, 2) das mit der Berficherung beginnt: „feine 
väterliche Liebe erlaube ihm nicht die Ohren gegen das fo oft wieder: 
holte Klaggefehrei der abgefesten Cleriker zu verſchließen. Da er, 
um die Sache ins Reine zu bringen, neulich die zu verfchiedenen 
Zeiten theils an dem apoftolifchen Stuhl eingeſchickten, theils von 
demſelben erlaffene Schreiben aufs Sorgfältigfte durchgeforicht habe, 
fey es kraft göttliher Eingebung gefcheben, daß ihm auch 
die Aften der Synode vom Jahr 853, auf welcher fein Bruder 
und Mitbifchof Hinfmar jene Männer ihrer Aemter entfeste, unter 
die Hände kamen. Welch traurige Entdeckungen habe er bier ges 
macht! Wahrlih, wenn er alle Fehler und Berfälfchungen, von 
welchen diefe durch Hinkmar felbft an den Stuhl Petri übermachten 
Verhandlungen wimmeln, einzeln bezeichnen wollte, würbe es ihm 
an Papier fehlen.“ Trotz diefer hochtönenden Redensart, welche da— 
rauf berechnet feheint, die Beweisführung zu umgehen, läßt fich ber 





1) Ibid. S. 768 untere Mitte. — ?) Ibid, ©. 758 flg. 


Die Päbfte Sergius IL, Leo IV., Nikolaus I. ıc. 1035 


Pabft herab, einige Berfälfhungen anzuführen, 3. B. daß die ab» 
gefesten Cferifer nicht aus freien Stüden, wie vorgegeben werde, 
fondern gezwungen vor der Synode erfchienen feyen, daß der Metro- 
polit während der Berhandlungen bald die Rolle des Angeklagten, 
bald die des Klägers, dann wieder die bes Nichters gefpielt habe, 
daß die Glerifer, obgleich fie nicht Klagen wollten, zu Ueberreichung 
einer Klagfchrift genöthigt wurden, daß ihnen, die doch nur dem 
Willen ihres Vorgeſetzten, der fie zu höhern Graden befürderte, ge— 
horfam gewefen, diefer Gehorfam zum Berbrechen angerechnet wor: 
den ſey. Der Pabſt zieht weiter die Behauptung Hinfmar’s, daß 
der apoftolifche Stuhl die Beichlüffe von 853 beftätigt habe, in 
Abrede. Wiewohl Hinkmar mehrmals bei Leo IV. darum eingefommen 
fey, babe diefer nie eingewilligt,, fondern vielmehr eine neue Unter: 
fuhung der Sache angeordnet, und zu ſolchem Zwed den Bifchof 
Petrus von Spoleto als feinen Botfchafter nah Gallien gefchidt, 
damit bie freitenden Partheien fih vor ihm ftellen follten, aber 
Hinfmar fey nicht erfchienen. Die Beſtätigung Benedikt's habe Hink- 
mar liſtiger Weife erfchlihen, aber im Grunde enifcheide dieſelbe 
nichts, weil fie nur unter der Bedingung gegeben worden fey, daß 
Altes fih fo verhalte, wie Hinfmar in feinen Berichten ange- 
geben; diefe Einfchränfung habe Hinfmar aus feiner Abfchrift weg- 
gelaffen, und die Urkunde auch fonft durch Zufäse und Aenderungen 
verfälſcht. Nikolaus gebt nun auf Das über, was er felbft in ber 
Sache bisher gethan. Er habe Hinfmar den Befehl ertheilt, ent: 
weber die Cleriker unvermweilt wiedereinzufegen, oder im Fall er 
Anftand nehme, dieß auf eigene Fauft zu thun, die Angelegenheit 
vor eine neue Synode zu bringen, von welder, wenn feine fried- 
liche Mebereinkunft erzielt würde, an den römifchen Stuhl berufen 
werben follte. Es freue ihn zu hören, daß dieſe Berfammlung ſich 
in dem Befchluffe vereinigt babe, die Cleriker wieder einzufegen. 
Allein in einem andern Punft müffe er das Verfahren der Synode 
tabeln. Sie hätten nämlich alle Urkunden, die fi auf die erfte 
Berurtheilung,, die nachmalige Wiedereinfegung,, fowie auf die zweite 
Bertreibung Ebo's und feinen Uebertritt in eine andere Kirche, end: 
lich auch auf die von ihm vorgenommene Beförderung jener Cleriker 
bezögen, forgfältig fammeln, und nach Nom überfenden follen. Da 
dieß nicht geſchehen ſey, müffe er fie ermahnen, das Verſäumte nadj- 
zuholen. Nun folgen wieder Ausfälle gegen Hinfmar, „Die Nachricht 


1036 II, Buch. Kapitel 12, 


von feinem Gehorfam gegen die Befehle des römischen Stuhls,“ fagt 
der Pabft, „habe ihn gefreut, aber darüber müffe er Yachen, daß 
Hinfmar fih fo gebärde, als ob nicht er es wäre, ber die Glerifer 
abgefest hätte.“ Nikolaus räumt dem Metropoliten die Frift eines 
Sahres ein, um den Beweis zu führen, daß diefelben mit Necht 
von ihren Aemtern entfernt worden feyen, befteht aber darauf, daß 
fie einftweilen wieder eingefegt werden. „Würde aber Hinfmar den 
verlangten Beweis nicht Tiefern, fo werde der ypäbftlihe Stuhl 
darin ein Befenntniß fehen, daß nicht blos die Clerifer felbft, 
fondern aud Ebo, der fie geweiht habe, mit Unredt 
verurtheilt worden, woran wenigftens er, Nikolaus, felbft 
feinen Augenblick zweifle.“ Der Pabft führt fofort gegen die Väter 
der Synode Beichwerde darüber, daß durch ihre VBergünftigung, 
wie er aus ihren Briefen erfehe, einer der abgefegten Ele: 
vifer auf einen bifchöflichen Stuhl befördert worden fey. Dieß be: 
zieht fih auf Wulfad. Da aber das oben angeführte Schreiben der 
Synode nichts davon enthält, fo feheint der Pabft auf andere Zu: 
fopriften, die nicht auf ung gefommen find, hinzudeuten. Am Schluffe 
macht er noch die Bemerkung: aus dem Umftande, daß Pabſt Ser: 
gius den ehemaligen Erzbifchof Ebo von der geiftlichen Gemein- 
haft ausgefchloffen habe, dürfe Fein Schluß zum Nachtheile des 
legtern gezogen werden, denn ba feine Sache zu Rom nicht unter: 
ſucht ward, und da auch Ebo felbft nicht von dem wider ihn 
gefällten Spruche an Petri Stuhl berief, habe Sergius über bie 
Berhältniffe Ebo's nicht anders urtheilen fünnen, als damals alle 
Welt gethan. 

Ungefähr diefelben Punkte wiederholte Nikolaus in einem an 
Hinfmar gerichteten Schreiben, ) nur fügte er noch neue Bormürfe 
hinzu. Er nimmt e8 namentlich übel, daß der Metropolit feine 
legte Zufchrift nicht durch einen eigenen Gefandten überfchickt, auch 
biefelbe nicht, wie doch der Gebrauch verlange, verfigelt habe. Er 
warnt ihn ferner, nicht fo viel auf die vom römifchen Stuhle er: 
haltenen Borrechte zu pochen, und tadelt ihn, daß er das Pallium 
aus lauterem Stolze nicht blos zu den feftgefegten Zeiten trage, Im 
einem dritten Erlaffe 2) an Karl den Kahlen, dankt er dieſem Fürften 
dafür, daß er ben Fehler, welchen er durch feine Genehmigung bes 





1) Ibid, ©, 745 flg. — 2) Ibid. ©. 755 Mitte flg. 


Die Pabfte Sergius II., Leo IV., Nikolaus I. ꝛc. 1037 


gegen bie Cleriker eingeleiteten Verfahrens begangen, fo bereitwillig 
durch fein Mitwirken bei Wiedereinfegung berfelben verbeffert habe, 
zugleich ermahnt er ihn, fi in Zukunft vor ähnlichen Fehltritten 
zu hüten, da man nicht wiſſen könne, ob Verſtöße wieder gut zu 
machen feyen. Schließlich verweist er den König in Betreff feiner 
Anfichten über das Schickſal der Elerifer auf den Brief an Hinfmar. 
Noch wünſchte der Pabſt in einem vierten Schreiben 1) Wulfad und 
feinen Genoffen Glüd zu ihrer Wiederherfiellung. Bon dem Erz 
bisthum Bourges fagt er nichts, Dagegen empfahl er Allen, das 
ihnen zugefügte Unrecht zu vergefien, und forderte insbefondere 
Wulfad auf, dem Metropoliten von Rheims die größte Ehrerbietung 
zu erweifen. Wahrfcheinlich wollte Nikolaus durch diefe Ermahnung 
Hinkmar befhämen, durch deffen Hände der Brief an Wulfad ge: 
langen mußte. 

Alle vier Schreiben waren unter dem 6. December 866 ausge: 
fertigt. Egilo überbrachte fie nach Frankreich. Indeſſen hatte der neuft- 
rifche König ſchon drei Monate zuvor, ehe die päbſtliche Antwort 
abgefaßt ward, feinem Sohne Karlmann Befehl ertheilt, Wulfad im 
Nothfalle mit Gewalt auf den erzbifchöflihen Stuhl von Bourges 
einzufegen. Der Prinz vollftredte im September den Auftrag feines 
Baters. Mehrere Kirhenhäupter von Wulfad's Parthei wohn: 
ten, durch Geld beftschen oder durch Drohungen gefchredt, dem 
Akte der Einweihung bei, welde der Bifchof Aldo von Limoges 
vollzog. 2) ' | 

Die Nachrichten und Briefe, deren Ueberbringer Egilo war, 
hatten eine große Bewegung in der neuftrifchen Kirche zur Folge. 
Da der Pabft in den angelangten Schreiben die Erhebung Wulfad’g 
mehrfach mißbilligte, fuchte Diefer feine Parthei zu verftärfen, um 
einem fünftigen Sturme die Spige bieten zu fünnen. Anderer Seits 
fühlte Hinfmar, daß er verloren fey, wenn er den Pabft nicht be: 
fänftige. Er machte daher die größten Anftrengungen zu diefem 
Zwede, und zwar nicht ganz ohne Erfolg. Laut den Zahrbüchern 
von Rheims, ſchickte er im Juli 867 einige Vertraute nah Nom, die 
aus Furcht vor Nachftellungen der Gegner, in Pilgrime verkleidet 
abreisten. ?) Vom Auguft bis Dftober blieben diefelben in Nom, 





ı) Ibid, ©. 754 unten fig. — °) Hincmari annales ad annum 866. 
Perz I., 472 untere Mitte, — 3) Hincmari annales ad annum 867, Perz L., 
475 Mitte, 


1038 III. Buch. Kapitel a2. 


und am Ende ihres Aufenthalts gelang es ihnen wirklich den Pabſt 
zu gewinnen, jedoch nur weil ein auswärtiges Ereigniß ihnen in 
die Hände arbeitete. Sm Sommer des nämlichen Jahres war näm- 
lich der verzweifelte Kampf zwifchen Photius und dem Pabſt wegen 
der Bulgar’ichen Eroberung ausgebrochen. Um jene Zeit ftand aber 
Nikolaus in geipannten Berhältniffen mit fämmtlichen fränfifchen 
Herrfchern: mit König Lothar II. wegen Thietberga’s, mit Karl 
dem Kahlen und Ludwig dem Zeutfchen, weil beide ſich auf bie 
Seite des Tothringers gefchlagen hatten, mit Kaifer Ludwig IL. um 
der früher befchriebenen Mißhelligfeiten willen. Wie? wenn einer dieſer 
beleidigten Könige, oder gar alfe zufammen, fich von den Byzan- 
tinern gewinnen ließen! dann mußte Nifolaus unterliegen. Darum 
legte der Selbfterhaltungstrieb dem Pabſte die Nothwendigfeit auf, 
die fränkifche Kirche in dem bevorftehenden Kampfe auf feine Seite 
zu ziehen. Zum Abfchluffe eines ſolchen Bündniſſes taugte aber 
nur Hinfmar, als der fähigfte unter allen Bifchöfen jenfeits der 
Alpen. Alfo näherte fich der Pabft dem Metropoliten von Rheims. 
Unter dem 23. Det. 867 erließ er den berühmten Brief !) an Hink— 
mar, worin er ihn aufforderte, durch fein Anfehen zu bewirken, daß 
die fränfifche Kirche, mittelft Abfaffung von Streitfehriften, gegen bie 
fegerifchen Griechen in die Schranfen trete. Triumphirend zeigte 
Hinkmar dieſes Schreiben, als ein Unterpfand feiner Ausföhnung 
mit Nifolaus, dem neuftrifchen Könige und den Biſchöfen.?) 

. Aber während auf diefe Weife Hinfmar’s Stellung zum Stuhle 
Petri fich befferte, wankte zu Haufe der Boden unter feinen Füßen, 
und er gerieth durch die Anfälle einheimifcher Gegner in eine Lage, 
die nothwendig feinen Sturz herbeizuführen fchien. Ende Oftober 
berief König Karl der Kahle die Bischöfe von ſechs Kirchenprovinzen 
(Rheims, Rouen, Tours, Sens, Bordeaur, Bourges) nad) Troyes 
zu einer Synode, um dem Berlangen des Pabſtes gemäß eine 
neue Unterfuchung über Ebo's VBerhältniffe anzuftellen. „Auf biefer 
Berfammlung“ heißt ®) es in den Jahrbüchern von Rheims „wollten 
gewiſſe Bifchöfe, die aus Schmeichelei gegen den König Wulfad 
begünftigten, durch eine wider Wahrheit und Kicchengejege entworfene 
Schrift Hinfmar verderben, aber es gelang dem Metropoliten mit 





1) Siehe oben ©, 267 unten fig. — 2 Perz a. m O. J., ©, 476 obere 
Mitte, — 3) Ibid, ©. 475 Mitte. 


Die Päbſte Sergius II., Leo IV., Nikolaus I. ꝛc. 1039 
Hülfe der Mehrzahl, die Schlingen der Gegner zu durchbrechen, 


und im Namen der Synode ward ein Schreiben an Nikolaus auf 


gefegt, das der Biſchof von Nantes Aftardus nah Nom überbringen 
follte. As nun derfelbe vor feiner Abreife,. wie ihm befohlen war, 
fih an den Hof begab, entrieß ihm Karl der Kahle, uneingebenf 
der harten Kämpfe, welche Hinkmar zum Wohle des Reichs und zur 
Ehre der Krone beftanden hatte, das Schreiben der Synode, brach 
die Sigel ab, las es, und feste flatt deſſelben ein anderes auf, 
das wider Hinfmar gerichtet war.“ Wir müffen zunächft diefe kurze 
Nachricht aus andern Quellen, oder durch Schlüffe vervollftändigen. 
Die feindfeligen Beftrebungen, welche Hinfmar auf der Synode von 
Troyes zu bekämpfen hatte, follen von Anhängern Wulfad’s ausge- 
gangen feyn. Woher nun diefe Parthei Wulfad’s? Einige ältere 
Thatfachen geben hierüber Licht. Nachdem Wulfad mit den andern 
Elerifern im Jahr 845 von Hinfmar entjegt worden war, hatte 
er, laut der von dem Nheimfer Metropoliten auf der Synode zu 
Soißons im Jahr 866 vorgelegten Urkunde, N) die Verwaltung der 


Güter des Bisthums Langres an fi geriffen. Dieß konnte ihm 


nur mit Genehmigung des Hofes gelingen. Wir müfjen daher an: 
nehmen, daß Wulfad Mittel fand, bes Königs Gunft zu erlangen, - 
Die neuftrifchen Bifchöfe zwangen ihn jedoch, laut demfelben Zeug- 
niffe Hinfmar’s, jene Stelle aufzugeben, und Wulfad mußte fogar 
einen fchriftlihen Eid hinterlegen, daß er nie wieder nach einem 
hoben Kirchenamte ftreben wolle. Als aber Nikolaus im Jahr 866 
mit einer neuen Einmifchung in die Kirchenangelegenheiten des fran- 
zöfifchen Neichs drohte, feheint Wulfad dem Könige vorgeftellt zu 
haben: das ficherfte Mittel, den päbftlihen Plan zu vereiteln, beftehe 
darin, wenn man die abgefesten Cleriker wiederherftelle, und ihn 
felbft mit dem eben erledigten Erzftuhle von Bourges bedenke. Denn 
dann würden fie nie mehr mit dem Pabſte gemeine Sache machen, 
noch nah Nom appelliren. Der König gieng auf den Borfchlag 
ein, und zwar anfangs nicht in feindfeliger Abficht gegen Hinfmar, 
denn noch in dem Schreiben, ?) das er im Auguft 866 an den 
Pabft erließ, vedet er dem Metropoliten das Wort. Allein biefe 
Stimmung ſchlug allmählig ins Gegentheil um, feit Hinfmar mit 
allen Kräften der beantragten Erhebung Wulfad's entgegen arbeitete, 





1) Siehe oben ©. 1051. — ?) Manfi XV., 7345 fiehe oben S. 1035. 


1040 IM. Buch. Kapitel 12. 


Aus den Quellen erhellt nicht, warum Hinfmar Lesteres that. Doch 
laffen fi feine Beweggründe Yeicht errathen. Er mag mit Necht 
befürchtet haben, daß die Kirchenzucht einen unheilbaren Riß erleiden 
müffe, wenn man den Gehorfam und das Stillfchweigen eines nie- 
bern Clerikers mit den höchſten Würden erfaufe. Wahrfcheinlich 
beherrfchte ihn außerdem die perfönliche Beſorgniß, dag Wulfad 
feine hohe Stellung als Erzbiſchof dazu benügen dürfte, fich für die 
Beleidigung zu rächen, die ihm Hinfmar im Jahr 845 zugefügt 
hatte, Mag nun der Meiropolit Durch dieſe oder andere Triebfedern 
beftimmt worden feyn, fo willen wir, daß er auf der Synode zu 
Soißons im Auguft 866 nicht nur felbft gegen Wulfad's Erhebung 
flimmte, fondern auch die Mehrzahl der anwefenden Bifchöfe da- 
gegen einzunehmen wußte. Damit war der Grund eines Zermürf: 
niffes zwifchen ihm und dem Könige gelegt. Gefchäftige Hände 
fuchten dafjelbe fofort zu erweitern, und zwar mit gutem Erfolg. 
Ohne Zweifel that hiebei Wulfad das Meiſte. Indeß deutet 
Hinkmar felbft in einem Brief an den Abt Anaftafius noch auf 
andere Widerfacher hin, ) indem er die Aeußerung fallen läßt: ge= 
wife Fürften feyen ihm abhold, weil er ſich geweigert habe, ihren 
Launen zu willfahren. Wir fehen hierin einen Wink, daß Lothar IL, 
ber damals mit Karl befreundet war, den neuftrifchen König gegen 
Hinfmar aufreiste, um Rache für das Benehmen des Lektern in 
der Sache Thietberga’s zu nehmen. Wirklich wurde Karl der Kahle 
fofehr wider den Metropoliten eingenommen, und von Wulfad um: 
garnt, daß er im September 866 den oben angeführten Befehl gab, 
Lestern gewaltfam auf den Stuhl von Bourges einzufeßen. Drei 
bis vier Monate fpäter Tiefen die Briefe aus Rom ein, in welchen 
der Pabft aufs Beftimmtefte ven Borfchlag der Erhebung Wulfad’s 
mißbilligte. Das war ein, für den König, wie für Wulfad, gleich 
unangenehmer Zwifchenfall, Nur durch ein Mittel hofften Beide feit- 
dem den Pabft zufriedenftellen zu fünnen. Sie wußten, baß bie 
Curie um jeden Preis Hinfmar zu ftürzen ſuche. Nun berechneten 
fie, daß Nikolaus die eigenmächtige Einſetzung Wulfad's nachträglich 
genehmigen werde, wenn man bieffeits zum Verderben des ver: _ 
haßten Metropoliten die Hände biete. Alſo wurde Hinkmar jetzt 
aufs: Heftigfte verfolgt. Er felbft fagt, daß er um der Nachftellungen 





i) Hincmari Opp. II, 825 untere Mitte, 


Die Päbſte Sergius IL, Leo IV., Nikolaus I. ıc. 1041 


willen die Cleriker, welche er nach Nom ſchickte, in Pilgrime ver: 
fleivet habe. Diefe Nachftellungen giengen ohne Zweifel vom Hofe 
aus, welder verhindern wollte, daß fi) der Metropolit mit dem 
Pabſte ausfühne. Auf der Synode von Troyes brach der Sturm 
vollends gegen ihn los. Der feindfelige Plan, von welchem bie 
Jahrbücher melden, beftand darin, daß feine Gegner über Ebo’g 
Berhältniffe einen Bericht zu entwerfen verfuchten, der Diefen als 
einen unſchuldig Verfolgten fchilderte und Hinfmar preis gab. Den- 
noch gelang e8 dem Metropoliten, die Mehrzahl für fih zu gewinnen. 
Aber fein Sieg war nicht vollſtändig. Wir befigen das Synodal- 
fchreiben ) welches die Berfammlung an den Stuhl Petri richtete. 
Der erfte Theil enthält über Ebo's Gefchichte eine mit Urkunden be- 
legte Darftellung, weldhe zu Gunften Hinfmar’s lautet, aber am 
Ende des Briefs ift der Wunſch ausgefprochen, daß der Pabſt dem 
neugeweibten Erzbifchofe Wulfad yon Bourges das Pallium er- 
theilen möchte. Letzteres war ficherlich nicht ein Freiwilliges Zu: 
geftändnig Hinfmar’s, folglich hatte feine Parthei in dieſem Punfte 
den Gegnern nadgeben müfjen. Allein weder der König noch 
Wulfad war damit befriedigt, denn das Synodalfchreiben feste ja 
den Pabft nicht in Stand, Hinfmar zu flürzen, und demnach ftand 
zu erwarten, daß Nikolaus die Erhebung Wulfad’s nicht genehmigen 
werde. Darum duchfchnitt Karl der Kahle den Knoten mit Ge— 
walt, indem er über Ebo an den Pabſt einen Bericht erftattete, der 
Hinfmar als einen Eindringling binftellte. Auch diefe Urkunde ift 
vorhanden. ?) Ebo, heißt e8 darin, fey zwar wegen feiner Theil: 
nahme an ber zweiten Empörung yon Ludwig dem Frommen ent 
fest worden, aber fpäter habe ihn Kaifer Lothar wieder hergeftellt, 
und ſeitdem hätten alle Biſchöfe firdlide Gemein- 
haft mit ibm gepflogen. 

Nachdem auf folhe Weife der König, für deffen Rechte der 
Metropolit feit Jahren gegen den Stuhl Petri fämpfte, feinen treuften 
Berbündeten aufgeopfert hatte, fchien Hinkmar unrettbar verloren. 
Die trübe Stimmung feiner Seele fpiegelt fi in dem oben erwähn⸗ 
ten Brief ab, den er damals an den römifchen Abt Anaftafius 
ſchrieb. 3) Er wendet hier die Sprüche (Micha VIL, 6.) des 





i) Manſi XV., 791 fig. — 2) Ibid, ©. 796 Mitte fig, — ®) Opp. IL, 
824 fig. 
Gfrörer, Kircheng. III. 66 


1042 m. Buch. Kapilel 12. 


Mannes Feinde ſind ſeine eigene Hausgenoſſen, und 
Sirach 32, 26. hüte dich vor deinen eigenen Kindern, 
auf ſich ſelber an. Noch deutlicher erhellt ſeine Muthloſigkeit aus 
einem Schreiben, ) durch welches er den Pabſt zu entwaffnen ver: 
fuchte. „Ich verdiene,“ fagt er bier, „um meiner Sünden willen, 
die Borwürfe, die Ihr mir in Eurem Testen Schreiben gemacht habt, 
und wäre ich dem Leibe nach in Eurer Gegenwart, fo würde ich 
thun, was ber heil, Geift durch den Mund Benedikt's yon Nurfia 
Minden anbefiehlt, die das Unglück hatten ihren Borgefesten zu 
mißfallen, ich würde nämlich mich Euch zu Füßen werfen, und fo 
Yange im Staube fliegen bleiben, bis ich Eure Berzeihung erhalten 
hätte. Da ich dieß leiblich nicht thun kann, fo thue ich es im Geifte.“ 
Im Folgenden wiederholt er mehrmal, daß er ein großer Günder 
fey, verfichert aber mit den feierlichften Betheuerungen, unfchuldig 
an dem zu feyn, wegen deſſen man ihn beim Pabfte angefchwärzt 
habe. Er weist den Vorwurf der Arglifi und Graufamfeit zurüd, 
und befiebt darauf, daß Ebo auf canonifche Weife abgefegt, und 
er felbft den Borfchriften gemäß eingefekt worden fey. Das unter: 
Yaffene Verſiegeln feines legten Briefes rechtfertigt ev durch die Be— 
hauptung, da die Synode ihr Schreiben nicht verfiegelt habe, fey es 
ihm unſchicklich erfchienen dieß zu tun. Er läugnet, bie von DBe- 
nedift erhaltene Urkunde verfälfcht zu haben, und erflärt endlich, daß 
er das Pallium in der Regel nur an Oſtern und Weihnachten trage, 
denn an den andern hohen Feften, für welche den Metropoliten 
gleichfalls der Gebraud) des Palliums geftattet fey, erlauben ihm 
jeine häufigen Gefchäfte nicht in der Kirche zu erſcheinen. 

Unnüg waren die Bitten wie die Beforgniffe Hinkmar's; denn 
als der Bifchof Actardus, der Ueberbringer dieſer Schreiben, nad) 
Nom Fam, lebte Nikolaus nicht mehr, und unerledigt gieng der 
Handel an den Nachfolger über, 

Bom 24. April 858 bis zum 13. November 867 ſaß Nikolaus 
auf dem Stuhle Petri. Und wie unermeßlich ſind die Erfolge, die 
er während dieſer neun Jahre errang! Er hat einen glänzenden 
Triumph der römiſchen Kirche über die griechiſche vorbereitet, er hat 
im Abendlande die Metropolitangewalt geſprengt, und Fürſten, als 
wären ſie ſeine Vaſallen, zur Rechenſchaft gezogen. Rom ſelbſt 





) Manſi XV., 772 fig. 


Die Päbfte Sergius IL, Leo IV., Rifolaus I. ꝛc. 1043 


flaunte über die Kühnheit feiner Thaten. Eben deßhalb berrfchte 
aber unter dem dortigen Clerus die Tebhaftefte Beforgniß, daß nad) 
feinem Tode Alles, was er gegründet, wieder zufammenftürzen werde, 
weil fein Anderer die Kraft befige, das begonnene Werf fortzufegen. 
In einem Briefe, 7) worin der Bibliothefar Anaftafius dem Erz: 
bifchofe von VBienne Ado den Tod des Pabſtes anzeigt, entwirft er 
ein düfteres Gemälde von der nädften Zukunft. „Alle Diejenigen,“ 
fagt er, „melde Nikolaus, fey es wegen Ehebruchs oder anderer 
Vergehen beftraft habe, gehen damit um, die von dem Pabſte ges 
troffenen Einrichtungen wieder zu vernichten, und die Gefahr fey 
um fo größer, weil der Kaifer, wie verlaute, die Plane der Geg— 
ner unterſtütze.“ Zugleich beſchwört er Ado, feinen Einfluß auf die 
Metropoliten Galliens anzuwenden, daß dieſe feinen Verſuch machen, 
ibre alten Rechte wieder zu erobern. Die Furcht, welche 
aus dem Briefe des Bibliothekars hervortönt, war auch Urſache, 
warum Hinfmar mit dem Nachfolger des Nikolaus fo leicht zu— 
recht Fam. | 

Noch viel günftiger, als die eingeweihten Perfonen bes römifchen 
Hofes, beurtheilte das Wirfen des Pabftes die Maffe der abend: 
ländiſchen Bevölkerung, melde yon den geheimen Triebfedern nichts 
ahnte, fondern nur die Erfolge ſah. Längſt hatten die fränfifchen 
Fürften Liebe und Anhänglichfeit ihrer Völker verloren. Wie fonnte 
man fie auch achten, da diefe unwürdigen Erben des großen Karl, 
ſtets in ehrfüchtigen Fehden wider einander entbrannt, das Reich 
den Normannen Preis gaben. Nichts lebte in ihnen von den Eigen: 
haften ihres Ahnherrn, als ein Stolz, der bei Karl durch Thaten 
gerechtfertigt wurde, bei ihnen wie Yächerliche Anmaßung erfchien. 
Aus dem römischen Alterthum war in das fränfifche Staatsrecht der 
Grundſatz verirrt, daß Fürften über dem Gefege fiehen. Lothar I. 
vechnet es fih in dem oben angeführten Brief ?) an Nikolaus zum 
Berdienfte an, daß er, auf die Befugniffe fönigliher Würde 
verzihtend, wie ein gewöhnlicher Menſch den priefterlihen Er- 
mahnungen Folge geleiftet habe. Der Lothringer war demnad) über: 
‚zeugt, daß Fürſten von Nechtswegen Feine Rückſicht auf das Gefes 
zu nehmen brauchen. Unter den Fragen, welche zu Anfange des 





1) Manfi XV, 455 unten flg. — 2) Bei Baroniug ad annum 864, 
Neo, 2 ß 
ro. 4, " . ’ 


66° 


1044 III. Buch. Kapitel 12. 


Streits über Thietberga’s Scheidung dem Metropoliten son Rheims 
vorgelegt wurden, war aud) bie: ) ob es wahr fey, daß, wie 
einige Weltweife vorgeben, Könige feinem Geſetze und menfchlichem 
Gerichte unterliegen, und nur Gott Nechenfchaft abzulegen hätten? 
Hinfmar verwirft diefen Satz als eine gottesläfterliche Behauptung. 
Wie Hinfmar haben auch die Völker son jeher geurtheilt. Aber 
gewöhnlich fehlt es an einer Stimme und einem Arme, die mächtig 
genug find, um die Hffentlihe Meinung den Gebietern der Erde 
vorzubalten. Nikolaus warf fich zum Bertreter diefer Meinung auf. 
Allgemeine Bewunderung ward ihm daher zu Theil, als er den 
lothringifchen Ehebrecher überzeugte, daß Fürften fo gut als andere 
Sterblihe an das allgemeine Sittengefe gebunden feyen. Sn der 
Schilderung, ?) welche Negind von Nikolaus entwirft, fehen wir 
einen Nachhall des Eindruds, den die Thaten des Vabftes auf die 
abendländifchen Völker hervorbrachten. „Seit den Tagen des heil. 
Gregorius I. bis auf unfere Zeiten herab,“ fagt er, „faß fein Hohen: 
priefter auf dem Stuhle Petri, der mit Nikolaus verglichen werben 
könnte, Könige und Tyrannen hat er bezähmt, und, wie ein oberfter 
Gebieter der Welt, beberrfcht; gegen fromme Bifchöfe und Priefter 
war er gelind und fanftmüthig, Schlechten dagegen und Gewiffen: 
Iofen ſchrecklich, ſo daß man mit Necht fagen kann, ein neuer Elias 
fey in ihm erftanden.“ 

Ein Elias war Nikolaus freilich nicht; auch mit Gregorius 1. 
hält er, in Bezug auf Reinheit der Abfichten, Feine Vergleichung 
aus, Zu viel Herrfchfucht Flebte feinen Handlungen an, und gegen 
Hinfmar namentlih hat ev offenbares Unrecht verübt. Allein an- 
derer Seitd muß man zugeftehen, daß unter foldhen Königen, wie 
die damaligen waren, ein Dann von folder Thatfraft und folchem 
Berftande faum der Berfuchung widerftehen mochte, die Gewalt 
des Stuhles Petri fo weit als möglich auszudehnen. Auch ift fein 
Berfahren gegen die Metropoliten größtentheils yon den Biſchöfen 
herausgefordert und bekräftigt worden. Selbft in das Synodal- 
fchreiben der Kirchenverfammlung von Troyes, welche fonft Hink— 
mar's Sache vertrat, hat die Gegenparthei den Satz ?) einzufügen 
gewußt: der Pabſt möge mit gewohnten Eifer, wie bisher, fortfahren, 


!) Hinemari opp. I., 6953 unten fig. — 2) Reginonis chronicon Ad an- 
num 868, Perz I., 579. — ?) Manfi XV,, 795 gegen unten. 


Die Päbſte Sergius II., Leo IV., Nitolaus I, ꝛc. 1045 


die Anmaßungen der Metropoliten niederzufchlagen, und die Nechte 
der Bifchöfe zu ſchützen. 

Sehr ftürmifch muß die nächte Pabſtwahl gewefen feyn. Indeß 
fann man nur durd Schlüffe den gefchichtlichen Hergang ermitteln, 
weil der Schriftfieller, welder Hauptzeuge ift, abfichtlich bie 
Wahrheit verfälfcht. Der Lebensbefchreiber Hadrian's IT, meldet 
nämlich, ) während der Wahl fey der Herzog von Spoletv Lam— 
bert, ein Dienftimann des Kaifer Ludwig II, mit Heeresmacht in 
Rom eingebrochen, und habe die Stadt fürchterlich geplündert und 
verwüſtet. Unmöglich kann man diefem bewaffneten Einfall einen 
anderen Zwed unterlegen, als den, daß der Kaifer dadurch mit 
Gewalt eine ihm genehme Wahl erzwingen wollte. Allein der eben 
genannte Zeuge fucht diefe Erklärung des Vorfalls abzuweifen, in: 
dem er fogleich beifügt, wegen dieſer Gewaltthat jey Lambert, auf 
die Klagen des Pabftes hin, vom Kaifer zur Strafe gezogen und 
verbannt worden. Demnach fcheint es, als habe der Herzog den 
Einfall wider den Willen des Kaifers, oder wenigftens ohne defjen 
Befehl, gemacht. Dennoch verhält fih die Sache anders. Erſt vier 
Jahre fpäter, und zwar aus einem ganz andern Grunde, nemlich 
weil er fih in eine Verſchwörung gegen Ludwig IL eingelafjen hatte, 
ift Lambert vom Kaifer abgefegt worden, wie Muratori klar bes 
wiefen hat. 2) Aus einer andern und zwar urfundlichen Duelle 
wiffen wir, daß der Nachfolger des Nikolaus der Faiferliden 
Parthei feine Erhebung verdankte. Der Bibliothefar Anaftafius 
fährt 3) in dem oben erwähnten Briefe an Ado von Vienne alfo 
fort: „unfer neuer Pabſt Hadrian ift zwar ein vechtfchaffener Hirte, 
aber er folgt blindlings den Rathſchlägen des Bifchofs Arfenius, 
der, weil er von Nikolaus beleidigt wurde, zum Kaifer halt, und 
wenig Eifer für Berbefferung der Kirchenzucht bethätigt.“ Hadrian IL, 
ein geborner Römer, hatte fein 75. Lebensjahr überfchritten, als 
er zum Pabſt gewählt wurde. *) Diefes hohe Alter mag der Haupt: 
grund gemwefen feyn, warum bie römiſche Parthei zulest feine 
Erhebung anerkannte. Denn eine baldige Wiedererledigung bes 
Stuhles Petri fland zu erwarten, und Ießtere Fonnte daher in naher 
Zufunft fih eines vollſtändigen Sieges getröften. Gleichwohl war 

1) Vita Hadriani II,, $. 20, Vignoli III., 231. — ?) Annali d’Italia V., 
72 unten und 92 flg. — ?) Manfi XV., 454 oben. — *) Vignoli III,, 224 unten. 





1046 I. Buch. Kapitel 12. 


der Pabft nicht völlig in der Gewalt des Faiferlihen Anhangs, viel: 
mehr mußten von der einen wie von ber anderen Seite ungefähr 
gleich, große Zugeftändniffe gemacht werden, und das neue Negiment 
folgte daher einer doppelten Bewegung, bie von entgegengefeßten 
Punften aus ihren Anftoß empfieng. Der Kaifer hatte ) in früheren 
Zeiten mehrere Bischöfe, als Feinde feiner Herrichaft, aus Rom ver: 
bannt. Diefe durften jest zurüdfehren. Gleiche Begnadigung ward 
aber auch einigen Andern zu Theil, welde von Pabſt Nifolaus 
verbannt oder fonft beftraft worden waren, namentlich Thietgaud 
von Trier, und Zacharias von Anagni, welcher letztere fih, als 
er in der Eigenfchaft eines päbſtlichen Geſandten 861 zu Conftan- 
tinopel weilte, von den Griechen hatte beftechen Yaffen. ?) Der 
Pabſt nahm beide Männer wieder in die Kirchengemeinfchaft auf. 3) 
Daß Hadrian diefes Zugefändniß nur notbgedrungen bewilligte, 
bedarf Feiner Beweife. Daffelbe Schaufeln zwifchen entgegengefeiten 
Grundfägen offenbart fih auch in der Art, wie der Pabſt den Stuhl 
Petri in Befis nahm. Zu dem Wahlafte felbft wurden die faiferlichen 
Gefandten, die fih in Rom befanden, nicht beigezogen, worüber 
fie auch Klage führten. Aber die Einweihung des Gewählten er- 
folgte erft, nachdem die Faiferlihe Genehmigung eingelaufen war. *) 
Auf folhe Weife ward Hadrian in die traurige Nothwendigfeit 
verfegt, zwei Herren dienen zu müſſen. Anfangs überwog, wie 
man fi denfen kann, der fränfifche Einfluß. „Weil der neue 
Pabſt,“ berichtet °) fein Biograph, „einige feindfelige Menfchen und 
Ausfäer des Unkrauts fehonend behandelte, verbreitete fi dag“ 
Yügenhafte Gerücht, daß Hadrian mit dem Plane umgehe alle Ver— 
fügungen feines Vorgängers Nikolaus umzuftoßen. Deshalb lie— 
fen auch aus allen Bistbümern des Abendlandes Briefe 
ein, welde ihn befchworen, der wahren Lehre treu zu 
bleiben.“ Allein in dem Maaße, wie Hadrian ſich befeftigte, 
jhüttelte er die fremden Feſſeln ab, und Ienfte mehr und mehr in 
die von ben früheren Päbften geebnete Bahn ein. Die anfängliche 
Schwäche feines Regiments ward yon einem Ehrgeizigen auf furdt: 
bare Weife mißbraucht. Der Pabſt war in früheren Zeiten ver: 





') Vita Hadriani Il., $. 13. Vignoli III., 227 unten flg. — 2) Siehe 
oben ©. 239 fig. — 3) Vita Hadriani $. 10. Vignoli H., 226 unten, — 
») Ibid, 8. 6, 7, 8:9, — 5) Ihid, $. 15. 





. Die Väbfte Sergius II, Leo IV., Nikolaus I. ꝛc. 1047 


heirathet geweſen. Eine Tochter aus dieſer Ehe und auch ſeine 
Gemahlin lebte noch, als Hadrian den Stuhl Petri beſtieg. Ein 
sornehmer Römer Namens Eleutherius, Sohn des mehrfa er: 
wähnten Arfenius, entführte die Tochter des Pabſts fammt ihrer 
Mutter und heirathete bie erflere. Hadrian, aufs tieffte beleidigt 
durch dieſe Gewaltthat, brachte es beim Kaifer dahin, daß ein Ge- 
vicht niedergefegt wurde, welches den Entführer nach römiſchem 
Rechte aburtheilen ſollte. Hiedurch in die Enge getrieben, ermordete 
Eleutherius Mutter und Tochter. Die Jahrbücher von Rheims, 
denen wir folgen, behaupten: ) der Unmenfch habe die Entführung 
auf den Rath feines Vaters Arfenius, den Mord aber auf Antrieb 
feines Bruders deg Bibliothefars Anaftafius vollbracht. Man kann 
hieraus abnehmen, welch’ furchtbare Partheiung und Gefeglofigfeit 
damals in Nom herrſchte. Uebrigens beftrafte der Kaifer den Mör— 
der mit dem Tode. | 

Bon den aus der Regierung des Nikolaus herübergefommenen 
Gtreitigfeiten, ward zuerft die Sache Hinfmar’s erledigt. Auf das 
oben ?) erwähnte Synodalfchreiben der neuftrifchen Bifchöfe ant: 
wörtete ?) Hadrian: obgleich durch ihren Bericht die Angelegenheit 
der Abſetzung Ebo’s nicht fo vollfommen aufgehellt fey, als fein 
Borgänger gewünſcht habe, wolle er ihnen doc feine Zufriedenheit 
mit dem bewiefenen Eifer bezeugen. Er erklärt fofort, daß er bie 
Befchlüffe der letzten Synode hiemit beftätige, auch ihrem Wunfche 
gemäß, dem Erzbiichofe Wulfad das Pallium bewillige, Dagegen 
verlangt er als Gegendienft, daß der Name des Nikolaus in die 
Berzeihniffe der fränfifchen Kirchen eingetragen, und feine Ber: 
fügungen und Gefege aufrecht erhalten werden. Zu gleicher Zeit 
ſchrieb ) Hadrian an König Karl den Kahlen: es möchte das Befte 
feyn, wenn man Fünftig von der Sade fehweige, da mit Ausnahme 
Rothad's feiner von den Bifchöfen mehr lebe, welche zugegen gewefen, 
und deßhalb der wahre Hergang kaum mehr ermittelt werden könne. 
Auch an Hinfmar erließ er ein Schreiben, °) das jedoch nur Lob: 
fprüche über das Benehmen des Metropoliten in dem Streit Thiet- 
berga’s und ihres Gemahls, fowie die Aufforderung enthält, ferner 





1) Hincmari annales ad annum 868. Perz I., 477 Mitte. — ?) ©. 1041. 
— 3) Manſi XV., 821 Mitte fig. — *) Ibid, ©, 824 Mitte fig, — 9) Ibid, 
©. 826 unten flg. 


1048 IT. Buch. Kapitel 12. 


dem Stuhle Petri Hold zu feyn, die Frage wegen Ebo's dagegen 
mit feiner Sylbe berührt. Der Pabft fonnte eg nicht über fich ge— 
winnen, dem Metropoliten felbft zu eröffnen, daß er für gut ge 
funden habe, die Sache fallen zu laffen. So endete denn der lange 
Streit, kurz nachdem er eine für Hinfmar fo gefährliche Wendung 
genommen, auf eine Weife, die dem Metropoliten von Rheims 
fehr erfreulich feyn mußte. Die Mäpigung Hadrian’s ift begreif- 
lich. Unter den damaligen Umftänden durfte er nicht dreinfahren 
wie fein Vorgänger. 

Die übrigen von Nifolaus bedrängten Partheien benügten alg- 
bald den Pabftmechfel um ihre Lage zu verbeflern. Der Chronift 
von Rheims meldet: D Arfenius habe den abgefesten Bifchöfen 
Gunther von Cölln und Thietgaud yon Trier den Rath ertheilt, 
nad Rom zu eilen, und für eine große Summe verfprocen, ihre 
Wiederherftellung bafelbft betreiben zu wollen. Sie traten im De— 
cember 867 die Reife an, erreichten jedoch ihren Zweck nicht. Der 
Pabft nahm zwar Thietgaud, wie oben erzählt worden, in bie 
Kirchengemeinfchaft auf, aber das erfehnte Bisthum Trier gab er 
ihm nicht zurüd. Thietgaud ftarb nach kurzem Aufenthalt in Rom 
an einer Seuche. !) Ueber das Schickſal Gunther’s werden wir tiefer 
unten berichten. Wie die beiden Bifchöfe, fuchte auch ihr Gebieter 
König Lothar IL den neuen Pabft zu gewinnen. Er fand Mittel, 
Thietberga zu bewegen, daß fie im leuten Monate des Jahrs 867 
nad) Rom reiste, und dem Pabft den Wunfch vortrug, von Lothar 
geihieden zu werben. ?) Hadrian wies zwar biefes Anfinnen zurüd, 
und fchrieb 3) auch an den König, daß er die Scheidung nicht bes 
willigen könne, dennoch gewann der Lothringer, von feinem Bruder 
dem Kaifer unterflügt, in Nom Boden. Auf einen demüthigen, an 
den Pabft gerichteten Brief, 9 worin er biefen feiner unbedingten 
Ergebenheit verfichert, und die Bitte ausfpricht, der heilige Vater 
möchte ihn menfhliher behandeln, als fein Vorgänger Niko: 
laus gethan, antwortete ?) ihm Hadrian: „der Stuhl des heiligen 
Petrus fey ſtets bereit eine würdige Genugthuung anzunehmen. 
Wenn fih der König son den DBergehungen, deren ihn die Welt 





1) Hincmari annales ad annum 867. Perz I., 476 Mitte. — ?) Id, ibid. 
> — 3) Manfi XV, 833, — 9) Ibid,. 831 fig. — ?) Die Antwort des Pabfts 
ift nicht mehr vollftändig vorhanden, aber in Auszügen theilt fie Regino Perz I., 
570 unten mit. 


Die Päbfte Sergius II., Leo IV., Nikolaus I. ꝛc. 1049 


bezüchtige, frei wife, fo folle er mit vollem Vertrauen nad Rom 
fommen und den Segen empfangen. Selbft wenn er fich fehuldig 
fühle, möge er zu Peters Schwelle eilen und feine Miffethat durch 
Kirchenbuße fühnen.“ Bald darauf entband Hadrian Waldraden von 
dem Banne, den Nikolaus wider fie gefchleudert, und meldete ihr 
dieß in einem eigenen Schreiben. 1) Die Kirche, heißt es barin, 
fönne fraft der Vollmacht, die Ehriftus feinen Apoſteln ertheilt, von 
allen Sünden Iosfprechen, fobald der Sünder Neue bezeuge. Da 
nun Waldrada, laut dem glaubwürdigen Zeugniffe des Kaifers 
Ludwig IL, von ihrer frühern Unfeufchheit abgelaffen habe, ertheile 
er ihr hiemit die Erlaubniß, die Kirchen zu befuchen, und mit andern 
Chriften umzugehen. Doc habe fie wegen der Arglifi des Teufels 
den Umgang mit Lothar gänzlich zu meiden. Zugleich meldete ?) er 
auch den ofifränfifchen Biſchöfen die erfolgte Wiederaufnahme Wald: 
- raden’s in die Kirchengemeinfchaft. Hadrian that fogar noch einen 
andern Schritt zu Gunften Lothar's. Ermuthigt durch die Schwäche 
des neuen Wabftes, fanden Ludwig der Teutfhe und Karl der 
Kahle, wie vor fehs Jahren, bereit, über Lothringen hberzufallen, 
was fie damals aus Furcht vor Nifolaus nicht zu vollſtrecken gewagt 
hatten. Hadrian erließ daher im Februar 868 an den teutfchen 
König ein Abmahnungsichreiben, ?) daß er fich nicht unterftehen 
jolle, das Erbe des Kaifers Ludwig oder feines Bruders Lothar an: 
zutaften; zugleih gab er dem Teutfchen Nachricht von den hohen 
Berdienften, die ſich der Kaifer durch feine Siege über die Sara: 
cenen um die Kirche erworben habe. Diefe gehäuften Gefälligfeiten 
des römischen Hohenpriefters hatten zur Folge, daß der Lothringer 
Hoffnung fehöpfte, durch perſönliche Bearbeitung vollends Alles was 
er wünfchte, namentlich feine Scheidung von Thietberga. und Ber: 
mählung mit Waldraden yon Hadrian zu erlangen. Mit anfehn- 
lichem Gefolge reiste er im Sommer 869 nad) Stalien, wo fich der’ 
abgefeste Gunther an ihn anfchloß, und zog von Ravenna nad) 
Benevent zu feinem Bruder dem Kaifer Ludwig. Durch große Ge: 
ſchenke vermochte er die Gemahlin deffelben, Engelberga, zu dem 
Verſprechen, ihren ganzen Einfluß beim Pabfte zu Lothar's Gunften 
aufzumenden. Wirklich wurde Hadrian durch die Hebel, welche die 





ı) Manfi XV., 8354 Mitte fig. — 2) Ibid, ©, 855 Mitte. — 3) Ibid, 
S. 829 unten flg. | 


1050 Sm, Buch. Kapitel 12. 


Kaiferin in Bewegung feste, genöthigt, nad Monte Caſſino zu fom- 
men, wo auch Engelberga mit ihrem Schwager eintraf. Obgleich 
Lothar von Nikolaus nie fürmlih mit dem Banne belegt worden 
war, betrachtete ihn doc, die Welt wie einen mit dem Fluche ber 
Kirche Belafteten. Daher lag dem Lothringer vor Allem am Herzen, 
diefen Schein zu entfernen. Unterhandlungen wurden gepflogen, in 
Folge deren Habdrian erklärte, daß er bereit fey, dem Yothringifchen 
Fürften das Abendmahl aus eigener Hand zu ertheilen, wofern 
derfelbe durch einen Eid befräftigen würde, daß er, feit Waldraba 
von Nikolaus gebannt worden, feinen fleifchlichen Umgang mehr 
mit ihr gepflogen habe. Unbedenklich Teiftete Lothar den Eid und 
empfing das Saframent. Daffelbe thaten viele Iothringifche Große, 
als Eiveshelfer ihres Könige. Auch Gunther ward damals zur Laien: 
Communion zugelaffen, nachdem er vorher gefchworen hatte, daß er 
die Abfegung, welche Nikolaus über ihn verhängt, geduldig ertragen, 
der römischen Kirche fi) unbedingt unterwerfen, auch nie mehr 
nach einer geiftlihen Würde fireben wolle, wenn ihm nicht anders 
der Stuhl Petri aus Mitleiden eine folche übertragen würde!) 
Diefe Lothringer fpielten, wie man fieht, mit Meineiden als wären 
es Kindereien. Lothar’s Zwed war nur zur Hälfte erreicht; er be= 
gleitete daher den Pabft von Monte Caſſino nach Rom, um Weiteres 
von ihm zu erlangen. Dort angefommen, erfuhr er die verächt- 
Yichfte Behandlung. Wenn er eine Kirhe bejuchte, ließ fich Fein 
Glerifer fehen, Feine Meffe wurde ihm gelefen. Durch reiche Ge: 
fchenfe, welche er dem Pabſte machte, bewirfte er zulegt fo viel, 
bag Hadrian zwei Bifchöfe nach Gallien abſchickte, um dort eine 
neue Unterfuchung über Lothar’s Berhältniffe zu feinen beiden Frauen 
anzuftellen. Im folgenden Jahre follte dann zu Nom eine Synode 
gehalten, und je nach dem Berichte der beiden Bevollmächtigten ent= 
fchieden werden. Ohne Zweifel hoffte Lothar diefe Gefandte durch 
gleiche Mittel, wie im Jahre 863 Rhodoald, zu gewinnen. Die 
Jahrbücher von Rheims berichten, er fey vergnügt von Nom ab: 
gereist, um Über Lucca und Piacenza nah Haufe zurüdzufehren. 
Aber in Piacenza, wo er am 6. Auguft 869 eintraf, überfiel ihn 





1) Hincmari annales ad annum 869. Perz J., 481. In Reginos Chronik 
(ibid I., 580 Mitte fig.) findet man auc die Reden, die bei diefem Abend: 
mahle zwifchen Lothar, feinen Großen und dem Pabſte gewechfelt worden 
feyn follen. 





Die Pähfte Sergius II., Leo IV., Nikolaus I. x. 1051 


ein beftiges Fieber, zwei Tage fpäter war er eine Leiche. Diefelbe 
Seude raffte den größten Theil des Füniglichen Gefolges weg. ") 
Das Volk fah in dem fchnellen Tode des Königs und feiner Großen 
ein göttliches Strafgericht wegen der zu Monte Caffino gefchworenen 
Meineide. 2) u. 

Lothar hinterließ aus feiner Ehe mit Thietberga feine männ- 
liche Nachkommenſchaft. Der rechtmäßige Erbe Lothringeng war 
baher des Berftorbenen einziger Bruder, Kaifer Ludwig II. Aber 
gegen bie Anfprüce deſſelben erhob alsbald Karl der Kahle 
Waffengewalt. Durch die Saracenen in Unteritalien bejchäftigt, 
fonnte Ludwig fein Tothringifches Erbe nicht befchügen. Dagegen 
verfuchte dieß mit geiftlihen Waffen der Pabft, dem vielleicht minder 
fein hohenprieſterliches Amt, als die politifchen Verhältniffe, in wel- 
chen er zu Ludwig fand, die Pflicht auferlegten, des Kaifers Rechte 
zu wahren. Gleich nad) Lothar's Tode fchrieb er ?) an die Großen 
des Tothringifchen Reiches, daß fie als Gebieter Hinfort nur den 
Kaifer Ludwig anerkennen follten, welcher der rechtmäßige Erbe des 
verftorbenen Königs fey. Im September %) ordnete er fodann eine 
Geſandtſchaft nach Neuftrien ab mit Briefen an den hohen Abel, 
an die Bifchöfe des Landes, und insbefondere an den Metro: 
politen Hinfmar von Rheims. In erfterem Schreiben °) ſchildert 
er zunächft die großen Dienfte, welche der tapfere Kaifer Ludwig 
durch Bekämpfung dev Saracrenen der gefammten Kirche erwieſen 
habe. Hieran knüpft er die Aufforderung, ihrem Könige zu Ge: 
müthe zu führen, wie firafbar es wider Gott und die Kirche 
gehandelt wäre, wenn Karl der Kable fi an dem rechtmäßigen 
Erbe eines ſolchen Fürften vergriefe. Würde Einer yon ihnen, fährt 
ber Pabft fort, eine fo ſcheusliche That wüthender Ehrfucht unters . 
ftügen, fo folle er mit dem Fluche beladen und als ein Genoffe des 
Zeufeld behandelt werden. In gleichem Sinne fchrieb %) Habdrian 
an die neuftrifchen Bifchöfe. Auch fie bedroht er mit dem Banne, 
wenn fie den König nicht yon dem Naube zurüchielten. Der Brief ”) 
an den Metropoliten von Rheims beginnt mit der Erinnerung, daß 





!) Hincmari annales ad annum 869. Perz I., 482 Mitte. — ?) Chro- 
nicon Reginonis bei Perz I., 581 obere Mitte, — ?) Manft XV,, 837 unten 
flg. — ) Sämmtliche Briefe , welche der Pabft diefer erften Gefandtfchaft mit- 
gab, find unter dem 5. September 869 gezeichnet, — 5) Manſi XV., 839 
fig. — °) Ibid. ©. 841. — ?) Ibid. ©. 822. 


1052 ER II, Buch. Kapitel 12. 


Hinfmar mit dem frommen Pabft Nikolaus in vertraulihem 
Berfehre geftanden habe. Er ertheilt ihm fodann Nachricht von 
allen zu Gunften des Kaifers eingeleiteten Maaßregeln, und fpricht 
das Vertrauen aus, Hinfmar merde in biefer wichtigen Sadje 
den Wünfchen des Stuhles Petri gemäß verfahren, wofür er ber 
freundlichften Gegendienfte verfichert feyn bürfe, 

Allein während Hadrian fchrieb, hatte Karl der Kahle ge: 
handelt und zugegriffen. Noch bei Lebzeiten Lothar’s war eine be: 
deutende Parthei der lothringiſchen Großen von ihm gewonnen 
worden. Unmittelbar nah dem Eintreffen der Botfchaft vom Ab: 
leben des Königs, fiel er mit gewaffneter Hand in Lothringen ein, 
und bemädhtigte fih des Reiches mit Hülfe der Verſchworenen. 
Den 9. September ward er zu Mes gekrönt, und zwar werrichtete 
diefe Handlung Hinfmar, als Fünftiger oberſter Metropolit des 
ganzen vereinigten Staats, jedoch wahrte er die Nechte des Biſchofs 
der Stadt, Adventius, durd) eine befondere Erklärung. ) Das 
Werk war vollbradht, als die römiſchen Geſandten am neufts - 
rifchen Hoflager anfamen. Der König fpeiste fie mit kahlen Aus- 
flüchten ab. ?) Weder er felbft, noch Hinfmar, noch die neuftrifchen 
Biſchöfe oder Großen, antworteten auf die Briefe des Pabſts. 

Nicht abgeſchreckt Durch den fchlechten Erfolg der erften Gefandt- 
haft, ſchickt Hadrian im Sommer 870 eine zweite nach Gallien. 
Sie überbrachte dem Könige einen Brief, ?) der bittere Wahrheiten 
enthielt. Der Pabft beginnt mit dem Satze: „damit nicht bie Aus— 


fprüche der Propheten (Jeſaias 56, 10.) wie ffumme Hunde 


find fie, die nicht bellen können, und (Ezech. 34, 2.) wehe 
den Hirten Iſrael, die fich felbft weiden auf ung ange: 
wendet werden mögen, müffen wir Euch, für den wir einft vor 
Gottes Richterſtuhle Nechenfihaft zu geben haben, ernitlihe Vor- 
ftellungen wegen Eures Betragens machen.“ Er rügt fofort, daß 
Karl allen menfhlihen und göttlichen Geſetzen zuwider das Eigen: 
tum des Kaifers angetaftet habe, er erinnert Karl an den Brief, 
den dieſer einft, da das neuftrifche Neich von Ludwig dem Teutfchen 
angefallen worden, hülfefuchend an den Stuhl Petri erließ. Das 


N) Befchreibung des Afts Hincmari annales bei Perz I., 485 flg. Aus 
führlicher Hincmari Opp. J., 744 flg. — 2) Hincemari annales ibid. Perz I, 
486. — 3) Manft XV., 843. 


Die Päbſte Sergius II., Leo IV., Nikolaus I, ꝛc. 1053 


Unrecht, das ihn damals fo fehr ſchmerzte, habe er jett felbft bes 
gangen. Karl fpredhe zwar, führt der Pabft fort, in früheren 
Schreiben viel von feinem kindlichen Gehorfam gegen die römifche 
Kirche, aber daß dieß eitel Heuchelei fey, erhbelle daraus, weil er 
die päbftlichen Botfchafter des vorigen Jahres mit leeren Nederisarten 
fortgefchiet, und auf die damals überlieferten Briefe bis jetzt gar 
nicht geantwortet habe. Hadrian fchließt mit dev Drohung: wenn 
Karl auch diefe legte Mahnung verachtend, den Raub nicht alsbald 
zurüdgebe, werde er alle Macht feines Stuhles gegen ihn brauchen, 
Aehnlihe Klagen wiederholt er in zwei andern, an die Bifchöfe 
und weltlichen Großen Neuftriens gerichteten Schreiben; ) er wirft 
ihnen vor, daß fie mit völliger Mißachtung der apoftolifchen Er: 
mahnungen des legten Jahrg, die fie nicht einmal einer Antwort 
gewürdigt, den meineidigen Gewaltftreihen ihres Gebieters feinen 
Einhalt gethan, und dadurch fich felbft und dem Könige die Strafen 
der Hölle zugezogen hätten. Würden fie auch jest nicht alles auf: 
wenden, um den König auf den Pfab der Gerechtigfeit zurückzu— 
führen, fo erklärt er ihnen, daß er, der Pabft, felbft über die Alpen 
ziehen und die Berächter des Stuhles Petri beftrafen werde. Einen 
noch höheren Ton flimmte er in einem vierten Briefe ?) an, den 
bie Geſandten dem Erzbifchofe von Rheims zu überliefern hatten: 
Wäre Hinfmar irgend Deffen eingedenf, was er Gott und dem 
apoftolifchen Stuhle verdanfe, oder nähme er Wohl und Wehe feines 
Nächſten ebenfo zu Herzen, wie fein eigenes, fo würde ihn längſt 
entweder die Liebe zu Gott, oder die Furcht vor der Hölle aus 
dem Schlummer der Trägheit aufgerüttelt und vermocht haben, dem 
Könige die ernftlihften Ermahnungen vorzuhalten; fo aber müffe 
er, der Pabft, leider bemerfen, daß Hinfmar gleich fo vielen andern 
Hirten dem Beifpiele jener Miethlinge nachahme, die, fobald fie 
den Wolf fommen fehen, Davon fliehen, und ihre Heerden im Stiche 
laffen. Niemand wiſſe beffer als Hinfmar, wie die Söhne des 
alten Kaifers Ludwig (des Frommen) bei der Theilung des Reichs 
(fraft des Verduner Vertrags) ſich eidlich gegen einander verpflichtet 
hätten, daß Feiner das Erbe des Andern antaften wolle. Dieſer 
Eid fey von dem Könige durch die That des lebten Jahrs ſchmäh— 
ih verlegt worden. Dadurch daß Hinkmar zu folchem Unrecht 





') Ibid, 845 und 847 unten. — 2) Ibid, 846 Mitte fig. 


1054 II, Bud. Kapitel 12. 


gefchwiegen, habe er Antheil an demfelben genommen, ja, was 
noch ärger, es fcheine gar, als ob er der Urheber deſſelben fey. 
Hadrian befiehlt ihm fofort bei Strafe des Banns, den König zu 
unyermweilter Nüdgabe des Naubs aufzufordern. Würde Kark- den 
Gehorfam verweigern, fo folle der Metropolit alle Gemeinſchaft 
mit ihm meiden, auch den König, gemäß der Vorfchrift des Apoftels, 
(2 Johannis 10) nicht mehr grüßen. Er erflärt fodann, daß er, 
im Falle der König fi) nicht beffere, feinen Gefandten auf dem 
Zuge zu folgen, und perſönlich über die Uebelthäter nad) der 
Eingebung des heil. Geiftes die verdiente Strafe zu verhängen ge- 
denfe. Am Schluffe fündigt er dem Erzbiſchofe an, daß die Ge- 
fandten, welche biefen Brief überbräcdten, mit geheimen Auf: 
trägen für ihn ausgerüftet feyen. Der Pabft war, wie man ſieht, 
feft entfchloffen, die Neife nad Frankreich anzutreten, wobei ihm 
die That !) feines Vorgängers Gregorius IV. ald Vorbild vorgefchwebt 
feyn dürfte. Die Geſandtſchaft hatte Befehl erhalten, auch Teutſch⸗ 
and zu beſuchen, und dem Könige Ludwig ein Schreiben ?) zu über: 
reichen, welches dem teutichen Fürſten reichliches Lob deßhalb ſpendet, 
weil er nicht, wie der Neuftrier, fremdes Gut an fich geriffen Habe. 
Noch war ein Brief ?) an die teutfchen Bifchofe beigefügt, in welchem 
fie aufgefordert werden, ihren König zu ermahnen, daß er der bie: 
her bewiefenen Mäßigung treu bleibe. Wir werben gleich fehen, 
wie wenig die Teutichen das pabftlihe Lob verdienten. 

Die Gefandten wandten fi zuerft nach Aachen, wo fie eine 
furze Unterredung mit Ludwig dem Teutfchen hatten, von da giengen 
fie Ende November 870 nad St. Denis, wo damals Karl der 
Kahle und der neuftrifhe Hof weilte. Zu fehr heftigen Auftritten 
muß es dort zwifchen ihnen und dem Könige gefommen feyn. Die 
Sahrbücher yon Nheims melden: *) die Gefandten hätten dem Neufl- 
vier während des Gottesdienſtes auf fürchter liche Weife Loth— 
ringen abgefprochen. Sie fchleuderten demnach, wie es ſcheint, den 
Bann gegen den König, im Fall derfelbe nicht augenblicklich ben 
Raub herausgeben würde. Aber weder König noch Volk wollte 
auf die Eroberung verzichten. Hinkmar erhielt den Auftrag, die 
Anfichten feiner Nation über bie römifhen Zumuthungen dem: Pabft 


Pr 





1) Siehe oben S 76 fig. — ?) Manfi XV., 818 Mitte fig. — ®) Ibid. 
849 unten fig. — *) Ad annum 870 Perz J., 490 gegen unten. 


Die Pähfte Sergius IT, Leo IV., Nikolaus 1. x. 4055 


darzulegen, was er mittelft einer Staatsfchrift ) bewerfftelligte, die 
wir für eine der wichtigften Urkunden des neunten Jahrhunderts halten. 
Er beginnt mit Entfchuldigungen darüber, daß er auf den neulichen 
Brief des Pabſts nicht fehrifilich geantwortet habe. Die fey, fagt 
er, nicht aus Verachtung des Stuhles Petri gefchehen, fondern weil 
der Pabft ihm blos gefchrieben, was fein Befehl fey, nicht aber 
daß er eine fhriftliche Antwort erwarte, habe er, Hinfmar, ges 
glaubt, es genüge, wenn er durch die Gefandten mündlich zu: 
rückſagen Yaffe, daß er Alles, was im feinen Kräften fiehe, thun 
wolle, um den Willen des Pabſts zu vollfiveden. Auch babe er, 
diefem Berjprechen gemäß, die von Nom erhaltenen Befehle ben 
beiden Königen (Ludwig dem Teutfchen und Karl dem Kahlen) pünkt— 
lich mitgetheilt, aber den Beſcheid erhalten, daß die Vereinigung. 
Lothringens mit den andern Reichen ?) eben fo großem Unglüd 
vorbeuge, als das gewefen fey, welches über Francien nad) Ludwig’s 
des Frommen Tode eingebrochen. Karl der Kahle begründe die 
Rechtmäßigkeit feiner Anſprüche durch eine behauptete Schenkung 
feines Vaters Ludwig, welche auch der verftorbene Lothar J., Karl's 
Bruder, eidlich bekräftigt habe, und ba das Gegentheil noch von 
feinem weltlichen oder geiftlihen Gerichtshof erwiefen worden fey, 
habe er, Hinfmar, fih unmöglich herausnehmen können, als Kläger 
und Richter feinem Könige entgegenzutreten. Soweit fpricht der 
Metropolit in feinem eigenen Namen, aber von nun an braucht ex 
mit ausnehmender Feinheit den Kunftgriff, Andere reden zu Yaffen. 
„Als ich,“ fährt er fort, „einer Berfammlung weltliher und geiftlicher 
Herren, bie aus den verfchiedenften Gegenden des Neichs fich bei 
mir in Rheims einfanden, Euer Verlangen vortrug, daß ich, wo- 
fern Karl nicht nachgebe, Feine Gemeinfchaft mehr mit ihm Haben 
und ihn nicht einmal mehr. grüßen follte, urtheilten diefelben, nie- 
mals ſey ein folder Befehl irgend einem meiner Vorfahren ertheikt 
worden, felbft nicht zu den Zeiten, ba blutige Zwietradht in dem 
Töniglichen Haufe mwüthete, und Söhne gegen Vater, Brüder gegen 
Brüder kämpften. Ich mußte es daher als ein Strafgericht für 
meine Sünden anfehen, dag Ihr mir allein mit dem Banne drohtet 


— — — — 


1) Abgedruckt Hinemari Opp. IT., 689 fig. — 2) As nämlich Hinkmar 
das Schreiben erließ, war Lothringen bereits zwiſchen Ludwig dem Teutſchen 
und Karl dem Neuſtrier getheilt. 


1056 | IIT. Buch. Kapitel 12. 


während Ihr die andern Biſchöfe mit einer ſolchen Zumuthung ver- 
ſchontet. Ferner bemerften jene Männer: nie fey irgend einer der 
Bischöfe Lothar’s, der doch in öffentlichem Ehebruche lebte, auf ähn- 
liche Weife vom Stuhle Petri bedroht worden; auch hätten ſich nie 
römifhe noch andere Hirten der Gemeinfchaft mit ketzeriſchen oder 
tyrannifhen Fürften entzogen. Und wenn ich auch dem Könige 
abfagte, würde dieß zu Nichts Anderem führen, als daß die übrigen 
Bischöfe mit mir brachen, zumal da der König der wider ihn er- 
hobenen Beſchuldigungen weder geftändig noch überwiefen fey. End: 
lich führten fie aus der Geſchichte an, daß die älteren Päbſte fich 
ganz anders gegen Karl's Föniglihe Ahnen benommen hätten, wie 
z B. Stephan II. gegen Pipin, Hadrian L und Leo III gegen 
Karl den Großen, Stephan IV. gegen Ludwig den Frommen, daß 
Pipin die Langobarden nicht vermittelft päbſtlicher Flüche, fondern 
durch das Schwert überwunden habe, daß Gregor IV., als er fi 
von dem wider feinen Vater empörten Lothar verleiten ließ nad) 
Sranfreih zu fommen, übel heimgefchieft worden fey, daß über: 
haupt die Reiche diefer Welt nicht durch Bannſprüche der Päbſte 
und anderer Bifchöfe, fondern durch Kriege und Siege erworben 
und befeftigt würden. Auch beriefen fie fi) auf-den Ausfpruc der 
Bibel: das Reich ift des Herrn, durch Ihn herrſchen die 
Könige, und Er gibt die Herrfhaft, wem Er will. 
Wenn ich nun denfelben entgegenhielt, und ſprach: woher ſtammt 
Krieg und Streit unter Euch? find nicht die Begierden daran 
fhuld, die in Euren Gliedern fi) regen? wenn ich weiter hervor 
bob, daß Chriftus dem Apoſtel-Fürſten Petrus und feinen Genoffen 
und Nachfolgern die Gewalt zu binden und zu löſen anvertraut 
babe, und daß das Reich vom Heren erbeten werden müſſe, dann 
antworteten fies nun fo vertheidiget das Land gegen die Feinde mit 
euren Gebeten, und fordert feine Hülfe von und. Der Pabſt 
fann nicht König und Priefter in einer Perfon feyn, 
auch haben feine Borgänger blos mit firhliden An- 
gelegenbeiten, deren Leitung ihnen allein zufteht, 
nicht mit Staatsgefhäften, welde Sade der Könige 
find, fih befaßt; Darum bitte bu Hadrian, daß er ung 
feinen Herrfher aufbränge, der wegen ber weiten 
Entfernung uns niht gegen die plögliden Einfälle 
der Heiden und Norbmannen zu ſchützen vermag, ſo 


Die Päbſte Sergius I., Leo W., Nikolaus J. ıc. 1057 


wie daß er feine fflavifhe Unterwürfigfeit von ung 
verlange; denn nie haben feine Borgänger unfern 
Ahnen ein folhes Joh auferlegt, auch könnten wir 
Daffelbe nicht ertragen, da wir wilfen, daß in den 
heiligen Büchern fteht, wir Sranfen feyen dazu beru: 
fen, für die Freiheit und unfer Erbe bis in den Tod 
zu ftreiten. Wenn ein Biſchof wider das Recht einen Chriften 
mit dem Banne belegt, fo entäußert er fich felbft des Bindefchlüffels, 
das ewige Leben aber fann er Keinem nehmen, der es nicht Durch 
feine Sünden verſcherzt. Auch ift es unſchicklich zu gebieten, daß 
ein Chriſt, nicht wegen eines ſchweren Verbrechens, fondern um ein 
irdifches Reich dem Einen zu geben dem Andern zu nehmen, aus der 
Gemeinſchaft geftoßen, und dem Teufel überantwortet werde, von deſſen 
Gewalt doch der Erlsfer alle Glaubigen befreit hat. Iſt es dem 
Pabfte um Frieden zu thun, fo möge er ſich vor Zwietracht hüten, 
denn nimmermehr werden wir glauben, daß wir nur dann in das 
Reich Gottes gelangen Fünnen, wenn wir Diejenige zu Königen ats 
nehmen, die Hadrian ung empfiehlt,“ 

„Noch hätten,“ fügt Hinfmar bei, „iene Männer mandes Anz 
dere über Eide, Meineide, Bündniſſe der Könige, Tyrannei u. ſ. w. 
bemerkt, womit er den Pabft nicht behelligen wolle.“ Bon Nun an 
fpriht der Metropolit wieder im eigenen Namen. Er erklärt, daß er, 
weil fein Sprengel im neuftrifchen Gebiete Tiege, die Gemeinfchaft 
des Königs unmöglich meiden fünne, ohne feine Gemeinde wie ein 
Miethling zu verlaffen. Er zeigt weiter theils aus dem Beifpiele 
Jeſu, der ja mit Zöllnern und Sündern gegeffen, theils aus bibli- 
ſchen Gleichniſſen, daß böſe Menfchen in der Kirche geduldet wer: 
ben müſſen, wenn man fie nicht gerichtlich wegfchaffen könne, 
auch Auguftin Iehre ja, daß außerlihe Gemeinfchaft mit Schlimmen 
Niemand beflede. „Da ih nun,“ fährt er fort, „mich von dem 
feften Felſen der Fatholifchen Einheit nicht trenne, auch Eurem Be— 
fehle gemäß in Gegenwart Eurer Gefandten dem Könige fo ſtarke 
DBorftellungen machte, daß derfelbe mir ins Geficht fagte, wenn ich 
längeren Widerftand leiſte, möge ich wie bisher in meiner Kirche 
fingen, aber Gewalt über Land und Leute werde er mir neh- - 
men: fo glaube ih, meine Pflicht erfüllt, und Teinen Anlaß zur 
Ausſchließung gegeben zu haben. Uebrigens dürfe,“ erinnert er 
Hadrian, „ſelbſt bei offenkundigen Sündern, gemäß der Lehre des 

Gfrörer, Kircheng. II. 67 


x 


1058 II. Buch. Kapitel 12. 


großen Gregorius, die Macht zu binden und zu löſen, die im Grunde 
allen Bischöfen zuftehe, nur mit großer Vorfiht angewendet wer- 
den.“ Auf ſolche und ähnliche Gründe geftügt, wiederholt er ben 
Wunfh, der Pabft möchte ihn mit Zumuthungen verfchonen, durch 
welche die bifhöflihe Gewalt zum größten Nachtheile der Kirche 
mit dem Königthum in unabfehbaren Streit gerathen müffe, und 
fpricht zulegt die Hoffnung aus, Hadrian werde biefe demüthigen 
Borftellungen mit eben der Güte aufnehmen, mit welcher der Exfte 
der Apoftel nicht nur die Zurechtweifung feines geringeren Mit 
apoftels, fondern auch die Frage Untergebener, warum er mit ben 
Heiden Umgang pflege? ſich habe gefallen laſſen. Der fonftige In— 
halt des Schreibens bezieht fih auf die Sache des jüngern Hink— 
mar, son welcher unten gehandelt werben foll. 

Mit großer Borfiht hat der Nheimfer Metropolit, wie man 
ſieht, die fchwierige Aufgabe, die ihm zu Theil geworben war, 
behandelt. Nichts that er auf eigene Fauſt, fondern er berief an— 
gefehene Männer aus weltlihem und geiftlihem Stande zu fid, 
und legte ihnen bie päbftlichen Forderungen vor. Was fie fagten, 
hreibt er nah Nom, auch fpielte er dem Könige gegenüber die 
Rolle eines pabftlihen Dieners, und drang auf Erfüllung der von 
Hadrian gemachten Forberungen. Gleichwohl ift nicht zu verfennen, 
daß er Letzteres nicht in vollem Ernſte that, und noch mehr, daß bie 
Grundfäge, melde er der VBerfammlung in Mund Iegt, von ihm 
jelbft getheilt wurden. In dieſem Lichte betrachtet 7) den Brief auch 
Baronius, der mit harten Worten gegen Hinfmar losbricht, in- 
dem er ihn als einen Fürftenfnecht und unheiligen Politifer brand: 
markt. Wirklich ftellt die Urfunde dem päbſtlichen Staats- und 
Kirchen-⸗Recht ein fränfifches entgegen, das in Rom unmöglich 
gefallen Fonnte, aber, wie wir glauben, den Geift germanifcher 
Nation wahr und treu abfpiegelt. Zu Erklärung einzelner Stellen 
ſey e8 ung erlaubt, einige Bemerkungen beizufügen. Der Sas 
von Gregor’s IV. Reife nach Teutfchland ift ſichtlich darauf berech— 
net, den angekündigten Entjchluß Hadrian’s, daß er felbft über die 
Alpen herüberfommen wolle, rücdgängig zu machen. Es ift als ob 
Hinkmar zu dem Pabfte fpräche: wenn Ihr durchaus reifen wollet, 
jo reifet immerhin, aber vorher bedenfet, wie man Euch nach Haufe 





') Annales ecclesiastici ad annum 870, Nro, 21 flg. 


Die Päbſte Sergius IL, Leo IV., Nikolaus I, ıc. 1059 


ſchicken wird. Schwierig ift die Beziehung der Worte: „in den heiligen 
Büchern ftehe gefchrieben, daß die Franken bis in den Tod für bie 
Freiheit und ihr Erbe ftreiten müßten.“ Deuten fie etwa auf jene 
allgemeinen Ausfprüche Pauli über geiftige Freiheit bin, wie Gala- 
ter V, 1. und 13., wo der Apoftel den Chriften zuruft, fie feyen zur 
Freiheit berufen und follen in derfelben beftehen? oder darf man 
annehmen, daß die Franken, welche Hinfmar fprechen läßt, bie 
Borzüge auf ſich bezogen, die im alten Teſtament dem erftien ber 
israelitifchen Stämme, Juda, zugefprochen werden, wie in dem 
Segen Jakob's, wo es heißt: (Genes. 49, 10.) der Scepter werde 
nicht weichen von Juda noch der Gefeßgeber aus feinem Stamme, 
bis der Meſſias komme; wie in dem Segen Mofts, wo der Herr 
gebeten wird, Juda zum Fürften in feinem Volke zu machen und 
zu bewirfen, daß alle feine Feinde ihm unterliegen, (Deuteron. 
XXXIH, 7.) oder wie im Buche der Richter (I, 1. 2.) wo Juda 
durch das Loos Befehl empfängt, den Kindern Israel voranzuziehen 
und das gelobte Land zu erobern. Jedenfalls durchweht die frag: 
liche Stelle ein hohes Nationalgefühl, von dem wir fpäteren Deut: 
fchen feine Ahnung mehr haben. 

Nachdem Hinfmar diefe Erflärung abgefertigt hatte, war der 
Hauptzweck dev päbftlihen Geſandtſchaft verfehlt. Die Botfchafter 
zettelten indeß an dem neuftrifchen Hofe eine Intrike an, welche 
über ihre geheimen Aufträge, deren die Briefe des Pabſtes 
gedenken, einigen Aufichlug gibt. Es ift eine in der Gefchichte der 
fpateren Carolinger fehr häufige Erfcheinung, daß Söhne der Herr: 
fcher wider den Bater oder die Brüder fich empören. Diefe Regel 
wiederholte fih auch im Haufe Karls des Kahlen. Der neuftrifche 
König hatte einen nachgebornen ) Sohn Karlomann,, den er für 
den geiftlichen Stand beftimmte, ſchon im Jahre 854 zum Mind 
fheeren ließ 2), und ſeitdem mit einer Neihe der fetteflen Abteien 
ausftattete ). Aber der Prinz firebte nach hohen Dingen und ftand 
wider feinen Vater auf, weßhalb er, furz ehe die päbſtlichen Gefand- 
ten an den neuftrifhen Hof famen, auf Karl’s Befehl feiner Ab: 
teien entfegt und in's Gefängnig geworfen ward °). Die Gefandten 





N) Reginonis chronicon ad annum 870, Perz I., 583. — ?) Hincmari 
annales ad annum 854, Perz I,, 448 unten, — 3) Idem ad annum 870, 
Perz I,, 487 unten, 


Gr" 


1060 IH, Buch. Kapitel 12, 


benügten alsbald die fehöne Gelegenheit, Zwietracht im königlichen 
Haufe zu fliften. Sie festen Karl dem Kahlen fo lange mit Bitten 
zu, bis er den Prinzen thörichter Weife wieder frei gab.) Bald 
darauf reisten die Gefandten in ihre Heimath ab. Kaum war dieß 
geſchehen, als Karlomann heimlich vom Hofe entflob, das Banner der 
Empörung aufpflanzte und mit einem Haufen Kriegsvolk, das er 
gefammelt, die greulichften Berheerungen anrichtete. ) Sofort z0g 
der König gegen ben pflichtvergeffenen Sohn zu Feld und forberte 
überdieß bie. Bifchöfe des Reiches auf, den Bann über ihn auszu— 
ſprechen, was auch geichah. ) Aber nun appellirte Karlomann an 
den Pabft und Hadrian ermangelte nicht, fich aufs Fräftigfte des. 
Prinzen anzunehmen. Er erlieg im Jahr 871 mehrere Briefe an 
die weltlichen Großen, die Bifchöfe und den König Neuftriens. An 
die Erfteren fehrieb ®) er: die Nachricht fey ihm zu Ohren gefom: 
men, daß Karl ärger als ein wildes Thier wider feinen eigenen 
Sohn wüthe, fie follten Frieden zwifchen Beiden ftiften, und in 
feinem Fall die Waffen wider Karlomann ergreifen. Wofern fie nicht 
gehborchen würden, bedroht er fie mit Bann und ewiger Verdamm— 
niß. Den Bifhöfen unterfagte % er, etwas gegen den Prinzen zu 
unternehmen, ehe der Stuhl Petri feine Sache unterfucht haben 
würde. Noch härter fuhr ?) er wider den König felbft los: „Zu 
den Ausfchweifungen der Habjucht,“ fchreibt er, „mit welder Du 
fremdes Gut Dir zueigneft, haft Du nun auch das Berbrechen un: 
natürlicher Graufamfeit gefügt, indem Du deinen eigenen Sohn 
aus dem Reiche verjagteft, und was noch abjcheulicher, mit dem 
Banne beladen ließeſt. Da derfelbe durch Gefandte an ung appel- 
lirt hat, fo verbieten wir Div, kraft unferes apoftolifchen Amtes, 
ferner deinen Sohn zum Zorne zu reizen. Du folft ihm vielmehr. 
Alles Entriffene zurücdgeben und warten, bis meine Gefandte an- 
gelangt find, welche verfügen werden, was Rechtens ift,“ uf. w. 
Der Streit über Karlomann's Sache z0g ſich noch in's nächſte Jahr. 

hinein. Ausgang 872 farb jedoch Hadrian II., wenige Monate, 

jpäter feste der König, ber indeß Karlomann in feine Gewalt: 

befommen hatte, zu Senlis ein Gericht nieder, um ein Urtheil zu. 





!) Idera ibid, Perz I,, 490 gegen unten. — ?) Idem ad annum 871 
Perz I., 491, — 3) Mansi XV., 851. .— 9 Ibid, — 5) Ibid, ©, 850, 
Mitte, | 


Die Päbſte Sergius IL., Leo IV., Nikolaus I. ꝛc. 1061 


fällen. Er wurde zum Tode verurtheilt. Der Vater änderte jedoch 
die Strafe dahin, dag er dem Prinzen die Augen ausftechen ließ. *) 
Das die Empörung Karlomann’s mit den päbſtlichen Gefandten 
verabredet und größtentheils ihr Werk war, geht aus den ftärfften 
Anzeigen hervor. Durch fie erhielt er die Freiheit, gleich nach ihrer 
Adreife bricht er Iog, und wird fofort vom Stuhle Petri wider den 
Bater geſchützt. Noch mehr! ein neuftrifcher Bischof, der jüngere 
Hinfmar von Laon, welcher erklärter Schildträger der römifchen 
Parthei im neuftrifchen Reiche war, macht, wie wir tiefer unten 
zeigen werden, alsbald nach dem Beginn des Aufftandes gemeine 
Sache mit dem Prinzen. Bedarf es weiterer Beweife dafür, daß der 
Prinz von Nom aus bearbeitet worden it? Offenbar hatte Hadrian 
darauf gerechnet, mittelft Anftiftung eines Bürgerkriegs den Neu: 
firier zur Nachgiebigfeit zu nöthigen. Aber auch diefe Hoffnung 
ſchlug fehl. 

Dem Pabſte Nifolaus war Hauptfächlich deshalb Alles gelun— 
gen, weil ſich ihm in die Wette die Einen der fränfifchen König als 
Bundesgenoffen wider die Andern anboten. Sein Nachfolger da— 
gegen erreichte in Lothringen nichts, weil ihm das gleiche Mittel 
nicht zu Gebote ftand. Hätte Hadrian die Habfucht des Neuftriers 
durch die Eiferfucht des Teutfchen zu dämpfen vermocht, fo mußte 
Karl der Kahle nothgedrungen nachgeben. Allein die Erwartung, 
welche der Pabft in dem obenangeführten Schreiben ?) ausfpricht, daß 
der teutfche König auf Vergrößerung verzichten werde, erwies fich 
als irrig. Noch ehe die yabftlihen Gefandten im Sabre 870 die 
Alpen überftiegen, war zwifchen Karl und Ludwig dem ZTeutfchen 
ein Bertrag über die Theilung Lothringens abgefchloffen worden, 
welcher die Plane des Pabſts durchfreuzte und ihn zwang, das 
Unvermeidliche ruhig gefehehen zu Yaffen. Der ebengenannte Ber: 
trag ?) fam den 8. Auguft des Jahrs 870 zu Stande, Kraft 
deffelben wurden die Bisthümer Bafel, Straßburg, Utrecht, Dies, 
die Erzbisthümer Cölln und Trier, fammt allen zu ihnen gehörigen 
Städten, Dörfern und Stiftern zum germanifchen Reiche gefchla: 
gen: eine herrliche Ermwerbung, theils wegen ihrer Größe und 
Truchtbarfeit, theils weil in den neuen Landen lauter teutfche Ein- 





») Hincmari 'annales ad annum 873, Perz I, 495 oben. — 2) Siehe 
oben ©. 1054. — 9) Abgedruckt bei Baluzius Capitul. II, 221 Mitte fig. 


1062 II. Buch. Kapitel 12. 


wohner Yebten. Der romaniſche Theil des ehemaligen Yothringifchen 
Staats fiel an Neufter. Zu den drei Erzftühlen, welche Ludwig's 
des Teutfchen Antheil vorher umfaßte — Mainz, Salzburg, Ham: 
burg:Bremen, waren zwei hinzugefommen, fo daß fich jetzt die ganze 
Zahl auf fünf befief. Uebrigens willigte Karl der Kahle nur noth: 
gedrungen in die Theilung, denn Ludwig der Teutſche hatte ihn 
zuvor mit Krieg bedroht, und gleich nad Lothar's IL. Tode nicht 
ohne glücklichen Erfolg eine Parthei in Lothringen zu gewinnen 
geftrebt, wobei abermals offenbar wurde, wie bie fränfifchen Könige 
einander ihre Bifchöfe verführten. Bis 869, dem Todesjahre Lo- 
thar's 1I., verwaltete das Cöllner Erzflift, als Gunther’s Stellvertre- 
ter, deſſen Bruder Hilduin, von weldem wir oben berichtet. ) 
Kaum war jedoch die Nachricht vom Ableben des Lothringer’s nad 
Zeutfchland gefommen, fo bewirkte Ludwig der Teutfche durch feine 
Sntrifen, daß Hilduin verdrängt und der Presbyter Willibert vom 
Bolfe und Clerus zum Metropoliten Cöllns erwählt wurde. Zu 
Anfang des Jahrs 870, mehrere Monate vor Abfchlug des oben 
erwähnten Theilungsvertrags, Fam der Erzbifchof Liutbert von Mainz 
auf Befehl des teutfchen Königs nach Cölln und ertheilte dem Ge: 
wählten — wider den Willen Karls des Kahlen — bie 
firchlihe Weihe. *) Vergeblich erhob Pabſt Hadrian in dem Briefe, 
welchen er im Juni 870 an Ludwig den Teutfchen erließ, Einfpradhe °) 
gegen Willibert’d Ermählung: der Staatsvertrag zwiſchen Karl und 
Ludwig, der, wie wir fagten, im Auguft unterzeichnet ward, befe- 
ftigte die Gewalt des neuen Erzbifchofs, weil Cölln zum Gebiete 
des teutihen Königs gehörte. Zwar fehlte nicht viel, daß Ludwig 
feinen Antheil von Lothringen im Jahr 872 freiwillig wieder auf: 
gegeben hätte. Die Jahrbücher von Rheims melden *) nämlich: 
der teutfhe König ſey duch die Zureden Ingelberga's, der Gemab: 
lin des Kaifers Ludwig IL, dahin gebracht worden, daß er fih 
bereit erklärte, die ihm zugefallenen Theile des lotpringifchen Gebiets 
an den Kaifer abzutreten. Der Chronift mißbilligt den Entſchluß 
des Königs als einen Meineid gegen Karl den Kahlen und bie 





D) Seite 998. — 9) Die Beweife in der Gallia christiana der Saint Marthe IIT., 
642, Ausdrücklich bemerkt Flodoard, daß Willibert Carolo Calvo nolente 
geweiht worden fey. — ?) Mansi XV., 849. — 9) Hincmari rhemensis an- 
nales ad annum 872, Perz L. 493 unten flg. 


Die Päbfte Sergius I., Leo IV., Nitolaug 1. ꝛc. 1063 


lothringiſchen Bifchöfe, welche die Parthei der Teutfchen ergriffen 
hatten und num der Rache des beleidigten Kaifers preisgegeben 
ſchienen, er vergißt jedoch, den Preis zu bezeichnen, um melden 
der Teutfche fi zur Abtretung verftanden habe. Allein die zwifchen 
Ludwig und der Kaiferin verabredete Maaßregel ift nie vollzogen 
worden, denn in einer öffentlichen Urkunde aus dem Jahre 873, von 
welcher tiefer unten Mehreres gejagt werden foll, erfcheint Ludwig 
der Teutfche als Landesherr der Iothringifchen Bisthümer, die durch 
die Theilung vom Auguft 870 fein Eigentbum geworden waren, 
und biefelben blieben vorerft beim teutfchen Reiche. Die Gefahr, 
welche dem neuen Erzbifchofe Cölln's von biefer Seite drohte, gieng 
daher fpurlos vorüber. Dagegen mußte Willibert, um fich den 
ruhigen Beſitz feines Stuhls zu fihern, dem niederen Clerus des 
Sprengeld Zugeftändniffe machen, welde für die ganze Kirche 
große Wichtigfeit erlangten, aber ſchon Yängft vorbereitet waren. 
Bon den älteften Zeiten an galt der Grundfas, daß den Bifchöfen 
allein die oberfte Verwaltung der Kirchengüter gebühre. Durch Eins 
führung des canonifchen Lebens unter Karl dem Großen war bie- 
jes ihr Recht noch mehr befeftigt worden, denn ſeitdem verhielten 
fich die Mitglieder des niedern Klerus zu den Bifchöfen, wie Klofter- 
mönde zu den Aebten. Aber der Umfturz der von Karl'n gegrün— 
deten Firchlichen Berfaffung untergrub das bisherige Verhältniß zwi⸗ 
fchen Sanonifern und Bifchöfen. Seit Lebtere den Metropolitan: 
Berband zu ſprengen begannen und dem Befehl ihrer vorgefegten 
Häupter trogten, glaubte auch der niedere Elerus nicht mehr zu 
unbedingtem Gehorfam gegen die Biſchöfe verpflichtet zu ſeyn. 
Namentlih wollten die Ganonifer nicht mehr in Bezug auf ihr 
Einfommen von der Gnade derfelben abhängen. Diefe Forderung 
war fehr natürlich. Mit demſelben Maas, mit welchem fie Andern 
gemeffen, wurden bie Biſchöfe wieder gemeffen! wer nicht gehorchen 
will, verdient auch nicht zu befehlen. Lange mögen die unzufriebe- 
nen Glerifer ihre Plane im Stillen gehegt haben: bie fehwierige 
Lage, in welche der Erzbifchof Gunther yon Cölln durch feinen Streit 
mit Pabſt Nikolaus gerieth, verfchaffte ihnen Gelegenheit, den Wunſch 
ihres Herzens zu befriedigen. Wie wir oben berichtet, I bewilligte 
Gunther im Jahr 864 den Canonifern feines Sprengels das Recht 





N) Seite 994 und 998, 


1064 II. Buch. Kapitel 12. 


freier Berfügung über einen großen Theil des BR Bermögens 
der Cöllner Kirche, und der König Lothar beftätigte 866 ben ab- 
gefchloffenen Vertrag. Aber folange derſelbe nicht durch eine Synode 
förmlich zum Kirchengefeb erhoben war, verfprach er wenig Dauer. 
Deshalb wurde die Wahl Willibert's klug benüst, um der neuen 
Einrichtung diefe letzte Weihe zu verichaften. Willibert verbanfte 
den Stuhl der Unterſtützung einer politiichen und firchlichen Par- 
thei. In ſolchen Fällen müſſen die Begünftigten die Gefälligfeiten 
ihrer Befchüger ftets um Opfer erfaufen. Offenbar war dieß auch 
bei Willibert's Wahl der Fall. Ende September 873 berief er 
eine Synode nah Cölln, auf welcher außer ihm die Metropoliten 
Liutbert von Mainz, Bertolf von Trier, die Bischöfe Bern: 
hard von Berden, Alfried von Hildesheim, Diederich yon 
Minden, Gerolf von Verdun, Luithard von Paderborn, Hil- 
dDigrim von Halberftabt, Hodolf von Münfter, Lubert von 
Osnabrück fammt vielen andern lerifern erjchienen. Die von 
Gunther vor 9 Jahren entworfene Uebereinfunft ) wurde verlefen, 
als Gefeg anerkannt, von ſämmtlichen Vätern unterzeichnet und 
‚durch fürchterliche Verwünfhungen, die man gegen jeden Webertre- 
ter ausftieß, gewahrt. Folgendes find die Hauptpunkte des neuen 
Geſetzes: 1) von dem Geſammt-Vermögen der Kirche wird für bie 
Canoniker fo viel ausgefchieden, als zu ihrem Unterhalt in alle 
Zufunft nöthig iſt; 2) den Canonifern fleht das Necht zu, über bie 
Art und Weife, wie fünftig Mitglieder gewählt werben mögen, wie über 
ihren Antheil am Stifts- Vermögen frei — ohne alle Einmifchung 
des Bischofs — zu verfügen; 3) der Probſt der Canonifer hat 
den erftien Rang in der Gefellihaft und genießt das größte Anfehen, 
Keines der Mitglieder darf über ihn geftellt werden, er entjcheidet 
mit dem Beirathe der Brüder die gemeinfamen Angelegenheiten; 
4) ohne Zuftimmung und Vorwiſſen des Probfts und der Canoni- 
fer fann der Erzbifchof Feine dem Stift gehörige Pfründe an An- 
bere vergeben, oder fonft das Eigenthum und die Rechte der Brüder 
beeinträchtigen; 5) jeder Canonifer ift für. alle Zeiten ermächtigt, 
fein Haus ‚und Eigentum zu verfchenfen, oder Kraft eines letten 
Willens nad feinem Tode an irgend einen Bruder zu vermachen, 
‚ohne daß der Bifchof Einrede erheben darf, oder um Erlaubniß 





') Die Alten abgedruckt bei Manfi XVIL, 275 fig. 


Die Päbſte Sergius II., Leo IV., Nikolaus I. ıc. 1065 


angegangen werben muß.. Der Name des Königs Ludwig bes 
Teutfchen fieht am Schluffe und Anfange der Urkunde, woraus 
erhellt, daß die im Jahr 870 von Karl dem Kahlen abgetretenen 
fothringifchen Bisthümer damals zum teutfchen Neiche gehörten, und 
folglich von dem König nit an den Kaifer Biäslgegeven wor⸗ 
den waren. 

Das Verhältniß der Canoniker zum Biſchofe erhielt von Nun 
an eine ganz andere Geſtalt. Sie errangen durch die neue Ein—⸗ 
richtung ungefähr diefelbe Unabhängigkeit von den Kirchenhäuptern, 
welche diefe mit den pfeudoifidorifchen Waffen über die Metropoliten 
erftritten hatten. Nach Unten wie nach Dben waren jest die alten 
Bande firaffen Gehorfams zerriffen, und damit der Umſturz Karo: 
Yinifcher Kirchenverfaffung vollendet. Da in andern Sprengeln 
diefelben Urfachen wirkten, wie im Cöllner, fo fand das hier gege- 
bene Vorbild bald bereitwillige Nachahmer. Die alte Weife des 
canoniſchen Lebens verfchwand im Laufe des folgenden Jahrhunderts 
und an bie Stelle defjelben trat die von Gunther zuerft eingerich- 
tete Ordnung der Domkapitel. | 

Während Hinfmar für die Nechte der neuftrifchen Krone wider 
den Stuhl Petri fämpfte, war in Gallien ein neuer kirchlicher Zwiſt 
ausgebrochen, in welchem, wie unter Nikolaus, Suffragane zu Gun- 
ften päabftlicher Uebermacht wider die Metropolitangemwalt fi erhoben. 
Und zwar mußte diefer Streit für Hinfmar doppelt ſchmerzlich feyn, 
weil derſelbe von einem feiner nächften Anverwandten ausgieng. 
Der Rheimfer Metropolit hatte) um 858 feinem gleichnamigen 
Neffen Hinkmar, einem damals noch fehr jungen Menfchen, das 
Bisthum Laon verſchafft, welches zum Sprengel des Oheims gehörte. 
Hinfmar fagt ?) in einem Briefe: der Neffe fey nach kaum vollen: 
beter Erziehung, gleich einem Vogel, der zum erftenmale aus dem 
väterlichen Nefte fliegt, zum Bifchofe gemacht worden. Feinde um- 
ringten den Metropoliten von allen Seiten, daher ift es nicht zu 
verwundern, daß er erledigte Stühle mit Leuten, auf die er ver: 
trauen zu dürfen hoffte, insbefondere mit Berwandten zu befeßen 
trachtete. Wenn er durch diefe Begünftigung der eigenen Familie, wie 
wir glauben, feine Pflichten gegen die Kirche hintanfegte, ſo war der 





) Dan fehe Histoire litteraire de la France V., 522 unten flg. — 
2) Hincmari Opp, II., 598 oben. 


1066 I. Buch. Kapitel 12. 


begangene Fehler wenigftens menschlich, und er hat ſchwer dafür 
gebüßt. Bald mußte er das was er für den Neffen gethan 
bereuen. Ein ungewöhnliches Maas von Hochmuth und Ehrfucht 
befeelte den jungen Biſchof. Durch Berbindungen, die er am neu: 
firifchen Hofe anfnüpfte, wußte er von Karl'n dem Kahlen eine 
Abtei, die in einem entfernten Sprengel lag, und überbieß ein Hof- 
amt zu erhafhen. Seitdem begab fich der jüngere Hinfmar, fo oft 
es ihm beliebte, an Hof oder in feine Abtei, ohne ben Metropoliten 
um Erlaubniß zu fragen. Dit Berufung auf mehrere Kirchen: 
gefeße verwies ihm der Oheim dieſes unregelmäßige Betragen, aber 
der Neffe kümmerte ſich nicht darum. Ebenſo troste er dem Befehle 
feines Oheims und Metropoliten, als ihn diefer aufforderte, bei Wei- 
bung des neuernannten Bifchofs von Cambray zu erfcheinen. Der 
jüngere Hinfmar fam nicht. ') 
Im Jahre 868 zerfiel er auch mit dem Könige. Ein Adeliger, 
deſſen Bater ein Gut des Laoner Stuhles zu Lehen trug, hatte 
bafjelbe nach dem Tode des Erfteren von dem jüngeren Hinfmar 
gleichfalls erhalten, war aber fpäter durch den Biſchof aus unbe- 
fannten Gründen wieder auggetrieben worden. Der Belchädigte 
führte Klage beim Könige, welcher den Bifchof zur Nede feste, 
aber eine fo ſchnöde Antwort erhielt, daß Karl der Kahle in hef- 
tiaftem Zorn entbrannte. Er lud den Bifhof von Laon vor ein 
weltliches Gericht, nahm ihm nicht nur die Hofbebienung und bie 
Abtei, fondern entzog ihm auch die Einfünfte feines Stuhles. So 
wenig bisher der Ältere Hinkmar Urſache gehabt, mit dem Betra- 
gen des Neffen zufrieden zu feyn, bielt er es dennoch für feine 
Pflicht, denfelben gegen die legte. Verfügung des Königs zu ſchützen, 
welche wirflich ein Eingriff in die geiftlichen Nechte war. Er erließ 
daher ein nachbrüdliches Schreiben ?) an den König, worin er es für 
Etwas Unerhörtes, ja für ein untrügliches Zeichen der Nähe bes 
jüngften Tages erklärt, daß Karl fih erfühnt habe, einen Bifchof 
weltlichen Gerichten zu unterwerfen und die Einkünfte feiner Kirche 
mit Befchlag zu belegen. Ein ſolches Verfahren, fagt er, wider: 
ftreite nicht nur den Verordnungen der römifchen Kaifer, der frän- 
kiſchen Könige und namentlid Karls des Großen, fondern audy ber 
Berfaffung, welche der neuſtriſche König auf dem Reichstage yon 


) Ibid. — ®) Hincmari opp, IIL., 316 flg. 


Die Päbſte Sergius IL, Leo IV., Nikolaus 1. ꝛc. 1067 


Beauvais ) (845), von Chierfey *) (858) und bei andern Gelegen: 
heiten aufs Feierlichfte befhworen habe. Sofort führt der Metro: 
polit noch andere Gründe an, die man aus feinem Munde nicht 
erwartet hätte. Er beruft fih nämlich auf Stellen aus den Bries 
fen der Päbfte Lucius und Stephanus, welche jede Verletzung von 
Kirchengütern aufs Schwerfte verpönen. Diefe Briefe gehö— 
ven zu den Stüden des falfhen Iſidor, aljo zu einem 
Gefegbuh, das wenige Jahre zuvor in Rothad's Sache als eine 
fo furchtbare Waffe wider den Nheimfer Metropoliten gebraucht 
worden war. Da er dennoch auch jet aus ihr Beweiſe entnimmt, 
fo folgt entweder, daß er ihre Nechtheit wirklich nicht bezweifelte, 
oder wenigſtens, daß er biefelbe öffentlich nicht anzugreifen für 
gut fand, und in einem befchränften Umfange, nämlich als fub- 
ſidiariſche Nechtsquelle, die pſeudoiſidoriſchen Stüde gelten Tieß. 
Hinfmar fährt weiter fort: „nach weltlichen und geiftlichen Gefegen 
dürfe ein Bifchof von Niemand anders, als von Seines= Gleichen 
gerichtet werden. Zwei Gewalten regieren laut einem Ausfpruche 
des Pabſtes Gelafius die Welt, die bifchöflihe und die königliche; 
erftere fey deshalb die wichtigere, weil bie Bifchöfe dereinft auch für 
die Könige Nechenfchaft geben müßten. Karl der Kahle möge daher 
die Gränzen feines Amtes nicht überfchreiten, damit es ihm nicht 
ergebe, wie dem Könige Ufias, der fich gleichfalls an dem Heilig: 
thum ‚vergriffen, aber auch ſchwer für feinen Frevel gebüßt habe.“ 
Die Borftellungen des Erzbifchofs blieben nicht erfolglos. Bor 
einer Reichsverfammlung, welche Karl der Kahle im Jahr 868 zu 
Piftres an der Seine hielt, ?) erichienen Oheim und Neffe. Letzte⸗ 
ver übergab den anweſenden Bifchöfen eine Schrift, ) in welcher 
er fich befchwerte, daß er den Klirchengefegen zuwider vor ein Laien: 
gericht geladen, und der Einkünfte feines Stuhles beraubt worden 
jey, fodann Wiedereinfekung verlangte, aber auch im Falle er den 
König beleidigt haben follte, Abbitte verſprach. Zugleich machte er 
ſich verbindlih, vor einer Synode der Bifchöfe feiner Provinz wegen 
aller Klagen, die wider ihn vorgebracht werden Fünnten, Rede zu 
fiehen, und der Entſcheidung derfelben Folge zu leiften. Im Falle 





1) Baluzii Capitul. IL, 19 Mitte fig. — ?) Ibid. ©. 100 Mitte flg. — 
3) Hincmari annales ad anunum 868, Perz IL, 480 gegen. oben. — *) Abge: 
druckt bei Manſi XVI., 779 flg. | 


1068 00T. Buch. Kapitel 12. 


man aber diefen Antrag zurücweifen würde, erflärte er feinen Ent- 
ſchluß, auf den Stuhl Petri zu berufen. Zwar machte hie: 
gegen der König geltend, daß ſchon feine Vorfahren das Recht aus- 
geübt hätten, Biſchöfe, welche ertheilte Lehen willkürlich zurücknähmen, 
an ihrem Hoflager zu richten, und daß er ſich diefe Befugniß nicht 
rauben laſſen werde; allein der ältere Hinfmar zeigte nun in einem 
Aufjage, ) welden er dem König zuftellte, daß jenes angebliche 
Recht früherer Herrjcher ein durch fpätere Capitularen aufgehobener 
Mißbrauch fey. Karl der Kahle gab nad. Der jüngere Hinkmar 
leiftete in ziemlich froftigen Ausdrücken die angetragene Abbitte ?) 
und wurde nun in feine Güter wieder eingeſetzt. Dieß war ber 
erfte Berfuh, den der Biihof von Laon gemacht hat, mit Hülfe 
des römischen Stuhls den Gefegen des fränfifchen Reichs zu trotzen. 
Andere folgten bald nad. 

Der Friede zwifchen dem jüngeren Hinfmar, feinem Oheime 
und dem Könige dauerte fehr Furze Zeit, und zwar war der An- 
laß zum neuen Hader ganz derfelbe, wie die Urfache des eben 
befchriebenen Zwiſt's. Seit den Zeiten der Testen Meromwinger 
hatte der Gebraud oder Mißbrauch nie vollig aufgehört, daß frän- 
fifche Könige ihren Günftlingen geiftliche Güter zu Lehen gaben. Unter 
Karl dem Großen wurde diefe Gewohnheit zwar befchränft, aber 
nie ganz aufgehoben, feine fpätern Nachfolger dagegen übten bie: 
felbe im weiteften Umfange. Ohne den Kirchen offene Gewalt an: 
zutun, mußten die Könige Mittel zu finden, daß die Bifchöfe 
fcheinbar freiwillig in Abtretungen willigen mußten. Beſonders 
häufig feheinen ſolche Zumuthungen bei Befegung erledigter Stühle 
gewefen zu feyn. Auf diefe Weife hatte nun auch der jüngere Hinf- 
mar ein Gut an den König von Neufter überlaffen, der es fofort 
dem Grafen Nortmann zu Lehen gab. Um die Mitte des Jahre 
868 machte jedoch der Bifchof einen Verſuch, das Eigenthum feiner 
Kirche wieder an fich zu ziehen; er verlangte von dem Grafen Wieder- 
erftattung des Guts, und als diefer die Herausgabe verweigerte, ver⸗ 
klagte er ihn bei dem Pabſte Hadrian II. Der Pabft fam den Bitten 
des Biſchofs auf's Bereitwilligfte entgegen, er erließ zu feinen Gunften 
zwei Briefe 3) an den Metropoliten von Rheims und an Karl'n 





1) Ibid, 781 fg. — 2) Die Formel ibid. ©. 780 unten. — *) Manfi 
XV,, 856 flg. ; ’ 


Die Päbſte Sergius IL, Leo IV., Nikolaus I. ꝛc. 1069 


den Kahlen. Habrian forderte darin den Einen wie den Andern auf, 
fie möchten dem Bilchofe von Laon, der vor Begierde die Schwelle 
der heiligen Apoftel zu beſuchen brenne, Feine Hinderniffe in Weg 
legen, dem Metropoliten befahl er überdieg, über Nortmann ben 
Bann zu verhängen, im Fall derfelbe die Güter des Laoner Stuhls 
länger zurüsbehalten würde. König Karl war im höchſten Grabe 
über diefe Schritte des Biſchof's aufgebracht, ") in welchen er ein 
Bergehen wider die Landeshoheit erblickte. Wirklich muß man aus 
Dem, was bisher berichtet worden, noch mehr aber aus den Be: 
gebenheiten, die wir fofort erzählen werben, ben Schluß ziehen, 
dag ſchon damals zwifchen dem Bifchofe von Laon und dem ypäbft 
lihen Stuhle eine enge Verbindung beftand, welche ſich mit der 
fränfishen Berfaffung nicht vertrug. Um feine durch früher befchrie- 
bene Umftände gefunfene Macht wieder zu heben, bedurfte Hadrian 
der Beihilfe einer fränliſchen Parthei. Er gewann alfo den jün= 
gern Hinfmar und außerdem einige Andere, denn der Bifchof von 
Laon war zwar ber lautefte, aber mehreren Anzeigen nach nicht der 
einzige Bundesgenoffe des Pabſts. Der Preis, mit dem man fie 
föderte, fcheint Unabhängigfeit yon Krone und Metropolitangewalt, 
oder genauer ausgebrüdt, das päbſtliche VBerfprechen gemefen zu 
jeyn, daß der Stuhl Petri die Güter der neuftrifchen Bifchöfe gegen 
Eingriffe der Könige, ihre Perfon gegen die Gerichtsbarfeit der Me— 
tropoliten fchügen werde. Weil der jüngere Hinfmar ſich eines 
ftarfen Rüdhalts verfichert wußte, trat er fo Fühn auf. | 
Karl der Kahle verweigerte zwar dem Bifchofe den vom Pabſte 
verlangten Urlaub zu einer Reife nah Nom, unternahm aber fonft 
nichts gegen benfelben. Der ältere Hinfmar erhielt den Auftrag, 
dem Pabfte zu antworten. In derſelben Zufchrift, in welcher er 
dem Statthalter Petri die oben angeführte Borlefung über fränfi: 
ſches Staatsrecht hielt, fpricht er fih auch über die Angelegenheit 
des Laoner Bifchofs auf eine Weife aus, die helles Licht über bie 
Umtriebe der römifchen Parthei verbreitet. „Ihr habt mir Befehl 
eriheilt,“ fchreibt ?) der Metropolit, „daß ich meinen Neffen fammt 
drei andern Kirchenhäuptern nah Rom abfchiefen fol, damit fie 
dort im Namen fünmtlicher neuftrifchen Bifchöfe einer Synode an= 





) Hincmari annales ad annum 868. Perz I., A480 gegen unten, — 
2) Opp. II., 700 untere Mitte, 


1070 I. Buch. Kapitel 42. 


wohnen.“ Der päbftliche Brief, auf den fich bier der ältere Hinkmar 
bezieht, ift nicht mehr vorhanden, aber aus der Stelle, welche er an- 
führt, erhellt, Daß eine Verbindung mehrerer neuftrifcher Biſchöfe gegen 
bie Krone im Werfe war, dag alfo der jüngere Hinfmar nicht allein 
ftand. Der Metropolit fest weiter dem Pabſte auseinander, daß 
er den erhaltenen Auftrag nicht vollziehen könne, weil ohne Erlaub: 
niß des Königs fein Bischof das Neich verlaffen dürfe. Der jüngere 
Hinkmar und feine Mitverfehwornen mußten zu Haufe bleiben. 

Da indeg der Graf Nortmann das Lehen nicht herausgab, 
bewaffnete der Biſchof von Laon eine Notte feiner Grundbholden, 
überfiel mit ihnen das Gut, warf die eben in den Wochen liegende 
Gattin des abwejenden Grafen aus dem Haufe heraus und plün— 
derte Kiften und Keller. ) est klagte Nortmann bei dem König 
und Diefer Iud den Bischof vor Gericht, Als er nicht erfchien, wurbe 
eine Schaar Hofdiener abgeſchickt, um ihn mit Gewalt abzuholen, 
worauf ſich der jüngere Hinfmar an den Altar feiner Kirche flüch: 
tete. Hätten es nicht einige Biſchöfe verhindert, fo wäre er vom 
Altare weggeriffen worden. ?) Abermal trogte er der Borladung 
und fchleuderte fogar den Bann gegen die Hofdiener, ?) die meift 
aus Grafen beftanden. Bald darauf (Ende April 869) berief der 
König eine Synode nad) Berberie, vor welcher fich endlich der un- 
gehorfame Biſchof ſtellen mußte. Durch ſchwere Anflagen gedrängt, 
erflärte er von Neuem, daß er auf den Pabſt berufe und forderte 
Urlaub zu einer Reife nah Nom. Man ſchlug ihm die Erlaubnig 
ab, Nun verhängte der Biſchof das Interdift über feine Gemeinde, 
indem er ſämmtlichen Geiftlichen des Laoner Sprengels für die Zeit, 
während man den gemwünfchten Urlaub verweigern und ihn dadurch 
in einem Zuftand perfünlicher Unfreiheit halten würde, die Hebung 
jeden gottesdienftlichen Gebrauchs unterfagte. Keine Mefje follte 
gelefen, fein Kind getauft, fein Büßender freigefprochen, Fein Kran 
fer mit den Sterbfaframenten verfehen, Fein Todter zu Grabe ge- 
leitet werden. Zur Strafe für diefe, damals noch unerhörte Maaf- 
regel, ließ ihn der König verhaften und in’s Gefängniß werfen. In: 
deſſen herrſchte Schrerfen im Laoner Sprengel. Der Clerus wendete 





1) Mansi XVI., 679 unten. — *) Hincmari annales ad annum 869. 
Perz L, 480 unten. — 3) So verftehe ich die Erzählung des Älteren Hink- 
mar, Opp. IL, 599 oben. 


Die Päbſte Sergius II., Leo IV., Nikolaus T. ıc. 1074 


fih in feiner Noth an den Erzbiſchof yon Rheims, worauf biefer 
erft den Neffen zur Zurüdnahme feines Befehls ermahnte, und als 
alle Borftellungen nichts nüsten, den Bann aus eigener Machtvoll- 
fommenbeit aufhob, indem er den betreffenden Geiftlichen durch eine 
Sammlung von Kirengefegen und Concilien-Beſchlüſſen bewies, 
daß die feelengefährliche Verfügung ihres Biſchof's Feine Gültigkeit 
babe. ) Wir müffen hier die oben gemachte Bemerkung wieder: 
bolen. Das Verfahren des jüngern Hinfmar beweist nicht bloß 
Trog, fondern aud Vertrauen auf einen mächtigen Schutz. Die 
Geiftlichfeit des Laoner Sprengel gehorcht zitternd dem Interdikt, 
obgleich fie weiß, daß diefe graufame Anordnung vom Erzbifchofe 
wie vom Könige mißbilligt wird. Auch der Metropolit hebt den 
Bann nicht einfach durch einen Befehl auf, fondern er beweist erft 
den niedern Clerikern, feinen Untergebenen, aus eigens zu dieſem 
Zweck zufammengeftellten Kicchengefegen,, daß der Biſchof von Laon 
fein Recht habe, jene Berfügung zu treffen. Offenbar handeln 
Beide in der Borausfegung, als ob der jüngere Hinkmar auf die 
Unterftüsung einer gewaltigen Macht — des Pabſtes — rechnen 
dürfe Noch ftärker zeugt für diefe Annahme die Thatfache, daß 
der fchuldige Bifchof, der doch den König und Metropoliten fo grob 
beleidigt hatte, nad) kurzer Zeit *) wieder aus feiner Haft entlaffen 
wurde, | 

Kaum frei geworden, feste ber Neffe den Kampf gegen ben 
Oheim fort. Der Sammlung, welde ber ältere Hinfmar an bie 
Cleriker des Laoner Sprengels überſchickt hatte, um bie Unrecht: 
mäßigfeit des Interdikts zu beweifen, flellte er eine andere entgegen, 
welche aus (pfeudoifidorifchen) Briefen vornicänifcher Pähfte beftand, 
und laut der Behauptung des Oheims ?) dahin zielte, das Anfehen 
der Metropoliten und der Provincialfynoden zu erniebrigen. Der 
Bischof befräftigte diefe Sammlung nicht blos durch feine eigene Na— 
mensunterfchrift, fondern nöthigte auch die ihm untergebenen Cleriker 
biefelbe zu unterzeichnen. *) Auch außerdem ergriff er begierig jede 





') Meber den ganzen Borgang vergleiche man bie zwifchen dem ältern 
Hinkmar, feinem Neffen und dem Laoner Clerus gewechfelten Briefe. Manſi 
XVL, 809 unten flg., fowie Opp. Hincmari II,, 599 flg. — ?) Der ältere 
Hinkmar fagt Opp. U., 599 Mitte: die Haft habe aliquantulum, d. h. 
ganz kurze Zeit gedauert: — 3) Ibid. unten. — *) Ibid. 600 oben. 


1072 II. Buch. Kapitel 12. 


Gelegenheit, den Oheim zu kränken. Der Metropolit hatte einen 
gewiſſen Nivinus wegen Entführung einer Nonne auf fo lange mit 
bem Banne belegt, bis derfelbe entweder Buße thun, oder feine Un: 
ſchuld beweiſen würde; hierauf war der Gebannte in den Spren: 
gel von Laon eniflohen und von dem Bifchofe aufgenommen worden. 
In einem unter dem 13. Februar 870 gefchriebenen Briefe 9 
machte deßhalb der Oheim dem Neffen Borwürfe. Troßig antwor⸗ 
tete ?) der Neffe: Unrecht fey dem Nivinus widerfahren, ohne feine 
Bertheidigung anzuhören, habe ihn der Metropolit fortgejagt. So: 
fort ſchweift er von ber eigentlichen Frage auf feinen Lieblinge: 
Gegenftand hinüber, indem er aus lauter pfeuboifidorifchen Dekre— 
talen darthut, dag man feinen Biſchof ohne die genügendften Be: 
weife für fchuldig halten, fowie bag nur der Pabſt Kirchenhäupter 
richten, und daß ohne Genehmigung des Stuhles Petri auch Fein 
Eoneil berufen werben dürfe. Noch über einen andern Punkt ent: 
zweiten fie fih um biefelbe Zeit. Bon einem Adeligen Namens 
Sigbert, dem das Recht Priefter für eine im Sprengel von Laon 
gelegene Capelle vorzufchlagen zuftand, war Yängft ein Leibeigener 
der Nheimfer Kirche, Senatus, prafentirt worden. Da ein Geſetz 
des Kaiſers Ludwig vorfchrieb, ?) daß Leibeigene erft freigelafien 
werden müßten, ehe fie zum Kirchendienft verwendet werden könn⸗ 
ten, hatte der Metropolit von Nheims das Anerbieten gemacht, 
Senatus auf den Fall freizugeben, wenn derfelbe für die Capelle 
geweiht werden würde, aber fein Berfprechen nicht fofort erfüllt. 
Gleichwohl bediente Senatus ohne Weihe die Capelle mehrere 
Jahre lang. Plötzlich fchiefte ihn aber der jüngere Hinfmar fort. 
As nun der Metropolit Klage führte, entgegnete *) der Bifchof 
von Laon, daß nicht er, fondern der Oheim wider das Geſetz des 
Kaifers Ludwig ſich verſtoßen habe. Zugleih kam er auf feine legte 
Haft und die Berufung nad) Nom zu reden, indem er erfiere dem 
Metropoliten fchuld gab, die Nechtmäßigfeit der zweiten aus pſeu— 
doiſidoriſchen Defretalen erhärtete. A 

Während diefe und ähnliche, an fi unbedeutende, Streitigfeis 
ten die Stimmung des Oheims wider den Neffen verbitterten, berief 
König Karl in den erfien Monaten des Jahrs 870 die hohe Geift- 





1) Ibid, IL, 334. — 2) Ibid. 335 flg. — 8) Siehe oben ©. 719, — *) Die. 
Antwort des Neffen ibid. 341 Mitte flg. 


Die Pähfte Sergius IT. , Leo IV. , Nikolaus I. x. 1073 


fichfeit des Reichs nach Gundeville. Nebft den andern Bifchöfen 
erfehienen auch die beiden Hinfmare, Alle Anwefenden bezeugten 
dem Metropoliten von Rheims die gebührende Ehre, nur der Neffe 
hielt fih fern, forac) fein Wort mit dem Oheim und gab ihm den 
üblichen Kuß des Friedens nicht. Als ihn der Erzbifchof von Rouen, 
Wenilo, darüber zur Nede ftellte, fagte ‚er rund heraus, daß er ſich 
mit dem Oheime nicht eher verjühnen könne, als bis derfelbe die 
Schrift, mit welcher er das Interdikt aufgehoben habe, öffentlich 
verbrennen und fein Unrecht eingeftehen würde. Zugleich berief er - 
fih, um die Rechtmäßigkeit jenes Banns zu beweifen, darauf daß 
ja der Metropolit felbft die Einwohner eines gewiffen Weilers, 
weil diefe den fehuldigen Zehnten an die Kirche zu Rheims nicht 
entrichten wollten, gebannt habe. ) Der ältere Hinfmar, wels 
chem Wenilo die Antwort feines Neffen hinterbrachte, erklärte 
legteve Behauptung für eine baare Lüge und ließ den Bifchof von 
Laon auffordern, daß er die zwifchen ihnen wegen des verfuchten 
Interdikts gemwechfelten Schriften ausliefern folle, damit fie von der 
Synode gepräft werden fünnten. Der Neffe entfchuldigte fih, daß 
er die verlangten Papiere nicht bei der Hand habe, übergab aber 
dagegen dem Erzbifchofe Wenilo eine neue Sammlung von Stellen 
aus Defretalen mit der Bitte, diefe Auszüge dem Oheim einzu: 
händigen, was jofort am Abende beffelben Tages gefchah. In der 
Naht noch Tag der ältere Hinfmar die Sammlung durch und über: 
ſchickte am folgenden Morgen dem Biſchofe von Laon eine fehrift 
liche Beantwortung. ?) Die Synode löste fih auf. Oheim und Neffe 
ſchieden gefpannter als fie gefommen waren. 

Im Mai des nämlihen Jahres trat zu Attigny eine neue 
Synode zufammen, auf welcher die Biſchöfe von 10 Kirchenprovin- 
zen des neuſtriſchen Reiches erfchienen. Neben andern wichtigen 
Gegenftänden kam auch die Sache des jüngern Hinfmar zur Sprache. 
Der Metropolit hatte in der Zwiſchenzeit die kurze Schrift, welche 
er dem Neffen in Gundeville zugeſchickt, zu einem weitläuftigen 
Buche von 55 Kapiteln ausgearbeitet. Im Angefiht der Berfamm- 
lung überreichte er daffelbe dem Neffen mit der Ermahnung, von 
feinem bisherigen Ungehorfam abzulaffen. 9) Beides, die oben: 





) Opp. IL, 386 fig. F 2) Hincmari Opp. II. 398. — °) Man ſehe 
über ben Bergang ‚der Verhandlungen zu Atiang ben Bericht Manfi XVL, 


856 flg. 
&frörer, Kircheng. TIL. 68 


1074 II. Bud. Kapitel 12. 


erwähnte zweite Sammlung des jüngeren Hinfmar !) und bie auge 
führlihe Gegenfchrift des Oheims ?) ift noch vorhanden. Der Auf: 
fag des Neffen beginnt mit 10 an den König Karl gerichteten 
Diftihen, in welchen er das Necht freier Berufung auf den römis 
fhen Stuhl feiert. Auch der Oheim ftellte feiner Schrift eine Reihe 
yon 72 Diftihen voran, worin die Suffragane belehrt werben, 
ihren Metropoliten die fehuldige Unterwürfigfeit zu bezeugen. So: 
fort widerlegt theild der ältere Hinfmar die Auszüge des Neffen, 
oder die Befchuldigungen, die derfelbe im Laufe des Streits wider ihn 
erhoben hatte, theils weist er die Unrechtmäßigfeit feines Verfah⸗ 
rens nad. Im erften Kapitel zeigt er, was für eine Bewandtniß 
es mit Beftrafung der Bewohner des Weilers habe, die den Zehn: 
ten an die Kirche von Nheims nicht bezahlen wollten, im zweiten, 
dritten und vierten rügt er die früheren Gewaltthätigfeiten des Bi: 
ſchofs, und namentlich das unverſchämte Verlangen, daß der Die: 
tropolit die Schrift, mit welcher das über den Sprengel von Laon 
verhängte Interdikt niedergefchlagen worden, felbft verbrennen folle. 
Dem älteren Hinfmar war die Aeußerung feines Neffen hinterbracht 
worden: er befümmere fich nichts um den Metropoliten von Rheims, 
da der päbftliche Stuhl ſchon zwei Urtheile beffelben, das eine in 
der Angelegenheit Wulfad’s, das andere in Rothad's Sache nichtig 
erklärt babe. Er belehrt daher im 5ten Kapitel den Biſchof von 
Laon, daß jene beiden Urtheile feineswegs vernichtet, fondern aus 
Rückſichten chriftlicher Milde gegen die Schuldigen abgeändert wor: 
den feyen. Weil der Neffe ferner gegen Andere fi gerühmt hatte, 
er wolle es zur Strafe für das aufgehobene Jnterbift noch dahin 
bringen, daß der Erzbifchof von Rheims feine Meſſe mehr fingen 
dürfe, fo hält er ihm im 6ten Kapitel eine Vorleſung über bie 
Rechte der Metroppliten und ihre Vorzüge vor einfachen Suffraga- 
nen. „Der Metropolit,“ fagt er, „hat allein die Befugniß Syno: 
den zu berufen, und alle Sufftagane find verbunden, auf feinen 
Ruf zu erfcheinen; Fönnen fie nicht kommen, fo müffen fie ſich durch 
Abgeordnete entfehuldigen, im Weigerungsfall verfallen fie einer 
Strafe. Jede Klage gegen Suffragane muß zuerft vor den Metro: 
politen gebracht werden, und biefer beftätigt entweder bie von dem 
Angeklagten gewählten Richter, oder ernennt er andere. Nur ber 


En 


1) Abgedruckt Hincmari opp. IL, 355 — 376. — 2) Ibid. 382 — 593, 





Die Päbfte Sergius II., Leo IV., Nikolaus I. ꝛc. 1075 


Metropolit kann die Biſchöfe feiner Provinz weihen, und eine ohne 
feine Zufimmung vorgenommene Weihe hat feine Gültigkeit, wähe 
vend Widerfprüche, welche einzelne Suffragane gegen einen vom 
Metropoliten geweihten Bischof erheben, dem Afte feinen Eintrag 
thun. Stirbt ein Suffragan, fo fteht dem Metropoliten das Recht 
zu, einen Stellvertreter für die verwaiste Kirche zu ernennen, eine 
neue Wahl auszufchreiben, den Gewählten zu prüfen und zu beftäti- 
gen. Kein Suffragan darf den Verfügungen des Metropoliten, fo: 
fern diefelben Nichts wider den Glauben enthalten, feine Unter: 
fchrift verfagen, auch darf feiner ohne die Zuſtimmung des Metropo: 
liten ein Gut feiner Kirche verfaufen oder verpfänden. Bon dem 
Urtheile eines Biſchofs kann man an den Metropoliten berufen, 
und wenn der Suffragan einen untergeordneten Clerifer oder einen 
Laien mit dem Banne belegt hat, mag der Gebannte je nach Um: 
fländen in einer Verſammlung der Bifchöfe, felbft wider den Willen 
beffen, der den Bann verhängte, vom Metropoliten losgeſprochen 
werden. Der Metropolit hat die ganze Provinz unter feiner Ob: 
hut; der Suffragan regiert blos bie ihm untergebene Gemeinde; 
alle gemeinfame Angelegenheiten müffen an Erfteren gebracht wer: 
den, und nichts Wichtiges darf der Suffragan ohne feinen Rath 
unternehmen; nicht einmal an den Stuhl Petri darf er ſich wenden, 
ohne den Metropoliten vorher befragt zu haben, deßgleichen kann 
er ohne Einwilligung deffelben feine Reife antreten. Glaubt ein 
Suffragan fi über einen Urtheilsſpruch feines Metropoliten be 
fchweren zu fünnen, fo mag er gemäß den Schlüffen von Sardifa 
und den Defveten einiger Pähfte fih vom apoſtoliſchen Stuhle Rich: 
ter erbitten. Läßt dagegen ein Suffragan fih ein Vergehen zu 
Schulden fommen, fo hat der Metropolit nicht nöthig, erſt eine 
Synode zu berufen, oder mit den Biſchöfen der Provinz Rück- 
ſprache zu nehmen, fondern er beftvaft einfach nad) den beftehen: 
ben Geſetzen das begangene Unrecht.“ Es ift das Kirchenrecht Karl's 
des Großen, was bier der ältere Hinfmar entwidelt, mit der ein: 
zigen Ausnahme, daß er die Befchlüffe von Sardifa anerfennt, 
welche der fränkische Kaifer nicht gelten ließ. Seine älteren Ber: 
träge mit dem römiſchen Stuhle ") nöthigten den Metropoliten zu 
dieſem Zugeſtändniß. 





2) Siehe oben Seite 981. 
| 68 * 


41076 SE Buche Kapitel 12; 


Im Ten Kapitel wird der Bifchof von Laon getadelt, weil er 
ſchon zum zweitenmale, ohne vorher nad) der Vorſchrift der Cano⸗ 
nes feinen Metropoliten zu befragen, oder fein Urtheil abzuwarten, 
Berufung nah Rom einlegte; im Sten, weil er Briefe des Pabſts, 
die fi auf feine Appellation bezogen, ihm (dem Metropoliten von 
Rheims) und dem Könige nicht unmittelbar, wie das Geſetz ver: 
lange, fondern durch Erzbifchöfe entfernter Provinzen übergeben 
habe. Das 9te Kapitel rügt das Verfahren des Biſchofs gegen 
einen Mönch yon St. Denis. Mit dem 10ten Kapitel beginnt er 
feine Meinung über die vom Neffen gefammelten pſeudoiſidoriſchen 
Defretalen zu fagen. Er bezeichnet kurz und treffend ihren Geift 
durch den Sag: fie feyen eine den Rechten fämmtlider 
Metropoliten geftellte Mäufefalle ) Gleichwohl greift 
er ihre Aechtheit nicht an, fondern bilft ſich mit einer feinen und 
fharffinnigen Unterfheidung. Der jüngere Hinfmar hatte ſich auf 
- biefelbe Stelle eined DBriefes von Leo dem Großen berufen, ben 
auch Pabſt Nifolaus in dem Streite gegen Rothad hervorhob: 
dag man den Verordnungen Folge leiften müffe, welche die römi— 
fchen Oberhirten über kirchliche Ordnung und Zucht befannt gemacht 
hätten. Feſt an den von Leo gebrauchten Ausdrud ſich anflammernd, 
erflärt nun der Metropolit, es fey ein mächtiger Unterfchied zwi— 
ſchen „Öefege geben,“ und „Berfügungen über bereits 
beftehbende Rechte erlaffen.“ Leo habe, indem er jenes Wort 
wählte, angedeutet, daß alle ypäbfilihe Verordnungen auf früher 
vorhandene Synodalſchlüſſe fih ftügen müßten. Demgemäß führt 
er aus einer Menge römifcher Urfunden den Beweis, daß die Päbſte 
ſelbſt fets die Gültigkeit ihrer Defvetalen auf Concilien-Beſchlüſſe 
gegründet hätten, daß überhaupt nichts gelte, was mit ben Conci—⸗ 
lien ftreite, und daß aud der Stuhl Petri nichts wider das An- 
fehen der Kirchenverfammlungen anordnen könne. Dberfte Rechte: 
quellen der Kirche feyen folglich die allgemein anerfannten Canoneg, 
und päbftliche Erlaffe Haben nur in fofern Gefekesfraft, als fie mit 
diefen übereinftimmen. In den Kapiteln 11 — 19 zeigt der Metros 
yolit, daß der jüngere Hinfmar aus feiner argliftig abgefaßten 
Sammlung viele Defrete älterer Päbſte weggelafien habe, welche 
den Suffraganen pünktlichen Gehorfam gegen ihre Erzbiſchöfe ein- 


1) Opp. I. 415 gegen unten. Wir haben diefe Stelle ſchon oben Seite 
792 benügt. 180 N Ri € 





Die Päbſte Sergius II., Leo IV., Nikolaus I. ıc. 1077 


fhärfen, daß der Laoner Stuhl durch den heiligen Nemigius von 
Rheims gegründet, und daher dem letztern Unterwürfigkeit fchuldig, 
und dag Hochmuth die Triebfeder aller Fehler des Neffen fey, ber 
felbe Hochmuth, der fchon fo viele Ketzer verleitet habe, theils die 
Bibel zu verdrehen, theils wider die kirchliche Ordnung ſich aufzu: 
lehnen. Im 2often Kapitel fommt er wieder auf die Auszüge des 
Neffen zurüd, „Manches finde fich,* jagt er, „in den Defreten 
der Päbſte, wie auch in Stellen der heil. Schrift, was ſich bei'm 
erften Anblick zu widerfprechen ſcheine, aber doch bei gehöriger Unter: 
fheidung der Perfonen, Orte, Zeiten wohl übereinftimme So 
werde 3. B. in den vom Neffen ausgezogenen Briefen der Grund: 
ſatz aufgeftellt, daß ohne Zufimmung und Geheiß des 
Stubles Petri feine Synode zufammentreten dürfe, 
während doch ‚die nicänifchen, chalcedonifchen, antiochenifchen und 
afrifanifchen Schlüffe, ja auch die Dekrete einiger Päbſte, wie Sn: 
nocenz, Leo, ©regorius 1. es den Metropoliten zur Pflicht machen, 
in regelmäßigen Zwiſchenräumen Synoden zu berufen. Aus Lebtes 
rem erbelle, daß die Metropoliten, fo oft fie ihre Bifchöfe verſam⸗ 
meln, dem Willen des päbftlihen Stuhles gemäß handeln, folglich 
müffe man jenen entgegengefettten Ausſpruch auf allgemeine Con: 
eilien befchränfen, die allerdings nicht ohne befondere Erlaubniß 
bes Pabſts verfammelt werden dürften. Hinfmar zählt 6 allgemeine 
Kirchenverfammlungen auf: die nicäniihe unter Pabſt Syivefter 
und Kaifer Conftantin dem Großen wider Artus; die erfte eonftan- 
tinopolitanifche unter Pabſt Damafus wider Macedonius und Eudo: 
xius; die ephefinifche unter Cöleſtin wider Neftorius; die chalcedo- 
nifche unter Leo wider Eutyches; die zweite conftantinopolitanifche 
unter Bigilius wider Theodorus und alle Keter; die dritte conftan- 
tinopolitanifche unter Agatho wider die Monotheleten gehaltene. 
„Eine 7te,“ fährt er fort, „wurde nicht Yange vor unfern Tagen 
ohne Zuftimmung des Stuhles Petri wegen ber Bilder berufen, 
aber fie bat Feine Gültigfeit. Karl der Große ließ dieſe falfche 
Synode der Griechen durch eine allgemeine Kirchenverfammlung, 
bie er nach Frankfurt ausfchrieb, gemäß der heiligen Schrift und 
ber Leberlieferung widerlegen. Sch felbft ſah in jüngeren Jahren 
am Hoflager das große Werk, welches die Widerlegung enthielt,“ Y) 
Hinfmar meint die farolinifchen Bücher. 


1) Opp. II., 457 Mitte, 


1078 II. Bud, Kapitel 42. 


Weil der jüngere Hinkmar in feiner Sammlung ein pfeubo: 
iſidoriſches Schreiben des Athanaſius und der ägyptiſchen Priefter 
an Pabſt Marfus, laut welchem das nicänifche Concil 70 Be: 
fchlüffe gefaßt haben follte, fowie Briefe der Päbfte Julius und 
Selir, die fi) ebenfalls auf diefe Schlüffe bezogen, angezogen hatte, 
fo führt der Metropolit im 2iſten Kapitel den hiftorifhen Beweis, 
daß auf der Kirchenverfammlung von Nicäa nicht mehr als zwan: 
zig Ganones gegeben worden ſeyen, läßt aber dabei die Glaub: 
würbigfeit jener pfeudoifidoriichen Stüde unangefochten. Im 22ften 
zeigt er fodann, daß eine Stelle des heiligen Gregorius, aus wel- 
cher der Neffe gefolgert hatte, daß ein von der Kirche verhängter 
Bann nicht einfeitig aufgehoben werben birfe, anders zu erfläs 
ren fey. 

Früher ift erzählt worden, ) bag Pabſt Nikolaus die Verords 
nung des chalcedoniſchen Concils (Canon 9): ein Bifchof, der über 
feinen Metropoliten fih zu beflagen habe, folle feine Beſchwerde vor 
den Primas der Didcefe oder den Patriarchen von Conſtantinopel 
bringen, in der Sache Nothad’s zu Gunften des Stuhles Petri 
benüste, indem er den Schluß darauf gründete, ein Recht, das 
dem Patriarchen von Byzanz eingeräumt worden, müffe in noch 
höherem Maaße dem Pabfte zuſtehen. Diefelbe Schlußfolge hatte 
auch der jüngere Hinkmar in feiner Sammlung gezogen. Dagegen 
fucht num der Metropolit im 23ften Kapitel darzuihun, daß ber 9te 
und 17te Canon jenes Concils fo wenig vom Stuhle Petri aner: 
fannt worden fey, als der 28fte, welcher dem Patriarchen des Oſtens 
den zweiten Rang nah Nom zugeftebe. Nachdem er fofort im 
24ften Kapitel gezeigt, daß bie fogenannten apoftolifchen Canones, 
auf welche fich der Biſchof von. Laon gleichfalls berief, nicht den 
Apofteln felbft, ſondern der Heberlieferung apoftolifcher Männer ihren 
Urfprung verdanken, und Manches enthielten, was Billigung ver: 
diene, aber auch Bieles, was nicht angenommen werben fünne, 
geht er auf.einen andern wichtigen Gegenftand über. : Im Laufe 
des Hten Jahrhunderts Fam eine Firchenrechtlihe Sammlung zum 
Vorſchein, welche man gewöhnlich einem Bischof Angilvam von 
Mes zufchrieb, der unter Karl dem Großen lebte. - Die Sage ging, 
Angilram habe diefes Werk für Pabft Hadrian I. zufammengeftellt. 





2) Siehe oben ©. 1015. 





Die Päbſte Seraius II., Leo IV., Nikolaus I. ıc. 1079 


Daſſelbe ift noch vorhanden, !) und enthält falfche Briefe alter Päbſte, 
die auch bei Pfeudoifidor vorfommen. Noch im vorigen Jahrhun: 
dert nahmen ausgezeichnete Gelehrte an, daß Angiltam wirklich 
zuerft Defretalen erdichtet habe, und vom Verfaſſer des falfchen 
Iſidor benügt worden ſey, bis die Brüder Ballerini das Gegen: 
teil darthaten, indem fie zeigten, ?) daß die angeblidhe Samm: 
lung Angilram's nichts weiter als ein Auszug des falfchen Zfidor 
it. Der jüngere Hinfmar hatte Mehreres aus der Schagfammer 
Angiiram’s entlehnt. Daher weist nun der Oheim nach, theils daß 
Angilram’s Sagungen dem beftehenden Kirchenrecht widerftreiten, theils 
daß die Grundfäße, welche in ihnen enthalten feyen, das Betragen 
des Neffen verdammen. „Alle Mühe,“ ruft er ®) aus, „die Du dir 
gabft um zu zeigen, dag Du Niemand unterworfen feyeft als dem 
Pabft, und von Niemand gerichtet werden Fönneft, als vom Stuhle 
Petri, ift verfchwendet, denn die Geſetze, auf welche Du dich berufit, 
zeugen wider dich felbft.“ Im Folgenden führt er dem Neffen zu 
Gemüt, er folle ja nicht glauben, daß er die Defretalen der alten 
Päbſte und die Sammlung Angilram’s allein befige, und deßhalb 
nach Gutdünken abgeriffene Stellen daraus entnehmen fönne, denn 
diefe beiden Schriften ſeyen längft im ganzen Lande verbreitet und 
in Jedermanns Händen. Ein merkwürdiges Zeugniß! welches zu- 
gleich die Bermuthung Spittler’s, *) daß der jüngere Hinfmar Ur: 
beber der Angilram’schen Kapitel fey, fehlagend widerlegt. Denn 
hätte fie der Biſchof von Laon erft damals geſchmiedet, fo fonnten 
fie unmöglich fchon allgemein verbreitet. ſeyn. Vielmehr muß man 
aus jener Aeußerung den Schluß ziehen, dag Pfeudo-Angilram um 
weniges jünger feyn dürfte, als der falfche Iſidor. 

Im 2öften und 26flen Kapitel jucht der Metropolit darzuthun, 
daß kraft einer deutlichen Erklärung des Pabſtes Gelafius ein großer 
Unterfchied zwiſchen Coneilienfchlüffen und den Defretalen der römi- 
ſchen Biſchöfe ftattfinde, Diefer fage in feinem berühmten Geſetz 
über die canonifchen Schriften: die Concilienfhlüffe müßten von aller 
Welt befolgt und heilig gehalten werben, von den Delre⸗ 





1 Abgebrudh bei Harzheim concilia Germaniae I, 249 fig. auch in an⸗ 
dern Concilienſammlungen. — 2) De antiquis canonum collectionibus III, 
cap. 6, $. 2. in ihrer Ausgabe von Leo’s Werfen Vol. III. oder auch bei 
Gallandius sylloge dissertationum, Folivausgabe ©. 210. — 3) Opp. II, 
476 Mitte. — *) Gefchichte des canonifchen Rechte. Werke J., 248. 


1080 2000 EL Buch. Kapitel 12. 


talen dagegen brauche er den Ausdrud, daß man fie mit Ehrfurcht 
entgegennehmen folle. Jene hätten daher bleibende Gültigfeit, in 
diefen fey Vieles blos örtlich und zeitlich, woher es denn auch komme, 
das fie manchmal felbft den Sasungen der allgemeinen Synoben 
widerfprächen. Zwar verdienen fie, um ihrer Verfaſſer willen, Ad: 
tung, gleichwohl dürfe man in Bezug auf fie die von Gelaſius 
felbft empfohlene Negel: prüfet Alles und das Beſte bebaltet, nicht 
vernachläßigen. „Er wolle damit,“ fährt der Metropolit fort, „keines⸗ 
wegs behaupten, daß die Defretalen Dinge enthalten, welche nicht 
gut feyen, fondern nur, daß fie nicht überall mit den heiligen 
Canones übereinftimmen; es verhalte fih mit ihnen, wie mit dem 
mofaifchen Geſetz, welches ver Apoftel Paulus recht und gut nenne, 
aber blos für die Zeiten des alten Bundes. Die Schreiben der 
alten Päbfte feyen gut für ihre Zeiten gewefen, aber feit die allge: 
meinen Kirhenverfammlungen bleibende Geſetze eingeführt hätten, 
müffe man ſich an biefe halten.“ 

In den folgenden Kapiteln 27 — 55 vertheibigt er theils die 
Rechte der Metropoliten und fein eigenes Verfahren im Laufe des 
Streits, theils züchtigt er den Hochmuth, Unverftand, Leichtfinn 
und Geiz des Neffen. An einigen Stellen bricht feine Erbitterung 
über die von dem Biſchofe gefammelten Defretalen in ſtarken Wor— 
ten hervor; er nennt fie ein zufammengeftoppeltes Machiwerf, I) er 
vergleicht fie mit einem Giftbecher, an deſſen Nand ein wenig Ho: 
nig geftrichen fey,.und mit bem Apfel, welchen Satan unfern Stamm: 
eltern hinhielt, fprechend, efjet jo werden eure Augen geöffnet und 
ihr werdet feyn wie Götter, während doch der Böſe dem erſten 
Menfchenpaare ftatt des verbeißenen Gutes bie Gabe des ewigen 
Lebens entriß, und baffelbe überdieß in die tieffte Sklaverei 
ſtürzte. „Wenn der Neffe,“ fährt er fort, „gewiſſe Biſchöfe 
zur Annahme jenes Machmerfs anreize und zu ihnen fpreche: 
nehmet und verfechtet mit mir diefe Defreialen und Ihr werdet Nie: 
mand unterworfen ſeyn, als dem Pabite allein, fo heiße dieß eben: 
foviel, als wenn er fagte: zerftört mit mir die göttliche Ordnung, 
welche einen Unsterfchied der Würde im bifchöflihen Stande ein: 
geführt hat.“ Abermal giebt hier der Metropolit zu verfieben, daß der 
jüngere Hinfmar nicht allein fand, fondern eine Parthei für fich 
gewonnen hatte. Hinfmar von Rheims fließt die Schrift mit 


i) Opp. IL, 559 gegen unten flg. 





Die Päbſte Sergius IT, Leo IV., Nikolaus I. x. 1081 


ber Erklärung: ') wenn auch ber Neffe diefer Stimme ber War: 
nung fein Gehör ſchenke, habe doc wenigftens er das Geinige 
gethban und hoffe auf einflige Vergeltung, da ja aud der Bader 
feines Lohns nicht verluftig gehe, wenn gleich "der Mohr, den er 
gewafchen, fo ſchwarz aus dem Babe wieder heraus als 
er hineingeſtiegen ſey. 

Durchaus ſtellt der Erzbiſchoff von Rheims, wie man ſieht, 
den pſeudoiſidoriſchen Geſetzen ſeines Neffen die Behauptung ent—⸗ 
gegen, daß das aus Concilienſchlüſſen geſchöpfte Kirchenrecht höhere 
Geltung babe, als die Defretalen alter Päbfte, und dag daher 
Vegtere nur in fofern angewendet werben bürften, als fie mit jenen 
übereinftimmen. Nirgends greift er die Aechtheit der pfeudoifidori- 
fheneStüde an, aber daraus folgt feineswegs, daß er fie wirklich 
für Acht hielt. Im Gegentheil wird ſich tiefer unten ergeben, daß 
er fo gut, als mehrere feiner Zeitgenoffen,. den zweideutigen Ur: 
forung dieſer Urkunden Fannte, oder ahnete, aber die Klugheit 
verbot ihm, Das was er wußte offen heraus zu fagen. Als ber 
Streit zwifchen dem alteren und jüngeren Hinfmar begann, hatte 
der Pabft Nifolaus bereits, wie oben gezeigt worben, die pſeudo⸗ 
iſidoriſche Sammlung dur ein förmliches Zeugniß gut geheißen. 
Wenn daher Hinkmar es jest noch wagte, die von feinem Neffen 
vorgelegten Urkunden. für ein Werf des Betrugs zu erflären, fo ließ 
er fich nicht blos in eine bodenlofe Unterfuhung ein, fondern er 
lief Gefahr, daß die Gegner ein Zetergefchrei gegen ihn erhoben, 
und ihn als Verächter des päpſtlichen Stuhls brandmarkten. Mebh: 
vere Spuren finden fih in dem Buche ber 55 Kapitel, daß der 
jüngere Hinkmar und feine Genoffen entfchloffen waren, diefe Waffe 
gegen den Erzbifchof ‚zu gebrauchen. Er legt ) 3. B. dem Neffen 
bie Worte in Mund: „wie? Du willft den apoftolifchen Stuhl in der 
Perſon der heiligſten Päbfte verläumden, indem Du behaupteft, Die: 
felben hätten Borfchriften gegeben, die man nicht halten dürfe.“ 
Was würden fie erft gejagt, wie ben Pöbel und die unwiſſenden 
Mitglieder des Clerus aufgehest haben, wenn der Metropolit fich 
‚erlaubt hätte, die Aechtheit der Defvetalen zu läugnen! Durch den 
Bertheidigungsplan, den er befolgte, wich er diefer drohenden Gefahr 
aus, und erreichte dennoch vollfommen feinen Zwei. Wir fehen 





") Ibid. 592 unten. — ?) Ibid, 483 gegen oben. 


1082 — UIl. Buch. Kapitel 12. 


in ſeinem Verfahren einen glänzenden Beweis von Umſicht und 
Geſchäftskenntniß. 

Die Befürchtung, welche Hinkmar am Schluſſe ſeines Buchs 
ausſprach, war richtig. Der Neffe ließ ſich nicht belehren, viel⸗ 
mehr überreichte er der Synode nicht blos die wider den Oheim 
geſchriebenen Briefe, ſondern auch die ältere Sammlung, die er, 
wie wir früher erzählt, von den Clerikern ſeines Sprengels hatte 
unterſchreiben laſſen. Nun forderte der ältere Hinkmar die verfam: 
melten Väter auf, daß fie ihm helfen möchten, ben ungehorſamen 
Neffen zur Vernunft zu bringen. Alsbald brach ein Sturm gegen 
den Hirten von Laon los: die Biſchöfe verflagten ihn wegen ber 
ungerechten Bannftrablen, die er verhängt, der König, daß er ben 
Eid der Treue gebrochen, Nortmann, daß er ihm .ein. rechtmäßig 
ertheiltes Lehen entriffen habe. Der jüngere Hinfmar hoffte dag 
Gewitter zu beſchwören, indem er an den Stuhl Petri appellirte 
und Briefe des Pabftes vorlag, die ihn nah Nom riefen. ') Aber 
man Fehrte fih nicht daran, und feste ihm noch ‚heftiger zu. So 
von allen Seiten bedrängt, mußte er zulest einen Schein folgenden 
Inhalts unterfchreiben: „Sch Hinfmar, Bifchof von Laon, gelobe 
für jegt und in Zufunft meinem Gebieter und Herrn Karl folche 
Treue, wie fie ein Bafall feinem Lehnsherrn, ein Bifchof feinem 
König ſchuldig ift, auch verfpreche ich meinem Metropoliten, dem 
Erzbifchofe von Rheims, den durch die heiligen Canones vorgefchrie: 
benen Gehorfam zu leiſten.“ Achtundzwanzig Biſchöfe und vier 
Aebte unterzeichneten die Urkunde als Zeugen. In dem alten Bes 
vichte über den Verlauf der Synode von Attigny heißt es: ber 
jüngere Hinfmar habe fich zu Ausftellung des Schein ohne allen 
Zwang, auf den Rath der ibm befreundeten Bifchöfe, ver: 
fanden, 2) der Neffe felbft aber behauptet, ) die Unterfchrift ſey ihm 
theils durch Drohungen, tbeils durch Hinterlift abgepreßt worden. 
Dem fey wie ihm wolle: während- ber Nacht fiel der Neffe in den 
alten Troß zurüd, er forderte am andern Morgen von dem Obeim 
einen in ähnlichen Ausdrüden abgefaßten Schein des Inhalts: daß 

ber Metropolit die canonifhen Rechte des Biſchof's von Laon zu 
achten gelobe. Mit Unwillen wies der ältere Hinfmar das An: 


4 


) Dieß ſagt der Siſho —* Hincmari opP- II. 350. — 2) — XVI., 
858 obere Mitte. 





Die Päbſte Sergius II, Leo IV.; Nikolaus I. ꝛc. 1083 


finnen zurüd. Da nun auch noch wegen ber frittigen Lehengüter 
ein Gericht niedergefegt wurde, deſſen Ausſpruch der Bifchof von 
Laon zu fürchten Urfache hatte, entfloh er von der Synode nach 
Haufe. ni ’ N 

In Laon angefommen, fchrieb er an den Oheim einen Brief, 
worin er dieſen aufforberte, die beim Könige ſchon mehrfach nad 
gefuchte Erlaubnig zu einer Reife nah Nom ihm endlich einmal 
auszumirten; ber Metropolit wilfe ja felbft, daß ihn der Pabft 
fhon zweimal nach Rom eingeladen babe, auch ſey er durch ein 
Gelübde zu diefer Neife verpflichtet. Schließlich Fündigte er ihm ben 
Gehorfam auf, im Fall der ältere Hinfmar feine und des Pabftes 
Bitte nicht berücfichtigen würde. Der Oheim gab Feine Antwort. 
Nun fohrieb der Neffe an Karl'n den Kahlen: ein Fieber halte ihn 
ab, perfönlih am Hofe zu erſcheinen, dev König möge ihm Urlaub 
zu der Wallfahrt nah Rom gewähren, die er angelobt habe, um 
feine Gefundheit wieder zu erlangen. Karl ließ ihm durch den 
Ueberbringer bes Briefs zurüdfagen: wenn ihn fein Fieber nicht 
bindere, nad Rom zu reifen, fo fönne er auch an den Hof kom— 
men; würde er perfönlich nachweifen, daß feine Bitte begründet fey, 
fo folle ihm der Urlaub nicht verweigert werben. ) Zugleich befahl 
er ihm, einem gewiffen Eligius ein Kirchenleben, das er ihm ent: 
riffen, zurüdzugeben. ) Der Bifchof geborchte weder dem Be: 
fehl, noch der Ladung, dagegen ſchickte er den Probft der Laoner 
Kirche Heddo an den Oheim mit der fchriftlihen Forderung ab: 
ber Metropolit folle ‚den König dazu bewegen, daß ihm freie Ver: 
fügung über die Güter feiner Kirche zugeftanden werbe; im ent 
gegengefesten Fall drohte er feine Berufung auf den Stuhl Petri 
weiter zu verfolgen, und zugleidy alle Die mit dem Bann zu bele: 
gen, weldhe Güter der Laoner Kirche an ſich gezogen hätten. Seine 
Befugniß zu letzterer Maaßregel vechtfertigte er durch die Beichlüffe 
einer angeblih im Jahre 860. zu Toucy gehaltenen Synode, von 
welcher er eine Abfchrift beilegte. Unter denfelben war namentlich 
folgende Beflimmung, daß Alle, welche Kirchengüter ſich aneignen, 
oder ohne Vorwiſſen des Bifchofs veraußern, ihr Leben lang unter 
dem Banne bleiben, auch weber auf dem Sterbebette das Abend: 
mahl, noch nah dem Tode ein Firchliches Begräbniß erhalten follen. 





1yIManſi XVI, 580. — 2) Hincmari opp. II., 593 unten. 


1084 9 Buch. Kapitel 12. 


Der Metropolit antwortete ) dem Neffen: „er habe ſeinetwegen mit 
dem Könige gefprochen, Karl fey bereit, ihm einen Theil der Lehens 
güter zurüdzugeben, aber in Betreff der übrigen müſſe erft der 
Ausfpruh des Gerichts abgemwartet werden, deſſen Entſcheidung 
fih der jüngere Hinfmar zu Attigny entzogen hätte. Woher der 
Neffe die vorgelegten Befchlüffe von Toucy befommen, könne er 
nicht begreifen, weder er felbft, noch die andern Bifchöfe, die in 
Touch zugegen gewefen, wüßten ein Wort davon. Er habe bie 
Urfchrift der dortigen Verhandlung, die ganz anders laute; bie 
Abfchrift des Neffen fey daher offenbar erdichtet, auch flimme fie in 
vielen Stüden nicht mit den heiligen Canones überein.“ Den Ber: 
dacht, welchen bier der Metropolit ausfpricht, rechtfertigte er ein 
Jahr fpäter durch weitere Gründe , indem er namentlich aufdedte, 2) 
daß bie Abfchrift des Neffen falſche Unterſchriften enthalte. Am 
Schluſſe obigen DBriefes warnte er den Bifchof von Laon, dag er fi 
wohl vorſehen folle, die Beliger von Kirhengütern poreilig mit dem 
Banne zu belegen, oder feine Berufung nah Rom durchzufegen, 
ehe die Sache auf der nächſten Provincialſynode unterfucht fey. 
Hierauf erließ der jüngere Hinkmar an den Oheim ein langes 
Antwortiihreiben, °) in welchem er fein Recht auf die ihm vom 
Könige flreitig gemachten Kirchengüter darzuthun fucht, und bie 
Aechtheit der Beichlüffe von Toucy keck behauptet, „Er habe,“ fagt 
er, „diefe Akten von demfelben Erzbifchofe Hartwik, (auf deffen 
Zeugniß fi) der ältere Hinfmar in dem vorigen Briefe berufen 
hatte) erhalten und durch zwei Diafone feiner Kirche, von welchen 
er gewiß wiſſe, daß fie unfähig feyen, päbſtliche oder andere Ur: 
funden zu verfälfchen, abfchreiben laſſen. Wenn der Oheim die 
Urjchrift jener Synode, an welcher fie Beide Theil genommen, wirk- 
lich in Händen habe, fo wünſche er jehr, fie zu fehen, denn fein 
eigener Name müfje gleichfalls darauf ſtehen. Allerdings fey zu 
Toucy ein anderes vom Oheime entworfnes Synodalfchreiben vor: 
gelefen worden, aber weil bafjelbe gar zu lange geweſen, babe 
man für gut befunden, einen kürzeren Auffag zu unterfchreiben und 
diefer kürzere Entwurf fey der nämliche, den er neulich dem Me: 
tropoliten in Abfchrift vorgelegt habe.“ Sofort fommt ber jüngere 





i) Ibid, fl. — 2) Manſi XVL, 602 unten. — 3) Hincmari opp. II., 
608 fig. ’ AU An 


— 


Die Pähfte Sergius IL., Leo IV. , Nikolaus J. ꝛc. 1085 


Hinkmar auf die Frage wegen ber Defretalen zu fprechen. Er giebt 
zu, baß diefelben verfchiedener Art ſeyen, aber nicht, daß fie eins 
ander wiberftreiten. Er beftcht darauf, daß Angelegenheiten der 
Biihöfe Shon in erfter Inftanz an den Stuhl Petri 
gebracht werden dürfen, und macht endlih dem Oheim Vor— 
wiürfe wegen feines Ungehorfams gegen den Pabft. 

Durch den unerhörten Trog, den er bis dahin bewies, hatte 
der Bifhof von Laon König und Metropoliten gleichmäßig belei- 
digt. Allmählig aber fühlte er, daß er es mit Beiden zugleich nicht 
aufnehmen fünne. Daher verfuchte er, ſich mit dem Hofe wieder 
auszuföhnen. Nicht unwahrſcheinlich ift, daß auch römifche Vor: 
ftellungen ihn biezu bewogen, denn im folgenden Jahre wurde auf 
der Synode von Toucy ein Brief ') Hadrian’s an den Biſchof von 
Laon vorgelefen, worin dem Letztern Gehorfam gegen feinen Erz: 
biſchof, — jedoch mit Borbehalt des Rechts der Appel 
lation an den römifhen Stuhl — eingefhärft wird. Uns 
gefähr zwei Monate nad) der Synode von Attigny, ) alfo im 
Juli 870 unterwarf er fih dem Könige, indem er weltliche Rich— 
ter von ihm erbat, die über die fireitigen Lehen entfcheiden foll- 
ten. Sie wurden ibm ohne Den Rath des älteren Hinfmar-. 
und wider deffen Willen zugeftanden, und ihr Spruch lau: 
tete günftiger für den Bifchof, als derfelbe erwarten durfte. Wie 
fonft fo oft, ließ au) bier wieder Karl der Kahle den Metropoliten 
im Stide. Hinfmar empfand dieß tief, In einem Brief an den 
Neffen machte er feinem Unwillen Luft, ?) indem er denfelben mit 
Borwürfen überfchüttete, daß er, den Kirchengefegen zuwider, welt: 
liche ftatt geiftlicher Richter gefordert habe. 

Abermal dauerte der Friede zwifchen dem Könige und dem 
Biihofe von Laon nur furze Zeit. Im Herbite 870 wurde von 
ben päbftlichen Gefandten die oben erzählte Intrife mit dem könig— 
lichen Prinzen angezettelt, bei welcher auch der jüngere Hinfmar 
ſich betheiligte, Im Winter begann die‘ Empörung, und im fol 
genden Frühjahr fprachen die Bifchöfe den Bann über Karlomann 
aus, Der König verlangte, daß auch Hinkmar von Laon, gleich 
den andern Kirchenhäuptern, die Akte des Bannes unterfchreiben 
follte. As Schildträger des Stuhles Petri Fonnte und wollte 





ı) Manfi XVL, 660. — 2) Ibid. 603, — 9) Opp. Il, 606; 


1086 IT. Buch. Kapitel 12. 


der Biſchof dieſem Anfinnen nicht genügen, er wies es wieberholt 
zurüd, Dadurch * er ſich den König zum unverſöhnlichen 
Feind. 

Im Auguſt 871 berief Karl der Kahle eine Synode nach 
Toucy, um den unbotmäßigen Biſchof zu richten. Obgleich vor: 
geladen, erſchien Anfangs der jüngere Hinfmar nit. Die Ber: 
bandlungen wurden nichtsdefloweniger eröffnet, und zwar trat als 
fein erfter Ankläger Karl der Kahle felbft auf. Er überreichte der 
Berfammlung eine nicht mehr vollfiändig vorhandene Klagfchrift, ) 
in welcher er den Biſchof befchuldigte, den König beim Pabſte als 
Berfchleuderer der Kirchengüter verläumbet, hochverrätherifche Plane 
gehegt und feinen Unterthanen:Eid gebrochen zu haben. Nachdem 
der König gefprochen, hielt der Metropolit einen langen Vortrag, ?) 
in welchem er die Vergehungen des Neffen aufzählte und fein eiges 
nes Betragen vechifertigte. Am Schluffe forderte er die Synode 
auf zu erwägen, ob nicht fofort über den Bifchof von Laon, ber 
trotz dreimaliger Vorladung fich nicht geftellt habe, das Urtheil der 
Berdammung zu fällen fey. „Seine Berufung auf Nom,“ meinte er, 
„eönne dem Nechte der Synode feinen Eintrag thun, da nad den 
Kirchengefegen Geber innerhalb feiner Provinz angeklagt und gerichtet 
werden müſſe“ 

Die Biſchöfe fammelten fofort Stellen aus der Bibel und den 
Eoneitienfchlüffen, als Anhaltspunft für einen Urtheilsfprud. So 
weit waren fie gefommen, als endlich der jüngere Hinfmar ſich 
bequemte zu erfcheinen. Man las ihm den obenerwähnten Brief 
bes Pahftes vor und beraumte ihm eine Frift an, um auf die vom 
Könige vorgebrachten Klagepunfte zu antworten. Auch zu der näch⸗ 
ſten Sigung fam Hinfmar erft nad dreimaliger Ladung. Statt 
fi) zu verantworten, wie die Bifchöfe erwarteten, erklärte er, daß 
er die Synode nicht anerfenne, weil ber König ihn feiner Güter 
beraubt habe. Der König nannte diefe Behauptung eine Lüge und 
erhob neue Klagen gegen ihn, 3. B. daß der jüngere Hinfmar bie 
Abſicht gehabt habe, alle Dienfimannen feines Sprengels bewaffnet 
gegen die Synode zu führen. Als weiter der Oheim in den Neffen 
drang, daß er ſich verantworten folle, fagte ihm Diefer in's Geficht, daß 
er ihn gleichfalls nicht als feinen Nichter anerfenne, weil er an 





) Manſi xvi. 578 unten fg 2) Ibid. 581 flg. 


Die Päbſte Sergius II., Leo IV., Nikolaus 1. ꝛc. 1087 


feiner Verhaftung im Jahr 869 fchuldig gemwefen fey. Der Metro: 
polit rief den König, die Großen, viele Biſchöfe als Zeugen auf, 
ob dem fo jey? Sie beſchworen alle das Gegentheil. Noch wollte 
ber jüngere Hinfmar ſich durch eine Berufung auf den Pabft hel- 
fen; „wer etwas wider ihn habe,“ rief er, „folle mit ihm nach 
Nom ziehen und ihn dort verklagen.“ Man bewies ihm, daß er in 
der eigenen Provinz Rechenfchaft zu geben habe. 

Die Synode fhritt nun zum Beweife der gegen ihn vors 
gebrachten Klagepunfte, erklärte ihn, da er harinädig auf dem 
Vorſatze ſich nicht zu verantworten beharrte, für überführt, und 
ſprach das Urtheil der Abfesung über ihn aus, doch mit dem Vors 
behalte, daß er, gemäß den Sclüffen von Sarbdifa, an den Pabit 
appelliren dürfe. ") 

Die Synodalaften wurden fammt einem Schreiben ?) der Bis 
ſchöfe nad) Rom überſchickt. In letzterem erfuchten fie den Pabft, 
das gefällte Urtheil zu beftätigen. Sollte er jedoch, was fie nicht 
erwarteten, für gut finden, ein neues Gericht niederzufegen, fo 
möge er biezu Bifchofe der benachbarten Provinzen wählen. In 
legterem Falle erklären fie Nichts dagegen zu baben, wenn der 
Pabft römische Abgeordnete fchidken würde, um im Berein mit frän: 
fiihen Bifchöfen die Sache des jlingeren Hinfmar yon Neuem zu 
unterfuchen; nur müßten fie darauf beftehen, daß Hadrian ben 
Berurtheilten nicht eher einfege, als bis die neue Synode ihr Ur: 
theil gefällt haben würde. „Reine Kirchenverfammlung,“ fuhren fie 
fort, „habe je den galliihen und beigifchen Gemeinden das Necht 
entzogen, über ihre Angehörigen im eigenen Lande richten zu bür: 
fen; vielmehr werde durch Die nicänifchen und andere Befchlüffe den 
Metropoliten die Gerichtsbarkeit über ihre Suffragane zuerkannt, 
und fo wenig es ihre Abficht fey, Die vom Apoftelfürften Petrus 
ber römischen Kirche erteilten Vorrechte zu fehmälern, fo wenig 
erwarteten fie gallifcher Seits, daß der Pabſt ihre, durd die Ca— 
nones geheiligten und von den älteren Päbften beftätigten, Landes: 
rechte Fränfen werde. Sollte aber der Pabſt deffenungeachtet fich 
durch irgend Jemand zu Wiederherftellung des Verurtheilten verlei: 
ten laffen, fo erklären fie auf's feierlichfte, daß fie in Zufunft fich 
nicht mehr den Ausichweifungen diefes Menfchen mwiderfegen, aber 





N) Ibid, ©, 677. u 2 Ibid. 678 flg. 


1088 mi. Buch. Kapitel 12. 


auch durchaus Feine Gemeinfchaft mit ihm halten würden.“ In gleichem 
Sinne fchrieb ') der Metropolit von Nheims an den Pabft. 

Die in beiden Briefen ausgefprocene Drohung wirkte in Rom 
nit. Ende Dezember 871 antwortete 2) Hadrian den Bifchöfen 
von Toucy: die Abfegung des jüngeren Hinfmar, der doch an den 
römifhen Stuhl berufen habe, fey unrechtmäßig, fie follten daher 
einen Anfläger, ber die erforberlihen Eigenfchaften befige, nad) 
Nom fenden, damit dort die Sache von Neuem unterfucht werde. 
Für die Zwifchenzeit verbietet er ihnen, einen Andern zum Bifchof 
von Laon zu weihen. In noch derberem Tone fehrieb 3) Hadrian 
an ben König, ber fich über mehrere von Rom aus wegen des 
jüngern Hinfmar erhaltene Berweife befehwert hatte, Er tabelt-fein 
Murren, Schreien und Toben als einen offenbaren Beweis, daß 
es Karl dem Kahlen noch gänzlich am der Liebe fehle, weldye der 
Apoftel mit den Worten feiere, (1. Cor. 13, 4. flg.) die Liebe ift 
langmüthig und freundlich, fie eifert nicht, fie treibt 
feinen Muthwillen, fie bläht fih nicht auf, fie ftellt 
fih niht ungebärdig, fie ſuchet nicht das Ihre u. f. w. 
Statt zu lürmen, hätte der König vielmehr dem Pabfte dafür dan: 
fen follen, daß derſelbe ihn, wie ein Vater, ein wenig züchtigte. 
Er (Hadrian) handle hierin nicht anders, als Gott, der allgemeine 
Bater aller Gläubigen jelbft, denn ftehe nicht gefchrieben, (Hebr. 12, 
6.) welchen der Herr lieb hat, den züchtigt er, Er ſtäu— 
pet einen Segliden, den Er zum Sohne annimmt. 
Hadrian wiederholt fofort in Betreff der Abfegung des jüngeren 
Hinkmar Daffelde, was er im Briefe an bie Väter von Toucy 
gejagt. 

Die Langmuth der Neuftrier war erichöpft. Zwar die Bifchöfe 
antworteten ziemlich gemäßigt. In einem Schreiben, *) von welchem 
nur ein Brudfüd auf uns gefommen ift, können fie nicht Worte 
genug finden, ihr Erſtaunen über den päbftlichen Brief auszudrüden. 
„Mehreremal hätten fie denfelben in der Berfammlung vorleſen laſſen, 
weil es ihnen unmöglich gewefen, zu glauben daß die die Meinung 
des heil. Vaters ſey. Nachdem fie ſich endlich überzeugt, daß nichts 
Anderes in dem * ſtehe, bleibe ihnen nur eine Erklärung des 





1) Ibid. 682 unten flg. — 2) Manſi XV., 852 Sie MB. — 3) Ibid, 
©. 855 flg. — *) Manfi XVI, 569 flg- ee 


Die Päbfte Sergius IL, Leo IV., Nikolaus I. xc. 1089 . 


Räthſels übrig: der Pabft, oder Derjenige, welcher jenes Schreiben 
in feinem Namen aufgefegt, könne nimmermehr die überfchieten 
Aften oder ihren Testen Bericht burchgefehen haben.“ Die Antwort 
des Königs dagegen hat Hörner und Zähne. Wie zwei Jahre 
früher, erhielt Hinfmar auch dießmal den Auftrag, im Namen 
Karls die Feder zu fpisen. Er lieferte eine Arbeit, ) die ein voll 
wichtiges Seitenftüd zu dem in dev Sache der lothringiſchen Thei— 
Yung erlaffenen Schreiben bildet. Wir geben einen gedrängten Aug: 
zug: „durch Euer alle Achtung gegen bie königliche Würde verlegen: 
des und von bifchöflicher Demuth vollig entferntes Betragen zwingt 
Ihr mich, den König, mit Euch in anderem Tone als bisher zu 
reden, um Euch endlich einmal bemerklich zu machen, dag Wir ein 
Fürft, und troß aller menfchlihen Mängel ein nach dem Ebenbilde 
des Herrn gefchaffener Menſch Föniglichen Gefchlechtes, dag Wir ein 
vechtgläubiger Chrift, in weltlicher und geiftlicher Gelehrfamfeit bewan— 
dert, und von feinem Gerichte eines Verbrechens angeklagt, ges 
fchweige denn überwiefen find. In früheren Briefen ?) nanntet Ihr 
mich einen Meineidigen, Tyrannen, Kirchenräuber, als hättet Shr . 
nicht einen König, fondern den gemeinften "Verbrecher vor Euch, 
und wenn Sch über Eure Reden Klage führte, jo ermahntet Ihr 
mich Alles, was vom apoftolifhen Stuhle fomme, dankbar und 
bemüthig hinzunehmen. Sch wäre der Krone, ja auch der chrift: 
lichen Gemeinfchaft unwürdig, wenn ich Yänger zu ſolchen Beſchim— 
pfungen fehwiege. Auf Eure Behauptung, es fehle mir noch an 
der vom Apoftel gepriefenen Liebe, entgegne Ich, dag Ich in Euren 
Schriften auch nichts von diefer Liebe finde. Der erfte Bifchof Roms, 
der Apoftel Petrus, hat nicht blos den Tadel feines Genoffen Pau: 
Ius mit Danf angenommen, fondern auch als er von Untergebenen 
wegen feines Umgangs mit Heiden zur Nebe gefebt ward, wies er 
fie nicht mit der ſchnöden Antwort ab, daß fie Alles, was er gethan, 
geduldig fich gefallen Yaffen müßten, vielmehr fuchte er fein Betra- 
gen in aller Demuth zu vechtfertigen. Ihr machet es anders, ftatt 
mic) mit Euch auszuföpnen, wollt Ihr mir mit unverdienten Vor: 
würfen den Mund fchliegen. Ihr braucht den Ausdrud: ich befehle 
und will, daß der Bischof Hinfmar von Laon nah Rom gefchict 
werde, Nie hat irgend einer Eurer Vorgänger eine folhe Sprache 





1) Abgedruckt Opp. II., 701 flg. — 2) Wegen des Prinzen Karlomann. 
Gfrörer, Kircheng, II. 69 


1090 j II. Buch. Kapitel 12. 


geführt, in der ich nur weltlichen Hochmuth fehen kann. Wir zweif- 
fen allerdings nicht, daß Ihr es fo wollet, denn der Menfch will 
ſehr oft Dinge, die er bei veiferer Ueberlegung nicht wollen follte; 
aber wo fteht denn gefchrieben, dag einem Könige, deffen Amt es 
ift, Verbrecher zu beftrafen, vermöge apoftolifcher Gewalt befohlen 
werben barf, regelmäßig verurtheilte Uebelthäter zum Behufe der 
Unterfuhung nach Rom zu ſchicken.“ Hadrian hatte in feinem letz⸗ 
ten Briefe den König aufgefordert, die Güter der. Kirche von Laon, 
während der jüngere Hinfmar fid) in Nom befinden würde, unter 
feine Obhut zu nehmen und vor Schaden zu wahren. Der König 
findet diefes Verlangen unverfchämt: „die Könige der Tranfen wa— 
ven son jeher Herren des Landes, nicht Vögte oder gar Güter: 
verwalter der Biſchöfe. Leſet die Gefhichte Eurer Vorfahren durch 
und Ihr werdet finden, daß feiner von ihnen je gegen Kaifer und 
Könige, ja nicht einmal gegen die Exarchen eine ſolche Sprache 
führte, wie Ihr gegen mich. Welche Hölle hat das Geſetz aus: 
gefpieen, daß ich einen Mann, der wegen fo vieler Verbrechen 
verdammt ward, nad) Nom fchiden folle? Wißt Ihr denn nid, 
daß die von Kaifern und Königen über die Geiftlichfeit erlaffenen 
Geſetze nicht blos von den einfachen Bilchöfen, fondern auch vom 
apoftolifchen Stuhle beobachtet werden müſſen? Ich bitte Euch, mich) 
in Zufunft mit Drohungen des Bannes zu verfchonen, die ja doch 
feine Kraft befisen, fofern fie nicht mit der heil. Schrift, der über: 
lieferten Lehre und den SKirchengefegen übereinftimmen. Nur da 
gelten die Borrechte Petri, wo nad der Billigfeit Petri gerichtet 
wird.“ Mit Bezug auf die Forderung des Pabftes, daß man einen 
tüchtigen Kläger nach Rom fenden möchte, deutet fofort der König 
an, daß ihn wohl noch die Luft anwandeln Fönnte, mit einer Menge 
der tüchtigſten Zeugen jedes Standes und Alters felbft nah Nom 
zu fommen. Weiter bittet ev den Pabft, in Zufunft an ihn feldft, 
bie neuftrifchen Bilchöfe, oder die Großen des Neichs, Feine fo ent: 
ehrende Schreiben mehr zu erlaffen, weil er fi fonft genöthigt 
feben würde, die. päbftlihen Gefanbten mit Schimpf und Schande 
heimzuſchicken. „Gerne,“ fährt er fort, „wollen wir Euch als dem 
Statthalter Petri den fohuldigen Gehorfam Teiften, aber wir erwar⸗ 
ten dann, daß Ihr Euch felbft an die heil. Schrift, die Lehre ber 
Borfahren und die Befchlüffe der Concilien haltet. Was dieſen 
Achten Quellen gemäß ift, nehmen wir an, Dagegen perwerfen wir 


Die Päbſte Sergius II., Leo IV. , Nikolaus I. ıc. 1091 


Alles, was ihnen zuwider von irgend Jemand zuſam— 
mengeftoppelt, oder erdichtet ward“ u. |. w. So deutlich 
hatte ſich Hinfmar fonft nie über den Urſprung der pſeudoiſidori⸗ 
ſchen Dekretalen ausgeſprochen. 

Dießmal hatten die Neuſtrier die rechte Saite anzuſchlagen 
gewußt. Die Wirkung des Brief's erhellt aus der Antwort 1) des 
Pabſtes. Hadrian ift wie umgewandelt. Im Eingange fpricht er 
zwar noch von ungeflümmen Aufwallungen des Königs, Ienft aber 
dann fchnell ein, indem er fagt, er wolle bie geſchlagenen Wunden 
durch das Del des Troftes heilen, Wirklich übergießt er Karl den 
Kahlen mit Schmeicheleien, rühmt ihn wegen feiner Weisheit, Gottes: 
furcht, Gerechtigkeit, wegen feiner Großmuth gegen Klöfter oder 
Kirchen und wegen anderer Tugenden. „Kommen Euch,“ fährt er 
fort, „Briefe von mir zu, die anders lauten, jo find fie entweder 
erfehlichen, oder während meiner Krankheit mir abgepreßt, oder 
unterfchoben worden.“ Im größten Vertrauen eröffnet er ſodann 
dem Könige, daß er, im Falle er den Tod des Kaifers 
Ludwig erleben follte, Niemand fürdeffenNadfolger 
im römifhen Reihe anerfennen würde, als ihn, Karen 
ben Kahlen, felbft wenn ihm auc Jemand fir eine andere Wahl 
viele Scheffel Goldes anböte. Ueber die Verbrechen des jüngern 
Hinkmar getraut er fih zwar Fein Urtheil zu fällen, gefteht aber 
doch ein, daß derſelbe mit Necht verurtheilt ſcheine. Sodann er: 
klärt er, daß es keineswegs feine Abficht fey, die Nechte der Metro: 
politen zu ſchmälern. Da aber der jüngere Hinkmar doc einmal an 
den Stuhl Petri berufen habe, möge man ihm Urlaub zu einer Neife 
nad Rom gewähren. In Iesterem Falle verfpricht er entweder eigene 
Richter für ihn zu ernennen, oder feine Abgeordneten nach Gallien 
zu ſchicken, damit die Sache in berfelben Propinz, wo fie ihren 
Anfang genommen, auch beendigt werde. 

Hadrian IL. farb bald nad Abfendung diefes Briefs. Der 
Plan, die pfeudoifidorifchen Defretalen mit Beihülfe des Biſchofs 
yon Laon dem Abendlande aufzundthigen, war vollftändig mißlun- 
gen. "rüber ift gezeigt worden, ?) daß der Pabſt kurz zuvor einen 
andern Weg eingefchlagen hatte, um denſelben Zweck zu erreichen, 
indem er nämlich die wichtigften Grundfäse Pſeudoiſidor's auf der 

) Manfi XV., 857 flg. — ?) Siehe oben ©, 277 fig. k 

69 


1092 IT. Buch. Kapitel 12, 


allgemeinen Sten Synode von Conftantinopel zum Kirchengefeß er: 
heben ließ. Aber auch diefer letztere Kunftgriff entging dem Scharf: 
finn der Franfen nicht. Der Erzbifhof Hinfmar bemerkt in feinen 
Jahrbüchern: ) „auf der eonftantinopolitanifchen Synode, welde 
Diejenige, die bort zufammenfamen, ald die achte all- 
gemeine zählen, wurde in Betreff des Bilderdienftes Manches gegen 
die Lehre der rechtgläubigen Väter befchloffen, auch geftanden dort 
die Griechen dem Pabfte, weil diefer ihre Anficht von den Bildern 
gebilligt hatte, Rechte zu, welche wider die alten Cano— 
nes der Kirche freiten.“ Die Umfchreibung, welche Hinfmar 
braucht, um den Rang diefer Synode zu bezeichnen, deutet Darauf 
bin, daß er fie nicht als eine allgemeine und-für die ganze Kirche 
bindende anerkannte. Sp durchbrach die Wachfamfeit des Metro: 
politen von Rheims alle Schlingen römiſcher Feinheit. 

Der verurtheilte Bifhof von Laon ward in Haft gehalten, 
und als er einige Zeit fpäter mit dem teutfchen Könige hochver— 
rätherifche Berbindungen anfnüpfte, Tieß ihm Karl der Kahle die 
Augen ausftehen. Bis dahin war feine Abfesung vom römifchen 
Stuhle noch nicht beftätigt worden. Allein in Folge der neuen 
Treundfchaft, welche im Jahr 876 zwifchen dem Neuftrier und dem 
Pabfte zu Stande fam, beftätigte Johann VII, Hadrian’s Nach: 
folger, das zu Toucy über den jüngern Hinfmar gefällte Urtheil. 
Zwei Jahre fpäter befuchte Johann VII. Frankreich, kurz nach dem 
Tode Karls des Kahlen. Der Unglückliche benüste diefe Gelegen- 
heit. Er übergab dem Pabſte eine Klagfchrift wider feinen Oheim 
und bat um ein gerechtes Gericht, allein Alles, was er erreichte, 
befchränfte fich darauf, dag ihm Johann VIII. erlaubte, die Meſſe 
zu fingen, und einige Einfünfte auf die Güter der Laoner Kirche 
anwies. Bon den fpäteren Schickſalen des Geblendeten weiß man 
Nichts, als daß er noch vor feinem Oheim, alfo vor 882 geftor- 
ben ift. 2) Hart war fein Loos aber nicht unverbient. 

Der Metropolit yon Nheims hatte in den letzten Zeiten Ha- 
drian’s II. die Höhe feiner Macht und feines NRuhmes erftiegen; 
aber unter dem folgenden Pabft gieng alles Errungene durch die 
Schuld des Königs wieder verloren, ĩ 





1) Hincmari annales ad annum 872. Perz I., 494 obere Mitte. — 
2) Histoire litteraire de la France V., 524 flg. und Cellotius vita Hinemari 
Laudunensis bei Manft XVL., 721 flg. wo die Beweisftellen gefammelt find. 


Die Päbfte Sergius II., Leo IV. , Nikolaus I. ıc. 1093 


Gleich nad dem Tode Hadrian’s, welcher Ende Novembers er: 
folgte, fehritt der römische Clerus zu einer neuen Wahl. Sie fiel 
auf Johann VII, einen gebornen Römer. Am 14. Dezember 872 
erhielt der Erforne die päbftliche Weihe. ) Die Alten Quellen ſchwei— 
gen darüber, ob die Nömer erſt die Faiferlihe Genehmigung einge: 
holt haben. Wider den Willen des Kaifers Ludwig kann Johann VIIL 
nicht wohl erhoben worden feyn, da er bemfelben fofort einen wid 
tigen, von Ludwig erbetenen, Dienft leiftete. Der Fürft von Bene- 
vent Adalgis hatte nämlich im Jahre 871 den Kaifer fammt der 
Kaiferin unvermuthet überfallen und in einen feflen Thurm zu 
flüchten gezwungen, aus welchem er Beide nicht eher entließ, bis 
ber Kaifer einen Eid ſchwor, daß er diefe Beleidigung niemals 
rächen werde. Ludwig war jedoch nicht gemeint feinen Schwur zu - 
halten, er forderte alsbald den Pabſt Hadrian IL auf, ihn von 
dem Eide zu entbinden. Die Jahrbücher yon Nheims, ?) denen 
wir diefe Nachricht entnehmen, fügen nicht bei, ob Hadrian dem 
Wunſche des Kaifers entfpradh. Dagegen berichtet Regino, °) daß 
Hadrian’s Nachfolger, Johann VII wirklich den Eid gelöst habe, 
worauf Adalgis befriegt und aus Italien vertrieben worden fey. 

Im Jahre 875 ftarb Kaifer Ludwig, ohne männliche Nach: 
fommenfchaft, blos eine Tochter überlebte ihn. Diefer Todesfall 
erregte daher die größten Erfchütterungen, da nicht nur das italie= 
nische Reich, fondern auch die Kaiferfrone zu vergeben war. Gieng 
es nach dem gewöhnlichen Recht, fo gehörte das Erbe Ludwig's 
dem Könige von Teutfchland, als dem älteften und Achten Oheim 
des Berftorbenen. Allein der Pabft glaubte, der günftige Augen- 
blick fey jet gekommen der Welt zu zeigen, daß bie Kaiferfrone, 
welche einft Leo II. an Karl'n den Großen verliehen habe, nicht 
zu den Erbgütern des fränfifchen Haufes gehöre, fondern daß dem 
Stuhle Petri die freie Verfügung darüber zuſtehe. Mit Ausschluß 
bes teutfchen Zweige ber Karolinger, hatte er das Kaiferthum 
dem Neuftrier zugebacht. Lange Zeit vor dem Tode Ludwig's IL, 
müffen ‚geheime Unterhandlungen zwifchen den Päbften und dem 
neuftrifchen Hofe über diefe wichtige Frage flattgefunden haben. Auf 





) Hincmari annales ad annum 872, Perz I,, 494 unten. — ?) Ad an- 
num 871, Perz I,, 493 gegen oben. — °) Reginonis chronicon ad annum 
872. Perz I., 584 unten flg. 


1094 | II. Bud. Kapitel 12, 


einer Synode zu Nom im Jahr 877 behauptete ) Johann VIIL., 
fchon fein zweiter Vorgänger, Pabſt Nikolaus, fey durch göttliche 
Dffenbarung erinnert worden, daß nad dem Tode Ludwig's Karl 
der Kahle das Kaiſerthum erhalten werde. Diefe verblümte Aeuße— 
rung fcheint auf Umtriebe hinzudeuten, die in die 60er Jahre bes 
Hten Zahrhunderts zurücreihen. Den Brief, in welchem Hadrian II. 
dem Neuftrier diefelbe Ausficht vorbielt, haben wir oben angeführt. 
Auch war es Johann VIIL, der gleich nach dem Tode Ludwig's IL, 
den franzöſiſchen König aufforderte, ?) eilends nad Nom zu kom— 
men, und das Erbe des Berftorbenen fammt der Kaiferfrone in 
Empfang zu nehmen. 

‚Karl der Kahle folgte dem Hufe. Im Spätherbfi 875 über: 
ſtieg er die Alpen, traf den 17. Dezember in Nom ein, und ward 
am Chriftfeft, dem fechsundfiebenzigften Jahrestage der Krönung 
Karls des Großen, von Johann VII. zum Kaifer gefalbt. I) Sicher: 
lich hatte der Pabſt mit gutem Bedacht diefen Tag gewählt. Er 
wollte dadurch finnbildlich anzeigen, daß der Stuhl Petri, jetzt wie 
vor 76 Jahren, nach feinem Ermeffen die Kaiferfrone vergebe. 
Es war übrigens gut gethan, daß Karl fo fchnell nach Nom 308. 
Denn fobald die Nachricht vom Ableben des alten Kaifers einlief, 
hatte der teutfche König Fraftvolle Maaßregeln getroffen, um fich 
und feinen Kindern das italienifche Erbe zu fihern. Während er 
feine beiden älteren Söhne, Karl den Diden und Karlmann, mit 
Heeresmacht nach Italien beorderte um das dortige Reich in Beſitz 
zu nehmen, und im Nothfall dem Neuftrier den Weg zu verlegen, 
fiel er felbft in Neufter ein, verwüftete das Gebiet feines Halb: 
bruders unbarmherzig, und zog auch eine Parthei von Bifchöfen 
und Großen auf feine Seite. Aber nun fuchte der Pabft feinen 
fchwerbedrohten neuftrifchen Bundesgenoſſen durch geiftliche Waffen 
zu ſchützen. Er erließ ein donnerndes Schreiben *) an die Bifchöfe 
Teutſchlands, in welchem er fie mit Vorwürfen überhäuft, weil fie 
den Einfall ihres Gebieters in das neuftrifche Neich nicht gehin- 
dert hätten. „Der Teufel,“ fagt er, „habe die Tugenden Karls 
von deffen Kindheit an beneidet, und den König ſtets auf alle Weife 





!) Baluzius Capitul. II., 253 Mitte. — 2) Hincmari annales ad annum 
875. Perz I, 498 untere Mitte. — °) Idem ad annum 876 ibid. — *) Jo- 
hannis VIII. epist, 315. Mansi XVIL, 227 fi, 0° i 





Die Päbſte Sergius IL, Leo IV,, Nikolaus I. ıc. 1095 


geprüft, auch argliftiger Weife an Erlangung des Kaiſerthums zu 
hindern gefucht. Eben diefer Teufel fey es auch, der den teutfchen 
Herrfcher zu ungerechtem Kriege wider Karl verleitete. Gleichwohl 
babe der fromme Karl durch göttliche Vorſehung und den Dienft 
des Pabſtes die ihm gebührende Krone erlangt. Diefer Fürft ift 
es,“ fährt der Pabſt fort, „dur den Gott die Trübſale feiner 
Kirche erleichtern will, er ift es, nad dem meine beiden nächften 
Borgänger ſich feit Langem fehnten. Ihn hat Gott in dieſen letz— 
ten Zeiten durch das Borrecht des apoftoliichen Stuhls zur Faifer: 
lichen Würde erhoben.“ Den teutfhen König dagegen erklärt Io: 
hann faum für einen Sohn der Kirche anerfennen zu dürfen, weil 
derfelbe fich ftetS ungehorfam gegen die Päbfte bewiejen habe. Sp 
ftrafbar aber auch fein Betragen fey, müſſe er die teutfchen Bifchöfe 
doch noch mehr tadeln, weil fie ihren Herren nicht von feinen böfen 
Werfen zurüdgehalten hätten. „Mit welchem Rechte,“ ruft er aus, 
„eonnen wir ung Statthalter Chrifti nennen, wenn wir nicht für Die 
Sache Chrifti wider die Ungerechtigkeit der Herrfcher freiten? Sagt 
nicht der Apoftel Paulus, dag wir nicht gegen Fleifch und Blut 
allein, fondern gegen die Mächte der Welt und die Fürflen zu 
kämpfen haben! Berdienen wir noch den Namen Bifchöfe, wenn 
wir dem Beifpiele Derer folgen, die wir eines Beffern belehren follten, 
wenn wir Die, welche zurechtzumeifen unfere Pflicht ift, nicht wenigſtens 
durch firenge Worte vom Böſen abfchredfen.“ Er befiehlt ihnen fo: 
fort, das Berfäumte nachzuholen und den König zu warnen. In 
einem zweiten Schreiben ) an die teutfchen Großen, erklärt er ihnen: 
fie hätten wegen des Zugs nah Neufter den Bann verdient, aus 
Mitleiden wolle er jedoch noch zufehen, aber nur unter der Bedin- 
gung, daß fie aufhören, ‚gegen den Willen Gottes und die Gebote 
der Kirche zu handeln. In einem dritten Briefe 2) bedroht er Die 
neuftriihen Biſchöfe, welche die Parthei des teutfchen Königs er: 
griffen hätten, mit dem Banne, wenn fie nicht augenblicklich ſich 
Karl dem Kahlen unterwerfen würden. 

Die vereinten Anftrengungen des neuen Kaifers und des Pab- 
fies waren nicht erfolglos, Noch vor Ende des Jahrs 875 verließ 
ber teutſche König Neuftrien wieder, und fehrte nad Teutſchland 
zurüd, wo er bald darauf (Ende Auguft 876) ftarb. 3) Schon zu: 


») Epist, 316 ibid. ©. 230 unten fig. — ?) Epist, 318 ibid. ©. 234 
unten flg. — 3) Annales Fuldenses ad annum 876, Perz * 389 unten. 


1096 Sm. Buch. Kapitel 12. 


vor hatte Karl der Kahle die Plane der beiden Söhne des teut- 
[hen Fürften dadurch vereitelt, daß er ben Einen zurüdtrieb, den 
Andern durch einen Vertrag und trügerifche Berfprehungen zum 
Rückzuge veranlaßte. Italien und die Kaiferfrone verblieb daher 
porerft dem Neuftrier. Aber mit ſchweren Opfern mußte er bie 
Vetstere bezahlen, nur gegen einen ungeheuren Preis erwies ihm 
der Pabft die obenerwähnten Gunftbezeugungen. Der Mönd von 
Fuld fagt, ) Karl der Kahle habe Das, was er in Nom errang, 
wie einft Jugurtha, um fchweres Gold erfauft, und aud Hink— 
mar gefteht, ) daß der neue Kaifer bei feiner Krönung dem heili—⸗ 
gen Petrus viele und koſtbare Gefchenfe darbrachte. Weit Yäftiger 
als diefe Geldfpenden waren die Rechte, welche der Pabſt fich von fei- 
nem Faiferlihen Schüslinge ausbedang. Ein alter Schriftfteller, der 
Presbyter Eutropiug, der, wie. es fcheint um die Mitte des 10ten 
Sahrhunderts ?), ein Buch Über Die Gewalt der Raifer verfaßte, berichtet *) 
in mißbilligendem Zone, daß Karl der Kahle damals nicht blog dem 
Pabfte die Herrichaft über Rom fammt den Städten Spoleto, Benevent 
und den Provinzen Samnium und Calabrien abgetreten, fondern auch 
den Römern uneingefehränfte Freiheit Päbſte zu wählen zugeſtan— 
den habe. Diefe Behauptung ift jedenfalls übertrieben, denn Sam: 
nium und Salabrien gehörten damals den Griechen, oder doch Her: 
zogen, welche die Hoheit des byzantinifchen Kaifers anerfannten, 5) 
Auch über Rom behielt Karl der Kahle gewilfe Rechte, wie man 
aus den eigenen Briefen des Pabſts erweifen fann. Johann VII, 
nennt in einem berfelben 6) Nom die Hauptfladt des Kaiferreiche, 
Sn einem andern ?) erfucht er Karl, Uebelthäter, welche die römi: 
ſche Kirche beraubt hätten, durch feine Senbboten aufgreifen und 
beftrafen zu laſſen; in einem dritten °) bittet er ebendenfelben, 
Ruhe und Gerechtigkeit im Gebiete des heiligen Petrus herzuftellen. 
Bernünftiger Weife Fonnte der Pabft feine vollfommene Unabhän- 





1) Idem ad annum 875 ibid, Mitte. — 2) Hincmari annales ad annum 
876, Perz I. 498 Mitte. — ?) Pagi (eritica ad Baronium anno 875, Nro, 10. 
Ausgabe von Lucca XV., 281, b.) behauptet zwar, Eutropius habe erft um 1020 
gefchrieben. Aber neuerdings hat Wilmans Gahrbücher des teutfchen Reiche 
1. b, 255 flg.) mit guten Gründen die auch von älteren Schriftſtellern auf: 
geftellte Behauptung verforhten, daß das Buch in die angegebene Zeit fällt. — 
*) Perz scriptores III., 722. — ?°) Siehe Pagi a. a. O. — 9) Epist. 31. 
Manfi XVIL, 30 oben. — ) Epist, 23 ibid. ©. 21. — °) Epist, 277 ibid. 
©. 205 unten, womit zu vergleichen Epist. 293 ibid, ©. 214. _ 


Die Päbfte Sergius II. Leo IV., Nikolaus J. ıc. 1097 


gigfeit vom Kaifer fordern, denn er brauchte gegen einheimifche, wie 
gegen auswärtige Feinde fortwährend die Hülfe beffelben, und bie 
Schirmvogtei der römifchen Kirche, die er ihm zu diefem Zwecke notb- 
wendig einräumen mußte, fchloß immerhin eine gewiffe Oberherrlich- 
feit in fih. Gleichwohl find wir überzeugt, daß die Angabe des Press: 
byters, gehörig befchränft, ihre Nichtigkeit hat. Johann VIII. war, 
als er die Kaiferfrone auf das Haupt des Nteuftriers feste, im 
Stande Alles, was er wünſchte, von bemfelben zu erlangen. 
Welcher Wunfh Fonnte ihm näher liegen, als Herr in Rom zu 
feyn? Seit Karl dem Großen hatten die fränfifchen Kaifer eigene 
Richter und Kriegsbefehlshaber in der Hauptftadt Italiens eingefeßt. 
Erft wenn dieſe abziehen mußten, durfte der Pabft fih als Ge: 
bieter Roms betrachten. Ausdrüdlic fagt der Presbyter, daß 
Karl der Kahle auf die Bitte Johann's die Faiferlichen Vögte und 
Anführer der bewaffneten Macht zurückzog. Diefes Zeugniß wird 
durch einen Brief ) des Pabſts beftätigt, wo er ſich beflagt, daß 
durch das tyrannifche Verfahren des Grafen Lambert ihm feit 877 
alle Gewalt über Nom, welde die Kaifer dem Stuhle Petri ein: 
geräumt hätten, entriffen worden fey. Der Pabſt war alfo früher 
Herr der Stadt, aber die Schirmvogtei, ohne welche ſich der Statt- 
halter Petri felbft nicht Halten Fonnte, fand fortwährend dem Kai: 
fer zu. Auf diefe Weife gedeutet, ergänzen ſich die beim erften 
Anschein widerfprechenden Stellen aus den Briefen des Pabſts 
gegenfeitig, und die Ausfage des Presbyters behält in gebührenden 
Gränzen Recht. 

Noch andere und Yäftigere Zugeftändniffe mußte der neue Kai— 
fer machen. Gleich nach der Krönung verließ Karl der Kahle Rom 
und begab fih nad Ober-Stalien, um das langobarbifche Reich, 
das längft als ein Anhängfel der Kaiferfrone betrachtet wurde, zu 
übernehmen. ?) In Pavia verfammelten ſich die weltlichen und 
geiftlihen Stände Langobardiens, die Großen und Bifchöfe, Sie 
erklärten: ?) „fintemal die göttliche Gnade, auf Fürbitte der 
Apoftel Petrus und Paulus durch deren Stellvertres 
ter den Pabft Johann, Euch Karl berufen und nad dem 
Urtheil des Heiligen Geiftes auf die Höhe des Kaiſerthums 
erhoben bat, foerwählen aud wir einmüthig Euch zu unferem 





) Epist, 85 ibid. ©. 75 unten. — 2) Hincmari annales ad annum 
876, Perz I., 498, — 3) Baluzii Capitularia I., 235 unten flg. 


08 FT Buch. Kapilel 12. 


Beſchützer und Heren, wir werden Euch mit Freuden unterthan 
feyn, und Alles willig beobachten, was Ihr zum Nugen ber 
Kirhe und zu unferem Wohle verfügt.“ Eine Reihe Be: 
ſchlüſſe ) wurde fofort gefaßt. Der erfte bis dritte Handelt von 
der Achtung, welde man dem Pabſte, der römischen Kirche und 
ihren Vätern fchuldig ſey; der vierte von den Ehren, die dem Ele: 
us gebühren, erft ber fünfte fchärft die Pflichten des Gehorſams 
gegen den neuen Kaifer ein. Diefe furze Sasungen hatten einen 
tiefen Sinn. Nicht nur ward dadurch aller Welt fund gethan, 
daß die Kaiferfrone, welche Karl der Kahle errungen, ein Gnaden— 
geſchenk des Stuhles Petri fey, fondern die Langobardifchen Stände, 
bie feit 100 Jahren erbliche Unterthanen des Karolingifchen Stam- 
mes geweſen, belaßen jest das Wahlrecht, was abermals ein 
unermeßlicher Gewinn für den Pabſt war. Denn man Fonnte 
sorausfehen, daß von Nun an .die felbfiftändiggewordenen Lango- 
barden aus Nom das Lofungswort empfangen würden. 

Karl der Kahle Tieß in Pavia feinen Schwager den Grafen 
Boſo, der um jene Zeit die einzige Tochter des verfiorbenen Erb: 
kaiſers Ludwig's IL, Irmengard, heirathete, 2) mit dem Titel eines 
Herzogs als Statthalter des italienischen Neiches zurück, Boſo war 
durch die neue Würde, noch mehr aber durch die Heirath ein großer 
Herr geworden, hiezu Fam noch, daß ihn der Pabft, wie tiefer 
unten gezeigt werden fol, zu anderen wichtigen Dingen auserfehen 
hatte. Karl felbft eilte nach Franfreich zurück, denn er mußte dort 
ven Yesten Theil der Rolle, die ihn Johann VIIL angewiefen, zu 
Ende fpielen. Im Juli 876 berief er eine Synode des neuftrifchen 
Reichs nad) Pontion. Hier wurden die Befchlüffe von Pavia feier: 
lich beftätigt, dann fchwuren die Anmwefenden noch folgenden ?) Eid: 
„Gleichwie der Pabft Johann zuerft in Nom unfern glorreichen 
Herrn Karolus zum Auguftus gewählt und mit dem heiligen 
Dele gefalbt hat, und gleichwie nachher alle Biſchöfe, Aebte, Gra— 
fen und Stände des italifhen Reichs ihn zu ihrem Beſchützer und 
Bertheidiger mit einflimmiger Ergebenheit wählten: alfo beftätigen 
und wählen auch wir ihn allzumal, die wir aus Franfen, Bur⸗ 
gund, — Septimanien, Neuſter und Provence hier ver⸗ 


h bid. ©. 239 fig. — 2) Hincmari annales ad annum 876. Perz L. 
499 oben. — 9) Bei, ‚Baluzius a. a. O. I., 238 Mitte acy , ara 


Die Päbſte Sergius IL, Leo IV., Nikolaus I. ıc. 1099 


fammelt find,“ Man fieht, felbft den Ständen feines Erblandes 
hatte Karl der Kahle um den Preis der Kaiferfrone das Wahl. 
recht bewilligen müſſen. Welche Erniedrigung des Königthums !! 
Die weiteren Verhandlungen zu Pontion geben Auffchluß darüber, 
warum der Neuftrier ſich zu folder Demüthigung verftanden haben 
mag. Er brachte zwei päbftliche Gefandte mit fi auf Die Synode, 
die beide Johann hießen und Bifchofe waren, der Eine von Tus— 
fulum, der Andere von Arezzo. Der Erftere verlas ein Schrei: 
ben des heil. Vaters, welches dahin lautete, daß der Metropolit 
Anfegis von Sens hinfort zum Primas und päbftlichen Stellver- 
treter für Gallien und Germanien ernannt fey, mit der Befug- 
niß, Synoden zu berufen und alle Sachen der Kirche 
an den Stuhl Petri zu bringen. Die neuftrifchen Bifchöfe 
verlangten fofort, daß man ihnen den Brief des Pabſts zum Lefen 
geben folle. Der König oder Kaifer fchlug das Anfinnen rund ab. 
Nun erklärten fie, daß fie, unter Borbehalt der Rechte eines 
jeden Metropoliten, und gemäß den Kirchengeſetzen, 
bereit feyen, dem Pabfte zu geboren. Obgleich der Kaifer und 
die Gefandten auf unbedingter Unterwerfung beftanden, verharrten 
fie bei ihrer Erklärung. Nur der Biſchof von Borbeaur, Frotarius, 
der furg zuvor durch den König von feinem urfprüng- 
lichen Stuhl auf das Erzbisthbum Bourges befördert 
worden war, gelobte unbedingten Gehorſam. König Karl brach 
in Drohungen aus, er fagte, der Pabſt habe ihn zu feinem Stell: 
vertreter auf diefer Synode ernannt, er werde Mittel finden, Wider: 
fpänftige zu zwingen. Sofort gebot er, daß ein erhabener Stuhl 
zu feiner Rechten für den neuen Primas hingeftellt werde. Auf ſei— 
nen Winf fchritt Anfegis an den andern Metropoliten, bie bisher 
den Borrang vor ihm gehabt, vorüber und nahm den angewieſe— 
nen Ehrenplas ein. Hinfmar von Nheims, bis jest anerkannter 
Primas des Neihs, legte Widerſpruch ein, indem er behauptete, 
daß die Erhebung des Anfegis den Kirchengefeten wiberftreite. Man 
hörte ihm nicht, und auch die Auslieferung des pähftlichen Briefes 
fonnten die Bifchöfe nicht durchfegen. ") | 
Wir müffen hier den Faden der Erzählung ein wenig unter: 





!) Meber den Hergang vergleiche man Hinapar) annales ad annum 876. 
Perz L., 499, 


1100 | II. Buch. Kapitel 12. 


brechen, um die eben bejchriebenen Räthſel aufzuklären. Zahlreiche 
Belege find ung ſchon früher vorgefommen, daß Einzelne der fpäte- 
ven Karplinger, vor Allen Karl der Kahle, durh Gewalt, Trug, 
Lift die Einheit des Weltreichs ihres erlauchten Ahns wiederherzu: 
ftellen firebten. Der ſtärkſte Beweis diefes Strebens ift aber ber 
eben gefchilderte Borgang. Der Ehrgeiz des Neuftriers war durch 
die Erlangung der Kaiferfrone hoch angefchwollen. Mit Firchlichen 
Waffen hoffte er das Yangerfehnte Ziel zu erreihen. Wenn ihm 
der Pabſt bewilligte, daß ein neuftrifher Biſchof, Karl's Unter: 
than, fofort zum apoftolifchen Stellvertreter in allen einft von Karl 
dem Großen beberrfchten Provinzen biefjeits und jenfeits des Nheing, 
alfo in Germanien wie in Gallien, eingefegt ward, fo fehien der 
Weg gebahnt, um mit Hülfe diefes geiftlichen Gehülfen Teutfchland 
dem neuen Saifer zu unterwerfen. Sohann VI. gieng wirklich 
auf den Borfchlag ein, er ernannte, wie wir fehen, ben Bifchof 
Anfegis yon Seng, einen alten Günftling des Neuftriers, mit den 
gewünschten Vollmachten zum römifchen Bifarius. Der Gedanfe 
war nicht neu, im runde wiederholte der Neuftrier denfelben 
Kunftgriff, den 30 Jahre früher Kaifer Lothar 1. mittelft des Erz 
bifhofs Drogo von Mes auszuführen verfucht hatte. 1) Allein 
abgejehen von dem Widerftande der Teutfchen mußten porerft einige 
bedeutende einheimifche Schwierigfeiten gehoben werden. Erſtlich 
hatte Karl guten Grund zu zweifeln, daß bie weltlichen Stände 
feiner Erblande gutwillig die Hände zu einem Plane der Ehrfucht 
bieten werben, welcher das Reich in unüberfehbare Kriege mit den 
Nachbarn und in koſtbare Feldzüge zu verwideln drohte. Diefe, 
nit ohne Grund vorausgefeste, Abneigung der Stände fuchte 
Karl der Kahle, wie uns fcheint, durch das Wahlrecht, das er 
ihnen auf der Synode von Vontion einraumte, zu entwaffnen. Da: 
ber jener, beim erften Anblicke kaum erklärliche, Schwur Allein 
noch ftärferer Widerſpruch, als von den weltlichen Großen, fand 
von Seiten der Bifhöfe zu erwarten. Sicherlich hatte der Pabft 
in dem Vertrage, welchen ev wegen der Erhebung des Anfegis mit 
dem neuen Kaiſer abſchloß, und folglich auch in dem Schreiben, 
das dieſelbe dem neuftriihen Clerus anfündigte, fich die Zufiherung 
der nämlichen auf Pſeudoiſidor geftüsten Nechte vorbehalten, gegen 





1) Siehe oben ©. 965 flg. 


Die Päbſte Sergius IT., Leo IV., Nikolaus I. x. 1101 


welche unter dem vorigen Pabfte der Hitigfte Kampf von den Neuftriern 
geführt worden war. Daß bie Sache ſich fo verhält, geht aus 
Dem hervor, was man den Biſchöfen auf der Synode yon Pontion, 
laut dem Berichte der Rheimſer Jahrbücher, vorlas. Denn fie hör: 
ten ja, daß dem neuen Primas namentlich das Necht, Kirchen: 
verfammlungen zu berufen, zuftehen folle. Diefes Necht gehörte zu 
den wichtigften, dem Stuhle Petri yon Pſeudoiſidor vorbehaltenen, 
Befugniffen. Die päbftliche Urkunde, aus welcher den Vätern bios 
Einiges vorgelefen wurde, enthielt ohne Zweifel noch Weiteres über 
ähnliche vom Pabſte geforderte Punkte. Aber fo charafterlos auch 
jonft Karl der Kahle war, fo oft er früher fein Wort gebrochen 
hatte, fchämte er fih doch, den Bilchöfen den ganzen Umfang 
der neuerdings dem Pabſt eingeräumten Zugeftändnife, die aufs 
grelffte gegen feinen Widerftand vor 4 Jahren abftachen, offen dar— 
zulegen. Aus diefem Grunde erklären wir ung feine Weigerung, den 
betreffenden päbftlichen Brief den Bifchöfen in die Hände zu geben. 
Man theilte ihnen blos den allgemeinen Inhalt mit, und verfuchte 
fie zu überrumpeln oder zu unbedingter Anerfennung eines Schrei: 
beng zu vermögen, das fie nicht durchgeſehen hatten, 

Allein letzterer Plan fcheiterte an der fo oft erprobten und 
ſtets bewährten Feftigfeit des Metropoliten von Rheims. Hinkmar 
widerfprach nicht nur auf der Synode, wie wir fahen, furchtlos 
der Erhebung des Anfegis, fondern er verfaßte auch um jene Zeit 
eine geharnifchte Schrift, ) um die Parthei, welche mit ihm bie 
bergebrachten Metropolitanrechte vertheidigte, zu ermuthigen. Der 
Inhalt des Buchs ift ungefähr folgender: „Der 6te Canon des niceni- 
ſchen Concils, das von ſämmtlichen Päbſten und allgemeinen Kirchen: 
verfammlungen für hochheilig erklärt worden fey, verordne, daß bie 
Vorrechte aller Kirchen erhalten werben follen, der Ate Canon, daß 
die Betätigung Alles deffen, was in einer Provinz verhandelt wor- 
den, dem Metropoliten zuftehe.“ Neben vielen andern Firchlichen 
Gefegen führt Hinfmar noch einen Brief des Pabft Hormisda an 
ben heiligen Nhemigius von Nheims auf, worin der Pahft den 
ebengenannten Bifchof in dem ganzen Reiche Chlodwig’s zu feinem 
apoftolifchen Stellvertreter einfegt, aber mit Vorbehalt der den übri: 
gen Metropoliten yon Alters her gebührenden Rechte. Auch vergißt 





') Ad episcopos de jure metröpolitanorum opp. IL, 719 fig. 


1102 — II. Buch. Kapitel: 12, 


Hinfmar nicht, den ihm felbit von Benedikt II, ertheilten Freibrief 
zu erwähnen, welcher das Erzbisthum Nheims von jeder andern 
Behörde, als dem Stuhle Petri, unabhängig erflärte. „Immerhin 
werde er,“ fährt Hinkmar fort, „wenn ihn der Pabft, oder fein Herr 
der jegige Kaifer, zu einer Synode, in was für einer Provinz eg 
auch fey, einlade, unverweigerlich ericheinen, da aus der Kirchen: 
geihichte wie aus den Briefen der Päbſte erhelle, daß die Kaifer 
ſtets das Recht geübt, allgemeine Kirchenverfammlungen zu beru: 
fen. Im Uebrigen fey feit den Zeiten des heil. Bonifacius, den 
der Pabft zu feinem Stellvertreter in den Provinzen bieffeits ber 
Alpen ernannt habe, fein ähnlicher Beamte vom Stuhle Petri mehr 
eingefegt worben, bis erft neuerdings Pabſt Sergius unter Kaifer 
Lothar dieſelbe Würde dem Erzbifchof Drogo von Meß extheilte. 
Aber bekanntlich Habe Droge, weil die übrigen Biſchöfe mit der 
getroffenen Einrichtung fich nicht zufrieden erflärten, auf fein Bor: 
vecht verzichtet.“ Hinkmar fchließt mit dem Wunſch, daß das Bei- 
Ipiel von Friedensliebe und Mäßigung, welches Drogo gegeben, 
nachgeahmt werden möge. Die Ausführung des Metropoliten ift 
merkwürdig fein: er giebt dem neuen Kaifer zu verfiehen, daß 
der neue Plan eine Wiederholung der von Kaifer Lothar. gemachten 
Berfuhe fey, und daß die Erhebung des Anfegis ebenfo gewiß 
am Widerftande der teutfchen und neuftrifchen Kirchenhäupter fchei- 
tern werde, als vor 30 Jahren die Ernennung Drogo's mißlungen 
fey. Zugleich züchtigt er in der Stelle, wo er von der Befugniß 
der Kaifer, allgemeine Synoden zu berufen, handelt, die Charakter: 
Iofigfeit Karl's, weil diefer ſich erniedrigt hatte, dieſes koſtbare Recht 
einem Statthalter des Pabſts preis zu geben. Der Kaifer und bie 
päbftlichen Gefandten drangen zwar auf der Synode yon Pontion 
in foweit durch, als die Wiirde des Anfegis durd einen fürmlichen 
Beihlug !) anerfannt ward, allein die neuftrifchen Biſchöfe beharr- 
ten, von Hinkmar geleitet, auf ihrem obengefchilderten Vorbehalt, *) 
wodurd jene Erhebung zu einem bloßen Schatten herabfanf. Eben: 
fo entſchieden lehnten ſie das Anfinnen ab, ?) die Verfegung bes 
Frotarius auf den Erzftuhl von Bourges gut zu heißen. Oränzen- 
los muß die Erbitterung des neuen Saifers tiber den Fühnen Wider: 





ı) Baluzius Capitularia IL, 248.-Nro, VII, — ?) Hincmari annales ad 
annum 876. Perz I., 500 gegen unten, — ?) Ibid. Mitte. 


Die Päbfte Sergius IL, Leo IV., Nitofaus I. x. 1103 


ftand des Metropoliten von Rheims gewefen feyn, der alle Plane 
Karl's durchkreuzte. Zu diefem Anlaffe bes Haffes kam wahrfchein- 
lich noch ein anderer, Als der teutſche König Ludwig im Jahre 
zuvor Neuftrien, wie oben erzählt worden, "mit Krieg überzog, 
hatte Hinfmar an den franzöfifhen Clerus ein Nundfchreiben ') er— 
laffen, in welchem er ben letztern ermahnte, dem rechtmäßigen 
Gebieter treu zu bleiben, aber auch die von Karl dem Kahlen 
begangene Fehler fireng tabelte. Sicherlich hat ihm dieß der neue 
Kaiſer fo wenig verziehen, als das Betragen auf ber Synobe. 
Karl nahm zu Pontion Rache. Der Erzbifchof wurde gezwungen, 
im Angefichte der Berfammlung dem Kaiſer einen neuen Eid ?) ber 
Treue zu leiſten. Man behandelte ihn demnach als einen des Hoch- 
verraths Verdächtigen, der durh Schwüre an feine Pflicht erinnert 
werben müſſe. Hinfmar empfand die Beihimpfung tief. In noch 
vorhandenen Bemerfungen 3) über die aufgenöthigte Eidesformel 
fpricht fi fein gefränftes Gefühl darüber aus, daß ihm, nachdem 
er 8 Jahre das geheimfte Vertrauen des Kaifers Ludwig des From— 
men genoffen, und nun dem jüngften Sohne deffelben feit 36 ah: 
ven aufs Treuefle gedient habe, ein folder Schwur abgefordert 
werde! Geine Klagen find gerecht. Nie hat irgend ein Bischof die 
Freiheiten der Landeskirche und die Rechte der Krone wider den 
Stuhl Petri fo geſchickt und fo treu verfochten. Hinfmar Tonnte 
ein Wort davon fagen, was Fürften-Danf heiße. 

Indeffen verfolgte Karl der Kahle die Plane der Ehrfucht, 
mit welchen die Kaiferfrone feine Seele erfüllt hatte. Im Septem- 
ber traf die Nachricht ein, daß der teutfche König Ludwig, Karl’s 
Halbbruder, zu Frankfurt Ende Auguft verftorben fey, und daß bie 
drei Söhne beffelben, Karlomann, Ludwig II. und Karl der Dice, 
nad) der yerberblihen Sitte jener Zeiten, ſich in die Länder ihres 
Baters getheilt hätten. Noch im September: Monat brach der Kai- 
jer mit Heeresmacht gegen den Niederrhein auf, Der nächſte Streich 
war gegen Ludwig III. gerichtet, der von dem Erbe feines Vaters 
den teutihen Theil von Lothringen, das vheinifche Franken, Sad: 
jen und Thüringen erhalten hatte. Nach Ludwig follten deſſen 
Drüder an die Reihe fommen. Der Mönd von Fuld berichtet aus: 





-  D Hincmari opp. II, 157 fig. — ?) Baluzius Capitul, II., 250, Nr, IV, 
— 3) Opp. II., 835 flg. 


1104 00° HE Buch. Kapitel 12. 


drücklich, ) dag Karl der Kahle ſämmtliche Söhne feines verftor- 
benen Halbbruders zu unterbrüden gedachte. Während der Neuft- 
vier gegen den Rhein zog, fohifften die Norbmannen mit hundert 
Segeln die Seine herauf und vermwüfteten das Land fürchterlich. 9 
Ihre Anführer feßten ſich ſeitdem dauernd im nördlichen Frank: 
reich feil. Der elende Karl gab, wie man ſieht, in bemfelben 
Augenblid, da er nah dem Erbe feiner Bettern gierige Hände 
ausftreckte, das eigene Land unbarmherzigen Räubern preis. Ans 
fangs fehien das Glück dem Kaifer zu lächeln. Der erfchrodene 
Ludwig bat um Frieden und Karl hielt ihn mit Kügnerifchen Ber- 
fprehungen Hinz durch einen nächtlichen Marſch hoffte er den Neffen 
zu überfallen. Aber in der Gefahr ermannten fidh die Teutfchen. 
Trotz ihrer Minderzahl brachten fie dem Heere Karl’s eine tödtliche 
Niederlage bei. Mit Schimpf bededt floh Karl nad Haufe Die 
Plane Faiferlicher Größe waren damit für immer zerronnen. 

Sp fhlau der Pabft die Ehrfucht des Neuftriers ausbeutete, 
brachte doch das angezettelte feine Gewebe auch dem Stuhle Petri 
feinen Gewinn. Nach dem beftehenden Erbrechte gehörte der Nach— 
laß des verfiorbenen Kaiſers Ludwig, und namentlich das italienifche 
Reich, nicht dem Gallier, der nur ein jüngerer Stiefbruder vom 
Bater des DVerblihenen war, fondern Ludwig dem Teutfchen und 
feinen Söhnen. Auf diefes Recht des teutfchen Zweiges der Karo: 
Yinger gründeten aber Tauſende yon Jtalienern ehrgeizige Plane. 
Wer mit dem Pahfte Johann VIN. und feinem Schüglinge Karl 
dem Kahlen unzufrieden war, wer durch Unruhen zu gewinnen 
hoffte — und deren waren fehr Viele — klammerte fih an Karlo— 
mann, den älteften Sohn Ludwig’s des Teutfchen, an. Eine fehr 
ftarfe Parthei bildete fi gegen den som Pabft gewählten Kaifer, 
und diefelbe hatte auch unter dem römifchen Clerus zahlreiche An: 
Hänger. Daß der Pabft Johann VII. die Gegner für gefährlich 
hielt, erhellt aus den kraftvollen Maaßregeln, die er traf. Er 
ſelbſt berichtet in einem feiner Briefe, )) daß im Frühjahr 876 zu 
Rom eine Verſchwörung angezettelt ward, an welcher mehrere ber 
höchſten Beamten des Stuhles Petri, und auch der Biſchof Formo— 
ſus von Porto Theil nahmen. Das Geheimnig kam jedoch heraus, 


y — Fuldenses ad annum 876. Perz I., 390 oben. —  Hinc- 
mari annales ad annum 876, Perz I., 501 Mitte. — ®) * 319. Mansi 
XVII, 236 Mitte flo. 


Die Päbſte Sergius II., Leo IV., Nikolaus I. ꝛc. 1105 


worauf die Verſchworenen im April bei Nacht aus ber Stadt ent- 
flohen. Nun verfammelte der Pabft eine Synode und ſchleuderte 
ben Bann wider bie Schuldigen. Zugleich berichtete er in einem 
Rundſchreiben ) fämmtlichen Bifchöfen Galliens und Teutſchlands 
was gefchehen, und forderte fie auf, den Gebannten jede Gemein: 
Schaft zu verfagen; er fügte felbft die Drohung bei, daß Jeder, 
der Einem der Geäcdhteten ein Stüd Brod brechen oder ihm den 
geringften Dienft leiften würde, dem gleichen Banne unterliegen folle. 
Johann VII. fette demnach voraus, daß die Flüchtlinge in Teutfch- 
land oder Gallien Hülfe fuchen dürften. Auch nach der Flucht der 
Verſchworenen dauerte in Nom die PBartheiung fort. Im folgenden 
Sabre (877) fah fi der Pabft genöthigt, auf einer neuen Synode 
bie Faiferlihe Würde feines Schüglings noch einmal zu beftätigen. 
Er hielt vor den verfammelten Biſchöfen eine glänzende Lobrede ?) 
auf Karl den Kahlen, deffen Erhebung, wie er fagt, ſchon feinem 
Vorgänger Nikolaus durch göttliche Offenbarung anbefohlen worden 
fey, und den er biefer Mahnung gemäß mit demüthiger Zuftim: 
mung aller feiner Mitbifchöfe, des gefammten Clerus, des Senats 
und Volks von Rom gewählt und nad alter Gewohnheit zum 
Kaifer gefalbt habe. Alle Anmefende mußten die Wahl durch ihre 
Unterfohrift von Neuem beftätigen. Zugleih wurden alle Laien, 
welche Unruhen ftiften würden, mit dem Banne, Cleriker dagegen 
im gleichen Falle mit der Abſetzung bedroht. Karl der Kahle 
glaubte ſich jedoch durch die erneuerten Schwüre ber Bifchöfe keines— 
wegs gefihert. Er eriheilte vielmehr dem Herzog Lantbert von 
Spoleto, feinem Dienfimanne, Befehl, die Söhne der vornehmften 
Römer als Geißeln der Treue ihrer Väter zu verhaften. Diefer 
Auftrag konnte jedoch nicht vollzogen werben, weil Nom in fürd- 
terlicher Gährung aufwogte. Der Pabft fchrieb ?) felbft an Yant: 
bert im Dftober 877, er könne nicht glauben, daß der Kaifer einen 
folhen Befehl gegeben habe, welcher allem Herfommen widerftreite; 
eine Empörung drobe auszubrechen und Lantbert möge daher nicht 
nad Rom kommen, ehe das gegen den Kaifer gerichtete Gewebe 
vollftändig vernichtet feyn würde. Wir werben fpäter finden, daß 
bie teutfche Parthei noch lange nachher eine Rolle fpielte; ganz 





1) Epist. 319. Mansi XVII., 236 Mitte fig. — *) Baluzii Capitul, II, 
251 fig. — 3) Epist. 61, Mansi XVII. 51 Mitte fig. 
Sfrörer, Kircheng. II. a. 


1106 *— II, Buch. Kapitel 12. 


Stalien war zerriffen und es bildete fih in diefem unglüdlichen 
Lande jenes Schaufeliyftem, Fraft deſſen die Großen ftets zwifchen 
zwei Bewerbern um bie höchſte Gewalt wechfelten, indem fie den 
Schwächeren gegen den Stärferen unterflügten, um Beide abzunützen 
und ſich felbft zu heben. 

Eben fo fühlbar war ein anderer Schaden, den die Krönung 
Karls des Kahlen dem Lande brachte, Kaifer Ludwig II. hatte der 
größten Anftrengungen beburft, um die Saracenen, die im untern 
Stalien immer fühner um fich griffen, im Zaume zu halten. Seit 
feinem Tode war Fein mächtiger Arm mehr vorhanden, der diefem 
Feinde die Spige zu bieten vermochte. Denn Karl der Kable, 
welcher die Einfälle der Normannen in Frankreich um Geld ab: 
faufen mußte, befand ſich nicht in der Lage, etwas für Unter 
Stalien zu thun. Genöthigt, fich felbft zu helfen, fo gut es gieng, 
fehloffen daher die Städte Neapel, Salerno, Gaeta, Amalfı Biind- 
niffe mit den Saracenen ab, und plünderten gemeinfchaftlich mit 
ihnen Sampanien und die Umgegend von Nom. ) Vergeblich fchrieb 
der Pabſt Briefe über Briefe ?) an die Fürften und Bifchöfe diefer 
Städte, um fie von den gottlofen Verbindungen abzumahnen; ver: 
geblich trat er felbft eine Reife nach Neapel an und verfuchte feine 
Deredfamfeit an dem dortigen Herzoge Sergiug. ?) Der Staliener 
fpeiste den Pabft mit Fahlen Berfprechungen ab, und blieb im 
Bunde mit den Sararenen. Jetzt fehleuderte der Pabft den Bann 
gegen Sergius, und wirklich fand ſich ein mächtiger Mann, ber 
dieſe Acht-Erklärung vollzog. Johann VI. hatte früher, um Ser- 
gius zu gewinnen, den leiblichen Bruder defjelben, Anaftafius, zum 
Bifchofe ernannt, fo daß nunmehr die höchfte geiftliche und weltliche 
Gewalt über Neapel in den Händen ber beiden Brüder vereinigt 
war. Eben diefer Biſchof Athanaſius nun überfiel,: nachdem ber 
päbſtliche Bannftrahl gefchleudert worden, feinen Bruder den Her: 
308, ließ ihn fefleln, dann dem Gefeffelten die Augen ausftechen, 
und ſchickte ihn alfo zugerichtet nad) Rom. *) Nach vollbrachter 
That warf fi) Athanafius zum Herrn von Neapel auf und beberrichte, 





!) Muratori annali d’Italia ad annum 876. Vol. V., 118, — ?) Epist, 
36. 38. 39. 40, 41. — 3) Die Beweife bei Muratori a. a. O. V.. 122 ge 
gen unten. — *) Erchemperti Langobardi chronicon cap. 39 bei Perz script. 
rerum germ, III., 253 unten flg. 





Die Päbſte Sergius I., Leo IV., Nikolaus 1. ꝛc. 1107 


als Herzog und Bifchof in einer Perfon, die Stadt mit unum⸗ 
ſchränkter Vollmacht. Der Pabſt ermangelte nicht, den Bifchof 
Athanaſius und die Neapolitaner in zwei Briefen ) höchlich zu 
loben, jenen, weil er, eingedenf der Worte des Erlöfers: wer 
feinen Bater, feine Mutter, feinen Bruder mehr liebt 
als mih, fommt nicht im das Himmelreich, dem neuen 
Holofernes zur Strafe gezogen; dieſe, weil fie flatt des fluchwür⸗ 
digen Sergius den frommen Athanafius zu ihrem Oberhaupt ge: 
wählt hätten. Aber bald darauf wurde der Bilhof=- Herzog Atha- 
nafius durch die Uebermacht der Saracenen gleichfalls genöthigt, 
mit ihnen ein Freundfchafts:Bündnig abzufchliegen, worauf ihn der 
Pabſt wiederholt mit dem Banne bedrohte. *) Dod was nüßten 
Bannftrahlen, was Drohungen, was Worte, wo feine bewaffnete 
Macht vorhanden! Blieb ja doch dem Pabfte zulest felbft nichts übrig, 
als die Wuth der Moslemim durch eine jährlihe Brandihasung 
von 25,000 Mark Silbers abzufaufen, die er ihnen verſprach, ®) 
wenn fie aufhören würden, das römiſche Gebiet, wie bisher, mit 
Feuer und Schwert heimzufuchen. Ueber diefe und Abnliche Un: 
glüdsfälle erhob der Pabſt rührende Klagen in häufigen Briefen ) 
an Karen, feine Gemahlin, oder den Herzog: Statthalter von Sta: 
lien Boſo, indem er fie „Iniefällig“ oder „mit gebeugtem Haupte,“ 
wie er fagt, um fchleunigfte Hülfe befchwor. Etwas mußte denn 
doc) zulest der neue Kaifer für „fein Reich Italien“ wagen. Frei 
lich war die Aufgabe fohwierig, denn das Bolf und die Großen 
son Neufter, die fih im eigener Heimath der Norbmannen nicht 
erwehren konnten, hatten fehr wenig Luft, für die perfönliche Ehrſucht 
eines verachteten Herrfchers ihre Kräfte in einem fremden Lande 
zu verfchwenden. Anfangs Juli S77 hielt Karl der Kahle einen 
Reichstag. Die Hauptforderung betraf dießmal eine außerordentliche 
Steuer, welche yon den weltlichen wie von dem geiftlihen Ständen 
verlangt und auch bewilligt ward. Mit dem einen Theile der hohen 
Summe, welde die Steuer abwarf, erfaufte er Frieden von ben 
Nordmannen, den andern gedachte er auf den bevorftehenden Feld: 





- 
1) Epist. 66 und 67, Mansi XVII., 55 unten flg. — ?) Epist. 227 ibid. 
S. 169 und epist. 241 ibid. ©. 177. — ?) Er gefteht dieſes felbft in dem 
Briefe 89 an Karl'n den Kahlen ibid, ©. 78. — * Epist. 1. 7. 21. 30 — 
32, 54 u. f. w. 


70 * 


1108 III. Buch. Kapitel 12. 


zug und Beflehungen in Stalien zu verwenden. Mit einer Abtheilung 
Bewaffneter brach er ſodann gegen die Alpen auf, der übrige Heerbann 
follte ihm nachfolgen. ) Bon Rom her z0g ihm der Pabft Yangfam 
entgegen, in der Abficht, den Kaifer unweit Mailand zu empfangen. 
Unterwegs hielt Johann VIIL im Auguftmonate zu Ravenna eine 
pielbefuchte Kirchenverfamimlung, deren Befchlüffe ?) beweifen, dag 
ber Pabſt unabläffig bemüht war, die Grundfäge des falfchen 
Iſidor und ber großen conflantinopolitanifchen Synode vom Jahr 
869, für deren allgemeine Anerkennung fein Vorgänger Hadrian II. 
vergeblich. gearbeitet hatte, ins Leben einzuführen. Der erfte und 
dritte Canon yon Ravenna beftimmen, daß jeder Metropplite, der 
nicht fpäteftens 3 Monate nach erfolgter Weihung dem Pabſte ein 
Glaubensbekenntniß einfende und das Pallium von ihm erbitte, fein 
Amt verlieren, ſowie daß er des Palliums verluftig feyn folle, wenn 
er daffelbe an andern, als ben vorgefchriebenen Tagen, tragen 
würde. Schon das Ste ökumeniſche Concil von Konftantinopel 
hatte das Geſetz ?) gegeben, daß die Metropoliten von ihren vor: 
gejesten Patriarchen eine Beftätigung ihrer Würde, fey es durch 
Händenuflegung, oder durch Ertheilung des Palliums, zu erbitten- 
hätten. Diefe Verfügung war von hoher Wichtigfeit für den Stuhl 
Petri. Denn wenn es gelang fie durchzufesen, fonnte der Pabft die 
Metropoliten vor Ertheilung des Palliums durch Verträge binden. 
Berfuhe, in der Art Hinfmar’s die von Karl dem Großen ein- 
geſetzte Gewalt des Erzbisthums aufrecht zu halten, waren dann 
unmöglich. DBegreiflich ift daher, weßhalb Johann VII. auf dem 
Eoneile yon Ravenna biefen Canon eingebracht hat. Weiter wurde 
beſchloſſen, daß fein Herzog ſich unterftehen folle, Biſchöfe vor den 
Pabft zu führen, oder Steuern und Gefchenfe von ihnen zu for- 
dern, daß Niemand einem Bifchofe in Gegenwart von Laien Ber: 
weiſe ertheilen dürfe, daß Clerifer, Nonnen, Wittwen und Waifen 
allein unter dem Schuge der Kirchenhäupter flehen und vor feinem 
weltlichen Gericht belangt werden follen. Endlich ward im Namen 
Ehrifti, der beiden höchſten Apoftel Petrus und Paulus, fowie aller 
Heiligen, jede Beſchädigung der Güter, Gefälle, Negalien, Rechte 
des apoftolifhen Stuhles, fowie der in Mittel- Italien gelegenen 





1) Hincmari annales ad annum 877, Perz L., 503. — 2) Die Aften bei 
Manfi XVIL, 337 flg. — 3) Canon 17. Manfi XVL, 171 oben. 





Die Päbfte Sergius IL, Leo IV., Nikolaus I. x. 1109 


Klöfter verpönt — Alles bei Strafe der Ausfchliefung vom Safra: 
ment oder bei hartnädigen Verbrechern des Bannes. Der Pabft 
behandelte, wie man fieht, Italien als ein geiftliches Reich, als ein 
Erbtheil des Clerus. Bon nusbringenden Rechten des Kaifers 
ift feine Rede. 

Bon Ravenna begab fih Johann VIN. nad Vercelli, wo er 
mit Karl dem Kahlen zufammentraf. Beide giengen teiter nach 
Pavia. Dort angefommen, erhalten fie die Nachricht, daß der 
Prinz Karlomann, ältefter Sohn des 876 verftorbenen Ludwig des 
Teutfchen, mit einem großen Heere in italien eingebrochen fey, 
und gegen fie anrüde. Alsbald floh die Kaiferin mit dem Schas 
der Schweiz zu, der Kaifer weilte noch einige Tage, auf den Zu: 
zug feiner Großen und des neuftrifchen Heerbanns harrend. Aber 
die fehnlih Erwarteten famen nicht. Die hohen weltlichen und geift- 
lichen Lehnträger des franzöſiſchen Reichs Hatten nämlich, mit Aug: 
nahme Weniger, eine Verſchwörung gegen Karl'n den Kahlen 
angezettelt, darum blieben fie aus: dieß berichten ) mit Yafonifcher 
Kürze die Jahrbücher von Rheims, welchen wir folgen. Als Karl 
der Kahle ſich endlih von der Nußlofigfeit feines Wartens überzeugt 
hatte, floh auch er den Alpen zu, der Pabft dagegen gieng nad 
Nom zurüd, wo er gefund ankam. Nicht fogut wurde es dem 
Kaifer, denn nachdem er den Montcenis überfliegen, ergriff ihn 
am Fuße des Bergs ein Fieber. Er fuchte Hülfe bei feinem Leib- 
arzte, dem Juden Zedechias. Diefer reichte ihm einen Gifttranf, 
an welchem der Kaifer nach wenigen Tagen — den 6ten Oftober 
877 — in einer ärmlichen Bauernhütte ſtarb. Der unerträgliche Ge— 
flanf, welchen die Leiche verbreitete, beftätigt die Vergiftung; 2) 
aber über die Frage, wer den Juden bezahlt haben mag, ftellt der 
Chronift yon Rheims Feine Bermuthung auf. Der kurze Tre 
neuftriichen Kaiſerthums war zerronnen ! 

Mir müffen jest unfere Aufmerfjamfeit den Firchlichen Zuftän- 
den Neuftriens und dem Metropoliten von Rheims zumenden. 
Die ungeheuren Zugeftändniffe, welche Karl der Kahle um ben 
Preis der Kaiferfrone dem Pabfte gemacht, trugen über Erwartung 
ſchnell ihre Früchte. Alles was Hinfmar yon 867 an mühſam 





1) Hincmari annales ad annum 877, Perz ]., 505 Mitte bis unten. — 
2) Idem ibid. I.,, 504 oben big Mitte. 


1110 II. Buch. Kapitel 12. 


dem Stuhl Petri abgerungen Hatte, flürgte feit 875 zufammen. 
Nicht blos Biſchöfe appellirten gegen die Ausfprüche ihrer Metro: 
politen nad) Nom, fondern auch Presbyter fuchten dort wider ihre 
Biſchöfe Schutz. Die Falle häuften fih, daß Prieſter, welche wegen 
Verbrechen abgefest und der Kirchenbuße unterworfen waren, an 
St. Peters Schwelle eilten und von dort Gnadenbriefe zurück— 
brachten, die den Schuldigen Straflofigfeit zuficherten. Das war 
gewiß fehr unangenehm, aber doch durfte man ſich vernünftiger 
Reife nicht Darüber wundern. Denn warum. hätte die niedere 
Geiftlichfeit nicht das Beifpiel ihrer Biſchöfe nachahmen follen, da 
fie doch fah, daß die Auflehnung Diefer gegen die Metropolitan: 
Gewalt mit Hülfe des römischen Stuhl von erwünſchtem Erfolg 
gefrönt wurde! Gleihwohl merkte Karl, der wahre Urheber bie: 
fer Unordnung, daß die Kirche fo nicht länger beftehen fünne. Er 
gab alfo Hinfmar den Auftrag, dem Pabſte kraftvolle BVorftellun: 
gen zu machen. Der Metropolit richtete wirklich um 876 im Auftrage 
des Kaiſers ein Schreiben ') an den Stuhl Petri, in welchem er 
von den obenerwähnten Thatfachen ausgehend verlangte, der Pabft 
folle fi in Bezug auf das Appellationsrecht der Bifchdfe, an die 
Beichlüffe von Sardifa halten... Was hingegen die Presbyter und 
die Mitglieder des niedern Clerus im Allgemeinen betreffe, müffe 
der Kaifer auf Beobachtung der Canones von Nicda, Antiochien 
und mehrerer afrifanifchen Synoden beharren, durch welce verord- 
net werbe, daß Presbytern und anderen untergeordneten Geiftlichen 
zwar das Necht zuftehe, im Falle fie ſich durch ihre Biſchöfe beein: 
trächtigt glaubten, bei den Provincialiynoden Befchwerde zu führen, 
daß aber auch die Entſcheidung der letztern unwiderruflich fey. 
„Denn wenn jeber mit feinem Bifchofe unzufriedene Priefter,“ fahrt 
Hinfmar fort, „ſich herausnehmen dürfte, beim Pabſte zu Hagen, 
jo würden die Kirchenhäupter zulegt nichts Anderes zu thun haben, 
als Gefandte und Abfchriften von Synodal-Berhandlungen fammt 
Zeugen nah Nom zu fehiden. Ueberdieß wiſſe der Pabft ſelbſt, daß 
ſehr oft Zeugen wegen Gebrechlichfeit oder anderer Hinderniffe eine 
jo weite Reife nicht antreten könnten. Wohlweislich hatten deghalb 
die Canones verfügt, daß jedes geiftliche Vergehen an Ort und 
Stelle gerichtet werben folle, während durch den eingeriffenen Miß- 





1) Hincmari opp. II., 768 flg. 


A — 





Die Päbſte Sergius IL, Leo IV., Nikolaus 1. xc. 44 


brauch fich jeder Verbrecher der gebührenden Strafe entziehen könne, 
wenn er nur in Rom tüchtig drauf los Tüge.“ 

Der Tod Karls des Kahlen veranlaßte Hinfmar bald darauf 
zu Abfaffung einer andern Schrift der feltfamften Art. Ein Mann 
aus dem Nheimfer Sprengel, Namens Bernold, erfranfte, ließ 
fih das Abendmahl reichen und verfiel nun in eine viertägige Vers 
züdung, während deren er fein Wort ſprach, auch Feine Speife 
oder Trank genoß. Plöglih wacht er auf und verlangt dringend 
nach dem Beichtvater, dem er fofort erzählte, was er im Gefichte 
gefchaut Hatte. Die Sache machte Ların und fam auch dem Metro: 
politen zu Ohren. Hinfmar fagt: weil es ihm nicht möglich geweſen 
fey, den Verzückten felbft vor fich Fommen zu Yaffen, babe er ben 
Beichtvater berufen, und von ihm Alles erfahren, was Jener dem 
Priefter berichtete. Hinfmar fand die Ausfage wichtig und glaub: 
würdig zugleih, er fchrieb fie nieder, So entftand fein an den 
Clerus gerichteter Aufſatz über die Gefichte Bernolds. ) Wir müffen 
uns auf wenige Auszüge Deffen, was wir für das Wichtigfte und bag 
eigentliche Endziel des Berichtes anfehen, befehränfen. Bernold durch: 
wanderte in der Verzückung das Fegfeuer, in welchem er viele mit 
Namen angeführte Bifchöfe und Große des Reichs ſchwer gepei- 
nigt erblidte. Außer diefen fah er noch einen Andern, Höheren, 
nämlich den eben geftorbenen König oder Kaifer Karl. Wir laſſen 
jegt den Seher felbft reden: „Ich Fam in eine finftere Höhle, bie 
nur durch matte Strahlen eines benachbarten, hellerleuchteten, von 
den veizendften Wohlgerüchen duftenden Drts einiges Licht em— 
pfing. In diefer Höhle erblickte ich unfern Herrn den König Karl, 
im Kothe liegend, vol Eiter und Beulen. Würmer nagten an ihm 
und hatten fein Fleifch aufgezehrt, fo daß nichts als Knochen und 
Sehnen übrig waren: Er rief mich mit Namen und ſprach: warum 
hilfft du mir nicht? Ich entgegnete: Herr! wie kann ich Euch hel- 
fen. Er antwortete: nimm dieſen Stein, der neben mir liegt, richte 
meinen Kopf auf, und ftüge ihn auf den Stein. Als ich Diefes 
gethan, fprach er: gehe hin zum Bifchofe Hinfmar und fage ihm, 
weil ich auf feine und anderer Getreuen Rathſchläge nicht geachtet 
hätte, leide ich diefe Pein, die du fiehefl. Weiter berichte ihm: da 
ich immer mein Vertrauen auf ihn gefeßt, möge er mir auch jet 





!) De visione Bernoldi opp, II., 805 fig. 


1112 | III. Buch. Kapitel 12. 


helfen, daß ich aus dieſer Marter erlöst werbe.“ Nachher warb 
Bernold, und zwar im nämlichen Gefihte, gewahr, daß die Gebete 
Hinkmar's wirfiih den unglüdlihen König an den Ort der Seligen 
verfegt hatten. Wir find überzeugt, daß Hinfmar das Geficht Ber: 
nold's nicht erbichtet hat, und daß er felbft an die Wahrheit deffel- 
ben glaubte, denn ber Glaube an ſolche Berzüdungen und bie 
Qualen des FTegfeuerd war damals allgemein verbreitet, wie man 
aus den Schriften Gregor’s des Großen, den Gefichten des Fur: 
feug, !) der Kicchengefchichte des Beba, *) und einem Briefe des 
heil. Bonifacius ?) erfieht. Gleichwohl ift unfere Meinung, daß 
Hinfmar, als er die Ausfage des Beichtvaters auffchrieb, einen 
befondern Zwed hatte. Diefer Zweck befand ohne Zweifel 
darin, den Nachfolger und Sohn Karl's des Kahlen, König Lud— 
wig den Stammler, zu warnen, daß er nicht, wie fein Vater gethan, 
die Rathfchläge der Hohen eiftlichfeit verachte. Unſere Vermu— 
thung wird trefflich durch Das beftätigt, was gleich nad Karls 
des Kahlen Tode in Neufter gefchah. Die Großen des Reiche, 
welche, wie oben berichtet worden, ſich gegen den Kaiſer verſchworen 
hatten, hielten auf die Nachricht von feinem Ableben einen Tag 
bei Avenay. Ludwig der Stammler mußte mit ihnen unterhandeln, 
und erft als er ihnen Alles, was fie verlangten, dem Einen ein 
Kloſter, dem Andern Dörfer, Leibeigene, Grafichaften bewilligt hatte, 
erfannten fie fein Erbrecht an. Nun trat eine Neichsverfammlung 
in Compiegne zufammen. Hier wurde bem Sohne Karls ein Vertrag 
vorgelegt, weldhen Ludwig unterjehreiben follte. Die Urkunde befagte, 
daß Ludwig die VBerfaffung des Reihe, insbefondere aber die heiligen 
Ordnungen und Rechte der Kirche für immer zu achten gelobe, Nachdem 
er die Schrift unterzeichnet hatte, wählten ihn die Anwefenden zum 
König, worauf den Gewählten Hinfmar mit dem heiligen Dele 
falbte. *) As Wahlkönig folgte daher Ludwig der Stammler fei- 
nem Bater Karl, der ein Erbfürft gewefen war, Das furze 
Kaiſerthum des Neuftriers hatte, wie man fieht, zur Folge, daß bie 
Macht der neuftrifchen Krone im eigenen Lande tief erniedrigt wurde, 
was allem Anfchein nad) mit in dem Plane des Pabftes Johann VIH. 


1) Siehe oben ©. 420. — 2) Beda hist. eccles. II, 19 und V., 12. 
— 3) Epist. 20. Würdtwein ©. 49. Der teutfche Apoftel erzählt hier der Aeb— 
tiffin Eadburga die Gefichte eines vom Tode wieder Erftandenen. — *) Hinc- 
mari annales ad annum 877. Perz I,, 504 flg. 





Die Päbſte Sergius IL, Leo IV., Nikolaus I. ıc. 1113 


lag. Aber von einer Vererbung des Faiferlihen Titels auf den 
jungen König fonnte jest nicht mehr die Rede feyn, weil bie Stände 
des Reichs, die nun faft alle Macht in Händen hatten, von fernen 
Kriegszügen und weitausfehenden Unternehmungen nichts wiſſen 
wollten. Diefer Iegtere Punkt ftimmte ſchwerlich zu den Wünfchen 
des Pabſts. Sn einer Hinficht hatte folglich auch er fich verrechnet. 
Aus der Art und Weife, in welcher die Aheimfer Jahrbücher Das 
was ber Krönung Lubwig’s des Stammlers yorangieng, darftellen, 
erhellt deutlich, daß Hinfmar und der hohe Clerus die Anmaßungen 
der Großen mißbilligte. Es Fonnte keineswegs in der Abficht der 
Bischöfe Yiegen, einen fchwachen König zu haben. Denn wo follten 
fie unter einem folhen Fürften Schuß gegen den hohen Adel finden, 
welcher gierig die Hände nach allen Abteien, nah allen Kirchen- 
gütern ausftredte, Der Clerus wünfchte und mußte wünſchen, daß 
der König ſtark genug fey, die Willführ der Großen zu zähmen, 
aber auch, daß er die Rechte und Freiheiten der Kirche achte und 
den Rath der Bifchöfe höre. Weil Hinfmar als Primas des Reiche 
und Erzbifchof yon Rheims diefe Grundfäge feines Standes theilte, 
bat er ohne Zweifel die Gefichte Bernold’s benügt, um den jungen 
König an den Eid von Compiegne zu erinnern und zur Folgſam⸗ 
feit zu ermahnen. 

Der teutfhe Karlomann, deſſen Einfall in Stalien wir oben 
gemeldet, wurde als König der Langobarden anerkannt. ') Boſo 
der bisherige Statthalter Karls des Kahlen mußte die Flucht er: 
greifen, er begab fi) nach dem ſüdlichen Frankreich, mo er großen 
Einfluß befaß. Die ehemaligen Anhänger des Neuftriers, auch ber 
Herzog Lantbert von Spoleto und Adalbert Markgraf von Toskana, 
giengen zur teutfchen Parthei über, und nahmen eine drohende 
Stellung gegen den Pabſt an. Ermuthigt durch diefe glüdlichen 
Erfolge, firebte Rarlomann nad der Kaiferfrone, er erließ ein 
Schreiben ?) an Johann VI, in welchem er anfündigte, daß er 
gefonnen fey nah Rom zu fommen, und das Verfprechen beifügte, 
für die römische Kirche mehr, als irgend einer feiner Vorfahren, zu 
thun. Zugleich bat er um das Pallium für den Erzbifhof Theot: 
mar von Salzburg. Der Pabſt antwortete ?) in höflich Faltem 

1) Muratori annali d’Italia Vol. V. 4128 fig. — ?) Diefes Schreiben ift 


verforen. Man erfieht aber feinen Inhalt aus der Antwort des Pabftes. — 
3) Epist. 63, Manſi XVIL, 53. 





1114 II. Bud. Kapitel 12. 


Tone: „er werde demnächſt Gefandte an den Fürften ſchicken mit 
einem ſchriftlichen Berzeichniffe alles Deffen, was Kar— 
fomann der römifhen Kirhe und dem Apoftelfürften 
Petrus erfi zugeftehen müffe. Würde der Fürft fich willfähe 
rig zeigen, fo werbe er, der Pabft, nicht ermangeln, ihn freund: 
lich zu empfangen, auch wollten fie dann gemeinfchaftlich berathen, 
was für das Wohl der Kirche und des Staats zu thun fey.“ Das 
gewünfchte Palium für den Erzbifchof von Salzburg bewilligte 
er, aber nur unter der Bedingung, daß Theotmar ſich verbindlich 
mache, die dem Stuhl Petri in Baiern gehörigen Gefälle alljährlich 
nah Nom zu überfenden. Schließlich bittet er Karlomann, daß er 
den geheimen Feinden, die dem Pabſte nach dem Leben trachteten, 
feinen Vorſchub thun möge. Unter diefen geheimen Gegnern find, 
wie aus dem Folgenden erhellen wird, hauptfählih Lantbert von 
Spoleto und Adalbert von Toskana zu verftehen. Im Uebrigen 
erfieht man, daß der Pabft den teutfchen Fürften in ähnliche Ver: 
träge, wie den Neuftrier Karl, zu verſtricken gedachte. Aber der Plan 
fam nicht zur Ausführung. Schon in dem Schreiben an den Pabſt 
hatte Karlomann einfließen laſſen, daß er erft nach Teutfchland zu: 
rücgehen müfje, ehe er nad) Nom fommen könne. Wirklich Fehrte 
er auch im Spätherbſt 877 nach Baiern, feinem Erbreiche, beim, 
wahrſcheinlich weil er fich mit feinen Brüdern Karl dem Dicken und 
Ludwig III., die über die bevorftehende Erhebung des Baiern eifer- 
füchtig waren, verfiändigen wollte Wenigftens fprechen die Fulder 
Jahrbücher 7) von Gebiets-Abtretungen, welche Karlomann an fei: 
nen Bruder machte, woraus wohl der Schluß zu ziehen ift, daß 
er die Zuftimmung befjelben erfaufen zu müffen glaubte. Allein 
bald darauf ward Karlomann, der ſchon aus Stalien Frank zurück— 
gefommen war, ?) vom Schlage gerührt. ?) Er ift von dieſer Kranf- 
heit nie mehr genefen, feine perfönliche Rolle hatte ein Ende. Defto 
eifriger betrieben die italienifchen Anhänger Karlomann’s feine dor: 
tigen Angelegenheiten, denn was fie feitdem für den tobtfranfen 
Fürften zu thun fhienen, war im Grunde für eigene Rechnung 
gethban. Lantbert und Adalbert, welche Karlomann zu feinen Statt: 


') Ad annum 878, Perz I., 391 unten fig. — *) Hincmari annales ad 
annum 877. Perz I., 504 MEN Mitte. — 3) T- Fuldenses ad annum 
879. Perz I., 392 Mitte. 


Die Päbſte Sergius II., Leo IV., Nikolaus I. ꝛc. 1115 


haltern eingefest haben muß, beobachteten den Pabſt aufs Genauefte, 
und wiegelten felbft in Nom eine Parthei wider ihn auf. In bie: 
jer Noth richtete Johann VIII. feine Augen auf Neuftvien. Bon dort 
ber wollte er einen neuen Kaifer, in der Art Karls des Kahlen, 
berbeiholen. Zu folhem Zwed ſchien aber eine Reife nach Franf: 
reich unumgänglich. Er meldete 1) daher dem Herzoge Lantbert, daß 
bie häufigen Anfälle der Araber, und nochmehr die unzähligen Be: 
drückungen, welche er täglich in Rom zu erbulden habe, ihm einen 
längern Aufenthalt in der Stadt unmöglich machen, er fey deshalb 
entfchloffen, zur See nad Frankreich zu reifen, von wo er fich 
fpäter auch zu König Karlomann begeben wolle, um ihn zu bitten, 
daß er für Bertheidigung der Güter des heil. Petrus Sorge tragen 
möge. Zugleich warnte er den Herzog unter Androhung des Ban— 
nes, während feiner Abwefenheit Die priefterlihe Königsſtadt Rom 
zu beläftigen. Lantbert antwortete grob, er gab dem Pabſte nicht 
einmal einen geiftlihen Titel, fondern redete ihn mit der Formel 
„Euer Wohlgeboren“ (nobilitas tua) an und verbot ihm überbieß, 
an irgend Jemand ohne feine, des Herzogs, Einwilligung Gefandte 
zu fchiefen, worüber ſich Johann in einem Briefe ?) bitter befehwert. 
Da indeß der Pabft fih nicht einſchüchtern ließ, fehritt der Herzog 
zur Gewalt. Der Mönch von Fuld erzählt, ?) daß Lantbert und 
Adalbert (im Frühjahr 878) mit Heeresmacht in Rom einfielen,- 
den Pabſt gefangen nahmen und den Adel der Stadt zwangen 
dem teutfchen Karlomann den Eid der Treue zu leiften. „Nachdem 
die Soldaten wieder abgezogen feyen,“ fährt der Mönch fort, „habe 
der Pabſt die Petersfiche, in welcher der Schab lag, ausräumen, 
den Altar mit härenem Tuch bebeden, und alle Thüren fchlies 
gen laſſen, ſo daß einige Tage lang fein Gottesdienft gehalten 
werden konnte.“ Johann VI. felbft Hagt in mehreren Briefen *) 
über die von Lantbert und feinen Genofien zu Rom begangenen 
Greuel, und fügt noch bei, daß fie die vom Stuhle Petri früher 
mit dem Banne belegten Feinde — der Bifchof Formoſus yon Porto 
und feine Parthei ift gemeint — in bie Stadt zurücgebracht hätten. 

Der -Hauptzwe des Einfalle — den Pabſt an einer Reife 





') Epist, 68. Manſi XVIL, 57 Mitte. — °) Epist, 73. Manſi XVII, 
61. — 3) Ad annum 878, Perz ]., 392. — *) Epist. 84—89. Manſi XVIL, 
12 flg. 


1116 I. Buch, Kapitel 12. 


nah Frankreich zu hindern — wurde nicht erreicht. Johann VII. 
entwitfchte zu Schiff aus Nom, nachdem er zuvor einen fürdhter: 
lichen Bannftrahl wider Lantbert und Adalbert gefchleudert. ) Bon 
Genua aus fchrieb ?) er an Karlomann: die Bosheit der Feinde 
habe ihm den Weg nad ZTeutfchland verlegt, er gehe daher nad) 
Sranfreih, um eine feftere Einigfeit zwifhen Rarlomann 
und feinen neuftrifhen Verwandten herzuftellen; der Kö— 
nig möge mit allen feinen Bifchöfen zu einer Synode fommen, 
welche er, der Pabſt, in Neuftrien zu halten gebenfe. Sn drei 
weitern Briefen ?) forderte er die Metropoliten yon Mainz, Trier 
und Cölln auf, die teutfchen Könige zu Beſuchung des bevorftehen: 
den Concils zu vermögen. Klar erhellt aus diefen Schreiben, daß 
der Pabft eine allgemeine Kirchenverfammlung der fränfifchen Reiche 
beabfichtigte. Aber über den Zweck berfelben haben wir nur Ver: 
muthungen. Die unfrige ift, daß er damit umgieng, den Sohn 
Karl des Kahlen, Ludwig den Stammler, zum Kaifer ernennen zu 
laffen. Aber noch während der Reife muß fein anfänglicher Plan 
Beränderungen erlitten haben. Johann VII. Yandete um Pfingften 
878 bei Arles. *) In der Provence traf er mit Bofo zufammen, 
der, früher Statthalter Karl's des Kahlen in Stalien, jest im Na— 
men des ſchwachen Ludwig des Stammlerd mit faft unbefchränfter 
‚Gewalt das füdliche Franfreich regierte. Boſo war ein verfchmig- 
ter Geſchäftsmann, fchnell bildete fich eine enge Freundfchaft zwifchen 
ihm und dem gleichgefinnten Pabſte. Johann VIN. fchrieb 5) da= 
mals an die Kaiferin Engelberga, Lubwig’s II. Wittwe: „er habe 
„zu Arles ihren Schwiegerfohn Bofo und ihre Tochter Ermengard 
an Kindesftatt angenommen, von ihnen erwarte er Troft und Ber: 
theidigung der römischen Kirche, auch wünfche er diefelben zu einer 
noch glänzenderen Würde zu erheben.“ Lebteres Yautet, als wenn 
er dem Herzoge wenigftens eine Krone verfchaffen wollte. Doch 
hatte er allem Anfchein nach damals noch dem Könige Ludwig 
felbft die wichtigfte Rolle zugedacht, aber bald wurde er enttäufcht. 
Johann VII. fehrieb von Lyon aus an den neuftrifhen König, daß 
er ihm entgegenfommen möchte. Ludwig der Stammler folgte diefer 





+ 


1) Hincmari annales ad annum 878. Perz J., 506 gegen oben. — ?) Epist. 
89. Manfi XVIL, 78. — 3) Epist. 106, Manfi XVIL., 87. — 4) Hincmari 
annales ad annum 878, Perz I,, 506, — 5) Epist, 92, Manft XVII, 80, ' 


Die Päbfte Sergius II., Leo IV., Nikolaus I. ꝛc. 1117 


Einladung nicht, fondern ließ dem Pabfte melden, daß man ihn zu 
Troyes erwarte, wo die beantragte Synode zufammenfommen 
follte. D Diefes Falte Beiragen des Königs verhieg dem Pabfte 
wenig Gutes. Indeß begab fih Johann VIII nah Troyes, aber 
ftatt einer VBerfammlung von fämmtlichen Kirchenhäuptern ber frän- 
fiihen Reiche, traf er dafelbft nur ungefähr 30 Bifchöfe, worunter 
gar feine Teutfche, wenige Staliener, die übrigen Gallier. ) Selbft 
der König von Neuftrien erfchien Anfangs nicht, angeblich weil ihn 
eine Krankheit zurücdhielt. 2) Die Synode wurde im Auguft 878 
mit einer Anrede des Pabſtes eröffnet, in welcher derjelbe alle Völ— 
fer, Könige und den ganzen Clerus der Chriftenheit befchwor, Mit: 
leiden mit den ungeheuren Drangfalen der römifchen Kirche zu haben, 
zur Beftrafung der Uebelthäter, welche dieſes Unglück veranlaßt hät 
ten, mitzuwirken, und ihm wieder zum Befige von Nom zu vers 
beifen. Die Bifchöfe willigten ein, den vom Pabſte wider Lantbert 
und Adalbert ausgefprochenen Bann zu beftätigen, fie verlangten 
jedoch, daß diefelbe Strafe auch über franzöſiſche Kirchenräuber aus: 
geiprochen ‚werden folltee Der Pabft fagte zu; verfchiedene auf: 
rührerifche Große des neufirifchen Reichs wurden verflucht, und num 
wiederholten die Biſchöfe auch den Bann wider Formoſus yon Porto 
und feine Parthei. Dan faßte fofort einige Befchlüffe, welche die 
ben Kirchenhäuptern gebührende Ehrfurcht einfchärften. ) Erſt gegen 
Ausgang der Synode, im Anfang September, Fam Ludwig ber 
Stammler nad Troyes. Jetzt forderte der Pabft die Bifchöfe in 
einer abermaligen Anrede °) auf, ihm mit ihren bewaffneten 
Dienftlleuten zur Wiedereroberung Roms behülflich 
zu feyn. Offenbar fest diefe Zumuthung voraus, daß Johann VIIL 
yorausfah, er dürfe vom Könige Feine nachbrüdliche Hülfe erwars 
ten, denn fonft würde er nicht die Biſchöfe um Heeresdienft an- 
geiprochen haben. Seine Bitte fand feinen Anklang. Nun wandte 
fich der vergweifelnde Pabſt mit demſelben Wunfche an den König. ©) 
Daß er jedoch von Ludwig dem Stammler den erwünfchten Be: 
ſcheid nicht erhielt, erhellt aus Dem, was fofort geſchah. Am Tten 
September frönte Johann VII den König Ludwig den Stammler 





ı) Hincmari annales ad annum 878. Perz I., 506. — ?) Die Namen 
bei Baluzius Capitul. II., 275. —- 3) Hincmari annales a, a. O. — ) Die 
Alten bei Manft XVII, 345. Baluzius IL, 275 flg. — °) Manſi XVIL, 354 
unten. — °) Ibid, 


1118 | II. Buch. Kapitel 12. 


auf deſſen Verlangen, als aber der Fürft den Wunfch ausſprach, 
baß der Pabſt auch feine Gemahlin frönen möchte, ſchlug er diefen 
Antrag rund ab. ') Mit Necht findet man den Grund diefer Weige- 
rung des Pahftes in dem Umftande, daß Bofo, Johann's Verbin: 
beter, damals Unterhandlungen angefnüpft hatte, welche darauf ab: 
zielten, eine feiner Töchter mit einem nachgebornen Sohne bes 
Königs aus erfier Ehe zu vermählen. Wenn daher der Pabſt die 
Königin, welche die zweite Gemahlin Ludwig’s war, zu krönen fich 
verftand, fo würde er dem Rechte bes Prinzen aus erfter Ehe, 
ber jest Boſo's Schwiegerfohn werben follte, Eintrag gethan haben. 
Die erfte Ehe Ludwig's des Stammlers war nämlich durch einen 
Machtipruch feines Baters Karls des Kahlen aufgelöst worden. 2) 
Wirflih Fam bie eingeleitete Verlobung der Tochter Bofo’s mit dem 
Prinzen bald darauf zu Stande. ?) Mag nun unfere Erklärung 
ber abfchläglichen Antwort des Pabſts richtig feyn oder nicht, jeden: 
falls zeigt Johann's Verfahren, daß er mit dem Könige unzufrie: 
ben war. Stärfere Beweife eines fehr gefpannten Verhältniſſes 
zwifchen beiden folgten nad. Man überbrachte dem Pabſte von 
Seite des Königs ein durch den legten Kaiſer Karl den Kahlen 
ausgeftelltes Vermächtniß, worin derfelbe feinen Sohn Ludwig zum 
Erben des Citalienifchen) Reichs erflärte. Der VPabft follte diefe Ur: 
funde beftätigen. Statt das Verlangte zu thun, wies Johann VII. 
einen Schenfungsbrief vor, kraft deſſen Karl der Kahle die Abtei 
St. Denis an den Stuhl Petri vergabt haben follte. „Ehe er jene 
Urkunde beftätigen könne,“ erklärte der Pabft, „müffe erft der Inhalt 
biefer vollzogen werden.“ Allein die Biſchöfe und Stände verwarfen 
bie Schenfung als erfchlichen. *) Wenige Worte genügen, um ben 
geheimen Grund dieſer Zänfereien zwilchen König und Pabſt auf: 
zuflären. Dffenbar hatte Johann von dem neuftrifchen Herrfcher 
um den vorgehaltenen Preis der Kaiferfrone einen Heereszug nad 
Italien und Krieg wider Karlomann verlangt. Aber das Anfinnen 
war yon Ludwig dem Stammler, fey es aus eigenem Antriebe, oder 
was wahrfcheinlicher, auf Antrag der Stände abgelehnt worden, 
Daher die Spannung. Damit es jedoch nicht feheine, als wenn 





1) Hincmari annales a. a. O. Perz I., 507 unten fig. — 2) Reginonis 
chronicon ad annum 878 bei Perz L, 590. — 3) Hincmari annales a, a. ©. 
Perz I., 508 unten, — *) Hincmari annales ibid. 


Die Päbſte Sergius II., Leo IV., Nifolaus J. ıc. 1119 


fie den Bortheil ihres Herrn aufopfern wollten, forderten die Rath: 
geber des Königs, der Pabft folle das Teftament des- vorigen Kai: 
fers und fomit das Erbrecht Ludwig’s des Stammlers auf die ita- 
lienifche Krone beftätigen. Allein weil die Neuftrier dieß fchlecht- 
weg, d. h. ohne den Gegendienft eines Römerzugs verlangten, 
wich der Pabft aus und bezahlte das geftellte Anfinnen mit einer, 
allem Anfchein nach, ebenfo begründeten Gegenrechnung. Man fieht: 
bie Hoffnungen, welche der Pabſt auf neuftrifhe Hülfe gebaut, 
waren zerronnen. Nichts blieb ihm jest mehr übrig, als fih an 
Boſo zu Halten. Das that er wirfiih. In einem Briefe, ') den 
er gleich nach dem Schluffe des Concils von Troyes an ben teut: 
[hen König Karl den Diden erließ, beklagt er fich bitter, daß 
weder Karl noch) feine Brüder (Karlomann und Ludwig) auf der legten 
Synode erjchienen feyen, Fündigt fofort an, was geftalt er ben 
Herzog Boſo zu feinem Sohne angenommen habe und erflärt feinen 
feften Entſchluß, Jeden mit dem Banne zu beftrafen, der etwag gegen 
den” geliebten Sohn Boſo unternehmen würde „Karl und feine 
Brüder,“ fagt er, „jollen fich mit ihren teutfchen Erbreichen begnü- 
gen.“ Bon Boſo geleitet, ®) Fehrte auch der Pabft nah Ita- 
lien zurüd, Die dortigen VBerhältniffe geftalteten ſich günftiger für 

ibn; denn aus einem feiner Briefe, ?) der vom April S79 unter: 
zeichnet ift, erhellt, daß es ihm gelang den Markgrafen Adalbert, 
feinen bisherigen Todfeind, herüberzuziehen. AU fein Streben war 
son Nun an darauf gerichtet, Boſo mit Ausſchluß Karlomann's, 
der noch immer Frank in Teutſchland Tag, zum Könige Italiens zu 
erheben. Nothwendig bedurfte er zu dieſem Zweck der Beihilfe des 
Erzbifhofs von Mailand, als des mächtigften Prälaten der Lom: 
bardey. Er Iud daher *) diefen Meetropoliten — Ansbert war fein 
Name — fowie die langobardiſchen Großen wiederholt ein, auf 
einer Synode in Pavia zu erfcheinen, wo die Erhebung Bofo’s 
betrieben werben follte. Allein die Langobarden Famen nicht, weil 
fie eg vorgogen, ihrem Könige Karlomann treu zu bleiben. 9) Nicht 
abgefchredt durch den unglüdlichen Ausgang des erften Verſuchs, 
machte Johann neue. Im Frühling 879 follte nad) feinem Wunfche 





1) Epist. 119, Manfi XVII, 92 unten. — ?) Annales Fuldenses ad an- 
num 878, Perz I., 392. — 3) Epist, 164, Manfi XVII, 113. — *) Epist. 
126—128. ibid. ©. 96 flg. — 5) Epist. 130, ibid. ©, 98 unten flg. vergl. 
Muratori annali d'Italia V., 134, \ 


1120 II. Bud. Kapitel 12. 


eine Synode in Nom zufammentreten, um Das, was in Pavia 
nicht ausgeführt werden konnte, zu vollbringen. In einem drin— 
genden Schreiben ) Iud er ben Erzbifchof Ansbert zu Beſuchung 
dieſes Concils ein, indem er ihm eröffnete: „ſintemalen Karlomann 
wegen ſeiner Krankheit das Reich nicht länger zu behalten vermöge, 
ſey es nöthig, über bie Wahl eines Nachfolgers zu berathen.“ Zu: 
gleich verbot er dem Metropoliten ohne Einwilligung des Stuhles 
Petri irgend Jemand als König anzuerkennen, und drohte ihm mit 
bem Banne, wenn er abermal dem Nufe nicht gehorchen würde. 
Allein auch dießmal erfchienen weder Ansbert noch die andern ein- 
geladenen Langobarden. ?) Der Plan, Bofo zum Könige yon Sta: 
lien zu maden, war mißlungen. 
Aber nun eröffnete ſich anderswo eine treffliche Gelegenheit 3 

Erhebung des päbſtlichen Schüslings. Im Frühjahre 879 ftarb der 
neuftrifche König Ludwig der Stammler, nicht ohne ftarfen Ver: 
dacht der Bergiftung. ?) Gleich nach feinem Tode entftand die greu: 
lichfte Verwirrung; fterbend hatte der Stammler feinen erftgebornen 
Sohn aus erfter Ehe, Ludwig III. den älteren Bruder desienigen, ber 
mit Boſo's Tochter vermählt war, zum Nachfolger ernannt, aber 
unzufriedene Große viefen den teutfchen König Ludwig, Bruder 
Karlomann’s und Karls des Dicken, herbei. Ein Bürgerkrieg brach 
aus, doch Fonnte fich die teutiche Parthei nicht halten, am Ende 
theilte des Stammlers Sohn mit feinem Bruder, dem Eidam Boſo's, 
das ve rliche Erbe, fo daß jest Neufter zwei Könige hatte, und 
Boſo auf dem Haupte feiner Tochter eine Krone *) ſah. Allein den 
meiften Nutzen zog Bofo felbft aus den neuftrifhen Wirren. Wir 
haben früher gefagt, daß Boſo großen Anhang im füdlichen Frank— 
reich befaß, und unter dem Stammler Statthalter ber Provence 
geweſen war. Daher verfiel er jest auf den Plan, dieſes ſchöne 
Land, das ſchon nad Kaifer Lothar's Tode (feit 755) einen ſelbſt—⸗ 
ftändigen König gehabt, >) vom Erbe Karls des Kahlen loszu— 
reißen. Und das Unternehmen gelang, hauptfächlich weil ihm der 
Pabſt nad Kräften in die Hände arbeitete, Johann VII, ernannte ©) 


— 


1) Epist. 155. Manfi XVII. 108. — 2) Dan fehe ven A8ıflen Brief des 
Pabfts ibid. ©. 122, — 3) Hincmari annales ad 879, Perz I, 510 unten. — 
1) Idem ad annum 880, ibid, 512 unten. — 5) Siehe oben ©. 881, — 
6) Epist, 94, Manfi XVIL, 80 unten flg. 


Die Pähfte Sergius IT., Leo IV., Nikolaus T. ꝛc. 1121 


nämlich den Biſchof Roftagnus von Arles zum apoftoliichen Vika— 
rius von ganz Gallien und verlieh ihm auch das Pallium, doc 
legteres unter der Bedingung, daß in Zufunft fein Metropolit von 
Arles es wage, ehe er das Pallium yon Rom erbeten, bifchöfliche 
Weihen vorzunehmen. Zugleich zeigte er durch ein Rundfchreiben ") 
ſämmtlichen Kirchenhäuptern Galliend die erfolgte Erhebung des 
Roftagnus an, ermahnte. fie zu pünftlihem Gehorfam gegen ihn, 
vergaß aber auch nicht, diefelbe Borfchrift in Betreff des Pal- 
liums einzufchärfen. Den Grund, warum der Pabft fo eifrig 
auf letzterem Punkte beftand, haben wir früher enthüllt, wo wir 
von der Synode zu Ravenna bandelten. Sonft war die Ernen- 
nung des Roftagnus ganz zum Bortheil Boſo's berechnet, denn 
Noftagnus gehörte zu Boſo's Parthei, wohnte in der Provinz, mo 
Boſo große Güter befaß, und hatte jest die Mittel, um die ehr: 
geizigen Plane feines Beſchützers zu befördern. Die Folgen traten 
bald hervor. Im Dftober 879 wurden die Bilchöfe und weltlichen 
Stände von Burgund und Provence. nah Mantala einem Schloffe 
zwifchen Vienne und Valence zu einer Neichsverfammlung berufen, 
angeblih um über das Wohl des Landes zu berathichlagen. ?) Die 
Einen famen, laut dem Bericht ?) der Aheimfer Jahrbücher, durch 
Boſo's Drohungen gefchredt, die Andern gelockt durch die Güter 
und Abteien, welche er freigebig den Willigen vorhielt. Die Vers 
fammlung befchloß, den Herzog Boſo, der in Gallien und Stalien 
durch feine hohen Berbienfte fi) ausgezeichnet habe, aus von 
dem Apoftolifus Johannes zum Sohne angenommen 
und mit Lobſprüchen überfhüttet worden fey, zum Kö— 
nige zu erwählen. Durch eine Gefandtfchaft legte man ihm bie 
Frage vor, *) ob er die Kirche ſchützen und die Pflichten eines 
guten Regenten treulich erfüllen wolle? Als Boſo ebenfo beifällig als 
demüthig antwortete, führte man den Erwählten im Triumphe nad) 
Lyon, wo ihm der Erzbifchof der Stadt Aurelianug die Eönigliche 
Krone aufjeste. >) Der Pabft genog nunmehr die Freude, einen 
König feiner Wahl, der überdieß dem Stuhle Petri blinden Gehor- 
fam fohuldig war, auf der Gränze Italiens eingefegt zu fehen. 





h Epist. 95. ibid. ©. 82 fig. — ?) Die Alten der Synode von Mantala 
bei Manft XVIL, 529 fig. — 9) Perz J., 512 gegen oben. — *) Manfi XVIL, 
551. — ) Reginonis chronicon ad annum 879, Perz L., 590 Mitte, 

Gfrörer, Kircheng. II. 711 


1122 IT, Buch. Kapitel 12. 


Zwar überzogen fofort die beiden neuftrifchen Könige, vereint mit 
ihrem teutfchen Better Karl dem Diden, Bofo mit Krieg, aber 
berfelbe wußte fich zu behaupten, und aus dem von ihm gegrün- 
beten Staate entftand mit der Zeit das ſüdfranzöſiſche Reich, das 
unter dem Namen Arelat im Mittelalter befannt geworben ift. 
Dem Pabft blieb jest noch die Aufgabe übrig, den Verhält— 
nifjen Stalieng, wo durch die oben erzählte Widerfpenftigfeit der Lan: 
gobarden der teutfche Einfluß aufrecht erhalten worden war, eine 
dem Bortheil des Stuhles Petri gemäße Wendung zu geben. Ber: 
geblich hatte er es verfucht, feine Abfichten durch Waffengewalt zu er- 
reichen. Lift follte helfen. Johann entwarf den Plan, die drei teuts 
hen Fürften Karlomann, Karl den Dielen und Ludwig III. gegen- 
feitig zu verhegen und fo Einen durch den Andern aufzureiben. Er 
ſchrieb ) unter dem ten Juni 879 an Karlomann, daß er vor 
Begierde, ihn nah Italien zurüdfommen zu fehen, brenne und bat 
ihn dringend um Hülfe wider die Sararenen. In einem andern 
Briefe 2) fordert er Karl den Dicken auf, nad) Italien zu eilen. 
„Kart möge ſich,“ fährt er fort, „Durch Feine Hinderniffe abfehreden 
laffen, die ihm etwa Karlomann in Weg Yege, denn er, der Pabſt, 
babe furz zuvor an Lestern gejchrieben, daß feine Seele Gefahr 
laufe, wenn er länger Stalien fich felbft überlaffe.“ Endlich ſchrieb °) 
er noch an den dritten Bruder Ludwig IIL, daß er ihn über alle 
Prinzen feines Haufes zu erhöhen gedenfe, wenn Ludwig Hülfe- 
fchaffe, der apoſtoliſche Stuhl erwarte ihn fehnfüchtig als feinen 
einzigen und geliebteften Sohn, auch könne ihm die Kaiferfrone 
und fomit die Herrfchaft der Welt nicht entgehen, dafern er nur 
eilends nach Stalien Fomme. Der Zweck diefer gleichlautenden an 
drei Brüder zu einer und berfelben Zeit gerichteten Berfprechun: 
gen ift an ſich Far: er wollte Einen gegen den Andern braucen. 
Wäre noch ein Zweifel möglich), fo würde derfelbe durch ein vier: 
tes Schreiben ) an den Erzbiſchof Ansbert von Mailand vernichtet. 
Hier macht er dem Metropoliten Vorwürfe, weil diefer zu den beiden 
Coneilien, die erft nac) Pavia dann nad) Nom ausgefehrieben worden, 
nicht erfchienen fey, eröffnet ihm dann, daß er eine neue Synode im 
Dftober 879 in Nom zu halten gedenfe, ermahnt ihn unvermweigerlich 





1) Epist. 186. Manft XVIL, 126 Mitte fig. — 2) Epist, 172, ibid. 
©. 117. — ®) Epist. 197, ibid, ©, 134. — *) Epist, 181, ibid, ©. 122. 





Die Päbfte Sergius II., Leo IV., Nikolaus I. ꝛc. 1123 


diefelbe zu befuchen, endlich verbietet er ihm und den übrigen vom 
Mailänder Stuhle abhängigen Bilhöfen, an irgend einer Berfamm- 
lung, welche etwa teutfche Könige demnächft in Ober-Italien berufen 
würden, ohne päbftlihe Erlaubniß Theil zu nehmen: Alles bei Strafe 
des Bannes. Abermal gehorchte Ansbert dem Befehle des römi- 
hen Biſchofs nicht, weßhalb Johann VIIL das Urtheil der Abfegung 
über ihn ausſprach, !) aber nicht zum Vollzug bringen fonnte. Auch 
die teutfchen Fürften giengen nicht in die Falle. Karlomann noch 
immer todt frank, hatte im Anfang: des Jahrg 879 den Gebraud 
der Sprache verloren, und farb ?) im März 880. Ludwig IIL 
yon Karlomann zum Erben eingefeßt, verzichtete, wie es fcheint, 
auf das langobardiſche Reich. Alfo blieb Italien dem dritten Bru— 
der, Karl dem Diden, überlaffen. Diefer zog im Spätherbft 879 
mit Heeresmacht über die Alpen. ?) Eine feiner erfien Forderungen 
an den Stuhl Petri foheint gewefen zu feyn, daß Johann unver: 
züglich die wider Angbert verfügte Abfegung zurüdnehmen folle. 
Der Pabft entfchuldigte ſich, *) es ſey ihm unmöglich dem Anfinnen 
des Königs zu entiprechen. Nichtsdeftoweniger fühlte er, daß er 
gelindere Saiten aufziehen müffe. Durch einen Brief vom Oftober 
879 forderte er den König auf, eine Zufammenfunft mit ihm in 
Pavia zu halten, aber Karl wartete die Ankunft des Pahftes nicht 
ab. 5) Nun Iud ihn Johann nah Ravenna ein, wohin er fich ſelbſt 
begab um dort mit ihm zu unterhandeln. Aber Karl Fam wieder 
nicht. 9) Indeſſen fcheinen die Angelegenheiten des Königs einen 
erwünfchten Fortgang genommen zu haben, was ohne Zweifel der 
Grund war, warum der Pabft feine Forderungen gewaltig herab: 
ftimmte. In einem Schreiben ?) an den König vom Juli 880 er: 
Härt Zohann feinen ehemaligen Sohn Boſo für „einen Tyrannen“ 
und verfpricht „dieſem Böſewicht jede Hülfe zu entziehen.“ Nur die 
äußerſte Noth konnte ihm ein folhes Zugeftändniß entloden. Ja 
der Pabft mußte fogar um bdiefelbe Zeit den Erzbifchof von Mai: 
land wieder zu Gnaden annehmen, wie aus einem Briefe ®) vom 
November 880 erhellt. 





1) Epist, 221. ibid. ©. 164 unten fig. — 2) Annales Fuldenses ad an- 
num 879 u. 880, Perz J., 392 untere Mitte und 393 unten. — °) Hincmari 
annales Perz J., 512 Mitte. — *) Epist, 231. Manſi XVIL, 172, — 5) Epist, 
230, ibid, 474 unten. — 6) Epist, 216, ibid. 461. — ?) Epist. 249. ibid, 
183, — ®) Epist, 256, ibid, 190. 


71: 


1124 0 IE Buch. Kapitel 19. 


Nachdem der König im Laufe eines Jahre fich des Yangobar- 
diſchen Reichs verfihert hatte, z0g er mit feinem Heere im Spät- 
herbſt 880 auf Rom, Noch einmal verfuhte e8 der Pabſt, den 
Herannabenden durch einen Bertrag zu binden. Er fchiefte ihm 
Gefandte entgegen, um mit ihm zu unterhandeln, aber vergeblich. 
Karl rüdte, wie eg in dem Schreiben ) des Pabſts heißt, „mit 
übereilten Schritten jählings und die Schranken der Vorfahren durch— 
brechend“ gegen die Schwelle des heil. Petrus. Das heißt, er gieng 
feine Bedingungen ein. Wirklich mußte ihn Johann im Anfang?) 
des Jahres SS1 zum Kaifer frönen. Seit Tanger Zeit war fein 
Kaifer mehr einem‘ Pabſte fo trokig entgegen getreten. Auch in 
den Städten, die zum Gebiete des heiligen Petrus gehörten, mal: 
tete Karl wie ein Herr. Im Frühjahre 851 brach ein Streit zwi— 
fhen dem Erzbifchofe Romanus von Ravenna und einem angefehe: 
nen Edelmann aus. Romanus wendete ſich, ohne beim Pabſte 
anzufragen, an den Kaifer, der fofort einen feiner Grafen nad 
Ravenna fehiefte und durch denfelben die Sache entfchied, Bitter 
beffagte ſich Johann VIII. in einem Briefe 3) an den Erzbifchof: über 
diefen Eingriff in feine grundherrlihen Rechte. Romanus fuhr 
fort, %) dem Pabſte zu trogen, wodurch diefer aufs Neußerfte 
getrieben, endlich) den Bann gegen ben unbotmäßigen Prieſter 
ſchleuderte. °) 

Bald darauf riefen Einfälle der Nörbitäinien und die Kranf- 
heit feines Bruders Ludwig III., der im Februar 882 ftarb, ©) 
den Kaifer nad Teutfchland zurück. Aus Italien fcheidend, ordnete 
er eine Maaßregel an, die dem Pabfte großen Kummer machte. 
Karl der Die befahl nämlich, daß die Wittwe des Kaifers Lud- 
wig II. und Schwiegermutter Bofo’s, ngelberga, die in einem 
Klofter der Lombardei Iebte, als Gefangene über die Alpen ab: 
geführt werden follte. Diefe Verfiigung hatte Den Zweck, die Ränfe, 
welche Engelberga bisher im Bunde mit dem Pabfte zu Gunften 
Boſo's angezettelt hatte, unſchädlich zu machen. Vergeblich feste 





1) Epist. 259. ibid. 191 unten. — 2) Auf den hronologifchen Streit über 
Sahr und Tag der Krönung können wir ung. hier nicht einlaffen. Man fehe 
hierüber Muratori annali d’Italia V., 147 fig. — ?) Epist. 271. Mauft XVIL, 
201 unten fig. — %) Epist. 272. 273. 275. 276. ibid. 202 fig. — °) Epist. 
278, ibid. 206. — 6) Annales Fuldenses ad annum 882. Perz I., 395 
oben. 





Die Päbſte Sergius II., Leo IV., Nilolaus ER 11 25 


Johann VIII. Himmel und Erde in Bewegung, ) um die Abfüh⸗ 
rung zu verhindern und ſpäter der Gefangenen die Freiheit zu 
verſchaffen. Seine Bitten wurden nicht gehört. Auch die inneren 
Verhältniſſe des Kirchenſtaates beſſerten ſich nicht nach der Abreiſe 
des Kaiſers. Im wiederholten Briefen ?) mußte der Pabſt Karl'n 
um Hülfe gegen die Saracenen, und noch mehr um Schuß wider bie 
Anfälle der Herzöge von Spoleto, Berwandter des oben mehrfach 
erwähnten Lantbert anflehen, welcher um 879 geſtorben zu ſeyn 
Scheint, aber einen Bruder und Sohn hinterließ, die nicht minder 
als er die Güter des heiligen Petrus zu beeinträchtigen bereit 
waren. Sp endigte die Regierung des Pabſts Johann, welche glän- 
zend begonnen, unter ben trübften Ausfihten in die Zufunft. Jo— 
hann wurde gegen Ausgang des Jahres 882 ermordet. Der ein- 
zige auf ung gefommene Zeuge?) giebt folgende Beichreibung vom 
Tode des Pabſtes: fchon früher jey Johann von einem feiner Ver: 
wandten Gift beigebracht worden, weil aber die Gabe nicht wirkte, 
habe der Mörder zulest den Greis mit einem Hammer zu Tod 
gefhlagen. Als doppelte Triebfeder der That bezeichnet der Mönch 
von Fuld Ehrfucht und Geiz: „der Mörder und feine Mitver: 
Ihwornen,“ fagt er, „hätten es zugleih auf den Stuhl und 
die Schätze des Unglüdlihen abgefehen.“ Wir werden fpäter zei— 
gen, daß dieſes Verbrechen zum Vortheile ber teutfhen 
Parthei ausſchlug. 

Ungefähr zu gleicher Zeit mit Johann VIII. endete Hinkmar 
von Rheims, der Gegenkämpfer ſo vieler Päbſte. Obgleich ein Greis, 
vertheidigte der Metropolit mit Jugendfeuer die alten Grundſätze 
bis zum letzten Hauche. Auf dem Reichstage zu Troyes im Jahr 
878 muß er als Wortführer der neuftrifhen Stände den Vor— 
Ihlägen des Pabſts fich widerfest haben, denn Johann VIE. er: 
theilte, offenbar um fih an dem Metropoliten zu rächen, dem 
abgeſetzten Bilchofe von Laon, Hinfmar’s berüchtigtem Neffen, bie 
Befugniß, wieder die Meffe Iefen zu dürfen. *) Drei Jahre’ fpäter 
verfocht der Metropolit in einem merkwürdigen Falle die Freiheit 
der Kirche und der bifchöflihen Wahlen wider den Sohn bes 





') Epist, 263. 282 und 298. — 2) Epist, 277. 279. 293. — 3) Anna- 
les Fuldenses ad annum 883. Perz I., 398 b, — *) Hincmari annales ad 
annum 878. Perz I., 508 Mitte. | 


1126 II. Buch. Kapitel 12. 


Stammlers, den neuftrifhen König Ludwig IL. Der Biſchof Odo 
von Beauvais war zu Anfang des Jahres 881 geftorben. Nach 
einiger Zeit wählte Clerus und Gemeinde der Stadt einen gewiffen 
Rodolf zum Nachfolger. Aber das Collegium der Bifchöfe des Erz- 
fprengels von Nheims verwarf den Erfornen als völlig untüchtig. 
Die Gemeinde wählte num einen Andern, Namens Honoratus. Auch 
biefe Wahl wurde jedoch von den Biſchöfen aus gleichem Grunde 
umgeftoßen. Beide Bewerber waren, wie es fcheint, nichtswürbige 
Menfchen, welche die Stimmen der Gemeinde um Geld erfauft 
hatten. Die jährliche Synode des Erziprengels, welche damals zu 
Fimes verfammelt war, ſchickte num eine Gefandtfhaft an den Kö— 
nig ab mit der ſchriftlichen Bitte: da die Gemeinde von Beauvais 
burch zweimaligen Mißbrauch ihr Wahlrecht verwirft Habe, fo möge 
der König den verfammelten Kirchenhäuptern geftatten, einen Nach: 
folger zu ernennen. Allein Ludwig III. ſprach jest das Wahlrecht 
felbft an, er that dem Metropoliten zu willen, daß er den Stuhl 
von Beauvais einem feiner Günftlinge, Odaker, zugebacht habe, 
Nun fchrieb Hinfmar an den König einen Brief, ') in weldhem er 
aufs Fühnfte die Freiheit der Kirche gegen die Eingriffe der Staats: 
gewalt verfocht. Er fagte ihm ind Geſicht, daß Yaut den Befchlüffen 
von Nicäa Niemand ohne Einftimmung des Metropoliten zum 
Biſchof eingefegt werden könne, daß Ludwig's III. erlauchte Vor: 
fahren ftets diefes Recht geachtet hätten, daß es endlich eine Ein: 
gebung des Teufels fey, wenn gewiſſe Leute dem Könige vorftellten, 
er habe Macht über die Kirchengüter und dürfe diefelben nach Will: 
führ verfchenfen. So entfchieden auch die Sprache des Metropoli- 
ten gewefen war, fam der König auf feine Forderung zurüd und 
serfuchte abwechfelnd Bitten und Drohungen. Aber Hinfmar blieb 
unerfchütterlich, ev vichtete an den König ein zweites Schreiben, *) 
in weldhem er ihm noch derber, als in dem erften, die Wahrheit 
fagte. Auf die ihm Hinterbrachte Aeußerung Ludwig's, er verachte 
jeden Untertban, der dem königlichen Willen Widerftand zu leiſten 
wage, entgegnete Hinfmar: Ludwig fcheine die Stellen der heiligen 
Bücher nicht zu Fennen, in welchen die Lehre fich finde, daß bie 
Welt durch zwei Gewalten vegiert werbe, die bifchöfliche und bie 


1) Opp. IL, 188 fig. Diefer Brief ift zugleich Quelle der eben angeführten 
Thatfachen. — 2) Opp. I, 196 flg. 


Die Päbfte Sergius IL, Leo IV., Nikolaus I. ꝛc. 1127 


fönigliche, und zwar ftehe erftere über der zweiten. Denn die Bi- 
ſchöfe können Könige, aber nicht umgekehrt die Könige Bifchöfe 
weihen, und nur von den Bifchöfen gelte der, göttliche Ausſpruch: 
wer Euch ehret, der ehret mich, wer Euch verachtet, der verachtet 
mid. Es fey daher fehr unpaſſend, daß Ludwig IIL, von einem 
Metropoliten redend, den Ausdruck „Unterthan“ gebraucht habe. 
„Gleichwie der Herr,“ fährt Hinfmar fort, „zu den Apofteln gefagt 
bat: nicht Ihr habt mich erwählt, fondern Ich habe Euch erwählt, 
fo darf auch ich in aller Demuth zu Euch, dem Könige, fprechen: 
nicht Ihr habt mich zum Erzbifchof von Rheims gemacht, fondern 
Sch babe mit meinen Amtsgenoffen und andern Ständen Euch auf 
den Thron erhoben unter der Bedingung, daß Ihr den Gefeben 
Folge leiſte. Eure Drohungen, daß Ihr mit Eurem Bruder und 
den Berwandten Eures Haufes eine allgemeine fränfifhe Synode 
zufammenberufen und die Ernennung Odaker's auf derfelben Durch: 
fegen wollet, fürchte ich nicht, denn woher Ihr auch Biſchöfe zu: 
fammenbringen möget, diefelben werben Feine andern heiligen Schrif: 
ten, feine andern Kirchengeſetze, Feine andern Defrete der Päbfte 
haben, als die find, auf welche Ich mich ſtütze. — Ich rathe Euch 
zu bedenken, wie bald Euch der Tod ereilen kann. Ludwig der 
Fromme hat nicht fo lange gelebt, wie Karl der Große, der Sohn 
Ludwig’s des Frommen Karl der Kahle, Euer Ahn, nicht fo ange, 
wie Ludwig der Fromme, Euer Bater Ludwig I. nicht fo Yang 
wie Karl der Kahle. Und auch mit Euch wird es ein fihnelles 
Ende nehmen.“ Nach weitern Bemerkungen voll Bitterfeit, fordert 
er den König auf, an welchem Orte er wolle, feine Greatur Oda— 
fer vor die Biſchöfe der Rheimſer Synode zu ftellen; fchnell werde 
es fich dann zeigen, daß dieſer Odaker ein elender Miethling fey. 
Die Fühne Sprache des Erzbifchofs vermochte den König nicht von 
feinem Borhaben abzubringen. Mit Gewalt feste er Odaker in 
den Befts des Stuhles und der Güter von Beauvais. Nun berief 
aber Hinfmar eine Synode, auf welcher der Bann gegen Odaker 
gefchleudert ward. ') Der Erzbifchof hatte prophetiſch geſprochen. 
König Ludwig II. ftarb fohon im folgenden Jahre und Odaker 
mußte nun weichen. Hinfmar felbft überlebte diefen letzten Triumph 
nicht lange. Im Herbft 882 überflutheten die Norbmannen das 





1) Opp. Il., 811, 


1128 UI. Buch. Kapitel 12. 


ganze nördliche Frankreich und flreiften bis vor Rheims, das da— 
mals ohne Mauern war und aud feine Vertheidiger hatte, weil 
Hinkmar's Dienftleute beim Heere des Königs fanden. Der Me- 
tropolit, von Alter und Kummer gebeugt, entfloh mit dem größten 
Theile feiner Heerde, und farb auf der Flucht zu Epernay im 
Monat Dezember 882. 1) 

Hinkmar ift der legte Franke aus Karl's des Großen Schule. ?) 
Würdig fehließt er die Reihe der ausgezeichneten Cleriker, welche 
im 9ten Jahrhundert die fränfifche Kirche verherrlicht haben. Seine 
Lebensgefchichte ?) erfüllt ung mit Bewunderung, gleichwohl hat die 
Nachwelt diefem Manne ein gerechtes Urtheil verweigert. Ich fpreche 
bier nicht yon proteftantifhen Gefchichtfehreibern, die ftets über Herrich- 
ſucht und Stolz fihreien, wenn ein Fraftvoller Prälat die beftehende 
Ordnung wahrt und fih nicht durch Ränkemacher gutwillig ver: 
drängen läßt. Selbft die franzöſiſchen Mauriner, die fonft fo billig 
find, und deren gründlicher Gelehrfamfeit die hiftorifche Wiffenfchaft 
fo viel verdankt, haben fchief über Hinfmar geurtbeilt. Sie grolfen 
ihm, weil er in der Perfon des Mönchs Gotſchalk den Auguftinifchen 
Lehrbegriff befämpfte. Und doch Fonnte Hinfmar bei feiner eigen: 
thümlichen Stellung nicht anders handeln. Auch find wir bei aller. 
Anerkennung, die wir Hinkmar's Berbienften zollen, weit entfernt, 
die fpätere Entwidlung der Kirche zu beflagen, oder es als ein 
Unglück anzufehen, daß der Metropolit yon Rheims im Kampfe 





) Man vergleiche über feinen Todestag Longueval histoire de l’eglise 
gallicane VI., 350. — ?) Wir bemerken, daß Angelo Maiv im Sten Band des 
Sammelwerts, das den Titel führt classici autores e vaticanis codieibus 
editi, Romae 1833. 8to. ©. 452 flg. ein Gedicht Hinfmar’s veröffentlicht hat, 
dag in der prächtigen von Sirmond beforgten Ausgabe der Werke des Rheim— 
fer Metropoliten nicht enthalten ift. Ebendafelbft S. 426 fig. ftehen auch bie- 
ber ungedructe Verſe von Johannes Scotus Erigena. Auch einige Berfe Got: 
[half s find neuerdings ans Tageslicht gezogen worden. Edelestand du Meril 
theilt (Poesies populaires latines, Paris 1843. Sto.) zwei Gedichte des Mönche 
mit ©. 177 und 253, von denen nur das Ichtere früher befannt war. — 
3) Ueber Hinfmar’s Leben vergleiche man W. Ir. Geß: Merkwürdigkeiten aus 
dem Leben und den Schriften Hinfmar’s ıc. Göttingen 1806. 8to. Das Buch 
gehört Plank's Schule an, es ift ohne Affektation und fleißig gefchrieben. Den 
wahren Zufammenhang der Dinge kennt Geß nicht, aber er hat viel Mate- 
rial gefammelt und Hinkmar's Schriften felbft gelefen. Es giebt unter den 
teutfchen Gefchichtfehreibern unglaublich wenig Baumeifter, man muß zufrieden 
feyn, wenn man brauchbare Maurer findet, und zu dieſen gehört Geß. 


Die Päbfte Sergius IT, Leo IV., Nikolaus I. ıc. 1129 


für die Serbfiftändigfeit der Landesfirchen gegen den apoftoliichen 
Stuhl unterlag. Die Dinge nahmen ihren natürlichen Berlauf. 
Das Pabſtthum war ſchon längſt eine Weltmacht gemwefen, als 
Karl der Große das fränfifche Neich gründete und den Stuhl Petri 
feinem Chrgeize unterwarf. Murrend trugen die Päbſte, die mit 
Karl lebten, Hadrian I. und Leo II. das auferlegte Joh. Mit 
dem Tode des Imperators beginnen auch die Verfuche der Statt: 
‚halter Petri, die verlorne Unabhängigfeit wieder zu erringen, und 
die Herrfchaft über die Kirche den Fürften aus der Hand zu win: 
den. As Hauptwaffe brauchten fie zu letzterem Zwecke Anfangs bie 
Beichlüffe von Sardifa, welche Karl der Große nicht in die amt: 
liche canonifhe Sammlung des fränfiihen Reichs hatte aufnehmen 
laffen. Durch Fuge Benüsung der Umftände wurde der erfte Prä— 
lat Neuftriens, Hinfmar, gezwungen dieſe Sasungen als rechtöfräf: 
tig anzuerkennen. Aber bald bot fih den Päbſten in ben pfeudo: 
iſidoriſchen Defretalen ein brauchbareres Werkzeug dar. Faſt alle 
neuftrifhen Biſchöfe arbeiteten den römifchen Planen in die Hände, 
jofern fie night blog diefe Sammlung ſchmiedeten, fondern auch durch 
wiederholte Streitigfeiten in das Leben einzuführen fuchten. Nur 
dur die freiwillige Mitwirfung Vieler konnte der Stuhl Petri 
werben, was er wirflih ward. Merkwürdig ift es dabei, daß im 
eigentlichen Zeutfchland gar Feine Spuren von Verſuchen vorkom⸗ 
men, dem falſchen Iſidor Geltung zu verfchaffen und die Metro: 
politen zu demüthigen, während in Neuftrien fo bartnadig für oder 
wider die Defretalen gefämpft wird. Und doch war Neuftrien un: 
ter den Merowingern der Stammfis altrömifcher LWeberlieferungen 
von monarchifcher Zucht, ZTeutfchland dagegen feit Cäfar’s Zeiten 
die Heimath adeliger Unbotmäßigfeit und des Strebens nad) unbe: 
Ihränfter Freiheit der Perfon. Sch erkläre diefe fonderbare Erfchei- 
nung fo: in Neufter hatten Karl und feine Nachfolger die Bande 
ber MetropolitanGewalt bis zum Uebermaße angezogen, daher er 
folgte jeßt dort ein heftiger Gegenfioß. Anders verhielt es ſich in 
Zeutfhland. Sehr wenige Synoden wurden bier im Laufe des 
Iten Jahrhunderts gehalten, !) woraus hervorgeht, fowohl daß bie 





) Man fehe welch” geringen Raum die teutfchen Synoden des Yten Zahr: 
hunderte im 2ten Bande von Harzheim’s Sammlung einnehmen, und doch 
bat er die Verhandlungen mehrerer franzöfifchen Eoneile in jenen Abfchnitt feines 
Werkes eingerückt. 


1130 IM. Buch. Kapitel 12. 


Metropoliten Feine übertriebene Macht befaßen, als auch, daß fie wenig 
Gelegenheit fanden, ihr Joch drüdend zu machen. Denn Synoden 
find, wie wir wiffen, der Nerv erzbifchöflihen Wirkens. So geſchah 
e3 denn, daß der neuftrifche Clerus mit den Großen um die Wette 
die Einheit der Staatsgewalt untergrub und die Auflöjung des 
Reichs in zahlloſe Bruchtheile beförderte, während im Gegentheil 
die teutſche Geiftlichfeit fih zu Anfang des 10ten Jahrhunderts, 
wie wir tiefer unten fehen werden, das unfterbliche Verdienſt er: 
warb, die Einheit des Staats gegen die ehrgeizigen Umtriebe adeli- 
cher Laien aufrecht erhalten zu haben. 

Indeſſen Hätte die Unbotmäßigkeit der franzöft ſhen Biſchöfe 
und ihr eifriges Bemühen, das Joch der Metropoliten und der 
Krone abzuſchütteln, für ſich allein nicht hingereicht, dem Stuhl 
Petri eine bisher nicht erhörte Macht zu verſchaffen. Die Fürſten 
ſelbſt thaten durch ihren unſinnigen Ehrgeiz das Meiſte für Ver— 
wirklichung des päbſtlichen Planes. Konnte man thörichter handeln, 
als Karl der Kahle! Und hier iſt der Punkt, wo es ſich zeigt, 
daß Hinkmar's Streben unhaltbar war. Nur in der Hand von 
Erzbiſchöfen, wie er ſelbſt, und unter Fürſten, wie Karl der Große, 
kann die Metropolitan-Gewalt, welche jener Prälat verfocht, ſegens⸗ 
reich ſeyn. Aber Kaiſer, wie Karl der Große ſind eine höchſt 
ſeltene Ausnahme, Könige dagegen, wie Karl der Kahle, eine häu— 
fige Erſcheinung. Blieb die Metropolitan-Gewalt unter den elen— 
den Karolingern der ſpäteren Zeiten ungeſchwächt, jo ließ ſich vor⸗— 
ausſehen, daß ſie über Kurz oder Lang zu einem Werkzeuge könig— 
licher Willkühr und Despotie herabſinken werde. Beſſer war es 
daber, die Gerichtsbarkeit über die Biſchöfe gerieth in die Hände 
des Pabſtes, wie dieß wirklich gefchehen ift. Zugleich begann da— 
mit eine neue Epoche der Gefchichte des Stuhles Petri. Niko: 
aus I. und nod mehr Johann VIN. haben den Grund zu ber: 
jenigen Entwicklung des Pabſtthums gelegt, welche Gregor VI. 
und feine gleichgefinnten Nachfolger vollendeten. Der Stuhl zu 
Rom wird feitdem der Gegenpol des Kaiſerthums. Wie die Kai 
fer theils durch perſönlichen Ehrgeiz entflammt, theils durch alt- 
römische Ideen, die fih an den Faiferlihen Namen Fnüpfen, por: 
wärts getrieben, unabläßig dahin fireben, mit Waffengemwalt bie 
allgemeine Herrfchaft über die hriftliche Welt zu erringen, fo find 
andererfeits die Päbſte ebenfo eifrig bemüht, durch Künſte bes 


Die Päbſte Sergius II., Leo IV., Nikolaus Leu. 1131 


Friedens, der Unterhandlung, der Lift zu verhindern, daß ein 
Einziger übermächtig werde. Zweideutige Mittel wurben oft yon 
ihnen zu Erreichung dieſes Zweds aufgeboten. Dennoch hat ihr 
Wirken der Welt außerordentlich genügt. Daß in Europa während 
des Mittelalters Feine despotifche Negierungsform auffam, ift größ- 
ten Theils ihr Werk, und demnach eine natürliche Folge der glüd- 
lichen Kämpfe, welche Johann VIN. und feine nächften Vorgänger 
wider Hinkmar durchfochten. 

Es ſcheint uns paſſend, am Schluſſe dieſes Kapitels noch von 
einem hiſtoriſchen Werke zu reden, das wir ſehr oft benützt haben: 
wir meinen das ſogenannte Pabſtbuch, welches die Biographien der 
Päbſte von Gründung des römiſchen Stuhles bis auf Nikolaus J. 
umfaßt. Als Sammler oder Verfaſſer deſſelben wird Anaſtaſius 
genannt, der in der zweiten Hälfte des 9Iten Jahrhunderts Biblio: 
thefar mehrerer römischen Bifchöfe geweſen feyn fol, Wirklich kommt 
in den Gefchichtsquellen ein Bibliothefar diefes Namens vor. Das 
Pabſtbuch ſelbſt meldet, I daß von Leo IV, der römifche Cleriker 
Anaftafius, damals Pfarrer an der Kirche des heiligen Marcellug, 
wegen mehrerer Berbrechen auf einer Synode im Fahr 850 ver: 
flucht worden fey, daß eben derjelbe unter Benedift IIL nach dem 
Stuhle Petri geftrebt und eine große Partheiung erregt habe, 2) 
daß endlich Hadrian II. den Gebannten wieder zu Gnaden ans 
nahm. °) An diefe italienischen Berichte ſchließen ſich fränkiſche Zeug: 
niffe an. Die Jahrbücher von Rheims erzählen zum Jahr 868, 
Hadrian II. habe den Priefter der Kirche des heil. Marcel, Anafta: 
fius, den er gleich bei Beginn feines Pontififats zum Bibliothe— 
far der vömifchen Kirche ernannt, mit dem Bannftrahle belegt, 
auch führen fie die Formel des Bannes an. *) Bier Jahre fpäter 
erfcheint in derfelben Duelle 5) der römiſche Bibliothefar Ana- 
ftafius als Gefandter des Kaifers und Pabſts zu Conftantinopel. 
Demnach müßte das Pabftbuch, wenn jene alte Angabe richtig ift, 
eben dieſem Bibliothefar Anaftafius angehören. Aber dann ift kaum 
begreiflih, wie der Mann dazu fommen fonnte, in ber Lebens: 
befhreibung der Päbſte Leo IV. und Benedikt III feine eigenen 





i) Vita Leonis IV., $. 92, Vignoli III., 128. — ?) In vita Benedicti 
IIL, $. 6 und 8. ibid. ©. 146. — °) In vita Hadriani- II, $. 10. ibid. 
©. 226. — *) Perz I., 477 Mitte bis unten. — °) Perz I, 494 gegen oben. 


1132 I. Buch. Kapitel 12. 


Berbrechen auf eine jo unbefangene Weife zu erzählen, man müßte 
denn hierin ein Zeichen der frechften Heuchelei fehen, von welcher 
ſich allerdings in dem Pabſtbuche Beweife genug finden. Wenden 
wir ung zu dem Werke ſelbſt. Die Biographieen der älteften Päbſte 
bis zum Ende des 5ten Jahrhunderts find arm und fabelhaft, fie 
fcheinen im Laufe des 6ten aus römischen Güter: und Schenfungs- 
büchern zufammengeftellt worden zu ſeyn. Auch die folgenden bis 
zu Anfang des 9ten Jahrhunderts gehören nicht einem Berfaffer 
an, wie Ciampini aus der Verfchiedenheit des Styls nachgemiefen 
bat. I Der ebengenannte Gelehrte vermuthet, daß nur die Lebens: 
befchreibungen der Päbſte von Gregor IV. bis auf Nifolaus I. das 
Wert des Bibliothefars Anaftafius find. Die vier weiteren Bio- 
graphien, die in den gewöhnlichen Ausgaben ftehen, werden einem 
andern Bibliothefar, Namens Wilhelm, beigelegt. ?) Uebrigens zieht 
fih ein gemeinfchaftliher Charakterzug durch alle hindurch: dieſe 
aus verfchiedenen Federn flammende Lebensbefchreibungen ſchwel— 
(en von Lobeserhebungen auf die Päbfte, und von fehmeichlerifcher 
Anerkennung ihrer unbeſchränkten Machtvollkommenheit. Befonders 
ift dieß der Fall mit den Biographien der Päbfte des Iten Jahr: 
bunderts, die, wie wir fagten, die eigene Arbeit des Bibliothefars 
Anaftafius zu feyn feheinen. Glücklicher Weife haben Menfchen, wie 
Anaftafius, bisweilen die Sucht, wenn auch nicht wahr, fo doch 
erfchöpfend zu fehreiben, fie fagen daher Mandes, was fie hätten 
verfchweigen follen. Dadurch wird es einem geübten Auge möglich, 
aus dem Nebel abfichtlicher Verdrehungen die Wahrheit herauszu: 
finden. Das Pabſtbuch ift von Anfange bis zu Ende für ben 
gläubigen Haufen berechnet, der feine Priefter wie Götter verehren 
fol und nicht zu wiffen braucht, was hinter dem Vorhange gefchieht. 
Tief fteht daffelbe als Gefchichtsquelle unter den fränfifchen Chroni- 
fen, namentlich unter den von Hinfmar verfaßten Rheimſer Jahr 
Büchern, welche die befte hiftorifche Arbeit aus der zweiten Hälfte 
des Iten Jahrhunderts find. 





1) Johannis Ciampini examen libri pontificalis abgedruckt bei Muratori 
seriptores rerum italic. III, 34 fig. — ?) Vignoli III, 218. — °) Sn den 
ältern franzöfifhen Ausgaben hat fie den Titel Chronik von St. Berlin. 











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